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Karls Geschichte

...mit Karl und Magie und echt miesem Titel
von

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Ritual

Ich mag den Herbst nicht. Okay, eigentlich ist das eine Lüge, ehrlich gesagt sind mir die Jahreszeiten völlig egal, aber ich denke, dass dieser Einstieg zu der Geschichte passt, und vielleicht sogar etwas klug oder tiefgründig klingt. Der Herbst ist eine Zeit des Wandels. Ein Wandel von der Aufregung zur Beruhigung, zur Melancholie, was im Sommer bunt und kräftig war vergilbt, stirbt und verwest. Eine Zeit der Stille, die Insekten schweigen, die Menschen schweigen, und des Alleingangs, der Zurückgezogenheit in die eigenen Gedanken...

Für die Geschichte, die ich erzählen will, scheint mir dieser Anfang irgendwie völlig ungeeignet. Ich wollte auf etwas anderes hinaus, aber anscheinend liegen mir kluge, poetische oder ansonsten anspruchsvolle Anfänge nicht. Dann steige ich eben direkt in die Handlung ein, aber wahrscheinlich sollte ich mich zuerst vorstellen. In zu vielen Geschichten werden die Charaktere erst sehr spät beschrieben, was dazu führt, dass der Leser mit dem Bild, das er sich bisher von der Figur machte, plötzlich völlig falsch liegt. Meine Eltern gaben mir den Namen Karl, wenn euch irgendwann einmal ein fast zwei Meter hoher Typ mit schwarzen Haaren und blauen Augen begegnet, der dazu unrasiert ist und lustlos in Kleidung, die kaum unauffälliger sein könnte, die Straße entlang schlurft, so könnte ich es sein. Begrüßt ihn doch mal, wenn er euch leicht verwirrt anguckt und zögerlich mit „Hi...“ antwortet, so könnt ihr davon ausgehen, zumindest jemanden getroffen zu haben, der mir in einigen Punkten ähnelt.

Es war spät abends im November, klarer Himmel und äußerst kalt. Ich wollte gerade nach Hause, möglichst schnell ins warme Bett und schlafen. Zuvor hatte ich einem Bekannten einen Gefallen getan und zum Wohl der Wale fünf Stunden lang Souvenirs verkauft. Er hatte mich angesprochen, ob ich am Freitag Abend etwas zu tun hätte. Da mir leider nichts einfiel und ich ihm sowieso noch einen Gefallen schuldete, stand ich für eine gefühlte Ewigkeit draußen in der Kälte und improvisierte mit aufgesetztem Lächeln Antworten zu Fragen wie „Warum benötigen die Wale denn Hilfe?“ oder „Wozu genau wird denn das Geld benutzt?“. Zusammen mit der U-Bahnfahrt, auf der mich eine stark parfümierte alte Frau mit gelb-braunen Zähnen zum Eintritt in eine Sekte überreden wollte und ich meine Jacke verlor, verursachte der Tag in meinem Kopf eine ziemlich üble Laune und ich wollte einfach nur noch ins Bett.

Auf dem Weg von der Station nach Hause überquere ich oft das Gelände einer Fabrik, die vor einigen Jahren abgebrannt war. Was sie produzierte weiß ich nicht, ich bin erst vor wenigen Monaten in diese Stadt gezogen und habe mich nie so sehr dafür interessiert, dass ich nachgefragt hätte. Über die Gründe des Brandes scheint jedenfalls nichts bekannt zu sein. Seitdem arbeitet die Natur hartnäckig daran, das Gelände zurückzuerobern, manche Ranken wagen es sogar, die Wand des einsturzgefährdeten Betonkastens hinaufzuklettern. Für mich ist das Gelände eine Abkürzung, die mir fünf Minuten Fußweg erspart. Normalerweise ist die Fabrik nachts komplett in Dunkelheit getaucht und erhebt sich als bedrohlicher schwarzer Klotz in den Himmel, doch an jenem Tag war das nicht der Fall. Aus den Fenstern im Erdgeschoss drang schwach und unregelmäßig Licht sowie ein tiefstimmiger Singsang, den ich keiner Sprache zuordnen konnte. Was sollte das werden, eine Katzenopferung von ein paar Hobbysatanisten? Ich mag Katzen, und meinen Kenntnissen nach ist es auch nicht sehr satanistisch, sie irgendwem zu opfern. Die nörgelnde Stimme, welche nach meinem Bett schrie, wurde von mir in den Hinterkopf verschoben, und ich ließ meine Neugierde und Abenteuerlust die Kontrolle übernehmen, welche sich aufgrund ihres seltenen Einsatzes im Alltag um so mehr freuten. Bereit, jedes feline Wesen, das ich erblicken würde, zu retten, schlich ich mich an eines der glaslosen Fenster und spähte hinein.

