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Die Geister die wir riefen...

von

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Diese jubelnde Menge…

Unbeschreiblich…
 

Diese Euphorie die durch die Menge wie eine Welle peitschte. Diese Begeisterung die ihr Menschen an den Tag legtet, obwohl in euren überfüllten Turniergebäuden eine grauenhaft stickige Luft herrschte. Typisch für einen Ort mit vielen Menschenmassen.

Und im Mittelpunkt standen wir. Du und ich.

Unzählige Augenpaare gebannt auf uns gerichtet.

In der Hallenmitte die Beyblade Arena. Gegenüber von uns der Gegner. Ein junger Knabe namens Brooklyn, wenn ich mich noch recht entsinne. Er und sein Bit Beast Zeus waren unglaublich stark. Einer meiner stärksten Gegner seit Dranzer.

Oh, was waren das für herrliche Zeiten!

Wir wurden angemessen bejubelt, wie sich das für die Weltmeister gehörte. Noch heute höre ich den begeisterten Beifall von damals. Das aufgeregte Trampeln hunderter junger Leute auf ihren Sitzplätzen und den Applaus. Es ist eine Melodie die ich nie vergessen werde.

Hast du es vergessen?

Wie du mich in deiner Hand hieltest?

Deine Faust die in die Höhe schoss und dein gellender Freudenschrei über unseren Sieg, der sich mit dem Jubel der begeisterten Masse vermischte. Von allen Seiten schallten Zurufe und Bewunderungen zu uns herüber. Deine Freunde kamen angerannt und hoben uns auf ihre Schultern. Ehrliche Freude sprach aus ihren Augen. Jeder gönnte uns den Sieg. Wir beide, auf den Schultern deiner Freunde, Kontrahenten und Bewunderern.

Wir waren die Weltmeister…
 

Und heute, Jahre später, liege ich in einer Schachtel…

Das mächtigste Bit Beast der Welt liegt in einer staubigen Pappschachtel im Kleiderschrank. Ist das zu glauben? Wie konnte es nur so weit kommen?

Du beachtest mich kaum…

Du beachtest mich überhaupt nicht! Morgens in der Früh verlässt du das Haus und kommst abends erschöpft heim, lässt dich auf dein Bett fallen und schaltest den Fernseher an. Dein Leben ist ein einziger sinnloser Trott.

Du gehst. Du kommst.

Du gehst. Du kommst.

Nur manchmal, wenn du mit deinem kleinen Freund aus Amerika telefoniert hast, holst du mich aus der Schachtel hervor, streichst mit deinen Fingern über meine Legierung, kontrollierst meine Bauteile und betrachtest mich wehmütig, im Gedanken bei den alten Zeiten.
 

Dabei bemerke ich jedes Mal wie sich dein Gesicht verändert. Es ist markanter geworden. Deine dicken Kinderbacken sind verschwunden, aus deinen tiefbraunen Augen spricht nun Erfahrung und Wissen. Doch noch immer erkenne ich einen Teil des sturen und aufbrausenden Knaben, der mich als Einziger kontrollieren konnte.

Ich verstehe euch Menschen nicht.

Warum verändert ihr euch? Und das in so kurzer Zeit?

Es sind doch nur sieben Jahre seit der letzten Weltmeisterschaft vergangen. Für einen Geist wie mich ein Wimpernschlag. Doch kaum das ich einen Atemzug genommen habe, überragst du deinen Großvater. Beim nächsten deinen Vater und schon bist du größer als dein älterer Bruder geworden. Und mit diesem körperlichen Zuwachs, spüre ich wie unsere Verbindung schrumpft. Dein Desinteresse an mir kommt so plötzlich.

Wir nehmen an keinen Worldchampionchips mehr teil.

Wir nehmen an keinen regionalen Meisterschaften teil.

Wir nehmen an überhaupt keinen Kämpfen mehr teil!

Takao, wie konntest du dich nur so verändern?

Brich aus diesem Trott aus!

Ich will das Kind in dir sehen. Dieser Erwachsene ödet mich an.

Ich hasse ihn. Er muss verschwinden…
 


 

Mit einer fahrigen Bewegung schrak Tyson aus dem Schlaf. Er hätte schwören können ein Zischen in der Stille seines Zimmers vernommen zu haben, wie von einem leisen Wispern. Dazu gesellte sich diese Gewissheit beobachtet zu werden. Schlaftrunken rieb er sich mit der Innenfläche seiner Hand über die Augen, dann blinzelte er ein paar Mal in die Dunkelheit des Raumes. Sein erster Gedanke war, dass er den Fernseher angelassen hatte, doch dem war nicht so. Fragend wanderte sein Blick zum Fenster und als Tyson sah das es gekippt war, konnte er sich denken was ihn gestört hatte.

„Also nur der Wind“, dachte er. „Oder wieder ein blöder Streuner draußen.“

Im Halbschlaf hörte sich doch alles wie ein Zischeln an. Stöhnend ließ Tyson sich zurück in sein Kissen fallen. Er brauchte Schlaf. Morgen war ein langer Tag. Er musste seine Werkstatt führen und sich abends noch um den Dojo seines Großvaters kümmern. Der alte Mann hatte vor drei Jahren einen schweren Schlaganfall erlitten und war nun unfähig, den traditionellen Familiendojo zu führen. Anfangs hatte dieser Vorfall einen herben Knick in Tysons so heile Welt gebracht, doch sein Großvater war ein zäher Mann. Nach zwei Monaten konnte er genauso zetern wie früher, nur eben aus dem Rollstuhl heraus.

Leider hielt sich die Fähigkeit zu Gehen, noch bis heute in Grenzen und da Mr. Kinomiya mit seinem Gehstock, nur bedingt jungen Spunden Kendo beibringen konnte, übernahm Tyson, neben seinem eigentlichen Beruf, noch zusätzlich diese Aufgabe. Es zerrte zwar manchmal an seiner Kraft, doch er brachte es nicht übers Herz, den Dojo seines Großvaters aufzugeben. Er wusste wie viel die Schule seinem alten Herrn bedeutete. Mr. Kinomiya hatte immer davon gesprochen, dass es sein Erbe, an sein eigen Fleisch und Blut sei. Kein Gedanke erfreute ihn mehr, als die Gewissheit, dass der Dojo in hundert Jahren noch, von seinen Nachkommen geführt werden würde. Leider war Tyson der Einzige in der Familie, der genug Pflichtbewusstsein besaß, um sich dieser Verantwortung zu stellen. Auf seinen älteren Bruder Hitoshi, den die meisten Hiro riefen, war in dieser Hinsicht kein Verlass, selbst wenn ihn diese Situation so manches Mal ärgerte. Leider musste er das so hinnehmen und bis auf den Zeitaufwand, machte Tyson der Unterricht im Dojo Spaß. Gähnend zog er die Decke bis ans Kinn und drehte sich schmatzend auf die Seite, wobei seine müden Augen noch einmal den Schrank streiften. Und für einen kurzen Moment, dachte er ein schwaches bläuliches Licht, aus dem Spalt unter der Tür hervorleuchten zusehen…
 


 

*
 

„Wenn ich es dir doch sage, Kenny! Dragoon hat versucht mit mir zu sprechen!“

„Warum sollte er?“, schallte die Frage desinteressiert aus dem Telefonhörer heraus. „Er ist seit Ewigkeiten nicht mehr mit dir in Kontakt getreten. Außerdem hast du dich aus der Beyblade Branche zurückgezogen. Es gibt keinen Grund mehr für ihn mit dir zu sprechen.“

Tyson war zwar ein wenig beleidigt, als er das hörte, doch im Grunde entsprach es der Wahrheit. Er selbst hatte vor fast sechs Jahren seinen Rücktritt verkündet. Zum einen, da er als unbesiegter Weltmeister abtreten wollte, zum anderen, weil man mit knapp sechzehn Jahren einfach zu alt war, um noch mit Kreiseln zu spielen.

Außerdem hatte die Beyblade Welle seit seinem Rücktritt rapide abgenommen. Bevor Tyson ausgestiegen war, hatte sein Freund, Teamkamerad und ärgster Rivale Kai, in weiser Voraussicht das sinkende Boot verlassen. Damals waren alle vollkommen bestürzt über dessen Begründung, er fühle sich zu alt für dieses Spiel. Allein das er Beyblade als Spiel bezeichnete, war für die Gruppe ein Affront der seinesgleichen suchte.

Für sie war Bladen immer ein handfester Sport gewesen. Man verdiente nichts daran, aber wer leidenschaftlich dabei war, für den war das kein Hindernis. Dachten sie jedenfalls…

Tyson wusste noch wie er Kai mit Rheuma und Doppelherz Bemerkungen triezen wollte, doch der hatte nur lächelnd mit den Schultern gezuckt und gemeint: „Wir werden alle mal erwachsen. Vielleicht sogar du blöder Kindskopf.“

Als hätte sein schweigsamer Freund geahnt, das der Beyblade Stern am sinken war.

Kein Jahr später, folgte schließlich Ray diesem Beispiel und danach Tyson selbst mit seinem besten Kumpel Max. Ohne die alte Truppe waren die Turniere einfach nicht mehr dasselbe gewesen. Immer mehr Freunde hatten sich verabschiedet, starke Kontrahenten wurden Mangelware und ehe es sich Tyson versah, hatte auch ihn die Lustlosigkeit gepackt. Seine ehemaligen Teammitglieder hatten begonnen, sich umzuorientieren, wurden reifer und erwachsener. Kai war nicht einmal zu seinem Abschiedskampf gekommen. Dem letzten Wettstreit den Tyson ausgetragen sollte. Das nagte noch heute an ihm und er warf es seinem Freund zu jeder passenden Gelegenheit vor.

Hiromi hatte der Gruppe irgendwann freudestrahlend verkündet, einen Platz als Au-pair-Mädchen in Washington bekommen zu haben. Zwar fanden alle es traurig, dass ihre langjährige Freundin ins Ausland ging, doch es war schon immer ihr Traum gewesen und nach den ersten zwei Jahren, erwies es sich als Sprungbrett für weitere Jahre in den USA.

Nur Daichi trat noch zu Kämpfen an. Doch in den damals gefüllten Turnierhallen herrschte heute gähnende Leere. Nur eine Handvoll Jugendlicher interessierte sich noch fürs Bladen.

Dadurch hatte auch die BBA ihren Einfluss verloren und musste schließlich umdenken. Beyblades verschwanden aus dem Verkaufssortiment der Großläden und wichen neuen Spielereien wie YuGiOh Karten, was Tyson nicht wirklich verstand. Einmal hatte er sich aus reiner Neugierde einen Stapel gekauft, doch die Spielregeln waren so verworren, dass er am Ende des Tages das Booster Paket in die nächste Mülltonne kloppte.

„Schuster bleib bei deinen Leisten“, hatte er sich ermahnt und sich danach seiner Arbeit zugewandt. Ray meinte einmal, dass nichts so beständig wie der Wandel war. Er hätte es nicht besser formulieren können. Die Zeiten hatten sich geändert und wenn Tyson ehrlich war, konnte er selbst nicht mehr verstehen, was ihn als Kind so am Bladen fasziniert hatte.

Zwar dachte Tyson gerne an seine abenteuerliche Jugend zurück, doch er bereute seinen Ausstieg nicht. Irgendwann holte die Erwachsenenwelt einen ein und spätestens nach dem Schlaganfall seines Großvaters, spürte Tyson die Wahrheit hinter Kais Worten.

Wenigstens hatte der alte Mann, in weißer Voraussicht, ein gut gefülltes Konto für seinen Enkel eingerichtet, dass Tyson nach seinem Abschluss als Automechaniker, das Startkapital zu seiner eigenen florierenden Werkstatt erbrachte. Er hatte also keinen Grund sich zu beschweren. Dennoch ging ihm Dragoon nicht aus dem Kopf…

„Ich weiß auch nicht warum er aus seinem Tiefschlaf erwacht ist, aber er hat es getan!“, knüpfte Tyson wieder energisch an das Thema an. Auf der anderen Leitung hörte er seinen Freund genervt stöhnen. Seit Kenny Abteilungsleiter für Serviceleistungen, bei der japanischen Niederlassung von Microsoft war, hatte er sich zu einem wandelnden Stressbündel entwickelt.

„Ma~han, Tyson! Ich habe echt keine Zeit für so einen Scheiß! Hast du wirklich nichts Besseres mit deiner Zeit anzufangen, als mich wegen derlei Kleinigkeiten anzurufen? Deine Probleme hätte ich gerne…“

„Kleinigkeiten? Lass das Mal nicht Dizzy hören, die würde dir die Ohren langziehen! Früher warst du Feuer und Flamme für Bit Beasts...“

Wieder ein genervtes Stöhnen. Doch dann fuhr Kenny etwas interessierter fort.

„Ich weiß wie ich früher war, aber bei mir stapelt sich die Arbeit.“, das Rascheln von Papier drang aus der anderen Leitung und im Hintergrund erklang das Geschwätz von Kennys Kollegen, während in unregelmäßigen Abständen ein Telefon klingelte. „Also gut. Was hat Dragoon zu dir gesagt?“

„Nichts! Ich wollte mich gerade hinlegen, da habe ich dieses unheimliche blaue Licht in meinem Schrank bemerkt.“

„Und was hast du getan?“

„Ich bin zum Schrank. Aber als ich ihn aufgemacht habe war der Spuk vorbei.“

„Hmm…“, früher hätte Tyson darauf gewettet, das Kenny an dieser Stelle über das Problem nachdachte. Doch das Rascheln im Hintergrund ließ darauf schließen, dass er sich nebenbei lieber mit anderen Dingen beschäftigte. Multitaskingfähig war der Chef, das musste man ihm lassen. „Hört sich so an als ob du geträumt hast.“

„Ich habe nicht geträumt!“, wetterte Tyson los.

„Klar. Was hast du gestern Abend gegessen?“

„Hühnerbrust mit… Pah!“, nun war der Groschen gefallen. „Verstehe! Die typische Ausrede für alle meine Probleme. Das Abendessen ist Takao Kinomiya nicht bekommen. War das deine versteckte Botschaft? Ehrlich Chef, wo sind die Zeiten hin als du noch hilfreich warst?!“

„Ich – muss - ARBEITEN!“, brüllte Kenny das letzte Wort in den Hörer. „Mir meine Brötchen verdienen! Dafür sorgen dass ich meine Miete bezahlen kann! Nur um nächsten Monat weiterzuarbeiten, damit ich wieder das Geld für diese beschissene Bruchbude habe! Mein Großvater hat mir keinen finanziellen Puffer eingerichtet, damit ich eine Werkstatt eröffnen kann. Stattdessen hat der alte Miesepeter uns seine zugemüllte Messiwohnung hinterlassen! Samt seiner Schulden! Ich wäre schon froh, wenn meine Oma mir an meinem Geburtstag ein paar Yen zustecken würde, anstelle eines kratzigen selbstgestrickten Pullovers!“

Oh weh, der Neid. Der anhänglichste Kumpel auf Erden…

„Schon gut, dann hilf mir nicht. Ist ja nicht so, als ob ich dein ältester Freund wäre“, er fügte diesem Satz mit voller Absicht eine beleidigte Unternote hinzu. Einfach um an Kennys schlechtes Gewissen zu appellieren. Wie sonst auch stieß er prompt auf fruchtbaren Boden.

„Ach Tyson, komm schon. Du wirst unfair.“ Kenny holte tief Luft und meinte schließlich. „Es ist ja nicht so als das ich nicht möchte, aber es gibt Dinge die haben im Moment Vorrang. Lass uns das einfach am Wochenende besprechen, wenn Max und Ray wieder im Land sind.“

Bei diesem Satz machte Tysons Herz einen euphorischen Hüpfer. Er konnte es gar nicht erwarten seine alten Kindheitsfreunde zu sehen. Es war beinahe Tradition, dass sie sich alle vier Monate trafen. Dabei war er so in seine Vorfreude vertieft, dass ihm Kennys nächster Satz beinahe entgangen wäre.

„Denkst du wir bekommen Kai dieses Mal auch aus seinem Loch gezogen?“

Sofort blähte Tyson wütend die Wangen auf. Er konnte sich noch gut an die letzten drei Male erinnern, bei denen Kai mit einer fadenscheinigen Ausrede nach der anderen, abgesagt hatte. Fast ein ganzes Jahr bekam ihn die Gruppe nicht mehr zu Gesicht.

Das machte Tyson rasend! Kai war noch nie gut darin gewesen, eine Freundschaft intensiv zu pflegen. Mittlerweile war Tyson auch sicher, dass er das mit Absicht tat. Wahrscheinlich hielt Kai sich für etwas Besseres, doch diese Flause würde er dem kühlen Halbrussen austreiben. Geradezu prophetisch verkündete Tyson: „Er wird kommen. Und wenn ich ihm, vor seiner gesamten Belegschaft, in seinen teuren Designerhintern treten muss!“
 

Nur war das leichter gesagt als getan. Denn um jemanden in den Hintern zu treten, musste der gewünschte Hintern auch in Reichweite sein. Seit seinem Telefonat mit Kenny, hatten beide unzählige Male versucht Kai zu erreichen. Doch scheinbar war der wieder spurlos verschwunden. Zumindest konnte man ihn nie in seinem Büro erreichen. Kais Sekretärin teilte Tyson entweder mit, dass er Termine außer Haus hatte oder mitten in einer geschäftlichen Sitzung war. Als I-Tüpfelchen ging an seinem Handy natürlich nur wieder die Mailbox dran. Dutzende Male hatte Tyson das verhasste Ding schon voll gequatscht…

„Hey Kai! Max und Ray kommen dieses Wochenende. Ruf mich zurück!“

„Hey Kai! Du hast immer noch nicht zurückgerufen. Wo bist du?“

„Hey Kai, hier ist Tyson noch mal. Hörst du dieses blöde Teil überhaupt ab?!“

Und beim vierten Mal völlig verzweifelt…

„Hey Kai! Ich laufe in einem Rock und Strapsen durch den Park! Ich habe ordentlich einen gezwitschert und ziehe in Erwägung, splitternackt kleine Kinder auf dem Spielplatz anzusprechen. Wenn du mich davon abhalten willst – Ruf mich an!“

Natürlich hatte Kai nicht zurückgerufen…

Doch Tyson wäre nicht Tyson, wenn er nicht auch für dieses Problem einen Plan B parat hätte. Freitagnachmittag landete Maxs Flugzeug in Tokio. Zwei Stunden später der Flieger von Ray. Somit konnte Operation Hiwatari Kidnappingstarten.
 


 

*
 

„Leute, das ist illegal!“

„Kai wird uns schon nicht anzeigen…“

„Woher willst du das wissen?! Das könnte mich meinen Job kosten!“, nervös kaute Kenny auf seinen Fingernägeln, während der Laptop auf seinem Schoß ruhte und den Terminplaner, auf Kais Firmen PC hackte. Über dem Gebäude kreisten Flugzeuge hinweg und manchmal passierte ein Reisender den Parkplatz des Airports, mit einem Koffer im Schlepptau. Unweit von ihrem Wagen stand eine europäische Touristengruppe, wartete auf ihren Reisebus und schoss Fotos bis das Smartphone qualmte. Eine Eigenschaft die man ironischerweise den Japanern nachsagte…

„Oh man. Das ist Kriminalität auf höchstem Niveau!“

„Jetzt sei doch nicht so ein Feigling, Kenny!“, lachte Ray vom Beifahrersitz aus. Er drehte sich zur Rückbank und grinste den Chef frech an. So nannte die Gruppe Kenny seit Beginn ihrer Freundschaft. Der Schalk blitzte in den Augen des jungen Chinesen.

„Wie Max bereits gesagt hat - Kai würde uns niemals anzeigen. Wir sind seine Freunde und er soll sich gefälligst etwas Zeit für uns nehmen!“

„Genau! Und was uns glücklich macht, sollte ihn auch glücklich machen.“

„Nett umschrieben, Tyson. Übrigens gute Idee mit dem Laptop. Ich hätte dir so eine kriminelle Ader gar nicht zugetraut, du kleiner Yakuza.“

Tyson, der am Steuer seines Wagens saß, fuhr gespielt entrüstet auf und antwortete: „Was ist daran kriminell, sich in das Betriebssystem einer weltberühmten globalen Firma zu hacken und den Terminplaner seines Kumpels abzuändern? Der Zweck heiligt hier ja wohl die Mittel! Kai gehört für sein Verhalten in den Knast, nicht wir.“

Ein leises Piepsen vom Laptop und Kennys furchtsames Winseln verrieten, dass er endlich in die Datenbank vorgedrungen war. Der Chef faltete die Hände vor der Stirn und flüsterte: „Ihr Götter, vergibt mir! Ich bin ein Sünder…“

Es ließ Tyson mit den Augen rollen. Kenny war noch nie stressresistent gewesen. Als Kinder hatten sie die gleiche Klasse besucht und wenn Tyson mal etwas angestellt hatte, brauchte die Lehrerin nur einen schrägen Blick zum Chef zu werfen, da knickte der Streber auch schon ein. Währenddessen spähte Max über dessen Schulter hinweg auf den Monitor und ließ einen anerkennenden Pfiff vernehmen.

„Nicht schlecht. Kai hat um 19:00 Uhr ein Gespräch mit den Vorsitzenden von Chrysler. So spät noch? Hat der Junge kein Privatleben?“

„Das Gespräch kann er knicken!“

Bevor Kenny es sich versah, hatte Tyson sich zu ihm umgedreht und ihm den Laptop vom Schoß geschnappt. Dann wandte er sich zum Lenkrad, während Ray absichtlich näher heranrutschte um den Spalt zwischen den Vordersitzen zu blockieren. Nun konnte der panische Chef noch so sehr kreischen, doch von der Rückbank aus, kam er nicht mehr an seine Dizzy heran.

„Also mal sehen…“, murmelte Tyson in geschäftigem Ton und betrachtet die zweispaltige Tabelle auf dem Monitor. In der ersten Spalte wurde die Uhrzeit eingetragen, in der nächsten eine kleine Bemerkung und um zum nächsten Tag zu gelangen, musste man einfach nur Weiter klicken. Nach Kennys fachmännischer Meinung, wanderte jede Änderung im Terminplaner, sofort als Kurznachricht zu Kais Sekretärin, damit diese jede Verschiebung telefonisch weitergeben konnte, was also hieß, das einige Leute heute eine Absage erhalten würden. Das war ja fast schon zu einfach und innerlich klopfte Tyson sich gönnerhaft auf die Schulter für diesen Einfall, vor allem dafür, dass er Kennys Geschwärme über Softwareprogramme, mit halbem Ohr gelauscht hatte, als dieser einmal die Ehre hatte, Kais heilige Hallen zu betreten, um seinen PC im Büro vor einem Virenbefall zu retten. Mit einem fiesen Grinsen klickte Tyson auf den Button Meeting absagen und erklärte dabei munter: „Wir wollen das ganze Wochenende ausgelassen feiern. Logischerweise muss dieser Eintrag dann also weg. Und dieser! Und natürlich der da…“

So ging das an diesem Nachmittag eine ganze Stunde. Und während draußen die Blätter von den Bäumen fielen, Kenny sich vor lauter Gram die Fingernägel abknabberte und ein leichter Herbstwind das Laub aufwehte, wurde die Stimmung im Wagen immer ausgelassener, während eine verdutzte Sekretärin in der Hiwatari Korporation haufenweise Emails von ihrem Vorgesetzten bekam, der sämtliche Termine für dieses Wochenende absagte. Sogar den neun Uhr Besuch bei Dr. Hamilton am Samstagmorgen sollte sie canceln – wovon Kai selbst nichts wusste.

Nur ein einziger Termin wurde nicht gelöscht und der war am selbigen Tag um 21:00 Uhr im edelsten Restaurant der Stadt.
 


 

*
 

„21:44 Uhr. Die Zeit will einfach nicht vergehen…“, dachte Kai. Missmutig wandte er seinen Blick von der eleganten Armbanduhr, die an seinem Handgelenk angebracht war ab und nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette. Dabei hörte er der hitzigen Debatte die am Tisch geführt wurde nur noch halbherzig zu. Im Gedanken war er bereits zuhause, ging seine dortigen Aufgaben im Kopf durch. Dieser Stress würde ihn eines Tages noch umbringen…

Dennoch huschte sein Blick gelangweilt über die Anwesenden. Seine Verhandlungspartner waren mindestens dreimal so alt wie er. Alteingesessene Finanzhaie, wie man in Kais Branche gerne sagte. Trotzdem kamen selbst diese erfahrenen Herren ins Schwitzen wenn sie mit ihm pokerten, denn der junge Mann ließ sich zu keinerlei Gefühlsregungen verleiten. Er war in dieser Hinsicht ein Naturtalent.

Zu Irritationen führte vor allem, dass Kai selbst sehr passiv vorging. Er hatte es nicht nötig sich einzumischen. Jede Forderung, jedes Thema, jede Wortwahl war im Voraus abgesprochen und hatte eingehalten zu werden. Das Reden übernahm für ihn sein Assistent. Ein fleißiger ehrgeiziger junger Mann. Leider auch ein ziemlicher Speichellecker, was ihn schon seit längerem störte. Mit einem unauffälligen Seitenblick huschten Kais Augen zu seinem Sitznachbarn, der großspurig verkündete, dass die Hiwatari Korporation nicht vorhatte, auf die Konditionen ihrer Vertragspartner einzugehen, während ein weiterer Angestellter ein schriftliches Protokoll führte.

„Mr. Hiwatari ist durchaus bewusst, dass mein Unternehmen einer ihrer besten Kunden ist. Viele Firmen würden sich ein Bein ausreißen, um eine Zusammenarbeit mit uns zu erreichen und sie wollen uns tatsächlich mit einem verkürzten Zahlungsziel, samt Teuerungszuschlag kommen? Es ist mir egal ob die Rohstoffpreise steigen. Meine Firma ist einer ihrer besten Abnehmer. Sie sind jederzeit ersetzbar, meine Herren! Sie stellen kein Monopol da. Wir leben in einer Zeit des Angebotsüberschuss…“

„Diese Stimme… Wie ein Frosch.“, dachte Kai genervt. Er konnte diesen Kerl partout nicht leiden. Mit diesem verschlagenen Fretchengesicht und der dicken Hornbrille, war ihm von Anfang an klar, was für einen Typ Mensch er neben sich hatte. Kai vertraute ihm nicht. Er wusste einfach wann jemand Blut geleckt hat und dieser Mann wollte hoch hinaus. Vorzugsweise auf seinen Platz. In solchen Momenten bereute er, die Vorstellungsgespräche nicht selbst führen zu können, doch um alles konnte Kai sich beim besten Willen nicht kümmern. Sein Blick huschte für eine Sekunde an seinem Nebenmann hoch. Die Haare trieften vor Gel und klebten am Nacken. Zudem besaß sein Assistent die Vorliebe ihn voller Inbrunst zu bemuttern.

„Möchten sie etwas Wein, Mr. Hiwatari?“

„Etwas von meinem Steak, Mr. Hiwatari?“

„Ihre Krawatte sitzt schief, Mr. Hiwatari. Darf ich?“

Das Wort buckeln musste wirklich neu definiert werden. Einen solchen Schleimer hatte Kai noch nie erlebt. Und wenn man dann wütend die helfende Hand weg schlug, wurde man auch noch schief angestarrt.

„Wenn sie mir erlauben, meine Herren, habe ich den Jahresbedarf meiner Firma parat.“, verkündete der getreue Klassenstreber und holte aus einer Aktentasche einen dicken Stapel Unterlagen hervor. In Kais Magen brodelte es vor unterdrücktem Groll, doch in seinem Gesicht zeichnete sich nicht die kleinste Regung ab. Nicht der winzigste Muskel zuckte. Immerhin konnte er keine Professionalität erwarten, wenn er das nicht selbst blieb. Dennoch ging ihm durch den Sinn, weshalb sein Angestellter Hiwatari Corp als sein persönliches Eigentum sah. Ständig sprach er von meiner Firma.

„Hiwatari Korporation gehört immer noch mir.“, schoss Kai der Gedanke durch den Kopf. „Wenn dieser Speichellecker noch einmal meine Firma als sein Eigentum ansieht, darf er sich seine Kündigung abholen.“

Und wie auf Kommando: „Mein Unternehmen hatte dieses Jahr eine Bestellmenge von…“

Sein Assistent konnte gar nicht ausreden, da schallte durch Kais Kopf schon ein knappes: „Gefeuert!“

Grimmig trommelte er einen leisen Rhythmus mit den Fingern auf der Tischplatte, drückte seine Zigarette aus, nur um anschließend sein Firmenhandy aus der Hosentasche zu ziehen und die freudige Botschaft seiner Sekretärin zu schicken. Ein absolutes Unding bei einer Konditionsverhandlung, was dazu führte, das einer der alten Finanzhaie ihn böse anschielte. Der kleine giftige Blick ruhte tadelnd auf ihm. Kai schenkte ihm nur ein kühles Lächeln und begann gerade zu schreiben: „Fristlose Kündigung für Assistenten aufsetzen. Bei der nächsten Stellenanzeige ausdrücklich auf keine Arschkriecher hinweisen.“

Als sein Handy genau in dem Moment vibrierend auf einen Anruf hinwies. Verstimmt zogen sich seine Brauen zusammen. Er hatte ausdrücklich angeordnet während der Verhandlung nicht gestört zu werden. Mit einer Abfuhr auf der Zunge nahm Kai den Anruf entgegen.

„Ich habe gesagt keine Anrufe.“, kam er ohne Umschweife zur Sache.

„Hui! Wir sind aber wieder gut gelaunt. Krieg ich nicht mal eine verbale Umarmung?“

„Tyson?!“

Die ernste Runde sah irritiert über Kais Ausruf zu ihm.

„Alles in Ordnung?“, fragte einer der Herren und grinste hämisch. Anscheinend freute er sich diebisch darüber, wenigstens einmal an diesen Abend, eine Reaktion von dem kühlen Mann gegenüber zu beobachten. Kai sah den übergewichtigen Mann vor ihm mit einem strafenden Blick an, antwortete aber in einem gelassenen Ton: „Ich muss mich für einen Augenblick entschuldigen. Sie wissen was zu tun ist.“, wies er seinen Noch-Assistenten an. Dann entfernte sich Kai vom Tisch, um die örtlichen Toiletten aufzusuchen. Kurz nachdem er die Tür im Waschraum hinter sich geschlossen hatte, führte er das Handy wieder an sein Ohr und zischte: „Woher hast du diese Nummer?“

„Kumpel, du musst endlich deine Launen unter Kontrolle bekommen.“

„Ich bin absolut ruhig.“

„Bist du nicht. Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, wann du angepisst bist. Du bist dann launischer als jede Hochschwangere…“

Kai presste wütend die Zähne aufeinander. Tyson war der Einzige, der ihn so zur Weißglut treiben konnte, dass er am liebsten den nächsten Stuhl gegen die Wand schlagen wollte. Er war einer dieser Menschen, die bei bissigen Kommentaren nicht duckend auswichen, sondern mit einem arroganten Grinsen so lange stocherten, bis sie bekamen was sie wollten.

„Was willst du?“, fuhr er bemüht lässiger fort.

„Du hast nicht auf meine Anrufe reagiert. Wofür gibst du mir deine private Nummer, wenn du nicht drangehst?“

„Was ist denn überhaupt so wichtig?“, kam es voller Sarkasmus. Selbstverständlich hatte er die Anrufe gesehen, doch Tyson dramatisierte vieles gerne.

„Ray und Max sind in der Stadt. Wir wollen dich abholen.“

„Oh…“, für einen Moment machte Kais Herz tatsächlich einen kleinen Hüpfer, auch wenn er es gar nicht wollte. Es war eine unwillkürliche Gefühlsregung, wie sie öfters bei seinen Freunden vorkam. Doch sofort rutschte sein Herz wieder an seinen Stammplatz, als ihm seine weiteren Termine durch den Sinn gingen. Tatsächlich verhielt es sich nicht so, dass Kai nicht wollte. Auch wenn er es seinen Freunden gegenüber niemals zugegeben hatte, er mochte jeden von ihnen. Sogar Tyson ein wenig. Allerdings durfte man ihm das nie zeigen, sonst bildete er sich nur wieder etwas auf sich ein. Er konnte furchtbar selbsteingenommen sein. Ein Grund weshalb Kai bis heute nicht zugab, dass er bei dessen letzten Match dabei gewesen war.

In den ersten fünf Jahren nach seinem Abschied von der BBA, hatten sich die ehemaligen Bladebreakers regelmäßig getroffen und Kai war immer erschienen, auch wenn man ihn mehrmals dazu auffordern musste. Doch dann hatten Ray und Mariah geheiratet. Kurz davor waren sie schon in dessen Heimatdorf in China gezogen, während Max seiner Mutter vor einem Jahr nach Amerika gefolgt war. Was nicht ganz freiwillig geschah…

Nach dem Abebben der Beyblade Welle hatte das Forschungsinstitut von Max Mutter Judy herbe Verluste eingefahren. Vor eineinhalb Jahren kam dann die Hiobsbotschaft – das Unternehmen meldete Insolvenz an.

Die Finanzkrise hatte dem angeschlagenen Institut den Rest gegeben und alle Angestellten verloren ihren Arbeitsplatz. Max Mutter, eine renommierte Forscherin auf ihrem Gebiet, hatte ihren Lebensinhalt verloren und war am Boden zerstört, stand sogar kurz vor einer Depression. Als sich ihre Probleme aus der Ferne nicht mehr schön reden ließen, beschloss Max zu ihr in die USA zu ziehen. Wenigstens so lange bis sie wieder ihr Leben im Griff hatte. Nachdem sein Vater alle formellen Details geklärt hatte, schloss er seinen Laden in Japan und folgte dem Beispiel seines Sohnes. Tyson, Kenny und Kai hatten ihre Freunde jedes Mal schweren Herzens an den Flughafen gebracht und sich still und heimlich geschworen, sich niemals aus den Augen zu verlieren. Kitschiger Müll wenn Kai darüber nachdachte, doch es bedeutete ihm tatsächlich etwas. Wie sollte er aber bei diesem überfüllten Terminplan Zeit für seine Freunde finden? Mit einem furchtbar schlechten Gewissen wich ihm ein leises Seufzen von den Lippen. Eigentlich kannte er doch die Antwort. Natürlich konnte er nicht. Selbst wenn es nur sein Job wäre…

„Tyson. Ich schaffe es heute nicht.“, war schließlich Kais Antwort. „Es ist wirklich nichts persönliches, aber…“

„Du hast ein Meeting.“, beendete Tyson am anderen Ende der Leitung den Satz. Kai fiel auf wie oft er ihn die letzten Monate so abspeisen musste.

„Genau.“

„Das höre ich ziemlich oft von dir.“

„Ich weiß.“

„Wir haben uns mittlerweile fast ein Jahr nicht mehr gesehen.“

„Ich weiß.“

„Klar, ich verstehe dich ja irgendwo. Du leitest eine Firma. Aber das hat dich früher nicht davon abgehalten mit uns um die Häuser zu ziehen. Man musste dich zwar immer zu deinem Glück zwingen, aber ich weiß genau, dass es dir Spaß gemacht hat. Aber jetzt kommt es mir so vor, als würdest du uns absichtlich aus dem Weg gehen...“

„Im Moment habe ich einfach viel um die Ohren.“

Ein Seufzen kam von Tyson.

„Okay Kumpel, dass ist kein Problem.“

Etwas erleichtert massierte sich Kai den Naserücken. Er hatte damit gerechnet das Tyson schimpfen und fluchen würde, wie die letzten Male als er abgesagt hatte. Dafür hätten ihm gerade die Nerven gefehlt. Doch dass er so verständnisvoll blieb überraschte ihn. Er konnte sich äußerlich nichts anmerken lassen, kühler wie jeder Tiroler Gletscher wirken, doch im Innern formte sich ein Klumpen aus Schuldgefühlen, der ihm schwer im Magen lag. Es war diese maßlose Enttäuschung aus den Mündern seiner Freunde, die ihm irgendwie zu schaffen machte. Wann war er bloß so ein Weichei geworden? Doch dann…

„Wir kommen auch“, fügte Tyson beiläufig hinzu. Es kehrte kurze Stille ein.

„Wie bitte?“, fragte Kai verwirrt. Er dachte sich verhört zu haben. Das wäre ja auch zu dreist.

„Wir kommen zum Meeting.“

„Was wollt ihr bei meinem Meeting?“

„Dich sehen. Unseren verschollen Bruder, quasi.“, ein Glucksen folgte.

„Ihr könnt nicht kommen. Ich bin mitten in Verhandlungen.“

„Klar können wir.“

„Könnt ihr nicht.“

„Doch.“

„Nein.“

„Doch.“

„Nein! Und ich habe es nicht nötig mich auf ein so kindisches Niveau herabzulassen!“

„Dein Assistent ist ein Arschkriecher. Ich mag ihn nicht.“

„Ich auch nicht, aber um beim Thema zu blei-…“

„Du solltest ihn feuern!“

„Das hatte ich auch vor.“, dann fiel Kai etwas auf. „Woher kennst du meinen Assistenten?“

„Der Penner will mir nicht seinen Platz überlassen!“, mit schreckensgeweiteten Augen hörte Kai, wie Tyson jemandem im Hintergrund mit den Worten, „Mach dich vom Acker Brillenschlange!“, anblaffte. Gefolgt von der penetrante Stimmen seines Assistenten.

„Dieser Tisch ist für meine Firma reserviert!“

Langsam ließ Kai sein Smartphone sinken, trat an die Tür heran, öffnete sie einen spaltbreit und spähte mit hochgezogener Augenbraue hinaus zu seinem Tisch, der bis vor kurzem der Ursprung völliger Langeweile gewesen war. Und da saßen nun, zwischen den verwirrten Geschäftshaien, vier fröhliche Bladebreakers und winkten ihm zu.
 


 

*
 

„Also Kai, ich kann nicht glauben, dass du diese Langweiler uns vorgezogen hättest.“, meinte Tyson schmatzend, während der Kellner ihm eine weitere Platte mit Meeresfrüchten reichte. Geradezu gierig leckte er sich über die Lippen, als er die Delikatessen darauf sah. „Wenigstens hast du einen guten Restaurantgeschmack. Danke Alter!“

Schweigend sah Kai ihm dabei zu, wie er dem Alten den Teller abnahm und sich aus einer anderen Schüssel, vier weitere gehäufte Löffel, mit Bandnudeln auf seinen Teller schaufelte. Bei dem Gedanken, dass die Gruppe ihn dazu verdonnert hatte, als Entschädigung für die letzten versäumten Treffen, die Rechnung zu begleichen, tat ihm die Geldbörse weh. Tyson konnte mit seinem Appetit den reichsten Mann bettelarm machen. Anstatt Kai meldete sich sein Assistent zu Wort, der von Tyson in kürzester Zeit auf den liebenswürdigen Namen Brillenschlange getauft worden war.

„Wie reden sie mit meinem Vorgesetzten?!“, empörte sich der. „Sie hätten unser Unternehmen beinahe in eine Krise gestürzt! Diese Konditionsverhandlungen waren für uns von äußerster Wichtigkeit. Hätte Mr. Hiwatari nicht so galant und überaus souverän eingegriffen, hätte Mr. Dumas beinahe eine dreiste Preiserhöhung durchgesetzt! Eine überaus bemerkenswerte Reaktionsgabe, wenn ich das noch am Rande erwähnen darf, Mr. Hiwatari. Sie waren so gewagt und inspirierend!“

Eigentlich hatte Kai bloß einmal auf den Tisch gehauen und den Herren in Grau entgegen gefaucht, sie sollen sich vom Acker machen. Seine Wut galt in diesem Moment seinen Freunden, nicht den Verhandlungspartnern. Vor lauter Angst, ihn aber als Kunden vergrault zu haben, willigten diese jeder Forderung bedingungslos ein und unterschrieben mit schwitzenden Händen den Vertrag.

„Warum heiratest du Mr. Hiwatari nicht?“, äffte Ray inzwischen genervt vor sich her. Daraufhin prustete Max in sein Essen und bekam einen schallenden Lachanfall. Es lenkte die Blicke einiger Gäste auf sich, was Kais Protokollführer zu der dämlichen Frage veranlasste, ob er den Heiratsantrag auch notieren solle. Es war unglaublich schwer in der heutigen Zeit gutes Personal zu finden. Kenny sah inzwischen nur kopfschüttelnd auf seinen Teller und wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken.

„Leute benehmt euch, dass ist ein feines Restaurant. Die Leute gucken scho-“

Ein lauter Rülpser unterbrach Kennys zaghaften Einwand.

„Oh man, Tyson! Echt jetzt?!“

„Was denn? Der musste an die frische Luft!“

Kai atmete kopfschüttelnd aus, konnte sich ein Schmunzeln aber nicht verkneifen. Es gab Dinge die änderten sich nicht. Diese Gruppe würde immer ein Kindergarten bleiben. Er beugte sich zu seinen Angestellten herüber und flüsterte ihnen gnädig gestimmt zu, dass sie gehen durften. Der Protokollführer strahlte über beide Ohren, klappte den Laptop zu und verbeugte sich vor seinem Vorgesetzten zum Abschied. Brillenschlange blieb aber auf seinem Platz sitzen, unwillig das Feld zu räumen.

„Ich lasse sie nicht mit diesen dubiosen Gestalten alleine, Mr. Hiwatari!“

„Schade! Ich wollte Kai doch so gerne heute vergewaltigen...“, maulte Tyson. Max prustete noch lauter vor sich her, stupste Ray von der Seite an und deutete ungeniert auf den Assistenten.

„Die Brillenschlange erinnert mich an Mr. Smithers!“

Prompt verschluckte Ray sich an seinem Wein, bekam ein rotes Gesicht und rang schließlich hustend nach Luft. Es klang als würde er beim Zähneputzen mit Wasser gurgeln.

„Na toll…, “ murmelte Kai. Er hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt, die Hände ineinander verhakt und sein Kinn darauf gebettet. Argwöhnisch blickte er zu seinem gurgelnden Sitznachbarn und verdrehte die Augen. Schließlich gab er Ray einen heftigen Schlag auf den Rücken und dessen Kloß im Hals löste sich. Doch anstatt zu husten, lachte Ray nun lauter auf, als alle zusammen und haute fröhlich mit der flachen Hand auf den Tisch.

„Heilige Scheiße, Kai! Pass auf dass du in seinen Träumen nicht durchs offene Fenster geflogen kommst!“

„Wenn er dich als Aktmodell will, würde ich mir Sorgen machen! Ganz im Titanic Stil!“

Max und Ray wieherten los und Kai schloss resignierend die Augen. Einige Gäste begannen sich bei den Kellnern wegen dem Krach zu beschweren. Ein älteres Pärchen stand sogar entrüstet auf und verließ den Saal, während Kenny sich verlegen das Gesicht mit einer Serviette verdeckte.

„Also wirklich!“, auf den Wangen von Brillenschlange breitete sich die Zornesröte aus und eine Ader pochte an der Schläfe. „Sie sind ein Haufen rüpelhafter… Sie haben keinerlei Anstand und Benehmen! Mir fehlen die Worte!“

Tyson, der bis dato noch seine Gabel zum Mund führen wollte, ließ das Ende einer Nudel schlürfend darin verschwinden und sah Kais Assistenten aus großen Augen an, während er in seiner Bewegung stoppte.

„Anstand? Das kenn ich. Das gibt’s an der Tanke.“, es kam so tölpelhaft herüber, dass Tyson sich fragte ob er nicht Schauspieler werden sollte. Doch scheinbar verstand Brillenschlange keinen Spaß. Stattdessen rümpfte er bloß die Nase, als sei jeder an diesem Tisch, bis auf seinen gottgleichen Geldgeber, ein kleines Häufchen Waschbärkacke.

„Ich kann mir vorstellen dass sie das nicht kennen! Also in meiner Firma hätte jemand wie sie nichts zu suchen…“

Tyson Braue schoss in die Höhe. Dann wandte er sich zu Kai und fragte: „Wieso seine Firma? Habe ich etwas verpasst oder ist Hiwatari Korporation neuerdings unter die Schwätzer gegangen?“

Kai antwortete nicht, gab stattdessen nur ein langgezogenes „Hmm“ von sich und blickte aus den Augenwinkeln zu seinem Assistenten hinüber. Tyson wusste was diese Reaktion bedeutete. Seit sie sich kannten, tat Kai sich immer schwer damit ihm Recht zu geben. Allerdings kamen solche Situationen, so unglaublich es auch klang, tatsächlich gelegentlich vor. Deswegen setzte Tyson gekonnt noch das I-Tüpfelchen. Um seine Rüpelhaftigkeit noch weiter zur Schau zustellen, biss er herzhaft in ein Laib Brot und schmatze mit offenem Mund, ganz beiläufig: „Hast du nicht vorhin gesagt du willst ihn feuern?“

Brillenschlange schnalzte verärgert und verschränkte die Arme vor der Brust. Allerdings sah er diesen heimtückischen Seitenblick von Kai noch immer nicht.

„Ich kann mir nicht vorstellen das Mr. Hiwatari etwas auf das Geschwätz von einem…“

„Sie sind gefeuert.“

„Streunenden Schnorrer… Mr. Hiwatari, was haben sie gesagt?“

Das linke Auge von Brillenschlange begann zu zucken und mit einem plötzlichen Schweißausbruch auf der Stirn, blinzelte er Kai starr entgegen. Seine Stimme wurde piepsig.

„Sie haben mich richtig verstanden.“, erklärte dessen Vorgesetzter nur gelangweilt.

„Aber… Aber?!“

„Ich geben ihnen zehn Sekunden, wenn sie bis dahin nicht verschwunden sind, hetze ich den firmeninternen Schlägertrupp auf ihren Hals.“

„Aber unsere Firma hat keinen Schlägertrupp!“

„Doch, hat er!“, mischte sich Tyson ein und nickte bekräftigend. „Die haben mich auch mal erwischt. Willst du die Narben sehen?“

„Das ist doch glatter Humbug!“

„Das sollten sie nur glauben.“, kommentierte Kai gelassen. Dann startete er den Countdown. „Zehn, neun, acht, sieben…“

Als hätte er glühende Kohlen unterm Hintern, sprang Brillenschlange auf und rannte schimpfend aus dem Speisesaal. Dabei stieß er gegen einen Kellner, der seinen Teller fallen ließ und wütend dem Rempler auf Französisch hinterher fluchte.

„Mince alors! Merde!“, hörten sie den Kellner brüllen, bevor alle Anwesenden am Tisch lachten. Sogar Kenny und Kai ließen sich anstecken. Es vergingen ein paar Minuten bis sich alle beruhigt hatten. Die Stimmung hatte sich endlich zum Positiven gewendet. Schließlich ergriff Ray als erstes das Wort.

„Endlich ist die alte Runde unter sich. Nörgler freie Zone…“, er streckte sich nach der guten Mahlzeit genüsslich. „Hast du wirklich einen Schlägertrupp?“

Kai rollte schmunzelnd mit den Augen und hob sein Weinglas an den Mund.

„Ray ich bitte dich. Glaub nicht alles was man dir erzählt...“

„Na, ich weiß ja nicht. Immerhin hast du dich von uns allen am besten gemausert, “ spielerisch zupfte er an Kais Blazer, den dieser sich über die Rückenlehne geworfen hatte. „Teure Designerklamotten, Geschäftsverhandlungen mit eiskalten Firmenbossen und vor dem Restaurant steht eine auf Hochglanz polierte Limousine. Ach übrigens, ich habe den Chauffeur nachhause geschickt.“

Er sagte es ganz beiläufig, als wäre es vollkommen selbstverständlich.

Kais Lächeln wich prompt einem verdutzen Ausdruck.

„Wieso das denn?“

„Damit du uns nicht wieder abhaust“, mischte sich Max ein. Es kam überraschend herrisch von ihm. Selbst Tyson kannte diesen Ton nicht. Max war eigentlich der kleine Strahlemann in der Gruppe. Er hatte flachsblondes Haar, ein offenes, einnehmendes Lächeln und tiefblaue Augen, die vor Übermut nur so strotzten. Er war der typische, amerikanische Sunnyboy. Wenn man ihn sah, brachte man ihn unweigerlich mit sonnigen Tagen, an den Stränden von Malibu in Verbindung. Obwohl Tyson wusste, dass sein Freund keine Ahnung vom Surfen hatte, hätte er ihn sich gut in Badehose, auf einer riesigen Monsterwelle vorstellen können – natürlich laut jubilierend.

Doch hier und jetzt fuhr Max, entgegen seiner Natur, mit zusammengezogenen Brauen fort.

„Ehrlich Kai. Wir sind enttäuscht von dir! Wie konntest du uns die letzten Male bloß ständig so versetzen? Wie lange haben wir dich nicht mehr zu Gesicht bekommen? Fast ein Jahr! Du sagst uns ab, du meldest dich nicht, du besuchst nicht einmal Tyson und Kenny, obwohl die beiden in derselben Stadt wohnen. Deine Mailboxansage kenne ich mittlerweile auswendig! Du könntest von einem Lastwagen überrollt worden sein, wir wären die Letzten die es mitbekommen würden! Sieh mal wie wir dir auflauern mussten um an dich heranzukommen! Ich fühle mich wie ein Groupie.“

„Das war nichts Persönliches. Ich habe einfach nur meine Arbeit.“

„Jeder von uns hat viel zu tun! Du bist nicht der Einzige der arbeitet. Tyson hat sogar einen gehbehinderten Großvater im Haus, muss sich um Dojo und Werkstatt gleichzeitig kümmern. Ich muss mit meinen Eltern den neuen Laden auf Vordermann bringen und bin auch ständig wegen irgendwelchen Import Geschäften auf Reisen und Ray hat sogar eine schwangere Frau daheim sitzen…“

„Mariah ist schwanger?“, überrascht sah Kai zum Vater in spe. Doch anstatt einem breiten Grinsen, schwenkte Ray nur das Weinglas leicht hin und her und ließ die rote Flüssigkeit darin ihre Bahnen ziehen. Prompt spürten alle dass etwas nicht stimmte. Tyson legte Messer und Gabel weg und sah Ray an. Das Mariah schwanger war wusste er vom letztem Treffen. Wenn er richtig rechnete, musste sie bereits im siebten Monat sein. Ray hatte gestrahlt als er ihnen verkündete, er werde bald Vater. Aufmerksam musterte Tyson das Gesicht seines Freundes. Der junge Chinese war der Einzige, der seine sprunghafte Wachstumsphase getoppt hatte. Was den Rest anging, seinen Traditionen war Ray nach wie vor treu geblieben. Selbst hier in einem fremden Land, kleidete er sich seiner Heimat entsprechend und auch der schwarze Zopf an seinem Hinterkopf war nicht verschwunden, auch wenn er an Länge hatte einbüßen müssen. Aus Ray war ein richtiger Mann geworden, doch sein Gesicht blieb immer das des ruhigen, aber freundlichen Chinesenjungen mit den hellen, bernsteinfarbenen Augen, den Tyson in seiner Kindheit kennengelernt hatte. Doch diese Reaktion war das komplette Gegenteil von der Person, die bis vor vier Monaten sein Glück noch kaum fassen konnte. Ray leerte inzwischen sein Glas in einem Zug und verkündete anschließend geradeheraus: „Es ist nicht meins...“

Eine bedrückende Stille kam auf. Nur das klappern von Messer und Gabel und die leisen Gespräche der anderen Gäste im Saal waren zu hören, während ein Pianist seinem Instrument sanfte Klänge entlockte, um für eine entspannte Atmosphäre zu sorgen. In jedem der Köpfe wucherten auf der Stelle tausende von Fragen, doch nur Kenny fand als erster seine Stimme wieder. Er holte tief Luft.

„Ray… Seit wann weißt du das?“

„Seit zwei Monaten.“

„Warum hast du nichts gesagt? Wir haben so oft miteinander telefoniert.“

„Hallo?“, ein freudloses Lachen entwich Ray. Er hielt die freie Hand an seine Stirn und streckte den Zeigefinger durch. „Ich bin ein gehörnter Ehemann. Bei uns im Dorf bringt eine treulose Ehefrau nicht nur Schande über sich, sondern über die ganze Familie. Ich bin gebrandmarkt wie ein Büffel.“

Ray ließ die Hand wieder sinken, und starrte verbittert auf seinen leeren Teller.

„Es war mir peinlich. Ich wollte nicht darüber reden.“

„Wie konnte das passieren?“, fragte Max bestürzt. Ray zuckte nur mit den Schultern.

„Frag mich etwas Leichteres. Wahrscheinlich während ich auf der Arbeit war…“, mit seinem Daumen fuhr er gedankenverloren langsam über den Rand seines Glases. „Es lief schon vorher nicht mehr so gut zwischen uns. Wir haben viel gestritten. Sie wollte in China bleiben. Bei ihren Wurzeln. Ich wollte raus aus der Provinz. Das habe ich dir am Telefon mal erzählt, weißt du noch Tyson?“

Der nickte langsam. Das Thema kam tatsächlich öfters zwischen ihnen auf. Tyson wusste noch wie oft Ray davon sprach, wie langweilig diese Abgeschiedenheit ihn stimmte.

„Versteht mich nicht falsch, ich liebe mein Heimatdorf!“, stellte der nun klar. „Aber es wird schnell auch eintönig. In den ersten Tagen als ich dort war, dachte ich noch, es gibt keinen schöneren Ort! Die herrlichen Berge, die weite Landschaft, die Sonnenaufgänge…

Aber wenn du erst einmal ein halbes Jahr, jeden Morgen, denselben Anblick aufgetischt bekommst, lässt dich das irgendwann kalt. Es gibt dort nichts, womit man sich die Zeit vertreiben kann. Die Rentner sitzen jeden Nachmittag schweigend auf der Terrasse und sehen zu, was die Nachbarschaft so treibt. Ich will nach Japan zurück. Hier in Tokio pulsiert das Leben. Außerdem hat man bessere Aufstiegschancen in meinem Beruf. So ein Dorf in China ist eher ein Urlaubsparadies, wenn man sich zur Ruhe setzten will. Außerdem ist das Geschwätz groß. Altweiber Gewäsch, versteht ihr? Der und der, mit der und jener. Ist doch zum Kotzen…“

„Wie wird es jetzt weitergehen?“, fragte Tyson.

„Scheidung. Was denn sonst?“, achselzuckend schnappte sich Ray die Weinflasche vom Tisch und nahm den Verschluss ab. „Das Kuckuckskind darf sie behalten. Was soll ich denn mit dem Balg?“

Einige Sekunden herrschte Stille, bis Kai sagte: „Das tut mir leid für dich.“

„Vergiss es. Es hat mich am Anfang heruntergezogen, aber jetzt komme ich damit klar. So spielt das Leben eben. Wir sind in einem französischen Restaurant, da sollte ich wohl besser C’est la vie sagen.“

„Jeder hat sein Päckchen zu tragen…“

Es kam sehr leise von Kai. Tyson meinte etwas wie Trauer herauszuhören, doch er verwarf diesen Gedanken wieder. Ray nickte nur gedankenverloren auf diese weisen Worte, schenkte sich ein und sprach: „Das Thema ist ein echter Stimmungskiller. Reden wir nicht mehr darüber. Hey, ich bin dreiundzwanzig! Was habe ich mir dabei gedacht jetzt schon zu heiraten? Ich war davor erst drei Jahre mit dem Mädchen zusammen. Mein ganzes Leben liegt noch vor mir und ich wollte in diesem Rentnerkuhdorf sesshaft werden!“

Tyson wollte gerade den Mund zu Widerworten öffnen, da schnipste Max unauffällig gegen seine Hand. Fragend sah er zunächst an seiner Rechten hinab, dann zu seinem Nebenmann, der ihn eindringlich ansah. Max schüttelte leicht den Kopf und formte mit seinen Lippen leise zwei Wörter: „Zu früh…“

Es ging Tyson zwar gegen den Strich doch Max hatte natürlich Recht. Er nickte ihm wissend zu und lehnte sich zurück. Wenn Ray nach dieser unschönen Erfahrung seine Wunden lecken musste, dann sollte er seine Zeit bekommen.

„Außerdem sollten wir uns geehrt fühlen, dass uns Mr. Hiwatari auch mal mit seiner Anwesenheit beehrt.“, fuhr Ray fort und zwinkerte Kai freundschaftlich zu. Und da war er wieder, dieser ausgelassene junge Mann den alle kannten. „Wie geht es deiner Mutter?“

„Gut.“, war die knappe Antwort von Kai. Doch sein Blick blieb weiterhin ernst. Tyson vermutete das er über den plötzlichen Themenwechsel genauso erstaunt war wie alle anderen am Tisch.

„Gut? Das ist alles? Lass dir bloß nicht zu viel aus der Nase ziehen!“

„Sie kommt viel herum.“

„Also die typische moderne Frau von heute.“, hakte Ray weiter nach.

„So… So kann man es wohl ausdrücken.“

Max sah Kai ein wenig argwöhnisch an, dann mischte er sich nach langem Schweigen auch wieder in die Unterhaltung ein.

„Ist das nicht schlecht für deine Schwester, wenn deine Mutter sie immer mit auf Reisen nimmt?“

Kai schien keine große Lust zu haben darüber zu reden. Zumindest wollte er sich gerade das Glas an den Mund führen, hielt dann aber in der Bewegung inne. Erst nach einer kurzen Pause antwortete er: „Jana ist zuhause. Bei mir!“

„Ahaa!“, kam es wie ein Echo von der ganzen Runde und nun wusste Tyson woher die Wortkargheit kam. Nicht das Kai jemals viel mit ihnen gesprochen hätte, doch wenn es etwas gab, wovon der junge Mann gerne berichtete, dann waren es seine Mutter und kleine Schwester. Tyson hatte sich früher öfters gefragt, warum Kai anstatt von seinen Eltern, von seinem Großvater großgezogen wurde, allerdings fand er während ihrer Beybladezeit nicht den Mut, seinen Teamkameraden danach zu fragen. Erschwerend kam noch hinzu, dass Kai anfangs sehr distanziert war und er in jedem Teammitglied einen potenziellen Rivalen sah. Vor allem in Tyson. Das machte es unmöglich mit ihm auf eine Wellenlänge zu kommen. Erst nach und nach schafften seine Freunde es, ihn stückchenweise in ihre Gruppe zu integrieren. Es war ein schwieriger und furchtbar langwieriger Prozess gewesen… Oh Gott und wie langwierig!

Bis vor sechs Jahren wusste Tyson nicht wo Kai wohnte, obwohl sie sich da bereits schon vier Jahre gekannt hatten. Zuvor war nicht einmal bekannt gewesen, ob die Hiwataris überhaupt in derselben Stadt wohnten. Kai kam und ging wie ein Wandervogel. Als nach eindringlichem Betteln, jeder von ihnen dann endlich Kais Telefonnummer in den Händen hielt, waren sie in Maxs Wagen gestiegen, hatten den erstbesten Schrein aufgesucht, ein Geldopfer gebracht und mit dankbar gefalteten Händen gesagt: „Es ist vollbracht!“

Kai saß damals mit verschränkten Armen und einem Blick, der Tote noch mal ins Jenseits befördert hätte, im Wagen und als sie wieder einstiegen, zischte er nur: „Hört auf so ein Drama daraus zu machen!“

Zugegeben, es war überzogen. Doch sie wollten Kai einfach verdeutlichen, wie viel Mühe seine Erziehung zu einem sozialen und gesellschaftsfähigen Menschen kostete. Dass ihre Arbeit wirklich Früchte trug, bemerkte Tyson aber erst, als Kai ihnen von sich aus erzählte, dass seine Mutter wieder nachhause kommen würde. Es war das erste Mal das er über seine Familie sprach und man sah ihm an das er glücklich war. Kai jubelte nicht. Er tanzte auch nicht vor Freude auf dem nächstbesten Tisch, aber er war einer dieser Menschen bei denen die Augen der Spiegel zur Seele sind, man musste ihn nur lange genug kennen, um die Zeichen zu lesen. Auch beichtete er ihnen endlich weshalb er seine Eltern nie erwähnt hatte.

Sein Vater verließ die Familie noch bevor Kai das zweite Lebensjahr erreichte. Seine Mutter war damals noch sehr jung und so von ihrer großen Liebe sitzengelassen zu werden, warf sie vollkommen aus der Bahn. Da sie sich aus lauter Herzschmerz nicht mehr in der Lage sah, für ihren Sohn zu sorgen, überließ sie Kai der Obhut ihres Schwiegervaters Voltaire. Und der war so einfühlsam wie ein Lastwagen der ein Reh rammt…

Somit war es nicht verwunderlich das Kai ungerne über seine Familienverhältnisse plauderte. Er war wohl schlichtweg verbittert über diesen Zustand. Was alle in der Gruppe damals aber stutzig machte, war, dass seine Mutter schwanger war, als sie wieder aus der Versenkung auftauchte. Kenny hatte Tyson damals unter vier Augen verraten, dass er fürchtete, sie würde sich gleich nach der Geburt wieder auf und davon machen. Insgeheim teilte Tyson auch diese Befürchtung. Glücklicherweise war dem aber nicht so. Vor fast sechs Jahren brachte Kais Mutter eine süße kleine Tochter zur Welt. Tyson konnte sich noch gut daran erinnern, wie die ganze Gruppe einen Tag nach der Geburt, Kai angebettelt hatte, den kleinen Spross im Krankenhaus besuchen zu dürfen und auch wie ihr Freund den ersten Blick auf Jana erhaschte.
 

Sie lag damals in einem kleinen Säuglingsbett mit Rollen dran, damit man sie von der Babystation problemlos ins Zimmer der Mutter schieben konnte. Kai hatte sich über die Öffnung gebeugt und sofort die Nase gerümpft, denn Janas Gesicht war klein, rot und schrumpelig, wie bei einer Rosine – genau wie der Rest des Körpers. Total winzig. Wahrscheinlich befürchtete er, ihr Kopf sei ein Luftballon, dem nach und nach Luft entweicht. Er hatte sie argwöhnisch gemustert, wie er es bei jeder fremden Person tat und Max riss neben ihm seine Scherze: „Das Kind wird sich für den Rest ihres Lebens im Schrank verstecken, wenn du sie so angiftest.“

Kais Antwort darauf war nur ein verstimmtes Murren. Doch als er die winzige Hand seiner Halbschwester an stupste, griffen die kleinen Finger zu und wollten seinen Daumen nicht mehr loslassen, während das Kind seelenruhig weiterschlummerte. Als hätte die kleine Jana auf ihre Art gebeten, er möge sie nie mehr verlassen. Tyson war sich sicher, dass das letzte bisschen Eis in Kai in diesem Moment brach, denn er hatte Jana verwundert angeblinzelt, dieses kleine hilfsbedürftige Baby, das ihn bereits in den ersten Stunden ihres Lebens nicht mehr loslassen wollte. Die Röte stieg ihm in die Wangen. Ein ungewöhnlicher Anblick für seine Freunde und ein leichtes Lächeln huschte über seinen Mund, bis er schließlich vorsichtig über den kleinen Flaum auf dem Kopf streichelte. Von da an hatte Kai nur noch Augen für seine Schwester. Er beteiligte sich nicht mehr an den Gesprächen im Raum, schien vollkommen eingenommen von diesem winzigen Wesen zu sein, als ob es nur noch sie beide auf dieser Welt gab. Tyson konnte es ihm kaum verdenken. Er fand diesen Moment sogar rührend. Es hatte Kai von einer Seite gezeigt die sie noch nicht kannten. Von der ihr Freund wohl noch nicht einmal ahnte, dass er sie besaß. Mit den Jahren war Kai schließlich in seiner neuen Rolle als älterer Bruder perfekt aufgegangen. Er verzichtete auf seine frühere Marotte, ständig herum zu streunen, verbrachte viel mehr Zeit zuhause im Beisein seiner Schwester. Die Gruppe fand sogar, dass er um einiges umgänglicher und geduldiger wurde. Ein wirklich schöner Nebeneffekt!

Aber das er jetzt den Babysitter spielte, während seine Mutter sich einen hübschen Urlaub gönnte, musste ihm bei aller Geschwisterliebe gegen den Strich gehen. Immerhin hatte der große Geschäftsmann Kai Hiwatari einen Tagesablauf voller Termine und nun musste er auch noch ein quengelndes Kleinkind bemuttern. Diesen Gedanken fand Tyson einfach zu göttlich und so sehr er auch dagegen ankämpfte, er musste es Kai auf die Nase binden.

„Früher hast du immer behauptet, du möchtest nicht unseren Babysitter spielen und heute könnte man das als deinen Hauptberuf bezeichnen.“

„Ach, halt doch die Klappe.“, Kai kramte grummelnd in seiner Hosentasche herum, sich durchaus dieser Ironie bewusst und zog schließlich sein Handy heraus. „Da wir aber gerade bei dem Thema sind. Es wird Zeit zu gehen.“

„Was?!“, empörte sich die Gruppe unisono. Dann sprach auch schon jeder durcheinander…

„Wieso denn?!“

„Wir sind bloß ein paar Tage hier!“

„Es ist erst dreiundzwanzig Uhr!“

„Komm schon Kai, du Spielverderber!“

Entschuldigend hob der seine Hände in die Höhe, hielt in der Linken trotzdem noch sein Smartphone auf Bereitschaft.

„Hättet ihr mich nicht so blindlings überfallen wäre ich besser organisiert.“

„Von wegen! Du wärst überhaupt nicht gekommen!“, brauste Tyson auf. Dann beugte er sich schnell über den Tisch und schnappte Kai das Handy aus den Fingern. „Und das hier bekommst du erst wieder am Ende des Abends! Oder wenn du besoffen nachhause gebracht wirst. Such dir die hübschere Variante aus.“

Ein fieses Grinsen folgte.

„Gib mir mein Handy zurück.“

„Nö.“, Kai wurde die Zunge entgegengestreckt. Der schnaubte daraufhin verächtlich.

„Ich habe keine Zeit für deine albernen Kinderspiele!“, sprach er hochnäsig.

„Oh, seht euch den tollen Mr. Hiwatari an! Wie erwachsen er doch wieder tut. Wir sollten uns alle vor ihm in den Staub werfen und ihn dafür beknien, dass er sich mit uns unwürdigen Vorschülern abgibt!“

Der Rest der Gruppe schien zu spüren, dass bald eine heftige Zankerei aufkam. Tyson wusste nach all den Jahren immer noch nicht, wann er seine Grenzen überschritt und als Kais Augen sich zu schmalen Schlitzen zusammenzogen und ihn angifteten, läuteten bei Max die Alarmglocken. Um die Situation zu entschärfen fragte der: „Hat Jana kein Kindermädchen?“

Kai wandte sich Zähne knirschend von Tyson ab, der nun auch noch Grimassen zog und Max erkannte in seinem Gesicht die ersten Anzeichen einer leichten Zornesröte.

„Natürlich hat sie eine! Soll ich sie etwa alleine zuhause lassen?! Sie ist noch nicht einmal sechs!“, blaffte er Max an, scheinbar gekränkt über diese Frage. Die Wut die Kai gegen Tyson aufgestaut hatte, bekam nun die falsche Person ab.

„Ich wollte dir nichts unterstellen“, lächelte der nur nachsichtig. „Aber dann kannst du noch mit uns um die Häuser ziehen. Du hast dafür gesorgt dass sie nicht alleine ist.“

„Außerdem sind wir nur dieses Wochenende da!“, fuhr Ray dazwischen. „Stell dich nicht so an- Wer weiß wie oft du uns noch die nächsten Male eiskalt abservierst?“

Kai verstummte. Dieser offene Vorwurf hatte wohl gesessen. Ernst blickte er Ray an und man konnte die kleinen Zahnräder in seinem Kopf schon klappern hören. Doch letztendlich seufzte er resignierend und sprach: „Na schön. Aber ich muss trotzdem noch einmal anrufen. Nur damit das Kindermädchen weiß, das ich später komme und nicht einfach die Kurve kratzt. Und jetzt gib mir sofort mein Handy zurück, Kinomiya.“

„Wie heißt das Zauber-… Au!“ Kenny gab Tyson unterm Tisch einen heftigen Tritt gegen das Schienbein. Glücklicherweise brachte es ihn aber zur Vernunft. Leise fluchend schob Tyson das Smartphone über den Tisch und meinte dann etwas versöhnlicher gestimmt. „Aber du gibst es mir wieder zurück, ja? Nur damit du nicht bei der ersten Gelegenheit deinen Chauffeur anrufst. Ich fahre sowieso. Außerdem will ich auch mal mit so einem schicken Handy in der Jackentasche herumlaufen.“

Über diese typische Ehrlichkeit konnte Kai nur schmunzeln.
 


 

*
 

Gegen vier Uhr morgens waren jegliche Streitigkeiten die im Restaurant aufgekommen waren vergessen. Nicht sonderlich verwunderlich, wenn man bedachte wie viel Alkohol an diesem Abend noch floss. Alle bis auf Tyson waren gut dabei gewesen, was ihn selbst nicht wirklich störte. Er war einer der Menschen die keinen Alkohol brauchten um Spaß zu haben. Was man von Kenny leider nicht sagen konnte…

Als sie aus dem Restaurant in Tysons Wagen stiegen, hatte der als Erwachsene auch recht klein geratene Mann, doch tatsächlich seinen Laptop hervorgezaubert und Dizzy gebeten ihm auszurechnen, wie viel Liter jemand mit seiner Körpergröße trinken durfte, ohne anschließend das Auto vollzukotzen.

„Weißt du wie sinnlos du mein Dasein mit solchen Fragen machst?!“, hatte das Bit Beast nur gekränkt geantwortet und sich für den Rest der Nacht in den Standby Modus versetzt. Max konnte Dizzy nur zustimmen. So wurde der zweiten Person an diesen Abend eine Sperre verhängt und der Laptop flog in den Kofferraum. In der ersten Bar machten sich die Geselligeren des Teams daran Kenny etwas aufzulockern. Mit anderen Worten, ein Saufgelage von epischem Ausmaß zu veranstalten. Da Kenny nicht als Spielverderber gelten wollte und auch sonst sehr leicht zu überreden war, hatte er schon innerhalb der ersten Stunde eine leichte Schnapsnase, die im Laufe des Abends an ziemlicher Intensität gewann. Kai konnte man dagegen nicht so offensichtlich abfüllen…

Er durchschaute solche Spielchen ziemlich schnell, zudem war er ein Perfektionist und hasste es seine Fassung zu verlieren. Auch Nein zu sagen, stellte für ihn kein Problem dar. Er war schon immer kein Freund von Gruppenzwang gewesen. Max kam aber schließlich der Einfall stündlich das Lokal zu wechseln, so konnte man immer wieder beim Betreten des Ladens mit Sprüchen kommen wie: „Was? Du trinkst nichts Kai? Das kommt doch total blöd, wenn du nur hier sitzt und nichts bestellst!“

Oder…

„Willst du wirklich Wasser trinken?! Ehrlich Kai, du erinnerst mich an meine Ex! Muss ich dir gleich noch einen kleinen Salat mit fettarmer Soße kaufen?“

Das ließ sich kein Mann gerne nachsagen und schon war auch der kühle Halbrusse nach der fünften Bar leicht beschwipst. Von da an ging es auch endlich mit seiner Disziplin steil abwärts. Irgendwann schien er selbst keine Lust mehr zu haben sich immer zu sträuben und ließ sich nur noch murrend, von der fröhlichen Meute mitziehen. Tyson war irgendwann sogar so unverfroren und warf seinen Arm um Kais Schultern, um ihn schön davon abzuhalten, seine eigenen Wege zu gehen. Alles in allem war also jeder auf seine Kosten gekommen.
 

Als Tyson in den frühen Morgenstunden seine Freunde nachhause fuhr, war die Sonne über der Stadt noch nicht aufgegangen. Es herrsche kaum Verkehr. Die nächtlichen Straßen waren beleuchtet und der Großteil der Bevölkerung schlummerte tief und fest.

Genau wie die Insassen im Wagen. Grinsend spähte Tyson in den Rückspiegel, um einen Blick auf Max, Kenny und Ray zu erhaschen, die auf dem Rücksitz friedlich schliefen. Max hatte seinen Kopf gegen die Scheibe gelehnt und bei jeder kleinen Unebenheit auf der Fahrbahn, fuhr er kurz zusammen, murmelte sinnloses Zeug vor sich her und schlief wieder ein. Kenny saß in der Mitte, hatte seinen braunen Haarschopf in den Nacken geworfen und sein Mund stand sperrangelweit offen, während seine Krawatte viel zu locker um den Hals baumelte. Sein ganzer Kopf glühte. Er vertrug einfach nichts…

Als Tysons Blick Ray streifte, verschwand sein Grinsen aus dem Gesicht und sofort keimte wieder Sorge in ihm auf. So sehr er sich auch bemühte es nicht zu zeigen, Ray schien die Trennung von Mariah nicht so gut zu verkraften, wie er ihnen vorgaukeln wollte. Von allen Anwesenden im Wagen hatte er am meisten getrunken und als Tyson ihn in der letzten Diskothek ermahnte es nicht zu übertreiben, hatte Ray ihn nur wütend angefunkelt und ihm geantwortet, man lebe nur einmal.

„Sei kein Spießer!“ hatte er ihm noch an den Kopf geworfen, dann wandte er sich ab und war für den Rest des Abends in der tanzenden Menge verschwunden. Eine vollkommen untypische Reaktion für den sonst so vernünftigen Chinesen.

Andererseits, vielleicht musste Ray einfach mal abschalten? Tyson konnte nicht sagen wie er sich aufführen würde, wenn eine Frau ihm ein Kuckuckskind unterjubeln wollte. Das musste eine furchtbare Kränkung sein. Immerhin hatte Mariah seinem Freund alles bedeutet.

Er musste vor Rays Abreise auf jeden Fall noch mal mit ihm sprechen. Womöglich wäre es sogar besser, wenn er seinen Rückflug ein paar Tage verschob. Insgeheim hatte Tyson nie verstanden, was Ray so an China faszinierte. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er in Japan bleiben sollen. Dasselbe galt für Max…

Weshalb dessen Mutter so klammerte, seit sie arbeitslos war, war ihm ebenso ein Rätsel. Als Judy ihren Sohn jahrelang in der Obhut seines Vaters ließ und sich nur noch in ihre Forschung stürzte, hatte sie sich auch kein Bein ausgerissen, um den Kontakt zu Max zu pflegen. Musste diese Frau wirklich ein Kündigungsschreiben vor die Nase gesetzt bekommen, damit ihr einfiel dass sie noch einen Familie besaß?

Ohne es unterdrücken zu können, breitete sich in Tyson der egoistische Wunsch aus, seine beiden Freunde mögen in Japan bleiben und ihre Probleme im Ausland versauern lassen. Sie fehlten ihm. Ihre Anwesenheit war wie ein tröstender Hoffnungsschimmer vom langweiligen Alltag. Seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit, als das Leben noch voller Abenteuer war. Und so viel einfacher als heute…

„Jeder hat sein Päckchen zu tragen.“, schallte der Satz durch seinen Kopf. Als der Wagen an einer Ampel hielt, schaute Tyson gedankenverloren zum Urheber dieser Worte. Kai schlief auf dem Beifahrersitz und sah dabei aus, als könne er überhaupt kein Wässerchen trüben. Das gelbliche Licht einer Straßenlaterne fiel auf sein Gesicht, das zwar erschöpft, aber auch entspannt wirkte. Sein Brustkorb hob und senkte sich in ruhigen Intervallen. Er wirkte gelöster als noch am Anfang des Abends. Doch wer wäre nach acht Tequilas nicht gelöst?

Tyson grinste als er daran dachte, wie pflegeleicht ihr Freund unter Alkoholeinfluss geworden war. Geradezu handzahm ließ er sich von ihm, in ein Lokal nach dem anderen schieben und lachte sogar über Tysons Späße. Warum konnte Kai nicht immer so locker sein? Im Grunde verstanden sie sich eigentlich gut, doch man musste bei ihm ständig an der Oberfläche kratzen. So lange bis der Bürospießer endlich ab war. Als die Ampel umschaltete, atmete Tyson seufzend aus und sprach schmunzelnd: „Wenigstens hast du keine Probleme, Kai.“
 


 

*
 

„Komm Ray, steh auf Kumpel.“

„Mir ist schlecht…“

„Du hast ja auch der Sake Industrie einen Umsatzboom verschafft. Max kannst du mir nicht helfen?“

Von der anderen Seite des Rücksitzes kam nur ein gequältes Stöhnen. Dann öffnete sich träge die Tür dort und Max stieg aus. Mit schleppenden Schritten und müden Blick lief er um den Wagen herum und als er endlich bei ihm ankam, musste sich sein Freund erst einmal am Auto abstützen.

„Na toll, du bist mir eine schöne Hilfe!“, wetterte Tyson los.

„Warum lässt du dir dann nicht von Kai helfen?“

„Weil er schläft. Außerdem bist du eh wach!“

„Würde Kai hinten sitzen, wäre er statt mir aufgewacht, als du Kenny herausziehen wolltest.“

Tyson gab für einen Moment sein Vorhaben auf, Ray aus dem Wagen zu stemmen, stattdessen richtete er sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Tadelnd schob er seinen Kiefer vor.

„Kai ist genauso abgefüllt wie du! Die Arschkarte habe ich mit euch beiden gezogen. Außerdem ist das auch dein Hotel Max. Du musst sowieso hier raus!“

Max brummte etwas auf Englisch vor sich her, das so ähnlich wie „lucky bastard“ klang, dann beugte er sich zu Ray hinunter und die beiden jungen Männer, machten sich daran ihren Freund herauszuziehen. Allein der Versuch dauerte fünfzehn Minuten, denn immer wieder gaben Rays Füße unter ihm nach. Irgendwann stemmte er sich plötzlich alleine aus dem Sitz und erbrach sich neben dem Wagen. Wenigstens beschwerte er sich von da an nicht mehr über Übelkeit. Eine weitere halbe Stunde verging, bis sie ihn an der empörten Nachtrezeption, die Treppe hinauf in sein Hotelzimmer geschleppt hatten. Danach erlaubte Tyson dem maulenden Max, in sein eigenes Zimmer zu torkeln, um sich dort endlich aufs Ohr zu hauen. Das ließ der sich natürlich nicht zweimal sagen und erst als er sicher war, dass Ray nun getrost seinen Rausch ausschlief, ging Tyson wieder zurück zum Wagen.

Genervt setzte er sich hinters Steuer und murmelte verbissen: „Nächstes Mal lasse ich mich so zulaufen, dass ihr meine Leiche aus einem Pool fischen müsst!“

Dann startete er den Motor um seinen letzten Fahrgast abzuladen.
 

Kai wohnte auf der anderen Seite der Stadt, in einer sehr noblen Gegend, die etwas höher lag als der Rest des Ortes. Als wollte dieses Viertel allein dadurch verdeutlichen, wie hoch die Menschen hier in der Nahrungskette der Gesellschaft standen. Zwar hatte man von dort einen atemberaubenden Ausblick auf die funkelten Lichter der nächtlichen Stadt, doch Tyson hatte sich in diesem Ortsteil nie wohlgefühlt. Als er durch die Straßen fuhr, sah er sich umgeben von prächtigen Gärten, pompösen Residenzen und Sommersitzen, doch in solchen Gegenden kannte keiner den anderen. Außerdem war jedes Grundstück umringt von hohen Zäunen, Mauern oder ordentlich gestutzten Hecken. Dabei wurden die meisten Häuser während der Herbst und Wintersaison gar nicht bewohnt, da der Weg hier her doch recht abgeschieden war. Tyson hielt das für eine maßlose Verschwendung. Aber hier lebten nun einmal Menschen, die sich von der Außenwelt abschirmten, ihr Leben mit Luxus bereicherten und ihre Privatsphäre für das kostbarste Gut hielten. Menschen wie Kai.

Tyson beobachtete mit offenem Mund eine Baustelle, für einen weiteren dieser kleinen Paläste, als er sich nach vorne wandte und die Augen erschrocken aufriss. Mit quietschenden Reifen trat er auf die Bremse, sein Wagen schlitterte, auf dem mit Laub bedeckten Asphalt, ein paar Meter vorwärts, doch entkam noch knapp der Bekanntschaft mit einem Umleitungsschild. Glücklicherweise hatte er dafür gesorgt, dass jeder im Wagen angeschnallt war. Als das Auto zum Stehen kam, atmete er erleichtert aus und beobachtete das von seinen Scheinwerfern angeleuchtete Schild. Vor ihm lagen die Reparaturarbeiten an unterirdischen Rohrleitungen, durch die man die Straße aufgerissen hatte. Wäre er nicht so schnell auf die Bremse getreten, hätte sein Wagen samt den Insassen darin, einen Abstecher in die Baugrube vor ihnen gemacht.

„Das war knapp“, kam es leise vom Beifahrersitz. Erschrocken blinzelte Tyson zu Kai, der mit einem matten Gesichtsausdruck und aus schlaftrunkenen Augen auf die Baustelle blickte. „Ich hätte dir sagen sollen dass hier eine Umleitung ist. Tut mir Leid.“

Tyson saß der Schreck noch viel zu tief in den Gliedern, um sich darüber zu wundern, dass Kai sich überhaupt bei ihm entschuldigte. Für gewöhnlich pochte er auf seine Meinung und gestand sich nur ungerne Fehler ein. Und das hier hätte er ihm nicht einmal vorgeworfen…

„Schon okay, du warst ja bis vor kurzem noch im Delirium.“, Tyson legte den Rückwärtsgang ein, um zu wenden und fuhr dann schließlich in die Richtung die ihm das Schild vorwies. Erst nach ein paar Minuten fiel ihm auf, dass er mit Kai richtig alleine war. Das kam nicht so oft vor. Als er noch geschlafen hatte, war das für ihn kein Problem, doch jetzt da er wach war, drängte sich Tyson das Gefühl auf, die Stille im Wagen durchbrechen zu müssen. Es machte ihn auch irgendwie immer nervös. Tyson konnte sich nach all den Jahren selbst nicht erklären woran das lag. Es war einfach so…

Das war einfach nicht Ray neben ihm, mit dem er stundenlang reden konnte. Auch nicht Max der für jeden Spaß zu haben war. Sondern Kai. Die absolute Anti-Max-Ray-Mischung. Ein Anti-May oder Anti-Rax. Gerade in dem Moment, als Tyson sich entschloss einfach die Klappe zu halten, da ihm nichts Gescheites für eine gepflegte Konversation einfallen wollte, ergriff gerade Kai das Wort.

„Wirst du noch mal mit Ray reden?“

„Äh…“, etwas perplex blinzelte Tyson. „Worüber?“

„Mariah.“

„Ach das? Natürlich werde ich mit ihm sprechen.“, antwortete er verblüfft, doch dann lächelte er, als ihm bewusst wurde, dass Kai sich tatsächlich um Ray sorgte. Scheinbar nahm ihr kühler Eisklotz, doch etwas Anteil an den Problemen seiner Freunde, es bedurfte wohl einfach ein paar Promille mehr, bis er sich entschied mit jemandem darüber zu sprechen.

„Ich glaube aber er würde sich freuen, wenn du auch einmal auf ihn zukommst.“

„Für so etwas fehlt mir das entsprechende Taktgefühl.“

„Ray ist kein pubertierendes Mädchen. Mit dreiundzwanzig bricht er bestimmt nicht in Tränen aus, wenn du etwas Falsches sagst.“

„Ich will aber nichts Falsches sagen. Deshalb solltest du lieber mit ihm sprechen. Dann kommt er vielleicht wieder auf die Beine. Du bist in solchen Dingen besser als ich…“

Tyson musste in sich hinein lächeln. Manchmal hatte Kai so eine Art an sich, da konnten sie zuvor noch so sehr zanken, ihm deshalb lange böse sein wollte Tyson einfach nicht. Er war ohnehin nicht nachtragend.

„Mach dir keine Sorgen. Ray wird schon wieder, er ist hart im nehmen. Du kennst ihn doch.“

„Er war heute Nacht seltsam.“

„Er wollte einfach nur auf den Putz hauen. Das ist alles…“, zumindest hoffte Tyson das.

„Ich verstehe nicht wie es so weit kommen konnte.“, meinte Kai nachdenklich und lehnte seinen Kopf müde gegen die Scheibe. „Als er geheiratet hat, da schien er so glücklich. Und jetzt, innerhalb von wenigen Jahren, lässt er sich wieder scheiden.“

„Umstände können sich schneller ändern als einem lieb ist.“, antwortete Tyson betrübt.

„Allerdings…“, es kam wie ein Flüstern und er glaubte wieder diese seltsame Unternote in Kais Stimme heraus zu hören. Als er zu seinem Freund schielte, sann dieser mit geschlossenen Augen abwesend seinen Gedanken nach. Das war eine Angewohnheit die Kai schon immer hatte. Wenn er nachdachte schloss er seine Augen, senkte sein Gesicht und enthielt den Anwesenden seine Gedanken. Doch dieses Mal fehlten die verschränkten Arme, die ihm etwas Unantastbares verliehen. Momentan wirkte er einfach nur müde von der durchzechten Nacht. Dieser Anblick eines stark angetrunkenen Kai, der sich mit solchen Problemen plagte, ließ ihn verschmitzt lächeln und Tyson bekam das Bedürfnis ihn zu necken.

„Du erstaunst mich. Früher warst du ganz anders.“

„Wie war ich denn?“, verwundert öffnete Kai seine Augen, blinzelte ein paar Mal verwirrt. Er war noch nicht nüchtern genug und so handzahm, da konnte Tyson sich einige harmlose Sticheleien erlauben.

„Du warst ein Kameradenschwein. An manchen Tagen hätte ich dir liebend gerne für deine kalte Schnauze den Hals umgedreht.“, grinste er gewitzt.

„Ich wusste nur was ich wollte. Das war alles.“, kam die Antwort überheblich. Es klang aber zu gespielt. Er konnte hören dass Kai ebenfalls lächelte. „Wer im Glashaus sitzt sollte außerdem nicht mit Steinen werfen. Du warst eine wandelnde Nervensäge.“

„Du warst der Begründer der Emoszene.“

„Du warst ein kleiner fetter Zwerg.“

„Hey! Das war Babyspeck! Und du bist heute einen ganzen Kopf kleiner als ich. Also hüte dich mit solchen Kommentaren!“

„Ich denke gar nicht daran. Dein Kleidungsstil war damals übrigens ätzend. Alles war so quietschbunt, du sahst aus wie ein Paradiesvogel.“

„Sprach der Knabe mit der Kriegsbemalung im Gesicht… Hau Winnetou!“

„Na und? Du hast deine Mütze nicht einmal zum Schlafen abgenommen. Das Teil war widerlich, es hat angefangen nach Schweiß zu riechen!“

Als er Kai neben sich angeekelt frösteln sah, musste Tyson lauthals lachen. Es steckte mehr Wahrheit in diesem Satz als ihm lieb war. Doch jeder Bursche hatte so seine Kindheitsmacken und seine saß damals eben auf dem Kopf. Irgendwie tat es gut sich auf diese Weise mit seinem Freund zu unterhalten. Seit er Kai kannte hatten sie sich immer nur gegenseitig angegiftet, aber das gehörte für Tyson einfach auch dazu. Hier im Auto mit ihm zu debattieren erinnerte ihn wieder an seine Kindheit.

„Das Teil hätte ich auf Ebay verkaufen sollen, als ich noch Fans besaß. Heute kennt uns ja keine Sau mehr.“, Tyson hörte Kai neben sich leise lachen und das gab ihm den Mut etwas Persönlicheres zu Fragen. „Vermisst du unsere Jugend manchmal auch?“

Kurze Zeit herrschte Stille im Wagen und er schielte zum Beifahrersitz. Kai legte nachdenklich den Kopf zur Seite und schien seine Antwort sorgfältig abzuwägen.

„Es gibt vieles das ich nicht vermisse.“, da war er wieder. Sein Freund mit der kalten Schnauze. „Aber ein paar Dinge...“,

Er verstummte ertappt und Tyson lächelte wissend. Schließlich beendete er stattdessen den Satz: „Ein paar Dinge waren nicht schlecht.“

Kai nickte langsam, dann sprach er: „Damals war alles viel leichter. Viel weniger Stress...“

„Das du soviel Stress hast, liegt ja wohl an dir! Zieh öfters mit uns um die Häuser und komm aus deiner blöden Firma heraus! Du bist nicht einmal Mitte zwanzig und führst schon ein eigenes Unternehmen. Wenn du dich jetzt am Anfang deiner Karriere schon so abhetzt, sage ich dir ein kurzes Leben voraus.“, demonstrativ fuhr Tyson mit seinem Zeigefinger von einer Seite seines Halses zur anderen. „Ich habe keine Lust dich mit dreißig an deinem Grab zu besuchen, weil du an einem Herzinfarkt gestorben bist. Willst du wie dein Großvater enden? Nichts gegen den alten Herrn, möge er selig bis in die Ewigkeit im Himmel keifen…“

Kai musste schmunzeln und auch Tyson entlockte der Gedanke des zeternden Großvaters im Engelsgewand ein Glucksen. Wahrscheinlich suchte man im Jenseits schon verzweifelt den Panik Knopf, weil Voltaire einfach nicht aufhören wollte grantig vor sich her zu Quaken.

Im Geiste hörte er bereits die herrische Stimme des alten Hiwatari Oberhaupt.

„Die Wolke ist hart!“

„Die Luft ist zu kühl!“

„Die Harfe ist aus Taiwan! Pah… Stümper!“

Tyson fand schon immer das Kais Großvater etwas von Ebenezer Scrooge besaß, deshalb verstellte er seine Stimme um den alten Griesgram nachzuahmen.

„Was? Du willst Weihnachten feiern, Kai? Humbug!“

Zu seiner Freude erklang vom Beifahrersitz ein heiteres Lachen und in Tyson breitete sich eine riesige Portion Stolz aus. Früher konnte er Kai nur ein leichtes Schmunzeln entlocken und heute hob er sich vor Anstrengung den Bauch und japste vor Freude. Na gut. Der Alkohol trug auch seinen Teil bei…

„Weißt du noch wie du uns das erste Mal mit zu dir nachhause genommen hast?“

„Natürlich“, antwortete Kai und versuchte ein weiteres Lachen zu unterdrücken. „Großvater hat dich an den Ohren und Max im Genick gepackt und euch beide fluchend durch den Hinterausgang hinausgetreten. Anschließend hat er Ray und Kenny mit dem Schürhaken durch den Garten gejagt, obwohl die Sprinkleranlage lief. Ihr hattet nicht einmal Zeit eure Schuhe wieder anzuziehen, da hat er sie mit der Post zuschicken lassen.“

Tyson hatte die skurrile Szene von damals noch gestochen scharf vor Augen. Voltaire hatte nach der Sache mit Biovolt seine Haftstrafe abgesessen und war an diesem Tag zum ersten Mal wieder nachhause gekommen. Seine Todfeinde, in seinem Wohnzimmer, vor seinem High Definition Fernseher, in seiner edlen Couchgarnitur vorzufinden, hatte ihn zunächst zur Salzsäule erstarren lassen. Und dann war der dritte Weltkrieg im Hause Hiwatari ausgebrochen…

Voltaire beschimpfte die Bladebreakers, die Bladebreakers beschimpften Voltaire, dann beschimpfte Voltaire seinen Enkel und Kai seinen Großvater, wobei letztere Debatte auf Russisch stattfand und als der bereits erwähnte Schürhaken zum Einsatz kam, rannten alle nur noch panisch um ihr Leben. Ein denkwürdiger Nachmittag…

Drei Tage nach dieser unschönen Begegnung besaß Voltaire tatsächlich noch die Dreistigkeit, ein Schreiben von seinen Anwälten ins Haus Kinomiya flattern zu lassen, wegen Hausfriedensbruch. Nachdem er seinem Enkel wegen der Anzeige erst einmal die Ohren langgezogen hatte, war Tysons Großvater schließlich wutschnaubend mit dem Taxi zum Hiwatari Anwesen gefahren. Was dort passierte, tuschelte man unter sich wie eine historische Legende, aber Kai hatte von einem der Hausmädchen erfahren, dass einige schöne Antiquitäten und Nasen an diesem Morgen zu Bruch gingen. Und da Mr. Kinomiya mit einem blauen Auge zurückkam, aber stolz einen ausgeschlagenen Schneidezahn in die Höhe hielt, konnte Tyson sich vorstellen, dass an dieser Version tatsächlich etwas dran war. Sein Großvater besaß nämlich noch alle Zähne…

„Dafür dass Voltaire so alt war tat mein Hintern noch Wochen lang weh.“, erinnerte sich Tyson.

„Weichei. Ich hatte acht Monate Hausarrest.“

„Woran du dich nie gehalten hast! Du hattest immer Probleme mit Autoritätspersonen.“

„Das sagt gerade der Richtige!“, klagte Kai ihn prompt an. Beide sahen sich für einen Augenblick herausfordernd an, dann wandte sich Tyson wieder der Straße zu und sein Nebenmann schaute aus dem Fenster. Allerdings zierte beide Gesichter ein verräterisches Zucken um die Mundwinkel. Ein paar Sekunden war es ruhig zwischen ihnen, bis Tyson die Stille mit einer weiteren Frage durchbrach.

„Heute Abend war bis auf einige Ausrutscher von Ray und Kenny doch eine klasse Nacht. Und morgen ist Samstag. Da wollen wir gleich weitermachen. Übrigens, du hast am Sonntagabend doch sicherlich nichts vor, oder? Da steht auch schon was an.“

„Ich weiß nicht Tyson…“

„Es ist Sonntag! Arbeiten wirst du ja wohl bestimmt nicht.“

„Ich will meine Schwester nicht wieder so lange alleine lassen.

„Dann schiebt dein Kindermädchen eben Überstunden! Drück ihr ein paar tausend Yen in die Hand, gib ihr einen Tag Urlaub, gönn ihr ein dreizehntes Gehalt und dann noch einen kleinen Klaps auf den Hintern. Sie wird dich auf Ewig lieben!“

„Tyson du verstehst das nicht.“, antwortete Kai kopfschüttelnd. „Es ist nichts Persönliches, aber ich bin bis zu vierzehn Stunden am Tag in der Firma. Ich komme nachhause und meine Schwester schläft bereits…“

„Dann sage ich es dir noch mal - Hör auf so viel zu arbeiten!“

Kai seufzte schwer und ließ sich tiefer in den Sitz sinken. Er schien definitiv zu müde für solche Debatten. Tyson nutzte seinen momentanen Vorteil schamlos aus, um ihm eine Standpauke zuhalten. Sicherlich fiel ihm das gerade auch auf und er fragte sich, wo der alte Kai abgeblieben war, vor dem seine Freunde gekuscht hatten. Der war heute Abend offensichtlich in einem der Tequila Gläser verschwunden…

„Was wollt ihr am Sonntag machen?“, fragte Kai resignierend. In Tysons Bauch jubilierte es. Sieg auf ganzer Linie.

„Wir haben den einunddreißigsten Oktober. Was glaubst du?“

„Halloween? Das ist nicht dein Ernst?“, kam es ungläubig.

„Was hast du dagegen?“

„Das klingt so kindisch. Ich dachte wir gehen einfach was trinken.“

„Tun wir auch! Das wird klasse. Es gibt dutzende von Veranstaltungen in der Stadt. Wir könnten uns verkleiden.“, Tyson warf ihm ein feixendes Grinsen zu. „Du hättest endlich mal Gelegenheit als richtiger Indianer um die Häuser zu ziehen.“

„Sehr witzig.“

„Gefällt dir nicht? Hmm… Dann eben als Al Capone? Deine Familie hat es ja nicht so mit dem Gesetzt. Passt doch auch?“

Kai blieb stumm und Tyson befürchtete schon er würde abspringen, doch dann antwortete er: „Ich lass es mir noch mal durch den Kopf gehen. Aber ich kann dir nichts…“

„Versprechen? Den Spruch kenne ich schon auswendig!“, antwortete Tyson genervt. Doch dann grinste er wissend. Immerhin gab es da noch seine Geheimwaffe. „Falls du Angst hast das dieses Wochenende noch ein paar Termine anstehen, die kannst du getrost vergessen.“

„Das sagst du so einfach…“

„Nein, Kai. Ich meine es ernst.“, Tyson schüttelte den Kopf und sprach weiter. Noch immer grinsend, wegen ihrem tollen Streichs. „Ich habe dafür gesorgt, dass du dieses Wochenende vollkommen frei für uns bist. Hast du dich nicht gefragt wie wir dich heute aufgespürt haben?“

„Wahrscheinlich habt ihr bei meiner Sekretärin angerufen und euch als meine Geschäftspartner ausgegeben, die nicht mehr wussten wo der Termin stattfindet.“

Tyson stutzte. Irgendwie kam er sich gerade dämlich vor.

„Das wäre natürlich auch eine Möglichkeit gewesen. Warum ist mir das nicht eingefallen? Naja, wie auch immer. Bei dir waren wir ziemlich einfallsreich. Wir haben uns mit Kennys Hilfe ein bisschen auf deinem Terminplaner umgesehen. Hat der sich vielleicht in die Hose deshalb gemacht!“, munter plapperte Tyson weiter, ohne auf Kais Reaktion zu achten. „Du hättest ihn mal sehen müssen. Typisch Chef! Der rennt wahrscheinlich auch vor Pudeln weg.

Jedenfalls hat er erkannt, dass ihr so ein Etepetete Programm auf dem Rechner habt, der automatische Änderungen in deinem Planer, sofort an deine Sekretärin leitet. Und rate mal wer heute dutzende von Absagen verschickt hat? Schmeiß die gute Frau nicht raus, sie kann nichts dafür, das Kenny so ein genialer Hacker ist.“

„Ihr habt meine Termine abgesagt?“, sagte Kai. Er richtete sich kerzengerade auf. Dieser Einfallsreichtum, musste ihn wohl wirklich umhauen. Tyson lachte laut auf, einfach weil seine Reaktion zu genial war.

„War darunter auch ein Arzttermin?“, fragte Kai zwischen seinem Gackern. Da hielt Tyson kurz inne und dachte nach. Da war doch etwas gewesen. Irgendein englischer Name….

Dr. Pedington? Nein. Dr. Hamilton… Bingo!

„Da war doch was. Meinst du diesen Dr. Hamilton?“, fragte Tyson nachdenklich und meinte dann mit einem beiläufigen Schulterzucken. „Jepp. Der Termin ist auch weg. War der etwa wich-… AARRGH! VERDAMMT?!“

Der Wagen fuhr in Schlangenlinien, dann trat Tyson auf die Bremse und wieder brauchte er länger, um auf dem Laub zum Stehen zu kommen. Die Bremsung kam so plötzlich das er mitten in einer Kreuzung liegen blieb.

„Bist du bescheuert?!“, brüllte er wütend und presste die Hand auf die aufgeplatzte Lippe. Kai hatte ihm mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen und Tyson spürte bereits, wie etwas Blut sich seinen Weg aus seinen Nasenlöchern bahnte. Fassungslos wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund und fluchte lauthals über seinen Beifahrer, doch der schnallte den Gurt ab, stieß die Wagentür auf und stieg aus. Mit empörtem Mund starrte Tyson auf die offene Beifahrertür und dann auf Kai, der im Licht der Scheinwerfer mit schnellen Schritten die Straße vor ihm überquerte. Es war noch ein ganzes Stück bis zu ihm nach Hause.

„So kommst du mir nicht davon!“, knurrte Tyson, die Brauen tief zusammengezogen. Mit mehr Schwung als nötig riss er die Tür auf, stieg aus und eilte Kai mit großen Schritten hinterher. Selbst wenn es nicht mitten in der Nacht gewesen wäre, hätte er keinen Gedanken daran verschwendet, was aus seinem sperrangelweit geöffneten Auto passieren könnte. Eine kalte Oktoberbrise wirbelte die Blätter am Wegrand auf, blies sie in sein Sichtfeld, doch Tyson fixierte immer nur Kais Rücken der noch wenige Schritte von ihm entfernt war. Kurz vor der nächsten Kreuzung holte er ihn ein und bekam Kai an der Schulter zu fassen. Mit einem groben Griff drehte er ihn zu sich, fauchte ihm wütend entgegen: „Glaubst du ernsthaft du kannst mir eine blutige Lippe verpassen und dich dann vom Acker machen?! Für wen hältst du dich?!“

„Für wen ich mich halte?“, wiederholte Kai und schlug Tysons Hand von seiner Schulter. Trotzig sah er auf. Sein Blick schien pures Gift zu sprühen. „Für wen hältst du dich?! Du kannst nicht einfach in meinen Terminen herumpfuschen wie du möchtest!“

„Mag sein das wir etwas skrupellos vorgegangen sind, aber das gibt dir nicht das Recht mir eine zu donnern, klar?! Wir wollten dich nur aus deiner verdammten Firma hervorlocken! Aber du willst ja unbedingt da drinnen verschimmeln! Wenn das so weitergeht müssen wir mit einem Pfannenwender vorbeikommen, damit du dich in deinem Bürostuhl nicht wund sitz-… Hey! Hör auf!“

Tyson wich gerade noch Kais Faust aus, die wieder zuschlagen wollte und bekam sein Handgelenk zu fassen. Reflexe hatte er dank seiner Bladerzeit zur genüge…

„Dir steigt der Alkohol wohl zu Kopf!“

Mit einem Fauchen riss sich Kai los, drehte ihm den Rücken zu und lief weiter. Jeder seiner Schritte war wutgeladen, trotzdem folgte ihm Tyson. In seinem Kopf geisterte bereits ein Mantra das immer wieder beteuerte: „Das ist nur der Alkohol. Das ist nur der Alkohol. Der Idiot ist betrunken und weiß nicht mehr was er tut!“

Trotz des Grolls den er gegenwärtig hegte, bemühte er sich um einen ruhigeren Ton, schließlich waren Kais Macken und Launen allgemein bekannt unter ihnen.

„Du hast eindeutig zu viel getrunken!“, rief Tyson ihm hinterher. „Steig wieder in den Wagen! Wenn ich dich frei herumlaufen lasse, beißt du der nächsten Person, die dir über den Weg läuft, ein Ohr ab.“

„Ich bin nicht betrunken!“, blaffte Kai über seine Schulter hinweg und beschleunigte sein Tempo nur weiter. „Verschwinde einfach! Lass mich in Ruhe!“

„Ich kann nicht glauben dass du auf uns sauer bist! Erst vorhin hast du mir vorgejammert das du zu viel Stress hast und jetzt flippst du aus, weil wir dir ein freies Wochenende beschert haben! Du solltest mir auf Knien danken, dass ich dich vor einem weiteren Meeting, mit Mister Großkotz von einer Firma Arschkriecher gerettet habe!“

So schnell das er in ihn hineinrannte, drehte Kai sich plötzlich um, nur um Tyson sofort wieder wegzustoßen. Seine Schultern bebten vor Zorn und auch der Wind, der spielerisch eine seiner helleren Strähnen an der Stirn einfing, konnte das Bild der Wut in seinem Gesicht nicht dämpfen. Seine tiefbraunen Augen, mit diesem ungewöhnlichen rötlichen Schimmer darin, blickten ihn voller Hass an. Die kühle Herbstluft und der nur von vereinzelten Straßenlaternen beleuchtete Weg, trugen nur weiter zu der kalten Atmosphäre bei.

„Es geht mir nicht um die Firmentermine!“, erklärte Kai und seine Wangen röteten sich vor Zorn. „Es geht mir um diesen einen Termin! Dieser Arzttermin war wichtig!“

„Warum? Bist du krank? Das erklärt wieso du überschnappst!“

„Der Termin war für Jana du bescheuerter…“, Kai suchte nach Worten. Doch ihm schien keine angemessene Betitelung einzufallen. Das war eher ungewöhnlich, konnte aber auch am Alkohol liegen. Kai war mit einer messerscharfen Zunge gesegnet, wenn er seine boshafte Ader entdeckte. Fehlende Vokale waren da eher eine Seltenheit.

Immer noch beleidigt, aber doch etwas versöhnlicher bemüht, antwortete Tyson: „Wolltest du deshalb heute Abend nicht weg? Du hättest mir sagen können dass Jana krank ist. So schlimm kann es aber nicht sein, wenn du dir noch dutzende Besprechungen aufhältst.“

Kai atmete hörbar aus, blieb aber stumm und Tyson war sich sicher ihm einen Schuss vor den Bug verpasst zu haben. Obwohl es falsch war empfand er Schadenfreude.

„Wer austeilt muss auch einstecken können, Mr. Hiwatari.“, flüsterte eine boshafte kleine Stimme in seinem Hinterkopf. Doch da tat Kai etwas, was Tyson in all den Jahren noch nie bei ihm erlebt hatte. Mit bebenden Schultern presste er sich die Hände vors Gesicht und für einen Moment, machte es wirklich den Anschein, als ob ihn die Tränen übermannten. Verstört starrte Tyson ihn an. Diese Geste wirkte so unsagbar verzweifelt.

Und dafür gab es doch keinen Grund für Kai…

Er besaß Geld, Einfluss, Macht, einen exzellenten Ruf und Ansehen. Seine Firma galt in Japan als eine der erfolgreichsten Unternehmen, die das Land hervorgebracht hatte und doch ließ ihn etwas so simples, wie ein abgesagter Arzttermin, nun die Fassung verlieren?

Tysons Mund blieb offen. Das Kontra das ihm auf der Zunge lag unausgesprochen. Das sah aus wie ein Nervenzusammenbruch…

Nach einer gefühlten Ewigkeit atmete Kai ein paar Mal um Fassung ringend aus. Endlich ließ er die Hände etwas sinken und das Gesicht dahinter schien unglaublich erschöpft. Das komplette Gegenteil von zuvor. Als habe er sich eine Maske abgenommen. Der sonst so wache Blick wirkte matt und kraftlos. Kai schüttelte leicht den Kopf, schaute in seine Richtung, schien aber durch ihn hindurchzusehen. Als endlich wieder ein Wort von ihm kam, klang seine Stimme wie er momentan aussah. Schwach…

„Du verstehst das nicht.“, seine Hände sanken ganz herab und resignierend schloss er die Augen. Tyson suchte sein Gesicht nach Tränenbahnen ab. Die hatte sich Kai jedoch verkniffen. Stattdessen wiederholte er gedankenversunken: „Du kannst das nicht verstehen.“

„Was ist denn bloß los mit dir?“, jetzt machte er sich wirklich sorgen. Tyson tat einen Schritt an ihn heran, beugte sich ein wenig vor, um einen besseren Blick auf Kais gesenktes Gesicht zu erhaschen. Doch der schaute weg. Er schien das nicht zu wollen.

„Kai?“

„Kennst du das Down-Syndrom?“, fragte er plötzlich. Völlig perplex wegen dieser merkwürdigen Frage blinzelte Tyson. Doch irgendwann nickte er und antwortete mit aufgezogener Braue: „Diese komischen Mongos? Klar kenn ich die. Gibt ja allerhand Witze darüber. Warum fragst…“

Es machte erst in seinem Kopf Klick als es schon zu spät war. Er hörte wie Kai scharf die Luft einzog. Als sich ihre Blicke trafen lag in beider Augen Fassungslosigkeit. Tyson musste das Gehörte erst richtig begreifen. Und Kai schien nicht mit so einer abfälligen Bemerkung gerechnet zu haben. Nach ein paar Sekunden wurde Tyson die Tragweite seiner eigenen Worte bewusst. Die Erkenntnis jagte ihm förmlich das Blut aus den Wangen. Er starrte schuldbewusst zu Kai, der nur leicht nickte und seine Enttäuschung offensichtlich die trockene Kehle hinunterschluckte. Geradezu verbittert schaute er zur Seite und doch schwang in jeder Silbe sein bedauern mit.

„Ja. Genau. Diese Mongos…“, es war nicht mehr als ein Flüstern. Das machte die ganze noch viel schlimmer. Tyson wäre es lieber gewesen angeschrien zu werden, doch zum ersten Mal schien Kai Maslos enttäuscht von ihm zu sein. Kurze Stille kehrte ein.

„Jana hat also…“, fragte er vorsichtig.

„Sie ist ein kleiner Mongo. In deiner Sprache formuliert.“, lachte Kai freudlos.

„Oh ver-… Ich wusste doch nicht. Ich meinte damit nicht deine Schwester!“, er geriet ins Stottern. Klar hatten beide manchmal ihre Differenzen, doch mit diesen Worten musste er Kais Schmerzgrenze überschritten haben. „Das wollte ich nicht! Ich hätte nie gesagt dass sie ein Mongo ist, wenn ich gewusst hätte…“

„Du hättest es gedacht!“, fiel Kai ihm schneidend ins Wort. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, erlebte er ihn wahrhaftig gekränkt. „Das ist noch viel schlimmer! Du hättest mir etwas vorgeheuchelt, aber dich in Wirklichkeit vor ihr geekelt!“

„Nein! Niemals! Sie ist deine Schwester und du bist doch einer meiner besten Freunde!“

Kai schnaubte aufgebracht. Er streckte den Arm aus und deutete auf die Aussicht der nächtlichen Stadt die sich vor ihnen bot.

„Und wenn sie nicht meine Schwester wäre?! Wenn sie die Schwester eines anderen wäre? Du würdest ihr auf der Straße begegnen und dich über sie lustig machen. Mit deinen hohlen Scherzen! Sie wäre für dich eine Witzfigur wie die anderen Kinder mit Trisomie! Ein behinderter kleiner Mongo! Dabei hast du keine Ahnung wie viel Aufrichtigkeit in solchen Menschen steckt…“

Tyson zog den Kopf tiefer zwischen die Schultern, biss sich auf die Unterlippe. Genau betrachtet war das richtig. Als Kind hatte er sich schon einmal darüber ergötzt. Es war eine dieser Jugendsünden, die einem im Nachhinein grausam vorkamen.

„Es tut mir Leid. Wirklich, Kai. “, und als ihm das noch nicht ausreichend vorkam „Es war nur dumm daher geredet. Ich empfinde wirklich keinen Ekel. Meine Zunge war einfach schneller als mein Verstand. Aber du hast Recht wenn du mir nicht glaubst. Es gibt nichts was meine Worte entschuldigt.“

Wieder kehrte Stille ein. Doch Kai schien tatsächlich etwas besänftigt. Sein Blick sprühte zwar noch pures Gift, doch sein Arm senkte sich. Er schaute ihn nur wortlos an, bis sich sein Gesicht von ihm abwandte. Irgendwie war seine Enttäuschung aber noch immer allgegenwärtig. Tyson konnte es förmlich in der Luft fühlen. Als er sicher war Kai wieder ansprechen zu können, fragte er vorsichtig: „Was genau ist das Down-Syndrom eigentlich?“

Kai schien zu überlegen ob er überhaupt noch mit ihm sprechen wollte. Doch dann…

„Es ist eine Chromosom Störung“, sprach er leise. „Der gesunde Mensch besitzt sechsundvierzig Chromosome. Dreiundzwanzig vom Vater, dreiundzwanzig von der Mutter.

Beim Down-Syndrom ist das einundzwanzigste aber dreifach statt doppelt vorhanden. Deswegen heißt die Krankheit auch Trisomie 21.“

Tyson war kein Ass in Biologie, doch das meiste basierte auf einfachem Basiswissen, dass er nur sehr lange nicht mehr abgerufen hatte. Jetzt erst bemerkte er wie lange er Jana nicht mehr gesehen hatte. Als sie noch ein paar Wochen alt war, hatte die Gruppe öfters einen Abstecher zum Hiwatari Anwesen gemacht. Der kleine Säugling war einfach zu sehenswert gewesen. Keiner der hartgesottenen Jungs konnte anders, als sie putzig zu finden. Wie hätte es auch anders sein können – Babys waren immer süß und machten aus jedem Kerl ein Weichei. Max verstellte seine Stimme zu einem ulkigen Goofy Imitat, Tyson hatte Donald gespielt und Ray hatte Jana an den winzigen Fußballen gekitzelt, bis sie vor Freude quietschte. Doch nach einer Weile ließen die Besuche nach. Nicht weil ihr Interesse nachgelassen hatte. Kai lehnte es ab seine Freunde zu sich nachhause einzuladen. Irgendwann erzählte er ihnen, das Baby sei zu aufgedreht nach ihren Besuchen und da niemand Kais Mutter zur Last fallen wollte, verzichteten sie von da an auf weitere Stippvisiten. Tyson ahnte nun dass sie damals belogen worden waren.

„Ist das lebensbedrohlich?“, fragte er. Kais Blick sank zu Boden und die Wut verschwand, machte dem verzweifelten Ausdruck wieder platz.

„Sie ist mit einem Herzfehler auf die Welt gekommen. Die Ärzte waren eigentlich sicher das sie nicht einmal das sechste Lebensjahr erreicht.“

„Oh nein…“

„Oh doch!“, Kais Stimme wurde wieder streng. Er sah auf und seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen, die ihn von oben herab geringschätzig anzustarren schienen. „Der einzige Grund weshalb Jana solange durchgehalten hat, ist, weil ich zu hundert Prozent hinter ihr stehe und nicht das kleinste Übel an sie herankommen lasse! Kein Medikament wird unpünktlich genommen, ich sorge nur für die besten Ärzte, bei jeder Kleinigkeit, selbst bei einem harmlosen Schnupfen, lasse ich in der Firma alles liegen! Und verdammt noch mal, bevor du gewesen bist, habe ich keinen einzigen Arzttermin versäumt, abgesagt oder auch nur um fünf Minuten verschoben!“

„Ich hätte das nie getan wenn du mir gesagt hättest was los ist.“

„Muss man dir das Denken immer abnehmen?! Es war ein Arztbesuch! Den hatte ich nicht ohne Grund da drinnen. Erst recht nicht an einem Samstag! Wie viele Ärzte kennst du, die ihre Termine an einem Samstag vergeben? Da hättet ihr euch doch denken müssen, dass es etwas Wichtiges ist!“

Autsch. Das hatte gesessen. Aber wahrscheinlich hatte er das verdient. Reumütig ließ Tyson Kais Standpauke über sich ergehen, wie ein Schuljunge der von seiner Lehrerin getadelt wurde. Er kam sich hundeelend vor. Wie der letzte Arsch auf Erden…

Kai registrierte das mit voller Genugtuung, verstummte daraufhin und begann in seiner Jackentasche nach etwas zu suchen, während Tyson dutzende Gedanken durch den Kopf gingen. Die Ärzte hatten nicht einmal damit gerechnet, dass Jana durch ihren Herzfehler solange durchhalten würde. Das hieß doch eigentlich, dass es ihr jeden Tag schlechter gehen könnte. Von heute auf morgen, einfach tot. Dieser Gedanke jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken und er konnte nicht einmal erahnen, wie es wohl für Kai sein musste, Tag für Tag mit dieser Furcht durchs Leben zu gehen. Als Tyson vom Boden aufsah und die dämliche Frage stellen wollte, ob sich das mit dem Herzfehler nicht mit einer Extraportion gesundem Spinat einrenken ließe, zündete sich Kai gerade eine Zigarette an.

