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Himmel und Erde

Schatten und Licht, Interlude 1
von

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Sturm auf Palas

Andächtig lauschte Siri dem Zirpkonzert der Grillen, während sie im Schutz der Dunkelheit von einer sich gerade entfaltenden Baumkrone aus ein Tor der Stadt Palas beobachtete. Im Fackellicht der Wachen sah sie, wie diese einen Händler überprüften und dessen Fracht filzten. Dabei machten sie sich nicht einmal die Mühe, die Kisten und Körbe zu öffnen, sondern stachen einfach mit ihren Schwertern in die Behälter hinein. Hinter ihr raschelten die jungen Blätter, doch sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Ryu hinter ihr hockte.

„Es ist an jedem Tor das Gleiche, Herrin. Alle Eingänge werden auf das Schärfste überwacht.“, berichtete er.

„Konntest du feststellen, nach wem sie suchen?“, erkundigte sich Siri scheinbar gelassen.

„Nein, Herrin.“

Wie könnte er auch, wenn du ihm nicht beibringst unauffällig Informationen zu sammeln, tadelte sie sich. Doch sie brauchte keine Bestätigung von ihrem Schüler um zu wissen, dass sie selbst der Grund für die hohen Sicherheitsmaßnahmen war. Die ungläubigen und spöttischen Blicke der Wachen, die sie immer wieder auf die Steckbriefe warfen, sagten alles. Es kam wohl nicht alle Tage vor, dass ein Mädchen gesucht wurde, noch dazu lieber tot als lebendig. Jemand musste der Stadtwache einen Tipp gegeben haben, schloss Siri. Egal, was sie getan hatte, es war sicherlich nicht genug um solche Maßnahmen über einen längeren Zeitraum hinweg tragbar zu machen. Und es gab nur eine Person, die wusste, dass sie heute Nacht versuchen würde in die Stadt zu gelangen. Zufällig war es auch die gleiche Person, die ihr befohlen hatte, den Versuch in dieser Nacht zu wagen.

„Was ist mit den Wasserwegen?“, hakte sie nach.

„Die sind durch Gitter versperrt.“, sagte Ryu.

Erst befahl er ihr ihn zu treffen, und dann schickte er Wachen, genau dies zu verhindern. Was ihr Meister wohl damit bezweckte? War das alles nur ein Test?

„Das wird kein Problem sein.“, beschloss Siri. „Bring mich zu einem der Zuflüsse!“

„Bitte folgt mir!“, forderte er sie auf. Gleichzeitig ließen sie sich von dem Ast fallen und landeten lautlos auf den feuchten Waldboden. Von dort an sprintete sie durch das Gestrüpp, bis sie an einem Bach kamen, der in einem Rohr endete. Aus ihrer Ausbildung wusste Siri, dass diese Rohre die Schwachpunkte von Palas waren. Als Hitomi von der Katzenfrau entführt worden war, waren beide erst aus Palas geflüchtet, ehe sie durch ein solches Rohr nahe dem Hafen wieder in die Stadt gekommen waren. Damals waren diese Rohre nur durch ein dünnes Drahtgitter, welches die Entführerin mit Hilfe Krallen aufgeschnitten hatte. Jetzt versperrte ein Geflecht aus dickem Stahl den Weg, das zwar nicht so fein gegliedert, dafür aber viel dicker waren. Einen Moment lang überlegte Siri, ob sie die Stäbe irgendwie durchtrennen könnte, gab den Gedanken aber auf. Stattdessen kam ihr eine andere Idee. Die Stangen waren fest im Mauerwerk verankert, doch wenn sie und Ryu gemeinsam ziehen würden, könnten sie es schaffen, das Gitter heraus zu brechen. Wer auch immer den Schaden finden würde, müsste dann von einer großen, gut ausgerüsteten Truppe aus Soldaten als Eindringling ausgehen. Wenn die Wachen mit falschen Vorraussetzungen die Suche starten würden, hätten sie und Ryu es leichter sich zu verstecken. Selbst wenn man sie beide erwischen würde, könnten sie durch ihre vermeintlichen Verbündeten in der Stadt die Verhörspezialisten an der Nase herumführen.

„Hilf mir!“, befahl Siri und packte die Stangen mit beiden Händen. Ryu stutzte, half ihr dann aber doch. Erst nach ein paar Sekunden begann die Mauer um das Gitter herum zu bröckeln. „Weiter!“, feuerte sie ihren Schüler an. Schließlich gaben die Mauersteine nach und das Stahlgitter flog ihnen mit einem großen Krachen entgegen. „Verdammt!“, presste sie hervor und kroch unter dem schweren Stahl hervor. Ryu kam eine Sekunde vor ihr auf die Beine. So schnell, wie sie nur konnten, sprinteten sie in geduckter Haltung den Bach entlang. Jedes Mal, wenn einer ihrer Füße auf die Wasseroberfläche traf, hallte ein lautes Plätschern durch die Röhre, weswegen Siri noch einmal fluchte. Innerlich atmete sie dann aber wieder erleichtert auf, als beide das Ende des Rohrs erreichten und sie noch immer niemanden in näherer Umgebung spüren konnte.

„Spring!“, wies sie ihren Schüler und stieß sich vom Rand des kleinen Wasserfalls ab, der sich in einem der großen Kanäle ergoss, die das Stadtbild prägten. Zielsicher landete sie auf dem Geländer der gegenüberliegenden Kanalseite. Danach sprinteten sie in kleine Gasse und sprangen zwischen den angrenzenden Häuserwänden hin und her, bis sie auf dem Dach eines der Häuser zum Stehen kamen. Sofort warf sich Siri flach auf den Boden, während sich ihre Finger in die Ziegel gruben, damit sie nicht rutschte. Ryu lag nur ein Meter neben ihr. Einen Moment lang herrschte eine unheimliche Stille, ehe sie von unten lautes Geschrei und das Stampfen vieler Stiefel hören konnten. Eigentlich sollten sie oberhalb ihrer Häscher sicher sein, doch ein schwaches Kribbeln in Siris Kopf sagte ihr, dass es nicht so war. Vorsichtig drehte sie ihren Kopf hin und her, bis sie schließlich ein Leuchten über den Dächern Palas entdeckte, welches schnell näher kam.

„Ein Guymelef!“, flüsterte sie. So schnell und so leise, wie sie konnte, packte Ryus Hand und stand auf. Was folgte, war ein Hindernislauf über die Häuser von Palas. Ohne auch nur einen Augenblick langsamer zu werden, sprang Siri, gefolgt von Ryu, über schmale Gassen hinweg und rannten Dächer rauf und runter. Doch so sehr sich beide auch bemühten, der Guymelef war schneller. Zielsicher flog dieser auf die beiden zu, bis das Kribbeln in Siris Kopf zu einem lauten Schrillen wurde, sie ihre Laufrichtung um neunzig Grad änderte und Ryu dabei mitzog. Hinter ihnen rissen die Projektile des Guymelefs das Dach auf, auf dem sie sich eben noch befunden hatten. Die Todesschreie der Bewohner stachen in ihre Gedanken wie ein Messer. Schlitternd kam sie zum Stehen und beobachtete angespannt, wie der Guymelef wendete und zu einem weiteren Anflug ansetzte.

„Räuberleiter!“, befahl Siri, woraufhin Ryu ihr seine beiden ineinander gefalteten Hände anbot. Kraftvoll schleuderte er sie ein dutzend Meter weit in den Himmel. Der inzwischen wieder heranrasende Guymelef musste das Bild der in der Luft schwebenden Siri wie eine Herausforderung zum Turntaubenschießen auffassen und visierte sie an.

Das Design des Guymelefs entsprach größtenteils dem der Zaibacher und hatte dementsprechend eine Kamera an Stelle eines Visiers. Für jeden Menschen wäre dieser Wurf ein unmöglicher gewesen, doch Siris geschärften Augen machten das nur ein paar Zentimeter breite Panzerglas auch aus hunderten Metern Entfernung sofort aus. Während das Feuer des Guymelefs knapp an ihr vorbeischrammte, zog sie ihr Schwert und schleuderte es mit aller Kraft und maximaler Präzision auf die Flugmaschine zu. Die mit einem Diamanten besetzte Spitze der Klinge schnitt durch die Panzerung und durchtrennte die physische Verbindung zwischen Pilot und Kamera. Siri wurde längst wieder von der Schwerkraft zurückgezogen, als der blinde Guymelef über sie hinweg segelte. Der Pilot konnte seine Maschine nicht mehr beherrschen und mähte beim Aufschlag eine ganze Häuserreihe nieder.

Geschockt starrte Siri auf die Absturzstelle und sah zu, wie die erhitzten Energiesteine das Gebälk um sich herum in Brand steckten. Mit Tränen in den Augen beobachtete sie, wie wenige Überlebende sich in Sicherheit brachten und die Flammen nach weiteren Häusern leckten. Plötzlich fühlte sie, wie sich das Rad der Zeit rückwärts drehte und sie vor dem brennenden Farnelia stand. Wieder wollte sie sich mit Händen und Füßen dagegen wehren, weggetragen zu werden. Ohne ihren Vater wollte sie nicht gehen. Doch niemand versuchte sie wegzuzehren. Keiner brachte sie in Sicherheit. In Gedanken rief Siri nach ihren Eltern verfluchte ihren Meister mit aller Inbrunst für die Rolle, die er ihr aufgelegt hatte. Beinahe sehnsüchtig wartete sie auf den Schmerz, der sie für ihren Widerwillen strafen sollte. Doch er kam nicht. Nur eine kalte, dumpfe Leere breitete sich langsam und unaufhaltsam in ihrem Innern aus. Von allem scheinbar unberührt trat Ryu von hinten an sie heran und machte so deutlich, dass er auf weitere Befehle wartete.

„Das Feuer wird uns Deckung geben.“, sagte sie leise. „Wir gehen.“

Den Tumult durch das Feuer und die Dunkelheit der engen Gassen ausnutzend gelang es dem Duo schließlich zum Gebäude zu kommen, in dem das Treffen stattfinden sollte. Eines der Kellerfenster war wie versprochen offen, durch das sie schnell und lautlos von der Straße verschwanden. Der Raum, in denen sie eingestiegen waren, beherbergte zwei Personen. Siri erkannte ihren Meister sofort, auch wenn dieser einfache Arbeiterkleidung an Stelle eines aristokratischen Gewandes trug. Er saß an einem Tisch, auf dem sich ein Glas Wein und mehrere Stapel Papier befanden. Die andere Person bewachte einzige die Tür, die aus dem Zimmer führte. Es war ein Mädchen, welches wie eine Magd gekleidet war, doch eine rasche Überprüfung ihrer Gedanken zeigte nur Dunkelheit, woraus Siri schloss, dass es sich bei ihr ebenfalls um Gezeichnete handelte. Für einen Augenblick fragte sich Siri, ob dieses Mädchen eine Wahl gehabt hatte. Wohl eher nicht.

„Bist du für das Chaos da draußen verantwortlich?“, fragte Trias ohne irgendwelche Begrüßungsfloskeln.

„Ja, Meister.“, antwortete Sir ohne zu zögern. Es hätte eh keinen Sinn gehabt zu lügen.

„Nächstes Mal solltest du etwas leiser sein.“, riet er ihr streng. „Ist das der Junge, den du rekrutiert hast?“

„Ja, Meister.“

„Gib ihm saubere Kleidung, Ausrüstung und ein Zimmer!“, befahl Trias dem Mädchen an der Tür. Daraufhin forderte das Mädchen Ryu mit Geste auf ihr zu folgen, doch er setzte sich erst in Bewegung, nachdem Siri ihm zugenickt hatte. Als sie und ihr Meister alleine waren, fing er an sie zu instruieren.

„Dein nächster Auftrag ist Allen Shezar. Hier in Palas stört er nur. Du sollst ihn mir vom Hals halten.“, informiert er sie.

„Soll ich ihn töten?“, fragte Siri so ruhig wie möglich.

„Nein, noch nicht. Erst wenn er ein weiteres Mal zum Verräter geworden ist und für vogelfrei erklärt wird, können wir uns endgültig seiner annehmen.“ Trias lächelte. „Dann wird es deine Aufgabe sein ihn zu töten. Dies wird der Beweis deiner Treue sein. Erst wenn du ihn erledigst hast, darfst du zu mir zurückkehren.“ Er nippte an seinem Wein und fuhr fort. „In der Zwischenzeit solltest du eine Spur auslegen, der er folgen kann. Auf seiner Reise sollte er immer etwas zu tun haben. Es darf ihm nie langweilig werden. Deine Spur soll schließlich nach Chuzario führen. Ich will, dass er dort etwas sieht. Er soll aber erst dort ankommen, wenn ich es sage. Bis dahin darf er dieses Land nicht betreten. Hier hast du eine Liste sämtlicher Kontakte zwischen hier und Chuzario. Bis übermorgen Früh lernst du sie auswendig. Dann brichst du mit deinem Schüler auf. Noch Fragen?“

Siri nahm die Liste entgegen und schüttelte mit dem Kopf, da sie wusste, dass sie mit knappen Anweisungen später mehr Freiraum haben würde.

„Dein Zimmer ist den Gang runter das zweite auf der rechten Seite. Ich lasse dir Essen bringen. Bis Übermorgen liegen die Liste und ein Bericht über die Vorkommnisse im Tempel der Fortuna auf meinem Tisch. Dein Schwert werde ich dir nicht ersetzen. Morgen hast du genug Zeit, es dir wiederzubeschaffen. Du kannst jetzt gehen.“

Mit gemischten Gefühlen trat Siri in den Gang. Einerseits durfte sie das Vergnügen haben, sich in Zukunft in Allens Nähe aufzuhalten. Andererseits wusste sie, dass sie einen zum Tode verurteilten Ritter beobachten wird, den zu richten ihre Aufgabe war. Auch wenn ihrem Verstand klar war, dass sie alles andere als glücklich darüber sein sollte, frohlockte ihr Herz angesichts der Vorstellung wieder bei ihm zu sein. Vielleicht war es ja der Gedanke, dass sie beide gemeinsam sterben würden, der ihr Herz höher springen lies.

Vertrauen im Kampf

Allens fester Schritt halte im ganzen, schneeweißen Gang wieder, als er mit einer Mappe in der Hand Tür um Tür passierte, bis er schließlich zum Fitnessraum des größten Krankenhauses in Palas kam. Die Geräte, welche den Patienten normalerweise ermöglichen sollten, nach besonders langem Bettaufenthalt zur ihrer alten Form zu finden, standen dicht gedrängt an den Wänden und gaben so eine große Fläche in der Raummitte frei. Dort führte Merle in ihrem Trainingsanzug unter den wachsamen Augen von Milerna eine Übung mit ihrem Dolch vor, in der sie einen Kampf gegen mehrere imaginäre Gegner austrug. Leise trat Allen näher an die Prinzessin heran, die er von hinten in ihrem Arztkittel nur an ihrem goldenen Haar erkannte. Er kniete hinter ihr nieder und wartete darauf, dass sie ihm erlauben würde zu sprechen.

„Wann ist sie dir das erste Mal aufgefallen?“, erkundigte sie sich leise.

„Nach meinem ersten Kampf gegen Van. Sie war damals als Gefangene auf meinem Stützpunkt gebracht worden.“, antwortete er.

„Und danach?“

„Ich nahm eher wenig Notiz von ihr. Sie hielt sich die meiste Zeit im Hintergrund auf.“

„Mir ging es genauso.“, gab Milerna zu. „Dieses Mädchen war damals nichts weiter als Vans Schatten, der ohne seinen Gefährten vollkommen hilflos und verloren schien. Obwohl sie immer mit uns zusammen reiste, kannte ich sie kaum. Aber wenn man sie sich jetzt ansieht…“ Allen schaute zu, wie Merle über einen Angriff auf ihre Beine hinweg sprang und noch in der Luft mit einem halbkreisförmigen Tritt konterte. Bei der Landung jedoch verlor sie die Kontrolle über ihren Schwung und wäre beinahe über ihre eigenen Beide gestolpert. Dennoch führte sie die Folge ihrer Bewegungen fort, als wäre nichts gewesen. Von ihren kurzen Treffen in der Herberge wusste Allen, dass Merle die Übung besser können müsste. „…dann ist sie viel mehr als das kleine, anhängliche Mädchen von damals. Sie ist eine junge Frau, die stur ihren Pflichten nachgeht, ohne dabei auch nur einen Augenblick an sich zu denken. Wie soll ich dieser Frau erklären, dass sie sich ausruhen muss und es Zeit braucht, bis sie wieder völlig einsatzbereit ist?“, fragte sich Milerna, wobei in ihrer Stimme sehr viel Respekt mitschwang.

„Was versucht sie mit dieser Aufführung zu erreichen?“, erkundigte sich Allen.

„Sie möchte mir beweisen, dass sie keine Therapie mehr braucht.“, gab sie amüsiert zurück. „Die Übungen ihrer Therapeutin waren anscheinend so langweilig, dass sie lautstark gefordert hatte ihre Fitness unter Beweis stellen zu können.“

„Ich bin fit!“, platzte Merle dazwischen. Urplötzlich hatte sie mit ihrer Übung aufgehört. „Ich bin stärker als jeder Mensch und darüber hinaus höre ich auch besser.“

„Ja, aber du bist nicht so stark, schnell und beweglich, wie es für einen Katzenmensch üblich ist.“, widersprach Milerna. „Deine Feinmotorik ist noch immer gestört. Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber ich kann dich nicht entlassen. Nicht solange ich befürchten muss, dass du dich, sobald du das Krankenhaus verlässt, wieder extremen Gefahren aussetzt.“

„Ich kann kämpfen!“, behauptete Merle unbeirrbar.

„Nein, kannst du nicht.“, sagte Allen, legte die Mappe beiseite und stand auf. „Mit eurer Erlaubnis, Prinzessin Milerna, würde ich es gerne beweisen.“

„Sei aber nicht zu hart!“, warnte sie ihn, woraufhin er sich vor ihr verbeugte und in die Raummitte trat. Merle lächelte selbstsicher.

„Du weißt hoffentlich, dass ich dich schon einmal besiegt habe.“, stachelte sie ihn an.

„Noch einmal gelingt dir das nicht.“, versicherte er. Daraufhin griff Merle an. Allen merkte sofort, dass ein Sieg nicht so leicht zu erringen sein würde wie bei Siri. Obwohl beide Mädchen fast gleich alt waren, verfügte Merle über viel mehr Erfahrung. Mit ihrem Dolch stach sie erst zwei Mal probeweise auf ihn ein, ehe sie ernst machte. Sie testet meine Reaktionsfähigkeit, begriff Allen, während er die beiden harmlosen Angriffe durch ebenso sparsame Bewegungen seines Schwertes abblockte. Dann drückte sie mit ihrem Dolch seine Klinge zur Seite und preschte mit ihrem Ellbogen voran in ihn hinein. Er wich zur Seite aus, wodurch ihr Schwung sie ins Nichts trug und sie nur schlitternd zum Stehen kam. Sofort setzte er ihr nach und schlug von oben auf ihren Kopf ein, doch Merle lenkte die Wucht seines Angriffes seitlich an ihrem Körper vorbei, sichelte mit ihrem rechten Fuß seine Beine weg und trat mit dem linken sein Schwert aus der Hand. Allen nahm sich gar nicht die Zeit sich über seine Unachtsamkeit zu ärgern, sondern brachte ihr verbliebenes Standbein mit einer Scherbewegung seiner eigenen zu Fall. Mit dem Gesicht voran fiel sie auf die harten Matten, welche im ganzen Zimmer den Boden bedeckten. Sofort war er über ihr und drehte ihr rechtes Handgelenk in einen unnatürlichen Winkel, wodurch sich ihr ganzer Körper versteifte. Merle blieb nichts anderes übrig als abzuklopfen.

„Du bist noch nicht bereit zum Kämpfen.“, sagte er, als er sie losließ und von ihr runter ging. „Aber du kannst mir anders helfen.“

„Ach, der große Allen Shezar braucht tatsächlich Hilfe?“, höhnte sie.

„Hör auf!“, giftete Milerna sie an. „Du weißt nichts über ihn.“

Scheinbar unberührt von dem Wortwechsel holte er die Mappe und hielt sie Merle hin. Diese richtete ihren Oberkörper auf und nahm den Umschlag entgegen.

„Du kennst unseren Schüler am besten. Kannst du mir sagen, ob sie es war?“, fragte er. Während Merle die Mappe öffnete und den Bericht darin überflog, sagte sie zu Allen: „Schämst du dich eigentlich dafür, dass Siri kein Junge ist?“

„Natürlich nicht!“, antwortete er entrüstet.

„Dann kannst du sie auch deine Schülerin nennen!“, verlangte Merle mürrisch. Zu Milerna gewandt, bat Allen: „Könnten wir uns draußen etwas unterhalten, Prinzessin?“

„Natürlich.“, meinte Milerna und ging vor ihm aus dem Zimmer. Im Gang angekommen schloss Allen die Tür hinter sich.

„Was hat sie gegen mich?“, fragte er ohne irgendwelche Höflichkeitsfloskeln. Da sie von Allens forscher Art mehr als nur überrascht war, dauerte es einen Moment, ehe Milerna antwortete.

„Sie ist in Farnelia eine wichtige Persönlichkeit und trägt viel Verantwortung. Van hat ihr seine Sicherheit anvertraut. Nicht, weil sie schon immer so gut war, sondern weil er ihr völlig vertrauen konnte.“, erklärte Milerna. „Nun ist sie hier und wir beide wollen für sie bestimmen, was das Beste für sie ist. Das kann für jemanden, der es gewohnt ist auf eigenen Füßen zu stehen, sehr schwer sein.“

„Woher weißt du so viel über Merle?“, wunderte er sich.

„Ich hab mich mit Dr. Riston ein bisschen über sie unterhalten. Sie hat ein paar Jahre unter Merle gedient, bis ihre Tochter in ihre Fußstapfen trat.“, antwortete Milerna. „Ihr solltest du den Bericht übrigens nicht zeigen. So sehr wie sich in die Arbeit mit den mitgebrachten Proben kniet, hat sie die Umstände, in denen sich dass Mädchen befindet, bestimmt noch nicht verdaut.“

„Ich bin mir übrigens ziemlich sicher, dass es Siri war.“, sprach Merle die beiden vom Türrahmen aus an. Verwundert drehten sie sich um.

„Wir haben dich gar kommen hören.“, staunte Milerna.

„Ich konnte euch die ganze Zeit hören.“, erwiderte Merle trocken.

„Und wie kommst du darauf?“, erkundigte sich Allen respektvoll.

„Nun, zu einem ist da dieser Tipp. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Siri auf ihrer Reise nach Palas gesehen wurde. Dafür haben ich und Gesgan sie zu gut ausgebildet. Also konnte nur ein einziger…Mensch…wissen, dass sie in dieser Nacht versuchen würde durchzubrechen.“

„Trias!“, schlussfolgerte Allen.

„Außerdem…Wer außer einem Gezeichneten könnte einen Guymelef mit einem Schwert aus der Luft holen können.“, führte Merle weiter aus.

„Soweit wir wissen, gibt es mehrere von der Sorte.“, gab Milerna zu bedenken.

„Von denen wurde aber nur einer gesucht. Nur Siri musste die Tore meiden.“

„Aber wozu das Ganze?“, fragte sich Milerna. „Wieso sollte Trias diese Falle für sie aufstellen, wenn sie doch zu ihm gehört.“

„Vielleicht eine Art Test.“, mutmaßte Allen.

„Du bist wohl noch nicht lange im Geschäft.“, warf Merle ihm vor. „Ansonsten würdest du wissen, dass Spione Tests immer ohne Publikum durchführen.“

„Was war dann der Sinn?“, fragte er geduldig.

„Überlegt doch mal! Erst schädigt Trias ihren Ruf, indem er ihr zwei Anschläge auf dein Leben anhängt und dann zwingt er sie zu der Zerstörungsorgie von letzter Nacht.“, forderte Merle, doch als beide nur verwirrt mit dem Kopf schüttelten, fuhr sie fort. „Er untergräbt ihren Ruf. Solange, bis jeder Soldat sie töten wird, sobald er sie sieht. Mit der letzten Nacht sollte er dies auch geschafft haben. Niemand in ganz Astoria wird Siri zuhören oder ihr helfen, sollte sie sich gegen Trias wenden.“

„Aber das heißt ja…“, sagte Allen, woraufhin Merle nickte.

„Es gibt noch Hoffnung für sie.“, erklärte sie entschlossen. „Allen, du solltest dorthin gehen, wo ihr Schwert aufbewahrt wird.“

„Das liegt im Schloss. Sie wird doch nicht…“

„Allein schon die Herkunft des Diamanten in der Schwertspitze könnte eine erste Spur sein. Ich glaube kaum, dass Trias das auf sich sitzen lassen wird. Und da weder er selbst oder sonst jemand seiner Gefolgsleute die Bühne betreten kann,…“

„…wird er wohl Siri schicken, die sowieso schon gesucht wird. Ich mache mich sofort auf dem Weg.“, sicherte Allen ihr zu.

„Ich würde ja gerne mitkommen,…“, bat sie vorsichtig.

„Keine Chance!“, lehnte Milerna ihr Gesuch ab.

„Na gut, dann geh ich eben wieder auf mein Zimmer!“, sagte Merle frustriert und schob sich zwischen den beiden durch. Als sie nicht mehr in Sicht war, sagte Milerna anerkennend:

„Sie ist gut! Wird sie dich auf dem nächsten Ball begleiten?“

„Nein.“, antwortete Allen entschieden. „Hitomi bestand darauf, dass wir zusammen arbeiten, weil Merle sich in inoffizieller Umgebung gut bewegen kann und ich zu offiziellen Kreisen Zugang habe. Würde ich sie zu einem Festakt mitnehmen, würde Merle ihren Vorteil einbüßen.“

„Hitomi hat euch also zusammen gebracht. Hätte ich mir denken können.“, sagte Milerna schmunzelnd.

„Was meinst du damit?“, fragte er verwundert.

„Ich rede über ihre gute Menschenkenntnis. Ihr beide vertraut euch, sonst hättet ihr nicht mit scharfen Klingen gegeneinander gekämpft. Ich glaube, ihr könntet ein genauso gutes Team abgeben, wie du und Van damals im Krieg. Vielleicht sogar ein noch besseres. Hitomi war dies klar gewesen, obwohl sie euch nie zusammen gesehen hat.“

Allen schaute nachdenklich den Gang hinunter, durch den das Katzenmädchen verschwunden war und verabschiedete sich dann von Milerna. Diese sah ihm mit einem breiten Lächeln nach.

Fang mich!

Als Zofe verkleidet schritt Siri seelenruhig durch die engen Gänge der Wäscherei mit einem Bündel Kleidung in ihren Händen. Praktischerweise befand sich diese genau über dem abgeschlossenen Bereich der Palastwache und in deren Waffenkammer lag wiederum ihr Schwert, welches sie letzte Nacht auf einen Guymelef geworfen hatte, um ihn zum Absturz zu bringen. Es war von den Soldaten gefunden worden und es stand außer Frage, dass sie es zurückholen musste. Dabei zählte nicht nur, dass es ein Schwert von außergewöhnlicher Qualität war, wie man sie auf Gaia nicht finden konnte. Der Diamant auf der Spitze barg außerdem auch Hinweise auf dessen Herkunft, welche ein Mensch von Gaia natürlich nicht deuten konnte. Auch wenn die Chance außerordentlich gering war, dass je ein Erdbewohner das Schwert zu Gesicht bekäme und darüber hinaus noch mit der mikroskopisch kleinen Seriennummer, die im Diamanten eingraviert war, etwas anfangen könnte, wollte ihr Meister dieses Risiko nicht eingehen.

Dank der Karten, die sie auswendig gelernt hatte, konnte sich Siri zielbewusst im Palast bewegen und erweckte somit kein Aufsehen. Dass niemand sie kannte, war bei der ungeheuren Masse an Personal ebenfalls kein Hindernis. Dass niemand sie erkannte, verdankte sie einer blonden Perücke. Schließlich betrat sie einen Lagerraum, der dicht an dicht gestellte Regale beherbergte, die mit reich verzierten Laken voll gestopft waren. Einen Moment lang rümpfte Siri über die Verschwendungssucht im Palast die Nase, konzentrierte sich dann aber wieder auf ihre Aufgabe. Den Angaben der Informanten ihres Meisters nach zu urteilen befand sich ihr Schwert ein Stockwerk tiefer in einer Waffenkammer unter dem Lagerraum. Da sie Allen direkt unter sich spüren konnte, waren die Angaben wohl korrekt.

Schnell überzeugte sie sich, dass sie wirklich alleine und die Tür zum Gang geschlossen war, dann schlüpfte sie aus ihrer Verkleidung in ihren schwarzen Kampfanzug, der in dem Bündel Wäsche versteckt war. Um Gewicht zu sparen, welches das Bündel nur verdächtig gemacht hätte, hatte Siri statt Stiefel nur robuste Strümpfe eingepackt und sich in punkto Waffen auf einen Dolch beschränkt, der bequem an ihrer Hüfte befestigte war. Am schwierigsten zu kaschieren war das Volumen der biegsamen Maske gewesen, bei der es sich um eine Miniversion von dem Sauerstoffversorgungssystem der Zaibacher Guymelefs handelte. Nachdem sie den korrekten Sitz ihre Ausrüstung überprüft hatte, schickte sie Ryu per Gedanken das Startsignal für seinen Teil des Plans.

Sie wartete gar nicht erst auf seine Bestätigung, sondern rückte so schnell und so leise sie konnte ein Regal von der Wand weg. Sie wusste, dass hinter dem frei geräumten Mauerstück ein senkrechter Schacht entlang lief, durch den der Russ und der Kohlendioxid aus der Heizanlage der Kaserne abgeleitet wurde, welche zwei Stockwerke tiefer lag. Mit dem Dolch löste sie einen Ziegel nach dem anderen heraus. Schon nach dem ersten stieß ihr ein schwarze Wolke entgegen. Die Heizanlage war im vollen Gange. Kein Wunder, dachte Siri, gleich geht die Sonne unter. Verbissen arbeitete sie weiter. Der Sichtschutz ihrer Maske verdunkelte sich zusehends und bald konnte sich sie sich an den Ziegeln nur noch entlang tasten.

Schließlich war die Öffnung groß genug, dass sie durchschlüpfen konnte. Der Schacht war für einen ausgewachsenen Mann viel zu schmal, doch für sie reichte es gerade so. Dank ihres Anzugs und ihrer Atemmaske konnte sie es ein paar Minuten im Schacht aushalten, keinesfalls länger. Selbst eine Gezeichnete hatte seine Grenzen, wie sie immer wieder feststellen musste. Schweiß brach aus, als sie sanft mit dem Rücken und den Gliedmaßen Druck auf die Schachtwände ausübte um nicht abzustürzen. Schnell und konzentriert schob sie sich hinunter bis mit Allen und den anderen Auren dieser Palastebene auf eine Höhe war. Selbstverständlich gab es auch auf dieser Ebene keinen Zugang. Sie musste sich wohl oder übel einen schaffen, dieses Mal jedoch bedeutend schneller als im Wäschelager. In der Hoffnung, dass die Wand zum Waffenlager schwächer als zum Übungsraum war, der sich hinter ihr befand, erhöhte sie den Druck auf die gegenüberliegenden Schachtwände um ein Vielfaches. Mittels der Kraft ihrer Gedanken leisteten ihre Muskeln noch einiges mehr, als es für eine Gezeichnete üblich war. Nach zehn Sekunden stetiger Bemühung gab der Mörtel nach und die Ziegel schossen explosionsartig in die Waffenkammer. Plötzlich rutsche Siri tiefer, doch sie konnte sich gerade noch am Rand des von ihr geschaffenen Loches klammern. Sie war noch immer blind dank ihrer Maske und da der Ruß nun auch in diesem Zimmer sich verbreitete, ließ sie diese lieber an und verließ sich auf ihre Sinne für die Auren von Lebewesen. Wie sie schon zuvor festgestellt hatte, war Allen ganz allein in dem Raum. Überrascht war Siri dennoch, denn dank dem kurzen Training, welches sie heute bei ihrem Meister absolvieren musste, konnte sie anhand der Aura nicht nur die Position des Wesens ausmachen, sondern auch dessen Haltung. Und Allens Haltung ließ vermuten, dass er vor den Ziegeln in Deckung gegangen war. Hatte er sie im Schacht gehört? Widerwillig vergeudete sie eine Sekunde um den Ruß von ihrem Visier zu wischen.

„Ich nehme an, du bist deswegen hier.“, sagte er mit stoischer Ruhe und hielt ihr Schwert vor sich. Siri konnte das Schwert nicht genau erkennen, doch sie spürte den kleinen Energiestein, der unsichtbar für den Betrachter im innern des Griffs eingebaut war.

„Ihr wusstet also, dass ich komme.“, schlussfolgerte sie. „Wieso ist das Schwert dann noch hier?“

„Ich wollte nicht noch mehr Menschen in die Sache hineinziehen.“, erklärte Allen.

„Seid ihr deshalb allein?“, fragte Siri und löste den Dolch von ihrer Hüfte. „Ihr könnt auch euch Schmerzen ersparen, wenn ihr mir das Schwert überlasst.“

„Ich will nur mit dir reden.“, sagte er, woraufhin ihr Herze sich schmerzhaft verkrampfte.

„Der Raum ist bald völlig von Rauch eingehüllt. Ein denkbar schlechter Ort um zu reden.“, widersprach sie betont gleichgültig. „Wir können uns später unterhalten, aber dafür müsst ihr mich erst finden.“ Mit diesen Worten sprang sie auf ihn zu. Allen attackierte sie mit ihrem eigenen Schwert, doch Siri wehrte den Streich auf ihre Schulter mit ihrem Dolch ab. Der Spann ihres linken Fußes rammte daraufhin seine rechte Kieferhälfte. Nach einer viertel Drehung ihrer Hüfte stand sie mit dem Rücken zu ihm, ohne mit dem linken Bein aufzusetzen. Mit diesem trat sie in seine Magengrube. Stöhnend sackte er zusammen und blieb bewusstlos liegen.

Schweren Herzens nahm sie ihr Schwert an sich und wollte gerade durch das Loch in der Wand fliehen, als ihr nochmals der eindringende Rauch auffiel. Entschlossen, Allen hier nicht seinem Schicksal zu überlassen, trat sie kräftig gegen die massive Eisentür, die den Eingang versperrte. Krachend flog diese auf und die Verwirrung, die sich durch den ganzen Palast zog, verstärkte sich. So schnell sie nur konnte verschwand Siri durch den Schacht nach oben.
 

Genauso schmerzhaft, wie Allen sein Bewusstsein verloren hatte, fand er es wieder. Das einfallende Licht der hoch stehenden Sonne brannte sich gleißend in seine Augen. Plötzlich schob sich das Gesicht einer jungen Frau, umhüllt von einem goldrosa gefärbten Schimmer, vor das Tageslicht. Einen Moment lang fragte er sich, ob er im Himmel und das liebreizende Geschöpf vor ihm ein Engel war, von denen Hitomi ihn schon soviel erzählt hatte. Dann jedoch viel ihm ein, dass Engel keine Katzenohren haben.

„Merle? Was…wo bin ich?“, fragte er verwirrt.

„Im Krankenhaus natürlich. Dort, wo alle Männer landen, die meinen, sie müssten alles alleine durchziehen.“, antwortete sie keck.

„Und wie lange liege ich schon hier?“

„Seit fast zwei Tagen. Du bist mit einer leichten Rauchvergiftung und einem angeschlagenen Kiefer hier eingeliefert worden. Nichts, was einen so langen Schlaf rechtfertigt, wenn du mich fragst.“

„Ich frag dich aber nicht.“, gab er genervt zurück.

„Ach ja, in den nächsten zwei Wochen sollst du weder reden noch feste Nahrung zu dir nehmen.“, sagte Merle vergnügt. Allen stöhnte, hörte dann aber sein Kiefer knacken. Druckschmerz breitete sich in seiner unteren Gesichtshälfte aus.

„Ich hab dich gewarnt.“, sagte sie und sank in den Stuhl zurück, auf dem sie hockte. „Und? Wie geht es jetzt weiter, großer Meister?“

„Wir suchen weiter nach Siri.“, antwortete Allen verwirrt.

„Dann muss ich ja meine Sachen packen.“

„Wie kommst du darauf?“

„Während du blau gemacht hast, war ich in den Lokalen und Kneipen unterwegs und hab mich ein bisschen umgehört.“, erzählte Merle. „Dabei stieß ich auf einen Mann, der zum Zeitpunkt von Siris Überfall Wachdienst im Hof des Palastes hatte. Ihm war ein Junge aufgefallen, der alle Pferde aus dem Stall führte und sie draußen anband. Als der Mann ihn fragte, was er da mache, antwortete der Junge ihm, das der Hofstaat ein Jagdausflug unternehme wolle. Die Wache machte eine Rückfrage und kam mit dem Entschluss, dem Jungen die Ohren lang zu ziehen, zum Stall zurück, doch da stand das Heu schon in Flammen und der Brandstifter war weg.“

„Ryu!“

„Als die Wache Ryu allein gelassen hatte, hatte er dem Mann hinterher gerufen, dass dieser sich beeilen müsse. Ryu würde nämlich schon bald bei einem bestimmten Gasthof außerhalb von Palas anfangen.“

„Wie lautet der Name des Gasthofes?“, erkundigte sich Allen.

„Weiß nicht, aber wenn ich das Namensschild sehe, erinnere ich mich bestimmt daran.“, antwortete Merle unschuldig. Am liebsten wäre er an die Decke gesprungen.

„Weißt du wenigsten, in welcher Richtung der Gasthof liegt?“, fragte Allen mit mühsam kontrollierter Stimme. Auf einmal verdunkelte sich Merle Gesichtsausdruck.

„Er liegt auf dem Weg nach Farnelia.“, sagte sie besorgt.

„Keine Sorge.“, beruhigte er sie und richtete sich auf. „Wir werden die beiden einholen, bevor sie dort ankommen.“

„Willst du dich etwa davonschleichen, Allen Shezar?“, fragte Milerna streng, während sie eintrat. Der Ritter schluckte, woraufhin sein Kiefer wieder knackte.

Ein ewiger Kreislauf

Todmüde lag Van in seinem Bett. Seine Augen waren geschlossen, während er Hitomis strahlendes Lächeln vor sich sah. Er wusste, dass dieses Bild nicht real war. Sie befand sich auf einem riesigen Luftschiff, weit weg von ihm. Zu weit. Es war nicht einmal ein paar Wochen her, als er sie zuletzt gesehen hatte, doch ihm kam es bereits wie eine Ewigkeit vor. Ein Zustand, der, wie er fürchtete, noch eine Ewigkeit lang anhalten konnte.

„Oder auch nur einen Augenblick.“, beruhigte Hitomis sanfte Stimme ihn. Daraufhin rief Van in Gedanken nach hier, fragte, wo sie sei. Ein sanfter Druck auf seine Lippen antwortete ihm. Verwundert öffnete er seine Augen. Es bot ihm ein Anblick, der schöner nicht sein konnte.

„Hitomi?“, fragte er erstaunt.

„Wer sonst?“, antwortete sie vergnügt. „Oder hast du jemand anderes erwartet?“

Van fand sich selbst auf einer weichen Liege wieder, auf deren Rand Hitomi saß, während sie ihren Oberkörper an ihn schmiegte.

„Nein…ja…ich dachte, Sophia hätte wieder einen Versuch unternommen mich zu…“, stammelte er.

„Macht sie das etwa immer noch?“, wunderte sich Hitomi. Zärtlich streichelte Van ihre Wange.

„Ja, aber sie gibt sich nicht mehr so viel Mühe. Dein Manöver in der Katzenpranke hat wohl gewirkt…irgendwie.“, vermutete er. Seufzend legte sie ihren Kopf auf seine Schulter.

Die Zeit verging, ohne dass sich einer von ihnen rührte. Genüsslich schnupperte Van an ihrem weichen Haar. Der Meeresduft war noch viel intensiver als sonst.

„Wie gefällt es dir auf dem Schiff des Drachenvolkes?“, fragte er schließlich.

„Nicht so gut. Die Bewohner unterrichten mich zwar, aber sonst reden sie nicht mit mir. Antigonos ist der einzige, der sich mit mir unterhält.“, beklagte sie sich.

„Verbringt ihr viel Zeit miteinander?“, hakte Van nach.

„Eifersüchtig?“, erkundigte sich Hitomi.

„Ein bisschen vielleicht.“, gab er zu. „Er kann bei dir sein und ich nicht.“

„Aber ich bin doch bei dir.“

„Es ist nur ein Traum. Das reicht mir nicht.“

Traurig lächelnd richtete Hitomi sich auf. Erst jetzt konnte Van ihre Kleidung sehen. Sie trug ein blaues Gewand aus Seide, geschmückt mit orangen Blumen und sich zufällig kreuzenden, weißen Linien. Um ihre Taille war eine breite, gelbe Schärpe gebunden. An ihren Füßen trug sie hölzerne Sandalen mit u-förmigen Riemen. Solche Kleidung hatte er noch nie zuvor gesehen. Er selbst war mit einem seiner Gewänder bekleidet.

„Das muss dir aber reichen. Denn anders als jetzt wird nicht sein.“, sagte sie ihm.

„Wie meinst du dass?“, fragte Van erschrocken.

„Steh auf! Ich will dir etwas zeigen.“, bat Hitomi. Während Van ihrer Bitte nachkam, sah er sich um. Sie beide befanden sich in einem Pavillon, der genauso wie die Liege aus mit Ornamenten verziertem Holz gebaut worden ist. Die beschauliche Holzkonstruktion wurde durch ein Geländer ohne Ausgang begrenzt. Als Van schließlich fest auf seinen Füßen stand, klappte sein Kiefer nach unten. Der Blick über das Geländer gab den Blick auf einen steilen Abhang frei. Über den ganzen Abhang verteilt standen Bäume mit blassrosa Blüten. Dahinter erstreckte sich schier unendliches Meer unter einem wolkenlosen Himmel.

„Dieses Szenario habe ich für die Erinnerung an meine alte Heimat erschaffen. Das Wasser war das schwierigste. Es sieht jeden Tag anders aus.“, erzählte Hitomi.

„Das ist alles sehr schön, aber was hat das mit unserer Beziehung zu tun?“, fragte Van ungeduldig.

„Gar nichts.“, antwortete sie. „Außer natürlich, dass dies der Ort ist, wo wir uns in Zukunft treffen.“

Unsicher sah er sie an.

„Das heißt, nicht dass wir uns auf Gaia nicht wieder sehen werden.“, beruhigte ihn Hitomi. „Was ich dir sagen wollte, ist, dass Gaia sich von der Ebene seiner Existenz her nicht groß von diesem Ort unterscheidet.“

„Aber dieser Ort nur in deinem Kopf. Ich kann ihn auch nur sehen, weil du mich eingeladen hast.“

„Und was sagt dir, dass es mit Gaia nicht genauso ist?“

„Das musst du mir erklären.“, verlangte Van.

„Erinnerst du dich noch an unseren ersten Besuch im Tempel der Fortuna? Damals erzählte uns der Vater von Cid, dass Gaia eine aus der Kraft der Gedanken des Drachenvolkes geschaffene Welt ist.“ Mit ihrem Blick schweifte sie über das Meer. „Genau wie dieses Stückchen Land hier. Es existiert nur in unseren Gedanken und ist daher für andere unsichtbar. Du musst wissen, dass Gaia vom Mond der Illusionen aus ebenfalls nicht sichtbar ist.“

„Aber von Gaia aus kann man den Mond doch sehen.“, widersprach er ungläubig.

„Stimmt.“, bestätigte Hitomi. „Und das ist auch der einzige Unterschied zwischen meiner kleinen Welt und Gaia. Während alles, was du hier siehst, nur in meinem Bewusstsein existiert, liegt Gaia im uns bekannten Universum der materiellen Ebene. Trotzdem ist Gaia nichts anderes als eine Ballung von Gedankenenergie, geschaffen durch den Willen des Drachenvolkes. Was aber noch viel wichtiger ist, dass die Aufrechterhaltung solcher Konstrukte Energie kostet. Allein dieses kleine Szenario erfordert sehr viel Konzentration.“

„Und wer erhält Gaia aufrecht? Das Drachenvolk?“, wollte Van wissen.

„Nein. Gaia ist eher so etwas wie eine sich selbst versorgende Maschine. Die Energie, die das Drachenvolk einmal aufgewendet hat, um Gaia zu erschaffen befindet sich in einem ständigen Kreislauf.“

„Einen Kreislauf?“

„Nun, das Drachenvolk erschuf erst einmal einen Planeten, der die Umgebung für Leben stellte.“, erklärte Hitomi. „Von da an begann der Kreislauf. Der Planet bringt neues Leben hervor. Diese Lebewesen wiederum bekamen laufend Eindrücke von dem Planeten, wodurch er auch in ihrer Vorstellung existiert. Somit investieren die Lebewesen Gedankenenergie in die Aufrechterhaltung von Gaia. Allerdings funktionierte die Sache nicht so gut, wie das Drachenvolk es sich erhoffte.“

„Warum das?“

„Weil es kein abgeschlossenes Energiesystem gibt. Es geht immer etwas Energie an die Umgebung verloren. Zum Beispiel als du mich gerufen hast, lag eine deiner Federn vor mir. Auch diese bestehen aus Gedankenenergie. Somit hast du also damals dem System Gaia Energie entzogen.“

„ Ich glaube, ich verstehe.“, sagte er. „Hat das Drachenvolk eine Lösung für dieses Problem?“

„Sie selbst können die verlorene Energie nicht ersetzen, da sie selbst Teil des Systems sind. Aber das System löst das Problem selbst, allerdings nicht so, wie das Drachenvolk es sich wünscht.“, sagte Hitomi. „Es holt einfach Lebewesen von der Erde zu sich, für deren Erschaffung es keine Energie aufbringen musste. Da Menschen anscheinend am meisten Gedankenenergie produzieren, bevorzugt sie der Planet. Ihre Gebräuche, Mythen und Fantasien gaben Gaia dann sein Gesicht.“

„Sag bloß, das Drachenvolk wollte sich mit einfachen Menschen nicht abgeben und hat sich deshalb in das Luftschiff verkrochen.“

„Erst hat das Volk diese Menschen akzeptiert. Die Tatsache, dass das Herzogtum Fraid von ihnen den Auftrag bekam, ihr Erbe und ihre Geschichte zu schützen, beweißt das. Aber nachdem die Menschen zu viele wurden und somit Ressourcen fehlten, brachen Kriege aus. Das Drachenvolk gab nach einiger Zeit die Hoffnung auf Frieden auf und verschanzte sich in seiner fliegenden Stadt. Irgendwann kamen sie dann zu der Erkenntnis, dass Kriege nicht nur unabwendbar, sondern auch notwendig wären.“ Als Hitomi das gesagt hatte, verhärteten sich Vans Gesichtzüge. Sie beobachtete für einen Moment seine Reaktion, ehe sie beschloss weiter zu erzählen. „In ihren Augen dezimieren Kriege die Menschen auf eine für den Planeten erträglichem Masse, woraufhin sie sie sich aber wieder ausbreiten, aneinander geraten und der Kreislauf von vorne anfängt.“

„Wie kann man so etwas auch nur denken?!“, fragte er schockiert.

„Sie leben hoch in der Luft und haben sein Jahrtausenden kein Krieg mehr erlebt. Sie wissen es nicht besser.“, erläuterte sie.

„Und bei diesen Leuten willst du bleiben?“, fuhr er sie an.

„Es gab auch unter ihnen einige, die das nicht akzeptieren wollen. Antigonos und Trias sind nur ein paar von ihnen.“, führte Hitomi weiter aus, ohne auf Vans Vorwurf zu achten.

„Trias? Warum erwähnst du ihn?“

„Weil Trias vorhat den Energiekreislauf von Gaia zu unterbrechen. Er will, dass sich die Menschen in Kriegen vernichten, doch anstatt die entstehenden Lücken durch andere Menschen wieder zu füllen, soll eine von ihm neu geschaffen Rasse ihren Platz einnehmen.“

„Die Gezeichneten? Aber sie sind doch auch Lebewesen.“

„Schon, doch deren Leben unterliegen auch Trias Kontrolle. Wenn die Vernichtung der Menschheit erreicht ist, was sollte ihn dann davon abhalten, seine Dienerschaft durch unerträglichen Schmerz zu töten?“

„Und dann würde Gaia nicht mehr existieren? Eine sehr gewagte Theorie, Hitomi.“

„Trias hat aber schon einmal versucht, Gaia zu zerstören.“

„Wann?“

„Ich glaube, die Entstehung von Zaibach geht auf seine Kappe. Von wem sonst sollte Kaiser Dolunkirk die Fehlinformation über die Schicksalsmaschine haben? Schließlich dachte er, dass die Sphäre alle Menschen glücklich machen würde, stattdessen steigerte sie die Kampfeslust. Hätten wir sie nicht abgeschaltet, wäre ganz Gaia im Krieg versunken.“

„Warum sollte er Gaia zerstören wollen?“, zweifelte Van.

„Sagte ich das nicht schon auf der Katzenpranke? Er will die Kriege beenden, die auf Gaia immer wieder toben. Es ist wohl Ironie des Schicksals.“, sagte Hitomi.

„Mir brummt der Schädel von soviel Theorie. Dabei wollte ich mich im Schlaf ausruhen.“; beschwerte sich Van.

„Das liegt wohl daran, dass du übermüdet bist und noch immer nicht schläfst.“, erwiderte sie lächelnd.

„Ich denke, dass hier ist ein Traum.“

„Auf Gaia siehst du tatsächlich auch so aus, als würdest du schlafen, in Wirklichkeit sind wir beide aber noch bei vollem Bewusstsein. Ich fürchte, ich muss dich jetzt zurück ins Bett schicken.“

„Kann ich nicht noch fünf Minuten bleiben?“, quengelte Van.

„Nein.“, kicherte Hitomi.

„Drei Minuten?“

„Nein!“

„Eine Minute?“

„Geh schlafen, Van!“, lachte sie.

„In Ordnung.“, gab er nach. Ohne Vorwarnung drückte er Hitomi sanft an sich und küsste sie. „Wenn wir uns das nächste Mal treffen, lass uns bitte nicht über das Berufliche reden, sondern die Physik deines Szenarios testen.“

„Ach! Und wie willst du das anstellen?“, fragte sie neugierig.

„Nun, zuerst sollten wir die Liege untersuchen. Mal sehen, wie viel Liebe das Holz aushält.“

„Gute Nacht, Van.“, verabschiedete sich Hitomi vergnügt, woraufhin sich seine Augen wie von selbst schlossen und er in das Reich der Träume glitt.

Hinterhalt aus der Finsternis

Im lockeren Galopp jagten Allen und Merle auf ihren Pferden über die von einem dichten Wald flankierte Straße nach Farnelia. Die Sonne verschwand gerade hinter den Bergen, während die langen Schatten der Bäume den Weg in tiefe Dunkelheit tauchten und die zwei Rappen mitsamt ihrer Herren verschlangen. Nur das matte Licht der Sterne wies den Reisenden die Richtung. Plötzlich hob Allen seine Hand, woraufhin beide ihre Pferde stoppten.

„Warum halten wir?“, fragte Merle aufgebracht. Ihre Stimme drang nur undeutlich durch den hohen Kragen ihres schwarzen Mantels und ihr Gesicht war unter dem dreispitzigen Hut, den sie trug, nicht sichtbar. Allen, der die gleiche Kleidung trug, stieg ab und führte sein Reittier von der Straße.

„Wir müssen rasten.“, begründete er seine Entscheidung.

„Ich bin nicht erschöpft.“, entgegnete Merle trotzig.

„Aber unsere Pferde.“, konterte er. „Wir waren schließlich den ganzen Tag unterwegs.“

„Dann lass uns zu Fuß gehen.“, schlug sie vor. „Zur Abwechslung können wir ja die Pferde tragen.“ Mühsam verkniff Allen sich ein Lächeln.

„Bei dir hörte sich das gar nicht wie ein Witz an.“

Grinsend stieg Merle ab.

„Es war auch keiner.“

Aufs Äußerste bemüht sich den Ärger über seine Gefährtin nicht anmerken zu lassen bannte er sein Pferd an einem Baum und nahm sowohl das Gepäck als auch den Sattel von dessen Rücken. Daraufhin striegelte er das Tier sorgfältig. Merle tat es ihm nach. Ohne ein Wort zu wechseln schlugen sie dann ein Lager auf einer an der Straße grenzenden Lichtung auf. Eine Viertelstunde später hatten sie ein Feuer auf der bereits vorhandenen Feuerstelle angezündet und aßen einen Teil ihres Proviants.

„Weißt du, was komisch ist?“, fragte Merle in die Stille hinein.

„Nein, tu ich nicht.“, sagte er mit gewohnt neutraler Stimme.

