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Welcome to my life

von

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Von entlaufenen Katzen, Todesangst und einer unheimlichen Begegnung der gruseligen Art

Ohne viel Vorgelaber: Das hier ist für mein Liebes, als kleines Trösterchen für das, was ihr heute passiert ist.

*Eisbeutel geb*

Hoffentlich ist das bald wieder okay.

*gesundknuddel*
 

Enjoy!
 

Karma
 

~*~
 

"Jan, hilf mir mal! Slim ist schon wieder abgehauen!" Wie üblich platzt Franzi, meine ältere Schwester, auch jetzt einfach ungefragt in mein Zimmer und belästigt mich wieder mal mit Sachen, die mich einen feuchten Scheiß interessieren. Sie macht sich natürlich auch nicht die Mühe, vorher anzuklopfen oder auf meine Erlaubnis zu warten. Warum denn auch? Bin ja nur ich. Rücksicht auf mich nehmen? Fehlanzeige! Wäre ja auch nett und Nettigkeit mir gegenüber wäre ja eh pure Zeitverschwendung. Womit habe ich diese Trulla bloß als Schwester verdient?
 

"Such das blöde Vieh gefälligst alleine!", motze ich, ohne sie anzusehen, und versuche danach erfolglos, mich wieder auf meine restlichen Hausaufgaben zu konzentrieren, die ich eigentlich in den Ferien hätte machen sollen. Welcher Idiot hat eigentlich festgelegt, dass Lehrer ihren armen, sowieso schon von viel zu viel Unterricht gequälten Schülern über die Ferien auch noch Hausaufgaben aufgeben dürfen? Das ist doch unfair!
 

Meine gedankliche Beschwerde verhallt allerdings ungehört und auch meine Weigerung, meinem herzallerliebsten Schwesterlein – hört man die Ironie? – bei der Suche nach ihrer dämlichen Katze zu helfen, verpufft, ohne Wirkung zu zeigen. Nach einer unfreiwilligen Drehung meines Schreibtischstuhls um 180 Grad finde ich mich daher auch gleich mit Franzis ärgerlichen Gesicht konfrontiert. Wenn sie nicht immer so schauen würde, als hätte sie in eine Zitrone gebissen, wäre sie sicher hübscher. Obwohl sie sich eigentlich auch so wirklich nicht über Verehrermangel beschweren kann. Liegt wahrscheinlich daran, dass ich eh grundsätzlich der Einzige bin, der ihre ganzen Launen und Zickereien ausbaden muss. Das Leben ist echt ungerecht.
 

"Nichts da! Du wirst mir schön dabei helfen.", grollt Franzi und piekst mir mit dem Zeigefinger gegen die Schulter, so dass sich ihr Fingernagel durch den Stoff meines schwarzen Shirts in meine Haut bohrt. Weiß die blöde Kuh eigentlich, wie weh das tut? Wahrscheinlich. Sonst würde sie's ja nicht machen. Wie schon gesagt, jegliche Nettigkeit ist an mich ja sowieso verschwendet. Miststück!
 

"Sonst kannst Du ab morgen früh nämlich wieder mit dem Bus zur Schule fahren, Jannilein", droht besagtes Miststück mir gerade mit einem zuckersüßen Lächeln, das ihre Augen nicht erreicht, und ich habe das Bedürfnis, sie zu erwürgen. Nicht mal so sehr für diese Drohung – obwohl das auch verdammt fies von ihr ist; sie weiß ganz genau, dass ich armer Langschläfer früher aufstehen muss, wenn ich auf den blöden Bus angewiesen bin –, sondern hauptsächlich für diesen dämlichen Spitznamen. Jannilein. Wie das schon klingt! Das hört sich an als wär ich fünf und nicht sechzehn. Dämliche Kuh!
 

Da alles Grummeln und Weigern meinerseits jetzt allerdings keinen Sinn mehr hat, stehe ich widerwillig von meinem Stuhl auf und quetsche mich an meiner Schwester vorbei, um mir wenigstens noch schnell meine schwarze Kapuzenjacke überzuziehen. Es ist schließlich Oktober und verdammt eisig da draußen, da werde ich garantiert nicht nur mit einem dünnen Shirt bekleidet durch die Botanik latschen, um Franzis Scheißkatze zu suchen. Ich hab nämlich absolut null Bock darauf, morgen deswegen mit einer fetten Erkältung flachzuliegen. Danke, aber danke, nein. Das muss ich mir echt nicht geben. Sicher, rein theoretisch hätte ich nichts gegen verlängerte Ferien einzuwenden – die vergangenen zwei Wochen waren einfach zu kurz –, aber krank sein ist einfach scheiße. Da nehme ich doch lieber die Schule in Kauf, anstatt mich von meiner Mutter verhätscheln und betüddeln zu lassen wie ein Kleinkind. Das ist doch peinlich.
 

Um nicht weiter über so einen Mist nachzudenken, stapfe ich durch den Flur, schlüpfe noch schnell in meine grauen Chucks und mache dann, dass ich aus der Wohnung komme. Je eher ich das blöde Mistvieh von Slim gefunden habe, denke ich mir pragmatisch, desto schneller kann ich wieder nach Hause und mich meinen heißgeliebten – ich könnte kotzen – Hausaufgaben widmen.
 

Fröstelnd die Hände in meiner Jacke vergrabend – es ist echt noch viel eisiger als ich gedacht habe; ich hätte meine Handschuhe mitnehmen sollen – latsche ich bei uns die Straße entlang und werfe unter meiner Kapuze und meinen schwarz gefärbten Ponyfransen hindurch immer mal wieder einen Blick in die Büsche rechts und links meines Weges, die so aussehen, als könnte Franzis dummer Kater sich möglicherweise da drin verstecken. Dabei fluche ich abwechselnd lautlos auf alles, was mir gerade so einfällt. Auf das beschissene Wetter, auf meine dämliche Schwester, weil sie mich in die Kälte rausgescheucht hat, auf meine Mutter, weil sie das nicht verhindert hat, und auf die Scheißkatze, wegen der ich überhaupt erst bei diesen arktischen – oder antarktischen, ich komm da immer durcheinander; Erdkunde war noch nie eine meiner starken Seiten – Temperaturen das zweifelhafte Vergnügen habe, mir den Arsch abzufrieren. Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass Slim ein schwarzer Kater ist? Nein? Tja, ist aber so. Er ist schwarz wie die Nacht, was es natürlich gleich noch schwieriger macht, ihn zu finden. Yeah, ich hasse mein Leben!
 

"Slim? Slim, Du dämliches Mistvieh, komm raus!" Ich bin mir durchaus bewusst, dass es lächerlich ist, nach dem blöden Kater zu rufen – der gehorcht mir ja eh nicht –, aber irgendwie tut es mir gut, meine eigene Stimme zu hören. Es ist nämlich schon ziemlich dunkel und so kalt, dass mein Atem kleine Dampfwölkchen in der eisigen Luft hinterlässt. Und die Tatsache, dass ich hier in dieser nebligen Suppe mutterseelenallein bin, trägt auch nicht unbedingt zu meinem gesteigerten Wohlbefinden bei.
 

"Ich schwör Dir, ich bring Dich um! Und dieses Mal mein ich's verdammt noch mal ernst!" Verdammt, wo steckt dieses Scheißvieh bloß? Und warum konnte meine dämliche Schwester nicht ein einziges Mal aufpassen, dass ihre blöde Katze in ihrem Zimmer bleibt? Dieses Vieh ist doch echt so dumm, dass es fast schon an ein Wunder grenzt, dass es immer noch lebt. Aber gut, irgendwo kann ich Slim auch verstehen. Wer mit meiner Schwester Franzi zusammenlebt, entwickelt nun mal zwangsläufig über kurz oder lang den dringenden Wunsch, vor ihr zu flüchten. Genau betrachtet hat Slim eigentlich nur das gemacht, was ich selbst oft genug auch am liebsten tun würde.
 

Dumm nur für mich, dass ich gar nicht auf die Idee kommen brauche, ohne das Mistvieh von Katze wieder zu Hause aufzutauchen. Falls ich mich das nämlich wage, bringt meine Schwester mich garantiert um. Tolle Aussichten, wirklich. Kann mich mal bitte jemand erschießen?
 

"Sieh mal einer an, die Emo-Tunte!" Habe ich nicht gerade gefragt, ob mich mal jemand erschießen kann? "Hey, ich rede mit Dir, Schwuchtel!" Diesen Worten folgt ein Stoß von hinten gegen meine Schulter, der mich straucheln lässt. Glücklicherweise gelingt es mir allerdings, mich nicht äußerst unelegant der Länge nach auf die Fresse zu legen. Was bin ich doch für ein Glückspilz. Und ja, das war ironisch gemeint, falls das nicht klar ersichtlich war.
 

Auf der Suche nach einem Halt ertaste ich kaltes Metall unter meinen Fingerspitzen und als ich mich zu demjenigen umdrehe, der mich gerade so überaus "freundlich" begrüßt hat, rutscht mir das Herz in die Hose.

Kevin. Kevin Döring, einer der "tollen" Hopper aus meiner neuen Klasse. Der Name klingt schon reichlich bescheuert, aber das ist bei dem Typen sogar noch geschmeichelt und untertrieben. Der ist so dämlich, wie er lang ist. Und er ist verdammt groß. Einsfünfundsiebzig, einsachtzig mindestens. Dagegen bin ich ein Winzling – nicht, dass das schwer wäre. Gegen Kevin ist so ziemlich jeder klein. Und da ich eh schon kleiner bin als der Durchschnitt – auch die Mädchen – meiner neuen Klasse ... Ähm, ja. Lassen wir das.
 

"Was willst Du?" Oh-oh, das hätte ich mir mal besser verkneifen sollen. Das Grinsen, das sich bei meiner patzigen Frage auf Kevins Lippen legt, gefällt mir ganz und gar nicht. Na wunderbar, jetzt geht das Spielchen "Mobben wir den kleinen Emo" in die nächste Runde. Ich hatte eigentlich gedacht, dass ich wenigstens bis morgen früh noch Schonfrist haben würde. Das war ja wohl nichts. Ganz toll, Jan, wirklich. War ja klar, dass ich ausgerechnet heute noch in diesen liebenswürdigen Zeitgenossen reinlatschen musste. Der heutige Tag war ja auch noch nicht beschissen genug ohne eine Begegnung mit meinem persönlichen Alptraum. An dieser Stelle möchte ich noch mal auf die Bitte mit dem Erschießen zurückkommen. Und das möglichst schnell, wenn ich bitten darf. Ein kurzer und schmerzloser Tod durch einen Kopfschuss ist sicher wesentlich angenehmer als das, was mir sonst jetzt bevorsteht.
 

"Willst Du etwa frech werden, Schwuchtel? Solltest Du jetzt nicht lieber zu Hause rumhängen, Gedichte schreiben, in Dein Kissen heulen oder Dich ritzen?" Erst als ich eine zweite Stimme höre, fällt mir auf, dass Kevin nicht alleine ist. Eigentlich hätte ich mir das ja denken können. Wo immer dieser Klotzkopf ist, sind seine beiden Pfeifenfreunde Carsten Rösner und Malte Brenning auch nicht weit. Ganz toll. Ich bin am Arsch. Definitiv. Die Drei machen garantiert Hackfleisch aus mir – egal, was ich jetzt sage oder tue. Ich bin auf jeden Fall erledigt. Hoffentlich bleibt von mir wenigstens noch ne hübsche Leiche übrig, wenn die erst mal mit mir fertig sind.
 

"Willst Du nicht mal langsam antworten, Schwuchtel?" Wie oft wollen die mich eigentlich noch so betiteln? Das geht schon so, seit ich nach den Sommerferien in die neue Klasse gekommen bin. Ehrenrunde. Sagte ich nicht schon, dass ich ein Glückspilz bin? Und ja, so ziemlich meine ganze neue Klasse besteht aus solchen Vollhonks. Gut, die obligatorischen Streber – zwei Stück an der Zahl – gibt’s auch, aber die fallen nicht wirklich ins Gewicht. Außerdem haben selbst die einen besseren Stand als ich. Seit ich nämlich da bin, werden die nicht mehr gemobbt. Stattdessen krieg ich die geballte Ladung "Liebe" meiner ach so tollen Mitschüler ab. Und das nur, weil ich aussehe, wie ich eben nun mal aussehe. Aber was kann ich denn bitte dafür, wenn ich zu viel Geschmack hab, um Baggypants anzuziehen, die mir bei der ersten unvorsichtigen Bewegung gleich vom Arsch zu rutschen? Ich mag Röhrenjeans, Kapuzenpullis und -jacken, Chucks und knappe Shirts nun mal lieber als diese Hopperklamotten. Mal ganz davon abgesehen, dass die auch schon rein objektiv betrachtet einfach nur lächerlich wirken.
 

"Ich hab euch nichts zu sagen." Irre ich mich oder zittert meine Stimme tatsächlich? Na toll, das hat mir gerade noch gefehlt. Damit haben diese drei Spacken ja gleich noch mehr gegen mich in der Hand. Warum muss so was eigentlich immer mir passieren?
 

"Und jetzt muss ich nach Hause." Ja, Jan, super. Jetzt hast Du's ihnen aber richtig gegeben. Ab dem heutigen Tag werden sie garantiert vor Ehrfurcht erzittern, wenn sie nur Deinen Namen hören oder Dich zu Gesicht bekommen. Ironisch? Ich? Nicht doch! Niemals. Und solche Worte wie Sarkasmus oder Zynismus gibt’s in meinem Wortschatz auch nicht. Kann man das essen?
 

"Och, der Kleine muss nach Hause zu seiner Mama." Maltes Stimme klingt spöttisch und so sehr ich ihn auch verabscheue, ich kann's ihm nicht verdenken, dass er sich jetzt über mich lustig macht. Die Vorlage dafür habe ich ihm und seinen dämlichen Kumpels schließlich gerade selbst praktisch auf dem Silbertablett serviert. Eigene Blödheit, wie man so schön sagt. Trotzdem will ich einfach nur noch hier weg. Scheiß auf Franzis blöden Kater. Der kommt schon von selbst wieder nach Hause, wenn er erst mal Kohldampf hat. Hier geht's gerade um mein Leben – oder zumindest um meine körperliche Unversehrtheit –, also seien mir die Feigheit und der Egoismus verziehen.
 

Bevor ich noch etwas sagen oder mich an den drei Pfeifen vorbeimogeln kann, packt Kevin mich am Kragen meiner Kapuzenjacke und drückt mich rücklings gegen das Metall, an dem ich mich gerade noch haltsuchend festgekrallt hab. Ich werfe aus dem Augenwinkel einen Blick nach hinten und kann förmlich spüren, wie mein Gesicht sämtliche Farbe verliert. Scheiße, wie bin ich denn auf die Brücke gekommen? Und warum, verflucht noch mal, mussten diese drei Vollidioten mich ausgerechnet hier erwischen? Verdammt, ich hasse mein Leben! Warum trifft so eine Scheiße eigentlich immer nur mich?
 

"Lass mich los!" Meine Stimme klingt schrill und panisch, das weiß ich, aber im Augenblick ist mir das vollkommen egal. Ich will einfach nur hier weg! Ja, verdammt, ich habe Höhenangst! Tierische Höhenangst sogar. Na und? Ist das vielleicht ein Verbrechen? Als ob ich der einzige Mensch auf der Welt wäre, der Probleme mit Höhen hat. Gut, diese Brücke hier ist nicht besonders hoch – vier, fünf Meter vielleicht –, aber direkt darunter liegen die Bahngleise. Wenn ich mir vorstelle, dass ich über das Geländer und auf die Gleise falle, wenn gerade ein Zug kommt ... Nein, ganz falsche Bilder! An so was will ich wirklich nicht denken.
 

Dummerweise krieg ich den Gedanken jetzt, wo er sich einmal festgesetzt hat, allerdings nicht mehr aus dem Kopf. Das Einzige, was mir jetzt helfen würde, wäre, großen – und ich meine wirklich großen – Abstand zwischen mich und diese Scheißbrücke zu bringen, aber das ist mir durch Kevins fast schon schraubstockartigen Griff um meinen Kragen leider nicht möglich. Und blöderweise ist dieser sonst so begriffsstutzige Vollidiot alles andere als dumm, wenn es darum geht, die Ängste Anderer zu erkennen und sie auszunutzen.
 

"Kuckt euch das an, Jungs! Die Schwuchtel hat Angst vor ein bisschen Höhenluft!", spottet Kevin und wie auf Kommando fangen Malte und Carsten an, sich auch noch weiter über mich lustig zu machen. "Mach Dir mal nicht ins Hemd, Kleiner. Ihr Emos steht doch auf so'n Zeug. Hier kann man bestimmt toll runterhopsen, wenn man sich umbringen will." War ja klar, dass Malte sofort ins gleiche Horn tuten muss wie sein dämlicher Freund Kevin. Normalerweise würde ich jetzt mit einem Spruch über Idioten, die ihren Möchtegern-Anführern alles nachplappern müssen, kontern, aber dafür bin ich gerade viel zu sehr mit dem Versuch beschäftigt, Kevins Finger endlich von meiner Jacke zu lösen. Da er allerdings um einiges stärker ist als ich, gelingt mir das natürlich nicht. Und als wär das nicht schon schlimm genug, merke ich auch noch, wie ich langsam den Boden unter den Füßen verliere, weil Kevin auf die überaus beschissene Idee gekommen ist, mich hochzuheben.
 

Panisch blicke ich in sein Gesicht, aber er grinst mich einfach nur breit und fies an. Wenn ich nicht so eine Scheißangst hätte, würde ich ihn jetzt treten, aber ich kann im Moment einfach nur hilflos in seinem Griff rumzappeln. Dabei spüre ich zu meinem Entsetzen, wie mir Tränen in die Augen steigen. Verdammte Scheiße, ich kann doch jetzt nicht auch noch ausgerechnet vor diesen Honks anfangen zu heulen! Noch peinlicher geht's ja wohl nicht mehr.
 

"K-Kevin, hör ... hör auf! Das ...das ist nicht witzig! L-Lass m-mich runter! Bitte!" Meine Stimme schwankt irgendwo zwischen Kreischen und Winseln und es ist mir vollkommen egal, dass ich sogar schon angefangen habe zu betteln. Hauptsache, die Drei lassen mich endlich in Ruhe. Ich will einfach nur noch hier weg, egal wie.
 

Meine unübersehbare Panik das scheint das Trio vor mir allerdings höchstens noch mehr zu belustigen und anzustacheln. Carsten und Malte setzen gerade dazu an, ebenfalls zuzugreifen und mich noch zusätzlich festzuhalten – oder vielleicht wollen sie mich auch gleich über das Geländer werfen, was weiß ich –, als sich hinter ihnen jemand räuspert.
 

"Seit ihr nicht ein bisschen zu alt für solche Kinderspielchen?", fragt eine tiefe, dunkle Männerstimme, deren Ursprung ich nicht erkennen kann. Aber wer auch immer das ist, er kann sich meiner ewigen Dankbarkeit sicher sein, denn Kevin lässt mich tatsächlich los, so dass ich unsanft mit meinem Hintern auf dem kalten Boden lande. Und während ich damit beschäftigt bin, mich wieder aufzurappeln, ohne gleich wieder umzukippen, machen er und seine Idiotenfreunde Front gegen den Typen, dem ich meine Rettung verdanke und den ich von jetzt an in alle meine Gebete einschließen werde. Dass ich eigentlich ganz und gar nicht gläubig bin, lasse ich jetzt einfach mal unter den Tisch fallen.
 

"Misch Dich da gefälligst nicht ein, Du ..." Mitten im Satz bricht Kevin ab, noch bevor er überhaupt eine Beleidigung über die Lippen bringt. Ich habe mich inzwischen zumindest wieder so weit gefasst, dass ich auf gummiartigen Beinen wenigstens halbwegs aufrecht stehe und mich mit zitternden Fingern an das Brückengeländer klammern kann. Noch immer rast mein Herz wie verrückt, aber als ich meine Aufmerksamkeit auf die Szene vor mir richte, sehe ich etwas, das ich nie für möglich gehalten hätte: Kevin macht Stielaugen und er wird mindestens ebenso blass, wie ich es gerade noch war. Seine beiden Kumpels sehen genauso geschockt aus wie er und ich habe das unbestimmte Gefühl, etwas Wichtiges verpasst zu haben. Was ist denn auf einmal in die gefahren?
 

"Shit! Bloß weg hier!" Noch bevor ich wirklich weiß, was hier eigentlich los ist, ist von Kevin, Malte und Carsten nur noch eine Staubwolke zu sehen. Ich wusste gar nicht, dass die so schnell rennen können. Haben die gerade einen Bullen gesehen oder warum türmen die plötzlich, als wäre der leibhaftige Teufel hinter ihnen her?
 

Die Antwort auf diese Frage bekomme ich schneller als mir lieb ist. "Alles in Ordnung mit Dir, Kleiner?", erkundigt sich nämlich der Typ, dem ich meine wundersame Rettung zu verdanken habe, und als ich zu ihm aufblicke, werde ich auch gleich wieder blass. Ach Du heilige Scheiße, was ist das denn für einer? Seit wann gibt’s denn bitteschön Menschen mit schwefelgelben Augen? So was hab ich ja noch nie gesehen!
 

Es dauert einen Moment, bis mir dämmert, dass der Kerl, der da vor mir steht, offenbar gelbe Kontaktlinsen trägt. In der Sekunde, in der mir das bewusst wird, komme ich mir unglaublich dämlich vor, aber eine Hand mit schwarz lackierten, spitz gefeilten Fingernägeln, die vor meinem Gesicht herumwedelt, holt mich wieder in die Realität zurück.
 

"Hey, ist alles in Ordnung mit Dir?", erkundigt sich der Typ noch mal und ich glaube, so etwas wie Besorgnis in seiner Stimme – die, nebenbei bemerkt, auch echten Gänsehautfaktor hat – mitschwingen zu hören. Mechanisch nicke ich und dabei schweifen meine Blicke über den Rest seiner Erscheinung – etwas, das ich mal besser gelassen hätte. Spätestens jetzt verstehe ich nämlich, warum Kevin und seine beiden Deppenfreunde so schnell Reißaus genommen haben. Shit, ist der Kerl gruselig!
 

Lange glatte, pechschwarze Haare, dazu ebenso pechschwarze Klamotten samt hohen Schnürstiefeln, langem Ledermantel und gelben Kontaktlinsen – ich glaub, ich hab noch nie einen leibhaftigen Menschen gesehen, vor dem's mich auf den ersten Blick so gegruselt hat. Dagegen sind die ganzen Hopper in meiner Klasse, die sich für ach so toll halten, eindeutig nur Kinderkacke. Hilfe!
 

"Hast Du Deine Zunge verschluckt, Kleiner?" In der Stimme von Mr. Unbekannt – ist der aus einem Horrorfilm entsprungen oder was? – schwingt jetzt eindeutig ein belustigter Unterton mit, aber so sehr ich mich auch über das "Kleiner" aufregen möchte – niemand darf mich so nennen, außer vielleicht meinem besten Freund Jassi –, ich kann nur stumm den Kopf schütteln, weil ich kein einziges Wort über meine Lippen kriege. Peinlich ohne Ende, aber dagegen kann ich nichts machen. Aber hey, man begegnet schließlich auch nicht jeden Tag jemandem, vor dem die persönlichen Erzfeinde aus der Klasse fast schon schreiend die Flucht ergreifen, oder? Also mir passiert so was heute definitiv zum ersten Mal.
 

"Ich ... ähm ... Mir ... geht's gut, glaub ich", stottere ich schließlich und auf den Lippen von Mr. "Ich bin einem extra unheimlichen Vampirfilm entstiegen, um arme kleine Jans zu Tode zu erschrecken" erscheint ein Lächeln, das fast schon nett aussieht und genau deshalb nur noch umso gruseliger auf mich wirkt. Ernsthaft, was ist das für einer? Und will ich das überhaupt wirklich wissen? Wär's nicht besser, wenn ich meine Neugier im Zaum halte und es nicht weiß? Ich meine, manche Dinge bleiben doch besser ungesagt, oder? Immerhin hat er mich gerade praktisch vor diesen drei Idioten gerettet, also weiß ich damit doch eigentlich genug. Kann mir doch egal sein, ob der von irgendeinem Friedhof entlaufen ist, um arglose, halb erfrorene Jungs, die den Kater ihrer großen Schwester suchen und dabei fast von einer Brücke geworfen werden, zu überfallen, zu verschleppen und ... Okay, das wird jetzt eindeutig zu abgedreht – selbst für meine Verhältnisse.
 

"Dann ist ja gut. Kannst Du ..." Weiter kommt Mr. "Ich könnte in jedem Horrorfilm problemlos den Obervampir spielen" nicht. Aus seinem Mantel taucht nämlich just in diesem Moment ein schwarzer, pelziger Kopf auf und ein Paar grüner Katzenaugen sieht mich an. Gleich in der nächsten Sekunde beginnt Slim, dieses Mistvieh – denn genau dem gehören der Kopf und die Augen –, bei meinem Anblick zufrieden zu schnurren, was bei mir jedoch nur dafür sorgt, dass ich meine gerade erst ausgestandene Todesangst vergesse und das elende Katzenvieh mit dem mir eigenen, leider bisher vollkommen nutzlosen Todesblick durchbohre.
 

"Slim, Du dämliches Aas, das ist alles nur Deine Schuld!", pflaume ich den Kater an, der mich ansieht, als wär er die personifizierte Unschuld. Ha, als ob ich diesem miesen, hinterhältigen, dreckigen Scheißvieh das glauben würde! So weit kommt's noch! Ich fass es einfach nicht! Ich erfriere hier fast, werde überfallen und um ein Haar umgebracht und diese Dreckskatze hat sich zu irgend so einem Gruseltypen geflüchtet und es sich unter seinem Mantel bequem gemacht.
 

"Dachte ich mir doch gleich, dass das Slim ist", unterbricht Mr. Obervampir meine gedanklichen Hasstiraden auf diese katzenähnliche Ausgeburt der Hölle, aber ich achte nicht darauf. Sobald ich dieses Drecksvieh in die Finger kriege, drehe ich ihm den Hals um – endgültig diesmal. Diese Scheiße heute war definitiv der letzte Mist, den dieses elende Fellbündel sich geleistet hat. Ich werde mir einen Sack besorgen, Steine reinschaufeln und das Mistvieh in der Regentonne hinterm Haus ersäufen. Oder ich mache das in dem kleinen Bach bei uns in der Nähe. Scheiß auf Franzi. Die kann mich mal. Hätte sie besser auf ihre Scheißkatze aufgepasst, wäre mir dieser ganze Mist heute erspart geblieben.
 

Erst als Mr. Gruselig zum zweiten Mal mit einer Hand vor meinem Gesicht rumwedelt und so mein Blickduell mit Slim unterbricht, sehe ich ihn doch wieder an. "Dann musst Du Jan sein", stellt er fest und lacht, als ich nur verständnislos blinzele. "Ist Dir nicht kalt?", fragt er dann und ich nicke einfach nur, etwas aus dem Konzept gebracht von dem plötzlichen Themenwechsel. Woher kennt dieser schaurige Kerl meinen Namen? Und will ich das wirklich wissen?
 

"Willst Du ihn nehmen?" Damit nickt Mr. Oberzombie zu Slim, der immer noch schnurrt und dabei so aussieht, als könnte er kein Wässerchen trüben. Ich schenke dem Kater noch einen Blick, der ihm alle Qualen der Hölle verspricht, und Mr. "Ich hab mein Halloweenkostüm jetzt schon angezogen, obwohl der Oktober gerade erst angefangen hat" schmunzelt einfach nur. "Ich fasse das mal als Nein auf", murmelt er und ich grummele etwas, das sich mit viel Fantasie als "Ich bring das Scheißvieh um" übersetzen lässt.
 

Von meinem schaurigen Retter – warum in aller Welt klingt das bitteschön so verdammt dämlich? – kommt ein weiteres leises Lachen als Antwort auf diese Worte und ich kriege schon wieder eine Gänsehaut am ganzen Körper. Der Kerl ist aber auch echt gruselig!
 

Allerdings scheine ich mit dieser Meinung vollkommen alleine dazustehen. Slim, der miese Verräter, kuschelt sich nämlich wieder unter den Mantel von Mr. Kinderschreck und schließt zufrieden die Augen, ohne mit dem Schnurren aufzuhören. Dafür hasse ich diese elende Scheißkatze gleich noch mehr. Verdammt, warum wärmt mich eigentlich niemand?
 

Öhm ... okay, das streichen wir besser. Das war jetzt nämlich ziemlich missverständlich. Ich will damit auf keinen Fall andeuten, dass ich mit Slim tauschen und von diesem Vampirfreak warmgekuschelt werden will. Ganz und gar nicht. Nein, ich wollte damit einfach nur sagen, dass ich jetzt auch gerne einen warmen Mantel hätte. Ja, genau. Ich und mit Slim tauschen ... nee, wirklich nicht. Was denke ich hier eigentlich?
 

Ich glaub, mir sind bei der Sucherei ein paar Hirnzellen eingefroren. Ich sage ja, Kälte ist scheiße. Alles nur Slims Schuld. Und Franzis. Der werde ich was husten, wenn ich nach Hause komme! Die kann sich jetzt schon mal auf was gefasst machen! Das heute war definitiv der letzte Gefallen, den ich diesem Miststück in meinem ganzen Leben getan habe. Die hat bei mir ausgeschissen bis in die Steinzeit und zurück, jawohl!
 

"Wenn Du noch weiterläufst, stößt Du Dir gleich den Kopf." Ich schrecke aus meinen Rachephantasien auf und blinzele Mr. Horrorfilmfan verständnislos an. "Hä?", frage ich nicht sehr intelligent nach und er deutet einfach nur mit seiner freien rechten Hand – Slim liegt immer noch in seinen linken Arm gekuschelt da und schnurrt wie ein Rasenmähermotor – auf die Haustür, vor die ich um ein Haar mit voller Wucht gelatscht wäre.
 

Wie komm ich denn jetzt hier hin? Bin ich etwa den ganzen Rückweg über wie ein Schäfchen neben diesem gruseligen Kerl hergelatscht, ohne das mitzukriegen? Muss ja wohl, oder? Aber verdammt, das bedeutet ja wohl im Klartext, dass er jetzt weiß, wo ich wohne! Was mach ich denn, wenn der mir jetzt ins Haus folgt und mich in den Keller verschleppt, um da ... irgendwas Unaussprechliches mit mir zu machen? Scheiße, wie blöd bin ich eigentlich?
 

Bevor ich dazu komme, mich gedanklich für meinen sträflichen Leichtsinn zu ohrfeigen – was, wenn der Typ einer von diesen satanischen Killern ist, über die immer mal wieder was in den Nachrichten kommt? –, zückt mein gruseliger Begleiter einen Schlüssel und schließt, begleitet von einem garantiert mehr als dämlichen Blick meinerseits, den er entweder nicht bemerkt oder einfach nur ignoriert, die Haustür auf.
 

Als ich begreife, was das bedeutet, bildet sich ein Kloß in meinem Hals, den ich nur mit äußerster Mühe wieder runterschlucken kann. Scheiße, der Kerl wohnt im gleichen Haus wie ich! Ich bin ja so was von geliefert! Und nicht nur ich. Was ist mit meinen Schwestern? Hey, wir haben offensichtlich seit neustem einen psychopatischen Wahnsinnigen im Haus wohnen! Wahrscheinlich hat der Slim nur gerettet, um ihn baldmöglichst opfern zu können – und Vicky und mich wahrscheinlich gleich mit. Immerhin ist Franzi ja keine Jungfrau mehr, also hat sich das bei ihr ja wohl erledigt. Dass das Miststück aber auch immer so ein unverschämtes Glück haben muss!
 

"Willst Du nicht langsam reinkommen?" Die Stimme des Psychokillers klingt fragend und ich schlucke erneut, während eine neue Gänsehaut meinen ganzen Körper überzieht. Jetzt, so im Halbdunkel des Hausflurs, scheinen seine gelben Kontaktlinsen förmlich zu leuchten und mein Mund wird ganz trocken. Im Vergleich zu der Panik, die ich jetzt gerade schiebe, war das vorhin auf der Brücke nur ein ganz kleines bisschen erschreckend. Das hier allerdings ist verdammt noch mal scheißegruselig! Was mach ich denn jetzt?
 

"Oder willst Du da Wurzeln schlagen, Kleiner?" Jetzt klingt Mr. Psychos Stimme eindeutig amüsiert – wieder auf meine Kosten, aber das bin ich ja schon gewöhnt –, aber ich schaffe es trotzdem nicht, mich vom Fleck zu bewegen. Meine Füße bleiben einfach wie angewurzelt stehen und weigern sich ebenso, seiner Aufforderung zu folgen, wie sie auch den Befehl meines Hirns – kopflose Flucht wie Kevin und seine Kumpels vorhin – verweigern. Scheiße!
 

Anscheinend sieht Mr. Schwarzfetischist mir meine blanke Panik an der Nasenspitze an – ich schätze, das ist auch verdammt schwer zu übersehen –, denn seine Mundwinkel biegen sich ganz leicht nach oben und er schüttelt den Kopf. "Jetzt komm endlich rein, Kleiner. Ich werd Dich schon nicht auffressen", verspricht er mir belustigt und obwohl ich ihm nicht wirklich glaube, bewegen sich meine Füße jetzt auf einmal doch und machen langsame, zögerliche Schritte auf ihn zu. Verräter!
 

"Und ... und opfern?", entschlüpft es mir leise, bevor ich es verhindern kann. Schnell weiche ich seinem Blick aus, damit er nicht sieht, dass ich rot werde. Aber anstatt mich anzuschreien oder mich gleich hinter sich her zu zerren, lacht er einfach nur. "Keine Angst, Kleiner", antwortet er, nachdem er sich wieder etwas beruhigt hat. "So was ist nicht mein Stil", versichert er mir dann und ich sehe ihm nun doch wieder ins Gesicht.
 

Auf seinen Lippen liegt ein amüsiert aussehendes Grinsen und bevor ich etwas sagen kann, bekomme ich Slim in die Arme gedrückt, der sich gleich an mich schmiegt und schnurrend seinen Kopf an meinem Kinn reibt. Super, und schon wieder bin ich voller Katzenhaare. Ganz toll. Ich sollte das blöde Vieh doch umbringen. Verdient hätte er's auf alle Fälle.
 

"Weißt Du, Kleiner, Du solltest nicht alles glauben, was in den Nachrichten über uns erzählt wird. Wahrer Satanismus hat absolut nichts mit der Opferung von Tieren, Jungfrauen oder kleinen Kindern zu tun. Im Gegenteil. Wer so was tut, ist kein echter Satanist." Mit diesen Worten lässt Mr. Gruselig mich mitten im Flur stehen und steigt die Treppen in die erste Etage hoch, wo er ganz offenbar wohnt. Ich blicke ihm vollkommen verdattert nach und weiß nicht, was ich denken oder fühlen soll. Heilige Scheiße, war das ein durchgeknallter Tag!
 

Meine Starre löst sich erst, als Franzi die Tür zu unserer Wohnung aufreißt und mich samt ihrem Kater hineinscheucht. Aber erst als ich längst wieder in meinem Zimmer bin und gerade meine Kapuzenjacke ausziehen will, fällt mir auf, dass ich noch nicht mal weiß, wie der Typ – der ja wohl offenbar unser neuer Nachbar ist – eigentlich heißt. Außerdem hab ich mich auch gar nicht bei ihm dafür bedankt, dass er mich auf der Brücke vor Kevin und seinen beiden Freunden gerettet hat. Scheiße, wie unhöflich war das denn?
 

~*~
 

So, das war's auch schon. Feedback wär nett, aber das wisst ihr ja.

^.~

Bis zum nächsten Mal!

*wink*
 

Karma

Von Schlaflosigkeit, einem neuen Mitschüler und einem unerwarteten Wiedersehen

So, und hier wäre dann auch das zweite Kapitel von Welcome to my life.

^_____^
 

Danke übrigens für die bisher acht Kommentare an Aschra, LeaGreywolf, zintia, Tianani, abgemeldet, Inan, Schwarzfeder, und nitro2811. Freut mich, dass ihr Janni und seinen unheimlichen Retter mögt. Ich muss gestehen, es macht eine Menge Spaß, das hier zu schreiben.

*___*
 

So, und jetzt nerve ich euch nicht länger, sondern wünsche viel Spaß beim Lesen!
 

Karma
 

~*~
 

Der nächste Morgen – und damit der erste Schultag nach den Herbstferien – kommt für meinen Geschmack viel zu früh. Ich habe nur gefühlte zwei Minuten geschlafen und verstecke mich deshalb brummelnd und nuschelnd unter meiner Bettdecke, als mein Wecker zu klingeln anfängt. Heute kann mich die Welt definitiv mal ganz gepflegt am Arsch lecken. Und die Schule auch. Da gehe ich heute garantiert nicht hin. Nicht nach der Aktion von Kevin und seinen dämlichen Kumpels gestern.
 

Ich habe nämlich die ganze beschissene letzte Nacht kein Auge zugemacht, weil meine Gedanken sich erst um die Sache mit der Brücke und dadurch dann zwangsläufig um unseren neuen Nachbarn gedreht haben. Wann immer ich versucht habe zu schlafen – wofür ich meine Augen ja nun mal leider schließen musste –, hatte ich gleich wieder diese durchdringenden gelben Augen vor mir, von seiner tiefen Stimme ganz zu schweigen. Ich habe mich also nur rumgewälzt und mich so fest wie möglich in meine Bettdecke eingewickelt, weil ich eine Gänsehaut nach der anderen gekriegt habe, wenn ich an seine Blicke oder seine Stimme denken musste.
 

"Was über uns erzählt wird", hat er mir gestern Abend im Flur gesagt und genau diese Worte sind schuld daran, dass ich die ganze Nacht nicht schlafen konnte. Ich mein, das kann man ja wohl kaum falsch verstehen, oder? Wenn er schon darüber spricht, was die Nachrichten "über uns" berichten, dann heißt das ja wohl, dass er Satanist ist. Und obwohl ich es nicht wollte, habe ich die ganze Nacht darüber gegrübelt, was er wohl damit gemeint hat, dass Satanisten nicht so sind, wie sie im Fernsehen und in der Zeitung immer dargestellt werden. Wenn sie nicht so sind, wie sind sie denn dann? Darauf habe ich bei aller Grübelei einfach keine Antwort gefunden.
 

Irgendwann, nachdem ich mehrere endlose Stunden lang darüber nachgegrübelt habe, kam mir die überaus glorreiche Idee, dass ich ihn ja mal fragen könnte, was er damit gemeint hat, wenn ich ihn das nächste Mal sehe. Aber den schwachsinnigen Einfall habe ich gleich wieder verworfen. Ich meine, hallo? Ich kann doch nicht einfach so zu diesem Gruseltypen hingehen und ihn fragen, ob er mir diesen ganzen Satanismuskram mal erklären kann. Der hält mich doch für bescheuert und lacht mich aus. Oder er macht doch wer weiß was mit mir, weil er meine Neugier einkalkuliert hat, um mich in seine Wohnung zu locken.
 

"Jan, aufstehen! Du musst zur Schule!", höre ich die Stimme meiner Mutter aus dem Flur, aber ich ignoriere ihr Rufen und vergrabe mich nur noch tiefer unter der Bettdecke. Wenn ich weit genug runterrutsche und mich still genug verhalte, übersieht sie mich vielleicht und lässt mich in Ruhe. Oder vielleicht glaubt sie auch, ich wär schon aufgestanden und gegangen, um nicht auf Franzis Fahrdienst angewiesen zu sein. Nach dem Zoff, den meine Schwester und ich nämlich gestern Abend noch hatten, wäre das sicher gar nicht so abwegig. Vielleicht glaubt meine Mutter das ja wirklich.
 

Wie sehr ich mich irre, merke ich, als meine Zimmertür aufgerissen wird. "Janni, aufstehen!", krakeelt meine kleine Schwester Vicky fröhlich, hüpft auf mein Bett zu und reißt mir voller Elan meine Tarnung – auch bekannt als Bettdecke – weg. Dadurch bin ich unweigerlich der eisigen Kälte meines Zimmers ausgesetzt, aber als ich mich darüber beschwere, lacht Vicky nur. Super, echt. Schon wieder nimmt mich niemand ernst. Die tragische Geschichte meines Lebens.
 

"Du musst doch sowieso jetzt aufstehen", schmettert sie mein Gemotze gut gelaunt ab und bringt sich mit einer schnellen, geschickten Drehung – Pirouette heißt das wohl, wenn ich mich nicht ganz schwer irre; der jahrelange Ballettunterricht meiner kleinen Schwester hat leider seine Spuren bei mir hinterlassen – vor meinem zugreifenden Arm in Sicherheit. Verdammt seien meine lahmen Reflexe am Morgen! Obwohl ... Wenn ich ehrlich bin, erwische ich sie sonst eigentlich auch nie. Sie ist einfach zu schnell für mich.
 

Schon ganz schön frustrierend irgendwie. Meine große Schwester schikaniert mich und benutzt mich als Punchingball für ihre Launen und für meine kleine Schwester bin ich auch nicht mehr als eine Witzfigur, solange sie nicht bei irgendwas meine Hilfe braucht. Dann ist sie die Liebenswürdigkeit in Person – jedenfalls so lange, bis sie hat, was sie wollte. Danach werde ich gleich wieder zur Lachnummer degradiert. Hätte ich nicht lieber Brüder statt Schwestern kriegen können?
 

Allerdings, wenn ich so genau darüber nachdenke, wage ich ernsthaft zu bezweifeln, dass ich bei zwei Brüdern nicht auch derjenige wäre, auf dem jeder rumhackt. Ich bin und bleibe nun mal der Arsch für alle. So langsam sollte mich das doch echt nicht mehr wundern. Das Universum hasst mich eben. Schon seit meiner Geburt. Warum sollte ich sonst immer derjenige sein, der eins auf den Deckel kriegt? Das muss doch irgendwie genetisch vorprogrammiert sein.
 

Mit diesen nicht gerade erbaulichen Gedanken im Hinterkopf quäle ich mich schließlich doch noch aus meinem warmen Bett und schlurfe erst mal ins Bad. Nachdem ich zumindest halbwegs menschlich aussehe und auch angezogen bin, mache ich mich wenig enthusiastisch auf den Weg in die Küche und lasse mich dort auf meinen Platz fallen, um zu frühstücken. Eigentlich bin ich dafür noch viel zu müde, aber jetzt bin ich schon mal hier, da kann ich auch eben was essen, bevor ich mich zur Schule schleppe.
 

Nicht wirklich zu meiner Überraschung ignoriert Franzi mich total, was allerdings durch Vickys ununterbrochenes Geplapper kaum auffällt. Während ich mit der einen Hand meine übliche Morgenration Cornflakes in mich hineinschaufele und mit der anderen Hand Slim von meiner Schüssel fernzuhalten versuche – warum will diese Dreckskatze eigentlich immer nur mein Frühstück klauen, kann mir das mal jemand verraten? –, bekomme ich nur am Rande mit, dass Vicky zu ihrer Ballettaufführung am Freitagabend auch einen gewissen Simon eingeladen hat, von dem sie ja sooooo sehr hofft, dass er auch wirklich kommt.
 

Kurzzeitig wundere ich mich darüber, dass mir der Name so gar nichts sagt, aber die Nachfrage, ob sie wirklich glaubt, dass irgendein Kerl, egal, wie alt er ist, sich freiwillig eine Ballettaufführung antut, verkneife ich mir klugerweise. Ich mag weder richtig wach noch wirklich munter oder gar gut gelaunt sein – wer ist das auch am ersten Schultag nach den Ferien? –, aber ich bin nicht dumm genug, jetzt etwas Falsches zu sagen und mir damit auch noch Vickys Zorn zuzuziehen. Stress mit einer Schwester reicht mir vollauf. Die doppelte Dosis Zickenkrieg muss ich echt nicht haben. Immerhin hänge ich an meinem Leben – egal, wie erbärmlich es auch sein mag.
 

"Ich muss dann los. Bis später, Mama. Komm, Vicky, ich fahr Dich eben zur Schule." Während meine kleine Schwester bei Franzis Aufforderung gleich aufspringt und in ihr Zimmer rennt, um ihre Sachen zu holen, stopfe ich mir den letzten Löffel Cornflakes in den Mund, kaue extra langsam und kratze meine Schüssel danach noch besonders sorgfältig aus, um auch ja jeden Tropfen Milch zu erwischen. Dabei vermeide ich es absichtlich, zur Küchentür zu sehen, weil ich genau weiß, dass Franzi da steht und mich beobachtet. Aber wenn sie glaubt, sie kann mich damit ärgern, dass sie nur Vicky zur Schule mitnimmt und mich nicht, dann hat sie sich geschnitten.
 

Ich würde lieber zur Schule laufen – egal, wie kalt es heute morgen auch ist –, als bei ihr mitzufahren. Immerhin ist das, was mir gestern Abend passiert ist, einzig und allein ihre Schuld. Aber hat sie sich entschuldigt oder auch nur gefragt, ob es mir gut geht? Nein, das hat sie natürlich nicht. Sie hat mich nur dafür angepflaumt, dass ich so lange gebraucht habe, um ihre Scheißkatze wieder ins Warme zu bringen. Dass ich fast erfroren und beinahe von der Brücke geworfen worden wäre, hat die blöde Kuh kein Stück interessiert. Warum auch? Wäre ja immerhin nur ich gewesen. Ein Ärgernis weniger in ihrem Leben.
 

Inzwischen wieder genauso auf hundertachtzig wie gestern Abend schiebe ich meinen Stuhl zurück, stehe auf und quetsche mich ohne ein Wort an Franzi vorbei, um meine Schulsachen aus meinem Zimmer zu holen. Danach ziehe ich mir im Flur noch eben meine Schuhe und meine Jacke an, schnappe mir meinen Rucksack und bin nach einer knappen Verabschiedung aus der Tür, bevor meine Schwestern startbereit sind oder meine Mutter mich aufhalten kann. Den Triumph, dass sie sich einmischt, gönne ich Franzi einfach nicht.
 

Ich haste die Treppen runter und mache mich dann mit schnellen Schritten auf den Weg zur Bushaltestelle. Der Bus, den ich eigentlich nehmen müsste, ist zwar schon weg, aber wenn ich den nächsten erwische und mich ein bisschen beeile, hab ich zumindest eine kleine Chance, es trotzdem noch pünktlich zum Unterrichtsbeginn zu schaffen. Und die Tatsache, dass ich meinen eigentlichen Bus verpasst habe, hat noch einen weiteren Vorteil: Dadurch, dass ich nicht ganz so früh an der Schule bin wie sonst, kann ich Kevin und seinen beiden Idiotenfreunden noch etwas länger aus dem Weg gehen. Nach gestern Abend lege ich nun wirklich keinen gesteigerten Wert auf deren Gesellschaft.
 

Gerade als die Haltestelle in Sicht kommt, sehe ich auch schon den Bus um die Ecke biegen. Ich lege also einen Zahn zu und lasse mich kaum eine Minute später japsend auf einen der wenigen freien Plätze fallen. Dass der eigentlich für Behinderte gedacht ist, ist mir dabei vollkommen schnuppe. Ich hoffe nur, ich werde heute nicht kontrolliert. Ich hab nämlich weder eine Fahrkarte noch genügend Geld dabei, um eine zu kaufen. Nach dem Zoff mit Franzi gestern Abend hab ich es dummerweise total verschwitzt, meine Mutter um Geld anzuhauen. Super, echt. Warum passiert so was eigentlich immer nur mir?
 

Gedanklich über die Ungerechtigkeit dieser Welt philosophierend bringe ich die Busfahrt hinter mich und mache mich nach dem Aussteigen in der Masse der Schüler, die sich auf die Schule zu bewegt, so unsichtbar wie möglich. Auf eine Begegnung mit Kevin, Carsten und Malte kann ich wirklich verzichten. So früh morgens brauche ich die echt noch nicht.
 

Pünktlich mit dem Gong betrete ich das Schulgebäude und schlendere dann so langsam, dass man es schon als schleichen bezeichnen könnte – merkt man, dass ich keine Lust habe? –, zu meinem Klassenraum, dass ich erst dort ankomme, als meine lieben Mitschüler alle schon darin verschwunden sind. Da ich allerdings ganz genau weiß, dass meine Klassenlehrerin noch nicht da ist – Frau Römer kommt Montags grundsätzlich fünf Minuten zu spät, danach kann man echt die Uhr stellen –, treibe ich mich so lange auf dem Flur herum, bis ich ihre etwas hektischen Schritte näherkommen höre. Erst dann verschwinde ich auch im Klassenraum, lasse mich auf meinen Platz fallen und mache mich so klein wie möglich, damit das Idiotentrio mich nicht doch noch blöd ansaugt.
 

Keine Minute nach meinem Eintreffen reißt auch Frau Römer die Tür auf, hetzt nach vorne zum Pult und ich atme erleichtert auf. Wenigstens zwei Stunden lang Ruhe und Sicherheit – bis zur kommenden Pause, für die ich mir am besten jetzt schon mal ein verdammt gutes Versteck überlegen sollte, wo Kevin und seine Dumpfbacken mich nicht finden können.
 

"So, Klasse", Frau Römer räuspert sich und in meinen Ohren klingt sie irgendwie so, als hätte sie "Kinder" sagen wollen statt "Klasse", "ihr bekommt heute einen neuen Mitschüler", läutet meine herzallerliebste – kein Scherz, ich mag sie wirklich –, etwas verpeilte Klassenlehrerin den ersten Schultag nach den Herbstferien ein und ihre Worte lenken meinen Blick zu ihr nach vorne, wo er gleich auf den Jungen fällt, der neben dem Pult steht.
 

Der Neue, der ungefähr fünfzehn oder sechzehn sein muss, trägt eine schwarze Röhrenjeans und dazu einen ebenfalls schwarzen Pulli, der ihm mindestens zwei Nummern zu groß ist. Seine Haare sind ebenso schwarz wie seine Kleidung und fallen ihm halb ins Gesicht, so dass sie sein rechtes Auge verdecken. Die Farbe des anderen Auges kann ich von meinem Platz aus – ich sitze ganz hinten – nicht erkennen, wohl aber das Piercing in seiner Unterlippe. Das Auffälligste an ihm ist allerdings eindeutig sein eingegipster linker Arm.
 

"Stell Dich doch bitte kurz vor, ja?", wendet Frau Römer sich an den Neuen und dieser nickt, während er gleichzeitig seinen Blick durch die Klasse schweifen lässt und schließlich an mir hängen bleibt. "Hi. Ich bin Ruben Schwarz, bin fünfzehn und ...", fängt er an, kommt aber nicht dazu, seinen Satz zu beenden, weil Kevin ihm – welch Wunder – natürlich ins Wort fallen muss.
 

"Och nee, nicht noch so ne Emo-Tunte!", grölt er, blickt sich beifallheischend um und kriegt natürlich auch gleich lauten Applaus von seinem versammelten Fußvolk – Idioten, allesamt, aber echt –, den auch Frau Römers empörtes "Also wirklich, Kevin!" nicht unterbinden kann.
 

Der Neue blinzelt kurz, doch dann legt sich ein Grinsen auf seine Lippen. "Mann, bis gerade dachte ich noch, der Schulwechsel wäre eine echt blöde Idee gewesen, aber das nehm ich zurück. Ich bin ja so ein Glückspilz! So viele schnuckelige Jungs auf einem Haufen!", quietscht er und Kevins Augen werden groß, als dieser Ruben zu ihm rüberschlendert, sich halb über seinen Tisch beugt und ihm genau ins Gesicht blickt.
 

"Sag mal, Süßer, krieg ich Deine Nummer?", fragt er und wirft Kevin einen Schmachtblick allererster Güte zu, woraufhin dieser blass wird. "Ich würd Dich nämlich echt gerne näher kennen lernen, wenn Du verstehst, was ich meine. Du bist ganz genau mein Typ", schiebt er noch hinterher und ich glaube, es ist einzig und allein Frau Römers Anwesenheit zu verdanken, dass er für diese Worte nicht auf der Stelle gekillt wird. Allerdings verspricht Kevins Gesichtsausdruck ihm einen langsamen, verdammt schmerzhaften Tod, sobald er ihn in der Pause in die Finger kriegt. Also entweder ist der Neue wahnsinnig mutig, wahnsinnig lebensmüde oder einfach nur wahnsinnig.
 

"Verpiss Dich bloß, Du Schwuchtel!", blafft Kevin seinen neuen "Verehrer" an, aber der lacht nur, hebt seine Tasche auf, die er vorhin neben das Lehrerpult gestellt hat, und kommt dann schnurstracks auf mich zu. "Ich mach's mir einfach mal hier neben Dir bequem, okay? Oder stör ich Dich?", erkundigt er sich mit schiefgelegtem Kopf und als ich verneine, setzt er sich auf den Platz neben meinem, der von Anfang an immer leer war.
 

"Sind die hier alle so hohl wie der da vorne?", will er dann leise von mir wissen und ich nicke einfach nur. Warum sollte ich auch lügen? "Na, das kann ja heiter werden. Und bisher musstest Du Dich ganz alleine mit diesen Intelligenzallergikern rumschlagen? Mein Beileid, ehrlich. Und meinen Glückwunsch, dass Du nicht auch verdummt bist. Ey, gegen diese Spacken ist ja sogar Rotze noch intelligent", plappert er drauflos und ich beiße mir auf die Unterlippe, um bloß nicht laut zu kichern. Lebensmüde oder wahnsinnig hin oder her, ich glaub, ich mag den Neuen jetzt schon.
 

"Na ja, ich bin jedenfalls Ruben. Aber das weißt Du ja schon, oder? Klar, Du bist ja nicht taub. Wie heißt Du denn?", erkundigt er sich, sieht mich neugierig an und mir fällt auf, dass seine Augen, von denen ich immer noch nur eins wirklich erkennen kann, braun sind. "Jan", stelle ich mich leise vor – ich will schließlich keinen Ärger mit Frau Römer – und Ruben grinst mich an. "Freut mich, Jan", versichert er mir und streicht sich seinen Pony aus dem Gesicht, was allerdings keinen wirklichen Sinn macht, denn seine Haare fallen gleich wieder in ihre vorherige Position zurück.
 

"Jan, würdest Du Ruben in der Pause rumführen, ihm alles zeigen und auch mit ihm zusammen seine Bücher holen?", mischt sich Frau Römer von vorne ein. Ich nicke nur als Antwort, was sie zum Anlass nimmt, mit einem zufriedenen Lächeln mit dem Unterricht zu beginnen. Ruben rutscht etwas näher zu mir, um mit in mein Buch sehen zu können, und ich fühle mich irgendwie komisch.
 

Seit ich in diese Klasse gekommen bin, hatte ich immer einen Einzelplatz, weil niemand von meinen ach so coolen Mitschülern neben mir sitzen wollte. Jetzt plötzlich einen Sitznachbarn zu haben, der sich noch dazu in keinster Weise von Kevin und seinen Kumpeln einschüchtern lässt, ist schon ein bisschen seltsam. Aber ich kann nicht behaupten, dass es mir nicht gefallen würde. Es ist ein gutes Gefühl, nicht mehr ganz alleine zu sein.
 

Bis zum Beginn des Sportunterrichts in den letzten beiden Stunden – sowohl in der ersten als auch in der zweiten Pause haben wir es geschafft, Kevin und den Anderen so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen – hat Ruben mir fast seine halbe Lebensgeschichte erzählt. Die Sticheleien und blöden Sprüche unserer "tollen" Klassenkameraden, die jetzt zwei Opfer haben statt nur einem, haben ihn nicht davon abgehalten, sich auf dem Weg zum Bücherraum sogar bei mir einzuhaken und mir mit seinem Gelaber fast ein Ohr abzukauen.
 

Aber so nervig, wie das jetzt gerade klingt, fand ich das gar nicht. Im Gegenteil. Es ist eigentlich sogar echt toll, endlich mal wieder mit jemandem reden zu können und nicht immer nur beleidigt zu werden. Und auch wenn das in der ersten Pause noch mehr als ungewohnt war, mittlerweile genieße ich es regelrecht. Ich bezweifle zwar, dass ich mir wirklich alles, was Ruben mir erzählt hat, hundertprozentig richtig gemerkt hab – die Namen seines großen Bruders und seines besten Freundes hab ich, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, beispielsweise schon wieder vergessen –, aber ich hoffe, er nimmt mir das nicht allzu übel. Allerdings macht er nicht den Eindruck, als ob er überhaupt richtig böse werden könnte.
 

"Und Du hast also zwei Schwestern, ja?", versichert er sich gerade dessen, was ich ihm über mich erzählt habe – wir sitzen hier im Sportunterricht beide auf der Bank; er kann wegen seinem Gips nicht mitmachen und ich habe eine generelle Sportbefreiung –, und als ich nicke, klopft er mir mitfühlend auf die Schulter. "Beileid. Ich sag Dir, Brüder sind auf jeden Fall besser. Nichts gegen Mädchen im Allgemeinen, aber einige der Leute, die ich kenne, haben Schwestern und die sind allesamt wandelnde Katastrophen. Echt, da ist mir mein Bruder tausendmal lieber. Klar, wir hatten auch mal Zoff und so, bevor er ausgezogen ist, aber wir hatten nie so nen Zickenterror. Ich glaub, bei so was würd ich auf jeden Fall durchdrehen."
 

Ruben grinst schief und ich grinse ebenfalls ein wenig. Das Gefühl, durchdrehen zu müssen wegen meinen Schwestern, kenne ich verdammt gut. "Mein Bruder hat zwar jetzt lange bei der Tante unserer Mutter gelebt – er ist mit sechzehn ausgezogen, weil Paps und er dauernd Stress hatten –, aber vor kurzem ist er wegen seinem Job in eine eigene Wohnung gezogen, die gar nicht so weit weg ist", erzählt er dann weiter und fängt ganz plötzlich an zu strahlen wie ein Kaufhaus kurz vor Weihnachten.
 

"Echt, ich freu mich riesig auf den Schulschluss heute. Er wollte mich nämlich nach der Schule abholen und mich nach Hause bringen. Eigentlich würde ich mir ja lieber seine neue Wohnung ansehen, aber mein Vater dreht durch, wenn ich schon an meinem ersten Schultag zu spät nach Hause komme – vor allem, wenn er mitkriegt, dass ich mich mit meinem Bruder getroffen hab. Paps und er haben ein ziemlich mieses Verhältnis. Genau betrachtet haben sie sich seit dem Auszug meines Bruders gar nicht mehr gesehen und auch nicht mehr miteinander gesprochen."
 

Bei diesen Worten verschwindet Rubens Grinsen und er seufzt kurz. Allerdings lächelt er gleich darauf auch schon wieder und ich kann mich irgendwie des Eindrucks nicht erwehren, dass er ein ziemliches Sonnenscheinchen ist, wie meine Mutter es jetzt nennen würde. Sein Lächeln und seine gute Laune sind jedenfalls echt ansteckend. So lassen sich auch die sonst so öden und von dummen Sprüchen geprägten Sportstunden – an denen ich ja glücklicherweise sonst eigentlich gar nicht teilnehmen muss – ertragen. Immerhin sitze ich hier jetzt nicht alleine rum und bin Kevin und den Anderen deshalb auch nicht so ausgeliefert wie sonst.
 

Herr Mertens, unser Sportlehrer, mischt sich nämlich grundsätzlich nie ein, wenn ich gemobbt oder bedroht werde – auch dann nicht, wenn er eigentlich Pausenaufsicht auf dem Schulhof hat. In seinen Augen habe ich das wohl alleine durch die Tatsache, dass ich eine Sportbefreiung habe, irgendwie verdient. Er hat einfach nichts übrig für "Weicheier" wie mich, die ja eh nur simulieren. Der Kerl ist genau wie mein Vater, echt. Die beiden sind problemlos gegeneinander austauschbar. Für beide bin ich nur ein Ärgernis, aber kein vollwertiger Mensch, der vielleicht auch Gefühle hat. Arschlöcher, alle beide!
 

Normalerweise bleibe ich Montags auch gar nicht bis zum Ende der sechsten Stunde, aber heute bin ich wegen Ruben doch geblieben. Er hätte zwar wegen seines Arms auch eigentlich schon gehen können, aber vor dem Ende der sechsten Stunde kann sein Bruder nicht hier sein und ihn abholen, also hab ich beschlossen, auch so lange zu bleiben. Meine Mutter ist so früh sowieso noch nicht zu Hause – Montags kommt sie immer erst nach mir –, also vermisst mich auch niemand. Außerdem kann ich Ruben schließlich nicht mit Kevin und den anderen Deppen alleine lassen. Nicht nach dem, was er in der ersten Stunde zu Kevin gesagt hat. Wenn der Ruben nämlich alleine in die Finger kriegt, macht er Hackfleisch aus ihm. Und das hat Ruben wirklich nicht verdient.
 

"Hey, was meinst Du, sollen wir schon mal abhauen? Sind ja nur noch zehn Minuten. Die können wir doch auch draußen auf meinen Bruder warten, oder?" Zeitgleich mit dieser Frage kriege ich einen Ellbogen in die Rippen gerammt, der mir garantiert einen blauen Fleck bescheren wird. Diesbezüglich ist mein Körper schon immer verdammt empfindlich gewesen – gleich noch ein Grund, aus dem ich immer geärgert und aufgezogen wurde und werde.
 

"Von mir aus gerne", stimme ich gleich zu. Je eher ich hier rauskomme, desto besser. Vielleicht hab ich ja sogar Glück und Rubens Bruder setzt mich eben kurz bei mir zu Hause ab. Aber selbst wenn nicht, habe ich, wenn wir uns jetzt verdünnisieren, trotzdem noch die Chance, einen früheren Bus zu erwischen als mein persönlicher Alptraum und sein Gefolge, was auch schon hilfreich wäre. Für mich wäre es nämlich sicher auch nicht sonderlich gesund, wenn ich den Dreien in die Hände fallen würde, nachdem ich mich ja heute so augenscheinlich mit dem Neuen "verbrüdert" habe.
 

Ich werfe einen kurzen Blick zu Herrn Mertens, der glücklicherweise gerade schwer beschäftigt ist – manchmal ist es schon praktisch, wenn der Sportlehrer notgeil ist und eher auf die Titten und Ärsche der Mädels als auf den Rest der Schüler achtet –, dann blicke ich zu Kevin und seinen Kumpels, die sich gemütlich unterhalten, und nicke Ruben schließlich zu.
 

"Okay, dann nichts wie weg von hier!", grinst er mich an, hält mir seine rechte Hand hin und zieht mich von der Bank hoch. Gemeinsam drücken wir uns an der Wand entlang in Richtung der Tür zu den Umkleiden, öffnen diese, quetschen uns heimlich durch, sehen uns an und kichern dann leise, nachdem uns unbemerkt die Flucht gelungen ist. Ehrlich, so viel Spaß wie heute hatte ich in der Schule schon lange nicht mehr!
 

"Ich glaub, wir haben echt Talent als Ausbrecher." Ruben zwinkert mir zu und schnappt sich seine Tasche. Ich werfe mir meinen Rucksack über die Schulter und folge ihm dann nach draußen in Richtung Parkplatz. Und obwohl es schon ziemlich eisig ist und ich Kälte eigentlich hasse, habe ich gerade verdammt gute Laune. Mit Ruben ist es fast so wie mit Jassi, nur ein bisschen anders.
 

"Ich glaub, mein Bruder ist schon da. Das da vorne ist jedenfalls sein Auto", informiert Ruben mich, packt mein Handgelenk und zerrt mich so eilig hinter sich her, dass ich beinahe stolpere. Darüber muss ich unwillkürlich grinsen, aber sobald der Fahrer des schwarzen Wagens, auf den Ruben gerade gezeigt hat, aussteigt und sich zu uns umdreht, vergeht mir das Grinsen gleich wieder und meine Augen werden groß. Das ist doch wohl jetzt nicht wahr, oder? Das kann doch wohl – bitte, bitte, bitte! – nur ein ganz, ganz mieser Scherz sein! So sehr kann das Universum mich doch gar nicht hassen, verdammt! Warum passiert so was denn immer ausgerechnet mir?
 

"Hey, großer Bruder!", grüßt Ruben meinen zweiten persönlichen Alptraum neben Kevin fröhlich und macht damit auch noch meine letzte Hoffnung auf Halluzinationen meinerseits zunichte. Der Psychopath, den ich gestern Abend bei der Suche nach Slim getroffen habe – unser neuer Nachbar, Mr. Oberzombie –, ist tatsächlich Rubens großer Bruder. Wunderbar, echt. Was habe ich eigentlich verbrochen, dass ich immer so gestraft werde?
 

Kurz schießt mir durch den Kopf, dass ich dem wandelnden Horrorfilmrequisit da vorne eigentlich ja noch einen Dank schulde wegen der Sache mit Kevin, Malte und Carsten gestern Abend, aber ein Blick in seine – heute tiefroten – Augen und mir bleibt dieser Dank wortwörtlich im Hals stecken. Ich bringe kein Wort heraus, sondern starre ihn erst nur an wie eine Erscheinung und werde dann schlagartig rot, als er mich tatsächlich kurz angrinst.
 

"Was für eine Überraschung", murmelt er und ich wünsche mir hier auf der Stelle ein Loch, in dem ich mich verkriechen kann, bis er weg ist. Verdammt, bei Tageslicht ist der ja genauso gruselig wie im Dunkeln! Hilfe! Aber heißt es nicht eigentlich, dass Vampire tagsüber nicht rauskommen können wegen der – zugegebenermaßen jetzt im Oktober eh kaum vorhandenen – Sonne? Was für eine Spezies ist dieser Kerl? Und will ich das wirklich wissen?
 

"Also, das ist mein Bruder Simon", platzt Ruben, den ich – peinlich, aber wahr – bis zu dieser Sekunde schon wieder total vergessen hatte, in meine Gedanken und wedelt mit seinem Gipsarm in meine Richtung. "Und das ist ..." "Jan. Ich weiß. So sieht man sich wieder." Das Grinsen von Mr. Vampirkiller – Simon ist einfach ein viel zu normaler und vor allem harmloser Name für diesen Typen – vertieft sich noch etwas und ich schlucke hart. Diese Stimme ist einfach Gänsehautfeeling pur!
 

Und diese ganze Situation hier ist einfach nur ein weiterer Beweis dafür, dass das Universum, Gott oder wer auch immer mich abgrundtief hassen muss. Da hatte ich gehofft, endlich in der Schule jemanden zu haben, mit dem ich mal reden kann, und dann passiert so was. Ganz toll, echt. Warum kann in meinem Leben eigentlich nicht wenigstens ein einziges, verdammtes, beschissenes Mal irgendwas so laufen, wie ich das gerne hätte? Warum immer ich?
 

"Ihr kennt euch schon?" Mit großen Augen blickt Ruben zwischen seinem Bruder und mir hin und her. Ich kann nur stumm nicken und Simon – es ist echt seltsam, jetzt den richtigen Namen von diesem Vampirfreak zu kennen – tut es mir gleich. "Wir haben uns gestern Abend schon getroffen. Jan und seine Familie wohnen direkt unter mir", erklärt er und Ruben fängt an zu strahlen, was ich mal so überhaupt nicht nachvollziehen kann.
 

"Das ist ja genial!", freut er sich und ich bin gelinde gesagt total irritiert. Man könnte auch behaupten, ich kucke ihn an wie eine Kuh wenn's donnert, aber wer will denn so kleinlich sein? Ich kann jedenfalls absolut nicht nachvollziehen, was Ruben daran genial findet, dass in der Wohnung über uns dieser Irre wohnt. Das ist alles, aber genial ist das ganz bestimmt nicht. Beängstigend, erschreckend, vielleicht sogar gruselig, aber genial finde ich das nicht.
 

"Dann kann ich, wenn ich einen von euch beiden besuche, auch immer gleich bei dem Anderen vorbeischauen und so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen." Ist der wahnsinnig? Nachher schleppt der diesen Verrückten noch in unsere Wohnung und der killt uns alle oder so. Verdammt, ich will hier weg! Ehrlich, so sehr hab ich mich noch nie nach Hause in mein sicheres, warmes Bett gewünscht. Warum bin ich heute Morgen eigentlich überhaupt aufgestanden?
 

Bevor allerdings mein Fluchtreflex einsetzt und ich mich in Sicherheit bringen kann, werde ich auch schon wieder gepackt, mitgezerrt und finde mich nach dem nächsten Blinzeln auf dem Rücksitz des schwarzen Wagens von Mr. Psycho wieder, meinen Rucksack auf meinem Schoß und Ruben neben mir. Und während er munter auf seinen Bruder einquasselt, mache ich mich so klein wie möglich, kneife meine Augen ganz fest zu und nehme mir vor, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit die Beine in die Hand zu nehmen und abzuhauen. Der Kerl ist mir einfach nicht geheuer. Und daran ändert auch sein kleiner Bruder nichts. Immerhin kenne ich Ruben ja gerade mal knapp sechs Stunden. Was weiß ich denn, wie der wirklich ist?
 

Klar, ich habe mich die ganze Zeit über echt gut mit ihm verstanden, aber das kann ja alles gestellt gewesen sein. Außerdem wusste ich da ja auch noch nichts von seiner Verwandtschaft mit diesem Gruseltypen. Obwohl die Zwei sich, wenn ich es so genau betrachte, nicht besonders ähnlich sehen. Sind die wirklich Brüder? Oder ist das vielleicht nur ein Trick gewesen, um mich ins Auto zu kriegen und ... was weiß ich was mit mir anzustellen? Zutrauen würd ich's diesem Zombiefan auf jeden Fall.
 

Ein Rippenstoß reißt mich aus meinen immer paranoider werdenden Gedanken und als ich meine Augen vorsichtig wieder öffne, blicke ich genau in Rubens Gesicht. "Ich muss jetzt hier raus. Da vorne wohne ich", informiert er mich und als ich einen Blick durch die Windschutzscheibe werfe, kracht meine Kinnlade buchstäblich auf den Boden.
 

"In ... in einer ... Kirche?", stammele ich krächzend und meine Augen huschen ungewollt zu Rubens großem Bruder, der schon ausgestiegen ist und sich an die Motorhaube seines Wagens gelehnt hat. Sein Gesicht kann ich nicht sehen, weil er mir den Rücken zudreht, aber auf mich wirkt er irgendwie angespannt. Aber vielleicht bilde ich mir das auch bloß ein. Was weiß denn ich, was in ihm vorgeht? Und warum zerbreche ich mir eigentlich den Kopf darüber? Das geht mich doch gar nichts an. Außerdem interessiert es mich auch nicht die Bohne. Ist mir doch egal, was er jetzt denkt.
 

"Nein, natürlich nicht." Ruben kichert, löst meinen Anschnallgurt und zieht mich aus dem Auto. Sobald ich draußen bin, schlägt er die Tür zu und ich stelle mit Entsetzen fest, dass mein Rucksack noch auf der Rückbank liegt. Scheiße!
 

"Ich wohn direkt daneben, im Pfarrhaus. Mein Vater ist Priester. Hatte ich das nicht erwähnt?" Auf diese Frage kann ich nur mit den Schultern zucken, denn ehrlich gesagt hab ich keine Ahnung, ob Ruben mir davon erzählt hat oder nicht. Kann schon sein, dass ich's einfach nur nicht mitgekriegt oder schon wieder vergessen hab, aber da bin ich mir nicht so ganz sicher.
 

"Na, ich muss dann, sonst drehen meine Eltern durch. Bis morgen in der Schule, Jan." Damit drückt Ruben mich kurz und grinst mich noch mal an, bevor er seine Tasche nimmt und zu seinem Bruder geht. Den umarmt er ebenso wie mich und zu meiner grenzenlosen Überraschung erwidert der Psychopath die Umarmung sogar. Danach wuschelt er Ruben durch die Haare und der beschwert sich zwar, grinst aber dabei, also meint er seine Beschwerde offenbar nicht wirklich ernst.
 

"Pass auf Dich auf, Kleiner. Und grüß Chris von mir", murmelt Mr. Psycho leise, aber trotzdem laut genug, dass ich seine Worte gerade so eben noch hören kann. Seine Stimme klingt seltsam – irgendwie besorgt und fast schon ... zärtlich? – und ich kriege wie schon gestern Abend eine Gänsehaut. Dabei bin ich froh, dass das keiner von den beiden bemerkt. Verdammt, das ist doch peinlich!
 

"Klar, mach ich. Der freut sich bestimmt." Ruben grinst zu seinem Bruder hoch, winkt mir noch einmal mit seinem Gipsarm zu und sprintet dann zur Tür des Pfarrhauses, die gerade geöffnet wird. Im Türrahmen erscheint eine dunkelhaarige Frau, die höchstwahrscheinlich die Mutter der beiden ist. Jedenfalls vermute ich das jetzt einfach mal. Sie lässt Ruben ins Haus und will dann die Tür schließen, hält aber inne und starrt stattdessen zu Mr. Vampirkillers Wagen herüber, als hätte sie einen Geist gesehen – was vielleicht gar nicht so abwegig ist, wenn man das Outfit ihres älteren Sohnes bedenkt. Wenn ich seine Mutter wäre, würde ich mich auch vor ihm gruseln, Sohn hin oder her.
 

"Wir sollten fahren. Steig ein." Die Stimme von Mr. Kinderschreck klingt so bestimmend, dass ich keinen Widerspruch wage, sondern einfach nur an der hinteren Autotür ziehe. Allerdings geht die nicht auf, aber bevor ich irgendetwas sagen kann, öffnet Mr. Gruselig, der schon eingestiegen ist, mir von innen die Beifahrertür und winkt mich zu sich heran. Der Blick aus seinen roten Augen ist durchdringend und beängstigend zugleich, also steige ich brav ein, schnalle mich an und versuche dabei möglichst unauffällig den Kloß runterzuschlucken, der in meinem Hals feststeckt. Scheiße, bis zu Hause bin ich in diesem Auto praktisch ein Gefangener. Und mein Aufseher könnte locker einem Horrorfilm entstiegen sein. Ganz toll. So was passiert wirklich niemandem außer mir. Womit habe ich das eigentlich verdient?
 

Und warum in aller Welt sagt dieser Gruseltyp nichts? Wenn der einfach nur schweigend auf die Straße starrt – ja, ich kucke aus dem Augenwinkel immer wieder zu ihm rüber, aber das ist ja wohl kein Verbrechen, oder? –, ist der mir gleich noch viel unheimlicher als ohnehin schon. Am liebsten würde ich jetzt irgendwas sagen – ganz egal was –, um dieses blöde Schweigen zu brechen, aber dummerweise fällt mir nichts ein. Ich meine, worüber sollte ich mit Mr. Gruselig auch reden? Smalltalk mit einem Möchtegernvampir gehört nun mal nicht unbedingt zu meinen Paradedisziplinen.
 

"Warum haben Sie Ihre Eltern denn nicht begrüßt, als Sie Ruben abgesetzt haben?", rutscht es mir irgendwann dennoch eher unabsichtlich heraus und ehe ich mich versehe, blicken mich zwei rote Augen an. Ich fühle mich ein bisschen wie ein Kaninchen, das von einer hungrigen Schlange in die Ecke gedrängt wurde. Ich glaube, dieses Thema anzusprechen war so ziemlich das Dümmste und Falscheste, was ich tun konnte. Ich bin doch so unglaublich blöd, dass es eigentlich schon weh tun müsste! Das geht mich doch eigentlich gar nichts an.
 

Allerdings frisst mein gruseliger Chauffeur mich nicht für meine Frage, sondern schüttelt einfach nur den Kopf. "Du musst mich nicht siezen", sagt er dann und ich schrumpfe unwillkürlich noch ein bisschen mehr zusammen. Seine Stimme ist ja im Freien schon unheimlich, aber auf so engem Raum wie hier ist die Wirkung mindestens zehnmal so stark. Und das Gleiche gilt auch für seinen Blick. Hilfe!
 

"Das war keine Antwort auf meine Frage", nuschele ich trotzdem leise – ja, bin ich denn lebensmüde? –, bevor ich es verhindern kann. Allerdings spreche ich offenbar nicht leise genug, denn mich trifft noch ein kurzer Seitenblick von Mr. Obervampir, ehe er sich wieder auf den Verkehr konzentriert. "Du würdest meinen Grund nicht verstehen", behauptet er und ich plustere empört die Wangen auf. Was soll das denn jetzt bitteschön heißen?
 

"Ich bin nicht dumm!", brause ich auf und kann sehen, wie er zu schmunzeln beginnt. "Das wollte ich damit auch gar nicht sagen", wiegelt er ab, aber das glaube ich ihm nicht. Der kann mir ja viel erzählen, wenn der Tag lang ist. "Aber um das zu verstehen, weißt Du zu wenig über meinen Vater, mein Verhältnis zu ihm und meinen Glauben. Und so, wie Du gestern Abend reagiert hast, kann ich mir nicht vorstellen, dass Du das ändern willst", fährt er fort und ich muss zu meiner Schande gestehen, dass er mich jetzt neugierig gemacht hat.
 

Klar, ein Priester wird wohl kaum sehr begeistert sein, wenn sein Sohn Satanist wird, aber warum behauptet Simon dann, dass es an seinem Glauben liegt und nicht an dem seines Vaters? Für mich klingt es nämlich irgendwie so, als wäre es Simons Entscheidung, seinem Elternhaus fernzubleiben, und nicht die Entscheidung seines Vaters. Und da muss ich ihm Recht geben. Das verstehe ich nämlich wirklich nicht. Wieso verhindert sein Glaube, dass er mit seinen Eltern spricht?
 

"Das kapier ich nicht", gebe ich zu und wieder schmunzelt Simon kurz, wird aber gleich wieder ernst. "Ich kann meinen Vater nicht respektieren", beginnt er und ich beobachte ihn gespannt. Dabei bemerke ich nur am Rande, dass sich meine Angst vor ihm gerade ziemlich in Grenzen hält. Im Augenblick bin ich eigentlich eher neugierig, sonst nichts – auch wenn seine Stimme mir trotzdem wieder und wieder eine neue Gänsehaut verpasst. Aber irgendwie ist das jetzt gerade gar nicht so schlimm.
 

"Das geht sicher vielen so, aber eine der Regeln meines Glaubens besagt, dass man das Haus einer Person, der man keinen Respekt entgegenbringt, nicht betreten soll. Daran halte ich mich. So einfach ist das." Simons Worte klingen abschließend und so frage ich nicht weiter nach, sondern nicke einfach nur stumm und schaue dann aus dem Fenster, weil ich nicht so recht weiß, was ich sonst tun oder sagen soll.
 

Irgendwie klingt diese Regel in meinen Ohren ziemlich hart – besonders, weil es ja da um seine eigenen Eltern geht. Ich glaube, ich könnte das nicht. Mit meinem Vater komme ich zwar auch nicht besonders gut klar – kein Wunder, er will ja schließlich auch nichts von mir wissen –, aber er ist trotzdem immer noch mein Vater. So einen krassen Schlussstrich unter unsere kaum vorhandene Vater-Sohn-Beziehung ziehen könnte ich schon alleine wegen Vicky nicht. Immerhin hängt sie ja doch sehr an ihm, trotz seiner Trennung von Mama und der blöden Zicke, mit der er seitdem zusammen ist.
 

"Hey, Jan, wir sind da", werde ich aus meinen Überlegungen gerissen und schrecke regelrecht zusammen, als Simon mir eine Hand auf die Schulter legt. "Ähm ... ja, d-danke", stammele ich, während mein Herz einen regelrechten Stepptanz hinlegt. So schnell wie möglich öffne ich meinen Anschnallgurt und bin wie ein geölter Kugelblitz aus dem Auto und im Hausflur.
 

Erst als die Tür unserer Wohnung hinter mir ins Schloss fällt, ich mich an das Holz lehne und in das besorgte Gesicht meiner Mutter blicke, bemerke ich, dass ich meinen Rucksack unten in Simons Auto vergessen habe. Sofort trete ich mich mental selbst in den Arsch. Verdammt, wie blöd bin ich eigentlich? Und wie soll ich meine überstürzte Flucht erklären, wenn ich, was ja wohl leider unvermeidlich ist, zu ihm gehe, um meine Schulsachen zu holen? Oh Mann, mit der Aktion gerade habe ich mich doch so zum Horst gemacht, dass ich ihm nie, nie wieder unter die Augen treten kann! Ich habe mich doch blamiert bis in die Steinzeit und zurück! Und warum? Wegen einem total lächerlichen und harmlosen Gespräch. Super, Jan, echt. Dafür hab ich mir doch glatt einen Orden verdient, ich Vollidiot. Wie kann man nur ungestraft so dämlich sein? Vielleicht sind die ganzen dummen Sprüche, die ich immer zu hören kriege, ja doch irgendwie gerechtfertigt.
 

Wobei ich, wenn ich ehrlich bin, zugeben muss, dass eigentlich nicht das Gespräch das Problem war. Was meinen Fluchtreflex wirklich aktiviert hat, war Simons Hand auf meiner Schulter. Diese plötzliche Berührung hat mich – peinlich, aber wahr – einfach ganz furchtbar erschreckt.
 

"Jan, ist alles in Ordnung? Du bist ja ganz blass. Geht's Dir nicht gut? Und wo ist Dein Rucksack?" Wie als Antwort auf die besorgten Fragen meiner Mutter klopft es in der gleichen Sekunde an das Holz in meinem Rücken und ich zucke so heftig zusammen, dass ich noch fast das Gleichgewicht verliere und umkippe. Allerdings kann ich mich gerade noch so am Türknauf festhalten und schaffe es sogar, mich umzudrehen und, mit heftigst zitternden Fingern und einem Magen wie ein Eisklumpen, die Tür zu öffnen. Davor steht, wie nicht anders zu erwarten war, Simon und hält mir meinen Rucksack entgegen.
 

"Den hast Du gerade in meinem Wagen liegen lassen", sagt er, ohne auch nur mit einem Wort auf mein total blödes Benehmen und meinen ultrapeinlichen Abgang vorhin einzugehen. "D-Danke", stottere ich, nehme meinen Rucksack und laufe gegen meinen Willen knallrot an, als Simon mich für einen Sekundenbruchteil anlächelt. Dabei wirkt er irgendwie gruselig auf mich, aber auch wieder nicht. Ich weiß nicht, wie ich das, was bei dem Anblick in mir vorgeht, richtig beschreiben soll. Ich finde einfach keine passenden Worte dafür und bin regelrecht froh, als meine Mutter sich einmischt.
 

"Sie haben Jan nach Hause gefahren? Das ist aber nett von Ihnen", sagt sie, lächelt Simon freundlich an und legt mir dann einen Arm um die Schultern. Diese Geste ist mir aus einem Grund, den ich nicht so recht verstehe, ganz furchtbar peinlich, aber so gummiartig, wie meine Beine sich gerade anfühlen, kann ich nicht mal flüchten – jedenfalls nicht, ohne mich äußerst unelegant der Länge nach im Flur auf die Fresse zu legen. Und das muss ich wirklich nicht haben.
 

"Du siehst gar nicht fit aus, Schatz", wendet meine Mutter sich an mich und ich kriege gleich wieder ein schlechtes Gewissen, als ich die Sorge in ihrer Stimme höre. Eigentlich sollte ich ihr jetzt sagen, dass es mir gut geht und sie keine Angst haben muss – immerhin bin ich nicht krank, sondern einfach nur total nervös –, aber ich kriege irgendwie keinen einzigen Ton raus. Ganz toll, wirklich. Und schon wieder mache ich mich vor Simon zum Hampelmann. Super, Jan. Herzlichen Glückwunsch.
 

"Vielleicht solltest Du Dich ein bisschen hinlegen. Nicht, dass Du mir noch umkippst." So vorsichtig, als wäre ich aus Glas, streicht meine Mutter mir über die Stirn und ich nutze die Vorlage, nicke kurz und winde mich dann aus ihrem Arm, um schleunigst in meinem Zimmer zu verschwinden. Dabei halte ich meine Augen stur auf den hässlichen braunen Teppich in unserem Wohnungsflur gerichtet, um Simons Blicken zu entkommen.
 

Bevor meine Zimmertür hinter mir ins Schloss fällt, höre ich noch so halb, wie meine Mutter sich noch mal bei Simon für seine Freundlichkeit mir gegenüber bedankt. Seine Antwort darauf ist leise und das Einzige, was ich verstehe, ist der Name Ruben. Wahrscheinlich erzählt er meiner Mutter gerade, dass sein Bruder und ich seit heute Klassenkameraden sind oder so.
 

Abgrundtief seufzend und irgendwie verstört, ohne einen wirklichen Grund dafür zu kennen, lasse ich mich bäuchlings auf mein Bett fallen und vergrabe mein noch immer knallrot glühendes Gesicht in meinem Kopfkissen. Heilige Scheiße, was für ein Tag!
 

~*~
 

Hach ja, mit jedem Kapitel mag ich Janni mehr.

*ihm die Frisur zerflausch*

Und jetzt hat der bisher noch namenlose "Mr. Kinderschreck" auch endlich einen Namen - bzw. kennt ihr ihn jetzt.

^____^

Was den armen kleinen Janni wohl im nächsten Kapitel erwartet? Ich weiß es, aber ich verrat's euch nicht. Da müsst ihr euch schon gedulden, bis es fertig ist und ich es on stelle.

^.~
 

Man liest sich hoffentlich!
 

Karma

Von kleinen Schwestern, Shopping und grundlos (?) schlechter Laune

Jahaaa, ich lebe noch! Und ich hab ein neues Kapitelchen dabei. Gut, eigentlich ist das hier nur ein Teil dessen, was eigentlich mal ein Kapitel sein sollte. Da ich aber in der letzten Zeit permanent viel zu viel schreibe, wenn ich denn mal schreibe, musste ich das Ganze splitten und zwei Kapitel daraus machen. Das, was also jetzt nach diesem Kapitel hier kommt, gehört eigentlich noch dazu. Aber das werdet ihr ja sehen.

^_____^
 

@Aschra: Du weißt ja, dass ich Ruben auch liebe. Mein kleines Sonnenscheinchen.

*Ruben puschel*

Und was Simon und Jan betrifft: Freu Dich auf dieses und vor allem auf das nächste Kapitel. Du wirst es mögen, da bin ich mir sicher.

^.~

Aber Simon kannst Du leider nicht kriegen, sorry!
 

@Schwarzfeder: Yay, so ein toller langer Kommi!

*____*

Danke!

Da weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll, also mach ich's mal so knapp wie möglich: Ruben ist einfach ein Herzchen, das man lieb haben muss, und Vicky hat ihre Gründe, Simon so zu mögen. Das wird Janni auch noch merken.

Und was Ruben, Simon und ihren Vater betrifft: Darauf wird im Laufe der FF noch näher eingegangen, ebenso wie auf die Sache mit dem Gipsarm und Jannis Sportbefreiung. Ich will ja noch nicht alles vorweg nehmen. Das wäre ja schließlich langweilig, nicht wahr?

Last but not least: Die Regel, die Simon im letzten Kapitel angesprochen hat, ist das dritte satanische Gebot. "In jemandes anderen Heim erweise ihm Respekt, ansonsten betritt es nicht." Simon befolgt einfach nur die Gebote seines Glaubens. Ob ihm das allerdings wirklich so leicht fällt, steht auf einem anderen Blatt.
 

@Inan: Kein Problem.

^___^

Und ob Janni mit Simon klar kommt, wirst Du ja bald lesen können. Freut mich, dass Du Simon so magst. Ganz ehrlich, ich mag ihn auch sehr.
 

@nitro2811: Danke, danke.

^////^

Freut mich, dass Dir Ruben auch gefällt. Den kleinen Schatz muss man aber auch mögen. Geht gar nicht anders.

*Ruben knuddel*
 

So, und jetzt hab ich genug rumgelabert. Viel Spaß mit dem neuen Kapitel!
 

Karma
 

~*~
 

"Denkst Du nachher noch daran, mit Deiner Schwester wegen der Strumpfhose für morgen in die Stadt zu fahren, Jan? Gestern haben wir keine gefunden und heute habe ich keine Zeit." Über ihre Kaffeetasse hinweg sieht meine Mutter mich fragend an und ich verziehe missmutig das Gesicht. "Kann das nicht lieber Franzi machen?", murre ich, aber sie schüttelt seufzend den Kopf.
 

"Franziska ist heute nach der Schule bei der Nachhilfe. Das weißt Du doch. Und wenn sie nach Hause kommt, ist es schon zu spät. Außerdem möchte ich Vicky nur ungern alleine in die Stadt fahren lassen. Wer weiß, was da alles passieren kann. Sei so gut, Jan", bittet sie mich und ich schnaube unhörbar. Was glaubt meine Mutter, was ich bin? Ein Superheld, bei dessen Anblick alle Schurken dieser Welt vor Angst erzittern? Wohl kaum. Ich bin wohl so ziemlich der mieseste Beschützer, den Vicky haben kann. Von mir lässt sich ganz bestimmt niemand einschüchtern. Ich werde höchstens ausgelacht, wenn ich sie zu beschützen versuche, mehr aber auch nicht. Aber das kann ich meiner Mutter nicht sagen – nicht, wenn sie mich so ansieht, als wäre ich der Einzige, auf den sie sich verlassen kann.
 

"Okay", gebe ich mich deshalb schließlich brummend geschlagen, räume mein Frühstücksgeschirr vom Tisch und nehme das Geld entgegen, das sie mir gibt. Ich stopfe es achtlos in meine Tasche und mache mich dann auf den Weg zur Bushaltestelle, das erleichterte Lächeln meiner Mutter immer noch vor Augen. Und obwohl ich mir eigentlich wesentlich Besseres vorstellen könnte als den Nachmittag mit meiner kleinen Schwester beim Shoppen für ihre Ballettaufführung morgen Abend zu verbringen, fühle ich mich trotzdem irgendwie gut. Ich verpasse zwar mal wieder den Schulbus und muss den regulären nehmen – Franzi und ich sprechen immer noch nicht wirklich miteinander und sie fährt zwar Vicky zur Schule, mich aber nicht –, aber es gibt wesentlich Schlimmeres als das.
 

Ich muss zwar jetzt immer etwas früher aufstehen, was für mich Morgenmuffel gar nicht so einfach ist, aber Franzis langes Gesicht ist mir das wert. Es ist echt ungemein befriedigend zu sehen, wie sie sich schwarz ärgert, nur weil ich sie bis jetzt noch nicht angebettelt habe, mich auch endlich wieder mitzunehmen. Aber den Triumph, das abzulehnen, gönne ich ihr einfach nicht. Da friere ich mir lieber jeden Morgen an der Bushaltestelle eine Runde den Arsch ab. Wenn sie glaubt, dass ich derjenige von uns beiden bin, der zu Kreuze kriecht, dann hat sie sich geschnitten, aber gewaltig. Ich lasse mich nicht mehr von ihr rumschubsen. Soll sie sich doch einen anderen Dummen suchen, an dem sie ihre Launen auslassen kann.
 

Auf dem Weg in Richtung Bushaltestelle huscht mein Blick unwillkürlich zu dem schwarzen Wagen, der auf dem Parkplatz gleich vor unserem Haus steht. Sofort werde ich wieder rot und verfluche mich gleich dafür. Mein affiges Benehmen von Montagnachmittag ist mir immer noch furchtbar peinlich, aber ich kann das auch irgendwie nicht abstellen. Ich habe Simon seitdem auch nicht mehr wirklich getroffen, sondern ihn nur am Dienstag kurz gesehen, als ich vom Einkaufen kam. Allerdings stand er da auf der anderen Straßenseite und ich habe mich nicht getraut, zu ihm rüberzugehen und ihn anzusprechen. Einerseits hat er telefoniert, also hätte ich sowieso nur gestört, und andererseits hatte ich, als er mich bemerkt, mir grüßend zugenickt und mich sogar kurz angelächelt hat, wieder so eine heftige Panikattacke – anders kann ich mir mein plötzliches Herzrasen einfach nicht erklären –, dass ich einfach nur den Kopf eingezogen habe und schleunigst abgehauen bin. Erst zu Hause in meinem Zimmer habe ich mich für meine Feigheit in den Arsch getreten, aber da war es schon zu spät.
 

Ruben, dem ich gestern total beschämt davon erzählt habe – nur von dem Treffen und dass ich abgehauen bin, meine Panikattacken gehen niemanden etwas an –, fand das Ganze übrigens furchtbar lustig. Er hat die halbe Pause darüber gelacht, aber mir war mein Verhalten einfach nur peinlich. Und das ist es immer noch. Ruben meinte zwar, sein Bruder wäre solche Reaktionen auf sein Aussehen gewöhnt und würde mir das ganz sicher nicht übel nehmen, aber ich könnte mich trotzdem jedes Mal selbst ohrfeigen, wenn ich mich so blöd aufführe. Das ist doch nicht normal! Aber immer, wenn ich Simon sehe, weiß ich nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll. Er verunsichert mich einfach total, obwohl er ja eigentlich gar nichts Schlimmes macht.
 

Das absolut Oberpeinlichste ist aber, dass nicht mal meine Mutter so ein Problem mit ihm hat wie ich. Im Gegenteil, sie findet, unser neuer Nachbar ist trotz seiner seltsamen Kleidung und seines gruseligen Aussehens ein "furchtbar netter junger Mann". Und seine Freundin – die Simon wohl während der Herbstferien, die ich fast ausschließlich bei Jassi verbracht habe, beim Einzug geholfen hat, weshalb ich sie bis jetzt auch noch nie gesehen habe – findet Mama auch unheimlich sympathisch. Die Zwei sind ihren Worten zufolge ja so ein schönes Paar, auch wenn sie wohl beide "doch einen recht extravaganten" Klamottenstil haben.
 

Ich weiß nicht genau, warum, aber irgendwie stört mich das. Ich erschrecke mich jedes Mal halb zu Tode, wenn ich Simon auch nur aus der Ferne sehe oder wenn irgendjemand, Ruben zum Beispiel, auch nur seinen Namen erwähnt, aber meine Mutter ist total begeistert von ihm. Verkehrte Welt, echt. Haben nicht normalerweise Eltern die Vorurteile, wenn jemand anders aussieht? Irgendwas läuft bei mir da ja wohl eindeutig schief.
 

Das Schlimmste an der ganzen Sache ist für mich allerdings, dass ich jedes Mal, wenn Mama über Simon und seine ach so tolle Freundin spricht, wahlweise schreien oder kotzen möchte. Keine Ahnung wieso. Ich meine, ich kenne das Mädchen ja noch nicht mal, aber trotzdem habe ich das unbestimmte Gefühl, sie nicht leiden zu können. Irgendwie verstehe ich mich da selbst nicht, aber das ist mir viel zu peinlich, um jemandem davon zu erzählen.
 

Der Einzige, der mir da wahrscheinlich weiterhelfen könnte, ist Jassi, aber der ist mit seiner Ausbildung im Augenblick so ausgelastet, dass wir uns frühestens am nächsten Wochenende mal wieder treffen können. Ganz toll, wirklich. Im Moment ist alles irgendwie total kompliziert und ich krieg das alleine absolut nicht auf die Reihe, habe aber auch niemanden, mit dem ich wirklich über das reden könnte, was mich so beschäftigt. Ruben will ich das Ganze nämlich nicht unbedingt erzählen. Erstens will ich nicht, dass er mich noch mal auslacht, und zweitens hab ich auch zugegebenermaßen ein bisschen Schiss, dass er das an Simon weitertratscht. Und das würde ich ganz sicher nicht überleben.
 

Ich bin so in meine Gedanken verstrickt, die mit jedem Tag kruder und seltsamer werden, dass ich um ein Haar meinen Bus verpasse. Nur ein kurzer, ungesund schneller Sprint bewahrt mich davor, beschert mir dafür aber Schwindelgefühle und einen viel zu schnellen Herzschlag, der sich erst zu Beginn der ersten Stunde ganz langsam wieder normalisiert und mir besorgte Seitenblicke von Ruben einbringt.
 

"Geht's Dir nicht gut, Jan? Du bist kalkweiß im Gesicht. Und Deine Hände zittern", macht er mich unnötigerweise auf das aufmerksam, was ich selbst schon weiß, und ich winke hastig ab. "Bin gerade nur zu schnell gerannt", nuschele ich undeutlich und versuche, mein mir immer noch bis zum Hals klopfendes Herz irgendwie wieder unter Kontrolle zu bringen.
 

Ruben sieht nicht aus, als würde er mir meine Ausrede, die ja eigentlich nicht mal wirklich eine ist, abkaufen, aber das Auftauchen von Frau Regnert, unserer Geschichtslehrerin, unterbindet zu meiner Erleichterung jegliche weiteren Nachfragen seinerseits. Die alte Schreckschraube, wie sie von der ganzen Schule liebevoll genannt wird, ahndet nämlich jedes Gequassel, das nichts mit ihrem Unterricht zu tun hat, mit tonnenweise Strafarbeiten – wofür ich ihr zum ersten Mal in meinem Leben regelrecht dankbar bin. Immerhin verhindert ihr strenges Regiment, dass Ruben mich ausquetscht, was wirklich mit mir los ist. Er muss ja schließlich auch nicht alles wissen.
 

Ich kenne mich nämlich gut genug um zu wissen, dass ich ihm sonst innerhalb von spätestens zehn Minuten restlos alles erzählen würde. Im Ausquetschen ist er nämlich verdammt gut, das habe ich in den letzten drei Tagen schon feststellen dürfen. Aber das, was mir derzeit so im Kopf rumgeht, will ich ihm wirklich nicht erzählen – ihm nicht und auch sonst niemandem außer Jassi vielleicht. Und das, was sonst mit mir los ist, möchte ich auch nicht unbedingt an die große Glocke hängen. Es ist mir einfach unangenehm, mit irgendjemandem über meine gesundheitlichen Probleme zu sprechen – egal, wie gerne ich denjenigen sonst auch mag.
 

Glücklicherweise bin ich bis zum Ende der zweiten Stunde wieder fit genug, so dass Ruben das Nachfragen in der ersten großen Pause zu meiner grenzenlosen Erleichterung vergisst. Oder vielleicht hat er auch einfach nur gemerkt, dass ich nicht darüber reden will, was vor Unterrichtsbeginn mit mir los war, und lässt mich deshalb damit in Ruhe. Was es auch ist, ich bin froh darüber.
 

"Was machst Du eigentlich heute Nachmittag so?", fragt er mich stattdessen, sobald wir es uns auf einer der alten, halb morschen Bänke auf dem Schulhof bequem gemacht haben. Eigentlich wäre es zwar drinnen in der Pausenhalle wesentlich wärmer, aber wir haben schon am Dienstag einvernehmlich beschlossen, in den Pausen lieber etwas zu frieren als uns unsere idiotischen Klassenkameraden und ihre dummen Sprüche anzutun.
 

"Shopping", antworte ich und vergrabe meine Hände noch etwas tiefer in den Taschen meiner Jacke. Es ist wirklich verdammt kalt hier draußen, aber zum Glück regnet es wenigstens nicht. "Mit meiner kleinen Schwester. Sie hat morgen Abend ne Ballettaufführung und da weder meine Mutter noch Franzi heute Zeit haben, muss ich eben mit Vicky in die Stadt", erzähle ich weiter und Ruben zieht ein bedauerndes Gesicht.
 

"Schade", meint er und seufzt. "Ich hatte gehofft, Du könntest nach der Schule vielleicht mal mit zu mir kommen. Christie würde Dich nämlich gerne mal kennen lernen. Er ist ziemlich gespannt auf Dich, weil ich ihm schon so viel von Dir erzählt hab." Ruben seufzt noch mal und ich tue es ihm gleich. "Das wär mir auch lieber, das kannst Du mir glauben. Aber ich hab's meiner Mutter versprochen", gebe ich dann zurück und kaue nachdenklich auf meiner Unterlippe herum.
 

Auf den Typen, den Ruben immer Christie nennt und den er, seinen eigenen Worten zufolge, schon seit dem Windelscheißeralter kennt, bin ich zugegebenermaßen auch verdammt neugierig. Ich meine, wie muss ein Junge drauf sein, wenn er sich von seinem besten Freund einen Spitznamen verpassen lässt, der eher zu einem Mädchen passen würde? Christie klingt doch wohl wirklich eher nach einer Christina als nach einem Christopher, oder?
 

"Ist ja nicht so schlimm. Dann holen wir's eben ein anderes Mal nach." Schon grinst Ruben wieder und ich muss unwillkürlich auch grinsen. Rubens ständige gute Laune ist wirklich verdammt ansteckend. "Weißt Du, irgendwie ist es schade, dass nicht Du die Schule gewechselt hast, sondern ich", sagt er nach kurzem Schweigen und ich blinzele irritiert. Was meint er denn jetzt damit?
 

"Versteh mich nicht falsch, die Schule ist ganz okay, aber in meiner alten Klasse hätten wir beide nicht so alleine dagestanden wie hier. Da wären neben Christie auch noch Nils und Yannick gewesen, mit denen wir hätten quatschen können, und in der Parallelklasse hätten wir auch noch Maurice und Marie-Claire gehabt. Die waren alle ganz okay und mit denen war's nie langweilig. Du würdest sie mögen, da bin ich mir sicher. Und sie Dich auch."
 

Ruben streicht sich die Haare aus dem Gesicht und strahlt mich an. "Weißt Du was? Irgendwann nehm ich Dich mal mit und stell sie Dir alle vor. Versprochen", sagt er und ich muss lächeln. Es ist irgendwie schön, dass er mich so sehr mag, dass er mich tatsächlich seinen ganzen Freunden vorstellen will. Oh Mann, das klingt vielleicht bescheuert!
 

"Vielleicht können wir ja nächste Woche mal was zusammen machen", nuschele ich etwas verlegen und sofort nickt Ruben begeistert. "Das wär cool!", stimmt er mir zu und fängt zu meiner Belustigung gleich damit an, lautstark Pläne zu schmieden, was wir wann unbedingt machen müssen und wann er mich wem am besten vorstellen kann.
 

Mit dieser Planerei vergehen auch die restlichen vier Schulstunden – in Erdkunde und Bio fällt es eh nicht auf, wenn jemand quatscht, Herr Michalski und Frau Dohle kriegen so was nie mit – wie im Flug und nachdem ich mich nach Schulschluss von Ruben verabschiedet habe, mache ich mich alleine und zu Fuß auf den Weg zum Gymnasium, auf das meine beiden Schwestern gehen und für das meine Noten einfach nicht ausreichen. Zum Glück ist es von der Realschule aus nicht allzu weit, so dass ich nur knappe zehn Minuten brauche.
 

Schon von der Ecke aus kann ich sehen, dass Vicky am Schultor steht und mit ihren Freundinnen quatscht, während sie auf mich wartet. Sobald sie mich näherkommen sieht, winkt sie hektisch, sagt irgendwas zu Lara und Jenny und kommt dann auf mich zugerannt. "Da bist Du ja endlich, Janni!", begrüßt sie mich, hakt sich bei mir ein und zerrt mich gleich in Richtung der Bahn, die wir nehmen müssen, um in die Stadt zu kommen.
 

Auf dem ganzen Weg zur Haltestelle und auch in der Bahn selbst plappert sie fröhlich auf mich ein und ich frage mich unweigerlich, warum sie so verdammt gut gelaunt ist. Findet sie es etwa wirklich so toll, Zeit mit mir, ihrem großen Bruder – dem sie bestimmt in spätestens zwei Jahren über den Kopf gewachsen sein wird –, zu verbringen? Oder ist der Grund für ihre gute Laune einfach nur die Tatsache, dass sie mich heute praktisch den ganzen Nachmittag rumkommandieren und von einem Laden in den anderen scheuchen kann, ohne dass ich mich beschweren darf?
 

Ich kann mir nicht helfen, aber irgendwie bin ich mir ziemlich sicher, dass Letzteres eher zutrifft. Ich glaube nämlich kaum, dass ich erlöst bin, sobald wir diese blöde Strumpfhose gefunden haben. Dafür kenne ich meine kleine Schwester einfach zu gut. Sie ist jetzt schon ein echtes Shoppingmonster, obwohl sie gerade erst zwölf ist. Ich will mir lieber gar nicht vorstellen, wie das in zwei oder drei Jahren aussehen wird. Wenn sie nach Franzi kommt, dann gute Nacht.
 

"Am besten fangen wir bei Waller an." Vicky zieht sich ihre Handschuhe aus, stopft sie in ihre Jackentasche und sieht mich dann an. "Gestern hatten sie zwar keine Strumpfhosen in meiner Größe da – zumindest nicht in der richtigen Farbe –, aber vielleicht haben sie ja heute welche", fährt sie fort, drückt den Halteknopf der Bahn und ich verdrehe die Augen.
 

Ausgerechnet Waller. Ganz toll, wirklich. Ist ja nicht so, als ob Waller ein Fachgeschäft für Ballettbedarf wäre oder so. Klar, es ist eigentlich nur logisch, da mit der Suche anzufangen, aber ich darf es ja wohl trotzdem scheiße finden, oder? Ich meine, hallo? Ich, ein Junge, unter lauter ballettgeilen Mädchen und ihren Eltern, die mich immer so komisch ankucken, als wäre ich ein Perverser, der sich an kleinen Mädchen in rosa Tutus – ja, solche Wörter kenne ich auch, Vickys Ballettunterricht sei Dank – und Spitzenschuhen aufgeilt oder so. Ist ja auch gar nicht peinlich für mich, da reinzumüssen.
 

"Kann ich nicht einfach draußen warten, bis Du fertig bist?", starte ich einen verzweifelten Versuch, der Hölle zu entkommen, aber Vicky schüttelt energisch den Kopf, dass ihre braunen Locken nur so fliegen. "Nein, das geht nicht. Mama hat gesagt, Du sollst mitkommen und auf mich aufpassen." Sie schnaubt abfällig und zeigt damit deutlich, was sie von mir als ihrem Aufpasser hält. Sehr aufbauend für mein armes Ego, wirklich.
 

"Außerdem hast Du schließlich das Geld." Damit ist für meine Schwester die Diskussion beendet und ich seufze abgrundtief, widerspreche aber nicht mehr. Hat ja eh keinen Zweck. Verloren hab ich so oder so. Besiegt von einer Zwölfjährigen. Ganz schön peinlich. Warum hasst das Universum mich eigentlich so? War ich in meinen letzten dreihundert Leben wirklich so ein schlechter Mensch, dass ich jetzt diese Folter verdient habe? War ich vielleicht ein Massenmörder oder so was in der Art? Anders kann ich es mir echt nicht erklären, dass die Welt es ständig auf mich abgesehen hat. Irgendeinen Grund muss es dafür doch geben.
 

"Mensch, Janni, jetzt steh da nicht rum wie bestellt und nicht abgeholt! Steig endlich aus und komm!", reißt Vicky mich aus meinen Gedanken – ehrlich, manchmal erinnert ihr Kommandoton mich aufs Gruseligste an Franzi –, packt meine Hand und zerrt mich raus aus der Bahn und rein in die Innenstadt, die nicht wirklich zu meiner Begeisterung ziemlich voll und überlaufen ist. Ich kann meine Freude über die Aussicht, stundenlang hier rumlatschen zu müssen, gar nicht richtig zeigen. Ironisch? Ich? Nicht doch. Niemals. Verdammt, ich hasse mein Leben! Warum hab ich mich heute morgen bloß von meiner Mutter weich kochen lassen?
 

Wenn ich nur ein einziges Mal Rückgrat gezeigt und Nein zu ihrer Bitte gesagt hätte, dann könnte ich jetzt den Nachmittag bei Ruben verbringen und seinen besten Freund kennen lernen, anstatt mich dem Horror schlechthin – Shopping mit einer meiner Schwestern – stellen zu müssen. Ab heute ist es amtlich: Ich bin ein Idiot. Und eindeutig viel zu gutmütig. Andererseits hatte Mama meinetwegen auch schon genug Ärger und Stress, also ist es wohl nur gerecht, wenn ich ihr jetzt, wo ich es kann, mal ein bisschen unter die Arme greife.
 

"Janni, starr keine Löcher in die Luft, sondern komm endlich!" Vicky klingt angenervt und ich beschließe, lieber zu tun, was sie verlangt, und mein Schmollen auf später zu verschieben. Das Einzige, was noch schlimmer ist als Shoppen mit einer gut gelaunten Vicky ist Shoppen mit einer schlecht gelaunten Vicky. Und das muss ich heute nun wirklich nicht haben. Danke, aber danke, nein.
 

"Bin ja schon da." Ich zwinge mir ein Lächeln ins Gesicht, das hoffentlich nicht so gequält aussieht, wie ich mich gerade fühle, und schließe dann zu meiner wartenden kleinen Schwester auf. Glücklicherweise weiß sie – ganz im Gegensatz zu Franzi – meinen guten Willen wenigstens zu schätzen. Mit einem strahlenden Lächeln hakt sie sich wie schon vorhin bei mir ein und ich lasse zu, dass sie mich da hinschleift, wo ich im Augenblick eigentlich am allerwenigsten hinwill: Nach Waller.
 

Kaum dass wir den Laden betreten haben, lässt meine Schwester mich auch schon wieder los und hüpft fröhlich in Richtung der Regale mit den Strumpfhosen davon. Ich ziehe mir meine Kapuze über den Kopf in dem Versuch, mich so unsichtbar wie möglich zu machen, und folge ihr dann. Dabei habe ich – wie immer, wenn ich hier bin – das überaus unangenehme Gefühl, von allen Anwesenden angestarrt zu werden wie ein Außerirdischer. Ja, so liebe ich das doch. Können die alle nicht woanders hinglotzen? Verdammt, das nervt!
 

"Orangefarbene Strumpfhosen kriegen wir frühestens am nächsten Mittwoch wieder rein", höre ich eine weibliche Stimme aus der Regalreihe, in der meine Schwester verschwunden ist, und nur ein paar Sekunden später kommt Vicky auch schon um die Ecke geschossen und rennt mich fast über den Haufen. "Ich hab's mitgekriegt", komme ich ihr zuvor, ehe sie auch nur einen Ton sagen kann, woraufhin sie eine beleidigte Schnute zieht.
 

"Dann müssen wir eben woanders weitersuchen", mault sie und ich nicke ergeben. Widerspruch oder gar Widerstand ist eh zwecklos. "Wir finden schon irgendwo eine", versuche ich eher mir selbst als ihr Mut zu machen und drehe mich dann um, um diesen Hort des Grauens schleunigst zu verlassen. Je eher ich hier raus bin, desto besser für meine armen, rosageschädigten Augen.
 

Hab ich schon mal erwähnt, wie sehr ich Pastelltöne – und ganz besonders Rosa – eigentlich hasse? Wenn es eine persönliche Hölle gibt, dann weiß ich definitiv jetzt schon, welche Farbe in meiner vorherrscht. Am besten noch in Kombination mit Mintgrün, damit's auch so richtig widerlich und augenkrebserregend ist. Wenn schon, denn schon.
 

"Lass uns mal bei New Yorker kucken", schlägt Vicky vor und ich verdränge sämtliche Gedanken an Hölle und Pastellfarben, um meiner kleinen Schwester brav wie ein dressiertes Äffchen hinterher zu tapern. Dabei bete ich zu allen Göttern und sämtlichen anderen übernatürlichen Wesenheiten, die mir einfallen, dass wir Glück haben und schnell fündig werden, damit ich bald wieder nach Hause komme. Ich habe jetzt schon keinen Bock mehr, dabei hat der Spießrutenlauf gerade erst angefangen. Ganz toll, wirklich.
 

Gefühlte hunderttausend Jahre – meine Uhr sagt zwar was von drei Stunden, aber ich glaub dem blöden Teil kein Wort – und annähernd zwei Millionen Geschäfte – zumindest kommt es mir und meinen armen, geschundenen Füßen so vor – später weiß ich definitiv, dass das Universum mich hasst. Meine Gebete wurden natürlich nicht erhört – wie sollte es auch anders sein? – und zu allem Überfluss ist nicht nur meine Laune auf dem absoluten Tiefpunkt, sondern auch Vickys. Und das will schon was heißen.
 

Gut, teilweise liegt ihr Frust auch daran, dass ich mich in keinster Weise lobend über die bestimmt hundertzwanzig verschiedenen Shirts, Hosen, Röcke und Jacken, die sie in diversen Geschäften ja unbedingt anprobieren musste, um ihre gute Laune trotz Strumpfhosenmangels aufrecht zu erhalten, geäußert habe. Und nachdem ich sie gerade bei Orsay einfach stehen lassen hab – so langsam hab ich echt keinen Bock mehr, sondern will nur noch nach Hause und den Nachmittag einfach unter "Tage, die ich besser hätte nutzen können" verbuchen –, herrscht zwischen uns im Moment Schweigen, das fast so eisig ist wie der Wind, der uns hier draußen um die Ohren weht.
 

Das Schlimmste an dem ganzen Reinfall heute ist, dass ich jetzt schon ganz genau weiß, dass mir wieder die Schuld in die Schuhe geschoben wird, wenn wir ohne diese dämliche Strumpfhose nach Hause kommen. Aber was kann ich denn bitteschön dafür, dass sich offenbar sämtliche Läden dieser Stadt gegen uns verschworen und orangefarbene Strumpfhosen aus dem Programm genommen haben? Ich hab denen das bestimmt nicht befohlen. Auf Befehle von mir hört ja sowieso niemand.
 

"Da vorne ist Karstadt. Unsere letzte Chance." Vicky klingt immer noch beleidigt und ich beiße mir auf die Unterlippe, um jetzt bloß nichts Falsches zu sagen. Ich will mich nicht mit ihr streiten – schon gar nicht mitten in der Innenstadt, wo wir Hunderte von Zeugen haben, die mich dann wieder als den Buhmann hinstellen, der fies zu einem armen kleinen Mädchen ist. Das kenne ich zur Genüge und heute brauch ich das echt nicht auch noch. Der Tag ist auch so schon scheiße genug.
 

"Dann versuchen wir's eben da." Ich hoffe nur, dass wir wenigstens dieses Mal ein bisschen Glück haben. Es kann doch nicht so schwer sein, eine einzige blöde, orangefarbene Strumpfhose zu finden, oder? Das ist doch wohl wirklich nicht zu viel verlangt. Außerdem ist es ja nicht mal für mich, sondern für meine kleine Schwester und ihre Ballettaufführung morgen Abend.
 

Wenn's für mich wäre, könnte ich dieses Pech ja verstehen – ich hab eh so gut wie nie Glück –, aber hier geht's ja um Vicky und nicht um mich. Ehrlich gesagt will ich mir auch lieber gar nicht erst vorstellen, wie blöd ich in einer Strumpfhose – noch dazu in einer orangefarbenen – aussehen würde. Dann könnte ich mir ja gleich "Tunte" auf die Stirn tätowieren lassen und mich so vor Kevin und seine dämlichen Kumpels stellen, um mich von denen erschlagen zu lassen. Danke, aber danke, nein. Das muss ich mir echt nicht geben.
 

Ich will gerade die Tür von Karstadt aufziehen und Vicky den Vortritt lassen – meine Mutter hat mich eben anständig erzogen –, als urplötzlich von hinter mir eine Stimme kommt, die mich vor Schreck beinahe aus den Latschen kippen lässt. "Was für eine Überraschung. Hey, ihr Zwei", werden Vicky und ich gegrüßt und als ich mich – zögerlich und mit einem dicken Kloß im Hals sowie einer meterdicken Gänsehaut – umdrehe, finde ich mich tatsächlich Simon gegenüber.
 

"Ha-Hallo", bringe ich stotternd heraus und spüre zu meinem Entsetzen, wie ich unter seinem Blick mal wieder knallrot anlaufe. Heute trägt er komplett schwarze Kontaktlinsen, die mich hart schlucken lassen. Das ist allerdings nicht alles, denn ich ertappe mich dabei, mich unwillkürlich zu fragen, welche Farbe seine Augen wohl wirklich haben. Ob sie auch so braun sind wie die von Ruben? Irgendwie scheitere ich kläglich bei der Vorstellung von Simon mit Rubens braunen Augen. Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie finde ich, das passt nicht zu ihm.
 

Als mir klar wird, worüber ich hier gerade nachdenke, schüttele ich so hastig den Kopf, dass mir wieder schwindelig wird, und werde noch einen Tacken röter, was Simon wiederum amüsiert schmunzeln lässt. Zu meiner Erleichterung sagt er aber nichts dazu, sondern nimmt stattdessen die Hand, die meine Schwester ihm entgegenstreckt, und haucht mit einer formvollendeten Verbeugung, die mich Bauklötze staunen lässt – wo hat er das denn gelernt? –, einen Kuss auf ihren Handrücken.
 

Diese Geste lässt Vicky kichern und mich ein weiteres Mal schwer schlucken, denn obwohl er sie begrüßt – "Es ist mir eine Freude, Euch wiederzusehen, Mylady." –, ruht sein Blick die ganze Zeit auf mir. Wie immer, wenn er mich ansieht, beginnt mein Herz zu rasen, meine Handflächen werden feucht und schwitzig und ich wünsche mich mit aller Kraft ans andere Ende der Welt.
 

"Die Freude ist ganz meinerseits, Mylord", gibt Vicky bemüht hoheitsvoll zurück, bevor sie Simon einfach nur mit diesem ganz speziellen Vicky-Blick anstrahlt, den ich nur zu gut kenne. Ganz genau so himmelt sie auch das Poster von Justin Timberlake, das in ihrem Zimmer hängt und das ihr Ein und Alles ist, an und die Vorstellung, dass meine kleine, zwölfjährige Schwester offenbar für unseren gruseligen Nachbarn schwärmt, will mir ganz und gar nicht schmecken.
 

"Deine ... Deine Strumpfhose", versuche ich deshalb, Vicky wieder an den eigentlichen Zweck unseres Hierseins zu erinnern. Allerdings klappt das leider nicht so, wie ich es mir erhofft hatte, denn nun finde ich mich plötzlich im Mittelpunkt von Simons Interesse wieder. Kann der nicht einfach abhauen und uns in Ruhe lassen, damit mein Puls sich heute noch beruhigen kann?
 

Scheinbar kann er nicht, denn er sieht mich einfach nur weiter fragend an. Ich wünsche mir wie noch nie zuvor in meinem Leben, mich unsichtbar machen zu können, aber ich bin, wie ich ja heute schon mal festgestellt habe, nun mal leider kein Superheld und habe dementsprechend auch keine tollen Superkräfte. Im Klartext bedeutet das, dass ich gearscht bin, und zwar richtig. Toll, wirklich.
 

"Mylord wissen nicht zufällig, wo eine Lady hier eine orangefarbene Strumpfhose finden kann, oder?", mischt Vicky sich ein und ich atme unwillkürlich auf, als Simon ihr wieder seine Aufmerksamkeit zuwendet. "Rein zufällig weiß ich das tatsächlich", beantwortet er die Frage und das Lächeln, das bei diesen Worten über seine Lippen huscht, jagt meinen Puls gleich noch mehr in die Höhe. Wenn das so weitergeht, dann kriege ich hier gleich einen Herzinfarkt und kippe an Ort und Stelle einfach tot um.
 

"Wenn es Euch genehm ist, wäre es mir eine Ehre, mich Euch und Eurem Begleiter als Führer zur Verfügung stellen zu dürfen, Lady Victoria", fährt Simon fort und ich blinzele überrascht. Allerdings weder wegen seiner noch wegen Vickys geschwollener Ausdrucksweise noch weil meine Schwester sich mit einer Selbstverständlichkeit bei ihm einhakt, die so vertraut wirkt, als hätte sie das schon hundertmal gemacht – was mich mich unwillkürlich fragen lässt, wann und wie oft die Zwei das schon gemacht haben. Und warum weiß ich davon nichts?
 

Aber obwohl das schon reichlich seltsam ist, ist es nicht das, was mich beschäftigt. Nein, was mich hier so umhaut ist die Tatsache, dass Simon den vollen Namen meiner Schwester benutzt, ohne dass sie ihn dafür anzickt. Normalerweise meuchelt sie jeden, der es wagt, sie "Victoria" zu nennen – sie mag den Namen einfach nicht –, aber bei ihm scheint ihr das vollkommen egal zu sein. Und genau das verstehe ich nicht. Was macht ihn so besonders, dass Vicky ihm praktisch aus der Hand frisst?
 

Und warum hat sie eigentlich keine Angst vor ihm? Mein Herzschlag spielt immer noch vollkommen verrückt, aber sie hat scheinbar überhaupt keine Probleme damit. Na toll. Selbst meine zwölfjährige Schwester ist von diesem Vampirfreak offenbar ganz begeistert, genau wie Mama. Sieht ganz so aus, als wäre ich der Einzige, der ein Problem mit ihm hat. Wie peinlich ist das denn bitteschön?
 

"Willst Du da hinten Wurzeln schlagen, Janni?", reißt Vicky, die an Simons Arm schon ein ganzes Stück vorgegangen ist, mich aus meinen Gedanken und ich schüttele hektisch den Kopf, besinne mich auf meine "Beschützerpflichten" und mache mich dann an die Verfolgung der beiden. Dabei verfluche ich mich selbst dafür, dass ich schon wieder vom Halsansatz bis zu den Haarspitzen dunkelrot anlaufe. Verdammt, noch peinlicher geht's doch gar nicht mehr! Warum muss ich mich eigentlich gerade vor Simon immer noch mehr zum Affen machen, als ich es sowieso dauernd tue? Das ist doch nicht mehr normal!
 

Während ich mich mental verfluche, ohrfeige und selbst in den Arsch trete – zum Glück sieht das niemand; das würde sonst sicher eine Menge Fragen aufwerfen, die ich nicht beantworten kann und will –, führt Simon meine Schwester und mich um ein paar Ecken herum in eine weniger frequentierte Nebenstraße der Haupteinkaufsmeile und dort auf einen Laden zu, dessen Schaufensterdekoration genauso gruselig ist wie derjenige, an dessen Arm meine kleine Schwester immer noch hängt.
 

Sobald ich zu Vicky und ihm aufgeschlossen habe, hält Simon uns die Tür auf und ich schlucke hart, bevor ich seiner auffordernden Geste Folge leiste und das Geschäft betrete. "Cool!", ist alles, was meiner Schwester zu den ganzen schwarzen Klamotten einfällt, die hier überall herumhängen. Ich hingegen finde den Laden alles andere als cool.
 

Gut, wenn ich ehrlich bin, dann liegt das eher an Simon als an dem Geschäft selbst. Ich kann zwar mit Lack und Leder nicht so wahnsinnig viel anfangen – und das gibt's hier wirklich massenweise –, aber wenn beispielsweise Jassi oder auch Ruben jetzt hier wären, dann würde ich mich sicher wesentlich wohler fühlen. Simons Gegenwart macht mich einfach unheimlich nervös. Und die Tatsache, dass er praktisch neben mir stehen bleibt, während Vicky sich gleich neugierig umzusehen beginnt – ich glaube, den eigentlichen Zweck unseres Besuchs in diesem Laden hat sie schon wieder vergessen –, hilft mir auch nicht unbedingt dabei, meine Nervosität wieder in den Griff zu kriegen.
 

"Oh, Simon. Was machst Du denn hier? Hast Du was vergessen?", fragt eine weibliche Stimme und als ich mich halb umdrehe, kann ich nur mit Mühe und Not verhindern, dass mir der Mund aufklappt und mich wie einen Karpfen auf dem Trockenen aussehen lässt. Die junge Frau, die Simon eben angesprochen hat, umarmt ihn nämlich gerade und irgendwie gefällt mir der Anblick ganz und gar nicht. Warum das allerdings so ist, kann ich mir nicht erklären. Vielleicht liegt es einfach nur daran, dass diese Tussi doch ziemlich billig aussieht mit ihrem Lackrock und dem Oberteil, das ihre Oberweite so nach oben drückt, dass sie ihr fast aus dem Ausschnitt fällt. Tief einatmen darf die bestimmt nicht, sonst platzt ihr noch eine Naht oder so. Dazu ist sie auch noch so bleich und möchtegernvampirmäßig geschminkt, dass es einfach nur noch lächerlich wirkt. Wenn das Simons Freundin ist, dann leidet er aber eindeutig unter Geschmacksverirrung, so viel steht schon mal fest.
 

"Nein, hab ich nicht", beantwortet er die Frage von dieser Trulla, die ich aus irgendeinem Grund definitiv nicht leiden kann, und ich atme unwillkürlich auf, als sie ihn wieder loslässt. Wehe ihr, sie schiebt ihm jetzt die Zunge in den Hals oder begrabbelt ihn sonst wie. Dann kann sie aber was erleben. So was muss meine zwölfjährige Schwester nun wirklich nicht sehe. Und ich auch nicht.
 

"Ich habe eigentlich nur die kleine Lady, die hier irgendwo sein muss, und ihren Bruder herbegleitet", erklärt Simon der Trulla weiter und als sie mich daraufhin beide kurz ansehen, werde ich gegen meinen Willen schon wieder rot. Verdammt, kann das nicht endlich mal aufhören? Das ist doch echt ätzend!
 

Zu meiner Erleichterung gehen die beiden nicht auf mich kleines Ampelmännchen ein – obwohl ich mir sicher bin, dass sie beide zumindest kurz schmunzeln –, sondern wenden sich wieder dem eigentlichen Thema zu. "Die Zwei sind auf der Suche nach einer orangefarbenen Strumpfhose für die junge Dame", nennt Simon der Vampirtussi den Grund unseres Hierseins und sie nickt.
 

"Ich glaube, davon haben wir noch welche hinten im Lager. Ich sehe mal eben nach." Damit verabschiedet die Trulla sich und mein Puls schießt in die Höhe, als mir bewusst wird, dass ich dadurch wieder mit Simon alleine bin. Immerhin ist Vicky bisher noch nicht wieder aufgetaucht und nur das quietschige "Wie süß!" oder "So was hätte ich auch gerne!", das von links von mir aus den Regalreihen kommt, zeigt an, dass sie immer noch irgendwo in den Tiefen dieses Ladens rumspringt und sich dabei ganz im Gegensatz zu ihrem Bruder königlich amüsiert.
 

Ich hingegen bin das reinste Nervenbündel, ohne einen wirklichen Grund dafür zu kennen. Meine Hände habe ich absichtlich so tief wie nur irgendwie möglich in den Taschen meiner Jacke vergraben, weil ich nicht will, dass irgendjemand merkt, dass meine Finger zittern. Eigentlich ist das total lächerlich, aber ich kann es trotzdem einfach nicht abstellen. Ich hoffe nur, Simon kriegt nichts davon mit. Wenn ausgerechnet er merkt, wie nervös ich seinetwegen bin, dann lasse ich mich einsargen, das schwöre ich.
 

"Und, wie kommst Du mit Ruben aus?", reißt Simons Stimme mich aus meinen Gedanken und er schmunzelt, weil ich ihn wohl ansehe wie ein verschrecktes Reh. Zumindest hab ich das Gefühl, dass ich so kucke. Ganz toll, Jan. Du bist ein Held, echt. So peinlich, hirnrissig und absolut bescheuert führt sich doch echt keiner auf außer mir. So bekloppt zu sein ist schon fast ein Talent. Aber nur fast.
 

"Ähm ... g-gut", stammele ich und versuche, den Kloß herunterzuschlucken, der meine Stimme so belegt und verängstigt klingen lässt. Dabei kann ich nicht so ganz glauben, was hier passiert. Versucht Simon – Mr. Oberzombie – etwa tatsächlich, so was wie Smalltalk mit mir zu betreiben oder was soll das sonst werden, wenn's fertig ist?
 

"Das freut mich." Seine Stimme klingt ehrlich und auch sein Lächeln sieht so aus, als ob er es wirklich so meint, wie er es sagt – was mir gleich wieder einen viel zu schnellen Herzschlag beschert. "Mit Ruben klarzukommen ist aber auch nicht schwer. Er macht es einem wirklich sehr leicht, ihn zu mögen", fährt er fort und ich nicke nur, weil ich meiner Stimme noch nicht so ganz traue und nicht quieken will, wenn ich jetzt etwas sage.
 

"Er ... er wollte mich heute zu sich einladen und ... und mich Christie vorstellen", bringe ich nach einer Minute des Schweigens doch noch heraus und Simons Lächeln vertieft sich noch etwas. "Ah ja, Chris", schmunzelt er und ich blinzele irritiert. "Nur mein Bruder nennt ihn Christie. Andere dürfen das nicht", errät er meine Gedanken und ich werde wieder rot. Bin ich wirklich so durchschaubar?
 

"Wieso?", rutscht es mir heraus, ehe ich es verhindern kann. Sofort glühen mein Gesicht und meine Ohren noch mehr, aber Simon scheint mir meine Frage nicht übel zu nehmen. "Als die beiden noch ganz klein waren, hat Ruben immer Chrissie gesagt, weil er Christopher noch nicht aussprechen konnte. Vor ein paar Jahren haben die Zwei sich mal zusammen Alien 4 angekuckt. Danach wurde aus Chrissie dann Christie", antwortet er stattdessen und grinst, als er meinen verständnislosen Blick bemerkt.
 

"Christie heißt einer der Filmcharaktere – einer, der für seinen besten Freund wirklich alles tun würde und irgendwann sogar sein eigenes Leben für ihn opfert. Ruben war der Meinung, der Name würde passen, weil Chris ganz genauso ist. Für seine Freunde tut er wirklich alles, was in seiner Macht steht. Gerade in den letzten Jahren war ich froh, dass Ruben so einen Freund hatte und immer noch hat, der für ihn da war und sich um ihn gekümmert hat", erklärt er weiter und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass seine letzten Worte irgendwie traurig klingen.
 

Ob das damit zu tun hat, dass Ruben mir erzählt hat, dass sein Bruder und er sich mehrere Jahre lang fast gar nicht gesehen haben, weil Simon von zu Hause weggegangen ist – und das nicht unbedingt im Guten? Ich bin mir ziemlich sicher, dass es daran liegt, aber ich traue mich nicht, Simon danach zu fragen. Was, wenn er dann sauer auf mich ist? Nein, das will ich lieber nicht riskieren. Er scheint auch nicht weiter über das Thema sprechen zu wollen. Und genau betrachtet geht es mich ja auch gar nichts an.
 

Aus einem nicht näher definierten Grund ziemlich verlegen scharre ich mit den Füßen und betrachte meine Schuhspitzen, als wären sie das Interessanteste, das diese Welt zu bieten hat. Dabei bin ich mir sicher, dass mein ganzes Gesicht mittlerweile glüht und dass aus meinen Ohren eigentlich Dampf kommen müsste, so heiß, wie mir gerade ist.
 

"Klingt nett", bringe ich irgendwie heraus und aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie Simon nickt. "Chris ist auch nett. Ich bin sicher, Du wirst ihn mögen", erwidert er mit einem Lächeln und ich habe das Gefühl, dass es irgendwie gerade noch ein paar Grad wärmer geworden ist. Ob die Heizung in diesem Laden kaputt ist? Vielleicht sollte irgendjemand diese Trulla mal darauf aufmerksam machen, dass es sicher nicht gut ist, wenn sie ihre Kundschaft gar kocht – es sei denn, sie wäre Kannibalin. Aber so, wie die aussah, traue ich ihr das glatt zu.
 

Als hätten meine Gedanken sie heraufbeschworen, taucht die Vampirtussi im nächsten Moment auch schon wieder auf und ich kann nur mit allergrößter Mühe verhindern, dass ich erschrocken zusammenzucke. Muss die sich so anschleichen? Da kriegt man ja einen Herzinfarkt! Oder hat die das etwa beabsichtigt? Würde mich jedenfalls nicht wundern.
 

"So, da wäre die gewünschte Strumpfhose." Damit drückt die Trulla Simon ein kleines, orange leuchtendes Päckchen in die Hand. "Danke, Lucy", bedankt er sich daraufhin bei ihr und sie lächelt ihn so ekelhaft freundlich an, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben den Wunsch verspüre, ein mir eigentlich vollkommen fremdes weibliches Wesen zu schlagen.
 

Bei meinen Schwestern hatte ich diesen Drang schon öfter, auch wenn ich ihm eigentlich nie nachgegeben habe. Normalerweise gehöre ich auch nicht zu den Leuten, die Frauen oder Mädchen überhaupt schlagen würden, aber ich glaub, bei dieser Tussi mache ich eine Ausnahme. Kann die mal aufhören, Simon so anzuschmachten? Das ist ja widerlich! Davon wird einem ja schlecht! Was soll Vicky denn denken, wenn sie das sieht? Und wo, verdammt noch mal, steckt sie eigentlich?
 

"Vicky?", rufe ich nach ihr und zu meiner Erleichterung taucht sie keine Minute später auch tatsächlich wieder auf, in der Hand ein schwarzes Shirt mit neongrünen Nähten und einer irgendwie etwas zombiehaft aussehenden Katze darauf. "Kuck mal, Janni, ist das nicht niedlich?", will sie von mir wissen und ich schnaube abfällig. Muss sie jetzt auch noch so komische Fetische entwickeln wie unser Nachbar? Wen will sie damit bitteschön beeindrucken? Simon? Für den ist sie doch eh noch viel zu jung.
 

"Jaja, sehr nett", behaupte ich nicht gerade überzeugend, packe ihre Schultern und drehe sie um, um sie wieder zwischen die Regalreihen zu schieben. "Jetzt häng das schön wieder da hin, wo Du's her hast, und dann lass uns Deine blöde Strumpfhose bezahlen und endlich nach Hause fahren. Ich muss noch Hausaufgaben machen."
 

Für diese Aussage ernte ich einen skeptischen Blick samt Stirnrunzeln über die Schulter hinweg. "Du willst Deine Hausaufgaben machen? Freiwillig? Bist Du krank, Janni?", erkundigt meine Schwester sich erstaunt, aber ich antworte ihr nicht, sondern schiebe sie einfach nur so lange weiter, bis sie schließlich stehen bleibt, sich aus meinem Griff windet und ein paar Schritte zurückgeht, um das Shirt wegzuhängen. Danach sieht sie mich wieder an, schüttelt kurz den Kopf und seufzt dann übertrieben.
 

"Du bist heute echt komisch, Janni", bescheinigt sie mir, aber ich gebe ihr auch dieses Mal keine Antwort, sondern zücke nur mein Portemonnaie und stapfe einfach kommentarlos an ihr vorbei in Richtung Kasse. Ich weiß, dass ihre Bemerkung eigentlich nicht böse gemeint war, aber sie stört mich trotzdem. Ich weiß selbst, dass ich heute irgendwie komisch bin. Das muss sie mir also nicht auch noch unter die Nase reiben.
 

"Jan, Du bist ein Blödmann!", motzt Vicky, bequemt sich aber trotzdem, mir zur Kasse zu folgen. Dort nimmt sie von Simon die Strumpfhose in Empfang – natürlich nicht, ohne sich dafür so schleimig bei ihm zu bedanken, dass ich schon wieder kotzen möchte – und drückt sie mir dann in die Hand, damit ich armer Depp sie bezahlen kann.
 

Sobald das erledigt ist und Vicky ihre Beute eingesackt hat, habe ich nur noch einen Gedanken: Raus hier und ab nach Hause, und zwar so schnell wie möglich – und das am besten ohne Simon. Allerdings macht mir mein herzallerliebstes Schwesterlein auch jetzt wieder einen Strich durch die Rechnung, indem sie sich gleich wieder an seinen Arm hängt und ihn belagert.
 

Bei diesem Anblick verspüre ich wieder den unbändigen Drang, laut zu schreien. Das tue ich allerdings nicht, sondern beiße mir stattdessen so fest auf die Unterlippe, dass sie zu bluten beginnt, und sage nichts, sondern stampfe kommentarlos in Richtung Bahnhaltestelle vor. Das "Mensch, Janni, jetzt warte doch mal!", das meine Schwester mir hinterher schreit, ignoriere ich dabei. Ich will im Augenblick weder sie noch Simon sehen, also lasse ich die beiden einfach hinter mir zurück und sprinte los, sobald die Haltestelle samt Bahn in Sichtweite kommt. Wenn Vicky so viel an Simon liegt, dann soll sie doch meinetwegen mit ihm nach Hause fahren und mich einfach in Ruhe lassen. Blöde Zicke!
 

~*~
 

Hach, Janni ist ja so ein kleiner Schussel.

*ihn furchtbar lieb hat*

*____*

Ob er jemals erfahren wird, warum seine Laune so schwankt? Ich weiß es, aber ich verrat's euch nicht. Da müsst ihr schon dranbleiben und weiter fleißig lesen.

^.~
 

Bis zum nächsten Mal!
 

Karma

Von Katzen, Namen und einem Besuch in der Höhle des Löwen

So, wie versprochen und im Weblog angekündigt, gibt's heute ausnahmsweise schon das nächste Kapitel.

^____^
 

Widmung: Für Schwarzfeder für die tollen Kommis und fürs Quieken und für Aschra einfach nur weil wegen isso.

XD
 

Allen Anderen ebenfalls viel Spaß beim Lesen und ich bin nicht böse, wenn ihr mir nachher was dalasst.

^.~
 

Karma
 

~*~
 

Die drei Stufen, die in die Bahn hineinführen, nehme ich fast auf einmal und lasse mich danach schnaufend auf einen freien Platz fallen. Dabei muss ich mich fast schon zwingen, mich nicht umzudrehen und zurückzublicken. Würde ich das nämlich tun, würde mein schlechtes Gewissen ganz sicher erbarmungslos zuschlagen. Mama hatte mich schließlich heute Morgen extra gebeten, auf Vicky aufzupassen. Und was mache ich? Ich lasse sie mitten in der Stadt mit unserem gruseligen Nachbarn alleine, nur weil ich einen plötzlichen Anfall von schlechter Laune kriege. Ich bin doch echt ein toller großer Bruder.
 

Bevor ich allerdings vor lauter Schuldgefühlen die Notbremse ziehen und wieder aussteigen kann, taucht vor meinem inneren Auge das Bild von Vicky auf, wie sie zufrieden und mit einem Schmachtblick par excellence an Simons Arm hängt und ihn anhimmelt. Sofort bin ich wieder stinksauer und verschränke demonstrativ meine Arme vor der Brust. Wenn dieser Vampirfreak ihr so gut gefällt, dann soll sie doch mit ihm nach Hause fahren. Und dann kann sie sich von jetzt an auch an ihn halten, wenn sie irgendwas will oder braucht. Ich bin doch nicht ihr Hampelmann!
 

Noch immer auf hundertachtzig steige ich an meiner Haltestelle aus der Bahn und stapfe grummelnd und schlecht gelaunt nach Hause. Vor der Tür, als ich gerade meinen Schlüssel aus der Tasche ziehen will, fällt mein Blick auf den Parkplatz und Simons Auto, das dort steht, als könnte es kein Wässerchen trüben. Ganz toll, die Zwei sind also schon zu Hause. Wunderbar. Mama wird mich erschlagen, weil ich Vicky mit ihm alleine gelassen hab. Ich bin gearscht, aber definitiv.
 

Mit noch schlechterer Laune als gerade schon schließe ich die Haustür auf, schlurfe durch den Flur und öffne dann auch die Wohnungstür. Zu meiner grenzenlosen Überraschung werde ich allerdings nicht von meiner als Racheengel getarnten Mutter überfallen und auch meine kleine Schwester kommt mir nicht gleich entgegengeschossen, um mich zu meucheln. Stattdessen höre ich ... Gelächter? ... aus der Küche. Okay, was geht denn bitteschön jetzt hier ab?
 

Vorsichtig – wer weiß, vielleicht ist das nur Tarnung und Mama erschlägt mich mit der Bratpfanne, sobald sie mich sieht – linse ich um die Ecke und sofort fällt mir fast alles aus dem Gesicht. Spinne ich oder sitzt Simon wirklich hier in unserer Küche, vor sich eine Tasse mit Kaffee oder was weiß ich, und schäkert mit meiner Mutter und meiner kleinen Schwester? Ich glaube, ich werde verrückt!
 

"Ähm ... hi." War ich das etwa? Muss ja, denn es war erstens meine Stimme, die das gesagt hat, und zweitens kucken mich jetzt alle an. Super, Jan. Ganz toll gemacht. Warum hab ich mich noch gleich nicht sofort in mein Zimmer verzogen und mich da unter dem Bett verkrochen? Ich muss ja wohl total bescheuert sein, dass ich jetzt auch noch alle darauf aufmerksam mache, dass ich wieder da bin. Jan, Du bist ein Vollidiot. Ich sollte mich aufhängen, ehrlich.
 

"Da bist Du ja, Jan." Die Stimme meiner Mutter ist seltsamerweise frei von jeglichem Vorwurf und auch Vicky sieht nicht wirklich böse aus, sondern zwinkert mir stattdessen einfach nur gut gelaunt zu, als Mama gerade nicht hinkuckt. "Deine Schwester hat mir schon gesagt, dass ihr die Strumpfhose bekommen habt. Wie schön", freut Mama sich weiter und ich bin wirklich nur noch verwirrt. Was geht denn jetzt ab? Habe ich was Wichtiges verpasst?
 

Scheinbar habe ich das wirklich. Das sagt zumindest Simons Schmunzeln, mit dem er mich beobachtet und das meinen Blutkreislauf gleich wieder ins Ungleichgewicht bringt. Mein Gesicht ist sicher wieder feuerrot und mein Herz legt gerade einen Stepptanz hin, der sich gewaschen hat. Aber das eindeutig Nervigste ist, dass ich absolut keinen Plan habe, was hier eigentlich gerade vor sich geht. Warum ist Mama denn nicht sauer auf mich, weil ich Vicky einfach so stehen lassen habe? Und warum in aller Welt sitzt Simon hier bei uns am Küchentisch, als wäre es das Normalste überhaupt?
 