Moment was…

Dieses Bild war vollkommen falsch. Kai rauchte nicht. Das durfte er nicht! Es war doch der Todbringer schlechthin. Kai hatte immer mit seiner eisernen Disziplin geglänzt und das schloss auch eine gesunde Ernährung mit ein. Er war ein so entsetzlich perfektes Vorbild, dass es dem Rest von ihnen, an manchen Tagen schier den letzten Nerv raubte.

„Was machst du da?!“, fragte Tyson entsetzt.

„Wonach sieht es denn aus?“, murmelte Kai mit der Zigarette im Mundwinkel und hielt seine Hand schützend um die zuckende Flamme des Feuerzeugs.

„Das sieht aus als ob du rauchst!“

„Kluges Kind.“

„Seit wann rauchst du?“

„Seit einer Weile…“

„Seit wann genau?!“

Kai nahm einen tiefen Zug und entließ eine Ladung Rauch aus seinen Lungen, verstaute nebenbei sein Feuerzeug in der Jackentasche und war wohl der Meinung ihm keine Antwort schuldig zu sein. Das machte Tyson so rasend das er einen Satz nach vorne tat, sein Handgelenk packte und die Zigarette aus Kais Fingern riss.

„Verdammt, lass das!“, ein heftiger Hieb mit der freien Hand knallte gegen seinen Kopf. „Geh mir nicht auf die Nerven, Kinomiya! Du hast dein Limit für heute überschr-…“

„Halt die Klappe! Kaum hast du eine kranke Schwester im Haus lässt du dich gehen! Keiner meiner Freunde fängt mit so etwas an!“

„Ich nehme keine Drogen, ich rauche nur! Es entspannt mich und ich brauche es nach diesem Ärger! Außerdem musst du es dann der halben Welt verbieten!“

„Die halbe Welt interessiert mich nicht. Nur meine Freunde!“

Demonstrativ ließ Tyson die Zigarette auf den Boden fallen und stampfte sie zornig mit dem Fuß aus. Soweit würde es noch kommen…

„Denk doch mal an deine Schwester! Du könntest Lungenkrebs bekommen oder das ganze andere Horrorzeug von dem man erzählt. Du rauchst doch hoffentlich nicht vor ihr, oder?“

„Natürlich nicht! Ich denke pausenlos an meine Schwester!“, brauste Kai auf. „Was glaubst du warum ich wie ein Wahnsinniger arbeite? Damit ich mich so schnell wie möglich ihr wieder widmen kann.“

Kai rieb sich mit der Hand über die Schläfen als habe er Kopfschmerzen.

„Morgen früh hätte sie ihre Untersuchung bei ihrem Arzt gehabt. Seit ein paar Tagen ist sie wieder total apathisch und starrt nur vor sich hin. Aber dieser Arzt, Dr. Hamilton… Ich weiß nicht wie er das schafft, aber bei ihm blüht sie ständig auf. Wahrscheinlich weil er besser als jeder andere weiß, wie man mit solchen Fällen umgeht.“

Er blickte Tyson wieder aus wütenden Augen an.

„Nur wegen dir wird meine Schwester morgen todunglücklich sein! Ich habe keine Ahnung wie ich ihr das erklären soll. Sie wird es nicht verstehen. Sie ist doch noch ein Kind!“

„Dann ruf deine Mutter an und bitte sie um Hilfe!“, kam Tyson die Idee. „Sie kann Jana bestimmt beruhigen! Mütter können so etwas!“

„Das geht nicht…“

„Ach komm schon! Die paar Minuten ihres Urlaubs kann sie doch wohl opfern. Ich verstehe sowieso nicht, wie sie dich alleine lassen kann und irgendwo am Strand in der Sonne brutzelt. Du hast schließlich noch deine Firma zu leiten!“

„Meine Mutter hat sich seit neun Monaten aus dem Staub gemacht!“, brach es aus Kai heraus. Und wie so oft an diesem Abend, tat sich eine fassungslose Stille zwischen ihnen auf. Tyson schluckte. Sein Mund öffnete sich wieder. Dann schüttelte er den Kopf. Er brauchte mehrere Anläufe um die Welle aus Fragen, die sich auf seiner Zunge gleichzeitig bildeten, nacheinander vorzutragen.

Neun Monate? Neun Monate…

Das entsprach genau der Zeit, die sie Kai nicht mehr gesehen hatten. Deshalb war er also nicht mehr gekommen! Er musste so stark von all diesen Problemen belagert werden, dass ihm gar keine Zeit mehr blieb, um sich etwas anderem zuzuwenden.

„Wieso erzählst du uns so etwas nicht?“, rief Tyson vorwurfsvoll aus. „Das kannst du doch nicht verheimlichen! Wir sind deine Freunde! Was ist denn bloß los bei dir?!“

Kai atmete tief ein und wieder vergrub er das Gesicht ein paar Sekunden in den Händen, rieb sich erschöpft über Augen. Doch Tyson hatte das Gefühl, das er nur versuchte, die aufkommenden Tränen zu vertreiben. Ihn so zu erleben fühlte sich furchtbar an. Er kam sich schuldig vor, ihm all die Jahre nicht beigestanden zu haben. Als Kai endlich erzählte bebte seine Stimme kaum hörbar.

„Wir haben uns gestritten. Meine Mutter und ich. Sie hat gesagt Janas Krankheit würde ihr über den Kopf steigen. Sie hat gesagt, sie kann Jana nicht lieben. Sie hat gesagt… Jana ekelt sie an!“, die letzten Worte kamen geradezu erstickt. Kai schien selbst nicht zu glauben, dass eine Mutter so empfinden konnte. Dann kniff er die Augen zusammen, presste die Lippen fest zusammen. Irgendwann spie er trotzig aus: „Eine Woche später war sie weg. Keine Ahnung wo die Schlampe sich jetzt herumtreibt! Ist mir auch vollkommen egal. Zum Teufel mit diesem Miststück. Ich will sie nie wieder zu Gesicht bekommen!“

Diese vulgäre Ausdrucksweise passte nicht zu ihm und ließ Tyson erst begreifen, wie frustriert er über diese Situation sein musste. Vor kurzem hatte Kai ein erfolgreiches Familienunternehmen übernommen. Das allein war ein Fulltimejob – aber jetzt noch ein krankes Kind im Haus? Und das alles alleine…

Niemand war ihm die letzten Monate beigestanden. Tyson zog die Augenbrauen zusammen.

Kenny hatte also Recht behalten.

„Kann man einer Frau vertrauen, die aus Herzschmerz ihren einzigen Sohn bei einem solchen Großvater zurücklässt?“, waren seine Worte gewesen. Tyson dachte damals dasselbe. Doch er wollte Kais Glück nicht trüben. Und nun das…

Er hätte ihm von Anfang an raten sollen, eine solche Rabenmutter mit Vorsicht zu genießen. Inzwischen kramte Kai wieder in seiner Jacke nach Zigaretten. Dabei sprach er ziemlich verbittert: „Du hast doch keine Ahnung. Du lebst in deiner kleinen heilen Welt, in der du dir deine dummen Streiche erlauben kannst. Was weißt du schon…“

Für einen Moment herrschte Stille. Doch dieses Mal weil in Tyson der Zorn hochbrodelte. Er rührte sich lange Zeit nicht, sah Kai düster an, während seine Brauen tiefer und tiefer wanderten. Dann fragte er: „Seit wann weißt du das Jana diese Krankheit hat?“

Kai stoppte kurz in seiner Suche und schaute mit argwöhnischem Blick auf.

„Ein paar Tage nach ihrer Geburt kam der Verdacht auf…“

„Und warum erfahre ich das erst jetzt?“, blaffte Tyson ihn an. So sehr es ihm Leid tat um seine Schwester, diesen Schuh würde er sich nicht anziehen lassen. Er hatte selbst einen Pflegefall in der Familie. Natürlich konnte man seinen recht selbständigen Großvater nicht mit einer Sechsjährigen vergleichen, aber Kai hatte doch nie die Klappe aufgemacht. Einen solchen Streich hätte er sich doch niemals herausgenommen, wenn er auch nur ansatzweise geahnt hätte, wie schief der Haussegen bei den Hiwataris saß. Doch Kai stellte ihn wie einen regelrechten Unmenschen da, einen egoistischen Scheißkerl, der über Leichen ging.

„Du weißt also seit fast sechs Jahren, dass du eine Schwester mit diesem Down-Syndrom hast und trotzdem…“

„Ich hätte alles unter Kontrolle, wenn ihr euch nicht ständig so dreist einmischen würdet!“, fuhr Kai dazwischen. Doch Tyson überging den Vorwurf. Stattdessen rief er: „Und trotzdem erfahre ich davon erst jetzt! Ich bin einer deiner ältesten Freunde. Einer deiner besten Freunde, Kai! Ich habe immer zu dir gehalten, egal wie viel Scheiße du gebaut hast, genau wie die anderen! Wissen die aber davon? Nein? Natürlich nicht! Mr. Hiwatari kriegt ja nie die Klappe auf!“, Tysons Worte wurden immer lauter und Kais Zorn offensichtlich schlimmer. Beide Männer ballten die Fäuste vor Wut. Ein Außenstehender hätte befürchtet, dass sie gleich wie blutrünstige Wölfe aufeinander lospreschen würden.

„Ray und Max wohnen im Ausland. Die können dir nicht helfen! Aber was ist mit Kenny und mir?! Ist es so schlimm deine Freunde um Hilfe zu bitten?! Wir wohnen in derselben Stadt und jeder von uns könnte ein paar Stunden für dich aufbringen. Ich brauche nur zwanzig Minuten mit dem Auto hier her, ich würde dir jederzeit helfen! Sieh dich doch an wie überfordert du bist! Du bist an deiner Grenze! Spätestens als deine Mutter die Kurve gekratzt hat, hättest du etwas sagen müssen! Doch anstatt von deinem hohen Ross herunterzukommen, dir endlich einmal eingestehst, dass es etwas gibt, was du nicht mehr alleine schaffst und uns reinen Wein einschenkst, stürzt du dich lieber in deine Arbeit und den Zigarettenkonsum! Und vergraulst alle Menschen, die dir Nahe stehen!“

„Das Einzige worin ich mich niemals hätte stürzen dürfen, war der heutige Abend mit euch!“, brüllte Kai ihm entgegen. In Kindertagen wäre Tyson eingeschüchtert zurückgewichen, doch nun erkannte er die Reaktion eines hoffnungslos überforderten Dickkopfes.

Dieser falsche Stolz. Das war so typisch für ihn…

Lieber biss dieser Mistkerl sich die Zunge ab, anstatt etwas Hilfe anzunehmen. Tyson schnaubte verächtlich. Spie geradezu vor Verachtung aus. Es wäre noch stark untertrieben zu behaupten, er sei gerade blind vor Zorn. Seine Fäuste bebten. Er unterdrückte mit aller Kraft dem Impuls Kai seine Rechte spüren zu lassen.

„Deine Hochnäsigkeit bringt dich irgendwann ins Grab! Du bist immer noch genau so wie früher! Immer noch dieser sture Einzelgänger! Immer ein Querdenker! Ich dachte eigentlich, wir hätten das ewige Sorgenkind namens Kai, in den letzten Jahren endlich einmal begraben, aber anscheinend hat es sich nur hinter einer falschen Fassade versteckt!“, fauchte Tyson mit verschränkten Armen und merkte gar nicht wie abfällig seine Worte klangen. Erst als Kai vor ihm die Luft anhielt, er sah wie geschockt ihn sein Gegenüber anstarrte, spürte Tyson, dass da eine Grenze überschritten worden war. Kais Mund stand leicht geöffnet und seine sonst so kalten Augen verrieten, dass er tief gekränkt war. Dieser verletzte Blick. Es ließ Tyson erst die Härte seiner Worte begreifen, sich selbst auf die Zunge beißen. Er kniff die Augen gequält zusammen. Sein Mundwerk war schon wieder schneller gewesen als sein Verstand.

„Kai…“

„Ich bin also das Problemkind der Bladebreakers Familie?“, kam es in schneidendem Ton. Er wich etwas zurück, schaute ihn von der Seite her geringschätzig an.

„Das war nicht so gemeint. Ich bin wütend. Du bist wütend… Wir haben uns heute einige böse Worte an den Kopf geworfen, aber das war ja nicht das erste Mal.“

Tyson tat einen Schritt auf seinen Freund zu und wollte ihm tröstend die Hand auf die Schulter legen. Doch der stieß seine Finger weg.

„Es wird auch nicht mehr vorkommen.“, versicherte Kai eiskalt.

„Komm schon, mach kein Drama daraus! Das hat doch alles keinen Sinn mehr. Lass uns morgen weiterreden. Wenn wir beide wieder etwas ruhiger sind. Vielleicht kann ich bei dem Arzt anrufen und ihm erklären was passiert ist…“

„Dann sagt das Sorgenkind mal Lebwohl!“

Er wandte sich ab, doch Tyson folgte ihm noch einige Schritte, in einem hoffnungsvollen Versuch die Wogen noch einmal zu glätten.

„Ich fahre dich nachhause. Komm steig in den Wagen! Bitte, komm schon!“

„Lass dich nie mehr blicken, Kinomiya!“

„Du tust es schon wieder. Du benimmst dich wie in unserer Jugend!“

Ein letztes Mal blieb Kai stehen, drehte sich zu ihm und sprach: „Du redest auffällig oft von unserer Kindheit, aber soll ich dir was sagen? Beyblades und Turniere interessieren niemanden mehr! Die Zeiten in denen mein Großvater versucht hat mit Kinderspielzeugen die Weltherrschaft zu übernehmen sind vorbei. Biovolt und Bega sind Vergangenheit, genau wie die Bladebreakers! In ein paar Jahren wird sich niemand mehr an den Kindergarten von damals erinnern und wenn ich die Wahl hätte, zwischen Dranzer, dir und meiner Schwester, würde ich jederzeit auf Jana wetten – und auf euch andere einen Scheiß geben! Fang an wie ein verantwortungsbewusster Mensch zu denken und nicht wie der dreizehnjährige Kindskopf, der du schon immer warst! Die Realität ist kein Spielplatz. Die Realität ist ein Mienenfeld! Wenn du einen falschen Schritt machst, jagt sie dich in Luft! Bevor du also Ratschläge im Erwachsen werden erteilst – werde selber endlich erwachsen!“

Das Gespräch war beendet. Kai schob den Kragen seiner Jacke hoch und ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, lief er um die nächste Häuserecke und verschwand aus seinem Sichtfeld. Mit einem schlechten Gewissen in der Magengrube fixierte Tyson den Punkt, hinter dem einer seiner längsten Freunde verschwunden war. Womöglich aus seinem ganzen Leben. Wie konnte ein Abend, der so gut angefangen hatte, nur so aus dem Ruder laufen…

„Scheiße! Scheiße! Scheiße!“, fluchte er laut vor sich her, trat frustriert einen Stein weg, der ein geparktes Auto an der Seite traf und einen tiefen Kratzer hinterließ. Zeitgleich sprang die Alarmanlage an. Doch anstelle in Panik zu verfallen, rief Tyson nur in die Welt hinaus: „Früher war alles besser! Kind müsste man noch mal sein!“

Einige Male atmete er laut aus, doch dann wurde ihm bewusst, dass es nicht half, ständig der Vergangenheit hinterher zu trauern. Das war genau das, was Kai ihm gerade vorgeworfen hatte. Ein Funken Wahrheit lag wohl doch in seinen Worten. Energisch schüttelte Tyson den Kopf und fasste einen Entschluss. Schluss mit dem Kinderkram! Morgen würde er sofort die Nummer von diesem Dr. Hamilton herausfinden und dort durchklingeln. Vielleicht ließ sich Jana noch irgendwo zwischen seine Termine hineinschieben. Es musste einen Weg geben, mit Kai wieder auf einen grünen Zweig zu kommen. Er kannte ihn fast zehn Jahre. So eine lange Freundschaft konnte man doch nicht in fünf Minuten zerstören. Tyson wollte nicht dass es so zwischen ihnen endete…

Außerdem müsste er dem Rest der Gruppe, seine boshafte Zunge erklären. Die vorwurfsvollen Gesichter, konnte er sich bereits detailgetreu ausmalen. Nachdenklich schloss Tyson die Augen und hatte das Gefühl, das ihm diese Situation über seinen Verstand hinauswuchs. Zu seinen Knöcheln wirbelten Blätter umher und als er gedankenverloren nach oben zum Sternenhimmel blickte, wehte ein starker Windzug durch die hochgewachsenen Bäume, die die Allee rechts und links von der Straße säumten. Der kräftige Hauch fegte durch sein dunkles Haar. Plötzlich überkam Tyson das Gefühl beobachtet zu werden.

„Kai?“, fragte er hoffnungsvoll und wandte sich um. Doch um die Häuserecke herum kam niemand hervor. Über seine eigene Unruhe verärgert, schüttelte er den Kopf und wollte sich auf den Weg zum Wagen machen, da erblickte Tyson auf der anderen Straßenseite eine Person. Er dachte zuerst nicht richtig zu sehen.

Eine unglaublich attraktive Frau saß auf einer niedrigen Grundstücksmauer, mit übereinander geschlagenen Beinen und schaute seelenruhig zu ihm herüber. Ein knielanges rotes Fransenkleid umspielte ihren Körper und Tyson hätte beinahe laut gepfiffen, obwohl er es seltsam fand, dass jemand bei dieser kalten Herbstnacht, so freizügig gekleidet war. Selbst auf Schuhe hatte die Dame in Rot verzichtet. Das sie ihn beobachtete irritierte ihn noch mehr. Eine Hand ruhte auf ihrem Schoss. Der andere Arm fungierte als Stütze.

Ihr Haar war hell, es wirkte fast bleich und fiel ihr in sanften Locken bis zur Hüfte, während eine Strähne ihr rechtes Auge verdeckte. Ein solches Blond hatte Tyson noch nie gesehen. Er war sich nicht einmal sicher ob es blond oder nicht stattdessen ein sattes Silber war. Er wusste dass es unhöflich war, doch Tyson konnte kaum seine Augen abwenden. Sie besaß eine faszinierende Aura. Sein Blick wanderte an den graziösen Beinen entlang, zur schlanken Taille bis zum Kopf – und plötzlich erstarrte er.

Seine Nackenhaare richteten sich auf und über seinen ganzen Körper zog sich eine Gänsehaut. Tyson konnte nicht sagen warum, doch an diesem Gesicht schien etwas unmenschlich zu sein. Selbst von hier aus erkannte er die unnatürliche Blässe…

„Alles in Ordnung?“

Tyson fuhr erschrocken um. Vor ihm stand ein hochgewachsener Mann, der selbst ihn noch mal um zwei Köpfe überragte. Dabei war er so stolz darüber gewesen, endlich seinen Wachstumsschub bekommen zu haben. Sein Gegenüber schien nicht so viel älter als er. Womöglich waren sie sogar gleich alt. Dafür wirkte seine Kleidung und sein auftreten eleganter. Er hatte etwas Selbstsicheres an sich und schien wie ein Draufgänger. Schon komisch was einem ein kurzer Blick verraten konnte.

„Alles bestens, “ meinte Tyson kurz angebunden und blickte wieder auf die andere Straßenseite. Doch da war niemand mehr. Auf dem Platz wo die Dame in Rot gesessen hatte, pickte der erste Spatz, in den dunklen Morgenstunden herum, während die Morgenröte langsam über die Berge heraufzog. Verblüfft starrte Tyson auf die Mauer, blinzelte einige Male und war sich nicht sicher ob er neuerdings nicht Halluzinationen bekam.

„Du solltest jetzt nachhause gehen.“, sagte die tiefe Stimme seines Gegenübers.

„Ich gehe Heim wenn es mir…“, Tyson schaute das erste Mal in das Gesicht des Fremden. Und schon wieder diese Totenblässe…

Der Satz blieb ihm im Halse stecken und er musste zugeben, dass ihm unbehaglich wurde. Sein Kopf sagte ihm, dass es lächerlich war. Doch sein Instinkt ließ die Alarmglocken läuten. Irgendwas stimmte mit diesem Mann nicht…

Sein Gegenüber schaute ihn aus tiefschwarzen Augen an, Tyson konnte nicht einmal die Pupillen erkennen. In seinem Gesicht zeichnete sich keinerlei Regung ab, als wäre dieser Mensch überhaupt nicht dazu im Stande. Während der Wind durch das kurze Haar wehte, sagte sein Gegenüber mit einer tiefen Bassstimme: „Geh nachhause Takao.“

Es brauchte einige Sekunden, bis seine Gliedmaßen den Befehl seines Gehirns ausführten. Doch dann machte Tyson auf dem Absatz kehrt und eilte die Straße entlang.

„Schlafentzug. Schlechter Tag. Zu viel Stress.“, dachte er beim Rückweg, konnte es aber nicht unterlassen, noch einmal über seine Schulter zu spähen. Der Zombiemann war weg.

Als Tyson im Wagen saß, die Türen fest verschloss und den Motor jaulend startete, hielt er einen Augenblick inne. Ihm war ein Gedanke gekommen.

Woher kannte der Kerl seinen richtigen Namen…
 

ENDE Kapitel 1
 

Max bereute seine Faulheit. Hätte er die Vorhänge diese Nacht zugezogen, müsste er nicht so früh aufstehen. Doch nun wurde er durch die lästigen Sonnenstrahlen, die durch das Fenster in sein Zimmer drangen, geradezu genötigt das Bett zu verlassen. Als er sich mit dunklen Augenrinnen, platt gelegenen blonden Haaren und einem furchtbaren Kater aus dem Bett wälzte, tat ihm jede Bewegung in den Knochen weh. Träge schleppte er sich zum Fenster und sah kurz hinaus. Von seinem Zimmer im Peninsula Tokyo hatte Max einen wundervollen Blick auf den naheliegenden Park. So etwas war in einer Großstadt ein Segen für wunde Augen. Kurz vor dem Eingang zum Hibiya Park, lief ein älterer Geschäftsmann auf dem Gehweg hin und her, vollkommen vertieft in sein Telefonat. Ab und zu blieb er stehen, sah auf seine Füße oder hinauf in den Himmel, nur um anschließend ein paar Schritte in die andere Richtung zu flanieren. Vor dem Hotel herrschte buntes Treiben. Die meisten Menschen nutzten den Samstagmorgen für Einkäufe und Spaziergänge mit der Familie. Max konnte sich zu keinem von beiden aufraffen. Die durchgezechte Nacht schlauchte noch an ihm, also zog er die Vorhänge zu und ließ sich wieder bäuchlings ins Bett fallen. Selbst jetzt fehlte ihm noch die Kraft seine Alltagskleidung auszuziehen. Als der Schlaf langsam wieder über ihn kam, hörte er eine nervige Musik vom Nachtschrank. Er brauchte einige Minuten, bis er begriff, dass es sein Smartphone war.

„Oh man…“, murmelte Max in sein Kissen. Dann tastete er mit schlaffem Arm nach dem störenden Gerät. Manche Menschen behaupteten, die heutige Technologie sei ein Segen. Solche Leute wurden noch nie nach einer heftigen Feier, von einem penetranten Klingelton geweckt. Manchmal wäre es ganz schön, wenn man einmal nicht rund um die Uhr erreichbar war. Ohne nachzusehen wer der Anrufer war und mit dem Gesicht noch tief im Kissen vergraben, nahm Max ab.

„Hmm?“

„Max, bist du das?“

Ein leises Seufzen. Dann drehte Max seinen Kopf zur Seite um besser sprechen zu können.

„Hi Mum…“

„Oh Max, es ist furchtbar! Ich habe schon wieder eine Absage bekommen!“, ohne jegliche Umschweife kam Judy zum Grund ihres Anrufes, was Max doch etwas kränkte. Keine Frage nach seinem Wohlbefinden.

„Wie war dein Flug?“

„Wie ist das Wetter in Japan?“

Ein „Du fehlst mir mein Junge“, war dann wohl sogar Zuviel verlangt…

In den letzten Monaten war sie ziemlich mit sich selbst beschäftigt. Alle Probleme die er besaß, wirkten in ihren Augen banal, immerhin war sie doch eine arbeitslose Forscherin, die für jeden anderen Beruf viel zu überqualifiziert war. Nicht das Judy eine schlechte Mutter war, sie konnte sehr liebevoll sein, wenn es um ihren einzigen Sohn ging. Doch manchmal fehlte es ihr am nötigen Taktgefühl, wenn sie an ihre berufliche Karriere dachte, die zuvor der Mittelpunkt ihres Lebens war.

„Ich verstehe nicht warum niemand eine angesehene Forscherin einstellen will? Bestimmt liegt es daran, weil ich eine Frau bin. Frauen von meinem Kaliber sind totale Mangelware. Diese alten Herren fühlen sich da nur wieder bedroht. Nicht einmal zu einem Vorstellungsgespräch bin ich geladen worden!“, wetterte Judy los und wenn sie so zänkisch war, konnte das nur heißen, dass sie ein paar Gläser Scotch intus hatte. Früher wäre ihm niemals in den Sinn gekommen, dass ausgerechnet seine Mutter zu solchen Dingen griff, doch schlechte Zeiten brachten auch manchmal schlechte Angewohnheiten hervor. Für eine so ehrgeizige Frau wie seine Mutter, war die Tatsache, dass sie keine neue Anstellung fand unerträglich. Während Max auf den Wecker schaute, um auszurechnen wie spät es in den USA war, erzählte Judy weiter. „Ich habe in den letzten Fortbildungskursen mit Bravour abgeschnitten. Trotzdem scheint das nichts zu zählen. Ich sage dir, das geht nicht mit rechten Dingen zu. Ich könnte platzen vor Wut! Das ist so deprimierend…“

„Mum, wir sind in einer Finanzkrise. Jedes Unternehmen leidet darunter und auch jedes Forschungsinstitut. Du musst einfach etwas Geduld haben. Im Gegensatz zu anderen Leuten, hast du wenigstens einen guten finanziellen Puffer.“

„Ich will aber nicht mehr warten! Mir fällt zuhause die Decke auf den Kopf!“

Max konnte hören wie seine Mutter wütend ein Glas auf den Tisch haute. Wäre er zuhause hätte er es ihr mit einem tadelnden Blick abgenommen.

„Wenn ich noch länger weg vom Fenster bin, kann ich zu meinen Kollegen nie wieder aufholen! Soll ich den ganzen Tag im Haus sitzen und Däumchen drehen? Du kennst mich Maxi, ich bin nicht häuslich und ohne dich ist es einsam hier. Dein Vater arbeitet ja bis spät in die Nacht.“

„Dann geh doch zu Dad in den Laden. Wenn dir langweilig ist, hilf ihm. Ich bin sicher er freut sich, wenn du in seiner Nähe bist.“

Er konnte seine Mutter seufzen hören.

„Das ist nicht dasselbe, mein Schatz. Ich habe in einem riesigen Forschungsinstitut gearbeitet. Dieser Laden entspricht nicht den Dimensionen die ich mir Wünsche. Null Aufstiegschancen. Dafür habe ich doch nicht studiert! Ich will nicht als armselige Kassiererin enden.“

Max Hand begann zu beben. Da gab sein Vater den Laden in Japan auf, um seiner depressiven Frau in die USA zu folgen und selbst das genügte nicht. Hatte sie jemals daran gedacht, wie schwer es für Max war, alles hier zurückzulassen? Er und sein Vater hatten sich eine bescheidene, aber angenehme Existenz in Japan aufgebaut und kaum ging es mit der Karriere seiner Mutter bergab, zog sie alle mit sich ins Verderben. Null Aufstiegschancen? Natürlich gab es keine! Der Laden war nicht größer als der Tante-Emma-Laden gegenüber. Kein Vergleich zu ihrem alten Geschäft…

„Mum, tut mir leid. Der Empfang ist schlecht. Ich rufe dich heute Abend von einer Telefonzelle aus an.“

„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, er konnte seiner Mutter noch nie etwas vormachen. Und jetzt schien auch sie zu merken, dass ihr Sohn verärgert war. Dennoch log Max unbeirrt weiter.

„Alles bestens. Der Empfang ist nur schlecht.“

„Ich kann dich laut und deutlich hören. Maxi, du klingst so wüten-…“

Es machte Klick und endlich war wieder Ruhe.

„Ma~han!“, fluchend setzte sich Max auf, zielte auf seine offene Reisetasche gegenüber vom Bett und warf sein bereits wieder klingelndes Handy, im hohen Bogen hinein. Seine Mutter war nicht nur ehrgeizig, sondern auch hartnäckig, doch das Einzige was sie von Amerika aus tun konnte, war immer wieder anzurufen. Im Moment konnte ihm diese furchtbare Klette gestohlen bleiben. Als Max des ständigen Piepsens aus der Tasche überdrüssig wurde, wollte er das Handy abschalten und sich anschließend im Badezimmer eine Dusche gönnen, da klopfte es aber an der Tür.

„Max? Bist du wach?“

Er war nicht der Einzige, dem man die letzte Nacht ansah. In Rays Fall verriet ihn bereits seine heisere Stimme. Es war kalt gewesen, aber keiner von ihnen hatte sich darum geschert. Mit Handtuch und Unterwäsche bepackt öffnete er die Tür.

„Komm herein.“, murmelte Max verdrießlich. Doch als er Ray so vor sich sah, verflog die schlechte Laune. Er schüttelte grinsend den Kopf. „Man siehst du bescheiden aus. Wenn man das mal so sagen darf…“

„Komm mir bloß nicht so…“, murrte Ray angeschlagen, rieb sich den schmerzenden Nacken und trat ein. Dunkle Augenrinnen zeichneten sich in seinem Gesicht ab und eine Rasur wäre auch vorteilhaft gewesen. „Tyson hat angerufen. Er will unbedingt mit uns sprechen.“

„Wieso?“

„Hat er nicht gesagt.“

„Dann kann es nicht so wichtig sein…“

„So wie ich ihn verstanden habe, sollen wir so schnell wie möglich unseren Kater abschütteln und uns auf den Weg machen.“

„Typisch Tyson. Ungeduldig wie immer, aber das kann er jetzt vergessen! Erst duschen, dann spurten.“, Max gab Ray einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. „Würde dir übrigens auch guttun. Junge, bringst du vielleicht eine Fahne in den Raum!“

„Wirklich?“

„Ja! Riechst du das nicht? So können wir nicht zu Tyson.“

„Ich weiß nicht, es klang ernst…“

„Ray, wir stinken nach Alkohol! Wir können gar nicht richtig nüchtern werden, weil der Geruch von Hochprozentigem, der aus unseren Poren entweicht uns wieder abfüllt!“

„So schlimm?“, fragte Ray, doch ein müdes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Dann sah er mit verschlafenem Ausdruck auf seine Kleidung. Die hatte tatsächlich schon bessere Zeiten erlebt.

„Naja, eine kurze Dusche kann nicht schaden. Umziehen muss ich mich auch noch, sonst denkt Tysons Großvater, sein Enkel gabelt neuerdings Junkies von der Straße auf. Aber beeil dich! In einer Stunde will ich beim Dojo sein.“
 

Hätten beide zu diesem Zeitpunkt geahnt, weshalb Tyson auf glühenden Kohlen saß, wären sie schneller gewesen, anstatt sich seelenruhig den Schmutz der durchgezechten Nacht abzuwaschen.

Doch so hockte ihr Freund entnervt in der Küche, trommelte mit seinen Fingern einen ungeduldigen Rhythmus auf den Tisch und hörte sich noch nebenbei die Standpauke seines Großvaters an. Der alte Mann hatte sich in Rage geredet und benutzte mehrere unschöne Betitelungen für seinen Enkel. Von „Vakuumbirne“ bis „Brauereipferdhinternexkrement“ reichte das Sortiment. Trotz seines fortgeschrittenen Alters besaß er eine gute Portion Einfallsreichtum. Seine Wortspielereien waren Beweis genug. Aufgebracht humpelte Großvater Kinomiya hin und her. In seinen Augen war das Verhalten der Gruppe unreif und verantwortungslos gewesen. Zudem hatte er bereits angekündigt, dem Rest des Teams einen kräftigen Hieb mit seinem Gehstock zu verpassen, wenn sie endlich über die Türschwelle schritten. Tyson selbst zierte bereits eine pochende Beule am Hinterkopf, die genauso schmerzhaft war wie sie aussah. Im Nachhinein bereute er, seinem Großvater von Kais Ausraster erzählt zu haben, aber Tyson hatte in einem Augenblick geistiger Umnachtung erwartet, einen guten Ratschlag aus ihm herauskitzeln zu können. Mittlerweile wusste er es aber besser…

„Hast du bei dem Arzt angerufen Grünschnabel?“

„Jaah…“, antwortete Tyson kleinlaut.

„Hast du einen Termin bekommen?“

„Nein.“, seufzte er. Und schon machte es BAMM, als die Faust seines alten Herren seinen Kopf wieder traf. Offensichtlich war das keine zufriedenstellende Antwort. Da halfen auch Tysons weitere Rechtfertigungen nicht.

„Die Tippse hat gesagt er ist der Beste in Tokyo!“

BAMM!

„Es gibt dutzende Fälle von Trisomie in dieser Stadt!“

BAMM!

„Und alle wollen von ihm behandelt werden!“

BAMM! Doch dieses Mal kam etwas Abwechslung hinein, weil sein Großvater das Wort ergriff.

„Dann hättest du dir mehr Mühe geben müssen!“, schrie er Tyson an.

BAMM!

„Immerhin habe ich dich zu hundertprozentiger Leistung erzogen!“

BAMM!

„Nie-„BAMM! „-mals“ BAMM! „aufgeben!“

Das war doch definitiv häusliche Gewalt. Tyson glaubte sich kurz vor einer Gehirnerschütterung und war dankbar, dass sein Großvater mit Mitte Siebzig zu alt war, um noch mit ganzer Kraft draufzuhauen. Es läutete an der Tür und erleichtert atmete Tyson auf.

„Da ist der Rest von diesem Idiotenclub! Warte nur, denen ziehe ich die Hammelbeine lang! Die kriegen einen Tritt in den Hintern, dass ihnen ihre mickrigen Hod-…“

„Lass das Opa!“

Mr. Kinomiya humpelte bereits zur Tür, um seine Freunde mit einem herzlichen Empfang zu begrüßen. Da es aber keine große Sache war, einen klapprigen Rentner zu überholen, gelang es Tyson sich an ihm vorbei zu drängen und die Eingangstür vor ihm aufzureißen. Dabei lief er seinem verdutzten Freunden in die Arme.

„Was zum?“

„Keine Zeit! Hintertür! Hoch in mein Zimmer! Schnell!“, unterbrach Tyson Max und als er seinen Großvater hinter der Eingangstür bereits zetern hörte, packte er seine verdutzte Freude am Arm, um sie auf anderem Wege ins Haus zu befördern.
 

Etwas später in Tysons Zimmer, musste er seinen Freunden erst einmal erklären, weshalb sein Großvater so außer sich war, denn der alte Mann pochte eine ganze Weile fluchend gegen die abgeschlossene Zimmertür und forderte sie auf herauszukommen, wenn sie auch nur ein halbes Ei in der Hose besaßen. So jedenfalls der genaue Wortlaut…

Natürlich wollte sich niemand mit dem alten Mr. Kinomiya anlegen. Nicht weil sie keine Chance gehabt hätten, sondern weil er in ihrer Kindheit immer eine Autoritätsperson darstellte. Das hinterließ Spuren und schon aus Reflex wollte Max der Anweisung, die Tür zu öffnen, Folge leisten, bis ihm einleuchtete, dass seine Schädeldecke eine Begegnung mit einem Gehstock, nicht so toll finden würde. Nachdem Tyson ihnen aber vom Ausgang des gestrigen Abends erzählt hatte, fühlten sie sich in etwa genauso an den Kopf gestoßen. Dabei übersprang er in weiser Voraussicht den Teil mit der unheimlichen Begegnung zum Schluss.

Als Tyson nach diesem Erlebnis mit hundertachtzig Sachen nachhause gerast war, hatte er sich gleich beim ersten Kontakt, mit seiner warmen Bettdecke, lächerlich gefühlt. Es gab hunderte, nein, Millionen von Menschen, die etwas blasser um die Nase herum waren und er dachte prompt an Horrorklassiker wie Dawn of the Dead. Im Nachhinein betrachtet kam es ihm absurd vor. Er war zu alt um noch an lebende Tote zu glauben. Zwar fand er die Tatsache, dass jemand ihn mit seinem richtigen Namen angesprochen hatte seltsam, aber andererseits war er eine Zeitlang groß in der Presse gewesen. Damals hatte er immer darauf bestanden, mit seinem Spitznamen Tyson, abgedruckt zu werden - als er nämlich das erste Mal einen Beyblade Kampf gewonnen hatte, meinte einer seiner frühen Kindheitsfreunde, sein Blade habe einen Schlag drauf, wie die Faust von Mike Tyson - aber es gab bestimmt genug Zeitschriften, die einmal erwähnt hatten, dass sein richtiger Name Takao Kinomiya lautete.

„Benimm dich wie ein Erwachsener!“, hatte Tyson sich danach in einer Endlosschleife ermahnt und war irgendwann eingeschlafen. Sein Entschluss nach dem heftigen Streit mit Kai, stand immer noch fest. Er wollte erwachsener werden. Und während Tyson berichtete, konnte er in den Gesichtern seiner Freunde, die verschiedensten Gefühlsregungen erkennen. Einmal Interesse, dann entsetzten und als er ihnen reumütig, von seiner zügellosen Zunge berichtete, folgte pure Fassungslosigkeit.

„Oh Tyson!“, rief Max vorwurfsvoll aus und fuhr jaulend mit der Hand an seine Stirn. „Wie konntest du so etwas nur sagen? Das war echt mies!“

„Du hast zu Kai gesagt er ist ein Sorgenkind? Weißt du wie sich das anhört? Als wäre er eine riesige Last!“, Ray sah ihn verständnislos an und Tyson fühlte sich einmal mehr wie Dreck. „Man Junge, wir haben alle in unserem Team für Probleme gesorgt, dass ist nicht nur alleine auf Kais Konto gegangen. Denk doch mal an meine Schwierigkeiten mit den White Tigers!“

„Kein Wunder das er gegangen ist! Bevor Kai sich so etwas vorwerfen lässt, würde er sich lieber die Kugel geben. Du weißt wie Stolz er ist! Hast du dir überlegt wie du das wieder hinbiegst?“

Dieser Satz rüttelte ihn wach und sofort meldeten sich Tysons Lebensgeister zu Wort. Immerhin war er nicht der einzige Schuldige im Raum.

„Moment, ich war nicht alleine im Auto!“, stellte er klar. „Wir haben alle fleißig an diesem dummen Planer herumgepfuscht! Also ist es wohl das Mindeste, wenn wir das gemein-…“

„Du hast Kai aber mit deiner großen Klappe vor den Kopf gestoßen! Er sagt dir das er eine schwerkranke Schwester daheimsitzen hat und du hast nichts Besseres zu tun als…“

„Weißt du wie er drauf war?! Siehst du diese angeschwollene Lippe?“, unterbrach Tyson ihn. Er deutete auf die besagte Stelle. „Die hat er mir während der Fahrt verpasst! Ich hätte die Karre beinahe gegen den nächsten Strommast gelenkt!“, nun schlug Tyson förmlich mit aufgebrachten Gesten um sich. „Er hat nicht mehr mit sich reden lassen! Der Kerl stand vollkommen neben sich! So habe ich ihn noch nie erlebt! Er war total wutgeladen!“

„Ach!“, meinte Ray schnaubend. Er saß im Schneidersitz gegenüber von Tyson und verschränkte ungläubig die Arme vor der Brust. „Jetzt trag mal nicht so dick auf! So ein Verhalten kann ich mir bei Kai gar nicht vorstellen. Dazu ist er viel zu diszipliniert…“

„Dann muss du deine Fantasie eben spielen lassen! Er war wie ausgewechselt sage ich dir!“, bei dem Gedanken, dass Ray ihm nicht glauben wollte, brodelte es in seinem Magen. Er hatte zu dieser Uhrzeit seelenruhig im Hotelbett seinen Rausch ausgeschlafen, während Tyson sich mit Kai die Haare raufte. Wie konnte er vom Hörensagen den Abend richtig beurteilen?

Max war dagegen der Einzige, der nicht auf dem Boden saß. Stattdessen wippte er neben den beiden auf dem Schreibtischstuhl, mit der Stuhllehne zur Brust, immer wieder vor und zurück, während er sich das Gehörte durch den Kopf gehen ließ.

„Eigentlich könnte ich mir gut vorstellen, dass Kai ausgeflippt ist.“, meinte er irgendwann nachdenklich an Ray gewandt und Tyson freute sich im Innern diebisch über diesen kleinen Erfolg. „Kai war früher nur für sich selbst verantwortlich. Er hatte keine Geschwister, seine Eltern waren nie da, ihm wurden nie Grenzen gesetzt. Auf Voltaire hat er nach der Sache mit Biovolt prinzipiell nicht mehr gehört. Ich hatte früher bei ihm das Gefühl, dass er nach seinen eigenen Regeln lebt. Niemand hat ihn jemals in seine Schranken verwiesen oder ihm etwas abverlangt. Es klingt jetzt fies was ich sage, aber er war doch etwas verwöhnt und egozentrisch. So etwas wie Pflichtbewusstsein ist bei ihm erst mit Janas Geburt gekommen. Theoretisch wissen wir gar nicht wie er unter zu viel Druck reagiert. Seine gesamte Jugend lief nach seinem Willen ab. Das gilt auch für seine Karriere.“

Max hörte auf zu wippen und sah seine Freude aus ernsten Augen an.

„Für jemanden wie ihn, der hundertprozentigen Kontrolle über sein Leben gewohnt ist, muss es unbegreiflich sein, dass er Janas Krankheit so machtlos gegenübersteht. Er ist kein Wunderheiler und Gesundheit kann man sich weder mit Geld noch mit Macht erzwingen. Er steht dem ganzen jetzt total hilflos gegenüber. Das einzugestehen ist bestimmt eine verdammt bittere Pille…“

Einige Sekunden ließen sich alle Maxs Worte durch den Kopf gehen. Dann fügte Ray gedankenverloren hinzu: „Außerdem geht es hier nicht nur um ihn. Kai kann Rückschlage die ihn selbst betreffen verkraften, aber hier muss er Verantwortung für eine andere Person übernehmen. Wenn Kais Mutter sich wirklich aus dem Staub gemacht hat, dann hat Jana nur noch ihn und das weiß er auch.“, er hielt sich grübelnd das Kinn. „Früher hat er sich immer zurückgezogen, wenn er keine Lust auf etwas hatte. Wir konnten ihn nie davon abhalten. Er ist gekommen und gegangen wie ein Wandervogel. Wisst ihr noch wie oft wir ihn suchen mussten, wenn wir ihm auf die Nerven gegangen sind? Das kann er sich bei Jana nicht mehr erlauben. Die Kleine ist mit Leib und Seele auf ihn angewiesen.“

„Warum hat er uns das eigentlich nicht früher gesagt?“, murmelte Max leise vor sich hin. Dieser Teil schien sie alle schwer betroffen zu machen, denn prompt fühlte man, wie sich die Stimmung im Raum verdüsterte. Etwas ratlos fuhr sich Max über den verspannten Nacken. „Ich dachte eigentlich Kai würde uns mittlerweile vertrauen. Immerhin haben wir so viel zusammen durchgemacht. Da hätte er uns ruhig einweihen können.“

„Er hat es seit Janas Geburt verschwiegen.“, sprach Ray ebenso enttäuscht. Betroffene Stille kehrte ein, während Tyson der Schädel zu brummen begann. Seufzend ließ er sich nach hinten fallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

„Und er ist doch ein Problemkind…“, kam das trotzige Flüstern aus seinem Mund.
 


 

*
 

Den kleinen Trolley hinter sich herziehend, ging die schwangere Frau die Straße entlang. Ihre katzengleichen Augen, mit den gelblichen Sprenkeln darin, suchten konzentriert die Häusernummern ab, wanderten von einem zum anderen Haus. Nach ein paar weiteren Schritten blieb sie endlich an ihrem Ziel stehen. Kein Zweifel. Das war der Dojo der Familie Kinomiya. Etwas unschlüssig stand die werdende Mutter vor dem Eingangstor, doch dann öffnete sie zaghaft einen der hölzernen Torflügel zum Grundstück und spähte in das Anwesen hinein. Als sie das idyllische Haus vor sich erblickte, umsäumt von den niedrigen Mauern, den akkurat gestutzten Bonsaibäumchen und dem typisch japanischen Garten, seufzte sie wohlig auf. Alles wirkte so friedlich und harmonisch…

Mariah war vor und nach ihrer Hochzeit öfters hier gewesen und staunte immer wieder über das schöne Anwesen. Trotz seiner Größe wirkte es nicht allzu pompös, sondern besaß diesen Gewissen schlichten Charme, bei dem man sich gleich wie zuhause fühlte. An manchen Sommernächten hatten sie alle draußen auf der Veranda gesessen, beobachteten die Sterne und philosophierten über die alte Zeit. Wenn ihr kalt gewesen war, hatte sie sich an Ray geschmiegt und seine wohlige Wärme genossen und einmal war ihr ein zufriedenes Schnurren entwichen. Ihr war das so peinlich gewesen, dass ihr die Röte in Sekundenschnelle ins Gesicht schoss, doch Ray nahm es mit Humor, hauchte ihr einen Kuss in die Halsbeuge und legte den Arm um sie.

Dieses Haus besaß für Mariah einen ganz speziellen Erinnerungswert. Es war einer jener Orte, an denen sich die White Tigers und die Bladebreakers, nach ihrer Bladerzeit getroffen hatten. Fast wie bei einem Klassentreffen. Obwohl Mariah den Verdacht hegte, dass Lee sich dazu nur aufgerafft hatte, weil Ray einen Vorwand brauchte, um sie wieder ins Land zu locken. Es war eine kleine Verkupplungsaktion gewesen, die vortrefflich funktioniert hatte.

Eine große japanische Ume zog ihren Blick magisch an. Diese Aprikosenbäume wuchsen auch in China. Doch an diesem hier hatten Ray und sie sich das erste Mal geküsst. Es war wieder eines jener Treffen gewesen und beide hatten sich kurz hinausgestohlen, um sich vom Lärmpegel im Wohnzimmer zu erholen und für sich zu sein.

Natürlich kam aber gerade in jenem Moment Tyson als Stimmungskiller vorbei…

Er und Max zogen Gary über die Veranda, wobei jeder von ihnen sich einen seiner massigen Arme über die Schulter geworfen hatte. Mariahs altes Teammitglied fraß sich an diesem Abend so voll, dass sein Gesicht eine ungesunde Färbung erhalten hatte und es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er sich übergeben würde. Doch als Tyson das Pärchen sah, riss er geschockt den Mund auf, ließ Gary los und schrie über den Hof: „Hey Leute! Macht das bei euch zuhause aber nicht bei mir! Wenn Opa das sieht kriege ich Ärger! Der ist altmodisch!“

Mariah hatte laut gelacht, doch Ray war vor Scham rot geworden und hatte gefaucht: „Tyson, verzieh dich! Du machst alles kaputt!“

Nach ein paar Sekunden begann eine heftige Debatte zwischen den beiden, während Max mit dem doppelt so großen und dreimal so schweren Gary alleine klarkommen musste, was damit endete das er vollkommen überfordert um Hilfe rief: „KAI! KOMM RAUS! SCHNELL! DER DICKE MACHT MICH GLEICH PLATT!“
 

Beim Gedanken an diese Zeit hatte Mariah nicht bemerkt, wie sie vollkommen vertieft in den Hof schritt und sich an den Baum stellte. Wehmütig strichen ihre Fingerspitzen über die furchige Rinde. Sie hatte alles zerstört…

Ray war immer zu hundert Prozent bemüht gewesen, es ihr Recht zu machen und nun standen sie kurz vor der Scheidung. Es war allein ihr Fehler. Sie hatte ihn verbittert und vergrault. Mariahs letzte Unterhaltung mit Lee, vor ihrem Flug nach Japan, kam ihr in den Sinn.

„Was machst du nur mit dem armen Kerl?!“, hatte ihr Bruder bestürzt ausgerufen. Schwanger hin oder her, doch in diesem Fall konnte selbst er nicht mehr nachvollziehen, weshalb seine Schwester ihren Mann so quälte. Der offene Vorwurf ließ einen Kloß in ihrem Hals hochkommen. Sie konnte Lee nur aus tränennassen Augen anblinzeln und antworten: „Ich weiß es doch auch nicht!“

Dann war Mariah heulend in sich zusammengesunken, hatte ihren Kopf auf den Küchentisch gelegt und ihn beschämt zwischen ihren Armen vergraben – wie ein kleines Häufchen Elend.

Ihr komplettes Verhalten, stand im vollkommenen Gegensatz, zu dem was sie tat und sagte. Mariah musste mit Ray sprechen. Wenn er in der Stadt war, dann war das hier einer jener Orte die er täglich aufsuchen würde. So gut kannte sie ihn. Mariah wandte ihren Blick vom Baum ab und sah zur Haustür. Sie konnte nur hoffen, dass Ray nicht mehr so wütend war, wie bei ihrem letzten Aufeinandertreffen.
 


 

*
 

„Sag mal, Tyson…“, begann Max nachdenlich, nachdem die jungen Männer längere Zeit über Kai gesprochen hatten. „Warum ist Kenny eigentlich nicht hier?“

Tyson lag rücklings auf dem Boden, kratzte sich gähnend unter seinem Hemd am Bauch. Auch er schien noch ziemlich geschlaucht von der gestrigen Nacht. Kurz darauf schloss er die Augen und ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht.

„Kenny lässt ausrichten, dass er für den Rest der Woche nicht mehr ansprechbar ist. Jedenfalls sagt das sein Anrufbeantworter. Außerdem habe ich heute Morgen bei ihm geklingelt. Das Einzige was ich zu hören bekam war ein - Hau ab, ich kotze gerade.“, mit einem Ruck setzte sich Tyson auf und deutete auf seinen Schreibtisch, wo Kennys zugeklappter Laptop lag. „Eigentlich wollte ich ihm bei der Gelegenheit gleich mal Dizzy vorbeibringen. Die lag gestern Abend noch in meinem Kofferraum. Ich habe total vergessen, dass wir über Kenny ein Laptopverbot verhängt haben. Aber wahrscheinlich liegt er noch im Koma und weiß gar nicht dass sie hier ist. Oder er vergnügt sich mit der Toilettenschüssel… Weichei.“

Plötzlich pochte es wieder an der Tür und alle schraken auf. An Mr. Kinomiya hatte keiner von ihnen mehr gedacht.

„Tyson? Mach auf!“, schallte die Forderung hinter der Zimmertür.

„Keine Chance Opa!“

„Nein. Nicht für Prügel… Vor dem Haus steht Rays Frau. Man hat die eine Wampe bekommen! Ist die schwanger oder einfach nur fett geworden?“

Max und Tyson klappte der Mund auf und beide schielten zu Ray, dem seine Emotionen direkt ins Gesicht geschrieben standen, wie ein offenes Buch. In seinen Augen spiegelte sich eine eigenartige Mischung aus Gefühlen. Zum einen Fassungslosigkeit, dann Neugierde und schließlich noch Wut. Er hatte wohl gehofft, dieses eine Wochenende, seine Ruhe vor der bevorstehenden Scheidung zu haben. Doch nun brachte Mariah seine Probleme mit ins Land. Insgeheim fragten sich alle, was so wichtig sein konnte, dass sie in ihrem hochschwangeren Zustand, den nächsten Flieger nach Japan bestieg. Gerade Ray schien nicht besonders begeistert darüber…

„Ich glaub das nicht…“, murmelte er verbissen, stand von seinem Sitzkissen auf und schritt zur Tür, während Tyson und Max sich vielsagende Blicke zuwarfen. Als Ray die Tür öffnete, stand der alte Mr. Kinomiya mit seinem Gehstock davor und sah ihn fragend an.

„Du hast mir gar nicht erzählt dass deine Schönheit schwanger ist, Jungchen.“

„Tja, Überraschung.“, antwortete Ray lustlos. „Ist sie im Haus?“

„Nein. Ich habe es ihr angeboten, bin ja schließlich kein Unmensch. Aber sie wollte draußen warten.“

„Na wenigstens etwas.“, meinte Ray verächtlich. Dann fügte er höflicher hinzu. „Danke Mr. Kinomiya.“

„Kein Thema. Übrigens, du bekommst noch was von mir.“

Ray wollte sich gerade auf den Weg zur Treppe machen, doch dann drehte er sich mit verständnislosem Blick zum alten Hausherren um. Er konnte sich wohl nicht daran erinnern, dass Tysons Großvater ihm etwas schuldig war. Dessen Enkel jaulte auf, als er diesen Satz vor seiner Zimmertür hörte. Doch noch ehe Tyson aufgesprungen war, hörten sie das surrende Geräusch des Gehstocks, der auf Rays Schädeldecke traf, gefolgt vom Jubelschrei des verrückten Großvaters.

„BAMMM!“
 


 

*
 

Als Ray später mit schmerzender Beule in den Hof trat, saß Mariah mit dem Rücken zu ihm, auf einem Zierstein und streichelte sich gedankenverloren über den runden Babybauch. Das letzte Mal als er seine Frau gesehen hatte, war das Bäuchlein noch nicht so dick gewesen und eine boshafte Stimme in Rays Hinterkopf, wünschte diesem Bastard die hässlichste Nase der Welt. Neben Mariah stand ein kleiner Trolley. Scheinbar hatte sie sich gleich nach ihrer Ankunft auf die Suche nach ihm gemacht. Ray wusste nicht genau was er davon halten sollte. Was wurde jetzt von ihm erwartet?

Sollte er verärgert sein oder gleichgültig bleiben?

Bei Mariah musste Ray immer im Hinterkopf behalten, dass alles was er sagte und tat, an ihren Bruder herangetragen wurde. Lee und er kannten sich seit ihrer frühen Kindheit, daher war es Ray wichtig, nach der Scheidung, immerhin zu ihm noch den Kontakt aufrecht zu halten.

Nichtsdestotrotz blieb aber diese gehässige Stimme in seinem Hinterkopf, die Mariah liebend gerne für ihr launisches Verhalten verspottet hätte. Schließlich wäre Ray in zwei Tagen wieder in China gewesen. Entweder hatte sie nicht gewusst wie lange sein Aufenthalt in Japan dauerte oder neuerdings schmiss sie sein Geld in Strömen aus dem Fenster. Die werdende Mutter machte einen ziemlich geknickten Eindruck und zu Rays Schrecken, weckte das seinen alten Beschützerinstinkt. Der kleine Teil, der noch an dieser Frau hing, wollte doch tatsächlich zu ihr rennen und sie in die Arme schließen. Dabei hatte Mariah ihm förmlich das Herz aus dem Leib gerissen und er zerfloss hier zu einer riesigen Wachslache. Das durfte nicht sein. Momentan musste er sich selbst schützen…

Ein paar Mal atmete Ray tief durch, um einen klaren Gedanken zu fassen. Dann schritt er die kleine Treppe der Veranda herab, auf seine Noch-Ehefrau zu, während der Kies unter seinen Schuhen knirschte. Sofort wurde Mariah auf ihn aufmerksam. Sie drehte sich zu ihm und beobachtete wie ihr Mann näher kam, mit diesen hübschen Augen, in die er sich einmal so blind verliebt hatte. Als Ray einige Schritte vor ihr hielt, sah er auf die junge Mutter herab, die noch auf ihrer provisorischen Sitzgelegenheit saß. Er versuchte so viel Verachtung wie irgendwie möglich in seinen Blick zu legen.

„Was willst du?“

Keine Begrüßung. Kein Smalltalk. Er wollte diese Unterhaltung so schnell wie möglich hinter sich bringen, was Mariah wohl nicht entging. Seiner Meinung nach genügte es, dass er sie bald vor dem Scheidungsrichter sehen musste. Seufzend schloss Mariah die Augen, dann stand sie auf, um mit Ray wenigstens ansatzweise auf einer Augenhöhe zu bleiben.

„Tut mir Leid das ich dich hier so überfalle. Ich musste dich einfach sprechen.“

„Das habe ich auch schon bemerkt.“, antwortete Ray in schneidendem Ton. „Ich verstehe nur nicht, warum das nicht bis zu meiner Rückkehr warten konnte!“

„Ich wusste nicht wie lange du weg bleibst. Du bist ausgezogen. Ans Handy gehst du auch nicht.“

„Und dir ist nicht der Gedanke gekommen, dass ich das so will?“, blaffte Ray sie an.

„Ich wusste mir nicht anders zu helfen…“, erklärte Mariah verzweifelt und bei diesem Gedanken, bekam ihre Stimme eine beklommene Unternote. Ihre Augen blickten traurig zu Boden. „Außerdem hat Lee gesagt, ich sollte mit dir von Angesicht zu Angesicht sprechen. So schnell wie möglich…“

„Hat er das?“, Ray biss sich auf die Unterlippe. Eigentlich hatte er seinem alten Freund gebeten niemanden zusagen dass er im Ausland war. Er wollte einfach nur seine Ruhe haben. Was hatte er aber anderes erwartet? Lee war Mariahs Bruder und Blut bekanntlich dicker als Wasser.

„Was willst du?“, kam die Frage schließlich erneut.

„Könnten wir das irgendwo anders besprechen?“, fragte Mariah und Ray beobachtete wie sie zu einem der Fenster im ersten Stock spähte. Wahrscheinlich konnte Tyson sich nicht zusammenreißen und lauschte vom Zimmerfenster aus, während Max ihn immer wieder zurückzog. „Vielleicht ein kleiner Spaziergang? Bis zum Fluss und wieder zurück?“

„Auch das noch…“, seufzte Ray und schloss die Augen. Doch schließlich nickte er mit dem Kopf in Richtung Ausgang.
 


 

*
 

In Mr. Kinomiya hatte sich eine riesige Portion Genugtuung ausgebreitet, als er Ray auf etwas handgreifliche Art die Leviten gelesen hatte. Nichts brachte Männer besser zur Besinnung, als ein ordentlicher Hieb auf die Schädeldecke. Er war keinesfalls sadistisch veranlagt, doch zu seiner Zeit wurden junge Burschen noch ordentlich für blöde Streiche gezüchtigt und was diese Rabauken ausgefressen hatten, war Dummheit im höchsten Maße. Vor allem von Ray hätte er eine solche Gedankenlosigkeit nicht erwartet. Der junge Mann war für gewöhnlich die Vernunft in Person. Deswegen hatte es Mr. Kinomiya tierisch in den Fingern gejuckt, diesen Kerl in die Finger zu bekommen. Schließlich sollte das kein Dauerzustand werden. Bei Max und Tyson wunderte ihn dieses Verhalten weniger. Max war schon immer äußerst verspielt und sein Enkel…

Bei Tyson war Hopfen und Malz schon lange verloren. Der Junge kam als Chaot auf die Welt und würde auch als Chaot abtreten. Leider lag das in der Familie, denn was Mr. Kinomiya hütete seinem Enkel zu erzählen, war, dass er in seinem Alter auch nicht viel mehr in der Birne besaß.

Kurz nachdem Ray mit seiner Frau das Anwesen verlassen hatte, fiel Mr. Kinomiya dafür ein, dass er noch seine Tabletten nehmen musste und so stapfte er schwer atmend wieder die Treppen zu den Schlafräumen im oberen Stockwerk hinauf. Oben angekommen musste er sich erstmal an der Brüstung abstützen und ein paar Mal tief durchschnaufen.

„Du bist nicht mehr der Jüngste, alter Knabe.“, erinnerte er sich wehmütig und stieg vorsichtig über eine der Plastikfolien, die durch den Umbau im Obergeschoss überall verteilt lagen. Das ganze Haus war eine einzige Baustelle, seit er beschlossen hatte anzubauen. Da Tyson mittlerweile auf die dreiundzwanzig zu ging und der Einzige war der sich um ihn und den Familiendojo scherte, hatte Mr. Kinomiya beschlossen, seinem chaotischen aber trotzdem loyalem Lieblingsenkel, ein kleines Geschenk zu machen, indem er das oberste Stockwerk zu einer Vier-Zimmer Wohnung umbaute. Ein junger Mann in Tysons Alter, brauchte einen Ort an dem er sich ungestört zurückziehen konnte. Auch wenn Mr. Kinomiya seinem Enkel öfters mal gerne die Ohren lang zog, hatte er dennoch nicht vergessen, wer ihm nach seinem Schlaganfall beistand. Um den restlichen Familienmitgliedern eins auszuwischen, verschwanden dafür im Erdgeschoss die Zimmer von Tysons Vater, das seit Jahren leer vor sich hinvegetierte und Hitoshis, der sich als genauso treulos wie sein Erzeuger entpuppt hatte.

Davon ahnten beide natürlich nicht einmal im Entferntesten etwas. Als zusätzliches Sahnehäufchen hatte Mr. Kinomiya vor kurzem sein Testament ein wenig abgeändert. Im Falle seines Todes würde sein gesamtes Vermögen an Tyson gehen. Das war seine Art Streiche zu spielen!

„Ich möchte, dass alle außer dem Chaoten, richtig lange Gesichter ziehen, wenn ich einmal sterbe!“, hatte er bei seinem langjährigen Anwalt und alten Freund gescherzt und beide begannen lauthals zu grölen, während er sich schadenfroh auf die Schenkel klopfte. Bei diesem Gedanken musste Mr. Kinomiya grinsen und öffnete die Tür zu seinem Schlafzimmer. Doch als der alte Mann eintrat und aus seinem Nachtschränkchen die Tabletten holen wollte, stand das Fenster an der gegenüberliegenden Wand sperrangelweit offen. Eine kühle Brise wehte hinein.

Die Vorhänge glitten vor und zurück. Vor und wieder zurück…
 

Und umspielten die hochgewachsene Gestalt eines wildfremden Mannes, der ihm den Rücken zugewandt, vor dem Fenster stand. Mr. Kinomiya verschlug es die Sprache. Der Fremde schien seelenruhig auf den Teich im Garten hinabzuschauen. Er tat es zu gelassen, um ein Einbrecher zu sein. Die bemühten sich immerhin, nicht erwischt zu werden. Dieser Schnösel schien aber allein wegen der hübschen Aussicht gekommen zu sein. Mit den Händen in den Hosentaschen, schaute er aus dem Fenster, als gehörte dieses Zimmer ihm. Es gab nicht viel was den alten Herren dieses Dojos Angst bereitete, doch ein innerer Instinkt witterte Unheil. Reflexartig verlagerte er seinen Gehstock in den Händen, hielt ihn empor, als wäre er sein altes Shinai, konnte aber nicht verhindern, dass sich seine Nackenhaare vor Anspannung aufrichteten und seine altersschwachen Hände zitterten.

Ein Luftzug wehte durch den Raum und ließ die Zimmertür hinter Mr. Kinomiya zufallen.

Nicht laut und polternd, sondern leicht und klanglos – wie von Geisterhand.
 


 

*
 

Ein Schwarm Enten drehte eine Runden auf der sanften Strömung des Kanda Flusses. Die bunten Köpfte tauchten in die Fluten ein, um sie kurz darauf schüttelnd herauszuziehen und weiter mit den Füßen zu paddeln. Manchmal zappelte dann auch ein kleiner Fisch in einem der Schnäbel.

Von ihrem Standort aus, der kleinen Brücke über dem Fluss Kanda, an dessen Ufer Tyson als Junge seine ersten Beyblade Kämpfe ausgetragen hatte, sahen Ray und Mariah auf die dunklen Wassermassen unter ihnen herab, die bedauerlicherweise mehr Abfall als Wasser zu fördern schien. Tokio war leider in den letzten Jahren nicht sauberer geworden. Es hatte sich eher verschlimmert. In ihrer Jugend war dieser Platz wirklich ein schöner Fleck gewesen, um sich zu entspannen oder zu trainieren, heute konnte Ray nur bedauernd schnalzen, wenn er die ganzen Plastikbecher vorbeitreiben sah. In der halben Stunde die sie gebraucht hatten, um gemächlich hier her zu spazieren, erklärte Mariah ihm, wie sie sich in den letzten Monaten ihrer Ehe fühlte.

Und das gab Ray zu denken…

„Du lässt mir keine Entscheidungsfreiheit. Das macht mich wahnsinnig!“, es waren wirklich harte Worte, die ihn doch beschäftigten. Ray war unschlüssig ob das nicht ein letzter Versuch war, die Schuld am scheitern der Ehe, auf ihn abzuwälzen oder ob Mariah tatsächlich so fühlte.

„Ray ich will ehrlich sein…“, begann sie mittlerweile erneut. Mariah wandte sich von der Brüstung ab und drehte sich zu ihm. „Ich liebe dich. Ich liebe dich immer noch und das hat sich niemals geändert! Du bist ein wundervoller Ehemann und du hast immer nur das Beste für mich im Sinn gehabt. Aber seit meiner Schwangerschaft, hast du permanent über meinen Kopf hinweg Entscheidungen gefällt, ohne mich auch nur nach meiner Meinung zu fragen!“

Mariah schaute ihn mit flehenden Blick an, während Ray ihr die Zeit ließ, zu Ende zu sprechen. Etwas was in dieser Weise schon lange nicht mehr vorgekommen war. Die letzten Unterhaltungen zwischen ihnen, hatten so schnell an Aggressivität gewonnen, dass es keine Aussicht auf eine Versöhnung gab. Dazu waren beide zu stur geblieben. Jetzt sprach Mariah aber das erste Mal ruhiger mit ihm, legte das hysterische Biest, für das er sie die letzten Monate hielt, endlich wieder ab.

„Ich bin überhaupt nicht glücklich darüber, wie es momentan zwischen uns läuft. Ich bin nicht glücklich, wie diese Ehe uns verändert. Ich habe das Gefühl, dass da eine Frau zutage gefördert wird, die ich gar nicht sein will! Und das ich mich ständig wehren muss…“

„Wogegen musst du dich denn schon wehren?“, schnaubte Ray.

„Gegen dich! Gegen die Entscheidungen die du ohne meine Meinung triffst!“

„Das ist doch gar nicht wahr!“

„Ach ja? Und warum war es für dich schon beschlossene Sache, dass wir nach Japan ziehen? Du hattest doch sogar schon einen Makler beauftragt, um uns eine Wohnung in Tokyo zu suchen!“

Ray dachte nach. Er hätte Mariah gerne gesagt, dass sehr wohl die Rede davon gewesen war, doch so ganz sicher war er sich dabei nicht. Die letzten Monate waren durch seinen Beruf etwas stressig geworden, vieles hatte er von seinem Arbeitsplatz aus geregelt. Da fuhr seine Frau auch schon fort.

„Während unserer Zeit bei den White Tigers, warst du es gewohnt immer unser Anführer zu sein. Wir haben alle getan was du wolltest, weil wir wussten dass wir dir Vertrauen können. Aber jetzt bin ich nicht nur ein Teammitglied Ray. Ich bin deine Frau! Du kannst mich nicht einfach so übergehen! Vor allem nicht bei so einem einschneidenden Schnitt in meinem Leben!“

Mariah atmete seufzend aus und ein bitteres Lächeln spielte um ihre Mundwinkel.

„Ich kann verstehen warum du Japan unserer Heimat vorziehst. Hier hast du die schönste Zeit deines Lebens verbracht. Und deine Freunde… Jeder von ihnen ist toll! Ihr seid wie eine Familie. Aber du musst mich auch verstehen! Ich kenne nichts anderes außer unserem Dorf. Ich kenne nur Lee, Gary und Kevin. Es ist eine kleine Welt, im Gegensatz zu dem was du alles erlebt hast, aber sie reicht mir.“

Mariah strich über ihren Babybauch. Verzog dabei das Gesicht. Offenbar spürte das Kind die Unruhe der Mutter und trat ihr Beulen in den Bauch. Ungeachtet dessen sprach Mariah; „Und jetzt willst du mich, mit dieser riesigen Wampe nach Japan bringen! Meine Hormone spielen verrückt, an einem Tag bin ich glücklich, am anderen möchte ich nur noch heulen. Und du hast nichts Besseres zu tun, als mich aus meiner gewohnten Umgebung zu reißen. Ich fühle mich wie eine Wildkatze, die man aus ihren heimischen Wäldern, aufs offene Meer verschleppt!“

Bis hier her hatte Ray ihr schweigend zugehört, doch nun verspürte er den Drang sich zu verteidigen.

„Das gibt dir nicht das Recht zu behaupten, dass das Kind nicht von mir ist!“

„Ich weiß Ray! Es tut mir auch Leid! Ich habe keine Ahnung was mich an diesem Tag geritten hat!“, in den Augen seiner Frau lag ein wässriger Glanz. Eigentlich konnte man sie nicht so leicht aus der Fassung bringen, doch er schob es auf die sagenumwobenen Hormonschwankungen werdender Mütter. Trotzdem konnte Ray darauf keine Rücksicht nehmen. Zu viele Fragen lagen jetzt offen. Mit einem Schnauben sah er wieder zurück in die Fluten, seine bebenden Fäuste umfassten die Brüstung so fest, dass seine Knöchel sich abzeichneten. Ray schüttelte fassungslos den Kopf.

„Es tut dir Leid? Es tut dir Leid?! Verdammt Mariah, ich habe keine Ahnung ob ich dir noch glauben kann! Erst sagst du das Kind ist nicht von mir…“

„Wir haben gestritten! Ich war wütend! Ich wollte dir einfach etwas Verletzendes an den Kopf werfen!“, fuhr sie dazwischen. Doch Ray sprach ungeachtet ihrer Einwände weiter.

„Jetzt stehst du hier und sagst, es lag alles an den Hormonen?! Das du nie untreu gewesen bist und du mir nur eins auswischen wolltest, weil ich nach Japan zurück will? Hormone hin oder her, so etwas kannst du nicht in den Raum werfen, ohne mit Konsequenzen zu rechnen! Ich habe vor meiner Abreise die Scheidungspapiere eingereicht! Bist du dir darüber im Klaren?“

Mariah schluckte und schüttelte geknickt den neben ihm den Kopf. Das Schreiben vom Anwalt war der Grund, weshalb Lee ihr geraten hatte, auf dem schnellsten Weg mit Ray zu sprechen, selbst wenn das bedeutete spät in der Nacht einen Last-Minute Flug nach Japan zu buchen. Verzweifelt kämpfte Mariah gegen die Tränen an, doch die Erste bahnte sich bereits ihren Weg über ihr Gesicht. Früher hätte Ray sie tröstend in die Arme geschlossen. Ihr über den Rücken gestreichelt. Ihr versichert dass er für sie da war. Jetzt konnte er nur Gleichgültig auf ihr Elend herabschauen. Ray war nur noch verbittert, misstrauisch und tief gekränkt. Er hatte die letzten Monate das Geschwätz und den Spott unzähliger Nachbarn erdulden müssen – genau wie Mariah die Verachtung in deren Blicken. Hilflos wischte sie sich mit der Handfläche die Träne weg und atmete tief durch. Dann fragte sie in bemüht ruhigem Ton: „Sag mir was ich tun soll?“

Ray blinzelte sie verwirrt an.

„Was meinst…“

„Ich will nicht dass es so endet! Also was muss ich tun damit du mir glaubst?“

Mit gefalteten Händen und einem flehenden Ton trat sie zu ihm heran, bis nur noch ein halber Meter zwischen ihnen lag. Mit offenem Mund starrte Ray auf seine Frau herab, wusste nicht so recht was er sagen sollte. Was könnte er schon für einen Beweis fordern…

„Ray bitte, ich tue alles! Sag mir was ich machen muss, damit alles wieder so wird wie früher!“ Mariah dachte kurz nach. Dann kam ihr ein Einfall. „Wir könnten einen Vaterschaftstest machen!“

Resignierend schüttelte er den Kopf und seufzte.

„Das beweist vielleicht dass das Kind von mir ist, aber nicht das es keinen anderen Mann gab. Du hättest als Hausfrau genug Zeit gehabt, um nebenbei mit einem anderen in die Kiste zu springen, während ich gearbeitet habe. Es könnte auch pures Glück sein, dass ich und nicht eine deiner Bettgeschichten dich geschwängert hat…“

Er bemerkte zu spät wie hart diese Unterstellung klang.

„Oh Gott Ray! Das glaubst du doch nicht wirklich?!“, rief Mariah aus und vorbei war es mit ihrer Selbstbeherrschung. Am Boden zerstört trat sie ein paar Schritte zurück, ein verzweifeltes Schluchzen entrang sich ihrer Kehle und schließlich verbarg sie ihr Gesicht in den Händen. Haltlos rutschte sie mit dem Rücken an der Brüstung hinab und verweilte schließlich in einer hockenden Haltung.

„Hey sie! Was machen sie mit der Frau?!“, ein Jogger hielt auf der anderen Seite der Brücke und musterte Ray argwöhnisch, der nicht umhin konnte sich wie der größte Arsch auf Erden zu fühlen. Beschwichtigend hob er die Hände und rief: „Das ist meine Frau. Keine Sorge…“

„Keine Sorge, ja klar! Von was träumst du nachts?! Sieht mir nach häuslicher Gewalt aus!“

Ray sah den angriffslustigen Don Juan vor ihm, mit einem genervten Blick an und rollte mit den Augen. Erst dann beugte er sich zu Mariah hinab und legte seine Hand auf ihre Schulter. Kurz zuvor hatte ihr gesamter Körper noch von Heulkrämpfen gebebt, doch nun verstummte sie prompt. Ein letzter Schluchzer entwich ihr und mit tränennassen Wangen blickte sie auf. Der tieftraurige Ausdruck in ihren Augen berührte Ray und er musste dem Impuls widerstehen, sie nicht doch noch in die Arme zu schließen. Stattdessen strich er ihr etwas ratlos über die Schulter und sprach in tröstendem Ton: „Tut mir Leid, Mariah. Aber kannst du dir nicht vorstellen weshalb ich mir solche Gedanken mache?“ Er setzte sich neben sie, Seite an Seite. „In den letzten Monaten ist soviel zwischen uns vorgefallen. Und seitdem du behauptest hast, das Kind sei nicht von mir… Das Vertrauen das ich früher zu dir hatte ist einfach nicht mehr da.“, zum ersten Mal seit langem getraute sich Ray offen über das zu sprechen, was ihn die letzten Wochen so beschäftigt hatte. „Seit deiner Behauptung mache ich mir so viele Gedanken. Wer könnte der Vater sein? Wann ist es passiert? Wie oft? Mit wie vielen Männern? In meinem Kopf haben sich bereits so viele Szenarien abgespielt und eine ist schlimmer als die andere. Im Moment kann ich dir nicht mehr vertrauen, selbst wenn ich wollte.“

Ratlos schaute Mariah vor sich her und obwohl Ray ihr solch harte Worte entgegen geschmettert hatte, lehnte sie ihren Kopf schutzbedürftig gegen seine Schulter.

„Was ist los mit uns?“, fragte sie schließlich. „Wir waren früher so anders zueinander. Wir haben uns nie angelogen, es kamen nie falsche Anschuldigungen über unsere Lippen. Wir kannten uns gegenseitig in und auswendig. Aber seit das Baby auf dem Weg ist, stehen wir uns gegenüber wie zwei Fremde. Wie konnten wir uns so verändern?“

Ray schüttelte gedankenverloren den Kopf.

„Ich weiß es nicht, Mao.“

„So hast du mich schon lange nicht mehr genannt…“, es kam wie ein Flüstern und als Ray zu Mariah blickte, lag ein wehmütiges Lächeln auf ihren Lippen. Sie sah ihn aus diesen hübschen, traurigen Augen an. Ihre Hand wanderte zu seiner, streichelte leicht über seine Haut und für kurze Zeit fühlten sich beide zum Anfang ihrer Ehe versetzt – als alles noch gut war.

„Ja wie jetzt?! Ist das wirklich ihr Mann?“

Die intime Situation wurde so schnell zerstört, wie Tysons Großvater einem mit dem Gehstock eine überziehen konnte.

„Verzieh dich du Idiot!“, fauchte Ray den verdutzten Jogger an, der ihm nur empört den Mittelfinger zeigte und sich wieder in Bewegung setzte. Inzwischen stand Ray vom Boden auf und reichte seiner schwangeren Frau die Hand um ihr aufzuhelfen. Während Mariah die Geste dankend annahm, sprach er: „Ich brauche etwas Zeit um mir unser Gespräch durch den Kopf gehen zu lassen. Weißt du wo du unterkommst?“

Seine Frau nickte und klopfte sich den Straßenstaub vom Hosenboden.

„Lee hat für mich gesorgt. Er hat mir ein Hotelzimmer gebucht.“

„Im Peninsula Tokyo?“

„Nein. Warum fragst du?“, Mariah blinzelte ihn mit ehrlicher Unschuld an und Ray zuckte nur abweisend mit den Schultern. Er wollte erst einmal Abstand von ihr halten und da wäre es ihm nicht gelegen gekommen, wenn sie dasselbe Hotel bewohnte. Allein Mariahs Anwesenheit ließ ihn etwas weicher werden, obwohl Ray eigentlich in sich gehen wollte, um sachlich zu beurteilen, ob sie ihm mit dieser Geschichte nur einen Bären aufband.

„Es soll nur ziemlich gut sein. Wenn du willst frage ich Tyson ob er dich zu deiner Unterkunft fährt. Mach dich aber darauf gefasst, dass er wie der letzte Henker durch die Straßen donnert. Er hat einen scheiß Fahrstil…“

Mariah lächelte ihn an und Ray spürte ein angenehmes Kribbeln in der Magengegend, ließ sich aber nichts anmerken, selbst als sie in sanftem Ton ein „Danke“ erwiderte.
 


 

*
 

„Die hat doch echt Nerven hier aufzutauchen.“, Max stand vor dem Fenster und spähte argwöhnisch auf das große Grundstückstor des Kinomiya Anwesen, hinter dem Ray mit seiner Frau vor einer Stunde verschwunden war. „Würde mich nicht wundern wenn die beiden sich in irgendeiner Gasse in den Haaren liegen.“

Bei diesem Gedanken breitete sich ein mulmiges Gefühl in dessen Magengrube aus. Ray schien in letzter Zeit nicht er selbst zu sein. Er verhielt sich unvernünftig, fraß seinen ganzen Frust in sich hinein. Max wusste dass es unfair war seinem Freund so etwas zuzutrauen, doch er konnte sich vorstellen, dass Ray irgendwann wie eine Zeitbombe explodierte. Hoffentlich war Mariah dann nicht in der Nähe. Während er seinen Gedanken nachhing, saß Tyson an seinem Schreibtisch und klickte sich auf Kennys Laptop durchs Internet. Sein Großvater lehnte solchen neumodischen Schnickschnack kategorisch ab. Er war der Meinung, dass man auf anderen Wegen miteinander kommunizieren sollte, vorzugsweise von Angesicht zu Angesicht und dass das Internet zur Volksverdummung führte.

Da kam es Tyson ganz gelegen, dass Kenny seine Dizzy hier vergessen hatte, so konnte er wenigstens ein paar Informationen über Janas Krankheit herausfinden, während Ray draußen mit seiner baldigen Ex herumtigerte.

„Sag mal hörst du mir überhaupt zu?“

Verdutzt blickte Tyson auf. Er war so vertieft in einen traurigen Bericht einer Mutter, deren Kind durch einen Trisomie verursachten Herzfehler gestorben war, dass ihm entging wie Max mit ihm sprach.

„Was hast du gesagt?“

„Das heißt wohl nein.“

„Tut mir Leid, aber ich ziehe mir gerade ein paar Informationen, über das Down-Syndrom, aus dem Internet heraus.“

Während er sprach, notierte er sich einige Buchtitel, um sich bei Gelegenheit das Werk zu kaufen. Wenn er Kai helfen wollte, musste er sich informieren und was konnte hilfreicher sein, als Erfahrungsberichte von anderen Familien zu sammeln.

„Wow! Du kniest dich ja richtig hinein.“, hellhörig geworden stellte Max sich neben ihn. „Ich habe nur gesagt, dass Ray und Mariah gerade wieder durchs Tor kommen. Was sagt das Internet eigentlich über diese Krankheit?“

„Sie ist nicht heilbar. Eigentlich auch keine Krankheit sondern eher eine Behinderung.“, sprach Tyson etwas betroffen. „Außerdem kommt es häufig zu Herzfehlern, einem schwachen Immunsystem und dadurch zu Infekten. Irgendwo habe ich sogar gelesen, dass manchmal epileptische Anfälle auftreten. Menschen mit dieser Krankheit, hatten in den Zwanzigern nur eine Lebenserwartung, von circa zehn Jahren. Übel nicht wahr?“

Max zog scharf die Luft ein. Er konnte nur erahnen wie Kai es verkraften würde, sollte seine Schwester so früh sterben. Von dieser Krankheit gehört hatte Max schon öfters, aber nur im Zusammenhang mit geschmacklosen Witzen, da Kinder mit Down-Syndrom auch gerne als zurückgebliebene Mongos bezeichnet wurden. Wirklich traurig wie eine moderne Gesellschaft von solchen Leuten dachte. Als Tyson weitererzählte, sein in kurzer Zeit zusammengetragenes Wissen preisgab, konnte er sich ein Lächeln jedoch nicht verkneifen. Max kannte niemanden, der sich für seine Freunde so ins Zeug legte. Wenn es darum ging, seiner Adoptivfamilie beizustehen, war Tyson Feuer und Flamme, drehte zu ungeahnter Höchstleistung auf. Eine Eigenschaft die Max insgeheim sehr an dem jungen Japaner bewunderte.

„Vom Verhalten her sind diese Menschen sehr liebevoll, hilfsbereit und kontaktfreudig“, las Tyson vor. „Wenn ihnen etwas nicht passt, kann ihre Laune aber manchmal in den Keller rutschen.“

„Ist doch nur menschlich. Mit oder ohne Krankheit.“

„Das schon. Aber manche bekommen regelrechte Wutausbrüche.“

„Du manchmal auch.“, witzelte Max.

„Echt komisch, Alter.“, verdrehte Tyson vor ihm die Augen. Doch er nahm es ihm nicht übel, ging stattdessen lieber auf Thema weiter ein. „Wusstest du dass Menschen mit dieser Krankheit, während dem zweiten Weltkrieg von den Nazis, als Ballastexistenzen zählten? Echt abartig, oder?
 

Plötzlich durchbrach ein lauter Schrei die Stille im Haus. Er ging Max und Tyson durch Mark und Bein. Verwirrt blickten sich beide an, dann hörten sie eilige Schritte auf dem Flur. Wenige Minuten später stieß Ray die Tür auf.

„Tyson, komm schnell! In seinem Zimmer… Mit deinem Großvater stimmt etwas nicht!“

Es verstrichen einige Sekunden. Tyson brauchte seine Zeit um zu begreifen, was sein Freund ihm da gerade sagte. Doch dann wich jegliche Farbe aus seinem Gesicht. Tyson sprang vom Stuhl auf, als hätte er in glühende Kohlen gesessen. In wenigen Sekunden war er an Ray vorbei gerauscht und nahm sich nicht einmal die Zeit, sich darüber zu wundern, weshalb die vollkommen aufgelöste Mariah in seinem Flur stand. Seine Freunde kamen dicht hinter ihm nach. Die Tür zu Mr. Kinomiyas Schlafzimmer stand sperrangelweit offen und kurz vor dem Bett, lag Tysons Großvater auf dem Boden, mit leichenblassem Gesicht und weit geöffneten, blutunterlaufenen Augen. Seine Finger lagen verkrampft um seinen Hals. Es schaute aus, als würge er sich selbst und sein linkes Bein zuckte in unregelmäßigen Abständen.

„Was machen wir jetzt? Wir müssen ihm helfen!“, rief Mariah panisch aus.

„Ich rufe einen Krankenwagen!“, hörte Tyson neben sich Max sagen, doch die Worte drangen nicht wirklich zu ihm durch. Er eilte zu seinem Großvater, fiel neben ihm auf die Knie und versuchte mit ganzer Kraft dessen steife Hände vom Hals zu lösen. Doch der Griff saß fest wie ein Schraubstock. Irgendwann kam ihm ein zweites Paar Hände zu Hilfe. Gemeinsam mit Ray löste er den unnachgiebigen Griff, doch nun begann Mr. Kinomiya nach Luft zu schnappen, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Sein Gesicht wirkte blutleer und die Lippen liefen blau an, als wäre er am ersticken. Er bekam keine Luft.

„Vielleicht hat er etwas verschluckt!“, rief Mariah aufgebracht, doch ihre Panik schien auf Ray überzugreifen und er befahl nur: „Mao! Geh nach draußen!“

„Ich will doch nur helfen!“

„RAUS!“

Mariah begann überfordert zu wimmern. Um Tyson herum spielte sich die Welt jedoch nur noch in Zeitlupe ab. Die wütende Keiferei des Ehepaars schallte dumpf, von einem Ohr ins andere hinaus und er konnte nur in das Gesicht seines Großvaters blicken, das ihn in all den Jahren begleitet hatte. Mit all jenen Verrücktheiten, Weisheiten und der Gutmütigkeit die er kannte. In ihm keimte dieselbe Panik auf wie damals, als sein Großvater seinen Schlaganfall hatte. Nur passten dieses Mal die Symptome nicht. Tyson bemerkte damals, dass etwas nicht stimmte, weil sein Großvater nicht in der Lage war geradeaus zu laufen, sich ständig über Schwindelgefühle beklagte. Zudem wirkte er ziemlich zerstreut. Als seine linke Gesichtshälfte schließlich gelähmt war und sein Großvater keinen gescheiten Satz mehr zustande brachte, hatte Tyson ihn schon längst in den Wagen verfrachtet und war mit hundertachtzig Sachen über jede rote Ampel gerast, die seinen Weg zur Notaufnahme kreuzte. Das hier lief aber jetzt anders ab. Es gab keinerlei Anzeichen für einen weiteren Anfall. Sein Großvater war heute Morgen bester Gesundheit gewesen.

„Opa bitte!“ Tyson faltete verzweifelt die Hände vor dem Gesicht und ihm traten verzweifelte Tränen in die Augen. „Nur ein paar Minuten! Nur ein paar Minuten dann ist der Krankenwagen da!“

Er lockerte mit zitternden Fingern den obersten Hemdknopf und strich dem alten Mann über den Hals, an dem sich rote Striemen von dessen eigenen Händen abzeichneten. Sein Großvater gab pfeifende Atemgeräusche von sich und er zuckte am ganzen Leib. Als Tyson nach dem Puls suchte, rutschte ihm das Herz in die Hose. Er war kaum zu spüren. Das durfte einfach nicht wahr sein. Dieser Mann war sein Großvater, seine Familie und zugleich sein gutes Gewissen. Niemand hatte ihm mehr das Gefühl von einem zuhause geben können als er. Wenn sein Großvater jetzt starb…

Dieser Gedanke war zu schrecklich um ihn zu Ende zu denken. Auch wenn er seit Monaten nichts mehr von ihnen gehört hatte, Tyson hätte einiges dafür gegeben, wenn sein Vater oder Bruder hier wäre. Er fühlte sich im Stich gelassen. Plötzlich schnellte eine Hand nach vorne, packte ihn am Kragen und Tyson blickte in die weit aufgerissenen Augen seines Großvaters, der ihn dicht zu sich hinab zog.

Woher der alte Mann noch diese Kraft dafür nahm war ihm schleierhaft. Seine dunkel angelaufen Lippen öffneten sich und zwischen Dutzenden von schweren Atemzügen presste er ein Wort hervor.

„Dra…“, ein Japsen. „Dragoon!“

„Was ist mit ihm?“, Tyson sah seinen Großvater verständnislos an, der ihn mit einem warnenden Blick anstarrte. Sein Gesicht wurde blasser und blasser. Fahler und Fahler. Seine Stimme war nur noch ein Krächzen.

„Dragoon!“

„Was willst du mir sagen?!“

Doch dann verdrehte Mr. Kinomiya die Augen, bis alle nur noch das Weiß seiner Augäpfel sahen. Sein Körper erschlaffte und der Kopf drehte sich kraftlos zur Seite.

„Scheiße! Er ist bewusstlos!“, rief Ray aus. Mit angespanntem Gesicht fühlte er den Puls, dann ob noch Atemzüge kamen. Anschließend öffnete er das Hemd des alten Mannes und positionierte seine Hände in der Mitte des freigelegten Brustkorbs. „Okay Tyson, ich sehe dir an das du nervlich am Ende bist, aber du musst mir jetzt wirklich helfen! Du hast doch sicherlich mal eine Herzdruckmassage gelernt, oder?“

„Herz… druck?“

„Eine Wiederbelebung! Das lernt man immer vor seinem Führerschein!“

Tyson nickte heftig und Ray sah ihn eindringlich an.

„Dann übernehme ich die Massage und du beatmest ihn anschließend! Komm schon, der Krankenwagen müsste jeden Moment hier sein! Also reiß dich zusammen und behalt einen kühlen Kopf!“
 

Fünf Minuten später war der Krankenwagen auch schon da, doch für Tyson waren es die längsten Minuten seines Lebens. Als der Notarzt mit den Sanitätern eintraf, wurden Ray und er von ihrer Pflicht entbunden und aus dem Raum geordert, wo sie gemeinsam mit Max und Mariah warteten. Bald hörten sie wie ein Defibrillator zum Einsatz kam, gefolgt von einem Aufatmen, als man wieder Herzschläge spürte. Es verging eine gewisse Zeit, bis Mr. Kinomiya bereit für den Transport war, doch dann wurde er eilig auf einer Trage, die Treppe heruntergeschleppt und anschließend in den Rettungswagen, den Max draußen durchs Tor ins Grundstück gelotst hatte, weggebracht. Tyson wollte eigentlich mitfahren, doch es war kein Platz mehr im Wagen und Max hielt ihn davon ab bei seinem aufgescheuchten Zustand, mit dem eigenen Auto zufahren. Wenn Tyson es eilig hatte, übersah er gerne mal einige Verkehrsschilder und fuhr ziemlich rücksichtslos.

„Am Ende knallst du gegen eine Straßenlaterne. Dann ist das Chaos perfekt!“, hatte Max ihn ermahnt. Als ob das nicht genug war, galten Rays und Maxs Führerscheine nur für ihre Heimatländer. So blieb Tyson nichts anderes übrig, als mit einem schlechten Gewissen, dem davonfahrenden Fahrzeug hinterher zu schauen, während sich um ihn herum die schaulustige Nachbarschaft versammelte, die vom roten Warnlicht des Krankenwagens aus ihren Häusern gelockt wurde.

Einige ehemalige Schüler seines Großvaters waren darunter und jeder wollte mit sorgenvollem Gesicht wissen, was mit ihrem alten Lehrmeister passiert war. Der gutgelaunte Opa war bei jedem für seine Strenge bekannt, aber trotzdem hoch geachtet und beliebt in ihrer Gegend. So verging eine ganze Stunde, bis alle wieder den Weg in ihre Häuser fanden. Als Tyson sich mit seinen Freunden in das Kinomiya Anwesen begab, führten ihn seine Schritte in die Küche, wo er sich erschöpft auf einem Stuhl niederließ. Seine Freunde redeten leise miteinander. Auch bei ihnen saß der Schock noch tief in den Gliedern. Tyson stützte teilnahmslos seinen Kopf mit den Händen ab und rieb sich müde über die Augen. Er hätte sich gerne aufs Ohr gehauen, doch es war noch früh am Nachmittag und wenn es sich einrichten ließ, wollte er seinen Großvater gleich noch ins Krankenhaus folgen. Jedenfalls wenn seine Knie endlich aufhörten zu zittern. Er blickte auf seine Finger. Auch die bebten.

„Tyson?“, eine Hand berührte seine Schulter, riss ihn aus seiner Starre. Als er aufblickte, wurde er von Max mitleidig bedacht. „Lass den Kopf nicht hängen, okay? Es ist noch nichts entschieden!“

„Dein Großvater ist der zäheste Mann den ich kenne.“, sprach auch Ray, der gegenüber von ihm am Tisch platz nahm. Durch die Herzdruckmassage die er ausgeführt hatte, war er wohl etwas ins Schwitzen gekommen, denn an seiner Stirn klebten einige Strähnen. Ray knöpfte sich einen Knopf an seinem Kragen auf, offenbar weil ihm noch warm war, lehnte sich erschöpft zurück. Im Fernsehen sah eine Wiederbelebung immer so einfach aus, doch bereits nach fünf Minuten bemerkte man, wie viel Kraft es in Ansprach nahm. Neben Ray blickte Mariah aus traurigen Augen drein, strich sich über den runden Babybauch. Ihr Gesicht war aschfahl. In einer anderen Situation hätte Tyson sich über ihre Anwesenheit geärgert, schließlich war die Ex eines Freundes der Todfeind. Doch wie sie so da saß und ihn aus mitfühlenden Augen anschaute, vergaß er dieses ungeschriebene Gesetz. Ihre Betroffenheit wirkte nämlich ehrlich.

„Hast du vielleicht Hunger?“, fragte sie vorsichtig. „Ich könnte etwas kochen. Danach geht es dir bestimmt besser.“

Tyson schüttelte verneinend den Kopf und war dankbar das kein Witz à la „Was? Kinomiya will nichts essen?! Dann muss es ernst sein!“, kam. Er war im Moment nicht zu Späßen aufgelegt.

„Wie wäre es mit Tee?“, bohrte Ray weiter nach. „Mariah macht wirklich einen köstlichen. Du denkst vielleicht, da kann man nicht viel falsch machen, aber du musst ihren einmal probiert haben! Danach bist du die Ruhe selbst und wir können losfahren!“

Eigentlich wollte Tyson nur seine Ruhe, aber damit Ray endlich aufhörte nachzuhaken nickte er zustimmend. Dabei fiel ihm der strahlende Blick auf, den Mariah ihrem Mann zuwarf und wie sie sich sofort von ihrem Stuhl hoch raffte und die Schränke durchsuchte. Doch nachdem sie alle aufgeklappt hatte fragte sie: „Tyson? Kann es sein, dass ihr im Moment keinen Tee im Haus habt?“

„Ich wollte heute Mittag einkaufen gehen. Opa hat mir auch eine Liste auf den Küchentresen gelegt. Ist jetzt aber ins Wasser gefallen…“

„Wenn du willst gehe ich einkaufen!“, sprach sie prompt aus. Es klang so eifrig, als wolle Mariah mit aller Gewalt etwas Nützliches beitragen. Dabei wollte Tyson momentan einfach nur seine Ruhe. Nur einige Minuten um sich zu sammeln und dieses verdammte Zittern seiner Hände loszuwerden. Da kam ihm der Gedanke, diese Zeit endlich zu bekommen, wenn seine Freunde tatsächlich einkaufen gingen. Tyson wiegte unschlüssig den Kopf hin und her, bis Ray ihm die Entscheidung abnahm.

„Mao und ich machen das. Bleib du hier bei ihm Max.“

Ein Nicken kam von der angesprochenen Person. Mariah klaubte die Einkaufsliste von der Küchenzeile und das Paar verschwand, mit einem kurzen „Bis später“ aus dem Raum. Nicht einmal Geld hatten sie mitgenommen, wahrscheinlich wollte Ray aus eigener Tasche zahlen. Einige Minuten vergingen, schließlich hörte man wie die Haustür ins Schloss fiel. Dann herrschte Stille. Nur der Sekundenzeiger der Wanduhr war noch zu hören. Tick, tack, tick, tack…

Neben ihm wandte sich Max unangenehm berührt auf seinem Stuhl herum. Die Stille schien ihm unheimlich und ein stummer Tyson umso mehr.

„Sollten wir deinen Vater nicht anrufen? Oder Hitoshi?“

Tyson schüttelte den Kopf und massierte sich mit der rechten Hand die Schläfe. Das hatte keinen Zweck. Sein Vater war im Ausland nur schwer zu erreichen und sein Bruder befand sich zwar in Tokyo, war aber so kühl wie ein toter Fisch. Er bewohnte mit seiner wohlhabenden Verlobten, ein extravagantes Apartment in der Stadt und scherte sich kaum um die familiären Angelegenheiten, in seinem Elternhaus. Irgendwann antwortete Tyson mit brüchiger Stimme.

„Ich glaube nicht dass es Hiro interessiert.“

„Es geht hier um seinen Großvater.“

„Als Opa seinen ersten Schlaganfall hatte, war das Einzige was ich von ihm zuhören bekam: Er ist eben alt. Irgendwann sterben wir alle mal. Er ist ihn für zehn Minuten im Krankenhaus besuchen gekommen. Dann ist er mit seiner versnobten Verlobten in seiner Edelkarosse abgedampft!“

„Meldet er sich überhaupt noch?“

Tyson gab ein verächtliches Schnauben von sich.

„Natürlich nicht! Wir reden hier von Hiro. Ich habe damals erst erfahren, dass er seit Monaten wieder in Tokyo ist. Davor dachte ich er wäre noch mit seinem Studium in Ōsaka beschäftigt.“

Max konnte nicht anders als tiefes Mitleid für seinen Freund zu empfinden. Irgendwie bekam er den Eindruck, dass keiner von ihnen das Glück momentan für sich pachtete. Vor allem bei Tyson machte ihm dieser Zustand zu schaffen. Max kannte ihn immer als Frohnatur. Vielleicht wäre Kai in diesem Moment eine Hilfe gewesen. Als Mr. Kinomiya nach dem ersten Schlaganfall, auf der Intensivstation lag und alle wie auf glühenden Kohlen, auf eine positive Botschaft warteten, war es ausgerechnet Kai gewesen der die richtigen Worte fand.

„Ich bin kein Hellseher Tyson.“, hatte er zu ihm gesagt, während die Gruppe im Wartezimmer saß. Allein an seiner Tonart bemerkte man, dass Kai tiefes Mitleid für seinen früheren Erzrivalen empfand. Auch daran das er ihn mit dem Vornamen ansprach, was eher seltener vorkam. „Ich habe keine Ahnung, ob der Arzt nicht gleich durch diese Tür kommt und dir eine gute oder schlechte Nachricht bringt. Aber ich weiß dass du dir nichts vorzuwerfen hast. Du hast dich immer sehr gut um deinen Großvater gekümmert.“

Dann war dieses seltene Lächeln auf Kais Gesicht getreten, wenngleich es etwas traurig wirkte. Er hatte Tyson angeschaut, aus diesen markanten Augen, in denen immer dieser geheimnisvolle Rotschimmer lag.

„Wenn es heute zu Ende gehen sollte, gehst du mit der Gewissheit nachhause, dass du jede Minute mit deinem Großvater genutzt hast. Er hegt keinerlei Groll gegen dich. Das ist mehr als ich von meinem sagen kann. Der alte Sack schärft in der Hölle bestimmt bereits seinen Dreizack für mich…“

Das war das erste Mal das Tyson an diesem Tag lächeln musste und das zweite Mal, als sein Großvater den Schlaganfall überlebte und er ihn glücklich in die Arme schließen konnte. Seine Freunde hatten diesem Szenario nur stillschweigend zugesehen und hielten sich diskret im Hintergrund. Tyson waren die Tränen gekommen, als der alte Kinomiya ihm erschöpft, aber lebendig entgegengrinste. Die Männer lagen sich in den Armen, der alte Greis in seinem Krankenbett, Tyson daneben, beide froh sich noch etwas länger an der Anwesenheit des anderen zu erfreuen. Und dann passierte dieser winzige Moment. Beinahe unauffällig wäre er an Max vorbeigezogen.…

Kai lehnte damals mit dem Rücken an der Fensterbank des Zimmers. Und für eine Sekunde meinte Max bemerkt zu haben, wie Tyson ihm einen kurzen Blick zuwarf und mit seinen Lippen, ein stummes Wort formte: „Danke.“

Kai hatte daraufhin den Blick abgewandt. Doch auch minimal genickt. Schon immer besaßen Tyson und er ihre eigene Art der Kommunikation. Vieles spielte sich unterschwellig zwischen ihnen ab.
 

„Ich kann dich doch für ein paar Minuten alleine lassen, oder?“, fragte Max nachdenklich.

„Ich bin nicht suizidgefährdet…“, kam die pampige Antwort. Das nahm er mal als ein Ja. Langsam erhob sich Max von seinem Stuhl und trat aus der Küche hinaus in den Flur. Er entfernte sich einige Schritte von der Tür, immerhin musste Tyson nicht mitbekommen, das er Kai anrief. Beide waren furchtbare Sturköpfe, wenn sie sich gestritten hatten und Max wusste, das Tyson erst bei Kai anrufen wollte, wenn er ihm einen Termin bei Dr. Hamilton präsentieren konnte. So hätte er mit einem süffisanten Lächeln großspurig prahlen können: „Tja, Mr. Hiwatari! Dank meinem überragenden Krisenmanagement ist deine kleine Prinzessin bei ihrem lieben Doktor. Eine Entschuldigung ist jetzt angebracht, aber ein einfacher Hofknicks tut es auch…“

Wahrscheinlich hätte sich Tyson gleich danach eine gefangen, aber das wäre es ihm wert gewesen, so gut kannte Max ihn. Er schritt zum anderen Ende des Flurs und trat an einen, aus dunklem Holz angefertigten, antiken Schrank, mit orientalischen Verzierungen heran, auf dem ein veraltetes Telefon mit Drehscheibe thronte. Max fand schon immer dass dieses Haus altmodisch Charme besaß. Er nahm den Hörer in die Hand und dachte nach. Einige Minuten brauchte er um sich Kais Nummer ins Gedächtnis zu rufen, doch dann wählte er drauf los. Es klingelte auf der anderen Leitung. Ein gutes Zeichen wenn man bedachte, dass dieses Telefon wahrscheinlich Hiroshima überlebt hatte. Dann meldete sich eine ältere, aber trotzdem sehr vornehme Herrenstimme am Apparat, zweifellos sein Butler Lew. Max verzog etwas verstimmt den Mund. Er hatte den Eindruck dass dieser Kerl ihn nicht ausstehen konnte.

„Bei Hiwatari“, sprach Lew den Namen äußerst gedehnt aus.

„Hallo. Kann ich Kai sprechen?“

„Falls sie Mr. Kinomiya sind tut es mir Leid. Mr. Hiwatari wünscht nicht mit ihnen…“

„Ich bin nicht Tyson! Sagen sie ihm ich bin Max, sein Freund aus den USA. Mein Gott, ich bin früher so oft bei euch ein und ausgegangen, sie müssen mich doch noch kennen, alter Kumpel!“

„Nun, in der Tat. Wenn ich mich recht entsinne waren sie der junge Knabe, der vor längerer Zeit, mit seinem Spielzeug, eines unserer Van Gogh Gemälde halbiert hat.“

„Ähm… Nein, das war Kais anderer Freund. Der aus China.“, log Max und hüpfte unangenehm berührt von einem auf den anderen Fuß. „Übrigens heißt das Spielzeug Beyblade! Könnte ich jetzt endlich Kai sprechen?“

„Ich bedaure. Doch Mr. Hiwatari wünscht niemanden zu sprechen.“

„Es ist wichtig!“

„Mr. Hiwataris Anweisung lautet wortwörtlich: Selbst wenn Japan von einem Meteoriten getroffen wird, keine Anrufe durchstellen. Womöglich ist der junge Master morgen zugänglicher.“

„Aber es ist wirklich dringend! Sein Freund Tyson…“

„Was Mr. Kinomiya angeht verzichtet Mr. Hiwatari auf jeglichen weiteren Kontakt!“, kam es barsch von der anderen Leitung. „Wenn sie mich nun entschuldigen, ich habe noch anderweitige Verpflichtungen.“

„Halt Moment! Wehe sie legen… Bor, was für ein Arsch! Der hat aufgelegt!“

Das machte Max so wütend, dass er sofort wieder die Nummer wählen wollte, um dem hochnäsigen Butler ordentlich die Meinung zu geigen. Wenn er noch mal auflegen sollte, würde er so oft klingen, bis der alte Sack den Stecker herausreißen musste. Allerdings kam Tyson plötzlich aus der Küche gestürmt.

„Was ist los?“, fragte Max. Doch sein Freund eilte an ihm vorbei zur Treppe, wo er hastig zwei Stufen auf einmal nehmend hinauf rannte. Es raschelte als er im oberen Stockwerk über die Planen lief. Unschlüssig legte Max den Hörer wieder auf und folgte ihm. Oben angekommen verriet lautes Scheppern und Poltern wo Tyson sich befand. Als Max in dessen Zimmer trat, blieb er ratlos im Türrahmen stehen und beobachtete das Schauspiel. Tyson kauerte vor seinem Schrank und warf achtlos Bücher, DVD Hüllen, einen Basketball, Sportschuhe und Kleidung über seinen Rücken hinweg. Der Basketball traf seinen Nachttisch, woraufhin die Lampe darauf bedrohlich wackelte und schließlich zu Boden fiel.

„Was machst du da? Sei doch vorsichtig!“

Doch Tyson hörte nicht zu. Er grummelte nur unverständliche Wortfetzen vor sich her, bis er eine große, dunkelbraun lackierte Runddeckeltruhe herauszog, die wie aus der Edo Zeit entsprungen aussah.

„Ich glaube ich habe ihn hier hineingepackt…“, murmelte er mehr zu sich selbst als zu Max. Dann riss Tyson den Deckel hoch und begann erneut den Inhalt unachtsam hinauszuwerfen. In Sekundenschnelle hatte er sein Zimmer ins reinste Chaos verwandelt. Max wollte ihn gerade fragen, was er denn überhaupt suche, da kam ein erleichterter Ausruf von ihm.

„Da ist er!“, triumphierend hielt Tyson eine alte Schuhschachtel hoch. Keine zwei Sekunden später, nahm er den Deckel ab und Max erhaschte einen Blick auf Dragoon. Er spähte mit zuckender Braue auf das kleine Spielzeug. Das war doch nicht Tysons ernst?

Sein Großvater lag im Krankenhaus und er wollte bladen…

Doch Tysons Aufmerksamkeit galt dem kleinen Chip auf dem das Motiv des Bit Beasts abgedruckt war. Vorsichtig strich er die feine Staubschicht davon ab. Nur um zu erkennen das Dragoon nicht mehr darauf abgebildet war.
 

ENDE Kapitel 2
 

Am späten Nachmittag waren Ray und seine Frau noch nicht zurück. Max vermutete, dass er Mariah noch ins Hotel brachte, schließlich war für eine Schwangere wie sie, einkaufen wohl mittlerweile eine Tortur. Sie hatte aber auch eine Wampe bekommen...

Dafür musste Max zusehen wie er Tyson nun alleine beruhigte. Das dessen Bit Beast verschwunden war, ließ ihn nicht mehr los und er war der festen Überzeugung, dass sein Großvater ihn darauf hinweisen wollte.

Dagegen war für Max die Sache klar - Dragoon hatte sich einen neuen Meister gesucht.

Das Bit Beast hatte wohl keine Lust mehr, in einem alten Schuhkarton zu versauern. Mit schlechtem Gewissen dachte er dabei an Draciel, das irgendwo in seiner Sockenschublade lag. Womöglich würde sein Bit Beast sich auch bald verabschieden. Doch selbst wenn, spielte das für Max keine tragende Rolle. Er war keine Dreizehn mehr. Das Leben würde auch so weitergehen. Tyson verstrickte sich aber mittlerweile in lächerliche Verschwörungstheorien und redete aufgebracht vor sich her.

„Opa wollte mir irgendetwas sagen. Vielleicht hat Dragoon uns immer vor Unheil beschützt und jetzt da er weg ist… Er war schon ewig in Familienbesitz! Vielleicht hat ihn jemand gestohlen? Während ich nicht zuhause war…“, bei diesem Gedanken blieb Tyson abrupt im Raum stehen. Zuvor war er rastlos in seinem Zimmer auf und ab gelaufen. „Oh man! Geht die Scheiße von damals schon wieder los?! Ich bin echt zu alt, um vor Cyber Bit Beast und Handlangern der Abtei wegzurennen. Bestimmt steckt Boris dahinter! Dieses miese Aas kann seine linken Nummern einfach nicht lassen!“

„Jetzt komm mal wieder runter...“, brummte Max nur unbeeindruckt.

„Was heißt hier komm mal wieder runter?! Du weißt wie der Kerl drauf ist, Max! Der Typ ist ein Spinner!“, drehte Tyson neben ihm die Lautstärke weiter auf. Max war sich ziemlich sicher, dass er bald einen Gehörsturz bekommen würde, doch damit musste man rechnen, wenn man Tyson Kinomiya zu seinem Freundeskreis zählte. In einer Sache hatte der Sturkopf vor ihm jedoch recht. Boris war der Boogeyman der Beyblade Szene. Die Betonung lag hier allerdings auf dem kleinen, unscheinbaren Wörtchen war.

„Ich glaube kaum, dass Boris dazu noch in der Lage ist.“

„Wieso? Weil er ein sooo herzensguter Mensch ist?!“, brauste Tyson nur weiter auf.

Es ließ Max mit rollenden Augen seufzen.

„Weil er seit drei Jahren tot ist.“

Eine kurze Pause trat ein. Tyson blinzelte ihn mit dümmlichen Blick an. Dann…

„Ist nicht wahr! Wann ist das denn passiert? Der war doch noch gar nicht so alt, oder?“

„Hast du es nicht mitbekommen?“

„Nein. Was denn?“

„Liest du eigentlich nie Zeitung?“

„Komm mir jetzt nicht so. Jetzt sag schon!“

„Na gut. Die Beyblade Welle war damals schon am abebben. Die Sache hat es auch nur in die Klatschspalten geschafft. Ich habe es damals nur nebenbei mitbekommen, weil meine Mum zu der Zeit noch bei der BBA gearbeitet hat. War eine ziemlich makabre Geschichte.“, Max setzte sich auf Tysons Bett und versuchte sich genauer zu erinnern. Nach einer kurzen Denkpause, erklärte er: „Boris hatte vor drei Jahren die Idee ein erneutes Comeback zu starten. Diesmal in den USA. Um Beyblades wieder zum Gesprächsstoff der Gesellschaft zu machen. Die Finanzkrise hat wohl auch ihn ziemlich hart getroffen, denn man munkelte, er habe sein gesamtes Geld in diesen letzten Versuch investiert. Selbstverständlich nicht ohne die üblichen Hintergedanken. Du weißt ja… Weltherrschaft, ein paar Blader einer Gehirnwäsche unterziehen, sich wieder hässliche Kotletten wachsen zu lassen. Naja, über Tote soll man ja bekanntlich nicht schlecht sprechen.“

Max bekreuzigte sich mit einem scheinheiligen Schmunzeln.

„Jedenfalls, um eine lange Geschichte endlich zum Ende zu bringen… Bei einem Testlauf mit dem neuen Team, hatte einer von denen seinen Blade nicht unter Kontrolle. War ja auch ziemlich schwer noch talentierte Leute zu finden. Nach unserem Ausstieg gab es schließlich keine Weltmeisterschaften mehr. Das Interesse der Jugend war wie weggeblasen. Von den BEGA Bladern ließ sich wohl auch keiner mehr zu einem Comeback hinreißen. Die waren ja auch nicht mehr gut auf Boris zu sprechen.“

„Und was ist nun passiert?“

„Naja…“, Max tat mit seiner Faust eine Geste, als würde er einen Stein gegen den Kopf bekommen. „Boris war beim Testlauf auch anwesend. Als der Blade verrücktspielte, hat ihn das Ding direkt an der Schläfe erwischt. Das Teil muss ein ziemliches Tempo draufgehabt haben. Sein Besitzer war wohl zu unerfahren und konnte nicht einmal geradeaus in die Arena zielen. Außerdem weißt du ja wie Boris war. Er konnte nie ehrlich spielen und die Mannschaft war so schlecht, dass er die Blades mit scharfkantigen Ringen aufmotzen ließ, die nicht der Norm entsprachen. Das wurde ihm dann auch zum Verhängnis. Ein normaler Blade aus dem Handel, bekommt ja schon ein gefährliches Tempo drauf, aber zusätzlich messerscharfe Kanten an die Teile zu montieren, war wohl wirklich keine seiner gescheitesten Ideen.“

Tyson blieb die Spucke weg. Mit offenem Mund starrte er Max an. Das war dann wohl Ironie des Schicksals. Erstaunt blinzelte er auf seinen eigenen Blade in der Hand.

„Ich hatte mich schon gefragt, warum die Hersteller die Altersbeschränkung hoch gestuft haben…“

„Tja, Shit Happens. So sagt man jedenfalls bei uns.“

Es war unübersehbar, dass es Max nicht besonders um Boris Leid tat. Wahrscheinlich war er damit nicht der Einzige. Tyson konnte sich gut vorstellen, dass die russische Mannschaft ein Saufgelage veranstaltet hatte. Jeder von ihnen war in der Abtei aufgewachsen, die von Boris strenger Hand geführt worden war, bis die Beamten den Laden dicht machten. Es war absurd, doch in seiner Fantasie sah Tyson die Demolition Boys den russischen Kasatschok tanzen, bei dem man in die Hocke ging und beim Hüpfen, immer abwechselnd ein Bein nach dem anderen ausstreckte. Mit einem Kopfschütteln verscheuchte er die Vorstellung, wie Tala frohlockend um einen Maibaum tanzte. Das war so irritierend…

Verblüfft über das Gehörte, setzte Tyson sich an seinen Schreibtisch und grübelte weiter. Kais Großvater Voltaire – der auch nicht gerade heiliggesprochen gehörte - und Boris Balkov, hatte nun also Gevatter Tod geholt. Zwei seiner hartnäckigsten Gegner waren von der Bildfläche verschwunden und die Auswahl an Verdächtigen damit rapide geschrumpft. Er hätte auch niemand anderem so etwas zugetraut. Natürlich gab es auch andere Gegner, aber die waren nie wieder aus der Versenkung aufgetaucht. Tyson wusste von manchen nicht einmal mehr die Namen. Max erlaubte seinem Freund eine Denkpause. Doch ihm war scheinbar klar, dass Tyson zu keinem Ergebnis kommen würde. Es schien wohl reines Wunschdenken zu sein, mehr hinter dem Schlaganfall seines Großvaters zusehen. Eine bedrohliche Macht, die es auf seine Liebsten abgesehen hatte. Die Tyson bekämpfen konnte. Das war natürlich einfacher als zu akzeptieren, dass Mr. Kinomiya alt wurde.