„Der Tipp von Ryu.“, beantwortete sie ihre Frage selbst. „Es war doch auf jeden Fall beabsichtigt, dass diese Information verwertet wird. Jemand von der königlichen Garde soll also bei diesem Gasthof aufkreuzen. Aber warum?“

„Ich weiß nicht.“, log Allen.

„Und noch viel interessanter ist die Frage, ob es das Ziel von Siri und Ryu ist, irgendeinen Gardisten anzulocken oder speziell dich.“, köderte sie ihn weiter, doch der Ritter ließ sich zu keiner Reaktion verleiten. „Du verschweigst mir etwas.“, schlussfolgerte Merle. Allen aß weiter. „Was ist in der Waffenkammer passiert?“, hakte sie nach.

„Ich übernehme die erste Wache.“, verkündete er.

„Wenn du unbedingt willst…“, meinte sie. „Ich werde aber nicht schlafen können.“

„Warum nicht?“, wunderte sich Allen.

„Offenbar vertraust du mir nicht. Warum sollte ich dir trauen können?“, erklärte sie. Demonstrativ wendete er sich ab. „Sag mir endlich, was zwischen dir und Siri vorgefallen war! Oder muss ich die Information aus dir herausprügeln?“, schrie sie ihn an. Sein Wutausbruch kam so überraschend wir heftig.

„Erzähl du mir erst einmal, warum du Siri in Farnelia so sehr kränken musstest!*“, brüllte Allen zurück und starrte Merle wütend an. Diese war starr vor Angst. Allein die Tatsache, dass der Himmelsritter für sein ausgeglichenes Wesen bekannt war, macht ihn noch Furcht einflößender. Einen Augenblick später hatte er sich wieder beruhigt. „Entschuldige bitte! Ich war nicht mehr ich selbst.“, bat er. Oder dein Selbst kommt nur zum Vorschein, wenn du wütend bist, dachte Merle und nahm sich vor, dies später zu ergründen. Jetzt ging es ihr erst einmal darum die Tür offen zu halten, die er aufgestoßen hatte.

„Siri hat dir also von Hitomis Entführung erzählt.“, stellte sie fest. „Es war ein Test.“

„Ein Test?“, fragte Allen ungläubig.

„Ja, ich hatte ihr den Steckbrief vor die Füße gelegt und sie von Van zu deinem Konvoi schicken lassen**, damit sie dieser falschen Fährte folgt. In Wahrheit war ich schon längst mit Hitomi bei…“ Einen Moment lang überlegte Merle, ob sie Allen von dem engen Verhältnis der Menschen in ihrer Heimat zu den Wolfsmenschen erzählen sollte. „…Verbündeten untergetaucht. Siri sollte in Astoria Nachforschungen anstellen und dann mit der Erkenntnis, dass der Steckbrief eine Finte war, nach Farnelia zurückkehren.“

„Wozu das alles?“, erkundigte er sich.

„Ich wollte sehen, ob sie auch Niederlagen einstecken kann.“, sagte sie Schulter zuckend. „Diese bringt das Leben nun mal mit sich.“

„Denkst du, sie war bereit dafür?“

„Damals hatte ich es zumindest geglaubt. Offensichtlich war ich im Irrtum.“

„Es war nicht deine Schuld. Dass Trias es auf sie absehen würde***, konntest du ja nicht ahnen.“, sagte Allen einfühlsam.

„Danke, das weiß ich selbst.“, schnauzte Merle. „Im Übrigen bin ich kein Kind mehr, das man schützend in die Arme nehmen muss.“

„Das ist wahr.“, seufzte er und beobachtete das Feuer.

„Und?“

„Was und?“

„Ich hab dir erzählt, was du wissen wolltest. Jetzt bist du dran.“, verlangte sie.

„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Sie hat mich herausgefordert, bevor sie mich überwältigt hat.“, erwiderte Allen.

„Zu was herausgefordert?“, hakte Merle nach.

„Ich wollte mit ihr reden, doch sie weigerte sich. Sie sagte, erst wenn ich sie gefunden hätte, wäre sie dazu bereit.“, führte er weiter aus.

„Also ein Versteckspiel, gepaart mit einer Schnitzeljagd?“

„So in etwa. Dabei stellt sich aber die Frage, ob Siri mich nur von Palas fernhalten soll, damit ich Trias nicht mehr stören kann, oder ob sie mich zu einem bestimmten Ort locken soll.“

„Keine Ahnung, aber ich vermute, dass sie ihr Ziel nicht dem Zufall überlässt.“, sagte sie.

„Warum also Farnelia?“, fragte sich Allen.

„Ich kann natürlich nur raten, aber in etwa einem Monat findet dort ein Turnier statt. Das erste nach dem Krieg. Vielleicht will sich Siri dort etwas austoben.“

„Wieso sollte Siri eingeladen sein?“

„Es ist ein Turnier mit offenen Listen.“, erklärte Merle. „Jeder kann teilnehmen.“

„Dann werden die Teilnehmer wohl kaum Siris Ansprüchen genügen.“, zweifelte er.

„König Van wird auch kämpfen. In den Kneipen von Palas hab ich gehört, dass seine Teilnahme viele andere Zusagen von berühmten Schwertkämpfern mit sich gezogen hat.“ Merle gluckste. „Die armen Narren wollen wohl den Mythos zerstören, der sich um ihn während den Zaibacher Kriegen gebildet hat.“

„Machst du dir denn keine Sorgen um ihn?“, wunderte sich Allen.

„Warum sollte ich?“, äußerte sie sich zuversichtlich. „Manche würden sagen, er sei durch die ganze Schreibtischarbeit eingerostet. Ist er aber nicht. Er hat sich immer etwas Zeit für das Training genommen. Noch dazu hat ihn die Politik zu einem ausgezeichneten Taktiker geformt. Inzwischen kann er seine Gegner analysieren und nutzt deren Schwächen konsequent aus.“

Furcht erregend, dachte Allen und fing an zu zittern. Merle beobachtete seine Reaktion und lächelte.

„Manchmal kann ich euch Menschen wirklich nicht verstehen. Warum seid ihr nur so scharf drauf euch mit übermächtigen Gegnern zu messen? Was dabei alles auf dem Spiel steht, kümmert euch nicht.“

„Willst du nicht langsam schlafen gehen?“, grollte Allen.

„Kann ich machen, aber ich werde kein Auge zudrücken können.“

„Ich hab dir doch alles erzählt, was du wissen wolltest!“

„Schon, aber ich kann einfach nicht schlafen, wenn es so ruhig ist.“, entgegnete Merle störrisch. Erst wollte Allen sie zu Recht weisen, doch dann lauschte er. Nicht einmal das Zirpen von Grillen war zu hören. Warnend sah er Merle an, doch sie war die Ruhe selbst.

„Vier Männer in den Baumkronen, einer in jeder Himmelsrichtung.“, klärte sie ihn grinsend auf. Als wäre dies das Starsignal gewesen, sprangen die vollkommen in schwarz gehüllte Gestalten aus dem Schutz der Bäume heraus auf die Lichtung.

„Ich muss euch enttäuschen.“, sagte Allen, während er aufstand und seine rechte Hand im Mantel verschwand. „Bei uns werdet ihr nichts außer der Tür ins Jenseits finden.“

„Wenn ihr wirklich Allen Shezar seid, ist eure Leiche ihr Gewicht in Gold wert.“, erwiderte einer der Männer schadenfroh. „Attacke!“

Drei Angreifer gingen mit gezückten Schwertern auf Allen los, während der letzte sich selbstsicher Merle näherte. Diese machte sich erst gar nicht die Mühe nach einer Waffe zu greifen. In einer Sekunde hatte sie seine lüsternen Augen noch mit ruhigem Blick erwidert, in der nächsten war sie schon unter die Deckung ihres Gegners getaucht und stach mit einer ganzen Hand in seinen Hals. Ihre Krallen drangen mit Leichtigkeit durch die dünne Haut und als Merle sie wieder herauszog, folgte ihr eine Fontäne as Blut.

Während dessen preschte Allen in Formation der Angreifer hinein. Deren Unsicherheit ausnutzend trieb er seine Klinge zwischen Rippen und Hüfte durch den Körper des linken Feindes und schnitt nach einer dreiviertel Drehung entgegen dem Uhrzeigersinn der mittleren Person den Brustkorb auf. Sein letzter Gegner kam brüllend auf ihn zu gestürmt, doch Allen wich mit einem Schritt zur Seite aus und beendete dessen Leben mit einem Hieb in das Rückmark.

„So ein Mist!“, fluchte Merle, während Allen sein Schwert an der Kleidung von einem der Toten abwischte. „Wir hätten wenigstens einen von ihnen am Leben lassen sollen.“

„Und was dann?“, fragte er. Sorgfältig durchsuchte er die Leichen. „Unbewaffnete Gefangen darf man nicht töten. Hätten wir sie mitgenommen, würden sie uns nur aufgehalten und sie freizulassen wäre zu gefährlich gewesen. Sie hätten uns nur ein weiteres Mal angegriffen.“

Auch Merle kniete sich über ihr Opfer und wühlte in seinen Taschen.

„Was gefunden?“, fragte sie.

„Nichts, keine Dokumente, keine Steckbriefe, keine Anhaltspunkte darüber, wer oder was sie waren.“, erwiderte er enttäuscht.

„Bei dem hier ist auch nichts.“

„Ihren eigenen Aussagen zufolgen waren es Kopfgeldjäger, aber das sagt uns nicht, wer sie…“

„Sei still!“, mahnte Merle und lauschte in die Nacht. Sie hätte schwören können, dass sie das Knacken eines Zweiges gehört hatte, aber sie konnte außer Allen weit und breit niemanden spüren. Dennoch schien etwas in dem Wald zu lauern. Etwas, das schwärzer war als die Finsternis, die es umgab. Sie spähte in die Richtung, in der das Objekt lag, doch selbst ihre Katzenaugen konnten zunächst nichts ausmachen.

Doch dann schien sich ein Schatten zu bewegen und ein Mann kam wie eine Kanonenkugel aus dem Wald heraus auf Merle zugeschossen. Diese konnte sich gerade noch rechtzeitig nach hinten abrollen und den Angreifer über sich hinweg stemmen. Der verhüllte Mann, flog im hohen Bogen über das Lagerfeuer, rollte sich ab und noch ehe Allen bei ihm war, stand er wieder fest auf seinen Füßen. Mit diesen trat er den Ritter und schmetterte ihn gegen ein Baum. Der Mann zog sein Schwert, doch ehe er ihn töten konnte, war Merle zur Stelle und stach mit ihrem Dolch auf ihn ein. Indes bemühte sich Allen bei Bewusstsein zu bleiben, während er erschrocken und fasziniert dem Duell zusah.

Den schnellen und kraftvollen Schwertsschwüngen konnte das Katzenmädchen nur durch ihre geschickte Körperbeherrschung ausweichen, während sie mit ihrem Dolch immer wieder Lücken in der Verteidigung ihres Gegners suchte. Ihr Herz blieb fast stehen, als sie spürte, wie ihr Widersacher ihr linkes Handgelenk zu fassen bekam. Sofort begann er sich zu drehen, schneller und immer schneller schleuderte er Merle im Kreis um sich herum, bis er schließlich losließ und sie mit Knochen brechender Geschwindigkeit auf einen der Bäume zuraste. Allen hielt den Atem an und verfiel in Panik.

„Merle!“, rief er verzweifelt, doch sein Körper fesselte ihn an dem Baum. Doch wieder einmal konnte sie sich auf ihre Katzeninstinkte verlassen und kam mit den Füßen voran auf dem Stamm auf. Der Baum heilt den Druck ihres Aufpralls stand. Für eine Sekunde schien es, als würde sie an der Rinde kleben. Merle nutzte die Zeit um mit der linken Hand eine paar Wurfdolche aus dem Innern ihres Mantels zu zaubern und stieß sich dann vom Baum ab. Nun kam sie waagerecht auf den Mann zugeflogen, der sich grinsend darauf vorbereitete sie mit seiner Klinge aus der Luft zu holen. Sie jedoch gab ihm keine Chance. Noch während des Fluges warf sie ihre Messer, die, angetrieben von ihrem Wurf und ihrer Fluggeschwindigkeit, den Gegner vor ihr erreichten. Zähneknirschend musste er die Messer mit seinem Schwert abwehren und die dadurch entstehende Lücke nahm Merle dankbar an. Mit dem Dolch in ihrer rechten Hand voran rammte sie den Körper. Beide schlitterten über den Boden und wurden schließlich durch einen Stamm gestoppt.

„Sag mir, was ich wissen will, bevor du dein Leben aushauchst!“, keuchte sie. Der Mann lachte.

„Glaubst du ein simpler Stich kann mich töten?“, flüsterte er, bevor er sie samt ihren Dolch von sich wegstieß. Beinahe lässig richtete er sich auf und strich mit seiner Hand verächtlich über die Wunde in seinem Bauch. Dann verschwand er in die Dunkelheit des Waldes.

„Scheiße!“, schrie Merle und stand hektisch auf. „Bleib beim Lager!“, befahl sie Allen. Der wollte widersprechen, doch da war sie schon weg.
 

*SdE 11.Kapitel **SdE 12.Kapitel ***SdE 30.und 31.Kapitel

Sorge und Vertrauen

Es war früh am morgen, als Allen das Lager abbrach und die Pferde sattelte. Die ganze Nacht über war er wach geblieben und hatte auf seine Partnerin gewartet, doch von Merle fehlte weiterhin jede Spur. In der Dunkelheit wäre eine Suche wenig Erfolg versprechend und viel zu gefährlich gewesen. Immer wieder hatte er sich selbst sagen müssen, dass er mit einer so übereilten Aktion weder sich noch ihr einen Gefallen tat. Doch jetzt, wo die Sonne aufging hielt ihn nichts mehr zurück. Er stieg auf sein Pferd und zog Merles mit sich. Den Blick auf den Boden gerichtet und im vollem Vertrauen auf den Sinn der seiner Reittiere für Gefahren, ritt er zwischen die Bäume hindurch. Im Gegensatz zu ihrer Beute hatte das Katzenmädchen eine deutliche Spur hinterlassen, der er folgen konnte. Tiefe Abdrücke im Boden, abgebrochene Zweige…sie war auf ihrer Jagd nicht zimperlich gewesen.

Er folgte der Spur schon ein paar Stunden lang, als plötzlich eine schwarz gehüllte Gestalt aus den Schatten eines Baumes trat. Instinktiv griff Allen nach seinem Schwert, merkte dann aber, dass die Pferde ganz ruhig blieben.

„Wer bist du?“, fragte er gespannt.

„Dein schlimmster Alptraum, wenn du noch einmal eine Bitte von mir missachtest.“, antwortete eine genervte Mädchenstimme. „Warum bist du nicht beim Lager geblieben?“

Innerlich atmete Allen auf.

„Ich hab das Lager bei mir.“, rechtfertigte er sich und wies auf die Pferde. Merle schüttelte verärgert den Kopf und nahm ihren Hut ab.

„Du vertraust du mir noch immer nicht.“, klagte sie ihn mit funkelnden Augen an.

„Wenn man jemanden vertraut,…“, sagte Allen vorsichtig. „…heißt das noch lange nicht, dass man aufhört, sich um diesen Menschen zu sorgen.“

Verwundert sah Allen, wie Merles Kopf und ihr Blick nach unten sackten. Hatte er einen wunden Punkt getroffen?

„Ein Mensch? Bin ich das wirklich?“, flüsterte sie niedergeschlagen.

„Was sagtest du gerade?“, fragte der Ritter, der sie nicht verstanden hatte. Sofort richtete Merle ihre Augen wieder nach vorn.

„Nichts.“, behauptete sie. „Übrigens vertraut mir König Van so sehr, dass er sich um mich überhaupt keine Sorgen macht. Das solltest du auch tun!“

Daran hatte Allen Zweifel, doch er äußerte sie nicht. Er ließ sich von Merle die Zügel ihres Pferdes aus der Hand reißen. Als sie aufsaß, streifte ihr Mantel eine Lichtsäule, die einen dunkelroten Fleck auf dem Stoff sichtbar werden lies. Allen erschrak.

„Merle, du bist verletzt!“, sagte er besorgt.

„Das Blut gehört nicht mir.“, beruhigte sie ihn. „Der Gezeichnete hat mir nur einige seiner Menschmutanten auf den Hals geschickt, um seinen strategischen Rückzug zu decken. Er hat ein ganzes Dorf voll von ihnen.“

„Ein ganzes Dorf?“, wunderte sich Allen.

„Ja, ich hab es gesehen und bereits auf meiner Karte markiert. Sie betreiben Landwirtschaft, roden den Wald, vergrößern die Anbauflächen und legen Vorräte an.“, berichtete Merle, während sie ihr Pferd antrieb.

„Möchte Trias einen Feldzug starten?“

„Könnte sein. Aber vielleicht will er sich auch nur bereichern. Astoria muss für die Bevölkerung von der Zaibacher Hauptstadt sorgen. Die Kornkammern des Zaibacher Reiches wurden jedoch Vasram und Chuzario zugesprochen, die sich weigern zu exportieren. Nahrungsmittel sind daher sehr gefragt und werden teurer.“

„Wenn es so ist, müsste es ein Kontakt geben, der die Geschäfte abwickelt. Die Kunden können das Dorf ja schlecht betreten.“, vermutete Allen, der ihr folgte. „Hoffen wir, dass er sich in der nächsten Herberge aufhält und nicht in Palas.“

„Keine Sorge, das wird er, wenn es ihn gibt. Ich glaub nicht, dass dieses Getreide in den öffentlichen Markt gelangt. Und Herbergen in entlegenen Gegenden sind immer kleine Märkte für sich, die sich schlecht überwachen lassen.“, äußerte sich Merle zuversichtlich.

„Selbst wenn, wie finden wir ihn? Wir können ja schlecht reingehen und fragen.“

„Stimmt, aber es wird wohl ein Gezeichneter sein. Die sind in einer Masse von Leuten leicht aufzuspüren.“

„Du kannst sie spüren?“, staunte er.

„Natürlich.“, beantwortete sie seine Frage. „Warum sollte ich es nicht können?“

„Na, ich dachte…“, versuchte Allen zu erklären. „…, dass Van und dieser Junge vom Tempel es nur können, weil sie vom Drachenvolk abstammen.“

Amüsiert blickte Merle über ihre Schulter.

„Und wie erklärst du dir Hitomi? Sie war es schließlich, die Van seine Kräfte gezeigt hat.“, fragte sie.

„Sie kommt doch vom Mond der Illusionen.“, konterte Allen.

„Trotzdem ist sie ein Mensch wie jeder andere auch.“, widersprach sie. „Im Grunde ist die Kraft der Gedanken auch für jedes intelligentes Wesen zugänglich, wenn dieses nur bewusst daraufhin arbeitet. Van hat mir gezeigt, wie ich Kraft meine Gedanken Personen finden kann und ich bin sogar noch weiter gegangen. Ich kann die Gefühle einer jeden Person spüren.“

„Und Gezeichnete fühlen sich anderes an?“, erkundigte er sich.

„Das weiß ich nicht, da ich noch nie in einen reinschauen konnte. Allerdings haben alle, die ich bisher getroffen habe, sich abgeschirmt. Das macht sie einerseits zwar schwer auffindbar, wenn sie alleine sind, aber zwischen anderen Lebewesen fallen sie durch den leeren Fleck auf, den sie bilden.“, erklärte Merle geduldig. Allen dachte sorgfältig nach, bevor er seine nächste Frage stellte.

„Tust du das auch?“

„Hä?“

„Schirmst du deine Gedanken ab?“, wiederholte er seine Frage.

„Natürlich.“, antwortete sie.

„Tu das nicht!“, mahnte er. „Du bringst dich damit selbst in Gefahr.“

„Das musst du mir erklären.“, verlangte sie.

„Ich hab mich den ganzen Abend schon gefragt, warum der Gezeichnete von letzter Nacht dich zuerst angegriffen hat. Mich hat er überhaupt nicht als Gefahr angesehen. Du aber bist ihn durch deine Abschirmung aufgefallen. Ist doch klar, dass er sich den stärkeren von uns zuerst schnappen wollte.“

Merle vergaß durch Allens Kompliment fast das Gesprächsthema.

„Und? Ist doch gut so.“

„Noch besser wäre es, wenn unsere Gegner überhaupt nicht wüssten, womit sie es zu tun bekommen. Du könntest noch viel effektiver zuschlagen, wenn sich unsere Feinde auf mich konzentrieren. Und da ich mich nicht abschirmen kann, kann man uns so oder so durch unsere Gedanken finden.“, argumentierte er. Das Katzenmädchen wendete sich ab.

„Dann musst du aber die erste Welle ihrer Angriffe allein abwehren. Ich kann dir so schnell nicht helfen.“

„Die kann ich parieren. In dem Punkt musst du mir vertrauen.“

Ein verlegenes Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen. Sie atmete tief durch und riss dann die Mauern um ihren Geist nieder.

„Ich hab es getan. Hast du sonst noch Fragen?“, erkundigte sie sich.

„Nein, nur eine Bitte.“, antwortete Allen.

„Schieß los!“

„Würde es dir etwas ausmachen, mich zu unterrichten?“

Merle kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

„Du willst, dass ich dir etwas beibringe?“, vergewisserte sie sich, nachdem sie sich wieder zu ihm umgedreht hatte.

„Nicht irgendetwas. Ich will von dir lernen, wie man die Kraft der Gedanken beherrscht. So wie die Bewohner von Atlantis es taten.“, präzisierte er seine Bitte. Sie lächelte. Der große Allen Shezar wollte von ihr, der kleinen Merle, lernen. Doch ihr Unterbewusstsein gestatte ihr nur einen Moment des Stolzes. Im nächsten Augenblick kam ihr der letzte Kampf mit Allen ins Gedächtnis.

„Meinetwegen, aber nur wenn du mich in Kampftechniken unterrichtest.“, forderte sie. Nun war es Allen, der in Erinnerungen schwelgte. Er sah sich selbst, wie er Siri in dem Trainingsraum seiner Villa in Kendo unterrichtete. Das einzige Unwirkliche an der Erinnerung war, dass es nie statt gefunden hatte. Es gab so vieles, das er diesem viel versprechenden Mädchen beibringen wollte. Nun musste er sich mit nichts weniger als ihrer ehemaligen Meisterin zufrieden geben.

„Einverstanden!“
 

„War es klug, sie gehen zu lassen?“

Der Gezeichnete machte es sich auf provisorischen Thron gemütlich, den seine Dienerschar für ihn hergestellt und im größten Gebäude des Dorfes aufgestellt hatte. Mit Skepsis sah er auf die beiden Jugendlichen, einen Jungen und einem Mädchen, herab, die beide als einfache Bauern verkleidet waren.

„Meine Befehle sind durch euren Meister bestätigt worden. Ihr habt kein Recht sie zu hinterfragen.“, belehrte ihn Siri mit herrischer Stimme.

„Pah, du hast gut reden!“, entgegnete der Gezeichnete. „Du musst schließlich nicht mit dem Gedanken leben, dass hier jeden Moment die Armee von Astoria aufkreuzen könnte.“

„Das wird sie nicht.“, versicherte sie. „Eure einzige Sorge hat es zu sein, dass genügend Vorräte bereit liegen, wenn es zum Sturm auf Palas kommt.“

„Sag mir nicht, was ich zu tun hab! Dafür bist du einfach zu grün hinter den Ohren.“, fuhr er Siri an. Uneingeschüchtert erwiderte sie seinen Blick. Der Gezeichnete wollte schon fortfahren, da verzerrte sich sein Gesicht vor lauter Schmerzen und er schrie auf.

„Sagt mir nicht, was ich zu tun habe!“, warnte Siri ihn. „Dafür seit ihr viel zu weit unten in der Befehlskette.“

„Wie kann das sein?“, keuchte der Gezeichnete. „Du hast keine Macht über mich.“

„Nein, aber euer Meister ist untersteht meinem Meister. Und nur eine kleine Empfehlung von mir reicht aus, um euer Dasein auf grausamste Art und Weise zu beenden. Wenn ihr das nicht wollt, werdet ihr Allen Shezar kein Haar krümmen!“, drohte sie und wandte sich zur Ausgangstür. Plötzlich vielen zwei Mutanten über sie her, doch Ryu stellte sich schützend vor ihren Rücken und packte jeden der Angreifer am Hals. Ohne Mühe hob er sie hoch. Zappelnd und kreischend versuchten sich die beiden verfluchten Menschen sich zu befreien, bis er einmal fest zudrückte und ihnen das Genick brach. Siri ging währenddessen seelenruhig aus dem Haus. Nachdem Ryu sich vergewissert hatte, dass niemand sie mehr bedrohte, folgte er ihr. Als dem Gezeichneten berichtet wurde, dass beide das Dorf verlassen hätten, grinste er.

„Soll mir recht sein.“, flüsterte er. „Aber mit der Katze hab ich noch eine Rechnung offen.“

Den Tod vor Augen

„Wenigstens heute Nacht können wir ruhig schlafen.“, kommentierte Allen, als er das Gasthaus im Licht der Dämmerung aus der Nähe betrachtete.

„Nicht, wenn wir Recht haben und sich Gezeichnete da drin befinden.“, erinnerte Merle ihn. Auch ihr Blick blieb an den hohen Mauern haften, die das Gebäude umgaben. Die eigentliche Herberge war im Haupthaus untergebrachte, der Stall und das Lager im Seitenflügel. Nur ein Tor führte durch das dicke Bollwerk hindurch. Zusammen ritten Merle und Allen an den beiden Torwachen vorbei in die Festung hinein. Nachdem sie ihre Pferde in den Stall geführt und sie versorgt hatten, aßen sie eine warme Mahlzeit und mieteten sich ihre Zimmer beim Wirt. Allen fiel auf, dass Merle während dem Gespräch dem ruppigen Mann heimlich einen Umschlag übergab, doch er ließ sich nichts anmerken. Vor seinem Zimmer sprach er sie darauf an.

„Wirst du dich noch mit ein paar alten Freunden treffen?“, fragte er.

„Wie bitte?“, wunderte sich Merle.

„Als ich mit Siri hier war, hatte ich den Eindruck, dass sie hier ein paar Leute kennt. Auf dich trifft das ebenfalls zu.“, erklärte er.

„Gute Nacht, Allen.“, wünschte sie ihm und nahm ihr Gepäck aus seinen Händen. Dann zeigte sie ihm die kalte Schulter und ging in ihr Quartier. Allen, der von dieser Art der Zusammenarbeit nicht sehr begeistert war, öffnete die Tür zu seinem Zimmer und trat ein. Nach einem Besuch in den Gemeinschaftsduschen, zog er sich eine Hose und ein einfaches Hemd für die Nacht über und viel todmüde ins Bett.
 

Merle wusste nicht genau, was sie geweckt hatte. Ihr war nur bewusst, dass sie mit gezogenem Dolch kerzengerade in ihrem Bett saß, ihre weit geöffneten Augen die Dunkelheit bis ins Nichts durchleuchteten und ihr Herz raste. Was war los? Erst nach ein paar Augenblicken bemerkte sie einen stechenden Geruch. Es brannte!

Sie stürzte auf ihr Fenster zu und öffnete es. Von ihrem Zimmer aus hatte sie den ganzen Innenhof der Feste im Blick und es sah nicht gut aus. Der Stall und das gesamte Erdgeschoß standen in Flammen. Aus den brennenden Gebäudeteilen drangen Mark erschütternde Schreie von Mensch und Tier gleichermaßen. Sie waren vom Feuer völlig überrascht worden. Selbst den wenigen Wachen schien das Ausmaß der Katastrophe erst jetzt klar zu werden. Warum hatte niemand Alarm geschlagen?

Der dumpfe Klang einer Glocke erinnerte Merle daran, dass auch ihr Leben in Gefahr war. Schnell schloss sie das Fenster und überlegte, ob sie versuchen sollte durch das Erdgeschoss zu entkommen. Wenn sie sofort loslaufen würde, könnte sie es vielleicht noch schaffen. Doch ein Blick auf ihre gegenwärtige Kleidung lies sie diesen Plan verwerfen. Nur mit einem Nachthemd würde sie da draußen im Wald wohl kaum überleben. Ein Sprung aus dem sechsten Stock schien dagegen noch machbar zu sein und ließ ihr außerdem genug Zeit, um ihre Ausrüstung anzulegen. Dann fiel ihr Allen ein. Er würde einen solchen Fall nicht überleben, was bedeute, dass sie ihn tragen musste. Einen Moment fragte sie sich, ob sie ihm so unter die Augen treten konnte, doch ihr Verstand besiegte ihre Scham. Schließlich brauchte er ebenfalls Zeit um sich umzuziehen und sie musste ihn von ihrem Plan in Kenntnis setzten, ehe er etwas Dummes machte. Als sie in den Flur trat, kamen ihr panische Gesichter entgegen, die mit ihren wertvollsten Besitz in den Händen auf die Treppe zu liefen. Verzweifelt kämpfte Merle gegen den Strom an.

Plötzlich musste sie an den Tag denken, als Farnelia von den Zaibachern zerstört worden war. Damals hatte sie sich auch gegen eine Menschenmenge gestemmt und verloren. Hilflos hatte sie mit ansehen müssen, wie Van allein gegen die Zaibacher Armee gekämpft hatte und von einer Lichtsäule verschluckt worden war. Die Unwissenheit danach, was mit ihrem König geschehen war, hatte ihr schier den Verstand geraubt. Keinesfalls wollte sie das wegen Allen noch mal durchmachen. Deswegen stieß sie auch jeden rücksichtslos zur Seite, der sie packen und mit sich ziehen wollte. Schließlich schaffte sie es bis in sein Zimmer, doch was sie dort sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Das Zimmer war ein einziges Chaos. Allens Sachen lagen wie wild durcheinander und die Möbel waren in ihre Einzelteile zerlegt worden. Das waren keine Spuren, wie sie nach einem überstürzten Aufbruch auftraten. Hier hatte ein Kampf stattgefunden. Merles scharfe Augen entdeckten Allens Schwert in dem Durcheinander. Es hatte sich im Holz des Bettes verkeilt. Wenn seine Klinge noch hier war, er aber nicht, konnte das nur…

Entschlossen schüttelte sie diesen Gedanken ab. Selbst nach der Zerstörung von Farnelia hatte sie Van nicht aufgegeben und es gab keinen Grund, warum es bei Allen anders sein sollte. Sein Schwert schien zu pulsieren, als sie dessen Griff packte und es an sich riss. Erfüllt mit neuem Mut rannte sie den verwaisten Gang hinunter bis zu ihrem Zimmer. Dort angekommen, schnallte sie sich ihr Wurfdolchmagazin über ihren Oberkörper. Dann ließ sie einen Moment der Ruhe an sich vorbei ziehen, während sie ihren Blick nach innen richtete. Sofort strömten die Angst und die Schmerzen der Menschen in diesem Gasthaus in ihr Bewusstsein und bombardierten ihren Verstand, doch sie hielt auch diesem Ansturm stand. So sehr sie sich jedoch bemühte, sie konnte Allen in dem Orkan aus panischen Geistern nicht finden. Es war, als wäre er vom Erdboden verschluckt worden. Ein weiterer Beweis dafür, dass er…

„Nein!“

Merle wollte und konnte ihn nicht einfach aufgeben! Sie musste ihn retten, auch wenn das hieß, dass sie jedes Zimmer in jedem Stockwerk durchsuchen musste.

Sofort machte sie sich auf den Weg zu Treppe. Sie war schon zwei Stockwerke tiefer, als es verdächtig still wurde. Alles, was sie von weiter unten vernahm, war das Knistern der Flammen und ein lauter werdendes Kreischen, das aber nicht von Schmerz, sondern von purem Wahnsinn erfüllt war. Ein kurzer Check der Gedankenwellen brachte ihr die Bestätigung. Es gab hier keine Menschen mehr, nur noch Mutanten und ein einzelnes Katzenmädchen…mit übermenschlichen Kräften, wie sich Merle selbst ins Gedächtnis rief.

Das Stockwerk unter ihr war bereits verloren. Also arbeitete sie sich im vierten durch alle Zimmer, wobei sie immer nur einen kurzen Blick riskierte und dann weiterlief. Mehr konnte sie sich angesichts der Bedrohungen, die von unten immer näher kamen nicht erlauben. Als sie zur Treppe zurückkam um in den fünften Stock zu gelangen, war diese bereits fest in der Hand der Mutanten. Sie verzweifelte, doch dann kam ihr Hitomi in den Sinn, wie sie selbstbewusst ihrer Kette hinterher gejagt hatte. Wie sie beim Sprung in die fliegende Zaibacher Festung über sich selbst hinaus gewachsen war.

„Schau zu!“, rief Merle und stürmte mit Allens Schwert auf die Mutanten zu. Dem ersten Gegner begegnete sie mit einem Luftsprung. Sie landete auf dessen linker Schulter, stieß sich wieder ab und vollführte einen Ratschlag in der Luft, bei dem sie die Klinge unter ihren Kopf kreisen ließ und so die Gegnerschar dezimierte. Zielsicher landete auf dem Treppengeländer und lief auf dem schmalen Balken an den Mutanten vorbei in das fünfte Geschoss. Hier konnte sie nur noch im gestreckten Laufschritt den zentralen Gang durchqueren und dabei die Türen aufstoßen. Doch auch in diesem Stockwerk war von Allen keine Spur. Schließlich endete der Gang in eine Sackgasse. Merle wendete sich von der Wand ab und sah ihren Gegnern in die Augen.

Sie blieb erstaunlich ruhig angesichts der Masse an Zähne fletschenden Mutanten, die sich vor ihr erhob. Es waren auch viele Gäste darunter. Menschen, denen sie heute höchstpersönlich begegnet war. Ganz hinten konnte sie sogar ihren guten Freund, den Wirt, erkennen. Eine Träne löste sich von ihrem rechten Auge. In diesem Augenblick fasste sie einen weiteren Entschluss. Sie würde diese Menschen nicht dem langen und schmerzhaften Tod durch die Flammen ausliefern. Sie würde der Bote sein und Allens Schwert ihre Sense. Dies war die beste Art und Weise, wie sie Allen Shezar, dem Ritter des Himmels, dem bestem Schwertkämpfer von ganz Gaia, gedenken konnte. Auch wenn es ihren eigenen Tod bedeuten würde, das spielte für sie keine Rolle mehr. Wenn man Hitomis Geschichten trauen konnte, gab es sowieso einen Ort an dem sie ihn wieder sehen konnte. An dem sie beide wieder vereint sein werden…

Plötzlich setzte sich Merle in Bewegung. Mit einer Geschwindigkeit, die sie selbst schwindlig werden ließ, fegte sie durch die Reihen der Mutanten. Mit einer Kraft, deren Ausmaße ihre bisherigen Grenzen sprengten, zerteilte sie deren Körper. Ohne auch nur einen Augenblick an ihre eigene Sicherheit zu denken, stieß sie das Schwert in ein Herz, zog es dann wieder hinaus, um ein Monster von der rechten Schulter bis zu linken Hüfte zu spalten. Sie nahm den Kampf gar nicht mehr bewusst wahr, sondern ließ sich leiten. Von ihren Instinkten, von ihrer Trauer, von ihrem Hass…

Dies war der Punkt, an dem Merle stoppte. Auf einmal wurde ihr klar, was für ein Ungeheuer sie selbst geworden war. Ein Mutant nutzte ihre Ohnmacht aus, packte sie an ihrem Hals und schmetterte sie gegen die Wand. Gierig leckte dieser seine Zähne, ehe er sie zu Merles Nacken führte. Von ihrer Angst getrieben verpasste sie ihm ein Kopfnuss, woraufhin er losließ und sie zugriff. Ein Mal schleuderte sie in ihn um ihre eigene Achse und dann auf die restlichen Mutanten, die noch im Gang standen. Fast ohne Widerstand schoss das lebende Projektil durch die Menge und riss die meisten um.

Die von Merle freigesetzte Kraft schien zuviel für das von den Flammen geschwächte Gebäude zu sein. Der Boden wackelte, die Wände zitterten und ein Grollen fuhr durch die Gänge. Ihre Panik steigerte sich ins Unendliche. Geschockt und verängstigt sah sie zu, wie sich alles um sie herum sich aufzulösen schien.

Doch dann hörte sie ihn. Allens Stimme war in ihrem Kopf. So klar und deutlich, als würde er neben ihr stehen. Sie war wie ein Klang aus einer anderen Welt. Er flehte sie an. Sie sollte aufstehen und sich retten. Sein Wunsch war ihr Befehl.

Merle richtete sich auf, stieß die Tür zum nächstgelegenen Gästezimmer auf, rannte hindurch, sprang und schraubte sich durch das splitternde Glas des Fensters ins Freie. Hinter ihr gaben die unteren Stockwerke der Feste nach und das Gebäude verschwand krachend in einer riesigen Wolke.

Ihre Katzeninstinkte ließen Merle auf allen vieren landen, jedoch konnte sie durch den dichten Staub nichts sehen und landete mit einem Fuß auf einer Kante. Verglichen mit ihrem Herzen war dies nur ein geringer Schmerz. Ihrer Orientierung beraubt versuchte sie der brennenden Asche in der Luft zu entkommen.

Leben oder leben lassen

Mit Allens Schwert in der Hand und nur mit einem schlichten Nachthemd bekleidet, über dem sie ihr Wurfmessermagazin trug, torkelte Merle aus dem Trümmerhaufen hinaus, der einmal eine gut gesicherte Herberge gewesen war. Eine dicke Staubwolke umgab die eingestürzte Ruine. Die winzigen, von der heißen Luft aufgewirbelten Körner legten sich auf sie wie Schleier, der ihren ganzen Körper bedeckte. Bei jedem Schritt, den sie machte, entzündete sich der Schmerz in ihrem rechten Fußgelenk von neuem und brannte nur langsam aus. Schließlich schaffte sie es dem undurchdringlichen Nebel zu entkommen, doch der Gestank von verbranntem Fleisch blieb. Sobald sie wieder Erde und keine Trümmer mehr unter ihren Füßen hatte, versagten ihre Knie. Sie knickte ein, fing sich gerade noch mit ihrer freien Hand ab und erbrach. Nachdem sie ihren gesamten Mageninhalt ausgeleert hatte, schaffte sie es gerade noch so, sich zur Seite zu Rollen, ehe sämtliche Glieder ihren Dienst aufgaben und sie auf ihrem Rücken liegen blieb. Ohne, dass sie es wollte, fielen langsam ihre Augen zu…bis ein mentaler Kontakt sie wieder aufriss.

Auf einmal konnte sie Allen wieder spüren. Wenn ihre Sinne sie nicht täuschten, befand er sich weniger als zwanzig Meter von ihr entfernt am Waldrand. Merle mobilisierte ihre letzten Kraftreserven, um wieder aufstehen zu können. Zu allem entschlossen lief sie dem Wald entgegen. Schon nach ein paar Metern erkannte sie im Schatten der Bäume zwei Personen. Während sich ihre Augen immer mehr an die Dunkelheit gewöhnten und deren Lichtempfindlichkeit sich immer weiter steigerte, erkannte sie Allen. Er lag mit dem Gesicht auf dem Boden. Seine Hände waren über seinem Rücken aneinander gefesselt. Höhnisch grinsend stand der Gezeichnete, dem sie letzte Nacht begegnet waren, mit einem Fuß auf seinem Rücken und sah ihr zu, wie sie immer näher kam.

„Bis dort hin und nicht weiter!“, rief er ihr zu und holte ein Dolch raus, den er locker zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt über Allens Hals hängen ließ. „Oder dein Gefährte stirbt!“

Im Schatten der ersten Baumkronen kam sie zum Stehen und fauchte den Gezeichneten an.

„Lass ihn gehen oder du bekommst meine Krallen zu spüren!“, drohte sie ihm.

„Niedlich! Er schein dir ja sehr viel zu bedeuten, ansonsten hättest nicht solange nach ihm gesucht.“, vermutete er. „War es seine Idee, dass du deine Gedanken wieder öffnest oder hast du diesen Fehler selbst gemacht?“

Merle erschrak. Das hatte sie ganz vergessen. Der Gezeichnete musste sämtliche Bewegungen von ihr mitbekommen und seine Mutanten dem entsprechend koordiniert haben. Sogar die Echos ihrer Gefühle hatte er gespürt. Doch ehe sie die Mauern um ihre Aura wieder aufbauen konnte, stach ihr die rhythmische Bewegung von Allens rechter Hand ins Auge. Sie ließ ihren Geist offen und kaschierte die aufkommende Hoffnung mit künstlicher Wut.

„Loslassen!“

„Ich frage mich, wie viel er dir wirklich bedeutet? Ist er dir wichtiger als dein eigenes Leben?“

Kurz nach dem der Gezeichnete dies gesagte hatte, erschienen vier neue Kontakte in ihrem Bewusstsein. Verdutzt stellte sie fest, dass es Mutanten waren und diese sich direkt über ihr in den Ästen befanden. Wie hatte sie die bisher nicht wahrnehmen können.

„Überrascht? Du kannst nur so viel spüren, wie ich zulasse.“, erklärte der Gezeichnete schaden froh. „Sie werden dich gleich angreifen. Gleichzeitig werde ich den Dolch hier fallen lassen. Wenn du Allen Shezar hilfst, bist du für meine Lieblinge ein leichtes Ziel. Wenn du dich aber wehrst, wird er sterben. Für welches Leben entscheidest du dich?“

Bevor Merle auch nur realisiert hatte, vor welcher Wahl sie gestellt wurde, schränkte Allen diese weiter ein. Plötzlich von seinen Fesseln befreit, rammte er einen kleinen Dolch in das Bein des Gezeichneten, das ihn gefangen hielt. Der Mann schrie auf und lies dabei seinen Dolch los. Gerade rechtzeitig schaffte es Allen sich wegzurollen.

Merle indes hatte eigene Probleme. Die Mutanten stürzten sich kreischend auf sie. Im vollem Vertrauen darauf, dass ihre Gefährte sich nun selbst helfen konnte, zerteilte sie mit dessen Schwert den ersten noch in der Luft.

Während Allen aufstand, erschien wie von Zauberhand ein zweiter Dolch in seiner linken Hand. Grimmig stellte er sich dem Gezeichneten.

„Mir ist egal, was dieses Gör gesagt hat. Ich werde dein Tod sein.“, schrie dieser, zog sein Schwert und bewegte selbstsicher auf den mitgenommen Ritter zu. Doch bevor er ihn erreichen konnte, stockte er und fiel leblos zu Boden. Als Allen verwundert näher trat, bemerkte er das Wurfmesser im Nacken seines Gegners. Erstaunt sah er zu Merle auf, die sich kaum auf ihren Beinen halten konnte. Um sie herum lagen vier Leichen und ein Messer fehlte in ihrem Magazin.

„Der redest zu viel.“, sagte sie grinsend und sackte dann zu Boden. Gerade rechtzeitig fing Allen sie auf und hielt sie in seinen Armen. Sein Gesicht war ihrem sehr nahe, doch ehe Merle auch nur daran denken konnte zu erröten, schlossen sich ihre Augen.
 

Desinteressiert, aber wachsam folgte Ryu dem Geschehen von einer Baumkrone aus. Als der Ritter des Himmels das Katzenmädchen voller Sorge aufhob und wegbrachte, konnte er jedoch nicht anders und musterte das Gesicht seiner Herrin, die neben ihm hockte. Noch nie zuvor hatte er sie so wütend erlebt.
 

Als Merle wieder zur Bewusstsein kam, strich etwas Feuchtes sanft über ihre Wange. Verwundert öffnete sie ihre Augen und sah Allen direkt ins Gesicht, der mit einem nassen Tuch den Schmutz von ihrem Fell wischte.

„Ah, du bist wach.“, sagte dieser und trat einen Schritt zurück. Sie brauchte einen Augenblick um feststellen, dass sie gegen einen Baumstamm gelehnt am Ufer eines Baches saß. Ein Blick nach oben verriet ihr, dass es bereits hell war.

„Wie lange war ich weggetreten?“, fragte sie mit schwacher Stimme.

„Nur ein paar Stunden. Die Sonne ist gerade erst aufgegangen.“, beruhigte er sie. Dann schwiegen beide. Merles blick blieb am Boden haften und Allen betrachtete mit Sorge ihr ernstes Gesicht.

„Falls du reden willst…“, bot er ihr an.

„Worüber denn?“, fuhr Merle ihn an und sah wütend auf. „Darüber, dass ich kreuz und quer durch die Herberge gelaufen bin und mein Leben riskiert habe, nur um dich zu suchen? Darüber, dass ich aus Hass und Verzweiflung dutzende Menschen umgebracht habe? Darüber, dass alle anderen tot, wir beide aber am Leben sind? Darüber willst du mit mir reden?“ Sie brach in Tränen aus und vergrub ihr Gesicht zwischen ihre Knie. „Nein, ich will nicht. Ich will alles nur vergessen.“

Da begann Allen zu verstehen, dass für sie die Zeit der Worte noch nicht gekommen war. Und wenn Worte nicht halfen…

Langsam ging er auf Merle zu und setzte sich neben sie. Behutsam legte er einen Arm über ihre Schulter. Er wusste, dass er großes Risiko einging. Wenn ihr Stolz über ihre Sehnsucht nach Geborgenheit siegt…würde sie wohl bald die einzige Überlebende sein. Einen Augenblick lang widerstand sie dem sanften Druck seiner Hand, fügte sich dann aber und lehnte sich gegen seine Schulter. Sie weinte nun ohne Zurückhaltung. Nach fünf Minuten waren ihre Tränen schließlich versiegt und sie löste sich von seiner Umarmung. Etwas verlegen rutschte sie eine Handlänge von ihm weg.

„Was haben wir noch an Ausrüstung und Verpflegung?“, erkundigte sie sich betont sachlich.

„Nichts, außer mein Schwert, deine Wurfmesser und die Kleidung, die wir tragen.“, informierte Allen sie.

„Damit werden wir wohl kaum bis zur nächsten Herberge kommen.“, meinte Merle.

„Nun, mehr haben wir nicht.“, sagte er nüchtern.

Seufzend nahm sie dies zu Kenntnis und prüfte daraufhin ihr Wurfmessermagazin.

„Hey, ein Messer fehlt.“, stellte sie erschrocken fest. „Wo ist es?“

„Ich nehme an, noch immer im Nacken des Gezeichneten.“

„Was? Du hast es nicht mitgenommen?“, fragte sie.

„Nein. Ich hatte andere Sorgen.“, verteidigte Allen sich.

„Idiot!“

„Was ist so schlimm daran?“

„Die Messer, die ich benutze, werden nur in Farnelia hergestellt. Was glaubst du wohl wird passieren, wenn man es findet? Wen wird man die Zerstörung der Herberge anhängen? Einen toten Bauerntölpel oder einer Geheindienstagentin, die so blöd war und Beweise hinterlassen hat?“

Allen blieb ihr eine Antwort schuldig. Stattdessen Knöpfte er sein Hemd auf und hielt es ihr hin.

„Es soll nicht gleich jeder sehen, dass du bewaffnet bist.“, erklärte er. So gelassen wie möglich nahm Merle sein Hemd entgegen, jedoch konnte sie sich einen Blick auf seinen nackten Oberkörper nicht verkneifen. Ebenfalls fielen ihr die beiden Unterarmhalfter ins Auge, die er trug. Jeder von ihnen beherbergte einen Dolch. So hatte er sich also befreien können, schlussfolgerte sie.

„Gehen wir?“, erkundigte er sich.

„Ja.“, bekräftige Merle und sprintete los. Nach wenigen Minuten waren sie bereits wieder bei der Herberge angekommen.

„Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis man die Ruine betreten kann.“, merkte er mit einem Blick auf die rauchende Asche an. Beide beobachteten vom Waldrand aus die Ruine.

„Konzentrier dich auf das Messer! Wir dürfen nicht gesehen werden.“, wies Merle ihn zurecht. „Wo hatte der Kampf statt gefunden?“

Allen sah sich um.

„Genau hier.“, sagte er. „Aber die Leichen scheinen weg zu sein.“

Erst wollte sie es nicht glauben, doch die Erde unter ihren Füßen gab ihm Recht. Die Spuren des Kampfes waren dort noch immer zu sehen.

„Hier war jemand fleißig.“, meinte sie.

„Hast du eine Idee, wer die Beweise entfernt hat?“

„Nein, aber wer auch immer das getan hat, hat mich in seiner Hand.“

Das Geräusch von galoppierenden Pferden zog die Aufmerksamkeit beider auf sich.

„Du hast sie sicherlich schon früher gehört.“, vermutete er.

„Ich sagte doch, wir müssen uns beeilen. Schnell weg hier!“, flüsterte sie, doch Allen hielt sie zurück.

„Das hat keinen Sinn mehr.“, klärte er sie auf und wies mit einem Nicken auf die näher kommenden Reiter. „Sie haben uns bereits gesehen. Überlass mir bitte das Reden!“

„Ja, Herr.“, sagte Merle so laut, dass die ankommenden Soldaten aus dem Königreich Astoria sie verstehen konnten. Fünf Reiter kreisten die beiden ein.

„Identifiziert euch!“, verlangte einer von ihnen.

„Ich bin Allen Shezar.“

„Eine kühne Behauptung! Könnt ihr das Beweisen?“

„Nein, meine Papiere sind mit der Festung verbrannt.“

„Und das Katzenweib?“

„Sie ist nur ein Mädchen, das ich unterwegs aufgelesen habe. Ich habe sie als Dienerin eingestellt.“

„Euch hab ich nicht gefragt. Antworte, Mädchen! Wer bist du?“

„Es…ist so, wie mein Herr gesagt hat.“, antwortete sie schüchtern.

„Hast du einen Namen?“

„Keinen, den ein Mensch aussprechen könnte.“

„So?“, sagte der Soldat und lachte laut. „Ich muss euch wohl glauben. Aber dass ihr euch, Allen Shezar, jetzt auch Tiere für eure Liebesnächte aussucht, schlägt dem Fass den Boden aus.“

„Ich vergreife mich nicht an Mädchen!“, erwiderte Allen entrüstet. Merle wusste nicht, wer von den beiden sie mehr verletzt hatte.

„Da hab ich was anderes gehört.“, erwiderte der Soldat grinsend. „Untersucht sie auf Waffen und verfrachtet sie dann auf die Pferde!“

Widerstandslos lies sich Allen sein Schwert und seine beiden Dolche abnehmen. Als ein Soldat jedoch Merle untersuchen wollte, ging er dazwischen.

„Ich vergreife mich nicht an Mädchen und ihr solltet das auch nicht tun!“, drohte er. Ein weiteres Mal kugelte sich der Kommandant der Truppe vor Lachen.

„Lasst sie! Was kann so ein billiges Flittchen schon machen.“, sagte er. Äußerlich lies sich Merle nichts anmerken, innerlich kochte sie vor Wut. Umso überraschter war sie, als der Kommandant sie ergriff und sie vor sich auf sein Pferd legte.

„Gebt dem Kater hier ein Pferd! Wir bringen beide zum Hauptquartier.“

Freund oder Feind?

„Der Anblick weckt Erinnerungen, nicht wahr?“

Sorgfältig musterte Allen die mächtige Festung Orio, welche über den Ruinen seines ehemaligen Grenzpostens gebaut worden war. Dabei musste er gegen die Sonne anblinzeln, die von ihrem höchsten Stand aus brannte und für angenehme Frühlingstemperaturen sorgte. Dort, wo einst Holzpalisaden standen, erhoben sich mächtige Mauern aus Stein, die sich bis zum Fluss erstreckten. An jeder der vier Ecken der riesigen Anlage erhob sich ein großer Turm, von denen jeder an den Seiten mit einem halben Dutzend Bodenabwehrgeschütze und auf dem Dach mit einem Luftabwehrgeschütz ausgestattet war. Der Einfluss der Zaibacher Technologie war unübersehbar.

„Nicht wirklich.“, antwortete Allen dem Kommandanten der Wache, der ihn und Merle in die Feste führte. „Es hat sich zu viel verändert.“

Die einzig offensichtliche Möglichkeit, die Feste zu betreten, war eine Brücke über den Fluss, die zu einem von zwei dicken Stahltüren und einem Fallgitter geschütztem Tor führte. Die Flügeltüren konnten nur nach innen geöffnet werden und das Fallgitter befand sich praktischer Weise direkt dahinter. Wer auch immer hier gewaltsam passieren wollte, musste erst die Türen aus den Scharnieren hebeln und dann das Fallgitter anheben. Es wäre vermutlich sogar einfacher, gleich das ganze Torhaus zu zertrümmern.