"Aber Du hättest doch anrufen können, wenn es Dir nicht gut ging." Jetzt hört Mama sich eindeutig besorgt an und meine Gesichtsfarbe wird noch dunkler, als mir klar wird, dass Vicky für mich gelogen hat, damit ich keinen Ärger kriege. Allerdings ist es nicht mal die Peinlichkeit, dass ausgerechnet meine zwölfjährige Schwester mich vor Anschiss bewahrt hat, wegen der ich im Boden versinken möchte. Nein, was mich dazu bringt, mir ein Loch zum Verkriechen zu wünschen, ist Simons wissender Blick, den ich aus dem Augenwinkel sehen kann. Scheinbar hat Vicky ihm zumindest ein bisschen was über mein Problem erzählt. Ganz toll. Musste das sein? Und irre ich mich oder sieht er mich tatsächlich ein bisschen besorgt an?
 

"Ist schon wieder okay", lüge ich, ohne meine Mutter anzusehen, und muss mich erst mal räuspern, bevor ich weitersprechen kann. "Ich ... geh dann ... in mein Zimmer", nuschele ich dann leise, stoße mich vom Türrahmen ab und mache mich schleunigst auf den Weg in mein eigenes kleines Reich. Dabei bete ich inständig dafür, dass Mama mir nicht nachläuft, um sich davon zu überzeugen, dass es mir auch wirklich wieder gut geht.
 

In meinem Zimmer angekommen pfeffere ich meinen Rucksack in die Ecke neben dem Schreibtisch, pelle mich aus meiner Jacke und lasse mich rücklings auf mein Bett fallen, um mir die Schuhe von den Füßen zu streifen. Dabei verfluche ich mich innerlich wieder mal für mein unglaublich affiges Verhalten. Ist es eigentlich strafbar, so doof zu sein? Am liebsten würde ich mich selbst dafür schlagen, ehrlich. Was muss Simon jetzt von mir denken, nachdem ich Vicky und ihn einfach so stehen lassen habe, nur weil ich plötzlich miese Laune hatte, die ich nicht mal erklären kann?
 

Als nach ein paar Minuten die Tür zu meinem Zimmer aufgeht, schnappe ich mir mein Kissen und drücke es mir ins Gesicht. Ich will jetzt niemanden sehen und auch mit niemandem reden. Allerdings scheint das, was ich will, mal wieder vollkommen nebensächlich zu sein, wie ich gleich darauf feststellen darf, als mir das Kissen wieder aus den Händen gerupft wird.
 

"Dafür schuldest Du mir was, Janni", informiert Vicky mich und grinst mich von oben herab so gut gelaunt an, dass ich ihr dafür am liebsten den Hals umdrehen möchte. "Von wegen!", fauche ich sie deshalb auch gleich wenig freundlich an, obwohl sie ja eigentlich Recht hat. Aber ich bin im Moment nicht in der Stimmung, das einzugestehen oder mich sogar bei ihr zu bedanken, weil sie mir Ärger erspart hat. Dafür bin ich viel zu sauer auf sie. "Eigentlich solltest Du mir sogar dankbar sein, dass ich so taktvoll war und Dich mit Deinem ach so tollen Simon alleine gelassen hab", schiebe ich noch hinterher, aber anstatt auch sauer zu werden, lacht meine Schwester einfach nur.
 

"Janni, Du bist so ein Dummkopf", kichert sie und ich setze mich ärgerlich auf, um ihr mal ganz gehörig meine Meinung zu geigen. Ehe ich allerdings auch nur ein Wort sagen kann, fällt mein Blick auf meine geöffnete Zimmertür und meine Schimpftirade bleibt mir wortwörtlich im Hals stecken, während ich gleichzeitig praktisch fühlen kann, wie ich blass werde.
 

Im Türrahmen lehnt nämlich Simon, die Arme locker vor der Brust verschränkt, und beobachtet mich. Dabei liegt ein Schmunzeln auf seinen Lippen, das ich nicht ganz deuten kann. Trotzdem genügt allein der Anblick vollauf, um mich gleich wieder knallrot anlaufen zu lassen. Verdammt, kann das nicht mal aufhören? Und kann mein Herzschlag sich vielleicht auch mal wieder beruhigen? Das kann doch nicht gesund sein!
 

Gleichermaßen zu meiner Erleichterung wie zu meiner Verwirrung sagt Simon nichts, aber irgendwie macht das die ganze Sache eher schlimmer als besser. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was er eigentlich denkt, wenn er mich so ansieht wie gerade in diesem Moment, aber aus irgendeinem Grund, den ich selbst nicht richtig verstehe, will ich genau das jetzt unbedingt wissen. Allerdings kann ich das wohl kaum fragen, solange Vicky noch daneben steht. Sie muss auch nicht alles mitkriegen. Und vor allem muss sie nicht wissen, wie sehr alleine Simons Gegenwart mich verwirrt.
 

"Ich werd dann mal langsam raufgehen." Bei Simons Worten zucke ich zusammen und bekomme dadurch nur am Rande mit, wie Vicky sich von ihm verabschiedet und dann mit wehenden Haaren ins Wohnzimmer stürmt, um ihre Freundin Lara anzurufen und ihr alles, was heute passiert ist, haarklein zu erzählen. Was ich allerdings überdeutlich merke, ist, dass ich durch Vickys Verschwinden plötzlich wieder mit Simon alleine bin – eine Situation, die mir jetzt noch unangenehmer ist als in der Stadt, denn immerhin steht er gerade praktisch in meinem nicht unbedingt besonders ordentlichen oder tollen Zimmer.
 

Eigentlich habe ich mich bisher noch nie dafür geschämt, dass es hier aussieht, wie es nun mal eben aussieht, aber als sein Blick noch mal beinahe abschließend durch den Raum streift und kurz an meinem Regal hängen bleibt, möchte ich mich wieder unter meinem Bett verstecken. Immerhin sitzen auf dem obersten Brett dieses Regals die drei alten Plüschtiere, die sich noch in meinem Besitz befinden. Ich kann mich einfach nicht von ihnen trennen, aber jetzt gerade in diesem Moment wünsche ich mir zum allerersten Mal, ich hätte sie wenigstens besser versteckt. Aber woher hätte ich auch wissen sollen, dass ausgerechnet heute Simon herkommt und mein Zimmer praktisch erforscht?
 

"Man sieht sich, Jan", reißt Simons Stimme mich wieder aus meinen Grübeleien über gute Verstecke für meine Plüschtiere und ich nicke einfach nur stumm. Dabei habe ich das Gefühl, gleich noch etwas röter zu werden. Verdammt, kann das nicht mal endlich weggehen? Und kann er nicht einfach verschwinden und aufhören, mich dauernd anzukucken? Wie soll meine Panik vor ihm denn vergehen, wenn er dauernd in der Nähe ist und mich so plötzlich anspricht?
 

"Ja, be-bestimmt", bringe ich irgendwie über die Lippen und erleide fast einen Herzinfarkt, als Simon leise zu lachen beginnt. Kann mir mal jemand erklären, was ich jetzt schon wieder so Dämliches gesagt oder gemacht habe, dass er sich schon wieder auf meine Kosten amüsiert? Das ist doch einfach nur scheiße, verdammt!
 

Halb zu meiner Erleichterung und halb zu meinem Ärger erklärt Simon mir allerdings nicht, was er so lustig findet, sondern stößt sich vom Türrahmen ab, nickt mir noch mal zu und macht sich dann auf den Weg zur Garderobe, wo sein Mantel hängt. Ich will gerade erleichtert aufatmen und mich wieder rücklings auf mein Bett fallen lassen, als ich aus Franzis Zimmer, dessen Tür einen Spalt offen steht, einen schwarzen Schatten flitzen sehe.
 

"Slim!", rufe ich dem Drecksvieh von Katze hinterher, springe auf und sprinte aus meinem Zimmer, aber es ist schon zu spät. Slim saust genau in der Sekunde aus der Wohnungstür, bevor diese hinter Simon zuklappt. "Scheiße!", fluche ich, schnappe mir schnell einen Pulli und hetze zur Tür, während ich mich gleichzeitig in das störrische Kleidungsstück reinquetsche. Auf keinen Fall will ich Slim zu viel Vorsprung lassen, sonst suche ich mir wieder eine halbe Ewigkeit lang den Arsch weg.
 

Sobald ich mich erfolgreich in den Pulli gekämpft habe, reiße ich hektisch die Wohnungstür auf, aber zu meiner grenzenlosen Erleichterung ist die Haustür zu, also kann Slim dieses Mal wenigstens nicht nach draußen entkommen sein. Das heißt im Klartext, dass ich jetzt nicht noch durch die Pampa latschen und wie blöde nach diesem Mistvieh suchen muss. Wenigstens etwas.
 

Andererseits bedeutet das, dass er entweder in den Keller oder nach oben getürmt ist – beides keine tolle Aussicht, denn im Keller ist das Licht fast immer kaputt und oben ... Na ja, oben liegt Simons Wohnung. Und zwar nur Simons Wohnung. Das Haus hier ist nämlich ein Zwei-Familien-Haus, in dem es nur zwei Wohnungen gibt – unsere im Erdgeschoss und im ersten Stock die Wohnung, die bis zu den Herbstferien leer stand und in der jetzt Simon wohnt.
 

Einen Moment lang bleibe ich unentschlossen in der offenen Wohnungstür stehen, dann schlucke ich den Kloß in meinem Hals runter, schlüpfe in meine ausgelatschten Chucks, die im Schuhschrank im Flur stehen, und mache mich zögerlich auf den Weg nach oben in den ersten Stock. Dabei hoffe ich ganz stark, dass Slim wirklich dorthin geflüchtet ist. Falls nicht, muss ich noch mal zurück und eine Taschenlampe holen. Ohne zusätzliche Verstärkung gehe ich ganz sicher nicht in den Keller. No way! Ich hab's nun mal nicht so unbedingt mit dunklen Kellergängen und so. Aber darüber kann ich mir auch noch Sorgen machen, wenn ich Slim oben doch nicht finde.
 

Langsam und zögerlich steige ich die Treppe in den ersten Stock nach oben. Dabei behalte ich meine Umgebung die ganze Zeit im Auge, damit mir Franzis blöde Katze ja nicht entkommt. Ich habe nämlich keine Lust, schon wieder bei Dunkelheit und Kälte draußen rumzurennen und das Mistvieh zu suchen. Das hatte ich diese Woche schon mal und auf eine Wiederholung kann ich gut verzichten.
 

"Slim? Slim, Du blödes Vieh, wenn Du mich wieder verscheißerst, dann kill ich Dich, das schwö–" Der Rest meiner Drohung gegen die Katze of Doom schafft es nicht mehr über meine Lippen. Gerade als ich nämlich noch genau zwei Stufen von der ersten Etage entfernt bin, wird dort die Tür aufgemacht und ich finde mich Simon gegenüber, der wie schon am Montag Slim auf dem Arm hat und ihn ganz offenbar gerade wieder zu uns nach unten bringen wollte.
 

Mindestens eine Minute lang starren wir uns einfach nur mehr als überrascht an, doch dann fängt Simon an zu grinsen. "Na, wenigstens musst Du ihn heute nicht draußen suchen", kommentiert er Slims Flucht und obwohl ich es eigentlich nicht will, muss ich doch auch ein bisschen grinsen. "Noch mal hätte ich das auch nicht gemacht", behaupte ich und ignoriere dabei, dass allein die Tatsache, dass ich jetzt hier oben stehe, meine Worte Lügen straft.
 

Glücklicherweise geht Simon darauf auch nicht ein, sondern tritt einfach nur einen Schritt zurück und macht eine einladende Geste in Richtung seiner Wohnung. Slim liegt noch immer auf seinem Arm und ich zögere einen Moment, dann schelte ich mich selbst einen Narren, überwinde die letzten zwei Stufen und betrete zum ersten Mal Simons Reich.
 

Sobald ich in der Wohnung bin, geht er voraus und ich folge ihm etwas langsamer. Dabei sehe ich mich gründlich um und muss zu meiner Überraschung feststellen, dass zumindest der Flur schon mal ganz normal aussieht. Eine Garderobe mit Spiegel, ein Schuhschrank und Wände, die mit heller Raufasertapete tapeziert sind – alles in allem finde ich hier nichts Ungewöhnliches. Und obwohl ich schon ein bisschen Bammel und auch ziemliches Herzklopfen habe, bin ich trotzdem zugegebenermaßen auch irgendwie verdammt neugierig auf den Rest der Wohnung.
 

Aus diesem Grund reiße ich mich auch relativ schnell von dem Anblick des doch recht unspektakulären Flurs los und betrete das gleich an den Flur anschließende Wohnzimmer. Die Fenster, die nach hinten rausgehen, sind wirklich riesig und ich muss gestehen, dass ich ein bisschen neidisch auf die Aussicht bin. Ich kann von meinem Zimmer aus, das ungefähr hier drunter liegen müsste, nur auf so eine hässliche graue Mauer kucken, aber Simon hat einen prima Ausblick auf die dahinter liegende Landschaft.
 

Nachdem ich die Aussicht erst einmal ausgiebig bewundert habe, blicke ich mich neugierig im Wohnzimmer um und werde wieder überrascht. Auch hier deutet eigentlich nichts darauf hin, dass Simon seinen eigenen Worten zufolge Satanist ist. Ich sehe weder umgedrehte Kreuze noch Pentagramme oder sonst irgendwas Komisches oder Verdächtiges. Entweder versteckt er das alles gut oder ... ja, oder was? So wirklich weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Irgendwie sieht bis jetzt alles so normal und fast schon ein bisschen langweilig aus, wenn man jetzt mal von den Kartons absieht, die an einer Wand gestapelt stehen und ganz offenbar noch darauf warten, ausgepackt zu werden.
 

"Überrascht?" Ich zucke erschrocken zusammen, als Simon mich so plötzlich anspricht, und werde wieder einmal rot. Aber das ist noch nicht alles, denn noch bevor ich es verhindern kann, habe ich auch schon genickt. "Das sieht alles so normal aus", rutscht es mir raus und Simon lacht leise. "Was hast Du denn erwartet?", erkundigt er sich danach bei mir, während er Slim auf der bequem aussehenden schwarzen Couch absetzt. Offenbar hat er keine Angst vor Katzenhaaren auf seinen Möbeln. Oder vielleicht stört ihn das auch nicht, weil seine Wohnungseinrichtung – zumindest soweit ich sie bisher gesehen habe – sowieso ebenso schwarz ist wie sein Teppich.
 

"Weiß nicht", nuschele ich beschämt und zupfe verlegen an den Ärmeln meines Pullis herum. "Irgendwas ... anderes eben", gebe ich dann zu und kann aus dem Augenwinkel sehen, wie Simon grinst. "Ich bin mit dem Einrichten noch lange nicht fertig", erklärt er mit einer Geste, die die offenbar noch recht leeren Schränke und Regale einschließt. "Dazu komme ich nur am Wochenende. Unter der Woche muss ich arbeiten und abends hab ich meistens keine richtige Lust mehr", fährt er fort und ich nicke, was sein Grinsen nur noch etwas breiter werden lässt.
 

"Du kannst Dich übrigens auch ruhig setzen. Meine Möbel beißen nicht", zieht er mich auf und ich kann mich im letzten Moment gerade noch davon abhalten, einen beleidigten Flunsch zu ziehen. Wenn ich das tue, dann sehe ich immer aus wie ein kleines Kind, das weiß ich. Und diese Blöße will ich mir nicht geben. Nicht ausgerechnet vor Simon. Das wäre mir einfach viel zu peinlich. Außerdem will ich nicht, dass er mich dafür auslacht.
 

Und ich will auch nicht, dass er mich für einen totalen Feigling hält – obwohl es dafür sicher schon zu spät ist –, deshalb leiste ich seiner Aufforderung Folge und setze mich etwas zögerlich auf die Couch. Kaum dass ich sitze, nutzt Slim die Gelegenheit, um auf meinen Schoß zu klettern und sich dort schnurrend zusammenzurollen, schmunzelnd beobachtet von Simon, der es sich in einem der beiden Sessel neben der Couch bequem macht. Darüber bin ich zugegebenermaßen etwas erleichtert, denn irgendwie fühle ich mich ziemlich seltsam. Es ist aber auch echt komisch, jetzt hier bei ihm im Wohnzimmer zu sitzen, als würden wir uns schon länger kennen oder so.
 

"Und wie soll die Wohnung aussehen, wenn Du irgendwann mal mit dem Einrichten fertig bist?", frage ich schließlich leise, nur, um überhaupt irgendwas zu sagen. Dabei verfluche ich meine Stimme dafür, dass sie so belegt klingt. So merkt er doch gleich, dass mir das Ganze hier unangenehm ist und dass ich nicht so genau weiß, was ich hier soll. Eigentlich wollte ich ja auch nur Slim holen und wieder nach Hause gehen, also warum sitze ich jetzt hier rum und versuche sogar, so was wie eine Unterhaltung in Gang zu kriegen? Das ist doch bescheuert!
 

"Auf jeden Fall sollen die Wände nicht mehr so kahl sein. Da kommen ein paar Fotos hin, die Morgaine für mich gemacht hat. Im Moment sind sie noch bei ihr. Sie wollte sie noch rahmen, bevor sie sie mir vorbeibringt", erzählt er und ich beiße mir auf die Unterlippe. Morgaine ... Der Name kommt mir bekannt vor. Verdammt bekannt sogar. Laut Mamas Reden ist Morgaine nämlich der Name von Simons Freundin.
 

"Ein komischer Name", murmele ich leise, aber offenbar nicht leise genug, denn Simon hat mich offenbar trotzdem gehört. "Morgaine ist auch nicht ihr richtiger Name, sondern ein Spitzname. Abgeleitet von Morgan Le Fay, der Halbschwester König Artus' aus der Artus-Saga", erklärt er mir daraufhin und ich presse meine Lippen ganz fest zusammen, um nur ja nichts Falsches zu sagen. Immerhin kenne ich diese komische Tussi ja noch nicht mal. Da käme es sicher nicht so besonders gut, wenn ich sie beleidigen würde.
 

Um irgendwas zu tun zu haben, fange ich an, den auf meinem Schoß hockenden Slim hinter den Ohren zu kraulen, was dieses dumme Vieh natürlich ganz toll findet. Jedenfalls schnurrt er gleich noch etwas lauter und kuschelt sich noch mehr an mich, so dass mein Pulli gleich wieder voller Haare sein wird. Ganz toll. Aber das hab ich mir wohl selbst zuzuschreiben. Ich könnte ja schon lange wieder unten sein. Selbst schuld, dass ich immer noch hier hocke.
 

Fast eine Minute lang sage ich gar nichts, aber dann beschließe ich, doch die Frage zu stellen, die mir schon seit unserer Begegnung in der Stadt auf der Zunge liegt. "Warum meuchelt meine Schwester Dich eigentlich nicht, wenn Du sie Victoria nennst?", erkundige ich mich und Simon streicht sich schmunzelnd eine lange schwarze Strähne hinter sein linkes Ohr.
 

"Vielleicht, weil ich ihr erklärt habe, dass sie eigentlich einen sehr schönen Namen hat", antwortet er und lacht leise, als ich ihn nur verständnislos anblinzele. "Victoria bedeutet entweder »Sieg« oder »die Siegreiche«, aber das ist nicht alles. Abgeleitet ist der Name von der römischen Siegesgöttin Victoria. Und ganz ehrlich: Welches Mädchen lässt sich nicht gerne sagen, dass sie den Namen einer Göttin trägt?", holt er weiter aus und meine Augen werden groß.
 

"Woher weißt Du das denn?", will ich wissen und Simon schmunzelt wieder. "Ich interessiere mich ein bisschen für Namen und ihre Bedeutungen", erklärt er mir. "Ich kann Dir sogar sagen, woher der Name Jan kommt und was er bedeutet, wenn Du willst", bietet er mir dann an und ich nicke einfach nur. Bisher hab ich mich zwar eigentlich nie dafür interessiert, was mein Name denn nun für eine Bedeutung hat, aber jetzt bin ich doch ein bisschen neugierig.
 

"Jan kommt von Johannes, was wiederum »Gott ist gnädig« bedeutet", werde ich gleich darauf informiert und verziehe das Gesicht. "Also aus der Bibel", murre ich und Simon nickt. "So gesehen schon, ja", bestätigt er mir und ich seufze genervt. Das hat mir gerade noch gefehlt. Solche "frommen" Namen finde ich einfach nur total scheiße. Hätten meine Eltern sich nicht was anderes einfallen lassen können?
 

"Aber damit bist Du nicht alleine. Ruben und Simon stammen auch aus der Bibel. Aus dem Alten Testament, um genau zu sein. Zwei der zwölf Söhne Jakobs und damit Stammväter der zwölf Stämme Israels", holt Simon mich wieder in die Realität zurück und ich sehe ihn nun doch wieder an. "Stimmt, Dein Vater ist ja Priester", fällt es mir wieder ein und für einen Moment verzieht er das Gesicht, so als hätte er Zahnschmerzen. Scheinbar ist ihm die Erwähnung seines Vaters nicht besonders angenehm. Toll gemacht, Jan.
 

"Tut mir ...", fange ich an, aber Simon lässt mich gar nicht erst ausreden. "Für einen Priester ist es wohl auch nicht weiter ungewöhnlich, seinen Söhnen Namen aus der Bibel zu geben", sagt er und ich nicke einfach nur, weil ich Angst habe, wieder etwas Falsches zu sagen. Irgendwie will ich nämlich nicht, dass er mich deshalb rauswirft. Jetzt gerade ist mir seine Gegenwart nämlich gar nicht so unangenehm. Genau betrachtet finde ich es eigentlich sogar ganz schön, hier zu sitzen und mit ihm zu reden. Komisch, aber wahr. Mein Herz hat sich auch zumindest ein bisschen beruhigt. Jedenfalls rast es nicht mehr die ganze Zeit so, sondern klopft nur noch ab und zu etwas schneller, wenn Simon mich plötzlich ankuckt oder mich anlächelt.
 

"Ruben bedeutet übrigens »Seht, es ist ein Sohn«", bricht er das kurze Schweigen wieder und als er grinst, muss ich unwillkürlich auch grinsen. "Da hat euer Vater wohl gedacht, das würde man sonst nicht merken, was?", witzele ich und staune dabei gleich auch ein bisschen über mich selbst. Ich kann nicht so ganz fassen, dass ich tatsächlich in Simons Wohnzimmer auf der Couch sitze, mich ganz normal mit ihm unterhalten und ihn sogar zum Lachen bringen kann. Nach allen Peinlichkeiten, die ich mir ihm gegenüber schon geleistet habe, hätte ich nicht gedacht, dass er überhaupt normal mit mir reden würde. Aber scheinbar hatte Ruben Recht, als er mir versichert hat, sein Bruder würde mir mein blödes Verhalten schon nicht übel nehmen. Irgendwie bin ich fast froh darüber.
 

"Und was bedeutet Simon?", frage ich, sobald Simon sich wieder beruhigt hat, und wundere mich ein wenig darüber, dass ich tatsächlich den Mut aufbringe, nicht nur diese Frage zu stellen, sondern ihn dabei sogar tatsächlich anzusehen. "Willst Du das wirklich wissen?", fragt er zurück und schmunzelt, als ich fast schon hektisch nicke.
 

"Okay, wenn's Dich wirklich interessiert, dann sag ich's Dir. Aber besonders spannend ist die Bedeutung meines Namens nicht", warnt er mich und grinst, als ich auf der Sitzfläche der Couch etwas weiter nach vorne und damit ungewollt auch in seine Richtung hibbele. Verdammt, ich hasse es, wenn man mich so auf die Folter spannt! Und ich habe irgendwie den Eindruck, dass er das ganz genau weiß. Gut, das ist bei meinem Gehampel sicher auch nur schwer zu übersehen.
 

"Simon kommt – wie Ruben übrigens auch – aus dem Hebräischen und bedeutet »Gott hat gehört«. Nicht gerade eine interessante Namensbedeutung, nicht wahr?", erkundigt er sich und ich werde rot, als er mir zuzwinkert. "Und so wirklich passend ist das auch nicht. Immerhin hat Vaters Gott ja – zumindest in seinen Augen – nicht wirklich gehört. Sonst wäre ich wohl nicht so, wie ich nun mal bin."
 

Simons letzte Bemerkung zieht die Stimmung irgendwie runter und ich beiße mir auf die Unterlippe, um nicht zu fragen, was er genau damit meint. Immerhin redet er ganz offenbar nicht besonders gerne über seinen Vater und das Verhältnis – oder auch Nicht-Verhältnis –, das sie zueinander haben. Vielleicht sollte ich Ruben morgen in der Schule mal fragen, ob er mir Näheres erzählen kann. Ich bin nämlich, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, wirklich verdammt neugierig, was eigentlich genau zwischen Simon und seinem Vater vorgefallen ist. Ich meine, irgendeinen Grund muss er doch dafür haben, dass er nicht mal mehr sein Elternhaus betreten will, oder?
 

"Weißt ... ähm ... weißt Du auch, was Franziska bedeutet?", erkundige ich mich in dem Versuch, die Stimmung wieder etwas aufzulockern, und Simon, der gerade an mir vorbei aus dem Fenster gesehen hat, wendet mir wieder seine Aufmerksamkeit zu. Sofort schießt mein Puls fast durch die Decke und ich kämpfe ebenso verzweifelt wie vergeblich gegen die Röte an, die mir ins Gesicht kriechen will.
 

"Nicht auswendig, nein. Aber ich könnte mal nachschlagen, wenn Du das unbedingt wissen willst. Ich hab ein paar Bücher über Namen und ihre Bedeutungen hier in einem der Kartons", bietet er an und ich schüttele hektisch den Kopf, bevor er aufstehen und mit dem Suchen anfangen kann. "Nee, muss nicht sein.", wiegele ich ab und grinse schief. "Mit der Info könnte ich im Augenblick eh nicht viel anfangen. Zwischen Franzi und mir herrscht gerade Eiszeit", erzähle ich und kann sehen, wie eine seiner Brauen ein Stück in die Höhe wandert.
 

"Warum?", fragt er nach und mein sowieso schon schiefes Grinsen verrutscht noch weiter. "Wegen Sonntag. Erst hat sie mich wegen ihrer blöden Katze in die Kälte rausgejagt, anstatt selbst zu suchen, und dann hat sie mich nach allem, was passiert ist, auch noch angepflaumt, warum ich mich denn nicht beeilt hätte, weil der arme Slim ja sicher ganz furchtbar gefroren hat. Dass die drei Idioten aus meiner Klasse mich beinahe von dieser Scheißbrücke geschmissen hätten, hat sie überhaupt nicht interessiert, die blöde Kuh!", rege ich mich auf und Simon nickt verstehend.
 

"So was ist sicher nicht besonders angenehm – gerade, wenn man wie Du Höhenangst hat", vermutet er und meine ganze Wut verraucht gleich wieder. Das Einzige, was zurückbleibt, ist die Peinlichkeit, schon wieder durchschaut worden zu sein – und das auch noch ausgerechnet von ihm. Verdammt, so eine Schwäche ist sowieso schon ätzend genug, auch ohne dass mehr Leute als unbedingt nötig davon wissen! Kann mich mal bitte jemand erschießen?
 

Peinlich berührt senke ich den Kopf und schiele durch meine Ponyfransen zu Simon hinüber, aber er lacht mich weder aus noch macht er Anstalten, sich sonst in irgendeiner Form über mich lustig zu machen. Stattdessen tut er so, als wäre meine Höhenangst etwas vollkommen Normales und nicht so blöd und peinlich, wie sie nun mal ist.
 

"Ruben hatte früher, als er noch klein war, immer Angst vor nächtlichen Gewittern. Jedes Mal, wenn es nachts draußen geblitzt und gedonnert hat, hat er sich entweder in seinem Kleiderschrank oder unter dem Bett versteckt, wenn er nicht den Mut hatte, in mein Zimmer zu kommen und zu mir ins Bett zu kriechen. Dann musste ich ihn immer holen gehen, sonst hätte er die ganze Nacht gezittert. Tagsüber haben ihm Gewitter nichts ausgemacht, aber nachts schon."
 

Simons Erzählung lässt mich doch wieder aufsehen und ihn ungläubig anstarren. "Echt?", hake ich nach und er nickt. "Ja, allerdings. Das ging so, bis er ungefähr zehn oder elf war. Damals haben wir gemeinsam im Garten hinter dem Haus gezeltet und in der Nacht hat es auch gewittert. Aber dieses Mal hab ich ihn nicht in meinen Schlafsack geholt, sondern bin aufgestanden und aus dem Zelt gegangen. Er hat sich nicht getraut, alleine im Zelt zu bleiben, also ist er mir gefolgt und wir haben uns zusammen das Gewitter angesehen. Nach einer Weile war er so fasziniert von dem Schauspiel, dass er seine Angst total vergessen hat. Die Woche danach haben wir zwar beide mit einer dicken Erkältung flachgelegen und für mich hat es danach wegen meines Leichtsinns auch noch vier Wochen Hausarrest gesetzt, aber das Nachspiel war es mir wert", fährt er fort und schmunzelt scheinbar bei der Erinnerung an dieses Abenteuer.
 

"Ich hätte auch lieber einen großen Bruder statt einer großen Schwester", ist das Erste, was mir dazu einfällt. Franzi würde so was nie für mich machen. Im Gegenteil. Sie hat mich schon so oft mit meiner Höhenangst und auch mit meiner Angst vor Horrorfilmen aufgezogen, dass ich schon vor einer halben Ewigkeit mit dem Zählen aufgehört hab. Ein Bruder hätte sicher mehr Verständnis dafür, wie peinlich solche Ängste für einen Jungen meines Alters ohnehin schon sind, und würde mich vielleicht eher unterstützen. Ich meine, genau betrachtet findet ja selbst Vicky meine Höhenangst lächerlich – Angst vor Horrorfilmen hat sie auch – und sie ist erst zwölf!
 

"Die Familie kann man sich leider nicht aussuchen", antwortet Simon auf mein Geseufze und als ich einfach nur leidend das Gesicht verziehe, lächelt er mich an. Allerdings ist das kein abwertendes Lächeln, sondern eins, das eher aufbauend wirkt. Und irgendwie bringt genau das meinen Herzschlag wieder total durcheinander. Ganz toll. Dabei war doch bis gerade noch alles in Ordnung, also was soll der Scheiß jetzt auf einmal wieder?
 

"Aber als Ausgleich dafür gibt es ja Freunde", fährt Simon fort und ich nicke leicht. Irgendwie hat er ja schon Recht mit dem, was er sagt. Meine Schwestern mögen mich für meine schwachsinnigen Ängste auslachen, aber Jassi tut das nicht, obwohl er selbst sich beispielsweise verdammt gerne irgendwelche Horrorschinken ankuckt. Und irgendwie, ich weiß nicht warum, glaube ich, dass auch Ruben mich nicht dafür auslachen würde. Aber falls doch, dann weiß ich ja jetzt, womit ich kontern kann. Angst vor Gewittern hatte ich nämlich noch nie. Ist ja auch albern.
 

"Auch wieder wahr", stimme ich Simon mit etwas Verspätung zu und er wieder lächelt er mich an. Ich weiß nicht genau, warum, aber mir schießt plötzlich wieder die Frage nach seiner richtigen Augenfarbe durch den Kopf. Ungewollt werde ich wieder rot, aber da er bisher ja eigentlich alle meine Fragen beantwortet und auch sonst ganz normal mit mir geredet hat, nehme ich all meinen Mut zusammen und gebe mir einen Ruck. Was kann mir auch schon passieren?
 

"Welche Farbe haben Deine Augen eigentlich wirklich?", erkundige ich mich und sehe Simon gespannt an. Für einen Sekundenbruchteil wirkt er total überrumpelt von meiner Frage, doch dann fasst er sich wieder und grinst mich an. "Was glaubst Du denn, hm?", fragt er zurück und ich überlege nicht lange. "Weiß nicht. Aber braun sind sie nicht", gebe ich die erste Antwort, die mir einfällt. Dieses Mal hält seine Überraschung etwas länger an, aber schlussendlich fängt er trotzdem wieder an zu grinsen.
 

"Wie bist Du denn zu der Überzeugung gekommen?", will er von mir wissen und ich zucke mit den Schultern. "Keine Ahnung. Ich glaub eben einfach nicht, dass sie braun sind", erwidere ich und sein Grinsen vertieft sich noch etwas. "Bist Du Dir wirklich sicher?", neckt er mich weiter und auch wenn ich mir vorher nicht hundertprozentig sicher war, jetzt bin ich es irgendwie doch.
 

"Ja, bin ich", antworte ich daher und ernte dafür ein kurzes, aber ehrliches Lachen. "Du hast Recht. Braun sind meine Augen wirklich nicht", bestätigt er meinen Verdacht und ich rutsche unruhig auf meinem Platz herum. Ich hasse es, so hingehalten zu werden! "Und welche Farbe haben sie dann?", hake ich ungeduldig nach, aber ich bekomme keine Antwort, sondern nur ein Kopfschütteln. "Das verrate ich Dir nicht", sagt er und ich kann förmlich spüren, wie ich jetzt doch einen Flunsch ziehe, obwohl ich das eigentlich nicht wollte. Aber das ist doch auch fies!
 

"Jedenfalls noch nicht", lenkt Simon daraufhin ein und schmunzelt aufgrund meines Schmollens. "Aber vielleicht verrat ich's Dir ja irgendwann mal", fügt er hinzu, wirft einen kurzen Blick auf die Uhr an der Wand – die, wie ich mit einem raschen Seitenblick feststelle, schon fast neun Uhr anzeigt – und steht dann auf. Ehe ich mich versehe, hat er Slim von meinem Schoß gehoben, drückt ihn mir aber, sobald ich auch aufgestanden bin, wieder in die Arme und begleitet mich dann noch zu seiner Wohnungstür. Dort bleibt er kurz stehen und wartet, bis ich mich noch mal zu ihm umgedreht habe und ihn ansehe.
 

Ich merke, dass er noch etwas sagen will, aber dazu lasse ich ihm keine Gelegenheit. "Ich könnte auch Ruben danach fragen. Dann wüsste ich's", trumpfe ich auf und kann im Halbdunkel des Flurs erkennen, dass sich wieder ein Grinsen auf Simons Lippen legt. "Das könntest Du allerdings", gibt er zu, schüttelt dann aber den Kopf. "Aber das wirst Du nicht tun", behauptet er und ich blinzele irritiert. Wie kommt er denn jetzt darauf? Warum sollte ich Ruben denn nicht danach fragen? Immerhin wird er mir ja wohl kaum etwas so Banales wie die Augenfarbe seines großen Bruders verschweigen, oder?
 

"Und wieso glaubst Du, dass ich ihn nicht fragen werde?", hake ich deshalb nach und Simons Grinsen wird noch etwas breiter. "Weil Du ihn sonst sicher schon gefragt hättest. Gelegenheiten hattest Du immerhin genug", antwortet er und ich kann nicht umhin, ihm Recht zu geben. Ich hätte Ruben wirklich schon bestimmt hundertmal nach Simons Augenfarbe fragen können, aber das ist mir bisher nie in den Sinn gekommen. Und irgendwie, wenn ich ganz ehrlich bin, dann will ich das auch nicht von Ruben erfahren. Aus irgendeinem mir völlig unbegreiflichen Grund will ich, dass Simon mir das selbst sagt.
 

"Vielleicht frag ich ihn ja morgen trotzdem", widerspreche ich dennoch nur um des Widersprechens willen und Simon nickt. "Tu, was Du nicht lassen kannst. Ich kann Dich wohl kaum davon abhalten", erwidert er vollkommen gelassen und ich verspüre den unbändigen Wunsch, ihm die Zunge rauszustrecken. Ist es denn wirklich so schwer, nur eben kurz eine blöde Farbe auszuspucken? Oder macht ihm das etwa Spaß, dass er jetzt etwas hat, womit er mich ärgern kann?
 

"Aber ich glaube trotzdem nicht, dass Du Ruben fragst – weder morgen noch sonst wann." Simon klingt so von seinen eigenen Worten überzeugt, dass ich mir schon alleine deshalb vornehme, Ruben jetzt doch zu fragen. Ich lasse mich doch nicht verarschen! Das ist doch auch vollkommen lächerlich, so einen Aufriss zu veranstalten nur wegen einer Augenfarbe!
 

"Das werden wir ja sehen", murre ich und quetsche mich an Simon vorbei in den dunklen Hausflur. Bevor ich allerdings beleidigt nach unten gehen kann, schnellt seine Hand vor und er hält mich an der Schulter fest. Beinahe sofort breitet sich von dieser Stelle ein sehr seltsames Gefühl in meinem ganzen Körper aus, das ich nicht näher definieren kann. Es liegt irgendwo zwischen Kribbeln und einem leichten Stromschlag und ich weiß nicht, ob ich das jetzt angenehm oder unangenehm finde.
 

"Vielleicht verrate ich Dir meine Augenfarbe ja irgendwann mal, wenn Du mich auf die richtige Art danach fragst", bekomme ich zu hören und in der nächsten Sekunde verschwindet das Gewicht von Simons Hand von meiner Schulter. Das seltsame Gefühl verschwindet allerdings nicht und auch nachdem er die Wohnungstür hinter sich zugemacht hat, bleibe ich wie angewurzelt im Dunkeln stehen, Slim noch immer auf dem Arm und mein Hirn schwirrend von der Frage, wie wohl die "richtige Art zu fragen" aussieht. Verdammt, warum muss so was eigentlich immer ausgerechnet mir passieren?
 

~*~
 

Tja, Janni, das könnte ich Dir ja sagen, aber ich tu's nicht.

*kicher*
 

Ich hoffe, es hat euch gefallen. Ich persönlich mag das Kapitel sehr. Und ich mag Simon. Und Janni. Und Vicky. Und Mama. Und überhaupt hab ich gerade alle ganz doll lieb.

*mit Keksen werf*
 

Bis zum nächsten Mal!
 

Karma

Von Ballettaufführungen, gruseligen Sitznachbarn und seltsamen Gefühlen

So, und hier ist auch schon das nächste Kapitel. Ich weiss, im Augenblick bin ich schnell, aber gewöhnt euch lieber nicht daran. Ich kann nicht garantieren, dass das auch so bleibt.
 

Übrigens hat dieses Kapitelchen hier eine Widmung: Für nitro2811, die gestern die dritte Null angehängt bekommen hat. Ich weiß, Du wirst das hier wahrscheinlich erst in einer ganzen Weile lesen, aber trotzdem gibt's das Kapitel noch als kleines nachträgliches Geburtstags-Leckerli.

*Schleife drumbind*

Viel Spaß damit!
 

So, und weil ich euch nicht mit allzu langem Vorgelaber nerven will, gibt's dieses Mal keine Kommiantworten, sondern nur fette Dankeschöns samt Keksen und Schleifchen für Aschra, Schwarzfeder, Tianani, Yumika, abgemeldet, Inan und abgemeldet. Ich hoffe, es gefällt euch auch dieses Mal wieder.

^_____^
 

Enjoy!
 

Karma
 

~*~
 

"Kommst Du, Jan? Wir müssen langsam los." Die Stimme meiner Mutter aus dem Wohnungsflur reißt mich aus der vorgetäuschten Versunkenheit in meine Hausaufgaben und ich seufze abgrundtief, bevor ich meinen Kuli beiseite lege, meinen Stuhl zurückschiebe und meine Matheaufgaben fürs Erste Matheaufgaben sein lasse. Die kann ich ja eigentlich auch noch am Wochenende irgendwann machen. Jetzt heißt es erst mal mit meiner Familie zu Vickys Ballettaufführung zu fahren. Wie ich mich darauf freue!
 

Weil es allerdings absolut nichts nützen würde, mich jetzt noch zu weigern – und weil Vicky mich, wenn ich eine Krankheit simulieren würde, garantiert höchstpersönlich umbringt –, stehe ich missmutig auf und mache mich auf den Weg in den Flur, wo meine Schwestern und meine Mutter schon auf mich warten. Dort ziehe ich noch eben schnell meine Schuhe und meine dicke Jacke an und stapfe dann, die Hände in den Jackentaschen vergraben, wenig enthusiastisch nach unten zu Franzis Auto, um mich da gemeinsam mit Vicky auf die Rückbank zu quetschen.
 

Seit Montag ist heute das erste Mal, dass ich wieder bei Franzi mitfahre, aber das ist eine Ausnahme. Ich sitze jetzt auch nur hier, weil ich absolut keine Lust habe, mit Bus und Bahn zur Stadthalle zu gondeln, wo dieser ganze Ballettkram heute stattfinden soll. Da ertrage ich doch lieber ein paar Minuten lang meine ätzende große Schwester, als mindestens zwanzig Minuten lang in der abendlichen Kälte mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sein zu müssen. Außerdem zwingt mich ja auch niemand, mich mit Franzi zu unterhalten.
 

In den ersten paar Tagen nach unserem Streit hat Mama noch versucht, uns beide dazu zu bringen, uns wieder zu vertragen, aber mittlerweile lässt sie uns einfach in Ruhe. Wahrscheinlich hofft sie, dass das Ganze sich irgendwann von selbst erledigt, aber da sehe ich schwarz. Ich werde jedenfalls ganz sicher nicht klein beigeben. Immerhin habe nicht ich die Scheiße gemacht, sondern Franzi. Und bevor sie sich nicht bei mir entschuldigt hat, werde ich auch nicht mehr mit ihr sprechen. Ein Stressfaktor weniger in meinem Leben.
 

"Mensch, Janni, jetzt zieh doch nicht so ein Gesicht!", beschwert Vicky sich und ich strecke ihr die Zunge raus. "Ich hab nun mal kein anderes", informiere ich sie dann und sie verdreht die Augen, sagt aber nichts mehr dazu, sondern lehnt sich etwas nach vorne, um sich mit Mama und Franzi unterhalten zu können. Mich ignoriert sie, aber das ist mir nur recht. Ich habe im Moment auch keinen Bock zum Reden. Stattdessen starre ich aus dem Fenster und zähle aus lauter Langeweile die Straßenlaternen, an denen wir vorbeifahren. So wirklich Lust auf dieses Ballettzeug hab ich nicht, aber zum Weglaufen ist es jetzt zu spät.
 

Da der ständige Wechsel von Hell und Dunkel mir Kopfschmerzen bereitet, schließe ich nach einer Weile meine Augen und seufze leise. Am liebsten wäre ich jetzt zu Hause in meinem Bett und würde mir die Decke über den Kopf ziehen, um in aller Ruhe nachdenken zu können. Allerdings würde mir das wohl auch nicht besonders viel bringen. Seit gestern Abend drehen sich meine Gedanken nämlich ständig im Kreis und zu einem wirklichen Ergebnis komme ich nicht. Egal, wie sehr ich mir auch das Hirn darüber zermartere, was Simon wohl gestern gemeint hat, ich verstehe es einfach nicht. Und das macht mich wahnsinnig.
 

"Janni, nicht einschlafen!" Vicky rammt mir ihren Ellbogen unsanft in die Seite und als ich die Augen wieder aufschlage, bemerke ich, dass Franzi gerade ihren Wagen auf dem Parkplatz hinter der Stadthalle parkt. Um uns herum herrscht schon reges Treiben, obwohl wir fast eine Stunde vor der Aufführung da sind. Genau betrachtet, schießt es mir durch den Kopf, hätte ich doch besser später nachkommen sollen. Dann müsste ich mich jetzt nicht noch fast sechzig Minuten langweilen. Mit hinter die Bühne, um Vicky und ihren kleinen Hupfdohlenfreundinnen beim Proben zuzusehen, will ich nämlich nicht. Nur über meine Leiche!
 

"Ich bleib noch ein bisschen hier draußen und komm später rein, okay?", wende ich mich deshalb an meine Mutter und ignoriere dabei Vickys beleidigte Schnute, so gut es geht. Mama überlegt einen Moment, doch dann nickt sie. "Gut. Aber sei bitte pünktlich, ja?", bittet sie mich und nun nicke ich. Dabei zwinge ich mir ein Lächeln ins Gesicht, das sie etwas zerstreut und gestresst erwidert, bevor sie die Tasche mit Vickys Kostüm – irgendwas mit viel Orange; deshalb brauchte sie ja auch unbedingt diese blöde Strumpfhose – aus dem Kofferraum nimmt und sich gemeinsam mit meinen beiden Schwestern auf den Weg nach drinnen macht.
 

Ich blicke den Dreien einen Moment lang nach, dann wende ich mich seufzend ab und schlendere in die andere Richtung davon. Im Augenblick möchte ich einfach ein bisschen allein sein und nachdenken, auch wenn mir das, wie ich ja schon festgestellt hab, nicht wirklich viel bringt. Trotzdem habe ich jetzt noch keinen Bock auf den ganzen Trubel da drinnen, von dem Rosa und Orange und was weiß ich noch für Farben ganz zu schweigen. Das werde ich mir noch früh genug ansehen müssen.
 

Irgendwie, ich weiß nicht warum, bin ich seit dem Gespräch mit Simon gestern Abend total neben der Spur. Und die Tatsache, dass Vicky sich, nachdem ich wieder unten war, beim Fernsehen noch lang und breit darüber ausgelassen hat, wie sehr sie sich doch darauf freut, dass er ihr felsenfest versprochen hat, heute Abend auf jeden Fall auch zu ihrer Aufführung zu kommen, macht es auch nicht besser. Wann immer mir durch den Kopf geht, dass ich ihn also heute auf jeden Fall auch noch sehen werde, wird mir ganz komisch. Mir ist schlecht, schwindelig, mein Herz rast, ich bin nervös, und das alles gleichzeitig. Eigentlich ist das fast schon eine Leistung, so viele Gefühle auf einmal zu haben.
 

Im Moment verfluche ich mich allerdings gerade dafür, dass ich meinen MP3-Player nicht mitgenommen hab, als wir losgefahren sind. Ein bisschen Musik würde mir bestimmt helfen, diese ganzen blöden Gedanken und auch die Gefühle zu verdrängen, aber das war ja wohl mal wieder ein Satz mit X. Ich bin doch so dämlich, dass ich mich eigentlich selbst schlagen müsste. Aber das Schlimmste ist, dass ich meine Verpeiltheit selbst nicht so ganz begreife. So schusselig und vergesslich wie in der letzten Zeit bin ich sonst eigentlich nicht. Und normalerweise führe ich mich auch nicht ganz so peinlich auf, wie ich das in Simons Gegenwart irgendwie immer tue. Verdammt, woran liegt das bloß?
 

Abgrundtief seufzend schüttele ich den Kopf und versuche, die Gedanken endlich doch noch loszuwerden, aber das ist leichter gesagt als getan. Simons Worte von gestern Abend hängen wie eine Dauerschleife in meinem Kopf fest und ich kann machen, was ich will, ich kriege sie da einfach nicht raus. Am liebsten würde ich meine Stirn ein paar Mal feste irgendwo gegen klatschen, aber da ich die Befürchtung habe, dass das meine Kopfschmerzen nur noch verschlimmern würde, lasse ich es doch besser bleiben. Stattdessen latsche ich lieber noch ein Stückchen durch die Botanik, denn es ist arschkalt hier draußen und wenn ich weiter einfach nur dumm in der Gegend rumstehe, dann friere ich sicher fest und verpasse dadurch Vickys Auftritt – wofür sie mich unter Garantie meucheln würde.
 

"Das ist doch alles einfach nur scheiße!", beschwere ich mich bei niemand Bestimmtem und rupfe von einem der krüppeligen Büsche, die hier am Rand des Parkplatzes wachsen, auch noch das letzte verbliebene Blatt ab. Das zerreiße ich höchst konzentriert in kleinstmögliche Schnipsel und mache mich dann auf die Suche nach weiteren Blättern, denen ich das gleiche Schicksal angedeihen lassen kann. Das ist zwar eigentlich ziemlich schwachsinnig, aber es hält mich wenigstens beschäftigt und verhindert auch, dass ich zu viel nachdenke oder dass meine Finger mal wieder anfangen zu zittern.
 

Wie lange ich dieser überaus sinnvollen Beschäftigung des Blätter-Zerrupfens nachgehe, weiß ich nicht genau. Zwischendurch fährt immer mal wieder ein Auto an mir vorbei und obwohl ich bei jedem schwarzen Wagen zusammenzucke, blicke ich nicht von den Blättern in meinen Händen auf, sondern verwandele eins nach dem anderen in gelblich-braunes Konfetti, das von dem eisigen Wind, der mir um die Ohren weht, gleich weggetragen wird.
 

"Jan, Du benimmst Dich echt wie der letzte Vollidiot", bescheinige ich mir selbst dabei leise und schüttele halb grinsend, halb verzweifelt den Kopf. Ich hasse es, nicht zu wissen, was mit mir los ist. Außerdem fürchte ich, dass mir bald der Schädel platzt, wenn ich diese elende Grübelei nicht endlich sein lasse. Aber was kann ich denn bitteschön dafür, dass ich mich permanent frage, wie wohl die "richtige Art zu fragen" aussieht, von der Simon gestern gesprochen hat?
 

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich, obwohl ich heute in der Schule bestimmt hundertmal Anlauf genommen hab, die Frage an Ruben einfach nicht über die Lippen gebracht habe. Immer wieder habe ich im letzten Augenblick praktisch gekniffen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ihm aufgefallen ist, dass mir irgendeine Frage auf der Zunge lag, aber zum Glück hat er mich nicht bedrängt, sondern mich nur immer wieder aufmunternd angesehen, so als wollte er es mir selbst überlassen, ob ich ihm sage, was mit mir los ist, oder ob ich es doch lieber für mich behalten will.
 

Den ganzen Tag schwanke ich schon zwischen Wut auf Simon, weil er Recht hatte mit seiner gestrigen Vermutung, ich würde Ruben ja doch nicht nach seiner Augenfarbe fragen, und Wut auf mich selbst, weil mich diese blöde Sache so furchtbar beschäftigt. Im Moment bin ich mal wieder sauer darüber, dass ich mich tatsächlich von Simons Worten habe beeinflussen lassen. Wenn ich Ruben einfach nur eine popelige Frage gestellt hätte, dann würde mich dieser Quatsch jetzt nicht mehr in den Wahnsinn treiben, dessen bin ich mir hundertprozentig sicher.
 

"Und dann wüsste ich auch endlich, welche Augenfarbe Simon hat." Erschrocken darüber, dass ich meine Gedanken tatsächlich laut ausgesprochen habe, schlage ich mir die Hände vor den Mund und sehe mich panisch um, aber zu meiner großen Erleichterung bin ich hier draußen auf dem vollen, nur von ein paar kleinen Lampen erhellten Parkplatz ganz alleine. Zum Glück hat niemand mein Selbstgespräch gehört! Was würden die Leute denn auch von mir denken, wenn sie hören würden, dass ich mir über so einen Blödsinn Gedanken mache? Das wäre ja todpeinlich!
 

Überdeutlich spüre ich, wie mir mal wieder Röte ins Gesicht kriecht. Abgrundtief seufzend schüttele ich den Kopf und will mich gerade auf den Weg zur Stadthalle machen – mir ist zwar gerade mal ausnahmsweise nicht kalt, aber es ist sicher langsam Zeit –, als mein Blick auf einen schwarzen Wagen fällt, der just in diesem Moment auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkt. Unwillkürlich bleibe ich wie angewurzelt stehen und mein Herzschlag beschleunigt sich rasant, als sich die Fahrertür öffnet. Und wie erwartet und befürchtet ist es tatsächlich Simon, der aus diesem Wagen steigt.
 

Bei seinem Anblick werde ich gleich noch etwas röter und verfluche mich innerlich dafür. Halb panisch suche ich nach einem guten Versteck, aber bevor ich mich hinter ein paar Büsche hocken und ihn vorbeigehen lassen kann, hat er mich auch schon entdeckt und macht Anstalten, die Straße zu überqueren und auf mich zuzukommen. Scheiße!
 

"Solltest Du nicht eigentlich schon drin sein?", begrüßt er mich, sobald er mich erreicht hat. "Oder bist Du etwa das Empfangskomitee, damit ich mich auf den letzten Metern nicht noch verlaufe?", schiebt er noch hinterher und sieht mich schmunzelnd an. Daraufhin entkommt mir ein ungeheuer peinliches Quietschen, dass in mir den Wunsch aufkeimen lässt, mich vor das nächstbeste Auto zu werfen, das hier auf den Parkplatz einbiegt. Warum muss ich mich vor Simon eigentlich immer so zum Affen machen? Das ist doch nicht normal, verdammt!
 

"Ähm ... ich ... äh ...", stottere ich nicht sehr intelligent und trete mich mental erst mal heftigst in den Arsch, bevor ich mir doch noch einen vollständigen Satz – "Ich wollte noch nicht rein." – abringe. Diese Antwort meinerseits bringt Simon zum Grinsen und ich habe das Gefühl, dass ich hier in meiner Jacke gleich verglühe. Ich glaube, im Moment würde ich nicht mal frieren, wenn ich nur in Boxershorts hier stehen würde – was jetzt aber nicht heißen soll, dass ich mir wünsche, nur in Boxershorts vor Simon zu stehen! Das muss ich nun wirklich nicht haben. Ich habe mich auch so schon oft und vor allem nachhaltig genug vor ihm blamiert.
 

"Schade." Hab ich mich gerade verhört? Findet er es wirklich schade, dass ich nicht seinetwegen hier draußen rumstehe, sondern einfach nur so? Okay, das ist ... komisch. Und ich glaube, ich hab gerade einen Herzinfarkt oder so was. Oder vielleicht ist mein Herz auch einfach nur stehen geblieben. Obwohl ... Nein, warte, es schlägt doch noch. Aber gerade hat es mindestens für drei Schläge ausgesetzt, das schwöre ich. Was hat das denn zu bedeuten?
 

"Äh ... Vicky ... wartet bestimmt schon ... auf uns ... ähm ... ich meine ... Dich ... " Super, Jan. Damit hast Du mal wieder den Vogel abgeschossen und Deine absolut überragende Intelligenz unter Beweis gestellt. Als wüsste Simon nicht selbst, dass Vicky ihn erwartet. Immerhin hat sie ihn ja schließlich höchstpersönlich für heute Abend eingeladen. Und er ist tatsächlich gekommen. Ob er Ballett irgendwie toll findet oder so? Kann ich mir bei ihm zwar nicht vorstellen, aber was weiß ich denn schon über seine Vorlieben? Genau, gar nichts. Komischerweise deprimiert mich der Gedanke irgendwie.
 

"Dann sollten wir die kleine Lady wohl besser nicht länger als nötig warten lassen." Simon macht eine einladende Geste in Richtung Stadthalle und ich nicke mechanisch, während ich mich gleichzeitig in Bewegung setze. Immerhin muss ich ja sowieso langsam rein, da kann ich auch genauso gut mit ihm zusammen reingehen. Außerdem kann ich ihm so auch gleich zeigen, wo er sich hinsetzen kann. Schließlich hat Vicky, so, wie ich das gestern verstanden hab, wohl nicht nur wie sonst immer drei – unser werter Herr Erzeuger hält es generell nicht für nötig, bei solchen Veranstaltungen aufzukreuzen –, sondern vier Plätze reservieren lassen. Sie wäre sicher sehr enttäuscht, wenn Simon nicht bei Mama, Franzi und mir in der Nähe der Bühne, sondern irgendwo anders sitzen würde.
 

Erst als wir ins Foyer der Stadthalle treten und ich dort an der Garderobe aus meiner Jacke schlüpfe, um sie abzugeben, fällt mir auf, dass meine Finger ganz kalt sind. Mein Gesicht ist allerdings, wie ich nach kurzem Überprüfen feststelle, ziemlich heiß, also sehe ich wahrscheinlich immer noch aus wie eine reife Tomate. Ganz toll, ehrlich. Warum passiert so was eigentlich immer mir?
 

"Magst ... magst Du eigentlich Ballett?", erkundige ich mich leise, nachdem ich aus dem Augenwinkel gesehen habe, dass Simon seinen Mantel ebenfalls abgegeben hat. Ich traue mich nicht so ganz, ihn anzusehen, und verfluche mich innerlich dafür. Gestern Abend habe ich doch auch ganz normal mit ihm geredet, also warum führe ich mich jetzt schon wieder auf wie der letzte Blödmann? Das ist doch scheiße!
 

"Ich weiß es nicht. Um ehrlich zu sein, ist das heute meine erste Ballettaufführung", antwortet er und nun sehe ich ihn doch an. Heute trägt er, wie ich dabei feststelle, weiße Kontaktlinsen, die ihn wesentlich gruseliger aussehen lassen als die schwarzen von gestern. "Ich habe also keine Ahnung, was mich eigentlich erwartet", fährt er fort und ich kriege irgendwie ein halbes, sicher sehr verunglückt aussehendes Grinsen zustande.
 

"Heute wohl nicht ganz so viel Rosa wie sonst immer", informiere ich ihn und als er daraufhin grinst, gerät mein Herzschlag schon wieder aus dem Takt. "Heute wird's eher Orange", schiebe ich noch schnell hinterher, um das zu verbergen, und beeile mich dann, schon mal vorzugehen. Ich muss mich nicht umdrehen um zu wissen, dass er mir folgt. Aus irgendeinem Grund spüre ich das ganz genau, auch wenn ich seine Schritte auf dem weichen Teppich, mit dem das Foyer ausgelegt ist, nicht hören kann.
 

"Da bist Du ja endlich, Jan!", werde ich von meiner Mutter begrüßt, kaum dass ich den großen Saal betreten und mich in Richtung Bühne zu den für die Familien reservierten Plätzen durchgekämpft habe. "Ist alles in Ordnung? Du bist so rot im Gesicht." Besorgt mustert sie mich, doch als ich einfach nur den Kopf schüttele und mich mit einem gemurmelten "Alles okay" auf meinen Platz fallen lasse, wendet sie sich Simon zu und begrüßt ihn freundlich. Scheint ganz so, als würde sie ihn wirklich mögen und sich tatsächlich darüber freuen, ihn heute hier zu sehen.
 

"Ich hatte Ihrer Tochter ja versprochen, dass ich kommen würde", erwidert Simon gerade und ich mache mich in meinem Sitz noch etwas kleiner, als ich sowieso schon bin. Ich fühle mich total komisch und möchte am liebsten hier weg, hoffe aber gleichzeitig, dass das niemandem auffällt. Ich will Vicky ihren großen Abend nicht kaputt machen, aber trotzdem bereue ich es jetzt, dass ich mitgekommen bin. Wenn ich zu Hause geblieben wäre, dann müsste ich mir nachher wenigstens nicht Vickys Begeisterung darüber antun, dass Simon tatsächlich hier ist.
 

"Da wird Vicky sich aber freuen", meint Mama, aber Franzis Auftauchen – offenbar war sie bis gerade noch hinten bei Vicky, was mir irgendwie gar nicht aufgefallen ist – hält sie davon ab, noch mehr auf Simon einzureden. "Es fängt gleich an", informiert Franzi uns, begrüßt Simon kurz und ziemlich kühl und setzt sich dann ohne ein weiteres Wort auf den freien Platz neben Mama, der am weitesten von Simon entfernt ist.
 

Dadurch bleibt für Simon nur noch der Platz neben meinem übrig und ich schlucke hart, als er sich tatsächlich neben mich setzt. Glücklicherweise bleibt ihm mein erneutes und ziemlich heftiges Erröten durch die genau in diesem Moment ausgehende Saalbeleuchtung, die gleich darauf von der Bühnenbeleuchtung abgelöst wird, verborgen. Jedenfalls hoffe ich das ganz stark. Verdammt, ich will einfach nicht, dass er mich für einen totalen Vollidioten hält!
 

Gemeinsam mit ihrer Ballettgruppe steht meine kleine Schwester oben auf der Bühne in Position, als der Vorhang sich hebt. Sobald die Musik einsetzt, beginnen die Mädchen mit ihrem Tanz, aber die ganze Darbietung rauscht vollkommen an mir vorbei, ohne dass sich auch nur eine Drehung oder Figur besonders in mein Gedächtnis einbrennen würde. Das Ganze ist mir aber auch herzlich egal, wenn ich ehrlich bin. Außerdem bin ich, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, weit mehr damit beschäftigt, Simon aus dem Augenwinkel zu beobachten, als damit, meiner Schwester und ihrer Gruppe bei ihrem Gehopse zuzusehen.
 

Während ich mich aus einem Grund, den ich selbst nicht verstehe, kaum zu atmen traue, sitzt er ganz entspannt in dem mit blauem Stoff bespannten Sessel und scheint sich tatsächlich für das zu interessieren, was da auf der Bühne vor sich geht. Ich habe keine Ahnung, ob er nur aus Höflichkeit hinsieht und so tut, als würde er es gut finden, oder ob es ihm wirklich gefällt. Ich an seiner Stelle würde das Ganze hier sicherlich langweilig, albern und doof finden. Ich meine, er hat an einem Freitagabend doch sicher eigentlich Besseres zu tun als acht- bis dreizehnjährigen Mädchen bei ihrem Ballettgehopse zuzusehen, oder? Also warum um alles in der Welt ist er dann trotzdem hier?
 

Ob seine Freundin weiß, wo er heute Abend ist und was er macht? Ob sie damit einverstanden ist? Und warum ist sie eigentlich nicht dabei? Immerhin hätte Vicky für sie sicher auch noch einen Platz reserviert, wenn sie mitgewollt hätte. Wollte sie vielleicht gar nicht – vielleicht, weil sie meine kleine Schwester nicht mag? Oder hatte sie heute nur schon was Anderes vor und ist deshalb nicht mitgekommen?
 

Nicht, dass ich mir wünschen würde, dass sie jetzt hier wäre, nur um das mal klarzustellen. Nein, das nun wirklich nicht. Ich kenn sie zwar nicht, aber ich lege auch keinen Wert darauf, sie kennen zu lernen – obwohl das jetzt, wo Simon bei uns im Haus wohnt, sicher zwangsläufig irgendwann passieren wird. Was ich davon halte und ob ich das überhaupt will, interessiert natürlich wieder niemanden. Wie sollte es auch anders sein? Das ist doch mal wieder absolut typisch für mein Leben.
 

Ich weiß nicht genau, ob ich es gut oder schlecht finde, dass die anderthalb Stunden dieses Ballettgezappels sich heute mal ausnahmsweise nicht wie Kaugummi hinziehen, sondern im Gegenteil sogar recht schnell vergehen. Als die Saalbeleuchtung wieder angeht, kann ich mir deshalb jedenfalls ein Seufzen nicht verkneifen und fange mir dafür gleich einen Seitenblick von Simon ein, den ich nicht deuten kann. Verdammt, ich hasse das!
 

In dem Wunsch, mir mein Herzrasen nicht allzu deutlich anmerken zu lasen, rutsche ich noch etwas tiefer in meinen Sitz, meide seinen Blick und stehe erst auf, als Mama mich anstößt. Die Augen stur auf den Boden geheftet folge ich ihr nach hinten, wo schon einige Elternpaare versammelt sind, um ihre kleinen Ballerinas nach dem mehr oder weniger erfolgreichen Herumgehüpfe in Empfang zu nehmen.
 

Vicky ist die Vierte, die aus dem Backstagebereich herauskommt. Sobald sie Simon, der, wie ich aus dem Augenwinkel sehen kann, hinter mir steht, bemerkt, fängt sie an, übers ganze Gesicht zu strahlen und stürmt dann geradezu enthusiastisch in unsere – oder vielmehr in seine – Richtung. "Du bist wirklich gekommen!", freut sie sich und kichert, als Simon sie wie gestern wieder mit einer Verbeugung und einem Handkuss begrüßt.
 

"Selbstverständlich", erwidert er danach und lächelt sie an, so dass ich wieder am liebsten schreien würde. "Ein Versprechen, dass ich einer so hübschen jungen Lady gegeben habe, kann ich doch nicht brechen", fährt er fort und bei diesen Worten verzieht Franzi spöttisch das Gesicht, sagt aber nichts weiter dazu und ich beschließe, das ebenso zu ignorieren wie Vicky es tut. Die interessiert sich nämlich im Augenblick nur dafür, wie wir alle – besonders Simon – sie denn nun auf der Bühne fanden.
 

Sobald sie genügend Komplimente für ihr Gezappel eingeheimst hat, geht sie dazu über zu erzählen, was heute um ein Haar mal wieder alles schiefgegangen wäre, und ich schalte auf Durchzug. Es interessiert mich nicht die Bohne, bei wessen Tutu eine Naht geplatzt ist oder wer die falschen Schuhe dabeihatte. Ich will nur noch nach Hause, deshalb tippe ich meine Mutter an und ziehe sie ein Stück beiseite, sobald sie mich fragend ansieht.
 

"Du, Mama, ich fahr schon mal vor nach Hause, okay?", frage ich sie und kann mir nur mit Mühe das Seufzen verkneifen, als sie gleich wieder in den überbesorgte-Glucke-Modus wechselt. Kann sie das nicht mal lassen? Nur weil ich hin und wieder mal eine schlechte Phase habe und allein sein will, heißt das doch nicht automatisch, dass mir meine Gesundheit mal wieder Probleme macht. Kann ich nicht einfach mal mies drauf sein, ohne dass sie mich am liebsten gleich wieder zum Arzt schleppen würde?
 

"Bist Du sicher, dass das eine gute Idee ist, Jan? Willst Du nicht lieber noch warten, bis wir fertig sind, und dann mit uns allen ...", fängt sie auch prompt an und ich schüttele genervt den Kopf. "Mir geht's gut, Mama. Wirklich", unterbreche ich sie, bevor das Ganze hier noch peinlicher für mich wird. "Ich bin nicht krank, ich will einfach nur nach Hause. Das ist alles." Verdammt, ist es denn wirklich so schwer zu verstehen, dass ein sechzehnjähriger Junge nun mal keine besonders große Lust auf den Ballettkram seiner kleinen Schwester hat?
 

"Ich könnte Jan nach Hause bringen, wenn Sie das beruhigt", mischt Simon sich in das Gespräch ein und bei seinen Worten bildet sich ein fetter Kloß in meinem Hals, den ich einfach nicht hinunterschlucken kann. Er will mich nach Hause bringen? Warum das denn? Ich meine, klar, er muss ja eh in die gleiche Richtung, aber ... Verdammt, das würde bedeuten, dass ich mindestens zehn Minuten mit ihm alleine in seinem Auto sitzen würde. Das überleb ich nicht!
 

"Das würden Sie tun? Das wäre wirklich nett von Ihnen. Wir brauchen ja hier noch eine Weile." Mama lächelt erleichtert, als Simon einfach nur nickt. "Ich hab ja sowieso den gleichen Weg", sagt er und als er mich dabei ansieht und ebenfalls kurz lächelt, rutscht mir mein Herz ohne Umweg bis in meine Schuhe durch. Hilfe!
 

"Wenn Ihnen das wirklich keine Umstände macht ...", fängt Mama trotzdem wieder an, aber Simon winkt einfach nur ab. "Ach was. Das ist wirklich kein Problem", versichert er ihr noch mal und sieht mich dann auffordernd an. Ich schlucke hart und mache mich dann schleunigst auf den Weg zur Garderobe. Dabei habe ich das Gefühl, mein ganzer Körper bestünde irgendwie aus Pudding – mal abgesehen von meinen Füßen, die sich anfühlen, als wären sie mit Blei ausgegossen. Ziemlich neben der Spur, ohne wirklich zu wissen warum, lasse ich mir meine Jacke geben und folge Simon dann nach draußen, sobald er seinen Mantel entgegengenommen hat.
 

Schweigend gehen wir nebeneinander her bis zu seinem Auto, steigen ein und schnallen uns an. Sobald er den Wagen startet, schallt mir laute Musik entgegen, die ich nicht kenne, aber bevor ich auch nur ein Wort richtig verstehe, hat Simon sie auch schon so leise gedreht, dass wir uns bequem unterhalten könnten, wenn wir wollten. Allerdings sagt er nichts und auch ich bleibe stumm und starre lieber aus dem Beifahrerfenster in die Dunkelheit. Oder zumindest würde ich das gerne tun, aber stattdessen ertappe ich mich dabei, wie ich Simons Spiegelung in der Scheibe beobachte.
 

"Und? Wie hat's Dir gefallen?", erkundige ich mich schließlich nach ein paar Minuten des Schweigens leise und kann im Fenster sehen, wie ein Grinsen an Simons Mundwinkeln zupft. Einen Augenblick lang scheint er nach den passenden Worten zu suchen, um den heutigen Abend zu beschreiben, aber dann antwortet er mir doch. "Es war ... interessant", umschreibt er das Erlebnis Ballettaufführung dann diplomatisch und mir entkommt ein leises Kichern.
 

"Mit anderen Worten: Eine Wiederholung muss nicht sein, oder?", hake ich nach, obwohl ich mir sicher bin, dass ich die Antwort bereits kenne, und jetzt erlaubt er sich ein richtiges Grinsen. "Nicht unbedingt, nein. Von mir aus darf das gerne eine einmalige Erfahrung bleiben", stimmt er mir zu, bringt mich so zum Lachen und plötzlich ist meine ganze unsinnige Nervosität wie weggeblasen, weil es zwischen uns wieder genauso ist wie gestern Abend in seiner Wohnung.
 

"Ich würd ja auch nur zu gerne darauf verzichten, mir das immer wieder antun zu müssen, aber Vicky würde mich umbringen, wenn ich nicht käme", erzähle ich und Simon nickt schmunzelnd. "Dachte ich mir schon. Du hast auf mich auch nicht unbedingt den Eindruck gemacht, als wärst Du gerne da gewesen oder als würde Dich das alles wirklich interessieren. Genau genommen hast Du ausgesehen, als ob Du lieber ganz woanders gewesen wärst."
 

Bei diesen Worten kriecht mir gleich wieder Röte ins Gesicht. Wenn Simon das gemerkt hat, dann bedeutet das ja wohl, dass er mich zumindest zwischendurch hin und wieder beobachtet haben muss, ohne dass ich das mitgekriegt hab. Heilige Scheiße, wie peinlich ist das denn bitteschön? Wo ist der nächste Strick, mit dem ich mich aufhängen kann?
 

"Ich ... na ja, ich hab auch mehrmals pro Jahr das Vergnügen, mir so was ankucken zu dürfen. Irgendwann wird's langweilig. Sieht ja doch fast immer gleich aus." Wow, ich hab's tatsächlich geschafft, drei ganze Sätze rauszubringen, ohne permanent zu stottern! Ich bin ja so stolz auf mich! Wo bleibt mein Orden dafür? Oder, wenn's keinen Orden gibt, dann will ich wenigstens einen Keks als Belohnung für diese schier unglaubliche Leistung, jawohl!
 

"Mein herzliches Beileid." Simon grinst ganz leicht und als ich ihn ansehe, zwinkert er mir zu und bringt meinen Blutkreislauf damit wieder vollkommen durcheinander. Davon bemerkt er allerdings scheinbar nichts, denn er spricht gleich weiter. "Das klingt nicht unbedingt nach Spaß", vermutet er und ich kann meinen Kopf mit größter Willensanstrengung tatsächlich zu einem Nicken bewegen.
 

"Ist es auch nicht", nuschele ich und rutsche etwas tiefer in den Sitz. Für ein paar Minuten versinken wir beide in Schweigen, aber als unser Haus und der Parkplatz schon in Sichtweite sind, findet Simon seine Sprache doch noch wieder. "Hast Du eigentlich morgen schon was vor?", fragt er mich, während er auf den Parkplatz einbiegt, und ich kann ihn nur aus großen Augen anstarren. Hat er mich gerade wirklich gefragt, ob ich morgen schon was vorhabe, oder halluziniere ich vielleicht?
 

"Ähm ... Wie ... Wieso?", bringe ich heraus und er dreht sich halb zu mir um, nachdem er den Motor ausgemacht hat. In der Dunkelheit, die sich daraufhin über das Innere des Wagens legt, wirkt das Leuchten seiner weißen Kontaktlinsen ziemlich gespenstisch und ich schlucke hart, während mir gleichzeitig wieder eine Gänsehaut über den ganzen Körper kriecht. Irgendwie ist die Stimmung zwischen uns mit einem Mal total seltsam. Oder bin das nur ich, der gerade komisch ist?
 

"Weil ich Dir gerne etwas zeigen würde", beantwortet Simon meine Frage und obwohl ich ihn nur sehr undeutlich sehen kann, bin ich mir ziemlich sicher, das er lächelt. Seine Stimme klingt jedenfalls so. "Natürlich nur, wenn Du Zeit und Lust hast", schiebt er noch hinterher, als ich nichts sage, und nach einer gefühlten Ewigkeit schaffe ich es schließlich doch noch zu nicken.
 

"Und was willst Du mir zeigen?", frage ich, nachdem ich mich kurz geräuspert und mich innerlich für meine plötzlich wieder aufkeimende und eigentlich total unangebrachte Nervosität verflucht habe. Darauf bekomme ich jedoch keine Antwort. Stattdessen schnallt Simon sich ab, öffnet die Fahrertür und steigt aus, wartet aber neben dem Wagen auf mich. Ich verknote mich beinahe bei dem Versuch, mich von meinem Anschnallgurt zu befreien, und stolpere mehr aus dem Auto, als dass ich aussteige. Glücklicherweise kann ich wenigstens noch verhindern, dass ich mich äußerst unelegant der Länge nach auf die Fresse lege.
 

"Das ist eine Überraschung." Hier draußen, wo es zumindest ein bisschen heller ist als im Wageninneren, kann ich deutlich sehen, dass Simon grinst. "Wäre Dir fünf Uhr recht?", erkundigt er sich dann und ich nicke mechanisch. Irgendwie könnte ich jetzt nicht einmal dann Nein sagen, wenn ich es wirklich wollte – was ich, nebenbei bemerkt, auch gar nicht will. Nein, jetzt bin ich neugierig und will auf jeden Fall wissen, was Simon mir so unbedingt zeigen will.
 

"Fünf Uhr ist okay", teile ich ihm deshalb leise mit und folge ihm langsam, als er mit einem deutlich zufriedenen Gesichtsausdruck zur Haustür schlendert, um diese aufzuschließen. "Gut, dann hole ich Dich morgen um fünf ab. Schlaf gut, Jan", verabschiedet er sich vor unserer Wohnungstür und ich starre ihm unwillkürlich nach, als er die Treppen zu seiner eigenen Wohnung hinaufgeht.
 

Erst als ich seine Tür zuschlagen höre, komme ich wieder in der Realität an und schüttele erst mal über mich selbst und mein schwachsinniges Verhalten den Kopf. Dann schließe ich die Tür auf, schlurfe durch bis in mein Zimmer und lasse mich da aufs Bett fallen, um die Zimmerdecke anzustarren und mir das, was Simon gerade gesagt hat, noch mal durch den Kopf gehen zu lassen. Dabei bemerke ich nur am Rande, dass ich die Decke angrinse.
 

Irgendwie, ich weiß nicht warum, freue ich mich unheimlich darauf, mich morgen mit ihm zu treffen. Ich habe zwar nicht die geringste Ahnung, was er mir so unbedingt zeigen will, aber das ist eigentlich auch nebensächlich. Ich frage mich zwar schon, warum er sich ausgerechnet mit mir treffen will – und ich bin zugegebenermaßen auch tierisch gespannt, von was für einer Überraschung er gesprochen hat –, aber ich bin viel zu neugierig, um jetzt noch abzusagen. Wie würde es auch aussehen, wenn ich jetzt noch einen Rückzieher mache und kneife, nachdem ich gerade schon zugesagt habe?
 

Erst das Piepsen meines Handys reißt mich wieder aus meinen Gedanken und holt mich in die Realität zurück. Ich hangele nach dem Teil, das ich peinlicherweise vor Vickys Aufführung hier in meinem Zimmer vergessen habe, und stelle mit einem Blick auf das Display fest, dass ich zwei SMS erhalten habe. Stirnrunzelnd öffne ich erst die erste und als ich sie lese, klatsche ich meinen Kopf mental gegen meine Zimmerwand. Scheiße, ich hatte ja total vergessen, dass ich morgen eigentlich mit Jassi verabredet war!
 

››Hey, Kleiner. Was ist jetzt mit morgen?‹‹, will er von mir wissen und in meinem Hals bildet sich ein dicker Kloß. Was mache ich denn jetzt? Ich habe Jassi seit den Herbstferien nicht mehr gesehen, weil er mit seiner Ausbildung so viel zu tun hat, dass er nach Feierabend einfach zu müde für ein Treffen ist. Dieses Wochenende ist die erste Gelegenheit seit langem, ihn wiederzusehen, ich freue mich eigentlich schon seit Tagen darauf und vergesse das trotzdem total, nur weil Simon mich gefragt hat, ob ich morgen Zeit für ihn habe. Was bin ich denn bitteschön für ein bester Freund?
 

Mit mir selbst darüber debattierend, wie ich dieses Dilemma lösen kann, ohne irgendjemanden vor den Kopf zu stoßen, öffne ich auch noch die zweite SMS, die ebenfalls von Jassi ist. Sobald ich sie allerdings gelesen habe, kann ich mir ein erleichtertes Aufatmen nicht verkneifen. ››Hey, Kleiner. Sorry, aber morgen doch klappt nicht. Muss arbeiten. Hätte aber Sonntag Zeit. Sei nicht böse, ja?‹‹, schreibt er und ich verspüre kurzzeitig den Drang, mein Handy – oder wahlweise auch Jassi selbst – zu knutschen. Da hat sich mein Problem ja glatt von selbst erledigt!
 

Mehr als gut gelaunt deswegen mache ich mich sofort daran, eine Antwort für ihn zu tippen. ››Kein Thema, Großer. Morgen wär eh schlecht gewesen. Treff mich nämlich mit einem Freund. Passt also schon. Komm dann am Sonntag zu Dir.‹‹ Zufrieden schicke ich die Nachricht ab, lege mein Handy wieder beiseite und kraule Slim, der sich während meiner Abwesenheit mal wieder in meinem Zimmer breitgemacht hat, hinter den Ohren. Das lässt er sich genüsslich schnurrend gefallen und als er seinen Kopf an meinem Kinn reibt, kann ich nicht anders als zu schmunzeln.
 

Manchmal, geht es mir durch den Kopf, während ich mich von Franzis blödem Kater vollhaaren lasse, ist mein Leben ja doch ganz nett zu mir und sorgt dafür, dass sich zumindest ein paar von meinen kleineren Problemen von selbst lösen. Die Frage, warum ich Simon in meiner SMS an Jassi allerdings als einen Freund betitelt habe, schiebe ich ganz weit nach hinten in mein Bewusstsein. Damit kann ich mich auch später noch beschäftigen. Oder morgen. Oder irgendwann. Oder auch gar nicht. Ist ja eigentlich auch völlig egal, oder nicht?
 

~*~
 

*Janni pat*

Hach, ich hab den Kleinen ja soooo lieb!

*ihn knuddel*
 

Bis zum nächsten Mal!
 

Karma

Von Türmen, Aussichten und gelüfteten Geheimnissen

So, und hier ist auch das nächste Kapitelchen.

^_____^

Ihr glaubt gar nicht, was es für einen Spaß gemacht hat, das hier zu schreiben.

*kicher*

Janni ist so toll - und so ... dumm.

*ihn puschel*
 

@Inan: Lange Leitung ist für Janni sogar noch untertrieben.

*lach*

Wie Schwarzfeder so schön sagte, steht der wirklich stoßfest und mit Pattex festgeklebt drauf und denkt nicht daran, sich da runter zu bewegen. Aber keine Sorge, er wird bald begreifen, was mit ihm los ist.

*hust*nächstesKapitel*hust*

XD
 

@Schwarzfeder: Haaaaach, wieder so schön lang!

*im Kreis hüpf*

*mit Blätterkonfetti werf*

Ich freu mir jedes Mal einen Keks, wenn ich sehe, dass Du gekommit hast.

*____*

Jannis Verpeiltheit wird übrigens gegen Ende dieses Kapitels noch mal äusserst glorreich bewiesen. Und im nächsten Kapitel - in dem Jassi endlich seinen großen Auftritt hat - wird sogar das noch mal getoppt.

*kicher*

Was Simon übrigens mit Janni vorhat, wird jetzt hier geklärt.

*auf Kapiteltitel deut*

Und irgendwie, ich weiß gar nicht warum, bin ich mir ziemlich sicher, dass Du es mögen wirst.

*grins*
 

@all: Wer von euch neugierig auf Simons Augenfarbe war, wird in diesem Kapitel endlich von der Spannung erlöst.

*hrrhrrhrr*
 

Enjoy!
 

Karma
 

~*~
 

Der Samstag ist für mich der pure Horror. Obwohl ich vor lauter Aufregung mal wieder fast die ganze Nacht nicht geschlafen habe, bin ich trotzdem noch vor neun Uhr zumindest geistig so wach, dass ich einfach nicht länger liegen bleiben kann. Ganz entgegen meiner sonstigen Gewohnheit – ich gehöre am Wochenende eigentlich grundsätzlich zur Ausschlaf-Fraktion – springe ich geradezu aus dem Bett, sause ins Bad und bin keine zehn Minuten später auch schon in der Küche, um meiner völlig verdutzten Mutter anzubieten, dass ich ja heute Morgen mal zum Bäcker latschen kann, um die Brötchen fürs Frühstück zu besorgen.
 

Ihrem Gesichtsausdruck zufolge glaubt Mama, dass ich entweder über Nacht krank oder verrückt geworden bin, aber sie gibt mir trotzdem Geld und damit bewaffnet mache ich mich auch gleich auf den Weg zum Bäcker. Dabei bemühe ich mich, weder zum Parkplatz am Haus noch zu den Fenstern im ersten Stock zu schielen, aber das gelingt mir nur auf dem Hinweg. Auf dem Rückweg ertappe ich mich selbst doch beim Starren, werde wieder mal rot und beeile mich dann, in unsere Wohnung zu kommen.
 

Die Brötchen liefere ich in der Küche ab, sage meiner Mutter Bescheid, dass ich sie nach dem Frühstück zum Einkaufen begleite, und sprinte dann hektisch weiter zu Vickys Zimmer, um sie zum Frühstück zu wecken, bevor Mama noch auf die Idee kommt, mich nach dem Grund für meine seltsamen Stimmungsschwankungen zu fragen. Ich könnte ihr das sowieso nicht erklären – jedenfalls nicht, ohne ihr Sachen zu verraten, die sie nicht unbedingt wissen muss. Immerhin geht es sie ja wohl nicht wirklich etwas an, mit wem ich mich am Wochenende treffe, oder? Ist doch meine Sache, ob ich den Samstag nun mit Jassi oder mit Simon verbringe. Obwohl sie es bestimmt nicht schlimm fände, wenn sie wüsste, dass ich heute mit Simon verabredet bin. Immerhin mag sie ihn ja schließlich sehr. Hat man ja gestern Abend gesehen. Trotzdem will ich nicht, dass sie es weiß. Und Vicky und Franzi müssen es auch nicht wissen. Das ist ganz allein meine Sache.
 

Den Kopf über diese Gedanken schüttelnd öffne ich leise die Tür zu Vickys Zimmer, schleiche zu ihrem Bett und schüttele sie ein wenig, bis sie aufwacht. Irritiert blinzelnd sieht sie mich an, gähnt erst einmal herzhaft und runzelt dann die Stirn. Offenbar hat sie erkannt, dass ich keine Einbildung bin, sondern tatsächlich hier neben ihrem Bett stehe. Hundert Gummipunkte für meine kleine Schwester und ihre grandiose Auffassungsgabe am frühen Morgen.
 

"Du bist heute aber früh auf, Janni", stellt sie verwundert fest und ich nicke vielleicht eine Spur zu hektisch, wie ihr Blick mir klarmacht. Allerdings kann ich daran jetzt nichts mehr ändern, also versuche ich das auch gar nicht erst. Ist ja eh zu spät. "Jaja, was auch immer. Komm frühstücken, ich hab Brötchen geholt", teile ich ihr mit und ihre Augen werden riesengroß.
 

"Du? Bist Du krank, Janni? Oder bist Du einfach nur aus dem Bett gefallen?", will sie neugierig wissen, aber ich gebe ihr keine Antwort auf ihre Frage, sondern strecke ihr einfach nur meine Hand hin und ziehe sie dann hoch, sobald sie danach gegriffen hat. "Soll ich Dir nen Kakao machen?", biete ich ihr dabei an in dem Versuch, sie von weiterem Nachfragen über mein frühes Wachsein abzuhalten.
 

Erstaunlicherweise scheint das sogar zu funktionieren, denn Vicky fängt gleich an zu strahlen und nickt dabei so enthusiastisch, dass ich für einen Moment fast befürchte, dass ihr der Kopf abfällt. Allerdings passiert das glücklicherweise nicht. Sähe auch sicher komisch aus so ohne Kopf, meine kleine Schwester. Urgs, nein, das möchte ich mir lieber gar nicht erst vorstellen. Ist ja widerlich!
 

"Au ja!", reißt Vickys Stimme mich aus meinen zugegebenermaßen ziemlich ekligen Gedanken und im nächsten Moment hängt sie auch schon an meinem Arm und schleift mich in die Küche. Weder sie noch ich machen uns die Mühe, Franzi ebenfalls zu wecken, aber scheinbar reicht der Lärm, den wir auf dem Weg durch den Flur veranstalten, dafür auch vollkommen aus. Jedenfalls erscheint Franzi verschlafen und total zerzaust in der Küche, als ich gerade die Tassen mit Milch für Vicky und mich in die Mikrowelle stellen will.
 

Ich lasse mich vom Auftauchen meiner großen Schwester allerdings nicht aus der Ruhe bringen. Im Moment ist mein Gehirn auch mit anderen Dingen beschäftigt als mit dem Streit, den Franzi und ich immer noch haben. Heute könnte mir ehrlich gesagt kaum etwas gleichgültiger sein als Franzi. Ich bin viel zu hibbelig, um überhaupt darauf zu achten, was sie sagt oder tut. Ich frage mich nämlich schon seit dem Aufstehen – oder genauer gesagt seit gestern Abend, wenn ich ehrlich bin –, was Simon nachher wohl genau mit mir vorhat. Und warum in aller Welt rast mein Herz schon wieder so, wenn ich auch nur daran denke, dass er mich heute Nachmittag abholen will?
 

"Das ist doch total bescheuert!", bescheinige ich mir selbst nuschelnd und zucke erschrocken zusammen, als Vicky urplötzlich am Ärmel meines Pullis zuppelt. "Was ist bescheuert, Janni?", will sie neugierig wissen und ich drehe mich schnell wieder zur Mikrowelle um, damit sie nicht sieht, dass ich rot werde, weil ich mich ertappt fühle. "Nichts. Nicht so wichtig", wiegele ich ab und drücke ihr ihre Tasse in die Hand in der Hoffnung, dass sie mich dann in Ruhe lässt.
 

"Du hast versprochen, dass Du mir den Kakao machst", schmollt sie, zieht einen Flunsch und ich gebe mich seufzend geschlagen, nehme ihr die Tasse wieder ab und streue Kakaopulver und Vanillezucker hinein. Dann rühre ich kurz um, stelle die Tasse an ihren Platz am Tisch und widme mich danach erst mal meinem eigenen Kakao, den ich ebenso hochkonzentriert zubereite wie Vickys – hauptsächlich, damit sie mich nicht doch noch mit irgendwelchen Fragen löchert, die ich nicht beantworten kann und will. Ich sollte echt aufhören, meine Gedanken immer laut auszusprechen. Das kann nur peinlich für mich werden.
 

Den Kopf schüttelnd, um diese Gedanken zu vertreiben, setze ich mich mit meiner Tasse an den Tisch, schnappe mir ein Brötchen und fange an zu essen, während Vicky munter auf mich einplappert. Zeitgleich streicht Slim mir maunzend um die Beine und ich frage mich, was das dumme Vieh jetzt schon wieder von mir will. Franzi sitzt auf der anderen Seite des Tisches, also warum geht diese dämliche Katze mir auf die Nerven und nicht meiner blöden Schwester? Checkt dieses wandelnde Fellknäuel eigentlich nicht, dass ich ihn nicht mag? Oder kommt der gerade deshalb immer zu mir, weil er weiß, dass er mir damit auf den Senkel geht? Ich verstehe dieses hohle Vieh einfach nicht.
 

Über das dumme Katzenvieh nachgrübelnd und Vickys Gelaber ignorierend verdrücke ich mein Brötchen und helfe meiner Mutter danach dabei, den Tisch abzuräumen und das benutzte Geschirr in die Spülmaschine zu stellen. Dafür lächelt sie mich dankbar an und ich sehe aus dem Augenwinkel, wie Franzi, die gerade wieder in ihr Zimmer gehen will, genervt die Augen verdreht.
 

"Ich treffe mich gleich mit Kirsten", teilt sie uns mit und Mama nickt. "Nimmst Du mich mit? Ich wollte zu Jenny", mischt Vicky sich ein und saust zum Anziehen davon, nachdem Franzi sich einverstanden erklärt hat. Kaum zwanzig Minuten später sind meine Schwestern auch schon verschwunden und während Mama noch mal die Schränke überprüft um zu checken, was wir alles heute unbedingt brauchen, hibbele ich unruhig auf meinem Stuhl herum. Kann sie sich nicht mal ein bisschen beeilen, verdammt? Sonst ist sie doch auch nicht so lahmarschig, also warum dauert das ausgerechnet heute so lange?
 

"So, wir können", gibt sie nach einer halben Ewigkeit doch endlich das Kommando zum Aufbruch und ich springe förmlich von meinem Platz auf, stürme in den Flur und bin in weniger als einer Minute vollkommen angezogen und startbereit. Dieser Enthusiasmus, den ich zugegebenermaßen nicht oft an den Tag lege, bringt mir einen fragenden Blick ein, aber Mama sagt nichts dazu, sondern folgt mir einfach nur, als ich schon mal zu ihrem Wagen vorrenne. Wahrscheinlich ist sie froh, dass sie gleich nicht alles alleine schleppen muss, und geht deshalb nicht auf mein komisches Verhalten ein.
 

Den Wocheneinkauf bringen Mama und ich schneller hinter uns, als mir lieb ist. Normalerweise bin ich, wenn ich überhaupt mal mitgehe, immer froh, wenn ich schnell wieder zu Hause bin, aber heute ist das anders. Sobald wir die ganzen Einkäufe in die Wohnung gebracht und in den Schränken verstaut haben, werfe ich einen Blick auf die Küchenuhr und stöhne genervt. Erst halb zwölf! Das heißt, ich muss noch fünfeinhalb Stunden warten, bis ich endlich erfahre, was genau Simon denn heute mit mir vorhat. Das ist doch scheiße, verdammt!
 

Aus lauter Frust und in dem verzweifelten Versuch, die Zeit bis fünf Uhr irgendwie totzuschlagen, verkrieche ich mich in meinem Zimmer und fange an, Ordnung zu schaffen – was eigentlich total überflüssig ist, weil ich ein ziemlich ordentlicher Mensch bin und mein selbst verursachtes Chaos mich spätestens nach zwei Tagen so ankotzt, dass ich es beseitige.
 

Aus diesem Grund hält mich meine Möchtegern-Aufräumaktion auch gerade mal eine knappe Stunde beschäftigt. Um halb eins lasse ich mich abgrundtief seufzend auf den Teppich vor meinem Bett fallen und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. Immer noch viereinhalb Stunden, die ich rumkriegen muss, und außer ein paar Mathehausaufgaben hab ich nichts mehr zu tun, also rappele ich mich wenig begeistert auf, krame meine Mathesachen aus meinem Rucksack und breite mich dann auf meinem Zimmerboden aus.
 

Allerdings lässt meine Konzentration von Anfang an stark zu wünschen übrig und als Slim mich irgendwann mit einem Trampolin verwechselt und mir voller Begeisterung auf den Rücken springt, um an meinen Haaren herumzukauen, gebe ich den Hausaufgabenquatsch ganz auf und widme mich stattdessen der dummen Katze. Mit Slim zu spielen und zu schmusen lenkt mich wenigstens ein bisschen ab, aber so ganz werde ich den Gedanken an die Überraschung, von der Simon gestern gesprochen hat, trotzdem nicht los. Immer wieder ertappe ich mich dabei, auf die Uhr zu schielen, und bin regelrecht froh, dass Slim mich immer wieder mit den Pfoten anstupst oder mich durch sein Maunzen von meinem planlosen und peinlichen Gestarre ablenkt.
 

"Ich hasse Überraschungen!", teile ich dem Kater irgendwann um kurz nach zwei – ja, verdammt, ich spinkse immer wieder zu meiner Uhr, aber dafür kann ich nichts, ehrlich! – mit, woraufhin er den Kopf schief legt und mich anmaunzt. Dabei klingt er fast schon fragend und ich seufze abgrundtief, bevor ich mich im Schneidersitz auf mein Bett hocke und auffordernd auf die Decke neben mich klopfe. Slim nimmt die Einladung natürlich sofort an, aber anstatt sich neben mich zu setzen, klettert er auf meinen Schoß, rollt sich dort zusammen und sieht mich dann von unten herauf abwartend an. Wahrscheinlich will er einfach nur weiterhin gekrault werden, aber ich beschließe, dass ich ihn zusätzlich auch ruhig damit zutexten kann, was mich gerade so beschäftigt. Immerhin ist er schließlich nur ein dummer Kater und kann nichts von dem weitertratschen, was ich ihm erzähle. Außerdem spricht von uns eh niemand die Katzensprache, also sollte das kein Problem sein.
 

"Du kennst doch Simon, oder?", frage ich das schwarze Fellbündel auf meinem Schoß und nehme sein zufriedenes Schnurren, das zeitgleich mit meinem Kraulen hinter seinen Ohren einsetzt, einfach als Zustimmung. "Ich bin heute mit ihm verabredet. Er hat gestern gesagt, er will mir was zeigen, aber er wollte mir nicht verraten, was das ist. Er meinte, das wär eine Überraschung, und das treibt mich in den Wahnsinn, verstehst Du das?"
 

Slim schnurrt einfach nur weiter, aber das ist mir egal. Wenigstens hab ich jemanden zum Reden, der mich hinterher nicht damit aufziehen kann. "Ich hasse es, nicht zu wissen, was mich erwartet. Aber noch mehr hasse ich es, dass ich noch fast drei verdammte Stunden warten muss bis fünf!", murre ich, muss jedoch gleich darauf lächeln, als Slim aufsteht und sich beinahe schon tröstend an mich schmiegt. Dabei sieht er mich an, als würde er sagen wollen, dass er mich versteht und dass das alles ja eigentlich gar nicht so schlimm ist.
 

"Weißt Du, eigentlich bist Du gar kein so blödes Mistvieh – auch wenn Du mich ständig ärgerst und mir auf die Nerven gehst", informiere ich die Katze und schüttele über mich selbst grinsend den Kopf. Mache ich hier gerade tatsächlich dem dummem Kater meiner noch dümmeren großen Schwester Komplimente? Okay, ich bin eindeutig reif für die Klapse. Zu wenig Schlaf bekommt mir einfach nicht. Davon krieg ich nur seltsame Anwandlungen von Nettigkeit gegenüber Franzis Katze from hell. Aber ich schätze, es gibt Schlimmeres als das. Wenigstens lasse ich meine Nettigkeit nur Slim zukommen und nicht seiner Besitzerin. Das wär ja noch schöner!
 

Ein Klopfen an meiner Zimmertür lässt Slim und mich gleichermaßen zusammenfahren. "Ja?", piepse ich erschrocken und im nächsten Moment steckt meine Mutter, deren Anwesenheit hier in der Wohnung ich bis eben vollkommen vergessen hatte – hoffentlich hat sie nichts von dem gehört, was ich Slim gerade erzählt hab! –, ihren Kopf in mein Zimmer. "Ich wollte Dir nur Bescheid sagen, dass ich gleich zu Heike fahre. Du bist doch nachher auch weg, oder?", fragt sie und ich nicke einfach nur, woraufhin sie erleichtert lächelt. Okay, offenbar hat sie nichts gehört. Zum Glück!
 

"Grüß Jasper und seine Eltern, ja?", bittet sie und ich nicke erneut, verkneife es mir aber, sie darauf hinzuweisen, dass ich erst morgen und nicht heute schon zu Jassi gehe. "Bis später, Mama", verabschiede ich mich stattdessen von ihr und bin nach einem letzten Lächeln ihrerseits nur zwei Minuten später mit Slim alleine in der Wohnung. Mein Herz klopft mir bis zum Hals und ich stürze mich schon beinahe auf den dummen Kater, um mich abzulenken.
 

Das funktioniert so gut, dass ich um halb fünf, als mein Handy wie verrückt zu piepsen beginnt – ich hab mir heute Morgen sicherheitshalber den Wecker gestellt –, fast einen Herzinfarkt bekomme und Slim dadurch, dass ich vor Schreck vom Bett falle, auch halb zu Tode erschrecke. "Scheiße!", fluche ich, rappele mich wieder auf und reibe mir meinen schmerzenden Kopf. Ich bin doch echt ein Trottel, wie er im Buche steht. Wie kann man nur ungestraft so schusselig und dämlich sein?
 

Da ich im Augenblick allerdings keine Zeit habe, mich mit dieser Frage zu beschäftigen, verbanne ich sie aus meinem Kopf und reiße stattdessen meinen Kleiderschrank auf, um hektisch darin herumzukramen. Verdammt, warum fällt mir eigentlich erst jetzt ein, dass ich mir noch gar keine Gedanken darüber gemacht hab, was ich heute anziehen soll? Ich bin doch echt zu blöd!
 

Nach ein paar Minuten exzessiven Kramens habe ich schließlich etwas gefunden, das mir für den heutigen Nachmittag angemessen erscheint. Nachdem ich mich in die schwarze Jeans und den ebenfalls schwarzen Kapuzenpulli gezwängt habe, sprinte ich ins Bad, um in Rekordgeschwindigkeit meine Haare in Ordnung zu bringen. Danach sause ich gleich weiter in den Flur, um da hastig in meine Schuhe und meine Jacke zu schlüpfen. Ich will Simon nämlich nicht unnötig warten lassen, wenn er gleich auftaucht. Das wäre schließlich unhöflich.
 

Gerade als ich mit allem fertig bin und noch mal in die Küche tigere, um da einen Blick auf die Uhr zu werfen, klingelt es auch schon und ich bin in weniger als drei Sekunden – meine neue persönliche Bestzeit; Mann, was bin ich heute gut! – an der Tür, reiße sie auf und starre mit rasendem Herzen und hochrotem Kopf in Simons Gesicht, das erst Überraschung und dann Amüsement – natürlich mal wieder auf meine Kosten, aber was soll's? – erkennen lässt.
 

"Du bist schon fertig?", fragt er und schmunzelt, als ich sofort hektisch nicke. "Gut, dann können wir ja los, oder?" Er sieht mich auffordernd an und ich schiebe noch eben Slim zurück in die Wohnung und ziehe dann schnell die Tür hinter mir zu, damit dieses blöde Katzenvieh nicht doch noch abhaut. "Wir können", teile ich Simon danach überflüssigerweise mit und aus seinem Schmunzeln wird ein Grinsen.
 

"Du gehörst wohl auch zu den Leuten, die Überraschungen nicht mögen, was?", erkundigt er sich und ich werde gleich noch einen ganzen Tacken röter, weil ich mich ertappt fühle. Trotzdem nicke ich, denn es ist ja wohl so offensichtlich, dass es nur noch peinlicher werden würde, wenn ich jetzt lüge und behaupte, dass das nicht stimmt.
 

"Dann will ich Dich mal nicht länger auf die Folter spannen. Komm", fordert Simon mich auf und ich latsche ihm brav hinterher, steige auf der Beifahrerseite in seinen Wagen und sehe ihn dann neugierig an, sobald ich mich angeschnallt habe. "Und was wolltest Du mir jetzt zeigen?", will ich wissen, aber er schmunzelt nur und schüttelt dann den Kopf.
 

"Ganz so leicht mach ich's Dir dann doch noch nicht. Du wirst Dich noch ein bisschen gedulden müssen", murmelt er und ich ziehe einen beleidigten Flunsch, der, wie ich mit einem raschen, entsetzten Blick in den Seitenspiegel erkennen kann, Vickys Schmollschnute in nichts nachsteht. Scheint, als könnte ich meine Verwandtschaft zu ihr definitiv nicht leugnen. Dreck.
 

"Das ist fies!", schmolle ich Simon trotzdem an, doch er lacht einfach nur und startet dann seinen Wagen. Ich verschränke die Arme vor der Brust und starre aus dem Fenster, um vielleicht wenigstens zu erahnen, wohin wir fahren, aber spätestens nach der dritten Kurve bin ich so verwirrt, dass ich mein Schmollen aufgebe und immer wieder zu Simon hinüberschiele. Auf seinen Lippen liegt die ganze Zeit über ein leichtes Lächeln und ich bin davon so abgelenkt, dass mir erst an der nächsten Ampel, als er sich in der Rotphase halb zu mir umdreht, auffällt, dass er heute wieder die gleichen gelben Kontaktlinsen trägt wie bei unserer ersten Begegnung vor fast einer Woche.
 

"Ich hab Ruben übrigens wirklich nicht nach Deiner Augenfarbe gefragt", liegt mir auf der Zunge, aber ich spreche den Satz nicht laut aus, sondern schlucke ihn ungesagt wieder herunter, drehe meinen Kopf zur Seite und schaue aus dem Beifahrerfenster, als der Wagen wieder anfährt. Wie lange wir noch unterwegs sind, weiß ich nicht, weil ich nicht auf die Uhr schaue. Irgendwann macht Simon leise Musik an und meine Augen fallen fast wie von selbst immer wieder zu. Ich kenne zwar keinen der Songs, aber irgendwie klingen sie für mein müdes Hirn nicht schlecht.
 

Irgendwann muss ich wohl tatsächlich eingeschlafen sein, denn ich wache davon auf, dass die Musik ausgeht und der Wagen zum Stehen kommt. Etwas desorientiert blinzele ich, um die Müdigkeit zu vertreiben, und sehe mich dann neugierig um, aber außer einem Parkplatz, der von tonnenweise Bäumen umgeben ist, kann ich nichts erkennen, das mir in irgendeiner Form bekannt vorkommt. Hier bin ich ganz sicher noch nie gewesen, aber da es noch einigermaßen hell ist, können wir nicht allzu weit gefahren sein.
 

"Na, wieder aufgewacht?", reißt Simons Stimme mich aus meinen Grübeleien und ich nicke einfach nur. Selbst zum Zusammenzucken bin ich gerade noch viel zu müde, also schnalle ich mich einfach nur kommentarlos ab, steige aus und warte darauf, dass Simon es mir gleichtut. Sobald er ebenfalls ausgestiegen ist, lege ich den Kopf schief und sehe ihn fragend an. "Wo sind wir hier?", will ich von ihm wissen, aber er schmunzelt nur. "Auf einem Parkplatz", antwortet er und ich sehe ihn böse an, doch das reizt ihn nur zum Grinsen, mehr nicht. Super, echt. Schon wieder hab ich mich zum Affen gemacht.
 

"Für Deine Überraschung müssen wir noch ein kleines Stückchen laufen", erklärt er mir großzügigerweise, nachdem er sich genug auf meine Kosten amüsiert hat, und ich überlege kurzzeitig, mich zu weigern, trotte mangels Alternative – ich ja kann schlecht hier stehen bleiben, bis er wieder auftaucht – aber schließlich doch hinter ihm her, als er sich in Bewegung setzt.
 

"Keine Sorge, es ist nicht weit. Fünfhundert Meter vielleicht, mehr nicht", beruhigt er mich, sobald ich zu ihm aufgeschlossen habe, und ich sehe ihn von der Seite her an. So langsam macht es mich wieder wahnsinnig, dass ich nicht weiß, wie diese Überraschung, die er mir versprochen hat, aussieht. Da ich mir aber ziemlich sicher bin, dass ich auch mit Nerven und Quengeln nichts aus ihm herauskriegen würde – ganz davon abgesehen, dass ich mich damit wohl endgültig total zum Horst machen würde –, lasse ich das und konzentriere mich einfach nur schweigend auf den Weg, den Simon eingeschlagen hat.
 

"Ich war schon lange nicht mehr hier", murmelt er irgendwann leise und ich werfe ihm einen weiteren Seitenblick zu, sage aber nichts. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass er gerade mehr mit sich selbst spricht als mit mir und dass seine Worte gar nicht für meine Ohren bestimmt waren. Anscheinend bin ich nicht der Einzige, der manchmal dazu neigt, seine Gedanken laut auszusprechen. Aber seine sind offenbar wesentlich weniger peinlich als meine.
 

"So, da wären wir", holt Simon mich ein paar Minuten später wieder aus meinen Grübeleien und schmunzelt, als ich nur mit Mühe und Not verhindern kann, dass ich ungebremst in ihn hineinstolpere. Sofort werde ich wieder rot, aber die Farbe verschwindet ebenso schnell wieder aus meinem Gesicht, wie sie gekommen ist, als ich bemerke, wo wir sind. Ich war hier zwar noch nie, aber allein der Anblick des Turms, der vor uns bestimmt zwanzig oder noch mehr Meter in den ganz allmählich dunkler werdenden Spätnachmittagshimmel ragt, reicht vollkommen aus, um mein Herz in die Hose sacken und sämtliche Farbe aus meinem Gesicht weichen zu lassen. Heilige Scheiße, hat er wirklich das vor, was ich glaube, das er vorhat? Bitte nicht! Er will doch hoffentlich nicht ...
 

Scheinbar will er doch, stelle ich entsetzt fest, als Simon seine Schritte tatsächlich auf den Turm zu lenkt. "Kommst Du?", fragt er mich über die Schulter hinweg, bleibt stehen und dreht sich zu mir um, als ich einfach nur panisch den Kopf schüttele, mich ansonsten aber nicht von der Stelle bewege. "Auf keinen Fall! Ich kann da nicht rauf!", krächze ich. "Ich bin doch nicht lebensmüde!"
 

Ohne ein Wort zu sagen kommt Simon daraufhin wieder zu mir zurück und ehe ich mich versehe, legt er seinen Arm um meine Schultern und zieht mich etwas näher zu sich, macht aber keine Anstalten, mich gewaltsam mitschleifen zu wollen. Stattdessen sieht er mich einfach nur an und lächelt, aber nicht so, als würde er sich über mich und meine Höhenangst lustig machen, sondern eher so, als wollte er mich ermutigen, doch noch mitzugehen. Durch seine Nähe und seine Berührung kribbelt alles in mir und mein Herz beginnt wieder mal zu rasen, aber ich habe keine Zeit, diese Gefühle zu analysieren, weil er gleich weiterspricht.
 

"Komm, so schlimm wird es schon nicht werden. Die Mauern da oben sind so hoch, dass Du nicht versehentlich runterfallen kannst. Und außerdem bin ich ja auch noch da. Ich pass schon auf Dich auf, Jan. Dir passiert nichts", versucht er, mich zu überreden. Ich würde gerne ein weiteres Mal den Kopf schütteln, mich einfach losreißen und zurück zu seinem Auto stapfen, aber ich fürchte, ich würde den Weg nicht finden. Und in dem Moment, in dem Simon "Vertrau mir, okay?" sagt – was ich, nebenbei bemerkt, echt unfair von ihm finde; wie soll ich denn da konsequent bei meiner Weigerung bleiben? –, setzen sich meine Füße gegen den ausdrücklichen Befehl meines Hirns doch tatsächlich in Bewegung.
 

Ich mache ein paar zögerliche Schritte auf den Turm zu und kann aus dem Augenwinkel sehen, wie Simon wieder lächelt. Seltsamerweise beruhigt mich das ein bisschen und als er mir die dicke Holztür aufhält, nehme ich all meinen Mut zusammen und trete über die Türschwelle in das schummrige Halbdunkel des Turms hinein. Die Wände sind, wie ich feststelle, aus dickem grauen Stein und die ziemlich ausgelatscht aussehende Treppe aus dunklem Holz knarrt zwar leise, als ich auf die erste Stufe trete, erweist sich ansonsten aber als vollkommen sicher.
 

Trotzdem noch immer äußerst vorsichtig taste ich nach dem Geländer und mache mich langsam an den Aufstieg. Dabei klopft mir mein Herz zum Zerspringen, aber wann immer ich aus dem Augenwinkel einen Blick auf Simon, der nur ein paar Stufen hinter mir geht, erhasche, fühle ich mich zumindest ein ganz kleines bisschen weniger ängstlich. Am liebsten wäre es mir zwar immer noch, wenn ich gar nicht erst hier wäre, aber bis jetzt ist es eigentlich noch ganz erträglich. Allerdings graut es mir schon vor dem Moment, in dem wir das Dach erreichen und ich da raus muss.
 

Der Moment, vor dem ich innerlich so zittere, kommt zu meinem Leidwesen sehr viel schneller, als mir lieb ist. Sobald ich die oberste Etage erreicht hab, starre ich die Tür, die mich noch von meinem Alptraum trennt, an wie einen Feind. Bevor ich mich allerdings doch noch wieder umdrehen und flüchten kann, legt sich von hinten wieder ein Arm um meine Schultern und als ich mich umblicke, lächelt Simon mich schon wieder so an.
 

"Komm, das letzte Stück schaffst Du auch noch", macht er mir Mut und ich schlucke hart, greife aber trotzdem mit zitternden Fingern nach der Türklinke und drücke diese im Zeitlupentempo nach unten. Kaum dass die Tür offen ist, pfeift ein ziemlich kalter Windstoß herein, aber ein weiteres aufmunterndes Lächeln von Simon bringt mich tatsächlich dazu, nach draußen zu gehen. Dabei klammere ich mich wie das verängstigte Kind, das ich gerade wohl auch bin, an seinen Mantel, aber er sagt nichts dazu und unternimmt auch nichts dagegen, sondern hält mich einfach nur weiterhin fest und betritt gemeinsam mit mir das Dach dieses Turms.
 

Entgegen meiner Befürchtung scheint er von mir nicht zu erwarten, dass ich bis zur Mauer gehe und nach unten sehe, denn er bleibt kaum zwei Schritte von der Tür entfernt stehen und schließt diese erst einmal wieder – wobei ich immer noch förmlich an seinem Mantel klebe; ich brauche im Moment einfach irgendwas, woran ich mich festhalten kann –, bevor er sich zu mir umdreht.
 

"W-Wolltest Du mir das zeigen?", erkundige ich mich mit dünner, zittriger Stimme und bemühe mich fast schon verzweifelt, auf keinen Fall irgendwo anders hinzukucken als zu Simon. Er schüttelt allerdings als Antwort auf meine Frage nur den Kopf, schiebt mich aber immer noch nicht von sich weg und ich bin ihm peinlicherweise unglaublich dankbar dafür. Wenn ich ihn jetzt loslassen müsste, würde ich wahrscheinlich schreien oder umkippen oder was weiß ich. Auf jeden Fall wäre es der pure Horror.
 

"Nicht so ganz. Ich glaub, wir sind ein bisschen zu früh dran." Simons Worte bringen mich dazu, blinzelnd zu ihm aufzusehen – ich habe gar nicht gemerkt, dass ich mein Gesicht in seinem Mantel vergraben habe, das schwöre ich! –, aber sein Blick ist in die Ferne irgendwo vor uns gerichtet, die ich mich nicht anzusehen traue. Immerhin ist das hier ganz schön hoch und ich kann wirklich darauf verzichten, dass ich ausgerechnet vor Simon zusammenklappe, nur weil meine Höhenangst mal wieder voll zuschlägt.
 

"Zu früh für was?", frage ich nuschelnd und kneife meine Augen ganz fest zusammen in dem Versuch, nicht an die mindestens zwanzig Meter denken zu müssen, die es von hier oben aus in die Tiefe geht. Wenn ich da runterfalle, dann bleibt von mir nicht mehr übrig als ein matschiger Fleck, so viel steht fest. Aber komischerweise fühle ich mich hier in Simons Nähe eigentlich ganz sicher. Außerdem hat er ja auch versprochen, dass mir nichts passiert.
 

Die Frage, warum ich seinen Worten tatsächlich glaube, obwohl ich ihn ja eigentlich kaum kenne, verdränge ich ganz schnell wieder, obwohl die Antwort eigentlich ganz einfach ist. Ich will ihm nämlich glauben. Ich will einfach glauben, dass mir schon nichts passieren wird, solange er bei mir ist. Ich will seine Worte nicht in Frage stellen. Ich will ihm vertrauen. Unbedingt.
 

"Für den Sonnenuntergang", beantwortet Simon meine Frage nach kurzem Schweigen und als ich doch wieder zu ihm aufblicke, lächelt er mich wieder so an, dass mir der ganze Turm und das Drumherum gleich noch ein bisschen weniger ausmacht. "Den wollte ich Dir zeigen. Von hier oben ist die Aussicht nämlich einfach umwerfend. Ich bin sicher, es wird Dir gefallen", fährt er fort und ich blinzele ihn fragend an.
 

"Hast Du mich deshalb hierher geschleift?", hake ich nach und er nickt. "Ja", gesteht er und in sein Lächeln mischt sich eine Spur Verlegenheit. "Ich dachte, das könnte Dir vielleicht gefallen. Und ich ... na ja, ich dachte, Du vergisst vielleicht die Höhe, wenn Du Dich einfach nur auf die Aussicht konzentrierst", erklärt er mir weiter und bei seinen Worten beschleunigt sich mein Herzschlag, der sowieso schon völlig aus dem Takt ist, seit ich hier oben auf dem Dach dieses komischen Turms stehe, gleich noch ein bisschen mehr.
 

"Du ... Du dachtest ... so wie bei Ruben … was Du mir da erzählt hast von ... dem Gewitter ... oder?", stammele ich und werde rot, als ich merke, dass ich mich mal wieder total zum Hampelmann mache mit meinem Gestotter. Allerdings scheint Simon das keinesfalls peinlich zu finden, denn er nickt erneut und lächelt dabei wieder so, dass ich ihm jetzt endgültig nicht mehr böse bin, weil er mich tatsächlich dazu überredet hat, hier mit ihm auf diesen Turm zu klettern. Eigentlich hat er das Ganze ja nur nett gemeint. Er wollte mir ja nur helfen, etwas gegen meine Höhenangst zu unternehmen. Irgendwie finde ich das fast schon ... schön.
 

"Da. Es fängt an", reißt Simon mich aus meinen Gedanken, fasst mich an den Schultern und dreht mich langsam um, so dass er in meinem Rücken steht und ich in die Richtung sehen kann, in die er vorhin auch geblickt hat. Vor meinen Augen beginnt der Himmel sich langsam zu verfärben und die Wolken durchlaufen sämtliche Farben von weißlich über rosa, orange und schließlich ein blassviolettes Grau, während die Sonne langsam untergeht. Und tatsächlich ist das Schauspiel unheimlich faszinierend, aber das alleine würde mich noch lange nicht davon ablenken, wo ich hier gerade bin und wie weit ich mich vom sicheren Erdboden entfernt befinde.
 

Nein, das, was verhindert, dass ich die ganze Zeit darüber nachdenke, ob wir hier eher zwanzig Meter oder doch noch weiter oben befinden, ist Simon, der so nah hinter mir steht, dass ich die Wärme, die von ihm ausgeht, durch meine Jacke fühlen kann. Noch immer liegen seine Hände auf meinen Schultern und obwohl ich es nicht wirklich für möglich gehalten hätte, fühle ich mich so doch sicher – so sicher, dass mich nicht mal der immer stärker werdende Wind, der mich mehr als einmal fast von den Beinen fegt, wirklich beunruhigt. Simon hat mir versprochen, dass er auf mich aufpassen wird, und daran glaube ich ganz fest.
 

Erst als die Sonne fast schon komplett verschwunden ist, drehe ich mich wieder zu ihm um und kann trotz der immer stärker werdenden Dunkelheit erkennen, dass er mich abwartend ansieht. "Und? War's schlimm?", erkundigt er sich und nach kurzem Überlegen schüttele ich den Kopf. In der Zeit, die die Sonne zum Untergehen gebraucht hat, habe ich eigentlich nicht wirklich über die Höhe des Turms nachgedacht. Oder nein, das stimmt so nicht ganz. Ich habe zwar darüber nachgedacht, aber irgendwie hat es mir nichts ausgemacht zu wissen, dass ich keinen wirklich festen Boden unter den Füßen hatte.
 

"Ging schon", beantworte ich deshalb Simons Frage und als er wieder anfängt zu lächeln, lächle ich ebenfalls. "Aber von mir aus können wir jetzt trotzdem gerne wieder hier runter. Es ist ganz schön eisig hier oben", schiebe ich noch hinterher und er lacht leise, nickt aber und geht dann vor zur Tür, um sie aufzumachen und mir den Vortritt auf dem Weg nach unten zu lassen.
 

Sobald wir unten aus dem Turm herauskommen, schlägt er trotz der Dunkelheit um uns herum zielstrebig den Weg ein, auf dem wir hergekommen sind, und ich folge ihm. Dabei schweigen wir beide, aber es ist kein unangenehmes Schweigen. Und irgendwie, das muss ich zugeben, bin ich ja schon ein kleines bisschen stolz auf mich, dass ich mich da oben auf diesem Turm nicht vollkommen zum Affen gemacht habe. Ich habe mich zwar auch nicht total mit Ruhm bekleckert, aber ich bin weder abgehauen noch zusammengeklappt und das will für meine Verhältnisse schon echt was heißen.
 

"Ich bin stolz auf Dich, Jan", teilt Simon mir mit, als wir seinen Wagen erreicht haben, und sofort beginnt mein Gesicht wieder zu glühen. "Wi-Wirklich?", piepse ich und als er nickt, habe ich das Gefühl, mindestens zehn Zentimeter über dem Boden zu schweben. "Allerdings. Du bist tatsächlich über Deinen Schatten gesprungen und die ganze Zeit oben geblieben", setzt er hinzu und öffnet die Tür seines Wagens, um einzusteigen. Ich tue es ihm gleich und kämpfe gerade mit dem Anschnallgurt – wenn ich nervös bin, wollen meine Finger grundsätzlich nie so wie ich will –, aber Simons nächster Satz lässt mich ihn gleich wieder ungläubig anstarren.
 

"Dafür hast Du Dir eine Belohnung verdient", sagt er und ich bin mir sicher, meine Augen sind so groß wie Teller und mindestens ebenso rund. "Belohnung?", echoe ich perplex und wieder nickt er. "Ja, allerdings. Für das, was Du da gerade geschafft hast, darfst Du Dir was wünschen", bestätigt er dann und ich kneife mich unauffällig, aber ganz offenbar war das keine Einbildung. Nein, Simon hat mir gerade tatsächlich angeboten, dass ich mir für diese Turmaktion etwas von ihm wünschen darf. Ich glaub, wenn mein Herz weiter so schnell klopft, dann macht es bald schlapp.
 

"Egal was?", hake ich nach, nachdem ich mich geräuspert habe, und Simon nickt wieder, während er seinen Wagen startet und langsam vom Parkplatz runterfährt. Ich rutsche ganz tief in den Sitz, kaue nachdenklich auf meiner Unterlippe herum und traue mich nicht, ihn anzusehen. Ich wüsste ja schon, was ich mir wünschen könnte, aber ich weiß nicht, ob ich diesen Wunsch auch wirklich über die Lippen bringe.
 

Mindestens die Hälfte der Fahrt hadere ich mit mir selbst, aber als wir schließlich irgendwann an einer roten Ampel anhalten, trete ich mich mental selbst in den Arsch, nehme meinen ganzen Mut zusammen und drehe mich ein Stückchen zur Seite, so dass ich Simon ansehen kann. "Ist Dir was eingefallen?", fragt er gleich und mein Gesicht wechselt wieder mal die Farbe, aber ich nicke trotzdem.
 

"Ja", gebe ich zu und grinse schief. "Ich möchte, dass Du mir Deine Augen zeigst. Ohne die Kontaktlinsen", nuschele ich dann und schiebe noch ein leises "Bitte" hinterher, von dem ich mir nicht sicher bin, ob er es überhaupt gehört hat. Einen Moment lang scheint er ziemlich verdutzt zu sein, aber als ich schon denke, dass er ablehnt – immerhin sollte ich ja "auf die richtige Art" danach fragen, was auch immer das heißen mag –, fängt er leise an zu lachen.
 

"Da hast Du mich ja ganz schön ausgetrickst", gluckst er und als ich ihn nur verständnislos ansehe, grinst er mich an. "Gut, Du hast gewonnen. Ich nehm die Kontaktlinsen raus, wenn Du das unbedingt möchtest. Aber erst zu Hause, okay?", erklärt er mir dann den Grund für sein Amüsement und ich kann im Seitenspiegel erkennen, dass sich jetzt auch auf meine Lippen ein Grinsen legt. "Wirklich?", frage ich dennoch sicherheitshalber nach und er nickt schmunzelnd. "Ja, wirklich", verspricht er und ich kuschele mich überaus zufrieden wieder in den Sitz. Wenn er sein Versprechen wirklich hält, dann hat sich diese ganze Turmsache irgendwo ja doch gelohnt.
 

Die zehn Minuten, die wir noch brauchen, um nach Hause zu kommen, schweigen wir wieder und ich döse um ein Haar ein, werde aber rechtzeitig wieder munter, als unser Haus in Sichtweite kommt. Sobald Simon sein Auto geparkt hat, steige ich aus, sprinte vor zur Haustür, schließe sie auf und warte dann auf ihn. Darüber schmunzelt er zwar, aber er sagt nichts dazu, sondern deutet nur mit einer auffordernden Geste an, dass ich zu ihm nach oben gehen soll.
 

Etwas hibbelig, ohne einen wirklichen Grund dafür zu kennen, bleibe ich oben vor Simons Wohnungstür stehen und warte, bis er sie aufschließt. Dann gehe ich an ihm vorbei in den Flur, ziehe meine Schuhe und meine Jacke aus und mache mich auf den Weg ins Wohnzimmer. Simon selbst geht, nachdem er seinen Mantel aufgehängt hat, an mir vorbei und verschwindet in einem Raum, in dem ich jetzt einfach mal das Badezimmer vermute. Ein Teil von mir möchte ihm am liebsten nachgehen, aber ich beherrsche mich und sehe mich stattdessen im Wohnzimmer um, das schon nicht mehr ganz so kahl aussieht wie bei meinem letzten Besuch hier am Donnerstag.
 

"Du hast ja schon etwas eingeräumt", stelle ich hoffentlich laut genug fest, dass Simon mich auch im Bad hört, und sehe mich dann neugierig um. Die Titel der Bücher, die er in eins der Regale geräumt hat, kenne ich eigentlich alle nicht, deshalb verliere ich auch schnell das Interesse an ihnen und wende mich stattdessen den Bildern zu, die an den Wänden hängen.
 

Fasziniert betrachte ich die allesamt ziemlich künstlerisch und professionell aussehenden Fotografien – jedenfalls solange, bis mir einfällt, dass Bilder an diesen Wänden bedeuten, dass Simons Freundin wohl irgendwann zwischen vorgestern, nachdem ich nach Hause gegangen bin, und heute hier gewesen sein muss. Immerhin hat er ja am Donnerstag gesagt, dass die Fotos, die er aufhängen wollte, noch zum Rahmen bei dieser Morgaine waren.
 

Irgendwie dämpft der Gedanke, dass sie ganz offensichtlich hier in seiner Wohnung gewesen sein muss, meine Begeisterung über die Bilder und ich denke tatsächlich darüber nach, einfach meine Sachen zu nehmen und nach unten zu gehen, aber bevor ich diesen Plan in die Tat umsetzen kann, kommt Simon aus dem Badezimmer zurück, tritt neben mich und betrachtet ebenfalls die Fotos.
 

"Ein bisschen, ja. Heute hatte ich frei, da hab ich die Zeit genutzt", geht er auf meine Bemerkung ein und ich nicke mechanisch. Am liebsten würde ich jetzt einfach gehen, aber ich tue es nicht, sondern bleibe einfach nur unschlüssig im Wohnzimmer stehen, bis Simon mich mit sanfter Gewalt zu seiner Couch schiebt. Ich komme seiner stummen Aufforderung nach, setze mich und verneine die Frage, ob ich etwas essen oder trinken möchte. Ich hab gerade weder Hunger noch Durst, sondern möchte eigentlich einfach nur nach Hause. Die ganze gute Stimmung, die ich vorhin auf der Heimfahrt noch hatte, ist wie weggeblasen.
 

"Hey, ist alles in Ordnung?", erkundigt Simon sich und ich nicke schnell, vermeide es aber, ihn anzusehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er mir ansehen würde, dass ich lüge, und das will ich nicht. Vor allem will ich nicht, dass er mich fragt, was genau denn jetzt plötzlich nicht stimmt, denn darauf könnte ich ihm keine Antwort geben. Ich kann ihm ja schließlich schlecht erzählen, dass ich den Gedanken, dass seine Freundin hier war, einfach furchtbar finde, obwohl ich sie noch nicht mal kenne. Was würde das denn auch für einen Eindruck machen?
 

"War wohl doch etwas viel auf einmal", murmelt er und seufzt. "Tut mir leid. Ich wollte Dich nicht überfordern", entschuldigt er sich dann und ich schüttele schnell den Kopf. "Schon gut. Bin nur müde. Hab nicht gut geschlafen letzte Nacht", nuschele ich undeutlich. Noch immer starre ich auf meine Finger, die nervös am Saum meines Pullis herumzuppeln. "Ich glaub, ich geh nach Hause", schiebe ich hinterher und will aufstehen, aber Simons Hand, die sich urplötzlich auf meine legt, hindert mich daran.
 

"Willst Du Dir nicht vorher noch Deine Belohnung ansehen?", fragt er leise und ich kann spüren, wie meine Finger unter seiner Hand zu kribbeln beginnen. "Immerhin war es doch das, was Du vorhin noch wolltest", erinnert er mich und in meinem Hals bildet sich ein fetter Kloß, den ich einfach nicht runterschlucken kann. Warum traue ich mich denn plötzlich nicht mehr, Simon in die Augen zu sehen? Da ist doch eigentlich gar nichts dabei, also warum stelle ich mich jetzt plötzlich an wie der größte Vollidiot, der je gelebt hat?
 

"Ähm ... ja", bringe ich schließlich doch noch irgendwie heraus und hebe zögerlich den Kopf, um Simon doch endlich ins Gesicht zu sehen. Dabei bin ich mir des Gewichts von seiner Hand auf meiner mehr als bewusst, aber warum das so ist, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass seine Hand warm ist und dass ich das Gefühl trotz meines Herzrasens irgendwie schön finde.
 

Nach einer gefühlten Ewigkeit, die in Wirklichkeit sicher nicht mal eine halbe Minute gedauert hat, habe ich es endlich geschafft, meinen Blick so weit zu heben, dass ich Simon in die Augen sehen kann. Es ist irgendwie seltsam, ihn mal ohne Kontaktlinsen in irgendeiner seltsamen Farbe zu sehen, aber seine richtige Augenfarbe ist zumindest meiner Meinung nach nicht weniger außergewöhnlich.
 

"Du hast ja graue Augen", stelle ich verdutzt fest und vermute einfach mal, dass Simon aufgrund dieser Feststellung meinerseits schmunzelt. Ganz sicher bin ich mir da allerdings nicht, weil ich meinen Blick einfach nicht von seinen Augen losreißen kann und seine Lippen deshalb nur am äußersten Rande meines Blickfelds wahrnehme. Aber eigentlich ist es mir im Augenblick auch relativ egal, ob er schmunzelt, grinst oder sonst was macht.
 

"Zufrieden?", holt Simons amüsiert klingende Stimme mich irgendwann wieder in die Realität zurück und mein Gesicht läuft schlagartig knallrot an, als mir bewusst wird, dass ich ihn wer weiß wie lange einfach nur sprachlos angestarrt habe. Wie peinlich ist das denn bitteschön? Verdammt, wo ist ein Loch zum Verkriechen, wenn man mal wirklich eins braucht? Und wie rot kann man eigentlich werden?
 

"Äh ...", bringe ich nach einer weiteren Minute des Schweigens nicht gerade sehr intelligent heraus und würde mich für diesen glorreichen Beweis meiner eigenen Dummheit am liebsten gleich wieder schlagen. Es sollte echt verboten werden, sich in Gegenwart Anderer so unglaublich peinlich und blöd aufzuführen. Das ist doch einfach nur scheiße!
 

"Wa-Warum trägst Du eigentlich immer Kontaktlinsen?", stammele ich mir zurecht, nur um überhaupt etwas zu sagen, und im nächsten Moment verschwindet das Gewicht von Simons Hand. Zurück bleibt eine seltsame Kälte und ich muss mir auf die Unterlippe beißen, um ihn nicht darum zu bitten, seine Hand doch wieder auf meine zu legen. Was würde er denn auch davon halten? Das ist ja fast schon so was wie Händchenhalten! So was will er bestimmt viel lieber mit seiner Freundin machen als mit mir.
 

"Ich mag meine Augenfarbe nicht besonders", beantwortet er meine Frage, die ich schon fast wieder vergessen hatte, weil ich über seine Hand und meine Hand und die Hand seiner Freundin nachdenke, und ich zucke erschrocken zusammen. "Warum nicht?", entschlüpft es mir, bevor ich es verhindern kann, und ich sinke auf der Couch noch ein bisschen in mich zusammen. Warum kann ich eigentlich nie die Klappe halten, wenn es mal wirklich angebracht wäre?
 

Mehrere Minuten lang schweigt Simon, aber als ich schon glaube, dass ich keine Antwort mehr bekomme, beginnt er doch wieder zu sprechen. "Ich hab meine Augen von meinem Vater geerbt", erklärt er mir knapp und ich werde noch ein Stück kleiner. Seine Stimme klingt kühl, wenn er von seinem Vater spricht, und ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass es zwischen Simon und ihm einige Dinge gibt, die ganz schön im Argen liegen. So was in der Art hatte Ruben im Laufe der vergangenen Woche auch immer mal wieder angedeutet, aber er schien ebenso wenig darüber sprechen zu wollen wie Simon und ich wollte auch nicht unhöflich sein, indem ich nach Sachen frage, die mich ja eigentlich ganz und gar nichts angehen – egal, wie sehr mich das auch eigentlich interessiert.
 

"Also ich find die Farbe schön", rutscht es mir heraus, ehe ich es verhindern kann, und als Simon mich daraufhin überrascht ansieht, schießt mir beinahe mein gesamtes Blut ohne Umwege direkt ins Gesicht. "Ich meine, das ist einfach mal was anderes, nicht so öde wie blau oder so. Blaue, braune oder grüne Augen hat fast jeder, aber graue sind ja doch ziemlich ungewöhnlich und das ist doch eigentlich gar nicht so schlecht." Kann mich mal bitte jemand stoppen? "Ich hätte auch lieber eine andere Augenfarbe. Grün ist langweilig." Was rede ich hier eigentlich? Und warum kann ich nicht einfach den Mund zumachen und aufhören, Simon mit so einem Mist vollzutexten? Das interessiert ihn doch bestimmt gar nicht!
 

"Ich finde grüne Augen nicht langweilig. Ganz und gar nicht." Bei diesen Worten legt mein Herz gleich noch eine Doppelschicht ein. "Im Gegenteil." Simon lächelt mich an und ich werde noch eine Spur röter, als mir auffällt, dass ich schon wieder seine Augen anstarre. Aber das, was ich gerade gesagt hab, stimmt wirklich. Ich finde seine Augen wirklich schön. Das war nicht nur so dahergesagt, sondern mein voller Ernst. Aber das behalte ich besser für mich. Was würde er auch von mir denken, wenn ich ihm das sage? Von mir will er so was doch bestimmt nicht hören.
 

"Ich ... sollte langsam ... nach Hause", ist das Erste, was mir als Erwiderung einfällt, und kaum dass ich den Satz ausgesprochen habe, möchte ich mich selbst dafür schlagen. Aber irgendwie macht mich die ganze Situation hier – Simons Nähe, seine Augen und die Richtung, die unser Gespräch gerade nimmt – total kribbelig und nervös und ich möchte mich einfach nur in meinem Bett verkriechen und das, was heute alles passiert ist, noch mal überdenken. Mir schwirrt nämlich ganz schön der Kopf und außerdem verlangt mein Körper, der eindeutig schon viel zu lange wach ist und heute auch viel zu viel Aufregung hatte, vehement nach Ruhe.
 

"Gut." Simon steht auf, um mich noch zur Tür zu bringen, und ich rappele mich mit etwas hölzernen Bewegungen ebenfalls von der Couch hoch, um im Flur noch eben meine Sachen zu nehmen. "Ich hoffe, Du nimmst mir die Sache mit dem Turm nicht übel", wendet er sich an mich, als ich gerade in meine Schuhe schlüpfe, und ich bin froh, dass er mein Gesicht jetzt nicht sehen kann, denn das wird gleich wieder knallrot.
 

"Nein, ist schon okay. So schlimm war's ja eigentlich auch gar nicht", spiele ich das Ganze herunter und versuche dann, als ich meine Jacke von ihm entgegennehme, probehalber zu lächeln, was mir scheinbar auch ganz gut gelingt, denn Simon erwidert diese Geste mit gleicher Münze und in Kombination mit seinen Fingern, die für einen Sekundenbruchteil meine streifen, bringt das meinen Herzschlag gleich noch ein bisschen mehr aus dem Takt.
 

Da, wo seine Finger meine berührt haben, kribbelt alles und ich klammere mich förmlich an meiner Jacke fest, weil ich nicht weiß, was ich sonst machen soll. Irgendwie passiert mir so was Komisches in den letzten Tagen ständig und ich verstehe einfach nicht warum. Außerdem hab ich auch keine Ahnung, was genau das jetzt eigentlich zu bedeuten hat, und das macht mich nur noch nervöser.
 

"Bis ... bis dann", verabschiede ich mich hastig, stolpere bei dem Versuch, Simons Wohnung zu verlassen, beinahe über meine eigenen Füße und erstarre zu Eis, als er mir zum Abschied kurz durch die Haare wuschelt, wie er es am Montagnachmittag bei Ruben gemacht hat. Auch als die Tür hinter mir zugemacht wird, stehe ich immer noch wie angewurzelt im Flur und schaffe es nicht, mich vom Fleck zu rühren, weil jetzt auf einmal mein ganzer Körper kribbelt und meine Beine sich anfühlen wie Wackelpudding, während mein Herz zu einem fröhlichen Stepptanz ansetzt. Heilige Scheiße, was ist denn jetzt los?
 

~*~
 

Tja, Janni, das wirst Du im nächsten Kapitel (das übrigens den schönen Titel Von Gesprächen mit besten Freunden und den daraus resultierenden Erkenntnissen tragen wird) erfahren.

*Janni puschel*

Ich hoffe, es hat euch gefallen. Bis zum nächsten Mal!

*wink*
 

Karma

Von Gesprächen mit besten Freunden und den daraus resultierenden Erkenntnissen

So, ihr Lieben, und schon gibt's das nächste Kapitel Wtml - ein Kapitel, das ich persönlich sehr mag, obwohl es gerade für Janni nicht so leicht ist. Aber endlich kriegt Jassi mal seinen großen Auftritt und das ist - zumindest für mich - ein Grund zur Freude. Ich mag Jassi. Der ist einfach toll.

*ihn puschel*

Ohne ihn würde Janni wahrscheinlich noch in hundert Jahren im Dunkeln tappen und nicht wissen, was mit ihm los ist.

*Janni pat*
 

@Yumika: Jannis lange Leitung wird jetzt endlich gekappt. Ob er sich allerdings so sehr darüber freut, lass ich mal dahingestellt. Aber ich hoffe, Du wirst Jassi mögen.

^____^
 

@abgemeldet: Freut mich, dass Dir die Story bisher gefällt.

*___*

Und zu Deinen Fragen: Ruben taucht im achten Kapitel wieder auf und da bekommt auch Christie seinen Auftritt.

^.~
 

@Aschra: Ich glaube, dieses Kapitel wirst Du ganz besonders hassen.

.____.

Aber so leid es mir tut, da muss Janni durch. Und da Du ja zumindest schon ein bisschen weisst, wie's weitergeht, weisst Du ja auch, dass er nicht ewig leiden muss. Das kann ich meinem armen kleinen Schatz doch auch gar nicht antun.

>.<
 

@Rayligh: Wow. Das war das erste, was mir zu Deinem Kommentar eingefallen ist. Ich hab mich wirklich riesig darüber gefreut, dass Du die Story magst, obwohl Du eigentlich nicht so viel mit Shonen-Ai anfangen kannst. Ich schreibe zwar auch nicht gerade selten Geschichten von der Art, wie Du sie erwähnt hast (also im Grunde genommen PWP ^^°), aber hier wollte ich einfach mal was ganz anderes machen. Freut mich, wenn mir das gelungen ist.

^////^

Und zu Slim: Ich liebe den Kater.

*____*

Der ist einfach toll. Und er hat in diesem Kapitel auch wieder einen kleinen Auftritt, ebenso wie im nächsten. Ohne ihn geht's einfach nicht.
 

@nitro2811: Keine Ahnung, woran Dich der Turm erinnert. Wirklich nicht.

*hust*

XD

Danke für die Kommentare!
 

@Inan: Wie genau Janni zu Slim steht und was er wirklich von ihm hält, wird später noch mal irgendwann geklärt. Aber dass er die "Katze of Doom" hasst, davon kann wirklich keine Rede sein. Hat man ja im letzten Kapitel gemerkt, nicht wahr? Und hier in diesem merkt man auch noch mal, dass Janni den Kater eigentlich doch recht gern hat - und umgekehrt genauso. Ehrlich, ich liebe Slim.

*ihn hinter den Ohren kraul*

Der weiß schon ganz genau, was er tut.

*grins*

Und zum Turm: Alleine hätte Janni sich da im Leben nicht raufgetraut mit seiner panischen Höhenangst. Aber mit Simon war das eben was anderes.

*kicher*
 

So, genug geschwafelt. Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!
 

Karma
 

~*~
 

Am Sonntagmorgen kriege ich meine Augen kaum auf, obwohl ich in der vergangenen Nacht sogar ausnahmsweise mal einigermaßen vernünftig geschlafen habe. Allerdings habe ich irgendwelches wirres Zeug von riesigen Karotten und von Simon geträumt. Keine Ahnung, wie das genau zusammenhing. Daran erinnere ich mich nicht mehr, aber eigentlich will ich das auch gar nicht so genau wissen. Von erholsamem Schlaf kann jedenfalls keine wirkliche Rede sein, deshalb kämpfe ich mich auch nur sehr widerwillig aus dem Bett, als mein Wecker klingelt, und schlurfe missmutig und sicher total zerzaust in die Küche, um zu frühstücken.
 

Zum Glück sind heute weder Franzi noch Vicky da, weil beide gestern bei ihrer jeweils besten Freundin übernachtet haben. Einzig Mama sitzt schon am Frühstückstisch, aber ich rechne es ihr hoch an, dass sie mir einfach nur den Teller mit den Aufbackbrötchen zuschiebt und mich nicht fragt, warum ich aussehe wie ausgekotzt. Das könnte ich ihr auch gar nicht wirklich erklären.
 

Erst nachdem ich mein erstes halbes Brötchen verputzt und zwei Tassen Kakao in mich hineingeschüttet habe, bricht Mama das Schweigen, das über der Küche liegt, doch noch, indem sie ihre Kaffeetasse abstellt und mich fragend ansieht. "Ist mit Dir alles in Ordnung, Jan? Du siehst gar nicht gut aus", teilt sie mir ihre Beobachtung mit und so gerne ich sie sonst auch habe, jetzt gerade möchte ich sie einfach nur aus dem Fenster werfen. Allerdings würde ich sie nicht hochkriegen – was jetzt nicht heißen soll, dass meine Mutter fett ist; ich bin einfach nur ein Schwächling – und außerdem hätte es dadurch, dass wir im Erdgeschoss wohnen, auch nicht den gewünschten Effekt, also lasse ich es und grummele einfach nur etwas Unverständliches in meinen nicht vorhandenen Bart. Da das Mamas Blick allerdings auch nicht von meinem Gesicht nimmt, nuschele ich schließlich etwas, das sich mit viel Fantasie als "Bin noch müde" übersetzen lässt und hoffe, dass sie sich mit dieser Erklärung zufrieden gibt und mich endlich in Ruhe lässt.
 

Sehr zu meiner Erleichterung fragt sie tatsächlich nicht weiter nach und ich genehmige mir noch schnell ein weiteres halbes Brötchen, bevor ich etwas wacher, aber nicht unbedingt besser gelaunt ins Bad schlurfe, um mich fertig zu machen. Danach schleiche ich zurück in mein Zimmer, krame mir ein paar Klamotten aus dem Schrank, ziehe mich an und latsche dann in den Flur, um meine Jacke zu holen. "Bin bei Jassi. Bis nachher", rufe ich in Richtung Küche und im nächsten Moment erscheint meine Mutter verwundert in der Küchentür, noch bevor es mir gelingt, mich zu verdrücken.
 

"Schon wieder? Warst Du nicht gestern erst bei Jasper?", erkundigt sie sich und ich schüttele den Kopf. "Nee, gestern war ich bei Simon", kläre ich sie gnädigerweise auf und verschwinde dann schleunigst aus der Wohnung, bevor sie mich aufhalten und mit Fragen darüber löchern kann, warum ich ihr das nicht gleich erzählt habe und was Simon und ich denn gestern so gemacht haben.
 

Die Hände in den Jackentaschen vergrabend – ich Depp habe schon wieder verpeilt, meine Handschuhe mitzunehmen – stapfe ich los in Richtung Bus, weil ich keine Lust habe, bei dieser Kälte bis zu Jassis Haus zu latschen. So wirklich weit weg wohnt er zwar nicht, aber mir ist einfach zu kalt für einen Spaziergang, also klettere ich in den Bus, als er ankommt, nur um eine Haltestelle später gleich wieder auszusteigen, ohne die scheelen Blicke meiner werten Mitfahrer weiter zu beachten.
 

Kaum eine Viertelstunde nach meinem Aufbruch von zu Hause stehe ich auch schon vor dem kleinen Häuschen, in dem Jassi mit seiner Familie wohnt. Noch ehe ich allerdings das Gartentor aufmachen kann, kommen mir auch schon zwei der drei Hunde, die die Kroenens besitzen, bellend und schwanzwedelnd entgegengesaust und rennen sich gegenseitig fast über den Haufen in dem Versuch, als erster gestreichelt zu werden. Bosco, der älteste der Drei, zuckelt Sandy und Nana – seinen beiden Haremsdamen, wie Jassi sie immer nennt – eine Spur gemütlicher hinterher, wirkt aber nicht weniger enthusiastisch, als er mich erblickt.
 

