Zum Inhalt der Seite

Der Wind in den Gassen

Arbeitstitel; ehem: Abandoned
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Jagd

Im Takt der prasselnden Regentropfen schlugen die Sandalen auf das Kopfsteinpflaster und mit jedem der hastigen Schritte spritzte das Wasser in alle Richtungen. Schlitternd und rutschend nahm die durchnässte Gestalt eine Kurve, raste dann die schmale Gasse zwischen den hoch aufragenden Häuserfronten entlang. Ein hektischer Blick über die Schulter zeigte, leicht verschwommen durch den Regenvorhang, die Umrisse seiner Verfolger. Das leuchtende Rot der Uniformen hob sich deutlich von den hier sonst vorherrschenden Grautönen ab und ließ seine Träger immer drohender, immer größer wirken.

Haare und Kleidung längst am Körper klebend hetzte der Junge weiter, schlängelte sich zwischen Kisten und Karren hindurch. Immer wieder wirbelte sein Kopf herum, suchte nach den Wächtern und immer wieder erschrak er, wie nahe sie waren. Er war sich sicher, dass er ihre wütend verzogenen Mienen erkennen konnte, wenn er nur genau hinsah. Doch so viel Zeit hatte er nicht.

Keuchend lief er voran, zerrte an einem Kistenstapel zu seiner Rechten und eilte weiter, hoffend, dass es etwas gebracht hatte, dass seine Verfolger wenigstens kurz aufgehalten wurden. Hinter sich hörte er das Splittern von Holz und sein längst heftig pochendes Herz machte einen hoffnungsvollen Satz. Kaum hatte er den Kopf gewandt und beinahe erleichtert aufgelacht, da war er mit den Füßen auch schon auf dem nassen Boden ausgerutscht und unsanft in einer Pfütze gelandet.

Hektisch stemmte er sich in die Höhe, kam nur mühsam schlitternd wieder in Bewegung und rannte weiter, die aufkeimenden Schmerzen in seinem Knie ignorierend. Er musste weg, sich irgendwo verstecken, bevor er seinen Vorsprung verlor. Gehetzt schweiften seine Augen über die vor ihm liegende Gasse, durch die er als nächstes eilte. Ihm war klar, dass er nicht mehr lange durchhalten würde. Längst war alle Atemkontrolle vergessen, Panik und Erschöpfung ließen ihn nur noch stoßweise Luft holen. Seine Schritte wurden stetig unsicherer, immer häufiger verloren seine Füße den Halt und ließen ihn taumeln.

Der Junge hetzte durch die noch menschenleeren Gassen, die Orientierung in der fremden Stadt längst verloren. Die Häuser wirkten ohnehin schon alle gleich auf ihn und der Regen verschluckte alle eventuellen Unterschiede. Dennoch glaubte er, dass die Wege wieder breiter wurden und die Häuser sich nicht mehr so dicht aneinander drängten. Näherte er sich wieder den Hauptstraßen? Als er um die nächste Ecke schlitterte, konnte er am anderen Ende der breiteren Gasse schon den allmählich beginnenden frühmorgendlichen Trubel des Marktplatzes sehen. Erleichtert hielt er darauf zu, konnte er doch in der Menge endlich untertauchen und so entwischen.

Dann sah er rote Uniformen. Sofort hatte er sich zur Seite geworfen, in einem Hauseingang Deckung gesucht und presste sich heftig atmend gegen das Holz. Ein vorsichtiger Blick zeigte ihm, dass die Wächter, die er gesehen hatte, auf dem Marktplatz an seiner Gasse vorbeigegangen waren. Doch so erleichtert er auch war, dass sie ihn nicht entdeckt hatten – er konnte nicht einfach so auf den Markt. Er würde dort sicher noch weiteren Wächtern begegnen und ihnen womöglich direkt in die Hände laufen. Aber wo sollte er sonst hin? Hektisch warf er einen Blick zurück, rechnete jeden Augenblick damit, dass seine Verfolger um die Ecke bogen.

Zitternd, unschlüssig und der Verzweiflung nahe lehnte er sich wieder gegen die Tür, versuchte, ein wenig zu Atem zu kommen und nachzudenken. Wohin nur, wohin? Er konnte nicht mehr, seine Füße waren schon fast taub und der stechende Schmerz in seinem Knie machte allmählich jeden Schritt zur Qual. Weit würde er nicht mehr kommen. Aber er wusste ja nicht einmal mehr, wohin. Schon kündigten rasche Schritte und ein harsch gerufener Befehl die ersten Wächter an.