Was ich zuerst sah, war tatsächlich ein Mann in schwarzer Robe mit Kapuze, welcher aus einem alt aussehenden Buch rezitierte. Ich war erstaunt darüber, wie stark er dem Stereotyp entsprach. Zu dem Erstaunen mischte sich jedoch auch ein unangenehmeres Gefühl in meinem Bauch, ich hatte nicht wirklich erwartet, den rituellen Handlungen irgendeines Kultes beizuwohnen. Der schwere Gesang mit immer wiederkehrenden Klagen in fremder Sprache und das flackernde Licht, welches durch Feuerschalen verursacht wurde, flößten zugleich Faszination und Angst in meinen Körper, der weiterhin als heimlicher Beobachter hinter dem Fenster kauerte. Während er sang blickte der Mann immer wieder nach vorne, doch als ich meine Augen auch in die Richtung lenken wollte, gelang es mir nicht. Die Situation lähmte mich, meine Gedanken verblassten und die Präsenz des Sängers füllte meinen Geist. Er lehrte mich etwas, eine Geschichte, von Dingen, welche mein Hirn nicht fähig zu begreifen war. Nachdem schon jedes Bewusstsein dem Lied gewichen war spürte ich, wie sich meine Gefühle und jede meiner Sorgen auflösten, das Lied heilte mich, entriss mich der schrecklichen Welt und begrüßte mich in einer neuen, in welcher nur das unendliche Glück auf mich wartete. Dann wand der Mann seinen Kopf in meine Richtung, und unsere Augen trafen sich in einem Moment, in dem ich von ihm die vollständige Erkenntnis erfuhr. Es war alles so einfach, ich fühlte den ganzen Sinn des Universums und den Dingen dahinter in mir selbst, durch das Geschenk seines Blickes erreichte ich Höhen, die der normale Mensch für unmöglich halten musste.

Ohne seinen Gesang zu unterbrechen bedeutete mir mein Herr mit einer Handbewegung, hineinzukommen. Ich kletterte durch das Fenster, ging mit langsamen Schritten, welche jedoch von einer nie gefühlten Leichtigkeit waren, auf ihn zu. Es hatte keinen Sinn, sich zu beeilen, denn ich hatte die Unendlichkeit verstanden. Im Gebäude konnte ich im Augenwinkel ungefähr erkennen, worauf mein Herr gestarrt hatte. Auf einem Tisch festgebunden und geknebelt lag ein nackter Mann, in seinen Körper waren lauter fremde Zeichen und Symbole geritzt, aus den frischen Wunden sickerte das Blut. Er musste da liegen, denn er war der Träger, er musste die Wunden tragen, denn das war das Mittel. Aus unzähligen Gefäßen rund um den Tisch wich verschiedenfarbiger Rauch, der sich an das Blut schmiegte und den Strom hinauf in den Körper floss. Es musste so sein, denn das war das Ziel. Mein Herr sang zu mir und erklärte mir, seine Macht war so groß, seine Botschaft so stark, dass die mir völlig fremde Sprache mehr einleuchtete als alles, was ich in meinem Leben zuvor gehört hatte.