"Hey, ihr Drei", begrüße ich das Wedeltrio, drücke das Gartentor auf und quetsche mich schnell rein, bevor die Drei auf die Straße abhauen können. Danach bin ich erst mal fast zehn Minuten damit beschäftigt, die Hunde ordentlich zu begrüßen und auch ja jeden von ihnen ausgiebig zu streicheln, damit sich bloß keiner vernachlässigt fühlt und anfängt zu winseln oder zu jaulen.
 

Ein kurzer Pfiff von der Haustür aus bringt die drei wandelnden Fellbälle schließlich dazu, doch endlich von mir abzulassen, und als ich aufblicke, grinst mir Jassi breit entgegen. "Da bist Du ja, Kleiner!", begrüßt er mich, schnappt sich meinen Arm und schleift mich unter fröhlichem Gebell und Gewedel der kroenenschen Hundemeute ins Haus, damit ich draußen nicht noch festfriere.
 

"Bosco, Nana, Sandy, Aus! Ab mit euch!", befiehlt er den Dreien, als sie mich beim Ausziehen meiner Jacke fast wieder umwedeln, und lotst mich dann, nachdem ich noch eben schnell Viola, seine Mutter, begrüßt und ihr die Grüße von meiner Mutter ausgerichtet hab, in sein Zimmer. Die Hunde sperrt er aus, was kurzes Gewinsel zur Folge hat, das Jassi genervt die Augen verdrehen lässt.
 

"Später, ihr Nervensägen!", ruft er durch die geschlossene Tür, fährt sich seufzend durch die schwarzblond gefärbten Haare und schüttelt dann erst mal den Kopf. "Immer dieser Aufstand", beschwert er sich, grinst aber gleich darauf und ich muss auch grinsen. Ich weiß schließlich ganz genau, dass er das nicht wirklich ernst meint. Immerhin liebt er die drei Störenfriede da draußen ja ebenso abgöttisch wie den Rest der kroenenschen Rasselbande, die hier irgendwo im Haus rumstreunt. Aber eigentlich liebt er generell alle Tiere. Genau deshalb hat er ja auch schließlich eine Ausbildung zum Tierpfleger im städtischen Zoo angefangen.
 

"Als ob Du nicht genau das so mögen würdest", ziehe ich Jassi auf, lasse mich auf sein Bett fallen und grinse nur noch breiter, als er sich neben mich plumpsen lässt und gespielt leidend das Gesicht verzieht. "Musst Du mich immer so durchschauen?", fragt er und wuschelt mir gleich darauf kichernd durch die Haare, was mich schlagartig stocksteif werden lässt. Normalerweise macht mir das eigentlich nichts aus – Jassi hat das schon bei mir gemacht, als wir noch Kinder waren –, aber heute erinnert es mich an gestern Abend und Simon und ich kann fühlen, wie mir wieder Röte ins Gesicht kriecht. Verdammt, das ist doch nicht mehr normal!
 

"Scheiße!", nuschele ich und finde mich gleich darauf mit Jassis blaugrünen Augen konfrontiert, die mich intensiv und besorgt zugleich mustern. "Was ist denn mit Dir los, Kleiner?", erkundigt er sich, aber ich winke schnell ab und schüttele den Kopf. Darüber will ich nicht reden. Jedenfalls noch nicht jetzt. "Nichts. Nicht so wichtig", gebe ich deshalb zurück und grabsche mir schnell eins von Jassis Kissen, weil meine Hände jetzt unbedingt eine Beschäftigung brauchen. Irgendwie weiß ich, wenn ich nervös bin, nie, wohin mit meinen Fingern. Schrecklich!
 

"Wie ... wie ist die Ausbildung so?", haspele ich und Jassi zieht fragend eine Braue hoch, geht zu meiner Erleichterung aber trotzdem auf meinen unglaublich schlechten Ablenkungsversuch ein. "Super", antwortet er enthusiastisch und lässt sich nach hinten fallen, so dass er rücklings auf seinem Bett landet und mich von unten herauf ansehen kann.
 

"Es ist echt total interessant. Zwar auch tierisch anstrengend – ich kann manchmal nach Feierabend kaum noch geradeaus kucken, echt –, aber ich find's trotzdem toll. Und ich hab in den paar Wochen auch schon eine ganze Menge gelernt. Manchmal glaub ich, mir quillt irgendwann der Schädel über von zu vielen Informationen, aber egal. Außerdem muss ich auch noch jede Menge lernen. Im Moment mach ich ja hauptsächlich die Drecksarbeit – im wahrsten Sinne des Wortes sogar; ich muss meistens die Käfige saubermachen und so –, aber das bin ich ja gewöhnt. Und es stört mich auch nicht. Du kennst mich ja."
 

Jassi grinst mich an und ich grinse zurück. "Allerdings", bestätige ich und nicke. Ich kann mir lebhaft vorstellen, dass er es spannend findet, durch den Zoo wuseln und überall mit anpacken zu dürfen. So war er schon immer. Genau deshalb haben die Kroenens ja überhaupt so viele Tiere zu Hause. Die meisten hat Jassi irgendwann einfach angeschleppt und da er Einzelkind ist und seine Eltern der Meinung sind, dass auch Tiere den sozialen Umgang nur verbessern können, sagen sie grundsätzlich nie Nein, wenn er wieder irgendeinen Streuner aufliest und mit nach Hause bringt.
 

Genau so ist er schließlich auch zu Bessy, seiner Katze – die im Übrigen Slims Mutter ist –, gekommen. Die hat er irgendwann mal halb erfroren gefunden, mitgenommen und wieder aufgepäppelt, wofür sie ihm wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit dankbar sein wird. Jedenfalls hängt sie ohne Ende an ihm und geht schon fast ein, wenn er nur mal übers Wochenende nicht zu Hause ist. Deshalb übernachte ich auch meistens eher bei Jassi als umgekehrt.
 

"Am Mittwoch haben unsere Kapuzineräffchen übrigens Nachwuchs gekriegt. Ein total süßes Baby, aber noch wissen wir nicht, was es ist. Sina und ich waren bei der Geburt dabei. Total spannend, das kann ich Dir sagen", holt Jassis Stimme mich wieder aus meinen Grübeleien in die Realität zurück und ich runzele fragend die Stirn. "Sina? Kenn ich die?", erkundige ich mich und er schüttelt den Kopf.
 

"Nee. Woher auch? Sie macht im Augenblick ein Praktikum bei uns im Zoo. Sie ist echt nett", sagt er und ich muss schmunzeln, als ich dieses gewisse Funkeln in Jassis Augen sehe, das ich nur zu gut kenne. "Aber Du findest sie doch wohl mehr als nur nett, stimmt's?", hake ich nach und er macht einen leicht ertappten Eindruck, nickt aber trotzdem.
 

"Ja, schon. Und ich glaub, sie mag mich auch. Macht jedenfalls ganz den Eindruck. Deshalb wollte ich sie am Montag mal fragen, ob wir uns nicht mal außerhalb des Zoos treffen können. Vielleicht am nächsten Wochenende oder so, wenn mir nicht wieder die Arbeit dazwischenkommt", erzählt er weiter und lächelt versonnen. Anscheinend ist diese Sina also wirklich ziemlich toll, wenn Jassi schon so reagiert.
 

"Weißt Du, sie ist keins von diesen typischen Mädchen, die rumkreischen, wenn sie sich mal dreckig machen oder wenn ihnen ein Fingernagel abbricht. Klar, sie ist hübsch, aber was mir an ihr noch mehr gefällt ist einfach, dass sie sich nicht davor scheut, auch richtig mit anzupacken. Vorgestern gab's ne Riesensauerei im Affenhaus, aber sie hat nicht lange gezögert, sondern Carla – so heißt meine Ausbilderin – und mir gleich ohne zu Murren beim Saubermachen geholfen", schwärmt er weiter und ich muss grinsen.
 

"Da hat's wohl jemanden ganz schön erwischt, was?", ziehe ich ihn auf und quietsche im nächsten Moment erschrocken, weil Jassi sich auf mich stürzt und mich erbarmungslos durchkitzelt. "Warte nur ab, bis es bei Dir mal so weit ist!", droht er mir dabei spielerisch und lacht über meine vergeblichen Versuche, ihn von mir runterzuschieben. Verdammt, warum muss eigentlich fast jeder stärker sein als ich? Sogar Vicky hat ja kaum noch Probleme damit, mich festzuhalten. Wie peinlich ist es bitteschön, sich nicht mal gegen die eigene kleine Schwester wehren zu können, obwohl die erst zwölf Jahre alt ist?
 

"Gnade! Ich ... geb auf!", japse ich schließlich und Jassi grinst, lässt aber trotzdem von mir ab und schnappt sich stattdessen Bessy, die die ganze Zeit über auf dem Schreibtischstuhl gehockt hat, um sie auf seinen Schoß zu setzten und ihr den Bauch zu kraulen. Das liebt sie besonders, also kuschelt sie sich gleich an ihn und rollt sich dann auf den Rücken, um die Zärtlichkeiten ausgiebig zu genießen. Außer Jassi darf sich das keiner bei ihr erlauben, deshalb begnüge ich mich damit, einfach nur Bessys Kopf zu streicheln.
 

"Wir haben übrigens einen neuen Nachbarn", erzähle ich dabei betont beiläufig und beschäftige mich intensiv mit Bessys weichem Fell, um Jassi nicht ansehen zu müssen. "Der ist wohl in den Herbstferien eingezogen, als ich hier bei Dir war. Jedenfalls hab ich ihn am Sonntagabend zum ersten Mal getroffen. Slim ist mal wieder abgehauen und Franzi hat mich losgeschickt, um ihn zu suchen. Ich bin Kevin und seinen beiden Hirnis in die Arme gelaufen und Simon – so heißt unser neuer Nachbar – hat die Drei in die Flucht geschlagen, bevor die mich von der Eisenbahnbrücke werfen konnten. Er ist echt nett, auch wenn er ziemlich gruselig aussieht."
 

"Wie hat der es denn geschafft, diese drei Vollhonks aus Deiner neuen Klasse zu verscheuchen?", will Jassi neugierig wissen und ich muss gar nicht zu ihm schielen um zu wissen, dass er seine Augenbrauen schon fast bis an seinen Haaransatz hochgezogen hat. Ich kenne diesen Tonfall von ihm einfach ganz genau. Wir sind ja auch schließlich schon eine Ewigkeit befreundet.
 

"Er hat sie einfach nur gefragt, ob sie für so eine Kinderkacke nicht schon zu alt sind." Nein, was ist Bessys Fell doch interessant! Mir ist bis heute nie aufgefallen, dass das Schwarz einen ganz leichten, kaum sichtbaren Rotstich hat. Den erkennt man allerdings auch nur, wenn man wirklich verdammt lange einfach nur draufstarrt, um bloß nirgendwo anders hinsehen zu müssen.
 

"Und dann ... na ja, wie gesagt, er sieht halt etwas gruselig aus. Farbige Kontaktlinsen, schwarze Klamotten, Nagellack, geschminkt und so. Gothic eben", erkläre ich Jassi schulterzuckend und kraule ausgiebigst Bessys Ohren. Höchstwahrscheinlich wundert sie sich ebenso wie Jassi darüber, dass ich mich so exzessiv mit ihr beschäftige, aber wenn ich jetzt aufblicke, dann sieht er, dass mein Gesicht schon wieder knallrot ist. Und das muss echt nicht sein.
 

"Ach, und er ist Satanist. Hat er mir selbst erzählt", schiebe ich noch hinterher und zucke erschrocken zusammen, als Jassi mir eine Hand unters Kinn legt und meinen Kopf anhebt. So muss ich ihn zwangsläufig doch ansehen, obwohl ich mir gerade wieder verzweifelt ein Loch zum Verkriechen wünsche. Alternativ würde es mir aber auch schon reichen, wenn ich mir die Bettdecke über den Kopf ziehen oder mich darunter verstecken könnte. Verdammt, warum ist mir das denn jetzt so peinlich? Das ist doch bescheuert!
 

"Okay, Kleiner, was ist los mit Dir?" Der Blick aus Jassis Augen ist fragend und durchdringend zugleich und ich versuche, mich aus seinem Griff zu winden, aber er lässt mich nicht los. "Weiß auch nicht", nuschele ich seufzend und gebe damit die einzige Antwort, die ich ihm wahrheitsgemäß geben kann. "Ist eben alles ziemlich komisch im Moment", füge ich noch hinzu und Jassis Blick wird noch fragender.
 

"Und was ist bitteschön alles so komisch? Mensch, Jan, sprich Dich doch mal richtig aus und drucks nicht immer so rum!", fordert er mich auf, lässt mein Kinn aber endlich los und ich nutze die Gelegenheit, mir wieder sein Kissen zu schnappen und mich damit bis ans äußerste Ende des Bettes zu verkriechen. Dann ziehe ich meine Beine an, nehme das Kissen und knülle es zwischen meinen Händen, was mir einen mehr resignierten als genervten Blick einbringt. Jassi kennt das schon von mir. Ich mach das hier heute schließlich nicht zum ersten Mal. So bin ich immer, wenn ich nicht weiß, wie ich das, was mich beschäftigt, in Worte packen soll.
 

"Okay, es ist also was Ernstes. Oder zumindest was Wichtiges. Oder sogar beides", stellt Jassi fest und rutscht ein Stück näher zu mir. Wie er es schafft, Bessy dabei nicht von seinem Schoß zu befördern, ist mir absolut schleierhaft, aber irgendwie kriegt er das hin. Slim hätte mich für so eine Aktion wahrscheinlich vollkommen zerkratzt, aber Bessy ist irgendwie zahmer und friedlicher. Obwohl ... eigentlich ist sie das nur bei Jassi. Wenn ihr wer anders quer kommt, dann faucht und zickt sie auch ganz schön. Nur Jassi kann sich echt alles erlauben und sie findet's toll. Verrücktes Katzenvieh.
 

"Erde an Jan! Bist Du noch da oder hat sich Dein Hirn jetzt vollkommen abgeschaltet?" Ich zucke erschrocken zusammen, als Jassi mit den Fingern vor meinem Gesicht herumschnippt, und stoße mir äußerst schmerzhaft den Kopf an der hinter mir befindlichen Wand an. Diese Aktion quittiert Jassi mit einem kurzen Grinsen, wird aber gleich darauf wieder ernst und sieht mich forschend an.
 

"Also, spuckst Du jetzt endlich aus, was mit Dir los ist, oder muss ich's wieder aus Dir rauskitzeln?", erkundigt er sich und ich seufze abgrundtief, ehe ich mir ein Nicken abringe. "Ich sag's Dir ja schon. Hetz mich doch nicht so", murre ich und jetzt schüttelt er seufzend den Kopf. "Manchmal bist Du wirklich furchtbar, Jan", teilt er mir mit und ich ziehe einen Flunsch, der ihn allerdings in keinster Weise beeindruckt. Er kennt mich einfach schon zu gut und zu lange, um noch anfällig dafür zu sein.
 

"Also, wie gesagt, Simon ist unser neuer Nachbar. Und er ist auch der große Bruder von Ruben. Der ist jetzt neu in meiner Klasse. Seit Montag. Und er hat Kevin und seinen Pfeifen erst mal so richtig Konter gegeben, weshalb die ihn jetzt auch hassen. Aber das stört ihn nicht. Er will mit denen eh nichts zu tun haben. Er sitzt auch neben mir. Und er ist echt nett. Mit ihm ist es nicht mehr ganz so scheiße in der neuen Klasse", fange ich erst mal mit dem unverfänglicheren Thema an.
 

Daraufhin zieht Jassi wieder eine Braue hoch, sagt aber nichts, sondern sieht mich einfach nur weiter unverwandt an und ich schrumpfe noch ein Stückchen mehr in die Ecke. Am liebsten würde ich mich im Kissen verstecken, dabei weiß ich nicht mal einen wirklichen Grund dafür. Immerhin ist Jassi mein bester Freund, und das schon, solange ich denken kann. Eigentlich gibt es wirklich nichts, was mir vor ihm peinlich sein muss, aber ich bin irgendwie trotzdem total neben der Spur und weiß nicht so recht, wie ich ihm die Sache mit Simon am besten erklären kann und soll.
 

"Simon war am Freitag mit bei Vickys Ballettaufführung. Sie hatte ihn eingeladen. Sie steht total auf ihn, weil er sie "Mylady" nennt, und er darf sogar Victoria zu ihr sagen. Er interessiert sich nämlich für Namen und dafür, was sie bedeuten, und er hat Vicky irgendwie klargemacht, dass ihr Name ja eigentlich ganz toll ist. Wann immer sie ihn sieht, himmelt sie ihn total an und kichert die ganze Zeit. Das ist echt furchtbar nervig", fahre ich mit dem Erstbesten fort, was mir einfällt.
 

"Am Anfang – also am Sonntag und am Montag – hatte ich echt Schiss vor Simon, aber eigentlich ist er gar nicht so schlimm, wie er aussieht. Er ist sogar total nett und man kann echt gut mit ihm reden. Donnerstag haben Vicky und ich ihn in der Stadt getroffen und er hat sie nach Hause gefahren, als ich sie einfach hab stehen lassen – ich hatte irgendwie miese Laune, keine Ahnung warum –, aber sie haben mich beide nicht bei Mama verpetzt. Dabei sollte ich eigentlich auf Vicky aufpassen."
 

Bei der Erinnerung an den Donnerstag und mein affiges Verhalten kann ich mir ein schiefes Grinsen nicht verkneifen. Die ganze Sache ist mir immer noch furchtbar peinlich. "Na ja, Slim ist abends gleich wieder abgehauen und zu Simon nach oben gelaufen und ich wollte ihn eigentlich nur holen, aber dann hab ich noch fast zwei Stunden bei Simon in der Wohnung gesessen und mich mit ihm unterhalten, so über Namen und seinen Bruder und so. War echt nett", nuschele ich weiter und weiche Jassis Blick aus, aber ich spüre trotzdem, dass er mich auch weiterhin beobachtet.
 

"Am Freitag hat er mich dann nach Vickys Aufführung nach Hause gefahren und mich gefragt, ob ich Samstag – also gestern – schon was vorhätte, weil er mir was zeigen wollte. Ich hab total vergessen, dass ich eigentlich mit Dir verabredet war, und hab zugesagt. War ganz schön peinlich, als ich dann Deine SMS gelesen hab", gebe ich beschämt zu und schiele aus dem Augenwinkel zu meinem besten Freund, aber der sieht zu meiner Erleichterung nicht sauer aus, sondern schmunzelt einfach nur. Ich verstehe zwar nicht so ganz, was er jetzt so lustig findet, aber solange er mir nicht böse ist, werd ich mich ganz sicher nicht beschweren.
 

"Also war dieser Simon der Freund, mit dem Du Dich gestern getroffen hast?", hakt er rein rhetorisch nach, aber ich nicke trotzdem. "Ja, genau. Er hat mich gestern Nachmittag abgeholt und ist mit mir dann zu irgend so einem Turm im Wald gefahren. Ich wollte da ja erst nicht rauf – das Ding war echt verdammt hoch, mindestens zwanzig Meter oder so –, aber er hat mich irgendwie doch überredet und dann war ich doch auf diesem Teil drauf. Und obwohl ich ein paar Mal gedacht hab, ich kipp um oder schreie oder so, war's eigentlich gar nicht so schlimm. Wir haben uns da zusammen den Sonnenuntergang angekuckt", bei diesen Worten kann ich sehen, wie sich ein fettes Grinsen in Jassis Gesicht breit macht, "und nachher meinte er dann, ich dürfte mir was von ihm wünschen, weil ich trotz meiner Höhenangst nicht abgehauen bin."
 

"Und was hast Du Dir von ihm gewünscht?", erkundigt Jassi sich neugierig und ich vergrabe mein mittlerweile wieder knallrot leuchtendes Gesicht in seinem Kissen, um seinem Blick zu entkommen. "Hmmpf hwn hgn", nuschele ich undeutlich und werde noch röter, als Jassi das Kissen packt und es mir mit einem Ruck wegreißt. "Wenn Du so in mein Kissen nuschelst, versteh ich kein Wort", informiert er mich und ich versuche, mir meine Tarnung wiederzuholen – ja, verdammt, das Ganze hier ist mir tierisch peinlich –, aber dummerweise hat mein bester Freund längere Arme als ich und kann so das Kissen außerhalb meiner Reichweite deponieren. Unfair!
 

"Ich wollte, dass er die Kontaktlinsen rausnimmt", wiederhole ich meine genuschelte Antwort schließlich noch mal etwas deutlicher, aber nicht wirklich lauter. Das macht Jassi jedoch nicht das Geringste aus. Blöd für mich, dass er verdammt gute Ohren hat. Er hat mein leises Gemurmel schon immer verstanden, manchmal – so wie jetzt gerade – sehr zu meinem Leidwesen.
 

"Ich kannte ihn bis gestern nämlich nur mit Kontaktlinsen. Ich hab ihn zwar am Donnerstag schon nach seiner Augenfarbe gefragt, aber er wollte sie mir nicht verraten. Am Freitag hätte ich Ruben mehrmals beinahe deswegen gelöchert, aber ich hab's doch gelassen. Irgendwie ... Ich weiß nicht ... Ich wollte, dass Simon mir das selbst sagt. Blöd, oder? Ich weiß, das ist total bescheuert, aber irgendwie ... Na ja, gestern Abend, als wir nach Hause gefahren sind und er mir angeboten hat, dass ich mir was wünschen kann, da hab ich ihn gebeten, die Kontaktlinsen rauszunehmen. Ich bin dann mit zu ihm und da hat er das auch wirklich gemacht. Er hat übrigens graue Augen, keine braunen wie sein kleiner Bruder", haspele ich und möchte mich selbst dafür treten, dass ich allein bei der Erinnerung an gestern Abend schon wieder nervös werde und feuchte Hände kriege.
 

"Jedenfalls hab ich am Anfang echt Panik vor ihm gehabt. Jedes Mal, wenn ich ihn gesehen hab, hatte ich totales Herzrasen und so, aber jetzt geht's zumindest einigermaßen. Es ist zwar noch nicht so ganz weg – manchmal passiert das immer noch; das ist total peinlich –, aber es ist wenigstens schon ein bisschen besser geworden. Wenn wir alleine sind, kann ich mich jedenfalls super mit ihm unterhalten. Allerdings mach ich mich vor ihm immer wieder zum Affen, weil er mich einfach total durcheinanderbringt. Dabei macht er eigentlich gar nichts Schlimmes, sondern ist total nett zu mir. Und Mama und Vicky finden ihn auch ganz toll. Keine Ahnung, was Franzi über ihn denkt – wir haben seit der Sache mit Slim am Sonntag Zoff und reden nicht miteinander –, aber das ist mir eigentlich auch ziemlich egal."
 

Etwas außer Puste von meinem Redeschwall halte ich inne und sehe abwartend zu Jassi, der ein nachdenkliches Gesicht macht und Bessy, die noch immer auf seinem Schoß liegt, abwesend krault. Einen Moment lang schweigt er, aber dann sieht er mich ebenfalls an, legt den Kopf schief und sein Stirnrunzeln lässt mich noch ein bisschen kleiner werden. Diesen Gesichtsausdruck kenne ich. Und er hat nichts Gutes zu bedeuten. Jedenfalls nicht für mich.
 

"Lass mich das Ganze noch mal zusammenfassen, ja? Nur, damit ich das auch wirklich richtig verstehe", fängt er an und ich schlucke, nicke aber dennoch. Hat ja doch keinen Sinn, wenn ich jetzt widerspreche. Wenn Jassi der Meinung ist, etwas unbedingt tun zu müssen, dann hält ihn absolut nichts davon ab – weder der Weltuntergang noch meine bescheidene Meinung.
 

"Also, am letzten Sonntag hast Du zufällig euren neuen Nachbarn getroffen, der irgendwie ziemlich gruselig aussieht, sich aber als eigentlich ganz nett entpuppt und Dich auch noch vor diesen Spaten aus Deiner Klasse gerettet hat. Am Donnerstag und am Freitag hast Du Dich ein bisschen mit ihm unterhalten und gestern habt ihr euch sogar getroffen und euch zusammen den Sonnenuntergang angesehen – wofür Du sogar auf irgendeinen Turm gekraxelt bist, obwohl Du eigentlich panische Höhenangst hast." Fragend sieht Jassi mich an und ich nicke erneut.
 

"So weit, so gut. Du wirst irgendwie immer nervös, wenn dieser Typ in Deiner Nähe ist, kriegst Herzklopfen und feuchte Hände und wirst wahrscheinlich auch noch rot wie eine Tomate" – Hilfe, woher weiß er das denn? – "hältst das Ganze aber, verpeilt und ahnungslos, wie Du nun mal bist, für Panik. Hab ich bis jetzt alles richtig verstanden?"
 

Wieder trifft mich ein fragender Blick und wieder kann ich nur nicken. "Ja", gebe ich zu und daraufhin starrt Jassi mich mindestens eine geschlagene Minute lang einfach nur stumm an, bevor er fassungslos den Kopf schüttelt. "Das ist doch wohl nicht Dein Ernst, oder? Du willst mir jetzt doch nicht wirklich erzählen, dass Du tatsächlich nicht checkst, warum Du Dich so komisch fühlst und aufführst, wenn dieser Simon in Deiner Nähe ist, oder?", will er wissen und ich nicke einfach nur ein drittes Mal, diesmal allerdings ziemlich kleinlaut. Irgendwie hab ich das verdammt miese Gefühl, dass ich bis jetzt wirklich etwas Wichtiges verpasst hab, aber ich hab keine Ahnung, was das sein könnte.
 

"Ich fass es nicht! Wie kann man nur so blind sein?" Jassi rauft sich die Haare, sieht mich an und schüttelt wieder den Kopf. "Du bist sechzehn Jahre alt und willst mir echt erzählen, dass Du keine Ahnung, was diese ganze Scheiße mit Herzklopfen, feuchten Händen, Rotwerden und Nervosität zu bedeuten hat? Das gibt's doch wohl nicht!", ächzt er und ich sehe ihn verständnislos an. Warum regt er sich denn jetzt so auf? Ich hab ihm doch erklärt, was das bedeutet, also worauf will er eigentlich hinaus?
 

"Ich sag doch, ich hatte Schiss vor Simon", antworte ich defensiv und verschränke im nächsten Moment beleidigt die Arme vor der Brust, als Jassi mich erst noch einmal schräg ansieht, wie um sich zu vergewissern, dass ich meine Worte auch wirklich ernst meine, bevor er in schallendes Gelächter ausbricht. Lauthals lachend kippt er hintenüber auf sein Bett, hält sich den Bauch und strampelt schließlich sogar prustend und japsend mit den Beinen, skeptisch beäugt von Bessy, die sich gleich zu Beginn seines Lachanfalls in Sicherheit gebracht hat, und halb wütend, halb fassungslos beobachtet von mir. Lacht mein bester Freund mich etwa gerade tatsächlich aus? Was soll denn der Scheiß?
 

"Kannst Du mir mal verraten, was daran so lustig ist? Wenn Du Simon kennen würdest, dann wüsstest Du, warum ich Angst vor ihm hatte. Du hättest garantiert auch Schiss vor ihm gehabt!", pflaume ich Jassi an und springe vom Bett auf, als er sich einfach nicht wieder beruhigt. Mittlerweile laufen ihm schon Lachtränen über das Gesicht und er scheint gar nicht mehr mit seinem blöden Gegacker aufhören zu wollen. Aber bitteschön, wenn ihm das so viel Spaß macht, sich über mich lustig zu machen, dann soll er das ruhig tun – allerdings ohne mich. Ich muss mir das echt nicht geben. So ein Arschloch! Und so was behauptet von sich selbst, mein bester Freund zu sein? Dass ich nicht lache!
 

"Hoffentlich erstickst Du an Deinem bescheuerten Gekicher!", blaffe ich, stampfe zur Tür und will sie aufreißen, schaffe das aber nicht. Fluchend rüttele ich an der dämlichen Klinke – scheinbar hat sich heute echt alles und jeder gegen mich verschworen, wenn ich nicht mal so eine blöde Tür aufkriege –, aber es dauert fast eine Minute, bis ich registriere, dass Jassis Hand auf dem Holz der Tür daran schuld ist, dass sie sich nicht öffnen lässt.
 

"Tut mir leid, Jan. Ich wollte eigentlich gar nicht lachen. Das war scheiße von mir. Sei bitte nicht sauer, ja?", entschuldigt er sich zerknirscht und ich grummele zwar, lasse mich aber trotzdem von ihm von der Tür weg wieder in Richtung Bett ziehen. Dabei verfluche ich mich selbst dafür, dass ich ihm einfach nicht böse sein kann, wenn er sich ernsthaft und aufrichtig bei mir entschuldigt. Es ist echt scheiße, wenn man so leicht um den Finger zu wickeln ist. Nur gut, dass Jassi eigentlich nicht der Typ ist, der so was ausnutzt. Sonst hätte ich ein Problem.
 

"Ich weiß echt nicht, was daran lustig ist, dass ich Schiss vor unserem neuen Nachbarn hatte", muffele ich und schlage Jassis Hand weg, mit der er mich dazu zwingen will, ihn anzusehen. Dieses Zeichen meiner miesen Laune ignoriert er jedoch und rutscht stattdessen sogar noch etwas näher, um mir einen Arm um die Schultern legen und mich so an sich ziehen zu können. Ich wehre mich halbherzig gegen die Umarmung, lasse sie schlussendlich aber doch zu. Wie gesagt, ich kann ihm einfach nicht böse sein. Jedenfalls nicht allzu lange.
 

"Jan, Du hast keinen Schiss vor eurem neuen Nachbarn", murmelt Jassi und obwohl ich es eigentlich nicht wollte – ganz so schnell wollte ich ihm eigentlich nicht verzeihen, dass er mich gerade eben noch ausgelacht hat –, sehe ich ihn nun doch wieder an. "Nicht?", hake ich verwirrt nach und er grinst kurz, aber das Grinsen verschwindet gleich wieder, als ich ihm einen extra bösen Blick zuwerfe.
 

"Nein. Du bist verliebt", klärt er mich dann auf und ich blinzele mehrmals, weil ich einfach nicht fassen kann, was Jassi da gerade gesagt hat. Ich muss mich doch wohl verhört haben, oder? "Aber ...", setze ich an, doch Jassi lässt mich nicht ausreden. "Widersprich mir nicht, Jan. Du kannst mir das ruhig glauben, wenn ich es Dir sage. Du bist verliebt, und zwar in euren neuen Nachbarn", wiederholt er, was er gerade schon gesagt hat, und ich schüttele erst matt, dann ziemlich hektisch den Kopf. Das kann doch nicht sein Ernst sein!
 

"Das geht doch gar nicht", widerspreche ich, aber das überhört mein bester Freund gekonnt. "Klar geht das. Aber okay, wenn Du mir nicht glaubst, dann gehen wir das Ganze doch mal ganz logisch an", schlägt er stattdessen vor und zieht mich nach hinten aufs Bett, bis wir uns beide mit dem Rücken an die Wand lehnen können.
 

"Du kriegst Herzklopfen, wenn er in der Nähe ist, oder?", fragt er, sobald wir bequem sitzen, und obwohl ich es eigentlich nicht will, nicke ich. Jassi kennt mich schließlich lange genug um zu wissen, wann ich ihn anlüge oder ihm etwas verschweige, also macht Leugnen gar keinen Sinn. Das würde er sofort merken – mal ganz davon abgesehen, dass ich einfach ein miserabler Lügner bin. Mich durchschaut wirklich jeder. Sogar kleine Kinder lügen um Längen besser als ich.
 

"Und manchmal wirst Du rot, wenn er Dich ankuckt oder mit Dir spricht." Jassi schmunzelt ganz leicht, als ich mich wie auf Kommando in eine überreife Tomate verwandele. Ich hingegen möchte mich am liebsten aus seinem Fenster stürzen, aber da sein Zimmer ebenso im Erdgeschoss liegt wie mein eigenes, bringt mir das herzlich wenig. Ich würde nur im Garten landen und von Bosco, Sandy und Nana angesabbert werden.
 

"Außerdem wirst Du nervös, Deine Hände werden feucht und Du weißt nicht, was Du sagen sollst. Und wenn Du was sagst oder tust, kommst Du Dir dabei unglaublich blöd vor und bist Dir hundertprozentig sicher, dass er Dich für den größten Trottel halten muss, der auf dieser Welt rumläuft. Trifft's das so ungefähr?" Am liebsten würde ich Jassi dafür schlagen, dass er meine ganze Gefühlswelt so verdammt exakt beschreibt, aber der Gedanke daran, was das, was er damit eigentlich sagen will, bedeutet, lässt mich einfach nur starr und reglos in seinem Arm verharren und fassungslos auf meine Hände starren.
 

Das kann doch nicht sein, oder? Jassi kann doch nicht wirklich Recht haben mit dem, was er mir da einreden will, oder? Ich meine, ich kann doch nicht wirklich ... verliebt? ... sein – und dann auch noch ausgerechnet in Simon. Oder etwa doch? Aber ... "Aber er ... er hat eine ... eine Freundin", krächze ich und spüre zu meinem Entsetzen, wie meine Augen zu brennen beginnen. Scheiße, ich kann doch jetzt nicht auch noch anfangen zu heulen!
 

"Und er ... er ist ... er ist ... Er ... ist doch ... kein Mädchen", bringe ich noch irgendwie raus und kneife meine Augen ganz fest zusammen, um diese beschissene Feuchtigkeit, die immer stärker nach draußen dringt, bloß da zu behalten, wo sie gerade ist. Ich will nicht heulen. Nicht hier, nicht jetzt, am liebsten überhaupt nicht. Und ich will auch nicht ... verliebt sein ... in Simon. Ich will das nicht! Ich hab mir das doch immer ganz anders vorgestellt!
 

"Na und?", holt Jassis Stimme mich wieder aus meinen Gedanken und als ich ihn nun doch ansehe, lächelt er ganz leicht. "Niemand kann kontrollieren, in wen er sich verliebt. Das kann man nicht steuern. Entweder sind die Gefühle da oder sie sind es eben nicht. Und bei Dir sind sie da. Das ist echt nicht zu übersehen", sagt er leise und ich schüttele den Kopf. Ich will das einfach nicht glauben. Ich will es nicht wahrhaben, dass ich tatsächlich verli– dass ich diese Gefühle habe – ausgerechnet für Simon. Ich will das nicht, verdammt!
 

"Aber ...", fange ich an, doch Jassis Finger auf meinen Lippen unterbricht sämtliche Rechtfertigungen und Widersprüche, die ich vorbringen will. "Du kannst nichts dafür, Jan. Und es ist auch nicht schlimm. Es ist vollkommen okay. Auch wenn Du hundertmal in irgendeinen Typen verliebt bist, den ich noch nicht kenne, Du bist und bleibst immer mein bester Freund, okay? Daran wird sich nie was ändern. Nie", verspricht er mir und bringt mit diesen Worten auch noch mein letztes bisschen Selbstbeherrschung zum Einsturz. Aufschluchzend kralle ich mich in sein Shirt, vergrabe mein Gesicht an seiner Brust und lasse in dem Moment, in dem er seine Arme um mich schließt und mich ganz nah an sich zieht, meinen Tränen doch freien Lauf. Verdammt, ich will nicht in Simon verliebt sein!
 

Wie lange ich mich so heulend an Jassi geklammert und immer wieder geschluchzt hab, dass ich diese ganzen beschissenen Gefühle, die ich jetzt, wo ich sie endlich verstehe, einfach nur hasse, nicht haben will, weiß ich nicht. Es dauert jedenfalls eine gefühlte Ewigkeit, bis ich mich wieder einigermaßen beruhigt habe. Draußen ist es inzwischen schon stockdunkel und ich fühle mich einfach nur wie durch den Wolf gedreht. Mein Kopf dröhnt, meine Augen brennen, mir ist schlecht und ich würde mich am liebsten für den Rest meines Lebens hier in Jassis Bett verkriechen und sein Zimmer nie wieder verlassen.
 

"So was kann echt nur mir passieren", nuschele ich und vergrabe mein Gesicht wieder in Jassis Shirt, das mittlerweile schon fast klatschnass ist. Hoffentlich holt er sich wegen meiner Heulerei keine Erkältung oder so. Das hat er echt nicht verdient. "Da ... hab ich zum ... ersten Mal solche ... solche Gefühle und dann ... dann ist alles einfach nur scheiße. Nicht nur, dass Simon ein Kerl ist, er hat auch noch eine Freundin, die laut Mama ja so gut zu ihm passt! Ich bin für ihn nichts anderes als der Sohn seiner Nachbarin, der zufällig auch noch in die gleiche Klasse geht wie sein kleiner Bruder. So eine Scheiße!", jammere ich und Jassi streicht mir tröstend über die Haare, wie er es schon die ganze Zeit über getan hat.
 

"Also, ich weiß ja nicht. Immerhin hat er Dich gestern auf diesen Turm geschleift, um sich mit Dir den Sonnenuntergang anzusehen", murmelt er, aber ich schüttele den Kopf, ohne zu ihm aufzusehen. "Das hat er nur wegen meiner Höhenangst gemacht. Auf so ähnliche Art hat er Ruben von seiner Angst vor Gewittern kuriert. Er wollte nur nett sein und mir helfen, sonst nichts. Wahrscheinlich erinnere ich ihn irgendwie an seinen kleinen Bruder oder so. Den sieht er ja nicht so oft, weil sein Vater Ruben den Umgang mit ihm verboten hat", nuschele ich zurück und verkrieche mich halb in Jassis Shirt.
 

"Das kann natürlich sein", gibt er zu und mir ist schon wieder zum Heulen zumute, aber dieses Mal schlucke ich die Tränen runter. "Es ist so!", beharre ich. "Er mag mich vielleicht wirklich ein bisschen, aber wohl eher als Ersatz für Ruben und nicht ... na ja, nicht so eben. Er hat ja schließlich eine Freundin." Und genau dieser Gedanke tut so unglaublich weh, dass ich mir auf die Lippe beißen muss, damit Jassi nicht merkt, wie scheiße es mir gerade wirklich geht. Ich will nicht, dass er sich noch mehr Sorgen um mich macht.
 

"Hey, nicht traurig sein, Kleiner. Jeder ist mal unglücklich verliebt", versucht er, mich zu trösten, aber das macht es auch nicht besser. Nicht nur, dass ich mir jetzt tatsächlich sicher bin, dass er Recht hat mit seiner Vermutung; nein, jetzt, wo ich weiß, was mit mir los ist, möchte ich mich einerseits für meine Dummheit und Blindheit der letzten Woche schlagen, während ich mich andererseits einfach nur verkriechen und weiterheulen möchte. Wieso muss ich mich, wenn ich mich zum ersten Mal verliebe, ausgerechnet in einen Kerl verlieben, der noch dazu eine Freundin hat? Das ist einfach nicht fair!
 

"Ich will nach Hause", nuschele ich in Jassis Shirt und kann spüren, wie er nickt. "Okay. Ich bring Dich, dann musst Du nicht alleine gehen. Die Hunde müssen eh raus", murmelt er, krault mir noch mal kurz den Nacken und schiebt mich dann von sich, um sich erst mal ein neues Shirt anzuziehen. Ich wische mir währenddessen mit dem Ärmel meines Pullis über die Augen und schlurfe dann mit hängendem Kopf in den Flur, um mich anzuziehen. Dabei bin ich froh, dass Viola offenbar in der Küche rumwuselt und mich nicht so sieht. Ich will einfach nicht, dass mich irgendjemand fragt, was mit mir los ist. Ich hab heute nicht die Kraft, das irgendwem zu erklären. Dafür sitzt der Schock einfach noch zu tief. Ich meine, es ist ja nun wirklich nicht ganz alltäglich, wenn der beste Freund einen mit der Nase darauf stoßen muss, dass man sich verliebt hat – und das auch noch in einen anderen Kerl –, oder?
 

"Komm, Kleiner, wir können." Jassi legt mir einen Arm um die Schultern, ruft seiner Mutter noch ein "Ich bring Jan eben nach Hause!" zu und pfeift dann nach den Hunden, sobald die Haustür hinter uns zugefallen ist. Bosco, Sandy und Nana kommen auch gleich angewetzt und rennen wedelnd um uns herum, bis Jassi die Gartentür aufmacht. Dann flitzen die Drei wie auf Kommando vor und fangen an, an den Büschen und Hausmauern, an denen wir vorbeikommen, zu schnuppern. Keiner der Drei ist angeleint, aber das ist auch nicht nötig, weil sie alle normalerweise aufs Wort gehorchen.
 

Den Weg zu mir nach Hause bringen Jassi und ich größtenteils schweigend hinter uns. Mir ist jetzt einfach nicht nach Reden zumute und ich bin froh, dass er das versteht und nicht versucht, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Hin und wieder pfeift er kurz oder ruft nach einem der Hunde, aber ansonsten ist es still. Ich halte meinen Kopf auch weiterhin gesenkt, denn meine Augen brennen schon wieder. Wenn ich jetzt aufsehe, dann fange ich garantiert wieder an zu heulen. Und das will ich nicht.
 

Erst als wir bei mir zu Hause ankommen, hebe ich meinen Blick doch wieder vom ausgesprochen uninteressanten Boden und zucke zusammen, als er wie von selbst auf Simons Auto auf dem Parkplatz fällt. Daneben steht heute noch ein anderer Wagen und obwohl ich den nicht kenne, bin ich mir absolut sicher, dass ich weiß, wem er gehört.
 

"Seine Freundin ist bei ihm", murmele ich krächzend und im nächsten Moment zieht Jassi mich wieder in seine Arme. "Tut mir so leid für Dich, Kleiner", flüstert er in meine Haare und ich klammere mich ein paar Sekunden lang haltsuchend an ihn, ehe ich ihn wieder von mir schiebe und mir entschlossen über die Augen wische. Keine Heulerei mehr heute, nehme ich mir dabei fest vor, obwohl ich mir fast sicher bin, dass ich diesen Vorsatz nicht einhalten kann.
 

"Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn Du reden willst, okay, Kleiner?" Jassi versucht sich an einem aufmunternden Lächeln, aber es wird nur eine etwas verunglückte Grimasse daraus. Bosco schlabbert mir derweil die Hand ab, wie um mich zu trösten, und ich muss mich stark zusammenreißen, um nicht gleich wieder in Tränen auszubrechen.
 

"Ganz egal wann. Von mir aus auch nachts oder so. Wenn Du wen zum Reden brauchst, bin ich da. Und im Notfall kannst Du auch im Zoo vorbeikommen. Ich hab immer Zeit für Dich. Irgendwie krieg ich das schon hin", verspricht Jassi mir und ich nicke einfach nur, während mir mal wieder klar wird, dass ich einfach den allerbesten besten Freund der Welt habe. Immerhin kann er es sich ja eigentlich nicht leisten, seine Zeit mit mir zu vertrödeln, wenn er arbeiten muss, aber ich weiß, dass er sein Versprechen trotzdem irgendwie halten wird, wenn es notwendig ist. Jassi ist einfach so.
 

"Wird schon", versuche ich, mir selbst Mut zuzusprechen, aber das Lächeln lasse ich bleiben. Ich weiß, dass das jetzt sowieso nicht klappen würde, also tätschele ich nur den Hunden die Köpfe, drücke Jassi noch mal kurz und mache mich dann auf den Weg zur Haustür. Dabei versuche ich, nicht zum ersten Stock hochzusehen, aber als ich bemerke, dass Licht aus dem Wohnzimmerfenster fällt, tue ich es doch und bleibe um ein Haar wie angewurzelt mitten auf dem Weg stehen.
 

Oben am Fenster steht Simon, das erkenne ich an der Silhouette. Aber er ist nicht alleine und der Anblick des Mädchens, das da mit verschränkten Armen neben ihm steht, halb zu ihm umgewandt, und offenbar gerade mit ihm spricht, versetzt mir einen schmerzhaften Stich. Das Gefühl, das in mir hoch kocht und von dem ich mir ziemlich sicher bin, dass es Eifersucht ist – was anderes kann es einfach nicht sein –, schnürt mir die Kehle zu und ich renne fast schon zur Tür, nur um die beiden nicht mehr sehen zu müssen.
 

Allerdings werde ich das Bild einfach nicht los – auch nicht, als ich meine Zimmertür hinter mir zuwerfe, mich auf mein Bett fallen lasse und mein Gesicht in meinem Kopfkissen vergrabe. Der Anblick von Simon und seiner Freundin, die in trauter Zweisamkeit an seinem Wohnzimmerfenster stehen und sich unterhalten, tut einfach unheimlich weh. Zu wissen, dass sie jetzt bei ihm ist und dass ich für ihn nichts anderes bin als ein Freund seines kleinen Bruders, der zufällig auch noch bei ihm im Haus wohnt, ist einfach nur scheiße.
 

In dem krampfhaften Versuch, bloß nicht wieder zu heulen, beiße ich mir so fest auf die Unterlippe, bis ich spüren kann, dass sie zu bluten anfängt. Allerdings ist dieser Schmerz ein Witz im Vergleich zu dem in meinem Herzen. Das ist doch einfach nur Mist, echt. Da verliebe ich mich tatsächlich zum allerersten Mal in meinem Leben – ja, ich weiß, mit fast siebzehn bin ich verdammt spät dran, aber dafür kann ich ja nun nichts – und dann entwickele ich diese Gefühle nicht nur für einen Kerl, sondern auch noch für einen, dem ich jederzeit zufällig begegnen könnte und der noch dazu schon eine Freundin hat.
 

Wie lange ich hier so rumliege und mit meinem Blut mein Kissen versaue, weiß ich nicht. Ich will im Augenblick nicht auf die Uhr kucken und ich will schon gleich dreimal niemanden um mich haben. Aus diesem Grund rappele ich mich schließlich doch noch von meinem Bett auf, um erst mal kurz ins Bad zu huschen, wo ein Blick in den Spiegel, den ich mir mal besser verkniffen hätte, mir anzeigt, dass ich tatsächlich auch so scheiße aussehe, wie ich mich gerade fühle.
 

Nachdem ich mir kurz das Gesicht gewaschen habe – was zwar auch nicht wirklich viel bringt, aber wenigstens meine brennenden Augen ein bisschen kühlt –, schlurfe ich zurück in mein Zimmer, schließe die Tür hinter mir ab und verkrieche mich wieder in meinem Bett. Slim, der sich offenbar in der Zwischenzeit mal wieder zu mir reingeschlichen hat, versuche ich zu ignorieren, aber als er schließlich zu mir auf die Matratze springt und seinen Kopf immer wieder an meiner Wange reibt, ziehe ich ihn doch zu mir, nehme ihn in den Arm und lasse die Tränen, die ich jetzt einfach nicht mehr länger aufhalten kann, in seinem Fell versickern. Dass er mir seine Krallen in die Schulter schlägt, registriere ich dabei nur am Rande. Das ist mir aber auch vollkommen egal. Was sind auch schon ein paar Kratzspuren von dem blöden Kater verglichen mit dem Wissen, dass meine erste Liebe gleich von vornherein zum Scheitern verurteilt ist?
 

~*~
 

Und? Was sagt ihr dazu? Wollt ihr mich jetzt schlagen für das, was ich dem armen Janni antue?

*schon mal in Deckung geh*

Bedenkt bei Mordversuchen bitte, dass ich dann nicht weiterschreiben kann, okay? Und das wäre doch sicher nicht in eurem Sinne, oder?
 

Freue mich wie immer, wenn ihr mir eure Meinung dalasst. Bis zum nächsten Mal!

*wink*
 

Karma

Von Referaten, Halloweenplänen und neuen Freunden

Obwohl jetzt gerade sowieso schon endlos viele FFs auf Freischaltung warten, dachte ich, ich trage auch noch ein bisschen zu dem Stau bei.

*grins*
 

Übrigens gehen dieses Mal Kekse für das Aufdecken einer ziemlich offensichtlichen Verwechslung an Schwarzfeder, Yumika, Inan und abgemeldet.

*Kekse verteil für die Sache mit Morgaine*

In der Tat hat Simon niemals von "seiner Freundin" gesprochen. Das hat Jannis Mutter einfach nur angenommen, als sie das Mädel gesehen hat. Nur dumm, dass Janni das nicht weiß. Aber er wird's erfahren ... irgendwann.

XD
 

@Rayligh: Danke für den Kommentar - und dafür, dass Du mich nicht meucheln willst.

^.~
 

@Schwarzfeder: Den Großteil hab ich Dir ja schon beantwortet, also nur noch mal ein Danke für Deinen Riesenkommi.

*_____*
 

@abgemeldet: Yay, noch jemand, der mich leben lässt!

^.~

Und zu Deiner Streitvermutung: Nicht wirklich, aber Morgaine hat Simon gerade schon etwas geärgert und ihn mit etwas aufgezogen, was der ihr mal erzählt hat. Was das allerdings war, verrate ich nicht.

*mir den Mund zukleb*
 

@Yumika: Und noch ein Monsterkommi!

*im Kreis tanz*

Ich freu mir immer nen Keks, wenn ich solche langen Kommis kriege, in denen so viel spekuliert wird.

*____*

Freut mich, dass Du Jassi magst. Und ja, er hatte spätestens bei der Sache mit dem Sonnenuntergang den Durchblick. Er kennt Janni eben von klein auf.

Dazu, dass Janni Dir nicht wie sechzehn vorkommt, kann ich Dir nur zustimmen. Er ist, bedingt durch seine Krankheit (auf die ich im nächsten Kapitel eingehen werde), ein bisschen reifeverzögert, gerade was Gefühle betrifft. Da ist er ein echter Spätzünder. Aber bedenke: Simon ist erst neunzehn, also ist er sooooo wahnsinnig erwachsen auch noch nicht. Er mag reifer sein als Janni, aber längst nicht fehlerlos.
 

@Inan: Jaja, dramatische Missverständnisse müssen sein. Ich freu mich schon darauf, wenn Janni DAS auch endlich mitkriegt.

*kicher*

*schon ganz genau weiß, wann und wo das passieren wird*
 

@abgemeldet: Inwieweit es Janni bald besser geht ... Nyan, sagen wir, seine Stimmung schwankt im Moment ziemlich. Aber ich glaube, jede(r), der/die sich noch an seine/ihre allererste Verliebtheit erinnert, kann Jannis Gefühlschaos zumindest ein bisschen nachvollziehen. Ich weiß jedenfalls, dass ich damals fast genauso war wie er. Gut, ich war jünger als er es jetzt ist, aber die Gefühlslage war die gleiche.
 

@Aschra: So, Liebes, hier ist auch eins der zwei Kapitel, die ich Dir für Dein Seelenheil schon vorab geschickt hab. Du weißt, was passiert, also ist nichts von dem hier eine große Überaschung für Dich. Trotzdem hoffe ich, Du magst es - auch wenn Janni mal wieder ein bisschen leiden muss.

^^°
 

Übrigens hat in diesem Kapitel auch endlich Christie seinen Auftritt.

*ihn puschel*

Und ich muss sagen, ich hab ihn lieb. Genau wie Jassi. Und Ruben. Und Janni. Und Simon. Und Flo (der hier auch seinen ersten Auftritt hat). Und Morgaine (die bisher ja noch gar nicht vorgekommen ist). Und überhaupt fast alle.

*gerade ein bisschen auf Zucker ist*
 

Enjoy!
 

Karma
 

~*~
 

Am Montagmorgen komme ich noch wesentlich schlechter in die Gänge als am Sonntag. Meine Augen sind total verklebt, mein Schädel dröhnt, als würde er bei der nächsten unvorsichtigen Bewegung meinerseits platzen und allgemein fühle ich mich einfach nur total beschissen. Noch dazu habe ich in meinen Klamotten geschlafen, weil ich gestern Abend vor lauter Heulen irgendwann einfach weggepennt bin, also sehe ich aller Wahrscheinlichkeit nach sicher wenigstens halb so schlimm aus, wie ich mich tatsächlich fühle.
 

Slim, an dem ich mich die halbe Nacht lang festgehalten hab – irgendwann hat er sich durch Kratzen aus meiner Umklammerung befreit, aber ich nehme ihm das nicht übel –, sitzt neben meinem Bett und sieht mich an, als würde er etwas Bestimmtes von mir erwarten, aber ich habe keine Ahnung, was das sein könnte. "Morgen, Mistvieh", grüße ich ihn matt und stelle dabei gleich mal fest, dass meine Stimme schlimmer krächzt als sämtliche Krähen, die unsere Gegend zu bieten hat. Aber nach dem gestrigen Tag ist das wohl auch kein Wunder.
 

"Komm, ich lass Dich raus. Muss ja eh jetzt gleich zur Schule. Hilft ja alles nix." Mit diesen Worten schwinge ich mich aus dem Bett, schlurfe zur Tür und schließe sie so leise wie möglich auf, um nur ja niemanden darauf aufmerksam zu machen, dass ich wach bin. Gestern habe ich es geschafft, meiner Mutter und meinen Schwestern aus dem Weg zu gehen und heute möchte ich das nach Möglichkeit auch so halten. Ich will nicht, dass sie mich so zu Gesicht kriegen. Mama macht sich sonst nur wieder Sorgen, Vicky auch und Franzi lacht mich wahrscheinlich aus. Keine besonders berauschenden Aussichten.
 

Kaum dass ich meine Zimmertür einen Spalt geöffnet hab, flitzt Slim auch schon wie ein geölter Kugelblitz an mir vorbei in Richtung Bad, wo sein Katzenklo steht. Irgendwie rechne ich es ihm ja schon hoch an, dass er mein Zimmer nicht versaut hat. War sicher scheiße für ihn, die ganze Nacht hier mit mir eingesperrt zu sein. Aber er hätte ja auch nicht reinkommen müssen, also war er's so gesehen ja eigentlich selbst schuld. Er hätte sich immerhin auch bemerkbar machen können, wenn er raus gewollt hätte. Ich hätte davon zwar wahrscheinlich eh nichts mitgekriegt, aber ... ach, ist ja eigentlich auch egal. Warum denke ich eigentlich über so einen Scheiß nach?
 

Auf diese Frage gibt's eine ganze einfache Antwort: Weil die Alternative zu nachdenken über so einen Schwachsinn nachdenken über Simon und das, was Jassi mir gestern klargemacht hat, heißen würde. Und das will ich nicht. Ich will nicht darüber nachdenken, was das alles zu bedeuten hat. Ich will weder darüber nachdenken, dass ich überhaupt solche komischen Gefühle hab, noch will ich darüber nachdenken, dass das alles wegen Simons Freundin eh keinen Sinn hat.
 

Am allerwenigsten will ich aber darüber nachdenken, ob diese Gefühle jetzt eigentlich bedeuten, dass ich irgendwie ... ich weiß auch nicht ... schwul ... bin. Dass das ja wohl zumindest nicht allzu abwegig ist, ist mir nämlich irgendwann im Laufe der Nacht – jaja, ich weiß, ziemlich spät, aber besser spät als nie – klargeworden. Ich bin mir nur nicht so ganz sicher, ob ich jetzt wirklich generell auf ... auf Jungs stehe oder einfach nur auf Simon. Keine Ahnung, welche Option besser wäre. Im Augenblick finde ich sie beide gleichermaßen scheiße. Wofür braucht man überhaupt solche Gefühle?
 

Kopfschüttelnd, um diese Gedanken zu vertreiben, husche ich Slim hinterher ins Bad und schließe mich da für eine kurze Morgentoilette ein. Sobald ich damit fertig bin, verschwinde ich schnellstens wieder in meinem Zimmer, ziehe mich um und stopfe lustlos die Sachen, die ich für heute brauche, in meinen Rucksack. Mit diesem bewaffnet schleiche ich in den Flur, schlüpfe in meine Jacke und meine Schuhe und bin aus der Wohnung raus, bevor meine Mutter oder eine meiner Schwestern etwas sagen kann. Aufs Frühstück verzichte ich lieber. Mir ist viel zu schlecht, um jetzt irgendwas zu essen.
 

Den Weg zur Bushaltestelle bringe ich mit zügigen Schritten hinter mich. Dabei halte ich den Kopf die ganze Zeit gesenkt und weigere mich standhaft, nach rechts, links oder auch nur nach oben zu sehen. Dass ich in niemanden reinlatsche, grenzt schon halb an ein Wunder, aber das ist mir ziemlich egal. Genau genommen ist mir im Moment so gut wie alles egal. Ich will einfach nur diesen Tag irgendwie überstehen, damit ich mich danach wieder zu Hause in meinem Bett verkriechen und mich selbst für den Scheiß, der sich mein Leben nennt, bemitleiden kann. Nicht sehr produktiv, das ist mir durchaus klar, aber mir steht auch nicht der Sinn danach, produktiv zu sein. Ich will einfach nur diese beschissenen Gefühle wieder loswerden. Die bringen mir doch eh nichts als Ärger.
 

Noch lustloser als ohnehin schon an einem Montagmorgen schlurfe ich nach der Fahrt aus dem Bus, in die Schule hinein und schleiche da gleich bis zu meinem Klassenzimmer durch, ohne auf die blöden Hänseleien von Kevin und den Anderen, die schon vor mir da waren, einzugehen. Sollen sie mich doch Tunte, Schwuchtel und was weiß ich noch alles nennen. Ganz so abwegig, wie ich bisher immer geglaubt habe, ist das ja wohl doch nicht. Ob Kevin vielleicht irgendwie Hellseher ist oder so?
 

Über diesen vollkommen schwachsinnigen Einfall meinerseits muss ich tatsächlich kurz grinsen, aber das hält nicht allzu lange an. In dem Moment, in dem Ruben mir strahlend wie ein Flutlichtscheinwerfer entgegengerannt kommt und völlig außer Atem vor mir stehen bleibt, verschwindet das Grinsen gleich wieder, weil das Erste, was mir bei seinem Anblick durch den Kopf geht, der Gedanke ist, dass ich mich dummerweise ausgerechnet in seinen großen Bruder verliebt habe. Was würde Ruben wohl denken, wenn er das wüsste? Ob er dann immer noch mit mir befreundet sein wollen würde? Oder würde er sich dann von mir distanzieren und sich in die Lästerriege einreihen?
 

Da ich von diesen ganzen "Was wäre wenn?"-Gedanken nur noch mehr Kopfschmerzen kriege, versuche ich, sie in den hintersten Winkel meines Hirns zu verbannen, aber das ist nicht so einfach, wie ich das gerne hätte. Außerdem muss ich mich jetzt, wo Ruben munter auf mich einquasselt, mir von seinem Wochenende erzählt und mich fast im gleichen Atemzug nach meinem fragt, stark zusammenreißen, um mich nicht zu verraten oder gleich wieder einen Heulkrampf zu kriegen. Käme mitten auf dem Gang in der Schule sicher nicht so toll.
 

"War nicht so berauschend", nuschele ich schließlich nach minutenlangem Schweigen doch noch als Antwort, weil Ruben einfach nicht aufhört, mich abwartend anzusehen. "Hab schlecht geschlafen", schiebe ich noch hinterher und gleich darauf unterzieht er mein Gesicht aus der Nähe einer überaus kritischen Musterung. "So siehst Du auch aus", stellt er fest und verdreht die Augen, als von irgendwo schräg hinter uns "Knutscht euch woanders, ihr Schwuchteln!" kommt.
 

"Neidisch oder was?", blafft Ruben in Richtung Malte zurück und ehe ich mich versehe, hat er sich schon meine Hand geschnappt und macht auch nicht den Eindruck, als würde er sie so bald wieder loslassen wollen. Eigentlich würde ich jetzt protestieren – für solche Spielchen bin ich normalerweise nicht zu haben; mir sind die Konsequenzen zu schmerzhaft, wenn einer meiner herzallerliebsten Klassenkameraden mich alleine in die Finger kriegt –, aber dafür habe ich jetzt einfach nicht die Kraft. Wenn es Ruben Spaß macht, mit mir Händchen zu halten, bitteschön. Ich bin ja kein Spielverderber.
 

"Bah, so was will doch keiner sehen! Das ist ja ekelhaft!", kommt es bei unserem Anblick von Kevin, aber bevor dieser zu uns rüberkommen und uns auf seine unnachahmlich charmante Art und Weise klarmachen kann, was er von händchenhaltenden Jungs hält, kommt eine äußerst konfus und gestresst wirkende Frau Römer um die Ecke geschossen, schließt die Tür des Klassenraums auf und scheucht uns alle hinein.
 

Da Ruben und ich die Letzten sind, die den Raum betreten, fällt Frau Römers Blick zwangsläufig auf unsere noch immer verschränkten Hände – Ruben lässt mich nämlich auch jetzt nicht los, sondern schleift mich so zu unseren Plätzen und drückt mich da auf meinen Stuhl –, aber sie sagt nichts dazu, sondern sieht uns nur mit fragend hochgezogener Braue nach. Nicht, dass es mich überhaupt stören würde, wenn sie jetzt eine Frage stellen würde. Ich würde ihr nur nicht antworten. Mir ist im Augenblick einfach nicht nach Reden. Mit niemandem. Am liebsten wäre ich jetzt zu Hause in meinem Bett, aber wenn ich versucht hätte zu schwänzen, dann würde meine Mutter sich nur wieder Sorgen ohne Ende machen und das will ich nicht. Ich will einfach nur meine Ruhe haben, bis diese beschissenen Gefühle endlich wieder weg sind.
 

Wie üblich wird allerdings auch heute natürlich mal wieder ganz gepflegt darauf geschissen, was ich will und was ich nicht will. Kaum dass Frau Römer nämlich ihren ganzen Krempel wie sonst auch über das gesamte Pult verteilt hat, hockt sie sich auch schon halb darauf und strahlt dann so dermaßen gut gelaunt in die Runde, dass sich mir der Magen umdreht. So gute Laune bei ihr an einem Montagmorgen kann einfach nichts Gutes zu bedeuten haben.
 

"Wie ihr ja sicher noch wisst, hat unsere Klasse für diese Woche einen zweieinhalbtägigen Ausflug mit Übernachtung in einer Jugendherberge geplant", erinnert sie uns und ich kann mir ein genervtes Aufstöhnen nicht verkneifen. Diesen schwachsinnigen Ausflug hatte ich schon wieder vollkommen vergessen. Oder nein, vergessen stimmt nicht ganz. Verdrängt trifft es wohl eher. Ich wollte einfach nicht daran denken, dass ich mich volle zweieinhalb Tage mit meiner tollen neuen Klasse amüsieren "darf" – und zwar, wenn ich mich recht erinnere, diese Woche Mittwoch, Donnerstag und Freitag –, weil meine herzallerliebste Klassenlehrerin der Meinung ist, damit den Klassenzusammenhalt zu fördern. Ich weiß echt gar nicht, was sie hat. Die Klasse hält doch toll zusammen – gegen mich zwar, aber immerhin. Von mir aus können wir also mit Freuden auf diesen mistigen Ausflug verzichten und einfach zu Hause bleiben.
 

Ausnahmsweise scheine ich sogar mal mit dem Großteil meiner Klasse einer Meinung zu sein – es geschehen noch Zeichen und Wunder –, wenn ich nach dem genervten Gemurmel gehen darf. Daran stört sich Frau Römer allerdings überhaupt nicht. Sie zupft sich einfach nur ihren dicken roten Wollpulli zurecht, ohne dass das atomverseuchte Strahlen aus ihrem Gesicht verschwindet, und redet dann einfach weiter über diesen dummen Ausflug, auf den keiner wirklich Lust hat.
 

"Ich hoffe, ihr denkt alle daran, auch wirklich alles einzupacken, was ich euch auf den Zettel geschrieben habe, den ihr vor den Ferien bekommen habt." Bei der Erwähnung dieses Zettels runzele ich kurz die Stirn, bis ich mich daran erinnere, dass ich dieses nutzlose Stück Papier irgendwo zu Hause in meinem Zimmer auf den Schreibtisch geworfen habe. Muss ich also nachher mal danach kramen. Um diesen Ausflug – der, wie ich Frau Römer kenne, wahrscheinlich eigens zu dem Zweck geplant worden ist, mich endlich richtig in die wahnsinnig tolle Klassengemeinschaft zu integrieren – komme ich ja so oder so nicht drumrum. Immerhin hat Mama den Erlaubniswisch schon unterschrieben und auch die Kohle dafür überwiesen, soweit ich weiß. Ganz toll. Ich glaube, ich stelle mich krank. Ich will nicht wegfahren.
 

Andererseits, wenn ich so genau darüber nachdenke, ist das vielleicht doch gar keine so schlechte Idee. Klar, ich kann mir auf jeden Fall Besseres vorstellen als zweieinhalb Tage mit diesen Vollhonks und den Hohlbratzen von Weibern aus dieser Klasse verbringen zu müssen – Ruben mal ausgenommen, der ist schließlich weder das Eine noch das Andere –, aber zwei Tage und zwei Nächte weg von zu Hause bedeutet auch zwei Tage und zwei Nächte weit weg von Simon und irgendwo ganz tief in mir ist da die wahrscheinlich total unsinnige Hoffnung, dass meine blöden Gefühle sich einfach in Luft auflösen, wenn ich ihn nur mal eine Weile lang nicht sehe oder nicht in seiner unmittelbaren Nähe bin.
 

"Ein zweitägiger Klassenausflug mit diesen Honks?" Ruben neben mir schnaubt leise und ich nicke seufzend. "Integration des armen Emos in die Klassengemeinschaft. Sie meint's eigentlich nur gut, aber sie schießt dauernd übers Ziel hinaus", erkläre ich ihm und ernte dafür ein schiefes Grinsen. "Mein Beileid. Aber hey, jetzt bist Du ja nicht mehr alleine", macht er mir Mut und klopft mir mit seinem Gipsarm vorsichtig auf die Schulter. "Hoffentlich gibt's wenigstens ein Zweierzimmer für uns. Ich kann nämlich super darauf verzichten, einen von diesen Spacken um mich haben zu müssen."
 

Da er mir damit aus der Seele spricht, erlaube ich mir ein winziges Lächeln, das es allerdings auch nicht schafft, lange auf meinen Lippen zu bleiben. Dafür bin ich heute einfach nicht in der Stimmung. Und ich bin auch nicht in der Stimmung zum Zuhören oder Mitarbeiten im Unterricht, deshalb schalte ich ganz schnell ab, als Frau Römer vom Thema Ausflug zurück auf ihre eigentliche Aufgabe schwenkt und uns mit ihrem Unterrichtszeug vollzulabern beginnt.
 

Die ersten zwei Stunden vergehen, ohne dass ich wirklich viel davon mitkriege. Ich starre die ganze Zeit aus dem Fenster oder döse vor mich hin und bin froh darüber, dass weder Frau Römer noch Ruben versuchen, mich irgendwie anzusprechen. Scheinbar haben sie beide bemerkt, dass ich im Moment einfach nicht in der richtigen Verfassung für Unterricht oder irgendwelche Gespräche bin. Es gibt eben doch noch nette Pädagogen und Mitschüler.
 

Auch die erste große Pause rauscht größtenteils einfach nur an mir vorbei. Dadurch, dass das Wetter trotz der Kälte ganz annehmbar ist, hocken Ruben und ich wieder draußen auf "unserer" Bank und während er krümelnd ein paar Kekse verdrückt – von denen er mir zwischendurch immer wieder mal welche anbietet, die ich jedes Mal dankend ablehne; mir ist immer noch schlecht –, starre ich einfach nur vor mich hin und wünsche mich weit, weit weg von hier.
 

"Sag mal, weißt Du eigentlich, wohin dieser komische Ausflug geht?", reißt Ruben mich irgendwann aus meinen Gedanken und ich schrecke auf, schüttele dann jedoch den Kopf. "Keine Ahnung. Den Wisch hab ich irgendwo zu Hause, aber ich hab nicht draufgekuckt", nuschele ich, ohne zu ihm aufzublicken. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass er mich stirnrunzelnd ansieht. Er fragt aber nicht, was mit mir los ist, und ich bin ihm dankbar dafür. Er wirkt zwar nicht so, weil er immer so viel quasselt, aber er hat offenbar echt einen sechsten Sinn dafür, wann ich einfach nur meine Ruhe haben will.
 

Als es klingelt, erhebe ich mich etwas mühsam von der Bank und schlurfe Ruben dann wenig begeistert hinterher zum Bioraum. Auch der Unterricht von Frau Detrichs hinterlässt bei mir keinen wirklichen Eindruck und dadurch, dass sie generell immer sehr leise spricht, nicke ich sogar mehrmals ein und habe es nur Ruben, der mich immer wieder unauffällig weckt, zu verdanken, dass ich dafür keinen Ärger bekomme.
 

Ziemlich müde und erledigt schleppe ich mich nach Bio zurück zu unserem Klassenraum, um auch noch die letzte Stunde für heute – Religion – hinter mich zu bringen. Dabei fragt ein Teil meines benebelten Hirns sich zum wiederholten Mal, warum ich mich selbst eigentlich immer noch mit diesem Fach quäle. Wenn ich nicht so dämlich gewesen wäre und es zu Beginn des neuen Schuljahres abgewählt hätte, dann hätte ich gerade nach Bio schon die Kurve kratzen und nach Hause verschwinden können, aber so muss ich noch eine ganze, qualvolle Stunde lang hier rumsitzen und mir das nicht unbedingt erbauliche Gelaber von Herrn Schierling antun. Was bin ich begeistert.
 

Der einzige Lichtblick am Reliunterricht bei Herrn Schierling ist die Tatsache, dass Ruben auch hier neben mir sitzt. Leider sind Kevin und seine beiden Hohlbirnen auch mit von der Partie – keine Ahnung, was die hier überhaupt wollen, die haben doch eh keinen Peil von gar nichts –, aber heute geht mir das ganz gepflegt sonst wo vorbei. Kevin, Carsten und Malte können mich mal, aber kreuzweise. Und nein, das war nicht pervers gemeint, sondern sollte nur ausdrücken, dass sie mich einfach nicht interessieren. Jedenfalls nicht im Moment. Im Moment hab ich wirklich andere Sorgen als diese Bekloppten.
 

Wie üblich ist Herr Schierling auch heute wieder überpünktlich. Als Ruben und ich gerade um die Ecke in den Gang einbiegen, steht er schon wartend am Klassenraum und klimpert mit seinem Schlüsselbund. "Da seid ihr ja!", begrüßt er uns ungeduldig und ich grummele leise vor mich hin. Normalerweise stört Herrn Schierlings Art mich nicht, aber heute, wo es mir sowieso schon total scheiße geht, kann ich auf solche dummen Sprüche wirklich verzichten.
 

"Rein mit euch!", kommandiert er, aber bevor ich deswegen anfangen kann zu motzen, hat Ruben mich schon wieder an der Hand gepackt – langsam komm ich mir vor wie ein Kleinkind, echt – und zieht mich hinter sich her in Richtung unserer Plätze. Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, dass Herr Schierling noch wesentlich irritierter auf unsere Hände kuckt als Frau Römer heute Morgen, aber obwohl das Gesicht wirklich witzig ist, hab ich nicht mal ein müdes Grinsen dafür übrig. Grinsen ist gerade auch viel zu anstrengend.
 

Nicht besonders begeistert von der Aussicht auf fünfundvierzig Minuten Reliunterricht lasse ich mich auf meinen Stuhl fallen, rutsche halb unter den Tisch und hoffe, dass Herr Schierling ebenso viel Taktgefühl besitzt wie Ruben und Frau Römer und mich heute einfach zufrieden lässt. Mein Kopf schwirrt sowieso schon die ganze Zeit vor lauter Fragen über Simon und meine Gefühle für ihn und ich weiß einfach nicht, wie ich das abstellen kann. Warum kann man nicht einfach beschließen, dass man nicht mehr verliebt sein will, und die Gefühle verschwinden? Ich hab sie schließlich nicht gebeten, mich heimzusuchen, also können sie sich doch eigentlich auch direkt wieder verpissen. Hat ja eh keinen Sinn.
 

Ich bin so verstrickt in meine Gedanken darüber, dass ich mir eigentlich keine Gedanken mehr über die ganze Simon-Sache machen will, dass ich erst aufschrecke, als Ruben neben mir irgendwann plötzlich vollkommen enthusiastisch meinen Arm packt und ihn nach oben reißt. "Jan und ich machen das!", verkündet er gut gelaunt und ich blinzele ihn nur verwirrt an. Ich habe absolut nicht zugehört, also habe ich auch keinen Plan, was wir bitteschön zusammen machen sollen, wollen oder was auch immer.
 

"Gut, dann übernehmt ihr Zwei das Referat zum Thema Satanismus." Herr Schierling hakt auf einer Liste, die er in der Hand hält, irgendeinen Punkt ab und kritzelt etwas hin, ehe er seinen Blick durch die Klasse schweifen lässt auf der Suche nach den nächsten Opfern für die Referate, die er offenbar sonst noch geplant hat. Ich hingegen starre Ruben an wie eine Erscheinung, als er sich mit einem breiten, zufriedenen Grinsen zu mir umdreht. Das ist doch wohl bitte nicht sein Ernst, oder? Das kann er mir doch nicht antun!
 

"Was dagegen, wenn ich nachher gleich mit zu Dir komme? Dann kannst Du mir nicht nur diesen komischen Wisch für den Ausflug zeigen, sondern wir können auch schon mal mit dem Referat für Reli anfangen", teilt er mir begeistert seinen Plan mit. Ich antworte allerdings nicht, sondern kann ihn nur weiterhin stumm und aus großen Augen ankucken. Hat er gerade wirklich einfach so über meinen Kopf hinweg beschlossen, dass wir beide zusammen ein Referat über das Thema Satanismus halten wollen? Wahrscheinlich ist er nur wegen seinem Bruder auf diese unglaublich bescheuerte Idee gekommen. Oh Scheiße, hoffentlich will er Simon nicht irgendwie darüber ausfragen oder so! Das überlebe ich nicht!
 

"Äh ...", stammele ich, aber das scheint Ruben als Antwort zu genügen, denn sein Grinsen wird nur noch etwas breiter. "Okay, dann ist es beschlossene Sache!", freut er sich und ich verspüre den starken Drang, einfach aufzustehen, an ihm vorbeizugehen, das Fenster aufzumachen und mich hinauszustürzen – am besten kopfüber, damit ich's auch wirklich hinter mir hab und nicht noch durch einen blöden Zufall gerettet werden kann. Verdammt, warum hasst mein Leben mich eigentlich so?
 

Den Rest der Stunde, die glücklicherweise nur noch knapp zehn Minuten dauert, verbringe ich damit, mir verschiedene Szenarien zu überlegen, wie ich aus diesem Referat-Dilemma wieder rauskomme, ohne auch noch die letzte halbwegs gute Note auf meinem Zeugnis zu gefährden. Allerdings fällt mir absolut nichts ein und so packe ich missmutig meine Sachen zusammen, als es klingelt, und schlurfe hinter Ruben her, der sich nach vorne zum Pult durchkämpft und Herrn Schierling fragend ansieht.
 

"Wär's auch okay, wenn Jan und ich vielleicht jemanden mitbringen würden, der was über das Thema sagen kann? Ich weiß zwar noch nicht, ob das klappt – ich muss meinen Bruder nachher erst fragen, ob er das machen würde und wann er Zeit hätte –, aber ich denke, morgen könnten wir Ihnen Bescheid sagen und vielleicht auch einen Termin vereinbaren, wann wir das Referat halten sollen."
 

Rubens Worte entlocken mir ein unhörbares Seufzen und wecken den unbändigen Wunsch, tatsächlich mal einen Kopfsprung aus dem ersten Stock des Schulgebäudes auszuprobieren. Als hätte ich nicht schon längst geahnt, dass er Simon tatsächlich fragen will. Verdammt, wie soll ich ihm denn aus dem Weg gehen, wenn Ruben der Meinung ist, dass wir ihn für dieses bescheuerte Referat praktisch interviewen sollen?
 

"Dein Bruder könnte etwas zu dem Thema beitragen?", erkundigt Herr Schierling sich erstaunt und Ruben nickt hektisch. "Klar. Simon ist bekennender Satanist, müssen Sie wissen. Schon seit ... Moment ... Ja, ich glaub, das sind jetzt fast sechs Jahre", erzählt er dann und obwohl ich es nicht will, sauge ich diese kleine, vollkommen unbedeutende Information über Simon auf wie ein Schwamm und speichere sie auch noch irgendwo in meinem Hirn ab – in einem Ordner, auf dem mit dicken, fetten, leuchtend roten Buchstaben der Name Simon steht. Mann, ich bin doch echt krank.
 

"Das wäre natürlich sehr interessant." Herr Schierling kratzt sich die Nase, wie er es immer macht, wenn er über etwas nachdenkt. "Wenn Dein Bruder wirklich bereit wäre, vor der Klasse zu sprechen, wäre das in der Tat sogar mehr als interessant", wiederholt er noch mal und jetzt verspüre ich den Drang, ihn aus dem Fenster zu werfen. Blöd, dass ich einfach zu schwächlich bin, um ihn auch nur ansatzweise hochzukriegen. Ich sag ja immer wieder, das Universum hasst mich. "Gut, sagt mir morgen Bescheid, ob und wann Dein Bruder Zeit hat. Wenn ich das weiß, lege ich die Reihenfolge der Referate fest."
 

"Klasse!", freut Ruben sich, schnappt sich meinen Arm und schleift mich hinter sich her nach draußen. Der Rest unserer Klasse ist schon zur Sporthalle gelatscht, aber heute verzichten wir beide auf das zweifelhafte Vergnügen, uns Herrn Mertens anzutun – ist ja auch nicht nötig –, und stapfen stattdessen in Richtung Schulhofausgang, um zu mir zu fahren. Davor graut es mir ungemein, aber so enthusiastisch, wie Ruben drauf ist, hat es wohl keinen Sinn, großartig zu protestieren. Bleibt mir nur zu hoffen, dass ich den Nachmittag irgendwie überlebe, wenn ich Simon mit dem neuentdeckten Wissen über meine Gefühle für ihn gegenübertreten muss.
 

Kopfschüttelnd versuche ich, diese Gedanken zu vertreiben, aber erst ein überraschter Ausruf Rubens holt mich wieder komplett in die Realität zurück. "Christie?", fragt er vollkommen verdutzt, lässt mich los und stürmt dann voller Begeisterung und mit einem Strahlen wie ein Uranbrennstab auf jemanden zu, der an der Wand neben dem Schultor lehnt und den ich im Moment nicht richtig erkennen kann, weil Ruben sich genau in meinem Blickfeld befindet.
 

"Hey, Ruben", grüßt der Typ, den Ruben mit "Christie" angesprochen hat, umarmt ihn und löst sich erst wieder von ihm, als ich näher zu den Beiden trete und etwas unschlüssig neben ihnen stehen bleibe. "Ähm ... hi", begrüße ich diesen Christie, von dem ich im Laufe der letzten Woche schon so viel gehört hab, reiße mich zusammen und versuche, mir ein Lächeln ins Gesicht zu zwingen, das Rubens bester Freund nach einer kurzen Musterung meinerseits mit gleicher Münze erwidert.
 

"Du musst Jan sein", vermutet er und als ich nicke, streicht er sich erst eine störende Strähne seiner blauschwarz gefärbten Haare aus dem Gesicht, ehe er mir seine Hand reicht. "Freut mich", sagt er dabei. "Ich hab schon eine Menge von Dir gehört. Und ich wette, Ruben hat Dir im Laufe der letzten Woche auch schon mindestens einen Satz Ohren abgekaut."
 

Für diesen Spruch boxt Ruben seinem besten Freund, der sicher wenigstens zehn Zentimeter größer ist als er – damit ist er auch noch ein ganzes Stückchen größer als ich; ich bin sogar gegen Ruben fast schon ein Zwerg –, in die Seite und wirft ihm einen bösen Blick zu, dessen Wirkung aber durch das Grinsen, das förmlich auf seinen Lippen festklebt, seit er Christie entdeckt hat, vollkommen zunichte gemacht wird.
 

"So ungefähr", gebe ich zu und muss tatsächlich kurz grinsen, als Ruben mich daraufhin anschmollt. "Na, dann weißt Du ja, wer ich bin, und das Vorstellen ist überflüssig, oder?", erkundigt Christie sich und wuschelt dem schmollenden Ruben durch die Haare, woraufhin dieser sich gleich beschwert, einen Schritt zurücktritt und damit beginnt, seine zerwühlten Haare wieder in ihre ursprüngliche Form zu bringen. Urplötzlich scheint ihm jedoch etwas einzufallen, den er hält im Ordnen seiner Frisur inne und schaut seinen besten Freund von unten herauf fragend an.
 

"Was machst Du eigentlich so früh hier? Hatte der Wegmann ein Einsehen und hat euch Kältefrei gegeben oder was?", will er wissen und Christie schüttelt den Kopf. Das Grinsen, das dabei auf seinen Lippen liegt, sieht ein wenig verlegen aus und Ruben beginnt zu lachen, als er das bemerkt. "Du schwänzt!", triumphiert er und lässt seinen Gipsarm, mit dem er sich gerade noch durch die Haare gefahren ist, sinken. "Meinetwegen? Oder warst Du so neugierig auf Jan, dass Du einfach nicht länger warten konntest?", zieht er ihn auf und Christie wird tatsächlich rot.
 

"Ein bisschen von beidem", gibt er nuschelnd zu und im nächsten Moment hakt Ruben sich sowohl bei ihm als auch bei mir ein und schleift uns beide unter fröhlichem Geplapper in Richtung der Bushaltestelle. "Na, das trifft sich ja super. Du kannst gleich mitkommen. Wir wollten eben zu Jan wegen der Unterlagen für diesen blöden Klassenausflug, den wir diese Woche noch machen, und danach wollten wir zu Simon. Jan und ich müssen nämlich demnächst ein Reli-Referat halten. Über Satanismus."
 

Bei diesen Worten nimmt Rubens Grinsen beinahe überdimensionale Ausmaße an und ich kann aus dem Augenwinkel sehen, wie Christie ihn fassungslos anblickt. "Ihr müsst ein Referat über Satanismus halten? In Reli?", hakt er nach und schüttelt schmunzelnd den Kopf, als Ruben geradezu enthusiastisch nickt. "Ja, allerdings. Und ich hab den Schierling, unseren Pauker, auch schon gefragt, ob's okay wär, wenn wir Simon mitbringen und er uns was darüber erzählt. Jetzt müssen wir Simon nur noch überreden, dass er auch wirklich kommt und das macht. Und genau deshalb musst Du auch mitkommen, wenn wir zu ihm gehen. Du musst Jan und mir nämlich beim Überreden helfen", beschließt Ruben gut gelaunt und sieht mich dann fragend an.
 

"Wann kommt eigentlich der Bus, den wir nehmen müssen?", erkundigt er sich bei mir und ich nicke einfach nur in Richtung des Fahrplans. "Normalerweise ist Jan gesprächiger", wendet Ruben sich gleich darauf wieder an seinen besten Freund, während er mir gleichzeitig mitfühlend die Schulter tätschelt. "Er hat nur schlecht geschlafen am Wochenende", gibt er meine Erklärung von heute morgen weiter und mich trifft ein fragender Blick aus leicht schrägstehenden Augen, die von einem etwas dunkleren Braun sind als Rubens und die mit schwarzem Kajal betont wurden.
 

"Ist doch nicht so schlimm. Jeder hat mal einen miesen Tag", erteilt Christie mir praktisch die Absolution, nachdem er seine Musterung abgeschlossen hat. Dabei lächelt er mir aufmunternd zu und ich kann nicht anders als mich zumindest ein minimales bisschen besser zu fühlen. Unter normalen Umständen würde ich ihn sicher mehr als nur nett finden, aber im Augenblick bin ich einfach nicht in der richtigen Stimmung. Dafür sitzt mir der Schock darüber, dass Ruben mich tatsächlich heute noch zu seinem Bruder schleifen will und ich Simon so auf jeden Fall nachher noch sehen muss, einfach noch zu sehr in den Knochen.
 

Das wirklich Schlimme daran ist, dass ich absolut nicht weiß, was ich empfinden soll. Ein Teil von mir freut sich fast schon unbändig darauf, Simon wiederzutreffen und vielleicht ein bisschen mit ihm reden zu können, während ein anderer Teil mir vehement rät, mich nur ja so weit wie möglich von ihm fernzuhalten und ihm so lange aus dem Weg zu gehen, bis diese Gefühle für ihn endlich wieder verschwunden sind. Und ich stehe zwischen diesen beiden sich streitenden Teilen von mir und weiß nicht, welchem ich zustimmen soll. Soll ich mich auf das Wiedersehen mit Simon freuen oder soll ich doch lieber versuchen, mich davor zu drücken?
 

Noch immer über diese Frage nachgrübelnd steige ich gemeinsam mit Ruben und Christie in den Bus und zusammen belegen wir Drei einen Viererplatz mit Beschlag. Während Ruben sich auf den freien Platz neben mir quetscht, setzt Christie sich mir gegenüber ans Fenster und ich nutze die Gelegenheit, um ihn erst einmal ausgiebig zu mustern. Er trägt eine dunkelgraue Jeans und einen dunkelblauen Pulli, über den er wegen der Kälte noch eine dicke schwarze Daunenweste gezogen hat. Seine Fingernägel sind schwarz lackiert, an seinen Handgelenken kann ich ein paar Lederarmbänder ausmachen und ich bin mir ziemlich sicher, dass er auch noch einen Nietengürtel trägt. Das Geräusch beim Hinsetzen war einfach unverkennbar.
 

Was ich aber am seltsamsten finde ist der nicht gerade kleine Button in Bärenform, der an seiner Weste hängt. Ich kann nicht anders als dieses Ding – das eins dieser komischen Gelini-Bärchen darstellen soll, wenn ich mich nicht irre – ungläubig anzustarren, was Ruben sehr zu belustigen scheint. "Christie hat nen Bärchenfimmel", klärt er mich kichernd auf, beugt sich halb über mich und zupft an der Weste seines besten Freundes, so dass ich den Button etwas besser erkennen kann.
 

"Er hat mindestens hundert verschiedene Bärchen zu Hause rumfliegen. Er sammelt die Dinger", fährt er fort und lacht, als Christie seine Hand wegschlägt. Dabei legt sich eine deutliche Röte auf seine Wangen und er weicht meinem Blick aus. "Blödmann!", zischt er seinem besten Freund zu, aber Ruben stört sich überhaupt nicht daran, sondern krabbelt stattdessen auf den Sitz neben Christie und piekt diesem grinsend in die Seite.
 

"Was denn? Ist doch wahr. Dein Zimmer quillt doch wirklich fast über vor lauter Bärchen", lässt er es sich nicht nehmen, Christie weiter zu necken, und obwohl der mir ein bisschen leid tut, muss ich trotzdem ungewollt schmunzeln. "Deshalb ist Christie auch mein Gummibärchen", verkündet Ruben, ohne auf Christies ziemlich verlegen wirkendes "Lass das!" einzugehen.
 

"Die Dinger kann er nämlich tonnenweise in sich reinstopfen, ohne jemals genug davon zu kriegen", fährt er stattdessen unbeirrt in der Denunzierung seines besten Freundes fort. Daraufhin zieht dieser Ruben die Kapuze seiner Jacke über den Kopf und verknotet dann die Bänder miteinander, so dass nur noch Rubens Nase und ein paar Haare herauskucken. Das genuschelte "Hey!", das wohl irgendwie protestierend klingen soll, verfehlt seine Wirkung völlig und ich muss zum ersten Mal heute wirklich lachen. Ruben sieht gerade aber auch einfach zum Schießen aus!
 

"Geht doch!" Ruben strahlt mich an, nachdem er sich wieder aus seiner Kapuze befreit hat, und macht es sich dann richtig auf dem Sitz neben Christie bequem. "Endlich lachst Du wieder, Jan. So als Trauerkloß hast Du mir gar nicht gefallen", adressiert er dann in meine Richtung und als Christie ihm schmunzelnd und kopfschüttelnd gleichermaßen durch die Haare wuschelt, blinzele ich die beiden irritiert an. War die ganze Neckerei gerade etwa nur Show, um mich aufzuheitern?
 

"Achte am besten gar nicht auf ihn. Ruben muss dauernd versuchen, jeden mit seiner guten Laune zu infizieren. Das ist schon fast zwanghaft", erklärt Christie mir und jetzt ist es an mir, rot zu werden, als Ruben sich an seinen besten Freund kuschelt und zufrieden seufzend die Augen schließt. "Ich mag eben einfach keine traurigen Menschen", nuschelt er und für einen kurzen Moment huscht ein Schatten über sein Gesicht, der aber gleich in der nächsten Sekunde wieder verschwindet, als Ruben seine Position etwas verändert und auch seine Augen wieder öffnet, um mich anzusehen.
 

"Außerdem ist Lachen doch auch viel gesünder als so ein langes Gesicht zu ziehen oder traurig zu sein", fügt er in meine Richtung hinzu, aber ich antworte ihm nicht, sondern drücke stattdessen den Halteknopf für den Bus. "Hier müssen wir raus", erkläre ich überflüssigerweise, hangele mich vor zum Ausstieg und kann hören, wie Ruben und Christie – darf ich diesen Spitznamen überhaupt denken oder sollte ich ihn lieber auch Chris nennen, so wie alle Anderen? – mir folgen.
 

Sobald wir aus dem Bus raus sind, hakt Ruben sich gleich wieder gut gelaunt bei Christie – irgendwie hab ich mich schon an den Namen gewöhnt – ein und schnappt sich auch meinen Arm, so dass er in unserer Mitte hängt und uns beide abwechselnd anstrahlen kann. "Ich bin schon total gespannt auf Dein Zuhause", teilt er mir mit und ich kann sehen, wie Christie wieder zu schmunzeln beginnt. "Ja, der ist immer so", sagt er zu mir, als er merkt, dass ich ihn ansehe, und lacht leise, als Ruben daraufhin einen Flunsch zieht.
 

"Und nein, es gibt keinen Knopf, um ihn abzustellen. Oder zumindest hab ich den bis jetzt noch nicht gefunden", fährt er unbeeindruckt fort und ich muss wieder ein bisschen grinsen. Irgendwie erinnern die beiden mich an Jassi und mich selbst und ich kann nicht umhin, Simon nachträglich zuzustimmen. Christie ist wirklich nett und Ruben kann echt froh sein, dass er so jemanden als Freund hat.
 

Als mir klar wird, dass meine Gedanken vollkommen ungewollt schon wieder zu Simon abgeschweift sind, bleibe ich um ein Haar wie angewurzelt mitten auf dem Bürgersteig stehen, kann das aber im letzten Moment noch verhindern. Ich bin regelrecht erleichtert, als unser Haus in Sicht kommt und ich mit einem raschen Blick feststelle, dass Simons Auto noch nicht auf dem Parkplatz steht. Offenbar muss er noch arbeiten. Gut, dann hab ich wenigstens noch ein bisschen Schonfrist. Hilfe, ich will ihn heute nicht sehen! Oder doch, ich will schon, aber irgendwie will ich auch nicht. Und dieses Hin und Her macht mich einfach nur wahnsinnig.
 

In dem Versuch, mir möglichst nichts von meinen seltsamen und verdammt peinlichen Gedanken anmerken zu lassen, krame ich den Schlüssel aus meiner Tasche, schließe die Haustür auf und lotse Ruben und Christie zu unserer Wohnung. Vorsichtig schließe ich auch dort die Tür auf und bücke mich sofort, was mir im ersten Moment zwei irritierte Blicke einbringt. Als ich jedoch wie erwartet gleich von Slim fast über den Haufen gerannt werde und das dumme Vieh gerade noch zu fassen kriege, ehe er schon wieder türmen kann, wandeln sich die Blicke von verwirrt zu verstehend.
 

"Der blöde Kater von meiner großen Schwester", erkläre ich, während ich Slim auf meinen Arm hieve und die Tür mit dem Fuß so weit aufschiebe, dass die Beiden eintreten können. "Der macht immer gleich den Flattermann, wenn man nicht aufpasst. Eigentlich sollte Franzi das Biest anleinen oder irgendwo festkleben, aber das tut sie nie. Und ich darf den Kater of Doom jedes Mal wieder einfangen", beschwere ich mich weiter und Ruben fängt an zu lachen, während Christie einfach nur schmunzelt.
 

"Kater of Doom?", hakt er nach und ich werde rot, als ich merke, dass ich tatsächlich einen der dummen Spitznamen, die ich für Franzis noch dümmeren Kater habe, laut ausgesprochen habe. Verdammt, viel peinlicher geht's ja wohl wirklich nicht mehr! Warum gibt's in unserer Wohnung eigentlich keine sich selbst auftuenden Löcher im Boden? Das ist doch scheiße!
 

"Slim ist einfach ein Mistvieh", versuche ich, das peinliche Thema zu umgehen, und quetsche mich, nachdem ich Slim wieder runtergelassen habe und wir uns alle unserer Jacken oder, wie in Christies Fall, Westen entledigt haben, an den beiden vorbei in Richtung meines Zimmers. Dort angekommen gebe ich ihnen mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie sich ausbreiten können, wo immer sie wollen, und krame dann auf meinem Schreibtisch nach diesem dämlichen Wisch für diesen noch viel dämlicheren Klassenausflug, den ich Ruben zeigen wollte.
 

Ich brauche ein paar Minuten, bis ich in meinem Chaos fündig werde, aber dann wedele ich mit dem reichlich zerknitterten Papier herum und drehe mich mit einem triumphierenden Grinsen zu meinen beiden Gästen – denen ich, wie mir bei dieser Gelegenheit einfällt, noch gar nichts angeboten habe; ich bin echt ein mieser Gastgeber – um. "Hab's gefunden!", teile ich Ruben mit, aber als mein Blick auf die beiden fällt, bleibt mir der Mund offen stehen und ich sehe sie einfach nur vollkommen verdattert an.
 

Christie hat es sich im Schneidersitz auf dem Boden vor meinem Bett bequem gemacht und sich an das Holzgestell gelehnt. Das ist es allerdings nicht, was meine Kinnlade mit dem Teppich in meinem Zimmer kollidieren lässt. Nein, der Grund dafür ist Ruben, der sich rücklings auf Christies Schoß gepflanzt hat. Christies Arme liegen locker um Rubens Bauch verschränkt, er hat sein Kinn auf Rubens Schulter gestützt und beide sehen mich an, als ob es absolut nichts Besonderes gäbe an der Art, wie sie da sitzen. Gut, für die beiden ist das vielleicht auch nichts Besonderes – obwohl Christie schon einen etwas verlegenen Eindruck auf mich macht –, aber für mich ist es das schon. Ich meine, hallo? Die Zwei kleben ja förmlich aneinander wie siamesische Zwillinge. Ist das wirklich normal?
 

"Zeig mal!", verlangt Ruben, streckt mir die Hand entgegen und ich reiche ihm den Zettel an, ehe ich mich ebenfalls auf den Boden setze. Dabei bemühe ich mich, die beiden nicht allzu offensichtlich anzustarren, aber Ruben macht das scheinbar nicht das Geringste aus. Er vertieft sich in die Lektüre dieses Ausflugswischs und runzelt nur hin und wieder die Stirn, sagt aber nichts und auch Christie bleibt stumm. Mir ist das Ganze ein bisschen peinlich, deshalb bin ich fast schon froh, als Slim irgendwann in mein Zimmer gewuselt kommt und sich nach einem misstrauischen Blick auf meine beiden Besucher dazu entschließt, meinen Schoß mal wieder als Sitzplatz zu missbrauchen.
 

"Kann ich mir den Wisch ausleihen? Dann schreib ich ihn mir zu Hause ab und geb ihn Dir morgen wieder." Ruben legt fragend den Kopf schief und als ich einfach nur nicke, strahlt er mich gleich wieder an, ehe sein Blick zu Slim, der mittlerweile mal wieder wie ein Weltmeister schnurrt, weil ich ihn aus lauter Langeweile hinter den Ohren kraule, weiterhuscht.
 

"Kater of Doom, ja? Dafür scheint der Dich aber sehr zu mögen. Und Du ihn auch", stellt er fest und grinst, als ich ertappt zusammenfahre. Christie lacht leise und ich erinnere mich wieder an meine Gastgeberpflichten. Ehe ich allerdings dazu komme, mein Versäumnis von vorhin nachzuholen und den beiden etwas anzubieten, schaut Ruben mich wieder mit diesem fragenden Gesichtsausdruck an, den ich bei ihm mittlerweile schon ziemlich gut kenne.
 

"Ist von Deiner Familie noch niemand da?", erkundigt er sich und ich schüttele den Kopf. "Nein. Meine Mutter ist arbeiten und meine Schwestern haben beide noch Schule. Franzi taucht meistens erst gegen Abend auf und Vicky hat Montags Ballettunterricht, also ist sie vor halb sieben auch nicht zu Hause. Ich bin Montags immer der Erste", informiere ich ihn und Ruben zieht ein bedauerndes Gesicht.
 

"Schade. Ich hätte Deine Familie echt gerne kennen gelernt. Aber egal, dann eben beim nächsten Mal." Damit ist er gleich wieder gut gelaunt und ich kann nur innerlich den Kopf schütteln. Diese abrupten Stimmungswechsel sind wirklich ganz schön gewöhnungsbedürftig, aber Christie scheinen sie nicht das Geringste auszumachen. Andererseits kennen die Zwei sich ja auch schon fast ihr ganzes Leben, soweit ich informiert bin. Kein Wunder, dass er Rubens Macken gewöhnt ist.
 

Da ich nicht so recht weiß, was ich jetzt machen soll – mir fällt gerade kein Thema ein, über das wir reden könnten –, beschäftige ich mich exzessiv mit Slim, was der mir mit lautem Schnurren und mindestens einem Kilo schwarzer Katzenhaare, die er überall auf meinen Klamotten verteilt, dankt. Seufzend und grummelnd versuche ich, zumindest einige davon von meinem Pulli zu klopfen, halte jedoch inne, als ich Christies Stimme höre.
 

"Hast Du ihn denn schon wegen Halloween gefragt?", erkundigt er sich bei Ruben und der klatscht sich seine gesunde Hand gegen die Stirn. "Das hab ich ja total vergessen!", jammert er und wirft mir einen reumütigen Blick und ein entschuldigendes Lächeln zu, als ich ihn fragend ansehe. "Wir – also Christie, die Anderen und ich – wollten an Halloween feiern gehen. Ein bisschen zusammen abhängen, Party machen und so. Und ich wollte Dich eigentlich schon am Freitag gefragt haben, ob Du nicht Lust hast, mitzukommen, aber ich hab's total verschwitzt. Tut mir echt leid", entschuldigt er sich und ich kann nur mit Mühe meine Kinnlade davon abhalten, wieder nähere Bekanntschaft mit meinem Zimmerboden zu machen. Das würde doch zu dämlich aussehen und ich will mich nicht blamieren.
 

"Ähm ... klar", ringe ich mir nach einer Minute des fassungslosen Anstarrens der zwei Kuschelwütigen mir gegenüber ab und Christie lächelt leicht, während Ruben gleich wieder strahlt wie ein Flutlichtscheinwerfer. "Super!", freut er sich und hopst übermütig auf Christies Schoß herum, was dieser mit einem Ächzen quittiert. "Dann kann ich Dich auch gleich den Anderen vorstellen und Du kannst danach auch bei mir pennen, wenn Du willst. Oder vielmehr kannst Du zusammen mit mir bei Christie pennen. Kann er doch, oder?", wendet Ruben sich über seine Schulter hinweg an seinen besten Freund und dieser grinst kurz, bevor er schließlich nickt.
 

"Klar, kein Problem. Ich hab ja Platz genug in meinem Zimmer", erklärt er sich einverstanden und meine Augen werden groß. Er kennt mich gerade mal seit einer knappen Stunde und ist schon damit einverstanden, dass ich bei ihm übernachte? Irgendwie weiß ich nicht, was ich dazu sagen soll. Entweder ist Christie auch so kontaktfreudig wie sein bester Freund oder er hat einfach nur schon aufgegeben, Ruben etwas ausreden zu wollen. Allerdings wirkt er nicht so, als würde ihn das Ganze wirklich stören, und irgendwie gibt mir das ein gutes Gefühl. Ich hatte bisher immer leichte Schwierigkeiten, wenn ich neue Leute kennen gelernt hab, aber mit Ruben und Christie ist alles irgendwie ganz einfach.
 

"Das wär echt nett", höre ich mich selbst sagen und muss unwillkürlich ebenfalls lächeln, als die Zwei es tun. Doch, ich kann nicht leugnen, dass ich sie mag. Alle beide. Und auch wenn ich sonst eigentlich nicht so fürs Weggehen und Feiern zu haben bin, bin ich mir irgendwie jetzt schon sicher, dass Halloween trotz des ganzen Gruselkrams dieses Jahr vielleicht doch ganz lustig werden könnte.
 

"Dann steht Halloween also schon mal." Ruben strahlt mich an und ich will gerade nicken, doch dazu komme ich nicht mehr. Urplötzlich springt nämlich Slim, der gerade noch gemütlich auf meinem Schoß gelegen hat, auf und saust wie ein geölter Kugelblitz in Richtung Wohnungstür davon. Dabei gibt er ein Geräusch von sich, das wie eine Mischung aus Schnurren und Maunzen klingt und mir sackt mein Herz in die Hose. Dieses Geräusch kenne ich. Sehr, sehr gut sogar. Und ich weiß, was es bedeutet. Aus irgendeinem Grund ist Slim immer dann so überdreht, wenn er Simons Schritte im Flur hört. Das heißt, Simon hat Feierabend und ist jetzt zu Hause. Ach Du Scheiße!
 

"Was ist denn mit der Katze los?", erkundigt Ruben sich verwundert und ich schlucke erst mal den Kloß runter, der sich bei dem Gedanken an Simon und das, was mir jetzt gleich bevorsteht, in meinem Hals gebildet hat. "Das ... das macht er immer, wenn Simon nach Hause kommt", erkläre ich dann gepresst und im nächsten Moment springt Ruben auch schon jauchzend auf und rennt Slim hinterher in Richtung Tür. Ich weiß, ich sollte aufstehen und ihm folgen, aber meine Beine fühlen sich mit einem Mal so wacklig an, dass ich das einfach nicht schaffe.
 

"Typisch Ruben." Christie, der sich mittlerweile ebenfalls bereits wieder aufgerappelt hat, schmunzelt leicht und hält mir dann seine Hand hin. Ich ergreife sie mit einem etwas verunglückten Lächeln, lasse mich von ihm hochziehen und mache mich dann gemeinsam mit ihm an die Verfolgung von Ruben. Der hat, wie ich mit einem raschen Blick feststelle, die Wohnungstür schon aufgerissen und fällt Simon, der reichlich verdattert aussieht, förmlich um den Hals. "Überraschung!", krakeelt er dabei und nach dem ersten Schreck legt sich ein Lächeln auf Simons Lippen, das mein Herz vollkommen aus der Bahn wirft. Heilige Scheiße, wie hab ich's nur geschafft, bis gestern wirklich absolut nicht zu peilen, warum ich in seiner Nähe so reagiere, wie ich nun mal reagiere? Wie dumm muss man dafür sein?
 

Über mich selbst den Kopf schüttelnd atme ich tief durch und zwinge mich, ebenfalls bis zur Tür zu gehen. Dabei bin ich froh, dass Christie vorausgeht, denn so sieht wenigstens niemand, wie schwer es mir fällt, auch nur halbwegs normal zu laufen oder so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Ich hab das Gefühl, mein Herz hüpft mir gleich aus der Brust und ich kippe tot um.
 

"Was machst Du denn hier?", erkundigt Simon sich erstaunt bei seinem Bruder und der grinst ihn von unten herauf an, ohne ihn loszulassen. "Jan und ich müssen ein Referat halten – und zwar über ein Thema, bei dem Du Experte bist", erklärt er und Simon zieht fragend eine Braue hoch, hakt aber nicht weiter nach, weil sein Blick auf Christie fällt, der sich mittlerweile an den Türrahmen gelehnt hat und die beiden Brüder schmunzelnd beobachtet.
 

"Du auch hier, Chris?", wendet Simon sich an ihn und Christie nickt. "Ich hab Ruben von der Schule abgeholt und er hat mich gleich mitgeschleift", erklärt er, stößt sich vom Türrahmen ab und tritt zu Simon, um ihn ebenso zu umarmen, wie Ruben es getan hat. "Lange nicht mehr gesehen", murmelt er dabei und Simons Lächeln vertieft sich noch etwas, was mir das Gefühl von mindestens einer Trillion Schmetterlingen oder anderem Krabbelzeugs in meinem Magen beschert. Hilfe!
 

Ehe Simon allerdings etwas auf Christies Begrüßung erwidern kann, erklingt von oben aus dem ersten Stock eine männliche Stimme, die ich nicht kenne. "Simon? Zwei Fragen. Erstens: Hier ist gerade ne Katze reingesaust. Hast Du neuerdings Haustiere? Und zweitens: Hast Du zufällig irgendwo nen Hammer, damit ich eben das Bild aufhängen kann?", wird gefragt und im nächsten Moment lehnt sich der zu der unbekannten Stimme gehörende Sprecher halb über das Geländer. Fragend blickt er nach unten und fängt an zu grinsen, als er den Pulk um Simon sieht.
 

"Hey, Ruben. Lange nicht gesehen", grüßt er und Ruben löst sich ein bisschen von seinem Bruder – ganz lässt er ihn trotzdem nicht los –, um wie irre mit seinem Gipsarm zu winken. "Hi, Flo!", grüßt er überschwänglich zurück und der so Angesprochene grinst noch etwas breiter. "Wird das da unten ne Belagerung?", erkundigt er sich und Simon wuschelt seinem Bruder lachend durch die Haare.
 

Bei diesem Geräusch wird mir ganz anders und ich muss mich am Türrahmen festklammern, um nicht doch noch umzukippen. Verdammt, wenn so eine Kleinigkeit wie ein Lachen oder ein Lächeln, das noch nicht einmal mir gilt, schon solche Auswirkungen auf mich hat, was wird dann erst passieren, wenn Simon mich doch endlich bemerkt und mich begrüßt? Bestimmt falle ich dann direkt in Ohnmacht. Vielleicht sollte ich einfach die Tür zumachen und mich in der Wohnung einschließen.
 

Bevor ich diesen überaus genialen Plan meinerseits allerdings in die Tat umsetzen kann, lässt Ruben doch noch von seinem Bruder ab und grabscht nach meiner Hand, um mich hinter sich her nach oben zu schleifen. Ich lasse mich nicht besonders begeistert mitziehen, aber glücklicherweise fällt mein Widerwille niemandem auf. Ruben ist viel zu gut gelaunt, dieser Flo ist schon wieder in Simons Wohnung verschwunden – hat der nen Schlüssel oder was? – und Simon unterhält sich gerade mit Christie.
 

Ehe ich mich versehe, finde ich mich auch schon in Simons Wohnzimmer wieder, das jetzt noch ein wenig anders aussieht als am Samstag, als ich das letzte Mal hier war. Inzwischen stehen noch mehr Bücher in den Regalen, aber das ist nicht alles. Daneben finden sich auch noch einige Kerzenständer in Form von Schädeln, Drachen oder anderen seltsamen Kreaturen, die ich nicht so ganz zuordnen kann. Außerdem hängen mittlerweile schwarze Spitzenvorhänge an den Fenstern, die dem ganzen Raum einen etwas düsteren, gruseligen Touch geben. Trotzdem fühle ich mich hier seltsamerweise nicht wirklich unwohl – jedenfalls nicht so sehr, wie es normalerweise in so einer Umgebung der Fall wäre. Ich bin mir nicht so ganz sicher, aber ich vermute einfach mal, dass es daran liegt, dass Simon hier lebt.
 

Slim, dem Simons Wohnung scheinbar außerordentlich gut gefällt, hat es sich schon auf der Couch bequem gemacht und als Christie und Ruben sich nach einer kurzen Aufforderung von Simon ebenfalls dort hinsetzen, tue ich es ihnen gleich, um nicht weiter wie bestellt und nicht abgeholt mitten im Raum herumzustehen. Dabei beiße ich mir auf die Unterlippe und senke den Blick, denn ich kann Simon irgendwie nicht ansehen. Mehr als deutlich ist mir bewusst, dass er mich als Einzigen noch nicht wirklich begrüßt hat, und dieses Wissen nagt an mir. Und es tut tierisch weh. Verdammt, verliebt sein ist einfach nur scheiße!
 

Während Simon kurz in einem der anderen Zimmer verschwindet, hängt dieser Flo, der bei seinen Klamotten offenbar genauso einen Schwarzfimmel hat wie Simon, sich von hinten über die Couch und wuschelt Ruben durch die Haare. "Und, wie geht's Dir so, Kurzer?", erkundigt er sich und Ruben strahlt ihn an. Er scheint ihn ziemlich gut zu kennen. Obwohl ... eigentlich hat Ruben mich auch schon am ersten Tag so angestrahlt. Irgendwie scheint das bei ihm der Normalzustand zu sein. Ob ich das gut oder schlecht finden soll, weiß ich nicht so genau.
 

"Bestens. Ich bin seit letzter Woche bei Jan", bei der Erwähnung meines Namens nickt er in meine Richtung und mich trifft ein kurzer Blick aus grünbraunen Augen, ehe dieser Flo sich wieder voll und ganz auf Ruben konzentriert, "in der Klasse. Ich musste ja wegen der Sache mit meinem Arm die Schule wechseln." Ruben wedelt mit seinem Gipsarm und Flo nickt, als wüsste er mehr darüber als ich. Aber gut, wenn die Zwei sich wirklich kennen, dann ist das wohl auch kein Wunder. Ich hab Ruben ja schließlich noch nie gefragt, wie das mit seinem Arm überhaupt passiert ist. Irgendwie ist das Thema bisher einfach nie zur Sprache gekommen.
 

"Und ich find's total klasse, dass Simon und Jan im gleichen Haus wohnen. So kann ich immer beide besuchen und Paps muss nichts davon mitkriegen", freut Ruben sich weiter und Flo lacht leise. "Du bist ganz schön durchtrieben, Kurzer. Typisch kleine Geschwister", murmelt er und richtet sich wieder auf, als Simon zurückkommt und ihm den vorhin gewünschten Hammer anreicht.
 

"Okay, wohin willst Du's haben?" Bei dieser Frage bricht Ruben in Gelächter aus und auch Flo, Simon und Christie schmunzeln, während ich nur knallrot anlaufe, als mir klar wird, dass man diesen Satz auch ziemlich ... zweideutig verstehen kann. "Such's Dir aus", gibt Simon nach kurzem Überlegen zur Antwort und sein Grinsen treibt mir in Verbindung mit dem amüsierten Unterton in seiner Stimme nur noch mehr Blut ins Gesicht. Verdammt, warum kann ich nicht einfach so darüber lachen wie die Anderen auch? Warum bin ich mal wieder der Einzige hier, der vor Scham am liebsten im Erdboden versinken würde?
 

"Immer noch versaut, was, Flo?", fragt Ruben neckend und Flo, der sich mittlerweile den Hammer geschnappt hat, nickt grinsend, ehe er die Wände im Wohnzimmer näher in Augenschein nimmt. "Man tut halt, was man kann. Und das kann ich nun mal besonders gut", erwidert er gut gelaunt und beginnt, nachdem er sich offenbar eine passende Stelle ausgesucht hat, damit, den Haken, den er sich zwischen die Lippen geklemmt hatte, in die Wand zu schlagen. Sobald er damit fertig ist, nimmt er ein Bild, das an einem der Regale lehnt und das ich bis jetzt gar nicht wahrgenommen habe, und hängt dieses vorsichtig an den Haken. Nachdem er damit fertig ist, tritt er einen Schritt zurück, rückt das Bild gerade und nickt dann zufrieden.
 

"So, fertig. Ich hoffe, es gefällt Dir", adressiert er in Simons Richtung und dieser tritt neben ihn, um sich das Bild anzusehen. Ruben springt ebenfalls auf, Christie folgt ihm etwas langsamer und ich kämpfe einen Moment mit meiner Neugier, ehe ich aufgebe und auch aufstehe, um mir das Bild ebenfalls anzusehen. Dabei bin ich froh, dass Ruben und Christie zwischen Simon und mir stehen. Wenn ich jetzt neben ihm stünde, würde ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einfach aus den Latschen kippen.
 

Mit einiger Mühe reiße ich mich zusammen und hebe meinen Blick von meinen Füßen, um das Bild, das ganz offensichtlich ein gerahmtes Foto ist, ebenfalls in Augenschein zu nehmen. Zu sehen ist eine nächtliche Landschaft mit nur einem einzigen Baum, der auf der linken Bildseite steht und hinter dem ganz schwach ein Sichelmond zu erkennen ist. Oberhalb dieses Baumes, ziemlich in der Mitte des Bildes, ist ein einzelner Stern sichtbar und über den Boden wabert weißlicher Nebel, der die dahinterliegende Landschaft seltsam verzerrt aussehen lässt. Alles in allem hat das Bild etwas Einsames, fast schon Trauriges, das noch verstärkt wird durch den Text, der offenbar handschriftlich mit einem weißen Edding auf die rechte Bildseite geschrieben wurde.
 

The hope of my redemption

Is such that I believe that I am free

To confess would bring me no salvation

I alone hold the power to forgive me

And of my acts, I will admit, I've no pretensions

I've no regrets for all the things that I have done

My faiths, to me, are as foundations

None has the right to judge my soul but me
 

Etwas mühsam frickele ich mir eine grobe, hoffentlich halbwegs stimmende Übersetzung des Textes zurecht und nachdem ich damit fertig bin, huscht mein Blick unwillkürlich zu Simon. Ich kann mir nicht helfen, aber irgendwie finde ich, dass dieser Text ziemlich gut zu ihm passt. Immerhin geht er ja wohl schließlich trotz aller Widerstände seitens seiner Familie seinen eigenen Weg. Wenn dieser Flo das hier für Simon geschrieben hat, dann muss er ihn wirklich ziemlich gut kennen – ein Gedanke, der mich irgendwie neidisch macht.
 

"Danke", murmelt Simon leise und das Lächeln, das er Flo schenkt, versetzt mir einen Stich, den ich mit aller Kraft zu ignorieren versuche. Mental trete ich mich selbst mal wieder kräftigst in den Arsch. Jetzt bin ich nicht nur eifersüchtig auf Simons Freundin, sondern sogar auf einen seiner Freunde, nur weil der Simon ein Geschenk gemacht hat, über das dieser sich so offensichtlich freut. Ich bin doch echt nicht mehr zu retten! Kann mich mal bitte jemand erschießen?
 

"Das kommt mir irgendwie bekannt vor", mischt Christie sich in das Gespräch ein und als Simon nickt, werden meine Augen groß. Heißt das, dieser Flo hat das gar nicht selbst geschrieben? Ist das vielleicht ein nur Songtext oder so? Verdammt, ich komme mir so furchtbar unwissend vor, dass ich mich gleich noch mieser und auch ein Stückchen ausgeschlossener fühle als ohnehin schon. Ich gehöre hier einfach nicht hin. Ich habe in Simons Wohnung und in seinem Leben doch gar nichts zu suchen. Was mache ich überhaupt noch hier?
 

"Ist aus ››Precipice‹‹ von VNV Nation", erklärt Simon und Flo klopft ihm grinsend auf die Schulter. "Ich dachte, das würde zu Dir passen", sagt er, legt den Hammer beiseite und im nächsten Moment klappt mir die Kinnlade herunter, als er Simon kurz umarmt. "Freut mich, wenn ich Dir damit eine Freude machen konnte. Ich meld mich später noch mal bei Dir. Wenn ich mich nämlich jetzt nicht vom Acker mach, komm ich zu spät und Sabine macht mir die Hölle heiß", verabschiedet er sich, wuschelt Ruben noch einmal durch die Haare und ist dann nach einem letzten Winken in unsere Richtung auch schon aus der Wohnung verschwunden. Zurück bleiben Simon, Ruben, Christie und ich, was mir ein komisches Gefühl beschert, das ich nicht so recht einzuordnen weiß. Was soll ich denn jetzt machen?
 

~*~
 

*Janni puschel*

Ich weiß, was Du jetzt machst, Schatz.

*das nächste Kapitel ja schon fertig hat*

Eigentlich war das ganze hier ursprünglich mal ein Kapitel, zusammen mit dem neunten, aber da mir 17.559 Wörter reiner Kapiteltext doch etwas zu viel auf einmal waren, hab ich's aufgeteilt. Ich kann mich einfach nicht mehr kurz fassen, weil meine Charaktere das nicht zulassen. Die machen, was sie wollen.

>.<
 

Egal. Eigentlich mag ich's ja genauso, also ist das nicht so schlimm. Ich hoffe, es hat euch gefallen. Freue mich wie immer darüber, wenn ihr mir euren Senf dazu dalasst. Aber das wisst ihr ja.
 

Bis zum nächsten Mal!

*wink*
 

Karma

Von Brüdern, schlechten Nachrichten und Trost

Ich wollte das nächste Kapitel ja erst am Mittwoch oder Freitag hochladen, aber ich bin gerade in Stimmung, also gibt's doch heute schon was Neues zu lesen.

^_____^
 

@chaos-kao: Du wolltest mehr, also sollst Du auch mehr kriegen.

^.~

Danke für den Kommentar.
 

@Rayligh: Was es genau mit Ruben und Christie auf sich hat, wird irgendwann bei passender Gelegenheit in einer Sidestory geklärt. Ist schon fest eingeplant.

^____^

Und zu Morgaine schweige ich mich jetzt einfach mal aus. Alles, was sie betrifft, wird auch noch geklärt.

Et voilà, das neue Kapitel.

*verbeug*
 

@Inan: Christie und Janni?

o.O

Wie bist Du denn darauf gekommen? Das würde mich echt interessieren.

O.o

Aber nyan, was Christie und verliebt sein betrifft ...

*nach oben deut*

... das kommt noch. Irgendwann, wenn ich die Zeit hab und es sich storytechnisch anbietet.

^___^
 

@Schwarzfeder: Schon wieder ein Monsterkommi.

*ihn knuddel*

*Dir noch ein paar Kekse geb*

Uh, wo soll ich anfangen? Janni tut mir selbst auch leid, aber da ich ja weiss, wie's weitergehen soll und was noch für Höhen und Tiefen auf ihn warten, geht's auch einigermaßen. In diesem Kapitel wird er jedenfalls noch mehr Gefühlschaos zu verdauen haben. Und ich fürchte, das wird auch noch eine Weile so bleiben - oder vielleicht sogar schlimmer werden.

^^°

Christie und die Bärchen ... Tja, dieser Fimmel hat einen ganz einfachen Ursprung, auf den ich in dem geplanten OS auch noch näher eingehen werde. Aber ich muss zugeben, ich mag mein Gummibärchen auch unheimlich. Er ist so ein Schatz.

*____*

Slim, der Verräter ... na ja, das arme Tierchen kann ja nichts dafür, dass Janni unglücklich verliebt ist. Und er mag Simon nun mal. Sonst würde er ja wohl kaum immer wieder zu ihm raufsausen wollen.

Und was Simons Ignorieren betrifft: Der arme Kerl ist etwas überrumpelt davon, dass er nicht nur seinen Bruder, sondern auch Christie so unerwartet wiedersieht. Er ignoriert Janni ja nicht mit Absicht. Und ich denke, spätestens in diesem Kapitel wirst Du ihn auch wieder mögen - oder sogar ein wenig bemitleiden, je nachdem. Ich fürchte, jetzt, wo ich einmal auf die Dramaschiene eingebogen bin, komm ich da so schnell nicht mehr runter.

^^°

Und last, but not least Flo ... ja, der ist auch einfach nur klasse. Und er wird auch in späteren Kapiteln noch mal auftauchen.

*kicher*

Hach, ich mag ihn. In meinem Hirn gibt's zu ihm auch schon eine eigene Story. Mal sehen, ob ich irgendwann dazu komme, die zu schreiben.

*es hoff*

Aber eine Frage: Wer, glaubst Du, ist Sabine?

o.O

Wenn Du sie für Flos Freundin hältst, dann muss ich Dich leider enttäuschen. Das ist sie nämlich nicht. Sie ist ...

*mir den Mund zukleb, um nicht schon wieder alles vorab zu verraten*
 

Übrigens kommt in diesem Kapitel, wie im letzten angekündigt, auch endlich Jannis Krankheit zur Sprache. Wurde ja auch mal langsam Zeit.

^___^
 

So, und jetzt hab ich mal wieder genug gelabert. Viel Spaß beim Lesen!
 

Karma
 

~*~
 

"So, und was wolltet ihr jetzt genau von mir?", wendet Simon sich nach ein paar Sekunden des Schweigens an uns und als er Ruben und mich abwechselnd anblickt, wird mir gleichzeitig heiß und kalt. Heute sind seine Linsen wieder mal weiß, aber ich sehe die grauen Augen, die darunter verborgen sind, trotzdem so deutlich vor mir, als würde er gar keine Kontaktlinsen tragen. Meine Kehle ist wie zugeschnürt und ich bin mir ziemlich sicher, ich würde nicht mal dann ein Wort rausbringen können, wenn mein Leben davon abhinge.
 

Glücklicherweise muss ich aber auch gar nichts sagen, denn das übernimmt Ruben für mich. "Jan und ich müssen für Reli ein Referat vorbereiten", erklärt er seinem Bruder, schiebt diesen zur Couch und lässt sich neben ihn plumpsen, nur um sich gleich darauf so an ihn zu kuscheln, wie er es auf der Herfahrt im Bus bei seinem besten Freund getan hat. Christie macht es sich in einen der beiden freien Sessel bequem und nach kurzem Zögern setze ich mich in den zweiten. Dabei bin ich unglaublich nervös, spiele die ganze Zeit mit den Fingern am Saum meines Pullovers herum und schaffe es einfach nicht, Simon offen anzusehen. Ich schiele nur immer wieder unter meinen Ponyfransen hindurch zu ihm rüber und muss ein wenig neidisch beobachten, wie Ruben zufrieden seufzt, als sein Bruder ihm einen Arm um die Schultern legt und ihm sanft über den Rücken streichelt.
 

"Und zwar zum Thema Satanismus", fügt er murmelnd hinzu und verrenkt sich fast den Hals in dem Versuch, Simon anzublicken, der einfach nur fragend eine Braue hochzieht und weiter zuhört. "Und weil ich ja weiß, dass Du Dich da auskennst, dachte ich, wir fragen Dich, ob Du uns vielleicht ein bisschen dabei helfen kannst – und ob Du nicht Lust hast, mal bei uns in der Schule vorbeizukommen, wenn Du Zeit hast, und so ein bisschen zu erzählen. Ich hab unseren Relilehrer schon gefragt und er war einverstanden. Ich glaub sogar, der war total begeistert von der Aussicht, einen echten Satanisten kennen zu lernen. Jedenfalls wär's echt toll, wenn Du das machen würdest. Der Schierling – so heißt unser Relilehrer – würde sich sicher nen Keks freuen, wenn Du das irgendwie einrichten könntest."
 

Diese Worte paart Ruben mit einem Blick, den ich von Vicky nur zu gut kenne und der eindeutig in die Kategorie "Du bist mein großer Bruder und Du musst bittebittebitte tun, was ich möchte, weil ich sonst ganz sicher für den Rest meines Lebens traurig sein werde" fällt. Simon scheint diesen Blick ebenfalls zu kennen, denn er seufzt abgrundtief und fährt sich dann mit seiner freien Hand durch die Haare.
 

"Du weißt, dass ich nicht gerne mit meinem Glauben hausieren gehe", sagt er, aber sein Tonfall verrät mir, dass er schon so gut wie überredet ist. Irgendwie kenne ich das von mir selbst nur zu gut und die Tatsache, dass Simon und ich zumindest eine Sache, und sei sie auch noch so gering, gemeinsam haben – ganz offenbar können wir beide nicht oder nur sehr schwer Nein zu unseren kleinen Geschwistern sagen –, verschafft mir ein Glücksgefühl, das ich sofort wieder zu unterdrücken versuche. Nur weil wir beide ältere Brüder sind und uns deshalb zumindest ein bisschen verstehen, heißt das noch lange nicht, dass er mich auch gleich so sehr mag wie ich ihn. Das ist total lächerlich.
 

"Ich lasse mir nicht gerne vorwerfen, ich würde missionieren." Bei diesen Worten seines großen Bruders verzieht Ruben das Gesicht und obwohl ich mir nicht ganz sicher bin, glaube ich zumindest zu wissen, dass sie jetzt gerade über etwas sprechen, das ihr Vater mal gesagt hat. Darauf lässt jedenfalls der bittere Zug um Simons Mund schließen. Ich verspüre kurzzeitig den Impuls, ihn trösten zu wollen, verdränge diesen jedoch schnell wieder. Wie würde das auch aussehen? Simon braucht sicher keinen Trost – vor allem nicht von mir. Dafür hat er ja schließlich seine Freundin.
 

"Das wird ganz bestimmt niemand behaupten", versucht Ruben, seinen Bruder zu überzeugen. "Immerhin geht's ja nur um ein Referat. Und es ist doch viel spannender, wenn da jemand ist, der aus erster Hand darüber sprechen kann, als wenn Jan und ich einfach nur einen Text darüber schreiben und den dann vor der Klasse vorlesen", argumentiert er weiter und ich kann förmlich dabei zusehen, wie Simons Widerstand immer weiter bröckelt, bis nichts mehr davon da ist.
 

"Also gut", gibt er sich schließlich geschlagen und im nächsten Moment fällt Ruben ihm um den Hals. "Das ist so klasse von Dir, Simon!", jubelt er und als Simon zu lächeln beginnt, muss ich unwillkürlich auch lächeln. Ich mag es einfach, wenn er lächelt – auch, wenn allein der Gedanke daran, dass seine Freundin ihn bestimmt viel öfter so lächeln sieht als ich, wie ein Schlag in den Magen ist. Aber ich will jetzt nicht an Simons Freundin denken. Vielleicht ist es krank, aber ich will im Augenblick nichts mehr als einfach nur hier sitzen, ihn ansehen und in seiner Nähe sein.
 

"Du bist der beste Bruder der Welt!", schmeichelt Ruben weiter, kuschelt sich wieder an Simon und vergräbt sein Gesicht in dessen Hemd. Aus dem Augenwinkel kann ich erkennen, dass Christie die beiden ebenso beobachtet ebenso wie ich. Dabei liegt ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen und ich beneide ihn ein bisschen darum, dass er Simon offen und direkt ansehen kann, ohne wie ich rot oder verlegen zu werden oder gar einen halben Herzinfarkt zu erleiden.
 

"Schön, dass Du endlich wieder da bist, Simon", sagt er ehrlich und als sich Simons Lächeln daraufhin noch etwas vertieft, setzt mein Herz einen Schlag aus, nur um gleich danach mit dreifacher Geschwindigkeit weiterzuhämmern. "Ich bin auch froh darüber", gibt er leise zurück, streicht Ruben mit einer zärtlichen Geste durch die Haare und ganz plötzlich ist da der Wunsch in mir, mit Ruben zu tauschen. Wie es sich wohl anfühlt, Simon so nah sein zu können und sich an ihn lehnen zu dürfen?
 

Ungewollt entfährt mir ein leises Seufzen, das jedoch vollkommen ausreicht, um mich zum Mittelpunkt des Interesses zu machen. Drei Augenpaare blicken mich fragend an und ich kann spüren, wie mir ein Gutteil meines Blutes ohne Umwege direkt wieder ins Gesicht schießt. "Ist alles in Ordnung, Jan?", richtet Simon zum ersten Mal das Wort an mich und ein Teil von mir möchte sich auf der Stelle aus dem Fenster stürzen, weil ich mich schon wieder so zum Affen gemacht habe, während ein anderer Teil von mir in höheren Sphären schwebt, weil Simon mich endlich ansieht. Verdammt, das ist doch krank! Kann man diese blöden, verwirrenden Gefühle nicht irgendwie abschalten?
 

"J-Ja, schon", stottere ich und senke meinen Blick schnell wieder auf meine Finger. "Ich dachte nur ... Na ja, vielleicht sollten wir ... schon mal anfangen ... oder so", schiebe ich noch nuschelnd hinterher und wünsche mich mit aller Kraft in irgendeine Paralleldimension, in der ich mich nicht immer so furchtbar blamiere. Und wenn ich mir was wünschen darf, dann soll das nach Möglichkeit bitte eine Dimension sein, in der meine Gefühle entweder erwidert werden oder in der ich diese blöden Gefühle gar nicht erst habe. Welche Option davon mir lieber wäre, weiß ich nicht so genau.
 

Da meine Wünsche allerdings wie üblich nicht wirklich wahrgenommen werden, löse ich mich nicht plötzlich in Luft auf, sondern bleibe auch weiterhin in Simons Wohnzimmer sitzen. Ich mache mich in meinem Sessel so klein wie möglich und wage nicht aufzusehen, als er sich von Ruben löst, aufsteht und zu einem seiner Bücherregale hinübergeht. Dort sucht er kurz etwas, kommt nur wenig später mit einem Buch zurück und ehe ich weiß, wie mir geschieht, drückt er es mir auch schon in die Hand.
 

Ich starre mindestens eine volle Minute lang wie ein Idiot auf den Einband, ehe es meinem Hirn gelingt, die Buchstaben, die darauf stehen, in eine logische Reihenfolge zu bringen, die mein Verstand auch erfassen kann. Satanische Bibel & Rituale, lese ich dann, schlucke hart und bringe es doch irgendwie fertig, aufzusehen – genau in Simons Augen, die abwartend auf mich gerichtet sind und mein ohnehin schon rasendes Herz gleich noch viel, viel mehr aus dem Takt bringen.
 

"Ich könnte euch auch eine Abschrift der elf Gebote machen, wenn ihr wollt", bietet er Ruben und mir gleichermaßen an, nimmt seinen Blick aber nicht von mir und ich habe das Gefühl, noch einen ganzen Tacken röter zu werden. "Aber ich glaube, es wäre das Beste, wenn ich die entweder Jan mitgebe oder wenn ihr zum Arbeiten einfach gleich hierher zu mir kommt", fährt er fort und ich kann irgendwo ganz am Rande meines Blickfelds erkennen, dass Ruben nickt.
 

"Ist sicher besser. Paps kriegt sonst nämlich nen Anfall", stimmt er zu und seufzt abgrundtief. Dann steht er zu meiner Überraschung von der Couch auf, umrundet den Wohnzimmertisch und hockt sich wie schon vorhin in meinem Zimmer auf Christies Schoß. Dieser nimmt ihn sofort in den Arm und flüstert ihm leise irgendetwas ins Ohr. Ich kann nicht genau verstehen, was er sagt, aber sein Tonfall klingt tröstend und meine Augen huschen unwillkürlich zu Simon, der die ganze Szene stumm beobachtet. Auf den ersten Blick wirkt er völlig unbeteiligt, aber wenn man ganz genau hinsieht, dann erkennt man deutlich, dass ihm das Ganze auch verdammt nahe geht.
 

Wieder ist da dieser Impuls in mir, aufzustehen, seine Hand zu nehmen und ihn zu trösten, aber bevor ich etwas in dieser Richtung tun kann, wendet Simon sich ab und verlässt das Wohnzimmer. Christie sieht ihm kurz nach, richtet seine Aufmerksamkeit aber sofort wieder auf Ruben und drückt diesen noch etwas fester an sich. Ich glaube, Rubens Schultern beben zu sehen, aber da er ja ganz offenbar jemanden hat, der sich jetzt um ihn kümmert, stehe ich nach kurzem Hadern mit mir selbst auf und folge Simon.
 

Ich bin mir nicht sicher, warum ich das eigentlich tue und ob er das überhaupt will, aber er hat gerade einen so traurigen und fast schon verlassenen Eindruck auf mich gemacht, dass ich wenigstens versuchen will, ihn zu trösten. Ich bezweifle zwar, dass ich ihm wirklich helfen kann, aber ich kann auch nicht einfach nur tatenlos sitzen bleiben, wenn ich weiß, dass es ihm nicht gut geht. Das ertrage ich einfach nicht.
 

Ich finde Simon nach kurzem Suchen in der Küche, wo er mit geschlossenen Augen rücklings an der Arbeitsplatte lehnt. Er hält sich mit beiden Händen an dem dunklen Holz fest, hat seinen Kopf in den Nacken gelegt und sieht so einsam aus, dass mir der Anblick schon fast körperlich weh tut. Ich möchte ihn so gerne trösten, aber ich weiß nicht, was ich tun oder sagen soll, also trete ich einfach nur etwas näher zu ihm, bis ich direkt vor ihm stehe. Mein Herz klopft mir bis zum Hals und ich bin mir sicher, unter normalen Umständen würde er das auch hören. Im Augenblick scheint er allerdings nicht einmal wahrzunehmen, dass ich überhaupt da bin. Ich fühle mich unheimlich hilflos – so hilflos, dass ich die Hand, die ich gehoben habe, um über seine Finger zu streicheln, unverrichteter Dinge wieder sinken lasse und einfach nur stumm stehen bleibe.
 

"Ich wusste schon ziemlich früh, dass ich nicht so sein konnte, wie mein Vater mich immer haben wollte", durchbricht Simons leise Stimme die Stille und ich zucke erschrocken zusammen. Ganz offenbar hat er doch gemerkt, dass ich ihm gefolgt bin. "Das wollte ich nie und ich will es auch heute nicht. Ich konnte ihm nie der Sohn sein, den er sich gewünscht hat, und das hat mich auch nie gestört. Ich könnte mir gar nicht vorstellen, anders zu sein, als ich es nun mal bin. Aber jedes Mal, wenn ich Ruben so sehe, dann wünscht sich ein Teil von mir, dass ich doch anders wäre. Jedes Mal, wenn Ruben meinetwegen weint, dann hasse ich mich selbst dafür, dass ich meinem kleinen Bruder weh tue – einfach nur dadurch, dass ich ich selbst bin."
 

Noch immer sieht Simon mich nicht an und das macht die Dinge, die er gerade gesagt hat, für mich nur umso schlimmer. Ich hätte nie erwartet, dass er so etwas denkt. Auf mich hat er bisher immer vollkommen selbstsicher und zufrieden gewirkt – ganz so, als wäre er wirklich genau der Mensch, der er auch sein will. Dass er noch eine andere Seite hat – eine Seite, die sich Vorwürfe macht, Ruben im Stich gelassen zu haben und ihm kein guter Bruder gewesen zu sein –, hätte ich nie erwartet. Aber andererseits kenne ich ihn ja eigentlich auch gar nicht richtig. Irgendwie tut der Gedanke weh.
 

"Ich glaub nicht, dass Ruben Dich irgendwie anders würde haben wollen, als Du bist. Er ... er liebt Dich genau so. Du bist sein großer Bruder und fertig", starte ich einen ungeschickten Trostversuch und bemühe mich zu lächeln und vor allem mein wie blöde rasendes Herz zu ignorieren, als Simon seine Augen doch wieder öffnet und mich ansieht.
 

"Er ist unheimlich stolz auf Dich, weißt Du? Und das mit dem Referat ... Er hat sich dafür freiwillig gemeldet, eben wegen dem Thema. Weil ... weil er so die Gelegenheit hatte, herzukommen und Zeit mit Dir zu verbringen. Er war total aufgeregt und hat unseren Relilehrer gleich nach der Stunde gefragt, ob er Dich vielleicht mitbringen könnte, damit Du der Klasse so ein bisschen von Dir erzählst. Herr Schierling war total baff, als Ruben ihm mit leuchtenden Augen und voller Stolz erzählt hat, dass sein großer Bruder Satanist ist. Du musst also keine Angst haben, dass er ein Problem damit hat, wie Du bist oder woran Du glaubst. Ich denke, was ihn so fertig macht ist einfach die Tatsache, dass er Dich so lange nicht gesehen hat und dass er Dich jetzt eigentlich offiziell auch nicht sehen darf, weil euer Vater das nicht will."
 

Ich will eigentlich noch mehr sagen – hauptsächlich, um meine Verlegenheit zu überspielen –, aber Christie, der seinen Kopf zur Tür hereinsteckt, hindert mich daran. "Ich bring Ruben jetzt nach Hause, okay?", fragt er leise und Simon nickt stumm. Noch immer hält er sich an der Arbeitsplatte fest und ein rascher Blick zeigt mir, dass seine Knöchel vor Anspannung fast weiß hervortreten, obwohl er äußerlich schon wieder vollkommen ruhig wirkt. Wie es allerdings wirklich in ihm aussieht, wage ich mir nicht einmal vorzustellen.
 

"Mach das. Und bitte ... Pass gut auf ihn auf, ja?", ringt er sich doch noch ab und Christie nickt sofort. "Selbstverständlich", verspricht er und verschwindet nach einem kurzen, irgendwie ernst und auch etwas bedrückt wirkenden Lächeln wieder ins Wohnzimmer. Keine zehn Sekunden später kommt Ruben in die Küche gestürmt, klebt im nächsten Moment an seinem Bruder und vergräbt sein Gesicht in dessen Hemd. Er spricht nicht, aber allein die Art, wie er sich fast schon verzweifelt an Simon festklammert, so als wollte er ihn am liebsten nie wieder loslassen, sagt in meinen Augen alles und noch viel mehr. Wie kann sein Vater ihm nur verbieten, seinen eigenen Bruder zu sehen? Egal, was Simon in seinen Augen auch getan haben mag, Ruben und ihn gleichermaßen zu bestrafen, indem er ihnen den Kontakt miteinander verbietet, ist meiner Meinung nach einfach nur grausam und unmenschlich.
 

"Keine Sorge, Ruben. Ich bleib hier. Noch mal geh ich nicht weg. Das verspreche ich Dir", flüstert Simon leise in die schwarzen Haare seines kleinen Bruders und als er ihn ebenfalls umarmt, verkrümele ich mich schleunigst aus der Küche, um die Zwei nicht länger zu stören. Das ist ein privater Moment, der nur die beiden etwas angeht und keinen zufällig anwesenden Dritten. Ich hab hier jetzt nichts verloren.
 

In der Tür zum Wohnzimmer stoße ich beinahe mit Christie zusammen, der sich mit vor der Brust verschränkten Armen an die Wand gelehnt hat und unverwandt in Richtung Küchentür blickt, so als wollte er für alle Fälle bereit sein, falls Ruben ihn brauchen sollte. Irgendwie erinnert er mich gerade ganz extrem an Jassi. Der ist auch immer da, wenn ich ihn brauche – das hat er mir ja gestern erst versprochen – und ich kann nicht umhin, Christie noch ein ganzes Stück mehr zu mögen als ohnehin schon.
 

"Simon hatte Recht, als er gesagt hat, dass Ruben froh sein kann, so einen Freund wie Dich zu haben", erzähle ich ihm und finde mich im nächsten Moment mit dunkelbraunen Augen konfrontiert, die mich überrascht ansehen. "Das hat er gesagt?", hakt Christie ungläubig nach und als ich nicke, lächelt er verlegen und wird rot. "Er übertreibt. Ruben ist schon mein ganzes Leben lang mein bester Freund. Ist doch selbstverständlich, dass ich für ihn da bin, wenn er mich braucht", murmelt er und wirkt dabei tatsächlich ein bisschen beschämt. Offenbar ist es ihm peinlich, Komplimente zu bekommen.
 

"Trotzdem", widerspreche ich und wundere mich ein klein wenig darüber, dass mir das Lächeln plötzlich gar nicht mehr so schwer fällt wie noch heute Morgen in der Schule. Ich komme allerdings nicht dazu, mich darüber zu wundern oder noch mehr zu sagen, denn im nächsten Moment kommt Ruben aus der Küche, wischt sich noch mal über die Augen und lächelt dann etwas verunglückt.
 

"Wir können", wendet er sich leise an Christie und der stößt sich sofort von der Wand ab, tritt auf ihn zu und legt ihm einen Arm um die Schultern. Ruben klammert sich gleich an ihn und irgendwie erinnert mich das ganz stark daran, wie ich mich am Samstag auf dem Turm an Simons Mantel geklammert hab. Sofort schießt mir wieder Röte ins Gesicht und ich beiße mir auf die Unterlippe.
 

"Bis morgen in der Schule", nuschele ich leise, als Ruben und Christie sich von Simon und mir verabschieden, und schlucke dann hart, sobald die Tür hinter den Beiden ins Schloss fällt. Das Wissen, dass ich jetzt schon wieder mit Simon alleine bin, lässt meine Knie weich werden und ich bin froh, dass die Wand, an der Christie gerade noch gelehnt hat, nur einen Schritt hinter mir ist. Ich brauche jetzt einfach etwas, woran ich mich festhalten kann.
 

"Wenn Du willst, kann ich Dir schon mal eben die Gebote für euer Referat abschreiben", reißt Simons leise Stimme mich aus meinen Gedanken und ich starre ihn aus großen Augen an. Ich brauche ein paar Sekunden, um seine Worte zu verarbeiten, und noch ein paar Sekunden mehr, bis mein Hirn wieder so weit funktioniert, dass es tatsächlich eine Antwort ausspuckt.
 

"Muss jetzt ... nicht sein. Wir ... können auch morgen ... oder so ...", höre ich mich stammeln und möchte mich am liebsten dafür treten, dass ich es nicht mal mehr schaffe, in vernünftigen, vollständigen Sätzen zu sprechen. Das ist doch scheiße, verdammt! Was soll Simon denn von mir denken, wenn ich mich in seiner Nähe jedes Mal so unglaublich peinlich und dämlich aufführe?
 