Wohin? Panisch presste sich der Junge abermals gegen die Tür, hoffte entgegen aller Vernunft, dass die Wächter ihn nicht sehen würden. Unerträglich laut schien jedes Patschen, das die Stiefel der näher kommenden Männer auf den nassen Steinen verursachten, in seinen Ohren zu dröhnen. Gleich würden sie da sein, gleich würden sie in seine Gasse abbiegen, gleich würden sie ihn sehen. Und dann hatten sie ihn. Verzweifelt und voll Angst kniff er die Augen zusammen, stemmte seinen schmalen Körper regelrecht gegen das massive Holz, als könnte er darin versinken.

Plötzlich taumelte er mit einem Ruck tatsächlich nach hinten und knallte unsanft mit dem Rücken auf harten Boden. Verwirrt blinzelnd blickte der Junge sich um, sah die Holztür, die mit einem leisen Knarren noch weiter aufschwang und kam sofort taumelnd wieder auf die Beine. Hastig stürzte er nach vorne, drückte und schob mit aller verbliebener Kraft die Tür wieder zu und blieb dann zitternd dagegen gelehnt stehen. Dicht vor seiner Nasenspitze konnte er nun auch deutlich erkennen, dass das Türschloss wohl schon vor einer Weile durchgerostet war und deswegen nachgegeben hatte.

Mehr keuchend als atmend rang er nach Luft, versuchte seinen rasenden Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bringen, während er sich genauer umsah. Sein Blick glitt über einen rustikal eingerichteten Schankraum, der sich ihm in einem schläfrigen Dämmerlicht präsentierte. Neben dem Tresen befand sich eine Tür, auf der dem Eingang gegenüberliegenden Seite eine zweite. Wohin sie wohl führten? Hoffentlich boten sie ihm eine Fluchtmöglichkeit.

Langsam entfernte der Junge sich von der Wand, taumelte durch den Raum und hielt sich dabei immer wieder an Tischen und Stühlen aus dunklem, massivem Holz fest. Eine nasse Spur kennzeichnete seine Schlangenlinien, doch er bemerkte sie nicht einmal. Viel zu groß waren die Erschöpfung und die Müdigkeit, die an ihm nagten. Der Raum strahlte eine angenehme Ruhe und Wärme aus nach der hektischen Jagd durch die nassen, kalten Straßen der Stadt. Vielleicht konnte er hier einfach warten, bis die Wächter weg waren und wieder ein wenig Kraft schöpfen.

Automatisch streckte er die schmale Hand nach der nächsten Stuhllehne aus, um sich abzustützen, hielt dann aber wie vom Donner gerührt inne und starrte seine vor Blut triefenden Finger an. Dickflüssig und glänzend tropfte es von den Fingerspitzen, fühlte sich nach all der Kälte draußen erschreckend warm an. Dann, mit einem einzigen Blinzeln, war seine Hand wieder kalt und allein vom Regen nass. Ein leises Wimmern entrang sich seiner Kehle und kaum merklich begann seine Hand zu zittern.

Mit einem Ruck setzte er sich wieder in Bewegung, griff nach der Lehne und zog den Stuhl unter dem Tisch hervor. Schwer atmend ließ er sich auf die Sitzfläche fallen, die Finger beinahe krampfhaft immer noch um das massive, kalte Holz geschlossen.

Nur ganz allmählich entspannte er sich wieder und lockerte seinen Griff. Dann betrachtete er mit zusammengepressten Lippen seine Finger. Wenn er sich ein wenig konzentrierte, konnte er immer noch die klebrige, warme Flüssigkeit fühlen, die seine Hände, seine Arme, seine Kleidung benetzt hatte. Mit einem schnellen Blick nach unten stellte er fest, dass der Regen, der seine Haut längst vom Blut befreit hatte, und die bisherigen Dreckspuren die neuen Flecken in dem Dunkelbraun der Tunika bestens versteckten. Schluckend versuchte der Junge, sich nicht zu genau an die Ereignisse dieser Nacht zu erinnern, konnte aber ein leicht triumphierendes Funkeln in den Augen nicht unterdrücken.

Er hatte es geschafft! Sein erster Auftrag.

Tief durchatmend ballte der Junge beide Hände zu Fäusten und wusste nicht, ob er sich freuen sollte, oder nicht. Er hatte bis jetzt wegen der Wächter keine Zeit gehabt, überhaupt nur weiter darüber nachzudenken. Aber nun, da er hier im Warmen saß, stieg eine ungeahnte Übelkeit in ihm empor. Leise gurgelnd presste er sich eine Hand auf den Mund, die andere auf den Bauch und krümmte sich zusammen, gegen den plötzlichen Würgereflex ankämpfend.

