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Von Kunst und Blut

von

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Sie lag auf dem Boden ihres Wohnzimmers, um sie herum verstreut ihre Zeichenutensilien.

Die weiße Decke über ihr schien näher zu kommen.

Panisch riss sie die Augen auf und drehte sich dann auf die Seite.

Sie barg das Gesicht in den Händen.
 

"Wer bin ich?", flüsterte sie wieder und wieder.

Keine Antwort.

Stille. Das leise Ticken der Uhr.
 

Sie sprang auf, riss die Uhr von der Wand und zerschmetterte sie auf dem Parkettboden.

Dann rannte sie ins Badezimmerund sah in den Spiegel.

"Wer bin ich? Wer bist du?", schrie sie ihr Spiegelbild an.
 

Die Fratze im Spiegel schrie zurück, kam ihr beängstigend nahe.

Die rammte ihre Faust in die silberne Fläche.

Scherben schnitten tief in die weiße Haut.

Das Blut bildete einen wundervollen Kontrast.
 

Die dröhnende Musik aus dem Wohnzimmer unterlegte die ganze bizarre Szene mit ebenso bizarrer Musik.

'Nichts ist schlimmer, als ein Künstler in einer Schaffenskrise...'

Ja... Mutter hatte schon recht gehabt.

Ein irres Lachen brach aus ihr heraus.

Mutti... sie kicherte laut.

Muttilein...

"Du blöde, verlogene Hure!", brüllte sie.

"Du hast Vati auf dem Gewissen, du Schlampe!"
 

Es gab keine Bilder ihrer Mutter. Nicht mehr.

Die hatte sie bei ihrem letzten Waldspaziergang feierlich zerrissen und im frisch gefallenen Laub fallen gelassen. Alle.

Sie hasste ihre Mutter nicht. Nein, zum Hassen war sie nicht mehr fähig.

Die Voraussetzung für Hass ist Liebe.

Und Mutti lieben? Das hätte sie nie gekonnt.
 

Diese Frau, die sich ihre Mutter nannte, für die das Leben ein heiterer Spaziergang war.

Die nicht wusste, was es heißt, von jedem als geisteskrank bezeichnet zu werden.

Die perfekte Ehefrau...

Immer adrett gekleidet. Immer freundlich. Immer verlogen...
 

Sie schlurfte in ihr Schlafzimmer. Kramte ein altes T- shirt aus dem Schrank und zog es über.
 

Sie musste in den letzten Wochen mindestens zehn Kilo abgenommen haben.

Das Shirt hatte mal gepasst.
 

Alles Dinge, die sie nur nebenbei wahrnahm.

Essen?

Ja, der Kühlschrank war voll.

Aber das hieß noch lange nicht, dass sie auch aß.
 

Das tat sie nur, wenn ihr grade in den Sinn kam, dass sie ja mal was essen könnte.
 

Das Telefon klingelte.

Sie nahm den Hörer ab.

"Hey... wollte mich nur mal..."

Klack.
 

Scheinheiliges Arschloch.
 

Sie starrte das Telefon an.

Als es erneut klingelte, nahm sie ab und schrie laut und gellend in den Hörer.
 

Ruhe. Er hatte aufgelegt.
 

Scheinheiliges Riesenarschloch.
 

Auf dem Tisch stand ein Teller Nudeln.

Sie setzte sich und stopfte die Nudeln in sich rein.

Kaum hatte sie den Teller abgestellt, rannte sie ins Bad und übergab sich.
 

Gleichgültig ging sie ins Wohnzimmer zurück und legte sich wieder auf den Boden.

Genau an die Stelle, an der sie zuvor auch gelegen hatte.
 

Tränen glitzerten in ihren Augen.
 

"Wer bin ich?", hauchte sie in Richtung Deckenventilator.
 

Doch niemand antwortete.
 

"Vati..."

Sie griff nach einem Bild neben ihr.
 

Grünbraune Augen sahen sie freundlich an. Schulterlanges, leicht gelocktes Haar umrahmte ein markantes Gesicht mit einer schiefen Nase und einem sanften Lächeln um die Lippen.