"Ach was", schmettert er meinen Protest ab, geht an mir vorbei ins Wohnzimmer und ich starre ihm ein paar Sekunden lang nach, ehe ich es schaffe, mich von der Wand loszureißen und ihm zu folgen. Peinlich berührt lasse ich mich wieder in den Sessel sinken, in dem ich vorhin gesessen habe, und hebe Slim auf meinen Schoß, damit meine Hände eine Beschäftigung haben und ich auf Simon vielleicht ein winziges bisschen weniger nervös wirke, als ich gerade tatsächlich bin. Ich will einfach nicht, dass er merkt, dass er schuld an meiner Verwirrung ist. Und vor allem will ich nicht, dass er auch nur ahnt, warum er daran schuld ist. Wenn er das jemals erfährt, dann lasse ich mich einsargen, das schwöre ich.
 

Als Simon sich mit einem Block bewaffnet ganz ans Ende der Couch setzt – und damit auch ganz nah zu mir –, faucht Slim mich leise an, weil ich vor lauter Schreck darüber ziemlich heftig zusammenzucke. Das entgeht Simon zwar nicht, aber er sagt nichts dazu und ich bin ihm dankbar dafür. Stattdessen fängt er einfach nur an zu schreiben und ich beobachte fasziniert, wie sauber und ordentlich seine Schrift aussieht. Und das ganz ohne Vorlage. Offenbar kennt er die Gebote seines Glaubens auswendig. Ich könnte vielleicht mit Mühe und Not zwei oder drei der Zehn Gebote der Kirche aufzählen, wenn man mich fragen würde – und das sicher nicht mal in der richtigen Reihenfolge. Scheint ganz so, als würde Simon seinen Glauben im Gegensatz zu mir wirklich ernstnehmen. Aber genau betrachtet glaube ich diesen ganzen Kirchenquatsch ja auch nicht wirklich, also kann man uns wohl auch nicht miteinander vergleichen.
 

Sobald er fertig ist, reißt er das Blatt aus dem Block heraus und gibt es mir. Ich schlucke etwas mühsam den Kloß in meinem Hals herunter, nehme den Zettel entgegen und verfluche mich selbst dabei dafür, dass ich das Zittern meiner Finger nicht ganz unterdrücken kann. Allerdings scheint Simon davon nichts zu bemerken, denn er lehnt sich gemütlich zurück und ich kann aus dem Augenwinkel sehen, dass er mich beim Lesen beobachtet.
 

Meine Augen huschen über die sauber geschriebenen Zeilen und ich muss mich ganz stark zusammenreißen, um meinem ersten Impuls – die Schrift vorsichtig mit den Fingerspitzen nachzufahren – nicht nachzugeben. Simons Schrift ist wirklich ordentlich und gut lesbar – ganz im Gegensatz zu dem Gekrakel, das ich so fabriziere und das mir schon oft Ärger von meinen Lehrern eingebracht hat, weil sie meine Hieroglyphen nur mit allergrößter Mühe entziffern können.
 

Als ich beim fünften Gebot – ››Unternimm keinen sexuellen Vorstoß, solange Du nicht entsprechende Signale bekommen hast.‹‹ – ankomme, läuft mein Gesicht schlagartig knallrot an. Simon neben mir lacht leise und als ich ihn zaghaft anblicke, klopft mir mein Herz bis zum Hals. "Lass mich raten: Das fünfte Gebot, oder?", fragt er und als ich langsam nicke, schmunzelt er. "Dachte ich mir", teilt er mir mit und ich nicke wieder, bevor ich ganz schnell meinen Blick auf das Blatt senke und auch noch den Rest lese. Ich will mir solche komischen Gedanken nicht machen, verdammt!
 

"Was ... was bedeutet denn das siebte Gebot? Das über das Anerkennen von Magie?", erkundige ich mich so leise, dass ich mich selbst kaum verstehe, aber Simon hat damit scheinbar ebenso wenig Probleme wie Jassi. Irgendwie weiß ich nicht so genau, ob ich das jetzt gut oder schlecht finden soll. Einerseits ist es mir verdammt peinlich, aber andererseits kann ich seine Antwort kaum erwarten – allerdings nicht, weil ich wirklich so neugierig auf die Erklärung bin, sondern vielmehr, weil ich es einfach mag, seine Stimme zu hören – trotz der Gänsehaut, die ich immer noch jedes Mal davon bekomme. Das ist so krank, dass ich mich am liebsten dafür schlagen würde, ehrlich.
 

"Hast Du Dir schon mal irgendwas ganz fest gewünscht?", holt Simon mich wieder in die Realität zurück und schmunzelt ganz leicht, als ich wieder zusammenzucke. Peinlich berührt nicke ich und kann nur mit Mühe verhindern, dass ich zurückweiche, als er sich etwas näher zu mir lehnt. "Und wenn Du Dir etwas nur fest gewünscht hast, ist Dein Wunsch schon mal in Erfüllung gegangen, oder?", fragt er weiter und wieder kann ich nur nicken.
 

"Genau das ist mit dem siebten Gebot gemeint. Wünsche sind auch eine Form der Magie. Wenn Wünsche in Erfüllung gehen, soll man das nicht als Glück abtun, sondern es als das sehen, was es wirklich ist", klärt er mich dann auf und ich kann mir ein kurzes, freudloses Lächeln nicht verkneifen. "Wünsche gehen aber nicht immer in Erfüllung", nuschele ich leise und Simon nickt verstehend. "Ich weiß", erwidert er ebenso leise und ich frage mich unwillkürlich, welche seiner Wünsche wohl nicht in Erfüllung gegangen sind. Wahrscheinlich haben sie mit Ruben oder seinem Vater zu tun. Meinen im Augenblick sehnlichsten Wunsch, der sich ganz sicher auch nicht erfüllen wird, versuche ich zu verdrängen. Es macht einfach keinen Sinn, dauernd darüber nachzugrübeln, was nicht ist und auch nie sein wird.
 

Bevor ich dazu komme, noch eine weitere Frage zu stellen, unterbricht das Klingeln eines Telefons die gerade recht einseitige Unterhaltung zwischen Simon und mir. Verwundert zieht er eine Braue hoch, steht aber trotzdem auf und geht hinüber zu dem kleinen Tischchen neben der Wohnzimmertür, wo der klingelnde Störenfried steht. Ich blicke ihm kurz nach, höre, wie er sich mit "Schwarz" meldet und falte dann, als er mir halb den Rücken zudreht, schnell das Blatt mit den Geboten zusammen. Ich muss ganz dringend hier weg, und zwar so schnell wie möglich! Ich halte es einfach nicht mehr aus, mit ihm alleine zu sein. Das macht mich total nervös und kribbelig. Ich schwanke die ganze Zeit zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt und dieses Gefühlschaos wird mit jeder verstreichenden Sekunde schlimmer und schlimmer.
 

Ich bin gerade aufgestanden, habe den Zettel hastig in meine Hosentasche gestopft und will nach Slim greifen, um ihn wieder mit nach unten zu nehmen – es kann ja nicht angehen, dass er hier weiter die ganze Wohnung vollhaart –, aber als mein Blick auf Simon fällt, halte ich inne. Seine Haltung ist wieder so starr und angespannt wie gerade in der Küche und als er der Person am anderen Ende der Leitung antwortet, schwingt in seiner Stimme ein schwer zu definierender Unterton mit, der mich schwer schlucken lässt.
 

"Und der Arzt ist sich sicher?", fragt er. Scheinbar ist die Antwort, die er bekommt, nicht besonders gut, denn er schließt einen Moment lang die Augen und atmet betont langsam ein und aus, ehe er sie wieder öffnet. "Gut. Ich komm morgen Nachmittag bei Dir vorbei. Bis dann." Damit verabschiedet er sich und legt auf, lässt aber das Telefon nicht los und dreht sich auch nicht wieder ganz zu mir um. Trotzdem kann ich erkennen, dass er seine Lippen so fest zusammenpresst, dass sie nur noch ein schmaler Strich sind. Was auch immer er da gerade für eine Nachricht bekommen hat, sie scheint wirklich schlimm zu sein und ich ertappe mich beinahe augenblicklich dabei, Slim wieder loszulassen. Irgendwie kann ich jetzt nicht nach unten gehen. Nicht, wenn Simon so aussieht.
 

"Ist alles in Ordnung?", erkundige ich mich leise und diese Frage lässt ihn erschrocken zusammenzucken. "Kann man so nicht sagen", antwortet er dann, dreht sich wieder zu mir um und versucht zu lächeln, aber das misslingt ihm gründlich und dieser Anblick versetzt mir einen schmerzhaften Stich. Ich weiß zwar nicht, was eigentlich los ist, aber ich habe wie schon vorhin bei der Sache mit Ruben den heftigen Drang, Simon irgendwie zu trösten.
 

"Das war meine Tante. Na ja, eigentlich meine Großtante. Die Tante meiner Mutter, bei der ich die letzten drei Jahre gelebt habe. Neben Ruben meine einzige verbliebene Familie. Sie ... sie hat Krebs. Das hat sie gerade erfahren", fährt er fort, als ich ihn einfach nur ansehe, und streicht sich mit einer fahrigen Bewegung ein paar Haare aus dem Gesicht. Dabei kann ich überdeutlich erkennen, dass seine Finger zittern, und der Impuls, ihn einfach in den Arm zu nehmen, wird immer stärker. Gleichzeitig wird mir allerdings auch bewusst, dass ich wahrscheinlich nicht der Richtige bin, um ihm Trost zu spenden. Seine Freundin kann das sicher viel besser als ich.
 

Als ich diesen Gedanken zu Ende gedacht habe, stutze ich und blinzele verwirrt. Offenbar habe ich mich, während ich so übers Trösten gegrübelt hab, unbemerkt in seine Richtung in Bewegung gesetzt. Jedenfalls stehe ich jetzt fast genau vor Simon und bin ihm damit so nah, dass ich ihn problemlos berühren könnte, wenn ich nur meine Hand ausstrecken würde. Allerdings tue ich das nicht, sondern versuche erst einmal das Kribbeln, das seine Nähe in mir auslöst, zu verdrängen. Dann räuspere ich mich, verfluche mich innerlich dafür, dass das überhaupt nötig ist, und bemühe mich, ihn fest anzusehen, was mir unglaublich schwer fällt.
 

"Soll ... soll ich jemanden für Dich anrufen und herbestellen? Ruben vielleicht? Oder ... oder Morgaine?" Wie ich es schaffe, nicht nur diese Fragen, sondern vor allem ihren Namen über die Lippen zu bringen, ist mir ein echtes Rätsel. Innerlich zittere ich vor lauter Aufregung darüber, dass Simon nicht mal mehr zehn Zentimeter von mir entfernt ist, aber zu meiner grenzenlosen Erleichterung hört man meiner Stimme davon nicht allzu viel an. Wenigstens etwas. Es wäre auch zu peinlich, wenn Simon merken würde, dass ich seine Freundin eigentlich gar nicht anrufen will.
 

"Lass nur", wiegelt er ab und ich schäme mich ganz entsetzlich dafür, dass mir bei dieser Absage förmlich ein Stein vom Herzen fällt. Ich wüsste nicht, was ich getan hätte, wenn er mich wirklich darum gebeten hätte, seine Freundin anzurufen und sie hierher zu bitten. Ich hätte es zwar getan – immerhin hab ich's ihm ja selbst angeboten und einmal gegebene Versprechen soll man schließlich halten –, aber wirklich wohl wäre mir dabei nicht gewesen.
 

"Aber ...", unterbricht Simons Stimme meine Gedanken und ich blicke fast schon erschrocken zu ihm auf. Sein Gesicht hat einen bittenden Ausdruck und auf seinen Lippen liegt ein etwas kläglich wirkendes Lächeln, das mein Herz in eine Stepptanzarena verwandelt. Ich habe das Gefühl, wenn er mich noch lange so ansieht, dann kippe ich um, aber ich versuche, mich zusammenzureißen. Schließlich kann ich ihm schlecht irgendwie helfen, wenn ich hier ohnmächtig auf seinem Wohnzimmerteppich rumliege.
 

"Wenn's Dir nichts ausmacht, dann ... Darf ich Dich umarmen? Nur ganz kurz? Bitte." Diese Worte, die so leise kommen, dass ich mir für einen Augenblick tatsächlich sicher bin, dass ich mich verhört habe, ziehen mir fast den Boden unter den Füßen weg. Mein Herz legt nicht nur eine Doppel-, sondern sogar eine Dreifachschicht ein und ich kann deutlich spüren, dass mein Gesicht farbtechnisch wohl wieder einmal selbst der schönsten Tomate Konkurrenz macht. Verbal antworten kann ich nicht – ich krieg jetzt bestimmt kein Wort raus –, deshalb nicke ich nur und finde mich im nächsten Moment tatsächlich in Simons Armen wieder. Sofort beginnt mein ganzer Körper überall da zu kribbeln, wo er ihn berührt, und ich schließe unwillkürlich und unhörbar seufzend die Augen, um dieses Gefühl besser auskosten zu können.
 

Ein Teil von mir schreit mir vehement Warnungen ins Ohr, dass ich das früher oder später ganz sicher furchtbar bereuen werde, weil er ja schließlich eine Freundin hat, aber ich stelle meine Ohren auf Durchzug und blende diese permanent nervige innere Stimme einfach aus. Ich will jetzt nicht über seine Freundin oder meine Gefühle oder darüber, wie schön sich das hier anfühlt, nachdenken. Darum geht's jetzt ja eigentlich auch gar nicht. Im Augenblick ist nur wichtig, dass es Simon gerade ziemlich schlecht geht und dass ich will, dass er sich besser fühlt. Und wenn er jemanden braucht, an dem er sich festhalten kann, dann will ich das sein – auch, wenn das total kitschig und lächerlich und dumm ist und es mir später nur noch mehr weh tun wird. Das ist mir jetzt gerade vollkommen egal.
 

Wie lange wir hier so ganz nah beieinander in seinem Wohnzimmer stehen, weiß ich nicht. Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor, aber das stört mich ganz und gar nicht. Ich lege irgendwann einfach meine Arme um ihn, um ihm so noch ein bisschen mehr Halt zu geben – und, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, um ihm noch ein bisschen näher sein zu können –, und mein Herz rast wie verrückt, weil er mich nicht wegschiebt, sondern mich stattdessen selbst auch noch etwas fester umarmt.
 

"Danke, Jan", flüstert Simon irgendwann erstickt in meine Haare und ich bekomme am ganzen Körper eine Gänsehaut. "Kein ... kein Problem", stammele ich zittrig. Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen soll. Einerseits ist es so unglaublich toll, jetzt hier so nah bei ihm zu sein, aber andererseits schäme ich mich auch unsagbar dafür, dass ich das genieße, während es ihm so schlecht geht. Außerdem habe ich auch ein kleines bisschen ein schlechtes Gewissen, weil Simon ja keine Ahnung hat, was seine Nähe in mir auslöst und dass ich bei dieser ganzen Trostaktion solche Hintergedanken habe. Wenn er das wüsste, würde er mich sicher rauswerfen. Und ich könnte ihm das nicht mal übel nehmen. Immerhin hätte er ja vollkommen Recht damit.
 

Viel zu schnell für meinen Geschmack ist die Ewigkeit, in der Simon sich an mir festhält wie an einem rettenden Anker, auch schon wieder vorbei. Irgendwann löst er sich von mir und sofort wird mir ein bisschen kälter, aber ich beiße mir auf die Lippe und zwinge mich, nicht mehr daran zu denken, was es für ein schönes Gefühl war, so von ihm festgehalten zu werden. Stattdessen lenke ich meine Gedanken fast schon gewaltsam wieder auf den eigentlichen Grund dafür, dass er mich überhaupt umarmt hat: Seine Tante und das, was er vorhin erfahren hat.
 

"Weißt ... weißt Du denn schon mehr oder ...?" Ich breche ab, räuspere mich verlegen und traue mich nicht so recht, Simon anzusehen. Er seufzt leise, geht an mir vorbei zur Couch und setzt sich. Dann blickt er zu mir und klopft einladend auf den Platz direkt neben sich. Etwas zögerlich folge ich ihm und setze mich ebenfalls. Dabei bin ich schrecklich nervös, weil ich ihm schon wieder so nah bin. Am liebsten würde ich mich so an ihn kuscheln wie Ruben es vorhin getan hat, aber das verbiete ich mir selbst. Immerhin ist Ruben sein Bruder und ich ... ich bin nur der Sohn seiner Nachbarin. Ich sollte wirklich nicht so egoistisch sein.
 

"Nicht wirklich", beantwortet er schließlich nach einer Minute des Schweigens meine Frage und ich habe Mühe, nicht zusammenzuzucken. "Sie hatte schon seit ein paar Wochen immer wieder Schmerzen, aber sie wollte nicht zum Arzt gehen. Sie ist unheimlich stur, was das betrifft. Aber irgendwann vorletzte Woche war sie doch da, weil es gar nicht mehr anders ging, und heute hat sie die Ergebnisse der Blutuntersuchung gekriegt. Morgen soll sie ins Krankenhaus, um da die weitere Behandlung zu besprechen", fährt er fort und ich räuspere mich kurz, ehe ich etwas darauf erwidere.
 

"Ich ... ich drück ihr ganz fest die Daumen, dass alles wieder gut wird", murmele ich dann und versuche zu lächeln, aber ich befürchte, dass mir das nicht besonders gut gelingt. "Sie hasst Krankenhäuser", erzählt Simon mir daraufhin etwas zusammenhanglos und aus meinem kläglichen Lächeln wird ein schiefes, freudloses Grinsen. "Wer nicht? Ich mag sie auch nicht besonders", gebe ich zu und finde mich im nächsten Moment mit Simons Augen konfrontiert, die mich fragend ansehen.
 

"Gibt es dafür einen bestimmten Grund?", erkundigt er sich und ich zögere einen Moment, ringe mich dann aber doch noch dazu durch, ihm eine Antwort zu geben. Im Augenblick scheint ihm jede Ablenkung von dem, was er gerade erfahren hat, nur recht zu sein und wenn ich irgendwie dazu beitragen kann, dann will ich das auch tun. Dass ich dabei über Dinge sprechen muss, die ich normalerweise lieber für mich behalte, weil sie mir peinlich und unangenehm sind, verdränge ich.
 

"Ja, schon. Ich musste früher oft ins Krankenhaus, als ich noch jünger war", antworte ich und atme noch einmal tief durch. Eigentlich hasse ich es wirklich, über diese Sache zu reden, aber das ist jetzt egal. "Ich ... ich hab von Geburt an einen Herzfehler. Ein kleines Loch im Herzen. Klingt eigentlich nicht besonders dramatisch, wenn man das so hört, aber die Ärzte haben meinen Eltern damals gesagt, dass es sein könnte, dass ich meinen fünften Geburtstag nicht erlebe. Ich ... ich musste als Kind ständig zum Arzt oder ins Krankenhaus für irgendwelche Untersuchungen und ... Ich fand das damals ganz furchtbar. Ich wollte so gerne sein wie alle anderen Kinder, aber ich durfte nicht draußen rumtoben und mich auf keinen Fall überanstrengen, weil das zu gefährlich gewesen wäre. Mittlerweile ist das alles nicht mehr so tragisch – ich bin vor vier Jahren operiert worden und seitdem geht's mir eigentlich ganz gut –, aber Sport machen darf ich immer noch nicht und ich muss trotzdem immer noch aufpassen, dass ich mich nicht zu sehr aufrege oder überanstrenge."
 

Nachdem ich geendet habe, ist es eine Weile fast vollkommen still. Die einzigen Geräusche, die ich höre, sind das Ticken der Uhr, das Summen des Kühlschranks und ein leises Gähnen, das Slim von sich gibt. "Das muss schlimm sein", kommt es schließlich von Simon und ich zucke zusammen, weil ich nicht damit gerechnet habe, dass er irgendwas sagen würde. "Schon, ja", gebe ich leise zu und knibbele nervös am Saum meines Pullis herum.
 

"Es war immer blöd, weil ich nie richtig mit anderen Kindern spielen durfte. Inzwischen bin ich zwar eigentlich so gut wie gesund, aber meine Mutter macht sich trotzdem noch jedes Mal furchtbare Sorgen, wenn ich auch nur niese oder so. Sie befürchtet dann immer direkt das Schlimmste und irgendwie ... Manchmal nervt mich das ganz furchtbar. Auch wenn ich einfach nur nen schlechten Tag hab oder so, denkt sie direkt, dass ich wieder irgendwelche Probleme hab. Am liebsten würde sie mich jedes Mal sofort zum Arzt schleppen, glaub ich", nuschele ich leise, ohne Simon anzusehen. Jetzt, wo ich es tatsächlich laut ausgesprochen habe, ist es mir auf einmal furchtbar peinlich, dass ich ihn damit belästigt habe. Immerhin hat er doch im Augenblick selbst genug eigene Probleme. Ich bin doch so ein Idiot!
 

"Es tut mir leid", reißt Simons Stimme mich wieder aus meinen Gedanken und ich blinzele ihn irritiert an. Was in aller Welt tut ihm denn jetzt leid? "Die Sache mit dem Turm am Samstag. Das war wirklich unverantwortlich von mir. Wenn ich gewusst hätte, dass Du Dich nicht aufregen darfst, dann hätte ich Dir das erspart", beantwortet er meine unausgesprochene Frage – oder hab ich etwa mal wieder laut gedacht und das nicht gemerkt? – und ich werde gleich wieder rot. Auf gar keinen Fall wollte ich mit meiner Erzählung erreichen, dass er sich noch schlechter fühlt. Scheiße, was hab ich jetzt bloß wieder angerichtet?
 

"Das ... das muss Dir nicht leid tun. Wirklich nicht", widerspreche ich schnell. "Ich meine, Du hast mich ja nicht dazu gezwungen oder so. Ich hätte da ja gar nicht raufgehen müssen, wenn ich wirklich nicht gewollt hätte. Außerdem ... Na ja ... Es war ja eigentlich ... ganz schön, so der Sonnenuntergang und das ganze Drumherum. Und es ist ja auch nichts Schlimmes passiert. Ganz so übervorsichtig muss ich ja nicht mehr sein. Wirklich nicht." Kann mal bitte jemand verhindern, dass ich mich hier weiter zum Deppen mache und mich um Kopf und Kragen rede? Hilfe!
 

"Trotzdem hätte ich nie ...", setzt Simon zu einem Widerspruch an, aber ich lasse ihn nicht ausreden. "Weißt Du, eigentlich ... könnten wir das ja vielleicht ... noch mal machen ... irgendwann ...", nuschele ich und kann nicht so ganz fassen, dass ich das tatsächlich von mir gegeben habe. Habe ich – die wandelnde Höhenangst – gerade wirklich gesagt, dass ich diese ganze Turm-Sache gerne noch mal wiederholen würde? Ja, bin ich denn noch zu retten? Was wird Simon denn jetzt von mir denken?
 

Ziemlich beschämt schiele ich zu ihm hoch, aber er lacht mich nicht für mein blödes Gestotter aus. Nein, auf seinen Lippen liegt ein Lächeln von der Art, mit dem er mich am Samstag überhaupt erst überzeugt hat, mit ihm auf diesen Turm zu kraxeln, und ich habe das Gefühl, dass mein Magen gerade zum neuen offiziellen Tummelplatz für sämtliche Krabbelviecher dieser Welt erklärt wurde. Heilige Scheiße, warum habe ich bis gestern eigentlich nie gemerkt, was dieser ganze Kram bedeutet? Wieso bin ich so unglaublich blöd? Das sollte strafbar sein, echt. Wie hab ich's eigentlich bisher geschafft, selbstständig zu atmen, so lebensunfähig, wie ich bin?
 

"Ist das Dein Ernst?" Simon klingt ziemlich überrascht und ich trete mich mental heftigst selbst in den Arsch, um in seine Stimme keinen erfreuten Unterton hineinzuinterpretieren, der da ganz sicher nicht ist. "J-Ja, ist es", nuschele ich stattdessen nicht sehr überzeugend und atme noch einmal tief durch, bevor ich ihm so fest wie möglich ins Gesicht sehe. Schließlich soll er ja merken, dass ich das, was ich gesagt hab, durchaus auch so gemeint habe, auch wenn es nicht so klang.
 

"Klar, es war schon irgendwie ziemlich beängstigend, aber die Aussicht war ja wirklich toll und ich glaub irgendwie nicht, dass meine Höhenangst von einer einzigen Kletterpartie gleich komplett weggeht, also wär's ja eigentlich nur logisch, das Ganze noch mal zu wiederholen, meinst Du nicht auch?" Wow, ich hab's tatsächlich geschafft, einen ganzen Satz rauszubringen, ohne wieder zu stottern. Und dann auch noch so einen langen. Mann, was bin ich stolz auf mich! Wer jetzt hier Ironie vermutet, gewinnt hundert Gummipunkte und zusätzlich noch so viele Waschmaschinen, wie er einhändig tragen kann.
 

"Das soll jetzt aber nicht heißen, dass Du musst, wenn Du nicht willst. Ich mein, Du hast ja sicher genug anderes zu tun und so, aber ... Na ja, wenn Du doch mal irgendwie nichts Besseres zu tun hast oder so, dann könnten wir ja vielleicht ..." Okay, so viel dazu, dass ich nicht mehr peinlich rumstottere. Das war ja wohl ein Schuss in den Ofen. Ganz toll, Jan, wirklich. Herzlichen Glückwunsch dazu, dass Du Dich schon wieder vor dem letzten Menschen blamiert hast, vor dem Du Dich eigentlich blamieren willst. Was bin ich doch für ein Held.
 

"Gerne." Dieses eine Wort in Verbindung mit Simons Lächeln lässt mein Herz gleich noch eine ganze Ecke schneller schlagen. Ich kann förmlich spüren, wie ich selbst auch zu lächeln – oder vielmehr zu strahlen – beginne und so peinlich mir das auch ist, ich kann es einfach nicht abstellen. Dafür freue ich mich viel zu sehr darüber, dass er indirekt zugesagt hat, sich irgendwann noch mal mit mir zu treffen. Und selbst wenn ich dafür wieder auf diesen gruselig hohen Turm raufmuss, ist mir das im Augenblick egal. Auch die Aussicht auf zwanzig Meter über dem sicheren Boden kann mir jetzt nicht meine gute Laune kaputtmachen. Das schafft nicht mal der Gedanke daran, dass Simon dieses Treffen wohl kaum genauso sieht und ihm mit Sicherheit auch nicht so entgegenfiebern wird wie ich. Darüber will ich jetzt aber auch nicht nachdenken.
 

"Das Buch kannst Du für das Referat übrigens erst mal mitnehmen. Und Du kannst auch gerne jederzeit raufkommen, wenn Du Fragen hast oder einfach nur ein bisschen reden willst." Simons Lächeln vertieft sich noch etwas und mir bleibt für einen Moment im wahrsten Sinne des Wortes die Luft weg. Hat er mich gerade tatsächlich zu sich eingeladen und mir angeboten, dass ich auch ohne einen wirklich triftigen Grund zu ihm kommen kann – einfach nur, wenn ich ihn sehen will? Ach Du heilige Scheiße! Ich glaube, ich kriege gleich einen Herzinfarkt. Hilfe!
 

"Ähm ... da-danke", stottere ich und kann deutlich fühlen, wie mein Gesicht wieder zu glühen beginnt. Kann das nicht mal aufhören? Verdammt, das ist doch peinlich! "Dein Anhängsel kannst Du übrigens auch gerne mitbringen", holt er mich wieder in die Realität zurück und als ich ihn nur verwirrt anblicke, nickt er schmunzelnd in Slims Richtung. Das Katzenvieh of Doom hat sich während unseres Gesprächs gemütlich auf dem Sessel eingerollt und ratzt da jetzt seelenruhig vor sich hin.
 

"Ich glaub, Slim ist echt gerne hier oben bei Dir", rutscht es mir bei diesem Anblick heraus und ich werde wieder rot, quassele aber trotzdem gleich weiter in dem Versuch, mir meine Verlegenheit nicht allzu sehr anmerken zu lassen. "Er ... Ich weiß immer ganz genau, wann Du nach Hause kommst, weil ... weil er immer gleich zur Wohnungstür rennt und sie anschnurrt, wenn Du durch den Flur gehst. Er ... er mag Dich", stammele ich und möchte mich selbst dafür aus dem Wohnzimmerfenster treten. Geht's eigentlich noch peinlicher? Wenn ich so weitermache, dann habe ich mich in spätestens fünf Minuten total verquatscht und mich endgültig um Kopf und Kragen geredet. Ich bin doch ein totaler Vollidiot, echt. Warum hält mich eigentlich niemand auf?
 

"Ich mag ihn auch." In Simons Stimme schwingt ein seltsamer, undefinierbarer Unterton mit und als ich merke, dass er nicht Slim, sondern mich ansieht, wird mir ganz anders. Irgendwie klingt das fast so, als hätte er mit seinen Worten nicht Slim gemeint, sondern mich. Aber das bilde ich mir ganz bestimmt nur ein. Wunschdenken, nichts weiter. Eigentlich schade. Gut, ich weiß ja schon, dass er mich auch zumindest ein bisschen mag – sonst hätte er das mit dem Turm wohl kaum gemacht –, aber leider mag er mich eben nicht so sehr, wie ich ihn mag. Obwohl "mögen" da ja schon verdammt stark untertrieben ist.
 

"Und ... und er stört Dich echt nicht? Und ich ... auch nicht?", hake ich sicherheitshalber noch mal nach und atme unwillkürlich auf, als Simon lächelnd den Kopf schüttelt. "Nein, ganz und gar nicht. Wenn ihr mich irgendwie nerven würdet, würde ich das schon sagen, also keine Angst", beruhigt er mich und ich kann fühlen, wie sich bei diesen Worten auch auf meine Lippen ein Lächeln schleicht. Mir ist durchaus klar, dass ich mich viel mehr über diese kleine Aussage freue, als gut für mich ist, aber ich kann einfach nichts dagegen machen. Dafür fühlt es sich zu gut an, einfach hier zu sitzen und zu hören, dass Simon es nicht schlimm findet, wenn Slim und ich ihn besuchen. Und auch wenn ich nur ein Ersatz für Ruben bin, jetzt gerade ist mir das vollkommen egal.
 

Als meine Gedanken zu Ruben wandern, fällt mir auch die Sache mit dem Klassenausflug wieder ein. Nervös kaue ich auf meiner Unterlippe herum und zupfe gleichzeitig am Saum meines Pullis, während ich hin und her überlege, ob ich das, was mir jetzt gerade durch den Kopf geschossen ist, wirklich tun soll oder doch lieber nicht. Ein Teil von mir schreit laut "Ja, ja, tu es, tu es!", während ein anderer mich eindringlich davor warnt und mir zuflüstert, dass das ganz sicher keine gute Idee ist. Allerdings ist der Teil, der Ja sagt, wesentlich lauter und eindringlicher, weshalb er schlussendlich auch gewinnt.
 

"Ähm ... Simon?", beginne ich, blicke zögerlich wieder auf und finde mich mit Simons Augen konfrontiert, die mich fragend mustern. "Was ist denn?", will er wissen und ich schlucke erst einmal, ehe ich mir die Frage abringe, die mir jetzt auf der Zunge liegt. Was hab ich auch zu verlieren? Ich meine, mehr als Nein sagen kann er ja wohl nicht, oder?
 

"Also ... wegen dem Ausflug, den wir diese Woche machen ...", stammele ich mir zurecht und Simon hebt fragend eine Braue, sagt aber nichts und ich trete mich mental selbst in den Arsch, um endlich nicht mehr so rumzustottern. Das ist doch echt affig. Vielleicht sollte ich langsam mal wenigstens den Versuch starten, mich wie sechzehn zu benehmen und nicht wie zehn. Selbst Vicky stellt sich nicht so blöd an wie ich, und sie ist erst zwölf. Peinlich, echt.
 

"Nein, anders. Also, meine Klasse macht diese Woche einen Ausflug. Zwei Tage, Donnerstag und Freitag, aber wir fahren schon am Mittwochabend los. Na ja, und ich wollte fragen, ob ... ob Du mich vielleicht zur Schule fahren würdest. Meine Mutter muss ja Vicky vom Ballett abholen und das würde sonst so stressig für sie werden. Und außerdem könntest Du Dich dann auch noch von Ruben verabschieden und könntest ihn wenigstens kurz sehen, ohne dass euer Vater was dagegen sagen kann. Schließlich kann er Dir ja nicht verbieten, zu unserer Schule zu kommen, wenn Du mit mir da ankommst und ... Überleg's Dir einfach, ja?", bitte ich leise und zwinge mich, nicht wegzusehen, sondern Simon die ganze Zeit anzublicken. Er wirkt im ersten Moment ziemlich überrascht, fängt sich aber schnell und lächelt dann so, dass mein Herz mal wieder total durchzudrehen droht.
 

"Wann soll ich Dich denn abholen?", fragt er und ich kann nur mit allergrößter Mühe ein erfreutes Quietschen unterdrücken. Allerdings kann ich nicht verhindern, dass ich auf der Couch herumzuhibbeln beginne. Dieses Hibbeln hat einen ärgerlichen Laut zur Folge, der halb wie ein Fauchen klingt und mich irritiert innehalten lässt. Es dauert einen Moment, bis mir dämmert, dass das Geräusch nicht von Simon kommt, sondern von Slim, den ich offenbar mit meinem Gehampel geweckt hab. Na toll. Dann ist er immer so unausstehlich. Er hasst geweckt werden fast genauso sehr wie ich.
 

"Ich muss um sechs an der Schule sein", beantworte ich Simons Frage mit etwas Verspätung und als er nickt, habe ich das Gefühl, dass mein Herz gleich schlappmacht. "Gut, dann fahren wir am besten so gegen halb sechs los. Das sollte zeitlich eigentlich passen", erwidert er und ich nicke wahrscheinlich eine Spur zu hektisch. Darauf lässt jedenfalls sein Schmunzeln schließen, das mir gleich wieder allerschönstes Tomatenrot ins Gesicht treibt.
 

"O-Okay", stammele ich verlegen, stehe von der Couch auf und streiche erst mal meinen Pullover glatt, obwohl das eigentlich gar nicht nötig ist. Aber meine Hände brauchen jetzt einfach eine Beschäftigung. "Ich ... sollte jetzt langsam runter. Muss noch Hausaufgaben machen." Die ich tatsächlich bis gerade vollkommen vergessen hatte. Und wenn ich so genau darüber nachdenke, weiß ich nicht mal, was wir genau aufhaben. Super, Jan. Ganz toll gemacht, echt. Ich hätte mich heute morgen vielleicht mal ein bisschen zusammenreißen sollen. Morgen stehe ich wieder da wie der Depp vom Dienst. Dabei kann ich es mir eigentlich gar nicht leisten, keine Hausaufgaben zu machen. Immerhin wollte ich dieses Jahr den Abschluss ja endlich mal schaffen. Ich bin doch echt ein Trottel, der seinesgleichen sucht.
 

"Tut mir leid, dass ich Dich so lange davon abgehalten hab", entschuldigt Simon sich und ich schüttele hektisch den Kopf. "Du kannst doch nichts dafür", widerspreche ich schnell. Ich will nicht, dass er sich Vorwürfe für etwas macht, das nicht seine Schuld ist. Immerhin war sein Tag heute auch so schon hart genug. "Außerdem war das mit dem Referat ja auch wichtig. Und der Res t... der auch", schiebe ich noch hinterher und bringe irgendwie ein Lächeln zustande, dem man meine Nervosität hoffentlich nicht allzu deutlich ansieht.
 

"Na ja, Slim und ich werden dann jetzt mal langsam abhauen." Damit schnappe ich mir Franzis Kater und hieve ihn auf meinen Arm, ehe ich in Richtung Flur marschiere. Simon folgt mir und hält mir die Wohnungstür auf, damit ich Slim nicht absetzen muss. Ich will mich gerade dafür bedanken, aber dazu komme ich nicht mehr. "Danke, Jan", kommt Simon mir zuvor und ich blinzele irritiert, als er sich etwas verlegen durch die Haare fährt. "Dafür, dass Du vorhin da warst", schiebt er noch hinterher und ich bin froh, dass ich Slim auf dem Arm habe. So hab ich nämlich etwas, woran ich mich festhalten kann, damit ich nicht umkippe.
 

"Kein ... kein Problem", nuschele ich und für einen Moment sieht Simon so aus, als würde er noch etwas sagen wollen, doch dann schüttelt er kaum merklich den Kopf. "Dann bis Mittwoch", verabschiedet er sich von mir und ich nicke mechanisch, trete in den Flur und tapse gemeinsam mit Slim wieder nach unten. Ich bin so neben der Spur, dass ich Mamas etwas panische Frage danach, wo ich denn die ganze Zeit gesteckt hab, nur mit einem gemurmelten "Simon" beantworte und mich dann gleich in mein Zimmer verkrümele, ohne sie noch weiter zu beachten.
 

Erst da setze ich Slim wieder ab und lasse mich dann bäuchlings in mein Bett fallen, um mein Gesicht in meinem Kissen vergraben zu können. Und jetzt, wo ich hier liege, steigt die Erinnerung daran, wie es sich angefühlt hat, von Simon im Arm gehalten zu werden, wieder in mir auf und mein ganzer Körper beginnt wie schon vorhin zu kribbeln. Ich kann praktisch fühlen, wie meine Lippen sich zu einem absolut beduselten Grinsen verziehen, das nicht mal der Gedanke an Simons Freundin wieder vertreiben kann.
 

Sie war vorhin nicht da, als er jemanden zum Anlehnen gebraucht hat, aber ich. Und obwohl ich ihm angeboten hab, dass ich sie für ihn hätte anrufen können, wollte er das nicht, sondern er wollte, dass ich bei ihm bleibe. So bescheuert das ist, diese simple Tatsache macht mich gerade einfach nur unglaublich glücklich. Ich war bei ihm und hab ihn vorhin getröstet, als es ihm schlecht ging, und er hat mich umarmt, nicht sie.
 

Ein kleiner, noch vernünftig denkender Teil von mir weiß ganz genau, dass es eigentlich vollkommen lächerlich ist, sich etwas darauf einzubilden, aber ich kann einfach nicht anders. Ich will jetzt nicht auf diesen Teil hören, sondern lieber auf den, der mir sagt, dass meine Nähe Simon vorhin lieber war als die seiner Freundin. Vielleicht ist verliebt sein ja doch nicht ganz so scheiße, wie ich heute Morgen noch dachte. Jetzt gerade kommt es mir jedenfalls vor wie das tollste Gefühl der Welt.
 

~*~
 

Hach, ist Janni nicht süß?

*ihn schon wieder plattpuschel*

Ich könnte ihn fressen, ehrlich. Aber das darf ich nicht. Er wird ja noch gebraucht.

Ab jetzt könnte es übrigens definitiv langsamer voran gehen. Das zehnte Kapitel ist zwar schon angefangen, aber ich bin noch laaaaange nicht da, wo ich hinwill, also könnte es sein, dass ihr euch dieses Mal länger gedulden müsst. Sorry schon mal vorab dafür.

*Entschuldigungskekse an alle verteil*

Ich hoffe, dieses Kapitel ist wenigstens eine kleine Entschädigung dafür.
 

Bis zum nächsten Mal!

*wink*
 

Karma

Von Busfahrten und unerwarteten Enthüllungen

Jahaaaa, ich lebe noch. Oder vielmehr wieder. Krank werden vor Weihnachten ist extrem scheiße, wusstet ihr das?

>.<

Nyan, egal. Jetzt bin ich jedenfalls wieder gesund und fit, hab das zehnte Kapitel endlich überarbeitet und kann euch außerdem mitteilen, dass Kapitel Elf nur noch abgetippt und Kapitel Zwölf abgetippt und beendet werden muss. Ihr seht also, ich war trotz Krankheit fleißig. Nur graut's mir jetzt davor, dass ich über zwanzig handschriftlich verzapfte DIN A4-Seiten abtippen muss - kariert und beidseitig beschrieben. Hatte ich schon erwähnt, dass ich eine recht kleine, enge Handschrift habe?

*ächz*

So, jetzt aber genug gelabert. Heute auch nur ein kurzer Dank für die bisherigen lieben Kommentare und eine Widmung an chaos-kao, der ich den 50. Kommentar verdanke. Ich find das so toll, dass ihr so mitfiebert und dass die Story so gut ankommt.

*______*

*happy ist*
 

Jetzt aber endgültig viel Spaß mit Kapitel Zehn und freut euch auf die Aufklärung eines gewissen Missverständnisses!

^.~
 

Karma
 

~*~
 

Der Mittwoch kommt schneller und gleichzeitig langsamer, als mir lieb ist. Am Dienstag habe ich Simon nicht gesehen und auch nicht mehr mit ihm gesprochen, aber dafür haben Ruben und ich uns in den Pausen lange und ausgiebig unterhalten. Ich habe ihm sicherheitshalber noch nichts von der Krankheit seiner Großtante erzählt – ich dachte mir, das will Simon vielleicht lieber selbst machen –, sondern eigentlich hauptsächlich nur zugehört und ihn abgelenkt, als er sich über seinen Vater, seine Mutter und die ganze Sache mit seinem Bruder aufgeregt hat.
 

In der zweiten großen Pause, als es zu schlimm wurde, habe ich das Thema vermutlich nicht besonders geschickt von Simon weg und auf Halloween gelenkt, aber glücklicherweise ist Ruben nicht sauer geworden, sondern zu meiner Erleichterung tatsächlich auf den Themenwechsel eingegangen. So habe ich auch gleich ein bisschen mehr über Rubens Freunde erfahren. Ich weiß jetzt beispielsweise, dass Nils und Yannick, zwei seiner ehemaligen Klassenkameraden, zwar nicht miteinander verwandt sind, aber trotzdem zusammen wohnen, weil ihre Eltern ein Paar sind. Außerdem haben sie auch noch am gleichen Tag Geburtstag.
 

"Und zwar am ersten April", hat Ruben mir kichernd erzählt. "Yannick findet das ganz toll, aber Nils nicht. Aber gut, Nils hat eh fast ständig schlechte Laune und motzt dauernd rum. Das hat ihm auch den Spitznamen "Grummelzwerg" eingebracht. So nennt ihn zwar meistens nur Yannick, aber der meint das nicht böse. Der hat nur Spaß daran, dass Nils sich immer darüber aufregt."
 

Des weiteren habe ich noch erfahren, dass Maurice und Marie-Claire aus Rubens ehemaliger Parallelklasse zweieiige Zwillinge sind, die ihre Namen ihrer Großmutter mütterlicherseits verdanken, weil sie Französin ist. Deshalb sprechen die beiden auch fließend Französisch – etwas, was ich so gar nicht kann. Ich bin schon froh, dass ich mit Englisch einigermaßen zurande komme. Noch mehr Fremdsprachen würden mir wohl einen Knoten in die Zunge machen, von meinem armen Hirn ganz zu schweigen.
 

"Maurice ist so der Typ großer Bruder für uns alle", hat Ruben gesagt. "Wenn irgendjemand Stress hat, dann regelt er das. Er ist irgendwie der Meinung, er müsste auf uns alle aufpassen. Und seine Schwester Marie-Claire ist so was wie die Seelsorgerin bei uns. Wenn irgendjemand Probleme hat, heult er sich meistens bei ihr aus. Sie weiß irgendwie immer, was sie sagen muss, damit man sich besser fühlt. Sie ist ein echt tolles Mädchen."
 

Die auf die große Pause folgende Mathestunde – die fünfte Stunde am Dienstag – haben Ruben und ich geschwänzt. Ich habe einfach behauptet, mir wäre schlecht, und Frau Römer, die über meine Krankheit Bescheid weiß, hat zwar skeptisch gekuckt, uns aber trotzdem entschuldigt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie gemerkt hat, dass weder Ruben noch ich wirklich krank waren, sondern dass wir beide einfach keine Konzentration für den Unterricht aufgebracht hätten. Trotzdem hat sie uns das Krankenzimmer aufgeschlossen und Ruben und ich haben fünfundvierzig Minuten lang einfach nur über alles und nichts gequatscht und uns lustige oder peinliche Anekdoten erzählt, die irgendwann mal passiert sind. So viel gelacht habe ich schon lange nicht mehr und ich glaube auch Ruben tat das ganz gut.
 

Daran muss ich jetzt gerade unwillkürlich wieder denken, als mein Blick zur Küchenuhr huscht. Es ist Viertel nach fünf und ich sitze am Küchentisch, meine gepackte Tasche und meinen Rucksack neben mir und mit den Nerven vollkommen am Ende. Aus Franzis Zimmer kann ich gedämpft die Stimme meiner großen Schwester hören, die mal wieder mit ihrer besten Freundin Kirsten telefoniert. Ich kann nicht verstehen, worüber die beiden reden, aber eigentlich interessiert mich das auch nicht. Was auch immer Franzi tut oder nicht tut, geht mir im Augenblick sonst wo vorbei.
 

Eigentlich sollte sie mich ja heute zur Schule fahren, aber nachdem sie seit gestern weiß, dass Simon das übernimmt – ich habe Mama gestern absichtlich in Franzis Beisein davon erzählt, damit sie beide nicht glauben, dass ich auf meine blöde große Schwester angewiesen bin –, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie nur hier ist, um mich auslachen und mir eine Nase drehen zu können, falls Simon mich doch noch versetzt. Genau aus diesem Grund hoffe ich noch mehr als ohnehin schon, dass er mich nicht hängen lässt und Franzi so keine Gelegenheit zum Lästern gibt.
 

Außerdem – und das ist mir, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, viel wichtiger als etwaiges Geläster von Franzi – will ich Simon auch unbedingt wenigstens noch ein Mal sehen, und sei es auch nur ganz kurz, bevor ich für zwei Tage wegfahre. Ich weiß, eigentlich sollte ich froh darüber sein, dass ich ein bisschen Abstand von ihm kriege, und ich sollte wohl auch hoffen, dass sich meine Gefühle in den zwei Tagen erledigen, aber ich bin mir einfach jetzt schon sicher, dass ich ihn doch ziemlich vermissen werde. Dass das total bescheuert ist, ist mir auch klar, aber ich kann einfach nichts dagegen machen.
 

So in meine widerstreitenden Gedanken verstrickt zucke ich heftig zusammen und falle vor Schreck fast vom Stuhl, als es an der Wohnungstür klingelt. Ein schneller Blick zur Uhr zeigt mir, dass Simon – es darf einfach bittebittebitte niemand anders sein – fast zehn Minuten zu früh dran ist, aber das stört mich nicht. Etwas wackelig rappele ich mich auf und will zur Tür gehen, aber Franzi ist schneller als ich. Noch immer mit dem Telefon am Ohr öffnet sie die Tür und ich kann sehen, wie sie Simon einen abschätzigen Blick zuwirft, ehe sie sich halb zu mir umdreht.
 

"Dein Fahrservice ist da, Jannilein", teilt sie mir schnippisch mit und ich möchte sie am liebsten dafür schlagen, dass sie diesen blöden, absolut ultrapeinlichen Spitznamen ausgerechnet vor Simon verwenden muss. Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, dass Vicky mich bei jeder Gelegenheit Janni nennt! Aber nein, diese dumme Schnepfe von Franzi muss das ja gleich noch überbieten. Womit hab ich so eine ätzende große Schwester eigentlich verdient?
 

"Blöde Zicke!", motze ich sie deshalb an, aber wie üblich ignoriert sie mich und quatscht stattdessen weiter auf Kirsten ein, als wären Simon und ich gar nicht da. "Bin ich froh, dass ich die für zwei Tage los bin. Das wird die pure Erholung", murre ich weiter und blinzele irritiert, als Simon leise zu lachen beginnt. Was ist denn jetzt los? Hab ich mich etwa schon wieder blamiert, ohne das zu merken? Bitte nicht!
 

"Klingt, als hättet ihr euch immer noch nicht wieder vertragen", erklärt er mir den Grund für sein Amüsement und ich schüttele abfällig schnaubend den Kopf. "Sie hat sich immer noch nicht bei mir entschuldigt, also rede ich auch nicht mit ihr. Immerhin hab ich nichts falsch gemacht", brummele ich in meinen nicht vorhandenen Bart und Simon schmunzelt kurz, ehe er sich bückt, um Slim, der ihm schon die ganze Zeit schnurrend um die Beine streicht, hochzuheben und ihn zu kraulen.
 

Ich bin zugegebenermaßen ein bisschen neidisch auf das dumme, glückliche Katzenvieh und trete mich innerlich selbst in den Arsch deswegen. Dabei beglückwünsche ich mich gleichzeitig selbst dazu, dass ich genau in dieser Sekunde einen neuen Tiefpunkt in meinem Leben erreicht hab. Ich meine, wie tief muss man bitteschön sinken, um eifersüchtig auf eine Katze zu sein? Das ist so unglaublich albern, peinlich und erniedrigend, dass ich garantiert auf der Stelle vor Scham sterben werde, wenn jemals irgendjemand was davon erfährt.
 

"Können wir?", erkundigt Simon sich und ich nicke hektisch. Je eher ich hier weg bin, desto besser. "Ja. Ich muss nur noch eben mein Zeug holen", erwidere ich und mache mich auf den Weg in die Küche zu meinem Gepäck. Ich setze meinen Rucksack auf und will gerade nach der Reisetasche greifen, da wird diese schon hochgehoben. "Da-Danke", stammele ich und verfluche mich innerlich selbst dafür, dass ich schon wieder rot werde. Wie soll ich's denn schaffen, mich nicht zu verraten, wenn ich mich jedes Mal in Simons Gegenwart so unglaublich dämlich aufführe?
 

Zu meiner Erleichterung geht er nicht darauf ein, dass ich schon wieder aussehe wie ein gekochter Hummer, sondern nimmt einfach nur meine Tasche, streichelt Slim noch einmal über den Kopf und sieht mich dann auffordernd an. Ich stapfe vor zur Wohnungstür, aber ehe ich sie aufhalten kann, holt Simon mich ein und erledigt das für mich. Ich komme mir ein bisschen vor wie ein Mädchen und meine Gesichtsfarbe wird noch dunkler, als ich bemerke, dass er mich kurz angrinst.
 

Schweigend gehen wir nach unten zu seinem Wagen, verstauen mein Gepäck im Kofferraum und steigen ein. Und erst als ich mich schon angeschnallt habe und einen Blick in den Rückspiegel werfe, fällt mir etwas auf, das mich einerseits total irritiert und andererseits wahnsinnig freut: Simon trägt heute keine seiner üblichen farbigen Kontaktlinsen. Ich weiß nicht, warum er darauf verzichtet hat, aber ich kann nicht anders als beduselt zu grinsen. Ich mag seine Augen und allein die Möglichkeit, dass er das meinetwegen gemacht hat – eben weil ich ihm das am Samstag gesagt hab –, lässt mich bildlich gesprochen mindestens einen halben Meter über dem Boden schweben.
 

Ich weiß, dass ich mich gerade vollkommen bescheuert aufführe, aber ich kann einfach nicht anders. Und ich will auch absolut nicht darüber nachdenken, wie oft seine Freundin ihn wohl schon ohne Kontaktlinsen gesehen hat. Genau genommen will ich eigentlich gar nicht an seine Freundin denken – was mir, zumindest größtenteils, auch recht gut gelingt. Verdrängung der Tatsachen nennt man so was, glaub ich. Aber egal, Verdrängung ist mein Freund. Genau.
 

"Na, Du hast ja gute Laune", spricht Simon mich an, nachdem er den Wagen gestartet hat. Ich blinzele etwas irritiert – wie kommt er denn jetzt bitteschön darauf? –, nicke dann aber trotzdem. "Irgendwie schon, ja", gebe ich zu und beiße mir schnell auf die Unterlippe, um ihm nicht auch noch brühwarm zu erzählen, dass das eigentlich nur an ihm und daran, dass er jetzt tatsächlich da ist und mich zur Schule fährt, liegt. Das muss er nun wirklich nicht wissen. Das wär doch ein bisschen zu peinlich für mich.
 

"Ich freu mich schon ein bisschen auf den Ausflug. Seit Ruben in meiner Klasse ist, ist es da nicht mehr ganz so ätzend", quassele ich einfach drauflos und mich trifft ein kurzer Seitenblick Simons, ehe der sich wieder auf den Verkehr konzentriert. "Es ist wirklich schwer, Ruben nicht zu mögen", wiederholt er, was er mir schon mal über seinen kleinen Bruder erzählt hat, und mir schießt der Gedanke durch den Kopf, dass er wirklich unglaublich an Ruben hängen muss. "Er war schon immer sehr offen und fröhlich. Schon als er noch klein war. Wenn er jemanden unbedingt kennen lernen wollte, ist er einfach hingegangen und hat denjenigen angesprochen", erzählt er weiter und ich muss kurz grinsen.
 

"Weißt Du, was er an seinem ersten Schultag gemacht hat? Er hat Kevin, einen von den drei größten Idioten aus unserer Klasse, nach seiner Nummer gefragt und ihm erzählt, dass er ja genau sein Typ wär, weil Kevin der Meinung war, dass wir ja jetzt noch so ne "Emo-Tunte" in der Klasse haben. Ich hab gedacht, ich kipp vom Stuhl. So hat vorher noch nie jemand mit Kevin gesprochen. Gut, jetzt hasst er Ruben genauso wie mich, aber das macht ihm irgendwie gar nichts aus."
 

"Das ist typisch für Ruben." Simon schüttelt den Kopf und schmunzelt kurz, ehe er mich wieder ansieht. "Hast Du eigentlich immer noch Stress mit diesen drei Vollidioten?", erkundigt er sich dann und nun schüttele ich den Kopf. "Nein. Jedenfalls nicht mehr so schlimm wie am Anfang. Irgendwie weiß Ruben immer einen Konter auf die blöden Sprüche, die wir gedrückt kriegen, so dass die drei Trottel gegen ihn ziemlich alt aussehen. Und blöd genug, uns von denen alleine erwischen zu lassen, sind wir beide nicht", gebe ich zurück und im nächsten Moment dreht mein Herz total durch. Irre ich mich oder sieht Simon tatsächlich ein bisschen erleichtert aus?
 

Okay, Jan, ganz ruhig. Das bildest Du Dir ein. Du hast Halluzinationen. Genau. Mensch, jetzt interpretier da bloß nichts rein, was da gar nicht ist! Er macht sich nur Sorgen um mich, weil er mich ganz gut leiden kann und weil ich nun mal ein Freund seines kleinen Bruders bin, nicht mehr und nicht weniger. Verdammt, das ist die Scheiße daran, wenn man verliebt ist. Man legt echt jedes Wort auf die Goldwaage und glaubt ständig, dass da mehr dahintersteckt. Ich bin doch echt nicht mehr zu retten. Kann mich mal bitte jemand erschießen?
 

"Ähm ... Ich hab Ruben übrigens noch nichts erzählt wegen eurer Tante", stammele ich und trete mich selbst dafür in den Arsch, dass ich schon wieder rede, ohne vorher nachzudenken. Ich bin doch echt ein Trottel, der seinesgleichen sucht. "Wie ... wie geht's ihr eigentlich?", schiebe ich noch schnell hinterher und traue mich nicht, Simon direkt anzusehen. Seine Hände sind so fest um das Lenkrad gekrampft, dass seine Knöchel ganz weiß aussehen. Toll gemacht, Jan. Genau das falsche Thema. Ob's dafür irgendwie nen Preis gibt? So den Obertrottel-Orden oder so? Verdient hätte ich ihn auf jeden Fall. Wie kann man nur so unglaublich blöd sein?
 

"Es geht ihr soweit gut. Sie musste gestern noch nicht im Krankenhaus bleiben, sondern soll erst am nächsten Montag wiederkommen. Dann wird sie so bald wie möglich operiert." Simons Stimme klingt vielleicht eine Spur zu ruhig und ich schlucke schwer. Ich glaube, ich kann mir nicht mal annähernd vorstellen, wie nahe ihm diese ganze Sache geht. Und wenn ich so genau darüber nachdenke, dann bin ich zugegebenermaßen auch froh darüber, dass ich das nicht nachempfinden kann. Ich wünschte nur, er müsste das nicht durchmachen. Und seine Tante auch nicht.
 

"Das ... klingt doch ... ganz gut ... oder?", frage ich leise und kleinlaut und kann aus dem Augenwinkel sehen, wie Simon nickt. "Schon, ja", antwortet er und ich kann ihm das, was er nicht laut ausspricht – nämlich dass er sich trotzdem wahnsinnige Sorgen um seine Tante macht –, förmlich an der Nasenspitze ablesen. Ich möchte mich am liebsten selbst dafür schlagen, dass ich dieses Thema überhaupt zur Sprache gebracht und damit die eigentlich recht gute Stimmung so versaut hab, aber stattdessen mache ich mich in meinem Sitz nur so klein wie möglich und schäme mich in Grund und Boden. Wie kann man nur ungestraft so dämlich sein wie ich?
 

Die restliche Fahrt vergeht schweigend und ich bin gleichermaßen erleichtert wie traurig, als irgendwann der Parkplatz der Schule in Sicht kommt. Trotz der Uhrzeit ist er nahezu gerammelt voll und ich kann beinahe meine halbe Klasse inklusive ihrer Eltern schon dort stehen sehen. Ich verrenke mir ein wenig den Hals und erblicke irgendwann tatsächlich auch Ruben, der augenscheinlich gerade mit seiner Mutter spricht. Von seinem Vater, den ich bisher noch nicht kenne, fehlt jede Spur, aber das muss nichts heißen. Vielleicht sehe ich ihn auch nur noch nicht.
 

Sobald Simon seinen Wagen zum Stehen gebracht hat, schnalle ich mich ab und steige aus, um mein Gepäck aus dem Kofferraum zu nehmen. Wie schon vorhin kommt er mir auch jetzt bei meiner Reisetasche zuvor, aber ehe wir es auch nur zehn Schritte vom Auto weg schaffen, wird Ruben auf uns aufmerksam und kommt uns strahlend entgegengestürmt, um sich in Simons Arme zu werfen und sich wie schon am Montag an ihn zu klammern.
 

"Was machst Du denn hier, Simon?", fragt er seinen Bruder dabei und der streicht ihm mit der freien Hand über die Haare. "Ich hab Jan hergefahren", erklärt er und als er lächelt, fängt mein Herz wieder mal an zu rasen. Etwas verlegen scharre ich mit den Füßen und kippe im nächsten Moment fast um, als Ruben von Simon ablässt und stattdessen mir stürmisch um den Hals fällt.
 

"Danke, Jan!", flüstert er mir zu und ich laufe knallrot an, weil ich aus dem Augenwinkel erkennen kann, dass wir gerade die Attraktion des Abends sind. Sämtliche schon anwesenden Klassenkameraden starren uns an und deren Eltern glotzen mindestens ebenso irritiert. Mir ist das Ganze schon ein bisschen peinlich, aber irgendwie freue ich mich auch darüber, dass Ruben sich so freut. Es war also doch eine gute Idee, Simon zu bitten, mich heute herzubringen.
 

"Äh ... Kein Thema", nuschele ich beschämt zurück und werde im nächsten Moment fast geblendet, als Ruben mich loslässt und mich stattdessen angrinst wie ein Flutlichtscheinwerfer. "Irgendwie find ich's echt toll, dass wir uns kennen gelernt haben", sagt er und meine Gesichtsfarbe wird nur noch dunkler, als Simon erst seinem Bruder und dann mir leise lachend durch die Haare wuschelt. Sofort fängt mein ganzer Körper wieder an zu kribbeln und ich habe das Gefühl, hier auf der Stelle verglühen zu müssen. Heilige Scheiße, es wird immer schlimmer mit mir! Hilfe!
 

"Du, Simon, der Schierling fährt übrigens auch mit auf den Ausflug. Das ist unser Relilehrer", informiert Ruben seinen Bruder und mir fällt erst jetzt ein, dass er tatsächlich Recht hat. Daran hab ich ja gar nicht mehr gedacht. Aber gut, eigentlich ist es mit dem Denken bei mir im Augenblick eh nicht weit her. Ich bin mit meinen Gedanken sowieso ständig woanders. Das ist schon so schlimm, dass Vicky mich heute morgen, als sie sich von mir verabschiedet hat, ausgelacht hat, weil ich tatsächlich so verpeilt war, dass ich nicht mehr wusste, dass wir ja heute schon losfahren. Wenn das nicht peinlich ist, was ist es dann?
 

"Komm, ich stell ihn Dir eben vor." Damit schnappt Ruben sich die freie Hand seines Bruders und zieht ihn hinter sich her. Mir wirft er über die Schulter hinweg einen auffordernden Blick zu und ich schaffe es nach ein paar Sekunden tatsächlich, meine Füße doch noch in Bewegung zu setzen und den beiden zu folgen. Dabei huscht mein Blick unwillkürlich zu Rubens Mutter, die ihre beiden Söhne ebenso beobachtet wie ich. Ihr Mund ist nur ein schmaler Strich, aber sie sagt nichts, sondern bleibt da stehen, wo sie steht. Sie begrüßt Simon nicht und er scheint sie im Gegenzug nicht einmal wahrzunehmen. Irgendwie frage ich mich gerade, ob er sie wirklich nicht sieht oder ob er nur so tut. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ihm dieses Verhalten seiner eigenen Mutter nicht weh tut, aber ich will ihn nicht danach fragen. Das wäre nur wieder ein falsches Thema und ich will mich nicht schon wieder so in die Nesseln setzen wie vorhin. Einmal reicht wirklich voll und ganz.
 

"Herr Schierling?" Ruben zupft an der Jacke unseres Relilehrers und als der sich zu uns umdreht, strahlt er ihn an. "Das ist mein Bruder", stellt er Simon stolz vor und Herr Schierling wirkt im ersten Moment etwas irritiert, lächelt dann aber und reicht Simon die Hand. "Dann werden Sie demnächst also unser Ehrengast sein, ja?", erkundigt er sich und Simon nickt. Dabei liegt auf seinen Lippen ebenfalls ein Lächeln und mein Herz dreht schon wieder durch.
 

"Wenn Sie es so ausdrücken wollen", antwortet Simon und Herr Schierling nickt so heftig, dass ihm seine Brille um ein Haar von der Nase rutscht. Buchstäblich im letzten Moment hält er sie auf, schiebt sie wieder hoch und sein Lächeln wird noch etwas breiter. "In der Tat, ja. Ich muss gestehen, ich finde es unglaublich interessant, einen echten Satanisten kennen zu lernen. Wenn es Sie nicht stört, würde ich Ihnen gerne ein paar Fragen stellen. Hätten Sie einen Augenblick Zeit?" Mit schiefgelegtem Kopf sieht er Simon an und als der nickt, entwindet Ruben ihm mit einem fetten Grinsen meine Reisetasche und schleppt sie in Richtung Bus, um sie da bei dem restlichen Gepäck zu verstauen.
 

Weil ich nicht so recht weiß, was ich tun soll – ich will Simon und Herrn Schierling nicht stören –, schließe ich mich Ruben an und helfe ihm dabei, die Tasche in den schon ziemlich vollen Bus zu stopfen. Kaum dass das erledigt ist, dreht Ruben sich zu mir um und drückt mich noch mal so fest, dass ich fast keine Luft mehr bekomme. "Das war echt super von Dir, Jan. Das mit Simon, meine ich", bedankt er sich, sobald er mich wieder losgelassen hat, und ich zupfe verlegen an meiner Jacke herum. Irgendwie ist es mir ja schon ein bisschen peinlich, dass er mich so durchschaut hat.
 

"Ich dachte, so könnt ihr euch wenigstens noch mal kurz sehen, ohne dass Deine Eltern sich darüber beschweren können", erkläre ich nuschelnd und habe Ruben im nächsten Moment schon wieder an meinem Arm hängen. Irgendwie macht er das dauernd, aber es stört mich nicht. Und mittlerweile ist es mir auch nicht mehr ganz so peinlich wie zu Beginn, wenn er sich bei mir einhakt und mich irgendwohin mitschleift. Er ist eben einfach so.
 

"Du bist echt nett, Jan", behauptet Ruben, aber ich komme nicht zum Widersprechen, weil seine Mutter just in diesem Moment zu uns tritt. "Möchtest Du mir Deinen Freund nicht vorstellen, Ruben?", erkundigt sie sich spitz und er nickt, während ich nur etwas ratlos zwischen den Beiden stehe. "Ja, klar. Also, Mama, das ist Jan. Jan, das ist meine Mutter", stellt Ruben uns beide vor und gut erzogen, wie ich nun einmal bin, reiche ich seiner Mutter die Hand und begrüße sie so, wie meine Mutter es mir beigebracht hat.
 

Bei der Gelegenheit stelle ich fest, dass Rubens Mutter tatsächlich die gleichen braunen Augen hat wie ihr jüngerer Sohn. Auch sonst sieht er ihr ziemlich ähnlich – wenn man jetzt mal von den Haaren absieht; die Haare von Frau Schwarz sind dunkelbraun und nicht so schwarz wie die ihrer beiden Söhne – und ich frage mich unwillkürlich, ob die Ähnlichkeit zwischen Simon und seinem Vater wohl auch so groß ist. Besonders viel Ähnlichkeit mit seiner Mutter hat er jedenfalls nicht, soweit ich das beurteilen kann.
 

Frau Schwarz mustert mich skeptisch und ich habe das Gefühl, dass sie eigentlich ziemlich gerne wissen würde, woher ich Simon kenne und warum er mich hergefahren hat. Allerdings fragt sie nicht und ich erzähle es ihr auch nicht von selbst. Immerhin soll ihr Mann ja nicht wissen, dass Ruben, wenn er mal zu mir kommt, auch gleich seinen Bruder besuchen kann. Ich will nicht, dass seine Eltern ihm verbieten, mich zu besuchen, deshalb behalte ich das für mich.
 

Das zumindest mir etwas unangenehme Schweigen, das sich über Ruben, seine Mutter und mich gelegt hat, wird erst von Frau Römer unterbrochen, die mir irgendwann auf die Schulter tippt und Ruben und mich auffordert, doch schon mal einzusteigen. Die Anderen aus unserer Klasse sind schon dabei, sich in den Bus zu quetschen, weshalb wir beide nach einem kurzen Blickwechsel beschließen, dass wir warten wollen, bis diese Idioten drin sind. Wir werden dann schon noch irgendwo zwei freie Plätze finden.
 

Ohne dass ich es wirklich will, schweift mein Blick von dem Gedränge an den beiden Bustüren zu Simon, der immer noch bei Herrn Schierling steht und sich scheinbar sehr angeregt mit ihm unterhält. Ich wüsste zu gerne, worüber die Zwei gerade reden, aber ich möchte jetzt auch nicht stören, indem ich mich dazustelle und lausche. Außerdem würde das ja wohl auch ziemlich blöd wirken. Trotzdem möchte ich mich schon noch gerne von Simon verabschieden, aber wie in aller Welt soll ich das machen, solange Herr Schierling noch dabei ist?
 

Wie als Antwort auf meine unausgesprochene Frage umarmt Ruben schließlich, als der Rest unserer Klasse sich lärmend im Bus verteilt hat, seine Mutter und verabschiedet sich von ihr, ehe er sich meine Hand schnappt und mit mir im Schlepptau zielstrebig zu Simon und Herrn Schierling stratzt. Ohne darauf zu achten, dass die Zwei sich immer noch unterhalten, zupft er dann am Mantel seines Bruders und als der sich zu uns umdreht, klebt er auch schon an ihm und umarmt ihn ganz fest.
 

"Bis bald", nuschelt er in Simons Pulli und seufzt zufrieden, als sein Bruder daraufhin die Arme um ihn legt und ihn kurz an sich drückt. "Pass gut auf Dich auf, okay?", bittet er und Ruben nickt, ehe er sich ziemlich widerwillig von Simon löst. Ich will mich gerade ebenfalls verabschieden, aber bevor ich dazu komme, auch nur den Mund aufzumachen, bleibt mir fast das Herz stehen, als ich mich urplötzlich ebenso in Simons Armen wiederfinde wie gestern in seiner Wohnung.
 

Vor Schreck bleibe ich stocksteif stehen, aber als Simon mir leise "Und Du auch, Jan" zuflüstert, schaffe ich es doch noch irgendwie zu nicken – und das, obwohl mein Herz gerade erst wieder angesprungen ist und gleich ein paar Überstunden einlegt. Ich habe das peinliche Gefühl, dass Simon das eigentlich merken müsste, aber zu meiner grenzenlosen Erleichterung passiert das nicht. Trotzdem bin ich ein wenig enttäuscht, als er mich wieder loslässt. Ich komme aber nicht dazu, etwas zu sagen und mich so mal wieder zum Affen zu machen. Bevor das passiert, legt Herr Schierling mir eine Hand auf die Schulter und schiebt mich in Richtung der geöffneten Bustüren.
 

Ruben ist bereits eingestiegen und als ich es zu meinem eigenen Erstaunen tatsächlich irgendwie geschafft habe, ohne Unfall in den Bus zu kommen – was, in Anbetracht meiner gummiartigen Beine, so was wie das achte Weltwunder ist –, winkt er mir hektisch von einem Zweierplatz in der zweiten Reihe zu. Genau vor uns ist noch ein freier Einzelplatz, auf den sich Herr Schierling setzt, nachdem Ruben mich gepackt und neben sich gezerrt hat. Er hat sich ans Fenster gesetzt und als ich einen Blick hinauswerfe, trifft mich fast der Schlag, weil Simon kaum zwei Meter vom Bus entfernt steht und uns beobachtet.
 

Als er bemerkt, dass wir ihn beide anblicken, lächelt er und hebt die Hand, um uns zum Abschied noch mal zu winken. Die blöden Sprüche, die von irgendwo schräg hinter uns kommen und von Frau Römer gleich unterbunden werden, höre ich gar nicht richtig oder verstehe sie zumindest nicht. Dafür bin ich viel zu durcheinander – und, wenn ich ehrlich bin, auch viel zu glücklich.
 

Ruben erwidert Simons Geste sofort mit gleicher Münze und auch ich schaffe es irgendwie, ihm kurz zuzuwinken. Dabei legt mein Herz einen Stepptanz hin und ich weiß nicht genau, wie ich mich fühlen soll. Einerseits könnte ich platzen vor Freude darüber, dass er mich gerade ebenso umarmt hat wie Ruben, aber andererseits darf ich gar nicht daran denken, dass ich ihn frühestens am Freitag wiedersehe, weil ich sonst einfach nur heulen möchte. Ehrlich, verliebt sein ist scheiße. Absolut. Dieses Gefühlschaos macht doch jeden halbwegs normalen Menschen früher oder später wahnsinnig.
 

Als der Bus anfährt, kniet Ruben sich verkehrt herum auf den Sitz, um seinem Bruder so lange wie möglich noch winken zu können. Erst als der Parkplatz außer Sicht ist, rutscht er wieder richtig herum auf seinen Platz und ich stelle etwas überrascht fest, dass sein Gesicht ein fast perfektes Spiegelbild meiner eigenen chaotischen Gefühle ist. Scheinbar kann er sich auch nicht so ganz entscheiden, ob er Simon nun vermissen oder sich doch eher darüber freuen soll, dass er ihn heute noch gesehen hat.
 

"Ich soll Dich übrigens von Christie grüßen", richtet er schließlich das Wort an mich und ich blinzele irritiert, nicke dann aber, weil ich einfach nicht weiß, was ich jetzt dazu sagen soll. "Er findet Dich echt nett und er freut sich schon auf Halloween. Hat er mir gestern noch gesagt", fährt er fort, aber ehe ich etwas darauf erwidern kann, dreht Herr Schierling sich halb zu uns beiden um und schenkt Ruben ein Lächeln.
 

"Dein Bruder ist wirklich ein außerordentlich netter junger Mann", teilt er ihm mit. Ruben fängt daraufhin sofort an zu strahlen und ich muss ein wenig grinsen. Mit Nettigkeiten über Simon kann man bei Ruben irgendwie immer punkten. Er hängt wirklich unheimlich an seinem großen Bruder. Aber das beruht ja wohl auf Gegenseitigkeit. Hat man ja vorhin mehr als deutlich gesehen.
 

"Ich weiß", antwortet Ruben Herrn Schierling und lehnt sich vor. "Worüber haben Sie denn eben mit Simon gesprochen?", will er neugierig wissen und ich merke, wie ich selbst in meinem Sitz auch etwas weiter nach vorne rutsche, um auch wirklich alles von dem Gespräch mitzukriegen. So peinlich das auch ist, ich will irgendwie nichts verpassen, was auch nur im Entferntesten mit Simon zu tun hat. Ich bin mir durchaus der Tatsache bewusst, dass das total bescheuert ist, aber ich kann einfach nicht anders.
 

"Nun, Dein Bruder und ich haben uns über einige der Vorurteile unterhalten, die es über Menschen seines Glaubens gibt." Diese wenig befriedigende Antwort quittiert Ruben mit einem Flunsch, der Herrn Schierling zum Schmunzeln bringt. "Was genau wir besprochen haben, werde ich euch beiden ganz sicher nicht auf die Nase binden. Immerhin erwarte ich schließlich noch ein Referat von euch. Aber ich habe für mich selbst schon ein paar Dinge erfahren, die ich vorher nicht wusste. Ich bin also sehr gespannt darauf, was ihr Zwei mir und der Klasse noch so vortragen werdet."
 

Damit dreht Herr Schierling sich wieder nach vorne und Ruben schmollt kurz die Rückenlehne seines Sitzes an, ehe er sich wieder mir zuwendet. "Gemeinheit", befindet er noch immer schmollend und ich nicke zustimmend, muss aber trotzdem weiterhin grinsen. Irgendwie ist er lustig, wenn er so schmollt. Das ist fast so putzig wie bei Vicky – obwohl meine kleine Schwester ja immer behauptet, sie wäre nicht putzig. Ist sie wohl – genau wie Ruben –, aber das behalte ich lieber für mich.
 

"Du bist echt putzig, wenn Du so schmollst." Okay, so viel dazu, dass ich das eigentlich für mich behalten wollte. Toll gemacht, Jan, wirklich. Ganz große Klasse. Warum kann ich nicht eigentlich mal mein Hirn einschalten, bevor ich anfange zu reden? Immerhin würde ich mich dann vielleicht nicht dauernd selbst so zum Hampelmann machen, wie ich das nun mal tue. Ich bin und bleibe eben einfach ein Trottel.
 

Ruben scheint im ersten Moment etwas irritiert zu sein von meinen Worten, doch dann schüttelt energisch den Kopf. "Bin ich gar nicht!", behauptet er und ich muss wieder grinsen. "Doch, bist Du. Genau wie meine kleine Schwester. Du widersprichst sogar ganz genau so wie sie", ziehe ich ihn auf und er wirft mir einen bemüht bösen Blick zu, der mich allerdings nur zum Lachen reizt.
 

"Wie Vicky!", kichere ich und kann auch nicht damit aufhören, als Ruben mir leicht gegen den Oberarm boxt. "Du vergleichst mich mit einer Zwölfjährigen!", entrüstet er sich, plustert empört die Wangen auf und mein Lachen wird noch lauter. Glücklicherweise nimmt er mir das nicht übel, sondern fängt nach einem prüfenden Blick in die Fensterscheibe des Busses selbst auch an zu kichern.
 

"Oh Mann, ich glaub, Du hast Recht. Ich seh echt nicht aus wie fünfzehn, wenn ich nen Flunsch ziehe", gibt er zu und grinst mich an, als ich endlich mit dem Lachen aufhöre und stattdessen nach Luft japse. Ich sehe ihn an, sehe das schelmische Funkeln in seinen braunen Augen und beglückwünsche mich selbst dazu, dass Ruben jetzt in meiner Klasse ist und dass wir Freunde geworden sind. Ohne ihn hätte ich in den nächsten zwei Tagen sicher nichts zu lachen, aber mit ihm wird dieser blöde Ausflug bestimmt nur halb so ätzend.
 

Den Rest der Fahrt, die laut Frau Römer ungefähr drei Stunden dauern soll, verbringen Ruben und ich quatschend – nicht nur miteinander, sondern hin und wieder auch mit Herrn Schierling – und irgendwelche schwachsinnigen Reisespielchen spielend, die eigentlich total albern und peinlich sind, uns aber trotzdem riesigen Spaß machen. Irgendwann so um kurz nach acht hab ich schon Bauchschmerzen vor lauter Lachen und bin daher froh, als Ruben verkündet, dass es langsam zu dunkel ist, um weiter verschiedenfarbige Autos zu zählen.
 

Stattdessen kramt er in seinem Rucksack, den er vor Fahrtbeginn unter seinen Sitz gestopft hat, herum, fördert seinen MP3-Player zutage und hält ihn mir strahlend entgegen. "Zeit für etwas Musik!", beschließt er fröhlich, steckt mir einen der Kopfhörer ins Ohr und drückt auf Play, nachdem er sich selbst auch eingestöpselt hat.
 

Ich lehne mich gemütlich in meinem Sitz zurück, schließe die Augen, lausche der Musik und höre mit einem halben Ohr Ruben zu, der mir bei jedem neuen Song Titel und Interpret nennt. Dabei verkneife ich es mir, ihn darauf hinzuweisen, dass ich einige der Lieder und Bands durchaus selbst kenne. Wenn es ihm so viel Spaß macht, sein Wissen mit mir zu teilen, dann will ich kein Spielverderber sein.
 

Irgendwann muss ich wohl eingenickt sein, denn ich erwache davon, dass Ruben an meiner Schulter rüttelt. "Wach auf, Jan. Wir sind da", informiert er mich und ich reibe mir den Schlaf aus den Augen, ehe ich mich umsehe. Der Bus steht auf einem Parkplatz, aber durch die draußen herrschende Dunkelheit kann ich nicht viel von der Umgebung erkennen. Ich sehe nur ein paar vereinzelte Silhouetten irgendwelcher Bäume und Büsche, mehr nicht.
 

Noch ehe ich überhaupt richtig wach bin, schiebt Ruben mich auch schon nach draußen in die Kälte. Etwas orientierungslos tapere ich ihm hinterher zur Gepäckausgabe, lasse mir meine Tasche in die Hand drücken – meinen Rucksack hab ich, ebenso wie Ruben, schon im Bus aufgesetzt – und werde gleich danach von meinem persönlichen Weckdienst zurück zu Herrn Schierling geschleift.
 

Sobald auch die Anderen alle ihr Gepäck haben, winkt Frau Römer uns alle zu sich heran und räuspert sich, ehe sie unsere im Halbkreis vor ihr stehende Klasse mustert. "Hier in dieser Herberge gibt es nur Zweier- und Dreierzimmer", erläutert sie uns dann und wartet, bis sich der erste Tumult wieder gelegt hat, bevor sie fortfährt. "Ich hoffe doch, dass ihr euch auch ohne Hilfe einigen könnt, wer in welchem Zimmer schläft. Und bevor ihr danach fragt: Nein, Jungen und Mädchen dürfen nicht gemeinsam auf ein Zimmer."
 

Bei diesen Worten verdrehe ich die Augen. Hält sie uns für Idioten? Ruben neben mir grinst nur und stößt mich dann an. "Wollen wir schon mal reingehen und uns ein Zimmer aussuchen?", fragt er und ich werfe einen kurzen Blick zu unseren Klassenkameraden, die alle mehr oder weniger hitzig miteinander diskutieren. Da das die perfekte Gelegenheit ist, uns abzusetzen, nicke ich Ruben zu und stapfe ihm hinterher, als er vorausgeht.
 

In der Herberge werden wir von einer etwas fülligen Frau Mitte Fünfzig – zumindest sieht sie durch ihre stark angegrauten Haare so aus – empfangen, die uns freundlich anlächelt, uns den Weg zu den für unsere Klasse vorgesehenen Zimmern erklärt und uns informiert, dass alle geraden Zimmernummern zu den Zweierzimmern und die ungeraden zu den Dreierzimmern gehören.
 

Kaum in den richtigen Gang eingebogen, öffnet Ruben gleich ohne Umschweife die erste Tür mit der Nummer Zwei und hievt sein Gepäck hinein. Ich tue es ihm gleich, lasse meine Tasche neben seine fallen und sehe mich dann erst mal um. Das Zimmer ist nicht besonders groß und sieht aus wie ein typisches Jugendherbergszimmer. Es gibt einen zweigeteilten Kleiderschrank, einen sehr kleinen Tisch mit zwei wackelig aussehenden Stühlen und als Schlafgelegenheit ein hölzernes Doppelbett, das mich ein bisschen an das alte Ehebett erinnert, das meine Eltern vor ihrer Scheidung hatten. Gleich neben dem Schrank geht noch eine Tür ab und als Ruben sie neugierig öffnet, erkenne ich ein ziemlich winziges Badezimmer.
 

"Wenigstens haben wir ein eigenes Bad und müssen uns nicht noch eins mit diesen Idioten teilen", murmelt Ruben und ich nicke zustimmend. Ein Gemeinschaftsbad mit Kevin und seinen Deppenfreunden wäre so ziemlich mein ultimativer Alptraum auf diesem Ausflug. Davor hatte ich ehrlich gesagt schon etwas Schiss. Gut, dass uns das erspart bleibt. Die würden Ruben und mich sicher umbringen, wenn sie uns in die Finger kriegen.
 

"Aber das mit dem Bett könnte ein Problem werden", werde ich aus meinen Gedanken geholt und als ich Ruben fragen anblicke, zuppelt er etwas verlegen an seinen Haaren herum. "Na ja", setzt er zu einer Erklärung an, "wenn ich mit jemandem zusammen in einem Bett penne, dann werd ich immer anhänglich. Dagegen kann ich nichts machen. Das ist wie ein Reflex, weißt Du? Deshalb hab ich mir in meiner alten Klasse auch immer ein Zimmer mit Christie geteilt, wenn wir auf Klassenfahrt oder so waren. Der ist das ja von mir gewöhnt und das macht ihm auch nichts aus. Ich war ja schon immer so. Er kennt mich gar nicht anders. Als ich noch ganz klein war, hab ich nachts immer an meinem Bruder geklebt und irgendwie ... Na ja, ich kann das halt einfach nicht abstellen. Sorry", nuschelt er etwas beschämt und ich muss grinsen.
 

"Noch was, was Du mit Vicky gemeinsam hast. Wenn sie beim Fernsehen oder so einschläft, dann klebt sie auch immer an mir. Aber das ist schon okay. Solange Du mich nicht im Schlaf erdrückst, wird das schon nicht so schlimm sein", beruhige ich ihn und nach kurzem Zögern – offenbar ist er sich nicht sicher, ob ich das ernst meine – grinst er zurück.
 

"Okay, wenn Dir das nichts ausmacht, dann ist das ja auch geklärt", freut er sich und will gerade seine Tasche zum Schrank schleppen, als es an unsere Tür klopft. Nach einem fast synchronen "Herein", das Ruben und mich zum Kichern bringt, steckt Herr Schierling seinen Kopf in unser Zimmer, lässt kurz seinen Blick schweifen und lächelt uns dann an.
 

"Ihr habt euch also schon arrangiert", stellt er fest und nickt zufrieden. "Gut. Mein Zimmer ist gleich rechts um die Ecke, das von Frau Römer liegt meinem genau gegenüber. Wenn es Fragen oder Probleme gibt, könnt ihr jederzeit zu einem von uns kommen. Frühstück gibt es hier von acht bis halb neun, also seht zu, dass ihr pünktlich wach seid. Das Programm für morgen und übermorgen besprechen wir beim Frühstück. Nachtruhe ist hier um zehn, also richtet euch noch eben ein und geht dann schlafen. Gute Nacht, ihr Zwei." Damit verabschiedet er sich und nach einer kurzen Verabschiedung unsererseits, die wieder fast gleichzeitig kommt, sind Ruben und ich wieder alleine.
 

"Gut, dass ich nen Wecker dabeihab." Ruben kramt in seiner Tasche herum und wirft schließlich nach kurzem Suchen einen knallgelben SpongeBob-Wecker aufs Bett. "Ein Geschenk von Yannick", erklärt er mir grinsend, als er meinen irritierten Blick bemerkt. "Er meinte, das Ding würd zu mir passen, weil ich manchmal auch so nervig bin wie SpongeBob. Außerdem würd ich so nicht mehr dauernd zu spät kommen. Und damit hat er Recht behalten. Das Teil weckt zuverlässiger als mein Handy und meine Mutter zusammen."
 

"Aha", ist das Einzige, was mir dazu einfällt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich von SpongeBob geweckt werden will, deshalb nehme ich mir vor, nachher auf jeden Fall noch meinen Handywecker zu stellen. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf fange ich an, mein Zeug in eine Hälfte des Schrankes zu stopfen. Ruben tut es mir gleich und als wir zum Schluss fast zeitgleich das mitgebrachte Bettzeug aufs Bett werfen, müssen wir beide lachen.
 

Wer auf welcher Seite des Bettes schläft ist schnell geklärt und danach machen wir uns gemeinschaftlich daran, das Bett zu beziehen. Da Ruben ja durch seinen Gipsarm etwas gehandicapt ist, übernimmt er die Kissen und ich kümmere mich um die Oberbetten. "Bin ich froh, wenn der blöde Gips endlich runterkommt", mault er, sobald wir fertig sind, und lässt sich dann seufzend rücklings auf seine Bettseite fallen. Ich zögere einen Moment, dann hocke ich mich im Schneidersitz auf meine Seite und sehe ihn fragend an.
 

"Wie ist das eigentlich passiert?", stelle ich zaghaft die Frage, die mich eigentlich schon seit seinem ersten Schultag beschäftigt, und bekomme gleich darauf ein schlechtes Gewissen, als Ruben das Gesicht verzieht. Offenbar ist das keine angenehme Erinnerung. Aber was hab ich erwartet? Außerdem sollte ich doch mittlerweile dran gewöhnt sein, dass ich zielsicher jedes Fettnäpfchen treffe, das es zu treffen gibt. Ich bin und bleibe eben ein Idiot.
 

"Das war kurz nach den Sommerferien", antwortet Ruben und seufzt. "Auf meiner alten Schule haben so ein paar Idioten – so Typen wie Kevin und seine Vollversagerfreunde – einen Jungen gehänselt, bloß weil der schwul war. Ich kann so was nicht ab, also bin ich dazwischengegangen und hab diesen Honks vor den Latz geknallt, dass ich auch nicht nur Mädchen mag. Na ja, das hätte ich mal besser lassen sollen. Dafür haben die Feiglinge mich nämlich zu dritt verprügelt. Aber das haben sie nicht umsonst gemacht. Meine Eltern haben sie angezeigt und sie sind von der Schule geflogen. Nur war Paps der Meinung, dass meine alte Schule nach der Aktion trotzdem nicht mehr sicher genug für mich ist, deshalb musste ich mitten im Schuljahr wechseln."
 

Ruben seufzt erneut und ich kann fühlen, wie meine Augen groß werden. "Was für Arschlöcher!", entfährt es mir und er nickt kurz, rappelt sich auf und sieht mich dann mit schiefgelegtem Kopf an. "Und dass ich bi bin, stört Dich gar nicht?", erkundigt er sich und ich schüttele hastig den Kopf. Nachdem ich mich ausgerechnet in seinen großen Bruder verliebt hab, bin ich ja wohl der Letzte, der was dagegen haben darf. Aber das werd ich ihm ganz sicher nicht auf die Nase binden. Das ist und bleibt ganz alleine meine Angelegenheit.
 

"Nö. Ist doch Deine Sache", nuschele ich und merke, wie ich mal wieder rot anlaufe. "Gut." Ruben strahlt mich an, setzt sich ebenfalls in den Schneidersitz und wedelt dann mit seinem Gipsarm vor meiner Nase herum, ohne auch nur mit einem einzigen Wort auf meine knallrote Birne einzugehen. Ich weiß nicht so ganz, was ich davon halten soll, aber ich bin froh, dass er mich nicht darauf anspricht. Ich will ihn nämlich nicht anlügen, aber die Wahrheit darüber, warum ich so leuchte, kann ich ihm ja wohl auch schlecht sagen.
 

"Den Gips hat mir übrigens Flo verpasst. Du weißt schon, der, der am Montag bei meinem Bruder war, als wir wegen dem Referat da waren", erzählt er mir und zupft ein paar Flusen vom Gips, als ich einfach nur nicke. Dabei werde ich gleich noch einen Tacken röter, weil er mich mit seinen Worten an die Abschrift der elf Gebote erinnert hat, die Simon gemacht hat und die ich seit Montag permanent mit mir rumschleppe. Total peinlich und albern, ich weiß, aber so habe ich immer ein bisschen was von Simon bei mir. Oh Mann, das ist so unglaublich bescheuert, dass ich das echt niemandem erzählen kann.
 

"Weißt Du, Flo arbeitet nämlich im Krankenhaus. Normalerweise ist er zwar nicht auf der Unfallstation, aber an dem Tag war gerade Hektik und er war zufällig da, als ich eingeliefert wurde", holt Rubens Stimme mich wieder aus meinen Gedanken und ich nicke erneut. "Ach, daher kennt ihr euch", murmele ich und blinzele irritiert, als Ruben den Kopf schüttelt.
 

"Nein, wir kennen uns schon länger. Kennen gelernt haben wir uns durch meinen Bruder", widerspricht er, aber es sind seine nächsten Worte, die mich fast umhauen. "Flo ist nämlich Simons Ex und sein ... na ja, wenn man's ganz krass ausdrücken will, sein Fickfreund", erzählt er so leichthin, als würde er über das Wetter reden, und ich kann nur durch einen raschen Griff in die Bettdecke verhindern, dass ich tatsächlich hintenüber kippe.
 

"Wa-Wa-Was? A-Aber Simon ha-hat d-doch ... eine F-Freundin", stammele ich und Ruben kuckt mich aus großen Augen an. "Meinst Du Morgaine?", hakt er nach und als ich nicke, winkt er ab und schüttelt den Kopf. "Sie ist nicht seine Freundin. Die Zwei sind Freunde, ja, aber sie sind nicht zusammen. Das geht doch auch gar nicht. Mein Bruder ist ja schließlich schwul", berichtigt er mich und ich habe das Gefühl, mein ganzer Körper ist taub.
 

Das kann doch nicht sein, oder? Ich hab mich doch sicher nur verhört. Ganz bestimmt hab ich akustische Halluzinationen und bilde mir nur ein, dass Ruben mir gerade erzählt hat, dass sein Bruder ... dass Simon ... dass er ... schwul ist. Kann mich mal bitte jemand kneifen? Und kann mal jemand mein Herz wieder anwerfen? Ich glaub, das ist gerade stehen geblieben. Vielleicht ist es auch endgültig kaputt. Was weiß denn ich? Im Moment weiß ich gar nichts.
 

"Hallo? Erde an Jan, hörst Du mich?" Rubens Finger, die vor meinem Gesicht rumschnipsen, reißen mich wieder aus meiner Trance. Dummerweise erschrecke ich mich darüber so sehr, dass ich die Bettdecke loslasse, nach hinten kippe und auf diese Weise äußerst schmerzhaft nähere Bekanntschaft mit dem harten Steinboden unseres Zimmers mache. Jammernd reibe ich mir meinen schmerzenden Hinterkopf und als ich blinzelnd aufblicke, schiebt sich Rubens besorgtes Gesicht in mein Blickfeld.
 

"Lebst Du noch, Jan?", erkundigt er sich, reicht mir seine gesunde Hand und zieht mich wieder aufs Bett, nachdem ich genickt habe. "Hast Du Dir sehr weh getan?", will er wissen, sobald ich sicher an die Kopfstütze gelehnt sitze, und ich schüttele vorsichtig den Kopf, obwohl der doch ganz schön brummt. "Geht schon", antworte ich und schlucke erst einmal hart, bevor ich Ruben wieder ansehe. Ich muss einfach wissen, ob ich mich eben verhört hab oder ob ... ob es wahr ist.
 

"Simon ist wirklich ... schwul?", frage ich krächzend und trete mich mental selbst in den Hintern, weil ich dieses blöde kleine Wort kaum über die Lippen bringe. Vor lauter Scham werde ich wieder rot, als Ruben mich erst verständnislos anblickt und dann schließlich nickt. "Ja, klar", bestätigt er und hockt sich vor mich, so dass er mich ansehen kann.
 

"Hatte ich Dir das etwa nicht erzählt? Das ist doch einer der Gründe, warum er überhaupt von zu Hause ausgezogen ist. Paps war stinksauer, als Simon Mama und ihm damals seinen ersten Freund vorgestellt hat. Er hat furchtbar getobt, Oliver rausgeworfen und Simon angeschrieen, dass er "so was" unter seinem Dach nicht duldet. Die beiden haben sich tierisch gestritten und irgendwann ist Simon einfach abgehauen, obwohl Paps ihm Stubenarrest aufgebrummt hat, damit er "über seine Fehler nachdenken" könnte."
 

Ruben zieht ein unglückliches Gesicht, atmet tief durch und blinzelt ein paar Mal, um die Tränen, die ihm bei der Erinnerung in die Augen getreten sind, zu vertreiben. "Ein paar Stunden später ist er wieder nach Hause gekommen und einfach wortlos in seinem Zimmer verschwunden. Ich hab gewartet, bis meine Eltern geschlafen haben, und bin dann erst zu ihm rübergeschlichen, um ihn zu trösten. Er saß auf seinem Bett, hat aus dem Fenster gestarrt und mir nach einer Weile leise erzählt, dass Oliver wegen Paps' Reaktion mit ihm Schluss gemacht hatte. Ich bin mir sicher, er hätte gerne geheult deswegen, aber das hat er nicht. Eigentlich hat er nie geheult. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern, das jemals gesehen zu haben. Er hat mich nur in den Arm genommen, mich bei sich schlafen lassen und sich irgendwann, als ich kurz vorm Einschlafen war, bei mir entschuldigt. Ich wusste nicht, was er damit gemeint hat, aber am nächsten Morgen, als ich wach wurde, war er weg. Einfach so. Er hatte nicht viel mitgenommen."
 

Rubens Stimme klingt brüchig und ich beiße mir auf die Unterlippe. Immerhin ist es meine Schuld, dass er sich jetzt wieder an diese ganze Sache erinnert. Das habe ich ja echt toll hingekriegt. "Ich hab mir totale Sorgen gemacht, aber ich war ja erst zwölf, also durfte ich nicht nach ihm suchen. Paps hat die Polizei angerufen, aber die haben Simon erst nach fast vier Wochen gefunden und wieder nach Hause gebracht. Paps war tierisch wütend auf ihn und wollte wissen, wo er gewesen ist und was er gemacht hat, aber Simon hat ihm nichts erzählt. Er hat mit Paps kein Wort mehr gesprochen und auch mit Mama nur das Nötigste. Nur mit mir hat er ganz normal geredet. Allerdings hat er auch mir nicht gesagt, wo er gewesen ist. Er hat mir nur erzählt, dass er wieder weggehen würde, weil er's bei uns zu Hause einfach nicht mehr ausgehalten hat. Aber bevor er wieder einfach so abhauen konnte, ist Mamas Tante vorbeigekommen – dass Simon weg war und dass Paps und er schon längere Zeit so ihre Probleme miteinander hatten, wusste unsere ganze Familie zu dem Zeitpunkt schon – und hat angeboten, dass Simon zu ihr ziehen könnte, bis sich die Situation beruhigt hat. Paps war sofort damit einverstanden. Ich weiß noch, dass er zu Simon gesagt hat, er müsse sich entschuldigen und "diesen Unfug" ein für allemal sein lassen. "Sonst bist Du nicht mehr mein Sohn", hat er gesagt, aber Simon hat nur mit den Schultern gezuckt. "Dann hab ich ab heute eben keinen Vater mehr", hat er geantwortet, seine Sachen gepackt und ist zu Tante Gloria gezogen. Und seitdem hab ich ihn immer nur noch heimlich treffen können, weil Paps sonst total ausgerastet ist."
 

Nachdem er geendet hat, kramt Ruben in seinen Hosentaschen und lächelt etwas verunglückt, als ich ihm wortlos ein Taschentuch anreiche. "Danke", nuschelt er, wischt sich über die Augen und putzt sich die Nase, ehe er mich wieder ansieht. "Das muss echt scheiße sein", vermute ich leise und er nickt. "Das kannst Du laut sagen. Selbst Simons Name ist bei uns zu Hause ein absolutes Tabuthema. Meine Eltern tun einfach so, als gäbe es ihn gar nicht. Mama jedenfalls. Paps tickt jedes Mal aus, wenn sein Name durch Zufall fällt. Mittlerweile fragt auch schon niemand mehr nach meinem Bruder. Es ist fast so, als wäre ich Einzelkind", erzählt er dann und seufzt abgrundtief.
 

Ich kaue auf meiner Unterlippe herum und überlege hin und her, weil ich einfach nicht weiß, was ich jetzt sagen oder tun soll. Ich wünschte, Christie wäre jetzt hier, um Ruben zu trösten. Er kann das ganz sicher sehr viel besser als ich. Hat man ja am Montag gesehen. Dummerweise sind hier aber nur Ruben und ich, also rutsche ich nach kurzem Zögern etwas näher zu ihm, lege ihm einen Arm um die Schultern und ziehe ihn so zu mir. Ich hab zwar nicht viel Übung darin, Freunde zu trösten, aber wenn ich das bei meiner kleinen Schwester schaffe, dann kann das ja wohl nicht so schwer sein. Jedenfalls hoffe ich das ganz stark.
 

Anscheinend stelle ich mich zumindest nicht allzu ungeschickt an, denn Ruben kuschelt sich genauso an mich wie Vicky es immer tut, wenn sie traurig ist und Trost braucht. Ich streichele ihm ein bisschen über den Rücken und die Haare, wie ich es bei ihr auch immer mache, und bin einerseits froh, dass er nicht wieder anfängt zu weinen – mit Tränen kann ich einfach nicht umgehen –, während ich mir andererseits wünsche, dass ich auch Simon trösten könnte. Das alles muss doch ganz furchtbar für ihn gewesen sein. Wie kann ein Vater nur so grausam zu seinem eigenen Sohn – oder vielmehr zu seinen beiden Söhnen; immerhin quält er Ruben damit ja auch – sein? Ich kenn den Mann zwar noch nicht persönlich, aber ich glaub, ich mag ihn trotzdem jetzt schon nicht.
 

"Wissen ... wissen Deine Eltern, dass Du auch ... dass Du bi bist?", frage ich nach einer Weile leise und kann spüren, wie Ruben nickt. "Ja, das wissen sie. Ich hab's ihnen gleich gesagt, als ich's gemerkt hab", nuschelt er in meinen Pulli, seufzt und löst sich von mir, um mich ansehen zu können. "Aber bei mir haben sie nicht so reagiert wie bei meinem Bruder. Keine Ahnung wieso. Vielleicht glauben sie, dass das nur ne Phase ist oder dass ich das nur wegen Simon behaupte oder so. Gut, ich weiß nicht, was passieren würde, wenn ich einen Freund hätte – ich hatte ja bisher noch nie einen –, aber irgendwie ist das trotzdem komisch", murmelt er und ich kann ihm da nur zustimmen.
 

Das ist wirklich mehr als merkwürdig. Rubens Eltern, allen voran sein Vater, scheinen ja ganz schöne Unterschiede zu machen bei ihren Söhnen. Sollten Eltern nicht alle ihre Kinder gleich lieben? Aber gut, gerade Väter scheinen das ja sowieso irgendwie nicht zu können. Meiner kriegt das ja auch nicht hin. Für seine kleine Prinzessin Vicky bescheißt er sich fast, aber Franzi und ich gehen ihm total am Arsch vorbei. Wenn das irgendwie genetisch vorprogrammiert ist, dann verzichte ich später lieber freiwillig auf Kinder, als dass ich ihnen so was antue. So eine Behandlung hat echt kein Kind verdient.
 

"Wir sollten langsam schlafen gehen", holt Rubens Stimme mich wieder aus meinen Zukunftsplänen. Ich nicke nur, krabbele vom Bett und krame meinen Pyjama aus dem Schrank. Nachdem sowohl Ruben als auch ich umgezogen sind, quetschen wir uns beide gemeinsam in das winzige Bad, putzen uns die Zähne und ich ersticke vor Lachen fast an meiner Zahnpasta, als Ruben aus einer Laune heraus damit beginnt, mir im Spiegel Grimassen zu schneiden.
 

Eine knappe halbe Stunde später, nachdem ich den heimtückischen Angriff auf meine Lachmuskeln doch irgendwie überlebt habe, liegen wir gemeinsam im Bett. Ruben hat sich wie erwartet an mich gekuschelt und ist nach ein paar Minuten auch schon eingeschlafen. Während er allerdings meine Schulter als Kopfkissen benutzt und friedlich in meinen Pyjama schnirchelt, bin ich immer noch hellwach. Jetzt, wo ich Ruhe habe, ist mir nämlich wieder eingefallen, wie das Thema Rubens Familie überhaupt zur Sprache gekommen ist. Und genau das ist es, was mich nicht einschlafen lässt.
 

Meine Gedanken drehen sich die ganze Zeit im Kreis und mein Herz rast, weil ich erst jetzt wirklich begreife, was Ruben mir da vorhin über seinen Bruder erzählt hat. Ich kann es noch immer nicht richtig fassen, obwohl zumindest ein Teil von mir absolut überglücklich über das ist, was ich heute erfahren habe. Wenn Simon tatsächlich ... wenn er wirklich schwul ist, dann ist ja vielleicht doch nicht alles so aussichtslos, wie ich bisher dachte. Verdammt, warum kann ich jetzt nicht zu Hause sein?
 

~*~
 

Tja, das geht nicht, weil Du nun mal leider einen zweitägigen Ausflug vor Dir hast, Janni-Schatz.

*Janni puschel*

Ich hoffe, es hat euch gefallen. Freu mich immer über euren Senf, der beim nächsten Mal auch wieder ausführlicher beantwortet wird.

*zum Abtippen husch*

Bis hoffentlich bald!

*wink*
 

Karma

Von Schnitzeljagden, Telefonaten und Versprechen

So, obwohl ich mit Kapitel Zwölf noch nicht ganz fertig bin, gibt's trotzdem schon mal Kapitel Elf. Ich wurde überredet.

^.~

Diesmal gibt's übrigens keine Info-ENS, weil ich mich gleich wieder ans Schreiben mache, um das nächste Kapitel endlich zu beenden. Ich hoffe, ihr verzeiht mir das.
 

@chaos-kao: Ich weiß, es war vorhersehbar, dass Simon nicht auf Frauen steht, aber Janni ... Nyan, er braucht halt - wie bei den meisten anderen Dingen auch - jemanden, der ihn mit der Nase draufstößt, damit er's merkt.

^^°
 

@abgemeldet: Freut mich, wenn ich Dich amüsieren konnte.

^____^

So was hör ich doch immer wieder gerne.
 

@Aschra: Ich auch nicht.

^.~

Klassenfahrten sind toll, solange man wenigstens einen Freund oder eine Freundin in der Klasse hat. Und mittlerweile ist Janni ja nicht mehr alleine.
 

@Inan: Tja, Janni hat halt die Fallsucht. Der kippt ja dauernd irgendwie um.

XD

Aber ganz ehrlich, ich mag genau das an ihm so. Er ist so putzig.

*ihn puschel*
 

@nitro2811: Yap, die Familienverhältnisse bei Ruben zu Hause sind ... bescheiden. Dazu wird's später auch noch mal nähere Informationen geben. Papa hat einen Grund dafür, so arschig zu sein. Aber obwohl ich weiss, was sein Grund ist, kann ich ihn trotzdem nicht ausstehen.

-.-

Egal. Wenigstens einen Hass-Charakter braucht wohl jede Story. Und ich hab hier gleich mehrere. Simons Vater, Jans Vater, Kevin, Carsten ...

Aber dafür mag ich die Anderen - Ruben, Janni, Simon, Jassi, Christie etc. - umso lieber.
 

Hier in dem Kapitel gibt's übrigens mal wieder ein bisschen Jassi. Ich mag den Knaben. Er ist einfach toll. Ich liebe es, wenn er Janni den Kopf zurechtrückt.

*Jassi puschel*

Und es gibt natürlich auch wieder eine Portion Simon so wie eine gehörige Portion Depressionen für Janni. Der arme Kleine tut mir schon leid, aber Ruben wird ja ... Ach, das verrate ich lieber noch nicht. Lasst euch überraschen.

^.~
 

Viel Spaß!
 

Karma
 

~*~
 

Der nächste Morgen nach einer eindeutig viel zu kurzen Nacht beginnt für mich mit unglaublich nervtötendem Gelächter, das ich erst nach einer Minute, in der ich durch dieses Geräusch beinahe wahnsinnig werde, Rubens blödem SpongeBob-Wecker zuordnen kann. Wer auch immer dafür verantwortlich ist, dass ich diesem Teufelsding ausgesetzt bin, wird eines grausamen Todes sterben, sobald ich wach genug dafür bin, so viel steht schon mal fest. Das ist ja Folter!
 

Missmutig grummelnd strampele ich mich aus der Bettdecke frei und setze mich erst mal auf. Das Verlangen, mich einfach wieder zurückfallen zu lassen, ist riesig, aber bevor ich dazu komme, wird die Badezimmertür aufgerissen und ich sehe mich einem geradezu ekelhaft gut gelaunten Ruben gegenüber, der mich so sehr anstrahlt, dass ich fast geblendet werde.
 

"Guten Morgen, Du Schlafmütze!", begrüßt er mich fröhlich, aber ich grummele nur. Wie kann man so früh morgens – es ist, wie ich mit einem raschen Blick auf das knallgelbe Folterinstrument feststelle, gerade kurz nach halb acht – nur schon so widerlich gut drauf sein? Das gehört doch verboten, aber eindeutig. "Komm, steh auf und mach Dich fertig, sonst kommen wir zu spät zum Frühstück."
 

Damit werde ich gepackt, aus dem Bett gezerrt und ins Bad verfrachtet. Murrend versuche ich erst die geschlossene Tür und dann mein Spiegelbild mit dem mir eigenen Todesblick zu durchbohren, aber da der sich – wieder mal – als vollkommen nutzlos erweist, entledige ich mich einfach nur meines Pyjamas, stelle mich unter die Dusche und hoffe, dass das meine Lebensgeister weckt.
 

Nicht wirklich zu meiner Überraschung klappt das allerdings nicht, aber damit hab ich schon gerechnet. Ist ja auch kein Wunder, dass ich nach einer Nacht, in der ich so gut wie gar nicht geschlafen hab, nicht richtig in die Gänge komme. Seufzend wische ich mir meine nassen Haare aus dem Gesicht, stelle die Dusche ab und schnappe mir ein Handtuch, um mich abzutrocknen.
 

Dabei versuche ich, die blöden Gedanken, die mich die ganze letzte Nacht beschäftigt haben, zu verdrängen, aber das ist gar nicht so einfach. Ob ich will oder nicht, ich muss immer wieder darüber nachdenken, was Ruben mir über Simon erzählt hat – über Simon und über Flo. Dass sie eine Fi– ... dass sie nicht mehr zusammen sind, aber sich trotzdem noch treffen, um ... um ... eben um Sex miteinander zu haben.
 

Das macht mich fertig. Ich meine, was habe ich denn schon zu bieten im Vergleich zu Flo? Ich bin ein Zwerg, der sich ständig selbst blamiert, sich bei den nichtigsten Kleinigkeiten in eine Tomate verwandelt und es nicht mal gebacken kriegt, über ... über so was wie Sex auch nur nachzudenken, ohne sich gleich in Grund und Boden zu schämen.
 

Flo ist älter und sicher auch viel reifer als ich, sieht besser aus und hat bestimmt keine solchen dummen, peinlichen und lächerlichen Probleme wie ich. Außerdem war er ja auch mal mit Simon zusammen, also kennt er ihn sicher ganz genau – im Gegensatz zu mir. Ganz ehrlich, wenn Simon jemanden wie Flo haben kann, was sollte er dann von mir wollen? Ich bin doch nichts Besonderes, sondern nur ein total verklemmter Sechzehnjähriger, der gerade erst realisiert hat, dass er ganz offensichtlich auf Jungs ... dass er schwul ist.
 

Da, schon wieder. Ich kann's ja nicht mal denken, geschweige denn, es auch noch laut aussprechen. Am liebsten möchte ich meinen Kopf ein paar Mal ganz feste gegen die nächstbeste Wand schlagen. Wie kann man sich nur so furchtbar affig aufführen? Und wenn Simon hundertmal schwul ist, für so einen Idioten wie mich wird er sich doch nie interessieren. Verdammt, ich hasse mein Leben!
 

"Scheiße!", fluche ich und erschrecke mich im nächsten Moment halb zu Tode, als Ruben die Badezimmertür aufreißt. "Ist alles okay, Jan?", fragt er besorgt und ich nicke hektisch, während ich gleich mal wieder knallrot anlaufe. Nur gut, dass ich nicht alle meine Gedanken laut ausgesprochen hab. Das, was mich so beschäftigt, muss Ruben nun wirklich nicht wissen.
 

"Dann beeil Dich mal, sonst kommen wir wirklich noch zu spät", treibt er mich zur Eile an und ich füge mich unhörbar murrend in mein Schicksal. Weigern hilft ja doch nichts. Die Erde hört ja nicht plötzlich auf, sich zu drehen, nur weil in meinem Leben mal wieder alles scheiße ist. Ansonsten wäre die Welt wohl auch ein Stop-Motions-Film oder wie auch immer diese Dinger heißen.
 

Diese Gedanken ganz weit nach hinten in den hintersten Winkel meines Bewusstseins verbannend schlurfe ich ins Zimmer zurück, um mich anzuziehen, während Ruben noch mal kurz ins Bad wuselt. Kaum dass ich fertig bin, steht er allerdings auch schon startbereit neben mir und ehe ich mich versehe, packt er meine Hand und schleift mich hinter sich her aus dem Zimmer und wahllos irgendeinen Gang entlang. Zumindest vermute ich das, erkenne aber schnell, dass ich mich ganz offenbar geirrt habe. Entweder kann Ruben hellsehen oder aber er weiß aus irgendeinem Grund, den ich nicht kenne, ganz genau, wohin wir müssen.
 

Er führt mich nämlich zielstrebig in den Speisesaal, in dem sich neben Frau Römer und Herrn Schierling auch schon gut die Hälfte unserer Klasse aufhält. An der Wand gegenüber der Tür, durch die wir treten, ist ein Frühstücksbüffet aufgebaut. Beim Anblick all des Essbaren beginnt mein Magen peinlich laut zu knurren und ich erinnere mich wieder daran, dass ich seit gestern Mittag nichts mehr gegessen hab, weil ich wegen Simon einfach zu aufgeregt war.
 

Ruben neben mir lacht leise und schiebt mich dann auf das Büffet zu. "Du klingst, als sollte ich Dich schnell füttern, damit Du mich nicht noch anknabberst oder gar auffrisst", witzelt er, aber ich bin zu verlegen und auch zu müde, um darauf einzugehen, also nehme ich mir einfach nur eins der bereitstehenden Tabletts und fange an, es vollzuladen. So langsam habe ich wirklich tierischen Kohldampf.
 

Bewaffnet mit meinem Frühstück will ich zu einem der noch freien Tische loslaufen, aber bevor ich dazu komme, schiebt Ruben mich aus dem Weg und drängelt sich an mir vorbei. Während ich noch um mein Gleichgewicht kämpfe und mich frage, was das gerade sollte, höre ich einen Schmerzenslaut, der eindeutig von Kevin kommt. "Sag mal, spinnst Du, mich zu treten?", motzt er Ruben an, doch der stemmt seine Hände in die Hüften und wirft einen giftigen Blick in Richtung Idiotentrio.
 

"Hab ich Dir etwa weh getan? Das tut mir aber gar nicht leid! Hättest Du nicht versucht, Jan Beinchen zu stellen, dann hätte ich Dich auch nicht getreten. Echt, ich hab ja bisher schon gedacht, dass Dein Hirn auf Grundschulniveau tickt, aber das nehm ich zurück. So wie Du führen sich ja nicht mal Kindergartenkinder auf. Selbst die haben schon mehr Niveau als Du", blafft er Kevin an, während ich mit meinem Tablett nur rumstehe wie bestellt und nicht abgeholt und zu begreifen versuche, was hier gerade eigentlich los ist. Hat Ruben mich etwa schon wieder vor einer von Kevins Attacken gerettet? Das ist doch peinlich, verdammt!
 

"Musst Du Deinen Lover beschützen, weil der sch nicht selbst wehren kann?", mischt Carsten sich ein und Ruben fährt zu ihm herum. "Hast Du ein Problem damit? Malte und Du, ihr ergreift doch auch immer Partei für Kevin. Was mag da wohl dahinterstecken? Ein Schelm, wer jetzt Böses denkt." Damit packt Ruben meine Schultern und schiebt mich in Richtung eines freien Tisches ganz in der Nähe von Frau Römer und Herrn Schierling, ohne auf die Flüche von Kevin und Carsten oder Maltes vollkommen entgleistes Gesicht zu achten.
 

Sobald ich sitze, geht er zurück zum Büffet, holt sein eigenes Tablett und setzt sich damit dann neben mich. "Diese blöden Arschlöcher!", regt er sich auf und durchbohrt das Idiotentrio mit bösen Blicken, während er gleichzeitig sein Brötchen fast massakriert in dem Versuch, es aufzuschneiden. Ich hingegen starre ihn nur fassungslos an, weil ich nicht so ganz glauben kann, was da gerade passiert ist.
 

"Sag mal", fange ich vorsichtig an und räuspere mich, als Ruben mich ansieht, "hast Du Kevin, Carsten und Malte gerade wirklich ein ... ein Dreiecksverhältnis unterstellt?", versichere ich mich dann dessen, was ich eben gehört zu haben glaube, und mache große Augen, als Ruben einfach nur nickt. "Ja, klar", antwortet er und grinst mich an. "So, wie die immer aufeinander hocken, finde ich das gar nicht so abwegig. Außerdem dachte ich, wenn die uns beiden eine Beziehung andichten, dann kann ich das bei denen auch. Auge um Auge, Zahn um Zahn, verstehst Du?"
 

"Dir ist aber schon klar, dass sie Dich dafür umbringen, wenn sie Dich in die Finger kriegen, oder?", frage ich zaghaft, aber Ruben winkt ab. "Das sollen sie mal versuchen, wenn sie sich trauen. Die sind doch viel zu feige und zu dumm. Die glauben doch garantiert auch noch, dass Homosexualität eine Krankheit ist, mit der man sich infizieren kann. Keine Sorge, Jan. Solange die glauben, dass wir beide schwul sind, reißen die nur die Klappe auf, sonst nichts. Die haben viel zu viel Angst, sich vielleicht anzustecken, wenn sie einem von uns zu nahe kommen", versucht er, mich zu beruhigen, und ich nicke einfach nur, obwohl ich längst nicht davon überzeugt bin.
 

Bevor ich allerdings noch weiter auf das Thema Kevin und seine beiden Dumpfbacken eingehen kann, steht Frau Römer auf und klopft mit ihrem Löffel gegen ihre Kaffeetasse. Sobald es ruhig ist und sie die Aufmerksamkeit der ganzen Klasse hat, strahlt sie in die Runde. "So, kommen wir zum Programm für heute und morgen", beginnt sie und ignoriert das kollektive Aufstöhnen völlig.
 

"Um halb zehn fahren wir in die Stadt, wo wir uns ein bisschen umsehen und auch eine kleine Schnitzeljagd veranstalten werden. Die Teams dafür werden nach Zimmern eingeteilt und die Aufgaben werden von Herrn Schierling und mir ausgelost. Für morgen steht eine Besichtigung des nahegelegenen Schlosses auf dem Programm", fährt sie stattdessen fort und ich seufze leise. Ich könnte gut und gerne auf diesen Quatsch verzichten, aber das wird mal wieder völlig ignoriert.
 

Stattdessen werden wir dazu angehalten, und mit dem Frühstück zu beeilen. Danach dürfen wir kurz auf unsere Zimmer gehen, um das, was wir für diese blödsinnige Schnitzeljagd brauchen werden – also Schreibzeug und so – einzupacken, damit wir uns alle pünktlich um Viertel nach neun draußen auf dem Parkplatz am Bus treffen können.
 

Ich bin nicht wirklich enthusiastisch bei der Sache, ganz im Gegensatz zu Ruben. Er stopft begeistert alles Mögliche und Unmögliche in seinen Rucksack und summt dabei fröhlich vor sich hin. So viel gute Laune ist fast schon gruselig, aber ich beschließe, nichts dazu zu sagen, sondern einfach nur meinen eigenen Rucksack zu packen und zu hoffen, dass der Tag schnell vorbei geht. Dadurch, dass ich nicht geschlafen hab, bin ich tierisch müde und es ist nur Rubens Mitschleiftaktik zu verdanken, dass ich mich nicht einfach ins Bett fallen lasse, um den verpassten Schlaf nachzuholen.
 

"Das wird sicher lustig", behauptet Ruben, sobald wir auf dem Parkplatz stehen, aber ich antworte nicht, sondern brumme nur irgendwas und vergrabe meine Hände in meinen Jackentaschen. Von mir aus kann er das auffassen, wie er möchte. Das ist mir vollkommen egal. Wenn ich wacher wäre, hätte ich vielleicht auch meinen Spaß an dieser ganzen Sache, aber im Moment würde ich am liebsten auf der Stelle einschlafen.
 

"Kommt, ihr Zwei, einsteigen", holt Herr Schierling mich wieder in die Realität zurück und ich leiste seiner Aufforderung brav Folge. Weigern nützt ja sowieso nichts. Im Bus stopft Ruben mich auf den Platz, auf dem er gestern gesessen hat, quetscht sich neben mich und grinst Herrn Schierling und mich dann gleichermaßen an. Einen Moment lang zucken meine Mundwinkel, aber für ein richtiges Grinsen bin ich nicht wach genug, also verschiebe ich das auf später und lasse stattdessen meine Augen zufallen, um vielleicht während der Fahrt in die Stadt ein bisschen zu dösen.
 

Das klappt auch ganz gut, jedenfalls bis Ruben mich irgendwann wieder wachrüttelt. "Schöne Grüße von Christie und auch von den Anderen unbekannterweise", sagt er und hält mir sein Handy vor die Nase. Ich muss ein paar Mal blinzeln, bevor ich den Text entziffern kann. ››Hey, Sonnenscheinchen!‹‹, steht da als Begrüßung. ››Wie ist der Ausflug bis jetzt? Zu Hause ist es langweilig ohne Dich. Grüß Jan von mir und auch von den Anderen. HDL & MYM, Christie‹‹
 

"MYM?", frage ich krächzend und Ruben strahlt mich an. "Miss you much. Das schreibt Christie immer unter seine SMS", erklärt er mir, aber ich bin viel zu müde, um in irgendeiner Form zu reagieren oder mir auch nur Gedanken darüber zu machen, deshalb nicke ich einfach nur und unterdrücke unter Aufbietung aller verbliebenen Willenskraft ein Gähnen.
 

"Dein Handy hat übrigens vorhin auch gepiepst", werde ich informiert und krame das Ding aus meiner Jacke. Tatsache, eine SMS. "Von Jassi", nuschele ich, nachdem ich einen Blick auf den Absender geworfen hab. ››Hi, Kleiner. Alles okay bei Dir? Gibt's was Neues wegen S.? Denk dran, ich bin immer für Dich da, wenn Du reden willst.‹‹, schreibt er, aber es ist sein letzter Satz – ››Treff mich am Samstag übrigens mit Sina!‹‹ –, der mich zum Schmunzeln bringt.
 

››Freut mich für Dich.‹‹, tippe ich zurück. ››Bei mir gibt's nicht viel Neues. Alles etwas blöd, aber ich komm schon klar. Ich ruf Dich später an, okay? Bis dann, Großer!‹‹ Ich schicke die SMS ab und muss grinsen, als ich sehe, wie Ruben neben mir auf seinem Platz herumhibbelt. "Und? Was schreibt er?", will er neugierig wissen und mein Grinsen wird noch ein Stückchen breiter.
 

"Er wollte nur wissen, wie's mir so geht." Dass Jassi gefragt hat, was mit Simon ist, lasse ich einfach mal unter den Tisch fallen. Das ist zu persönlich. "Und mir außerdem sagen, dass er am Samstag ein Date hat", schiebe ich stattdessen noch hinterher und Ruben zieht einen Flunsch. "Schade. Ich hatte gehofft, er würde vielleicht mitkommen, wenn wir feiern gehen. Ich würd ihn nämlich gerne mal kennen lernen", sagt er und ich runzele nachdenklich die Stirn.
 

"Davon hab ich ihm noch gar nichts erzählt", gebe ich beschämt zu. "Aber ich wollte ihn später sowieso anrufen, da kann ich ihn ja fragen, ob er nicht mitkommen will. Vielleicht bringt er Sina ja mit. Dann lerne ich sie auch gleich kennen", überlege ich laut und bin nicht wirklich überrascht, als Ruben gleich heftig nickt. "Au ja! Je mehr Leute wir sind, desto lustiger wird's doch!", behauptet er und obwohl ich ihm da nicht so ganz zustimmen kann – ich hab nicht so gerne viele Menschen um mich rum –, hoffe ich trotzdem, dass Jassi mitkommt. Dann kenne ich außer Ruben und Christie wenigstens noch jemanden und komme mir nicht ganz so verloren vor, wenn die Anderen sich vielleicht über Sachen unterhalten, bei denen ich nicht mitreden kann.
 

Während meine Gedanken noch um den kommenden Samstag kreisen, hält der Bus und Ruben und ich lassen erst mal unsere geliebten Klassenkameraden aussteigen, um nicht plattgedrückt zu werden, ehe wir auch aus dem Bus klettern. Frau Römer hat schon angefangen, die Aufgabenzettel zu verteilen. Ruben und ich bekommen unsere zuletzt, werden aber ebenso angestrahlt wie der Rest der Klasse.
 

"Wenn ihr mit den Aufgaben fertig seid, gebt ihr die Zettel entweder bei Herrn Schierling oder bei mir ab oder ihr deponiert sie im Bus. Wir treffen uns pünktlich um fünf Uhr hier wieder. Je eher ihr die Aufgaben erledigt habt, desto mehr Zeit habt ihr zu eurer freien Verfügung", teilt sie uns mit und entlässt uns dann mit einem enthusiastischen Winken.
 

Nicht besonders begeistert lese ich mir die einzelnen Aufgaben durch und verkneife mir ein Seufzen. Das sieht ganz verdächtig danach aus, als ob wir kreuz und quer durch die ganze Stadt latschen müssen, um die Aufgaben zu lösen. Na bravo. Genau das hat mir heute noch zu meinem Glück gefehlt. Ganz toll, wirklich. Womit hab ich das eigentlich verdient?
 

"Scheint, als hätten wir eine Menge Rennerei vor uns", spricht Ruben meine Gedanken laut aus und ich nicke seufzend. Ehe ich allerdings antworten kann, legt sich von hinten eine Hand auf meine Schulter und als ich mich umblicke, sehe ich genau in das Gesicht von Herrn Schierling. Seine zweite Hand liegt auf Rubens Schulter und er grinst uns an.
 

"Wenn ich an eurer Stelle wäre, würde ich mir als allererstes einen Stadtplan besorgen. Die Aufgaben müssen ja nicht unbedingt in der Reihenfolge bearbeitet werden, in der sie auf dem Zettel stehen." Damit lässt er uns wieder los, zwinkert uns noch einmal zu und schlendert dann fröhlich pfeifend zurück zu Frau Römer, die ihn scheinbar schon erwartet.
 

"Der Schierling ist echt schwer in Ordnung", murmelt Ruben und ich nicke. Da hat er verdammt Recht. "Allerdings", stimme ich ihm deshalb zu. Genau aus diesem Grund, erinnere ich mich dabei wieder, hab ich Reli zu Beginn des Schuljahres auch nicht abgewählt. Herr Schierling ist, trotz seiner Macken, ein wirklich netter und vor allem auch guter Lehrer.
 

"Dann lass uns mal zusehen, dass wir einen Stadtplan kriegen." Und schon werde ich mal wieder von Ruben mitgeschleift, aber ich wehre mich nicht dagegen. Warum sollte ich auch? Das wär ja lächerlich. Außerdem haben wir mehr Zeit für uns, wenn wir diese ganzen langweiligen Aufgaben erst mal gelöst haben. Vielleicht wird der Rest des Tages ja doch noch ganz nett.
 

Trotz Stadtplan sind Ruben und ich bis kurz vor eins gut beschäftigt. Ganz zu Anfang haben wir uns zwei Mal ziemlich verlaufen, aber irgendwann hatten wir den Bogen mit dem Plan raus und haben es tatsächlich geschafft, alle Informationen zusammenzutragen – sogar in Arbeitsteilung. Ruben hat die Fragen gestellt, wenn es nötig war – wildfremde Menschen einfach so anquatschen kann er echt gut – und ich habe dafür das Schreiben übernommen.
 

Im Augenblick sitzen wir auf einer Holzbank in einem winzigen Park mitten in der Innenstadt und ich will gerade damit anfangen, meine etwas krakeligen Notizen ins Reine zu schreiben, als Ruben mich antippt. "Was hältst Du davon, wenn wir erst mal ne kleine Pause machen und was essen, bevor wir zum Bus zurücklatschen?", fragt er und mein Magen übernimmt prompt das Antworten für mich, indem er laut und vernehmlich knurrt und Ruben so zum Lachen bringt.
 

"Ich nehm das einfach mal als Ja", beschließt er fröhlich, schnappt sich den Stadtplan und dreht diesen ein bisschen hin und her. "Wenn wir da vorne nach links gehen, müssten wir nach McDoof kommen", informiert er mich dann und ich stopfe eben unsere gesamte Zettelwirtschaft in meinen Rucksack, werfe ihn mir über die Schulter und stapfe dann gemeinsam mit Ruben los.
 

Keine Viertelstunde später haben wir es uns an einem der augenkrebserregend rot und gelb gefärbten Plastiktische so gemütlich wie möglich gemacht und stopfen lauter ungesundes Zeug in uns hinein, während wir nebenbei die Antworten auf die Aufgaben noch mal vernünftig formulieren, damit ich sie ordentlich aufschreiben kann.
 

Ich bin fast fertig damit, als das Klingeln meines Handys mich aus meiner Konzentration reißt und mich halb zu Tode erschreckt. "Ja?", melde ich mich, nachdem ich den Störenfried aus meiner Jackentasche gefischt hab, und im nächsten Moment schallt mir auch schon Jassis Stimme entgegen. "Hey, mein Kleiner!", begrüßt er mich fröhlich und ich muss unwillkürlich lächeln.
 

"Hey, Großer! Was ist los? Warum rufst Du an?", erkundige ich mich und kann förmlich hören, wie er grinst. "Ich hab gerade Pause und da dachte ich mir, ich erspar Dir den Anruf. Außerdem wollte ich wissen, was bei Dir so los ist. Du hast Dich ja ziemlich kryptisch ausgedrückt", erwidert er und ich werfe einen raschen Blick zu Ruben. Der sieht mich neugierig an, grinst und steht zu meiner Verwunderung auf.
 

"Ich komm gleich wieder. Muss auch eben telefonieren", teilt er mir mit, aber sein Grinsen sagt mir, dass das eigentlich nur ein Vorwand ist, damit ich ungestört mit Jassi sprechen kann. Manchmal ist es ganz schön gruselig, wie sehr Ruben meine Mimik offenbar lesen kann. "Vergiss nicht, ihn wegen Halloween zu fragen, ja? Und grüß ihn mal von mir. Bis gleich." Damit winkt Ruben mir noch einmal und fischt auf dem Weg nach draußen sein Handy aus der Tasche.
 

Ich blicke ihm nach und erst Jassis Stimme holt mich wieder in die Realität zurück. "Jan? Alles okay? Oder passt's gerade nicht? Dann melde ich mich nach Feierabend noch mal", bietet er an und ich schüttele schnell den Kopf, obwohl er das nicht sehen kann. "Nee, geht schon. Ruben ist gerade kurz rausgegangen, damit wir ungestört reden können. Na ja, so ungestört, wie's in einem gerammelt vollen McDoof eben geht. Wir machen gerade Mittagspause."
 

"Das ist aber nett von ihm", findet Jassi und ich kann ihm da nur zustimmen. "So ist er eben. Ich soll Dich übrigens von ihm grüßen. Und ich soll fragen, ob Du und Sina am Samstag nicht vielleicht mitkommen wollt. Ruben und seine Freunde wollen abends Halloween feiern und er hat mich bequatscht, mitzukommen." Ein paar Sekunden ist es still und ich kann schon fast hören, was Jassi gerade denkt – "Du und feiern, Kleiner? Und dann auch noch ausgerechnet Halloween? Bist Du krank?" –, aber er spricht das nicht laut aus.
 

"Ich müsste mit Sina abklären, ob sie Lust hat. Wir wollten am Nachmittag ins Kino und dann eigentlich mal weitersehen, aber ein bisschen feiern klingt gut. Ich frag sie gleich mal und schreib Dir dann nachher", verspricht er stattdessen. "Aber eigentlich hab ich nicht wegen Sina oder Samstag angerufen, sondern wegen Dir. Ist alles okay? Wie geht's Dir?", erkundigt er sich dann besorgt und ich schlucke schwer. Wie soll ich ihm das, was in den letzten Tagen passiert ist, am besten erzählen?
 

"Ähm ...", fange ich an, breche aber sofort wieder ab und kneife meine Augen ganz fest zusammen. Ich kann deutlich fühlen, wie ich wieder mal rot anlaufe. "Also ... Ich hab gestern was erfahren. Über ... über Simon", beschließe ich, mich auf das Wesentliche zu beschränken. Wenn ich jetzt haarklein alles erzähle, wird das zu teuer für Jassi – mal ganz davon abgesehen, dass das wahrscheinlich auch seine Pause sprengen und ihm eine Menge Ärger einbringen würde. Und das will ich nicht.
 

"Und das wäre?", erkundigt Jassi sich ungeduldig und ich atme noch einmal tief durch, ehe ich das ausspreche, was mir die ganze letzte Nacht den Schlaf geraubt hat. "Simon ist schwul." Die Worte purzeln so schnell über meine Lippen, dass ich mich selbst kaum verstehe, aber Jassi hat damit scheinbar kein Problem. Manchmal ist mir sein Talent, auch mein schlimmstes Genuschel zu verstehen, echt unheimlich.
 

"Was? Wirklich? Verscheißerst Du mich auch nicht?", kommt es zurück und ich nicke, obwohl er dass ja nun wirklich auf die Entfernung nicht sehen kann. "Ja. Ruben hat mir das gestern Abend erzählt. Deshalb hat Simon ja solchen Stress mit seinen Eltern", bestätige ich. Dabei kann ich das fassungslose Gesicht meines besten Freundes förmlich vor mir sehen.
 

"Na, das ist doch super!", bekomme ich nach kurzem Schweigen zu hören und blinzele verwirrt. "Wieso das denn?", frage ich, denn diese Logik verstehe ich nicht. "Überleg doch mal, Jan. Wenn er schwul ist, dann hast Du doch ne Chance. Du musst ihm bloß sagen, was Du für ihn empfindest, und dann ist alles in Butter", behauptet Jassi gut gelaunt und ich werde gleich noch einen ganzen Tacken röter.
 

"Nein!", widerspreche ich laut und heftig und mache mich dann in meinem Sitz so klein wie möglich, als ich die neugierigen Blicke bemerke, die mein peinlicher Ausbruch zur Folge hat. "Nein, das geht nicht", bekräftige ich leiser, aber trotzdem nicht weniger energisch. Jassi spinnt doch! Ich kann doch nicht zu Simon gehen und ihm sagen, dass ich ... dass er ... Nein, auf keinen Fall! Ich bin doch nicht lebensmüde!
 

"Und warum geht das nicht?", fragt Jassi zurück, ohne sich von meinen Worten beeindrucken zu lassen. "Hat er etwa nen Freund?", will er weiter wissen und ich schüttele den Kopf – nicht nur, um seine Frage zu verneinen, sondern auch, um das Bild von Flo, das sich vor mein inneres Auge schiebt, gleich wieder in die hinterste Ecke meines Bewusstseins zu verdrängen. Daran will ich im Augenblick mal so gar nicht denken.
 

"Nicht direkt", nuschele ich und spreche schnell weiter, als vom anderen Ende der Leitung ein abgrundtiefes Seufzen kommt. "Er ... er hat keinen Freund, aber Ruben sagte, er ... er trifft sich noch ab und zu mit seinem Exfreund, um ... um mit ihm ... Du weißt schon." Dieses Thema ist mir so unglaublich peinlich, dass ich am liebsten im Erdboden versinken würde. "Und Flo ... Na ja, Flo ist alles, was ich nicht bin. Er sieht gut aus und er kennt Simon schon lange und ... Was sollte er denn mit mir? Ich ... ich hab doch nichts zu bieten", flüstere ich so leise, dass ich meine eigene Stimme kaum verstehe, aber für Jassi ist das kein Problem.
 

"Jan, Du bist ein Holzkopf", teilt er mir mit, seufzt ein weiteres Mal und ich kann hören, dass er sich durch die Haare fährt. "Ehrlich, manchmal möchte ich Dich ... Wieso glaubst Du bitteschön, Du hättest nichts zu bieten? Du bist ein echter Schatz und dieser Typ kann verdammt noch mal froh sein, dass Du Dich überhaupt für ihn interessierst. Außerdem glaub ich, Dein Simon mag Dich auch mehr als nur ein bisschen. Nein, widersprich mir nicht", fällt er mir ins Wort, noch bevor ich überhaupt etwas sagen kann.
 

"Hör mir einfach nur zu. Kein Kerl schleppt einen anderen Kerl – oder wahlweise auch ein Mädchen, aber das tut hier ja nichts zur Sache – irgendwohin, um sich gemeinsam einen Sonnenuntergang anzusehen, wenn von seiner Seite kein Interesse besteht. Das kannst Du mir ruhig glauben, Jan. So was Romantisches würd ich jedenfalls garantiert nicht mit einem Mädchen machen, von dem ich nichts will, aber mit Sina schon. Und glaub mir, jeder Kerl tickt so. Das ist genetisch. Man legt sich nicht für jemanden ins Zeug, den man kaum kennt, ohne dabei irgendwelche Hintergedanken zu haben oder sich was davon zu versprechen. Ich sag Dir, Jan, Du hast auf jeden Fall Chancen bei Deinem Simon, also tu Dir selbst einen Gefallen und sprich mit ihm. Am besten so schnell wie möglich."
 

Jassis Stimme klingt schon fast beschwörend und ich würde ihm nur zu gerne glauben – ein Teil von mir tut das sogar, wenn ich nach meinem Herzklopfen und der Hitze meines Gesichts urteilen soll –, aber ich schüttele trotzdem energisch den Kopf, um diese kindische Hoffnung zu vertreiben. Wenn ich jetzt tatsächlich anfange, Jassis Worten zu glauben, dann ist die Enttäuschung nachher nur umso größer und wird mir nur noch mehr weh tun. Außerdem, selbst wenn Jassi doch Recht haben sollte, kann ich Simon trotzdem nichts von meinen Gefühlen erzählen. Ich würde vor Scham sterben, ohne auch nur ein Wort über die Lippen gebracht zu haben. Ich kenn mich doch. Ich würde stottern und rot werden und mich endgültig und hoffnungslos blamieren und Simon würde mich auslachen und ...
 

"Bist Du noch da, Jan?" Jassis Frage holt mich wieder aus dem Horrorszenario, in dem ich Simon alles zu beichten versuche und mich stattdessen vollkommen zum Horst mache. Ich zucke erschrocken zusammen und nicke dann hektisch. "Ja, ich ... bin noch dran. Alles okay. Ich ... hab nur ... nachgedacht", stammele ich leise und verkrieche mich noch etwas tiefer in meinem Sitz.
 

"Ich ... ich kann das nicht, Jassi", gebe ich dann beschämt zu. "Wenn ich ... Er lacht mich doch aus, wenn ich ihm sage, dass ... wenn ich ihm davon erzähle, was ich ... Ich kann das einfach nicht. Auf keinen Fall." Meine Stimme wird immer leiser und ich erwarte beinahe schon, dass Jassi frustriert seufzt – es ist sicher furchtbar nervig für ihn, sich um mich kümmern zu müssen, wenn ich mich so kindisch aufführe –, aber zu meiner Verwunderung tut er das nicht.
 

"Mann, Dich hat's ja echt total erwischt", stellt er stattdessen fest und seine Stimme klingt so lieb und so tröstend, dass ich am liebsten losheulen würde. "Hör mal, ich weiß, dass das verdammt schwer ist und viel Mut erfordert – wahrscheinlich sogar noch mehr als bei einem Mädchen –, aber Du kannst das. Und glaub mir, er wird Dich ganz bestimmt nicht auslachen. So ein Arschloch ist er doch wohl nicht, oder?"
 

"Nein", widerspreche ich leise und beiße mir auf die Unterlippe. "Aber ich kann ihm doch nicht sagen, dass ich ... Das schaff ich nicht." Nein, das geht einfach nicht. Schon beim bloßen Gedanken daran wird mir schlecht und mein Herz rast, als hätte ich einen Marathon hinter mir. Verdammt, warum kann ich nicht wenigstens ein kleines bisschen mutiger sein?
 

"Weißt Du, was wir machen?", fragt Jassi und zwingt mich so, mich wieder auf das Gespräch zu konzentrieren. "Ich komm am Samstagabend auf jeden Fall mit – egal ob mit oder ohne Sina. Und dann coache ich Dich, okay? Wenn Du nicht mit ihm redest, gehst Du irgendwann noch kaputt, Jan. Und das werde ich verhindern. Ich werd nicht für Dich mit ihm reden – das ist Deine Sache, nicht meine –, aber ich werd da sein und Dir den Rücken stärken. Wann immer Du bereit bist, mit ihm zu sprechen, komm ich vorbei und bin einfach da, in Ordnung?", bietet er an und ich kann nicht anders als zu nicken, obwohl ich das eigentlich gar nicht will.
 

"Okay", gebe ich mich leise geschlagen und versuche zu lächeln, aber es wird nur eine etwas verunglückte Grimasse daraus. "Ich ... muss jetzt langsam aufhören", nuschele ich dabei. "Ich auch. Meine Pause ist fast rum. Also bis Samstag, Kleiner. Und halt die Ohren steif. Du kriegst das hin. Du bist sehr viel stärker als Du glaubst. Überleg doch mal, was Du schon alles geschafft hast", versucht Jassi, mich aufzubauen, und ich bemühe mich, meine Stimme wenigstens ein bisschen fester klingen zu lassen.
 

"Bis Samstag dann, Großer. Und grüß Sina mal unbekannterweise von mir", verabschiede ich mich, lege auf und stopfe mein Handy zurück in meine Jackentasche. Kaum dass das geschehen ist, kommt Ruben, der die ganze Zeit draußen gestanden hat, wieder herein und lässt sich wieder auf den Platz mir gegenüber fallen, auf dem er vorhin schon gesessen hat. "Schlechte Neuigkeiten?", fragt er und mustert mich halb skeptisch, halb besorgt, als ich nur den Kopf schüttele. Seinem Blick weiche ich dabei absichtlich aus, damit er mich nicht sofort durchschaut.
 

"Jassi hat gesagt, er kommt am Samstag auf jeden Fall mit." Warum das so ist, behalte ich für mich. "Was mit Sina ist, wusste er noch nicht, aber er wollte sie fragen und mir später deswegen Bescheid sagen", erzähle ich und kann aus dem Augenwinkel erkennen, dass Ruben nickt. Sein erwartetes begeistertes Strahlen bleibt allerdings aus und ich schlucke schwer, als er sich halb über den Tisch beugt und mir so nah kommt, dass ich nun doch praktisch gezwungen bin, ihn anzusehen.
 

"Was ist los mit Dir, Jan?", erkundigt er sich und in seinen braunen Augen liegt Sorge. "Du hast doch irgendwas. Umsonst machst Du doch nicht ein Gesicht als säßest Du beim Zahnarzt und müsstest ohne Betäubung eine Wurzelbehandlung über Dich ergehen lassen. Was auch immer es ist, Du kannst es mir ruhig sagen", bietet er an und ich will den Kopf schütteln, abwiegeln und ihm sagen, dass alles in Ordnung ist, aber das schaffe ich nicht. Stattdessen schrumpfe ich in meinem Sitz nur noch ein bisschen mehr zusammen und krächze ein "Ist nicht so wichtig", das Ruben mir allerdings augenscheinlich absolut nicht abkauft.
 

"Ich glaub Dir nicht", bestätigt er meine Vermutung auch gleich. "Du siehst aus, als ginge es Dir richtig mies. Und ich hasse es, wenn es jemandem, den ich mag, nicht gut geht", sagt er und ich bekomme ein schlechtes Gewissen. "Wir kennen uns zwar noch nicht lange, aber Du kannst mit mir trotzdem über alles reden – egal, was es ist. Ich werd Dich nicht auslachen und auch ganz bestimmt nichts Blödes sagen. Ich will Dir doch nur helfen, Jan." Rubens Stimme klingt eindringlich und mir entfährt ein abgrundtiefes Seufzen, ehe ich mich kurz in dem ziemlich vollen McDoof umsehe.
 

"Nicht hier, okay?", bitte ich dann leise und Ruben nickt, steht auf und schnappt sich sein Tablett, um es wegzubringen. Ich tue es ihm gleich und atme tief durch, sobald wir McDoof verlassen haben und uns die kalte Oktoberluft entgegenschlägt. "Lass uns erst zum Bus gehen und diesen blöden Aufgabenzettel abgeben", schlage ich vor und mache mich gemeinsam mit Ruben auf den Weg, nachdem er wieder nur genickt hat.
 

Schweigend gehen wir nebeneinander her und ich verfluche mich innerlich dafür, dass ich so leicht zu durchschauen bin. Wenn ich meine Gefühle nur ein kleines bisschen besser verstecken könnte, dann hätte Ruben nichts gemerkt, würde sich keine Sorgen um mich machen und ich müsste mir nicht überlegen, wie ich ihm von meinem Problem erzählen kann, ohne ihm zu verraten, dass der Kern meines Problems ausgerechnet sein großer Bruder ist.
 