Mit einem Mal hatte ich einen Dolch in der Hand. Mein Blick war wieder frei, mein Herr hatte mir die Freiheit geschenkt. Ich sah das wunderschöne Instrument in meiner Hand an, bewegte mich etwas und spürte dabei, dass der Boden klebrig war. Ich senkte den Kopf und sah Unmengen an Blut auf dem Boden, frisch wie aus den Wunden des festgebundenen Mannes. Das Blut rief in mir eine Euphorie hervor, doch was mich noch viel mehr begeisterte, waren die Menschen, die darin lagen. Manche noch ganz, andere völlig zerstückelt, lagen auf dem Boden und lächelten. Ihr Lächeln war ewig, unendlich, sie erfuhren eine Seligkeit, die auch ich erreichen konnte.

Wieder blickte ich auf den Dolch. Mir wurde in unendlicher Güte auch die Möglichkeit geschenkt, zu einem solchen Wesen zu werden. Ein Wesen, weitaus größer und mächtiger als der Mensch, welches jedes Leid durch puren Willen in Freude verwandeln, jeden Störfaktor harmonisch in die neue Welt eingliedern konnte. Ich wusste, ich wollte so ein Wesen sein, und setze den Dolch an meiner Brust an. Als er mich aufschnitt, spürte ich den Schmerz, doch mir war klar, das würde der letzte Schmerz meiner ewigen Existenz sein. Die Klinge drang tief in mich, zerriss die Hülle und alles Leid, ich spuckte Blut auf meine eigenen Arme. Der Körper war mein Kokon, aus dem ich mich befreite und in die weite Welt der Wahrheit aufgenommen wurde, nur noch ein bisschen weiter und ich könnte aus dem Fleisch herausklettern. Die Ungeduld überkam mich. Ich wollte diesen Schmerz nicht mehr, diesen Körper, er war eklig, stank nach Mensch, dem unfähigen Wesen, dass ich sein musste. Ein Schnitt noch und ein weiterer, längs auf meinem Torso, bis mir der Dolch aus der Hand fiel.

Mit dem Klirren, als er auf den Boden auftraf, erstarb auch der Gesang. Ich zitterte am ganzen Leib, meine Glieder verkrampften sich. Auf einmal loderten meine frisch zugefügten Wunden in Flammen auf. Ich wollte schreien, brachte jedoch durch das Blut in meinem Hals nur ein Gurgeln hervor, der Schmerz, vorher bereits kaum zu ertragen, vervielfachte sich durch das lodernde Feuer, welches mein Fleisch versengte. Mein Blick raste umher, suchte irgendetwas, was mir helfen könnte, doch an Stelle einer Hilfe sah ich, wie der Rauch aus einem Gefäß über die Blutlache und an mir hochkroch. Er presste sich in meine Wunden, scherte sich nicht um die Flammen, die mich qualvoll verbrannten und beinahe meinen Verstand sprengten. Während der Rauch in mich eindrang spürte ich, wie sich etwas weiteres in mich einnistete. Meine Adern entlang wuchs die Präsenz einer fremdartigen Entität, doch durch die meinen Körper verzehrenden Flammen, die anscheinend mit Freude in quälend langsamer Geschwindigkeit Fleisch und Haut vernichteten, hatte ich keine Zeit, um mich um den Eindringling zu kümmern.

Der Sänger starrte mich fassungslos an, und allmählich gesellte sich zu all den Emotionen, die ich an jenem Tag bereits empfunden hatte, Wut. Die Schmerzen klärten meinen Verstand, vertrieben den Müll, der ihn zuvor vernebelte. Ich wusste nicht, wie es der Typ angestellt hatte, mich derart ins Delirium zu säuseln, doch wegen ihm musste ich diese Schmerzen verspüren, und dafür hatte er meine eigenen Hände benutzt. Entschlossen, den Kerl mindestens eine Faust im Gesicht spüren zu lassen, wankte ich, meine brennenden Wunden so gut es ging ignorierend, auf ihn zu. Seine Augen weiteten sich, er trat einen Schritt zurück – offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass ich noch immer auf meinen Beinen stand. Mir ging das zwar nicht anders, aber für mich war das ein Vorteil.

