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Mondkind

von

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Am Meer

Prolog

Dort am Strand, wo die Wellen ihren Gezeiten folgen

Das Blut, welches den goldenen Sand befleckt, ist so einfach zu leugnen

Kaum jemand erinnert sich, was einst hier geschah

Aber ich werde es tun immerda

An jene Nacht, wo meine Freundin sich gegen das Leben und für ihre ewige Liebe entschied.

IHN hasse ich nicht, doch zwischen mir und der Welt herrscht seitdem blutiger Krieg.

Zwei Seelen

Die Nacht hatte ihren schwarzen Mantel ausgebreitet und ihn um die kleine Stadt am Fuß des azurblauen Meeres gelegt. Stück für Stück erloschen die Lichter in den Häusern. Jeder begab sich zur Ruhe und ließ sich entspannt ins Reich der Träume gleiten.

Doch vor einem noch hell erleuchteten Fenster stand eine junge Frau, die auch in dieser Nacht keinen Frieden finden sollte. Viel zu sehr war sie in ihre Arbeit vertieft. Der Pinsel tanzte regelrecht über die Leinwand und zauberte die schwungvollen Konturen einer Tänzerin. Shizukesa stöhnte und fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Einzelne Strähnen ihres langen, braunen Haares klebten an ihrer Wange. Malen war doch anstrengender als viele Leute glaubten. Zumal die Konzentration pausenlos im Einsatz war.

Trotzdem breitete sich auf ihrem kindlichen - unschuldigen Gesicht wieder dieses besondere Strahlen aus, das viel zu selten sichtbar war. Nur wenige Menschen kannten es und diese verschwanden immer mehr von der Bildfläche. Kunst war ihr Ein und Alles, das Mittel zur persönlichen Sprache. Sie ersetze Shizukesa das, was sie vor sechzehn Jahren verloren bzw. freiwillig aufgegeben hatte: Ihre Stimme!

Trotz ihres sehr ansprechenden Aussehens, einem mitfühlend – gütigem Herzen und künstlerischer Hochbegabung war die junge Frau aus freiem Willen stumm und somit das „schwarze Schaf“ der Familie. Hier auf ihrer heimatlichen Insel galten noch die alten Konventionen und diese besagten auch, das jedes Mädchen möglichst früh heiraten sollte.

Shizukesa seufzte, deswegen war sie das Problem, der Schandfleck; wer wollte schon eine Stumme an seiner Seite? Auch wenn ihre Familie und enge Freunde den Grund für ihre Entscheidung sehr wohl kannten, häuften sich die bösen Zungen immer mehr. Und selbige glaubten, das sie nichts von den lästerlichen Unterhaltungen mitbekam...aber ihr Gehör war noch vollkommen intakt. Doch Shizukesa zeigte niemals ihre Traurigkeit, diese Genugtuung wollte sie ihnen nicht geben.

Ihr Bild nahm langsam die gewünschte Form an. Die junge Frau überlegte kurz, dann tauchte sie den Pinsel wieder in die schwarze Farbe. Eigentlich hatte sie der Tänzerin ein fröhlich – buntes Gewand verleihen wollen, das für den Optimismus im Leben stand. Doch es passte nicht zu ihrer momentanen Stimmung, also trug sie ein dunkel – züchtiges Kleid, welches trotzdem noch genügend Bewegungsfreiheit ließ.

Nach getaner Arbeit schloss die junge Frau ihre Farbtöpfchen, ging zum Fenster und blickte gedankenverloren in die Finsternis. Ein kühler Lufthauch streifte ihr Gesicht und schien beinahe wie eine Liebkosung. „Ob es dort draußen jemanden gibt, der im Stande ist, mich zu lieben? Auch wenn ich schweige...“, überlegte Shizukesa und eine stille Träne lief über ihre Wange. Jeder wusste von den tragischen Ereignissen ihrer Kindheit und dem Auslöser ihrer Stummheit. Trotzdem war das Verständnis nicht mehr als eine schlechte Fassade, hinter der die Abneigung brodelte. „Ich hasse die Menschen.“ Dieser Gedanke war von Bitterkeit erfüllt.

Der seltsam tröstende Nachtwind streichelte sein anmutig geschnittenes Gesicht und entlockte ihm ein winziges Lächeln. Auch mit den schulterlangen, brauen Haaren wagte er zu spielen. „Nur, weil du mein jahrhundertelanger Gefährte bist, werde ich dir vergeben“, drohte Camui grinsend und widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem, was vor ihm lag. Die kleine Stadt mit ihren zahlreichen Lichtern und Persönlichkeiten. Er genoss es, dieses atemberaubende Panoramabild von oben betrachten zu können. Dieses Privileg seiner Art liebte Camui sehr; Fliegen, das Gefühl von absoluter Schwerelosigkeit und Freiheit. Ohne diese zeitweilige Flucht wäre er, so die feste Überzeugung des Vampirs, schone lange dem Irrsinn verfallen. Einsamkeit sowie das unablässige Erwachen und Stürzen in der Welt forderten ihren Tribut. Camui seufzte, verringerte seine Höhe und landete elegant auf einem Ast. Die üppige Baumkrone verbarg seine imposante Erscheinung beinahe vollkommen. Er trug ein weißes Satinhemd mit riesigen Puffärmeln. Diese wirkten edel, ohne ihm eine weibliche Note zu verleihen. Darüber saß eine wertvolle Kurzweste aus Silberbrokat. Schlicht dagegen waren seine Beinkleider; eine Hose aus einfachem schwarzen Stoff, die sich trotzdem hervorragend in das Gesamtbild einfügte.

Schon sein Äußeres reichte aus, um die Menschen zu verführen. Camuis eigentlich blaue Augen leuchteten in einem düsteren Rot. Es wurde langsam Zeit, schon bald würde er sich ein neues Opfer suchen müssen, um seinen niemals endenden Durst zu stillen. Der Vampir seufzte und ließ es zu, dass der bleiche Mondschein sein Gesicht erhellte.

Knappe hundert Jahre war es nun her, dass er seinem sterblichen Leben, mehr oder weniger freiwillig, entsagt hatte. Sein Schöpfer, ein unbekannter, noch nicht sehr erfahrender Vampir, war einige Tage nach Camuis Erwachen spurlos verschwunden und hatte sich niemals wieder gezeigt. Am Anfang hatte diese Erfahrung geschmerzt, mittlerweile akzeptierte der Vampir es. Wahrscheinlich wäre ihr Verhältnis sowieso nicht besonders gut gewesen.

So hatte Camui seinem neuen „Leben“ allein und schutzlos die Stirn bieten müssen, doch er meisterte diese Herausforderung. Solche Dinge waren schon in seiner menschlichen Existenz keine Seltenheit gewesen. Camui lächelte bei dieser Erinnerung; die früheren Bilder waren keineswegs verblasst, lediglich der Schmerz hatte sich zerschlagen. Das einzige Gefühl, was diesbezüglich geblieben war, konnte man Melancholie nennen.

Er sah den jungen Mann im demütigen - weißen Gewand des Tempels. In seiner Hand lag das Katana, mit dem er regelmäßig mehrere Stunden trainiert. Es diente zur Schulung der Kampfkunst, aber auch dazu, Körper und Seele in Einklang zu bringen. Seine langen Haare verliehen ihm dabei ein gerade unnatürlich wildes Aussehen, worum ihn manche Schüler glühend beneideten. Auch wenn Camui nicht einmal etwas tat, um seine besondere Ausstrahlung zu erhalten; sie war einfach ein Geschenk der Götter. Und eben dieser Neid wurde sein tödliches Verhängnis, denn die Natur ließ auch den jungen Mann nicht kalt:

Es war ein schöner Frühlingstag gewesen, an dem Camui zu einem meditativen Spaziergang aufgebrochen war. Die Ruhe und Schönheit der Natur befreiten Geist und Seele von allen Belastungen. An einer Weise war er kurz stehen geblieben, um sich im Durft der Gardenia zu verlieren, als seine Augen SIE erblickten; ein junges, hübsches Mädchen im weißen Kleid. In ihrem langen dunkelblonden Haar hatte das Sonnenlicht sich golden reflektiert. In Camuis Augen war sie das Abbild der leibhaftigen Göttin. Ehrfürchtig sank er auf die Knie, das Herz schlug gegen seinen Brustkorb. Sogar sein stechender Blick war gesenkt.

Das Mädchen schaute ihn irritiert an, reichte ihm trotzdem die Hand. Auch sie war von dem unbekannten Jüngling mehr als fasziniert. Ohne Zögern griff Camui danach und blickte ihr zum ersten Mal direkt in die Augen. Sie waren braun wie seine eigenen und ihr Glanz wirkte, als habe jemand reines Silber zerstoßen.

Camui schauerte; wie von selbst legten sich seine Arme um ihre Taille. Das Mädchen wehrte sich nicht, ihre Augen verrieten das Begehren. Keiner sprach ein Wort, trotzdem wusste jeder um die Gefühle des anderen. Es war ein stummes und dennoch flammendes Begehren. Ohne über die Konsequenzen oder die Richtigkeit seines Handelns nachzudenken, presste der junge Novize seine Lippen auf ihre. Das Mädchen erwiderte seinen Kuss leidenschaftlich, obwohl sie genauso unerfahren war. Der Wind strich über Haare und frei liegende Haut. Zahlreiche Glühwürmchen tanzten um sie herum, als wollten sie ihren Segen spenden.

Der junge Novize blickte seiner Geliebten tief in die Augen und hauchte: „Ich liebe dich!“ Jene Worte, die er zu einem Menschen niemals hätte sagen dürfen. Doch diese Tatsache und die Konsequenzen waren Camui gleichgültig; es zählte nur der Augenblick! „Ich liebe dich auch“, erwiderte das Mädchen und versank in seinen Armen. Ihre beiden Herzen hatten den jeweiligen Körper verlassen.

Von diesem Tag an trafen Camui und das Mädchen sich regelmäßig, wenn auch heimlich. Niemand durfte von ihrer Liebe erfahren, soviel war beiden klar. Doch seltsamerweise empfand der Novize kein schlechtes Gewissen seinen Göttern gegenüber; er empfand diese Zuneigung nicht als weltliche Prüfung, sondern als ein kostbares Geschenk. Denn diese Liebe machte ihn unendlich glücklich und erfüllte seine Welt mit einem Licht, was ihm der Glaube allein niemals hätte spenden können.

Es dauerte nicht lange, bis Camui mehr begehrte als nur ihre unschuldige Gegenwart; er wollte sie mit Haut und Haar. Das Mädchen war, ob dieses Verlangens, etwas unsicher gewesen, gestand sich jedoch, das sie ähnlich empfand. In einer kalten Winternacht gaben sie schließlich einander hin, verliebt, verzaubert und ohne Gedanken an den Morgen.

Selbst heute, nach über dreihundert Jahren, war seine Erinnerung an diese Schicksalsnacht noch immer lebendig. Noch immer roch der Vampir ihre Haare, welche nach Kirschblüten dufteten, fühlte die zarte Reinheit ihrer makellos weißen Haut und schmeckte das Feuer ihrer wund geküssten Lippen. Den Namen seines Mädchens wusste er nicht mehr, doch diese Eindrücke blieben haften. „Ich habe nicht gewusst, das diese Nacht unsere Letzte sein sollte“, murmelte Camui gedankenverloren und obwohl der Schmerz mittlerweile ausgemerzt war, spürte er dennoch eine schale Bitterkeit. Eine Blutträne tropfte von seinem Gesicht.

Nach der ersten Liebesnacht war sein Mädchen gegangen, nicht ohne das Versprechen, ihn in der folgenden Nacht wiederzusehen. Ihr sanftes Lächeln hatte dabei mehr gesagt als tausend Worte. In Camuis Herzen war die Sonne aufgegangen und er hätte vor Glück die ganze Welt umarmen können. Doch er war gezwungen gewesen, seine Emotionen zu unterdrücken.

Der junge Novize schlief mit einem seligen Lächeln ein, um am nächsten Morgen früh seine Arbeit zu beginnen: Er meditierte und kümmerte sich um die Gärten. Die anderen Novizen grüßten ihn freundlich und alles schien seinen gewohnten Gang zu nehmen. Als Camui gerade hochkonzentriert mit dem Katana übte, kam einer der Novizen aufgeregt auf ihn zugerannt: „Du musst sofort kommen“, keuchte er, „man hat eine Leiche gefunden. Sie liegt im Teich.

„Sie!“ Camui erbleichte, warf das Schwert zur Seite und rannte wie beherzt los. Er betete zu allen, ihm bekannten Göttern, dass sein Verdacht sich nicht bestätigen möge. Doch sein Flehen wurde nicht erhört; kaum hatte der Novize sein Ziel erreicht, sah er das Unglück, welches sein ganzes Leben mit einem Schlag vernichtete. Sein geliebtes Mädchen trieb leblos vor ihm im Wasser. Ihre Haare lagen wie ein magischer Teppich auf der Oberfläche. Die beringten Hände schienen mit den Wellen zu spielen und ihre bleichen Lippen umspielten ein friedliches Lächeln. Sie war, selbst im Tod, noch wunderschön und für einen Fremden schien es, als schliefe sie nur. Doch in ihrem Körper war kein Funke Leben mehr zu finden.

Mit aller Gewalt kämpfte der junge Novize gegen die Tränen an, eilig schlug er die Hände vor das Gesicht. Jenes konnte als Schockreaktion gedeutet, doch in diesem Augenblick brach sein Herz. Nach den üblichen Begräbnisriten und Gebeten, von denen jedes Einzelne für ihn eine Qual war, zog Camui sich in sein Zimmer zurück. Lange Zeit war es dort totenstill, jedoch wagte niemand, ihn zu stören. Erst, als er sich sicher war, das alle anderen sich zur Ruhe begeben hatten, riss Camui die Tür auf und rannte wie von Sinnen zu der Wiese. Tränen liefen über seine Wangen und die Unterlippe blutete. Der junge Novize ließ sich ins Gras fallen und schrie endlich seinen ganzen Schmerz hinaus. „Warum“, flüstert er immer wieder, „warum nur?“. Doch niemand gab ihm eine Antwort, nur der Wind strich tröstend über seine Wange. Als Zeichen der Trauer zerriss Camui sein Gewand und schleuderte den Armreifen, weicher ihn als Novizen auszeichnete, fort. Von jetzt an gehörte er nicht mehr dazu; er hatte mit den Göttern gebrochen. Zielstrebig marschierte Camui nach Norden, wo die Stadt lag und schaute kein einziges Mal zurück.

Tagelang trieb er sich auf den verschmutzten Straßen herum, ohne Unterkunft oder Essen. Denn Camui besaß kein Geld und da er fast sein ganzes Leben im Tempel verbracht hatte, hatte er für das praktische Leben nichts gelernt. Doch das war dem jungen Mann egal, ihn kümmerten weder Hunger noch Dreck. Alles was seine Augen erblickten, war der gütige Tod, welcher Erlösung versprach. Camui lehnte an einer verdreckten Hauswand und wartete auf IHN.