„Für einen so unbedeutenden Außenposten scheint mir der Aufwand reichlich übertrieben.“, fügte er hinzu. „Erwartet man Krieg mit Farnelia?“

„Nein, aber die Herren in Palas wollen wohl nicht den Eindruck erwecken, als hätten sie aus den Fehlern der Vergangenheit nichts gelernt. Dass sie dabei völlig überreagieren, fällt ihnen wie immer nicht auf.“, meinte der Kommandant. „Ausnahmsweise stört mich das nicht, denn es macht mich zum Kommandeur der zweitmodernsten Garnison von ganz Astoria. Das einzige, worüber ich mir in Zukunft Gedanken machen muss, ist, woher ich das Geld für die Wartung der empfindlichen Ausrüstung herbekomme.“

„Und welche ist die modernste?“

„Der Luftschiffhafen Rampant natürlich. Vorausgesetzt, die werden irgendwann fertig.“

Allens Blick schweifte ab. An Rampant hatte er auch noch so manche lebhafte Erinnerung. Scheinbar zufällig trafen sich seine Augen mit denen von Merle, die vor dem Kommandanten auf dessen Pferd lag, und sie nickte ihm zu. Jetzt endlich hatte er Gewissheit. Die Herberge, in der Siri ihn haben wollte, befand sich im ersten Ring dieser Festung. Als sie an dem Gasthaus vorbei ritten, sah Allen es sich möglichst genau an. Es war vor allem für die Händler bestimmt, die Orio passierten. Auch hier war er bereits mit Siri gewesen. Die Kolonne jedoch, in der er sich jetzt befand, bewegte sich weiter bis in den zweiten Ring, der den Militärs vorbehalten war. Hier befand sich die zweite, weniger offensichtliche Möglichkeit in die Festung zu kommen. Ein Start- und Landeplatz für Guymelefs und kleine Flugschiffe. Von der Tropfsteinhöhle, die direkt in den Wasserfall mündete, der hinter der Feste lag, wussten die eigenen Besatzer hoffentlich nichts. Allen hatte die Existenz der Höhle selbst dem König und seinen Beratern vorbehalten, mit der Begründung, dass dieses Detail sie wahrscheinlich nur langweilen würde.

Kurz vor dem Hauptgebäude stieg der Kommandant ab und holte Merle von seinem Pferd runter. Dann stieß er sie in die Arme eines Soldaten und befahl diesen, sie in den Kerker zu bringen. Widerstandslos ließ sie sich in den Keller des Gebäudes führen, wo sich die Arrestzellen befanden. Allens Weg führte über einen Aufzug bis in den höchsten Stock. Dort geleitete der Kommandant ihn höchstpersönlich in einen reich verzierten Raum mit einem Schreibtisch in der Mitte und zwei Fenster gegenüber der Tür, die den Blick auf die Festung freigaben. Der Offizier winkte die Wachen fort und schloss hinter sich die Tür.

„Das ist mein Büro. Hier können wir frei reden.“, sagte er, während er Allen einen Stuhl vor Schreibtisch anbot und selbst dahinter Platz nahm.

„Warum konnten wir das nicht schon vorher?“, erkundigte sich Allen.

„Ach, wissen sie, einen Mann mit meinem zweifelhaften Ruf wird nie ein verantwortungsvoller Posten übertragen, ohne das ihm ein oder zwei Aufpasser an die Seite gestellt werden.“, erwiderte der Kommandant lächelnd.

…mit zweifelhaften Ruf?

„Es tut mir leid, aber ich muss euren Namen vergessen haben.“

„Niko Sander. Ihr müsst mir verzeihen. Ich hätte mich euch gerne schon früher vorgestellt, Allen Shezar, aber bei den Soldaten wäre das nicht gut angekommen. So viel Höfflichkeit verdient ein Gefangener normaler Weise nicht.“

„Und das ihr mich mit in euer Büro genommen habt, ist keine Höflichkeit?“, zweifelte Allen.

„Ha! Wahrscheinlich denken die, ich wende meine legendäre Verhörtechnik an, bei der ich irgendwelchen schwachsinnigen Idioten Honig ums Maul schmiere und sie mit Alkohol abfülle, so dass sie ihre Loyalität förmlich dahin schmilzt und ich alle Infos bekomme, die ich haben will. Wo wir schon dabei sind…wollt ihr etwas zu trinken?“, bot Sander an, doch Allen lehnte dankend ab, woraufhin der Kommandant mit den Schultern zuckte, eine Flasche aus einer Schublade holte und sich ein Glas einschenkte.

„Verzeiht bitte meine Neugier, aber das mit dem zweifelhaften Ruf kann ich nicht glauben.“, sagte Allen, wobei in seinem Ton eine Spur von Misstrauen lag. „Ihr wart mal einfacher Soldat, der sich durch alle Ränge hindurch bis zum Kommandanten gearbeitet hat. Eure Treue dem König gegenüber ist legendär. Ihr besitzt keinen zweifelhaften Ruf.“

„Dennoch bin ich hier.“, entgegnete Sander und lehnte sich mit seinem Glas in Hand zurück. „Am Arsch der Welt, verzeiht den Ausdruck, wo ich keine Chance habe weiter aufzusteigen. Ich weiß selbst nicht, was ich verbrochen habe. Vielleicht war es ja mein Ehrgeiz, der den Zorn von Baron Trias auf mich gezogen hat.“

„Baron Trias?“

„Ja, meinen Quellen zufolge hat er den König dazu veranlasst mich für diesen Posten auszuwählen.“

Allen überlegte fieberhaft. Saß ein neuer Verbündeter vor ihm?

„Aber das waren genug Fragen eurerseits. Jetzt hab ich welche.“, forderte Sander und beugte sich zu ihm vor. „Was ist in der Herberge passiert?“

In Allens Gehirn ratterte es wie in einem Uhrwerk.

„Das kann ich euch nicht sagen.“

„Warum?“

„Weil ich es nicht weiß.“

„Wie könnt ihr es nicht wissen? Ihr wart doch dabei.“, wunderte sich der Kommandant.

„Ich…wachte tief in der Nacht auf und konnte nicht schlafen.“, erzählte Allen. „Also ging ich zum nah gelegenen Bach um ein Bad zu nehmen. Als ich wieder zur Herberge zurückkam, lagen das gesamte Erdgeschoß und die Ställe bereits in Flammen.“

„Also waren alle anderen eingeschlossen.“, schlussfolgerte Sander. „Hat sonst niemand überlebt? Was war mit den Wachen auf den Mauern?“

„Sie sind wohl in das Gebäude gerannt um zu helfen und sind ebenfalls umgekommen.“

„Was ist mit dem Katzenmädchen? Wie konnte sie überleben? Dem Staub auf ihrem Nachthemd nach zu urteilen, muss sie ganz in der Nähe der Festung gewesen sein, als sie einstürzte.“

„Sie rettete sich kurz vor dem Einsturz durch einen Sprung aus einem Fenster der oberen Stockwerke.“, erklärte Allen.

„Beeindruckend.“, lobte Sander und sah ihn ernst an. „Genauso wie eure Geschichte. Sie klingt nach dem Seemannsgarn, das ihr sonst immer zum Besten gebt, um Frauen zu verführen.“

„Wohl kaum.“, erwiderte er lächelnd. „Dann wäre ich selbst aus dem Fenster gesprungen, mit dem Mädchen in meinem Arm.“

„Stimmt.“, gab der Kommandant schmunzelnd zu. „Was vermutet ihr als Brandursache?“

„Es muss Brandstiftung gewesen sein.“, antwortete Allen. „Andernfalls hätte sich das Feuer nicht so schnell und gezielt ausgebreitet, dass es niemandem mehr die Flucht ermöglicht.“

„Aber die Brandstifter habt ihr nicht gesehen?“

„Nein, leider nicht.“

„Könnt ihr mir wenigstens etwas über ihre Absichten berichten?“

„Nein, kann ich nicht.“

Seufzend sank Sander in seinen Stuhl zurück und musterte Allen nachdenklich.

„Ich habe wohl keine andere Wahl, als euch wegen Mangel an Beweisen gehen zu lassen. Allerdings würde es mich sehr freuen, wenn ihr bis zum Abschluss der Untersuchung in Orio bleiben würdet.“

„Tut mir leid, aber solange kann ich nicht warten. Ich werde hier meine Geschäfte erledigen und dann weiterziehen.“, sagte Allen.

„Kann ich ihnen wenigstens für die Dauer eures Aufenthaltes ein Zimmer anbieten?“, fragte Sander, doch Allen winkte ab.

„Wir nehmen uns ein paar Räume in dem örtlichen Gasthaus.“

„Ohne Geld? Das wird kaum möglich sein.“

Sander nahm sich ein unbeschriebenes Blatt, kritzelte eine kurze Notiz darauf und gab es Allen.

„Geht damit zum Quartiermeister! Sein Büro liegt im Erdgeschoß. Danach könnt ihr und eure Dienerin gehen!“, informierte Sander ihn, woraufhin Allen sich verabschiedete und dessen Büro verließ. Zu seiner Überraschung akzeptierte der Quartiermeister die Notiz ohne mit der Wimper zu Zucken. Während er Allen alles vorlegte, was dieser verlangte, ertönte ein Alarm.

„Was bedeutet das?“, fragte der Ritter, in dessen Bauch sich ein ungutes Gefühl ausbreitet.

„Ein Gefängnisausbruch, aber…“

Ehe der Unteroffizier ausreden konnte, war Allen bereits verschwunden. So schnell er konnte sprintete er die Treppen hinunter bis in den Gang, an dem die Zellen lagen. Vor einer offenen Tür sah er vier Wachen mit gezückten Schwertern stehen, die Drohungen ausspieen. Als er auf einer Höhe mit der Zelle war, konnte er durch das Gitter hindurch Merle auf einer Liege hocken sehen. Ihre Knie waren angewinkelt und vor Brust gepresst, das Gesicht darin vergraben. Das Hemd, das er ihr überlassen hatte, war gewaltsam aufgerissen worden. Auf dem Boden in der Zelle konnte er eine Wache und einen Offizier reglos liegen sehen. Hinter Allen kam Sander mit einem halben Dutzend Soldaten im Schlepptau herangestürmt.

„Was ist hier passiert?“, fragte dieser aufgebracht. Eine der Wachen, welche die Tür blockierten, berichtete:

„Ich war auf meinem Kontrollgang, als ich die Tür der einzigen belegten Zelle offen vorfand und die beiden da drinnen liegen sah. Das Mädchen hat sich seitdem nicht gerührt.“

„Allen Shezar, ihr und eure Dienerin steht unter Arrest und bleibt unsere Gäste, solange bis dieser Vorfall geklärt wurde.“, verkündete Sander, woraufhin zwei die Wachen die Zelle betraten. Doch schon im nächsten Augenblick riss Allen sie mit ganzer Kraft zurück und ging zu Merle, ohne dass jemand versuchte ihn aufzuhalten. Sanft nahm er sie dann in seine Arme, wobei er darauf achtete, dass ihre Beine vor ihrem Oberkörper blieben, damit sie auch weiterhin das ursprünglich unter dem Hemd versteckte Waffenmagazin verbargen. Überrascht stellte er fest, dass sie leise wimmerte.

„Wir können gehen.“, verkündete er.

Miteinander

Stunden, nachdem Allen und Merle unter Arrest gestellt worden waren, starrte der Himmelsritter aus einem großen Fenster hinab auf den Innenhof der Garnison. Als er mit Merle im Arm in die Arrestzelle geführt worden war, hatte er nicht schlecht gestaunt. Das neue Gefängnis stellte sich als eine Art Unterkunft für wichtige Gäste heraus. Die Räume befanden sich wie das Büro von Sander im obersten Stock des Hauptgebäudes und waren ebenso luxuriös eingerichtet. Auch der ihnen zur Verfügung stehende Platz konnte sich sehen lassen. Neben einem Aufenthaltsraum mit kunstvollem Esstisch gab es noch ein Bad mit einer riesigen Wanne und goldenen Armaturen, ein Schlafzimmer mit Doppelbett, in dem Merle gerade lag, und eine kleine Bibliothek, die aber zur seiner Enttäuschung nur kitschige Romane zur Zerstreuung enthielt. Allen folgte noch immer dem geschäftigen Treiben auf dem Hof, als die Riegel der einzigen Tür zur Wohnung begannen sich zurückzuziehen. Erwartungsvoll drehte er sich zur der schweren Stahltür um, legte aber eine von Desinteresse geprägte Miene auf, als Sander alleine den Aufenthaltsraum betrat. Es war an der Zeit dem großspurigen Kommandanten aus der Hauptstadt zu zeigen, mit wem er es zu tun hatte. Sich selbst musste Allen eingestehen, dass er es dank Merles erfrischender Art ihm gegenüber ebenfalls fast vergessen hatte.

„Setzt euch!“, sagte Allen Sander, ehe dieser etwas sagen konnte, und wies auf einen Stuhl am Esstisch. „Was kann ich für euch tun?“

Einen Moment lang musste Sander sich ein Lachen verkneifen, doch Allen lies davon nicht aus der Reserve locken.

„Ich wollte eigentlich eure liebreizende Dienerin sprechen.“, verlangte Sander.

„Sie ruht sich aus.“, teilte Allen ihm mit.

„Ich möchte sie sofort sprechen. Wenn ihr, Ritter Allen Shezar, also die Güte hätten, sie zu holen…“

„Nein, die Güte habe ich nicht, und wenn ihr, Soldat…“

„Ich bin hier.“, unterbrach eine müde Stimme Allens Ansprache. Verwundert wandte sich Allen zum Schlafzimmereingang. Merle lehnte sich erschöpft gegen den Rahmen der offenen Tür und trug noch immer das von Staub bedeckte Nachtgewand mit seinem Hemd darüber. Was auch immer im Gefangentrakt passiert war, sie hatte es noch nicht verdaut.

„Was wollen sie?“, fragte sie.

„Solltest du nicht etwas Angemessenes anziehen?“, tadelte Sander sie.

„Für sie ist es gut genug.“, antwortete Merle selbstbewusst. Langsam kehrte das Feuer in ihre Augen zurück.

„Ich wollte dich nur informieren, dass du für den Vorfall im Gefängnis nicht zur Rechenschaft gezogen wirst.“, verkündete Sander. „Nachdem wir den Offizier mit den Videoaufnahmen konfrontiert hatten, hat er die versuchte Vergewaltigung eingestanden. Auch die Dienst habende Wache hat gestanden vom Offizier Geld angenommen zu haben. Beide wurden vom Dienst befreit. Im Namen von der Armee Astorias entschuldige ich mich für ihr Verhalten.“

Insgeheim erwartete Allen die Erlaubnis endlich von hier verschwinden zu dürfen, Merle hingegen war nicht so optimistisch. „Natürlich hatten beide zuvor behauptet, du hättest einen Fluchtversuch unternommen.“, führte Sander weiter aus. „Obwohl diese Geschichte offensichtlich erlogen war, barg sie doch einen wahren Kern.“ In seiner Stimme schwang nun eine Drohung mit. „Du bist bewaffnet. Sowohl der Offizier als auch das Video bestätigen das. Die Tatsache, dass du versteckte Waffen führst, rückt den Überfall auf die Herberge in ein ganz anderes Licht.“

„Wollt ihr etwa behaupten, sie hätte etwas damit zu tun?“, fragte Allen drohend.

„Ihr selbst sagtet, dass sie bis zuletzt in der Herberge war. Im Übrigen solltet ihr das Mädchen nicht mehr decken, sonst muss ich euch wegen Mittäterschaft anklagen.“

„Wenn König Aston erfährt…“

„Hier draußen bin ich das Gesetzt.“, stellte Sander klar. „Ihr habt es doch genauso gehandelt. Schließlich habt ihr eigenmächtig entschieden, dem König eines Bauernstaates Asyl zu gewähren und damit Astoria in einen Krieg gegen einen übermächtigen Verbündeten gezwungen. Wir können von Glück reden, dass unser geliebtes Land nicht dem Erdboden gleichgemacht wurde. Also sagt mir nicht, was ich zu tun oder zu lassen habe, Allen Shezar!“

Einen Moment lang schien Allen in den Streit mit einsteigen zu wollen, doch dann knickte er ein. Etwas zu theatralisch, wie Merle fand.

„Es ist wohl besser, wenn wir mit der Wahrheit rausrücken.“, sagte er reumütig.

„Allen!“, warnte sie ihn, doch er brachte sie mit seinem Blick zu schweigen.

„Das Mädchen ist ein Mitglied der königlichen Leibwache von Farnelia. Wir sind auf der Durchreise.“, erzählte er, doch Sander blieb skeptisch.

„Die Leibwache will euch doch töten. Wieso solltet ihr ihnen zusammenreisen.“, widersprach er, doch Allen wies das mit einer Geste zurück.

„Siri Riston hat nicht im Auftrag der Leibwache gehandelt. Ich geh nach Farnelia um mir das beweisen zu lassen. König Van de Farnel selbst hat sie mir als Eskorte zur Seite gestellt.“

„Ein Mädchen? Ich an eurer Stelle würde an dem Verstand des von euch ach so verehrten Königs zweifeln.“

„Ich bin überrascht, dass sie das sagen, nachdem ihr sie in Aktion gesehen haben.“, sagte Allen, doch ehe Sander antworten konnte, knallte ein schwarzer Waffengurt gegen sein Gesicht.

„Das ist es doch, was sie wollten.“, zischte Merle mit fletschenden Zähnen. „Verschwinden sie!“

„Ein einfaches Bitte hätte genügt.“, meinte Sander trocken. Anstatt ihm eine Antwort zu geben, ging Merle in das Schlafzimmer und zog krachend hinter sich die Tür zu.

„Ich habe, was ich wollte.“, sagte Sander und erhob sich aus seinem Stuhl. „Richten sie ihr aus, dass in etwa einer Stunde eine Dienerin hier heraufkommen wird, um den Bettbezug zu wechseln und eure alten Sachen mitzunehmen. Das Fräulein sollte sich bis dahin waschen und umziehen, damit sie einer Leibesvisitation unterzogen werden kann und nicht noch einmal das Bett einsaut.“

Mit diesen Worten verließ die Wohnung, doch Allen achtete nicht auf ihn. Stattdessen starrte er auf die Tür, durch die Merle verschwunden war, und gab sich selbst den guten Rat, sie niemals wütend zu machen. Wie angekündigt, betrat nach einer Stunde ein vornehm gekleidetes Mädchen die Räumlichkeiten. Sie vollführte Allen gegenüber einen Knicks, woraufhin dieser auf das Schlafzimmer wies. Sofort fiel ihm auf, mit welcher Anmut sich die Dienerin bewegte. Ihre Körperbeherrschung war selbst für eine gehobene Bedienstete außergewöhnlich. Für ihn war es wenig überraschend, dass man ihr keine Eskorte mitgegeben hatte.

Nachdem sie ins anliegende Zimmer verschwunden war, schweiften Allens Gedanken wieder zu Merle. Wie sollte er nach allem, was er über ihre Vergewaltigung in der Zelle gehörte hatte, mit ihr reden? Was sagt man zu einem Mädchen, das etwas so furchtbares erlebt hat? Inständig wünschte er, dass Hitomi jetzt hier wäre. Sie würde die richtigen Worte finden, um Merle wieder aufzurichten und ihr das unverschämte Lächeln zurückzugeben. Plötzlich musste Allen daran denken, wie sie die Beherrschung verloren hatte, als Sander Van beleidigt hatte, und fragte sich, ob sie in seinem Fall wohl ähnlich reagiert hätte.

„Was für ein dummer Gedanke!“, tadelte er sich selbst. „Was ist nur los mit mir?“

Doch ehe er über diese Frage nachdenken konnte, öffnete sich die Tür zum Schlafzimmer und die Dienerin trat mit einem Bündel Wäsche in den Händen heraus. Überrascht bemerkte Allen, dass er überhaupt nicht einschätzen konnte, wie lange sie bei Merle gewesen war. Das alles hier ist schlecht für meine Disziplin, stellte er fest. Nach einem weiteren Knicks des Mädchens war Allen wieder allein, was ihm die Gelegenheit gab, ein weiteres Mal in Gedanken zu versinken. Raum war reichlich vorhanden, reichte aber bei weitem nicht aus, um Merle ewig aus dem Weg zu gehen und er hatte noch immer keine Ahnung, wie er mit ihr reden sollte.

Sie lies ihn aber auch keine Zeit mehr darüber zu grübeln. Fast lautlos betrat Merle wenig später den Aufenthaltsraum. Allen, der noch immer am Esstisch saß, konnte nicht anders als sich respektvoll zu erheben. Sie hingegen betrachtete ihn skeptisch.

„Ich fass es nicht. Dir haben sie die Uniform eines Himmelsritters besorgt und mir nur diesen braunen Fetzen.“, beschwerte sie sich, woraufhin er lächelte. Der braune Fetzen, wie sie es nannte, war ein erdfarbenes, langes Kleid, welches nur eine winzige Spur von Eleganz ausstrahlte.

„Das Kleid steht dir ausgezeichnet.“, lobte Allen, was, wie er in Gedanken hinzufügte, total ehrlich meinte.

„Machst du Witze?“, fuhr Merle ihn an. „Das Kleid sieht aus, als hätte man es aus Stroh gemacht und mit Scheiße gefärbt.“

„Du bist einer der Menschen, die immer gut aussehen, egal, was sie tragen.“, versuchte Allen sie zu beschwichtigen, woraufhin ihre Wangen aufflammten. Einmal mehr war sie dafür dankbar, dass ihr Fell die Haut vor seinen Augen verbarg. „Außerdem siehst du die Farbe zu negativ. Es gibt auch schöne Dinge, die braun sind.“

„Zum Beispiel?“

„Die Rinde eines Baumes, die fruchtbare Erde eines Ackers…“

„…auf dem Scheiße liegt…“, merkte Merle an.

„…oder die Möbel in diesem Zimmer. Sie alle könnten längst umlackiert worden sein.“, zählte Allen auf.

„Wenn du mich aufheitern wolltest, lass mich dir sagen, dass du kolossal gescheitert bist.“, teilte sie ihm mit, konnte sich jedoch ein Lächeln nicht ganz verkneifen. „Wenn wir schon mal dabei sind, könnten wir nicht die Einrichtung etwas ändern.“

Es war kein Code, den die beiden mit einander vereinbart hatten, dennoch wusste Allen sofort, worauf Merle hinaus wollte. Auch er hatte die winzigen Linsen, die in jeder Ecke einer jeder Decke eingebaut worden waren, bereits bemerkt. Jeder Raum wurde von Videokameras überwacht.

„Keine gute Idee.“, meinte Allen. „Gastgeber sehen so etwas nicht gerne. Aber im Bad sollten wir eine Ausnahme machen.“

„Ist bereits geschehen. Die Dienerin war so freundlich mir zu helfen.“, berichtete Merle. „Allerdings hätte ich nie gedacht, dass eine Garnison überhaupt solche Quartiere hat.“

„Normal ist es nicht, wenn man sich aber den Sinn dieses Stützpunktes ansieht, ist es nicht verwunderlich.“, erklärte Allen. „Schließlich ist Orio ein Prestigeobjekt. Einerseits dazu gebaut um Kritiker aus dem eigenen Land verstummen zu lassen, kann die Garnison auch einen anderen Zweck erfüllen.“

„Und der wäre?“

„König Aston will auch nach außen hin Eindruck schinden. Also lässt er hier auch internationale Konferenzen abhalten. Irgendwo gibt es hier sicherlich auch einen großen Saal und dutzende weitere Quartiere dieser Art. Die ausländischen Diplomaten sollen durch die versammelte militärische Schlagkraft den Eindruck gewinnen, dass sie und damit natürlich auch ihre Länder bei Astoria gut aufgehoben sind. Der Luxus verspricht zudem ein von Geldsorgen befreites Leben, sollten sie sich fügen.“

„Rein zufällig eignen sich die Vorsichtsmaßnahmen in den Quartieren auch zum Einsperren.“, führte Merle Allens Gedankenstrang weiter, während sie an einer Wand klopfte. „Panzerglas, in den Wänden eingelassene Stahlplatten, eine Hochsicherheitstür mit mehreren dicken Riegeln und Überwachungstechnik, soweit das Auge reicht. Dieser Ort ist ein perfekter Spielplatz für jede Art von Politik. Hab ich schon mal erwähnt, dass ich Aston nicht mag?“

„Irgendwann einmal.“, kommentierte Allen.

„Ich sollte es öfters tun.“, nahm sie sich vor. „Was machen wir jetzt?“

„Abwarten.“, schlug er vor.

„Nicht mehr?“, erkundigte sich Merle verzweifelt.

„Na ja, du wolltest mich doch in die Kraft der Gedanken einführen.“

„Und du wolltest mich in Kampftechniken unterrichten.“

„Was hier wohl kaum möglich sein wird.“, argumentierte Allen.

„Na gut. Leg dich auf den Boden!“, seufzte sie.

„Was?“

„Du kannst auch ein paar Stunden im Schneidersitz verbringen, falls dir das angenehmer ist.“, schlug Merle grinsend vor und fing an, alle Vorhänge zuzuziehen.

Allein unter Menschen

„Gibt es einen Grund, dass ich mich mitten in der Nacht aus meiner eigenen Festung schleichen musste?“, fragte Sander genervt, als er den Schatten bemerkte, der sich in der Dunkelheit der Nacht von einem der vielen umstehenden Baumstämme löste.

„Glaubt ihr, ich verschwende meine Zeit gerne?“, entgegnete Siri ebenso schlecht gelaunt. Genauso wie vor einer Woche, als sie mit Sander zum ersten Mal Kontakt aufgenommen hatte, vermied sie es ihr Gesicht zu zeigen. „Es gibt neue Befehle.“

„Ich höre.“

„Morgen Nachmittag werdet ihr Allen Shezar sagen, dass er und seine Begleiterin auf Grund der Spuren am Tatort entlastet worden sind! Am Abend stellt ihr dann den Konferenzsaal für eine Feier zur Verfügung, quasi als Wiedergutmachung für die Händler und deren Familien, die seit letzter Woche hier festsitzen! Ihr werdet Allen Shezar ebenfalls einladen, das Mädchen jedoch nicht! Gebt ihr zu verstehen, dass sie bei der Feier nicht willkommen ist!“

„In weniger als vierundzwanzig Stunden lässt sich keine Feier organisieren.“, widersprach Sander.

„Für solche Fälle ist dieser Ort wie geschaffen. Lasst euch was einfallen!“, giftete Siri ihn an.

„Ja, ja, schon gut.“, knurrte Sander und runzelte die Stirn. Der Schatten schien plötzlich in sich zusammenzusacken. Zwar konnte er nicht viel erkennen, aber eine Bewegung von Siris Händen lies vermuten, dass sie sich an den Kopf fasste. „Stimmt etwas nicht?“

„Klappe!“, fauchte Siri mit gequälter Stimme. „Sorgt euch nur um eure Befehle!“

„Was ist mit der Blockade?“, erkundigte sich Sander.

„Übermorgen könnt ihr sie auflösen. Keinesfalls früher. Die Feier muss stattfinden!“, wies Siri ihn an.

„Was ist mit der Herberge?“

„Die Trümmer sind beseitigt worden.“

„Ich mach mir mehr Gedanken über die Angreifer.“, stellte Sander klar.

„Man hat sich um sie gekümmert.“, teilte ihm Siri mit.

„Ich wüsste schon gerne, wer in meinem Gebiet ein solches Feuerwerk veranstalten kann.“, hakte er nach, doch sie ging geschmeidig in eine drohende Haltung über.

„Ihr wisst, wen ihr eure Karriere zu verdanken habt?“

„Ja, weiß ich.“ Mir, fügte Sander in Gedanken zu.

„Und ihr wisst, wer mein Meister ist?“

„Weiß ich.“, antwortete er, auch wenn Siris Frage eher eine Feststellung war.

„Dann solltet ihr meinem Urteil vertrauen!“, riet ihm Siri.

„Verstanden.“

„Geht!“

„Jawohl.“, bestätigte Sander und wendete zackig sich ab. Mit dem Entschluss mehr darüber herauszufinden, worauf er sich eingelassen hatte, als er Trias Angebot angenommen hatte, hielt er mit festem Schritt auf Orio zu. Auch wenn dieses fremde Mädchen dem nicht zu stimmen würde, so hatte er doch als Festungskommandant noch andere Pflichten zu erfüllen als nach ihrer Pfeife zu tanzen.
 

Wie eine Sturmflut schlug Allens Frustration gegen Merles offenen Geist. Vor einer Woche war er noch mit Einsatz bei der Sache gewesen, entschlossen das Potential auszunutzen, welches die Gedankenwelt in sich birgt, doch nun nach dutzenden, erfolglosen Sitzungen zeigte er Nerven. Er und Merle saßen sich im Schneidersitz gegenüber, sämtliche Vorhänge waren zugezogen, der ganze Raum schien in ein dunkles Tuch gehüllt.

Sie hatte diese Maßnahme damit begründet, dass die Wahrnehmung von Zeit bei einer Meditation nur störte. Auch auf Stühle hatte sie bewusst verzichtet, da sie Allen möglichst weit auf sich selbst reduzieren wollte, was im Klartext hieß, dass er durch seine Sinne nicht abgelenkt werden sollte. Zum Glück war der Raum schalldicht, beide trugen nur leichte Gewänder, die sie kaum auf der Haut spürten. Merle war bei Meditation sonst immer so, wie die Natur sie geschaffen hatte, doch bei einer Sitzung zu zweit konnte sie auf Kleidung ebenso wenig verzichten wie auf den Boden, auf dem sie saß. Da Allen ein Mann war, wie er im Buche stand, erging es ihm sicherlich ähnlich.

Anfangs hatten sie noch im Liegen meditiert, jedoch hatte sich schnell herausgestellt, dass diese Position für ihn zu entspannend war. Die Konzentration, die notwendig war um den Sitz aufrechtzuerhalten, bewahrte ihn vor dem Einschlafen, während er in seinem eigenen Geist versank. Merle hingegen stellte sich einen einfachen Gegenstand vor, gerade hatte sie einen Becher vor Augen, und sendete dessen Bild über ihre Gedanken in die Welt hinaus. Natürlich hatte sie Allen davon nichts gesagt. Er sollte nur seinen Blick nach innen richten. Selbst wenn er etwas wahrnehmen sollte, hatte er die Anweisung, es erst einmal dabei zu belassen und am Anschluss der Sitzung ihr davon zu berichten.

Ganz bewusst hatte Merle sich für diese Art von Einstiegstraining entschieden. Van und sie selbst hatten ihre ersten Schritte noch mit dem Aufspüren von Lebewesen gemacht, doch wie sie später festgestellt hatte, musste man bei dieser Technik gleichzeitig Gedanken senden und empfangen. Nicht sehr anfängerfreundlich, wie sie fand. Alles, was Allen zu tun hatte, war ihre Bilder wahrzunehmen. Der einzige Knackpunkt an dieser Theorie war, dass ihre Lehrmethode nicht funktionierte. Vielleicht ist es leichter, wenn man sich auf ein Ziel konzentriert, überlegte Merle.

„Lass uns für heute Schluss machen.“, schlug sie vor und erhob sich.

„Jetzt schon?“ wunderte sich Allen. Merle bewunderte die Kraft, die er aufbrachte um seine Erschöpfung nicht zu zeigen, doch auch wenn ihre gemeinsamen Meditationsübungen bei ihm nichts bewirkt hatten, konnte sie seine Gedanken lesen wie ein offenes Buch.

„Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn der Gestank von fremdem Schweiß in meiner Nase hängt.“, begründete sie ihre Entscheidung. „Ich geh erst einmal unter die Dusche.“

„Bin ich nicht derjenige, der müffelt?“, merkte Allen an.

„Wer ist denn der Kavalier von uns beiden?“, erwiderte sie lächelnd und ging durch das Schlafzimmer ins Bad. Als der heiße Wasserstrahl schließlich die Haut unter ihrem Fell berührte, konnte sie sich ein Seufzen nicht verkneifen. Wie ihre tierischen Verwandten konnte sie sich zwar mit ihrer Zunge putzen, war aber im Gegensatz zu Katzen dem Wasser nicht abgeneigt. Nur das Abtrocknen brauchte mehr Zeit als bei Menschen.

Plötzlich klingelten bei ihr die Alarmglocken. Jemand betrat das komfortable und dennoch einengende Gefängnis von ihr und Allen. Als sie den Besucher durch dessen Aura als Sander identifizierte, durchfuhr sie sogleich der Impuls sich sofort anzuziehen und nachzusehen, was er wollte. Einen Moment später jedoch meldete sich ihr Stolz zu Wort und sie machte etwas, was sie sonst nie machte. Sie kämmte ihr Haupthaar, extra gründlich und sehr viel länger, als es nötig gewesen wäre. Auch beim Anziehen lies sie sich Zeit. Sie wollte dem perversen Schwein nicht noch einmal unter die Augen treten, es sei denn der Weg an ihm vorbei würde aus diesem vornehmen Rattennest herausführen.

Allen und Sander unterhielten sich noch immer, als Merle schließlich vor einem Spiegel trat und sich darin skeptisch betrachtete. Das kräftige Blau ihres Kleides glich ihrer Augenfarbe und hob die hellrote Nagelpfeile hervor, die sie selbst im Schlaf immer bei sich trug. Die angebliche Dienerin, von der sie vor einer Woche untersucht worden war, hatte ihr diese potenzielle Waffe zum Glück gelassen. Nicht einmal Merle wusste, wie sie reagieren würden, wenn man versuchen würde, ihr dieses Schmuckstück zu entreißen. Der einzige, der das je gewagt hatte, war…Allen.

Und er war mit heiler Haut davongekommen. Gerade spürte sie, wie Sander das Speisezimmer in Richtung Flur verließ. Ich war wohl schon immer zu weich Allen gegenüber gewesen, staunte Merle und sah in seine Richtung, als könnte sie durch die Wand schauen. Ein letztes Mal, bevor sie sich nach dem Stand der Dinge erkundigen wollte, sah sie in den Spiegel und verkniff sich ein Lachen. Ihr sonst so widerspenstiges, kurzes Haar bildete eine perfekte Ordnung, keine einzige Strähne stand von den anderen ab und alle vereinten sich zu einem eleganten Rosa um ihren Kopf.

Das bin ich nicht, dachte sie und fuhr mit beiden Händen durch ihre Frisur. Das Ergebnis gefiel ihr schon besser. Katzen mochten ja ordentliche Tiere sein, sie hingegen liebte das Chaos. Vergnügt trat sie in das Esszimmer, in dem Allen am Tisch saß und vor sich hin brütete.

„Und? Was gibt’s neues?“, erkundigte sie sich.

„Wir sind frei.“, antwortete Allen schlicht.

„Frei? Wie kommt’s?“

„Da Sander außer uns keine Augenzeugen hatte, musste er sich auf die Spuren vor Ort verlassen und die sagen, dass der Angriff von einer Horde ausgeführt wurde, die erst ein Dorf und dann die Herberge angegriffen hat. Da keine Spuren von der Ruine wegführen, müssen sie in dem Feuer verbrannt sein, dass sie selbst gelegt haben.“

„Unwahrscheinlich, dass eine solche Horde von den Wachen nicht bemerkt worden wäre?“, bemängelte Merle. „Glaubt er im Ernst dieser Geschichte?“

„Er hat keine andere Wahl als zu spekulieren.“, meinte Allen. „Anscheinend machen die Gilden Druck. Die Sperrung der Handelsrute nach Farnelia bringt den meisten nur Verluste.“

„Was ist aus dem Dorf geworden?“

„Anscheinend hat niemand überlebt.“

Merle musste sich Mühe geben für die Kameras geschockt zu wirken. Dass ein Dorf voll von Gezeichneten und deren Dienern nicht mehr existierte, war einerseits beruhigend, aber andererseits auch ärgerlich. Einer der wenigen Anhaltspunkte für weitere Ermittlungen war nun hinüber. Dennoch schien Trias Vorhaben noch nicht soweit gediehen zu sein, dass er es sich leisten konnte entdeckt zu werden, was bedeutete, dass sie noch Zeit hatte ihm auf die Schliche zu kommen.

„Wir können hier nichts mehr tun.“, merkte Merle an. „Wir sollten weiterziehen.“

„Heute lohnt es sich nicht mehr aufzubrechen. Bald ist es dunkel.“, widersprach Allen und schaute durch die Fenster, deren Vorhänge er geöffnet hatte. Die Sonne stand schon tief.

„Dann lass uns wenigstens im Gasthaus übernachten. Ich kann die Einrichtung hier nicht mehr sehen.“

„Das Gasthaus wird diese Nacht immer noch überfüllt sein. Die Blockade wird erst morgen früh gelöst, damit die Händler nicht im Namen der Schadensbegrenzung schon in der Nacht aufbrechen und sich somit unnötigen Gefahren aussetzen. Außerdem findet heute Abend noch ein Fest statt, quasi eine Abschiedsfeier für die Händler und deren Familien. Sander hat mehr als deutlich gemacht, dass ich mich ebenfalls dort blicken lassen sollte.“

„Als Leckerbissen für die Töchter der hohen Herren.“, sagte Merle grinsend, woraufhin Allen schwach lächelte. „Ob sich zwischen den Müllsäcken, die man mir gegeben hat, ein schönes Kleid finden lässt?“

„Du bist nicht eingeladen.“, teilte er ihr nervös mit. Merle traute ihren empfindlichen Ohren nicht. Einen Moment schien es Allen so, als würde sie jeden Moment komplett aus der Haut fahren, doch dann lies sie enttäuscht ihre Schultern hängen.

„Verstehe. Ihr Menschen wollte unter euch sein.“, flüsterte sie kaum hörbar, woraufhin Allens Herz in die Zehenspitzen sank.

„Weißt du, ich bin nicht gewillt, mich dem Willen von Sander zu beugen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dir geht es ebenso.“, äußerte Allen sich zuversichtlich. „Wir könnten zusammen gehen. Du bräuchtest dich nicht einmal umzuziehen.“

Merle musste angesichts seines Versuches sie aufzuheitern lächeln.

„Nein, wir bekämen nur Ärger mit den Wachen.“, sagte Merle ablehnend. „Das gilt auch für den Fall, dass du nicht kommst. Ich will Sander keinen Grund liefern uns hier noch länger festzuhalten. Zieh dich um! Das Bad und das Schlafzimmer sind frei.“

„Tut mir Leid.“, sagte er, während er an ihr vorbeiging.

„Was soll dir schon Leid tun?“, fragte Merle zu ihm gewandt und steigerte ihr Lächeln zu einem breiten Grinsen. Dass der heiter ausgesprochene Vorwurf an ihn gerichtet war, schmerzte Allen besonders.

„Alles.“
 

Merle saß auf kargen, kalten Fels in der dunklen Tropfsteinhöhle hinter dem Wasserfall. Da sie keine Gefangene mehr war, war die Tür zu ihrem Gefängnis auch nicht mehr abgeschlossen. Noch bevor Allen sich fertig umgezogen hatte, war sie aus dem Esszimmer, durch die Flure hindurch bis ins Freie gerannt. In mitten der Masse an Leuten, von denen keiner sie beachtete, hatte sie sich dann noch verlorener gefühlt. Während ihrer Flucht vor der Einsamkeit hatte sie schließlich den einzigen Platz aufgesucht, von dem sie wusste, dass dort allein sein konnte. Der Eingang lag nicht innerhalb der Festung und war dank der guten Tarnung auch nicht von der örtlichen Besatzung entdeckt worden.

Als sie die Höhle betreten hatte, schien ihr ein kleiner Stein vom Herzen zu fallen. Das verwirrende Labyrinth aus Stalaktiten und Stalagmiten war ihr tausend Mal lieber, als die perfekte Ordnung im Stützpunkt über ihr. Die weiche Form der Felsen war viel angenehmer anzusehen als die harten Kannten der Festungsbauten. Doch auch in dieser Halle aus Stein, wo niemand sie je finden würde, fand sie keine Ruhe. Vielleicht lag es ja an der tosenden Wand aus Wasser, die sich vor ihr erhob und ihr den Weg versperrte. Zurückgehen wollte sie nicht. So blieb ihr nichts anderes übrig, als starr dazusitzen. Im Schutz des Lärms flüsterte sie leise:

„Idiot!“

Nehmen und Geben

Siri hockte hinter einem Stalagmiten in der Tropfsteinhöhle unter der Festung Orio, die sich gut verborgen hinter einem Wasserfall befand. Von der Höhle hatte sie keine Ahnung gehabt, bis Merle sie unwissendlich hierher geführt hatte. Auch die Militärs, die dutzende Meter über ihr deren Tätigkeiten nachgingen, dürften ebenfalls von diesem Ort nichts wissen. Was Siri sehr gelegen kam. Für das, was sie mit dem Mädchen vorhatte, konnte sie keine Zuschauer gebrauchen.

Ein heftiger Schmerz zuckte durch ihr Kopf, als sie sich ihres Ziels nochmals versicherte. Trias, ihr Meister, war gegen ihr Vorhaben, doch sie ließ sich nicht davon abbringen. Seinem Argument, Allen könnte durch den Tod seiner Begleiterin von seinem Weg nach Chuzario abgebracht werden, setzte Siri entgegen, dass er um jeden Preis Merles Mörderin folgen würde. Und die Mörderin, so beschloss sie ein weiteres Mal, würde sie sein. Sein Leben gehörte ihr. Ihr Meister persönlich hatte es ihr geschenkt und niemand, nicht einmal ihre ehemalige Vorgesetzte, hatte das Recht ihn ihr wegzunehmen.

Das Katzenmädchen saß vor der Wasserwand, die nur sehr wenig Licht durchließ. Ihrem Profil nach zu urteilen war sie unbewaffnet, aber dessen konnte sich Siri unmöglich sicher sein. Dass es sich bei ihr momentan um ein einfaches Ziel handelte, war hingegen offensichtlich. Sie schien innerlich sehr aufgewühlt zu sein, sie verbarg nicht einmal ihre Aura.

Fast geräuschlos zog Siri ihre eigene Klinge. Um sich von der Dunkelheit nicht ablenken zu lassen, schloss sie ihre Augen. Mit Hilfe des Echos ihrer eigenen Schritte konnte sie sich orientieren, während sie sich langsam an Merle anschlich. Dass Merle sie nicht hörte, hatte sie nur dem ohrenbetäubenden Wasser zu verdanken. Die letzten zehn Meter bis zu ihrem Ziel legte sie laufend zurück. Sie schwang das Schwert waagerecht auf Merles Hals zu, doch auch wenn der Verstand ihres Opfers vernebelte war, ihre Instinkte waren hellwach. Siris scharfe Klinge sauste nur wenige Zentimeter über sie hinweg, als Merle sich zu Seite rollte. Sofort ging sie in Kampfstellung, doch als sie ihre Kontrahentin erkannte, entspannte sie sich.

„Siri, was machst du hier?“, rief sie überglücklich.

„Dich Töten!“, antwortete Siri mit Schmerz verzerrter Stimme und schlug zu, diesmal von oben. Als Merle die Bedeutung ihrer Worte erkannte, war es fast zu spät. Wieder schrammte das Schwert nur knapp an ihr vorbei, während sie mit eine Hüftdrehung auswich. Dem folgenden diagonalen Schlag entging sie mit einem überstürzten Sprung rückwärts, der sie gegen einen Stalagmiten schleuderte. Siri wollte den Augenblick der Verwirrung nutzen und stieß frontal auf sie zu. Der Verzweiflung nahe krallte sich Merle in die rundliche Spitze des Felsens hinter ihr und schwang sich über ihn hinweg. Sofort lief Siri ihr nach und stach blind an dem Stalagmiten vorbei ins Leere. Als sie das Hindernis ganz umrundet hatte, war ihr vermeintliches Opfer verschwunden.

„Feigling!“, schrie sie in die Finsternis hinaus. Das Attentat auf ihr Leben hatte Merle den Kopf gewaschen. Ihre Aura war nicht mehr wahrnehmbar.

„Ich will nicht mit dir kämpfen.“, schallte ihre Stimme von Wänden herab.

„Willst du etwa fliehen?“, köderte Siri sie. Wenn ihre Beute nicht über ihre Aura zu finden war, dann vielleicht über ihre Stimme.

„Nachdem ich solange nach dir gesucht habe? Nein, ich will nur reden.“

„Und ich will dich tot sehen. Wir können nicht beide haben, was wir wollen.“

„Warum? Hat Trias dir befohl…“

„Für Trias bist du nur Dreck!“, unterbrach Siri. Wenn es ihr gelang Merle zu reizen,… „Eine Laborratte hat die Aufmerksamkeit meines Meisters nicht verdient.“

Eine Minute lang herrschte Stille. Siri lauschte. Sie suchte nach den kleinsten Geräuschen, die Merle von sich geben könnte, nach ihren Atemzügen, nach Schnarren ihrer Krallen, welche sie unbewusst an dem Felsen wetze, hinter dem sie sich verkrochen hat. Doch der Wasserfall, so nützlich er auch für das Anschleichen gewesen war, machte ihren Plan zunichte.

„Was habe ich getan, dass du mich so hasst?“, hallte das Echo durch die Höhle.

„Du lebst. Reicht das nicht?“

„Wenn es wegen deiner Wache bei Hitomi…“

Merle brauchte nur den Namen dieser legendären Frau zu erwähnen und schon sprudelten die Erinnerungen aus Siris Gedächtnis heraus. Nur allzu gut erinnerte sie sich an das Gefühl an dem Grab ihres Vaters zu stehen. An den Stolz, den sie empfunden hatte, als sie am Bett von König Vans Liebsten wachte. An die Schmach, von ihrer eigenen Meisterin betrogen worden zu sein.

„Es reichte euch nicht mir meine Rache zu nehmen, es reichte euch nicht mir meine Ehre zu nehmen, jetzt wollte ihr auch noch meine Liebe.“, klagte Siri Merle an.

„Ich weiß nicht, was du meinst.“, verteidigte sie sich.

„Tut nicht so unschuldig! Euretwegen habe ich meinen Rachedurst Hitomi gegenüber aufgegeben und mich sogar mit ihr angefreundet. Euretwegen konnte ich meine Pflicht ihr gegenüber nicht erfüllen. Euretwegen bin ich ihr hinterher gejagt und euretwegen wurde ich zu dem gemacht, was ich bin. Das einzige, was mich noch am Leben erhält, ist Allen und den wollt ihr mir auch noch wegnehmen.“

„Allen? Aber…“

„Genug! Allens Leben gehört mir und weder ihr noch irgendjemand kann das ändern.“

„Glaubst du nicht, dass sein Leben nur ihm allein gehört?“, hielt Merle dagegen.

„Nein! Und wenn er sein letzten Atemzug nimmt, werde ich seinen Augen die Erkenntnis lesen, dass ich Recht habe. Dann folge ich ihm und wir werden die Ewigkeit gemeinsam erleben.“, widersprach Siri mit einer von Wahnsinn erfüllten Stimme. Merle schauderte.

„Wie meinst du das?“, hakte sie nach, um sich Siris Absichten vollends sicher zu sein.

„Ich werde ihn töten, wenn Meister Trias sagt, dass Zeit reif ist.“, bestätigte Siri die Befürchtungen des Katzenmädchens.

„Nein!“, schrie sie aus vollem Halse und warf sich Siri entgegen. Zu ihrer Überraschung kam Merle von der Höhlendecke auf sie zugeschossen. Sie wich mit einem Schritt zur Seite aus und schwang ihre Klinge, um ihre Gegnerin zu spalten, doch Merle schlug das Schwert mit bloßer Hand zur Seite. Sie landete auf allen Vieren, wirbelte einmal um sich herum an einen weiteren Schwertstreich vorbei. Mit der linken Hand bekam sie die Waffe jenseits des Griffes zu fassen, die rechte formte sie zu einer Faust und schmetterte sie mit dem Handrücken voran gegen Siris Schläfe. Die Gezeichnete flog meterweit davon und rollte auf dem harten Felsboden aus.

Mühsam rappelte sie sich wieder auf und zeigte Merle ihr Furcht einflössendes Gebiss. Diese erwiderte die Drohgeste mit einem Fauchen, warf das blutige Schwert beiseite und griff wieder an. Ihre Krallen zielten auf Siris Augen, doch die war schneller. Sie pflückte Merles Hand aus der Luft und schleuderte sie mit dem Rücken voran gegen einen Stalagmiten. Während dem Katzenmädchen sämtliche Luft aus den Lungenflügeln gepresst wurde, setzte Siri mit der Faust nach, um ihren Kopf zu zerschmettern. Jedoch stieß etwas sie in dem Bruchteil der Sekunde, die sie für den Schlag brauchte, durch einen Bodycheck zur Seite. Vollkommen überrascht und überrumpelt starrte sie den Neuankömmling an.

„Allen?“

Ihr Herz machte einen Sprung in ungeahnte Höhen, als sie seine Aura erkannte, und fiel im nächsten Augenblick in einen bodenlosen Abgrund, weil er sich mit gezogenem Schwert schützend vor der bewusstlosen Merle stellte.

„Was machst du?“, fragte Siri, obwohl sie die Antwort längst wusste.

„Niemand, und sei er noch so stark und mächtig, hat das Recht das Leben eines anderen für sich zu beanspruchen. Deine Kraft ist dir zu Kopf gestiegen.“, mahnte Allen.

„Willst du mich auf den Boden der Tatsachen zurückholen,…“, sagte Siri breit grinsend. „…obwohl du nur ein Mensch bist?“

Ehe er auch nur reagieren konnte, tauchte sie unter seine Deckung hindurch und packte seinen rechten Arm. Mit einem Schulterwurf katapultierte sie ihn quer durch die Höhle. Allen rollte sich ab und stand ohne größere Verletzungen auf. Inzwischen hatte Siri sich wieder mit ihrem Schwert bewaffnet und schritt langsam auf ihn zu.

„So, wie es jetzt ist, sollte es nicht sein.“, offenbarte sie ihm. „Anstelle von ihr sollte ich an deiner Seite sein.“

„Auch wenn du uns beide jetzt tötest, wird es nie wieder so sein wie früher.“, konterte Allen. „Hitomi hat mir von dem Weg erzählt, der vor einem toten Krieger liegt. Man ist zwar in bester Gesellschaft, dennoch geht man ihn allein.“

„Mit unserer Liebe können wir den Bann brechen. Dann können wir den Weg gemeinsam gehen.“

„Ich liebe dich aber nicht. Wenn du unbedingt einen Bann brechen willst, hol dir deine Freiheit von Trias zurück!“

„Ein Lebender kann das nicht.“, erwiderte Siri leise. „Der einzige Ausweg für mich ist der Tod.“ Mit dem Wasserfall im Rücken musste sich Allen anstrengen, um sie noch verstehen zu können. „Und ich wünsche mir mehr als alles andere, dass du mich auf diesem Weg begleitest.“

Plötzlich stürmte sie auf ihn zu und drosch mit ihrer Klinge auf ihn ein. Ihre Bewegungen waren viel zu schnell, als das Allen ausweichen konnte und so konnte er nicht anders als ihr Klinge zu blocken. Nach jedem abgewehrten Hieb schmerzten seine Arme mehr, bis er sie kaum noch anheben konnte und Siri entschied dem Kampf ein Ende zu machen. Ein Tritt in seinen Magen ließ Allens Oberkörper nach vorne sacken, ein Stoß mit dem Schwertgriff auf eins seiner Schulterblätter riss ihn zu Boden. Dann holte sie weit aus.

Aus dem Wunsch heraus nicht zu sterben fand Allen die Kraft, um sich mit dem Gesicht nach oben zu drehen und sein Schwert zu einer diagonalen Abwehr hochzureißen. Doch seine Klinge hielt ihrem Schlag nicht stand, das Metall brach. Siris Schwertspitze kam nur einen Millimeter vor seiner Halsschlagader zum Stehen. Verwundert sah Allen auf. Auf ihrer Wange glitzerte etwas, während die Zeit gnadenlos langsam verstrich. Schließlich hob Siri die Klinge ein weiteres Mal an und rammte sie auf seinen Hals zu. Doch der Schmerz blieb aus. Bevor Allen sich fragen konnte, was los war, traf ein Tritt seinen Bauch und er wurde bewusstlos. Siri zog das Schwert aus dem Boden, beugte sich zu ihn hinab und legte ihre Waffe in seine Hände.

„Ich gebe es dir zurück.“, flüsterte sie ihm zu. Dann nahm sie ihm seine Unterarmdolche samt Halfter ab und legte sie sich selbst an. Ohne Merle und Allen noch einen Blick zuzuwerfen, verließ sie Höhle.

Was ist passiert?

Als Allens Verstand wieder auf genug Sauerstoff zurückgreifen konnte, um zu erwachen, fand er sich noch immer auf kargen Fels liegend in der Tropfsteinhöhle wieder. Die Schmerzen in seinem Unterleib ließen ihn leise Stöhnen, während er versuchte sich aufzurichten. Plötzlich wurde er sich dem schmalen Gegenstand in seinen Händen bewusst und hielt inne. Auf seinem Körper sah er das charakteristische Blinken scharfen Metalls. Vorsichtig hob er die Klinge an und stellte überrascht fest, dass sie mehr wog, als er es gewohnt war. Dann fiel sein Blick auf das zerbrochene Schwert, dessen Einzelteile neben ihm verstreut auf dem Boden lagen und ebenfalls ihm schwachen Licht der dunkelroten Sonne glänzten.

Es konnte nicht viel Zeit vergangen sein, seitdem er von…Seine Gedanken überschlugen sich, als er sich die Waffe in seiner Hand genauer ansah.