Ein Held würde jetzt auf den Bösewicht zugehen und ihn trotz der schrecklichen Pein überwältigen, welche eigentlich auch den letzten Rest seiner Kraft aus ihm sog. Da jedoch kein Held anwesend war und stattdessen ich von irgendeinem Psychokultisten dazu gebracht wurde, mich beinahe selbst umzubringen, funktionierte das mit dem Gehen nicht ganz so gut und ich klappte innerlich fluchend bereits nach wenigen Schritten nach vorne um, begleitet vom höhnischen Gelächter meines Gegners. Genau in jenem Moment erloschen die Flammen auf mir, und was auch mit dem Rauch in mich eingedrungen war, schien nun komplett in mir zu sein. Umgeben vom verschütteten Lebenssaft meiner selbst und mehrerer Leichen lag ich keuchend auf dem Boden und wusste, dies war das Ende. Ich sah die Beine des Sängers auf mich zu kommen. Er griff nach dem Dolch, der neben mir lag. Für mich wäre er in dem Moment unerreichbar gewesen, auch wenn meine Hand nur wenige Zentimeter von der Waffe entfernt war. Meine Reserven waren verbraucht, jeden Rest, den ich an Energie übrig hatte, wurde für ein paar letzte Atemzüge genutzt, die ich mir gönnte.

Als ich die Klinge an meinem Hals spürte, schloss ich die Augen. Ich wartete darauf, dass sie in meine Schlagader glitt und ich die Schmerzen, Eindrücke, Erinnerungen und atmosphärezerstörenden Kommentare in meinem Kopf gegen das eintauschen würde, was auch immer nach dem Tod kam. Doch was ich als nächstes hörte war weder ein Engelschor noch ein Talkshowmoderator, sondern ein dumpfer Schlag, gefolgt von einem Stöhnen, zugleich entfernte sich der Dolch von meinem Hals. Verwundert öffnete ich die Augen und erblickte eine Hand, die etwas vor meinen Mund hielt.

„Beiß drauf!“

Die Stimme war weiblich, relativ jung. Wer auch immer es war, anscheinend war sie auf meiner Seite. Ich betrachtete den Gegenstand, es war eine Art Wurzel.

„Mach schon, ich hab deinen Freund hier zwar umgehauen, aber er steht jeden Moment wieder auf.“

Angestrengt zerrte ich meinen Kiefer auseinander und ließ mir die Wurzel hineinschieben. Sie war voller Dreck und Erde, schmeckte widerlich. Ich biss hinein und eine Art Saft strömte in meine Mundhöhle, saurer Geschmack mischte sich mit Blut und Dreck. Wenige Sekunden, nachdem Zunge und Zahnfleisch die Flüssigkeit berührt hatten, waren sie komplett taub. Zudem spürte ich, wie meine Wahrnehmung langsam abschaltete. Die Bilder vor mir wurden schwarz, was in meine Ohren drang verschwand in einem unförmigen Rauschen, ich fühlte und roch nichts mehr. Zuletzt verabschiedete sich mein Bewusstsein.

Willkommen

Raufasertapete. Das war das erste, was ich sah, als ich aufwachte. Die Poster, die an ihr angebracht waren, zeigten zum größten Teil grimmig in die Kamera guckende Metalbands, von denen ich selbst auch welche hörte. Wer auch immer hier wohnte, erschien mir ziemlich sympathisch, auch weil das Bett gemütlich war und das Zimmer nach grünem Tee roch.

Ein Geräusch lenkte meine Aufmerksamkeit in Richtung Fußende. Nur etwas vom Bett entfernt stand ein offener Kleiderschrank, und davor etwas, was mich zusammenzucken und meinen Kopf rot anlaufen ließ. Dort stand ein Mädchen, den Rücken mir zugewandt und gerade dabei, ihren BH zu öffnen. Natürlich hatte sie mich gehört. Und natürlich drehte sie ihren Kopf zu mir um, zwar in Zeitlupe, doch mir fiel nicht der rettende Gedanke ein, einfach so zu tun, als würde ich weiterschlafen. Es folgte ein Wettbewerb in vier Disziplinen: Luft anhalten, rot werden, anstarren und das allgemeine Aushalten der Situation. Die Peinlichkeit, deren Maß im Raum exponentiell anstieg, durchbrach das lokale Zeitgefüge und verzerrte die wenigen Sekunden des Wettbewerbs zu einer dickflüssigen, brodelnden Suppe, welche zwar widerlich schmeckte, aber wahrscheinlich immer noch besser war als das, was danach kommen würde. Ich dachte an die unzähligen Anime, die ich gesehen hatte. Einer Szene wie dieser folgte fast immer ein Wutausbruch des Mädchens, was Schmerzen für den Jungen bedeutete.