Doch ER kam nicht, stattdessen erschien eine sonderbar – finstere Gestalt, die das kleine Häuflein Elend musterte. Nach einiger Zeit hob der junge Mann den Kopf und starrte seinen Betrachter mit leblosen Augen an. Ohne sich dieser Geste bewusst zu sein, spreizte er willig seine Beine und der Blick wurde noch leerer. Doch sein Gegenüber schüttelte den Kopf und kam langsam immer näher, „das ist nicht, was ich will“, sprach er tröstend und setzte sich auf den Boden. Es dauerte einige Minuten, bis Camui diese Worte realisierte; sie klangen wie aus einem fremden Universum. Mit glanzlosen, aber dennoch überraschtem Blick starrte er den Fremden an und gewahrte zum ersten Mal dessen übernatürliche Schönheit: Lange, fast schwarze Haare, welche in sitzender Haltung fast bis auf den Boden reichten. Sein Gesicht war schmal, aber nicht hager und die Haut hatte die Farbe von frisch gefallenem Schnee. Die Augen des Fremden waren braun und spendeten, auch ungewollt, zärtlichen Trost. Etwas, das Camui schon längst vergessen hatte. Ihm stockte der Atem; niemals zuvor hatte er ein schöneres Wesen gesehen. Selbst seine verlorene Geliebte verblasste für einige Sekunden. Ihre beiden Schönheiten waren nicht miteinander vergleichbar; das Mädchen war klar und rein wie Spiegelglas gewesen, der Fremde schien im Gegenzug wie eine schwarze Perle; geheimnisvoll, verschlossen und dennoch besaß er einen faszinierenden Glanz.

Unbeholfen schaute Camui in seine giftgrünen Augen, diese schlugen ihn sofort in ihren Bann und erforschten seine Seele. Ein Schauer kroch über seinen Rücken. Der junge Mann konnte sein Verhalten selbst nicht erklären; noch vor wenigen Stunden hatte er nach dem Tod verlangt, jetzt brannte in ihm die krankhafte Sehnsucht nach der Umarmung des Fremden. Camui biss sich auf die Unterlippe und versuchte gewaltsam, seine undefinierbaren Gefühle zu unterdrücken. Sie waren so absurd und falsch..

Der Fremde lächelte nachsichtig – wissend und ehe Camui reagieren konnte, zog er ihn in die gewünschte Umarmung. Dieser erstarrte und unternahm den halbherzigen Versuch einer Befreiung: „Kami-sama!“ Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Der Fremde lachte und schüttelte den Kopf: „Nein, ich bin kein Mensch, aber mit Gott würde ich mich trotzdem nicht gleichsetzen!“ Camui überhörte diese Worte völlig, er zitterte am ganzen Leib und genoss die makabere Wärme dieser Umarmung. Wie in Trance spürte er, wie der Fremde zärtlich durch seine Haare strich und Tränen liefen über seine Wangen. Der ehemalige Novize weinte ob seines schmerzhaften Verlustes und der Einsamkeit, welche ihm das Leben bis jetzt gezeigt hatte. Früher war es ihm gar nicht aufgefallen, aber jetzt...Camui hatte das Leben im Tempel nicht gewählt, er war dort hinein geboren worden und hatte niemals etwas anderes gekannt.

Nach einer Weile hob er den Kopf und musterte sein Gegenüber verstohlen. Dieser lächelte, er schien diese Geste niemals zu verlieren. Der junge Mann bebte, er wollte so viele verbotene Dinge tun und vermochte es trotzdem nicht. Wieder ergriff der Fremde die Initiative und presste seine Lippen auf Camuis Mund. Dieser riss erschrocken die Augen auf, erwiderte den Kuss aber. Ein brennendes Feuer kroch durch seine Adern, intensiver und leidenschaftlicher als jemals zuvor. Er seufzte und legte die Arme um den Nacken seines Geliebten. Dessen Küsse wanderten den Hals hinab bis hin zur Brust.

Der ehemalige Novize genoss die fast unnatürliche Wärme dieser Berührungen. Seine Gedanken lösten sich in Rauch auf, selbst die Tatsache, das sein Verführer männlich war, zählte nicht. „Bitte...mehr“, flehte Camui erstickt und bog sich diesen magischen Händen entgegen. Der Fremde kam seiner Bitte gerne nach und ließ eine Hand unter das Oberteil, die andere in die Hose gleiten. Der junge Mann bäumte sich auf und schrie vor Lust, als die geschickten Finger seine Erregung massierten. Gleichzeitig biss er noch neckisch in seine Brustwarzen. „Es ist nicht allein dein Körper, welchen ich begehre“, raunte der Fremde und schenkte ihm einen weiteren Kuss, „ich will dein Blut!“ Noch während er diese Worte sprach, begann seine Hand, energischer zu werden, so das Camui die fatale Bedeutung nicht verstand. Er keuchte und erst ein stechender Schmerz in seinem Hals klärte das Bewusstsein.

Doch es war zu spät; der Vampir hatte seine Zähne bereits in die Haut geschlagen. Gierig trank er das köstliche Blut, Gedankenfetzen und Erinnerungen seines Opfers strömten auf ihn ein; diesmal waren sie interessant, fast rührend. Er blickte in die starren Augen des jungen Mannes, noch im Todeskampf hatte dieser sich in seine Hand ergossen. Er war eine vergessene Schönheit; ein Mensch, dessen Glanz auf ewig unentdeckt bleiben würde, wenn man nicht handelte. In diesem Fall war es eine fast tragische Verschwendung.

Der Vampir seufzte, dann nahm er Camuis Gesicht in seine Hände. Seine Lider flatterten leicht, der Tod hatte ihn noch nicht. „Höre mir zu: Du wirst sterben. Ich habe fast dein ganzes Blut ausgesaugt. Es sei denn, du wählst das Leben als Kreatur der Nacht!“ Camui schaffte es gerade noch zu nicken, bevor er in die fast erlösende Finsternis glitt. Doch der Fremde ließ es nicht zu, schnell öffnete er sein Handgelenk und erlaubte seinem hilflosen Opfer zu trinken. Der junge Mann reagierte sofort, packte hungrig die dargebotene Quelle und trank. Schluck für Schluck nahm er das fremde Leben in sich auf und spürte, wie sein Körper sich veränderte. Die Welt schien in Farben zu explodieren und sich gleichzeitig neu zu erschaffen. Auch krampften seine inneren Organe sich zusammen, was in nahezu unerträgliche Scherzen mündete. Camui schrie und zitterte wie unter Folter. Der Fremde lächelte beruhigend und nahm seine Hand. Es sollte das letzte Mal sein, das sein Schöpfer ihn berührte.

Der Vampir seufzte und blickte melancholisch zu den Sternen. In den letzten Jahrzehnten hatte er sich oft gefragt, warum sein Schöpfer ihn im Stich gelassen hatte, jedoch nie eine Antwort gefunden. Nicht einmal seinen Namen kannte er, der einzige Trost war zu wissen, das der unbekannte Vampir noch am Leben war. Seinen Tod hätte er gespürt. Dennoch war es anstrengend und qualvoll, die Ewigkeit alleine zu verbringen. Camui wusste; es erforderte eine fast unerreichbare Stärke, dem Strom der Gezeiten zu trotzen, wenn man sich selbst nicht veränderte.

Als Unsterblicher sah man ganze Welten erwachen und gleichzeitig wieder fallen. Alles, was man kannte und schätzte, zerfiel vor den eigenen Augen. Camui seufzte: Er hatte sein Mädchen nicht vergessen. Nur war sie für ihn unwiederbringlich verloren und sein Herz sehnte sich nach einer neuen Liebe. Einer Gefährtin, mit der er die Ewigkeit teilen konnte. Stumm fragte der Vampir den Mond, ob es so jemanden für ihn gäbe. Eine Antwort blieb jedoch aus.

Falsche Sorge

Am nächsten Morgen wurde Shizukesa unsanft von lauten Geräuschen geweckt. Verschlafen rieb sie sich die Augen und stand auf. Der Lärm kam eindeutig aus der Küche, was bedeutete, das es bald Frühstück geben würde. Trotzdem ließ die junge Frau es sich nicht nehmen, zuerst den strahlenden Sonnenschein zu begrüßen. Zärtlich liebkoste er ihr Gesicht und sie lächelte. Tief in ihrem Innern wusste Shizukesa, das dies wahrscheinlich das einzige Lächeln für den heutigen Tag bleiben würde. Denn die Mahlzeiten mit ihrer Familie bedeuteten auch gleichzeitig hitzige Diskussionen: Das Thema war dabei immer das Gleiche: Ihre psychische Krankheit und wie man diese am besten heilen konnte. Jeden Tag redeten ihre Eltern oder wahlweise irgendwelche Verwandten über Medikamente, Therapien oder alternative Behandlungsmethoden. Keine dieser Ideen hatte bisher auch nur ansatzweise zum Erfolg geführt.

Die junge Frau schmunzelte, sie wusste nicht, ob diese Mühen zum Lachen oder Weinen aufforderten. Shizukesa hatte ihre Stummheit als einen Teil ihrer selbst akzeptiert, denn, im Gegensatz zu ihrer Familie wusste sie; ihre Stimme würde zurückkehren, sobald es jemandem gelang, ihre Herzenswunde zu schließen. Die junge Frau warf einen Blick auf ihren Nachttisch. Dort stand ein kleines, eingerahmtes Foto, welches ein kleines Mädchen zeigte. Obwohl sie sehr viel jünger war als Shizukesa, fiel die Ähnlichkeit sofort ins Auge. Sie schluckte und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen. Alle vermuteten es, doch nur ihre beste und gleichzeitig einzige Freundin Kibo hatte die Gewissheit: Die Ursache für Shizukesas freiwillige Stummheit war der tragische Tod ihrer kleinen Schwester Taiyou. Mit Schauern erinnerte die junge Frau sich an jenen schicksalhaften Tag zurück, als diese vor ihren Augen im Meer ertrank, ohne das sie, Shizukesa, es hätte verhindern können.

Das Rauschen des Windes...das Tosen der Wellen...und die verzweifelten Hilferufe Taiyous...all das hallte manchmal noch zu deutlich in ihren Ohren wieder. Dabei war es sechzehn Jahre her und auch wenn sich alle bemühten, sich ihr gegenüber so normal wie möglich zu verhalten, war der emotionale Riss deutlich zu spüren. Ob dieser nun in heimlichen Vorwürfen, Abscheu bezüglich ihrer Krankheit oder einer großen namenlosen Sorge begründet lag, konnte die junge Frau nicht einmal sagen und es war ihr auch gleichgültig. Nur die zwanghafte Isolation missfiel ihr zutiefst: Körper und Geist verlangten nach Freiheit, wollten den Schmerz und das Glück dieser Welt erleben. Aber derartige Wünsche zu äußern war sinnlos und führten nur zu einem Konflikt, dessen Ausgang schon feststand. Dabei war sie, trotz allem, nur eine junge Frau von zweiundzwanzig Jahren, die gerade einen neuen Lebensabschnitt begann und diesen auch in vollen Zügen auskosten wollte. So zog er wie eine Nebelschwade an ihr vorbei.

Shizukesa lachte verbittert, aber so, das es niemand hören konnte. Wenigstens hatten sie ihr eine einzige Freundin gelassen; Shizukesa und Kibo kannten einander von Kindesbeinen an und ihre Verbindung war viel zu innig gewesen, als das sie dieser Schicksalsschlag hätte trennen können. Als das Unglück mit Taiyou passierte und das damals noch junge Mädchen in ihre Stummheit hinab glitt, war Kibo die Einzige gewesen, die sich nicht auf Therapie und Medikamente gestürzt hatte, sondern die Entscheidung einfach akzeptierte. Deswegen war Kibo auch die Einzige, welcher Shizukesa bedenkenlos alles anvertrauen konnte. Unter anderen auch, das sie sich, entgegen ihrer Krankheit, einen Freund wünschte, der sie auch ohne Stimme lieben konnte. Jemand, der es weder auf eine schnelle Heirat noch auf den Reichtum ihrer Familie abgesehen hatte. „Ob es einen solchen Menschen in dieser Welt überhaupt gibt“, überlegte die junge Frau träumerisch und griff zu ihrem Pinsel, um ein neues Bild zu beginnen. Bald schon zeigte die Leinwand das Abbild eines jungen Mannes mit langen, braunen Haaren und altmodisch – edler Kleidung, was seine Schönheit noch mehr hervorhob. Doch etwas an ihm war anders; die Aura, welche ihn wie ein Mantel umgab, war nicht menschlich.

Der Besucher

Während dessen flog Camui lautlos durch die Nacht. Er kannte nur ein Ziel; sein quälender Durst musste gestillt werden. Der Vampir hatte tagelang keine Nahrung mehr zu sich genommen, statt dessen hing er seinen Gedanken nach. Die Sehnsucht nach Wärme brannte in ihm wie ein gieriges Feuer, das schlimmer war als jeder Hunger. Tagsüber schwebte, während des Totenschlafes, das Bild jenes Mädchens vor seinem geistigen Auge und verdeutlichte die Einsamkeit.

Sehr lange Zeit hatte Camuio nicht mehr bewusst an sie gedacht. Wurde sein Herz dermaßen von Kälte und Ignoranz beherrscht? Das unbändige, nicht rein sexuelle Verlangen nach einer Gefährtin sprach eindeutig dagegen, was die Pein jedoch nicht linderte. Der Vampir knurrte aggressiv und seine Augen glühten; er durfte jetzt nicht in Grübeleien versinken. Wenn er nicht schleunigst ein wenig Blut zu sich nahm, würde der Tod seine dämonischen Fänge nach ihm ausstrecken. Welche Ironie; ein Vampir bezeichnete den Tod als dämonisch – grausam, dabei war er die Kreatur mit der schwarzen Seele.

Camui steuerte auf den abgelegenen Teil der Stadt zu, hier lebten seine bevorzugten Opfer; Prostituierte, Drogenabhängige, Selbstmordkandidaten, Obdachlose. Menschen, die niemand vermisste und ihrer Existenz überdrüssig waren. Manchmal war die Liste ihrer Straftaten sogar länger als Camuis, was sein schlechtes Gewissen beruhigte.

Plötzlich stieg dem Vampir ein blumig – erotischer Duft in die Nase, wie er ihn nie zuvor vernommen hatte; es war eine verlockende Mischung aus Lilien, Jasmin und Rosen, gepaart mit einer Unschuld, welche den Verstand betäubte. Sofort traten seine Fangzähne hervor und zwar unkontrolliert. Verdammt, welcher Mensch besaß solches Blut? Ruckartig wandte Camui den Kopf und war kaum mehr Herr seiner Sinne. Jedem normalen Menschen hätte diese abprubte Bewegung das Genick gebrochen. Seine Quelle saß im vornehm – reichen Teil der Stadt; eine Gegend, die der Vampir eigentlich mied. Nicht nur, weil ihm die ganze Heuchelei und das überhebliche Getue auf die Nerven ging; die Suche nach einem Opfer gestaltete sich deutlich schwieriger. Verschwand ein Mensch aus diesen Reihen, so wurde unermüdlich nach ihm gesucht. Selbst die Polizei wurde von einigen dieser Familien kontrolliert und bezahlt. Camui konnte sich zwar, mit Hilfe seiner telepathischen Fähigkeiten, unauffällig unter ihnen bewegen, doch warum sollte er das tun? Außer das ihr Blut höchstwahrscheinlich köstlicher schmeckte, gab es keinen Grund, diesen Aufwand zu betreiben.

Aber das hatte sich nun schlagartig geändert; innerhalb weniger Sekunden hatte dieses Blut ihn so berauscht, das er bereit war, jedes Tabu zu brechen. Der Vampir machte auf dem Absatz kehrt und flog zielstrebig dem lockenden Geruch entgegen. Es dauerte nicht lange, bis er die Quelle ausfindig gemacht hatte: Es war eine junge Frau, welche bei offenem Fenster selig schlief. Ihr langes hellbraunes Haar bedeckte das Kissen wie ein reißender Fluss und ihr melancholisch – verträumtes Lächeln schien wie ein tröstender Frühlingsregen. Auch wenn das Gesicht mädchenhaft – unschuldig wirkte, so spürte Camui doch jenen immensen Schmerz, welcher hinter den geschlossenen Augen flackerte. Was hatte diese Frau erlebt, das ihr Vertrauen dermaßen gebrochen war. Der Vampir ballte die Faust, er musste achtgeben, dass das Verlangen seine Sinne nicht zu sehr betäubte. Andernfalls würde er möglicherweise noch leichtsinnig werden.