"Vati... Sie wird bezahlen..."
 

Dann schlief sie ein.

Mitten im Wohnzimmer, umgeben von Stiften, Blöcken, Pinseln und bunten Radiergummis.

Family Portrait

Kindheit. Ein Wort, das für sie schon seit langer Zeit an Bedeutung verloren hatte.

Ihre Tante, die einzige Person ihrer Familie, zu der sie noch Kontakt hatte, hatte erst letzte Woche zu ihr gesagt:

"Du warst so ein süßes kleines Mädchen."

Das hatte sie sehr wütend gemacht und sie hatte die Kaffeetassen nach ihrer Tante geworfen.

Die guten, aus teurem Porzellan.
 

Ihre Tante hatte schweigend gewartet und dann seelenruhig die Scherben zusammengefegt.

Das liebte sie so an ihrer Tante: Sie schrie nicht herum.

Lärm war für sie kaum erträglich.

Sie hasste schreiende Menschen.

Schreiende Menschen machten ihr Angst, wenn sich ihre Gesichter zu grausigen Fratzen verzogen.
 

Ihre Tante wusste das.

Deshalb hatte sie sie noch nie angeschrieen.
 

Jetzt saß sie wieder in ihrem Wohnzimmer, dessen Zustand schon nicht mehr nur als "chaotisch" zu beschreiben war.

Um sie herum lagen stapelweise Fotos.

Die hatte sie bei ihrer Tante gefunden.

Eines nach dem anderen nahm sie in die Hand, drehte es zwischen ihren schmalen, weißen Fingern, betrachtete es ganz genau und warf es dann zur Seite.
 

Ein kleines Mädchen mit Zöpfen, Schleifchen, Zahnlücke, rosa Kleidchen und strahlende Augen.

Wer war dieses Mädchen?

Auf den Rückseiten der Fotos standen ihr Name und eine Jahreszahl.

Also war sie dieses Mädchen...
 

Sie fing an, wie irre zu lachen.

Natürlich.

Wer auch immer dieses Zöpfchen-Schleifchen-Zahnlückenmädchen war, es war schon lange tot.

Und Mutti hatte es getötet.
 

Mutti... auch sie war auf den Bildern.

Lächelte mit perfekten Zähnen in die Kamera.

Die Frisur sorgfältig in Form geföhnt und kein Stäubchen auf den sittsamen Kleidern.

So hassenswert verlogen.
 

Sie nahm ihre Schere und begann, das verhasste Gesicht aus allen Fotos herauszuschneiden.

Es dauerte lange.

Viele Fotos, viele perfekte-Hausfrau-und-Mutter Gesichter.

Sie bekam Blasen an den Fingern.

Die Blasen platzten auf und die tausend Muttigesichter wurden nass.

Zufrieden sah sie den Schnipselhaufen auf dem Boden an.
 

Sie hob die ausgeschnittenen Gesichter auf, öffnete das Fenster und ließ warmen Mutti-Schnee auf die Straße herabrieseln.

Ein vorbeifahrender Radfahrer blickte verwundert hoch und sie winkte ihm fröhlich zu.

Dann verschwand sie vom Fenster und setzte sich auf den Boden vor den kaputten Fernseher.

Sie starrte auf den schwarzen Bildschirm.
 

Nur für sie lief dort ein Film.

Ein ganz wundervoller Film über ein kleines Mädchen mit Zöpfen, Schleifchen, rosa Kleidchen, Zahnlücke und strahlenden Augen.

Sie tobte mit ihrem Daddy im bunten Herbstlaub.

Er erklärte ihr, warum die Blätter im Herbst bunt wurden.

Und auch, wenn sie es nicht so ganz verstand, sie freute sich und war stolz, dass ihr Daddy so klug war.
 

Nur eines kam in ihrem Film nicht vor:

Eine anständige, adrette, zurechtgeföhnte Frau, die die Zerstörung selbst war.



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