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Sitaara

Sternenlicht
von

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Prolog

Es ist leicht zu sterben. Man schließt seine Augen, wenn die Zeit gekommen ist, und öffnet sie nicht mehr in diesem Leben. All die Freude, die man empfunden hat, verschwindet, das Leid verblasst. Jeder kann sterben, jeder wird sterben. Es ist keine Herausforderung. Die wahre Herausforderung ist das Leben selber. Das Leben ist kein Paradies, es ist keine Zeit der vollkommenen Glückseligkeit. Wenn wir Kinder sind, erscheint uns das Leben wie ein Spiel, das wir unter den wachsamen Augen unserer Eltern spielen, die uns jederzeit in eine behütende Umarmung hüllen können. Doch wenn wir erwachsen werden, müssen wir erkennen, dass das Leben nicht einfach und geborgen ist, es ist hart, kalt und grausam. Es ist nicht leicht, in dieser Welt zu leben. Oft scheint es, als gäbe es keinen Platz für das Gute in ihr, kein Licht, das unseren Weg erhellt, kein Lächeln, dass uns Freude schenkt. Die Welt ist grau und sehr of auch dunkel, so dunkel, dass es Menschen gibt, die sich vor ihr fürchten. So sehr, dass sie dem Leben entfliehen wollen, dass ihnen so viel Schmerz bereitet. Es ist leicht zu sterben. Man schließt die Augen und öffnet sie nie wieder in diesem Leben. Manche gehen, weil ihre Zeit gekommen ist, manche gehen, weil sie aus ihrem Leben herausgerissen wurden und wieder andere gehen freiwillig, weil sie die Last nicht mehr ertragen können.

Es ist leicht zu sterben, jeder von uns wird es, doch die wahre Herausforderung ist es, in dieser Welt zu leben, die einem so viel Kummer, aber auch so viel Freude bereiten kann. Aufgeben kann jeder, doch man weiß nur, was man erreichen kann, wenn man sein bestes gibt, wenn man nicht bereit ist aufzugeben. Egal wie sehr der Sturm auch tobt, egal wie hart und grausam das Leben einem auch vorkommen mag, es lohnt sich für das zu kämpfen, was man Hoffnung nennt, denn egal wie dunkel einem die Welt auch erscheinen mag, es wird immer auch ein Licht in ihr geben. Du musst es nur finden. Finde es, das Licht, das den Schmerz vertreibt, und halte es fest! Bewahre es tief in deinem Herzen auf und lasse es brennen, so heiß und groß, dass du die ganze Welt damit erhellen kannst. Denn egal wie sehr der Sturm auch tobt, wie kalt und grausam dir das Leben auch manchmal vorkommen mag, wirst du das Licht für jemanden sein, so wie jemand anderes auch dein Licht ist. Du musst es nur finden, dein Licht, das die Welt erhellen kann und bewahre es ganz fest in deinem Herzen, damit es niemals erlöschen kann, ganz gleich wie schwer der Sturm auch tobten mag.
 

Die Menschen in Kollam konnten sich nicht daran erinnern, schon jemals einen solch schweren Sturm erlebt zu haben. Einem Sturzbach gleich, donnerte seit Stunden ein unaufhörlicher Regenschwall auf die Erde nieder, ein eisiger Wind peitschte durch die Straßen der Stadt, riss alles mit sich, was ihm den Weg versperrte. Hagelkörner, so dick wie Tennisbälle, schlugen faustdicke Löcher in die Autos jener, die sie nicht mehr hatten in Sicherheit bringen können. Es war erstaunlich warm für eine Novembernacht und der Sturm war überraschend schnell gekommen, ohne Vorwarnung, ohne Rücksicht. Seit Stunden schon tobte er auf den Straßen von Kollam und mit jeder Minute, die verstrich, schien er noch stärker zu werden. Das Donnern des Regens schwoll an, wurde nur übertönt vom Schlagen des Hagels und dem Heulen des Windes, der an den Fenstern riss. Man hätte erwarten können, dass in einer solchen Nacht die Krankenhäuser voll besetzt wären mit Notfallopfern, doch, als wäre es wie ein Wunder, war es nur zu wenigen Unfällen gekommen. Jemand war von einem Baum erschlagen worden, ein anderer kam mit seinem Wagen von der Straße ab, doch ein Unfall war besonders tragisch gewesen an diesem stürmischen Novembertag.
 

Das Licht im Krankenhaus flackerte auf beunruhigende Art und weise. Das Pfeifen des Windes hallte wie ein böses Omen die langen, kahlen Gänge entlang; der donnernde Regenguss erfüllte die Zimmer wie ein Klang aus einer anderen Welt. Zwei Schwestern saßen an der Rezeption, gähnten und tranken ihren frisch aufgebrühten Kaffee, der nur spärlich die Müdigkeit aus ihren matten Gliedern vertrieb.
 

„Ich weiß nicht, ob ich mich freuen soll oder nicht“, brummte die rundlichere von ihnen. „Einerseits ist es gut, wenn wir nachts keine Notfälle haben, aber andererseits ist es auch furchtbar langweilig. Bei dem Sturm da draußen könnte man doch eigentlich erwarten, dass irgendetwas passiert, findest du nicht auch, Charu?“
 

Die zweite Schwester schüttelte langsam den Kopf und trank einen Schluck. Ihre großen, runden Augen wanderten durch den großen Warteraum. Tagsüber war er immer voller Menschen, die auf einen Termin warteten, doch heute Nacht war nur einer da, ein gut aussehender junger Mann, der sein Gesicht in seinen Händen vergraben hatte. Charu beobachtete ihn schon eine ganze Weile voller Mitleid. Sie hatte schon oft verzweifelte Menschen gesehen, die vor ihren Augen auf eine Nachricht über das Befinden ihrer Liebsten gewartet hatten, nicht immer mit gutem Ende, doch zum ersten Mal seit ihren sechs Jahren als Krankenschwester wünschte sie sich aus ganzen Herzen, dass sie etwas hätte tun können. Noch nie hatte ihr jemand so sehr leidgetan wie dieser junge Mann. Er war am später Abend eingetroffen, völlig durchnässt und verfroren, ohne zu wissen, was genau geschehen war. Am Telefon hatte man ihm nur gesagt, dass es einen Unfall gegeben hätte und er solle so schnell wie möglich hierher kommen, doch als er hier eingetroffen war, war das Erste, was er gesehen hatte, die Leiche seiner Großmutter, die man gerade in die Leichenhalle schieben wollte. Das war jetzt fast vier Stunden her, vier qualvolle Stunden, denn das Grauen sollte für den jungen Mann noch lange kein Ende haben. Im Auto hatte seine ganze Familie gesessen, all jene Menschen, die er mehr liebte als sein eigenes Leben. Eine war bereits verstorben.
 

„Du solltest nicht so laut reden, Varija, er könnte dich hören.“ Charu trank einen weiteren Schluck Kaffee, dann schüttelte sie den Kopf, griff nach einer Tasse, goss etwas von der braunen Flüssigkeit hinein und stand auf. Ohne recht darüber nachzudenken, ging sie auf den jungen Mann zu, der sie nicht zu bemerken schien. „Hier. Ich habe Ihnen einen Kaffee mitgebracht.“
 

Der junge Mann sah auf, doch dann ließ er wortlos den Kopf wieder sinken.
 

„Ich habe ihn selbst gemacht“, fuhr Charu aufmunternd fort. „Er schmeckt sehr gut. Probieren Sie ihn doch mal. Er wird ihnen sicher gut tun. Ich bin gut im Kaffee kochen. Das ist eines der wenigen Sachen, die ich gut kann. Hier.“ Abermals sah der junge Mann auf. Seine braunen Augen waren voller Angst und Traurigkeit, das Gesicht aschfahl, die noch immer feuchten Haare klebten auf seiner Stirn. Er wirkte unglaublich hilflos, wie ein Mann, der kurz davor stand, alles, was ihm jemals etwas bedeutet hatte, zu verlieren.
 

„Sie haben ihn gemacht?“, fragte er mit schmerzvoller Stimme.
 

Charu nickte bedrückt. „Ja. Möchten Sie ihn trinken?“
 

Der junge Mann senkte seinen Blick und betrachtete einen Moment lang die Tasse in ihrer Hand, bevor er nickte. „Danke sehr.“ Er nahm sie ihr ab und trank einen Schluck, ohne jedoch den Kaffee zu schmecken, der seine Kehle hinunter floss. „Er schmeckt gut.“
 

„Wirklich?“ Charu lächelte ihn freundlich an, doch dann legte sich ein betroffenes Schweigen über sie. „Ich bin Charu“, stellte sie sich schließlich vor. „Und Sie?“ Einen Moment glaubte sie, der junge Mann hätte sie nicht gehört, denn er starrte nur mit glasigem Blick vor sich hin, doch dann, ganz langsam, schien sein Geist in die Gegenwart zurückzufinden.
 

„Madan. Ich heiße Madan.“ Einfach nur, um irgendetwas zu tun zu haben, nahm er einen weiteren Schluck des Kaffees. Wieder erfüllte betretendes Schweigen die Luft. Charu stand einfach nur da und sah auf Madan hinab, doch dann drehte sie sich um, um ihn mit seinen Gedanken alleine zu lassen.
 

Plötzlich wurden Schritte laut. Ein Arzt, in einem mit Blut beschmierten Kittel gekleidet, betrat mit gesenktem Kopf den Warteraum. „Mr. Khan?“
 

Madan sprang auf, den Blick voller Hoffnung, die beim Anblick des Arztes je zerstört wurde. „Was … was ist …?“
 

Langsam, einer grauenhaften Zeitlupe gleich, schüttelte der Arzt den Kopf. „Es tut mir leid, Mr. Khan. Wir konnten ihren Vater nicht mehr retten.“
 

Madan starrte ihn an, ohne zu begreifen, was die Worte bedeuteten, die wie das Leuten einer Totenglocke in seinem Inneren widerhallten. Er stand da, wie vom Donner gerührt, während vor seinem inneren Auge das Bild eines Mannes zu zersplittern begann. „Nein …“ Seine Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen, dennoch erlöste sie ihn von seiner Starre. „Nein … Nein!“
 

„Es tut mir leid, Mr. Khan. Wir haben alles getan, was in unserer Macht stand. Es tut mir sehr leid.“
 

Hilflos wandte sich Madan vom Arzt ab. Am liebsten hätte er geschrien, geweint, die Einrichtung kurz und klein geschlagen, doch die Leere, die sein Inneres erfüllte, lähmte ihn. Er wollte irgendetwas sagen, irgendetwas machen, doch er wusste einfach nicht was. „Nein … nein, nein, nein.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, das vom Tosen des Windes verschluckt wurde. Verzweifelt raufte er sich die Haare, vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Erst seine Großmutter, jetzt der Mann, den er Vater genannt hatte. Es schmerzte. Ein Dolch schien sein Herz zu durchbohren. Was sollte er nur tun? Was sollte er tun? Madan biss sich fest auf die Lippen, dann drehte er sich wieder zum Arzt um. Tränen schimmerten in seinen Augen. „Was ist mit meiner Mutter? Und meinem Bruder?“
 

„Wir tun für sie, was wir können. Das schwöre ich ihnen.“ Der Blick des Arztes war voller Mitgefühl, als er sich umwandte, um in den OP zurückzukehren. Er sah die beiden Schwestern noch einmal kurz an, nickte ihnen zu und verschwand hinter einer Tür, die kurz den Blick auf einen Jungen freigab, der mit einer Herzmassage versorgt wurde. Zum Glück blieb Madan, der sich in einer Ecke zusammengekauert hatte und betete, der Anblick erspart.
 

„Der Arme“, flüsterte Charu, die Madans Anblick nicht mehr ertragen konnte und sich von ihm abwandte.
 

Varija nickte langsam. „Hast du den Blick des Doktors gesehen? Er hat nur wenig Hoffnung, dass die Mutter und der Bruder überleben werden.“
 

Ein heftiger Knall ließ die beiden Schwestern zusammenzucken. Der Wind peitschte nicht mehr, er brüllte. Der Regen nahm zu, ein tiefes Donnergrollen ließ die Luft erzittern. Das Licht im Wartezimmer flackerte, erlosch für einen kurzen Moment und leuchtete dann wieder auf. Aus Minuten schienen Stunden zu werden, aus Stunden Tagen, so kam es Madan vor, der sich in immer wiederholende Gebete verlor, bis seine Stimme rau wurde. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, als sich die Tür zu einem der beiden OPs öffnete, die vor ihm lagen. Sofort sprang er auf, am ganzen Körper zitternd, doch es war nur eine Schwester, die an ihm vorbei eilte. Wie ein eingesperrter Tiger begann Madan vor der Türe auf und ab zuschreiten, dann, als er sich selber damit auf die Nerven ging, blieb er stehen und lehnte sich gegen die Wand.
 

Die Schwester kehrte zurück, in Begleitung zweier Männer, doch sie verschwanden hinter der Tür, noch bevor Madan den Mund aufmachen konnte, und gaben für einen kurzen Moment den Blick auf eine Frau frei, die man gerade operierte. Ärzte häuften sich um Scharen um sie. Es schien eine weitere Ewigkeit zu dauern, bis sich die Tür abermals öffnete. Madan sah auf, ohne den Arzt zu beachten, der mit trauriger Miene auf ihn zu trat. Er hatte nur noch Augen für das, was sich hinter ihm ereignete. Ein lang gezogener Piepton erfüllte die Luft, bis sich ein Arzt erbarmte und das Gerät ausschaltete, an die Frau auf dem Tisch herantrat und ihr behutsam die Decke über den Kopf zog. „Todeszeit 2:16“, meldete er noch, dann schloss sich die Tür.
 

Der andere Arzt, jener, der sich vor Madan stellte, zog langsam seinen Mundschutz aus. „Mr. Khan …“ Er verstummte, als er in das versteinerte Gesicht des jungen Mannes blickte, der fassungslos auf die OP-Tür starrte, die Augen mit Tränen gefüllt, die Hände am zittern. Schwer atmend berührte der Arzt ihn an der Schulter, dann ließ er ihn alleine.
 

Madan hatte das Gefühl, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Er fiel, fiel in ein Loch voll Dunkelheit. Vor sich, wie aus weiter Ferne, sah er Bilder an sich vorbei ziehen. Er sah sich selber, als kleiner Junge, der, angestachelt von seiner Großmutter, ganz viele Geburtstagskerzen ausblies, die eigentlich für seinen Bruder gewesen waren. Er lachte, als es ihm geglückt war, alle auf einmal ausgepustet zu haben, bis seine Oma sich ihn krallte und ihn durchkitzelte. Sie würde ihn nie wieder durchkitzeln können.

Er sah den Mann, den er Vater genannt hatte, groß, kräftig, in Soldatenuniform. Sie spielten miteinander. Er war das böse Land, dass von ihm, Madan den Großen, besiegt wurde. Sie hatten gelacht, sich gefreut, viel Zeit miteinander verbracht. Er würde nie wieder mit ihm lachen können.

Er sah seine Mutter, wie sie sich gerade ihre langen Haare kämmte. Sie lächelte ihm zu, als er auf sie zu trat und fest in seine Arme nahm. Er würde sie nie wieder umarmen können. Nie wieder ihren Duft riechen. Nie wieder ihre Stimme hören.
 

Die Bilder zerbrachen. Madan saß auf der Erde, die Arme fest um seine Beine geschlungen. Er bebte am ganzen Körper, der die Tränen weinte, die seine Augen ihm immer noch verwehrten. Er fühlte sich allein, schrecklich allein. Eine eisige Kälte erfüllte ihn, die Welt um ihn herum erschien ihm seltsam fremd und fern. Alles war so unwirklich, so weit entfernt und doch schmerze es ihn. Er war alleine, so furchtbar alleine. Niemand war da, der ihn hätte trösten können. Keine Mutter, die ihn in die Arme nahm, keine Großmutter, die ihren Kopf auf seine Schultern legte, kein Mann, den er Vater nannte, mehr, der ihn aufforderte stark zu sein. Er war allein. So furchtbar allein.
 

„Mr. Khan?“ Die Stimme eines dritten Arztes erklang, doch sie schien aus weiter, weiter Ferne zu kommen. „Mr. Khan?“ Ein Schatten legte sich über den jungen Mann, als der Arzt sich zu ihm niederkniete und eine Hand auf seine Schultern legte.
 

Madan sah ihn an. „Sind Sie gekommen, um mir zu sagen, dass mein Bruder gestorben ist?“, fragte er mit rauer Stimme, die nicht zu ihm zu gehören schien.
 

Der Arzt sah ihn nicht an, wich seinem Blick aus.

„Mr. Khan … Kommen Sie bitte mit mir.“

Es war merkwürdig surreal, als Madan aufstand, um den Arzt zu folgen. Der Korridor erschien ihm lang und dunkel, beinahe so, als würde er ihn zu erdrücken versuchen.

„Mr. Khan“, begann der Arzt. „Ich habe ihren Bruder operiert.“ Der Mann blieb stehen. „Ich möchte ihnen keine Illusionen machen, Mr. Khan. Er wäre uns fast gestorben, doch im Moment lebt er. Er liegt im Moment im Koma, doch wir können nicht sagen, ob er je wieder daraus erwachen wird. Es liegt bei ihm, ob er die nächsten Tage überleben wird oder nicht, doch wenn er überlebt, sollten Sie sich darüber im Klaren sein, dass er nie wieder derselbe sein wird.“
 

„Wie … wie meinen Sie das?“
 

„Er hat eine schwere Kopfverletzung davongetragen, außerdem hat er sich eine schwere Rückenmarkverletzung zugezogen… Mr. Khan, Ihr Bruder wird nie wieder laufen können.“
 

„Nie … nie wieder laufen können?“ Madan fühlte, wie seine Beine weich wurden. Der Dolch in seinem Herzen wand sich. „Doktor … Mein Bruder ist leidenschaftlicher Hockeyspieler. Wie soll ich ihm sagen, dass er … dass er nie wieder wird spielen können?“
 

„Mr Khan. So wie die Dinge im Moment stehen, ist es nicht einmal sicher, dass er diese Nacht überleben wird.“
 

Diese Worte trafen Madan wie ein Donnerschlag, schienen für einen Moment all seine Sinne zu betäuben. „Darf ich zu ihm?“
 

Der Arzt nickte und öffnete eine Tür. „Natürlich.“
 

Als Madan das Zimmer betrat, war es, als würde ihn ein Hammer niederstrecken, so sehr entsetzte ihn der Anblick seines kleinen Bruders. Der Junge sah furchtbar aus. Überall hingen Schläuche, überall war er an piepsende Geräte angeschlossen, eins furcht erregender aussehend als das andere. Sein Bruder wirkte wie ein zerbrechliches, leichenblasses Etwas. Wie in Zeitlupe stolperte Madan an das Bett, dann gaben seine Beine nach und er fiel neben den Jungen auf die Knie. Zitternd ließ er seinen Blick über den kleinen Körper schweifen. „Samir …“ Seine Stimme hallte hart im kargen Raum wieder, ließ ihn die eigenen Haare zu berge stehn. Vorsichtig berührte Madan die Hand seines Bruders. Sie fühlte sich fiebrig an, irgendwie heiß. Der Rest seiner Familie war jetzt kalt, würde auf ewig kalt bleiben. „Samir … Kannst du mich hören, Champ? Hörst du mich? Du darfst mich nicht verlassen. Ich brauche dich, hörst du? Ich brauche dich! Du darfst mich nicht auch noch verlassen. Ich habe doch nur noch dich. Hörst du? Mach die Augen auf. Samir! Bitte. Lass mich nicht alleine.“ Bebend küsste Madan das kleine Händchen und plötzlich, als wäre ein Damm gebrochen, brach der ganze Schmerz über ihn herein.