Auch als es nachgelassen hatte, saß der Junge noch unverändert verkrampft da, zitterte am ganzen Leib und schluckte schwer gegen den unangenehm sauren Geschmack im Mund an.

„Geschafft!“ Wie eine Beschwörung hauchte er dieses Wort immer und immer wieder heiser vor sich hin, während sein Blick unruhig über den abgetretenen Fußboden glitt. Geschafft... ein lautes Pochen ließ ihn erschrocken zusammenfahren.

„Aufmachen, im Namen der Stadtwache!“, tönte es durch die Tür herein.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Junge das dunkle Holz an und wurde sich mit einem Schlag wieder bewusst, dass er noch längst nicht in Sicherheit war. Er selbst war hier ohne weiteres einfach so hereingekommen und außer ihren Vorschriften hielt diese Männer dort draußen nichts davon ab, es ebenso zu tun.

Andere Geräusche ließen ihn erneut aufschrecken – Schritte stiegen über eine knarzende Holztreppe und näherten sich. Er brauchte einen Augenblick um zu begreifen, dass sie von der Tür neben dem Tresen kamen, war dann mit einem Satz auf den Beinen und wirbelte ohne weiter nachzudenken in die einzig mögliche Richtung. Die Tür auf der anderen Seite war unverschlossen und der Junge riss sie förmlich auf, stürmte in die Dunkelheit dahinter und ließ sie dabei hastig ins Schloss fallen. Unbehaglich lauschte er dem dumpfen Knallen, das das Schließen verursacht hatte und hoffte, dass es unbemerkt geblieben war. Im Schankraum hörte er derweil eine Tür aufgehen und schwere Schritte durch das Zimmer stapfen. Dann öffnete jemand den Wächtern.

Erstarrt und mit vor Angst geweiteten Augen lauschte der Junge in die Dunkelheit, während sich stetig Tropfen von ihm lösten und kaum hörbar auf dem Boden auftrafen.

„Himmel, was gibt es denn so früh am Morgen?“, erkundigte sich eine dunkle, verschlafen wirkende Stimme.

„Guten Morgen. Wir sind auf der Suche nach einem Jungen, etwa so groß, mit braunen Haaren. Vielleicht dreizehn Jahre alt. Er muss hier vorbei gekommen sein.“

„Ja und? Was hab ich damit zu tun?“

„Wir müssen sichergehen, dass er sich nicht bei Euch versteckt hält.“

Weiter hörte der Junge gar nicht mehr zu, schob sich, an der Wand entlang tastend, von der Tür weg und hoffte inständig, dass es hier einen zweiten Ausgang gab. Doch nach wenigen Schritten schon sank seine Hoffnung: Hier führte bloß eine Treppe nach unten in den Keller. Mit pochendem Herzen stand er am oberen Absatz und starrte verzweifelt in die Finsternis. Dort unten saß er in der Falle! Aber vielleicht fand er ein geeignetes Versteck...

So schnell es ging tastete er sich weiter nach unten. Seine Finger glitten nervös über die grob gehauene Wand, bis seine Füße die letzte Stufe erreicht hatten. Dann berührte er an der Seite das erste Fass, schob sich hastig daran entlang und rechnete jeden Augenblick damit, dass hinter ihm die Tür aufgehen würde. Er passierte ein Fass nach dem anderen, stolperte zwischendurch über einen liegen gelassenen Holzscheit und einen Strohhaufen. Dann war er am Ende der Reihe angekommen und ertastete einen kleinen Freiraum zwischen dem letzten Fass und der Wand. Würde das als Versteck ausreichen?

Müde und erschöpft krabbelte er schließlich kurzerhand hinein und ließ sich auf den harten Boden sinken. Was hatte er schon für eine andere Wahl? Er konnte nicht noch weiter nach einem Versteck suchen. Sein Körper fühlte sich so schwer und ausgelaugt an, dass er daran zweifelte, jemals wieder aufstehen zu können. Zitternd und triefend zog er die Beine an und schlang seine Arme um die Knie, während sich die Wände kalt gegen seinen Rücken und seine Seite pressten.