Nach knapp zwanzig Minuten Latscherei haben wir den Parkplatz erreicht, auf dem unser Bus steht. Von dem Fahrer ist weit und breit nichts zu sehen, aber wir müssen nicht lange warten, bis er in Begleitung einer sichtlich überraschten Frau Römer auf uns zukommt. "Ihr seid schon fertig?", fragt sie verwundert und während Ruben nickt, krame ich unsere Zettel aus meinem Rucksack und reiche sie ihr.
 

"Können wir uns vielleicht schon mal in den Bus setzen, bis die Anderen zurückkommen?", bitte ich sie leise und sie wirft einen prüfenden Blick in mein Gesicht, bevor sie sich zum Fahrer umdreht und diesem die Anweisung gibt, die Tür zu öffnen. Scheinbar sehe ich gerade genauso fertig aus, wie ich mich fühle, denn mich trifft beim Einsteigen noch ein besorgter Blick und nur eine rasche Versicherung meinerseits, dass mit mir alles okay ist – unterstützt von Ruben, der verspricht, Bescheid zu sagen, wenn was sein sollte –, verhindert, dass Frau Römer sich zu uns gesellt.
 

Sobald die Bustüren hinter uns zugefallen sind, pellen Ruben und ich uns aus unseren Jacken, hocken uns auf unsere Plätze und kaum dass ich sitze, sehe ich mich auch schon mit braunen Augen konfrontiert, die mich abwartend mustern. "Okay, was ist los?", verlangt Ruben zu wissen und ich verkrieche mich abgrundtief seufzend in der Kapuze meines Pullis, während meine Finger wie von selbst mit dem Saum zu spielen beginnen. Ich weiß nicht genau, wo und wie ich anfangen soll, aber glücklicherweise drängt Ruben mich nicht, sondern wartet einfach nur darauf, dass ich von selbst mit dem Sprechen beginne. Das ist sicher nicht leicht für ihn und genau deshalb bin ich ihm besonders dankbar für seine Rücksichtnahme.
 

"Was ... was würdest Du tun, wenn Du ... wenn Du Dich verliebt hättest? In ... in einen anderen Jungen?", ergreife ich schließlich das Wort und bin fast froh um die Deckung, die mir meine Kapuze bietet. Mein Gesicht leuchtet nämlich mal wieder in schönstem Scharlachrot und ich will einfach nicht, dass Ruben mich so sieht. Das ist mir zu peinlich.
 

"Was ich in so einem Fall tun würde?", fragt er nach und ich kann aus dem Augenwinkel erkennen, dass er nach meinem Nicken die Stirn kraus zieht. "Ich würd erst mal rauszufinden versuchen, ob er generell Interesse an Jungs hat und was er von mir hält", bekomme ich nach kurzem Schweigen zur Antwort. "Und dann würd ich's ihm wohl sagen, schätze ich", fährt Ruben fort und lehnt sich etwas näher zu mir.
 

"Das ist Dein Problem?", will er wissen und als ich nicke, tätschelt er mir das Knie. "Und? Weißt Du, ob er auf Jungs steht?", bohrt er weiter und wieder nicke ich einfach nur stumm, während mir gleich noch mehr Blut ins Gesicht schießt. "Und weiter? Ist er solo oder vergeben? Und was hält er von Dir? Hast Du's ihm schon gesagt?", kommt gleich ein ganzer Fragenkatalog hinterher und ich wünsche mich ans andere Ende der Welt. Warum hab ich Idiot mich überhaupt auf dieses Gespräch eingelassen? Ich muss doch vollkommen bescheuert sein. Klarer Fall von geistigem Totalausfall, echt. Wie kann ein einzelner Mensch alleine nur so blöd sein? Das ist doch schon nicht mehr feierlich.
 

"Nein", beantworte ich Rubens letzte Frage mit etwas Verspätung." Und ich kann ihm das auch nicht sagen. Ich kann einfach nicht. Er ... er mag mich zwar, aber er hat ... Da gibt es einen Anderen, der ihn viel besser kennt und viel mehr von ihm weiß als ich. Ich kenn ihn doch kaum. Noch nicht mal zwei Wochen. Und ich wusste bis Sonntag ja nicht mal, was diese ganzen bescheuerten Gefühle bedeuten, die ich hab, wenn ich ihn sehe. Das musste Jassi mir erst erklären, weil ich alleine einfach zu doof war um zu merken, dass ich mich in ihn verliebt hab. Und jetzt ... Ich bin doch viel zu blöd für ihn. Er ... er würde mich bestimmt auslachen, wenn ich ihm erzähle, was ich ... wie ich mich fühle, wenn er einfach nur da ist und mich anlächelt oder mit mir spricht oder so. Im Gegensatz zu ihm bin ich doch fast noch ein Kind. Er ... er kann mich doch gar nicht ernst nehmen. Ich bin doch sogar eifersüchtig auf Franzis dummen Kater, weil der ihn so gerne mag und weil er Slim auch mag und weil er ihn gestern gekrault hat, bevor er mich zur Schule gefahren hat. Ich mein, hallo? Wie peinlich ist es denn bitte, eifersüchtig auf eine Katze zu sein, nur weil er ..."
 

Etwas hilflos breche ich ab und zupfe am Saum meines Pullovers herum. Ruben ist unnatürlich still, aber ich traue mich einfach nicht, ihn jetzt anzusehen. "Whoa!", entfährt es ihm nach scheinbar endlosem Schweigen und ich zucke erschrocken zusammen, als ich so plötzlich aus meinen Gedanken gerissen werde. Bevor ich mich wehren kann, wird mir die Kapuze vom Kopf gezogen und der Protest, der mir auf der Zunge liegt, löst sich in Nichts auf, als ich Rubens Gesicht sehe. Er strahlt wie ein Kaufhausweihnachtsbaum und ich verstehe diese Reaktion absolut nicht. Was ist denn jetzt bitteschön kaputt? Worüber freut er sich denn so? Findet er mein Problem etwa lustig oder was?
 

"Du hast mich ganz schön erschreckt, Jan", gibt Ruben zu und ich werde nur noch verwirrter. So langsam begreife ich echt gar nichts mehr. "Als Du angefangen hast zu reden, dachte ich im ersten Moment, Du meinst mich", fährt er fort und kichert, als ich ihn erst aus weit aufgerissenen Augen anstarre und gleich darauf hektisch den Kopf schüttele.
 

"N-Nein, ich ...", setze ich an, aber Ruben lässt mich nicht ausreden. "Jaja, ich weiß doch, dass Du mich nicht meinst", wehrt er meinen Einwand ab und rutscht noch etwas näher zu mir, so dass ich zwischen dem Fenster und ihm praktisch gefangen bin. "Ist das echt wahr?", will er dann wissen und als er seine nächste Frage stellt – "Hast Du Dich wirklich in meinen Bruder verliebt?" –, verliert mein Gesicht schlagartig sämtliche Farbe und ich hab das Gefühl, ohnmächtig zu werden.
 

"Wieso ...? Woher ..?", stottere ich und Ruben grinst mich an. "Du hast es mir doch gerade selbst erzählt", triumphiert er und sein Grinsen wird noch breiter, als ich ihn einfach nur fassungslos anstarre. "Klar, Du hast keinen Namen genannt, aber Du hast gesagt, dass Du eifersüchtig auf Deine Katze bist und dass er Dich gestern zur Schule gefahren hat, also kann mit er ja nur Simon gemeint sein", argumentiert er und ich werde, sofern das möglich ist, noch etwas blasser.
 

"I-Ich ... Das ... Ich hab ... Ich ..." Ich kriege keinen vernünftigen Satz zustande, doch das scheint Ruben nicht zu interessieren. Er lässt mich auch gar nicht richtig zu Wort kommen, sondern drückt mich urplötzlich so fest an sich, dass ich fast keine Luft mehr bekomme. "Das ist ja so super!", quietscht er mir dabei ins Ohr und mir wird schwindelig. Ich begreife einfach nicht, warum er so reagiert, wie er es gerade tut. Was findet er denn bitteschön so toll daran, dass ich unglücklich in seinen großen Bruder verliebt bin?
 

"Ihr beide wärt so ein süßes Paar", wird mir mitgeteilt und etwas mühsam schiebe ich Ruben von mir, damit ich wieder atmen kann. Dann will ich ihm eigentlich klipp und klar sagen, dass er sich da gerade irgendwelchen Unsinn zusammenspinnt, aber alles, was meinen Mund verlässt, ist ein gekrächztes "Aber ... aber Flo und ...", auf das Ruben einfach nur mit einem Augenrollen reagiert.
 

"Die sind doch schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr zusammen. Das ist doch bloß Sex", erklärt er mir abwinkend und bei der Erwähnung des S-Wortes schießt mir beinahe mein ganzes Blut wieder ins Gesicht. Ruben grinst kurz über mich kleines Ampelmännchen, wird aber gleich darauf wieder ernst. "Genau betrachtet ist mein Bruder also Single – und zwar schon seit mehr als einem Jahr. Und er mag Dich auf jeden Fall. Wir müssen also nur noch rausfinden, ob da mehr ist, und wenn ja, dann musst Du ihm nur sagen, dass Du in ihn verliebt bist. Ich kann ihn ja mal fragen, was er über Dich denkt", bietet er an und ich schüttele fast schon panisch den Kopf, während ich gleich noch ein paar Nuancen röter werde. Wo bin ich denn hier bloß hineingeraten? Hilfe!
 

"Nein!", widerspreche ich fast schon ein bisschen hysterisch und schüttele meinen Kopf noch heftiger, bis mir schwindelig wird. "Ich ... Bitte sag ihm nichts, Ruben. Ihm nicht und auch sonst niemandem. Bitte!", beschwöre ich Ruben und er sieht mich einen Moment lang stirnrunzelnd an, ehe er schließlich schwer seufzend nickt.
 

"Okay, einverstanden. Ich behalt's für mich und werd's nicht mal Christie erzählen", verspricht er dann ernst und ich lehne meinen Kopf gegen die kalte Glasscheibe hinter mir. Ich weiß nicht so recht, wie ich mich fühlen soll, nachdem jetzt neben Jassi auch Ruben über die ganze Sache mit Simon Bescheid weiß. Einerseits bin ich irgendwie froh, dass es raus ist, aber andererseits hab ich auch Angst. Was, wenn Ruben sich doch verplappert – nicht absichtlich, sondern durch ein Versehen? Das überleb ich nicht!
 

"Du musst Dir keine Sorgen machen, Jan. Ich kann schweigen", spricht Ruben das an, was mir gerade durch den Kopf geht, und ich zucke leicht zusammen. Offenbar bin ich nicht nur für Jassi, sondern auch für Ruben ein offenes Buch. Ganz toll. Warum hasst mein Leben mich eigentlich so? Warum muss ich immer der Arsch für alle sein? Das ist nicht fair!
 

"Mhm", nuschele ich nur als Antwort, schließe meine Augen und lehne mich wieder halb an die Fensterscheibe und halb an die Rückenlehne meines Sitzes. Die Müdigkeit der vergangenen Nacht, die ich in den letzten Stunden mehr oder weniger erfolgreich unterdrückt hab, kehrt mit aller Macht zurück und ich wehre mich nicht, als ich merke, dass ich langsam wegzudämmern beginne. Ruben lässt mich in Ruhe und ich bin ihm dankbar dafür. Vielleicht kann ich wenigstens ein bisschen Schlaf nachholen, bis der Rest unserer Klasse eintrudelt und wir zurück zur Herberge fahren. "Leihst Du mir mal Dein Handy? Mein Akku ist leer. Dauert auch nicht lange", ist das Letzte, was ich noch mitkriege, bevor ich tatsächlich einschlafe.
 

Ich werde erst wieder wach, als jemand an meiner Schulter rüttelt. "Wir müssen jetzt aussteigen, Jan", werde ich informiert und mein noch auf Sparflamme laufendes Hirn teilt mir mit reichlich Verspätung mit, dass ich offenbar die gesamte Rückfahrt zur Herberge verschlafen habe. "Komm", fordert mein persönlicher Wecker, der auch unter dem Namen Ruben bekannt ist, mich auf und nach dem vierten Anlauf gelingt es mir tatsächlich, aufzustehen, meine Jacke und meinen Rucksack zu nehmen und Ruben zu folgen.
 

Ich stolpere mehr aus dem Bus, als dass ich wirklich laufe, und bin froh, dass Ruben vor mir geht und mir den Weg zu unserem Zimmer zeigt. So müde, wie ich gerade bin, würde ich mich alleine garantiert hoffnungslos verirren. Als wir unser Zimmer endlich erreicht haben, seufze ich erleichtert, lasse meinen Rucksack und meine Jacke einfach achtlos fallen und krieche dann vollständig bekleidet – bis auf die Schuhe, die ziehe ich vorher aus – ins Bett. Ich will einfach nur noch schlafen.
 

"Jan, um halb sieben gibt's Essen", werde ich aus meinem Dämmerzustand gerissen und grummele ungnädig. "Kein Hunger. Will schlafen", nuschele ich und kann im nächsten Moment spüren, wie die Bettdecke über mich gezogen wird. "Okay, dann schlaf. Ich sag Herrn Schierling und Frau Römer Bescheid. Träum was Schönes. Bis später." Damit lässt Ruben mich alleine und kaum dass die Zimmertür hinter ihm ins Schloss gefallen ist, bin ich auch schon wieder im Reich der Träume.
 

Ein nerviges Geräusch, das ich erst nach ein paar Sekunden als den Klingelton meines Handys erkenne, reißt mich irgendwann wieder aus dem Schlaf. Im Zimmer ist es stockdunkel, ich bin alleine und rappele mich fluchend auf, um den Störenfried aus meiner Jacke zu holen. Wehe, es ist nicht wichtig! Wenn nicht mindestens der Weltuntergang bevorsteht, dann gibt's aber Tote, das schwöre ich. Ist es denn so schwer, mir ein paar Stunden Schlaf zu gönnen? Was hab ich dem Universum eigentlich getan, dass ich nicht mal in Ruhe pennen darf?
 

Mit dem noch immer klingelnden Handy in der Hand lasse ich mich wieder ins Bett fallen und nehme dann erst das Gespräch entgegen, ohne einen Blick aufs Display zu werfen. Ich könnte jetzt sowieso nicht erkennen, wer da was von mir will. Dafür bin ich noch viel zu müde. "Wer stört?", motze ich deshalb auch nicht unbedingt freundlich, aber als ich die Stimme erkenne, die mir antwortet, ist meine ganze Müdigkeit mit einem Schlag verflogen und ich sitze senkrecht im Bett.
 

"Das wüsste ich auch gerne", höre ich Simon sagen und mein Herz hängt seinen eigentlichen Dienst an den Nagel, um gemeinsam mit meinem Magen eine Artistenkarriere im Zirkus anzustreben. Diese blöden Organe schlagen nämlich einen Salto nach dem anderen und ich hab das Gefühl, jeden Moment wieder wie gestern Abend vom Bett zu kippen. Was ist denn jetzt kaputt? Und woher in aller Welt hat Simon bitteschön meine Handynummer?
 

"Hallo? Kriege ich vielleicht heute noch eine Antwort?", fragt er, als ich nicht antworte, und der deutliche angenervte Unterton in seiner Stimme lässt mein Herz absacken und auch meinen Magen irgendwo auf dem Fußboden aufklatschen. Scheiße! "Ähm ... ich ...", stottere ich und breche gleich wieder ab, weil ich einfach nicht weiß, was ich sagen soll. Warum muss ich immer so verdammt nervös werden, wenn ich einfach nur seine Stimme höre?
 

"Jan?", kommt es auf mein Gestotter hin erstaunt zurück und ich schlucke erst mal den Kloß in meinem Hals hinunter, ehe ich ein leises "Ja" nuschele. "Woher hast Du denn meine Nummer?", will Simon wissen, beantwortet sich seine Frage aber gleich selbst. "Von Ruben, oder? Also, was ist los? Warum hast Du mich angerufen?"
 

"Hab ich ... hab ich gar nicht. Ich glaub, Ruben hat ... Aber er ist gerade nicht hier", stammele ich mir zurecht und möchte mich selbst dafür schlagen, dass ich mich schon wieder so blöd aufführe. "Er ist noch beim Essen, glaub ich", schiebe ich schnell hinterher. Dabei kann ich deutlich fühlen, wie mein Gesicht wieder mal zu glühen beginnt.
 

"Oh, okay. Weißt Du denn, was er von mir wollte?", erkundigt Simon sich und ich schüttele den Kopf. "Nein, ich ... Er hat mir nichts gesagt. Ich hab aber auch bis eben noch geschlafen", antworte ich leise und bei Simons nächster Frage – "Ist alles in Ordnung mit Dir?" – klopft mein Herz gleich wieder schneller. Er klingt wirklich besorgt und trotz eines Anflugs von schlechtem Gewissen kann ich nicht umhin, mich darüber zu freuen, dass er sich tatsächlich meinetwegen Sorgen macht. "M-Mir geht's gut. Ich hab nur letzte Nacht kaum geschlafen", warum das so ist, behalte ich allerdings lieber für mich; das muss er wirklich nicht wissen, "deshalb hab ich mich nach dem Ausflug hingelegt", erkläre ich ihm stattdessen.
 

"Dann ist ja gut." Simon klingt erleichtert und ich kann fühlen, wie ich zu lächeln beginne. Und obwohl ich unglaublich nervös bin, bin ich gleichzeitig auch irgendwie froh darüber, dass Ruben jetzt gerade nicht hier ist. Dadurch hab ich nämlich die Gelegenheit, mich ein bisschen mit Simon zu unterhalten – auch wenn ich nicht so genau weiß, worüber ich mit ihm reden soll. Aber allein seine Stimme zu hören reicht mir eigentlich schon aus – obwohl mir genau das auch wieder klar macht, wie sehr ich ihn eigentlich vermisse.
 

"Wie ... wie geht's Dir?", frage ich leise, nur um überhaupt etwas zu sagen, und bei Simons nächsten Worten kann ich sein Lächeln nicht nur hören, sondern fast schon vor mir sehen. "Gut", antwortet er und als er leise lacht, breitet sich auf meinem ganzen Körper eine Gänsehaut aus. Irgendwie fühle ich mich ihm gerade verdammt nahe, obwohl zig Kilometer zwischen uns liegen. Aber ich kann seine Stimme hören und so kann ich mir einreden, dass ich zu Hause in meinem Bett liege und eigentlich nur ein paar Stufen raufgehen müsste, um ihn in Natura vor mir zu sehen.
 

"Übrigens wirst Du hier ganz schön vermisst", teilt Simon mir mit und meine Augen werden groß, während mein Herz gleich noch einen Zahn zulegt. Wie meint er das denn jetzt? "Wi-Wieso?", frage ich krächzend und wieder lacht er leise. "Na ja, Slim war heute Nachmittag oben bei mir. Er ist durch die ganze Wohnung gestreunt und hat mich ganz vorwurfsvoll angesehen, nachdem er Dich hier nicht gefunden hat. Ich glaube, er dachte, ich hätte Dich hier irgendwo bei mir versteckt", erklärt er mir dann und ich fühle eine unbestimmte Enttäuschung in mir aufsteigen. Wenn ich ganz ehrlich bin, dann muss ich zugeben, dass ich gehofft hatte, dass er mich vermissen würde und nicht der blöde Kater. Tja, wieder mal falsch gedacht. War ja auch klar. Warum sollte Simon mich auch vermissen? Er hat ja schließlich seinen Flo, da braucht er mich doch gar nicht. Irgendwie ist der Gedanke verdammt deprimierend.
 

"Zum Glück bist Du morgen wieder da", holt Simons Stimme mich wieder aus meinen trüben Gedanken und obwohl ich es nicht will, freue ich mich doch über diese Worte. Wahrscheinlich ist es total lächerlich, aber ich will einfach glauben, dass er sich auch wenigstens ein kleines bisschen freut, mich wiederzusehen, wenn ich wieder nach Hause komme.
 

"Weißt Du eigentlich schon, wann ihr ankommt?", will er wissen und ich schlucke schwer. Warum interessiert ihn das? Will er etwa ... "Weiß nicht. Aber wohl erst nachmittags oder abends. Wa-Warum?", frage ich zurück und versuche, mein wie wild pochendes Herz wieder unter Kontrolle zu kriegen, aber das ist leichter gesagt als getan.
 

"Ich hab Deiner Schwester versprochen, dass ich Dich mit ihr zusammen abhole", erklärt Simon mir daraufhin und ich habe den unstillbaren Drang, Vicky für diese Idee zu knutschen. Ich liebe meine kleine Schwester. Ehrlich, für diese Aktion liebe ich sie. Dafür hat sie auf jeden Fall was gut bei mir. Scheiß drauf, ob sie selbst irgendwelche Hintergedanken oder sonst was hatte, als sie Simon gefragt hat. Allein dafür, dass sie ihn überredet hat, bin ich ihr was schuldig.
 

"Super!", freue ich mich und schlage mir gleich darauf erschrocken die Hand vor den Mund. Ich Idiot! Noch viel auffälliger geht's ja wohl nicht. Ich bin doch so ein unsäglicher Trottel! Zu meiner Erleichterung geht Simon allerdings nicht auf meinen peinlichen Ausbruch ein. Er lacht zwar, aber ich habe trotzdem nicht das Gefühl, dass er sich über mich lustig macht oder mich auslacht.
 

"Sobald Du weißt, wann ihr ungefähr an der Schule seid, kannst Du mir ja eine SMS schicken, damit wir pünktlich da sind. Meine Nummer hast Du ja jetzt. Und wenn Ruben zurückkommt, soll er kurz durchrufen, dann ruf ich zurück. Richtest Du ihm das von mir aus, Jan?", bittet er mich dann und ich nicke sofort. "Klar, ich sag's ihm", verspreche ich, ohne etwas gegen das überglückliche Grinsen tun zu können, das in meinem Gesicht klebt, seit ich weiß, dass Simon mich morgen abholt.
 

"Dann bis morgen. Schlaf nachher gut, Jan", verabschiedet er sich und ich beiße mir auf die Unterlippe, um nichts Falsches zu sagen. "Werd ich ganz bestimmt – jetzt, wo ich weiß, dass ich Dich morgen auf jeden Fall sehe", liegt mir nämlich auf der Zunge, aber das spreche ich nicht aus, sondern nuschele nur leise "Du auch", ehe ich auflege und in einem peinlichen Anfall von Übermut mein Kissen umarme. Dabei grinse ich noch immer wie bescheuert und dieses Grinsen begleitet mich auch noch, als ich mich wieder aufrappele und ins Bad stratze, um mich umzuziehen und bettfertig zu machen.
 

Gerade als ich damit fertig bin und im Dunkeln wieder ins Bett schlüpfen will, geht die Zimmertür auf und ich erblinde fast, als Ruben das Licht anknipst. "Du bist ja wach", stellt er fest und sieht mich mit schiefgelegtem Kopf an. "Hast Du gut geschlafen? Geht's Dir jetzt besser?", erkundigt er sich und ich nicke vielleicht eine Spur zu hektisch. "Ja, mir geht's gut", bestätige ich und hole erst mal tief Luft, um ihn nicht gleich mit Informationen tot zu labern.
 

"Ich hab vorhin mit Simon gesprochen. Er sagte, Du sollst kurz durchrufen, dann ruft er zurück", richte ich dann erst mal das aus, was ich versprochen hab. Auf Rubens Lippen legt sich ein breites Grinsen und er winkt ab. "Ach, ich wollte doch gar nicht mit ihm sprechen. Jedenfalls nicht dringend. Ich hab ihn heute Nachmittag nur von Deinem Handy aus angerufen, weil ich wusste, dass er zurückrufen würde. Das macht er bei unbekannten Nummern immer. Und so hast Du jetzt seine Nummer", erzählt er mir und fängt an zu lachen, als ich ihn vollkommen fassungslos anstarre. Das war alles nur ein Trick, damit ich an Simons Handynummer komme?
 

"Ich fass es nicht!", ächze ich und sofort hört Ruben auf zu lachen. "Jetzt kuck doch nicht so, Jan! Ich wollte Dir doch bloß helfen. Und ich hab nur kurz durchgeklingelt, aber nicht gewartet, bis er abgenommen hat. Sei nicht sauer, ja?", bittet er zerknirscht und ich schüttele den Kopf. "Ich bin nicht sauer", gebe ich ehrlich zurück und krabbele wieder unter die warme Decke. "Ich war einfach nur überrascht. Und ich find's nett von Dir", gestehe ich dann und lächele ganz leicht, obwohl mein Gesicht schon wieder rot leuchtet.
 

"Übrigens holt Simon mich morgen auch wieder ab. Vicky hat ihn dazu überredet. Sie kommt mit", informiere ich Ruben dann und er pellt sich erst mal aus seinem Pulli, ehe er mich wieder angrinst. "Na, das ist doch super. Dann sehen wir beide ihn ja morgen", freut er sich, zieht aber gleich darauf eine Grimasse. "Aber das könnte unschön werden. Meine Mutter hat Paps bestimmt erzählt, dass Simon gestern da war und dass Du ihn kennst, also wird er morgen sicher auch da sein", vermutet er und seufzt beinahe unisono mit mir.
 

"Das wär ja scheiße", nuschele ich, aber Ruben winkt ab. "Ich muss einfach nur schnell sein, dann klappt das schon. Wenn ich so tue, als würde ich erst Simon und dann meine Eltern sehen, dann sollte das kein Problem sein. Paps wird sich zwar darüber aufregen, aber das ist mir schnuppe. Er kann mir eh nur noch etwas mehr als zwei Jahre den Umgang mit Simon verbieten. Wenn ich erst mal achtzehn bin, ist es mir egal, was Paps sagt und was er will. Dann wird er sich damit abfinden müssen, dass ich wieder Kontakt zu meinem Bruder hab, ob's ihm und Mama nun passt oder nicht", sagt er und klingt dabei so grimmig und entschieden, dass ich ihn zugegebenermaßen ein bisschen dafür bewundere. Leicht wird das ganz bestimmt nicht, aber wenn ich mir Rubens entschlossenes Gesicht so ansehe, dann bin ich mir sicher, dass er das irgendwie schafft. Ich drücke ihm jedenfalls alle Daumen dafür – und Simon auch. Für ihn ist es schließlich auch nicht leicht, seinen kleinen Bruder nicht sehen zu dürfen.
 

Während Ruben ins Bad verschwindet, schnappe ich mir mein Handy und speichere mit klopfendem Herzen die Nummer, die mich zuletzt angerufen hat, unter Simon ein. Danach muss ich mich fast schon zwingen, das Handy wieder beiseite zu legen und es nicht seufzend an mich zu drücken. Allerdings erwischt Ruben mich trotzdem noch dabei und grinst mich breit an.
 

"Wenn ich nach Deinem verträumten Lächeln gehen kann, dann war die Anrufaktion ja wohl ein voller Erfolg", stellt er überaus zufrieden fest und wirft sich mit Anlauf ins Bett, so dass das Holz bedenklich knarrt und quietscht. Ich lösche schnell und peinlich berührt das Licht, was Ruben zum Kichern bringt. "Das muss Dir nicht peinlich sein", sagt er, sobald er sich wieder beruhigt hat, und ich kann am Rascheln seiner Decke hören, dass er sich eine bequeme Position zum Liegen sucht. Dabei rutscht er wie gestern schon immer näher an mich heran, bis er sich schließlich wieder wie letzte Nacht an mich kuschelt.
 

"Ist doch normal, dass Du Dich freust", fährt er fort und ich kann sein Grinsen förmlich vor mir sehen. "Und ich sag Dir, Simon mag Dich auch. Er würde Dich bestimmt nicht abholen, wenn's nicht so wäre. Dinge, die er nicht tun will, tut er nämlich nicht. Hat er schon früher nicht gemacht. Und er macht das auch nicht nur meinetwegen. Er mag Dich, Jan. Ganz bestimmt", nuschelt er weiter und ich bin froh über die Dunkelheit im Zimmer, die verhindert, dass Ruben das Glühen meines Gesichts sehen kann.
 

Meinen viel zu schnellen Herzschlag kann ich im Gegensatz dazu allerdings nicht verbergen, aber darauf geht Ruben zu meinem Glück nicht ein. Er seufzt einfach nur zufrieden und ich hoffe, dass er es dabei bewenden lässt, aber das tut er nicht. Stattdessen richtet er sich noch mal halb auf und ich bin mir sicher, dass er im Dunkeln mein Gesicht zu erkennen versucht.
 

"Weißt Du, Jan", murmelt er und ich schlucke schwer, ohne zu wissen, warum ich das eigentlich tue, "wir kriegen Simon schon dazu, sich auch in Dich zu verlieben. Überlass das nur mir. Ich schaff das, wirst schon sehen", verspricht er, legt sich wieder hin und bettet seinen Kopf auf meiner Schulter. Kaum zwei Minuten später zeigen seine regelmäßigen Atemzüge, dass er schon eingeschlafen ist.
 

Ich hingegen liege wie gestern Nacht wach, starre mit klopfendem Herzen an die Zimmerdecke und weiß nicht, was ich von dieser Situation und Rubens Worten halten soll. Ich sollte mir wohl keine allzu großen Hoffnungen machen, aber ich kann nicht leugnen, dass ein Teil von mir sich mehr als alles andere wünscht, dass Ruben es tatsächlich schafft, sein Versprechen wahr zu machen. Wenn ihm das wirklich gelänge, wäre ich der glücklichste Mensch der Welt.
 

~*~
 

Na, wer von euch hat damit gerechnet, dass Janni Ruben alles erzählt?

*kicher*

Irgendwie macht der Kleine immer, was er will und nicht das, was er soll. Eigentlich sollte das ganz anders laufen (Ruben sollte es durch Beobachtungen selbst rauskriegen), aber erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Aber ich mag's. Und besonders mag ich die Szene, in der Janni gesteht, dass er eifersüchtig auf Slim ist. Jaja, wie war das noch gleich? 'Wenn das jemals jemand rausfindet, sterbe ich vor Scham?' Tja, Janni, Fail.

XD
 

Ich hoffe, es hat euch gefallen. Ich werd mich jetzt mal beeilen, Kapitel Zwölf zu beenden, damit ich endlich das Kapitel anfangen kann, dem ich schon seit dem Beginn dieser Story entgegenfiebere.

*Aschra zuzwinker*

*wink*
 

Bis zum nächsten Mal!
 

Karma

Von Schlössern, seltsamen Anwandlungen alter Bekannter und Heimfahrten

Ja, ich weiß, der Titel ist scheiße, aber ich hab doch mal wieder erst auf den letzten Drücker gemerkt, dass meine liebe Schwarzfeder heute Geburtstag hat. Aus diesem Grund gibt's das neue Kapitel heute schon, schön mit Schleifchen drumrum und Widmung und allem Pipapo.

^_____^
 

Also, Schwarzfeder, ich hoffe, Du magst das Kapitel. Das, was Du letztes Jahr gekriegt hast, hatte zwar wesentlich mehr "Action" (*hust*JojoundAdrian*hust*(, aber ich hoffe, ich kann Dir auch mit einem kleinen bisschen Janni eine Freude machen. Fühl Dich mal ganz feste gedrückt, ja?

*knuddel*
 

@Yumika: Uh, so viel zu Beantworten und so wenig Zeit. Wo soll ich nur anfangen?

*Haare rauf*

Nyan, ich mach's einfach mal kurz und schmerzlos, weil ich ja gleich noch die Benachrichtigungs-ENS tippseln muss, mit denen ich beim letzten Mal geschludert hab.

Janni ist halt der Typ, der seine Mimik nicht besonders gut im Griff hat. Wenn ihn was beschäftigt, sieht man ihm das auch an. Aber irgendwie mag ich das an ihm, auch wenn er selbst deshalb immer fast verzweifelt.

*Janni puschel*

Jassi hab ich persönlich auch unheimlich gern. Er sollte eigentlich gar nicht anrufen, aber meine Charas machen ja immer, was sie wollen. Und so gefällt's mir auch besser. Immerhin braucht Janni ja jemanden, der ihn mal ein bisschen bestärkt und aufbaut. Und wer wär da besser geeignet als der beste Freund?

Und Rubens Handy-Aktion ...

*kicher*

Jaja, der Kleine ist schon ziemlich durchtrieben. Aber er will Jan ja nur helfen. Und diesbezüglich hat er auch schon einen ganz bestimmten Plan. Inwieweit der sich allerdings wirklich umsetzen lässt ... Na ja, lass Dich überraschen. Das kommt wahrscheinlich entweder in Kapitel 14 oder 15 zum Tragen. Je nachdem, ob ich wieder splitten muss oder nicht.
 

@Inan: Hm ... Also eine Deiner Spekulationen ist ziemlich nah an dem dran, was in meinem Hirn so vor sich geht. Welche das allerdings ist, verrate ich nicht. Wirst Du ja so nach und nach erfahren.

^.~
 

@Aschra: Der Hibbelfloh wird noch viel besser.

*grins*

Das mit dem Handy war nur der Anfang. Der Kleine hat Pläne, das glaubst Du nicht.

*kicher*

*mehr absichtlich noch nicht verrat*
 

@7Nine: Glaub es oder nicht, aber ich wollte Janni auch schütteln. Der Kleine hat echt schon Minus-Selbstvertrauen.

>.<

Aber das wird sich auch legen ... irgendwann ...

Und zu dem Gespräch: Genau so sollte es auch kommen.

*kicher*

Es sollte anfangs etwas verwirrend sein. Janni redet ja gerne mal etwas wirr daher und macht sich damit nur selbst zum Deppen, weil ihn trotzdem jeder sofort durchschaut. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich das an ihm mag.

*Janni plattknuddel*
 

Nyan, was soll ich zu diesem Kapitel sagen? Es passiert viel und doch eigentlich kaum etwas.

o.O

Eigentlich ist das auch nur ein Teil dessen, was ursprünglich als Kapitel 12 geplant war. Aber da es mich mal wieder geritten hat und ich irgendwann die 11.000-Wörter-Grenze überschritten hab, hab ich's doch lieber aufgesplittet. Sonst wär das echt zu viel geworden. Ich hoffe, ihr seht mir aus diesem Grund den doch ziemlich fiesen Cliffi am Ende nach.

>.<

Ach, und bevor ich's vergesse: Ich liebe Herrn Schierling.

^____^
 

Und jetzt genug gelabert. Viel Spaß!
 

Karma
 

~*~
 

Der Freitagmorgen beginnt für mich nicht ganz so schlimm wie der Donnerstag. Ich bin zwar wieder wesentlich später eingepennt als Ruben, aber im Gegensatz zur letzten Nacht habe ich wenigstens ein paar Stunden ungestört schlafen können. Außerdem werde ich heute auch nicht von dem blöden SpongeBob-Wecker aus meinen Träumen gerissen, sondern von Ruben, der mich wachrüttelt und mir, sobald ich meine Augen aufschlage, auch schon sein Handy vor die Nase hält.
 

"Eine Guten-Morgen-SMS von Christie", teilt er mir fröhlich mit und ich blinzele ein paar Mal, bis sich mein Blickfeld so weit geklärt hat, dass ich die Zeilen entziffern kann. ››Morgen, mein Sonnenscheinchen!‹‹, steht da und ich muss unwillkürlich schmunzeln, weil mich das an Jassis "Kleiner" erinnert, mit dem er mich immer begrüßt. ››Gut geschlafen? Hoffe, ihr habt einen schönen Tag. Komm Dich nachher abholen. Gruß an euch beide, auch von den Anderen. HDL & MYM‹‹, schreibt Christie weiter und als ich Ruben das Handy zurückgebe, strahlt er mich an.
 

"Weißt Du, was das heißt?", fragt er mich und grinst wie ein Honigkuchenpferd, als ich den Kopf schüttele. "Wenn Christie schreibt, dass er mich abholt, dann heißt das, dass meine Eltern nicht kommen können und deshalb Christies Eltern gebeten haben, für sie einzuspringen. Und das wiederum bedeutet, dass es keinen Ärger wegen Simon gibt. Andi und Babsi petzen nämlich nicht. Klasse, oder?", freut Ruben sich und ich muss unwillkürlich auch lächeln.
 

"Das ist ja super!" Und das ist mein voller Ernst. Für Simon ist es nämlich sicher auch angenehmer, wenn er nicht unbedingt auf seinen Vater trifft. Immerhin ist das Verhältnis der beiden ja – verständlicherweise, wie ich finde – ziemlich mies und er ist jedes Mal schlecht drauf, wenn die Rede auf seinen Vater kommt. Ich will mir lieber gar nicht vorstellen, wie es für ihn sein muss, diesen Mann persönlich zu treffen.
 

"Find ich auch." Ruben wirkt vollkommen zufrieden, packt meine Hand und zerrt mich enthusiastisch aus dem Bett. "Los, ab ins Bad mit Dir!", kommandiert er fröhlich und ich lasse mich von seiner guten Laune anstecken. Kichernd und herumalbernd machen wir uns fertig und gehen dann gemeinsam zum Speisesaal, um zu frühstücken.
 

Heute bin ich aufmerksamer als gestern – schließlich will ich nicht, dass Ruben immer meinen Beschützer spielen muss, nur weil ich nicht mitkriege, was um mich herum passiert –, und stelle zu meinem Erstaunen fest, dass Malte gar nicht bei Kevin und Carsten sitzt. Nein, er hockt alleine an einem Tisch ziemlich weit weg von seinen Idiotenfreunden und starrt missmutig in seine Tasse. Ein bisschen wundere ich mich ja schon darüber, aber ich bin nicht lebensmüde genug, um einen der Drei darauf anzusprechen – egal, wie irritierend ich die seltsamen Blicke auch finde, die Kevin und Carsten Malte immer wieder zuwerfen. Unauffällig ist was anderes, aber dafür sind die anscheinend echt zu dumm.
 

Ruben entgeht die ganze Aktion natürlich auch nicht, aber erst als wir es uns mit unserem Frühstück am gleichen Tisch wie gestern bequem gemacht haben, tippt er mich an und nickt dann in Richtung Malte. "Scheint, als gäb's Ärger im Paradies", vermutet er und ich kann nur zustimmend nicken. "Sieht so aus" Irgendwie würde ich ja schon gerne wissen, warum das Deppentrio plötzlich so offensichtlich Streit hat, aber da ich weiß, dass zu viel Neugier ungesund ist, beschließe ich, mich lieber um meine Angelegenheiten zu kümmern. Die drei Vollhonks raufen sich schon wieder zusammen. Und wenn sie das tun und ich habe vorher auch nur den Anschein erweckt, mich in irgendwas einmischen zu wollen, dann wird mir das schlecht bekommen, das weiß ich.
 

Ruben ist allerdings weit weniger zurückhaltend als ich. Nachdem er sein Frühstück verdrückt hat und Malte Anstalten macht, gehen zu wollen, steht er auch auf, verfolgt Malte und holt ihn schließlich kurz vor der Tür des Speisesaals ein. Was genau Ruben ihn fragt, kann ich nicht verstehen, aber Maltes Antwort – "Das geht Dich einen feuchten Scheiß an, also verpiss Dich und lass mich in Ruhe!" – ist dafür laut und deutlich.
 

"Da ist jemandem aber ne fette Laus über die Leber getrampelt", murmelt Ruben, sobald er sich wieder zu mir gesellt hat, aber ich zucke nur mit den Schultern. "Scheint so", nuschele ich dabei. Was sollte ich auch sonst dazu sagen? Gerade einem von uns wird Malte ja wohl kaum auf die Nase binden, was mit ihm los ist. Das wär ungefähr so, als würde ich zu Kevin rennen, um ihm von meinen Problemen zu erzählen – ein absolutes No-Go also.
 

"Komisch ist es trotzdem", beharrt Ruben und zieht nachdenklich die Stirn kraus. Lange kann er sich allerdings nicht mehr mit Maltes seltsamem Verhalten befassen, denn Frau Römer räuspert sich vernehmlich und teilt uns dann mit, dass wir in spätestens zwanzig Minuten alle am Bus sein sollen, damit wir auch wirklich pünktlich abfahren können.
 

"Stimmt ja, sie hatte ja gestern was von einer Schlossbesichtigung gefaselt", erinnert Ruben sich und ich beschränke mich darauf, einfach nur zu nicken. Was wir bis zur Heimfahrt noch machen, ist mir eigentlich relativ egal. Wenn's nach mir ginge, könnten wir auch jetzt gleich nach Hause fahren. Aber da Simon sicher noch arbeitet – wahrscheinlich hat er gerade erst angefangen oder so, es ist schließlich erst kurz vor halb neun –, ist es dafür wohl noch zu früh. Abholen kann er mich schließlich erst, wenn er Feierabend hat. Dreck, dass das noch eine halbe Ewigkeit dauert.
 

Lange kann ich mich darüber allerdings nicht ärgern, denn sobald ich auch noch den Rest meines Frühstücks vertilgt hab, werde ich auch schon gepackt und zurück zu unserem Zimmer geschleift. Gemeinsam holen Ruben und ich unsere Jacken und Handys, beschließen aber einhellig, auf Schreibzeug zu verzichten. Immerhin war ja nie die Rede von irgendwelchen Aufgaben, die wir heute erfüllen müssen, also warum sollten wir unnötigen Ballast mit uns rumschleppen? Das Einzige, was Ruben noch in den Taschen seiner Jacke verschwinden lässt, ist eine Packung Kekse, "damit wir unterwegs nicht verhungern müssen".
 

Pünktlich um Viertel vor neun stehen wir draußen vor dem Bus, wo Herr Schierling und Frau Römer schon warten. Zu meiner Verwunderung ist auch Malte schon da, aber er reißt nicht wie sonst einen blöden Spruch, als Ruben und ich ankommen. Er sieht uns nur ganz kurz an, presst dann die Lippen zusammen und dreht sich von uns weg. Dabei schweigt er geradezu verbissen und ein Blick in Rubens Gesicht zeigt mir, dass er das genauso seltsam findet wie ich. Allerdings scheint er nach der Konfrontation von vorhin keine Lust auf ein weiteres Gespräch mit Malte zu haben, denn er wendet sich stattdessen Herrn Schierling zu und fängt an, ihn über dieses Schloss, das wir gleich besichtigen wollen, auszufragen.
 

Ich stelle mich zu den beiden, achte aber nicht wirklich auf das Gespräch, sondern versinke in meinen eigenen Gedanken, aus denen ich erst aufschrecke, als der Rest unserer Klasse auch eintrudelt und die Bustüren geöffnet werden. Sofort quetschen sich alle rein, als ob es irgendeinen Preis für die oder den Ersten gäbe. Ruben und ich warten das Gedränge ab und steigen erst ganz zum Schluss ein. Zum Glück ist unser "Stammplatz" auch dieses Mal wieder frei, aber das wundert mich nicht. Wer sitzt denn auch schon gerne in Reichweite der Lehrer? Außer uns tut sich das keiner freiwillig an, aber das ist auch gut so. So haben wir wenigstens unsere Ruhe und können die blöden Sprüche, die von irgendwo hinter uns kommen, einfach ignorieren.
 

Während der Fahrt tippe ich eine kurze SMS an Jassi, in der ich ihm mitteile, dass Simon mich nachher abholen wird, weil Vicky ihn dazu überredet hat. Gleichzeitig erinnere ich ihn daran, dass er mir noch wegen Sina und Samstag Bescheid sagen wollte. Das hat er nämlich gestern nicht mehr gemacht. Wahrscheinlich war er nach Feierabend einfach zu müde dafür.
 

Sobald ich die Nachricht abgeschickt hab, trete ich mich mental selbst dafür in den Arsch, dass ich meinen besten Freund bei der Arbeit mit so einem Müll belästige, mache mich in meinem Sitz so klein wie möglich und stelle den Vibrationsalarm ein. Ein kurzer Seitenblick zu Ruben zeigt mir, dass er auch fleissig tippt. Er hat die Zunge zwischen die Lippen geschoben und hackt so enthusiastisch auf die Tasten seines Handys ein, dass ich unwillkürlich grinsen muss.
 

Doch, stelle ich wieder einmal fest, ich bin froh, dass er jetzt in meiner Klasse ist. Ohne ihn wäre dieser blöde Ausflug sicher eine totale Katastrophe geworden, aber so ist er bis jetzt gar nicht so schlimm. Mit Ruben ist es eben einfach lustig. Und dass ich zusätzlich noch so viel über Simon erfahren habe, macht die ganze Sache nur noch viel besser.
 

Beim Gedanken an Simon werde ich unweigerlich wieder rot und rutsche noch ein Stück tiefer in meinen Sitz, um mein glühendes Gesicht in meinem Pulli verstecken zu können. Ich will einfach nicht, dass mir irgendjemand meine Gedanken ansieht. Gut, das ist wohl auch sehr unwahrscheinlich, weil ja schließlich niemand in meinen Kopf reinkucken kann, aber hier geht's ums Prinzip. Es wär einfach zu peinlich, wenn irgendwer mir anmerken würde, warum ich jetzt gerade so rot bin.
 

"Kuck mal, das sind meine Freunde." Ruben stößt mir seinen Ellbogen in die Rippen und lenkt so meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Sobald er sicher ist, dass ich ihm zuhöre, zeigt er mir ein paar Fotos, die er auf seinem Handy gespeichert hat und die insgesamt fünf Jungs und ein Mädchen zeigen, Ruben und Christie eingeschlossen.
 

Bei jedem Bild erklärt er mir, wer darauf zu sehen ist und wie, wann und wo es entstanden ist. Zu jedem Foto fällt ihm eine witzige oder auch peinliche Geschichte ein und so vergeht die restliche Fahrt damit, dass ich Rubens Freunde praktisch aus zweiter Hand schon mal kennen lerne. Nach einer Weile schwirrt mir ein bisschen der Kopf, aber ich höre trotzdem weiter zu und beobachte, wir Ruben lebhaft gestikuliert oder die Stimme verstellt, wenn er einen seiner Freunde nachahmt.
 

"Da, das sind Christie und Marie-Claire", erzählt er mir schließlich irgendwann und grinst, als ich wegen des Bildes, das er mir zeigt, rot anlaufe. "Da hab ich sie heimlich beim Knutschen erwischt", kichert Ruben und meine Gesichtsfarbe wird noch dunkler. "Die beiden waren ein echt schönes Paar, aber das hat leider nur zwei Wochen gehalten. Danach haben sie sich wieder getrennt, weil's doch nicht gepasst hat. Aber zum Glück hat das ihrer Freundschaft nicht geschadet. Nur Maurice war etwas sauer deswegen – er hat nen fetten Schwesterkomplex und glaubt immer, er müsste auf Marie-Claire aufpassen –, aber als MC ihm erklärt hat, dass Christie ihr nichts getan hat und dass die Trennung von ihr ausging, hat er sich auch wieder eingekriegt", werde ich weiter informiert und Ruben sucht ein Weilchen, bis er ein anderes Bild von seinem besten Freund und dessen Exfreundin gefunden hat – ein Bild, auf dem die beiden einfach nur Hand in Hand nebeneinander stehen und in die Kamera lächeln. Diese Marie-Claire ist mit ihren dunklen Haaren, den grünen Augen und dem strahlenden Lächeln wirklich ein hübsches Mädchen und irgendwie finde ich, Christie und sie haben gut zusammengepasst.
 

"Und warum hat sie Schluss gemacht?", will ich neugierig wissen und Ruben zieht nachdenklich die Stirn kraus. "MC sagte was davon, dass die Gefühle bei Christie und bei ihr nicht tief genug für eine Beziehung gewesen wären. Christie hat dazu gar nichts gesagt. Er spricht generell nicht gerne darüber. Am Anfang dachte ich, er würde sie vielleicht immer noch lieben, aber das ist es nicht. Trotzdem scheint ihm das Thema Marie-Claire und ihre Beziehung irgendwie peinlich zu sein. Immer wenn ich davon anfange, wird er rot und sagt entweder gar nichts mehr oder wechselt ganz schnell das Thema", antwortet er und ich blinzele irritiert, tue das Ganze dann jedoch mit einem mentalen Achselzucken ab. Eigentlich geht es mich ja auch gar nichts an, warum Christie und seine Exfreundin nicht mehr zusammen sind. Immerhin kenne ich das Mädchen ja nicht mal und auch ihn hab ich bisher nur am Montag kurz getroffen.
 

"Irgendwie ist es schade, dass sie nicht mehr zusammen sind. MC hat Christie gut getan. Die beiden waren ein schönes Paar. Das fanden wir alle. Sogar Maurice war mit Christie als Schwager in spe einverstanden." Ruben seufzt leise, ehe er sein Handy wieder einsteckt. "Aber da ist wohl nichts zu machen. Trotzdem wär's schön, wenn Christie jemanden hätte, der ihn liebt. Er hat das echt verdient, so lieb, wie er immer ist. Aber verkuppeln lässt er sich nicht. Er sagt immer, er hätte ja Zeit und könnte warten, bis er jemanden kennen lernt und sich verliebt."
 

Wirklich begeistert scheint Ruben von dieser Einstellung nicht zu sein, aber zu meinem Glück enthebt mich das Bremsen des Busses einer Antwort. Ohne auf die angenervten Kommentare zu achten, die sofort einsetzen, als unsere "tollen" Klassenkameraden das Ziel unseres Ausflugs vor sich sehen, steht Frau Römer auf und nimmt das Mikrofon, das der Busfahrer ihr reicht.
 

"So, da wären wir also", macht sie uns auf das Offensichtliche aufmerksam, nachdem wenigstens ein bisschen Ruhe eingekehrt ist, und ich kann mir ein genervtes Augenrollen nicht verkneifen. Manchmal frage ich mich, ob sie sich dessen bewusst ist, dass sie es mit einer Klasse Fünfzehn- und Sechzehnjähriger und nicht mit Kleinkindern zu tun hat. Wenn ich mir allerdings das affige Verhalten einiger meiner werten Mitschüler – allen voran Kevin, Carsten und Malte – so ansehe, dann kann ich sie fast schon verstehen. Bei diesen ganzen Trotteln muss sie sich ja vorkommen wie im Kindergarten und nicht wie in der Abschlussklasse der Realschule.
 

"Wenn ihr jetzt gleich aussteigt, bleibt bitte zusammen. Wir werden vorne am Tor abgeholt und machen gemeinsam die Führung mit. Dass mir keiner von euch verloren geht oder sich verläuft!" Nach dieser Ermahnung, die wieder von kollektivem Murren beantwortet wird, öffnen sich die Bustüren und wir werden in die Oktoberkälte entlassen. Wie gehabt steigen Ruben und ich zuletzt aus und bleiben vorsorglich in Herrn Schierlings Nähe. Ich krame in meinen Jackentaschen nach meinen Handschuhen – es ist echt eisig hier auf diesem komischen Hügel, auf dem dieses Schloss steht –, während Ruben das Gemäuer vor uns mit offenem Mund anstaunt.
 

"Krasses Teil!", befindet er schließlich und nachdem ich mich erfolgreich in meine Handschuhe gekämpft hab, folge ich seinem Blick und nicke zustimmend. Dieses Schloss hat wirklich gigantische Ausmaße. Irgendwie finde ich die Vorstellung, hier von oben bis unten durchrennen zu müssen, nicht besonders prickelnd. Vor allem vor diesen Türmen und der Mauer graut es mir jetzt schon. Da kriegen mich keine zehn Pferde rauf. Nie im Leben.
 

"Das würde meinem Bruder gefallen. Der steht auf alte Burgen und solches Zeug", kommt es von neben mir und in der nächsten Sekunde ertappe ich mich selbst dabei, mir vorzustellen, dass Simon jetzt hier wäre. Allein bei dem Gedanken an sein Lächeln, mit dem er mich zu dieser Turmkletterpartie überredet hat, wird mir ganz anders und ich kann fühlen, wie ich mal wieder rot anlaufe.
 

Wahrscheinlich, schießt es mir durch den Kopf, würde er mich auch hier dazu überreden können, mir die Aussicht von irgendwo da oben anzukucken. So peinlich und kitschig und blöd das auch sein mag, aber wenn Simon bei mir ist, fühle ich mich sicher – und das, obwohl er mich gleichzeitig auch total verunsichert. Verrückte Welt, echt. Irgendwann wird mich dieses verdammte Gefühlschaos noch umbringen, wenn das so weitergeht.
 

"Ich muss auf jeden Fall ein paar Fotos machen und ihm die schicken." Ruben stößt mir seinen Ellbogen in die Rippen und grinst, als ich ihn ansehe. "Oder Du machst das. Seine Nummer hast Du jetzt ja schließlich", schiebt er hinterher und ich werde noch röter. Allerdings komme ich nicht mehr dazu, einen total peinlichen Widerspruch zu stammeln, weil just in diesem Moment unser Führer auftaucht und sich mit absolut übertriebener Geste vor Frau Römer verbeugt. Sie ist davon offenbar ebenso angetan wie von dem reichlich seltsamen Outfit, das dieser Kerl trägt. Ich höre sie irgendwas von wegen "Gewandung" und "ja sooo authentisch" faseln und kann mir ein Schnauben nicht verkneifen.
 

"Wenn Simon das macht, sieht das viel eleganter aus, nicht so affig wie bei dem da", befinde ich und Ruben neben mir fängt an zu kichern. "Dich hat's ja echt voll erwischt!", teilt er Jassis Meinung von gestern und zerrt mich mit sich hinter den Anderen her, ohne auf meinen Protest einzugehen oder mein knallrotes Gesicht eines Kommentars zu würdigen.
 

Die nächste gefühlte Ewigkeit – vielleicht sind es auch nur zwei oder drei Stunden, was weiß ich? – verbringen wir damit, uns jeden einzelnen Raum in diesem Schloss anzusehen und uns irgendwelche Namen und Daten anzuhören, die ich gleich wieder vergesse. Ich finde das Ganze nicht wirklich spannend, schieße aber trotzdem fleißig Fotos von den Räumlichkeiten und allem, was sonst noch wenigstens einigermaßen interessant aussieht. Dass ich die hauptsächlich mache, um Simon damit eine Freude zu machen, versuche ich dabei nach Möglichkeit ebenso zu ignorieren wie den Streit, der irgendwann unter meinen Klassenkameraden ausbricht. Erst als Malte Carsten mit voller Wucht gegen eine der Wände schubst, hebe ich den Kopf. Malte sieht verdammt sauer aus und ich frage mich wie schon beim Frühstück, was heute eigentlich mit ihm los ist. So hab ich ihn noch nie gesehen – jedenfalls nicht gegenüber seinen ach so tollen Freunden. Da muss ja echt was Ernstes im Busch sein, wenn die sich sogar fast prügeln.
 

Die sich anbahnende Schlägerei wird allerdings von Frau Römer unterbunden, ehe es Verletzte gibt. Sie geht dazwischen, trennt die beiden Streithähne und schickt Malte nach einer kurzen Diskussion zu Herrn Schierling und damit auch zu Ruben und mir. Die Hände zu Fäusten geballt kommt Malte der Aufforderung nach, würdigt uns beide allerdings keines Blickes, sondern starrt stur geradeaus. Es ist nicht zu übersehen, wie geladen er ist. Ich ziehe unwillkürlich den Kopf ein und selbst Ruben verkneift sich sicherheitshalber einen Kommentar.
 

Zu viert am Ende der Schlange unserer Klassenkameraden setzen wir die Führung fort. Irgendwann geht es nach unten in den Keller, wo die Verliese liegen. Dabei macht Ruben sich einen Spaß daraus, mich in eine Tomate zu verwandeln, indem er mir erzählt, was man mit Ketten und ähnlichem so alles anfangen kann und wie sehr gerade das Simon gefällt. Mir ist das Ganze furchtbar peinlich und ich bin froh, als wir den Keller endlich wieder verlassen. Über solche Dinge will ich wirklich ganz und gar nicht nachdenken. Nein, danke.
 

Kaum aus dem Keller raus, kündigt unser glorreicher Führer an, dass wir jetzt nach oben kraxeln werden, um uns die Türme anzusehen und den "wirklich atemberaubenden" Panoramablick von der Mauer zu genießen. Ehe wir allerdings die Treppe nach oben erreichen, bleibe ich stehen und halte auch Herrn Schierling auf. "Ich ... ich geh nicht mit nach oben", informiere ich ihn und schlucke, als mich nicht nur zwei, sondern drei Augenpaare überrascht ansehen. Malte blickt allerdings gleich wieder weg und ich bin froh darüber. Das hier ist auch so schon peinlich genug.
 

"Und wieso nicht?", erkundigt Herr Schierling sich und ich zupfe verlegen an meinen Handschuhen herum. "Ich hab Höhenangst", gebe ich dann beschämt zu und hoffe, dass ich leise genug gesprochen hab, damit Malte mich nicht gehört hat. Irgendwann wird er sich schließlich wieder mit Kevin und Carsten vertragen und ich kann wirklich gut darauf verzichten, dass er den Beiden dann meine größte Schwachstelle verrät. Das ahnen sie zwar eh schon, aber ahnen ist ja nicht gleich wissen.
 

"Oh. Dann ist es wirklich besser, wenn Du hier unten bleibst", murmelt Herr Schierling und Ruben nickt heftig. "Auf jeden Fall!", stimmt er zu und beschließt dann: "Ich bleib auch hier!", woraufhin Herr Schierling und ich gleichzeitig den Kopf schütteln. "Du kannst ruhig mitgehen, Ruben", sagt er und ich nicke. "Genau. Das wär sogar gut. Dann kannst Du noch ein paar Fotos machen. Für ... für Simon." Damit drücke ich Ruben mein Handy in die Hand und versuche zu lächeln, obwohl mein Gesicht schon wieder glüht.
 

Ruben sieht mich kurz an, dann nimmt er das Handy entgegen und nickt. "Okay, mach ich", verspricht er und zwinkert mir kurz zu, ehe er mich noch einmal drückt und dann dem Rest unserer Klasse hinterher stürmt. Zurück bleiben Herr Schierling und ich – und Malte, der auf Nachfragen seitens Herrn Schierling, warum er nicht auch nach oben geht, keine Antwort gibt. Herr Schierling nimmt das mit einem Achselzucken zur Kenntnis und sieht uns dann abwechselnd fragend an.
 

"Kann ich euch beide für ein paar Minuten hier unten alleine lassen?", fragt er hauptsächlich in Maltes Richtung – er weiß schließlich, dass Kevin, Carsten und Malte mich immer gerne hänseln und ärgern –, bekommt aber nur ein undeutliches Brummen zurück, das alles und nichts bedeuten kann. Ich traue dem Braten jedenfalls nicht so ganz, aber für Herrn Schierling scheint es zu genügen, denn er nickt uns noch mal kurz zu und geht dann ebenfalls nach oben zu den Anderen.
 

Mir ist es nicht wirklich geheuer, mit Malte allein zu sein, deshalb beschließe ich nach kurzem Nachdenken, nach draußen in den Schlossinnenhof zu gehen. Ich werde den Rückweg schon finden und auch sicher früh genug wieder zurück sein, damit Frau Römer und Herr Schierling nicht merken, dass ich mich heimlich ein bisschen abgesetzt habe.
 

Kaum dass ich den ersten Schritt nach draußen gemacht hab, weht mir der kalte Wind auch schon ein paar Blätter ins Gesicht und ich kneife die Augen zu, um mich erst einmal zu orientieren. Mein Blick fällt auf die Schlosskapelle, die auf der anderen Seite des Innenhofes liegt, und ich beschließe in Ermangelung einer besseren Alternative, sie mir einfach mal anzusehen. Da drin ist es bestimmt warm und außerdem ist da auch kein Malte, also kein Problem.
 

Die schwere Holztür der Kapelle aufzuziehen erfordert einiges an Kraft und ich muss mich wirklich anstrengen, um sie überhaupt zu bewegen. Schlussendlich gelingt es mir aber doch und ich trete etwas zögerlich in das schummrige Halbdunkel, das nur von wenigen Kerzen und dem bisschen Licht, das durch die bunten Glasfenster hereinfällt, erhellt wird. Kaum dass die Tür hinter mir wieder zugefallen ist, ist es vollkommen still um mich herum und der hier herrschende Weihrauchduft weckt ein paar alte, halbverschüttete Erinnerungen, die ich gleich wieder verdränge. An Kirchenbesuche mit meiner ganzen Familie – vor über zehn Jahren, als ich noch eine intakte Familie hatte – will ich wirklich nicht denken. Nicht jetzt und auch sonst nicht.
 

Gemächlich schlendere ich durch die wenigen Bankreihen, streiche mit den Fingern über das dunkle Holz und sehe mich um. Dabei bin ich so in meine Gedanken verstrickt, dass ich mich halb zu Tode erschrecke, als sich urplötzlich eine Hand auf meine Schulter legt. Ich erwarte beinahe, dass einer der tollen Führer hinter mir steht und mich zusammenscheißt, weil ich hier nichts verloren habe, aber als ich mich umblicke, finde ich mich stattdessen Malte gegenüber.
 

Sobald ich ihn ansehe, lässt er mich sofort wieder los und räuspert sich leise, aber in der Stille hier klingt dieses Geräusch so überlaut, dass ich unwillkürlich zusammenzucke. Ich bin total verwirrt – und habe zugegebenermaßen auch etwas Schiss; immerhin ist hier gerade niemand außer ihm und mir –, aber ehe ich fragen kann, was er hier will, beginnt er auch schon zu sprechen.
 

"Du hast Höhenangst?", erkundigt er sich und ich kann ein weiteres Zusammenzucken nicht verhindern. Scheiße, er hat es vorhin doch gehört! Na toll, ich bin also gearscht. Wenn Malte das weiß, dann werden Kevin und Carsten es auch wissen, sobald die Drei sich wieder vertragen haben. Super, wirklich. Warum muss so eine Scheiße eigentlich immer nur mir passieren? Das ist nicht fair, verdammt!
 

Offenbar interpretiert Malte mein Zusammenzucken und mein Schweigen als Ja, denn er fährt sich durch seine braunen Haare und seufzt abgrundtief. "Das wusste ich nicht. Echt nicht. Ich ... Ach, Scheiße!", flucht er dann und ich mache unwillkürlich zwei Schritte rückwärts, bis ich an eine der Holzbänke stoße. Ich habe keine Ahnung, was er jetzt eigentlich von mir will. Im Moment kann ich ihn absolut nicht einschätzen. So habe ich ihn noch nie erlebt. Bisher kannte ich ihn eigentlich nur im Dreierpack mit seinen beiden Idiotenfreunden und bei denen geht's schließlich nicht ohne Beleidigungen in meine Richtung. Das hat ja schon an meinem allerersten Schultag in der neuen Klasse angefangen. Da durfte ich mir gleich die ersten "Nettigkeiten" anhören.
 

"Okay, also ... Es tut mir leid", holt Maltes Stimme mich wieder aus meinen Erinnerungen und mir fällt nur eine Erwiderung ein, um meine momentanen Gedankengänge passend zu artikulieren: "Hä?" Was geht denn jetzt bitteschön hier ab? "Mann, das mit der Brücke neulich! Ich wusste doch nicht, dass Du Höhenangst hast!", werde ich daraufhin angeblafft und meine Augen werden groß. Was ist denn jetzt kaputt? Bin ich vielleicht im falschen Film, ohne das zu merken? Oder bin ich im Bus eingeschlafen und das hier ist ein ganz abgefahrener, unrealistischer Traum? Das kann doch jetzt nicht sein Ernst sein, oder? Der Malte, den ich kenne, würde sich doch nie entschuldigen – jedenfalls nicht bei mir.
 

"Ich ... Na ja, ich wollte nur ... Ist ja auch egal. Tut mir jedenfalls leid, Jan. Wirklich", bekräftigt die wie Malte aussehende Halluzination ihre Entschuldigung noch mal und ich kneife mich unbemerkt, aber an der Situation, in der ich mich befinde, ändert sich dadurch nichts. Ich stehe noch immer in dieser komischen Kapelle und Malte, der ja wohl ganz offensichtlich doch keine Halluzination ist, steht genau vor mir und sieht mich abwartend und irgendwie ... reumütig? ... an.
 

Okay, ich träume also nicht. Und Wahnvorstellungen hab ich auch keine. Das bedeutet dann ja wohl, dass Malte – Malte Arschloch Brenning, einer der treuesten Gefolgsleute von Kevin Oberarsch Döring – sich tatsächlich bei mir entschuldigt hat. Und er hat mich – zum ersten Mal, seit ich ihn kenne, wohlgemerkt – nicht als "Schwuchtel", "Emo-Tunte" oder sonst was bezeichnet, sondern mich tatsächlich mit meinem Namen angesprochen. Ich wusste gar nicht, dass er überhaupt weiß, wie ich heiße.
 

Irgendwie bin ich jetzt total baff und sprachlos. Ich hab keine Ahnung, wie ich darauf reagieren soll. Ich weiß ja nicht mal, ob ich das überhaupt ernst nehmen kann oder nicht. Vielleicht ist das nur ein Trick oder Verarsche, um mich bei der nächstbesten Gelegenheit noch besser fertig machen zu können. Zuzutrauen wär's diesen drei Spasten auf jeden Fall. Andererseits hat Malte sich tatsächlich so angehört, als ob er's wirklich ernst gemeint hätte. Entweder ist er ein verdammt guter Schauspieler oder aber seine Entschuldigung war doch kein Scherz. Irgendwie weiß ich nicht, welche Option ich beunruhigender finde.
 

"Ähm ... Da-Danke", stammele ich wenig geistreich und möchte mich am liebsten selbst dafür treten. Wie komme ich denn bitteschön dazu, mich nach allem, was er und seine Freunde mir angetan haben, bei diesem Vollidioten zu bedanken? Ich muss doch wohl vollkommen bescheuert sein. Das ist doch echt krank. Da versucht dieser Arsch, sich mir gegenüber ein einziges Mal nicht wie der Abschaum zu benehmen, der er zweifelsohne ist – ist er doch, oder? –, und ich Depp falle sofort auf diese blöde Masche herein. Eigentlich, wenn ich es so genau betrachte, sollte ich nicht mich selbst treten, sondern ihn. Ich meine, hallo? Dem geht's doch wohl zu gut! Monatelang machen er und seine Idiotenfreunde mir jeden einzelnen Schultag zur Hölle und dann versucht er plötzlich, mir mit einer simplen, blöden, billigen Entschuldigung zu kommen? Ich glaub, es hackt! Der spinnt doch!
 

Eigentlich möchte ich Malte all das, was mir gerade durch den Kopf geht, gerne vor den Latz knallen, aber als ich den Mund öffne, kommt einfach nichts raus. Ich möchte ihn wirklich anschreien, aber irgendwie bringe ich kein einziges Wort über die Lippen. Aus diesem Grund bin ich auch regelrecht froh, als er sich einfach umdreht und mich ohne einen weiteren Kommentar stehen lässt. Er ist mit zwei langen Schritten an der Tür, drückt sie auf und ist auch schon verschwunden, ehe ich mich so richtig aus meiner Starre gelöst habe. Auf mich wirkt diese Hast beinahe wie eine Flucht, aber diesen Gedanken schüttele ich ganz schnell wieder ab. Wie bescheuert wäre das denn auch bitte, wenn Malte jetzt plötzlich die Flucht ergreifen würde – ausgerechnet vor mir? Das ist doch lächerlich! Der Witz des Jahres, aber echt. Was für ein Schwachsinn!
 

Über mich selbst und meine kruden Gedanken den Kopf schüttelnd tapere ich Malte hinterher zu der Treppe, die der Rest der Klasse vorhin hochgestiegen ist. Allerdings machen Frau Römer, Herr Schierling und die Anderen noch keine Anstalten, zurückzukommen, also setze ich mich irgendwann auf eine der unteren Stufen, weil mir das Stehen zu blöd wird. Malte tut es mir gleich, aber er setzt sich nicht zu mir an die Wand, sondern fläzt sich so auf die Treppe, dass er sich an das Geländer lehnen kann. Dabei vermeidet er es fast schon auffällig, mich anzusehen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glatt vermuten, dass ihm seine Entschuldigung von vorhin irgendwie peinlich ist. Aber das ist doch lächerlich. Ist es doch, oder?
 

Diese ganzen nervigen Fragen und Gedanken und Maltes sonderbares Verhalten gehen mir so dermaßen auf den Keks, dass ich regelrecht froh bin, als es irgendwann oben an der Treppe laut wird. Beinahe hektisch springe ich auf und grinse Ruben an, der als Erster die Stufen heruntergepoltert kommt und mich erst mal fest umarmt, so als hätten wir uns eine halbe Ewigkeit nicht gesehen und nicht nur eine knappe halbe Stunde.
 

"Die Aussicht war echt toll!", teilt er mir mit und drückt mir mit einem überdimensional breiten Grinsen mein Handy in die Hand. "Und ich hab jede Menge Fotos gemacht – genau wie Du wolltest", fährt er fort und hakt sich bei mir ein. "Und was hast Du so getrieben, während wir weg waren? Gab's Ärger?", will er dann wissen und ich werfe einen kurzen Blick zu der Stufe, auf der Malte vorhin gesessen hat, aber von ihm ist nichts mehr zu sehen.
 

"Ich war in der Schlosskapelle", beantworte ich Rubens Frage und grinse schief, als er aufgrund meines Gesichtsausdrucks fragend eine Braue hochzieht. "Und da ... Malte hat sich bei mir entschuldigt. Für die Sache mit der Brücke, die Kevin, Carsten und er sich geleistet haben. Du weißt schon, an dem Abend, als ich Simon kennen gelernt hab." Ich hab ihm davon erzählt, also weiß er, was ich meine. "Irgendwie ist er heute echt komisch", schiebe ich nuschelnd hinterher und Ruben reckt sich ein wenig, um Malte in der Menge unserer Klassenkameraden zu suchen.
 

"Kevin und Carsten sind auch total seltsam. Kein blöder Spruch über Dich oder mich, als wir oben waren. Stattdessen haben sie nur mit Ronja und Jihan die Köpfe zusammengesteckt und gelästert. Dabei ist ein paar Mal der Name Malte gefallen, aber ich konnte leider nicht hören, worum es genau ging. Wenn Du mich fragst, dann hängt bei den Dreien echt der Haussegen schief. Was auch immer Malte ausgefressen hat, es muss was Ernstes gewesen sein", vermutet er und ich kann nur zustimmend nicken.
 

Allerdings will ich nicht mehr unbedingt über das Thema Malte nachdenken, deshalb schleife ich Ruben dieses Mal mit, als Frau Römer uns alle zu sich ruft, um zu verkünden, dass wir jetzt in die Stadt laufen werden, um da alle zusammen essen zu gehen. Danach, informiert sie uns weiter, werden wir mit dem Bus zurück zur Herberge fahren, damit wir uns auf die Heimreise vorbereiten können.
 

Der Marsch zur Stadt, wofür wir den ganzen Schlosshügel runterlatschen müssen, kostet und beinahe eine halbe Stunde und bringt meine vorher schon recht angeschlagenen Füße endgültig um. Zumindest fühle ich mich ziemlich platt, als Frau Römer an einer Pizzeria endlich das Zeichen zum Anhalten gibt. "Hier findet sicher jeder etwas, das ihm schmeckt", sagt sie gut gelaunt und lotst uns dann alle in den Laden hinein.
 

Ruben zerrt mich gleich zu einem der kleineren Tische, an dem nur Platz für vier Personen ist. Der Rest unserer Klasse verteilt sich lärmend und johlend und ich schäme mich ein bisschen dafür, dass ich mit diesen peinlichen Idioten hier bin. Glücklicherweise setzt sich von denen niemand zu uns. Die beiden freien Plätze werden, nachdem alle sich gesetzt haben, von Herrn Schierling und Frau Römer eingenommen. Sie setzt sich auf den freien Stuhl mir gegenüber – Ruben sitzt neben mir – und lächelt Ruben und mich gleichermaßen an.
 

"Und, wie haben euch die letzten beiden Tage gefallen?", will sie wissen und ich erwidere ihr Lächeln, während Ruben gleich wieder sein Honigkuchenpferdgrinsen auspackt. "Also ich fand sie toll!", verkündet er und ich nicke. "Mir haben sie auch gefallen", stimme ich zu und Frau Römers Lächeln vertieft sich. "Das ist schön", freut sie sich und ich weiß, dass sie es ernst meint. Sie ist wirklich froh darüber, dass ihr Sorgenkind – also ich – endlich nicht mehr so ganz alleine dasteht.
 

Gemeinsam mit unseren beiden Lehrern suchen Ruben und ich uns etwas zu essen aus und werden während des Wartens auf unsere Bestellung von Herrn Schierling mit Geschichten aus seiner Schüler- und Studentenzeit unterhalten, über die ich mehr als einmal herzlich lachen muss. Hin und wieder habe ich dabei das Gefühl, beobachtet zu werden, aber wenn ich mich unauffällig umsehe, bemerke ich niemand bestimmten, so dass ich das Gefühl schließlich als Einbildung abtue. Sind wahrscheinlich nur meine Klassenkameraden, die sich darüber wundern, dass ich tatsächlich auch lachen kann. Immerhin hatte ich dazu kaum Grund und noch weniger Gelegenheit, ehe Ruben zu uns gekommen ist. Seit er da ist, ist wirklich alles besser geworden.
 

Nach dem Essen, das zu meiner Überraschung Frau Römer und Herr Schierling bezahlen, ist allgemeiner Aufbruch angesagt. Mehr oder weniger gemeinsam macht sich unsere ganze Klasse auf den Weg in die Richtung, in der laut Frau Römer unser Bus auf uns warten soll. Wie schon während der Führung bilden Ruben und ich zusammen mit Herrn Schierling das Schlusslicht, aber wir sind nicht alleine. Malte schlurft ebenfalls ausgesprochen langsam und fast schon widerwillig hinter uns her, macht aber keine Anstalten, irgendjemanden anzusprechen oder gar zu beleidigen. Er ist vollkommen schweigsam, wirkt aber, wie ich aus dem Augenwinkel sehen kann, ziemlich angespannt und so geladen, dass ich Ruben schnell am Arm fasse und den Kopf schüttele, als er ihn ansprechen will. Ich habe irgendwie das unbestimmte Gefühl, dass Maltes Geduldsfaden heute ganz extrem dünn ist und beim geringsten Anlass schon reißen könnte. Und ich möchte wirklich nicht in der Schusslinie stehen, wenn das passiert. Auf die Erfahrung kann ich verdammt gut verzichten.
 

Malte ist der Letzte, der nach Ruben und mir in den Bus klettert. Während wir es uns schon hinter Herrn Schierling bequem gemacht haben, geht er weiter nach hinten durch und sobald er sitzt, fährt der Bus los in Richtung Herberge. Sobald wir dort angekommen sind – die ganze Fahrt über haben Ruben und ich uns miteinander unterhalten –, verschwinden alle nach einer letzten Ermahnung seitens Frau Römer, dass wir uns doch bitte in spätestens anderthalb Stunden wieder am Bus einfinden sollen, auf ihre Zimmer, um zu packen.
 

Ruben und ich erledigen die ganze Angelegenheit in Arbeitsteilung: Er schleppt das ganze Zeug an, ich lege es zusammen und dann stopft jeder seinen Kram in seine Tasche. Sobald wir damit fertig sind, grinsen wir uns an und beschließen nach einem kurzen Blick auf die Uhr, unser Gepäck schon mal zum Bus zu bringen, obwohl wir nur eine knappe Dreiviertelstunde gebraucht haben.
 

Gemeinsam hieven wir also unsere Taschen zum Parkplatz, wo der Busfahrer sie uns abnimmt und verstaut. Dann klettern wir schon mal in den Bus, wobei ich auf der letzten Stufe wie angewurzelt stehen bleibe, so dass Ruben mit voller Wucht in mich hineinläuft. Dieser Zusammenprall entlockt mir ein leises Ächzen, aber den Stoß in den Rücken nehme ich kaum wahr. Ich bin viel zu baff von dem, was ich vor mir sehe.
 

Auf dem Zweierplatz hinter dem Sitz, auf dem Frau Römer bisher immer gesessen hat, lümmelt Malte. Er hat Stöpsel in den Ohren und seine Augen sind geschlossen, aber mein Zusammenstoß mit Ruben ist so laut, dass er ihn trotzdem hört. Offensichtlich wenig erbaut öffnet er die Augen um zu sehen, wer ihn stört, aber als er uns erkennt, dreht er sich gleich wieder weg und blickt stattdessen aus dem Fenster.
 

Ich bin zugegebenermaßen total irritiert von dieser Situation, aber Ruben fängt sich relativ schnell wieder. "Na, so alleine?", fragt er Malte provozierend, schiebt mich aus dem Weg und reißt sich los, als ich ihn auf seinen Platz ziehen will. Stattdessen baut er sich vor Maltes Sitz auf und rupft diesem mit einem Ruck die Stöpsel aus den Ohren. "Wo sind denn Deine beiden Busenfreunde Kevin und Carsten? Läuft die Dreiecksbeziehung nicht mehr?", bohrt er weiter und ich halte den Atem an, als Malte sich vorbeugt und Ruben aus schmalen Augen ansieht. Einen Moment lang befürchte ich, er will Ruben schlagen, aber er reißt ihm einfach nur mit einer unwirschen Bewegung seine Kopfhörer aus der Hand.
 

"Ich hab keine Freunde mehr", sagt er dann so eisig, dass ich unwillkürlich zusammenzucke. Auch Ruben zuckt zurück, als hätte Malte ihn tatsächlich geschlagen. "Ist Deine Neugier jetzt befriedigt? Gut. Dann kannst Du Dich ja endlich wieder verpissen und mich in Ruhe lassen." Damit schiebt Malte sich die Stöpsel wieder in die Ohren, wendet sich demonstrativ von uns ab und Ruben lässt sich langsam auf den Sitz neben mir sinken.
 

"Irgendwie ist die Temperatur hier drin gerade um mindestens zehn Grad gefallen", nuschelt er und ich nicke zustimmend. Dabei schiele ich aus dem Augenwinkel zu Malte rüber, aber als mir klar wird, was ich da gerade tue, fummele ich schnell mein Handy aus meiner Jackentasche, um den Vibrationsalarm, den ich vorhin für die Führung angemacht hab, wieder auszustellen. Dabei blinkt mir gleich eine SMS entgegen und ich beeile mich, sie zu lesen.
 

"Jassi bringt Sina morgen Abend mit", informiere ich Ruben kurz, während ich schon damit beschäftigt bin, eine Antwort zu tippen und abzuschicken. Danach halte ich das Handy weiter in der Hand, denn meine Finger brauchen jetzt einfach eine Beschäftigung. Allein der Gedanke daran, dass es bald endlich wieder nach Hause geht, macht mich ganz kribbelig und nervös.
 

"Hast Du Simon schon Bescheid gesagt, wann er Dich abholen soll?", erkundigt Ruben sich neugierig und als ich mich halb zu ihm umdrehe, grinst er mich breit an. "Nein, ich hab Jassi geschrieben", antworte ich leise, nachdem ich mich erst mal geräuspert hab. Mein Gesicht ist schon wieder knallrot und Rubens Grinsen wird noch ein ganzes Stück breiter.
 

"Vergiss nur nicht, meinem Bruder zu schreiben, wann er da sein soll", ermahnt er mich dermaßen altklug, dass ich ihm leicht gegen den Oberarm boxe. "Blödmann!", tituliere ich ihn dabei, aber das nimmt er nicht ernst. Er lacht einfach nur darüber und wendet sich dann seinem eigenen Handy zu, um, wie ich vermute, eine SMS an Christie zuschreiben.
 

Ich halte mein Handy die ganze Zeit fest, während endlich auch der Rest unserer Klasse so nach und nach auch endlich eintrudelt. Als Kevin und Carsten den Bus betreten, erwarte ich die obligatorische Beleidigung, aber das "Verräter!", das Kevin von sich gibt und das Carsten mit zustimmendem Gemurmel quittiert, gilt ganz offensichtlich weder Ruben noch mir, sondern Malte.
 

Der sitzt allerdings vollkommen ungerührt auf seinem Platz und sieht die beiden nicht mal an. Kann sein, dass er gar nicht mitgekriegt hat, dass sie mit ihm reden. Irgendwie interessiert es mich ja schon, was genau zwischen den Dreien los ist, aber ich bin nicht wahnsinnig genug um zu fragen. Und ehe Ruben etwas in der Art unternehmen kann – seine Neugier ist ihm förmlich anzusehen –, sind Kevin und Carsten auch schon nach hinten getrottet und fläzen sich da irgendwo hin.
 

Kurz nach dem Idiotenduo – ein Trio sind sie ja laut Maltes Worten von vorhin nicht mehr; ob das wirklich so bleibt oder nicht sei dahingestellt – steigen auch Frau Römer und Herr Schierling in den Bus und nachdem sie den Wecker, den irgendjemand im Zimmer vergessen hat, an den Besitzer übergeben haben, fährt der Bus endlich los. Augenblicklich klopft mein Herz zum Zerspringen und ich atme mehrmals tief durch, ehe ich mich daran mache, die SMS an Simon zu schreiben.
 

››Hi, Simon.‹‹, fange ich an und bemühe mich, das Zittern meiner Finger zu unterdrücken. ››Wir sind gerade losgefahren. Die Hinfahrt dauerte knapp drei Stunden, also sollten wir so gegen sieben an der Schule sein. Schaffst Du das? Jan‹‹ Ich lese die Nachricht noch drei Mal durch, ehe ich mir sicher bin, dass ich mich nicht blamiere oder verrate. Dann erst schicke ich sie ab und warte hibbelig und ungeduldig auf eine Antwort.
 

Meine Nerven werden mehr als zehn Minuten strapaziert, ehe es endlich piept. Vor lauter Hektik lasse ich mein Handy beinahe fallen und mein Gesicht fängt wieder an zu glühen, was Ruben neben mir erneut zum Lachen reizt. Ich werde noch etwas röter, beschließe aber, ihn zu ignorieren und lieber die SMS zu lesen. Sie ist tatsächlich von Simon und allein seinen Namen als Absender zu sehen lässt mein Herz vollkommen durchdrehen.
 

››Hey, Jan‹‹, lese ich und mein Puls schießt gleich noch mehr in die Höhe. ››Kann sein, dass es etwas später wird. Hab erst um halb sieben Feierabend und muss dann ja noch Vicky abholen. Aber ich beeil mich. Versprochen. Simon‹‹ Mein Blick klebt förmlich am Display fest und ich komme erst wieder in der Realität an, als Ruben mir das Handy wegnimmt, um die Nachricht auch zu lesen.
 

Sobald er damit fertig ist, gibt er mir mein Handy wieder und grinst mich breit und zufrieden an. "Na, das ging ja schnell", freut er sich und sein Grinsen wird noch breiter, als ich nur verwirrt blinzele. "Denk doch mal nach", setzt er mir auseinander. "Eigentlich muss Simon doch jetzt arbeiten. Dass er trotzdem so schnell geantwortet hat, heißt doch nur, dass er auf die SMS von Dir gewartet hat – und dass er nicht will, dass Du Dir Sorgen machst, wenn er noch nicht da ist, wenn wir ankommen. Aber ich geh jede Wette ein, dass er auf jeden Fall pünktlich da ist." So langsam nimmt Rubens Grinsen wirklich beängstigende Ausmaße an. Ich hingegen werde mit jedem Wort von ihm nur noch röter und mache mich in meinem Sitz noch etwas kleiner.
 

"Meinst ... meinst Du wirklich?", frage ich unsicher und Ruben nickt sofort hektisch. "Klar doch!", bestätigt er, legt mir seinen gesunden Arm um die Schultern und drückt mich kurz. "Ich kenne Simon. Wenn er etwas verspricht, dann hält er das auch. Ich sag Dir, er mag Dich. Und ich wette, er freut sich auch schon darauf, Dich wiederzusehen", versucht er, mich zu überzeugen.
 

Ich möchte ihm nur zu gerne glauben, dass Simon sich auch so auf unser Wiedersehen freut wie ich, aber ein kleiner Teil von mir warnt mich davor, mir falsche Hoffnungen zu machen. Das würde nur wieder weh tun, wenn diese Hoffnungen enttäuscht werden. Allerdings versucht der wesentlich größere Teil von mir vehement, mir einzureden, dass Ruben Recht hat. Immerhin ist Simon schließlich sein Bruder, da muss er so was doch wissen, oder? Andererseits haben die beiden sich jahrelang fast gar nicht gesehen, also ist es wohl fraglich, wie gut Ruben Simon noch kennt. Drei Jahre sind eine ziemlich lange Zeit. In drei Jahren kann verdammt viel passieren.
 

Das Piepsen meines Handys, das mir den Eingang einer weiteren SMS verkündet, reißt mich wieder aus meinen wirren Überlegungen, ob ich Rubens Worten nun Glauben schenken soll oder nicht. Mit klopfendem Herzen öffne ich die Nachricht, nachdem ich gesehen hab, dass sie auch von Simon ist. Einen Moment lang bin ich mir fast sicher, dass er mir nur sagen will, dass er es doch nicht schafft, aber das, was ich stattdessen lese, lässt mein Herz höher schlagen.
 

››Hey, Jan! Hab mit Lucy die Schicht getauscht. Mache schon um sechs Schluss, bin also auf jeden Fall pünktlich da. Grüß Ruben von mir, ja? Bis nachher. Simon‹‹, steht da und ich bin froh, dass ich sicher sitze, weil meine Beine plötzlich ganz weich werden. Er hat mit dieser komischen Vampirtussi getauscht, nur um eher Feierabend machen zu können – meinetwegen? Okay, Jan, ganz ruhig. Schön weiteratmen und vor allem nicht umkippen. Wenn Du jetzt umkippst, kannst Du Simon heute nicht mehr sehen, also durchhalten und nicht schlappmachen, klar? Umkippen kannst Du immer noch, wenn Du erst Mal zu Hause in Deinem Zimmer bist und Dich niemand mehr beobachtet. Haltung, Jan, Haltung!
 

"Ha, ich wusste es doch!" Ruben quiekt mir förmlich ins Ohr und unterbricht so meine gedanklichen Durchhalteparolen. Als ich ihn anblicke, blendet er mich fast mit seinem Grinsen und versucht danach mal wieder, mich durch eine Umarmung zu ersticken. Offenbar, vermute ich einfach mal, hat er mir mein Handy abgenommen und die letzte SMS von seinem Bruder gelesen. Mitgekriegt habe ich davon zwar nichts, aber das würde sein überschwängliches Verhalten erklären.
 

"Was hab ich Dir gesagt? Wenn Simon es so eilig hat und so unbedingt pünktlich da sein will, um Dich abzuholen, dann hast Du auf jeden Fall Chancen bei ihm", teilt Ruben mir mit, nachdem er mich wieder losgelassen hat und als ich endlich genug Luft kriege, um seine Worte zu verarbeiten, laufe ich gleich wieder vom Halsansatz bis zu den Haarspitzen rot an. Das Ganze ist mir furchtbar peinlich, aber ich kann nicht leugnen, dass ich mich auch unheimlich darüber freue. Die Vorstellung, dass Simon extra nur meinetwegen eher Feierabend macht, beschert mir ein unglaubliches Hochgefühl.
 

~*~
 

Fieses Ende, ich weiß. Das nächste Kapitel gibt's irgendwann nächste Woche, sobald ich Kapitel 14 fertig hab. Ich möchte versuchen, ab jetzt immer wenigstens ein Kapitel Vorlauf zu haben, damit ihr nicht wieder so lange auf dem Trockenen sitzt wie über die Feiertage. Drückt mir die Daumen, dass meine Muse mir treu bleibt und dass alles so klappt, wie ich mir das wünsche, ja?
 

Über euren Senf freu ich mich übrigens immer, also nur her damit.

*Kekse in die Runde werf*

Bis zum nächsten Mal!

*wink*
 

Karma

Von Heimfahrten und Familienleben

Da Yumika mich gestern Abend so nett genervt hat, doch endlich das nächste Kapitel hochzuladen und endlich in die Gänge zu kommen, leiste ich dieser Bitte brav Folge und präsentiere ich euch hier das nächste Kapitel. Ich hoffe, es wird euch gefallen.

^____^
 

@Schwarzfeder: Ich muss mir Deinen Geburtstag wirklich mal ordentlich notieren, damit ich das nicht immer erst auf den letzten Drücker merke.

.___.

Aber wenn ich Dir trotzdem eine Freude machen konnte, freut mich das natürlich sehr, genauso wie dieser schicke Monsterkommi.

*____*

Also danke dafür und auch für die ♥chen - und für die blöde Idee, die Du mir eingepflanzt hast und die ich einfach nicht mehr loswerde. Wie schon angedroht, werd ich alle Verantwortung von mir weisen und alles auf Dich schieben, wenn's akut wird. Das wird zwar noch etwas dauern, aber Du bist gewarnt.

XD

Ach, und auf Der Teufel ist nur so schwarz, wie man ihn malt... freu ich mich jetzt schon riesig. Mein Finny-Schatz!

*ihn an♥*
 

@Rayligh: Das mit dem Idiotentrio/duo/wasauchimmer werd ich möglicherweise später noch irgendwann auflösen. Ich weiß ja, was gelaufen ist, aber da Janni das nicht weiss, wär es komisch, wenn ich das jetzt schon aufklären würde. Das muss also noch warten. Aber hier ist wenigstens schon mal das Ende des Freitags, auf das Du gewartet hast.

^____^
 

@abgemeldet: Zu Malte schweige ich mich jetzt einfach mal aus. Das kommt später irgendwann noch. Aber nyan, kann es sein, dass ich alles immer viel zu offensichtlich mache?

*drop*
 

@Inan: Ich glaub, ich muss die Kekse vor Dir verstecken. Nicht, dass Du nachher noch eine Überdosis kriegst.

XD

Ich glaub, ich muss zwar zu Deiner Vermutung im Bezug auf Christie nichts mehr sagen, aber ich tu's trotzdem: Das wird natürlich nicht verraten, aber freu Dich diesbezüglich schon mal auf dieses und das nächste Kapitel. Da darf wieder ein bisschen spekuliert werden (obwohl ihr's alle ja eigentlich eh schon wisst *dropsel*).

Und was Simon betrifft ... Lass Dich überraschen, was genau mit ihm ist. Das kommt alles im Laufe der nächsten Kapitel so langsam in die Gänge - jedenfalls dann, wenn meine Jungs mir nicht zum hundertsten Mal den Plot zerschiessen. Das machen sie ja besonders gerne.

*grml*
 

@abgemeldet: Bezüglich Malte ...

*mir den Mund zukleb*

*g*

Und was Ruben und Janni betrifft: Der Kleine ist einfach leicht zu durchschauen - besonders, wenn er sich selbst immer wieder verplappert. Und das kann er ja schliesslich ganz besonders gut.

XD
 

@Tianani: Tja, zumindest hat Ruben eindeutige Verkupplungspläne. Inwieweit die umsetzbar sind, wird sich zeigen.

*kicher*

Und voilà, Du wolltest Simon, also sollst Du ihn in diesem Kapitel natürlich auch kriegen.

^____^
 

@Aschra: Psssst! Du weißt das ja auch nur, weil Du eh schon den Großteil dessen weißt, was ich geplant hab. Dass ich alte Labertasche aber auch nie die Klappe halten kann.

*mich selbst auspeitsch*

Aber ich hoffe, das Kapitel muntert Dich ein bisschen auf und lenkt Dich ab. Gute Besserung, Liebes!

*gesundknuddel*

*Dir Deinen ganz speziellen persönlichen Krankenpfleger (nein, nicht Flo! ^.~ vorbeischick*
 

So, und jetzt wünsch ich euch viel Spaß beim Lesen!

*Keksteller zur Selbstbedienung dalass*
 

Karma
 

~*~
 

Dieses Hochgefühl hält auch noch die nächsten zweieinhalb Stunden an und lässt mich die elend lange Busfahrt verfluchen und gleichzeitig ihr Ende herbeisehnen. Ruben findet mein Rumgehibbel unglaublich komisch und amüsiert sich die ganze Zeit königlich, aber das ist mir total egal. Ich bin viel zu aufgekratzt, um mich darüber zu ärgern. Dafür freue ich mich einfach viel zu sehr auf das bevorstehende Wiedersehen mit Simon – so sehr, dass ich, kaum dass mir die Gegend einigermaßen bekannt vorkommt, auch schon förmlich an der Fensterscheibe klebe und nach draußen starre. Von schräg hinter mir kann ich Rubens Lachen hören, aber ich störe mich nicht daran.
 

Sobald die Schule endlich in Sichtweite kommt, halte ich sofort Ausschau nach Simons Wagen und kralle mich in Rubens Pulli, als ich ihn tatsächlich erblicke. "Simon ist schon da! Genau wie er versprochen hat!" Wenn ich nicht so aufgeregt wär, wäre es mir sicher peinlich, wie quietschig meine Stimme klingt, aber jetzt gerade könnte mir nichts gleichgültiger sein. Simon ist wirklich gekommen!
 

"Hab ich Dir doch gleich gesagt." Ruben wirkt vollkommen zufrieden mit sich und der Welt und grinst gleich wieder breit, als ich hektisch nach meinem Rucksack krame, während der Bus auf den Schulparkplatz einbiegt. Immerhin will ich Simon ja gleich nicht unnötig lange warten lassen. "Mann, bist Du überdreht!", kommentiert Ruben mein Verhalten, angelt aber selbst ebenfalls seinen Rucksack unter seinem Sitz hervor, stopft seinen MP3-Player hinein und zieht dann den Reißverschluss zu.
 

Kaum dass der Bus zum Stehen kommt, bin ich dieses Mal einer der Ersten, der aufspringt. Ruben lacht, als ich mich an ihm vorbeiquetsche, aber er folgt mir direkt und hält mich fest, als ich bei dem Versuch, eilig aus dem Bus zu hopsen, noch fast einen Sturzflug allererster Güte hinlege. Mein Gesicht fängt gleich wieder an zu glühen, aber ehe ich mich in Grund und Boden schämen kann, werde ich überraschend energisch zur Seite gezogen und im nächsten Moment hängt meine kleine Schwester auch schon wie eine Klette an mir.
 

"Da bist Du ja endlich, Janni!", krakeelt sie mir ins Ohr und drückt mir einen feuchten Schmatz auf die Wange, den ich mir gleich peinlich berührt abwische. Darüber, dass sie mich schon wieder Janni genannt hat, bin ich allerdings nicht mal wirklich böse. Wenn ich ganz ehrlich bin, dann muss ich zugeben, dass ich das in den letzten zwei Tagen schon ein bisschen vermisst habe. Irgendwie fehlt mir einfach was, wenn Vicky mich nicht so ruft. Aber ich werde mich hüten, ihr das auch zu sagen.
 

"Und Du bist Ruben, oder? Simon hat mir erzählt, dass Du sein Bruder bist." Vicky lächelt Ruben an und legt dann den Kopf schief, ohne meinen Arm wieder loszulassen. "Besonders ähnlich seht ihr euch aber nicht", stellt sie fest und Ruben grinst mich an. "Deine Schwester ist lustig", teilt er mir mit und ich muss ebenfalls grinsen, als Vicky ihre Schmollschnute auspackt. Da das allerdings nicht fruchtet, streckt sie Ruben und mir die Zunge heraus. "Jungs sind sooo unreif!", beschwert sie sich, lässt mich los und stolziert hoch erhobenen Hauptes zurück in die Richtung, wo Simons Wagen steht.
 

Ruben und ich sehen uns kurz an und zucken beinahe unisono mit den Schultern, ehe wir uns entschließen, uns erst mal in das Getümmel um die Gepäckausgabe zu stürzen, um unsere Taschen zu holen. Sobald wir sie haben, kämpfen wir uns durch die Masse an Mitschülern und ihren Eltern in Richtung Simons Auto und mein Herz klopft zum Zerspringen, als ich Simon nach endlosen zwei Tagen endlich wieder leibhaftig vor mir sehe.
 

Mit einem Mal sind meine Hände so feucht, dass ich meine Tasche beinahe fallen lasse. Ich bin unglaublich nervös und von meinem Magen aus verteilen sich Tausende von Schmetterlingen durch meine Blutbahn, als Simon, der sich gerade mit einem Paar, das ich nicht kenne, unterhält, sich umdreht und mich anlächelt. Rein logisch betrachtet weiß ich, dass dieses Lächeln nicht nur mir, sondern auch Ruben gilt, aber ich fühle mich trotzdem, als würde er nur für mich so lächeln. Der Rest der Welt ist für mich gerade total nebensächlich.
 

Nur dadurch, dass Ruben mir unauffällig einen Stoß in den Rücken gibt, schaffe ich es irgendwie, nicht wie angewurzelt stehen zu bleiben, sondern weiterzugehen. "Da seid ihr ja endlich, ihr Zwei", begrüßt Simon uns und ich nicke einfach nur, weil ich mir hundertprozentig sicher bin, dass ich jetzt keinen einzigen Ton rauskriege – jedenfalls nicht, ohne ultrapeinlich rumzuquietschen. Und das muss ja nun wirklich nicht sein.
 

Ruben neben mir hat damit weniger Probleme. Er lässt seine Tasche einfach auf den Boden plumpsen und hängt im nächsten Moment auch schon an Christie, der von der Wucht des Aufpralls beinahe umgerissen wird und ächzend einen Schritt nach hinten taumelt. Trotzdem fängt er Ruben auf, knuddelt ihn kräftig durch und lächelt dabei. "Hey, Sonnenscheinchen. Willkommen zu Hause", murmelt er leise. Vicky fängt an zu kichern, das Paar neben Simon – ganz offenbar Christies Eltern, jedenfalls vermute ich das jetzt einfach mal – schmunzelt und ich kippe fast aus den Latschen, als Simon in meine Richtung grinst.
 

"Das ist so typisch", sagt er amüsiert und wieder kann ich nur nicken. Währenddessen ist Ruben offenbar fürs Erste mit der Begrüßung seines besten Freundes fertig. Er lässt wieder von Christie ab, hüpft zu seinem Bruder und fällt diesem stürmisch um den Hals. "Schön, dass Du da bist, Simon", nuschelt er in Simons Pulli und ich beiße mir auf die Unterlippe, als Simon Ruben ganz nah an sich zieht. Er sagt nichts, aber sein Lächeln spricht Bände.
 

Ich muss gestehen, ich beneide Ruben ein bisschen – oder, wenn ich ganz ehrlich sein soll, vielleicht auch mehr als nur ein bisschen – darum, dass er Simon jetzt gerade so nah sein kann. Ich würde ihn auch nur zu gerne umarmen, aber ich traue mich nicht, das einfach so zu tun. Was würde Simon denn auch von mir denken, wenn ich so etwas Komisches mache, ohne ihn vorzuwarnen oder ihn vorher um Erlaubnis zu fragen?
 

Lange kann ich nicht über diese Frage nachdenken. "Ruben hat mir geschrieben, dass wir morgen noch zwei Leute mehr sind", holt Christies Stimme mich aus meinen Grübeleien und nach dem ersten kurzen Schreck nicke ich. "Ja, mein bester Freund Jassi kommt auch mit. Und er wollte auch noch ein Mädchen mitbringen. Sina", bestätige ich und Christie legt fragend den Kopf schief.
 

"Bleibt es denn trotzdem dabei, dass Du bei mir übernachtest?", will er wissen und ich beiße mir auf die Unterlippe. Zum Antworten komme ich allerdings nicht, denn das übernimmt Ruben für mich. "Klar bleibt's dabei!", behauptet er und grinst, als ich rot anlaufe. Ich werfe einen kurzen Seitenblick zu Simon, aber der ist gerade damit beschäftigt, meine Tasche und meinen Rucksack, den Vicky mir abgenommen hat, in seinem Kofferraum zu verstauen. Meine kleine Schwester steht neben ihm und plappert munter auf ihn ein, also kriegt er nichts von dem mit, was hier vor sich geht.
 

"Wenn es keine Umstände macht ...", ringe ich mir ab und lächele ein wenig verlegen, als Ruben und Christie fast gleichzeitig die Köpfe schütteln. "Nein, das passt schon. Platz genug hab ich ja", beruhigt Christie mich und ich kann nicht umhin, festzustellen, dass ich ihn wirklich ziemlich nett finde. Er behandelt mich nicht wie einen beinahe vollkommen Fremden, sondern so, als würden wir uns schon eine Ewigkeit kennen.
 

"Okay, dann gerne", nuschele ich leise und Christie lächelt mich an, während Ruben sich mit einem zufriedenen Grinsen bei seinem besten Freund und mir gleichermaßen einhakt. "Ich freu mich schon riesig auf morgen. Das wird bestimmt total lustig!", verkündet er im Brustton der Überzeugung und lacht, als Christie ihm durch die Haare wuschelt. Ich fühle mich wirklich wohl bei den beiden und bin zugegebenermaßen auch schon ziemlich neugierig auf den Rest der Clique. Rubens Worten nach zu urteilen müssen seine anderen Freunde ja auch alle sehr nett sein. Ich bin schon echt gespannt darauf, sie morgen kennen zu lernen. Und komischerweise bin ich auch nicht mehr nervös deswegen. Wenn sie alle so nett sind wie Christie, dann werd ich sie sicher mögen – und sie mich hoffentlich auch.
 

"Kommst Du, Janni? Mama wartet schon", reißt die Stimme meiner kleinen Schwester mich aus meinen Überlegungen und im nächsten Moment kehrt meine bis gerade noch erfolgreich verdrängte Nervosität mit einem Schlag zurück. Unwillkürlich huscht mein Blick zu Simon, der sich allerdings noch mit Christies Mutter unterhält. Christies Vater lädt gerade Rubens Gepäck in einen Kombi mit der Aufschrift Blumen Renning und ich erinnere mich unsinnigerweise erst jetzt daran, dass Ruben mir irgendwann mal erzählt hat, dass Christies Eltern eine eigene Gärtnerei besitzen.
 

"Wir holen Dich dann morgen ab." Ruben grinst mich an und umarmt mich zum Abschied. "Viel Glück, Jan", flüstert er mir dabei leise ins Ohr, zwinkert mir noch einmal zu und schnappt sich dann Christies Hand, um diesen noch eben zu seinem großen Bruder zu ziehen. "Bis bald", verabschiedet er sich von Simon und strahlt, als dieser ihn daraufhin noch mal in den Arm nimmt. Ich kann nicht verstehen, was er sagt, aber allein sein Lächeln zu sehen macht mich schon glücklich. Dass das total bescheuert ist, weiß ich selbst, aber ich kann nichts dagegen machen.
 

Noch während der Verabschiedung der beiden Brüder werde ich von Vicky zu Simons Auto geschleift. Sie klettert auf die Rückbank, sieht mich auffordernd an und kuschelt sich gleich an mich, sobald ich mich neben sie gequetscht hab. "Du hast mir gefehlt, Janni", seufzt sie und ich muss unwillkürlich lächeln. So nervig meine kleine Schwester auch manchmal ist, so süß kann sie auch wieder sein.
 

"Du mir auch", gebe ich deshalb zu, lege einen Arm um ihre Schultern und zwirbele eine ihrer braunen Locken zwischen meinen Fingern. Normalerweise mag sie das zwar nicht, aber aus irgendeinem Grund beschwert sie sich bei mir nie darüber, wenn ich es doch tue. Aber da sie mir im Gegenzug dafür auch in den Haaren herumwühlen darf, wenn ihr gerade mal danach ist, sind wir da wohl quitt.
 

Ich bin so mit meiner kleinen Schwester beschäftigt, dass ich erschrocken zusammenzucke, als Simon, der inzwischen offenbar auch eingestiegen ist, den Motor startet. Im Rückspiegel kann ich erkennen, dass er deswegen schmunzelt. Sofort legt mein Herz eine Extraschicht ein und ich bin froh, dass Vicky neben mir sitzt. Ich werde zwar trotzdem rot, aber wenigstens kann ich mein Gesicht jetzt in ihren Haaren verstecken, bis ich mich wieder ein bisschen beruhigt hab.
 

"Dieser Chris ist übrigens echt süß", dringt Vickys Stimme in meine Gedanken und ich löse mich von ihr, um sie ansehen zu können. In ihren Augen liegt dieser verträumte Vicky-Glanz und ich schlucke schwer. Oh Mann, kleine Schwestern am Beginn der Pubertät sind echt schlimm! Gibt's da nicht irgendein Mittel dagegen? Vielleicht von Ratiopharm oder so? "Ruben ist auch total niedlich, aber Chris gefällt mir noch besser", schwärmt sie weiter und ich rücke demonstrativ ein Stück von ihr ab.
 

"Für so was bist Du ja wohl noch viel zu jung!", entscheide ich und sie zieht einen Flunsch. "Ach was! Ist doch gar nicht wahr!", schmollt sie und verschränkt die Arme vor der Brust, aber das hält nicht lange vor. Als sie hört, dass Simon leise lacht, wendet sie sich ihm zu. "Wenn, dann heirate ich später sowieso Dich", beschließt sie und mir klappt die Kinnlade herunter. Das meint sie doch wohl jetzt nicht ernst, oder? Das kann doch wohl – bitte, bitte, bitte – nur ein Scherz sein! Das darf sie einfach nicht ernst meinen!
 

"Das ... das geht doch nicht!", widerspreche ich sofort, noch ehe Simon etwas dazu sagen kann. Sofort schießt Vicky wieder zu mir herum und sieht mich halb fragend, halb beleidigt an. "Und warum nicht?", will sie wissen. "Weil ... äh ...", setze ich zu einer Antwort an, aber dieses Mal kommt Simon mir zuvor. "Weil ich nicht heiraten werde", stellt er klar und Vicky hängt sich in die Nische zwischen Fahrer- und Beifahrersitz, sobald wir an der nächsten Ampel halten müssen.
 

"Warum nicht?", fragt sie neugierig und ich kann im Rückspiegel sehen, dass Simon sich durch die Haare fährt. Er wirkt auf mich etwas verlegen, aber vielleicht täusche ich mich da auch. "Na ja, ich ... Selbst wenn ich heiraten würde, würde ich keine Frau heiraten", redet er dann um den heißen Brei herum und Vicky zieht wieder einen Flunsch, während mein Gesicht knallrot anläuft. Im Gegensatz zu meiner Schwester weiß ich ja immerhin schon, worauf dieses Gespräch hier ganz offensichtlich hinauslaufen wird. Irgendwie bin ich gerade verdammt froh, dass Ruben mich vorgewarnt hat. Ansonsten würde ich wahrscheinlich einfach umkippen, wenn Simon wirklich das ausspricht, was ihm so offensichtlich auf der Zunge liegt. Mein armes Herz dreht ja jetzt schon total am Rad.
 

"Weißt Du, Vicky", oha, ganz offenbar ist "Victoria" heute ausverkauft, "ich mag Dich wirklich, aber ich interessiere mich einfach nicht für Frauen. Ich bin schwul." Okay, er hat es tatsächlich gesagt. Und das scheinbar ohne dass es ihm wirklich peinlich ist. Bei mir sieht das ganz anders aus. Mein Gesicht glüht gleich noch etwas mehr und ich rutsche auf der Rückbank etwas weiter nach unten, damit die Beiden das bloß nicht bemerken. Trotzdem nehme ich meinen Blick nicht vom Rückspiegel und so kann ich sehen, dass Vickys Augen groß werden.
 

"Dann ist Morgaine also nicht Deine Freundin?", vergewissert sie sich und Simon schüttelt den Kopf. "Nein, ist sie nicht. Wir sind nur Freunde, nichts weiter. Ihr Freund studiert im Moment im Ausland", erklärt er meiner Schwester und im nächsten Moment fallen mir fast die Augen aus dem Kopf, als Vicky ohne Vorwarnung anfängt zu lachen. "Wenn Franzi das wüsste!", kichert sie und ich verstehe gar nichts mehr. Was ist denn jetzt kaputt?
 

"Franzi findet Dich nämlich eigentlich auch ganz toll – ich hab kurz nach Deinem Einzug mal gehört, wie sie mit ihrer besten Freundin Kirsten über Dich gesprochen hat –, aber sie war total sauer, als sie Morgaine zum ersten Mal gesehen hat. Sie dachte, sie wäre Deine Freundin. Genau wie Mama." Vicky scheint sich gar nicht mehr beruhigen zu wollen. Und während sie immer weiter kichert und sich schließlich sogar ein paar Lachtränen aus dem Gesicht wischt, versuche ich, die Informationen, die ich gerade bekommen hab, zu verdauen. Meine dämliche Zickenschwester Franzi steht auch auf Simon? Das darf doch wohl nicht wahr sein! Diese blöde Kuh!
 

Über die gedanklichen Verwünschungen meiner dämlichen großen Schwester vergesse ich beinahe, dass ich nicht alleine bin. Zum Glück gelingt es mir allerdings, meine Gedanken für mich zu behalten und nicht wieder irgendwelche peinlichen Selbstgespräche zu führen, die Simon und auch Vicky alles und noch mehr verraten würden. Na ja, wenigstens etwas. Trotzdem hasse ich meine doofe große Schwester jetzt gleich noch ein bisschen mehr. Kann die sich nicht einen Anderen suchen, den sie anschmachten kann? Wehe, sie gräbt Simon an! Dann bringe ich sie um, das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist!
 

"Ist doch witzig, oder, Janni?" Vicky rammt mir ihren Ellbogen in die Rippen und grinst mich an, als ich sie etwas konfus anblicke. "Was meinst Du, wollen wir Franzi gleich zu Hause direkt unter die Nase reiben, dass sie eh keine Chance bei Simon hat?", fragt sie mich weiter und ich frage mich entsetzt, was mit meiner süßen, unschuldigen kleinen Schwester passiert ist. Wer auch immer das hier neben mir ist, das kann einfach nicht meine kleine Vicky sein. Das muss ein Klon oder so was sein. Wie wahrscheinlich ist es wohl, anzunehmen, dass meine Schwester in den vergangenen zwei Tagen von Außerirdischen entführt und gegen eine sehr seltsam tickende Kopie ausgetauscht worden ist?
 

"Eigentlich wär's mir lieber, wenn ihr das nicht tun würdet", mischt Simon sich ein, bringt den Wagen zum Stehen und dreht sich halb zu uns um. "Ich mag es nicht, in irgendwelche innerfamiliären Streitigkeiten hineingezogen zu werden", teilt er Vicky dann mit und obwohl er eigentlich nur sie anspricht, fühle ich mich trotzdem mies. Immerhin weiß ich ja seit Donnerstagabend, dass er im Bezug auf Streit in der Familie schon ziemlich viel mitgemacht hat. Da ist es sicher nicht schön für ihn, wenn er jetzt wieder in so was verwickelt wird.
 

"Sorry", nuschele ich leise und auch Vicky zieht ein reumütiges Gesicht. "Okay, dann halt nicht. Dann bleibt das unser Geheimnis und ich sag Franzi nichts davon – auch nicht, wenn sie mich danach fragen sollte", verspricht sie und Simon schüttelt den Kopf. "Du musst es ihr nicht verschweigen. Ich fände es nur nicht gut, wenn Du mich dafür benutzt, um Deiner Schwester eins auszuwischen", sagt er und nun verschränkt Vicky trotzig die Arme vor der Brust.
 

"Aber Franzi ist die ganze Zeit total fies zu Janni!", murrt sie, als wäre das eine vernünftige Rechtfertigung für diesen Käse, den sie hier veranstaltet. Mir hingegen ist das Ganze einfach nur furchtbar peinlich. Am liebsten würde ich mich in Luft auflösen, echt. Jetzt verteidigt mich nicht nur Ruben vor den Idioten aus unserer Klasse; nein, plötzlich meint meine kleine Schwester auch noch, mich vor Franzi in Schutz nehmen zu müssen. Wirke ich etwa wirklich so hilfsbedürftig? Verdammt, das ist doch peinlich!
 

"Das kann ich schon alleine regeln, danke", nuschele ich beschämt und angefressen zugleich. Simon ist ganz sicher der Letzte, vor dem ich so eine Diskussion führen will. Er muss wirklich nicht mitkriegen, dass seit Neuestem jeder der Meinung ist, mich irgendwie beschützen zu müssen. "Franzi ist mein Problem. Da musst Du Dich nicht einmischen. Und Du musst Simon auch nicht da mit reinziehen", stelle ich deshalb klar und versuche, seinem Blick auszuweichen. Ich kann ihn jetzt nicht ansehen.
 

Vicky zieht wieder einen Flunsch, ehe sie übertrieben seufzt. "Dann mach doch, was Du willst", nörgelt sie, löst den Anschnallgurt, steigt aus und knallt die Autotür so laut wie möglich zu. Ich merke erst jetzt, dass wir schon auf dem Parkplatz bei uns zu Hause stehen. Meine Schwester ist schon an der Haustür, schließt sie auf und verschwindet im Inneren, während ich immer noch auf der Rückbank von Simons Wagen sitze und nicht so recht weiß, was ich jetzt tun oder sagen soll.
 

"Brüder sind eindeutig pflegeleichter als Schwestern", bricht Simon schließlich das Schweigen und ich sehe ihn doch wieder an. Und erst jetzt bemerke ich, dass er heute – wie schon am Mittwoch – keine Kontaktlinsen trägt. Wieder schlägt mein Herz bei diesem Anblick schneller und ich beiße mir schnell auf die Unterlippe, um nichts Blödes zu sagen oder mich sonst wie zu verplappern. Auch wenn Simon hundertmal auf Jungs ... schwul ist, ein Kompliment von mir fände er bestimmt trotzdem komisch.
 

"Aber vielleicht kommt es mir auch nur so vor und ich hatte mit Ruben einfach Glück", murmelt er und ich grinse schief. "Ach, Vicky ist eigentlich ganz okay. Zumindest war das bis Mitte des Jahres so. Seit sie zwölf ist und angefangen hat, sich für Jungs zu interessieren, ist sie manchmal etwas anstrengend. Aber im Großen und Ganzen ist sie auch nicht so schlimm. Franzi ist jedenfalls viel, viel ätzender", verteidige ich meine kleine Schwester und kriege im nächsten Moment fast einen Herzinfarkt, als Simon mich anlächelt.
 

"Vicky und Du, ihr scheint euch ziemlich nahe zu stehen", vermutet er und ich nicke leicht, ohne ihn anzusehen. Stattdessen beschäftige ich mich überaus intensiv damit, den Anschnallgurt aufzukriegen, um endlich auch aussteigen zu können. Irgendwie ist das hier gerade zu viel für mich. Dadurch, dass Vicky schon vorgegangen ist, bin ich schließlich mit Simon alleine. Ich glaub, ich fall gleich tot um oder so.
 

"Dachte ich mir schon. Sie hat mir die ganze Fahrt zur Schule über erzählt, wie sehr sie sich doch darauf freut, dass Du endlich wieder zurückkommst. Sie meinte, ohne Dich wäre es zu Hause einfach langweilig", bekomme ich zu hören, nachdem ich mich endlich erfolgreich aus dem Auto befreit habe. Darüber muss ich ungewollt ein bisschen lächeln. Auch wenn Vickys Einsatz mir gerade mal wieder ziemlich peinlich war, eigentlich hat sie's ja nur gut gemeint. Sie ist eben doch ein Schatz, auch wenn sie hin und wieder nervt oder übertreibt.
 

Weil mir keine wirkliche Erwiderung einfällt, hangele ich einfach nur meinen Rucksack aus dem Kofferraum, während Simon meine Tasche übernimmt. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zum Haus und kaum dass wir den Hausflur betreten haben, drängt Slim sich auch schon aus der nur angelehnten Wohnungstür und kommt schnurrend auf uns beide zu gesaust.
 

"Ich hab Dir doch versprochen, dass ich Dir Deinen Jan heute wieder zurückbringe", kommentiert Simon die Anschmiegattacke des Katers of Doom an mein Bein und als ich ihm einen kurzen Seitenblick zuwerfe, lächelt er mich an. "Wie ich Dir gestern gesagt hab: Er hat Dich ganz furchtbar vermisst", sagt er mit einem Nicken in Slims Richtung und ich bücke mich, um das Mistvieh hochzuheben und gleichzeitig mein glühendes Gesicht vor Simon zu verstecken. So, wie das dumme Vieh mir gerade um die Beine streicht, würde ich sonst frühestens in zwei Stunden in die Wohnung kommen, und ich will eigentlich nicht bis zum Sankt Nimmerleinstag hier draußen rumstehen.
 

"Ähm ... komm doch ..." "rein", wollte ich eigentlich noch sagen, aber dazu komme ich nicht mehr. "Da bist Du ja wieder, Jan", werde ich von meiner Mutter mit einem Kuss auf die Stirn überfallen, kaum dass ich die Wohnungstür mit dem Fuß aufgeschoben hab. "Danke, dass Sie Jan abgeholt haben", wendet Mama sich dann an Simon und wedelt uns beide in die Wohnung. Ich überlege kurz, Slim abzusetzen, aber so, wie das Vieh sich in meiner Jacke festkrallt, verschiebe ich das auf später und schleppe das schnurrende schwarze Fellknäuel stattdessen erst mal in mein Zimmer.
 

"So, und jetzt kannst Du mich auch endlich wieder loslassen. Ich bin ja wieder zu Hause. Und ich bleib auch erst mal hier", erzähle ich dem dummen Kater dann, rupfe seine Krallen aus meiner Jacke und befreie mich von meinem Rucksack. Als nächstes muss meine Jacke dran glauben und sobald ich die einfach irgendwo auf meinen Teppich geworfen hab – aufhängen kann ich sie auch später noch –, lasse ich mich erst mal rücklings auf mein Bett fallen. Nichts gegen die Herberge und das gemeinsame Zimmer mit Ruben, aber es geht doch nichts über mein höchstpersönlich eigenes Bett. Jetzt gerade fühle ich mich so wohl, dass ich mich nicht mal daran störe, dass Slim meinen Bauch mal wieder als Katzentrampolin missbraucht. Schon komisch, aber selbst das hat mir irgendwie gefehlt. Zu Hause ist es eben doch immer noch am schönsten.
 

Ein leises Lachen von meiner Zimmertür her bringt mich dazu, mich auf meine Unterarme zu stützen und aufzusehen. Und in dem Moment, in dem ich Simon im Türrahmen stehen sehe, ein Schmunzeln auf den Lippen, werde ich gleich wieder knallrot. Hab ich meine Gedanken gerade etwa schon wieder laut ausgesprochen? Wie peinlich ist das denn bitteschön? Wo sind ein Dachbalken und ein stabiler Strick, wenn man beides mal wirklich ganz dringend braucht?
 

"Ähm ...", mache ich nicht sehr intelligent und Simon stellt erst mal meine Tasche auf dem Boden ab, ehe er mich wieder ansieht. "Das muss Dir nicht peinlich sein, Jan", sagt er dabei, aber das hilft mir gar nicht. Ich werde eigentlich nur noch röter, sofern das überhaupt möglich ist. Auf jeden Fall kommt es mir so vor. "Ich führe manchmal auch Selbstgespräche. Hab ich früher schon gemacht. Ich weiß also, wie das ist", schiebt er noch hinterher und ich versuche, Slim loszuwerden, um wieder aufstehen zu können, aber das dumme Katzenvieh verkrallt sich in meinem Pulli und verteidigt fauchend seinen Platz. Scheiße, nicht mal Franzis blöder Kater nimmt mich ernst. Ganz toll, echt. Ich hasse mein Leben.
 

Seufzend lasse ich mich wieder zurück aufs Bett fallen und schließe einen Moment lang die Augen. "Na, wenigstens hab ich dieses Mal nichts allzu Peinliches gesagt", nuschele ich und schaffe es sogar, schief zu grinsen, obwohl mein Magen nervös flattert und mein Herz wie wahnsinnig rast. In Zukunft muss ich definitiv noch wesentlich besser aufpassen, dass meine Lippen auch ja geschlossen bleiben, wenn ich denke. Nicht, dass ich mich irgendwann doch noch verplappere und mich total lächerlich mache. Das will ich nicht. Nicht ausgerechnet vor Simon.
 

Glücklicherweise geht er nicht weiter auf das Thema ein. Trotzdem bringt er meinen Herzschlag auf andere Weise gleich noch mehr aus dem Takt, weil er nicht einfach wieder geht, sondern stattdessen mein Zimmer betritt und zu meinem Bett kommt. Genau vor mir bleibt er stehen, sieht mich von oben herab einen Moment lang einfach nur an und ich halte unwillkürlich den Atem an, als er sich vorbeugt. Gleichermaßen zu meiner Erleichterung wie auch zu meiner Enttäuschung streichelt er allerdings nur über Slims Kopf, der sich gleich schnurrend an Simons Hand schmiegt. Als mir bewusst wird, was ich mir gerade gewünscht hab – ich hab tatsächlich für eine Sekunde gehofft, Simon würde mich küssen –, nehmen meine Wangen eine Rotschattierung an, die sie vorher ganz sicher noch nie hatten. Ich bin mir absolut sicher, dass sich im Rest meines Körpers gerade kein einziger Tropfen Blut mehr befindet. Das ist gerade alles ohne Umwege in mein Gesicht geschossen. Hilfe!
 

"Ich werd dann mal wieder. Wir sehen uns, Jan", höre ich nur wie durch Watte, schaffe es aber trotzdem irgendwie, meinen Kopf zu einem Nicken zu bewegen. Eine verbale Antwort gebe ich Simon allerdings nicht, weil meine Stimmbänder definitiv den Geist aufgegeben haben. Da rührt sich nichts mehr. Alles kaputt. Nicht mehr zu reparieren. Ich glaub, ich bin tot. Obwohl ... Nein, mein Herz schlägt eindeutig noch – und das viel zu schnell –, also kann ich doch nicht tot sein. Es sei denn, mein Herz hätte das nur noch nicht mitgekriegt und ich ... Okay, das ist krank. Über solches Zeug will ich nun wirklich nicht nachdenken. Bin ich denn eigentlich total bescheuert?
 

So richtig erwache ich erst wieder aus meiner Trance, als Slim mir in dem Versuch, es sich auf mir so bequem wie möglich zu machen, seine Krallen durch den Pulli in den Bauch schlägt. Mit einem Schmerzenslaut jage ich das blöde Vieh von mir runter und tapere erst mal ins Bad, um mir meine neuesten Kratzer anzusehen. Da sie allerdings nicht allzu schlimm sind, verzichte ich auf ein Pflaster und latsche stattdessen ins Wohnzimmer, wo Vicky und Franzi sitzen und sich gemeinsam irgendeine vollkommen hirnlose Daily Soap reinziehen, während Mama in der Küche herumwerkelt.
 

Eigentlich ist so ein hirnloser Müll wie der, den meine Schwestern sich da gerade antun, ja absolut nicht mein Fall, aber ich schmeiße mich trotzdem neben Vicky auf die Couch, ziehe die Beine an und mache es mir gemütlich. Dafür ernte ich einen skeptischen Blick von meiner kleinen Schwester – Franzi ignoriert meine Anwesenheit nach wie vor –, aber keine Minute später klebt sie auch schon an mir und kuschelt sich seufzend an mich. Ich kann nichts gegen das Lächeln tun, das sich dabei auf meine Lippen legt. Egal, wie sehr sie mich vorhin auch ausgerechnet vor Simon in Verlegenheit gebracht hat, jetzt gerade ist sie wieder meine süße kleine Vicky. Ebenfalls zufrieden seufzend beginne ich damit, wieder mit ihren Haaren zu spielen. Das Fernsehprogramm ignoriere ich dabei. Das ist gerade nur Hintergrundgeräusch, mehr nicht. Im Augenblick genieße ich es einfach nur, wieder zu Hause zu sein.
 

"Kann mir mal eben jemand helfen?", ruft Mama aus der Küche und nach kurzem Überlegen und einem noch kürzeren Seitenblick zu Franzi, die im Sessel sitzt und sich scheinbar nicht von ihrer ach so wichtigen Serie losreißen kann oder will – wie kann man sich diesen Mist eigentlich ankucken, ohne davon zu verdummen? –, schiebe ich Vicky von mir und stehe auf, um rüber in die Küche zu gehen. Franzi kommentiert das mit einem Schnauben, aber darauf reagiere ich nicht. Soll sie doch glauben, dass ich mich bei Mama einschleimen will. Das hab ich genauso wenig nötig wie mir diesen Schwachsinn in der Glotze anzutun. Da kann ich meine Zeit doch lieber sinnvoll in der Küche verbringen, indem ich Mama vielleicht ein bisschen zur Hand gehe. Immerhin hat sie mit uns Dreien ja auch so immer genug Arbeit.
 

"Jan?" Mama wirkt etwas erstaunt, dass ausgerechnet ich rübergekommen bin, lächelt mich dann aber an und deutet auf den Schrank, in dem das Geschirr steht. "Deckst Du schon mal den Tisch?", bittet sie mich und dreht sich wieder zum Herd um. Ich werfe einen kurzen, neugierigen Blick in die Töpfe und krame dann Teller aus dem Schrank. Danach hole ich das Besteck und während ich das ebenfalls auf dem Tisch verteile, bemerke ich, dass Mama mich über die Schulter hinweg ansieht.
 

"Wie war die Fahrt?", fragt sie und ich schenke ihr ein Lächeln. "Toll. Ruben und ich hatten jede Menge Spaß zusammen", erzähle ich ihr und sie lächelt ebenfalls wieder. "Das ist schön", sagt sie und ich nicke. Dann allerdings fällt mir ein, dass ich ihr wegen morgen ja noch gar nicht Bescheid gesagt hab. Allerhöchste Zeit, das endlich nachzuholen. Nicht, dass Ruben und Christie mich hier morgen abholen wollen und Mama einen Aufstand veranstaltet. Das muss echt nicht sein.
 

"Ich bin morgen übrigens mit Ruben verabredet. Wir wollten zusammen mit seinen Freunden Halloween feiern. Jassi kommt auch mit und Ruben hat angeboten, dass ich danach bei ihm übernachten kann." Dass ich eigentlich bei Christie schlafen werde und nicht bei Ruben, behalte ich lieber für mich. Mama ist da manchmal etwas komisch. Dabei sollte sie mittlerweile doch wohl langsam gemerkt haben, dass ich kein kleines Kind mehr bin, um das sie sich ständig Sorgen machen muss. Ich werd immerhin in knapp vier Monaten schon siebzehn.
 

"Hältst Du das denn wirklich für eine gute Idee?", fragt Mama auch prompt und ich verkneife mir ein Seufzen. Irgendwie bin ich, wenn ich es genau betrachte, ja wohl zumindest zum Teil selbst schuld, dass alle mich dauernd betüddeln wollen. Irgendwas muss ich eindeutig an mir haben, das für alle außer mir laut und deutlich "Helft mir!" schreit. Anders kann ich es mir echt nicht erklären, dass sogar meine kleine Schwester neuerdings für mich in die Bresche springen will.
 

"Ich pass schon auf mich auf, Mama", verspreche ich meiner Mutter und bemühe mich, ihr fest in die Augen zu sehen. "Außerdem ist Jassi ja auch dabei." Der wird zwar sicher hauptsächlich mit seiner Sina beschäftigt sein – den Gedanken daran, dass er mich seinen eigenen Worten zufolge wegen Simon coachen will, verdränge ganz schnell wieder ich in die hinterste Ecke meines Bewusstseins –, aber das muss Mama ja nicht wissen. Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß. Hieß das Sprichwort nicht so?
 

"Und ich bin schließlich auch schon sechzehn", schiebe ich noch als absolutes Totschlagargument hinterher und Mama runzelt skeptisch die Stirn, gibt sich dann aber seufzend geschlagen. "Na gut. Wenn es Dir so viel bedeutet, von mir aus. Dann wünsche ich Dir morgen viel Spaß mit Deinen Freunden", sagt sie leise und ich tue etwas, was ich schon verdammt lange nicht mehr gemacht hab: Ich umarme meine Mutter – einfach nur so, weil ich ihr dankbar bin. So ganz alleine und ohne Unterstützung mit Franzi, Vicky und mir fertig zu werden ist sicher nicht immer leicht für sie, aber sie gibt sich immer die größte Mühe, dass keiner von uns zu kurz kommt. Wann, frage ich mich unwillkürlich, hat sie eigentlich das letzte Mal irgendetwas nur für sich getan? Das ist so ewig lange her, dass ich mich nicht mal daran erinnern kann.
 

In der Sekunde, in der mir klar wird, wie viele Opfer meine Mutter für uns Drei bringt, bekomme ich schlagartig ein schlechtes Gewissen, aber das schüttele ich schnell wieder ab. Ich nehme mir einfach nur vor, Mama in der nächsten Zeit mal ein bisschen mehr unter die Arme zu greifen und ihr weniger Sorgen zu bereiten. Und ich werde nachher mal unter vier Augen mit Vicky sprechen, damit sie sich auch Mühe gibt, Mama ein bisschen zu helfen. Ein bisschen Unterstützung von uns würde sie bestimmt freuen.
 

Mama scheint im ersten Moment etwas irritiert von meiner plötzlichen Umarmung zu sein, doch dann drückt sie mich auch und als ich ihr ins Gesicht blicke, lächelt sie. "Ihr Drei seid alle so schnell groß geworden", murmelt sie, lässt mich los und wendet sich hastig ab, aber ich habe trotzdem gesehen, dass ihre Augen feucht geworden sind.
 

So wirklich weiß ich nicht, was ich jetzt sagen soll, deshalb krame ich schnell ein paar Gläser aus dem Schrank und reiche meiner Mutter dann schweigend das Nudelsieb, damit sie die Spaghetti abschütten kann. Während sie das tut, stehe ich unschlüssig neben dem Herd und kaue auf meiner Unterlippe herum. Im Moment sind wir trotz meiner beiden Schwestern im Wohnzimmer ganz alleine in der Küche und der Fernseher ist so laut, dass Vicky und Franzi unmöglich verstehen können, worüber wir gerade reden.
 

Ein Teil von mir möchte Mama jetzt am liebsten die ganze Sache mit Simon erzählen und sie um einen Rat bitten, aber schlussendlich verlässt mich in der letzten Sekunde doch der Mut. Ich öffne zwar den Mund, klappe ihn jedoch unverrichteter Dinge wieder zu und verschwinde schnell aus der Küche in Richtung Wohnzimmer, um meine beiden Schwestern zum Essen zu holen. Dabei schimpfe ich mich selbst einen Feigling, aber so bin ich eben.
 

Ich habe, das muss ich zugeben, einfach tierische Angst davor, wie meine Mutter reagiert, wenn ich ihr erzähle, was im Moment mit mir los ist und warum ich in der letzten Zeit immer so komisch war. Wer weiß schon, ob sie mich nicht vielleicht abartig findet, wenn ich ihr sage, dass ich mich zwar verliebt hab, aber eben nicht in ein Mädchen, sondern ausgerechnet in unseren neuen Nachbarn?
 

Den Kopf schüttelnd, um diese Gedanken zu verdrängen, sage ich meinen Schwestern wegen des Abendessens Bescheid. Vicky hüpft sofort von der Couch in Richtung Küche davon, während Franzi erst mal in aller Ruhe den Fernseher ausschaltet. "Du bist so ein Schleimer, Jan", zischt sie mir im Vorbeigehen zu, aber das beachte ich gar nicht. Soll sie doch denken, was sie will. Das ist mir total egal. Ich habe im Moment echt anderen Probleme als meine zickige große Schwester.
 

Obwohl, genau betrachtet ist sie – oder zumindest das, was ich dank Vicky jetzt über Franzi weiß – ja eigentlich doch zumindest ein Teil meines Problems. Klar, sie hat eh keine Chance bei Simon – das hat er ja schließlich selbst gesagt –, aber allein die Tatsache, dass sie auf ihn steht, bedeutet für sie noch ein paar fette Minuspunkte mehr auf meiner imaginären Liste. Außerdem, nur weil Franzi keine Chance bei Simon hat, heißt das ja noch lange nicht, dass es mit meinen Chancen bei ihm besser aussieht. Verdammt!
 

Durch diese Gedankengänge wieder etwas deprimiert zuckele ich meinen beiden Schwestern hinterher und setze mich in der Küche auf meinen Platz. Wie üblich hab ich auch heute Abend gleich wieder Slim an mir kleben, aber anstatt ihn wie sonst immer wegzuscheuchen, erlaube ich ihm heute, auf meinen Schoß zu springen und sich da zusammenzurollen. Irgendwie ist die Anwesenheit dieses kleinen schwarzen Fellbündels from Hell im Moment seltsam tröstlich für mich. Es ist fast so, als wüsste er, dass ich jetzt gerade ein bisschen Zuspruch brauche.
 

Aus der Unterhaltung beim Abendessen halte ich mich größtenteils raus. "Bin einfach nur ziemlich müde", begründe ich das Mama gegenüber und streichele weiter Slims Kopf, den er immer wieder zufrieden schnurrend an meinem Bauch reibt. Franzis giftige Blicke ignoriere ich dabei einfach. Wenn es ihr nicht passt, dass ihr dummer Kater immer wieder zu mir kommt, dann soll sie ihn halt besser erziehen. Ist ja nicht mein Problem, wenn das Vieh mich lieber mag als sie.
 

Genau betrachtet ist das ja eigentlich auch nur logisch. Er kennt mich schließlich schon praktisch seit seiner Geburt. Immerhin ist seine Mutter Bessy die Katze meines besten Freundes und ich war fast ständig bei Jassi, als Slim noch ein Baby war. Ich hätte ihn ja nur zu gerne selbst genommen, aber das war Mama nicht recht. Das ist der einzige Grund, aus dem Slim – den Namen hab ich ihm damals gegeben, weil er so ein dürres, klappriges Baby war – heute Franzis Kater ist. Wenn Mama einverstanden gewesen wär, wär er heute stattdessen meiner.
 

Trotz meines Vorsatzes, Mama ein bisschen mehr zu helfen, räume ich nach dem Abendessen nur eben schnell mein benutztes Geschirr in die Spülmaschine und verkrümele mich dann in mein Zimmer. Slim folgt mir wie so oft, aber er ist nicht der Einzige. Ich hab's mir kaum auf meinem Bett bequem gemacht, da schmeisst Vicky sich auch schon neben mich, dreht sich auf die Seite und sieht mich fragend an.
 

"Sag mal, was denkst Du eigentlich über Simon?", erkundigt sie sich neugierig und ich weiche ihrem Blick schnell aus und konzentriere mich hektisch auf den wieder auf meinem Bauch liegenden Slim. Trotzdem kann ich nicht verhindern, dass mein Gesicht mal wieder die Farbe wechselt. Ich hoffe einfach nur, dass meine Schwester noch zu jung und zu unschuldig ist, um daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Das müsste ich echt nicht haben. Mir reicht's schon, dass Jassi und Ruben Bescheid wissen.
 

"Warum willst Du das wissen?", frage ich zurück und kann aus dem Augenwinkel sehen, wie meine Schwester grinst. "Einfach nur so", antwortet sie achselzuckend und ich verkneife mir ein Seufzen. Ich kenn sie gut genug um zu wissen, dass sie nicht aufhören wird zu nerven, bis ich ihr ihre Frage nicht beantwortet hab, also beschließe ich, es mir heute mal so einfach wie möglich zu machen und das Ganze abzukürzen.
 

"Ich find ihn nett", gebe ich deshalb zu und versuche, mein restliches Blut durch pure Willenskraft aus meinem Gesicht fernzuhalten. Das misslingt mir allerdings gründlich, das kann ich deutlich fühlen. Eigentlich hat es sogar den gegenteiligen Effekt. Ich werde nur noch röter. Ganz toll, wirklich. Warum muss so was Blödes eigentlich immer mir passieren? Und warum sagt Vicky nichts? Hat's ihr jetzt etwa die Sprache verschlagen oder was?
 

"Ich auch", sagt sie schließlich doch noch und klingt dabei so außerordentlich zufrieden, dass ich ihr einen misstrauischen Blick zuwerfe. "Und es stört mich auch gar nicht, dass er keine Mädchen mag. Dann muss ich mir eben einen Anderen zum Heiraten suchen", plappert Vicky weiter und ich kann nicht verhindern, dass ich erleichtert aufatme. Gott sei Dank, sie ist also nicht ernsthaft in Simon verknallt! Was für ein Glück!
 

"Und vielleicht kannst Du mir ja ein bisschen dabei helfen. Dieser Chris war nämlich wirklich echt süß", holt die Stimme meiner kleinen Schwester mich wieder aus meinem Triumph und ich will ihr eigentlich an den Kopf werfen, dass sie sich das mal besser abschminken soll – ich meine, was sollte Christie denn bitteschön mit einer Zwölfjährigen anfangen? –, aber stattdessen ertappe ich mich dabei, wie ich nicke.
 

"Ich kann ihn ja morgen mal fragen, was er über Dich denkt", biete ich ihr zu meinem eigenen Erstaunen an und im nächsten Moment hängt Vicky an meinem Hals und drückt mich so fest, dass ich fast keine Luft mehr kriege. "Du bist echt der allerbeste Bruder der Welt!", schmeichelt sie mir und ich werde wieder rot, aber dieses Mal wegen des Kompliments. So was höre ich nun wirklich nicht allzu oft. Mir ist eigentlich schon klar, dass das hauptsächlich Schleimerei ist, weil ich ihr meine Hilfe versprochen habe, aber das ist nicht so wichtig. Es tut trotzdem hin und wieder gut, mal ein paar Streicheleinheiten fürs Ego zu kriegen.
 

"Aber versprechen kann ich Dir nichts!", schränke ich noch ein, doch auch das kann den Enthusiasmus meiner kleinen Schwester nicht bremsen. Mit strahlenden Augen fängt sie an, erst Pläne zu schmieden und dann einfach so auf mich einzureden. Ich antworte ihr nicht, sondern lächele einfach nur und nicke in den richtigen Abständen. So wirklich höre ich ihr nicht zu, aber das scheint sie auch gar nicht zu erwarten. Sie stellt mir keine Fragen, sondern quasselt einfach nur fröhlich auf mich ein. Anscheinend braucht sie heute Abend jemanden, der einfach nur ein bisschen da ist und sich mit ihr beschäftigt. Und wenn sie meint, dass ich das sein soll, bitteschön. Ich bin ja kein Spielverderber. Außerdem verbringe ich, so seltsam es auch klingen mag, hin und wieder wirklich gerne einfach mal ein bisschen Zeit mit meiner kleinen Schwester. Simon hatte schon Recht mit seiner Vermutung, dass wir uns ziemlich nahe stehen. Ich häng auf jeden Fall schon ziemlich an ihr, auch wenn ich mir das nicht immer so anmerken lasse.
 

Es ist schon weit nach zehn, als Vicky ihren "Ich kann reden, ohne Luft holen zu müssen"-Monolog endlich beendet. Ich glaube, sie hat mir in den letzten Stunden so ziemlich alles erzählt, was in der letzten Woche in ihrem Leben so passiert ist. Ich habe davon bestimmt nicht mal die Hälfte mitgekriegt und morgen weiß ich garantiert nicht mal mehr zehn Sätze davon, aber das wird schon nicht so schlimm sein. Bisher war sie wegen so was jedenfalls nie allzu lange beleidigt, wenn's ihr überhaupt mal aufgefallen ist.
 

Im ersten Moment bin ich etwas irritiert, als sie plötzlich aufhört zu reden, aber als ich ihr einen Blick zuwerfe, muss ich grinsen. Da ist meine kleine Schwester doch tatsächlich mitten im Satz eingeschlafen. Gut, das passiert ihr öfter, aber irgendwie finde ich das heute besonders niedlich. Sie liegt da, ihren Kopf auf einer Hälfte meines Kissens gebettet, die Augen geschlossen und einen Gutteil ihrer braunen Locken im Gesicht. Das sieht einfach nur süß aus.
 

"Hey, Penntüte, nicht schlafen", wecke ich sie und sie murrt leise, schlägt dann aber doch die Augen auf und blinzelt mich müde an. "Was?", fragt sie nuschelnd und ich muss kichern. "Du bist eingeschlafen. Vielleicht solltest Du langsam ins Bett gehen", teile ich ihr mit, hebe den protestierend maunzenden Slim von mir runter und setze mich auf. "Ich bin so langsam nämlich auch ziemlich müde", schiebe ich dann noch schnell hinterher, um Vickys Flunsch vorzubeugen.
 

Auf meine Worte hin trifft mich ein halb skeptischer, halb müder Blick, aber schließlich gibt Vicky sich doch geschlagen und rappelt sich auf, um nach drüben in ihr eigenes Zimmer zu verschwinden. "Okay. Dann gute Nacht, Janni. Und vergiss nicht, was Du mir versprochen hast!", ermahnt sie mich und wartet kurz noch mein Nicken ab, ehe sie mich endgültig mit Franzis evil Katze of Doom alleine lässt.
 

"Zeit zu schlafen", teile ich dem schwarzen Fellball auf vier Pfoten mit und Slim legt den Kopf schief, als wollte er mir sagen, dass es vollkommen bescheuert von mir ist, mit einer Katze zu sprechen. Aber vielleicht interpretiere ich auch einfach nur zu viel in sein Verhalten hinein. Ist ja eigentlich auch völlig egal. Ich bin jedenfalls mittlerweile echt platt, also beschließe ich, das Auspacken meiner Tasche und meines Rucksacks auf morgen zu verschieben. Jetzt werde ich einfach nur noch kurz ins Bad huschen und mich dann wieder in mein Bett schmeissen. Immerhin muss ich für morgen ja schließlich fit sein.
 

Keine Viertelstunde später liege ich tatsächlich in einem meiner Lieblingspyjamas unter meiner kuscheligen Bettdecke, aber im Gegensatz zu eben ist meine Müdigkeit jetzt so gut wie verschwunden. Ich bin hellwach, starre Löcher in die Luft und versuche verzweifelt, meine Gedanken von der Frage abzubringen, was Simon wohl jetzt gerade tut. Ob er auch schon im Bett liegt? Oder ist er noch wach, sieht fern oder macht irgendwas anderes? Hat er vielleicht Besuch oder telefoniert er gerade – möglicherweise mit Flo? Ob er sich vielleicht sogar heute noch mit ihm trifft? Immerhin ist ja schließlich Freitag und wenn sie beide noch nichts vorhaben, dann könnten sie ja zumindest theoretisch ... Nein, ermahne ich mich selbst, nicht daran denken! Das will ich nicht. Und ich will mir das noch viel, viel, viel weniger vorstellen! Auf keinen Fall! Verdammt, Jan, denk an was anderes!
 