Brüder

Madan war nervös und fühlte sich furchtbar fehl am Platz. Die Krawatte um seinen Hals war viel zu eng geschnürt und es kostete ihn alle Mühe, den Drang zu widerstehen, sie etwas lockerer zu machen. Vor ihm saßen fünf Männer in einer Reihe, allesamt mit finsteren Gesichtern, die sich sorgfältig seine Bewerbungsunterlagen durchlasen, wofür sie schrecklich lange brauchten, obwohl es nicht sonderlich viel zu lesen gab. Eine kleine Fliege flog summend durch die Luft, ließ sich auf seine Nase nieder. Madan blinzelte und versuchte sie wegzupusten, doch das kleine Ding blieb beharrlich sitzen. Er pustete abermals ohne viel Erfolg. Gerade, als er sie mit der Hand verscheuchen wurde, ließ ihn eine brüchige Stimme heftig zusammenzucken.
 

„Mr. Khan.“
 

„Ja, Sir?“ Madan zwang sich zu einem Lächeln, als er in das ernste Gesicht des ältesten Mannes blickte, der langsam seine Brille abnahm.
 

„Mr. Khan“, setzte der Mann von neuem an. „Warum haben Sie sich hier beworben?“
 

„Weil ich hier arbeiten möchte, Sir“, antwortete Madan. „Wissen Sie, Sir, seit ich zum ersten Mal hier in Bombay war, wollte ich immer für Ihr Unternehmen arbeiten. Als ich das Gebäude hier zum ersten Mal sah, sagte ein Stimmchen zu mir, „Madan, das ist es“, verstehen Sie?“
 

„Mr. Khan. In Ihren Unterlagen steht, dass Sie Geschichte und Literatur studiert hätten.“
 

„Das stimmt.“
 

„Aber Sie haben Ihr Studium abgebrochen. Ist das korrekt?“
 

„Korrekt, Sir.“
 

„Und dennoch haben Sie sich hier beworben?“, fragte der alte Mann mit vorwurfsvoller Stimme. „War Ihnen denn nicht klar, dass wir ein vollendetes Studium verlangen?“
 

„Das war mir klar, Sir. Aber vielleicht könnten Sie ja dieses Mal eine Ausnahme machen?“ Mit seinem besten Hundeblick, sah er jeden der Männer eindringlich an, doch sie schienen sich nicht für ihn zu interessieren. Er seufzte schwer. „Bitte, Sir. Ich brauche dringend einen Job. Ich bin sehr kreativ, pflichtbewusst, immer Pünktlich-“
 

„Das ist alles schön und gut, Mr. Khan, aber es reicht uns nicht. Sie können gehen.“
 

Madan sah den Mann einen Moment an, versuchte noch etwas zu erwidern, doch dann stand er mit einem gezwungenen Lächeln auf. „Ich danke Ihnen trotzdem, dass Sie mir eine Chance gegeben haben.“ Chance. Was für eine Heuchelei. Seit eineinhalb Jahren schon bemühte sich Madan bereits um eine vernünftige Arbeit, doch bis jetzt war er immer abgelehnt worden, selbst bei den Ausbildungsstellen. Man empfang ihn, doch man schickte ihn sofort wieder weg. Es gab kaum noch einen Ort in Bombay, wo er sich noch nicht beworben hatte. Hin und wieder gelang es ihm, einen Minijob zu ergattern, doch sie hielten nie lange, und wenn er endlich einmal was in Aussicht hatte, hieß es am Ende immer, dass er entweder über- oder unterqualifiziert war. Madan konnte es nicht mehr hören. Die ganzen Ablehnungen machten ihn noch ganz krank. Doch was konnte er schon tun? Sicher, wenn er die Möglichkeit hätte, könnte er sein Studium beenden, doch er konnte es sich nicht mehr leisten. Er konnte nur hoffen, dass er bei seiner nächsten Bewebung endlich genommen wurde.
 

„Viel Glück“, mehr sagte der Mann nicht mehr.
 

Mit erhobenem Kopf verließ Madan das Büro, dann ließ er niedergeschlagen die Schultern hängen. Eineinhalb Jahre. Eine lange Zeit. Er brauchte langsam dringend eine vernünftige Arbeit. Sehr dringend. Einen Moment blieb Madan stehen und ließ sein Blick aus einem großen Fenster schweifen. Bombay. Obwohl er noch nicht lange hier wohnte, kannte er fast jedes Fleckchen dieses Ortes. Er war beinahe überall gewesen.

Madan musste plötzlich grimmig grinsen, als er daran dachte, welches Schicksal ihn hier hergeführt hatte. Der Mann, den er Vater genannt hatte, würde sich jetzt wahrscheinlich die Haare ausreisen, wenn er ihn jetzt hier so sehen könnte, in einem beinahe schäbigen Anzug und ohne Arbeit. Madan hatte eine mehr oder weniger schöne Kindheit genossen.

Er war in Thrissur geboren worden, wo sowohl sein Großvater als auch sein Vater als Lehrer tätig gewesen waren. Madan hatte nur wenige Erinnerungen an seinen Vater, denn er war gestorben, als er sechs gewesen war. Sein Vater, Yamir, war an einem Abend zu Bett gegangen und am nächsten Morgen nicht wieder aufgewacht. Der Grund wäre ein plötzlicher Lungenkollaps gewesen. Einige Jahre nach dem Tod seines Vaters hatte seine Mutter Yamirs Bruder Raman geheiratet, einen stolzen Soldaten, mit dem sie etwas später einen weiteren Sohn gezeugt hatte, Samir. Madan hatte Raman sehr gerne gehabt, auch wenn sie oft aneinandergeraten waren, denn es gab eine Sache, die Madan mehr liebte als alles andere. Die Schauspielerei. Seit er klein war, träumte er davon eines Tages ein berühmter Filmstar zu werden, doch sein Onkel Papa hatte davon nichts wissen wollen. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen hatten sie sich darauf geeinigt, dass Madan erst einmal etwas Anständiges studieren sollte, bevor er machen konnte, was er wollte. Madan hatte sich nur bedingt an diese Abmachung gehalten. Als Studienfächer hatte er zwar Geschichte und Literatur belegt, aber er hatte sich auch im Theaterkurs angemeldet, was Raman niemals herausgefunden hatte, denn er und beinahe seine gesamte Familie waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Madan würde diesen Tag niemals im Leben vergessen können. Noch heute, Jahre danach, wurde er von schlimmen Albträumen geplagt. Besonders die erste Zeit nach dieser verhängnisvollen Nacht waren die schlimmsten Wochen seines Lebens gewesen. Er dachte oft an seine Familie, seine Großmutter, seinem Onkel Papa und besonders an seine Mutter. Nur sein Bruder war ihm geblieben. Samir.

Madan tat alles was in seiner Macht stand, um das Leben seines schwerbehinderten Bruders zu erleichtern, doch es viel ihm Tag für Tag schwerer. Er war mit ihm nach Bombay gezogen, weil man hier dem Jungen besser helfen konnte, doch die Therapien waren teuer, sehr teuer. Wenn Madan nicht bald eine Arbeit fand, würde er sie nicht mehr bezahlen können. Die Gewissheit, seinem Bruder eines Tages sagen zu müssen, dass sie beinahe vollständig pleite waren, ängstigte ihn.

Schon merkwürdig. Als Kind war ihm das Leben so einfach vorgekommen, doch jetzt wurde ihm die Härte auf schmerzhafte Weise bewusst. Jeder in Thrissur war überzeugt gewesen, dass aus ihm mal etwas werden würde, ein berühmter Hockeyspieler, ein Schauspieler, ein Lehrer oder ein Soldat, doch jetzt musste er hin und wieder als Straßenfeger jobben. Das Leben konnte wirklich grausam sein.
 

Madan verließ das hohe Gebäude, lockerte endlich die verdammte Krawatte und zog sein Jackett aus, dass er sich über die Schulter warf. Es war ein schöner Tag. Die Sonne brannte vom fast wolkenlosen Himmel, Menschen tummelten sich in Scharen auf den Straßen. Irgendwo spielte jemand auf einer Trommel, doch die Schläge verloren sich im Lärm, der die Luft erfüllte.

Madan schirmte sein Gesicht von der Sonne ab und blickte sich um. „Samir?“ Er sah ihn nicht. Unruhe wuchs in ihm. „Samir?“ Die Menschenmenge war zu dicht, um jemanden erkennen zu können. Madan begann zu suchen und entdeckte seinen kleinen Bruder schließlich an einem Trödelladen. „Samir!“
 

Samir drehte sich um und grinste ihn an. „Madan! Schau mal! Der Mann hier hat die neuen Hockeysammelkarten! Kaufst du mir welche?“
 

Mit gerunzelter Stirn trat Madan an den Stand heran. In Folie eingeschweißt waren viele Sammelkarten ausgestellt, die alle möglichen Spieler zeigten, doch das geübte Auge sah sofort, dass es sich um Fälschungen handelte. Die Fotos, die die Spieler zeigten, waren leicht verwackelt. Madan erkannte das sofort, doch Samir konnte es nicht erkennen. Seit seinem schweren Unfall saß Samir nicht nur im Rollstuhl, auf einem Auge hatte er auch ordentlich an Seekraft eingebüßt. Wenn er Pech hatte, konnte er sogar eines Tages erblinden. „Nicht heute, Samir.“
 

„Ach, komm schon, Madan! Bitte, bitte! Du weißt doch, wie sehr ich dieses Spiel liebe und das ich es nicht mehr spielen kann. Du würdest mein schweres Leben mit diesen Karten sehr erleichtern. Dann kann ich zumindest davon Träumen, eines Tages mit diesen Spielern zusammen zu spielen. Bitte, Madan!“ Samir setzte seinen besten Hundeblick auf, was Madan zum Schmunzeln brachte. Gespielt beleidigt verschränkte er die Arme vor der Brust.
 

„Hast du keinen besseren Grund?“
 

Samir neigte leicht den Kopf. „Ähm, ich bin dein kleiner Bruder und du musst mich lieb haben? Damit ich in der Schule mit den Karten angeben kann? Weil ich so klein und hilflos bin? Weil ich auch ganz artig bin?“ Mit jedem Beispiel wurde sein Dackelblick dackeliger. Irgendwie hatte Madan das Gefühl, dass es ihm mit jedem Tag schwerer viel, seinem kleinen Bruder einen Wunsch abzuschlagen. Er war einfach viel zu weich.

„Samir. Das sind bescheuerte Beispiele.“
 

Niedergeschlagen ließ der Junge den Kopf hängen. „Bitte, Madan.“

Liebevoll wuschelte Madan ihm durchs Haar und kniete neben seinem Rollstuhl nieder. „Samir. Du brauchst keine Karten. Ich habe etwas viel Besseres. Demnächst ist doch wieder ein Spiel. Was hältst du davon, wenn wir uns Karten kaufen und uns das Spiel ansehen? Dann siehst du deine Stars in Wirklichkeit und nicht auf diesen blöden Karten.“ Genauso gut hätte Madan Samir sagen können, dass von nun an jeden Tag Geburtstag war, so sehr freute sich der Junge.
 

„Wirklich? Du bist klasse!“
 

„Wirklich.“ Madan grinste und hielt ihm die Hand hin. „Gib mir fünf.“ Samir schlug ein, nur um im nächsten Moment ordentlich durchgekitzelt zu werden. Danach griff der junge Mann nach dem Rollstuhl und schob den Jungen durch die Straßen Bombay. Die unterschiedlichsten Gerüche stiegen ihnen in die Nase, Händler schrien kreuz und quer über die Straßen. Überall lachten Filmstars von überdimensionalen Werbeplakaten. Madan mochte besonders eines gerne, ein großes Buntes mit dem absoluten Frauenschwarm Suresh Yadav, einem jungen, aber sehr talentierter, Schauspieler. Er stand schon von Kindesbeinen an vor der Kamera und war vielleicht ein oder zwei Jahre älter als Madan selber, der den jungen Mann um sein Talent bewunderte. Er hatte es nie jemanden gesagt, aber er würde unglaublich gerne mal mit ihm vor der Kamera stehen, ein Wunsch, der sich wohl nie erfüllen würde.
 

„Madan?“, fragte Samir plötzlich, der dem Blick seines Bruders gefolgt war. „Wolltest du nicht auch mal Schauspieler werden?“
 

„Ja. Warum fragst du?“
 

„Weil ich es irgendwie klasse finden würde, wenn du mich von so einem Plakat angrinsen würdest. Das sähe bestimmt richtig toll aus und ich könnte mit dir richtig angeben.“
 

„Kannst du das nicht jetzt schon? Immerhin bin ich der beste Bruder der Welt!“ Stolz klopfte Madan sich mit der Faust auf die Brust. „Niemand ist so toll wie dein großer Bruder Madan Khan, den Bezwinger der bösen Monster unterm Bett und Eroberer der Hockeykarten!“
 

„Ja, schon. Aber bisher glaubt mir niemand das du der beste Bruder der Welt bist.“
 

„Dann sind das alles Idioten.“

Samir grinste. „Das finde ich auch, aber ich kriege immer Ärger, wenn ich das laut sage.“
 

„Dann sag es leise, sodass dich niemand hören kann.“

Der Junge nickte eifrig. „Geht klar. Aber Madan? Wie lief dein Bewerbungsgespräch? Hast du den Job?“
 

Madan schwieg für den Bruchteil einer Sekunde. „Nein. Ich war ihnen zu überqualifiziert.“
 

Samir seufzte enttäuscht. „Muss blöd sein, immer viel zu gut zu sein.“
 

„Ja, aber was soll man machen? Einfach weiter suchen. Irgendwann werde ich schon etwas finden.“ Madan fühlte sich schlecht, seinen Bruder zu belügen, doch er konnte nicht anders. Er konnte seinem Bruder einfach nicht sagen, dass er immer wieder Absagen erhielt, weil er sein Studium nicht beendet hatte und es nicht beenden konnte, da sein kleiner Bruder ihn zu sehr brauchte. Das hätte ihm nur Schuldgefühle bereitet und das wollte Madan nicht. Samir sollte eine möglichst glückliche Kindheit erhalten, trotz seiner schlechten Verfassung.
 

„Warum versuchst du es nicht als Schauspieler?“, schlug Samir vor. „Da kann man nicht zu gut sein, denn um so besser desto besser, oder nicht?“
 

„Da hast du vollkommen recht. Ich werde mich mal umhören, ob es demnächst ein Casting gibt, bei dem ich mitmachen kann. Immerhin sind wir hier in Bombay.“ Samir wusste es nicht, doch die meisten von Madans Bewerbungen waren für Castings gewesen, doch man hatte ihn immer abgewiesen, denn er hatte nie eine richtige Schauspielschule besucht und sie brauchten Leute mit Erfahrungen, keine Amateure.
 

Plötzlich wurde Samir ernst. „Papa sagte immer, dass Schauspielerei kein richtiger Beruf sei. Warum?“
 

Madan spürte einen leichten Stich in seiner Brust. Es war sehr selten, dass die beiden Brüder über ihre Eltern sprachen. „Weil es sehr schwer ist, in dieser Branche Fuß zu fassen. Onkel Papa meinte, dass man ohne Beziehungen nicht die geringste Chance hätte.“ Womit er nicht einmal wirklich falsch lag, dachte der junge Mann bitter.
 

„Ich glaube, dass du es wirklich schaffen könntest“, sagte Samir bestimmend und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. „Du kannst alles. Immerhin bist du der beste Bruder der Welt. Die Fernsehleute wären blöd, wenn sie dich nicht nehmen würden. Du bist bestimmt gut. Egal was alle sagen mögen.“
 

Madan konnte nicht anders. Lächelnd schlang er seine Arme um seinen Bruder und drückte ihn fest. „Stimmt, sie wären blöd. Wenn sie mich nicht nehmen sollten, gehe ich ihnen halt so lange auf die Nerven, bis sie mich nehmen, sei es auch nur, um endlich ihre Ruhe zu haben. Was hältst du davon?“
 

„Finde ich gut! Du schaffst das bestimmt.“
 

„Du weißt nie, was du erreichen kannst, wenn du es nie versuchst. Wer weiß? Vielleicht werde ich einmal ein ganz großer Star? Weißt du was?“ Mit weit ausgebreiteten Händen stellte sich Madan vor seinen Bruder und strahlte ihn an. „Wenn ich ein Star bin, können wir alles machen, was wir wollen. Dann haben wir ganz viel Geld. So viel Geld, dass wir uns sogar unser eigenes Hockeyteam kaufen können! Vielleicht finden wir sogar einen Weg, dass es dir wieder besser geht.“
 

Samir erstarrte. In seinen großen, dunklen Augen bildeten sich Tränen, als er zu seinem Bruder emporblickte, der so viel Zuversicht ausstrahlte, dass es den Jungen beinahe überwältigte. Besser gehen. Diese Worte klangen wie Musik in seinen Ohren. Besser gehen. Diese Worte klangen so wunderschön. „Glaubst du wirklich?“
 

Langsam ließ Madan seine Arme sinken. „Alles ist möglich, Samir. Im Moment haben wir zwei es nicht leicht, aber ich bin mir sicher, dass es irgendwann wieder aufwärts mit uns beiden geht, denn immerhin sind wir zu zweit ein Team und als Team sind wir was?“
 

„Unschlagbar!“
 

„Ganz genau! Wir sind unschlagbar. Irgendwo da oben leuchtet bestimmt ein Stern für uns, dessen Licht uns aus der Dunkelheit führt. Wir müssen nur nach ihren Strahlen suchen.“
 

„Wo denn da oben?“
 

„Ich habe keine Ahnung. Im Moment sehe ich keine Sterne, aber vielleicht finden wir ihn ja heute Abend? Hey! Was hellst du davon, wenn wir heute auf dem Dach essen?“
 

„Auf dem Dach? Unterm Sternenhimmel? Da finden wir unser Sternenlicht bestimmt!“ Samir strahlte, doch dann legte sich ein Schatten über sein junges Gesicht. „Glaubst du wirklich, dass es mir irgendwann wieder besser geht?“
 

Madan sah ihm lange in die Augen, dann kniete er sich vor ihm nieder und ergriff sanft seine Hände. „Du erinnerst dich vielleicht nicht daran, Samir, aber als du im Krankenhaus im Koma lagst, habe ich dir ein Versprechen gegeben. Ich habe dir versprochen, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um dir zu helfen. Daran werde ich mich immer halten. Ich verspreche es dir noch einmal. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit es dir wieder besser geht. Das ist ein Versprechen, dass ich auf jeden Fall behalten werde, egal was mit mir passiert, auch wenn es sieben Leben dauern sollte. Ich werde dir helfen, darauf hast du mein Wort als dein Bruder. Du bist das Licht in meinem Leben, du bist alles, was ich noch habe. Ich würde mein Leben dafür geben, nur dass es dir wieder besser geht. Ich werde immer bei dir sein, immer, egal was passiert. Ich werde nicht zulassen, dass es dir schlecht geht, hast du verstanden?“ Sanft legte Madan seine Hand auf Samirs Wange. „Hast du gehört, Champ? Es wird dir wieder besser gehen. Ganz bestimmt. Das schwöre ich dir.“
 

Samir sah ihn an und seine Augen füllten sich mit Tränen. Weinend warf er sich seinem Bruder um den Hals. „Ich will wieder laufen können. Und Hockey spielen. Ich will wieder so leben wie Früher, mit Mama, Papa und Oma. Ich vermisse sie so schrecklich sehr.“
 

„Ich auch, Samir, ich auch. Aber sie sind immer bei uns, auch wenn wir sie nicht sehen können. Ein Teil von ihnen ist immer bei uns und wird uns ein Leben lang begleiten. Aber ich bin jetzt dein Papa und ich werde mich um dich kümmern. Wir werden schon einen Weg finden, dass es uns beiden wieder besser geht, das verspreche ich dir. Ich verspreche es dir.“ Madan drückte seinen bebenden Bruder ganz fest an seine Brust, die Menschen ignorierend, die ihnen beim Vorbeigehen seltsame Blicke zuwarfen. „Ich verspreche es dir.“

Erinnerung

„Schau mal, Madan, eine Sternschnuppe!“
 

„Wo?“
 

„Na da!“ Begeistert deutete Samir auf den mit Sternen übersäten Nachthimmel. „Siehst du? Da!“
 

„Dann musst du dir ganz schnell was wünschen.“ Lächelnd beobachtete Madan, wie sein Bruder ganz fest die Augen schloss und mit den Lippen stumme Worte formte. „Du darfst aber nicht verraten, was es ist.“
 

„Hatte ich auch nicht vor.“ Grinsend stopfte sich der Junge den letzten Rest von seinem Reis in den Mund, dann gähnte er herzhaft. „Also wirklich, Madan, kochen kannst du immer noch nicht. Dein Reis schmeckt wie Pampe.“
 

„Pass auf was du sagst, Freundchen. Sonst kannst du das Essen vergessen!“
 

Gespielt verletzt knuffte der junge Mann seinen Bruder in die Seite. „Beleidige niemals die Hand, die einem Essen gibt. Merk dir das.“
 

„Bei dir überlege ich mir das lieber zweimal.“ Samirs Augen funkelten schelmisch. „Dein Reis liegt mir jetzt schon schwer im Magen.“
 

Langsam beugte sich Madan nach vorne und tippte dem Jungen auf die Nase. „Mach es doch besser.“
 

„Würde ich ja, wenn ich an die Töpfe kommen würde.“
 

„Das nächste mal nehme ich dich auf die Schultern, dann kannst du beweisen, was hinter deinem großen Mundwerk steckt.“
 

Samir grinste breit. „Das wirst du noch bereuen. Du wirst vor meinem Talent auf dem Boden knien.“ Theatralische schwenkte er einen imaginären Kochlöffel. „Denn ich bin ein Meisterkoch von Welt. Ein König der Kochkunst!“
 

„Ist das so?“ Madan stand auf, streckte sich genüsslich und verneigte sich dann vor seinem Bruder. „Wenn das so ist, dürfte ich Euch um Erlaubnis bitten, seine königliche Hoheit in sein königliches Bett zu tragen?“
 

„Nein. Seine Majestät fühlt sich noch überhaupt nicht müde“, gähnte Samir hinter hervorgehaltener Hand.
 