Wie hatte die ganze Aktion nur so schief laufen können? Er war entdeckt worden, bevor er überhaupt Gelegenheit gehabt hatte, an Rückzug auch nur zu denken. Warum hatte er nicht hören wollen und so sehr darauf bestanden, endlich alleine losziehen zu dürfen? Es war ein einziges Fiasko, wie es ihm vorausgesagt worden war. Und nun saß er hier in der Falle und konnte nur noch hoffen, dass sie ihn nicht entdecken würden. Er hatte versagt, auf ganzer Linie.

Nach einer Weile legte er den Kopf auf die Knie und biss sich so heftig auf die Unterlippe, dass sie zu bluten begann. Doch trotzdem bahnte sich ein leises Schluchzen den Weg durch seine Kehle. Er hatte alles vermasselt. Es war vorbei.

Freundschaften

Sanfter Sonnenschein hüllte den jungen Mann ein, als er aus dem Schatten des Waldes auf den neben diesem verlaufenden Weg trat. Mit einem kurzen Handgriff lockerte er den grauen Umhang, den er über seiner einfachen Wanderkleidung trug und genoss das wärmende Prickeln auf der Haut. Die halbe Nacht war er unterwegs gewesen und hatte erst zur Dämmerung den dichten Laubwald erreicht. Inzwischen war es später Vormittag, er hatte ihn endlich durchquert und konnte seine Reise im warmen Sonnenlicht weiterführen.

Langsam setzte er seinen Weg fort und folgte der Straße in Richtung Norden. Wenn er sich ein wenig beeilte, konnte er noch vor Einbruch der Dunkelheit die nächste Stadt erreichen und so setzte er weiter entschlossen einen Fuß vor den anderen, während sein Blick ziellos über die ihm längst so bekannt gewordene ländliche Idylle schweifte.

Es war eine Weile her, dass er zuletzt diesen Weg genommen hatte, doch viel verändert hatte sich die letzten Monate nicht. So weit er sich zurückerinnern konnte, erstreckte sich der Weg schon immer zwischen dem Wald auf der einen und den zahllosen Feldern und Äckern auf der anderen Seite. Besonders zur Erntezeit war hier deshalb viel Betrieb und dies zwang den jungen Wanderer, andere, unbenutztere Pfade zu nehmen. Ihm lag nicht viel an Reisegesellschaft und noch weniger an neugierigen Fragen.

Nicht lange nachdem er den Weg betreten hatte, drangen von hinten die Geräusche näher kommender Hufschläge an seine Ohren. Behutsam achtete er darauf, seine Geschwindigkeit beizubehalten und fixierte seinen Blick auf den Boden vor ihm. Die einzigen Personen, die heutzutage auf Pferden ritten, befanden sich im Dienste der Regierung und egal, ob es sich nun um höhere Beamte, Soldaten oder gar Priester handelte – mit keinem von ihnen wollte er sich zu diesem Zeitpunkt anlegen. So ignorierte er nach Außen hin weiter beharrlich die sich nähernden Reiter und schätzte in Gedanken die Lage ab.

Den Geräuschen nach zu urteilen, näherten sich gleich mehrere Pferde, vielleicht ein Dutzend, und das würde bedeuten, dass in jedem Fall Soldaten oder Wächter unter den Reitern waren. Genervt verzog der Wanderer kurz das Gesicht und hoffte, dass sie ihn einfach ebenso ignorieren würden wie er sie. Doch schon als er hörte, wie sie ihre Geschwindigkeit drosselten, als sie auf seine Höhe heranritten, verflog diese Hoffnung so schnell sie gekommen war.

Innerlich resigniert seufzend stoppte er, als ihm ein großer brauner Wallach den Weg versperrte und hielt seinen Blick gesenkt, beobachtete aber aus den Augenwinkeln die ihn umgebenden Reiter. Rote Uniformen leuchteten ihm förmlich von jedem Pferderücken entgegen und ließen den Wanderer innerlich fluchen. Wächter, allesamt! Und er mittendrin...

Schon beugte sich einer von ihnen – den blank polierten Abzeichen nach ein Feldwebel – zu ihm herab.

"Nun", begann er gedehnt und schien die Situation auszukosten. "Was haben wir denn hier?"

"Nur einen einfachen Wanderer." Trotz der heftigen Abneigung gegen den Feldwebel, die sofort in dem jungen Mann aufkeimte, achtete er auf eine beherrschte, normale Stimme und unterdrückte mühsam die Nervosität, die so viele auf ihm ruhende Blicke bewaffneter Wächter hervorriefen.

"Wohin wanderst du denn?"