Ein scharf geschliffener Diamant in der Spitze, ein schwarzer, hölzerner Griff ohne Handschutz…Allen wog Siris Klinge ehrfürchtig in seiner Hand. Er hielt das Schwert nicht zum ersten Mal in seiner Hand, dennoch versetzte das Meisterwerk ihn in Staunen. Warum sie es wohl zurückgelassen hatte?

Immerhin, so überlegte er, war sie in diese Höhle gekommen um…Merle!

Der Gedanke an seine Gefährtin lies ihn hochschrecken. Besorgt stand er auf und rief laut ihren Namen. Es antwortete ihm jedoch nur das tosende Wasser und sein Herz wurde nach jeder Sekunde ihres Schweigens immer schwerer. Schließlich wagte er sich die Höhle vor. Das Licht, das durch den Wasserfall drang, wurde immer schwächer. Zusehens passten sich seine Augen der Dunkelheit an und er konnte eine zusammengesackte Gestalt erkennen, die gegen einen Felsen lehnte. Erließ das Schwert fallen und nahm Merle ins einem Arme. Nochmals sagte er laut ihren Namen, doch sie schien nicht zu reagieren. Während Allen sich Milernas Lektionen eine nach der anderen ins Gedächtnis rief, fühlte er Merle Puls an ihrer Halsschlagader und war dankbar dafür, einen zu finden.

Was jetzt?

Stabile Seitenlage!

Möglichst behutsam breitete Allen sie auf den Boden aus, dann rollte er sie auf ihre Seite und brachte ihre Arme in eine korrekte Position.

Was jetzt?

Eigentlich müsste er Hilfe holen, besonders wenn sich herausstellen sollte, dass sie nicht gleich aufwacht, aber dann wäre niemand mehr hier, der ihre Atmung kontrollieren und im Notfall Wiederbelebungsmaßnahmen durchführen könnte. Tragen konnte er sie nicht. Das Risiko, dass er dabei nicht bemerken würde, wie sie an ihrem eigenen Speichel oder Erbrochenen erstickt, war zu groß.

„Allen?“

Die schwache Stimme lies Allens Herz höher schlagen. Zwei schwach glühende Linsen wandten sich ihm zu.

„Ein Glück, du bist wach!“, stieß er erleichtert aus.

„Wo bin ich?“, fragte Merle verwirrt und sah sich, so gut es ihr möglich war, um.

„In der Tropfsteinhöhle.“, antwortete Allen.

„Was? Ich muss wohl eingeschlafen sein.“, vermutete sie, woraufhin sich ihre Augen wieder schlossen.

„Schlaf bitte nicht ein! Hörst du, Merle? Bleib hier!“, sagte er besorgt und legte ein Hand auf ihre Schulter. Ihre Augenlider hoben sich nur langsam.

„Hast du sie eingeladen?“, hauchte sie.

Im ersten Moment wusste Allen nicht, worauf sie hinauswollte. Doch dann riss er seinen Blick von ihr los und sah sich um. Aus dem Höhleninnern sah er zwei tanzende Lichter näher kommen. Zu allem entschlossen tastete Allen nach Siris Schwert und nahm es an sich.

„Wer seid ihr?“, fragte er laut und deutlich, nachdem er vier Männer im Licht zweier Öllampen erkannt hatte.

„Wir sind die dritte Sanitätseinheit der Festung Orio.“, identifizierte sich der Anführer. „Man sagte uns, dass man hier unsere Hilfe braucht.“

Misstrauisch beäugte Allen die uniformierten Männer, die einen sicheren Abstand zu seiner Klinge wahrten und abwarteten. Hatte Siri ihnen Bescheid gesagt? Wer sonst hätte es tun können? Erst das Schwert, jetzt diese Soldaten. Warum?

„Sie ist rückwärts gegen einen Felsen geprallt und hat sich dabei den Kopf gestoßen.“, sagte Allen, wies auf Merle und trat zurück.
 

Panik durchbrach ihre Wut, als Siri ihr Handgelenk zu fassen bekam und sie herum schleuderte. Dem schmerzhaften Aufprall ihres Rückens folgte ein Stoß auf ihrem Hinterkopf, der ihr die Sinne raubte. Über ihr Bewusstsein legte sich ein Nebel und einen Moment lang gab es nichts weiter als ihre Angst und die Faust, die blitzschnell auf ihr Gesicht zukam. Dann löste sich alles in blendendes Weiß auf und formte sich binnen eines Augenblicks zu zwei Wänden und einem Vorhang, vor dem ein gut aussehender, blonder Mann stand und sie besorgt musterte.

„Wie kommt es, dass du immer da bist, wenn ich aufwache?“, fragte Merle schief lächelnd. Allen zuckte mit den Schultern.

„Schicksal.“, vermutete er. „Hattest du einen Alptraum?“

Sie blinzelte überrascht. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie aufrecht im Bette saß und Schweiß ihr Fell durchnässte.

„Ja, ich hab gerade geträumt, wie S…“

Allen räusperte sich und wies sie mit einer unauffälligen Geste an zu schweigen. Merle braucht nicht einmal einen Blick an die Decke zu werfen, um sich davon zu überzeugen, dass sie überwacht wurde. Für die Wanzen fingen beide ein Gespräch an, bei dem sie nur Floskeln austauschten. Es vergingen nur Minuten, dann wurde der Vorhang beiseite geschoben. Sander und ein kleiner Mann mit weißem Haar, faltigen Gesicht und einer weißen Robe über seiner Kleidung betrat ihre Ecke.

„Wie geht es ihnen?“, fragte der alte Mann mit sachlicher Stimme.

„Mein Kopf tut etwas weh, abgesehen davon geht es mir gut.“, antwortete Merle nach einer kurzen Eigeninventur ihres Körpers.

„Haben sie noch andere Beschwerden?“

„Nein, keine.“

„Wissen sie, wo sie sind?“

„In einem Zimmer offensichtlich, aber ich kenne diesen Raum nicht.“

„Erinnern sie sich an den Unfall?“

„Ja, ich…rutschte auf dem Boden der Tropfsteinhöhle aus und schlug mit dem Kopf auf.“

Der Arzt nickte zufrieden und machte sich Notizen.

„Wir konnten keine strukturellen Schäden an ihrem Gehirn feststellen, dennoch werden sie weitere zwölf Stunden unter Beobachtung stehen. Die Auswirkungen der Gehirnerschütterung werden sie höchstens noch dreißig Tage lange zu spüren bekommen, dann sollte alles abgeklungen sein. Es kann aber auch sehr viel schneller gehen. Die nächsten Wochen sollten sie es ruhiger angehen lassen und körperlich anspruchsvolle Handlungen meiden.“

„Ich habe mich bereits mit Farnelia in Verbindung gesetzt. Euer König wünscht, dass eure Behandlung in seinem eigenen Land fortgesetzt wird. Sobald die Katzenpranke hier ist und ihr für reisetauglich erklärt werdet, brecht ihr auf.“, erklärte Sander und warf Allen einen viel sagenden Blick zu. „Ich nehme an, Ritter Allen wird euch begleiten.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, verließen beide Merles Bereich und zogen hinter ihnen den Vorhang wieder zu.

„Ich hätte nie gedacht, dass jemand so schroff und höflich zu gleich sein kann.“, kommentierte Merle das kurze Treffen.

„Ich nehme an, das liegt an seinem Gespräch mit Van.“, spekulierte Allen und verzog seine Lippen zu einem Lächeln. „Eine königliche Bitte, dich mit Respekt zu behandeln, passt mit Sicherheit nicht in Sanders Weltanschauung.“

„Stimmt. Ich war so lange nicht mehr in Farnelia, dass ich ganz vergessen habe, wie praktisch es ist mit ihm befreundet zu sein.“, kicherte sie.

„Praktischer wäre es, wenn es diese Freundschaft auch auf dem Papier gäbe.“, sagte er leise.

„Was?“, fragte sie verwirrt, doch er winkte ab.

„Vergiss es!“

„Wie war die Feier gestern?“

„Ich war nicht anwesend.“

„Wegen mir? Aber…“

„Nein, aber nachdem ich dich…gefunden hatte, war ich nicht mehr vorzeigbar. Und da ich die feinen Damen nicht warten lassen wollte,…“, rechtfertigte sich Allen.

„… hast du dich seitdem nicht mehr bemüht, irgendetwas an deinem Erscheinungsbild zu ändern.“, beendete lächelnd Merle seinen Satz und musterte seine schmutzige Paradeuniform.

„Ist das eine Aufforderung es jetzt zu tun?“, erkundigte er sich mit spielerischem Ernst.

„Meine feine Nase bittet darum.“, erwiderte sie im gleichen Tonfall. „Ein Wunder, dass man euch in dieser Verfassung herein gelassen hat.“

Allen, der sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte, erhob und verbeugte sich.

„Ich verabschiede mich, Fräulein.“, verkündete er und schob den Vorhang beiseite.

„Schlaf gut!“, sagte Merle, woraufhin er sich verdutzt zu ihr umdrehte und sie ihre Aufforderung mit einem Grinsen unterstrich. Als er den Vorhang passierte, trat eine Krankenschwester mit einem Tablett in den Händen an ihm vorbei. Ein paar Augenblicke sah sie ihn hinterher und wandte sich dann Merle zu.

„Sie können von Glück reden Ritter Allen als Freund zu haben, Fräulein.“, sagte sie, bevor sie die Beine des Tabletts ausklappte und es über Schoß der Patientin legte.

„Mein Geruchsinn war gerade anderer Meinung.“, entgegnete Merle, während sie spekulierte, welche Art von Freund die Schwester wohl meinte, und ihre Nase mit dem Duft des Tees entschädigte.

„Das wäre er nicht, wenn er wüsste, dass Ritter Allen die ganze Nachte hindurch an eurem Bett gewacht hat. Selbst als wir euch waschen wollten, lies sich der Ritter nur sehr schwer zum Gehen bewegen.“

„Wahrscheinlich wusste er es, hat es mir aber aus Höflichkeit verschwiegen.“, sagte Merle und verbarg ihre Empörung. Was hatte sich Allen dabei gedacht, sie die ganze Nacht hindurch beim Schlafen zu beobachten. Warum hatte das Krankenhauspersonal dies gebilligt? Naive Vorstellungen von Romantik seitens der Krankenschwestern, vermutete sie und fragte sich im nächsten Augenblick selbst, warum sie sich überhaupt darüber aufregte. In der letzten Woche hatten sie und Allen jede Nacht im selben Bett verbracht, wenn auch mit mindestens einem Meter Abstand.

In der letzten Nacht hatte er wahrscheinlich Wache gehalten, was sein aufdringliches Verhalten erklären würde. Bedeutete das, dass Siri noch immer nach ihrem Leben trachtete? Bei der Gelegenheit viel Merle auf, dass sie gar nicht wusste, warum sie noch am Leben war. Was war passiert, nachdem sie das Bewusstsein verloren hatte? Allen hatte angegeben, dass er sie gefunden hatte, doch er hatte ihr und der Überwachungstechnik in diesem Raum etwas verschwiegen. Merle nahm sich vor, bei der nächsten Gelegenheit herauszufinden, was es war.

„Wo wir schon mal dabei sind…Wann kann ich mich waschen?“
 

Als Allen die Sanitätseinrichtung der Festung Orio verließ, stellte er überrascht fest, dass Sander an einer Wand gelehnt auf ihn wartete.

„Haben sie uns getrennt, damit Merle ein leichteres Ziel abgibt?“, erkundigte er sich bei dem Festungskommandanten.

„Möglich.“, wich Sander der Antwort aus.

„Sie haben mit dem Leben des Mädchens gespielt!“, warf Allen ihm vor.

„Sie haben mit dem Leben von jedem meiner Männer gespielt, da sie uns die Existenz dieser Höhlen verschwiegen haben.“, konterte Sander. „Scheint so, als wären wir quitt.“

Allen schnaubte verächtlich und trat an ihn vorbei.

Allens Geheimnis

Wie gebannt starrte Merle auf das Meer aus Blättern, das sich vor ihren Augen erstreckte. Eigentlich sollten sie in einem kräftigen, leuchtenden Grün erscheinen, doch selbst das Licht des Mondes der Illusionen konnte sie nicht vor der Finsternis der Nacht bewahren.

Ein letztes Mal lies Merle ihren Blick schweifen, dann wandte sie sich von dem kleinen Fenster ab, zupfte nervös an ihrem königsblauen Kleid und betrachtete den kleinen Tisch, den man in ihre Koje der Katzenpranke gebracht hatte. Auf einer kunstvoll bestickten Tischdecke lag ein Silbertablett, belegt mit dem Besten, was die Bordküche zu bieten hatte. Es war zwar nur ein informelles Essen, dennoch sah Merle dem angeblich zwanglosen Treffen mit gemischten Gefühlen entgegen.

Noch vor ein paar Wochen hätte sich Merle nur mit ihrem weißen Schlafgewand bekleidet zu Allen an den Tisch gesetzt, doch seitdem er wieder ununterbrochen seine elegante Uniform trug, kam ihr diese Art der Bekleidung unpassend vor. Sie seufzte. Während der Jagd durch das Grenzland Astorias hatte der Wald den Verhaltenskodex vorgegeben, selbst während der Gefangenschaft in Orio hatte Etikette keine Rolle gespielt, da beide auf engen Raum zusammengepfercht worden waren. Jetzt jedoch hatten sie eigene Zimmer, waren von Personal umgeben und flogen in einem Schiff des Königreiches Farnelia. Es gab keine Entschuldigung mehr, die Etikette Fallen zu lassen, und allen Grund, sie wieder aufzunehmen.

Ein leises Klopfen holte Merle aus ihren Überlegungen. Ein erster Check der Aura des Besuchers identifizierte ihn als Allen. Ein zweiter sagte ihr, dass etwas nicht stimmte. Seine Aura pulsierte unregelmäßig. Aus irgendeinem Grund schien er sehr aufgeregt zu sein. Erst wollte sie den Himmelsritter mit einem Hinweis auf die unverschlossene Tür herein bitten, überlegte es sich jedoch anders. Schließlich war es einem Mann verboten, die Tür zum Schlafzimmer einer Dame zu öffnen. Ihre Neugier trieb sie zur Eile. Mit ein Paar schnellen Schritten ging sie zur Tür und zog diese zu sich heran.

Äußerlich wirkte Allen wie immer. Sein Gesichtsausdruck war ernst und beherrscht. Doch in seinem Innern brach in dem Moment, als er sie sah, Chaos aus. Seine Muskeln bebten vor Spannung, um die aristokratische Körperhaltung zu bewahren.

„Was ist los?“, platzte es Merle heraus, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen. Allens Unruhe stieg um ein Vielfaches an.

„Komme ich ungelegen? Man sagte mir, du wärst bereit.“, wunderte er sich.

„Nein, es ist nur…Komm rein!“

Sie trat beiseite. Zu ihrer Überraschung zögerte Allen, ehe er ihrer Bitte nachkam. Merle schloss hinter sich die Tür und ging zum Tisch. Doch anstatt ihr zu folgen und einen Stühle zurückzuschieben, damit sie sich setzen konnte, blieb Allen wie angewurzelt stehen. Zwar hatte der Himmelsritter ein informelles Essen vorgeschlagen, dennoch störte es Merle, dass er sie nicht wie eine Dame behandelte. Sie wollte ihn gerade auf die übelste Weise zurechtstutzen, die ihr einfiel, als er zu sprechen begann.

„Bevor wir essen, wollte ich dir noch etwas sagen. Es ist ein Geheimnis, von dem nur wenige wissen und eigentlich niemand wissen sollte.“ Merles Verstimmung löste sich in Wissensdurst auf. Geheimnisse hatten sie schon immer fasziniert. „Es ist nun schon über ein Jahrzehnt her, als die älteste der Prinzessinnen von Astoria, Prinzessin Marlene, aufbrach, um in Fraid mit dem Herzog verheiratet zu werden.“ Allen legte eine kurze Pause ein, die Merle schier den Nerv raubte. „Jedoch waren Prinzessin Marlene und ich ineinander verliebt.“ Plötzlich endete ihre Neugier in einen Schock. „Noch bevor sie nach Fraid aufbrach, um ihren Pflichten als Prinzessin nachzukommen, verbrachten wir eine Nacht miteinander.“ Aus dem Schock entstand Schmerz. „In dieser Nacht wurde ein Kind gezeugt.“ Der Schmerz verwandelte sich in kalte Wut. „Und der Name dieses Kindes ist Herzog Cid von Fraid.“

Unzählige Fragen geisterten durch Merles Kopf. Warum hatte er es ihr erzählt? Warum hatte er es ihr so lange verschwiegen? Wie konnte er es wagen, sich einen Ruf als Frauenheld aufzubauen und insgeheim zu übertreffen? Wie konnte er es wagen, sie mit diesem Geheimnis zu belasten? Wie konnte er es wagen…

„Raus!“, befahl Merle. Tränen verschleierten ihre Sicht, trotzdem erkannte sie, dass Allen sich kein Stück bewegte. Hielt er sie für naiv? Amüsierte ihr Anblick ihn? Lachte er über sie? „Raus!“, schrie sie ihn an, woraufhin er langsam den Raum verließ. Merle, deren Geduld am Ende war, schob ihn durch die Tür und schlug diese hinter ihm zu. Heulend sackte sie auf den Boden und presste die Hände an ihr Gesicht. Selbst ihr Oberkörper war aller Kraft beraubt und glitt auf den weichen Teppich. Wie konnte er es wagen? Wie?

„Warum weinst du?“

Merle, die plötzlich eine sanfte Frauenstimme vernahm, riss schlagartig die Augen auf. Auf einmal spürte sie auf die Hand, die sanft über ihr Fell fuhr. Erschrocken blickte sie auf und traute ihren Augen nicht.

„Hitomi?“, fragte sie ungläubig. Ihr Blick fiel auf das weiche Bett, auf dem sie lag, auf den Schoß, auf dem noch eben ihr Kopf geruht hatte, auf das Meer und dem Sternenhimmel, der durch das große Fenster des dunklen Zimmers hindurch sichtbar wurde. „Wo bin ich?“

„In einem Raum, den ich erschaffen habe.“

„Aber…dieses Zimmer…“

„Du erinnerst dich.“, stellte Hitomi fest. „Hier hast du dich mir das erste Mal anvertraut.“ Ihr Blick folgte dem von Merle und registrierte das grelle, gigantische Leuchten am Horizont. „Auch ich wäre damals fast vor Angst gestorben, doch deinetwegen konnte ich meine Furcht zu überwinden. Danke!“

Merle musterte ihre Freundin mit großen Augen. Sie sah noch genauso aus, wie vor drei Jahren.

„Warum zeigst du dich mir nicht in deiner wahren Gestalt?“

„Tut mir Leid. Ich bin gerade dabei mich zu verändern. In welche Richtung jedoch soll eine Überraschung bleiben, vor allem für Van.“

„Van ist nicht hier.“

„Aber er schaut zu, genauso wie Trias und ein paar andere, meist männliche Waschweiber, die nicht wissen, wann man die Privatsphäre anderer zu respektieren hat.“, klärte Hitomi sie auf und sandte dabei einen heftigen Impuls von Gedankenenergie in alle Richtung hinaus.

„Können sie auch verstehen, was wir sag…ich meine, was wir denken?“

„Nur was du laut aussprichst. Deine geheimen Gedanken kannst du für dich behalten, wenn du aufpasst. Die Grenze zwischen lauten und lautlosen Gedanken muss du jedoch selbst finden.“

„Können wir uns privat unterhalten?“ Merle hielt einen Moment inne. „Ich brauch deinen Rat.“, gab sie dann kleinlaut zu, woraufhin Hitomi sie eindringlich anstarrte.

„Wir können eine sichere Verbindung aufbauen, doch du musst mir bedingungslos vertrauen. Es könnte sonst sein, dass die Abwehrreaktion deines Unterbewusstseins uns beide umbringt.“

„Ich vertraue dir.“, entschied sie. „Wie machen wir es?“

„So.“, erwiderte Hitomi und legte beide Hände auf Merles Wangen. Ehe das Katzenmädchen wusste, wie ihr geschah, drückte ihre beste Freundin ihr einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen. Merles Augen weiteten sich. Erschrocken drückte sie Hitomi von sich weg.

„Du musst den Kuss erwidern, sonst geht es nicht.“, belehrte Hitomi sie, woraufhin Merle quiekte. „Was muss ich? Hast du überhaupt eine Ahnung, was wir hier machen?“

„Unsere Auren müssen sich für einen Augenblick berühren und sich füreinander öffnen. Um die Entfernung zu überbrücken, müssen wir sie für einen Moment vergessen. Nun ja…eine intime Handlung ist das einzige, die beide Vorraussetzungen sehr schnell erfüllt. Wir könnten auch tagelang meditieren, wenn dir das lieber ist.“

Merle seufzte. Allens und Cids Gesicht tauchten vor ihrem inneren Auge auf.

„Nein, ich muss jetzt mit dir reden.“

Langsam beugte sich Merle nach vorn und Hitomi tat es ihr nach. Erst zögerlich berührten sich ihre Lippen, dann wurden sie immer kühner, bis schließlich alle Zurückhaltung zum Mond ging. Der Sturm von Hitomis Gedanken, der nur für einen Bruchteil einer Sekunde auf ihren Verstand einprasselte, versetzte Merle schier in Ekstase. Behutsam löste sich Hitomi von ihrer Freundin und setzte ein dezentes Lächeln auf.

„Ich habe den Kontakt so kurz wie möglich gehalten. Wie geht es dir?“

Einen Moment lang wusste Merle nicht, wo oben und unten war.

„Krass! Passiert das jedes Mal, wenn man sich küsst?“

„Nur wenn man sich dem Partner ganz und gar überlässt. Fehlendes Vertrauen, Scham, aber auch Gewohnheit können Barrieren aufrechterhalten, die das Erlebnis trüben. Aber das wirst du noch selbst herausfinden. Über was wolltest du mit mir reden?“

„Sind wir jetzt unter uns?“, erkundigte sich Merle sicherheitshalber.

„Ich habe in dein Unterbewusstsein einen Schlüssel platziert, der deine Gedanken codiert, sobald du bewusst mit mir redest. Ich habe den gleichen Schlüssel. Die anderen empfangen jetzt nur noch unverständliche Signale.“, versicherte Hitomi.

„Wie viele dieser Schlüssle hast du?“

„Ich habe einen für Van, sonst keinen. Ach ja, Trias hatte ebenfalls einen Schlüssel bei mir platziert, als er bei mir eingebrochen ist. Ich habe den Code weggeworfen, sobald man ihn mir gezeigt hatte.“

„Du veränderst dich wirklich. Früher hättest du ihn behalten, um weiter versuchen zu können, Trias von seinen Handlungen abzubringen.“, merkte Merle an.

„Das wollte ich auch.“, gab Hitomi zu. „Aber meine Gastgeber befürchteten, ich könnte den Schlüssel aus Versehen benutzen und Trias so weitere Geheimnisse verraten. Erst muss ich lernen, wie ich meine Gedanken kontrollieren kann, ehe ich ein solches Risiko eingehen kann. Ich fürchte, diese Lektion ist teuer erkauft, zu teuer.“

„Warum?“, wollte Merle wissen. „Weil du von einem Geheimnis wusstest? Einem Geheimnis mit staatstragender Bedeutung?“

Hitomi runzelte die Stirn.

„Worauf willst du hinaus?“

„Allen hat mir von Cid erzählt.“

„Verstehe. Dann gehörst du jetzt auch zum Kreis der Eingeweihten.“

„Wie viele wissen davon?“

„Allen, Milerna, du, ich und leider auch Trias. Cid selbst hat keine Ahnung.“

„Wie vielen Leuten Trias diese Neuigkeit schon überbracht hat, können wir nicht abschätzen. Du bist dir schon darüber im Klaren, dass dies kein Geheimnis bleiben wird, jetzt da wir ein unkontrollierbares Leck haben.“

„Ja, bin ich. Aber ohne einen Beweis wird selbst Trias nichts ausrichten können. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen gibt, außer Trias lässt heimlich einen Vaterschaftstest durchführen.“, entgegnete Hitomi.

„Selbst Gerüchte können gefährlich sein. Außerdem kann man jede Information beweisen, selbst wenn sie falsch ist.“, konterte Merle.

„Wolltest du mit mir über Politik sprechen?“, fragte Hitomi leicht verstimmt.

„Nein, ich…als Allen es mir erzählt hat, na ja, da hab ich…etwas überreagiert. Du hast mich ja gesehen.“

„Hat er dir von sich aus sein Geheimnis verraten?“

„Ja, ich…hatte vorher keine Ahnung.“

„Komm her!“, bat Hitomi und schloss Merle in ihre Arme. „Du bist etwas ganz besonderes für ihn, sonst hätte er nicht das Gefühl gehabt, dass du es wissen musst. Und er vertraut dir, sonst hätte er es dir wohl kaum verraten. Weißt du, nachdem er es mir gesagt hatte, war ich ganz durcheinander. Dass er mir nur wenige Augenblicke nach seiner Beichte einen Heiratsantrag machte, war auch nicht gerade hilfreich.“

„Echt jetzt?“, stutzte Merle.

„Ja, er kann sehr stürmisch sein.“, kicherte Hitomi. „Am darauf folgenden Tag hab ich ebenfalls um Rat gesucht, damals bei Milerna. Sie sagte mir, dass, bevor sich zwei Menschen treffen, jeder schon sein eigenes Leben gehabt hat, egal, wie sehr man sich dagegen wehrt. Wenn man einen Menschen annimmt, dann gilt das auch für dessen Vergangenheit. Sie ist ein Teil von uns und lässt sich nicht einfach ausradieren.“ Plötzlich grinste Hitomi über beide Ohren. „Dies ist ein Problem, das alle Liebenden betrifft.“

Merle traute ihren Ohren nicht und befreite sich aus Hitomis Armen.

„Hey! Wer hat behauptet, dass ich Allen liebe?“, fragte sie aufgebracht.

„Niemand, aber wie ich schon sagte, du bist etwas ganz besonderes für ihn. Bis er dir die eine Frage stellt, solltest du die Antwort finden. Meinst du nicht auch?“, riet Hitomi vergnügt und winkte zum Abschied. „Tschau!“

„Warte!“

Das Zimmer um Merle herum löste sich in Dunkelheit auf. Langsam schlug sie die Augen auf und fand sich in ihrer Koje auf der Katzenpranke wieder. Gemächlich rappelte sie sich auf und sah sich um. Mit großer Enttäuschung stellte sie fest, dass das Essen kalt geworden war.

Der Unterschied

„Ich kapier immer noch nicht, warum ich mich umziehen musste.“, beschwerte sich Van, während er mit einem Festgewand bekleidet unter der warmen Frühlingssonne vor der Villa de Farnel wartete.

„Empfängst du deine Stammgäste sonst auch in Alltagskleidung?“, neckte Sophia, die ihm als einzige zur Seite stand.

„Natürlich nicht. Aber bei Merle handelt es sich nicht um einen Staatsgast, sondern um eine alte Freundin.“

„Sie hat Allen Shezar bei sich.“

„Er war auch bei der Besprechung im Tempel der Fortuna dabei und damals haben wir nicht so viel Aufwand betrieben.“

„Mag sein, aber damals war er ein Kamerad, heute ist er ein Staatsgast.“, gab Sophia zu bedenken, während sie die Kutsche beobachtete, die ihren Weg durch den blühenden Garten bahnte. „Außerdem…wenn du schon von ausländischen Würdenträgern und Militärkommandanten verlangst, dass sie Merle mit Respekt behandeln, solltest du mit gutem Beispiel vorangehen. Und ich muss dich nicht daran erinnern, dass ihr beiden euch seit einiger Zeit nicht…“

„Ja, schon gut, ich hab’s kapiert.“, unterbrach Van genervt, aber dann hellte sich seine Miene auf. „Danke!“

„Wofür?“

„Dafür, dass du mir keine Ruhe lässt.“

„Ernsthaft?“, wunderte sich Sophia, doch statt ihr zu antworten wandte sich Van lächelnd der Kutsche entgegen, die gerade vor dem Treppenansatz hielt. Nachdem der Kutscher die Tür öffnete, trat Allen ins Freie hinaus, tat einen Schritt zur Seite und bot der nachfolgenden Person seine Hand an. Van stockte der Atmen, selbst Sophia konnte sich ein von Überraschung zeugendes Keuchen nicht verkneifen.

„Ist das wirklich Merle?“, fragte sie erstaunt. In Gedanken formulierte Van dieselbe Frage. Es war gewiss nicht das erste Mal, dass er sie in dem dunkelblauen, mit weinroten Stoffen ausgeschmückten Kleid sah, und ihr rosa Haar zeugte noch immer von ihrer Zuneigung zum Chaos. Trotzdem kam ihm die Merle, die Allens Hand nahm und sich von ihm aus der Kutschen helfen lies, wie eine vollkommen fremde Person vor.

Ihr Gang machte den Unterschied. Während der letzten drei Jahre hatte sie sich zusehends mehr wie ein Krieger, wie ein Mann bewegt. Nun aber zeigte ihre Körpersprache eine atemberaubende Eleganz. Van hatte ihr zwar beigebracht, wie man sich so bewegen konnte, doch selbst bei den wenigen gesellschaftlichen Anlässen der letzten Jahre hatte sie sich nie ganz der Rolle der weiblichen Begleitung gefügt. Was hatte Allen mit ihr angestellt? Hatte es etwas damit zutun, worüber sie mit Hitomi vor ein paar Tagen reden wollte? Merle grinste in Vans erstarrtes Gesicht, woraufhin er sich entspannte. Sie war noch immer die Merle, die er kannte, er musste nur genauer hinsehen.

Mit einem Knicks begrüßte die Katzenfrau ihren König, Allen vollführte pflichtbewusst seine Verbeugung. Sophia erwiderte die Begrüßung ihrerseits ebenfalls mit einem Knicks, Van hingegen beließ es bei einem wohlwollenden Kicken.

„Hallo, Merle. Seid gegrüßt, Allen Shezar. Ich muss gestehen, eure Begleiterin hat mich überrascht.“

„Inwiefern, Majestät?“, erkundigte sich der blonde Ritter. Die Frage ignorierend winkte der König die beiden zu sich.

„Kommt herein. Ich bin sicher, ihr habt viel zu erzählen.“

„Wir sollten dabei aber nicht belauscht werden…“, riet Merle angespannt.
 

„Was macht dich eigentlich so sicher, dass du hier drinnen nicht abgehörst wirst?“, fragte Allen, nachdem er als letztes den Konferenzraum betreten hatte.

„Abgesehen davon, dass er schalldicht ist und keine Fenster hat?“, erkundigte sich Van und nickte Merle zu.

„Der Raum ist von einem Drahtnetz umgeben und wird vor jeder wichtigen Besprechung auf Überwachungstechnik hin untersucht.“, führte sie weiter aus. „Natürlich nur von Leuten, für die ich gebürgt habe.“

„Und wenn jemand speziellere Kräfte einsetzt, wie zum Beispiel die von Hitomi?“

„Die Gedanken werden durch eine Barriere geschützt, über die jeder Mensch verfügt. Trias kann uns nicht belauschen, solange wir wirklich nur sprechen. Van und ich werden keine Gedankenrede benutzten, da wir beide ja wissen, …“ Merle sah Van viel sagend an. „…wie unsicher sie ist, nicht wahr?“

„Bitte entschuldige. Ich wollte wirklich nicht lauschen.“, bat er.

„Hast du aber!“, beschuldigte sie ihn und musterte daraufhin Sophia. „Wunderst du dich gar nicht über was wir reden?“

Es war Van, der für sie antwortete.

„Sie hat Hitomis Kräfte bereits am eigenen Leibe erfahren, als sie dich retten wollte. Sie weiß über das meiste Bescheid.“

„Hat Van dir auch etwas davon beigebracht?“, fragte Merle die Prinzessin.

„Nein, bis jetzt bestanden meine Lektionen nur aus Kommunalverwaltung und Schwertkunst.“, antwortete sie beinahe schüchtern.

„Schwertkunst?“

„Ja. Ich möchte das Turnier gewinnen.“

„Ist das dein Ernst? Du weißt schon, dass König Van dran teilnimmt?“

„Natürlich.“

„Und da machst du dir noch Hoffnungen? Nicht einmal der berühmte Allen Shezar kann hoffen.“, behauptete Merle und zeigte dabei mit ihrem Daumen auf ihn, woraufhin Allen gelassen protestierte: „Ich tu es trotzdem.“

„Ich auch!“, stimmte Sophia zu und schmunzelte. „Wenn ich etwas bei Van gelernt habe, dann, dass niemand perfekt ist.“

„Vielen Dank auch!“, erwiderte der König. „Ich sollte wirklich mehr Autorität demonstrieren, sonst verlier ich mein Gesicht.“

„Du wirst es spätestens im Ring verlieren, wenn ich dich geschlagen habe.“, scherzte Merle.

„Warst du es nicht, die von mir etwas lernen wollte?“, merkte Allen an. „Wie kannst du denn behaupten, dass du eine Chance hättest und ich nicht?“

„Ich habe um Übungsstunden bei dir gebeten, weil du Techniken kennst, die ich gerne kennen lernen will. Ob du besser oder schlechter bist, spielt dabei keine Rolle.“, hielt sie dagegen.

„Lass dich erst einmal untersuchen! Dann sehen wir, ob du überhaupt teilnehmen darfst.“, gab Van zu bedenken.

„Willst du mich aus dem Turnier ausschließen?“

„Das würde ich nie wagen, dennoch…Die königliche Autorität ist nichts im Vergleich zu dem Eid, den ein Arzt leisten muss.“

„Ah! Du meinst also, ein weißer Kittel könnte mich daran hindern die Person, die ihn trägt, in Stücke zu reißen.“

„Die alte Merle hätte nichts davon abgehalten, an dem Turnier teilzunehmen, auch wenn sie dadurch ihre Gesundheit vorsätzlich ruinieren und ihre Tarnung als kleines, unschuldiges Katzenmädchen für immer aufgeben hätte.“, erklärte Van. „Aber wie ich vorhin schon sagte, Allens Begleiterin hat mich überrascht, denn sie schien viel reifer zu sein, als ich sie in Erinnerung habe.“

Angesichts des Komplimentes flammten Merle Wangen auf und das Argument ihrer Tarnung wog schwer.

„Also gut, ich lass mich ein weiteres Mal untersuchen.“, fügte Merle sich.

„Bevor du gehst, erzähl uns bitte deine Geschichte.“

„Na gut, aber es ist nicht nur meine Geschichte, sondern die von Allen und mir…“
 

Merle saß im Garten auf einer schneeweißen Bank und ließ sich die Sonne auf den Pelz scheinen. Sie hatte das Kleid gegen ein weniger beengendes Gewand eingetauscht. Andächtig lauschte sie dem Gezwitscher der Vögel und achtete nur ganz nebenbei auf die Schritte einer kleinen Person, die immer näher kam. Sie kannte das Schrittmuster nicht, also konnte es nur ein Gast sein.

„Kann ich mich zu dir setzten?“, fragte Sophia freundlich.

„Sicher.“, antwortete Merle. „Falls du meine miese Laune ertragen kannst.“

„Ist die Untersuchung nicht gut gelaufen?“, erkundigte sich Sophia, während sie sich neben der Katzenfrau niederließ.

„Ganz im Gegenteil. Sie haben nichts gefunden.“, berichtete Merle. „Aber nach einer Gehirnerschütterung können Spätfolgen nicht ausgeschlossen werden. Soll heißen, ich muss die nächsten paar Wochen kürzer treten. Ausgerechnet jetzt!“

„Das tut mir leid. Aber es wird gewiss nicht das letzte Turnier sein, welches in Farnelia stattfindet.“

„Solange die Rolle des Hofnarren spiele, werde ich sowieso nicht teilnehmen können.“

„Dann leg die Rolle doch einfach ab.“, schlug Sophia vor. „Sie dürfte dank dem Überwachungsvideo aus der Festung Orio mehr als brüchig sein.“

„Ist es etwa schon im Umlauf?“, hakte Merle nach.

„Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es seinen Weg in die Hände sämtlicher Militär- und Geheimdienstkommandanten findet.“

„Dann lenkt es wenigstens vom wahren Kommandanten der Wache ab.“ Erst als Merle einen Blick auf ihre Gesprächspartnerin warf, bemerkte sie die bewundernden Blicke. „Was ist?“

„Ach nichts…nun fast nichts…Ich frag mich nur, wie du so geworden bist, wie du bist?“

„Hä?“

„Na ja, Geheimdienstagentin, Kommandantin, Nahkampfexpertin, Leibwächterin…du bist so vieles, und wenn man Van glauben schenken kann, hast du alles erst gelernt, während du diese Aufgaben schon innehattest.“

„Du sollst auch sehr viel auf den Kasten haben.“, warf Merle ein.

„Ja, aber bei mir war es Schicksal. Ich wurde als Prinzessin geboren und muss dementsprechend Aufgaben übernehmen. Du hingegen…“

„Du meinst, nur wegen deiner Herkunft ist dein Schicksal besiegelt? Ich bin als kleines Kind ohne Eltern auf den Straßen Farnelias umhergeirrt und jetzt bin ich hier. Die Moral dieser Geschichte muss ich wohl kaum erklären.“

„Und genau das will ich von dir lernen.“, bat Sophia. „Ich möchte lernen mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.“

„Das kann ich dich nicht lehren.“, erklärte Merle. „Dazu ist nämlich kein Wissen, sondern eine Entscheidung notwendig.“

„Ich möchte es tun, aber…“

„Das reicht nicht. Etwas nur zu wollen und es zu tun, sind zwei vollkommen verschieden Dinge.“

„Solange mein Vater…“

„Bah!“, unterbrach Merle und erhob sich. „Ich hab das Herumsitzen satt. Schäl dich aus diesem protzigen Kleid und triff mich in der Trainingshalle!“

„Was?“

„Willst du das Turnier gewinnen oder wirst du es gewinnen?“

Der plötzliche Themenwechsel verwirrte Sophia. Es nur zu wollen und es zu tun…

„Ich werde gewinnen.“, verkündete sie selbstbewusst.

„Dann schwing die Hufe!“

Familienzuwachs

Merle trat gerade aus ihrer Duschkabine, als jemand an der Eingangstür ihrer kleinen Wohnung anklopfte.

„Allen?“, flüsterte sie verwundert, nachdem sie die Aura erfasst hatte. Schulter zuckend lenkte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihr Handtuch. Da Allen unangekündigt erschienen war, konnte er warten. Mal sehen, wie viel Geduld er aufbringen konnte.

Nachdem sie an ihrem Kleid den letzten Handgriff getätigt hatte und sie sich ausgiebig im Spiegel betrachtet hatte, konnte Merle angesichts eines solchen Durchhaltevermögens nur nachgeben und für ihn die Tür öffnen. Plötzlich erinnerte sie sich an ihr Gespräch mit Hitomi.

Bis er dir die eine Frage stellt…

Sein Lächeln lies ihren Gedanken stolpern und nicht wieder aufstehen.

„Verzeih bitte die Störung! Ich wollte dich vor dem Abendessen noch einmal sprechen.“, erklärte Allen sein Anliegen.

„Wieso?“, fragte sie kälter, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte. „Gibt es noch ein Geheimnis, mit dem du mich unbedingt belasten musst.“ Plötzlich ersetzte Resignation die Freundlichkeit in Allens Gesicht und er wandte sich ab. Genauso schnell wurde Merle bewusst, was sie gerade gesagt hatte und das Wissen trieb ihr einen Keil ins Herz. Entschlossen, es wieder gut zu machen, packte sie Allen am Ärmel, zog ihn in ihr Zimmer und schlug hinter ihm die Tür zu. „Ich entschuldige mich.“, verkündete sie, während er sie verdutzt anstarrte. „Es muss sehr schwer für dich gewesen sein, es mir zu sagen.“

„Ja, aber es war auch eine Erleichterung…Wir haben seitdem nicht mehr darüber gesprochen, obwohl wir viele Gelegenheiten hatten.“, gestand er.

„Warum hast du es mir erzählt?“

„Weil…Vielleicht verstehst du es, wenn ich dich das gefragt habe, was ich fragen wollte.“

Mit ungewöhnlich angespannter Mine kniete Allen vor ihr. Merle, die noch gar nicht richtig fassen konnte, was sie sah, verzweifelte. Sie hatte die Antwort noch nicht, er durfte die Frage nicht stellen, was sollte sie…

„Merle, möchtest du mich auf den Eröffnungsball des Turniers begleiten?“

Ein reißender Strom aus Enttäuschung, Erleichterung und freigesetzter Anspannung spülte ihre Gedanken hinfort. Ohne darüber nachzudenken, holte sie mit ihrer Hand aus und polierte seine Wange mit einem Streich.

„Das heißt wohl Nein.“, äußerte sich Allen enttäuscht, der sich sein teilweise gerötetes Gesicht rieb.

„Nein…Ja…Es ist nur so, dass ich Van begleiten werde. Er kann sonst niemanden mitnehmen, ohne politische Konsequenzen fürchten zu müssen.“, erklärte Merle und hob ihn sanft auf seine Füße. „Es tut mir leid.“ Ehe Allen etwas sagen konnte, klopfte wieder jemand an die Tür. Eine Dienerin, wie Merle aus der Aura schlussfolgerte. „Versteck dich!“

„Warum?“

„Vielleicht hast du kein Problem damit, dass alle über dich tratschen. Ich schon!“

Leise presste er sich an die Wand, die hinter der offenen Tür liegen würde. Merle lächelte ihm dankbar zu, drückte dann den Griff herunter und zog ihn zurück. Die Dienerin machte einen Knicks und richtete ihr aus, dass der König sie im gesicherten Konferenzraum sehen wollte. Als Merle dies hörte, wusste sie, dass sie unmöglich ablehnen konnte. Einer formellen Bitte Vans musste sie sofort Folge leisten. Während sie die Lampen in ihrer Wohnung löschte, schickte sie Allen ein kurzes Zucken ihrer Mundwinkel, welches er hoffentlich so verstand, wie es gemeint war. Als eine Bitte um Verzeihung. Nachdem sie die Eingangstür verschlossen hatte, folgte sie der Dienerin bis zum Konferenzraum, in dem Van allein auf sie wartete. Merle zollte ihren Respekt und behielt ihre Haltung bei, auch nachdem die Dienerin hinter der sich schließenden Tür verschwand.

„Warum so steif? Du bist doch sonst nicht so?“, erkundigte sich Van und bot ihr einen Stuhl an, woraufhin Merle sich entspannte.

„Wann immer eine Dienerin es für nötig hält sich mir gegenüber respektvoll zu verhalten, ist es besser für mich, ebenfalls die Form zu wahren.“, erklärte sie und setzte sich.

„Bitte entschuldige! Eigentlich solltest du das hier als einzige sehen, ehe ich es unterschreibe.“, bat er und schob ein Paar Bögen Papier zu ihr rüber.

„Eine Bürger- und eine Geburtsurkunde?“, wunderte sich Merle.

„Ja, wie du weißt, besitzt jeder Einwohner Farnelias diese Urkunden. Sogar ich hab welche.“

„Das sind deine.“, stellte sie erstaunt fest, doch er verneinte.

„Sieh dir den Vornamen an!“

„Aber…das ist…“, stotterte Merle, dann versagte ihr Atem.

„Ich wollte dich erst um Erlaubnis bitten, ehe ich sie unterschreibe.“, sagte Van, doch er sprach gegen eine Wand. Das Katzenmädchen glaubte nicht was sie dort las. „Als wir damals die Zimmer der Villa verteilten, hattest du auf eine einfache Wohnung bestanden, mit der Begründung, da ich sonst zu viel Aufmerksamkeit auf den Kommandanten meiner geheimen Leibwache lenke. Aus dem gleichen Grund habe ich dich bisher nicht offiziell als Bürgerin, geschweige denn als Mitglied meiner Familie registrieren lassen, obwohl du immer eine Schwester für mich warst.“, fügte er hinzu und ließ ihr dann Zeit, sich zu fangen.

„Darfst du das überhaupt?“, fragte sie mit großen Augen. „Ich meine, eine fremde Person einfach so in deine Familie aufzunehmen…Geht das?“

„Du bist doch keine Fremde.“, erwiderte Van entrüstet. „Einfach so passiert es ja auch nicht. Ich trage mich schon lange mit dem Gedanken und du hast dir einen Platz an meiner Seite verdient. Und ich darf es tatsächlich. Es gibt kein Gesetz dagegen, jedenfalls kein schriftliches. Und was meine geschätzten Kollegen sagen werden…oder Farnelias Bevölkerung…wird von dir abhängen. Du wirst all die Aufgaben übernehmen müssen, für die ich bisher keine Zeit hatte. Empfänge, Bälle, Konferenzen, Turniere…Deine erste Pflicht wird bereits die Schirmherrschaft über das Turnier hier in Farnelia sein. Da ich daran teilnehme, kann ich nicht selbst der Patron sein. Selbstverständlich nur, wenn du einverstanden bist.“

„Und wenn nicht?“, erkundigte sich Merle.

„Dann kannst du dir deinen Nachnamen aussuchen oder die Urkunden gleich verbrennen. Du wirst immer einen Platz bei mir haben und wir finden sicherlich auch andere Aufgaben, die du übernehmen kannst. Als Agentin kann ich dich ja leider nicht mehr einsetzten, da du inzwischen bei gewissen Leuten in aller Munde bist.“

„Hab ich Bedenkzeit?“

„Nur zwei Tage…Dann findet der Eröffnungsball in der Markthalle statt. Ach ja, wenn du mein Angebot annehmen willst, musst du dir ein Begleitung für den Ball suchen. Ich kann ja schlecht mit meiner Schwester dorthin gehen.“

Da wurde Merle misstrauisch.

„Hat Allen dich überredet, mir den Namen der Königsfamilie zu verpassen?“

„Nein, aber er hatte mich gebeten, dich in den Adelsstand zu heben. Sein Vorschlag hatte mich davon überzeugt, dass der richtige Augenblick gekommen ist dich in meine Familie aufzunehmen. Ich beriet mich daraufhin mit Hitomi und sie stimmte zu. Dann hab ich auch schon die Papiere ausgestellt.“, zählte Van auf und bemerkte dann erst ihre saure Mine. „Stimmt etwas nicht?“

Merle knallte die Urkunden auf den Tisch und rannte aus dem Raum hinaus durch die Flure in ihre Wohnung. Vor lauter Wut hätte sie beinahe die Tür eingetreten, anstatt sie aufzuschließen.

„DU!“, schrie aufgebracht Allen an und packte ihn am Kragen. „Ein Straßenmädchen ist dir wohl nicht gut genug, du aufgeblasener Lackaffe! Du musst sie natürlich in eine Prinzessin verwandeln!“

Plötzlich spürte er keine Boden mehr unter seinen Füßen. Ein paar Sekunden hielt sie ihn in der Luft, ehe sie ihn gegen den Kleiderschrank schleuderte.

„Warte…bitte…Ich wollte nicht, dass er soweit geht…Ich wollte…nur, dass man dich nie wieder so behandelt…wie in Orio.“, flehte Allen, während er nach Atem rang und Merle ihre Fäuste knacken ließ. „Es ist mir egal, welchem Stand du angehörst. Deswegen wollte ich dich unbedingt vor dem Essen fragen…Damit nicht der Eindruck entsteht…“

„Dir ist es also egal, ob ich Van erlaube den Wisch zu unterschreiben?“, zweifelte Merle, während sie ihr Knie in seinen Bauch rammte.

„Natürlich!“, rief Allen verängstigt. Auf dem Boden hockend bemühte er sich bei Bewusstsein zu bleiben.

„Und das soll ich dir glauben?“ Ein weiteres Mal zog sie ihn hoch. „Wer mit meinen Gefühlen spielt, Allen Shezar, kann sich von seinem Leben verabschieden!“

„Wie kann ich es dir beweisen?“, krächzte er.

Merle seufzte, drängte ihre Wut zurück und ließ ihn runter. Als ihn losließ, brachen seine Beine unter ihm weg und sie fing ihn sanft auf.

„Gar nicht, fürchte ich.“, gab sie zu und strich eine Haarsträhne aus seinem Gesicht. „Ich hab nicht vor abzulehnen. Aber wehe dir, wenn ich dich erwische, wie du mit meinem Status prahlst.“ Spielerisch drohte sie ihm mit ihrem Finger. Dennoch schluckte Allen. Einer ihrer Finger reichte aus, um schreckliche Schmerzen zu bereiten. „Entschuldige bitte die raue Behandlung! Es kommt leider nicht jeden Tag vor, dass mich jemand auf einen Ball einlädt und ich zur Prinzessin erhoben werde. Ich bin etwas neben mir.“, bat sie und richtete ihn auf.

„Macht nichts. Heißt das, dass du auch mein Angebot annimmst?“, sagte Allen und stöhnte.

Mit einem seiner Arme über ihrer Schulter stützte er sich auf sie, während sie ihn in ihr Bett brachte und dann langsam auf die weiche Decke sinken ließ.

„Ja, das heißt es.“, antwortete sie vergnügt. Mit einem federleichten Kuss auf seine Stirn verabschiedete sie sich. „Ich hol schnell einen Arzt.“

„Warte bitte!“, sagte Allen und holte ein kaputtes Kästchen aus seinem Gewand hervor. Vorsichtig nahm es Merle es entgegen und brach es auf. Die Kette darin fiel heraus und landete vor ihren Füßen. Neugierig bückte sie sich nach ihr. Im Licht, das durch die offene Tür in ihr Zimmer einfiel, betrachtete sie das wertvolle Schmuckstück. Die goldenen Glieder der Kette waren sanft geschwungen und hielten einen dunkelblauen Edelstein in der Luft, der das Licht zu verschlingen schien und doch an wenigen Stellen glitzerte, wie die Sterne am nächtlichen Himmel.

„Danke!“, flüsterte Merle, während eine Träne ihre Wange hinunter lief. Plötzlich konnte sie sich nicht mehr zurückhalten und sie umarmte Allen stürmisch. Der heulte laut auf. „Verzeih mir bitte!“, flehte sie ein weiters Mal und wich zurück.

Mit schmerzverzerrten Gesicht antwortete er: „Schon in Ordnung.“

„Ich hol jetzt wirklich den Arzt.“, verkündete Merle entschlossen und stürmte hinaus. Es dauerte nicht lange, da fand eine Dienerin Allen allein im leeren Zimmer liegend. Er hatte sie leider noch nicht abwimmeln können, als die frisch gebackene Prinzessin mit dem Arzt im Schlepptau eintraf…

Darf ich bitten?

Langsam und elegant schritt Merle die Treppe hinab. In einem Moment der Unachtsamkeit zupfte sie an ihrem langen Kleid und riskierte einen kurzen Blick auf den orangen Stoff, der von selbst zu leuchten schien. Sie erinnerte sich daran, wie erstaunt und skeptisch zugleich sie sich vor ein paar Minuten im Spiegel betrachtet hatte. Ihr Problem war nicht das Kleid, schließlich hatte sie es selbst ausgesucht, sondern das goldene Diadem und die mit Perlen geschmückten Haarnadeln, die ihr Haar fesselten. Mit geistlicher Gewalt richtete Merle ihre Augen wieder nach vorn. Unten, in der Empfangshalle, sah sie Allen in seiner Paradeuniform auf sie warten. Seine Augen schienen etwas größer als sonst zu sein.

„Was starrst du mich so lüstern an?“, warf sie ihn noch von den Stufen aus entgegen.

„Bitte verzeiht, Prinzessin! Auf einen solch überwältigenden Anblick war ich nicht gefasst.“, antwortete er ohne einen Anflug von Reue in seiner Stimme.

„Bei eurer Erfahrung mit Frauen hätte ich euch mehr Zurückhaltung zugetraut, Ritter Allen Shezar.“, erwiderte Merle geschmeidig und bot ihm ihre Hand an. „Am Ende seid ihr gar nicht derjenige, für den ihr euch ausgebt.“

Allen nahm sanft ihre Hand, deutete einen Kuss an und hielt sie weiter, während Merle die letzten Stufen hinter sich ließ.

„Wo sind Van und Sophia?“, erkundigte sie sich, nachdem ihnen Mäntel übergestreift worden waren und sie Arm in Arm zur Kutsche gingen.

„König Van und Prinzessin Sophia sind bereits vorgefahren. Das Fest kann jeden Moment anfangen.“, informierte er sie.

„Ach! Sag bloß, wir sind zu spät.“

„Euer Bruder sagte mir, ihr solltet alle Zeit bekommen, die ihr braucht. Außerdem wollte er das alle Gäste, auch die Nachzügler, die Nachricht über eurer Adoption aus erster Hand erfahren.“

„Er will die Bombe also erst platzen lassen, wenn alle da sind. Damit auch ja keiner überlebt.“, schlussfolgerte Merle keck.

„So in etwa.“, kommentierte er und half ihr in die Kutsche.