Elegant landete Camui auf der Fensterbank und betrat das Zimmer; es war hübsch eingerichtet, für einen Schlafraum jedoch sehr unpersönlich. Das Einzige, was ansatzweise von Gefühl oder Leben, zeugte, waren die Bilder, welche entweder auf Staffeleien standen oder die Wände schmückten. Der Vampir staunte nicht schlecht, hatte die junge Frau das alles selbst gemalt? Wenn dem so war, besaß sie ein ungewöhnliches Talent, das nicht verschwendet werden durfte. Er wollte sich gerade dem Bett nähern und seine Tat vollenden, als ein bestimmtes Bild seine Aufmerksamkeit fesselte. Camui betrachtete es genauer und im nächsten Moment weiteten sich seine Augen; dieses Werk zeigte einen jungen Mann in altmodischer Kleidung und braunen Augen. Obwohl diese Person von einer düsteren Aura umgeben war, zeichneten die Farben keine panische Angst, sondern unstillbare Sehnsucht. Es war kein direktes Portrait von ihm, trotzdem war die Ähnlichkeit nicht zu leugnen. Der Vampir machte einen Schritt zurück und sein Blick wanderte zwischen dem Gemälde und der schlafenden Frau hin und her. Konnte es möglich sein? Oder spielte die Einsamkeit ihm grausame Streiche? Sehnte diese Frau sich tatsächlich nach einem Wesen wie ihm?

Bilder offenbarten seit jeher die Seele des Künstlers, dort konnte man sich nicht verstecken. Und wenn sie ihn wirklich begehrte....Camuis untotes Herz setzte einen Schlag lang aus und er griff sich an die Brust. Sollte sie die langersehnte Gefährtin sein, die das Schicksal für ihn bereit hielt? Romantische Gefühle drangen in seine Gedanken und nur die hervor tretenden Eckzähne erinnerten ihn an sein Vorhaben, das er um jeden Preis ausführen musste; sein Hunger quälte und brachte ihn in den Wahnsinn. „Aber diesmal wird es anders“, flüsterte er und näherte sich der schlafenden Schönheit, „ich werde dich verführen, betören als wäre es ein Teil eines erotischen Traums!“ Lautlos setzte Camui sich auf die Bettkante und seine geschmeidigen Finger glitten durch die Haarpracht. Obwohl es hellbraun war, glänzte es wie pures Gold. Die junge Frau seufzte wohlig und zuckte leicht zusammen, als der Vampir versehentlich ihre Haut streifte. Jedoch machte sie keine Anstalten, sich den Liebkosungen zu entziehen.

Vorsichtig ging Camui einen Schritt weiter, strich die wundervolle Pracht zur Seite und glitt mit der Zunge über ihren Nacken und den halbfreien Rücken. Das einladend pulsierende Blut vernebelte den Verstand. Unbewusst kratzte er mit den Fangzähnen über die empfindliche Haut. Ein unterdrücktes Stöhnen verriet, das es ihr gefiel. Die dünnen Träger ihres Nachthemdes wurden nach unten gestreift, „dreh dich um“, hauchte der Vampir sinnlich in ihr Ohr. Schlaftrunken folgte sie dem Befehl und legte sich auf den Rücken. Nun streichelte der Vampir ihren schlanken Hals und stoppte nur knapp über dem Ansatz ihrer Brüste. Alles in ihm verlangte danach, diese Pfirsiche zu streicheln und zu schmecken. Doch, konnte er es wagen?

Camui schüttelte den Kopf und widerstand der Versuchung. Statt dessen näherte er sich langsam der Schlagader, die wie ein Herz pochte. Gleich...gleich würde er dieses köstliche Blut schmecken und, im Gegensatz zu den anderen Opfern, sich an sie erinnern. Diese Ehre gebührte nicht jedem. Gerade, als der Vampir seine Zähne in ihren Hals schlagen wollte, schreckte Shizukesa hoch und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Camui wich zurück, aber für eine Flucht war es zu spät; sie schaute ihn direkt an. Doch der Blick zeigte keine hysterische Panik, eher Verwunderung mit einem Hauch Freude. „Du“, formten ihre Lippen tonlos, denn Shizukesa hatte den Fremden auf ihrem Gemälde sofort wieder erkannt. Niemals hätte sie gedacht, das es mehr als eine Fiktion, ein Produkt ihrer Phantasie sein könnte.

Auch für Camui war die Situation völlig neu; normalerweise hatte er sein Opfer mittels Gedankenkraft zum Schweigen bringen müssen. Doch diese außergewöhnliche junge Frau unternahm keinen Versuch, ihn zu attackieren oder das Haus zusammen zu kreischen, sie betrachtete ihn einfach nur und nicht mit geringer Freude. Der Vampir räusperte sich, verließ seine Deckung und ging auf sie zu, „es tut mir leid, das ich dich erschreckt habe“, sprach er würdevoll und gab sich keine Mühe, die Fangzähne zu verbergen. Shizukesa schüttelte den Kopf und zeigte ihm durch Gesten, das er sich zu ihr setzen sollte. Das ihr unschuldiger Körper sich unter dem Nachthemd sehr deutlich abzeichnete, schien der jungen Frau gleichgültig zu sein. Ebenso wie die Tatsache, das ihr Besucher ein Vampir war.

Irritiert folgte Camui der Aufforderung; er konnte sich kaum von ihren dunklen verträumten Augen losreißen. Sie faszinierten ihn ungemein, von ihrem süßen Blutduft ganz zu schweigen. Um von dieser Versuchung abzulenken, strich er über ihre glühende Wange, was Shizukesa sichtlich genoss. „Wie heißt du?“, erkundigte der Vampir sich unbeholfen und verfluchte sich innerlich für diese Frage; warum las er nicht einfach ihre Gedanken? Schließlich war sie nur ein Opfer wie viele andere auch.

Sein Gegenüber kicherte, griff nach der kleinen Schreibtafel auf ihrem Nachttisch und schrieb die Antwort auf. Camui las es mit wachsender Verwirrung, „bist du stumm“, fragte er gerade raus und traf damit ungewollt ihre Schwachstelle; die Freude in Shizukesas Augen wich dem Schmerz. „Ja, hast du etwas dagegen?“, schnappte sie zurück und versuchte erfolglos, ihre Tränen zu unterdrücken. Der Vampir musterte sie kurz, bevor er sie in seine Arme zog. Er konnte sich selbst nicht erklären, warum er das tat. Sein größtes Interesse hätte ihr Blut sein müssen, doch sie berührte etwas in seinem Innern, das lange Zeit geschwiegen hatte. Nur der Name war ihm unbekannt. Zuerst sträubte die junge Frau sich gegen Camuis Umarmung, gab dies jedoch bald auf; sie hatte keine Chance.

Statt dessen kuschelte sie sich an seine Brust und schluchzte leise. Es war viel zu lange her, das sie zum letzten Mal ernsthaft getröstet worden war; die unbeholfenen Gesten ihrer Eltern dienten einzig und allein dazu, ihren makellosen Schein zu wahren. Und obwohl die Nähe mehr als gefährlich war, genoss die junge Frau sie in vollen Zügen. Sie schauerte, als seine Hand liebevoll über ihren Rücken strich.

„Aber du bist nicht von Geburt an stumm“, drang Camuis beruhigende Stimme an ihr Ohr, „ich spüre ganz deutlich, wie dein Geist die Worte formen will. Doch ein unvorstellbar tiefer Schmerz blockiert ihn“, er löste die Umarmung und nahm ihr Gesicht in beide Hände, „was ist passiert?“ Shizukesa ballte die Fäuste, für einen kurzen Moment wollte sie auf ihren Besucher einschlagen und ihrer Wut freien Lauf lassen. Aber etwas Undefinierbares in seiner Stimme schürte ihr Vertrauen. Seufzend erhob die junge Frau sich und ging zum Fenster. Durch Gesten bat sie Camui, ihr zu folgen, was der Vampir sofort tat.

„Siehst du das“, fragte sie und zeigte mit der Hand auf eine kleine Bucht unten am Strand, „dort ist meine Schwester gestorben!“ Sanft – tröstend streichelte der Vampir ihren Hals; sie war ihm ausgeliefert und trotzdem würde er die Situation nicht für seine Zwecke missbrauchen. „Was ist passiert?“, hauchte er und seine kühlen Lippen streiften ihre erwärmte Haut. Shizukesa zitterte, sie wollte soviel mehr als reden.

Dennoch zwang sie sich fortzufahren: „Ich war damals sechs und Taiyou vier. Wir spielten am Strand so wie wir es immer taten. Die Stimme des Meeres und das rege Leben seiner Bewohner übte von Kindesbeinen an eine große Faszination auf uns aus. Daher kannten wir die Gezeiten und passten uns ihnen an. Aber an diesem Tag brach ein Sturm hervor, der aus dem Nichts zu kommen schien. Wir spielten gerade im Meer und ließen uns von den Wellen durchrütteln. Ich war die Erste, welche die Gefahr erkannte und rief meiner Schwester zu, das wir verschwinden sollten. Taiyou nickte, griff nach meiner Hand und gemeinsam rannten wir los. Beinahe hätten wir den schützenden Strand erreicht, als eine kräftige Welle Taiyou von mir fortriss. Ich drehte mich um und sah genau, wie meine Schwester in den Fluten versank. In diesem Augenblick stand ich, ein sechsjähriges Mädchen, vor einer Lebensentscheidung; weiterlaufen oder versuchen, sie zu retten. Mein Herz brach entzwei, doch mein Verstand sagte, das ich gegen die Kraft des Meeres keine Chance haben würde; eher würden wir beide ertrinken. Also rannte ich weiter, ohne mich umzudrehen. Langsam verhallten auch Taiyous Angstschrei hinter mir. Am Strand wurde ich dann von meinen Eltern aufgegriffen. Tränen liefen über meine Wangen und ich stand unter Schock. Drei Tage später haben sie Taiyou dann gefunden...natürlich lebte sie nicht mehr. Auch wenn mir niemand offen die Schuld an der Tragödie gab, spürte ich doch ihr hinterhältiges Gerede im Nacken. Nicht wenige waren der Ansicht, das ich an Taiyous Stelle hätte sterben sollen. Den Grund dafür weiß ich nicht. Andere meinten, ich hätte meiner Schwester helfen sollen. Doch das konnte ich nicht; was hätte ein Kind gegen eine Flutwelle ausrichten können? Unter dem Getuschel kümmerte sich niemand um mich und ich vereinsamte. Dadurch verschloss sich etwas in meinem Innern, das ich nicht benennen kann...deswegen spreche ich nicht mehr...Von meinem Umfeld ist Kibo die Einzige, welche das akzeptiert. Alle anderen haben sich...auf unterschiedliche Arten von mir abgewandt, selbst meine Eltern!“

Shizukesa kämpfte gegen die Tränen an; sie wollte nicht weinen. Nicht vor diesem attraktiven, geheimnisvollen Fremden, welchen sie nicht einmal kannte und welcher trotzdem in gewissem Maße die Erfüllung ihres Traumes verkörperte. Ihre Bilder waren stets die Sinnbilder ihrer Träume gewesen, auch wenn es niemand verstehen wollte. Dennoch liefen einige Tränen über ihre Wangen, die der Vampir sanft wegstrich. Ohne Gegenwehr ließ sie sich ins Bett zurückführen. Den Grund dafür kannte sie selber nicht; er war ein Fremder, der in ihr Zimmer eingebrochen war und dann noch nicht mal ein Mensch. Als Künstlerin war die junge Frau stets empfänglich für das Übernatürliche gewesen und jetzt hatte sich ihre Befürchtung (oder ihr Wunsch) bezüglich dieser Existenz bewahrheitet. Sollte sie jetzt Angst haben oder sich freuen? Die junge Frau musterte ihr Gegenüber; seine Ausstrahlung war definitiv gefährlich und doch so schön. Sein hypnotisch – durchdringender Blick zog Shizukesa in Bann und sie sträubte sich nicht, als er die Decke über sie zog. „Schlaf“, drang Camuis zärtliche Stimme an ihr Ohr, „ich werde über dich wachen!“ Keine zwei Sekunden später fielen ihr die Augen zu.

Scheues Verlangen und tiefes Vertrauen

Der Vampir lauschte nach einige Minuten ihren regelmäßigen Atemzügen, ehe er leise fluchend das Zimmer verließ. Nicht, weil er seine Begegnung mit Shizukesa bereute; ihr war es gelungen, sein untotes Herz wieder schlagen zu lassen und auch die längst vergessene Wärme durchströmte sein Innerstes. Konnte es möglich sein? War er bereits unsterblich verliebt? Hatte die ewige Suche nach einer Gefährtin so abprubt ein Ende gefunden? Obwohl ihre Begegnung kaum mehr als eine Stunde gedauert hatte, spürte Camui, dieses junge Geschöpf schon sehr lange zu kennen. Und sie schien diese Empfindungen zu teilen. Der Vampir lächelte; das Shizukesa ihm so freizügig ihre Lebensgeschichte erzählt hatte, bewies ihr großes Vertrauen. Vertrauen...was war das für ein Gefühl? Und wann hatte er es zum letzten Mal gespürt?

Leider hatte Camui im Rausch der Empfindungen seinen Hunger völlig vergessen und dieser quälte ihn jetzt erbarmungslos; seine Augen schimmerten wie glühendes Feuer und seine Zähne stachen ungeniert hervor. Ein schlecht unterdrücktes Knurren entwich seiner Kehle und der Vampir tat, was er noch nie zuvor getan hatte; er landete in einem Waldstück und schnappte sich das nächstbeste Tier, das es wagte, seinen Weg zu kreuzen.

Shizukesa erwachte am folgenden Morgen mit einem Lächeln im Gesicht. Sie fühlte sich so frei, so gelöst von den Sorgen dieser Welt. Mit leichtem Fuß stieg die junge Frau aus dem Bett und öffnete ihr Fenster. Die Sonnenstrahlen prickelten auf ihrer Haut und wärmten diese. Wann war diese Umarmung jemals so tröstlich gewesen? Auch der Gesang der Vögel klang sehr viel lauter in ihren Ohren; fast konnte Shizukesa ihre exakten Noten bestimmen. Den Grund für ihre Euphorie und die Sinnesverschärfung kannte sie und eine verlegende Röte streifte ihre Wangen; es war jener Fremde, der sie letzte Nacht besucht hatte. Seine Absichten waren dabei eindeutig gewesen. Reflexartig tastete die junge Frau nach ihrem Hals, fühlte jedoch keine Bisswunde. Zum Glück! Dennoch jagte der Gedanke einen erotischen Schauer über ihren Rücken.

Die junge Frau musste nicht einmal die Augen schließen, um das Bildnis vor sich entstehen zu lassen; er sah geradezu umwerfend aus trotz der finsteren Ausstrahlung. Sein Gesicht war fast identisch mit dem, was sie gemalt hatte. „Mein Traum“, dachte Shizukesa versonnen. Und der Fremde war nicht menschlich, das wusste sie. Seine Fangzähne und die rot leuchtenden Augen waren mehr als sichtbar gewesen. „Vampir“, das Wort schoss durch ihren Kopf und ließ sie kurz zusammenzucken. Immer schon hatte die junge Frau an solche Wesen geglaubt, ihre dunklen Träume mit ihnen gelebt oder sie in ihren Bildern verewigt. Erzählt hatte sie niemandem davon; ihr Umfeld hielt sie sowieso für verrückt und das würde noch Öl ins Feuer gießen.