"Tehron." Kurze, knappe Antworten schienen ihm die beste Taktik zu sein. Er hatte zwar wie immer mehrere mögliche glaubwürdige Geschichten auf Lager, die er dem Feldwebel vorlegen könnte, aber er wollte nicht mehr erzählen, als wirklich notwendig war.

"Soso, in unsere schöne Stadt also. Und was willst du dort?"

"Eine Unterkunft für die Nacht."

"Sonst nichts?"

"Nein."

"Weißt du, es sind derzeit viele Räuber unterwegs. Ich wollte nur sicher gehen, dass du keiner von ihnen bist. Du hast also nicht vor, Tehron heute Nacht auszurauben? Sehr gut." Der Feldwebel grinste, beugte sich weiter herab und musterte den Wanderer aufmerksam. "Ich werde mir trotzdem dein Gesicht merken - nur für den Fall. Wie heißt du?"

"Varis. Varis Namreth."

"Sollte in Tehron heute Nacht doch etwas geschehen, wissen wir ja, wer Schuld hat. Also halte dich zurück." Abermals den Mund zu einem breiten Grinsen verziehend trieb er sein Pferd an und die übrigen Wächter folgten ihm.

Angewidert aber erleichtert sah Varis ihnen nach. Er war schon öfter als ihm lieb war mit der Wache in ganz unterschiedlichen Städten in Kontakt gekommen und hatte eine fast schon natürliche Abneigung gegen ihre hübschen, strahlend roten Uniformen entwickelt. Schleimiger, großspuriger Wichtigtuer! Leise fluchend setzte er nun auch seinen Weg fort und hoffte inständig, diesem Feldwebel nicht noch einmal begegnen zu müssen.

Mit einem resignierten Seufzen, das sämtlichen unnützen und äußerst überflüssigen Wächtern in ganz Narvon galt, trat Varis ein Steinchen aus dem Weg und beobachtete, wie es neben der Straße zwischen den Grashalmen verschwand. Als sein Blick wieder nach vorne schwenkte, zeigte sich am Horizont bereits der vage Umriss Tehrons. Sofort erhellte sich Varis' Miene und mit beschleunigtem Schritt folgte er weiter der Straße, die genau auf den entfernten dunklen Fleck zuhielt.

Pünktlich zur Dämmerung stand Varis dann auch wie geplant auf der großen Wegkreuzung vor den breiten Toren Tehrons, die noch weit geöffnet waren. Den an der Mauer lehnenden Wächtern heimlich einen finsteren Blick zuwerfend schritt er durch das Tor und folgte der nahezu menschenleeren Straße, die sich zwischen den hohen, weitläufigen Häusern entlangzog. Doch je weiter er in die Stadtmitte vordrang, umso mehr Bürger kreuzten seinen Weg. Schließlich im Zentrum auf dem Marktplatz angekommen, hatte er Mühe, sich einen Weg durch das Gedränge der Marktbesucher bahnen zu können und war heilfroh, als er in eine schmale Seitengasse einbiegen konnte, in der ein bereits hell erleuchtetes Wirtshaus gegen die hereinbrechende Nacht aufbegehrte.

Varis warf einen kurzen Blick die schlichte Fassade empor und blieb mit den Augen an dem bereits etwas morsch wirkenden hölzernen Schild über der Eingangstür hängen, das in leicht verschnörkelten Buchstaben den Schriftzug „Zum müden Wanderer“ trug. Zielstrebig schritt er auf die Tür zu, öffnete sie und trat in das Stimmengewirr des gut besuchten Schankraums. Er spürte die Blicke, die sich sogleich auf ihn als Neuankömmling hefteten, auf seinem Gang zum Tresen verfolgten und dann das Interesse wieder verloren. Noch während er auf einem der abgenutzt wirkenden Hocker Platz nahm, glitten Varis' Augen selbst über die Anwesenden, musterten die vom Tagwerk müden Gesichter. Er nahm auch die leichte Anspannung wahr, die über dem Raum lag und etwas Abwartendes, Lauerndes hatte. Aufmerksam horchte Varis näher hin, versuchte einzelne Gespräche auszumachen und aus ihnen Näheres zu erfahren.

„- und dann sagt dieses Weib doch tatsächlich, es hätte mir letzte Woche schon die erste Rate bezahlt! Kannst du dir das vorstellen? Aber der hab ich was erzählt! Gute Frau, hab ich gesagt, ganz höflich, gute Frau, wenn ich bisher auch nur einen Taler von Euch -“ Varis' Aufmerksamkeit glitt von dem empörten Schneider, der seine Geschichte wild gestikulierend seinem Tischnachbarn erzählte, weiter zu einem jungen Mann, der mit leichter Nervosität der ganzen Tischrunde sein Leid klagte.