„Allen?“, fragte Merle, während er dazu stieg und dem Kutscher das Zeichen zum Losfahren gab. „Wie lange willst du dieses Spiel noch spielen?“

„Ich fürchte, WIR werden es noch die ganze Nacht spielen müssen. Einem Ritter ist es nicht erlaubt, eine Prinzessin zu duzen. Du solltest es eigentlich auch nicht tun. Schließlich stehst du den ganzen Abend unter Beobachtung.“

„Oh, ich wusste, der Tag wird übel enden.“

„Wenn es dir nicht gefällt, warum hast du dich dann für das Leben einer Adligen entschieden?“, hakte Allen fast beiläufig nach. Merle verkniff sich ein neunmalkluges Lächeln, lehnte ihren Kopf zurück und sah mit verträumtem Blick an die Decke.

„Weil Van mich darum gebeten hat. Er hat es wie ein Angebot aussehen lassen, aber die Papiere…sein Gesicht…Es war ihm nicht nur ernst, sondern auch wichtig.“

„Was hat er wohl mit dir vor…“

„Ha! Wir reden hier immer noch von Van. Er war noch nie der Typ für ausgeklügelte Pläne. Lieber geht er mit dem Kopf durch die Wand.“

„Aber jetzt hat er Hitomi an seiner Seite.“, gab Allen zu bedenken.

„Sie ist auch keine Taktikerin. Sie überredet die Wände freiwillig zu fallen.“, kicherte Merle.

„Tu beides in einer Flasche und du bekommst einen Wein mit unbekanntem Jahrgang und unbekannter Herkunft.“, philosophierte er, woraufhin sie versonnen auf den Boden starrte.

„Stimmt. Den Preis kenn ich auch nicht.“, sagte sie wehmütig. Allen räusperte sich.

„Wie sieht die Halle aus?“, fragte er. Dankbar lächelte sie ihn an.

„Prachtvoll! Sophia ist eine wahre Meisterin ihres Fachs.“

„Ich dachte du als Gastgeberin müsstest den Ball vorbereiten.“

„In nur zwei Tagen?“ Merle lachte. „Nein, Sophia hat alles organisiert. Ich hab heute die Markthalle nur noch abgesegnet. Das letzte Wort an die Bediensteten habe ich ihr überlassen.“

„Aus Dankbarkeit?“

„Wohl eher aus Notwendigkeit.“, gab sie zu. „Nachdem wir den letzten Kontrollgang hinter uns gebracht hatten, fuhren wir auch schon zur Villa um uns umzuziehen.“ Es entstand eine lange Pause. Zeit, in der Merle in sich versank und die Allen nutzte um sie mustern.

„Es ist nicht das erste Mal, dass du in eine neue Welt hineingestoßen wirst.“, versuchte er sie zu beruhigen. Verwundert schaute sie zu ihm auf und wandte sich aber sofort wieder ab.

„Ja, aber…“ Sie stockte. Ihre Augen weiteten sich vor purer Überraschung, als sie den Stoff seiner Handschuhe auf ihrer Hand spürte. Gebannt vor Fassungslosigkeit verharrte sie einen Moment, zog dann ihre Hand weg und schmetterte sie gegen sein Gesicht. „Ah! Bitte entschuldige!“, flehte sie nur einen Augenblick später.

„Entschuldige dich nie bei Untergegeben. Das ist ein Zeichen von Schwäche.“, riet er ihr schwermütig. „Was ist?“, erkundigte er sich.

Merle bedeckte das warmherzige, beschämte Strahlen ihres Gesichtes mit einer Maske aus Heiterkeit.

„Nichts.“, behauptete sie. „Mir ist nur gerade eingefallen, wie ich Sophia beibringen kann ihr Schicksal zu ändern.“

„Verrätst du mir den Trick?“, fragte Allen neugierig nach einem Moment der Verwunderung.

„Wenn die Zeit reif ist.“, antwortete Merle geheimnisvoll. „Sieh! Wir sind da.“

Nur mit Überwindungskraft konnte Allen sich seinem Fenster zuwenden. In seinem Blickfeld erschien ein massiver, hell erleuchteter Bau, der weit über die angrenzenden Häuser hinweg ragte. Über den riesigen Fenstern wehten zwei dutzend Banner gleichmäßig im Wind. Über dem Eingang, der zu einem kleinen Tor führte, befand sich das Wappen Farnelias, welches von Chuzarios und Astorias Banner flankiert wurde.

„Das Gebäude sieht aus wie eine Festung.“, wunderte sich Allen.

„Es ist auch als Zufluchtsort für die Bevölkerung im Falle einer Belagerung gedacht.“

„Wo ist Vasrams Banner?“

„Aus Vasram sind weder Teilnehmer noch offizielle Vertreter gekommen, also gibt’s auch kein Banner.“, erklärte Merle. „Ah! Ich wollte dich ja noch im etwas bitten.“

„Bitten? Eine Prinzessin bittet nicht.“

„Doch, ich bitte dich. Es gibt einen Gast auf diesem Ball, den wir beide den Tod wünschen.“

„Trias!“, schlussfolgerte Allen. „Ich dachte, Milerna sollte Astoria vertreten.“

„Eine Prinzessin unterbricht man nicht, Allen Shezar. Hat man euch das nicht beigebracht?“, wies sie ihn scherzhaft zurecht.

„Bitte verzeiht, Hoheit. Ich höre zu.“

„Ich möchte keine Probleme während des Festes, verstehst du? Ich werde mich zurückhalten und von dir erwarte ich das gleiche.“

Die Kutsche hielt an und ein Diener öffnete Allen die Tür.

„Ich bin von eurer Hoheit überrascht. Was ihr mir alles zutraut.“, heuchelte Allen und zog einen Mundwinkel nach oben.

„Ihr könnt mich heute eines Besseren belehren, Himmelsritter. Bis dahin verkneift ihr euch eure Kommentare.“, erwiderte Merle mit künstlicher Empörung, während er ausstieg und ihr seine Hand anbot.

„Sehr wohl.“, bestätigte Allen und half ihr aus der Kutsche. Nachdem sie festen Boden unter den Füßen hatte, starrte sie wie gebannt in den nächtlichen Himmel. Allen folgte ihrem Blick und erfasste den Mond der Illusionen.

„Wie ist es dort oben?“, fragte er.

„Anders.“, antwortete Merle sehnsüchtig und richtete ihren Blick wieder nach vorn. „Lass uns gehen.“
 

„Ich muss gestehen, ich bin überrascht, euer Majestät. Ich war schon auf vielen Bällen, doch dieses Raumkonzept ist mir neu.“, verkündete Milerna und betrachtete für einen Moment die Musiker, die zwischen der Nordwand und Vans Tisch leise auf ihren Instrumenten spielten, und musterte dann die Bar, die sich an die Westwand schmiegte und ein identisches Gegenstück an der Ostwand aufwies.

„Mir nicht.“, ätzte Baron Trias, Milernas Begleitung, während er sich als letztes an dem reich geschmückten Tisch setzte. „Denkt man sich die Tanzfläche weg, könnte man meinen, wir wären in einem Gasthaus.“

„Wir mussten aus Not eine Tugend machen.“, erwiderte Van seelenruhig. „Wirte tun dies schon seit Jahrhunderten. Warum sollte ihr Beispiel nicht genutzt werden?“

„Mir gefällt es.“, platzte Cid dazwischen und lies seinen Blick über die fünfzig runden Tische fliegen, welche eine mit Parkett ausgelegte Fläche von drei Seiten her einschlossen. „Bei den meisten Gästen handelt es sich sowieso nur um junge Adlige und Angehörige des niederen Adels. Sie wissen die Veränderungen sicherlich zu schätzen.“

Milerna verzog angesichts dieser unschuldig geäußerten, scharfsinnigen und dennoch unhöflichen Beobachtung ihres Neffen die Mine. Sophia, die zwischen Van und Cid saß, seufzte lautlos.

„Ihr habt recht, Hoheit.“, erwiderte Van amüsiert.

„Dann ist euer kleines Turnier wohl nicht so erfolgreich, wie gedacht, Majestät.“, griff Trias den Gedanken auf.

„Ganz im Gegenteil, Baron. Ich bin gern unter meinesgleichen.“, konterte er. „Im Übrigen solltet ihr wissen, dass ich den Unterschied zwischen jugendlichem Eifer und ungebührlichem Verhalten zu schätzen weiß.“ Sein Blick wanderte zu der dunkelhäutigen Frau mittleren Alters, die rechts neben Cid saß. „Und es gebührt einer Dame wirklich nicht, nicht vorgestellt zu werden.“

„Bitte verzeiht, Majestät.“, bat Cid eilig. „Ihr Name ist Tanai Wareh. Sie ist meine persönliche Untergebene.“

„Ihr bringt eine Dienerin als Gast zu einem Festball?“, verlangte Trias zu wissen.

„Ich schlage vor, wir verbuchen es unter jugendlichen Eifer.“, beruhigte Milerna und strafte Trias mit einem strengen Blick.

„Das sehe ich auch so.“, stimmte Van zu. „Ihr seid selbstverständlich willkommen.“

„Vielen Dank, Majestät.“, sagte die Frau schüchtern.

Plötzlich horchte Van auf und seine Augen versteiften sich auf den königsblauen Vorhang, der die Tanzfläche von der Südwand trennte und hinter sich die Garderobe, den Haupteingang zur Halle und den Fahrstuhl hinunter zum Servicebereich verbarg. Nach nur ein paar Augenblicken verlangte Trias wieder seine Aufmerksamkeit.

„Ich kann Allen Shezar nirgends entdecken. Steht er nicht auch auf der Teilnehmerliste?“

„Er hat sich angemeldet.“, antwortete Van bedacht und wies mit einem Nicken auf die beiden leeren Stühle zwischen ihm und Milerna. „Er begleitetet heute Abend die Schirmherrin des Turniers. Beide sollten jeden Augenblick eintreffen.“

„Die Schirmherrin? Meine Beobachter erzählten mir, dass ihr, eure königliche Hoheit, im Wesentlichen die Leitung der Vorbereitungen sowohl für als auch für Turnier innehattet. Seid ihr nicht die Schirmherrin?“, erkundigte sich Trias bei Sophia.

„Eure…Beobachter…haben vergessen euch zu sagen, dass ich ebenfalls teilnehme.“, lieferte sie die rhetorische Erklärung.

„Eine Dienerin als Gast, eine Prinzessin als Teilnehmerin…Wenn mein König davon erfährt, wird er sehr ungehalten sein.“, drohte Trias unterschwellig.

„Keine Sorge. Seine königliche Majestät wird davon nichts erfahren.“, antwortete Van selbstbewusst, während er auf den Diener wartete, der sich gerade unauffällig durch Tischreihen schlängelte. „Im Gegensatz dazu, was jetzt kommt, dürften diese Kleinigkeiten für ihn nicht von Belang sein. Ich zweifle sowieso, dass er auch nur ein Funken Interesse an diesem Festakt und dem folgenden Turnier zeigt, würde ich nicht etwas sehr Ungewöhnliches tun.“

„Ungewöhnliches?“, wiederholte Milerna besorgt. Cid starrte Van neugierig an.

„Was wäre das?“, hakte Trias nach, da trat schon der Diener an Van heran und flüsterte ihn etwas ins Ohr, woraufhin er aufstand und ein kleines technisches Gerät in die Hand nahm, dass größtenteils von einem feinem, schwarz lackierten Drahtnetz bedeckt war. Die Musik verstummte. Misstrauisch fuhr er mit dem Daumen über einen Schalter und sprach hinein.

„Sehr verehrte Damen und Herren der hohen Häuser Gaias, es ist mir eine Freude sie endlich von der zerreißenden Geduldsprobe, der sie bis jetzt ausgesetzt waren, zu erlösen und ihnen den ersten Tanz des Eröffnungsballs ankündigen zu können. Dieser Festakt leitet das erste Turnier in Farnelia seit der Zerstörung unserer geschichtsträchtigen Stadt in den Zaibacher Kriegen ein.“ Kurz hielt Van inne, woraufhin aus den Lautsprechern, die schon vorher die Musik in alle Ecken der Festhalle getragen hatten, nur stummes Rauschen kam.

„Es gab viele Helden in diesem Krieg. Einige dieser Veteranen, die Seite an Seite für die Freiheit kämpften, werden innerhalb der nächsten Tage im freundschaftlichen Wettkampf ihre Klingen miteinanderkreuzen, auf das weder Schwerter noch Bindungen jemals brechen mögen. Aber es gab auch andere Helden.

Väter, die in der Schlacht starben, um ihre Familien zu schützen. Mütter, die auf der Flucht verhungerten, weil sie sämtliche Nahrung, die sie finden konnten, ihren Sprösslingen gaben.

Kinder, die alleine zurückbleiben. Diesen Horror zu überleben und weiterzuleben sind Heldentaten für sich. Institutionen, finanziert vom Adel und Kaufmännern, getragen von Bürgern und Bauern, die diesen Kindern ein Dach übern Kopf, warmes Essen, Kleidung, eine Zukunft und ihr Lächeln zurückgeben. Familien, die das gleiche von sich aus und ohne finanzielle Stützen tun. Im Idealfall sind die aufgenommen Kinder in einer solchen Gemeinschaft von den Geschwistern nicht zu unterscheiden.

Ich kenne zumindest eine Heldin dieser Art persönlich. Sie irrte als kleines Kind durch die Gassen Farnelias. Wer sie fand und wie sie gefunden wurde, weiß ich leider nicht mehr. So jung bin ich nicht. Doch soweit mich meine Erinnerungen auch tragen, sie ist stets an meiner Seite. Dank ihr weiß ich, was Familie ist. Daher ist es auch die Erfüllung meines Traumes, sie nun endlich und endgültig in meiner eigenen aufzunehmen. Begrüßen sie bitte mit mir eine junge Frau, die in den letzten drei Jahren Opfer für Farnelia gebracht hat, die ich nie hätte verlangen dürfen. Begrüßen sie bitte mit mir ihre Hoheit, meine Schwester, Prinzessin Merle de Farnel, und ihre Begleitung, Himmelsritter Allen Shezar.“

Als der Vorhang sich teilte, steigerten sich die von Aufregung getränkten Stimmen der Halle zu einem Keuchen. Bei Allen eingehakt schritt Merle zum Zentrum der Tanzfläche. Gerade so hielt sie ein nervöses Lächeln aufrecht, während sich ihr Blick mutig dem der anderen Gäste stellte. Schließlich nahm das Paar Haltung an und als im nächsten Moment die Musik wieder einsetzte, schwebten sie über das Parkett.

„Was denkt ihr euch dabei, Majestät?“, fuhr Milerna Van an.

„Ich erfülle mir einen Traum.“, hielt er lächelnd dagegen.

„Mein Vater wird euch dies wohl kaum durchgehen lassen.“

„Interessant. Ich kann mich an keinen Vertrag erinnern, der euren Vater oder sonst jemanden Einfluss auf meine Familie gestattet.“

„Ihr könnt eine Wilde nicht in die internationale Elite aufnehmen. Sie ist ein Katzenmensch. Wer weiß, was sie für Krankheiten mitschleppt.“, wandte Trias ein.

„Sie lebt, seitdem sie denken kann, in der Obhut meiner Familie. Außerdem sind Katzen sehr reinliche Geschöpfe. Oder wolltet ihr auf etwas anderes hinaus?“, erwiderte Van verstimmt, der sich zu fragen begann, warum Trias sich so naiv gab.

„Sophia, sag doch was!“, bat Milerna.

„Wie ich Prinzessin Merle bereits mitteilte, kann sie sich in Chuzario nicht auf ihren Titel stützen.“, verkündete Sophia ernst und fügte dann mit einem Lächeln hinzu. „Allerdings werden unsere Tore für eine Gesandte Farnelias stets offen sein.“

„Sie sieht glücklich aus.“, merkte Cid an und zeigte auf die Tanzfläche. „Sie strahlt förmlich vor Freude.“

„Du hast Recht.“, meinte Milerna nach einem Moment des Zögerns und ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.

„Es wird Zeit, dass wir ihr Gesellschaft leisten, Majestät.“, sagte Sophia mit einem Augenzwinkern. „Sonst sind wir nicht rechtzeitig da, wenn sie abhebt.“

Van erhob und verbeugte sich respektvoll.

„Darf ich bitten?“

Startschwierigkeiten

Nachdem die Kapelle die erste Tanzrunde beendet hatte, strömten die Paare zurück zu den Tischen. Van und Sophia versicherten sich ihrer Freundschaft durch ein offenes Lachen, derweil schmunzelte Tanai über den Eifer, den Cid an den Tag legte, und mahnte fast lautlos zur Ruhe. Milerna hingegen sah man es an ihrem Diplomatenlächeln an, dass sie über ihren Begleiter Trias nicht glücklich war. Mit gebührendem Abstand zueinander verließen sie die Tanzfläche. Zuletzt kamen Merle und Allen ineinander eingehakt auf den Tisch des Königshauses zu. Neugierig blickte sie zu ihm auf, woraufhin er ihr zunickte und etwas zuflüsterte. Fast zu spät merkte sie, dass Trias vor sie trat.

„Allen Shezar!“, grüßte er und hielt dem Ritter seine Hand hin. „Wie immer ist es eine Freude, sie zu sehen.“

Der jedoch ignorierte den Gruß, wies stattdessen auf Merle, die noch immer etwas überrascht war, und erwiderte im selbstgefälligen Ton: „Baron, ich habe die Ehre ihnen Prinzessin Merle de Farnel vorzustellen.“

„Sehr erfreut, sie kennen zu lernen.“, erwiderte Trias. Merle fing sich. Nur mit einer Spur von Nervosität bot sie ihm ihre Hand an.

„Ganz meinerseits, Baron!“, antwortete sie, bevor er mit dem ausgestreckten Arm ihre Finger packte und seine Lippen auf ihren Handrücken presste. Sie konnte noch vor Schreck ihre Augen aufreißen, dann erstarrte die Welt um sie herum und sie konnte sich nicht mehr bewegen.

„Jetzt können wir in Ruhe reden.“, meldete sich Trias Stimme in ihrem Kopf.

„Was soll das?“, wollte Merle entrüstet erwidern, doch an Stelle von Worten formten sich nur Gedanken.

„Ich manipuliere unsere Wahrnehmung der Zeit. Dank der Barriere um deine Aura brauche ich dafür Hautkontakt. Du kennst dieses Gefühl, nicht wahr?“

„Warum?“

„Damit wir reden können.“

„Ich habe ihnen nichts zu sagen.“

„Auch keine Fragen?“, gab Trias überrascht zurück. „Wo du dir so viel Mühe gegeben hast, mir auf die Schliche zu kommen?“

„Sie würden sie mir sowieso nicht ehrlich beantworten. Wenn sie denn ehrlich wären, dann nur auf eine Art, die ihren Zielen dient.“, schnaubte Merle.

„Ich hoffe, in der Beziehung unterscheiden wir uns. Ich habe nämlich ein paar Fragen an dich.“

„Raus aus meinem Kopf!“

„Falls es dich beruhigt, ich kratze nur an der Oberfläche. Die Manipulation jeder Art von Wahrnehmung ist im Gegensatz zum Eindringen in das Gedächtnis ein leichter Eingriff.“

„Was fällt ihnen ein mich zu duzen. Ich bin schließlich…“

„…eine Prinzessin?“, beendete Trias ihren Satz. „Ohne allen nötigen Respekt, das bist du nicht. Genauso wenig, wie ich ein Baron aus Astoria bin.“

„Fragt!“, würgte Merle.

„Erinnerst du dich an deine wirklichen Eltern?“

„Nein.“

„Erinnerst du dich an irgendetwas vor der Zeit im Palast?“

„Nein.“

„Denkst du, dass es Zufall war, dass man dich gefunden hat?“

„Ja.“

„Ah, du bist dir nicht sicher.“, stellte Trias vergnügt fest. „Während einer Gedankenrede kann man nicht lügen. Wusstest du das nicht?“

„Raus!“, befahl Merle.

„Noch nicht. Zweifel sind gut. Sie zwingen uns Dinge von einem anderen Standpunkt aus zu betrachten. Ich werde dir meinen verraten.“

„DAS…“

„Anhänglich, aufgeweckt, verspielt,…“

„…IST…“

„…ein bisschen überdreht und ein paar Jahre jünger.“

„…MEIN…“

„Die besten Eigenschaften für ein kleines Mädchen, um sich mit einem Jungen anzufreunden.“

„…KOPF!“

Plötzlich war Merle frei. Blitzschnell zog sie ihre Hand zurück und verpasste mit der anderen Trias eine schallende Ohrfeige.

„Was fällt euch ein?!“, verlangte sie den Tränen nah zu wissen. Eilig zog sich Trias wenige Schritte zurück, ohne seine gebeugte Haltung zu verlassen.

„Bitte verzeiht, eure Hoheit!“, bat er scheinbar ehrlich. „Ich habe den Abstand falsch eingeschätzt.“

Angesichts dieser Lüge konnte sich Merle kaum noch zurückhalten.

„Ihr solltet das Reden von nun Prinzessin Milerna überlassen.“, knurrte sie.

„Sehr wohl.“

Auf ihrem Weg zum Tisch ging sie zwischen Van und Allen hindurch. Verbissen blinzelte sie die Feuchtigkeit aus ihren Augen. Während Allen nur kurz, aber sichtbar sein Schwert packte und sich dann aufmachte ihren Stuhl für sie zurückzuziehen, schob Van mit seiner Linken sein oberstes Gewand zur Seite und zeigte Trias so den Griff seiner Waffe. Danach wandte er sich Sophia zu, die an Merle herangetreten war und sich zu ihr hinabbeugte. Das Katzenmädchen jedoch wies sie zurück, woraufhin Van sie zu ihrem Platz begleitete.
 

Der ganze Abend war eine einzige Katastrophe. Anders konnte es Merle nicht beschreiben. Seufzend lehnte sie sich an das nördliche Ende der östlichen Bar. Vor etwa einer Stunde hatte sie die Verlosungen der sechzehn Champions, die schon vor Tagen aus dem Teilnehmerfeld auf Grund ihrer bisherigen Erfolge ausgewählten worden sind, auf die gleiche Anzahl von Qualifikationsgruppen ausgeführt. Von da an hörte die Bevorzugung der Champions auch schon auf. So wie jeder andere auch mussten sie sich durch ein KO-System kämpfen, um als einziger der Gruppe an den Finalrunden teilzunehmen zu können. Van, der keine Erfolge vorweisen konnte, war in einer siebzehnten Auslosung zugeteilt worden. Als Ausgleich dafür, dass die Streiter dieser Gruppe nur den Hauch einer Chance hatten weiterzukommen, durften sie im zentralen Ring kämpfen, der ein paar tausend Zuschauer fasste. Die anderen fünfzehn Ringe konnten jeweils nur von wenigen hundert besucht werden. Für mehr hatte das Geld einfach nicht gereicht. Dass der Andrang riesig sein würde, daran zweifelte Merle nicht. Schon allein für die Familien der Teilnehmer war kaum genügend Platz. Nach der Verlosung hatte sie die Fragen einiger Adligen zum Turnier beantwortet, abgesehen davon war es zu keinerlei Gesprächen gekommen.

Vor der Verlosung war es nur fast so schlimm gewesen. Nachdem Van, Allen, Sophia und Milerna ein ernsteres Gespräch mit Gespräch mit Vertretern großer Redereien aus Astoria angefangen hatten, konnte Merle plötzlich nicht mehr mitreden. Von Wirtschaft hatte sie keine Ahnung. Zwar hätte sie durch ihr Wissen das Thema aus sicherheitstechnischem Blickwinkel bereichern können, doch zögerte sie immer noch, allein den Umstand preiszugeben, dass sie viel aus eigener Erfahrung wusste. Sich völlig fehl am Platze fühlend hatte sie sich unauffällig abgesetzt, nur um festzustellen, dass sie niemanden sonst kannte, außer Cid, der auf Grund seines Alters und seiner Begleitung Tanai, ebenfalls nicht als ernstzunehmenden Gesprächpartner angesehen wurde. Abwechselnd hatte er mit beiden getanzt und sich in den Pausen dazwischen gut mit ihnen unterhalten. Allein sein kindlicher Zauber hatte Merle den Angriff Trias auf ihre Psyche vergessen lassen, doch jetzt, da sie niemanden zum Reden hatte, konnte sie an nichts anderes mehr denken. Cid war längst weg. Tanai hatte darauf bestanden. Froh darüber, dass Cid seine eigene Art von Familie gefunden hatte, hatte Merle sich von beiden verabschiedet.

„Und jetzt steh ich hier.“, flüsterte sie und nippte an dem stark alkoholischen Getränk, das sich bestellt hatte. Angewidert verzog sie das Gesicht. Sofort stellte sie das Glas zurück

Eigentlich würde es reichen, wenn sie ins kalte Wasser springen und sich in einer der Gesprächsrunden drängeln würde, die sich auf den ganzen Saal verteilt hatten. So, wie sie es sonst auch machte. Was hatte sie schon zu verlieren. Ihre Tarnung als wohl erzogenes Mädchen war dank Trias sowieso schon aufgeflogen.

Tarnung, dachte sie säuerlich. Langsam begann sie sich zu fragen, ob irgendwann mal eine Zeit kommen würde, in der sie ihr Selbst nicht mehr verstecken musste.

„Denkst du immer noch an die Sache mit Trias?“, sprach eine wohlbekannte Stimme sie von hinten an. Eine Stimme, der der Merle in den vergangen Tagen zu vertrauen gelernt hatte.

„Ab und zu.“, gab sie zu. „Auf so etwas war ich nicht vorbereitet.“

„Da gebe ich mir so viel Mühe und unserer Baron von Gnadenlos ruiniert alles.“

„Trotzdem danke ich dir, Sophia.“, sagte Merle lächelnd, nachdem sie endlich die Kraft gefunden hatte sich zu der anderen Prinzessin umzudrehen. „Van hat mir zwar vieles beigebracht, aber für den Feinschliff braucht es eine Frau.“

„Gleichfalls.“, erwiderte Sophia heiter. „Wie vorteilhaft es sein kann, dass man klein ist, wissen weder Van noch Gesgan.“

„Kein Wunder. Vans Lehrer Vargas war ein Riese.“, erinnerte sich Merle wehmütig.

„Der Abend war sich hart für dich.“, sagte Sophia mitfühlend, mit einer Spur von Hinterlist. „Aber glaub mir, im Gegensatz dazu, was jetzt auf dich zu kommt, war das Kinderkram.“

„Hä?!“, wunderte sich Merle, doch anstatt zu antworten, zog Sophia sie an der Hand hinter sich her. Plötzlich fiel dem Katzenmädchen eine Gruppe junger Mädchen und Frauen auf, der die Prinzessin entgegen steuerte. Sophia ließ Merle los und schaute sie ernst an.

„Deine Herkunft und deine Vergangenheit mag ein Hindernis sein, aber Hindernisse können auch Sprungbretter sein.“, mahnte sie und grinste dann. „Das ist etwas, das mir Van im Kampf beigebracht hat.“ Mit einer respektvollen Handbewegung forderte sie Merle auf voran zu gehen. Im Unterleib der frischgebackenen Prinzessin machte sich flaues Gefühl breit, doch sie leistete keinen Widerstand. Erhobenen Hauptes schritt sie auf die Schar junger Adliger zu. Freundlich nickte sie den neugierigen Gesichtern zu.

„Herzlich Willkommen in Farnelia, meine Damen.“ Da alle Personen, die einen vergleichbaren Status wie selbst genossen, an ihrem Tisch gesessen hatten, wusste Merle, dass diese Geste ausreichte. Von den Mädchen erwiderte jede die Begrüßung mit einem Knicks. „Amüsieren sie sich?“

„Ja, euer Hoheit.“, sagte eine der jungen Frauen. „Das hielt einiges an Überraschungen bereit und wir werden in unserer Heimat viel zu erzählen haben.“

„Ich hoffe, es waren nicht zu viele Überraschungen.“

„Nein, auf keinen Fall. Vielen unseren Bällen würden ähnliche Ereignisse eine gewisse Würze verleihen, die ihnen leider fehlt.“

„Zum Beispiel…“, meldete sich ein Mädchen vorsichtig zu Wort. „…war eure Begegnung mit Baron Trias sehr erheiternd.“

Überrascht zog Merle ihr Brauen nach oben.

„Er hatte es verdient.“, meldete sich eine andere Frau zu Wort. „Er beruft sich inzwischen viel öfter auf seine Position als königlicher Berater, anstatt auf seinen Titel und seine Besitztümer. Stets fordert er Privilegien, die sonst nur einem König zustehen.“

„Ist das Video echt?“, platzte eine Frau dazwischen, die nur wenige Meter von Merle entfernt stand.

„Welches Video meint ihr?“, hakte Merle beunruhigt nach.

„Das aus der Festung Orio, auf dem man sieht, wie ein Katzenmädchen eine Wache und einen Offizier niederschlägt.“

Leugnen hatte wohl wenig Sinn.

„Ja, es ist echt, wobei ich hoffe, dass es nicht verschleiert, warum ich es getan habe.“

„Ich rede nicht mit Mörder.“, verkündete die Frau, woraufhin sie sich von der Gruppe zurückzog. Zögernd folgte ihr der Rest.

„War ja klar!“, resignierte Merle, merkte dann aber dass drei Mädchen, die alle jünger waren als sie, geblieben waren. „Und?“, fragte sie schief lächelnd. „Gibt es etwas, dass ihr wissen wollt?“

„König Van und Allen Shezar haben vorhin deutlich gemacht, dass sie für euch kämpfen würden.“, erwiderte eines der Mädchen. Ihre Anführerin vielleicht, überlegte Merle. „Obwohl ich glaube, dass ihr keine Wachen nötig habt.“

Urplötzlich drängte sich die Mädchen um Merle und redeten auf einmal auf sie ein. Abwehrend hob sie die Hände.

„Ganz ruhig, eine nach der anderen bitte.“, beruhigte sie ihre Verehrerinnen.

„Bitte trainiert uns im Schwertkampf!“

„Euch trainieren? Aber…“

„Sophia habt ihr doch auch trainiert. Jedenfalls hat sie das behauptet.“

Missmutig blickte Merle über ihre Schulter, doch Sophia lächelte nur.

„So einfach ist das nicht.“, versuchte sie wieder zu den Mädchen gewandt zu erklären. „Das Turnier wird mich die ganze Zeit über in Atem halten und wenn es vorbei ist, werdet ihr wieder abreisen.“

„Aber für Sophia findet ihr doch auch Zeit. Trainiert uns mit ihr zusammen.“

„Sophia!“, flehte Merle, doch sie erntete nur ein Schulterzucken.

„Ich hab nichts dagegen. Ich glaube sogar, es ist gut für mein Selbstvertrauen, wenn ich den Frischlingen den ein oder anderen Schwung zeigen darf.“

„Dann ist es entschieden.“, freute sich eines der Mädchen. Merle gab auf.

„Nein, ist es nicht.“, verkündete sie. „Erst brauche ich eine Erlaubnis eurer Eltern.“

„Hä?! Warum das denn?“

„Seht es einfach als Prüfung an. Wer es nicht schafft, seine Eltern zu überzeugen, hat bei mir nichts verloren.“, erklärte Merle und dachte dann kurz nach. „Morgen ist ein Ruhetag, ehe das Turnier anfängt. Ihr habt den ganzen Tag Zeit euren Vater oder eure Mutter zur Villa zu schaffen. Dort werde ich euren Eltern eine Kopie der Erklärung vorlegen, die auch schon Sophias Vater unterschrieben hat.“ Plötzlich blitzen ihre Augen verwegen. „Außerdem habe ich nur vor dem Frühstück Zeit für das Training. Ihr solltet also Frühaufsteher sein.“ Sophia kicherte erst, dann aber beruhigte sie die eingeschüchterten Mädchen.

„Keine Sorge! Meisterin Merle ist nicht annährend so erwachsen, wie sie sich gibt.“

Verärgert beschloss Merle, diesen Kommentar zu ignorieren. Entschlossen, sich ihre Würde nicht rauben zu lassen, fuhr sie fort: „Nennt mir bitte eure Namen und die eurer Eltern!“

Alles eine Frage des Trainings

„Sagte ich nicht, du sollst dich ausruhen?“ Mit den Händen in die Hüften gestemmt, erschien Merle in der Trainingshalle und musterte die schweißnasse Sophia. „Habe ich Van etwa umsonst gebeten, dir heute frei zu geben?“

„Bitte verzeiht, euer Hoheit.“, bat Sophia und verbeugte sich. „Mir war langweilig.“

Auch die korrekte Ausführung der Geste konnte den Spott hinter ihr nicht verbergen. Verärgert wandte sich Merle Allen zu, der mit Sophia sein Holzschwert kreuzte.

„Sie verbringt eindeutig zu viel Zeit mit dir. Sie benimmt sich schon wie ein Mann.“

Zur Antwort lächelte er nur und sagte: „Du siehst gut aus.“

„Willst du dich bei mir einschleimen? Du solltest genauso wenig hier sein wie sie!“, verlangte sie zu wissen, doch konnte sie sich eines kleinen Hochgefühls nicht erwehren, als sein Blick über ihr rotes Kleid flog.

„Wo sollten wir sonst sein?“, erkundigte sich Sophia.

„Geht in die Stadt Einkaufen, döst im Garten, schreibt Gedichte oder ganze Romane! Es ist mir egal, solange ihr euch dabei entspannt.“

„Einkaufen? Das heißt, du leihst ihn mir?“

„Solange du ihn zurückbringst.“, stimmte Merle zu.

„Warte, du kannst doch nicht einfach…“, wehrte Allen sich, woraufhin Sophia ihn mit großen Augen anstarrte.

„Lehnt ihr etwa die Bitte einer Dame ab?“

„Ganz ruhig, Allen.“, sagte Merle schmunzelnd. „Sie will dich nur vorführen. Ein Spaziergang für einen so hoch gelobten Ritter wie dich.“

„Und du bist nicht eifersüchtig?“, versuchte er sich zu retten.

„Ach was! Ich vertraue dir.“, verkündete sie gelassen. „Außerdem wird mir Sophia heute Abend alles erzählen, was ihr so treibt.“

Begeistert zog Sophia den mürrisch dreinblickenden Allen hinter sich aus der Halle. Kinder, dachte Merle vergnügt und machte sich auf den Weg zurück zur Bibliothek, die ihr solange als Empfangs- und Arbeitszimmer diente, bis der Umbau eines der Gästequartiere zur ihren persönlichen Gemächern abgeschlossen war. Sie wäre auch sofort dort eingezogen, doch Van hatte darauf bestanden, dass sich ihre Zimmer von denen der Gäste abheben sollen. Als Dank dafür hatte sie sich bereiterklärt, ihn heute zu vertreten, damit er sich ebenfalls am Tag vor den Kämpfen ausruhen konnte. Der Dienerschaft zur Folge hatte er sich sofort nach seinem Frühstück auf und davon gemacht, und war seitdem nicht mehr gesehen worden. Als Merle dies gehört hatte, hatte sich ihr der Gedanke aufgedrängt, dass er sie nur in ihre derzeitige Position gehoben hatte um zu seiner Hitomi durchzubrennen. Energisch hatte sie daraufhin ihre Zweifel zerstreut. Sie wusste, er wird zurückkommen. Allein schon, um sie aus diesem Irrenhaus zu retten.

Bei drei der vier Treffen, die für heute angesetzt waren, hatte Merle ihre Gesprächspartner auf später vertrösten müssen, da sie selbst keine Gelegenheit hatte sich ausreichend über die jeweilige Angelegenheit zu informieren. Das vierte planmäßige Gespräch hatte sie mit einem Händler geführt, der auf einer Eskorte für seinen Konvoi bestanden hatte. Daraufhin hatte Gesgan befohlen, die Eskorte zu organisieren, sich unauffällig die Ladung anzusehen und einen Blick auf den Hintergrund des Bitstellers zu werfen. Zusätzlich zu den vorher angesetzten Treffen war es zu gut ein Dutzenden spontanen gekommen, da Vertreter bürgerlicher Organisationen sie zu ihrer Adoption beglückwünschen und ganz nebenbei berichten wollten, was für Leistungen ihr Verband für die Stadt und das Land erbrachten. Das, was Merle bisher gehört hatte, war wahrscheinlich nur die Spitze des Eisberges. Einerseits erfüllte sie es mit Stolz, mit welchem Elan man sich im Volk gegenseitig half, andererseits waren diese nicht besonders gut versteckten Bitten um Mittel sehr ermüdend. So gut sie konnte unterdrückte sie ein Gähnen. Durchhalten war angesagt. Es war gerade mal früher Nachmittag. Die Tür zu Bibliothek kam in Sicht, ebenso ein Dienerin, die davor wartete.

„Sprich!“, forderte sie das überraschte Mädchen auf.

„Fabian von Sarie wünscht eine Audienz, euer Hoheit.“

Bei Merle schrillten die Glocken.

„Hol ihn her!“

„Wie ihr wünscht.“, bestätigte die Dienerin und verschwand. Eilig ging Merle in die Bibliothek und schloss hinter sich die Tür. Sie holte tief Luft und sah sich etwas genauer im Zimmer um. Drei riesige Bücherregale, die jeweils eine Wand für sich in Anspruch nahmen, engten den Raum ein. Damit sie etwas weniger erdrückend wirkten, hatte Merle sämtliche Bücher, die sie bereits gelesen hatte, ganze sechs an der Zahl, herausgenommen und auf den viereckigen, schmucklosen Tisch im Zentrum gestapelt. Die Lücken in den Regalen hatte sie bewusst so gelassen, wie sie waren. Der Tisch selbst stand senkrecht zur Tür und außer den Büchern befanden sich ein kleines Notizbuch, ein Ordner, eine Mappe mit Briefpapier, eine Feder und ein Tintenfass auf dessen Fläche. Die drei Stühle an ihrem Arbeitsplatz waren identisch, sodass man nur auf Grund ihrer Verteilung und der Lage der Schreibutensilien erkennen konnte, dass Merle die rechte Seite für sich beanspruchte. Alles in allem sollte das Zimmer eine freundschaftliche Atmosphäre ausstrahlen ohne schlampig zu wirken.

Während sie Platz nahm und wartete, rief sie sich noch einmal den Plan ins Gedächtnis, den sie sich die letzte Nacht über zu Recht gelegt hatte. In der Tat besaß sie eine Vergangenheit, deren Nutzen für ihr Dasein als Vertreterin eines Volkes zweifelhaft war. Zweifelhaft hieß aber auch, dass Merle ihren Nutzen aus ihr ziehen könnte. In der Welt der Schatten, in der Loyalität nichts weiter war als eine Kerzenflamme im eisigen Wind, waren Gefallen und Kontakte die einzige Währung, auf die es ankam. Warum also sollte sie ihre Kenntnisse im Umgang mit Waffen nicht anbieten? Nach allem, was sie von Van und Sophia über die Elite der internationalen Politik erfahren konnte, schien es in ihrem neuen Umfeld nicht anders zu sein als in ihren alten. Nur die Regeln und Mittel hatten sich geringfügig geändert. Ein untrüglicher Beweis für Merle, dass Licht und Schatten einer Gesellschaft näher miteinander verbunden waren, als die Beteiligten es sich eingestehen wollten.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihre Gedanken.

„Herein.“, antwortete sie. Die Dienerin öffnete die Tür und ließ einen Mann fortgeschrittenen Alters hinein, der sich förmlich verbeugte, nachdem Merle sich erhoben hatte. Fabian von Sarie, spulte Merle in Gedanken runter, ein Adliger aus Astoria, der eine Werft besaß, die kaum genug abwarf, um die Gewänder zu bezahlen, die in seinem Stand üblich waren. Der Rest seiner Sippe hatte sich von ihm abgewandt, nachdem er sich geweigert hatte eine Laufbahn beim Militär einzuschlagen und eine Bürgerliche geheiratet hatte. Alles in allem war es ein Wunder, dass er seinen Adelstitel noch hatte. Seine Frau starb bei der Geburt seines zweiten Kindes, sein Sohn im Dienst für das Vaterland beim Überfall der Zaibacher auf Rampant. Seine dreizehnjährige Tochter Irene war alles, was ihm an Familie geblieben war. Angeblich war sie gerade dabei, dem Sohn eines Konkurrenzunternehmens versprochen zu werden. Zusammen mit zwei Freundinnen und ihrem Vater war sie in Farnelia zu Besuch. Die beiden anderen Mädchen stammten aus zwei Reedereifamilien, die die einzigen Stammkunden des Werftbesitzers waren und ihm nebenbei auch beim Aufbau seines Geschäftes geholfen hatten. Fabian hatte seine zwei Wohltäter auf der Militärakademie kennen gelernt.

„Es freut mich eure Bekanntschaft zu machen.“, versicherte Merle und wies auf das Stuhlpaar an dem Tisch. „Setzt euch!“ Zögernd folgte Fabian ihrer Bitte. „Kann ich euch etwas zu trinken anbieten?“

„Nein, danke. Ich bleibe nicht lange.“, lehnte er ab.

„Bring uns zwei Tassen Tee.“, befahl Merle der Dienerin, die daraufhin hinter sich die Tür schloss. Fabian zog verwirrt seine Augenbraue hoch. „Weswegen wolltet ihr mich sprechen?“

„Ich wollte mich vielmals für die Unannehmlichkeit entschuldigen, die ihnen meine Tochter gestern Abend bereitet hat.“, informierte sie der Adlige.

„Was für eine Unannehmlichkeit?“, hakte Merle nach.

„Ihre Bitte sie im Kampf zu schulen.“

„Wollt ihr mir damit mitteilen, dass ihr das Anliegen euer Tochter und ihrer Freundinnen zurückziehen?“

„So ist es.“

„Warum? Irene schien es ernst zu sein.“

Auf Fabians Lippen stahl sich ein kurzzeitiges Lächeln. Fast kam es Merle so vor, als zogen sich seine Gesichtsmuskeln zusammen, um aufkeimenden Verzweiflung Einhalt zu gebieten.

„Fähigkeiten im Umgang mit dem Schwert dürften ihr in der Ehe wohl kaum von Nutzen sein.“, begründete Fabian seine Entscheidung. „Ihre Hoheit kann dies mit Sicherheit nachvollziehen.“

Nun war es an Merle sich zu wundern. Wollte der Adlige sie beleidigen? Er schien ihr nicht die Sorte Mensch dafür zu sein.

„Aber die Zeit an der Militärakademie hat euch doch auch auf das Leben eines Werftbesitzers mit vorbereitet. Wieso sollte es bei eurer Tochter anders sein?“

„Meine Aufgaben und die Pflichten einer Ehefrau sind wohl kaum miteinander zu vergleichen.“

„Gerade deshalb würde ich ihnen eine Kampfausbildung für sie ans Herz legen.“, konterte Merle. „Allein die Körperkontrolle, die sie durch das Training erlernt, wird ihren Gang und ihre Haltung…“

„Es spielt keine Rolle.“, unterbrach Fabian sie und ließ den Stuhl hinter sich. „Ich werde die Zukunft meiner Tochter nicht aufs Spiel setzen. Guten Tag!“, verabschiedete er sich bestimmt und wollte gerade die Tür aufreißen, als Merles Stimme ihn zurückhielt.

„Wenn ihr jetzt geht, seid ihr in Farnelia nicht mehr willkommen.“, warnte sie. Überrascht drehte sich Fabian zu ihr um. Merle, die nun ebenfalls stand, erwiderte sein Staunen mit festem Blick. „Ihr solltet meine Freundlichkeit nicht als Zeichen von Schwäche sehen. Ich habe euch meine Zeit geschenkt um zuzuhören. Alles, was ich verlange, ist, dass ihr mir diesen Gefallen erwidert.“ Abermals drang ein Pochen durch die Tür. „Wir sollten uns setzen. Meint ihr nicht auch?“, schlug sie versöhnlich vor. Mit hängenden Schultern folgte Fabian ihren Rat. Erst als er wieder Platz genommen hatte, ließ Merle die Dienerin hereinkommen. Solange das Mädchen damit beschäftigt war, den Tee zu servieren, herrschte Schweigen. Nachdem sie ihre Arbeit getan hatte, erkundigte sich die Dienerin bei Merle, ob alles zu ihrer Zufriedenheit war und verließ dann das Zimmer.

„Ich maße mir nicht an, euch zu kennen, geschweige denn euch zu verstehen, aber ich glaube, ihr habt aus der Militärausbildung mehr als nur Wissen in der Kriegsführung mitgenommen.“, begann Merle ihre Rede. „Sicherlich seid ihr auch mit mehr Führungsqualitäten, Eigendisziplin und einem stärkeren Fokus auf eure Ziele ausgestattet worden. Eigenschaften, die nicht nur für einen Offizier notwendig sind. Doch die wichtigste Errungenschaft war wohl Selbstvertrauen, das aus dem Entdecken der eigenen Fähigkeiten geboren wurde. Fähigkeiten, die ihr noch immer im Wettbewerb unter Beweiß stellen müsst.“

„Das einzige, was ich dank der Akademie habe, ist mein Dickkopf, der mich und meine Tochter an den Rand des Ruins gebracht hat.“, zweifelte Fabian und wendete beschämt seinen Kopf ab. „Ich hätte ein geruhsames Leben führen können und habe stattdessen das Abenteuer gewählt. Alles, was noch in meiner Macht liegt, ist Irene vor diesen Fehler zu bewahren.“

„Ab wann habt ihr eure Entscheidung das Militär zu verlassen in Frage gestellt? War es, nachdem eure Frau starb?“, fragte Merle, woraufhin Fabian sie wütend anstarrte. „Bitte entschuldigt.“, bat sie schnell. „Ich verlange keine Antwort. Vielleicht könnt ihr mir stattdessen erzählen, welche Zukunft euch für Irene vorschwebt.“

„Eine sichere. Eine, in der sie nicht ständig auf die Probe gestellt wird und sie keine Angst haben muss zu versagen.“

„Ihr Anliegen zeugt aber davon, dass sie die Herausforderung sucht.“

„Sie weiß es halt noch nicht besser.“

„Ist es wahr, dass sie den Sohn eures Konkurrenten heiraten soll?“

„Ich verhandle noch.“, gab Fabian zu. „Es wäre besser, wenn Irene es nicht erfährt.“

„Seid ihr euch im Klaren darüber, was mit der Werft passiert, wenn ihr sterbt und Irene das Erbe antritt?“, fragte Merle ernst. Aus Fabian drang ein bitteres Lachen.

„Sie wird geschlossen und abgerissen. Allein schon, um meinen Namen zu tilgen.“

„Seid ihr damit einverstanden?“

„Wenn ich Tod bin, dürfte mir so ziemlich alles egal sein. Außerdem ist mir für meinen Liebling kein Opfer zu groß.“

„Und was ist mit den Familien der Arbeiter? Mit dem Anliegen, Irene vor Zukunftsängsten zu schützen, setzt ihr die Arbeiter genau diesen Ängsten aus.“, argumentierte sie.

„Ich bin für die Familien meiner Angestellten nicht verantwortlich.“, folgte seine trotzige Antwort.

„Da irrt ihr euch und ich glaube, ihr wisst es auch!“, stellte Merle fest. „Warum sonst sollte eure Werft als Vorbild für Sicherheit am Arbeitsplatz gelten.“

„Und was soll ich ihrer Meinung nach tun? Die Verlobung platzen lassen?“

„Ihr solltet die fortwährende Existenz eurer Werften im Ehevertrag zur Bedingung machen und Irene das nötige Selbstvertrauen aufbauen lassen, um diesen Anspruch auch nach euren Tod durchzusetzen.“, riet Merle. „Und ihr solltet euch mit Irene absprechen und sie fragen, was sie möchte.“

„Wie stellen sie sich das vor?“, zweifelte Fabian. „Wenn ich ihr meinen Dickkopf mit auf den Weg gebe, wird sie keiner haben wollen.“

„Wenn jemand sie ablehnt, weil sie nicht fügsam ist, hat er sie nicht verdient.“, sagte sie mit Feuer in ihren Augen. „Und ganz nebenbei dürfte so einer auch nicht die Entschlossenheit haben, erfolgreich ein Geschäft zu führen.“

Fabian lächelte tief beeindruckt.

„Ich glaube kaum, dass es jemanden im Adel Astorias gibt, der diesen Vorraussetzungen gerecht wird.“

„Unter den Bürgern gibt es sie zu hunderten.“, erwiderte Merle grinsend.

„Dann verliert Irene aber ihren Titel.“

„Wenn der ihr so wichtig ist, kann sie sich ja in einen goldenen Käfig sperren lassen. Wie ich schon sagte, es sollte auch ihre Entscheidung sein.“

„Ich gebe auf.“, verkündete Fabian kopfschüttelnd. „Was soll ich unterschreiben?“

Mit nur einem Handgriff holte sie eine Erklärung aus ihrem Ordner und schob sie auf die andere Tischseite.

„Ich werde Unfälle so gut vermeiden, wie ich kann. Sollte es doch zu Verletzungen kommen, sagt ihr mir hiermit zu, dass es keine politischen Konsequenzen haben wird.“

„Nur politische?“

„Ich werde sämtliche Behandlungskosten aus den Mitteln bezahlen, die ich für meine Arbeit zur Verfügung habe. Selbstverständlich werde ich mich auch persönlich entschuldigen.“, versicherte Merle.

„Eins verstehe ich noch nicht.“, sagte Fabian, während er unterschrieb. „Was haben sie davon meine Tochter zu trainieren?“

„Kontakte.“, antwortete Merle. „Für Farnelia kann es nur von Vorteil, wenn es Freunde außerhalb seiner Grenzen hat.“

„Freunde? Wollen sie sich meiner Tochter aufdrängen?“

„Selbstverständlich nicht. Aber ich werde auch nicht ablehnen, sollte sie engeres Band knüpfen wollen.“

„Bitte sehr.“, sagte Fabian und schob das Papier zurück der Prinzessin. „Für die anderen beiden Mädchen kann ich aber keine Erlaubnis geben.“

„Die haben wir bereits über das Händlernetz eingeholt.“, sagte Merle. „Ich werde sie ihnen morgen vorlegen.“

„Sie haben einen Zugang?“, staunte er.

„Mehr noch. Im Keller dieses Gebäudes befindet sich ein Knoten.“, informierte Merle ihn. „Noch etwas. Ich kann natürlich nicht zaubern. Ihr wisst, dass Training viel mehr Zeit als eine Woche braucht, um effektiv zu sein. Wenn die Kunst des Schwertkampfes Irene gefällt, solltet ihr eure Tochter weiter trainieren.“

„Ich fürchte, ich bin eingerostet.“

„Dann sucht euch einen Trainer. In Astoria dürften einige Veteranen sein, die ihr Wissen zum Verkauf anbieten. Dann könntet ihr mit Irene auch zusammen trainieren. Das dürfte eure Beziehung zu ihr vertiefen.“

„Wollen sie mich etwa auch unterrichten?“, fragte Fabian schief lächelnd.

„Nein, ich glaube die Mädchen hätten etwas dagegen. Aber ich bin sicher, Allen Shezar hätte nichts gegen einen Gegner, mit dem er sich aufwärmen kann.“, bot Merle an.

„Interessant, dass sie ihn erwähnen.“, meinte Fabian. „Wenn ich es recht bedenke, wäre er wohl der einzige im Adel, der euren Bedingungen gerecht werden könnte. Ist er zufällig noch zu haben? Irene würde ganz gewiss nicht Nein sagen.“ Als sich Merles Mine daraufhin verfinsterte, erhob sich Fabian lässig. „Wir sind quitt. “

Merle tat es ihm nach und hielt ihm dann noch ein Papierbogen hin.

„Das ist der Zeitplan. Bitte sorgt dafür, dass die Mädchen pünktlich und ausgeschlafen sind.“, bat sie ihn betont sachlich. „Weitere Hinweiße befinden sich auf der anderen Seite.“

„Danke, Hoheit.“, antwortete Fabian, nachdem er wieder Haltung angenommen hatte. „Darf ich bei dem ersten Training zuschauen? Ich möchte sichergehen, dass die Mädchen in guten…Händen sind.“

„Meinetwegen, aber nur beim ersten. Bei jedem weiteren werdet ihr wohl bei Allen Shezar euer Können zeigen müssen.“

„Ich überlege es mir.“, versicherte Fabian und verabschiedete sich mit einer respektvollen Verbeugung. „Ich freue mich schon darauf ihre Hoheit wieder zu sehen.“

„Ich wünsche euch einen guten Tag.“, erwiderte Merle die Geste.

Mit Handschlag besiegelt

Ein Schleier aus Finsternis legte sich über die Nacht. Mit einem Stich des Bedauerns beobachtete Siri, wie eine Wand aus pechschwarzen Wolken sich vor dem Mond schob. Sogar ihre Augen, die sich schnell an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnten und jeden Fetzen an Streulicht auffingen, konnten der Dunkelheit ihr Gewicht nicht nehmen. Die Kälte, die in den vergangen Nächten ihren Kopf klar gehalten hatte, wich einem Gefühl fehlender Wärme. Zusehends hatte die müffelnde Decke um Siris Schultern ihren Reiz verloren und glitt nun auf den Boden.