Und sich irgendwann von dieser Welt verabschieden würde…

Als sein Großvater den Schlaganfall hatte, war Tyson das erst so richtig Bewusst geworden. Dass er eines schlimmen Tages, ohne seinen alten Herrn dastehen würde. Vor seinem inneren Auge, sah er dabei jene Person vor sich, die ihm damals am meisten eine Stütze gewesen war. Kai…

Er erinnerte sich noch, wie beide damals auf der Holzveranda des Dojos saßen, nachdem Kai ihn vom Krankenhaus heimgefahren hatte. Es regnete an diesem Tag und sie schauten lange Zeit nur schweigsam auf den nassen Hof des Dojos. Es war damals gar nicht so viel zwischen ihnen beredet worden. Doch irgendwann vertraute Tyson seine düsteren Überlegungen ihm an.

„Ich will nicht, dass mein Großvater stirbt. Er war immer da. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie mein Leben ohne ihn sein wird.“

„Das verstehe ich…“

Für eine Sekunde wollte Tyson in seiner verzweifelten Wut fauchen, wie Kai das verstehen könne, bis er den Blick hob und bemerkte, dass der ungewöhnlich traurig schaute. Erst da begriff er. Voltaire war zu der Zeit noch nicht einmal ein Jahr tot. Und von all seinen Freunden, kannte Kai wohl am ehesten die Erfahrung, von einem Großvater aufgezogen zu werden. Auch wenn Tyson ihn nicht gerade um Voltaire beneidet hatte. Um ehrlich zu sein, hielt er überhaupt nichts von ihm und wie Kai diesem grantigen Mistkerl gegenüber loyal bleiben konnte, war ihm wahrlich ein Rätsel geblieben. Tyson war auch nur zur Beerdigung gegangen, um für seinen Freund da zu sein. Auch wenn Kai sie nicht darum gebeten hatte mitzukommen. Der Gedanke, dass er aber während dem Begräbnis alleine sein könnte, war für Tyson unerträglich gewesen. Allerdings kam er nicht umhin sich darüber zu wundern, wie wenig Mitleid er für das alte Hiwatari Oberhaupt empfand. Genaugenommen war Tyson erleichtert gewesen, als der wandelnde Schrecken endlich unter der Erde lag. Auch wenn er das niemals laut ausgesprochen hätte. Er wusste selbst, dass sich solche Gedanken nicht gehörten und war ein wenig schockiert über sich selbst. Dennoch versprach er sich durch Voltaires Tod, dass Kai endlich mehr aufblühte. In all den Jahren, konnte Tyson einfach nie verstehen, wie der ihnen gegenüber so auf Abstand ging, während er seinem Großvater gegenüber irgendwie hörig schien. Dieser alte Mistkerl hatte seinen Enkel geradezu dazu genötigt, in seine Fußstapfen zu treten, vor allem was die Firma betraf.

Und doch war Tyson irgendwie dankbar gewesen, als sie damals auf der Veranda des Dojos saßen und sich wenigstens ein Leidensgenosse fand. Ohnehin entpuppte sich Kai damals als wahrer Segen. Er kannte sich mit dem ganzen Papierkram aus, der aufkam, wenn man einen Pflegefall in der Familie besaß. Etwas womit Tyson hoffnungslos überfordert gewesen war. Dennoch verlor Kai nie die Geduld mit ihm. Eher schien ihn seine Unwissenheit zu amüsieren, denn er riet Tyson, niemals mit Aktien zu spekulieren, wenn er nicht einmal wusste, wie ein Darlehen funktionierte.

Erst Max Worte holten ihn aus seinen Überlegungen.

„Tyson. Ich kann mir denken, dass du momentan ziemlich durcheinander bist.“ er beugte sich vor und sah seinen Freund mit einem verständnisvollen Blick an. „Der wichtigste Mensch in deiner Familie wurde heute in einem Krankenwagen fortgebracht. Aber du solltest dich jetzt wirklich nicht auf irgendwelche Kleinigkeiten fixieren. Ich vermute mal, dass Dragoon einfach einen neuen Herrn gesucht hat. So gesehen ist das auch sein gutes Recht. Er ist zwar nur ein Bit Beast, aber auf Dauer wurde ihm deine Schuhschachtel wohl doch zu langweilig.“

Tyson sah nachdenklich auf sein Blade, strich über die Legierung und sein Blick blieb an dem leeren Chip hängen, wo früher Dragoons Gestalt abgebildet war. Etwas traurig stimmten ihn Maxs Worte schon. Irgendwie bekam er den Eindruck, dass alles was seine Vergangenheit betraf, sich nach und nach verabschiedete.

„Wie wäre es wenn wir im Krankenhaus anrufen?“, fragte Max inzwischen. „Dein Großvater braucht dich jetzt. Vergiss also Dragoon endlich! Entweder er taucht von alleine auf oder eben nicht. Willst du etwa Vermisstenzettel für ein Bit Beast verteilen? Das ist doch kein entlaufenes Haustier, dass man wieder einfangen kann.“

„Aber Opa hat Dragoon gesagt.“, antwortete Tyson. „Du warst nicht da Max. Es war so seltsam. Er hat mich angesehen, als ob er mich warnen wolle. Und diese Haltung in der er gelegen ist. Es sah aus als wolle er sich selbst erwürgen.“

„Das ist doch lächerlich. Man kann sich nicht selbst erwürgen! Man würde vorher bewusstlos werden. Vielleicht war es eine Verkrampfung oder wieder ein Schlaganfall.“

„Ein Schlaganfall bei dem man sich selbst erwürgt? Machst du dich jetzt nicht lächerlich?“

„Ich bin kein Arzt, okay?“, hob Max hilflos die Hände. „Aber ich bin sicher es gibt eine logische Erklärung dafür.“

Max sah seinen Freund eindringlich an. Doch da schoss Tyson die Lösung auch schon durch den Kopf. Er drehte sich auf seinem Stuhl Richtung Schreibtisch, schob Kennys Laptop näher zu sich heran und klappte ihn auf.

„Was machst-…“

„Dizzy? Dizzy, kannst du mich hören?“, fragte Tyson. Es ließ Max hinter ihm genervt stöhnen. „Ich weiß das ich nicht dein geliebter Kenny bin, aber könntest du dich bitte dazu aufraffen mir zu helfen, alte Freundin?“

„Das alt möchte ich doch überhört haben!“, erschallte gleich darauf eine Frauenstimme aus dem Laptop. Dizzy hatte tatsächlich geantwortet. Das war eigentlich selten, denn ein Bit Beast reagierte für gewöhnlich nicht auf die Kommandos eines anderen Bladers. Natürlich gab es in der Vergangenheit Fälle, in denen es zu Ausnahmen gekommen war, doch eigentlich war das die Regel. Dizzy war aber schon immer etwas Besonderes.

Sie war das einzige Bit Beast das in einem Laptop hauste. Zwar schlüpfte sie während Tysons drittem Weltmeisterjahr kurzfristig in einen Blade, um sich auch einmal ins Kampfgetümmel zu stürzen, doch aus irgendeinem Grund hatte Kenny sie wieder in den Laptop gepackt. Wahrscheinlich weil sie als Beyblade nicht so viel getaugt hatte, wie als wandelndes Lexikon. Doch Tyson hätte sich gehütet das laut auszusprechen, denn die Bit Beast Dame konnte recht schnippisch werden. Stattdessen sprach er mit einem verschmitzten Grinsen.

„Das war natürlich nur eine Floskel. Ich kenne keine Frau die nach zehn Jahren noch immer so eine reizende Stimme hat.“

„Du bist ja ein wahrer Charmeur geworden. Endlich hast du gelernt wie man richtig mit Frauen umgeht. Hat dir Hiromi das beigebracht?“

„Nein. Aber ein paar meiner Exfreundinnen. Max, willst du nicht hallo sagen?“

Ein Grummeln war zu hören, doch dann stand Max vom Bett auf und trat zum Schreibtisch.

„Hey Dizzy. Alles klar schöne Frau?“

„Wie es einem eben geht wenn man in einem Laptop steckt. Ihr seid beide so groß geworden. Ich habe euch noch als zwei kleine Rotznasen in Erinnerung. Wenn ich deine Körpergröße mit früher analysiere, bist du um fast vierunddreißig Prozent in die Höhe geschossen, Tyson. Sieht so aus als müsste ich meine Daten aktualisieren.“

Dizzy war nicht nur schnippisch, sondern auch die Ehrlichkeit in Person.

„Seid mir nicht böse, aber wann bringst ihr mich eigentlich zu Kenny zurück? Er fehlt mir…“

„Am Montag. Versprochen, “ antwortete Tyson mit erhobener Hand. „Aber um zum Thema zurückzukommen, hast du mit halbem Ohr mitbekommen, worüber Max und ich gerade gesprochen haben?“

„Naja…“, kam es langsam.

„Naja ist keine Aussage. Kannst du bitte präziser werden?“

Dizzy zögerte mit ihrer Antwort. Doch dann sagte sie: „Ich habe alles gehört. Mein Beileid wegen deinem Großvater. Ich hoffe es geht ihm gut. Weißt du schon etwas über seinen Zustand?“

Tyson verneinte und fühlte sich bei dem Gedanken, dass er noch nicht im Krankenhaus angerufen hatte, etwas schuldig. Aber er wollte das hier noch klären. Erst dann konnte er sich voll und ganz seinem Großvater widmen.

„Ich mag deinen Opa sehr. Wir haben mal auf meinem Bildschirm Schach gegeneinander gespielt. Ich habe jedes Mal gewonnen. Seitdem mag er aber keine Computer mehr, “ kicherte das Bit Beast.

„Ja. Das ist schön.“, antwortete Tyson etwas gelangweilt. Irgendwie bekam er den Eindruck, dass Dizzy vom Thema ablenkte. Um dem Ganzen nun endlich ein Ende zu bereiten, fuhr auch Max jetzt dazwischen.

„Wir wollen dich nicht lange nerven. Kannst du dir aber vorstellen, weshalb Dragoon verschwunden ist? Tyson glaubt mal wieder eine riesige Verschwörung hinter der ganzen Sache. Als ob er momentan nicht schlimmere Sorgen hätte...“

Beim letzten Teil sah er Tyson mit spöttisch aufgezogener Braue an, der nur verächtlich schnaubte. Doch Dizzy blieb stumm. Max dachte sie bräuchte etwas Zeit, aber als nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch keine Antwort kam, fragte er: „Bist du noch da?“

„Ja.“

„Dann antworte doch bitte auf meine Frage.“

„Ich kann nicht.“

„Warum?“

„Weil ich Angst habe…“
 


 

*
 

Die beiden Männer brauchten einige Anläufe um Dizzy so weit zu bekommen, ihr Schweigen zu brechen. Doch das Bit Beast blieb lange Zeit recht hartnäckig.

„Wovor hast du Angst?“

„Das kann ich nicht sagen.“

„Warum nicht?“

„Ich will nicht.“

Immer wieder redeten Max und Tyson auf sie ein. Bis sie sich schließlich auf einen Kompromiss einließ. Einen sehr merkwürdigen…

Zuerst einmal bestand Dizzy darauf, dass alle anwesend waren. Sie wollte sich keinesfalls wiederholen. Tyson ging das zwar gegen den Strich, aber er wollte die Wartezeit nutzen, um im Krankenhaus anzurufen und nach dem Zustand seines Großvaters zu fragen. Als zweitens verlangte sie, Tysons Blade schnellstmöglich aus dem Haus zu entfernen. Die beiden Männer hatten sich fragend angeschaut, aber Dizzy versprach ihnen Antworten, sobald Dragoon verschwunden und alle anwesend waren. Ein paar Minuten später schritt Tyson hinaus zum kleinen Zen Garten seines Großvaters und vergrub seinen Blade unter einer dicken Schicht Kies. So konnte er sicher sein, dass keine Streuner ihn fanden und Dragoon später wieder hereinholen, sobald Dizzy fertig war. Was die Aufregung darüber sollte, konnte er ohnehin beim besten Willen nicht verstehen. Erst danach erledigte er den Anruf im Krankenhaus. Mit schweißnassen Händen hatte er die Nummer des städtischen Hospitals gewählt und mit einem dicken Kloß im Hals, ließ er sich zur Intensivstation durchstellen. Die Krankenschwester musste erst noch den Zustand beim Arzt erfragen. So verweilte Tyson einige Minuten, mit geschlossenen Augen am Hörer und betete zu allen Göttern seinem Großvater möge es bessergehen, während von der anderen Seite nur das Lied der Warteschleife erklang. Schließlich meldete sich der zuständige Arzt persönlich zu Wort.

„Guten Tag Mr. Kinomiya. Dr. Yamada am Apparat.“

„Guten Tag. Tut mir leid falls ich störe, aber ich wollte nach meinem Großvater fragen. Sein Name ist Kinomiya. Er ist heute Morgen eingeliefert worden.“

„Selbstverständlich. Ich erinnere mich.“

Der Arzt klang freundlich und dass er so ruhig sprach, war Balsam für Tysons aufgereizte Seele. Es beruhigte ihn, auch wenn ihn der Gedanke beschlich, dass dieses Verhalten auf den Erfahrungen des Arztes geschult war. Womöglich gehörte es zum Lehrstoff eines jeden Medizinstudenten, wie man Angehörige beruhigte, auch wenn die Lage noch so prekär war. Doch seine Befürchtungen wurden gleich darauf zerschlagen.

„Ich kann ihnen mit Freuden sagen, dass ihr Großvater außer Lebensgefahr ist. Sie dürfen beruhigt sein.“

Tyson lachte erleichtert auf. Es war eine der besten Nachricht an diesem ansonsten furchtbaren Tag.

„Das ist wunderbar!“, er fuhr sich durchs Haar. Für eine Sekunde konnte er sein Glück kaum fassen. Dann würde es wohl bei diesem kurzen Schrecken bleiben. „Aber was hatte Großvater? Einen Schlaganfall? Ein Herzinfarkt?“

„Nun, was das angeht sind wir uns hier nicht einig. Ehrlich gesagt hat ihr Großvater für einigen Trubel gesorgt.“

Tyson zog skeptisch die Augenbrauen zusammen und horchte auf.

„Als ihr Großvater eingeliefert wurde, haben wir sofort seine letzte Akte angefordert. Da er vorgeschädigt ist, ging ich zuerst davon aus, dass es sich um einen weiteren Schlaganfall handelt. Allerdings haben seine Werte ergeben, dass sein Gehirn vollkommen in Takt ist. Was wir uns auch noch nicht erklären können ist seine starke Zyanose.“

„Oh man, bitte kein Fachchinesisch...“

„Um es verständlicher auszudrücken, eine Zyanose tritt in der Regel bei einer Unterversorgung des Blutes mit Sauerstoff auf. Zum Beispiel bei einem geringen Sauerstoffgehalt in der Atemluft oder bei einer kranken Lunge. Deshalb trat auch die bläuliche Färbung auf. Allerdings, als wir ihren Großvater untersucht haben, fanden wir keine Anzeichen für organische Schäden und ich bezweifle, dass in seinem Zimmer plötzlich ein Vakuum entstanden ist.“

Obwohl Dr. Yamada sicherlich versucht hatte, sich so leicht wie möglich auszudrücken, kam Tyson nicht ganz mit. Von all dem Gelaber von Sauerstoff und organischen Schäden, fühlte sich sein eigener Kopf an, wie ein luftleerer Raum.

„Er lag in einer furchtbar verkrampften Haltung als wir ihn fanden.“, berichtete Tyson. „Es klingt etwas seltsam, aber er sah aus, als würde er sich selbst erwürgen.“

„Das kann ich nicht beurteilen. Ich war nicht der Ersthelfer. Aber das kommt mir doch sehr unwahrscheinlich vor. Seine Muskeln wären erschlafft, sobald er von der eigenen Strangulation bewusstlos geworden wäre. Und unter uns… das klingt tatsächlich absurd.“

„Das weiß ich auch. Kann ich ihn heute noch sehen?“

„Nein“, kam die entschiedene Antwort. „Ihr Großvater muss sich ausruhen. Er ist noch nicht ansprechbar. Er hat lediglich das Schlimmste überstanden. Seit er in ihrem Haus zusammengebrochen ist, hat er nicht mehr das Bewusstsein erlangt. Sie könnten demnach nicht mit ihm sprechen.“

„Oh. Schade.“, meinte Tyson betrübt. Dr. Yamada hörte wohl seine Enttäuschung heraus, denn in aufmunterndem Ton versprach er. „Wenn es ihrem Großvater bessergeht, werden wir sie auf der Stelle informieren. Ist das eine zufriedenstellende Nachricht, Mr. Kinomiya?“

Ja. Das war immerhin etwas…
 


 

*
 

Als Dr. Yamada nach diesem Gespräch auflegte, entrang sich seiner Kehle erst einmal ein tiefes Seufzen. Das hier war eine der Aufgaben in seinem Beruf, auf die er gerne verzichten würde. Im Gedanken versunken legte er die Patientenakte auf den Tresen der Rezeption und blätterte sie durch, studierte einige Bemerkungen der letzten Ärzte. Es mussten weitere Untersuchungen durchgeführt werden. Andernfalls kam er nicht voran. Diese verdammte Zyanose konnte er sich einfach nicht erklären. Dr. Yamada wollte sich gerade zu einer weiteren Visite aufmachen, als er an der Rezeption ein Gespräch aufschnappte. Ein älterer Mann mit ergrautem Haar, beugte sich über den Tresen und fragte die Krankenschwester dahinter, ob sie ihm Auskunft über den Aufenthaltsort des leitenden Arztes, im Fall Mr. Kinomiya Senior erteilen könne. Daraufhin nickte sie direkt auf Dr. Yamada und bedeutete ihm mit einem Winken näherzukommen.

Dem Arzt schwante Böses. Er kannte diesen Mann. Kato war Inspektor der Polizeibehörde Tokio und für den Bereich häusliche Gewalt zuständig. Selbstverständlich machte der gute Mann auch nur seine Arbeit, aber er fungierte im Krankenhaus gerne als Sturmkrähe und war deshalb ungerne gesehen. Als der Inspektor auf ihn zutrat und ihm zur Begrüßung die Hand reichte, schlich sich ein wissendes Lächeln auf sein gealtertes Gesicht.

„Ich sehe schon, Dr. Yamada… Sie sind nicht erfreut über meinen Besuch.“

„So unhöflich es auch klingt, aber ja. Wenn sie auftauchen liegt irgendetwas im Busch.“

„Das ist nicht meine Schuld.“

„Ich weiß. Aber wenn ich die Wahl hätte, eine verprügelte Ehefrau oder einen besoffenen Idioten, der bei Glatteis auf dem Gehweg ausgerutscht ist zu behandeln, würde ich den Säufer nehmen. Ersteres deprimiert mich und lässt mich den Glauben an die Menschheit verlieren…“

„Das Problem haben wir beide“, seufzte der Inspektor. Der Geruch nach kaltem Zigarettenqualm klebte entweder an ihm, oder an seiner Jacke. Nichts worauf Yamada besonders scharf war. Da sprach Kato auch schon weiter. „Letztendlich muss jeder von uns aber seine Arbeit machen. Ich will sie nicht lange aufhalten, deshalb bringen wir unser Gespräch doch sofort hinter uns und hoffen beide, dass wir uns so schnell nicht wiedersehen.“

„Ist das ein Versprechen?“

„Ein ehrlicher Wunsch. Mehr kann ich ihnen bei der aktuellen Kriminalitätsrate in dieser Stadt nicht zugestehen.“

Traurig aber wahr. Erst gestern musste Dr. Yamada einen verprügelten Jungen behandeln, der von seinen Klassenkameraden aufs übelste drangsaliert wurde, bis er unter den Schlägen und Tritten zusammenbrach. Inspektor Kato griff inzwischen in die Innentasche seiner braunen Jacke und zog ein kleines Notizbuch hervor.

„Mir ist zu Ohren gekommen, dass sie Mr. Kinomiya behandeln.“

„Das stimmt. Gibt es ein Problem?“

„Ich bin aus reiner Formalität hier. Um ehrlich zu sein, hoffe ich nur dass es sich dabei um einen unglücklichen Zufall handelt. Eine Nachbarin hat angeben, dass einige Stunden vor Mr. Kinomiyas Einlieferung, im Haus die Fetzen flogen. Es soll ziemlich laut zugegangen sein und man hätte den alten Mann durch die ganze Nachbarschaft schimpfen hören. Er soll ziemlich erbost über seinen Enkel gewesen sein.“

Yamada zog die Brauen tief ins Gesicht. Der Enkel hatte sich am Telefon voller Sorge gegeben. Jetzt erfuhr man, dass er sich mit dem alten Mann kurz zuvor in die Wolle gekriegt hatte. Wieder etwas das er an seinem Beruf hasste. Man wusste nie aus wem ehrliche Trauer sprach. Manche Menschen konnten sich unglaublich gut verstellen.

„Und von mir möchten sie jetzt wissen, ob ich etwas Ungewöhnliches gefunden habe?“

„Richtig.“

Er kratzte sich unangenehm berührt im Nacken. Das passte ihm gar nicht, doch wenn ein Gewaltverbrechen vorlag, musste er zugunsten seines Patienten handeln.

„Ehrlich gesagt… Da ist tatsächlich etwas.“

„Wie bitte?“, der Inspektor schien überraschter als er.

„Der alte Mann wies eine Zyanose auf. Vollkommen untypisch für den vorherigen Krankheitsverlauf. Wir können uns noch nicht erklären wie das passiert ist.“

Sofort notierte der Inspektor seine Aussage. Er hatte genug üble Fälle auf dem Tisch gehabt, um zu wissen, was eine Zyanose war.

„Vorheriger Krankheitsverlauf. Hmm… Er war also vorgeschädigt?“

„Schlaganfall vor drei Jahren.“

„Hat er Tabletten genommen?“

„Bestimmt.“

Dr. Yamada blätterte in der Akte und sagte dem Inspektor den Namen des Medikaments.

„Kann man das als Ursache ausschließen? Verschreiben sie es ohne Bedenken?“

„Ja. Da lege ich meine Hand ins Feuer. Eine Zyanose ist noch nie als Nebenwirkung aufgetreten. Würde man andernfalls auch gar nicht auf den Markt lassen.“

„Gibt es Medikamente die dazu führen?“

„Sie meinen, ob absichtlich die falschen Tabletten bekommen haben?“

„Wäre doch möglich?“

„Und sie verdächtigen den Enkel.“

„Mitunter. Ich werde den näheren Personenkreis noch überprüfen. Vor allem aber wie es finanziell aussieht. Die meisten Morde an Menschen dieses Alters passieren aus Überforderung oder schlichtweg aus Habgier. Sie wären überrascht, wie schnell der nette Herr von nebenan, den Tod seiner gebrechlichen Mutter herbeisehnt, wenn er erstmal erfährt, wie viel sie ihm hinterlässt. Es ist ein Trauerspiel.“

Darauf konnte der Arzt nur nicken. Das war es wirklich.

„Fällt ihnen noch etwas Ungewöhnliches auf?“

Dr. Yamada überlegte, doch verneinte schließlich. Daraufhin blätterte Inspektor Kato die Seite seines Notizbuches um und kritzelte auf die leere Seite ein paar Nummern. Anschließend riss er geräuschvoll das Blatt heraus.

„Falls ihnen noch etwas Ungewöhnliches einfällt, können sie mich unter einer dieser beiden Nummern erreichen. Die zweite ist meine private Hausnummer.“

„Ich bin mir sicher, dass ich sie nicht brauchen werde…“

„Das hoffe ich. Aber falls doch, achten sie darauf, dass sie mich nicht während dem Spiel der Hanshin Tigers gegen die Yomiuri Giants anrufen.“
 


 

*
 

Es begann bereits zu dämmern als Ray alleine in den Dojo kam. Vollbepackt mit Einkaufstüten, aber ohne seine Frau im Schlepptau. Max hatte damit richtig vermutet, dass er sie noch ins Hotel begleiten würde, auch wenn seine Freunde nicht so recht wussten, ob es ein gutes Zeichen war, dass er bei seiner Rückkehr so nachdenklich wirkte. Mit dem Kopf schien er jedenfalls nicht bei ihnen zu sein, erst nachdem sie ihm erklärten, dass es etwas mit Dizzy zu besprechen galt. Da schoss Rays linke Braue argwöhnisch auf.

Außerhalb von Kennys Reichweite, hatte die Bit Beast Dame ihnen selten etwas zu sagen. Vermutlich war es deshalb sogar besser, wenn Mariah nicht anwesend war, denn Dizzy schien nicht viel Wert auf unerwünschte Zuhörer zu legen. Als die Sonne untergegangen war, stapften die drei Männer durch die dunklen Gänge des Dojos, hinauf in Tysons Zimmer. Max ging voran und schaltete das Licht an, während Tyson sich wieder vor den Schreibtisch setzte, um den Laptop einzuschalten. Seine Freunde nahmen inzwischen auf den traditionellen Tatami-Sitzkissen auf dem Boden Platz, die Tyson für Besucher im Raum liegen hatte. Ohne Umschweife kam der auch sofort zur Sache, als der Bildschirm auflebte.

„Okay Dizzy. Mein Blade ist draußen im Garten und Ray auch hier. Du kannst also anfangen.“

Einen Moment blieb es still. Da hörten sie Dizzy erstaunt sagen: „Aber… Wo ist Kai?“

„Kai? Ich wusste nicht das du ihn auch gemeint hast?“

„Aber natürlich habe ich das! Das ist doch auch für ihn wichtig.“, entrüstete sie sich prompt. „Mir wäre es lieber wenn ich mich ganz heraushalten könnte! Auf eine zweite Erläuterung kann ich gut verzichten. Ihr habt ja keine Ahnung in was für eine Gefahr ich mich hier begebe!“

„Gefahr? “ fragte Ray und sah verständnislos zu Max, der ihm bedeutete ruhig zu bleiben. Doch er ignorierte ihn. „Wovor hast du bitte schön Angst? Du tust gerade so als würde dir jemand nach dem Leben trachten…“

„In gewisser Weiße stimmt das ja auch! Jedenfalls wenn herauskommt, dass ich zu viel plappere.“

Eigentlich hatte Dizzy schon immer viel geplappert, doch die jungen Männer waren klug genug, um diese Randbemerkung für sich zu behalten. Ray verschränkte inzwischen ungläubig die Arme vor der Brust und sah schnaubend zum Laptop.

„Du bist ein Bit Beast. Ein unsterbliches Wesen das nicht zerstört werden kann. Das Schlimmste was passieren könnte wäre das dein Laptop einen Trojaner kriegt. Und selbst dann könntest du jederzeit in dein Blade schlüpfen.“

„Und genau das ist die vollkommen falsche Denkweise! Ich hatte dich wirklich intelligenter in Erinnerung. Wie enttäuschend…“

Dieser Kommentar schlug Ray offensichtlich auf den Magen, denn er schnalzte einmal verächtlich, während seine Brauen sich zornig zusammenzogen. Sein Mund öffnete sich zu empörten Widerworten, doch bevor er zu einem Kontra auch nur ansetzten konnte, fuhr Tyson dazwischen, um unnötige Diskussionen zu vermeiden.

„Tut mir leid, Dizzy. Kai wird nicht kommen.“, er kratzte sich unangenehm berührt am Nacken. „Wir sind vor kurzem etwas heftiger aneinandergeraten.“

„Das war doch früher auch nie anders. Holt ihn gefälligst her! Das ist auch für ihn wichtig.“

„Kai will nichts mehr mit uns zu tun haben“, erklärte Max von seinem Platz aus. „Ich weiß nicht wovor du Angst hast, aber du musst auf ihn verzichten. Wir könnten im Moment betteln so viel wir wollen, er würde uns keine Sekunde zuhören.“

Das Bit Beast blieb eine ganze Weile stumm. Tyson dachte bereits, sie hätte sich aus Trotz ausgeklinkt, doch dann seufzte sie und meinte resignierend: „Na gut. Aber ich habe wirklich kein gutes Gefühl dabei. Wo fange ich bloß am besten an…“

Dizzys Stimme verstummte in einer kleinen Denkpause. Zumindest schlossen die jungen Männer es aus ihrem Schweigen. Nach kurzer Zeit fuhr sie aber auch schon fort.

„Ihr drei seid doch erfahrene Blader. Die Technik eines Blades ist sicherlich nichts Neues für euch. Aber wie sieht es mit dem Wissen über eure eigenen Bit Beasts aus?“

„Ich kenne Dragoon in und auswendig“, antwortete Tyson, mit stolz geschwellter Brust.

„Und doch hattest du keine Ahnung, dass er verschwunden ist. Ihr beide müsst ein Herz und eine Seele sein…“

Ihren ständigen Sarkasmus hatte Dizzy in den letzten Jahren wohl nicht abgelegt. Tyson biss sich ertappt auf die Unterlippe, denn leider traf sie damit voll ins Schwarze.

„Wisst ihr noch als Kai in Russland seinen kleinen Seitensprung zu den Demolition Boys hatte? Kurz darauf erschien Tysons Vater und hat euch einige seiner Entdeckungen über meine - nennen wir sie mal Verwandtschaft - präsentiert. Wie ihr deshalb schon wissen solltet, sind wir Bit Beasts uralte Wesen. Aber wenn ihr uns mit einem Wort beschreiben müsstet, wenn ihr uns definieren müsstet - als was für Wesen würdet ihr uns einstufen?“

Nur Ray dachte ernsthaft über diese Frage nach. Er verschränkte die Arme vor der Brust, senkte die Lider und sinnierte in sich hinein. Dagegen schienen Tyson und Max zu glauben, es handle sich hier um eine Quizshow, denn sie riefen wild durcheinander ihre Antworten in den Raum.

„Tiere!“

„Falsch…“

„Mutanten!“

„Ich bitte dich...“

„Ähm… Elfen? Oder nein, das klingt lächerlich.“

„Du sprichst ein wahres Wort, Max.“

„Mutanten!“

„Hör auf mit deinen blöden Mutanten, Tyson!“

„Aber was ist mit den Cyber Bit Beasts? Die waren doch Mutanten. Da verwette ich meine Werkstatt darauf!“

„Bit Beasts sind keine Mutanten! Merk dir das!“

„Geister?“

Die Antwort kam so ernst von Ray, dass seine Freunde neben ihm verdutzt verstummten. Tatsächlich fragten sich beide, weshalb sie nicht eher auf diese Idee gekommen waren und wie nicht anders zu erwarten, erwiderte Dizzy: „Wir haben einen Gewinner. Glückwunsch!“

Ray ging nicht weiter auf ihren Spott ein, sondern nickte nur knapp. Er hatte wohl aus reiner Intuition geantwortet. Eigentlich glaubte keiner von ihnen an Geister, auch wenn sie als Jugendliche immer der Meinung gewesen waren, dass Bit Beasts etwas Gespensterhaftes an sich hatten. Man konnte sie nicht berühren, ihre mysteriöse Art. Vieles sprach also dafür.

„Na schön. Dann hätten wir das geklärt.“, sprach Ray unbeeindruckt. „Was hat das aber alles mit Tysons Großvater zu tun?“

„Dazu komme ich jetzt.“, antwortete Dizzy und begann zu erzählen. „Wir Bit Beasts sind tatsächlich Geister. Nicht die Ketten rasselnde Version aus albernen Schauermärchen, sondern mehr naturverbundene Exemplare. Jedem Bit Beast steht ein Bereich eurer Umgebung zu. Wir sind eigentlich überall. Nur bleiben wir meistens eben unbemerkt. Zum Beispiel beherrscht Talas Wolborg über Eis und Schnee, während Brooklyns Zeus die Dunkelheit kontrolliert. Wir können uns sogar vermehren. Nicht wie ihr Menschen, aber trotzdem ist es möglich. Auch nicht durch künstliche Befruchtung, Tyson! Schluck die blöde Frage gefälligst hinunter!“

Prompt klappte dessen Mund wieder zu und er schielte ertappt zur Seite.

„Genau wie bei euch Menschen gibt es auch bei uns Generationen. Ich beispielsweise bin noch sehr jung. Mein erster Lebenstag begann mit der Erfindung des ersten elektronischen Gerätes. Deshalb bin ich in der Lage in einem Laptop zu hausen… Nicht ganz freiwillig zwar, aber naja, das lassen wir jetzt mal außen vor. Dann gibt es noch Exemplare, die sind so alt wie die Welt und stellen den Ursprung vieler weiterer meiner Art da. Ihr könnt euch dass wie die Geschichte von Adam und Eva vorstellen. Am Anfang dieses Planeten gab es nur wenige von uns. Die teilten ihre Aufgaben immer mehr in kleinere Bereiche auf, die dann wiederum ein anderes Bit Beast übernahm. Dabei entstanden noch mehr von unserer Sorte. Dem Bit Beast welches das Wasser kontrolliert, ist Wolborg beispielsweise untergeordnet. Ohne Wasser, kein Eis. Logisch, oder?“

Einstimmiges Nicken ging durch die Runde.

„Diese uralten Bit Beasts erkennt man an ihrer unglaublichen Stärke. Gegen eine solche Kraft komme ich nicht einmal ansatzweise an. Jede meiner Attacke wäre ein Ziepen gegen den kleinen Zeh.“, Dizzy gab ein wehmütiges Seufzen von sich. „Es macht mich traurig das einzugestehen, aber als Kämpferin habe ich noch nie getaugt. Dabei hätte ich Kenny so gerne stolz gemacht.“

Es kam in einem so melancholischen Ton, dass sie den jungen Männern Leid tat. Das ein Bit Beast auf diese Art und Weise fühlte war ihnen neu. Keiner hätte erwartet, dass sie etwas wie Enttäuschung und Trauer empfinden konnte. Oder sogar Scham. Max dachte wohl er sei verpflichtet etwas Aufmunterndes zu sagen, denn er sprach: „Du bist dafür eine ausgezeichnete Ratgeberin. Ohne deine Hilfe hätten wir mehr als einmal alt ausgesehen. Du bist eben in einem anderen Bereich begabt…“

„Das hast du lieb gesagt. Aber unter meines Gleichen zählt das nicht viel. In unserer Hierarchie bilden Bit Beasts wie ich das Schlusslicht. Gegen die alte Generation komme ich nicht an. Wenn sie also herausfinden, dass ich euch helfe...“

„Warum denn? Du hast uns sonst auch immer geholfen. Warum darfst du es jetzt nicht?“, brach die Frage aus Tyson heraus.

„Weil ich vermute, dass dein Großvater von einem der Uralten angegriffen wurde…“

„Was für Uralten?“

„Die uralten Bit Beasts. Die aller erste Generation.“

Stille kehrte ein. Max und Ray warfen sich ungläubige Blicke zu, bis letzterer den Kopf schüttelte und ein freudloses Lachen von sich gab.

„Das ist doch ein doofer Scherz?“, sprach er. „Ein Bit Beast soll Tysons Großvater angegriffen haben? Noch nie, wirklich noch nie, habe ich davon gehört, dass ein Bit Beast einen Menschen außerhalb einer Arena angreift!“

„Nur weil du es nie gehört hast, ist es nicht unmöglich. Menschliches Wissen ist doch sehr stark eingeschränkt.“

„Es war weit und breit kein Bit Beast in der Nähe, als ich den Raum betreten habe! Mr. Kinomiya war alleine im Zimmer als Mariah und ich ihn fanden. Warum sollte ihn außerdem eines angreifen? Er ist kein Blader, sondern ein alter Kendomeister im Ruhestand. Und ich bezweifle mal stark, dass er auf seine alten Tage noch damit anfangen will.“

„Wenn Bit Beasts nicht gesehen werden wollen, dann werden sie es auch nicht!“, Dizzy klang nun recht gereizt. Offenbar ärgerte sie Rays Verhalten. „Dieses Phänomen hatten wir doch auch schon bei Hiromi! Hast du vergessen wie schwer sie sich zu Anfang getan hat, eines zu sehen? Aber was den Angriff angeht… Wie gesagt, es ist erst Mal nur eine Vermutung. Ich weiß lediglich was man sich unter meinesgleichen erzählt.“

„Vermutungen helfen uns ni-… Moment. Unter deinesgleichen erzählt?“, fragte Tyson und blinzelte verstört auf den Bildschirm. „Ihr Bit Beasts redet miteinander?!“

„Natürlich. Dachtest du wir schlagen uns nur gegenseitig die Köpfe ein?“

Tyson überlegte kurz. Dann antwortete er wahrheitsgetreu mit einem: „Ja.“

„Warum überrascht mich diese Antwort nicht?“, kam die schnippische Bemerkung. „Wir haben mehrere Wege miteinander zu kommunizieren. Einige Methoden sind euch Menschen gar nicht bekannt.“

„Ist ja schon gut!“, gab Max ungeduldig von sich. Ihn hielt es nicht mehr auf seinem Sitzplatz. Langsam erhob er sich und trat an den Schreibtisch, um Dizzys elektronische Stimme besser zu verstehen. Er lehnte sich an die Tischplatte und sagte: „Seit du angefangen hast zu erzählen, war schon mehrmals die Rede von der alten Generation. Angenommen du hast Recht und eines dieser Bit Beasts hat tatsächlich Tyson Großvater angegriffen, was wären ihre Beweggründe? Immerhin hat Ray in diesem Punkt schon Recht. Außer als Zuschauer, hat Mr. Kinomiya doch nie etwas mit dem Bladen zu tun gehabt. Außerdem hatte ich Bit Beasts immer nur als friedliebende Wesen in Erinnerung…“

Dizzy zögerte lange mit ihrer Antwort.

„Ihr könnt euch nicht denken wer die Uralten sind?“

„Nein. Das interessiert mich auch nicht.“, Tysons Geduldfaden war bis zum Zereisen angespannt und genervt jammerte er. „Hör auf um den heißen Brei zu reden! Ich will wissen warum diese Mistviecher meinen Opa angegriffen haben!“

„Diese Mistviecher sind eure eigenen Bit Beasts!“

„WAS?!“, kam es wie im Chor. Es kehrte eine geschockte Pause ein.

In Tysons, Maxs als auch in Rays Brust zog sich etwas entsetzt zusammen. Keiner der jungen Männer konnte glauben was Dizzy ihnen da sagte. Ihre eigenen Bit Beasts, ihre treuen Begleiter aus Kinderzeiten, sollten tatsächlich einen alten Mann angegriffen haben? Diese Geschöpfe waren ihre Seelenverwandten, hatten ihr Innerstes widergespiegelt und wenn sie abhandengekommen waren, hatte man um sie getrauert, wie um einen verunglückten Angehörigen. Diese Wesen waren loyaler als manche ihrer Freunde, Bekannte und sogar Familienmitglieder. Die Zweifel lagen ihnen ins Gesicht geschrieben, genau wie der Unwille das Gehörte zu glauben und wieder kam ein trauriges Seufzen von Dizzy.

„Oh Jungs… Warum musstet ihr es auch so weit kommen lassen? Wie konntet ihr nur eure eigenen Bit Beasts so vernachlässigen.“, es lag ein vorwurfsvoller Ton in ihrer Stimme. „Ihr ward doch früher auch nicht so. Die Bindung die ihr zu ihnen gepflegt habt, war geradezu vorbildlich. Aber jetzt…“

„Wir sind keine Kinder mehr!“, empörte sich Ray und sprang nun auch auf. Nach dem Schock verspürte sein Körper wohl das Bedürfnis, sich in irgendeiner Art zu entladen und wenn es nur durch die hektischen Schritte geschah, die er im Raum machte.

„Ich habe eine schwangere Frau daheimsitzen, von deren Kind ich nicht einmal weiß, ob es mir gehört! Meine Ehe geht in die Brüche, ich habe vor kurzem die Scheidung eingereicht! Mir gehen dutzende andere Dinge durch den Kopf als irgendein Spielzeug!“

„Wie kannst du Driger nur als Spielzeug bezeichnen?“

„Oh verdammt nochmal! Du weißt doch genau wie das gemeint ist! Ich mag ihn, aber im Moment kommt er wirklich an letzter Stelle!“

„So siehst du das also?!“

Noch nie hatten die Männer Dizzys Stimme so wütend erlebt. Sie überschlug sich förmlich. Jeder Ton bebte vor Zorn und Max fuhr erschrocken von der Schreibtischplatte zurück, als der Bildschirm ihres Laptops sich rot verfärbte. „Spielzeuge?! Du benutzt uns ein paar kümmerliche Jahre deines Lebens und wenn sich keiner mehr dafür interessiert, legst du dein Blade in einer stinkenden Mottenkiste ab?! Oh ich könnte dich… Deine Ignoranz ist einfach unglaublich! Hätte ich Hände, würde ich dir links und rechts eine verpassen!“

„Schon gut! Nun bleib doch ruhig, ich habe es nicht so gemei-…“

„Natürlich hast du es so gemeint, Ray! Wisst ihr was? Alles was euch in Zukunft widerfahren wird geschieht euch zu recht! Ich dachte ich wäre euch der alten Zeiten willen etwas schuldig, aber für euch setzte ich mein Dasein sicherlich nicht aufs Spiel!“

„Warte Dizzy!“, bevor das wütende Bit Beast sich ausklinken konnte, fuhr Tyson dazwischen. Mit flehendem Blick schaute er auf den Monitor, auf dem Dizzys Stimme mit einem Multi Media Player projiziert wurde. „Dragoon war mein Freund! Er war seit Jahren in unserem Familienbesitz. Warum tut er meinem Großvater dass also an? Wenn wir so wenig von unseren Bit Beasts wissen, dann hilf uns sie zu verstehen!“

„Euch ist nicht mehr zu helfen!“

„Ich dachte du magst meinen Großvater? Tut es dir nicht leid um ihn?“, setzte Tyson nach. „Wenn du es nicht für uns tust, dann denk doch bitte an ihn! Was würde Kenny sagen, wenn er dich jetzt hören würde?“

Tyson war sich bewusst das seine Worte klangen, als wäre Kenny über den Jordan gegangen, aber wenn man bedachte wie viel der Chef in der letzten Nacht gebechert hatte, traf die Wortwahl ins Schwarze. Tatsächlich schien er mit diesen Sätzen sogar auf fruchtbaren Boden zu stoßen.

„Oh, ihr! Ihr könnt von Glück reden, dass Kenny so sehr an euch hängt! Mich hat er immer mit Fürsorge überschüttet, da wäre es von euch nicht zu viel verlangt gewesen, euren Bit Beasts ein paar Streicheleinheiten zu geben!“

Aus Angst Dizzy könnte bei Widerworten schnippisch reagieren, kamen keine Einwände mehr ihnen. Stattdessen fragte Max etwas zaghaft: „Bist du dir sicher, dass auch Draciel dabei war?“

„Nein.“, kam die Antwort knapp und Max atmete erleichtert aus. „Ich kann euch nur so viel sagen: Jedes eurer Bit Beasts ist verdammt wütend. Sowohl Dragoon, Driger, Draciel als auch Dranzer. Ob sie alle zusammen unter einer Decke stecken weiß ich nicht, aber da Dragoons Blade im Haus war, ist es wohl am naheliegendsten, wer für den Angriff verantwortlich ist.“

Dann sagte Dizzy mit einer gehörigen Portion Spott: „Ihr seid mir vielleicht schöne Weltmeister. Rühmt euch mit großen Taten und starken Blades, habt aber keinen Schimmer über die Wünsche und Bedürfnisse eurer Bit Beasts.“

„Was wünscht sich denn ein Bit Beast?“

„Nun, die Uralten wünschen sich vor allem Anerkennung und Respekt. Sie haben jahrelang für euch gekämpft und sich mit ihren Artgenossen angelegt. Glaubt ihr tatsächlich, dass sie dafür nicht eine Gegenleistung verlangen? Was ist ein Blader schon ohne ein Bit Beast? Nichts! Oder könnt ihr mir Jemanden nennen, der es in den letzten Jahren ohne ein Bit Beast, ganz nach oben geschafft hat? In dem Moment, in dem ihr eine Verbindung mit einem Bit Beast eingeht, seid ihr ein Leben lang an sie gebunden und dass ihr sie einfach fallen gelassen habt, bringt sie verständlicherweise zum Toben. Eure Bit Beasts sind so alt wie dieser Planet. In den frühen Anfängen eurer Zivilisation wurden sie sogar verehrt. Könnt ihr euch vorstellen, wie erniedrigend es für so stolze Geschöpfe sein muss, ausgerechnet von vier Rotzbengeln, wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen zu werden?“

Der letzte Satz schallte noch lange nach im Raum, ließ sie mit düsteren Überlegungen zurück. Vor allem Tyson war nicht wirklich klar gewesen, dass sein Bit Beast so wichtig war. Zwar stellte sein Vater Nachforschungen in diesem Bereich an, hatte auch herausgefunden das ältere Zivilisationen bereits von deren Existenz wussten, doch so richtig weitergekommen war er seit damals, mit seinen Ausgrabungen nicht. Es war auch länger her, seit Tyson mit seinem mit Abwesenheit glänzenden Erzeuger gesprochen hatte. Der letzte Stand der Ausgrabung war, dass man niemanden mehr fand, der sie überhaupt noch finanzieren wollte. Auch hier hatte die Finanzkrise ihre Spuren hinterlassen. Tyson rieb sich erschöpft die Augen und schüttelte erschüttert den Kopf.

Dragoon. Sein Dragoon…

Dieser mächtige Drache der ihm immer zur Seite gestanden hatte. Ausgerechnet sein eigenes Bit Beast sollte seinen Großvater angegriffen haben. Das war eine furchtbar bittere Pille für Tyson. Es fühlte sich an als wäre ihm hinterrücks ein Dolch in den Rücken gerammt worden. Wie ein Verrat. Dann…

Langsam aber stetig, ebbte die Enttäuschung ab und machte seiner Wut Platz. Dragoon war es nur darum gegangen, ihn für seinen verletzten Stolz zu bestrafen, doch sein Großvater hätte beinahe mit dem Leben bezahlt.

Na gut, Tyson hatte keine Ahnung wie ein Bit Beast dachte, fühlte oder was es sich wünschte, doch das Dragoon keinen Halt davor machte, ein Menschenleben auszuradieren, nur weil er sich in seiner Eitelkeit angegriffen fühlte, war schlichtweg unverzeihlich.

Ekel. Das erste Mal in seinem Leben ekelte ihn sein Bit Beast an.

„Das ist doch einfach nicht zu fassen“, zischte Tyson zwischen gefletschten Zähnen hindurch. Er musste sich bewegen. Sonst würde irgendetwas in seinem Zimmer gleich dran glauben müssen. Seine Fäuste ballten sich. Er fühlte die Blicke seiner Freunde in seinem Nacken, versuchte sich wirklich vor ihnen zusammenzureißen. Doch irgendwann überwältigte ihn der Zorn. Tyson verpasste dem Papierkorb neben seinem Schreibtisch einen Tritt, dass er scheppernd gegen die nächste Wand flog. Er sah seine Freunde geschockt zusammenfahren.

„Tyson, bleib ganz ruhig!“, rief Max beschwichtigend aus. „Wir kriegen das schon wie-…“

„Was kriegen wir hin?!“, fauchte er ihn wütend an. Mit giftsprühendem Blick, drehte er sich zu Max um, der bei seinem zornigen Gesicht, erschrocken nach Luft schnappte. „Verdammt Junge! Das ist mein Großvater! Dragoon wollte meinen Großvater töten! Verletzter Stolz hin oder her, aber einen alten Mann deswegen anzugreifen, ist unterste Schublade!“

„Es geht ihm doch besser…“

„Das macht es nicht ungeschehen!“, fauchte Tyson ihn an.

„Wow, Bro! Nun versuchen wir mal alle einen klaren Kopf zu behalten, okay?“

„Was mischt du dich da überhaupt ein?! Du kannst das doch gar nicht verstehen, Max! Du hast deine Eltern schließlich noch! Wenn du heimkommst, wartet eine normale Familie auf dich!“, fuhr Tyson ihn an. Gefangen in seinem Zorn, bekam er nicht einmal mit, wie Max vor ihm mit beschwichtigend erhobenen Händen zurückwich. Ray rief ihm etwas nebenan zu, dass aber nicht bis zu seinem Verstand durchdrang. Sein gesamter Frust platzte aus Tyson hervor. „Meine Mutter ist tot, mein Vater hat sich nie um uns geschert und Hitoshi ist ein egoistisches Arschloch! Ich habe nur meinen Großvater der mir beisteht! Und Dragoon hat das genau gewusst! Er wollte mich bestrafen, indem er mir meine einzige Familie wegnimmt! Meine Familie ist dieser Mann! Verdammt, wie würdest du dich fühlen, wenn irgend so ein Irrer deine Eltern abschlachtet?! Würdest du dem Mörder noch die Hand schütteln und ihn zum Kaffeekränzchen einladen?!“

In Anbetracht dieser geballten Wut, blieb Max nichts anderes übrig, als den Kopf zwischen die Schultern zu ziehen, während er nervös stammelnd nach der richtigen Wortwahl suchte. Tyson musste sich anhören, als würde er seinem Freund vorwerfen eine intakte Familie zu besitzen, während bei ihnen daheim Blut überhaupt nicht dicker als Wasser war. Doch er war zu zornig, um zu erkennen, wie unfair er sich gerade verhielt. Selbst Dizzy blieb bei seinem Wutausbruch lieber stumm. Zum Glück klingelte kurz darauf unten das Telefon und obwohl es eigentlich seine Aufgabe gewesen wäre, rief Max erleichtert aus: „Ich gehe dran!“

Etwas hektisch stieß er sich von der Tischkante ab und sah zu, dass er einen Sicherheitsabstand zu Tyson gewann. Dann verschwand er schnell aus dem Raum, ließ den Rest seiner Freunde dort zurück.

„War das wirklich nötig?“, fragte Ray prompt mit gerunzelter Stirn.

„Lass mich in Ruhe Mann! Ich habe allen Grund sauer zu sein!“

„Aber nicht auf Max! Du schreist ihn an, als hätte er etwas damit zu tun.“

Tyson schnaubte. Doch natürlich war ihm insgeheim klar, wie falsch er reagiert hatte. Nach einigen tiefen Atemzügen, kam er allmählich zur Besinnung, schloss die Augen und sprach: „Ja, tut mir leid.“

„Entschuldige dich nicht bei mir, sondern bei Max!“

Es gab nichts was Tyson weniger mochte, als sich für etwas zu entschuldigen. Er war noch nie gut darin, sich Verfehlungen einzugestehen und das war mit den Jahren nicht besser geworden. Dennoch versicherte er zähneknirschend, dass demnächst in Angriff zu nehmen.

„Ich bin auch nur ein Mensch…“, fügte er trotzig hinzu.

„Darfst du gerne sein. Aber in erster Linie bist du sauer auf Dragoon.“

„Ist ja gut! Ich mache es bald!“, versicherte Tyson noch einmal genervt, während er aufgebracht die Hände über den Kopf warf. Manchmal führte sich Ray auf, als sei er sein Vorschullehrer. Man bekam in seiner Anwesenheit ständig ein schlechtes Gewissen eingeredet, weil er doch so ehrenhaft war und alle anderen nicht.

„Konzentrieren wir uns auf den miesen Verräter Dragoon!“

Nun mischte sich Dizzy ins Gespräch ein.

„Er wäre nie zum Verräter geworden, wenn du ihm den verdienten Respekt entgegengebracht hättest.“

„Respekt rechtfertig bei euch also einen Mord? Herzlichen Dank, Dizzy! Jetzt weiß ich über euch Bescheid. Wenn ihr Bit Beasts so eine kranke Denkweise habt, wandert Dragoons Blade gleich mal unter den Hammer!“

„Himmel, nein! Tyson, mach das nicht!“, rief sie entsetzt aus. Der Bildschirm des Laptops verfärbte sich erneut. Dieses Mal wurde der Hintergrund aber bleicher, als würde Dizzy gerade ebenfalls aschfahl werden. „Du hast keine Ahnung wie wütend das Dragoon machen würde! Du legst dich mit etwas an, von dessen Macht du gar keine Vorstellung hast.“

„Also ich finde die Idee gar nicht mal so schlecht.“, warf Ray brüsk ein. Mit verschränkten Armen und einem strengen Blick, sprach er an Tyson gewandt. „Dragoon muss verschwinden! Keiner von uns weiß, wie weit er noch gegangen wäre, hätten Mao und ich nicht nach deinem Großvater geschaut. Wenn er wirklich so mordlustig ist, musst du zusehen, dass er keinen weiteren Schaden anrichten kann.“

„Nein! Bitte hört mir zu!“, rief Dizzy verzweifelt.

„Ich sehe keine andere Möglichkeit. Wenn Dragoon wegen ein wenig Vernachlässigung so ausflippt, kann Tyson niemals sicher vor ihm sein.“, hob Ray die Arme hilfos. „Einen tollwütigen Hund kann man auch nicht freilaufen lassen. So grausam es auch klingt. Tyson ist ein erwachsener Mann. Soll er seine Brötchen mit Blades verdienen? Ihr Bit Beasts scheint nicht zu begreifen, dass Menschen erwachsen werden. Die Zeit mit euch war schön und gut, aber es war nur unsere Kindheit. Die Realität ist hart und ernst. Ich würde an Tysons Stelle nicht anders handeln.“

„Den Blade zu zerstören wird das Problem nicht lösen! Nur verschlimmern!“

„Oo~oh!“, gab Tyson sarkastisch von sich. „Was will denn der böse Dragoon machen? Will er mich zerschmettern? Ein Blader ist deiner Meinung nach nichts ohne ein Bit Beast wert, aber was ist ein Bit Beast schon ohne einen Blader? Ich bin derjenige gewesen der den Starter gezogen hat. Ohne mich dreht sich Dragoons Blade keinen Millimeter!“

„Nimm den Mund nicht zu voll, Tyson! Du hast gesehen was Dragoon mit deinem Großvater angestellt hat. Glaubst du allen Ernstes, das er dafür sein Blade gebraucht hat? Ein Blade ist nichts weiter als ein lebloses Gefäß, in das wir schlüpfen, aber je stärker ein Bit Beast desto bessere Hüllen kann es sich aussuchen. Außerdem vergisst du welcher Tag heute ist.“

„Samstage gibt es im Dutzend billiger…“

„Nicht der Wochentag, Tyson! Wir haben einen Tag vor Halloween. Du hast Comics früher geradezu inhaliert und willst mir weiß machen, dass du die Sagen um diesen Tag nicht kennst?“

„Oh nicht doch…“, lachte Ray freudlos auf. Ein ungläubiges Kopfschütteln folgte. Dann lehnte er sich gegen Tysons Schreibtischplatte. Mit ungläubig aufgezogener Braue grinste Ray zu ihm hinüber. Dabei schaute er auf eine Weise, die wohl sagen sollte, dass er in Kürze die Geschichte vom Boogeyman erwartete. Selbst Dizzy schien den spöttischen Ausdruck zu erkennen und keifte: „Ja ja… Warte nur, kleiner Chinese. Die Ungläubigen trifft es in den Horrorfilmen nicht ohne Grund zuerst.“

„Das Klischee behauptet man eigentlich von Afroamerikanern, aber ich will mal nicht den Klugscheißer spielen. Trotzdem alle Achtung Dizzy. Ich muss schon sagen, fast hättest du mich überzeugt.“, Ray schien der Unterhaltung überdrüssig geworden zu sein und streckte sich ausgiebig, als sei nichts gewesen.

„Weißt du was Tyson? Ich glaube Dizzy ist leider nicht mehr die Jüngste. Unsere alte Dame wird senil und tischt uns Schauermärchen vom schwarzen Mann auf.“

„He! Das will ich überhört haben!“

Doch mit einem gelassenen Achselzucken tat Ray es ab.

„Hör mal Kumpel. Das mit deinem Großvater tut mir leid. Das weißt du hoffentlich auch. Aber ich bin mir sicher, es steckt eine vollkommen logische und vor allem medizinische Erklärung dahinter. Eine die den Faktor Bit Beasts nicht beinhaltet.“

„Und warum hat Opa dann von Dragoon gesprochen?“

„Ich weiß es nicht. Aber du musst dir im Klaren sein, dass er einen schlimmen Anfall hatte. Vielleicht hat er in diesem Moment halluziniert? Wer kann schon sagen was in so einem Augenblick in einem Menschen vorgeht?“, er trat an Tyson heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter, schaute ihn eindringlich an. „Das ganze kam mir schon von Anfang an spanisch vor. Du und Max und seid von diesem hohlen Geplapper richtig aufgewühlt. Lass dir vor lauter Sorge keine Ammenmärchen auftischen, okay?“

„Ihr seid zu mir gekommen. Nicht andersherum!“, stellte Dizzy klar.

„Und das war offensichtlich ein Fehler.“, schnauzte Ray den Bildschirm an. „Du hast die beiden richtig durcheinandergebracht! Erzähl ihnen doch nicht so einen Stuss!“

„Wenn ihr keinen Wert auf meinen Rat legt, kann ich ja gehen.“

Sie klang ziemlich eingeschnappt und wer hätte es ihr verdenken können. Früher hatten sie ihren Rat immer befolgt, nun stellte Ray sie quasi als eine Lügnerin dar. Der nahm auf ihre Gefühle allerdings keine Rücksicht und sprach: „Mach das. Und wir klappen den Laptop jetzt zu, gehen hinunter in die Küche und machen uns erst einmal einen Tee. Wahlweise mit einem Schuss Rum für deine Nerven. Dann werden wir erst einmal unsere Gemüter abkühlen und morgen früh schauen wir sofort nach deinem Großvater. Ist das ein Angebot?“

Tyson atmete aus und schloss die Augen. Rays Worte klangen so viel angenehmer als Dizzys düstere Warnungen. Womöglich sah er aus lauter Frust tatsächlich nur Gespenster. Genau wie gestern Nacht bei Kai…

Es war einfach lächerlich wie er sich hier aufführte. Geisterhafte Bit Beast die kurz vor Halloween erschienen, um sie das Gruseln zu lehren. Das klang doch dämlich und wieder musste Tyson sich innerlich ermahnen, endlich erwachsen zu werden. Es nützte nichts, die Ursache wo anders zu suchen. Er war dabei eine Hexenjagd zu veranstalten, nur um sich besser zu fühlen. Eigentlich lag der Fall glasklar dar. Etwas beklommen nickte Tyson seinem Gegenüber zu, was Ray ein mitleidiges Lächeln entlockte. Dann gab ihm sein Freund einen freundschaftlichen Klaps auf die Schultern und sagte: „Na siehst du. Ich wusste du kommst noch zur Ver-…“

Ray stoppte als die Tür zum Raum langsam geöffnet wurde und Max wieder hineinhuschte. Prompt drehten beide sich zum Neuankömmling um.

„Da bist du ja. Wer war dran?“, fragte Tyson. Dieses Mal war er darauf aus versöhnlicher zu sprechen. Er hatte sich schon gewundert, weshalb Max so lange telefonierte. Nicht dass es ihn stören würde, aber immerhin war dass sein Haus, da sollte er schon wissen, wer an der Strippe war. Wahrscheinlich hatte der arme Kerl sich aber erst einmal von Tysons Standpauke erholen müssen. Dem tat sein Ausraster inzwischen wieder leid. Doch bald bemerkte Tyson wie bleich Maxs Gesicht war. Er blieb stumm und schien mit seinen Gedanken ganz woanders. Sein Blick wirkte verstört, als stünde er unter Schock.

„Maxi, was ha-…“

„Mein Vater war gerade dran.“, unterbrach ihn dessen Antwort. Seine Stimme klang monoton. „Er hat mich auf dem Handy nicht erreicht, weil ich es im Hotel gelassen habe. Da hat er es hier versucht.“

„Okay. Und ist alles gut?“, hakte Ray irritiert nach. Er trat von Tyson zurück. Beide spürten das etwas nicht mit ihrem Freund stimmte. Sie alle kannten sich einfach zu lang, um so etwas nicht zu bemerken. Inzwischen lehnte Max sich kraftlos an den Türrahmen. Er ließ den Kopf sinken. Seine zitternde Hand fuhr durch das flachsblonde Haar auf seinem Haupt, dann sahen sie ihn schwer schlucken. Mit erstickter Stimme sprach er: „Meine Mum ist tot.“
 

Ende Kapitel 3
 

Von jetzt an war die Situation für Tyson klar.

Ihre Bit Beasts machten tatsächlich jagt auf ihre liebsten Angehörigen. Nachdem Max ihnen vom plötzlichen Tod seiner Mutter berichtet hatte, war er lange Zeit verstummt. Er blickte apathisch vor sich her und schien vollkommen unter Schock zu stehen. Tyson und Ray hatten mehrere Anläufe gebraucht um zu ihm durchzudringen, sprachen langsam auf ihn ein und erst dann bahnten sich die ersten Tränen über sein Gesicht. Max machte sich Vorwürfe dass er nach Japan gekommen war. Er warf sich vor ihren Tod nicht verhindert zu haben. Judy war Mitte vierzig gewesen, kein Alter in dem man behaupten konnte ein langes und erfülltes Leben geführt zu haben.

Erst nach einer Stunde brachen die näheren Umstände ihres Todes aus ihm heraus:
 

Max Vater hatte seinem Sohn berichtet, dass Judy vor fünf Stunden in seinen Laden gekommen war, während er die Regale für den heutigen Tag einräumte. Anfangs etwas ungläubig, doch letztendlich glücklich, hatte er die Hilfe seiner Frau dankend angenommen. Max Mutter musste wohl nach dem wortkargen Telefonat mit ihrem Sohn bemerkt haben, wie egoistisch sie geklungen hatte und war reumütig bereit gewesen Buße zu tun. Deswegen wollte sie eine Lieferung zu einem Kunden fahren, der etwas abgelegen außerhalb der Kleinstadt wohnte. Wegen der starken Zeitverschiebung war in den USA zu dieser Zeit noch nicht einmal die Morgensonne am Horizont aufgegangen. Zudem zog ein starkes Gewitter über den Ort und die Wolken entluden ihr kaltes Nass in Bächen auf die Straßen. Max Vater hatte seiner Frau noch angeboten selbst zu fahren, doch Judy wollte sich unbedingt nützlich machen und argumentierte damit, dass die Strecke hin und zurück keine Stunde dauerte. Also ließ er seiner Frau ihren Willen.

Doch nach zwei Stunden war sie immer noch nicht zurück…

Max Vater hatte immer wieder auf die Uhr gesehen, ab und zu auch mit dem Gedanken gespielt seine Frau auf dem Handy anzurufen. Doch sie hasste es bemuttert zu werden, deswegen übte er sich in Geduld.

Eine halbe Stunde verging.

Vielleicht hatte sie eine Freundin auf der Straße getroffen und vergaß die Zeit vor lauter Tratsch?

Eine Stunde mehr und Unruhe keimte in ihm auf.

Er rief auf ihrem Handy an… Niemand antwortete.

Er rief bei seinem Kunden an und fragte, ob Judy bereits da gewesen sei. Der ältere und etwas schwerhörige Mann bestätigte, dass sie ihre Ware vorbildlich abgeliefert habe und bereits vor Stunden wieder losgefahren sei.

Von da an saß Max Vater wie auf glühenden Kohlen. Er konnte sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren, beriet seine Kunden falsch und als er sich zum hundertsten Mal dabei ertappte, wie er mit sorgenvollem Blick auf die Uhr schielte, schmiss er kurzerhand alle Besucher raus, um sich mit seinem Auto auf die Suche nach seiner Frau zu machen.

Als er gerade die verglaste Eingangstür zum Laden abgeschlossen hatte, klopfte in jenem Moment eine Person an die Scheibe. Ein Polizist stand draußen im Regen und bat darum eingelassen zu werden.

Von diesem Moment an wusste Maxs Vater dass etwas Schlimmes passiert sein musste…

Der Beamte berichtete ihm, dass sie einen kleinen Lieferwagen weit abseits der Straße, in einem Flussbett entdeckt hatten. Auf dem Wagen seien das Logo und die Adresse vom seinem Laden gewesen, deswegen wäre der Polizist jetzt hier. Als Max Vater dem Beamten voller böser Vorahnungen erklärte, seine Frau sei vor Stunden mit dem Fahrzeug weg und das er schon krank vor Sorge sei, sah ihn sein Gegenüber bedauernd an. Der Polizist hatte sicherlich versucht mit viel Taktgefühl zuarbeiten, trotzdem fühlte es sich an als würde sein Herz zersplittern, als Max Vater hören musste:

„Es tut mir Leid ihnen das sagen zu müssen, aber unglücklicher Weise haben wir hinter dem Steuer die eingeklemmte Leiche einer Frau gefunden. Der Innenraum des Wagens war vollkommen überflutet. Wir sind uns sicher das ihre Frau… ertrunken ist.“

Das war das Einzige was bisher mit Sicherheit gesagt werden konnte.

Was Rätsel aufgab war die Frage wie Judy so stark von der Fahrbahn abkommen konnte. Zuerst nahm man an der starke Regen sei Schuld gewesen, doch das Flussbett war fast zwei Kilometer von der Straße entfernt. Nun ging man entweder von Fremdverschulden aus oder noch wahrscheinlicher - Selbstmord. Selbst bei einem Unfall mit einem anderen Auto wäre der kleine Lieferwagen niemals so Weit von der Straße abgekommen.
 

Doch Max wusste es besser…

„Das war kein Selbstmord. Ich kenne meine Mutter. Sie hätte sich niemals das Leben genommen. Sie hatte ihre Probleme, aber sie war viel zu ehrgeizig um sich hängen zu lassen. Sie würde Dad und mich niemals alleine lassen… Das war kein Selbstmord!“, sagte er in verschwörerischem Ton. Es war einer dieser Momente, in denen seine Emotionen von Trauer zu Wut umsprangen, was in unregelmäßigen Intervallen geschah. Einmal wollte Max minutenlang nicht angesprochen werden, sah todunglücklich vor sich her, dann kochte der Zorn hoch und er verfluchte die Welt. Dabei bekamen alle ihr Fett ab. Sein Vater, er selbst und vor allem Draciel!

Für Max stand fest dass sein Bit Beast die Finger im Spiel hatte. Es konnte kein Zufall sein, dass Tysons Großvater angegriffen wurde, Dizzy ihnen von ihrer düsteren Vorahnung erzählte und kurz darauf seine Mutter starb.

Sogar Tyson fuhr er zwischenzeitlich an.

Vor nicht einmal einer Stunde hatte er Max vorgeworfen, er wüsste nicht wie es sei keine Familie zu haben und nun war seine Mutter tot. Zwar war das damals nicht so gemeint gewesen, trotzdem ließ Tyson Maxs Wut über sich ergehen. Wenn es seinem alten Freund in irgendeiner Weise Linderung verschaffte, konnte er ihn so lange anschreien wie er wollte.

Ray schien nach Maxs Erzählung seine Zunge verschluckt zu haben. Entsetzt saß er neben ihm auf dem Bett und versuchte sich scheinbar einzureden, dass diese unglückliche Aneinanderreihung von Unfällen nur ein Zufall war. Sein rationaler Verstand stand im Konflikt mit der Befürchtung die sich in seinem Herzen ausbreitete.
 

Ausgerechnet jetzt schien nur noch Tyson einen klaren Gedanken fassen zu können.

Als Max sich wieder in einer dieser Phasen befand, in denen seine Trauer überhand gewann und trostlos vor sich hinstarrte, verließ er den Raum und kam mit ihren Mänteln zurück. Wortlos warf er sie seinen Freunden in den Schoß, ging an den Schreibtisch und klappte Dizzy zu. Dann schlüpfte er in seine schwarze Winterjacke.

Ray sah einige Minuten verdutzt auf seinen dunkelgrauen Mantel hinab, bis er schließlich fragte: „Was soll ich damit?“

„Anziehen. Was denn sonst?“

„Warum?“

Tyson seufzte und zog den Reißverschluss hoch.

„Ich weiß dass du nicht an Dizzys Geschichte glaubst, aber das alles kann kein Zufall mehr sein. Wir fahren sofort zu Kai! Ich habe ein verdammt beschissenes Gefühl bei dem Gedanken, dass sein Bit Beast ihm auflauern könnte.“

„Kai wird uns nicht mal zuhören!“, warf Ray mit einer hilflosen Geste ein. „Ich kann das Ganze hier selber noch nicht begreifen, was glaubst du wird Kai dann erst sagen?“

„Wir müssen zu ihm. Wir müssen ihn warnen!“

„Er wird uns die Tür vor der Nase zuschlagen! Ach was rede ich da, wir werden nicht einmal durch das Einfahrtstor kommen! Wer sagt, dass wir nicht unnötig die Pferde scheu machen? Wer sagt, dass das alles nichts weiter als ein unglücklicher Zufall ist?“

„Kannst du mir das Gegenteil beweisen?“, fragte Tyson herausfordernd, wobei seine Stimme bedrohlich laut wurde. Mit wütendem Blick sah er auf seinen Freund hinab. „Kannst du mir beweisen dass das alles nur ein Zufall ist? Nein! Und ich gehe kein Risiko mehr ein. Wir hätten von Anfang an auf Dizzy hören sollen. Stattdessen haben wir uns eingeredet wie schwächlich unsere Bit Beasts ohne uns sind. Judy ist tot, Ray! Wer wird als nächstens dran sein? Mein Großvater, Maxs Vater, Kais kleine Schwester oder vielleicht sogar deine schwangere Frau?“

Bei diesem Gedanken blieb Rays Herz für den Bruchteil einer Sekunde stehen. Dann hob er beschwichtigend die Hände, griff anschließend in seine Jackentasche und zog sein Handy raus.

„Erst einmal rufen wir Kai an. Wenn er nicht rangeht fahren wir sofort los. Versprochen.“

„Er geht nicht ans Telefon! Er ist immer noch wütend auf uns!“

„Und genau deswegen versuche ich es erst gar nicht auf seiner privaten Nummer.“

Tyson rollte entnervt mit den Augen, ließ aber zu dass Ray seine Nummer unterdrückte und anschließend Kais Firmenhandy anwählte. Ungeduldig stand er daneben, tippte mit seinem Fuß einen nervösen Rhythmus und verschränkte die Arme vor der Brust.

Plötzlich summte etwas in seiner Jackentasche.

Fluchend griff Tyson hinein und zog etwas hervor – Kais Firmenhandy.

Erst jetzt fiel ihm ein dass er es ihm im Restaurant abgenommen hatte. Bei dem heftigen Streit gestern hatte er nicht daran gedacht es ihm zurückzugeben.

„Okay. Das war ein göttliches Zeichen. Wir fahren los!“

Ray seufzte, gab sich aber geschlagen. Er raffte sich auf und zog seinen Mantel über. Dabei schweifte sein Blick zu Max, der noch immer verbittert und voller Kummer vor sich hin starrte. Wie er so verzweifelt auf dem Bett saß, noch unfähig das Geschehene zu begreifen, wirkte er wie ein kleines verlorenes Kind. Ray ging langsam vor ihm in die Hocke und sprach leise auf ihn ein: „Max, komm bitte mit. Wir können dich nicht alleine lassen. Wer weiß was noch passiert?“

Dann zog er ihn mit sanfter Gewalt auf die Beine, was sein Freund wortlos über sich ergehen ließ und half ihm in seine Jacke, während Tyson sich Dizzy unter den Arm klemmte und hektisch seine Autoschlüssel suchte.
 


 

*
 

Mit trägem Blick sah Kai auf die schwachen Flammen die noch im Kamin züngelten. Die Restwärme, die das abebbende Feuer noch von sich gab, umhüllte ihn und fühlte sich angenehm auf der Haut an, machte ihn aber auch schläfrig. Einpaar Mal sanken seine Augenlider langsam hinab, doch irgendwann richtete er sich vom Sessel auf und rieb sich müde über das Gesicht.

Er konnte noch nicht schlafen. Jana musste noch ins Bett gebracht werden.

Die letzten Bediensteten hatten vor einer halben Stunde das Anwesen verlassen. Zu Lebzeiten seines Großvaters hausten sie noch in einem der vielen Zimmern im obersten Stockwerk. Doch Kai hatte es schon als kleiner Junge gehasst, von morgens bis abends beaufsichtigt zu werden und nach Voltaires Tod, wurde das Dienstpersonal kurzerhand in die Innenstadt umquartiert und er kam stattdessen für die Hotelrechnungen auf.

Er brauchte das Haus abends für sich alleine – und für Jana.

Das Mädchen thronte unweit von ihm auf einem Kinderstuhl und malte auf einem kleinen Tisch geistesabwesend vor sich her. Wenn sie in ihre Malereien vertieft war schien sie ihrem Bruder immer unerreichbar, als hätte sie sich in einer fremden Welt verloren. Kai stützte seinen Ellbogen an der Seitenlehne ab und bettete seinen Kopf in die Hand, beobachtete die winzigen Kinderhände wie sie mit einem Wachsstift ihre Striche über das Papier zogen. Dann huschte ein Lächeln um seinen Mundwinkel.

Jana war heute zwar schlecht gelaunt gewesen, trotzdem genoss er ihre Anwesenheit. Obwohl es traurig war, dass sie diese Krankheit besaß, wusste er dass sie zu einem grundguten Menschen heranwachsen würde. Sie war hilfsbereit, verspielt, ehrlich, neugierig und suchte gerne Zärtlichkeiten.

Alles was Kai nicht war…

Manchmal konnte er nicht glauben dass sie tatsächlich verwandt waren. Selbst ihr Äußeres war gegensätzlich. Alle in seiner Familie hatten dunkles Haar, nur Jana tanzte mit ihren hellbraunen Haarschopf aus der Reihe. Selbst die dunklen Knopfaugen passten nicht in das Familienbild. Etwas was sie der väterlichen Seite verdanken musste. An manchen Tagen hätte Kai zu gerne gewusst mit wem sich seine Mutter da eingelassen hatte?

Eine lange edle Standuhr mit einem vergoldeten Pendel im Innern, erinnerte ihn mit einem Läuten daran wie spät es war.

20 Uhr. Die Kleine brauchte ihren Schlaf.

Kai erhob sich von seinem Platz, trat zu seiner Schwester und kniete sich zu ihr herab. Das kleine Mädchen beachtete ihn nicht, sondern malte eifrig weiter, dabei stand ihr Mund offen, als wäre sie selbst erstaunt, was sie da auf Papier bannte. Behutsam strich er ihr über den kleinen Kopf und fragte:

„Was malst du da Jana?“

„Katze…“

Natürlich.

Sie malte immer Katzen.

Sie war eine Katzennärrin.

Doch eine Gemeinsamkeit die sie hatten. Vielleicht sollte er ihr eine schenken? Bei der nächsten Gelegenheit würde er Dr. Hamilton fragen, ob das ein Problem bei Trisomie kranken Kindern war. Vorsicht war besser als Nachsicht.

„Möchtest du nicht morgen weitermalen?“

„Nein.“ Sie sah immer noch nicht auf.

„Nicht einmal wenn ich dir etwas vorlese?“

Das Mädchen schüttelte verneinend den Kopf, aber so schnell das ihr schwindlig wurde und sie ein verwirrtes „O~oh!“ von sich gab. Kai lachte leise und strich ihr eine freche Strähne aus dem Gesicht. Dann umfasste er die kleine Hand die den Wachsmalstift umschlossen hielt, legte ihn behutsam ab und versuchte Blickkontakt aufzubauen. In einem verschwörerischen Flüsterton, als würden beide ein Geheimnis austauschen, fragte er:

„Nicht einmal wenn ich dir deine Lieblingsgeschichte vorlese?“

Endlich sah Jana auf und schenkte ihm ein glückliches Lächeln, wobei eine Zahnlücke zum Vorschein kam. Dann schob sie eifrig den Stuhl nach hinten und schlang sich ihrem Bruder um den Hals, klammerte sich an ihn wie ein kleines Äffchen.

„Peter Pan!“, jubilierte sie. Sie liebte die kleine Elfe in der Geschichte, hatte es aber noch nie geschafft, bis zum Ende wach zu bleiben. Also das perfekte Mittel um sie zum Schlafen zu bewegen. Kai grinste, stemmte sich mit dem Kind auf dem Arm hoch und streichelte ihr über den Rücken, während sie ihren Kopf auf seine Schultern bettete. Manchmal war er selber erstaunt wie feinfühlig er mit ihr umging. Als Jugendlicher wäre ihm das nie gelungen.

Mit dem freien Arm nahm er den Schürhaken von der Halterung neben dem Kamin und drückte damit die restliche Glut zwischen der Asche aus, die nur noch spärlich vor sich hin glomm. Dann hängte er das Werkzeug wieder zurück und machte die übrigen Lampen aus. Erst danach trat er mit seiner Schwester aus dem dunklen Raum und schloss die schwere eichene Tür hinter sich.
 

Während Kai Jana im Obergeschoss in ihre Decken hüllte und mit ansah, wie sie freudestrahlend ihr Lieblingsbuch unter dem Kissen hervorzog, ahnte er nicht dass die schwache Glut im Kamin noch eine ganze Weile vor sich hin brannte. Wie mystische Augen funkelte sie, schien durch den dunklen Raum zu starren und einen Blick in die wohlhabende Behausung zu erhaschen, als wäre sie ein Einbrecher, der neugierig durch das Fenster ins Haus spähte.

Plötzlich entflammte die Glut zwischen der Asche von neuem auf, loderte ohne Brennholz weiter und ein kleiner Funke schoss weit ins Innere des Raums, kam aber nicht auf dem teuren Teppich zum Liegen, sondern flog anmutig über ihn hinweg.

Wie eine kleine Elfe die sich graziös ihren Weg bahnte…
 


 

*
 

„Wisst ihr was das Schlimmste an der Sache ist?“, fragte Max matt und lehnte seinen Kopf gegen die Autoscheibe. Tyson verneinte und auch Ray spitzte die Ohren auf dem Rücksitz.

„Heute Morgen habe ich noch gedacht was für eine nervtötende Plage Mum ist. Was bin ich für ein Arschloch…“

„Du konntest nicht wissen das so etwas passiert.“, erwiderte Tyson.

„Muss es erst soweit kommen?“

Manchmal war die beste Antwort keine Antwort. So blieb Tyson stumm. Jedes aufmunterte Wort hätte sich wie eine leere Floskel angehört.

„Tut mir Leid Max“, sprach Dizzy vom Rücksitz aus. Gleich nachdem die drei im Auto saßen, hatte Ray den Laptop auf seinem Schoß aufgeklappt und Kontakt mit dem Bit Beast aufgenommen. Selbst sie war erschüttert über die brutale Vorgehensweise ihrer Artgenossen und machte sich Vorwürfe, da sie die Zeichen nicht eher erkannt hatte. Der schreckliche Tod von Judy hatte die Gruppe die vorherige Auseinandersetzung vergessen lassen.

Bit Beast und Menschen waren bereit zusammenzuarbeiten.

Max war zu erschöpft um ihr zu antworten und in die aufkommende Stille hinein, fragte Ray:

„Dizzy, weißt du wie wir uns vor ihnen schützen können?“

„Wenn es so einfach wäre“, seufzte sie. „Ich weiß es leider nicht. Sonst könnte ich mich selbst auch schützen.“

„Was würde mit dir passieren wenn sie herausfinden dass du uns hilfst?“

„Sie würden mein Dasein auslöschen. Die meisten meiner Art stammen von den Uralten ab. Ich bin nur ein schwächliches Bit Beast und sie könnten mir problemlos mein Leben nehmen. Ein starkes Bit Beast wie Zeus oder Wolborg könnte sich da eher wehren. Kennt ihr die Vier-Elemente-Lehre? Demnach besteht alles Sein aus den vier Grundelementen Feuer, Wasser, Luft und Erde. Es dürfte euch nichts Neues sein, dass jedes eurer Bit Beasts eines dieser Elemente beherrscht.“

Das war es auch nicht. Ihnen war bereits als Kinder aufgefallen welchem Zufall das gleichkam.

„Das ist ein weiterer Grund warum sie schon immer so mächtig waren. Diese Elemente sind die Basis jedes Lebens. Mich könnten sie ohne weiteres zerstören. Wahrscheinlich würden sie statt meiner ein schweigsameres Bit Beast an meine Stelle setzen. Was würde dann aus meinem armen Kenny werden?“

Der traurige Ton lag ihm wie ein Stein im Magen und obwohl er wusste wie abhängig sie von Dizzys Wissen waren, sagte Tyson:

„Du musst uns nicht helfen. Wenn du willst fahre ich dich sofort wieder zu Kenny. Wir sind dir nicht böse.“

„Ich habe euch bereits zuviel gesagt. Es ist zu spät.“

Einpaar Sekunden herrschte Stille im Wagen, bis Ray fragte:

„Warum wolltest du eigentlich dass Tyson sein Beyblade aus dem Haus schafft?“

„Für den Fall das Dragoon unbemerkt wieder hineinschlüpft und mitbekommt, wie ich euch helfe.“

„Konnten unsere Bit Beasts das schon immer? Einfach aus ihren Blades schlüpfen und… Menschen töten?“

„Aus Blades schlüpfen können wir jederzeit, aber nur in Verbindung mit unserer Welt. Wenn ihr wüsstet wie viele Bit Beasts sich in der Geisterwelt tummeln, während ihre Besitzer nachts friedlich schlafen, würdet ihr staunen. Doch was das töten angeht… Um Menschen richtig anzugreifen brauchen wir ein bewegliches Gefäß. Eines das ohne fremde Hilfe steuerbar ist. Dazu gehört aber Kraft! Und die holen wir uns aus Emotionen. Eure Bit Beasts werden zurzeit aus purem Hass angetrieben. Ihre Wut auf euch war sicher der Schlüssel zu ihrer Macht. Sie müssen über die Jahre soviel Zorn angefressen haben, dass ihnen das eine Unmenge an Energie verschafft hat. Die bevorstehenden Halloweentage werden dann ihr übriges getan haben.“

„Also stimmt der Aberglaube?“

„Hinter jedem Aberglauben steckt ein Funke Wahrheit. Die letzten zwei Tage vor Halloween beginnt die Schwelle zwischen der Geister und Menschenwelt zu schwinden. Das macht die Geister die in eurer Welt leben stärker. Am 31 Oktober erreicht ihre Macht schließlich den Höhepunkt. In dieser Zeit können Bit Beasts über ihre Grenzen hinauswachsen. Wenn sie euch also angreifen wollen haben sie nur bis zum letzten Oktobertag Zeit.“

„Danach müssten wir also wieder sicher sein. Wenigstens bis zum nächsten Jahr…“, bemerkte Ray trocken.

„Wir sind da“, verkündete Tyson endlich. Sein Wagen hielt einpaar Meter neben einem schmiedeeisernen Einfahrtstor. Dahinter führte ein sanft geschwungener Kiesweg über eine weite, mit vereinzelten Weiden verzierte Rasenfläche, während im Hintergrund das stolze Hiwatari Anwesen emporragte.
 


 

*
 

Nichts von all dem ahnend, brühte Kai sich in der geräumigen Küche einen Kaffee auf. Während der Wartezeit rauchte er eine Zigarette und hing seinen Gedanken nach, dabei schweifte sein Blick durch den Raum.

Die Küche war der einzige Teil des Hauses, der nach Voltaires Ableben nicht der Restaurierungswut seines Enkels zum Opfer gefallen war. Obwohl ihn alles störte was ihn an seinen verbohrten Großvater erinnerte, hatte die altmodische Küche doch einen gewissen Charme. Bis spät in die Nacht waren seine Mutter und er hier gesessen, hatten sich über die vergangenen Jahre unterhalten und über den griesgrämigen Großvater.

Sich mit der einen Hand die Schläfe massierend, drückte er die Zigarette in einem Aschenbecher aus und nahm anschließend die Kanne aus dem Kaffeekocher. Den hatte er bitter nötig. Er war nie der große Säufer gewesen und die gestrige Nacht mit seinen „Freunden“ hatte auch an seinen Kräften gezerrt – er wusste das nur besser zu vertuschen als andere.

Nachdem Jana friedlich im Bett eingeschlafen war, wollte er sich noch die Zeit nehmen, einpaar Dokumente seiner Firma durchzublättern. Dabei ging es um einige Patentrechte, Dinge die er mit den Jahren gelernt hatte im Schlaf abzuarbeiten.

Kai war sich bewusst, dass er sich mit seinem Alter eine ganze Menge Verantwortung aufgebührtet hatte, doch nachdem seine Mutter abgehauen war, wollte er sich nie mehr auf jemanden blind verlassen. Insgeheim erfüllte es ihn sogar mit Stolz wie er alles alleine bewerkstelligte. Deswegen passte ihm sein gestriger Ausrutscher umso weniger.

Tyson könnte denken er bräuchte Hilfe, die er definitiv nicht brauchte.

Mit Engagement, Kaffe und einpaar Stunden Schlafverzicht war alles zu schaffen!

Den Rest erledigten blaue Gauloise.
 

Doch indem Moment in dem Kai seine Tasse füllte erklang die Türglocke. Überrascht sah er auf, legte die Kanne weg und schritt zu einem kleinen, in der Wand eingelassenen Monitor, neben dem Hinterausgang, der zum Garten führte. Der einzige neumodische Schnickschnack in diesem Raum. Er drückte auf eine der Tasten. Als er Tyson und Ray vor dem Einfahrtstor stehen sah, war er nicht minder überrascht – aber auch nicht minder verärgert.

Tyson hielt die Klingel wohl für ein Spielzeug, denn in unregelmäßigen Abständen drückte er immer wieder drauf.

Noch mal…

Und noch mal…

Und noch mal…

Bis er spaßeshalber die japanische Nationalhymne läutete.

Genervt schloss Kai die Augen und atmete ruhig aus. Tyson setzte gerade zu einer Fortsetzung an, als er den Hörer neben dem Display abnahm und barsch antwortete:

„Die Klingel funktioniert! Danke das du dich davon überzeugt hast!“

Er sah wie Tyson sich über die Sprechanlage beugte und entschuldigend in die Kamera grinste.

„Tut mir Leid. Bei dir muss man immer etwas hartnäckiger sein. Ich hoffe ich habe niemanden geweckt.“

„Das hoffe ich auch…“

„Also schläft Jana schon. Hmm… Vielleicht ist das sogar ganz gut. Mach mal bitte die Tür auf. Wir müssen dringend mit dir sprechen!“

Obwohl er es seltsam fand, wie ernst Tysons Miene geworden war, entgegnete Kai nur verächtlich: „Scher dich zum Teufel!“

Dann knallte er den Hörer auf und schaltete mit einem weiteren Knopf die Klingel ab. Er wollte sich gerade abwenden, als er auf dem Display beobachtete, dass keiner von beiden anstallten machte sich zu entfernen. Stattdessen schienen sie sich zu beraten, bis Ray auf das Tor deutete und beide sich zunickten. Tyson zog seine Jacke aus und warf sie achtlos auf den Boden, während Ray leicht in die Hocke ging, seine Hände ineinander hakte und seinem Freund entgegenstreckte. Dann trat Tyson auf die Räuberleiter und kletterte flink über das hohe Tor auf die andere Seite, verschwand damit auch aus dem Sichtfeld der Kamera.

„Das darf doch nicht…“, sagte Kai genervt und wandte sich vom Bildschirm ab. Er schritt aus der Küche hinaus, durch die angrenzende Eingangshalle zum Haupteingang und riss die Tür auf und da stand Tyson bereits keuchend, stützte sich mit den Armen links und rechts von der Tür ab. Er hatte den Weg in einem schnellen Spurt hingelegt. In der Erwartung Kai würde ihm die Tür wieder vor der Nase zuschlagen, sagte er beschwichtigend:

„Warte! Okay? Es ist wichtig! Wir müssen reden!“

„Hau ab!“

„Du musst dir anhören was ich zusagen habe!“

„Ich kann auf deine Entschuldigung verzichten…“

„Ich will mich nicht entschuldigen.“

Das war die falsche Antwort. Kai ließ die Tür wieder zuknallen, doch Tyson schob seinen Fuß zwischen die Öffnung und…

„ARGH!!!“

… jaulte schmerzhaft auf als das schwere Material seinen Fuß einquetschte.

„VERFLUCHTE DRECKS-…“

„Sei still, du weckst meine Schwester!“

„SCHEIßE! VERDAMMT!“

„Tyson! Halt die-…“

„Zum Teufel mit dir! Was ich deinetwegen alles auf mich nehmen muss!“ In einem irrwitzigen Tanz hielt er sich den schmerzenden Fuß und hüpfte auf der Stelle, konnte es aber nicht unterlassen tobend Himmel und Hölle zu verfluchen. Mit verschränkten Armen beobachtete Kai seinen Gegenüber, zog eine Braue in die Höhe und konnte nicht anders als ihn für ein riesiges Weichei zu halten.

„Mir ist noch nie ein melodramatischerer Kerl untergekommen.“

„MELODRAMATISCH?!“, wiederholte Tyson empört. Allein diese arrogante Wortwahl brachte ihn auf die Palme. Für die Zukunft nahm er sich vor, Kais Sturkopf, statt seinen Fuß zwischen die Tür zu klemmen. Es würde weniger Schmerzen mit sich bringen und den bewusstlosen Esel könnte er anschließend ins Auto zerren – verdammt, wieso war ihm das nicht eher in den Sinn gekommen?!

Zaghaft setzte Tyson den wunden Fuß wieder auf den Boden ab, verlor dann aber keine Zeit mehr. Mit beschwörendem Blick sprach er:

„Kai. Jana und du, ihr seid in Gefahr!“
 


 

*
 

Nebenan drehte der kleine Lichtpunkt seine Runden im Raum, flackerte unscheinbar vor sich hin, bis er vor der schweren Tür zum Stehen kam. Zuvor noch so groß wie ein Tennisball, schrumpfte er plötzlich ins sich zusammen und war mit dem bloßen Auge kaum mehr zu erkennen. Dann schlüpfte er durch das altmodische Schlüsselloch hinaus, dessen Metallränder es zum Schmelzen brachte.

Die Tür in der Eingangshalle stand offen und der junge Herr des Hauses stand, den Rücken zugewandt, im Türrahmen, hörte gelangweilt den impulsiven Erzählungen seines Gastes zu. Der Unglaube lag ihm ins Gesicht geschrieben.

Unbemerkt schwebte der Leuchtfunken eine massive und äußerst edle Treppe hinauf in den ersten Stock, den mit Teppichen ausgelegten Flur entlang, zu einem Zimmer auf der linken Seite, dessen Tür einen Spaltbreit geöffnet stand.

Lautlos glitt er in den dunklen Raum und schwellte an, bis seine Umgebung immer heller erleuchtet wurde. Vor ihm in einem schönen Himmelbett, mit silbrigweißen Vorhängen, lag ein schlafendes Mädchen und schlummerte leise vor sich hin – wie eine kleine Prinzessin.

Unter der dicken Daunendecke, wirkte sie mit ihrer kleinen Statur, geradezu schmächtig. Der Lichtkegel segelte sanft zum Bett und umkreiste es verspielt. Pendelte sich näher heran, bis das kleine Kind von dem hellen Leuchten geweckt wurde.

Sie schlug die Augen auf und blinzelte schlaftrunken. Dann richtete sie sich auf und entdeckte den Lichtpunkt. Mit offenem Mund und aus unschuldigen Augen sah sie ihm nach. Schließlich huschte ein Lächeln über ihre Lippen und freudestrahlend rief sie: „Elfe!“

Der Leuchtfunken beendete seine Bahnen, sank stattdessen langsam auf die Decke am Fußende des Bettes hinab.

„Tinkerbell!“, klatschte das Mädchen begeistert und hüpfte auf und ab. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Endlich konnte sie die Elfe aus ihren Geschichten kennenlernen. Dieses wunderschöne Geschöpf das ihren Helden Peter Pan begleitete.

Als der Funken die Decke berührte sah das Kind gespannt darauf herab, fasziniert von diesem merkwürdigen Wesen. Doch dann zog sich ein kleiner Rauchfaden in die Höhe, wurde dichter und größer…

Dort wo der Funken die Decke berührte, fraß sich ein schwarzes Loch in den Stoff und hinterließ nur seltsames graues Pulver. Das sah nicht wie der glitzernde Feenstaub von Tinkerbell aus…

Plötzlich schwoll der Funken an. Wurde größer und größer, brachte einen seltsamen Geruch mit sich und das kleine Mädchen erinnerte sich daran, so etwas schon einmal gerochen zu haben, als ihr Kindermädchen einmal den Herd angelassen und ihre Schürze darauf abgelegt hatte. Ein panischer Schrei war der jungen Frau entwichen und schnell hatte sie die glimmende Stelle mit dem Fuß erstickt. Ihr Bruder war sehr böse gewesen und ein neues Kindermädchen war von da an gekommen.

Feuer hatte Kai das genannt.

Feuer war gefährlich.

Sie durfte nicht mit Feuer spielen.

Das hatte Kai verboten!

Als die kleine Prinzessin bemerkte, wie heiß es unter ihrer Bettdecke wurde glitt sie darunter hervor und torkelte verstört einpaar Schritte vom Bett weg, bis sie die kühle Wand an ihrem Rücken spürte…

Warum machte die Elfe Feuer wenn es böse war?

Konnte Tinkerbell sie nicht leiden?

Und als eine helle Stichflamme blitzartig bis zur Zimmerdecke schoss, kauerte Jana sich mit einem spitzen Schrei zusammen und begann ängstlich zu zittern.
 


 

*
 

Tyson versuchte Kai seit geschlagenen zwanzig Minuten zu erklären in welcher Gefahr er sich befand – doch sein Blick sprach Bänder. Gelangweilt schaute er entweder an ihm vorbei, beobachtete wie Ray ungeduldig vor dem Einfahrtstor auf und ab schritt, oder sah auf seine Armbanduhr.

Nur als er ihre Bit Beasts erwähnte schenkte Kai ihm kurze Aufmerksamkeit, allerdings nur um ihn mit einem ungläubigen Blick zu mustern. Dann schnaubte er, griff in seine Hosentasche und zog wieder eine dieser vermaledeite Zigarettenpackung hervor. Tyson erzählte zwar weiter, doch mit jedem Zug den sein Gegenüber nahm, hielt er für eine Sekunde inne – es juckte ihm in den Fingern Kai die Schachtel um die Ohren zu hauen!

Er hatte bisher nur erzählen können was Dizzy ihnen berichtet hatte, zu dem tragischen Tod von Maxs Mutter und dem Angriff auf seinen Großvater war er noch gar nicht gekommen, da war es Kai schon Leid seinen Report weiterzuverfolgen.

Gerade als Tyson ihm von den Geschehnissen berichten wollte, hielt sein Freund abrupt den Zeigefinger in die Höhe, zum Zeichen das er verstummen sollte.

Kai nahm einen weiteren Zug, entließ den Rauch in die Luft, dann fragte er mit einem spöttischen Grinsen:

„Du willst mir tatsächlich weiß machen, unsere Bit Beasts greifen uns an, weil sie sauer sind dass wir nicht mehr mit ihnen spielen?“

„Genau so haben wir auch gedacht, aber dann ist…“

„Tyson. Ich habe genug von diesem Müll.“ Kai schüttelte den Kopf.

Seine Widerworte ignorierend packte er Tyson am Oberarm, schnippte des Rest der Zigarette weg und zerrte ihn die drei Stufen vom Hauseingang weg zum Einfahrtstor, vor dem Ray schlagartig stehenblieb und neugierig zu ihnen spähte.

„Wenn ihr Scheiße gebaut habt, solltet ihr dazu stehen und keine Ammenmärchen erfinden. Hältst du mich für beschränkt? Ich weiß doch genau worauf dieses Spielchen hinausläuft…“

Tysons Fuß schmerzte noch, so war es ein leichtes für Kai ihn hinter sich her zu ziehen, trotzdem gelang es ihm einige Male sich kurz aus dem Griff zu winden. Doch letztendlich schaffte es sein Freund ihn bis zum Tor zu zerren. Dort angekommen sprach Ray sofort auf Kai ein, während er auf seiner Seite des Tores, ein Passwort auf einem weiteren Display eingab.

„Hat dir Tyson schon alles erzählt? Ich weiß es hört sich wahnsinnig an, aber…“

„Halt die Klappe Ray!“, fauchte Kai wütend. Er bestätigte den Code, das Tor entriegelte sich und dann packte er den protestierenden Tyson am Kragen. Schließlich riss er die Tür auf und mit einem Ruck, schubste er ihn auf die andere Seite.

Mit einem Schmerzensschrei kam Tyson auf dem angeschlagenen Fuß auf und knickte ein.

Als Kai hinter ihm das Tor zuknallte, zog er die Brauen tief ins Gesicht und meinte bissig:

„Wieso werde ich das Gefühl nicht los, dass ich aus diesem Haus immer nur rausgeschmissen werde?“

Ray rief ihrem Freund inzwischen aufgebracht durch die Gitterstäbe hinterher:

„Kai! Ich weiß das hört sich bescheuert an! Ich wollte es zuerst auch nicht glauben!“

Tatsächlich blieb der Angesprochene stehen, drehte sich zu ihm um und setzte ein spöttisches Lächeln auf. In seinem Blick lag so viel Verachtung, es sah aus als wolle er Ray verhöhnen.

„So… Du wolltest dieser Geschichte also auch nicht glauben? Warum wundert mich das nicht? Darf man fragen warum du dich trotzdem auf diese billige Komödie einlässt?“

„Wegen Maxs Mutter! Und Tysons Großvater! Hast du ihm nichts davon erzählt?“

Fragend sah Ray zu Tyson, der verneinend den Kopf schüttelte. Grimmig rappelte er sich von Boden auf und antwortete:

„So weit hat der sture Bock mich gar nicht kommen lassen…“

„Was ist denn mit den beiden? Hat ein Bit Beast sie gefressen?“, fragte Kai sarkastisch.

„Draciel hat meine Mutter getötet….“

Die Tür von Tysons Wagen stand offen und Max erhob sich vom Rücksitz. Mit entschlossenem Blick stieg er aus und sah Kai ernst an, dessen kaltes Lächeln augenblicklich erstarb. Max war noch so von seiner Trauer überwältigt gewesen, dass er nicht die Kraft besaß um sich auf ein Wortgefecht mit Kai einzulassen. Eigentlich hatte er die Zeit im Auto verbringen wollen. Doch nun hielt es ihn keine Minute länger in seinem Sitz. Er konnte nicht dabei zusehen, wie ihr Freund genauso blind in die Sache hineinlief wie er.

Ein betretenes Schweigen herrschte und zum ersten Mal schien sich Kai seiner Sache unsicher. In Max Blick lag so viel Schmerz - es war so untypisch für ihn. Der junge Amerikaner war einfach gestrickt. Seine Gefühle trug er nah an der Oberfläche. War er fröhlich, ließ er es seine Umgebung spüren. War er wütend, verriet ihn seine eingeschnappte Schnute.

Max trat zum Tor und umfasste mit den Händen die Gitterstäbe, ließ Kai nicht aus den Augen.

„Wir haben alle so gedacht wie du. Ich leider auch. Wir wissen selber wie seltsam das klingt. Aber denk doch mal nach – wann haben wir dich jemals böswillig belogen? Du bist wütend wegen gestern Abend, dass verstehe ich und es tut mir Leid, aber jetzt bitte ich dich als dein Freund. Bitte glaub uns!“

Tyson beobachtete Kai und zum ersten Mal erkannte er ein Anzeichen, dass seine Abwehrhaltung bröckelte. Unsicher wanderten die rötlichen Augen von einem besorgten Gesicht zum Nächsten. Als sich schließlich ihre Blicke trafen, erahnte Tyson den Zwiespalt in Kais Innerem. Wer ihn so lange kannte wie er, konnte aus den scheinbar kalten Augen eine Vielzahl von Eindrücken gewinnen. Tyson trat wieder ans Tor und sprach:

„Ich weiß es ist lange her Kai, aber versuch dir in Erinnerung zu rufen, wozu ein Bit Beast fähig ist. Wir lügen nicht… Wir sind deine Freunde. Bitte spring über deinen Schatten und vertrau uns einfach mal.“

Er konnte sehen wie die Vorstellung von Vertrauen Kai zurückschrecken ließ. Er handelte nach dem Motto: „Vertrauen ist gut, Kontrolle besser.“ Trotzdem wandte Tyson seinen Blick nicht ab und sah ihm eindringlich in die Augen. Bis sein Gegenüber endlich resignierend die Lider senkte.

Mit einem Seufzen trat Kai zurück an den Display und flüsterte mehr zu sich selbst:

„Ich kann nicht glauben dass ich das mache…“

Tyson lächelte über diese Worte. Doch als er voller Ungeduld darauf wartete, dass sich das Tor entriegelte, sah er zum ersten Mal die flackerten Lichter in einem der Zimmer des Anwesens, während sich schwarzer Rauch aus den Fensterritzen zwängte.

Voller böser Vorahnung keuchte Tyson auf, seine Augen wurden zu Schlitzen und dann…

„KAI!“

… glaubte er aus der Ferne das Schreien eines Kindes zu vernehmen.

Kai stoppte in seinem Vorhaben und wandte den Kopf zum Haus. Womöglich dachte er sich verhört zu haben, denn er lauschte aufmerksam in die nächtliche Stille. Einpaar Sekunden dauerte es, dann bemerkte auch er die flackernden Lichter hinter den Fenstern.

Sofort erkannte er um welches Zimmer es sich handelte…

„Kai! Mach das Tor auf!“, rief Tyson, doch er schien ihn nicht zuhören. Aus seinem Gesicht war sämtliche Farbe gewichen, der Mund ungläubig geöffnet. Die Augen geweitet, hielt er den Atem an während seine Hand über der Tastatur zitterte. Dann…

„KAI!“

… erwachte er aus seiner Starre.

„Jana“, flüsterte er mit erstickter Stimme. Dann… „Nein!“

Ehe sich die Gruppe es versah wandte er sich von ihnen ab. Die Rufe seiner Freunde ignorierend rannte Kai den Kiesweg zurück zum Haus. Ohne lange zu überlegen, kletterte Tyson drauf los und schwang sich erneut über das hohe Tor. Als er sich auf die andere Seite fallen ließ, gab sein Fuß ein schmerzhaftes Knacksen von sich.

Er zog scharf die Luft ein, biss die Zähne zusammen und ignorierte den Schmerz.

„Warte auf uns!“, hörte Tyson Ray rufen, trotzdem sprintete er Kai hinterher. Die kalte Nachtluft schmerzte in der Lunge und ihm wurde bewusst wie unsportlich er geworden war, dennoch schaffte er es, mehr aus bloßer Willenskraft, Kai kurz vor der Haustür einzuholen und ihn am Kragen zurückzuzerren.

Überrascht keuchte der auf, doch Kai fand schnell wieder seine Zunge:

„Lass mich los!“

Wütend versuchte er sich zu befreien, bis es Tyson gelang seine Arme unter dessen Armbeuge zu schlingen und ihn in einem eisernen Griff zu halten, was Kai mit einem aufgebrachten Zornausbruch zur Kenntnis nahm. In einem anderen Moment hätte Tyson geschmunzelt. Früher wurde er auf diese Weise vor Dummheiten bewahrt. Doch jetzt musste er Kai davor schützen, kopflos in das brennende Gebäude zu rennen. Der Rauch sickerte bereits aus sämtlichen Öffnungen! Er würde eine Rauchvergiftung bekommen bevor er oben ankam!

„Du kannst da nicht so unüberlegt reinstürmen! Wir machen das zusam-…“

Voller Schmerz heulte Tyson auf, als Kai in vollkommener Raserei den Kopf nach hinten warf und ihm ins Gesicht knallte! Der Griff lockerte sich und er entwischte aus seinen Armen. Stöhnend torkelte Tyson einpaar Schritte zurück und hielt sich die blutende Nase. Tränen traten ihm in die Augen und für einen kurzen Moment sah er doppelt.

In seinem Schädel tönte es wie in einer Glocke, auf die mit einem Hammer eingeschlagen wurde. Warum endete jede Begegnung mit diesem Trotzkopf so?!

Benommen blinzelte er zur Haustür und sah wie sein Freund, im Rauch der Eingangshalle, verschwand.

„KAI!“, wieder der Ruf von Jana.

Er stürmte zur Tür und tat einige Schritte in die Halle, zog schützend sein Shirt über die Nase, um so wenig wie möglich von der giftigen Luft einzuatmen. Trotzdem tränten seine Augen vom beißenden Qualm.

Schemenhaft erkannte er die geschwungene Treppe vor sich. Die Schein der Lampen wurde fast gänzlich vom Qualm verschlungen. Für Tyson war alles dunkel. Doch noch war der Rauch nicht zu dicht. Konnte er es vagen seinem Freund in den ersten Stock zu folgen?

Oder andere Frage…

Konnte er zwei Menschen sich selbst überlassen von denen einer sein längster Freund war? Kai und Jana könnten sterben! Das Mädchen war keine sechs Jahre…

Das war doch nicht fair!

Als Tysons Entscheidung feststand rannte er zielsicher zur Treppe, doch plötzlich hörte er ein lautes bersten und da schoss eine gewaltige Flammenfontäne aus einer Tür Rechts von ihm, die ihn zum Straucheln brachte und auf den Boden stürzen ließ. Soweit er noch wusste, war in dem Raum dahinter der Kamin, vor den sie sich früher hier gelümmelt hatten. Tyson rappelte sich hoch, blickte verwirrt auf und dachte seine Augen spielten ihm einen Streich…

Vor ihm erhob sich aus einem Meer aus Feuer und Blitzen eine riesige Gestalt, die bis zur Decke reichte und ihm den Weg hinauf versperrte.

Dranzer!

Der Phönix bestand nur aus Feuer, spreizte seine glühenden Schwingen im Raum und alles was es berührte viel dem Flammen zum Opfer. Der brennende Schädel beugte sich zu Tyson herab, dann schnellte der Schnabel nach vorne, mit der Absicht ihn aufzuspießen.

Erstarrt machte sich Tyson auf das Schlimmste gefasst, da zogen ihn zwei Arme zurück und wo er zuvor gelegen hatte, bohrte sich der Schnabel in den steinernen Fußboden der Eingangshalle, der zu heißer Lava zerschmolz.

„Wir müssen raus hier!“, schrie Max.

Erst jetzt erkannte Tyson wer ihn da gerettet hatte.

„Kai ist oben!“, rief er und deutete auf die versperrte Treppe.

„Dann müssen wir einen anderen Weg hoch finden, aber hier können wir nicht bleiben!“, versuchte Max schreiend durch den tosenden Lärm um sie herum zu erklären. Dann erstarrte er und Tyson erkannte sofort den Grund.

Der brennende Phönix zog langsam den Schnabel aus dem Boden. In das klaffende Loch das übrig blieb, floss die Lava hinab in den Keller.

Dranzer bäumte sich zur vollen Größe auf. Stolz blickte es aus lodernden Augen auf sie herab, dann schwellte der Brustkorb an und ein schriller, ohrenbetäubender Laut entwich der Kehle, schallte wie eine Welle durch den Raum. Er besaß so viel Intensität, das er alle Fenster klirrend zu Bruch gehen ließ und beide Männer von den Füßen riss.

Tyson wurde samt dutzender Scherben durch die Tür nach draußen befördert und landete stöhnend auf dem Kiesweg.

„Was ist passiert?!“, wieder rissen zwei Hände ihn hoch und er sah in das fassungslose Gesicht von Ray, der das alles wohl für einen Alptraum hielt. „Tyson! Was geht da drinnen vor?! Wo sind Max und Kai? Wo ist Jana?“

Es blieb keine Zeit sich auszutauschen.

Max stürmte aus dem Haus und rief:

„RUNTER!“

Und gerade noch rechtzeitig fielen alle zu Boden. Eine explosionsartige Feuerwalze zog über ihre Köpfe hinweg, ließ die Erde erzittern. Tyson hatte vollkommen vergessen, wie viel Macht Dranzer besaß. Es war eines der stärksten Bit Beasts gewesen, mit denen er es jemals zu tun bekam.

Fast eine Ewigkeit kauerte die Gruppe auf den Boden, bis die Feuerwelle über ihren Köpfen vorbeizog.

Tyson rappelte sich auf und sah zum Eingang…

Flammen! Nichts als Flammen!

Eine Feuerwand erstreckte sich hinter dem Eingang, dessen Tür schon längst zersplittert war.

Seltsamerweise traten die Flammen nicht hinaus. Sie flossen wie eine sanfte Strömung von links nach rechts. Sofort begriff Tyson…

Dranzer wollte sie nicht im Haus haben. Es wollte sie fernhalten! Das konnte ihm so passen…

Sein Blick wanderte hinauf zu Janas Zimmer. Hinter den Fenstern schien das reinste Chaos zu herrschen. Wie sollte er dort hinein kommen?

Doch da fiel ihm die Antwort wie eine göttliche Botschaft ein!

Damals, als der alte Voltaire die Bladebreakers aus dem Haus gejagt hatte, war Tyson auf die blöde Idee gekommen, seine Schuhe zu holen, indem er sich klammheimlich in Kais Zimmer hangelte. Dafür wollte er einen buschigen Efeustrauch hinaufklettern, der an der Häuserwand auf der anderen Seite des Anwesens, bis zum Dach hinaufreichte. Theoretisch wäre der Plan aufgegangen, hätte Tyson dabei aber nicht so laut über den „alten Sack“ geschimpft, das der darauf aufmerksam wurde und ihn kurz vor dem Ziel einen Eimer Biomüll über den Kopf schüttete.

Damals eine eher schlechte Erfahrung, konnte das womöglich jetzt die Rettung sein.

Immerhin lag Kais Zimmer direkt gegenüber seiner Schwester.

„Ruft die Feuerwehr!“, rief Tyson seinen Freunden zu, die sich bereits aufgerichtet hatten und hektisch diskutierten wie sie ihren eingeschlossenen Freunden am besten helfen konnten. Verdutzt sahen sie Tyson nach, der hinter der Hausecke verschwand.
 


 

*
 

Kurz nachdem Kai das erste Stockwerk erreicht hatte, hörte er ein lautes Tosen in der Empfangshalle. Trotzdem wandte er sich nicht um, sondern rannte den Flur entlang zu Janas Zimmer. Da hörte er ein lautes Rumoren hinter sich.

Alarmiert sah er zurück und eine riesige Feuerwalze zwängte sich durch den Flur, verschlang alles was sie auf ihrem Weg fand. Mit weit aufgerissenen Augen sah er die lodernde Gefahr näher kommen, dann eilte er in Janas Zimmer und riss die Tür auf.

Da ihm keine Flammen entgegen zischten, brauchte er nicht lange um sich für das kleinere Übel zu entscheiden. Bevor das Feuer ihn erreichte, knallte er die Tür zu und spürte keine Sekunde später, wie die Walze dahinter den Raum erzittern ließ. Es polterte und knallte im Flur, als wäre dort eine Bombe detoniert.

„Kai...“

Erleichtert spähte er nach rechts und sah seine weinende Schwester kauernd in der Ecke sitzen.

Er eilte zu ihr, fiel vor ihr auf die Knie und streichelte dem Mädchen über den Kopf. Aus den angstgeweiteten Augen traten dicke Tränen und sie wippte schluchzend vor und zurück. Dieses Szenario war für das Kind unbegreiflich.

„Jana, ich hole dich hier raus.“, versicherte er dem vor Angst erstarrten Mädchen, doch das aufgekratzte Kind legte die Stirn auf die Knie und weinte bitterlich. Sie so zu sehen brach Kai das Herz und sich selbst zur Ruhe zwingend, nahm er sie in den Arm und streichelte ihr über den Rücken. Solange sie sich nicht beruhigte, würde sie nicht auf seine Anweisungen hören. Es war wichtig, das sie verstand, das er sie hier hinaus bringen wollte… nur wie?

Unruhig blickte Kai auf die Flammen die vom Kinderbett emporzüngelten und sich bereits zum Regal gefressen hatten. Das Fenster war versperrt. Die Wand brannte bereits lichterloh. Es trennten sie gut drei Meter von der Feuerquelle und der Rauch wurde immer dichter und schnürte ihm den Atem. Als er spürte, dass Jana sich an ihn klammerte, stemmte er sich langsam mit ihr hoch, immer darauf bedacht dem empor steigenden Qualm nicht zu nahe zu kommen. Geduckt spähte er vorsichtig durch die Tür, hinter der das Poltern leiser geworden war. Die Rückseite war von den Flammen versängt und brannte an vereinzelten Stellen. Es war eine Frage der Zeit bis die ins sich zusammenbrach.

Der Rest des Flurs sah nicht besser aus. Überall züngelte es. Teure Antiquitäten der Familie, Jahrzehnte lang zusammengetragen, brannten lichterloh und zerfielen. Der Rückweg war versperrt. Schwere, glimmende Deckenbalken hatten dem Druck der Feuerwalze nicht standgehalten und waren hinabgestürzt. Darüber klaffte ein Loch in der Decke und Möbel aus dem Dachgeschoss rutschten hinab in die Flammen.

Kais Blick fiel auf seine Zimmertür gegenüber von ihm und da kam die Antwort!

Der alte Efeustrauch, der neben seinem Fenster bis zum Dach wuchs, war womöglich stark genug um sie beide zu tragen. Als Junge hatte ihn diese Kletterpflanze vor dem auferlegten Hausarrest seines Großvaters gerettet.

Angetrieben von diesem Einfall sprang er auf und überquerte den Flur. Der Rauch ließ das Kind auf seinen Armen husten und auch ihm erging es nicht besser. Er versuchte den Türknauf zu finden, musste aber erkennen, dass er zu einer heißen, tropfenden Kupfermasse zerschmolzen war. Wie war das möglich?!

Kurzerhand trat er hart auf die verkohlte Tür ein und sie brach nach wenigen Tritten auf. Eilig durchquerte er sein noch unversehenes Zimmer, schob das Fenster hoch und spähte hinunter – da sah er Tyson bereits hinaufklettern!

Und so sehr es ihn immer genervt hatte, in diesem Augenblick war Kai für dessen Hartnäckigkeit einfach nur dankbar.

„Tyson!“, rief er hinunter.

Der zuvor noch konzentriert kletternde Mann, spähte hinauf und sein Gesicht erhellte sich als er ihn erkannte. Dabei entdeckte Kai die blutige Nase die er ihm verpasst hatte. Womöglich machte er diesem Idioten das Leben wirklich schwer? Wenn sie aus diesem Höllenloch draußen waren, würde er vielleicht über seinen Schatten springen und sich bei ihm entschuldigen.