Mit einem frustrierten Seufzen rolle ich mich auf die Seite und starre statt der Zimmerdecke jetzt die Wand hinter meinem Bett an, aber irgendwie wollen die Bilder von Flo und Simon zusammen trotzdem nicht aus meinem Kopf verschwinden. Am liebsten würde ich mich jetzt nach oben schleichen, einfach nur um mich zu vergewissern, dass Simon zu Hause und alleine ist, aber da ich das ja wohl schlecht tun kann – wie sähe das denn auch aus? –, ziehe ich mir einfach nur die Bettdecke über den Kopf und verfluche mich selbst dafür, dass ich mir gerade den eigentlich doch recht guten Tag noch nachträglich durch so eine Scheiße ruiniere. Mann, wie blöd bin ich eigentlich?
 

~*~
 

Errät irgendjemand von euch, welches meine persönliche Lieblingsszene in diesem Kapitel ist?

*kicher*

Schwer dürfte das nicht sein. Ihr könnt ja mal spekulieren.

^.~
 

Bis zum nächsten Mal!

*wink*
 

Karma

Von Vätern, Bärchen und kleinen Peinlichkeiten

So, ihr Lieben, hier ist auch schon (o.O) der erste Teil von Halloween. Ich hab das Ganze in einem Rutsch runtergeschrieben und es dann schlussendlich aufgeteilt, weil 25.236 Wörter doch etwas zu viel gewesen wären. Tja, und jetzt gibt's Halloween eben dreigeteilt. Ich hoffe, das stört euch nicht. Falls doch, Pech.

;P
 

@Inan: Du weißt, wo mein Haus wohnt?

O.O

Das hat Dir der Teufel gesaaaaaaagt!

>.<

XD

So, und nachdem das erledigt wär: Janni zieht die Beschützer eben magisch an - seien es Freunde oder auch seine kleine Schwester.

*Janni puschel*

Und Franzi ...

*kicher*

Im Augenblick mag ich sie auch nicht, aber eigentlich hab ich sie sogar recht gern, muss ich gestehen. Aber ich weiß ja auch, warum sie so ist, wie sie ist, also von daher.

Und was Christie betrifft: Der kommt in diesem und den nächsten beiden Kapiteln des Öfteren vor. Und es wird auch geklärt, was er nun genau von Vicky hält.
 

@Yumika: So, das Kapitelchen hier ist für Dich.

*beschließ*

*Schleifchen drumbind*

Einfach fürs fleißige Kommentieren und fürs Antreiben mitten in der Nacht.

*kicher*

Zu den Locken: Ja, Mädchen mit Locken find ich toll. Vor allem, wenn sie so putzig sind wie Vicky.

*___*

Die Kleine hab ich furchtbar lieb.

Und mit der Lieblingsszene liegst Du auch richtig. War ja auch nicht schwer, nicht wahr? Da hätte Simon mir um ein Haar meinen geplanten Plot total über den Haufen geworfen. Zum Glück hat er noch die Kurve gekriegt. Obwohl ihr das wahrscheinlich alle ganz anders seht ...

*hust*

Hm, zu Franzi sag ich lieber noch nichts. Sie ist eben, wie sie ist. Aber sie hat - zumindest ihrer Meinung nach - einen berechtigten Grund für ihr Verhalten. Das kommt alles später noch.

*das schon fest eingeplant hat*

Und Morgaine ... Als ich das Bild gefunden hab, stand sofort fest, dass ich sie in eine Story einbauen will. Dann ist mir das Janni-Bild über den Weg gehopst und zack, da war die passende Idee. Ich hoffe nur, ich komme noch dazu, ihre Rolle etwas auszubauen. Sie taucht zwar in Kapitel 16 mal auf, aber das ist doch eher kurz. Leider. Na, mal sehen, was sich noch so ergibt.

^____^
 

@Aschra: Jaja, so wie Vicky war ich auch in der Pubertät. Mit dreizehn konnte ich mich nie entscheiden, ob ich jetzt in Typ A oder Typ B verknallt war oder ob ich Typ C doch noch toller fand. Gott, ich war so schrecklich!

>.<

XD

Und Du weißt ja, was Simon wann tut und warum und wo und wie und überhaupt, also halte ich da jetzt einfach mal die Klappe.

*mich selbst knebel*
 

@abgemeldet: Du hast den 70. Kommi gemacht!

*mir nen ganzen Laster voll Kekse freu*

*die an alle verteil*

*____*

Tja, Christie ...

*auf das Kapitel deut*

*hust*

Ich sag nix. Meine Lippen sind versiegelt.

*Panzerband drüberkleb*

^.~
 

@abgemeldet: Und schon gibt's das nächste Kapitel.

^____^

Erst mal ein fettes Dankeschön für diesen unglaublichen Riesenkommi.

*ihn knuddel und kraul*

*____*

Hach ja, Jassi hab ich auch wahnsinnig lieb. Und wenn Du ihn magst, freu Dich schon mal aufs nächste Kapitel. Da gibt's wieder eine ordentliche Portion.

*hinthinthint*

XD

Und zu Christie muss ich glaub ich nichts sagen. Davon wird's in den nächsten drei Kapiteln auch reichlich geben. Ich hab ihn so wahnsinnig lieb.

♥____♥

Mein Gummibärchen!

*ihn puschel*

Und zu Deiner Frage: Ja, ich lasse Janni gerne leiden. Aber das Schicksal haben alle meine Charas generell gemeinsam. Da müssen sie durch. Janni ist ja nicht der Einzige, der leidet.

*alle knuddel*

Zu den Eltern ... Ja, die sind ziemlich ... speziell. Da werd ich auch später noch mal näher drauf eingehen (müssen), weil's da in meiner Planung noch was gibt, was eine Konfrontation zumindest für Simon unumgänglich macht. Der Arme tut mir jetzt schon leid, aber da muss er durch. Wie gesagt, ich quäle meine Protagonisten gerne.

*mich schäm*

Malte ... Das kommt auch noch. Irgendwann. Vielleicht. Wenn es passt. Aber eigentlich ... Hm, mal sehen. Aber ein bisschen Input kommt da auf jeden Fall noch nach.

*Malte knuddel*

Der tut mir im Augenblick fast am meisten leid.

*drop*

Zu ihm bin ich wirklich besonders fies. Manchmal möchte ich mich selbst hauen für das, was ich mir so ausdenke.

>.<

*kicher*

Mit Vicky und Franzi kommt noch einiges auf Janni zu.

*alle Drei puschel*

Und Flo ... Den liebe ich. Heiß und innig. Ganz besonders für das, was er in Kapitel 17 abziehen wird. Er ist so ein Drecksack. Aber im positiven Sinne.

XD

Wenn ich bedenke, dass der eigentlich nur in einer einzigen Szene kurz auftauchen sollte ...

*hust*

Jetzt gehört er mit zu meinen absoluten Lieblingen. Ohne ihn geht's irgendwie gar nicht mehr. Der hat sich genauso in die Story reingedrängelt wie er das damals auch in Simons Leben gemacht hat, als die beiden noch ... Aber halt, das wäre jetzt zu viel Information. Das kommt vielleicht später mal irgendwann.

^.~
 

So, und nachdem ich euch jetzt einen Knopf an die Backe gelabert und ein Klavier drangehängt hab, wünsche ich euch endlich viel Spaß mit dem neuen Kapitel!
 

Karma
 

~*~
 

"Stehst Du langsam auch auf, Jan? Es gibt gleich Frühstück", werde ich am Samstagmorgen viel zu früh für meinen Geschmack aus meinen Träumen gerissen. Gähnend setze ich mich auf, wische mir den Schlaf aus den Augen und tapse dann müde in Richtung Küche, wo Mama, die mich gerade geweckt hat, schon auf mich wartet. Vicky taucht fast zeitgleich mit mir auf und sieht haargenau so unwach aus, wie ich mich gerade fühle.
 

"Morgen", nuschele ich kaum verständlich, lasse mich auf meinen Platz fallen und sehe mich um, aber von meiner doofen Zickenschwester Franzi ist noch nichts zu sehen. Allerdings wird just in dem Moment, in dem ich mich frage, wo sie wohl steckt, die Wohnungstür aufgeschlossen und keine zwei Minuten später erscheint Franzi vollständig angezogen und putzmunter in der Küche. "Guten Morgen", grüßt sie in die Runde, stellt eine Tüte vom Bäcker auf den Tisch und verschwindet dann erst mal wieder, um ihre Jacke auszuziehen.
 

In der Zeit, die sie dafür braucht, krieche ich halb auf dem Zahnfleisch – am Wochenende schon so früh wach sein zu müssen ist einfach Folter – zum Kühlschrank, um die Milch für Vickys und meinen üblichen Kakao zu holen. Sobald ich den fertig hab, stelle ich meiner schon wieder halb schlafenden kleinen Schwester ihre Tasse vor die Nase und rüttele sie wach, damit sie nicht noch versehentlich vom Stuhl kippt und sich den Kopf am Küchentisch aufschlägt oder so. "Nicht wieder einschlafen", ermahne ich sie dabei, aber sie grummelt nur irgendwas Unverständliches, ehe sie sich an ihrer Kakaotasse festklammert und erst mal geräuschvoll schlürft.
 

Das Frühstück verläuft größtenteils schweigend. Vicky und ich sind zum Reden beide noch viel zu müde und Mama und Franzi haben sich und uns scheinbar auch nichts Wichtiges oder Interessantes zu erzählen. Meine kleine Schwester wird erst nach der zweiten Tasse Kakao etwas munterer und fängt an, darüber zu spekulieren, was unser herzallerliebster Erzeuger und dessen Trulla wohl heute mit ihr unternehmen wird, aber ich blende ihr Geschwafel einfach aus.
 

Im Gegensatz zu Franzi und mir hat Vicky immer noch regelmäßig Kontakt zu diesem Kerl und seiner neuen Freundin und verbringt jedes zweite Wochenende bei denen. Ich wünsche ihr zwar viel Spaß an diesem Wochenende – und meine es sogar ernst, wenn ich das zu ihr sage –, aber eigentlich ist es mir egal, was mein Erzeuger und seine Tussi mit Vicky vorhaben. Hauptsache, sie bringen sie mir nach dem Wochenende unbeschadet wieder nach Hause. Alles andere interessiert mich absolut nicht. Der Mann kann mir gestohlen bleiben. Und seine dämliche Trulla genauso. Ich bin froh, wenn ich gerade mit der nichts zu tun habe. Immerhin ist es zum größten Teil ihre Schuld, dass meine Eltern sich überhaupt haben scheiden lassen. Versteht man, warum ich diese Ische absolut nicht leiden kann?
 

"Vielleicht solltest Du ein bisschen weniger reden und Dich dafür mit dem Essen ein bisschen mehr beeilen, damit Du gleich auch pünktlich fertig bist, wenn Du abgeholt wirst", raunzt Franzi Vicky irgendwann an, als ihr das Geplapper zu viel wird, und obwohl ich es nicht will, bin ich meiner großen Schwester innerlich doch irgendwie dankbar dafür. Dieses permanente "Papa hier, Sylvie da, wir drei dort"-Gerede von Vicky geht mir auch ganz tierisch auf die Nerven.
 

Vicky streckt Franzi auf ihre Belehrung hin die Zunge heraus, beeilt sich aber trotzdem und springt gleich nach dem Frühstück auf, um sich anzuziehen. Franzi verschwindet kurz darauf ebenfalls in ihr Zimmer und so bin ich der Einzige, der noch in der Küche ist – Mama ist gerade kurz im Bad verschwunden –, als es klingelt. Nicht wirklich enthusiastisch schlurfe ich zur Tür, drücke den Summer und hebe Slim, der sich bei dieser günstigen Gelegenheit gleich davonstehlen will, schnell hoch, ehe er wirklich ausbüxen kann. Dadurch verliere ich wertvolle Zeit und so schaffe ich es nicht, mich wie sonst noch schnell aus dem Flur in mein Zimmer zu verdrücken, bevor mein Vater die Wohnungstür öffnet.
 

"Guten Morgen, Jan", sagt er steif, nachdem sich seine erste Überraschung über diese unerwartete und – zumindest mir – auch ziemlich unangenehme Begegnung gelegt hat. "Vicky ist schon so gut wie fertig", erwidere ich nur auf seine Begrüßung und schleppe Slim dann eilig in mein Zimmer. Bloß weg von diesem Mann! Je seltener ich ihn sehe und mit ihm reden muss, desto besser.
 

"Hallo, Prinzessin! Du wirst eindeutig mit jedem Tag noch hübscher", höre ich noch, als ich gerade meine Zimmertür hinter mir schließen will. Sofort muss ich gegen den Drang ankämpfen, mich auf der Stelle zu übergeben. Wie schleimig kann man eigentlich sein? Der kann ja nur von Glück sagen, dass Vicky mit zwölf einfach noch zu jung ist um zu begreifen, was für ein mieses Arschloch unser gemeinsamer Erzeuger eigentlich ist. Aber solange sie das nicht von selbst merkt, werde ich schön die Klappe halten. Immerhin liebt meine kleine Schwester diesen Penner ja. Das werde ich ihr nicht kaputtmachen. Ich bin schließlich nicht so ein Arsch wie er.
 

"Janni?", unterbricht Vicky Stimme aus dem Flur meine gedanklichen Hasstiraden auf unseren gemeinsamen Erzeuger und ich atme tief durch, um mich wenigstens äußerlich zusammenzureißen, ehe ich nachsehe, was sie jetzt noch von mir will. "Was denn?", frage ich und meine kleine Schwester wirft mir einen extra bittenden Blick zu. "Vergiss nicht, was Du mir gestern Abend versprochen hast, ja? Frag ihn!", verlangt sie und daraufhin nicke ich ergeben, ohne meinen Vater weiter zu beachten.
 

"Klar, mach ich. Ich hab's Dir doch versprochen. Das vergesse ich schon nicht, keine Angst", versichere ich ihr und sie strahlt mich an, winkt mir noch einmal zu und hüpft dann fröhlich aus der Wohnung, dicht gefolgt von unserem reichlich irritierten Erzeuger. Der fragt sich wahrscheinlich gerade, was für Geheimnisse Vicky und ich wohl miteinander und vor ihm haben. Ich hoffe nur, sie verrät ihm nichts. Meine Lippen sind jedenfalls definitiv versiegelt.
 

Nicht, dass er mich überhaupt fragen würde. Immerhin ist unser Verhältnis nicht das beste. Es ist zwar bei weitem nicht so schlecht wie das von Simon und seinem Vater, aber es ist auch mies genug. Ich bin eben einfach nicht der Sohn, den mein Vater sich erhofft hat. Ich bin zu klein, zu schwach, zu unsportlich, zu krank. Tja, tut mir ja leid für ihn, aber vielleicht hat er beim nächsten Mal ja ein bisschen mehr Glück. Immerhin ist Sylvie, seine dämliche Bumse, doch schwanger von ihm, soweit ich weiß. Vielleicht kriegt mein werter Herr Erzeuger ja von ihr endlich den Sohn, den er so dringend haben will.
 

Ganz ehrlich: Seit ich davon weiß, hoffe ich inständig, dass Sylvie ein Mädchen kriegt. Nicht, weil ich unbedingt noch eine Schwester haben will – zwei reichen mir voll und ganz, danke der Nachfrage –, sondern einfach nur, um meinem Erzeuger eins auszuwischen. Gehässig von mir, ich weiß, aber ich gönne es meinem Alten einfach, dass es wieder nicht so läuft, wie er es gerne hätte. So mies, wie er sich Mama, Franzi und mir gegenüber verhalten hat und teilweise immer noch verhält – bei Vicky ist das was anderes; sie ist ja schließlich seine kleine Prinzessin –, hat er's echt nicht anders verdient. Der Kerl ist einfach ein Arschloch allererster Güte.
 

Um mich nicht weiter über Dinge zu ärgern, die ich sowieso nicht ändern kann, schiebe ich alle Gedanken an meinen Erzeuger entschlossen beiseite und mache mich stattdessen daran, in meinem Zimmer Ordnung zu schaffen, nachdem ich mir noch eben schnell irgendwas übergezogen hab. Ich räume meinen Rucksack und meine Tasche aus, stopfe die dreckige Wäsche in den Wäschekorb im Bad und packe dann schon mal alles, was ich für die Übernachtung bei Christie nachher brauche, in meinen Rucksack. Den stelle ich neben mein Bett und tapere dann erst mal ins Bad, um zu duschen. Danach husche ich zurück in mein Zimmer und nutze die Zeit, die meine Haare zum Trocknen brauchen, dazu, meinen Kleiderschrank aufzureißen und mir zu überlegen, was ich heute Abend eigentlich genau anziehen will.
 

Schlussendlich entscheide ich mich nach einer Dreiviertelstunde des Grübelns – meine Haare sind inzwischen schon lange getrocknet – für eine schwarze Jeans und ein ebenfalls schwarzes, langärmeliges Shirt. Dazu noch meine dunkelgraue Kapuzenjacke und damit ist mein Outfit auch schon komplett. Meine restlichen Klamotten packe ich wieder zurück in den Schrank und werfe dann einen Blick auf die Uhr. Erst kurz nach zwölf, also werd ich wohl noch ein Weilchen zu Hause sein, ehe Ruben und Christie kommen, um mich abzuholen.
 

Einen Moment lang spiele ich mit dem Gedanken, einfach heimlich die Wohnungstür aufzumachen, Slim rauszulassen und dann mit ihm zusammen nach oben zu Simon zu gehen, aber den Gedanken verwerfe ich gleich wieder. Er hat zwar gesagt, ich kann jederzeit raufkommen, aber was soll ich ihm sagen, wenn er mich nach dem Grund für meinen Besuch fragt? Ich kann ihm ja wohl schlecht erzählen, dass ich ihn einfach nur sehen wollte, weil ich Sehnsucht nach ihm hatte, oder?
 

Nee, ganz sicher nicht. Ich könnte zwar rein theoretisch das Reli-Referat als Vorwand benutzen, aber es wäre doch reichlich seltsam, wenn ich dafür alleine aufkreuze. Außerdem kann ich Ruben das auch nicht antun. Immerhin hat er sich ja hauptsächlich deshalb überhaupt erst freiwillig für dieses blöde Referat gemeldet, um heimlich, ungestört und vor allem von seinen Eltern unbemerkt ein bisschen Zeit mit seinem großen Bruder verbringen zu können. Da wäre es doch echt fies von mir, wenn ich ihm das kaputtmache.
 

Seufzend und etwas planlos schlendere ich in die Küche, werfe dort einen Blick aus dem Fenster und seufze erneut. Simons Auto steht nicht auf dem Parkplatz. Wenn ich wirklich raufgegangen wäre, würde ich jetzt vor verschlossener Tür stehen. Ich habe mir also für nichts und wieder nichts das Hirn zermartert. Super, echt. Alles umsonst. Na ja, vielleicht ist er gerade nur einkaufen. Oder er muss arbeiten. Immerhin ist heute ja erst Samstag.
 

Ob ich mal in die Stadt fahren und bei ihm im Laden vorbeigehen soll? So ganz zufällig, versteht sich. Ein weiteres Mal seufzend schüttele ich leicht den Kopf. Nein, das ist keine gute Idee. Ich würde mich ja doch nur wieder blamieren oder mich eventuell sogar verplappern. Und das muss wirklich nicht sein. Außerdem weiß ich ja nicht mal, ob ich den Laden überhaupt alleine wiederfinden würde. Mein Orientierungssinn ist schließlich nicht gerade der beste und da ich nicht mal weiß, wie der Laden eigentlich heißt, kann ich auch nicht im Internet nach einer Wegbeschreibung kucken. Mann, ich bin doch echt ein Esel. Warum in aller Welt fällt mir so was eigentlich erst jetzt auf? Mir ist doch echt nicht mehr zu helfen.
 

Über mich selbst und meine Blödheit den Kopf schüttelnd tapere ich zurück in mein Zimmer, nachdem ich den leeren Parkplatz lange genug angestarrt habe. Ich fläze mich auf mein Bett und beschließe, einfach noch ein bisschen rumzugammeln, bis Ruben und Christie mich abholen. Hausaufgaben hab ich keine mehr zu erledigen, also habe ich auch nichts Besseres zu tun als Löcher in meine Zimmerdecke zu starren und mir zu wünschen, dass ich jetzt bei Simon sein könnte. Verdammt, verliebt sein ist doch scheiße!
 

Mit meinem Plan, einfach ein bisschen zu chillen, scheint Slim, the ultimate Kater of Doom, mehr als einverstanden zu sein, denn kaum dass ich es mir so richtig bequem gemacht hab, kommt er auch schon angewetzt und springt mal wieder mit voller Wucht auf meinen Bauch. Ich ächze leise, kraule ihn aber trotzdem hinter den Ohren und als er sich daraufhin schnurrend auf mir zusammenrollt, muss ich schmunzeln. Manchmal ist dieses Mistvieh ja doch ganz süß.
 

"Weißt Du was?", frage ich die haarende Schnurrmaschine irgendwann und stupse seine Nase mit dem Zeigefinger an, als er schläfrig eins seiner Augen öffnet, um mich anzusehen. "Morgen besuchen wir beide Simon. Einfach nur so", teile ich dem Kater dann meinen Entschluss mit und versuche, alle Bedenken, ob das wirklich eine gute Idee ist und ob ich Simon nicht vielleicht doch störe, ebenso zu ignorieren wie mein wahnsinniges Herzrasen. Jetzt, wo ich es laut ausgesprochen hab, muss ich's auch durchziehen. Immerhin habe ich einen Zeugen für meine Worte. Gut, Slim ist nur eine Katze und kann sich nicht über mich lustig machen, wenn ich doch kneife, aber ich hoffe einfach ganz stark, dass er trotzdem Ansporn genug für mich ist. Ich will einfach nicht mehr immer so verdammt feige sein. Wie soll Simon mich denn ernstnehmen oder sich gar in mich verlieben, wenn ich mich immer so unglaublich peinlich und blöd aufführe? So wird das doch nie was.
 

Mitten in meine Grübeleien hinein dringt irgendwann der Ruf meiner Mutter zum Mittagessen. Etwas mühsam rappele ich mich wieder von meinem Bett hoch und latsche, verfolgt vom Fellball from Hell, in die Küche. Franzi sitzt schon auf ihrem Platz und die Tatsache, dass Vicky nicht da ist, nutzt Slim gleich aus, um ihren Stuhl für sich zu beschlagnahmen. Da er ansonsten aber nichts macht – er weiß, dass er vom Tisch eh nichts kriegt, also bettelt er auch gar nicht erst –, darf er da ausnahmsweise sogar sitzen bleiben.
 

Das Mittagessen verläuft kaum weniger schweigsam als das Frühstück heute Morgen. Franzi und ich haben uns einfach nichts zu sagen und Mama scheint ihre Vermittlungsversuche endgültig aufgegeben zu haben. Ein bisschen tut es mir ja schon leid, dass sie unseretwegen Stress hat – ihre besorgten Blicke sind einfach nicht zu übersehen –, aber bei dieser Sache kann und will ich einfach nicht klein beigeben und den ersten Schritt machen. Mir ist vollkommen egal, ob der Klügere nachgibt oder was auch immer. Ich habe einfach keine Lust mehr, immer Franzis Fußabtreter zu sein. Dafür soll sie sich einen anderen Dummen suchen. Ich mache da nicht mehr mit.
 

In Ermangelung einer besseren Beschäftigung helfe ich meiner Mutter nach dem Essen beim Abräumen und Spülen und mache danach sogar ausnahmsweise mal freiwillig und ohne zu murren Slims Katzenklo sauber. Sobald das erledigt ist, schnappe ich mir gleich den Müll, um ihn runterzubringen. Immerhin muss Slims Duftnote ja nicht länger als unbedingt nötig die ganze Wohnung verpesten.
 

Als ich unten die Haustür aufreiße – den Kater of Doom hab ich vorher sicherheitshalber in mein Zimmer gesperrt, damit er nicht schon wieder flitzen gehen kann –, trifft mich fast der Schlag. Vor der Tür stehen Ruben und Christie, die mich mindestens ebenso überrascht ansehen wie ich sie. Offenbar wollten sie gerade bei uns schellen. Rubens Finger schwebt jedenfalls über dem Klingelknopf, aber als er mich erkennt, lässt er die Hand sinken und grinst mich stattdessen breit an.
 

"Perfektes Timing", begrüßt er mich und hält mir die Haustür auf. Ich quetsche mich schnell an ihm vorbei und sprinte eben zur Mülltonne, um das Katzenstreu zu entsorgen. "Wie man's nimmt. Fürs Mittagessen seid ihr jedenfalls ne halbe Stunde zu spät dran", erwidere ich dann und grinse die beiden ebenfalls an. Daraufhin fängt Ruben an zu lachen, während Christie einfach nur schmunzelt.
 

"Aber reinkommen könnt ihr trotzdem. Ich bin eigentlich auch schon so gut wie fertig, also können wir gleich los, wenn ihr wollt." Damit lotse ich die Zwei erst ins Haus und dann in unsere Wohnung, wo ich sie noch eben schnell meiner Mutter vorstelle – sie will schließlich alle Freunde von mir kennen lernen; ist ja auch gar nicht peinlich für mich oder so –, ehe ich zu meinem Zimmer sause, um Slim zu befreien, meinen Rucksack zu holen und noch schnell mein restliches Taschengeld für heute Abend einzustecken. Und schon bin ich startbereit.
 

"Ist Simon nicht zu Hause?", erkundigt Ruben sich auf dem Weg nach draußen bei mir und ich muss mich stark zusammenreißen, um mir vor Christie nichts anmerken zu lassen. Irgendwie ist es noch total ungewohnt, dass Ruben jetzt auch über die ganze Sache Bescheid weiß. Und es ist mir auch ein bisschen unangenehm. Ob er Christie auch wirklich nichts verraten hat?
 

"Keine Ahnung. Sein Auto ist jedenfalls nicht da. Wahrscheinlich muss er arbeiten oder so", vermute ich. Ruben zieht kurz einen Flunsch und seufzt, fängt sich aber schnell wieder. "Na, macht ja nichts. Ich seh ihn ja am Montag schon wieder. Da treffen wir uns doch wieder wegen dem Referat, oder?", fragt er mich und ich nicke einfach nur. Dabei nehme ich mir felsenfest vor, morgen auf jeden Fall wenigstens ganz kurz zu Simon zu gehen. Einen guten Vorwand habe ich ja jetzt. Ich muss ihn ja schließlich fragen, ob es ihm auch wirklich recht ist, wenn Ruben und ich ihn am Montag nach der Schule schon wieder überfallen. Ich glaube zwar kaum, dass es ihn stört, seinen kleinen Bruder wiederzusehen, aber sicher ist schließlich sicher, nicht wahr?
 

Überaus zufrieden mit meinem genialen Plan für den morgigen Tag klettere ich gemeinsam mit Ruben und Christie in den Bus, zu dem die beiden mich in der Zwischenzeit geschleift haben. Zusammen quetschen wir uns auf einen Dreierplatz, Ruben in der Mitte, und ich merke, dass ich mich langsam wirklich auf den Rest des Tages und auch auf den Abend zu freuen beginne. Ich habe bisher noch nie Halloween gefeiert – dieser ganze Gruselkram ist normalerweise einfach nichts für mich –, aber ich bin mir absolut sicher, dass es heute echt lustig wird.
 

"Wir treffen die Anderen nachher übrigens mehr oder weniger direkt an der Halle. Da werden wir alle so um Mitternacht rausgeschmissen, weil wir ja leider noch nicht volljährig sind, und dann holen uns entweder Babsi oder Andi ab, fahren die Anderen nach Hause und nehmen uns Drei dann mit zu sich", breitet Ruben die Abendplanung vor mir aus. Ich nicke darauf nur. Eine verbale Antwort spare ich mir und hangele stattdessen nach meinem Handy, das gerade laut und vernehmlich gepiepst hat.
 

››Sie hat mich geküsst, Jan! Gerade eben! Einfach so!‹‹, blinkt mir freudig entgegen, sobald ich die SMS geöffnet hab, und ich muss unwillkürlich grinsen. Wenn Jassi schon auf sein übliches "Kleiner" für mich verzichtet, dann heißt das im Klartext, dass er total aufgekratzt und überdreht ist. Ich muss zugeben, ich bin echt unheimlich gespannt auf das Mädchen, das meinem besten Freund so den Kopf verdreht hat. Diese Sina muss ja wirklich verdammt toll sein.
 

››Glückwunsch, Großer! Ich freu mich für Dich!‹‹, schreibe ich Jassi zurück, schicke die Nachricht ab und grinse immer noch, als ich das Handy wieder in meiner Jackentasche verschwinden lasse. "Gute Neuigkeiten?", will Ruben neugierig wissen und ich nicke grinsend. "Und wie. Jassi bringt heute Abend nicht nur irgendein Mädchen mit, sondern seine neue Freundin. Sina hat ihn gerade geküsst", erzähle ich und jetzt grinst auch Ruben.
 

"Na, dann haben wir nachher ja gleich noch mehr zu feiern", freut er sich und lehnt sich an Christie, der ihm kopfschüttelnd und schmunzelnd zugleich durch die Haare wuschelt. "Du brauchst auch endlich eine Beziehung, damit Du Dich nicht mehr dauernd fremdfreuen musst", sagt er dabei und ich muss kichern, während Ruben einen Flunsch zieht.
 

"Das sagt genau der Richtige", schmollt er und verrenkt sich halb den Hals, um Christie die Zunge herausstrecken zu können. "Ich werd mir erst dann eine Beziehung anschaffen, wenn Du auch endlich kein Single mehr bist", schiebt er dann noch hinterher und Christie seufzt vernehmlich. Seine Wangen nehmen eine rötliche Färbung an und er versucht, seinen Arm zurückzuziehen, aber Ruben hält ihn unerbittlich fest.
 

"Das Thema hatten wir doch schon tausendmal", nuschelt Christie beschämt, doch Ruben ignoriert diese Beschwerde und auch die Befreiungsversuche seines besten Freundes komplett. "Ich weiß. Trotzdem finde ich, Du brauchst endlich mal wieder ...", fängt er an, aber Christie lässt ihn nicht ausreden. "Das lass mal meine Sorge sein", fällt er Ruben ins Wort und der schiebt wieder schmollend seine Unterlippe vor, gibt sich schlussendlich aber doch seufzend geschlagen. "Na gut. Von mir aus", murrt er nicht sehr begeistert und Christie lächelt wieder. "Siehst Du, das war doch jetzt gar nicht so schwer."
 

Ich beobachte diesen Schlagabtausch, den die beiden heute augenscheinlich nicht zum ersten Mal führen, aber anstatt auf Ruben konzentriere ich mich jetzt ganz bewusst auf Christie. Dabei versuche ich zu verstehen, was Vicky wohl gestern in ihm gesehen hat. Irgendeinen Grund muss es ja schließlich dafür geben, dass sie ihn ihren eigenen Worten zufolge "süß" findet. Ich habe zwar keine wirkliche Ahnung, wie meine kleine Schwester tickt – ich bin ja schließlich auch kein Mädchen; zum Glück! –, aber ich gebe mir zumindest Mühe, ihre Ansicht nachzuvollziehen.
 

Rein objektiv betrachtet muss ich durchaus zugeben, dass Christie ziemlich gut aussieht. Mir persönlich gefallen helle Augen zwar besser als so dunkle wie seine – und an Simons graue kommt sowieso nichts und niemand ran, aber das tut hier ja im Moment mal so gar nichts zur Sache –, aber gerade wenn er lächelt oder lacht, ist er wirklich ziemlich hübsch für einen Jungen. Er ist zwar jetzt nicht unbedingt wahnsinnig muskulös, aber das muss ja auch gar nicht sein. Er ist weder zu dick noch zu dünn, sondern eigentlich genau richtig. Mein Typ ist er zwar eindeutig nicht, aber ich glaube, ich kann zumindest ein winzig kleines bisschen nachvollziehen, was Vicky an ihm findet. Ich meine, er sieht ja nicht nur gut aus, sondern ist auch noch total nett und jemand, auf den man sich hundertprozentig verlassen kann. Alles in allem könnte man wohl durchaus sagen, dass er eine ziemlich gute Partie ist.
 

"Wir müssen hier aussteigen, Jan", werde ich aus meiner Betrachtung und aus meinen Gedanken gerissen und als ich ertappt zusammenfahre, blickt Ruben mich mit schiefgelegtem Kopf fragend an. "Wovon – oder vielmehr von wem – hast Du denn gerade geträumt?", will er neugierig wissen und ich schüttele hastig den Kopf. "Ich hab überhaupt nicht geträumt", nuschele ich beschämt, stehe auf und folge Christie, der schon vorgegangen ist, zum Ausstieg.
 

Ruben kraxelt hinter mir aus dem Bus und hält mich zurück, als ich vor ihm zu flüchten versuche. "Und warum hast Du Christie dann so verklärt angekuckt? Gefällt er Dir etwa?", bohrt er nach und mein Gesicht läuft schlagartig rot an. "Nein!", widerspreche ich panisch und schüttele hektisch den Kopf. "Das war nur, weil ... Vicky findet ihn süß", platze ich dann heraus und schäme mich in Grund und Boden – nicht nur, weil ich mich immer so blöd anstelle, sondern auch, weil ich auch noch meine kleine Schwester verraten habe. Ist das peinlich!
 

Ruben blinzelt nach meiner Antwort perplex, fängt aber kurz darauf an zu kichern. "Echt?", vergewissert er sich und als ich nur verlegen nicke, packt er voller Begeisterung meinen Arm und schleift mich hinter Christie her, der schon ein Stück vorausgegangen ist. Sobald er ihn eingeholt hat, hängt er sich von hinten an seine Jacke dran und zwingt ihn so, stehen zu bleiben.
 

"Du, diese ganze leidige Sache mit der neuen Beziehung für Dich können wir ganz leicht regeln. Jans kleine Schwester fährt nämlich total auf Dich ab, weißt Du?", informiert er seinen besten Freund dann, sobald dieser sich zu uns umgedreht hat. Sofort werden Christies Augen groß und sein Blick huscht unsicher von dem breit grinsenden Ruben zu mir. Scheinbar ist er sich nicht ganz sicher, ob das jetzt ein Scherz ist oder doch die Wahrheit. Allerdings ist mein Gesichtsausdruck ihm offensichtlich Antwort genug, denn er wird binnen Sekunden mindestens ebenso rot wie ich. Ruben findet das Ganze unheimlich witzig und irgendwie möchte ich ihn gerade für sein blödes Gekicher schlagen. Es geht hier immerhin um meine kleine Schwester, also finde ich das alles andere als komisch.
 

"Schon wieder ein Mädchen mehr auf Deiner Liste. Deine Verehrerinnen werden irgendwie immer jünger, kann das sein?" Ruben kriegt sich überhaupt nicht mehr ein. Weder Christies noch mein böser Blick haben irgendeine Wirkung auf ihn und so langsam werde ich wirklich sauer. Dass man mich auslacht, bin ich ja gewöhnt, aber ich mag es ganz und gar nicht, wenn sich irgendjemand über meine kleine Schwester lustig macht. Das hat Vicky wirklich nicht verdient. Und Christie auch nicht.
 

Der scheint das genauso zu sehen wie ich, denn er seufzt genervt, schüttelt Rubens Hand von seiner Jacke ab und pustet sich eine blauschwarze Strähne aus dem Gesicht, während Ruben sich noch immer gibbelnd an einer Hauswand abstützt. "Jan und ich gehen schon mal vor zu mir. Du kannst ja nachkommen, wenn Du Dich irgendwann mal wieder eingekriegt hast, Du Kichererbse. Den Weg findest Du ja wohl auch alleine" Damit wirft Christie mir einen auffordernden Blick zu und ich entschließe mich, ihm zu folgen. Den noch immer kichernden Ruben lassen wir beide einfach so stehen, ohne ihn noch eines weiteren Blickes zu würdigen.
 

Zu meiner Überraschung führt der Weg, den Christie einschlägt, nach einer kurzen Biegung am Friedhof vorbei. Mehrere Minuten lang latschen wir beide schweigend am Zaun entlang, ehe Christie schließlich an einem Zebrastreifen stehen bleibt und nach kurzem Warten die Straße überquert. Noch immer hat er kein Wort gesagt und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er gerade ziemlich angefressen ist wegen Rubens dummen Kommentaren. Da ich allerdings nicht weiß, was ich dazu sagen soll, halte ich einfach die Klappe und beeile mich, mit Christie Schritt zu halten. Immerhin wollten wir ja zu ihm nach Hause, also sollte ich mich vielleicht ein bisschen ranhalten, damit er nicht einfach ohne mich abhaut und mich hier irgendwo mitten in der Pampa stehen lässt, wo ich mich nicht auskenne.
 

Das scheint Christie zu meiner Erleichterung allerdings nicht vorzuhaben, denn auf der anderen Straßenseite bleibt er stehen und wirft einen Blick zurück. Im ersten Moment glaube ich, er wartet auf mich, aber als er mit einem genervten Seufzen die Augen verdreht, wird mir klar, dass er nicht nach mir Ausschau gehalten hat, sondern nach Ruben. Unwillkürlich werfe ich auch einen Blick über die Schulter, aber von der Kichererbse, wie Christie seinen besten Freund vorhin genannt hat, ist noch nichts zu sehen. Wahrscheinlich steht er immer noch da, wo wir ihn stehen lassen haben, und kichert weiter blöde vor sich hin.
 

Ich sehe aus dem Augenwinkel zu Christie, was dieser als Aufforderung nimmt, das Schweigen zwischen uns doch endlich zu brechen. "Ich wohne gleich da vorne am Ende der Sackgasse, direkt über dem Laden", erklärt er mir und als mein Blick zu der von ihm bezeichneten Ecke huscht, werden meine Augen groß. Allerdings liegt das nicht an der Gärtnerei, die an der angegebenen Ecke liegt, sondern vielmehr daran, dass sie sich direkt neben dem Eingang zum Friedhof befindet. Ich glaube, jeden Morgen so deutlich die Erinnerung an meine eigene Sterblichkeit vor Augen zu haben, würde mich auf Dauer echt deprimieren.
 

"Sei nicht sauer auf Ruben, ja?", bittet Christie mich, nachdem wir uns beide wieder Bewegung gesetzt haben, und ich blicke ihn von der Seite her irritiert an. "Er ist manchmal etwas kindisch, aber er meint's eigentlich nicht wirklich böse – auch, wenn's echt nicht nett von ihm war, dass er Deine Schwester in seinen blöden Witz mit reingezogen hat. Aber so ist er eben", verteidigt er Ruben. Das Lächeln, das sich bei diesen Worten auf seine Lippen legt, hat etwas Entschuldigendes und ich frage mich unwillkürlich, ob Ruben eigentlich weiß, dass sein bester Freund ihn auch dann noch verteidigt und in Schutz nimmt, wenn er selbst unter Rubens seltsamem Humor zu leiden hat.
 

"Ähm ... Er hat sie da nicht mit reingezogen", gebe ich etwas beschämt zu, als wir an der Seitentür der Gärtnerei ankommen. Christie hat mich einen kleinen Weg zwischen dem Friedhof und dem Laden entlang geführt und kramt gerade in seiner Jackentasche nach dem Schlüssel, hält bei meinen Worten allerdings inne und sieht mich überrascht an. "Na ja, jedenfalls nicht so richtig. Sie ... sie findet Dich wirklich süß und ich musste ihr gestern Abend hoch und heilig versprechen, dass ich ... dass ich eben mal nachfrage, was Du so von ihr denkst", nuschele ich weiter und werde mit jedem weiteren Wort leiser und auch röter. Das ist ja so unsagbar peinlich!
 

"Wirklich?", fragt Christie nach und als ich zaghaft nicke, schluckt er schwer und wird auch wieder rot. Allerdings sagt er nichts mehr, sondern fördert nur endlich den Schlüssel aus seiner Tasche zutage. Etwas fahrig schließt er die Tür auf, lotst mich hinein und weist mich an, bis zum Ende des Flurs durchzugehen und dann schon mal die dort gelegene Treppe nach oben in den ersten Stock zu nehmen.
 

Während des Aufstiegs komme ich mir ein bisschen wie ein Urwaldforscher vor. Auf jeder einzelnen Treppenstufe stehen irgendwelche Pflanzen in kleineren und größeren Tontöpfen und ich hab das Gefühl, ich muss mich auf dem Weg nach oben durch einen halben Dschungel kämpfen. Hier ist es wirklich überall grün und ich frage mich etwas zusammenhanglos, ob dieses ganze Grünzeug nicht irgendwie einen ziemlichen Sauerstoffüberschuss erzeugt. Ich glaube, ich würde irre werden, wenn ich bei jedem Schritt so viel Grün um mich hätte. Aber gut, ich habe ja eh keinen wirklich grünen Daumen – offenbar ganz im Gegensatz zu den Bewohnern dieses Hauses. Irgendwie ja schon bewundernswert.
 

Christies Zimmer oben im ersten Stock zu finden ist absolut nicht schwer. Zum Einen steht die Tür sperrangelweit offen und zum Anderen spricht schon das Gelini-Poster auf dem hellen Holz eine mehr als deutliche Sprache. Neugierig geworden betrete ich Christies Reich und finde mich tatsächlich mit einer Flut von Plüschbären konfrontiert, die jedes Spielwarengeschäft neidisch machen würde. Von winzigen Teddys, die höchstens fünf Zentimeter groß sind und irgendwo auf mehreren hellen Holzregalen verteilt sitzen oder liegen bis hin zu einem wirklich riesigen hellgrauen Bären mit rosafarbener Krawatte und einem aufgestickten Herzchen auf dem Bauch, der mindestens einen Meter groß sein muss und seinen Platz in einem hölzernen Schaukelstuhl neben dem Fenster hat, ist wirklich jede Größe und auch so ziemlich jede Farbe vertreten. Ich komme jedenfalls aus dem Staunen nicht mehr raus. Das müssen mindestens an die hundert Bärchen sein, wenn nicht sogar noch mehr.
 

Bevor ich allerdings damit anfangen kann, die ganzen Teddys zu zählen, geht die Tür hinter mir zu und als ich mich halb umdrehe, sehe ich mich einem etwas gezwungen lächelnden Christie gegenüber. Seine Wangen sind noch immer leicht gerötet und er streicht sich verlegen durch die Haare. Mit leiser, eindeutig belegter Stimme bietet er mir einen Platz auf seiner Couch an, vermeidet es dabei aber tunlichst, mich direkt anzusehen. Offenbar ist ihm die ganze Vicky-Sache mindestens ebenso peinlich wie mir. Irgendwie macht ihn das in meinen Augen gleich noch ein ganzes Stück sympathischer.
 

"Das mit Deiner Schwester ...", fängt er schließlich an, nachdem er sich ans andere Ende der Couch gesetzt hat. "Also ... sie ist sicher ganz nett, aber sie ist schließlich erst zwölf und ich bin schon fast sechzehn. Das ... Der Altersunterschied ist doch viel zu groß. Und außerdem ... Na ja, es gibt da auch schon eine Person, die ich sehr mag", fährt er leise fort und sein Blick huscht kurz zu der Pinnwand über seinem Schreibtisch, an der Dutzende von Fotos seiner Freunde hängen. Dabei kann ich sehen, dass mittlerweile nicht nur seine Wangen, sondern auch seine Ohren rot sind.
 

"Das ist zwar nur einseitig, aber ich kann trotzdem nicht ... Das verstehst Du doch sicher, oder?", fragt Christie halb vorsichtig, halb hoffnungsvoll und ich nicke langsam. "Schon", antworte ich und kann förmlich dabei zusehen, wie ihm ein Stein vom Herzen fällt. "Ich glaub auch ehrlich gesagt nicht, dass das bei Vicky wirklich was Ernstes ist, aber ich hab's ihr halt versprochen und ... Gestern Abend wollte sie noch Simon heiraten", werfe ich dann ein und der Blick, der mich daraufhin trifft, ist so überrascht, dass ich fast schon gegen meinen Willen ein wenig grinsen muss.
 

"Weiß Deine Schwester denn nicht, dass Simon schwul ist?", fragt Christie mich ungläubig und ich nicke. "Doch, jetzt schon. Er hat's ihr gestern im Auto gesagt, als sie von ihren Heiratsplänen angefangen hat. Na ja, und danach kam sie dann irgendwie auf Dich. Ich glaub, wenn ich ihr erzähle, dass sie sich das auch abschminken kann, dann ist Ruben garantiert der Nächste, auf den sie's abgesehen. Würde mich jedenfalls nicht wirklich überraschen. Ihn fand sie auch "total niedlich" – ihre Worte, nicht meine –, aber Du hast ihr eben doch etwas besser gefallen als er."
 

"So was würde Ruben eigentlich nur recht geschehen." Christie grinst leicht und mir entfährt ein Kichern. "Selbst wenn's nicht so wär, könnte ich sie bestimmt dazu überreden, wenigstens mal so zu tun, wenn sie ihn das nächste Mal sieht. Dann weiß er mal, wie das ist, wenn man von einer Zwölfjährigen verfolgt wird", schlage ich vor und jetzt lacht auch Christie.
 

"Ich würde ja nur zu gerne sehen, wie er sich da aus der Affäre zieht", gibt er zu und ich grinse ihn an. Irgendwie gefällt mir der Gedanke, Ruben sein blödes Gekicher von vorhin auf diese Art heimzuzahlen, immer besser. "Das ließe sich bestimmt einrichten. Vicky spielt Anderen gern Streiche und das würde ihr garantiert eine Menge Spaß machen."
 

"Was macht wem Spaß?", mischt Ruben, der natürlich just in diesem Moment die Tür aufreißt und ins Zimmer platzt, sich in das Gespräch ein und sein Blick huscht fragend zwischen seinem besten Freund und mir hin und her. "Wir haben uns über heute Abend unterhalten", lügt Christie daraufhin schnell, ohne Ruben direkt anzublicken. Ich nicke zustimmend und sobald Ruben nicht mehr genau hinsieht, zwinkere ich Christie schnell verschwörerisch zu. Er grinst kurz zurück, aber kaum dass Ruben sich zwischen uns auf die Couch plumpsen lässt, tun wir beide so, als wäre nichts gewesen.
 

Innerlich kann ich nicht aufhören zu grinsen. Doch, ich mag Christie eindeutig mit jedem Treffen mehr. Ich bin richtig froh, dass ich nicht nur Ruben, auf den ich mittlerweile seltsamerweise nicht mal mehr wirklich ernsthaft böse bin, sondern auch Christie durch Rubens Schulwechsel kennen gelernt hab. Und ich freue mich inzwischen auch eindeutig wieder auf heute Abend. Das wird sicher sehr lustig.
 

Nachdem die angespannte Stimmung zwischen uns Dreien erst mal weg ist, blödeln Ruben, Christie und ich einfach nur eine Weile lang gemeinsam in Christies Zimmer herum. Wir erzählen abwechselnd irgendwelche lustigen Sachen, die uns mal in der Schule oder sonst wo passiert sind, lachen viel und irgendwann zettelt Ruben eine kleine Bärchenschlacht an, die sein bester Freund allerdings gleich wieder unterbindet. Ganz offenbar hängt er wirklich an seinen Teddys. Als Ersatz drückt er Ruben ein Kissen in die Hand und in der nächsten halben Stunde bin ich schwer damit beschäftigt, mit einem eigenen Kissen die gemeingefährlichen Attacken abzuwenden, ohne dabei vor Lachen zu ersticken. Das ist eindeutig schwieriger, als es klingt.
 

Zwischendurch werden wir irgendwann kurz von Christies Vater unterbrochen, der uns mitteilt, dass er uns heute Abend leider nicht zur Halle hinfahren kann, weil er noch eine dringende Kranzbestellung fertig machen und ausliefern muss. Dafür verspricht er uns aber hoch und heilig, uns auf jeden Fall wieder abzuholen, wenn es für uns Zeit wird, nach Hause zu fahren.
 

Da ich gestern Abend wegen des Wiedersehens mit Simon nicht wirklich einen Kopf dafür hatte, nehme ich mir jetzt die Zeit, mir Christies Vater mal näher anzusehen. Er hat, stelle ich dabei gleich auf den ersten Blick fest, keine besonders große Ähnlichkeit mit seinem Sohn. Seine Augen sind hellblau, seine Haare und sein Bart sind von einem leicht rötlichen Braun und er ist nicht nur wirklich enorm groß – er muss sich bücken, um überhaupt durch die Tür zu kommen –, sondern auch so breit gebaut, dass er fast in die Kategorie "wandelnder Kleiderschrank" fällt. Dazu hat er auch noch eine sehr tiefe, dröhnende Bassstimme und ich frage mich unwillkürlich, ob Christie überhaupt etwas von seinem Vater geerbt hat. Rein optisch kann ich jedenfalls nichts finden. Ich bin irgendwie froh, dass ich sitze. Wenn ich neben ihm stehen müsste, würde ich mir mit Sicherheit noch viel winziger vorkommen, als ich ohnehin schon bin.
 

Sobald Herr Renning – oder vielmehr Andi; er hat mir zu meinem Erstaunen gleich das Du angeboten und mir beim darauffolgenden Händeschütteln wohl mehr aus Versehen als aus wirklicher Absicht fast die Finger gebrochen – uns wieder alleine lässt, rappelt Ruben sich vom Boden, auf den er irgendwann beim Rumblödeln gerutscht ist, auf und wirft einen kurzen Blick auf die kleine Digitaluhr, die neben dem Fernseher steht.
 

"Wir sollten uns schon mal so langsam fertig machen. Immerhin wollten wir uns um neun mit den Anderen an der Halle treffen und es ist schon kurz nach sieben", schlägt er vor und ich blinzele irritiert. "Wir brauchen doch sicher keine zwei Stunden", spreche ich meine Gedanken laut aus, woraufhin Ruben anfängt zu kichern. "Du und ich vielleicht nicht, aber Christie schon. Der braucht immer Ewigkeiten, um sich fertig zu machen", teilt er mir mit und bekommt im nächsten Moment ein Kissen ins Gesicht geworfen.
 

"Ist doch gar nicht wahr", murrt Christie, aber Ruben lacht nur über diese Beschwerde. "Und wegen wem sind wir dann beim letzten Mal so spät dran gewesen? Meine Schuld war das jedenfalls ganz bestimmt nicht", kontert er fröhlich und wirft das Kissen mit Schwung zurück, trifft aber nicht, weil Christie sich schnell duckt. "Das lag an den Linsen, nicht an mir", grummelt dieser und erhebt sich von der Couch, auf der er und ich gerade noch gesessen haben, um zu seinem Kleiderschrank zu gehen. Ich bleibe einfach sitzen, lehne mich gemütlich zurück und genieße es, die Neckereien der beiden zu beobachten. Das ist fast so, als würde ich Jassi und mir selbst zusehen. Slapstick pur, könnte man sagen.
 

"Soll das heißen, Du willst heute darauf verzichten?", fragt Ruben neugierig und verfolgt ebenso interessiert wie ich, welche Klamotten sein bester Freund aus seinem Schrank wühlt. "Nein", kommt es gedämpft aus dem Inneren des Schrankes und im nächsten Moment landet ein schwarzes Shirt mit irgendeinem weißen Aufdruck, den ich nicht richtig erkennen kann, zielsicher auf meinem Schoß.
 

"Aber inzwischen hab ich mehr Übung damit, also wird das diesmal kein Problem", fährt Christie fort, taucht bewaffnet mit zwei Nietengürteln wieder aus dem Schrank auf und wirft nach kurzem Überlegen einen davon neben mir auf die Couch. Den anderen stopft er wieder zurück in den Schrank und legt dann fragend den Kopf schief. "Weiß? Oder lieber lila?", wendet er sich an Ruben und dessen Blick huscht zu mir. "Lieber lila. Jan hat's nicht so mit Gruselkram", antwortet er und Christie nickt. Ich hingegen verstehe so langsam gar nichts mehr. Weiß? Lila? Hä?
 

"Wovon redet ihr beide eigentlich?", frage ich in den Raum und Christie, der sich inzwischen auch noch eine schwarze Jeans aus dem Schrank geangelt hat, kommt zur Couch und lächelt mich kurz an, ehe er die Sachen, mit denen er mich gerade mehr oder weniger beworfen hat, zusammenklaubt und über seine Schulter wirft. "Über Kontaktlinsen", beantwortet er dann meine Frage und Ruben lässt sich wieder neben mich auf die Couch plumpsen, während sein bester Freund den Raum verlässt, um sich im gegenüber von seinem Zimmer gelegenen Bad umzuziehen.
 

"Christie trägt meistens Kontaktlinsen, wenn wir feiern gehen. Er findet seine normale Augenfarbe zu langweilig", werde ich aufgeklärt und als ich Ruben daraufhin anblicke, zieht er eine Grimasse. Scheinbar sieht er das Ganze anders als sein bester Freund. Irgendwie erinnert mich das unwillkürlich an mein Gespräch mit Simon über Augenfarben und der Gedanke daran reicht vollkommen aus, um mich mal wieder in eine Tomate zu verwandeln. Hilfe!
 

"Er hat auch so weiße Kontaktlinsen wie Simon, aber da Du gruselige Sachen ja nicht so magst, nimmt er stattdessen andere. Aber das ist kein Problem", beeilt Ruben sich mit einem Blick auf mein Gesicht zu versichern. "Lila ist eh eine von seinen Lieblingsfarben. Und die lila Linsen sehen auch echt super aus", schiebt er noch hinterher und ich beschließe, dazu lieber nichts zu sagen. Immerhin wird Ruben ja wohl besser wissen, ob er Recht hat oder nicht. Trotzdem ist es mir ein bisschen peinlich, dass Christie meinetwegen auf etwas verzichtet, was er offenbar eigentlich gerne mag. Ich hoffe nur, er nimmt mir das nicht irgendwie übel.
 

"Weiß wär für mich aber auch vollkommen okay", höre ich mich selbst leise nuscheln und zuppele nervös am Reißverschluss meiner Kapuzenjacke herum. "Das kenn ich ja von Simon, also macht mir das auch nichts aus." Gut, ich müsste wahrscheinlich permanent an Simon denken und würde mich selbst mit Fragen, wo er wohl ist und was er gerade tut, foltern und in den Wahnsinn treiben, aber Angst hätte ich ganz bestimmt nicht.
 

"Ach, das ist schon okay. Lila steht ihm eh viel besser als weiß. Wirst Du ja gleich sehen – oder vielmehr nachher, wenn er irgendwann in hundert Jahren oder so doch mal endlich fertig wird." Ruben lässt sich nach hinten fallen und schnappt sich eins von Christies wirklich allgegenwärtigen Bärchen – das mit dem Bärchenfimmel war eindeutig nicht gelogen; ich hab vorhin in seinem Schrank sogar einen Pulli oder so was mit einem Bärchenprint drauf gesehen –, um es zu knuddeln. Dabei grinst er mich unentwegt an, aber auf meine Frage nach dem Grund für seine verdächtig gute Laune gibt er mir keine Antwort. Sein Grinsen wird nur noch breiter und suspekter und ich bin regelrecht froh, als Christie endlich wieder auftaucht.
 

"Fertig", teilt er uns mit und ich nehme mir kurz die Zeit, ihn interessiert zu mustern. Unter dem schwarzen Shirt, auf dem, wie ich jetzt sehen kann, lauter ineinander übergreifende Spinnennetze aufgedruckt sind, trägt er schwarze Netzstulpen mit einigen Löchern und noch während ich ihn beobachte, kramt er in seiner Schreibtischschublade herum, fördert ein Fläschchen schwarzen Nagellack zutage und beginnt dann in aller Seelenruhe und offenbar ziemlich routiniert damit, sich die Nägel zu lackieren.
 

"War wohl nix mit fertig, was?", zieht Ruben ihn daraufhin auf, aber Christie streckt ihm nur die Zunge heraus, ohne ihn anzusehen oder seine Tätigkeit zu unterbrechen. "Tu nicht so, als wärst Du das nicht von mir gewöhnt", ermahnt er Ruben und der lacht, ehe er mich von der Couch hochzieht und hinter sich her ins Bad schleift, ohne auf meine Proteste einzugehen. "Da mein Gummibärchen ja gerade schwer beschäftigt ist, musst Du mir jetzt eben mit meinen Haaren helfen. Das krieg ich im Moment wegen dem doofen Gips ja blöderweise nicht alleine hin", beschließt er dabei und grinst mich breit an, als ich einfach nur geschlagen seufze und mir Kamm und alles andere in die Hand drücken lasse.
 

Allerdings gestaltet sich das Frisieren aufgrund der Tatsache, dass ich sehr zu meinem Leidwesen ein paar Zentimeter kleiner bin als Ruben, ziemlich schwierig. Wir kämpfen fast eine Viertelstunde, aber schlussendlich bleibt die Aufgabe, Rubens Haare nach seinen Vorgaben zu bändigen, doch an Christie hängen, der meine anfänglichen vergeblichen Versuche mit einem amüsierten Grinsen beobachtet hat. Sobald er für mich übernimmt, mache ich ihm Platz, hocke mich auf den Badewannenrand und sehe mir das Geplänkel der beiden an. Es ist wirklich nicht zu übersehen, dass die Zwei sich wirklich sehr gut kennen, sich blind vertrauen und sich fast ohne Worte verstehen. Ob Jassi und ich auf Außenstehende wohl auch so wirken, wenn wir zusammen sind?
 

Sobald Christie mit Rubens Frisur fertig ist, dreht der sich wieder zu mir um und grinst mich an. "Jetzt Du", beschließt er und ich versuche noch zu flüchten, aber die beiden lassen mir keine Chance. Christie versperrt mir grinsend den Weg und Ruben hält mich an der Jacke fest, als ich mich doch durch die Tür zu quetschen versuche. Ich muss ungewollt lachen, gebe mich geschlagen und lasse sie schließlich doch einfach machen. "Zwei gegen einen ist unfair!", beschwere ich mich trotzdem kichernd, aber nicht wirklich ernst gemeint, und meine Beschwerde wird auch prompt kollektiv ignoriert.
 

Eine knappe Dreiviertelstunde später sind wir alle Drei endgültig fertig und bereit, uns ins Nachtleben zu stürzen, wenn man das denn überhaupt so nennen kann. Christie und ich haben uns beide ein bisschen geschminkt – wobei er mir geholfen hat, er hat damit offensichtlich wesentlich mehr Übung als ich –, aber Ruben hat sowohl auf Kajal als auch auf Nagellack dankend verzichtet. "Das steht mir absolut nicht. Damit seh ich aus wie ein Clown. Wie ein sehr misslungener Clown", hat er abgelehnt und nach kurzem Test habe ich festgestellt, dass zumindest Nagellack auch eindeutig nicht für mich geschaffen ist.
 

Christie hingegen steht das ganze Schwarz wirklich unheimlich gut, ebenso wie die lila Kontaktlinsen. Nur erinnern seine schwarzlackierten Fingernägel mich dummerweise ganz extrem an Simon und das verursacht einen kurzen Stimmungsknick. Allerdings lasse ich das nicht allzu lange anhalten, sondern zwinge mich einfach dazu, alle Gedanken an Simon ganz weit nach hinten in mein Bewusstsein zu verdrängen. Immerhin sehe ich ihn ja morgen und auch am Montag wieder, also werd ich doch wohl einen einzigen Abend ohne ihn überstehen. Den blöden Ausflug, der eigentlich gar nicht so blöd war, habe ich ja schließlich auch überlebt. Gut, schön war es ohne ihn nicht unbedingt, aber immerhin war Ruben ja da. Und das ist er jetzt schließlich auch, also beschließe ich, fürs Erste nicht mehr an Simon zu denken, sondern einfach nur den vor mir liegenden Abend zu genießen.
 

~*~
 

Jaja, ich weiß, schon wieder ein Kapitel, in dem so viel und doch eigentlich gar nichts passiert. Aber ich liebe es trotzdem - vor allem, weil ich ja auch schon weiß, wie's weitergeht. Ich weiß allerdings noch nicht, wann ich das nächste Kapitel hochlade. Das entscheide ich wie immer spontan.

^_____^

Würde mich natürlich freuen, wenn ihr mir wieder euren Senf dazu dalasst. Aber das wisst ihr ja, nicht wahr?

*noch mal Kekse an alle verteil*
 

Bis zum nächsten Mal!
 

Karma

Von unerwarteten Begegnungen, unerwarteten Begebenheiten und unerwarteten Erkenntnissen

So, da bin ich auch schon mit dem nächsten Teil des Halloween-Mega-Monster-Kapitels. Und das ist der Teil, den ich persönlich einfach nur absolut liebe. Ihr werdet mich dafür hassen - und für den nächsten Teil auch -, aber das ist mir egal. Immerhin kann ich mir zumindest den Hass für dieses Kapitel teilen. Und zwar mit Schwarzfeder, die hiermit auch eine ganz fette Widmung kriegt. Dankedankedankedankedanke für die unglaublich geil-bekloppte Idee, die Du mir in den Kopf gesetzt hast! Ehrlich, ich liebe sie! Ich hab die ganze Zeit beim Schreiben des Kapitels nur wie blöde vor mich hin gegiggelt und mir einen Keks nach dem anderen gefreut. Wenn ich nicht schon verheiratet wäre, dann würde ich diesem Kapitel einen Antrag machen, es heiraten und ganz viele kleine Kapitelchen mit ihm in die Welt setzen.

♥___♥

...

Merkt man, dass ich total übermüdet bin, weil ich einfach nicht schlafen konnte und deshalb immer noch wach bin? Gar nicht, oder?

XD
 

@Aschra: Für Dich gibt's auch gleich noch eine kleine Widmung in diesem Kapitel. Einfach weil Du's verdient hast, weil's ein kleines Trösterchen sein soll und weil Du schon am Telefon erraten hast, was ich vorhatte.

*kicher*

Und zu Jannis Daddy ... Du weißt Bescheid, nicht wahr?

^.~
 

@Yumika: *Knüppel nehm und auch noch mal mit draufdresch*

Hach, das hab ich gebraucht.

*_____*

Erst mal ein fettes Danke für diesen Riesenkommi. Ich kuck mal, ob ich alles zusammenkrieg. Könnte schwierig werden.

o.O

Anton hat sich übrigens über die Krümel gefreut, soll ich ausrichten.

XD

Was sonst noch? Jannis Pläne ... Haben wir nicht alle mal solche "tollen" Vorwände gehabt? Ich weiss, ich war so banane, als ich zum ersten Mal verliebt war. Und ich muss gestehen, ein paar der Aktionen, die Janni bringt bzw. die ihm passieren, hab ich aus meiner Erinnerung geklaut.

^^°

Wenn Du übrigens die Jungs magst, dann wirst Du in diesem Kapitel auch auf Deine Kosten kommen. Hier gibt's nämlich wieder ein bisschen (oder auch ein bisschen mehr) von ihnen.

^____^

Und das mit dem Friedhof: Christie ist da aufgewachsen. Für ihn ist das also nicht weiter ungewöhnlich. Er kennt das gar nicht anders. Aber inwieweit seine Entwicklung in Richtung Schwarzvolk mit Simon zu tun hat, behalte ich für mich.

*mir den Mund zukleb*

^.~

Die Stylingszene hat mir übrigens auch eine Menge Spaß gemacht. Aber ich liebe mein Gummibärchen ja eh heiss und innig. Und in diesem Kapitel liebe ich ihn gleich noch mehr.

*ihn plattpuschel*

Und Jassi, der Dir so gefehlt hat, kommt hier auch mal wieder ein bisschen zum Zug. Hach, ich mag ihn. Und ich glaube, Du wirst ihn für das, was er vorhat, auch mögen.

*kicher*
 

@abgemeldet: Tja, in wen das Gummibärchen verliebt ist, verrate ich - natürlich - noch nicht. Ist zwar recht offensichtlich, aber meine Lippen sind versiegelt. Und die ENS gibt es natürlich gleich wieder.

^____^
 

@Inan: Find ich auch.

♥___♥

Christie ist einfach mein Schatz. Mit jeder Zeile, die ich über ihn schreibe, mag ich ihn lieber.

Und was mit Simon und Janni noch passiert ... Tja, lass Dich überraschen. Ich weiss es, aber ich verrate nichts.

*hrrhrrhrr*

Aber ich weiß jetzt schon, dass ihr mich für das nächste Kapitel gleichermaßen lieben und hassen werdet.

*nicknick*
 

@abgemeldet: Im Bezug auf Deine Spekulationen hülle ich mich jetzt einfach mal in Schweigen.

^_____^

Wie und was da ist, ob da überhaupt was ist und wer in wen verliebt ist, wird im Laufe der Geschichte noch geklärt.

*vor dem Kissen und dem angedrohten Kitzeln versteck*
 

Ach, und Aschra, mein Liebes: Den Auftritt von meinem Bastard (Du weisst, wer gemeint ist ^.~) widme ich ganz allein Dir. Ich liebe ihn!

*Bastard knuddel*
 

So, und jetzt hab ich euch genug genervt. Ich wünsche viel Spaß beim Lesen!
 

Karma
 

~*~
 

"Können wir?", holt Rubens Stimme mich wieder aus meinen Versuchen, nicht an seinen großen Bruder zu denken, und ich nicke schnell. Je eher es losgeht, denke ich mir dabei pragmatisch, desto eher bin ich abgelenkt. Und wenn ich erst mal damit beschäftigt bin, Rubens restliche Freunde kennen zu lernen, habe ich ganz bestimmt keine Zeit mehr für irgendwelche deprimierenden Gedanken über Simon.
 

"Na, dann los!", kommandiert Ruben, hakt sich bei Christie und mir gleichermaßen ein und schleift uns voller Enthusiasmus aus dem Haus in Richtung der Bushaltestelle. Christie grinst und als er mich über Rubens Kopf hinweg anblickt, grinse ich zurück. Doch, der Abend ist auf jeden Fall jetzt schon ein voller Erfolg. So viel Spaß wie in den letzten Stunden hatte ich schon lange nicht mehr und irgendwie habe ich das Gefühl, als würde es von jetzt an nur noch besser werden.
 

Zwei Haltestellen nachdem wir in den Bus geklettert sind, steigen ein Junge und ein Mädchen ein, die ich beide von den Fotos, die Ruben mir gezeigt hat, und auch von der Pinnwand in Christies Zimmer bereits kenne. Sie kommen ohne zu zögern auf uns zu und während das Mädchen erst einmal Ruben und Christie zur Begrüßung umarmt, blickt der Junge – Maurice, wenn ich mich richtig erinnere – mich neugierig an.
 

"Du bist also Jan, ja?", fragt er mich und als ich nicke, grinst er mich mit schelmisch funkelnden blauen Augen an. "Du bist ja echt noch kleiner als Ruben", lautet seine erste Beobachtung und ich weiß nicht so genau, wie ich darauf reagieren soll. Ich schwanke irgendwie zwischen dem Drang, einfach nur darüber zu lachen, und dem Verlangen, Ruben dafür zu schlagen, dass er seinen Freunden ausgerechnet das über mich erzählt hat. Aber ehe ich in irgendeiner Form reagieren kann, boxt Marie-Claire – den Namen hab ich mir gemerkt; war ja auch nicht schwer, wo sie doch das einzige Mädchen unter Rubens Freunden ist – ihrem Bruder einmal fest gegen den Oberarm.
 

"Macht Dich unheimlich sympathisch, wenn Du gleich anfängst, ihn aufzuziehen, Mo", weist sie ihn zurecht und wendet sich dann mir zu, ohne auf das Gejammer ihres Bruders einzugehen. "Ignorier den Idioten einfach, okay? Der hat heute noch nicht seine übliche Dosis Arschtritte gekriegt. Dann wird der immer übermütig, aber eigentlich ist er ganz umgänglich. Na ja, manchmal jedenfalls", schränkt sie ein, hält mir ihre Hand hin und ich kann nicht umhin, sie nett zu finden.
 

Ich ergreife ihre Hand, schüttele sie und erwidere ihr Lächeln mit gleicher Münze. Dabei huscht mein Blick kurz zu Christie und ich frage mich unwillkürlich schon wieder, warum die Zwei nicht mehr zusammen sind. Sie waren ganz bestimmt ein schönes Paar. Und so, wie er vorhin klang, hat er ja wohl auch immer noch Gefühle für sie. Irgendwie tut es mir wirklich unheimlich leid für ihn, dass sie diese Gefühle wohl nicht erwidert.
 

Lange kann ich über diese ganze Sache allerdings nicht nachdenken, denn schon an der nächsten Haltestelle packt Ruben meine Hand und zerrt mich zum Ausstieg. Die Anderen steigen ebenfalls aus und während Christie sich mit Maurice über irgendetwas unterhält, schlendert Marie-Claire neben Ruben und mir her. "Yannick und Nils sind übrigens schon an der Halle. Yannick hat Mo vorhin eine SMS geschickt", informiert sie uns und lächelt wieder, als sie meinen Blick bemerkt.
 

"Keine Angst, die sind ganz beide ganz nett. Obwohl ... Nett ist nicht das richtige Wort. Eigentlich sind sie eher nervig und grummelig, aber trotzdem ...", fängt sie eine Erklärung an, aber Ruben lässt sie nicht ausreden. "Ich hab Jan schon vor euch allen gewarnt", sagt er und Marie-Claire grinst. "Na, wenn er mit Dir alter Laberbacke klarkommt, dann sind Yannick und Nils auch kein Problem für ihm. Immerhin bist Du unser schlimmster Sonderfall", neckt sie ihn und zupft spielerisch an seinem Ohrläppchen. Daraufhin fängt Ruben an zu lachen und ich muss ebenfalls grinsen. Doch, die Vier sind schon mal ziemlich lustig – so lustig, dass ich nur noch gespannter auf den Rest der Clique bin.
 

Nach knapp fünf Minuten Latscherei durch die abendliche Kälte erreichen wir schließlich einen Parkplatz, an dessen anderem Ende sich eine große Halle – offenbar ein ehemaliges Fabrikgebäude – befindet, aus der laute Musik dringt. Vor der Tür stehen zwei bullige Typen, denen man selbst auf die Entfernung ansieht, dass sie mindestens die Maße von Christies Vater haben. Ein paar Dutzend Leute warten scheinbar schon auf Einlass und ich recke unwillkürlich den Hals, um zu sehen, ob Jassi und seine Sina vielleicht auch schon da sind. Tatsächlich sticht mir bald eine mir sehr bekannte Gestalt ins Auge und ich zupfe an Rubens Jackenärmel.
 

"Jassi ist auch schon da. Und das Mädchen da neben ihm muss wohl Sina sein." Jedenfalls vermute ich das jetzt einfach mal. Aber so nah, wie die zusammenstehen, irre ich mich ganz bestimmt nicht. Außerdem hält sie seine Hand und er lächelt sie so verträumt an – das ist selbst auf die Entfernung nicht zu übersehen –, dass er offenbar nichts anderes mehr um sich herum wahrnimmt. Darüber muss ich schmunzeln. Jassi ist echt knuffig, wenn er verliebt ist. Und so, wie er Sina anhimmelt, hat es ihn offensichtlich total erwischt. Aber ich gönne ihm sein Glück. Ich wünschte nur, bei mir wäre das auch so einfach.
 

Unhörbar seufzend schiebe ich den aufkommenden Gedanken an Simon so schnell wie möglich beiseite und löse mich von Ruben, um kurz zu meinem besten Freund und seiner neuen Freundin zu gehen. Immerhin bin ich schon gespannt darauf, Sina kennen zu lernen, seit Jassi mir am Sonntag zum ersten Mal von ihr erzählt hat.
 

"Hi", grüße ich die beiden, als ich sie erreicht hab, und muss grinsen, als Jassi mich im ersten Moment etwas verpeilt ankuckt. Er fängt sich allerdings recht schnell wieder und umarmt mich zur Begrüßung so überschwänglich, wie er es sonst auch immer macht. "Hi, Kleiner. Das ist Sina", stellt er mir dann voller Stolz seine Freundin vor und als ich sie mir endlich richtig aus der Nähe ansehe, stelle ich fest, dass er mich nicht angelogen hat. Sie ist wirklich ziemlich hübsch. Ihre Haare hat sie schwarz und knallpink gefärbt und ihre Augen sind blau und strahlen, als sie mich ansieht.
 

"Du bist also Jassis bester Freund Jan. Freut mich", sagt sie und reicht mir ihre rechte Hand. An ihrer linken Hand hängt Jassi und er macht nicht den Eindruck, als würde er sie so bald wieder loslassen wollen – weder freiwillig noch unter Zwang. Irgendwie finde ich das verdammt süß. Und da sie mindestens ebenso glücklich aussieht wie er, beschließe ich, dass ich sie definitiv mag. Wenn sie meinen besten Freund so zum Strahlen bringt, kann sie einfach nur ein tolles Mädchen sein.
 

"Mich auch", erwidere ich Sinas Begrüßung daher ehrlich und blicke mich dann erst mal suchend um. "Ruben und die Anderen sind auch hier irgendwo", informiere ich Jassi und Sina und winke dann, sobald ich Rubens Schopf in dem Wust der Leute, die hier vor der Tür stehen, erblicke. Sofort tippt er seine Freunde an, wedelt sie hinter sich her und keine Minute später finde ich mich in einer regelrechten Begrüßungsorgie wieder. Ich lerne auch noch Nils und Yannick – oder "den Grummelzwerg und die Nervensäge", wie Ruben sie mir grinsend vorstellt – kennen und bin zugegebenermaßen ziemlich erleichtert darüber, dass Jassi sich mit Ruben und dem Rest seiner Freunde scheinbar auch auf Anhieb versteht.
 

Sina und Marie-Claire scheinen auch sofort einen guten Draht zueinander gefunden zu haben, denn obwohl sie sich vorher nicht kannten, quatschen sie binnen kürzester Zeit miteinander, als wären sie schon seit Ewigkeiten befreundet. Jassi steht daneben und beobachtet das Ganze mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen. Scheinbar kann er sich an seiner Sina gar nicht satt sehen. Einerseits ist es wirklich süß, ihn so zu sehen, aber andererseits deprimiert mich das auch wieder ein bisschen.
 

Mein Blick huscht kurz zu Christie, von dem ich ja seit heute Nachmittag weiß, dass er laut eigener Aussage im Moment ebenso unglücklich verliebt ist wie ich. Unwillkürlich frage ich mich, ob es ihm auch so schwer fällt, seine Gefühle zu verstecken. Scheinbar hat er darin allerdings ein bisschen mehr Übung als ich. Immerhin hat Ruben ja behauptet, dass sein bester Freund seine Exfreundin angeblich nicht mehr liebt. Aber wenn das wirklich so ist, dann passt das nicht so ganz zu dem, was Christie mir heute erst erzählt hat.
 

Oder, schießt es mir ganz plötzlich durch den Kopf, hat er vielleicht gar nicht von Marie-Claire geredet? Sicher, das habe ich einfach angenommen, weil sie ja schließlich das einzige Mädchen in der Clique ist, aber was, wenn Christie mit seinen Worten gar nicht sie gemeint hat, sondern einen seiner anderen – männlichen – Freunde? Das würde immerhin erklären, warum er davon gesprochen hat, dass das Ganze eine einseitige Sache ist.
 

Den Kopf über mich selbst und meine seltsamen Anwandlungen schüttelnd – was würde Christie wohl von mir denken, wenn er wüsste, was ich mir hier gerade über ihn zusammenspinne? – versuche ich, nicht weiter über so einen Schwachsinn nachzugrübeln. Stattdessen stelle ich mich gemeinsam mit den Anderen an und betrete nach einer kurzen Ausweiskontrolle, bei der ich überaus skeptisch angesehen werde – ja, ich bin wirklich sechzehn, auch wenn ich nicht so aussehe; ein herzliches Dankeschön an den überaus netten Türsteher für den Tiefschlag gegen mein armes Ego –, die Halle, in der wir den heutigen Abend verbringen wollen.
 

Das Innere der Halle, die offensichtlich in mehrere verschiedene Bereiche aufgeteilt ist, ist entsprechend des Anlasses mit lauter gruseligem Zeug wie Kürbislaternen, künstlichen Spinnweben und überdimensionalen Gummifledermäusen dekoriert. Normalerweise würde ich mich hier nicht sonderlich wohlfühlen, aber da ich nicht alleine bin, reiße ich mich zusammen. Immerhin will ich mich nicht gleich am ersten Abend vor Sina und Rubens Freunden blamieren, nur weil meine Angst vor irgendwelchem Horrorkram wieder durchschlägt. Das wäre mir einfach viel zu peinlich.
 

Aus diesem Grund bemühe ich mich auch, die Grablichter zu ignorieren, die auf den kleinen runden Tischen im Eingangsbereich verteilt stehen und dem Ganzen wohl einen noch etwas gruseligeren Touch verleihen sollen. Für mich reicht das, was ich bisher gesehen habe, zwar schon voll und ganz aus, aber ich will ja kein Spielverderber sein. Immerhin bin ich schließlich sechzehn und keine sechs mehr, also sollte ich mich von so was wohl wirklich nicht mehr beeindrucken oder verschrecken lassen.
 

Ich will gerade zur Garderobe latschen und meine Jacke abgeben, da legt sich plötzlich ein Arm um meine Schultern und als ich daraufhin aufblicke, sehe ich in Jassis fragendes Gesicht. "Und? Was denkst Du?", fragt er angespannt und ich schenke ihm ein beruhigendes Lächeln, weil ich mir schon denken kann, worauf er mit seiner Frage genau abzielt. "Ich glaub, ich mag sie. Und ich finde, ihr beide passt echt gut zusammen", teile ich ihm meine Gedanken mit und sofort beginnt er zu strahlen. "Meinst Du wirklich?", vergewissert er sich und als ich nicke, leuchten seine Augen und sein Blick huscht zu Sina, die sich schon wieder oder noch immer ziemlich angeregt mit Marie-Claire unterhält.
 

"Ich bin total happy, Jan", gesteht mein bester Freund mir leise und drückt mich kurz an sich. "Als sie mich heute Nachmittag einfach so geküsst hat, dachte ich, ich kipp um und steh nicht mehr auf. Echt, sie ist der absolute Wahnsinn. Überhaupt nicht so zickig wie andere Mädchen, sondern total nett und natürlich und ... Sie ist einfach nur toll", unterbricht er seine Schwärmerei selbst und ich muss kichern. Ihm bei diesem Loblied auf Sina zuzuhören ist irgendwie niedlich.
 

"Aber glaub ja nicht, dass ich vergessen hab, weshalb ich eigentlich hier bin", holt Jassis Stimme mich wieder in die Realität zurück und als ich ihn daraufhin erschrocken anblicke, grinst er mich an und piekt mir mit dem Zeigefinger in die Wange. "Glaubst Du ernsthaft, ich wär so abgelenkt, dass ich nicht mehr wüsste, was ich Dir versprochen hab? Das kannst Du knicken. Ich bin zwar verliebt, aber nicht verblödet oder vergesslich. Ich hab Dir versprochen, dass ich Dich für Deinen Simon coachen werde, und genau das werd ich auch tun, mein Kleiner. Du kannst mir nicht entkommen", droht er und ich wünsche mir auf der Stelle ein Loch, in dem ich mich verkriechen kann. Hilfe!
 

"Da kannst Du Dich mit Ruben zusammentun", rutscht es mir raus, ehe ich es verhindern kann. Daraufhin blinzelt Jassi irritiert, während ich mich mal wieder in eine überreife Tomate verwandele. Kann ich denn nicht wenigstens eigentlich ein einziges Mal in meinem Leben erst denken und dann den Mund aufmachen? Das ist doch peinlich, verdammte Scheiße! Warum muss ich mich eigentlich immer so unsagbar blöd anstellen?
 

"Er weiß auch Bescheid?", erkundigt Jassi sich ungläubig und ich nicke beschämt. "Ja. Er hat mir gleich nach dem Telefonat mit Dir angemerkt, dass ich irgendwas hatte, und er hat mich so lange weichgekocht, bis ich's ihm erzählt hab. Ich wollte eigentlich nicht, dass er mitkriegt, dass es um Simon geht, aber ich hab mich blöderweise total verplappert. Und jetzt ... Na ja, er findet das irgendwie unheimlich toll und versucht mir die ganze Zeit zu erklären, dass Simon mich ja auch auf jeden Fall mag und so. Er hat mir sogar versprochen, dass er seinen Bruder irgendwie dazu bringen will, sich auch in mich zu verlieben."
 

Mit jedem weitern Wort werde ich leiser und leiser, während mein Gesicht immer weiter schmilzt. Zumindest fühlt es sich so an. Ich würde mich zu gerne selbst stoppen und mir den Mund zuhalten oder wenigstens einfach aufhören zu reden, aber irgendwie kann ich das nicht. Mal wieder. Ich bin doch echt der Idiot vom Dienst. Wie doof darf ein einzelner Mensch sich eigentlich anstellen, ohne dass es strafbar wird? Das ist doch echt scheiße.
 

Einen Moment lang sagt Jassi gar nichts, aber dann drückt er mich noch mal an sich und als ich danach wieder aufblicke, grinst er breit und zufrieden auf mich herab. "Na, das ist doch super. Dann hast Du also nicht nur einen Verbündeten, sondern gleich zwei. Und einer von denen ist sogar der jüngere Bruder Deines Süßen. Das sind doch die allerbesten Voraussetzungen dafür, dass es mit euch beiden auch wirklich klappt", verkündet er und ich boxe ihm in den Bauch, aber darüber lacht er nur.
 

"Was denn? Freu Dich doch darüber, dass wir Dir beide helfen wollen", schmettert er mein gegrummeltes "Idiot!" gut gelaunt ab, dreht mich um und schiebt mich dann zur Garderobe. Gemeinsam geben wir unsere Jacken ab und gesellen uns dann wieder zu den Anderen. Dort greift Jassi gleich wieder nach Sinas Hand, aber ehe ich darüber schmunzeln kann, hängt Ruben auch schon an meinem Arm.
 

"Dein bester Freund ist echt nett. Und seine Freundin ist süß", teilt er mir nicht unbedingt leise mit und grinst, als Jassi ihm daraufhin einen kurzen Seitenblick zuwirft. "Wenn MC sich so gut mit ihr versteht, dann muss sie wirklich nett sein. Auf Zicken kommt MC nämlich gar nicht klar. Ich glaub, der Abend heute wird richtig super", freut Ruben sich weiter und ich nicke zustimmend. Der Gedanke ist mir gerade auch wieder gekommen. Ich hoffe nur, Jassi findet wegen Sina nicht allzu viel Zeit zum Coachen. Davor möchte ich mich nämlich am liebsten drücken. Ich kann das einfach nicht. Und ich will auch nicht. Aber das kann ich Jassi wiederum nicht erzählen. Das würde er eh einfach ignorieren. Wenn er sich was vornimmt, zieht er das – sehr zu meinem Leidwesen – auch auf jeden Fall durch.
 

"Wollen wir noch lange hier draußen rumstehen oder wollen wir mal so langsam reingehen?", fragt Maurice in die Runde und ehe ich mich versehe, werde ich auch schon von Ruben mit nach rechts in Richtung der einen Halle geschleift. Die Anderen folgen uns etwas langsamer und als ich einen Blick über die Schulter werfe, begegne ich Jassis Grinsen. Ich kann mir lebhaft vorstellen, was er jetzt gerade denkt. Irgendwie kann ich mich der überaus düsteren Vorahnung nicht erwehren, dass Ruben und er sich in spätestens einer Stunde miteinander verbündet haben, um mich mit Simon zu verkuppeln. Kann mich nicht mal jemand vor diesen beiden Irren retten?
 

Anscheinend kann das niemand – oder das Universum ist einfach der Meinung, ich hätte diesen ganzen Quatsch hier irgendwie verdient –, denn kaum dass wir die eigentliche Halle betreten und ein paar Tische zusammengerückt haben, finde ich mich auch schon eingekesselt zwischen Jassi und Sina auf der einen und Ruben auf der anderen Seite wieder. Der Rest der Truppe verteilt sich irgendwie um uns rum und innerhalb von weniger als zehn Minuten hat Jassi auch schon ein Gespräch mit Ruben am Laufen, das mich vor Scham immer tiefer in meinem Sitz versinken lässt. Müssen die Zwei sich unbedingt über mich und die ganze Sache mit Simon unterhalten, während ich zwischen ihnen sitze? Das ist nicht fair, verdammt!
 

Ich bin regelrecht froh, als Christie, der auf der anderen Seite neben Ruben sitzt, irgendwann jemanden braucht, der gemeinsam mit ihm zur Bar geht, um den Getränkenachschub für alle zu holen. So schnell wie möglich quetsche ich mich zwischen Ruben und Jassi raus und latsche gemeinsam mit Christie, Maurice und Yannick zur Theke. Offenbar wissen die Drei, was ihre Freunde immer trinken, denn sie geben bei der Bedienung die Bestellung auf und sobald die ganzen Gläser vor uns stehen, übernimmt Maurice das Verteilen.
 

Ich schnappe mir drei der Gläser, balanciere sie vorsichtig zum Tisch zurück und setze mich auf den Platz, auf dem Ruben bis gerade noch gesessen hat, nachdem ich die mitgebrachten Getränke alle verteilt habe. Ruben ist in der Zwischenzeit einen Stuhl weitergerutscht, so dass er jetzt direkt neben Jassi sitzt und sich auf diese Weise ungestört mit ihm unterhalten kann, ohne großartig rumbrüllen zu müssen. Als die beiden meine Rückkehr zum Tisch bemerken, grinsen sie mich unisono an und mein Gesicht färbt sich wieder mal feuerrot. Zum Glück ist es hier drin so schummrig, dass das niemandem auffällt. Das hoffe ich jedenfalls ganz stark.
 

"Du siehst nicht unbedingt so aus, als würdest Du Dich gut amüsieren", spricht Christie mich an, als ich aus lauter Verlegenheit an meinem Strohhalm zu nuckeln beginne. Ich verschlucke mich vor Schreck peinlicherweise an meiner Cola und er klopft mir vorsichtig auf den Rücken, als ich deshalb fast ersticke. "Geht schon", krächze ich, nachdem ich mich wieder beruhigt hab, und werfe einen Blick zu Ruben und Jassi, die immer noch total in ihr Gespräch vertieft sind. "Aber na ja ... Ich glaub, ich will lieber gar nicht wissen, was die Zwei da gerade aushecken", nuschele ich dann und Christie nickt verstehend.
 

"Glaub ich Dir gerne. Ich weiß auch nicht genau, was mit Ruben los ist, aber er war gestern schon den ganzen Tag so überdreht und hat die ganze Zeit irgendwas von einem "absolut superduperhypergenialen Plan" gefaselt, den er angeblich hat und den er so schnell wie möglich in die Tat umsetzen will. Worum's dabei genau geht, wollte er mir allerdings nicht verraten. Er meinte, das wär ein Geheimnis", bekomme ich zu hören und werde gleich noch einen ganzen Tacken röter.
 

Einerseits bin ich zwar zugegebenermaßen ziemlich erleichtert, dass Ruben seine große Klappe wirklich gehalten und selbst seinem besten Freund nichts verraten hat, aber andererseits ist mir das Ganze auch todpeinlich. Immerhin weiß ich ja ganz genau, worum es bei diesem "superduperhypergenialen Plan" geht. Oder gut, nicht genau, aber ich kann mir zumindest denken, dass es irgendwas mit mir zu tun hat. Und wenn ich ehrlich bin, macht Rubens Tatendrang mir irgendwie schon ein bisschen Angst. Ganz geheuer ist er mir nicht, wenn er so manisch vor sich hin kichert.
 

"Da geht's um mich", nuschele ich leise und grinse schief, als mich auf diese Worte hin ein überraschter Blick trifft. Noch viel röter kann ich sicher nicht mehr werden, aber jetzt ist es eh zu spät. Jetzt, wo ich sowieso schon angefangen habe zu labern, kann ich auch genauso gut gleich weiterreden. Immerhin macht Christie nun wirklich nicht den Eindruck, als ob er es abartig finden würde, wenn jemand, den er kennt, Jungs lieber mag als Mädchen. Simon mag er ja auch und von dem weiß er schließlich sicher nicht erst seit gestern, dass er eben schwul ist. Was macht es da schon aus, wenn ich es auch zugebe? Ist ja nicht so schlimm.
 

Diesen durchaus logischen Gedankengängen zum Trotz schlägt mir mein Herz gerade bis zum Hals. So direkt laut ausgesprochen habe ich das schließlich noch nie – vor allem nicht vor jemandem, den ich eigentlich so gut wie gar nicht kenne. Aber irgendwie kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass Christie ein Problem damit hat, wenn ich es ihm erzähle. So schätze ich ihn einfach nicht ein.
 

"Na ja, er will mich verkuppeln", gebe ich zu, nachdem ich mich noch mal geräuspert hab. Dabei werfe ich einen kurzen Blick in die Runde, aber von den Anderen scheint uns im Augenblick keiner zu belauschen. Sina und Marie-Claire haben die Köpfe zusammengesteckt und giggeln gemeinschaftlich über irgendwas, Ruben und Jassi sind immer noch total in ihr Gespräch vertieft und Yannick gestikuliert gerade wild auf Maurice ein und lacht über etwas, das ich wegen der lauten Musik nicht verstehe. Nils beobachtet die beiden dabei und grummelt irgendwas Unverständliches in seinen nicht vorhandenen Bart, aber auch er beachtet Christie und mich nicht.
 

"Mit ... mit Simon." So, jetzt ist es raus. Etwas zögerlich sehe ich Christie an und kaue dabei nervös auf meiner Unterlippe herum. Er sieht ziemlich überrascht aus, aber als er meinen unsicheren Blick bemerkt, lächelt er mich an. "Und Ruben hat Dir hoch und heilig versprochen, dass er niemandem davon erzählt, kann das sein?", vermutet er und sein Lächeln vertieft sich, als ich langsam nicke. "Dann musst Du Dir keine Sorgen machen. Ruben hält seine Versprechen. Wenn ihm jemand was im Vertrauen erzählt, behält er das auf jeden Fall für sich", versichert er mir und wirft einen kurzen Blick in Richtung Hallenausgang, ehe er mich wieder ansieht.
 

"Ich glaub, ich geh ne Runde tanzen. Willst Du mitkommen?", fragt er mich mit schiefgelegtem Kopf und schmunzelt über das sicher unglaublich blöde Gesicht, das ich auf diese Frage hin ziehe. "Äh ... okay", haspele ich schnell, um mich nicht noch mehr zu blamieren, stehe auf und folge ihm. Zu meiner Verwunderung geht er aber nicht auf die hiesige Tanzfläche, sondern verlässt die Halle, in der die Anderen immer noch sitzen, und schlägt den Weg zur gegenüberliegenden Halle ein.
 

Um da reinzukommen, müssen wir uns durch eine Menge mehr oder weniger leichtbekleideter Leute mit einem ziemlich offensichtlichen Faible für die Farbe Schwarz quetschen und kaum dass wir es nach drin geschafft haben, werden meine Augen groß. Hier ist die Musik ganz anders als drüben, aber das ist es nicht, was mich so umhaut. Nein, das sind eher die Leute, die mich von den Outfits her unheimlich an Simon, Flo und auch diese Vampirtussi aus dem Laden – Lucy oder so – erinnern. Offenbar gibt's hier in der Halle eine eigene Location extra für Gothics. Irgendwie weiß ich nicht, ob ich das jetzt gut oder schlecht finden soll.
 

Christie, der gemeinsam mit mir gleich neben dem Eingang stehen geblieben ist, deutet meinen seltsamen Blick offenbar richtig, denn er lächelt mir kurz zu und blickt dann mit leuchtenden Augen in Richtung Tanzfläche. Ganz offensichtlich hat er zumindest im Bezug auf seinen Musikgeschmack einiges mit Simon gemeinsam. Von dem Lied, das hier gerade läuft, kenne ich zwar weder den Titel noch den Interpreten, aber ich weiß ganz genau, dass ich es schon mal gehört hab – und zwar in Simons Auto, als er mich nach Vickys Ballettaufführung nach Hause gefahren hat.
 

"Ich glaub, ich kann mir ungefähr vorstellen, wie Rubens angeblich ach so genialer Plan aussieht", holt Christie mich wieder aus meinen Erinnerungen und als ich ihn fragend ansehe, nickt er in Richtung des hinteren Teils der Halle. "Simon und seine Freunde sind manchmal auch hier", teilt er mir dabei mit und sofort rutscht mir mein Herz in die Hose. Simon kommt manchmal hierher? Ach Du heilige Scheiße! Bitte nicht! Wenn er heute auch hier ist, dann falle ich tot um und stehe nie wieder auf, dessen bin ich mir hundertprozentig sicher.
 

"Ich weiß zwar nicht, ob sie heute auch da sind – bis jetzt hab ich noch keinen von ihnen entdeckt –, aber es könnte sein, dass sie noch kommen. Und da Ruben das natürlich auch ganz genau weiß ... Na ja, Du kannst Dir ja bestimmt denken, was er sich so zurechtgelegt hat." Christie schmunzelt ganz leicht und ich würde jetzt wirklich gerne flüchten, aber meine Beine haben sich gerade in Gummi verwandelt und so würde ich bestimmt nicht mal zwei Schritte weit kommen, ehe ich umkippe. Hilfe!
 

"Da-Das erklärt dann wohl auch, warum er mich in Deinem Zimmer so blöd angegrinst hat", stammele ich und wünsche mir zum wiederholten Mal an diesem Abend ein Loch, in dem ich mich verstecken kann. Ich kann Simon heute einfach nicht gegenübertreten – nicht, wenn Ruben und auch Jassi hier sind! Die Zwei würden mich sicher zwingen, mit ihm zu reden, und das schaffe ich einfach nicht. Nie im Leben! Verdammt, ich will hier weg! Und zwar am besten sofort!
 

"Wär's denn wirklich so schlimm, wenn Du Simon heute Abend hier treffen würdest?", fragt Christie sanft in meine panischen Überlegungen, wie ich mich am schnellsten und unauffälligsten von hier verdrücken kann, hinein und ich schlucke schwer, ehe ich schließlich nach kurzem Überlegen den Kopf schüttele. Meine Gesichtsfarbe wechselt wieder zu Dunkelrot und ich bin dankbar für das doch sehr schummrige Licht hier drin. Christie kann sich zwar bestimmt denken, dass ich gerade mal wieder zur Tomate mutiere, aber ich fühle mich trotzdem besser, wenn er es nicht auch noch sieht. Das ist alles auch so schon peinlich genug.
 

"N-Nein, eigentlich nicht." Genau genommen fände ich das sogar mehr als toll, aber das behalte ich lieber für mich. "A-Aber wenn er wirklich noch herkommt ... Jassi und Ruben wollen bestimmt, dass ich dann gleich mit ihm spreche, und das kann ich einfach nicht", gestehe ich beschämt, aber zu meiner Erleichterung lacht Christie mich nicht für meine Feigheit aus. Stattdessen nickt er einfach nur verstehend und schenkt mir dann ein aufmunterndes Lächeln, das dafür sorgt, dass ich mich zumindest ein winzigkleines bisschen besser fühle. Aber wirklich nur ein bisschen.
 

"Musst Du ja auch nicht. Ob und wann Du's ihm sagst, ist schließlich ganz allein Deine Sache. Da solltest Du Dir von niemandem reinreden lassen. Jeder hat sein eigenes Tempo und etwas erzwingen zu wollen, geht in den meisten Fällen nach hinten los." Mir ist noch immer ziemlich mulmig – allein der Gedanke daran, dass Simon heute vielleicht noch herkommt, lässt mein armes Herz vollkommen durchdrehen –, aber zumindest hab ich nach diesen Worten von Christie nicht mehr den unwiderstehlichen Drang, nach Hause zu verschwinden und mich da bis in alle Ewigkeit unter meiner Bettdecke zu verkriechen.
 

"Du bist echt nett", nuschele ich und wage probeweise ein Lächeln, das mir hoffentlich nicht allzu sehr misslingt. Das scheint jedoch nicht der Fall zu sein, denn Christie lächelt gleich zurück. "Du auch. Ich find's zwar immer noch schade, dass Ruben nicht mehr in meiner Klasse ist, aber es ist gut, dass er Dich kennen gelernt hat. Er mag Dich sehr. Und ich mag Dich auch", erwidert er und so langsam verschwindet zumindest der Großteil meiner Nervosität wieder da hin, wo sie hergekommen ist. Immerhin, geht es mir durch den Kopf, bin ich ja jetzt nicht mehr total unvorbereitet. Wenn Simon also wirklich noch auftauchen sollte, bin ich zumindest schon mal ein bisschen gewappnet und kippe bei seinem Anblick nicht vor Schreck aus den Latschen. Jedenfalls hoffe ich das doch ganz stark.
 

"Wolltest Du nicht eigentlich zum Tanzen hier rüber?", frage ich deshalb mit neugewonnenem Mut und Christie grinst mich an. "Eigentlich wollte ich Dich hauptsächlich vorwarnen, aber wenn's Dir nichts ausmacht, kurz auf mich zu warten ...", setzt er an und ich winke ab. "Kein Problem", will ich eigentlich gerade antworten, aber dazu komme ich nicht mehr. "Hier steckt ihr Zwei! Wir haben uns schon gefragt, wohin ihr verschwunden seid", teilt Ruben uns mit und hängt im nächsten Moment auch schon halb auf mir, kuckt dabei aber seinen besten Freund an.
 

"Du gehst heute aber schon früh tanzen", stellt er verwundert fest und Christie nickt kurz, ehe er uns beide abwechselnd fragend ansieht. "Will einer von euch vielleicht mitkommen?", bietet er an, doch Ruben schüttelt gleich heftig den Kopf. "Damit ich mir noch was breche? Nee, lass mal. Lieber nicht!", widerspricht er und grinst, als er meinen irritierten Blick bemerkt. "Ich hab zwei linke Füße, musst Du wissen. Da kannst Du jeden fragen, der mich kennt. Jedes Mal, wenn ich versuche zu tanzen, leg ich mich der Länge nach auf die Fresse. Und das muss ich heute echt nicht haben. Ein gebrochener Arm reicht mir voll und ganz", erklärt er mir seine Weigerung und als Christies Blick zu mir weiterwandert, schüttele ich ebenfalls schnell den Kopf. "Das ist mir zu voll", nuschele ich mit einem Nicken in Richtung Tanzfläche.
 

"Okay, dann bis gleich, ihr Zwei." Christie lächelt Ruben und mir noch einmal kurz zu und stürzt sich dann mit so offensichtlicher Begeisterung ins Getümmel, dass ich unwillkürlich schmunzeln muss. Doch, er ist wirklich unheimlich nett. Und je öfter und länger ich mich mit ihm unterhalte, desto mehr mag ich ihn. Ich bin eindeutig froh, dass ich ihn kennen gelernt hab. Und ich bin wahnsinnig erleichtert, dass er mich wegen der Sache mit Simon und Rubens diesbezüglichem "Plan" vorgewarnt hat. Das war wirklich nett von ihm.
 

"Zum Tanzen kommt Christie immer hier rüber, wenn wir zum Feiern schon mal hier sind", werde ich informiert und als ich mich halb umwende, grinst Ruben mich an. "Das ist irgendwie mehr seine Musik", fährt er fort und wedelt mit seiner gesunden Hand in Richtung der Tanzfläche, auf der sein bester Freund sich im Moment offensichtlich wirklich bestens amüsiert. Der Song, der gerade gespielt wird, hat einen ziemlich harten Bass, aber so, wie Christie aussieht, scheint ihm genau das zu gefallen. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut, wenn ich ehrlich bin. Er wirkt immer so ruhig und sanft, aber davon ist nichts mehr zu sehen, wenn er tanzt. Er macht das wirklich ziemlich gut, glaube ich. So richtig beurteilen kann ich das zwar nicht – ich selbst habe einfach null Rhythmusgefühl und noch viel weniger Ahnung vom Tanzen –, aber eigentlich ist das ja auch egal. Die Hauptsache ist doch, dass er seinen Spaß hat. Und den hat er eindeutig, das ist nicht zu übersehen.
 

"Jaja, bei solcher Mucke geht mein Gummibärchen ab wie Schmidts Katze. Du musst ihn mal bei Rammstein oder so sehen. Ich schwör Dir, da erkennst Du ihn erst recht nicht wieder." Rubens Grinsen wird noch ein Stückchen breiter, aber als sein Blick von mir zur Tanzfläche huscht, verschwindet es fast augenblicklich. Stattdessen klappt ihm die Kinnlade herunter und er starrt seinen besten Freund mit offenem Mund an wie eine Erscheinung. Ich verstehe nicht so ganz, was jetzt auf einmal mit ihm los ist, aber bevor ich danach fragen kann, hat Ruben sich auch schon wieder gefasst und schüttelt den Kopf, wie um einen lästigen Gedanken loszuwerden.
 

"I-Ich ... geh mal eben ganz kurz zum DJ, okay?", wendet er sich an mich und streicht sich mit einer seltsam zerstreut wirkenden Geste ein paar Haare hinters Ohr. Ich nicke nur, etwas überrumpelt von diesem plötzlichen Stimmungswechsel, und bin eine Sekunde später auch schon alleine unter den ganzen schwarzgekleideten Leuten. Ruben schlängelt sich am Rand der Tanzfläche entlang in Richtung der Ecke, in der sich der DJ befindet. Dort hängt er sich über das Pult, winkt den DJ zu sich heran und sagt etwas zu ihm, das ich aufgrund der Entfernung und der Lautstärke der Musik verständlicherweise nicht hören kann. Den ultimativen Bettelblick, den er auspackt, um seine Worte zu unterstreichen, kann ich allerdings trotzdem deutlich sehen.
 

Anstatt nach seinem Gespräch mit dem DJ wieder zu mir zurückzukommen, bleibt Ruben in der Ecke stehen und richtet seine Augen auf die Tanzfläche. Ich fühle mich ein bisschen verloren, aber ich komme nicht dazu, mir lange Gedanken darüber zu machen. Gerade als ich mir einen Ruck geben will, um zu Ruben rüberzugehen, fällt mein Blick auf den Eingang der Halle und ich erstarre förmlich. Mein Herz klopft mit einem Mal zum Zerspringen und ich mache mehr aus Reflex als aus wirklichem Willen heraus zwei Schritte rückwärts, so dass ich mich hinter einer Gruppe von Mädchen, die sich unterhalten und meine Anwesenheit glücklicherweise nicht mal bemerken, verstecken kann.
 

An den Mädchen vorbei luge ich trotzdem weiter zum Eingang und mein Herzrasen wird noch schlimmer, als dieser zweite Blick mir sagt, dass ich mich definitiv nicht getäuscht oder verkuckt habe. Nein, da vorne steht tatsächlich Simon, aber er ist – natürlich – nicht alleine. Bei ihm sind zwei Mädchen, die ich nicht kenne, aber das ist nicht das Schlimme. Was mir einen Stich versetzt ist Flo, der neben Simon steht und gerade auf ihn einredet. Die beiden Mädchen unterhalten sich auch, gehen aber schon vor. Mich bemerken sie im Vorbeigehen zum Glück nicht.
 

Als Simon und Flo sich schließlich auch in Bewegung setzen, um hier in die Halle zu kommen – sie haben gerade beide noch ihre Mäntel und die der beiden Mädchen an der Garderobe abgegeben –, mache ich mich in meiner Ecke noch ein bisschen kleiner, als ich sowieso schon bin. Dabei weiß ich nicht, wie ich mich jetzt gerade fühlen soll. Ein Teil von mir freut sich riesig darüber, Simon zu sehen, aber der Rest von mir möchte am liebsten einfach nur heulen, weil Flo auch dabei ist und weil die Beiden sich offensichtlich so gut verstehen. Darüber, was sie vielleicht getan haben, bevor sie hergekommen sind – oder was sie möglicherweise tun werden, wenn sie nachher wieder nach Hause fahren –, will ich lieber nicht nachdenken. Wenn ich das nämlich tue, heule ich garantiert. So eine Scheiße!
 

Ich bin zu gleichen Teilen erleichtert und auch enttäuscht darüber, dass weder Simon noch Flo meine Anwesenheit bemerken, als sie an mir vorbeigehen. Dabei ist Simon mir für eine oder zwei Sekunden so nah, dass ich ihn problemlos berühren könnte, wenn ich einfach nur die Hand nach ihm ausstrecken würde – was ich selbstverständlich nicht tue. Mein Magen ist ein eiskalter Knoten und mir ist so furchtbar übel, dass ich jetzt am liebsten an die frische Luft gehen würde. Allerdings kann ich mich nicht von der Stelle rühren. So sehr ich es auch versuche, ich kann mich einfach nicht bewegen. Ich kann nur in die Ecke hinten gegenüber der Bar starren, in die die Vier sich gemeinsam setzen, und beobachten, wie Flo den Kopf in den Nacken legt und lacht, als Simon irgendetwas zu ihm sagt.
 

Meine Augen fangen an zu brennen, aber ich kann sie weder schließen noch schaffe ich es, auch nur den Kopf wegzudrehen, um die beiden nicht länger beobachten zu müssen. Vollkommen hilflos muss ich mitansehen, wie Flo Simon erst einen auffordernden Blick zuwirft und ihn schließlich nach einem kurzen Wortwechsel einfach am Arm packt und mit sich auf die Tanzfläche schleift, obwohl Simon das ganz offensichtlich nicht will. Am liebsten würde ich dazwischengehen und Flo anschreien, aber dazu hab ich wohl kein Recht. Außerdem – und das versetzt mir einen so schmerzhaften Stich, dass ein leises Wimmern über meine Lippen kommt – macht Simon seiner anfänglichen Weigerung zum Trotz nicht den Eindruck, als würde es ihm wirklich viel ausmachen, was Flo da gerade getan hat. Wahrscheinlich darf der das. Klar, er ist ja schließlich auch sein ...
 

Hart beiße ich mir auf die Unterlippe, um bloß nicht mehr daran zu denken. Und der kurze Schmerz reicht auch aus, um mich meine Starre endlich überwinden zu lassen. Hastig quetsche ich mich an der Mädchentraube am Halleneingang vorbei und schlängele mich durch den inzwischen recht vollen Eingangsbereich in Richtung der Halle, in der Jassi und die Anderen sind. Ich will einfach nur so weit wie möglich weg von Simon und Flo. Am liebsten wäre ich jetzt zu Hause, würde mir die Bettdecke über den Kopf ziehen und das, was ich gerade gesehen habe, einfach vergessen, aber ich kann nicht einfach so abhauen. Wenigstens Jassi muss ich Bescheid sagen, sonst macht er sich nur unnötige Sorgen um mich. Und das will ich nicht.
 

In der zweiten Halle angekommen muss ich erst ein paar Mal heftig blinzeln, um meine mittlerweile ziemlich verschwommene Sicht wieder zu klären, ehe ich mich orientieren kann. Allerdings ist es hier inzwischen so unglaublich voll, dass ich in dem Gedränge weder Jassi noch sonst jemanden sehen kann, der mir auch nur im Entferntesten bekannt vorkommt. Ganz toll. Genau das brauche ich jetzt.
 

Zittrig durchatmend lehne ich mich an die kalte Steinwand gleich neben dem Eingang, schließe meine Augen und bemühe mich, mich wenigstens ein bisschen zusammenzureißen. Die Bilder, die dabei vor meinem inneren Auge aufsteigen, verdränge ich gleich wieder – oder versuche es zumindest. Allerdings sind meine Bemühungen sehr zu meinem Leidwesen nur von mäßigem Erfolg gekrönt.
 

Ich bin noch vollauf damit beschäftigt, meine Vorstellungen nicht zu real werden zu lassen, als urplötzlich eine mir vollkommen fremde Stimme in meine Gedanken dringt. "So süß und so traurig? Das sollte echt verboten werden", höre ich und als ich meine Augen wieder öffne, finde ich mich einem Typen gegenüber, den ich noch nie gesehen hab. Er ist fast zwei Köpfe größer als ich, hat schwarze Haare und stützt sich mit einer Hand an der Wand neben mir ab. Seine andere Hand legt er an mein Kinn und zwingt mich so förmlich dazu, ihm ins Gesicht zu sehen, obwohl ich das eigentlich nicht will.
 

"I-Ich ...", stammele ich, aber dieser Typ lässt mich nicht ausreden. "Wer auch immer so einen Süßen wie Dich fast zum Heulen gebracht hat, ist es ganz sicher nicht wert", sagt er und das Grinsen, das sich bei diesen Worten auf seine Lippen legt, will mir ganz und gar nicht gefallen. Mein Herz sackt ein paar Etagen ab, aber ich schaffe es nicht, irgendwas zu erwidern oder diesen Kerl wegzuschubsen. Ich kann ihn nur anstarren wie das Kaninchen die Schlange und mich innerlich mal wieder für meine Feigheit und meine grandiosen Reflexe, die mich dauernd im Stich lassen, treten. Scheiße, was will der von mir? Und warum kuckt der mich so komisch an?
 

"Meine Güte, Du bist ja echt zum Auffressen niedlich", säuselt dieser Typ und sein Grinsen wird noch ein bisschen breiter und beängstigender. Ich versuche, etwas weiter von ihm wegzurücken, aber dummerweise ist hinter mir immer noch die unnachgiebige Steinwand der Halle. Ich bin also zwischen der Wand und diesem Kerl praktisch gefangen, was mein Herz vor Aufregung gleich wieder schneller schlagen lässt. Dieses Mal ist die Aufregung allerdings nicht positiv, sondern eindeutig negativ. Der Kerl macht mir echt Angst, obwohl der höchstens ein oder zwei Jahre älter ist als ich. Trotzdem weiß ich nicht, wie ich ohne Hilfe wieder aus dieser blöden Situation rauskommen soll. Kapiert der denn nicht, dass mir seine Gesellschaft total unangenehm ist?
 

Scheinbar kapiert er das wirklich nicht, denn anstatt mich endlich loszulassen und abzuhauen, verringert er den ohnehin schon nicht besonders großen Abstand zwischen uns noch ein bisschen mehr und ich schlucke hart. Er wird doch wohl nicht ... Das kann er doch nicht machen! Scheiße, warum unternimmt denn niemand was? Und warum in aller Welt sage ich diesem Kerl eigentlich nicht klipp und klar, dass er mich in Ruhe lassen soll? Verdammt, warum bin ich eigentlich so ein erbärmlicher Feigling?
 

"Entschuldigung, aber hättest Du vielleicht freundlicherweise die Güte, Deine Finger von meinem Freund lassen?", mischt sich eine mir wohlbekannte Stimme ein, ehe sich die Horrorvorstellung davon, dass dieser Typ mich küsst oder sonst wie antatscht, tatsächlich bewahrheitet. Im nächsten Moment wird der Abstand von seinem Gesicht zu meinem wieder etwas größer und er lässt auch mein Kinn los, verschwindet aber immer noch nicht ganz. Stattdessen blickt er Christie – meinen rettenden Engel, dem ich dafür gleich definitiv die Füße küssen werde, wenn das hier erst mal vorbei ist – erst aus schmalen Augen an und grinst dann gleich wieder.
 

"Dein Freund also, ja?", fragt er. Sein Grinsen gefällt mir gar nicht und seine nächsten Worte verstärken das mulmige Gefühl nur noch. "Komisch, bisher hab ich Dich doch immer nur mit nem Mädel gesehen. So ne hübsche kleine Brünette. Muss ja ganz schön kurzfristig gekommen sein, Dein Sinneswandel", fährt dieses Ekelpaket süffisant fort. Noch immer stützt er sich so mit seinem Arm an der Wand ab, dass ich nicht wirklich an ihm vorbeikomme. Mir ist furchtbar übel und ich bin unglaublich froh, dass Christie sich von diesem Typen nicht einschüchtern lässt. Wenn er mich jetzt alleine lassen würde, würde ich wahrscheinlich auf der Stelle tot umfallen. Ich kann mit so einer Situation einfach nicht umgehen.
 

"Ich wüsste zwar nicht, was Dich meine Beziehungen angehen, aber wenn Du's so unbedingt wissen willst: Wir sind erst seit zwei Wochen zusammen." Bei diesen Worten schiebt Christie diesen Typen energisch aus dem Weg, legt mir seinen Arm um die Schultern und zieht mich weg von diesem Kerl und näher zu sich. Ich atme unwillkürlich auf und klammere mich förmlich an seinem Shirt fest. Dabei würde ich vor Erleichterung am liebsten heulen. Ich will mir gar nicht vorstellen, was passiert wär, wenn er nicht aufgetaucht wäre. Warum muss ich so einen Scheiß eigentlich immer geradezu anziehen? Was hab ich dem Universum denn getan, verdammt? So ein schlechter Mensch kann ich doch gar nicht sein, dass ich das wirklich verdient habe, oder?
 

"Frischgebackene Turteltäubchen also sozusagen, ja? Und dann lässt Du Deinen Süßen einfach unbeaufsichtigt alleine hier rumlaufen? Ganz schön leichtsinnig bei so was Niedlichem wie dem da", findet dieser widerliche Typ und verschränkt die Arme vor der Brust. Noch immer umspielt ein selbstgefälliges Grinsen seine Lippen und ich spüre, wie sich in meinem Hals ein fetter Kloß bildet. Was auch immer diesem Kerl gerade durch den Kopf geht, ich bin mir absolut sicher, dass ich es gar nicht wissen will, weil es mir ganz sicher nicht gefallen wird.
 

Dieser Verdacht bestätigt sich auch gleich, als er weiterspricht. "Ich weiß ja nicht, wie das kommt, aber irgendwie kauf ich Dir diese Geschichte nicht ab. Ich kenn Dich doch. Ich hab Dich hier schon so oft gesehen, aber noch nie mit nem anderen Kerl. Sag, was Du willst, aber der Kleine da ist nie und nimmer Dein Freund", provoziert er Christie und dessen Griff um meine Schultern festigt sich noch etwas.
 

"Vor Dir muss ich mich ja wohl nicht rechtfertigen. Mir ist völlig egal, ob Du mir glaubst oder nicht. Hauptsache, Du lässt Deine Finger von Jan", erwidert er und legt auch noch seinen zweiten Arm um mich, als er merkt, dass ich zu zittern anfange. Mir ist das Ganze unglaublich peinlich, aber ich kann nichts dagegen machen. Diese ganze Situation hier ist mir so unangenehm und ich weiß einfach nicht, wie ich darauf reagieren soll.
 

"Du bist also wirklich mit ihm zusammen?", hakt dieser Typ noch mal nach und ich spüre, dass Christie bekräftigend nickt. Sehen kann ich das nicht, weil ich meine Augen fest zukneife und mein Gesicht in seinem Shirt verstecke. Verdammt, ich will hier weg! Kann dieser Kerl sich nicht einfach verpissen und uns endlich in Ruhe lassen? Ist das denn zu viel verlangt? "Dann beweis es!" Offensichtlich ist es das wirklich. Der Kerl spinnt doch, echt! Was will der denn jetzt für einen Beweis? Der hat sie doch wohl nicht mehr alle!
 

Mit dieser Ansicht bin ich offenbar nicht alleine, denn Christie schnaubt nur und als ich zögernd zu ihm aufblicke, sehe ich, wie er diesem Typen einen Vogel zeigt, ohne mich loszulassen. "Bei Dir stimmt doch wohl was nicht. Bist Du als Kind mal zu heiß gebadet worden oder vom Wickeltisch gefallen? Oder ist Dein Hirnschaden direkt angeboren? Beweisen? Du bist ja krank!", spricht er meine Gedanken laut aus, aber meine Hoffnung, dass das jetzt endlich reicht und dieser Kerl verschwindet, erfüllen sich leider nicht.
 

"Ich wusste doch gleich, dass das nur ein Trick ist", meldet er sich wieder zu Wort und ich kann das Grinsen in seiner Stimme förmlich hören. Den triumphierenden Unterton kann man jedenfalls nicht ignorieren. Ich krieg langsam immer mehr Schiss vor diesem Typen. Ich hab keine Ahnung, was der eigentlich genau will, aber ich will's auch um keinen Preis rausfinden.
 

"Du kannst mich mal", motzt Christie diesen Kerl an, aber der lacht nur. "Danke, aber kein Interesse. Du bist ja ganz nett, aber der Kleine da gefällt mir wesentlich besser", antwortet er dann und ich kneife die Augen ganz fest zu. Ich will hier weg! "Vergiss es!", faucht Christie diesen schmierigen Typen daraufhin an, aber der lässt sich davon überhaupt nicht beeindrucken. Er fängt nur wieder an zu lachen, während ich mich am liebsten in Christies Hosentasche verkriechen möchte. Warum passiert so eine Scheiße eigentlich immer nur mir?
 

"Jan?", holt Christies Stimme mich aus meinen Gedanken und als ich wieder etwas zögerlich zu ihm aufsehe, trifft mich ein eindringlicher Blick aus braunen Augen, die immer noch hinter lila Kontaktlinsen verborgen sind. "Nicht böse sein, ja? Mach einfach mit", bittet er mich so leise, dass ich ihn kaum verstehen kann, lässt mir aber keine Möglichkeit mehr zum Antworten. Stattdessen schließt er seine Augen, beugt sich zu mir nach unten und ehe ich so recht weiß, wie mir geschieht, legt er seine Lippen auch schon auf meine, teilt sie mit seiner Zunge und ... küsst? ... mich.
 

Erschrocken reiße ich die Augen auf und kralle mich in seinem Shirt fest, um nicht vollends den Boden unter den Füßen zu verlieren. Mein Herz setzt aus, mein Atemreflex ebenso und ich weiß absolut nicht, was ich tun und wie ich reagieren soll. Ich meine, das ist doch wohl jetzt nur Einbildung, oder? Christie ... küsst ... mich doch gerade nicht wirklich, oder? Das kann doch nur eine Halluzination sein! So was würde er doch nie tun! Würde er doch nicht, oder? Verdammt, was passiert hier eigentlich? Ich weiß echt gar nichts mehr – nur, dass ich mit der ganzen Situation total überfordert bin.
 

Nach einer Zeitspanne, von der ich nicht weiß, ob sie eine Ewigkeit oder doch nur ein paar Sekunden umfasst hat, löst Christie sich wieder von meinen Lippen. Trotzdem lässt er mich nicht ganz los und obwohl ich vollkommen verwirrt und durcheinander bin, bin ich doch dankbar dafür. Wenn er mich jetzt nicht weiter festhalten würde, würde ich einfach umkippen, das weiß ich genau. Meine Beine sind Gummi, mein Hirn ist Matsch und einzig und allein Christies Arme halten mich noch aufrecht. In meinem Kopf dreht sich alles und ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist. Das ist doch gerade nicht wirklich passiert, oder?
 

"Komm, lass uns endlich gehen. Die Anderen warten schon auf uns", durchdringt Christies Stimme meine wirren Gedanken und ich lasse mich widerstandslos von ihm mitschleifen. Ob meine Beine sich wirklich bewegen, weiß ich nicht. Fühlen kann ich sie jedenfalls nicht. Dafür bin ich einfach viel zu durcheinander. Das gerade ... Das war ... Scheiße, das war mein erster Kuss! Verdammt, das ... Ich wollte doch ... Simon ... Scheiße! So eine verfluchte Scheiße!
 

Zu meinem Entsetzen spüre ich überdeutlich, wie mir bei dem Gedanken an Simon und das, was da gerade zwischen Christie und mir passiert ist, wieder Tränen in die Augen steigen. Fahrig entziehe ich Christie meine Hand – ich habe gar nicht gemerkt, dass er sie festgehalten hat – und als ich stehen bleibe, bleibt er ebenfalls stehen und dreht sich zu mir um.
 

"Tut mir leid, Jan", entschuldigt er sich, noch ehe ich überhaupt auch nur ein einziges Wort sagen kann. "Ich wusste einfach nicht, wie ich dieses Ekel sonst loswerden sollte. Der Kerl ist ein totaler Aufreißer und einfach so penetrant nervig, das kannst Du Dir nicht vorstellen. Ruben hatte auch schon mal Stress mit ihm und ... Oh Scheiße!", unterbricht er sich selbst, kramt hektisch in der Tasche seiner Jeans herum und reicht mir dann ein Taschentuch. Und erst in dem Moment, in dem ich es annehme und mir dabei etwas Nasses auf den Handrücken tropft, merke ich, dass ich tatsächlich heule. Na toll. Genau das hat mir jetzt noch gefehlt. Als ob die ganze Situation nicht auch so schon beschissen genug wäre.
 

"Komm mal kurz mit." Ehe ich mich versehe, finde ich mich auch schon gemeinsam mit Christie im Klo wieder. Außer uns scheint zumindest im Moment niemand hier zu sein und ich bin verdammt froh darüber. Besorgt mustert Christie mich und als ich einen kurzen Blick in den Spiegel werfe, erschrecke ich fast zu Tode. Ich sehe ja aus wie eine wandelnde Leiche! "Scheiße!", entfährt es mir daraufhin. Hektisch wische ich mir über die Augen und verschmiere dabei den Kajal, aber das ist mir egal. Wirklich schlimmer macht es das auch nicht mehr. Der Abend ist sowieso schon komplett im Arsch.
 

"Das wollte ich echt nicht", entschuldigt Christie sich noch mal bei mir und ich kann im Spiegel erkennen, dass er ein zerknirschtes Gesicht macht. "Ich wollte Dich nicht traurig machen. Und das mit dem ... mit dem Kuss ...", setzt er an, bricht aber ab, ohne seinen Satz zu beenden. Im unangenehm grellen Licht der Waschraumbeleuchtung kann ich deutlich sehen, dass seine Wangen eine rötliche Färbung annehmen. Ganz offenbar ist ihm das Ganze auch peinlich. Aber verdammte Scheiße, was in aller Welt hat er sich bloß dabei gedacht?
 

"Wieso ...?", fange ich an, aber ich schaffe es auch nicht, meine Frage laut auszusprechen. Das muss ich aber auch nicht, denn Christie scheint mich auch so zu verstehen. "Um diesen dämlichen Aufreißer endlich loszuwerden. Er wollte ja einen Beweis dafür, dass wir wirklich zusammen sind und ... Sorry", nuschelt er leise und beschämt und ich lehne mich haltsuchend an das Waschbecken.
 

"Das gerade ... das war ... mein erster Kuss ...", gebe ich ebenso leise zu und senke den Blick, aber ich kann trotzdem noch erkennen, dass Christies Kopf hoch ruckt. "Oh Scheiße!", entfährt es ihm. "Das wollte ich nicht. Wenn ich das vorher gewusst hätte, dann hätte ich nie ... Ich hätte nur so getan oder ... Ach, Mist. Das tut mir so unglaublich leid, Jan. Wirklich." Seine Stimme klingt absolut aufrichtig und ich bin mit einem Mal nicht mehr traurig, wütend oder sonst was, sondern einfach nur total fertig. Das ist alles einfach zu viel für mich.
 

"Können wir das nicht einfach vergessen – so, als ob es nie passiert wäre? Wie eine Einbildung oder so. Ich weiß auch nicht. Meinst Du, das wär vielleicht irgendwie möglich?", unterbricht Christies Stimme zaghaft das unangenehme Schweigen zwischen uns und nach kurzem Überlegen nicke ich einfach nur matt. Dabei wechselt meine Gesichtsfarbe zwischen knallrot und leichenblass, weil mir unglücklicherweise gerade eine Erkenntnis gekommen ist, auf die ich wirklich gut und gerne hätte verzichten können: Ich bin definitiv ... Ich steh auf jeden Fall auf Jungs. Eindeutig. Ich meine, wenn's nicht so wäre, dann hätte mir dieser Kuss gerade ja wohl kaum gefallen, oder? Und dass das so ist, das kann ich nicht leugnen – auch wenn ich genau das gerne tun würde. Mir wär's zwar wesentlich lieber, wenn ... wenn das eben Simon gewesen wär und nicht Christie, aber ansonsten ... Der Kuss selbst war ... schön. Verdammt schön sogar, wenn ich ehrlich sein soll. Und ich bin auf jeden Fall hundertprozentig schwul. Scheiße.
 

~*~
 

*nyahahaha*

Nein, wer hätte das nur erwartet?

*total geschockt tu*

XD
 

Na, wie hat's euch gefallen? Wollt ihr mich jetzt meucheln, weil Jannis erster Kuss nicht an Simon ging, sondern an einen Anderen? Wer von euch - ausser Schwarzfeder, die mir diesen Floh ins Ohr gesetzt hat, und Aschra, die mich einfach zu gut kennt und zu sehr mit mir auf einer Wellenlänge liegt - hat damit gerechnet?

*kicher*
 

Morddrohungen und Ähnliches sind immer gerne gesehen!
 

Ach, und noch eine kleine Werbung in eigener Sache: Ich habe innerhalb der letzten zwei Tage handschriftlich schon mal zwei der geplanten Sidestories zu Welcome to my life geschrieben (und das, obwohl ich eigentlich an Kapitel 17 arbeiten wollte *drop*). Sobald ich dieses Kapitel hochgeladen und auch die ENS verschickt habe, werde ich mich ans Abtippen machen und dann im Laufe der nächsten Tage schon mal den ersten One-Shot hochladen. Wenn ihr Interesse habt, haltet Ausschau nach Motte vs. Bastard.
 

Bis zum nächsten Mal, wenn das Halloween-Mega-Monster-Kapitel in die letzte Runde geht!

*wink*
 

Karma

Von Küssen, Gesprächen und Vorsätzen

So, heute nur kurz das Kapitel, ohne Antworten auf die Kommentare. Sorry wegen der Verspätung, aber gestern war ein Scheißtag und heute hab ich Besuch, also keine Zeit.
 

Trotzdem danke für die Kommentare und viel Spaß beim Lesen!
 

Karma
 

~*~
 

"Geht schon, glaub ich", nuschele ich noch etwas fertig durch die Erkenntnis, die mir da gerade mit der Holzhammermethode ins Hirn geprügelt wurde, und als ich wieder aufblicke, lächelt Christie mich halb schuldbewusst, halb erleichtert an. "Dann sollten wir jetzt vielleicht erst mal Dein Make-up wieder in Ordnung bringen, ehe wir zu den Anderen zurückgehen. Die haben sicher schon ne Suchanzeige aufgegeben, weil wir so lange weg sind", schlägt er vor und ich nicke kurz, ehe ich mir erst mal die restlichen Kajalspuren aus dem Gesicht entferne.
 

Danach lasse ich mich von Christie neu schminken. Er ist dabei mindestens genauso nervös wie ich. Darauf deutet jedenfalls sein zaghaftes Lächeln hin – das und die Tatsache, dass er jedes Mal rot wird, wenn er mir versehentlich in die Augen sieht. Ich würde es ihm und mir gerne leichter machen, aber da ich nicht weiß, wie ich das hinkriegen soll, unternehme ich nichts, sondern warte einfach stumm ab, bis er fertig ist. Dann werfe ich einen kurzen Blick in den Spiegel und lächele meinem Spiegelbild probeweise zu. Besonders überzeugend fällt dieses Lächeln nicht gerade aus, aber da es das beste ist, was ich gerade zustande krieg, wird es wohl oder übel reichen müssen. Ich hoffe nur, die Anderen merken mir nicht direkt an, dass irgendwas passiert ist. Das möchte ich wirklich nicht erklären müssen – weder Jassi noch Ruben und schon gar nicht dem Rest der Clique.
 

"Wollen wir?", fragt Christie, sobald wir fertig sind, und ich atme noch einmal betont tief durch, ehe ich nicke. Gemeinsam verlassen wir das Klo wieder und werden, kaum dass wir draußen sind, auch schon von Yannick und Nils in Empfang genommen. "Da steckt ihr! Da hätten wir euch ja lange suchen können! Wir haben schon gedacht, ihr wärt von irgendeinem Perversen verschleppt worden oder so", wendet Yannick sich an Christie. Nils grummelt nur irgendwas und ich werfe einen kurzen Blick zu Christie, aber er sieht mich nicht an. "Jan und ich hatten was Dringendes zu besprechen", erklärt er unsere lange Abwesenheit und ich bin froh, dass er die Sache mit diesem komischen Typen nicht erwähnt. Der passt zwar in die Definition "Perverser" ziemlich gut rein, aber ich will trotzdem nicht, dass irgendjemand was von diesem Zwischenfall erfährt. Und von dem Kuss schon gleich dreimal nicht.
 

"Na, dann kommt mal schnell mit. Ruben dreht irgendwie gerade im Roten. Der hat vielleicht ne Laune! Ich glaub, der hat sich sonst was ausgemalt, was mit euch passiert ist", schürt Yannick Christies und auch mein schlechtes Gewissen und ich schließe mich den Dreien an, als sie sich in Richtung der Tische, an denen der Rest der Clique auf uns wartet, in Bewegung setzen. Dabei versuche ich schon fast krampfhaft, das Geschehen von vorhin zu verdrängen, aber leider ist das wesentlich leichter gesagt als getan.
 

Ich hab Christie zwar gerade zugestimmt, es einfach zu vergessen, aber das gelingt mir irgendwie nicht. Bei der Erinnerung daran, dass das vorhin wirklich so was wie mein allererster Kuss war – und das auch noch von einem anderen Jungen –, wird mir ganz anders. Mein Herz schlägt unregelmäßig und viel zu schnell und meine Kehle ist wie ausgetrocknet, während meine Handflächen gleichzeitig feucht werden und mein Gesicht mal wieder zu glühen anfängt. Aus diesem Grund bin ich unglaublich froh, als ich endlich Jassi und die Anderen vor mir sehe – so froh, dass ich das besorgte Gesicht meines besten Freundes ignoriere und mich einfach nur seufzend auf den freien Stuhl neben ihm fallen lasse. "Mensch, Jan, wo hast Du denn so lange gesteckt?", werde ich prompt gefragt, aber ich antworte nur mit einem diffusen Winken in Richtung des Hallenausgangs.
 

"Drüben in der anderen Halle. Tanzen. Mit Christie", erkläre ich dann noch knapp, weil Jassis Blick mir eindeutig klar macht, dass ihm eine nonverbale Antwort nicht ausreicht. Mir fällt erst auf, dass ich völlig unbeabsichtigt Rubens privaten Spitznamen für seinen besten Freund benutzt hab, als sowohl Jassi als auch Ruben mich total entgeistert anblicken. "Äh ...", mache ich nicht sehr intelligent, aber ehe ich meinen dummen Fehler irgendwie erklären oder mich dafür entschuldigen kann, mischt Christie sich in das Gespräch ein.
 

"Ist schon in Ordnung. Du kannst mich ruhig Christie nennen, wenn Du willst. Das stört mich nicht", bietet er mir an und ich bin so baff, dass ich Rubens vollkommen fassungsloses Gesicht nur am Rande mitbekomme. "Ähm ... Danke", nuschele ich verlegen und lächele etwas zaghaft zurück, als Christie mich anlächelt. Ich glaube, auf seinen Wangen einen leichten Rotschimmer zu sehen, aber bei der schwachen Beleuchtung hier bin ich mir dessen nicht ganz sicher. Vielleicht sehe ich auch nur Gespenster. Ist ja immerhin Halloween, also ist das wohl zumindest nicht allzu abwegig.
 

"Kann ich Dich mal ganz kurz sprechen, Jan? Unter vier Augen?", reißt Rubens Stimme mich aus meinen Gedanken und kaum dass ich genickt hab, packt er auch schon meine Hand, zerrt mich wieder vom Stuhl hoch und schleift mich nicht gerade sanft oder langsam hinter sich her. Erst an einem der runden Tische vorne im Eingangsbereich der Halle kommt er zum Stehen und sobald ich mich zu ihm gesellt habe, sieht er mich ernst und auch irgendwie ein bisschen angesäuert an.
 

"Hast Du mir nicht erzählt, Du bist in meinen Bruder verliebt?", will er wissen und der seltsame Unterton in seiner Stimme lässt mich hellhörig werden. Was ist denn jetzt kaputt? "J-Ja, schon.", nuschele ich verlegen – das Thema ist mir einfach wahnsinnig peinlich – und daraufhin trifft mich ein schräger Blick über den Tisch hinweg. "Und warum hast Du dann gerade einfach so mit Christie rumgeknutscht?", fragt er dann knallhart und ich laufe schlagartig wieder flammend rot an.
 

"W-Was ... Ich ... Wir ... Er ... Ich ...", stottere ich und Rubens Augen werden schmal. "Wir ... Wir haben nicht rumgeknutscht. Jedenfalls nicht ernsthaft", stelle ich deshalb eilig klar, weil ich irgendwie den Eindruck hab, dass er wegen dieser Sache wirklich verdammt sauer auf mich ist. Meinen anderen Gedanken – Scheiße, er hat uns gesehen! – schiebe ich ganz weit in die hinterste Ecke meines Bewusstseins. Darüber will ich mir jetzt wirklich nicht den Kopf zerbrechen.
 

"Da war ... Da war so ein seltsamer Typ, der ... der ... Ich hab Simon gesehen. Mit Flo. Und dann ... ich wollte wieder rübergehen, aber dann war da plötzlich dieser Typ. Der hat lauter komisches Zeug geredet, von wegen ich wär ja so niedlich und so, und dann ... Der sah aus, als würde er mich küssen wollen und ich ... Christie hat einfach behauptet, ich wär sein Freund, damit dieser Typ mich in Ruhe lässt, aber der hat das nicht geglaubt und wollte einen Beweis und ... Er hat einfach nicht locker gelassen und dann ... dann ... dann hat Christie ... Aber das hatte gar nichts zu bedeuten! Das war nur wegen diesem Kerl und überhaupt und ich ..."
 

Vollkommen außer Atem breche ich ab. Mein Herz rast, mein ganzes Gesicht glüht und ich würde mich am liebsten unter dem Tisch verkriechen oder mich gleich auf der Stelle unsichtbar machen. Ich bin mir nicht sicher, ob Ruben überhaupt verstanden hat, was ich ihm eigentlich zu erzählen versucht hab, aber ich hoffe es zumindest. Ich will nicht, dass er sauer auf mich ist – oder auf Christie. Der wollte mir ja schließlich nur helfen, weil ich einfach zu blöd bin, um alleine mit solchen beschissenen Situationen fertig zu werden.
 

"Ach so." Ruben klingt erleichtert und als ich ihn zögerlich ansehe, grinst er mich wieder so unbekümmert an, wie ich es von ihm gewöhnt bin. "Ich hab schon gedacht, Du gehst meinem Bruder fremd", schiebt er noch hinterher und sofort wird mein Gesicht noch etwas röter. "Simon und ich sind doch gar nicht ...", widerspreche ich lahm, aber Ruben lässt mich nicht ausreden.
 

"Noch nicht, Jan. Noch nicht. Und die Betonung liegt da eindeutig auf noch. Aber ich krieg euch schon zusammen, darauf kannst Du Dich verlassen", sagt er und seine Stimme klingt so ernst und voller Tatendrang, dass ich schwer schlucke. Will ich wirklich wissen, was genau er sich jetzt schon wieder ausgedacht hat? Nein, beschließe ich nach einem weiteren Blick in sein Gesicht, ich will es nicht wissen. Definitiv nicht. Aber irgendwie habe ich die dumpfe Befürchtung, dass ich das sehr viel früher erfahren werde, als mir lieb ist.
 

"Ich werd's ihm nicht sagen", beharre ich trotzdem und Ruben zieht einen Flunsch. "Jedenfalls nicht heute", schränke ich daraufhin schnell ein und verfluche mein schlechtes Gewissen für diese Worte. "Ich ... Das kann ich einfach nicht. Nicht nach dem, was da vorhin ... Ich brauch jetzt einfach ein bisschen Ruhe", schiebe ich nuschelnd hinterher und seufze abgrundtief. Ruben nickt einfach nur und ich lege meine Arme auf den Tisch, um meinen Kopf darauf betten zu können. Ich will jetzt einfach nur ein bisschen abschalten.
 

"Kommst Du wieder mit rein zu den Anderen?", dringt Rubens Stimme in meine Gedanken, aber ich schüttele nur matt den Kopf. "Ich komm gleich nach. Ich brauch nur fünf Minuten für mich", nuschele ich in meine Kapuzenjacke, hebe meinen Kopf ein wenig und werfe Ruben ein ziemlich schiefes Grinsen zu, das wohl mehr Grimasse ist als irgendwas anderes. Glücklicherweise scheint ihm das trotzdem zu reichen, denn er klopft mir noch mal kurz auf die Schulter und verschwindet dann nach einem "Okay, dann sag ich den Anderen eben Bescheid" wieder in der Halle.
 

Ich sehe ihm kurz nach, ehe ich meine Stirn auf meine Arme lehne und abgrundtief seufze. Irgendwie bin ich gerade total durcheinander und weiß absolut nicht, wie ich jetzt mit der ganzen Situation umgehen soll. Das überfordert mich alles total. Am liebsten würde ich mich jetzt zu Hause in mein Bett verkriechen, um erst mal gründlich über alles nachzudenken, aber das kann ich ja wohl knicken. Und ich glaube, das wär auch keine gute Idee.
 

Mal ganz abgesehen davon, dass Jassi und Ruben sich sicher tierische Sorgen machen würden, wenn ich jetzt sage, dass ich schon abhauen will, würde das auch vor Christie nicht unbedingt gut kommen. Immerhin würde er bestimmt glauben, dass das was mit ihm zu tun hat, und ich will nicht, dass er wegen diesem Quatsch von vorhin noch mal ein schlechtes Gewissen kriegt. Das hat er ja wohl eh schon und ich muss es ja nicht unbedingt noch schlimmer machen, als es sowieso schon ist. Die ganze Sache ist auch so schon ätzend genug.
 

Das eindeutig Schlimmste ist aber, dass ich trotz allem, was gerade passiert ist, den Gedanken an Simon einfach nicht aus meinem Kopf kriege. Immer wieder huscht mein Blick zum Eingang der Gothic-Halle und ich kann mir nur mit Mühe das Seufzen verkneifen. Ein Teil von mir will ihm am liebsten für den Rest meines Lebens aus dem Weg gehen und ihn nie wiedersehen, aber ein anderer Teil von mir – der, der wesentlich lauter, penetranter und nerviger ist – bringt mich schließlich dazu, den sicheren Tisch zu verlassen und auf noch immer etwas unsicheren Beinen zum Halleneingang rüberzuwanken.
 

Was ich mir davon eigentlich verspreche, weiß ich auch nicht so genau, aber darüber denke ich auch gar nicht weiter nach. Ich will Simon einfach nur sehen, das ist alles. Ich brauche das jetzt einfach. Und ich muss mich ihm ja nicht zu erkennen geben. Er muss ja gar nicht unbedingt wissen, dass ich heute Abend auch hier bin. Hauptsache, ich kann ihn jetzt sehen. Auch wenn es nur ganz kurz ist. Mehr will ich im Augenblick eigentlich gar nicht.
 

Mit diesem Gedanken im Hinterkopf quetsche ich mich an den Leuten am Eingang vorbei und verkrieche mich in die gleiche Ecke, in der ich vorhin auch schon gestanden hab, als ich gemeinsam mit Christie hier war. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und spähe in die Richtung, in der Simon, Flo und die beiden Mädchen vorhin verschwunden sind. Bis auf eins der beiden Mädchen, das gerade mit ihrem Handy beschäftigt ist und ganz offensichtlich ein Faible für Schwarz und Blau hat – diese Farben haben jedenfalls ihre Klamotten und auch ihre Haare –, ist der Tisch allerdings vollkommen leer.
 

Halb enttäuscht, halb beunruhigt huscht mein Blick zur Tanzfläche, aber auch da ist Simon nicht. Flo schon, aber er tanzt gerade mit dem anderen Mädchen und bei diesem Anblick atme ich unwillkürlich erleichtert auf. Klar, das ist Blödsinn – er hat ja schließlich kein Interesse an Mädchen –, aber allein die Tatsache, dass er jetzt gerade eben nicht mit Simon tanzt, lässt trotzdem eine ganze Gebirgskette vom Ausmaß der Rocky Mountains von meinem Herzen purzeln. Die beiden jetzt tanzen oder flirten zu sehen, hätte mir nach allem, was heute schon passiert ist, wahrscheinlich endgültig den Rest gegeben.
 

Da Flo und diese Tussi allerdings definitiv nicht der Grund sind, aus dem ich eigentlich noch mal hierher gekommen bin, suche ich weiter nach Simon, werde zu meinem Leidwesen aber nicht fündig. Er scheint nicht da zu sein und ich frage mich unwillkürlich, ob er vielleicht schon nach Hause gefahren ist. Irgendwie kann ich mir das zwar nicht vorstellen – und ich will das auch eigentlich nicht glauben –, aber es wäre immerhin eine Möglichkeit.
 

"Jan?", dringt irgendwann eine Stimme, die ich überall wiedererkennen würde, in meine Gedanken und mir wird gleichzeitig heiß und kalt. Ach Du heilige Scheiße, Simon! Wo kommt der denn jetzt her? "Was machst Du denn hier?", fragt er mich verwundert und als ich mich etwas schwerfällig zu ihm umdrehe – warum in aller Welt kommt er denn von draußen? –, nimmt mein gerade kurzzeitig ausgefallenes Herz mit einem lauten Poltern seinen eben noch schmählich vernachlässigten Dienst wieder auf.
 

"Äh ... ich ...", stottere ich peinlich vor mich hin und werde gleich wieder tomatenrot, als ich Simon so nah vor mir sehe. Dadurch, dass die Musik hier drin ziemlich laut ist, steht er keine zehn Zentimeter von mir entfernt und beugt sich sogar etwas zu mir nach unten, um meine Antwort überhaupt verstehen zu können. Ich fühle mich unwillkürlich an gestern Abend erinnert, als er sich in meinem Zimmer so über mein Bett gebeugt hat, um Slim zu streicheln. Sofort werde ich noch ein paar Nuancen röter, aber das scheint ihm zum Glück nicht aufzufallen.
 

"Das ist vielleicht eine Überraschung", sagt er und ich nicke einfach nur. Mehr als ein Krächzen oder Quietschen würde ich jetzt sowieso nicht über meine Lippen bringen. Dafür ist er mir einfach viel, viel zu nah. Am liebsten würde ich mich jetzt an ihn klammern, aber mein Körper bewegt sich keinen Millimeter und ich bin irgendwie froh darüber. Was würde Simon auch von mir denken, wenn ich ihm ohne Vorwarnung einfach so um den Hals falle?
 