Mit einem Seufze ihrerseits normalisierte sich die Raumzeit. Sie wandte ihren Kopf wieder von mir weg.

„Könntest du... bitte rausgehen?“

Es war die selbe Stimme, die ich in der abgebrannten Fabrik gehört hatte. Doch viel wichtiger war, dass ihre schüchterne Art zu sprechen mein internes Moe-Radar ausschlagen ließ. Dazu erschien sie mir ziemlich hübsch. Die dunkelbraunen Haare reichten ihr bis zur Taille, wozu ihre grünen Augen meiner Meinung nach wirklich gut passten. Vom triebgesteuerten Teil meines Hirns sofort hochmotiviert, der Bitte nachzukommen, sprang ich auf, krümmte mich jedoch sofort wieder vor Schmerzen in meiner Brust. Erst jetzt bemerkte ich den dicken Verband, der um sie gewickelt war. Das Stechen war sehr unangenehm, aber für die wenigen Schritte, bis ich aus dem Zimmer geschlurft war, aushaltbar. Ich setzte mich neben der Tür auf den Teppich und sah mich um. Ein Sofa, ein Fernseher, ein Tisch mit Stühlen, viele Bücherregale... kurz, ich war in einem Wohnzimmer. Insgesamt schien die Einrichtung etwas älter zu sein, alles hatte ein paar Kratzer oder Flecken, die von jahrelanger Benutzung zeugten. Eine groteske Ausnahme bildeten zwei hellbraune BILLY-Regale, deren Inhalt – lauter dicke Bücher mit hebräischen und arabischen Titeln, von denen einige bereits völlig zerfleddert waren – sicherlich schon einige Dekaden mehr als die Regale selbst selbst hinter sich hatte.

Neben mir öffnete sich die Tür. Ich hob meinen Kopf und somit mein Sichtfeld, doch mir blieb keine Zeit, um in das Gesicht des Mädchens zu sehen, da es bereits nach wenigen Millisekunden von einer schwarzen Gummisohle verdeckt wurde, die sich kurz darauf tief in mein Gesicht grub. Freundlicherweise bekam ich noch im gleichen Moment eine Erklärung für diese Aktion, auch wenn sie nur aus dem Ausruf „Perversling!“ bestand. Ich fiel rücklings auf den Boden und wurde mit der Erschütterung meines Torsos wieder schmerzhaft an meine Wunden erinnert. So starb mein Bild von ihr als potenzieller Moe-Charakter und wurde durch eine Idee ersetzt, die mir weit weniger gefiel. Als ich das nächste Mal zu ihr hochsah, blieben die Füße des Mädchens dort, wo die Gravitation und ich sie am liebsten hatten – unten an den Fußboden geschmiegt. Die Hände in die Hüfte gestemmt sah sie mich an. Trotz der kalten Jahreszeit hatte sie sich nur ein grünes Top und einen weißen Rock angezogen, der ein paar Zentimeter über den Knien endete. Ob das daran lag, dass sie sich hastig irgendetwas rausgesucht hatte oder sie einfach nicht plante, heute noch hinauszugehen, wagte ich nicht zu fragen. Jedenfalls trug sie dazu pechschwarze Springerstiefel, die vermutlich momentan nur meiner Bestrafung dienten. Weshalb eigentlich?