Madan schmunzelte. „Gut, dass seine königliche Hoheit noch Minderjährig ist, so das seine königliche Hoheit noch auf den Vormund hören muss.“ Mit einem breiten Grinsen im Gesicht schnappte er sich seinen kleinen Bruder, warf ihn über die Schulter, nahm das Geschirr und ging die Treppe hinunter, Samirs Proteste ignorierend, die in seinem Ohr dröhnten. Mitleidslos legte er den Jungen in sein Bett und deckte ihn zu. „So, genug gespielt. Vergiss nicht, dass du morgen wieder zur Schule musst. Also mach jetzt die Augen zu und schlaf. Trum schön, Champ.“ Madan gab ihm einen Kuss auf die Stirn, dann verließ er das Zimmer und knipste das Licht aus. Einen Moment verharrte er noch an der Tür. Ein schmaler Lichtstreifen, der durch die Türe fiel, erhellte Samirs junges Gesicht. Wie immer, wenn er ihn so sah, verspürte Madan einen Stich von Traurigkeit.

Seufzend schloss Madan die Tür und setzte sich ins Wohnzimmer. Zu hause, in Thrissur, hatten sie ein großes Haus gehabt, von Vater und Großvater errichtet, doch der junge Mann hatte es verkaufen müssen, um genug Geld für den Umzug nach Bombay zu haben. Hier lebten sie jetzt in einem Haus, dass nicht einmal mehr ansatzweise mit ihrem damaligen Standard mithalten konnte, doch Madan hatte keine andere Wahl gehabt. Samirs Therapien, Medikamente und die Schule waren nicht gerade günstig, tatsächlich fragte er sich, wie lange er das Ganze noch bezahlen konnte. Vor ihm auf dem Tisch stapelten sich die Rechnungen, direkt daneben die Stellenanzeigen. Letzteres nahm er in die Hand und schlug sie auf. Das meiste war bereits mit einem dicken Rotstift durchgestrichen. Alles Ablehnungen. Hatte er nicht schon genug durchgemacht?
 

Morgen, wenn Samir in der Schule war, würde er, Madan, Würstchen verkaufen, am Nachmittag würde er ein weiteres Bewerbungsgespräch haben, in einer Supermarktkette. Ihn graulte es schon davor. Verkäufer, dass war kein Beruf, den er ergreifen wollte. Wie sehr sehnte er sich nach den Zeiten zurück, wo die Welt noch in Ordnung war, wo er sich mit seinem Onkel Papa noch streiten konnte, meist über völlig belanglose Dinge, doch oft genug auch über ernstere Sachen. Er vermisste die Auseinandersetzungen, die Diskussionen, den Kampf um seinen Traum, der Schauspielerei … Schauspielerei. Wie sehr er es vermisste, auf der Bühne zu stehen und einer fremden Rolle neues Leben einzuhauchen. Wie oft schon hatte er versucht, in der Schauspielerei Fuß zu fassen? Er hatte längst aufgehört zu zählen. Raman hatte Recht gehabt. Ohne Beziehungen war es nahezu unmöglich, nach den Sternen zu greifen, wenn man auf die große Bühne wollte.
 

Gähnend rieb sich Madan die Augen, beugte sich vor und betrachtete die Rechnungen. Nach einiger Zeit fielen ihm die Augen zu und er begann zu träumen, einen Traum, der einmal, vor scheinbar endlos langer Zeit, Wirklichkeit gewesen war.
 

Sein Vater würde ihn umbringen, dass wusste Madan, doch er konnte nicht anders. Mit wild hämmernden Herzen trat er von einem großen Brett zurück, auf dem eine Liste hing, in die er mit schönster Krikelschrift seinen Namen eingetragen hatte. Es ging um den Theaterkurs von Raj Kota, einem ehemaligen Schauspieler, der jetzt als Dozent an der Universität tätig war. Madan hatte schon einige Filme von diesem Mann gesehen und brannte darauf, ihn endlich kennen zu lernen. Raj Kota, ein echter Schauspieler. Eigentlich hatte Madan vorgehabt, den Anweisungen seines Onkel Papas, während des Studiums die Schauspielerei zu vergessen und danach tun zu können, was er wollte, zu befolgen, doch als er erfahren hatte, wer den Theaterkurs leitete, hatte er unmöglich widerstehen können. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht betrachtete er das Brett, bis ihn plötzlich ein kräftiger Stoß beinahe von den Füßen riss. „Hey, was soll das?“
 

„Du stehst im Weg, Junge“, blafft ihn eine junge Frau an, die an das Brett heran trat und ihren Namen nieder schrieb. Sie war nicht gerade die schönste Frau der Welt, doch wenn jemand gesagt hätte, sie wäre hässlich, hätte Madan ihm höchstpersönlich eine runter gehauen. Ihr langes Haar fiel ihr elegant übers Gesicht, ihr schlanker Körper war erstaunlich gut trainiert. Plötzlich runzelte sie die Stirn, als sie die Namensliste betrachtete. „Meine Güte, da hat aber einer eine Sauklaue. Muss ein Volltrottel sein“, murmelte sie, eher zu sich selbst als zu Madan, der ihr neugierig über die Schulter blickte und sich ehrlich verletzt fühlte, als er bemerkte, dass er mit der Schrift gemeint war.
 

„Ich finde diese Schrift sehr schön“, sagte er mit völlig übertriebenem Ernst. „Diese schwungvollen Kurven deuten auf große Männlichkeit hin und dieser Strich da zeugt eindeutig von kreativer Energie. Das muss ein hoch intelligenter, sehr gut aussehender junger Mann gewesen sein.“
 

„Also fällst du damit schon einmal raus.“ Mit einem spöttischen Blick drehte sich die junge Frau um und stolzierte den langen Gang entlang. Madan starrte ihr nach, die Lippen zu einem verträumten Lächeln verzogen. „Sie steht auf mich. Wie sie wohl heißt?“ Kaum hatte er diese Frage gestellt, wanderte sein Blick auch schon zur Liste. „Jesminder Chopra. Den Namen merke ich mir.“
 

Bereits am nächsten Tag fand das erste Treffen der Theatertruppe in der Aula statt. Alle waren da, nur einer fehlte.
 

Madan rannte wie noch nie in seinem Leben. Einem Marathonläufer alle Ehre machend, raste er über das Campusgelände, ohne Rücksicht auf Leib und Leben seiner Mitschüler, die sich mehr als einmal mit einem beherzten Sprung zur Seite retten mussten, um nicht von ihm nieder gewalzt zu werden. Er war spät dran, viel zu spät. Der Theaterkurs hatte bereits vor einer viertel Stunde begonnen. Warum hatte sein Geschichtslehrer nur so derart überziehen müssen? Nicht, dass er bereits am ersten Tag aus dem Kurs geschmissen wurde, weil ein Mann eine viel zu lange Lobeshymne an Asoka halten musste! Schweiß brannte in seinen Augen, als er mehrere Stufen auf einmal nehmend eine Treppe hinauf raste, durch den Flur stürzte und die große Aulatür beinahe aus den Angeln riss, als er mit voller Wucht dagegen knallte.
 

„Ah! Ein Nachzügler!“, erklang die dunkle Stimme eines bärtigen Mannes, als Madan mit schmerzender Schulter in die Aula gehumpelt kam. „Sie können gleich wieder gehen. Ich dulde keine Zuspätkommer.“
 

Madan starrte den Mann keuchend an. Dass musste Raj Kota sein. Er sah genauso aus wie in seinem Filmen, nur ein wenig älter. „Es tut mir leid, Sir. Aber mein Geschichtslehrer hat überzogen.“
 

„Wer ist ihr Geschichtslehrer?“
 

„Bahma, Sir.“
 

„Dann können Sie froh sein, überhaupt hier zu sein. Wie ist Ihr Name?“
 

„Khan, Madan Khan.“
 

„Nun, Madan Khan, ich hoffe Sie können Schauspielern, denn ansonsten werde ich ihr zu spät kommen nicht verzeihen. Gehen Sie zu den anderen.“
 

Madan nickte, dann humpelte er auf eine Gruppe zu, die sich vor der Bühne versammelt hatte. Sein Blick fiel augenblicklich auf Jesminder, die ihn mit vorwurfsvollen Augen anfunkelte.
 

„Na sieh mal einer an, Mr. Schönschrift gesellt sich auch noch zu uns.“
 

Madan grinste schelmisch. „Hast du mich etwa vermisst? Ich muss ja bei dir einen ordentlichen Eindruck hinterlassen haben, wenn du dich noch an mich erinnern kannst.“
 

„Ja, ungefähr wie ein eingewachsener Zehennagel.“ Einige in der Gruppe lachten leise, Jesminder grinste.
 

Noch immer schelmisch lächelnd, verschränkte Madan die Arme vor der Brust, was er sofort bereute, denn ein unangenehmes Pochen breitete sich in seiner Schulter aus. Die Tür war ganz schön hart gewesen. „Och, bin ich etwa so schlimm. Dass tut mir aber leid.“
 

„Schluss jetzt.“ Energisch klatschte Mr. Kota in die Hände. „Da wir jetzt endlich vollzählig sind, möchte ich euch nun mein Programm vorstellen. Nächste Woche werden wir ein Casting starten, denn die Schulleitung möchte, dass wir noch in diesem Semester ein Stück auf die Beine stellen, dass zur Ehren unseres Direktors aufgeführt werden soll. Es wird nicht leicht werden, denn es handelt sich bei diesem Stück um“, er machte eine theatralische Pause, „Asoka.“
 

Ein Raunen ging durch die Runde, Madan stöhnte auf. Musste dass denn sein?
 

„Gibt es ein Problem, Mr. Khan?“
 

„Nein, Sir“, antwortete Madan wie aus der Pistole geschossen, musste jedoch grinsen, denn Jesminder hatte verstimmt das Gesicht verzogen. Es sah aus, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.
 

„Ist das nicht zu aufwendig für eine Theatervorführung?“
 

„Angst, dass es zu schwierig für dich wird?“, fragte Madan schelmisch.
 

Wütend funkelte sie ihn an. „Für mich ist nichts zu schwierig. Merk dir das, Mister Schönschrift. Dich werde ich in Grund und Boden spielen.“
 

„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass wütend süß aussiehst?“
 

„Bitte?“ Verwirrt blickte sie ihn an.
 

Lächelnd strich ihr Madan eine Strähne ihres Haares aus dem Gesicht. „Du siehst wütend gar nicht mal so übel aus, mein kleines Wildkätzchen.“ Zack. Bevor Madan wusste was geschah, erfüllte ein lauter Klatscher die Luft und ein brennender Schmerz durchfuhr seine Wange.
 

„Auf dämliche Anmachsprüche kann ich verzichten.“ Wütend wirbelte die junge Frau herum, doch Madan hielt sie fest.
 

„Das war kein Anmachspruch. Das war geschauspielert.“ Er grinste sie herausfordernd an, sie erwiderte seinen Blick mit solch einem Feuer, dass es ihn im Nacken kribbelte. Sicherheitshalber ließ er sie los. Sofort zog sie sich schnaubend in eine andere Ecke zurück.
 

„Du solltest vorsichtig sein“, riet ein junger Mann, der neben Madan stand, und sich ihm als Rahul vorstellte. „Diese Raubkatze hat sehr scharfe krallen.“
 

Als das Casting begann, viel es Madan unglaublich schwer ruhig sitzen zu bleiben. Er war sehr aufgeregt. Aus irgendeinem Grund, den er sich nicht erklären konnte, schien Mr. Kota ein sehr scharfes Auge auf ihn geworfen zu haben, denn es gab kaum einen Moment, wo sich der junge Mann nicht beobachtet fühlte. Nun gut, es konnte wohl daran liegen, dass er heute schon wieder zu spät gekommen war und der ehemalige Schauspieler Verspätungen hasste. Wahrscheinlich wartete er nur auf eine Gelegenheit ihn herauszuschmeißen, weshalb er sich ein wenig von Jesminder entfernt hielt, obwohl es ihm danach drängte, sie ein wenig zu ärgern. Doch als sie an der Reihe war für eine Rolle vorzusprechen, vergingen ihm sämtliche spitze Kommentare, die es sich bereits auf seiner Zunge gemütlich gemacht hatten. Sie war gut, sie war wirklich sehr gut und das Schlimmste war, dass man in ihren Augen sah, dass sie das ganz genau wusste. Voller Selbstzufriedenheit warf sie Madan einen siegessicheren Blick zu, der ihn zum Grinsen brachte.
 

Mr. Kota nickte anerkennend. „Sehr gut gemacht. Wirklich. Setzten Sie sich wieder hin. Als nächstes bitte Mr. Khan.“
 

Madan erhob sich und betrat die Bühne. Er spürte die Blicke der anderen Kursteilnehmer auf sich ruhen, ganz besonders Jesminders.
 

„Für welche Rolle sprechen Sie vor?“
 

„Asoka, Sir.“
 

„Überrascht mich nicht. Irgendwie tut das jeder.“ Mr. Kota klang gelangweilt, beinahe so, als würde er nicht viel von der Vorstellung erwarten, die er sich gleich würde ansehen müssen. Irgendwie verletzte Madan das, doch er verdrängte es fürs erste. Er schloss die Augen, spürte, wie sich sein Körper entspante, wie er zu prickeln begann. Langsam ließ er sich fallen, gab sich völlig der Ruhe hin und als er langsam seine Augen öffnete, war er nicht mehr Madan Khan, sondern Asoka, der Eroberer, auf dem Weg nach Kalinga, um eine große Schlacht zu schlagen.
 

„Ich, Ashoka, Sieger aller Schlachten“, begann er mit solcher Härte in der Stimme, die den Versammelten eine Gänsehaut einjagte, aber zugleich mit so viel Stolz, dass es ihnen den Atem verschlug, „ich, Askoka der Große, werde dieses Land mit Blut tränken. Kein Lachen wird dieses Land je wieder erhellen, kein-“
 

„Asoka hat die Schlacht geschlagen und erkennt was er angerichtet hat“, warf Mr. Kota ein, heftig darum bemüht, seine neutrale Rolle beizubehalten, die ernsthaft zu wanken drohte.
 

Vor seinem geistigen Auge erblickte Madan ein weites, mit Blut getränktes Land, gepflastert von Leichen, die leblos in den Himmel starrten. Entsetzt stolperte er an den Leichenbergen entlang, bis seine Beine ihn nicht mehr tragen konnten. Der länge nach viel er hin, nicht mitbekommend, dass Rahul ihm schon zu Hilfe eilen wollte, weil sein Sturz so echt gewirkt hatte. Er krümmte sich, wand sich, raufte sich die Haare. Er war das perfekte Bild eines völlig verstörten Mannes, der das Monster in sich erkannt hatte.
 

„Genug, das reicht“, rief Mr. Kota.
 

Madan blinzelte verwirrt. Langsam kehrte er in die Wirklichkeit zurück. Als er sich mühsam in die Höhe stemmte, erfüllte vereinzeltes Klatschen die Luft, das rasch zu lauten Jubelrufen anschwoll. Er lächelte gerührt, noch immer von seiner Vorführung benommen. Plötzlich wurde er von jemanden fest an die Brust gedrückt.
 

„Das, mein Lieber“, sprach Mr. Kota so laut, dass jeder es hören konnte, „war die beste Vorführung, die ich je gesehen habe.“
 

Madan schreckte auf, als ein leises Klingeln die Luft erfüllte. Verwirrt sah er sich um. War er nicht eben noch in der Schule gewesen? Und was klingelte denn hier? Er brauchte ein paar Momente um zu begreifen, wo er sich befand. Draußen war längst die Sonne aufgegangen. Samir war bereits aufgewacht und läutete nach ihm. Gähnend stand Madan auf, streckte sich und fuhr sich mit der Hand durchs rabenschwarze Haar. Asoka. Er erinnerte sich wieder. Er hatte die Rolle des Asokas bekommen, Jesminder war zu seiner Spielpartnerin auserkoren worden und die Vorführung endete mit solchen Begeisterungsstürmen, dass Madan damals schon gedacht hatte, der Applaus würde gar nicht mehr enden. Es war runtergegangen wie Öl, Mr. Kota hatte getobt vor Freude … Mr. Kota … Madan sah auf. „Raj Kota …“
 

Das Läuten wurde lauter. „Madan!“
 

„Ich komme ja schon, Samir.“ Mit einer fixen Idee im Kopf, drehte sich Madan um, um seinen Bruder zur Schule zu bringen. Ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen. Vielleicht hatte er soeben sein Licht gefunden.

Engel

Madan war nervös, als er sich in die enge Telefonzelle zwängte, den Hörer nahm und eine Nummer wählte, die er noch nie zuvor in seinem Leben gewählt hatte, aber dennoch so gut kannte wie seine Eigene. Ein leises Piepen wurde laut. Eine Weile geschah gar nichts, doch dann hörte er, wie jemand den Hörer abnahm.
 

„Raj Kota. Worum geht es?“
 

Madans Stimme versagte. Raj Kota. Dieser Mann schien aus einem anderen Leben zu stammen, aus einer völlig anderen Welt, aus einer Welt, in der er immer noch studierte und in der seine Familie noch lebte. Seit jenem verhängnisvollen Novembertag hatte er Kota nicht mehr gesehen. Es war wie eine Erinnerung aus alten Tagen.
 

„Hallo?“, erklang Mr. Kotas ungeduldige, raue Stimme. „Ist da jemand? Ich habe keine Zeit für solche Kinderreihen!“
 

„M … Mr. Kota?“ Madan schluckte schwer. „Ich bin es, Madan Khan.“

Stille. „Erinnern Sie sich noch an mich?“ Als Antwort erhielt er nur ein langes Schweigen. Er dachte schon, dass sein alter Mentor aufgelegt hatte, als er plötzlich ein Rascheln hörte.
 