Zwischen großen Kisten eingeklemmt, saß das Mädchen in einer engen Seitengasse, ihren Blick auf die Öffnung zwischen den beiden angrenzenden Häusern gerichtet. Hinter den Kisten schlief Ryu auf einem provisorischen Lager. Wie jede Nacht wälzte er sich dabei unruhig hin und her. Siri widerstand den Drang in seine Träume zu schauen und versuchte sich stattdessen wieder auf die Straße zu konzentrieren. Seitdem Allen Shezar sie abgewiesen und dieses Wagnis überlebt hatte, hat sie einige Male ein persönliches Gespräch mit Ryu angefangen, doch er war nie darauf eingegangen, sondern schwieg beharrlich. Wenn sie aber einen Bericht verlangte, antwortete er stets ohne zu zögern.

Es schien ihr fast so, als hätte er sein Ich verloren. Als existiere er nur noch um ihr zu dienen. War er tot? Hatte sie ihn getötet? Wahrscheinlich, beantwortete Siri ihre Frage selbst und ein dumpfer Schmerz breitete sich ausgehend vom Herzen in ihrem Oberkörper aus. Seine Gedanken wollte sie nicht einsehen, um ihre Vermutung zu bestätigen. Allens Moralpredigt, so naiv sie auch gewesen war, hatte Wirkung gezeigt und Siri den Schwur abgerungen, die Privatsphäre eines Menschen nicht zu verletzen, außer ihr Auftrag zwang sie dazu. Und im Moment sollte sie nur in Farnelia in Bereitschaft bleiben. Zu dem Vorfall in der Tropfsteinhöhle hatte sich ihr Meister noch nicht geäußert. Ob das nun gut oder schlecht war, würde sie noch früh genug erfahren.

Plötzlich wurde es in der Gasse noch etwas dunkler und Siri bemerkte eine vermummte Gestalt, die lautlos die Kiste passierte, hinter der sie sich versteckte. Blitzschnell stand sie auf und stellte sich der Person in den Weg.

„Das ist mein Schlafplatz!“, behauptete sie mit kratziger Stimme. Sie vermisste das beruhigende Gefühl eines Schwertes an ihrer Seite, erinnerte sich dann aber an die beiden Dolche, die an ihren Unterarmen ruhten.

„Auf der Liste stand doch auch ein Kontakt in Farnelia.“, antwortete der Mann verwundert. „Wie kommt es, dass du hier draußen schläfst und nicht in der Herberge.“

„Meister!“, flüsterte Siri entsetzt und wich ein paar Schritt zurück. Auf einmal bemerkte sie die Barriere, die die Gasse von der Außenwelt abschirmte.

„Ich hab mir so viel Mühe gegeben, ungesehen an Merles Wachhunden vorbei zu kommen. Wie dankst du es mir?“, fragte Trias gekränkt und schob seinen Hut ein Stück zurück. „Freust du dich nicht einmal mich zu sehen?“

„Nein…ich meine, doch! Natürlich freue ich mich.“, sagte Siri mit sich hadernd. Als Ryu sich drohend in das Blickfeld des Neuankömmlings bewegte, hielt sie ihn zurück. Stirn runzelnd nahm ihr Schüler die Hand von dem Griff seiner Waffe, doch seinen stechenden Blick bewahrte er.

„Wo ist dein Schwert?“, erkundigte sich Trias.

„Ich hab es Allen gegeben.“, erwiderte sie, obwohl sie genau wusste, dass er die Antwort bereits aus ihren Gedanken kannte.

„Warum?“

„Weil sie mich darum gebeten hat.“

„Sie? Hat sie dich kontaktiert oder umgekehrt?“

„Sie mich.“

„Wann das erste Mal?“

„In der Sekunde, als Allen meiner Klinge ausgeliefert war.“, erinnerte sich Siri aufgewühlt.

„Hat sie dich daran gehindert, diese Gelegenheit zu nutzen?“, hakte ihr Meister weiter nach.

„Ja.“

„Wie hat sie dich überzeugt?“

„Sie sagte mir, dass ich all meine Ideale aufgeben würde, wenn ich ihn töte, und dann ganz in eurer Hand wäre. Sie bat mich, ihn …und sie…ziehen zu lassen.“, erzählte sie und hielt ihre Tränen zurück. Auf keinen Fall würde jetzt vor Trias heulen „Ich konnte ihn nicht töten.“

„Ist der Gedanke, mir dein Leben anzuvertrauen, so abstoßend für dich?“

Angesichts ihrer widersprüchlichen Gefühle brachte Siri kein Wort heraus.

„Du widersetzt dich mir.“, stellte Trias amüsiert fest.

„Nein, ganz ehrlich nicht!“, platzte es aus ihr heraus.

„Keine Sorge. Ich werde dich nicht töten.“, beruhigte er sie und lächelte ihr ermunternd zu. „Genau genommen ist alles so gekommen, wie ich es geplant habe. Dass es sogar noch besser hätte laufen können, sei dahin gestellt.“

„Was passiert jetzt?“

„Du wirst vom Außendienst in meine Leibwache versetzt.“

„Aber…Was ist mit Allen?“

„Du hast bereits bewiesen, dass du nicht in der Lage bist ihn zu töten. Außerdem kannst du es sicher nachvollziehen, dass ich dich im Auge behalten will.“

„Das könnt ihr doch auch aus der Ferne.“, wunderte sich Siri.

„Auch meine Macht hat ihre Grenzen. Lass uns gehen. Ich erzähl dir später mehr.“, versicherte Trias. Als Ryu ebenfalls seine Tasche über seinen Rücken warf, winkte ihn Trias zurück. „Dein Schüler bleibt hier. Er muss für mich noch einen Botengang erledigen.“
 

Im Schneidersitz hockend vertiefte sich Siri in ihre Meditation. Sie befand sich in einer kleinen Koje in einem getarnten Luftschiff, das weit über den Dächern Farnelias kreiste. So gut wie sie es nur konnte, ignorierte sie die Tatsache, dass ihr Meister ihr gegenüber saß und sie beobachtete. Ihre Augen waren fest verschlossen, während sie sich in Gedanken durch eine dichte Menschenmasse schlängelte. Vor sich hörte sie das Klirren stumpfer Schwerter, die aufeinander krachten. Schließlich konnte sie aus einem günstigen Blickwinkel zwei Kämpfer ausmachen, die ihre Klingen kreuzten. Der größere der Kontrahenten drückte mit roher Gewalt die Waffe seines Gegners aus dem Weg und nutzte die Chance für einen Schlag auf den nur noch von dickem Leder geschützten Oberkörper. Von der Menge am Boden und den Zuschauern auf den Bänken kam ein Raunen, gefolgt von einem lauten Ruf des Ringrichters, der den Kampf beendete. Ohne die übliche Bekundung des gegenseitigen Respekts und offenbar unverletzt verließen die Kämpfer die Arena.

Anfänger, dachte Siri angewidert und beobachtete dann hoch konzentriert wie zwei neue Krieger den Ring betraten. Einer formellen Verbeugung folgte der Ruf des Richters und beide gingen in Kampfstellung. Das Publikum indes staunte nicht schlecht, denn unterschiedlicher konnten Kontrahenten kaum sein. In der einen Ecke wog ein Riese seine Klinge und ging langsam auf das Mädchen mit ihrem schmalen Schwert zu, das so frech war zu glauben, sie hätte eine Chance. Selbstsicher setzte er zu einem diagonalen Streich von oben an. Ihm blieb kaum Zeit sich zu wundern, warum sie nicht zurückwich, da sie schon einen Augenblick später vorpreschte. Ungeachtet dessen führte er seinen Hieb aus, unter den sich das Mädchen knapp weg duckte, um dann weiter nach vorn zu stürmen und ihre Klinge oberhalb des Beckens in die Seite des Kriegers zu rammen. Was vorher ein Raunen war, war nun ein Keuchen, das quer durch die Zuschauer ging. Für einen Augenblick herrschte angespannte Stille, bis schließlich der Ringrichter den Sieg des Mädchens bestätigte. Anerkennend merkte Siri an, dass es die Handschrift ihrer ehemaligen Meisterin war, die sie in dem spektakulären Ausweichmanöver der Prinzessin wieder erkannte.

Ein deutliches Jetzt durchbrach ihre Gedanken. Sogleich gab sie das Signal an den Besitzer der Augen weiter, die sie sich gerade lieh, und fand sich plötzlich über den Köpfen der Menschen wieder. Wie ein Adler stürzte sich ihr Schüler auf das noch ahnungslose Mädchen, das verwundert seinen Kopf hob und mit aufgerissen Mund einen Satz zurück machte. Während sie sich verängstigt aufrappelte, spürte Siri, wie Ryu langsam, fast theatralisch sein Schwert zog. Bevor die überraschten Wachen der Prinzessin zu Hilfe eilen konnten, stieß er blitzschnell auf sie zu und schlug ihr die Klinge aus den verkrampften Fingern. Mühelos hob er sie am Kragen ihrer Rüstung hoch und hielt sie wie eine Trophäe in der Luft, ehe er sie näher zu sich heranzog, bis seine Lippen fast ihr Ohr berührte. So leise, dass nur sie es hören konnte, flüsterte er ihr etwas zu und schleuderte sie dann einer heranstürmenden Wache entgegen. Ehe deren Kameraden bei ihm waren, war er mit einem Satz auf einer der Tribünen. Verschwommen zogen die Gesichter der panischen Zuschauer an ihr vorbei, bevor Siri plötzlich den Kontakt verlor. Keuchend schlug sie Augen auf und lehnte sich erschöpft zurück.

„Anstrengend, nicht war?“, fragte Trias schmunzelnd, worauf Siri nur mit einem Nicken antworten konnte. „Mit der Zeit wird es leichter, dich mit deinem Untergegeben zu verschmelzen, doch einfach wird es nie.“

„Wie haltet ihr das aus?“, erkundigte sich Siri atemlos. „Ihr habt doch gewiss dutzende Diener.“

„Ich könnte dir jetzt etwas von meiner ungeheuren Macht erzählen, doch die Wahrheit ist, dass ich nicht alle zu jeder Zeit überwachen kann. Den meisten meiner Untergebenen dürfte es schon aufgefallen sein, doch können sie unmöglich wissen, wann ich lausche und wann nicht. Es ist die Angst und die Unterwürfigkeit meiner Diener, die sie gefügig macht. Bei jedem anderen funktioniert diese Methode auch prächtig, nur bei dir nicht.“

„Warum gebt ihr euch dann mit mir ab? Warum tötet ihr mich nicht einfach?“

„Hast du es so eilig zu sterben?“, konterte Trias. Es dauerte eine Weile, ehe Siri mit ihrem Kopf schüttelte. „Dennoch willst du frei sein.“ Wieder nickte sie stumm. „Dann mach ich dir ein Angebot. Solange Allen Shezar lebt, wirst du nicht von meiner Seite weichen und alles lernen, was ich dir beibringe.“

Siri schluckte.

„Und wenn er tot ist?“

„Dann gebe ich dir die Freiheit.“

„Warum ich?“, fragte sie unsicher.

„Weil du die einzige bist, die die Stärke aufbringt mir zu widerstehen und dabei sogar große Schmerzen in Kauf nimmt. Weil du die einzige bist, die mich an die Person erinnert, die ich eins war.“, antwortete Trias eindringlich.

„Ich verstehe nicht. Was bezweckt ihr mit dem Abkommen?“

„Wie ich schon sagte, ist die Überwachung meiner Untergeben nicht perfekt. Zum Beispiel entzieht sich die Handlung der Diener meiner Diener zusehends meiner Kontrolle, je weiter die Kette reicht. Und viele könnten mit der Kraft, die ich ihnen gegeben habe und die sie wiederum weitergeben, mir durchaus gefährlich werden. Ich lebe nun schon lange genug um zu wissen, dass dieses System eines Tages versagen wird und ich nicht mit dem Leben davonkommen werde. Andererseits war es nie darauf ausgelegt ewig zu bestehen. Sollte ich jedoch sterben ohne mein Ziel zu erreichen, brauche ich jemanden, der mein Werk fortführt.“

„Was ist euer Ziel?“

„Sieh durch meine Augen und du wirst es sehen! Verinnerliche die Lektionen, die ich gelernt habe, und du wirst es verstehen! Alles, was ich verlange, ist, dass du von mir lernst.“, flehte Trias.

„Aber zu welchem Preis!“, widersprach Siri verzweifelt.

„Der Verlust einer geliebten Person ist die wichtigste Lehre des Lebens. Im Gegensatz zu dieser sind alle anderen geradezu trivial. Sie wird dir zeigen, dass nicht nur ein langes Leben schmerzhaft ist, sondern das Leben an sich.“

„Ich kann nicht versprechen, dass ich euch eines Tages zustimmen werde.“, sagte Siri nach langer Pause. „Aber wenn ihr euer Versprechen einhaltet, schwöre ich, dass ich euch zuhören werde.“

„Dann haben wir also einen Handel.“, äußerte sich Trias zufrieden und streckte ihr sein Hand entgegen. Zögernd tat sie das gleiche. Als er ihre Hand schüttelte, durchfuhr Siri ein Schauer.

Aufbruch

Mit einem flauen Gefühl im Magen ging Merle durch die Gänge der Villa De Farnel. Nachdem das Turnier sie endlich freigegeben hatte, war sie ohne Umwege zur Residenz des Königs gefahren. Eigentlich hatte sie vor, nach dem vielen Sitzen sich im Garten mit Allen die Beine zu vertreten, doch eine Dienerin hatte sie am Villeneingang abgefangen und vernichtete so ihre Pläne. Jetzt führte eben dieses Mädchen sie zum gesicherten Konferenzraum. Die Dienerin öffnete ihr die Tür, woraufhin Merle ihr dankbar zunickte und eintrat. Sofort fiel ihr Sophia auf, die vollkommen verstört am Tisch saß und von Milerna umsorgt wurde. Van und Allen standen etwas Abseits und beobachteten das Mädchen mit angespannten Minen. Aus Merle wollte schon die Frage platzen, was geschehen war, doch Van schaute zur ihr auf und sein ernstes Gesicht belehrte sie eines Besseren.

Lautlos bewegte er sich auf sie zu, trat so nah an sie heran, dass sich ihre Wangen fasst berührten, und flüsterte: „Nachdem Sophia ihren ersten Kampf gewonnen hatte, griff jemand aus der Menschenmenge sie an und überwältigte sie. Er hatte genug Zeit, sie zu bedrohen und zu verspotten, ehe er vor den Wachen floh. Den Beschreibungen der Zeugen nach zu urteilen, war es Hitomis Bruder.“

Entsetzt sah Merle ihn an.

„Ryu?“

Van bestätigte stumm.

„Hat er sie verletzt?“

„Sie erlitt…eine akute Belastungsreaktion. So hat Milerna es ausgedrückt.“

„Was bitte?“

„Einen psychischen Schock. Abgesehen davon scheint es ihr gut zu gehen.“

„Kann ich mit ihr reden?“, erkundigte sich Merle.

„Falls Milerna es gestattet.“

Leise löste sich Merle von ihrem Bruder und näherte sich behutsam den beiden Frauen. Sie legte Milerna eine Hand auf ihre Schulter, die sich daraufhin zu ihr umdrehte, nickte und zurücktrat. Langsam kniete sich Merle neben die wimmernden Mädchen und lächelte ihr ermunternd zu. Krampfhaft versuchte Sophia zurückzulächeln, doch es gelang ihr nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann brach sie erneut in Tränen aus. Sanft strich Merle mit einer Hand durch ihr Haar, während sie die andere auf eines der Knie legte. Da sie nicht wusste, was sie sagen sollte, beließ sie es dabei, dem Mädchen das Gefühl zu geben nicht allein zu sein. Nach ein paar Minuten durchbrachen plötzlich Worte das Schluchzen.

„Er… Er hat gesagt…Sarion wird fallen.“ So gut es ihr möglich war, versuchte Merle ihre Ruhe zu bewahren. Sarion war die Hauptstadt der Königreiches Chuzario, Sophias Heimat. „Dann kamen diese Bilder in meinem Kopf…ich weiß nicht, woher…ich konnte sie nicht stoppen.“

„Was hast du gesehen?“, fragte Merle, ehe sie ihre Neugierde stoppen konnte.

„Grausam entstellte Menschen…als wären sie wandelnde Leichen. Die Stadt…ich kenne sie nicht. Aber der Junge sagte…das gleiche würde in Sarion passieren. Sarion sähe genauso aus.“

Merle sah Milerna viel sagend an, die sofort ihren Platz einnahm und Sophia schützen umarmte. Indes trat das Katzenmädchen näher an Van und Allen heran.

„Was jetzt?“, flüsterte sie.

„Ryu hat uns offensichtlich ein Warnung zukommen lassen.“, überlegte Van. „Die Frage ist Warum und wie sollen wir darauf reagieren.“

„Auf jeden Fall nicht so, wie Trias es sich erhofft.“, warf Merle ein.

„Bist du dir sicher, dass der Junge die Zustimmung von Trias hatte?“, äußerte sich Allen, woraufhin sie ihn erstaunt ansah. „Siri schien mir schon öfters auf eigene Faust und gegen ihren Meister gehandelt zu haben. Vielleicht ist das auch dieses Mal der Fall.“

„Auf keinen Fall!“, erwiderte Merle zwar leise, dennoch energisch. „Es gibt unauffälligere Methoden um Nachrichten zu überbringen und Siri weiß das. Würde sie ohne seine Erlaubnis vorgehen, hätte sie uns die Information heimlich überbracht.“

„Vielleicht handelt Ryu ja auf eigene Faust.“, gab Allen zu bedenken.

„Das spielt keine Rolle!“, unterbrach Van die Diskussion, der seinen eigenen Fehler einsah. „Jedenfalls noch nicht. Wie geben wir die Warnung weiter? Darüber sollten wir uns Gedanken machen.“

„Es gibt viele Zugänge zum Händlernetz in Sarion. Wir könnten eine Nachricht schicken.“, schlug sie vor, woraufhin Allen einwandte: „Die Nachricht dürfte ziemlich unglaubwürdig sein, wenn ein einfacher Händler sie dem König vorträgt, sollte er überhaupt so weit kommen.“

„Außerdem müssen wir unter allen Umständen eine Panik vermeiden. Von der Bevölkerung darf niemand etwas wissen. Vor allem, da wir keine Ahnung haben, was auf sie zukommt.“

„Wahrscheinlich hat Trias bereits einige unauffällig aussehende Gezeichnete in die Stadt geschleust, die langsam kleine Scharen zu Monstern mutierte Menschen ausheben. Diese wird er innerhalb eines kurzen Zeitrahmens von verschiedenen Orten aus auf die Stadt loslassen.“, spekulierte Merle.

„Wie kommst du darauf?“, hakte Van nach.

„Ich habe bereits gegen einen Gezeichneten und seine Diener gekämpft, und konnte mir ein Bild von deren Fähigkeiten machen.“, erklärte sie. „Ich an seiner Stelle würde es so machen. Zumindest beim ersten Mal. Das Gute an dieser Taktik ist, dass sie nur einmal funktioniert.“

„Und das schlechte?“, erkundigte sich Allen.

„Sie funktioniert. Und ich wüsste nicht, was man kurzfristig dagegen unternehmen könnte.“

„Du hast während dem Flug Zeit, dir etwas auszudenken.“, sagte Van bestimmt. Merle stutze.

„Ich soll gehen?“

„Du verstehst sicher, warum ich Sophia nicht als Boten einsetzen will.“

„Und mir hast du mal gesagt, du könntest Gezeichnete aufspüren.“, argumentierte Allen zustimmend.

„Aber was wird aus dem Turnier?“

„Gute Frage.“, erwiderte Van nachdenklich. „Ich kann mich nicht vom Teilnehmerfeld zurückziehen, ohne dass mein Ansehen beträchtlichen Schaden nimmt. Und wenn ich den Rat der Volksbeauftragten als Patron einsetzte, streiten die Drei sich sofort, wer auf der Tribüne den Ehrenplatz in der Mitte erhält.“

„Dann setz doch Sophia als Veranstalterin ein. Angeblich hat sie doch einen wesentlichen Teil der Vorbereitungen selbst geleistet.“, schlug Allen vor, doch der junge König blieb skeptisch.

„Die Signalwirkung dieser Geste ist mir ein bisschen zu stark. Astoria hat jetzt schon allen Grund zur Annahme, ich hätte mich für eine Seite entschieden.“

„Dann bitte doch Milerna und Sophia, gemeinsam die Schirmherrschaft zu übernehmen.“, wandte Merle ein. „Das wäre gleichzeitig auch ein Zeichen der Freundschaft, das für Entspannung zwischen Astoria und Chuzario sorgen sollte.“

„Ich bezweifle, dass sie sich um die Sitzordnung streiten werden.“, stimmte der Himmelsritter mit einem Blick auf die beiden Frauen zu, die sich inzwischen leise unterhielten. Van nickte und musterte Merle dann mit strenger Mine.

„Du brichst besser auf, ehe Sophia sich gefangen hat. Ich stelle schnell eine Mappe über Trias Schöpfungen zusammen. Wenn sie fertig ist, erwarte ich, dass du und das Schiff es auch seid.“

„Fliege ich mit dem Kopfgeldjägerschiff?“, fragte Merle.

„Ja, aber es ist Zeit, dass du dir einen Namen für das Schiff ausdenkst. Ich hasse diese Bezeichnung.“

„Wie wirst du den Zuschauern meine Abwesenheit erklären?“

„Du bist nach Chuzario geflogen, um dich persönlich für den Vorfall bei Sophias Vater zu entschuldigen. Da es unverantwortlich wäre, sie wieder zurück in den Ring zu schicken, wird sie dich an der Seite von Milerna vertreten.“

„Und ich werde dich als moralische Stütze begeleiten.“, warf Allen ein.

„Ich kann auf mich aufpassen.“, behauptete Merle nach einer Sekunde der Verwunderung.

„Glaubst du, nur Farnelia hat ein Interesse daran, dass Chuzario nicht untergeht?“, erwiderte Allen mit hochgezogenen Augenbraun.

„Na schön, aber ich gebe die Befehle!“

„Wie ihr wünscht, euer Hoheit.“, sicherte er ihr mit einer leichten Verbeugung zu.
 

„Hier sind die Informationen.“, sagte Van und hielt Allen eine Mappe hin, welche der Ritter sogleich ergriff, doch der König ließ sie nicht los. Mit einem stechenden Blick musterte Van seinen ehemaligen Gefährten. „Pass gut auf meine Schwester auf!“, verlangte er und legte noch eine Portion eisige Entschlossenheit in seine Augen. „Ich muss dir ja nicht erzählen, dass wir nie Freunde waren, solltest du ihr wehtun.“

„Ich weiß.“, erwiderte Allen ernst, woraufhin Van seine Hand zurückzog.

„Ich geh jetzt lieber, ehe sie die Düsen aufwärmt.“, verabschiedete er sich und verließ eilig den aus den weißen Felsen der Schlucht gehauenen Hangar. Einen Moment verweilte Allen noch in Gedanken, ehe sein Blick auf den Rücklauf eines der Triebwerke fiel und er die Rampe hinaufhastete, die in das Heck des Schiffes führte. Nachdem er die einzige Einstiegsmöglichkeit sicher geschlossen hatte, bewegte er sich zielstrebig zur Brücke, die diese Bezeichnung, so eng wie sie war, eigentlich nicht verdiente. Durch die Frontscheiben sah er nur weißes Gestein. Zwar war er sich darüber im Klaren, dass Merle ein Seitwärtsmanöver mit Hilfe zweier in den Flügeln eingearbeiteter Rotoren durchfuhren musste, um aus der künstlichen Höhle in die Schlucht zu schweben, doch wusste er nicht, ob er sich deswegen Sorgen machen sollte. Sie besetzte den rechten der beiden Sitze. In der Reichweite ihrer Arme befanden auf engsten Raum zusammengepresste Anzeigen und Instrumente, die sie beinahe ohne inne zu halten mit einer Hand bediente, während sie in der anderen einen Block hielt. Allen wollte es sich schon auf dem linken Sitz, dessen Anzeigen sehr viel leichter zu überschauen war, gemütlich machen, als sie ihn zurückpfiff.

„Untersteh dich! Das ist mein Platz.“

„Entschuldigt bitte, euer Ho….“

„Allen, von nun möchte ich kein Hoheit mehr aus deinem Mund hören! Sobald wir die Landesgrenze überflogen haben, bin ich nur eine Schwester, die einen Botengang für ihren Bruder erledigt. Ich möchte nicht, dass es so aussieht, als würde ich die Leute nötigen, mich mit einem Titel anzusprechen, indem ich dich als Herold vorschicke. Ab sofort sind also alle Titel tabu.“

„Alle?“

„Alle bis auf einen.“

„Kommandant? Kapitän? General?“, scherzte Allen, woraufhin sich Merle zu ihn aufsah und lächelte.

„Botschafter.“, antwortete sie. „Bitte verzeihe mir, wenn ich dich vorhin gekränkt habe, aber für eine solche Mission müssen klare Befehlsketten vorliegen.“

„Wenn ich gekränkt war, dann nur weil du es für nötig hieltst, es klar zu stellen.“, erklärte Allen. „Du führst, ich folge. Das war bisher immer so.“

„Und du hast kein Problem damit?“

„Bei deinem Tempo…“, äußerte sich Allen amüsiert und tat so, als müsste er überlegen. „Wenn es langweilig wird, kann ich ja immer noch aussteigen.“

Merle prustete und wandte sich grinsend wieder ihre Liste zu.

„Niemals!“, verkündete sie. „Eher sperre ich dich in einen Käfig und werfe den Schlüssel weg.“ Sein Schweigen ließ sie ahnen, dass sie sich in der Wortwahl vergriffen hatte. „Bitte entschuldige.“

„Macht nichts.“, versicherte er. „Jetzt weiß ich wenigstens, wie sich Hitomi gefühlt haben muss, als ich das Selbe zu ihr sagte.“

„Und? Wie fühlst du dich?“

„Verunsichert.“

„Ich schätze, wir müssen beide noch üben.“, sagte Merle und trieb sich mit Gewalt zur Arbeit an. Ihr Gefährte schaute ihr dabei interessiert über die Schulter. Schließlich hakte sie in Gedanken auch den letzten Punkt auf der Liste ab und fixierte den Block auf der Außenseite des Sitzes. Dann griff sie ein weiteres Mal in das geordnete Chaos hinein und begann zu sprechen. „Kontrolle, alle Systeme sind in Ordnung. Erbitten Erlaubnis zum Aufwärmen der Triebwerke.“

„Hier Kontrolle, Hangar ist leer und die Klammern sind gelöst. Freigabe zum Start…“, meldete sich eine männliche Stimme, die aber von einer weiblichen unterbrochen wurde.

„Halt, nicht abheben! Ich komme mit.“, erschallte Sophias Stimme aus Lautsprechern, deren Positionen Allen immer noch nicht ausmachen konnte. Merle fluchte lautlos, erhob sich und schob ihn sanft zur Seite. Mit einer geübten Bewegung ließ sie sich in den linken Sitz fallen. Ihre Glieder rasteten sofort in die dafür vorgesehenen Mulden und Halterungen ein. Plötzlich schien das ganze Schiff zum Leben zu erwachen.

„Negativ, Prinzessin, die Triebwerke laufen bereits. Ich wiederhole. Die Treibwerke laufen! Es besteht Lebensgefahr.“, sagte sie laut und deutlich.

„Das ist meine Heimat, die in Gefahr ist!“

Sie biss sich auf die Lippe.

„Mag sein, aber meine ist ohne dich aufgeschmissen. Wer sonst könnte darauf achten, dass diese Querköpfe von Kriegern sich nicht gegenseitig die Schädel spalten?“

„Das kann Milerna übernehmen.“, erwiderte Sophia trotzig.

„Und die Mädchen, die du mir aufgeschatzt hast? Willst du sie auch Milerna anvertrauen? Oder willst du mich in die Verlegenheit bringen, eine Zusage nicht einhalten zu können.“

„Das ist gemein!“

„Das ist die Realität.“, belehrte Merle sie. „Bleib am Leben! Das bist du deinem Volk schuldig.“

Plötzlich knackte es und das Katzenmädchen sah Allen erwartungsvoll an.

„Setzt dich und schnall dich an! Ich erklär dir noch ein paar Instrumente, während die Triebwerke sich einarbeiten.“

„Warum tun sie das?“, fragte er fasziniert.

„Frag mich nicht. Als ich das letzte Mal geflogen bin, hab ich einen Notstart ausgeführt. Nachdem ich mit dir nach Farnelia zurückgekehrt war, wollte der Techniker mich lynchen.“

Ankunft

„Allen, komm her und setz dich!“, rief Merle von der Brücke aus in das Schiffsinnere. „Ich geh gleich runter.“

„Bin sofort da.“, schallte es zurück. Wenige Augenblicke später erschien der blonde Ritter zwischen dem Türrahmen der Brücke und spähte neugierig nach draußen. „Sind wir schon in Sichtweite?“

„Du meinst wohl Funkreichweite.“, verbesserte sie ihn kichernd. „Eh man uns am Boden sehen würde, wären wir schon weg.“

„Und?“

„Fast. Deswegen will ich den Vogel jetzt runter bringen.“

„Wie schnell kann dieses Ding fliegen?“, staunte Allen, während er sich auf seinen Sitz neben ihr niederließ und sich anschnallte.

„Keine Ahnung.“, gab Merle zu. „Hab ich noch nie ausprobiert. Siehst du den roten Bereich auf dem Geschwindigkeitsmesser?“

Er begutachtete das ihm gezeigte Instrument. Es bestand aus einer Anzeigenadel auf einer unterbrochenen Kreisscheibe, die am linken Ende grün war, nach einer Zweidrittelumdrehung kurz rot wurde, dann wieder grün war und mit dunkler werdendem Orange endete.

„Was passiert bei Rot?“

„Keine Ahnung. Ich bin nicht besonders erpicht darauf mein Leben wegzuwerfen.“, erwiderte Merle und zwang das Schiff in eine Abwärtsbewegung. „Wir fliegen momentan mit etwa tausend Kilometern pro Stunde, also etwas langsamer als im kritischen Bereich angezeigt.“

„Das heißt wohl, die Zeiten, in denen man den Crusador als Hochgeschwindigkeitsschiff bezeichnen könnte, sind vorbei.“, seufzte Allen scherzhaft.

„Bedank dich bei den Zaibachern!“, grinste sie zurück.

„Hast du dir schon überlegt, wie du das Schiff den Verantwortlichen vor Ort erklärst? Ein vergleichbares ist denen unter Garantie noch nicht vor die Augen gekommen.“

„Glaub ich nicht. Es würde mich sehr wundern, wenn Chuzario sich nicht auch ein paar Zaibacher Wissenschaftler gekrallt hat.“

„Trotzdem wird man wissen wollen, wie Farnelia an diese Technologie heran gekommen ist.“, wandte Allen ein und sah zu, wie der Horizont stetig anstieg.

„Wie wär’s mit der Wahrheit?“

„Gegenüber einem Hafenmeister?“

„Natürlich nicht, aber dem König sollten wir reinen Wein einschenken. Er verfügt über ausgezeichnete Spione und weiß über diesen Schiffstyp auf jeden Fall Bescheid. Vielleicht ist ihm sogar bekannt, dass Farnelia dieses hier besitzt.“, erklärte Merle geduldig. „Außerdem wird die Invasion von Gezeichneten so schon schwer genug zu vermitteln sein, auch ohne eine Lüge.“

„Stimmt.“, gab Allen zu. „Kann es sein, dass du in letzter Zeit Unterricht bei Hitomi genommen hast?“

„Kann sein.“, antwortete Merle schief lächelnd, woraufhin er sie verdutzt anstarrte. Doch anstatt sich zu erklären, wies sie ihn an das Funkgerät zu aktivieren. Allen gehorchte und sie sprach laut und deutlich: „Hier spricht die Gesandte seiner Majestät König Van de Farnel, Merle de Farnel, an Bord des Luftschiffs Rasender Falke auf diplomatischer Mission. Ich bitte den Luftschiffhafen Sarions um Landeanweisungen.“

Lange Zeit blieb es still. Sie wollte ihre Durchsage gerade wiederholen, als eine überhebliche, männliche Stimme verkündete: „Mit allem nötigen Respekt, Fräulein, uns ist weder etwas von einer Gesandten mit ihren Namen bekannt, noch kennen wir ihr Schiff und angemeldet sind sie auch nicht.“

Allen setzte schon zu einer Antwort an, doch Merle unterband diese mit einem Kopfschütteln.

„Ich habe einen Brief meines Königs bei mir, der meinen Auftrag bestätigt.“, versicherte sie und fügte nach einem Gedankenblitz hinzu: „Ich würde mich über eine Eskorte zum Landepunkt freuen.“

„Einverstanden.“, knisterte es. „Geben sie uns ihre Position durch und halten sie diese.“

Merle bremste bereits ab, während sie die Koordinaten durchgab, und aktivierte die Rotoren in den Flügeln.
 

„Lass mich raten…der Architekt, der die Kuppel auf Vans Villa gebaut hat, kam aus Chuzario.“, sagte Allen, während der sandfarbenen Gebäude um sich herum in Augenschein nahm.

„Wie kommst du nur darauf?“, fragte Merle rhetorisch und folgte daraufhin seinen Blick zu den aus Halbkugeln bestehenden Dächern. „Er hat sich inspirieren lassen, als er nach dem Krieg hier zu Besuch war.“ Mit einem freundschaftlichen Nicken zum Berater, der die beiden auf den größten Markt Sarions begleitete, fügte sie hinzu. „Seine Majestät König Franziskus war sogar so freundlich für das Honorar des Architekten aufzukommen.“

Der Berater erwiderte ihre Geste, erwiderte jedoch nichts. Mit seiner bunten Tunika stach er förmlich aus der Menge hervor, die den Markt bevölkerte. Selbst Allen in seiner blauen Ausgehuniform und Merle in ihrem roten Diplomatengewand waren farblos im Vergleich zu ihm.

„Allen, sieh!“, reif Merle begeistert und zog ihn zu einem Stand mit seidenen Stoffen. Unter den Vorwand die Ware genauer zu betrachten, steckten sie die Köpfe zusammen.

„Kaum haben wir uns eingerichtet, schmeißt man uns aus unseren Zimmern. Unglaublich!“, knirschte Allen.

„Sie brauchen Zeit um unser Gepäck und das Schiff zu durchsuchen.“, flüsterte sie und strich dabei mit ihren Fingerkuppen über einen türkisfarbenen Stoff, der es ihr angetan hatte.

„Du klingst gerade so, als würdest du damit einverstanden sein.“, meinte er. Scheinbar unbeabsichtigt berührte er ihre Hand, als er den gleichen Ballen einer Prüfung unterzog.

„Hey!“, beschwerte sie sich, während ihre Hand zurück zuckte. „Meine Adoption ist hier kaum mehr als ein Gerücht und ein Brief von Van, so echt er auch sein mag, dürfte kaum ihre Zweifel zerstreuen.“

„Und dann dieser Berater…“

„Er ist nur eine Ablenkung, sowohl für das Volk als auch für uns. Die fünf Beschatter sind diejenigen, über die wir uns Gedanken machen sollten.“, belehrte Merle ihn.

„Sechs.“, berichtigte Allen. „Einer beobachtet uns von einem Dach aus, südlich von hier.“

Für einen Moment wurde Merles Blick leer, dann sah sie ihn staunend an.

„Du hast Recht. Wie hast du ihn bemerkt?“

„Keine Ahnung.“, behauptete er und wich ihrem Blick aus. „Ein Kleid in dieser Farbe würde dir ausgezeichnet stehen. Was glaubst du?“

„Sicher.“, antwortete sie misstrauisch. Zu der Verkäuferin gewandt, fragte sie: „Können sie in den Palast liefern?“

„Bitte entschuldigen sie Fräulein.“, bat eine aalglatte Stimme hinter ihr. Höflich drängelte sich der Berater an den Stand. „Lassen sie mich das machen. Ich kenne eine ausgezeichnete Schneiderin, die ihnen hieraus ein Kleid zaubern wird, dass ihre kühnsten Träume übertrifft.“

Merle war gerade dabei sich zu bedanken, als Allen schlagartig seinen Kopf herumriss. Verwundert beobachtete sie, wie sein Blick die vorbeiziehende Menge absuchte und dann einen Punkt fixierte. Bevor sie ihn fragen konnte, was los war, rannte er in die Masse hinein. So schnell, wie ihr Gewand es zuließ, folgte sie ihm. Einen Moment lang verlor sie ihn aus den Augen, doch als sie ihn wieder fand, hielt er einem jungen Mann in Botenuniform seine Klinge an den Hals. Panisches Kreischen kam auf und die Passanten stoben auseinander.

„Allen Shezar! Was in aller Welt ist in dich gefahren?!“, fragte sie wütend, aber der Ritter heftete seine Augen weiterhin auf den Gefangenen.

„Seht genau hin, Botschafterin. Ist er nicht einer derjenigen, die wir suchen?“

Verdutzt runzelte Merle ihre Stirn, ehe sie ihren Sinn für die Aura eines Lebewesens zur Rate zog. Sie spürte Allens mühsam kontrollierte Wut. Im Takt seines Herzens schwappten starke Wellen durch seine natürliche Barriere. Von seinem Opfer jedoch empfing sie nichts. Nicht einmal das Plätschern eines Rinnsals. Alles, was sie fühlte war eine Leere, ähnlich der eines Strudels, der alles Wasser verschluckte, die auf ihn traf. Die Erkenntnis, dass dieser scheinbar verängstigte Botenjunge seine Gedanken mit einer Barriere umgab, traf sie wie ein Schlag.

„Was ist hier los?“, erkundigte sich der Berater streng. „Erklärt eurer Verhalten, Allen Shezar!“

„Dieser Mann wird verdächtigt Mitglied einer bewaffneten Miliz zu sein, die auf die Vernichtung der Allianz aus ist.“, warf Merle gebieterisch ein.

„Könnt ihr diesen Verdacht erhärten? Denn, wenn nicht, müsst ihr ihn freilassen!“, verlangte der Berater unbeeindruckt.

„Ja, es steht alles in den Unterlagen, die ich bei mir trage.“, antwortete Merle. „Der Verdächtige braucht uns nur sein Gebiss zu zeigen, um seine Unschuld zu beweisen.“

„Sein Gebiss?“

„Die Miliz verfügt über ein Erkennungsmerkmal.“

„Tun sie es!“, befahl der Beamte den Boten, doch dessen Gesicht, das bis eben noch seine Panik widerspiegelte, verhärtete sich abrupt.

„Pass auf!“, rief Merle, aber bevor sie ihre Warnung ausgesprochen hatte, brachte sich der Mann mit einem Satz nach hinten in Sicherheit. Allen, der nicht ansatzweise mit der Geschwindigkeit seines vermeintlichen Gefangen mithalten konnte, teilte mit seinem Schwert nur Luft. Rücksichtslos stieß der Flüchtige die Zuschauer beiseite und tauchte ab. Merle, die nun keinen Zweifel mehr an der Schuld des Verdächtigten hegte, nahm verbissen die Verfolgung auf. Am Rande ihres Bewusstseins schlich sich die Erkenntnis ein, dass zwei Schatten es ihr gleich taten und aus anderen Richtungen auf den Boten zustießen. Weitere Eindrücke gingen durch den Tunnelblick unter, den sie auf den Gezeichneten richtete. Die Schneise ausnutzend, die der Gejagte hinterließ, holte sie ihn zusehends ein. Schließlich verließ der Mann jedoch den Markt und rannte in eine enge Gasse zwischen zwei Gebäuden. Vor ihm türmte sich eine vier Meter hohe Mauer auf, die den dahinter liegenden Innenhof von der Gasse trennte. Als wäre es ein Kinderspiel, sprang der Flüchtige auf eine Hauswand zu, stieß sich von ihr ab und machte so einen Satz über die Mauer. Zähne knirschend kam die junge Frau vor der Mauer zum Stehen. Mit ihrem Gewand und dem Kleid darunter konnte sie diesen Sprung unmöglich nachahmen.

„Was war das?“, fragte eine ungläubige Stimme hinter ihr. Die Schatten hinter ihr waren zwei unauffällig gekleidete Bürger, die einen respektvollen Abstand hielten.

„Das war der Grund, warum ich unbedingt mit eurem König sprechen muss.“, erwiderte Merle eindringlich.

„Ich habe verstanden.“, meinte einer der Männer und wies mit einer Geste aus der Gasse heraus. „Bitte folgt mir zum Palast. Seine Majestät wird euch so schnell wie möglich empfangen.“

„Vielen Dank.“, erwiderte sie milde.

In der Empfangshalle

„Bleiben sie bitte hier, Botschafterin.“, bat der Berater, der Merle und Allen auf dem Markt begleitet hatte. „Ich werde seine Majestät über die Dringlichkeit ihres Anliegens in Kenntnis setzten. Er wird sie empfangen, sobald es ihm möglich ist.“

„Vielen Dank.“, erwiderte Merle höflich. Ihr Blick prüfte schnell die prunkvolle Empfangshalle, in der sie mit Allen warten sollten, und die Personen, mit der sie den riesigen Raum teilte. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand zuhören konnte, zischte sie dem Himmelsritter zu: „Was verschweigst du mir, Allen Shezar?“

„Einiges, Merle, aber nichts davon hängt mit unseren Fall zusammen.“, antwortete er ebenso leise.

„Das soll ich dir glauben?“, verlangte sie zu wissen. „Vor wenigen Wochen noch warst du blind und taub, und jetzt hast du bessere Sinne als ich?“

„An dem Zustand meiner Sinne hat sich nichts geändert.“, versicherte er.

„Woher wusstest du dann von dem Beobachter auf dem Dach? Oder von dem...“

„Ich wusste es einfach und ich hab keine Ahnung, woher.“, unterbrach er sie heftig und atmete tief durch. „Von einem Moment auf den anderen war mir die Existenz des Boten bewusst, ebenso die Positionen der Agenten.“

Zweifelnd starrte sie ihn an und zwang sich dann ruhiger zu werden. Wieder Herr über ihre Gefühle werdend wandte sie sich ab.

„Ist das schon mal vorgekommen?“

„Nein. Heute war es das erste Mal.“

„Nicht zu fassen.“, lachte Merle trocken. „Du erinnerst mich an Hitomi.“

„Hoffentlich werde ich diesem Vergleich gerecht.“, gab Allen ernst zurück. „Ihre Einsichten kamen stets zur richtigen Zeit.“

„Meistens jedenfalls.“, gab sie zu und fügte im Stillen hinzu, dass ihre beste Freundin durch ihren Blick in die Zukunft diese nur selten abgewendet hatte.

Eine schier endlose Zeit standen die beiden nahe beieinander und sagten kein Wort. Das geschäftige Treiben in der Halle drang kaum noch zu ihnen vor, nur ein lautes Ausatmen durchbrach gelegentlich die selbst gemachte Stille. Anstatt auf ihre Umgebung zu achten, gestattete Merle es sich Allen mit all ihren Sinnen außer den Augen zu erfassen. Auch wenn die beiden sich nicht berührten, wurde die Luft zwischen ihnen stetig wärmer. Eine dezente Spur seines Schweißes in der Luft verriet ihr, dass er nervös war. Mit einem tiefen Atemzug ließ sie sich seinen Duft auf der Zunge zergehen. Sie genoss durchaus die Eindrücke, die er auf die Nervenstränge ihrer Sinnesorganen hinterließ, doch seine vor Ungeduld schäumende Aura zerrte an ihrem Geist.

„Was ist los?“, fragte sie ihm ins Gesicht. Äußerlich blieb Allen die Ruhe selbst.

„Was soll los sein?“

„Allen.“, erwiderte Merle sanft. „Glaubst du wirklich, du kannst etwas vor mir verbergen?“

Einen Moment lang lag in seinem Blick etwas herausforderndes, als wolle er ihr sagen, er könne es ja versuchen. Dann aber schloss er für einen Augenblick seine Augen, was er ihrer Meinung nach sonst nie tat. Als er sie wieder geöffnet hatte, starrten sie ins Leere.

„Erinnerst du dich noch an die Schlacht gegen Zaibacher, bei der ich meinen Stützpunkt aufgeben musste?“

„Natürlich.“, antwortete sie und blickte selbst etwas wehmütig drein. „Als wäre es gestern gewesen.“

„Damals hatte ich keine Angst vor dem Kampf, obwohl uns eine Übermacht gegenüberstand.“, erzählte er. „Denn ich wusste, dass der Feind kommt, und ich konnte mich und die Festung darauf vorbereiten. Aber jetzt...“ Seufzend ließ er seinen Blick durch die majestätische Halle schweifen. „Jetzt weiß ich ebenfalls, dass eine Schlacht bevorsteht, aber ich kann nichts tun außer zu warten.“

„Du musst nicht hier sein.“, erwiderte Merle. „Geh in eine der Kasernen der Stadt und versetze sie in Alarmbereitschaft. Du kannst dir auch die Stadtpläne ansehen und leicht zu verteidigende Plätze aussuchen, wo sich die Bevölkerung zur Evakuierung sammeln kann. Mit dem König werde ich alleine fertig“

„Wahrscheinlich weißt du besser als ich, dass solche Pläne bereits existieren und die Soldaten mich nur auslachen würden.“, konterte er. „Wenn ich auch nur allein durch meine Anwesenheit deiner Stimme mehr Gewicht verleihen kann, ist es besser, ich bleibe hier.“

„Mach dich nicht verrückt!“, riet Merle. „Wir sind nur die Boten, schon vergessen? Es mag zwar hartherzig klingen, aber wir sind für die Leben in dieser Stadt nicht verantwortlich, sondern andere. Wir können sie nur warnen und unsere Unterstützung anbieten.“

„Glaubst du das wirklich?“

„Ja, aber ich weiß auch, dass du mir nicht zustimmst. Sonst hättest du Van nie Asyl gewährt und nie versucht Fraid zu verteidigen, obwohl Aston es dir verbot.“

„Glaubst du etwa, es war falsch?“, erkundigte Allen verdutzt.

„Bitte versteh mich richtig. Ich bin dir sehr dankbar. Du hast uns gerettet. Ohne dich wären Van und Hitomi den Zaibachern hoffnungslos ausgeliefert gewesen. Ich würde zusammen mit Flüchtlingen durch die Welt ziehen, wäre wahrscheinlich schon tot oder, noch schlimmer, würde leben ohne dich zu kennen.“, erklärte sich Merle. „Aber was bitte schön hatte Fraid von dem riskanten Einsatz deines Lebens und das deiner Mannschaft. Einen Guymelef und ein halbes Dutzend Männer, mehr nicht! Der König wusste bereits, dass seinem Land Krieg drohte und die Anzeichen dafür waren kaum zu übersehen. Er kam deswegen früher von einer Reise zurück. Zuletzt musste Cid uns sogar noch raus boxen. Du hättest nie kommen brauchen.“

„Seit wann bist du so abgebrüht?“, wunderte sich Allen.

„Seitdem ich auf eine harte Art und Weise lernen musste, was die Arbeit in einem Team wirklich bedeutet.“, antwortete Merle ernst. „Es bedeutet, dass man sich die Aufgaben teilt und sich darauf verlässt, dass andere sie gewissenhaft erledigen, während man selbst sich größte Mühe gibt um sich dem Vertrauen seiner Gefährten würdig zu erweisen.“

„Du vergleichst internationale Politik mit Teamarbeit?“, entgegnete er ungläubig, doch sie ließ sich nicht beirren.

„Ja, das tue ich. Ein König muss immer das Wohl der eigenen Bevölkerung im Blick haben und sich darauf verlassen können, dass der König des Nachbarlandes es ebenso hält. Wäre es nicht so, würde jeder von ihnen den Wald vor lauter Bäumen nicht erkennen.“

Allen konnte sich nicht zurückhalten und lachte so leise es ihm möglich war.

„Du überraschst mich, Merle!“, amüsierte er sich, während er versuchte wieder ernst zu werden. „Nach allem, was wir erlebt haben, hätte ich nie gedacht, dass du so naiv sein kannst.“

„Trotz meiner vielfältigen Talente bin und bleibe ich ein junges Mädchen.“, antwortete sie spitz. „Darum bin ich gespannt zu erfahren, was unser alter Herr Ritter zu dem Thema zu sagen hat.“

Autsch, dachte Allen und versuchte das Diplomatenlächeln aufzusetzen, welches er bei Milerna schon so oft gesehen hatte.

„Ich weiß es nicht, ehrlich! Etwas Zeit, um darüber nachzudenken, wäre nicht schlecht.“, behauptete er.

„Ha!“, platzte es aus Merle heraus. „Heißt das, du stimmst mir zu?“

„Wohl kaum, aber es könnte sein, dass ich meine Meinung auf Grund deiner ändern muss.“, verteidigte er sich. „Außerdem, wenn man dich so reden hört, könnte man meinen, du seist eine Bewunderin König Astons.“

„Wie kannst du...“, setzte Merle wütend an, doch Allen unterbrach sie.

„Als wir zusammen das erste Mal nach Astoria kamen, hat er mir genau die gleichen Argumente an den Kopf geschmettert. Und er war es auch, der seinen Enkel und dessen Volk opfern wollte, um sein eigenes zu retten.“ Deutlich sah Merle sein triumphierendes Lächeln, das er zu verstecken versuchte. „Folgt man dieser Argumentation, würde man den ganzen Wald abholzen, nur damit der eigene Baum mehr Licht, Wasser und Luft bekommt.“

Anerkennend schnalzte Merle mit der Zunge.

„Stimmt. Aber wenn man sich ganz alleine um den riesigen Wald kümmert, ist man hoffnungslos überfordert.“

„Keiner von uns hat recht. Können wir uns darauf einigen?“

„Nur wenn du mich zum Essen in deine Villa einlädst.“

„Sind deine Mahlzeiten so schlecht?“, erkundigte sich Allen scherzhaft und fing sich einen unauffälligen Ellbogenstoß in die Rippen ein. Er wollte gerade mit einer weiteren Bemerkung nach setzten, als er den königlichen Berater auf Merle zukommen sah.

„Botschafterin, seine Majestät Franziskus VI gewährt euch eine Audienz.“, verkündete dieser steif. „Bitte folgen sie mir!“

Merle bedankte sich und ließ sich aus der Empfangshalle führen. Überrascht stellte sie fest, dass sie nicht auf dem Weg zum Thronsaal waren. Ein Dutzend umrundete Ecken später fanden sie sich im privaten Bereich der Königsfamilie wieder. Zutiefst verwundert und misstrauisch betrat Merle den Raum, in den sie der Berater winkte und sie zurückließ. Es war ein großes Zimmer, mit einem riesigen Schreibtisch in der Mitte und Bücherregalen an den Wänden. Fenster gab es keine, stattdessen erleuchtete ein winziger Energiestein an der Decke den ganzen Raum. Von dem fast schon hypnotisierenden Licht fiel ihr Blick auf den gepolsterten Stuhl am anderen Ende des Tisches und die Person, die sich zum Gruß erhob. Sich wieder auf die örtliche Etikette besinnend sank Merle auf ihre Knie.

„Willkommen in Sarion, Botschafterin.“, begrüßte sie der König. „Hat euch die Stadt gefallen?“

„Sie ist sehr lebhaft.“, lobte Merle. „Und ihre Architektur ist einzigartig. Ich fühle mich geehrt, hier sein zu dürfen.“

„Ich hoffe, meine Leibgarde hat es euch nicht zu einfach gemacht.“, schmunzelte Franziskus. Wieder einmal wurden ihre Vorstellung über den Haufen geworfen. Nachdem, was Van und Sophia über ihn erzählt hatten, hätte Merle einen Eisblock als König erwartet. Selbst seine eigene Tochter sah nicht sehr oft das Lächeln, das momentan im Gegensatz zu dem durchgedrückten Rücken und der gespannten Körperhaltung stand. Selbst die grauen Ansätze in seinem hell braunen Haar schienen stramm zu stehen. Ihr gegenüber jedoch, einem fremden Katzenmädchen und simplen Abgesandten eines Nachbarstaates, verhielt er sich fast freundschaftlich. „Der Flugkontrolle zur Folge habt ihr als euren Nachnamen de Farnel angegeben. Was hat es damit auf sich?“

„König Van de Farnel hat mich als seine Schwester adoptiert.“, erklärte sie.

„Ach ja? Muss ich euch mit Euer Hoheit ansprechen?“

„Nein, euer Majestät.“

„Hat er eure Adoption auf dem Turnier bekannt gegeben?“

„Ja, euer Majestät.“

„Ich hätte doch hinfliegen sollen.“, ärgerte sich der König und wandte sich dann dem anderen Besucher zu. „Ritter Allen Shezar, auch ihr seid willkommen. Ehrlich gesagt war ich überrascht, als ich von eurer gemeinsamen Ankunft hörte. Darf man euch beiden gratulieren?“

Schlagartig stieg Merle Röte ins Gesicht, doch Allen blieb gewohnt gelassen.