„- weiß nicht, wie ich ihm noch unter die Augen treten soll. Aber ich will sie heiraten, ganz bestimmt! Wenn er noch einen Monat wartet, hab' ich genug zusammen und dann mach ich meine eigene Werkstatt auf und dann kann ich auch für sie sorgen. Sie muss bis dahin nur weitere Kleidung tragen, dann fällt das gar nicht auf und sie hat bestimmt -“

„- neue Stadtverwalter.“, glitt Varis' Fokus auch schon zum nächsten, einem ernst dreinblickenden Geschäftsmann. Schon die ersten beiden Worte, die an seine Ohren drangen, ließen ihn aufhorchen. „Kommt da einfach in meinen Laden spaziert, mit seinen Wächtern und seinem ganzen kleinen Gefolge da und vergrault mir alle Kundschaft. Und dann muss ich die Herrschaften bedienen und buckeln und freundlich sein und am Ende geht er mit dem halben Laden wieder raus und hat nicht eine einzige Münze zurückgelassen! Aber was will man machen...“ Volltreffer! Ein neuer Stadtverwalter in Tehron?

Varis lehnte sich, auf die Arme gestützt, weiter über den Tresen und trommelte mit den Fingern nachdenklich auf das dunkle Holz. Was war aus Kolbar geworden? Der bisherige Stadtverwalter hatte sich im Vergleich zu seinen Kollegen recht gut in seinem Amt gemacht und unter ihm war Tehron zu einer der wichtigsten Städte in ganz Narvon erblüht. Warum also hatte man ihn ausgewechselt? Oder war er etwa gestorben?

„Du bist leider einen Tag zu spät.“ Eine vor geheucheltem Bedauern nur so triefende Stimme unterbrach Varis' Gedanken. „Die Spielleute gestern hatten einen volltrunkenen Trommler und hätten deine Unterstützung am Schlagwerk sicher mit Freuden angenommen.“

Varis blickte langsam auf in das vertraute, von einem breiten Grinsen geteilte Gesicht des Wirts hinter dem Tresen.

„Wie kommst du darauf?“, gab er schließlich zurück und musterte die hochgewachsene, breitschultrige Gestalt.

„Ich hatte ja auch nicht erwartet, dass du so musikalisch bist.“ Mit einem Zwinkern tippte der Wirt seinem Gast kurz auf die immer noch trommelnden Finger, die sofort inne hielten. „Was gibt’s, mein Freund? Was treibt dich zu mir?“

„Der Hunger.“ Varis konnte ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken, während er sein Gegenüber unter den ins Gesicht hängenden Haarsträhnen betrachtete und sich unwillkürlich entspannte. Kheros' vertraute Gestalt hatte etwas ungemein beruhigendes.

„Hätte ich mir ja denken können!“ Empört stemmte der Wirt die Hände in die Seite und funkelte Varis an. „Du kleiner Schmarotzer glaubst allen Ernstes, dass ich dich hier wieder durchfüttern werde?“

„Da du schon so direkt fragst – ja.“

Einen Moment lang sahen sie sich schweigend, mit herausfordernden Mienen an, dann lachte Kheros herzlich, füllte einen Krug und stellte ihn vor Varis ab. Ohne ein weiteres Wort verschwand er durch die Tür neben dem Tresen.

Varis blickte ihm mit einem Lächeln nach und griff nach dem Krug. Doch noch bevor er ihn überhaupt angehoben hatte, hielt er mit gerunzelter Stirn inne. Statt des erwarteten Anblicks von Kheros' recht schmackhaftem Bier, starrte er auf sein Spiegelbild, das ihn aus dem klaren Wasser erstaunt und ein wenig missmutig ansah. Seit wann schenkte Kheros Wasser aus?

Noch während Varis sich fragte, ob dies ein schlechter Scherz sein sollte, ließ er abermals seinen Blick schweifen. Die anderen Gäste an den wuchtigen Holztischen waren ganz in ihre Gespräche vertieft und trugen ernste oder auch besorgte Mienen zur Schau. Selten stach aus dem dumpfen Murmeln im Schankraum einmal ein Lachen heraus.