„Geht es euch gut? Seid ihr nicht verletzt?“

Kai wollte gerade bejahen, da erschallte ein lauter schriller Schrei durch die Räume und Jana begann verängstigt zu wimmern. Der Laut war so intensiv, dass er dachte sein Trommelfell müsse platzen. Er schlang einen Arm um Janas Kopf, drückte sie an seine Brust, damit sie vom furchtbaren Geräuschpegel, um sie herum, verschont blieb und auch Tyson hielt eine Hand stöhnend an sein Ohr und rief: „Nicht schon wieder!“

Als Kai sich umwandte drehte sich das Feuer im Flur wie ein Wirbelsturm, tanzte im Kreis. Er meinte flüsternde Laute zu vernehmen, die immer wieder leise in den Raum echoten und seinen Namen riefen. Für einen irrwitzigen Moment machte es den Anschein, als ob der Feuerswirbel das Haus durchsuchte, denn er schwenkte kurz in Janas Zimmer, verbrannte alles was es dort gab und kam anschließend wieder hinaus auf den Flur.

Dort blieb er stehen.

Einfach so…

Als ob er zu Kai und Jana blicken würde.

Dann griff der Feuersturm mit geisterhaften Händen ins Zimmer, tastete sich am Türrahmen hinein und verteilte sich langsam über der Wand…

Allerdings nur über der Wand!

Zimmerdecke, Möbel, Teppiche blieben verschont, nur Bilder verschlang es auf seinen Weg zu ihnen und versperrte dabei noch die Zimmertür. Es schien als wollten die Flammen die Geschwister erreichen, bevor sie aus dem Fenster entkamen. Als Kai das begriff, drehte er sich eilig zum Fenster und rief hinunter:

„Tyson! Fang meine Schwester!“

„WAS???“

„Spring wieder runter! Bleib da unten stehen und fang sie auf!“

Tyson sah ihn ungläubig an. Doch schließlich sprang er die Strecke, die er zurückgelegt hatte hinunter. Als er auf dem Boden aufkam heulte er auf. Noch immer schmerzte sein Fuß. Doch schnell vergaß er die Qualen, stellte sich in Position, streckte die Arme empor und rief: „LOS!“

Kai beugte sich über das Fenster und wollte Jana so weit es ging hinunterhängen lassen. Doch das Kind schüttelte panisch den Kopf und klammerte sich fest um seinen Hals, als wolle es ihm die Luft abschnüren. Sie wollte nicht springen. Ihr Atem ging schnell und stoßweise. Sie blickte aus riesigen Augen in die Tiefe und wimmerte.

Kai legte eine Hand auf ihrem Brustkorb und fühlte wie das kleine Herz dahinter wie verrückt pochte.

Er sah die Flammen an den Wänden näher zum Fenster wandern, dann sagte er:

„Jana? Siehst du den Mann da unten?“

Sie schaute nicht hin, klammerte sich nur teilnahmslos an ihn und Kai hätte heulen können.

Er entzog sich unnachgiebig ihrem Griff und setzte sie brüsk auf dem Fenstersims ab. Das Kind begann zu toben und zu weinen, trat um sich, doch er umfasste mit beiden Händen ihren Kopf und zwang Jana ihn anzuschauen.

„Du kannst dich bestimmt nicht mehr erinnern, aber das ist ein Freund von mir. Er wird dich beschützen. Wenn es wirklich schwierig wurde, hat er mir immer geholfen und jetzt wird er dasselbe auch für dich tun! Also hab keine Angst, er wird dich auffangen. Ich komme gleich nach. Verstehst du?“

Als sie nicht antworte, rüttelte er sie eindringlich.

„Hast du verstanden?! Jana das ist wichtig!“

Sie nickte, zog aber eine bitterböse Schnute. Ihr passte dieser Gedanke gar nicht.

Beruhigend strich er ihr über den Haarschopf. Zwar schluchzte Jana noch, doch als Kai sie endlich aus dem Fenster hob, leistete sie keine Gegenwehr. Er beugte sich so tief wie möglich hinab und kurz bevor er losließ rief er:

„Wenn du sie nicht auffängst, bringe ich dich um!“

„Vertrau mir einfach mal!“, schallte es von unten herauf. Dann ließ Kai los und mit stockendem Atem sah er dabei zu, wie das kleine Mädchen hinabstürzte. Sie gab einen spitzen Schrei von sich, doch landete unversehrt in Tysons Armen.

Erleichtert atmete Kai auf.

„Los! Beeil dich!“, rief Tyson und setzte das hibbelige Kind ab, dass in ihren grünen Pyjamas wild mit den Armen zu ihm hinauf fuchtelte.

Das würde er sich nicht zweimal sagen lassen. Kai sah zum Feuer das bereits die Fensterwand erreicht hatte. Von beiden Seiten kam es auf ihn zu.

Schnell griff er nach einem der Efeuzweige und wollte die Beine hinaus schwingen, doch plötzlich hörte er ein wütendes Knurren.

„Du bleibst!“

Dann wickelte sich eine der jungen Triebe um sein Handgelenk.

Kai versuchte seinen Arm zurückzureisen, doch das Gestrüpp begann sich zu rühren und noch mehr kleiner Verästelungen schlängelten sich an ihm hinauf. Entsetzt musste er mit ansehen wie sich die Ranken ihren Weg zu seinem Oberkörper bahnten. Immer wieder redete er sich ein, dass so etwas nicht möglich war.

Das konnte nicht wahr sein!

Doch als wäre das nicht genug, formte sich aus dem Dickicht ein riesiger Schädel aus Ästen und Blättern, nahm die Gestalt eines Tigerkopfes an. Aus der Schnauze entrang sich ein bedrohliches Knurren. Dann begann der Efeu zu wachsen, breitete sich über das Fenster aus, versperrte den Ausgang und ließ die panischen Rufe von Tyson und Jana draußen verstummen.

Ein Ruck ging durch die Pflanze, dann wurde Kai unsanft nach hinten geschleudert. Einpaar Schritte taumelte er zurück und landete auf dem Rücken. Als er sich aufrichtete, musste er beobachten wie die Flammen ihren Weg zum Fenster fanden, das von dem Dickicht versperrt wurde. Feuer und Natur schienen sich gegen ihn zu verbünden.

Der Raum füllte sich rascher als zuvor mit Rauch, aus dem Fenster erhielt Kai keine Frischluft mehr und die brennenden Wände strahlten eine immense Hitze aus.

Ihm wurde schwindlig. Seine Beine begannen nachzugeben und er sank wieder auf die Knie. Er bemerkte ein schmerzendes Pochen in seinem Kopf, als wolle dieser zerbersten.

Mit zitternden Händen beugte Kai sich vor und stützte sich am Boden ab.

In diesem Moment wurde ihm klar dass es keine Chance mehr gab.

Um ihn loderte eine tosende Feuerwand und vor ihm versperrte ein undurchdringlicher Dickicht den letzten Ausweg. Nach kürzester Zeit war sein Zimmer in dunkle Schwaden gehüllt, glich der Hölle auf Erden und Kai wusste nicht was ein gnädigerer Tod war - verbrennen oder die bevorstehende Rauchvergiftung. Benommen schlossen sich seine Augen. Sein Atem ging stoßweise.

Dann…

„Armer kleiner Mensch“, flüsterte eine Stimme und schallte von allen Wänden.

Kai hörte hinter sich ein Rumoren. Schwerfällig und nah der Erschöpfung blickte er über seine Schulter. Hinter ihm schlugen die Flammen von einer auf die andere Seite.

Doch da…

Dort zwischen all dem grellen Rot…

Ihm war als würde ihm ein körperloses Augenpaar entgegenblicken.

Kai schüttelte den Kopf und blinzelte verwirrt.

War das echt oder spielte ihm sein Verstand kurz vor dem Tod einen Streich?

Womöglich waren ihm die giftigen Dämpfe, die von den brennenden Textilien und Möbeln verströmt wurden, zu Kopf gestiegen.

Gebannt fixierte er diese seltsamen Punkte. Sie schienen sich wie zwei kleine Strudel zu drehen. Ihm war als würde er in zwei brennende Spiralen schauen.

Der Qualm im Raum wurde dichter, die Luft unerträglich, doch die Illusion verschwand nicht.

„Dranzer?“, fragte Kai mit brüchiger Stimme. Die Sicht verschwamm ihm und er hatte Mühe bei Bewusstsein zu bleiben.

Doch aus dem Flammenmeer drang tatsächlich ein Kichern zu ihm.

„Du willst mich doch nicht wieder verlassen?“, kam die gewisperte Frage. Die geisterhafte Stimme schallte ganz nah an sein Ohr und trotz der Hitze verursachte sie eine Gänsehaut.

„Was willst du?“, kam die Frage ernst über seine Lippen.

„Was glaubst du will ich?“

„Meine Schwester töten. Genau wie Draciel Judy getötet hat…“

Wieder ein Kichern.

„Ist das so?“

„Ist es nicht?“

„Ihr Menschen seid so einfältig...“

„Was willst du dann?! Warum musste Maxs Mutter sterben?“

Dranzer Lachen schallte vielstimmig durch den Raum, doch die Freude drang nicht bis zu den Augen. „Warum muss es einen Grund geben um zu töten?“

Geschockt hielt Kai die Luft an.

„Soll das heißen, ihr habt das grundlos…“

„Die Menschenfrau ist nicht meine Angelegenheit“, sagte Dranzer. Dann wehten die Flammen zu ihm, wie die sanften Wogen einer Welle und der Kreis um Kai wurde kleiner. Aus dem Feuer begann sich ein menschlicher Oberkörper abzuzeichnen, der sich langsam nach vorne beugte, während die langen Haare von einer Seite auf die andere tänzelten. Alles schien perfekt in das Feuer überzugehen. Es war ein endloser Takt…

Der Konturen verfestigten sich und verschmolzen wieder mit den Flammen.

Der Anblick war hypnotisch und auch irgendwie bezaubernd. Es strahlte so viel Eleganz und Schönheit aus. Kai musste sich eingestehen, dass er Schwierigkeiten besaß, seine Augen davon abzuwenden.

Dranzer beugte sich langsam vor. Ihre Gesichter näherten sich.

Erst als die Hitze auf seinen Wangen unerträglich wurde, fand Kai die Kraft aus seiner Starre aufzuschrecken und wich zurück. Er erhob sich vom Boden und versuchte, in seinem engen Gefängnis, einen sicheren Abstand zu dem Bit Beast aufzubauen, welches jeden seiner Schritte genau verfolgte. Keine Bewegung schien dem wachsamen Blick zu entgehen.

„Warum entfernst du dich von mir?!“, fragte es herrisch. Die Wut schien auf die Umgebung überzugreifen, denn die Flammen schlugen augenblicklich höher. „Ich bin deinetwegen hier. Freut dich das nicht? Nach all den Jahren die du mich verleugnet hast!“

„Du hättest fast meine Schwester getötet!“

„Spielt das eine Rolle?“

„Natürlich!“, schrie Kai wütend.

„Dieses unnütze Balg. Nur ihretwegen hast du mich verlassen…“

Dranzer sprach wie eine eifersüchtige Liebhaberin und Kai schüttelte fassungslos den Kopf.

„Ich bin zu alt geworden um noch zu bladen. Es ist doch nur ein Spiel gewesen!“

Die Flammen züngelten an den Wänden bedrohlich auf, erhielten eine bläuliche Färbung und die Hitze im Raum nahm ins Unermessliche zu.

Dann stand alles still…

Nichts bewegte sich mehr. Alles hielt den Atem an, wie bei einem Standbild. Der aufsteigende Rauch verweilte an einem Punkt, die Feuerzungen rührten sich nicht, als wäre das Zimmer nur eine aufgemalte Theaterkulisse.

Verunsichert blickte sich Kai um.

Diese Stille…

Sie beunruhigte ihn mehr als alles zuvor.

Mit einem angespannten Gefühl im Magen beobachtete er, wie der lodernde Körper in der Mitte des Raumes, sich zu ganzer Statur aufrichtete.

Langsam, ohne jegliche Hast.

Dann trat das Bit Beast geruhsam auf ihn zu, hinterließ feurige Abdrücke auf dem hölzernen Boden, während die glühenden Pupillen starr auf ihn gerichtet waren.

„Bleib weg von mir!“, befahl Kai. Doch seine Einwände wurden ignoriert. Stattdessen erloschen die Flammen auf dem Körper und machten Dranzers neuer Gestalt platz. Perplex hielt Kai die Luft an, als er erkannte, dass sein Bit Beast weiblich war. Damit hatte er nicht gerechnet. Wenn er ehrlich war, ihm war nie in den Sinn gekommen über das Geschlecht seines Bit Beasts nachzudenken.

Hier, vor ihm, erhob sich die zierliche Gestalt einer wunderhübschen Frau, deren silbernes Haar in sanften Wellen über ihren Körper fiel. Das sie nackt war schien sie nicht weiter zu stören. Eine ihrer Strähnen verdeckte ihr rechtes Auge, doch das Linke blickte Kai traurig an. Als sie vor ihm zum Stehen kam, streckte sie ihre blassen Arme nach ihm aus und umschloss mit ihren Händen sein Gesicht, strich ihm sanft mit den Daumen über die Wangen. Er überragte sie beinahe um zwei Köpfe. Sie musste zu ihm aufsehen.

„Du willst dass ich dich verlasse?“, fragte Dranzer melancholisch.

Der erste Schreck war überwunden und Kai nickte ernst. Schönheit hin oder her. Dieses Bit Beast war eine mörderische Bestie. Er wollte es nicht in seiner Nähe haben. Hätte er geahnt wie gefährlich Dranzer seiner Familie werden würde, wäre er niemals auf die Idee gekommen, ein Bit Beast zu besitzen.

„Es ist besser so. Such dir einen neuen Meister. Ich kann mich nicht mehr um dich kümmern.“

„Einen neuen Meister?“

Dranzer bettete ihren Kopf auf seine Brust. Ihre Finger strichen an seiner Seite entlang, wanderten zärtlich zu seinem Rücken, bis sie ihn in einer Umarmung hielt.

Dann konnte er ein leises Lachen hören.

„Mein kleines Menschenkind, du warst nie mein Meister…“, langsam drehte das Bit Beast den Kopf zu ihm hinauf. Die Strähne die das Auge verdeckte rutschte zur Seite und darunter kam ein von Brandnarben entstelltes Gesicht zum Vorschein. Das rechte Auge trat pechschwarz und verkohlt hervor und funkelte ihn so Unheil versprechend an, dass er erschrocken die Luft anhielt. „Ich bin dein Meister und du mein Werkzeug!“

Die Hände des Bit Beast wurden heiß und Kai fuhr zurück. Dranzers Haut fing Feuer und zusammen mit dem Phönix, stimmte auch wieder die Umgebung mit ein. Die Temperatur nahm erneut ins unerträgliche zu, der Rauch kam in Bewegung, füllte den Raum unermüdlich mit seinem beißenden Qualm.

Kai begann zu husten und hielt sich die Hand vor den Mund, während Dranzer sich mit einem gellenden Schrei und einer peitschenden Feuerwelle in ihre ursprüngliche Form zurückverwandelte. Der lodernde Phönix ragte über dem entsetzten Mann, bäumte sich zu ganzer Größe auf und funkelte ihn an. Dann sauste es mit dem Schnabel voraus auf Kai herab und als er spürte wie sich etwas schmerzhaft durch seinen Brustkorb bohrte, wurde alles vor seinen Augen schwarz.

Ray sprach beruhigend auf das weinende Kind auf seinem Arm ein, streichelte ihr über den Rücken und flüsterte, dass alles gut werden würde – doch er konnte selbst nicht mehr daran glauben. Es war bereits eine halbe Stunde her, seid Tyson Jana aus dem brennenden Haus gerettet hatte, aber ihnen beichtete, dass er Kai nicht mehr rausholen konnte. Nach ihrem Anruf bei der Feuerwehr dauerte es keine zehn Minuten, da stand schon der erste Wagen vor dem Einfahrtstor. Zwei Männer brachen mit ihren Werkzeugen geübt das Schloss auf und fuhren in den Hof. Es vergingen weitere Minuten und der Platz vor dem Hiwatari Anwesen war gefüllt mit Löschfahrzeugen. Schaulustige gab es keine. Das Viertel war über die Wintermonate so gut wie unbewohnt, alle Nachbarn in wärmere Gebiete ausgeflogen.

Ein Notarzt bestand darauf sie zu untersuchen und fragte, ob sich noch weitere Personen im Haus befanden. Mit gesenktem Kopf und den Tränen nahe bejahte Tyson.

Nachdem er mit ansehen musste, wie Kai von dem Dickicht, an seiner Flucht gehindert wurde, hatte er verzweifelt versucht in das Zimmer zugelangen. Mal war er mit viel Anlauf so hoch wie möglich an ihm hochgesprungen, dann riss er aus Wut dutzende von Ranken heraus und irgendwann flehte er einfach nur um Einlass – es hatte nichts geholfen. Der Dickicht schnürte seine Zweige nur unnachgiebiger um das Fenster.

Als die Feuerwehrmänner ihn schließlich fanden, kniete Tyson mit bebenden Schultern im Rasen, während das Kind neben ihm bitterlich weinte. Für Jana war das alles unbegreiflich.

Warum leuchtete ihr Haus so seltsam?

Warum war der Mann so traurig?

Warum war Kai nicht hier und nahm sie in den Arm?
 

Einer der Ärzte nahm Ray das Kind schließlich ab. Dann beobachtete die Gruppe das lichterloh brennende Anwesen vom Rettungswagen aus. Die Hintertüren waren geöffnet und Jana wurde im Innenraum von einer fürsorglichen Ärztin betreut, während ein weiterer Arzt Tysons blutende Nase begutachtete, der am Rand saß, mit runterhängenden Schultern und die Beine aus dem Wagen baumeln ließ. Ray und Max blickten hoffnungslos zu Boden. Keiner von ihnen war in der Lage zu sprechen.
 

Plötzlich fuhr ein kleiner schwarzer Van mit einem Affenzahn in die Einfahrt und hielt neben dem Krankenwagen. Auf der Seite prangte das Logo des städtischen Nachrichtensenders und alle Anwesenden stöhnten genervt. Das konnte nur eines bedeuten…

Die Türen wurden aufgerissen und eine im schwarzen Anzug gekleidete Frau sprang aus dem Wagen, drängte den Fahrer zu Eile.

„Hol die Kamera! Beweg dich du Esel!“

Der blaue Haarschopf war zu einer eleganten Frisur hochgesteckt und zwei Strähnen umrahmten das hübsche braungebrannte Gesicht. Argwöhnisch verschränkte die Frau ihre Arme vor der Brust und beobachtete ihren Kameramann, wie er eilig die Seitentür des Vans aufriss und seine Geräte zusammensuchte. Der Unmut darüber, dass er so viel Zeit in Anspruch nahm, stand ihr ins Gesicht geschrieben. Schnippisch wandte sie ihren Kopf zur Seite und sah zum Krankenwagen.

Dann stutzte sie nachdenklich, bis sie erkannte wer da verarztet wurde. Ihr Gesicht erhellte sich und vollkommen unpassend, flötete Ming-Ming über den Platz:

„Juhu Jungs! Das ist ja eine Ewigkeit her!!!“

Lachend, wie ein kleines Mädchen, kam sie auf die Gruppe zu und Tyson hätte es nicht gewundert, wenn sie als Nachrichtensprecherin im Vietnamkrieg trotzdem so „fröhlich“ bei der Arbeit gewesen wäre.

Max schimpfte leise und zog sich seine Jacke tiefer ins Gesicht. Für Ming-Ming fehlten ihm jetzt wirklich die Nerven, wobei es bei ihm eher persönliche Gründe gab.

Vor seiner Auswanderung nach Amerika, war er mit seinen Freunden öfters nachts um die Häuser gezogen, da sie zu jeder Feier geladen wurden. Max und Tyson galten als die absoluten Stimmungsmacher, deshalb waren sie gerne gesehen. Der Zufall wollte es dass ausgerechnet Ming-Ming bei einer dieser Feiern auch eingeladen war.

Sie war angetrunken. Max war angetrunken.

Und irgendwann verschwanden beide spurlos für eine Stunde – sie hatten die Zeit nicht mit Dame spielen verbracht, soviel konnte schon mal gesagt werden.

Max fand das damalige Schäferstündchen zwar klasse (wie sollte es auch anders sein, er war ein Kerl), umso nerviger war aber wie Ming-Ming anschließend ihrem SMS-Terror frönte. Sie war unglaublich lästig und ausgesprochen hartnäckig. Einem Gespräch mit ihr wollte er mit allen Mitteln aus dem Weg gehen.

Zu seinem Glück, trat sie aber an den Krankenwagen und würdigte ihn keines Blickes.

Aus der jungen Kindersängerin war eine stadtbekannte Journalistin geworden. Tyson hatte die Kiefernstarre bekommen, als er ihre frühere Kontrahentin zum ersten Mal im Fernsehen erblickte, damals noch als Wetterfee. Kenny dagegen hatte entzückt an ihren Lippen geklebt - aufkommende Kumuluswolken hatten sich, seiner Meinung nach, noch nie so sexy angehört -während Ray und Max sich fragten, wie Ming-Ming es bloß so weit geschafft hatte. Natürlich gönnten sie ihr diesen Erfolg, doch wenn sie als Nachrichtensprecherin genauso untalentiert war, wie als Sängerin, konnte sie sich nicht lange halten. Ihrem hübschen Gesicht verdankte Ming-Ming mehr als ihr bewusst war.

„Ich habe mir irgendwie schon gedacht euch hier anzutreffen“, grinste sie keck. „Allerdings nicht in so einem erbärmlichen Zustand! Pfui! Ihr stinkt vielleicht, ist ja widerlich. Ray Schätzchen, du hast da Ruß an deiner Wange. Darf ich?“

Widerwillig zog Ray den Kopf weg, als sie ihre Hand nach ihm ausstreckte. Er hatte das Gefühl als Mittel für Eifersüchteleien herhalten zu müssen.

„Ne, lass mal.“

„Ach stimmt. Du hast ja dieses chinesische Bergmädchen geheiratet.“, sie zwinkerte ihm zu. „Schade eigentlich. Ich wüsste einiges mit dir anzustellen.“

Ray ging nicht weiter darauf ein. Um vom Thema abzuweichen fragte er:

„Wie hast du so schnell vom Brand erfahren?“

Ming-Ming lächelte und sagte nur mit hochgezogenen Brauen:

„Geschäftsgeheimnis. Das muss euch nicht interessieren. Aber euer Freund ist ja auch ein ganz großer Fisch in dieser Stadt. Wo ist Kai überhaupt?“

Die traurige Stille die durch die Runde ging war Antwort genug.

„Was?! Oh mein Gott! Das ist ja unglaublich! Was für ein Skandal!“

Tyson sah erbost auf, doch Ming-Ming wandte sich zu ihrem Kameramann und schrie:

„Beeil dich!“, aufgekratzt drehte sie sich zu ihnen um und plapperte. „Ich sehe die Schlagzeilen schon vor mir! Geschäftsmagnat Kai Hiwatari stirbt bei Brand und hinterlässt Familienunternehmen ohne Nachfolger! Diese Story wird noch weitere nach sich ziehen. Wartet erst in einpaar Tagen, wie sich alle Großkonzerne dieser Welt nach seiner Firma die Finger lecken! Oh das ist toll! Wirklich toll!“

„TOLL?!“, brüllte Max.

„Nicht nur toll! Wunderbar! Oh… Um euch tut es mir natürlich Leid, aber irgendwann holt der Sensenmann jeden von uns, das ist eine allseits bekannte Tatsache.“

Tysons Gesicht wirkte wie ein brodelnder Vulkan. Er stand kurz davor seine guten Manieren zu vergessen und auch der Rest der Gruppe sah zähneknirschend auf die ignorante Journalistin. Max ging sogar soweit, dass er seine Triebe als Mann verfluchte und sich wünschte, er wäre am Abend vor der Party an Syphilis erkrankt.

„Kai hinterlässt eine kranke Schwester und du geilst dich an ihrem Unglück auf?!“, erzürnte sich Ray und deutete auf das verstörte Mädchen im Krankenwagen.

„Kai hat eine Schwester?“, in Ming-Mings Augen blitzte es und der Kameramann kam endlich vom Wagen, auf den Schultern seinen schweren Apparat. „Und krank ist sie auch noch! Ich wusste der Kerl hat Dreck am Stecken! Deswegen wollte er sich nie in der Presse zu seiner Familie äußern! Habe ich dir nicht gesagt das er etwas verheimlicht, Shouta?“

Der Kameramann murrte. Man sah ihm an wie sehr ihn sein Beruf ankotzte. Er schien mit seinen Gedanken auf dem nächsten Strommast zu stehen und sich bereit für einen Sprung in die Tiefe zu machen.

Tyson brauste wütend auf und seine Faust erhob sich drohend, doch Ming-Ming war an ihm vorbei, in den Krankenwagen gerauscht, ignorierte die Ausrufe der Ärzte und bellte ihrem Kameramann entgegen.

„Ist die Kamera an Shouta?! Sieh zu das die Aufnahme nicht so verwackelt ist wie die Letzten!“ Shouta rollte mit den Augen und als sich Ming-Ming mit engelsgleichem Gesicht zu Jana wandte, zeigte er ihr heimlich den Mittelfinger. Sie wollte gerade mit ihrer Befragung loslegen, da sprangen die beiden Ärzte dazwischen und forderten sie auf zu gehen.

„Das können sie dem Kind nicht antun!“

„Sie ist noch vollkommen verstört!“

„Was bilden sie sich ein wer sie sind?!“

Ming-Ming zog die Brauen tief ins Gesicht und fauchte gekränkt:

„Meine Güte! Ich stelle ihr nur einpaar harmlose Frag-…“
 

Plötzlich herrschte vor dem Eingang das reinste Chaos. Ein reges Treiben und hektische Ausrufe drangen zum Krankenwagen, zogen die Blicke der Anwesenden auf sich. Schnell erkannten alle den Grund…

Die Flammen die zuvor bis zum Himmel peitschten, wurden kleiner, schwächer und erloschen an vereinzelten Stellen - völlig grundlos. Das zuvor brennende Dach, qualmte nur noch armselig vor sich hin und als Tyson einen Blick in Richtung der Haustür warf, sah er erstaunt, wie die Flammen in der Eingangshalle flackernd erloschen. Selbst die Feuerwehrmänner standen diesem Phänomen fassungslos gegenüber. Zuvor hatten sie noch damit gekämpft, die Flammen nicht bis zu den Nachbarhäusern wandern zu lassen, nun wabberten nur noch dicke Rauchschwaden aus der verkohlten Halle…

„Shouta! Halt die Kamera drauf!“, rief Ming-Ming aufgebracht und kletterte aus dem Wagen. Doch ihre Worte drangen nicht zu der Gruppe durch… Stattdessen beobachteten sie wie eine strauchelnde Gestalt aus dem Schatten der Halle ins Freie trat.

„Kai!“, rief Jana überglücklich, die ihren Bruder als Erste erkannte.
 


 

*
 

Stunden später saßen die Bladebreakers im Krankenhaus und warteten, bis die Ärzte ihrer Untersuchungen beendet hatten. Kai war kurz nachdem er aus dem niedergebrannten Gebäude getorkelt war zusammengebrochen und eilig auf eine Trage bugsiert worden. Anschließend ging es auf direktem Weg mit ihm und Jana ins Krankenhaus.

Die Ärzte befürchteten eine Rauchvergiftung und schon zum zweiten Mal an diesem Tag musste der Rest der Gruppe einem davonfahrenden Krankenwagen hinterher schauen. Doch als Ming-Ming mit ihrem Bericht begann und mit einem lasziven Lächeln Ray, für eine kurze Zeugenbefragung, in den Bildschirm ziehen wollte, stimmte sogar Max zu, mit Tysons Auto zu verschwinden.

Natürlich fuhr dieser wie befürchtet, in seiner Eile, über sämtliche roten Ampeln und als Ray und Max endlich das Krankenhaus erreichten, stieg Letzterer aus, umarmte eine Straßenlaterne und stotterte: „Tyson. Du bist der Satan… auf vier Rädern.“

Später im Wartezimmer redeten die jungen Männer nicht viel miteinander. Jeder hing seinen Gedanken nach. Der Raum war so gut wie leer, nur drei weitere Personen teilten ihr Schicksal und warteten ungeduldig darauf, ihre Freunde oder Verwandten besuchen zu dürfen. Nach und nach wurde jeder der Anwesenden aufgerufen, bis nur noch die Gruppe übrig blieb. Ray schritt gedankenverloren im Raum umher, während Max nervös in seinem Stuhl mit den Fußballen wippte. Irgendwann drückte die Stille auf Tysons Gemüt und er beschloss, die Gelegenheit zu nutzen und nach seinem Großvater zu schauen.
 

Doch Dr. Yamada behielt Recht als er meinte, Mr. Kinomiya würde seine Anwesenheit nicht einmal bemerken. Als Tyson ins Zimmer trat, ruhte der alte Mann auf dem Bett und regte sich nicht. Nur das Piepsen der angeschlossenen Geräte und die leisen Atemzüge seines Großvaters erfüllten den Raum. Sein Gesicht wirkte entspannt, ein beruhigender Kontrast zu dem schmerzverzerrten Ausdruck, als Tyson ihn diesen Morgen zuckend am Boden liegend fand.

Er setzte sich nachdenklich auf einen Hocker, den er aus einer Ecke des Raumes ans Bett zog.

Zaghaft strich er seinem Großvater über die Hand und sah voller Bedauern auf den alten Mann, der in eine Sache hineingezogen worden war, die ihn eigentlich nicht betraf.

Die ganze Angelegenheit wuchs Tyson mittlerweile über den Kopf.

Nun war nicht nur Dragoon sein Feind, sondern auch die Bit Beasts seiner Freunde. Mit einer Gänsehaut erinnerte er sich an das Bild, des riesigen brennenden Phönix, im Hiwatari Anwesen. In diesem Moment war Tyson sich so klein und hilflos vorgekommen. So musste es sich anfühlen, wenn eine Ameise auf einen Vogel traf. Kein Wunder hatten einige Kulturen früher Bit Beasts verehrt. Mit den Jahren hatte er vergessen, wie viel Ehrfurcht diese imposanten Gestalten einem einjagen konnten.

War es wirklich so falsch gewesen nicht mehr zu bladen?

Aber er war doch kein Kind mehr… Womöglich hätte er niemals damit anfangen sollen?

Seine Gedanken schweiften zurück in die Zeit als Beyblades noch der Sinn seines Lebens waren, da hörte er eine Stimme hinter ihm zaghaft fragen:

„Verzeihung, aber haben sie sich an der Rezeption angemeldet?

Tyson drehte sich um und eine junge Krankenschwester stand im Türrahmen zum Krankenzimmer. Sie sah ihn schüchtern an und hielt ihr Klemmbrett fest vor der Brust umschlungen. Tyson ahnte das sie noch nicht lange hier war, dazu gab sie sich viel zu unsicher. Ein entschuldigendes Lächeln huschte über seinen Mund und er antwortete:

„Nein. Tut mir Leid. Ich wollte nur zu meinem Großvater. Hätte ich das tun müssen?“

Die Krankenschwester nickte stumm, doch entgegnete erleichtert:

„Ist schon in Ordnung. Bitte achten sie das nächste Mal darauf. Aber immerhin lassen sie sich noch etwas sagen.“

Der letzte Satz kam so eingeschüchtert das Tyson die junge Frau richtig Leid tat. Es musste anstrengend sein, Tag für Tag, aufgebrachte Familienangehörige zu beruhigen.

„Hört sich an als ob sie schon einige Probleme hier hatten.“

„Oh Gott, ja!“, froh darüber jemanden zu haben, bei dem sie sich ausheulen konnte, erzählte sie. „Erst kurz nach meinem Schichtbeginn war da so ein Mann. Er wollte auch zu ihrem Großvater. Er ist einfach an mir vorbei und hat mich keines Blickes gewürdigt.“

Tyson horchte auf. Zuerst dachte er an Hitoshi, doch der wusste nicht dass ihr Großvater hier lag. „Ein Mann? Wie sah er aus?“

„Nun, er hatte schwarze Haare. Zu einem Pferdeschwanz gebunden genau wie sie, nur vorne etwas kürzer. Kennen sie ihn etwa nicht?“

Keine sehr präzise Beschreibung. So sah jeder zweite Japaner aus.

Verneinend schüttelte Tyson den Kopf.

„Das ist seltsam. Als ich ihn angesprochen habe, sagte er, er wolle Mr. Kinomiya sehen. Er wusste den Namen ihres Großvaters. Aber ehrlich gesagt…“

Die Schwester verstummte und druckste vor sich rum, sah beschämt auf ihre Füße und die Röte stieg ihr ins Gesicht.

„Was?“, hakte Tyson nach.

„Es hört sich kindisch an, aber ich fand diesen Kerl unheimlich. Ziemlich dämlich nicht wahr? Ich bin zwanzig Jahre und habe Angst vor den Besuchern meiner Patienten…“

Vor zwei Tagen hätte Tyson wohl bejaht. Doch er konnte sich keinen Reim daraus machen.

„War wohl einer seiner ehemaligen Kendo Schüler.“, antwortete er schließlich Schulter zuckend.
 

Als Tyson wieder ins Wartezimmer kam war nur noch Max dort. Er berichtete ihm, dass ein Arzt gekommen war und ihnen eine gute Nachricht übermittelt hatte - Kai war wieder bei Bewusstsein und Ray schon mal ins Krankenzimmer gegangen um nach ihm zusehen. Schließlich folgten die beiden Freunde.

Als sie das Zimmer betraten saß Ray auf einem Stuhl neben dem Krankenbett und schaltete Dizzy wieder ein, während er gedämpft auf Kai einredete, der aufrecht in seinem Bett ruhte.

Auf der kleinen Kommode neben dran, lagen die wenigen Dinge, welche die Sanitär in Kais Hosentasche gefunden hatte. Geradezu akkurat hatte die Krankenschwester die Zigarettenpackung, samt Feuerzeug, auf die Tischplatte gelegt. Tyson beschlich die Vorahnung, dass Kai nach einem solch stressigen Tag, auf den Gedanken kommen könnte, schon wieder zu rauchen. Er tänzelte unauffällig an die Kommode heran und als niemand hinschaute, schnellte seine Hand nach vorne und ließ das Feuerzeug in seiner Hosentasche verschwinden. Ohne Feuer, kein Rauchen…

Und der Schwester würde Tyson erzählen, dass Kai Lungenkrebs hatte, damit sie ihm kein neues Feuerzeug besorgte. Innerlich klopfte er sich auf die Schulter für diese Idee.

Man konnte ihm diese Behauptung sogar fast abnehmen, denn sein Freund machte auf Tyson einen recht kränklichen, aber auch abwesenden Eindruck. Nicht verwunderlich wenn man bedachte, was er vor kurzem alles durchgemacht hatte. Kais Blick schweifte nachdenklich aus dem Fenster und er schien Rays Worte gar nicht mitzubekommen.

„Ich kann gar nicht glauben das Dranzer so weit gegangen ist. Mein Gott, deine arme Schwester! Ich bin so froh dass dir nichts passiert ist, Kai. Wie hätten wir ihr das erklären sollen? Das muss endlich aufhören! Wir müssen so schnell wie möglich zusehen, dass wir uns vor unseren Bit Beasts wappnen. Dizzy weiß bestimmt…“

Max schnippte mit seinen Fingern vor Rays Gesicht, der sofort in seinem Redefluss stoppte und aufsah. Als er dem Wink seines Freundes folgte, erkannte er dass Kai kein einziges Wort mitgehört hatte. Sofort keimte die Sorge in ihm auf.

„Kai? Ist wirklich alles in Ordnung? Du hast mich nicht angelogen als ich gefragt habe wie du dich fühlst, oder? Das ist nicht der Augenblick um den harten Kerl zu markieren.“

Keine Antwort.

„Falls du dir Sorgen um Jana machst, sie wird vorerst auf der Kinderstation bleiben“, sprach Max auf ihn ein. „Ich bin mir sicher in einem überfüllten Krankenhaus kann ihr nichts passieren. Hier laufen so viele Menschen rum.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher…“

Dizzy hatte sich zu Wort gemeldet und das Bit Beast schien ziemlich gestresst. Zum ersten Mal sah Kai auf und sein Blick haftete am Laptop.

„Wir hätten auch nicht gedacht dass eure Bit Beasts Menschen töten. Womöglich machen sie vor ein oder zwei Opfern mehr auch keinen Halt.“

„Glaubst du wirklich sie wären so skrupellos?“, fragte Ray.

„Ich weiß es nicht. Ihr Verhalten ist momentan schwer einzuschätzen. Ich male mir schon schreckliche Szenen aus. Wenn wenigstens das Halloween Wochenende vorbei wäre, dann würde ihre Macht in der Menschenwelt rapide abnehmen.“

„Das würde das Problem aber nur bis nächstes Jahr hinauszögern.“

„Aber immerhin hättet ihr eine Gnadenfrist! Wir könnten uns noch etwas einfallen lassen.“ Dizzy stoppte und schien nachzudenken, dann entgegnete sie: „Es hilft nichts. Ich muss einen kleinen Ausflug in die Geisterwelt wagen. Vielleicht kann mir dort jemand helfen.“

Ein überraschter Ausruf ging durch die Gruppe.

„Wie willst du das anstellen?“

„Das ist einfacher als ihr denkt. Jedenfalls für Bit Beasts. Aber ich brauche eine Energiequelle. Schwache Bit Beasts wie ich, können ohne einen zusätzlichen Energieschub nicht so einfach die Barriere unserer Welten durchbrechen. Stellt den Laptop in die Nähe einer Steckdose. Ich darf nicht zuviel Distanz zu meiner Ressource haben.“

Tyson und Ray tauschten ungläubige Blicke.

Konnte es wirklich so einfach sein?

Auf der gegenüberliegenden Seite des Bettes war ein kleiner Tisch platziert. Knapp darüber, waren einpaar Steckdosen in der Wand eingelassen. Ray legte den Laptop auf der Tischplatte ab und die Gruppe erwartete schweigend Dizzys nächsten Zug. Dann flackerte der Bildschirm und das Programm, auf dem Dizzys Stimme projiziert wurde, schloss sich von selbst. Der Laptop begann zu erzittern und plötzlich schoss ein kleiner Blitz aus einem der USB Zugänge, verschwand in der Steckdose und der Bildschirm verdunkelte sich.

„Das war ja wirklich einfach.“, meinte Tyson überrascht.

Ihm kam in den Sinn wie laut es zugegangen war, als Dragoon zum ersten Mal in seinen Beyblade fuhr. Er war riesig, nein, gigantisch gewesen! Blaues Licht hatte den Dojo hell erleuchtet und Tyson, damals noch keine vierzehn, war gebannt zur Salzsäule erstarrt.

Selbst der Boden unter seinen Füßen schien damals unter Dragoons Macht ehrfürchtig zu erzittern.

Wenn er aber an Dizzys Auftritt dachte… Geradezu schwach und kläglich.

Sie war wohl wirklich nur ein kleines Licht unter ihres gleichen. In welche Gefahr begab sich die Bit Beast Dame wohl für die Gruppe?

„Ich hoffe sie braucht nicht so lange“, meinte Max beunruhigt. „Nicht das uns tatsächlich ein Bit Beast angreift.“

„Ich kann mir nicht vorstellen dass es so einfach ist…“

„Aber du hast Dizzy gehört“

„Dizzy kann sich auch irren, Max. Sie ist nicht allwissend. Außerdem haben wir auch noch andere Probleme.“, entgegnete Tyson, denn zum ersten Mal seid dem Streit mit Kai, hatte die Gruppe die Gelegenheit, mit ihm ruhig und ohne Hast zu sprechen. Zuvor lagen Tyson aber unzählige Fragen auf der Zunge. Das brennende Hiwatari Anwesen lag noch gestochen scharf vor seinen Augen und mit einer Gänsehaut erinnerte er sich daran, wie er verzweifelt versucht hatte ins Haus zu kommen, während ihr Freund darin eingesperrt war.

Langsam ließ Tyson sich gegenüber von Kai aufs Bett sinken und sah ihn mit einem erschöpften Lächeln an. „Ich habe echt gedacht dich nicht mehr lebend zusehen. Du kannst dir gar nicht vorstellen wie erleichtert ich bin… Wie erleichtert wir alle sind.“

Ein bestätigendes Nicken kam von der Runde. Dann verfinsterte sich Tysons Blick und Kai erwiderte ihn ohne eine Regung.

„Was ist da oben bloß geschehen? Als dieser verdammte Efeu das Fenster überwuchert hat… ich dachte ich werde wahnsinnig! Wie hast du es geschafft aus dem Haus lebend raus zu kommen?“

Kai senkte nachdenklich den Kopf, dann fasste er sich an die Stirn und schloss erschöpft die Augen.

„Ich… Ich weiß es nicht.“

Die Gruppe starrte ihn verdutzt an.

„Kannst du dich an nichts erinnern?“, fragte Max vorsichtig. Doch Kai schüttelte nur den Kopf. Dann flüsterte er:

„Das Letzte was ich weiß ist dass ich in Flammen stand…"

Tyson saß im Wartezimmer auf einem Stuhl und ließ mit geschlossenen Augen den Kopf in den Nacken fallen. Neben ihm stand eine verglaste Tür offen, die hinaus auf eine kleine Veranda führte. Eine kühle Herbstbrise wehte in den Raum und trug Rays Stimme hinein, der draußen, von seinem Handy aus, mit seiner Frau diskutierte.

„Ich verheimliche dir nichts! Es geht mir gut. Lass dich nicht von den Nachrichten so aufscheuchen! Mein Gott Mao, gib doch nichts auf das Geschnatter dieser Schnepfe!“

Ming Mings Bericht hatte schneller die Runde gemacht als den jungen Männern lieb gewesen war. Selbst jetzt, zu dieser späten Stunde, riefen alte Bekannte und Freunde an, von denen sie manche jahrelang nicht mehr gesprochen hatten. Darunter auch ehemalige Blader die sich zurzeit in Japan aufhielten.

Und ausgerechnet Tala war einer davon! Als Tyson dessen kühle Stimme auf der anderen Leitung seines Handys vernahm, klappte ihm die Kinnlade runter.

„Wo ist Kai?“

„Tala?!“

„Das ist keine Antwort.“

„Kai ist im Krankenhaus…“

„Wie geht es ihm?“

„G-Gut. Wie kommst du an meine Nummer?“

Tyson hatte ihm niemals seine Handynummer gegeben, da war er sicher. Die beiden kannten sich kaum und kamen auch nicht auf einen gemeinsamen Nenner. Nicht weil sie sich hassten, sie konnten mit dem jeweils anderen einfach nichts anfangen.

Einen Pavian kreuzte man schließlich auch nicht mit einem Specht.

„Willst du das wirklich wissen?“

„So- Sollte ich nicht?“

„Ich persönlich würde dir davon abraten.“

„Dann vergiss die Frage…“

„Wie geht es Jana?“

„Auch gut. Ihr ist nichts passiert.“

„Ich hoffe dieser Vorfall hatte keine Auswirkungen auf ein Kind mit ihrer Krankheit.“

„Ja das hoffe ich au-...“ Tysons Backen blähten sich vor Wut auf. „Wieso weißt du davon und ich erst seit gestern?! Ich kenne Kai viel besser als du und ausgerechnet dir erzählt er das seine Schwester krank ist?!“

Ein unheimliches Lachen ertönte von der anderen Leitung.

„Was ist so komisch?!“

„Kai hat mir nie davon erzählt. Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen.“

„Aber woher…“

„Kleiner unwissender Tyson… Ich weiß alles.“

Klick

Und schon war Tala Yvanov weg.

Tyson hatte, mit nervös zuckender Braue, auf sein Handy gestarrt und kam sich sofort beobachtet vor. Er spürte ein heftiges Prickeln im Nacken, wie bei den meisten Leuten, die dachten dass sie nicht alleine waren. Dann sprang er auf und durchsuchte die Garderobe im Wartezimmer auf Wanzen. Gewissermaßen war das etwas paranoid, aber war Tala nicht alles zuzutrauen? Womöglich arbeitete der junge Russe im geheimen Auftrag einer Terroristengruppe und platzierte Sprengköpfe in Japan.

Doch als er dem Zimmer, die Note „Wanzenfrei“ geben konnte, wich Tysons Verfolgungswahn schnell der Erschöpfung. Stöhnend ließ er sich wieder auf seinen Platz fallen. Der heutige Tag hatte an seinem Nervenkostüm gezerrt und er fühlte sich Hundeelend. Trotzdem war er sich sicher diese Nacht kein Auge zu zubekommen.

Er massierte sich die Schläfe und versuchte seine Gedanken zu sammeln. Kais Worte kamen ihm wieder in den Sinn.

„Das Letzte was ich weiß ist dass ich in Flammen stand…“

Die jungen Männer hatten nach diesen Worten beunruhigte Blicke ausgetauscht. Rays Sorge war soweit gegangen, dass er eine Krankenschwester bitten wollte, Kai noch einmal auf schwere Kopfverletzungen zu untersuchen, doch der hatte nur matt abgelehnt.

„Ich will schlafen…“ und als er noch ein leises „Bitte“ hinzufügte, zog Max seine Freunde mit sanfter Gewalt aus dem Raum. Es kam nicht oft vor das Kai seine Erschöpfung offen preisgab, geschweige denn einen Wunsch fast schon flehend hervorbrachte.

Doch als sie im Flur standen, fiel ihnen ein, dass Dizzy noch immer in der Geisterwelt umher irrte. Da keiner sich sicher war, ob es ein Fehler wäre, den Laptop jetzt von seiner Energiequelle zu entfernen, schlug Max vor, die Nacht im Krankenhaus zu verbringen.

Nun harrte Tyson im Wartezimmer aus, bis Max an der Rezeption alles für die Übernachtung arrangierte, während Ray seine aufgebrachte Frau am Telefon abwimmelte.

„Du wirst nicht hier her kommen! Bleib wo du bist, hast du verstanden?!“

Der scharfe Ton passte nicht zu dem Chinesen und Tyson konnte sich vorstellen, dass er Mariah die Tränen in die Augen trieb. Mit seinen Freunden hatte Ray noch nie so gesprochen. Sie tat Tyson Leid. Einpaar weitere wütende Sätze wurden ausgetauscht, dann klappte Ray sein Handy zu und trat wieder durch die Verandatür ins Wartezimmer.

„Warst du nicht etwas grob zu ihr?“, fragte Tyson.

„Lass das meine Sorge sein.“, kam es missmutig. Doch Rays Blick sprach Bänder. Er schien seine Worte bereits zu bereuen und biss sich auf die Unterlippe. Er war kein schlechter Kerl, sondern wohl einfach noch gekränkt wegen der Geschichte mit dem Kuckuckskind.

„Ich bin nicht blind, Junge! Ich weiß wie ein liebeskranker Hahn aussieht. Im Moment trägt er einen schwarzen Zopf und zieht ein Gesicht, als ob er sich am liebsten aufhängen würde.“

Ray sah nur wortkarg zur Seite.

„Bei all der Aufregung hast du uns noch gar nicht erzählt, was bei deinem Gespräch mit Mariah rausgekommen ist? Falls ihr euch versöhnt habt, habt ihr meinen Segen, aber vergiss nicht das der Braten in der Röhre nicht deiner ist!“

„Genau darum ging es.“, gestand Ray und strich sich über sein Kinn. „Sie behauptet dass sie bei dem Streit damals vollkommen neben sich stand und mir einfach nur etwas Verletzendes an den Kopf werfen wollte. Angeblich bin ich der Vater…“

Zuvor noch träge in seinem Stuhl versunken straffte sich Tyson sofort. Kerzengerade saß er da und starrte Ray verdattert an.

„Heißt das… Sie ist nie fremd gegangen?“

„Das ist es was mir Probleme bereitet.“ Die Stühle im Wartezimmer waren U-förmig gereiht. Ray setzte sich auf die andere Seite gegenüber von Tyson und sah ihn ratlos an.

„Selbst wenn ich jetzt einen Vaterschaftstest mache. Selbst wenn das Kind von mir ist… Das kann auch nur pures Glück sein! Ich war vielleicht im richtigen Moment mit ihr im Bett. Wie kann ich aber wissen, ob sie nicht doch fremd gegangen ist? Es klingt alles wie eine faule Ausrede! Ich kann nicht mit dieser Frau zusammenleben, wenn mir ihre Worte vom damals im Hinterkopf herumspuken. Könntest du das?“

Tyson antwortete nicht. Wie gerne hätte er seinem Freund gewünscht, dass seine Ehe wieder in Ordnung kam. Doch er konnte das tiefe Misstrauen gegenüber Mariah zu gut verstehen. Sie hatte eine Behauptung in den Raum geworfen, die nicht bei jedem typischen Durchschnittspaar auftauchte, wenn die Fetzen flogen.

Tyson hatte nie etwas gegen Rays Frau gehabt. Um ehrlich zu sein betrachtete er seinen Freund als wahren Glückspilz. Doch so war das eben bei Freunden…

Wen die liebten, musste man auch lieben und dasselbe galt auch beim Hass. Doch wusste Ray wie er selber fühlte? Die Ratlosigkeit stand seinem Freund ins Gesicht geschrieben. Tyson atmete seufzend aus, bevor er antwortete.

Er mochte solche Gespräche überhaupt nicht.

„Du weißt dass ich nicht gerade der beste Ansprechpartner für solche Fälle bin, Ray? Keine meiner Beziehungen hat länger gehalten als einpaar Wochen und dir ist klar, dass es mir dabei nur um Sex ging?“

Ray nickte. Diese Tatsache war ihm durchaus bewusst.

Tyson hatte mit den Jahren die schlechte Angewohnheit entwickelt zu Frauen ziemlich unfair zu sein. Es war nicht selten vorgekommen, dass er eine Dame gleich nach der ersten Nacht in den Wind schoss. Das lag vor allem daran, dass er sich nicht gerne festlegte oder etwas sagen ließ. Dieses Verhalten hatte aber eine Vorgeschichte…

Bei seiner ersten festen Freundin, hatte er den „Fehler“ begannen, sie nach Strich und Faden zu verwöhnen. Liebeskrank hing er an ihren Lippen, brachte ihr teure Geschenke und las ihr jeden Wunsch ab. Einpaar Monate hielt diese Situation an. Tyson und seine Freundin waren ein Herz und eine Seele – bis der erste Liebestaumel abebbte.

Er begann sie für selbstverständlich zu halten, gab sich weniger Mühe als zu Anfang der Beziehung und fiel in sein altes Verhaltensmuster zurück - Tyson war schon immer etwas bequem und störrisch.

Seine Freundin begann das zu bemerken und versuchte prompt ihn zu ändern.

Aus manchmal banalen Kleinigkeiten wurde für sie ein Grund an ihm zu nörgeln.

Irgendwann versuchte sie seine Lebensweise und seinen Charakter vollkommen umzukrempeln, nichts konnte Tyson ihr mehr recht machen, bis er der Beziehung überdrüssig wurde.

In dieser Zeit mutierte der treudoofe und anständige Junge, den sie alle kannten, immer mehr zu einem genervten Drückeberger. Er nahm seine Freundin nur noch ungern mit. Sprach sie ihn an oder quengelte, konterte er aggressiv. Tyson war schon immer äußerst impulsiv und aufbrausend gewesen, doch zu dieser Zeit erreichte er den Gipfel. Damals bekam jeder in der Gruppe seine schlechte Laune zu spüren. Irgendwann begann Tyson die Anrufe seiner Freundin zu ignorieren. Ray konnte sich noch gut an das wütende Gesicht erinnern, wenn sein Freund auf sein Handydisplay sah und feststellte, dass sie anrief. Darauf folgten dann ein Schnaufen und ein gereizter Laut, das Ray wie ein Knurren empfand.

Auseinandersetzungen zwischen Tyson und ihr standen damals an der Tagesordnung.

War sie nicht da, war er bester Laune. War sie anwesend - brodelnder Vulkan.

Nach einem weiteren Streit tat Tyson schließlich das, was keiner in der Gruppe von ihm erwartet hätte. Er betrog seine Freundin. Zuerst noch mit schlechtem Gewissen bestraft, fiel die Skrupel schnell von ihm ab und aus dem einen Mal wurden viele weitere. Die Clique hieß das zwar nicht gut, hielt Tyson zuliebe aber die Klappe.

Hiromi war damals noch nicht als Au Pair eingeteilt gewesen und hatte jedes Mal nervös auf der Unterlippe gekaut, wenn sie Tyson traf. Es juckte ihr in den Fingern ihm eine Standpauke zu halten, da sie der Meinung war, keine Frau hätte das verdient, doch es ließ sich nicht mit Tyson reden. Er war zu aggressiv…

Bis seine Seitensprünge in einem heftigen Streit aufflogen.

Ray konnte sich noch gut an den Zwischenfall erinnern, bei dem die Gruppe in den frühen Morgenstunden von einer Feier nachhause gekommen war und Tysons Ex dabei erwischten, wie sie mit einem Schlüssel tiefe Kratzer in sein erstes Auto ritzte.

„Arschloch“, ergab das Wort auf dem Lack.

An diesem Tag wurde allen klar, dass Tyson bei den Frauen, nun offiziell als mieser Machoarsch verrufen war. Trotzdem…

Auch wenn er sich mit den Jahren verändert hatte, legte Ray sehr viel Wert auf Tysons Meinung. Er besaß etwas, was viele Menschen in der heutigen Zeit nicht mehr hatten – eine ehrliche Zunge.

Tyson war bewusst das er nicht perfekt war, doch er schien keinen Gedanken daran zu verschwenden sich zu ändern, als wolle er sagen: „Hier! Das bin ich! Ich hab meine Macken aber damit müsst ihr Leben!“

Wenn es jemanden gab, von dem er eine hundertprozentig ehrliche Meinung erwarten konnte, dann war es Tyson. Dieser sah ihn inzwischen ernst an. Er wusste was Ray von ihm erwartete.

„Weißt du Ray, für mich hieß eine Beziehung immer nur eine weitere Tussy flachlegen. Ich habe noch nie eine Frau getroffen von der ich gedacht habe: Das ist die Richtige! Die lasse ich nie mehr weg! Aber bei dir… Du warst nie so. Du warst immer der Vernünftigste von uns allen. Man sah dir immer an wie viel dir Mariah bedeutet. Ich bin nicht der Typ der auf romantischen Kitsch steht, aber ihr beide ward für mich die Verkörperung eines richtigen Paares. Es sah immer so aus als ob euch nichts zum Straucheln bringen könnte…“

„Du meinst also ich soll ihr noch eine Chance geben?“

„Ich will damit sagen, dass ich dir ansehe, wie unglücklich dich diese Situation macht! Sieh dich doch an Ray! Gerade eben noch hast du sie am Telefon angeschnauzt, jetzt sitzt du hier wie ein Häufchen Elend! Weißt du eigentlich was du willst?“

Das schien er nicht. Denn er fuhr sich nur mit geschlossenen Augen über die Stirn.

„Wenn sie dir noch etwas bedeutet, dann ruf sie an und klär die Sache!“

„In unserer jetzigen Situation ist es besser wenn sie mir nichts bedeutet…“

„Muss ich diese Logik verstehen?“

Ray sah Tyson ernst an und antworte:

„Max hat seine Mutter geliebt und nun ist sie tot. Kai liebt seine Schwester und beide sind heute nur knapp dem Tod entkommen und du liebst deinen Großvater und jetzt liegt er hier im Krankenhaus. Wenn ich mich mit Mariah versöhne, wer denkst du wird die Nächste sein?“
 


 

*
 

Tick, Tack, Tick, Tack…

Hallte der Sekundenzeiger der Wanduhr durch das dunkle Krankenzimmer, während Kai in seinem Bett schlief. Er lag auf der Seite und in regelmäßigen Intervallen konnte man seine leisen Atemzüge vernehmen. Silbriges Mondlicht drang durch das Fenster, durchschnitt mit einem hellen Schein die Dunkelheit und beleuchtete das Bett des ruhenden Mannes. Die Erschöpfung schien ihn in einen tiefen Schlaf getrieben zu haben.

Die Minuten zogen sich schleppend dahin, nur noch wenige fehlten und es würde Mitternacht sein. Da durchbrach die nächtliche Stille ein seltsames Knistern.

Der Laptop der auf dem kleinen Tisch vor den Steckdosen thronte und auf Dizzys Rückkehr wartete, begann zu vibrieren. Dann schoss mit einem zischenden Laut ein kleiner Blitz aus einer der Steckdosen und fuhr durch einen der USB Zugänge wieder in das Gerät. Wie von Geisterhand schaltete sich der Laptop wieder an, sämtliche Programme die Dizzy benötigte, um sich bemerkbar zu machen, öffneten sich und keine Sekunde später, schallte die elektronische Frauenstimme des Bit Beast durch den Raum:

„Jungs? Jungs ich bin zurück!“

Das Bit Beast verstummte und bemerkte dass man sie im Zimmer zurückgelassen hatte.

„Na toll. Alle ausgewandert? Kenny würde mich niemals einfach so stehen lassen. Sauerei.“

Da wanderte ihre Aufmerksamkeit auf das Bett.

„Kai? Kai mein Junge. Bitte wach auf! Ich habe dringende Neuigkeiten!“

Einpaar Sekunden kam keine Regung vom Bett. Dizzy erwartete schon durch das Zimmer schreien zu müssen, da setzte sich Kai, ihr den Rücken zugewandt, langsam auf. Mit einem ernsten Gesicht spähte er über seine Schulter zu dem kleinen Tisch.

„Tut mir Leid Kai. Ich weiß du bist sehr erschöpft von diesem furchtbaren Tag, aber das hier lässt sich nicht aufschieben. Du musst sofort den anderen berichten was ich dir jetzt sage!“

Dizzy war sich nicht sicher ob Kai sie verstanden hatte, denn zunächst kam keinerlei Regung von ihm. Schließlich glitt er lautlos aus dem Bett und trat auf den kleinen Tisch zu.

„Hör gut zu, denn was ich dir sage ist wichtig. Ich konnte nicht alles über die Pläne eurer Bit Beasts in Erfahrung bringen, aber doch einen Teil. Zunächst einmal eine gute Nachricht: Hier im Krankenhaus seid ihr relativ sicher. Die ganzen Menschen hier zu töten würde zuviel Kraft in Anspruch nehmen, deswegen werden eure Bit Beast noch nichts unternehmen. Es geht ihnen einzig und alleine um euch. Eines haben sie aber bereits geschafft, euch wieder als Gruppe zusammenzubringen.“

Kais Blick war gebannt auf sie gerichtet und Dizzy hatte ein schlechtes Gewissen, bei dem Gedanken, den stark abgekämpften Mann solch eine Hiobsbotschaft zu übermitteln. Doch das war etwas worauf sie beim besten Willen keine Rücksicht nehmen konnte.

„Anfangs dachte ich euren Bit Beasts ginge es darum euch zu töten, doch ich habe mich geirrt! Es geht ihnen nicht darum euch zu zerstören, sondern euch wieder zudem zu machen, was ihr einmal ward – zu Kindern. Kinder sind in ihren Augen etwas Unschuldiges, Sorgenfreies… und leicht zu Manipulierendes. Doch genau das ist keiner von euch mehr, weil jeder von euch mit den Problemen eines Erwachsenen kämpft. Was denkst du charakterisiert einen Erwachsenen am meisten?“

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

„Verantwortung.“

„Genau. Was einen Erwachsenen am meisten definiert ist sein Pflichtgefühl, seine Erfahrung und die Verantwortung gegenüber sich selbst und anderen.

Verantwortung birgt Pflichten.

Verantwortung birgt Erfahrungen.

Verantwortung lässt einen Geist reifen!

Und jeder von euch fühlt sich einer Person verpflichtet.

Max für seine Mutter, Tyson für seinen Großvater und du für deine Schwester!

Genau deshalb wurden diese drei Personen angegriffen. In den Augen eurer Bit Beasts hindern sie euch daran, wieder zu euren ursprünglichen Leben zurückzukehren. Ray ist eurem Schicksal nur entkommen, weil er sich bald von seiner Frau trennt. Er fühlt sich ihr nicht mehr verbunden. Sonst wäre die gute Mariah und ihr Baby als nächstes dran gewesen, verstehst du?“

Kai nickte.

„Mittlerweile gab es aber eine kleine Planänderung, weil die Uralten unter Zeitdruck stehen. Deshalb sind eure Angehörigen für sie erstmal nebensächlich. Sie wollen euch nämlich nicht nur von euren Pflichten befreien, sondern euch auch körperlich wieder zu Kindern werden lassen. Im Prinzip wäre das möglich, mächtig genug sind sie ja, aber dieser Zustand würde in eurer Welt nur bis zum Ende von Halloween anhalten. Danach würde die Kraft eurer Bit Beasts wieder schwinden und ihr würdet eure erwachsenen Körper zurück bekommen. Deshalb wollen sie euch an einen Ort bringen wo ihre Macht dauerhaft und unbegrenzt ist.“

„Die Geisterwelt…“

Dizzys Stimme klang überrascht als sie antworte:

„Ja genau! Du hattest schon immer einen sehr scharfen Verstand. Das mochte ich stets an dir. Obwohl du ein kleiner Grießkram bist. Jedenfalls muss ich euch warnen! Ich weiß nicht wie eure Bit Beasts es anstellen wollen, aber sie werden versuchen euch an einen Ort zu locken, an dem die Schwelle zur Geister und Menschenwelt schon immer am geringsten ist.

Für gewöhnlich ist es unmöglich einen Menschen in die Geisterwelt zu verschleppen, aber die Wirkung einer spirituellen Stätte und die Tatsache, dass in einer Viertelstunde Halloween beginnt, wollen sie nutzen um euch in ihre Welt zu ziehen.

Haltet euch von Shinto-Schreinen, Kirchen und Mausoleen fern! An diesen Orten wird zur Geisterwelt gebetet, dass allein baut eine Verbindung auf. Und unter gar keinen Umständen, wirklich niemals, dürft ihr einen Friedhof betreten! Über Halloween sind die für euch Tabu!

Dieser Ort ist bei uns als „Brücke zur Welt der Lebenden“ bekannt, weil Geister spüren, wenn ihre Angehörigen an ihrem Grab trauern. Viele Menschen merken gar nicht, wie nah der Geist eines Verstorbenen einem ist. In der Zeit nach ihrem Ableben beobachten sie ihre Hinterbliebenen und versuchen ihnen mit ihrer Anwesenheit Trost zu spenden.“

Wieder kam nur ein langsames Nicken von Kai.

„Du bist heute Nacht wortkarger als sonst… falls das möglich ist.“

„Die Gefäße…“

„Wie bitte?“, fragte Dizzy perplex.

„Hast du etwas über die Gefäße erfahren?“

Einpaar Sekunden herrschte Stille. Die Bit Beast Dame schien Kais Gedankengängen längere Zeit nicht folgen zu können, doch als der Groschen fiel, antwortete sie:

„Ach jetzt verstehe ich! Du meinst die beweglichen Gefäße die ein Bit Beast braucht, um Menschen selbstständig anzugreifen. Tut mir Leid Kai… Darüber habe ich nur vage Vermutungen erhalten. Einige Geister sagen, die Uralten würden sich in die Kadaver toter Tiere schleichen. Andere behaupten sogar es wären kürzlich verstorbene Menschen. Das kann ich mir aber beim besten Willen nicht vorstellen. So etwas kostet unglaubliche Kraft, die unmöglich für uns aufzubringen ist. Du musst dir die Anzahl an Nerven, Muskeln und Organen vorstellen, die alle angetrieben werden müssen! Das ist weitaus komplizierter als ein seelenloses Beyblade! Ein menschlicher Körper wird immer mit Lebensenergie angetrieben und die habt selbst ihr Menschen nicht auf ewig, deshalb altert und sterbt ihr auch irgend-…“

Abrupt stoppte Dizzy in ihrem Redefluss. Ihr kam ein Gedanke…

Von den Gefäßen hatte sie nur den andern drei Männern erzählt. Kai war zu diesem Zeitpunkt noch bei sich zuhause gewesen. Wie konnte er davon wissen? Er hatte sich Tysons Geschichte nicht einmal bis zum Schluss angehört, da sie ihm zu absurd war.

„Woher…“

„Du kannst sehr gut recherchieren.“

„D-Danke.“ Das Bit Beast besah sich ihren Gegenüber argwöhnisch. „Aber du scheinst nicht sehr überrascht.“

„Sollte ich?“

Dizzy blieb stumm. Sie kannte ein Wesen das sich einen Spaß daraus machte, auf Fragen mit Gegenfragen zu antworten.

„Was weißt du noch?“

„Nichts.“

Kai beugte sich über den Bildschirm und ein kaltes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.

„Lügnerin…“

Es war keine Beschuldigung.

Es war eine Feststellung.

Er schien genau zu wissen, dass sie ihm dreist ins Gesicht log.

Seine Augen betrachteten den Monitor und Dizzy bemerkte das sie tot und leer waren.

„Nein!“, entwich es ihr, als sie ihren Fehler erkannte. „Was hast du mit dem Jungen gemacht Dranzer?!“

„Was denkst du habe ich gemacht?“

„Ist er… tot?“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht…“

„Er hat eine kleine Schwester. Sie braucht ihn! Du darfst ihn nicht töten! Hast du kein Herz?“

„Du weißt doch dass ich ihn lebend will.“

„Du kannst nicht in lebende Körper schlüpfen! Das kann nicht sein! Das ist unmöglich! So viel Kraft besitzt nicht einmal du!“

„Du hast nicht einmal eine Vorstellung davon was ich kann.“

„Wie? Wie ist das möglich?!“

Schweigend sah Kai auf sie hinab und ihr wurde klar, weshalb das Bit Beast sich seinen Körper gewählt hatte. Nicht nur weil er Dranzers früherer Blader war, sondern weil er schon immer sehr still, kühl und in sich gekehrt war. Genau wie die wesentlichen Charaktermerkmale eines Geistes. Bei jedem anderen wäre dieses Verhalten sofort aufgefallen, aber nicht bei Kai!

Statt ihm antwortete plötzlich eine andere Person.

„Es heißt Liebe kann Berge versetzen… Doch Hass ist ein viel wichtigerer Nährboden für Macht!“

Dizzy gab einen schockierten Laut von sich, als aus einer finsteren Ecke eine hünenhafte Gestalt aus den Schatten auftauchte. Jemand schien sich wie ein Gespenst aus der Dunkelheit zu manifestieren. Ein weißhaariger Mann mittleren Alters, trat mit langsamen Schritten neben Kai und legte seine Hand auf dessen Schulter. Er überragte Kai um zwei Köpfe. Mit den langen Haaren und der braungebrannten Haut, wäre er wohl recht attraktiv gewesen, wenn sein Gesicht nicht von striemenhaften Narben entstellt wäre, die sich links und rechts seiner Wange abzeichneten und ihm bis in den Nacken reichten. Obwohl braungebrannt, schien auch in seiner Haut ein ungesunder Ton zu liegen. Die dunkle Kleidung wirkte wie eine Kampftracht, war an Schultern und Füßen mit Fell überzogen, was ihm etwas Ehrwürdiges verlieh. Seine Augen waren wie die Kais leblos, doch die Haltung war stolz und aufrecht, wie ein unerschütterlicher Fels. Nur die bloße Anwesenheit konnte einen Erzittern lassen. Dizzy bekam es mit der Angst zu tun und als Kai das Wort an sie richtete, begann sie zu wimmern.

„Wie kannst du es wagen uns in die Quere zu kommen? Du bist nichts weiter als eine kleine Ratte unter unseres Gleichen.“

„Was ihr tut ist aber nicht richtig!“, verteidigte sich Dizzy.

„Das sagt diejenige die von ihrem Menschen wie eine Göttin auf Händen getragen wird.“

„Muss ich mich dafür rechtfertigen dass Kenny mich so liebt?!“

„Durchaus nicht“, antwortete Kai überraschend. Dann hob er langsam einen Arm in die Höhe und seine Faust ging in lichtblauen Flammen auf. „Aber das heißt nicht dass du ungeschoren davon kommst…“

Die Faust sauste hinab und Dizzy sah nur eine Möglichkeit. Mit einem zischenden Laut sprang das Bit Beast aus ihrem Laptop, bevor es von dem besessenen Mann zertrümmert wurde. Die brennenden Kleinteile flogen umher, als das Gerät hinter ihr unter dem Schlag zerbrach, doch als Dizzy in die Steckdosen entweichen wollte, wurden diese in die Wand gesogen, als würden sie von Treibsand verschluckt. Dizzys kleiner Blitz knallte gegen den kalten Stein, noch bevor sie fliehen konnte, prallte ab und schlug auf dem Boden ein, wo sich das Bit Beast in seiner wahren Gestalt zeigte – einer winzigen leuchtenden Springmaus.

Aufgeregtes Piepsen drang zu ihren Artgenossen hinauf und als sie durch die Türritzen in den Flur flüchten wollte, flammte Feuer auf, hielt das hilflose Wesen in einem lodernden Kreis umzingelt, dass sich schützend die kleinen Pfoten auf den Kopf legte und sich zusammenkauerte, am ganzen Leib zitternd.

Der hünenhafte Mann gab ein lautes Knurren von sich, dann zuckte er wie bei einem Anfall und aus seinen Händen wurden riesige Pranken, aus seinem Mund eine mit scharfen Zähnen gespickte Schnauze. Er bäumte sich vor, schwellte auf die doppelte Größe an und Blitze zuckten um ihn herum. Die weißen Haare überwuchsen den gesamten Körper, aus den Narben wurden laubgrüne Streifen, wie die eines Tigers und ehe sich Dizzy es versah, erhob Drigger majestätisch sein Haupt vor ihr.

„Kai! Hilf mir! Lass das nicht zu!“, rief sie verzweifelt zu dem Mann.

Doch da war kein Kai mehr.

Es gab nur noch Dranzer.

Nichts als ein belustigtes Kichern kam von Kai, der auf das verzweifelte Bit Beast hinabblickte – die Augen reglos und leer. Drigger thronte neben ihm, sein Schwanz peitschte erwartungsvoll hin und her.

„Weißt du was ich nie verstanden habe? “ fragte Kai, während er mit der Hand über den riesigen Tigerkopf kraulte, dessen Augen im Dunkeln unheilvoll leuchteten. „Wieso ausgerechnet ein nutzloses Wesen wie du, von seinem Menschen mehr verehrt wird als wir. Uns würde so eine Behandlung eher zustehen, nicht wahr Drigger?“

Der Tiger gab ein wütendes Grollen von sich.

Kai lächelte, beugte sich zu ihm hinab und flüsterte ins Ohr.

„Hol dir die Verräterin.“

Und er kam der Aufforderung nach…
 

Dizzy gab ein ängstliches Quieken von sich als der Tiger zum Sprung ansetzte. Mit voller Kraft stütze er sich vom Boden ab. Im Schein des Mondlichts blitzen die Klauen auf und sein weißes Fell strahlte erhaben. Es wäre ein herrlicher Anblick gewesen, wenn nicht die Mordlust in den gelben Augen des Tigers blitzen würde. Sie verkündeten Unheil…

Voller Panik rannte Dizzy in ihrem kleinen Gefängnis im Kreis und als Drigger kurz davor stand, sie zu ergreifen, sprang sie kreischend durch die Flammen.

Die Erde vibrierte als das Gewicht des Tigers knapp neben ihr aufkam. Mit seiner riesigen Tatze hatte er im Nu ihr kleines Gefängnis gelöscht, nicht einmal ein Brandfleck blieb auf dem Fell, doch Dizzys Schwanz stand in Flammen! Wie von Sinnen rannte das kleine Bit Beast verstört umher, merkte gar nicht wie sie Drigger in eine Ecke drängte und mit ihr spielte. Rannte sie nach rechts, versperrte eine seiner großen Tatzen den Weg.

Links dasselbe Spiel.

Aus Kais Richtung schallte nur das schadenfrohe Lachen von Dranzer. Es klang gespenstisch.

Irgendwann bekam sie Drigger zu fassen, klemmte sie zwischen Boden und Klaue ein.

Dann beugte er sich hinab und biss dem zappelnden Bit Beast mit einem Ruck den Kopf ab. Ein letztes Zucken von Dizzy, dann blieb sie reglos am Boden liegen.

Es war vorbei…

Stille kehrte in den Raum.

Drigger warf den leblosen Körper mit der Schnauze in die Luft und mit einem grässlichen Laut, schnappte er danach und verschlang es in einem Stück. Dann sah er zufrieden zu Kai und selbst in seiner Tiergestalt, schien er ihm höhnisch entgegenzulachen. Der junge Mann lächelte gönnerhaft, trat zum zertrümmerten Laptop und mit einer leichten Handbewegung, setzten sich alle Teile wieder nahtlos zusammen. Die zerbrochen Ränder glühten kurz auf, als wären sie gerade zusammengeschweißt. Dann flüsterte er:

„Das manche Bit Beasts einfach nicht wissen wo ihr Platz ist…“
 


 

*
 

Tyson hatte einen seltsamen Traum…

Er war an einem Ort voller Nebel. Dicht und undurchlässig.

Ziellos streifte er durch die Landschaft, immer mit dem Gefühl im Nacken beobachtet zu werden. Mehrmals hielt er inne, tastete sich durch die graue Brühe vor ihm, in der Befürchtung über etwas zu stolpern. Irgendwann meinte er die Umgebung besser erkennen zu können und tatsächlich…

Neben ihm ragten hohe Gebäude auf. Als er an einem kleinen Nudelsuppenstand innehielt, den er kannte, wusste er auch in welcher Stadt er war.

Tokyo. Seine Heimat - jedoch menschenleer.

In keinem Gebäude brannte Licht, die Autos waren verlassen, bei manchen stand sogar die Tür offen, von den Besitzern keine Spur. Tysons Schritte trieben ihn fast schon selbstständig weiter, weg von der gespenstischen Innenstadt zu den Wohnvierteln.

Er wollte nachhause.

Er brauchte einen Ort an dem er sich wohlfühlte…

Unterwegs meinte er Laute um ihn herum zu hören. Flüsternde Stimmen die ihm unverständliche Dinge ins Ohr säuselten. Tyson drückte sich die Hand an die Ohren, denn dieses Zischen raubte ihm den Verstand, bis er die verbleibende Strecke zum Kinomiya Anwesen rannte. Er wusste nicht ob es Einbildung war, doch ihm war als würden ihn schimmernde Nebelschwaden verfolgen. Sie zwängten sich wie eine Welle zwischen den Häusermauern hindurch.

Als er endlich das Tor zum Anwesen erblickte, stolperte er eiligst durch, verriegelte es hinter sich und lauschte in die Finsternis hinein. Die glimmenden Schwaden zogen flüsternd am Tor vorbei, ihr heller Schein drang bis über die Mauer die das Anwesen umsäumte.

Tyson atmete erleichtert aus, stemmte sich vom Tor ab und lief langsam den Kiesweg zum Haus entlang. Selbst die Eingangstür wirkte in der grauen Welt gespenstisch.

Als er in den finsteren Flur eintrat war das Erste was ihm auffiel, eine hohe Standuhr direkt gegenüber dem Eingang, wobei er sicher war so etwas Edles noch nie in ihrem Haus gesehen zu haben. Eine dicke Staubschicht sammelte sich an der Oberfläche. Das Pendel im Innern des Gehäuses rührte sich nicht, nur Spinnenweben hingen daran herab. Dicke Rotrückenspinnen fädelten darin an ihren Fallen. Die Zeiger der Uhr tickten rückwärts über das Ziffernblatt, gegen den Uhrzeigersinn.

Tyson fand das unheimlich.

Er drehte sich von der Uhr weg und wollte den Flur entlanglaufen, da stutzte er.

Am Ende des Ganges stand ein riesiger Spiegel, von dem er ebenfalls sicher war ihn noch nie in ihrem Haus gesehen zu haben.

Überrascht blinzelte er, trat näher heran und besah sich das gute Stück. Es war ein sehr altmodisches Model, das eigentlich perfekt in dieses traditionelle Haus passte.

Tyson betrachtete sein Spiegelbild, da fiel ihm auf wie verwahrlost er aussah.

Er richtete sich seine Haare, strich eine freche Strähne aus dem Gesicht und als er fertig war, hob sein Spiegelbild anerkennend den Daumen in die Höhe und zwinkerte ihm zu.

Moment was?!

Mit einem entsetzten Aufruf wich Tyson zurück, knallte gegen eine Kommode, rutschte daran hinunter und auf dem Möbelstück kam eine Vase ins Straucheln. Laut scheppernd fiel sie auf seinen Kopf und zerbrach in viele kleine Teile, während er getroffen jaulte.

Benommen presste er eine ganze Weile die Hände gegen den Schädel, als ob er dadurch das Dröhnen darin verdrängen könnte, bis er ein kindliches Lachen hörte.

Tyson betrachtete sein Spiegelbild das sich glucksend den Bauch hielt, dabei änderte es seine Gestalt, wurde jünger und jünger, kleiner und kleiner, bis er sich als Kind erblickte.

Frech grinste ihm sein junges Alter Ego entgegen, zog Tysons alte Mütze hinter seinem Rücken hervor, klopfte den Staub darauf ab und setzte sie auf seinen Kopf.

Die seltsame Uhr läutete die nächste Stunde an.

Plötzlich fühlte sich Tyson seltsam, er richtete sich auf und ihm rutschte die Hose von den Hüften. Überrascht sah er an sich hinunter. Sein dunkler Pullover war um Nummern zu groß, schlackerte ihm bis zu den Knien. Als er merkte dass seine Körpergröße sich soeben halbiert hatte, spähte er panisch zwischen seine Beine…
 

„NEIN!“

„Tyson?“

„NEIN!“

„Wach auf, Tyson.“

„ICH WILL STERBEN!“

„Wieso?! Du sollst doch bloß aufstehen?“

Eine Ohrfeige später schlug Tyson panisch die Augen auf. Über ihm beugte sich Ray und sah ihn verständnislos an. Als er seinen Freund erblickte atmete Tyson erleichtert aus, dann fuhr er wie von der Tarantel gestochen auf, als ihm sein Traum wieder in den Sinn kam und plapperte haltlos drauf los.

„Oh Gott Ray! Ich hatte einen heftigen Traum! Alles voller Nebel und nirgendwo Menschen. Ich will zu meinem Haus, gehe rein, alles dunkel, ich schaue in den Flur, da ist ein Spiegel und mein Spiegelbild lacht mich aus weil mir eine Vase auf den Kopf fällt!“

„Reizend. Aber…“

„Nein warte! Das Schlimmste kommt noch! Ich bin plötzlich wieder ein kleines Kind und alles an mir ist klein! Verstehst du Ray? ALLES!“

„Du meinst deinen...“

„Ja! Da fällt mir ein…“ Tyson strampelte die Decke von seinem Körper, öffnete hektisch Gürtel und den Reißverschluss seiner Hose und spähte in seine Shorts. Dann folgte ein erleichterter Ausruf. „Gott sei Dank. Alles noch in gewohnter Länge…“

„Das hoffe ich doch“, antwortete Ray trocken. „Weißt du, manchmal sehe ich dich auf dem schmalen Grad zwischen Verblödung und Geistesgestörtheit balancieren.“

„Das ist doch fast dasselbe…“ Dann fiel der Groschen. „Sehr witzig. Du kannst mich mal! Warum weckst du mich überhaupt?“

Tyson sah auf die Wanduhr im Schlafraum. Es war Viertel nach Zwölf. Genervt heulte er auf.

„Ray hast du mal auf die Uhr geschaut?! Stehen in China die Menschen um Mitternacht auf, oder was stimmt mit dir nicht?!“

„Kai ist hier.“

„Was?“

Brüsk schob Tyson Ray aus seiner Sicht und tatsächlich…

Da stand Kai und berührte leicht Maxs Schulter, der noch selig im Land der Träume schlummerte. Als er missmutig wieder in die reale Welt fand, murmelte Max schlaftrunken einige Flüche aus und verfiel dabei in seine Muttersprache:

„Crap! What the…“ Doch als er Kais ernste Miene über sich erblickte, fragte er: „Was machst du denn hier? Solltest du dich nicht in deinem Zimmer sein?“

Kai sah den jungen Mann nur stumm an, dann wandte er sich von ihm ab Richtung Tür, trat hinaus in den Krankenflügel und ließ den Rest der Gruppe irritiert zurück.

„Wo will er hin? Hab ich was Falsches gesagt?“, fragte Max verschlafen. „Ray was ist los?“

„Ich weiß es nicht. Er benimmt sich die ganze Zeit so…“

„Hat er bisher irgendein Wort gesagt?“

„Nicht einen Ton.“

„Als ob das was Neues wäre! Aber wenn ihr dann ruhig schlafen könnt, sehe ich nach ihm“, Tyson, der bereits aus seinem Bett gestiegen und sich seinen Pullover über die Schulter warf, schlüpfte in seine Sportschuhe. „Kai hatte einen harten Tag. Der Kerl steht total neben sich, dazu muss man kein Genie sein, um das zu erkennen. Haut euch wieder hin Leute, es reicht wenn einer von uns wach ist. Ich bringe ihn in sein Zimmer, das dürfte nicht lange dauern.“

Dann fügte er im Gedanken noch hinzu…

„Nach diesem Alptraum kann ich eh nicht mehr schlafen.“
 


 

Als Tyson in den Flur trat lag der gesamte Krankenflügel im Dunkeln. Nur eine kleine Lampe an der Rezeption brannte, während die Nachtschwester an ihrem Pult Notizen in Krankenberichte übertrug. Von Kai fehlte jede Spur. Fragend kratzte Tyson sich am Kopf und lief zur Rezeption. Wie war Kai so schnell verschwunden?

„Verzeihung, aber haben sie gesehen wo mein Freund hin gelaufen ist? Der aus Zimmer 418. Kai Hiwatari.“

Die Schwester sah von ihren Unterlagen auf und blickte Tyson argwöhnisch an.

„Mr. Hiwatari? Der hat sein Zimmer nicht verlassen. Das wäre mir aufgefallen, 418 ist genau in meinem Blickfeld.“

Sie deutete auf die Tür.

„Er war gerade bei uns im Gästezimmer…“

„Mr. Hiwatari darf nicht aufstehen. Das würde ich nicht erlauben!“

Die Krankenschwester vor Tyson war ein dicker kleiner Brummer und schien auch sonst sehr angriffslustig. Scheinbar gekränkt, weil er ihr vorwarf nicht aufzupassen, reckte sie ihr Kinn und wirkte dadurch wie eine bissige Kampfbulldogge. Jemand mit einem solchen Gesicht, bekam sicherlich selten Komplimente, deshalb versuchte Tyson es auf die charmante Tour.

„Sie sehen äußerst zuverlässig aus und ich kann selbst nicht glauben, dass ihren hübschen Augen etwas entgeht, aber ich bin mir sicher, dass er im Angehörigenzimmer war, immerhin hat er uns alle aufgeweckt.“ Tyson beugte sich über die Rezeption und schenkte der Krankenschwester ein einnehmendes Lächeln. „Würden sie mir helfen ihn zu suchen? Das würde ich ihnen nie vergessen. Wir könnten uns dann auch näher kennenlernen?“

Ein Zwinkern folgte.

Finster stierte ihn die Nachtschwester an. Dann hob sie ihren Bleistift in die Höhe und knickte ihn mit ihrem wurstigen Daumen in der Mitte durch.

„In dein Zimmer oder ich versohl dir den Arsch!“

„Danke für gar nichts“, meinte Tyson, wandte sich vom Pult ab und murmelte. „Verbitterte Schnepfe…“

„Ich bin nicht verbittert und da geht es nicht zu deinem Zimmer, Freundchen!“

„Ich weiß dass es da nicht zu meinem Zimmer geht!“, äffte Tyson.

Die Nachtschwester präsentierte ihm die Faust.

„Damit kann ich Wallnüsse knacken und als nächstens versuche ich mich an deinen Hoden! Dann gibst du nur noch Soprantöne von dir, du Pseudo-Gangster!“

„Klar. Leck mich… blöde Schachtel.“

„Wie war das?!“

„Nichts!“

Tyson wollte eigentlich in Kais Zimmer spähen, doch die Krankenschwester machte den Eindruck, als würde sie ihn dann in den Schwitzkasten nehmen. Stattdessen bog er um die nächste Ecke, um dem giftigen Blick der Bulldogge im Nacken zu entkommen. Üble Verwünschungen sprudelten aus seinem Mund, als er ziellos eine Weile umher lief und zum Ende eines dunklen Korridors sah, wo er Kai ausmachte. Er stand ihm den Rücken zugewandt am Fenster und blickte in die nächtliche Schwärze hinaus. Zuerst stutzte Tyson, doch dann trat er zu ihm und folgte seinem Blick.

Sie waren im vierten Stock. Von ihrem Punkt aus konnten sie einen Teil der Stadt überschauen. Eine Gruppe Jugendlicher lungerte durch die Straßen, trank Alkohol und grölte lauthals Parolen. Vor einpaar Jahren war Tyson auch so, heute war er zu alt für so etwas. Er schüttelte den Kopf und fragte:

„Ist für dich der Anblick von versoffenen Teenies so viel wert, dass du dich nachts aus deinem Zimmer schleichst? Eine Meisterleistung übrigens, die Nachtschwester ist ein mordgieriges Monster…“

Ein verneinendes Kopfschütteln war die Antwort.

„Was dann?“

Kai deutete auf etwas. In weiter Ferne, auf einem Hang, lag etwas oberhalb der Stadt ein Friedhof. Überrascht zog Tyson eine Augenbraue in die Höhe.

„Was ist damit?“

„Wir müssen dort hin…“

„WAS?!“

Tysons Mund klappte auf und er fuhr erschrocken von Kai weg, der das erste Mal seinen Blick von der Scheibe abwandte und ihn ernst ansah.

„Hast du sie noch alle?! Warum willst du zu dem Friedhof?“

„Dizzy hat es gesagt…“

„Sie ist zurück? Seid wann? Hättest du das nicht eher sagen können?!“

Kai blieb stumm. Tyson fiel auf wie barsch seine Frage geklungen hatte und sofort tat es ihm leid, immerhin schien sein Freund durch den Wind.

„Tut mir Leid… Was hat Dizzy noch gesagt?“

„Wir müssen zum Friedhof. Alles wird dann kommen, wie es kommen soll…“

„Das klingt ziemlich schwammig.“, nachdenklich verschränkte Tyson die Arme vor der Brust und legte den Kopf leicht zur Seite. „Bist du sicher das Dizzy das so gesagt hat? Normalerweise drückt sie sich präziser aus.“

„Misstraust du mir?“

Tyson blinzelte überrascht.

„Natürlich nicht. Aber…“

„Was hindert uns dann?“

„Ich kann Ray und Max doch nicht wecken und ihnen sagen dass, wir mitten in der Nacht zu einem schaurigen Friedhof spazieren! Sie werden Fragen stellen und ehrlich gesagt möchte ich auch wissen worauf wir uns einlassen.“

Kais Brauen zogen sich tief ins Gesicht. Sein Ausdruck verfinsterte sich und er wandte den Kopf zur Seite.

„Lügner“, kam es wie ein leises Zischeln.

„Wa-…Wieso?“

„Du vertraust mir doch nicht.“

Er wollte sich von Tyson abwenden, der ihn vollkommen perplex ansah.

„Warte!“, schnell legte er seine Hand auf Kais Schulter und drehte ihn sachte zu sich. „Das hat nichts mit Misstrauen zu tun! Ich will einfach nur vorbereitet sein. Wir wissen noch nicht einmal wie es weitergeht wenn wir dort sind. Würdest du nicht auch Fragen stellen, wenn ich dir eine solche Nachricht überbringe?“

„Nein.“

Tyson lachte heiter.

„Jetzt lügst du aber! Du wolltest mir nicht einmal glauben als ich dich vor unseren Bit Beasts gewarnt habe.“

„Das war bevor ich gesehen habe wie viel du für mich auf dich nimmst.“

Stille kehrte ein…

Tyson konnte nicht glauben was er da hörte.

Zum ersten Mal… Zum allerersten Mal in seinem Leben bekam er von Kai etwas Anerkennung für seine Leistung! Das war ein Jahrhundertereignis! In seiner Jugend war er mehrmals Weltmeister geworden, hatte jedem seiner Freunde beigestanden und jeder korrupten Organisation die Stirn geboten – noch nie war aber auch nur ein Lob über Kais Lippen gekommen! Sie verstanden sich auch ohne Worte, doch Anerkennung zu erahnen war nicht dasselbe wie sie zu hören. So fühlte es sich verdammt gut an!

Tyson kratzte sich lächelnd am Nacken und sah zu Kai hinab. Jetzt wurde er doch tatsächlich verlegen. Vor lauter Freude, wurde er stolz wie ein Erstklässler, der eine Eins nachhause brachte. Wo gab es denn so was?

„Für gute Freunde tut man alles, nicht?“

„Das sehe ich…“

Tyson war sicher das damit seine angeschlagene Nase gemeint war. Er rieb sich leicht über die schmerzende Stelle und grinste. Das war wohl Kais Art sich zu entschuldigen.

„Naja. Wie ich schon sagte, man tut alles…“

„Warum gehen wir dann nicht zum Friedhof?“

Jetzt ging das schon wieder los!

Tyson seufzte. Er wusste sich bald nicht mehr zu helfen.

Scheinbar konnte ihm nur eine genaueres berichten…

„Ich muss noch mal mit Dizzy sprechen. Vorher gehen wir nirgendwo hin!“

„Wir müssen zum Friedhof.“

„Du gehst schon mal nicht mit! Du wirst schön hierbleiben und dich auskurieren! Und es wäre nett wenn du einmal einen Rat von mir annimmst, ohne das meine Nase gebrochen wird!“

Tyson hätte erwartet das Kai protestieren würde, wie immer wenn man über seinen Kopf hinweg Entscheidungen traf. Doch zu seiner Verwunderung blieb er ruhig und senkte wortlos den Blick. Fast schon folgsam…

Das war untypisch, aber auch irgendwie angenehm. Es kostete weniger Nerven.

Ihm fiel auf wie blass Kai war und Sorge breitete sich in ihm aus. Er hob seine Hand, wollte fühlen wie warm seine Stirn war, doch als ihm klar wurde wen er vor sich hatte, hielt er in seiner Bewegung inne und wartete erstmal eine Reaktion ab.

Keine Einwände.

Keine bösen Worte.

Kein Todesblick…

Vorsichtig schob Tyson seine Hand unter die dunklen Strähnen die die Stirn verdeckten.

„Du bist warm“, stellte er fest. Es war ein kleiner Dämpfer für seine Euphorie und insgeheim ärgerte er sich, dass Kai anscheinend nur im Fieberwahn Komplimente verteile. Trotzdem wanderte seine Hand weiter zur Wange. „Dein ganzes Gesicht brennt wie Feuer. Kai du hast Fieber! Und nimm es mir nicht übel, aber deine Blässe sieht auch ziemlich beschissen aus. Fühlst du dich gut?“

Nur ein Nicken als Antwort.

Er sah seinen Gegenüber eine ganze Weile besorgt an, wollte herauslesen ob Kai ihn belog. Doch dann wurde ihm bewusst, wie lange seine Hand bereits auf dessen Wange ruhte.

Das er ihm das erlaubte?

Ein aufgeregtes Kribbeln fuhr durch Tysons Körper, wie bei einem Kind das etwas Verbotenes tat. Ertappt zog er seine Hand weg, die sich anfühlte als hätte er sie versengt und knetete sie beschämt vor sich her. Ihm war als würde von Kai eine glühende Aura ausgehen. Er konnte sich nicht erklären was ihn so empfindlich auf seinem Gegenüber reagieren ließ.

„Takao?“, es kam wie ein Flüstern. „Bring mich zum Friedhof, bitte.“

Kais Hände erhoben sich und umfassten Tysons Gesicht, dem augenblicklich ein dicker Kloß im Hals anschwoll. Sein Atem stockte. Mehrmals öffnete sich sein Mund. Er wollte etwas sagen aber sein Kopf war wie leergefegt, viel zu verstört von dieser Berührung.

Sie löste ein angenehmes Kribbeln auf seiner Haut aus, löschte jegliche Widerworte aus seinem Kopf und umnebelte seine Gedanken. Er konnte Kai nur verblüfft anstarren, während seine Kehle sich trocken anfühlte, als hätte er eindutzend Fässer mit Sand verschluckt.

Sein Blick klebte an Kais Gesicht.

„Bitte“, sagte der und sah ihn eindringlich an. „Lass uns zum Friedhof gehen.“

„Warum ist dir das so wichtig?“, fragte Tyson irritiert, mit kratzender Stimme.

„Ich muss dort hin.“

„Warum?“

„Weil ich Angst habe…“

„Wovor?“, verdutzt blinzelte Tyson.

„Meine kleine Schwester…“, Kai ließ von ihm ab und drehte ihm den Rücken zu. „Ich habe Angst dass ihr etwas passiert. So lange wir unsere Bit Beasts nicht vertrieben haben, kann sie jederzeit angegriffen werden.“ Sein Blick sank zu Boden und sein Gesicht wirkte besorgt. „Ich könnte mir niemals verzeihen wenn ihr etwas passieren würde.“

So war das also…

„Ach Kai“, setzte Tyson an und schüttelte den Kopf, gleichzeitig versuchte er die aufwühlenden Gefühle von zuvor zu verdrängen. Daher wehte also der Wind.

„Ich weiß ja dass du dir Sorgen machst, aber Jana wird rund um die Uhr betreut. Du musst auch an dich denken.“

Kai sah ihn wieder an und tiefe Trauer lag in seinem Blick. Es versetzte Tyson einen heftigen Stich im Magen. Zum ersten Mal bat sein Freund freiwillig um Hilfe und er verwährte ihm den Wunsch. Er stand im Zwiespalt.

Was hatte Vorrang?

Kais Gesundheit oder Janas Wohlergehen? Ein Kompromiss musste her…

„Weißt du was? Wir gehen zum Friedhof“, beschloss er kurzerhand. „Das tue ich aber nur für dich! Du bleibst dafür hier bei deiner Schwester. Überlass die Angelegenheit uns! Wir nehmen Dizzy mit. Sie kann uns sicherlich weiterhelfen.“

Und endlich lächelte Kai dankbar:

„Danke. Du ahnst nicht wie sehr du mir hilfst…“

Die kleinen Kinderaugen spähten traurig durch die Dunkelheit. Manchmal erfüllte ein leises Schluchzen den Raum. Janas Hand streichelte sanft über das weiche Stofftier, das in ihren Armen lag. Ein unbewusster Versuch sich selbst zu beruhigen. Sie grub sich tiefer in ihre Decke, bis nur noch ihr Scheitel hervorlugte und sehnte sich ihren Bruder herbei. Immer wieder wimmerte sie seinen Namen und stumme Tränen rannen ihr über die dicken Grübchen. Doch die geduldige Krankenschwester hatte ihr in einem ruhigen Ton erklärt, weshalb ihr Wunsch zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich war.

„Deinem Bruder geht es heute nicht so gut. Aber morgen früh, wenn er wach ist, gehen wir ihn sofort besuchen.“ Dann hatte sie hinter ihrem Rücken eine kleine Stoffkatze hervor gezaubert und aufmunternd gelächelt. „Weißt du was diese kleine Katze zu mir gesagt hat? Sie wird die ganze Nacht bei dir bleiben, damit du nicht mehr so alleine bist. Sie will sich zu dir kuscheln und schmusen.“

Dann tat die Schwester so, als würde das Kätzchen Janas Wange ablecken und das Mädchen gickelte schüchtern, wischte sich eine Träne weg.

„Lässt du sie bei dir schlafen Jana? Nur bis morgen. Dann kannst du wieder deinen Bruder in die Arme nehmen. Aber dazu musst du jetzt schlafen. Die Zeit wird dann wie im Flug vergehen. Das verspreche ich dir.“

Jana hatte genickt, sich in ihre Decke eingerollt und das kleine Stofftier in die Arme geschlossen, immer wieder über den Kopf gekrault, geküsst und es an die Brust gedrückt. Irgendwann war sie eingeschlafen.

Doch mitten im Traum hatte sie das Bild ihres brennenden Zuhauses eingeholt. Schluchzend war sie aufgewacht, hatte sich im Zimmer umgesehen und nach der netten Krankenschwester Ausschau gehalten. Doch Jana konnte nicht wissen dass deren Schicht vorbei war.

So lag sie nun in ihrem Bett und tröstete sich mit der kleinen Stoffkatze über ihre Einsamkeit hinweg, sang leise vor sich hin – ihre spezielle Methode sich zu beruhigen. Es vergingen einige Minuten. Beinahe wäre das Kind wieder in den Schlaf abgedriftet. Da öffnete sich die Tür zum Krankenzimmer und etwas huschte hinein.

Die neugierigen Kinderaugen blinzelten und fixierten die Stelle. Dann vernahm sie ein helles Leuchten unter ihrem Bett. Jana krabbelte zum Rand der Matratze und lugte kopfüber unter das Krankenbett. Doch in jenem Moment huschte das Licht von der anderen Seite davon.

Plötzlich hüpfte etwas auf ihre Bettdecke.

Erschrocken fuhr Jana hoch. Sie musste an den brennenden Leuchtfunken denken, der ihr Haus in Brand gesteckt hatte. Doch da war keine böse Elfe die Feuer machte – sondern eine anmutige Katze. Ihr schimmerndes Fell erhellte den Raum und ihre dunkelgrünen Augen blickten sie geheimnisvoll an. Sie tapste leichtfüßig über die Decke auf das kleine Mädchen zu und schien genauso voller Neugierde wie das Kind.

„Du bist Jana, nicht wahr?“

Der Mund bewegte sich nicht doch ein tieferer Instinkt des Kindes wusste, dass die Worte von diesem Wesen kamen. Jana nickte und wollte der Katze über das herrliche Fell, mit seinem schönen Leopardenmuster streicheln, doch ihre Hand glitt einfach durch sie hindurch.

„Du kannst mich nicht berühren kleiner Mensch. Nicht ohne meine Erlaubnis. Ich bin nicht wie andere Katzen.“, sie legte ihren Kopf leicht schief und sah neugierig auf das kleine Stofftier. Irgendwie schien sie dieser Anblick zu erfreuen, denn ihr langer glänzender Schweif, der problemlos zweimal um Jana hätte gewickelt werden können, erhob sich und stupste das Stofftier in ihren Armen an. „Aber das ist dir egal. Du magst alle Katzen, nicht wahr?“

Wieder ein Nicken, dann streichelte Jana ihrem Stofftier über den Kopf.

Die Katze schnurrte wohlwollend und sprach:

„Ich bin Galux. Ein Bit Beast. Du weißt nicht was das ist und das spielt jetzt auch keine Rolle, denn uns läuft die Zeit davon. Ich weiß was dir heute widerfahren ist, kleiner Mensch. Doch die Gefahr ist nicht vorbei! Verstehst du was ich sage?“

„Gefahr?“, fragte Jana.

Das Bit Beast nickte wissend.

„Ich komme um dir zu helfen. Jemand wird bald auf den Weg hier her sein um dir weh zu tun.“

In dem kleinen Kopf von Jana begann es zu arbeiten. Trotz ihrer Krankheit spürte das Mädchen was die Katze ihr mitteilen wollte. Es ähnelte einer telepatischen Verbindung.

„Böse Elfe?“

„Das ist keine Elfe. Das ist auch ein Bit Beast. Und ja, es ist böse! Du musst mit mir kommen, denn auch ich brauche deine Hilfe. Wir müssen den alten Mann holen und dann zu meinem Menschen. Auch sie ist Gefahr. Verstehst du das?“

Jana sah eine ganze Weile das Bit Beast fragend an. Galux befürchtete schon dass sie die Zusammenhänge nicht begriff. Da schob das kleine Mädchen ihre Decke vom Körper und hüpfte aus dem Bett.

„Sehr gut.“, meinte Galux anerkennend. Mit einem Satz sprang es federleicht auf ihre Schultern. Jana konnte ihr Gewicht nicht spüren, als ob das Wesen gar nicht auf ihrer Schulter saß und Galux flüsterte ihr ins Ohr. „Eins noch, die böse Elfe von der du gesprochen hast, steckt in deinem Bruder. Sie hat ihn unter Kontrolle. Du darfst nicht zu deinem Bruder!“

„Nicht zu Kai?“, fragte Jana mit schwerfälliger Zunge. Ihre Worte waren undeutlich doch Galux verstand sie problemlos. „Aber ich ihn doch gern… Hab Kai lieb.“

„Das weiß ich kleiner Mensch und dein Bruder hat dich sicher auch gern. Aber im Moment ist er nicht was du siehst. Seine Augen verraten ihn.“

Mit sanften Pfoten sprang Galux auf den Boden.

„Folge mir! Und gib acht das dich niemand sieht.“

Jana nickte traurig. Dann hüpfte sie noch mal an der Bettkante hoch und klaubte sich die kleine Stoffkatze von der Bettdecke, die sie fest an ihre Brust drückte. Erst dann wandte sie sich zum Gehen und streichelte immer wieder über das Stofftier, um sich Mut zu machen.

Galux registrierte das verzückt und sprach: „Du bist ein süßes Mädchen.“

Dann schritt das Bit Beast leise durch die angelehnte Tür in den Flur, während Jana ihr barfüßig hinterher tapste.
 


 

*
 

Mit einem unguten Gefühl im Magen wartete die Gruppe vor dem Eingang darauf, dass Tyson seinen Wagen vorfuhr.

„Mir wird schlecht wenn ich daran denke, dass wir gleich auf einem schaurigen Friedhof rumlatschen. Hoffentlich sieht uns niemand. Die Leute werden denken wir wären Grabschänder oder Satanisten.“ Max schielte zu Kai und fragte: „Und du bist sicher das Dizzy das so will?“

Ein stummes Nicken folgte und beunruhigt zog Max seinen Kragen höher. Ihm kam die ganze Sache spanisch vor. Vor allem da Dizzy kein Kommentar dazu abgab. Gleich nachdem sie Tyson geweckt hatte, waren die jungen Männer an der Nachtschwester vorbei in Kais Zimmer geschlichen, um den Laptop zu holen. Das die bissige Frau auf ihrem Stuhl eingenickt war kam ihnen dabei sehr gelegen. Doch als sie in Kais Zimmer waren, Dizzys Laptop einschalteten und sie ansprachen, gab sich die Bit Beast Dame ungewöhnlich wortkarg.

Nur die nötigsten Worte wurden ausgetauscht. Sie bestätigte Kais Version und sagte:

„Geht zum Friedhof. Alles wird dann kommen, wie es kommen soll…“

Dann war sie verstummt. Keine weiteren Erklärungen.

Und nun standen sie hier. Um ein Uhr in der Früh und froren sich trotz dicker Jacken den Allerwertesten ab. Ray bepackt mit Dizzy und Max unruhig im Kreis laufend.

„Das gefällt mir nicht.“, wiederholte er zum tausendsten Mal.

„Niemandem gefällt es“, meinte Ray. „Bleibt uns aber eine andere Wahl?“

Max seufzte, spürte aber die Wahrheit hinter diesen Worten.

Dann hörten sie ein Auto näher kommen. Tyson fuhr mit seinem Wagen in einem Affentempo in die Krankenhauseinfahrt und hielt direkt vor der wartenden Truppe.

„Tja. Jetzt geht’s los.“, meinte Max. Er öffnete die Hintertür, während Ray vorne Platz nahm. Doch bevor er einstieg drehte er sich noch einmal zu Kai, der ernst dreinblickte.

„Keine Sorge, Kumpel. Am Ende dieser Nacht wird deine Schwester endlich wieder sicher sein. Es reicht wenn einer von uns ein Familienmitglied zu Grabe tragen muss. Bleib bei Jana und kurier dein Fieber aus. Sie braucht dich…“

Kai erwiderte nichts und sah Max dabei zu wie er sich in den Wagen setzte. Die Gruppe winkte ihm ein letztes Mal zuversichtlich zu und Tyson rief:

„Und das du nicht auf die Idee kommst nachzukommen!“

Dann haute er den Gang rein und das Auto fuhr aus der Einfahrt.
 

Kai blickte noch eine ganze Weile stumm hinterher, bis der Wagen nicht mehr zusehen war. Dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Die Einfahrt war links und rechts umgeben von Sträuchern und eine kleine Sitzbank lud dazu auf, sich auf ihr eine Pause zu gönnen. Dann ging ein Knistern durch die Büsche…

Ein kräftiger Luftzug fegte über den Platz und plötzlich zog aus heiterem Himmel dichter Nebel auf.

„Das hast du gut gemacht, Dranzer“, wisperte eine Stimme im Wind. Ein kleiner Wirbelsturm bäumte sich hinter Kais Rücken auf, woraus sich eine durchsichtige Gestalt zu erheben schien, die sich verfestigte. Langsam wurden die Konturen sichtbar. Die Nebelschwaden formten sich zu einem Menschen, bis ein junger Mann hervortrat.

Als wäre nichts weiter Besonderes an seinem Erscheinen, schritt er ruhig auf Kai zu, während sein Blick in die Ferne schweifte, als könne er dort die davonfahrende Gruppe erspähen.

„Sie werden in Kürze eintreffen. Du hast wenig Zeit. Beeil dich also.“

Ein stummes Nicken folgte von Kai, was den Mann zufrieden lächeln ließ. Die Haut blass wie Schnee, strich er mit seinem Zeigefinger langsam über Kais Halsbeuge. Sein rabenschwarzes Haar stand im krassen Kontrast zu seiner Hautfarbe, war im Nacken zusammengebunden, während vereinzelte Strähnen seine Stirn verdeckten. Die Augen schienen tiefschwarz wie die Nacht. Er beugte sich mit seinem markanten Gesicht vor und streifte mit seinem Mund Kais Hals, der es ohne eine Regung hinnahm, wie eine gefühllose Puppe. Dann fuhr er sich mit der Zunge über seine Lippen.

„So schmeckt nur lebendes Fleisch“, bemerkte er und fuhr mit seiner Hand über die Stelle.

Seine Fingerspitzen verweilten an der Schlagader und erfühlten den Puls.

„Ich kann das Blut spüren das durch diesen Körper fließt.“

„Du scheinst gefallen daran zu finden“, entgegnete Kai.

Wieder nur ein Lächeln als Antwort. Dann…

„Bring zu Ende was wir angefangen haben und komm zum Friedhof. Wir anderen gehen voraus.“ Er strich mit seinem Zeigefinger über Kais Wange und meinte: „Es wird Zeit das du den Jungen aus deinen Diensten entlässt, bevor er dir dahin stirbt.“
 


 

*
 

Galux führte die kleine Jana an der schnarchenden Nachtschwester vorbei, durch die dunklen Korridore. Wo immer das Bit Beast sich hinbewegte, erhellte es für kurze Zeit seine Umgebung. Wie ein schimmernder Stern der seine Bahnen zog. Die winzigen Kinderfüße froren auf dem kalten Boden, die Zehen liefen bereits dunkelrot an, doch Jana gab keinen Mucks von sich, folgte immer nur dieser märchenhaften Gestalt die sie lockte.

Plötzlich hielt das Bit Beast vor einer Tür und bedeutete dem Mädchen mit einem Kopfnicken sie zu öffnen. Jana tat wie ihr befohlen, erhob sich auf die Zehenspitzen um die Türklinke zu ergreifen und trat anschließend in den Raum.

Galux huschte zwischen ihre Beine hindurch, durchquerte in einem schnellen Spurt den Raum und hüpfte auf das in der Mitte aufgestellte Krankenbett. Dann tapste es langsam auf den Brustkorb des alten Mannes. Jana wusste nicht dass es sich dabei um Tysons Großvater Mr. Kinomiya handelte.

Das Bit Beast blickte auf das Gesicht des ruhenden Greises, dann wandte es sich an Jana.

„Wenn der alte Mann aufwacht musst du ihm erklären, dass er hier sofort weg muss. Verstehst du das, kleine Jana?“

„Ja“

„Braves Menschenkind.“, lobte Galux. „Er kann mich nicht sehen, weißt du? Ich habe mir kein Gefäß gesucht. Deshalb musst du für mich das Reden übernehmen.“

Obwohl Jana das Bit Beast sehr wohl sehen konnte, hinterfragte sie die Äußerung nicht. Es kam ihr nicht einmal in den Sinn das Galux lügen könnte. Das Bit Beast sah noch einpaar Sekunden auf den alten Mann hinab, während Jana geduldig auf den nächsten Zug wartete. Dann holte es mit seinem Schweif aus und haute Mr. Kinomiya mit voller Wucht auf die Stirn. Ein Laut, wie von einem Peitschenhieb, schallte durch den Raum. Ein kurzer Blitz fuhr durch den Körper und wie bei einem Elektroschock zuckte der alte Mann. Dann riss er die Augen auf und hustete los.

„Teufel aber auch!“ schimpfte Mr. Kinomiya und hielt sich den Kopf, der sich anfühlte als wolle er zerbersten. Dann blickte er verwirrt im Raum umher.

Die erste Frage die ihm einfiel war: „Wo bin ich?“

Die Zweite: „Hat mich Tyson ins Altersheim gesteckt?! Drecksbalg!“

Er spürte einen unangenehmen Schmerz in den Gliedern und konnte sich seine Mattigkeit nicht erklären. Als er einpaar Sekunden so im Bett lag und überlegte was er jetzt tun sollte, spürte er ein Ziehen an seiner Decke und keuchte keine Sekunde später überrascht auf, als etwas schweres auf seinen Brustkorb plumpste.

„Nein was zum? Wo kommst du denn her Kleines?“, überrascht besah sich Mr. Kinomiya dem kleinen Mädchen das auf sein Bett geklettert, über die Decke gekrabbelt und sich dabei verheddert und auf seinen Bauch gefallen war. Mit einem schmerzhaften Stöhnen und hundert knackender alter Knochen, richtete er sich in eine sitzende Position und hob das kleine Kind hoch.

„Du bist ja ein süßer Fratz. Oh hoppla. Du hast ja…“, als er den für Down-Syndrom Kinder typischen kleinen Augenabstand erkannte und den geöffneten Mund, aus dem eine kleine Zunge herauslugte, meinte er bedauernd: „Oh du armes Kleines.“ Er tätschelte dem Kind über den braunen Schopf und sagte: „Putzig bist du trotzdem. Wie heißt du denn?“

„Ja-…na“

„Jana, he? Warte… Heißt Kais kleine Schwester nicht so? Die hat doch dieselbe Krankheit.“

„Mein Bruder!“

„Ja aber was machst du denn im Altersheim?“

Jana kicherte und verbarg das lachende Gesicht in ihren Händen. Der Schalk blitzte in den kleinen Knopfaugen. Dann meinte sie:

„Dummer Opa! Krankenhaus!“

„Jana. Beeil dich!“, ermahnte Galux sie. Das Bit Beast saß unruhig neben Mr. Kinomiya am Bett, der es nicht sehen, geschweige denn hören oder fühlen konnte. Jana nickte Galux zu und der alte Mann sah verwirrt auf die Stelle wohin sie blickte. Dann sagte sie:

„Komm! Du muss mitkomme!“

„Wohin?“

„Muss mit mir komme!“

„Ach so. Du musst mal auf’s Klo.“

Jana gluckste wieder und schüttelte den kleinen Kopf. Plötzlich sprang Galux auf und horchte in die Stille der Nacht hinein. Ihre Katzenohren zuckten und konzentriert blickte sie auf die Tür. Dann packte sie die Unruhe.

„Schnell Jana!“

Das Mädchen sah Galux verständnislos an, bis sie aus dem Korridor draußen eine hastige Stimme hörte, die sich dem Zimmer näherte. Jana sprang vom Bett und zerrte an Mr. Kinomiyas Hand, sagte immer wieder: „Komm mit, Opa! Komm mit!“

Der alte Mann stöhnte gequält, ließ sich aber erweichen und schob langsam ein blasses, dürres Bein nach dem anderen unter der Decke hervor. Nicht ohne sich etwas über die heutige Jugend auszulassen.

„Ihr Kinder wollt immer nur spielen. Sogar mitten in der Nacht weckt ihr uns Opas“, meinte er und trat mit wackeligen Beinen auf den Boden. Jana zerrte und zog an seinem Arm, während Galux zur Tür sprang und hinaus in den Flur spähte. Ihre grünen Augen leuchteten ängstlich als sie sagte: „Oh nein! Es ist zu spät. Er kommt hierher!“

Jana blickte sich im Zimmer um und entdeckte einen großen Schrank, in dessen Türen quere Ritzen eingelassen waren.

„Da! Komm Opa!“, forderte sie und Mr. Kinomiya antwortete:

„Da rein! Das ist doch jetzt ein Witz? Oh je, ihr Kinder! Du erinnerst mich an meinen Enkel! Der war genau wie du. Wir haben uns früher immer im Wäscheschrank versteckt und seinen älteren Bruder erschreckt. Einmal hat uns aber irgendein Schafskopf darin eingeschlossen. Ich glaube es war Hitoshi. Wir saßen acht Stunden fest… Oh Jana, willst du da wirklich rein? Meine Knochen schmerzen schon wenn ich daran denke!“

Ahnungslos ließ sich Mr. Kinomiya in den Schrank dirigieren, hielt das Ganze für ein kindisches Versteckspiel, kniete sich auf den Boden des Schranks und Jana zwängte sich neben rein.

„Komm Galux.“, sagte sie und das Bit Beast huschte ebenfalls hinein. Dann schloss das Mädchen die Tür. Mr. Kinomiya wollte schon fragen wer Galux war, da hörte er von draußen eine aufgeregte Stimme und als Jana ihren Zeigefinger auf den Mund legte, um ihm zu bedeuten das er leise sein sollte, verstummte er. Sollte das Kind seinen Spaß haben…

Er lugte durch die Ritzen und hörte die überaus nervige Stimme näherkommen. Dann trat einpaar Sekunden später mit schnellen Schritten eine Person in den Raum. Mr. Kinomiya brauchte einpaar Anläufe bis er merkte, dass es sich dabei um Tysons Freund Kai handelte.

So war das also! Das Mädchen wollte ihrem Bruder einen Streich spielen.

Da war er doch glatt dabei!

„Mr. Hiwatari! Ich fordere sie nochmals dazu auf wieder in ihr Bett zu gehen!“, das war der Ursprung des Gemeckers. Eine dickleibige ältere Krankenschwester, mit einem bulligen Gesicht, dass sich einem die Nackenhaare aufrichteten.

Doch Kai ignorierte sie. Nein. Sie schien für ihn gar nicht präsent.