Shizukesa hatte ihre Träume dennoch so intensiv wie möglich ausgelebt, zumal sie manchmal ihr einziger Trost gewesen waren. Sie allein ließen die junge Frau den qualvollen Tod Taiyous zumindest für einige Stunden vergessen. Und jetzt war einer von ihnen zum Leben erwacht und zu ihr gekommen. Leider hatte der Vampir sie nicht geküsst, sein Interesse hatte sich auf ihren Hals beschränkt. Kurz vor dem Biss war sie wach geworden und der Vampir war zurückgewichen. Shizukesa zitterte; wie hätte sie auf den Biss reagiert? Hätte sie sich gewehrt, um Hilfe geschrien oder es am Ende genossen? Wollte sie vielleicht noch, das der Vampir sie in die Dunkelheit entführte? Es war eine sehr romantische Vorstellung und viel hatte sie nicht zu verlieren. Dann würde diese Schande endlich von ihr abfallen.

Aber ihre beste Freundin Kibo wäre ganz allein, würde sich mit Vorwürfen quälen und das konnte Shizukesa ihr nicht antun; viel zu viel hatten die beiden Frauen schon gemeinsam durchlebt. Nein, sie würde dem geheimnisvollen Fremden noch nicht folgen. Dennoch hoffte sie auf ein baldiges Wiedersehen.

Beim Frühstück teilten ihre Eltern mit, das Kibo heute zu Besuch kommen würde. Shizukesas auffallend gute Laune und ihr strahlendes Lächeln ignorierten sie geflissentlich. Dafür fiel es Kibo sofort auf, als Shizukesa sie zur Begrüßung umarmte. „Was ist passiert?“, fragte Kibo neugierig, „deine Augen leuchten wie die Sterne!“ Obwohl die junge Frau nur ein bisschen jünger war wie ihr Gegenüber, unterschieden sie sich vom Äußeren sowie im Charakter; Kibos lange schwarze Haare fielen wie ein Wasserfall über die Schultern, während Shizukesas hellbraun und leicht stufig geschnitten waren. Beide hatten eine schlanke Figur, jedoch wirkte Kibo um ein Vielfaches kindlich – naiver als ihre Freundin. Dieser Schein trügte jedoch; während Shizukesas Augen von der Pein eindeutig gezeichnet waren, funkelte in Kibos Blick Wehrgeiz, Mitgefühl und Klugheit. Diese Eigenschaften hatten sie unter anderem dazu bewegt, bei Shizukesa zu bleiben und sich nicht, wie die übrigen, von ihr abzuwenden. Zwar war manchmal ein schweres Los, die einst so fröhliche Gefährtin in diesem Zustand zu sehen. Doch Kibo besaß die Fähigkeit, sich in ihre Lage zu versetzen. „Wie hätte ich in einer solchen Situation reagiert“, fragte sie sich immer wieder, wenn die Qual Überhand zu gewinnen drohte.

Deswegen war die Veränderung sofort ins Auge gesprungen: „Was ist denn mit dir los? Du strahlst wie die Frühlingssonne?“, fragte sie noch einmal. Wortlos führte die junge Frau Kibo in ihr Zimmer und wies auf das Bild. Es schien heute noch lebendiger als am Tag zuvor; man meinte fast, den Wind durch die dunklen Haare streichen zu sehen. „Was willst du mir zeigen“, erkundigte Kibo sich nach einer Weile, sie wurde aus Shizukesas aufgeregter Gestik nicht schlau. Diese verdrehte genervt die Augen, nahm ihre Tafel zur Hand und schrieb: „Hältst du es für möglich, das diese Person wirklich existiert?“ Die junge Frau musterte die Freundin verwirrt, wie kam Shizukesa auf eine solche Idee? Und was wollte sie mit diesem Bild ausdrücken? Kibo hatte großen Respekt vor der malerischen Kunst, besonders dann, wenn sie die einzige Tür zur Seele war. Sie selbst war in dieser Richtung vollkommen unbegabt.

Zögernd betrachtete Kibo das Bild genauer; dieser Mann war schöner als alles, was sie bisher gesehen hatte und doch gefror ihr das Blut in den Adern. Gerade wegen seiner makellosen Schönheit wirkte er unmenschlich und besaß eine düster – erotische Ausstrahlung, welche ohne Zögern den Tod versprach. Außerdem schien sich hinter der ruhigen Fassade etwas Wildes, Animalisches zu verstecken. „Er ist kein Mensch, oder?“, fragte Kibo tonlos, ohne den Blick abzuwenden. Shizukesa schüttelte den Kopf: „Nein, er ist ein Vampir. Und ich glaube, das es ihn wirklich gibt!“ „Warum“, fragte die Jüngere. „Weil ich ihn gesehen habe“, antwortete Shizukesa geheimnisvoll. Kibo riss die Augen auf: „Ist das dein Ernst?“, auch wenn es unglaublich und wie ein Hirngespinst klang; Kibo zweifelte nicht an Shizukesas Verstand.

Man konnte über ihre Freundin viel behaupten, aber die Neigung zu krankhaften Wahnvorstellungen gehörte definitiv nicht dazu. „Hat...hat er dich gebissen?“, fragte sie leicht panisch und musterte ihr Gegenüber eindringlich. Doch es war keine Veränderung sichtbar, nur die strahlenden Augen. „Nein“, Shizukesa schüttelte den Kopf und grinste, „nur gestreichelt, obwohl ich es mir“, jetzt wurde sie nachdenklich, „ich es mir irgendwie gewünscht hätte!“ Entsetzt starrte Kibo ihre Freundin an: „Warum?“ Ihre Stimme stockte.

Langsam drehte Shizukesa sich wieder zu der Jüngeren und schaute sie an. Das glückliche Funkeln hatte ihre Augen verlassen. Zurück geblieben war nur eine tiefe Melancholie, gemischt mit einer stummen Trauer, wie Kibo es noch nie gesehen hatte. Sie wollte etwas sagen, doch kein Ton verließ ihren Mund. Also fuhr Shizukesa fort, obwohl sie sichtbar mit den Tränen kämpfte: „Es ist doch einfach so; seitdem ich in diesem Zustand bin, haben sich alle von mir abgewendet, selbst meine Familie. Ich bin nur noch die kranke Tochter, der Störenfried. Das einzige, was sie noch für mich übrig haben, sind Medikamente und ständig wechselnde Therapeuten. Ich bin hier eingesperrt und kenne die Welt nicht mehr. Dabei möchte ich, trotz meiner Stummheit, noch soviel erleben und sehen. An seiner Seite wäre es vielleicht möglich. Ich weiß, du bist immer für mich da und ich schätze deine Liebe sehr. Aber kannst du mich aus dem goldenen Käfig befreien?“

Bei diesen Worten schlug Kibo die Augen nieder; Shizukesa hatte recht und sie wusste es. Ihre Möglichkeiten, die Freundin zu unterstützen waren leider sehr begrenzt. Vielleicht brauchte sie tatsächlich jemand anderen, doch musste es gleich Abschied bedeuten? Kibo schüttelte den Kopf und griff nach Shizukesas Hand. Sie schämte sich für ihre Gedanken, für ihre Bedingung. Aber Kibo wollte ihre Freundin bei sich behalten und zwar um jeden Preis. „Also gut“, sagte sie und räusperte sich, „ich glaube dir und werde dein Geheimnis bewahren. Doch nur unter einer Bedingung“, ihre Stimme brach fast, „du wirst nicht mit ihm gehen, Shizukesa. Du bleibst bei mir, als meine Freundin!

Die junge Frau starrte ihr Gegenüber fassungslos an, nickte aber: „Also gut, ich verspreche dir zu bleiben!“ Gerührt umarmte Kibo sie, „ich will dich nicht verlieren, Shizukesa. Ohne dich bin ich unvollständig!“ Tränen liefen über ihre Wangen. Diese erwiderte die Geste zaghaft; das Kibos Gefühle so tief waren, hatte sie nicht gewusst. Dennoch brodelte in einem Teil von ihr der Zorn; wie sollte es weitergehen? Ihr Herz sehnte sich nach dem fremden Vampir. Was wenn er sie tatsächlich entführen wollte? Oder waren ihre Gedanken völlig utopisch? Shizukesa streichelte Kibo und schrieb sanft: „Im Moment wünsche ich mir einfach nur, ihn wiederzusehen!“

Eine neue Welt

Entgegen ihres ausdrücklichen Wunsches blieb Kibo nicht über Nacht. Deswegen hatte Shizukesa einen sehr leichten Schlaf. Unruhig warf sie sich von einer Seite auf die andere. Vergeblich; die Aufruhr in ihrem Herzen legte sich nicht. Immer wieder öffnete sie die Augen. Würde er kommen oder sich fernhalten? Seine Reaktion konnte man beidseitig deuten. „Oh bitte…komm zu mir“, flehte sie gedanklich.

Nach einer scheinbar endlos langen Weile erklang ein seltsames Rauschen. Shizukesa erschrak, sprang jedoch aus dem Bett und eilte zum Fenster. Am Horizont sah sie einen schwarzen Schatten, welcher allmählich näher kam. Die junge Frau unterdrückte gewaltsam den Impuls, freudig zu quietschen. Sie kam sich vor wie ein pubertierender Jugendlicher, doch ihre Seele schäumte vor Freude. Endlich betrat der Vampir ihr Zimmer; dieses Mal trug er eine einfache Stoffhose mit einer hautengen Lederjacke, was seiner eleganten Erscheinung jedoch keinen Abbruch tat. Ohne an mögliche Konsequenzen oder gar Etikette zu denken, stürzte Shizukesa sich in seine Arme. Nur mit Mühe konnte sie die Tränen zurückhalten, was war nur mit ihr los?

Der Vampir erwiderte die Umarmung, war aber nicht minder überrascht. „Du bist die einzige Sterbliche, welche sich ernsthaft über meinen Besuch freut“, sagte er unbeholfen. Mit Hilfe der Schreibtafel erwiderte die junge Frau: „Warum?“ Für sie schien es völlig normal zu sein, einen Vampir in ihrem Zimmer zu haben. Camui legte sein dämonisches Grinsen auf, seine Augen leuchteten in einem unheimlichen Gelb. Dabei entblößte er ohne Scham seine Fangzähne: „Weil ich dich töten könnte?“

Statt des erwarteten Schreckens kicherte Shizukesa hinter vorgehaltener Hand und warf ihre Haare mit einer eleganten Bewegung zurück. Ihr milchweißer Hals lag einladend frei und unwillkürlich wich Camui einen Schritt zurück. Die lebendig pulsierende Halsschlagader und der erotische Duft ihres Blutes raubten ihm beinahe den Verstand. Himmel! Wusste diese Frau eigentlich, wie verführerisch sie war? Der Vampir stieß ein animalisches Knurren aus, während er Shizukesas Worte hörte: „ Tue es! Wenn es das ist, was du willst, so tue es! Ich werde mich nicht wehren!“ Ihre Stimme klang fest und ohne jede Angst.

Camui schaute sie an und zog sie grob in seine Arme. Doch anstatt die langen Zähne in ihren Hals zu schlagen, presste er seine Lippen auf ihre. Es war ein brutaler – leidenschaftlicher Kuss, den Shizukesa ohne Zögern erwiderte. Hungrig drang seine Zunge in ihre Mundhöhle ein und sie begegnete dem wilden Spiel. Camui krallte sich in ihr Nachthemd und es war offensichtlich, dass er es ihr am liebsten vom Körper gerissen hätte. Auch Shizukesas Reaktionen deuteten auf Begierde hin, wenn gleich sie sehr unerfahren war.

Nach einigen unendlich langen Minuten löste der Vampir den Kuss und nahm ihr Gesicht in beide Hände. In Shizukesas Augen glänzten Freudentränen. „Was willst du?“, fragte Camui und entließ sie aus seinem Griff. Die junge Frau schritt an ihm vorbei zum Fenster und schaute hinaus. Im fahlen Mondlicht wirkte ihr kindliches Gesicht beinahe elfenhaft. „Du kennst den Grund für meine Stummheit wie so viele andere auch“, sagte sie und ihre Handschrift bekam einen melancholischen Hauch, „doch im Gegensatz zu dir reduzieren sie mich nur auf meine Krankheit. Ich als Person habe mich für sie ins Nichts aufgelöst, der Fokus liegt einzig – allein auf der baldigen Heilung. Aus diesem Grund sperren meine Eltern mich ein, nur Kibo darf zu mir. Aber dabei übersehen sie, das ich auch Wünsche, Träume habe und diese verwirklichen möchte. Die Welt da draußen ist mir völlig fremd. Deswegen möchte ich dich bitten“, sie drehte sich wieder zu Camui um und streckte ihm vertrauensvoll die Hand entgegen. In ihren Augen strahlte ein warmer Glanz, „zeige sie mir!“

Der Vampir lächelte und machte einen Schritt auf sie zu: „Ich werde dir gerne die Möglichkeiten und Facetten dieser Welt offenbaren, sofern dies in meiner Macht steht!“ Er bat die junge Frau, sich anzuziehen und ergriff danach zärtlich ihre Hand. Gemeinsam stiegen sie auf die Fensterbank und Shizukesa musste den Affekt unterdrücken, in die Tiefe zu schauen. „Vertraust du mir?“, klang seine betörende Stimme an ihrem Ohr. Sie nickte ohne Zögern. Der Vampir umfasste ihre Taille wie ein Schraubstock und flüsterte: „Dann schließ die Augen!“ Die junge Frau folgte dem Befehl und im nächsten Moment verlor sie den Boden unter den Füßen. Doch anstatt der erwarteten Furcht hatte sie das Gefühl zu schweben.

Als Shizukesa die Augen wieder öffnete, befand die Welt sich unter ihr und sah aus wie kleines Spielzeug. Ein überraschter Laut entwich ihrer Kehle; man konnte ihn nicht mit einem Wort vergleichen, doch es war immerhin ein Anfang. Die Sterne glitzerten wie kleine Diamanten am Firmament. „Ob ich sie wohl berühren könnte?“, fragte die junge Frau sich und lächelte; die neu gewonnene Freiheit legte die absurdesten Gedanken frei. Der Vampir grinste; diese neuen Empfindungen durchströmten ihn wie ein warmer Hauch, so vertraut und trotzdem beinahe vergessen. Es bestand kein Zweifel mehr; er hatte sich unsterblich in Shizukesa verliebt. Das untote Herz in seiner Brust sagte es klar und deutlich. Doch, würde sie seine Gefühle erwidern? Gegen die Küsse und Berührungen hatte sie sich nicht gesträubt, aber konnte man deswegen von Liebe sprechen? Wohl kaum und selbst wenn; wie würde es weitergehen? Diese Frage hing wie ein dunkler Schatten über ihren Köpfen, denn Camui würde ewig leben, während Shizukesa sterblich war.

Der Vampir stieß einen kaum hörbaren Seufzer aus und hob die Überlegungen zur Seite; heute war schließlich eine Nacht des Glücks. Ein Blick nach oben sagte ihm, dass sie ihr Ziel fast erreicht hatten und der Vampir setzte vorsichtig zur Landung an. Nachdem sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten, verschlug es der jungen Frau die Sprache und ihr Mund öffnete sich zu einem lautlosen Schrei; sie waren am Meer, jedoch nicht am Strand, sondern auf einer Klippe. Die Wellen sangen ihr düsteres – aggressives Lied, während sie an den robusten Felsen zerschellten. Aber dort, wo das Wasser friedlich – ruhig war, spiegelte sich der Vollmond und hauchte einen violetten Schimmer auf die Oberfläche. Es war atemberaubend und Shizukesas Augen weiteten sich vor Staunen. Wenn sie gekonnt hätte, würde ihr Mund etwas rufen, was dieser Vollkommenheit auch nur ansatzweise Ausdruck verlieh.