„Madan? Madan Khan?“, fragte sein ehemaliger Lehrer ungläubig, doch mit unglaublicher Freude in der Stimme. „Mensch, Junge! Wie geht es Ihnen? Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht!“
 

„Es geht mir gut.“ Madan lächelte. Es tat gut, eine vertraute Stimme zu hören, mit der nur positive Erinnerungen verbunden waren. „Wirklich. Es tut mir leid, dass ich mich nicht schon früher gemeldet habe, aber ich hatte keine Zeit. Es ist so viel passiert.“
 

„Ja, das habe ich gehört.“ Mr. Kota klang ein wenig unsicher, so als würde er nicht wissen, worüber er mit seinem ehemaligen Schüler reden sollte. „Die Schauspielgruppe vermisst Sie. Sie vermissen ein wenig den Extraalplaus, den Sie eingeheimst haben, als Sie noch mitgespielt haben.“
 

„Das glaube ich ihnen gerne. Ist unser Wildkätzchen noch da?“
 

„So wild wie eh und je.“
 

„Geben Sie ihr einen Klaps von mir. Aber passen sie auf, sie hat eine harte Rechte.“
 

Mr. Kota lachte. „Ich werde es mir merken.“ Dann wurde er wieder ernst. „Wollten Sie nur Hallo sagen, oder rufen Sie an, um zu sagen, dass Sie zu uns zurückkommen werden?“
 

Madan spürte, wie sich etwas in seinem Inneren zusammenzog. Seufzend lehnte er sich gegen die kühle Zellenwand. „Es tut mir Leid, Mr. Kota, aber ich kann nicht. Auch wenn ich es gerne würde. Es hat sich einfach zu viel verändert. Mein Bruder braucht mich jetzt dringender.“ Er schwieg einen Moment, nicht wissend, wie er zum Punkt kommen sollte. „Mein Bruder ist felsenfest davon überzeugt, dass ich einmal Schauspieler werde.“
 

„Das Talent hätten Sie auf jeden Fall.“
 

Dieses Eingeständnis freute Madan und machte ihm Mut. „Es war mein Traum, seit ich ein kleiner Junge war und ich will es noch immer. Nur leider ist es nicht so einfach.“
 

„Ohne eine echte Schauspielausbildung wird es sehr schwer werden“, stimmte ihm sein Mentor zu. „Statistenrollen sind leicht zu bekommen, aber die richtig großen Rollen sind fast unmöglich zu ergattern. Ohne Beziehungen und massig Talent ist das so gut wie unmöglich.“
 

Madans Mut sank. „Ja, das dachte ich mir. Bis jetzt sind meine Bewerbungen alle ungelesen in den Müll gewandert. Es frustriert.“
 

„Sie wollen wirklich Schauspieler werden? Dann müssen Sie auf eine Schauspielschule. Sie haben unglaubliches Talent, mehr Talent, als ich es je bei jemandem gesehen habe, doch ohne den nötigen Schliff werden Sie es nicht vor die Kamera schaffen, auch wenn Sie es wirklich verdient hätten.“
 

„Gibt es keinen anderen Weg?“, fragte Madan beinahe flehend. „Es muss doch etwas geben. Im Moment kann ich es mir einfach nicht leisten, eine richtige Schauspielausbildung zu machen. Es geht einfach nicht.“
 

„Es tut mir Leid, Madan. Aber anders wird es nicht gehen.“ Der Mann klang ernsthaft bekümmert, doch Madan gab nicht auf.
 

„Haben Sie vielleicht nicht Kontakte, die Sie nutzen können?“
 

„Kontakte?“
 

„Ja, oder ein Empfehlungsschreiben. Genau! Ein Empfehlungsschreiben! Könnten Sie mir nicht so etwas ausstellen? Nebenrollen würden im Moment völlig genügen.“
 

„Nur ein Idiot würde ihnen eine Nebenrolle geben. Sie sind ein viel zu dominanter Schauspieler“, warf Mr. Kota ein, was Madans Bemühungen nur steigerte.
 

„Bitte, Sir! Ein Empfehlungsschreiben. Das würde mir sicher zumindest eine kleine Chance eröffnen! Mehr brauche ich nicht. Eine Chance, die ich nutzen kann!“
 

„Ich glaube kaum, dass es etwas nutzen wird. Die Leute, die da sitzen, sind sehr streng und oft voreingenommen.“
 

„Das ist mir egal. Ich werde sie einfach von mir überzeugen. Alles, was ich brauche, ist etwas, was mir zumindest die Chance eröffnet, dass meine Akte nicht sofort in den Mülleimer wandert. Bitte, Sir. Ich tue alles für ein gutes Wort.“
 

„Dann gehen sie zur Schauspielschule.“
 

„Das kann ich nicht.“
 

„Warum?“
 

Madans Euphorie verflog. Kummer machte sich in ihm breit. Er sprach nicht gerne über das, was sein Leben so radikal verändert hatte, besonders am Telefon. „Es geht nicht. Ich kann es mir nicht leisten.“
 

„Und wenn ich Sie sponsern würde?“
 

Madan brauchte einen Moment, um zu begreifen, was ihm da gerade angeboten wurde. „Sponsern? Sie würden mir die Ausbildung zahlen?“
 

„Das Geld wäre damit jedenfalls besser angelegt als bei Aktien.“
 

Madan starrte den Hörer an. „Das … das wär … Es ist ein wunderbares Angebot, aber es geht nicht.“ Langsam ließ der junge Mann sich die Wand hinunter gleiten. „Es ist nicht das Geld für die Ausbildung, was mir fehlt. Es ist mein Bruder. Er ist Querschnittsgelähmt, halb blind und noch alles Mögliche. Es geht ihm nicht gut. Braucht ständig jemanden, der auf ihn aufpasst. Eine Ausbildung würde mich zu sehr in Anspruch nehmen.“
 

„Und der Beruf des Schauspielers etwa nicht?“
 

„Das ist etwas Anderes.“
 

„Nein, ist es nicht.“
 

„Doch, ist es. Ich könnte ihn bei den Drehs dabei haben. Es würde niemanden stören, wenn er nicht auffällt, da bin ich mir sicher. Es geht ihm einfach nicht gut. Im Moment kommt eine Schauspielausbildung nicht in Frage.“
 

„Vielleicht sollten Sie heiraten“, meinte Mr. Kota halb im Scherz, halb ernst. „Ein so gut aussehender junger Mann wie Sie hat doch sicher viele Verehrerinnen. Nehmen Sie die, die Sie am meisten Lieben und schon haben Sie jemanden, der für Sie und ihren Bruder sorgt.“
 

Madan verschlug es bei diesem Vorschlag so sehr die Sprache, dass es eine Weile dauerte, bis er seine Stimme wiederfand. An so etwas hatte er noch gar nicht gedacht. „Das ist ja alles schön und gut“, begann er völlig perplex, „aber leider beschränkt sich meine weibliche Beute auf stolze Null. Ich hatte keine Zeit für die Liebe.“
 

„Das tut mir sehr leid“, meinte Mr. Kota ein wenig schockiert. Ihm dämmerte es langsam, wie dringend sein alter Schüler Hilfe brauchte, wenn sogar die Liebe keinen Platz mehr in seinem Leben hatte. „Wirklich.“
 

„Wie sieht es aus? Bekomme ich ihre Empfehlung?“
 

Mr. Kota zögerte einen Moment. „Selbstverständlich. Aber machen Sie sich nicht allzu große Hoffnungen. Ich habe leider nicht allzu viele Freunde in meiner alten Brache.“
 

„Keine Sorge. Ich stehe momentan so fest auf dem Boden der Tatsachen, dass mich wohl nichts mehr davon wegbewegen kann. Selbst wenn man mir Flügel ankleben würde.“
 

„Sagen Sie lieber nichts mehr. Sonst mache ich mir noch mehr Sorgen, als ich sie mir gerade sowieso schon mache. Wie ist Ihre Adresse? Ich schicke ihnen das Schreiben so schnell ich kann.“ Madan gab die Adresse durch, dann lächelte er bedeutungsschwer. „Sie wissen gar nicht, was für einen großen Gefallen Sie mir damit tun.“
 

„Ich bin mir da nicht so sicher. Rufen Sie mich jederzeit an, wenn Sie jemandem zum Reden brauchen. Ich habe immer ein offenes Ohr für meine ehemaligen Schützlinge.“
 

„Das werde ich sicherlich machen. Haben Sie vielen Dank, Sir.“
 

„Hören Sie auf mit dem Sir. Sie sind nicht mehr auf der Universität. Raj reicht aus.“
 

„Danke Raj.“
 

„Es geht doch! Passen Sie gut auf sich auf und melden Sie sich mal wieder.“ Mit diesen Worten legte er auf.
 

Madan verharrte noch einen Augenblick, dann legte auch er auf und verließ die Telefonzelle, vor der sich bereits eine verärgerte Warteschlange gebildet hatte.
 

„Na endlich“, fauchte eine Frau. „Ich dachte schon, Sie würden da drinnen wohnen.“
 

Madan warf ihr nur einen verwirrten Blick zu, dann zuckte er mit der Schulter und machte sich auf zum Brunnen, wo sein Bruder bereits auf ihn wartete. Zumindest körperlich. Als er an Samir herantrat, merkte er sofort, dass dieser in Gedanken ganz woanders war. Sein gläserner Blick sprach Bände. „Samir?“ Keine Reaktion. Verwundert runzelte Madan den Kopf. Was war denn los mit dem Kleinen? Madan rüttelte ihn, doch ebenso gut hätte er einen Felsblock treten können. „Samir? Hey, Samir!“ Wild schnipste vor Samirs Nase herum, der plötzlich wieder zum Leben erwachte.
 

„Hö?“ Verwirrt sah er sich um.
 

„Na? Schön geschlafen.“
 

Ein verträumter Glanz trat in Samirs Augen. „Wie im Himmel.“
 

„Wie im Himmel?“ Madan glaubte sich verhört zu haben. Was sollte denn das jetzt bedeuten?
 

„Wie im schönsten Himmel der Welt“, lächelte Samir voller Verzückung. „Wo kommen eigentlich diese Glocken her, die so wunderschön klingeln?“
 

Glocken? Madan machte sich allmählich große Sorgen. Weit und breit waren keine Glocken zu hören. „Fühlst du dich nicht wohl? Willst du dich ausruhen?“
 

„Ausruhen? Nicht wohlfühlen? Ich fühle mich wundervoll. Ist das Leben nicht schön? Die Sonne scheint, es ist warm, die Engel lachen … Ach.“ Er seufzte verträumt, womit er seinem Bruder noch mehr Sorgen bereitete. „Ist sie nicht toll?“
 

„Du machst mir Angst.“
 

„Angst? Vergiss die Angst. Dazu ist es viel zu schön.“
 

„Was ist in dich gefahren? So habe ich dich ja noch nie gesehen.“
 

„Ein Engel ist in mich gefahren.“ Samirs Lächeln wurde immer verzückter.
 

Madan fühlte ihm die Stirn. „Fieber hast du jedenfalls nicht. Wir gehen trotzdem nach Hause.“
 

„Nein!“ Schockiert starrte der Junge seinen großen Bruder an. „Das kannst du mir nicht antun! Was ist, wenn ich sie nie wieder sehe? Was ist, wenn du mir die einzige Gelegenheit vermasselst, dieses wundervolle Geschöpf zu bewundern? Das kannst du mir nicht antun!“
 

Endlich dämmerte es Madan langsam. Grinsend verschränkte er die Arme vor der Brust. „Sie?“
 

„Sie.“ Samirs Blick verklärte sich wieder verträumt. „Ein wahrer Engel.“
 

„Wer ist sie?“
 

„Ein Engel.“
 

Madan schüttelte lächelnd den Kopf. „Wo ist sie?“
 

„Dort drüben.“ Völlig im siebten Himmel schwebend, deutete Samir auf ein kleines Café ganz in ihrer Nähe. Eine kleine Gruppe von Firmenchefs hatte sich um einen Tisch versammelt, die sich lachend unterhielten. Daneben saß eine junge Familie, deren Kinder sich gierig auf einen großen Eisbecher stürzten. Hinter ihnen saß ein Mädchen mit zu Zöpfen geflochtenen Haaren, die in eine Zeitschrift vertieft war, ohne das Eis zu beachten, dass in der Sonne dahin schmolz.
 

„Die Kleine mit den Zöpfen?“
 

Samir nickte langsam, völlig in seine Traumwelt versunken, wo er gerade die neunte Liebeserklärung durchlebte. „Ist sie nicht wunderschön?“
 

„Sprich sie doch an.“
 

„Ansprechen? Bist du verrückt geworden? Ich kann sie doch nicht ansprechen! Meine Haare sind nicht gekämmt! Mein Hemd hat sogar einen Fleck!“
 

„Wo denn?“
 

„Genau da!“ Samir zeigte ihm sein blütenweißes Hemd. „Siehst du? Genau da, so groß wie Indien! Sie würde mich auslachen, wenn sie mich sieht!“
 

„Hast du etwa Angst?“, fragte Madan neckisch, worauf hin er einen bitterbösen Blick erntete.
 

„Angst? Was ist das?“ Trotzig verschränkte Samir die Arme vor der Brust. „Ich weiß nicht, was das Wort Angst bedeuten soll.“
 

„Dann roll doch zu ihr und spreche sie an. Worauf wartest du noch?“ Sein Bruder rührte sich nicht. „Sieh, sie ist ganz alleine. Sie wartet ganz bestimmt auf einen Kavalier, der ihr ein wenig Gesellschaft leistet. Kannst du ihren stummen Ruf nicht hören? Ich tue es.“ Madan legte die Hände an seine Ohren. „Samir, komm zu mir. Ich warte nur auf dich. Komm zu mir, und erlöse mich von meiner Einsamkeit. Ich möchte dich gern kennen lernen, du wunderbarer Held meiner schlaflosen Nächte. Aua!“
 

Samir hatte ihm kräftig in den Bauch geboxt. „Idiot.“
 

Madan lachte. „Ich weiß. Das sagt man mir ständig. Also kleiner Mann. Wirst du zu ihr gehen?“
 

„Ich kann nicht.“ Samir sah furchtbar elend aus, so völlig hin und her gerissen zwischen dem brennenden Verlangen, dem Mädchen zumindest einmal Hallo zu sagen, und der Furcht sich lächerlich zu machen. Immerhin war sie ein kleiner Engel und er? Er war ein kleiner Junge im Rollstuhl. Nein. Sie würde ihn gewiss auslachen.

„Wenn du dich nicht traust, dann werde ich es tun“, erklang plötzlich Madans entschlossene Stimme.
 

Samir starrte ihn entsetzt an. „Was?“
 

„Wenn du dich nicht traust, werde ich sie für dich ansprechen. Du bist ja immerhin mein kleiner Lieblingsbruder.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, lief Madan auf das Café zu.
 

Samir geriet in Panik. „Nein, Madan, warte! Das kannst du nicht machen! Was, wenn sie mich nicht mag? Madan? Madan!“
 

Doch Madan hörte nicht. Grinsend näherte er sich dem Kaffee, doch plötzlich erstarrte er. Eine junge Frau war gerade aus dem Eingang getreten, beugte sich über Samirs Angebetete und setzte sich neben ihr. Ihr langes Haar schimmerte wie Sternenlicht im warmen Sonnenlicht, es umwehte beinahe spielerisch ihr zärtliches Gesicht, ihre vollen Lippen, die wunderschönen Augen, die sich für einen kurzen Moment auf ihn richteten, doch in die er sich eine ganze Ewigkeit lang in Glückseligkeit verlor. Ein warmes Prickeln erfüllte seine Seele, von irgendwo schienen laute Glocken zu erklingen, so zart klingend wie im Himmelreich. Die Welt schien aufzuhören zu existieren, sie verlor sich in einem hellen Licht, das nur noch ihn kannte, nur noch ihn und den Engel, der nicht weit vor ihm saß, die Beine überkreuzte und ein Bissen von dem herrlichen Eis aß, das zu schmelzen drohte. Wie unglaublich sinnlich sie dabei aussah. Ein Engel. Das musste ein Engel sein. Auf Erden konnte es kein so wundervolles Geschöpf geben, das an Vollkommenheit erinnerte.
 

Madan sah sich selber, wie er auf sie zu ging, sich vor ihr verneigte und zärtlich ihre Hand nahm, um sie auf eine Tanzfläche aus Sternen zu gleiten, wo sie sich, eng zusammen schmiegend, in der Ewigkeit verloren. Er sah sich selber, wie er in ihre großen, braunen Augen blickte, in denen er nur Liebe lesen konnte. Er sah sich selber, wie er mit ihr tanzte, tanzte bis zum Morgengrauen.

Das Kribbeln in ihm breitete sich aus, schien bis in die letzten Winkeln seiner Selbst zu dringen. Wie in Traum trat er auf die beiden Engel zu, die fragend zu ihm aufsahen, als sie seiner Gegenwart gewahr wurden. Von Nahem sah die junge Frau noch schöner aus. Madan spürte, wie seine Knie weich wurden, seine Kehle fühlte sich furchtbar trocken an. Er stand nur da und starrte in die zwei wunderschönen Augen der jungen Frau, die voller Lebenslust zu funkeln schienen.

Tia

„Kann ich etwas für Sie tun?“, fragte die junge Frau ihn mit einer Stimme, die wie Glöckchen klangen. Noch immer fehlten Madan die Worte. Etwas weiter hinter ihm saß Samir in seinem Rollstuhl, einem Nervenbündel gleich. „Kann ich etwas für Sie tun?“, fragte die junge Frau noch einmal.
 

Madan blinzelte, dann räusperte er sich vernehmlich. Warum war er noch einmal gekommen? Für einen Moment hatte er es ganz vergessen, doch dann erinnerte er sich langsam wieder. Lächelnd kniete er sich vor dem Mädchen nieder, das weiterhin in ihr Magazin vertieft war. „Hallo Prinzessin“, begann er freundlich. „Siehst du diesen gut aussehenden jungen Mann im weißen Hemd dahinten?“
 

Verwirrt sah das Mädchen erst ihn an, dann die junge Frau und dann zu der Stelle, auf die Madan deutete. „Nein.“
 

„Schau genau hin. Es ist der, der dir die Sterne vom Himmel holen würde, wenn du es dir wünschen würdest.“
 

Das Mädchen kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, doch sie wusste immer noch nicht, wen dieser Fremde meinte. Alles was sie sah waren Leute, die am Kaffee vorbei eilten und ein komischer Junge, der unruhig in seinem Rollstuhl hin und her rutschte. „Wer denn?“
 

Madan ließ kurz den Kopf hängen, dann nahm er ihre Hand und deutete mit ihr auf Samir, dem für einen Moment der Atem schockte. „Ihn. Siehst du ihn? Das ist mein kleiner Bruder, Samir. Als ich ihn eben abholen wollte, meinte er zu mir, er würde gerade einen Engel sehen. Damit kann er nur dich gemeint haben. Weißt du, mein Bruder verliebt sich nicht leicht, er verliebt sich nur in Mädchen, die etwas ganz Besonderes sind und jeder sieht auf den ersten Blick, dass du sehr besonders bist.“
 

Das Mädchen lächelte geschmeichelt, doch als sie einen weiteren Blick auf den jungen Samir warf, fühlte sie sich bedrückt. „Aber er sitzt im Rollstuhl.“
 

„Was macht das schon? Er kann nichts dafür, dass er im Rollstuhl sitzt. Daran ist keine Krankheit und auch keine Strafe schuld. Es war ein Unfall.“ Madan lächelte sie aufmunternd an, doch innerlich fühlte er großes Mitleid mit seinem Bruder. Seit dieser im Rollstuhl saß, reagierten die Menschen komisch auf ihn. Manche beachteten ihn nicht, manchen tat er leid und andere tuschelten heimlich über ihn, meinten er wäre krank oder es wäre die Strafe für einen Fehler, den jemand in der Familie begangen hätte. Madan kannte solche Situationen nur zu gut und es schmerzte ihn, sie sich anhören zu müssen. „Er hat dich sehr gerne, weißt du? Er würde dich gerne zu einem Eis einladen, wenn du möchtest.“
 

Hilfe suchend sah das Mädchen die junge Frau an, die irgendwie sehr verzückt dreinschaute. Tolle Hilfe. „Aber er sitzt im Rollstuhl“, wiederholte sie.
 