„Ich fürchte, das wäre voreilig, euer Majestät.“, dementierte er. „Ich bin lediglich als Zeuge anwesend.“

„Bitte steht auf und nehmt Platz! Sonst habe ich die Stühle hier umsonst angeschafft.“, forderte Franziskus sie auf und setzte sich demonstrativ. Nachdem beide seiner Bitte nachgekommen waren, fragte er: „Was ist der Grund eures Besuches?“

Pläne schmieden

Merle langte unter ihr Botschaftergewand und holte die Mappe hervor, die Allen in Farnelia von Van erhalten hatte.

„Ich möchte euer Majestät versichern, dass alles, was ich euch jetzt erzähle, nach meinem besten Wissen und Gewissen der Wahrheit entspricht. Diese Dokumente enthalten streng geheime Information über eine Gruppe von Gewalt bereiten Individuen, deren einziges Ziel die völlige Vernichtung unserer Zivilisation und deren Bewohner ist. Enthalten sind genetische Profile bereits erlegter Mitglieder der Miliz, die wir die Gezeichneten nennen, sowie eine Einschätzung deren Fähigkeiten und Möglichkeiten im Kampf. Außerdem liegen Augenzeugenberichte bei und eine Zusammenfassung der bisher bekannten Aktivitäten der Gruppe.“, sprudelte es aus ihr heraus. Bewusst ließ sie aus, dass das eigentliche Ziel die Auflösung des Planeten war und die Menschen nur ein Mittel zum Zweck.

„Interessant. Wenn ich nicht genau über eure ehemalige Rolle im Königreich Farnelia Bescheid wüsste, Botschafterin, würde ich denken, ihr macht euch über mich lustig.“, erwiderte Franziskus ernst und nahm die Mappe entgegen. „Weswegen gebt ihr mir diese Informationen?“

„Ich habe eine Warnung erhalten, die besagt, dass der nächste Angriff auf Sarion zielt.“, antwortete Merle.

„Nun lasst euch doch nicht alles aus der Nase ziehen!“, beschwerte sich der König, während er lose Papierbögen blätterte. „Wer hat euch die Warnung zukommen lassen, ist die Quelle vertrauenswürdig und mit welchen Wortlaut hat sie euch gewarnt?“

„Die Quelle ist eure Tochter.“, berichtete sie, und fügte angesichts der geschockten und ungläubigen Miene Franziskus rasch hinzu: „Sie wurde auf dem Turnier von einem Gezeichneten überfallen und überwältigt...“

„Geht es ihr gut?“, unterbrach Franziskus und erntete dafür ein verständnisvolles Lächeln von Merle.

„Ja, sie ist unverletzt und hat sich schon vor meiner Abreise von dem Schock erholt.“, beruhigte sie ihn. „Der Gezeichnete gab ihr nur die Warnung und zog sich anschließend zurück.“

„Was genau hat er gesagt?“

„Das zu erklären ist etwas schwierig.“, zögerte Merle.

„Bitte versucht es!“

„Es gibt eine Art der Kommunikation, die weder Hilfsmittel noch irgendeine Form von Sprache bedarf, und nur wenige beherrschen. Dabei werden Gedanken als Träger der Informationen genutzt. Es gibt verschiedene Arten der Übertragung. Eurer Tochter hat der Gezeichnete die Gedanken über Hautkontakt weitergeben.“

„Und...sie hat sie wie wahrgenommen?“, hakte der König verwirrt nach.

„In Form von Bildern und Geräuschen. Es war in etwa so, als würde sie es sich selbst vorstellen, ohne darüber eine Kontrolle zu haben. Sie hat ein Szene gesehen, bei der eine ihr fremde Stadt von einer Armee seelenloser, menschlicher Körper überrannt wurde. Der Gezeichnete flüsterte ihr zu, dass das Gleiche mit Sarion passieren würde.“

„Und wie stellen sie diese Armee auf...Ah, hier steht es.“, äußerte sich Franziskus beim Stöbern. „Ein Virus, interessant.“

„Der Virus überträgt sich durch Körperflüssigkeiten. Wird ein Opfer von einer infizierten Person gebissen, verwandelt es sich ebenfalls.“, merkte sie an.

„Sie wollen also mein Volk gegen mein Volk einsetzten. Wollt ihr das damit sagen?“

„Es ist nur eine Vermutung.“, stellte Merle klar und gab sie schaudernd zu bedenken. „Den Angriff auf eine Herberge zum Beispiel haben sie mit bereits vorhandenen Kräften geführt.“

„Nein.“, wies der König den Einwand zurück. „Eine solche Truppenbewegung können meine Späher unmöglich übersehen. Außerdem legt der heutige Vorfall auf dem Marktplatz nahe, dass sie bereits in der Stadt sind. Wir müssen sie stoppen, bevor sie den Virus freisetzten. Gibt es eine Möglichkeit sie aufzuspüren? Ritter Shezar, ihr konntet es offenbar.“

„Es tut mir Leid, euch enttäuschen zu müssen, aber das Wissen über den Gezeichneten flog mir einfach so zu. Ich konnte es nicht kontrollieren.“, wandte Allen ein.

„Es flog euch zu?“

„Gedanken können auch bewusst in alle Richtungen ausgesendet werden. Es könnte sein, dass jemand ihn auf diese Weise auf den Boten aufmerksam gemacht hat.“, erklärte Merle und wandte sich an den Ritter. „Ich halte diesen Fall dennoch für unwahrscheinlich, da alle Umstehenden in der Lage wären zuzuhören, sofern sie den richtigen Sinn dafür besitzen. Daher hätte ich auch etwas mitbekommen müssen. Und ihr könnt mich noch immer nicht hören.“

„Das heißt, ihr wisst weder wie viele Gezeichnete sich in meiner Stadt befinden, noch wer sie sind.“, mischte sich der König ein. „Ritter Shezar, ihr wisst nicht, wer euch gewarnt hat und wie.“

„Ich kann sie spüren.“, offenbarte Merle. „Mit dem gleichen Sinn, mit dem ich auch Gedanken wahrnehmen kann.“

„Aber?“

„Der Gezeichnete auf dem Marktplatz hat mir gezeigt, wie unausgegoren mein Spürsinn ist. Ich konnte ihn zwar wahrnehmen, doch war alles, was ich von ihm hatte, eine Richtungsangabe. Die Entfernung hatte ich völlig falsch eingeschätzt.“

„Könnt ihr sie jetzt auch spüren?“

„Ich fühle ein halbes Dutzend Kontakte. Es könnten mehr sein, sofern sich mehrere an einem Ort befinden. Es könnten aber auch weniger Gezeichnete in der Stadt sein, da ich nicht weiß, wie weit sie entfernt sind.“

„Ihr wisst nicht, wie groß die Reichweite eures Sinnes ist.“, stellte Franziskus.

„Ich konnte es noch nie ausprobieren, euer Majestät.“, bestätigte Merle.

„Vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit.“, überlegte er laut. „Mein Ingenieure behaupten das Schiff, mit dem ihr gekommen seid, sei ein Produkt Zaibacher Technologie. Ist das wahr?“

„Ja, euer Majestät.“

„Kann es sich auch tarnen?“

„Ja.“

„Wäre es möglich, dass ihr mit dem getarnten Schiff über der Stadt kreist und ihr eure Position durchgebt, sobald ihr euch direkt über einem Versteck befindet? Ich schicke dann schwer gepanzerte Eingreiftruppen, die den entsprechenden Häuserblock sichern und die Bewohner in Ketten legen. Später könnt ich euch vom Nahen überzeugen, welcher der Gefangen ein Mitglied der Miliz ist.“

„Es wäre möglich, aber ihr werdet die Gezeichneten aufschrecken, sobald die Truppen anrücken. Sie werden ihre Pläne vorziehen und früher zuschlagen.“, wandte Merle ein.

„Ich werde die Ankünfte koordinieren und ihnen möglichst wenig Zeit dafür geben. Außerdem ist es besser, wir zwingen sie anzufangen, wenn sie noch nicht völlig vorbereitet sind, anstatt zu warten.“, erläuterte der König seine Strategie.

„Ich breche sofort auf. Allein!“, betonte Merle, während sie aufstand, mit einem Seitenblick auf Allen. „Sonst werden sie mich trotz der Tarnung aufspüren können.“ Der Ritter jedoch beachtete sie nicht und blickte stur geradeaus. „Allen, was ist los?“, fragte Merle besorgt. Es dauerte einen Augenblick, ehe reagierte. Schließlich sah er zu ihr auf. Sein verhärteter Gesichtsausdruck ließ sie frösteln.

„Es ist zu spät.“, sagte er nur.

Franziskus stutze und hakte nach: „Wofür ist es zu spät?“

Einer Panikattacke nahe rief Merle ihren Sinn für das Meer der Gedanken um sich herum an und sah ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt.

„Sie...die Gezeichneten schwärmen aus! Es sind jetzt schon ein Dutzend.“, sagte sie, wobei sich ihre Stimme überschlug. Der König reagierte sofort und drückte einen Schalter.

„Führt die Notfallpläne für einen Seuchenbefall der Stadt aus!“, befahl er laut und deutlich. „Alle Wachen und die Armee sollen sich an den Absperrungen beteiligen. Keinem Bewohner ist es erlaubt näher als zehn Schritte an die Barrikaden heranzutreten. “

„Ich habe verstanden, euer Majestät.“, versicherte eine männliche Stimme, bevor sie zögernd fragte: „Handelt es sich um eine Übung?“

„Nein!“, dementierte der König. „Im Notfall ist der Einsatz von tödlicher Gewalt erlaubt. Gefallene werden sofort verbrannt, Personen mit offenen Wunden kommen in Quarantäne! Bereitet alles für eine Evakuierung der Bevölkerung vor!“

Nachdem er seine Anweisungen durchgegeben hatte, ging Franziskus zu einem Regal, holte ein großes Buch hervor, öffnete es und offenbarte so einen Stadtplan von Sarion mit markierten Bereichen, von denen die meisten in den zentralem Marktplatz mündeten.

„Die Seuche in Farnelia gab uns einen Anlass unsere Katastrophenschutzpläne zu erneuern. Im Falle einer Seuche werden die Viertel so von einander isoliert, dass sie entweder Zugang zum großen Marktplatz haben oder über eine eigene Fläche verfügen, auf der ein Schiff mittlerer Größe landen kann. Von diesen Plätzen aus, die gerade frei gemacht werden, wird die Bevölkerung versorgt. Meine Männer beschlagnahmen gerade alle Waren und Schiffe. Nützliche Waren werden auf Träger und größere Schiffe geladen, die uns somit als mobile Lager dienen. Die restlichen Schiffe werden zum Warentransport oder im Falle einer Evakuierung als Rettungsbote eingesetzt.“

„Wollen sie die Stadt tatsächlich evakuieren?“, fragte Merle voller Bewunderung für diesen mutigen Schritt.

„Nicht, solange noch Gezeichnete da draußen sind.“, entschied Sophias Vater. „Die Männer werden hirnlose Monster erkennen können, sobald ich meine Rede gehalten habe, aber diese Gezeichneten werden das Chaos nutzen und gezielt versuchen auf die Schiffe zu kommen, sei es um zu fliehen oder noch mehr Schaden anzurichten. Ich brauche jemanden, der sie erledigt, bevor ich mein Volk aus dem Kriegsgebiet holen kann.“

Jetzt erhob sich auch Allen und tastete, verdeckt von der Tischfläche, nach Merles Hand.

„Ihr könnt auf uns zählen, euer Majestät.“, verkündete sie entschlossen, während sie Allens Griff erwiderte.

„Ich unterstelle euch fünf Kommandos mit je sieben Personen.“, informierte der König sie. „Eines wird mit euch auf euren Schiff fliegen, die anderen haben eigene Schiffe.“

„Vielen Dank für euer Vertrauen.“, entgegnete Merle. „Wir brechen jetzt auf!“

„Einen Moment noch.“, bat Franziskus. „Ich habe eine letzte Frage.“

„Fragt!“, platzte ihre Ungeduld aus sie raus.

„Meine Tochter konnte die Bilder sehen, die der Gezeichnete ihr übermittelt hat, richtig? Heißt das, dass sie ebenfalls Gedanken wahrnehmen kann?“

„Das heißt es nicht, da Hautkontakt zwischen den beiden bestand. Jedoch hat sie schon einmal bewiesen, dass sie es kann. Sie ist sehr talentiert. Manch andere sind selbst nach wochenlangen Training nicht soweit.“

„Habt ihr sie unterrichtet?“, fragte der König sie weiter aus.

„Nein. Seine Majestät König Van und ich wollte sie nicht in die Sache mit den Gezeichneten mit hineinziehen.“, erklärte sie.

„Edel, aber unnötig.“, mahnte Franziskus. „Ihr haltet ihr Wissen vor, mit dessen Hilfe sie sich besser verteidigen könnte. Bringt ihr alles bei, was ihr wisst!

„Ihr verlangt von mir, dass ich eurer Tochter Fähigkeiten des Drachenvolkes vermittle.“

„Waren es diese Kräfte, die eurem Bruder und meinen Truppen bei der Schlacht von Zaibach geholfen haben die Stellung zu halten und jetzt mein Volk retten könnten?“

„Ja, aber...“

„Wenn sich die Gezeichneten als so gefährlich herausstellen, wie eure Information es erkennen lassen, dann habt ihr mit den Geschehnissen dieser Tage genug Beweise, um die Allianz zu überzeugen. Tut mir also bitte den Gefallen und haltet diese Informationen nicht länger zurück!“

Niedergeschmettert schluckte Merle ihre Rechtfertigung herunter, dass sie selbst erst wenige Monate über die Gefahr Bescheid wusste. Stattdessen versicherte sie: „Ich schwöre, dass ich euren Anliegen nachkommen werde, und bitte um Erlaubnis in den Kampf ziehen zu dürfen.“

„Mögen die Drachen euch beschützen!“, wünschte der König mit Blick auf Farnelias Kultur.

Bereit zum Ausrücken

Trotz der ernsten Situation musste Merle schmunzeln. Während sie sich auf das Anlegen ihrer Weste konzentrierte, spürte sie am Rande ihres Bewusstseins Allens Gedankenwellen, die energisch, beinahe schon verzweifelt durch seine naturgegebene Barriere brachen.

Sie hatte für ihn eine Standardausrüstung der Leibwache des Königs von Farnelia, der sie vor nicht allzu langer Zeit als kommandierende Offizierin gedient hatte, mitgebracht, mit der er sich gerade abmühte. Ihre eigene passte ihr zum Glück noch wie angegossen, obwohl sie sich mitten im Wachstum befand. Allen und sie waren so überstürzt nach Chuzario aufgebrochen, dass er nie und nimmer Zeit für eine Anprobe gehabt hätte. Daher hatte Merle ihm eine Größe nach Augenmaß ausgesucht und eingepackt. Die schwarzen Overalls waren eng geschnitten und vor unterschwelliger Vorfreude hatte sie wohl in eine Ablage gegriffen, deren Inhalt eine Nummer zu klein für ihn waren. Natürlich unbewusst, wie sie beteuerte. Außerdem, so sagte sie sich, handelte es sich um ausgleichende Gerechtigkeit. Schließlich bekam er sie auch zu Gesicht. Manch anderer hatte für diesen Anblick schon mit seinem Leben gezahlt.

Ihr Anzug war jedoch das einzige, was seiner Garnitur entsprach. Während er die Scheide seines Schwertes an einen Gürtel um seine Hüfte band, überprüfte sie den Sitz ihrer zwei Dolche an ihren Oberschenkeln. Ihre Weste war im Gegensatz zu seiner nach hinten hin ebenfalls offen und verbarg zwei Wurfmessermagazine auf ihrem Rücken.

Ihr Ritter war bereit auszurücken. Die Nervosität, mit der er sich vor dem Treffen mit Chuzarios Herrscher hatte herumschlagen müssen, war entweder verflogen oder wurde durch eiskalte Entschlossenheit verdrängt.

„Männer.“, seufzte Merle und versuchte, es ihm gleich zu tun. Von ihrem Spürsinn hingen nicht gerade wenige Leben hab, eigentlich sehr viele, doch so richtig klar geworden war ihr das erst beim Umziehen. Eine Erkenntnis, auf die sie gerne verzichtet hätte.

Gleichzeitig traten sie aus ihren nebeneinander liegenden Zimmern und musterten sich gegenseitig. Wie sie es ihm geraten hatte, hatte Allen seine langen, goldenen Haare zu einem einfachen Zopf zusammengebunden. Merles Bild von seinem Körper, das sie sorgfältig in ihrem Kopf bewahrte, seitdem er ihr an einem Fluss im Wald zwischen Farnelia und Astoria sein letztes Hemd überlassen hatte, wurde nun fast vollständig ergänzt.

Inständig hoffte sie, dass Allen gefiel, was er sah, doch sie hatte ihre Zweifel. Ihre ausgeprägten Muskeln und relativ breiten Schultern entsprachen kaum dem Schönheitsideal einer Frau. Daher war das Lächeln, das sie ihm schenkte, etwas schüchtern.

„Komm!“, forderte sie ihn plötzlich ernst auf und gemeinsam liefen sie zu den Docks für die Schiffe der Staatsgäste, die an den Palast grenzten. Als sie ankamen, sahen sie vor dem Schiff, das Merle während des Fluges von Farnelia nach Chuzario spontan Rasender Falke benannt hatte, fünf Gruppen schwarzgrau gekleideter Männer stehen. Ihre Bewaffnung und Rüstungen erinnerten Merle an die Ausrüstung, mit der Van ausgezogen war, um einen Drachen zu erlegen. Jeder von ihnen trug einen leichten Brustpanzer, ein auffächerbares Schild oberhalb eines Handgelenkes, ein Schwert am Gürtel und eine geladene Armbrust auf dem Rücken. Diszipliniert warteten sechs Männer in jeder Gruppe in einer Linie hinter ihrem Anführer.

„Die Armbrüste könnten uns so manchen Nahkampf gegen die Gezeichneten ersparen.“, meinte Allen, als er die ihnen zur Verfügung stehende Truppen betrachtete.

„Wenn ich sie abdrücke, vielleicht.“, erwiderte Merle und rannte ihrem Schiff entgegen. Schultern strafften sich, als anhielt und den Teamleitern in die Augen sah. „Ich bin Merle de Farnel und sie stehen für eine ungewisse Zeit unter meinem Kommando. Was wissen über unseren Auftrag?“

„Euer Hoheit.“, antwortete der Kommandant der mittleren Gruppe. „Wir sind von seiner Majestät Franziskus über einen Angriff weniger, gefährlicher Individuen informiert worden.“

„Man nennt sie Gezeichnete.“, legte Merle fest. „Sie benutzen die Menschen dieser Stadt als Schild. Wer auch immer von ihnen in Besitz genommen wurde, ist nach derzeitigen Erkenntnisstand verloren und sollte von seinem Leiden erlöst werden. Wer von ihnen sich dazu nicht in der Lage sieht, den Opfern diesen Gefallen zu tun, sollte jetzt gehen!“ Dass niemand aus den Reihen trat, beruhigte Merle nicht wirklich. Die Männer wussten nicht, auf welchen Horror sie sich einließen. Noch wusste es niemand, nicht einmal sie selbst. Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: „Wer verletzt wird, scheidet aus dem Dienst aus und begibt sich selbstständig zu einer Quarantänestation. Keine noch so kleine, aber offene Wunde wird geduldet. Wenn nach einer halben Stunde keine Veränderung eintritt, haben sie Glück und sollten es genießen, indem sie zu ihren Familien zurückkehren und sie beschützen. Das ist ein Befehl!“

Angesichts der ungeheuren Treue der Männer gegenüber König und Krone fand Merle es nötig dies zu betonen.

„Das Team auf meinem Schiff wird dem stellvertretendem Kommandanten Allen Shezar und mir den Rücken freihalten, während die anderen Gruppen unsere Flanken decken. Genauere Anweisungen bekommen sie vor Ort. Noch wissen wir weder, wie viele wir töten müssen, noch wo sie sich befinden, aber jeder Gezeichneter wird es wissen, wenn wir kommen. Uns wird eine Übermacht gegenüberstehen, also bleiben und kämpfen sie zusammen. Das letzte, was ich brauche, sind Helden. Diesen Job übernehme ich!“, verkündete sie und hielt vergeblich nach einem Schmunzeln Ausschau. „Ich weiß, sie haben Fragen, doch für diese bleibt leider keine Zeit. Gehen sie auf ihre Schiffe!“

Schnell und geordnet liefen die Männer auf andere Liegeplätze zu. Merles eigene Gruppe ließ ihr den Vortritt beim Betreten des Falken. Kurz bevor sie die Brücke betrat, drehte sie sich zu dem Kommandanten um, der ihr direkt hinter Allen folgte.

„Die Männer sollen in die Kabinen gehen und sich anschnallen. Die Gurte finden sie unter den Matratzen.“

„Jawohl, Hoheit!“, bestätigte er. „Eine Liste mit den Rufnamen finden sie auf dem Sitz des Kopiloten.“

„Verstanden.“, sagte sie und zog sich mit Allen auf die enge Brücke zurück. Sofort setzte sie sich auf seinem Platz und reichte ihm die Liste.

„Ich brauche fünf Minuten für die Startvorbereitungen. Lern solange die Rufnamen der wichtigsten Einheiten auswendig!“

„Klar.“, versicherte er und nachdem er sich mit der Liste vertraut gemacht hatte, las er sich ausgewählte Namen mitsamt der Funkfrequenzen laut vor. Merles Hände flogen derweil über die Bedienelemente vor ihr. Schließlich wechselte sie den Sitz und ließ ihre Gliedmaßen in die Steuerung des Schiffes gleiten. Nachdem sie die Freigabe von der Abflugkontrolle erhalten hatte, ließ sie die Triebwerke sich warmlaufen.

„Wohin als erstes?“

„Ich hab keine Ahnung. Bis jetzt kamen keine weiteren Einsi...“

Vom Schrecken gelähmt beobachtete Merle, wie Allen auf seine Knie fiel und ohne Widerstand auf Boden aufzuschlagen drohte. Gerade rechtzeitig fing sie sich und stützte ihn ab.

„Was ist los?“, rief sie besorgt.

„Ich weiß nicht. Mir wurde plötzlich schwarz vor Augen.“, sagte er gepresst und hielt geschockt inne. Mit leerem Blick starrte er auf seine Hand. „Ich sehe nichts mehr!“

Merles Verstand arbeitete auf Hochtouren.

„So kann ich dich nicht mitnehmen!“, entschied sie und legte ihn vorsichtig flach auf den Boden. Dann sprang sie in ihren Sitz. Gerade, als sie das Funkgerät aktivieren wollte, hielt seine Stimme sie zurück.

„Warte! Ich sehe Farben. Eine Karte.“, erzählte er verwirrt. „Ein Stadtplan von Sarion, übermalt mit verschieden Farben.“

„Was für Farben?“

„Der größte Teil der Fläche ist blau. Über die Stadt verteilt, erkenne ich rote Punkte. Es sind insgesamt...vierzehn. Sie sind in Bewegung und es breitet sich zusehends ein kräftiger werdendes Orange von ihnen aus.“

„Die Seuchenherde und ihre Erzeuger!“, schlussfolgerte Merle und fluchte. „Können wir dieser Karte trauen?“

„Ich weiß es nicht.“, resignierte Allen. „Ich weiß ja nicht einmal, was mit mir passiert.“

Wenn einmal nicht etwas unter seiner Kontrolle ist..., dachte Merle und beugte sich zu ihm hinab.

„Sobald wir wieder etwas Zeit haben, werde ich Hitomi fragen.“, beruhigte sie ihn. „Ich bring dich jetzt zu deinem Platz.“

„Ist sie nicht mehr beim Volk des Drachengottes?“, erkundigte er sich, während sie ihn aufrichtete.

„Doch, aber...Ich erkläre es dir später.“ Vorsichtig setzte sie ihn ab.

„Rasender Falke, hier spricht Adler Eins in Übereinstimmung mit Adler Zwei. Bitte kommen.“, schallte es auf der Brücke. Merle schaute Allen fragend an, ehe es ihr in den Sinn kam, dass er sie nicht sehen konnte.

„Du solltest besser antworten.“, riet er. „Das sind die Transportschiffe unserer Untergebenen.“

Flink hechtete Merle auf ihre Station und antwortete:„Hier ist der Rasende Falke. Wir hören.“

„Adler Eins und Zwei sind startbereit. Erbitten Anweisungen.“

„Allen, wo ist der nächste Gezeichnete?“

„Zwei Kilometer südlich der Palastmauer in einem Häuserblock.“, informierte er sie.

„Geht es nicht genauer?“

„Wenn du eine Stadtkarte für Blinde dabei hast.“

Mit den Augen rollend machte sie eine Hand frei, langte zu ihm hinüber und vergrub ihre Fingerkuppen unter seinen Handschuh. Eigentlich wollte sie seine Eindrücke in sich aufnehmen, doch sein Verstand brachte ihr überraschend starken Widerstand entgegen.

„Ich will nur sehen, was du siehst.“, versprach Merle. Ihre Stimme war einfühlsam und frei von dem Schmerz, den sie gerade empfand. Entweder vertraute er ihr nicht oder er hatte sie nicht erkannt. Beide Möglichkeiten empfand sie als Rückschlag. „Lass mich bitte rein!“

Allen atmete tief durch. Einen Augenblick später hatte sie freie Sicht. Sie prägte sich die Stelle ein, die er gemeint hatte, und zog ihren Geist und ihre Hand zurück. Dann schaute sie auf die Karte, die neben seinem Sitz lag.

„Adler Eins, fliegen sie folgende Koordinaten an...“

Blutbad

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Bericht eines Augenzeugen

Ich möchte euch von jenem Tag erzählen, an dem Sarion fiel, die mächtige Hauptstadt Chuzarios.

Wer ich bin?

Das ist nicht wichtig. Mein Schicksal ist das von Tausenden. Angefangen hatte es mit Plakaten, die eine Quarantäne über der gesamten Stadt verkündeten. Die Armee hatte diese eilig über all in den Straßen ausgehängt, daher wurde man schnell auf sie aufmerksam. Ich möchte in meiner Geschichte jedoch etwas später einsetzten, da ich mit dem Gedränge in Läden, das dann und wann in Schlägereien und Massen-Ringen ausartete, wohl kaum eure Aufmerksamkeit erringen könnte...
 

Das Gewicht der Tasche drückte den Lederriemen schmerzhaft in meine Schulter, während ich mich mit gefühlten fünfzig Kilo an Lebensmitteln nach Hause schleppte. Um mich herum herrschte geschäftiges Treiben. Leute, meist Frauen, liefen eilig umher und verstopften die Eingänge aller Geschäfte, die irgendeine Art von Nahrung verkauften. Was sollte man angesichts der Quarantäne auch anderes machen.

Geduldig lief ich die Nummern an den Türen der Reihenhäuser ab, bis ich die fand, nach der ich suchte. Erleichtert trat ich in den Hausflur. Einmal mehr war ich dafür dankbar im Erdgeschoss zu leben statt im fünften Stock, auch wenn hier der Lärm von der Straße lauter war als oben und ich dank der Laternen jede Nacht die Fensterläden schließen musste.

Ich hatte kaum die Wohnungstür geschlossen, da wurde ich auch schon stürmisch von meiner Schwester begrüßt. Erleichtert schloss ich sie in meine Arme. Wieder einmal bewunderte ich ihr kastanienbraunes, seidenweiches Haar, auf das ich von oben einen wunderbaren Ausblick hatte. Ich versicherte ihr, dass alles in Ordnung sei. Sie war ein aufgewecktes Kind, nicht einmal fünf Jahre alt und doch merkte sie sofort, wenn etwas nicht stimmte.

Ein Stuhl stand direkt vor einem der Fenster. Zweifellos hatte sie von dort aus die Menschen auf der Straße beobachtet. Eigentlich hätte ich sie nicht alleine lassen dürfen, doch jeder, dem ich sie hätte anvertrauen können, war ebenfalls unterwegs. Auf den Plakaten stand zwar, dass alles unter Kontrolle sei, doch die eigene Bevölkerung Sarions sorgte für das Gegenteil. Zweifellos ärgerte sich gerade mein Vater, der Mitglied der Armee war und sich gerade im Einsatz befand, über die hoffentlich unbegründete Panik unter den Leuten. Wenn doch nur meine Mutter noch am Leben wäre! Sie hätte einkaufen gehen können, während ich auf Emily aufgepasst hätte. Doch sie war bei der Geburt meiner Schwester gestorben und ich hatte mit zwölf lernen müssen einen Haushalt zu führen. Unterstützt worden war ich nur von einer alten Dame nebenan, die inzwischen tot war.

Ich drückte Emily noch einmal fest an mich, ehe ich sie sanft von mir weg schob und sie fragte, ob sie mir beim Auspacken helfen wolle. Begeistert antwortete sie mit Ja und wir gingen zusammen die paar Schritte zur Vorratskammer. Nachdem ich den Beutel von meiner Schulter geholt und ihn geöffnet hatte, langte sie hinein und drückte mir das erste Glas in die Hand. Ich nahm es lächelnd entgegen und stellte es zielsicher in eines der Regale. Schnell entwickelte sich ein kleiner Wettbewerb zwischen uns und Emily grinste jedes mal über das ganze Gesicht, wenn sie etwas schneller aus dem Beutel holte, als ich einräumen konnte. Sie wusste, je mehr sie sich freuen konnte, um so mehr konnte sie später naschen.

Nach getaner Arbeit rannte sie vergnügt zurück in das Wohnzimmer, das auch gleichzeitig unsere Schlafstube und das Esszimmer war. Mein Vater war Offizier, daher konnte er sich ein eigenes Schlafzimmer, eine Küche und ein Bad leisten und wir mussten die Wohnung nicht mit anderen Familien teilen.

Plötzlich erstarrte Emily und ihre gute Laune verflog. Zweifellos hatte draußen etwas ihre Aufmerksamkeit erregt. Ich fragte, was los sei und sie antwortete mir mit weinerlicher Stimme, dass sie Angst hätte, aber nicht wüsste, wieso. Schon immer hatte sie diese seltsamen Stimmungseinbrüche, sodass ich mich längst daran gewöhnt hatte, doch heute schien es schlimmer als sonst zu sein. Mühsam hob ich sie hoch, ging zu meinem Bett und setzte sie dort auf meinen Schoß. Ich tröstete sie, ermutigte sie dazu, alles raus zu lassen, woraufhin sie ihre Tränen nicht mehr zurückhielt und sich an meiner Kleidung festhielt. Sie war ein starkes Mädchen und wollte auch als solches gelten, doch aus Erfahrung wusste ich, dass sie nach einen Anfall erst wieder lachen konnte, nachdem sie sich ausgeweint hatte. Schließlich floss die letzte Träne und ihr Griff wurde schwächer. Behutsam löste ich meine Umarmung ein bisschen.

Ein Blick nach draußen auf den kleinen Streifen Himmel, der über dem Dach des gegenüber liegenden Hauses zu erkennen war, sagte mir, dass es bald dunkel werden würde. Ich erkundigte mich bei ihr, ob sie Hunger hätte, was sie mit einem Nicken bestätigte. Ein gutes Zeichen, fand ich und setzte sie auf das Bett. Emily packte die Decke und kuschelte sich in ihr hinein. So wie es aussah, war ihr Anfall noch immer nicht vorbei, was mir große Sorgen bereitete. Verstärkte der Trubel auf den Straßen ihre Angst? Mit dem Entschluss, es dieses Mal mit einer reichhaltigen Mahlzeit zu versuchen, betrat ich die Küche und hängte mir eine Schürze um. Frisch ans Werk, dachte ich mir und begann das Brot klein zu schneiden.

Ich war erst bei der vierten Scheibe, als Emilys Schrei mir einen tiefen Schrecken versetzte. Sofort stürzte ich mich auf mein Bett. Sie lag zusammengerollt mit dem Gesicht auf der Decke und schluchzte. Wieder fragte ich nach ihrem Befinden, doch sie schien mich nicht einmal wahrzunehmen. Vorsichtig drehte ich sie an der Schulter auf ihren Rücken. Meine Hoffnung, dass sie sich beruhigen würde, wenn sie mich sah, löste sich in Nichts auf, als ich ihre Augen betrachtete. Sie starrten leer und von einem Wasserfilm bedeckt durch mich hindurch.

Leise klagte Emily über Schmerzen, doch als ich fragte, wo es ihr weh tat, antworte sie nicht. Stattdessen weinte sie, bat ängstlich darum in Ruhe gelassen zu werden. Daraufhin ließ ich von ihr ab und überlegte, was ich tun konnte.

Erst jetzt bemerkte ich den Lärm auf der Straße. Ich spähte nach draußen und sah eine Menschenmenge in Panik, die zu flüchten schien. Hastig ging ich vor die Haustür und beobachtete verwirrt die Leute, die alle in einer Richtung davonliefen. Ein Gesicht kam mir bekannt vor. Es war die freundliche Verkäuferin aus dem Gemüseladen. Todesmutig trat ich an den Rand der reißenden Masse und packte sie an ihrem Ellenbogen. Auf meine Frage was los sei, antworte sie mit einem Schwall aus Worten, von denen ich nur die Hälfte verstand.

Eine Gruppe Bürger fielen angeblich über andere unbescholtene her. Die sonst so gefasste Frau berichtete verstört, dass eine ganze Wand von diesen Schlägern sich schnell nährte. Jeder, der in ihre Reichweite käme, würde von dieser verschluckt werden und bliebe reglos liegen. Sie sagte, wir müssten schleunigst verschwinden, und versuchte mich mit ihr zu zehren, doch ich wehrte mich. Ich erinnerte sie daran, dass Emily noch in der Wohnung war und ich sie holen musste, woraufhin sie in der Menge verschwand.

So schnell ich konnte, kehrte ich zu meiner kleinen Schwester zurück. Dass Bürger panisch auf die Quarantäne reagierten, war abzusehen gewesen, doch mit einer organisierten Bande von Plünderern, die nur ihr eigenes Leben im Sinn hatten, hatte wohl niemand gerechnet.

Natürlich wollte ich nicht warten, bis die Armee eintraf um für Ordnung zu sorgen. Eilig warf ich mir meinen Mantel über und presste die noch immer wimmernde Emily an meine Brust. So schnell ich mit ihr in meinen Armen laufen konnte, verließ ich das Haus und rannte mitten in eine Ansammlung vor Wahnsinn kichernder Münder und gierigen Augen. Menschen, von denen ich sogar jemanden kannte, rissen mich zu Boden. Die größte Wucht des Aufpralls fing ich mit einem Arm ab, während ich mit dem anderen verzweifelt meine Schwester festhielt. Ich legte meinen Körper über ihr wie ein Schild, während meine Kleidung in Fetzen gerissen wurde und spitze Eckzähne und Fingernägel durch meine Haut drangen. Plötzlich wurde alles in meinem Kopf schummrig und ich konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Mit dem kleinen Rest Bewusstsein, was mir blieb, hinderte ich Emily mit ganzer Kraft daran, den schützenden Kokon zu verlassen und Opfer der nach ihr greifenden Händen zu werden. Ganz plötzlich hörte der Ansturm auf...
 

Keuchend stand Merle in einer riesigen Markthalle einem Gezeichneten gegenüber. Bewaffnet mit ihren zwei elegant geschwungenen Dolchen musterte sie ihren Gegner, während drei Kommandoeinheiten ihr den Rücken deckten und die Halle von den Dienern säuberte. Zu ihm vorzustoßen war bisher die größte Herausforderung gewesen, seitdem die Kämpfe um Sarion begonnen hatten. Im Unterschied zu ihren vorigen fünf Opfern hatte dieser Gezeichnete nicht nur Zeit genug gehabt, seine Position zu sichern, er hatte diese auch genutzt. Massen seiner Diener rannten gegen den Ring an, den die Armee um die von ihm kontrollierten Straßen gelegt hatte.

Kein Wunder, dachte Merle und musterte sein reich verziertes Schwert. Der Gezeichnete musste in seinem Leben als Mensch mal ein hochrangiger Offizier gewesen sein. Ein schwerer Kampf stand ihr bevor. Die Gezeichneten, die sie bisher getötet hatte, waren leichte Beute gewesen, da sie nur wenig Ausbildung in den Kampfkünsten erhalten hatten, wenn überhaupt.

Mit eisiger Entschlossenheit kam ihr Gegner auf sie zu. Sein erster Schlag zielte nicht auf sie, sondern auf ihre bewaffneten Hände. Sie brachte seiner seitwärts geführten Klinge mit einem Dolch Widerstand entgegen, während der andere die sich zwangsläufig ergebende Lücke in der Verteidigung des Gezeichneten suchte. Mit einem Schritt zur Seite brachte er sich für einen Moment außerhalb der Reichweite ihrer Klingen, nur um nochmals anzugreifen. Er führte einen mächtigen Hieb gegen ihren Kopf, den sie mit beiden Dolchen über Kreuz parierte.

Zähneknirschend hielt Merle dem Druck auf ihre Arme stand, bis der Gegner plötzlich seine Klinge löste und herumwirbelte. Dort, wo er noch eben gestanden hatte, zischte ein Bolzen auf sie zu. Aus reinem Instinkt ließ sie sich auf ihren Rücken fallen und das Geschoss sauste über sie hinweg. Der Gezeichnete packte die Gelegenheit beim Schopf und stieß seine Klinge auf ihre Brust zu. Eine Drehung im rechten Winkel brachte Merle knapp in Sicherheit und die Klinge drang neben ihr in den Steinboden ein. Ihre Hand, die ihrem Gegner am nächsten war, rammte sie einen Dolche in dessen Schwertarm, an dem sie sich hochzog und ihn dann mit der verbleibenden Klingen durch einen gezielten Stich in den Hals niederstreckte. Wie schon so oft an diesem Tag ergoss sich Blut über ihren schwarzen Kampfanzug.

So gut sie konnte wrang Merle angeekelt ihre Kleidung aus. Dann schaute sie sich um. Die Einheit, die direkt für Sicherheit verantwortlich war, hielt um sie herum Wache, während die restlichen Männer die herrenlosen, und somit verwirrten, menschlichen Diener töteten.

„Wer hat den Bolzen abgeschossen?“, fragte sie mit harter und gebrochener Stimme. Einer der Männer, der deutlich jünger war als seine Kameraden, verließ seine Position, die ein anderer daraufhin mit übernahm, und kniete vor ihr nieder.

„Ich tat es, euer Hoheit.“, gestand er mit angespannter Stimme. Merle ahnte, dass er dafür bereits von seinem Vorgesetzten gerügt worden war.

„Dass ihr einen Fehler begangen habt, brauche ich euch nicht sagen.“, mahnte sie ihn streng, lächelte dann aber anerkennend. „Habt Dank für den Fehler. Er hat mir das Leben gerettet.“ Innerlich grinsend sank sie auf ihre Knie und küsste den jungen Mann auf seine Stirn. Während sie an ihm vorbei trat, klopfte sie ihn außerdem auf seine Schulter, die er ihr samt seinem Nacken angeboten hatte. „Wie hoch sind unsere Verluste?“

„Zwei Soldaten sind tot, ein Kommandeur hat sich geschnitten. Er ist nach eigenen Angaben auf dem Weg zum Verteidigungsring.“, meldete einer der Offiziere.

„Wir ziehen ab!“, befahl Merle. „Die Besatzung des Ringes soll hier aufräumen.“
 

Verbissen kämpfte ich gegen den Nebel, der sich über meine Gedanken legte. Emily hatte unter mir gedroht zu ersticken, daher hatte ich sie heraus gelassen. Die Schläger waren scheinbar keine Gefahr mehr. Nur ein paar mal erkannte ich einen durch die trübe Suppe vor meinen Augen, wie er verloren umher wanderte. Als wären sie Geister.

Besorgt wachte Emily an meiner Seite und ich war überglücklich über ihren Beistand. Ihre vertraute Stimme und ihre kleine Hand, die zwar unbeholfen, dennoch zärtlich durch mein Haar strich, hielten mich bei Bewusstsein. Sie redete mir, wie ich es tat, wenn sie Angst hatte, doch genauso wie sie war ich zur keiner Antwort fähig.

Doch von einem Moment auf den anderen war ihre Hand weg und ihre Stimme verstummte. Stattdessen sah einen Stiefel kurz vor meinen Augen auftauchen. Ich hörte, wie jemand sagte, dass es ihm Leid tat. Ich erkannte die Stimme meines Vaters. Ehe ich raten konnte, was ihm Kopfzerbrechen bereitete, spürte ich einen scharfen Schmerz im Hals und dann nichts mehr.

Abbruch der Jagd

Ihre Knie waren schon kurz davor gewesen nachzugeben, als Merle erschöpft in den Pilotensitz des Rasenden Falken sank und stöhnend den Kopf zurück lehnte. Aus den Augenwinkeln erkannte sie auf dem zweiten Sitz der Brücke Allen, wie er besorgt in ihre Richtung blickte. Doch sie wusste, dass er sie nicht sehen konnte. Er hatte sie lediglich gehört. Seine Blindheit war der Preis für das Wissen über die Bewegungen des Feindes, die auf einer Karte vor seinem inneren Auge ausmachen konnte. Wie er diese Fähigkeit erlangt hatte, war selbst ihm ein Rätsel. Auch Merle wusste es nicht, doch seine Berichte waren stets korrekt gewesen, was sie jedoch als wenig beruhigend empfand. Traue nie einer Information, deren Quelle du nicht einschätzen kannst. Dies war eine der obersten Regeln gewesen, als sie Van als Anführerin seiner Leibwache gedient hatte. Und sie trat diese gerade mit Füßen. Allen versuchte immer noch ihren Zustand einzuschätzen, mit allem was er wahrnehmen konnte. Fast schien es Merle, als könnte sie sehen, wie er die Ohren spitzte.

„Frag nicht!“, sagte sie ihm. Angesichts ihres Tonfalls entschied er ihrem Rat zu folgen. Auffordernd streckte er ihr seine Hand entgegen, damit Merle sie ergreifen und durch den Hautkontakt in seinen Geist eintauchen konnte, um die Karte zu lesen. Bevor sie sich durchringen konnte seine Hand zu fassen, knackte das Funkgerät und eine Stimme verlangte nach ihr. Seufzend bestätigte sie ihre Anwesenheit.

„Seine Majestät bittet sie darum ihre Jagd einzustellen und stattdessen die Evakuierung am großen Marktplatz zu sichern.“, sagte der alt klingende Offizier, woraufhin ein Adrenalinschub Merle aufschreckte.

„Wir haben erst acht Gezeichnete erwischt. Sie gefährden die Flüchtlinge, wenn sie jetzt evakuieren.“, protestierte sie.

„Mit allem Respekt, euer Hoheit, es wird bald keine Flüchtlinge mehr geben, wenn wir jetzt nicht evakuieren. Die Verteidigungsringe um die verbleibenden Seuchenherde sind durchbrochen worden und der Ansturm der Bevölkerung auf die Barrikaden wird immer heftiger. Außerdem wird die Evakuierung, selbst wenn sie gut läuft, Tage in Anspruch nehmen und wir haben schon jetzt keine Zeit mehr.“

„Verstanden.“, resignierte Merle. „Ich melde mich am großen Marktplatz. Rasender Falke Ende.“ Verzweifelt schloss Merle die Augen auf der Suche nach einem Funken Hoffnung.

„Er hat Recht.“, sprach Allen sie sanft an. „Sie verlieren die Kontrolle.“

„Mag sein.“, meinte sie und ließ dann das Schiff abheben. „Das macht es aber nicht einfacher.“ Neben sich hörte sie Allen scharf einatmen. Einen Blick riskierend beobachte sie ihn seine Handflächen anstarren.

„Ich kann wieder sehen!“, verkündete er erstaunt.

„Die Karte?“, erkundigte sich Merle.

„Sie ist weg.“

„Macht nichts. Wir können sie eh nicht mehr gebrauchen.“

Obwohl es nach Mitternacht war, hielten sich mehr Menschen auf dem Marktplatz, als am vergangen Tag zur besten Stunde, als Merle diesen Platz besucht hatte. Dicht an dicht drängten sich Familien mit allem was tragen konnten. Die Sicherheitskräfte hatten alle Hände voll zu tun die Landeflächen für die Luftschiffe freizuhalten.

Nachdem sie das Schiff zielsicher aufgesetzt und Rampe am Heck herunter gelassen hatte, verließ sie das Schiff. Ihre Untergebenen aus den Luftschiffen Adler Eins und Zwei standen bereits aufgereiht bei dem Schiff. Die Gruppe, die mit dem Rasenden Falken flog, ordnete sich sofort in die Formation ein. Mit großem Respekt betrachtete Merle die neunzehn Männer, die von ihrem Kommando übrig geblieben waren.

„Unterstützen sie die vorhanden Kräfte bei der Sicherung des Platzes.“, wies Merle sie an. „Sobald sich ein Gezeichnete nähert, gebe ich ihren Vorgesetzten Bescheid. In diesem Fall lauten ihre Befehle wie gehabt mich von den Dienern abzuschirmen...“

„Verzeiht, euer Hoheit, aber ich muss widersprechen.“, meldete sich Allen förmlich zu Wort. Überrascht drehte sich die Prinzessin zu ihm herum.

„Wie bitte?“, flüsterte sie drohend.

„Ihr solltet zurück an Bord gehen und euch für einen sofortigen Start bereithalten. Ich werde die Männer anführen.“

„Spinnst du? Ich werde bestimmt nicht tatenlos herum sitzen, während...“

„Ihr könnt kaum noch stehen und wollt dennoch euer Leben auf Spiel setzten? Wenn ihr sterbt, wer soll dann das Schiff fliegen? Nur ihr seit dazu in der Lage.“, unterbrach er sie ein weiteres Mal. „Die Adler Eins und Zwei sind für ein schnelles Betreten und einem schnellen Start nicht so gut geeignet wie der Falke. Daher empfehle ich diese Schiffe ebenfalls zur Evakuierung ziviler Personen einzusetzen und dieses hier für unsere Einheit aufzuheben. Es wird eng, doch es wird gehen. So können wir ein paar Leben mehr retten.“

„Das ist nicht fair.“, flüsterte Merle zähneknirschend.

„Nichts im Leben ist fair.“, antwortete Allen aus tiefster Überzeugung, woraufhin sich auf ihren Gesicht ohnmächtige Wut und Verzweiflung spiegelten. An ihre Untergebenen gewandt, befahl das Katzenmädchen herrisch:

„Ritter Allen Shezar löst mich Oberbefehlshaber dieser Einheit ab. Sie werden seinen Befehlen folgen, als wären es meine, und sie werden sein Leben schützen, als wäre es meines!“ Die Männer bestätigten ihren Befehl lauthals, was Merle etwas Zuversicht schenkte. Als Allen an ihr vorbei zu der Einheit stoßen wollte, hielt sie ihn jedoch am Ellbogen fest. „Ich werde nicht ohne dich fliegen.“, versicherte sie ihm eindringlich. „Selbst wenn ich mein Leben und das der gesamten Einheit damit aufgebe! Wenn ich dir etwas bedeute, komm heil zurück!“

Allen nickte und riss sich los. Trotz seines stummen Versprechens überkam Merle das Gefühl eines schweren Verlustes und ihre Beine versagten nun endgültig den Dienst. Schluchzend sank sie auf die Rampe. Doch ehe sie in ihre Trauer versinken konnte, legte sich sanft ein Hand auf ihre Schulter und zog aus ihrem Tief heraus. Verwundert sah sie sich um. In ihrer Nähe stand niemand. Ihre Verwirrung hielt ein paar Momente an, bis die Stimme ihrer besten Freundin sie aufforderte aufzustehen und ihren Posten zu beziehen. Allens Leben hinge von ihrem Einsatz ab.

„Mit dir ist man nie allein. Nicht wahr, Hitomi?“, flüsterte sie und sprang erfüllt von neuem Mut auf ihre Füße. Mit großen Schritten hielt sie auf eine Flüchtlingsstrom zu, der in einem der Transportschiffe, einem großen Kasten, der einen schwebenden Felsen umgab, endete. Die Wachen, die die Flüchtlinge flankierten und anleiteten, salutierten vor ihr. Scheinbar funktionierte die Gerüchteküche der Armee.

„Ich brauche zwei junge und kräftige Männer, die ihr Leben dafür hingeben würden, einmal an der Seite von Allen Shezar zu kämpfen.“, rief sie so laut sie konnte. Die Schlange geriet ins Stocken und ungläubige Blicke wurden ausgetauscht. In der Menge fielen Merle zwei Jugendliche auf, die kaum älter waren als sie selbst. Doch sie waren groß und stark, was angesichts ihres Vaters sowohl an der Familie lag, als auch an ihren Beruf. Sie trugen noch immer die schweren Schürzen von Metallarbeitern. Ihr Blick war unsicher, aber in ihren Augen blitzte auch Abenteuerlust auf.

„Begleitet diese Familie aus der Schlange heraus und bringt sie zu mir!“, befahl Merle den Wachen, die den Befehl etwas überstürzt ausführte. Zum Glück wehrte sich weder der Vater noch die Brüder. Die Mutter folgte den Anweisungen erst, als der Vater sie sachte schob. Ein Mädchen, das nicht einmal zehn Jahre alt war, klammerte sich an ihr Kleid. Respektvoll vollführte Merle einen Knicks, der auf Grund ihres eng anliegenden Kampfanzuges weniger elegant wirkte, als sie gehofft hatte.

„Es tut mir Leid, aber ich brauche die Dienste der jungen Herren.“, teilte sie der Familie mit. „Sie müssen augenblicklich mit mir kommen.“

„Was bildest du dir ein?“, schrie die Mutter, eine Frau mit gelockten Haar, das erste graue Strähnen zeigte. „Du kannst uns doch nicht einfach unsere Söhne nehmen.“

„Bitte beruhige dich!“, mahnte der Vater. „Du machst es nur noch schlimmer.“ Er war riesig, so groß wie ein Hüne. Trotz der Zwangslage bewahrte er scheinbar Ruhe, doch Merle konnte an den Bewegungen seiner Augen ablesen, dass er Angst vor den Wachen und ihren Waffen hatte.

„Die Hilfe der beiden könnten für das Leben anderer Söhne von Bedeutung sein.“, versuchte Merle die Eltern zu überzeugen.

„Das ist mir...“, erwiderte die Frau, doch einer ihrer Söhne platzte dazwischen:

„Ist das wahr, was sie über den Himmelsritter sagten? Braucht er unsere Hilfe?“

„Wie ich schon sagte, wird es eure Aufgabe sein Leben zu retten, unter anderen auch das von Allen Shezar.“, erklärte Merle.

„Ich will gehen!“, erklärte der junge Mann und sein Bruder schloss sich der Aussage an.

„Was soll ich sagen?“, resignierte der Vater, woraufhin seine Frau ihn erbost bei seinem vollen Namen nannte. „Was soll ich tun?“, verteidigte er sich. „Sie haben ihren eigenen Kopf und müssen ihre Erfahrungen selbst machen. Wie kann ich sie daran hindern?“ Er nickte ihnen zu. „Geht!“

Merle bedankte und verabschiedete sich meinem Knicks. Die Brüder umarmten nur zögernd ihre Familie, eher aus Verlegenheit als aus Sorge. Geduldig wartete Merle bis sie sich von ihren engsten Verwandten abgewandt hatten, dann liefen sie gemeinsam zum Rasenden Falken.

„Bitte verzeiht.“, sprach Merle die Geschwister am Fuß der Rampe an. „Ich habe noch gar nicht nach euren Namen gefragt.

„Ich bin Torren.“, sagte der ältere.

„Parn.“, stellte sich der andere vor.

„Parn, Torren, ich verlass mich auf euch. Bitte passt gut auf!“, forderte Merle und brachte sie zu einer Nische im Schiff, die sich neben der Rampe befand. An Haken hingen dort Helme und ein Gewirr aus Gurten. „Setzt die auf!“, befahl sie und gab ihnen jeweils einen Helm. Anschließend hielt sie jeden ein Geschirr unter die Nase. „Das sind Komplettgurte. Ich werde euch beim Anlegen helfen und euch dann mit einem Drahtseil sichern.“

„Wozu?“, fragte Torren erstaunt.

„Sollten wir nicht kämpfen?“, schloss sich Parn an.

Zur Antwort deutete Merle aus dem Schiff heraus auf den Marktrand.

„Allen Shezar schützt zusammen mit neunzehn weiteren Männern am Marktrand eure Mitbürger während der Evakuierung. Nicht mehr lange und es wird dort heiß hergehen, doch sie werden nicht weichen, bis so viele Menschen wie möglich ausgeflogen wurden. Wir sind ihre einzige Hoffnung hier wieder lebend rauszukommen. Ihr müsst den Eingang dieses Schiffes sichern und den Männern beim Einstieg helfen!“

„Aber wir werden nicht kämpfen.“, stellte Parn fest.