Sie spürte, wie der Vampir sich ihr von hinten näherte und die Arme um ihre Taille schlang. Die junge Frau sträubte sich nicht gegen die Umarmung, sondern genoss sie in vollen Zügen. Derartiges war ihr gänzlich fremd gewesen, doch hier, in dieser magischen Nacht, entflammte die Hoffnung aufs Neue. Unbewusst intensivierte Shizukesa den Körperkontakt und fühlte Camui weiche Lippen auf ihren Haaren und im Nacken. Die Stellen, welche er geküsst hatte, prickelten wie unter Strom und ließen sie wohlig schauern. Würde er weitergehen? Seine Zähne gierig in ihren Hals stoßen? Selbst das Letztere war der jungen Frau momentan gleichgültig, denn ihr Herz kannte die Wahrheit längst; sie war rettungslos in Camui verliebt, ungeachtet seiner dunklen Natur. Shizukesa biss sich auf die Lippe, wie gerne würde sie ihm jetzt ihre Zuneigung. Aber ihre Stimme formte die Laute einfach nicht.

Sie hörte den Vampir flüstern: „Kirameku nami to tawamurete ita mujaki na kimi no sono yokogao.Hadashi de sunahama wo kake nukeru kimi ga itoshii.Suna ni kaita kimi no namae to kazari duketa kaigara wa.Kata wo yoseta bokura no mae de nami ni sarawareta. Aoi sora wa iki wo hisomete akai yuuhi ni dakarete yuku. Boku mo kimi wo dakishime nagara hitomi wo tojita.Ikutsumono yorokobi ya kanashimi mo kazoe kire nai deai ya wakare mo. Ano goro to kawarazu yasashiku miteru Orenji no taiyou. Eien wo yume miteta ano goro no bokura wa.Itsumademo hanarezu ni daki atte waratteta.Akireru hodo kimi wo omou yo, Soredakede boku wa mita sareru.Naka naide, itsudatte aeru yo. Hitomi wo tojireba...“ Je mehr er sprach, deso formten die einfühlsamen Worte sich zu einem Lied.

„Es ist lange her, seit ich das letzte Mal gesungen habe, denn es ist ein Teil der schmerzhaften Erinnerung an meine Vergangenheit“, seine geschickten Hände rieben über ihre Schultern, streiften das Nachthemd leicht nach unten. Die Lippen brannten auf der nackten Haut, „aber für dich…für dich tue ich es…Geliebte!“ Das Gesagte rührte Shizukesa zu Tränen, ruckartig drehte sie sich um und überwand den letzten Abstand zwischen ihnen. Ihre Lippen trafen aufeinander. Sie legte ihre ganzen Empfindungen in diesen einen Kuss und hoffte, das Camui ihre Botschaft verstand. Ihre Hände krallten sich in seinen Mantel und wollten niemals wieder los lassen; die Welt hatte sich unwiderruflich gedreht.

Kampf gegen das Schicksal

Am nächsten Morgen erwachte die junge Frau wieder in ihrem Bett und alles schien unverändert. Unwillkürlich fragte sie sich, ob die Ereignisse der vergangenen Nacht vielleicht nur ein wunderschöner Traum gewesen waren. Doch ihre leicht feuchten Haarsträhnen verrieten etwas anderes und ein strahlendes Lächeln streifte ihren Mund. Im Freudentaumel sprang Shizukesa aus dem Bett und tanzte durch das Zimmer. Die Musik war imaginär und trotzdem war sie so lebendig – fröhlich wie ihr Herz. Jenes schien neuerdings Flügel zu besitzen, selbst ihre Stummheit hatte an Bedeutung verloren. Taiyous Bildnis brannte nach wie vor in ihrem Innern, doch der Glanz der Liebe überschattete es. Wer weiß…vielleicht würden diese Empfindungen sie das Trauma sogar überwinden lassen. An die Möglichkeit hatte Shizukesa in all den Jahren keinen einzigen Gedanken verschwendet und nun lag es greifbarer Nähe. Wie es wohl sein würde, wieder zu sprechen? Ganz bestimmt seltsam…auf die langen Gesichter ihrer Familie konnte sie sich freuen.

Ein Angestellter rief die junge Frau zum Frühstück und sie ging hinunter ins Esszimmer. Wie üblich begann ihr Vater sofort wieder mit den ernsten Themen, während die Mutter sich neugierig nach dem Grund ihrer positiven Laune erkundigte. Doch Shizukesa verweigerte standhaft jede Information, sie würde sich hüten, ihren Eltern von Camui zu erzählen. Jene würden es sowieso nur für ein Hirngespinst halten, schließlich glaubten sie nicht an das Übernatürliche. Ihr strahlendes Lächeln behielt die junge Frau jedoch bei und als Kibo sie wenig später besuchen kam, begrüßte Shizukesa sie mit einer herzlichen – stürmischen Umarmung.

Diese riss überrascht die Augen auf und erkundigte sich nach dem Anlass für ihre Heiterkeit. Aufgeregt erzählte Shizukesa ihrer Freundin von der vergangenen Nacht und auch von ihren Gedanken. Kibo musterte sie wie vom Donner gerührt; konnte das möglich sein? „Meinst…meinst du wirklich, dass…das du dein Traum überwinden könntest?“, stotterte sie fassungslos und versuchte, das Gesagte zu verarbeiten. Es ähnelte einem Weltwunder. Shizukesa nickte ernst und tätschelte Kibos Wange, die von Glückstränen benetzt war. „Ja, das glaube ich“, erwiderte sie fest, „weil Camui mich auf eine Weise akzeptiert und liebt, wie es niemand zuvor getan hat. Seine Liebe und auch das körperliche Begehren sind vielleicht in der Lage, das riesengroße Loch, welches der Tod meiner kleinen Schwester hinterlassen hat, zu schließen“, die junge Frau musterte Kibo entschuldigend, „sei mir nicht böse; doch abgesehen von dir hat jeder einzelne meine Stummheit immer als verabscheuungswürdiges Leiden gesehen, nicht als Teil meiner selbst. Und die vermeintliche Hilfe war auch nicht gerade förderlich!“

Die Freundin nickte verständnisvoll; sie hatte sich schon oft gefragt, wie man gesund werden sollte, wenn man mit Medikamenten, Klinken und Psychiatern regelrecht überhäuft wurde, zumal gerade letztere sich oft in Widersprüche verstricken. Leider hatte es nicht in ihrer Macht gelegen, Shizukesa von dieser Last zu befreien. Alles, was Kibo hatte tun können, war im Hintergrund zu trösten. Vielleicht hatte Camui bessere Chancen, schließlich war er kein Mensch. In einer Mischung aus Trauer, Frust und Glück schmiegte sie sich an ihre Freundin.

Kurz nach Mitternacht spürte die junge Frau eine fremde Gegenwart in ihrem Zimmer. Sie schlug die Augen auf und erblickte Camui, welcher an ihrem Bett stand. Glücklich umarmte sie ihn, was zögernde Erwiderung stieß. Shizukesa merkte, dass etwas nicht in Ordnung war, „was hast du“, fragte sie und blickte in seine stechenden Augen; jene waren heute Nacht kalt und leblos.

„Shizukesa“, Camuis Stimme klang merkwürdig belegt, „wir dürfen uns nicht mehr sehen!“ Die junge Frau starrte ihn ungläubig an; diese Worte schmerzten wie ein Schwert aus Eis. „Warum?“, formte sie tonlos und heiße Tränen brannten in ihren Augen. „Es ist zu gefährlich“, entgegnete der Vampir scheinbar ohne Emotion, wagte aber nicht, ihr ins Gesicht zu schauen, „aber bei unserem gestrigen Ausflug hätte ich dich fast getötet!“ Shizukesa hob verwundert die Augenbrauen; seinen inneren Kampf hatte sie gar nicht bemerkt. Fassungslos erkannte sie, wie rote Bluttränen über seine Wangen liefen. Vorsichtig berührte die junge Frau seinen Oberarm, Camui entzog sich nicht. Das anmutige Gesicht war von unendlichem Schmerz gezeichnet. „Warum sagst du so etwas?“, fragte sie und bemühte sich um eine sachliche Mimik. „Weil es so ist; ich bin ein Monster!“

Der Körper des Vampirs zitterte vor Qual und die Tränen flossen reichlich. Shizukesa brauchte eine Weile, um diese Aussage zu verdauen; wie kam ihr Geliebter darauf? „Ich habe keine Angst vor dir“, kritzelte sie auf ihre Schreibtafel und ärgerte sich ein weiteres Mal über ihre Stummheit. Mit ihrer Stimme hatte sie den brodelnden Gefühlen mehr Ausdruck verleihen können. Zu Shizukesas Erleichterung las Camui den Zettel und seine Augen leuchteten animalisch gelb. „Ich habe in der Vergangenheit grausam und mit Genuss getötet“, sprach er reuelos und vergrößerte den Abstand zwischen ihnen. „Das ist mir egal“, schrie die junge Frau ihm regelrecht entgegen und ehe Camui sich versah, stand sie schon wieder neben ihm, wie hatte sie sich so schnell bewegen können?

Ohne Zögern entblößte Shizukesa ihren verlockenden Hals und schaute ihn an. „Wenn du mich töten willst, so tue es“, sprach sie und der Glanz in ihren Augen wurde zum Feuer. Camui erschrak, als er ihre pulsierende Halsschlagader sah. Dieser Anblick war die pure Versuchung. Es schien fast, als würde sie leben. Gegen seinen Willen stachen die Fangzähne hervor und das Tier in ihm erwachte. Knurrend trat der Vampir näher und hätte sich fast auf seine Geliebte gestürzt. „Nein“, sein Brüllen zerschnitt die Stille. Er ließ von Shizukesas Hals ab, um ihr stattdessen einen leidenschaftlichen Kuss zu rauben, welchen die junge Frau sogleich erwiderte. „Du hast Recht“, nuschelte Camui und vergrub den Kopf an ihrer Schulter, „ohne dich ist meine Existenz nicht zu ertragen!“

Mit einem einladenden Lächeln nahm Shizukesa seine Hand und ging zum Fenster. Mit einem lauten Quietschen öffnete es sich: „Fliege mit mir!“ Fragend hob der Vampir die Augenbrauen, mit dieser Bitte hatte er nicht gerechnet. Doch er hob sie auf seine Arme, erkundigte sich monoton: „Wohin?“, und schwebte in die Nacht hinaus. Dieses Mal war der Sternenhimmel von finsteren Wolken bedeckt, die ein heftiges Gewitter ahnen ließen. Shizukesa ignorierte Camuis Frage, sondern lenkte ihn mittels Gesten auf einen kleinen Friedhof am Rande der Stadt. „Was sollen wir hier“, fragte der Vampir desinteressiert, er konnte ihr Verhalten nicht nachvollziehen.

Die junge Frau wies mit ausgestrecktem Arm auf ein kleines, weißes Grab, das im Mondlicht wie ein Kristall schimmerte. Erst da wurde Camui bewusst, wo sie hier waren; sie standen vor dem Grab von Shizukesas kleiner Schwester. Deutlich las er den leicht verschnörkelten Namen: Taiyou! Und legte tröstend den Arm um ihre Schultern. So langsam ahnte der Vampir, wie idiotisch sein Verhalten gewesen war. „Als Taiyou damals vor meinen Augen starb, nahm sie einen Teil von mir mit sich. Meine Seele und mein Herz sind seit jenem Tag nicht mehr komplett. Der körperliche Preis ist meine Stimme. Als ich dich traf, wurde mein Herz, zum ersten Mal seit sechzehn Jahren, wieder ganz und das Leben kehrte zurück, Und jetzt willst du mich verlassen, weil du Angst hast, mich zu töten?“, sie drehte sich zu ihrem Geliebten um, ihr langes Haar peitschte im Wind. Trügerisch lächelnd entblößte Shizukesa ihren Hals und machte einen Schritt auf ihm zu: „Wenn du mein Blut begehrst, dann nimm es dir; töte mich, Camui. Denn der Tod ist besser als der Seelenmord durch Einsamkeit!“ Aus den glühenden Augen des Vampirs flossen Bluttränen. Zitternd schloss er die junge Frau in seine Arme. „Es tut mir leid“, nuschelte er und versiegelte ihre Lippen mit einem Kuss.

Begierde

In der folgenden Nacht besuchte Camui Shizukesa erneut und tat alles, um seinen Fehler wieder gut zu machen. Er überwand sogar die Scheu und probierte, menschliche Nahrung zu sich zu nehmen, was, zu seiner Verwunderung gelang. Es war eine wundervolle Nacht und Shizukesa lernte wieder, sich zu amüsieren und die finsteren Schatten zu vergessen. „Du hast heute noch kein Blut zu dir genommen, nicht wahr?“, fragte sie plötzlich und die Harmonie verflüchtigte sich schlagartig. Fast entgeistert starrte Camui seine Geliebte an und nickte. Abstreiten wäre sinnlos gewesen; seine Hautfarbe und Gestik verrieten genug. Dabei verfluchte er sich innerlich dafür, so leichtsinnig gewesen zu sein, denn Shizukesas Blut duftete köstlich. Es schien fast nach ihm zu rufen.

„Ich möchte, dass du mir zeigst, wie es ist“, holte Shizukesa ihn in die Wirklichkeit zurück. „Du möchtest, dass ich dir zeige, wie was ist“, fragte der Vampir zurück und ahnte Böses. „Von dir gebissen zu werden“, entgegnete die Geliebte ungerührt und warf die Haare mit einer schnellen Bewegung zurück. Ihr schlanker Hals lag frei und die weiße Haut schien zu glitzern. „Nein“, stöhnte Camui und versuchte, die Augen zu schließen. Sein Magen revoltierte und zog sich schmerzhaft zusammen. Zu allem Überfluss nahm die junge Frau ihn in den Arm und drückte seinen Kopf exakt gegen ihre Halsader. „Tue es“, ihre Stimme klang wie ein Flehen. Camui schwindelte, wie sollte er dieser Versuchung widerstehen? Seine Fangzähne pochten schmerzhaft und ehe er es verhindern konnte, schlugen sie sich in die freiwillige Quelle. Wie ein kleiner Bach rann das süße Blut über seine Lippen.

Der Vampir hörte Shizukesa wohlig stöhnen, offensichtlich gefielen ihr die leicht brutalen Zärtlichkeiten. Jenes dämpfte die Scham über sein Tun ein wenig. Doch wer konnte schon der Begierde widerstehen? Tröstend strich Camui durch ihre Haare, ohne den Biss zu unterbrechen. Sein ganzer Körper vibrierte und verlangte nach mehr. Geschickt hob er die junge Frau zum Bett und legte sie vorsichtig ab. Dort löste der Vampir endlich den Biss und schaute ihr tief in die Augen. Er erkannte dasselbe feurige Leuchten in ihnen; die Begierde war nicht erloschen. Auch Shizukesas Körper bebte, das Nachthemd schien viel zu warm und störend. Am liebsten hätte die junge Frau es sich selbst vom Leib gerissen, doch Anstand und Schüchternheit verboten es.