„Ist das etwa ein Grund, ihn nicht kennen lernen zu wollen? Es ist nicht der Körper, der einen Menschen ausmacht. Es ist das Herz, seine Seele. Mein Bruder sitzt im Rollstuhl, das stimmt, doch es sind nur seine Beine, die ihn nicht tragen wollen.“ Madan legte ihr ihre Hand auf ihre Brust. „Hier drinnen“, fuhr er mit sanfter Stimme fort, „in seinem Herzen, ist er ein ganz normaler Junge. Ein Junge, der gerne den Engel kennen lernen würde, der jetzt hier vor mir sitzt. Ja, er kann nicht laufen, aber ist das ein Grund, warum er nicht lieben darf? Er ist ein Mensch, ein Mensch wie du und ich und Menschen sollte man immer so behandeln, wie man selbst behandelt werden will. Mit Respekt, Ehre und, was das Wichtigste im Leben ist, mit Liebe und Freundlichkeit. Er mag zwar an den Rollstuhl gekettet sein, doch er kann dich immer noch auf Händen tragen. Gib ihm eine Chance, einverstanden? Na los, geh zu ihm. Er wartet auf dich.“ Aufmunternd lächelnd legte Madan dem Mädchen seine Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. „Na los. Geh zu ihm. Er wird schon nicht beißen.“
 

Das Mädchen zögerte noch einen Moment, dann stand sie auf ging zu Samir hinüber, der aussah, als hätte er dringend eine kalte Dusche nötig, um wieder zu klarem Verstand zu kommen. Zufrieden setzte sich Madan auf den frei gewordenen Platz. „Ach ja, Kinder. Sie werden so schnell erwachsen. Finden Sie nicht auch?“

Die junge Frau neigte leicht den Kopf, während sie ihn eindringlich musterte. „Kann schon sein.“
 

Madan sah sie an, abermals fühlte er sich in ihren Bann gezogen. Das Kribbeln in seiner Brust nahm wieder zu, irgendwo schlugen wieder süße Himmelsglocken. „Sie sind süß“, entfuhr es ihm unwillkürlich, bevor er merkte, dass ihm diese Worte entglitten waren.
 

Empört sah die junge Frau ihn an. „Wie bitte?“
 

„Nicht sie, die Zwei da!“ Hastig deutete Madan auf seinen Bruder, der gerade das Mädchen anstrahlte, die ihm die Hand reichte. Doch irgendwie hatte er damit das Falsche gesagt.
 

„Sie Finden also nicht, dass ich süß aussehe?“, fragte die junge Frau ihn mit zusammengekniffenen Augen.
 

Irgendwie hatte Madan das plötzliche Gefühl, das es unglaublich heiß geworden war. „Ähm … doch, schon. Wie ein Engel.“
 

„Haben Sie nicht eben noch gesagt, dass meine kleine Schwester hier der Engel wäre?“, fragte sie lauernd.
 

Madan beugte sich ein wenig vor. „Was ist falsch daran, an einem Tag zwei Engeln zu begegnen?“
 

„Für jemanden, der noch nicht einmal Hallo gesagt hat, beginnen Sie aber ziemlich schnell zu flirten. Wir kennen uns noch nicht einmal.“
 

Oh verdammt. Sie hatte recht. Einen Moment kam Madan ins Schwanken. Wo hatte er denn nur seine guten Manieren gelassen! Er grinste verlegen. „Ich bitte um Entschuldigung. Hallo, ich bin Madan, und Sie?“
 

Die junge Frau lächelte ihn noch immer lauernd an. „Tia.“
 

„Tia.“ Dieser Name klang wie Musik in seinen Ohren. „Ein wunderschöner Name. Nun, der erste Schritt ist getan. Wir haben uns soeben kennen gelernt. Wollen wir gleich mit dem zweiten Schritt beginnen oder einfach nur reden.“ Irgendwo ganz tief in Madan befand sich in diesem Augenblick eine kleine Version von sich selbst, die sich die Haare raufte. Was war er doch für ein Idiot! So etwas konnte man doch nicht gleich beim ersten Treffen machen! Er würde sie noch vergraulen, bevor er die Chance hatte ihr Herz zu erobern! Du Volldepp. Tu was! Doch Madan lächelte nur freundlich.
 

Nicht ganz wissend, was sie von diesem jungen Mann halten sollte, lehnte sich Tia in ihrem Stuhl zurück. Er war ziemlich direkt, doch er hatte etwas in seinem Blick, etwas, was sie neugierig machte, obwohl sie solche direkten Typen eigentlich nicht leiden konnte. Vielleicht war es auch einfach nur die Art, wie er mit ihrer kleinen Schwester über seinen Bruder gesprochen hatte, die sie neugierig machte. Das war so süß gewesen. „Reden wäre für den Anfang nicht schlecht. Wir wollen ja nicht gleich übertreiben.“
 

In diesem Moment wurde Samir auch schon von dem Mädchen herangerollt. Der Junge lächelte seinen Bruder voller Dankbarkeit an, dieser lächelte zurück und zerzauste ihm liebevoll das Haar, was Tia einen leisen, sehnsuchtsvollen Seufzer entlockte, der zum Glück ungehört blieb.
 

„Tia“, begann das Mädchen, „das ist Samir.“
 

„Madan“, ergriff Samir das Wort, „das ist Nandini.“
 

„Nandini.“ Lächelnd beugte sich Madan vor. „Freut mich, dich kennen zu lernen, Prinzeschen. Ich bin Madan und das, Champ, ist Tia.“ Doch Samir interessierte sich nicht für Tia, sondern warf Nandini einen schwärmerischen Seitenblick zu, bevor er seinen Bruder zu sich heranwinkte.
 

„Gibst du mir Geld, damit ich sie zu einem Eis einladen kann? Das war deine Idee“, erinnerte er ihn. Unauffällig steckte ihm sein Bruder ein paar Rupien zu. „Nandini. Komm mit.“ Gemeinsam rollten sie von dannen.
 

Madan sah ihnen nach. Ein erleichtertes Lächeln legte sich auf sein Gesicht. Es war lange, sehr lange her, dass er seinen Bruder das letzte Mal so glücklich gesehen hatte. Ja, mit Hockeykarten machte er ihn froh, doch das war kein Ersatz für ein wirkliches Glücksgefühl. Madan empfand bei diesem Anblick unglaubliche Erleichterung.
 

„Es ist bestimmt nicht leicht für ihn“, sagte Tia, die seinem Blick gefolgt war. „Im Rollstuhl zu sitzen, meine ich.“
 

Madan schüttelte langsam den Kopf. „Nein, ist es nicht. Er versucht es sich nicht anmerken zu lassen, aber ich kann spüren, wie sehr es ihn quält, auch wenn er versucht, es vor mir zu verbergen. Früher war er ein Wildfang gewesen. Ständig draußen, ständig am Hockey spielen, immer war es eine Kraftanstrengung gewesen, ihn zurück ins Haus zu bewegen. Er hatte es immer gehasst, drinnen zu oder abhängig zu sein. Und jetzt? Jetzt ist für ihn das Spielen vorbei. Er kann ohne Hilfe nicht raus, ist ständig abhängig, kann nichts mehr alleine machen. Es ist wirklich nicht einfach für ihn.“
 

Tia sah ihn an. Die Traurigkeit in seiner Stimme berührte sie. So war es schon immer gewesen. Schon seit dem Sie ganz klein gewesen war, hatte sie immer gewusst, wann jemand Hilfe brauchte und wie diese Hilfe auszusehen hatte. Es war ein Instinkt, ein Instinkt, den sie von ihrem Vater geerbt hatte und dieser Instinkt sagte ihr, dass der junge Mann dringend jemanden zum Reden brauchte. Mitleidig berührte sie ihn am Arm. „Wie ist es passiert?“
 

Madan sah sie an. Irgendwie hatte er das Gefühl, sie schon ewig zu kennen. „Ein Unfall. Das Hockeyteam meines Bruders war von dem Team einer anderen Stadt herausgefordert worden, doch er hatte den Mannschaftsbus verpasst, sodass sein Vater zum Stadion in die andere Stadt hatte fahren wollen. Meine Mutter und Großmutter wollten sich das Spiel ebenfalls ansehen und so sind sie alle gemeinsam gefahren. Ich habe zu dem Zeitpunkt noch studiert, deswegen bin ich nicht dabei gewesen. Auf dem Weg hatte ein schwerer Sturm eingesetzt, dein richtiges Unwetter. Er war überraschend gekommen, ohne Vorwarnung. Seine Schäden waren schwer gewesen, der Wind so stark, dass er sogar Bäume entwurzelt hat. Einer dieser Bäume hat den Zaun einer Weide zerstört, sodass ein paar Kühe ausgebrochen sind. Einer dieser Kühe hatte sich bei strömenden Regen auf die Autobahn verirrt. Mein Onkel Papa hatte die Kuh zu spät gesehen und wollte ausweichen, doch dabei raste er in einen Lastwagen, überschlug sich, nahm ein zweites Auto mit sich und knallte mit voller Wucht gegen ein paar Bäume.“ Madan schloss für einen Moment die Augen, als der Schmerz ihn zu übermannen drohte. Wieder sah er vor sich die Gesichter jener Menschen, die er auf solch eine grausame Art verloren hatte. „In dieser Nacht habe ich meine ganze Familie verloren. Nur Samir ist mir noch geblieben.“ Madan lachte bitter auf. „Aber warum erzähle ich das alles? Solch eine Geschichte wollen Sie sicher nicht hören.“
 

„Ist schon gut. Ich habe ja gefragt.“ Sie sah ihm tief in die dunklen, traurigen Augen. „Was halten Sie davon, wenn ich ihnen einen Kaffee ausgebe?“
 

„Einen Kaffee? Sie? Normalerweise zahlt der Mann die Verabredung.“ Madan sah sie herausfordernd an.
 

Tia funkelte zurück. „Wieso denken alle Männer immer gleich, dass man sich mit ihnen verabreden möchte, wenn man fragt, ob sie einen Kaffee trinken wollen? Ich möchte mich nur dafür bedanken, dass sie ihrem Bruder Geld gegeben haben, damit er meine Schwester einladen kann. Glauben Sie, das hätte ich nicht bemerkt? Nehmen Sie es als ein kleines Dankeschön.“
 

„Wenn das so ist, dann werde ich mich hüten, nein zu sagen.“ Madan hatte sich lange nicht mehr in der Gegenwart eines Menschen so wohl gefühlt wie in der von Tia. Sie bezauberte ihn. Sie hatte irgendetwas an sich, was ihn innerlich bewegte. Sie bestellten sich beide einen Kaffee, der ihnen erstaunlich schnell gebracht wurde.
 

„Sie haben also studiert?“, fragte Tia.
 

„Ich musste abbrechen. Aber zuvor habe ich Literatur und Geschichte studiert. Was ist mit Ihnen? Sie sehen aus, als hätten Sie etwas im Köpfchen.“
 

„Ich studiere Soziologie. Hier in Bombay.“
 

„Soziologie!“ Madan war ehrlich überrascht. „Das ist ja interessant. Können Sie gut mit Menschen?“
 

„Sie reden mit mir.“ Tia lächelte. „Das ist schon mal eine ganze Menge wert. In der heutigen Gesellschaft redet man viel zu wenig Miteinander. Mein Vater war ein wenig überrascht, als ich ihm sagte, was ich studieren wolle, doch am Ende hat es ihn gefreut. Jetzt ist er sogar richtig stolz darauf. Er meint, dann gebe es zumindest einen in der Familie, der etwas Richtiges studiert hat.“
 

„Was macht denn Ihre Familie?“, fragte Madan neugierig. „Die meisten bei mir waren entweder Lehrer oder Soldaten.“
 

Tia winkte ab. „Ach, dies und das. Das kommt immer auf die Laune an“, sagte sie ausweichend. „Wir haben nicht wirklich eine Berufstradition. Mein Vater ist zufrieden, wenn wir vernünftige Abschlüsse haben, wissen, was wir im Leben wollen und einen Ehemann kriegen, der uns mehr liebt als er selber.“
 

„Sind Sie denn schon vergeben?“, fragte Madan in einem plötzlichen Anflug von Sorge.
 

Tias Augen funkelten schelmisch. „Was, wenn es so wäre?“
 

Madan spürte einen kleinen Stich in der Nähe seines Herzens. Langsam trank er einen Schluck Kaffee und sah ihn verwundert an. Das war das erste Mal seit Jahren, dass der Kaffee ihm wieder schmeckte. Seit dem Tod seiner Familie war er für ihn nur noch eine braune Brühe gewesen. „Der schmeckt ja gut.“
 

„Das hier ist auch eines der besten Kaffees in Bombay“, erklärte sie ihm. „Also? Was wäre, wenn ich schon vergeben wäre?“
 

„Dann müsste ihr Zukünftiger der glücklichste Mann auf Erden sein und er müsste sehr gut auf Sie aufpassen, denn ich kann mir vorstellen, dass es viele Männer gibt, die sich wünschen würden, Sie auf Händen zu tragen. Ich würde es tun“, fügte er leise hinzu und ihre Blicke trafen sich.
 

Tia spürte, wie sie leicht errötete, dann lachte sie hastig. „Das war nur ein Scherz. Ich bin noch nicht vergeben, obwohl es einige Männer gibt, die das ändern wollen. Aber das sind meistens Idioten. Ich kann Idioten nicht leiden.“ Madan verschluckte sich heftig an seinem Kaffee. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“
 

„Nein.“ Madan grinste schief. Sie mochte keine Idioten? Bisher hatte es noch keinen Menschen gegeben, der ihn nicht für einen Idioten gehalten hatte. In letzter Zeit taten das sogar sehr viele Menschen. So gut wie alle, bei denen er sich beworben hatte. „Nichts. Nur zu schnell getrunken.“ Er musste er nicht unbedingt sagen, dass er wohl der größte Idiot aller Zeiten war. Das brauchte sie nicht zu wissen. „Wollen Sie denn einmal heiraten?“, fragte er, um vom Thema abzuweichen.
 

Tia lächelte verträumt. „Ja. Aber erst, wenn ich den Richtigen gefunden habe.“
 

„Wie würde der Richtige denn aussehen?“
 

Sie brauchte nicht lange zu überlegen. „Der richtige Mann für mich müsste mir die Sterne vom Himmel holen können. Er müsste romantisch sein, kinderlieb, liebevoll, witzig, ehrlich und auf jeden Fall charakterstark. Außerdem muss er liebenswert sein, kochen können und, was das Wichtigste ist, er muss mir meinen Freiraum geben. Ich möchte einen Mann, der mich so liebt, wie ich bin und keinen, dem ich gehorchen muss.“
 

Irgendwo ganz tief in Madan drinnen, brach eine kleine Version von ihm in laute Jubelrufe aus. „Das kann ich alles bieten. Immerhin bedeutet mein Name liebevoll. Nur das Kochen … das könnte ein Problem werden.“ Madan verzog grinsend das Gesicht. „Mein Bruder meint, ich wäre ein furchtbarer Koch. Was sollte Ihr Zukünftiger nicht sein?“, fragte er, weiterhin innerlich am Jubeln. Lächelnd trank er einen weiteren Schluck Kaffee.
 

Tia überlegte einen Moment. „Er dürfte auf keinen Fall ein Schauspieler sein“, meinte sie schließlich, woraufhin sich Madan abermals heftig verschluckte. Hustend krümmte er sich auf dem Stuhl zusammen und klopfte sich hastig auf die Brust.
 

„Warum nicht?“
 

„Diese Schauspieler sind mir alle viel zu arrogant. Glauben Sie mir. Es ist furchtbar. So toll, wie sie im Fernsehen rüberkommen, sind sie gar nicht.“ Verstimmt trank sie den Rest ihres Kaffees. „Sind Sie in Ordnung, Madan?“
 

„Ja, schon gut“, würgte Madan, dessen kleines Ich gerade wie ein Häufchen Elend zusammenkauerte. „Kennen Sie denn ein paar Schauspieler?“
 

Tia winkte ab. „Jeder, der hier wohnt, lernt früher oder später einen kennen. Oh, die Kinder kommen wieder.“
 

Madan drehte sich um und lächelte, als er sah, wie Samir die Straße entlang rollte und gerade über etwas lachte, was ihm Nandini ins Ohr geflüstert hatte. Eine unglaubliche Erleichterung breitete sich in ihm aus, als er die beiden so zusammen sah. Es tat gut, den Jungen so zu sehen.
 

„Sie haben ihren Bruder wirklich gerne“, bemerkte Tia mit einem Anflug von Rührung. „Das sieht man ganz deutlich in ihrem Blick.“
 

„Er ist alles, was ich noch habe.“
 

„Sie sind ein guter Mensch.“
 

Madan sah auf, als diese Worte in seinem Inneren widerklangen. Noch nie hatte das jemand so etwas zu ihm gesagt. Er sah die junge Frau an, und als sich ihre Blicke trafen, wusste er, dass er ohne sie nicht mehr leben konnte. Das war verrückt, doch es war ihm egal. Es war das, was er wahrlich empfand, als er sich in ihren tiefen Augen verlor. Plötzlich gab es so vieles, was er ihr hätte sagen wollen, doch kein Wort entkam seinen Lippen. Er saß einfach nur da und sah sie an.
 

„Tia?“, fragte Nandini plötzlich, als die beiden ihren Tisch erreicht hatten. „Können wir morgen noch einmal hier herkommen. Samir hat gesagt, dass hier morgen ein super Sänger auftreten soll, den wir uns unbedingt anhören sollten. Er wäre morgen auch hier.“
 

„Ein super Sänger?“, fragte Tia verwundert. „Davon wusste ich ja noch gar nichts. Wer ist es denn?“
 

Samir zuckte grinsend mit den Schultern. „Das ist ein großes Geheimnis. Vertrau mir, Tia. Das wird super! Madan wird auf jeden Fall morgen auch da sein“, fügte er verschwörerisch hinzu.
 

Madan runzelte verwirrt die Stirn. Irgendetwas sagte ihm, dass da gerade etwas nicht koscher war, doch so sehr er auch darüber nachdachte, er kam nicht darauf. Aber plötzlich riss ihn das echte Leuten einer Glocke in die Wirklichkeit zurück. „Oh verdammt!“
 

Überrascht sah ihn Tia an. „Was ist denn los?“
 

„Ich habe gleich einen wichtigen Termin.“
 

Samir erbleichte. „Oh Mist. Madan, wir müssen uns beeilen.“
 

Madan gefiel es überhaupt nicht, Tia verlassen zu müssen, doch er hatte keine andere Wahl. Entschuldigend sah er die junge Frau an. „Ich hoffe wir sehen uns morgen wieder.“ Mit diesen Worten stand er auf, wuschelte Nandini durchs lange Haar und eilte mit seinem Bruder los, nicht ohne sich noch einmal umzudrehen und zu sehen, wie Tia ihm zuwinkte.
 

„Du, Madan?“, fragte Samir verwundert. „Du weißt schon noch, dass du morgen der Sänger bist, oder?“
 

Madan erstarrte. Das hatte er ja vollkommen vergessen. Morgen war er ja als Straßenmusikant unterwegs! Tia würde ihn auslachen, wenn er ihn morgen so sehen würde. Warum musste das Leben nur immer so grausam sein?