"Bist Du alleine hier oder ist Ruben auch da?", holt seine Stimme mich wieder aus meinen wirren Gedankengängen und die Enttäuschung, die ich aufgrund der Frage nach Ruben empfinde, bringt mein Hirn und damit auch mein Sprachzentrum endlich wieder in Gang. "Ruben ist auch da. Drüben, in der anderen Halle. Zusammen mit den Anderen", nuschele ich leise und finde mich im nächsten Moment gegen Simon geschubst wieder, weil mir irgendjemand im Vorbeigehen einen nicht gerade sanften Stoß in den Rücken gibt. Sofort schießt mir auch noch mein gesamtes restliches Blut ins Gesicht, aber ich kann nicht umhin, diese unbeabsichtigte halbe Umarmung trotzdem zu genießen. Er ist so schön warm.
 

"Idiot!", grummelt Simon demjenigen hinterher, der mich gegen ihn geschubst hat, aber ich selbst bin dieser Person absolut nicht böse. Eher sogar im Gegenteil. Allerdings sollte ich Simons Hemd wohl trotzdem besser so langsam mal wieder loslassen. Sonst wird's nämlich peinlich. Also los, ihr Finger, bewegt euch! Loslassen, aber sofort. Nein, ihr sollt euch nicht noch fester in den Stoff krallen, sondern loslassen! Ist das denn so schwer, verdammt noch mal? Was soll Simon denn von mir denken? Jetzt lasst ihn doch endlich los, ihr nutzlosen Anhängsel meiner Hand!
 

"Scheiße!", flucht Simon leise und als ich erschrocken zu ihm aufsehe, trifft mich ein seltsamer Blick aus heute roten Augen, den ich nicht zu deuten weiß. Irgendwie ist mir plötzlich ganz furchtbar komisch. Mein Magen rebelliert, meine Hände fangen an zu zittern und mir wird wahnsinnig heiß. Mein Herz legt eine Extraschicht ein und ich schlucke schwer, aber der Kloß, der in meinem Hals feststeckt, bewegt sich dadurch keinen einzigen Millimeter. Verdammt, was ist denn jetzt auf einmal los? Kann mir das mal bitte irgendwer erklären?
 

"Heute herzukommen war definitiv eine ganz, ganz blöde Idee", murmelt Simon und mein Herz sackt ab. Allerdings ist das längst noch nicht alles. Simons nächste Worte sind wie ein Schlag ins Gesicht. " Ich glaub, es wär besser, wenn Du wieder zu Ruben nach drüben gehst, Jan", fordert er mich nämlich auf und ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Hasst er mich jetzt auf einmal? Was habe ich ihm denn getan? Ich habe doch gar nichts gemacht! Oder etwa doch? Habe ich vielleicht irgendwas Blödes angestellt, ohne das zu merken? Was in aller Welt ist hier eigentlich los?
 

"Wenn Du nicht willst, dass ich Dich jetzt küsse, dann sag was oder halt mich auf. Wenn Du das nicht tust, dann kann ich für nichts mehr garantieren. Jedenfalls nicht mehr lange", bekomme ich nur eine Sekunde später die Antwort auf meine unausgesprochenen Fragen und meine Augen werden groß. Das hat er doch jetzt nicht wirklich gesagt, oder? Das hab ich mir doch bestimmt nur eingebildet. Ich bin kussgeschädigt durch das Erlebnis mit Christie vorhin und jetzt ...
 

Weiter komme ich mit meinen Gedanken nicht mehr. Ehe ich so wirklich registriere, was hier passiert, legt Simon seine Lippen auf meine, so wie Christie es vorhin auch getan hat. Aber das hier ist ganz, ganz anders als das, was vorhin passiert ist. Simons Lippen sind weich und warm und es fühlt sich einfach nur unglaublich toll an, sie auf meinen zu spüren – so toll, dass ich mich gleich noch fester in sein Hemd kralle, ohne etwas dagegen unternehmen zu können. Meine Lider flattern und fallen schließlich ganz von selbst zu. Ich kann nicht atmen, kann nicht denken, kann nicht reagieren, kann absolut gar nichts tun. Das, ganz genau das hier wünsche ich mir eigentlich schon seit meinem Gespräch mit Ruben am Mittwochabend, wenn ich ehrlich bin.
 

Und dieser Kuss, geht es mir durch den Kopf, ist eindeutig viel, viel besser als der, den ich von Christie bekommen habe. Aber dann streicht Simons Zunge kurz und ungemein zärtlich über meine Lippen, schiebt sich zwischen sie und ich vergesse schlagartig, wie das mit dem Denken überhaupt funktioniert. Alles in mir kribbelt und ich bin mir hundertprozentig sicher, wenn ich nicht tot und im Himmel bin, dann ist das hier definitiv das allerbeste Gefühl der Welt.
 

Ich habe keine richtige Ahnung, was Simon da gerade genau mit mir macht – oder doch, eigentlich schon, aber irgendwie auch wieder nicht –, aber wirklich darüber nachdenken kann und will ich im Moment auch gar nicht. In meinem Kopf ist nur Platz für eine einzige Erkenntnis: Simon küsst mich gerade! Wo wir hier sind und wer uns eventuell dabei beobachtet, könnte mir definitiv nicht egaler sein. Was ist denn auch wichtig daran, ob irgendjemand uns zusieht? Sollen die doch alle woanders hinkucken, wenn ihnen der Anblick nicht gefällt. Hauptsache, Simon hört nie wieder damit auf, mich zu küssen! Wenn ich jetzt sterben muss, dann sterbe ich definitiv als der glücklichste Mensch der Welt.
 

Nach einer halben Ewigkeit, in der meine Beine immer weicher werden, gibt Simon meine Lippen schließlich wieder frei und ich schnappe erst einmal nach Luft – wenn man so geküsst wird, wird Atmen einfach überbewertet –, ehe ich ihn aus sicherlich total verschleierten Augen anblinzele. Einzig und allein das Kribbeln meiner Lippen macht mir jetzt ohne den direkten Lippenkontakt noch klar, dass ich mir den Kuss und das ganze Drumherum nicht eingebildet hab. Mir ist heiß, mir ist schwindelig und ich kann immer noch nicht wieder völlig klar denken.
 

Bevor ich mich allerdings so weit gesammelt hab, dass ich auch überhaupt nur "Piep" sagen kann, blickt Simon mich gleich noch mal so ... so an und das bisschen Hirn, das gerade wieder anfangen wollte zu arbeiten, gibt auf und tritt direkt wieder zurück in den Streik. "Miese Idee, Jan. Ganz miese Idee", murmelt Simon, aber ehe ich die Frage, die mir auf der Zunge liegt, artikulieren kann, küsst er mich schon wieder und nachdem ich den ersten Schreck darüber überwunden hab, schließe ich meine Augen und genieße es einfach nur. Dabei bete ich zu allen höheren Wesenheiten, die mir einfallen, dass sie ihn bitte, bitte, bitte nie wieder damit aufhören lassen sollen. Er soll bitte nie, nie, nie wieder etwas anderes tun als mich zu küssen!
 

Allerdings wäre ich wohl nicht ich, wenn in meinem Leben auch nur ein einziges Mal irgendetwas ganz genau so laufen würde, wie ich es mir wünsche. Meine Wünsche können ja ruhig getrost ignoriert werden, wie mir mal wieder äußerst glorreich bewiesen wird, kaum dass ich diesen Wunsch überhaupt auch nur gedacht habe. Just in der Sekunde, in der ich mich nämlich einfach nur vollkommen fallen lasse und der Aufforderung von Simons Zunge Folge leisten will – heilige Scheiße, das fühlt sich so toll an! –, werden wir natürlich auch schon unterbrochen.
 

Unwillig grummelnd lässt Simon von mir ab und ich blinzele einfach nur irritiert vor mich hin. Ich habe gerade nicht den geringsten Plan, was hier vor sich geht, aber die Worte, die ich zu hören kriege, wirken wie eine eiskalte Dusche auf mich, reißen mich aus meinen verklärten Träumen und katapultieren mich äußerst unsanft in die Realität zurück, die ich bis gerade vollkommen verdrängt hatte. "Hier steckst Du, Simon. Flo sucht Dich schon überall", teilt das schwarzhaarige Mädchen, mit dem Flo vorhin auf der Tanzfläche war, Simon mit und die Erwähnung von Flos Namen lässt irgendwas in mir zerbrechen. Scheiße, was habe ich getan? Bin ich denn völlig bescheuert? Warum habe ich ...? Wieso ...? Warum lasse ich mich von Simon küssen, obwohl ich doch eigentlich ganz genau weiß, dass er ... dass er und Flo ...
 

"Scheiße!" Damit lösen sich meine Finger doch endlich mal von Simons Hemd. Ich drücke mich von ihm weg, quetsche mich hastig an ihm vorbei und stürme aus der Halle in den Vorraum, ohne auf das "Jan, warte!" zu reagieren, das er mir nachruft. Meine Augen brennen schon wieder und im allerletzten Moment schwenke ich in Richtung der Toiletten um, anstatt zu Jassi und den Anderen in die zweite Halle zu gehen. Wenn sie mich jetzt so sehen, dann werden sie auf jeden Fall wissen wollen, was passiert ist, und das kann ich ihnen nicht sagen. Auf gar keinen Fall!
 

Eine absolut widerliche Mischung aus Erleichterung, Schuld, Scham, Ekel und noch einigen anderen Gefühlen, die ich gerade nicht richtig zuordnen kann, durchrieselt mich, als ich die Tür der letzten Klokabine ganz hinten an der Wand hinter mir zuwerfe und mich mit dem Rücken gegen das Holz lehne. Ich schließe mich ein, hocke mich auf den Klodeckel und ziehe meine Beine so nah an meinen Körper, dass ich sie mit den Armen umschlingen kann und trotzdem nicht runterfalle. Und in dem Moment, in dem ich meine Stirn gegen meine Knie drücke und meine Augen schließe, kommt das Gefühl von Simons Lippen auf meinen wieder hoch und ich kann fühlen, wie meine Jeans nass wird.
 

Ich beiße mir so fest wie möglich auf die Unterlippe, damit mich bloß niemand von den Leuten, die da draußen hin und her rennen, hört, und lasse meine Tränen ansonsten einfach ungehindert fließen. So grauenhaft wie jetzt habe ich mich nicht mal am Sonntag gefühlt, als Jassi mir klargemacht hat, was eigentlich mit mir los ist, und auch nicht, als Ruben mir erzählt hat, was zwischen seinem Bruder und Flo läuft. Das hier ist eine vollkommen neue Dimension von scheiße, aber eindeutig. Warum immer ich? Warum bin immer ich derjenige, dem so ein Mist passiert?
 

Wie lange ich hier hocke, heule und mein ganzes Leben und das Universum noch dazu verfluche, weiß ich nicht. Höchstwahrscheinlich haben Jassi und die Anderen in der Zwischenzeit schon angefangen, nach mir zu suchen, weil ich einfach nicht wieder auftauche, aber das ist mir vollkommen egal. Ich kann und will jetzt niemanden um mich haben. Wenn ich jetzt irgendwem erklären müsste, was mir gerade passiert ist ... Nein, das kann ich nicht.
 

Zwei männliche Stimmen beinahe direkt vor der Kabinentür, die mir sehr zu meinem Leidwesen beide mehr als bekannt vorkommen, reißen mich schließlich wieder aus meiner Selbstgeißelung. Vor Schreck kippe ich beinahe von dem Klodeckel, auf dem ich sitze, als ich Flo draußen höre, aber als Simon ihm auch noch antwortet, setzt mein Herz erst recht aus. Scheiße, was wollen die Zwei denn ausgerechnet hier? Wissen sie etwa, dass ich hier bin? Haben sie mich gesehen und sind mir nach? Oh bitte, bitte nicht!
 

"Okay, was ist so wichtig, dass Du mich fast schon gewaltsam ins Klo schleifst?", höre ich Flos Stimme und schlucke hart. Am liebsten würde ich mich jetzt in Luft auflösen, aber das funktioniert nicht. Und da die beiden sich zum Reden natürlich ausgerechnet genau die Ecke vor der Kabine ausgesucht haben, in der ich mich gerade befinde – wie sollte es bei meinem Glück auch anders sein? –, kann ich mich auch nicht still und heimlich aus dem Staub machen. Um hier rauszukommen, müsste ich immerhin die Kabinentür öffnen und an ihnen vorbeischleichen – was mir sicher nicht gelingen würde, weil sie mich dann sehen würden. Und das ist nun wirklich das Letzte, was ich will. Im Moment will ich einfach nur sterben, damit dieser elende Schmerz in meiner Brust endlich verschwindet.
 

"Ich hab ihn geküsst", kommt die Antwort von Simon und meine Fingernägel krallen sich in den Stoff meiner Jeans. Seine Stimme klingt irgendwie seltsam gepresst und gar nicht so, wie ich sie von ihm kenne. So ähnlich hat er sich auch angehört, als er mir von der Sache mit seiner Tante erzählt hat. Heißt das, dass ihn das, was da eben zwischen uns passiert ist, auch so mitnimmt wie mich? Oder hat er einfach nur ein schlechtes Gewissen Flo gegenüber? Immerhin hat er ihn ja gerade praktisch halb mit mir betrogen oder so. Gott, das ist alles so unglaublich scheiße!
 

"Was? Wann?" Flo klingt total aufgeregt und mein Herz setzt noch mal mindestens zwei Schläge lang aus, ehe es mit dreifacher Geschwindigkeit gegen meinen Brustkorb donnert. Ob er sehr sauer ist? Scheiße, ich weiß nicht mal, ob ich das gut oder schlecht finden soll. Wenn er sauer ist, dann beendet er die Sache mit Simon vielleicht ganz und ich könnte ... Aber was, wenn es Simon dann deswegen schlecht geht? Dann ist das doch auch irgendwie meine Schuld, weil ich es überhaupt erst zugelassen – und verdammt noch mal auch noch genossen – habe, dass er mich küsst. Scheiße, das ist alles so kompliziert!
 

Warum bin ich heute nicht zu Hause geblieben? Dann wäre mir der ganze Mist, der heute passiert ist, nicht passiert. Gut, dann wüsste ich jetzt auch nicht, wie unglaublich schön es ist, von Simon geküsst zu werden, aber genau betrachtet wäre das wahrscheinlich sogar besser für mich. Dann müsste ich nämlich nie wieder darüber nachdenken, was ich ein einziges Mal – ja, gut, zwei Mal, aber wer wird denn gleich so ein kleinlicher Erbsenzähler sein? – hatte und ganz sicher nie wieder bekommen werde.
 

"Vor ein paar Minuten. Bevor Deine herzallerliebste Schwester aufgetaucht ist und unbedingt stören musste." Simons Tonfall nach zu urteilen ist er ziemlich angefressen. "Und?", fragt Flo daraufhin und von Simon kommt ein abgrundtiefes Seufzen. "Ich glaub, ich hab's total vermasselt", sagt er leise und ich spüre, wie mir bei diesen Worten gleich noch mehr Tränen über die Wangen laufen. Vermasselt ... Das kann man wohl laut sagen. Aber vielleicht verzeiht Flo ihm ja noch mal. Ich weiß, ich sollte ihm eigentlich die Daumen dafür drücken, aber das kann ich nicht. Wie auch? Immerhin bedeutet eine Versöhnung der beiden ja schließlich das endgültige Aus für mich. Verdammt, warum muss dieser Gedanke so unglaublich weh tun?
 

"Und inwiefern hast Du's Deiner Meinung nach genau vermasselt?", erkundigt Flo sich und Simons nächste Worte – "Er ist weggelaufen." – hauen mich fast vom Klo, nachdem ich der Sinn des Gesagten zu mir durchgedrungen ist. Weggelaufen? Aber ... Der Einzige, der gerade weggelaufen ist, bin doch ... ich? Hä? Was geht denn hier ab? Irgendwie kapiere ich jetzt wirklich gar nichts mehr.
 

"Oh Mann. Das tut mir echt leid für Dich", höre ich Flo sagen und in seiner Stimme schwingt ein tröstender Unterton mit. Ich höre ein Geräusch, das ganz danach klingt, als würde er Simon auf die Schulter klopfen oder ihn kurz umarmen. Was es auch ist, es versetzt mir einen schmerzhaften Stich in der Gegend, wo mein Herz sitzt. "Wahrscheinlich war es einfach noch zu früh und ich hab alles überstürzt, aber ich konnte einfach nicht anders", murmelt Simon daraufhin und seufzt ein weiteres Mal.
 

"Ich hab ihn zwar vorgewarnt, dass ich ihn küssen würde, wenn er nichts dagegen sagt oder tut, aber ... Ich hab ihm eigentlich gar keine richtige Möglichkeit gelassen, irgendwie darauf zu reagieren. Ich wollte einfach nicht riskieren, dass er womöglich wirklich abhaut oder Nein sagt. Und jetzt hab ich's komplett versaut. Ich bin doch so ein Vollidiot", bescheinigt er sich selbst und ich muss mich an der Kabinenwand abstützen, um nicht den Halt zu verlieren.
 

Heißt das, was ich da gerade gehört habe, etwa wirklich das, was ich glaube – und zugegebenermaßen auch hoffe –, was es heißt? Aber ... Wenn das tatsächlich so ist, was ist denn dann mit Flo? Scheiße, ich verstehe so langsam echt gar nichts mehr. Kann mir nicht mal irgendjemand erklären, was hier gerade eigentlich genau los ist? Ich habe irgendwie das Gefühl, als würde mir etwas verdammt Wichtiges entgehen – irgendetwas, was ich eigentlich unbedingt wissen sollte.
 

"Vielleicht hast Du ihn ja auch einfach nur ein bisschen überrumpelt. Der Kurze fängt sich schon wieder", spricht Flo Simon Mut zu. "Immerhin hat er's doch zugelassen, dass Du ihn küsst, oder? Und das hätte er doch wohl kaum gemacht, wenn's ihm nicht wenigstens ein bisschen gefallen hätte, meinst Du nicht auch?", fragt er weiter. Simon bejaht und ich laufe vom Halsansatz bis zu den Haarspitzen dunkelrot an, nachdem ich mich kurz gekniffen hab, um zu testen, ob ich nicht vielleicht doch nur halluziniere. Aber das tue ich ganz offensichtlich nicht. Und das, was ich hier höre, kann man auch einfach nicht mehr falsch verstehen. Nein, Simon wollte mich wirklich küssen. Mich, nicht Flo. Aber warum stört Flo sich nicht daran? Das begreife ich einfach nicht.
 

"Ja." Diese Antwort auf Flos Frage höre ich nur wie durch Watte. Mir schwirrt der Kopf vor lauter Gedanken und Fragen, auf die ich einfach keine Antwort finde, so sehr ich auch darüber nachgrübele. Warum hat Simon mich eigentlich genau geküsst? Warum ist Flo deswegen nicht sauer auf ihn, auf mich oder auf uns beide? Warum habe ich vielmehr das seltsame Gefühl, als würde er Simon sogar trösten, weil ich gerade einfach so abgehauen bin? Ich versteh das alles nicht!
 

"Jan? Bist Du das etwa da drin?" Ich erschrecke mich fast zu Tode, als Flo mich urplötzlich direkt anspricht. Vollkommen geschockt blicke ich zur Tür der Kabine, aber die ist immer noch abgeschlossen. Allerdings klopft es gerade gegen das Holz und ich schlucke hart. Bitte nicht! Bitte, bitte, bitte nicht! Ich hab doch jetzt nicht wirklich vollkommen im Tran mal wieder laut gedacht, oder? Das darf doch nicht wahr sein! Oh Scheiße!
 

"Wenn Du wirklich da drin bist, dann komm bitte raus, Jan." Verdammt, das ist nicht fair! Wie soll ich mich denn bis ans Ende aller Tage hier drin verstecken, wenn Simons Stimme so verdammt bittend klingt? Am liebsten würde ich mich jetzt selbst im Klo runterspülen – einfach um behaupten zu können, dass ich nicht hier war und die Beiden auch nicht belauscht hab –, aber das tue ich nicht.
 

"O-Okay", höre ich mich stattdessen zu meinem grenzenlosen Entsetzen nuscheln, rappele mich vom Klodeckel hoch und atme noch einmal tief durch, ehe ich mit zitternden Fingern die Kabinentür aufschließe. Zögerlich ziehe ich sie ein Stück auf und sehe mich gleich darauf mit Simon und Flo konfrontiert, die mich beide seltsam besorgt ansehen.
 

"Ähm ... hi", murmele ich beschämt und senke meinen Blick ganz schnell auf meine Schuhspitzen. Wenn es jemals den perfekten Moment gegeben hat, in dem ein Loch im Boden wirklich die ultimative Rettung gewesen wäre, dann ist dieser Moment genau jetzt. Dummerweise öffnet sich natürlich kein solches Loch und die Erde verschlingt mich auch nicht. Nein, ich bleibe genau da stehen, wo ich gerade stehe, und fühle mich einfach nur grauenhaft.
 

Es ist mir unglaublich peinlich, dass die Zwei jetzt wissen, dass ich ihr ganzes Gespräch mitangehört habe – auch wenn ich genau betrachtet ja eigentlich gar nichts dafür kann. Ich konnte ja schließlich nicht ahnen, dass sie sich zum Reden ausgerechnet hierher ins Klo verziehen würden. Trotzdem fühle ich mich mies und weiß einfach nicht, was ich jetzt sagen oder tun soll. Soll ich überhaupt irgendwas sagen? Scheiße, verdammt, warum bin ich eigentlich immer so verflucht planlos? Das ist doch einfach nur kacke!
 

"Oh Mann, ihr seid vielleicht zwei seltene Vögel. Euch sollte man ausstellen, echt. Wegen euch beiden krieg ich noch graue Haare, wenn das so weitergeht." Flo klingt seltsamerweise eher amüsiert als wirklich sauer und als ich unter meinen Ponyfransen hindurch zu ihm rüberlinse, kann ich sehen, dass er tatsächlich breit grinst. Irgendwie verstehe ich absolut nicht, was gerade in ihm vorgeht. Ist er denn wirklich kein bisschen wütend wegen dem, was vorhin zwischen Simon und mir vorgefallen ist?
 

"Wisst ihr, was ich jetzt am liebsten mit euch beiden machen würde? Am liebsten würd ich euch jetzt irgendwo einschließen und euch da erst dann wieder rauslassen, wenn ihr endlich mal die Zähne auseinandergekriegt habt. Das ist ja zum Mäusemelken mit euch! Wie kann man sich nur so verdammt blöd anstellen? Das gibt's doch gar nicht! Das gehört doch echt verboten!" Trotz dieser nicht gerade netten Worte grinst Flo noch immer und je mehr er redet, desto weniger kapiere ich, worauf er eigentlich hinauswill. Ist er jetzt sauer auf uns oder doch nicht?
 

"Echt, wenn nicht wenigstens Du bald mal anfängst, endlich Klartext mit dem Kurzen zu reden, Simon, dann ...", setzt er an, aber Simon lässt ihn seinen wie eine Drohung klingenden Satz gar nicht erst beenden. "Schon gut. Ich hab's ja kapiert. Du kannst Dich also mal so langsam wieder einkriegen", brummt er und klingt dabei irgendwie verlegen. "Also, Jan, ich ...", wendet er sich dann an mich und ich kann fühlen, wie ich gleich noch ein ganzes Stück röter werde. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und meine Kehle fühlt sich an wie ausgetrocknet. Eigentlich bin ich mir ziemlich sicher, dass mir jeder, der gerade sonst noch hier im Klo ist, ansehen kann, was in mir vorgeht und wie zittrig ich innerlich bin, aber dagegen kann ich absolut nichts machen.
 

Bevor Simon seinen Satz zu Ende bringen kann, werde ich urplötzlich an der Schulter gepackt. Zu Tode erschrocken drehe ich mich um und sehe mich Maurice gegenüber, der mich mit einer Mischung aus Ärger und Erleichterung ansieht. "Endlich hab ich Dich gefunden!", sagt er und mir schwirrt der Kopf. Was ist denn jetzt los? "Wir haben Dich echt schon überall gesucht. Wir müssen so langsam abhauen. Es ist gleich zwölf", wird mir weiter mitgeteilt und mir fällt jetzt erst ein, dass ich Ruben ja vorhin – oder war das schon vor Stunden? – gesagt hab, dass ich in fünf Minuten wieder in die Halle kommen wollte. Das war ja wohl nix.
 

"Ich ... ähm ...", stammele ich und werfe einen hilfesuchenden Blick zu Simon, aber ehe er etwas unternehmen kann, schiebt Maurice mich auch schon energisch vor sich her. "Ich hab keinen Bock auf Stress mit den Türstehern, also sei schön brav und komm mit", kommandiert er dabei und ich lasse mich etwas hilflos mitschleifen, obwohl ich mich eigentlich losreißen will, um bei Simon zu bleiben. Allerdings ist Maurice stärker als ich und er macht auch nicht den Eindruck, als würde er mich jetzt, wo er mich schon mal gefunden hat, wieder loslassen wollen. Scheiße, verdammt!
 

"Ich ... komm morgen zu Dir!", rufe ich Simon noch schnell über die Schulter hinweg zu, ehe die Tür zur Toilette hinter Maurice und mir ins Schloss fällt. Ich bin mir nicht sicher, ob Simon meine Worte überhaupt noch gehört hat, aber ich hoffe es einfach mal. Kurz werfe ich einen Blick zu Maurice, aber der ist vollauf damit beschäftigt, irgendwas in seinen nicht vorhandenen Bart zu grummeln. Es klingt verdächtig nach "Kleinkinder, die nicht auf sich selbst aufpassen können", aber ich bin viel zu durcheinander, um irgendetwas dazu zu sagen.
 

Als wir schließlich bei Ruben, Jassi und den Anderen ankommen, bin ich immer noch immer total neben der Spur. Jassi bemerkt meinen seltsamen Gesichtsausdruck als Erster, lässt Sinas Hand los – wahrscheinlich zum ersten Mal im Laufe der letzten Stunde – und kommt zu mir rüber. Vorsichtig legt er mir zwei Finger unters Kinn, hebt mein Gesicht an und mustert mich skeptisch. "Hast Du etwa geheult, Jan?", fragt er glücklicherweise so leise, dass es außer mir hoffentlich niemand hört, aber ich werde trotzdem rot. Antworten muss ich allerdings nicht, weil Jassi meine Mimik auch so deuten kann.
 

"Scheiße, was ist passiert?", will er alarmiert wissen und ich versuche, den Kopf zu schütteln, aber das gelingt mir nicht. Und ehe ich es schaffe, mir eine verbale Antwort zurechtzustammeln, hängt sich Ruben auch schon zwischen uns und unterzieht mein Gesicht ebenfalls einer kritischen Musterung. "Was ist denn mit Dir los, Jan?", erkundigt er sich ebenfalls ziemlich besorgt und ich schlucke erst einmal schwer, ehe ich doch endlich ein paar Worte über die Lippen bringe.
 

"Ich ... hab gerade ... mit Simon gesprochen. Im ... In der Toilette. Oder eigentlich wollten wir gerade reden, aber dann kam Maurice und hat mich mitgeschleift und ...", fange ich an und senke meinen Blick ganz schnell auf den unglaublich interessanten Hallenboden, bevor irgendjemand merkt, wie rot ich gerade bin. Ich kann jetzt weder Ruben noch Jassi ankucken. Das würde ich nicht garantiert nicht überleben.
 

"Mensch, Mo, Du verdammter Riesenhornochse!", brüllt Ruben seinen Freund auf mein Geständnis hin an, lässt mich los und stapft zu dem ihn vollkommen verdattert anblickenden Maurice, um ihm einen kräftigen Schubs gegen die Brust zu geben. "Du bist doch so ein unglaublicher Trottel! Sag mal, merkst Du eigentlich gar nichts? Jan wollte gerade ...", motzt er weiter auf ihn ein, aber ehe er alles ausplaudern und mich so in noch größere Peinlichkeiten stürzen kann, hält Christie ihn schnell fest und legt ihm eine Hand auf den Mund. "Jetzt beruhig Dich erst mal wieder", beschwört er Ruben, wirft mir einen entschuldigen Blick zu und bringt ein schiefes Lächeln zustande, als ich daraufhin einfach nur dankbar nicke.
 

"Dein Simon ist heute also tatsächlich auch hier", lenkt Jassis Stimme meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn zurück und ich nicke wieder, blicke ihn aber immer noch nicht an. "Ja. Und ich war drüben bei ihm in der anderen Halle und wir ..." An dieser Stelle breche ich ab und schüttele hastig den Kopf. Über den Kuss – oder vielmehr die Küsse – will ich nicht sprechen. Noch nicht. Nicht jetzt. Dafür ist die Erinnerung daran noch viel zu frisch. Das muss ich erst mal für mich selbst klarkriegen, bevor ich mit irgendjemandem darüber reden kann.
 

"Und was ist jetzt? Hat er Dir weh getan oder sonst irgendwie Scheiße gebaut?", bohrt Jassi weiter nach und ich seufze abgrundtief, ehe ich ein weiteres Mal den Kopf schüttele. "Nein, hat er nicht. Aber ich will jetzt nicht mehr darüber reden", würge ich das Gespräch ab. Noch immer sehe ich Jassi nicht an. Ich will einfach nichts riskieren. Er soll nicht sehen, wie durcheinander ich bin. Wenn er das nämlich merkt, dann löchert er mich garantiert so lange mit Fragen, bis ich ihm alles erzähle. Und dazu bin ich einfach noch nicht bereit.
 

"Okay", murmelt Jassi, legt einen Arm um meine Schultern und drückt mich kurz an sich. "Dann reden wir eben morgen oder wann immer Dir danach ist", sagt er dabei und ich fühle, wie ein winziges Lächeln an meinen Mundwinkeln zupft. Jassi ist einfach der Beste. Er kennt mich ganz genau und weiß, dass ich manche Sachen erst mal gründlich überdenken muss, bevor ich darüber reden kann. "Ich ruf Dich morgen Abend einfach an, in Ordnung?", bietet er an und ich nicke nur, ehe ich mich wieder aus seinem Arm winde.
 

"Ist gut. Aber jetzt solltest Du mal so langsam wieder zurück zu Deiner Sina gehen, findest Du nicht? " Damit gebe ich ihm einen kleinen Schubs und als ich aufblicke, grinst Jassi mich an. "Du willst mich wohl unbedingt loswerden, was, Kleiner? Aber okay, ausnahmsweise. Weil Du's bist", gibt er sich geradezu gönnerhaft geschlagen und jetzt muss ich auch grinsen.
 

"Ach, und mit ihr hat das gar nichts zu tun?", frage ich zurück und aus seinem Grinsen wird ein verträumtes Lächeln. "Doch, auf jeden Fall", erwidert er und seufzt leise, aber eindeutig glücklich. "Echt, Jan, ich glaub, Sina ist das Beste, was mir dieses Jahr passiert ist", schiebt er noch hinterher und blickt mit leuchtenden Augen zu seiner Freundin, die sich gerade offenbar mal wieder ausgesprochen angeregt mit Marie-Claire unterhält.
 

Ich beobachte Jassi einen Moment lang von der Seite, dann huscht mein Blick ungewollt in Richtung der Toiletten. Da ist allerdings sowohl von Simon als auch von Flo nichts mehr zu sehen. Trotzdem würde ich am liebsten wieder zurückgehen und im Notfall auch noch mal in der Halle nach Simon suchen, aber bevor ich irgendetwas in der Richtung unternehmen kann, wird unsere ganze Gruppe von einem der Türsteher, der hier wohl die Mitternachtskontrollrunde macht, zum Ausgang gescheucht. Brav machen wir uns alle auf den Weg zur Garderobe, holen unsere Jacken ab, bezahlen und treten dann nach draußen auf den Parkplatz, wo zwei mir bekannte Autos – das von Christies Vater und das von Jassis Mutter – schon auf uns warten.
 

"So, wir müssen dann so langsam." Damit läutet Jassi die allgemeine Verabschiedung ein, die in eine wahre Knuddelorgie ausartet. Ich bin als Letzter dran und nachdem Sina mich kurz gedrückt hat, umarmt Jassi mich auch noch mal so richtig fest. "Denk dran, Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn Du doch jemanden zum Reden brauchst. Auch mitten in der Nacht. Das ist völlig egal. Aber das weißt Du ja", flüstert er mir dabei ins Ohr und nachdem ich daraufhin kurz genickt hab, lächelt er mir noch mal aufmunternd zu und geht dann gemeinsam mit Sina zum Auto seiner Mutter. Ich winke Viola auf die Entfernung zu, bin aber nicht sicher, ob sie mich wirklich erkannt hat.
 

"Kommst Du, Jan?" Ruben hakt sich bei mir ein, schleift mich mit und wirft mir dabei einen zerknirschten Seitenblick zu. "Tut mir übrigens echt leid, dass ich mich da vorhin fast verquatscht hätte", entschuldigt er reumütig sich bei mir, grummelt aber gleich darauf wieder. "Aber Mo ist trotzdem ein Trottel. Echt, als ob's so schlimm gewesen wär, wenn wir zwei Minuten später gegangen wären", motzt er und ich winke schnell ab. "Ist schon gut", nuschele ich dabei. Ich will im Moment wirklich nicht über das Thema reden und fürs Erste am liebsten auch nicht mehr darüber nachdenken.
 

Sehr zu meinem Erstaunen gibt Ruben sich damit zufrieden und bohrt nicht weiter nach. Stattdessen schleift er mich einfach nur zum Auto, schiebt mich auf die Rückbank und quetscht sich neben mich. Der Rest der Clique – also Nils und Yannick; Maurice und Marie-Claire werden offensichtlich von ihren eigenen Eltern abgeholt – quetscht sich irgendwie dazu, was schlussendlich dazu führt, dass Nils halb auf Yannick, Ruben und mir draufliegt, weil der Platz ansonsten zu knapp wäre. Besonders toll findet er das seiner Beschwerde zufolge zwar nicht, aber Ruben und Yannick lachen nur darüber und ich kann von meinem Platz aus erkennen, dass auch Christie vorne auf dem Beifahrersitz schmunzelt.
 

"Mensch, jetzt mecker doch nicht dauernd rum, Du alter Grummelzwerg! Und mach Dich vor allem nicht extra fett, sonst bitte ich Andi, noch mal kurz anzuhalten und Dich als Kühlerfigur auf die Motorhaube zu setzen. Rein von der Größe her sollte das bei Dir ja kein Problem sein. Du bist schließlich winzig genug, dass man problemlos über Dich hinwegkucken kann", zieht Yannick Nils auf. Dafür erntet er zu Rubens, Christies und auch zu meiner Belustigung einen Tritt in die Rippen, der ihn allerdings auch nicht lange ruhigstellen kann. Als Rache hält Yannick Nils' Beine fest, setzt ein wirklich hinterhältiges Grinsen auf und fängt dann schließlich an, Nils die Socken herunterzuziehen und ihn an den Knöcheln zu kitzeln. Ich wusste gar nicht, dass man da empfindlich oder gar kitzelig sein kann, werde aber schnell eines Besseren belehrt. Nils lacht und motzt gleichzeitig, zappelt dabei herum wie ein Fisch auf dem Trockenen und es ist nur Christies Eingreifen zu verdanken, dass dadurch niemand zu Schaden kommt.
 

Sobald Yannick endlich von ihm ablässt, japst Nils erst mal ordentlich nach Luft, während Ruben leise vor sich hin kichert. Christie schüttelt belustigt den Kopf, Yannick grinst triumphierend, Christies Vater lacht schallend und ich muss gestehen, dass ich mich durch dieses Geplänkel tatsächlich ein bisschen besser fühle als vorhin. Gut, das liegt vielleicht einfach nur daran, dass ich sämtliche Gedanken an Simon und das, was da in der Halle passiert ist, einfach nur zu verdrängen versuche, aber eigentlich ist mir der Grund egal. Ich bin nur froh, dass ich nicht schon wieder heulen muss.
 

"Beim nächsten Mal musst Du unbedingt wieder mitkommen", kriege ich zum Abschied von Yannick zu hören, als Nils und er vor dem Haus, in dem sie wohnen, aus dem Auto steigen. Nils grummelt zwar wieder, nickt aber trotzdem und versucht dann tatsächlich so was wie ein Lächeln in meine Richtung. Yannick hingegen grinst mich breit und offen an und ich stelle unwillkürlich fest, dass Ruben und er vom Grinsen her fast Zwillinge sein könnten. Sie haben jedenfalls eindeutig beide die gleiche Art zu grinsen.
 

"Gerne", höre ich mich selbst antworten und Yannicks Grinsen wird noch eine Spur breiter. Da er an mich nicht ganz drankommt, wuschelt er stattdessen Ruben durch die Haare und lacht, als dieser sich darüber beschwert. "Gib's halt weiter", fordert er ihn auf und ich kann Ruben nur mit Mühe davon abhalten, sich auf mich zu stürzen und mir tatsächlich meine Haare total durcheinander zu bringen.
 

Sobald ich Ruben erfolgreich abgewehrt hab und auch Nils und Yannick im Haus verschwunden sind, startet Christies Vater seinen Wagen wieder, fährt weiter und parkt nur knapp zehn Minuten später an der Gärtnerei. Gemeinsam steigen wir aus, betreten das Haus und werden da von Christies Mutter in Empfang genommen. Sie ist, stelle ich fest, beinahe das totale Gegenteil ihres Mannes. Sie ist klein und recht rundlich, hat aber trotzdem ein hübsches Gesicht mit braunen Augen, die mir ziemlich bekannt vorkommen. Ganz offensichtlich hat sie sie ihrem Sohn vererbt.
 

Bevor ich weiter nach Familienähnlichkeiten suchen kann, schwenkt sie nach der überaus herzlichen Begrüßung von Christie und Ruben – sie hat die beiden einmal kräftig durchgeknuddelt – zu mir herum, stellt sich mir als "Babsi, Chris' Mutter" vor und drückt mich auch einmal an sich. Ich bin etwas erschlagen von so viel Herzlichkeit – so oft wie heute wurde ich in meinem ganzen bisherigen Leben noch nie umarmt und gedrückt – und werde auf dem Weg nach oben in Christies Zimmer dann darüber aufgeklärt, dass seine Mutter wohl immer so ist.
 

"Genau deshalb bin ich auch so gerne hier bei meinem Gummibärchen. Wenn man mal kurz geknuddelt werden will, braucht man's nur zu sagen und irgendwer nimmt einen auf jeden Fall in den Arm." Mit einem zufriedenen Lächeln, in dem ich allerdings auch einen Hauch Wehmut zu erkennen glaube, lässt Ruben sich auf die Schlafcouch fallen, während Christie kurz im Bad verschwindet, um sich abzuschminken. Sobald er wieder da ist, tue ich es ihm gleich und als ich wieder zurückkomme, sind Ruben und er schon dabei, die Couch auszuklappen. Da das wegen Rubens Gipsarm nicht ganz reibungslos hinhaut, fasse ich mit an und staune schlussendlich über die wirklich gigantischen Ausmaße der Couch. Das Ding ist fast so breit wie das alte Ehebett meiner Eltern. Ich wusste nicht, dass es so was überhaupt gibt. Da kann man mal sehen, wie unwissend ich bin.
 

Mein wahrscheinlich unglaublich belämmerter Gesichtsausdruck sorgt bei Ruben für einen Lachkrampf allererster Güte. Auch Christie kann sich das Grinsen nicht ganz verkneifen, aber ich bin keinem der beiden wirklich böse deswegen. Im Moment fühle ich mich eigentlich ganz gut, aber einem Teil von mir graut es jetzt schon davor, mich mit den beiden zum Schlafen auf die Couch zu quetschen. Ich bete jetzt schon dafür, dass ich hoffentlich sofort einschlafe. Aber da ich eigentlich noch nicht besonders müde bin, ist diese Hoffnung wohl utopisch.
 

Mehr oder weniger geordnet verschwinden wir Drei nacheinander im Bad, um uns umzuziehen und bettfertig zu machen. Ich bin der Letzte und als ich zurückkomme, hat Ruben sich schon auf einer Seite der Couch ausgestreckt und es sich dort bequem gemacht. Christie sitzt im Schneidersitz und mit einem hellblauen Pyjama, auf dessen Oberteil ein lila Glücksbärchen abgebildet ist, in der Mitte und ich schlucke schwer, als mir klar wird, dass ich ganz offensichtlich auf der anderen Seite neben ihm schlafen soll. Irgendwie ist mir das ein bisschen unangenehm, aber auf die Frage, ob mir eine Matratze zum Schlafen lieber wäre – entweder kann Christie Gedanken lesen oder ihm ist das Ganze genauso peinlich wie mir –, schüttele ich den Kopf. Ich will keinen unnötigen Aufwand verursachen. Außerdem habe ich zwei Nächte neben der Klette Ruben überlebt, da wird eine einzige Nacht neben dessen bestem Freund mich ja wohl nicht umbringen.
 

Mit diesem Gedanken im Hinterkopf krabbele ich zu den beiden auf die Schlafcouch und sobald ich mich unter die Decke gewühlt hab, löscht Christie das Licht. Trotzdem ist es nicht völlig finster im Zimmer und ich beobachte mit einem Schmunzeln, wie Ruben sich so an seinen besten Freund kuschelt, wie er es auf der Klassenfahrt bei mir gemacht hat. Allerdings schläft er dieses Mal nicht sofort ein, sondern stützt sein Kinn auf Christies Brust ab und sucht im Dunkeln meinen Blick.
 

"Und worüber hast Du vorhin mit Simon gesprochen?", stellt er die Frage, die ja wohl unweigerlich kommen musste, und jammert gleich darauf, weil Christie ihm dafür eine Kopfnuss verpasst hat. "Meinst Du nicht, dass das unter Umständen vielleicht etwas war, was Dich überhaupt nichts angeht?", tadelt er Ruben und ich kann den Flunsch, den der auf diese Belehrung hin zieht, zwar nicht richtig sehen, aber dafür umso in seiner Stimme besser hören.
 

"Hey, Simon ist immerhin mein Bruder!", quengelt er beleidigt und Christie seufzt abgrundtief, ehe er den Kopf schüttelt. "Na und? Ist Jan deshalb dazu verpflichtet, Dir über jedes Wort Rechenschaft abzulegen, das die beiden miteinander wechseln?", gibt er zurück und ich kann fühlen, wie mein Gesicht wieder zu glühen beginnt. Ich bin es einfach nicht gewöhnt, dass jemand, den ich eigentlich nicht mal besonders gut kenne, so Partei für mich ergreift. Und ich will eigentlich auch nicht, dass die Zwei meinetwegen noch zu streiten anfangen, deshalb räuspere ich mich leise, ehe sie noch weiter darüber diskutieren können, ob Ruben jetzt ein Recht darauf hat, alles zu erfahren, oder eben doch nicht.
 

"Ich ... ich geh morgen zu ihm, wenn ... wenn ich wieder zu Hause bin", werfe ich hastig ein und beiße mir auf die Unterlippe, um mich wegen des Kusses nicht zu verplappern. Dabei wird mir wieder heiß und ich würde mich am liebsten unter der Bettdecke verstecken, kämpfe diesen Drang aber mit aller Macht nieder. Wie würde das denn jetzt auch auf die beiden wirken? Ich habe mich heute echt schon genug blamiert. Mehr muss wirklich nicht sein.
 

"Echt? Du gehst wirklich freiwillig zu ihm? Ganz ohne Scheiß?" Ruben klingt total überdreht und ich schlucke schwer, nicke aber trotzdem. "Ja, aber ... Ich weiß nicht, ob ich's ihm sage. Das ... das entscheide ich dann, wenn ich da bin", bremse ich seinen Enthusiasmus ein wenig und er schmollt kurz, gibt sich aber nach einer weiteren Kopfnuss von seinem besten Freund leise murrend geschlagen.
 

"Dann viel Glück", wünscht Christie mir und in seiner Stimme schwingt ein Lächeln mit, das mich selbst auch ein wenig lächeln lässt, obwohl allein der Gedanken an vorhin und morgen und Simon mein Herz schon wieder zum Rasen bringt. Ich hab zugegebenermaßen wirklich Schiss davor, ihm wieder gegenüber zu treten, aber ich kann jetzt definitiv nicht mehr kneifen. Wenn ich das mache, dann wird Ruben sicher irgendeinen ultrapeinlichen Kuppelversuch starten und das muss ich echt nicht haben. Danke, aber danke, nein.
 

"Wünsch ich Dir auch. Ruf mich auf jeden Fall an, wenn sich irgendwas ergibt, okay?" Ruben hibbelt aufgeregt auf dem Bett herum und kriegt sich erst wieder ein, nachdem ich ihm versprochen habe, mich auf jeden Fall morgen Abend bei ihm zu melden. Damit steht neben Jassi noch jemand auf meiner imaginären Anrufliste und ich verkneife mir mühsam ein Seufzen. Warum konnte ich Idiot bloß auf der Fahrt nicht meine Klappe halten? Dann müsste ich mich jetzt wenigstens nicht in Grund und Boden schämen.
 

Zum Glück gibt Ruben nach einem dezenten Hinweis von Christie darauf, dass er ziemlich müde ist und eigentlich ganz gerne langsam schlafen würde, endlich Ruhe. Nach einem letzten "Ich drück Dir echt ganz, ganz fest die Daumen, Jan" kuschelt er sich wieder ganz eng an seinen besten Freund und nur ein paar Minuten später zeugen seine regelmäßigen Atemzüge davon, dass er auch schon tief und fest eingeschlafen ist.
 

Ich klappe meine Augen ebenfalls zu, aber schlafen kann ich noch nicht. Dafür bin ich noch viel zu aufgekratzt. Trotzdem versuche ich, so ruhig wie möglich liegen zu bleiben, um meine beiden Bettnachbarn nicht zu stören. Allerdings, stelle ich nach einem kurzen Blick fest, scheint Christie seinen eigenen Worten von vorhin zum Trotz doch noch nicht wirklich müde zu sein. Stattdessen streicht er dem friedlich schlummernden Ruben gedankenverloren durch die Haare. Ich beobachte ihn eine Weile dabei und fahre ertappt zusammen, als er mich irgendwann plötzlich anspricht.
 

"Kannst Du nicht schlafen?", fragt er leise und nach kurzem Zögern schüttele ich den Kopf. "Nicht wirklich", nuschele ich ebenso leise zurück, um Ruben nicht zu wecken. "Liegt das an der Sache mit dem Kuss?", kommt daraufhin etwas zögerlich die Rückfrage und ich nicke, nur um gleich darauf wieder den Kopf zu schütteln. "Ja. Also, nein. Also ... Na ja, nicht wegen Dir oder so", stammele ich mir zurecht und gebe mir dabei die größte Mühe, auch weiterhin zu flüstern. Ich will nicht, dass Ruben doch wieder aufwacht und durchdreht, weil ich ihm nichts davon erzählt habe, was zwischen Simon und mir passiert ist. Das würde er mir nämlich ganz bestimmt übel nehmen, aber ich kann im Moment einfach kein freudiges Gequietsche gebrauchen. Nicht, solange ich nicht wirklich weiß, wie ich mich jetzt fühlen soll.
 

"Also, ich war vorhin noch mal in der anderen Halle drüben, nachdem ich mit Ruben gesprochen hab. Und da ... Ich hab Simon getroffen und ... Er hat mich geküsst. Zwei Mal", haspele ich schnell und kann fühlen, wie sich mal wieder mein gesamtes Blut in meinem Gesicht versammelt, um da eine "Wir machen aus Jan eine Tomate"-Party zu feiern. Dieses Thema ist mir einfach unglaublich peinlich, aber trotzdem hab ich seltsamerweise das Gefühl, dass ich mit Christie problemlos darüber reden kann. Er wird ganz sicher nicht quietschen oder sonst wie ausflippen. Jedenfalls hoffe ich das ganz stark.
 

Das Universum scheint gerade mal einen ausgesprochen netten Moment zu haben, denn Christie rastet wirklich nicht aus, sondern dreht sich einfach mit der Schlafmütze Ruben im Arm ein wenig mehr zu mir um und als ich ihm ins Gesicht sehe, glaube ich zu sehen, dass er mich anlächelt. "Das ist doch schön. Freut mich für Dich, Jan", sagt er ehrlich und ich lächele etwas zaghaft zurück.
 

"Ich bin jetzt irgendwie total durcheinander", gestehe ich leise und verfluche meine Stimme dafür, dass sie so belegt klingt. "Ich mein, ich freu mich natürlich schon, aber irgendwie ... Simon wollte gerade mit mir darüber reden, als Maurice ins Klo reinkam und mich direkt mitgeschleift hat. Ich hab ihm zwar Bescheid gesagt, dass ich morgen – also nachher – zu ihm komme, aber ich weiß nicht, ob er das überhaupt noch gehört hat. Und irgendwie weiß ich auch nicht, ob's wirklich angebracht ist, dass ich mich freue. Ich mein, da ist ja immer noch Flo. Der hat zwar nicht den Eindruck gemacht, als ob er sauer wär oder so, aber ... Das ist alles total verwirrend."
 

"Glaub ich Dir", murmelt Christie und ich kann im Halbdunkel erkennen, dass er die Stirn runzelt. "Aber ich denke nicht, dass Du Dir wegen Flo wirklich Sorgen machen musst. Simon und er sind schon lange nicht mehr richtig zusammen. Die sind mehr so ... na ja, "Freunde mit Extras" würde man das wohl nennen. Aber hauptsächlich sind sie befreundet. Wenn da zwischen ihnen noch was Ernstes wäre, dann hätte Simon Dich nie geküsst. So was tut er einfach nicht. Du kannst Dir also sicher sein, dass er Dich zumindest sehr, sehr gern hat."
 

Ich weiß nicht, ob ich diesen Worten wirklich Glauben schenken kann, aber Christie ist scheinbar noch gar nicht fertig, denn er spricht gleich weiter. "Weißt Du, als wir euch gestern Abend an der Schule abgeholt haben, da hat er ständig auf die Uhr gesehen. Er war ganz schön nervös und ungeduldig – und das ist sonst ganz und gar nicht seine Art. Man merkt ihm zwar meistens nichts von seiner Nervosität an, wenn man ihn noch nicht so gut kennt, aber ich kenn ihn immerhin schon beinahe mein ganzes Leben – also genauso lange, wie ich Ruben jetzt schon kenne. Wir Drei sind praktisch zusammen aufgewachsen. Klar, ich hab ihn auch nicht mehr besonders oft gesehen, seit er von zu Hause ausgezogen ist, aber so wahnsinnig verändert hat er sich gar nicht. Er ist vielleicht noch ein bisschen verschlossener geworden als er früher schon war, aber das ist auch schon alles", versichert er mir und lächelt wieder so zuversichtlich und ehrlich, dass ich gar nicht anders kann als ihm zu glauben.
 

"Und Du bist Dir sicher, dass er mich wirklich ...?", frage ich dennoch unsicher nach und Christie nickt sofort, ohne auch nur eine einzige Sekunde zu zögern. "Auf jeden Fall. Sonst hätte er Dich ganz bestimmt nicht geküsst", antwortet er und klingt dabei so überzeugt von seinen eigenen Worten, dass mir ganz schwindelig wird. Jetzt haben mich schon zwei Leute, die Simon nahe stehen und ihn lange und gut kennen – Ruben und Christie – unabhängig voneinander davon zu überzeugen versucht, dass Simon mich ganz sicher mehr als nur ein bisschen mag.
 

Gut, genau genommen waren es sogar drei Leute, wenn ich Jassi auch noch mitrechne. Der kennt Simon zwar bisher noch nicht persönlich, aber das, was er mir da am Telefon über Kerle und Sonnenuntergänge und das ganze Zeug erzählt hat, klang schon ziemlich glaubwürdig. Und wenn ich das alles zusammenzähle und dabei einfach mal meine mathematische Unfähigkeit außer Acht lasse, dann lassen diese ganzen Infos nur einen einzigen logischen Schluss zu: Simon mag mich wirklich. Wenn ich nicht sowieso schon liegen würde, würde mich diese Erkenntnis jetzt mit Sicherheit aus den Socken hauen. Ach Du heilige Scheiße!
 

"O-Okay", stammele ich und verkrieche mich nun doch etwas tiefer unter der Bettdecke, während Christie wenig erfolgreich ein Gähnen zu unterdrücken versucht. "G-Gute Nacht", schiebe ich noch leise hinterher. "Wünsch ich Dir auch. Schlaf gut und träum was Schönes, Jan", antwortet er darauf schläfrig, schließt seine Augen und nur ein paar Minuten später kann ich zusätzlich zu Rubens auch Christies regelmäßige Atemzüge hören.
 

Eine Weile beobachte ich die beiden noch beim Schlafen, aber der Anblick und auch die regelmäßigen Atemgeräusche so nah neben mir lullen mich immer mehr ein und sorgen dafür, dass meine Augen schließlich auch immer wieder zufallen. Mein letzter Gedanke, bevor ich ebenfalls ins Reich der Träume abdrifte, ist der, dass ich jetzt zu gerne so in Simons Armen liegen würde wie Ruben in Christies Armen liegt. Es muss wirklich unheimlich schön sein, von jemandem, den man selbst einfach wahnsinnig gern hat, so festgehalten zu werden und in seinem Arm einschlafen zu dürfen.
 

~*~
 

Bis zum nächsten Mal!
 

Karma

Von Friedhofsbesuchen, den drei Musketieren und unerwarteter Hilfe

Und der nächste Versuch, nachdem mir mein I-net abgeschmiert ist.

-.-

Ich hasse es, alles zigmal neu machen zu müssen.

*grml*
 

Ein fettes DANKESCHÖN für die lieben Kommentare an Yumika, Inan, SayuScreamsKawaii, blaumina, abgemeldet, Reiko_Akanami, abgemeldet, Tianani und Zimtstern. Ausführliche Antworten gibt's morgen wieder, wenn's auch das nächste Kapitel gibt.

*gerade zu genervt ist*
 

Ihr werdet mich übrigens wahrscheinlich für dieses Kapitel schlagen. Vor allem für den Cliffi am Ende. Aber keine Sorge, morgen geht's ja schon weiter.

^.~
 

Karma
 

~*~
 

Als ich am Sonntagmorgen aufwache, weiß ich im ersten Moment nicht genau, wo ich mich befinde. Allerdings bin ich noch viel zu müde und es ist auch viel zu gemütlich, um jetzt schon aufzustehen, also klappe ich meinen Augen, die ich kurz geöffnet habe, gleich wieder zu und kuschele mich noch etwas tiefer in die Decke. Hier ist es wirklich schön warm. Ja, doch, hier bleibe ich. Wenigstens noch ein Weilchen. Immerhin konnte ich schon gestern nicht richtig ausschlafen, da sollte das ja wohl wenigstens heute drin sein. Wofür ist der Sonntag denn bitte sonst da?
 

Ich bin gerade dabei, wieder wegzudämmern, als sich von hinten ein Arm um meinen Bauch legt und die zu diesem Arm gehörende Person mich mit einem unverständlichen Murmeln näher an sich und damit auch an die hinter mir befindliche Wärmequelle zieht. Zeitgleich mit dieser Aktion streicht mir warmer Atem über den Nacken und ich bin schlagartig hellwach. Sogar eine Spur zu wach, wenn ich bedenke, mit welcher Wahnsinnsgeschwindigkeit mein Herz jetzt plötzlich gegen meine Rippen hämmert. Heilige Scheiße, was geht denn hier vor?
 

Vorsichtig versuche ich, mich aus der Umklammerung zu befreien, aber das ist gar nicht so einfach. Wer auch immer mich da gerade festhält, scheint mich jedenfalls nicht freiwillig wieder loslassen zu wollen. Und da ja mittlerweile klar sein dürfte, dass ich nicht unbedingt der Kräftigste bin, gebe ich mich mit einem lautlosen Seufzen geschlagen und bleibe einfach liegen. Dabei klopft mir mein Herz bis zum Hals, aber nachdem ich mich selbst davon überzeugt hab, dass das höchstwahrscheinlich nur Ruben ist, der sich mal wieder an mich geklettet hat – wahrscheinlich ist Christie schon aufgestanden und er verwechselt mich jetzt mit seinem besten Freund –, beruhige ich mich auch langsam wieder. Ist ja eigentlich auch lächerlich, nur wegen einem bisschen Gekuschel hier den Aufstand zu proben. Sobald er erst mal wach ist, lässt er mich doch eh wieder los.
 

Der Vorsatz, einfach brav zu warten, bis Ruben von selbst aufwacht, hält allerdings nicht lange vor. Sein Atem kitzelt meinen Nacken und nachdem ich das fast zwei Minuten lang schweigend über mich ergehen lassen hab, versuche ich nun doch wieder, mich zu befreien, weil mir das eine Gänsehaut nach der anderen verschafft. An sich ist das ja ein echt angenehmes Gefühl, aber irgendwie wäre es mir doch wesentlich lieber, wenn das nicht Ruben wär, der mir da in den Nacken atmet. Als mir klar wird, dass ich das bei Simon nicht nur ganz anders sehen, sondern es sogar toll finden würde, laufe ich schlagartig knallrot an. Wenn er derjenige wäre, der mich jetzt so festhält ... Oh, bloß nicht dran denken!
 

Jetzt, wo sich der Gedanke allerdings erst mal in mein Hirn geschlichen hat, lässt er mich nicht mehr los. Fast schon krampfhaft kneife ich meine Augen zusammen und versuche, an etwas anderes zu denken, aber das gelingt mir nicht. Und als mir auch noch einfällt, dass Simon mich gestern Abend in der Halle geküsst hat und dass ich mir deswegen vorgenommen hab, heute zu ihm zu gehen und mit ihm zu reden, wird mir ganz flau im Magen.
 

Ich habe wahnsinnige Angst vor diesem Gespräch, das kann ich nicht leugnen. Aber trotzdem werde ich es durchziehen. Immerhin habe ich es nicht nur Jassi, Ruben und Christie, sondern auch Simon selbst fest versprochen. Ich weiß zwar nicht, ob er meine Worte wirklich verstanden hat, aber falls das so ist, will ich ihn auf keinen Fall enttäuschen. Er soll nicht glauben, dass er mir egal ist. Das ist er schließlich nicht. Ganz und gar nicht. Im Gegenteil.
 

Als meine Gedanken an diesem Punkt ankommen, werde ich gleich noch röter und vergrabe mein Gesicht im Kopfkissen. Zum Glück schläft Ruben hinter mir immer noch tief und fest und kriegt so nichts von meinem Glühanfall mit. Ich möchte wirklich nicht schon so früh am Morgen von ihm gelöchert werden, warum ich hier das Ampelmännchen spiele. Wobei ... Genau betrachtet weiß ich gar nicht, ob es wirklich noch so früh ist, wie ich denke. Wie spät ist es eigentlich?
 

Die Antwort auf diese Frage bekomme ich auf eine andere Art, als mir lieb ist. "Guten Morgen, ihr beiden Schlafmützen!", tönt es plötzlich von direkt vor der Schlafcouch, nachdem die Zimmertür vorher extra leise geöffnet und wieder geschlossen wurde. Im nächsten Moment wird auch schon die Bettdecke weggezogen und als ich daraufhin meine Augen aufreiße, sehe ich mich einem ziemlich munteren und schon vollständig angezogenen Ruben gegenüber, der auf die Couch herabsieht. In seinen Augen liegt ein seltsamer Ausdruck und sein Grinsen wirkt auch etwas merkwürdig.
 

"Was wird das denn hier? Kuscheln ohne mich? Wie fies!", schmollt er, ehe ich fragen kann, was mit ihm los ist, und als von hinter mir ein genuscheltes und alles andere als wach klingendes "Halt die Klappe, Ruben!" kommt, werde ich schlagartig noch röter, als ich sowieso schon bin. Derjenige, der mich da gerade so umarmt und festhält, ist also gar nicht Ruben, sondern Christie? Soll das etwa heißen, dass ich gerade praktisch mit Christie gekuschelt hab? Ach Du heilige Scheiße!
 

"Los, aufstehen, ihr Zwei! Frühstück ist schon fertig. Wir warten nur noch auf euch." Ruben packt meinen Arm und zieht mich daran von der Schlafcouch hoch. Ich bin so durcheinander, dass ich mich nicht mal dagegen wehre, sondern ihn einfach nur machen lasse. Ich lasse zu, dass er mich in Richtung Bad schiebt und mir vor der Tür meinen Rucksack, den er gerade im Vorbeigehen aufgeklaubt hat, in die Hand drückt. "Beeil Dich, ja? Ich hab Kohldampf", wird mir mitgeteilt und nachdem ich kurz genickt hab, bin ich auch schon wieder alleine.
 

Immer noch ziemlich konfus mache ich mich fertig, ziehe mich an und als ich ins Zimmer zurückkomme, finde ich einen ziemlich verpennt aussehenden Christie auf der Schlafcouch sitzend vor. "Morgen, Jan", nuschelt er bei meinem Anblick und hebt schnell eine Hand, um sein Gähnen zu verstecken. Ruben ist irgendwo in den Tiefen des Kleiderschranks verschwunden und als er wieder auftaucht, grinst er mich an. "So, jetzt noch mal richtig: Guten Morgen!", strahlt er jetzt wieder absolut blendend gelaunt und ich bringe mit einiger Mühe ein schiefes Lächeln zustande.
 

"Guten Morgen", grüße ich etwas befangen zurück und beobachte, wie Ruben seinem besten Freund die Klamotten, die er gerade aus dem Schrank geholt hat, in die Arme drückt. "Los, geh Dich anziehen!", kommandiert er, hüpft zu mir und schnappt sich wieder mal meinen Arm. "Und beeil Dich, ja? Jan und ich gehen schon mal vor." Damit werde ich mitgezerrt und finde mich keine zwei Minuten später in der hellen, geräumigen Küche der Familie Renning wieder. Christies Vater sitzt schon am Tisch, seine Frau schenkt ihm gerade Kaffee ein und beide lächeln Ruben und mich an, als wir uns zu ihnen gesellen.
 

"Greift ruhig zu und lasst es euch schmecken!", werden wir aufgefordert und an der unbefangenen Art, mit der Ruben dieser Einladung gleich ohne Umschweife Folge leistet, kann ich erkennen, dass er ziemlich oft hier sein muss. Schon wieder etwas, das mich an Jassi und mich erinnert. Ich benehme mich ganz genau wie Ruben jetzt gerade, wenn ich bei meinem besten Freund übernachte. Ich bin bei Jassi schließlich fast genauso zu Hause wie er bei mir. Hier halte ich mich allerdings etwas mehr zurück. So bin ich eben, wenn ich die Leute um mich herum nicht so gut kenne. Und Christies Eltern hab ich immerhin beide erst gestern kennen gelernt.
 

Ich bin gerade dabei, mir ein Brötchen aufzuschneiden, als Christie in die Küche kommt. Er wirkt jetzt ein bisschen wacher als vorhin in seinem Zimmer, lächelt einmal in die Runde und setzt sich dann auf einen der freien Plätze. Kaum dass er sitzt, stellt seine Mutter ihm auch schon eine Tasse vor die Nase und legt ihm dann eine Hand auf die Schulter. "Gehst Du sie nachher besuchen?", fragt sie ihren Sohn, sobald dieser aufblickt, und Christie nickt leicht.
 

"Ich wollte gleich nach dem Frühstück eben kurz rüber", antwortet er und seine Mutter lächelt. "Da wird sie sich freuen", sagt sie und während sie ihrem Sohn einen Kuss auf die Schläfe drückt und ihm über die Schulter streichelt, frage ich mich unwillkürlich, von wem die Zwei gerade reden. Allerdings halte ich meine Neugier im Zaum und stelle keine Fragen. Eigentlich geht mich das ja auch gar nichts an. "Ich komm mit!", mischt Ruben sich ein und ich werfe ihm einen raschen, fragenden Seitenblick zu, aber davon bemerkt er offenbar nichts.
 

Das Frühstück verläuft so fröhlich, wie es bei uns zu Hause seit meinem Streit mit Franzi nicht mehr war. Christies Vater hat eine Menge lustige Geschichten über die Kunden seiner Gärtnerei auf Lager, die er zum Besten gibt. Und selbst die Geschichten, die eigentlich gar nicht wirklich witzig sind, erzählt er so komisch, dass wir Anderen einfach lachen müssen. Ich muss zugeben, ich fühl mich hier wirklich wohl. Je mehr Zeit ich hier verbringe, desto mehr komme ich mir vor, also würde ich alle hier schon ewig kennen.
 

Man merkt Christies Eltern auch deutlich an, dass dieser herzliche Umgang miteinander nicht gespielt ist, sondern echt. Andi und Babsi necken sich die ganze Zeit, aber das sind nur liebevoll gemeinte Sticheleien und keine als Freundlichkeit getarnten Boshaftigkeiten, wie es bei meinen Eltern kurz vor der Scheidung der Fall war. Ich muss gestehen, ich beneide Christie ein wenig um seine Eltern. Es muss schön sein, so eine intakte Familie zu haben und von seinen Eltern so geliebt und anerkannt zu werden, wie man eben ist. Immerhin scheinen sich weder Babsi noch Andi daran zu stören, dass ihr Sohn Nagellack benutzt und sich schminkt.
 

"Hey, nicht Trübsal blasen, Jan!", reißt Ruben mich aus meinen Gedanken und als ich ihn etwas konfus anblinzele, grinst er mich breit an. "Ich hab Dir ja gesagt, ich bin gerne hier. Jetzt weißt Du auch, warum das so ist. Hier geht's immer so zu. Ganz anders als bei mir zu Hause", murmelte er und seufzt kurz, schüttelt aber gleich darauf energisch den Kopf, als wollte er diese Gedanken vertreiben.
 

"Willst Du gleich auch eben mitkommen?", fragt er mich dann und ich zögere kurz. "Ich will nicht stören", antworte ich leise und Ruben winkt ab. "Du störst doch nicht. Oder? Jan kann doch mitkommen, oder?", wendet er sich an seinen besten Freund und der nickt gleich. "Klar, wenn Du willst", bietet er mir an, lächelt leicht und ich muss ebenfalls lächeln. Doch, ich mag Christie wirklich – trotz diesem ... Unfall da gestern Abend. Er wollte mir ja nur helfen, sonst nichts.
 

"Okay, dann lasst uns gehen." Damit steht Christie auf und Ruben und ich tun es ihm gleich. "Wir sind bald wieder da", informiert Christie seine Mutter und umarmt sie noch mal. "Ich hab Dich lieb, Mama", sagt er dabei leise und sie tätschelt ihm einen Moment lang den Rücken, ehe sie ihn wieder von sich schiebt. "Sag ihr, wir kommen sie später auch noch besuchen", bittet sie ihn und er nickt, ehe er an ihr vorbei in den Flur geht, um seine Schuhe und seine Jacke anzuziehen.
 

Während Ruben und ich noch damit beschäftigt sind, uns ebenfalls dick einzupacken, verschwindet Christie kurz und als er eine knappe Minute später wiederkommt, hat er eine zartrosafarbene Rose in der Hand. "Wir können", sagt er, öffnet die Haustür und geht voraus. Ich bin etwas verwirrt und daher froh, dass Ruben sich wie so oft auch jetzt meinen Arm schnappt, um mich mitzuzerren.
 

"Wohin gehen wir eigentlich?", frage ich und komme mir im nächsten Moment unheimlich blöd vor, weil die Antwort ja praktisch auf der Hand liegt. "Auf den Friedhof", beantwortet Ruben meine Frage und schleift mich etwas schneller vorwärts, um Christie einzuholen. Der ist schon ein Stück vorausgegangen, wartet aber am Friedhofseingang auf uns, so dass wir das Gelände gemeinsam betreten können. Mir liegt die Frage auf der Zunge, wessen Grab er hier heute besuchen will, aber ich beiße mir auf die Unterlippe und sage nichts. Das ist ja wohl seine Privatsache und geht mich absolut nichts an.
 

Die Hände tief in den Taschen vergraben und in beinahe vollkommenem Schweigen – sogar Ruben hält entgegen seiner sonstigen Gewohnheit jetzt gerade mal komplett die Klappe – latschen wir Drei durch die Gräberreihen. Christie scheint den Weg ganz genau zu kennen, aber das ist wohl auch nicht weiter verwunderlich. Er wohnt ja schließlich gleich neben dem Friedhof. Wäre ja wohl ziemlich komisch, wenn er sich hier nicht auskennen würde.
 

Erst als wir offenbar schon so gut wie am Ziel sind, bricht Christie das Schweigen wieder. "Wir besuchen meine leibliche Mutter. Heute ist ihr fünfzehnter Todestag", erklärt er mir ruhig und wenn Ruben nicht immer noch an meinem Arm hängen und mich weiterziehen würde, würde ich jetzt mit Sicherheit wie angewurzelt stehen bleiben. "Aber ... ich dachte ...", stammele ich und breche gleich wieder ab, weil ich einfach nicht weiß, was ich dazu sagen soll. "Tut mir leid", bringe ich schließlich noch irgendwie heraus und schäme mich gleich darauf in Grund und Boden für diese nichtssagenden Worte. Bravo, Jan. Das hab ich ja mal wieder ganz großartig hingekriegt. Wo kann man sich für die Ernennung zum Obertrottel des Jahres anmelden? Den Preis gewinn ich locker.
 

"Ist schon okay." Christie lächelt leicht und ich versuche, ebenfalls zu lächeln, aber es bleibt bei dem ziemlich kläglichen Versuch. "Weißt Du, ich hab nie bei ihr gelebt. Sie hat mich gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben. Sie war Mamas jüngere Schwester. Meine Eltern konnten keine eigenen Kinder bekommen und meine leibliche Mutter war nicht mal achtzehn, als sie mich bekommen hat. Sie hätte sich nie richtig um mich kümmern können. Deshalb haben Mama und Papa mich adoptiert, als ich gerade mal ein paar Stunden alt war", erzählt er weiter und ich kann ihn nur aus großen Augen anstarren.
 

"Ich bin meiner Mutter wirklich dankbar dafür, dass sie sich so entschieden hat. Und ich bin froh, dass sie mich nicht hat wegmachen lassen, als sie gemerkt hat, dass sie schwanger war. Sie ist nämlich nicht ganz freiwillig schwanger geworden." Noch immer klingt Christies Stimme vollkommen ruhig und beiläufig, während mir fast die Augen aus dem Kopf fallen. Hab ich das gerade alles wirklich richtig verstanden? Wenn ja, dann ... Oh Mann, ich weiß gerade nicht, wer mir mehr leid tut: Christies leibliche Mutter, weil ihr so was Schreckliches passiert ist – "nicht freiwillig schwanger geworden" kann man ja wohl nicht falsch verstehen –, oder Christie selbst, weil er ganz offenbar weiß, dass sein leiblicher Vater ein ... ein verdammt mieser Kerl ist, um es mal diplomatisch auszudrücken.
 

"Aber sie hat mich nicht weggegeben, weil sie mich gehasst hat, sondern weil das einfach besser für mich war. Sie hat mich geliebt, das weiß ich. Sie hat meinen Namen ausgesucht und war sogar meine Taufpatin. Und sie hat für mich die besten Eltern gefunden, die es gibt. Dafür bin ich ihr wirklich dankbar", beendet Christie schließlich seine Erzählung und ich muss mich erst mal räuspern, um überhaupt einen Ton rauszukriegen.
 

"Und ... und Dein ... Du weißt schon", stottere ich dann und möchte mich gleich selbst dafür schlagen, dass ich so verdammt unsensibel bin. Das Thema ist sowieso schon so verdammt heikel und ich Idiot habe nichts Besseres zu tun, als noch weiter nachzubohren und blöde Fragen zu stellen, deren Antworten mich absolut nichts angehen. Ich bin doch echt ein Held. Kann mich mal bitte jemand erschießen, damit ich nicht noch mehr Scheiße baue?
 

"Der sitzt lebenslänglich. Nicht wegen meiner Mutter, sondern weil er nach der ersten Haftstrafe gleich noch zwei Mal rückfällig geworden ist. Aber mit diesem Mann hab ich nichts zu tun. Er weiß zwar, dass es mich gibt – es gab damals einen Vaterschaftstest als Beweis in dem Verfahren gegen ihn –, aber er kennt weder meinen Namen noch meine Adresse, also kann er sich nicht bei mir melden. Und ich hab ihm von mir aus nichts zu sagen. Ich hab einen Vater, der immer für mich da war und ist. Einen anderen brauche ich nicht."
 

Christies Gesicht wirkt entschlossen bei diesen Worten, aber er sieht weder Ruben noch mich an, sondern blickt auf die Rose in seiner Hand. Ich glaube, ich kann mir nicht mal annähernd vorstellen, wie es sein muss, jeden Tag mit diesem Wissen leben zu müssen. Das muss wirklich grausam sein. Und, ganz ehrlich, dafür, dass er das ganz offenbar schafft, hat er meinen vollsten Respekt. Ich könnte mit so einem Wissen ganz bestimmt nicht umgehen.
 

"Ich geh eben zu ihr. Wartet ihr beide so lange hier?", durchbricht Christies Stimme meine Gedanken und ich kann nur nicken. Eine verbale Antwort krieg ich jetzt nicht zustande, aber das muss ich auch gar nicht. "Klar, machen wir", übernimmt Ruben das Antworten für uns beide. "Grüß sie von uns, ja?", schiebt er noch schnell hinterher und zieht mich ein Stück beiseite zu einer Bank am Anfang der Gräberreihe. Christie geht noch fast bis zum Ende durch und bleibt dann schließlich vor einem Grab stehen, das von einem weißen Grabstein geziert wird. Ich beobachte, wie er in die Hocke geht und die Rose auf das Grab legt, dann wende ich hastig den Blick ab. Das geht mich jetzt wirklich nichts mehr an.
 

"Ganz so leicht, wie das jetzt gerade klang, war's für Christie nicht, als er von der ganzen Sache erfahren hat. Ganz und gar nicht." Ruben, der meinen Blick bemerkt hat, seufzt leise und ich nicke langsam. "Kann ich mir denken." Auch wenn ich es mir nur sehr schwer vorstellen kann. Ich glaube, mir hätte so eine Nachricht völlig den Boden unter den Füßen weggezogen.
 

"Seine Eltern haben's ihm in den Sommerferien erzählt. Ich weiß noch, dass es ein Donnerstag war. Er hat abends um halb elf bei uns geklingelt und war völlig verstört. Normalerweise hätte Paps wegen der späten Störung einen Anfall gekriegt, aber er wusste schon vor Christies Geburt über die ganze Sache Bescheid, deshalb hat er nichts gesagt. Er hat Christie einfach nur in mein Zimmer geschickt. Ich hab mich total erschrocken, als ich ihn gesehen hab. Er war leichenblass, hat gezittert ohne Ende und wollte partout nicht mit der Sprache rausrücken, was mit ihm los war. Er hat die ganze Zeit nur "Du wirst mich hassen, wenn ich's Dir sage" und solchen Unsinn gestammelt, ist irgendwann in Tränen ausgebrochen und hat dann stundenlang geheult. Er konnte gar nicht mehr aufhören und ich konnte ihn auch nicht beruhigen."
 

Rubens Stimme klingt leise und belegt und mein Blick huscht unwillkürlich zu Christie, der noch immer vor der Grab hockt und offenbar stumme Zwiesprache mit seiner toten Mutter hält. So sanft und sensibel, wie er ist, muss das für ihn wirklich ein furchtbarer Schock gewesen sein. Irgendwie tut er mir wahnsinnig leid. Ich will mir wirklich lieber nicht vorstellen, wie es sein muss, mit so einer Gewissheit zu leben. Das ist doch grausam. So was sollte echt niemand durchmachen müssen.
 

"Irgendwann ist er dann eingeschlafen, aber ich hab die ganze Nacht kein Auge zugemacht", holt Ruben mich aus meinen Gedanken und ich konzentriere mich wieder auf das, was er mir erzählt. "Ich hab mich total nutzlos gefühlt, weil ich meinem besten Freund einfach nicht helfen konnte. Am nächsten Morgen wollte er nichts essen und auch immer noch nicht richtig mit mir reden. Er hat den ganzen Tag nur in einer Ecke meines Bettes gehockt, Löcher in die Luft gestarrt und immer wieder ganz plötzlich geheult. Ich war mit der Situation total überfordert, aber egal, was ich auch probiert hab, ich hab kein einziges Wort aus ihm rausgekriegt. Das hat erst mein Vater geschafft." Ruben seufzt leise und zupft gedankenverloren an seinem Gips herum, aber sein Blick ruht unverwandt auf seinem besten Freund.
 

"Paps kam irgendwann rein, hat mich zu meiner Mutter geschickt und dann fast zwei Stunden lang mit Christie über seine leibliche Mutter und die Entscheidung, die sie getroffen hat, gesprochen. Sie ist damals wohl zu ihm gekommen, um sich Rat zu holen, und hat sich nach mehreren Gesprächen mit ihm dafür entschieden, ihr Baby zu behalten. Jedenfalls hat Paps Christie klargemacht, dass sie ihn nie für dass gehasst hat, was sein leiblicher Vater ihr angetan hat, sondern dass sie ihn stattdessen als Geschenk angesehen hat, das sie ihrer älteren Schwester machen konnte. Babsi hat sich immer Kinder gewünscht, aber sie und Andi sind beide unfruchtbar. Deshalb hat Corinna – so hieß Christies Mutter – ihr Kind nicht abtreiben lassen, sondern sich dafür entschieden, es zu bekommen, damit ihre Schwester und ihr Schwager es adoptieren konnten. Meine Mutter hat mir das alles erklärt, während Paps mit Christie gesprochen hat", murmelt Ruben und seufzt leise, fasst sich aber schnell wieder.
 

"Als ich dann nachher wieder in mein Zimmer durfte, hat Christie sich anfangs nicht mal getraut, mir in die Augen zu sehen. Er wusste, dass ich Bescheid wusste, und hat echt geglaubt, dass ich wegen der ganzen Sache schlecht von ihm denken würde. Aber das hab ich ihm ganz schnell wieder ausgeredet. Er kann ja schließlich am allerwenigsten dafür, wie und von wem er gezeugt worden ist. Außerdem wär ich ja wohl ein ziemlich mieser bester Freund, wenn ich ihn deshalb anders behandelt hätte als vorher, oder? Schließlich ändert sich durch so was ja nicht gleich die ganze Persönlichkeit. Christie ist und bleibt Christie. Punkt."
 

Ruben klingt abschließend und nachdem ich mir seine Worte noch einmal durch den Kopf habe gehen lassen, nicke ich zustimmend. Er hat ja schließlich auch Recht. Christie ist ganz sicher der Letzte, dem man die Taten seines Erzeugers vorwerfen kann. Bis auf ein paar Gene hat er mit diesem Mann ja auch nichts gemeinsam. Das, was dieser Typ getan hat, könnte Christie nie tun. Dafür ist er viel zu lieb und zu sanft. Nein, so was passt ganz und gar nicht zu ihm.
 

"So, wir können." Ich hab Christie gar nicht näherkommen hören, deshalb kann ich ein Zusammenzucken nicht verhindern. Sofort verfluche ich meine elende Schreckhaftigkeit, aber Christie scheint mir das nicht übel zu nehmen. Er lächelt jedenfalls, aber als ich noch einmal etwas näher hinsehe, erkenne ich, dass er offenbar ziemlich angespannt ist. "Ruben hat Dir den Rest auch erzählt, oder?", erkundigt er sich betont gleichgültig und ich nicke langsam.
 

"Ja, hat er", bestätige ich. "Aber Du musst Dir keine Sorgen machen. Für mich ändert das gar nichts. Absolut nicht", versichere ich ihm dann wahrheitsgemäß. Genau betrachtet ändert es ja auch wirklich nichts. Er ist nach wie vor derselbe Mensch. "Im Gegenteil. Ich bin echt froh, dass wir uns kennen gelernt haben und Freunde geworden sind." Nach allem, was Christie gestern für mich getan hat, ist Freundschaft ja wohl das Wenigste, was ich ihm anbieten kann. Aber das tue ich nicht nur, weil ich glaube, dass ich ihm das irgendwie schuldig bin oder so. Ich möchte wirklich gerne mit ihm befreundet sein.
 

"Ich auch." Bei diesen Worten lächelt Christie wieder, aber dieses Mal wirkt er dabei nicht befangen, sondern erleichtert – und auch ein kleines bisschen erfreut, wenn ich mich nicht täusche. "Und ich erst!", klinkt Ruben sich in das Gespräch ein, hakt sich bei seinem besten Freund und mir gleichermaßen ein und schleift uns grinsend in Richtung Friedhofsausgang. "Mit Jan sind wir jetzt die drei Musketiere!", beschließt er dabei fröhlich und ich muss kichern.
 

"Ach, sind wir das?", fragt Christie amüsiert und Ruben nickt bekräftigend. "Klar. Du bist Aramis, weil Du ja sogar dann Schlag bei Mädchen hast, wenn Du das eigentlich gar nicht willst", fängt er seine Begründung an und schwenkt dann zu mir. "Du bist Arthos, weil Du auch so schweigsam und in Dich gekehrt bist – am Anfang jedenfalls. Und ich bin Porthos", endet er und kichert nun ebenfalls. "Ich mein, das passt doch, oder? Ich hab ne große Klappe und wenn sich von uns Dreien einer mit seinen blöden Sprüchen in die Scheiße reinreitet, bin das ja wohl auch ich."
 

"Stimmt. Das kann wirklich keiner so gut wie Du." Christie grinst und ich beiße mir auf die Unterlippe, um nicht laut loszulachen. Das käme so nah am Friedhof sicher nicht besonders gut – vor allem nicht, weil heute ja schließlich Allerheiligen ist. "Na dann: Einer für alle und alle für einen!" Ruben strahlt kurz in die Runde und schleift uns dann beide weiter zur Gärtnerei.
 

Gemeinsam gehen wir wieder hoch in Christies Zimmer und ich helfe den beiden, die Schlafcouch zusammenzuklappen und das Bettzeug wieder zu verstauen. Danach packe ich mein Zeug in meinen Rucksack und versuche dabei fast schon krampfhaft, nicht an das Gespräch mit Simon zu denken, das mir bevorsteht, sobald ich zu Hause bin. Ich habe wirklich tierischen Schiss davor, zu ihm zu gehen, aber ich will und werde nicht kneifen. Das bin ich ihm, mir und auch meinen Freunden einfach schuldig. Außerdem habe ich es versprochen und seine Versprechen muss man halten. Simon war schließlich auch bei Vickys blöder Ballettaufführung, weil er es meiner kleinen Schwester versprochen hatte. Da kann ich jetzt keinen Rückzieher mehr machen. Wie würde das denn auch aussehen? Nein, das geht wirklich nicht.
 

"Christie und ich bringen Dich noch zum Bus", holt Rubens Stimme mich aus meinen Grübeleien über Versprechen und ich zucke erschrocken zusammen, nicke dann aber. "Danke", nuschele ich, doch Ruben winkt ab. "Ist doch selbstverständlich", behauptet er, hakt sich wie sonst auch bei mir ein und schleift mich die Treppen runter und aus dem Haus. Christie folgt uns und sobald er uns eingeholt hat, sehe ich, dass er schmunzelt.
 

An der Haltestelle angekommen erfahre ich durch einen raschen Blick auf den Fahrplan, dass ich nur noch ein paar Minuten warten muss, bis mein Bus kommt. Während Ruben auf mich einquasselt, mich an unsere Verabredung wegen des Referats morgen erinnert und mir wieder und wieder einschärft, dass ich ihn heute Abend auf jeden Fall anrufen soll, überlege ich hin und her. Soll ich das, was mir gerade durch den Kopf geht, wirklich machen oder nicht?
 

Als Ruben endlich mal eine kurze Atempause einlegt, gebe ich mir selbst einen Ruck. "Du, Christie?", wende ich mich an seinen besten Freund, krame mein Handy aus meiner Jackentasche und halte es Christie hin, als er mich fragend anblickt. "Gibst Du mir Deine Nummer? Dann kann ich Dich nachher auch anrufen, wegen ... Du weißt schon. Natürlich nur, wenn Dir das recht ist", schränke ich schnell ein und werde dafür mit einem Lächeln belohnt, durch das ich endgültig verstehe, was Vicky am Freitag so an ihm gefallen hat.
 

"Das würde mich freuen." Christie nimmt mein Handy entgegen, speichert schnell seine Nummer ein und gibt es mir dann zurück. "Und denk dran, was ich Dir gestern gesagt hab, okay? Du musst Dir ganz bestimmt keine Sorgen machen", ermutigt er mich noch mal, aber bevor ich etwas erwidern kann, sehe ich den Bus um die Ecke biegen. "Okay, dann ... Ich meld mich heute Abend. Bis nachher und ... Danke für alles." Damit umarme ich sowohl Ruben als auch Christie noch mal, ehe ich mich beeile, in den Bus zu klettern.
 

"Viel Glück, Jan!", wünscht Ruben mir nicht gerade leise, ehe die Bustüren sich hinter mir schließen, und hält beide Hände hoch, so dass ich sehen kann, dass er mir ganz fest die Daumen drückt. Christie steht neben ihm, lächelt aufmunternd und winkt mir noch einmal zu. Ich winke zurück, suche mir einen Sitzplatz und lasse mich darauf fallen, während der Bus anfährt.
 

Sobald Ruben und Christie aus meinem Blickfeld verschwunden sind, werfe ich einen Blick auf das Display meines Handys. Gerade halb elf durch, also werd ich wohl so gegen elf zu Hause sein. Beim Gedanken daran, was mir dann bevorsteht, wird mir gleichzeitig heiß und kalt. Soll ich erst noch nach Hause gehen und meinen Rucksack wegbringen? Nein, beschließe ich kopfschüttelnd, das werd ich besser nicht tun. Ich kenn mich doch. Wenn ich erst mal in meinem Zimmer bin, verkrieche ich mich da und gehe ganz bestimmt nicht mehr zu Simon.
 

Ob ich ihm eine SMS schreiben und ihm Bescheid sagen soll, dass ich auf dem Weg zu ihm bin, wie ich es ihm gestern Abend in der Halle versprochen hab? Aber was, wenn er das gar nicht gehört hat? Dann blamiere ich mich nur wieder und das muss wirklich nicht sein. Ich werde, nehme ich mir stattdessen vor, gleich einfach direkt bei ihm klingeln. Das ist einfach besser für meine Nerven und auch für mein armes Herz. Das dreht ja jetzt schon beinahe durch.
 

Unhörbar seufzend lehne ich meinen Kopf an das kühle Glas der Fensterscheibe und schließe die Augen. Ich bin unheimlich nervös, aber ich kann nicht leugnen, dass ich mich trotzdem auf das Wiedersehen mit Simon freue. Immerhin ist die ganze Sache mit dem Küssen ja gestern Abend von ihm ausgegangen. Und wenn ich jetzt so darüber nachdenke, wie er mich vor dem ersten Kuss gewarnt hat und was er nachher zu Flo gesagt hat, dann wollte er mich ja wohl wirklich küssen – mich, nicht Flo und auch sonst niemanden. Aber ist das heute auch noch so? Oder sieht das heute ganz anders aus? Bereut er heute vielleicht, was er gestern Abend getan hat? Verdammt, diese Ungewissheit macht mich noch wahnsinnig!
 

Über meine Grübeleien verpasse ich um ein Haar meine Haltestelle. Gerade noch rechtzeitig schaffe ich es, aus dem Bus zu kommen. Etwas außer Atem und mit heftigem Herzrasen bleibe ich einen Moment an der Haltestelle stehen und sammele mich kurz, ehe ich mich auf den Weg nach Hause mache. Mit jedem Schritt wächst meine Nervosität und die Strecke ist mir noch nie so elend lang und gleichzeitig so verflucht kurz vorgekommen.
 

Nach einer Ewigkeit von nicht mal fünf Minuten hab ich die Haustür endlich erreicht, fummele aus lauter Gewohnheit meinen Schlüssel aus der Tasche und schließe auf, ehe ich mich darauf besinne, dass ich ja eigentlich bei Simon klingeln wollte. Aber jetzt stehe ich schon im Hausflur, also schlucke ich meine Nervosität und meine Bedenken herunter, so gut es irgendwie geht, greife mit zitternden Fingern nach dem Treppengeländer und mache mich an den Aufstieg in den ersten Stock.
 

Vor Simons Tür angekommen klopft mir das Herz endgültig bis zum Hals und ich bin mir sicher, dass ich gleich einfach umkippen oder zumindest ultrapeinlich rumstottern werde, sobald ich Simon erst mal leibhaftig gegenüberstehe. Trotzdem gebe ich mir einen Ruck, drücke den Klingelknopf, warte und kämpfe meine wieder aufflammende Panik so wie möglich nieder. Ich kann allerdings trotzdem nicht verhindern, dass ich heftig zusammenschrecke, als urplötzlich der Summer gedrückt wird.
 

Die Tür vor meiner Nase geht nur einen kleinen Spalt breit auf und als ich Schritte höre, die sich wieder entfernen, wische ich mir meine feuchtgewordenen Hände an meiner Jeans ab und schlucke erst mal den fetten Kloß herunter, der sich in meinem Hals breitgemacht hat. Dann schiebe ich die Wohnungstür auf, trete ein und schließe sie hinter mir leise wieder.
 

Mein Herz bollert mittlerweile so elend laut, dass es zumindest meiner bescheidenen Meinung nach schon an ein Wunder grenzt, dass es außer mir niemand zu hören scheint. Aus der Küche dringen das Klappern von Geschirr und der Duft von Kaffee zu mir und ich schlussfolgere daraus, dass Simon sich wohl dort befindet. Ich will gerade zu ihm gehen, als aus dem Zimmer ganz hinten – Simons Schlafzimmer, wenn ich mich nicht irre – eine Person kommt, die ich nur zu gut kenne.
 

"So, Simon, ich bin dann ... Oh, hey, Kurzer. Was für ne Überraschung", kommt es von Flo und ich bleibe wie angewurzelt stehen, während er sich erst mal sein Shirt komplett überzieht. Er sieht ziemlich überrascht aus über meine Anwesenheit, fängt sich aber schnell wieder und grinst mich gleich darauf an. Ich würde mich am liebsten auf dem Absatz umdrehen und weglaufen, aber ich kann mich nicht bewegen. Mein Körper gehorcht mir einfach nicht und in meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Was macht Flo denn so früh schon hier? Hat er etwa hier übernachtet? Haben Simon und er letzte Nacht vielleicht ...? Nein, darüber will ich lieber gar nicht so genau nachdenken. Das kann Simon mir doch nicht antun!
 

"Mann, Kurzer, Dein Gesicht ist wie ein offenes Buch." Flo schüttelt ganz leicht den Kopf, grinst aber immer noch. Mir hingegen ist zum Heulen zumute. "Ich kapier echt nicht, wie Simon so blind sein kann. Aber egal. Ist ja eigentlich sein Problem und nicht meins. Na ja, eigentlich jedenfalls. Ach, scheiß drauf." Flo seufzt kurz, ehe er sich ein bisschen zu mir beugt und mich ernst ansieht.
 

"Du musst echt keine Angst haben, Kurzer. Zwischen Simon und mir ist letzte Nacht absolut gar nichts passiert. Da läuft schon seit Monaten nichts mehr, wenn Du's genau wissen willst. Ich hab mich gestern Abend nur ziemlich abgeschossen und deshalb hier gepennt. Ich hab im Moment ein bisschen Stress mit meinem Freund und brauchte jemanden zum Reden, sonst nichts. Du siehst also, Du musst Dir meinetwegen wirklich keine Sorgen mehr machen. Ich bin in festen Händen und Simon ist auch nicht mehr an mir interessiert. Da gibt's nämlich einen Anderen, der ihm ganz schön den Kopf verdreht hat. Und dieser Andere steht zufälligerweise gerade genau vor mir."
 

Flo fängt wieder an zu grinsen und mir wird schwindelig. Ist das, was er da gerade gesagt hat, wirklich die Wahrheit? Heißt das, Simon ist auch ... Kann es wirklich sein, dass er ... dass er ... in mich ...? Ich schaffe es nicht mal, diesen Gedanken zu Ende zu bringen. Außerdem kriege ich auch nicht ein einziges Wort heraus. Alles, was meinen Mund verlässt, ist ein ultrapeinliches Geräusch, das wie eine Mischung aus Quietschen und Krächzen klingt und mir mal wieder sämtliches Blut ins Gesicht treibt.
 

Dieser Anblick scheint Flo ungeheuer zu belustigen, denn sein Grinsen wird noch eine Spur breiter und er strubbelt mir durch die Haare. "Du bist echt putzig", teilt er mir dabei mit, aber ehe ich in irgendeiner Form darauf reagieren kann, kommt Simon aus der Küche und mein Hirn tritt endgültig in den Streik. Er sieht total müde aus, seine Haare sind völlig zerzaust und seine Hände umklammern seine Kaffeetasse, als würde einzig und allein sie ihn noch aufrecht halten.
 

"Willst Du auch?", fragt er in Flos Richtung, aber als sein Blick zu mir weiterwandert, weiten sich seine Augen und er sieht mit einem Schlag sehr viel wacher aus. "Morgen", begrüßt er mich nach einem Moment des Schweigens und ich versuche verzweifelt, mein Sprachzentrum wenigstens so weit zum Arbeiten zu bringen, dass ich seine Begrüßung erwidern kann, aber das gelingt mir nicht. Mein Hirn ist Toast, meine Beine sind Pudding, mein Herz rast wie ein Presslufthammer und ich werde gleich noch etwas röter, als ich bemerke, dass ich die ganze Zeit wie hypnotisiert auf Simons Lippen starre – die Lippen, mit denen er mich gestern geküsst hat und von denen ich mich am liebsten jetzt schon wieder küssen lassen würde. Meine Gedanken drehen sich nur noch darum, aber ich höre trotzdem, wie Flo neben mir abgrundtief seufzt.
 

"Jetzt geht das schon wieder los!", murrt er und ich kann aus dem Augenwinkel sehen, dass er den Kopf schüttelt. Dabei zieht er ein ziemlich frustriertes Gesicht. "Ihr Zwei kriegt's selbst in hundert Jahren alleine nicht gebacken, kann das sein? Aber ich glaub, ich weiß, was ich da mache." Mit diesen Worten geht er an mir vorbei in den Flur, schnappt sich seinen Mantel von der Garderobe und zieht ihn an.
 

"Was ihr beide unbedingt braucht ist nichts anderes als ein bisschen ungestörte Zweisamkeit. Und genau die werd ich euch jetzt verschaffen. Ihr könnt mir nachher dafür danken", sagt er dabei, nimmt den Schlüssel vom Schlüsselbrett und grinst noch mal in unsere Richtung. Dann öffnet er die Wohnungstür, winkt kurz mit dem Schlüssel und zieht die Tür von außen wieder zu.
 

"Ich lass euch irgendwann später wieder raus. Oder ich ruf Morgaine an und schick sie vorbei, um euch zu befreien", kommt es gedämpft durch das Holz und im nächsten Moment höre ich, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wird. Dadurch bin ich, wie mir schlagartig klar wird, mit Simon in seiner Wohnung eingeschlossen und als mir bewusst wird, was das bedeutet, verdreifacht sich mein Herzschlag. Das kann doch wohl nicht Flos Ernst sein, oder? Ach Du heilige Scheiße! Hilfe!
 

"Wa– ...? Bist Du jetzt vollkommen übergeschnappt, Flo?" Im Gegensatz zu mir gelingt es Simon recht schnell, seine Starre abzuschütteln und an mir vorbei zur Wohnungstür zu gehen. Er knallt seine Kaffeetasse so heftig auf den Schuhschrank, dass der Kaffee überschwappt, und rüttelt dann an der Klinke, aber die Tür ist offensichtlich wirklich abgeschlossen. "Flo, lass den Scheiß! Mach die Tür auf!", verlangt Simon, bekommt aber von draußen nur ein lapidares, eindeutig belustigt klingendes "Nö" zur Antwort.
 

"So habt ihr Zwei endlich mal die Zeit und auch die Gelegenheit, euch auszusprechen. Ich wär schön blöd, wenn ich die Tür jetzt wieder aufschließen würde. Nee, ihr beide bleibt schön da drin. Ich komm heute Abend irgendwann wieder und lass euch raus. Viel Spaß und bis nachher!" Danach höre ich Flos Schritte die Treppe hinunterpoltern und keine Minute später fällt auch schon die Haustür ins Schloss.
 

"Ich fass es nicht!" Simon stapft an mir vorbei zum Wohnzimmerfenster, wirft einen Blick hinaus und fängt gleich wieder an zu fluchen. "Na warte, Flo! Wenn ich Dich erwische, dann bring ich Dich um!", droht er aus dem Fenster und als ich es endlich schaffe, mich in Bewegung zu setzen, neben Simon zu treten und selbst auch einen Blick nach draußen zu werfen, sehe ich Flo auf dem Weg zum Hauseingang stehen. Er winkt fröhlich grinsend zu Simon und mir nach oben und dreht sich dann um, um in Richtung Bushaltestelle zu sprinten. Irgendwie erweckt er den Eindruck, als würde ihm diese ganze Sache hier eine Menge Spaß machen. Ich weiß nicht genau, was ich davon halten soll, aber ehe ich richtig darüber nachdenken kann, drängt Simon sich auch schon wieder an mir vorbei, schnappt sich sein Telefon und tippt ungeduldig eine Nummer ein.
 

"Morgaine?", meldet er sich und streicht sich mit einer unwirschen Handbewegung ein paar Haare aus dem Gesicht. "Ich bin's. Ja, ich weiß, wie spät es ist. Was auch immer. Hör zu, Du musst mir einen Gefallen tun. Und zwar ... Was? Eine SMS? Nein, die ist nicht von mir. Also, was ich sagen wollte: Du musst zu mir kommen und ... Was gibt's denn da bitteschön zu lachen? Was? Ja, hat er. Und genau deshalb sollst Du ja ... Wie, "Nein"? Was soll das denn heißen? Du kannst doch nicht ... Morgaine! Morgaine, wenn Du jetzt auflegst, dann ... Das darf doch nicht wahr sein! Ist denn plötzlich die ganze Welt verrückt geworden?"
 

Mit ziemlich grimmigem Gesicht knallt Simon das Telefon wieder zurück auf die Ladestation, schließt die Augen und atmet mehrmals betont tief durch, ehe er sich mir zuwendet. "Meine Freunde spinnen. Und zwar alle. Ich hab gerade versucht, Morgaine herzubestellen, damit sie uns die Tür wieder aufschließt, aber Flo hat ihr offenbar ne SMS geschickt und sie aufgefordert, sich "bloß nicht einzumischen". Und anstatt uns zu helfen, ist sie auf dem gleichen Trip wie er. "Viel Erfolg und viel Spaß" hat sie mir gerade gewünscht. Und dann hat sie einfach aufgelegt", erzählt er mir und ballt seine Hände zu Fäusten.
 

"Ich brauche neue Freunde. Definitiv. Und zwar dringend", grollt er weiter und ich weiß nicht so recht, was ich dazu sagen soll. Einerseits ist die ganze Situation hier so schräg und abgefahren, dass mir das sicher kein Mensch glauben würde, aber andererseits ist da eine kleine Stimme in meinem Kopf, die mir zuflüstert, dass das Ganze ja eigentlich gar nicht so schlimm ist. Immerhin sind Simon und ich jetzt total ungestört. Eigentlich ist das ja wirklich die ideale Gelegenheit zum Reden.
 

Allerdings müsste ich dafür wohl meinen Mund aufmachen und was sagen, aber das gelingt mir blöderweise einfach nicht. Ich bringe nicht ein einziges Wort über die Lippen, sondern stehe einfach nur blöd rum wie bestellt und nicht abgeholt und möchte mich selbst dafür in den Arsch treten, dass ich schon wieder so versage. Da komm ich extra zum Reden her und dann krieg ich meine Zähne einfach nicht auseinander. Das ist doch scheiße, verdammt!
 

"Jan?", holt Simons Stimme mich aus meinen Gedanken und als ich ihn anblicke, wirft er mir einen etwas zerknirschten Blick zu. "Tut mir leid, dass dieser Idiot Dich da mit reingezogen hat", entschuldigt er sich dann und ich nicke lahm, kriege aber immer noch keine verbale Antwort raus. "Ich fürchte, das könnte länger dauern. Flo ist so verrückt, der zieht diesen Scheiß wirklich durch. Am besten, wir machen uns schon mal auf einen langen Tag gefasst", warnt Simon mich weiter, fährt sich mit beiden Händen durch die Haare und seufzt dann abgrundtief.
 

"Mach's Dir ruhig schon mal bequem. Ich zieh mir mal eben schnell was anderes an." Bei diesen Worten zupft er an dem Shirt, das er trägt, und ich merke erst jetzt, dass das ganz offenbar ein Pyjama ist. Sofort wird mein Gesicht wieder flammend rot, aber ich nicke trotzdem und lasse mich langsam auf die Couch sinken, während Simon in seinem Schlafzimmer verschwindet und sich da ein paar Klamotten heraussucht. Und während ich im Wohnzimmer auf ihn warte, klopft mein armes Herz zum Zerspringen. Sobald Simon wieder zurückkommt, wird es schließlich Ernst. Hilfe!
 

~*~
 

Habt ihr Flo auch so lieb wie ich? Echt, ich liebe ihn. Mit jedem Auftauchen mehr.

XD
 

Bis morgen!
 

Karma

Von klärenden Gesprächen und guten Neuigkeiten

So, und hier ist auch das versprochene nächste Kapitel.

^_____^
 

@Selkie: Freut mich, dass ich Dich so zum Lachen bringen konnte. Ich musste beim Schreiben selbst auch grinsen. Jaja, Flo ist schon toll. Aber ob sein Plan Erfolg hat ...

*aufs Kapitel deut*

Selbst lesen.

^.~
 

@Yumika: Die 100 und die 101.

*____*

*Konfetti schmeiß*

So, und nachdem das erledigt ist, erst mal der Reihe nach.

Zu Christie: Der ist es gewöhnt, dass Ruben neben ihm liegt. Er hat erst gemerkt, dass dem eben nicht mehr so war, als Ruben die Zwei geweckt hat. Und seine Erklärung für die Kuschelaktion - "Ich dachte, das wärst Du" - hat Janni eben nicht mitgekriegt.

^.~

Und zu Flo ... Den hab ich mit jedem Auftritt lieber. Und der wird auch noch ein paar Mal ziemlich wichtig werden - für Simon und auch für Janni.

^_____^

Was die Pluspunkte für Daddy betrifft: Ich bin mir sicher, die wird er ziemlich schnell wieder verlieren, wenn er mal richtig in Aktion tritt. Aber selbst miese Arschlöcher können ein, zwei gute Seiten haben, nicht wahr?

Übrigens hoffe ich, das Gespräch wird Dir gefallen. Ich persönlich mag es sehr.

*____*
 

@Inan: Glaubst Du wirklich, ich könnte dem armen Janni so was antun?

O.O

>.<

Na ja, ich könnte natürlich schon, aber ... Ach, lies es doch einfach selbst.

^.~
 

@blaumina: Ich hatte schon befürchtet, dass ich vielleicht ein bisschen zu viel Drama eingebaut hab - gerade bei Christie. Freut mich, wenn's nicht als zu überzogen rüberkommt.

Und zu Flo: Er kennt Simon zwar noch nicht so wahnsinnig lange, aber dafür ziemlich gut. Und eben weil er ihn so gut kennt, weiß er auch ganz genau, welche Reaktionen so eine Aktion von ihm hat. Immerhin hat er Morgaine ja nur deshalb die SMS geschrieben, weil er ganz genau wusste, dass Simon sie anrufen würde.

^____^

Im Grunde genommen will er Simon nur helfen - auch, wenn Simon das im Augenblick noch etwas anders sieht.

Und Morgaine ...

*aufs Kapitel deut*

Von ihr gibt's hier auch mal ein bisschen mehr.
 

@abgemeldet: Aber nicht ersticken, ja?

XD

Wobei ich mir ziemlich sicher bin, dass es hier jetzt nicht mehr so viel zu lachen gibt. Ob das jetzt positiv oder negativ ist, sei mal dahingestellt.
 

@Chasmbogey: Du glaubst nicht, wie irrsinnig ich mich über Deinen Kommentar gefreut hab - gerade, weil ich Deine Geschichten doch so wahnsinnig gerne lese.

*______*

Vor allem freue ich mich, dass Du die Charas magst.

*rumquiek*

Hm, und was Jannis Herz betrifft ...

*mir den Mund zuhalt*

Ich sag nix. Gar nix. Überhaupt nix.

*pfeif*

Aber ich hoffe, Du magst auch Kitsch. Davon gibt's in dem Kapitel hier nämlich reichlich, fürchte ich.

^^°
 

@Zenzaira: Gerade noch rechtzeitig, um auch Erwähnung zu finden.

^____^

Zu Flo muss ich nichts mehr sagen, glaub ich, oder? Der Kerl ist einfach toll.

*ihn plattknutsch*

Und Du hast Glück, hier ist direkt schon neuer Lesestoff. Allerdings kann's jetzt bis zum nächsten Kapitel wieder ein bisschen dauern. Ich stecke da noch ziemlich am Anfang und werde permanent von anderen Ideen angesprungen.

^^°

Aber ich versuche, mich trotzdem zu beeilen.
 

So, und jetzt viel Spaß beim Lesen!
 

Karma
 

~*~
 

Die Zeit, die Simon zum Anziehen und im Bad braucht, vergeht quälend langsam und ich werde mit jeder verstreichenden Sekunde noch viel zappeliger und nervöser, als ich ohnehin schon bin. Ich kann meine Finger einfach nicht stillhalten, also spiele ich unablässig mit dem Reißverschluss meiner Kapuzenjacke. Dadurch bin ich so abgelenkt, dass ich erschrocken zusammenzucke, als Simon sich irgendwann schließlich neben mich auf seine Couch fallen lässt.
 

Er trägt eine einfache schwarze Jeans, ein schwarzes Shirt mit dem Logo irgendeiner Band, die ich nicht kenne, und ich stelle zu meiner nicht geringen Freude fest, dass er auf Kontaktlinsen verzichtet hat. Ich weiß nicht, ob er das meinetwegen tut, ob er gerade nur keine Lust darauf hat oder ob es ihm einfach noch zu früh dafür ist, aber das ist mir eigentlich auch relativ egal. Ich freue mich einfach nur, dass ich seine Augen richtig sehen kann – auch wenn es ganz genau das ist, was mich gleich noch viel kribbeliger und nervöser macht.
 

"Wir müssen reden." Erst als Simon nickt, wird mir klar, dass ich ganz offenbar derjenige war, der das gerade gesagt hat. "Müssen wir wohl", stimmt er mir zu, seufzt und streicht sein Shirt glatt, ohne mich direkt anzusehen. "Aber so ganz genau weiß ich nicht, wie und wo ich anfangen soll", gibt er zu und als ich ihn zögerlich anlächele, lächelt er ebenso zaghaft zurück, ehe er noch einmal tief durchatmet.
 

"Das, was da gestern Abend passiert ist, tut mir leid", entschuldigt er sich dann bei mir und mein Herz bleibt stehen. Aus weit aufgerissenen Augen starre ich Simon an, aber bevor ich etwas sagen kann, spricht er auch schon weiter. "Versteh mich jetzt bitte nicht falsch, Jan: Es tut mir nicht leid, dass ich Dich geküsst hab. Das bereue ich ganz und gar nicht. Ich bereue es nur, dass ich Dich damit so überrumpelt hab. Ich wollte Dich ganz bestimmt nicht zum Weinen bringen", führt er weiter aus und als mir klar wird, was seine Worte bedeuten, springt mein Herz wieder an und legt gleich eine Extraschicht ein.
 

"Sei mir bitte nicht böse, aber um ehrlich zu sein, hätte ich Dich am Freitagabend schon beinahe geküsst. Viel fehlte da nicht mehr", gesteht Simon weiter und mein Herzschlag beschleunigt sich gleich noch mal. "Wirklich?", hake ich mit ultrapeinlicher Piepsstimme nach und verfluche mich dafür, dass ich mich erst räuspern muss, ehe ich dieses eine popelige Wort überhaupt über die Lippen kriege.
 

"Ja", bestätigt Simon und lächelt etwas verlegen – ein Lächeln, das ich mit gleicher Münze zurückzahle. Dabei überlege ich verzweifelt, was ich jetzt sagen oder tun soll, aber wie so oft hat mein Mundwerk auch jetzt schneller eine Antwort parat als mein Hirn. "Ich ... hätte nichts dagegen gehabt", höre ich mich selbst sagen und spüre, wie eine neue Welle von Rot mein Gesicht überflutet.
 

"Eigentlich ... hab ich mir sogar gewünscht, dass Du's tust." Kann mich mal bitte jemand aufhalten? Ich red mich hier gerade um Kopf und Kragen. Hilfe! "Und gestern ... das war ... schön ..." Ich kann meine eigene Stimme kaum noch verstehen, aber Simon scheint damit keine Probleme zu haben. "Das fand ich auch", gibt er zu und ich glaube, mein Blut wird nie wieder freiwillig in den Rest meines Körpers zurückfließen. Dafür fühlt es sich in meinem Gesicht eindeutig viel zu wohl. So ein Mist!
 

Aber andererseits hat Simon gerade zugegeben, dass es ihm gefallen hat, mich zu küssen. Ich glaube, unter diesen Umständen ist so ein Blutstau nichts Ungewöhnliches. Und mein Herzrasen ist wohl auch relativ normal. Jedenfalls vermute ich das jetzt einfach mal. Wirklich Ahnung habe ich von der ganzen Sache ja schließlich nicht. Ich bin immerhin zum allerersten Mal in meinem Leben überhaupt richtig verliebt.
 

"Also würdest Du nicht Nein sagen, wenn ich Dich jetzt frage, ob ich Dich noch mal küssen darf?", erkundigt Simon sich leise und mein Gesicht glüht gleich noch ein bisschen mehr, aber ich schüttele trotzdem den Kopf. "Ich ... würde Ja sagen", stammele ich und als Simon seine Hand an meine Wange legt, schließen sich meine Augen beinahe wie von selbst und ich genieße das Kribbeln, das sich langsam in meinem ganzen Körper ausbreitet.
 

Dieses Kribbeln verstärkt sich noch, als ich spüre, wie Simons Atem über meine Lippen streicht. Ich bin nervös, ängstlich, aufgeregt, glücklich und noch so vieles mehr, aber in dem Moment, in dem Simon seine Lippen auf meine legt und mich tatsächlich wieder küsst, löst sich dieses ganze Gefühlswirrwarr in Luft auf und das Einzige, was zurückbleibt, ist die Gewissheit, dass alle, die mir Mut gemacht haben, Recht hatten mit ihrer Vermutung, dass Simon mich genauso sehr mag wie ich ihn.
 

Dieses Gefühl ist so unbeschreiblich schön, dass ich nach dem Kuss noch mindestens eine Minute brauche, um wieder vollends in der Realität anzukommen. Als ich Simon dann ansehe, lächelt er mich an und ich muss unwillkürlich auch lächeln. Dieser Kuss gerade war noch viel, viel besser als die zwei, die ich gestern Abend von ihm bekommen habe – einfach nur, weil ich jetzt definitiv weiß, dass er mich nicht nur aus einer Laune heraus geküsst hat, sondern weil er es wirklich wollte. Ich glaube, wenn er mich noch mal küsst, dann platze ich einfach nur vor Glück.
 

"Du bist süß", bekomme ich zu hören, was natürlich prompt dazu führt, dass ich wieder rot werde. Simon lacht leise, legt mir einen Arm um die Schultern und zieht mich so zu sich, dass ich mich an ihn lehnen kann. Diese Möglichkeit nutze ich auch gleich, obwohl mir mein Herz bis zum Hals klopft. Trotzdem genieße ich es unheimlich, ihm so nah sein zu können. Davon habe ich schließlich schon eine ganze Weile geträumt. Ich habe nicht zu hoffen gewagt, dass es wahr werden könnte, deshalb bin ich jetzt einfach nur überglücklich.
 

Wie lange Simon und ich so auf seiner Couch sitzen bleiben, weiß ich nicht. Und genau genommen ist mir das eigentlich auch völlig egal. Ich fühle mich viel zu wohl, um auf die Zeit zu achten oder einen Blick auf die Uhr zu werfen. Ich genieße es einfach nur, dass Simon mich festhält und mir ganz leicht über die Schultern und den Rücken streichelt. Wir reden nicht, aber das ist gerade auch gar nicht nötig. So, wie es im Moment ist, ist es einfach nur perfekt. Am liebsten will ich nie wieder hier weg. Ich weiß durchaus, dass das nicht geht – ich muss ja schließlich zur Schule und Simon muss arbeiten –, aber man wird ja wohl noch ein bisschen träumen dürfen, oder?
 

Ich werde erst wieder aus meiner Verzückung gerissen, als das Streicheln von Simons Fingern über meinen Rücken immer langsamer wird. Ich blinzele zu ihm hoch und er erwidert meinen Blick etwas verlegen. Inzwischen sieht er wieder total müde aus und kann sich offensichtlich nur mit Mühe das Gähnen verkneifen. "Sorry, Jan", murmelt er leise, streicht mir sanft durch die Haare und ich bekomme eine Gänsehaut am ganzen Körper.
 

"Ich hab letzte Nacht nicht viel Schlaf gekriegt. Flo und ich waren erst gegen fünf hier und er hat mir dann noch stundenlang die Ohren vollgelabert. Wenn er ein bisschen zu viel intus hat, dann redet er noch mehr als sonst. Ich hab, wenn's hochkommt, also gerade mal knapp drei Stunden geschlafen", erklärt er mir und ich versuche, etwas von ihm abzurücken, aber er lässt mich nicht los – was mich zugegebenermaßen kein bisschen stört. Ganz im Gegenteil. Ich finde es schön, dass er mich so offensichtlich nicht loslassen will.
 

"Dann leg Dich doch noch ein bisschen hin. Ich ... kann auch runtergehen", biete ich trotzdem an, aber Simon schüttelt den Kopf und zieht mich wieder ganz nah an sich. "Ich möchte aber nicht, dass Du gehst", sagt er bestimmt und fängt wieder an, mir über den Rücken zu streicheln. "Sonst glaube ich nachher, wenn ich wieder wach werde und Du bist nicht da, dass ich mir nur eingebildet hab, dass Du tatsächlich hier bei mir warst." Diese Worte verschaffen mir einen Höhenflug sondergleichen. Ich glaub, glücklicher als heute war ich noch nie.
 

"Außerdem ... Na ja, wirklich gehen kannst Du dank Flo im Moment ja sowieso nicht", erinnert Simon mich und grinst schief. "Trotzdem wär's schön, wenn Du einfach hier bei mir bleiben könntest. Ich würd Dich gerne noch ein bisschen so im Arm halten. Wär das okay für Dich?", fragt er mich dann und ich kann einfach nur nicken. Daraufhin schiebt er mich kurz ein wenig von sich, streckt sich der Länge nach auf der Couch aus und zieht mich dann zu sich, so dass ich halb auf ihm lande. Ich werde gleich wieder rot, aber als er mich anlächelt, ist mir das gar nicht mehr so peinlich.
 

Die Couch ist eigentlich nicht unbedingt breit genug, dass zwei Personen darauf liegen können, aber Simon dreht sich auf die Seite und schafft so etwas mehr Platz, den ich gleich dafür nutze, um mich wieder ganz eng an ihn zu kuscheln. Dabei bin ich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich froh darüber, dass ich so klein und zierlich bin. So passen wir nämlich zusammen auf die Couch, ohne dass einer von uns runterpurzelt.
 

Leise seufzend schließe ich meine Augen, als ich spüre, wie Simon seine Arme um mich legt. "Das ist schön", murmelt er schläfrig und ich kann ihm da nur zustimmen. Jassi hat mich schon oft so umarmt, wenn ich bei ihm übernachtet hab, aber bei Simon fühlt sich das ganz anders an. Ich fühle mich absolut wohl und hundertprozentig sicher bei ihm. Das ist wohl das, was man "Geborgenheit" nennt.
 

"Ich hätte nicht gedacht, dass Du heute tatsächlich herkommst. Ich hab's gehofft, aber ich hab nicht wirklich dran geglaubt. Ich dachte, ich hätt's gestern Abend total vermasselt", holt Simons Stimme mich wieder aus meinen Gedanken und ich rücke direkt noch etwas näher an ihn heran. Meine Finger krallen sich in sein Shirt und als seine Fingerspitzen sanft meinen Nacken streifen, kann ich mir ein Seufzen nicht verkneifen.
 

"Ich hatte auch echt Schiss", gebe ich etwas beschämt zu, aber die Streicheleinheiten hören nicht auf und das macht mich mutig. "Aber ich hab's schließlich versprochen – nicht nur Dir, sondern auch Ruben – und deshalb konnte ich einfach nicht kneifen. Außerdem wollte ich auch wirklich mit Dir reden und ... Ich wollte einfach nicht mehr immer so verdammt feige sein", schließe ich mein Geständnis, aber zu meiner Erleichterung lacht Simon mich nicht dafür aus, sondern zieht mich einfach nur etwas näher an sich und streichelt mir zärtlich über den Rücken. Diese sanften Berührungen schicken eine Gänsehaut nach der anderen über meinen Körper und mir entkommt ein hingerissenes Seufzen. Das fühlt sich einfach toll an.
 

"Weißt Du, eigentlich bin ich gestern Abend nur Feiern gegangen, um mich abzulenken. Das hab ich am Freitagabend schon gemacht. Ich hab die ganze Zeit über fast schon krampfhaft versucht, bloß nicht an Dich zu denken, aber das ist mir nicht gelungen. Und als Du da gestern so plötzlich vor mir gestanden hast ... Ich hab mich wirklich bemüht, mich noch weiter zusammenzureißen, aber das ging einfach nicht mehr. Dabei hatte ich mir eigentlich vorgenommen, Dich am Montag, wenn Ruben und Du wegen des Referats herkommt, zu bitten, noch kurz hier zu bleiben. Ich wollte dann in aller Ruhe mit Dir reden, aber dass war ja wohl nichts. Ich hab mich wirklich so lange zurückgehalten, wie ich konnte, aber als Du Dich so an mich geklammert hast... Und dann hast Du mich auch noch so angesehen ... Da konnte ich einfach nicht mehr widerstehen. Und dann hast Du Dich auch nicht gewehrt, sondern den Kuss sogar noch erwidert ... Am liebsten hätte ich Dich gar nicht mehr losgelassen. Und das hätte ich auch sicher nicht getan, wenn Sarah nicht aufgetaucht wär."
 

Beim letzten Satz klingt Simon ziemlich angefressen und ich erinnere mich wieder an das schwarzhaarige Mädchen, das uns gestern Abend gestört hat. "Wer ... wer war das eigentlich?", frage ich zaghaft und Simon schnaubt leise. "Sarah ist Flos Zwillingsschwester, die es sich unglücklicherweise in den Kopf gesetzt hat, Flo und mich wieder zusammenzubringen", antwortet er. Mir wird mit einem Schlag eiskalt, aber mein Erstarren entgeht Simon nicht. Behutsam legt er mir eine Hand unters Kinn, zwingt mich so, zu ihm aufzusehen, und lächelt mich dann beruhigend an.
 

"Keine Sorge, Jan. Weder Flo noch ich wollen wieder eine Beziehung miteinander anfangen. Flo ist schon seit einer ganzen Weile mit einem Anderen zusammen und ich hab kurz nach meinem Einzug hier auch jemanden kennen gelernt, dem ich schon seit unserem ersten Treffen unbedingt näherkommen wollte", sagt er und meine Augen werden groß.
 

"Du ... Du meinst ... mich? Wirklich?", stammele ich mir zurecht und als Simon gleich ohne zu zögern nickt, bin ich froh, dass ich hier neben ihm liege. Ansonsten würde ich jetzt ganz bestimmt umkippen. Ich meine, hallo? Simon hat mir gerade erzählt, dass er eigentlich schon seit dem Sonntagabend, an dem Franzi mich wegen ihrer blöden Katze in die Kälte rausgejagt hat, was von mir will. Ach Du heilige Scheiße!
 

"Aber ... da hab ich mich doch ... total blamiert!", bringe ich irgendwie raus und Simon schmunzelt. "Find ich nicht. Ich fand Dich einfach nur süß. Du warst total verpeilt und hast so niedlich ausgesehen, als Du auf Slim geflucht hast. Als ich Dich am Montag zusammen mit Ruben von der Schule abgeholt hab, musste ich mir das Lachen verkneifen. Du hast mich so erschrocken angekuckt und warst dabei so verdammt süß. Wenn ich nicht meistens so lange arbeiten müsste, hätte ich euch schon viel öfter mal abgeholt – und das nicht nur, um Ruben zu sehen."
 

Bei diesen Worten wird mir schlagartig heiß und mein Gesicht fängt wieder mal an zu glühen. Ich beiße mir auf die Unterlippe, aber als Simon erst mit den Fingerspitzen darüber streicht, ehe er seine Lippen ganz behutsam auf meine legt, vergesse ich meine Zweifel. "Ich hab mich so gefreut, als Ruben mir am Mittwoch erzählt hat, dass Du ... dass Morgaine nicht Deine Freundin ist. Ich war vorher so eifersüchtig auf sie", höre ich mich selbst sagen. Daraufhin lächelt Simon, aber das wirkt nicht spöttisch, sondern eher ein bisschen ... glücklich? "Und auf Flo auch", gebe ich weiter zu und werde noch etwas röter. "Nach allem, was Ruben mir über euch erzählt hat ..."
 

"Ruben ist diesbezüglich schon längst nicht mehr richtig auf dem Laufenden. Zwischen Flo und mir ist schon seit Monaten nichts mehr passiert. Immerhin hat er ja schließlich seinen Ray. Mit dem ist er voll und ganz ausgelastet, soweit ich weiß. Im Augenblick kriselt's zwar ein bisschen zwischen den beiden, aber die raufen sich schon wieder zusammen", nimmt Simon mir meine Angst und jetzt muss auch ich lächeln.
 

"Aber ich war auch ganz schön eifersüchtig", gibt er dann plötzlich zu und meine Augen werden groß. "Echt?", hake ich ungläubig nach und er nickt. "Allerdings. Und zwar – so peinlich es auch ist, das zuzugeben – auf meinen kleinen Bruder. Ruben konnte jeden Tag in der Schule Zeit mit Dir verbringen und ich hab Dich nur alle paar Tage mal gesehen. Und dann seid ihr beide auch noch zusammen mit der Klasse weggefahren. Zwar nur für zwei Tage, aber trotzdem. Ich meine, ich weiß ja aus Erfahrung, was für eine Klette Ruben sein kann – besonders nachts. Der Gedanke hat mir ganz und gar nicht gefallen", gesteht er weiter und in meinem Körper kribbelt alles. Simon war wirklich eifersüchtig auf Ruben – meinetwegen. Das ist einfach der absolute Wahnsinn. Ich bin also nicht der Einzige, der solche Gedanken und Gefühle hat. Das ist einfach unbeschreiblich schön. Damit hätte ich nie gerechnet, aber genau deshalb macht es mich so glücklich.
 

Ich zögere noch einmal kurz, dann gebe ich mir selbst einen Ruck und erzähle Simon von dem Sonntag, an dem Jassi mir klargemacht hat, was eigentlich genau mit mir los ist. Auch jetzt lacht Simon mich nicht aus, sondern drückt mir nur einen Kuss auf die Nasenspitze und bestätigt dann Jassis Vermutung wegen des Sonnenuntergangs. "Ich hab wirklich gehofft, dass es Dir gefallen würde. Aber ich wollte auch einfach mal komplett ungestört mit Dir alleine sein", erklärt er mir die Turmsache und ich kann nicht umhin, mich wahnsinnig über dieses Geständnis zu freuen.
 

"Genau deshalb hab ich Dich vor dem Ausflug auch gefragt, ob Du mich zur Schule fahren kannst. Das war nicht nur wegen Ruben. Ich ... ich wollte Dich auch unbedingt noch mal sehen und mich von Dir verabschieden, bevor ich wegfahre." Das zuzugeben ist mir schon ein bisschen peinlich, aber das Lächeln, das Simon mir als Belohnung dafür schenkt, lässt mich diese Peinlichkeit gleich wieder vergessen. Was macht es auch schon, etwas Peinliches zu sagen, wenn Simon sich so offensichtlich darüber freut?
 

Ein bisschen reden wir nach meinem Geständnis noch, aber nicht mehr lange. Simons Augen fallen immer wieder zu und es ist offensichtlich, dass er sich nur noch mit Mühe und Not wach halten kann. Aus diesem Grund halte ich schließlich irgendwann einfach den Mund, damit er noch ein bisschen schlafen kann. Wenn er wirklich so lange wach war, wie er vorhin gesagt hat, dann hat er sich seine Ruhe redlich verdient. Außerdem ist zwischen uns ja jetzt auch alles geklärt.
 

Aber das ist nicht alles. Ich kann nicht leugnen, dass ich ihn auch zu gerne ein bisschen beim Schlafen beobachten möchte. Und dazu bekomme ich auch ausreichend Gelegenheit, denn er lässt mich selbst im Schlaf nicht los, sondern hält mich weiterhin fest. Aber ich kann nicht behaupten, dass mir das nicht gefallen würde. Ganz im Gegenteil. Ich genieße das. Sehr sogar. Simon ist schön warm und so aufregend und neu seine Nähe einerseits auch ist, so beruhigend und vertraut ist sie wiederum auf der anderen Seite.
 

Wie beruhigend Simons Nähe, sein ruhiger Herzschlag und sein gleichmäßiger Atem tatsächlich sind, merke ich, als ich meine Augen, die ich irgendwann zugemacht hab, blinzelnd wieder öffne. Der Dunkelheit im Wohnzimmer nach zu urteilen muss ich wohl auch eingeschlafen sein. Das ist mir zugegebenermaßen ein bisschen peinlich, aber Simon neben mir schläft immer noch tief und fest und es ist unter der Decke auch viel zu gemütlich, um jetzt schon aufzustehen. Unhörbar seufzend kuschele ich mich also noch ein bisschen näher an Simon und genieße es in vollen Zügen, einfach nur bei ihm sein zu können.
 

Mein noch ziemlich schlaftrunkenes Hirn braucht eine Weile, bis es bemerkt, dass weder Simon noch ich vorhin eine Decke über uns gelegt haben. Im ersten Moment vermute ich, dass Simon kurz wach war und die Decke geholt hat, aber den Gedanken verwerfe ich gleich wieder. Davon wäre ich auf jeden Fall aufgewacht. Außerdem liegt er noch ganz genau so da, wie er eingeschlafen ist. Er war also bestimmt nicht wach. Aber wer hat uns dann zugedeckt?
 

Vor lauter plötzlicher Aufregung klopft mir mein Herz bis zum Hals. Leise und vorsichtig, um Simon nicht zu wecken, setze ich mich auf, decke ihn wieder komplett zu und sehe mich dann in der Wohnung um. Überall ist es dunkel, nur aus der Küche dringt Licht und als ich mal ein bisschen lausche, höre ich auch Stimmen. Eine davon kommt mir ziemlich bekannt vor – sie klingt stark nach Flo –, aber die zweite, weibliche Stimme kenne ich nicht.
 

"Wir sollten die Zwei langsam wecken, finde ich", schlägt Flo gerade vor, aber seine Gesprächspartnerin widerspricht ihm sofort. "Noch nicht. Sie sind so verdammt niedlich, wenn sie so friedlich aneinandergekuschelt daliegen und schlafen", sagt sie und ich werde rot. Ehe ich mich allerdings irgendwie bemerkbar machen kann, raschelt es hinter mir auf der Couch und im nächsten Moment schlingen sich von hinten zwei Arme um mich.
 

"Tut mir leid, dass ich so lange gepennt hab", flüstert Simon mir leise ins Ohr und seine vom Schlaf noch etwas raue Stimme verschafft mir eine Gänsehaut. "N-Nicht schlimm. Aber D-Du hast Besuch", teile ich ihm mit und halte unwillkürlich den Atem an, als er daraufhin sein Kinn auf meiner Schulter abstützt, ohne mich loszulassen. Einerseits fühlt sich das toll an, aber andererseits ist es mir auch ziemlich peinlich. Immerhin sind wir ja jetzt nicht mehr alleine.
 

"Flo?", fragt Simon in Richtung Küche, aber es ist nicht Flo, der ihm antwortet, sondern das Mädchen. "Auch", ruft sie zurück und als sie im Türrahmen auftaucht, erkenne ich sie als diejenige, die gestern Abend auch mit im Club war. Das ist sicher Morgaine. Jedenfalls vermute ich das jetzt einfach mal. Mama hat schließlich gesagt, dass Simons "Freundin" sich ziemlich extravagant kleidet. Und wenn eine schwarze Lackhose, hohe Stiefel und eine hautenge Lackweste nicht extravagant sind, was ist es dann?
 

"Wenn Flo glaubt, dass ich ihn für seine vollkommen bescheuerte Aktion nicht umbringe, nur weil er Dich als Verstärkung mitgebracht hat, dann irrt er sich aber gewaltig", grollt Simon, aber Morgaine – ich bin mir zu gut neunzig Prozent sicher, dass sie es ist – lacht nur. "Du bist so ein Morgenmuffel, Simon – auch wenn der Morgen mittlerweile schon lange vorbei ist", kontert sie fröhlich, knipst das Licht an und grinst, als Simon und ich ob der plötzlichen Helligkeit blinzeln.
 

"Kommt ihr in die Küche? Flo und ich waren vorhin kurz Pizza holen. Die müsste eigentlich noch relativ warm sein. Wir dachten uns, ihr habt vielleicht Hunger, wenn ihr erst mal ausgeschlafen seid", sagt sie dann vollkommen ungerührt und zu meiner Schande fängt mein Magen natürlich genau jetzt an, laut und vernehmlich zu knurren. Allerdings bin ich damit nicht alleine. Simon geht es ganz genauso, also ist das schon mal nicht ganz so peinlich für mich.
 

"Ich hoffe, Flo hat wenigstens gezahlt", murrt er trotzdem und steht auf, als Morgaine nickt. "Gut, dann lass ich ihn vielleicht doch noch ein Weilchen leben. Aber nur ausnahmsweise", beschließt Simon daraufhin, hält mir seine Hand hin und zieht mich von der Couch hoch und hinter sich her in Richtung Küche. Dabei lässt er meine Hand nicht los und ich bin mir absolut sicher, dass ich mal wieder aussehe wie ein gekochter Hummer. Mein Herz rast, aber trotz meiner Aufregung schwebe ich mindestens einen halben Meter über dem Boden.
 

"Scheint aber so, als wär die Idee, euch beide hier einzuschließen, gar nicht so schlecht gewesen. Für mich sieht das sogar nach einem vollen Erfolg aus", begrüßt Flo uns und fängt sich dafür von Simon einen Schlag gegen den Oberarm ein, der aber mehr spielerisch als wirklich schmerzhaft aussieht. "Was denn? Ich hab doch Recht", behauptet Flo, schiebt sich an Simon vorbei und lässt sich grinsend auf den freien Stuhl neben dem fallen, auf den Simon mich gerade gedrückt hat. Ich blinzele etwas irritiert und Flos Grinsen wird noch breiter.
 

"Glückwunsch, Kurzer", adressiert er an mich und zerwuschelt meine vom Schlafen sicherlich ohnehin schon ziemlich strubbeligen Haare gleich noch mehr. "Du hast echt Geschmack, weißt Du? Und verdammtes Glück. Dein Freund ist nämlich ein toller Kerl, das kann ich Dir aus Erfahrung sagen. Der wird Dich garantiert verdammt glücklich machen", verspricht er mir weiter, aber das ist es nicht, was mein Herz fast zum Kollabieren bringt. Nein, das, was meinen ganzen Körper total verrückt spielen lässt, ist die simple Tatsache, dass Flo von Simon als von meinem Freund gesprochen hat. Darüber hab ich bis gerade noch gar nicht wirklich nachgedacht, aber jetzt wird mir mit einem Mal klar, dass Simon und ich seit heute Morgen ja wohl tatsächlich fest zusammen sind. So richtig. Ach Du heilige Scheiße!
 

Sobald ich diesen Gedanken wirklich zu fassen gekriegt und auch richtig begriffen hab, huschen meine Augen unwillkürlich zu Simon, der gerade Besteck an alle verteilt. Er erwidert meinen Blick, lächelt mir zu und ich kann nicht anders als einfach nur zurückzustrahlen. Ja, geht es mir dabei durch den Kopf, Simon ist jetzt mein Freund. Und ich bin definitiv der glücklichste Mensch, der auf dieser Welt rumläuft.
 

Mein Höhenflug verdrängt meine übliche Schüchternheit und so schaffe ich es tatsächlich, mich während des Essens fast völlig normal mit Simon, Flo und Morgaine zu unterhalten. Wann immer ich Simon ansehe, kann ich nicht anders als zu lächeln. Flo findet das seinen eigenen Worten zufolge "total putzig", aber selbst das stört mich in keinster Weise. Ich bin einfach viel zu glücklich. Außerdem meinen offensichtlich weder Flo noch Morgaine ihre kleinen Neckereien wirklich böse, sondern machen einfach nur Spaß. Und so glücklich, wie ich gerade bin, kann ich gar nicht mehr verstehen, warum ich sie beide gestern noch nicht wirklich mochte. Sicher, ich weiß den Grund dafür noch, aber der kommt mir jetzt so unglaublich lächerlich und dumm vor, dass ich darüber nur den Kopf schütteln kann.
 

Ich bin so abgelenkt von der lockeren Stimmung in der Küche, dass ich erst merke, wie spät es eigentlich schon ist, als ich zufällig einen Blick auf die Uhr an der Mikrowelle werfe. "Schon acht durch?", entfährt es mir und nachdem Simon meinem Blick gefolgt ist, nickt er. "Ich muss runter. Meine Mutter kriegt sonst nen Anfall. Ich hab ihr schließlich nicht Bescheid gesagt, dass ich später komme, und sie wartet bestimmt schon den ganzen Tag auf mich", nuschele ich, stehe hastig auf und gehe in den Flur, um meine Sachen zu holen.
 

Ich will zwar eigentlich noch gar nicht gehen – genau genommen würde ich am liebsten für immer hier bei Simon bleiben –, aber das lässt sich ja nun mal leider nicht vermeiden. Ich will immerhin nicht, dass Mama sich noch größere Sorgen macht, als sie das sicher ohnehin schon tut. Außerdem muss ich auch Jassi, Ruben und Christie noch anrufen. Das hab ich ihnen schließlich gestern und heute fest versprochen.
 

Ich hab gerade mein Zeug zusammengesammelt und will wieder zurück in die Küche gehen, um mich von Simon und seinen Freunden zu verabschieden, aber dazu komme ich nicht mehr. Noch im Flur pralle ich fast mit ihm zusammen, weil er mir ganz offenbar gefolgt ist. Verlegen lächelnd sehe ich zu ihm auf, aber das, was ich sagen wollte, bleibt mir ungesagt im Hals stecken, als ich seinen Blick bemerke.
 

"Ich bin morgen so gegen halb vier zu Hause, wenn ihr wegen dem Referat vorbeikommen wollt", bietet Simon mir an und ich räuspere mich kurz, ehe ich nicke. "Okay, ich richte es Ruben aus. Ich wollte ihn gleich eh noch ..." "... anrufen", wollte ich eigentlich noch sagen, aber Simons Lippen auf meinen schneiden mir äußerst effektiv das Wort ab. Er küsst mich, bis mir schwindelig wird, und als er von mir ablässt, muss ich mich an ihm festhalten, um nicht aus den Latschen zu kippen. Du lieber Himmel, Simons Küsse sind einfach unbeschreiblich toll!
 

"Bis morgen, Jan", sagt er leise, lächelt und streicht mir ungemein zärtlich über die Wange. "Schlaf nachher gut und träum was Schönes", schiebt er noch hinterher und ich nicke mit hochrotem Kopf und wie wild rasendem Herzen. "W-Werd ich. D-Du aber auch, ja?", bitte ich ihn und sein Lächeln vertieft sich noch etwas. "Wenn ich's mir aussuchen kann, dann würde ich am liebsten hiervon träumen, glaube ich", murmelt er und im nächsten Moment küsst er mich noch einmal so lange, bis ich das Gefühl hab, endgültig den festen Boden unter den Füßen zu verlieren.
 

Ich schwebe die Treppe mehr runter, als dass ich wirklich laufe, und brauche vier Anläufe, um die Wohnungstür aufzuschließen. Slim, der mir gleich freudig entgegengesaust kommt, ignoriere ich und blinzele meine Mutter nur irritiert an, als sie mich besorgt fragt, wo ich denn so lange gewesen bin. "Bei Simon", antworte ich ihr dann, als sie ihre Frage noch mal wiederholt hat und ich den Sinn endlich begriffen habe.
 

"Musste ihn was wegen nem Referat fragen. Er hilft Ruben und mir dabei." Nicht ganz die Wahrheit, aber auch nicht ganz gelogen. Immerhin hilft Simon uns ja wirklich bei dem Referat, aber erst morgen. Allerdings muss Mama den wahren Grund für meinen heutigen Besuch bei ihm nun wirklich nicht unbedingt wissen. Jedenfalls noch nicht jetzt. Sie wird schon früh genug davon erfahren – dann, wenn ich dazu bereit bin, ihr davon zu erzählen. Aber dafür ist das alles noch viel zu frisch.
 

"Oh, na dann ... Du hast übrigens Besuch. Jasper wartet schon seit über einer Stunde in Deinem Zimmer auf Dich", informiert Mama mich dann und ich sause schnell in mein Zimmer, wo mir mein bester Freund gleich fröhlich entgegengrinst. Slim, der wegen meiner Nichtbeachtung seiner Existenz offenbar gerade etwas beleidigt ist, hockt auf Jassis Schoß, lässt sich von ihm genüsslich hinter den Ohren kraulen und ignoriert mich demonstrativ.
 

"Ich dachte, ich komm einfach vorbei und erspar Dir so den Anruf bei mir", begrüßt Jassi mich und ich schließe erst mal die Tür hinter mir, ehe ich meinen Rucksack einfach fallen lasse und mich dann mit Anlauf neben meinem besten Freund aufs Bett werfe. Er mustert mich kurz skeptisch, grinst aber gleich darauf wieder. "Du siehst glücklich aus, Kleiner", fasst er seine Beobachtung in Worte und ich strahle ihn an.
 

"Bin ich auch. Sehr sogar", erwidere ich, schnappe mir mein Kissen und umarme es ganz fest. "Du hattest Recht mit dem, was Du gesagt hast. Über Simon und den Turm und den Sonnenuntergang, meine ich. Du weißt schon", lasse ich ihn dann wissen und Jassi wuschelt mir mit seiner freien Hand durch die Haare, ohne die Streicheleinheiten für Slim zu unterbrechen.
 

"Hab ich Dir doch gleich gesagt", kontert er, aber nicht mal der besserwisserische Tonfall kann mich jetzt von meinem Höhenflug runterholen. "Simon und ich sind zusammen!", teile ich meinem besten Freund dann mit und er lächelt mich an. "Freut mich für Dich, Kleiner", sagt er ehrlich, lehnt sich an die Wand hinter meinem Bett und sieht mir eine Weile lang einfach nur schweigend dabei zu, wie ich vor lauter Überschwang mein Kissen plattknuddele.
 

"Weißt Du, ich hab mir schon länger gedacht, dass Du möglicherweise auf Jungs stehst", bricht Jassi das Schweigen dann irgendwann wieder und ich höre auf, mein armes Kissen zu zerknüllen. Stattdessen rappele ich mich in eine sitzende Position und blinzele meinen besten Freund dann fragend an. "Wieso?", will ich wissen. Seine erste Reaktion darauf ist ein diffuses Achselzucken. "Keine Ahnung. Ich hatte eben einfach so ein Gefühl", murmelt er dann und dreht Slim auf seinem Schoß kurz um, ehe er mich wieder ansieht.
 

"Du warst zwar schon immer ein Spätzünder, aber es kam mir einfach komisch vor, dass Du überhaupt nie von Mädchen gesprochen hast. Wenn ich mal von einer geschwärmt hab, hast Du immer nur so was gesagt wie "Ja, die ist ganz nett" oder "Nee, die ist doof", aber Du selbst hattest nie an einer Interesse. Na ja, und irgendwann kam mir dann mal der Gedanke, dass Mädchen vielleicht einfach nicht Deine Welt sind. Und wie's aussieht, hab ich mit der Vermutung ja wohl voll ins Schwarze getroffen", führt er weiter aus und mir kracht beinahe die Kinnlade auf den Boden.
 

"Du kennst mich echt viel besser als ich mich selbst kenne", ist der erste vernünftige Satz, den ich zusammenkriege, sobald ich mich wieder ein bisschen von meiner Überraschung erholt habe. "Ich hab das erst gestern Abend so richtig kapiert", gebe ich dann zu, zupfe verlegen an meinem Kissen herum und werde wieder rot, als ich mich daran erinnere, wann und wie mir diese Erkenntnis genau gekommen ist.
 

Ich will mir gerade einen Ruck geben und Jassi alles erzählen – bis auf die Sache mit Christie; das muss außer ihm und mir wirklich niemand wissen –, überlege es mir allerdings anders. "Ich komm gleich wieder", informiere ich meinen besten Freund kurz und stratze rüber ins Wohnzimmer. Da klaue ich mir schnell das Telefon und bin wieder zurück in meinem Zimmer, ehe Mama oder Franzi – Vicky ist immer noch bei unserem Erzeuger – etwas bemerken und blöde Fragen stellen können, die ich ihnen jetzt ganz bestimmt nicht beantworten will.
 

Mit dem Telefon bewaffnet lasse ich mich wieder auf mein Bett plumpsen, tippe Rubens Nummer ein und lausche gemeinsam mit Jassi auf das Freizeichen. "Ich will nicht alles dreimal erzählen müssen", erkläre ich meinem besten Freund diese Aktion und muss unwillkürlich grinsen, als Ruben sich mit einem atemlosen "Bist Du das, Jan?" meldet. "Ja, ich bin's. Bist Du noch bei Christie? Und hat Dein Handy nen Lautsprecher?", frage ich zurück und Ruben verneint.
 