Etwas belustigt presste Camui seine blutverschmierten Lippen auf ihre. Shizukesa erwiderte den Kuss ohne Ekel, wagte es sogar, mit der Zunge über seine Lippen zu gleiten. Willig öffnete der Vampir seinen Mund und begegnete dem Zungenspiel. Ein wilder Kampf entbrannte, in dessen Verlauf Camuis Shirt bedenklich verrutschte. Die Lederjacke hatte er bereits zuvor abgelegt. Mutig griff die junge Frau unter das Kleidungsstück und strich über die festen Bauchmuskeln. Sie fühlte die unnatürliche Kälte der Haut, störte sich jedoch nicht daran. Beherzt zog Shizukesa ihm das Shirt über den Kopf und weidete sich am Anblick des makellosen Oberkörpers. Woher sie den Mut nahm, wusste sie selbst nicht; konnte die Liebe eine solche Macht haben?

Mit einem verführerischen Lächeln begann die junge Frau die bereits aufgestellten Brustwarzen zu küssen. Ein animalisches Knurren seitens Camuis war die Folge; seine Finger krallten sich in das dünne Nachthemd und zerrissen es. Er konnte es gar nicht erwarten, die erwärmte Haut unter seinen Nägeln, unter seinen Lippen zu spüren. Der Vampir begann den Hals zu liebkosen, wanderte über die Schultern bis hin zu den Brüsten, wo er gierig saugte. Seine Hände kratzten während dessen über ihre Taille, was die Lust noch steigerte. Shizukesa warf den Kopf in den Nacken und stöhnte. Winzige Flammen tanzten über ihre Haut; dieses Gefühl war so neu und doch so wundervoll. Sie schlug ihre Fingernägel in Camui, bettelte stumm nach mehr. Der Vampir kam ihrer Bitte gerne nach und verschwand mit dem Kopf zwischen ihren Beinen. Seine Zunge verwandelte sich in eine zügellose Peitschte.

Das war zu viel! Shizukesa schrie vor Lust und wand sich wie ein Fisch. Sie griff in Camuis Haare, drückte ihn tiefer. Als die süße Folter kurzzeitig stoppte, stieß sie den Vampir kurzzeitig von sich, schaute ihn an und leckte sich lasziv über die Lippen. Camui verstand die Signale und ehe er sich versah, lag er auf dem Rücken und seine Geliebte wölbte sich über ihm. Die junge Frau grinste verrucht und fing nun ihrerseits an, den willigen Körper mit dem Mund zu verwöhnen. Immer tiefer drang er in ihre feuchte Mundhöhle ein. Der Vampir stöhnte und ballte seine Hand zur Faust; wie lange war es her, dass er eine solche Begierde, eine solche Zuneigung empfunden hatte? Bei seinen Opfern definitiv nicht; sie waren nicht mehr als eine flüchtige Begegnung, ein kurzes Glück gewesen. Bei Shizukesa verhielt es sich anders; mit ihr konnte Camui sich sogar die Ewigkeit vorstellen.

Mit lustverschleierten Augen blickte er sie an. Die junge Frau setzte sich daraufhin auf seinen Schoss und spreizte einladend die Beine. Mit einem einzigen festen Stoß drang er in sie ein, krallte sich in das lange Haare und zog den Kopf nach hinten. Shizukesa verschloss seine Lippen mit einem ungestümen Kuss, ehe sie langsam vor und zurück schaukelten. Die Bewegungen wurden immer schneller, drängender, ehe sie gemeinsam den Höhepunkt erreichten. Die junge Frau keuchte erschöpft, Schweißperlen rannen von ihrer Stirn. Dennoch offenbarte die Gesichtsmimik pures Glück. Lächelnd zog Camui eine Decke über ihre entblößten Körper und betrachtete Shizukesa, während diese selig schlief. Seine Geliebte war schön und besaß die Ausstrahlung eines gefallenen Engels: Unschuldig und doch verrucht. In ihr wohnte eine Stärke, welche den meisten Menschen gar nicht bewusst war.

Aber der Vampir spürte es; sein ewiges Leben hatte es ihn gelehrt: Die meisten Menschen hätten jenen Schicksalsschlag nicht überlebt. Vertrauensvoll streichelte er ihre nackte Schulter, was Shizukesa aufweckte. Ungläubig – freudig blinzelte sie ihn an: „Du bist noch da?“ Ein Lächeln streifte ihren Mund. „Nicht mehr lange“, entgegnete der Vampir und warf einen traurigen Blick aus dem Fenster, „die Sonne wird bald aufgehen!“ Leise grummelnd schmiegte die junge Frau sich an ihn. Jeder Abschied fiel ihr schwer. „Shizukesa“, sprach Camui plötzlich und schaute sie ernst an. Unbeholfen strich er ihr übers Haar. „Kannst du dir vorstellen, ein Vampir zu werden?“, fragte Camui und küsste ihre Schläfe, „die Ewigkeit an meiner Seite zu verbringen?“ Diese Frage schien ihm vermessen, trotzdem musste er sie stellen.

Die junge Frau musterte ihren Liebsten, lächelte und nickte kaum merklich. „Ja, das will ich“, sagte sie und legte die Hand auf seine Brust, „denn mein Herz gehört dir und das wird sich nicht mehr ändern. Doch zuvor gibt es noch einige Dinge in der menschlichen Welt, die ich erledigen muss. Doch dann werde ich dir liebend gern in die Dunkelheit folgen…ich liebe dich!“ Der Vampir strahlte vor Glück und versiegelte ihre Lippen mit einem Kuss. „Wie soll ich nur Kibos Bedingung umgehen?“, fragte Shizukesa sich und ihre Gedanken rotierten wie eine Windmühle, „wenn sie das Geheimnis offenbart, werden meine Eltern uns gnadenlos jagen. Niemals werden sie diese Entscheidung verstehen!“

Der zerbrochene Spiegel

„Sag mal, Frau“, wandte Herr Ogama sich an seine Gemahlin, während sie sich für einen abendlichen Ball zurechtmachten, „ist dir auch aufgefallen, dass unsere Tochter sich seltsam verändert hat? Sie wirkt viel fröhlicher und scheint sogar ihre Stummheit zu akzeptieren, was nicht vorteilhaft ist!“ „Nein, das ist mir nicht aufgefallen“, entgegnete Hisako Ogama schnell und konzentrierte sich wieder auf ihre Kosmetika, damit ihre Lüge nicht aufflog.

Insgeheim hatte sie Shizukesas Sinneswandel sehr wohl bemerkt und auch schon über einen möglichen Grund nachgedacht, obwohl es diesbezüglich nicht allzu viele Möglichkeiten gab. Aber das würde Hisako ihrem Mann nicht erzählen, sie hatte genug damit zu tun, Shizukesa möglichst schnell zu verheiraten. Nur so konnte sie ihre Tochter vor dem kaltherzigen Vater schützen, für den nur Geld und der Familienbetrieb, welchen man eigentlich getrost als Imperium bezeichnen konnte gab,

Nur deswegen besuchte Hisako den heutigen Ball, sie hatte eigentlich kein Interesse daran, sich mit den „Geschäftsfreuden“ ihres Mannes abzugeben. Doch vielleicht würde sich dort ein geeigneter Heiratskandidat finden lassen. Die Mutter seufzte und stand auf; Shizukesas Stummheit erwies sich als gfast unüberwindliche Barriere! Was sollte sie bloß tun? Selbst die besten Therapien hatten nichts genützt. „Das glaube ich dir nicht“, holte die herrische Stimme ihres Mannes sie in die Wirklichkeit zurück und seine Faust donnerte auf die Anrichte. Das laute Echo und die Vibration ließen Hisako zusammenzucken. Demütig senkte sie den Blick; hoffentlich schlug er jetzt nicht zu! „Ich sage dir, was ich werde: In Shizukesas Zimmer werde ich Wanzen installieren lassen und beobachten, ob sie nächtlichen Besuch bekommt!“ Er lächelte höhnisch, während seine Frau ihn entgeistert anstarrte; konnte sie zulassen, dass die Privatsphäre ihres Kindes auf diese Art gestört wurde? Es grenzte schon fast an Spionage, zumal es absurd war. Doch Hisako wusste auch, das Widerworte zwecklos waren; sie hätten alles nur noch schlimmer gemacht. Einige stumme Tränen liefen über ihre Wangen und verwischten die perfekte Schminke; was hatte sie nur dazu gebracht, einen solch egoistischen Menschen zu heiraten? Sie wusste die Antwort nicht mehr, doch wahrscheinlich waren es die üblichen naiven Mädchenträume gewesen. Die Mutter seufzte, „wenn ich könnte, würde ich alles rückgängig machen und noch einmal von vorne beginnen. Das einzig Gute an meiner Ehe waren meine Kinder und von denen ist mir nur Shizukesa geblieben!“ Sie hörte, wie ihr Mann seine Arbeiter rief und die Installation überwachte.

Shizukesa während dessen ahnte nichts von den Maßnahmen ihres Vaters. Beschwingt genoss sie den Tag (obwohl er sich ebenso gestaltete wie alle anderen zuvor) und wartete mit großer Ungeduld auf die Nacht. Endlich stand der Mond am Himmel und es dauerte nicht lange, bis der Vampir ihr Zimmer betrat. Er trug wieder seine altmodische Kleidung, die ihn wie einen Prinzen erscheinen ließ und umarmte sie lächelnd. Die junge Frau führte ihn zum Bett und kuschelte sich an seine weiche Brust. Sie genossen einfach die Nähe des anderen. „Tsuki akari ni terasarete huchizusand kimi no na mo kaze sarawarete hieta. Yoake ni hohoemu kimi ga oshietekureta ano uta wo utai tsuduke. Hoshizora ni kaeru namida wo kazoeteta. Nando mo nando mo tada kurikaeshite ita yoru. Aa, fukaku, fukaku ima mo. Sou…aishite iru!”, zerriss Camuis melodiöse Stimme das Schweigen.

Shizukesa lächelte ihn mit Tränen in den Augen an. „Es ist wunderschön“, formten ihre Lippen. „Und nur für dich“, ergänzte der Vampir. In diesem Augenblick brach der Damm in ihrem Innern; die junge Frau öffnete die Lippen, nahm ihren ganzen Mut zusammen und tatsächlich kamen einige Töne zum Vorschein. Undeutlich zwar und ohne Zusammenhang, doch die Stimmbänder arbeiteten wieder. Camui strahlte vor Glück: „Sprich für mich, Liebste!“, hauchte er sanft und streichelte ermutigend ihre Wange. Shizukesa lächelte und schöpfte neuen Mut: Gerade wollte sie das erste Wort probieren, als ein ohrenbetäubender Lärm von draußen alles zerstörte.

Reflexartig drehte Camui sich zur Tür; was war los? Keine zwei Sekunden später stürmte Shizukesas Vater, zusammen mit einigen bewaffneten Männern ins Zimmer. Sein Gesicht war vor Wut zu einer hässlichen Fratze verzehrt. Ohne etwas zu sagen, feuerte er die erste Kugel ab, welche sich in Camui Schulter bohrte. Diese Verletzung schadete dem Vampir zwar nicht, trotzdem verlor er reichlich Blut. Die Fangzähne stießen hervor und er fauchte wütend. Erschrocken wichen die Männer zurück und einige schlugen das Kreuzzeichen. „Ein Vampir…ich wusste es“, zischte Herr Ogama und sein Zorn verwandelte sich in blanken Hass. Er musterte seine Tochter herablassend, welche sich daraufhin ängstlich hinter den Kissen versteckte.

Camui rannte zum Fenster, warf Shizukesa noch einen liebevollen Blick zu, der ein Wiedersehen versprach, ehe er flüchtete. Shizukesa schaute ihm nach, die Angst um ihren Liebsten schnürte ihr die Kehle zu und jegliche Sprachversuche waren vergessen. Barsch ordnete ihr Vater die Verfolgung des „elenden Vampirs“ an. Danach wandte er sich seiner Tochter zu, die immer noch verstört im Bett kauerte. Obwohl ihr Gehirn sein Möglichstes versuchte, um das Geschehende zu verarbeiten: Sie konnte nicht einmal weinen, so tief saß der Schock. Erst, als der Shizukesa brutal an den Haaren zog, klärte ihr Geist sich langsam auf und sie wimmerte kläglich. „Du Hure“, zischte er, „du hast dich einem beißenden Monster hingegeben!“ Herr Ogama wartete die Antwort erst gar nicht ab, sondern schlugn erbarmungslos auf die junge Frau ein. Ihre Wange blutete, doch Shizukesa wehrte sich nicht; das Leben hatte seinen Sinn verloren.

„Hör sofort auf damit“, erklang plötzlich eine weibliche Stimme vom Türrahmen her, „wie kannst du deine eigene Tochter so misshandeln?“ Mit weit aufgerissenen Augen starrte Shizukesa ihre Mutter; mit ihrer Hilfe hatte sie nicht gerechnet. Auch ihr Vater musterte den Störenfried leicht irritiert. „Halt den Mund, Frau: Deine Tochter ist eine verdammte Schlampe, die sich an einen Vampir verkauft hat. Und so etwas habe ich großgezogen!“ Zornig rauschte Herr Ogama aus dem Zimmer, um die Jagd nach Camui selbst zu überwachen. Wie gebannt schaute die junge Frau ihm nach und die Schutzmauern ihrer Seele brachen ein. Hemmungslos begann Shizukesa zu schluchzen und heiße Tränen liefen über ihre Wangen. Die Mutter umarmte das zitternde Bündel, um es zu trösten. So hatte sie ihre Tochter noch nie gesehen, nicht einmal als Taiyou starb.

Nach einer Weile erkundigte Hisako sich vorsichtig: „Shizukesa..mein Kind; liebst du diesen Vampir?“ Die junge Frau musterte ihr Gegenüber skeptisch, dann nickte sie bestimmt. In Anbetracht ihres immensen Schmerzes und der noch größeren Sorge wäre ein Abstreiten sinnlos gewesen. Leicht beschämt senkte sie den Blick. „Wäre er für dich ein Grund gewesen, wieder zu sprechen und die Vergangenheit ruhen zu lassen?“ In ihrer Stimme lag keinerlei Vorwurf. Shizukesa zögerte mit der Antwort, durfte sie überhauot so ehrlich sein? In diesem Augenblick schien die Mutter ihr vertrauter als jemals zuvor. Deshalb sagte sie: „Ich war gerade dabei, es zu versuchen, als Vater herein gestürmt kam und Camui vertrieb. Ja, ich wollte wieder sprechen!“

Entschlossen stand Hisako auf und reichte ihrer Tochter einen warmen Mantel. Eine unglaubliche Kälte und Entschlossenheit lagen in ihren Augen. Shizukesa biss sich auf die Lippe, was hatte das zu bedeuten? „Ich bin mit deiner Verbindung nicht unbedingt einverstanden, Kind“, sagte sie und hielt dem Blick ihrer Tochter stand, „doch wenn du ihn wirklich liebst und er wirklich in der Lage ist, dein Trauma zu brechen, werde ich es akzeptieren“, sie half Shizukesa in den Mantel, „deswegen: Lauf los und rette deinen Geliebten!“ Die junge Frau lächelte dankbar und drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange, bevor sie losrannte. Hisako blieb nachdenklich zurück. Irgendwie hatte sie das Gefühl, ihre Tochter zum letzten Mal gesehen zu haben. Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel…es hätte nicht sein sollen. Doch auf diese Art und Weise würde Shizukesa etwas kennen lernen, was ihr, Hisako, ein Leben lang verwehrt bleiben würde; die wahre Liebe!“

End of all hope

Der Wind peitschte aggressiv in Shizukesa Gesicht, als sie zum Strand hinunter eilte. Zurück an jenen Ort, wo ihre kleine Schwester einst den Tod gefunden hatte. Schon aus der Ferne hörte sie das zornige Gebrüll der Männer und erblickte den hellen Schein der Fackeln. Die Bilder jener grausamen Nacht waren in diesem Augenblick lebendiger als in jedem Traum. Damals hatte die junge Frau keine andere Wahl gehabt als hilflos zuzuschauen, wie einer der von ihr meist geliebten Menschen um Leben kam. Ihre Kindsein und auch mangelnde Entschlossenheit hatten sie dazu gezwungen. Doch heute, in dieser stürmischen Nacht würde sie kein Risiko und keine Mühen scheuen, um ihren Geliebten vor ihrem Vater zu retten. Dass sich damit gegen die eigene Familie stellte, interessierte Shizukesa nicht wirklich. Sie hatte in ihrem Vater immer eher einen herrischen Führer denn eine Vertrauensperson gesehen. Und, hatte er sich jemals wirklich um sie gekümmert? Nein, Geld war immer sein einziges Streben gewesen und das würde sich auch nicht mehr ändern. Hoffentlich wäre sie imstande, etwas zu tun. Ihr Herz zog sich vor Angst zusammen und obwohl Shizukesa Stärke beweisen wollte, weinte sie doch bitterlich. „Bitte Taiyou“, flehte sie eindringlich, „lass mein Leben nicht noch mehr zu einem Friedhof werden!“

Die junge Frau wusste; Camuis Tod würde sie niemals verkraften. Ihr größter Trumpf war, das die Leute ihres Vaters höchstwahrscheinlich keine Waffen besaßen, die einem Vampir ernsthaft schaden könnten. Mit so einer Kreatur hatte schließlich niemand gerechnet. Trotzdem war ihr Herz mehr als unruhig und Shizukesa ärgerte sich, das der feine, weiche Sand ihren Lauf bremste. Doch er kribbelte so unangenehm auf der Haut wie kleine Messer. Zum Glück war der Schauplatz nicht schwer auszumachen, was vor allem an dem Getöse lag. Selbst das Meer schien sich ihren Launen anzupassen und tobte ohne Unterlass. Entgeistert riss sie die Augen auf und musste einen Schrei unterdrücken: Mehrere Kugeln hatten Camui getroffen und obwohl sie ihn nicht töten konnten, war der Blutverlust immens.