Gib niemals auf

Das Bewerbungsgespräch lief für Madan mehr als nur katastrophal und als er und Samir an diesem Abend nach Hause kamen, wartete ein neuer Stapel Rechnungen auf ihn, die dringend beglichen werden musste, was ihm immer größeren Kummer bereitete. Egal was er auch tat, der Stapel schien immer größer anstatt kleiner zu werden. Die Medikamente wurden immer teurer, eine Mieterhöhung war vorgenommen worden und zu allem Überfluss brauchte Samirs Schule einen höheren Betrag von ihm, da Förderungsgelder gestrichen worden waren. Langsam bekam Madan Angst und als er zu später Stunde seine Finanzen nachrechnete, stellte er mit Entsetzen fest, dass er und sein Bruder in spätestens einem halben Jahr auf der Straße landen würden, wenn nicht bald etwas geschah. Die ganzen Krankenrechnungen kosteten ihn ein Vermögen. Wo sollte er das nur je alles bezahlen?

In dieser Nacht betete Madan wie schon so oft für ein Wunder, dass ihn und seinen Bruder retten konnte.
 

„Sie ist da.“
 

„Wirklich? Wo?“
 

„Genau am selben Platz wie gestern. Siehst du sie?“
 

Madan schirmte seinen Blick vor der Sonne ab und endlich erblickte er Tia mit ihrer Schwester im Kaffee, genau wie verabredet. Sie waren gekommen, sie waren wirklich gekommen. Madan lächelte glücklich. Es tat unglaublich gut, die junge Frau wieder zu sehen, obwohl er sie so gut wie gar nicht kannte. „Ja, ich sehe sie. Sehe ich gut aus?“
 

„Besser als je zuvor. Also. Ich rolle zu ihnen hinüber und du machst deine Gesangsnummer, okay?“, fragte Samir voller Eifer. Er brannte förmlich darauf, Nandini wieder zu sehen und jede verschwendete Sekunde war für ihn wie eine Qual. „Also dann. Du schaffst das schon.“ Munter rollte er los, ohne auf den stummen Protest seines Bruders zu achten. Nandini sah ihn zuerst und winkte freudestrahlend.
 

„Da ist Samir!“
 

Tia sah von ihrer Zeitschrift auf. „Ja. Samir! Wo hast du denn deinen Bruder gelassen?“
 

„Och, der kommt gleich.“ Samir grinste verschmitzt.
 

Währenddessen war Madan das reinste Nervenbündel. Was würde Tia von ihm denken, wenn sie ihn als einfachen Straßenmusikanten sah? Wäre sie enttäuscht? Was, wenn ihm die Stimme abhandenkam und er sich vor aller Augen lächerlich machte? Eigentlich wäre ihm das gestern noch egal gewesen, doch jetzt hatte es sich schlagartig geändert. Tia sollte nichts Schlechtes von ihm denken. Sie sollte nicht wissen, was für Minijobs er tat, um immerhin etwas Geld zu verdienen. Nicht einmal Samir wusste, was er alles für seinen kleinen Bruder auf sich nahm, nur damit dieser medizinisch versorgt werden konnte und es brauchte auch niemand zu wissen. Das er Toiletten reinigte, Würstchen verkaufte, Dosen sammelte und verscherbelte, und sogar, wenn es sein musste, als Versuchskaninchen herhielt. Erst letzte Woche hatte er ein neues Nahrungsmittel getestet, das ihm noch immer quer im Magen lag. Ebenso war er Blutspender, doch in letzter Zeit hatte man ihm geraten, es nicht zu sehr zu übertreiben.
 

„Okay, Madan“, ermahnte er sich schließlich selber. „Das reicht jetzt. Bist du ein Mann, oder eine Maus? Das ist jetzt deine Gelegenheit, Tia zu beeindrucken. Du schaffst das. Du bist zwar kein musikalisches Wunderwerk, aber immerhin bist du kein Glaszersprenger. Du gehst jetzt da hinaus und singst, als würde es um dein Leben gehen … Gut, das wäre nicht einmal gelogen. Du nimmst jetzt gefälligst deine Trommel und schwingst deinen Hintern hinaus!“ Vorsichtig lugte Madan um die Ecke, zog sich jedoch rasch wieder zurück, als Tia zufällig in seine Richtung blickte. Sie war so wunderschön…
 

„Reiß dich zusammen, Junge.“ Madan holte tief Luft, dann griff er nach seiner Trommel. Eigentlich war es nicht einmal seine. Er hatte sie sich von einem Bekannten geliehen. „Zeig es ihnen.“ Für einen kurzen Moment schloss er die Augen, dann faste er sich ein Herz. Mit entschlossener Miene trat er aus dem Schatten hervor. „Der Sonne Licht verblasst, der Mond scheint hell und klar“, begann er voller Leidenschaft. „Wie kann es nur sein, dass der Himmel vor mir zerfließt? Ich stehe still, die Erde beginnt sich zu drehen. Mein Herz rast davon, die Luft bleibt mir weg. Sag, bin ich zum ersten Mal verliebt?“
 

„Da ist Madan!“, rief Nandini überrascht, als sie den jungen Mann erkannte, der auf einen Brunnen sprang, um besser gesehen zu werden. Menschen blieben auf der Straße stehen und beäugten ihn neugierig, doch es interessierte ihn nicht. Es gab nur drei Menschen, für die er spielte und diese drei Menschen sahen ihn an, zwei überrascht, der dritte aufgeregt grinsend.
 

„Sag, bin ich zum ersten Mal verliebt, sag bin ich zum ersten Mal verliebt?“
 

Tia errötete, als sich für einen kurzen Moment ihre Blicke trafen, doch dann räusperte sie sich vernehmlich. „Macht dein Bruder so etwas öfter?“
 

„Nein.“
 

„Pst“, zischte Nandini vergnügt, „ich will zuhören.“
 

„Genieße diesen wunderbaren Augenblick, in dem alles anders wird, denn unsere Träume werden endlich war. Ist es das Wunder der Liebe, das es seit Jahrhunderten gibt, das uns gefangen wird?“
 

Irgendwo erklangen einige verzückte Seufzer von einigen jungen Frauen, die Madan verträumte Blicke zuwarfen und leise kicherten, wenn er in ihre Richtung sah. Grüppchen blieben auf der Straße stehen um ihm zu lauschen. Er war zwar nicht der beste Sänger der Welt, doch seine Stimme hatte einen so unglaublich verführerischen Unterton, dass die ersten Männer besorgt die Stirn runzelten und den Griff um ihre Frauen und Freundinnen festigten und irgendwie hatte Tia das Gefühl, dass nur für sie gesungen wurde. Aber eines musste man dem jungen Mann zugestehen, er war eindeutig keiner von den Idioten, mit denen sie sonst zu tun hatte und die Art, wie er sich um seinen Bruder sorgte, ließ sie erahnen, was für ein Mensch er war, ein Mensch, bei dem es nicht schaden konnte, ihn besser kennen zu lernen.
 

Und so hatten sowohl Madan als auch Samir endlich zwei weitere Menschen gefunden, die ihr Leben ein wenig bereicherten. Die Vier trafen sich so oft es ging, doch Madan hütete sich davor, etwas über sein Berufsleben preis zu geben. Seltsamerweise tat Tia das Gleiche, zumindest was ihre Eltern anging, doch der junge Mann hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, denn die Bewerbungen und Minijobs nahmen ihn immer mehr in Anspruch. Langsam begann der Stress an seinen Nerven zu zerren. Er wurde immer gereizter und mürrischer, was er jedoch einigermaßen hinter einer Maske verbergen konnte, auch wenn er sich sehr schlecht dabei fühlte, jemanden etwas vorzumachen, dem er sehr nahe stand, besonders wenn es um Samir ging. Ohne dass es der Junge es bemerkte, begann Madan auf immer mehr auf persönliche Sachen zu verzichten. Bekam Samir ein Eis, gönnte er sich keins, gingen sie Essen, kaufte er sich immer das Günstigste, selbst wenn es ihm nicht schmeckte. Derweilen nahm der Berg von Absagen immer mehr zu.
 

„Es tut mir Leid, Mr. Khan“, sagte ein rundlicher Mann mit entschuldigender Miene, „aber sie erfüllen unsere Voraussetzungen nicht.“
 

„Es tut uns Leid, Mr. Khan“, sagte ein anderer Mann, „aber ich glaube nicht, dass Ihnen ein Job bei uns gefallen würde. Ich sehe Sie einfach nicht als Verkäufer in unserer Supermarktkette.“
 

„Es tut mir Leid, Mr. Khan“, meinte ein alter Kauz, „aber wir können Sie hier nicht gebrauchen. Warum studieren Sie nicht zu Ende?“
 

Madan ersparte sich eine Antwort. Wie lange sollte das Ganze noch so weiter gehen? Das Schlimmste war, dass er genau wusste, was er tun konnte, aber das kam für ihn überhaupt nicht in Frage. Einige Ärzte, denen seine finanzielle Situation vertraut war, hatten ihm geraten, seinen Bruder in eine Pflegefamilie zu geben, die sich um ihn kümmern würde, so dass er, Madan, sein eigenes Leben führen konnte. Madan hatte keinen dieser Ärzte je wieder besucht. Seinen Bruder weggeben? Das kam überhaupt nicht in Frage! Nein, Samir gehörte zu ihm. Er würde einen Weg finden, wie er alles wieder unter Kontrolle bekam. Es gab immer einen Weg, man musste ihn nur finden und in seinem Fall musste das sehr schnell sein. Die Zeit lief ihm davon. Aber was sollte er nur machen?
 

„Du siehst müde aus“, bemerkte Tia besorgt, als sie eines Abends gemeinsam an einer Promenade entlang spazieren gingen. Die Sonne ging langsam am Horizont unter und färbte das Meer in einen goldenen Glanz. Das sanfte Rauschen der Wellen erfüllte die salzige Luft.
 

„Ich hatte eine lange Nacht“, wich Madan unbehaglich aus.
 

„Machst du dir Sorgen um deinen Bruder?“
 

„Ihm geht es gut.“ Madan zwang sich zu einem zuversichtlichen Lächeln. „Er ist nur im Krankenhaus, weil die Ärzte ihn noch einmal richtig untersuchen wollen. Das machen sie jedes Quartal. Wir sind mittlerweile daran gewöhnt. Morgen hole ich ihn wieder ab.“
 

„Was ist es dann?“ Tia blieb stehen und sah ihm fest in die Augen. „Du wirkst wirklich in letzter Zeit ziemlich geschlaucht.“
 

„Ich glaube, ich brühte irgendetwas aus“, log Madan ohne rot zu werden, doch in seinem Inneren wandte er sich vor Gewissensbissen. „In letzter Zeit fühle ich mich ein wenig matt.“
 

„Ach wirklich? Vielleicht sollte ich dich mal besuchen kommen und dich Omas Spezialrezept kosten lassen. Danach, glaube mir, wirst du nie wieder krank werden. Papa meint immer, das Rezept wäre so wuchtig, dass die Krankheitszellen freiwillig Selbstmord begehen.“
 

„So schlimm?“, fragte Madan schmunzelnd.
 

„So wirkungsvoll. Meine Oma war die beste Köchin der Welt und wenn man mal nicht gespurtet hatte, bekam man das mit dem Essen zu spüren. Ja, Oma war eindeutig der Chef im Haus.“
 

„War sie das?“, fragte Madan, vor dessen geistiges Auge das Bild einer alten Frau auftauchte, die ihn für seine Lügengeschichten strafte, indem sie ihm einen furchtbaren Fraß vor die Nase setzte. Eine Gänsehaut überkam ihn. „Dann muss ich das Essen unbedingt mal probieren. Wie wäre es mit diesem Wochenende? Was hältst du davon?“ Tia strahlte ihn mit solch einer Freude an, dass er sich irgendwie Sorgen machte.
 

„Na endlich!“, rief sie. „Endlich sehe ich mal, wo und wie du wohnst. Das interessiert mich schon seit Wochen!“
 

„Einen Moment“, warf Madan hastig ein. „So haben wir nicht gewettet. Mit Essen mitbringen, meinte ich nicht Essen mit zu mir bringen, sondern Essen an den Strand bringen. Wir essen am Strand. Alle gemeinsam. Du, ich, Nandini und Samir. Nur wir vier.“
 

„Wieso habe ich andauernd das Gefühl, dass du irgendwas vor mir zu verheimlichen versuchst?“, fragte ihn Tia ein wenig vorwurfsvoll.
 

Madan seufzte schwer. „Es gibt Bereiche in meinem Leben, über die ich einfach noch nicht sprechen kann. Kannst du das verstehen?“
 

Langsam schüttelte Tia den Kopf. „Nein. Aber vielleicht werde ich es eines Tages können. Ich vertraue dir. Eines Tages wirst du bestimmt über alles mit mir reden, nicht wahr?“
 

Er sah sie an. Ein strammer Wind blies ihr ihre Haare ins Gesicht, die sie nur schwer bändigen konnte. Er mochte es, wie sie ihr Gesicht so umspielten. „Eines Tages werde ich dir alles sagen“, versprach er ihr und nahm ihre Hand. Sie war schön warm und ihre Armreife klimperten leise, als er sie an sein Gesicht führte, um sie zu küssen. „Doch im Moment kann ich es noch nicht. Ich würde es gerne, wirklich, doch es geht nicht. Nicht jetzt. Bitte warte noch eine Weile. Im Moment habe ich einfach zu viel, um das ich mich kümmern muss.“
 

„Ich könnte dir helfen, wenn du mich lassen würdest.“
 

Madan lächelte sie traurig an. „Ich weiß. Und dafür danke ich dir von ganzem Herzen. Du hast keine Ahnung, wie viel mir das bedeutet, wie sehr ich dieses Wissen brauche. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie es sich anfühlt zu wissen, dass es Menschen gibt, die man um Hilfe bitten kann. Das ist ein unglaubliches Gefühl, dass ich lange nicht mehr gespürt habe. Dafür danke ich dir, Tia.“
 

Es waren Momente wie diese, die ihr vor Augen führte, wie viel Leid Madan empfinden musste, den er ansonsten vor der Welt zu verbergen versuchte. Er hatte viel Schmerz verspürt in seinem jungen Leben, doch sie hatte das Gefühl, dass sich noch viel mehr dahinter verbarg, als er es Preis zu geben wagte. Unsicher lächelte sie ihn an. „Was immer es auch ist, ich bin sicher, dass es sich wieder einrenken wird.“
 

Madan betete, dass sie Recht behalten möge und tatsächlich. Als er an diesem Abend nach Hause zurück kehrte, fand er im Briefkasten einen Umschlag, der das enthielt, was er schon beinahe vergessen hatte. Das Empfehlungsschreiben von Raj Kota. Mit zitternden Händen hielt er den Umschlag fest. Das hier war es, dass hier war die Chance, auf die er so lange gewartet hatte.
 

Madan hasste Krankenhäuser, doch sie blieben ihm nicht erspart. Mit vor der Brust verschränkten Armen stand er am Fenster im Wartezimmer und beobachtete die Straße, auf der die Autos entlang bretterten. Hinter ihm stand ein Arzt, dass wusste er, doch er drehte sich nicht zu ihm um. Er hatte schon zu viele Ärzte in seinem Leben gesehen und fast alle hatten ihm nur schlechte Nachrichten überbracht. „Wie geht es Samir?“, fragte er gerade heraus.
 

„Ihrem Bruder geht es den Umständen entsprechend. Was mir jedoch Sorgen bereitet ist, dass manche Medikamente bei ihm keine Wirkung zu zeigen scheinen.“
 

„Welche?“
 

„Ein paar. Aber am besorgniserregendsten ist das Clonazepam. Ich empfehle Ihnen dringend eine Umstellung auf Diazepam.“
 

„Diazepam?“ Madan wandte sich besorgt um. „Wie viel würde das zusätzlich kosten?“
 

„Ein paar hundert Rupien.“ Madan verzog das Gesicht, doch der Arzt fuhr unbeirrt fort. „Da ist noch etwas anderes, worüber ich mit Ihnen sprechen wollte, Mr. Khan. In Amerika wurde vor kurzem ein neues Verfahren entwickelt, dass Menschen wie ihrem Bruder bessere Lebensqualität sichern kann. Es handelt sich dabei um einen chirurgischen Eingriff. Sie sollten das vielleicht in Erwähnung ziehen, wenn die neuen Medikamente ihrem Bruder nicht helfen sollten. Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen einige Informationsunterlagen mit.“
 

„Tun Sie das bitte.“
 

Der Arzt nickte, dann zog er sich zurück und ließ Madan alleine, der an ein anderes Fenster trat, das ihm Einsicht in ein Zimmer gewährte, in dem eine Krankenschwester seinem Bruder beim einkleiden half. Als er das Zimmer verließ, schien er unglaublich erleichtert zu sein.
 

„Können wir jetzt endlich nach Hause gehen?“, fragte er mit bleichem Gesicht. Er sah nicht wirklich gut aus und es zerriss Madan das Herz, ihn so zu sehen. Immer, wenn Samir das Krankenhaus verließ, ging es ihm eine Zeit lang nicht gut. Normalerweise machte ihm Madan immer kleine Geschenke, um ihn aufzuheitern, doch das konnte er sich nicht mehr leisten.
 

„Ja, das können wir.“ Madan lächelte Samir aufmunternd zu. „Und weißt du was? Ich bin morgen zu einem Casting eingeladen worden.“
 

„Wirklich?“ Für einen kurzen Moment glomm Feuer in Samirs Augen auf, doch die Glut verblasste rasch wieder. „Für welchen Film denn?“
 

„Das weiß ich nicht so genau. Aber es ist ein Liebesfilm. Das wird bestimmt toll werden!“
 

„Darf ich mitkommen und zusehen?“
 

„Ich weiß nicht, ob sie das erlauben“, antwortete der junge Mann ehrlich, bereute diese Worte jedoch sofort, als Samir traurig den Kopf senkte. „Hey. Ich bin sicher, dass sie bei dir eine Ausnahme machen werden. Fragen kostet ja nichts und zur Not wartest du einfach im Wartezimmer. Dann kannst du sofort erfahren, ob ich angenommen worden bin oder nicht. Was hältst du davon?“
 

„Sie nehmen dich bestimmt!“, ermunterte ihn Samir überzeugt. „Du kannst das, da bin ich sicher. Alles ist möglich. Man darf nur niemals aufgeben, nicht wahr? Nicht war, Madan?“
 

„So ist es, Champ. Man darf niemals aufgeben. Nur wenn man kämpft, kann man auch etwas erreichen.“

Nur eine Chance

Madan lächelte seinem Bruder aufmunternd zu, als sie gemeinsam am Tage des Castings in einem langen Flur warteten. Sie waren alleine. All jene, die mit ihnen zusammen gewartet hatten, waren schon längst an der Reihe gewesen, darunter Männer und Frauen, die Madan schon oft im Fernsehen gesehen hatte, doch sie hatten keine Notiz von ihnen genommen. Nur Samir hatte Beachtung gefunden, wenn auch auf einer Art, die er nicht leiden konnte: als kleinen Jungen im Rollstuhl, den es zu bemitleiden galt.
 

Sie warteten schon seit einer ganzen Weile und langsam begann Madan immer öfter auf die Uhr zu blicken. Er hatte die schmerzvolle Erfahrung gemacht, dass es nie gut war, wenn man lange warten musste. Meist wurde man dann immer in letzter Minute dazwischen gequetscht, sodass man gar keine Chance hatte, sein Können unter Beweis zu stellen, was wiederum bedeutete, dass man nur der Form halber eingeladen worden war.
 

„Muss man immer so lange warten?“, fragte Samir gähnend und zog seine Kappe tiefer ins Gesicht.
 

„Manchmal“, antwortete Madan gedehnt. „Das kommt immer darauf an, wie die Leute sind, die vor dir an der Reihe waren. Manche sind schnell durch, manche brauchen länger. Aber keine Sorge. Das Beste hebt man sich immer bis zum Schluss auf.“ Zuversichtlich grinsend klopfte Madan seinem Bruder auf die Kappe, die sich der Junge murrend wieder zurechtrückte.
 