"Nee, hat's nicht. Aber Du kannst Christie übers Festnetz anrufen. Das ist auch billiger. Warte, ich geb Dir eben die Nummer", sagt er, diktiert mir die Nummer und legt dann auf. Ich wähle die Nummer von Christies Festnetzanschluss und habe keine zehn Sekunden später auch schon wieder Ruben am Ohr. "Okay, schieß los!", verlangt er hibbelig und ich muss grinsen, als ich Christie im Hintergrund leise lachen höre. Jassi neben mir grinst ebenfalls über Rubens Enthusiasmus, sagt aber nichts.
 

"Gut, das Wichtigste zuerst: Simon und ich sind zusammen. Das wolltest Du doch hören, oder?", erkundige ich mich und werde im nächsten Moment fast taub durch Rubens Jubelschrei. "Das ist ja super!", freut er sich und Jassi versucht zwar noch, sich das Lachen zu verkneifen, aber das gelingt ihm nicht so ganz. Ich bin ihm dafür aber ganz und gar nicht böse. Dafür bin ich nach dem heutigen Tag einfach viel zu glücklich.
 

"Meinen Glückwunsch, Jan", kommt es von Christie aus dem Hintergrund und nachdem Ruben sich endlich auch wieder etwas beruhigt hat, schildere ich den Dreien grob, wie der Tag verlaufen ist. "Flo hat euch beide echt eingeschlossen? Das ist so typisch!", prustet Ruben, als ich von Flos Aktion erzähle, und auch Jassi kriegt sich jetzt endgültig nicht mehr ein vor Lachen.
 

"Den muss ich kennen lernen! Unbedingt!", beschließt er kichernd. Vom anderen Ende der Leitung kommt ein tadelndes "Kichererbse!", das wohl auf Ruben gemünzt ist, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Christie selbst auch zumindest ein bisschen schmunzelt. Ich muss zugegebenermaßen auch darüber grinsen. Im Nachhinein betrachtet ist das ja schon ziemlich lustig.
 

"Ja, hat er. Und dann haben wir geredet, aber weil Simon total müde war, haben wir uns irgendwann hingelegt und sind beide eingepennt. Und als wir dann wieder aufgewacht sind, waren Flo und Morgaine da und wir haben noch ein bisschen gequatscht, bevor ich dann wieder runter bin. Übrigens soll ich Dir sagen, dass Simon morgen ab halb vier zu Hause ist, wegen dem Referat und so." Dass Simon mich nicht nur einmal, sondern öfter geküsst hat und sogar gesagt hat, dass er davon träumen will, behalte ich jetzt allerdings erst mal für mich. Darüber möchte ich noch mit niemandem sprechen. Das ist mir zu privat. Das geht nur Simon und mich etwas an und sonst niemanden.
 

Jassi entgeht mein verträumter Blick nicht, aber er sagt nichts dazu, sondern schmunzelt nur. "Dich hat's ja echt total erwischt. Schön, Dich endlich mal so zu sehen. Und ich find's noch schöner, dass es doch nicht so aussichtslos war, wie Du zuerst geglaubt hast", sagt er und ich nicke mit einem seligen Seufzen. Ich kann es immer noch nicht so ganz glauben, dass das alles die Wahrheit sein soll, aber ich will im Augenblick auch nicht über so einen Blödsinn nachdenken wie den, dass ich mir das alles möglicherweise nur eingebildet habe. Das stimmt ja schließlich auch nicht. So was kann man sich einfach nicht einbilden. Das geht nicht.
 

"Das musst Du mir morgen in der Schule alles noch mal ganz ausführlich erzählen, okay?", reißt Ruben mich wieder aus meinen Gedanken und ich nicke vielleicht eine Spur zu hastig. "Klar, mach ich", verspreche ich ihm, wohl wissend, dass ich mir damit mein eigenes Grab schaufele. Immerhin wird Ruben garantiert nicht eher Ruhe geben, als bis ich ihm wirklich alles haarklein erzählt habe. Aber wenn ich ihm sage, dass es ein paar Dinge gibt, die ich für mich behalten will, wird er das schon verstehen. Hoffe ich jedenfalls.
 

"Gut, dann bis morgen. Ich freu mich schon." Damit legt Ruben auf und nachdem ich das Telefon zur Seite gepackt hab, sieht Jassi mich mit schiefgelegtem Kopf fragend an. "Das ist also das, was Du willst, ja? Das, was Dich wirklich glücklich macht?", erkundigt er sich und ich nicke sofort, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. "Ja. Ja, ist es." Und das ist nicht gelogen. So glücklich wie jetzt gerade war ich in meinem ganzen Leben noch nicht.
 

"Dann freu ich mich für Dich, dass es doch noch geklappt hat." Jassi hebt Slim von seinem Schoß runter, zieht mich zu sich und drückt mich einmal ganz fest an sich. "Jetzt musst Du mir Deinen Simon nur noch so bald wie möglich vorstellen", beschließt er dabei, schiebt mich wieder ein Stück von sich und grinst mich breit an. "Immerhin muss ich als Dein bester Freund mich ja schließlich mit eigenen Augen davon überzeugen, ob er auch wirklich gut genug ist für Dich."
 

Bei diesen Worten laufe ich vom Halsansatz bis zu den Haarspitzen knallrot an, was Jassi zum Lachen reizt. "Ich wette, genau das findet Dein Simon so toll an Dir", vermutet er und das Rot in meinem Gesicht wird noch eine Spur dunkler. "Also ja", schließt Jassi daraus und ich schlage mit dem Kissen nach ihm, aber er fängt es ab und grinst mich breit an, ehe er es mir zurückgibt.
 

"Ich bin echt neugierig auf Deinen Schatz. Aber ich glaube, ich sollte jetzt langsam wieder nach Hause. Schließlich muss ich ja morgen wieder früh raus. Und Du auch." Damit rappelt Jassi sich von meinem Bett auf, streichelt Slim noch einmal über den Kopf und tapert dann in den Flur, um sich anzuziehen. Ich folge ihm, schon alleine um den Kater of Doom an der Flucht zu hindern. Immerhin hab ich keine Lust darauf, mir heute noch mal eine Verfolgungsjagd mit dem Vieh zu liefern. Morgen kann er gerne wieder mit nach oben zu Simon, aber heute nicht. Klar, ich würde schon gerne noch mal raufgehen und ihn sehen, aber das geht nicht. Leider. Na ja, ich seh ihn ja morgen schon wieder.
 

"Mach nicht so ein Gesicht, Kleiner. Du siehst ihn doch morgen schon wieder", spricht Jassi meine Gedanken laut aus und schmunzelt, als ich ertappt zusammenfahre. "Ich kenn Dich eben", erklärt er mir seine offensichtlichen telepathischen Fähigkeiten und ich hebe Slim schnell hoch, um meinen besten Freund nicht in die Rippen zu boxen. Darüber würde er eh nur lachen. Schläge von mir kann man schließlich einfach nicht ernst nehmen. Dafür fallen die grundsätzlich zu schwächlich aus.
 

Gerade als Jassi die Wohnungstür aufmachen will, um zu gehen, wird sie von außen geöffnet und im nächsten Moment blinzelt Vicky irritiert über den Auflauf im Flur. "Oh, hi, Jassi!", begrüßt sie meinen besten Freund, wartet aber keine Erwiderung ab, sondern hüpft direkt an ihm vorbei, um ihre Jacke aufzuhängen und ihre Tasche in ihr Zimmer zu bringen. Ihre Wangen haben hektische rote Flecken, aber ehe ich meine kleine Schwester fragen kann, was mit ihr los ist, ist sie auch schon weg.
 

"Na, dann wünsch ich Dir morgen viel Spaß, Jan." Jassi drückt mich zum Abschied noch mal extra vorsichtig, um Slim nicht versehentlich zu zerquetschen, aber der Fellball faucht trotzdem und rammt mir seine Krallen in den Arm. Dafür werfe ich ihm einen bösen Blick zu, aber der wird natürlich gekonnt ignoriert. "Okay. Wünsch ich Dir auch. Und grüß Sina von mir, ja?", adressiere ich an meinen besten Freund – den blöden Kater anzupflaumen bringt ja eh nichts – und nach einem letzten Nicken und Winken von Jassi stehen Slim und ich alleine im Flur.
 

Ich schiebe die Wohnungstür mit dem Fuß hinter meinem besten Freund zu und setze dann erst mal das blöde Katzenvieh ab. Als Belohnung dafür, dass der mich wieder mal zerkratzt hat, werd ich ihn jetzt garantiert nicht auch noch durch die Wohnung schleppen. Trotzdem verfolgt das schwarze Fellknäuel mich natürlich, als ich mich wieder auf den Weg in mein Zimmer mache, aber da ist er nicht der Einzige. Bevor ich die Tür hinter mir schließen kann, schlüpft Vicky in mein Zimmer, lässt sich mit Anlauf auf mein Bett fallen und grinst mich dann so breit an, dass ihre Mundwinkel schon fast ihre Ohrläppchen kitzeln.
 

"Was ist denn mit Dir los?", erkundige ich mich bei meiner kleinen Schwester und sie packt meine Hand, um mich neben sich zu ziehen. "Sylvie war am Freitag beim Arzt", eröffnet sie mir dann und piekt mir in die Seite, als ich sie einfach nur verständnislos anblinzele. "Und?", will ich wissen und Vicky verdreht so überdramatisch die Augen, wie nur sie das kann.
 

"Und, und, und?", äfft sie mich nach und seufzt abgrundtief über meine offensichtliche Begriffsstutzigkeit, strahlt jedoch gleich darauf wieder. "Es wird ein Mädchen. Wir kriegen eine kleine Schwester, Janni!", freut sie sich dann und nachdem diese Worte in mein Bewusstsein gesickert sind, tue ich das einzige, was ich in dieser Situation tun kann: Ich fange an zu lachen.
 

Lauthals prustend lasse ich mich hintenüber auf mein Bett kippen und halte mir den Bauch. Vicky schmollt mich an, weil sie ganz offenbar nicht versteht, was ich an dieser Eröffnung jetzt so lustig finde, aber auch das kann meinen Lachkrampf nicht stoppen. Der Gedanke an das total entgeisterte Gesicht, das mein Erzeuger beim Erhalt dieser "tollen" Nachricht sicherlich gezogen hat, ist einfach Gold wert. Das ist der perfekte Abschluss für einen rundum gelungenen Tag.
 

Ich weiß, ich bin gehässig und sollte mich wohl dafür schämen, aber das tue ich nicht. Ganz und gar nicht. Im Gegenteil. Ich finde es einfach nur gerechtfertigt. Wenn es nach mir ginge, dann dürfte dieser Mann nie wieder einen Sohn bekommen. Nicht, weil ich um meine Stelle als sein "Stammhalter" – was für ein bescheuertes Wort – fürchte, sondern einfach weil er es nicht verdient hat, dass es nach seiner Nase läuft. Für alles, was dieser Penner sich geleistet hat, sollte er wirklich nicht auch noch belohnt werden.
 

"Du bist doch doof, Janni!", mault Vicky mich an und ich halte sie fest, bevor sie total beleidigt abrauschen kann. "Tut ... mir leid", japse ich und meine die Entschuldigung sogar ernst, auch wenn es durch mein noch nicht ganz abgeebbtes Gekicher nicht unbedingt so klingt. "Ich find's nur ... witzig, das ... ist alles." Warum ich das so witzig finde, behalte ich allerdings sicherheitshalber doch lieber für mich. Ich will schließlich nicht, dass meine kleine Schwester sich aufregt.
 

"Und was ist daran so lustig?", will sie natürlich prompt trotzdem von mir wissen und ich ziehe sie so zu mir, dass ich sie in den Arm nehmen kann. "So bleib ich der Hahn im Korb", lüge ich dann. Dabei bin ich froh, dass Vicky mir gerade nicht ins Gesicht sieht. Sonst würde sie merken, dass das nicht die Wahrheit ist – zumindest nicht die ganze. Aber die Wahrheit kann ich ihr nicht sagen. Ich will ihr ja nicht weh tun. Dafür habe ich sie viel zu lieb.
 

"Du bist doch doof!", wiederholt sie daraufhin ihre Beleidigung von eben, aber wirklich verärgert hört sie sich nicht mehr an. Sie klingt eher so, als würde sie verzweifelt versuchen, weiter böse auf mich zu sein, obwohl sie das ganz offensichtlich nicht kann. Ich umarme sie noch etwas fester, drücke ihr einen Kuss auf die braunen Locken und grinse, als sie daraufhin irritiert zu mir aufsieht.
 

"Was ist denn heute mit Dir los, Janni?", erkundigt sie sich, aber ich winke einfach nur ab. "Nichts. Ich hab einfach nur verdammt gute Laune. Stört Dich das etwa?", frage ich zurück und Vicky wirft mir einen prüfenden Blick zu, nickt dann aber doch und kuschelt sich an mich. "Nein, auf keinen Fall. So gefällst Du mir auch besser als so komisch wie in der letzten Zeit. Ich mag Dich viel lieber, wenn Du fröhlich bist", teilt sie mir mit, hangelt nach Slim und setzt ihn auf meinem Schoß ab, nachdem sie es sich in meinen Armen so bequem wie möglich gemacht hat.
 

Gemeinsam streicheln und kraulen wir Franzis haarige Ausgeburt der Hölle und ich muss unwillkürlich lächeln. Doch, der heutige Tag war eindeutig ein voller Erfolg. Und die Neuigkeit über meine künftige Halbschwester ist einfach nur das Sahnehäubchen. Vielleicht, geht es mir durch den Kopf, während ich mir anhöre, was meine kleine Schwester am Wochenende so alles gemacht hat, hasst das Universum mich ja doch nicht so sehr, wie ich bisher immer dachte.
 

~*~
 

So, und damit wäre dieses Kapitelchen auch geschafft. Ich hoffe, ich komm wieder so richtig in den Schreibfluss, damit ich das nächste Kapitel bald fertig kriege. Drückt mir die Daumen, ja?

*Kekse verteil*
 

Bis zum nächsten Mal!
 

Karma

Von merkwürdigen Fragen, seltsamen Vermutungen und Hintergrundinfos

Ahahaha~, ja ich lebe tatsächlich noch.

^^°

Gut, einige von euch werden möglicherweise wissen, dass ich in der letzten Zeit mit einer anderen Story ziemlich ausgelastet war (*auf Sing to me bzw. Nothing else matters deut*), aber trotzdem hab ich's doch mal geschafft, auch endlich die Kapitel 19 und 20 fertigzukriegen. Jetzt hab ich nur das Problem, dass mir die Motivation fürs Weiterschreiben fehlt.

-.-

Aber das geht mir immer so, wenn ich irgendwas beendet hab, also hat sich das hoffentlich bald wieder erledigt.
 

Jetzt will ich euch aber nicht noch länger mit Gelaber nerven, also gibt's hier jetzt endlich Kapitel 19. Ich hoffe, ihr werdet es mögen.
 

Karma
 

~*~
 

Am Montagmorgen, als meine Mutter mich für die Schule weckt, bin ich beinahe sofort hellwach. Im Gegensatz zu meiner sonstigen Morgenmuffeligkeit hüpfe ich jetzt geradezu enthusiastisch aus dem Bett, sause schnell ins Bad und stehe danach fast zwanzig Minuten lang unschlüssig vor meinem Kleiderschrank, weil ich mich einfach nicht entscheiden kann, was ich anziehen soll. Immerhin will ich Simon ja heute Nachmittag unbedingt gefallen, wenn ich mit Ruben zu ihm gehe. Vielleicht ist das total lächerlich und blöd, aber ich durchwühle meinen Schrank trotzdem auf der Suche nach etwas, was er hoffentlich an mir mögen wird. Aus diesem Grund entscheide ich mich schlussendlich auch dafür, mich einfach komplett schwarz anzuziehen. Damit kann ich sicher nicht viel falsch machen. Jedenfalls hoffe ich das jetzt einfach mal.
 

Nachdem die ultrawichtige Klamottenfrage endlich zu meiner Zufriedenheit geklärt ist, flitze ich in die Küche, um noch eben schnell zu frühstücken. Ich bin ein bisschen spät dran, deshalb setze ich mich nicht, sondern stopfe mein Frühstück im Stehen in mich hinein. Dabei strahle ich die ganze Zeit stumm vor mich hin. Mama, Franzi und auch Vicky beäugen mich deswegen mehr als skeptisch. So viel Strahlerei von mir sind sie einfach nicht gewöhnt. Besonders nicht am frühen Morgen. Ich beantworte allerdings keine der Fragen bezüglich meiner ungewöhnlich guten Laune, sondern sause gleich nach dem Essen wieder rüber in mein Zimmer, um meinen Rucksack zu holen. Dann bin ich auch schon aus der Tür und muss mich auf dem Weg zur Haltestelle fast schon zwingen, nicht stehen zu bleiben und mich nach Simons Auto umzudrehen.
 

Den Bus erwische ich trotzdem nur ganz knapp, aber auch das kann mir meine Laune nicht verderben. Das gelingt nicht mal Kevin und Carsten, die heute Morgen gleich wieder ihre üblichen Nettigkeiten in meine Richtung ablassen, sobald sie mich sehen. Im Gegensatz zu sonst jucken mich die blöden Sprüche jetzt allerdings absolut gar nicht. Meine Gedanken kreisen die ganze Zeit nur um den gestrigen Tag und Simon und ich kann einfach nicht aufhören, total selig vor mich hin zu lächeln. Das, was Kevin und Carsten mir an den Kopf werfen, nehme ich nicht mal richtig wahr.
 

Ich komme erst wieder ein bisschen mehr in der Realität an, als Ruben kurz vor Unterrichtsbeginn auf mich zustürmt und mich so heftig umarmt, dass ich fast das Gleichgewicht verliere. "Und? Sag schon!", drängt er mich statt einer Begrüßung und ich drücke ihn meinerseits einmal ganz fest, einfach weil ich so verdammt glücklich bin, dass ich platzen könnte. "Er hat gesagt, er hätte heute Nachmittag sowieso mit mir reden wollen, wenn wir uns nicht schon am Samstag durch Zufall getroffen hätten. Und er hat gesagt, dass er mich süß findet – schon seit dem Sonntag, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind", platze ich dann im Flüsterton heraus und Ruben grinst mich an.
 

"Dann waren meine ganzen Kuppelpläne ja umsonst", sagt er und legt dann fragend den Kopf schief. "Hat er Dich gestern auch geküsst?", will er neugierig wissen und ich laufe mal wieder knallrot an, nicke aber trotzdem. "Ja", seufze ich dabei. "Und das war noch viel, viel, viel schöner als am Samstag", schwärme ich weiter und Rubens Augen werden groß. "Samstag? Ihr habet euch am Samstag schon geküsst? Warum weiß ich davon nichts?", fragt er mich vorwurfsvoll und ich werde noch röter.
 

"Weil ... Ich konnte da einfach noch nicht darüber reden." Gut, ich habe zwar mit Christie über die Küsse und Simon und auch über die ganze Sache mit Flo gesprochen, aber das behalte ich lieber für mich. Ich glaub, das würde Ruben mir irgendwie übel nehmen. Dabei war das ja nicht mal böse gemeint. Das hat sich eben einfach so ergeben, weil Christie und ich nun mal zufällig beide noch etwas länger wach waren als Ruben.
 

"Ich wusste ja nicht, ob das überhaupt was zu bedeuten hatte – Du weißt schon, wegen Flo und so –, aber gestern hat Simon mir erzählt, dass er mich beinahe am Freitagabend schon geküsst hätte, nachdem er mich nach Hause gebracht hat. Er hat gesagt, er ist eigentlich nur Feiern gegangen, weil er sich von mir ablenken wollte, aber das hat nicht geklappt und dann haben wir uns ja auch noch zufällig getroffen und ... Er hat mich vorher gewarnt und gesagt, ich soll Nein sagen, wenn ich nicht will, dass er mich küsst, aber dann hat er's einfach gemacht und ... Das war so schön! Und gestern war's noch viel schöner. Er hat gesagt, zwischen Flo und ihm läuft schon lange nichts mehr, und Flo hat mir auch erzählt, dass er nur bei Simon übernachtet hat, weil er Streit mit seinem neuen Freund hatte und jemanden zum Reden brauchte."
 

Ich kann gar nicht so sehr strahlen, wie ich das gerade am liebsten tun möchte. Ruben hingegen runzelt auf meinen Wortschwall hin nur nachdenklich die Stirn. "Davon wusste ich ja noch gar nichts. Also von Flos neuem Freund, mein ich. Da muss ich ihn aber mal ganz dringend drüber ausquetschen, wenn ich ihn das nächste Mal sehe", beschließt er, aber Frau Römers Erscheinen enthebt mich glücklicherweise einer Antwort darauf.
 

Gemeinsam setzen Ruben und ich uns auf unsere Plätze und sind gerade damit beschäftigt, unsere Sachen auszupacken, als die Tür des Klassenraums aufgerissen wird. "Habe verschlafen", erklärt Malte sein deutlich verspätetes Auftauchen und in der Ecke von Kevin und Carsten geht gleich das Getuschel los. Besonders leise sind die Dumpfbacken dabei nicht, aber ich verstehe trotzdem kein Wort von dem, was sie sagen. Dafür reden sie alle viel zu sehr durcheinander.
 

Allerdings ist es auch ohne zu verstehen, was Kevin und Carsten genau sagen, mehr als offensichtlich, dass der Haussegen beim Idiotentrio immer noch ziemlich schief hängt. Malte geht nämlich nicht zu seinem alten Platz neben Kevin, sondern setzt sich stattdessen auf den letzten freien Zweierplatz in unserer Klasse. Unglücklicherweise liegt der ganz genau vor dem Platz von Ruben und mir. Ich habe also jetzt, wenn ich in Richtung Tafel kucke, immer Maltes Hinterkopf im Blickfeld. Na super.
 

"Scheint, als wär aus dem Trotteltrio wirklich ein Deppenduo geworden", kommentiert Ruben Maltes Platzwechsel leise und ich nicke einfach nur zustimmend. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Malte Rubens Bemerkung trotz der geringen Lautstärke gehört hat, aber es kommt keine Reaktion darauf. Malte packt einfach nur in aller Seelenruhe seinen Kram aus, aber er vermeidet es geradezu auffällig, auch nur zu Kevin und Carsten rüberzukucken. Er tut ganz so, als wären seine – offenbar wirklich ehemaligen – Freunde gar nicht da. Das ist echt verdammt merkwürdig. Ich hätte nicht gedacht, dass die Drei sich wirklich richtig ernsthaft zerstritten haben, aber es sieht ganz danach aus.
 

Kopfschüttelnd versuche ich, nicht weiter darüber nachzudenken, was mit Malte und den anderen beiden Obertrotteln ist. Stattdessen bemühe ich mich, mich auf Frau Römers Unterricht zu konzentrieren, aber das ist gar nicht so einfach. Meine Gedanken schweifen immer wieder zu Simon ab und ich ertappe mich immer öfter dabei, einfach nur verträumt aus dem Fenster zu starren. Wenn Ruben mich nicht immer wieder anstoßen würde, würde ich ganz sicher ziemlichen Ärger bekommen, aber so bemerkt Frau Römer glücklicherweise nichts von meiner geistigen Abwesenheit.
 

Auch in der Pause träume ich fast die ganze Zeit nur vor mich hin. Ruben muss mir jede Frage mindestens zwei Mal stellen, bevor er eine Antwort von mir kriegt, aber das scheint ihn eher zu amüsieren als wirklich zu stören. "Ist mein Bruder so ein guter Küsser, dass Du immer noch in höheren Sphären schwebst?", neckt er mich irgendwann und lacht, als ich daraufhin rot werde, fasst sich aber recht schnell wieder.
 

"Übrigens müssen wir nachher noch kurz zu meiner alten Schule und Christie abholen. Er wollte auch mit zu Simon. Das stört Dich doch nicht, oder?", fragt er mich dann und ich schüttele den Kopf. Klar, ich wär lieber wieder so mit Simon alleine wie gestern, aber das läuft mir ja nicht weg. Wir haben bestimmt noch ein bisschen Zeit für uns, wenn Ruben und Christie erst mal wieder zu Hause sind. Außerdem wohnen wir ja immerhin im gleichen Haus, also fällt es sicher nicht weiter auf, wenn ich erst etwas später runtergehe.
 

"Nee, das stört mich nicht", beantworte ich Rubens Frage deshalb und er strahlt mich an. "Super!", freut er sich, wird aber gleich darauf wieder ruhig und wirkt mit einem Mal sogar ziemlich nachdenklich. "Wie war das eigentlich? Von ihm geküsst zu werden, meine ich", will er dann wissen und meine Gesichtsfarbe, die sich gerade ein bisschen normalisiert hatte, schlägt sofort wieder in flammendes Rot um. Dieses Mal kichert Ruben allerdings nicht darüber, sondern beobachtet mich einfach nur ernst und forschend. "Das ... war toll", gestehe ich leise und seufze bei der Erinnerung an Simons Lippen auf meinen. "Ich kann das nicht so richtig beschreiben. Es war jedenfalls einfach toll."
 

"Aber bei Simon gefällt's Dir doch sicher besser, oder?", fragt Ruben mich und ich blinzele ihn verwirrt an. Hä? Was meint er denn jetzt? "Aber davon rede ich doch", gebe ich zurück und er schüttelt den Kopf. "Ich habe aber Christie gemeint", stellt er dann klar und ich werde noch etwas röter. "Ach so", nuschele ich, senke den Kopf und zupfe nervös am Saum meines Pullis herum. Daran wollte ich eigentlich nie wieder denken. "Und? Wie war das so?", bohrt Ruben allerdings unerbittlich weiter und obwohl ich seinem Blick ausweiche, kann ich deutlich spüren, dass er mich nicht aus den Augen lässt. "Auch ... schön", gestehe ich schließlich kaum hörbar, weil mir klar wird, dass er mir ohne eine richtige Antwort ganz sicher keine Ruhe mehr lassen wird. "Nicht so schön wie bei Simon, aber eben trotzdem irgendwie schön." Heilige Scheiße, ist mir das peinlich!
 

"Also küsst er gut, ja?", hakt Ruben noch mal nach und so langsam fühle ich mich wie zu lange gekocht. Mir ist heiß, mein Gesicht glüht und ich habe keine Ahnung, worauf er eigentlich hinaus will. "Wa-Warum willst Du das denn unbedingt wissen?", erkundige ich mich deshalb etwas piepsig, aber Ruben winkt ab. "Habe mich nur gewundert. Ich hätte nie gedacht, dass Christie mal einen anderen Jungen küssen würde", erklärt er mir. Dabei klingt seine Stimme irgendwie seltsam und er sieht mich auch ganz plötzlich nicht mehr an, sondern lässt seinen Blick über den Schulhof schweifen.
 

"Ist ja auch egal. Komm, sonst kommen wir zu spät zu Bio." Damit steht Ruben von "unserer" Bank auf und macht sich gemeinsam mit mir auf den Weg zum Bioraum, sobald ich zu ihm aufgeschlossen habe. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit ist er unterwegs vollkommen still, hat die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben und betrachtet nachdenklich seine Schuhspitzen, als ob sie das interessanteste auf der Welt wären.
 

Ich finde dieses Verhalten mehr als merkwürdig, aber die Frage danach, ob er Christie auch schon wegen des Kusses gelöchert hat, verkneife ich mir trotzdem. Ich will eigentlich auch lieber gar nicht mehr weiter über dieses Thema nachdenken. Rubens komisches Benehmen erkläre ich mir damit, dass ihn der Anblick seines besten Freundes, der einen anderen Jungen küsst, wohl etwas aus der Bahn geworfen hat. Mich würde es jedenfalls bestimmt ganz schön schocken, wenn ich sehen würde, wie Jassi mit einem Kerl rumknutscht. Allein die Vorstellung ist schon reichlich seltsam. Verständlich, dass Ruben das bei seinem besten Freund auch ziemlich komisch findet. Immerhin hatte Christie ja schließlich schon eine Freundin.
 

Sobald Frau Detrichs auftaucht, den Bioraum aufschließt und wir uns alle auf unseren Plätzen verteilt haben – Malte setzt sich dabei wieder so weit wie möglich von Kevin und Carsten weg –, hat Ruben sich auch wieder eingekriegt. Während Frau Detrichs irgendwelche seltsamen Gebilde an die Tafel zeichnet, ist er wieder ganz wie immer. Er kritzelt die Zeichnung von der Tafel ab, stößt mich an und schiebt mir grinsend seinen Hefter hin, um mir zu zeigen, wie wenig Ähnlichkeit sein "modernes Kunstwerk", wie er es nennt, mit dem hat, was Frau Detrichs darstellen wollte.
 

Mir entfährt ein leises Kichern und ich muss zugeben, dass das Bild bei mir nicht wirklich viel besser aussieht. Ich bin einfach nicht zum Zeichnen geboren. Genau betrachtet habe ich eigentlich überhaupt keine irgendwie herausragenden Talente. Jedenfalls nicht im schulischen Bereich. Sonst wär ich ja wohl auch kaum sitzen geblieben. Aber eigentlich find ich das mittlerweile gar nicht mehr so schlimm. Vor allem, seit Ruben in meiner Klasse ist. Wenn ich den Abschluss in diesem Sommer schon geschafft hätte, hätte ich ihn schließlich nicht kennen gelernt. Und das wäre echt schade. So hat also sogar meine so verhasste Ehrenrunde noch was Gutes.
 

Nach Bio hakt Ruben sich bei mir ein, um mich zurück zu unserem Klassenraum zu schleifen. Wie üblich wartet Herr Schierling schon auf uns alle, scheucht uns in die Klasse und geht dann nach vorne zum Pult. Allerdings macht er dieses Mal keinen Unterricht, sondern stellt stattdessen Fragen zum Ausflug letzte Woche. "Fragen Sie doch die Schwuchteln. Die hatten bestimmt viel Spaß miteinander!", schlägt Kevin daraufhin vor und seine dümmlichen Fans grölen zustimmend, aber noch ehe Herr Schierling überhaupt irgendetwas dazu sagen kann, klinkt Ruben sich in das Gespräch ein.
 

"Bist Du etwa neidisch, Süßer?", fragt er Kevin gedehnt und wischt sich lässig einen imaginären Fussel von seinem Pulli, während Kevins Gesicht sich vor Wut rötet. "Hättest ja zu uns kommen und mitmachen können. Jan und ich hatten jedenfalls wirklich ne Menge Spaß zusammen. Stimmt doch, oder, Jan?", wendet Ruben sich an mich und ich nicke, obwohl mein Gesicht mal wieder aussieht wie eine überreife Tomate. Ich bin mir durchaus dessen bewusst, dass beinahe unsere ganze Klasse mich jetzt gerade anstarrt und aufgrund meiner Gesichtsfarbe höchstwahrscheinlich sonst was annimmt, aber diese Gewissheit verdränge ich ganz schnell wieder. Bloß nicht darüber nachdenken, lautet die Devise.
 

"Allerdings. Die Nächte waren echt toll und das Bett war wirklich unheimlich bequem", stimme ich Ruben stattdessen sogar zu und unterdrücke mit etwas Mühe ein Grinsen, als ich die teilweise extrem fassungslosen Gesichter unserer Klassenkameraden sehe. Einige blicken zwar auch echt geschockt oder angeekelt drein, aber das stört mich gerade überhaupt gar nicht. Von denen mochte mich eh noch nie jemand und ob sie jetzt noch eine Sache mehr haben, die sie an mir verachten können, geht mir sonst wo vorbei. Sollen diese Idioten das, was Ruben und ich hier gerade erzählen, ruhig missverstehen. Immerhin wissen wir beide ja, wie es gemeint ist und dass zwischen uns nicht das ist, was hier alle vermuten.
 

Herr Schierling hüstelt ziemlich übertrieben und als ich zu ihm blicke, sehe ich, dass seine Mundwinkel verdächtig zucken. Offenbar amüsiert er sich ebenfalls köstlich über die geballte Dummheit unserer werten Klassenkameraden – eine Sache, die ihn mir gleich noch sympathischer macht. Ja, doch, mittlerweile weiß ich wieder, warum Herr Schierling eindeutig mein Lieblingslehrer ist. Er ist einfach nur klasse und man kann wirklich über alles mit ihm reden. Es ist nicht zu übersehen, dass er jetzt am liebsten laut loslachen würde, aber er beherrscht sich und stellt, nachdem er sich wieder komplett im Griff hat, noch ein paar weitere, allgemeine Fragen über den Ausflug, ohne auf Kevins dumme Bemerkung oder den Konter von Ruben und mir einzugehen.
 

So vergeht auch die letzte Stunde vor dem Sportunterricht für die Anderen, was aufgrund des Gipses ja noch den Schulschluss für Ruben und mich bedeutet. Sobald es klingelt, schnappen wir uns unser Zeug – eingepackt haben wir alles schon vor über zehn Minuten – und beeilen uns, von hier zu verschwinden. Auf eine weitere Konfrontation mit Kevin und Carsten legen wir nämlich beide keinen Wert. Das muss echt nicht sein.
 

Gemeinsam machen Ruben und ich uns auf den Weg zur Bushaltestelle, nehmen aber dieses Mal einen anderen Bus als letzte Woche, als wir direkt nach dem Unterricht zu mir gefahren sind. "Großartig beeilen müssen wir uns nicht. Christie und die Anderen haben heute bis zur sechsten Stunde Unterricht", teilt Ruben mir mit, sobald wir uns zusammen auf einen freien Zweierplatz gequetscht haben, und ich nicke darauf einfach nur.
 

Die Fahrt vergeht relativ zügig, aber das kann auch entweder eine Täuschung sein oder an Rubens wirklich ununterbrochenem Gequassel liegen. Er lässt mich nicht ein einziges Mal zu Wort kommen, aber das stört mich nicht. Im Gegenzug stört er sich netterweise auch nicht daran, dass ich immer wieder verträumt vor mich hin seufze oder selig-beduselt lächele, also sind wir wohl quitt.
 

Ich werde erst wieder aus meinen zugegebenermaßen ziemlich schwärmerisch-verträumten Gedanken gerissen, als Ruben irgendwann den Ärmel meiner Jacke packt und mich hinter sich her aus dem Bus schleift. "Wir müssen aufpassen, dass uns niemand erwischt, sonst kriegen wir Ärger", informiert er mich, hakt sich wie fast immer bei mir ein und zerrt mich in Richtung eines Gebäudes, das in einem wirklich unglaublich hässlichen Gelb gestrichen ist. Dagegen sind die roten Backsteine unserer Schule ja sogar fast hübsch. Na ja, zumindest sind sie ansehnlicher als dieses Pissgelb.
 

"Schicke Farbe, was?" Ruben grinst, als er meinen nicht unbedingt begeisterten Blick bemerkt. "Und das Gelb sieht jetzt schon richtig gut aus. Vor zwei Jahren, bevor sie gestrichen haben, war das ganze Teil hellgrün. Das sah mal so richtig scheiße aus, das kannst Du mir glauben", erzählt er mir, ohne sich die Mühe zu machen, sein Kichern zu unterdrücken. Ich stelle mir das Gebäude in Hellgrün vor, schüttele mich und muss Ruben zustimmen. Hellgrün ist aber auch einfach eine scheußliche Farbe. Eindeutig noch scheußlicher als gelb. Fast so scheußlich wie rosa.
 

"Mein Beileid an Deine Freunde, die ihren Augen jeden Tag diesen Anblick antun müssen", murmele ich und lasse mich von Ruben durch einen Seiteneingang auf den Schulhof schleifen. Allerdings macht er sich zu meiner Verwunderung nicht auf den Weg in das Gebäude hinein, sondern zieht mich hinter sich her zu den Fenstern der Klassenräume im Erdgeschoss. "Meine alte Klasse ist hier vorne, gleich der zweite Raum", wird mir mitgeteilt und als nächstes weist Ruben mich an, mich zu ducken und hinter ihm her zu schleichen. Zusammen mogeln wir uns an den ersten paar Fenstern vorbei und ich pralle um ein Haar mit Ruben zusammen, als er urplötzlich innehält.
 

"Bleib unten", flüstert er mir zu, richtet sich ein Stückchen auf und späht vorsichtig durch eins der Fenster seines alten Klassenraums. Was er da sieht, scheint ihn ziemlich zu erfreuen, denn er winkt mich zu sich hoch und klopft dann ans Fenster, das nur Sekunden später auch gleich aufgerissen wird. "Wo ist denn der Wegmann?", will Ruben von Yannick wissen, der sich grinsend halb aus dem Fenster hängt, als er uns beide sieht.
 

"Hi, Jan!", werde ich erst mal begrüßt und hebe die Hand, um den Gruß zu erwidern, aber Yannick ist schon wieder zu Ruben zurückgeschwenkt. "Der macht nebenan Vertretung. Wir sollen so lange ruhig sein und uns still beschäftigen", informiert er Ruben in einem Tonfall, der offenbar ihren Lehrer nachahmen soll, und stößt dann Nils an, der mit Kopfhörern in den Ohren auf dem Platz neben ihm sitzt und seine Nase in irgendeiner Zeitschrift hat. "Hey, Grummelzwerg, kuck mal, wer da ist!"
 

Nils grummelt tatsächlich, als Yannick ihm die Stöpsel nicht gerade rücksichtsvoll aus den Ohren reißt, grinst dann aber auch und winkt, als er Ruben und mich erkennt. "Wirst Du nostalgisch, Ruben? Oder wolltest Du Jan nur zeigen, wo Du vor Deinem Schulwechsel Dein Schülerdasein gefristet hast?", will Yannick neugierig wissen, aber Ruben antwortet ihm nicht. "Wo ist denn Christie?", erkundigt er sich stattdessen und reckt sich auf Zehenspitzen, um seinen Blick durch den Raum schweifen zu lassen. Ich tue es ihm gleich, aber ich kann Christie auch nirgendwo entdecken.
 

"Dein Gummibärchen ist gerade kurz draußen. Ilka wollte was mit ihm besprechen. Geht wahrscheinlich mal wieder um das Übliche", beantwortet Nils Rubens Frage und aus dem Augenwinkel kann ich erkennen, wie Ruben daraufhin das Gesicht verzieht. "Die Nächste auf der Liste, was?", fragt er seufzend und Yannick nickt. Dabei wird sein Grinsen noch ein ganzes Stück breiter. "Wundert's Dich etwa? Chris muss doch einfach nur da sein, damit die Mädels auf ihn fliegen. Er braucht ja noch nicht mal was zu sagen. Mädels stehen eben auf ernsthafte, ruhige und nette Typen."
 

"Ich weiß." Besonders begeistert klingt Ruben nicht, aber als die Tür des Klassenraums geöffnet wird und sein bester Freund zusammen mit einem etwas geknickt aussehenden, dunkelblonden Mädchen wieder hereinkommt, hellt sich sein Gesicht sofort wieder auf. "Hey, Christie!", macht Ruben nicht gerade leise auf uns aufmerksam und Christie blinzelt im ersten Moment etwas irritiert, lächelt dann aber, als er Ruben und mich erkennt.
 

"Was macht ihr Zwei denn jetzt schon hier?", will er wissen, sobald er sich zu uns ans Fenster durchgedrängelt hat, und Rubens Grinsen wird noch breiter und strahlender. "Was wohl? Wir wollten Dich abholen!", gibt er zu und Christie schüttelt schmunzelnd den Kopf. "Ich hab aber noch fast zwei Stunden Unterricht", teilt er uns das Offensichtliche mit und fängt sich dafür einen Stoß in die Seite von Yannick ein. "Der Wegmann kommt doch eh nicht wieder. Und wenn, dann merkt der garantiert nicht, dass Du weg bist, also hau schon ab", sagt er und Nils nickt bekräftigend.
 

"Und wenn er doch nach Dir fragt, dann sagen wir einfach, Dir wär schlecht geworden und Du wärst schon mal nach Hause gegangen", fügt er hinzu und Yannick grinst wieder. "Die Hausaufgaben kannst Du ja morgen von mir abschreiben", bietet er großzügig an und ich blinzele irritiert, als sowohl Ruben als auch Nils in schallendes Gelächter ausbrechen. "Nein, danke", lehnt Christie ab und ich kann sehen, dass an seinen Mundwinkeln ebenfalls ein Grinsen zupft. "Ob ich sie von Dir abschreibe oder ob ich sie überhaupt nicht mache, läuft auf das Gleiche hinaus."
 

"Du kannst auch von mir abschreiben. Oder Du rufst nachher eben an und ich geb sie Dir durch", mischt Nils sich ein und während Christie ihm dankbar zunickt, stößt Yannick sich von der Fensterbank ab und geht zu einem der anderen Tische. Dort packt er das herumliegende Zeug ein, kommt zurück und drückt Christie die gepackte Tasche in die Hand. "Hier. Und jetzt hau endlich ab. Du willst die zwei Ärmsten doch nicht wirklich noch bis zum Ende der sechsten Stunde da draußen rumstehen und festfrieren lassen, oder?", schürt er Christies schlechtes Gewissen und der schüttelt schnell den Kopf.
 

"Okay, dann bis morgen. Ich meld mich später wegen der Hausaufgaben." Mit diesen Worten reicht Christie seine Tasche aus dem Fenster an Ruben weiter und der zieht mich ein Stück zur Seite, damit sein bester Freund problemlos herausklettern kann. Sobald Christie wieder festen Boden unter den Füßen hat, gibt Ruben ihm seine Tasche zurück und hakt sich nach einem letzten Winken in Yannicks und Nils' Richtung bei Christie und mir gleichermaßen ein, um uns wieder zur Bushaltestelle zu schleifen.
 

"Was wollte Ilka denn gerade von Dir?", erkundigt er sich unterwegs bei seinem besten Freund und Christie lächelt ein bisschen verunglückt. "Was wohl?", murmelt er und seufzt leise. Irgendwie scheint ihm diese Frage ziemlich unangenehm zu sein, aber das merkt Ruben offenbar nicht. "Und was hast Du zu ihr gesagt?", bohrt er unerbittlich weiter nach und in seiner Stimme schwingt der gleiche merkwürdige Unterton mit wie in der ersten Pause, als er mich wegen des Kusses am Samstag gelöchert hat.
 

Mir kommt ein Gedanke, den ich im ersten Moment gleich wieder verwerfen will, aber ein kurzer Seitenblick in Rubens seltsam verkniffenes Gesicht lässt mich das Ganze noch mal überdenken. Könnte es vielleicht sein, dass ich mit meiner Vermutung möglicherweise doch nicht so falsch liege? Ja, sicher, es ist ziemlich abwegig, anzunehmen, dass Ruben eifersüchtig ist, aber je länger sich mein Hirn mit dieser Theorie beschäftigt, desto mehr spricht plötzlich dafür und desto überzeugter bin ich davon.
 

Rubens seltsame Reaktion heute morgen, als er mich über das Gefühl ausgefragt hat, von Christie geküsst zu werden, und auch sein komisches Gesicht gestern, als er Christie und mich geweckt und sich darüber beschwert hat, dass wir angeblich ohne ihn gekuschelt hätten ... Ich bin mir zwar nicht zu hundert Prozent sicher, aber je länger ich darüber nachdenke, desto weniger unglaubwürdig kommen mir meine Gedanken vor. Ob Ruben wirklich in Christie verliebt ist?
 

"Ich habe ihr gesagt, dass es mir wirklich leid tut, aber dass ich nicht interessiert bin", holt Christies Stimme mich wieder aus meinen Grübeleien und ich werfe einen schnellen Blick zu Ruben. Er sieht ziemlich erleichtert aus und dadurch fühle ich mich nur noch mehr in meinen Vermutungen bestätigt. Allerdings traue ich mich nicht, ihn jetzt darauf anzusprechen, sondern verschiebe das auf einen späteren Zeitpunkt, wenn wir ungestört sind. Ich will einfach wissen, ob ich mich täusche oder ob ich vielleicht doch richtig liege.
 

"Aha." Ruben reagiert ziemlich einsilbig, aber zumindest auf mich wirkt er trotzdem ein bisschen weniger angespannt als vorhin. Aber erst als der Bus kommt, wir einsteigen und uns gemeinsam auf einen Viererplatz quetschen, ist er wieder ganz der Alte. Er okkupiert wie nicht anders erwartet den Platz neben seinem besten Freund, lehnt sich an ihn und macht einen vollauf zufriedenen Eindruck, als Christie ihm kurz schmunzelnd durch die Haare wuschelt. Und spätestens jetzt bin ich mir wirklich sicher, dass ich mich nicht täusche. Das kann man doch einfach nicht mehr falsch verstehen, oder?
 

"Ich würd sagen, wir fahren erst mal zu mir. Ich meine, Simon ist ja eh noch nicht zu Hause", breche ich das Schweigen und muss unwillkürlich grinsen, als Ruben und Christie beinahe synchron nicken. Ruben bemerkt das als Erster und fängt prompt an zu kichern. Damit hört auch nicht mehr auf, bis wir meine Haltestelle erreicht haben. Gemeinsam steigen wir Drei da aus dem Bus, gehen zu mir und wie am letzten Montag muss ich auch heute Slim einfangen, der sich wieder mal zu verdrücken versucht, sobald ich die Wohnungstür aufschließe.
 

Dieses Mal vergesse ich meine Gastgeberpflichten allerdings nicht und nachdem wir alle mit Getränken eingedeckt sind – Hunger hat gerade niemand –, verkrümeln Ruben, Christie und ich uns in mein Zimmer, breiten uns da auf dem Boden aus und fangen schon mal mit unseren Hausaufgaben an. Dabei werden wir immer wieder mal von Slim gestört, der meine beiden Gäste erst misstrauisch, dann mit immer größer werdender Neugier beobachtet. Irgendwann traut er sich auch endlich, die beiden richtig zu begrüßen, und Ruben lacht, als mir die Bemerkung rausrutscht, dass der blöde Fellball sich bei Simon bisher noch nie so elend feige angestellt hat.
 

"Wundert mich gar nicht. Mein Bruder steht total auf Katzen. Und die fliegen auch irgendwie alle auf ihn", teilt Ruben mir mit, während er Slim voller Begeisterung krault und dafür natürlich auch gleich angeschnurrt und vollgehaart wird. "Er hat sich früher schon immer eine gewünscht, aber unsere Eltern waren dagegen. Würde mich echt überhaupt nicht wundern, wenn er sich jetzt bald eine eigene Katze zulegen würde. Immerhin kann ihm das ja jetzt wohl niemand mehr verbieten." Ruben klingt ein bisschen verbittert, beruhigt sich aber schnell wieder.
 

"Meine Mutter war auch dagegen, dass ich Slim nehme. Aber Franzi hat sie's erlaubt. Dabei kenn ich ihn schon viel länger als meine blöde Schwester. Ich war sogar dabei, als er geboren wurde. Seine Mutter Bessy ist Jassis Katze. Ich habe sogar seinen Namen ausgesucht, weil damals eigentlich schon fest abgesprochen war, dass ich ihn kriegen sollte, aber dann war Mama plötzlich doch nicht mehr damit einverstanden. Sie meinte, das wär zu anstrengend für mich." Ich kann mir ein genervtes Augenrollen nicht verkneifen. Diese Argumentation find ich auch nach zwei Jahren noch vollkommen lächerlich.
 

"Wieso denn zu anstrengend?", will Ruben neugierig wissen und als ich von meinen Mathesachen aufblicke, begegne ich zwei braunen Augenpaaren, die mich fragend ansehen. Ich überlege einen Moment, ob ich das wirklich erzählen soll, aber dann gebe ich mir einen Ruck. Nach allem, was ich gestern erfahren habe, ist ja wohl klar, dass sowohl Ruben als auch Christie mir vertrauen. Zeit, ihnen zu zeigen, dass das umgekehrt genauso ist.
 

"Ich hab einen Herzfehler. Von Geburt an. Deshalb war ich früher ziemlich oft im Krankenhaus, als ich noch jünger war. Inzwischen bin ich zwar so gut wie gesund, aber ich muss trotzdem noch ein bisschen aufpassen. Deshalb auch die Sportbefreiung. Und deshalb kriegt meine Mutter auch jedes Mal Panik, wenn ich nur mal nicht so gut drauf bin oder so. Sie glaubt dann immer sofort, dass wieder was mit meinem Herzen ist", erkläre ich also und Christie nickt verstehend, während Ruben die Wangen aufbläst.
 

"Das ist ja scheiße", entfährt es ihm und er runzelt nachdenklich die Stirn. "Aber das als Argument gegen ein Haustier zu nehmen ist doch Schwachsinn. Haustiere sollen doch sogar gut sein, soweit ich weiß. Und eine Katze ist ja auch kein Hund, mit dem Du ewig lange spazieren gehen müsstest. Totaler Blödsinn also, Dir das zu verbieten", bringt er genau die Argumente, mit denen ich meine Mutter vor zwei Jahren auch vergeblich zu überzeugen versucht habe.
 

"Aber sag mal, wissen die Deppen in unserer Klasse eigentlich darüber Bescheid?", schwenkt er dann auf ein anderes Thema um, noch ehe ich eine Antwort rausbringe. "Ich mein, wenn ja, dann sind das ja sogar noch größere Arschlöcher, als ich bisher schon dachte. Das ist doch gemeingefährlich, wenn die Dich immer so mobben und rumschubsen. Da könnte doch wer weiß was passieren!", ereifert er sich dann und ich schüttele den Kopf. "Außer Frau Römer weiß das keiner. Das wollte ich nicht", murmele ich und Ruben schnaubt.
 

"Ganz schön leichtsinnig von Dir. Aber okay, bei Kevin und seinem Idiotengefolge kann ich das verstehen. Bei denen würd ich an Deiner Stelle auch nicht wollen, dass die was wissen. Die sind doch für Vorsicht oder Rücksicht viel zu blöd", grummelt er weiter und ich kann ihm da nur zustimmen. Genau aus diesem Grund wollte ich auch nicht, dass meine Krankheit an die große Glocke gehängt wird. In meiner alten Klasse wussten alle Bescheid, aber meine alte Klasse bestand auch nicht zu neunzig Prozent aus Arschlöchern und Hohlbratzen. Bis auf Ruben kann man meine neue Klasse schließlich komplett in die Tonne kloppen.
 

"Lasst uns über was anderes reden, ja?", läute ich nicht sehr geschickt einen Themenwechsel ein, aber zu meiner Erleichterung gehen meine beiden Gäste auf meine ziemlich miese Ablenkung ein. Ruben schwenkt auf unser geplantes Referat um und ich krame in meinem Regal nach dem Buch, das Simon mir dafür geliehen hat und in das ich peinlicherweise noch nicht einen einzigen Blick geworfen habe. Ich habe es total verschwitzt, weil ich einfach viel zu sehr mit anderen Sachen beschäftigt war.
 

Meine Finger kribbeln, als ich das Buch berühre, aber ich zwinge mich, jetzt nicht an Simon zu denken, sondern mich stattdessen lieber auf die Realität zu konzentrieren. Ich strecke mich neben Ruben auf dem Boden aus und gemeinsam lesen wir uns die Einleitung durch, während Christie in seinem Geschichtsbuch blättert und irgendwelche Hausaufgaben macht. Allerdings steht sowohl für Ruben als auch für mich nach den ersten paar Seiten fest, dass wir doch lieber auf Simon warten und uns das ganze Prinzip des Satanismus von ihm erklären lassen wollen. Das ist sicher einfacher.
 

"Hier steht ganz schön viel über Sex drin", murmelt Ruben, nachdem er noch ein bisschen in der satanischen Bibel seines großen Bruders herumgeblättert und ein paar Sachen überflogen hat. Ich nicke mit hochrotem Kopf und bin froh, als ich höre, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wird. Das Thema ist mir einfach unglaublich peinlich. Ich kann da nicht so drüber reden. Ich kann ja nicht mal wirklich darüber nachdenken – auch, wenn ich damit vielleicht mal so langsam anfangen sollte. Immerhin hat Simon ja schon Erfahrung auf dem Gebiet und ich ... Oh, falsches Thema. Ganz, ganz, ganz falsches Thema!
 

"Jan?", höre ich meine Mutter aus dem Flur rufen und ich springe so hektisch auf, um sie zu begrüßen, dass ich mich noch fast der Länge nach auf die Fresse lege. Gerade noch rechtzeitig kann ich mich abfangen und verschwinde schleunigst aus meinem Zimmer, um Ruben und Christie keine Gelegenheit zu geben, mich dafür auszulachen, dass ich mich mal wieder so peinlich aufführe.
 

"Hast Du Besuch?", erkundigt Mama sich, während sie ihre Jacke auszieht und ihre Tasche in die Küche bringt, und ich nicke. "Ja, Ruben und Christie sind da. Wegen dem Referat. Habe ich Dir doch gestern erzählt. Wir wollten gleich rauf zu Simon", erkläre ich und hoffe, dass ich nicht allzu rot im Gesicht bin. Immerhin soll meine Mutter nach Möglichkeit noch nicht mitkriegen, dass ich ganz sicher nicht nur wegen des Referats zu Simon will, sondern vor allem, um wieder bei ihm zu sein. Heilige Scheiße, allein der Gedanke daran, dass er mich vielleicht wieder küsst, lässt die Temperatur hier in der Küche sprunghaft ansteigen. Oder vielleicht bin das auch nur ich, der hier halb verglüht und halb vergeht vor Sehnsucht. Ist ja auch egal.
 

"Aber nicht, dass ihr ihm auf die Nerven geht", holt meine Mutter mich wieder aus meinen Gedanken und ich blinzele irritiert ob ihres seltsam mahnenden Tonfalls. "Er möchte doch sicher ein bisschen Ruhe haben, wenn er gerade erst von der Arbeit kommt", vermutet sie weiter und ich schüttele hastig den Kopf. "Das geht schon in Ordnung. Simon hat ja selbst gesagt, dass wir gleich zu ihm kommen können", stelle ich schnell klar und versuche, mir das Augenrollen zu verkneifen. Manchmal ist meine Mutter einfach nur peinlich.
 

"Wenn das so ist, dann ist ja alles in Ordnung." Etwas fahrig kramt Mama in ihrer Handtasche herum und deutet dann auf ein kleines, in braunes Packpapier eingewickeltes Paket, das auf dem Küchentisch liegt und das mir vorhin schon aufgefallen ist, als ich die Getränke für uns alle geholt habe. "Aber bevor Du raufgehst, könntest Du mir noch einen Gefallen tun, Jan. Das Päckchen müsste nämlich zur Post", teilt sie mir mit und ich unterdrücke mit Mühe ein genervtes Seufzen. "Kannst Du das nicht selbst machen?", murre ich und schiele auf die Küchenuhr. Fast Viertel nach drei. Bis halb vier schaff ich's nie bis zur Post und zurück. "Oder kann das nicht wenigstens bis morgen warten?"
 

"Nein, kann es nicht." Mamas Stimme klingt ungewohnt streng und ihr Blick macht mir unmissverständlich klar, dass sie keine weitere Widerrede dulden wird. Geschlagen seufze ich, klemme mir das Päckchen unter den Arm und stiefele zurück in mein Zimmer, nachdem meine Mutter mir noch das Geld fürs Porto in die Hand gedrückt hat. Dabei fluche ich tonlos vor mich hin. War ja klar, dass es mal wieder mich trifft, wenn so ein Mist anfällt. Franzi, die blöde Kuh, hat das bestimmt gerochen und ist deshalb noch nicht hier. Und Vicky dürfte nicht mal dann alleine zur Post, wenn sie jetzt zu Hause wäre. Allerdings hat meine glückliche kleine Schwester ja gerade noch Ballettunterricht. Ganz schön unfair, echt. Immer bleibt so ein Scheiß an mir hängen.
 

In meinem Zimmer angekommen lasse ich das Päckchen, in dem glücklicherweise nichts Zerbrechliches drin zu sein scheint, missmutig auf mein Bett fallen und ernte dafür zwei fragende Blicke. "Ich muss noch für meine Mutter zur Post", beantworte ich die unausgesprochene Frage nach meiner plötzlich so miesen Laune und stopfe grummelig das Geld in mein Portemonnaie. "Aber bis halb vier schaff ich's nicht hin und zurück. Das ist immer so elend voll da", murre ich weiter und seufze abgrundtief. Kann meine Mutter sich so einen Mist nicht eher einfallen lassen? Wenn sie mir das blöde Paket heute Morgen schon mitgegeben hätte, hätte ich es gleich nach der Schule zur Post bringen können und könnte mir jetzt diesen Weg sparen. So ein Dreck.
 

"Wir können ja eben mitkommen. Dann musst Du nicht alleine gehen." Christies Angebot reißt mich wieder aus meinem inneren Monolog über die Ungerechtigkeit meines Lebens und als ich ihn verwundert anblicke, lächelt er mich an. "Das wär echt nett", rutscht es mir raus und ich grinse etwas verunglückt. Ich habe mich gerade mit meinem Gemotze wohl nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert. Habe ich ja mal wieder toll hingekriegt. Manchmal sollte ich mich echt selbst ganz kräftig treten.
 

"Okay, dann machen wir das so. Oder?", wendet Christie sich nach meiner Zustimmung an Ruben, doch zu Christies und meiner Verwunderung schüttelt der den Kopf. "Geht ihr ruhig. Ich geh dann schon mal nach oben und warte da auf Simon. Ich muss eh kurz was unter vier Augen mit ihm besprechen, also passt das schon", erwidert er seltsam ernst und Christie hebt fragend eine Braue. Er sagt allerdings nichts und stellt auch keine Fragen, sondern nickt nur und rappelt sich dann vom Boden auf.
 

"Ich nehm euer Zeug schon mal mit nach oben." Ruben fängt an, unseren auf dem Boden verstreuten Krempel zusammenzusammeln und sobald er damit fertig ist, schnappt er sich seinen und meinen Rucksack und Christies Tasche und stapft damit bewaffnet schon mal voraus in den Flur. Christie und ich folgen ihm etwas langsamer, ziehen uns unsere Jacken über und ich sage meiner Mutter noch eben Bescheid, dass wir danach gleich zu Simon nach oben gehen, ehe wir die Wohnung verlassen.
 

Slim macht sich das Gewusel zunutze, um ebenfalls zu türmen, aber zum Glück rennt er schnurstracks nach oben, also mache ich mir nicht die Mühe, ihn jetzt noch zu jagen und wieder zurückzubringen. Wenn er unbedingt auch zu Simon will, dann werde ich ihn nicht aufhalten. Ich habe ihn ja gestern schon nicht mitgenommen, da bin ich ihm das heute wohl irgendwie schuldig. Immerhin hat er Simon ja wohl echt vermisst. Das Tempo, mit dem er die Treppe raufsaust, spricht jedenfalls eine ziemlich eindeutige Sprache. Ich würde selbst am liebsten gleich hinterher sprinten, aber das verkneife ich mir. Das blöde Paket liefert sich ja nicht von alleine aus. Leider.
 

"Bis gleich. Ich sag Simon Bescheid, dass ihr Zwei später nachkommt", verabschiedet Ruben seinen besten Freund und mich und folgt Slim nach oben in den ersten Stock, während Christie und ich uns auf den Weg zur Post machen. Ich überlege kurz, ob es sich lohnt, die Bahn zu nehmen, entscheide mich dann aber doch dagegen. Bei dem Umweg, den die blöde Bahn nehmen muss, sind wir mit Sicherheit genauso schnell an der Post, wenn wir laufen.
 

Christie schließt sich mir kommentarlos an und schlendert neben mir her. Seine Hände hat er tief in den Taschen seiner Jacke vergraben. Er wirkt ziemlich nachdenklich und abwesend auf mich und ich ertappe mich dabei, ihn immer wieder von der Seite her zu beobachten. Irgendwie ist mir dieses Schweigen zwischen uns ziemlich unangenehm, aber so wirklich weiß ich nicht, was ich sagen soll, um es zu brechen.
 

"Sag mal, warum wolltest Du eigentlich heute zu Simon?", rutscht es mir schließlich nach ein paar hundert Metern doch noch heraus, als ich diese Stille einfach nicht mehr länger aushalte. Daraufhin trifft mich ein Blick aus dunkelbraunen Augen, die ein bisschen so wirken, als wäre ihr Besitzer mit seinen Gedanken ganz weit weg gewesen und gerade erst wieder in der Realität angekommen.
 

"Ich wollte ihn was wegen eines Songs fragen, den sie am Samstag in der Halle gespielt haben", kommt die Antwort mit etwas Verspätung und ich nicke leicht, weil mir darauf keine passende Erwiderung einfällt. "Du hast Simon bestimmt auch vermisst, oder? In den letzten drei Jahren, seit er von zu Hause ausgezogen ist, meine ich", höre ich mich selbst sagen, nur um zu verhindern, dass sich wieder Schweigen ausbreitet. Christie nickt als Antwort auf meine Vermutung und seufzt dann leise.
 

"Für mich war's zwar nicht so hart wie für Ruben, aber mir hat Simon auch ganz schön gefehlt. Er war immer auch ein bisschen so was wie mein großer Bruder, auch wenn wir nicht miteinander verwandt sind. Er ... Na ja, er war früher immer da, wenn Ruben oder ich Hilfe brauchten, und dann war er von einem Tag auf den anderen ganz plötzlich weg. Schön war das wirklich nicht – vor allem, weil Uli, Rubens Vater, schon total sauer geworden ist, wenn irgendjemand auch nur mal versehentlich Simons Namen erwähnt hat."
 

Für einen Moment verzieht Christie das Gesicht, dann schüttelt er ganz leicht den Kopf und seufzt erneut. Offenbar habe ich mit meiner Frage einen ziemlich empfindlichen Punkt getroffen. Na super. Ich bin doch echt ein Trottel. Aber so sehr ich mich auch einerseits dafür schäme, so sehr möchte ich andererseits auch noch mehr hören. Immerhin reden ja weder Ruben noch Simon wirklich gerne über ihre Eltern – was ich durchaus verstehen kann. Trotzdem habe ich einfach das Gefühl, dass ich den beiden vielleicht auch ein bisschen besser helfen kann, wenn ich mehr über die ganze Situation weiß.
 

"Wenn Uli wüsste, dass Ruben in den letzten zweieinhalb Jahren mehr oder weniger regelmäßig per Brief Kontakt mit seinem großen Bruder hatte, würde er total ausflippen", holt Christies Stimme mich wieder aus meinen Gedanken. "Simon ist bei Ruben zu Hause auch heute noch ein echtes Tabuthema. Es gibt im ganzen Haus nicht mal mehr ein einziges Foto, auf dem er mit drauf ist. Die hat Uli alle ausgetauscht. Wer heute zu Ruben nach Hause kommt und nichts von Simon weiß, kriegt den Eindruck, dass Ruben Einzelkind ist. Simons altes Zimmer gibt's auch nicht mehr. Alles, was jemals an Simon erinnert hat, ist weg."
 

"Wie scheiße ist das denn?", entfährt es mir ungewollt und ich zucke aufgrund der Lautstärke meiner eigenen Stimme zusammen. Christie hingegen nickt nur. "Ich finde das auch mies. Ruben und Simon haben schon früher total aneinander gehangen. Schon immer. Uli hat Simon den Kontakt zu Ruben auch nur verboten, weil er wusste, dass er Simon damit wirklich treffen würde. Aber er hat nicht eine Sekunde lang daran gedacht, dass er damit nicht nur seinem "missratenen" Sohn Simon, sondern auch Ruben verdammt weh tut. Aber darüber kann man mit Uli nicht vernünftig reden. Er macht immer total dicht, wenn das Thema Simon zur Sprache kommt. Und er ist schließlich immer noch Rubens Vater, also ist da echt nichts zu machen", murmelt er resigniert, aber in seiner Stimme schwingt auch noch ein anderer Unterton mit: Unterdrückte Wut. Ganz offenbar ist er wegen dieser ganzen Sache wirklich sauer auf Rubens Vater. Aber klar, Ruben ist ja schließlich sein bester Freund. Da ist es nur logisch, dass ihm das nahe geht.
 

"Meine Eltern haben zu Hause noch einen großen Karton voll mit alten Fotos von Simon, Ruben und mir. Oft, wenn Ruben bei uns ist, sitzt er entweder bei meiner Mutter in der Küche oder bei meinem Vater im Wohnzimmer und lässt sich die ganzen alten Geschichten von früher erzählen, als wir noch klein waren. Er kennt jede einzelne von diesen Geschichten eigentlich schon in- und auswendig, aber er will sie trotzdem immer wieder hören. Und in meinem Zimmer hat er eine Kiste, in der die aktuelleren Fotos von Simon sind – die, die er von Flo bekommen hat. Da bewahrt er auch die Briefe auf, die Simon ihm in den letzten Jahren geschrieben hat. Ganz schön traurig, aber er hat Angst, sie mit nach Hause zu nehmen, weil sein Vater sie da finden könnte. Uli weiß bis heute nicht, dass Rubens "Brieffreund" eigentlich Simon ist, und das soll nach Möglichkeit auch so bleiben."
 

"Wie geht das denn?", hake ich neugierig nach und sehe Christie mit schiefgelegtem Kopf an. "Das war Flos Idee", erzählt er mir und weicht geschickt einer alten Oma aus, die uns mit ihrem kleinen Hund entgegenkommt. "Kurz nachdem Simon und er sich damals kennen gelernt haben, hat Flo Ruben mal von der Schule abgeholt und für ihn ein heimliches Treffen mit Simon arrangiert. Bei der Gelegenheit hat er sich Rubens Adresse geben lassen und zwei Tage später hat Ruben dann einen Brief gekriegt. Da stand lauter harmloses Zeug drin, damit niemand Verdacht schöpft, aber Flo hat trotzdem deutlich genug durchblicken lassen, dass er alles, was Ruben seinem Bruder schreiben wollte, an Simon weiterleiten würde."
 

Bei diesen Worten schleicht sich ein leichtes Lächeln auf Christies Lippen und seine Augen leuchten bei der Erinnerung auf. "Ruben kam damals total aufgekratzt mit dem Brief zu mir und wir haben zusammen die Antwort verfasst, weil er das zu Hause nicht machen wollte. Und seitdem hat Ruben fast jede Woche über Flo einen Brief von Simon gekriegt. Flo hat hin und wieder auch ein bisschen was geschrieben, aber meistens hat er einfach nur ein paar Fotos von Simon beigelegt und da draufgekritzelt, wann und wo sie entstanden sind", führt er weiter aus und schiebt noch ein leises "Ich weiß nicht, wie Ruben die letzten Jahre ohne diese Briefe überstanden hätte" hinterher, das mich hart schlucken lässt.
 

Das klingt wirklich gar nicht gut. Und wenn es für Ruben schon so schlimm war, dann will ich mir lieber gar nicht vorstellen, wie hart das Ganze erst für Simon gewesen sein muss. Ich kenne den Vater der beiden zwar immer noch nicht persönlich, aber ich weiß jetzt schon, dass ich ihn definitiv nicht leiden kann. Wie kann ein einzelner Mensch nur so verdammt arschig sein? Dagegen ist ja selbst mein Erzeuger noch ein Ausbund an Nettigkeit!
 

"Das ist echt scheiße", nuschele ich leise und Christie nickt zustimmend. "Allerdings. Aber jetzt geht's ja. Immerhin können sie sich ja jetzt ein bisschen öfter sehen – nicht zuletzt Deinetwegen", erwidert er und streicht sich etwas verlegen durch die Haare. "Das soll jetzt aber nicht heißen, dass Du nur Mittel zum Zweck bist oder so. So ein Mensch ist Ruben nicht. Er mag Dich wirklich. Sehr sogar", schiebt er hastig hinterher und ich winke ab, so gut mir das mit dem blöden Paket in den Händen möglich ist.
 

"Schon okay. Das weiß ich doch. Und ich kann voll und ganz verstehen, dass Ruben sich über die Möglichkeit freut, Simon zu sehen. Würd ich auch, wenn ich an seiner Stelle wär. Das stört mich echt nicht", gebe ich zurück und meine das vollkommen ernst. Ich gönne es Ruben wirklich von ganzem Herzen, dass er jetzt endlich wieder mehr Kontakt zu seinem großen Bruder hat. Immerhin mag ich ihn ja auch sehr. Und Simon ... Na ja, das ist definitiv mehr als mögen. Viel, viel mehr.
 

Mit zur Abwechslung mal wieder knallrotem Gesicht latsche ich weiter neben Christie her und bin regelrecht froh, als die Postfiliale endlich in Sicht kommt. Etwas hektisch betrete ich das Gebäude, aber Christie lacht mich nicht dafür aus. Er schmunzelt nicht mal, sondern bleibt einfach nur neben mir und benimmt sich ganz so, als gäbe es nichts Ungewöhnliches daran, neben einer Tomate in Menschenform wie mir in der Schlange vor dem Postschalter zu stehen. Und genau dafür, das gebe ich ehrlich zu, mag ich ihn wirklich.
 

Irgendwie bin ich fast schon froh, dass er jetzt gerade dabei ist und nicht Ruben. Sicher, ich habe Ruben echt gern, aber er würde mich bestimmt mit meinem überaus schicken Tomatenfarbton aufziehen. Christie hingegen tut das nicht und dafür bin ich ihm wirklich dankbar. Dabei kann er sich sicher denken, warum ich schon wieder mal so rot bin. Immerhin war er ja schließlich schon mal verliebt und hatte auch schon eine Beziehung. Damit hat er mir Einiges voraus. Das mit Simon ist schließlich für mich das erste Mal, dass ich überhaupt solche Gefühle habe.
 

Der Gedanke an Christie und Marie-Claire weckt in mir ungewollt wieder die Fragen, die ich mir schon am Samstag gestellt habe: Warum haben die Zwei sich getrennt und in wen ist Christie so unglücklich verliebt, wenn nicht in seine Exfreundin? Und darf ich ihm diese Fragen überhaupt stellen? Ja, sicher, wir sind Freunde, aber besonders lange kennen wir uns ja noch nicht. Und gerade dieses Thema ist ja nun doch ziemlich heikel. Andererseits, geht es mir durch den Kopf, hat er mir gestern die Sache mit seiner leiblichen Mutter ohne Zwang erzählt, obwohl er das auch hätte für sich behalten können. Und er hat mir auch ein bisschen mehr über Simon, Ruben und ihre Familienverhältnisse erzählt. Das heißt doch wohl, dass er mir wirklich vertraut, oder nicht?
 

Ich will gerade den Mund aufmachen, um mal wieder indiskret zu sein, als Christie mich antippt. "Du bist dran", macht er mich aufmerksam und ich hieve das Päckchen meiner Mutter auf den Tresen, um das benötigte Porto ermitteln zu lassen. Die Frau hinter dem Schalter wirkt gelangweilt und genervt zugleich und ich bin froh, als ich endlich fertig bin und gehen kann.
 

Christie hält sich auch jetzt neben mir, aber irgendwie ist die Stimmung nicht mehr nach persönlichen Fragen. Aus diesem Grund beschließe ich auch, jetzt nicht nach Hause zu laufen, sondern die Bahn zu nehmen. Die trödelt zwar ziemlich, aber es ist mittlerweile eh schon nach vier, also kommen wir so oder so zu spät. Da können wir uns auch ein kleines bisschen Komfort gönnen und uns die elende Latscherei ersparen. Ich habe darauf jedenfalls erst mal keinen Bock mehr.
 

~*~
 

Doofer Cliffi, ich weiß, aber morgen oder so gibt's gleich das nächste Kapitel, also wird das hoffentlich nicht so schlimm sein.
 

By the way, wer von euch auf die ENS-Liste will zwecks Benachrichtigungen, einfach Bescheid sagen, ja?
 

Bis zum nächsten Mal!

*wink*
 

Karma

Von kleinen und großen Eifersüchteleien, überraschenden Bitten und purer Seligkeit

So, da ich euch nicht allzu lange auf die Auflösung des Cliffis aus dem letzten Kapitel warten lassen wollte, gibt's hier gleich das neue.

^_____^
 

@Reiko_Akanami: Das mit Ruben war doch irgendwie logisch, nicht wahr?

^.~

*kicher*

Und was das Jucken in den Fingern betrifft: Du hast Recht, das treibt mich in den Wahnsinn. Jetzt müsste ich nur einen vernünftigen Anfang für Kapitel 21 finden ...

*seufz*

Drück mir die Daumen, ja?
 

@abgemeldet: Kein Problem. Vielleicht fällt Dir ja beim nächsten Mal wieder mehr ein.

^____^
 

@Midnight: Ja, die ganze Ruben-Simon-Vater-Kiste ist schon ziemlich deprimierend. Und es wird da eher schlechter als besser.

^^°

Aber was Deine Vermutung bezüglich Ruben und Christie betrifft, sage ich nichts. Meine Lippen sind versiegelt.

*mir den Mund zukleb*
 

@Inan: Ich find Ruben auch niedlich, wenn er so drauf ist wie im Moment. Aber inwiefern er eifersüchtig ist und was genau er Simon erzählt ... Lass Dich überraschen.

^____^
 

@Wanda_Maximoff: Ein neues Gesicht. Da freu ich mich doch.

*____*

Und ich freu mich natürlich auch darüber, dass Du die Story und die Charaktere magst. Solche Komplimente kriegt doch jeder Schreiber gerne, also danke dafür.
 

@Leen: Wie's weitergeht, erfährst Du hier und heute. Du weisst ja mittlerweile, wie fickerig ich im Bezug aufs Hochladen bin, nicht wahr?

*hust*

*zu Sing to me und Nothing else matters schiel*

^.~

Ich hoffe nur, dieses Mal brauchst Du keine Taschentücher.

^^°

Übrigens hast Du mich mit Deiner Spekulation bezüglich Christie und Mo fett zum Grinsen gebracht. Ich hab ja mit vielem gerechnet, aber damit ganz sicher nicht.

XD

Nyan, und was Jans Herzfehler betrifft ... Lass Dich überraschen. Du wirst es erleben - früher oder später.

*pfeif*
 

@Aschra: Jaja, Ruben ist toll. Gerade für solche Aktionen liebe ich ihn. Ich hab Kevins dummes Gesicht beim Schreiben förmlich vor mir gesehen.

*kicher*

Nyan, und seine Eifersucht ...

*mich in Schweigen hüll*

Du weisst ja Bescheid, nicht wahr?
 

@Khaosprinzessin: Ich bezweifle zwar, dass ich das Tempo halten kann, aber trotzdem geht's jetzt gleich schon wieder weiter. Und danke für's Suchen meiner Schreiblust. Sie war kurzzeitig da, aber ich konnte sie leider nicht einfangen.

*Falle aus Karton, Bindfaden, Stöckchen und Keksen bastel*

Vielleicht hilft das ja.

*hoff*
 

So, genug gelabert. Ich hoffe, ihr werdet das Kapitel mögen. Ich persönlich mag es, weil mein heimlicher Held mal wieder zum Zug kommt.

*Flo puschel*
 

Enjoy!
 

Karma
 

~*~
 

Auf dem Weg zur Haltestelle unterhalten Christie und ich uns über irgendwelches belangloses Zeug. Als die Bahn kommt und wir einsteigen, lacht er gerade über meine Schilderung von Rubens SpongeBob-Wecker als ultimatives Höllengerät of Doom, aber noch ehe wir uns einen Platz suchen und uns hinsetzen können, werde ich von hinten angetippt. Etwas überrascht drehe ich mich halb um und kippe vor Schreck fast aus den Latschen, als ausgerechnet Flo mich breit angrinst. Was macht der denn hier? Muss der nicht arbeiten oder so?
 

"Hey, Kurzer!", begrüßt Flo mich fröhlich und nickt auch Christie kurz grüßend zu. "Na, auf dem Weg nach Hause?", erkundigt er sich dann weiter und ich nicke einfach nur, weil ich von diesem zufälligen Treffen – das hoffentlich auch wirklich zufällig ist – noch etwas überrumpelt bin. "Trifft sich gut. Dann kann ich mich ja an euch dranhängen. Ich wollte nämlich kurz zu Simon und ihm was von meiner Ma bringen", erklärt Flo sein Hiersein und für einen Moment flackert meine Eifersucht wieder auf.
 

Das entgeht Flo offenbar nicht, denn er schmunzelt kurz und wuschelt mir dann durch die Haare. "Keine Angst, Kurzer. Ich hab Dir doch gestern schon gesagt, dass da nichts mehr ist. Und selbst wenn ich noch was von Simon wollen würde – was definitiv nicht der Fall ist –, dann hätte ich keine Chance mehr. Schließlich hat er jetzt Dich. An mir hat er kein Interesse mehr. Wir sind nur noch Freunde, das ist alles", beruhigt er mich und ich gebe mir Mühe, nicht allzu offensichtlich aufzuatmen. Das wär mir auch vor Christie einfach viel zu peinlich.
 

Allerdings hab ich irgendwie das blöde Gefühl, dass Flo mich ganz genau durchschaut. Er zwinkert mir jedenfalls verschwörerisch zu und macht auch sonst einen absolut blendend gelaunten Eindruck, während ich schon wieder in schönstem Rot vor mich hin leuchte. Das ist so elend peinlich, dass ich mich am liebsten irgendwo verstecken würde, aber ich kann das einfach nicht abstellen. Ich hoffe nur, dass das irgendwann mal von selbst aufhört. Aber irgendwie glaube ich da nicht richtig dran.
 

Ich bin regelrecht froh, als wir endlich die richtige Haltestelle erreicht haben. Gemeinsam steigen wir Drei aus der Bahn und während Flo und Christie sich über irgendwelche Musik unterhalten, die ich nicht kenne, schiebe ich meine Hände in die Taschen meiner Jacke und latsche schweigend neben den beiden her. Bei den Bands und Songs, über die sie sprechen, kann ich sowieso nicht mitreden, also halte ich einfach die Klappe. Lieber sag ich gar nichts, als dass ich mich mal wieder komplett blamiere. Das hatte ich schon oft genug. Noch öfter muss echt nicht sein.
 

Als unser Wohnhaus vor uns auftaucht, huscht mein Blick ohne mein bewusstes Zutun zum Fenster von Simons Wohnzimmer und ich werde wieder rot, weil ich mich unwillkürlich an gestern erinnere, als wir gemeinsam dort gestanden und Flo nachgesehen haben, wie er sich nach seiner Einschließaktion aus dem Staub gemacht hat. Um mir von meinen Gedanken und auch von meiner plötzlichen Nervosität nur ja nichts anmerken zu lassen, krame ich meinen Schlüssel aus meiner Tasche, schließe die Tür auf und mache mich gleich auf den Weg nach oben in den ersten Stock. Ich kann hören, dass Flo und Christie mir folgen, aber ich sehe mich nicht nach ihnen um. Ich will nicht, dass sie merken, dass ich schon wieder Tomate spiele. Das können sie sich zwar wahrscheinlich denken, aber denken und wissen sind immer noch zwei Paar Schuhe.
 

Oben vor Simons Wohnungstür angekommen stelle ich zu meiner Verwunderung fest, dass der Schlüssel von außen steckt. In Augenhöhe auf dem Holz der Tür klebt ein kleiner gelber Zettel, auf dem in Simons ordentlicher Handschrift Kommt einfach rein steht und ich schlucke einmal, ehe ich die Tür öffne und die Wohnung betrete. Meine Jacke hänge ich an die Garderobe und auf dem Weg ins Wohnzimmer klopft mir mein Herz bis zum Hals. Ich freu mich wirklich unheimlich darauf, Simon wiederzusehen, aber gleichzeitig habe ich auch irgendwie Schiss davor. Total bescheuert, ich weiß, aber ich kann das einfach nicht abstellen. Wenn wir alleine wären, wär ich sicher weniger nervös, aber wir sind ja jetzt nicht alleine. Und der Gedanke daran, dass Ruben, Christie und auch Flo ganz genau über Simon und mich Bescheid wissen, lässt meine Handflächen ganz feucht werden. Hilfe!
 

Etwas zögerlich betrete ich das Wohnzimmer und bei dem Anblick, der sich mir da bietet – Ruben, der an seinen großen Bruder gekuschelt auf der Couch hockt und leise mit ihm spricht, während Simon ihm sanft über den Rücken streichelt –, verspüre ich gleich wieder einen leichten Stich, den ich sofort zu verdrängen versuche. Ich meine, es ist ja wohl lächerlich, eifersüchtig auf Ruben zu sein, oder? Immerhin ist er Simons kleiner Bruder. Vollkommen normal, dass er so an Simon klebt, nachdem er ihn jahrelang vermissen musste. Vicky ist ja bei mir genauso. Rein logisch betrachtet weiß ich das alles, aber trotzdem würde ich jetzt nur zu gerne mit Ruben tauschen. Scheiße.
 

"Hey, Simon." Breit grinsend schiebt Flo sich an mir vorbei und wirft die Tüte, die er schon die ganze Zeit mit sich rumgeschleppt hat, neben Simon auf die Couch. Dafür fängt er sich einen bösen Blick und ein sehr ungnädiges Fauchen von Slim ein, der es sich auf Simons Schoß bequem gemacht hat und sich von der "Attacke" der Plastiktüte offensichtlich mehr als gestört fühlt. Allerdings verlässt er seinen Platz nicht und macht auch keine Anstalten, Simon so zu zerkratzen, wie er das bei mir garantiert tun würde. Mistvieh.
 

Flo lässt sich von Slims Gezicke allerdings nicht beeindrucken, sondern umrundet die Couch und wuschelt Ruben ebenso durch die Haare, wie er es vorhin bei mir gemacht hat. Dabei ruht seine Aufmerksamkeit allerdings voll auf Simon und ich würde am liebsten dazwischengehen. Da ich mich damit aber nur wieder total blamieren würde, verkneife ich mir das und bleibe einfach stehen, obwohl ich Flo am liebsten rauswerfen würde. Ich mag es einfach nicht, wenn er Simon so nah ist. Muss das eigentlich wirklich unbedingt sein? Oder macht er das vielleicht absichtlich, um mich zu ärgern?
 

"Die Hose ist noch nicht fertig, soll ich Dir ausrichten, aber das Hemd sollte ich Dir schon mal vorbeibringen, damit Du's schon mal anprobieren kannst. Und ich soll Dich von Vally, Micha und Sarah grüßen." Flo grinst schon wieder und ich möchte ihn jetzt wirklich gerne erwürgen. Allerdings würde ich das wohl kaum schaffen. Immerhin ist er ein ganzes Stück größer und mit Sicherheit auch um einiges stärker als ich. So ein Scheiß, echt.
 

"Danke." Simon lächelt leicht und ein Teil von mir schmilzt regelrecht dahin, während ein anderer Teil von mir unhörbar mit den Zähnen knirscht, weil dieses Lächeln ganz offensichtlich nicht mir gilt, sondern Flo. Und auch wenn die Zwei hundertmal nur noch Freunde sind, mir gefällt das trotzdem nicht. "Kein Ding. Aber ich muss jetzt auch gleich wieder los. Ich hab heute Spätschicht." Damit stößt Flo sich wieder von der Couch ab, zerstrubbelt Ruben noch mal ganz gehörig die Frisur und sieht mich dann so plötzlich an, dass ich gleich wieder rot werde. Ich habe das blöde und absolut peinliche Gefühl, dass Flo mir meine Eifersucht nur allzu deutlich ansieht. Das ist mir echt unangenehm, aber ich kann es leider nicht ändern.
 

"Kann ich Dich mal einen Moment sprechen, Kurzer? Draußen, unter vier Augen?", fragt er mich im Vorbeigehen leise und ich würde ihm am liebsten einen Vogel zeigen. Stattdessen nicke ich aber nur und folge ihm dann in Richtung Wohnungstür. Irgendwie bin ich ja schon ein bisschen neugierig darauf, was er von mir will. "Ich leih mir Deinen Süßen mal ganz kurz aus, Simon. Dauert auch nicht lange. Du kriegst ihn ganz schnell und vollkommen unbeschadet wieder zurück. Versprochen!", ruft Flo Simon über seine Schulter hinweg zu, aber bevor ich mich umdrehen und mir Simons Reaktion auf diese Worte ansehen kann, werde ich auch schon an den Schultern gepackt und aus der Wohnung in den Hausflur geschoben.
 

Flo zieht die Wohnungstür hinter uns beiden zu, aber da der Schlüssel immer noch steckt – offenbar hat Flo das hier geplant und den Schlüssel deshalb vorhin nicht abgezogen, schießt es mir unsinnigerweise durch den Kopf –, werd ich gleich kein Problem damit haben, wieder in Simons Wohnung reinzukommen. "Und ... was willst Du jetzt von mir?", erkundige ich mich verwirrt und neugierig zugleich und blinzele irritiert, denn statt des fast schon allgegenwärtigen Grinsens, das Flo sonst immer spazieren trägt, trifft mich jetzt ein seltsam ernster, forschender Blick, der meinen Puls ganz schön in die Höhe schnellen lässt. Was ist denn jetzt kaputt?
 

"Ich hab ne Bitte an Dich, Kurzer", setzt Flo zu einer Antwort an, fährt sich durch die Haare und lehnt sich dann rücklings an das Treppengeländer, so dass er mich ansehen kann. "Das ist jetzt vielleicht ein bisschen komisch, aber ich möchte, dass Du mir eine Sache ganz fest versprichst: Immer, wenn Du der Meinung bist, dass Simon es braucht, dann nimm ihn in den Arm – ganz egal, was er sagt und wie er darauf reagiert. Und lass ihn nicht los, auch wenn er noch so steif und fest behauptet, dass alles in Ordnung ist und dass es ihm gut geht, okay?", bittet er mich dann und ich kann ihn nur stumm anblinzeln. Habe ich das jetzt richtig verstanden? Versucht Flo – Simons Exfreund – gerade wirklich, mir Tipps zu geben? Oder verstehe ich das hier jetzt total falsch? Verdammt, ich kapiere echt gar nichts mehr!
 

"Du hast ja sicher auch schon mitgekriegt, dass es bei Simon in der Familie nicht wirklich rund läuft", holt Flos Stimme mich wieder aus meinen Gedanken und ich nicke nur, weil ich nicht weiß, was ich sonst dazu sagen soll. "Und deshalb kannst Du Dir bestimmt auch denken, dass er zu Hause von seinen Eltern nicht gerade mit Zuneigung überschüttet worden ist. Simon ist nicht der Typ Mensch, der das freiwillig zugibt, aber manchmal braucht er einfach jemanden, der ihn mal in den Arm nimmt und ihm zeigt, dass er wichtig ist. Bisher war das immer meine Aufgabe, aber ich denke, es ist besser, wenn Du das von jetzt an übernimmst. Mein Freund ist ziemlich eifersüchtig und Dir ist es doch bestimmt auch nicht recht, wenn ich weiter so oft hier bei Simon bin. Außerdem wohnst Du auch näher, also kannst Du schneller bei ihm sein und Dich um ihn kümmern, wenn er Dich braucht. Versprichst Du mir das, Jan?"
 

An Flos Tonfall kann ich deutlich hören, dass er das, was er gerade gesagt hat, vollkommen ernst meint. Noch mehr überzeugt mich davon allerdings die Tatsache, dass er mich zum ersten Mal mit meinem Namen angesprochen hat. Grünbraune Augen mustern mich fragend und eindringlich zugleich und ich bin zugegebenermaßen mehr als nur ein bisschen sprachlos. Nur ein völliger Idiot würde nicht merken, dass Simon Flo wirklich sehr viel bedeutet, obwohl sie jetzt schon so lange nicht mehr zusammen sind.
 

Einerseits, das muss ich zu meiner Schande gestehen, facht das meine Eifersucht gleich wieder an, aber andererseits bin ich auch irgendwie stolz darauf, dass Flo ausgerechnet mich darum bittet, für Simon da zu sein, wenn er Hilfe braucht. Das zeigt mir, dass Flo meine Gefühle nicht nur versteht, sondern dass er sie auch ernstnimmt. Immerhin weiß er offensichtlich ganz genau, dass ich eifersüchtig auf ihn bin, aber er nimmt mir das scheinbar kein bisschen übel. Irgendwie glaube ich, er ist echt kein schlechter Kerl. Und vielleicht schaffe ich es ja irgendwann sogar mal, mich mit ihm zu verstehen, wenn ich meine blöde, offensichtlich vollkommen überflüssige Eifersucht endlich im Griff hab.
 

"Ich versprech's", höre ich mich selbst sagen und auf Flos Lippen schleicht sich ein Lächeln. "Dachte ich mir doch gleich, dass ich mich da auf Dich verlassen kann", murmelt er, stößt sich vom Geländer ab und drückt mich im nächsten Moment einmal kurz an sich. Ich bin davon so überrumpelt, dass ich nicht auf diese plötzliche Umarmung reagiere, aber das scheint Flo mir nicht krumm zu nehmen. Er lässt mich einfach nur wieder los, wuschelt mir noch mal durch die Haare und zwinkert mir dann zu.
 

"So, und nachdem das geklärt ist, hab ich noch einen heißen Tipp für Dich, wie Du Deinem Süßen ein bisschen Entspannung verschaffen kannst, wenn er mal wieder so nen richtig langen, stressigen Tag hatte", sagt er dann und grinst breit, als ich beim Stichwort "Entspannung" sofort knallrot anlaufe. "Also das meinte ich jetzt eigentlich nicht. Klar, Sex entspannt natürlich auch – sehr gut sogar, das kannst Du mir glauben –, aber ich schätze, so weit bist Du noch lange nicht. Nein, der Tipp, den ich Dir geben wollte, ist garantiert hundertprozentig jugendfrei", erklärt er mir feixend und ich wünsche mir mal wieder ein Loch im Boden, um mich darin zu verkriechen. Allerdings wird mein Wunsch wie üblich ignoriert, was mir ein resigniertes Seufzen entlockt. Manchmal hasst das Universum mich eben doch.
 

"Simon mag's unheimlich, wenn man ihn ein bisschen krault. Kraul ihm den Nacken und er ist wie Wachs in Deinen Händen. Probier's bei Gelegenheit ruhig mal aus, Kurzer." Wieder zwinkert Flo mir zu, grinst mich noch einmal an und gibt mir dann einen leichten Schubs in Richtung der Wohnungstür. "Aber jetzt solltest Du vielleicht langsam wieder reingehen. Sonst frisst Dein Freund mich nachher noch auf, weil er glaubt, dass ich hier draußen irgendwas Unanständiges mit Dir anstelle", sagt er dabei und unterdrückt mühsam ein Lachen, als ich gleich noch röter werde.
 

"Äh ... bis dann", verabschiede ich mich gewohnheitsmäßig und etwas verstört und während Flo sich auf den Weg nach draußen macht, schließe ich Simons Wohnungstür wieder auf und tapse zurück in sein Wohnzimmer, wo mich gleich drei Augenpaare fragend ansehen. "Was wollte Flo denn von Dir?", erkundigt Ruben sich sofort neugierig und ich schlucke schwer. "N-Nichts Wichtiges", nuschele ich, schaffe es aber nicht, einem der Drei in die Augen zu sehen.
 

"Ach, Mist, jetzt hab ich doch glatt vergessen, ihn wegen seinem neuen Freund auszuquetschen!", platzt Ruben heraus und ich blicke nun doch wieder auf, etwas irritiert von dem plötzlichen Themenwechsel. "Kennst Du Flos neuen Freund eigentlich schon, Simon?", wendet Ruben sich an seinen Bruder und der schüttelt den Kopf. "Bis jetzt noch nicht, nein. Aber laut Flos Reden muss sein Ray für ihn wohl der Traummann schlechthin sein", erwidert er schmunzelnd und mir fällt unwillkürlich ein Stein vom Herzen, weil seine Stimme dabei nicht so klingt, als würde es ihn stören, dass Flo jetzt mit einem Anderen zusammen ist. Simon klingt genau wie Jassi gestern Abend – ganz so, als würde er seinem besten Freund sein Glück von ganzem Herzen gönnen. Mein Herzschlag beschleunigt sich rasant, denn das kann ja eigentlich nur eins bedeuten: Dass ihm an mir wirklich mehr liegt als an Flo. Heilige Scheiße, ich glaube, ich muss mich setzen, damit ich nicht umkippe!
 

Etwas zittrig lasse ich mich in den letzten freien Sessel sinken – in dem anderen sitzt Christie – und atme tief durch, um mich wieder einigermaßen zu beruhigen. Gerade als mir das allerdings so halbwegs gelungen ist, zieht Simon seinen Arm von Rubens Schulter, hebt Slim von seinem Schoß und steht von der Couch auf. Dann nimmt er die Tüte, die Flo ihm vorhin mitgebracht hat, und bringt sie in sein Schlafzimmer. Ich blicke ihm nach und kämpfe mühsam den Drang nieder, ihm zu folgen. Immerhin haben wir uns noch gar nicht richtig begrüßt. Bin ich der Einzige von uns, dem das zu schaffen macht?
 

"Du kuckst total verliebt aus der Wäsche." Ruben kichert, als ich erschrocken zu ihm herumfahre. Seine braunen Augen funkeln vergnügt und er schnappt sich Slim, um ihn ordentlich durchzuknuddeln, was der Kater of Doom natürlich total toll findet. "Was denn? Ist doch nicht schlimm. Im Gegenteil. Ich find das gut. Sehr gut sogar", schiebt Ruben noch hinterher und grinst mich an. Dafür fängt er sich einen tadelnden Blick von Christie ein. "Du musst immer übertreiben", seufzt er und Ruben schmollt kurz, aber das hält nicht lange an.
 

"Ich sag doch nur die Wahrheit", verteidigt er sich, aber ich blende das weitere Geplänkel der beiden aus, als ich sehe, wie Simon wieder aus dem Schlafzimmer zurückkommt. Als er bemerkt, dass ich ihn ansehe, lächelt er mir zu, aber er kommt auch jetzt nicht zu mir, sondern verschwindet stattdessen in der Küche. Irgendwie weiß ich nicht so genau, was ich davon halten soll. Noch ehe ich allerdings richtig darüber nachdenken kann, werde ich auch schon gerufen.
 

"Kannst Du mal kurz in die Küche kommen, Jan?", bittet Simon mich und ich springe fast schon hektisch auf, um seiner Bitte Folge zu leisten. Ruben und Christie ignoriere ich einfach. Die kommen sicher auch mal eine oder zwei Minuten ohne mich aus. Immerhin scheinen sie ja völlig in ihr Gespräch vertieft zu sein. Ich habe allerdings nicht die leiseste Ahnung, worüber die Zwei sich gerade unterhalten. Aber das ist mir, wie ich gestehen muss, auch total egal. Für mich zählt gerade nur Simon.
 

Als ich die Küche erreiche, bin ich etwas außer Atem – fast so, als hätte ich einen Hundert-Meter-Sprint hinter mir. Mein Herz rast wie wahnsinnig und in meinem Magen ist auch der Teufel los. Wer auch immer behauptet hat, dass Verliebtsein für Schmetterlinge im Bauch sorgen würde, hat definitiv gequirlte Scheiße erzählt. In meinen Eingeweiden sind keine Schmetterlinge unterwegs, sondern Ameisen. Und zwar Millionen davon, wenn nicht sogar Milliarden. Hilfe!
 

Gerade als ich den Mund aufmachen will, um zu fragen, was Simon denn von mir will, lächelt er mich wieder so an wie gestern, bevor er mich gefragt hat, ob er mich küssen darf. Sofort tritt mein Hirn in den Streik und ich kann nichts anderes mehr tun als total beduselt vor mich hin zu seufzen. Allerdings bleiben mir weitere Peinlichkeiten glücklicherweise erspart, denn bevor ich doch noch irgendwas total Blödes sagen oder tun kann, überbrückt Simon die drei Schritte Distanz zwischen uns, streicht mir kurz mit den Fingerspitzen über die Wange und im nächsten Moment legt er auch schon wieder seine Lippen auf meine. Und spätestens jetzt ist mein Hirn endgültig Brei. Da rührt sich nichts mehr. Ich kann mich nur noch in Simons Pulli festkrallen, mich von ihm küssen lassen und das genießen. Meine Augen schließen sich ganz von selbst und ich höre und spüre nichts mehr außer Simon. Und wenn ich ehrlich bin, ist das auch alles, was ich jetzt gerade will. Verdammt, auf diesen Begrüßungskuss hab ich mich schon seit gestern gefreut!
 

Als er viel zu früh für meinen Geschmack wieder von mir ablässt, fällt es mir unheimlich schwer, wieder richtig in der Realität anzukommen. Meine Lippen kribbeln immer noch wie verrückt, mir ist ganz furchtbar warm und irgendwie auch ein kleines bisschen schwindelig, aber das ist alles andere als unangenehm. Eigentlich hätte ich nichts dagegen, mich für den Rest meines Lebens ganz genau so zu fühlen. Im Gegenteil. Das könnte mir echt gefallen.
 

"Endlich! Darauf warte ich schon den ganzen Tag", murmelt Simon leise und ich bin mir sicher, dass ich ihn für diese Worte ziemlich verstrahlt anhimmele, aber im Moment ist mir das ganz und gar nicht peinlich. Dafür bin ich gerade einfach viel zu glücklich. Ich meine, wie toll ist das denn, dass Simon sich genauso sehr auf diesen Kuss gefreut hat wie ich? Wenn es was Besseres gibt als das hier, dann weiß ich echt nicht, was das sein soll. Nein, das hier ist definitiv das schönste Gefühl der Welt. Echt, ich liebe es, verliebt zu sein!
 

"Seid ihr Zwei bald mal fertig mit Knutschen? Wir müssen uns schließlich heute noch um das Referat für Reli kümmern", reißt Ruben mich nicht gerade sanft wieder aus meiner Verzückung. Noch viel zu weggetreten, um wirklich böse auf ihn zu sein oder mich für irgendwas zu schämen, was er vielleicht gesehen hat, drehe ich mich halb zu ihm um, blinzele ihn an und er grinst breit zurück. Christie, der hinter ihm steht und offenbar vergeblich versucht hat, ihn aufzuhalten, seufzt nur und lächelt entschuldigend, aber mich stört das Ganze hier gerade wirklich nicht. Gut, Ruben stört irgendwie schon, aber nur, weil ich eigentlich noch auf einen zweiten Kuss von Simon gehofft habe – und auf einen dritten und vierten und fünften und ... Ach, ist ja auch egal. Dafür ist ja auch später noch Zeit.
 

"Geht ruhig schon mal wieder rüber. Wir kommen gleich nach", übernimmt Simon das Antworten für uns beide und Rubens Grinsen wird noch ein Stückchen breiter. "Ja, klar", feixt er, aber ehe er noch mehr sagen kann, packt Christie ihn energisch am Handgelenk und schleift ihn mit deutlich geröteten Wangen und einer gemurmelten Entschuldigung in unsere Richtung zurück ins Wohnzimmer. Rubens nicht gerade leisen Protest höre ich zwar, aber meine Hirnwindungen schaffen es nicht, die Bedeutung seiner Worte richtig zu erfassen. Dafür sind sie viel zu sehr mit der Feststellung beschäftigt, dass Simon und ich jetzt ja wieder ganz alleine in der Küche sind und dass die Gelegenheit für weitere Küsse so echt günstig wär. Ich glaube, ich bin süchtig oder so. Ob das normal ist?
 

"Manchmal können kleine Brüder wirklich ganz furchtbar nervig sein", murrt Simon und ehe ich mich versehe, legt er beide Arme um mich und zieht mich so an sich, dass ich ihn umarmen kann – was ich auch gleich tue. Mit einem zufriedenen Seufzen schließe ich meine Augen, schlinge meine Arme um ihn und vergrabe mein Gesicht in seinem Pulli. Ich kann fühlen, wie er mir einen sanften Kuss auf die Haare drückt, und diese kleine Geste lässt mich förmlich dahinschmelzen. Mein Herz klopft so wahnsinnig laut, dass ich mir sicher bin, dass Simon es hören muss, aber im Moment ist mir nicht mal das peinlich. Dafür fühl ich mich hier gerade einfach viel zu wohl.
 

"Am liebsten würde ich jetzt einfach hier bleiben", gesteht Simon mir leise. Damit spricht er haargenau das aus, was ich gerade denke, und ich glaub, wenn ich noch glücklicher werde, dann explodiere ich bestimmt. Oder vielleicht kipp ich auch einfach nur um. Was auch immer. "Aber wir müssen rüber." War das gerade meine Stimme, die das gesagt hat? "Wegen ... dem Referat ... und so ..." Ja, okay, ich war's wirklich. Bin ich denn bekloppt? Eigentlich will ich doch nichts lieber, als einfach hier bei Simon zu sein. Manchmal bin ich doch echt ein unrettbarer Idiot.
 

Aber, wispert mir eine kleine Stimme in meinem Kopf leise zu, je eher wir mit dem Referat anfangen, desto eher sind wir damit auch fertig. Und je eher wir fertig sind, desto eher können Ruben und Christie nach Hause gehen. Und wenn die Zwei erst mal weg sind, dann haben Simon und ich endlich wieder Zeit nur für uns. Ja, ich weiß, es ist gemein, so zu denken, aber ich kann nichts dafür. Ich schäme mich ja auch dafür, dass ich so egoistisch bin, aber irgendwie ist das doch wohl zumindest ein kleines bisschen verständlich, oder?
 

"Müssen wir wohl." Seufzend lässt Simon mich los und mir wird schlagartig kälter. Am liebsten würde ich ihn festhalten und mich gleich wieder an ihn kuscheln, aber das verkneife ich mir. Stattdessen gehe ich schnell rüber ins Wohnzimmer, wo Ruben mich gleich wieder breit angrinst. Inzwischen sitzt er nicht mehr auf der Couch, sondern hat es sich im Schneidersitz auf dem Teppich bequem gemacht. Unsere Unterlagen hat er vor sich auf dem Boden ausgebreitet und als ich nah genug bei ihm bin, zupft er an meinem Hosenbein und bedeutet mir so, mich neben ihn zu setzen.
 

"Komm her und lass uns endlich anfangen, Jan", verlangt er und ich nicke brav, ehe ich mich neben ihn auf den Teppich sinken lasse. Simon setzt sich wieder auf die Couch und räuspert sich, aber ehe er etwas sagen kann, tippt Christie ihn an. "Bevor ihr anfangt, wollte ich Dich eigentlich noch was wegen eines Songs von Samstag fragen, Simon. Dauert auch nicht lange", murmelt er und Simon deutet ein Nicken in den hinteren Teil des Wohnzimmers an, der inzwischen durch ein Regal vom vorderen Teil abgetrennt ist. "Ich hab das Meiste von dem, was gespielt wurde, auf dem Rechner. Hör einfach mal durch und schreib mir auf, was Du haben willst, dann brenn ich's Dir so bald wie möglich", bietet er an und Christie verschwindet nach einem gemurmelten Dank an den PC.
 

Wie auf Kommando blicken Ruben und ich Simon daraufhin gespannt an und als er das bemerkt, schmunzelt er kurz und bringt meinen Herzschlag damit mal wieder völlig aus dem Takt. Ich bin so neben der Spur, dass ich nicht mal den Anfang von Simons Erklärungen zu unserem Referat mitkriege. Erst ein nicht gerade sanfter Rippenstoß, begleitet von einem Kichern, katapultiert mich wieder zurück in die Realität. Sofort laufe ich knallrot an, als mir klar wird, dass ich Simon die ganze Zeit einfach nur schweigend angehimmelt hab. Meine Fresse, ist das peinlich!
 

"I-Ich reiß m-mich jetzt zusammen. V-Versprochen", nuschele ich beschämt und ohne Simon oder Ruben anzusehen. Ruben kichert noch immer, hört aber zu meiner Erleichterung damit auf, als Simon ihn ermahnt, sich auf das Referat zu konzentrieren. Während Ruben sich also seinen Füller schnappt und sich enthusiastisch seine Zunge zwischen die Zähne klemmt – ich schwöre, er sieht haargenau aus wie Vicky, wenn er das macht! –, blickt Simon kurz zu mir und sein Lächeln lässt mein Hirn gleich wieder aussetzen.
 

Als mir auffällt, dass ich ihn schon wieder einfach nur anstarre, als ob ich nichts anderes könnte, werde ich zur Abwechslung mal wieder flammend rot und senke meinen Blick ganz schnell auf meinen Reli-Hefter, aber auch das hilft mir nicht wirklich. Ich spüre einfach, dass Simon mich immer noch ansieht, und das macht mich unheimlich kribbelig und nervös. Ich geb mir wirklich Mühe, mich zusammenzureißen und mich auf das Referat zu konzentrieren, aber ich höre die ganze Zeit nur Simons Stimme. Das, was er sagt, geht peinlicherweise vollkommen an mir vorbei. Und ich kann absolut nichts dagegen machen.
 

Meine ziemlich offensichtliche Abwesenheit entgeht auch Ruben nicht. Nachdem er das ganze eine Weile lang beobachtet hat, seufzt er schließlich und klappt seinen Hefter zu. "Ich glaub, das wird heute nichts. Jan ist ja total weggetreten", stellt er fest und ich kann aus dem Augenwinkel erkennen, wie er Simon ansieht und fragend den Kopf schief legt. "Was hast Du mit ihm angestellt? Hast Du ihm vorhin in der Küche das Hirn rausgeknutscht oder was?", will er weiter wissen und während ich vor Peinlichkeit beinahe vergehe, schüttelt Simon nur den Kopf und verneint. Ich würde ihm gerne widersprechen – immerhin kreisen meine Gedanken wirklich nur um seine Küsse und seine Stimme und seine Nähe und überhaupt um ihn –, aber das verkneife ich mir. Ich presse einfach nur meine Lippen so fest wie möglich zusammen und schäme mich in Grund und Boden.
 

"Ist schon okay." Ruben klopft mir aufmunternd auf die Schulter und als ich vorsichtig zu ihm rüberlinse, grinst er mich an. "Ich versteh das schon. Weißt Du, was wir machen? Wir machen für heute Schluss und ich komm morgen Nachmittag nach der Schule wieder zu Dir. Dann setzen wir uns erst mal alleine an das Referat und kucken, wie weit wir kommen. Und wenn wir dann noch Fragen haben oder Erklärungen brauchen, können wir ja immer noch zu Simon gehen. Was hältst Du davon?", schlägt er vor und ich nicke einfach nur. "Wär besser, glaub ich", murmele ich dann zerknirscht, nachdem ich mich erst mal geräuspert hab. Ich glaube, solange Simon dabei ist, kriege ich echt nichts zustande. Jedenfalls nichts Vernünftiges. Ist das peinlich!
 

"Tut mir echt leid", schiebe ich noch schnell hinterher, aber Ruben winkt einfach nur ab. "Kein Problem. Ich versteh Dich ja. Und wir haben ja auch noch jede Menge Zeit für das Referat. Ist also wirklich nicht so schlimm", erteilt er mir praktisch die Absolution und ich atme unwillkürlich auf. Dabei traue ich mich allerdings nicht, zu Simon hinüberzusehen. Das Ganze ist mir auch so schon peinlich genug. Hoffentlich hält er mich jetzt nicht für einen totalen Versager. Das wär das absolut Allerschlimmste für mich.
 

"Fährst Du Christie und mich gleich eben nach Hause? Du kannst uns ja einfach bei Christie rauslassen. Ich penn heute eh wieder bei ihm", wendet Ruben sich an seinen Bruder und als der nickt, springt er gleich auf und fällt Simon kurz um den Hals, ehe er zu Christie in den hinteren Teil des Wohnzimmers weiterhüpft, um ihm Bescheid zu sagen. Ich blicke ihm kurz nach und muss unwillkürlich schmunzeln. Manchmal erinnert Ruben mich so sehr an meine kleine Schwester, dass es fast schon ein bisschen gruselig ist.
 

"Wie Vicky, echt", nuschele ich, aber erst als Simon leise lacht, fällt mir auf, dass ich meine Gedanken mal wieder laut ausgesprochen hab. Schlagartig werde ich wieder rot, aber noch ehe ich eine Entschuldigung stammeln und mich so noch mehr zum Hampelmann machen kann, beugt Simon sich zu mir und streift meine Lippen mit seinen. Sofort breitet sich in meinem ganzen Körper eine angenehme Wärme aus, begleitet von einem Kribbeln, das mich seufzen lässt. Jeder Gedanke an Referate, Schule, Ruben, Christie und den Rest der Welt löst sich einfach auf und zurück bleibt nur das Gefühl von Simons Lippen auf meinen.
 

Außer unseren Lippen gibt es jetzt gerade keine weitere Berührung zwischen uns und das fühlt sich einfach nur unbeschreiblich toll an. Ich bin mir absolut sicher, wenn Simon mich jetzt zu sich zieht, dann explodiere ich in Tausende von Seifenblasen und schwebe einfach davon. Wie macht er das bloß, dass alles mit jedem weiteren Kuss besser und immer besser wird? Ob das was mit diesem Magie-Kram zu tun hat, den er mir vor ein paar Tagen erklärt hat?
 

"Lenke ich Dich wirklich so sehr ab?", erkundigt Simon sich, nachdem er sich wieder von meinen Lippen gelöst hat, und ich muss erst einmal blinzeln, um den Sinn seiner Frage richtig zu begreifen. Dann nicke ich jedoch mit hochrotem Kopf. Leugnen bringt ja eh nichts. Ich meine, es war doch gerade die ganze Zeit über total offensichtlich, dass ich seinetwegen im Augenblick mal so gar nichts auf die Reihe kriege.
 

Simon schmunzelt auf mein Nicken hin, aber ehe ich vor lauter Peinlichkeit vergehen kann, zieht er mich vom Boden hoch, nimmt meine rechte Hand und legt sie auf seine Brust, sobald ich vor ihm stehe. Unter meinen Fingerspitzen kann ich neben der Wärme seiner Haut auch seinen Herzschlag fühlen und dieses Gefühl macht mich ganz wuschig. Kommt es mir nur so vor oder klopft Simons Herz jetzt gerade sehr viel schneller als gestern, als er neben mir auf der Couch gelegen und geschlafen hat? Oder bilde ich mir das nur ein, einfach weil ich mir das so sehr wünsche?
 

"Deinetwegen, Jan. Nur Deinetwegen", murmelt Simon wie als Antwort auf meine unausgesprochenen Fragen und lächelt, als meine Gesichtsfarbe gleich noch dunkler wird. Ich glaub, wenn er noch mehr solche Sachen sagt oder noch mehr solche Andeutungen macht wie dass er meinetwegen genauso neben der Spur ist wie ich es seinetwegen bin, dann kippe ich bald einfach aus den Latschen und stehe nicht mehr auf. Hilfe!
 

"Wi-Wirklich?", höre ich mich selbst piepsen und als Simon nickt, habe ich das Gefühl, dass meine Beine nur noch Wackelpudding sind. Sehr, sehr wackeliger Wackelpudding. "Sicher. Weißt Du, Lucy hätte mich am liebsten schon mittags nach Hause geschickt, weil ich einfach nicht richtig zu gebrauchen war. Ich hab ein Regal heute vier Mal neu einräumen müssen, weil ich ständig mit den Gedanken woanders war", gesteht er und mein Herz dreht vollkommen durch, als ich den Sinn dieser Worte begreife. Simon war meinetwegen so durcheinander, dass er sogar Stress mit dieser Vampirtussi im Laden hatte? Wie toll ist das denn? Gut, okay, so toll war es für ihn sicher nicht, aber ... ach, egal.
 

"Tut mir leid", entschuldige ich mich zerknirscht und überglücklich zugleich, aber ehe ich noch mehr sagen kann, steht Simon auf, zieht mich noch näher zu sich und umarmt mich. "Ist doch nicht schlimm. Im Gegenteil. Ich fass das jedenfalls als Kompliment auf", erklärt er mir und als er mir einen Kuss auf die Haare drückt, kann ich mir das Seufzen nicht verkneifen. "Und das solltest Du auch", schiebt er noch hinterher und ich würde ja nicken, aber das kann ich gerade nicht. Mein Körper streikt nämlich im Moment. Ich kann nur hier stehen, ihn meinerseits umarmen und einfach nur beduselt vor mich hin grinsen. Zu mehr bin ich jetzt gerade definitiv nicht fähig.
 

"Och Menno, ich will auch!" Rubens Beschwerde reißt mich wieder aus meiner Verzückung und als ich gleichermaßen ertappt wie ärgerlich – stört er uns eigentlich absichtlich oder was? – zu ihm blicke, zieht er einen Flunsch. "Wenn ich euch so knutschen und kuscheln seh, werd ich ganz neidisch", mosert er, seufzt abgrundtief und schüttelt dann den Kopf. "Na ja, egal. Ist ja nicht so wichtig." Damit fängt er an, sein Zeug zusammenzusammeln, und ich erinnere mich unwillkürlich an das, was mir heute schon mehrfach im Bezug auf Ruben aufgefallen ist. Ohne dass ich es wirklich will, huscht mein Blick zu Christie, aber der kramt gerade in seiner Tasche herum und merkt nichts davon, dass ich ihn ansehe.
 

Für einen Moment überlege ich tatsächlich, ob ich Ruben beiseite nehmen und ihn wegen meines Verdachts ausquetschen soll, aber schlussendlich entscheide ich mich dagegen. Ich kann ihn schließlich auch morgen in der Schule noch löchern, ob ich mit meiner Vermutung Recht habe oder nicht. Das läuft mir ja nicht weg. Außerdem sind wir da ungestört, also ist die Wahrscheinlichkeit, dass er mir meine Fragen ehrlich beantwortet, wesentlich größer.
 

Das ist aber, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, nicht der einzige Grund für meine Zurückhaltung. Ganz hinten in meinem Hinterkopf sitzt nämlich ein kleines Stimmchen, das mir zuflüstert, dass ich umso eher endlich mit Simon alleine bin, je eher er Ruben und Christie nach Hause gefahren hat. Deshalb halte ich gepflegt meine Klappe und tapere nur hinter den Anderen her, als sie ihre Jacken einsammeln. Meinen Rucksack und meinen restlichen Krempel lasse ich einfach hier in Simons Wohnung – ebenso wie Slim, der auf der Couch gemütlich vor sich hin ratzt und nicht mal mitkriegt, dass hier gerade Aufbruchsstimmung herrscht. Aber so hab ich nachher nicht nur einen, sondern gleich zwei gute Gründe, um noch mal hier nach oben zu kommen, also beschwere ich mich ganz bestimmt nicht über die Pennkatze.
 

Zu viert machen wir uns auf den Weg nach unten zu Simons Auto. Zu meiner Verwunderung krallt Ruben sich meinen Arm und zieht mich mit sich auf die Rückbank. Ich bin mehr als verwirrt darüber, vor allem als er sich auch noch an mich klettet und meinen Arm umarmt, als wäre ich ein Kuschelkissen. Dabei blickt er irgendwie geknickt aus der Wäsche, ignoriert aber die Blicke von Simon und Christie, denen sein Verhalten ganz offenbar auch spanisch vorkommt. Allerdings stellen sie beide keine Fragen. Simon startet einfach nur den Wagen und fährt los, nachdem wir uns alle angeschnallt haben.
 

Die Fahrt verläuft schweigend bis auf die Musik, die Simon angemacht hat, um die Stille nicht ganz so drückend werden zu lassen. Irgendwie ist die Stimmung gerade ziemlich komisch, aber da ich nicht weiß, wie ich das ändern kann, bleibe ich einfach stumm und lasse mir weiter von Ruben den Arm zerdrücken. Ernsthaft, er ist haargenau wie Vicky. Wenn die irgendwas hat, was sie beschäftigt, dann quetscht sie auch mit Wonne an mir rum, anstatt einfach nur den Mund aufzumachen und auszuspucken, wo genau ihr Problem liegt. Ob dieses Verhalten bei allen jüngeren Geschwistern genetisch bedingt ist?
 

Über diese Grübeleien meinerseits vergeht die Fahrt und ich atme unwillkürlich auf, als die Gärtnerei von Christies Eltern in Sicht kommt. Simon parkt sein Auto, steigt aber im Gegensatz zu Ruben, Christie und mir nicht aus. Ich hingegen werde von Ruben förmlich aus dem Wagen geschoben und noch mal halb zerquetscht, sobald wir beide draußen stehen. "Bis morgen, Jan", verabschiedet er sich von mir, wartet ungeduldig ab, bis Christie mich zum Abschied auch noch mal kurz gedrückt hat, und zerrt seinen besten Freund dann fast schon hektisch hinter sich her.
 

Ich blicke den beiden einen Moment lang nach, dann schüttele ich den Kopf und steige auf der Beifahrerseite ein. "Ruben ist heute irgendwie schon den ganzen Tag total seltsam", nuschele ich beim Anschnallen und blicke irritiert auf, als Simon vernehmlich seufzt. "Ich weiß." Mehr Erklärung bekomme ich nicht, aber ich hab irgendwie den Eindruck, dass Simon ganz genau weiß, was mit seinem kleinen Bruder nicht stimmt. Kurzzeitig überlege ich, ob ich mit ihm über meine Vermutung bezüglich Ruben und Christie sprechen soll, aber dann verwerfe ich den Gedanken wieder. Zum Einen glaube ich nicht, dass Simon mit mir über irgendwas reden würde, was sein Bruder ihm offenbar im Vertrauen erzählt hat – Ruben ist schließlich nicht mit zur Post gegangen, weil er mit Simon unter vier Augen reden wollte – und zum Anderen will ich meinen Verdacht auch lieber erst mal mit Ruben alleine besprechen. Nicht, dass ich doch vollkommen falsch liege und mich nicht nur vor Ruben, sondern auch vor Simon blamiere. Das muss ich mir echt nicht geben.
 

Erneut seufzend fährt Simon los. Wieder vergeht die Fahrt schweigend, aber ich bemühe mich, mich nicht daran zu stören. Über die ganze Sache mit Ruben kann ich mir auch morgen noch Gedanken machen. Jetzt will ich eigentlich nur genießen, dass ich wenigstens noch ein paar Stunden ungestört Zeit mit Simon verbringen kann, bevor ich wieder zu meiner Familie nach Hause muss. Da haben störende Grübeleien nichts zu suchen, also weg mit euch, ihr blöden Gedanken!
 

"Weißt Du eigentlich, dass Du unheimlich niedlich bist, wenn Du so konzentriert aus dem Fenster starrst?" Simons einigermaßen amüsiert klingende Stimme reißt mich wieder aus meinem Versuch, die Gedanken, die ich mir gerade eigentlich gar nicht machen will, zu vergessen. Ich zucke erschrocken zusammen, laufe knallrot an und möchte im Erdboden versinken, als Simon daraufhin leise lacht. "Wir sind übrigens schon seit gut fünf Minuten wieder zu Hause", lässt er mich wissen und ich kneife die Augen ganz fest zu. Wenn ich ihn nicht sehe, dann sieht er mich vielleicht auch nicht. Peinlich, peinlich, peinlich!
 

"Und warum sagst Du mir das jetzt erst?", nuschele ich halb beschämt und halb ärgerlich, aber wieder lacht Simon nur. "Weil Du einfach zu süß warst und ich Dich nicht stören wollte. Ich weiß zwar nicht, was Du da gerade versucht hast, aber es sah einfach zu niedlich aus", erklärt er mir unbekümmert und ich werde noch viel röter. Dabei möchte ich mich selbst am liebsten treten. Ich meine, wie krank ist es denn bitteschön, sich auch noch darüber zu freuen, wenn er so einen Blödsinn von sich gibt? Ja, klar, es ist toll, dass er mich süß findet, aber ... aber ... Ach verdammt, mir fällt keine vernünftige Beschwerde ein! Das ist doch scheiße!
 

"Ähm ... Wir ... sollten reingehen ... oder so ..." Ja, Jan, super. Ganz, ganz toll. Wenn das nicht wahre Eloquenz ist, dann weiß ich auch nicht. Verdammt, wie kann ein einzelner Mensch alleine sich eigentlich so dämlich anstellen wie ich? Das ist doch bestimmt irgendwo auf der Welt strafbar. Da kann ich ja fast schon froh sein, dass Dummheit in Deutschland nicht verboten ist. Sonst hätte ich echt ein gewaltiges Problem. Für das, was ich mir immer so leiste, würde ich sicher mehrfach lebenslänglich eingeknastet werden. Vielleicht sollte ich mir doch "Idiot" auf die Stirn tätowieren lassen. Dann weiß wenigstens jeder, der mich kennen lernt, gleich, was auf ihn zukommt.
 

Über diese blöden Gedanken grummelnd löse ich meinen Anschnallgurt und steige aus dem Auto. Simon tut es mir gleich und ich sehe aus dem Augenwinkel, dass er die ganze Zeit grinst. Einerseits ist mir das wahnsinnig peinlich, aber andererseits möchte ich ihn jetzt am liebsten ganz fest umarmen. Allerdings will ich das definitiv nicht auf dem Parkplatz tun, wo uns jeder, der vorbeilatscht, sehen könnte, deshalb beeile ich mich, zur Haustür zu kommen und sie aufzuschließen. Dann flitze ich nach oben zu Simons Wohnung, so schnell meine Beine mich lassen, und warte davor auf ihn.
 

Er folgt mir etwas langsamer und macht sich nicht mal die Mühe, sein Grinsen zu verstecken. Ich bin bestimmt immer noch eine halbe Tomate – zumindest vom Hals an aufwärts –, aber ehe ich mich noch mehr dafür schämen kann, als ich es ohnehin schon tue, hat Simon sich auch schon zu mir gebeugt und küsst mich. Seine Lippen auf meinen sorgen dafür, dass sich um mich herum alles dreht. Sämtliche Peinlichkeiten, die mir heute passiert sind, lösen sich in Luft auf – jedenfalls so lange, bis mir bewusst wird, dass wir immer noch im Hausflur stehen und dass jederzeit meine Mutter oder eine meiner Schwestern unsere Wohnungstür aufreißen und Simon und mich so sehen könnten.
 

Peinlich berührt löse ich den Kuss und drücke Simon ein bisschen von mir weg. "Können wir ... reingehen?", frage ich nuschelnd und er zieht eine Braue hoch, schließt aber dann zu meiner Erleichterung seine Wohnungstür auf und lässt mir den Vortritt. Aufatmend quetsche ich mich an ihm vorbei, hänge schnell meine Jacke auf und habe im nächsten Moment auch schon Slim an mir kleben. Offenbar ist der Kater of Doom inzwischen auch wach und hat sogar gemerkt, dass wir weg waren. Ich bin ja so stolz auf ihn.
 

Ehe ich ihn allerdings hochheben und zur Couch zurückschleppen kann, hat er sich nach kurzem Reiben an meinem Bein auch schon an mir vorbeigemogelt, hockt sich vor Simon und himmelt ihn an, als ob er noch nie zuvor einen Menschen gesehen hätte. Ich hingegen verspüre gerade den unbändigen Drang, den blöden Fellball aus dem Fenster zu werfen. Schön, dass ich jetzt auch schon wegen meinem Freund abgemeldet bin. Das Vieh kommt auch nur zu mir, wenn es was von mir will. Genau wie meine Schwestern. Dämliches Aas.
 

"Blödes Mistvieh", kann ich mir nicht verkneifen, meinem Ärger Luft zu machen, aber ehe ich an Franzis Dreckskatze vorbeistapfen kann, schlingen sich von hinten zwei Arme um mich. "Was hat Slim Dir denn jetzt schon wieder getan, hm?", erkundigt Simon sich leise und von einer Sekunde auf die andere ist mein Ärger über die blöde Katze vollkommen verraucht, denn Simons Stimme so nah an meinem Ohr verschafft mir eine meterdicke Gänsehaut am ganzen Körper.
 

"N-Nichts", haspele ich deshalb und versuche halbherzig, mich aus seiner Umarmung zu befreien, aber Simon lässt mich nicht los. Stattdessen schiebt er mich vor sich her zur Couch und lässt sich dann mit mir darauf fallen, so dass ich zwischen seinen Beinen lande und mich rücklings an ihn lehnen kann. Ich zögere eine Sekunde lang, dann gebe ich dem Drang in meinem Inneren nach und kann mir trotz meines flammend roten Gesichts ein seliges Seufzen nicht verkneifen. Ist das schön!
 

"Endlich!", spricht Simon meine Gedanken aus und ich kann nur nicken. Mein Herz klopft gerade so heftig, dass es irgendwie auf meine Stimmbänder drückt. Ich kriege jedenfalls kein Wort raus, aber das scheint Simon nicht zu stören. Er seufzt einfach nur leise, zieht mich noch etwas näher an sich und jagt meinen Puls durch die Decke, als seine Lippen ganz sacht meinen Hals streifen. "So gerne ich Ruben auch hab, ich bin froh, dass er jetzt bei Christie ist. Ich hab den ganzen Tag darauf gewartet, endlich ein bisschen Zeit nur mit Dir alleine verbringen zu können", murmelt er und als er mir gleich darauf einen Kuss auf mein Ohrläppchen haucht, habe ich das Gefühl, ich müsste verglühen. Eigentlich tut er zwar nicht wirklich viel und auch nichts, was irgendwie komisch ist, aber ich weiß trotzdem kaum wohin mit meinen ganzen Empfindungen. Wie macht er das bloß? Und wieso bringen mich solche Kleinigkeiten nur so durcheinander?
 

"I-Ich auch", höre ich mich selbst nuscheln und kriege gleich wieder eine fette Gänsehaut, als Simons Lippen von meinem Ohr zu meinem Hals zurückwandern. "Freut mich zu hören", sagt er leise und ich halte unwillkürlich den Atem an, als er sich ganz leicht an meiner Haut festsaugt. "N-Nicht ...", protestiere ich flüsternd und möchte mich am liebsten selbst dafür treten, dass ich so was Dämliches sage. Eigentlich will ich doch nichts mehr als das, was er hier mit mir macht, aber andererseits machen mir diese ganzen Gefühle, die ich bisher nicht kannte und die ich auch nicht richtig zuordnen kann, eine Heidenangst.
 

Zu meinem Glück scheint Simon das aber zumindest zu ahnen, denn er wird nicht sauer, sondern lässt einfach nur wieder von meinem Hals ab, schlingt seine Arme etwas fester um meinen Bauch und stützt sein Kinn auf meiner Schulter ab. "So besser?", erkundigt er sich dabei und ich nicke, obwohl ich am liebsten den Kopf schütteln möchte. Ein Teil von mir wünscht sich nichts mehr als dass er weitermacht, aber dem anderen Teil von mir geht das irgendwie ein bisschen zu schnell.
 

"Tut mir leid", entschuldige ich mich leise und mit gesenktem Kopf, ohne so recht zu wissen, warum ich das eigentlich tue. Simon scheint das genauso zu sehen, denn noch ehe ich so richtig weiß, wie mir geschieht, rutscht er noch ein Stück weiter zurück und zieht mich dann so neben sich, dass er mich ansehen kann. "Du musst Dich für nichts entschuldigen, Jan", sagt er, legt eine Hand unter mein Kinn und zwingt mich so mit sanfter Gewalt dazu, zu ihm aufzublicken.
 

"Wenn Du irgendwas nicht willst oder ich Dir zu schnell bin, dann sag mir das, okay?", bittet er mich dann und lächelt mich wieder so an, dass ich nichts mehr tun kann außer zu nicken. "Und wenn es irgendwas gibt, was Du unbedingt möchtest, dann kannst Du mir das auch ruhig sagen. Ich werd Dir ganz sicher für nichts den Kopf abreißen", versichert er mir und ich ringe eine Sekunde lang mit mir selbst, dann räuspere ich mich leise. "O-Okay, dann ... Kannst ... kannst Du ... mich noch mal ... k-küssen?" Heilige Scheiße, habe ich das gerade etwa wirklich laut gesagt?
 

Scheinbar habe ich das tatsächlich getan, denn Simons Lächeln vertieft sich noch etwas. "Mit dem größten Vergnügen. So oft Du willst", erwidert er leise, beugt sich ein Stückchen näher zu mir und im nächsten Moment liegen seine Lippen auch schon wieder auf meinen. Ganz sanft und zärtlich küsst er mich und ich vergehe fast vor Glück. Wenn das hier die Belohnung dafür ist, dass ich über meinen Schatten springe und Simon sage, was ich mir von ihm wünsche, dann werde ich das auf jeden Fall noch viel, viel öfter tun.
 

~*~
 

Hach ja, Schmalz, Kitsch und Zucker pur. Zahnarzttermin, anyone?

*hust*

Nyan, ich weiß noch nicht, wann ich euch das nächste Kapitel servieren kann (merkt man, dass ich langsam Hunger kriege? ^.~), aber ich arbeite dran.

*Schreiblust anzulocken versuch*
 

Bis zum nächsten Mal!

*wink*
 

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Von:  Finniwinniful
2018-06-12T18:38:08+00:00 12.06.2018 20:38
Ich mag die Geschichte echt gerne, habe sie nun auch schon öfters gelesen :)
Hoffe, dass es irgendwann weiter geht, denn ich würde gerne wissen, was nun mit Ruben war, wann und wie Jans Familie es erfährt und so :D
Lese die geschichte aber immer wieder gerne mal durch
lg Finniwinni :)

Von:  InkyDeath
2015-02-19T21:28:00+00:00 19.02.2015 22:28
Hey

Nur mal im voraus, ich bin sehr sehr schlecht im Kommentare schreiben und ich weiß das ich Jahre zu spät bin und die FF noch pausiert ist, leider...
Aber ich hab deine FF vor Jahren mal gelesen und sie gerade "wiedergefunden" und wollte einfach nur sagen wie großartig ich sie finde.
Die dynamik und die Beziehungen und alles passt einfach so gut und ich mag das feeling das ich beim lesen immernoch bekomme, das sich seit damals nicht geändert hat.
Ich liebe auch die Figuren, Jan, Ruben, Chris und Simon und eigentlich alle. Aber ganz oben steht bei mir irgendwie Nils. Der Grummelzwerg, auch wenn er leider nicht viel vorkam. Und Yannick ist auch super :D
Also, ich wollte einfach nur sagen das ich die FF echt super finde und bete das sie irgendwann weiter geht *Betet*
Um es in Gamer-Slang zu sagen: GG, Good Game
Wundervoll geschrieben. *Dich mit lob überhäuft*

Liebe Grüße, Inky
Von: abgemeldet
2010-12-29T10:55:47+00:00 29.12.2010 11:55
Hey :)

Ich schleiche mich einfach mal geduckt unter die anderen Kommentatoren, da ich zwar Deine Geschichte zwar nachgelesen habe, aber dennoch zu gemütlich bin, zu jedem Kapitel ein eigenes Review abzugeben.
Wobei Du es Dir eigentlich verdient hättest. Nun, ich hoffe, Du verzeihst, wenn ich hier einen zusammenfassenden Kommentar hinterlasse :|

Das Erste, das mich an Deiner story gefesselt und zum Weiterlesen bewegt hat, war Jans Reaktion auf Simon, als sie einander zum ersten Mal treffen. Da ich des Öfteren selbst wie Simon durch die Straßen laufe, kenne ich solche Blicke nur zu gut... (grinst)
Dass sich zwischen den beiden etwas entwickelt, finde ich wirklich genial. Das Vorurteil lautet ja, dass Emos und Goths einander nicht ausstehen können – da kommt Deine Geschichte gerade recht. Ich finde, beide Seiten – sowohl die der einen, als auch die der anderen „Kategorie“ – kommen absolut gut rüber und sind nachvollziehbar.
Der Charakter, der mir am meisten ans Herz gewachsen ist, ist Christie. Oder Chris, wie auch immer ich ihn nennen dürfte ;P
Am meisten beeindruckt hat mich aber Flo, der mit seiner Art den Durchbruch bei Simon und Jan erst bewirkt hat. Solche Freunde möchte man im ersten Moment zwar erwürgen, aber im Endeffekt sind sie doch das Wichtigste. Wenn Du also so einen Flo zum Vergeben hättest, schick’ ihn zu mir, ich könnte so jemanden durchaus brauchen.

Was mir noch sehr positiv aufgefallen ist, ist, dass Du – trotzdem Du eine Shōnen-Ai story schreibst – die Mädchen nicht außen vorlässt oder sie schlecht machst. Leider passiert es Autoren von stories mit gleichgeschlechtlichen Pairings viel zu oft, dass sie das andere Geschlecht wie die ultimative Seuche der Welt aussehen lassen.
Du schaffst es echt, dass mir bisher jeder – den Typ, der Jan in Kapitel 15 angräbt, und Uli Schwarz ausgenommen – Deiner Charaktere sympathisch ist. Klar, manche mehr und andere weniger, aber insgesamt ergibt sich ein gutes Bild.

Ich würde mich sehr freuen, würdest Du weiterschreiben, und hoffe, dass Dich Deine Muse bald wieder inspiriert :)

Liebe Grüße
Von: abgemeldet
2010-08-15T21:46:57+00:00 15.08.2010 23:46
Ja, ich brauch jetzt nen Zahnarzt mit nem großen Bohrer ;).
Nee, Scherz. Ich habe diese Geschichte von Anfang an mitverfolgt, aber, wenn ich richtig liege, nie einen Kommentar hinterlassen. Hiermit will ich das endlich nachholen.

Es klingt reichlich bekloppt, aber nachdem gute, nicht allzu klischehafte/0-8-15 shonen-ai Geschichten auf animexx im Vergleich zu der Anzahl der schlechten Geschichten nach wie vor rar sind, habe ich die bisher hochgeladenen Kapitel fast alle mehrmals gelesen. Wobei ich gestehen muss, dass es nicht nur die Geschichte an sich war, die mich dazu getrieben hat, sondern auch, dass ich Simon und seine Freunde sehr interessant finde. Ich denke, im richtigen Leben wäre ich genau eine dieser Personen, die Vorurteile gegen sie hätte. Daher hat mir deine Geschichte ganz gut getan, auch wenn sichlerich bei weitem nicht alle sich als Satanisten bezeichnenden Leute so sind wie Simon.

Was ich an Simon neben seiner angenehmen Persönlichkeit mag, ist, dass er gar nicht checkt, wie trottelig sich Jan in seiner Gegenwart aufführt und warum. Während Flo die ganze Sache auf einen Blick durchschaut. Na ja, Liebe macht ja bekanntlich blind. Mich hätte sehr interessiert, was in Simons Kopf während der Kapitel vorging. Aber mir ist klar, dass das endlos viel Arbeit wäre alles aus zwei Perspektiven zu schreiben.
Jans Verpeiltheit/Unerfahrenheit lockert das Ganze auf, weil man immer wieder Schmunzeln kann oder sich an sich selbst erinnert fühlt ;).
Slim ist hier ja eigentlich der große Kuppler, weil er der Grund für Jan und Simons erste Begegnung ist und auch weiterhin sozusagen eine Verbindung zwischen den beiden darstellt *slim mal ganz doll durchplüsch*. Wenn sowas mein Kater mal machen würde >.>.
Ruben hat mich - wenn ich ehrlich bin - von Anfang an genervt, wohingegen ich Vicky total süß finde (dabei mag ich eigentlich keine kleinen Kinder).
Chris ist genial. Wer will nicht so nen Kumpel habe?! Wenn er jetzt auch noch schwul wird, dann fang ich an zu weinen T__T, aber die Zeichen stehen schlecht. vll sollte ich mein Geschlecht wechseln *gg*.

So, mehr fällt mir im Moment nicht ein. vll kommt nochmal was, wenn ich die Geschichte ein weiteres Mal durchgelesen habe *ich bin krank*.

Von:  Tianani
2010-07-08T17:01:31+00:00 08.07.2010 19:01
Hi Karma,
sorry für meinen späten Kommi war erst 2 Wochen im Urlaub und dann voll mit Arbeit eigedeckt, so dass ich erst jetzt schreib wo ich alles durch hab. Ich hoffe meine Abwesenheit hatte nichts damit zu tun dass du so viele Kapitel geschrieben, jettbist nämlich erstmal schluß mit Urlaub :( und ich will doch unbedingt noch mehr Kapitel von dir zu lesen bekommen. Nach der langen Zeit hatte ich fast vergessen wie süß Janni doch ist udn dass er ständig die Tomate spielt.. :) Simon ist auch tooollll :o).
Und Christi und Ruben ja sowie so .. nur Ruben ... Liebeskummer .. ich hoffe mal du quälst ihn und uns nicht allzu lange.
Das Flo war genial wie immer, wobei ich langsam ziemlich neugierig auf eine Story von ihm bin... will aber nicht drängeln... :o)
Ich freu mich auch die nächsten Kapitel und lass noch ein GROßES LOOOBB da ... und Kekse...
LG, Tiana
Von:  cenyn
2010-06-26T11:25:44+00:00 26.06.2010 13:25
so, nachdem ich die ganze geschichte innerhalb kurzer zeit durchgelesen habe (in der man mit mir dann auch wirklich nichts anfangen konnte), muss ich doch auch mal einen kommentar schreiben :)
ich liebe diese geschichte einfach. Ich finde es wirklich klasse, wie du die charaktere durchzeihst - damit meine ich, wie du es schaffst, dass sie sich selbst treu bleiben und nicht irgendwie die charatereigenschaften wechseln. (ich würde das nicht hinbekommen xD)
ich muss ehrlich zugeben, dass ich simon ganz am anfang nicht leiden konnte D: warum auch immer, aber dafür finde ich ihn jetzt umso besser :D :D :D

Die Namen von den freundinnen von vicky (war doch vicky oder), also Lara und jenny sind echt genial ausgewählt. (meine älteste freundin heißt lara und ich jenny xD)

Was ich auch witzig fand, ich weiß leider nicht mehr genau in welchem kapitel das war, als Christie tanzen war und du rammstein erwähnt hattest, da habe ich auch gerade rammsein gehört :P (das war jetzt aber mal ein eigenartiger schachel satz Oo)
ich hoffe, sehr, dass dich die schreiblust bald wieder packt *einen keksteller neben xXSimcaXx's dazustell*

grüße, monsterknopf
Von:  Zimtstern
2010-06-26T11:22:10+00:00 26.06.2010 13:22
Ich liebe diese Geschichte wirklich! *-*'
Und ich habe mich auch SO SEHR gefreut, dass es weiter geht! ;-D
Jan mag ich ja nicht so gerne. Er ist mir viel zu schüchtern, zu pessimistisch, zu verlegen, was seine Beziehung zu Simon angeht, und so weiter und so fort.
Aber alle anderen liebe ich ganz einfach, besonders Ruben. Ruben hat mir mein Herz gestohlen. xD Ich mag seinen Umgang mit Simon und wie er an diesem hängt, weil ich eh auf so Gen-Brüder-Kisten stehe, und das ist einfach alles ganz wundervoll! x3

Aber Ruben, ne?! Der steht ja wohl auf Christie! Dafür war ich ja eh schon immer. Und spätestens seit dem Abend, als er Christie tanzen gesehen hat...ich WETTE! Und Christi ja sowieso auch auf Ruben (hat er deswegen auch wegen den Songs gefragt?!). Sicher hat Ruben sich bei Simon ausgeheult, weil Simon weiß ja auch, dass bei Ruben irgendetwas nicht stimmt. Und Ruben musste ja davor irgendwie mit ihm alleine reden.

Flo ist ja auch noch einer meiner Lieblinge! *-*' Der Junge ist einfach unglaublich fair (die Tips waren so süß!) und ich mag sein momentanes Verhältnis zu Simon super gerne. Ich würde da gerne meh zu den beiden erfahren (denkst du vielleicht an ein Prequel?! ;-D)!
Außerdem will ich endlich Ray kennen lernen! Q_Q' Bitte, bitte, bitte.

GlG und mach bitte bald weiter,

Zimtstern :)

PS: Es hat mich verwundert, dass Ruben gar nicht eifersüchtig auf Jan war...wäre ich definitv gewesen!
Von: abgemeldet
2010-06-24T13:39:10+00:00 24.06.2010 15:39
Also dazu fällt mir jetzt nur eins ein: Will auch *__*
Das ist sooo Zucker! Oh wie ich mich freue, dass es weitergeht!!!!
Jetzt fehlen zum vollendeten Abdriften in die Glückseeligkeit nur noch Ruben und Christie und ich glaube dann muss ich mich für immer von der Welt verabschieden... :D
Das ist alles soo toll :)
...Ich will wissen wie Flos Neuer aussieht x)
GlG
Fatja
Von:  xXSimcaXx
2010-06-24T13:26:57+00:00 24.06.2010 15:26
Gott die sind echt so süß, ich glaub ich sollte echt mal wider beim Zahnarzt vorbeischauen xD

Aber ich hab in dem Kapitel gleich wieder ein paar neue Ausdrücke für Rot werden gelernt xD
Ich glaub wenn Jan so weiter macht verbringt er bald den ganz ganzen Tag mit Simon anhimmeln (nicht dass das schlecht wäre xD)

Aber der Titel passt wieder mal super und das Kapitel lädt wirklich zum träumen ein *total entspannt sei*

Hoffentlich lässt sich deine Schreiblust bald wieder blicken... Vieleicht mag sie ja Kekse *Schüssel mit Keksen hinstell*

lg simca
Von:  Inan
2010-06-24T10:00:35+00:00 24.06.2010 12:00
Flo hat wohl recht, Jan schafft es ja nicht mal, an Sex zu denken, ohne zu ner roten Ampel zu mutieren, das Ding ist bloß, er ist unheimlich süß dabei <3
Zumal er eigentlich immer die Hälfte des Tages mit rotem Kopf verbringt, das scheint einen beträchtlichen Teil seiner Körperfunktionen auszumachen :DDDDD
Das ist ja sooooo niedlich <3
Und Flo, der peilt sowieso alles, wie er Jan im Treppenhaus Tipps gegeben hat, war echt süß
Das mit Ruben und Christie wird hoffentlich auch noch was, das Lied, was Christie von Simon gebrannt haben will, hat bestimmt auch entfernt was mit Ruben zutun :3
Und Malte und seine Kumpels sind ja auch immernoch zerstritten, ich bin ja der Meinung, dass die Beiden rausgefunden haben, dass er schwul ist oder so, aber wird sicher auch bald aufgeklärt^^
Tolles Kapitel, ich freu mich schon aufs nächste ^3^


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