Die Anzahl der Angreifer schien nicht kleiner zu werden, dennoch hielt der Vampir sich tapfer. In seinen Augen funkelte die grimmige Entschlossenheit; er hatte seine Liebe schon einmal auf tragischen Art und Weise verloren und noch einmal würde es ihm nicht passieren. Camui wollte nicht aufgeben, nicht jetzt, wo seine freudlose Existenz endlich einen Sinn gefunden hatte. Zwischendurch erklang immer wieder das zornige Brüllen von Shizukesas Vater.

Keuchend erreichte die junge Frau die Angreifer und im ersten Augenblick stand sie wie zur Satzsäule erstarrt da und heiße Tränen liefen über ihre Wangen. Doch dann warf sie sich mutig auf ihren Vater und versuchte, ihm das Gewehr zu entreißen. Aber dieser schlug sie nur brutal ins Gesicht, so das Shizukesa halb ohnmächtig zu Boden ging. Weiße Sterne tanzten vor ihren Augen und das Bewusstsein drohte zu schwinden.

„Verdammter Vampir“, dieser Ausruf ihres Vaters holte Shizukesa in die Wirklichkeit zurück. Sie versuchte noch, aufzustehen, doch es war zu spät; wie in Trance musste die junge Frau mit ansehen, wie ihr Vater ein Holzstück aus dem Sand aufhob, damit auf Camui zustürmte und es ihm mitten ins Herz stieß. Die Augen des Vampirs weiteten sich vor Überraschung, bevor er, tödlich getroffen zu Boden sank. Sein in Liebe getränkter Blick war stets auf Shizukesa gerichtet und dieser Ausdruck riss die inneren Mauern ein. Zum ersten Mal seit langer Zeit stieß die junge Frau einen Schrei aus, welcher die ganze Erde zu erschüttern schien: „Nein! Camui!“ Sofort wandten sich ihr alle Köpfte zu, doch nur wenige konnten das Geschehene begreifen.

„ Sie…sie hat gesprochen“, stammelte Herr Ogama ergriffen und seine Augen funkelten. Jedoch nicht aus Freude, sondern aus blanker Gier; endlich konnte er aus seiner Tochter den verdienten Profit schlagen, nachdem sie als einzige Einnahmequelle geblieben war. Im Geiste malte er sich bereits aus, wie Shizukesa einen sehr reichen, strebsamen Mann heiraten und ihm viele Kinder schenken würde, die das Familienimperium aufrecht erhalten konnten. Irgendwo tat ihm der zukünftige Mann zwar leid, denn Shizukesa konnte, zumindest in seinen Augen, eine Kratzbrüste sein. „Hoffentlich traut er sich, sie mit Schlägen zur Raison zu bringen, so wie ich es oft tun musste! Ein Grinsen erfüllte sein Gesicht.

Doch Shizukesa selbst achtete gar nicht auf ihn; blind vor Tränen eilte sie zu ihrem Liebsten und nahm ihn in die Arme. In seinem Gesicht zeichnete sich nun das ab, was Jahrhunderte lang unter der schönen Fassade verborgen gelegen hatte; Zerfall und Tod. Aber das störte Shizukesa nicht; sie liebte ihn, auch ohne Makellosigkeit. Sollte sie ihm ihr Blut geben? Angst hatte sie davor nicht, aber die Männer würden sie daran hindern. Sie fluchte innerlich und zog ihn noch näher an sich. „Bitte…bitte…du darfst nicht gehen…verlass mich nicht!“, bettelte die junge Frau und griff nach seiner Hand. Die eisige Kälte seiner Haut war zwar normal für einen Vampir, jedoch nicht ihre Kraftlosigkeit. Camuis Lächeln war tröstlich, obwohl das Licht bereits aus seinen Augen schwand. „Vergiss es nicht, mein wildes Herz. Und liebe sinnlich jede Lust und liebe auch den bitteren Schmerz, da du für immer ruhen musst…Ich liebe dich, Shizukesa!“

Eine blutrote Träne glitzerte auf seiner Wange ehe der Zerfall begann. Stück für Stück trug der Wind seine Asche davon und innerhalb von Sekunden war von dem stolzen Vampir, der für die junge Frau der Inbegriff von Schönheit und Liebe gewesen war, nichts mehr übrig. Die junge Frau erhob sich stolz mit der festen Haltung einer Frau, die nichts mehr zu verlieren hatte und dennoch ihre Skrupellosigkeit beibehielt. Auch gab sie keinen Ton von sich. Mit kalten, unnachgiebigen Augen und einem falschen Lächeln im Gesicht schritt Shizukesa auf ihren Vater zu, in dessen Augen sich plötzlich Furcht spiegelte; was hatte seine Tochter vor? Hatte sie am Ende den Verstand verloren? „Ich hasse dich, du Mörder“, zischte sie und gab ihm mit letzter Kraft eine schallende Ohrfeige. Der Knall von dieser Geste hallte über den ganzen Strand wider. Herr Ogama griff sich an die Wange, zu fassungslos, um irgendetwas zu tun. Das Leid in den Augen seiner Tochter kümmerte ihn nicht, denn es würde mit Zeit vergehen. Notfalls würde er es ihr mit Gewalt austreiben. Shizukesas Beine gaben unter ihr nach und sie versank in völliger Dunkelheit.

Ausbruch der Gefühle

In den nächsten Tagen war Shizukesas wieder gewonnene Stimme natürlich das Gesprächsthema, die Sensation in der Stadt. Alle freuten sich und zahlreiche Glückwünsche sowie Geschenke fanden ihren Weg. Nach dem Preis, welchen Shizukesa für das vermeintliche Wunder hatte zahlen müssen, fragte niemand. Ihr Vater hatte alles unternommen, um den Mord zu vertuschen und die Existenz des Vampirs streng geheim zu halten; mit Geld ließ sich eben alles regeln. Shizukesa musste sogar öffentlich die Freude um ihre Heilung kundtun und sich bei ihrem Vater für die Unterstützung bedanken, was sie nur unter Zwang fertig brachte. Sie hasste diese Falschheit, die Schauspielerei und wäre bei den auferlegten Umarmungen mit ihrem Vater am liebsten zurückgewichen.

Nur zu gerne hätte die junge Frau ihren Schmerz herausgeschrieen und ihren Vater des Mordes bezichtigt. Aber niemand hätte ihr geglaubt, der Einfluss war einfach zu stark. Zumal es sich bei dem Opfer um einen Vampir handelte; wer glaubte an eine solche Existenz? Denjenigen, welche es taten, würden ihren Vater vermutlich als Helden feiern. Camui! Immer wieder erschien sein Bild vor ihrem geistigen Auge und bittere Tränen liefen über ihre Wangen. Shizukesa wusste; ihr Herz war verloren! Niemals mehr würde sie lieben können. Leider hatte ihr Vater, nach der Rückkehr ihrer Stimme, sofort mit Heiratsahngelegenheiten begonnen, da die plötzliche Heilung ihre Chancen enorm verbessert hatte. Ob seine Tochter es wollte oder nicht, interessierte Herrn Ogama nicht. Dabei war der seelische Schmerz beileibe nicht spurlos an Shizukesa vorüber gegangen; ihre Stimme war vielleicht wieder da, aber die junge Frau war stark abgemagert und sehr bleich. Außerdem ließ ihre Wut sich schwer zügeln: Mehr als einmal rastete sie aus und zerschlug Porzellan oder ähnliches.

Mittlerweile hatte selbst ihre Mutter begriffen, dass es so nicht weitergehen konnte und stellte sich mehr als einmal gegen ihren Ehemann. Shizukesa war beeindruckt von Hisakos plötzlichem Mut und genoss die langvermisste Zuneigung sehr. Doch es war kein Trost für ihr gebrochenes Herz. Selbst Kibo kam nicht mehr wirklich an sie heran, obwohl sie fast jede Nacht bei ihr saß und die Hand hielt. Denn dann waren Shizukesas Sehnsüchte mit Abstand am schlimmsten: Mehrfach wurde sie von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt oder stand regungslos wie ein Marmorbild am Fenster und schaute auf das Meer hinaus. Dort…dort hatte sie alles verloren, was ihr lieb und teuer gewesen war. Von Taiyou sprach sie kaum noch, blickte aber oft auf das Foto. Und Camui…niemals sprach sie diesen Namen aus. Doch ihre Augen, welche Tag für Tag mehr an Glanz verloren, verrieten ihren Kummer.

Kibo schmerzte es, ihre Freundin so traurig zu sehen. Auch mit ihrer Stummheit hatte Shizukesa über ihre Jahre hinweg eine gewisse Stärke an den Tag gelegt. Diese war nun unwiderruflich verstört. Im Grunde war Shizukesa nur noch ein Häuflein Elend, das allein durch ihren Hass am Leben gehalten wurde. Mit aller Gewalt sträubte sie sich gegen die Heiratskandidaten, welche ihr Vater für sie ausgesucht hatte, zögerte nicht, ihn grob zu beschimpfen und ihn zu schlagen. Am diesem Abend waren Hisako und Kibo nötig gewesen, um Herrn Ogama aufzuhalten. Sonst hätte er seine Tochter zu Tode geprügelt. Die junge Frau stolzierte daraufhin nur mit einem überlegenden Grinsen an ihm vorbei und verschwand in ihr Zimmer.

Dort konnten ihre Tränen endlich ungehindert fließen. Nach einer Weile klopfte es schüchtern an die Tür und Kibo trat ein. Erschrocken betrachtete sie Shizukesas stark verweintes Gesicht und strich ihr über die fransigen Haare. Shizukesa zitterte wie Espenlaub, weinte jedoch nicht mehr. „Es tut mir leid“, sprach Kibo und bekam als Antwort einen fragenden Blick, „dass ich dich an meine Bedingung gebunden habe. Wenn du ihm in die Nacht gefolgt wärst, wäre das ganze Drama vielleicht niemals passiert!“ Nun war Kibo es, welche bitterlich schluchzte. Die junge Frau zog den bebenden Körper schützend in ihre Arme. „Es war nicht deine Schuld, Kibo“ erwiderte sie fest, obwohl es, in gewisser Weise, eine Lüge war, „nur die Habgier meines Vaters hat Camuis Tod verursacht. Außer seinen eigenen Profit interessiert ihn nichts!“ Die Trauer, kombiniert mit Wut, lag deutlich in ihrer Stimme.

Kibo schüttelte den Kopf; sie wusste, wann sie Mist gebaut hatte. „Shizukesa“, beschwor sie ihre Freundin regelrecht und legte die Hände auf ihre schmalen Schultern, „hiermit entbinde ich dich von deinem Versprechen: Wenn es eine Möglichkeit gibt, Camui zu folgen, dann tue es. Werde seine Braut für die Ewigkeit!“ Leicht entgeistert starrte die junge Frau Kibo an, meinte ihre Freundin das ernst? Diese nickte und legte sanft den Finger auf Shizukesas Lippen: „Sag nichts…ich war eine Närrin, als ich dir dieses Versprechen abnahm. Dein Glück hat oberste Priorität, das ist mir nun klar!“ Schweigend umarmten sich die beiden Freundinnen.

Ruf der Nacht

Es war schon sehr spät, als Kibo nach Hause ging. Zu gerne wäre sie über Nacht bei Shizukesa geblieben, aber ihre Eltern erlaubten es nicht. Denn, wie erwartet, träumte die junge Frau wieder von Camui. Doch es war anders; der Vampir starb nicht, wie sonst, langsam in ihren Armen, sondern stand in voller Pracht da und winkte ihr zu. Sein Lächeln war genauso wie es im Leben gewesen war. Völlig verwirrt schreckte Shizukesa auf. Es war noch immer tiefe Nacht und um sie herum herrschte eine unheimliche Stille. Die junge Frau stand auf, rannte zum Fenster und blickte in den Sternenhimmel. Tränen liefen über ihre Wangen, was hatte dieser Traum zu bedeuten? Sollte sie Camui wirklich langsam vergessen? Nein! Ihre Hand krallte sich schmerzhaft in die Brust. Das durfte nicht sein! Oder hieß es etwa, dass er sich, aus irgendeinem Grund, ganz in ihrer Nähe aufhielt? Das war zwar, rein logisch betrachtet, völlig unmöglich, aber ihr Geliebter war ein Vampir…was passierte nach dem Tod eigentlich mit ihm?

Eilig studierte Shizukesa ihre Umgebung, lehnte sich sogar gefährlich weit aus dem Fenster, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. „Werde ich jetzt verrückt?“, fragte sie sich und lachte heuchlerisch, „welche Ironie; kaum habe ich meine Stimme wieder, verabschiedet sich mein Verstand!“ Die junge Frau ging ins Bett zurück und gab sich ganz ihrer Trauer hin. Diesen Verlust würde sie niemals verkraften; wie würde ihr Leben nun aussehen, weitergehen? Mit dieser Narben auf dem Herzen…

Gerade, als die erlösende Dunkelheit sichauf Shizukesa legen wollte, hörte sie eine Stimme: „kasuka na hikari ni yobi samasarete, hakanai yume no kioku to kiesou na koe.toozakaru kako no zawameki wa ima de wa mienai ano keshiki o utsushidashite yuku soba de warau... kimi ga iru. Sou... marude kinoo no koto no you ni oboeteiru yo dare yori mo fukaku boku ni fureta sono manazashi o“, wie vom Blitz getroffen sprang Shizukesa aus dem Bett und rannte nach draußen. Die Melodie hallte pausenlos in ihrem Kopf wider: „Wakachiau koto no yorokobi mo kiseki no you na ano deai mo...Futari no omokage sae mo okizari ni shite kieteyuku. Usureteyuku kioku no naka de mou ichido dake dakishimetakute setsunai kurai sakebitsuzukeru kimi no na o koe ga nakunaru made.Hito wa ittai doko kara kite, doko e iku n' darou? Taisetsu na yasashii hito wa, kimi dake ga inai...”