„Na das hoffe ich auch. Ich habe den anderen in der Schule bereits gesagt, dass mein Bruder demnächst in einem Kinofilm mitspielt.“
 

„Du hast was?“ Madan spürte, wie sich in ihm irgendetwas schmerzhaft zusammenzog. „Samir … So etwas musst du doch nicht gleich jedem erzählen.“
 

„Warum denn nicht? Ich glaube an dich, Madan. Du kannst alles. Das war schon immer so, warum sollte es jetzt anders sein? Alles ist möglich, dass hast du gesagt. Ich bin mir sicher, dass du es schaffen wirst. Ansonsten werde ich mir die Idioten da drinnen persönlich vorknöpfen!“ Um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, legte er seine Hände um eine imaginäre Kehle. „Niemand wird es wagen, dich abzulehnen. Dazu bist du bestimmt viel zu gut.“
 

„Samir“, begann Madan, hin und her gerissen zwischen Freude, dass sein kleiner Bruder so viel Vertrauen in ihn setzte, und Sorge, denn der Junge schien seine Worte etwas anders aufzufassen, als sie gemeint gewesen waren. „Es kann aber auch möglich sein, dass sie mich nicht nehmen.“
 

Energisch schüttelte Samir den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass du alles erreichen kannst. Wenn du es schaffst, Schauspieler zu werden, dann ist alles möglich, dass hast du selbst gesagt. Wenn du Schauspieler werden kannst, dann kann ich vielleicht …“ Samir brach abrupt ab und senkte den Blick, ohne den Satz zu beenden, der unvollendet in der Luft verhallte.
 

„Wenn ich Schauspieler werden kann“, antwortete Madan mit einem Kloß im Hals, „wirst du vielleicht auch wieder laufen können. Ist es das?“ Samir sah ihn nicht an. Der junge Mann seufzte schwer. „Samir-“
 

„Ich weiß, dass ich vielleicht nie wieder laufen kann“, fuhr ihm Samir mit brüchiger Stimme ins Wort, „aber die Möglichkeit besteht noch, nicht wahr? Es ist möglich, dass ich vielleicht wieder laufen kann, nicht wahr? Es ist alles möglich. Selbst das Unmögliche! Und wenn du es schaffst, hier Schauspieler zu werden, dann … dann …“ seine Stimme versagte ihm, eine traurige Stille brach über dem Gang hinein. Niemand rührte sich. Madan saß einfach nur da und sah seinen Bruder an, der sein Gesicht noch tiefer im Schatten seiner Kappe verborgen hatte. Er fühlte sich elend, denn es gab da etwas, was er noch nicht gewagt hatte, seinem Bruder mitzuteilen, denn es würde ihn nur unnötig in Panik versetzen.
 

Plötzlich wurde knarrend eine Tür geöffnet.

„Danke, dass Sie gekommen sind, Vaman“, erklang eine brüchige Stimme. „Wir werden uns ganz sicher bei ihnen melden. Das verspreche ich ihnen. In spätestens drei Tagen werden Sie das Skript auf dem Tisch haben.“
 

„Ich verlasse mich darauf“, antwortete ein Mann mittleren Alters strahlend, bevor er sich umwandte und den Gang entlang marschierte.
 

Madan spürte, wie sein Herz zu rasen begann. Er war jetzt dran. Zögernd stand er auf und blickte zur Tür, durch die sein Vorgänger gerade herausgekommen war. Sie hatte sich wieder geschlossen.
 

„Was bedeutet das?“, fragte Samir ein wenig beunruhigt. „Haben sie dich vergessen?“
 

„Nein. Sie haben sicher nur etwas zu bereden.“ Madan holte tief Luft. Dies war seine Chance. Er musste sie nutzen. Doch warum war die Türe wieder zu? Und was hatte es zu bedeuten, dass sein Vorgänger das Manuskript zugeschickt bekommen würde? War die Rolle etwa bereits vergeben?
 

Da öffnete sich die Tür knarrend wieder. „Mr. Khan?“, fragte ein kleiner Mann, der seinen Kopf aus der Tür steckte. „Kommen Sie bitte herein.“
 

„Du schaffst das“, flüsterte Samir leise. „Ich glaube an dich.“
 

Madan lächelte ihn an, dann betrat er das Zimmer. Vier Männer und eine Frau saßen an einem langen Tisch, der voll bepackt war mit Papierbögen und Trinkgläsern, die gerade nachgefüllt wurden. Im Hintergrund standen weitere Männer, in Anzug und Krawatte gekleidet, sodass sich Madan mit seinem Hemd und seiner ausgebleichten Hose ein wenig schäbig vorkam. Es war heiß im Raum, niemand hatte sich die Mühe gemacht ein Fenster zu öffnen und in der Luft hing ein beißender Zigarettengeruch herum, der den jungen Mann die Nase rümpfen ließ. Das Ganze hier wirkte nicht wirklich wie ein Casting, sondern hatte viel mehr den Flair einer Anwaltskanzlei, in der es ein wenig lockerer zuging als normal. Madan verwirrte dies. Hatte er sich etwa im Zimmer geirrt? Als er leise die Tür hinter sich schloss, verstummten die Gespräche, die eben noch vorgeherrscht hatten. Der junge Mann fühlte sich plötzlich wie auf dem Präsentierteller.
 

„Kommen Sie näher, Mr. Khan“, forderte ihn der kleine Mann auf. „Lassen Sie sich ansehen. Was hältst du von ihm, Deepak?“
 

Ein Mann um die sechzig mit fast vollständig ergrautem Haar stand auf, trat auf Madan zu und betrachtete ihn eindringlich mit Kennerblick.
 

Madan spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Sein Puls raste, seine Beine wurden weich. Deepak. Deepak Kapoor, einer der berühmtesten Regisseure Indiens, stand gerade nur wenige Zentimeter von ihm entfernt! Hoffentlich machte er einen guten Eindruck auf ihn. Plötzlich viel ihm ein, dass ein junger Mann, der gerade wirken musste wie ein nervöses Frag, keinen guten Eindruck machen musste und riss sich ernsthaft zusammen. Nur wenige Sekunden später wurde hinter ihm eine kräftige Stimme laut.
 

„Wissen Sie, wer ich bin, Madan?“
 

„Sie sind Deepak Kapoor. Einer der größten Regisseure Indiens.“
 

„Dann haben Sie mir etwas voraus, denn ich habe noch nie von Ihnen gehört.“
 

„Das können Sie auch gar nicht“, antwortete Madan ungerührt und widerstand dem Zwang sich umzudrehen, um den Mann in die Augen zu blicken. Sein Instinkt riet ihm dazu, es nicht zu tun. „Bisher hatte ich leider noch nicht die Ehre, vor der Kamera zu stehen.“
 

Deepak sagte nichts dazu, sondern ging wortlos an ihm vorbei, setzte sich wieder hin und wechselte leise mit einem Mann, der hinter ihm stand, ein paar Worte. Madan kam der stehende Mann irgendwie vertraut vor, doch er konnte ihn nicht einordnen, also wandte er seine Aufmerksamkeit auf die Frau, die am Ende des Tisches saß, und wäre beinahe aus allen Wolken gefallen. Das war doch Kamala, eine der erfolgreichsten Schauspielerinnen, die es zurzeit gab! Sie saß da, trank einen Schluck Wasser und begutachtete ihn kritisch. Er lächelte sie ein wenig schüchtern an, doch dann wandte sie sich von ihm ab um ebenfalls mit Deepak ein paar Worte zu wechseln, dann stand sie auf und verließ durch eine Hintertür den Raum.
 

Der kleine Mann räusperte sich wieder, nahm Madans Akte in die Hand und blätterte kurz darin herum, bevor er den jungen Mann zum ersten Mal wirklich ansah. „Ihrer Akte entnehme ich, dass Sie noch keine praktische Erfahrung haben, sehe ich das richtig?“
 

„Keine praktische Erfahrung vor der Kamera“, bestätigte Madan. „Aber Erfahrung auf der Bühne.“
 

„Bühnenerfahrung in einer Studententheatergruppe.“
 

„Einer Studententheatergruppe, die von Raj Kota geleitet wurde“, korrigierte Madan. „Er hat auch eine Empfehlung hinzugefügt. Wenn ich sie Ihnen zeigen dürfte …?“ Er schickte sich an, nach seiner Akte zu greifen, doch der kleine Mann entzog sie ihm.
 

„Ich habe die Empfehlung gelesen“, warf Deepak ein. „Sie klingt danach, als hätte er Sie beinahe adoptiert. Madan Khan ist wohl das größte Talent, dass ich während meiner Kariere und auch danach je zu Gesicht bekommen habe“, zitierte er. „Seine Interpretationen von Rollen entsprechen einer Reife, die ich nur selten bei jemandem gesehen habe, sein Spiel ist kein Spiel. Es ist die Wirklichkeit.“ Deepak lehnte sich tief in seinem Stuhl zurück. „Was können Sie dazu sagen?“
 

Madan sah ihn überrascht an. „Dass ich vielleicht diese Behauptungen mit einer Demonstration untermauern sollte?“, schlug er vor.
 

„In ihren Akten steht des weiteren“, fuhr der kleine Mann fort, „dass Sie ansonsten keine richtige Schauspielausbildung besitzen. Ihre ganze Erfahrung beruht auf das, was Raj Ihnen beigebracht hat, was sich allerdings auf die Bühne beschränkt und nicht auf die Kamera. Das ist ein großer Unterschied.“
 

„Welche Rollen haben Sie bisher gespielt?“, fragte der bärtige Mann im Hintergrund, den Madan nicht zuordnen konnte.
 

„Asoka, Raj Kapur in einem von Mr. Kota geschriebenem Stück und Devdas.“ Letzterer hatte es nicht mehr auf die Bühne geschafft, denn ein schwerer Unfall hatte sein ganzes Leben verändert. Es waren nicht viele Rollen, das stimmte leider, aber dafür hatte Mr. Kota viel Wert auf die Grundausbildung gelegt, damit die jungen Menschen eine Basis hatten, auf die sie aufbauen konnten.
 

„Devdas.“ Deepak grinste den bärtigen Mann an. „Der steht doch bei dir als Nächstes an, nicht wahr?“ Falls er irgendeine Reaktion erwartet hatte, so wurde er enttäuscht.
 

Der kleine Mann räusperte sich, schloss die Akte und schob sie von sich weg. „Das ist nicht gerade viel.“
 

„Das weiß ich“, antworte Madan ein wenig steif. „Aber es ist immerhin etwas. Und etwas ist etwas, auf das man aufbauen kann. Lassen Sie mich Ihnen etwas vorführen. Dann können Sie sich selber davon überzeugen, wie viel Erfahrung ich habe.“
 

Der kleine Mann warf Deepak einen fragenden Blick zu. Dieser lehnte sich weiter nach vorne und stützte sich auf den Tisch, die Haarsträhne ignorierend, die ihm übers Auge fiel. „Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein, Madan“, begann er und der junge Mann wusste sofort, was diese Worte zu bedeuten hatten. Etwas schien in seinem Inneren zu Eis zu erstarren. „Sie passen nicht in meine Vorstellung des Mannes, den es hier zu besetzen gilt. Zumal hat die Rolle bereits jemand anderer erhalten. Es tut mir sehr leid.“
 

Madans Gesicht wurde zu einer eisernen Maske, als der Eisklumpen in ihm in tausend Stücke zerbrach, die sich in sein Fleisch bohren zu schien. Schon wieder eine Chance verpasst, ohne sie wirklich erhalten zu haben. Das war nicht fair! „Und warum, wenn ich fragen darf, haben Sie mich nicht gleich weggestellt, anstatt mich hereinzuholen und mir falsche Hoffnungen zu machen?“
 

„Ich wollte den Mann kennen lernen, von dem Raj so schwärmt. Ich habe drei Filme mit ihm gedreht, alle drei erfolgreich. Wir kennen uns recht gut und ich weiß, dass er eher schwer zu beeindrucken ist. Allerdings neigt er oft zu Übertreibungen und schlechten Scherzen. Es tut mir leid, Ihnen etwas von Ihrer Zeit gestohlen zu haben.“
 

„Ja, mir auch.“ Enttäuscht wandte sich Madan ab, doch dann fiel sein Blick durch ein Fenster, durch das man in den Gang blicken konnte. Samir saß vor der Tür, die Hände gefaltet. Betete er etwa? Aus Enttäuschung wurde Wut, Wut auf sich selber, dass er versagt hatte. Wie konnte er nur seinem Bruder wieder vor die Augen treten? „Können Sie mir auch sagen, was ich jetzt zu meinem Bruder sagen soll?“, fragte er mit düsterer Stimme und wandte sich wieder um. „Soll ich etwa hier herausgehen und meinem Bruder sagen, dass man mir noch nicht einmal eine Chance gegeben hat, mein Talent unter Beweis zu stellen? Wie soll ich ihm sagen, dass sein Bruder nicht sein bestes geben konnte, obwohl ich ihm beizubringen versuche, dass man alles erreichen kann, wenn man es nur versucht und immer sein bestes dabei gibt? Wie soll ich ihm je wieder vor die Augen treten, wenn ich weiß, dass nicht einmal ich meine eigenen Werte erfüllen kann? Können Sie mir das sagen, Mr. Kapoor? Können Sie mir sagen, wie ich ihm beibringen kann, dass sein großer Bruder versagt hat, ohne auch nur etwas von dem zu zeigen, was in ihm steckt?“ Madan sah die versammelten Männer eindringlich an. Seine Stimme bebte vor Schmerz und Enttäuschung. Er würde es nicht fertigbringen, zu Samir hinaus zu gehen, ohne nicht vorher eine Chance erhalten zu haben, sein Talent zu entfalten, nach dem Strohhalm zu greifen, der ihm zu entschwinden drohte. „Können Sie das, Mr. Kapoor? Ich versuche, meinem Bruder ein Vorbild zu sein. Wir haben nur noch uns. Aber wie kann ich ihm ein Vorbild sein, wenn man mir nicht eine Chance dazu lässt? Zu wem soll er aufblicken, wenn nicht zu mir? Ich bin für ihn wie ein Vater und sollte ein Sohn nicht voller Stolz zu seinem Vater aufblicken? Sollte ein Vater seinem Sohn nicht zeigen, dass es sich lohnt, für seinen Traum zu kämpfen? Immer wieder höre ich, dass es unmöglich für mich wäre, ein Schauspieler zu werden. Ich hätte keine Erfahrung, keine Ausbildung, keine Basis, auf die man aufbauen könnte, aber niemand gibt mir eine Gelegenheit, mich zu beweisen. Ist die Welt wirklich so voreingenommen geworden, dass man jemanden nicht einmal eine Chance gibt, sich selbst zu verwirklichen? Ist die Welt so egoistisch geworden, dass man nur noch an sich selber denkt, ohne auf die Menschen zu achten, mit denen man zusammenlebt? Ist die Welt so dunkel, dass man es niemanden mehr erlaubt, zu strahlen zu beginnen? Mein Bruder ist seit einem schrecklichen Unfall an einen Rollstuhl gefesselt, doch er erträgt sein Schicksal mit solch einer Tapferkeit, dass er dafür den Respekt eines jeden Mannes verdient hätte. Er sieht zu mir auf, denn ich zeige ihm jeden Tag, dass es sich lohnt, zu kämpfen. Er ist mein Licht in meinem Leben, so wie ich das seine bin. Was soll aus ihm werden, wenn er mein Licht nicht mehr sehen kann? Bevor ich hier reingekommen bin, sagte er mir, wie sehr er mir vertraut und an mich glaubt. Wie soll ich ihm erklären, dass sein Glaube gescheitert ist? Wie soll ich ihm sagen, dass sein Wunsch, dass sein Bruder das Unmögliche schafft, zerstört ist, noch bevor ich eine Chance erhalten habe, für seinen Wunsch zu kämpfen? Wenn ich es schaffen würde, diese Hürde zu nehmen, wäre das ein Beweis für ihn, das alles möglich ist, dass man alles erreichen kann, selbst wenn niemand an einen glaubt. Vielleicht, so hofft er, würde das bedeuten, dass auch er eines Tages etwas Unmögliches erreichen kann und wieder laufen könne. Wie soll ich ihm sagen, dass die Welt einem nicht einmal die Gelegenheit gibt, für seinen Traum zu kämpfen? Wenn ich nicht einmal die Chance habe, hier mein Können unter Beweis zu stellen, wie soll er es dann jemals schaffen, auch nur noch einen Schritt auf eigenen Beinen zu gehen? Können Sie mir das sagen, Mr. Kapoor? Können Sie das? Können Sie ihm sagen, dass sein Bruder gescheitert ist, ohne die Möglichkeit zu haben, über die Hürde zu springen, die einem den Weg versperrt?“
 

Es war still geworden im Raum. Niemand sprach, alle schwiegen sie bedrückt. Madan stand einfach nur da und kämpfte gegen sich selber, gegen seine Enttäuschung, seinen Schmerz und seiner Wut. Niemand wusste, wie lange die Stille sie zu erdrücken schien, doch dann brach der bärtige Mann das Schweigen.

„Spielen Sie.“
 

Madan sah ihn an, einen langen Moment trafen sich ihre Blicke, ein Blick, der ihm irgendwie vertraut vorkam. „Spielen, Sir?“
 

„Spielen Sie.“
 

Es war wie immer. Madan spürte, wie sich seine Seele und sein Körper zu trennen schienen, sich neu zu formen begannen. Es war wie damals, auf der Bühne, als ein Teil von ihm verschwand, um etwas neuem Platz zu machen. Seine Gedanken verschwammen, Wut und Enttäuschung verschwanden, doch der Schmerz blieb, doch er gehörte nicht mehr ihm, sondern einem jungen Mann, dem es verwehrt wurde, die Frau zu ehelichen, die er über alles liebte, denn die Mutter seiner Angebeteten war Tänzerin gewesen, was seinen Eltern nicht gefiel. Er war nicht mehr Madan Khan, er war Devdas, ein junger Mann, der seine Flucht in Alkohol fand, denn der Schmerz über den Verlust seiner einzig wahren Liebe war zu viel für ihn. Er war Devdas, der seinen Tod finden sollte, ohne einen letzten Blick auf jene zu werfen, der sein Herz gehörte und mit jedem Wort, das seinen Lippen entfleuchte und mit jeder Geste, die sein Körper wie von Geisterhand tat, wich die Farbe aus den Gesichtern jener, die ihm zuvor noch eine Chance verweigert hatten. Ihre Münder öffneten sich vor Erstaunen, ihre Augen weiteten sich vor Unglauben vor dem, was sie erblickten. Aus dem nervösen jungen Mann, der eben noch seine Wut und seinen Schmerz zu unterdrücken versuchte, war ein Mann geworden, den der Schmerz um eine unerfüllte Liebe zu ermorden versuchte. Wie er dort stand, mit all dem Leid in seinem Blick, wie er sprach, die Stimme voller Bitterkeit, wie er Schwieg, sodass die Stille selbst zu sprechen schien. Niemand sagte ein Wort, niemand rührte sich. Sie saßen einfach nur da und ergaben sich dem, was vor ihren Augen geboren wurde. Und dann, ohne dass sie es wahrnahmen, kehrte Madan in seinen Körper zurück. Devdas verschwand in einem Winkel seines Inneren, wo er wieder zu dem wurde, was er zuvor gewesen war, zu einer Figur, die Madan hätte spielen sollen, wenn das Schicksal nicht anders entschieden hätte. Niemand rührte sich, als Madan wieder Madan war, seinen Blick über die erstarrte Runde schweifen ließ und sich zum Gehen umwandte, ohne ein Wort zu sagen. Er verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzudrehen, ließ die Männer hinter sich, die viel zu geblendet waren von dem, wovon sie gerade Zeuge geworden waren. Madan sprach kein Wort, auch zu Samir nicht, als dieser mit hoffnungsvollem Blick zu seinem Bruder aufsah. Schweigend ergriff er den Rollstuhl und gemeinsam verließen sie das Gebäude, ohne ein Wort zu wechseln.
 