„Denkst du nicht, dass du auch selbst daran Schuld bist, wenn du dich direkt vor mir umziehst?“

„Du warst tagelang bewusstlos, also habe ich dich kaum mehr wahrgenommen. Du warst einfach ein großer Fleischhaufen, der mein Bett ausfüllte, sodass ich mich beim Schlafen dicht an dich schmiegen musste.“

Sie hatte nächtelang neben mir gelegen? Das Bett war wirklich nicht allzu groß, dass zwei darin liegende Personen Körperkontakt haben würden, war beinahe unvermeidlich. Die Bilder, die in meinem Kopf entstanden, konnte man anscheinend am vorne angebrachten Gesicht ablesen, zumindest ließen ihr nächster Satz und ihre Miene darauf schließen.

„Dachte ich mir doch, dass du ein Perverser bist. Ich schlief auf dem Sofa, du glaubst doch nicht wirklich, dass ich mit dir ein Bett teilen würde. Übrigens, ich bin Mana.“

Großartige Art, sich vorzustellen.

„Karl.“

„Ich weiß, blöder Name, wenn du mich fragst.“

„Du weißt es?“

Mana zuckte mit den Schultern.

„Es steht auf deinem Personalausweis. Willst du was trinken?“

Ich nickte.

„Wasser.“

Während sie in Richtung Küche verschwand, stand ich ziemlich ungeschickt auf und schleppte mich in Richtung des Tisches, wo ich mich auf einen der gepolsterten Stühle niederließ. Wenig später kam Mana mit einer Flasche Mineralwasser und zwei Gläsern zurück, die sogleich von ihr gefüllt wurden.

„Du hast sicherlich einige Fragen. Also, schieß' los.“ meinte sie, stemmte ihre Ellbogen auf den Tisch und stützte das Kinn auf die Hände.

Wirklich gastfreundlich von ihr, mich selbst einschenken zu lassen, aber ihrem bisherigen Verhalten nach zu urteilen, konnte man hier wohl keine Form von Höflichkeit erwarten.

„Welcher Tag ist heute?“

„Montag, kurz nach neun Uhr morgens.“

„Ich muss zur Arbeit.“

„Nein, musst du nicht. Erstens geht es dir gesundheitlich echt scheiße und zweitens wurdest du eh gefeuert, nachdem du der Frau deines Chefs in einer höchst beleidigenden E-Mail empfohlen hast, doch bitte ein paar Dutzend Kilogramm abzunehmen, damit sie wenigstens auf Nilpferdmaße komme.“

„Bitte was? Ich hab doch gar nicht – “

„Vielleicht solltest du nicht all deine Passwörter auf einem Zettel im Portemonnaie dabei haben. Achja, ich hab das Geld von deinem Konto abgeholt.“

So langsam nervte mich, wie sorglos dieses Mädchen mein Leben durcheinanderbrachte.

„Was denn, willst du gar nicht wissen, wieso?“, fragte Mana.

„Ich bin davon ausgegangen, dass du es mir sowieso erzählst. Sonst noch etwas? Wurde ich dank dir aus der Wohnung geworfen?“

„Nö, sie ist abgefackelt.“

Erschrocken und wütend sprang ich auf. „Was denkst du dir dabei, die Wohnungen fremder Leute anzuzünden?! Das ist verdammt noch mal Brandstiftung!“

Mana sah unbeeindruckt in mein Gesicht. Sie löste die rechte Hand von ihrem Kinn und fuhr mit dem Zeigefinger den Rand ihres Glases entlang.

„Du bist viel zu schnell mit deinen Schlussfolgerungen. Nicht ich zündete sie an, sondern eine Organisation namens Libra.“

„Libra? Waage?“

„Die Typen vom Ritual am Freitag. Die wollen dich übrigens immer noch umbringen.“

„Erstaunlich, wie gelassen du mir das mitteilst.“

Sie zuckte mit den Schultern. Mal wieder.

„Wieso sollte ich? Schließlich scheint dich das auch nicht wirklich aufzuregen, obwohl du damit mehr Probleme haben solltest.“

„Ich habe das Gefühl, dass es früher oder später meinem Kreislauf schadet, wenn ich mich von all dem beunruhigen lasse. Besonders, da es so scheint, dass ich in näherer Zukunft nicht gerade mein Leben einfach wie gewohnt weiterleben kann. Aber wenn diese Libra-Fuzzis mich innerhalb von ein paar Tagen nicht finden, geben die doch sicherlich auf. Mehr als eine ungenaue Personenbeschreibung könnte ich eh nicht geben. Woher weißt du das alles überhaupt?“

Ich setzte mich wieder.