Wie er es von dem Jungen nicht anders kannte, zeigte er dem keifenden Weib die kalte Schulter und sah sich langsam im Raum um. Sein Blick wanderte über das leere Bett, direkt gegenüber von ihnen und er schritt darauf zu. Kurz davor blieb er stehen.

Dann, vollkommen unvermittelt, verfinsterte sich sein Ausdruck.

Seine Brauen zogen sich tief ins Gesicht und er sagte:

„Er ist weg…“

Die Krankenschwester folgte seinem Blick und erstarrte.

„Nein, tatsächlich!“ Mit eiligen Schritten lief sie an ihm vorbei und begutachtete kreidebleich das leere Bett. In einem verzweifelten Versuch, den alten Mann erscheinen zu lassen, schlug sie die Decke zurück und beobachtete aus geweiteten Augen die leere Stelle, fuhr mit den Händen nervös über die Laken, als wünschte sie sich, er wäre nur unsichtbar.

„Mist, verdammter… Das ist schon der dritte Patient der diesen Monat während meiner Schicht türmt. Ausgerechnet der? Der alte Tattergreis war fast hirntot als er eingeliefert wurde.“

Mr. Kinomiya horchte auf. Er? Hirntot?

Plötzlich schoss eine Erinnerung durch seinen Kopf.
 

Er trat in sein Zimmer. Vor sich erblickte er die Statur eines hochgewachsenen Mannes mit pechschwarzem Haar, der ihm den Rücken zugewandt, mit verschränkten Armen am Fenster stand. Der Fremde drehte sich zu ihm und Mr. Kinomiya blickte in ein leeres Augenpaar. Dann folgte ein geheimnisvolles Lächeln. Und plötzlich war ihm als ob sämtliche Luft aus seiner Lunge gesogen wurde. Ihm wurde der Atem geraubt…
 

„Wo sind sie?“

Kais Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Sie klang aggressiv und bedrohlich. Etwas stimmte nicht, dass fühlte er. Jana hakte sich zitternd unter seinem Arm ein, hielt den Atem an und vergrub das Gesicht in seinem Krankenhemd, flüsterte voller Angst:

„Das nicht Kai… Nicht meiner…“

Mr. Kinomiya hätte ihr gerne das Gegenteil bestätigt, doch er spürte die Wahrheit hinter ihren Worten. Inzwischen lief die Krankenschwester im Raum herum wie eine aufgescheuchte Glucke. Voller Sorge plapperte sie vor sich hin.

„Oh nein! Den Kerl muss ich finden!“

„Wo sind sie?“, wiederholte Kai die Frage in schneidendem Ton.

Die Schwester blieb wie angewurzelt stehen und blickte ihn an.

„Sie? Mr. Hiwatari ich verstehe nicht…“

„Das Mädchen und der alte Mann! Wo sind die beiden?“

„Welches Mädchen? Oh Himmel, jetzt sagen sie nicht ihre Schwester ist auch weg?!“

„Bist du dafür verantwortlich, Weib?“, fragte er, sein Blick fixierte die Krankenschwester und er trat näher an sie heran, die schuldbewusst den Kopf zwischen die Schultern zog.

„Mm… Naja. In gewisser Weise schon. Mir sind die Augen zugefallen. Das passiert mit unter leider bei der Nachtschicht… Ich bin auch nur ein Mensch! Aber bis jetzt habe ich jeden meiner Patienten wieder aufgespürt. Ich wäre ihnen also sehr verbunden, wenn das unter-…“

Mr. Kinomiya hielt den Atem an als Kai die Frau am Kinn packte und mit voller Wucht gegen die nächste Wand schleuderte. Es steckte unglaubliche Kraft in diesem Griff, die er dem jungen Mann nicht zugetraut hätte. Mit einem schmerzvollen Schrei prallte die Schwester ab, stürzte hinab und schlug sich die Lippe am Fußboden auf.

Sofort meldete sich der Gentleman in Mr. Kinomiya zu Wort. Er wollte aufstehen und dem brutalen Mann die Leviten lesen, egal ob er den Junge seit dessen Kindheit kannte, Kai konnte jetzt etwas erleben! Doch Jana klammerte sich an ihn und flüsterte erneut:

„Das nicht mein Kai.“

Er ahnte nicht das Galux ihr zuwisperte ihn aufzuhalten.

Indessen trat Kai an die Schwester heran, die sich schnaufend aufraffte und ihn anfunkelte. Sie war durchaus eine kleine Kämpferin, denn wutschäumend presste sie zwischen ihren Zähnen hervor: „Du Schönling! Wer denkst du bis-…“

Der brutale Mann packte sie mit einer Hand am Hals und es schien keinerlei Kraftaufwand zu sein, die dickleibige Krankenschwester einige Zentimeter über dem Boden baumeln zu lassen.

Mit ihren wurstigen Fingern versuchte sie Kais Griff um ihren Hals zu lockern, während ihre Wangen eine puterrote Farbe annahmen, doch er hielt sie umgriffen wie ein Schraubstock.

Mr. Kinomiya atmete erschrocken auf. Er hätte Tysons Freund niemals so viel Kraft zugetraut, immerhin war er in den letzten Jahren zu einem Bonzen verkommen. Die ziemlich fettleibige Frau schien mindestens das Dreifache von ihm zu wiegen!

Kai ließ sie los und bevor sie wieder auf dem Boden aufschlug, trat er ihr in den Bauch und die Schwester sackte wieder auf die Knie. Erst keuchte sie nach Luft, doch dann meldeten sich ihre Lebensgeister zu Wort. Wie eine aufgebrachte Furie schlug sie panisch mit den Fäusten um sich. Da packte er die eine Hand. Einpaar Sekunden später die andere.

Dann geschah etwas Unheimliches…

Kais Augen schienen im Dunkeln zu glühen. Mr. Kinomiya blinzelte mehrmals und dachte einem Trugbild zum Opfer zu fallen, doch das verängstigte Wimmern und der ungläubige Schrei der Nachtschwester bestätigten ihm, dass sie dasselbe sah wie er.

Der junge Mann sah verächtlich auf die Frau hinab und zischte:

„Derjenige der seine Ohren nicht zur Wachsamkeit verwendet, sollte sie nicht besitzen!“

Plötzlich erfüllte ein unmenschlicher Laut den Raum, ließ die Fenster und das Wasserglas auf dem Klapptisch, an Mr. Kinomiyas Krankenbett, zerbersten. Kais Mund öffnete sich nicht, doch der alte Mann hätte seine Seele darauf verwettet, dass dieser ohrenbetäubende Lärm von ihm kam. Das kleine Kind auf seinem Arm begann zu schluchzen und presste die Hände an die Ohren. Mr. Kinomiya drückte sie an sich, um sie vor dem Lärmpegel zu schützen und zog seinen Kopf tiefer zwischen die Schultern. Von draußen hörte er die Schreie der Frau, gepaart mit einer kalten, schneidenden Stimme:

„Wer mit unwachsamen Augen durch die Welt schreitet, soll erblinden!“

Durch die Ritzen des Schranks flackerten Lichter hinein, der Raum schien in gleißendes Licht getaucht, er hörte die Schmerzenschreie von draußen und der Raum schien zu vibrieren. Der unmenschliche Laut erinnerte ihn an eine kreischende Vogelschar – so stellte er sich die furienähnlichen Harpyien aus dem antiken Griechenland vor.

Mr. Kinomiya fragte sich, weshalb niemand zur Hilfe eilte…

Weshalb hörte niemand die Schreie der Frau?

Doch durch den Lärm im Raum und die flackernden Lichter, bemerkte er nicht, dass die Zimmertür, wie von Geisterhand ins Schloss gefallen und sich verriegelt hatte und bereits seit längerem hektische Hände, von außen, gegen die Tür trommelten.

Es schienen Minuten zu vergehen, da wurde es endlich stiller im Raum. Zum ersten Mal hörte Mr. Kinomiya die Rufe von draußen und die Türklinke, wie sie immer wieder gerüttelt und gedrückt wurde. Als das Geräusch abebbte sah er auf und erkannte, dass die Krankenschwester zusammengekauert am Boden lag und sich wimmernd die Ohren hielt. Mit einer Gänsehaut bemerkte Mr. Kinomiya das zerkratzte Gesicht, als wäre eine Horde Raben über sie hergefallen, um mit ihren Krallen die Frau zu schinden. Ihre Augenlider waren fest aufeinander gepresst. Er ahnte dass darunter noch mehr Blut hervorquoll. Ihre Tränen vermischten sich mit dem Rot. Irgendwann schrie sie einfach nur noch um Hilfe. Heulte und jammerte und Mr. Kinomiya fühlte sich schlecht, weil er genau wusste das er nichts ausrichten konnte und sich wie ein Feigling im Schrank versteckte.

Kai packte grob in ihr Haar und zog den Kopf der jammernden Frau hoch, während sich ein kleines Blutrinnsal, von der aufgeplatzten Lippe, über ihr Kinn hinweg zog und auf den Boden tröpfelte.

„Bitte“, flehte die Frau herzzerreißend. „Bitte, lassen sie mich in Ruhe! Es tut so weh! Warum tun sie mir so etwas an?! Ich habe ihnen doch nichts getan…“

Falls Mr. Kinomiya geglaubt hatte, das der Ausdruck auf Kais Gesicht sich nicht noch weiter verfinstern konnte, wurde er eines besseren belehrt. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen und schließlich sagte Kai:

„Wohl wahr, du hast nichts getan, du jämmerliches Stück! Du hast zugelassen dass meine Beute verschwindet! Anstatt deine lügende Zunge dafür zu verwenden, sie aufzuhalten, flehst du mit ihr um Gnade.“ Er kam ihrem Gesicht ganz nah und zischte. „Ein Missstand der sich aber schnell ändern lässt…“

Mr. Kinomiya sah nur Kais Rücken, konnte somit nicht erkennen, was der junge Mann mit der Frau anstellte. Das Einzige was er beobachten konnte, war eine blitzschnelle Bewegung seiner freien Hand. Es folgte ein gurgelndes Geräusch der Frau und Mr. Kinomiya drehte sich der Magen um. Dann riss Kai seinen Arm zurück und warf etwas achtlos hinter seinen Rücken. Was immer es war, es klatschte nass und feucht auf die Fliesen. Erst dann ließ er mit einer wohligen Genugtuung von ihr ab. Er richtete sich auf und trat noch einmal fest in den Wams der Frau, als hätte er sie nicht genug misshandelt.

„Weibsbilder wie du sind der Grund, weshalb ich Menschen eigentlich verabscheue.“

Endlich trat Kai von ihr weg. Sein Blick durchwanderte noch einmal den Raum und Mr. Kinomiya hielt den Atem an, als er den Schrank schweifte. Doch zu seiner großen Erleichterung schritt der junge Mann ans Fenster und war plötzlich, mit einem weiteren Wimpernschlag des alten Mannes, verschwunden.
 


 

*
 

Eine bedrückende Stille herrschte im Wagen und es war unübersehbar das keiner ein gutes Gefühl bei dieser Sache hatte. Hätten sie die Wahl gehabt wären sie lieber zuhause in ihren Betten gelegen und selig ins Land der Träume abgedriftet.

Doch unter diesen Umständen war an Schlaf nicht zu denken.

Tyson konzentrierte sich auf die Fahrbahn. Um sich von der Nervosität abzulenken hantierte Ray an seiner Armbanduhr, die vor kurzem stehen geblieben war, während Max gedankenverloren aus dem Fenster starrte. Er beobachtete die vorbeiziehenden Häuser, Autos und zum Teil betrunkenen Nachtschwärmer auf dem Gehweg. Mit Judy war er am Anfang ihrer Arbeitslosigkeit öfters nachts spazieren gegangen. Damals war sie noch zuversichtlich auf eine neue Stelle gewesen und war ihm noch nicht auf die Nerven gefallen. Er hatte gerne Zeit mit ihr verbracht… nicht wie kurz vor ihrem Tod.

Da hatte er seine Mutter als Ballast gesehen. Ein dicker Klotz am Fuß der sich nicht mehr abwimmeln ließ. Schuldbewusst rutschte er tiefer in die Polster des Wagens. Er konnte nur hoffen, dass diese ganze Bit Beast Geschichte ein gutes Ende nahm. Bei dem Gedanken, dass er bald in die USA zurückkehren und seine Mutter zu Grabe tragen würde, musste er die Tränen unterdrücken. Was sein Vater wohl jetzt tat?

Er hatte Judy so sehr geliebt wie ein Mann seine Frau nur lieben konnte. Wahrscheinlich saß er einsam in ihrem Wohnzimmer und die Trauer fraß sich tief in sein Herz. Max fühlte sich elend. Jetzt wo ihn sein Vater brauchte saß er in Japan fest…

An einer Kreuzung bog Tyson den Wagen nach rechts in eine kleine Seitenstraße, die hinauf zu dem Hang führte, den Kai ihm bei ihrem Gespräch gezeigt hatte. Soweit er noch wusste lag der Friedhof ziemlich abseits der Stadt und dahinter folgte ein kleines Waldgebiet. Der Wagen rollte den Berg hinauf. Irgendwann wurde aus der asphaltierten Straße nur noch ein schmaler Schotterweg. Was immer das für ein Friedhof war, er wurde wohl selten besucht, wenn man es nicht für nötig hielt, eine anständige Straße dorthin zu pflastern.

Es fehlte nur noch ein kleines Stückchen bis zu ihrem Ziel, da fragte Ray:

„Bilde ich mir das ein oder wird es neblig?“

„Nein“, antwortete Tyson. „Ich habe es auch schon gemerkt. Nicht einmal das Wetter scheint auf unserer Seite zu sein…“

Der Wagen fuhr direkt in die dichter werdende Dunstbrühe. Selbst die Scheinwerfer konnten ihre Umgebung nicht erhellen. Der Nebel verschluckte das Licht wie staubtrockene Erde einen Tropfen Wasser. Irgendwann wurde Tyson unsicher und er lenkte den Wagen so weit wie möglich an den Rand des Schotterwegs.

„Wir laufen besser. Es dürfte nicht mehr weit sein.“

Mit einem mulmigen Gefühlt stieg die Gruppe aus dem Wagen, schlug die Türen zu und machte sich auf den Weg. Tyson lief vorneweg, Ray folgte und das Schlusslicht bildete Max. Sie achteten darauf dicht bei einander zu bleiben, doch es reichte ein halber Meter mehr und Tysons Silhouette verschwamm bereits vor Rays Augen. Zu diesem Zeitpunkt hielten sich alle drei für dämlich. Mitten in der Nacht einen Friedhof besuchen aber kein Schwein dachte an eine Taschenlampe! Hatten sie eigentlich auch nur irgendetwas mitgenommen das ihnen helfen könnte?! Ihr Verstand war wohl mit dem Alkohol von gestern flöten gegangen…

Es schien wie eine Ewigkeit, da tauchte aus den Nebelschwaden vor Tyson ein Torii auf, ein traditionell japanischer Torbogen der den Eingang zu einem Shinto-Schrein kennzeichnet.

Tyson fand das seltsam. Er konnte sich nicht erinnern einen Schrein auf dem Hang gesehen zu haben. Normalerweise hatte ein Friedhof auch nichts auf einer Schreinanlage zu suchen, da der Tod als etwas Unreines im Shintoismus angesehen wurde. Deshalb wurden Friedhof und Schrein für gewöhnlich getrennt. Doch es konnte gut möglich sein, das weit abseits des Tempelgeländes der Friedhof begann und der Schrein auf der anderen Seite des Hanges lag.

Er besah sich des Torii.

Alles um sie herum erinnerte an eine Landschaft aus einem Schwarzweißfilm, doch es bedurfte nicht viel Verstand um zu erkennen dass der Torii alt war, denn der Lack blätterte bereits an vereinzelten Stellen vom Torbogen ab. Dahinter dehnte sich nur die dicke Nebelbrühe aus. Sie schien so dicht, dass man hätte meinen können, ein Stückchen Nebel mit einem Messer ausschneiden zu können. Kein Gebäude war im Hintergrund ausmachen. Die Farbe des Torii wirkte im Dunkeln pechschwarz. Für gewöhnlich war ein Torii rot lackiert, doch Tyson schob diese Sinnestäuschung auf den dichten Nebel.

Von allen Friedhöfen die Dizzy sich hätte aussuchen können musste es dieser sein…

„Frag mal unsere neunmalkluge Dame wie es weitergeht.“, sagte Tyson an Ray gewandt.

Der nickte, zog den Laptop unterm Arm hervor und klappte ihn auf.

„Tja Dizzy. Jetzt sind wir hier. Wie geht es weiter?“, fragte Ray geradeheraus.

Wieder ließ das Bit Beast lange auf seine Antwort warten.

„Geht durch das Tor. Danach wird alles gut…“

„Das wir durch müssen ist jedem klar aber was passiert dann?“

„Das werdet ihr bald sehen.“

Tyson platzte der Kragen und er brauste genervt auf.

„Was soll das Dizzy?! Sprich Klartext mit uns!“

„Wovor fürchtest du dich?“

„Sieh dich doch mal um, dann weißt du was mein Problem ist!“

„Vertrau mir einfach. Bin ich nicht immer eine treue Ratgeberin gewesen?“

Der Punkt ging an das Bit Beast. Die Gruppe sah sich unangenehm berührt an. Noch nie hatte Dizzy schlechte Ratschläge erteilt. Sie war immer darauf bedacht, mit ihrem immensen Wissen, ihre spärliche Kampferfahrung auszugleichen. Außerdem sprach sie in einem so zuversichtlichen Ton, dass es Balsam für die aufgekratzten Gemüter war. Die Bit Beast Dame schien sich nicht im Geringsten zu sorgen, obwohl sie die Stunden zuvor wie auf glühenden Kohlen gesessen hatte.

Das konnte doch nur ein gutes Zeichen sein, oder nicht?

Etwas unentschlossen sahen Ray und Tyson sich an.

Keiner von beiden bemerkte wie stumm Max geworden war, dessen Blick starr geradeaus durch das Tor gerichtet war. Er blinzelte mehrmals. Schüttelte den Kopf, als wolle er ein Trugbild verscheuchen, sah wieder auf und trat zwischen Ray und Tyson hindurch, einige Schritte auf den Torii zu.

„Max? Was ist los?“

„Mum?“

„Wovon redest du?“

„Meine Mum!“, er drehte sich zu seinen Freunden um und deutete auf die Öffnung vor ihnen. „Seht ihr sie nicht? Da steht meine Mum!“

Ray war total perplex und Tyson dachte ihr Freund habe den Verstand verloren.

„Oh Max…“, sagte er erschüttert und schüttelte mitleidig den Kopf. Die Trauer schien ihren Freund wieder zu übermannen. Tyson kam einpaar Schritte auf ihn zu. „Max… Du weißt dass das nicht möglich ist. Deine Mum… Judy ist tot.“

Max wich wütend zurück.

„Du siehst ja nicht mal hin, du Arsch! Da steht meine Mum!“

„Ich weiß das alles ist schwer für…“

„HÖR AUF! UND SIEH MICH NICHT AN ALS OB ICH GESTÖRT WÄRE!“

Tyson wollte seine Hand auf Maxs Schulter legen, doch er schlug sie wutschnaubend weg und wandte sich abrupt um. Noch ehe er ihn ergreifen konnte, rannte ihr Freund durch das Tor, die beiden Männer entsetzt zurücklassend.

„Komm zurück!“, rief Tyson ihm hinterher, bis er bemerkte dass Ray neben ihm zur Salzsäule erstarrt war.

„Was ist mit dir?“

Rays Gesicht wurde blass. Sein Mund stand offen und mit ungläubigen Augen, deutete er geradeaus. Tyson folgte seinem Fingerzeig und erstarrte ebenfalls. Die Nebelbank vor ihnen lichtete sich, dahinter lag aber kein Schrein sondern tatsächlich der Friedhof. Als er dachte der Torii wirke nur durch den Nebel schwarz hatte er sich geirrt. Unheilvoll ragte das pechschwarze Tor vor ihnen auf. Und wie Max behauptet hatte, stand dort, zwischen einigen Gräbern seine Mutter – Judy!

Sie lächelte nicht. Sie freute sich nicht ihn zu sehen.

Stattdessen blickte sie ihn unverwandt an, beobachtete wie ihr Sohn näher kam und nach ihr rief. Als er sie endlich erreicht hatte, schloss Max seine Mutter überglücklich in die Arme und drückte sie fest an sich.

„Mum… Du lebst. Wie ist das möglich?“ Er entließ Judy freudestrahlend aus seiner Umarmung, umfasste ihre Schultern und sah ihr ins Gesicht. „War das alles nur ein blöder Streich? Weil ich immer so fies zu dir war? Warum sagst du denn nichts?“

Erwartungsvoll blickte Max seine Mutter an. Doch sie blieb stumm. Dann umfasste sie eines seiner Handgelenke.

Maxs Braue fuhr verständnislos in die Höhe, da merkte er dass der Boden unter ihm an Festigkeit verlor. Er blickte zu seinen Füßen. Unter ihm quoll in schwachen Fontänen Wasser aus dem Erdboden hervor, vermischte sich mit der Friedhofserde und verwandelte sich in eine pampige dunkle Brühe. Augenblicklich blieb sein Herz stehen.

Er ahnte welchen Fehler er begangen hatte und als er aufblickte wurde er aschfahl. Das Gesicht seiner Mutter änderte sich. Die sanften Augen die er kannte, wurden matt und tot. Ihre Haut wurde aufgedunsen, lief blass an, bis sich jede Sehne darunter dunkel abzeichnete.

Vor ihm stand nicht mehr seine Mutter, sondern eine alte ergraute Frau. Sie hatte Ähnlichkeit mit den Hexen aus Kinderbüchern. Ihr Gesicht wirkte verquollen wie bei einer Wasserleiche, die Lippen waren blau und die Augen, blutunterlaufen, schoben sich ein Stück aus den Augenhöhlen. Ihr dünnes Haar fiel in feuchten Strähnen hinab und Max bemerkte einen modrigen Geruch in der Luft, der widerlich in der Nase biss und ihm den Magen umdrehte.

Mit angsterfülltem Blick riss er sich von ihr los und rief nach seinen Freunden, die bereits auf dem Weg waren. Tyson und Ray hatten ihn fast erreicht, als der Boden unter Maxs Füßen nachgab und er tiefer in die lehmige Erde rutschte. Er saß bereits knietief im Schlamm und versuchte sich frei zu strampeln, da trat das alte Weib einen Schritt auf ihn zu und legte ihre fauligen Hände auf seine Schultern. Sie störte sich nicht daran, dass sie tiefer in die feuchte Erde gesogen wurde, stattdessen zog sie Max langsam mit sich abwärts.

Als der Schlamm bereits seinen Hals erreichte, streckte er panisch seinen Arm in die Höhe und versuchte nach etwas in seiner Umgebung zu greifen, an dem er sich herausziehen könnte – da packte jemand seinen Arm.

Ray war mit einem Hechtsprung nach vorne gerutscht und hatte ihn ergriffen. Doch bei seinem Sprung hatte er sich verkalkuliert. Sein Oberkörper kam dort zum Liegen, wo die Erde bereits nachgab. Er konnte sich nicht mehr mit den Händen hochstemmen, weil sein Arm verschluckt wurde. Sein Kopf drohte im wässrigen Morast bereits zu versinken, während Tyson hinter ihm auf die Knie fiel und seine Beine umschlang. Verzweifelt versuchte er seine Freunde herauszuziehen und sie vor ihrem sicheren Tod zu bewahren. Dann sprudelten stärkere Wasserfontänen aus dem Boden hervor. Der Sumpf begann sich auszubreiten, doch in der Mitte schien er einen kleinen Sog zu bilden, wie ein Strudel!

Die ersten Gräber in ihrer Umgebung begannen von ihrem Stammplatz zu treiben, wie kleine steinerne Boote, die von der Strömung davon getrieben wurden. Rays Oberkörper war bereits im Schlamm verschwunden, Max war überhaupt nicht mehr zu sehen, während Tyson mit ansehen musste, wie alles um ihn herum sich in einen dunklen Tümpel verwandelte.

Zwei seiner besten Freude wurden wortwörtlich von der Erde verschluckt und er konnte nichts tun, als hilflos an Rays Beinen zu zerren. Dann verflüssigte sich auch die Erde unter seinen Knien. Tyson sackte schreiend einen halben Meter abwärts, bis er von der lehmigen Strömung mitgerissen wurde. Ray entglitt ihm aus der Hand. Verzweifelt strampelte Tyson gegen den Sog an, doch er wurde immer weiter in die Mitte getrieben, bis er schließlich von einer Welle aus Schlamm begraben und von dem Strudel in die Tiefe gerissen wurde.

Die Strömung drehte sich noch einige Zeit, erstickte die Schreie ihrer Opfer, bis sie nicht mehr zu hören waren.

Erst dann schien sie besänftigt und verlangsamte ihre Fluten, bis sie endgültig abebbte. Die Wassermassen zogen sich wieder zurück in den Untergrund, der Boden erhärtete und hinterließ nur trockene Friedhofserde, die sofort von Gras überwuchert wurde. Die Grabsteine, die dem Sog zum Opfer gefallen waren, schossen wieder aus der Erde empor, zierten ihren Platz als sei nichts gewesen.

Erst dann kehrte Stille ein und der Nebel lichtete sich - wie der Vorhang einer Theaterbühne die den Blick auf eine neue Kulisse frei gab. Der schwarze Torii löste sich mit den Nebelschwaden auf…

Neugierig sah Jana auf den Rücken der geisterhaften Katze, die auf dem Fenstersims hockte und hinaus in die nächtliche Schwärze starrte. Keiner der anwesenden Ärzte konnte mit seinen menschlichen Augen das seltsame Geschöpf sehen, dessen Blick hin und wieder bedauernd zur Nachtschwester wanderte, deren blutige Tränen einfach nicht versiegen wollten.

Das Bit Beast empfand tiefes Mitleid mit diesem Menschen. Dranzer hatte ihr so viele Sinne genommen… Sehen, Hören, die Fähigkeit mit ihren Artgenossen zu kommunizieren. Sie würde bis ans Ende ihrer Tage auf die Hilfe anderer angewiesen sein, in einer verstummten und finsteren Welt – derer sie sich nicht mitteilen konnte.

Der Tumult war groß. Mehrere Ärzte hantierten an der Trage, halfen die Frau in ein anderes Zimmer zu verlegen, während einige Schwestern, aus den anderen Stockwerken, dabei halfen, die Scherben im Raum beiseite zu kehren oder andere neugierige Patienten zurück in ihre Zimmer drängten.

Dem Personal stand der Schreck ins Gesicht geschrieben – genau wie Mr. Kinomiya. Das der alte Mann bis vor kurzem noch im Koma lag, wurde wegen des Vorfalls vollkommen außer acht gelassen. Einpaar Mal wanderten die misstrauischen Blicke der Krankenschwestern zu ihm und als zwei von ihnen die Köpfe zusammensteckten und vor sich her nuschelten, konnte er die Frage hören, ob er für die Verletzungen ihrer Kollegin verantwortlich war. Das jagte ihm eine Heidenangst ein. Wie konnte man ihm so etwas zutrauen?

Doch ein junger Arzt, der das Gespräch mit halbem Ohr belauscht hatte, zischte ihnen schließlich zu, dass es für einen Mann von Mr. Kinomiyas Alter unmöglich sei, jemanden so zu verletzen und dass die beiden Krankenschwestern ihre Zunge zügeln und aus dem Raum verschwinden sollten.

„Der Patient ist noch anwesend, meine Damen!“, tadelte er. Dann wandte er sich selbst Mr. Kinomiya zu. Es folgten einige Fragen.

„Seid wann sind sie wach?“

„Haben sie mitbekommen was passiert ist?“

Und schließlich die Frage auf die der alte Mann gewartet hatte.

„Wer hat die Frau angegriffen?“

Mr. Kinomiya rutschte das Herz bleiern schwer in die Hose. Er kannte Kai seid dessen Kindheit. Dieser Junge hatte bei ihnen manch Sommer verbracht, war in ihrem Haus ein und aus gegangen, hatte mit Tyson und seinen Freunden bis in die späte Nacht trainiert und Mr. Kinomiya war immer darauf aus gewesen, keinen der Jungen mit einem leeren Magen nachhause zu schicken. Wie konnte er einen Freund seines Enkels anschwärzen? Einen der Jungen, der mit ihnen gemeinsam am Abendtisch gesessen hatte, als würde er zum festen Inventar der Familie gehören. Kai hatte seine Eigenarten doch er traute ihm diese Grausamkeit nicht zu.

Etwas Unheimliches war in diesem Moment in dem Jungen vorgegangen, dem war sich Mr. Kinomiya sicher. Allein seine Präsenz war beängstigend gewesen, als wäre ein finsterer Dämon in ihn gefahren. Da diese Antwort aber vollkommen abwegig klang, schüttelte er nur bedauernd den Kopf und antwortete dem Arzt:

„Als ich aufgewacht bin, war das Erste was ich gesehen habe, dieser kleine Hüpfer hier“, er legte seine Hand sanft auf Janas Kopf und tätschelte sie. „Und als ob ich nicht schon verwundert genug sein müsste, weil ich mich im Krankenhaus wiederfinde, bestand die kleine Dame darauf, dass ich sie zur Toilette bringe.“ Er deutete auf eine Tür im Raum, die in das anliegende Badezimmer führte, sich wohl bewusst, wie unglaubwürdig seine Geschichte klang, da das halbe Krankenhaus durch die Schreie der Frau geweckt worden war. Er hätte schon ziemlich taub sein müssen, um sie nicht zu hören. „Als die Kleine ihr Geschäft erledigt hat, bin ich zurück in mein Zimmer… und da lag die arme Frau schon auf den Boden. Ich kann mir das nicht erklären.“

„Du kommst in die Hölle!“, rief eine anklagende Stimme in Mr. Kinomiyas Hinterkopf. Wie er es hasste zu lügen. Doch er konnte Kai nicht verraten. Vor allem gingen ihm Janas Worte, während dem Angriff auf die Nachtschwester, durch den Kopf:

„Das ist nicht mein Kai.“

Darin schien mehr Wahrheit zu stecken als er ahnte. Außerdem fühlte er sich an seinen Angriff zurückerinnert. Dieses bläuliche Licht damals... Es war wie bei den Beyblade Kämpfen seines Enkels – wenn Dragoon erschien.

Der Arzt war sichtlich enttäuscht. Er war für diesen Bereich verantwortlich und demnach auch für das Wohl seiner Krankenschwestern. Trotzdem blieb er professionell.

„Ich verspreche ihnen sie werden bald ein neues Zimmer bekommen. In Kürze wird sich jemand um sie und das Mädchen kümmern. Wir suchen ihren Bruder aber… es gibt da einpaar Probleme…“

„Da könnt ihr lange suchen!“, dachte Mr. Kinomiya. Immerhin hatte Kai sich vor seinen Augen in Luft aufgelöst. Mit diesem Trick auf seiner Seite konnte er im Zirkus auftreten. Als der Arzt sich entfernte, seufzte Mr. Kinomiya und schüttelte bedauernd den Kopf.

Was war bloß aus der Jugend von heute geworden?

Jana zupfte ihn an seinem Krankenhemd. Er blickte zu dem Kind hinab, das ihm versuchte etwas mitzuteilen, aber durch ihre Krankheit hatte sie eine schwerfällige Aussprache.

„Galu sa Mara suche!“

„Tut mir leid, ich verstehe kein Wort.“

„Mar-iah suche!“

„Mariah?“ Mr. Kinomiya beugte sich zu dem Kind hinab. „Du meinst doch nicht etwa Rays Frau, oder? Der schwangere Brummer?“

„Ras Frau?“ Fragend blickte Jana zu ihrer Linken, als ob dort jemand stehen würde, der ihre Frage beantworten könne. Zu seinem erstaunen schien sie sogar eine Antwort zu erhalten, denn nach einigen Sekunden entgegnete sie: „Ja! Ras Frau. Mara! Wir suche gehe. Kommt du mit?“ Jana deutete auf sich, auf den leeren Fleck zu ihrer Linken und dann auf Mr. Kinomiya. „Du komme? Mit uns?“

„Du bist mir vielleicht eine… Da ist doch niemand du kleine Springmaus.“

Jana schüttelte den Kopf als wäre Mr. Kinomiya beschränkt und seufzte genervt.

Dann schien es ihr zu dumm zu werden. Sie ergriff die Hand des alten Mannes, zerrte und zog ihn Richtung Tür, plapperte verständnisloses Zeug vor sich her, aus dem er sich keinen Reim machen konnte. Öfters viel der Satz: „Galu folge.“

„Wo wollen sie hin?“, fragte eine der Krankenschwestern misstrauisch, die mit einem Besen die Scherben aufkehrte. Ihm fiel auf, wie sehr sie auf einen großen Abstand zwischen ihnen bedacht war und er spürte die feindseligen Blicke in seinem Nacken.

„Ich bringe sie weg von ihr. Das ist wirklich kein Ort für ein kleines Kind“, log Mr. Kinomiya, der sich zusehends elender fühlte. Die stummen Beschuldigungen machten ihm zu schaffen. Er sah die Anklage in den Blicken des Personals. Doch wer würde ihm die Wahrheit glauben?

Es klang zu unrealistisch… Himmel! Er konnte selber nicht begreifen, was sich vor kurzem hier abgespielt hatte. Für einen kurzen Moment wollte er einfach nur vergessen was passiert war, fuhr sich mit der Hand über die Stirn um sich eine ergraute Strähne aus der Sicht zu streichen und blickte zu Boden.

Da fixierten seine Augen ein kleines, feuchtes, in einer Blutlache liegendes Stück Fleisch – eine Zunge. Galle stieg ihm die Speiseröhre hoch, als er begriff, was Kai mit seinen bloßen Händen aus dem Mund der Frau gerissen hatte. Das gurgelnde Geräusch, vermischt mit ihren Schmerzensschreien, kam ihm in Erinnerung und er hatte Mühe sich nicht an Ort und Stelle zu erbrechen.

Er musste weg!

Weg von diesen anklagenden Blicken.

Dieser Angst die in der Luft schwebte wie eine Giftwolke.

Er musste zu Tyson und ihn, Ray und Max warnen. Vor diesem „Dämon“ der Besitz von ihrem Freund ergriffen hatte. Erneut spürte er ein Ziehen an seinem Krankenhemd und dann die piepsige Stimme von Jana, die ihn dazu aufforderte mitzukommen.

„Komm Opa! Galu sa Mara suche!“

Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass dieses Kind genau zum richtigen Moment gekommen war.

Kai war auf der Suche nach ihnen. Wäre Jana nicht gewesen, würde sicherlich Mr. Kinomiyas Zunge dort in der Ecke liegen. Als ihm das bewusst wurde, stand sein Entschluss fest. Er würde dem Kind folgen. Was immer „Galu“ war, es hatte ihm das Leben gerettet.
 


 

*
 

Nach langem Schlaf kehrte Tyson wieder aus seinem Dämmerzustand zurück…

Nur um sich scheinbar in einem weiteren Traum zu finden.

„Was ist das? Ein Geist?“

„Nein. Kein Geist.“

„Es fühlt sich fremd an.“

„Ja. Sehr fremd.“

Kaum hatte er die Augen einen spaltweit geöffnet, drangen an sein Ohr zischelnde Laute und flüsternde Stimmen. Es dauerte lange bis die ersten Erinnerungsfetzen wieder aus seinem Unterbewusstsein emporstiegen. Er lag auf hartem Betonboden und spürte kleine Steine die in seinen Rücken pieksten. Zudem weigerte sich sein Gehirn nach der letzten Tortur die Motoren anzuschmeißen und endlich zu klarem Verstand zu kommen. Ein gequältes Stöhnen entrang sich seiner Kehle und sofort nuschelten eine der Stimmen aufgebracht.

„Hörst du das?! Das eine gibt Geräusche von sich!“

„Ja. Geräusche!“

„Sieh mal! Das dort drüben… Da kommt etwas aus seiner Hand.“

„Es ist gefüllt. Ja, es ist gefüllt. Mit Tropfen…“

„Ob dieser hier auch gefüllt ist? Komm, wir reißen ihn auf und sehen nach!“

Tyson wurde schlagartig aus seinem Halbschlaf gerissen, als er merkte wovon die Stimmen sprachen. Doch noch ehe er aufspringen konnte, spürte er ein heftiges Stechen in der Seite und jaulte auf. Mit einem wütenden Aufschrei fuhr er auf und schlug um sich. Seine Faust stieß gegen etwas, dass sich wie ein nasser kalter Schwamm anfühlte und kurz darauf dumpf auf den Boden aufprallte.

„Es bewegt sich! Es bewegt sich!“, schrie die Stimme.

„Ja, das tut es!“

„Es hat die Hand gegen mich erhoben!“

„Widerwärtiges Geschöpf!“

Tyson hielt sich die Seite und drehte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zum Ursprung der Stimmen. Doch was er vorfand waren zwei spärlich flackernde Irrlichter, deren Konturen leicht vor seinem Auge verschwammen. Sie schienen ihm wie kleine graue Nebelschwaden. Es bedurfte sehr viel Anstrengung bis Tyson erkannte, dass es sich dabei um zwei Tiere handelte – Hyänen.

Ihre Augen glühten gräulich in der Finsternis und wenn sie sprachen bewegten sich ihre Schnauzen nicht. Doch so merkwürdig es auch klang, Tyson war sich sicher die Stimmen kamen von ihnen.

Voller erstaunen blickte er die beiden seltsamen Geschöpfe an, bemerkte zum ersten Mal das er in einer der unzähligen Seitengassen von Tokio sein musste. Dann hörte er das wütende Knurren einer der Hyänen zu ihm schallen.

„Es hat die Hand gegen mich erhoben!“, wiederholte die eine voller Zorn.

„Es hat die Hand gegen dich erhoben. Ekliges Pack…“

„Ich zerreiße es! Wir werden es zerreißen!“

„Ja. Zerreißen wir es!“, bestätigte die andere.

Die Biester reichten Tyson nicht einmal bis ans Knie, doch trotzdem schwoll eine gehörige Portion Panik in ihm auf, als sie sich knurrend an ihn heranpirschten. Wilde Tiere, die einen zerfleischen wollten, liefen nicht oft durch Tokios Straßen.

Angstvoll rutschte er auf dem Hosenboden zurück, als die Tiere die ersten Schritte auf ihn zu machten und blickte sich Hilfe suchend um. Er konnte Max und Ray am Boden liegend erkennen, beide noch bewusstlos von den Strapazen der letzten Stunden. In seiner Hilflosigkeit tastete Tyson den Boden ab, nach irgendetwas suchend womit er sich verteidigen konnte, nicht ohne seinen Blick von den beiden Hyänen abzuwenden. Als eine von ihnen plötzlich nach vorne preschte, bekam er einen verbeulte Dose zu fassen. Ohne lange zu überlegen warf er sie in Richtung seines Angreifers und siehe da - voll in die Fresse!

Getroffen jaulte das Tier und landete erneut unsanft auf dem Boden. Benommen schüttelte es den Kopf, richtete sich auf, lief verwirrt gegen eine der Häusermauern in der Gasse, bis es angsterfüllt die Flucht ergriff, zusammen mit seinem feigen Kumpan.

„Das wirst du büßen, du Missgeburt!“, hörte Tyson das seltsame Wesen schreien, dann löste es sich in seine kleinen grauen Nebelpartien auf und war aus seinem Sichtfeld verschwunden. Eine ganze Weile starrte Tyson ihnen nach und konnte sein Glück kaum fassen. Wenn er ehrlich war, kam er sich ziemlich cool vor!

Er hatte diese Biester in die Flucht geschlagen und das nur mit einer leeren Coke Zero Dose. Das Hyänen von Natur aus feige waren, klinkte er gekonnt aus. Wäre ja noch schöner, dass würde seine Heldenhaftigkeit in Frage stellen!

Doch als er aus den Augenwinkeln eine Regung vernahm, galt seine gesamte Aufmerksamkeit seinen Freunden. Die schmerzende Bisswunde an der Seite ignorierend, raffte er sich mit wackligen Knien auf und torkelte zu Max, der langsam aber sicher wieder zu Bewusstsein kam, dabei wäre er beinahe über Dizzys Laptop gestolpert.

Max lag auf dem Bauch und stemmte sich zögernd hoch. Vereinzelte Erdklumpen klebten in seinen Haaren und verliehen seinem satten Blond eine bräunliche Tönung. Auf seiner Haut lag eine feine Dreckschicht, die noch von ihren Strapazen auf dem Friedhof zeugte.

„Alles klar bei dir?“, fragte Tyson besorgt und konnte nicht umhin zu bemerken, dass Ray und er nicht besser aussahen.

Max schüttelte verneinend den Kopf und ehe Tyson nachhaken konnte, wandte er sich ruckartig von ihm ab und erbrach sich neben einer Mülltonne. Eine hellbraune Suppe wurde ans Tageslicht befördert. Das ging gute fünf Minuten so. Tyson konnte nichts anderes machen, als sich zu Max hinabzubeugen und ihm dann und wann auf den Rücken zu klopfen, wenn er hustend um Luft rang. Max schien eine stattliche Ladung matschiger Friedhofserde verschluckt zu haben, was nicht verwunderlich war, immerhin war er als erstes in die tiefen Abgründe gezogen worden, doch eine gefühlte Ewigkeit später, beruhigte er sich und lehnte sich erschöpft, mit dem Rücken gegen die kalte Häuserwand.

„Was für eine Scheiße…“, fluchte er kraftlos und sein Gesicht war blass, während ihm Schweiß von der Stirn hinab rann. Der Tropfen hinterließ eine feine Bahn auf seiner beschmutzten Haut.

Erst nachdem Max sich besser fühlte, machten sich beide daran Ray wieder auf die Beine zu bekommen. Ihr Freund murrte widerwillig, wollte nicht zu Bewusstsein kommen, doch dann schlug er endlich benommen die Augen auf. Irgendwo hatte er sich die Hand aufgeschürft. Aus der Wunde sickerte zwar Blut doch es würde ihn sicher nicht umbringen. Erst nachdem klar war, dass niemand von ihnen ernsthaft verletzt war, begannen sich die jungen Männer einen Überblick über ihre Situation zu verschaffen…

Sie schienen in Tokio zu sein.

Aber wie hatte es sich verändert?

Es war menschenleer, grau und trist.

Man konnte nichts über die genaue Uhrzeit sagen. Falls es Tag war ließ sich die Sonne nicht blicken. War bereits die Nacht hereingebrochen, schien der Mond heute Sendepause zu haben.

Ein Blick nach oben verriet lediglich, dass heute eine dicke Nebelsuppe über der Stadt lag.

Es war hell genug um ohne Licht auszukommen, doch die Umgebung wirkte wie eine trostlose Winterlandschaft. Bäume standen kahl da, Fenster waren ungeputzt und vergilbt, vom Straßenverkehr war nichts zu hören, keine Vögel flogen zwischen den Hochhäusern umher, es herrschte eine bedrückende Totenstille.

Als ob das alles nicht schon unheimlich genug wäre, schien die Stadt, bis auf die Gruppe, vollkommen ausgestorben. Autos standen verlassen mitten auf der Straße, in den Häusern brannte kein Licht, die Einkaufspassagen und Läden priesen ihre draußen aufgestellten Warenkörbe an, obwohl keinerlei Kundenandrang herrschte und weder die Besitzer der Läden zu sehen waren.

Tokio war zu einer Geisterstadt verkommen und sie mittendrin.

Was immer Dizzy vorgehabt hatte, es war gründlich schief gelaufen…

Als ihnen das bei ihrem Rundgang klar wurde, passierten sie gerade den Hafen, einen der vielen Orte, an denen sie als Kinder immer trainiert hatten. Früher konnte man von weitem die kleinen Fischerboote auf den sanften Wogen ausmachen, während Fähren von den kleinen Nachbarinseln in die Bucht fuhren.

Doch nun glitt der Nebel über das Meer, ragte empor wie eine dichte Wand. Keine Möwe war zu hören und was noch seltsamer war - kein Rauschen.

Schließlich wurde es Max zu bunt. Als sie eine kurze Pause einlegten, nahm er auf einer Bank platz und klappte Dizzys Laptop auf. Kaum war das Gerät hochgefahren, sprach er verärgert:

„Dizzy! Was soll die Scheiße! Willst du uns verarschen?!“

Tyson und Ray nahmen neben ihm Platz und waren nicht minder gespannt auf die Antwort. Doch es kam nichts.

„Verdammt Dizzy, rede mit uns, bitte!“

Dann endlich…

„Was wünscht ihr zu hören?“

„Dumme Frage. Wo sind wir?“, fragte Ray.

„An einem besseren Ort…“

„Du sprichst in Rätseln. Gib uns klare Antworten!“

„Du hast gesagt wenn wir zum Friedhof gehen wird alles gut!“, fuhr Tyson dazwischen. „Was ist schief gelaufen?“

„Überhaupt nichts…“

„Bitte?! Sieh dir diesen Ort an! Wo sind die Menschen? Die Tiere? Hier scheint nicht mal die Sonne, ich fühle mich wie in einem Charlie Chaplin Film aus den Zwanzigern!“, brauste Tyson auf.

„Daran werdet ihr euch gewöhnen müssen.“

Stille…

Alle drei dachten sich verhört zu haben.

Schließlich durchbrach Ray mit todernster Miene das Schweigen.

Er beugte sich über den Monitor und fragte:

„Was soll das heißen?“

Ein heimtückisches Kichern folgte aus dem Laptop.

„Dieser Ort wird euer zuhause sein.“

„D-Das kann nicht… Bist du bescheuert?!“, stotterte Max entgeistert.

„Willkommen daheim.“

Die jungen Männer erschraken. Diese Worte kamen nicht mit Dizzys Stimme. Ihre Tonlange hatte sich vollkommen geändert. Aus der freundlichen und manchmal zickigen Frauenstimme, wurde das Zischeln einer Schlange. Tyson begriff als erster was hier vorging.

„Wer bist du?!“

„Eine treue Dienerin der vier Uralten.“

„Wo ist Dizzy?“

„Die Verräterin hat erhalten was ihr zustand und ihr müsst zugeben… Ich habe euch weit bessere Dienste geleistet.“ Wieder folgte ein Kichern und als Tyson klar wurde, was mit Kennys treuem Bit Beast geschehen war, packte ihn die blanke Wut. Ohne groß nachzudenken, sprang er auf, schnappte sich den Laptop von Max Schoß und mit einem zornigen Aufschrei, schmetterte er ihn mit aller Kraft auf den Boden. Funkensprühend landete das Gerät neben einer Straßenlaterne, wo es demoliert zum Liegen kam.

Belogen… Sie waren eiskalt belogen worden!

„Spinnst du?!“, rief Max geschockt. „Wie sollen wir jetzt herausfinden wo wir sind?“

„Als ob das noch eine Rolle spielt. Was immer dieses Miststück auch war, es hat Dizzy auf dem Gewissen!“

„Die Verräterin hat sich selbst auf dem Gewissen.“

Erschrocken fuhr die Gruppe herum. Aus dem Laptop stoben Blitze hinauf, dann schlängelte sich einer an der Straßenlaterne entlang und manifestierte sich zu einem gewaltigen Schlangen Bit Beast. Die purpurne Haut glühte hell und die giftgrünen Pupillen bedeckten das gesamte Auge. Dunkle Muster zierten den schuppigen Körper und wie sich das Bit Beast daran entlang wand, hätte man meinen können, dass es ohne Probleme das Metall der Laterne zwischen sich zerquetschen könnte. Mit wissendem Blick schien es sie anzufeixen.

„Dummes Menschenpack. So leichtgläubig und naiv. Seid Menschengedenken hört ihr auf die Schlange die euch das zuflüstert was ihr hören wollt. Und nun sitzt ihr hier. In der Welt der Irrlichter.“

Erschrocken zog Tyson die Luft ein. Ihm war das Bit Beast bekannt vorgekommen und nun wusste er auch, wen sie vor sich hatten – Ians Bit Beast Wyborg. Der war ein Mitglied von Talas Team gewesen. Ian war nach dem Abebben der Beyblade Welle zurück nach Russland gegangen. Da Tyson ihn nicht sonderlich mochte, hatten sie danach auch keinen weiteren Kontakt mehr miteinander gehabt, immerhin war außer einem mürrischen „Hallo“ nicht mehr zwischen ihnen gesprochen worden, wenn man sich zufällig mal über den Weg lief.

„Willkommen, willkommen, meine schmackhaften Häppchen, “ sprach Wyborg inzwischen. „Hier in der Irrlichterwelt regiert meine Sippe. Von hier aus kontrollieren wir die Welt der Menschen. Sei es der kleinste Tropfen der aus einer eurer Wolke fällt oder der hellste Sonnenstrahl - alles unser Werk. Ihr solltet euch wirklich geehrt fühlen! Zuvor war es keinem sterblichen Wesen gestattet uns zu besuchen.“

Das Bit Beast leckte sich über die lippenlose Schnauze.

„Ein Jammer wenn man darüber nachdenkt. Menschenseelen lassen sich so viel ungestörter verschlingen, wenn man sie nachhause mitnimmt. Nicht zu vergessen der Aufwand. Es ist so ermüdend in eure Welt zu schleichen und eine Menschenseele zu stehlen. Vor allem meine Leibspeise bereitet mir Probleme… Die letzten Jahre konnte ich mich nur selten von Kinderseelen ernähren. Wie sehr sehne ich mich nach einem Happen von einem Frischling…“

„Frischlinge?“, fragte Ray irritiert.

Ein belustigtes Gackern folgte.

„Säuglinge. Frisch geschlüpft aus dem Mutterleib. Ihre Seelen sind so zart und unschuldig. Früher habe ich mir zu Dutzenden Kinderseelen geraubt. Ich bin in eure Welt geschlichen und habe nachts, wenn die süßen Bälger schliefen ihre Seele gefressen. Ihr Menschen nanntet es dann stets den plötzlichen Kindstod, wenn die Eltern den leblosen Säuglingskörper am nächsten morgen in ihren Betten vorfanden. Wie melancholisch das doch klingt, nicht wahr? Kinderseelen sind schmackhaft. Mmm… Sehr schmackhaft. Aber leider zu gut bewacht...

Mit den Jahren habt ihr Menschen dazu gelernt und immer mehr Talismane erfunden. Hier bei uns gibt es aber weder Priester noch Talismane. Wir sind also vollkommen ungestört.“

„Verschlingen?“, flüsterte Tyson. Das Bit Beasts Menschenseelen fraßen, war der Gruppe neu - und überhaupt nicht geheuer. Was diese unheimliche Kreatur da erzählte jagte Tyson einen kalten Schauer über den Rücken. Wyborg starrte belustigt auf sie herab und schien vor allem an Max gefallen zu finden, denn der Blick der Schlange haftete an ihm.

„Du da.“, sprach sie und er schreckte auf. „Mmm… Du siehst gut aus. Frohnaturen sind besonders bekömmlich. Ich glaube, ich kann mir ohne weiteres etwas von deiner Seele klauen. Nur ein winziger Happen. Es wird nicht weiter auffallen.“

Wyborg glitt langsam, mit dem Schädel voraus, an der Straßenlaterne hinab.

„Als kleine Belohnung für meine treuen Dienste, werde ich mir das wohl gönnen dürfen. Immerhin handeln die Großmeister nicht anders. Der Menschenfrau hat Draciel auch ihr Gesicht gestohlen. Ich könnte deine kindliche Art fressen. Wenn die fehlt, fällt das bei Erwachsenen nicht weiter auf…“

„Der Menschenfrau? Meine Mutter?!“, schrie Max auf. Seine Hand ballte sich zu einer Faust und blanke Wut breitete sich in ihm aus. „Dann war das auf dem Friedhof Draciel!“

Die Schlange hielt überrascht inne. Sie hatte nicht damit gerechnet so angefahren zu werden, doch dann zischelte Wyborg belustigt.

„Gewiss. Das war einer der Großmeister. Mmm… Du bist frech. Das ist gut. Das ist lecker.“

„ICH ZEIG DIR GLEICH WER LECKER IST!“

Max wollte blind vor Wut und Trauer auf Wyborg losstürmen, doch Ray packte ihn am Kragen und rief entsetzt: „Bist du lebensmüde? Das ist eine Anakonda, kein Teletubbie!“

„Diesen aufgedunsenen Fadenwurm mach ich fertig!“

Erbost hörte das Bit Beast auf zu lachen. Tief gekränkt hob es bedrohlich den Kopf in die Höhe und starrte wütend auf die Gruppe hinab.

„Zügle dich kleiner Mensch, sonst bleibt es nicht bei einem Happen!“

„So fett wie du bist hast du schon einiges gefressen! Dicker fetter FADENWURM!“

Wyborg erhob sich zu voller Größe und riss den Kiefer weit auf. Die spitzen Reißzähne blitzen hervor und ein zorniges Fauchen entrang sich aus der Kehle.

„Wurm?! Du kleiner Menschling wagst es mich als Wurm zu beschimpfen?!“

Dann leuchteten die Augen unheilvoll auf.

„Ich reiße dich in Stücke!“

Und schon schnellte das Bit Beast nach vorne. Die gebleckten Zähne voraus, schnappe es wahllos in die Gruppe hinein und jeder sprang in eine andere Richtung. Durch pures Glück bekam die Schlange keinen von ihnen zu fassen. Doch ihr riesiges Gebiss rammte sich in die Bank, auf der die jungen Männer kurz zuvor noch gesessen hatten. Die Zähne blieben in den Brettern stecken und wütend zog und zerrte das Bit Beast, um sich freizubekommen. Schließlich riss es die Bank, samt Teile des Zement, an der sie am Erdboden befestigt war, hinaus und zermahlte es, mit einem hässlichen Knacken ihres Kiefers. Blind vor Zorn sah die Schlange sich um.

Tyson kauerte einpaar Meter von ihr entfernt auf dem Boden. Er blickte auf und da warf sich Wyborg bereits in seine Richtung. Doch als er schon dachte, er würde in einem Stück verschlungen werden, schoss sie an ihm vorbei.

Total perplex saß er erstmal da und dachte: „Gott, ich verdammter Glückspilz!“

Doch da hörte er Ray hinter sich schreien: „MAX LAUF!“

Tyson drehte sich um und was er sah, ließ ihn das Blut in den Adern gefrieren. Wyborg war auch an Ray vorbeigestürmt, heftete sich aber gnadenlos an Maxs Fährte. Er musste ihren Stolz schwer angekratzt haben.

Ihr Freund rannte was das Zeug hielt, während der massige Körper der Schlange immer wieder an Containern und Fahrzeugen abprallte. Ein kleiner Ford viel der Wut des Ungetüms zum Opfer. Als das Bit Beast über das Fahrzeug schlängelte, peitschte ihr riesiger Schwanz mit voller Wucht auf das Dach, dass die Scheiben nur so aus Fassung sprangen.

Inzwischen sprintete Max auf mehrere aufgestellte Containerreihe am Hafen zu. An einem der vielen Zwischenräume, die für die Hafenarbeiter als Durchgänge fungierten, hielt er sich an der Ecke fest, um sich mit Schwung in den nächste Gang zu retten. Kurz darauf schoss Wyborg an dem Durchgang vorbei. Ungeschickt schlitterte das Bit Beast mit seinem Körper auf dem Boden und knallte gegen eine der gestapelten Containerwände. Die darüber aufgestellte Reihe wackelte bedrohlich blieb aber noch an ihrem Platz.

Ein Stapler der dort stand, wurde vom Schwanz erfasst und kippte zur Seite. Als Tyson und Ray ihrem Freund zu Hilfe eilten, bekamen sie gerade noch mit, wie das Bit Beast sich wieder aufrichtete und vor ihnen in den Durchgang schlüpfte, indem Max verschwunden war. Gleich darauf folgten die beiden Männer.

Eines war klar, Klaustrophobiker hatten hier nichts zu suchen.

Als Tyson durch die Gänge irrte, konnte er nicht anders, als seinen Blick öfters mal nach oben wandern zu lassen. Die gestapelten Quader hatten etwas Einengendes und Bedrohliches.

Mit einem Schrei hörte man die Schlange irgendwo inmitten dieses Labyrinths, immer wieder gegen die Wände stoßen. Dabei vibrierten die aufgestellten Container ständig mit.

Tyson versuchte dem Lärm zu folgen, doch irgendwann war er sich sicher, sich in diesem Wirrwarr aus Reihen und Gängen verirrt zu haben.

Abrupt blieb er stehen und Ray lief in ihn hinein. Beide kamen ins Straucheln und gingen zu Boden.

„Verdammt“, fluchte Tyson und strampelte sich frei. „Ray, ich habe keine Ahnung wo Max entlang gelaufen ist! Was machen wir jetzt?“

Sein Freund fieberte aufgeregt einer Eingebung entgegen. Angestrengt dachte Ray nach, wenn ein lautes Poltern ertönte, versuchte er auszumachen aus welcher Richtung es kam. Dabei wandte er den Kopf immer angestrengt zu allen Seiten. Doch er schien genauso ratlos wie Tyson. Dann schepperte es…

„GRAAAH!!“

Ein schmerzerfüllter Schrei erfüllte die Umgebung.

Ein ohrenbetäubendes Poltern folgte. Die Erde bebte und ließ die Containerreihen um die beiden erzittern. Das Blech trommelte und ratterte von allen Seiten.

Dann Stille.

Nichts weiter.

Tyson und Ray hielten die Luft an, lauschten ihrer Umgebung. Dann warfen sie sich vielsagende Blicke zu. Von einem unguten Gefühl gepackt, sprangen sie auf und rannten weiter. Beiden schossen furchtbare Gedanken durch den Kopf.

Was war passiert?

Warum diese Stille?

Wo war Max?

An jedem Durchgang an dem sie entlang schritten, blieben sie stehen und spähten hinein. War es eine Sackgassen, rannten sie weiter. Wenn nicht, liefen sie auf gut Glück hinein und folgten dem Weg. Eine ganze Weile irrten sie so herum. Bis sie schließlich um eine weitere Ecke bogen und wie angewurzelt inne hielten.

Erstarrt blickten beide auf das Szenario das sich ihnen bot.

Vor ihnen lag ein ganzer Haufen zusammen gewürfelter Container… wie ein Stoß Bauklötze. Scheinbar war eine der Reihen umgekippt, was wohl auch der Grund für das Poltern zuvor war. Dahinter ging es nicht mehr weiter - eine Sackgasse.

„Tyson, da!“, Ray deutete auf etwas.

Rechts von ihnen, unter einem der schweren Container, lugte der Schwanz des Bit Beast hervor. Als Tyson dies sah, wich er zuerst perplex zurück, bis er begriff dass es sich nicht regte.

„Ist es… tot?“, kam die vorsichtige Frage von Ray, der genauso erschüttert wie sein Freund darauf starrte. Tyson zuckte ratlos mit den Schultern. Er wusste nicht ob ein Bit Beast sterben konnte. Hatte Dizzy nicht gemeint sie wären Geister? Ein Geist war doch unsterblich…

Aber warum konnte das Bit Beast dann nicht durch Wände gehen? Warum lag es hier, zerquetscht von einem Haufen schwerer Container und rührte sich nicht?

Zaghaft trat Tyson näher heran und stupste den reglosen Schwanz mit der Fußspitze an. Nichts…

Eine Weile beobachtete er das Gliedmaß, dann packte ihn der Übermut und er hopste mit voller Wucht drauf. Mit dem Schlimmsten gefasst, sprang er zurück und ging in Deckung.

Doch es folgte nichts.

Kein Schreien, kein Toben, kein Schnappen.

Das Ungetüm blieb mausetot unter dem Haufen liegen.

„Ich glaub… Wyborg… ist wirklich tot“, meinte Ray baff. Tyson nickte total überrumpelt.

Wie Neandertaler die das Feuer entdeckt hatten, standen sie da und starrten aus großen Augen und mit offenem Mund auf den Leichnam.

Dann regte sich etwas. Aus einem kleinen Schlupfloch links von ihnen, zwischen dem schweren Haufen aus Quadern, krabbelte ein Blondschopf hervor.

„MAX!“, riefen die Freunde überglücklich.

Voller Euphorie rannten sie auf ihn zu und hievten ihn aus seinem Spalt, zogen und zerrten, um ihn aus seinem engen Versteck zu befreien.

Als er wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte, ließ sich Max erst einmal auf den Rücken fallen und schnaufte mehrmals durch, noch vollkommen aus der Puste. Seine Freunde setzten sich dazu, froh ihn noch lebend bei sich zu haben.

„Was ist passiert?“, fragte Tyson prompt. Er saß im Schneidersitz neben ihm, mit großen Augen und wirkte wie ein Kind, welches auf sein persönlichen Idol traf.

Doch Max ließ mit der Antwort auf sich warten. Mehrmals setzte er an, aber ihm fehlte die nötige Luft in den Lungen. Sein Herz hämmerte ihm bis zu den Ohren und er musste die vergangenen Minuten erst Revue passieren lassen, erst selbst begreifen was gerade passiert war.

„Ich bin wie ein Irrer hier durchgerannt“, begann er schließlich nach langer Atempause zu erzählen. „Und dieser mutierte Regenwurm...“ abrupt setzte er sich auf, griff nach einem kleinen Stein und warf ihn auf den Leichnam des toten Ungetüms. „… hat versucht mich aufzufressen! Ich wollte es abhängen aber das Mistvieh war so hartnäckig. Ich habe gar nicht mehr nachgedacht wo ich hinrenne und bin stur weiter. Mal Links, mal Rechts, geradeaus… Und irgendwann stand ich hier – in dieser Sackgasse.“

Noch einmal musste er durchschnaufen. Dann grinste er.

„Ich habe echt gedacht es ist vorbei. Dieses Ding hatte mich in die Ecke gedrängt und wollte mich mit einem Happs verschlingen. Es ist nach vorne geschossen und ich hab mich im richtigen Moment auf den Boden fallen lassen.“

„Und stattdessen ist es gegen die Wand gebrettert.“, beendete Ray den Satz.

Max nickte eifrig und fuhr fort.

„Volle Kanne mit dem Kopf voraus! Es hat vor Schmerz gebrüllt und ist so wütend geworden, dass es nur noch mit seinem Schwanz um sich geschlagen hat. Als ob es in eine Raserei verfallen wäre. Einpaar Mal hätte es mich beinahe erwischt, aber ich hab es immer geschafft auszuweichen. Und dann… Irgendwann, haut das Ding so fest mit seinem Schwanz gegen die Wände, dass sie wackeln. Ich schaue nach oben und sehe nur noch, wie die Container herunterfallen. Man… ich dachte echt das wäre mein Ende!“

Wieder ließ sich Max auf den Rücken fallen. Er konnte sein Glück kaum fassen. Er hätte genauso gut zerquetscht unter einem dieser zehn bis zwanzig Container liegen können, als Haufen Brei. Wie die Vanillefüllung eines Donut den man zu fest packt.

Doch eine „göttliche Fügung“ schien ihm dieses Schicksal ersparen zu wollen. Irgendeine höhere Macht hatte ihre Hand schützend über ihn gehalten und dafür gesorgt, dass die bunt gewürfelten Container gerade noch so fielen, um ihm nicht zu schaden.

Vor Freude lachte Max in sich hinein und meinte:

„Ich bin der größte Glückspilz auf Gottes Erde!“

Tyson schüttelte den Kopf und grinste.

„Nein. Du, mein Freund, bist der Bit Beast Killer.“
 


 

*
 

In der Zwischenzeit ging die Sonne in der Menschenwelt auf. Die ersten Fahrzeuge waren schon auf den Straßen unterwegs und einige Frühaufsteher nutzten den Sonntagmorgen, um durch ihr Viertel zu joggen. Die meisten Menschen saßen jedoch noch am Frühstückstisch oder schlummerten noch eingemummelt in ihren Betten.

Nur wenige mussten an diesem Tag noch arbeiten. Wie zum Beispiel Inspektor Kato.

Der ältere Mann hatte den ganzen Samstagabend damit verbracht, einige Nachforschungen über den Fall Mr. Kinomiya Senior zu sammeln. Anfangs ging er davon aus, dass es sich bei dem Hinweis aus der Zivilbevölkerung, nur um den hirnlosen Tratsch der geschwätzigen Nachbarin handelte. Doch am Morgen hatten sich die Ereignisse überschlagen.

Der Inspektor hatte mehrmals versucht, am gestrigen Abend, den Enkel des alten Mannes telefonisch zu kontaktieren. Doch der Junge schien wie vom Erdboden verschluckt.

Später erfuhr er auch den Grund dafür:

Diese Nacht war das Anwesen der Hiwatari Familie niedergebrannt. Verdächtig war, dass der Enkel von Mr. Kinomiya, seit Jahren ein freundschaftliches Verhältnis zu dem jüngsten Spross der Familie pflegte. Laut Angaben aus der Nachbarschaft, kannten sich die beiden schon seit vielen Jahren. So war er auch das erste Mal über den Begriff „Beyblade“ gestolpert, denn die beiden Männer waren in demselben Team gewesen. Der Inspektor konnte sich noch gut an den Trend von damals erinnern. Sein jüngster Sohn war zu dieser Zeit furchtbar vernarrt in diese Kreisel und er konnte dem Jungen diese Flause auch nicht so schnell wieder austreiben.

Seltsamerweise war der Enkel, Takao Kinomiya, vor Ort als der Brand stattfand. Als das junge Hiwatari Familienoberhaupt, mit Verdacht auf Rauchvergiftung, ins Krankenhaus gebracht wurde, war der junge Mann ihm, zusammen mit einpaar Freunden, gefolgt.

Die Gruppe hatte also die Nacht im Krankenhaus verbracht. Wer die beiden anderen Männer waren und wie sie hießen, hatte der Inspektor noch nicht herausgefunden, nur das die Gruppe unter dem Namen „Tate“ im Besucherquartier eingecheckt hatte.

Tate

Klang in seinen Ohren amerikanisch…

War nicht auch ein Amerikaner im selbem Beyblade Team gewesen? Wenn er zurück im Revier war, musste er mal nach Takao Kinomiyas Team im Internet recherchieren. Möglicherweise waren die anderen beiden Männer auch in die Sache verwickelt.
 

Kurz nach Mitternacht erlebte der Inspektor aber eine weitere böse Überraschung.

Dr. Yamada klingelte ihn aus dem Schlaf.

Kaum zu glauben! Der Doktor der ihn liebend gerne nur von Weitem sah, nahm tatsächlich von sich aus mit ihm Kontakt auf. Der Grund dafür war ein Angriff im Krankenhaus. Eine Nachtschwester wurde gegen drei Uhr morgens blutüberströmt im Zimmer von Mr. Kinomiya Senior gefunden. An Schlaf war somit nicht mehr zu denken. Als der Inspektor im Krankenhaus eintraf, ließ er sich erst einmal von Dr. Yamada Bericht erstatten. Bis dahin hatte der Inspektor den Aufenthaltsort von Takao Kinomiya noch nicht ausmachen können. Er fiel aus allen Wolken als er erfuhr, dass der Gesuchte in diesem Krankenhaus gewesen war.

Doch wieder fand er nicht die Gelegenheit mit dem jungen Mann zu sprechen. Nachdem Angriff auf die Schwester war Takao, seine beiden Freunde, das Hiwatari Oberhaupt, und sogar der alte Großvater verschwunden. Erst später erfuhr der Inspektor, dass Kai Hiwatari noch eine jüngere Schwester besaß, die ebenfalls nach dem Brand ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Wie er schon befürchtet hatte war das Kind auch weg.

Am liebsten hätte sich der Inspektor seine grauen Haare gerauft. Alle Beteiligten in dem Fall verschwanden spurlos. Das konnte nicht mehr mit rechten Dingen zu gehen!
 

Ungeduldig sah Inspektor Kato auf seine Armbanduhr. Es war bereits halb zehn. Die Befragung der Nachbarn zuvor hatte nicht viel Licht ins Dunkel gebracht.

Nun stand eine weitere Person an, mit der er, hier beim Anwesen der Kinomiyas, sprechen wollte. Und tatsächlich kam in diesem Moment ein schwarzer Bentley Continental um die Ecke geschossen.

Inspektor Kato piff anerkennend als das Luxuscabrio neben ihm hielt und fragte sich zeitgleich, wo er nur die falsche Abzweigung im Leben gewählt hatte. Was für ein Traum von einem Wagen. Er hätte Jahre arbeiten können, ein solches Gefährt würde nie in seinen Besitz kommen. Doch seine Aufmerksamkeit richtete sich sogleich der Person die aus dem Wagen stieg.

Inspektor Kato schätzte den ersten Enkel von Mr. Kinomiya nicht älter als Anfang dreißig. Er erinnerte sich, ihn in einem Zeitungsfoto gesehen zu haben, allerdings mit einer anderen Frisur. Nun waren die dunklen Haare kurz und ordentlich nach hinten gekämmt. Er wirkte dadurch hochnäsig. Außerdem kam er im Anzug. Der Inspektor wusste nicht, ob er einfach nur Eindruck schinden wollte oder ob er tatsächlich auch privat auf so formelle Kleidung zurückgriff. Jemand der mit einem Armani einkaufen ging, wollte sicherlich auffallen. Leider war das die einzige Person, die Inspektor Kato erreicht hatte, als er den näheren Bekanntenkreis von Mr. Kinomiya durchleuchtete.

Inzwischen kam der junge Mann auf ihn zu und reichte ihm die Hand.

„Guten Morgen. Sie sind der Inspektor?“

Seine Stimme klang nicht erfreut, eher ungeduldig.

„Das ist richtig. Hitoshi Kinomiya nehme ich an?“

Ein Nicken als Antwort. Dann…

„Ich will nicht unhöflich sein, aber was ist passiert, dass mich die Polizei um sechs Uhr morgens aus dem Bett holt?“ Er nickte zu seinem Elternhaus. „Gibt es irgendwelche Probleme die meine Familie betreffen?“

„Zunächst einmal wüsste ich gerne, ob sie den Hausschlüssel mitgebracht haben. Ihre Nachbarn sind recht neugierig. Können wir im Haus weiter reden?“

Das war nur die halbe Wahrheit. Mit der neugierigen Nachbarin, meinte er nur die alte Frau, die von ihrem Küchenfenster ständig zu ihnen spähte. Wenn ihre Blicke sich trafen, zog sie den Vorhang wieder zurück und wartete auf die nächste Gelegenheit. Seit geraumer Zeit wurde der Inspektor von ihr beobachtet, doch er bezweifelte, dass sie auch nur ein Wort ihrer Unterhaltung hören konnte. Es lag viel mehr etwas Taktisches hinter seinem Vorschlag. Der Inspektor wollte sich einen Überblick vom Anwesen verschaffen. Er hatte keinen Durchsuchungsbefehl, da offiziell noch kein Gewaltverbrechen bewiesen wurde und konnte somit nicht ohne die Erlaubnis der Einwohner hinein. Das der Enkel ihm quasi in die Hände gespielt hatte, kam ihm sehr gelegen, denn es war Hitoshis Idee gewesen, sich hier zu treffen, da er nicht wollte das sein zukünftiger Schwiegervater Wind von dem ungewöhnlichen Besuch bekam.

Ansonsten hätte Inspektor Kato sehr gerne einen kleinen Abstecher zu dem örtlichen Fernsehsender gemacht, wo Hitoshi arbeitete und der von seinem Schwiegervater geführt wurde. Hitoshi Kinomiya schnaubte inzwischen nur verständnislos.

„Wenn es weiter nichts ist? Aber sie könnten genauso gut klingeln. Mein Großvater kommt selten aus dem Haus und da ist noch mein kleiner Bruder.“

„Sie wissen es noch nicht?“

„Nein. Was denn?“, fragte Hitoshi und kramte beiläufig in der Jackentasche nach dem Hausschlüssel, noch relativ uninteressiert.

„Ihr Großvater liegt seid gestern Nachmittag im Krankenhaus.“

Hitoshi hielt kurz inne. Dann: „Oh.“

Er schloss die Hoftür auf und ließ dem Inspektor den Vortritt.

„Was soll ich sagen? Er ist schon ziemlich alt. Lange hält er bestimmt nicht mehr durch.“

„Leider muss ich ihnen mitteilen dass ich von einem Gewaltverbrechen ausgehe.“

„Bitte?“, nun kam doch etwas Regung in den jungen Mann. Endlich begriff er, dass ein Polizist wohl schlecht wegen Altersschwäche hier war. „Was ist passiert?“

„Wir sind uns noch nicht sicher, aber wir glauben, dass ihrem Großvater absichtlich falsche Medikamente verabreicht wurden, was zu starken Atembeschwerden geführt hat.“

„Wer würde so etwas tun? Mein Großvater ist beliebt und mein kleiner Bruder kümmert sich sehr gut um ihn.“

„Tut er das. Soso…“

Als Hitoshi die Zweifel heraushörte, wurde er wütend und schüttelte den Kopf.

„Nein!“, meinte er unbeirrt. „Mein Bruder war das nicht.“

Inspektor Kato war überrascht. Bis vor zwei Minuten war er sicher gewesen, dass diesem Bengel die familiären Angelegenheiten am Allerwertesten vorbeigingen. Von den Nachbarn hatte er erfahren, dass der älteste Enkel nur noch selten vorbeikam. Er schien sich vollkommen von seinem Elternhaus abgeschirmt zu haben. Trotzdem pochte er darauf, dass sein kleiner Bruder unschuldig war.

„Sie scheinen sich ziemlich sicher zu sein, aber mir ist zu Ohren gekommen, dass sie nur noch selten zuhause sind.“

„Das stimmt.“, antworte Hitoshi. „Aber sie kennen Tyson nicht. Er tut für Großvater alles.“

„Im Gegensatz zu ihnen…“

Hitoshi hörte den leisen Vorwurf und seufzte.

„Wissen sie, ich mag meinen Opa. Aber die Wahrheit ist, Tyson war schon immer sein Lieblingsenkel. Mein Großvater hat ständig gesagt, er erkennt in ihm viel von unserer Mutter. Sie war eine Frohnatur, ein Familienmensch, loyal und sie war die gute Seele in unserem Haus.“ Im Gedanken verloren senkte Hitoshi den Blick. Etwas Verbittertes lag in ihm. Dann, mehr zu sich selbst, meinte er: „Tyson könnte das nicht…“

Das war die Meinung eines Verwandten. Darauf konnte sich der Inspektor wenig verlassen.

„Darf ich mir das Haus ansehen?“

„Wir haben nichts zu verbergen…“, erklärte Hitoshi resolut. Er schloss die Eingangstür auf und bat den Inspektor hinein. Und tatsächlich sollte er recht behalten…

Nach einer oberflächlichen Durchsuchung war der Rundgang beendet und Inspektor Kato ging mit leeren Händen aus dem Anwesen. Es gab nichts zu bemängeln. Alles ordentlich, nicht verwahrlost. Takao Kinomiya kam wohl gut mit dem Haushalt klar. Auch keine Medikamente die nicht hier her gehörten. Der Inspektor hatte keine Ahnung ob er verärgert oder erleichtert sein sollte.

Doch das war nur ein kurzer Einblick der ihm gewehrt wurde.

Ohne Durchsuchungsbefehl konnte er das Haus nicht auf den Kopf stellen…

Laut Nachbarn schien sich Takao Kinomiya immer vorbildlich um seinen Großvater gekümmert zu haben, bis auf den lauten Streit gestern Morgen. Doch wenn er nichts zu verheimlichen hatte, wo war er jetzt? Er hätte den Jungen schon längst abhaken können, wenn er nur die Gelegenheit fände mit ihm zu sprechen.

Als Hitoshi Kinomiya die Eingangstür hinter sich abschloss, fragte der Inspektor:

„Wo kann ich ihren Bruder finden?“

„Wenn Großvater im Krankenhaus ist wahrscheinlich dort.“

Der Inspektor schüttelte bedauernd den Kopf.

„Sie wissen wirklich überhaupt nicht was sich in ihrer Familie abspielt, oder? Ihr Bruder war dort. Seit einigen Stunden ist er verschwunden. Nach dem Brand im Hiwatari Anwesen, hat er mit zwei Freunden im Krankenhaus übernachtet.“

„Bei Kai hat es gebrannt?“, innerlich ärgerte sich Hitoshi. Er bekam wirklich gar nichts mit. Gestern war er noch in Ōsaka unterwegs, heute stand die Welt auf dem Kopf! Die letzten Stunden schien soviel vorgefallen und niemand hielt es für nötig ihm Bescheid zu geben.

Jetzt stand er vollkommen überrumpelt hier und wusste nicht was Sache war.

„Sie kennen ihn? Können sie sich vielleicht auch denken wer die beiden Freunde waren?“

Hitoshi gab einen verächtlichen Laut von sich.

„Tyson hat viele Freunde. Sie müssen schon genauer werden.“

„Laut der Aussage der Schwestern waren beide Ausländer. Der eine blond, blaue Augen. Der andere trug traditionelle Kleidung, stark chinesisch geprägt. Da fällt mir ein… einer der beiden müsste mit Nachnamen Tate heißen.“

„Das können nur Max und Ray sein. Sie waren zusammen im selben Beyblade Team.“ Hitoshi dachte nach, dann meinte er. „Alle paar Monate treffen sich die Fünf. Es müsste diesen Monat wieder soweit sein.“

„Die Fünf?“

Hitoshi wusste nicht ob es in Ordnung war, wenn er den Chef in die Sache mitzog, trotzdem antwortete er wahrheitsgetreu, „Tyson hat noch einen Freund namens Kenny. Ist Kai etwas passiert? Ich glaube er hat noch eine Schwester.“

„Er wurde mit einer Rauchvergiftung ins Krankenhaus gebracht. Dem Mädchen geht es gut. Das Eigenartige ist, in der Nacht in der ihr Bruder dort war, ist eine Krankenschwester verletzt im Zimmer ihres Großvaters aufgefunden worden. Als der Brand ausbrach war Takao übrigens auch vor Ort.“

Hitoshi Kinomiya wurde aschfahl, ließ den Inspektor aber ausreden.

„Seltsamerweise sind ihr Bruder, als auch seine zwei Freunde, seit dem Angriff wie vom Erdboden verschluckt. Ihr Großvater und die Hiwatari Kinder übrigens auch…“ Hitoshi wurde skeptisch gemustert, dann fragte der Inspektor: „Hat sich ihr Bruder in den letzten Stunden bei ihnen gemeldet?“

Stumm schüttelte Hitoshi den Kopf.

„Na gut. Falls ihnen noch etwas einfällt, hier meine Nummer.“ Hitoshi bekam die Handynummer auf einem kleinen Notizzettel in die Hand gedrückt. Dann ließ sich der Inspektor die Adresse von Kenny geben. Als er sich schließlich zum Gehen wandte, meinte er noch: „Ich hoffe sie sind vertrauensvoll. Auch wenn es ihr Bruder ist, sie werden doch keinen Verdächtigen frei herumlaufen lassen, oder?“

Sein Gegenüber antwortete nicht, sondern sah den Inspektor ernst an, der sich mit einem Nicken verabschiedete. Der ältere Herr wandte sich von ihm ab, stieg in seinen Wagen und fuhr schließlich von dannen. Kaum verschwand er aus Hitoshis Sichtweite, zog dieser sein Handy aus der Jackentasche und wählte mit zittrigen Fingern die Nummer seines kleinen Bruders. Er war nicht gläubig, doch in diesem Moment betete er zu allen erdenklichen Göttern, er möge ihn erreichen. Leider wurde er enttäuscht.

„Ihr Gesprächspartner ist zurzeit nicht erreichbar.“, erklang die Ansage. Seufzend nahm Hitoshi das Handy vom Ohr und dachte nach.

In den ersten Wochen nach seinem Auszug, war es Tyson gewesen der sich immer bei ihm gemeldet hatte. Hitoshi war damals zu beschäftigt gewesen. Zuerst sein Studium, dann seine Freundin, jetzt die anstehende Hochzeit. Er hatte seinen Bruder immer schnell abgewimmelt und der Besuch im Krankenhaus, nach dem Schlaganfall seines Großvaters, war mehr reine Formalität als Sorge gewesen. Das Tyson irgendwann kaum noch anrief, war ihm zwar aufgefallen, doch er war froh darüber gewesen, weil er die Telefonate als lästig empfand. Er hatte seinen kleinen Bruder tatsächlich als lästig empfunden, obwohl dieser ihn womöglich gebraucht hätte. Und nun wurde Tyson gesucht…

Das hier war nicht wie damals mit seinem BEGA Eintritt. Damals ging es Hitoshi nur um seine Karriere und es hatte Tyson nicht großartig geschadet.

Das hier war todernst…

Hitoshi lehnte sich an die Mauer, die das Anwesen umsäumte, und ihm wurde schmerzhaft bewusst, dass er seinen kleinen Bruder womöglich im Stich gelassen hatte.
 


 

*
 

„Wisst ihr was ich krass finde?“, fragte Tyson in die Runde, nachdem die Gruppe sich endlich entschlossen hatte, aus dem Wirrwarr von Containern zu laufen. „Als wir vor einpaar Stunden hier aufgetaucht sind, hat mich eines von diesen Hyänen Bit Beasts angegriffen. Übrigens, die habe ich ganz alleine in die Flucht geschlagen!“

Stolz klopfte sich Tyson auf die Brust.

„Angeber“, kam es monoton von den andern beiden.

„Ihr seid bloß neidisch…“

„Ich habe eine Anakonda besiegt!“, warf Max ein.

„Du hast dich nur im richtigen Augenblick geduckt.“, meinte Ray.

„Anzahl der Bit Beast die ich besiegt habe: Eins. Anzahl der Bit Beast die du besiegt hast: Null.“

„Wie auch immer.“, fuhr Tyson dazwischen, damit sie nicht hoffnungslos vom Thema abschweiften. „Eines von diesen Dingern hat mich in die Seite gebissen.“ Er deutete auf den Punkt. „Aber jetzt ist die Wunde weg. Als ob nichts gewesen wäre. Cool, oder?“

Ray stoppte und beugte sich erstaunt über die Stelle. In Tysons Pullover war ein Loch zu erkennen, doch dahinter war keine Wunde mehr zu sehen. Dann sah Ray auf seine aufgeschürfte Hand. „Jetzt wo du es sagt, meine Verletzung von vorhin ist auch weg.“

Sein Blick wanderte zu Tysons mit Erde beflecktem Gesicht und von dort zum Pflaster auf dessen Nase. Das zuvor weiße Stückchen Stoff hatte sich durch den Erdsog auf dem Friedhof bräunlich verfärbt. Rays Hand schnellte nach vorne und er riss es blitzschnell weg.

„ARGH!“

Aufgebracht jaulte Tyson auf und schlug die Hände auf die Stelle.

„Du Wahnsinniger!“

„Halt die Luft an. Die Schwellung ist weg.“, meinte Ray unberührt. „Da ist nichts mehr. Siehst du?“ Spaßeshalber packte er Tyson an der Nase und zog einmal kräftig dran. „Du markierst bloß. Im Fußball nennt man das eine Schwalbe.“

Und tatsächlich hatte Ray Recht. Erst jetzt viel Tyson auf, dass seine Nase sich nicht mehr so dick und aufgedunsen anfühlte, wie heute früh. Er rieb sich über die Stelle und meinte erstaunt: „Das ist echt irre. Ehrlich gesagt, seid wir hier sind, fühle ich mich mit jeder Minute quicklebendiger.“

Und nicht nur er…

Nachdem die Gruppe richtig begriffen hatte, dass sie ein Bit Beast erlegt hatten, waren sie vor Freude aufgesprungen und kamen aus dem Jubeln nicht mehr raus. Übermütig wie Kinder, waren sie auf den Container geklettert, unter dem das tote Bit Beast lag und hatten vor Freude hüpfend gegrölt: „Scheiß Viech! Das hast du davon!“

Ziemlich kindisch, wenn man bedachte, dass sie alle fast Mitte Zwanzig waren, doch sie waren einfach zu euphorisch gewesen.

Plötzlich kam Max ein schrecklicher Gedanke.

„Hey Leute! Was ist wenn wir tot sind?!“

Verwunderte Blicke trafen ihn.

„Aber klar doch! Das wird es sein, “ Max fuhr herum und seine linke Braue zuckte. „Wir sind tot! Deshalb sind unsere Verletzungen weg. Geister können nicht sterben! Oh verdammt… Ich war doch noch so jung!“

„Und warum ist sie dann tot?“, fragte Tyson und deutete auf Wyborg.

Stille.

Dann…

„Okay, vergesst was ich gesagt habe.“

„Das werden wir weil es bescheuert ist, Max.“

Der junge Mann fuhr sich durch den blonden Haarschopf und meinte:

„Aber seltsam ist das schon... Hey! Ich habe eine Idee. Wir hauen Tyson mit einen Ast K.O. Wenn er noch mal aufsteht sind wir unsterblich!“

„Was? Wieso mich?!“

„Das werden wir nicht tun, Max!“

„Danke Ray. Wenigstens einer…“

„Wir nehmen ein Brecheisen!“

„RAY!“

Die beiden Freunde grinsten den entsetzten Japaner an, bis Max seinen Arm um dessen Schulter legte und ihm eine leichte Kopfnuss verpasste.

„Das war nur ein Scherz, Kumpel. Wir würden dir nie etwas antun.“

„Weil ihr dann niemanden mehr hättet über den ihr euch lustig machen könntet…“

„Exakt. Das Leben wäre so viel trostloser.“

Endlich erreichte die Gruppe den Ausgang und ließ die Containerreihe hinter sich.

„Und jetzt?“, fragte Ray.

„Keine Ahnung. Gehen wir wieder in die Innenstadt. Ich will aber auf jeden Fall nicht laufen.“, antwortete Tyson.

„Wir haben kein Auto.“

„Da steht doch eins“, meinte Max. Er deutete auf einen Mini Cooper, der in einer Seitengasse, zwischen zwei Lagerhallen stand.

„Das ist doch nicht unser Auto!“

„Du hast Recht, Ray. Sieh dir die Gegend doch mal an! Bei so einem hektische Menschenauflauf, bin ich sicher, dass uns jemand erwischen könnte.“

Tyson tat eine ausladende Bewegung um sich, während Max bereits auf den Wagen zulief.

„Na gut ihr Klugscheißer. Aber wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Auto of-…“

Ohne Probleme öffnete Max die Tür.

„Gut. Ich bin mir aber sicher, dass da kein Schlüssel drin-…“

Max startete den Wagen und das Aufheulen des Motors erfüllte die Umgebung.

Ray ließ resignierend den Kopf hängen. Manche Menschen hatten mehr Glück als Verstand.
 

Etwas später unternahm die Gruppe eine Tour durch die Innenstadt, mit der Absicht, einen Ausgang aus der Irrlichterwelt zu finden. Doch wie sollte dieser Ausgang aussehen?

Tyson war der Meinung, sie müssten in der Erde graben, immerhin seien sie ja wortwörtlich vom Erdboden verschluckt worden. Aber Tokio war kein kleiner Schrebergarten, sondern eine riesige Stadt, bestehend aus 23 Bezirken, mit einer Fläche von ungefähr sechshundertzweiundzwanzig Quadratkilometern. Egal wie schnell sie graben würden, sie hätten einige Jahre ihres Lebens damit verschwendet.

Schließlich wandte Ray ein, dass sie es doch mal beim Friedhof versuchen sollten. Max und Tyson fröstelte es bei diesem Gedanken. Beide hatten Angst Draciel erneut über den Weg zu laufen, doch schließlich schien dieser Vorschlag am logischsten.

Doch eine herbe Enttäuschung sollte sie am Hang erwarten…

Kein Friedhof weit und breit.

Wo zuvor der schwarze Torii gestanden hatte und trostlose Grabsteine emporragten, breitete sich eine graue Wiese aus. Zu diesem Zeitpunkt bemerkten sie zum ersten Mal, dass sie bisher an keiner einzigen Tempelanlage vorbeigekommen waren, noch an einem Friedhof.

Wyborgs Worte gingen ihnen durch den Kopf:

„Hier bei uns gibt es aber weder Priester noch Talismane.“

Dasselbe galt wohl auch für geweihte Stätten.

Eine zeitlang stand die Gruppe deprimiert am Wegrand und sah zu der leeren Wiese hinüber, beobachtete wie vereinzelte Nebelbänke darüber hinweg zogen. Selbst von Draciel war keine Spur. Keiner von ihnen wusste, ob dies ein gutes oder eher ein schlechtes Zeichen war.

Als sie sich an der trostlosen Landschaft satt gesehen hatten, liefen die Männer mit gesenkten Häuptern, den Schotterweg hinab zum Mini Cooper.

Die einzige Option die jetzt noch offen stand, war ihr Ausgangspunkt. Die kleine Gasse in der sie wieder zu Bewusstsein gekommen waren.

Doch auch dieser Ort sollte sich als Pleite entpuppen…
 

„Nichts“, meinte Max betrübt, als er sein Vorhaben, die Wände nach einem versteckten Gang abzutasten, beendet hatte. Tyson sah zu seinem Freund und die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Seine Suche war nicht besser verlaufen. Die kleine Gasse schien genauso auszusehen wie die Gruppe sie verlassen hatte.

Ray war um die Ecke verschwunden um zu sehen wo sie endete.

Mit einem Seufzen lehnte sich Tyson an die Häuserwand und schüttelte den Kopf. Konnte es möglich sein, dass es tatsächlich keinen Ausweg aus dieser seltsamen Welt gab?

Seine Gedanken wanderten zu seinem Großvater.

Wer sollte sich um ihn kümmern, wenn er nicht mehr da war?

Tyson schloss die Augen und dachte an das letzte Ereignis mit dem alten Mann zurück. Sofort musste er grinsen. Wie sein Großvater ihm die Leviten gelesen hatte, weil er Kai diesen üblen Streich gespielt hatte, war Gold wert. Sein Gezeter und Fluchen ließ jeden New Yorker Taxifahrer wie einen tiefsinnigen Philosophen wirken.

„Kai…“, flüsterte Tyson zugleich. Er sah das sorgenvolle Gesicht seines Freundes vor sich, welches ihm im Krankenhaus gestand, dass er Angst um seine kleine Schwester hatte.

Plötzlich stutzte Tyson.

Er hatte das Gefühl etwas in der chronologischen Reihenfolge übersprungen zu haben. Er wusste das Kais Haus gebrannt hatte, doch zuvor war seinem Großvater noch etwas Schlimmes widerfahren…

Etwas das Tyson in seinen Grundfesten erschüttert hatte.

Angestrengt dachte er nach, doch ihm war, als klaffe ein riesiges Loch in seiner Erinnerung.

Er versuchte den gestrigen Tag abzurufen. Dabei geisterten Stichwörter durch seinen Kopf.

Der Streit mit seinem Großvater.

Die Gruppe hatte sich in Tysons Zimmer verzogen.

Mariah war aufgetaucht. Ray hatte sich mit ihr unterhalten.

Er war zurückgekommen und dann… Und dann…

Gott! Es war zum Mäuse melken!

Seine Erinnerung sprang sofort zum Punkt als das Hiwatari Anwesen lichterloh brannte!

Von dem Chaos das in seinem Kopf herrschte, wurde Tyson schwindlig und stöhnend fasste er sich an die Stirn.

„Alles klar bei dir?“

Tyson sah auf und blickte in das sorgenvolle Gesicht von Max.

„Ich weiß nicht genau… Ich… Sag mal, weißt du noch als Mariah bei mir zuhause aufgetaucht ist und Ray mit ihr gesprochen hat?“

Max sah Tyson fragend an, doch schließlich nickte er.

„Kannst du dich erinnern was danach passiert ist?“

Sofort riss sein Freund die Augen auf. Er starrte Tyson an als wäre er geisteskrank.

„Natürlich weiß ich das! Junge, dein Großvater wurde angegriffen!“

Die Antwort traf ihn wie ein Fausthieb.

„Was? Von wem?“

„Na von...“ Max stoppte. Bis vor einpaar Sekunden, war er sicher die Antwort auf der Zunge gehabt zu haben, doch die Erinnerung sickerte aus seinem Gedächtnis, wie Wasser das man mit der Hand schöpft. Plötzlich zwängte sich eine Frage in seinen Kopf. Warum wollte er Draciel zuvor aus dem Weg gehen? Sein Bit Beast hatte ihm doch nichts getan.

Eine Weile hingen die beiden Männer ihren Gedanken nach, bis Ray wieder um die Ecke kam. Er fand seine Freunde in einer Art Brainstorming vor und in ihrem Zustand, schenkte keiner der beiden seiner Rückkehr Beachtung.

„Was ist denn mit euch los?“, fragte er. Dabei schoss eine seiner Brauen skeptisch hoch.

„Kannst du dich erinnern dass mein Großvater angegriffen wurde?“

„Natürlich. Wie könnte ich nicht?“

„Tja. Da bist du mir was voraus…“

Wie nicht anders zu erwarten riss Ray geschockt den Mund auf.

„Ist das ein Witz? Tyson wie kannst du das vergessen?!“

„Von wem?“

„Hä?“

„Von wem wurde er angegriffen?“

„Na von Dragoon!“, Ray schüttelte fassungslos den Kopf und seine Augen waren voller Entsetzen geweitet. „Hast du dich vielleicht am Kopf verletzt?“

Tyson verneinte und wenn er ehrlich war, fühlte er sich seit langem irgendwie... befreit. Mit jeder Minute die verging hatte er das Gefühl ihm wurde eine Last von den Schultern genommen. Doch Max atmete hörbar aus, als wäre ihm diese Tatsache plötzlich wieder eingefallen.

„Stimmt. Wie konnte ich das vergessen?“, meinte er verstört und griff sich mit den Händen an den Kopf. „Das ist seltsam, ich habe das Gefühl mein Schädel stellt auf Durchzug. Irgendwas stimmt nicht. Ich bin mir sicher ich war wütend auf Draciel. Es hat etwas Furchtbares getan, aber es will mir nicht mehr in den Sinn kommen!“

Rays entsetzter Ausdruck galt nun ihm.

„Das ist doch nicht zu fassen… Draciel hat deine Mutter getötet!“

Max stockte der Atem. Seine Mutter war tot?

Er wurde blass, wie zu dem Zeitpunkt, als er von der Tragödie erfahren hatte. Ein vages Bild erschien vor seinem inneren Auge. Er sah wie seine Hand nach dem Telefonhörer der Kinomiyas griff. Die Stimme seines Vaters sprach auf der anderen Leitung. Doch die Sätze die er vernommen hatte, waren aus seinem Gehirn gestrichen. Sie waren nicht mehr vorhanden. Existierten gar nicht...

Langsam verschwamm auch dieser Moment vor seinem Auge. Wie ein Traum, den er nach dem Erwachen vergaß. Zeitgleich beruhigte sich Max Herzschlag wieder und eine ungläubige Stimme in seinem Unterbewusstsein fragte:

„Warum sollte Draciel so etwas tun? Es ist mein Freund.“

Ray sah hilflos von einem Gesicht zum anderen. Der ungläubige Ausdruck von Tyson ließ kein Zweifel, dass auch er nicht so recht an das Gehörte glaubte. Judys tot war auch für ihn nicht mehr präsent.

„Oh nein!“, sprach er, als ihm klar wurde was vorging. „Oh nein, verdammt! Leute, ihr vergesst was die letzten Stunden passiert ist!“ Er schüttelte den Kopf. „Wir dürfen das nicht vergessen! Unsere Bit Beast sind nicht mehr unsere Freunde. Sie sind unsere Feinde!“

„Nein“, sprach Tyson nachdenklich. „Wir vergessen nicht was die letzten Stunden passiert ist. Wir vergessen ganz spezielle Dinge. Ich weiß noch, dass ich im Krankenhaus mit Kai gesprochen habe. Das war vor einpaar Stunden. Nach der… anderen Sache. Ich erinnere mich, dass sein Haus gebrannt hat, aber davor? Davor weiß ich nur noch dass du mit Mariah gesprochen hast.“

Ray erstarrte. Dann zogen sich seine Brauen zusammen. Seinen Blick konnte Tyson nicht richtig deuten, stattdessen fuhr er fort.

„Dass mit Judy etwas war, weiß ich auch noch ungefähr. Und Dranzer… Ja genau! Dranzer hat versucht Kai und seine Schwester zu töten! Max hast du das vergessen?“

Sein Freund schüttelte verneinend den Kopf. Das wusste er noch. Also schienen auch bei Max nur lückenweise Erinnerungen zu fehlen. Die Gruppe verstummte, hing eine zeitlang ihren Gedanken nach, bis Tyson das Schweigen unterbrach.

„Komisch das du nichts vergessen hast Ray.“

Doch seine Antwort ließ lange auf sich warten. Der Ausdruck auf dem Gesicht war ernst. Seit kurzem war er auch verdächtig ruhig geworden. Sein Kopf war gesenkt und er schien wie verbissen nachzudenken. Dann meinte er vorsichtig:

„Ich glaube, ich habe auch etwas vergessen…“

Abrupt richteten sich alle Blicke auf ihn.

„Habe ich wirklich gestern mit Mariah gesprochen?“
 


 

*
 

Mr. Kinomiya konnte nicht fassen was ihn zu solch einer Entscheidung getrieben hatte. Bepackt mit einem kleinen Kind, trottete er durch die Straßen Tokios, auf der Suche nach Rays Frau. Das kleine Mädchen, das an seinem Arm zerrte, gab den Ton und somit auch die Richtung an, folgte scheinbar einer imaginären Gestalt.

Die Leute starrte beim Vorbeigehen, schließlich trug er nur seinen Krankenkittel und oftmals merkte er unangenehm berührt, wie ihm eine kühle Brise unter das Kleidungsstück wehte. Er musste wie ein Psychopath aussehen oder schlimmer… wie ein Kinderschänder! Immerhin hatte er Kais Schwester noch im Schlepptau. Als die ersten Leute auf ihn zeigten, schlug er schließlich eine neue Taktik ein. Er legte den Kopf schief und begann absichtlich wirres Zeug vor sich herzubrabbeln. Wenn man ihn festnahm konnte er auf geistig unzurechnungsfähig plädieren, soweit er seine Rolle richtig spielte.

Wen wollte er belügen, er war alt! Da war es wohl nicht schwer etwas Altersdemenz vorzuheucheln. Ein schlechtes Gewissen bekam er dabei schon. Er lief mit einem gehandicapten Kind durch die Straßen und tat als wäre er selbst krank. Doch sie schien nicht beleidigt. Tatsächlich wirkte sie tausendfach normaler als er.

Nur einmal blieb sie stehen und sah ihn verständnislos an, bis sie glucksend meinte:

„Alter Mann balla balla.“

Dabei zeigte sie ihm lachend den Vogel.

Mr. Kinomiya hätte beinahe selber angefangen zu grölen, so genial fand er diesen Spruch, doch in diesem Moment fuchtelte das Kind aufgeregt mit den Ärmchen und rief:

„Da Mara Haus! Da Opa! Guck hin! Galu sa Mara Haus!“

Der alte Mann folgte ihrem Fingerzeig und erstarrte – ein Hotel!

Wie sollte er in seinem Aufzug in ein Hotel kommen? Der Sicherheitsdienst würde ihn rausschmeißen, noch bevor er den ersten Atemzug im Gebäude tat. Jana begann an seinem Arm zu zerren und wollte ungestüm in die Eingangshalle rennen, doch Mr. Kinomiya sträubte sich. Keine zehn Pferde würden ihn da hinein kriegen!

„Mr. Kinomiya?“

Entsetzt fuhr der alte Mann herum. Wen er da sah ließ ihn schwer schlucken. Bepackt mit einer braunen Einkaufstüte, starrte Mariah ihn an. Perplex stand ihr Mund offen und als ein Luftzug durch die Straßen fegte und den Kittel etwas anhob, schrie sie entsetzt auf, ließ die Tüte fallen und presste sich die Hände vors Gesicht.

„Oh mein Gott! Was machen sie denn hier?!“, fragte sie entsetzt. „Und auch noch in dieser Aufmachung! Im Herbst sollte man nicht so freizügig gekleidet sein!“

„Das ist eine längere Geschichte.“ Mit einem Kopfnicken deutete Mr. Kinomiya zum Hotel. „Und ehrlich gesagt ist mir diese Situation auch etwas unangenehm. Außerdem friere ich mir den Ar-…“

„Mr. Kinomiya, das Kind!”, warf Mariah tadelnd ein.

„Ja. Recht hast du“, meinte der alte Mann anerkennend. „Aber bei aller Liebe, dieses Kind kostet mich einige Nerven. Hätte ich geahnt, dass diese Reise mich quer durch Tokio führt, wäre ich im Krankenhaus geblieben.“

Diese Tatsache schien Mariah erst jetzt bewusst zu werden. Schockiert hob sie die Hand an den Mund und sagte: „Sind sie weggelaufen? Mr. Kinomiya, sie hatten einen furchtbaren Anfall! Sie können doch nicht …“

„Ja ja ja“, unterbrach der alte Mann unwirsch und tat eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. „Hör mal, ich will nicht unhöflich sein, Kindchen, aber ich würde mich wohler fühlen, ohne die gaffende Meute im Hintergrund. Starr nicht so blöd! Ist dein Vater ein Pavian?! Blöder Affenkopf! Siehst du meine Faust, Jungchen?! Die kommt gleich zu Besuch!“

Ein stierender Passant fuhr erschrocken auf und suchte das Weite. Mr. Kinomiya sah wie er sein Handy hervorzog und panisch eine Nummer wählte. Wahrscheinlich die örtliche Polizei.

Mariah schien das auch bemerkt zu haben, denn sie schüttelte nur den Kopf und sammelte ihre Einkäufe auf. Jana begann es ihr summend nachzutun und die schwangere Frau musste lächeln.

„Die ist ja goldig. Eine Enkelin von der ich nichts weiß?“

„Ne, Kais kleine Schwester.“

„Ach das ist also Jana.“ Mariah legte den Kopf schief und begutachtete sie genausten, nur um festzustellen, dass sie ihrem Bruder kein bisschen ähnelte. Das Kais Schwester Trisomie hatte, schien sie nicht zu erkennen, obwohl sie ihr Gesicht doch als „anders“ empfand. Trotzdem fand sie die kleinen Grübchen entzückend und hätte liebend gerne einmal ordentlich rein gekniffen. Dann stemmte sie sich langsam hoch und schnaufte vor Anstrengung. Dieser furchtbare Babybauch war ständig im Weg.

„Na gut. Kommen sie hoch in mein Zimmer. Ich rufe Ray an. Er soll Tyson Bescheid sagen.“

Dankend nickte der alte Mann. Er wollte wirklich nur noch nachhause. Plötzlich beobachtete er, wie Mariah fragend an sich hinab sah. Sie beugte sich leicht vor, um auch über die Wölbung ihres runden Bäuchleins spähen zu können. Dann wurden ihre Augen groß.

Der alte Mann nahm an, dass sie erkannt hatte, wie dick sie mit diesem Wampe aussah.

Das Mariah zwischen ihren Beinen die anmutige Gestalt von Galux erkannte, die sich sanft an ihre Waden schmiegte und voller Hingabe zu ihr hinauf sah, konnte Mr. Kinomiya nicht ahnen.
 


 

*
 

Tyson musste sich eingestehen, dass er den ersten Schock schnell überwunden hatte. Einpaar Erinnerungen waren flöten gegangen und wenn schon? Wer vergesslich wurde musste sich eben abhelfen. Und das tat die Gruppe auch.

Schon nach kurzer Zeit war ihnen in den Sinn gekommen, einfach Notizen zu machen. Sie würden irgendwo niederschreiben, was sie für wichtig hielten. Vor allem war ihnen aufgefallen, dass alle Personen, die ihre Bit Beast als lästig empfanden, aus ihrer Erinnerung verschwanden. Allerdings betraf das nur denjenigen von ihnen, der mit dieser Person in Kontakt stand. Ray vergaß seine Mao. Max seine Mutter und Tyson seinen Großvater. Ob Kai in der Menschenwelt seine Schwester vergaß, bezweifelte die Gruppe.

Schließlich stürmten die Drei in das nächste Schreibwarengeschäft und suchten zusammen, was sie brauchten.

Dabei machten sie auch eine unheimliche Entdeckung…

Es war keine drei Personen Arbeit, Block und Stift in einem Laden zu suchen. Deshalb hatten sich Max und Ray auf den Tresen gesetzt und Tyson mal machen lassen. Als sie in ein Gespräch vertieft waren, tippte jemand Ray von hinten auf die Schulter. Die beiden Freunde schauten irritiert hinter sich, immerhin waren sie davon ausgegangen, die einzigen Menschen in der Irrlichterwelt zu sein, doch was sie sahen, ließ sie zur Salzsäule erstarren.

Da stand ein Mann… ohne Gesicht!

Die Haut braungebrannt und mit einem schwarzen Lockenschopf, welches den gesichtlosen Kopf umrahmte, deutete das seltsame Wesen auf ein Schild, gleich neben der Kasse.

„Bitte Tresen nicht als Sitzgelegenheit nutzen.“, stand dort die Aufforderung.

Schneller als nötig, sprangen Max und Ray auf und hielten einen Sicherheitsabstand zu der angsteinflößenden Erscheinung. Die nickte ihnen bloß zu und formte mit zwei Fingern, das allseits bekannte Friedenssymbol. Dann blieb sie reglos stehen. Wenn sie Augen gehabt hätte, wäre ihr Blick wohl starr geradeaus gerichtet.

Als Tyson um die Ecke kam und das Szenario vor sich erblickte, japste er erstmal erschrocken auf. Zuerst dachte er: „Oh Gott! Wir sind in Silent Hill!“

Doch dann streckte der Gesichtslose die Hand nach seinen Einkäufen aus. Offenbar sollte er bezahlen.

„Macht ihr das!“, forderte Tyson auf, der partout nicht näher heran wollte, doch Ray und Max schüttelten wie wild mit den Köpfen.

„Feiglinge“, zischte er, schließlich trat er mit offenem Mund auf die Gestalt zu und reichte ihr seine Einkäufe. Wenn er ehrlich war, hatte er nicht vorgehabt zu bezahlen. Er wollte es mit Block und Kugelschreiber genauso handhaben, wie mit dem Mini Cooper. Immerhin waren sie bisher keinem lebenden Wesen begegnet. Deshalb stammelte er entschuldigend:

„Ich habe kein Geld dabei.“

Die Gestalt nickte nur und auf wundersame Weise, zauberte sie ein Schild unter dem Tresen hervor: „VIPs zahlen nicht.“

„VIPs?“ Tyson schielte zu seinen Freunden, dann wieder zu dem Gesichtslosen, deutete dabei auf sich selbst. „Sie meinen uns?“

Ein Nicken folgte.

„Aber warum brauchen sie die Einkäufe dann noch?“

Ein weiteres Schild.

„Muss für die Buchhaltung als Abgang registriert werden.“

„Oh! Okay.“, meinte Tyson verständnisvoll. Bis auf die Tatsache, dass dieser Mann kein Gesicht hatte, schien er sich mit den typischen Problemen eines jeden Ladenbesitzers durchzuschlagen. Er beobachtete wie der Gesichtslose seine Einkäufe über den Scanner der Registrierkasse zog, da kam ihm eine Idee. „Das mit dem VIP Status, gilt das für alle Artikel?“

Wieder ein Nicken.

„Dann hätte ich noch gerne eine Packung Wrigleys.“
 

„So das hätten wir“, meinte Tyson im geschäftigen Ton, als sie aus dem Laden schlenderten und er sein Notizbuch aufklappte. Er drückte auf das Ende des Kugelschreibers, während er schmatzend auf seinem Kaugummi kaute und die Mine wurde ausgefahren.

Etwas Gutes hatte diese Welt. Für Kost und Logis mussten sie nicht aufkommen. Er sprach es zwar nicht aus, doch die Irrlichterwelt begann ihm zu gefallen.

Gut, die Belegschaft war… gewöhnungsbedürftig.

Aber sonst? Wer wurde nicht gerne als VIP bezeichnet?

Tysons Blick schlich zu einer Mc Donalds Filiale und bei dem Gedanken, dass dort keine vorlauten und verpickelten Kassierer mehr standen, jubilierte eine kleine böse Stimme in seinem Hinterkopf. Mc Donalds war jetzt wirklich gut!

Mit einem Kopfschütteln holte er seine Gedanken wieder ins hier und jetzt. Er musste sich konzentrieren. Es kam nicht in Frage, dass er in dieser Welt blieb, versuchte er sich standhaft einzureden. Während das Trio durch die Straßen schritt, fragte Ray immer noch entsetzt:

„Was ist das wieder für eine Abartigkeit gewesen?“

Tyson zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung. Ist ja auch egal.“

„Ist egal?! Tyson, dieser Kerl hatte kein Gesicht.“

„Er hat uns aber nichts getan. Also Schwamm drüber…“

„Ich kann das nicht so leicht vergessen!“

Tyson hielt an und schnalzte bedauernd mit der Zunge.

„Ray, kannst du dir jeden Kerl merken, bei dem du einkaufst?“

„Natürlich nicht.“

„Dann ist das doch kein Problem. Vergiss den Typen einfach. Selbst wenn er ein Gesicht hätte, gemerkt hättest du es dir in unserer Welt trotzdem nicht.“

Ray grummelte einpaar Sätze vor sich, gab sich aber vorerst geschlagen, was Tyson zum Anlass nahm, endlich mit ihrem eigentlichen Vorhaben zu beginnen.

„Also, was soll ich zuerst aufschreiben?“

Seine Freunde diktierten ihm was sie für wichtig hielten. Zuerst kam der Tod von Maxs Mutter und das Draciel ihn verschuldet hatte. Dizzys Ableben musste auch dringend erwähnt werden. Ray wollte wissen was er mit Mariah besprochen hatte und da er glücklicherweise Tyson davon berichtet hatte, konnte dieser niederschreiben was er noch wusste. Dass dessen Großvater von Dragoon angegriffen wurde, war für ihn aber bereits wieder vergessen. Ab da übernahm Ray das Schreiben. Um sicherzustellen, dass sie Dranzer nicht über den Weg liefen und ihn versehentlich als Freund ansahen, weil sie in naher Zukunft vergaßen, was das Bit Beast Kai und seiner Schwester angetan hatte, schrieben sie auch die Ereignisse beim Hiwatari Anwesen nieder.

Vorsicht war besser als Nachsicht.

Erst als die Gruppe alle Erinnerungen aufgeschrieben hatte, konnte sie beruhigt aufatmen. Dieses kleine, unscheinbare Notizbuch, nahm ihnen eine gewaltige Sorge ab. Es war zwar umständlich, dennoch unglaublich hilfreich, dass sie nur einen Blick hinein werfen mussten und alle Erinnerungen wieder parat hatten. Das Problem war, wer es aufbewahren sollte.

„Sorry Tyson, aber dir muss man alles hinterher tragen. Entweder nehmen Ray oder ich es.“, meinte Max mit einem entschuldigenden Grinsen. Schließlich zwängte er das kleine Büchlein in einer seiner Hosentaschen, während Tyson eine eingeschnappte Schnute zog und sich seinen Gürtel etwas enger schnallte. Seit einpaar Minuten hatte er das Gefühl, dass seine Hose an einigen Stellen schlackerte. Außerdem rutschte sie ihm von den Hüften.

Ohne es richtig zu realisieren hatten ihre Füße sie zum Kanda Fluss geführt, zu jener Brücke, die früher der Treffpunkt für jeden Blader gewesen war. Rechts von ihnen, führte ein kleiner Abhang hinunter, dann folgte ein breiter Streifen festen Erdbodens. Erst danach begann das Ufer, an dem in sanften Wogen das Wasser entlang plätscherte. Die Brückenpfeiler waren jeweils links und rechts vom Fluss, auf dem ebenen Boden befestigt. Wenn es geregnet hatte, waren die Blader einfach unter die Brücke gerannt und hatten dort weitertrainiert.

Als die Gruppe diesen Ort erblickte, schlich sich in jedes ihrer Herzen etwas Wehmut.

In ihrer Kindheit schien ihnen einiges so viel einfacher. Andere Dinge hatten Priorität gehabt - nicht das Alltägliche. Darum kümmerten sich damals Eltern, Großväter, Geschwister oder irgendwelche Aufsichtspersonen. Die Anmeldungen für die Beybladeturniere hatte zum Beispiel immer Mr. Dickenson ausgefüllt. Ihnen wurde nur gesagt, wann und wo sie erscheinen sollten und da es mit Tyson Pünktlichkeit schon immer gehapert hatte, war selbst das für ihn ein Problem. Er konnte sich noch daran erinnern, wie er immer hektisch aus dem Haus gerannt war, aber dabei sein Beyblade vergessen hatte. Sein Großvater war ihm dann schimpfend hinterher gespurtet, um seinem gedankenslosen Enkel den Blade zu bringen. Manchmal holte er ihn erst an der Brücke ein, ganz aus der Puste und verschwitzt vom rennen. Nach dem hundertsten Mal in Folge, hatte Mr. Kinomiya die Faxen so dick, dass er seinem Enkel den Blade einfach hinterher warf und ihn am Hinterkopf traf.

Tyson lächelte und schloss die Augen. Er tauchte in seine Erinnerung ein und stellte sich den grauen und trüben Fluss, mit den deprimierenden Nebelschwaden darauf, in diesem satten Blau vor, welches er aus seiner Kindheit kannte. Wenn im Sommer ein Sonnenstrahl auf die Wasseroberfläche traf und die Wellen schimmern ließ, hatte er einen kurzen Moment inne gehalten und den Moment in sich aufgesogen.

„Wow… Seht mal!“, meinte Max plötzlich neben ihm.

Tyson schlug die Augen auf und erstaunt öffnete sich sein Mund. Die graue Landschaft war verschwunden, stattdessen schien seine Erinnerungen in die Gegenwart gefunden zu haben. Vor ihm bot sich die Aussicht aus Kindertagen. Er konnte noch nicht viele Stunden in der Irrlichterwelt sein, doch ihm kam es wie eine Ewigkeit vor, seit er eine andere Farbe außer Grau zusehen bekam. Tyson blickte hinauf und seine Augen strahlten vor Freude, als der verhasste Nebel über ihnen verschwand und der Sonne platz machte.

Grünes Graß, blaues Wasser, weiße Wolken, bunte Häuser…

Seine Umgebung nahm immer mehr Farben an.

Nur die andere Seite des Ufers und der Stadtteil hinter ihnen war noch so trist wie zuvor.

„Das macht die Situation um einiges erträglicher“, meinte er grinsend.

„Mir kommt das irgendwie komisch vor…“, gab Ray misstrauisch von sich.