Dann erst fiel Varis auf, dass kaum jemand einen Krug vor sich stehen hatte. Manche aßen von den Speisen, die Kheros' Schwester in der Küche im Nebenraum zubereitete, aber getrunken wurde so gut wie nichts. Nur hier und da sah er jemanden an seinem Getränk nippen und argwöhnte, dass es sich auch hierbei um Wasser handelte. Was zum Henker ging hier vor sich?

Schon war Kheros zurück und stellte eine gut gefüllte Schale mit Eintopf auf den Tresen.

„Wohl bekomm's, mein Freund.“

„Danke.“ Varis wandte sich wieder um, griff nach dem Löffel und tauchte ihn in seine dickflüssige Mahlzeit. Er fischte ein Kartoffelstück heraus und sah es argwöhnisch an.

„Stimmt was nicht?“

„Ich wollte mich nur vergewissern, dass es sich auch wirklich um eine Kartoffel handelt.“ Ruhig schob Varis die Kartoffel in den Mund und kaute mit nachdenklicher Miene.

„Du spinnst! Was sollte es denn sonst sein?“ Amüsiert hatte Kheros die Augenbrauen hochgezogen und lehnte sich nun weiter zu Varis vor.

„Dein Bier hat sich schließlich auch ganz schön verändert.“

Kheros' Gesicht verdüsterte sich schlagartig. „Das brauchst du mir nicht zu sagen!“

„Warum schenkst du kein Bier mehr aus?“

Kheros sah sich kurz um und beugte sich dann noch weiter vor, ehe er mit leiser Stimme sprach. „Kein Bier, kein Wein, kein Met – gar kein Alkohol!“ Unterdrückte Wut hatte seine Stirn in tiefe Furchen gelegt und die Augenbrauen zogen sich so weit zusammen, dass sie sich beinahe berührten. „Jedenfalls nicht vor dem Abendläuten.“ Er machte eine kurze Pause und schnaubte leise. „Du warst eine Weile nicht hier, also ist dir das wohl noch nicht bekannt. Wir haben einen neuen Stadtverwalter und dieses unsinnige Gesetz ist seine neueste Erfindung.“

„Was ist mit Kolbar geschehen?“

„Tot.“ Kheros senkte die Stimme noch weiter und sah Varis eindringlich an. „Angeblich war's sein Herz. Aber wenn du mich fragst, war der kerngesund!“

Varis löffelte weiter an seinem Eintopf und nickte nachdenklich. „Also hat dieser neue Stadtverwalter -“

„Doran“, warf Kheros dazwischen und spuckte den Namen verächtlich aus. „Cil Doran.“

„- dieser Cil Doran seine Nachfolge angetreten.“

„Ha! Nachfolge ist gut. Kolbar war noch nicht mal einen halben Tag tot, als dieser Kerl schon vor dem Tor stand, mit allen erforderlichen Papieren und Befugnissen, von Vandros höchstpersönlich unterzeichnet!“

Wieder nickte Varis, sparte sich aber jeglichen Kommentar dazu. Er kannte solcherlei Machtspielchen nur zu gut und wusste, wie schnell manch ein ehrgeiziger Beamter bereit sein konnte, in den Etagen über sich Platz für eine Beförderung zu schaffen. Dass Doran zu ungeduldig gewesen war, um wenigstens einen oder zwei Tage zu warten, forderte die wildesten Gerüchte ja geradezu heraus.

„Er scheint ja ziemlich gottesfürchtig zu sein, wenn er euch Alkohol erst nach dem Abendläuten erlaubt.“

„Von wegen!“ Kheros schüttelte heftig den Kopf, dass seine kurzen, braunen Haare hin und her flogen. „Doran ist nicht mal Priester. Er will sich mit dieser Aktion doch nur mit den Kollegen und Vorgesetzten gut stellen!“

Varis pfiff leise durch die Zähne. „Dass es einige Beamte gibt, die kein Priesteramt haben, wusste ich ja schon. Auch den ein oder anderen Höhergestellten. Aber ein Stadtverwalter...“

„Es wird gemunkelt, dass er aus dem Kreis um Tianor stammt.“

Langsam und nachdenklich nickte Varis. Tianor war das einzige Mitglied des Hohen Rates, das nicht Teil der Priesterschaft war. Da war es nur verständlich, wenn er frei gewordene Ämter nach und nach mit seinen Freunden besetzte. Und dass er ab und an nachhelfen ließ, war gerade für Varis nichts neues mehr.