„Ihr werdet zweifellos in Gefahr sein! Sobald ich das Schiff bewege, wirken ungeheure Kräfte auf eure Körper. Deswegen haltet euch in diesem Fall irgendwo fest oder werft euch auf den Boden!“

„Wir werden nicht kämpfen!“, sagte er enttäuscht.

„Nein, ihr werdet nicht kämpfen.“, erwiderte Merle ruhig. „Aber um ein Held zu sein, ist es nicht nötig Gewalt anzuwenden. Leben kann man auf viele verschiedene Weisen retten.“ Sie drückte die Gurte gegen die Brustkörbe der Burschen. „Und falls es euch nur um die Aufregung geht, lasst mich euch versichern, dass ihr mehr als genug davon haben werdet. Aber jetzt müssen wir uns erst einmal vorbereiten und dann abwarten, bis die Stunde schlägt, in der wir gebraucht werden. Bisher hat jedes Abenteuer so angefangen.“

Das gebrochene Wort

Verbissen auf seine Konzentration bedacht, starrte Allen in die sich an ihn vorbei wälzende Menge. Ohne die Lampen wären die Straßen noch immer zappenduster, doch der Himmel hellte bereits auf. Die Nächte durcharbeiten musste er zuletzt in den Zaibacher Kriegen und jetzt spürte er die Auswirkungen von einem drei Jahre lang anhaltenden Frieden. Er war todmüde und das nicht einmal nach sechsunddreißig Stunden ohne Schlaf. Im Stillen nahm er sich vor, sich und seinen Untergebenen in Zukunft mehr doppelt und dreifach Schichten zu verordnen.

Die Front kam immer näher. Durch die Häuserschluchten, die zum Marktplatz führten, konnte man schwarzen Rauch erkennen. Die Armeeeinheiten, die den Vorstoß der Opfer der Gezeichneten aufhalten sollten, wehrten sich inzwischen mit allen Mitteln. Anfangs hatte es Schwierigkeiten mit der Durchführung der Befehle gegeben, doch Allen schätzte, dass jeder Soldat der Front, der Skrupel hatte seine Mitbürger zu töten, inzwischen nicht mehr am Leben war oder auf der Flucht. Noch waren die Kampfhandlungen nur ein fernes Grollen. Es wurde jedoch beständig lauter und die Menge wurde nervös. Rücksichtslos drängelten sie und stießen sich gegenseitig aus dem Weg. Mit immer größeren Nachdruck forderte sie Einlass in den abgesperrten Bereich. Weder die Wachen, noch die mobilen Mauern würden sie noch lange davon abhalten können. Besonders an den Toren spielten sich Dramen ab. Väter hielten ihre Kinder hoch, in der Hoffnung, dass man ihnen Vortritt ließe. Alte und Schwache gingen in der Menge zusehends unter. Ohren betäubender Lärm machte sich breit.

Zusammen mit dem Kommandanten der örtlichen Wache beobachtete Allen, wie die Leute an einem Eingang abgezählt wurden. Die Wache signalisierte ihnen, dass es gleich wieder so weit sein würde. Dann würden sie diesen Durchgang ein weiteres Mal sperren müssen, um den Start des gefüllten Luftschiffes und die anschließende Landung eines leeren sicherstellen zu können. Im Halbkreis stellte er sich zusammen mit einer Einheit der Kommandos, mit denen er diese Nacht gedient hatte, um das Tor auf. Der Rest diente an anderen Eingängen und Startfeldern. Falls jemand durchbrechen sollte, war es ihre Aufgabe denjenigen aufzuhalten, ganz egal wie. Tödliche Gewalt war schon im Vorfeld der Evakuierung vom König autorisiert worden.

Es war soweit. Während eine Wand aus Wachen den Flüchtlingsstrom abschnürte und stoppte, schoben andere die Torflügel zu. Diesmal ging alles verhältnismäßig reibungslos. Auf Seiten der Bürger gab es nur kosmetische Verletzungen zu beklagen und niemand hatte sich vorbei mogeln können. Erleichtert beobachtete Allen den Start des Schiffes. Es war erst ein paar Meter weit in der Luft, als das Geschrei hinter der Mauer um ein vielfaches anstieg. Besorgt wandte er sich an den Kommandanten.

„Was ist passiert?“

Der Offizier hob abwehrend die Hand und lauschte weiter einem schwarzen Kasten mit Muschel förmigen Anhängseln. Schließlich legte er das Gerät beiseite und seine Falten vertieften sich.

„Der Verteidigungsring um diesen Platz wurde durchbrochen.“, verkündete er müde. „Wir ziehen uns zurück.“

Allens Verstand sperrte sich dagegen zu verstehen, was gerade mitgeteilt worden war, doch heftiges Pochen am Tor verriet ihm, dass die zum Untergang verurteilten Bürger sehr wohl den Ernst der Lage begriffen hatten. Ein Sturm aus Verzweiflung rannte gegen das Tor. Eine der Wachen warnte verzweifelt, dass es nicht mehr lange halten würde, woraufhin der Kommandant laut den Befehl zum Rückzug gab. Bestätigend nickte Allen seinen Leuten zu, die sich sofort und geordnet in Bewegung setzten.

Er hatte nur zwanzig der hundert Meter zum Rasenden Falken zurückgelegt, als sich eine Vorahnung in ihm regte und er sich zum Tor umdrehte. Wieder einmal kam die Erkenntnis ohne erkennbaren Grund und doch wusste er, dass es stimmte. Hinter den Absperrungen bahnte sich ein Gezeichneter den Weg durch die Menge, die sich gegen dessen Diener wehrte oder davon lief. Der Offizier von Allens Kommandoeinheit stoppte ebenfalls, doch bevor er fragen konnte, was los sei, stieß Allen ihn weg.

„Alle auf eure Schiffe! Sofort!“, rief er und trieb die Wachen um ihn herum mit Gesten an.

„Warum bleibt ihr stehen?“, erkundigte er sich verwirrt.

„Das war ein Befehl!“, bekräftigte Allen herrisch. Plötzlich brachen die Tür des Tors hinter ihm aus den Angeln und eine Flut aus kreischenden Körpern und deren Peiniger ergoss sich auf den Marktplatz. Der Offizier zögerte keine Sekunde länger und nahm die Beine in die Hand. Allen wusste, dass eine Flucht unmöglich war, außer jemand blieb und gab Deckung.

„Komm schon!“, forderte er den Gezeichneten. Dieser sprang aus der Masse heraus auf ihn zu. Mit einem Satz war er bei dem Ritter und kreuzte mit ihm die Klingen.

„Schön euch wiederzusehen, Himmelsritter!“, lachte ein junger Mann, der eine schmutzige und zerrissene Botenuniform trug. „Wer hätte gedacht, dass wir uns dort wiedersehen, wo wir uns Lebewohl gewünscht haben?“

„Verrecke trifft es glaub ich eher!“, brachte Allen Zähne knirschend heraus. „Meine Klinge verlangt noch immer nach eurem Hals.“

Aus den Augenwinkel beobachtete er vor Wahnsinn lechzende Menschen, die ihn umstellten.

„Damit wir unter uns bleiben.“, erklärte der Gezeichnete und erhöhte den Druck auf Allens Klinge. Der brachte der gewaltigen Kraft einen Augenblick lang Widerstand entgegen, ehe er diesen aufgab und gleichzeitig einen Schritt an seinen Gegner vorbei trat. Sein Schwert schwang hinter seinem Kopf, doch der Gezeichnete parierte lächelnd über seinen Rücken. Mit einer dreiviertel Drehung in zwei Schritten schuf er Raum zwischen sich und Allen, nur um sofort wieder nach vorn zu drängen. Vor jedem Hieb holte er aus aus und drosch mit aller Macht auf ihn ein. Dabei hinterließ er weite Lücken, doch für Allen war er zu schnell und hielt ihn so in der Defensive. Plötzlich frischte der Wind auf.

Der Verstand des Ritters Verstand suchte eifrig nach einer Möglichkeit, Heil aus dem Duell raus zu kommen, während er mühsam seine schmerzenden Arme aufrechte hielt. Alle Pläne endeten jedoch mit seinem Tod dank der Überlegenheit seines Gegners in Geschwindigkeit und körperlicher Stärke.

Überlegenheit!

Allen ging ein Licht auf, woraufhin er sich mit mehr Kraft verteidigte. Zufrieden spürte er die wachsende Energie in dem nächsten Schlag des Gezeichneten. Es reichte nicht ganz um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, dennoch ließ er sein Schwert davon wirbeln, woraufhin einer der unfreiwilligen Diener aufschrie, und gab dem Impuls nach, der ihn zurückfallen ließ. Hart schlug er auf seinem Rücken auf. Über das ganze Gesicht grinsend kam der Gezeichnete auf ihn zu, packte ihn am Hals und hob ihn hoch.

„Der Kampf war viel zu kurz.“, lachte er Allen ins Gesicht und richtet die Spitze seiner Klinge auf dessen Bauch. „Dafür lass ich euch langsam sterben.“
 

Merle saß mit geschlossen Augen in ihrem Pilotensitz und konzentrierte sich auf die Schwingungen der Gedanken in der Umgebung. Deutlich spürte den Ausbruch von Panik innerhalb und außerhalb der Landezone.

„Es geht los.“, warnte Parn.

„Sagt mir Bescheid, wenn alle an Bord sind!“, befahl sie ihren zwei Helfern.

„Sie sind unterwegs.“, berichtete Torren angespannt. „Aber...Zwei unserer Leute sind stehen geblieben!“ Merle fluchte, als sie sich selbst bestätigte, dass einer von ihnen Allen war. „Das Tor wurde aufgebrochen!“

„Anschnallen!“, rief sie so laut sie konnte, als die ersten ihrer Schützlinge die Rampe herauf kamen, die von hinten in den Rasenden Falken hineinführte. Die horizontal in den Flügeln eingelassene Rotoren liefen im Leerlauf und verursachten Turbolenzen um das Schiff herum. Während die Mitglieder der Kommandoeinheiten in das Schiff und die Koje strömten, erhöhte sie behutsam die Drehzahl und lauschte den Gedanken der Menschen um das Schiff herum. Eindringlich hoffte sie, dass Parn und Torren gründlich bei der Entfernung der losen Gegenständen gewesen waren.

„Start!“, forderte Parn, als bis auf Allen der letzte der vorgesehen Passagiere eingestiegen war. Verzweifelt spürte sie Allens aussichtslosen Kampf um sein Leben und den Ansturm der von der Seuche betroffener Menschen auf ihr Schiff. Sie waren der Rampe schon sehr nahe, da verlangten beide Helfer nochmals lauthals die Flucht.

„Lügner!“, klagte Merle verzweifelt und ließ das Schiff abheben. Zwei der Diener schafften es auf die Rampe, doch sie wurden von der Fliehkraft wieder herunter geschleudert, als sie den Falken wendete. Torren arbeitete sich zum Kontrollkasten vor.

„Lasst die Rampe unten.“, gebot Merle ihm Einhalt. In fünfzehn Meter Höhe flog sie auf Allen zu und positionierte das Schiff über ihn.

„Fahrt ein Seil aus!“ Bis aufs äußerste gespannt lauschte sie Allens Aura, während ihre Ohren das Surren der Winde, die über dem Ende der Rampe im oberen Schiffsrumpf befestigt war, verstärkte. Für ein paar Augenblicke schlug ihr Herz angesichts seiner plötzlichen Zuversicht höher, verkrampfte sich dann aber, als sie seine Schmerzen spürte. Innerlich flehte sie, dass er durchhalten würde, bis der Haken am Seil den Boden berührt hat.
 

Im nächsten Moment riss ein scharfer Schmerz die Brust des Gezeichneten auf. Allens rechte Hand hatte aus der Rückenscheide seinen Dolch gezogen und ihn horizontal über den Oberkörper seines Peinigers gezogen. Der ließ ihn geschockt los, doch Allen ließ ihn keine Zeit sich aus der Panik zu lösen. So schnell er konnte stieß er in den Hals und zog den Dolch, begleitet von Blut,wieder heraus. Leblos sackte der Gezeichnete zu Boden.

„Man sollte sich seiner Sache nie zu sicher sein.“, riet Allen der Leiche, steckte den Dolch wieder ein und befreite eilig sein Schwert aus einem anderen Kadaver. Mit erhobener Klinge stellte er sich den Dienern. Zu seiner Überraschung achtete jedoch keiner mehr auf ihn. Ein Ausdruck purer Verwirrung zeigte sich in den Gesichtern der herrenlosen Sklaven. Allen erschlug jeden, der in seiner Reichweite war, ehe er sich nach der Quelle des zerrenden Windes umsah und den rasenden Falken erspähte.

Erleichterung macht sich in ihm breit, als er das Seil erkannte, das auf ihn zukam. Gerade wollte er es aus der Luft greifen, da glühte das Schwert plötzlich in seiner Hand. Laut aufschreiend ließ er es fallen und schüttelte mit verzerrten Gesicht die Hand. Der Haken schlug einen Meter neben ihn auf, gerade als Allen mit der anderen Hand vorsichtig nach der Klinge griff. Das Heft war wieder kalt. Ratlos steckte er es in die Scheide, langte nach dem Seil und wickelte es sich um seine Hände und Arme. Mit flauem Gefühl im Magen hob er ab und ließ sich nach oben ziehen. Zwei kräftige Burschen, die durch Seile, befestigt an einem Geschirr, gesichert waren, holten ihn hinein. Einer seiner Retter schlug gegen einen Knopf und die Rampe schloss sich hinter ihm. Der andere drängte ihn in die rechte Kabine, doch Allen wimmelte ihn ab und betrat stattdessen die Brücke.

„Du Arschloch!“, beschimpfte Merle ihn von ihrem Sitz aus. „Wenn ich wegen dir noch einmal einen Schwur brechen muss, schlitz ich dich persönlich auf!“

„Auch ich freue mich dich zu sehen, Merle.“, erwiderte Allen charmant und ließ sich erschöpft auf seinen Sitz fallen.

„Ich mein es ernst! Wäre ich nicht an den Kontrollen gefesselt, würde ich jetzt Gulasch aus dir machen!“

„Dann muss ich dir und den Kontrollen wohl danken.“, lobte er und schenkte ihr sein wärmstes Lächeln, während er sich anschnallte. „Für eine gelungene Rettungsaktion und das Vertrauen, dass ich es schaffen würde.“

Merles Wangen flammten auf und mit Gewalt richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Horizont vor sich. Die Sonne regte sich und tauchte die Dächer in tiefes Rot. Der Augenblick hätte durchaus seine Schönheit gehabt, würde die Farbe nicht so sehr zu den Ereignissen dieses Morgens und der vergangenen Nacht passen.

„Gern geschehen.“, antwortete sie und steuerte das Schiff zum Treffpunkt der Flotte. Binnen weniger Minuten sahen sie die Ansammlung mehrerer Dutzend Luftschiffe, sechs davon waren Träger.

„Was meinst du Allen, wie viele haben wir hier?“, erkundigte sich Merle.

„Wenn die alle voller Überlebender sind, könnten es mehr als zehntausend sein. Allerdings bezweifle ich, dass auch nur die Hälfte von ihnen Passagiere aufnehmen konnte.“ Besorgt musterte er die junge Prinzessin. „Es war nicht genug Zeit.“

„Wir hätten schneller sein müssen.“, wimmerte sie und hielt mühsam ihre Tränen zurück.

„Woher willst du wissen, ob wir schneller hätten sein können?“, wandte er ein. „Denk nicht weiter drüber nach! Wir haben alles getan, was in unserer Macht stand.“

„Ich weiß!“, erwiderte Merle außer sich. „Es ist nur...Alles hier erinnert mich an...“

„Rasender Falke, bitte kommen!“, knarrte das Funkgerät.

Hastig schluckte sie ihren Kummer herunter und antwortete mit kontrollierter Stimme: „Hier ist der Rasende Falke. Wir hören.“

„Euer Hoheit, sie haben Landeerlaubnis für den größten unserer Träger. Dort können sie speisen, duschen und sich ausschlafen.“, bot der Sprecher an.

„Danke sehr, Kontrolle.“, akzeptierte Merle dankbar. Erst in diesem Moment, als das Adrenalin für einen Moment vollends abklang, wurde sie sich ihrer Müdigkeit bewusst. „Ich setzte zur Landung an.“

Verhasstes Leben

Die Sonne war im Zenit ihrer täglichen Reise, doch Allen bekam nichts davon mit. Im Bauch des Trägers, wo kein Lichtstrahl von außen je hinkommen würde, betrat er seine Kabine, die ein Offizier für ihn hatte räumen müssen. Er kam gerade aus den Duschräumen der Besatzung. In seinem Overall ohne Rangabzeichen wäre er unter den Besatzungsmitglieder kaum aufgefallen, wäre da nicht sein blondes Haar, das bis zur Hüfte reichte und noch immer klatschnass war. Er hätte es bereits getrocknet, doch der Andrang auf die Duschen war gewaltig gewesen. Alle Soldaten, die in Sarion gekämpft hatten, schienen jetzt aus ihren Liegen zu fallen. Wahrscheinlich hatte keiner von ihnen gut geschlafen. Mit Mühe blendete Allen die Erinnerungen letzter Nacht aus. Sich wieder auf sein Haar konzentrierend, setzte er sich auf den Stuhl vor dem kleinen Schreibtisch und trocknete es mit einem Handtuch.

„Lass mich dir helfen.“, schlug eine weiblich Stimme vor. Verwundert blickte er auf und sah in Merles verschlossenes Gesicht. „Die Tür war offen.“, erklärte sie ihr Eindringen und trat dann hinter ihn. Schüchtern nahm sie ihm das Handtuch ab und fuhr damit über seinen Kopf. Obwohl er sie nicht mehr sehen konnte, hatte Allen ihre Erscheinungsbild noch immer deutlich vor Augen. Sie trug eine der hiesigen Offizieruniformen, ebenfalls ohne erkennbaren Rang, doch strahlte nicht die Autorität und Selbstsicherheit aus, die sonst mit dieser Kleidung einher gingen und die er von ihr gewohnt war.„Du hast schönes Haar.“, lobte sie ihn und strich mit zwei ihrer Fingerkuppen eine Strähne entlang. „Soll ich mir meine auch so lang wachsen lassen? Wäre ich dann eine passende Frau für dich?“

In einem Ruck drehte sich Allen zu ihr um. Seine Pupillen wurden groß vor Staunen, das sich jedoch verflüchtigte, als er die Niedergeschlagenheit in ihren Augen sah.

„Was bedrückt dich?“, erkundigte er sich besorgt.

„Ich hasse dieses Leben!“, wimmerte sie und schluchzte. „Ich hab mich gewaschen und geputzt und gewaschen, und doch bekomme ich dieses Blut nicht aus meinem Fell! Ich schmecke jeden einzelnen, den ich umgebracht habe. Frauen, Kinder...“

„Kinder?“, wunderte er sich.

„Glaubst du etwa, die Gezeichneten machen vor Kindern halt?“, fuhr sie ihn an. „Ich hab sie ermordet, an meinen Klingen aufgespießt. Ich hab...hab...ihren Eltern das Liebste genommen.“

Langsam erhob sich Allen und umarmte sie so behutsam wie ein rohes Ei. Sacht erhöhte er den Druck auf ihren Rücken. Er hatte nur wenig Erfahrung im Umgang mit ihr, doch genug um zu wissen, dass sie jetzt keine Worte hören, sondern Nähe spüren wollte. Sie, die unbezwingbare Kriegerin, hatte...Angst.

Angst, allein sein zu müssen.

Angst davor, dass keiner auf sie wartet.

Sie hatte Angst und niemand sollte es merken.

„Ich bin hier.“, flüsterte er ihr voller Verständnis zu und ließ sie es durch seinen Körper wissen. Merle wehrte sich nicht. So eng sie konnte, schmiegte sie sich an ihn, während sie ihren Tränen freien Lauf ließ. Jegliches Zeitgefühl ging verloren. Allen bewunderte und sorgte sich zu gleich um das Mädchen in seinen Armen. Sie war so stark und zerbrechlich wie eine Blume im Schnee. Lange nachdem der letzte salzige Tropfen an ihrer Wange herunter gekullert war, regte sie sich und er ließ sie los.

„Geht es wieder?“, erkundigte er sich. Das Katzenmädchen nickte und nahm Abstand, froh darüber wieder etwas Privatsphäre zu besitzen. „Hast du Hunger?“, fragte er sie weiter aus. Wieder erhielt er nur eine stumme Bestätigung. „Erlaubt mir, euch zu begleiten, euer Hoheit.“, bat Allen mit einer leichten Verbeugung. Merle schmunzelte gegen ihren Willen.

„Ich hatte euch befohlen, mich nicht mehr so anzusprechen, Ritter Allen Shezar. Werdet ihr etwa rebellisch?“, erwiderte sie mit wachsendem Vertrauen in ihre Stimme.

„Jeder hier erkennt euch als das an, was ihr seid, Prinzessin. Da werde ich nicht zurückstehen.“, konterte Allen galant und bot ihr eine Hand an. Erst rollte sie mit ihren Augen, doch dann legte sie ihre Hand auf seine.

„Wo bringt ihr mich hin?“

„Zur Kantine.“

Elegant und diszipliniert führte er sie in den Gang. Sofort, nachdem er die Tür hinter sich geschlossenen hatte, hielt er ein Besatzungsmitglied an und forderte ihn auf, sie zur Kantine zu bringen. Erst wollte der junge Mann widersprechen, doch ein Blick auf Merle ließ ihn einlenken. Allen fiel auf, dass es nicht nur die Uniform war, die den Soldaten eines besseren belehrte. Es war Merle selbst. Er hatte sie erkannt.

Offensichtlich waren Gerüchte über sie im Umlauf. Auf Grund von Beobachtungen während der Evakuierung letzte Nacht hatte Allen dies bereits vermutet und sah sich nun bestätigt. Zweifellos wusste bereits jeder auf dem Schiff von der kämpfenden Prinzessin.

Erst brachte sie der Soldat zur Offiziermesse, doch Allen erklärte noch einmal, dass er und Merle zur Kantine der einfachen Besatzung wollten. Ihr Führer entschuldigte sich und geleitete sie eine Tür weiter den wie überall von Metall umgebenen und mit Lampen gesäumten Gang hinunter. Dort verabschiedete er sich, wobei sich Merle persönlich bedankte.

„Man hat uns in die Offiziermesse eingeladen, also sollten wir dort auch hingehen.“, belehrte sie Allen streng. „Wir sind nur Gäste und sollten uns so benehmen.“

„Seit wann kümmert es dich, was andere von dir erwarten?“, entgegnete er überrascht.

„Seitdem ich mein Land repräsentiere.“, konterte Merle ernst. „Wenn wir da jetzt reingehen, werden wir eine Aufruhr verursachen und der Kommandant dieses Schiffes wird es gar nicht zu schätzen wissen.“

„Aber ich möchte, dass du jemanden kennen lernst.“, widersprach Allen. „Jemand, der letzte Nacht genau das gleiche wie du erlebt hat und dich daher bestens versteht.“

„Wen meinst du?“

„Alle.“, klärte er sie auf und wies auf die Tür. „Von den Soldaten, die letzte Nacht Sarion verteidigt und überlebt haben, isst gerade ein großer Teil. Sie waren genau dem gleichen Dilemma ausgesetzt wie du. Schlimmer noch, sie kannten die Leute, die sie beschützen sollten und stattdessen umbringen mussten. Sieh dir ihre Gesichter an, wenn wir gleich reingehen. Vieler dieser Männer verdanken dir ihr Leben. Hättest du die Gezeichneten nicht dezimiert, hätten sie Unmengen mehr an Gegnern gehabt und die Verteidigung wäre früher zusammengebrochen. Und sie haben Angst. Die meisten wissen nicht, ob ihre Familien noch am Leben sind. Doch du kannst ihnen diese Angst nehmen, sei es auch nur für einen Augenblick. Du weißt, wie.“

„Durch ein Lächeln.“, verstand Merle und setzte ein bezauberndes auf. „Bitte lasst mich herein, Allen Shezar.“

„Selbstverständlich, euer Hoheit.“, antwortete er pflichtbewusst und öffnete ihr die Tür. Er staunte nicht schlecht, während er sie von hinten beim Gehen betrachtete. Die Tatsache, dass sie eine Hose statt einem Kleid trug, wusste sie zu nutzen. Ihre Beine raubten ihm den Atem.

Es dauerte einen Augenblick, ehe man die Prinzessin bemerkte, doch dann sprangen die ersten auf und zogen ihre Kameraden mit hoch. Wie in einer Welle schossen die Köpfe in die Höhe. Auf einmal war es still und alle standen stramm. Merle wirkte etwas verlegen.

„Bitte, meine Herren, setzten sie sich! Lassen sie sich von mir nicht stören.“, sagte sie freundlich und so laut, dass jeder sie verstand. „Es freut mich ihre Bekanntschaft zu machen.“

Nur zögernd kam man ihrer Aufforderung nach. Neugierig musterte Allen die Anwesenden, als sie sich wieder langsam nieder ließen. Kaum einer wendete seine Augen von der Prinzessin ab. Merle hatte ihnen ihre Bekanntschaft bescheinigt, weswegen jeder sie nun ansprechen konnte, ohne dass ihn jemand vorstellen musste. War den Soldaten dies bewusst?

Die Wartenden an der Ausgabe machten ihr Platz. Zwar versicherte sie, dass dies nicht nötig sei, doch man bestand darauf und so ging sie nach vorn. Allen, für den diese Einladung nicht galt, reihte sich hinten in der Schlange ein. Enttäuscht war er nicht, konnte er sie von dort doch weniger auffällig beobachten.

Sie gab sich nicht eine Blöße. Obwohl sie unter einfachen Leuten war, verhielt sie sich so höflich und distanziert wie auf einem Staatsbankett. Insgeheim hatte er erwartet, dass sie sofort eine kameradschaftliche Beziehung zu den Soldaten aufbauen würde. Jedoch musste er zugeben, ihr jetziger Weg war der richtige. Sie behandelte die Männer, als wären sie vom Adel und ihr gleichgestellt. Eine bessere Art, den Soldaten Ehre zu erweisen und gleichzeitig ihren Respekt zu erringen, gab es nicht. Außer natürlich mit ihnen ins Feld zu ziehen.

Ehe sich Allen ein Teller nehmen konnte, hatte sie bereits einen Platz gefunden, mitten in der Kantine, dort wo man sie am besten sehen konnte. Es dauerte nicht einmal eine Sekunde und sie kam mit ihren Nachbarn ins Gespräch. Die ganze Zeit über saß sie aufrecht, ohne sich anzulehnen, und behielt sämtliche Tischsitten bei. Um sie herum taten es ihr die Soldaten zusehends nach. Es schien, als gäbe Merle ihnen Unterricht.

„Ritter Allen Shezar?“

Verwundert drehte sich Allen zu dem jungen Offizier um, der ihn angesprochen hatte.

„Der bin ich.“, bestätigte er.

„Ich suche ihre Hoheit, Prinzessin Merle de Farnel.“

„Weswegen?“

„Der Vizeoberkommandierende der Streitkräfte möchte ihre Hoheit sprechen.“, begründete der Adjutant sein Anliegen.

„Sie allein?“, hakte Allen nach.

„Ja, es geht um eine Angelegenheit nur Chuzario und Farnelia betreffend.“

„Sie sitzt dort drüben und isst gerade.“

„Hier?“, rutschte es den Soldaten raus. „Da hätte ich ja lange suchen können.“

Ehe Allen dessen Mangel an Disziplin kommentieren konnte, war der Adjutant bereits außerhalb seiner Reichweite.
 

Nur einen Moment lang betrachete Merle die für ein Luftschiff geräumige, dennoch kleine Kabine, in der sie der überhebliche und überaus junge Offizier sie geführt hatte. Die wenigen Quadratmeter, die der Raum gegenüber ihrer eigenen Kabine mehr hatte, wurden durch einen großen Schrank mit Büchern, Karten und Akten belegt. Vor dem Schreibtisch saß ein Offizier kurz geschnittenen, grauen Haar und faltigem Gesicht, der Listen wälzte. Er sah zu ihr auf, woraufhin sie angesichts seines stechenden Blickes innerlich zuckte. Sie hielt jedoch seinen Blick stand und ließ die Musterung über sich ergehen. Langsam erhob er sich aus seinem Stuhl.

„Lasst uns allein.“, befahl der Veteran dem Jüngling, der die Haken aneinander schlug, salutierte und ging. „Mein Neffe.“, erklärte der Kommandant Merle. „Ich hoffe, er hat sich nicht allzu sehr daneben benommen.“

„Ich bin schlimmeres gewohnt.“, meinte Merle etwas erleichtert, doch dann riss sie sich am Riemen. Nach einem tiefen Knicks, sagte sie förmlich: „Mein Name ist Merle de Farnel, Botschafterin seiner Majestät König Van von Farnelia. Vielen Dank für die Einladung.“

„Genau wie euer Bruder seid ihr jederzeit willkommen, Prinzessin. Außerdem muss ich euch danken, für euren Einsatz. Chuzario steht tief in eurer Schuld.“, erwiderte der Offizier mit einer leichten Verbeugung. „Warum schmückt ihr euch nicht mit dem Titel, den euch seine Majestät verliehen hat?“

„Ihre Hoheit, Prinzessin Sophia, nahm sich nicht das Recht heraus im Namen ihres Landes meine Adoption anzuerkennen.“, antwortete sie.

„Dann lasst mich euch sagen, dass seine Majestät König Franziskus eine entsprechende Mitteilung an die Allianz und seiner Bürger kurz nach Beginn der Invasion unterzeichnet hat.“, erzählte er. „Das Original liegt mir vor. Bei uns ist euer Rang anerkannt.“

„Ich fühle mich geehrt.“, bedankte sich Merle. „Ist seine Majestät wohl auf?“

„Darüber wollte ich mit euch reden.“, zögerte der Kommandant. „Etwa vierzig Minuten vor dem endgültigen Ende der Evakuierung haben wir jeglichen Kontakt zum Palast ohne Vorwarnung verloren. Momentan gibt es keine Hinweise darauf, ob seine Majestät lebt oder tot ist.“

„Wie wahrscheinlich ist es, dass er es geschafft hat?“

„Bislang hat keines der Schiffe offenbart, dass seine Majestät an Bord sei und wenn er noch in Sarion ist, ist er wohl kaum am Leben.“

„Soweit würde ich nicht gehen.“, äußerte sich Merle zuversichtlich. „Es mag seltsam klingen, aber ich spüre noch Leben in Sarion, dass nicht befallen wurde. Wie lange noch, ist allerdings fraglich.“

„Ihr spürt es?“, zweifelte der alte Offizier.

„Ja, bitte glaubt mir. Ich könnte euch bei der Suche helfen.“

„Nein, das könnt ihr uns überlassen. Ich habe eine anderes Anliegen an euch.“

„Ich höre.“, versicherte sie.

„Teilt bitte ihrer Hoheit, Prinzessin Sophia, die schlechten Nachrichten über Sarion und ihrem Vater mit, und schickt sie nach Hause. Wir brauchen sie hier.“, forderte er.

„Ich werde selbstverständlich eure Bitte erfüllen.“, stimmte sie zu. „Doch ich bin neugierig. Was wird ihre Hoheit hier erwarten?“

„Eine Heirat.“, sagte der Offizier offen. „Wenn wir seine Majestät nur tot oder gar nicht finden, muss ein neuer König gekrönt werden.“

„Ihr wollt sie zwingen zu heiraten?“, stieß Merle ungläubig heraus.

„Natürlich. Prinzessinnen können sich ihre Gatten nie aussuchen. Ein Schicksal, dass auch euch bestimmt ist. Unglücklicherweise machte König Franziskus stets ein Geheimnis daraus, wen er seine Tochter versprochen hat.“

„Was ist, wenn er noch niemanden ausgesucht hat?“

„Ich weiß es nicht.“, überlegte der Kommandant. „So etwas kam bisher noch nicht vor. In diesem Fall kann sie sich ihren Ehemann theoretisch aussuchen, da sie bereits alt genug ist. Allerdings hat sie kaum Wahlmöglichkeiten. Nur wenige Gatten verfügen über genügend Einfluss, um die anderen Freier zu kontrollieren.“

„Euch schwebt König Van vor!“, klagte Merle ihn an.

„Ja!“, gab der Offizier zu. „Er ist einer der wenigen, nein, wohl der einzige, den ich genug respektiere, um ihn ohne Zweifel dienen zu können.“

„Eine solche Heirat wird es nicht geben.“, sagte Merle offen heraus. „Mein Bruder hat seine Wahl bereits getroffen.“

„Dann muss ich wohl meinen Dienst quittieren, sobald die Ringe getauscht wurden.“

„Warum sollte Sophie nicht regieren können?“

„Sie ist eine Frau.“, begründete er, als wäre es das selbst verständlichste auf der Welt.

„Ich gebe zu, dass schwierig ist zu regieren, wenn man schwanger ist.“, erwiderte sie ungehalten. „Aber in dem Fall wäre sie bereits verheiratet. Und einen anderen Grund gibt es nicht, weswegen Frauen nicht Könige sein können.“

Der Kommandant seufzte und wirkte dabei doppelt so alt, wie noch vor einen Augenblick.

„Vor ein paar Stunden hätte ich euch widersprochen, doch dann habe ich die Berichte über euer Kommando in Sarion erhalten. Sehr beeindruckend, wenn sie wahr sind.“, lobte er.

„Das kann ich nicht beurteilen, da ich sie nicht gelesen habe.“, antwortete Merle wahrheitsgemäß.

„Was ich euch jetzt mitteile, bleibt unter uns und ist inoffiziell. Ihr könnt euch vor niemanden auf meine Aussage berufen.“, verkündete der Offizier streng. Merle nickte. „Alleine hat Prinzessin Sophia nicht den Hauch einer Chance und die Armee wird sie ganz gewiss nicht unterstützen, da man sie für ein verzogenes Mädchen hält und sie zum Zeitpunkt der Katastrophe nicht hier war. Doch dank der Geschichten über euch habt ihr die Herzen der Soldaten für euch gewonnen und ich wusste nicht einmal, dass außer für ihre Familien und ihre Kameraden dort noch Platz ist. Wenn ihr Prinzessin Sophia hier her begleitet und an ihrer Seite bleibt, hat sie die Treue von einem Großteil der Armee, allerdings ohne sich auf einen Eid berufen zu können. Was sie damit anfängt oder ob sie dieses Vertrauen über längere Zeit erhalten kann, hängt von ihr ab.“

„Ich werde mit ihr darüber sprechen.“, sicherte Merle zu. „Was soll ich meinen König über die Lage hier berichten?“

„Ihr habt selbst genug gesehen, um sie einschätzen zu können.“, meinte der alte Soldat. „Es lässt sich sicher nicht vermeiden, dass ihr ihm alles erzählt, aber ich würde euch und ihn bitten, sämtliche Informationen für sich zu behalten. Chuzario wird selbst seine Bürger und die Allianz informieren.“

„Wartet nicht zu lange mit diesem Schritt.“, riet Merle und machte einen Knicks „Ich verabschiede mich, Kommandant.“

„Euer Schiff steht noch dort, wo ihr es zurückgelassen habt und hat Startfreigabe.“, informierte der Offizier sie. „Habt eine sichere Reise.“

„Vielen Dank nochmals und auf Wiedersehen.“

Abschied

Merle und Allen waren an ihren Sitzen im Rasenden Falken gefesselt, während die Welt weit unter ihnen an den beiden vorbei raste. Seit dem Start, bei der Kommunikation zwischen Pilot und Kopilot unumgänglich war, hatten sie nicht mehr miteinander geredet. Bei Merle war es der drohende Abschied, der ihr die Kehle zu schnürte. Was es bei Allen das Sprachrohr verstopfte, traute sie sich nicht zu fragen. Selbst das Turnier, das bei ihrer Ankunft in Farnelia noch im vollem Gange sein sollte, könnte ihn nicht halten. Und sie war wieder allein.

Natürlich musste sie Sophia auf ihrer beschwerlichen Reise beistehen, die ihr bevorstand, und selbst wenn dies nicht der Fall wäre, hätte sie noch eifrige Kampfkunstschülerinnen, Untergebene und natürlich einen Bruder, der Zeit für sie finden würde, egal wie viel Arbeit auf ihn wartet. Doch irgendwie war dies nicht das gleiche. Keiner von ihnen vermochte die Leere im Innern zu füllen, die entstanden war, als König Van zum Mond der Illusionen aufgebrochen war, um Hitomi zurück zu bringen. Nicht einmal Van selbst.

Nur in Allens Gegenwart hatte sie bisher diese Leere vergessen können. Momentan jedoch zog dieses Loch an ihr mehr als je zuvor, obwohl er bei ihr war. Diese nervtötende Stille ist Schuld, entschied sie und suchte nach einer Möglichkeit, das Schweigen zu brechen. Der beste Weg wäre etwas zu sagen.

„Wir haben unsere Ausrüstung schon wieder verloren.“

Am Liebsten hätte sie ihren Kopf gegen die Armaturen geschlagen. So dämlich kann man ein Gespräch doch nicht anfangen.

„Ich hoffe, du hast nicht vor zurück zu fliegen und sie zu holen.“, erwiderte Allen mit kaum wahrnehmbaren Sarkasmus in der Stimme.

„In Farnelia wirst kaum eine Uniform der Himmelsritter finden. Wir werden eine kommen lassen müssen.“, erwiderte Merle in der Hoffnung die richtige Tür auf zu stoßen.

„Wegen einer solchen Nichtigkeit müsst ihr euch nicht...“, versicherte er erst lachend, doch es verging ihm, als ihr trauriges Gesicht sah. „Ich würde wirklich gern bleiben, Merle. Das musst du mir glauben.“

„Aber die Pflicht ruft, was?“, warf sie ihm entgegen.

„Ja, so in der Art.“, blockte er.

„Ist sie dir etwa wichtiger als ich?“

Daraufhin nahm seine Züge die gleiche Melancholie wie ihre an.

„Ja, ist sie. Du würdest Van auch nicht im Stich lassen.“, konterte er ruhig.

„Das ist was anderes! Er ist schließlich...“, begann sie, hielt dann aber inne. „Ich kann einfach nicht verstehen, wie man diesem Arschloch die Treue halten kann!“, versuchte sie es erneut.

„Solange auch nur ein Mensch in Astoria lebt, der mir viel bedeutet, werde ich dem Land und seinem König bei Seite stehen!“, verkündete Allen entschlossen und ließ so keinen Raum für weitere Diskussionen. „Was ist mit dir?“

„Was soll mit mir sein?“

„Nun, du hast mich gefragt, ob du eine passende Frau für mich wärst.“

„Eine Frage ist noch lange keine Angebot. Außerdem hast du selbst gerade gesagt, dass ich nie Van zurücklassen könnte.“, dementierte sie.

„Verstehe!“

„Und?“, erkundigte sich Merle schüchtern.

„Was und?“, erwiderte Allen irritiert.

„Du hast meine Frage noch immer nicht beantwortet.“

„Welche Frage?“

„Du weißt schon, die mit der Frau!“, erklärte sie ihm ungeduldig.

„Ach so, die Frage.“, wich Allen aus und musterte Merle nachdenklich. „Du bist es bereits.“, antwortete er dann. „Ich habe schon immer eigenwillige Frauen bevorzugt.“

„Das soll ich dir glauben?“, zweifelte sie. „Dabei sind es doch gerade die stillen, die auf dich fliegen. Du wanderst in den Träumen aller kleinen Mädchen, falls du es noch nicht gemerkt haben solltest. Jede selbstbewusste Frauen sollte dich allein deswegen schon verachten.“

„Hitomi ist doch auch selbstbewusst...Ganz nebenbei, sie hat kurzes Haar...Nie hatte sie Angst in die Bresche zu springen, und doch hat sie zuerst von mir geschwärmt.“, argumentierte Allen. „Milerna hat mich aus dem Gefängnis befreit, ist mir gegen meinen Willen nach Fraid gefolgt und hat mir damit das Leben gerettet. Und ihre große Schwester war ihr zum Verwechseln ähnlich. Obwohl sie verlobt war und am nächsten Tag abreisen sollte, haben wir...“

„Schon gut, ich hab es kapiert.“, unterbrach Merle ihn verärgert.

„Bitte verzeih mir, wenn ich alte Wunden aufgerissen habe. Aber du kannst mir glauben, wegen mir musst du dich nicht ändern.“, entschuldigte sich Allen für den Fehltritt.

„Ich glaube dir.“, meinte Merle ehrlich. „Auch wenn es wenig gibt, was man an mir mögen kann.“

„Bist du dir deiner Vorzüge wirklich nicht bewusst?“, wunderte sich Allen. „Bislang habe ich dich für selbstbewusst gehalten.“

„Vielleicht will ich sie von dir hören.“, entgegnete Merle scheu lächelnd.

„Ich hoffe, du hast viel Zeit.“, erwiderte Allen mit gespielten Ernst.

„Im Moment ja.“

„Gut! Ich mag es, dass du von mir lernen willst und du mir so viel beibringst. Es fasziniert mich und kratzt nur ein bisschen an meiner Würde, dass du kleiner und gleichzeitig stärker bist als ich, und beides ohne Zögern ausnutzt. In einem Augenblick bist du sanft, in dem anderen brutal, beides bist du nie ohne Grund. Manchmal hast du Angst, doch nie fehlt dir der Mut sich ihr zu stellen. Deine Art unterscheidet sich von Menschen und ist ihr dabei so ähnlich. Außerdem bist du genauso eigenständig und anhänglich wie eine Katze, und mindestens so treu. Du bist ohne Eltern aufgewachsen und sorgst dich um Waisen wie eine Mutter um ihr Kind.“

„Wann ist dir das denn aufgefallen?“, fragte Merle verblüfft.

„Unterbreche mich bitte nicht. Du gehst deinen eigenen Weg und nimmst dabei immer wieder Verpflichtungen auf dich. Dein Würde ist unantastbar und doch bist du dir nicht zu schade, dich zu bücken. In Kleidern siehst du zwar schon wunderhübsch aus, aber in Hosen bist du atemberaubend. Du möchtest als Frau anerkannt werden und sehnst dich trotzdem nach Zuwendung wie eine kleines Mädchen.“

„Schon gut, Allen. Es reicht.“

„Ich weiß jeden Abend mehr über dich und habe jeden Morgen doppelt so viele Fragen, die ich dir gerne stellen würde.“

„Es reicht wirklich, Allen!“, forderte sie mit mehr Nachdruck.

„Ich liebe jeden einzelnen Widerspruch an dir, denn dank ihnen lerne ich dich jeden Tag neu kennen.“, schloss er mit einem strahlendem Lächeln.

„Es reicht.“, wiederholte Merle verlegen. „Weißt du eigentlich, was für ein Glück du hast, dass ich jetzt nicht über dich herfallen kann.“

„Ich weiß.“
 

„Gib König Van doch bitte schon einen genauen Bericht dessen, was du gesehen hast. Ich spreche derweil mit Sophia unter vier Augen.“

Mit diesen Worten verschwand Merle mit der Prinzessin aus Chuzario, der man ansah, dass sie Böses ahnte, in Richtung ihrer Gemächer. Allen entsprach ihren Wunsch und erzählte dem König von Farnelia fast zwei Stunden lang alles, woran er sich erinnerte. Eine weitere Stunde wartete er vor Merles verschlossener Tür, um sich von ihr zu verabschieden. Die Katzenpranke stand bereit, ihn nach Palas zu fliegen, aber ohne einen Abschied, der der Zeit würdig war, die sie miteinander verbracht hatten, wollte er nicht gehen.

Urplötzlich kam Merle aus ihren Gemächern gestürmt und zog dabei die vollkommen aufgelöste Sophia hinter sich her. Ihre Augen waren gerötet und auf ihren Wangen waren Spuren getrockneter Tränen zu sehen.

„Mitkommen!“

„Merle, was soll das? Was hast du...“

„Sofort!“, befahl sie störrisch, packte ihn am Kragen und schleifte beide zur Trainingshalle. Dort angekommen ließ sie Allen los, drückte Sophia ein scharfes Schwert in Hand und stellte sich im Zentrum der Halle ihr gegenüber. Allen glaubte, sich nicht im Entferntesten vorstellen zu können, was Sophia für Ängste durchstand, als die Katzenfrau ihre Dolche zog, die schon im Blut hunderter getränkt worden waren, im Moment aber vor Reinlichkeit blitzten. Noch!

„Was wirst du tun?“, stellte Merle die verschreckte Prinzessin zur Rede. „Dies ist ein echter Kampf! Mit tödlichen Waffen! Stellst du dich mir, überlebst du vielleicht aus eigener Kraft. Läufst du weg, liegt dein Leben in meiner Hand. Also! Wofür entscheidest du dich?“

Erst schluckte Sophia, doch dann erhob sie ihr Klinge und war bereit zum Kampf. Merle ließ ihr keine Zeit, es ihr anders zu überlegen. Ohne Rücksicht schlug sie ihren rechten Dolch gegen Sophias Klinge. Diese hielt dem Schlag stand und parierte auch den anschließenden Stich der linken Klingen. Plötzlich jedoch war Merles Gesicht vor ihrem und deren Knie drosch auf ihren Magen ein. Keuchend fiel Sophia auf ihre Knie und umklammerte krampfhaft ihren Bauch. Verächtlich schnaubend ging Merle ein paar Schritte zurück.

„Steh auf! Oder willst du deinem Vater Gesellschaft leisten?“, provozierte sie.

„Er ist nicht tot!“, schrie Sophia, rappelte sich auf und schwang ihr Schwert wutentbrannt über ihren Kopf auf ihre Gegnerin zu. Ehe die Klinge auch nur in die Nähe ihres Ziels kam, schickte Merle sie mit einem Tritt auf die gleiche Stelle erneut zu Boden.

„Beweis es!“

„Hör auf, Merle! Du bringst sie um.“, versuchte Allen sie aufzuhalten.

„Schön, dass du meine Absicht verstanden hast.“, freute sich Merle gehässig. „Das junge Fräulein hingegen scheint schwer von Begriff zu sein.“

„Sie ist noch nicht soweit!“, argumentierte Allen. „Du selbst hast diese Prüfung erst heute Mittag abgelegt.“

„Und? Nicht jeder von uns hat den Luxus der Zeit. Wenn sie es jetzt nicht lernt, ist es für sie zu spät. Dann kann sie sich ihr Königreich an den Nagel hängen.“, konterte sie.

„Und das nur mit meiner Hilfe!“, fuhr er unbeirrt fort.

„Ah, das Stichwort!“, feierte sie. „Dann hilf ihr doch. Ich warte!“´, forderte sie ihn auf und nahm von den beiden gebührenden Abstand. Schnell, ehe sie es sich anders überlegt, hetzte Allen sich und lief auf die sich krümmende Sophia zu. Im Eifer des Gefechts richtete er sie unsanft auf und sah ihr streng in die Augen.

„Wir können es schaffen!“, trieb er er sie an. „Ich werde eine Lücke aufbrechen und du wirst sie ausnutzen.“

Da sie nickte, war Sophia scheinbar noch klar genug im Kopf um ihn zu verstehen. Allen hoffte inständig, dass ihre geistige und körperliche Kraft für den Kampf noch reichen würden. Begleitet von dem üblichen, klaren Klang zog er sein Schwert aus der Schneide. Auch Sophia machte sich bereit.

„Ich werde mich nicht zurückhalten!“, warnte er, woraufhin Merle ihre Dolche nach vorne streckte und grinsend erwiderte: „Gut, so hab ich es gern.“

Allen griff an, mit ganzer Kraft. Mit kurzen, schnellen Hieben, versuchte er sie in die Defensive zu drängen. Überrascht stellte Merle fest, dass er ihre Dolche tatsächlich unter Kontrolle hatte. Diese waren aber nicht ihre einzige Waffen. Unbarmherzig schmetterte sie den Spann ihres linken Fußes in seine Rippen. Allen, der waffenlosen Kampf dieser Art nicht gewohnt war, wurde von der Attacke vollkommen überrascht.

Stöhnend sackte er zusammen. Sie hält ebenfalls nichts zurück, dachte er und tastete seine rechte Seite ab. Mindestens eine Rippe ist gebrochen, vermutete er. Als er wieder seinen Blick auf Merle richtete, stellte er erstaunt fest, dass Sophia sie in ihrer Gewalt hatte. Die Prinzessin hatte den Kampf verfolgt und sich hinter der erfahrenen Kriegerin angeschlichen. Nun bedrohte sie mit dem Schwert die Kehle der Prinzessin von Farnelia.

„Gib auf!“, zischte Sophia.

„Ist das alles?“, erwiderte Merle trocken. Mit einer Klinge drückte sie das Schwert weg, die andere ließ den Dolchen in sicherer Entfernung fallen und langte über ihren eigenen Kopf hinweg in den Nacken ihrer Gegnerin. Mit Schwung aus Beinen und Hüfte schleuderte sie das verdatterte Mädchen über sich hinweg auf den Boden. Brachial schlug Sophia auf den harten Boden auf.

„Sagte ich nicht, das hier wäre ein echter Kampf? Du hättest mich gleich töten sollen.“, riet ihr Merle schadenfroh und setzte ihren Dolch an Sophias Hals. „Anfängerpech!“

Mit einem wilden Brüllen zog Allen ihre Aufmerksamkeit auf sich und zwang daraufhin mit einem mächtigen Hieb zur Blockade. Merle war gezwungen einen Schritt zurück zu weichen, doch sie konnte es nicht. Der Länge nach flog sie auf ihren Rücken. Überrascht realisierte sie, dass Sophia sie an ihren Fußgelenken gepackt hatte. Ehe sie diesen Gedanken zu Ende gebracht hatte, kreuzten beide Schwertkämpfer die Klingen über ihrem Hals.

„Noch bin ich nicht tot!“, lächelte sie, woraufhin Allen einen Strich mit seiner Klingenspitze dicht über ihre Kehle zog. „Jetzt bin ich tot.“

„Dieser Kampf war unverantwortlich!“, warf er ihr vor, während er ihr aufhalf und Sophia ein paar Schritte zurück torkelte. Schwer atmend stützte sie sich auf ihr Schwert.

„Steh aufrecht!“, mahnte Merle sie. „Deine Pose passt nicht zu einem Sieger.“

„Ich hab es nur dank Allen geschafft.“, widersprach Sophia und richtete sich auf. „Das war kein richtiger Sieg.“

„Du bist am Leben.“, stellte Merle nüchtern fest. „Es ist keine Schande Hilfe anzunehmen. Glaubst du, ein junges Mädchen hätte ohne Hilfe eine königliche Leibwache anführen können? Von wegen! Anfangs konnte ich mich kaum als Kommandantin schimpfen. Die paar Männer, die mir angeblich unterstellt waren, folgten den Befehlen von Gesgan. Ich hab eigentlich nur die Marschrichtung vorgegeben und er hat sie umgesetzt. Es hat Jahre gedauert, bis ich meinen ersten Einsatz leiten durfte und selbst dann war er noch im Hintergrund um meine Fehltritte auszubügeln. Ohne ihn hätte ich nicht lange genug gelebt, um aus der Leibwache austreten zu können. Und er ist nur einer von vielen, denen ich mein Wissen und mein Können zu verdanken habe.“ Einladend hielt Merle Sophia ihre Hand entgegen. „Lass mich dir helfen, den Thron zu erobern. Und sei es auch nur, indem ich dir die Attentäter vom Hals halte.“

„Was, wenn mein Vater noch lebt?“

„Dann kannst du ihm den Thron zurückgeben oder es lassen.“, meinte Merle. „Es ist deine Entscheidung.“

„Ich nehme an!“, verkündete Sophia entschlossen.

„Ist das das Mittel, mit dem sie ihr Schicksal selbst bestimmen kann. Hilfe?“, fragte Allen dazwischen.

„Natürlich.“, antworte Merle. „Oder kennst du ein besseres?“

„Nein.“, gab er zu. „Ich wünsche den Damen alles Gute auf ihrer Reise.“, verabschiedete er sich. Während der Verbeugung jedoch verzog sich in einem kurzen Moment sein Gesicht.

„Du gehst nicht eher, ehe dich ein Arzt untersucht und für Reise tauglich erklärt hat.“, befahl Merle. „Bevor nicht die Erlaubnis vorliegt und du dich richtig bei Verabschiedest hast, fliegt die Katzenpranke nirgendwo hin.“

Allen schmunzelte unauffällig bei dem Wort Richtig.

„Wie ihr wünscht euer Hoheit.“

„Komm, Sophie. Wir haben viel mit Van zu besprechen, ehe wir aufbrechen können.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von: abgemeldet
2007-11-15T18:58:05+00:00 15.11.2007 19:58
Wie immer einfach nur absolut spannend zu lesen! Perfekt^^
Von: abgemeldet
2007-10-28T20:27:58+00:00 28.10.2007 21:27
Es geht genauso fantastisch weiter, wie es geendet hat!^^
Diese FF macht wirklich süchtig!


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