Erst Minuten später, als sie schon längst außer Sicht waren und die Straße hinter sich gelassen hatten, kehrte das Leben in die verblüfften Männer zurück. Sie sahen sich an, verwundert, verwirrt, überrascht. Nur einer nicht. Tief in Gedanken versunken ergriff der bärtige Mann Madans Akte, öffnete sie jedoch nicht, sondern klemmte sie sich unter den Arm, um sie später in Ruhe noch einmal durchlesen zu können. Besonders eine gewisse Empfehlung, die einer Lobeshymne glich.

Beschmutzt

Es war ein Wunder geschehen, wenn auch eines, mit dem Madan nicht mehr gerechnet hatte. Es war ein leicht bewölkter Vormittag, als er zum ersten Mal jenen Ort betrat, der hoffentlich sein Leben ändern würde, jenen Ort, der ihm zumindest einen Teil seiner Last von den Schultern nehmen konnte.

„Also hör zu“, sagte ein junger Mann im herrischen Ton. „Du musst dir nur drei Sachen merken. Erstens, sorge dafür, dass die Brötchen, -hörst du?- sorge dafür, dass die Brötchen niemals ausgehen. Es kommen keine Kunden, wenn es keine Brötchen mehr gibt und keine Kunden bedeuten weniger Einnahmen. Zweitens darfst du niemals zulassen, dass immer alles Geld in der Kasse ist, denn hier wird öfters mal ein Überfall durchgezogen. Lasse immer so viele Rupien in der Kasse, wie du es dir erlauben kannst, so dass du immer etwas zum rausgeben hast, es sich aber nicht lohnt, es dir zu klauen. Für die Rupien haben wir eine gut versteckte Spezialkasse. Hast du das verstanden? Und als drittes, dass ist sehr wichtig, sei immer freundlich. Nur freundliche Verkäufer sorgen für glückliche Käufer. Soweit alles klar? Dann willkommen bei Indian Speed, der neuen Fast Food Kette und viel Spaß beim ersten Arbeitstag.“ Mit diesen Worten ließ der junge Mann Madan einfach stehen.

Fast Food Kette war eindeutig übertrieben, schoss es Madan durch den Kopf, als er sich in seinem neuen Arbeitsplatz umblickte. Bei der Fast Food Kette Indian Speed handelte es sich um einen einzigen großen und umgebauten Wohnwaagen an der Standpromenade, der neben Brötchen nur noch ein paar kleine Kuchen und Hot Dogs verkaufte. Madan zweifelte wirklich daran, dass die Einnahmen dieses … dieses Dingens, sehr hoch waren. Aber was kümmerte es ihn? Es war ein Job mit fester Bezahlung, die ständig gleich blieb. Für ihn war das eine enorme Verbesserung der Umstände. Irgendwie traurig, wenn man es recht bedachte, immerhin hätte ihm alles offen stehen können. Und was war jetzt? Jetzt verkaufte er Brötchen, Kuchen und Hot Dogs. Aber es war ein Job und ein Job bedeutete Rupien und Rupien bedeuteten Hoffnung. Warum also wählerisch sein?

Seufzend machte es sich Madan an der Theke bequem. Hoffentlich kamen bald Kunden. Im Moment war die Promenade überraschend leer. Dummerweise bekam er von dem Geruch nach Essen, der die Luft erfüllte, Hunger, doch er hütete sich davor, etwas von der angebotenen Ware zu sich zu nehmen. Er wollte keine Brötchen, keine Hot Dogs, sondern ein kräftiges Junglee Mutton, Dschungel-Lamm, eine seiner Lieblingsspeise. Seine Mutter hatte unglaublich gute Junglee Muttons gemacht, seine bekam man wenigstens hinunter, wenn auch mit viel Wasser. Ach ja … Dschungel-Lamm. Immer wenn Madan daran dachte, lief ihm das Wasser im Munde zusammen.

Tief in seine delikaten Träume vertieft, bemerkte er die beiden jungen Frauen erst sehr spät, die sich dem umgebauten Wohnwaagen näherten. Madans Herz sank ihm beinahe in die Hose, als er eine von ihnen erkannte. Tia. Meine Güte, sie durfte ihn hier nicht sehen! Hastig warf sich Madan auf den Boden. Sein Herz raste. Was würde Tia nur von ihm denken, wenn sie ihn so sehen würde, als einfachen Verkäufer einer 0-8-15 Möchtegern Fast Food Kette. Sie, die schönste Frau, die je auf Erden gewandelt hatte, was würde sie von ihm halten? Madan liebte sie. Sie war immer bei ihm, auch wenn sie nicht zusammen waren, doch er glaubte nicht, dass die junge Frau wusste, wie wichtig sie in seinem Leben war. Er war kein guter Freund. Er verabredete sich oft mir ihr, meistens zusammen mit ihrer Schwester, sie lachten, sie schwiegen vertraut, doch immer schien irgend etwas zwischen ihnen zu stehen. Madan wusste nicht, wie er es beschreiben sollte, aber es war, als würde ihn immer etwas zurückhalten. Ein merkwürdiger Gedanke. Dabei liebte er sie doch, würde alles für sie tun. Was stimmte nur nicht?

„Wie läuft es eigentlich zwischen dir und dem mysteriösen Madan?“, fragte Tias Freundin mit einem zuckersüßen Unterton.

„Wieso fragst du mich das andauernd?“, hörte Madan Tia sagen.

„Weil ich deine beste Freundin bin und du mir so gut wie gar nichts erzählst. So läuft das zwischen besten Freundinnen nicht, dass weißt du. Ich erzähle dir ja auch immer alles über meine Freunde. Jetzt bist du mal an der Reihe. Ich gehe keinen Schritt weiter, bevor du mir nicht etwas erzählst. Also. Wie läuft es zwischen dir und Mr. Unbekannt?“

Madan spürte, wie sein Herz verräterisch laut zu schlagen begann, doch seine Ohren spitzten sich. Was würde Tia sagen? Es dauerte nach seinem Geschmack viel zu lange, bis sie endlich zu einer Antwort ansetzte.

„Ich weiß nicht so recht. Er ist ein wundervoller Mann. Du solltest einmal sehen, wie hingebungsvoll er sich um seinen gelähmten Bruder kümmert. Einfach rührend. Man kann seine Liebe zu ihm förmlich spüren, aber ich glaube, wenn ich ehrlich bin, dass er sich dabei ein wenig übernimmt. Es ist schwer zu sagen, aber er scheint nur für seinen Bruder zu leben.“

„Nicht für dich?“

Madan spürte, wie ein Gefühl von Unbehagen in ihm erwachte.

„Ich weiß es nicht“, gestand Tia. „Wenn er mich ansieht, ist sein Blick voller Feuer und Liebe, doch irgendwie ist es, als würde ihn irgend etwas zurück halten. Er ist offen, aber in einigen Sachen verschlossen, so verschlossen, dass es mir Sorgen bereitet. Er scheint irgendetwas zu verbergen.“

„Oh!“, stieß Tias Freundin vor Begeisterung aus. „Ein Mann mit Geheimnissen. Wie interessant!“

„Ich finde das nicht lustig, Pavati. Du weißt, dass ich Geheimnisse nicht mag.“

„Warum sagst du ihm nicht einfach, dass er offen mit dir reden soll?“

„Weil ich ihm vertraue. Ich vertraue darauf, dass er eines Tages von sich aus zu mir kommen wird und mit mir über das redet, was er die ganze Zeit für sich behält. Ich habe ihm versprochen darauf zu warten.“

Pavati konnte ihre Überraschung nicht aus ihrer Stimme verbannen, als sie verblüfft antwortete: „Du wartest auf ihn? Dich muss es ja schwer erwischt haben.“

„Das hat es auch.“

Ein leichtes Lächeln huschte über Madans Gesicht, doch ein Hauch von Traurigkeit blieb. Also hatte auch Tia das Gefühl, dass irgendetwas zwischen ihnen stand, etwas, was von ihm ausging, nicht von ihr. Er konnte sich auch vorstellen was es war, doch irgendwie konnte er es sich nicht eingestehen.

„Ich liebe ihn wirklich, Pavati. Wenn du ihn kennen würdest, dann würdest du es verstehen. Er ist sehr nett, auch wenn er hin und wieder sehr direkt sein kann, was aber irgendwie drollig und nicht verletzend ist, wie bei so vielen anderen, die ich kenne. Er ist selbstlos, wie gesagt, sein Bruder bedeutet alles für ihn. Er ist sogar romantisch. Er macht mir keine sündhaft teuren Geschenke, sondern er schickt mir immer mal wieder einen kleinen Blumenstrauß mit einem Kärtchen, indem er ein Gedicht geschrieben hat.“

„Oh wie süß!“, stieß Pavati verzückt aus, während Madan in seinem Versteckt zufrieden grinsen musste. Die alte Schule war eben doch am besten.

„Er kann sogar singen. Direkt einen Tag nachdem ich ihn kennen gelernt habe, hat er mitten auf der Straße ein Liebeslied gesunden.“

„Etwa nur für dich?“, warf Pavati fragend ein, dich Tia überging sie. „Du hättest ihn sehen sollen. Als er da stand und die Trommel schwang, hatte er irgendetwas an sich, etwas … ich weiß auch nicht, er hatte halt etwas unwiderstehliches an sich. Man kann das nicht beschreiben. Generell hat Madan manchmal eine Ausstrahlung, die jeden in seinen Bann zieht. Er ist halt etwas Besonderes. Sein dunkles Haar fällt ihm hin und wieder so schön ins Gesicht und fährt sich dann immer mit der Hand durchs Haar, was dass ganze eigentlich nur verschlimmert. Seine Grübchen, die solltest du mal sehen.“

Madans Grinsen wurde noch breiter. Er wusste, dass es ungehörig war zu lauschen, aber er konnte auch unmöglich weghören, denn es schien, als würden die beiden ganz in seiner Nähe stehen. Es war praktisch eine Einladung.

„Und ganz besonders sein Hundeblick. Ich habe ihn bisher nur zwei mal bei ihm gesehen, einmal, als wir uns kennen gelernt haben und ein anderes mal, als er mich dazu überreden wollte, eine nächtliche Bootsfahrt zu unternehmen. Glaub mir, dieser Blick ist einfach zum dahinschmelzen. Madan ist halt etwas ganz Besonderes. Er würde mir die Sterne vom Himmel holen, wenn er nur könnte.“

Pavati schwieg einen Moment voller verträumter Verzückung. „Du hast dich eindeutig in ihn verliebt. Ach, ist das Romantisch. Ein echter Romeo mit Geheimnissen.“

„Und schwerer Vergangenheit“, warf Tia traurig ein. „Ich glaube das ist auch der Grund, warum er sich verschließt. Er erzählt mir zwar von seiner Vergangenheit, doch er lässt mich nicht an sie heran. Unsere Beziehung wäre perfekt, wenn es keine Grenzen mehr zwischen uns geben würde.“

Wieder spürte Madan einen Stich in seinem Inneren. Sie hatte recht, auch wenn er es nicht zugeben wollte. Es jedoch aus ihrem Munde zu hören, fühlte sich merkwürdig an.

„Was sagt eigentlich dein Vater zu ihm?“

„Mein Vater kennt ihn noch gar nicht. Er weiß noch nicht einmal, dass es ihn gibt. Meine Mutter hat es natürlich schon längst durchschaut, doch Papa hat in letzter Zeit so viel zu tun, dass er gar nichts mehr mitbekommt.“

„Du hast deinem Vater noch nichts über ihn erzählt?“ Pavati klang ernsthaft überrascht. „Warum nicht?“

„Weil er mir Fragen stellen würde, die ich nicht beantworten kann.“

„Wie meinst du das?“

Tia schwieg für kurze Zeit. „Ich könnte meinem Vater zum Beispiel nicht sagen, was Madan tut. Er hatte zwar studiert, doch er musste das Studium abbrechen. Er redet auch nicht über seine Arbeit.“

„Findest du das nicht merkwürdig?“, fragte ihre Freundin sie. „Vielleicht verheimlich er a etwas vor dir, was wichtig zu wissen wäre. Zum Beispiel sein Beruf. Vielleicht ist es etwas, was nicht gerade harmlos ist.“

Tia klang beinahe verärgert, als sie zu einer Antwort ansetzte. „Nein. So etwas würde nicht zu ihm passen. Das wäre gegen seinen Charakter.“

„Du studierst hier Soziologie. Als was könntest du ihn dir vorstellen?“

Es überraschte Madan, dass Tia nicht lange zu überlegen brauchte. „Als Lehrer, als Lehrer könnte ich ihn mir vorstellen. Oder als Trainer. Er ist großer Hockey-Fan musst du wissen. Was aber auch passen würde, wäre etwas Künstlerisches. Er hat irgendwie so eine Ader.“

„Frag ihn doch das nächste Mal einfach“, schlug Pavati vor, doch dann schlug ihr Ton plötzlich in Ärger um. „Wo steckt eigentlich der Verkäufer? Will er uns hier versauern lassen? Hallo! Kundschaft!“

Madan erstarrte. Jetzt hatte er ein Problem, ein ziemlich großes sogar. Wenn er die beiden nicht bediente, lief er Gefahr seinen Job zu verlieren, wenn er es aber tat, wäre er für alle Ewigkeit vor Tia bloß gestellt. Lehrer? Trainer? Nein. Ein einfacher Verkäufer in einer Möchtegern Fast Food Kette. Einmal davon abgesehen, dass er damit zugeben würde, dass er die beiden belauscht hatte, denn es waren ein paar Sachen dabei gewesen, von den Tia bestimmt nicht gewollt hatte, dass er sie hörte. Was machte er denn jetzt nur.

„Hallo?“, rief Pavati noch einmal“, diesmal ärgerlicher.

Hastig blickte Madan sich um. Er brauchte dringend etwas, mit dem er sich ein wenig verkleiden konnte. Kochtopf? Nein. Wischmopp? Nein. Was machte eigentlich der Kaugummi unter der Theke? Hastig öffnete der junge Mann eine kleine Schranktür und stieß sich so heftig den Kopf, dass es ihn Tränen in die Augen trieb.

„Da ist doch jemand“, knurrte Pavati. „Du hast es doch auch gehört?“ Die beiden Freundinnen sahen sich an, dann beugten sie sich beide vor, um einen Blick hinter die Theke zu werfen. Genau in diesem Moment schnellte ein junger Mann nach oben, mit einem breiten Grinsen im Gesicht, einer dicken Hornbrille auf der Nase und einer Kochmütze auf dem Kopf, die ihm ein wenig zu groß war, so dass sie ihm immer wieder über die Stirn rutschte, was er erfolglos zu verhindern sichte.

Für einen kurzen Moment war Tia wie gelähmt vor Schreck, denn der Verkäufer hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit Madan, so eine verblüffende sogar, dass sie sich ernsthaft fragte, ob es nicht vielleicht wirklich Madan war, doch als der junge Mann den Mund aufmachte, zweifelte sie daran, was sie nicht gerade bedauerte.

„Ah, zwei so wunderschöne Damen. Namste. Namaste!“, rief der verkleidete Madan überschwänglich mit verstellter Stimme, während er ein Dankesgebet in den Himmel schickte, dafür, dass jemand Brille und Mütze im Schrank versteckt hatte. Es war ihm im Moment völlig egal wie dämlich er aussehen musste. „Vergebt mir, dass ich nicht schon früher zu euren Diensten war, doch ich hatte meine Brille verloren und ohne sie bin ich so gut wie blind.“ Eigentlich war er mit ihr so gut wie blind, aber das zählte jetzt nicht. „Was kann ich für Miss World und Miss Universe tun?“

Die beiden Freundinnen sahen sich an. Tia runzelte die Stirn, Pavati zuckte kichernd mit den Schultern. „Wie hätten gerne zwei Hot Dogs“, sagte sie.

„Ah, heiße Hunde! Ihr seit mir aber zwei. Die armen Tierchen. Was tun die Menschen ihnen nur alles an. Immer wollen sie die armen Tiere essen, dabei sind sie doch der beste Freund des Menschen.“ Theatralisch wandte er sich um, um sich um die Hot Dogs zu kümmern, doch mit der Brille war er so blind, dass er sechs Mal daneben griff, bevor er sich mit heißem Wasser verbrühte. Ein stechender Schmerz schloss seinen Arm entlang, doch er biss tapfer die Zähne zusammen. Es dauerte etwas, bis er die beiden jungen Frauen endlich bedienen konnte, doch als sie sich essend entfernten, fühlte er sich erleichtert und verschmutzt zugleich. Wem machte er sich eigentlich etwas vor. Ihr, indem er ihr die ganze Zeit etwas verheimlichte und sie obendrein auch noch belogen hatte, oder sich selber, denn Tia hatte keinen Mann verdient, der es nicht einmal schaffte, ein anständiger Mensch zu sein. Als er sich an diesem Abend mit ihr traf, war er ein wenig bedrückt. Genau wie sie. Sie schwiegen saßen schweigend auf einer Bank und beobachteten, wie die Sonne hintern Horizont verschwand. Vögel zogen kreischen ihre Runden, bevor auch sie immer mehr verwanden. Irgendwann funkelten die Sterne und es wurde still. Selbst dann schwiegen sie noch, bis Tia es endlich brach.

„Ich war heute mit einer Freundin spazieren“, begann sie zögerlich. „Wir haben uns einen Hot Dog gekauft. Der Verkäufer sah dir sehr ähnlich.“

„Ist das so?“, fragte Madan, darum bemüht, interessiert zu klingen.

„Ja.“

„Und?“

„Und was?“

„Sah er auch genauso gut aus wie ich?“ Madan grinste, worauf er einen kräftigen Klaps auf die Schulter kassierte.

„Oh ja. Sogar noch viel besser. Du hättest ihn sehen sollen.“ Sie verstummte für einen Moment. „Madan, ich möchte dich etwas fragen.“

Er sah sie auffordernd an, auch wenn er Angst vor dem hatte, was nun unweigerlich folgen würde. „Schieß los.“

„Als war arbeitest du?“

„Als was ich arbeite?“, fragte er in einem Ton, als hätte sie einen Scherz gemacht. „Ist es denn wichtig?“

„Für mich schon. Und für meinen Vater, dem ich dich einmal vorstellen will. Also Madan. Als was arbeitest du?“ Sie sah ihm fest in die Augen, beunruhigt von der langen Pause, die zwischen ihnen trat. Doch dann wandte er seinen Blick ab, was sie noch mehr beunruhigte. Konnte oder wollte er ihr bei der Antwort nicht in die Augen schauen?

Madans Gedanken überschlugen sich. Was sollte er ihr nur sagen? Die Wahrheit natürlich. Es wurde langsam Zeit für die Wahrheit. Madan holte tief Luft. „Als was ich arbeite? Im Augenblick … Ich arbeite als Trainer einer Hockeymädchenmannschaft. Leider sind wir nicht besonders gut. Ich schlage mir die halbe Nacht um die Ohren, um endlich mal einen Plan zu entwickeln, der uns auf die Gewinnerbahn bringt.“ Als diese Worte seinen Mund verließen, spürte er ganz deutlich, wie Abscheu sich in ihm regte wie eine Schlange, Abscheu gegen sich selber.

Tia sah ihn lange von der Seite her an, dann stand sie auf. „Ich muss jetzt gehen.“

„Soll ich dich ein Stück begleiten?“

„Das wird nicht nötig sein. Wir sehen uns dann, wenn du bereit bist zu reden.“ Kein Lächeln, kein weiteres Wort. Sie drehte sich einfach um und verwand in der Dunkelheit.

Madan blieb allein zurück, von Abscheu erfüllt, von sich selber beschmutzt. Warum? Warum hatte er nicht die Wahrheit gesagt? Was war so schlimm daran? Er war ein Mann, der alles versuchte, um seinen Bruder zu helfen. Er vergaß dabei sogar seine Ehre, stellte fast alle seine eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund. Aber warum, verdammt noch mal, beschmutze er sich selber mit solchen Lügen? Das hatte Tia nicht verdient. Er war nicht stolz auf sich und das Schlimmste war, dass er wusste, dass seine Eltern auch nicht stolz auf ihn wären, wenn sie ihn jetzt so sehen könnten. Was hatte er nur getan?



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