„Der Typ, der dich hypnotisierte, hat sich später verplappert, als ich ihm etwas auf die Kapuze gegeben habe. Mehr weiß ich allerdings auch nicht, nur von der Organisation habe ich früher schon ein paar Mal gehört... ein paar Auseinandersetzungen mit denen gehabt...“

„Du weißt nicht zufällig, wie er mich dazu gebracht hat, mich selbst aufzuschlitzen, oder?“

„So 'ne Art Magie.“

„Du meinst Hypnose.“

„Nö, das war keine einfache Hypnose.“

„Sondern, deiner Meinung nach, Magie.“

„Ich weiß, dass es welche war. Auch irgendeine hebräische Schule, aber nicht das, was ich benutze.“

„Ach, toll. Du bist also auch eine Zauberin oder Magierin oder Hexe... wie nennst du dich?“

„Kabbalistin.“

„Heißt das, du liest den ganzen Tag Bücher in viel zu komplizierten Sprachen und malst Pentagramme, ohne dass etwas passiert?“

„Viel zu kompliziert? Vielleicht bin ich einfach nicht so blöd wie du. Und nicht so ignorant. Wenn die Zauber nicht funktionieren würden, wären sie sinnlos.“

Manas Tonfall war eindeutig aggressiver geworden. Auch hielt ich es nicht mehr aus, in ihre Augen zu starren, dieses Grün tat fast weh. War das vielleicht ihre Art von Magie? Nein, natürlich nicht, und sonst würde sie sicher auch keine derartigen Fähigkeiten haben. Es nervte mich, wie sie an dieser albernen Illusion festhielt.

„Wir sind hier doch nicht in einem – “

Nein, ich durfte den Satz nicht zu Ende sagen. Nicht einmal zu Ende denken. Dieser Satz wäre der Beweis dafür gewesen, dass ich mich in einem fiktiven Werk und nicht in der Realität befinde, er kommt immer nur in irgendwelchen Serien vor. Mein Leben jedoch läuft in der Realität ab, ich glaube nicht, dass ich es ertragen könnte, wenn meine komplette Existenz nur die Laune eines Typen wäre, der zu viel Freizeit hat. Das Thema wurde ja auch in diesem Film behandelt...

„Hm?“

„Vergiss es, unwichtig. Übrigens hast du mir immer noch nicht gesagt, warum du mein Geld abgehoben hast.“

„Hab ich wohl. Ich sagte dir doch, die Typen von Libra suchen dich. Die Organisation ist größer und mächtiger, als du denkst.“

„Aber eine Bank sorgt für Kundenschutz. An deren Sicherheitsanlagen kommt man nicht so einfach vorbei.“

„Und Geschenke bringt der Weihnachtsmann? Die haben genug Geld, um Elite-Hacker und Einbrecher anzuheuern. Oder sie nutzen Magie. Oder sie haben eh einen Maulwurf. Oder – “

„Ich hab's kapiert.“

„Schön. Hör doch einfach auf mit deinen Pseudoargumenten, sie lassen dich nur lächerlich erscheinen.“, sagte sie grinsend.

Ich verzog meine Mundwinkel kurz nach oben. Hätte mir nicht jemand anderes das Leben retten können?

„Jedenfalls weiß ich, wie du Libra loswerden kannst.“

Wollte sie jetzt tatsächlich etwas sagen, das mir nützen kann? Wäre nach den Schmerzen und Beleidigungen eine nette Abwechslung.

„Wir vernichten Libra!“

Die Euphorie, mit welcher Mana das sagte, konnte mich irgendwie nicht anstecken.