„Ob Priester oder nicht macht aber eigentlich keinen Unterschied. Ob Tianor, Doran, Kolbar oder Vandros höchstpersönlich - tyrannisch und korrupt sind sie doch allesamt!“, entfuhr es Kheros in ungewohnt heftigem Zorn. Er schien es jedoch selbst zu merken und richtete sich abrupt wieder auf. „Doch nun genug damit! Ist schließlich nicht dein Problem, du kommst ohnehin immer nur sehr sporadisch vorbei. Wart' einfach noch eine halbe Stunde, dann bekommst du was Ordentliches zu trinken!“

Mit diesen Worten wandte Kheros sich wieder seiner Arbeit zu und steuerte einen Tisch in der Ecke an. Varis sah ihm stirnrunzelnd nach und wusste nicht recht, was er von diesem letzten Ausbruch halten sollte. Dass Kheros wegen des neuen Gesetzes wütend war, war ja noch verständlich, beeinträchtigte es doch direkt sein Geschäft. Aber dass er plötzlich so leidenschaftlich über die ganze Regierung herzog, war neu. Ein leichtes Unbehagen beschlich Varis und er hoffte, dass sein Freund sich nicht zu irgendwelchen Dummheiten hinreißen lassen würde.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Ned
2010-02-16T23:58:16+00:00 17.02.2010 00:58
Bin ich auch endlich mal dazu gekommen, das neue Abandoned zu lesen. :D
Mir gefällt's soweit ganz gut und da ich mich nicht mehr an die alten Sachen erinnern kann (zwei Jahre isses fast schon her, da ich's gelesen hatte), bin ich natürlich auch ganz gespannt drauf, wie's weitergehen wird. ;) Dieser doofe Stadtverwalter-Typ!

Allerdings muss ich 'ne kleine Kritik loswerden. Nämlich an folgendem Satz:
>"Sanfter Sonnenschein hüllte den jungen Mann ein, als er aus dem Schatten des Waldes auf den neben diesem verlaufenden Weg trat."
--> "neben diesem" klingt nicht sehr schön, ich musste drei Mal drüber lesen, bis ich verstanden habe, worauf sich das bezog. "daneben" wäre da weniger verwirrend, glaube ich. ;) Oder etwas mit Waldrand, denn jede Form von "(da)neben" klingt merkwürdig, wenn man so darüber nachdenkt...
Apropos zu oft, ich fand den Prolog eigentlich ziemlich cool, es wurde Interesse aufgebaut, dadurch, dass man erst gar nicht wusste, warum der Junge floh. Ich hab' da echt mit ihm mitgefiebert, auch wenn's offensichtlich war, dass die Tür hinter seinem Rücken nachgeben würde. Da war's ehrlich gesagt ein wenig nervig, dass dann, zwischen dem "Wenn der so weiter macht, fällt er gleich rein"-Gedanken und dem tatsächlichen Reinfallen, noch so viel Text ist. ;) Allerdings bin ich auch einfach nur ungeduldig.
Was mich beim Prolog übrigens eine Winzigkeit gestört hat, war die übermäßige Verwendung solcher Worte wie "schlitternd" und "klebend", eben diese "nd"-Dingense. Im Moment weiß ich aber ehrlich gesagt selbst nicht, wie man das anders machen könnte, vielleicht fiel's mir ja auch nur so auf, weil's sehr spät ist und meine Wahrnehmung dann ohnehin 'nen Knacks hat... xD

Mein persönlicher Lieblingsmoment ist übrigens folgender:
>"Mit einem resignierten Seufzen, das sämtlichen unnützen und äußerst überflüssigen Wächtern in ganz Narvon galt, trat Varis ein Steinchen aus dem Weg und beobachtete, wie es neben der Straße zwischen den Grashalmen verschwand."
Für diese Steinchenbeobachtung möchte ich Varis zu gerne einen Keks schenken. <3 xD

Oh...
>"Doch je weiter er in die Stadtmitte vordrang, umso mehr Bürger kreuzten seinen Weg."
--> Pardon, aber auf "je, umso"-Sätze reagiere ich allergisch. Vermutlich einfach, weil ich gelernt habe, es hieße "je, desto". Wenn beides richtig ist, musst du mir die Anmerkung vergeben, meinen Duden hab' ich grad leider nit zur Hand, wenngleich ich mir eigentlich recht sicher bin... x"D

Also... Ich mag die neue Version. ^_^ Liest sich gut und man kann sich gut ins Geschehen hineinversetzen, find' ich. Sonst hätt' ich mir ja auch nit die Zeit genommen, ein paar Kritikpunkte aufzuführen. ;)
Ansonsten: Mach weiter so, es kann nur besser werden. :D


Zurück