„Oh jetzt hab dich nicht so!“, Max rutschte den Abhang hinunter und ließ sich ins saftige Gras fallen. Selbst den Geruch hatte er vermisst. „Wie lange haben wir keine Sonne mehr gesehen? Diesen Moment muss man genießen solange er anhält!“

Tyson stieß ein euphorisches „YEAH!“ aus und tat es seinem Freund gleich, während Ray etwas verlassen auf der Straße zurückblieb. Er war kein Kind von Traurigkeit, doch wie unbeschwert seine Freunde mit der Situation umgingen, bereitete ihm zunehmend Sorgen. Ihm war als verloren sie ihr Ziel aus den Augen. Er beobachtete die beiden, wie sie heiter im Gras lagen und sich die warmen Strahlen der Sonne auf die Haut scheinen ließen.

Wie kleine Kinder… Moment.

Ray kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. Hatten sich ihre Gesichter verändert? Sie wirkten jugendlicher, Tysons Wangen dicker. Maxs Pullover schien ihm um einpaar Nummern zu groß. Dann wanderte sein Blick zu seinen eigenen Händen.

Waren die nicht größer?

Er drehte seine Handflächen von einer auf die andere Seite und die Ungewissheit nagte an ihm. Doch so sehr Ray sich auch anstrengte, er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern. Er versuchte sich die Gesichter von Max und Tyson, vor ihrer Reise in die Irrlichterwelt, ins Gedächtnis zu rufen, doch auch dies blieb ihm verwehrt. Desto mehr er sich anstrengte desto schwindliger wurde ihm, bis er sich stöhnend an den Kopf fasste.

Da lenkte ihn etwas ab…

„Da sind sie!“

„Ja. Da sind sie!“

„Die Missgeburten!“

„Ja. Die Missgeburten!“

Noch etwas benommen drehte sich Ray um, ließ den Abhang hinter sich. Da prallte etwas heftig gegen seinen Brustkorb. Er keuchte erschrocken auf und rollte das Gefälle hinab, landete auf den Rücken, während etwas Scharfes sich in seinen Arm bohrte und ihn wütend aufschreien ließ.

Alarmiert sprangen Max und Tyson auf.

Als sie zum Tumult sahen, erblickten sie die beiden feigen Hyänen von zuvor. Eine von ihnen hatte sich fest in Rays rechten Arm verbissen und zerrte daran, der mit der anderen Hand ausholte und seine Faust gegen die Schnauze des Bit Beast donnerte. Es jaulte auf und ließ von ihm ab, sprang wild umher, während Ray sich die blutende Wunde hielt. Die andere Hyäne gab eines dieser nervenden Kicherlaute von sich. Scheinbar agierte sie nur als moralische Unterstützung, denn um selber einzugreifen, war sie viel zu feige.

„Ray!“, rief Max aus und wollte seinem Freund zu Hilfe eilen, doch Tyson hielt ihn zurück.

„Warte! Ich hab das schon mal gemacht. Das ist einfach.“

Er suchte sich einen Stein und warf ihn nach der angriffslustigen Hyäne. Wieder traf er das Bit Beast mit voller Wucht ins Gesicht.

„Argh! Widerliches Pack!“, kreischte es und rannte, gefolgt von seiner Begleitung, den Abhang hinauf, aus ihrer Sichtweite, während Tyson stolz die Brust reckte.

„Cool, oder?“, meinte er keck.

Max wollte schon zu einem Kontra ansetzen, da erschienen die Biester aber wieder. Sie standen da oben, am Rand des Abhangs und gafften hinab. Plötzlich stockte den jungen Männern der Atem.

Drei…

Aus den Bit Beast waren plötzlich drei geworden.

Eine weitere dieser seltsamen Gestalten hatte sich zu den anderen beiden gesellt. Sie thronte mit ihren Artgenossen dort oben und sah feixend auf sie herab. Ein widerliches Kichern entrang sich ihrer Kehle. Dann kam noch eine Hyäne dazu.

Und noch eine.

Eine weitere…

Zwei weitere...

Fünf weitere!

Es wurden immer mehr. Sie alle versammelten sich da oben. Ihre grauen Augenpaare blitzten belustigt und voller Hohn zu ihnen hinab. Gierig bleckten sie die Zähne.

Schließlich erhob sich aus der geisterhaften Schar eine größere Gestalt, die ihre Begleiter um ein Vielfaches überragte - eine verfilzte und eklig anzusehende Streifenhyäne.

Genau wie die anderen, schienen auch ihre Konturen zu verschwimmen, nahmen keine feste Form an und erweckten den Eindruck als dampfe der Körper. Die pure Boshaftigkeit lauerte in ihren Augen. Ihre Schneidezähne waren größer als die der Anderen und ihr Rücken war gekrümmt, wie eine Katze die sich fauchend sträubt. Einige Stellen ihres Fells waren kahl und wund, aus dem Maul tropfte zähflüssiger Speichel und ihr Schwanz war nichts weiter als ein kleiner abgewetzter Stummel.

Tyson hatte schon viele Bit Beasts gesehen, doch das hier war mit Abstand das hässlichste Wesen, welches ihm je begegnet war. Mit offenem Mund trat er langsam an Ray heran, half ihm auf die Beine und ließ dieses Ungetüm dabei keinen Moment aus den Augen.

Ihm wäre lieber gewesen diesem Monster mit Dragoon an seiner Seite zu begegnen. Ohne es zu wissen, war ihm erneut entfallen, was sein Bit Beast ihm angetan hatte, das es ihn überhaupt in diese Lage gebracht hatte…

Er beobachtete wie eine der Hyänen auf die Große zukam und klagte:

„Das sind sie. Das sind die Viecher. Sie haben die Hand gegen mich erhoben Mutter!“

Tyson schluckte.

Die Mutter begann zu fauchen und ihr Buckel wurde noch krummer, falls das überhaupt noch möglich war. Es erweckte den Eindruck als würde sie sich absichtlich die Wirbelsäule brechen. Sie stierte auf die Übeltäter hinab, während eine Ladung Schaum zwischen den Zähnen hervorquoll. Der schiere Wahnsinn befiel das Bit Beast.

Max sah mit einem unguten Gefühl im Magen zu Tyson und flüsterte:

„Du hast Mama böse gemacht.“

Dann…

„Ich zerreiße euch!“, kam eine krächzende Stimme von der Bestie. „Wie könnt ihr es vagen meinen Kindern ihr Essen zu verwehren.“

Der Schaum tropfte von der Schnauze auf den Boden, direkt auf eine Stelle Gras zu ihren Füßen, welches dampfte und in sich zusammen schrumpfte. Der Blick der Mutter wanderte nach unten. Argwöhnisch schnupperte das Bit Beast an einem der gesunden Halme und ein Grunzen folgte. „Was ist mit diesem Ort? Er ist anders… Was habt ihr mit dem Nebel gemacht?“

„Wir haben gar nichts gemacht.“, stellte Tyson klar. „Das ist einfach so passiert.“

„Wo ist das Grau hin? Wo ist mein Nebel!“, fauchte das Bit Beast. „Ich habe Jahrzehnte gebraucht um ihn zu erschaffen und ihr stehlt meinen Nebel!“

„Nein! Das waren wir nicht!“, rief Max aufgeregt.

Plötzlich schien die Mutter noch größer zu werden. Sie pumpte sich auf, wie ein Haufen Cumuluswolken, die sich zusammenschlossen. Ihre dunklen Konturen wabberten bedrohlich und ein lautes Knurren entlud sich aus ihrer Kehle.

„Ich brauche diesen Nebel! Kranke Menschenseelen, die unsere Welt auf dem Weg zur Hölle passieren, verirren sich in ihm. Ohne meinen Nebel kann ich meine Kinderschar nicht ernähren!“

Nicht noch ein Seelenfresser!

Tyson dachte fieberhaft darüber nach, was unter kranken Seelen zu verstehen war. Ihm kamen Mörder, Vergewaltiger, Psychopathen und ähnlicher Gesocks in den Sinn. Sein Blick wanderte zu der Mutter und wenn er sie so ansah, lag die Vermutung sogar nahe. Ihre Nahrung schien auf sie abzufärben. Sie wirkte selbst nicht bei gesundem Verstand.

„Es ist doch noch so viel Grau da.“, versuchte Ray das Monstrum zu beschwichtigen. Mit dem unverletzten Arm deutete er hinter die Horde. „Die ganze Stadt ist noch neblig. Dieser kleine Ort dürfte dir doch keine großen Verluste einbringen.“

„SCHWEIG!“

Alles verstummte. Selbst das Gackern der Meute nahm ein Ende. Stattdessen beobachteten sie feixend, wie die Mutter langsam auf ihre Beute zu schritt. Die Gruppe konnte nicht an ihr vorbei. Hinter ihr wartete ihre gesamte Teufelsbrut, selbst wenn sie es schafften ihr zu entkommen.

Tyson drehte sich um und sah in die Fluten des Kanda. Er versuchte zu schätzen, wie stark die Strömung war und wie tief es hinabging. Beides ließ sich nicht genau sagen und ihm graute es davor ins Wasser zu springen. Himmel, er konnte noch nicht einmal den Boden erkennen!

Doch andererseits… Wer als Sieger aus dem Kampf gegen die Mutter herauskommen würde, stand wohl außer Frage. Selbst wenn sie das Ungetüm schafften, was ja einem Wunder gleich kommen würde, waren da immer noch die lieben Kinderchen.

Wenn sie in den Fluss sprangen, hatten sie wenigstens noch eine kleine Überlebenschance.

Mit einem unguten Seufzen wandte sich Tyson vom Kanda ab. Das passte ihm gar nicht…

„Leute, tut mir Leid, aber ich sehe nur einen Ausweg aus dieser Misere.“, sprach er zu seinen Freunden. Als sie ihn mit fragendem Blick ansahen, nickte er zum Fluss. Gleich nachdem der Groschen fiel, stöhne Max auf.

„Oh man… Muss das wirklich sein?“

„Ich glaube in unserer Situation darf man nicht wählerisch sein.“

„Aber... Ray, fällt dir was Besseres ein?“

Doch wie nicht anders zu erwarten, schüttelte der Chinese den Kopf. Sein Gesicht sprach Bänder. Er schien über diese Option genauso wenig erfreut wie Max.

Ein Fauchen der Mutter riss sie aus ihrer Unterhaltung.

Die Meute hinter ihr grölte und kicherte vor Freude. Tyson fühlte sich wie ein Gladiator, dem man einen ungleichen Kampf zumutete, während die Menge in den Zuschaurängen des Kolosseums saß und begeistert dem Gegner applaudierte.

Dann machte die Mutter einen Satz nach vorne.

Das unfaire Spiel begann.

Tyson sah das Bit Beast auf sie zusprinten. Er packte Ray am Arm und Max am Pullover.

„Los jetzt!“, schrie er die Aufforderung.

Die Gruppe wandte sich hastig um und rannte auf die Fluten des Kanda zu. Öfters liefen sie Gefahr auf dem Gras auszurutschen. Es fehlten noch einige Schritte, Tyson wandte sich kurz um, wollte sehen wie nah das Ungetüm war, da fuhr ihm der Schreck in die Glieder.

Das Bit Beast hatte zum Sprung angesetzt.

Er konnte ihre Krallen erkennen. Wie abgebrochene Glassplitter ragten sie aus ihren Pfoten heraus. Das Maul weit aufgerissen, blitzten von Zahnfäule befallene Reiszähne entgegen. Krumm und schief umsäumten sie die Schnauze. In den Augen funkelte die Vorfreude und die Mordgier.

Sie würden es nicht rechtzeitig schaffen. Die Mutter war schneller!

Kurzerhand agierte Tyson mehr aus Reflex als mit dem Kopf. Abrupt legte er eine Vollbremsung ein, hielt Ray und Max zurück und stieß sie anschließend mit viel Schwung von sich weg, dass sie einige Meter zur Seite stolperten. Er selbst ließ sich auf den Rücken fallen.

Das Bit Beast flog über ihn hinweg, rutschte bei der Landung auf dem Gras aus, die Krallen gruben sich in den Erboden, um zum Stehen zu kommen. Eine Weile schlitterte die Mutter grunzend über die Fläche. Dieses Unterfangen kostete sie viel Konzentration, denn sie drohte kopfüber in die Fluten zu stürzen. Es schien als würde sie gerade noch die Kurve kriegen, da sah Ray seine Chance gekommen.

Schneller als seine Freunde rappelte er sich hoch, rannte auf das Bit Beast zu und mit einem gekonnten Tritt, stieß er der Mutter mit voller Wucht in den krummen Rücken. Vor Schmerz jaulte das Ungetüm, bäumte sich auf, während Ray auf dem Boden landete.

Hilflos strauchelte das Bit Beast, versuchte mit den krüppligen Vorderpfoten die Balance zu finden und tänzelte am schmalen Rand des Ufers, doch letztendlich half es ihr nichts mehr.

Zuerst schwebte die eine Hinterpfote noch in der Luft, die andere war als einzige im Erdboden verkrallt, dann rutschte sie seitwärts. Mit dem Kopf voraus, gefolgt von einem lauten Aufschlagen auf der Wasseroberfläche, landete die Hyäne in den Fluten und ihr Schrei ging gurgelnd unter. Das Wasser stob in alle Richtungen und traf die umliegenden Personen.

Dann kehrte Stille ein.

Der Tumult ihrer Brut war verebbt. Sowohl Mensch als auch Bit Beast beobachteten die Stelle an der die Mutter untergegangen war. Vereinzelte Luftbläschen trieben an die Oberfläche, bis sie schließlich gänzlich ausblieben.

Es verging eine Minute.

Es vergingen zwei Minuten…

Doch das Bit Beast tauchte nicht wieder auf.

„Mutter!“, kreischte eine Stimme hinter ihnen voller Schmerz auf.

Tyson drehte sich um und erkannte die angriffslustige Hyäne die sie ständig behelligte. Aufgebracht und mit glühenden Augen sprang sie oberhalb des Abhangs durch die Gegend.

„Diese Missgeburt hat unsere Mutter getötet!“

„Dieses komische Ding mit den schwarzen Haaren hat sie gestoßen!“, stimmte eine andere wütend ein. Der Zorn fegte durch die Horde wie ein Lauffeuer, peitschte die aufgekratzten Gemüter auf und stichelte sie an. Kein belustigtes Gackern war zu hören, nur noch das Knurren tausender Hyänen die auf Rache sinnten. Ihr gesamter Groll schien sich vor allem gegen Ray zu richten.

„Rückt es raus!“, forderte eine. Dann aus einer anderen Richtung…

„Liefert es aus und wir verschonen euch andere!“

Tyson sprang auf. Er hätte in dieser Situation Angst haben müssen, doch die Wut kochte in ihm über. Mochte sein dass Hyänen feige waren, doch bevor er einen seiner Freunde auslieferte, trank er einen Kanister Blausäure!

„Den Teufel werden wir tun! Ray bleibt hier ihr stinkenden Aasfresser!“, brüllte er den Abhang hinauf mit drohender Faust. Max stellte sich genauso standhaft vor den Chinesen, der seine Freunde aus großen Augen ansah. Soweit es ihm möglich war, richtete er sich mit seinem verletzten Arm langsam auf. Seine Kleidung hatte sich mit Blut aus der Bisswunde vollgesogen. Doch wie die Wunden zuvor, begann auch diese sich wieder zu schließen.

Etwas irritiert von dieser Courage innerhalb der Gruppe, wichen einige der Biester zurück, doch die hartnäckigste war wie immer diejenige, die Tyson bei ihrer Ankunft angegriffen hatte.

„ZERFETZEN!“, schrie sie ihre Parole über den Platz, trippelte von einer auf die andere Seite. Dann wieder: „ZERFETZT ALLE!“

Die Ersten schritten zögerlich das Gefälle hinab. Wer nicht spurtete wurde von der Aufrührerin in die Seite gebissen, bis sich die ganze Schar in Bewegung gesetzt hatte. Sie selbst positionierte sich an die Spitze und feixte vor Freude. Das Stampfen der Bit Beast kam näher. Eine Meute von Hundert gegen drei ungewappnete Menschen.

Doch dann…

„AARGH!!“

Ein lautes Aufheulen…

Tyson blinzelte irritiert und dachte seinen Augen nicht zu trauen. Er blickte fragend zu seinen Freunden, die genauso erstaunt dastanden wie er.

Ein kleiner Feuerball war direkt vor die Füße der selbsternannten Anführerin gelandet. So schnell wie ihr Mut gekommen war, so schnell sprang sie jaulend zurück, als die heiße Flamme ihre Pfote versengte. Sie humpelte etwas im Kreis, während ihre Kameraden unentschlossen dreinschauten, dann tippelte sie wieder schimpfend zurück und stellte sich vor dem Übeltäter auf.

Unscheinbar flackerte das Licht im Gras. Es war nicht größer wie das Feuer einer Kerze.

Die Hyäne beugte sich argwöhnisch hinab. Sie schien genauso ratlos wie alle anderen, konnte sich nicht vorstellen, woher dieser Funken so plötzlich herkam.

Die bläuliche Flamme tanzte in einem sanften Rhythmus hin und her - bis sie explosionsartig emporschoss! Erschrocken sprang das Bit Beast auf, wollte den Rückwärtsgang einlegen, doch die Flammen zogen einen Kreis und kesselten sie in ihrer Mitte ein.

„HILFE!“, kreischte die Hyäne. Doch ihre Sippe wich nur voller Furcht zurück.

Dann schallte ein leises Lachen über den Platz.

Tyson dachte den Ursprung oberhalb der Brücke am Geländer ausgemacht zu haben, doch er hatte keine Möglichkeit aufzublicken. Auf dem kleinen Platz brach augenblicklich die Hölle auf Erden aus!

Die Flammen nahmen an Hitze zu, bäumten sich in den Himmel, erhoben sich zu einem gewaltigen Wirbelwind aus bläulichem Feuer, der bis zu den Wolken reichte. Ihr grelles Licht schmerzte in den Augen und Tyson war gezwungen sie zu schließen.

Er vernahm das Schreien der Hyäne die in ihrem Gefängnis verendete. Er hatte sie nicht gemocht, doch sie verbrannte bei lebendigem Leib. Dieser Gedanke jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken und das bedauernswerte Wesen tat ihm Leid. Das Trampeln dutzender Pfoten die panisch um ihr Leben rannten schallte zu der Gruppe. Dann bebte die Erde.

Einmal, Zweimal, Dreimal…

Tyson öffnete seine Augen einen spaltweit und konnte erkennen, wie vom Himmel Feuerbälle auf die Hyänenschar niederprasselten. Und jeder traf sein Ziel!

Ein Bit Beast nach dem anderen kam in den Flammen um, löste sich rasch in rauchende Schwaden auf. Als wäre das nicht genug, tat sich der Boden an manchen Stellen auf und verschlang einige der Hyänen. Fiel eine in die dunklen Erdspalten, konnte er ihren Schrei lange noch heraufschallen hören, bis sich der Spalt mit einem lauten Knall schloss und das Bit Beast zwischen ihren Wänden zerquetschte.

Tyson begann zu beben. Geblendet von den Lichtern tastete er sich zu Ray und Max, die genauso hilflos auf dem Boden kauerten wie er. Geduldig und mucksmäuschenstill, ließ die Gruppe das Chaos über sich ergehen, beteten dass keiner der Feuerbälle seinen Weg zu ihnen fand oder noch schlimmer – das die Erde sich nicht unter ihnen auftat.

Es schien wie eine Ewigkeit, aber dann war es endlich soweit…

Langsam verstummten die Schreie um sie herum.

Die Erde bebte nicht mehr durch den Aufprall der Geschosse und wenn, dann nur noch mit längeren Pausen dazwischen, bis eine unheimliche Totenstille auf dem Platz einkehrte.

Tyson atmete schwer. Er kauerte im Gras und wollte das Geschehene begreifen.

Wenn die Welt unterging, würde es so aussehen, dem war er sich sicher.

Als er endlich wieder die Augen öffnete, fiel sein Blick zu seinen Freunden. Max hatte sich die Hände an die Ohren gepresst und zitterte am ganzen Leib. Tyson konnte es ihm nicht verübeln. Wanderte sein Blick zu seinen eigenen Händen bebten diese ebenfalls.

Ray hatte sich einfach nur in den Boden verkrallt. Seine Fäuste gruben sich tief in die Erde, so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Sein Gesicht wirkte verbissen und angestrengt. Die Augen zuvor fest zusammen gekniffen, traute er sich als nächstens sie zu öffnen. Unsicher wanderte sein Blick zu seinen Freunden. Als er sie wohlauf erkannte, schien er mehr als erleichtert, denn er atmete beruhigt aus.

„Max, es ist vorbei“, sprach er stockend und berührte seinen Freund sachte an der Schulter.

Ein Lachen ließ die Freude zusammenfahren.

Tyson reckte seinen Kopf zur Brücke und zog die Brauen tief ins Gesicht. Auf dem Geländer war jemand. Er richtete sich auf und nahm gleich darauf zwei Personen wahr.

Auf der Balustrade der Brücke, räkelte sich ein Mensch. Er lag auf dem Rücken, ein Bein hatte er angewinkelt, dass andere ließ er gedankenlos neben dem Geländer baumeln. Die eine ruhte quer über dem Bauch, die andere Hand hielt er ausgestreckt in die Höhe.

Ein großer weißer Tiger saß neben ihm auf dem Geländer. Der Schwanz peitschte erwartungsvoll von einer auf die andere Seite. Majestätisch und Edel glänzte das Fell im Licht der Sonne, während das Haupt hoch erhoben war. Die Streifen waren nicht Schwarz, sondern hatten ein sattes Blattgrün. Er trug eine Art goldene Schulterplatte, auf beiden Seiten, die weit in die Höhe ragten. Die Stirn zierte ein gebogenes goldenes Schmuckstück, welches wie zwei Hörner nach oben deutete.

„Driger…“, Ray war Tysons Blick gefolgt und auch er hatte sein Bit Beast erkannt. Rasch stand er auf und starrte es feindselig an. Doch Tysons Aufmerksamkeit galt vor allem dem Menschen neben dem Bit Beast.

Ein Junge, fast schon ein Teenager.

Auf dem Platz brannten noch vereinzelte Stellen. Der Junge ließ die ausgestreckte Hand langsam hinab gleiten und wie als stumme Aufforderung erloschen alle Flammen. Dann wandte er den Kopf ruhig zur Seite, blickte ihnen mit einem geheimnisvollen Lächeln entgegen. Und sofort erkannte Tyson ihn…

„Kai?“
 

Ende
 

Übrigens: Ein dickes Dankeschön an Xulina! Ohne dich wäre mir niemals aufgefallen, dass ich Driger immer mit zwei "gg" geschrieben habe. Ich habe ihn einmal vertippt ins Word Wörterbuch hinzugefügt und dieser schei* Fehler zieht sich jetzt durch die gesamte FF! Wird ne ganze weile dauern bis ich das überall ausgemerzt habe, trotzdem Danke! Es lebe die konstruktive Kritik!

Die Geister die wir riefen…
 

Ja, er kannte dieses Gesicht. Wie sollte es auch anders sein? Tyson kannte jede Kontur an Kai. Vor allem seinen Blick. Es gab niemanden mit dieser seltsamen Farbmischung, mit diesem rötlichen Stich in den Augen. Zumindest war ihm so jemand noch kein weiteres Mal begegnet. Selbst von hier unten erkannte er das Glimmen in ihnen. Doch etwas schien anders…

Tyson trat näher an die Brücke heran.

Wie er so hinaufstarrte, bekam er schon fast einen steifen Nacken, doch er besah sich genau das Gesicht seines Freundes, der langsam aus seiner liegenden Haltung aufstand und die Beine über das schmale Geländer schwang. Da hockte er nun, stützte die Arme links uns rechts von sich ab und lächelte Tyson an, als wäre nichts weiter dabei.

Er war jünger…

Eindeutig!

Tyson versuchte sich daran zu erinnern wie Kai vor ihrer Reise in die Irrlichterwelt ausgesehen hatte, aber es wollte ihm nicht einfallen. Dennoch spielte es keine Rolle.

Seine Erscheinung war zu Jugendhaft. Der Altersunterschied zu groß. Er wusste noch, dass jeder von ihnen Anfang zwanzig war, da oben, auf der Balustrade, saß aber ein Junge von vielleicht siebzehn Jahren, wenn überhaupt.

„Kai, was machst du hier?“, fragte Tyson. „Du solltest nicht hier sein.“

Sein Freund legte den Kopf leicht zur Seite und blickte ihn an, fast schon etwas verwundert. Seine Antwort ließ eine Weile auf sich warten, war dafür umso überraschender:

„Warum sollte ich nicht hier sein?“

„Warum? Du gehörst nicht hier her! Du gehörst nachhause!“

„Ich bin zuhause…“ Kai streckte die Arme aus und lächelte belustigt auf seinen Freund herab. „Das ist die Welt in die ich gehöre.“

„Was redest du da?“

„Ihr habt so viel Farbe hier her gebracht.“, wich er plötzlich ab, ließ den Kopf in den Nacken fallen und starrte nach oben. „Sogar die Sonne scheint. Es ist eine Ewigkeit her seit ich sie hier gesehen habe. Du nicht auch, Driger?“

Das Bit Beast neben ihm ließ den Blick ebenfalls nach oben wandern.

„Ein seltener Anblick“, bestätigte eine tiefe Stimme. „Früher hatten wir öfters solches Wetter.“

Max zog inzwischen aus seiner Hosentasche ihr Notizbuch hervor. Schon wieder drängte sich ihm der Verdacht auf, er habe etwas Wichtiges vergessen. Er überflog ihre stichwortartige Dokumentation und spähte anschließend zu Kai, dann voller Argwohn zu Driger.

„Was willst du denn hier?!“, fragte er schließlich das Bit Beast herrisch.

„Wie unhöflich. Wir haben euch das Leben gerettet. Doch ich weiß bereits, dass ihr Menschen ein undankbares Pack seid.“, höhnte Driger und ein tiefes Lachen entwich ihm, dass eher an ein tiefes Grollen erinnerte. Dann huschten seine Augen zu dem Buch. Sie wurden zu schmalen Schlitzen. „Ihr führt also Tagebuch. Wie reizend…“

Tyson schnappte sich den Block und verbarg ihn hinter seinem Rücken. Insgeheim ärgerte er sich über Max. Ihre Gegner mussten nicht erfahren welchen Vorteil sie nutzten.

„Kai, komm von ihm weg!“, rief Max hinauf. „Wenn du schon länger hier bist, dann hast du dasselbe Problem wie wir! Du vergisst dass unsere Bit Beast unsere Feinde sind!“

„Wir sind nicht eure Feinde!“, kam die Antwort im schneidenden Ton von ihm.

Wieso wir?

„Da stimmt was nicht. Das ist niemals Kai.“ kam es plötzlich von Tyson. Ihm war gerade eine Erkenntnis gekommen. Eigentlich waren sie nur wegen Kai hier. Er hatte Tyson darauf hingewiesen, dass sie zum Friedhof sollten. In anbetracht der Tatsache, dass das Wesen vor ihnen spielerisch über Flammen herrschte, fiel sein Verdacht prompt auf die richtige Wahl.

„Du bist nicht Kai. Du bist Dranzer! Im Krankenhaus war es dein Drängen, dass mich dazu gebracht hat, mit Ray und Max auf den Friedhof zu fahren. Dizzys Laptop war in deinem Zimmer! Du hast sie getötet und sie gegen diese verdammte Schlange ausgetauscht!“

Als der Groschen auch bei seinen Freunden fiel, blickten beide ihn entsetzt an. Konnte es wirklich sein, dass sie der Finte einer Art Doppelgänger gefolgt waren? Wenn ja, wo war der echte Kai? War ihr Freund seit dem Brand im Hiwatari Anwesen verschollen? Von der Brücke kam nur ein leises Lachen, dann stieg Kai auf das Geländer und balancierte unbeeindruckt daran entlang.

„Du musst zugeben ich war wirklich gut in meiner Rolle.“

Also doch… Dranzer gab es sogar offen zu!

Um dem ganzen noch das I-Tüpfelchen aufzusetzen, feixte das Bit Beast ihnen frech entgegen. Es erhob die Stimme zu einer gehässigen Seifenoper und flehte theatralisch:

„Takao, bitte geh zum Friedhof für mich. Ich habe solche Angst um meine kleine Schwester… Du bist der Einzige dem ich vertraue. Wer außer dir hilft mir denn stets in meiner Not? Was bist du nur für ein nobler Ritter!“

Von Driger kam wieder dieses belustigte Knurren und auch Dranzers Lachen schallte hämisch über den Platz. Mit den Zähnen knirschend blitzte Tyson hinauf, während seine Wangen sich zornig verdunkelten. Kaum zu glauben was für Töne er da vernahm. Plötzlich konnte er Bit Beasts überhaupt nichts Majestätisches mehr abgewinnen, ganz im Gegenteil. Von dem wunderschönen Phönix hätte er niemals solch eine Boshaftigkeit erwartet.

„Du kannst mich mal kreuzweiße, du scheiß Geier!“

„Wie vulgär, aber auch typisch für das kleine Menschenkind. Habe ich dich etwa gekränkt? Oder bist du einfach nur enttäuscht, weil du doch niemals die Annerkennung von Kai bekommen wirst, nach der du dich sehnst?“

Tyson antwortete nicht, doch sein trotziger Gesichtsausdruck bedurfte auch keiner weiteren Erklärung.

„Falls es dich tröstet, auch ich habe unter Kais kalter Art gelitten. Jahrelang habe ich um seine Aufmerksamkeit gerungen. Ich war geradezu versessen davon seiner kühlen Seele einen Funken Leidenschaft abzugewinnen. Doch das ändert sich jetzt…“

„Wo ist Kai?“

„Er steht vor dir.“

„Niemals!“

„Oh doch, ich bin Kai. Aber ich bin es auch nicht…“

„Hör auf mit deinen Lügen!“

„Warum misstraust du mir?“

Tyson biss sich auf die Lippe. Genau ein solcher Satz war es, der ihn dazu gebracht hatte, Dranzers Bitte im Krankenhaus nachzukommen.

„Das scheint Erinnerungen in dir zu wecken, Takao.“

„Nenn mich nicht so!“

„Im Krankenhaus hat es dich nicht gestört. Da schienst du geradezu nach meiner Annerkennung zu lechzen. Du hast die lieben Worte die aus meinem Mund kamen aufgesammelt, wie ein ausgehungerter Bettelknabe dem man Brotkrümel zuwirft. “

Die Schamröte stieg Tyson ins Gesicht. Kai hatte sich so verkehrt im Hospital aufgeführt, dass es krachte. Dranzer hatte geahnt was Tyson sich von ihm am meisten wünschte.

Anerkennung, weniger Widerworte, einfach mal etwas Vertrauen in seine Fähigkeiten…

Das war aber nichts Kais Art.

Er gab immer Widerworte.

Er bat niemals um Hilfe!

Wie konnte er so blauäugig sein und die Falle nicht wittern?

War er wirklich so begierig darauf gewesen, sich endlich unter Beweis zu stellen und sich Kais Vertrauen als würdig zu erweisen? Ihn schockierte selbst, wie einfach er doch gestrickt war.

„Wo ist er?!“, wiederholte Tyson erneut, mit einer vor Wut bebenden Stimme.

„Ich sagte doch bereits, ich bin Kai. Aber ich bin es auch nicht.“

„Ich will keine Rätsel ich will klare Antworten, du aufgeputschter Papagei!“

Driger ließ ein wütendes Fauchen über den Platz schallen. Er richtete sich auf dem schmalen Geländer auf und funkelte Tyson mit glühenden Augen an. Dann schoss ein grüner Blitz aus heiterem Himmel hinab und prallte nur einpaar Meter von ihnen entfernt auf den Boden.

Augenblicklich bebte die Erde und ein tiefer Spalt tat sich an der Stelle auf. Einpaar Gesteinsbrocken rieselten hinunter, während sich der Riss, wie eine tiefe Schnittwunde, bis zu ihren Füßen ausweitete. Eine Warnung…

„Hör sofort auf Driger!“, befahl Ray, doch sein Bit Beast fauchte ihm nur wütend entgegen.

„Wage es nicht mir Befehle zu erteilen, du verwaister Streuner!“

Rays Augen wurden groß und die tiefe Kränkung darin unübersehbar. Sie alle wussten, dass er keine Eltern hatte, aber ausgerechnet von dem Wesen, dass ihn so viele Jahre begleitet hatte, solche Worte zu vernehmen, musste ihm wie ein Verrat vorkommen.

Es überraschte sie nicht, dass sich seine Augen schließlich zu katzenhaften Schlitzen formten und er seinem alten Kameraden mit genau derselben Feindseligkeit taxierte.

„Shhh…“, machte Dranzer ruhig. Das Bit Beast beugte sich zu Driger und fuhr ihm sanft über das weiße Stirnfell.

„Du weißt wie Menschen sind. Sie haben immer Fragen. Finden sie keine Antworten werden sie schnell verbittert.“ Es richtete sich langsam wieder auf, stand auf dem Geländer wie ein Trapezkünstler, ohne zu schwanken und sah auf die Gruppe hinab.

„Glaubt es oder nicht, vor euch steht euer Freund.“

„Du. Bist. Nicht. Kai!“, rief Tyson aufgebracht und betonte dabei jedes Wort. Doch sein Gegenüber gab sich unbeeindruckt und hob den Zeigefinger.

„Nur weil ich in seinem Körper stecke, heißt dass nicht, das er zwangsläufig nicht ich ist.“

„Du steckst in seinem Körper?“, fragte Max irritiert.

Ein langsames Nicken folgte.

„Mein Mensch hat mich Jahre lang in einem Spielzeug gehalten. Warum nicht mal meinen Menschen zum Spielzeug machen?“

„Aber was ist dann mit ihm?“

„Sagen wir, er setzt von nun an aus.“ Dranzer legte eine Hand auf die Brust und schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Er ist noch da. Ganz schwach, aber noch da. Ich werde seinen Körper verlassen, wenn ich es für richtig halte. Ich habe zu lange auf diesen Moment gewartet… Warum ihn nicht genießen? Es ist die perfekte Lösung um Kai an mich zu binden. Auf diesem Weg kann er mir niemals mehr entkommen. Er ist voll und ganz auf meine Gnade angewiesen. Und ich habe noch so einiges mit meiner neuen Hülle vor. Wartet nur, wenn ich das nächste Mal in die Menschenwelt komme…“ Das Bit Beast starrte auf seine Finger hinab die vor freudiger Erregung zitterten, ein geradezu wahnsinniger Ausdruck trat auf Dranzers Gesicht. „Dann wird Kai mit seinen eigenen Händen seine Schwester erwürgen. Ich werde so fest zupacken, dass ihr blasser Nacken unter meinem Griff bricht. Es wird sich so gut anfühlen…“

„Das kann nicht dein Ernst sein!“, rief Max. „Jana ist das Wichtigste für Kai.“

Abfällige Augen trafen ihn.

„So wie ich einst das Wichtigste für ihn war. Dass Kais Treue nichts wert ist, habe ich bereits zweimal am eigenen Leib erfahren. Erst Black Dranzer und nun dieses Balg? Weshalb Black Dranzer ihn in Versuchung geführt hat, kann ich noch nachvollziehen. Kai war jung und ehrgeizig. Er wusste noch nicht was er an mir hatte. Dieses Bit Beast schien mir überlegen… Doch insgeheim spürte ich damals, dass er wieder zu mir zurückfinden würde. Die Sehnsucht zwischen uns war so groß, ich hätte sie mit den Händen greifen können. Aber nun lässt er mich erneut zurück - für dieses Mädchen! Es ist so demütigend. Ich wurde erneut verraten, aber dieses Mal nicht für ein Bit Beast, welches mir überlegen scheint, sondern für ein Menschenkind, dass in seiner Unvollkommenheit nicht zu übertreffen ist. Dieses Balg ist ihm keine Hilfe - es ist ein Klotz!“

„Das ist grausam.“, sagte Ray trocken.

„Aber die Wahrheit. Ich habe Kai beobachtet… seine ständigen Arztbesuche, dieses sorgenvolle Gesicht das sie ihm beschert und ihre schrecklichen Launen die er über sich ergehen lässt. Weshalb tut er sich freiwillig dieses Sorgenbündel an, wo er doch mich haben kann? Warum tauscht er einen Segen gegen einen Fluch?“

„Das ist Geschwisterliebe.“, entgegnete Ray anklagend. „Jana ist Kais Familie. Was wäre er für ein Bruder wenn er seine Schwester verleugnet, nur wegen ihrer Krankheit? Wärst du wirklich so besorgt um ihn, würdest du seine Handlung verstehen.“

Fast schon schnippisch wandte das Bit Beast ihm den Rücken zu und antwortete gelangweilt: „Was schert mich ihre Krankheit? Das Kind ist mir gleichgültig. Es ist die Demütigung die ich nicht dulden kann. Ich habe Mittel und Wege um Kai an mich zu ketten, ob er will oder nicht.“

Eine weitere Seite Dranzers kam zum Vorschein – das Bit Beast war eitel und nachtragend.

Wieder begann es spielerisch auf dem Geländer zu balancieren und plötzlich wurde der Gruppe bewusst, welche Folgen es für Kai haben könnte, wenn Dranzer mit seinem Körper einen falschen Schritt tat.

„Wann wirst du Kai verlassen?“, fragte Tyson, dem bei dem Anblick ein dicker Kloß im Hals anschwoll.

„Wie ich bereits sagte – wenn und wann immer mir danach ist.“

„Und darf man fragen wie es weitergeht, wenn du Kais Körper endlich verlässt?“, presste Tyson wütend zwischen den Zähnen hervor.

„Er bleibt hier.“, sagte Dranzer heiter, als hätte Tyson gefragt, wo die Sonne aufging. „Wo auch sonst? Hier wird es ihm soviel besser ergehen…“

„Das ist doch kein Vergleich zu unserer Welt!“, fuhr Max dazwischen. „Hier sind keine Menschen. Hier ist alles grau und neblig. Wir können hier nicht bleiben!“

„Es wird nicht mehr lange so bleiben. Keine Angst kleiner Mensch, jetzt wo die Hyänenmutter tot ist, wird der Nebel auch bald verschwinden. Seht doch was ihr in der kurzen Zeit mit diesem Ort gemacht habt.“

Die Brücke am Kanda Fluss zeichnete sich von der restlichen Umgebung wie eine farbenfrohe Oase ab. Über ihnen zogen sich weiße Wolken über den azurfarbenen Himmel. Ein Schwarm Enten landete auf der schillernden Wasseroberfläche, während der Leitvogel seinen Schnabel ins Wasser tauchte. Es war ein so alltäglicher Anblick, als wäre Tyson wieder ein Kind und würde auf seinem morgendlichen Schulweg die lange Brücke passieren. Hatte die Hyänenmutter sie zu Recht beschuldigt, diesem Ort den Nebel genommen zu haben?

„Wir waren das also?“, fragte Tyson.

Ein Nicken folgte.

„Wie?“

Dranzer legte einen Finger auf den Mund und zwinkerte ihm zu: „Geheimnis.“

„Ist mir auch egal. Schluss mit dem Spielchen, ich will nachhause!“, warf Ray ein.

„Hörst du das Driger? Dein Menschenkind verzichtet auf unsere Gastfreundschaft.“

„Weil er keinen Anstand besitzt. Das macht eine elternlose Kindheit aus. Sonst wüsste er in wessen Schuld er steht.“

Geradezu feindselig blickten sich Ray und Driger an. Ihre Blicke bohrten sich ineinander.

Dranzer gab ein leises Kichern von sich und sagte nur: „Oh weh, welch Unmut liegt in der Luft. Könnt ihr es auch spüren? Aber um auf eure Befürchtungen zurückzukommen… Sie sind unbegründet. Ihr werdet es hier gut haben. Denkt nicht wir wollten euch etwas Böses. Letztendlich ist es nämlich nur unsere Sympathie und Sorge, die euch zu unseren Gästen macht.“

Mit einem fast schon aufmunternden Lächeln kniete sich Dranzer hinab. Der Blick fixierte besonders Tyson. „Da nun unser Standpunkt geklärt ist, darf ich dir eine Frage stellen, Takao?“

Angesprochener ließ skeptisch eine Braue in die Höhe fahren. Er verschränkte die Arme vor der Brust und gab ein zustimmendes Brummen als Antwort.

„Du hast dich immer sehr um meinen kleinen Kai gesorgt. Warum?“

Tyson stutzte. Aus den Augenwinkeln fiel ihm auf das seine Freunde ihn beobachteten, was ihn zum Stottern brachte: „Na… W- Warum wohl?! Er ist einer meiner besten Freunde.“

„Und du willst doch dass es deinem Freund gut geht, nicht wahr?“

Etwas unsicher nickte er, nicht ganz sicher wohin dieser Themenwechsel führte.

Wünschte man sich nicht für jeden Menschen, den man mochte, dass es ihm gut ging? Tyson könnte niemals ruhig schlafen, wenn er wüsste, dass einer seiner Freunde sich mit furchtbaren Problemen quälte.

„Weißt du, wir sind uns eigentlich recht ähnlich.“

„Von wegen!“, schnaubte Tyson.

„Mein kleiner Junge, bist du noch immer böse wegen der Geschichte im Krankenhaus? Vergiss für einen Moment deinen verletzten Stolz und denk nach, Takao.“, sprach Dranzer eindringlich, aber auch irgendwie warmherzig. Es war seltsam, aber Tyson fiel auf wie sanft Kai klingen konnte, wenn Dranzer mit seiner Stimme nur den richtigen Tonfall einschlug. „Unser Ziel ist dasselbe. Wir wollen beide, dass den Menschen, an denen uns etwas liegt, eine Last genommen wird. Das sie unbeschwerter ihr Leben genießen können.“

Die rubinroten Augen sahen ihn gutmütig an. Trotz der Entfernung hatte er das Gefühl direkt vor ihnen zu stehen. „Kai gefällt es hier sehr gut. Sein Kopf sagt zwar etwas anderes, doch ich spüre sein Herz. Es flüstert zu mir und heißt unser Vorhaben gut. Warum wollt ihr nicht auch gefallen an dieser Welt finden? Es wird euch an nichts fehlen. Wisst ihr nicht welche Chance sich euch hier bietet? Ewiges Leben und ewige Jugend! Ihr werdet nicht altern. Ihr werdet nicht sterben. Ihr werdet nicht zerfallen wie der Rest der Menschheit.“

Die Worte drangen an sein Ohr und ließen ihn in nachdenkliches Schweigen verfallen.

Er wusste dass er Einwände einbringen sollte, doch sein Kontra wollte sich nicht von der Zunge lösen. Sollten Ray und Max sich doch dazu äußern…

„Ihr könnt frei sein von jeglichen irdischen Gesetzen. Kai wünscht sich das auch, er weiß es nur noch nicht. Du kennst ihn, er ist ein Kopfmensch. Nicht so wie du. Er kann sich nicht frei entfalten und ausgelassen sein. Er weiß nicht wie man auf sein Herz hört. Es würde ihm viel besser tun, seinen Sehnsüchten nachzugeben. Ich will auch nur das Beste für ihn. Es bereitet mir Kummer ihn so zusehen. Wenn Kai erst einmal seine tiefsten Wünsche zulässt, wird er schon bald aufleben. Hilf mir dabei. Rette deinen Freund!“

Kai war wirklich zu ernst. Tyson wollte ihn schon immer aus der Reserve locken.

Was hatte er nicht alles für ein Lächeln, Grinsen oder auch nur das winzigste Schmunzeln getan. Meistens erfolglos…

„Die anderen beiden werden uns auch bald folgen. Max wird sogar mit seiner Mutter vereint sein. Wir können dafür sorgen. Kannst du dir sein glückliches Gesicht vorstellen, wenn er sie wieder in die Arme schließt? Siehst du es?“

Er konnte es sehen. Dieses strahlende Gesicht und der freundliche Übermut in Maxs Augen.

„Und denk doch an Ray? Er muss nicht mehr seiner gescheiterten Ehe hinterher trauen, sondern wird wieder so ausgeglichen und heiter wie früher sein.“

Das war doch auch nichts Schlimmes…

Ray würde seine Verbitterung ablegen.

Max Judy wiedersehen. Und Kai endlich lernen zu Lachen!

Sein Kopf sagte ihm, dass es falsch war, so zu fühlen, doch Dranzer schien ihm aus der Seele zu sprechen, als wäre sein Herz ein offenes Buch aus dem es jedes seiner Wünsche las.

In seinem Geiste malte er sich das Szenario aus.

Ray würde bestimmt erst sorgfältig über seinen Vorschlag nachdenken, aber letztendlich zustimmen. Er wäre nicht mehr in China und Max nicht mehr am anderen Ende der Welt. Es wäre wie in ihrer Kindheit.

Und Kai… der war doch immer bockig! Selbst wenn es zu seinem Besten war.

Dranzer hatte den Nagel auf den Kopf getroffen – der Junge war ein Kopfmensch. Es täte ihm fiel besser sich von Tyson führen zulassen. Kai brauchte bloß Zeit um sich an den Gedanken zu gewöhnen. Er hatte schließlich auch Jahre gebraucht, um sich an seine Freunde zu gewöhnen. Tyson wusste wie sehr Kai sich an seine Prinzipien und Regeln klammerte, doch er würde den Griff lockern und ihn schließlich vorsichtig auf den richtigen Pfad leiten - bis Kai ihm freiwillig folgte.

„Hilf deinen Freunden Takao. Manchmal muss man Menschen zu ihrem Glück zwingen. Du kannst sie auf den richtigen Weg bringen. Du warst und bist ein wahrer Anführer.“

„Aber wie? Was kann ich tun?“

„Vertraue uns. Glaube uns. Liebe uns.“

Tyson nickte von ganzem Herzen. Es fiel ihm so leicht. Er hatte Dragoon schon einmal geradezu vergöttert, jetzt würde er eben alle vier Uralten anbeten.

„Beweise es uns.“

„Wie? Sag es mir, oh bitte!“

„Trenn dich von diesem nutzlosen Buch. Es ist nicht gut daran festzuklammern. Du wirst dich vollkommen befreit fühlen.“

Tyson schob das Notizbuch langsam hinter seinem Rücken hervor, zögerte dann aber einen Moment, als er an all ihre Erinnerungen dachte. Wären die nicht weg? Verloren…

„Vertraue uns. Glaube uns. Liebe uns.“

Ja natürlich, er durfte sich von solchen Gedanken nicht abbringen lassen. Er musste einen Beweis erbringen. Wie sollte er es anstellen? Keine der Erinnerung durfte übrig bleiben. Das Notizbuch musste weg. Es ekelte ihn an es in den Händen zu halten.

„Der Fluss… Wirf es hinein!“

Warum hatte er nicht eher daran gedacht? Wie von selbst führten ihn zwei kleine Schritte ans Ufer. Vor ihm verschwamm die Sicht auf seine Freunde. Ihm den Rücken zugewandt, schien Ray mit irgendjemandem zu diskutieren und auch Max schenkte ihm keine Beachtung. Auf ihren Gesichtern lag zorniger Trotz und ihre Münder öffneten sich abwechselnd – doch Tyson konnte kein Wort vernehmen. Ihm war als würde ein Stummfilm vor ihm ablaufen. Nur Dranzers Stimme schallte durch seinen Kopf…

„Vertraue uns. Glaube uns. Liebe uns.“

Tyson streckte den Arm aus, ließ das Buch über die Fluten des Kanda baumeln. Er hörte das Rauschen des Flusses. Es verhieß Erlösung und ewiges Glück.

„Vertraue uns. Glaube uns. Liebe uns.“

Er ließ los…
 

PLATSCH
 

Zufrieden vernahm er das Geräusch, als der Notizblock auf die Oberfläche klatschte und stellte fest, dass er sich tatsächlich befreit fühlte. All die Sorgen die in der Menschenwelt auf sie warteten, trieben jetzt in den Wogen des Kandas davon. Die verräterischen Seiten wurden von Wasser aufgesogen und unleserlich. Sie stellten keine Gefahr mehr da. Ein seliges Lächeln trat auf sein Gesicht. Er hatte wirklich Grund zur Freude…
 

„Tyson! Nein!“
 

Jemand rüttelte ihn an den Schulten und das löste einen heftigen Schwindelanfall in ihm aus. Er schwankte hin und her, spürte wie einpaar Arme an ihm zogen und zerrten. Sie versuchten ihn gerade zu halten, doch es half nichts...

Die Welt begann sich um ihn zu drehen, wie ein Strudel und er löste sich in ihren Sog auf. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass es ihm gleich war.

Und bevor er die Augen schloss und sich einfach allem hingab, vernahm er das leise Lachen von Dranzer, dass ihm etwas zuflüsterte:

„Du ahnst nicht wie sehr du mir geholfen hast, Takao.“
 


 

*
 

Inspektor Kato war zufrieden mit sich. Zuerst die Befragung der Nachbarn, das Gespräch mit Hitoshi Kinomiya und die Unterhaltung mit dem Anwalt von Mr. Kinomiya Senior, hatte er alles an einem Vormittag erledigt. Eine Reife Leistung, für die er sich aber nur eine Nudelsuppe, in seinem kleinen klapprigen Mitsubishi Lancer gönnen konnte. Das Leben war manchmal schon ungerecht…

Doch er konnte dafür den Durchsuchungsbefehl für das Kinomiya Anwesen beantragen. Jetzt in diesem Moment, lag sein Diensthandy auf dem Armaturenbrett und erwartete sehnsüchtig eine Nachricht vom Präsidium, während der Inspektor den bisherigen Tag Revue passieren ließ.

Das Gespräch mit dem Anwalt hatte viel Licht ins Dunkel gebracht. Er war für die Verwaltung des Testaments zuständig und auch ein langjähriger Freund des alten Mannes. Als der Inspektor von ihm erfahren hatte, dass Mr. Kinomiya sein gesamtes Vermögen, nach seinem Tod, seinem jüngsten Enkel hinterlassen wollte, war ein siegessicheres Lächeln über seine Lippen gehuscht.

Nun war die Sache klar. Laut dem Anwalt wusste Takao Kinomiya zwar nichts von dem Testament, doch sein Großvater konnte ihm auch am Tattag davon erzählt haben. Theoretisch wäre auch Hitoshi Kinomiya und dessen Vater verdächtig, doch der hatte seit Monaten nicht mehr mit seinem Großvater gesprochen und Letzterer war im Ausland mit Ausgrabungen beschäftigt. Allerdings hätte sie der Mord an dem alten Mann nicht reicher gemacht. Das Testament stand bereits fest.

Zudem war Takao seit Stunden spurlos verschwunden.

Das sprach gegen ihn. Das und die Tatsache, dass er zum Tatzeitpunkt im Haus war. Wenn der Inspektor ehrlich war, er war schon selber von dessen Schuld überzeugt. Es gab zu viele Ungereimtheiten. Mittlerweile schlich sich auch der Gedanke in seinen Kopf, ob Takaos Freunde auch in die Sache verwickelt waren. Vor allem ob der Fall auch in Verbindung mit dem Brand im Hiwatari Anwesens stand.

Das Wieso und Warum, würde sich bald zeigen…

Gerade als er seinen becherförmigen Teller anhob und die übrige Suppe austrank, machte sich sein Handy bemerkbar. Hastig schluckte er den letzten Happen hinunter und nahm ab.

„Kato“

„Inspektor, ihr Antrag wurde gestatten. Sie können ihren Durchsuchungsbefehl abholen.“
 


 

*
 

Während seiner Bewusstlosigkeit jagte Tyson ein Wirrwarr aus Bildern durch den Kopf. Da war das kleine Notizbuch, es öffnete sich und die Wortfetzen darin sprudelten hinaus und trieben auf den Wellen des Kanda Flusses davon. Unter den vielen schwimmenden Wörtern erkannte er Max, der bewusstlos im Wasser trieb und von der Strömung mitgerissen wurde. Eine riesige Schildkröte erhob sich am Ende des Flusses, die er sofort als Draciel erkannte. Sie öffnete ihr Maul und verschluckte seinen Freund und Tyson konnte nichts weiter als entsetzt dabei zuzusehen.

An Land stand Ray seinem Bit Beast gegenüber.

Der stolze Tiger erhob sich vor ihm, wuchs zu einer unglaublichen Größe heran und ein lautes Fauchen entrang sich seiner Kehle. Es stampfte mit seinem Fuß auf den Boden und wie auf sein Kommando, tat sich die Erde unter Tyson und Ray auf und beide fielen in ein tiefes schwarzes Loch.

Mit aller Macht versuchte Tyson seinen Freund, während dem Fall, zu fassen zu kriegen, doch als er seine Hand packte, löste er sich auf und seine Überreste wehten als Blätter im Wind davon.

Tyson stürzte ins Innere der Erde. Gerade noch rechtzeitig bekam er eine riesige Baumwurzel zu fassen. Als er daran hinaufkletterte, thronte auf einer der vielen Verzweigungen Kai. Die roten Augen starrten ihn an, waren aber leer und ein lebloses Lächeln erschien auf dem blassen Gesicht. Er tat einpaar Schritte auf ihn zu, berührte leicht seine Hand, doch sie war eiskalt und mit einem weiteren Wimpernschlag, hatte sich Kai in eine Marionette verwandelt.

Dann schoss eine Stichflamme auf, nahm ihm die Sicht und Kai verbrannte vor seinen entsetzten Augen – während sein Ruf zu ihm drang.

Tyson schrie seinen Schmerz hinaus.

Von irgendwo erschallte das Lachen Dranzers. Er wollte seinem Freund zu Hilfe eilen, doch desto schneller er rannte, desto weiter entfernte er sich von ihm, bis er an der großen Wurzel abrutschte und weiter ins Erdinnere fiel.

Er hatte glühende Lava erwartet, doch als er im freien Fall hinuntersah, lag da in völlige Finsternis umhüllt, ein riesiger Drache. Die bläulich schimmernden Schuppen blitzten zu ihm hinauf. Der schlangenförmigen Körper lag zusammengerollt unter ihm, bis das Tier sein Haupt hob und ihm die Schnauze entgegen reckte.

Tyson drohte hinein zustürzen. Er sah die spitzen Reißzähne auf sich zukommen.

Dann schnappten sie zu… Und Tyson erwachte.
 

Sein Atem ging schnell, während sich sein Brustkorb, wie nach einem Marathonlauf, eilig hob und senkte. Es knisterte neben ihm und die Stimmen seiner Freunde schallten leise zu ihm herüber.

Als Tyson den Kopf langsam in ihre Richtung wandte und aus müden Augen zu der Stelle blickte, saßen beide an einem kleinen Lagerfeuer und brieten etwas in den Flammen das köstlich duftete. Sie hatten es geschafft etwas Essbares aufzutreiben und ließen einpaar Fleischstückchen an Spießen, wie Marshmallows, brutzeln. Ein weiterer träger Blick nach oben genügte und Tyson erkannte, dass sich die Gruppe immer noch unter der Brücke befand.

„Er war nicht er selbst.“, hörte er Rays Flüstern. „Irgendetwas hat nicht mit ihm gestimmt…“

„Meinst du?“

Ein Nicken folgte.

„Er sah so bleich aus… Was hat er eigentlich gesagt bevor er es weggeworfen hat?“

Unwissend zuckte Ray mit den Schultern. Tyson bemerkte das seine Wunde wieder verschwunden war. Nur noch eine dunkelrote Stelle auf seinem Hemd, erinnerte an den Angriff der Hyäne.

„Ich habe nur mitbekommen wie er etwas vor sich hergemurmelt hat. Dann ist etwas im Wasser gelandet.“ Ray nahm einen der Spieße aus dem Feuer um zu sehen ob das Fleisch durch war. Nebenbei erzählte er weiter. „Als ich hingeschaut habe stand Tyson da und hat Löcher in die Luft gegafft… mit diesem komischen Blick.“

Eine kurze Denkpause kam auf. Dann fragte Max vorsichtig:

„Glaubst du er war… besessen? So wie Kai?“

„Keine Ahnung. Ich hoffe aber nicht.“ Ray seufzte und ließ deprimiert den Kopf hängen. „Schlimm genug dass Kai wieder verschwunden ist. Wenn Tyson jetzt auch…“

„Kai ist weg?“

Zwei sorgenvolle Blicke wanderten zu Tyson, der sich langsam versuchte aufzuraffen. Doch das Vorhaben scheiterte kläglich und er plumpste wieder zurück auf seine Liegefläche.

Inzwischen krabbelte Max auf allen Vieren näher an ihn heran und setzte sich schließlich vor ihm in die Hocke.

„Wie fühlst du dich?“

Tyson wollte antworten, doch aus seinem trockenen Mund entwich nur ein Krächzen. Wenn er ehrlich war, fühlte er sich total Scheiße. Sein Körper war schwer und ausgelaugt, das Hirn durcheinander gewühlt, als hätte man ihm die Schädeldecke abgeschraubt und ordentlich mit einem Mixer im Kopf gerührt. Ray kam mit einer kleinen Wasserflasche dazu.

„Hilf mir mal. Er muss sich aufsetzten.“, wies er Max an.

Gemeinsam hievten seine Freunde ihn vorsichtig in eine sitzende Lage und lehnten Tyson an die Brückenmauer. Zwar schwankte er etwas, kippte aber nicht seitwärts und als er mit zitternden Händen die Flasche entgegennahm und die ersten Schlücke seine Kehle befeuchteten, war das für ihn wie ein göttliches Geschenk. Schließlich konnte er nicht genug bekommen und trank sie gierig leer, obwohl die Kohlensäure bereits im Hals schmerzte.

„Langsam, wir sind hier nicht beim Marathonsaufen“, lachte Max, als er sich letztendlich doch verschluckte. Unter mehreren Hustern brachte Tyson schließlich seine Frage hervor: „Was ist passiert?“

„Das weißt du nicht?“

Auf Rays Frage schüttelte er verneinend den Kopf, der wie leergefegt war - ein Vakuum.

Sein Freund sah ihn nachdenklich an, bis er meinte:

„Du bist einfach umgekippt. Davor hast du unser Buch in den Fluss geworfen.“

„Warum?“

„Das wüsste ich auch gerne… Was ist das Letzte woran du dich erinnerst?“

Tyson kratzte sich am Kinn und ließ die kleinen Zahnräder in seinem Schädel auf Hochtouren arbeiten. Er sah Kai auf dem Geländer der Brücke stehen. Nein, nicht Kai. Dranzer! Das verdammte Bit Beast hatte sich ja in dessen Körper eingenistet. Sie unterhielten sich und Dranzer hatte ihm eine Frage gestellt:

„Und du willst doch dass es deinem Freund gut geht, nicht wahr?“

Er konnte sich an diesen Satz erinnern. Danach sah er nur noch ein rötliches Augenpaar, welches ihn in seinen Bann zog.

Was hatte er gesagt?

Was hatte er gedacht?

Wie hatte er sich verhalten?

Die Antwort blieb ihm verwehrt. Außerdem jagte ihm die Erinnerung an Dranzers Stimme einen kalten Schauer über den Rücken. Kai sprach nicht so. Es war zwar seine Stimme gewesen, doch es lag eine ganz andere Tonlage darin.

Komplett gegensätzliche Wesenszüge spiegelten sich in ihr…

Hinterlist, Spott, Niedertracht und vor allem eine gehörige Portion an Heuchelei.

Kai war kaltschnäuzig, aber so ehrlich das es weh tat! Lügner waren ihm schon immer zuwider und Intrigen spinnen nicht seine Art.

Einpaar Erinnerungsfetzen drangen in sein Bewusstsein zurück.

„Ich weiß dass Dranzer mit mir gesprochen hat“, antwortete Tyson nachdenklich. „Es hat die ganze Zeit über mit mir geredet. Ich glaube es hat mir vorgeschlagen, dass Buch ins Wasser zuwerfen…“

Ray und Max warfen sich vielsagende Blicke zu.

„Dranzer hat dir eine Frage gestellt aber nach deiner Antwort ist nichts mehr gekommen.“, meinte Letzterer vorsichtig. „Ihr habt beide keinen Ton mehr von euch gegeben.“

Tyson lehnte zuvor träge an der Wand, doch dieser Satz ließ ihn kerzengerade aufsitzen.

„Nein! Ich weiß noch wie Dranzer mit mir gesprochen hat! Es hat gesagt ich soll das Buch wegwerfen! Warum sollte ich das sonst tun?“

Eine böse Vorahnung keimte in ihm auf.

„Ihr glaubt doch nicht dass ich das absichtlich getan habe? Ich würde euch niemals so in den Rück-…“

„Schon gut. Beruhige dich.“, sprach Ray sanft auf ihn ein.

„Wir glauben dir ja. Weißt du, wenn ich so darüber nachdenke, hätte uns vorher auffallen müssen, dass Dranzer und du so wortkarg geworden seid.“

Erleichtert atmete Tyson aus. Das sein Freund ihm glaubte ließ ihn ruhiger werden.

„Ich suche uns ein neues Notizbuch.“, versprach er schuldbewusst. „Ich habe uns diese Sache eingebrockt, da sollte ich sie auch wieder ausbaden. Außerdem sind wir hier in Tokio! Schreibwarengeschäfte gibt es hier zu Dutzenden.“

„Deine Mühe in allen Ehren aber das wird nicht mehr funktionieren.“, ließ Ray seine Träume zerplatzen.

„W- Was? Wieso?“

Wieder sahen seine Freunde sich an und gleichzeitig entwich ihnen ein deprimierter Seufzer.

„Verdammt! Lasst euch doch nicht alles aus der Nase ziehen!“

„Naja“, druckste Max schließlich herum. „Da gibt es eventuell ein klitzekleines Problem...“
 

Dabei war klein noch untertrieben…

Was Tyson nämlich nicht ahnte war, dass Ray und Max nicht untätig Däumchen gedreht hatten, während er in seiner Bewusstlosigkeit schlummerte. Nachdem ihre Bit Beasts verschwunden waren und ihr Freund auf einer halbwegs bequemen Liegefläche ruhen konnte, wollte Max nicht länger warten und auf der Stelle ein neues Notizbuch suchen. Ray hatte ihn in der Zwischenzeit mehrmals daran erinnern müssen, dass Draciel nun sein Feind war und beim dritten Mal, wurde es dem jungen Amerikaner zu dumm.

Obwohl Ray darauf beharrte zu warten, bis Tyson wach war, damit Max nicht alleine in dieser gefährlichen Welt umherzog, wurden seine Einwände völlig ignoriert. So musste er zähneknirschend mit ansehen, wie sein Freund den Hang am Fluss hinaufstapfte und aus seiner Sichtweite entschwand, während Ray auf den bewusstlosen Tyson aufpasste.

Max musste sich eingestehen, dass er doch etwas Bammel vor seinem Vorhaben hatte, doch als er in der Innenstadt vorsichtig aus einer Seitengasse heraus, um die Ecke spähte und seinen Blick in die Einkaufspassage Tokios wandern ließ, bekam er eine Kiefernstarre.

Da wimmelte es plötzlich von hunderten Menschen – alle ohne Gesichter.

Alte Gesichtlose, junge Gesichtlose, dicke, dünne…

Es gab junge Mädchen in Schuluniformen. Hausfrauen die kleine störrische Kinder hinter sich her zerrten. Hektisch voranschreitende Geschäftsmänner, die seltsamerweise telefonierten… Wie ging das ohne Mund?

Als Max etwas unsicher den ersten Schritt in die Einkaufspassage wagte, schien sich niemand an ihm zu stören. Nur eine Gruppe Schulmädchen kreuzte seinen Weg und hielt sich kichernd die Hand an die Stelle, an der im Normalfall der Mund gewesen wäre. Was ihn verwunderte war, dass er sogar einpaar Laute vernahm und als er mit zuckender Augenbraue an der Gruppe vorbeilief, hätte er schwören können, dass eines der Mädchen flüsterte:

„Nein, ist der süß! Kawai!“

Im Großen und Ganzen also wie jeder Spaziergang durch Tokio…

Max musste verlegen grinsen, obwohl er nicht wusste, was er davon halten sollte.

Etwas später kam er an dem Laden vorbei, an dem die Gruppe das erste Mal ihr Notizbuch gekauft hatte. Doch der Schreck ließ nicht lange auf sich warten.

Am Schaufenster hing ein Schild, welches in bunten Lettern verkündete:

„Schreibwaren ausverkauft!“ Wie um ihn zu verhöhnen, war dahinter ein fröhlicher Smilie abgebildet, der ihm die Zunge entgegenstreckte. Als er in den Laden stürmte und den gesichtlosen Verkäufer aufgebracht fragte, was der Aushang zu bedeuten hatte, zauberte dieser nur ein Schild hervor.

„Sorry. Lieferverzug.“

„Aber ich brauche doch nur einen Block! Einen verdammten Block! Wie kann man so etwas nicht vorrätig haben! Ist mir auch egal wie das Teil aussieht und wenn es von Hello Kitty ist!“

Wieder ein Schild.

„Mach keine Panik Kumpel. Passiert eben mal.“

„Wir brauchen diesen Block um nicht unsere Erinnerungen zu verlieren! Das ist Lebenswichtig! Sonst vergesse wir, dass wir eigentlich schon über zwanzig sind!“

Ein neues Schild.

„Siehst aber nicht wie zwanzig aus.“

„Das weiß ich selber!“, dieser Typ brachte Max zur Weißglut.

„Brauchst du nicht was anderes?“, lautete die Frage auf dem nächsten Schild.

„Was denn sonst?“

Dann die Antwort:

„Weiß nicht. Einen Therapeut? Alkohol darf ich dir ja nicht ausschenken.“

„Verarschen sie mich nicht! Ich sage die Wahrheit. Wir stehen unter irgendeinem verdammten Zauber, der mich und meine Freunde immer jünger werden lässt!“

Auf dem nächsten Schild:

„Wie beim seltsamen Fall von Benjamin Button?“

„Wenn man es so dumm ausdrücken will… JA!“

Dann…

„Wow. Sachen gibt’s.“

„Damn it!“

Max konnte nur fluchend aus dem Laden rennen.

Auch wenn dieser Gesichtlose keine Mimik zeigen konnte, war ihm als würde er ihn belustigt angrinsen. Beim nächsten Geschäft dasselbe Spiel. Überall ein Aushang am Schaufenster und alle mit der ähnlichen Aufschrift:

„Schreibwaren ausverkauft“

„Lieferverzug bei Schreibwaren“

„Schreibwaren nicht länger erhältlich“

Als er eine Dreiviertelstunde herumgeirrt war, wurde ihm schließlich klar was los war - Ihre Bit Beast bestimmten den Markt. Sie wollten ihnen keine Gelegenheit geben, ihre Erinnerung durch irgendeinen Trick niederzuschreiben. Alles womit man sich Notizen machen konnte, war aus den Läden verschwunden.

Notebooks, Blöcke, Handys, Kalender, Tagebücher, Stifte… Sogar Klopapier!

Die Bit Beast Welt war eine zentrale Planwirtschaft! Für Max als gebürtiger Amerikaner der Horror schlechthin. Er stand kurz davor sich mitten auf die Straße zu stellen, die Haare zu raufen und dabei ein langgezogenes „NEIN!!!“ zu brüllen.
 

„Und was hast du stattdessen getan?“, fragte Tyson ihn ungläubig.

„Ich bin in den nächsten Supermarkt gestürmt und habe mir den Bauch mit Süßigkeiten vollgestopft. Das alles hat mich total gefrustet, weißt du…“

„Oh“, entgegnete Tyson verständnisvoll, der wusste das Max ein Frustesser war. Jetzt ahnte er auch, woher das ganze Essen herkam. Deprimiert lehnte er sich an die Wand und ging Maxs Erzählung noch mal im Kopf durch.

Was sollten sie denn jetzt machen? Sie durften unter keinen Umständen vergessen wer sie waren! Warum hatte er bloß dieses Notizbuch weggeworfen?!

Innerlich verfluchte er Dranzer. Kaum zu fassen das dieses hinterlistige Bit Beast einem seiner besten Freunde gehörte.

„Habt ihr wirklich nicht mitbekommen was Dranzer zu mir gesagt hat?“, kam die Frage. „Wir müssen ungefähr zehn Minuten miteinander gesprochen haben?“

Ein verneinendes Kopfschütteln ging durch die Runde.

„Driger hat danach das Wort an sich gerissen.“, erzählte Max. Neben ihm zog Ray seine Brauen tief ins Gesicht und seine Miene verfinsterte sich. „Er hat uns vorgeworfen, wir seien ein undankbares Volk, das ohne ihre Bit Beasts nichts wert wäre.“

„Nein!“, fuhr Ray dazwischen. „Er hat damit ganz speziell mich gemeint. Du hast gehört was er gesagt hat Max. Allein diesen Blick den er mir zugeworfen hat…“

„Das kann man auch anders verstehen.“

„Ich weiß wie es gemeint war.“

Tyson verstand nur Bahnhof. Er saß zwischen den beiden Jugendlichen, die dabei waren, in eine unnötige Diskussion abzudriften.

„Was hat er denn gesagt?“

Ray biss sich wütend auf die Unterlippe. Langsam erhob er sich und fauchte:

„Driger hat gesagt, Menschen sind wie Untertanen, denen man zuviel Freiraum lässt. Sie werden schnell übermütig, vergessen wem sie Loyalität und Gehorsam entgegenbringen sollten.“ Ein freudloses Lachen kam aus seinem Mund. Ihm schien nach diesen Worten klar geworden zu sein, wie tyrannisch sein Bit Beast dachte. Ein tyrannisches Bit Beast…

Bis vor kurzem war dieser Gedanke unvorstellbar für Tyson. Zu seiner Kinderzeit kamen ihm diese Wesen wie treue Schutzengel in Tiergestalt vor. Doch sie schienen soviel fassettenreicher zu sein. Sie konnten stolz, heimtückisch oder sogar Seelenfresser sein.

„Ich dachte immer Driger würde mich als Freund sehen. Aber für ihn bin ich ein ungezogener Bengel…“

„Das hat er nicht gesagt…“

„Nimmst du ihn in Schutz?!“, blaffte Ray Max an.

„Natürlich nicht! Warum sollte ich? Unsere Bit Beast sind Schuld dass wir hier in dieser Welt festsitzen, “ der Tod seiner Mutter war schon wieder vergessen. „Aber du hast dich provozieren lassen. Dass er sich aus deinem Leben raushalten soll, hättest du ihm nicht sagen müssen! Wir haben keine Ahnung wie wir nachhause kommen. Unsere Bit Beast bestimmen scheinbar jeden Winkel hier. Der einzige Strohhalm an den wir uns klammern können, ist sie soweit zu besänftigen, dass sie uns wieder gehen lassen.“

„Ich kusche nicht vor Driger!“, bekräftigte Ray standhaft.

„Das sagt doch auch keiner. Ich bin aber sicher, wir können mit ihnen reden. Sie sind doch unsere Bit Beast. Sie wollen uns nichts Böses…“

„Max, deine Mutter ist wegen Draciel tot!“

„Ach Quatsch! Hör auf damit. Mit so etwas macht man keine Scherze. Draciel ist bloß etwas eingeschnappt, mehr nicht. Ich bin sicher es mag mich noch…“

„Deine Mum ist tot! Wenn du zurück nach Amerika gehst, wirst du einen tot unglücklichen Vater vorfinden!“

„Amerika? Was soll ich denn da? Dad hat seinen Laden in Tokyo… Man Ray, hast du dir den Kopf angeschlagen? Meine Mum ist quicklebendig!“

Tyson stöhnte gequält. Max Erinnerung wurde mit jeder Stunde die verging ausgemerzt. Er bewegte sich in seinem Denken immer weiter nach hinten. Wenn das so weiter ging, würde er sich bald für einen elfjährigen Knirps halten und nicht für einen Mann von ungefähr…

Ja, von ungefähr was? Wie alt waren sie eigentlich?

„Oh nein, “ sprach Tyson, als ihm bewusst wurde, dass er nicht einmal sein richtiges Alter mehr wusste, geschweige denn, wie er als erwachsener Mann aussah. Während Ray und Max sich wie kleine Kinder, die sie schon bald wieder sein würden, in den Haaren lagen, stemmte er sich von dem Brückenpfeiler ab und stand mit wackligen Knien auf. Er torkelte auf den Fluss zu und betrachtete im Wasser sein Spiegelbild und ein Junge von vielleicht fünfzehn Jahren starrte ihm entgegen. Sein Gesicht war wieder rundlicher und weicher. Seine Augen wirkten größer. In der unsinnigen Hoffnung es handle sich nur um eine knetartige Maske, packte er seine fülligen Wangen und zog an ihnen, solange bis sie rot anliefen. Natürlich ohne Erfolg…

Igitt! Er war wieder in der Pubertät.

Als ob einmal nicht genug gewesen wäre…

Unreine Haut, Mädchen wurden nicht mehr als „Bäh“ und „Doof“ angesehen und wenn man ein Wort wie Penis oder Brüste in den Mund nahm, wurde gegluckst was das Zeug hielt.

Jetzt musste er die ganze Scheiße noch mal durchmachen. Das war doch echt nicht fair!

Er blickte zu seinen Freunden, die immer noch wild miteinander diskutierten. Keiner wollte einlenken und pochte auf sein Recht. Dabei hatten sie wirklich andere Probleme.

„Hey Leute, hört sofort auf mit dem Mist!“, sprach er schließlich ein Machtwort.

Augenblicklich verstummten alle Anwesenden und Tyson hielt sich peinlich berührt die Hand vor den Mund. Dann…

„Oh nein! Wie geil ist dass denn?!“, lachten Max und Ray schallend auf. Sie begannen zu grölen und hielten sich prustend den Bauch, bis sie nicht mehr aufrecht stehen konnten und japsend zu Boden sanken.

Tyson hätte beide am liebsten verprügelt. Es kribbelte ihm in den Fäusten.

Was konnte er denn dafür, dass er mit dem Rückwärtsgang in den Stimmbruch donnerte?!
 


 

*
 

Mariah öffnete die Fenster um etwas frische Luft in ihr stickiges Hotelzimmer zu lassen. Dabei kaute sie nervös auf ihrer Unterlippe. Was ihr Galux berichtet hatte bereitete ihr Sorgen. Sie konnte keinen einzigen der Gruppe erreichen. Im Haus der Kinomiyas herrschte seit Stunden Funkstille und ihr Mann ging nicht ans Handy. Lediglich die Bandansage verkündete, dass der Gesprächspartner momentan nicht erreichbar war.

Ihre Gedanken drehten sich einzig und allein um Ray. Sie wusste dass es egoistisch war, doch seine Freunde rutschten in den Hintergrund. Ihr Herz fühlte sich an als wolle es vor Angst zerspringen. Diese Ungewissheit, ob es ihm gut ging, nagte an ihrem Nervenkostüm und ihre Augen schwammen in den aufkommenden Tränen.

„Au“, Mariah zog scharf die Luft ein, als das Ungeborene in ihrem Bauch, einen heftigen Tritt von sich gab. Es schien sagen zu wollen: Mama, reiß dich zusammen!

Einpaar Atemzüge wurden in die Lunge aufgesogen um ihr Gemüt zu beruhigen, erst dann wischte Mariah die Tränen fort und wandte sich der Gruppe zu. Jana kämmte auf dem Bett einer kleinen Stoffkatze, die sie bei sich trug, das Fell. Weil sie gejammert hatte, da ihr Stofftier von der Fahrt total zerzaust war, gab ihr Mariah dafür eine ihrer Bürsten. So konnte sie sich selbst voll und ganz auf ihr Bit Beast fixieren, während der alte Mr. Kinomiya vollkommen irritiert da saß. Er konnte Galux nicht sehen. Für ihn musste es ein eigenartiges Bild sein, das die werdende Mutter mit etwas sprach, dass für ihn nicht gegenwärtig war. So konnte er nicht verstehen, was ihr so großen Kummer bereitete.

„Warum kann er dich nicht sehen?“, sprach sie die Frage aus. „Warum Jana und ich?“

„Er sieht mich nicht weil ich mir keine Hülle gesucht habe…“

„Aber wir sehen dich auch ohne mein Beyblade.“

Galux schien zu Lächeln. Das Bit Beast senkte den Kopf und schloss die Augen.

„Ihr seid etwas anderes.“

„Warum?“

Der lange Schweif von Galux wanderte zu Jana und strich ihr sanft über den Haarschopf.

„Sieh sie dir an, Mao. Trotz ihrer Krankheit ist sie das glücklichste Kind auf Erden. Solche Kinder sind etwas Besonderes. Ihr Mund wird bis zum Ende ihrer Tage die Wahrheit sprechen. Deshalb sieht sie auch nur die Wahrheit…“

Jana summte im Gedanken versunken leise vor sich her, nahm am Gespräch nicht teil.

„Es bedarf nicht viel um die Liebe eines solchen Menschen zu erhalten. Sie hat eine ehrliche und reine Seele. Das ist so kostbar heutzutage. Das große Laster der Menschen ist, dass sie ihren Kindern Werte vermitteln wollen, die sie selbst nicht einhalten. Und irgendwann vergiften sie ihre nächste Generation.“

Ein Seufzen kam von Galux.

„Es ist traurig, doch in der heutigen Zeit, findest du kaum Menschenkinder die uns noch sehen. Vor einpaar Jahrzehnten war das noch anders…“

„Und ich?“, fragte Mariah beklommen. „Oh Galux, du glaubst doch nicht, dass ich noch ein unschuldiges Kind bin? Sieh mich an! Ich bin eine erwachsene Frau. Und gelogen habe ich schon dutzende Male. Für mich müsstest du noch unsichtbarer sein als für Mr. Kinomiya.“

„Ach Mao“, Galux schüttelte belustigt den Kopf. Es hüpfte vom Bett und tapste mit sanften Pfoten auf sie zu.

„Rede nicht über dich als wärst du etwas Verwerfliches! Uns Bit Beast ist klar, dass Menschen nicht vollkommen sind. Und das verlangen wir auch nicht. So wie ihr, haben auch wir unsere Fehler. Die Kunst besteht darin seine Fehler zu erkennen. Wer die Demut besitzt, seine eigene Unvollkommenheit einzugestehen und sich einer neuen Welt zu öffnen, kann manchmal hinter die Fassaden blicken.“

Das Bit Beast schmiegte sich an ihr Bein. Es war seltsam, aber wenn Mariah es berühren wollte, glitt ihre Hand durch Galux hindurch. Umgekehrt klappte es aber bestens. Sie fühlte ein warmes Streicheln an ihrer Wade, fasst als hätte sie sie in warmes Wasser getaucht.

„Das soll nicht heißen, dass der alte Mann ein schlechter Mensch ist. Es gehört aber noch etwas mehr dazu. Zum Beispiel sich seine kindlichen Erinnerungen zu erhalten. Manchmal wollen Bit Beasts aber auch einfach nicht gesehen werden, weil sie manche Menschen nicht mögen. Du siehst, wir sind fast wie ihr in unserem Verhalten.“

Das Bit Beast schielte zu Mr. Kinomiya, der sich kopfschüttelnd dem kleinen Fernseher im Schrank zuwandte und etwas vor sich her brabbelte, dass verdächtig nach, „Der Brummer sieht alles, aber ich krieg nichts mit. Ist doch Scheiße.“, klang.

Er betätigte den Knopf am Gerät und einpaar Sekunden später, schallte die Stimme eines Nachrichtensprechers durch den Raum. Dann machte er es sich in einem kleinen Sessel davor bequem um die Wartezeit zu überbrücken und brummte:

„Hoffentlich ist die bald fertig. Was ist hier bloß los? Saftladen…“

Mariah beobachtete schmunzelnd den alten Man, bis Galux mit einem kleinen Sprung auf die Fensterbank hüpfte. Sie lagen nun fast auf gleicher Augenhöhe.

„Du hast mich nie vergessen, Mao. Ich weiß es. Wie oft habe ich dich über deine wundervolle Kindheit sprechen hören… So viele Male. Und jedes Mal, wenn deine Worte mich betrafen, haben deine Augen gestrahlt vor Glück. Ich kannte bisher keinen Menschen, der so stolz war, mich sein Bit Beast nennen zu dürfen. Du liebst deine Erinnerung.“

Wissend legte Galux den Kopf leicht zur Seite.

„Deshalb wolltest du auch nicht nach Japan. Nicht wahr?“

Mariah musste Lächeln und nickte schließlich.

„Ich habe in China die schönste Zeit meines Lebens verbracht. Ich liebe dieses kleine Dorf. Egal um welche Ecke, Straße oder über welche Wiese ich laufe – es steckt eine Erinnerung dahinter. Lee, Gary, Kevin… alle die ich kenne sind dort. Und natürlich Ray.“

„Er scheint aber nicht so zu denken.“ Galux Stimme wurde ernst. Mariah glaubte auch etwas Verächtliches heraus zu hören.

„Ray war schon immer ehrgeizig. Er möchte in seinem Beruf weiterkommen. Das kann er nicht in unserem Dorf…“

„Dann soll er gehen wenn wir ihm nicht reichen! Oder er soll in der Irrlichterwelt bleiben. Meine Hilfe kann er nicht erwarten. Vielleicht lernt er dich dort zu schätzen.“

„Oh bitte, hilf ihm! Tu es für mich! Warum redest du so schlecht über ihn?“

„Weil er dich unglücklich macht!“

Das Bit Beast wandte schnippisch den Kopf zur Seite.

„Er versteht dich nicht. Er will dich nicht begreifen. Es bricht mir das Herz dich so unglücklich zu sehen. Jede Nacht treibt er dir die Tränen in den Augen und tritt deine Gefühle mit den Füßen.“

Mariah sah Galux lange an. Sie hatte nicht erwartet, dass ihr Bit Beast jede Zankerei mit Ray mitbekam. Es sprach ihr aus der Seele, doch es schien nur ihr Unglück zu erkennen. Das sie ihren Mann ebenfalls verletzt hatte ignorierte es.

„Weißt du Galux, es ist auch meine Schuld, dass er so ist.“, gestand Mariah. „Ich habe behauptet, dass das Kind, worauf er sich so gefreut hat, nicht von ihm ist. Noch nie habe ich ihn so wütend und enttäuscht erlebt wie an diesem Tag. Er ist sonst immer ausgeglichen, freundlich und verständnisvoll, aber danach…“

Ein Seufzen folgte.

„Danach hat er sich total von mir abgewandt. Er hat seine Sachen gepackt und ist gegangen. Nicht einmal eine Telefonnummer hat er hinterlassen.“

„Aber du hast deinen Fehler eingestanden! Es ist sein Kind. Du bist ihm nie untreu gewesen. Ich weiß das. Ich spüre wenn du lügst. Warum kann er das nicht?“

„Du spürst wenn ich lüge?“

„Das kann fast jedes Bit Beast. Die Emotionen unserer Menschen liegen vor uns wie ein offenes Buch. Wir sind immer mit ihnen verbunden. Ich kenne deine Wünsche, deine Ängste, deine Gedanken… und all deine Taten. Selbst wenn ich in der Irrlichterwelt bin, ich fühle was in dir vorgeht.“

„Wie ein Schutzengel“, meinte Mariah leise. Sie hatte nicht geahnt wie umsorgt sie wurde. Es tat gut zu wissen, dass es jemanden gab, der die Hand schützend über sie legte.

„Wir Menschen können das aber leider nicht, Galux. Wir sind nicht wie ihr Bit Beast. Eine solche Verbindung besteht zwischen uns nicht. Der einzige Weg für uns besteht darin, Vertrauen in den anderen zu haben… Und das habe ich verloren. Ich habe Ray tief gekränkt und jetzt glaubt er mir nicht mehr.“

„Vertrauen“, wiederholte Galux das Wort nachdenklich. „Wie seltsam. Ich spüre immer wer die Wahrheit spricht und wem ich glauben kann. Doch wenn es stimmt was du sagst...“

Mariah wurde fragend gemustert.

„Wenn du nicht seine Gedanken lesen kannst, wenn du nicht weißt wie er fühlt, wie kannst du wissen was er denkt?“

„Das ist einfach…“

Galux blickte Mariah erstaunt an.

„Weil ich Ray kenne. Seine guten und seine schlechten Seiten. Ich muss keine Telepathie beherrschen um ihn zu verstehen. Ich weiß wie er sich im Moment fühlt. Ray ist ein guter Mann. Ein viel besserer als ich verdient habe. Ich habe ihn verbittert. Es ist meine Schuld dass er so geworden ist. Und deshalb bitte ich dich Galux. Bitte hilf ihm.“

Mariah blickte ihr Bit Beast aus flehenden Augen an. Wenn es ihre Emotionen wirklich spüren konnte, dann musste ihre Verzweiflung wie ein Gewitter auf Galux nieder regnen.

„ZUM TEUFEL!“

Erschrocken blickten beide zu Mr. Kinomiya. Selbst Jana zuckte zusammen, verstummte in ihrem leisen Gesang und funkelte mit ihren Knopfaugen zum alten Greis.

„Mara! Opa laut schimpf!“, empörte sie sich. „Opa nerv! Blödmann!“

Über so viel Ehrlichkeit hätte Mariah beinahe gelacht, doch es blieb ihr im Halse stecken, als sie den Grund für den wütenden Ausruf sah.

„Lauter!“, wies sie Mr. Kinomiya an, der genauso blass wie sie geworden war. Mit fahrigen Händen suchte er nach der Fernbedienung und drehte die Lautstärke hoch. Auf dem Bildschirm berichtete ein Nachrichtensprecher, über den gestrigen Brand im Anwesen der Hiwataris. Links oben, war ein Miniaturfenster eingeblendet, in dem Ming-Ming darauf wartete, dass ihr Kollege das Startsignal für ihren Bericht gab.

„Wieder live vor Ort ist für sie unsere Reporterin. Ming? Was kannst du uns über die derzeitige Situation sagen?“

Das Fenster der Angesprochenen wurde vergrößert.

„Nun, ich muss sagen, die Polizei scheint noch so ziemlich im Dunkeln zu tappen. Niemand weiß wie die Leiche ins Hiwatari Anwesen gekommen ist und bestätigen will man auch noch nichts. Man hält sich zurück mit irgendwelchen Zugeständnissen. Laut den Zeugenaussagen sollen sich aber nur zwei Personen im Haus aufgehalten haben. Kai Hiwatari und seine jüngere Schwester.

Von einer weiteren Person war nie die Rede. Gestern Abend war das ausgerückte Feuerwehrteam noch erleichtert, dass alle Bewohner des Hauses mit dem Schrecken davon gekommen sind. Umso enttäuschter sind die Gemüter über den Fund der verkohlten Leiche.“

"Sie sagen der Befund ist noch nicht bestätigt."

"Das wird nur die übliche Zurückhaltung von Behörden sein, aber ich weiß aus ziemlich sicherer Quelle, dass es eine Leiche gibt."

Mariah hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund. Bei ihrem gestrigen Telefonat mit Ray, hatte er mit keinem Wort erwähnt, dass noch eine weitere Person in dem Haus gewesen war.

„Kann schon etwas über die Identität des Opfers gesagt werden?“, fragte der Nachrichtensprecher.

„Leider nein“, entgegnete Ming-Ming. „Aber soviel konnte mir gesagt werden – nach den Überresten zu urteilen handelt es sich um eine Frau.“

„In welchem Teil des Hauses wurde die Leiche gefunden?“

Ein verschmitztes Lächeln huschte über Ming-Mings Gesicht. Etwas schien sie ziemlich zu belustigen. Mariah brachte das zum Kochen. Sie konnte beim besten Willen nicht verstehen, wie man bei einer solchen Tragödie nicht ernst bleiben konnte.

„Nun, das ist eine interessante Frage, denn die Leiche wurde angeblich im Schlafzimmer vom jungen Hiwatari Oberhaupt entdeckt.“

„Eine Geliebte?“

„Wer weiß? Das Hauspersonal hat zu dieser Zeit schon den verdienten Feierabend angetreten. Demnach lässt sich eine Angestellte ausschließen. Doch wenn ich mir die Vermutung erlauben darf, man weiß nicht viel über das Privatleben des Geschäftsmagnaten, nicht wahr? Erst gestern wurde ich mit der Nachricht überrascht, dass seine Schwester an Trisomie leidet. Wer weiß wie viele Leichen dieser Mann noch im Keller versteckt hält?“

„Oh! Dieses Miststück!“, fluchte Mariah erbost. In ihr tat sich die Vermutung auf, das Ming-Ming eine wahre Freude daran hatte, Kais Privatleben öffentlich zu machen.

„Mara! Nich schimpfe!“, entrüstete sich Jana. Das kleine Mädchen ahnte nicht, wie indiskret Ming-Ming ihre Krankheit gerade an den Pranger stellte. Natürlich war Mariah nicht der Auffassung, dass man Kinder wie sie verstecken musste, aber wenn Kai nicht der breiten Öffentlichkeit davon erzählen wollte, war das seine Sache! Ihr kam es vor, als startete Ming-Ming grundlos eine Hetzkampagne.

„Wie kann dieses beschränkte Kuh! Wenn ich die in die Finger kriege, dann…“

„Ganz ruhig, Kleines.“, sprach Mr. Kinomiya gelassen auf sie ein. „An der willst du dir doch nicht die Finger schmutzig machen.“

Dann hörte er Ming-Ming sagen:

„Besonders interessant ist, dass nach einem von den anwesenden Zeugen des Brandes, seit heute Morgen gefahndet wird – Takao Kinomiya.“

„ICH WILL IHR BLUT SEHEN!“, schrie der alte Herr.

„Takao Kinomiya steht im Verdacht der vorsätzlichen Körperverletzung und versuchten Mordes an seinem Großvater.“

Augenblicklich wurde Mr. Kinomiya aschfahl.

Tyson?

Ihn töten?

Das war doch ein Witz!

Niemals hätte sein Enkel ihm etwas angetan. Sie zankten und kabelten sich gerne mal, aber das gehörte für beide zum Standart.

„Es ist mehr als suspekt, dass wenige Stunden nachdem Takao Kinomiya das Grundstück betritt, das Hiwatari Anwesen in Flammen steht. Wie ich von einer zuverlässigen Quelle weiß, waren auch zwei weitere Freunde bei dem Brand anwesend. Es handelt sich dabei um den amerikanischen Staatsbürger Max Tate und den Chinesen Ray Kon. Ob als ahnungslose Zeugen, Eingeweihte oder Komplizen ist noch unklar.“

Mariah fasste sich an die Brust und spürte ihr Herz darunter laut hämmern. Nun wurde ihr Mann auch noch hineingezogen. Wie viele Leute musste sie noch davon überzeugen, dass Ray ein guter Mensch war? Die erste Träne rollte ihre Wange hinab, doch mit einem Fauchen wurde sie fortgewischt. Genug geheult! Hormone hin oder her, dass war keine Entschuldigung sich so gehen zu lassen! Wann war sie bloß zu einer solchen Heulboje verkommen?

Entschlossen machte sie auf dem Absatz kehrt und ging zum Garderobenschrank.

Mr. Kinomiya beobachtete sie und fragte: „Wo willst du hin?“

„Zur Polizei. Mein Mann hat nichts mit der Sache zu tun!“

„Na da komm ich doch glatt mit!“, meinte der alte Mann und rappelte sich auf. Selbst vom Flur aus hörte sie seine Knochen knacken. „Ich werde denen zeigen wie quicklebendig ich bin. Keiner meiner Enkel kommt auf ein Fahndungsplakat und wenn ich dem ganzen Präsidium die Hammelbeine langziehe!“

„Mao. Überstürze nichts!“

Mariah war gerade dabei ihre Jacke vom Kleiderhaken zu nehmen. Abrupt hielt sie in ihrer Bewegung inne und starrte ihr Bit Beast an.

„Galux, ich muss etwas unternehmen! Ich kann hier nicht tatenlos herumsitzen!“

Das Bit Beast schritt langsam auf sie zu und nickte ihr wissend zu.

„Ich weiß Mao. Doch im Moment sind dein Ehemann und seine Freunde, dort wo sie sind, unerreichbar. Kein Mensch wird sie für etwas bestrafen können, dass sie nicht begangen haben.“

„Das mein Mann in einer Geisterwelt herumirrt ist kein aufmunterndes Argument.“

„Mao. Bleib hier.“, der Kopf des Bit Beast wandte sich zum Fernseher.

„Ich vermute dieser Frauenkörper ist Dranzers Hülle.“

„Wie kannst du einen Menschen nur als Hülle bezeichnen?“

„Ihr tut das doch auch, Mao. Aber nur wenn die Seele den Körper verlassen hat.“

Mariah hielt den Atem an, als ihr klar wurde, worauf Galux hinaus wollte.

„Du meinst… Diese Frau war schon tot?“

Ein Nicken folgte.

„Dranzer hat einen Weg gefunden sich toter Menschen zu bemächtigen. Dazu müssen sie in dem Element des Bit Beasts umgekommen sein. Diese bedauernswerte Frau war wohl vor kurzem Opfer eines Brandes. Dranzer muss ihre Hülle wieder hergestellt haben um unerkannt, durch die Menschenwelt zu wandeln. Kaum zu glauben wie mächtig die Uralten bereits geworden sind. Für mich ist so etwas unmöglich…“

„Oh mein… Das ist furchtbar! Was hat er mit dem Körper denn vorgehabt?“

„Der Leichnam dieser Frau ist für Dranzer nichts weiter als ein Mittel zum Zweck. Es wollte selbstständig zu seinem Menschen gelangen. Ich vermute, dass es den Körper wieder zu sich rufen wird, wenn es ihn braucht. In einem Blade könnte es sich nicht ohne Hilfe fortbewegen. Man munkelt bei uns sogar, dass die Uralten es schaffen, tote Menschenkörper in der Irrlichterwelt erscheinen zu lassen.“

„Aber jetzt hat Dranzer was er wollte! Er ist bereits in Kais Körper! Wenn Dranzer dieser Krankenschwester etwas angetan hat, dann müssen wir der Polizei sagen…“

„Kleines, ich weiß ja nicht worüber du mit deinem imaginäre Kuscheltier redest, aber der Polizei ausgerechnet das erzählen?“, fuhr Mr. Kinomiya dazwischen. „Lasst mich ruhig außen vor, aber klingt nach einer recht bescheidenen Idee, die du dir da austüftelst.“

Mariah zog eingeschnappt eine Schnute, doch Galux antwortete:

„Der alte Mann spricht die Wahrheit, Mao. Ein weiteres Laster der Menschen ist, das sie nach Beweisen verlangen, selbst wenn die Opfer mit einem aufrechten Gewissen sprechen. Außerdem bereitet mir eine weitere Angelegenheit Sorgen…“

„Was?“

„Oh Mao, ich wünschte ich könnte dir diese Wahrheit ersparen, denn ich weiß sie wird dir Angst bereiten, doch dich zu belügen bringe ich nicht übers Herz…“

„Sag es mir Galux.“

„Was ich dir noch nicht gesagt habe ist, dass ich den alten Mann und das Kind vor Dranzers Rache gerettet habe. Es war nicht die Krankenschwester die es suchte. Es hatte die Aufgabe diese beiden Menschen zu töten.“

Mariah wurde blass und sah zu dem kleinen Kind, das auf dem Bett mit ihrem Stofftier spielte.

Warum?

Warum diese beiden?

Ein altersschwacher Mann und ein Trisomie krankes Mädchen. Was hatten diese beiden Menschen getan, dass sie den Zorn eines Bit Beasts auf sich zogen?

Beinahe wäre ihr diese Frage laut herausgerutscht, doch sie wollte keinen von beiden beunruhigen, so blieb sie stumm. Doch Galux schien tatsächlich ihre Gedanken zu lesen.

„Der alte Mann ist Dragoon lästig. Er möchte ihn loswerden. Und das Kind… Dranzer hasst sie. Es gibt ihr die Schuld an dem gleichgültigen Verhalten ihres Menschenjungen. Es ist furchtbar eifersüchtig und teilt nicht gerne.“

Zum ersten Mal fiel Mariah auf, dass sich Galux nie auf das Geschlecht festsetzte, wenn sie über Dranzer sprach. Konnte es sein…

„Ist Kais Bit Beast weiblich oder männlich?“

„Beides, und doch keins von beidem. Das gilt für jeden von uns. Wir sind was wir sein wollen. Ich bevorzuge das Weibliche, sowie Dranzer auch und Dragoon das Männliche. Doch ich ahne worauf deine Frage hinausläuft. Du willst wissen ob Dranzer sich zu Kai hingezogen fühlt. Leider kann ich dir keine Antwort geben… Bit Beast können nicht lieben. Zumindest habe ich noch nie von einem gehört. Diesem Gefühl seid ihr Menschen uns voraus. Doch ich weiche ab…“

Galux schüttelte etwas verärgert den Kopf.

„Der Punkt ist, dass ich nicht weiß, wo sich Dranzer zurzeit aufhält. Ist es in der Irrlichterwelt? In der Menschenwelt? Und ich weiß nicht was die Uralten mit dir vorhaben. Deine Rolle in diesem Trauerspiel ist so undurchschaubar. Alles hängt davon ab, ob du deinem Mann noch wichtig bist. Wenn ja, weiß es Driger und er wird in Kürze auch jagt auf dich und dein Ungeborenes machen. Die Wahrheit ist: Egal wer von ihnen kommen wird, ob Driger, Dranzer oder einer der anderen Uralten… Ich bin nicht stark genug um dich zu beschützen!

Ich kann dich nur vor ihrem Blick verstecken, mehr nicht. Du musst hier bleiben! Du und die anderen. Niemand außer mir weiß wo du dich aufhältst. Denk an dein Kind Mao! Was ist wenn du dort draußen, auf offener Straße, einem Uralten in die Arme läufst? Du könntest noch von Glück reden, wenn du wie die bedauernswerte Frau im Krankenhaus endest!“

„Nein!“, Mariah berührte fassungslos mit ihren Händen den kleinen Babybauch. „Ich habe Driger nichts getan! Keinem dieser Bit Beasts! Und mein Kind schon gar nicht! Warum?“

Panik vermischte sich mit der Angst um ihr Ungeborenes.

Mariah hatte Angst.

Angst Ray zu verlieren.

Angst ihr Kind zu verlieren.

Ihre Familie war das Teuerste was sie besaß. Sie war nach Japan gekommen um sie vor der Scheidung zu bewahren und nun wollte ausgerechnet ein Bit Beast alles zerstören.

Galux seufzte und ein mitleidiger Ausdruck schlich sich in den Blick der Katze.

„Es ist wie du gesagt hast, liebste Mao. Du hast Ray verbittert. Ein gebrochenes Herz ist nichts anderes, als ein weiterer Schritt zur Erwachsenwelt.“
 


 

*
 

„Komm schon sag was, Tyson! “ flehte Ray und knuffte seinen Freund spielerisch in die Seite. „Ach bitte! Deine Stimme ist so urkomisch.“

„Wir haben so wenig zu lachen. Sieh es als deine verdammte Kameradenpflicht!“

Tyson blieb stehen. Seine Wangen waren gerötet vor unterdrücktem Zorn und die Lippen fest aufeinandergepresst. Statt einer Antwort hob er eine Faust und präsentierte seinen Freunden den Mittelfinger. Ein enttäuschtes „Och Schaaade“ ging durch die Runde, gefolgt von:

„Kollegenschwein“

„Miesepeter“

„Es ist doch so lustig…“

„Ich würde mir für dich vor Lachen auch in die Hose machen, dann hättest du auch was davon.“

Tyson blähte die Wangen auf und zeigte Max den Vogel. Wer war er denn, der Clown vom Amt?! Ihm ging es gehörig gegen den Strich dass seine Freunde nicht die Höflichkeit besaßen, einfach über sein Problem hinwegzusehen. Stattdessen ritten sie seit einer geschlagenen Stunde darauf herum. Man merkte dass sie wieder zu Kindern wurden. Sie wurden der Sache nicht überdrüssig.

Unglücklicherweise hatte Tyson vergessen, wie seine Freunde als Erwachsene klangen, sonst hätte er sie darauf hingewiesen, dass ihre Stimmen nun ebenfalls einen Recht kindlichen Ton besaßen. Doch er blieb stumm und ließ sich lieber ins nächste Kaufhaus schleifen, wo die Gruppe sich erstmal mit neuer Kleidung eindeckte.

Das war mehr als nötig!

Maxs Pullover hatte Ähnlichkeit mit einem Zelt und Ray musste seine Hosenbeine mehrmals umschlagen. Tyson ging in seiner Kleidung total unter. Als er sechzehn war hatte er einen enormen Wachstumssprung gemacht, was ihm jetzt bewies wie klein er zuvor war.

Er konnte ziehen und krempeln soviel er wollte. Die Hose rutschte über die Hüften, die Shorts darunter auch und einpaar Mal fand er seinen entblößten Hintern an der Frischluft. Natürlich brachte ihm das noch mehr Gelächter ein.

In der Shopping Mall folgte dann eine Überraschung…

Sofort als die Gruppe ein Geschäft betrat, blieben sie stehen und stutzten.

Es standen nur wenige Outfits zur Auswahl. Und die Hundertfach!

Die Boutique war in vier Abteilungen gegliedert. Über jeder baumelte ein Schild von der Decke, das jedem der Jungen einen eigenen Bereich zuordnete. Natürlich liefen auch hier gesichtslose Verkäufer wild durch die Gegend. Gleich nach dem ersten Schritt über die Ladenschwelle, wurde jeder von ihnen an seinen Kleiderständer dirigiert.

Ray hatte keine Zeit zu flüchten, da packte ihn eine Schar von geschäftigen Angestellten und trug ihn auf Händen, über ihren Köpfen, in seine Abteilung. Es sah aus als wäre er ein Gitarrist der sich von der Bühne in die jubelnde Menge fallen lässt, nur das er dabei mehr fluchte und strampelte.

Die nächste Schar kesselte Max ein, der panisch rief:

„Ich komm schon mit! Keine Hektik, Leute!“

Tyson wurde von drei Smoking tragenden Gesichtslosen zu der letzten Abteilung ganz Rechts geschoben und siehe da… Seine alte Jeans, sein gelbes Sweatshirt und sogar seine rote Jacke, wie er sie früher getragen hatte, in hundertfacher Ausführung, fein säuberlich in einer Reihe, an dutzenden Kleiderständern.

Erstaunt zog er eines des Sweatshirts aus der Kleidermasse hervor. Er wollte nur einen Blick darauf werfen, da hoben die Verkäufer bereits einpaar Schilder hervor:

„Passt!“

„Wunderbar!“

„Das ist ihr Style, mein Herr!“, der letzte Gesichtslose bewegte sich verdächtig… feminim. Er wirkte wie Jack Sparrow ohne Gesicht.

Kam es ihm so vor oder war diese gesamte Situation grotesk?

„Ähm… was anderes habt ihr nicht, oder?“, fragte er mit zuckender Augenbraue.

Einstimmiges Kopfschütteln war die Antwort, was Tyson resignierend seufzen ließ.

Alles war besser als entblößt durch die Straßen zu rennen. Er klaubte sich seine Kleidung zusammen und wollte bereits in die Umkleidekabine verschwinden, da streifte sein Blick einen Wühltisch vor einem großen Spiegel. Er trat näher heran und konnte dutzende Exemplare seines roten Cappys ausmachen. Es juckte ihn in den Fingern und ehe Tyson es sich versah, nahm er eines vom Stapel und setzte es sich auf den schwarzen Haarschopf.

Dann betrachtete er eine Weile sein Spiegelbild gegenüber…

„Irgendwie sieht das Teil doch cool aus“, gestand er sich schließlich ein und ein spitzbübisches Grinsen huschte um seine Mundwinkel.
 

Nach einer halben Stunde trat die Gruppe, gefolgt von einer applaudierenden Belegschaft, wieder aus dem Laden. Schilder mit besten Wünschen für die Zukunft und Danksagungen wurden emporgehoben, dann schloss sich die automatische Schiebetür hinter ihnen.

„Wow. Das war… seltsam.“, kommentierte Max trocken und ein einstimmiges Nicken folgte vom Rest. Das ging auch locker als Begegnung der dritten Art durch.

Tyson begutachtete seine Freunde und musste grinsen.

Dasselbe Spiel wie bei ihm.

Max trug seinen orangen Overall von früher, dessen Ärmel er sich um den Bauch gebunden hatte, anstatt über den Oberkörper und dazu sein gelbes Shirt, mit den kurzen grünen Ärmeln.

Ray war wie immer asiatisch gekleidet. Schwarze weite Hose und ein weißes, ärmelloses, langes Hemd, mit einem leichten Stehkragen und drei dunklen Knotenknopfleisten. Um seine Taille lag ein langer roter Gürtel, dessen Enden locker an der rechten Seite baumelten. Er war eigentlich der Einzige, dem man seinen Sprung in die Kindheitsmode nicht zu deutlich ansah, dafür war er seiner Tradition in all den Jahren zu treu geblieben.

Tysons Augenmerk blieb an einer Tüte hängen die Ray in der Hand hielt. Er legte den Kopf irritiert zur Seite und fragte:

„Hast du dir einen Vorrat besorgt? Mensch Alter, wir müssen nichts bezahlen! Diese Outfits bekommen wir hinterher geschmissen und du nimmst dir zusätzlichen Ballast mit?“

„Das ist nicht für mich“, antwortete Ray. Er kramte in der Tüte und zog einen dunklen, ärmellosen Overall hervor, an dem ein roter Gürtel befestigt war. „Ich dachte mir… wenn wir ihn wiederfinden, dann… Naja… er wird immerhin auch jünger. Wir können ihn ja schlecht nackt herumlaufen lassen…“

Seine Tonlage wurde mit jedem Wort leiser.

„Oh“, gab Tyson monoton von sich und beugte sich über den Beutel.

Es gab Kleinigkeiten im Leben, die ließen jede Laune in den Keller rutschen. Bei einer Frau konnte das ein altes Foto von der zerflossenen Liebe sein. Bei Kindern ein gestrickter Pullover von der Oma, welches einen zum Gespött der Klasse machte und in Tysons Fall ein weißer Schal, der in einer Einkaufstüte lag und den ein verschollener Freund früher immer zu tragen pflegte.

Ein Seufzen kam aus seinem Mund.

Geknickt holte Tyson das lange Tuch hervor und hielt es in den Händen, ließ den weichen Stoff durch die Finger gleiten. Anschließend griff er in seine Hosentasche und zog das Feuerzeug hervor, welches er im Krankenhaus Kai abgenommen hatte und in der Umkleidekabine in seiner Jacke bemerkt hatte. So sehr es ihm nicht passte, dass ihr Freund als erwachsener Mann rauchte, er konnte es nicht über sich bringen, dass Einzige wegzuwerfen, was sie im Moment von ihm hatten – nicht so lange Kai wieder zurück war.

Er drehte das Feuerzeug in seiner Handfläche von einer, auf die andere Seite und seine Gedanken schweiften ab. Seine bedrückte Stimmung griff auf die Gruppe über und jeder Einzelne hätte alles darum gegeben, um zu wissen wie es Kai im Moment ging.
 


 

*
 

Wer die Sagen um Yggdrasil kannte, wusste dass es sich dabei um einen mystischen Baum aus der nordischen Mythologie handelte. Dieser Weltenbaum soll eine prächtige Esche gewesen sein, die von dem jüngsten Göttergeschlecht gepflanzt wurde, nachdem sie den Riesen Ymir getötet und aus seinem Leichnam alle weltlichen Dinge erschuf.

Natürlich war das nichts weiter als die grenzenlose Fantasie der Menschen, während der Zeit des Heidentums, denn wie jedes Bit Beast wusste, hatten Menschen viele Laster und eine davon war, sich unerklärliche Dinge mit Hirngespinsten zu erklären – so auch den Anfang der Welt.

Trotzdem steckte auch in dieser Legende ein Funken Wahrheit, denn einen solchen Baum gab es tatsächlich in der Irrlichterwelt. Die heimischen Wesen dort schoben diese Parallelen aber mehr auf einen Zufall, als auf die Möglichkeit, dass ein Mensch diesen Baum womöglich erkannt hatte.

Manche Bit Beast mussten über die Unwissenheit der Menschen sogar belustigt Kichern.

Sie konnten den Baum nicht sehen, obwohl seine herrlich grüne Blätterkrone ihren gesamten Planeten, in Form von farbenfrohen Wiesen bedeckte, auf denen sie sich im Frühjahr zu Duzenden tummelten. Ihr sagenumwobener Yggdrasil war direkt unter ihren Füßen. Außerdem war der Baum laut der Legende eine Esche. Das war glatter Unfug.

Was war an einer Esche schon besonders?

Yggdrasil war jeder Baum und doch keiner…

An vereinzelten Stellen in Europa nahmen seine emporragenden Zweige die Formen von Trauerweiden, Zypressen oder Tannen an, in Asien sah er aus wie ein blühender Kirschbaum oder ein zierlicher Bonsai und in Nevada schoss er in Form eines Kaktus empor, an sonnigen Küstengebieten sogar als Palme.

Es war lächerlich. Die Menschen hatten ihren sogenannten Yggdrasil direkt unter sich und erkannten ihn nicht. Weder seine dicke braune Rinde, die sie Erde nannten, noch seine glühenden Wurzeln im Zentrum ihres Planeten.

Bit Beasts hatten diesem Baum nie einen Namen gegeben.

Weshalb auch?

Warum musste alles einen Namen haben?

Warum konnte man sich nicht damit abfinden, dass etwas Fremdes einfach da war, ohne es durch seltsame Betitelungen etwas vertrauter zu machen?

Yggdrasil klang so eigenartig…

Der Höflichkeitshalber nahmen Bit Beasts diesen Namen aber amüsiert hin, selbst als die Menschen ihre eigene Sage um den wundersamen Weltenbaum vergaßen.

Stattdessen machte diese Geschichte neuen Legenden platz. Von Göttern die auf Bergen hausten, Erzählungen über weiße Könige wie Salomon, bis hin zu Menschen die über Wasser liefen. Eine bemerkenswerte Vielfalt…

Yggdrasil geriet dadurch aber in Vergessenheit.

Was Menschen ebenfalls nicht ahnten war, dass dieser Baum einen Zwilling besaß. Beide Exemplare sprossen aus derselben glühenden Wurzel. Der eine wuchs nach oben in die Menschenwelt, der eine nach unten in die Irrlichterwelt. Wollte ein Bit Beast zu den Menschen, musste es nur die Baumkrone emporsteigen, den Stamm entlang, durch das Wurzelgeflecht dahinter und von dort aus auf den anderen Baum steigen. Zuletzt bedurfte es nur eine spirituelle Stätte und schon konnte man das Tor zur Menschenwelt passieren. Es war so einfach… Für ein Bit Beast!

Menschen taten sich da schwer. Sie kannten ihren Planeten nur als Kugel. Dass man beim Durchqueren des Erdinnern in eine andere Welt abtauchte war ihnen nicht bekannt.

Schlimmer noch!

Manche Bit Beasts hatten das närrische Gerücht gehört, dass Menschen dachten, man komme in China raus, wenn man in Europa bloß tief genug grabe.

Wie einfältig, aber auch belustigend!

Hätten Menschen den, wie sie nannten, technologischen Stand dafür erreicht, würden sie es wohl sogar versuchen.

Sie hatten aber Probleme durch die Masse an Gestein und Wasser, an der Oberfläche, zu gelangen und selbst wenn diese Hürden überwunden waren, kamen sie nicht an den heißen Wurzeln, die sie Erdkern nannten vorbei.

Sie brauchten Hilfe.

Sie brauchten bei allem was sie taten Hilfe.

Es bedurfte Luft zum Atmen, Wasser zum Trinken, Erde zum Anbauen und Licht zum Leben, damit sie einigermaßen zufrieden waren. Vernachlässigte man sie einwenig, gingen Menschen ein und verfluchten Himmel und Hölle dabei. Zuviel von den Elementen wollten sie aber auch nicht. Besaßen sie alles im richtigen Maß, wussten sie es nicht zu schätzen…

Ein launisches Volk. Voller Widersprüche.
 

Dragoon lächelte amüsiert während er diesem Gedankenspiel nachhing.

Um ihn herum war alles finster, eine tiefe Schwärze, die nur von der glühenden Wurzel des Baumes durchbrochen wurde, auf der er saß.

Er stand kurz vor dem Grenzübergang. So nannten die Bit Beast die Stelle, an der die Wurzeln der Irrlichterwelt, in die des Menschenbaumes übergingen.

Von hier aus konnte man alles und jeden beobachten. Dragoon brauchte nur seine Hand auf eine der kleineren Wurzeln zu legen und schon spürte er was die Menschen und Bit Beasts an der Oberfläche taten. Nur wenige seiner Gattung durften hier her. Um genau zu sein, nur seine drei Gefährten und er selbst.

Von hier aus hatte sich so manch einer von ihnen einen kleinen Schabernack erlaubt, denn hier am Wurzelwerk, dem Ursprung des Planeten, war ihre Kraft grenzenlos. Erst neulich hatte Driger ein Erdbeben in der Menschenwelt verursacht.

Nur zur Belustigung… und natürlich um seinen Ärger freien Lauf zu lassen.

Das stumme Draciel ging sogar noch rabiater vor. Einmal ließ es eine riesige Flutwelle über den asiatischen Kontinent rollen. Es gab unzählige Tote. Für einige seiner Sippe war das ein gefundenes Fressen, denn manchmal verirrte sich eine verstorbene Seele in die Irrlichterwelt, weil sie auf dem Weg ins Jenseits am Erdkern vorbei musste und eine falsche Abzweigung nahm.

Ein melancholischer aber auch faszinierender Anblick...

All diese glänzenden Nebelschwaden, die auf ihrer Reise, die Finsternis mit ihrem schwachen Schein erhellten. Eine traurige Geisterkarawane…

Dragoon ließ seine dunklen Augen zu Draciel wandern. In dem geborgten Körper saß es teilnahmslos auf einer der größeren Wurzeln, ließ die glühenden Verästelungen an den Pulsadern, tief in das Menschenfleisch stechen. Auf diese Weise konnte es die gesamte Umgebung genauestens beobachten. Die Augenlider geschlossen, war es hochkonzentriert, jedenfalls nach der Mimik der Mutter zu urteilen, der Draciel das Gesicht gestohlen hatte. Seit der Ankunft der Kinder, verfolgte es jede noch so kleine Bewegung des blonden Jungen.

Dragoon sah auch ab und an nach Takao.

Aber nur um seine Fortschritte zu bemerken.

Es fehlte nicht mehr viel…

Nur noch etwas mehr und er würde wieder zu sich selbst finden. Ein bisschen und Takao würde gar nicht mehr nachhause wollen. Er war auf dem besten Weg…
 

Schritte näherten sich. Dragoon wusste wer kam.