„Komplett vernichten.“

„Jap.“

„Diese angeblich riesige Organisation mit viel Geld und Magie-Psychos.“

„Genau.“

„Das ist bestimmt viel einfacher, als sich für eine Weile zu verstecken.“

„Denk' ich auch.“

„Mein Kommentar war ironisch gemeint.“

„Meine Antwort nicht. Glaub mir, sie finden und töten dich. Außer, du lässt dir von mir helfen.“

„Warum willst du das überhaupt tun? Aus reiner Nettigkeit bestimmt nicht. Lass mich raten, auf dich sie es auch abgesehen.“

Mana stupste ihre beiden Zeigefinger zusammen und sah mich unschuldig an.

„Ich hab' ihnen vielleicht wenige, kleinere Probleme bereitet...“

„Hast du eine Alternative parat, bei der ich möglichst ohne Todesgefahr so schnell wie möglich die Normalität wiederherstellen kann?“

„Nö. Warum überhaupt, noch ist dein Leben doch relativ normal. Du bist in einer Wohnung, plauderst ein wenig, trinkst dabei aus Gläsern...“

„Ist es in deiner Welt auch normal, dass man sich selbst aufschlitzt und die Wunden auch noch in Flammen aufgehen, als sich irgendein Freak-Rauch in sie quetscht?“

Sie sah in die Luft, als müsste sie ernsthaft darüber nachdenken.

„Stimmt ja, du hattest eindeutig Brandwunden. Zum Glück!“

„Zum Glück?!“

„Sonst wärst du verblutet. Was es mit dem Rauch auf sich hat, kann ich dir auch nicht sagen, die von Libra jedoch bestimmt. Deswegen werden wir Libra anlocken, indem wir uns viel in der Öffentlichkeit aufhalten. Früher oder später werden sie uns angreifen.“

„Ich freu' mich drauf. Dadurch werde ich bestimmt paranoid.“

„Du musst auf gar nichts achten, ich passe schon auf dich auf.“, sagte Mana und lächelte mich an, als wäre sie meine große Schwester. Sie fuhr fort:

„Darum wirst du auch fortan hier wohnen. Ein paar Tage warst du ja schon hier, wenn auch nicht bei Bewusstsein. Das Haus ist mit ein paar Pentakeln geschützt, so kommt niemand hier herein, der mir etwas antun will. Ich weiß auch schon die perfekte Gelegenheit, um Libra zu ködern. Warte kurz.“

Mana stand auf und ging in ihr Zimmer. Dieses Mal machte ich mir keine Gedanken darüber, was passieren würde. Erwartungshaltungen wurden meiner Erfahrung nach bei ihr nie erfüllt. Bereit für nichts, dafür von nichts zu überraschen oder zu enttäuschen ergab sich in mir eine höchst eigenartige Mischung von Erstaunen, Freude und einer Nüchternheit, die mich eigentlich vor Frust und Wut beschützen wollte, als Mana mit zwei Tickets für ein großes und weit bekanntes Metal-Festival wiederkam, das mir eigentlich immer zu teuer gewesen war, doch schon lange auf meiner To-Do-Liste stand.

Glücklich damit in der Luft herumwedelnd, setzte sich das Mädchen wieder an den Tisch.

„Mir egal, ob du die Musik hörst. Du kommst mit.“

„Ist mir ganz recht. Ich wäre auch sicher nicht mehr hier, wenn in deinem Zimmer Poster von unhörbaren Bands hängen würden.“

„Gut, ich habe die Tickets nämlich von deinem Geld gekauft. Du wärst mir sicher böse gewesen, hätte ich so viel für etwas ausgegeben, wovon du überhaupt nichts hast.“

„Glaub mir, ich bin dir trotzdem böse. Wie viel waren das, 200 Euro?“

„260. Dazu kommen die Kosten für den Zug, du hast ja noch keinen Führerschein.“

Ich wollte fragen, woher sie das wusste, doch bevor die Worte meinen Mund verließen, fiel mir ein, dass sie sich meiner Sachen bemächtigt hatte und nun ihrer Laune nach nutzte.

„In zwei Wochen findet es statt. Beeile dich, bis dahin deinen Körper in eine zumindest halbwegs brauchbare Verfassung zu bringen.“



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