Es war ihr gleichgültig, ob die Eltern oder irgendwer anders sie hören konnte, denn es gab keinen Zweifel: Die Stimme gehörte Camui, sein Gesang war unverkennbar. Irgendwie hatte er es geschafft, zurückzukehren. Nur im Nachthemd bekleidet und mit nackten Füßen eilte Shizukesa zum Strand hinunter. Die zärtlichen Töne Camuis beschützten sie: „utsumuite furueru kimi o kono ude de dakishimetakute. Kono sekai no dare yori mo kimi o mamoritai to kizuita kara. Mou sukoshi de boku wa kieru kedo...Soredemo kimi dake wa hanashitaku wa nai. Setsunai kurai kimi ni tsutsumareta ano hibi o boku wa wasurenai!”

Zu ihrer Verwunderung war das Meer geradezu unnatürlich ruhig, kein einziges Lüftchen glitt über die Oberfläche. Aufgeregt blickte die junge Frau sich um und flehte jeden Moment darum, dass es nicht nur Einbildung gewesen war. Das hätte sie nicht ertragen! Endlich gewahrte Shizukesa einen Schatten, welcher regungslos am Ufer stand und scheinbar ungerührt in die Ferne hinaus blickte. Die langen, fliegenden Haare offenbarten zweifelsfrei seine Identität. „Camui“, rief Shizukesa überglücklich und sprang regelrecht in seine Arme. Tränen der Freude liefen über ihre Wangen. Der Vampir drehte sich zu ihr, lächelte um umarmte seine Geliebte ebenfalls. Jedoch wirkte seine Geste merkwürdig distanziert, was Shizukesa aber nicht sofort bemerkte. Die Welt hatte sich für wenige Augenblicke in Nichts aufgelöst, es zählten nur noch Camui, sie und ihre Liebe.

„Wie hast du es geschafft, zurückzukehren?“, schluchzte die junge Frau und kuschelte sich noch enger an seine Brust, „ich hatte die Hoffnung schon aufgeben!“ Der Vampir schob seine Liebste schweren Herzens von sich weg und schaute traurig zu Boden. Shizukesas unsicher – verzweifelter Blick schmerzte wie ein Dolchstoß. Trotzdem musste er die Wahrheit sagen, alles andere wäre einem Verrat gleichgekommen. „Du irrst dich, Shizukesa“, sagte Camui mit dünner Stimme, „ich bin tot und mein Geist hat diese Sphäre bereits verlassen. Es ist ein Wunder, das ich für einige Stunden zurückkehren und dich zu mir rufen konnte. Doch nun ist meine Zeit knapp, bald muss ich wieder gehen. Deswegen frage ich dich noch einmal: Willst du mir folgen und die Ewigkeit an meiner Seite verbringen?“

Die junge Frau starrte ihn mit offenem Mund an und brauchte einige Minuten, um das Gesagte zu verstehen. Und selbst dann begriff ihr Verstand nicht alles, was hier geschah. Sie wusste nur eines: Ihr Herz schrie verzweifelt nach Camui und würde niemals jemand anderen lieben können. Ein Leben ohne ihn wäre ein tiefes, dunkles Loch ohne Boden. Selbst Kibo war in diesem Moment vergessen, sie würde ihr, Shizukesa, niemals die benötigte Wärme und Geborgenheit geben können. Auch wenn die junge Frau sie als Freundin schmerzlich vermissen würde. Und wenn sie in einer fremden Sphäre existierten, könnte sie auch niemand jagen. Eine Träne lief über Shizukesas Wange. Dann schluckte sie und küsste Camuis bleiche Lippen; der Tod hatte seiner Schönheit keinen Abbruch getan.

Die Augen des Vampirs weiteten sich, als er ihr Lächeln sah. Stumm nickend warf die junge Frau ihre Haare nach hinten und entblößte ihren Hals; die Entscheidung war gefallen. Schnell und doch voller Zärtlichkeit schlug Camui seine Zähne in das lockende Fleisch, saugte hungrig das Blut. Es war ein Gefühl wie beim ersten Mal, nur hatte es jetzt etwas Endgültiges. Denn nun würde Shizukesa nie mehr gehen. Diese Tatsache machte ihn sehr glücklich, auch wenn der Preis mehr als hoch war. Aber die wahre Liebe konnte eben doch alle Grenzen überwinden…Sanft legte der Vampir seine Arme um Shizukesa, zog sie noch näher an sich. Er fühlte, wie mit dem Blut auch die Seele ihren Körper verließ…gleich würde es soweit sein. Dunkelheit umhüllte die beiden Liebenden.

Der Morgen danach

Die Sonne war kaum aufgegangen, als eine mentale Erschütterung die Stadt heimsuchte: Shizukesa war spurlos verschwunden; eine Angestellte hatte ihr Bett am Morgen leer vorgefunden und nirgends gab es einen Hinweis auf ihren Verbleib. Da die junge Frau nach wie vor als psychisch labil galt, war die Sorge entsprechend und die Polizei wurde sofort eingeschaltet.

Auch Kibo machte sich sofort auf den Weg, als sie vom Verschwinden ihrer Freundin erfuhr. Denn im Gegensatz zu den andern Menschen im Umfeld wusste sie, wie sehr Shizukesa in den letzten Tagen gelitten hatte. Alles in ihr hoffte, das nichts Schlimmes passiert war, das Shizukesa einfach nur allein sein wollte. Als die junge Frau das Haus der Ogamas erreichte, wurde sie sofort von der Polizei in die Mangel genommen. Doch Kibo wusste nichts, konnte keine Auskunft geben. Dennoch dauerte das Verhör mehrere Stunden, nur Hisako glaubte ihr und versuchte, die psychische Folter zu mildern.

Als Kibo nach endloser Zeit endlich den Raum verlassen durfte, waren die Spuren deutlich sichtbar; sie hatte tiefe Ringe unter den Augen und die Hautfarbe machte einer Leiche Konkurrenz. Parallel dazu hatte sich etwas anderes ins Unermessliche gesteigert; ihre Wut auf Shizukesas Vater. Er war indirekt für ihr Verschwinden verantwortlich und trug die Hauptschuld an ihrem Leid.

Mit einem schleimigen Lächeln trat Kibo auf Herrn Ogama zu und schlug ihn brutal ins Gesicht. Danach herrschte eine regelrechte Totenstille, keiner wusste, was er tun oder sagen sollte. Nur Hisako stellte sich hinter sie und legte den Arm um die junge Frau. In ihren Augen blitzte eine stille Genugtuung; ein wenig Schmerz würde ihrem Mann nicht schaden. Sie hätte es nur gerne selbst getan. „Sie und nur Sie allein sind an dieser Tragödie Schuld“, donnerte Kibo durch den Raum, sie hatte jegliche Beherrschung verloren, „Sie haben Shizukesas große Liebe vor ihren Augen ermordet und damit ihre Hoffnung auf ein besseres Leben gnadenlos zerstört. Und damit nicht genug; Sie haben Shizukesa, ihre eigene Tochter, jahrelang wie eine Gefangene eingesperrt und außer Medikamenten und Therapeuten nichts für sie übrig gehabt. Haben Sie eine Ahnung davon, wie sehr Shizukesa gelitten hat? Nein…vermutlich nicht, aber ich habe es gesehen…Sie, Herr Ogama“, provozierend zeigte Kibo mit ihrem Finger direkt auf ihn, „sind nichts weiter als ein raffgieriger, kaltblütiger Sadist. Wenn Shizukesa tot sein sollte, werde ich dafür sorgen, das Sie ihre gerechte Strafe bekommen!“

Die Lippen von Shizukesas Vater bebten ob dieser unverfrorenen Drohung, zum ersten Mal in seinem Leben wusste er nichts zu sagen und es bestand kein Zweifel, das Kibo es ernst meinte. Noch ehe die Situation eskalieren konnte, stürzte ein Polizist hinzu und berichtete schwer atmend: „Wir haben sie gefunden!“ Fast zeitgleich erkannte Kibo das tiefe Bedauern in seinen Augen und ihr Herz zog sich in Qual zusammen: Nein, das durfte nicht sein…Shizukesa konnte nicht…Doch ihr Verstand kannte die Wahrheit längst und eben dieses Wissen ließ ihre Augen starr und glasig werden. Mit tonloser Stimme befahl Kibo den Polizeibeamten, sie dorthin zu bringen, was dieser, nach einigem Zögern, auch tat.

Hisako schloss sich ihnen an; sie teilte die Erkenntnis von Shizukesas Freundin und kämpfte gegen die Tränen an. Rigoros packte Hisako ihren Mann am Kragen und ihr Griff war so eisern, das dieser sich, trotz massiven Protests, nicht befreien konnte. „Du kommst mit uns“, zischte sie abfällig und legte ihre ganze Verachtung in diese Worte, „damit du aus erster hand sehen kannst, was deine abgrundtiefe Bosheit und Habgier anrichten kann…du Mörder!“ Zusammen machten sie sich auf den Weg und der Wind sang sein Trauerlied. Die Fundstelle war mitten am Strand, Kibo hatte nichts anderes erwartet. Ihre Freundin hatte diesen Ort stets über alles geliebt und Camui schien diese Leidenschaft geteilt zu haben.

Shizukesas Körper lag im weichen Sand; so makellos und bleich als schliefe sie nur. Doch kein Atemzug hob und senkte ihre Brust. Die junge Frau bettete Shizukesas Kopf in ihren Schoss, während sie mit halbem Ohr der Diskussion über die Todesursache lauschte. Es war wirklich seltsam, das Shizukesa keinerlei äußere Verletzungen aufwies; wie sollte sie sich das Leben genommen haben? „Hatte sie das überhaupt“, schoss es Kibo plötzlich durch den Kopf und sie zuckte zusammen. Oder war es Camui irgendwie gelungen, sie zu sich zu holen? Wenn dem so war, so zweifelte Kibo nicht daran, das Shizukesa ihm freiwillig gefolgt und nun wahrscheinlich glücklicher war als sie, Kibo, selbst. Heiße Tränen liefen über ihre Wangen, als die junge Frau sich erhob und Shizukesas Vater mit einem eisigen Blick musterte.

Dieser achtete zunächst nicht darauf, bis die junge Frau sich wie eine Mauer vor ihm aufbaute: „Hier sehen wir einen Mann, der im Leben viel erreicht hat und doch so arm ist. Er gönnte seiner einzigen verbliebenen Tochter die Liebe nicht und entzog ihr auch die seine. Das und nichts anderes ist der Grund, warum Shizukesa jetzt hier leblos vor uns liegt. Ich hoffe, du wirst in den Tiefen der Hölle schmoren, nachdem dein Leben hier auf Erden zerstört wurde!“ „Genau“, mischte sich nun auch Hisako ein und legte den Arm um Kibos Schultern, „und der erste Teil jener Zerstörung wird sein, das ich dich verlasse. Jahrelang habe ich stumm zugesehen, wie du unsere Töchter gequält hast. Schon als Taiyou starb, hätte ich die Augen öffnen müssen!“ Herr Ogama senkte den Blick, allmählich wurde ihm klar, dass sein Leben in Scherben zersprungen war. Von einer Minute zur anderen verwandelte er sich in einen gebrochenen Mann.

Kibo lächelte darüber und genau in diesem Augenblick erschien die Sonne orange- rot am Horizont und kündigte den neuen Tag an. Und sie meinte, zwei wohlbekannte Stimmen zu hören: „Yuugure ni kimi to mita orenji no taiyou. Naki sou na kao wa shite eien no sayonara!“

Abschied

Und so stehe ich hier

schaue dem Meer beim Spielen zu

Es vergeht kein Tag, an meine Gedanken nicht sind bei Dir

denn meine beste Freundin; das warst du!
 

Ich gebe weder dir noch Camui die Schuld,

denn ihr habt nur eure tiefe Liebe gewollt

Hätten die Menschen euch jene Freiheit gegeben,

so glaube ich, würdet ihr heute noch leben.
 

Nur eine winzige Hoffnung gibt mir noch Kraft:

Wir werden uns wieder sehen in der ewigen Nacht.



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Kommentare zu dieser Fanfic (26)
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Von:  AnnabelleGraufeder
2014-08-21T10:26:32+00:00 21.08.2014 12:26
ich kann mich auch nur den anderen anschließen ^^
Antwort von:  Asmodina
21.08.2014 13:02
Danke schön. ich hoffe, der Rest gefällt auch
Von:  AnnabelleGraufeder
2014-08-21T10:18:30+00:00 21.08.2014 12:18
nice nice ^^
es ist wirklich schön
Antwort von:  Asmodina
21.08.2014 12:22
Danke dir^^
Antwort von:  AnnabelleGraufeder
21.08.2014 12:25
nichts zu danken ^^
zumindest fesselt es mich, weiterzulesen.
das kommt weiß gott nicht oft vor.
allerdings macht es mich etwas neidisch XD
ich will auch dieses durchhaltevermögen und diese motivation besitzen ^^
aber alles in allem einfach nur tollig.
Von: abgemeldet
2012-02-02T09:11:08+00:00 02.02.2012 10:11
Diese Geschichte war eigentlich die Erste, die ich von dir gelesen habe. ^^
Aber da deine Kurzgeschichten so wenige Reviews hatten, hatte ich beschlossen, diesen zuerst Kommentare zu übermitteln.
In Zusammenhang mit Gackt findet man hauptsächlich Shounen-ai, weshalb es gewissermaßen erfrischend ist, mal eine Hetero-FF zu lesen. ^^
Ich finde, dass du die Charas sympathisch darstellst, man mit ihnen mitfühlen kann und sie einem auch ans Herz wachsen.
Dein beschreibend-erzählerischer Schreibstil kommt hier besonders gut zur Geltung und hat mir sehr gefallen. ^^
Gleich von Anfang an wird man in eine melancholische, aber gleichzeitig friedliche Stimmung versetzt, die mich an meine Gefühle bei der Vision erinnert, von der ich dir erzählt habe. ^^
Von:  Vanilla_Coffee
2010-12-26T17:15:26+00:00 26.12.2010 18:15
Das Gedicht war echt toll^^
Ein würdiger Abschluss für die Story^^

LG Amalia
Von:  Vanilla_Coffee
2010-12-26T17:14:43+00:00 26.12.2010 18:14
Man wie traurig, dass das schon das Ende war ._.
Aber ganz toll geschrieben^^

LG Amalia
Von:  Rayne-Sunshine
2010-12-26T15:23:20+00:00 26.12.2010 16:23
wie poetisch^^
ich finds schön

Von:  Vanilla_Coffee
2010-12-25T13:20:23+00:00 25.12.2010 14:20
OMG das war ja so romantisch *.*
Ich mag solche düster romantischen Sachen einfach ^.^
Von:  Vanilla_Coffee
2010-12-05T17:50:50+00:00 05.12.2010 18:50
._. Arme Shizukesa.
Sie tut mir richtig leid T_T
Aber toles Kappi mal wieder^^

LG Amalia
Von:  Vanilla_Coffee
2010-12-02T20:13:39+00:00 02.12.2010 21:13
T_T oh man ist das traurig das Kappi
Aber das haste echt toll gemacht mal wieder^^

LG Amalia
Von:  Vanilla_Coffee
2010-11-14T17:37:20+00:00 14.11.2010 18:37
*drop* Oh man arme Shizukesa ._.
Aber ganz tolles Kappi haste da wieder abgeliefert ^.^

LG Amalia


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