Er hatte die Neuankömmlinge erwartet.

Sein Menschenkörper erhob sich von der Sitzfläche langsam in die Luft und schwebte auf eine der höher gelegenen Wurzeln zu, die in ihrer Breite und Dicke alle anderen übertraf. Sie wirkte wie der gigantische Stamm eines Mammutbaums. Es wäre kein Problem gewesen sechs Personen in einer Reihe darauf zu platzieren.

Er landete lautlos auf der Wurzel.

Sie machte den Eindruck, als wäre sie ein langer geschlungener Pfad, der als schimmernder Wegweiser fungierte. Das Glimmen ihrer feuerroten Verästelungen, die überall kreuz und quer hervor stoben, wurde von der Düsternis gierig verschluckt, wie das Leuchten einer Kerze, die sich immer weiter entfernte. Links und Rechts daneben ging es steil hinab in die dunkle endlose Tiefe.

Auf diesem wundersamen Weg erhoben sich zwei Konturen aus den umliegenden Schatten, schritten langsam näher. Kurz bevor sie ankamen, sagte Dragoon:

„Ihr ward lange fort…“

Nicht wütend, nicht laut, sondern ganz ruhig.

„Es gab Schwierigkeiten. Doch das weißt du sicher…“, antwortete Driger. Das Bit Beast hatte wieder die Gestalt eines Menschen angenommen, was seine bronzene Haut mit der Umgebung verschmelzen ließ. Nur die raubtierhaften Augen schimmerten unverkennbar.

Dragoon antwortete nicht, sondern wandte seinen Blick zur nächsten Person, die er von oben bis unten begutachtete. Dann hoben sich seine Brauen fragend.

„Warum noch dieser Körper?“

„Warum nicht?“

„Spiel nicht mit mir, Dranzer. Ich wünsche eine Antwort.“

Der Junge neben Driger blickte zur Seite.

„Ich will ihn nicht hergeben…“, kam ein leises Flüstern.

„Das wirst du aber müssen.“

„So? Muss ich?“

„Er wird sterben. Du verbrauchst zu viel seiner Kraft.“

„Ich weiß wo seine Grenzen sind - und meine. Glaubst du ich würde nicht spüren, wenn er kurz vor der Todesschwelle stünde?“

Dragoon trat auf den Jungen zu und ergriff dessen Arm, den er so drehte, dass seine Handfläche nach oben deutete. Mit seinem Finger, fuhr er eine der Adern entlang, die sich auf der blassen Haut dunkel abzeichneten, bis er am Puls ankam und dort verweilte.

„Du hättest ihn schon längst freigeben müssen. Er ist am sterben…“

Mit einem Fauchen riss sich Dranzer los und trat von ihm weg.

„Ist er nicht! Was schert es dich überhaupt?! Er gehört mir, also ist es meine Angelegenheit!“

„Unsere…“, korrigierte Dragoon.

„Nein, meine! Ich bin noch nicht fertig… Lass mich noch einmal in die Menschenwelt! Ich will dieses Mädchen finden. Ich werde sie mit diesem Körper töten! Kai soll sie mit seinen eigenen Händen vernichten! Erst dann lasse ich von ihm ab… Er soll neben ihrer leblosen Leiche erwachen und an seiner Tat verzweifeln, bis er mich auf Knien anbettelt, ihm diese Erinnerung zu nehmen!“

„Für eine erneute Reise in die Menschenwelt fehlt uns die Zeit. Der einunddreißigste Oktober steht vor der Tür, unsere Kraft wird dort also bald wieder schwinden und du weißt genauso gut wie ich, dass die Menschlinge unserer Kinder wie vom Erdboden verschwunden sind. Selbst mit Yggdrassil können wir sie nicht finden. Wir haben noch andere Dinge auf die wir uns konzentrieren müssen, also lass es für dieses Mal gut sein.“

„Sie hat auch bekommen was sie wollte!“, entrüstete sich Dranzer und deutete auf Draciel, das unbeteiligt an seinem Platz saß und sich nicht rührte. Die Unterhaltung schien für sie nicht von Bedeutung.

„Weshalb durfte sie in die Menschenwelt, um der Frau das Gesicht zu stehlen, aber mir verwehrst du meinen Wunsch?“

„Weil die Menschenmutter für uns wichtig war. Wie sonst hätte Draciel den Verstand ihres Menschenkindes verwirren sollen? Ich will das Takao alle seine Freunde beisammen hat. Wenn dein Mensch dir, unter deinen Klauen, davon stirbt, können wir keinen der anderen Jungen glauben lassen, dass sie wieder in ihrer Kindheit sind. Kai gehört zum festen Bestandteil ihrer Jugend. Die Gruppe muss zusammen bleiben! Sie werden uns hassen, wenn sie erfahren, dass er tot ist. Dein Wunsch hat auch bis nächstes Jahr Zeit – der Junge aber nicht. Du wirst ihn auf der Stelle freilassen. Das ist mein letztes Wort!“

Dranzers Wut loderte auf. Die Augen fixierten Dragoon.

„Keine weitere Minute werde ich warten! Ich will das Mädchen töten! Er ist mein Mensch, es hat dich nicht zu interessieren was ich mit ihm anstelle!“

„Reize mich nicht.“

Die Stimmung schien sich zu laden. Zum ersten Mal seit Beginn der Debatte, unterbrach Draciel ihre Tätigkeit und sah mit ausdruckslosem Blick hinauf. Es machte sich tatsächlich etwas Neugierde in dem Bit Beast breit, obwohl es für absolute Gleichgültigkeit bekannt war. Stumm sah es dabei zu wie Dragoons Miene sich verfinsterte.

„Du hattest deine Chance. Fast einen ganzen Tag warst du in der Menschenwelt, um deine Rache auszuleben, doch stattdessen ist dir das Kind durch die Klauen entwischt, samt meinem Menschen! Deine Unfähigkeit ist nicht unser Problem.“

Ein schriller Laut erfüllte die Umgebung, wie eine kreischende Vogelmeute und Dranzers Augen begannen zornig zu leuchten. Das anziehende Gesicht verzog sich zu einer wütenden Maske.

„Wer hat den Alten nicht getötet, als er zweimal die Chance hatte?! Du wolltest dir deine Finger an ihm nicht schmutzig machen, so waren doch deine Worte! Meine Fähigkeiten waren es, die dir deinen dreckigen Bengel hier her brachten! Meinen Fähigkeiten verdankt ihr, dass wir überhaupt so weit gekommen sind! Womit kannst du dich brüsten? Mit gar nichts! Du scheuchst uns herum wie Schachfiguren!“

Dranzers menschlicher Körper entflammte. Das Feuer bildete die Form des Phönix, von dem der Junge besessen war. Eine gewaltige Flammenfontäne zog sich durch die Finsternis, doch Dragoon wich keinen Millimeter zurück. Nicht einmal als Dranzer mit einer schnellen Bewegung ihrer Klauen, vier tiefe Kratzspuren in seinen Menschenkörper riss.

„Dranzer, zügle dich!“, warnte Driger. Es sprach Sorge aus seiner Stimme, doch der Phönix begann nur zu kreischen. Beunruhigt blickte er zu Dragoon, der jedoch stumm blieb.

Er sah nur an sich hinunter, zu der Wunde die ihm Dranzer zugefügt hatte. Aus seinem toten Körper quoll kein Blut hervor, doch die tiefen Schnittwunden klafften auf seinem blassen Fleisch, während das Hemd darüber in Fetzen hing.

Er begann leise zu lachen.

„Womit ich mich brüsten kann willst du wissen?“

Die Wunden schlossen sich wieder. Dragoon hob den Kopf und sah seinem Gegenüber tief in die Augen. Ein kaltes Lächeln folgte.

„Vielleicht damit, dass ich es war der dieses Vorhaben in die Wege geleitet hat?“ Er tat einen Schritt auf den entflammten Menschenkörper zu. „Vielleicht aber auch damit, dass ich es war, der euch alle bis hier her geführt hat! Immerhin bin ich das stärkste Bit Beast unter uns. Ohne mich kann kein Mensch oder Bit Beast existieren.“

„Ohne mein Feuer als Lebensenergie ebenso wenig!“, entgegnete Dranzer angriffslustig und als Dragoon noch einen Schritt näher trat, holte es wütend mit der Faust aus.

Das Vorhaben scheiterte, als Dragoon durch die Flammen griff und das Handgelenk des Bit Beats in einem schraubstockartigen Griff verschwand. Dranzers andere Arm holte aus, wurde aber gleichermaßen abgeblockt.

Die zornigen Bit Beasts blickten sich hasserfüllt an. Es entbrannte ein kurzfristiger Kampf zwischen ihnen, mit dem Ziel, den jeweils anderen zurückzudrängen.

Einen Augenblick hielt Dranzer stand, bis Dragoons Worte es aufhorchen ließen.

„Ich bin der erste Atemzug der ein Neugeborenes zum Leben erweckt! Ohne meinen Atem geht dein Feuer in den Menschenkörpern kläglich ein. Ohne mich bist du gar nichts! Du erstickst ohne mich, also geh auf die Knie, zoll mir deinen Respekt und liebe mich für meine Gnade!“

Tatsächlich ließen Dranzers Flammen nach, als ginge ihnen die Luft aus. Dafür erfüllte ein bläuliches Leuchten die Umgebung, dessen Ursprung Dragoon war und die Dunkelheit schien verängstigt zurückzuweichen.

Die kleinen Nebelschwaden der verstorbenen Seelen stoben eiligst davon und das gesamte Wurzelwerk schien zu vibrieren. Driger wich keinen Schritt zurück, griff aber auch nicht ein, stattdessen beobachtete er nur ernst das Schauspiel.

„Vergiss nicht, wer dich in all den Jahren jedes Mal besiegt hat! Nie ist es dir gelungen mich zu bezwingen, obwohl du schon seit Jahrtausenden versuchst, meine Stellung einzunehmen. Ständig scheiterst du an mir und du wirst es auch dieses Mal! Also überleg dir gut in welchem Ton du mit mir sprichst! Du stehst unter mir, merk dir das!“

Dranzer ließ ein unterdrücktes Keuchen von sich, denn der Druck um die Handgelenke wurde erbarmungslos verstärkt und hinterließ Spuren. Sie war ein Geist und kannte keinen Schmerz. In einer Leiche hätte sie nichts gespürt, doch ihre jetzige Hülle lebte noch. Die gesamten Nervenstränge in diesem Körper schrien geradezu vor Pein auf.

Diese Erfahrung war vollkommen neu für das Bit Beast.

„Wenn du dich ungerecht behandelt fühlst, töte ich deinen Jungen hier und jetzt!“, erschallte die Drohung. „Dann haben wir alle einen Rückschlag erlitten, ist es das was du willst?!“

Und als keine Antwort kam, entließ Dragoon ein Handgelenk. Sein freier Arm wuchs zu einer schuppigen Klaue heran, deren scharfe Krallen sich der Halsschlagader von Dranzers Körper näherten.

„Soll ich ihn töten? Ist es das was du willst? Ein Wort von dir und ich tue es. Bist du dann glücklich, mein mordgieriger Phönix?“

Lange Zeit wurde er aus hasserfüllten Augen angestarrt. Dann senkte Dranzer resignierend die Lider und ließ die Flammen um den Körper vollkommen verstummen. Sein Gegenüber nahm das mit einem süffisanten Lächeln hin.

„Brav“, flüsterte Dragoon. Er tätschelte Dranzers Gesicht, als wäre das Bit Beast ein kleines Kind. „Warum nur immer diese Widerspenstigkeit?“

Dann entließ er das Bit Beast aus seinem Griff. Das bläuliche Licht erlosch und machte der Finsternis platz, während die menschliche Haut wieder knisternd über Dragoons Schuppen wuchs. Die Wurzeln hörten auf zu beben.

„Eure Zankereien sind ermüdend.“, brummte Driger, als es wieder ruhiger wurde und verschränkte die Arme vor der Brust. „Fast täglich müssen wir uns das anhören. Ist es so schwer euren Zwist beizulegen?“

„Das ist nicht mein Verdienst. Wir wissen beide wer gerne Zwietracht sät.“, Dragoon zog Dranzer näher an sich heran, nur um das Kinn zu umfassen und seiner Kontrahentin über die Wange zu streicheln. Es hätte beinahe zärtlich gewirkt, wenn nicht der pure Spott in seinem Lächeln lege. Er verhöhnte Dranzer nach Strich und Faden.

„Es wäre soviel einfacher, wenn sie einfach gehorchen würde. So lange mich keiner besiegt, haben sich alle mir unterzuordnen.“

Mit einem Fauchen riss sich Dranzer los, stürmte von ihm fort und warf sich Driger in die Arme. Es vergrub den Kopf in seiner Kriegertracht und murmelte leise Flüche über den Drachen gegen seine Brust, während der hochgewachsene Mann dem aufgebrachten Bit Beast beruhigend zusprach und über den Kopf strich. Dann wandte er sich Dragoon zu, der das Schauspiel mit einem widerstrebenden Ausdruck beäugte.

„Du musst sie nicht so hart anpacken. Niemand zweifelt deine Position an.“

„Das will ich auch hoffen.“

Dragoon wandte sich leicht ab. Dranzer warf ihm einen verächtlichen Blick hinterher und rieb sich anschließend eines der wunden Handgelenke. Dunkle Spuren zeichneten sich an ihnen ab, jeder Finger haftete daran wie ein eingebrannter Abdruck.

„Wenn sie Reue zeigt, werde ich nicht nachtragend sein. Dafür möchte ich aber etwas hören, mein Singvogel.“ Er winkte mit dem Zeigefinger, als könne er damit die Entschuldigung aus der Kehle des Bit Beasts locken. Dranzers Brauen zogen sich wütend zusammen, doch ein Blick auf Drigers strenge Miene, gab zu verstehen, dass es selbst von ihm keine Hilfe zu erwarten hatte. Schließlich gab es ein geschlagenes Seufzen von sich, wandte sich Dragoon zu und deutete eine leichte Verbeugung an.

„Verzeih mir Dragoon, Herr der Lüfte, Winde und Stürme…“

Es entstand eine Pause. Dragoon wandte sich Dranzer zu, grinste arglos wie ein Kind und fragte: „Und weiter? Das hatten wir doch bereits geprobt, oder muss ich meine Lektion mit dir wiederholen?“

Dranzer presste die Lippen aufeinander, zischte dann aber:

„Ohne deinen Atem wird meine Flamme erlischen. Deine Kraft ist auch meine Kraft. Mein Leben hängt von deiner Güte ab. Ich gelobe Besserung…“

Wieder eine Pause.

„Sag den Rest auch noch Dranzer. Mir wird immer so warm ums Herz, wenn ich deine Stimme diese Worte sprechen höre.“

„… und bin deine treue… Dienerin.“

Dragoon summte genüsslich, als habe er von einem guten Wein gekostet und meinte schließlich: „Herrlich!“

Er gab Dranzer mit einem Zeichen zu verstehen, dass es sich aufrichten durfte.

„Das nächste Mal aber mit mehr Hingabe. Ich will das es wie eines deiner hübschen Lieder aus deinem Mund kommt.“

Erbost zischte das Bit Beast und Dragoon sah es fragend an.

„Sag nicht, du hast das Singen verlernt? Bestimmt liegt es daran, dass du nicht magst, wovon du sprichst. Du solltest dir die Verse, immer und immer wieder vorsprechen, bis du sie lieben lernst. Dann fällt es dir das nächste Mal sicher einfacher.“

Er spielte an Dranzers Haaren, bewusst um es zu provozieren.

„Übrigens wirst du sofort deinen alten Menschenkörper hier her rufen und den Jungen aus deinen Diensten entlassen. Wir haben uns verstanden, nicht wahr mein Singvögelchen?“

Ein Schnippischen „Hmm“ und Dranzer zog ein Gesicht, als würde es Dragoon lieber den Tod wünschen. Stattdessen kam die herrische Antwort:

„Wie du wünschst. Das letzte Wort ist aber noch nicht gesprochen…“

„Das ist es nie. Aber umso besser für dich, dann kannst du dein Gedicht öfters aufsagen. Takao würde jetzt sagen: Immer positiv denken! Ich halte das für eine wundervolle Redewendung, du nicht auch?“ Dann sprach er etwas versöhnlicher. „Dieser Kai hat etwas, aber das Feminine steht dir besser. Ich finde dich dann immer zum Anbeißen…“

Er deutete einen Kuss in den Nacken an, wurde aber geblockt, als Dranzer ihm unwirsch die Hand ins Gesicht rammte und ihn wegstieß.

„Von einem uralten Drachen sollte man mehr Weisheit erwarten.“, damit wandte sich Dranzer erbost ab und schritt den Wurzelweg zurück. Die anderen Bit Beast sahen der verschwindenden Silhouette hinterher, bis sie gänzlich von der Dunkelheit verschluckt wurde. Erst dann riss Driger das Wort an sich:

„Ich weiß sie ist störrisch aber musst du sie stets bis aufs Blut reizen?“

„Das Reizen allein hat auch seinen Reiz.“

„Sagtest du nicht Dranzer säe Zwietracht? Ich sehe bei euch beiden keinen Unterschied.“

Dragoon gab nur ein finsteres Lachen von sich. Natürlich war ihm das bewusst. Aber so lange er hier die Befehle erteilte, kehrte er das ohne Gewissensbisse von sich. Dazu triezte er sie zu gerne. Dieses Gefühl der Überlegenheit wenn er sie in ihre Schranken verwies, war wie ein berauschendes Suchtmittel. Er brauchte es, weil es ihn glücklich machte.

Die Menschen bezeichneten seines Wissens so etwas als „sadistische Veranlagung“.

Meistens verwendeten sie es als abfällige Bemerkung, was Dragoon nicht ganz verstand, da er in seiner Handlung wirklich nichts Verwerfliches sah. Lag es nicht in der Natur aller Lebewesen, sich zu behaupten und die Schwachen zu unterwerfen? Er freute sich bereits auf die nächste Gelegenheit, denn er war sich sicher ihren Stolz irgendwann zu brechen – und dann würde sie ihm aus der Hand fressen.

„Sie ist die Jüngste unter uns. Du könntest mit gutem Beispiel voran gehen und etwas geduldiger sein. Ein so uraltes Bit Beast wie du hat gewiss tausende Weisheiten, die es ihr auf den Weg mitgeben könnte.“

„Dazu müsste sie aber den Willen besitzen sich mir zu beugen.“

Er sah den ungläubigen Ausdruck auf Drigers Gesicht. Er schien selbst nicht zu glauben, dass Dranzer jemals diesen Willen aufbringen könnte.

„Na schön. Ich weiß dass du dich immer väterlich um unser Kücken sorgst. Ich werde mir deine Worte durch den Kopf gehen lassen. Doch zunächst widmen wir uns anderen Dingen zu. Ich kam nicht umhin zu bemerken, dass die Hyänenmutter tot ist.“

„Richtig. Bevor wir sie über unsere Absichten mit den Kindern informieren konnten, hat sie sich bereits mit ihrer Brut auf die Jungen gestürzt. Dabei ist sie in den Fluss gefallen…“

„Ist das so?“, Dragoon legte seinen Finger nachdenklich an sein Kinn. Er wusste um die Tücken der Irrlichterwelt. Nur weil die Hyänenmutter in den Fluss gestürzt war, musste das nicht heißen, dass sie tot war. Genaugenommen konnte sie jetzt in irgendeinen anderen Teil des Jenseits gespült worden sein. Flüsse waren hier wie magische Türen. Fiel man unbeabsichtigt in einen hinein, konnte man sich plötzlich ganz woanders wiederfinden. Womöglich war das hässliche Bit Beast sogar im Jenseits der Menschen gelandet und verschlang friedliche Seelen. Dem musste Einhalt geboten werden und er wusste bereits, welches Bit Beast am besten dafür in Frage kam.

Ein Räuspern von Driger lenkte seine Aufmerksamkeit wieder zu ihm.

„Außerdem haben wir uns die Freiheit genommen, ihre Brut zu vernichten… Ich weiß wir hätten deine Erlaubnis benötigt, aber sie haben sich auf die Jungen gestürzt und deine Anweisung hieß doch, dass den Menschen kein Leid zugefügt werden darf.“

„Wie herrlich du meine Worte im Mund verdrehst. War es nicht viel mehr so, dass Dranzer es nicht erwarten konnte, ihre Mordlust auszuleben?“

Driger verstummte und schaute ertappt, kratzte sich verlegen am Kinn, doch Dragoon winkte mit einer Handbewegung ab und lächelte gutmütig: „Es soll mir Recht sein. Mein Singvogel hat mir ausnahmsweise einen guten Dienst damit erwiesen. Diese Biester waren mir schon länger ein Dorn im Auge. Ich lasse mir mein Jenseits nicht durch einpaar missgebildete Bit Beasts verpesten. Früher oder später hätte ich sie auch so getötet.“ Dann verfinsterte sich sein Blick und er sprach leise: „Das mir das aber nicht zur Gewohnheit wird. Dranzer hat immer noch eigenmächtig gehandelt und du tust nicht gut daran, ihr jeden Frevel durchgehen zu lassen.“

„Ich weiß.“

„Warum duldest du es dann?“

„Sie ist so… ungestüm. Wenn sie erst einmal aufbegehrt, kann man sie kaum bändigen.“

„Wenn du sie als ihr Mentor nicht gezähmt bekommst, könnte ich es doch künftig versuchen?“ Ein böses Lächeln stahl sich über seine Lippen und Driger zog verärgert die Brauen zusammen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und sprach:

„Du weißt genauso gut wie ich, dass das nicht gut gehen würde! Sie mag mich zwar auch manchmal übergehen, doch ich bin der Einzige der zu ihr durchdringt. Dich hasst sie…“

Dragoon lachte. Die Aussage kränkte ihn nicht, schien ihn sogar zu erfreuen. Driger ging nicht weiter darauf ein, sondern meinte: „Genug von Dranzer. Was hast du als Nächstens vor? Gibt es etwas, was wir noch tun sollen?“

„Bisher läuft alles wunderbar, mein alter Freund. Lass uns das Schauspiel einfach beobachten. Wenn unsere Gäste nichts verängstigt werden, werden sie schon bald Gefallen an dieser Welt finden.“
 


 

*
 

An anderer Stelle saß eine kleine Gruppe Jugendlicher in einem Eiscafe und beobachte deprimiert durch die Scheiben, wie hunderte Gesichtslose, geschäftig in der Shopping Mall auf und ab liefen. Diese Wesen hatten sich in der kurzen Zeit zu Milliarden multipliziert und jeder schien seinem Zweck zu haben.

Nur sie wussten nichts mit sich anzufangen.

Tatenlos, Ahnungslos, Nutzlos…

Drei Eigenschaften die auf sie voll ins Schwarze trafen.

Keiner von ihnen wusste wie es jetzt weiterging, keiner wusste wie sie ihre Situation ändern konnte, keiner wusste wie sie nachhause kamen. Ohne Kai war das zum jetzigen Zeitpunkt sowieso nicht möglich. Es stand außer Frage, dass sie diese Welt nicht ohne ihn verlassen würden. Die Einkaufstüte mit seiner Kleidung thronte auf einem der Stühle, als wollte sie mit jeder Minute in Erinnerung rufen, dass noch jemand in ihrem Team fehlte.

„Noch einen!“, rief Tyson zum Tresen.

Eine gesichtlose Bedienung kam um die Ecke, mit einem bunt geschmückten Eisbecher und hob ein Schild in die Höhe: „Das ist schon ihr Vierter!“

„Ist doch bloß Eis!“

„Mit Eierlikör!“

„Als VIP kann ich machen was ich will, also her mit dem Teil und Schilder in den Arsch geschoben, Penner!“

Lauter als nötig wurde das Tablett auf den Tisch geknallt und der leere Becher abgeräumt. Als sich die Bedienung abwandte, konnte die Gruppe ein Schild erkennen, mit der Aufschrift:

„(Flüstern) Arschloch!“

„Das hab ich gelesen!“, rief Tyson, dann wandte er sich kopfschüttelnd an Max. „Denkt der ich bin Legastheniker?!“

Der Angesprochene zuckte mit den Schultern.

„Da fragst du den Falschen. Aus diesen Gestalten werde ich nicht schlauer.“

„Wisst ihr, als ich klein war, hat in unserer Welt in diesem Eiscafe so eine hübsche Europäerin gearbeitet“, begann Tyson zu erzählen und seine Wut verflog. Er wurde verlegen und kratzte sich am Nacken. „Das war so eine süße Brünette, mit Sommersprossen und einer total hübschen Stupsnase. Wenn Hitoshi und ich hier einkaufen waren, hat er mir immer ein Eis geholt. Dann hat sie immer gelächelt und mir eine Kugel extra auf die Waffel gepackt.“

Sabber lief Tyson am Mundwinkel zusammen und er rieb sich grinsend den Bauch.

„Man hat das lecker geschmeckt. Viel besser als das von dem ollen Gesichtslosen. Die hübsche Dame war total nett. Sie hat mir immer zugezwinkert, weil sie dass ja eigentlich nicht durfte. Stellt euch mal vor sie hätte das bei jedem Kind getan. Der Laden wäre schnell pleite.“

Ray und Max mussten lächeln. Tysons Herz ließ sich schon in seiner Kindheit mit Essen gewinnen. Letzterer schüttelte schließlich den Kopf und meinte:

„Tja, die Menschen hier sind einfach nicht dieselben. Das wird diese Scheinwelt uns nie vorgaukeln können. Lasst uns weiter gehen. Vielleicht finden wir Kai…“

Der Rest der Gruppe nickte und Tyson schaufelte eiligst die letzten Löffel in den Mund. Dann erhoben sie sich und liefen aus dem Eiscafe hinaus, natürlich ohne zu zahlen. Schließlich waren sie in dieser Welt VIPs! Wäre ja noch schöner…

Keiner von ihnen wandte seinen Blick noch einmal hinter die Eisdiele, sonst hätten sie bemerkt, dass dort seit einpaar Sekunden eine brünette Verkäuferin mit Sommersprossen arbeitete, die mit einem freundlichen Lächeln, kleinen gesichtslosen Kindern eine Extrakugel in den Eisbecher tat, und ihnen anschließend verschwörerisch zuzwinkerte.
 

Die Gruppe ließ sich mit der Rolltreppe, vom ersten Stock nach unten ins Erdgeschoss befördern. Ein herrlicher Springbrunnen plätscherte dort vor sich hin, an dessen Rand sich einige Gesichtslose tummelten, um eine kleine Pause einzulegen. Sie wollten gerade aus der Shopping Mall hinaus, als sie etwas hörten, das für sie schon vollkommen in Vergessenheit geraten war – Stimmen.

Andere Stimmen außer ihren eigenen. Einige gesichtslose Schülerinnen rannten an ihnen vorbei. Auf ihren Schildern prangte: „IGITT! IST JA EKLIG!“

Fragend sahen die Jungs der aufgescheuchten Meute nach, bis noch mehr folgten.

„Was ist denn los?“, fragte Max.

„Keine Ahnung. Lasst uns mal nachsehen!“, antworte Ray und bildete die Vorhut.

Neugierig kämpfte die Gruppe gegen den ansetzenden Strom aus davon laufenden Gesichtslosen an und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Die Stimmen wurden lauter, das Erdgeschoss leerte sich und als sie am Brunnen ankamen, blieb ihnen die Spucke weg.

Beinahe wären sie am Ursprung des Tumults vorbeigelaufen.

Auf der Rückseite des Springbrunnens, hatte sich eine große Schar aus leuchtenden Mäusen gebildet. Sie hockten überall. Vor dem Brunnen, auf dem Brunnen, auf Sitzbänken, Stühlen und Tischen der Eiscafes. Manche guckten aus Blumentöpfen hervor oder saßen auf den Blättern der Pflanzen. Jede erdenkliche Art schien anwesend. Zwergmäuse, Hausmäuse, Streifenmäuse, Springmäuse…

Es gab schwarze, graue, weiße, gescheckte, gestreifte und alle leuchteten matt und hinterließen einen kleinen silbrigen Funkenregen hinter sich, wenn sie davon sprangen.

Eine graue Hausmaus stand am Rand des Brunnens als wäre es ihre Bühne. Hinter ihr standen vier weiße Zwergmäuse, die immer wieder im Takt ihr Wehklagen beteuerten, wenn die Hausmaus ihre Parolen verkündete.

„Denn meine Kinder, sie wusste es nicht besser!“, rief sie über die Menge.

„Sie wusste es nicht besser!“, klagten die weißen Mäuse.

„Sie wollte nicht auf uns hören!“

„Sie wollte nicht hören!“

„Und nun ist sie tot! Möge Gott ihrer Seele gnädig sein!“

„Ihrer Seele gnädig sein! Amen!“

Ray gab neben Tyson ein unterdrücktes Lachen von sich. Diese Gospel Beerdigung schien er mehr als komisch zu finden und wenn er ehrlich war, konnte Tyson sich auch nur mehr schlecht als recht zusammenreißen. Wie die graue Maus mit ihren kleinen Ärmchen herumfuchtelte und sich aufplusterte – es sah zu drollig aus.

„Lasst euch das eine Warnung sein!“

„Eine Warnung! Ja!“

„Nehmt euch kein Beispiel an dieser aufmüpfigen Ketzerin!“

„Kein Beispiel, oh nein!“

„Denn Dizzy hat ihre Strafe bekommen!“

„Eine bittere Strafe! Wie wahr!“

Sofort hielt die Gruppe die Luft an. Mit offenen Mündern sahen die Jungen sich an. Sie waren auf Dizzys Beerdigung und lachten sich auch noch ins Fäustchen! Die Schuldgefühle die in ihnen hochkamen, waren mit keinem Wort zu beschreiben…

„Wie oft habe ich ihr gesagt sie soll sich nicht mit den Menschen anfreunden!“

„Freundet euch nicht mit Menschen an!“, sangen die weißen Mäuse.

„Doch sie wollte nicht hören. Sie wollte immer zurück zu ihrem Menschen.“

„Zurück zu diesem verruchten Menschen!“

„Sie hat gesagt, wir müssen uns weiterentwickeln. Wir müssten aus unserer Stellung in der Bit Beast Welt ausbrechen. Was hat es ihr gebracht, frage ich euch? Nichts weiter als den Tod und Schande über sie! Sie ist ohne Ehre gestorben! Als Ausgestoßene…“

„Oh du glücklose Ausgestoßene…“, piepste der jammernde Chor kopfschüttelnd.

Tyson blieb der Kiefer vor Empörung offen. Der Redner ließ ja kein gutes Haar an ihrer wunderbaren Dizzy. Sie war eine treue Ratgeberin und ehrliche Persönlichkeit gewesen.

Wo erwähnte er das?

„Hey! Tote soll man nicht in den Dreck ziehen!“, rief er wütend.

Gleichzeitig drehten sich alle Mäuseköpfe zu ihm. Dutzende kleine Knopfaugen blinzelten ihn verwundert an.

Dann…

„Hört nicht auf dieses Phantom! Es ist nichts weiter als eine Täuschung der Uralten! Nun lassen sie diese seelenlosen Geschöpfe bereits sprechen. Und das alles für eine Bande Menschen…“

Die Köpfe wandten sich wieder dem Sprecher zu. Tyson wollte gerade loszetern, als eine kleine schwarze Springmaus aus der Menge hervorhüpfte.

„Ausgerechnet ein Phantom spricht mehr Wahrheit als du!“, schimpfte sie. Mit einem weiteren Satz landete sie auf dem Brunnenrand.

„Wie kannst du eine deiner Schwestern bloß so verleugnen? Gerade in so schwierigen Zeiten sollten wir zusammenhalten! Dizzy ist keine Ketzerin, sie ist eine Märtyrerin, für alle unterdrückten Bit Beasts die sich von der uralten Generation tyrannisieren lassen!“

„Bist du wahnsinnig?! Rede nicht so laut! Sie könnten dich hören!“, ängstlich blickte die graue Maus umher. Die weißen Zwergmäuse stoben aufgeregt davon.

„Mir doch egal!“, antwortete die Springmaus standhaft und klopfte mit ihrem länglichen Fuß demonstrativ auf den Brunnenrand.

„Sollen sie doch kommen! Ich fürchte keinen von ihnen! Weder diesen arroganten Singvogel noch den zerzausten alten Kater! Von dem schuppigen zahnlosen Reptil will ich gar nicht anfangen!“

Ein erschrockener Aufruhr ging durch die Mäusemenge. Einige erhoben sich von ihren Plätzen und rannten eiligst weg. Die Ratten verließen das sinkende Schiff…

„Driger wird dich in der Luft zerreißen, Allegro! Und uns wirst du mit ins Verderben stürzen! Du kannst denken was du willst, zieh uns aber nicht mit in den Abgrund! Verschwinde!“

„Ich tue was mir gefällt! Soll ich stumm dasitzen und mit anhören, wie die Feigen die Mutigen entehren? Dizzy hat sich mehr getraut als du, trotzdem wagst du es über sie herzuziehen.“

„Ich muss ein Exempel statuieren. Sonst kommen junge Bit Beast auf die Idee es ihr gleichzutun. Ich sorge mich um meine Brüder und Schwestern, im Gegensatz zu dir! Du bist Schuld wenn noch mehr von uns den Uralten zum Opfer fallen…“

„Aber das geschieht doch bereits!“, brauste die Maus namens Allegro auf. „Täglich macht sich Driger einen Spaß daraus uns herumzukommandieren. Er sucht faule Ausreden um einen von uns in seinen gierigen Rachen wandern zu lassen! Draciel überflutet unsere Bauten und lässt uns elendig darin ertrinken! Von Dranzer möchte ich gar nicht erst anfangen. Man kann keinen Schritt auswärts gehen, schon jagt das geflügelte Ungetüm einen durch die Straßen! Und was tut Dragoon? Er rührt keinen Finger! Er heißt das auch noch gut, weil wir für ihn nichts weiter als eine minderwertige Unterklasse sind!“

Er wandte sich der Mäusemeute zu.

„Ich sage: Das muss aufhören! Wir müssen anfangen uns zu wehren! Wir sind vielleicht klein und schwach, aber unsere Arbeit ist in der Menschenwelt auch von Nöten, genau wie die von einem hochwohlgeborenen Dragoon, Draciel, Driger oder Dranzer! Heutzutage sind wir sogar wichtiger als noch vor drei Jahrzehnten! Wer wandert durch die Stromkabel in die Lampen der Menschen und erhellt ihre Welt bei Nacht? Wer bringt ihre gesamte Elektronik zum Laufen? Batterien, Akkus, Ladegeräte, alles wir! Himmel, man stelle sich mal vor, was die Menschen ohne Strommäuse tun würden? Was meint ihr wie viele Kinder mit einer Beule auf dem Kopf zur Schule gehen würden, weil sie nachts auf dem Weg zur Toilette die Treppe runtergestürzt sind! Wir sind genau so wichtig wie diese arroganten Uralten!“

„Schweig Allegro! Du vergiftest die Jugend!“, die graue Maus versuchte verzweifelt ihn vom Brunnenrand zu schieben.

„Hast du schon mal daran gedacht, von wem wir unsere Energie für unsere Arbeit bekommen? Von den Uralten! Alles basiert auf den vier Elementen. Sie haben das gute Recht uns zu kommandieren!“

„Aber nicht uns zu töten! Wir müssen Dizzy rächen! Vielleicht können uns die Menschen helfen? Wir könnten mit Dizzys Menschen sprechen. Er hat sie geliebt, wie keine andere!“

„Du bist des Wahnsinns! Ein Mäuse Bit Beast hat sich noch nie mit einem Menschen eingelassen. Wegen diesen Menschen haben wir doch diese Probleme. Schau doch was es Dizzy eingebracht hat!“

„Die Uralten sind das Problem nicht die Menschen. Sie handeln aus reiner Willkür! Wir müssen es wie die Menschen tun! Wenn bei denen etwas nicht klappt, dann streiken die Menschen! Ja genau! Wir streiken!“

„Hört nicht auf ihn! Hört nicht auf ihn!“

„Generalstreik! Flächenstreik! Schwerpunktstreik! Viva la Résistance!“, rief Allegro und kämpfte gegen die graue Maus an, die ihre ganze Energie darin einsetzte, ihn vom Rand zu stoßen.

Tyson hatte das Gefühl, dass Allegro nicht genau wusste, was er da hinausposaunte. Er schien die Worte irgendwo aufgeschnappt zu haben. Trotzdem fand er ihn sympathisch. Allegro hatte etwas wunderbar Rebellisches an sich und traute sich mehr zu, als seine Artgenossen. Der Junge trat etwas näher an den Brunnen heran, ging davor in die Hocke und beobachtete die rangelnden Mäuse.

„Wenn ich mich mal einmischen darf, ich finde Allegro hat Recht.“, sprach Tyson schließlich.

Sofort hielten die beiden Mäuse in ihrer Bewegung inne. Dabei saßen sie in einer irrwitzigen Position fest. Allegro hatte sein Ärmchen im Maul der grauen Maus versenkt, während die ihren auf sein rechtes Auge presste.

„Wie bitte?“, fragte Allegro ungläubig.

„Naja. Was du gesagt hast… Menschen sind ohne Elektrizität voll am Arsch.“

„Am Arsch?! Wie vulgär!“, piepste die graue Maus schnippisch. Tyson schenkte ihr keine Beachtung. Sie kam wie die Klassenpetze rüber. Die Art von Leuten, denen auf dem Schulhof gerne die Unterhose über den Kopf gezogen wurde.

„Wenn ihr wirklich so viel in der Menschenwelt bewegt… Wow! Davon hatte ich echt keine Ahnung! Was ist wenn ich Game Boy spiele? Seid ihr da auch drin!“

„Oh! Ein Phantom das seinen Horizont erweitern möchte? Das lobe ich mir!“ Die graue Maus ließ von Allegro ab, nahm Anlauf und wollte ihn mit Schwung von der Kante stoßen. Doch der hopste zur Seite und mit einem Aufschrei rollte sie stolpernd vom Brunnenrand. Allegro widmete sich voller Freude Tyson zu. „Ja aber gewiss! Da sind wir auch! Wir sind überall wo Energie gebraucht wird!“

Max und Ray kamen näher. Ersterer fragte: „Auch in meiner elektrischen Zahnbürste?“

„Natürlich.“

„Fernbedienung?“

„Freilich.“

„Was ist mit meiner Autobatterie?“, fragte Tyson - Ganz der Autonarr.

„Alles wir.“

„Cool!“, kam es im Chor von der Gruppe. Da tauchte die graue Maus wieder auf und kletterte ächzend den Brunnenrand hoch. Sie konnte es bei weitem nicht so elegant wie Allegro.

„Wie auch immer…“, keifte sie und sprang hinauf, wandte sich der Mäusemeute zu.

„Ihr habt gesehen was mit Dizzy passiert ist. Lasst euch also auf gar keinen Fall auf das Menschenpack ein, dass die Uralten hier angeschleppt haben! Helft ihnen nicht, sprecht nicht mit ihnen oder noch besser - seht sie einfach nicht! Wenn ihr einem Menschen begegnet, geht ihm aus dem Weg! Ein kilometerweiter Bogen um diese Kreaturen!“

Eine kleine Mäusepfote hob sich aus der Menge.

„Die grauweiß getüpfelte Maus ganz Links hat das Wort.“

Ein unsicheres Räuspern kam von dem angesprochen Bit Beast und ganz schüchtern fragte die kleine Maus:

„Entschuldigung ehrenwerter Vorsitzender, aber wie sollen wir die richtigen Menschen von den Phantomen unterscheiden? Ein Stockwerk höher hat eines von ihnen bereits ein Gesicht und mein Cousin sagt, dass er schon drei oder vier mit Stimmen entdeckt hat.“

„Das ist ein Problem. Hmm… Da müssen wir eine Lösung finden.“

„Wir können helfen“, meinte Max grinsend.

„Pah… Dieses Phantompack! Warum können die bloß neuerdings sprechen? Als sie dumm und gesichtslos waren, mischten sie sich in weniger Dinge ein…“

„Ach Gott. Das tut mir aber Leid, “ antworte Max und gaukelte eine mitleidige Schnute vor. „Aber ich mach es kurz, nur um dich nicht weiter zu belästigen: Wir sind die Menschen.“
 

Stille.
 

Die gesamten Köpfe der Mäuse wandten sich der Gruppe zu.

Dann wieder zu ihrem Anführer.

Und plötzlich brüllte der:

„MENSCHEN!!!“

Dann brach ein Tohuwabohu aus!

Überallhin stoben dutzende der Nagetiere davon. Egal welche Fellfarbe sie zuerst gehabt hatten, plötzlich verwandelten sich alle in kleine, blaue, zischende, mäuseförmige Blitze. Sie verschwanden hinter Ladenecken, rannten aus der Shopping Mall, einige schossen Funken sprühend in die Deckenlampen über ihnen. Die Gruppe rührte sich nicht von der Stelle, aus lauter Angst, eines der scheuen Tierchen zu zertreten. Tyson balancierte wacklig auf einem Bein, während die Bit Beasts, wie eine elektronisch geladene Flut, bestehend aus einer Masse von kleinen Köpfen, Knopfaugen und Ärmchen, an seinem Fußknöchel entlang schossen. Erst als der Strom der Flüchtenden nachließ, traute er sich wieder das andere Bein auf dem Boden abzusetzen.

„Wow! Was für eine Massenpanik!“, meinte Max lachend. Er hatte es mit seinem Geständnis wohl darauf angelegt, denn er lachte lautstark.

Ein Piepsen drang zur Gruppe.

Eine leicht verwirrte Maus konnte sich nicht entscheiden wohin.

Sie rannte nach links, überlegte es sich auf halber Strecke anders, dann wieder nach rechts und dasselbe Spiel noch mal. Ein gemeines Grinsen huschte über Tysons Gesicht und er stampfte mit einem „Buh!“ einmal hart auf dem Boden auf.

Sofort machte die Maus einen erschrockenen Satz, verwandelte sich in einen Blitz, schoss durch ein verglastes Schaufenster, das in dutzende Scherben zerbarst und verschwand in einer elektronischen Registrierkasse. Die zerbrochenen Scheibenstücke prasselten laut klirrend auf dem Boden, während der gesichtslose Verkäufer im Laden, fassungslos die Hände über den Kopf schlug und wild gestikulierte.

„Das war gemein Tyson!“, tadelte Ray verständnislos, doch seine Freunde brachen nur in schallendes Gelächter aus und hielten sich vor Anstrengung den Bauch. Sie fühlten sich wie kleine Kinder die in einer Einkaufspassage Tauben jagten. Allein die Panik der „Obermaus“ war Gold wert gewesen.

Dann…

„AUTSCH!“, prallte ein kleiner Funken gegen Tysons Wange.

Dann Max: „AUA! HEY!“

Wieder Tyson.

Dann noch mal Max.

Und schon prallte der kleine Blitz immer wieder zwischen ihren Köpfen hin und her, bis sich die Jungs schützend die Hände darüber schlugen und wild durch die Gegend rannten. Keine Minute verging und die ersten roten Stellen erschienen auf den Gesichtern seiner Freunde, doch der kleine Funken wurde seiner Tätigkeit nicht müde. Ray stand Hilfe suchend daneben, bis sein Blick auf einen Intersport Store fiel. Draußen an der Eingangstür, ragten dutzende Golfschläger, aus einem trommelförmigen Behälter. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, rannte er auf den Laden zu, klaubte sich einen aus dem Eimer und schritt eiligst zurück. Gerade als der Blitz noch einmal Max attackieren wollte, ging er dazwischen und schlug mit aller Kraft nach dem Bit Beast.

BAMMM!

Plötzlich sprühten die Funken nur durch die Gegend und Ray ließ zuckend einen lauten Schrei fahren. Irgendwann glitt der rauchende Schläger zu Boden.

Dann wurde alles still.

Ihr Freund schwankte einpaar Schritte nach hinten und landete benommen auf einer Sitzbank, wo er erstmal stöhnend sitzen blieb. Er hatte einen Blick drauf, als wüsste er selbst nicht was mit ihm passiert war. Sofort rannten Tyson und Max zu ihm.

„Ray! Alles in Ordnung?!“

„Wie viele Finger siehst du?“

Tyson fuchtelte wie wild mit seiner Hand vor dessen Gesicht. Doch Ray gab keine Antwort.

An vereinzelten Stellen standen seine Haare zu Berge und sein rechtes Augenlid zuckte.

„Scheiße, was war denn das?“, fragte er fassungslos.

„Der Golfschläger ist aus Metall! Nicht einmal der Griff ist aus Gummi… Da kannst du doch nicht nach einem Blitz schlagen!“, meinte Max. Er tätschelte seinem Kumpel fürsorglich über die Schulter. „Ray, das lernt man in der fünften Klasse. Wenn nicht sogar durchs Fernsehen…“

Ein geknicktes „Upps… Vergessen…“ kam von seinem Freund.

Dann ließ er sich in die Lehne fallen.

Einpaar Sekunden starrten sie mitleidig auf Ray herab, bis ein Stöhnen zu der Gruppe drang.

Neben dem Golfschläger torkelte die kleine Gestalt von Allegro hin und her. Die schwarze Springmaus konnte nicht einmal gerade laufen. Irgendwann ließ sich das Bit Beast einfach auf den Hintern plumpsen, schloss die Augen, während das kleine Köpfchen benommen in alle Richtungen schwankte. Er sah aus wie ein zu klein geratener Wackeldackel.

Tyson tat das winzige Kerlchen irgendwie Leid. Er schritt langsam auf das Bit Beast zu und ging davor in die Hocke.

„Alles klar bei dir?“

„Du! Rede nicht mit mir!“, bockte Allegro. Es sollte wohl mutig klingen, doch die Erschöpfung war deutlich herauszuhören.

„Erschreckst einfach so meine Sippe. Schämst du dich nicht?“

Tyson kratzte sich am Nacken und meinte:

„War doch bloß ein Scherz. Ich hab das nicht so gemeint…“

„Dank deinem Scherz werden Strommäuse niemals vertrauen zu Menschen fassen! Ach, die gute Dizzy... Ich wünschte sie wäre noch hier. Sie hat mir stets so viele Geschichten über ihren Menschenjungen erzählt. Der schien viel netter als ihr.“

„Ich kann auch nett sein!“, beteuerte Tyson wichtigtuerisch.

„Das glaube ich weniger. Geschieht euch Recht was euch passiert ist! Obwohl… Um den anderen Jungen tut es mir Leid. Den wollte ich nicht treffen. Der schien mir ganz vernünftig.“

Tyson und Allegro blickten zu Ray, der noch immer total groggy auf der Bank saß. Er stand total neben sich und rief:

„Ich find dich auch toll! Wollt schon immer mal von einem Blitz getroffen werden!“

Max gab ein mitleidiges Lachen von sich. Allegros Funken hatte sich angefühlt, als würde jemand einen Ballon am Haarschopf reiben und die elektrische Ladung nutzen, um seinem Kumpel einen kleinen Stromschlag zu verpassen. Es war unangenehm, aber nicht besonders schmerzhaft gewesen.

Ray hatte aus purer Freundschaft die ganze verstärkte Wucht abbekommen. Max schlang einen Arm um dessen Taille, hievte seinen Freund von der Bank hoch und zusammen schritten sie auf Tyson zu. Der meinte zu Allegro:

„Du hast Dizzy gekannt?“

„Die gute Dizzy? Natürlich. Sie war mein Vorbild.“

Das Bit Beast schüttelte traurig den Kopf, ließ die kleinen Ohren hängen.

„Es ist ein Jammer. Einfach so getötet… Keine andere Maus hat sich das getraut, was sie getan hat. Stärkere Bit Beast haben Angst euch zu helfen, aber Dizzy als schwächstes Glied, hat den Mut aufgebracht.“

„Deine Familie hat eine seltsame Art ihre Bewunderung auszusprechen.“

Ein verächtliches Schnauben kam.

„Die?! Wer sich auf die verlässt, ist selbst verlassen! Feiges Pack. Kein Funken Stolz im Mäuseleib. Das Schlimme ist, alle aus meiner Sippe sind so. Nur Dizzy… Sie war anders. Und jetzt ist sie tot.“

Allegro senkte den kleinen Kopf.

„Sie wollte mir auch irgendwann einen Menschen finden. Einen guten Menschen. So wie ihren, damit ich für immer von hier weg kann. Ich wollte schon immer mehr von der Menschenwelt sehen. Aber die Menschen denken nicht mehr an Bit Beasts. Sie nennen uns einen vorübergehenden Trend.“

Tyson wollte das Gegenteil behaupten, doch ihm fiel ein, dass er nicht besser war. Jede Antwort wäre pure Heuchelei gewesen. Dann kam ihm ein Gedanke…

„Weißt du, nicht die Bit Beast sind in Vergessenheit geraten, Beyblades sind nicht mehr im Trend. Die Leute von damals sind erwachsen geworden. Gibt es denn keine anderen Hüllen in die ihr Schlüpfen könnt? Etwas Alltäglicheres? Muss es ein Beyblade sein?“

„Das kann ich dir nicht beantworten. Ich war noch nie in einer Hülle.“

„Allegro, weißt du wie man aus der Irrlichterwelt gelangt?“, fragte Max unvermittelt. Das kleine Kerlchen schien das einzige Bit Beast zu sein, mit dem man normal sprechen konnte.

„Warum sollte ich euch helfen?“

„Naja, weil du so viel netter bist.“, antwortete Tyson. Er wollte nicht schleimen, es war einfach die Wahrheit. Hier vor ihnen saß das erste Bit Beast, das sie nicht fressen oder zerfleischen wollte. Man konnte mit Allegro sprechen wie mit einem Menschen.

„Wir hatten bisher nur die Bekanntschaft mit ziemlich… Sagen wir mal, fragwürdige Kreaturen. Du scheinst anders zu sein.“

„Ihr meint die Hyänen?“

„Woher weißt du das?“

„So etwas bleibt nicht lange geheim. Die ganze Hyänensippe ist ausgelöscht worden! Ich würde lügen, wenn ich sage, dass es mir um diese ekligen Geschöpfe Leid täte. Sie haben uns gejagt. Dranzer und Driger haben uns ungewollt einen Dienst erwiesen. Doch die Art wie sie es getan haben… Einfach furchtbar. Eine ganze Sippe ausgelöscht, innerhalb von einpaar Minuten.“

Ein kalter Schauer jagte durch den Mäusekörper.

„Seid dem ist sich kein schwächeres Bit Beast sicher, ob es nicht als nächstes getötet wird. Wir sind eigentlich Geister und unsterblich. Nur in unserer Welt kann man uns töten. Und die Uralten. Die können jeden hier töten…“

„Wenn das so ist, solltest du uns nicht helfen.“, sprach Tyson. „Ich will nicht dass dir dasselbe passiert wie Dizzy. Schlimm genug dass sie nicht mehr da ist.“

Ein zustimmendes Nicken kam von Max.

Ray wäre wohl auch dafür gewesen, aber er schien leicht… abwesend.

Wobei das noch untertrieben war.

Allegro sah auf und blickte Tyson in die Augen. Die schwarze Springmaus legte den Kopf leicht zur Seite und Tyson hatte das Gefühl, als würde er ihn röntgen. Irgendetwas schien das Bit Beast aus seinen Augen zu lesen. Nach kurzer Zeit, sprang es nämlich auf und sagte:

„Wer wäre ich denn, wenn ich nicht das Werk der edlen Dizzy beenden würde? Ich bin doch nicht so ein Feigling wie der Rest meiner Sippe! Ich hoffe schwer, ihr meintet das nicht ernst, sonst wäre ich mehr als verstimmt, meine Herren!“

Tyson musste Grinsen. Er behielt Recht mit seiner Vermutung.

Allegro war ein waschechter Rebell.
 

Ende
 

Eigentlich wollte ich das Kapitel jetzt noch gar nicht posten, weil ich im Moment eine riesige Schreibblockade habe. Ich weiß wie die Geschichte endet, ich weiß worauf sie hinausläuft, nur der Weg dorthin, der will nicht so recht aus meinem Kopf kommen. Das Ganze lief noch flüssiger als ich mich vor einem Jahr an das erste Kapitel gesetzt habe. Außerdem fehlt mir komplett die Motivation weiterzuschreiben. v__v

Naja, wie auch immer. Ich versuche weiterzumachen. Stellt euch aber auf längere Wartezeiten ein.
 

LG Eris

„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt,

Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!“
 

Tyson rollte mit den Augen, konnte sich ein amüsiertes Grinsen aber nicht verkneifen. Seid Allegro zu ihnen gestoßen war, entpuppte sich die kleine Springmaus als Liebhaber von Versen, Gedichten und Heldensagen.

Er war nicht nur ein Rebell, sondern auch ein Philosoph und schien ein wahnsinniges Interesse an der Menschenwelt zu haben. Im Club der Denker wäre er gut aufgehoben gewesen. Wie nicht anders zu erwarten, war er besonders angetan von mutigen Persönlichkeiten wie Che Guevara, Wilhelm Tell und dem Unknown Rebell, auch bekannt als Tank Man. Das fand vor allem Ray sympathisch.

Geradezu euphorisch sprach Allegro von Stauffenberg! Er hatte zwar keine Ahnung was ein Nazi war, aber da die gesamte Menschheit sie als etwas Böses ansah, war er sicher, dass Stauffenberg ein sagenhafter Held war, immerhin war er den Märtyrertod gestorben.
 

„Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind,

Er hält in den Armen das ächzende Kind,

Erreicht den Hof mit Mühe und Not,

In seinen Armen das Kind war tot.“
 

Max und Ray begannen zu applaudieren. Allegro hatte das Gedicht wirklich so wundervoll vorgetragen, dass jeder Lehrer vor Glück in Tränen ausgebrochen wäre. Die kleine Maus verbeugte sich auf Rays Schulter und bedankte sich höflich. Die Gruppe konnte sich vorstellen, dass seine Familie nichts mit Versen und Helden anzufangen wusste. Umso wohler schien er sich deshalb in der Gegenwart der Menschenkinder zu fühlen.

„Wunderbar“, log Tyson. Eigentlich war er ein Kunstbanause, aber er wollte Allegro nicht verletzen. „Aber so schön dein Gedicht auch war, wir müssen uns leider noch auf etwas anderes konzentrieren. Vielleicht kannst du uns später noch ein oder zwei Verse vortragen.“

„Oder gar keins!“, betete er im Gedanken inständig. Er konnte echt nichts mit Reimen anfangen. Manche bestanden aus Wörtern die es in seinem Vokabular gar nicht gab.

„Wie wahr mein Junge“, bestätigte Allegro.

„Eigentlich bin ich kein Junge. Ich bin…“, Tyson stoppte, sah an sich hinunter und meinte schließlich seufzend, „… inzwischen ein Junge.“

Ihre Körper waren mittlerweile auf dem Stand von vierzehnjährigen Teenagern. Wenn es weiter so Berg ab ging, mussten sie ernsthaft in Erwägung ziehen, eine Packung Pampers mit sich zu tragen.

„Allegro, weißt du wie wir verhindern können dass wir jünger werden?“, fragte Max.

Die kleine Maus legte den Kopf leicht schief und meinte:

„Das hängt ganz davon ab wann ihr den Uralten begegnet seid.“

„Was hat das damit zu tun?“

„Als ihr ihnen das erste Mal begegnet seid, wart ihr da nicht begeistert?“

„Na ja“, druckste Max herum und stieß einen Stein vor sich her. „Ein bisschen…“

„Sei ehrlich.“

„Ja. Schon ziemlich.“

Es war Max peinlich, deswegen erwähnte er es nicht, aber für Draciel hatte er damals einen provisorischen Altar errichtet und er konnte nicht anders, als drei Mal am Tag summend sein Blade zu polieren.

„Das ist der springende Punkt. Jeder von euch wird zum Anfang zurückversetzt, als ihr euer Glück noch kaum fassen konntet. Danach werdet ihr nicht mehr jünger. Die Uralten sind ein arrogantes Pack. Sie lieben es vergöttert zu werden.“

Allegro wandte schnippisch den Kopf zur Seite und meinte:

„Als wären diese Ungetüme etwas besseres als wir. Meine Sippe trägt genauso zum Wohl der Menschheit bei wie diese hochnäsigen Geschöpfe!“

Tyson fiel schnell auf, wie schlecht man von ihren Bit Beasts in der Irrlichterwelt sprach. Jedenfalls ließ Allegro kein gutes Haar an ihnen. Ihre Bit Beasts schienen diese Welt mit eiserner Hand zu führen, nach einer strikten Klassenordnung. Etwas enttäuscht musste er dabei feststellen, dass sein früher über alles geliebter Dragoon, hier verhasst und gefürchtet war. Von diesem treuen und stolzen Geschöpf hätte er das niemals erwartet. Dieser Gedanke ließ seine Laune ziemlich in den Keller sinken und enttäuscht meinte er:

„Ich kann nicht glauben dass unsere Bit Beast hier so gehasst werden…“

„Leider doch.“, antwortete Allegro, aber er merkte schnell die deprimierten Gesichter die zu Boden sahen. Dann seufzte er und meinte: „Ich muss allerdings gestehen, es war nicht immer so…“

„Wie meinst du das?“ fragte Ray. Die Gruppe hielt kurz inne und stoppte mitten auf dem Gehweg. Um sie herum liefen geschäftige Gesichtlose kreuz und quer.

„Ich war damals noch nicht geboren, doch soviel ich weiß waren die Uralten noch vor einem Jahrzehnt friedlicher. Sie waren ausgeglichener. Jedes Bit Beast hat in Ruhe seine Arbeit getan, ohne sich von ihnen beobachtet zu fühlen. Es ging alles seinem normalen Gang. Jeder wusste was er zu tun hat. Dann kam irgendwann der Nebel.“

Allegros Blick wanderte gedankenverloren zu der Wolkendecke über ihnen.

„Und mit dem Nebel kam die Willkür.“

Nun blinzelte jedes Augenpaar hinauf. Die graue Masse über ihnen schwebte zwischen den Hochhäusern träge hindurch, wie eine dicke Aschewolke von einem ausbrechenden Vulkan. Zwar lichtete es sich an vereinzelten Stellen, doch der Tod der Hyänenmutter schien die wabernden Schwaden nicht aufzulösen.

„Heißt das es sah hier nicht immer so aus?“, fragte Max.

„Ich war noch nie in der Menschenwelt, aber laut Dizzy ist unsere Welt früher fast genauso gewesen wie die eure. Eure besitzt aber noch immer Farben. Was immer das sein mag…“

„Du weißt nicht was Farben sind?“

„Nein. Was denn?“

Die kleinen Mäuseaugen schielten neugierig zu Max. Doch der hatte das älteste Problem der Menschheit: Erklär einem Blinden wie Rot aussieht.

In Allegros Fall: Erklär jemanden, der nur Grau kennt, was Rot ist.

Max hätte sagen können: „Da drüben! Dieser Baum hat normalerweise grüne Blätter!“

Allegro wäre damit nicht geholfen. Wie einfacher wäre es auf die Farben zu deuten?

„Da! Das Auto war gelb lackiert! Und dort drüben, der Bus, der ist blau.“

Max seufzte deprimiert und wünschte sich Tokyo, mit seinen grellen Schildern, idyllischen Gärten und farbenfrohen Menschen herbei. Er schloss für einen Moment die Augen, rief sich alles in Erinnerung und als er wieder an sich hinab sah, bekam er einen riesigen Schrecken! Abrupt sprang er einen Schritt zurück.

Dort wo er zuvor noch gestanden hatte, leuchtete eine kleine kreisförmige Fläche auf. Sie begann sich auszubreiten, griff um sich mit ihren tausenden kleinen Verästelungen und wurde immer größer.

„Was hast du gemacht Max?“, fragte Tyson verwundert.

„Nichts! Ich schwöre!“

Das Schauspiel nahm weiter seinen Lauf.

Die Verästelungen breiteten sich aus, wie ein glänzendes Wurzelwerk, umfing alles in der Umgebung. Als der Boden nicht genug war, schlängelten sich die Zweige an den Gebäuden, Autos, Bäumen, sogar an den Gesichtslosen empor. Die graue Farbe auf ihnen wurde rissig, begann von ihrer Umgebung abzublättern, wie alter Lack, fiel zu Boden und zerfiel zu Staub. Unter der grauen Schicht kam eine Vielzahl von Farben zum Vorschein, bis die ganze Umgebung eine weitere Farbenoase wurde.

Irgendwie hatte es Max geschafft, mit der Innenstadt dasselbe anzustellen, wie Tyson mit dem Kanda Fluss. Selbst die Wolken verschwanden über dem Areal.

„Allmächtiger! Was geht hier vor?!“, piepste Allegro aufgeregt.

Der kleine Kopf schnellte zu allen Seiten. Er schien gar nicht zu wissen wo er als Erstes hinsehen sollte. Die Springmaus hopste von Rays Schulter auf den Boden. Total begeistert drehte er sich in alle Richtungen. Tyson befürchtete schon das er gleich einer totalen Reizüberflutung zum Opfer fallen würde.

„Oh oh! Seht mal da! Was ist denn das!“, Allegro deutete mit seiner Pfote auf eine gesichtlose Frau, auf der anderen Straßenseite, die einen strahlend gelben Rock trug.

„Oh wie herrlich! Es ist so… grell! Es tut mir fast schon in den Augen weh! Wie wundervoll!“

Ray begann zu lachen und auch Tyson hatte Schwierigkeiten es sich zu verkneifen.

Das kleine Kerlchen war total aus dem Häuschen.

„Das ist deine erste Bekanntschaft mit der Farbe Gelb“, meinte er schließlich.

„Gelb! Ich liebe es! Es ist so schön! Ich muss es anfassen!“

Plötzlich rannte Allegro los, ohne die fahrenden Autos auf der Straße auch nur eines Blickes zu würdigen. Tyson rutschte das Herz in die Hose, als ein riesiger Lastwagen auf die kleine Maus zu fuhr.

„Allegro! Halt!“, rief Max hinterher.

Die Springmaus blieb auf halber Strecke stehen, sah fragend zu der Gruppe hinüber und als er den LKW erkannte, erstarrte Allegro zur Salzsäule. Er sah das massige Ungetüm auf sich zurasen, unfähig sich auch nur einen Schritt von der Stelle zu bewegen. Der Klang der donnernden Reifen drang durch Mark und Bein. Die Kinnlade weit hinunter geklappt und mit geweiteten Augen, sah er sein Unglück auf sich zukommen.

Kurz bevor der schwere Transporter über ihn rollte, wurde Allegro von zwei Händen umschlossen und hörte anschließend ein lautes Dröhnen.

Tyson war auf die Straße gerannt, hatte den kleinen Kerl noch rechtzeitig zu fassen bekommen und sich schnell zum anderen Gehweg gerollt. Der LKW donnerte hupend an ihnen vorbei, hielt aber nicht an und fuhr weiter. Aus einem der heruntergekurbelten Seitenfenster konnte man aber deutlich einen Arm erkennen, der ihnen den Mittelfinger zeigte. Tyson blieb schnaufend auf dem Gehweg sitzen. Erst als sich sein Herzschlag normalisierte, öffnete er die Hände um Allegro zu entlassen.

„Alles in Ordnung bei dir?“

Die kleine Maus nickte, doch der Ausdruck auf dem kleinen Gesicht sprach Bänder. So mutig er auch war, das Zittern seines Körpers konnte Allegro nicht so schnell in den Griff bekommen. Tyson verzichtete auf eine Standpauke. Allegro schien aus seinem Fehler mehr als gelernt zu haben.

Dann…

„Junger Mann, bist du noch zu retten?!“

Erschrocken sah Tyson zur Seite – und da stand doch tatsächlich seine ehemalige Vorschullehrerin! Großer Gott, wie er die gehasst hatte! Ihre dümmste Angewohnheit war ihn immer…

„AU!“

… am Ohr zu packen.

„Freundchen, das wird deinem Großvater gar nicht gefallen! Warte nur bis zum nächsten Elternsprechtag! Das wird ein Nachspiel haben!“

Als die Straße ruhiger wurde, kamen auch Max und Ray herbeigeeilt. Erstaunt klappte ihnen die Kinnlade hinunter, als sie den ersten Menschen mit Gesicht sahen.

Sogar in Dolby Digital!

„Mrs. Ito! Was machen sie den in der Irrlichterwelt?!“, meinte Tyson zwischen mehreren Schmerzensschreien.

„Irrlichterwelt? Junge was redest du für einen Blödsinn?!“

Die verhasste Lehrerin ließ von seinem Ohr ab und plusterte sich auf. Das hagere, unfreundliche Gesicht sah ihn verächtlich an.

„Ich habe deinem Großvater schon immer gesagt, dass du in einer Traumwelt lebst. Warte nur Freundchen, ich werde ihm von deiner Aktion gerade eben erzählen. Dummer Taugenichts!“

Dann wandte sich Mrs. Ito ab und verschwand in der Menge.

„War das gerade… ein echter Mensch?“, fragte Max verdattert.

„Nach den Angewohnheiten zu urteilen schon.“, nuschelte Tyson kleinlaut und rieb sich über das schmerzende Ohr. Es lief bereits rötlich an.

„Nein! Das dürft ihr nicht mal denken!“, meinte Allegro aufgebracht.

Der Schrecken war überwunden.

„Wenn ihr anfangt zu glauben, dass diese Welt eure ist, ist es um euch geschehen! Ihr dürft nicht vergessen, dass dieser Teil der Irrlichterwelt nichts weiter als eine Kopie der Menschenwelt ist, eigens von den Uralten dafür erschaffen, um euch zum Narren zu halten. Wenn ihr euch auf dieses Spiel einlasst, kann euch niemand mehr retten. Dann wird die Täuschung eure Realität und ihr seid auf Ewig hier verloren, ohne zu ahnen, dass ihr euch in einem nie endenden Trott befindet. Die Menschenwelt wird sich weiterdrehen, während eure Welt stillsteht. Lasst das nicht zu! Diese Welt ist nur der Spiegel eurer Erinnerungen…“

„Der Spiegel unserer Erinnerungen? Deswegen ist der Kanda also damals farbig geworden“, sagte Ray nachdenklich, doch dann kam ihm noch etwas anderes in den Sinn.

„Allegro! So etwas Dummes darfst du nie wieder tun. Du hättest tot sein können.“

„Tut mir Leid. Diese rollenden Ungetüme sehe ich zum ersten Mal, “ meinte Allegro erschüttert. Tyson sah in die Richtung in der seine frühere Lehrerin verschwunden war. Wenn er ehrlich war, hatte er für einen Moment tatsächlich geglaubt, in der Menschenwelt zu sein. Das beunruhigte ihn.

Dieser LKW, seine Lehrerin…

Alles schien so real zu sein. Kaum zu glauben, dass die Irrlichterwelt nur eine Kopie sein sollte. Tyson wollte gerade zu einer Frage ansetzten, als Max nach oben deutete.

„Leute? Seht mal da!“

Ein riesiger Schatten flog über die Straße hinweg und verdunkelte alles. Einige Gesichtslose blickten ebenfalls hinauf, bis das ganze geschäftige Treiben ein Ende nahm. Wie angewurzelt regte sich niemand. Selbst die Autos hielten mit einer Vollbremsung an.

Allegro wurde in Tysons Hand unruhig.

„Schnell! Versteckt euch!“, piepste er aufgebracht und als sich keiner von ihnen rührte, noch mal lauter: „LOS!“

Der Schatten kam zurück, verdeckte die Sonne über ihnen und ein Kreischen erfüllte die Umgebung. Einige Gesichtslose ließen geschockt fallen, was sie in den Händen trugen.

Dann brach Panik aus.

Mütter nahmen ihre Kinder auf den Arm und rannten.

Schüler flohen in die umliegenden Läden.

Autos rasten davon.

Als der Menschenstrom sie drohte auseinander zu treiben, kämpfte sich die Gruppe in eine enge Seitengasse, in der etwas weiter hinten einige große Müllcontainer standen. Schnaufend lehnte sich Tyson an die Wand, während Ray misstrauisch um die Ecke sah, der rennenden Meute hinterher blickend.

„Was soll der Aufruhr? Was ist das gewesen?“, fragte er Allegro.

Doch bevor ihr Begleiter antworten konnte erkannte die Gruppe das Problem.

Mit einem ohrenbetäubenden Schrei fiel ein riesiges brennendes Ungetüm vom Himmel. Erschrocken hielten die Jungen den Atem an, als sie Dranzer erkannten - seit langem wieder in seiner Bit Beast Form.

Der brennende Phönix sauste auf die Gesichtslosen unten auf der Straße hinab, die panisch in alle Richtungen stoben. Einer von ihnen rollte sich unter ein parkendes Auto, in der verzweifelten Hoffnung, aus dem Schussfeld zu gelangen.

„Das ist nicht gut.“, flüsterte Allegro voller böser Vorahnung.

„Was? Sucht es uns?“, fragte Max.

„Nein! Es ist wütend. Etwas muss Dranzer furchtbar erzürnt haben.“

Keine Sekunde später mussten sie beobachten, wie der Phönix seine Krallen in das Autodach bohrte und den zappelnden Gesichtlosen darunter, mit seinem Gewicht zerquetschte.

„Crap…“, hörte Tyson Max neben sich flüstern.

Er selbst fühlte sich wie in einem schlechten Monsterfilm. Einpaar Schulmädchen wollten an Dranzer vorbeirennen, doch das Bit Beast schnappte in die Gruppe hinein und bekam eine von ihnen am Kopf zu fassen. Es hob die fuchtelnde Gestalt zwischen seinem Schnabel in die Höhe, die Beine des Opfers strampelten hilflos in der Luft, dann warf der Phönix seinen Schädel von einer auf die andere Seite, bis der Körper des Schulmädchens sich mit einem schrecklichen Laut vom Hals löste.

Tyson wurde schlecht. Er wandte den Kopf zur Seite und sah einfach nicht hin. Niemals hätte er erwartet, dass eines ihrer Bit Beasts zu so einer Grausamkeit fähig war. Sein Atem ging schnell und stoßweise.

„Allegro, was passiert hier?“, fragte er entsetzt.

„Das? Das ist normal!“, meinte die Springmaus bedauernd. „Das tun sie immer wenn ihnen langweilig ist. Oder wenn sie wütend sind. Neuerdings scheinen sie es aber lieber auf Phantome abgesehen zu haben als auf kleinere Bit Beasts. Ich wüsste zu gerne was Dranzer so erzürnt hat…“

„Das ist normal?!“, fragte Ray aufgebracht und deutete auf das Szenario vor ihnen. „Mit so etwas lebt ihr Tag ein und Tag aus?!“

„Leider ja. Aber mach dir nichts draus. Es sind nur Phantome. Alles Kopien! Lieber eines von diesen Dingern, als ein totes Bit Beast mehr.“

Tyson fand trotzdem das es schrecklich mit anzusehen war. Gerade stach Dranzer auf einen gesichtlosen Polizisten ein. Immer wieder hieb das Bit Beast mit seinem messerscharfen Schnabel in den flackernden Körper seines Opfers.

Doch dann kam ihm ein Gedanke.

„Moment mal! Wenn Dranzer wieder seine Bit Beast Gestalt hat, wo ist dann Kai?!“

Wie ein Blitz schoss die Erkenntnis durch die Gruppe.

„Kai? Was ist das?“, fragte Allegro und sah auf Tysons Handfläche zu ihm hinauf.

„Nicht was, sondern wer!“ korrigierte Ray. „Das ist ein Freund von uns. Dranzer hat von seinem Körper Besitz ergriffen.“

Max zwängte sich an Tyson vorbei und sah vorsichtig durch den Spalt um die Ecke. Nicht das der Phönix sie entdeckte und auf dumme Gedanken kam.

„Hat Dranzer nicht gesagt, dass er Kai freilassen wird, wenn er es für richtig hält?“, fragte Tyson Ray inzwischen. Der nickte bestätigend.

„Es muss wohl soweit sein. Man, ich wüsste zu gerne wo das Mistvieh ihn hingebracht hat!“

„Da musst du nicht weit suchen“, hörte die Gruppe plötzlich Max sagen. „Da drüben ist er! Hey? Hört auf zu schupsen! Wow! Tyson du Trampel, lass das!“

Nun wollte jeder der Jungen um die Ecke spähen. Es wurde geschoben und gestoßen.

Eine handfeste Rangelei entstand, wobei Tyson so gnadenlos vorging und Max auf die Schultern kletterte, der sich ächzend nach vorne beugte und dessen Gewicht ertragen musste.

Dabei ignorierte er vollkommen dessen Flüche in seiner Muttersprache.

Vorsichtig lugte Tyson um die Häuserecke, doch als er den Kopf etwas weiter hinausstreckte, bereitete Dranzer gerade eine Attacke vor. Der Phönix bäumte sich auf und mit einem lauten Schrei spie er wahllos eine gewaltige Flammenfontäne durch die Straße, direkt in ihre Richtung. Erschrocken fuchtelte Tyson mit den Armen, zog den Kopf zurück und keine zwei Sekunden später, schoss die Feuerwalze an der engen Öffnung vorbei.

Es kam ihnen wie eine Ewigkeit vor, bis der brodelnde Sturm sich wieder legte.

Als ein in Flammen stehendes Phantom an ihrem Versteck vorbei rannte, trat die Gruppe verstört einpaar Schritte zurück, dabei kam Max ins Straucheln und fiel, samt Anhang, in die aufgestellten Mülltonnen hinter ihnen hinein.

Ein lautes Poltern schallte durch die Straße und der Deckel einer Tonne rollte durch die Öffnung hinaus und blieb scheppernd liegen.

Dann wurde es seltsam still.

Ray sah mit offenem Mund zu seinen Freunden, lauschte nach dem Ungetüm, bis Tyson, aus einem Haufen Müllsäcken heraus, vorsichtig flüsterte:

„Glaubt ihr es hat uns gehört?“

Die Antwort folgte auf dem Fuße.

Lautes Stampfen kam in ihre Richtung.

„Scheiße!“, hörten sie Ray sagen.

Er kam zu ihnen, mit einem Ruck half er seinen Freunden auf die Beine, während Allegro unter Tysons Mütze schlüpfte. Dann suchte die Gruppe etwas weiter hinten in der Gasse, nach einem geeigneten Versteck. Das Stampfen kam näher, gefolgt von gelegentlichen Flammenfontänen und dem Kreischen des Phönix, bis die Jungs in einen der großen Müllcontainer kletterten. Zu ihrem Glück war er nicht voll und bot genug Platz für jeden von ihnen. Da kauerte sie nun. Warteten auf das Schlimmste.

Tyson hoffte inständig, dass die massige Gestalt von Dranzer nicht in die Gasse passte. Er lugte vorsichtig über den Rand, zog aber keine Sekunde später panisch den Kopf wieder zurück.

„Was ist?“, zischte Ray.

„Es steht da!“, flüsterte Tyson aufgeregt.

Das Bit Beast stand direkt vor der Öffnung und spähte neugierig hinein. Es schien furchtbaren Spaß daran zu empfinden, nach seinen Opfern zu suchen. Ein richtiges Katz und Maus Spiel.

Tyson hielt den Atem an und wartete ab.

Flammen schossen über ihre Köpfe hinweg, scheinbar als Test, um sicherzustellen dass wirklich niemand in der Gasse war. Mit jedem Mal zuckte die Gruppe zusammen.

„OH MEIN GOTT!“

Der Schrei einer Frau ließ sie zusammenfahren.

Sie hörten die lauten Schritte des Bit Beasts, gelegentliche Flügelschläge, dann dieses schreckliche Kreischen das es von sich gab. Tyson wagte einen Blick über den Rand und erkannte das Phantom seiner ehemaligen Vorschullehrerin, die voller Furcht vor dem Phönix wegrannte. Instinktiv wollte er zur Hilfe eilen, doch Allegro rief:

„Nein! Es ist nur eine Kopie. Dieses Wesen existiert nicht. Riskier dein Leben nicht für etwas, dass nicht real ist!“

„Aber wozu erschaffen unsere Bit Beast eine Welt, die unserer ähnelt, wenn sie diese sofort wieder zerstören?!“

„Weil sie es können! Sie handeln wie es ihnen gefällt und Dranzer verspürt im Moment den Drang zu zerstören. Es hat diese Welt mit aufgebaut, also kann es sie auch wieder vernichten! Reine Willkür!“

Tyson biss sich auf die Unterlippe und musste zusehen, wie das Phantom seiner Vorschullehrerin, unter dem heißen Atem des Bit Beasts, bei lebendigem Leib verbrannte. Sie schmolz dahin wie Wachs. Warum musste das ausgerechnet in seinem Blickfeld passieren? Selbst wenn er sie nicht leiden konnte, der echten Mrs. Ito würde er niemals solch ein schreckliches Schicksal wünschen.

Nachdem die Reste des Phantoms sich in Asche verwandelt hatten, schien sich Dranzer endlich zu beruhigen. Der Brustkorb des Bit Beasts hob und senkte sich. Die Augen spähten voller Zufriedenheit auf das graue Häufchen, bis der Kopf des Phönix plötzlich zur Seite schnellte.

Tyson befürchtete schon, dass Dranzer ein weiteres Opfer entdeckt hatte. Doch als es wieder die Straße zurück schritt, kam ihm eine böse Vorahnung. Als er sicher war unentdeckt zu bleiben, kletterte er aus dem Container, rannte die Gasse zurück, presste sich kurz vor der Öffnung gegen die Wand und spähte vorsichtig rechts um die Häuserecke.

Einige Schritte von ihrem Versteck entfernt, machte er Dranzers Rücken aus. Das rote Gefieder wehte an vereinzelten Stellen sanft im Wind. Das Bit Beast beugte sich über etwas, was auf dem Boden lag und sich bewegte, stupste es mit dem Schnabel sanft an.

Tyson kniff angestrengt die Augen zusammen.

Zwischen einen Haufen viel zu großer Kleidungsstücke, setzte sich eine wacklige Gestalt auf. Ein Junge in ihrem Alter – Kai!

Augenblicklich hielt Tyson die Luft an.

Die Strähnen fielen ihrem Freund über die Stirn. Dunkle Augenringe zeichneten sich auf dem leichenblassen Gesicht ab. Er schien vollkommen geschwächt, wie gerade erst aus einem jahrelangen Koma erwacht. Dann blickte Kai zu Dranzer hinauf, dass sich weiter zu ihm hinabbeugte.

Ray und Max kamen inzwischen auch an die Öffnung geschlichen. Wieder fand zwischen beiden ein kleiner Wettkampf stand, mit dem Ziel um den besseren Platz. Allegro hatte es am einfachsten. Die kleine Springmaus kam unter Tysons Mütze hervorgekrabbelt und spähte neugierig zu dem Schauspiel das sich ihm bot.

„Ist das ein Kai? Das blasse Ding dahinten?“

Tyson nickte bestätigend.

„Ein Kai sieht sehr krank aus. Ist das immer so?“

„Womöglich liegt es daran, weil Dranzer so lange in seinem Körper gesteckt hat“, vermutete Ray leise. „Wie bei einem Parasit. Der zerstört den Wirt über kurz oder lang auch.“

Tysons Augen weiteten sich sorgenvoll, während Max ihm zuflüsterte:

„Hoffentlich macht Kai jetzt nichts Dumm-…“
 

KLATSCH
 

Kai schlug mit einem wütenden Schrei und ganzer Wucht gegen den Schnabel der sich zu ihm hinabbeugte. Seine Wangen brannten vor Wut und die Augen funkelten voller Anklage sein Bit Beast an. Offenbar hatte er den Zwischenfall beim Hiwatari Anwesen nicht vergessen, trotz seiner geistigen Abwesenheit.

„Nimm deine Visage aus meinem Blickfeld, du Verräterin!“, hörten sie seine zorngeschwängerte Stimme durch die Straße schallen.

Von der Gruppe kam ein Stöhnen.

Tyson vergrub das Gesicht in den Händen und Allegro flüsterte:

„Ein Kai ist wohl nicht besonders klug, oder?“

Dranzer schien auch nicht begeistert…

Das Bit Beast bäumte sich auf und aus der Kehle kam ein bestürztes Kreischen. Voller Zorn blickte es auf den Jungen hinab. Die Augen wurden zu glühenden Rubinen. Dann öffnete es den Schnabel und ein merkwürdiger Singsang schallte auf ihren Freund hinab.

„Ohren zu! Ohren zu!“, forderte Allegro aufgebracht. Alle bis auf Tyson kamen der Aufforderung rechtzeitig nach. Er beobachtete noch wie Kai überrascht dreinschaute, seine Augenlider flackerten und der Junge schließlich schlafend zur Seite kippte, da befiel ihn selbst auch eine unwiderstehliche Trägheit. Der Gedanke es seinem Freund nachzutun, die Augen zu schließen und ein kleines Nickerchen zu machen, war in diesem Moment so verlockend – bis ihn Allegro ins Ohr biss.

Er unterdrückte gerade noch einen lauten Aufschrei.

„Hoch mit den Händen! An die Ohren! Sofort!“, befahl die Springmaus und auf der Stelle kam Tyson der herrischen Forderung nach. Dann beobachtete die Gruppe schweigend, wie der Phönix mit seinen langen Klauen, vorsichtig nach dem schlafenden Jungen griff. Dranzer spreizte die schimmernden Federn seiner Flügel aus, ein heftiger Schlag folgte und eine Windböe wehte durch die Straße, verlieh dem stolzen Vogel genug Antrieb, um mit einem weiteren Schlag in die Luft emporzusteigen.

Ohne dem Massaker das es angerichtet hatte, eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ Dranzer ihre Spielwiese. Schweigend beobachtete Tyson das Szenario.

Doch als sich das Bit Beast etwas entfernt hatte, schoss Max aus ihrem Schlupfloch hinaus und Ray gleich hinterher.

„Hey, was…“

Zuerst starrte Tyson verdutzt, doch dann knallte er sich die Hand gegen den Kopf als der Groschen fiel.

Natürlich!

Sie wollten herausfinden wo Dranzer Kai hinbrachte!

Keine Sekunde später begann auch er zu rennen.
 

In einem regelrechten Spurt jagte die Gruppe dem Bit Beast hinterher. Es hatte noch nicht genug Höhe erreicht, um über die umliegenden Dächer zu fliegen. So glitt es noch anmutig zwischen den riesigen Wolkenkratzern hindurch. Überall wo es auftauchte, löste es Panik bei den Gesichtslosen aus, die sich sofort in Läden, Gassen oder Autos zurückzogen.

Ein Glück für die Gruppe! So stand ihnen niemand im Weg. Trotzdem ließ Ray irgendwann die Einkaufstüte mit Kais Kleidung achtlos fallen, da sie ihm beim Rennen hinderte.

Mit jedem Flügelschlag erhob sich das Bit Beast mehr, wurde immer schneller, baute den Abstand zu ihnen immer weiter aus.

Für Dranzer mussten alle bereits wie kleine Ameisen wirken.

Tyson ignorierte das heftige Seitenstechen das sich bemerkbar machte, genau wie der Rest der Gruppe, doch irgendwann erlangte Dranzer eine zu hohe Geschwindigkeit, mit der sie beim besten Willen nicht mehr Schritt halten konnten.

Sie erreichten bald den Tokyo Midtown Tower und sahen gerade noch, wie das lange Federnkleid des Bit Beasts um die Ecke bog und hinter dem Gebäudekomplex verschwand. Verzweifelt legte Tyson noch mal seine letzte verbliebene Kraft in den Spurt.

Es war ein sinnloses Unterfangen, sagte ihm sein Verstand.

Er konnte nicht aufholen.

Doch in einer Endlosschleife spielte der Satz durch seinen Kopf:

„Du darfst sie nicht verlieren! Du darfst die beiden nicht wieder verlieren!“

Er erreichte schnaufend die Ecke hinter der Dranzer verschwunden war, nur damit ihm die knallharte Erkenntnis ins Gesicht schlug, dass das gigantische Bit Beast bereits hoch über der Stadt schwebte und Kilometer zurückgelegt hatte. Tysons Beine zitterten, der Schweiß rann ihm den Rücken hinab und sein Herz pochte laut gegen seinen Brustkorb, als er sich erschöpft auf die Knie fallen ließ.

Seinen Freunden erging es nicht besser.

Max lehnte gegen die kalte Mauer des Gebäudes, während Ray sich an seinen Knien abstützte. Es half nichts. Sie mussten es sich eingestehen. Sie hatten Kai schon wieder verloren.

Deprimiert blickte Tyson dem Phönix hinterher. Es flog eine gerade Strecke Richtung Berge.

Zu den Wohngebieten der wohlhabenden Bevölkerung von Tokyo. Dort oben wo die kleinen Paläste der High Society standen.

Moment!

Konnte es möglich sein, dass…

„Es fliegt zum Hiwatari Anwesen!“, brachte Tyson zwischen mehreren Atemzügen hervor. Er sah erwartungsvoll zu Ray, dessen erschöpftes aber glückliches Grinsen ihm bestätigte, dass er dasselbe ahnte.
 

*
 

Langsam umkreiste Dranzer das große Gebäude, das stattliche und herrliche Gefängnis das es sich für Kai ausgesucht hatte. Er würde daran verzweifeln. Kai hatte als Kind dieses Haus gehasst. Sein Großvater war ein unangenehmer Mensch gewesen, erlegte ihm täglich dutzende von Verbote auf und das Bit Beast fand, dass es auch einen ironischen Nachgeschmack besäße, ihn hier einzusperren.

Immerhin hatte Dranzer hier Gewalt über dessen Körper ergriffen. In einem sanften Landemanöver glitt das Bit Beast hinab, setzte auf dem Boden auf und entließ den schlafenden Jungen aus den Krallen, bettete ihn behutsam auf dem Rasen.

Dann reckte es den Kopf in die Höhe, gab dreimal ein lautes Dröhnen aus seiner Kehle, wobei die Augen jedes Mal kurz aufflackerten.

Ein Lockruf. Nun hieß es nur noch warten.
 

Dranzer ließ den Blick über die Aussicht der Stadt wandern.

Wie herrlich doch das kleine Massaker gewesen war? Nach diesem kurzen Zwischenstopp, fühlte sie sich schon wesentlich besser. Dragoon hatte das Bit Beast nach seiner Drohung so in Rage versetzt, dass sie ihren Zorn sofort freien Lauf lassen musste. Wie konnte dieser arrogante Drache es vagen, dass Feuer Bit Beast zu befehligen!

Ohne Dranzer würde es kein Licht, keine Wärme, keine Energie geben. Die Menschen hätten kein Feuer in den Herzen das sie antreiben würde.

Luft… Was war daran schon besonders?

Luft war doch nicht wichtiger als Feuer. Dieser elendige Drache...

Wie sie Dragoon doch hasste!

Bestimmt saß er am Grenzübergang und hatte alles mitbekommen. Bei diesem Gedanken hätte Dranzer am liebsten laut losgelacht. Sie sah das wütende Gesicht von Dragoon schon vor sich. Eigentlich wollte der Drachen die anderen Jungen nicht in Angst und Schrecken versetzten. Sie sollten sich so an ihre Umgebung gewöhnen, bis sie Realität nicht mehr von Illusion unterscheiden konnten.

Da hatte Dranzer dem selbstgefälligen Dragoon aber einen Strich durch die Rechnung gemacht. Eigentlich war dem Phönix egal was aus den anderen Knaben wurde.

Nur einem von ihnen galt ihr Interesse…

Dranzers Blick wanderte zu der schlafenden Gestalt ihres Kindes.

Wie er dort in seinem Kinderkörper lag… So hilflos, machtlos, fast schon friedlich.

Nicht so hektisch wie in der Menschenwelt.

Warum war er bloß nicht immer so?

Warum hatte sich der Junge verändert?

Warum war er nicht immer Kind geblieben?

Wenn Dranzer darüber nachdachte, vielleicht tat Kai sein Gefängnis sogar ganz gut?

Unartige Kinder musste man züchtigen und dieser Junge war mehr als ungehorsam gewesen!

Ja. Hier könnte Kai wieder zu sich selbst finden.

Es war alles eine Frage der Zeit.
 

„Nimm deine hinterhältige Visage aus meinem Blickfeld, du Verräterin!“
 

Die Worte schossen dem Bit Beast ganz unvermittelt durch den Kopf.

„Nein! Daran will ich nicht denken!“

Aufgebracht versuchte sie die Erinnerung zu verscheuchen, schüttelte immer wieder den gefiederten Schädel.

Verräterin?

Wie konnte er so etwas nur sagen? Wie furchtbar das klang!

Kai ahnte nicht wie sehr diese Worte Dranzer in der Seele schmerzten.

Sie wollte doch das Beste für ihn und selbst das war gerade noch gut genug.

Er war so ungerecht. So undankbar!

Enttäuscht senkte das Bit Beast den Kopf, schloss die Lider und dachte an den Tag zurück, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Dieser kalte Wintertag von damals… unvergesslich.
 

Doch Dranzers Erinnerungen wurden jäh vernichtet.

Ganz in ihrer Nähe konnte es schaufelnde Laute vernehmen. An einer Stelle im Garten bildete der Rasen langsam eine winzige Wölbung, bis sich etwas Schwarzes aus einem Riss hindurchzwängte.

Eine verkohlte Hand schoss aus dem Erdreich empor. Mühsam und unter größter Anstrengung zog sich ein Gerippe an die Oberfläche. Es packte mit den knochigen Händen nach den umliegenden Graßhalmen und strampelte sich langsam aus der Erde heraus.

Der angebrannte Kiefer war heruntergeklappt, die leeren Augenhöhlen schienen den schlafenden Jungen vor sich erstaunt anzustieren. An der Oberfläche angekommen, richtete sich das Gerippe wacklig und klackernd auf, während die schwarzen Hautfetzen im Wind wehten.

Der Körper des Phönix fing Feuer, die Flammen schossen vor zu den verkohlten Überresten und umschlangen sie, verschmolzen zu einem Wesen, bis das Bit Beast wieder in seiner menschlichen Frauengestalt hervor trat.

Das weiße Haar wehte im Wind, während ihre Augen nachdenklich an dem schlummernden Gesicht des Menschenkindes hingen. Dann flüsterte Dranzer voller Überzeugung:

„Ich bin keine Verräterin. Ich bin deine Seelenverwandte! Es wird der Tag kommen, an dem du mir noch dankbar sein wirst…“
 

*
 

„Wir hätten doch den Bus nehmen sollen…“

„Der Nächste kommt erst in einer Viertelstunde.“

„Was ihr da macht sieht aber ziemlich… na ja… lebensmüde aus.“

Max lugte vom Rücksitz aus nach vorne und beobachtete skeptisch wie Tyson auf dem Fahrersitz verzweifelt versuchte an die Pedale zu gelangen. Es ergab sich dabei leider eine Pattsituation. Ließ er sich tiefer hinab gleiten, konnte Tyson nicht mehr über das Armaturenbrett spähen. Stellte er den Sitz höher reichte er nicht mehr an die Pedale. Deshalb hatten sich die Freunde kurzerhand darauf geeinigt, dass Ray für Tyson das Sehen übernehmen sollte.

Max bekam allein beim Gedanken an den bevorstehenden Höllentrip Bauchschmerzen. Das konnte nicht gut gehen! Seine Freunde schienen da allerdings zuversichtlicher...

„Das klappt schon Max.“, beschwichtigte ihn Ray. „Lass uns mal machen.“

„Ist euch eigentlich schon aufgefallen, dass wir seid unserer Ankunft bereits zwei Autos geklaut haben?“

„Als ob du Gewissensbisse hättest!“, rief Tyson nach hinten. Er hatte sich gerade richtig positioniert, drehte den Zündschlüssel und ließ den Wagen aufheulen. Dann wandte er sich noch mal zu Ray und fragte: „Kann es los gehen?“

„Ich bin bereit.“

„Sag mal“, Tyson starrte zu den Pedalen hinunter. „Wo ist noch mal die Bremse?“

Ray zuckte mit den Schultern und antwortete.

„Probier halt mal herum. Irgendwo muss sie ja sein…“

Daraufhin hörten sie wie die Hintertür leise aufging. Als sich beide umdrehten, war Max schon mit einem Fuß im Freien. Mit giftigen Blicken taxierten sie ihren Hintermann, der schließlich mit einem Seufzen zurück in die Polster glitt und die Tür zuknallte.

Anschließend gab Tyson Gas und ließ sich von Ray aus der Parklücke dirigieren. Der erste Unfall war allerdings vorprogrammiert, als Tyson den Wagen direkt in den parkenden Vordermann lenkte, dem der Kofferraum aufsprang.

„Mehr nach links“, meinte Ray – was allen bereits bewusst war.

Zwei weitere Anläufe später war die erste Hürde überwunden.

Tyson hatte eigentlich erwartet, dass es schwieriger wäre, ein Auto so zu lenken, doch abgesehen davon, dass er vier Mal in den Gegenverkehr abdriftete und Ray mittlerweile nicht mehr wusste, wofür manche Verkehrschilder standen, kamen sie gut voran.

Was er doch merkwürdig fand, war der Geruch nach verbranntem Gummi, der sich nach kurzer Zeit im Wagen ansammelte. Keiner von ihnen wusste, dass Tyson noch die Handbremse angezogen hatte, wunderten sich aber, warum sie so holprig voran kamen.

Allegro war vollkommen begeistert von der Autofahrt. Die kleine Springmaus hatte sich auf das Armaturenbrett gesetzt und schlitterte bei jeder Kurve von einer, auf die andere Seite.

Nur Max krallte sich voller Angst auf dem Rücksitz fest und flüsterte immer wieder:

„Alles wird gut. Alles wird gut. Oh Gott, bitte lass alles gut werden!“

Sie waren bereits zehn Minuten unterwegs, als er aus dem Fenster sah und ein Taxi sie überholte. Etwas pampig meinte er:

„Wir hätten auch eins von denen nehmen können! Das wäre sicherer!“

„Noch nie was von perversen Taxifahrern gehört, die kleinen Kindern den Bauch aufschlitzen? Wenn wir Pech haben kommen wir an einen Psychopathen…“

„Hör auf zu lügen, Ray!“

„Das ist mein voller ernst! In Hong Kong ging eine zeitlang so ein Irrer durch die Straßen und hat Kinder in sein Taxi gezerrt!“, antwortete Ray. Er musste ja nicht erwähnen dass es sich dabei nur um einen billigen schwarz-weiß Horrorfilm aus den Sechzigern handelte. Sein Blick wanderte in den Rückspiegel und er konnte sehen wie Max beleidigt eine Schnute zog. Natürlich glaubte er ihm kein Wort.

BAMM

„Tyson! Halt das Auto gerade!“

„Tu ich doch!“

Ray sah zu seinem Freund und tatsächlich hatte dieser recht.

BAMM

Wieder wurde die Gruppe im Auto durchgeschüttelt und Max bekundete vom Rücksitz aus, dass er aussteigen wolle und seine Freunde Idioten seien. Als Ray aus dem Fahrerfenster blickte, konnte er auf Tysons Seite ein gelbes Taxi entdecken, dass ihren kleinen Mazda 323 immer wieder seitlich anstieß.

Er wollte hinüberrufen, was dem Taxifahrer denn eigentlich einfiele, da wurde Ray aschfahl und seine Kinnlade klappte runter.

Dort am Steuer saß der Psychopath aus dem Horrorfilm. Es war unverkennbar er, denn der Irre war in schwarz-weiß! Eine riesige Brandnarbe zierte das Gesicht und er biss auf den Griff seines Jagdmessers, das bereit zu mörderischen Taten war.

„Ray! Was hast du getan?!“, rief Allegro.

„Das war doch nur ein Scherz! Den Typ gibt es nicht wirklich!“

„Du hast ihn aber ins Leben gerufen! Mit deiner Erinnerung!“

„Was ist los?!“, rief Tyson von unten. „Ich kann nichts sehen? Wer ist dort?!“

BAMM

Ihr Auto wurde wieder gerammt und erschrockene Ausrufe schallten durch den Wagen. Bei all der Aufregung vergaß Ray den Weg vorzuschreiben. Beinahe wären sie an ihrer Abzweigung vorbei gerast, hätte Max nicht von hinten gerufen, dass Tyson abbiegen musste.

Ihr Freund schlug das Lenkrad ein und in einer scharfen Kurve, bei der sie eine Häusermauer streiften, bogen sie Rechts ab, den Hang hinauf zu dem Villenviertel. Das Taxi raste glücklicherweise an der Abzweigung vorbei.

Ray musste sich wieder auf seine Aufgabe konzentrieren, deswegen rief er zu Max:

„Ist der Psychopath weg?“

Ihr Freund murmelte eingeschnappte Worte vor sich her. Es klang verdächtig nach „Alles deine Schuld“, drehte sich dann aber doch zur Heckscheibe und spähte hinaus. Ihr Wagen tuckerte schwerfällig den Hang hinauf. Tyson wusste nicht mehr genau wie man eine Steigung hoch fuhr, ohne den Motor aufheulen zu lassen, deshalb geriet der Mazda mehrmals ins Stocken.

Max sah die Abzweigung immer weiter in der Ferne verschwinden, vom Taxi aber keine Spur. Er atmete erleichtert aus und wollte schon eine Entwarnung rausgeben, als das Taxi plötzlich um die Ecke schoss und mit hundertachtzig Sachen den Hang hinauffuhr.

„Fahr! Tyson gib Gas!“, rief er vom Rücksitz aus.

„Mach ich doch!“

„Du musst schalten!“, kam es auch von Ray.

Plötzlich sah sich Tyson umgeben von jeden Mengen Schwätzern, die alle meinten ihm Befehle erteilen zu müssen. Dabei konnte sich keiner von ihnen an ihre Führerscheinstunden erinnern! Das Taxi schloss immer weiter zu ihnen auf und schließlich kam es wie es kommen musste, wenn man versuchte es allen Recht zu machen – Tyson würgte das Auto ab und es rollte den Hang zurück.

KRACH

Die beiden Wagen kollidierten miteinander. Trotzdem gab das Taxi unbeirrt Gas. Max konnte von der Heckscheibe aus erkennen, wie der Psychopath das Jagdmesser in die Hand nahm und sich voller Vorfreude über den lippenlosen Mund leckte. Der Wahnsinn blitzte in seinen Augen und funkelte ihm entgegen.

Aufgeregt drehte Max sich zum Fahrersitz und rief Tyson zu, was er zu tun hatte. Dasselbe tat aber auch Ray. Von allen Seiten wurde Tyson belagert und zugetextet. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Bis ihm schließlich der Geduldsfaden riss:

„SCHNAUZE!“

Stille.

Gereizt atmete Tyson einmal durch, versuchte sich in Erinnerung zu rufen, wie ihm sein Fahrschullehrer das Anfahren in der Steigung erklärt hatte. Hinter ihnen heulte der Motor des Taxis auf, dass sie immer weiter drängte, doch Tyson ließ sich nicht stören.

Er startete den Motor erneut und kurz bevor sie den Hang hinter sich ließen, bemerkte er die angezogene Handbremse, löste sie und als die Straße wieder eben wurde, haute er den Gang rein und gab Gas. Der Mazda machte einen Sprung nach vorne und raste den Weg entlang. Gleich hinter ihnen ihr Verfolger.

Ray gab in ruhigem Ton an wie Tyson fahren musste. Er schien begriffen zu haben, dass es keinen Sinn hatte ihn in Hektik zu versetzen.

Plötzlich kam Tyson ein Gedanke.

„Ray, wenn du da vorne ein Umleitungsschild siehst, warte bis zum Schluss bevor du mir sagst dass ich abbiegen soll!“

Ein Nicken folgte.

Ihr Verfolger rammte sie mehrmals ins Autoheck, doch die Gruppe wartete nur angespannt auf das Kommende, ließ sich nicht von dem Laut des aufeinander prallenden Metalls irritieren. Alle setzten ihre Hoffnung in Tysons noch spärlich vorhandene Fahrkünste.

Als Ray das Umleitungsschild erblickte, setzte er sich kerzengerade auf und ließ Tyson näher darauf zurasen. Ungeduldig wartete er, betete ihr Vorhaben möge gelingen und als es endlich soweit war, rief er: „Nach Links!“

Tyson machte eine scharfe Linkskurve und ihr Wagen donnerte in die Straße, die das Schild vorwies. Doch er hatte Schwierigkeiten das Auto wieder gerade zu bekommen. Der Mazda fuhr im Zick Zack die Straße entlang, aber unter größter Mühe gelang es ihm den Wagen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Dann…

KRACH

„Yeah!“, hörten sie Max vom Rücksitz aus jubilieren. Ihr Freund beobachtete wie das Taxi das Umleitungsschild erfasste. Es flog über das Dach hinweg und einpaar Sekunden später stürzte das Fahrzeug, samt verrücktem Insassen in die Baugrube. Eine graue Rauchsäule bildete sich daraus und tänzelte in den Himmel empor.

„Ist er weg?“, meinte Ray. Er hatte seine Neugierde nicht unterdrücken können und sich nur für einen winzigen Augenblick zum Heckfenster umgedreht, schon riss es sämtliche Insassen aus den Sitzen.

Der Wagen rollte über den Bordstein, geradewegs durch ein Gestrüpp. Dahinter ging es bergab und schreiend bretterten sie den Hang hinab, bis ihr Gefährt mit voller Wucht gegen einen Baum knallte.

Erschrockene Ausrufe erfüllten den Innenraum. Max knallte mit dem Rücken gegen den Vordersitz, Ray hatte sich noch rechtzeitig festhalten können und Allegro war zuvor in weiser Voraussicht unter seinem Hemdkragen verschwunden. Doch durch eine glückliche Fügung wurde keiner von ihnen verletzt.

Stöhnend rieb sich Tyson den Kopf, der eine schmerzhafte Bekanntschaft mit dem Lenkrad gemacht hatte. Dann erhob er sich von seinem Sitz und spähte über das Armaturenbrett zur Motorhaube. Der Mazda war Schrott. Das Metall der Haube schien den Baum vor ihnen geradezu stürmisch zu umarmen. Seufzend lehnte Tyson den Kopf gegen das Lenkrad und sagte: „Was gebe ich nicht alles darum endlich zuhause in meinem Bett zu liegen…“

Wie als Zustimmung kam ein letzter hustender Laut vom Mazda und die Haube sprang auf.
 

Ende
 

Hmm. Diese FF sollte ja bis Halloween fertig sein. Ursprünglich war sie als mein Beitrag zu dieser Jahreszeit geplant, deshalb diese untypische Darstellung der Bit Beast. Jetzt häng ich immer noch fest und das Kapitel hier hat mich nicht wirklich überzeugt. Fällt auch entsprechend kürzer aus =__=

Naja, damit ich wenigstens etwas zu Halloween beigesteuert habe. Ein kleiner Teil der FF. Viel Vergnügen.

„Kai?“

Von weit her hörte der Junge wie sein Name sanft geflüstert wurde. Alles um ihn herum schien Schwarz zu sein, während er lautlos durch diese Finsternis glitt. Seine Glieder fühlten sich matt und kraftlos an. Sein ganzer Körper, samt seinem Bewusstsein war in einen tiefen Schlaf gefallen. Doch diese seltsame Stimme drängte ihn aus seinem Schlummer zu erwachen, seinen Geist wieder an die Oberfläche zu lassen.

„Wach auf, es ist Zeit…“

Die Dunkelheit um ihn herum lichtete sich. Seine Lider flackerten und stöhnend fand Kai wieder von der Bewusstlosigkeit in die Realität zurück. Seine Hand fuhr zur warmen Stirn, aus der er sich eine schweißnasse Strähne wischte.

„Es ist Zeit…“, wiederholte die Stimme erneut.

„Wofür?“, flüsterte er benommen.

Seine Augen öffneten sich nur unter größter Anstrengung. Er wollte sehen wer mit ihm sprach. Zunächst waren die Konturen vor ihm unscharf und er erkannte eine verschwommene Silhouette, die sich zu ihm hinabbeugte.

„Für ihre Medizin Master Kai.“ Die Stimme hatte sich verändert, war plötzlich vornehmer und distanzierter. Einen Augenaufschlag später erkannte er die Gestalt seines Butlers vor sich. Verdutzt blinzelte Kai ihm entgegen. Hatte zuvor nicht eine Frau gesprochen?

„Lew?“, fragte er verstört. Auf seinem Kopf lastete ein schmerzhafter Druck, während der Körper träge im Bett lag, tief in seiner Matratze versunken. Wie war er hier her gekommen? Kai stemmte sich vorsichtig aus den weichen Kissen auf, erschrak über die Anstrengung die ihn dieses einfache Unterfangen kostete und sah sich um.

Er war in seinem Zimmer. Alles unverändert.

Das Haus stand noch, genau wie vor dem Brand. War nicht alles verwüstet worden?

Vor seinem geistigen Auge sah er die hinab gestürzten Deckenbalken, die langsam in den Flammen verkokelten, während der beißende Qualm den Raum füllte.

„Master Kai, möchten sie ihre Medizin mit etwas Tee oder Saft zu sich nehmen?“

„Medizin?“, fragend wurde der Butler angesehen, dem sofort ein nachsichtiges Lächeln über die Lippen huschte. Dabei traten seine feinen Fältchen hervor, besonders die Krähenfüße an den Augenrändern. Die hatte Lew bereits als Kai noch ein Kleinkind war und ihm nur bis zu den Knien reichte. Der alte Mann dachte nicht im Traum daran in Ruhestand zu treten, trotz der großzügigen Pension die auf ihn wartete. Er fühlte sich mit Leib und Seele der Familie Hiwatari verpflichtet. Als Kais Großvater zwanzig war und noch in Russland lebte, trat der gerade volljährig gewordene Lew in seine Dienste. Er entpuppte sich schnell als Glücksfang, denn er war seriös, diskret, loyal und trotz der ärmlichen Verhältnisse seiner Familie, äußerst kultiviert und vornehm.

Lew hatte miterlebt wie die Hiwataris ins Ausland zogen, wie Voltaire seine Firma aufbaute, wie dessen Sohn geboren wurde, zu einem Mann heranwuchs und eine Japanerin zur Frau nahm. Selbst als Kai auf die Welt kam, war er bei der Geburt anwesend und nachdem dessen Eltern den Jungen, in den darauf folgenden Jahren, alleine ließen, war er penibel genau darauf ausgerichtet, Kai jeden Wunsch von den Lippen abzulesen.

Natürlich hatte Voltaire diesen ausdrücklichen Befehl erteilt. Er mochte zwar manchmal ruppig und starrsinnig gewesen sein, seinem Enkel ließ er es aber an nichts fehlen – jedenfalls in materieller Hinsicht.

Trotzdem ahnte Kai dass der treue Butler auch ohne Aufforderung so gehandelt hätte. Es war überdeutlich dass er den jüngsten Spross des Hauses am meisten mochte. Er investierte sehr viel Zeit in seine Ausbildung, brachte ihm alle Etiketten bei und wenn der alte Voltaire auf Geschäftsreise war, übernahm er die Einführung in die russische Sprache, was sonst Kais Großvater immer tat. Sowohl Voltaire als auch Lew war es immer wichtig gewesen, dass Kai seine Wurzeln nicht vergaß – ganz die stolzen Russen.

Allerdings ließ sich Lew eher zu etwas erweichen als der mürrische Großvater. So hatte es Kai ihm zu verdanken, dass er als Jugendlicher öfters Mal aus dem Anwesen schleichen konnte, ohne das seinem alten Herrn der Blutdruck in die Höhe schoss. Zwar hockte Lew dann immer stundenlang in der Küche auf einem kleinen Hocker und taxierte ungeduldig den Hinterausgang, doch er vertrat die Meinung, dass Kai seinen Freiraum brauchte und nicht ständig im Haus eingesperrt werden sollte, worauf Voltaire felsenfest bestand.

„Verzeihung Master Kai. Ich vergaß in welchem Zustand sie die letzten Tage waren?“

„Was meinst du Lew?“

Der Hausverwalter senkte wissend die Lider und berichtete:

„Sie waren eine ganze Weile krank. Der ganze Haushalt steht Kopf, weil es so schlecht um sie stand.“

„Ich war noch nie krank.“

„Richtig. Deswegen auch unsere Besorgnis.“

Nachdenklich senkte Kai den Blick, während Lew sich umdrehte und eine Haushaltshilfe herbei winkte, die im Türrahmen stand und nun eiligst ans Bett schritt. Sie stellte ein Tablett auf die Nachtkommode und füllte mit einem Teekessel etwas heißes Wasser in einen Becher, mit einem Teebeutel darin. Kai bemerkte nicht, dass sie penibel genau darauf achtete, ihm stets den Rücken zuzuwenden…

„Danke. Sie dürfen gehen.“, sagte Lew mit einem Wink. Mit einem stummen Nicken verschwand die Frau wieder aus der Tür. Kai saß in seinem Bett und hing seinen Gedanken nach, schenkte ihrem Abgang keine Beachtung.

Er hatte das Gefühl als ob etwas nicht stimmte. Sein Blick wanderte durch sein Zimmer. Die schweren Vorhänge waren zugezogen, ließen kein Licht in den dunklen Raum, der nur von einer Lampe erleuchtet wurde. Er hatte keine Ahnung welche Tageszeit es war.

Als Lew neben ihm einpaar Tabletten in den Tee mischte, beobachtete Kai ihn misstrauisch. Er hatte das Gesicht des Butlers älter in Erinnerung. Außerdem waren die Möbel im Raum nicht an ihrem ursprünglichen Platz und das Foto seiner Schwester, auf der Kommode, fehlte.

„Wo ist Jana?“, fragte er prompt.

Lew hielt in seiner Bewegung inne. Er war gerade dabei gewesen, mit einem Löffel, die sich im Tee auflösende Tablette, zu verrühren. Ein verständnisloser Ausdruck traf Kai.

„Jana?“

„Meine Schwester. Wo ist sie?“

Völlig bestürzt blinzelte der Butler. Etwas schien ihn aus allen Wolken fallen zu lassen, doch er fasste sich beeindruckend schnell und meinte:

„Master Kai, legen sie sich doch noch etwas hin. Etwas Schlaf wird ihnen gut tun.“

„Nein. Ich will zu Jana.“

Kai schlug die Decke zurück und stutzte kurz darauf. Er trug einen dunkelblauen Schlafanzug – in Kindergröße! Lew bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick. Er nutzte Kais kleine Starre und legte seine Hand auf dessen Stirn.

„Fieber, zweifellos. Sie sprechen im Fieberwahn. Legen sie sich bitte zurück.“

„Ich fühle mich gut.“, log Kai. Eigentlich fühlte er sich wirklich schlecht. Er hatte kaum Kraft um sich aufrecht zu halten und seine Arme zitterten. Außerdem fror er wie verrückt und auf seinem Kopf lastete ein heftiger Druck. Er fühlte sich ausgelaugt, als wäre ihm sämtliche Wärme und Energie aus dem Körper entzogen worden. Kais Einwände wurden ignoriert und er mit sanfter Gewalt wieder in die Kissen gedrückt, dabei ertappte er sich, wie sein Kopf bereits bei der bloßen Berührung der Laken wieder in die Traumwelt abschalten wollte. Eine solche Müdigkeit hatte er noch nie verspürt…

Als Kai merkte das er bei Lew auf Granit biss, verlangte er: „Dann bring Jana zu mir!“

Vom Hausverwalter kam nur ein freudloses Lachen.

„Wenn ich wüsste wen sie meinen würde ich das sicher.“

„Sie wissen genau wer Jana ist!“

„Gewiss doch. Ihre Schwester…“

Es klang eine Spur zu sarkastisch und das machte Kai wütend. Seine Brauen zogen sich tief ins Gesicht, dann schlug er trotzig die Decke von sich und sprang aus dem Bett.

„Master Kai! Sie brauchen Ru-…“

Doch noch ehe Lew den Satz beenden konnte, war Kai zur Tür hinaus und in den Flur gestürmt. Er sah sich im Gang um und beobachtete zwei Hausmädchen, die ihm den Rücken zugewandt, miteinander tuschelten. Ohne lange umschweife schritt er auf sie zu und rief:

„Hey ihr! Wo ist meine Schwe-…“

Geschockt blieb er stehen. Die beiden Angestellten hatten sich zu ihm umgedreht und keine von ihnen besaß ein Gesicht. Zur Salzsäule erstarrt beobachtete Kai die beiden Köpfe der Mädchen. Eine von ihnen legte ihn schief, als ob sie ihn fragte, warum er so entsetzt schaute.

„LEW!“, rief Kai aufgebracht und nahm eine feindselige Stellung ein, doch der Butler legte bereits eine Hand auf seine Schulter. Er drehte ihn zu sich und sagte tadelnd: „Bitte machen sie es mir doch nicht so schwer.“

„Siehst du das auch?!“

Kai deutete auf die Hausmädchen, die sich erschrocken aneinander drängten.

„Was soll ich sehen?“

„Sie haben keine Gesichter!“

„Das ist doch Unsinn. Fräulein Ida und Hata sind doch keine Monster.“

Wütend schnaubte Kai. Er kam sich vor als würde man ihn zum Narren halten. Er wusste doch selbst was er sah! Die Hausmädchen von denen Lew sprach, kannte er nur zu gut und die besaßen definitiv Gesichter. Ida hatte sogar einen Schönheitsfleck direkt am Mundwinkel.

Mit einem Kontra auf der Zunge, riss er sich vom Butler los und drehte sich noch einmal zu den beiden Angestellten. Doch sofort erstarben seine Widerworte…

Da standen beide: Fräulein Ida und Hata – mit Gesichtern.

Nase, Augen, Mund und Schönheitsfleck. Alles da.

„Aber…“, begann Kai, doch dann verstummte er. Die beiden Mädchen sahen ihn perplex an, als zweifelten sie an seinem geistigen Zustand. Lew gab ihnen mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass sie verschwinden sollten. Er wollte nicht dass über seinen Schützling getratscht wurde.

Dann beugte sich der alte Mann zu Kai hinab und zum ersten Mal fiel ihm auf, wie groß der Butler plötzlich war. Das stimmte doch nicht. Er war größer als Lew!

Doch jetzt reichte er ihm gerade mal bis zur Brust.

„Ihr Kopf gaukelt ihnen Hirngespinste vor.“, meinte der Butler eindringlich.

Und tatsächlich…

Kai kam sich vor als würde er verrückt spielen - und das machte ihm Angst.

Dieses Gefühl kannte er gar nicht. Auf seinen Verstand hatte er sich immer verlassen können.

Viele sagten ihm sogar nach, dass er ein richtiges Elefantengedächtnis besaß. Doch in seinem Kopf spukten zahlreiche Erinnerungen herum, die er nicht in seine Umgebung einordnen konnte. Warum spielte ihm sein Geist solche Streiche?

Als Kai in Lews Gesicht sah, traf ihn ein bekümmerter Blick und der in die Jahre gekommene Hausverwalter, schüttelte den Kopf. Seine Hand wanderte hinauf zum Haarschopf des Jungen, blieb darauf ruhen und wie immer wenn er Kai ins Gewissen redete, verzichtete er auf die Formalitäten.

„Bitte. Geh zurück ins Bett. Tu es für deinen alten Lew. Meine Knochen sind rostig und ich kann dir beim besten Willen nicht mehr hinterher rennen wie früher, mein Junge.“

„Aber… meine Schwester.“

Der alte Mann murmelte etwas auf Russisch, dass verdächtig nach, „Gott, steh dem Kind bei“, klang. Er schien sich ernsthafte Sorgen um ihn zu machen.

„Du redest im Fieberwahn…“

„Ich will nur einen Moment zu ihr. Danach gehe ich ins Bett. Ich versprech-…“

„Mein Junge, komm zu dir!“ Lew umgriff Kais Schultern und rüttelte ihn, als würde er verzweifelt versuchen ihn aus einem Tagtraum zu reißen. Die gebrechliche Stimme überschlug sich vor Panik. „Du hast keine Schwester!“

„Natürlich! Warum lügst du mich an?“

„Du hast keine Schwester und hast auch nie eine gehabt! So wahr ich hier stehe, ich schwöre es! Gott ist mein Zeuge! Glaub deinem alten Lew doch.“

Er hätte genauso gut mit einem Schlagring ausholen können. Nichts hätte so geschmerzt wie diese Sätze. Kai schüttelte den Kopf. Er konnte nicht glauben was er hörte.

Lew war senil.

Er war alt und senil.

Das war die einzige Lösung.

Wie betäubt torkelte Kai einpaar Schritte zurück. Dann kam ihm ein Einfall…

Er wandte sich um und spähte zum Ende des Ganges.

Die Tür gegenüber von seinem Zimmer war Janas. Bestimmt war sie darin und malte an ihrem kleinen Tisch, formte Knetmasse zu Häusern oder blätterte singend durch ihr Peter Pan Buch, während sie mit ihren kleinen Fingern die Konturen der Bilder nachfuhr.

Er schritt langsam auf sie zu, der Weg schien länger als jede Strecke die er jemals zurückgelegt hatte, doch schließlich umfasste er den Türknauf und… stoppte.

„Was wenn er recht hat?“

Diese kleine Frage schoss ihm so unvermittelt durch den Kopf, dass er über sich selbst staunte. Zuvor war er noch so sicher gewesen. Er hätte seine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass Jana existierte. Jetzt geriet sein gesamter Glauben von einer Sekunde auf die andere ins Straucheln.

Kai blickte noch einmal zu Lew zurück. Der alte Mann sah ihm nur still zu. Ein trauriger Zug lag um seinen Mund. Er schien zu ahnen dass Kais Welt gleich aus allen Fugen brechen würde. Die treuen Augen schlossen sich, als würde er dem Jungen stumm sein Einverständnis geben. Er wusste dass dies die einzige Möglichkeit war, Kai wieder zur Vernunft zu bringen.

„Der Raum ist leer…“, beteuerte eine Stimme in seinem Hinterkopf, die eigentlich gar nicht die seine war. „Sieh gar nicht erst hinein, es wird dich nur fertig machen. Du wirkst jetzt schon völlig wahnsinnig!“

Diese Zweifel. Das kannte er gar nicht von sich.

Noch einmal atmete Kai durch.

Dann drehte er den Knauf und mit einem Ruck öffnete er die Tür…
 

Nichts. Nur eine Rumpelkammer.

Ein steinerner Ausdruck trat auf Kais Gesicht.

Nichts weiter, als eine dreckige Rumpelkammer!

Ein altes Bett auf dem verstaubte Laken ausgebreitet lagen, dicke Vorhänge vor den Fenstern die das Licht aussperrten, ein alter Schrank mit altmodischen Vasen auf der Ablagefläche. Rechts in einer Ecke stand ein ausgefranster Sessel, daneben eine abgenutzte Kommode, mit einem Buch darauf. In den Winkeln sammelten sich Spinnweben.

Kai trat in den stickigen Raum und seine nackten Füße hinterließen Abdrücke auf dem staubigen Boden. Betroffen blieb er in der Mitte des Zimmers stehen, während das Licht aus dem Flur in den Raum fiel und ihn leicht beschien.

„Das kann doch nicht sein.“, flüsterte er mehr zu sich selbst. Seine Stimme war das Einzige was den Raum erfüllte. Selbst für ihn klang sie seltsam fremd und verstört. Kai griff sich an die Stirn, wollte fühlen wie warm sie war.

War er wirklich krank?

Ein Schatten erschien auf dem Boden. Lew stand am Türrahmen und blickte zu dem Jungen.

„Kai.“, hörte er seine Stimme. „Komm her mein Junge. Hier gibt es nichts was dich hält. Dieser Raum schlägt dir nur aufs Gemüt.“

Das tat er wirklich. Mit jeder Sekunde die verging, fühlte sich Kai elender.

„Wie lange war ich krank?“

„Sehr lange. Du hast seltsame Dinge phantasiert. Wir hatten Angst um deinen geistigen Zustand. Es schien fast, als würdest du in einer anderen Welt leben. Heute ist das erste Mal, dass ich dich seit langem wieder bei klarem Verstand vorfinde. Dein Großvater war schlechter gelaunt als sonst.“

„Djeduschka lebt?“

Kai wandte sich zu Lew. Der Unglaube der aus seinen Augen trat sprach Bänder.

„Ach, mein Junge. Das war eine deiner Verrücktheiten. Du dachtest deine Mutter wäre wieder hier und das Haus würde in Flammen stehen. Ich dachte es würde niemals besser werden. Kein Tag ist vergangen, an dem ich nicht für dich gebetet habe! Der Herr hat meine Gebete erhört. Endlich…“

Dankbar bekreuzigte sich Lew. Wie immer wenn er erleichtert war.

„Dann war das alles ein Traum?“

Ein Nicken kam vom alten Mann und Kai senkte die Lider.

Eigentlich ergab das alles Sinn. Er hatte geträumt dass sein Bit Beast ihn angegriffen hatte. Dranzer würde ihm aber niemals etwas antun. Es war das einzige Wesen von dem er sich voll und ganz verstanden fühlte. Sie waren wie Seelenverwandte…

„Hier steht ein Bett. Wessen Zimmer war das zuvor?“

„Das deiner Mutter. Das weißt du doch mein Junge.“, Lew hustete und Kai konnte die Staubkörner beobachten, wie sie im Schein des Lichts um seine Füße tänzelten. Der alte Mann zog ein Tuch aus der Innentasche seines Sakkos und hielt es sich an den Mund.

„Ich gebe zu, wir haben den Raum in den letzten Jahren vernachlässigt, aber für gewöhnlich ist er abgeschlossen. Anordnung deines Großvaters. Du weißt wie ungern er über deine Mutter spricht. Bitte komm jetzt raus. Ich befürchte die schlechte Luft trägt nicht zu deiner Genesung bei. “

Mit einem leichten Nicken tat Kai was ihm gesagt wurde. Er drehte sich langsam um und sein Blick blieb an einem alten Standspiegel hängen. Das Tuch darüber war etwas seitlich über die Fassung gerutscht und ließ einwenig von der gläsernen Oberfläche darunter hervorspähen.

Kai blickte sein dreizehnjähriges Spiegelbild lange an.

Für einen kurzen Moment, hatte er einen dreiundzwanzigjährigen Mann darin erwartet. Doch das Bild in seinem Kopf verschwand, wie ein Wort auf einer Tafel, dass mit der bloßen Hand fortgewischt wurde.

Da stand nur noch dieser blasse Junge im Spiegel und der sah wirklich krank aus. Unter seinen Augen zeichneten sich dunkle Ränder ab und seine Haut war unnatürlich hell, als wäre er gerade von den Toten auferstanden. Der Farbkontrast war so deutlich, wie ein weißes Blatt Papier, auf dem man mit Kohle zwei dicke Striche zog.

„Lew?“, flüsterte er plötzlich.

„Ja mein Junge?“

„Mein Tee ist jetzt bestimmt kalt. Kannst du mir einen Neuen machen?“

Er wandte sich vom Spiegel ab und schritt hinaus auf den Flur, direkt zum alten Mann, der auf der Stelle damit begann ihm den Staub abzuklopfen.

„Natürlich Master Kai.“, war die Antwort. Lew wurde wieder formell, ganz der Butler. „Und neue Kleidung brauchen sie. Und waschen… Ja. Das ist jetzt besonders wichtig. Nicht das euer Großvater mich für meine Nachsicht tadelt. Wenn er erfährt das ich sie im Regen hinausgelassen habe und sie deshalb so krank waren…“

Kai konnte sich an diesen Vorfall zwar nicht erinnern, da das aber ganz und gar seiner Art entsprach, antwortete er: „Ich erzähle ihm einfach dass ich mich hinausgeschlichen habe.“

„Das will ich auch hoffen, denn so war es auch!“

Der Junge schenkte dem besorgten Butler ein Lächeln. Dann sagte er:

„Tust du mir noch einen Gefallen, Lew?“

„Jeden.“

„Schließ die Tür wieder ab. Ich weiß nicht warum, aber dieser Raum deprimiert mich.“

„Das hat die Wahrheit leider an sich, Master Kai. Womöglich haben sie sich deshalb in diese seltsame Welt geflüchtet.“

„Wie meinst du das?“

Lew zog dem Jungen das schmutzige Hemd über den Kopf und antwortete:

„Eine Vermutung ihres Großvaters. Er glaubt dass er ihnen, mit ihren jungen Jahren, zu viel zugemutet hat. Womöglich hat er Recht. Immerhin… Ihre Familienverhältnisse sind doch sehr schwierig. Das ist nicht gut für einen Jungen. Gar nicht gut… Nein. Er hat aber bereits einige Änderungen angekündigt. Deshalb rasch ins Badezimmer und unter die Dusche. Sie werden erwartet.“

„Was für Änderungen?“

„Ihnen wird in Zukunft eine Betreuerin zur Seite stehen.“

„Ein Kindermädchen? Ich bin doch keine fünf mehr!“

„Nein, kein Kindermädchen…“

„Was dann?“

Lew ließ lange mit seiner Antwort warten. Er schien nach der richtigen Wortwahl zu suchen.

„Sagen wir, es handelt sich bei der Dame mehr um einen seelischen Beistand.“

Kai schluckte, als er begriff. Eine Therapeutin.
 

*
 

Vor Anstrengung schnaufend lief die Gruppe den Hang hinauf, während Allegro munter voraushüpfte. Die kleine Springmaus tauchte immer wieder zwischen den hohen Grashalmen auf und verschwand. Hinter ihm folgte, nicht einmal halb so fitt, der Trott aus angeschlagenen Jugendlichen, die den steilen Hang hinaufkletterten.

Es war noch ein ganzes Stück bis zum Hiwatari Anwesen, dank dem Unfall sogar noch eine Kletterpartie dabei. Begleitet wurde ihr Vorhaben von Tysons ständigem Gemecker.

„Warum muss Kai auf diesem scheiß Berg wohnen?! Kann er nicht wie jeder normale Mensch eine kleine Eigentumswohnung in der Stadt besitzen? Aber nein… Nicht Mr. Hiwatari! Mr. Hiwatari wohnt am Arsch der Welt! Immerhin ist er ja so wichtig!“

„Tyson, weniger reden, mehr klettern!“, meinte Max genervt.

„Hätte Dranzer nicht einen von euch entführen können? Ihr habt euer Hotel unten in der Stadt…“

„Hat er das gerade wirklich gesagt, Ray?! Wenn ja, prügle ich ihn windelweich!“

„Oh man, Leute! Reißt euch zusammen, “ fauchte Ray. „Wir haben wirklich andere Probleme. Hat sich einer von euch überhaupt mal Gedanken gemacht, wie wir Kai befreien wollen?“

„Ins Haus rein und mit ihm wieder raus.“, scherzte Tyson.

„Na klar. Klingt logisch. Immerhin müssen wir nur an einem mordlustigen Phönix vorbei. Das wird ein Kinderspiel…“

„Ich will gar nicht daran denken“, stöhnte Max.

Die Stimmung schlug merkbar um.

Das war nicht gut. Gar nicht gut!

„Leute, wir kriegen das schon hin.“, beteuerte Tyson. Er überholte seinen Freunde und stellte sich ihnen in den Weg, zwang sie damit anzuhalten. Zuversichtlich stemmte er die Arme in die Hüften und hob den Kopf an. Kneifen galt jetzt nicht und Unsicherheit war ein schlechter Kamerad, für ein Vorhaben wie ihres.

„Max, hättest du jemals zu träumen gewagt eine riesige Anakonda zu besiegen?“

„Natürlich nicht.“

„Und was ist mit dir Ray? Hast du vergessen was für einen herrlichen Tritt du dieser verlausten Hyänenmutter verpasst hast? Die wusste gar nicht wie ihr geschah, schon ist das stinkende Biest im Wasser ersoffen.“

„Ja schon“, meinte Ray und ein verlegenes Lächeln huschte um seinen Mund. „Aber wir müssen realistisch bleiben. Dranzer wird bestimmt kein Zuckerschlecken. Außerdem hatten wir meistens das Glück auf unserer Seite…“

„Das habe ich auch nie behauptet“, entgegnete Tyson unbeeindruckt. „Dranzer wird hart. Megahart. Wir werden jede Menge Schwierigkeiten haben! Aber wir haben es bis hierher geschafft! Das hätten wir zuvor doch gar nicht zu träumen gewagt! Wir werden einen Weg finden, Kai da raus zu holen und wir werden es auch wieder nachhause schaffen!“

„Das ist eine gesunde Einstellung“, lobte Allegro und hüpfte mit einem großen Satz auf seine Schulter. „So spricht nur ein wahrer Kämpfer! Lasst euch nicht entmutigen, denn wie sprach George Patton so schön: Tapferkeit ist die Fähigkeit, von der eigenen Furcht keine Notiz zunehmen.“

Max und Ray warfen sich unsichere Blicke zu. Doch dann lächelten sie sich gegenseitig an und nickten. Hier würden sie nicht scheitern! Dazu stand zuviel auf dem Spiel.

Tyson klatschte sich freudig in die Hände, als er die Entschlossenheit in den Gesichtern seiner Freunde aufkeimen sah.

„So will ich euch sehen. Zieht nie wieder in meiner Anwesenheit solche Trauermienen! Wir schaukeln das Kind schon.“

Er drehte sich um und bildete mit Allegro auf seiner Schulter die Vorhut, während Max und Ray ihnen hinterher marschierten. Die Truppe ließ die letzten Meter des Hangs hinter sich und erreichte wieder die Straße. Als Tyson meinte, dass seine Freunde ihn nicht hörten, flüsterte er zur Springmaus: „Danke Kumpel. Dich schickt der Himmel.“

„Es war mir eine Ehre. Immerhin sprach aus deinen Worten so viel Mut.“

Doch Tyson schüttelte leicht den Kopf und antwortete:

„Nein. Du verstehst nicht… Ich habe auch Angst! Ich scherze zwar und nörgle herum, aber in Wirklichkeit würde ich am liebsten schreiend im Kreis laufen. Wenn Max und Ray nicht hier wären… Ich mag gar nicht daran denken.“

Er grübelte kurz, dann wurde seine Miene ernst.

„Gott bin ich ein Heuchler. Ich verlange von meinen Freunden so viel ab, was ich mir aber selbst kaum zutraue. Allein deshalb sollte ich alleine hineingehen. Was denke ich mir dabei, sie in solche Gefahr zu bringen.“

„Sind sie deine Freunde?“

„Natürlich!“

„Und du würdest für deine Freunde alles tun, nicht wahr?“

Tyson nickte.

„Und jetzt mal anders herum: Denkst du sie würden nicht genau so für dich handeln?“

Tyson blieb stumm, dachte nach, aber dann huschte ein Lächeln über seinen Mund.

„Na siehst du. Ihr habt alles zusammen gemeistert. Dieses Mal wird keine Ausnahme sein. Und was deine Angst angeht… Es ist keine Schande Angst zu haben. Denkst du ein Kriegsherr, der seiner Armee vorneweg, in die Schlacht reitet, hat keine Angst vor dem Tod? Die Kunst mit der Angst umzugehen, besteht darin, sie zu überwinden. Das macht den wahren Mut aus.“

Das Hiwatari Anwesen ragte in der Ferne auf. Der Himmel darüber war grau. Sämtliche Fensterläden waren hinuntergelassen und ließen das Gebäude wie einen schlafenden Riesen wirken. Alle Weiden auf dem Grundstück waren tot und kahl. Die krüppligen Äste hingen bekümmert von den Bäumen herab, als sehnten sie ihr Ende herbei.

Es war gespenstisch…

Allegro schien die Anspannung zu spüren, welche die Villa auf Tyson ausübte, denn er sprach: „Du wirst dort hineingehen. Ich weiß dass du den Mut dazu hast.“

Tyson blickte lange das unheimliche Anwesen an, wie der Nebel darüber hinweg zog und vertrocknete schwarze Blätter von einer kleinen Windböe erfasst wurden. Das schwarze Einfahrtstor stand offen. Eine der Türen klappte immer wieder auf und zu. Es schepperte jedes Mal, wenn das Metall aufeinander prallte.

Er dachte daran, wie Kai sich jetzt in diesem Gebäude fühlen musste.

Alles war so trist und hoffnungslos. Tyson selbst wäre auf Dauer wahnsinnig darin geworden.

Vielleicht wollte es Dranzer auch darauf hinauslaufen lassen?

Kai würde dort drinnen verrückt werden und Dranzer sein einziger Anker sein.

Bei diesem Gedanken zogen sich seine Brauen tief ins Gesicht und er ballte die Fäuste.

„Oh nein, du hinterhältiges Mistviech, “ schwor eine entschlossene Stimme in seinem Kopf. „Kai kriegst du nicht.“
 


 

*
 

„Mir ist bewusst, wie unangenehm diese Situation für sie sein mag, aber es ist zu ihrem Wohl, Master Kai.“

„Ich kann mich mit dem Gedanken nicht anfreunden.“

„Natürlich. Aber ich verspreche ihnen, die Dame Solowéj ist wirklich bezaubernd. Eine sehr umgängliche Gesprächspartnerin.“

„Eine Russin?“

„Wir müssen doch unseren Wurzeln treu bleiben. Etwas anderes kommt uns nicht ins Haus!“

Mürrisch saß Kai in Unterwäsche auf einem Stuhl und ließ zu, dass Lew ihm die nassen Haare, mit einem Handtuch trocken rubbelte. Vor ihm war ein Spiegel an der Wand befestigt. Sein eigenes Ich blickte ihm böse entgegen.

Diese gesamte Situation war einfach furchtbar… und erniedrigend.

Er brauchte eine Therapeutin. Er! Dabei hatte sich Kai immer für einen rationalen Menschen gehalten. Etwas in sich gekehrt? Womöglich. Verrückt? Niemals!

Wie konnte er nur in eine solche Fantasiewelt abdriften?

Er war doch sonst kein Träumer…

Beschämt zog er den Kopf tiefer zwischen die Schultern und blickte auf seine Hände hinab. Sie ruhten auf seinen Knien, zu Fäusten geballt. Stillschweigend nahm er hin, dass Lew ihn bemutterte, was er für gewöhnlich hasste. Doch der alte Mann schien in den letzten Tagen so viel mit ihm durchgestanden zu haben, dass es ihm einfach nicht fair erschien, ihn dafür anzuschnauzen. Stattdessen hörte er seinen Erzählungen halbherzig zu.

„Wussten sie dass die junge Dame sogar von einem alten Großfürstengeschlecht abstammt?“

„Ach wirklich…“

Eigentlich wollte er noch fragen, warum sie sich dann mit ihm abgab, doch seine Antwort wurde erstickt, als ihm hastig ein frischer Pullover über den Kopf gestülpt und danach die zerzausten Strähnen, mit einer Bürste gekämmt wurden.

„Lew“, knurrte Kai wütend zwischen den Zähnen hindurch und schlug dann doch die Hand weg. „Ich kann das auch allein! Ich bin keine fünfjährige Rotznase!“

„Das weiß ich doch, aber die Dame wartet bereits. Eine Lady darf man nicht warten lassen. Das ziemt sich nicht.“

„Wenn Großvater sie stündlich bezahlt, hat sie keinen Grund sich zu beklagen. Diese Frau verdient ihr Geld damit, sich neben mich in einen Sessel zu pflanzen und mich wie eine Zitrone auszupressen.“

„Sie bekommt kein Geld. Die Dame Solowéj hat sich freiwillig gemeldet. Sie ist sehr an ihrem Fall interessiert.“

„An meinem Fall? Wie viele wissen denn davon?“

„Wir hatten einige Ärzte hier im Haus. Immerhin hielt ihr Zustand Monate an. Bedauerlicherweise hielt es einer der Ärzte nicht für nötig sich an die Schweigepflicht zu halten. Ein kleiner Rat meinerseits – warten sie noch eine Weile, bis sie wieder vor die Tür treten. Die Gerüchteküche brodelt…“

Kai klappte der Mund auf. Er konnte im Spiegel erkennen, wie Lew missmutig die Nase rümpfte. Kurz darauf schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf.

„Was ist mit meinen… Freunden?“, das letzte Wort war mehr ein Flüstern. Er wusste nicht, ob er sich die Erinnerungen mit ihnen auch nicht nur zusammen gereimt hatte.

Für eine Sekunde sah er ganz deutlich ein Bild vor seinem inneren Auge.

Gestochen scharf…
 

Ein erwachsener Tyson, wie er draußen, unter seinem Zimmerfenster stand, die Arme zu ihm empor gestreckt. Hinter Kai war alles hell und flackerte bedrohlich. Flammen peitschten ihm entgegen. Er hielt seine Schwester in den Armen und wollte sie hinunter werfen.
 

„Vertrau mir einfach mal!“, schallten Tysons Worte zu ihm hinauf.
 

Das musste doch real gewesen sein…

Warum sollte er sich etwas Derartiges einbilden?

Doch ein verächtliches Schnaufen von Lew holte ihn wieder aus seinen Tagträumen heraus.

„Diese Bälger?“, antwortete der Hausverwalter angewidert. „Die haben sie schneller fallen lassen als ich bis Drei zählen könnte.“

Erschrocken riss Kai die Augen auf, doch Lew redete unentwegt weiter.

„Gleich nachdem ihre Halluzinationen angefangen haben, wollten sie nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Ihre Gesellschaft war ihnen eine Last. Wenn ich mich recht entsinne, meinte dieser vorlaute Kinomiya sogar, dass er auf einen Psychopathen als Freund gut verzichten könne. Immerhin seien sie nichts weiter als ein ständiges Problemkind.“

Erst als Lew diesen Satz beendet hatte, bemerkte der alte Mann den Ausdruck auf Kais Gesicht. Voller Bedauern stockte er in seinem Redefluss und atmete seufzend aus.

„Master Kai, bitte entschuldigen sie. Mein Temperament ging mit mir durch. Es muss furchtbar sein, so etwas zu hö-…“

„Schon gut.“, Kai erhob sich und zog seine Hose über die Shorts. Seine Miene blieb ernst und man sah ihm nichts an, doch im Innern erstickte er an seiner Enttäuschung.
 

Zehn Minuten später schritten der Hausverwalter und das jüngste Hiwatari Mitglied die Treppe zum Foyer hinunter. Kai hatte die Hände in den Hosentaschen versenkt und zog ein freudloses Gesicht. Sein Unmut sprach Bänder.

Lew geleitete ihn noch einpaar Schritte zum Kaminzimmer. Kurz vor der Tür blieb er stehen und verabschiedete sich höflich, mit einer leichten Verbeugung. Dabei flüsterte er:

„Kopf hoch, mein Junge. Sie wird dir gefallen.“

Das glaubte Kai weniger, nahm es aber mit einem Nicken zur Kenntnis.

Sein Gegenüber zwinkerte ihm verschwörerisch zu, machte anschließend auf dem Absatz kehrt und verschwand in einem der umliegenden Zimmer, ließ Kai alleine vor der eichenen Tür zurück. Gerade als der Junge die Klinke hinunterdrücken und eintreten wollte, vernahm er auf der anderen Seite gedämpfte Stimmen, die sich miteinander unterhielten.

Eine davon erkannte er auf Anhieb.

Sein Großvater…

„Verdammt“, flüsterte Kai. Er wusste nicht wie er sich verhalten sollte. Vor einpaar Minuten war er der festen Überzeugung gewesen, dass dieser Mann tot war. Er sah bereits den vorwurfsvollen Blick der ihn erwartete.

„Ich weiß mit dem Jungen nicht mehr ein noch aus“, hörte er den alten Voltaire lamentieren.

Es klang verzweifelt, fast schon frustriert. Vollkommen untypisch für seinen Großvater. „Seine Paranoia stellen den gesamten Haushalt auf den Kopf. Erst vor kurzem war er der festen Überzeugung dass unser Haus brennt. Von mir denkt er, dass ich tot bin! Es ist zum Verzweifeln! Er ist mein einziger Enkel. Mein Erbe wird an ihn weitergereicht, wenn ich nicht mehr bin. Ich kann nicht sicher abtreten, wenn ich nicht weiß, dass meine Firma in guten Händen ist!“

„Ich verstehe“, antwortete eine ruhige Frauenstimme. Sie jagte Kai eine Gänsehaut über den Rücken, die er sich nicht erklären konnte. „Was ist mit dem Vater des Jungen? Wäre er nicht der rechtliche Nachfolger?“

„Hmpf,“ ein verächtliches Aufschnauben. „Niemals! Kai und ich haben unsere Differenzen, aber auf keinen Fall lasse ich zu, dass sein Taugenichts von Vater meine Firma bekommt. Mein Erbe geht an den Jungen. Ich habe ihn großgezogen, als sein Vater der Familie den Rücken gekehrt hat und seine Hure von Mutter auf und davon ist.“

Ein deprimiertes Seufzen folgte.

„Sie sind meine letzte Hoffnung, Anastasia. Bringen sie den Jungen wieder auf den rechten Pfad. Wenn sie es nicht schaffen, dann bin ich mit meinem Latein am Ende…“

Eine Tür knarrte in Kais Nähe und fragend wandte er sich um. Die beiden Hausmädchen Ida und Hata kamen kichernd aus einem der Räume heraus und traten in die Eingangshalle, während sie sich den neuesten Tratsch zuflüsterten. Als sie Kai erblickten blieben sie wie angewurzelt stehen. Beim Lauschen ertappt, biss er sich auf die Unterlippe. Er warf ihnen einen vernichtenden Blick zu. In seiner Sprache bedeutete das soviel wie:

„Ihr seid gefeuert, wenn ihr nicht die Schnauze haltet.“

Erst dann klopfte er an die Tür und trat ein.
 

„Ah, da ist mein Enkel!“, kam es von Voltaire. Er stemmte sich aus dem Sessel vor dem Kamin, in dem ein Feuer knisterte, und schaute zu ihm herüber. Vom Donner gerührt hielt Kai inne. Es war etwas anderes ihn zu hören, aber seinen Großvater leibhaftig vor sich zu sehen, in Natura…

Genau wie in seiner Erinnerung trug er einen langen braunen Mantel, mit der großen Flammenbrosche auf der rechten Seite, während sein schwarzer Anzug darunter hervorlugte. Sein ergrautes langes Haar war ordentlich zurückgekämmt, fiel ihm über die Schultern, während die weiße Strähne an der Stirn etwas widerspenstig nach oben stand. Um seine Mundwinkel lagen Furchen, die durch das Flackern im Kamin noch tiefer wirkten als sonst. Ein deutliches Zeugnis davon, wie wenig dieser Mann in seinem Leben gelacht hatte. Kai konnte sich nicht erinnern, seinen Großvater jemals fröhlich oder ausgelassen erlebt zu haben. Immer wenn er an ihn dachte, verfolgte ihn der tadelnde Ausdruck auf dessen Gesicht, mit diesen zusammengezogen Augenbrauen und den Tränensäcken.

Kai konnte nicht anders – er stierte den alten Mann entsetzt an.

Das Letzte was er von seinem Großvater wusste, war…

Er griff sich an die Stirn.

„Nicht schon wieder“, dachte er. Hier stand sein Djeduschka, quick lebendig und er war noch immer der festen Überzeugung, dass der alte Mann vor kurzem das Zeitliche gesegnet hatte. Er konnte Realität nicht von Irrsinn unterscheiden. Das machte ihn wahnsinnig!

Seine Verunsicherung musste wie eine Welle auf Voltaire überschwappen, denn seine Miene verfinsterte sich und er flüsterte etwas auf Russisch zu seiner Sitznachbarin:

„Er sieht mich an als wäre ich der leibhaftige Satan.“

Die Dame Solowéj konnte Kai nicht erkennen. Ihr Sessel stand mit der Lehne zu ihm, versteckte die Frau vor seinem Blick. Sie entgegnete nichts auf Voltaires Aussage.

„Komm her, Kai. Ich möchte dir jemanden vorstellen.“

Zögerlich kam er der grimmigen Aufforderung nach. Kai trat langsam zu seinem Großvater, der seine Hand auf die Schulter seines Enkels legte. Sie fühlte sich warm an und echt, mit diesem festen, ruppigen Griff, den er noch von früher kannte.

Kais Blick wanderte langsam von der Hand auf seiner Schulter, zu ihrem Gast und augenblicklich stockte ihm der Atem. Erschrocken wich er zurück, prallte mit dem Rücken gegen den Brustkorb seines Großvaters.

Das konnte doch kein Zufall sein!

Dieses Gesicht…

„Großvater! Das ist Dranzer!“, rief er aufgebracht.

„Junge…“

„Nein! Ich habe diese Frau schon einmal gesehen! Als das Haus gebrannt hat…“

„Genug davon!“, polterte Voltaire laut. Augenblicklich verstummte Kai und sah vom Donner gerührt, in das wütende Gesicht seines Großvaters. Die Lippen des alten Mannes waren fest aufeinander gepresst und auf seiner Stirn, kräuselten sich die Denkfalten um die Wette. Er tat eine ausladende Bewegung in den Raum und sprach dann mit spöttischer Stimme:

„Sieh dich um, mein verwirrter Enkel! Sieht dieses Haus aus, als ob es gebrannt hätte? Alles ist an seinem Platz, so wie es sein soll. Hör auf mit deinen Lügen! Wenn dir dieses Haus nicht passt, können wir uns ja nach einer besseren Unterkunft für dich umsehen. Wie wäre es mit einem Zimmer in einer Nervenheilanstalt?“

Kais Wangen liefen vor Zorn rot an und mit zu Schlitzen geformten Augen, sprach er:

„Warum kenne ich sie? Wenn ich mir alles eingebildet habe, dürfte ich ihr Gesicht nicht kennen!“

Sein Großvater wollte bereits zu einer Antwort ansetzten, doch die Dame Solowéj hob beschwichtigend die Hand. Sofort wurde es ruhig. Ihr Blick wanderte langsam zu Kai. Die dunklen Augen fokussierten ihn, schienen ihn von oben bis unten zu durchleuchten. Die hellen Locken waren hochgesteckt, umrahmten das ebenweiße Gesicht, nur eine Strähne verdeckte das rechte Auge. Sie ließ die blasse Hand wieder sinken und verhakte sie mit der anderen, bevor sie im sanften Ton sprach:

„Mein lieber Junge, weißt du wie lange du krank warst?“

Kai schüttelte verneinend den Kopf.

Ein charmantes Lächeln erschien auf ihren Lippen.

„Fast ein ganzes Jahr. Seit Monaten versuchen die besten Ärzte dich wieder zu klarem Verstand zu bringen.“ Sie bettete die schlanken Finger auf ihre Brust. „Aber erst seitdem ich dich behandle, machen sich die ersten Erfolge bemerkbar. Du kennst mein Gesicht, weil ich seit Monaten um dich herum schleiche. Ich bin immer in deiner Nähe gewesen. Auch als du im Fieberwahn dachtest, dein Haus stünde in Flammen. Ich bin deine ständige Begleiterin…“

Darauf wusste Kai keine Antwort.

Er betrachtete nur stumm die Frau vor ihm, in ihrem eleganten beigen Kostüm, bis sie seinen Großvater bat, aus dem Raum zu gehen. Voltaire nickte und legte noch einmal seine Hand auf Kais Schulter. Er beugte sich zu ihm vor und flüsterte, fast schon in flehendem Ton:

„Komm zur Vernunft, mein Enkel. Es tut nicht gut in einer Traumwelt zu leben.“

Dann schritt er mit zusammengezogen Brauen und erhobenen Hauptes aus dem Raum.

Ein dumpfer Laut erschallte, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.

Nun waren sie allein.

Kai und die fremde Frau, von der er nicht wusste, wer oder was sie war. Nur das Feuer im Kamin gab ein leises Knacken von sich. Die Dame Solowéj streckte die Hand aus und deutete auf den Sessel gegenüber von ihr.

„Setzt dich doch.“

„Ich setzte mich wann ich will! Das ist mein Haus. Ist ja noch schöner…“

Sie lachte hell auf.

„Was für ein bockiges Kind du bist!“

Schnaubend wandte Kai den Kopf zur Seite, war sich aber bewusst, dass er sich wirklich störrisch aufführte. Würde er sich jetzt aber setzten, wäre es ein Eingeständnis das sie Recht hatte. Diesen Erfolg gönnte er ihr nicht, dafür war sie ihm zu arrogant.

„Na schön. Umso besser, dann sind wir auf gleicher Augenhöhe.“, sie beugte sich vor, stemmte die Ellbogen auf ihre Knie und bettete den Kopf in die Handflächen. Es machte den Eindruck, als wäre sie ein Mädchen, das auf einer Wiese, eine exotische Pflanze bewunderte. „Erzähl mir etwas über dich.“

„Nein.“

„Trotzkopf.“ Ein Kichern. Sie lachte ihn schamlos aus. „Wie du willst. Dann mache ich den Anfang. Mein Name ist Anastasia Solowéj. Ich bin russischer Abstammung, genau wie du mein kleiner Kai. Seit zwei Jahren lebe ich in Japan. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, verirrten Seelen wie dir zu helfen…“

„Hört sich an als wären sie eine Pseudoexorzistin.“, gab der Junge unbeeindruckt von sich.

Anastasia zuckte desinteressiert mit den Schultern.

„Nenn es wie du willst. Das ist mir gleich. Es gab aber schon den einen oder anderen Patienten, von dem ich dachte, er wäre von etwas Schlechtem beseelt. Vor allem bei dir drängte sich mir dieser Verdacht auf.“ Sie blickte ihn beiläufig an. „Aber wir werden öfters Gelegenheit haben über meinen Beruf zu sprechen. Nun zu dir.“

Sie ließ sich wieder in den Sessel sinken und hakte die Finger vor der Brust ein.

„Was mich mehr interessiert ist was dich bedrückt. Was ist los mit dir, dass du nicht von deiner Phantasiewelt ablassen kannst?“

Er blieb stumm. Sie nahm ihn genau ins Visier, legte einen Finger wissend vor den Mund.

„Was hält dich dort?“

Immer noch nichts.

„Oder vielleicht, wer hält dich dort?“

Die Antwort lag auf seiner Zunge.

„Hat es mit deiner Schwester zu tun?“

Kai atmete auf, öffnete den Mund, schloss ihn dann aber hastig wieder.

„Es tut mir Leid dir das sagen zu müssen, aber du hattest nie eine Schwester. Das weißt du doch mittlerweile, oder?“

„Ich… weiß nicht… genau.“

„Unsicher?“

Kai blieb stumm. Die Dame Solowéj meinte daraufhin:

„Du wärst erstaunt, wie schmal der Grat zwischen Fantasie und Realität ist. Vor allem Kinder in deinem Alter haben ein Talent dafür, sich von der Welt abzuschirmen.“

„Ich bin kein Kind mehr.“, Kais Antwort kam herrisch, doch die Dame Solowéj ließ sich keineswegs abschrecken, ging aber auch nicht weiter auf das Thema ein. Kai hatte aber das Gefühl, als wäre das letzte Wort noch nicht gesprochen.

„Was hat sich noch in deiner Welt zugetragen. Erzähl es mir…“

Kai sah zur Seite und antwortete nur:

„Ich dachte sie wären bereits informiert.“

„Ich will es aus deinem Mund hören.“

Unschlüssig ob er antworten sollte, blieb er stumm. Er traute diesem Weib nicht. Lag es aber an ihrer natürlichen Arroganz oder daran, dass sie Dranzer war?

Realität oder Illusion. Was war echt?

Da schoss es wie ein Blitz durch seinen Kopf. Sein Blick schweifte zu der hellen Strähne, die ihr rechtes Auge verdeckte. Das Gesicht war ebenmäßig schön, fast vollkommen.

Was für eine Hässlichkeit verbarg sich aber unter dieser dicken Locke?

Ein siegessicheres Grinsen huschte über seinen Mund und in seinen Augen blitzte kurz ein roter Schimmer auf. Er verschränkte die Arme vor der Brust und neigte den Kopf leicht zur Seite.

„Bevor ich antworte, würden sie mir einen Gefallen tun?“

Die Dame Solowéj stutzte, doch mit einem langen Wimpernschlag gab sie zu erkennen, dass sie einverstanden war. „Wenn du mir dann meine Fragen beantwortest, gerne.“

„Ich will ihr Gesicht sehen.“

„Tust du das nicht bereits?“

Kai schüttelte den Kopf und tippte mit dem Zeigefinger gegen seine rechte Schläfe.

„Die Stelle auch.“

„Nun. Ich sehe zwar keinen tieferen Sinn darin, aber wenn du es wünschst...“

Sie hob die Strähne langsam an – doch Fehlanzeige.

Da war nichts. Kai konnte eine enttäuschte Miene nicht unterdrücken.

Keine hässliche Brandnarbe die das Gesicht entstellte.

Kein grausiges Auge das seltsam hervorquoll.

Selbst das dämonische Glimmen darin fehlte…

Diese Frau war, rein äußerlich, absolut perfekt. Geschlagen senkte Kai den Blick und setzte sich schließlich doch. Deprimiert sah er in die Flammen des Kamins. Von einer Sekunde auf die andere kam er sich vorgeführt und total lächerlich vor.

Die Dame Solowéj ließ die Strähne wieder hinabsinken und meinte:

„Du scheinst nicht gefunden zu haben wonach du gesucht hast.“

„Nein.“, kam die enttäuschte Antwort.

„Das tut mir Leid. Aber sieh es doch von einem positiven Aspekt. Die Erkenntnis holt dich wieder ein Stückchen näher in die Realität.“

Kai gab ein freudloses Lachen von sich.

„Realität? Wenn ich wüsste was das ist…“

„Oh, ich glaube das weißt du ganz genau.“

Sie stemmte sich vom Sessel auf und breitete die Arme aus.

„Sieh dich an Kai! Du hast alles was ein Junge in deinem Alter zu träumen vermag. Ein prächtiges Zuhause, du wirst von deinen Bediensteten behandelt wie ein kleiner russische Zar, eine strahlende Zukunft wartet auf dich. Nur ein kleiner Wink von dir und die Menschen stehen Schlange, um dir deinen Wunsch von den Lippen abzulesen. Du hast alles was du willst, alles… aber eine Kleinigkeit fehlt dir. Etwas das furchtbar an dir nagt, auch wenn du es nicht zugeben willst. Du kannst es gut verbergen. Aber mich kannst du nicht belügen. Du weißt was ich meine, nicht wahr?“

Anastasia setzte sich auf die Armlehne seines Sessels und verschränkte die Arme vor der Brust. Verbissen blickte Kai in die Flammen.

Wartete auf ihr Urteil.

„Eine Familie. Etwas was dich bedingungslos liebt und dir das Gefühl gibt, gebraucht zu werden. Zählen wir doch an einer Hand ab, wie es um deine Familie steht.“

Sie hob den kleinen Finger in die Höhe.

„Da wäre einmal dein Vater. Ein Taugenichts der sich vor der Verantwortung gedrückt hat, seinen Sohn großzuziehen und ein Familienimperium zu leiten. Er hat dich im Stich gelassen, noch bevor du die Chance hattest, ihm zu beweisen was in dir steckt. Dich als würdig zu erweisen. Würdig geliebt zu werden…“

„Pah!“, machte Kai und zog die Brauen tief ins Gesicht.

Zwecklos. Anastasia hob den zweiten Finger in die Höhe.

Es schien ihr sichtlich Spaß zu machen ihn auf diese Weise zu malträtieren.

„Nummer zwei: Deine Mutter. Wo ist sie Kai? Hat sie nicht zu deinem Großvater gesagt, sie bräuchte nur etwas Zeit um zu sich selbst zu finden? Um über deinen Vater hinwegzukommen? Wie viele Jahre sind inzwischen vergangen? Wie viele Jahre werden noch vergehen, bis sie sich endlich wieder daran erinnert, einen Sohn zu haben?“

Kai zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht.“

„Doch, das weißt du, mein kleiner Schatz. Du willst es nur nicht wahrhaben.“

Mit jedem ihrer Worte fühlte sich Kai, als würde er in sich zusammen schrumpfen.

„All die Jahre… Kein Anruf. Kein Besuch. Sie will nicht wissen wie es dir geht. Deine Leistungen interessieren sie nicht. Dein Leben interessiert sie nicht. Vielleicht gibt sie dir sogar die Schuld dafür, dass ihre große Liebe sie verlassen hat. Ist das nicht traurig? Quält dich das nicht? Sie hat deine ganze Kindheit verpasst. Du existierst für sie gar nicht…“

„Na und?“ Kai erhob sich, verschränkte die Arme vor der Brust und trat näher an das Kaminfeuer. Auf seinem Gesicht lag ein störrischer Ausdruck, der vom Schein der Flammen erhellt wurde.

„Ich brauche sie nicht. Ich brauche keinen von beiden! Ich komme alleine klar. Bisher habe ich alles was ich wollte auf eigener Faust geschafft.“

Wieder folgte ihr Lachen.

Es schallte grausam in seinen Ohren.

„Natürlich nicht! Du brauchst niemanden. So hat dich schließlich dein Großvater erzogen. Womit wir bei Punkt Nummer Drei wären. Ein alter verbitterter Mann, dessen Frau schon früh verstorben ist. Er hatte nur einen Sohn mit ihr - deinen Vater. Alle Hoffnungen die er in ihn gesteckt hatte, lasten nun auf dir. Du wurdest getrimmt, gedrillt und trainiert bis zum Umfallen. Aber seien wir doch ehrlich, diese ganze Panik die dein Großvater um deine Ausbildung veranstaltet, ist keine pure Nächstenliebe. Sie gilt doch eher der Tatsache, dass sein Favorit aus dem Rennen ist.“

Die Dame Solowéj erhob sich, umschloss mit ihren blassen Fingern Kais Schultern, nur um sich hinabzubeugen und ihm süffisant ins Ohr zu hauchen:

„Dein Vater war Voltaires erste Wahl. Du bist nur die zweite Geige. Sein Trostpflaster. Der grimmige Greis steht unter Zeitdruck, weil er bald das Zeitliche segnet und seine Firma in guten Händen wissen will. Wäre dein Vater noch hier, würde Voltaire sich gar nicht mit dir abgeben…“

Kai verkrampfte sich und die Wut brodelte in seinem Bauch. Sie richtete sich aber nicht gegen die Dame Solowéj, sondern mehr gegen die Wahrheit die aus ihren Worten sprach. Diese Tatsachen waren ihm bereits alle bewusst. Warum musste sie darauf herumreiten?

Mit einem Seufzen bettete sie ihren Kopf auf seine linke Schulter und umarmte ihn. Bevor sie weiter sprach, hielt sie drei Finger vor Kai in die Höhe.

„Drei tragende Menschen in deiner Familie haben dich entweder verlassen, ausgenutzt oder du warst ihnen schlichtweg egal. Ein Verräter jagt den Nächsten… Da war dieses Desaster doch vorprogrammiert. Irgendwann musstest du wahnsinnig werden.“

„Ich bin nicht verrückt! Es geht mir wieder gut. Ich hatte nur eine Grippe, sonst nichts! Ich bin bei klarem Verstand…“

„Doch mein Schatz. Leider bist du das noch. Du hast dir so sehr etwas gewünscht, dass dich bedingungslos liebt, dass du dir sogar eine kleine kranke Schwester herbeigedichtet hast.“

Sie tippte ihm gegen die Schläfe.

„Dein verwirrter Kopf und dein einsames Herz haben etwas gebraucht, was ihnen eine Familie gibt. Du wirst irgendwo aufgeschnappt haben, dass Trisomie kranke Kinder äußerst liebevoll und ehrlich sind. Dein Unterbewusstsein hat das gespeichert und dir in dem Moment, in dem dein Damm aus Wut und Enttäuschung brach, eine kleine Seifenoper vorgegaukelt.

Deine Mutter ist zurückgekommen, dieses Mal aber mit einem Baby im Schlepptau. Aber wie nicht anders zu erwarten, hat sie dich erneut im Stich gelassen. Mit dem Unterschied, dass du dieses Mal etwas hattest, dass genauso einsam und verlassen war wie du. Ein kleines Mädchen. Deine kranke hilfsbedürftige Schwester, die dich voller Hingabe liebt.“

„Blödsinn!“

Kai riss sich von ihr los.

Das war einer der Gründe warum er niemandem von seiner Vergangenheit erzählte. Fremde Leute meinten seine Psyche analysieren zu müssen, als wäre er ein Frosch den es zu sezieren galt. Er wollte gerade aus der Tür stürmen, und die Sitzung als gescheitert erklären, da rief ihm die Dame Solowéj hinterher:

„Und wo geht es jetzt hin? Zu deinem Großvater?“

Kai stoppte. Seine Hand umgriff die Türklinke.

„Willst du ihm sagen, was wir beide schon längst wissen? Seine Reaktion ist absehbar, er wird toben, weil du unsere Sitzung abgebrochen hast.“

Sie legte sich nachdenklich eine Hand unters Kinn.

„Oder willst du zu deinen Freunden? Wo sind sie Kai? Warum stehen sie dir nicht in deiner finstersten Stunde bei? Vielleicht weil sie nichts mit einem Wahnsinnigen zu tun haben wollen? Vielleicht weil sie dich nicht verstehen? Weder jetzt noch in der Zukunft…“

„Ich bin nicht wahnsinnig!“

„Wir kommen nicht weiter, mein Kleiner. Du willst es dir nicht eingestehen. Deine Genesung wird niemals abgeschlossen, wenn du nicht erkennst, dass du Hilfe brauchst.“

Sie schritt um den Sessel herum, kam auf ihn zu, wie ein Raubtier, das seine Beute in die Enge getrieben hatte. Ihr Blick haftete an ihm wie eine zweite Haut.

„Ich will dir helfen Kai. Seit ich von deiner Krankheit gehört habe, bin ich felsenfest davon überzeugt, dass ich jeden Winkel deines Denkens verstehe. Dein Herz liegt vor mir wie ein offenes Buch. Genau wie deine Ängste… Lass mich dir helfen. Vertrau dich mir an. Vergiss all die schlechten Menschen da draußen. Sie wollen dir nichts Gutes.“

„Und sie?!“, rief er wütend und drehte sich zu ihr um. Die Tür im Rücken. „Sie wollen mir helfen? Indem sie sich vor mich stellen und mir vorhalten, wie erbärmlich mein Leben ist? Es stimmt, okay! Ich weiß dass meine Familie zum Kotzen ist! Jeder einzelne von ihnen widert mich an! Ich hasse jeden! Meinen Vater, meine Mutter und vor allem meinen verdammten Großvater! Warum sind sie hier?! Um mir Dinge zu sagen, die ich schon weiß?“

In seiner Wut verschwamm ihm die Sicht vor den Augen.

Nein… Das durfte nicht sein! Nicht vor ihr!

All die Jahre hatte er nicht geweint. Er wusste nicht einmal dass er dazu in der Lage war.

Und ausgerechnet jetzt? Er blinzelte, wollte die verräterischen Zeichen zurückdrängen.

Doch zu spät. Eine Träne bahnte sich ihren Weg an seiner Wange entlang. Nicht aus Trauer.

In diesem winzigen Tropfen ballte sich seine gesamte Wut und Enttäuschung, die er all die Jahre am liebsten hinausgeschrien hätte.

Er fühlte sich in seine Rolle als kleines Kind zurückgezwängt, spürte wie seine Seele immer mehr zu seinem verletzlichen fünfjährigen Alter Ego zusammen schrumpfte. Die Erwachsenenwelt war ihm damals so ungerecht vorgekommen und undurchschaubar.

Jeder hatte ihn weitergereicht wie einen Spielball – grundlos.

Von seinem Vater zu seiner Mutter.

Von der Mutter zum Großvater.

Vom Großvater zur Abtei.

Das alles innerhalb von einpaar Jahren.

Niemand hatte nach seiner Meinung gefragt.

Keiner hatte gefragt bei wem er bleiben wollte.

Kai hatte das nicht begriffen. Wie denn auch?

Nachdem sein Vater sie verlassen hatte, war innerhalb von einem Jahr seine ganze Familie auseinander gebrochen. Alle waren damit beschäftigt gewesen ihre Wunden zu lecken, aber keiner ertrug seine Anwesenheit. Das es für ihn genauso schwer war, wie für alle anderen Beteiligten, stand nicht zur Debatte. Er war ein Kind, dumm und unwissend. Alle dachten er bekam nichts mit. Stattdessen wurde er regelrecht abgeschoben.

Er war erst sechs, als er bereits alle Stationen durchwandert hatte und in der Abtei landete.

Ein Erwachsener wäre stark genug gewesen, um solch ein verletzendes Verhalten zu überstehen.

Ein sechsjähriger Junge aber stellte Fragen…

Warum wurde er so schnell weitergereicht?

Warum hielt es niemand lange mit ihm aus?

Hatte er etwas Falsches getan, gesagt oder auch nur angedeutet?

In diesem Alter wurden manche Kinder eingeschult, knüpften die ersten Freundschaftsbande mit Klassenkameraden und begriffen, wie nervig die Schule eigentlich war. Kai war damals damit beschäftigt gewesen, mit seiner Einsamkeit zurechtzukommen.

Der einzige Weg die Erwachsenwelt, mit ihrer Korruption, Lügen und Intrigen zu verstehen, schien ihm damals, sich so schnell wie möglich auf sie einzulassen und sie zu begreifen.

Auf Biegen und Brechen.

Ohne Rücksicht auf Verluste – seiner Kindheit.

Und jetzt, wo er dachte alles zu verstehen, kam diese Frau und zwang ihn wieder in seine alte Rolle zurück, die er seit Jahren hinter sich gelassen hatte.

Die Dame Solowéj stand vor ihm.

Viel größer als er. Wie ein unerschütterlicher Felsen…

Seine Augen schienen sie aus der Sicht eines Kleinkinds zu beobachten. Er hatte das Gefühl, in den wenigen Minuten, in denen sie miteinander gesprochen hatten, um mehrere Zentimeter geschrumpft zu sein. Erhobenen Hauptes sah sie auf ihn herab, bis sie sich langsam zu ihm hinunterkniete. So lagen sie schließlich auf selber Höhe.

Mit den feinen Fingern wischte sie die einsame Träne fort, streichelte ihm über die Wange und über das Haar. Wie einem kleinen Kind das es zu trösten galt. Ein mitleidiges Lächeln umspielte ihren Mund, als sie sprach:

„Du hast den falschen Leuten vertraut, Kai. Schlimmer noch, man hat dich den falschen Leuten zugeführt wie ein Opferlamm. Du hattest keine andere Wahl. Aber hier und jetzt, stelle ich dich vor eine Entscheidung. Du kannst endlich wählen. Sag allem ab, was dich an deine alte Welt hält und bleib bei mir. Entscheide dich aus freien Stücken und du wirst frei sein.“

Sie bettete seine Hand in ihre eigenen, umschloss sie ganz fest. Im Gegensatz zu ihren wirkten seine Finger winzig. Er meinte auf die Hände eines Kleinkindes zu blicken.

„Wie… alt bin ich?“, kam die Frage stockend aus seinem Mund.

„Sechs.“

„Das wusste ich nicht.“ Die Erkenntnis schlug schmerzhaft auf ihn ein. Ein Hieb mit dem Hammer. Sein Atem ging stoßweise. „Ich wusste das nicht… Was ist los mit mir? Warum erinnere ich mich an so etwas nicht?! Bin ich wirklich verrückt?“

„Ja, mein kleiner Schatz.“

Kais Stimme klang selbst für ihn viel zu jung. Seine Augen schwammen in Tränen, die kurz darauf haltlos am blassen Kindergesicht hinabrollten. Sie hinterließen feuchte Bahnen auf seinen Wangen.

„Was soll ich denn jetzt machen?“, kam die kindliche Frage.

Sie lachte leise. Als wäre die Antwort selbstverständlich. Dann…

„Du brauchst einen Seelenverwandten.“

„Wie finde ich den?“

„Er steht vor dir mein Kleiner.“

„Wirklich?“

Sie nickte und sprach schließlich drei kleine Sätze, die sich wie ein Mantra anhörten: „Vertraue mir. Glaube mir. Und liebe mich…“ Ihr Blick wurde eindringlich und sie fragte: „Kannst du das?“

Kai zögerte einen Moment, bemerkte dabei wie ihre Augen ihn einfingen. Sie waren seinen so ähnlich, ebenfalls mit einem kleinen Rotschimmer in ihnen. Kleine Fäden zogen sich durch ihre Iris, die ihn an feurige Lava erinnerten. Sagte man ihm solche Augen nicht auch nach? Wie oft hatte er Lew bewundert davon sprechen hören? Als Rubine hatte er sie stets bezeichnet und wie selten man so etwas fand. Hier war aber eine Frau die genauso war wie er.

Es hatte etwas Anziehendes und ehe er es sich versah, gab er ein leichtes Nicken von sich.

Das ließ die Dame Solowéj lächeln und sie sagte:

„Dann brauche ich nur noch einen kleinen Beweis. Hab keine Angst, es ist nicht schwer. Du musst nur etwas für mich tun.“

Sie legte eine Hand auf seinen Rücken und führte den Jungen mit sanfter Gewalt, zurück zum Kamin. Dort nahm sie von einem kleinen Beistelltisch eine Schale und hielt sie Kai entgegen. Das Kind blickte neugierig hinein und fand dort viele kleine, zusammengeknüllte Papierfetzen.

„Damit du endlich von deinem Wahnsinn erlöst wirst, musst du etwas Entscheidendes erledigen, mein kleiner Kai.“

Sie nahm einen Fetzen und rollte ihn spielerisch zwischen ihrem Zeigefinger und Daumen.

„Siehst du das hier? Auf diesem unscheinbaren Stück Papier, ist eine deiner Verrücktheiten. Möchtest du nachschauen, welche es ist?“

Kai zögerte, doch schließlich nickte er langsam. Er nahm ihr den Fetzen vorsichtig aus der Hand und entfaltete ihn.

Nur zwei Wörter standen darauf: Jana Hiwatari

Als er den Namen las, fingen seine Hände an zu zittern. So sehr er sich auch anstrengte, er bekam diese heftige Reaktion nicht in den Griff.

„Wirf es hinein.“

Kai schüttelte verneinend den Kopf.

Die Dame Solowéj lächelte nachsichtig und kniete sich zu dem Kind hinab. Sie strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht und meinte:

„Ich weiß es ist schwer seine alte Welt loszulassen, aber ich verrate dir etwas.“

Sie beugte sich vor und flüsterte, als ob sie ein Geheimnis preisgab:

„Die wahre Welt hat weit aus mehr Vorzüge, als sie deine alte Welt jemals haben wird. Ich werde sie dir zeigen. Stück für Stück. Wir werden sie gemeinsam entdecken. Nur wir zwei alleine. Alles was ich dafür von dir verlange ist, dass du die kleinen Fetzen verbrennst. Einen nach dem anderen. Keiner darf übrig bleiben. Du wirst dich wundern, wie befreit du dich anschließend fühlst.“

Kai blickte noch einpaar Sekunden lang auf den Fetzen herab.

Etwas sagte ihm, es wäre falsch ihn zu verbrennen. Doch eine andere, ihm fremde Stimme, sprach neckisch: „Es ist nur ein Stück Papier. Was soll schon passieren?“

Schließlich gab Kai nach. Er streckte die Hand Richtung Feuer aus, atmete noch einmal tief ein und entließ den Fetzen aus seiner Faust. Er zerfiel zu Asche, noch bevor er den Kaminboden berührte… und tatsächlich.

Aus Kais Kopf schien sich etwas gelöst zu haben. Eine Bürde war von seinen Schultern genommen worden und er vergaß sie einfach. Er fühlte, wie er Platz für andere Gedanken fand.

„Nun der Nächste“, drängte die Dame Solowéj ruhig.

Diesmal ohne zu zögern, griff Kai in die Schale hinein und warf einen flüchtigen Blick auf den Fetzen: Vater

Es kostete ihn keinerlei Überwindung ihn den Flammen vorzuwerfen.

Bald folgte ein Familienmitglied nach dem anderen.

Irgendwann tauchten Namen aus der Abtei auf.

Und als er Gefallen an dem Spiel fand, achtete er gar nicht mehr auf die Menschen, die aus seinem Kopf verschwanden – bis zum Schluss.

Der letzte Fetzen entfaltete sich, als er knisternd in den Flammen landete. Kai erhaschte noch einen Blick auf die Buchstaben die darauf verbrannten.

Takao Kinomiya

Für einen kurzen Moment stieg ein furchtbares Gefühl in seinem Magen auf und er kam sich elend vor, doch als nur noch Asche von dem Namen übrig war, verschwand jeglicher Gedanke daran aus seinem Bewusstsein. Es war alles fort…

Lange Zeit saßen er und die Dame Solowéj vor dem Feuer und beobachteten die Flammen, bis sich eine Hand unter sein Kinn legte. Die Frau zwang ihn ihr in die Augen zusehen.

Sie lächelte auf ihn herab. Es sprach so viel Güte aus ihrer Geste.

„Fühlst du wie deine alte Welt verschwindet?“

Kai nickte leicht und zum ersten Mal merkte er, dass ihm das Herz bis zum Hals schlug. Nun sah er auch die Dame Solowéj ganz anders als zuvor.

Sie war kein Monster.

Wie konnte er das jemals denken?

Sie war ein Mensch, der ihm einfach nur helfen wollte.

Und dazu noch unglaublich schön. Die Röte schoss ihm in die Wangen, als er sich bewusst wurde, was er da dachte. Er wollte verlegen zur Seite schauen, doch ihr Lächeln verriet ihm, dass sie sich über seine Reaktion freute.

„Du hast die richtige Entscheidung getroffen Kai. Vergiss diese Falschheit da draußen.“, sprach sie sanft auf ihn ein. „Wir werden sie einfach aussperren, zusammen mit den furchtbaren Menschen. Du brauchst keinen von ihnen. Keine Eltern, Großeltern, Freunde… nichts. Vor allem hast du es nicht nötig, dich mit störenden Geschwistern abzuplagen. Du brauchst nur mich. Vertrau einmal in deinem Leben der richtigen Person.“

Kai blickte stumm in ihr Gesicht und als sie ihn in eine Umarmung zog, leistete er keinen Widerstand. Stattdessen schlang er die Arme um ihren Hals, bettete seinen Kopf in ihre Halsbeuge und schloss die Augen, während die Dame Solowéj ihm über den Rücken strich.

„Vertraue mir. Glaube mir. Liebe mich…“, das Mantra heftete sich in seinen Kopf, als würde die Dame Solowéj direkten Zugriff auf seine Gedanken haben. Immer wieder, in einer endlosen Schleife, wiederholten sich die Worte in seinem Geiste.

„So ist es brav.“, flüsterte sie ihm zu und stemmte sich sachte mit dem kleinen Jungen auf den Armen hoch, wiegte ihn hin und her, während ein leiser Singsang aus ihrer Kehle drang, wie der bezaubernde Gesang einer Nachtigall…

Sie schritt mit dem Kind durch den Raum und merkte, wie die Tränen auf seinem Gesicht versiegten. Fast schon euphorisch tänzelte sie im Kreis, summte glücklich ihr Lied vor sich her. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt nur ihm, er gehörte jetzt ihr!

Mit Haut und Haaren. Mit Herz und Seele…

Es gab niemanden mehr der ihn von ihr ablenken konnte - bis es an der Tür klopfte.

Ohne eine Antwort abzuwarten, wurde sie geöffnet und Lew trat herein.

Der Hausverwalter verbeugte sich tief, sah auf und mit ehrlicher Freude in der Stimme, sprach er: „Ich wusste sie würden gut miteinander auskommen.“

„Warum auch nicht? Ich bin seine Seelenverwandte. Nicht wahr Kai?“

Von dem kleinen Kind kam nur ein leichtes Nicken. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Er war dabei in ihren Armen in den Schlaf abzudriften. Die Dame Solowéj war vollkommen entzückt von diesem Vertrauen. Gerührt küsste sie ihn auf die Stirn.

Erst dann wandte sie sich dem Hausverwalter zu.

„Was willst du? Ich bin beschäftigt! Hast du keine Augen im Kopf, du Narr?!“

„Ich dachte mir der Junge bräuchte eine neue Garderobe. Sie haben ihn doch jünger werden lassen, als erwartet.“, demütig hielt Lew einen sauber gefalteten Stapel Kleidung entgegen und deutete eine Verbeugung an.

„Für ein hirnloses Phantom bist du gar nicht mal so dumm. Stell es ab und verschwinde.“

„Jawohl.“, Lew tat wie geheißen, zögerte aber noch einen Moment, als läge ihm etwas auf den Lippen, um dessen Wortwahl er noch suchte.

„Ist noch etwas?“, herrschte sie ihn an.

„Verzeiht, aber vor der Tür kündigt sich ungebetener Besuch an.“

„Ist das so?“

„Der Rest der Gruppe.“

Ein böses Grinsen huschte über ihre Lippen. Ihre Augen begannen vor Vorfreude zu glühen. Ein rotes Leuchten blitzte auf, während sich das attraktive Gesicht in eine dämonische Fratze verwandelte. Der Druck, um den schlafenden Jungen in ihren Armen, wurde verstärkt, als sei er eine besondere Reliquie, die sie nicht kampflos aufgeben würde. Ohne dass das Kind erwachte, wuchsen ihre Fingernägel zu messerscharfen Klauen heran.

„Die Maden trauen sich zu mir? Das wird ihnen Leid tun…“

„Waren Master Dragoons Worte nicht, dass die Gruppe zusammen bleiben soll?“

Beim Klang des verhassten Namens, entwich aus ihrem Mund ein Zischen und der Hausverwalter fuhr erschrocken zurück. Doch dann lachte die Dame Solowéj leise und schmiegte ihren Kopf an Kais Wange, streichelte ihm wieder über den Rücken, während sie sich beide leicht hin und her wiegte.

„Das war bevor sich Kai allein für mich entschieden hat. Er braucht die anderen nicht mehr.“

Die Augen wurden zu bedrohlichen Schlitzen.

„Dragoon hat mir meinen Wunsch verwehrt. Jetzt werde ich ihm seinen verwehren. Er wird meinen Jungen nicht bekommen! Niemals wird die Gruppe vereint. Wenn die anderen Knaben mir in die Quere kommen und dabei mit den Leben bezahlen, sei’s drum. Ich habe was ich wollte…“

Der Hausverwalter wurde blass, das Gesicht fahl vor Angst.

„Das… Meine Herrin, das wird den anderen Uralten nicht gefallen!“

Aus ihrem Lächeln sprach Heimtücke und Mordlust.

„Das ist nicht mein Problem.“, ihre Finger fuhren an Kais Hals entlang und in schillernden Fäden schlang sich der weiße Stoff eines Schals, wie von Zauberhand, um seine Schultern.

Lew schluckte. Es wirkte, als würde Dranzer Kai einen Galgen um den Hals legen.
 

Ende
 

Nja... Hab Kai irgendwie zu einer Heulboje gemacht. xD

Das Kapitel handelt auch überwiegend von ihm, weil jeder Chara in der FF sein eigenes Kapitel bekommen soll, Nebencharas mit eingeschlossen - diese allerdings in kleinen Abschnitten. Bei den Hauptcharas geht es natürlich nochmal tiefer in die Substanz, sprich: Vergangenheit, Gegenwart, ihre Ängste und Gedanken sollen nochmal mehr zum Ausdruck kommen. Hoffe ich konnte euch einen Einblick in Kais Psyche geben - jedenfalls aus meiner Sicht. ^_~

„Nun, wir sind da… Wie geht es weiter?“

Erwartungsvoll blickte Max zu seinen Freunden. Sie standen vor dem Einfahrtstor des Hiwatari Anwesens und warteten auf den nächsten Schritt. Das Tor klappte bei jeder Windböe auf und zu, schepperte laut, was die Gemüter nicht beruhigte.

„Hals über Kopf hineinzustürzen, ist wohl nicht so eine gute Idee, oder?“, fragte Tyson sarkastisch. Seine Freunde verneinten, bis Allegro ihnen einen Schrecken verpasste:

„Da oben! Da ist jemand!“

Von der Gruppe kamen erschrockene Ausrufe, dann verschwanden sie panisch hinter der Mauer. Die drei Jungen pressten den Rücken fest an das kalte Gestein und hielten den Atem an. Es vergingen einpaar Sekunden in denen nichts geschah. Niemand kam heraus und sprach sie an. Schließlich wurde Tyson neugierig.

„War da wirklich jemand?“, fragte er die Springmaus.

„Ja. Da bin ich ganz sicher!“

„Und hat er uns gesehen?“, kam es von Ray.

„Das weiß ich nicht. Es ging zu schnell.“

Mittlerweile trat Tyson vorsichtig an das Einfahrtstor, schielte um die Mauerecke und tatsächlich… Er meinte ein graues Gesicht hinter den Vorhängen verschwinden zu sehen.

„Hoffentlich ist der Überraschungsmoment nicht futsch!“, meinte Ray ernst. Er hielt sich nachdenklich das Kinn, senkte den Blick und meinte schließlich. „Wir können nicht einfach wahllos hineinstürmen. Wir haben nichts mit dem wir uns verteidigen können. Wenn wir wenigstens wüssten, in welchem Raum sich Kai aufhält…“

„Na wenn es weiter nichts!“, sprach Allegro. Die schwarze Springmaus hopste von Tysons Schultern und schlüpfte durch die Gitter des Eingangstors, noch bevor die Jungs ihn aufhalten konnten. Max wollte ihren kleinen Freund schon hinterher stürmen, doch Ray hielt ihn zurück.

„Warte! Von uns allen hat er die beste Chance unbemerkt hineinzukommen.“

Natürlich hatte Ray damit Recht, denn die winzige Maus war zwischen den hohen Grashalmen kaum auszumachen. Gelegentlich sah man ihren kleinen Schweif emporragen, mehr war aber nicht zu erkennen. Trotzdem hatte die Gruppe ein mulmiges Gefühl im Bauch.

Bevor Allegro aus ihrer Sicht verschwand, machten sie ihn an der Häuserwand aus. Die Springmaus suchte sich ein Kellerfenster, durch das sie schlüpfen konnte. Erst nachdem sie mehrere überprüft hatte und an deren Scheiben kratzte, fand sie ein offenes und mit einem Sprung, schlüpfte Allegro in den Spalt und verschwand hinter dem trüben Glas.

Nun hieß es für den Rest der Truppe warten…

Die Minuten zogen sich zäh dahin, doch mit jeder weiteren die verging, fühlten sie sich sicherer. Hätte man sie entdeckt, wäre schon längst etwas passiert. Allegro war bereits eine Viertelstunde im Haus und die Jungs damit beschäftigt sich auszudenken, wie sie Kai am besten retten sollten.

Tysons Idee war, mit einem Auto in den Wintergarten zu rasen und dann ihren Freund schnell rauszuholen. Seiner Meinung nach sorgte das für Aufruhr und sah verdammt cool aus! Allerdings lag der Wintergarten im zweiten Stock und Max bezweifelte, dass sie in den nächsten zehn Minuten einen Wagen finden würden, der fliegen konnte. Außerdem hatte er nach der letzten Höllenfahrt, die Nase gestrichen voll von Tysons Fahrkünsten.

Ray war der Ansicht, dass sie nichts ohne nähere Informationen planen sollten. Bevor sie nicht wussten, wo genau sich Kai befand, mussten sie warten bis Allegro zurück war.

„Aber wer weiß was dieses Mistviech mit ihm anstellt! Wir müssen sofort rein!“, protestierte Tyson prompt. Doch Ray schüttelte nur verneinend den Kopf.

„Dranzer wird Kai nichts tun. Wir wissen alle, dass unsere Bit Beasts nur darauf aus sind, uns hier zu behalten. Von verletzten oder töten war nie die Rede! Also hab etwas Geduld und warte!“
 

Warten war bei Tyson aber so eine Sache…

Er war noch nie geduldig gewesen. Weder mit fünf, noch mit zehn, noch mit zweiundzwanzig Jahren. Wie oft hatte er als Kind seinen Bruder mit ungeduldigen Fragen gedrängt, bis dieser nur ein resignierendes Seufzen von sich gab und in Tysons Wünsche einlenkte. Zu gerne hätte er Rays Kommentar ignoriert und wäre doch hineingerannt, nur leider war die Logik seines Freundes nicht nur nachvollziehbar, sondern auch sicherer. Er hasste diese Untätigkeit zu der er verdammt war. Tyson war ein Mann der Taten, deshalb schnaufte er nur auf Rays Aussage, ließ sich an der Grundstücksmauer hinunter gleiten und verschränkte die Arme, mit einem schmollenden Gesicht.

„Fein. Warten wir halt.“

Er blickte nach oben in den Nebel verhangen Himmel und seine Gedanken schweiften zu seinem Freund. In seiner Phantasie malte er sich die schlimmsten Szenarien aus. Immerhin hatte er am eigenen Leib zu spüren bekommen, mit welchen Intrigen Dranzer arbeitete.

Was würde dieses Bit Beast erst mit Kai anstellen?

Die Sonne ließ sich am Himmel blicken.

Ihr heller Schein drang etwas durch die Nebeldecke, wie ein verschwommener gelber Wassertupfer auf einem grauen Hintergrund. Es hatte etwas Tröstliches an sich.

Es wirkte wie ein leichter Hoffnungsschimmer am Horizont.

Oh! Da war sogar eine weitere Sonne!

Wie schön…

Es konnte nie genug Sonnen geben…

„Hä?!“, Tyson setzte sich kerzengerade auf und kniff die Augen zusammen. Als das Trugbild nicht verschwand, rieb er sich mit den Händen über das Gesicht und blinzelte noch einmal nach oben in den Himmel.

Zwei Sonnen?

Wie kam denn das?

Mit offenem Mund starrte er hinauf und legte den Kopf schief.

„Leute, guckt mal hoch! Das ist irre!“

Fragend blickte der Rest hinauf, da erschien auch schon eine dritte Sonne. Der Anblick war seltsam. Es erinnerte Tyson stark an damals, als die brennenden Feuerbälle auf die Hyänen…

Ihm klappte der Kinnladen runter, als der Groschen fiel und seine Augen weiteten sich.

Stolpernd sprang er auf, zog Max und Ray in einer fahrigen Bewegung hinter sich her und dort wo sie zuvor gestanden hatte, knallte keine Sekunde später etwas Heißes in den Boden. Es fraß sich in die Grundstücksmauer und brachte sie in Form von glühenden Steinklumpen zum Bröckeln, da stürzte auch schon der nächste Feuerball herab.

Max riss das Einfahrtstor auf und die Gruppe stolperte den Kiesweg entlang zum Haus. Alles war besser als bei lebendigem Leib verbrannt zu werden – selbst auf die Gefahr hin, das sie Dranzer nun in die Arme liefen. Sie waren kurz vor der Tür, da knallte eines der Geschosse direkt vor die Treppe. Die Steine flogen nur so durch die Gegend und schützend hielten sie die Arme vor das Gesicht. Trotzdem hörte Tyson Max einen Schmerzenschrei ausstoßen. Er hatte keine Zeit sich großartig darum zu kümmern, packte ihn stattdessen am Arm und die Gruppe rannte ums Haus herum. Etwas Warmes sammelte sich in Tysons Handfläche, die Maxs Arm umschloss und eine Gänsehaut jagte ihm den Rücken hinab. Er konnte sich denken was das war. Ray stürmte ihnen voraus um die Häuserecke.

Sie wollten nachkommen, doch neben ihnen stürzte einer der Feuerbälle herab, wirbelte den Kiesweg nur so auf und haute sie von den Füßen. Tyson kam auf der Grasfläche zum Liegen.

Benommen blinzelte er, rieb sich die Stirn und als er empor blickte, setzte sein Herz für einen Moment aus.

Der Himmel hatte sich in ein Meer aus funkelnden Lichtern verwandelt, die alle auf sie zusteuerten. Sie brachen durch die Nebeldecke und hinterließen dunkle Löcher im Grau.

Tyson hörte Max neben sich stöhnen.

Er raffte sich auf und half seinem Freund hektisch auf die Beine.

„Steh auf! Das ist nicht der Augenblick um schlapp zu machen!“, wies er ihn an. Als er ihn wieder an der blutenden Wunde zu packen bekam, zog Max scharf die Luft ein, biss aber tapfer die Zähne zusammen. Mehr schwankend als rennend sahen sie zu, dass sie aus der Schusslinie kamen. Als die Feuerkugeln auf den Boden eintrafen, hinterließen sie brennende Löcher auf dem Rasen. Das Szenario wirkte wie aus einem Kriegsdrama.

Man hätte meinen können, dass irgendwo am Himmel, ein Haufen Jagdbomber ihre Runden zogen – mit ihnen als Zielscheibe. Die beiden Jungs bogen um die Ecke, hielten sich dicht an der Wand, da hörten sie Rays Stimme rufen:

„Hier her! Wo bleibt ihr denn?“

Ray stand vor dem Hinterausgang der zur Küche führte… oder besser gesagt, dass was davon übrig war. Einer der Feuerbälle hatte die Tür in tausend Stücke zerfetzt. Das restliche Holz qualmte noch an vereinzelten Stellen. Eines der Bretter ragte mit einer messerscharfen Spitze nach oben. Man hätte jemanden daran aufspießen können. Gemeinsam mit Ray, half Tyson ihrem verletzten Freund zuerst in die Lücke hinein. Erst dann folgte er und gleich danach zwängte sich Ray durch den Spalt.
 

Das Erste was die Gruppe im Innern des Gebäudes tat, war, erschöpft auf den kalten Küchenboden zu sinken. Tyson war sich sicher sein Herz bis zu den Ohren schlagen zu hören. Zusammen mit den Schlägen von draußen, vermischte es sich zu einem unruhigen Rhythmus.

Der Erste der wieder in Bewegung kam war Ray. Schwer atmend richtete er sich auf und durchsuchte alle Schränke. Es klapperte und klirrte. Manchmal verstreute er den Inhalt einer Schublade wahllos auf dem Boden. Irgendwann kam er mit einpaar Geschirrtüchern zurück und kniete sich vor Max nieder.

„Hier. Nimm das. Etwas Besseres konnte ich nicht finden.“ Obwohl er nicht Schuld an Maxs Verletzung war, senkte er den Blick und sagte: „Tut mir Leid.“

Doch sein Freund tat nur eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. Er nahm eines der Tücher entgegen und drückte es sich fest auf die klaffende Wunde. Sein Gesicht verzog sich zu einer schmerzhaften Grimasse, aber es drang kein Laut aus seinem Mund. Stattdessen grinste er kurz darauf in seiner typischen Art und meinte:

„Ein Indianer kennt keinen Schmerz und ein Amerikaner schon gar nicht.“

Dieser Satz, gepaart mit Maxs einzigartiger Gabe, jede Situation mit Scherzen zu entschärfen, brachte Ray zum Schmunzeln. Bis Tyson sein erstes Kommentar vom Stapel ließ:

„Kais Bit Beast ist Scheiße!“

„Psst! Nicht so laut! Wenn es hier ist und uns hört…“

„Ist mir egal! Soll es doch kommen. Dieser hässliche Geier mit seinen blöden Feuerbällen kann mich mal kreuzweise am Ar…“

„Tyson! Hör auf!“, Ray sprang auf und taxierte seinen Freund mit zusammengezogenen Brauen. „Du hast eine größere Klappe als gut für dich ist. Das konntest du dir beim Bladen erlauben, aber hier geht es um mehr als nur um einen Titel! Ein falscher Zug von uns und wir sind tot!“

„Aber du hast doch vorhin noch gesagt, dass es unseren Bit Beast nicht darum geht uns zu töten!“

„Ich weiß was ich gesagt habe.“, seufzte Ray leicht gereizt. Dann atmete er einmal Mal tief durch. Er wollte seinen Frust nicht an Tyson auslassen. Außerdem steckte sein Freund wieder im Körper eines Dreizehnjährigen und in diesem Alter… Naja. Tyson war damals ziemlich störrisch und frech gewesen. Um einen ruhigeren Ton bemüht antwortete Ray schließlich:

„Ich dachte auch, dass sie uns nicht verletzten wollen, aber schau was mit Max passiert ist!“

Tysons Blick wanderte zum jungen Amerikaner, der sich die Wunde mit dem inzwischen blutdurchtränkten Handtuch abtupfte. Die roten Flecken auf dem Stoff sahen grausig aus. Seltsamerweise heilte die Verletzung nicht so schnell, wie die anderen zuvor.

„Als wir Dranzer die ersten beiden Male begegnet sind, hat es immer darauf geachtet uns auf Distanz zu halten, aber nicht uns zu verletzten. Dieser Angriff da draußen war aber gezielt auf uns gerichtet.“

„Aber wir leben noch! Woher willst du wissen, ob Dranzer uns nicht einfach nur ins Haus locken wollte?“

Ray wollte zynisch antworten, dass Tysons Zweifel schnell behoben wären, wenn er sich eine Zielscheibe auf den Hintern malen und mit ausgestreckten Armen durch den Garten rennen würde. Etwas musste sich geändert haben, denn Dranzers Verhalten war eindeutig rabiater als zuvor. Da unterbrach ein leises Knarren ihre Unterhaltung.

Die Blicke wandten sich dem Ursprung zu.

Langsam glitt die Küchentür auf und kurz darauf lugte ein graues Gesicht durch den Spalt. Es war alt und fahl. Den kahlen Kopf zierten nur noch wenige graue Haare. Trotzdem war es den Jungs bekannt. Tyson richtete sich auf, fixierte den alten Mann und dachte nach.

„Hey! Das ist doch Kais Butler. Wie hieß der noch mal? Lenin, nein… Auf jeden Fall etwas Russisches.“

„Lew“, korrigierte Max und richtete sich mit Rays Hilfe auf. Ihm war der Name deshalb in Erinnerung geblieben, weil der Hausverwalter eine spürbare Abneigung gegen ihn hatte. Das lag daran, dass der alte Mann nicht verkraften konnte, dass Max als Kind mit seinem Beyblade, diesen blöden Van Gogh versehentlich halbiert hatte. Wenn der Junge ehrlich war, verstand er den Trubel um dieses Gemälde nicht. Seiner Meinung nach galt alles als Kunst, so bald es einpaar Jahrhunderte im Keller verstaubte. Irgendein Idiot ließ sich immer finden, der das Gekritzel mit dem Ausruf kommentierte: „Diese Linien! Diese Kontraste! Das ist Kunst!“

„Vergesst nicht, was Allegro gesagt hat“, erklärte Ray wachsam an den Rest der Gruppe gewandt. „Dieses Ding ist nichts weiter als ein Phantom. Wir dürfen uns nicht in die Irre führen lassen. Wahrscheinlich hat Kai den Butler mit seiner Erinnerung ins Leben gerufen.“

Eine leichte Verbeugung kam von dem Geschöpf.

„In der Tat. Dieser Zustand wird aber nicht auf Dauer so bleiben.“, kam die Antwort von dem Phantom. Der Hausverwalter trat in den Raum und ließ die Tür leise hinter sich ins Schloss fallen. Die Hände hatte er vornehm hinter dem Rücken gefaltet. Sein Blick wanderte von einem Gesicht zum Nächsten. „Nein, wie bedauerlich. Welch Ungeziefer hat sich da bloß in unser schönes Heim geschlichen?“

„Wo ist Kai?“, fragte Tyson prompt. Der Butler schwieg. Doch ein wissendes Lächeln huschte über sein Gesicht. Er würde ihnen nichts verraten, so viel stand fest.

„Wenn du deine Zunge verschluckt hast, dann mach dich vom Acker!“, drohte Tyson.

„Ich befürchte dieser Bitte nicht nachkommen zu können.“

„Aus dem Weg!“

Lew schüttelte bedauernd den Kopf.

„Ihr seid kein guter Umgang für Master Kai. Die Veränderungen die ihr bei dem Jungen bewirkt habt, waren anfangs erfreulich, jetzt sind sie mehr als lästig.“

Der Ausdruck auf seinem Gesicht wurde ernst.

„Meine Zukunft hängt von dem Jungen ab. Wenn er aus der Irrlichterwelt verschwindet, höre ich auf hier zu existieren. Das kann ich nicht zulassen.“

„Sie sind nur eine Kopie.“, meinte Ray trocken. Seine Brauen zogen sich tief ins Gesicht.

„Kai ist ein Mensch aus Fleisch und Blut. Sie dagegen nur eine Erinnerung!“

„Nicht mehr lange. Wenn der junge Master hier bleibt, werde ich ewig existieren. Zusammen mit dem Kind. Jede seiner aufkommenden Erinnerungen an den echten Lew, machen mich ein Stückchen lebendiger, bis ich gar nicht mehr von dem Original zu unterscheiden bin.“

„Sie nehmen es in Kauf als eine wandelnde Lüge zu leben?“

„Was ist daran verkehrt? Tatsache ist, ich lebe… und das auch noch ewig. Das kann mein Original nicht von sich behaupten. Letztendlich werde ich dann der einzige Lew sein.“

„Und das auf Kais Kosten?!“, zischte Ray. Die bernsteinfarbenen Augen blitzten erbost zu ihrem Gegenüber, wurden zu schmalen Schlitzen.

„Ein uralter Instinkt der Menschen ist es, für ihr Überleben alles zu tun. Du siehst, ich denke bereits menschlich…“

„Etwas zu egoistisch für meinen Geschmack.“, warf Tyson ein.

„Egoistisch? Ich werde auf Ewig für das Wohlergehen des Jungen sorgen. Was könnte aufopferungsvoller sein?“

Tyson spie verächtlich aus. Lews Phantom war ein Heuchler. Er tat als würde nichts bei dieser Sache für ihn herausspringen. Plötzlich stutzte er. Zum ersten Mal seit Beginn dieser Unterhaltung, fiel ihm auf, dass der Hausverwalter etwas hinter seinem Rücken versteckte.

„Was halten sie da in der Hand?“, fragte er misstrauisch.

Lews Phantom seufzte und schüttelte bedauernd den Kopf. Dann holte er langsam etwas hinter seinem Rücken hervor.

„Mein Original ist ein sehr friedliebender Mensch“, meinte er. Es klang wie eine Entschuldigung. Kurz darauf hielt die Gruppe eingeschüchtert den Atem an, als der Hausverwalter eine Axt zum Vorschein brachte. Der stählerne Keil rostete an vereinzelten Stellen. Die Schneide sah stumpf aus, doch trotzdem wollte niemand am eigenen Leib erfahren, ob sie noch in der Lage war, einen Kopf zu spalten.

„Wie ihr seht, wurde mir aufgetragen, euch mit allen Mitteln aus dem Haus zu schaffen“, erklärte Lew beiläufig. Er sprach dabei mit viel Pflichtbewusstsein in der Stimme, selbst seine Brust reckte sich. „Ich möchte es nicht darauf ankommen lassen, doch wenn ihr nicht bereit seid, der Aufforderung nachzukommen, muss ich zu rabiateren Mitteln greifen.“

„Hat ihnen das Dranzer aufgetragen?“, fragte Tyson.

Ein Nicken kam als Antwort.

„Warum? Erst rettet dieses Biest uns vor den Hyänen und jetzt will es uns töten? Das ergibt doch keinen Sinn!“

„Dranzers Pläne haben sich kurzfristig geändert.“, erklärte Lew. Er strich mit seiner Hand über den hölzernen Schaft. „Man könnte sagen, Dranzer hat keine Verwendung mehr für euch. Ich muss euch jetzt bitten uns zu verlassen…“

Der Butler tat einen Schritt auf sie zu.

„Wir können nicht raus!“, erwiderte Max aufgebracht. „Keine Ahnung ob sie heute schon ihre Brille aufgesetzt haben, aber da draußen regnet es Feuerbälle!“

„Das ist nicht mein Problem.“

„Ziemlich unmenschlich für jemanden der ein Mensch sein will!“

Ganz unvermittelt hielt Lew inne.

Max Worte schienen etwas in ihm auszulösen. Die alten Hände umgriffen den Schaft, bis sich die Knöchel deutlich abzeichneten und sein Kopf begann zu beben. Sein Atem kam stoßweise. Das Gesicht wurde fahler, die Falten schienen tiefer zu werden.

„Ich bin ein Mensch…“

Die Stimme hatte sich verändert. Sie klang wie das Flüstern eines Mannes, der auf dem Sterbebett lag. Zu schwach um sich noch laut zu verständigen.

„Kai wird mich zu einem Menschen machen. Ich brauche nur seine Erinnerungen.“

Mit mehr Kraft als man ihm zugetraut hätte, hob der alte Hausverwalter die Axt über seine Kopf und schrie: „Ihr nehmt ihn nicht mit!“

Lew holte aus und schlug nach ihnen. Der Erste der in sein Visier geriet war Tyson. Doch so sehr sich das verrückte Phantom auch abrackerte, er bekam den Jungen nicht zu fassen. Tyson war jung. Er alt und lahm. Zudem hantierte Lew äußerst ungeschickt mit der schweren Axt. Er holte immer wieder aus, doch verfehlte sein Ziel aufs Neue. Der altersschwache Mann konnte einem fast Leid tun. Trotzdem blieben die Jungen auf der Hut. Als Lew sie auseinander getrieben hatte, wanderte Tysons Blick zu seinen Freunden.

Ray gab mit einem Handzeichen zu verstehen, dass sie aus der Küchentür verschwinden und den alten Mann im Raum einschließen wollten. Das schien eine gute Idee zu sein und beinhaltete keine Verletzten.

Als Lew wieder einen Querschläger verpasste und dabei versehentlich seine Axt in die Küchenzeile rammte, sah die Gruppe ihre Chance gekommen. Während er ächzend die Axt aus dem Holz zog, stürmten sie zur Tür und wollten hinaus entwischen. Ray hatte bereits den Türknauf in der Hand, da zog Lew mit einem Schrei die Schneide heraus, drehte sich zu der Gruppe und rannte mit erhobener Waffe auf sie zu. Ihnen blieb nichts anderes übrig als erneut auszuweichen.

Sie traten ruckartig einpaar Schritte zurück und beobachteten, wie die Axt krachend in der Tür landete. Der alte Mann versuchte unter größter Anstrengung den Keil aus dem Holz zu ziehen. Die Erschöpfung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Die spärlichen Haare klebten klatschnass an seiner Halbglatze, während sein Atem schwer ging.

„Das hat doch keinen Sinn“, meinte Tyson zu ihm. „Ich will nicht angeben, aber wir sind einpaar Jahrzehnte jünger als sie. Sehen sie sich doch an, Lew! Sie pfeifen aus dem letzten Loch, während wir nur lässig ausweichen.“

„Das ist das Dumme wenn man nur eine Erinnerung ist“, warf Max ein. „Sie können nur so viel Kraft aufbringen, wie Kai von ihnen kennt!“

Die Gruppe rückte wieder zusammen, hielt einen großen Abstand zum Hausverwalter. Er stand ihnen den Rücken zugewandt vor der Tür, seine Hände umschlossen den Stiel der Axt.

Sein Oberkörper bewegte sich zu den pfeifenden Atemzügen seiner Lunge, während das Keuchen laut zu ihnen drang.

Es war ihr Pech, dass er ausgerechnet an der Tür eine Verschnaufpause einlegte. Tysons Blick wanderte durch die Küche zum Hinterausgang. Durch das Loch in der zersplitterten Tür, konnte er den Feuerregen draußen im Garten beobachten. Mit jedem Schlag der auf den Boden traf, erzitterte die Erde einmal mehr. Es wäre blanker Irrsinn gewesen, dort draußen nach einem anderen Eingang zu suchen. Genauso irrsinnig war es aber, sich hier mit dem wahnsinnigen Butler abzugeben.

„Merken sie nicht wie falsch das ist?“, fragte er schließlich geradeheraus. „Sie wollen ein Mensch sein, aber sind bereit jemanden zu töten! Das ist das Unmenschlichste überhaupt!“

Mit einem grimmigen Ausdruck verschränkte Tyson die Arme vor der Brust.

„Selbst wenn Kai tausend Jahre in der Irrlichterwelt bleibt… Selbst wenn sie Abermillionen Erinnerungen von ihm abzwacken, allein die Tatsache, dass sie bereit sind zu morden, gibt ihrem Weg zur Menschlichkeit einen gehörigen Dämpfer!“

Lew hörte auf zu Atmen. Sie konnten beobachten wie sein Oberkörper stillstand.

Dann plötzlich bebten seine Schultern und keine Sekunde später, vernahmen sie ein Gackern aus seinem Mund. Es schallte unheimlich durch den Raum, jagte dem einen oder anderem von ihnen eine Gänsehaut über den Rücken. Das Lachen wurde dunkler, erfüllte jeden Winkel im Raum. Es passte gar nicht mehr zu einem Menschen und schmerzte bald schon in den Ohren. Man hätte es mit dem dumpfen Dröhnen einer ungeölten Industriemaschine vergleichen können. Es klang verzerrt, kalt, wahnsinnig…

Während seines unheimlichen Anfalls, zog Lew die Axt aus der Tür. Dabei tröpfelte etwas hinunter auf die ockerfarbenen Fliesen. Der alte Mann krümmte sich vor ihnen, bis er sich langsam zu ihnen wandte.

Tyson hielt den Atem an.

Lews Gesicht… Es begann zu schmelzen!

Nase, Augen und Ohren verschwammen zu einer deformierten Masse. Nur der schmale Mund klaffte im Gesicht, wie eine tiefe Schnittwunde. Die Mundwinkel deuteten skurril nach oben, als hätte man sie Lew gewaltsam, mit einem Tacker, unter den Augen befestigt. Es war eine hässliche, grinsende Grimasse, während die Unterlippe immer weiter nach unten schmolz und sich mit dem Kinn vermischte. Sein Gesicht erinnerte an einen Brocken Wachs, den man in Form gebracht und später in der prallen Sonne vergessen hatte. Man konnte nur noch erahnen, was der Klumpen zuvor darstellen sollte. Lews Phantom schien sich wieder in einen Gesichtslosen zurückzuverwandeln. Jede menschliche Partie tropfte langsam zu Boden.

„Morden ist nicht menschlich?“, drang es schließlich aus dem Schlitz. Das linke Auge war ganz verschwunden. Überrollt von einer wachsweichen Hautschicht. Nur ein mickriger verformter Punkt, in der anderen Gesichtshälfte, war von dem rechten Auge übrig geblieben. Die schwarze Pupille schielte zu ihnen herüber.

„Um sein Überleben zu kämpfen, auf biegen und brechen, ohne Rücksicht auf Verluste, gehört zum menschlichen Dasein dazu, wie der erste Atemzug!“

Das Phantom spie die Worte verächtlich heraus.

„Eure Geschichtsbücher sind voll davon! Voller Verrat und Hass. Ihr könnt es nicht leugnen! Mord und Totschlag ist überall, seit Anbeginn eurer Zeitrechnung! Kain und Abel, Menschenopfer, der dreißig Jährige Krieg, Weltkriege! Ganze Landstriche hat der Mensch vernichtet… Ganze Völker ausgerottet!“

Lew breitete die Arme aus. Er schrie seine Worte voller Überzeugung hinaus. In der linken Hand hielt er die Axt empor, wie ein Wanderprediger vor seinen Zuhörern.

„Ich bin menschlicher als ihr alle zusammen! Niemand kann es mir nachtragen wenn ich töte! Ich handle wie Millionen von Menschen vor mir! Ich bin genauso wie sie alle! Ich bin ein Teil der Menschheit! Nur der Stärkste gewinnt!“

„Schauen sie sich mal ihre hässliche Fratze an! Ich kann mir denken warum ihr Gesicht dahin schmilzt! So widerlich sieht nur ein Mörder aus!“

„Kai wird es wieder richten. Der Junge braucht nur an seinen guten alten Freund Lew zu denken und schon ist mein Gesicht wieder da! Seine Erinnerungen werden meinen erschöpften Körper heilen, wie ein wohltuendes Bad.“

„Wenn ich Kai wäre, würde ich mit hundertachtzig Sachen schreiend den Rückwärtsgang einlegen!“, mischte sich Tyson ein.

„Dann eben Dranzer!“

„Sie sind für Dranzer doch nur ein Mittel zum Zweck! Wissen sie was es normalerweise mit Gesichtlosen macht?! Wir haben es mit eigenen Augen erlebt!“, mit einem Schauer dachte Tyson an die Phantome, die Dranzer zuvor in der Innenstadt getötet hatte. „Sie glauben doch nicht allen ernstes, dass sie eine Ausnahme sind?! Nur ein falsches Wort von ihnen und es wird sie mit seinem Feueratem in ein Häufchen Asche verwandeln!“

„LÜGE!“

Lew stürmte auf die Gruppe zu und schlug in wilder Raserei um sich. Plötzlich war er viel schneller. Sein Wahnsinn schien ihm Kraft zu verleihen.

Er holte aus, schlug zu.

Holte aus, schlug zu.

Immer wieder, ohne aus der Puste zukommen.

Jeder Hieb wurde begleitet von seinem wirren Schrei.

Das wachsweiche Gesicht tröpfelte zu Boden, wie zähflüssiger Honig. Jedes Mal wenn Lew seine Lippen zu einem Schrei aufriss, klebten sie aneinander und zogen dünne Fäden.

Es war ein grausiger Anblick… und er machte ihnen Angst.

Als Ray einem Schlag auswich, rutschte er auf einer der Pfützen aus, die Lew verursacht hatte. Er geriet ins Straucheln und landete mit einem erschrockenen Ausruf auf dem Rücken. Tysons Augen weiteten sich entsetzt, als er beobachtete, wie das Phantom auf seinen erstarrten Freund zukam. Die Axt hoch erhoben, bereit Ray den Schädel zu spalten. In diesem Moment wusste Tyson nicht, ob ihn ungeahnter Mut oder viel mehr Dummheit ritt. Jedenfalls setzten sich seine Beine selbstständig in Bewegung. Er stürzte auf den Hausverwalter zu, noch ehe dieser die Möglichkeit hatte, seinem Freund etwas anzutun. Mit der Schulter versetzte er ihm einen heftigen Stoß gegen die Seite, bekam dabei aber den Holzstiel der Axt gegen die Schläfe. Eine schmerzhafte Explosion in seinem Kopf folgte und Tyson verschwamm die Sicht. Der alte Mann prallte inzwischen gegen die Küchezeile.

Einpaar Schubladen machten sich durch die Wucht selbstständig und sprangen auf. Aus einer von ihnen regnete Besteck auf die Fliesen hinab. Ansonsten blieb Lew unverletzt.

Tyson aber stürzte benommen, mit dem Rücken voraus, zu Boden.

Als er auf den kalten Fliesen lag, tanzten die Wände um ihn herum, das Blut pochte heftig gegen seine Schläfe und ihm dröhnte der Schädel. Betäubt vernahm er Rays Silhouette, die sich über ihn beugte und seine Schultern packte. Tyson wurde ruckartig auf die Beine gezerrt. Sein Kopf klappte zur Seite und kam auf einer Schulter zum Liegen. Während Ray seinen Freund von der Gefahrenquelle wegzog, hörte Tyson Max etwas rufen. Es klang als würde er absichtlich das Phantom provozieren.

Sein Plan ging auf. Der alte Hausverwalter stützte sich von der Küchenzeile ab und jagte ihm hinterher, während Ray versuchte, seinen Freund wieder auf die Beine zu bekommen.

„Tyson, komm schon!“, hörte er Rays Flehen. Einpaar leichte Ohrfeigen trafen auf seine Wange. „Bitte steh auf! Lass uns jetzt nicht hängen! Wir können dich jetzt nicht durch die Gegend tragen!“

Ein unwilliges Stöhnen kam von Tyson. Doch schließlich blinzelte er, bis die Konturen seiner Umgebung wieder klarer wurden. Er hörte wie Max das Phantom bis aufs Blut triezte. Es jagte ihm hinterher, während sein Freund immer wieder Möbel in dessen Weg rückte. Stühle wurden verschoben, die Axt prallte auf den soliden Küchentisch, es trampelte und klirrte aus jeder Ecke. Bis Max mit seinem orangen Overall an der Tischkante hängenblieb. Einer der Ärmel, die er sich um die Hüfte gebunden hatte, ließ sich trotz ziehen und zerren nicht von der Kante lösen. Der Stoff zog sich in die Länge und Lew holte wieder aus.

Da schoss aber ein kleiner blauer Blitz zwischen Lews Beinen hindurch.

Er umkreiste das Phantom und verschwand schließlich knisternd in dessen Hosenbein.

Zuerst stutzte der Hausverwalter, bis er das unangenehme Ziehen an den Waden spürte.

„Was ist das?! Das ist ja widerlich! WEG VON MIR!“

Die Axt glitt aus den Händen. Das entstellte Gesicht des Phantoms, mit dem schnittähnlichen Mund, war in heller Aufregung. Lew hüpfte auf einem Bein, das kleine verformte Auge schien in seiner Höhle zu erzittern, während die Tirade nur so vor Hass triefte.

„Ekliges Dreckstier! Scher dich hinaus! Dieses Haus duldet keine Ratten! ARGH!“

Das Phantom schlug sich auf die Brust, wo sich deutlich eine kleine Ausbeulung erkennbar machte. Sie bewegte sich unter dem Stoff der Jacke, von einer Seite auf die andere, versetzte dem alten Mann immer wieder kleine heftige Stromstöße.

Ein Quieken drang zu Tyson.

„Verschwindet! Ich halte ihn auf! Raus mit euch!“

Doch Max befreite sich von der Tischkante und als der Hausverwalter sich nach der Axt beugte, setzte er den Fuß auf das Werkzeug und schob es mit einem heftigen Ruck, auf die andere Seite des Raumes - direkt vor dem zerstörten Hinterausgang.

Mit einem wütenden Aufschrei griff Lew nach Max. Er packte den jungen Amerikaner am Kragen und drückte ihn zu Boden. Die alten Hände umschlossen mit einer ungeahnten Kraft den Hals des Jungen und würgten…Würgten bis Max anfing zu keuchen!

Aus Angst er könne Max auch versehentlich einen Stromstoß verpassen, ging Allegro dazu über, Lew mit Bissen und Kratzern zu attackieren, doch der Griff ließ nicht locker.

Lews Hände wollten Max unter allen umständen zum Schweigen bringen.

Die freche Zunge sollte nie wieder ein Wort von sich geben.
 

Ray ließ von Tyson ab, stürmte auf Lew zu und versuchte ihn von seinem Freund runterzuziehen. Doch er war jetzt gefangen in einem dreizehnjährigen Körper. Es bedurfte viel Kraft, dem alten Mann überhaupt eine Regung abzuverlangen – ihn von seiner Tat abzuhalten! Als Tyson sich benommen aufrichtete, wollte er sofort zur Hilfe eilen, doch er trat gegen etwas, dass klirrend auf dem Boden lag.

Eine der verstreuten Gabeln.

Er hob das Besteck auf, drehte es in der Hand und schluckte…

Das er jemals auf so einen brutalen Gedanken kommen würde, wäre ihm im Traum nicht eingefallen. Als Maxs Lippen bereits eine bläuliche Färbung erhielten, umgriff er entschlossen die Gabel, tat es Ray gleich und warf sich auf Lews Rücken. Gleichzeitig rammte er die Spitzen der Gabel in Lews Halsbeuge.

Ein Schmerzensschrei, der durch Mark und Bein ging, erfüllte den Raum.

Das Phantom bäumte sich auf und Ray fiel von ihm ab, während Tyson ein paar Schritte von seiner Tat zurückwich.

Mit zitternden Händen umgriff Lew die Gabel.

Sein entstelltes Gesicht verzog sich zu einer gepeinigten Grimasse, als er sie herauszog. Eine gelbliche Flüssigkeit quellte aus der Wunde. Er sah auf das kleine Metallstück in seiner Hand, bis er mit den Zähnen knirschte und dann Tyson anvisierte. Der Durst nach Rache war unverkennbar.

Er ließ von Max ab, der keuchend am Boden lag und nach Luft schnappte, fokussierte den anderen Jungen mit gieriger Mordlust in den Augen. Er tat einen Schritt auf ihn zu…

Rumms

… bis Ray ihm einen heftigen Stoß mit der Schulter verpasste.

Der alte Mann strauchelte in seine Richtung und Tyson hatte einen Geistesblitz. Er fiel auf die Knie und kauerte sich zu einem Bündel zusammen, bis Lew über ihn stolperte. Seine Arme flogen nur so durch die Luft, während das Phantom verzweifelt versuchte das Gleichgewicht zu finden. Es fiel auf die zerborstene Tür zu, deren scharfes Holzscheit, in der Mitte des Lochs bedrohlich empor ragte.

Ein kleiner blauer Blitz schoss von Lew davon.

Tyson schloss die Augen. Er wollte das Kommende nicht sehen.

Schließlich schallte ein lautes Krachen durch den Raum, gefolgt von einem qualvollem Schrei, der einem die Gänsehaut über den Rücken jagte.

Erst dann kehrte eine gespenstische Stille ein.
 

Die Minuten zogen sich dahin, bis Tyson eine Hand auf seiner Schulter spürte.

„Lass uns abhauen, schnell!“, hörte er Max sagen. Seine Stimme klang hektisch.

Es dauerte bis sich Tyson dazu überwinden konnte die Augen auf Lew zu richten.

Aufgespießt hing das Phantom in der zerborstenen Tür. Der lange Holzscheit ragte aus seinem Brustkorb, während der Oberkörper, verborgen vor ihren Blicken, im Freien lag.

„Tyson!“, wurde er gedrängt.

„Ja, Max… I-Ich weiß…“, stotterte er und wandte sich von dem Anblick ab. „Lass uns abhauen. Kai sollte keine Minute länger in diesem Haus bleiben…“
 

*
 

Vor dem Hotel ertönte viertelstündlich die Sirene eines vorbeifahrenden Streifenwagens. Jedes Mal gefror Mariah das Blut in den Adern. In ihrem Kopf spielten sich grausige Szenarien ab. Sie sah Ray, wie er von japanischen Polizisten verhört wurde oder in der Irrlichterwelt gefangen umherirrte. In den Nachrichten gab es nur noch drei Themen:

Das niedergebrannte Hiwatari Anwesen, der vermutlich damit zusammenhängende Angriff im Krankenhaus und die Personen, nach denen gefahndet wurde.

Es gab keine Möglichkeit sich abzulenken. Die Themen schwebten im Raum, wie eine stickige Dampfwolke und drückten auf das Gemüt – jedenfalls auf Mariahs.

Kais Schwester begriff den Ernst der Lage nicht. Das kleine Mädchen hatte sich ihre Langeweile damit vertrieben, aus einem Stapel Kissen ein Fort zubauen, wobei ihr Mr. Kinomiya assistierte. Es war seine Art, Jana abzulenken, denn sie begann irgendwann nach ihrem Bruder zu fragen. Der alte Mann und Mariah hatten sich vielsagende Blicke zugeworfen und waren schließlich übereingekommen, dass Thema schnellstmöglich zu wechseln. Wie sollte man einem Trisomie kranken Kind erklären, dass ihr Bruder von einem bösen Geist verschleppt wurde?

Irgendwann war Jana schließlich auf einem Stapel Kissen eingeschlafen, zusammen mit dem ausgelaugten Tattergreis. Man merkte das Mr. Kinomiya zu alt war um noch mit dem Level eines lebhaften Kindes mitzuhalten.

In einer anderen Situation hätte Mariah über den Anblick gelacht, der sich ihr bot. Wie Mr. Kinomiya auf dem Boden saß, mit dem Rücken angelehnt an den Sessel, auf seinem Schoß ein Stapel Kissen, während Jana hinter ihrer Fortmauer zusammengekauert auf dem Teppichboden schlummerte.

Doch die letzten Nachrichten versetzten die Frau wieder in Aufruhr.

Die verkohlte Leiche, die im Hiwatari Anwesen gefunden wurde, war angeblich verschwunden. Verängstigten Zeugenaussagen zufolge, soll sie sich selbstständig gemacht haben und einfach aus dem Krankenhaus davon spaziert sein. Allerdings war der Bericht noch immer nicht von der Polizei bestätigt worden. Es soll sich dabei nur um ein Gerücht einer überabeiteten Pathologin gehandelt haben. Die Nachrichtensprecher konnten sich witzige Kommentare nicht verkneifen und sprachen spöttisch von einer Invasion der Zombies. Galux schien das verschwinden der Leiche zu beruhigen. Der Meinung des Bit Beast nach zu urteilen, brauchte Dranzer die menschlichen Überreste wohl in der Irrlichterwelt, deswegen waren sie verschwunden. Das konnte nur bedeuten, dass Dranzer in dieser Welt nicht mehr nach ihnen suchte. Doch… hieß das nicht auch, dass sie ihren Willen bekommen hatte?

War die Gruppe nun in der Gewalt der Uralten?
 

„Bitte!“

„Nein.“

„Ich flehe dich an!“

„Nein Mao.“

„Bitte Galux! Tu es mir zuliebe!“

Die werdende Mutter blickte das Bit Beast aus flehenden Augen an. Sie zog absichtlich eine bekümmerte Schnute und bettelte voller Inbrunst, schöpfte ihre gesamten Register aus.

„Ich muss wissen wie es ihm geht. Diese Ungewissheit macht mich wahnsinnig! Kannst du das nicht begreifen?“

„Um ehrlich zu sein, nein. Er hat dich so schlecht behandelt und ihr streitet nur. Was interessiert dich dieser Junge noch?“, das Bit Beast sah ihre Besitzerin aus großen Augen an und etwas enttäuschtes lag in ihrem Blick.

„Du hast doch mich? Bin ich dir nicht genug?“

„Galux, du bist die beste Freundin die man sich wünschen kann und ich mag dich sehr. Aber Ray ist mein Mann!“

„Ein Mann, der sich von dir abwendet…“

„Ich muss auch an mein Kind denken. Soll es ohne Vater aufwachsen?“

Galux blickte sie aus ernsten Augen an und schwieg. Dann schüttelte es den Kopf.

„Ich werde dich nicht in die Irrlichterwelt bringen. Das kann ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Eine Frau in deinen Umständen an diesem Ort… das ist Wahnsinn.“

„Du hast Skrupel mich dort hinzubringen, aber dass Ray dort ist, kannst du ohne Reue mit deinem Gewissen vereinbaren?!“, zischte Mariah schließlich. Aus ihren Augen sprach tiefe Enttäuschung. „Mag sein das Ray und ich vor der Scheidung stehen. Bis vor einpaar Stunden dachte ich, dass wäre das Schlimmste was mir widerfahren könnte. Aber wenn ihm dort etwas passiert… Wenn er nicht mehr zurückkommt… Galux! Das würde ich dir niemals verzeihen!“

Das Bit Beast zuckte zusammen, wie unter einem Peitschenhieb. Es sah ihre Besitzerin aus großen Augen an.

„Aber… warum gibst du mir die Schuld?“

„Vielleicht könnte ich ihnen helfen? Vielleicht brauchen sie uns?!“

„Du kannst nichts ausrichten, Mao! Ich sehe keine Möglichkeit ihnen zu helfen…“

„Es muss doch etwas geben“, Mariah traten verzweifelte Tränen in die Augen. Ihre Hände ballten sich zu zitternden Fäusten. „Irgendwas…“

Galux sah nur Kummer im Gesicht ihrer Besitzerin. Die Trauer schwappte auf das Bit Beast über, wie eine Welle die gegen einen Felsen brandete. Schließlich senkte es resignierend den Kopf und seufzte. Ohne Ray würde Mariah nicht einen Tag glücklich sein. Das wurde Galux langsam klar.

„Na gut.“, flüsterte sie und erhob sich vom Fenstersims.

„Du bringst mich zu ihm? Oh Galux, vielen…“

„Nein! Du verstehst mich falsch.“

„Aber...“

„Ich werde gehen. Alleine!“

Kurzes Schweigen trat ein.

Mit offenem Mund starrte Mariah ihr Bit Beast an. Es dauerte eine ganze Weile bis sich wieder ihre Zunge lockerte.

„Ganz allein? Ist das nicht… gefährlich?“

Galux schwieg. Es sprang vom Fenstersims und tapste langsam auf die Eingangstür zu, ohne eine Antwort. Auf ihrem Weg hielt es noch einmal vor den Schlafenden. Es beobachtete das Gesicht des Mannes und schließlich das ruhende Kind.

„Versprich mir, dass ihr diesen Raum nicht verlasst.“, kam die Aufforderung. „Bleibt zusammen und tut nichts bevor ich nicht zurück bin.“

„Ist es gefährlich für dich?“, wiederholte Mariah ihre Frage. Das schlechte Gewissen plagte sie plötzlich. Sie hatte das Gefühl, das Galux sich nur ihr zuliebe in Gefahr begab, um ihr ihre Loyalität zu beweisen.

„Ich bin ein Bit Beast. Ich komme klar.“

„Aber du hast gesagt, dass du gegen die Uralten auch nicht ankommst.“

„Verschwende keine Gedanken daran, Mao.“

„Wie kann ich das jemals gutmachen? Du hast so viel für mich getan…“

Kurze Stille kehrte ein.

„Da gibt es etwas…“

Galux wandte den Kopf von ihr weg und Mariah meinte, eine leichte Röte um die Wangen des Bit Beasts zu erkennen.

„Schenkst du mir… eine Strähne?“

„Was?“

„Eine Haarsträhne.“, schüchtern blickte das Bit Beast sie an. Es war das erste Mal, dass Mariah eine solche Emotion bei Galux sah. Sonst schien es voller Selbstbeherrschung.

„Ich liebe deine Haare. Sie duften nach Frühling. Blumen, Wälder und Heiterkeit…“

Sprachlos blinzelte Mariah ihr Bit Beast an und fuhr sich mit der Hand durch ihre Haar. Sie war durchaus stolz auf ihre kleine Löwenmähne, aber so ein Kompliment war ihr noch nie zu Teil geworden. Um ehrlich zu sein, hatte sie ihre Haare seid ihrer Schwangerschaft nämlich vernachlässigt. Sie gehörten dringend geschnitten und wiesen an den Spitzen den typischen Spliss auf, wenn man viel zu lange dem Friseur ferngeblieben war. Das ihr Bit Beast ihr Haar mit so etwas wie dem Frühling in Verbindung brachte – wie seltsam?

Letztendlich huschte doch aber ein sanftes Lächeln über Mariahs Gesicht. Sie wandte sich ihrem Reisekoffer zu und kehrte Galux den Rücken. Es raschelte als sie einpaar Sekunden nach etwas suchte. Aus einem Kosmetikbeutel holte sie eine kleine Schere hervor. Sie schnitt sich großzügig eine ihrer langen Strähnen ab, ganz gleich ob jetzt eine kleine Lücke in ihrer Frisur prangte. Immerhin ließ es sich noch leicht überkämmen.

Dann nahm sie auf dem Bett platz und flocht die rosige Strähne zu einem schmalen Zopf.

Dabei setzte Galux sich neben sie und beobachtete stillschweigend ihre Handarbeit. Es wirkte wie ein friedliches Beisammensein, bis sich Mariah zu ihr drehte.

„Wie kann ich es dir anlegen?“

„Tu es einfach.“

„Aber ich kann dich nicht anfassen.“

„Wenn wir beide es wünschen, wird es möglich sein…“

Die junge Frau legte zaghaft das geflochtene Band, um Galux Hals und tatsächlich... unter ihren Fingerspitzen konnte sie das samtweiche Fell spüren. Sie band den Zopf um das Bit Beast, wie ein kostbares Halsband, mit einer hübschen Schlaufe vorne. Dann streichelte sie ihrem Bit Beast über den Kopf, das nur wohlig schnurrte. Sie fand Galux schon immer wunderschön. Doch noch nie sah es edler aus, wie in diesem Moment.

„Danke.“, sagte das Bit Beast.

„Ich bin es die zu danken hat.“

„Vergiss nicht was du mir versprochen hast. Ihr dürft das Zimmer nicht verlassen. Bleibt zusammen. Ich komme zurück sobald ich kann.“

Mariah nickte und als sich Galux erhob und vom Bett sprang, meinte es:

„Ich bringe dir deinen Mann zurück. Versprochen!“

Zusammen schritten Mensch und Bit Beast zum Ausgang.

Die junge Mutter öffnete die Zimmertür einen Spaltweit und kurz bevor Galux hinaushuschte, fragte sie: „Versprichst du mir auch etwas?“

Erwartungsvoll wurde sie gemustert.

„Bring nicht nur die Jungs heil zurück, sondern auch dich…“

„Was ist denn das?!“, fragte Tyson entsetzt.

„Dranzers Vorstellung von einem Zuhause…“

Die Antwort kam ziemlich nüchtern von Allegro, als hätte die kleine Springmaus nichts anderes erwartet. Die Küche war noch das einstige Abbild ihrer Erinnerungen gewesen, doch hinter der Tür zur Eingangshalle, offenbarte sich der seltsamste Ort, den die Gruppe jemals betreten hatte. Die Wände glühten und wirkten wie ein fließender Wasserfall aus Lava, der sich sanft auf den Boden ergoss. Zwischen diesen Wasserfällen drehten sich kleine Wirbel in einem unendlich langsamen Tanz, während aus jeder Ecke das schmatzende Geräusch platzender Lavabläschen zu ihnen schallte. Der Fußboden war eine weite, unheilvoll leuchtende Fläche, an vereinzelten Stellen ragten einpaar der verbliebenen Marmorfliesen zermürbt aus dem See heraus. Sie bildeten einen Weg zur Treppe, die porös und beschädigt in der Mitte des Raumes stand. Es war unübersehbar das eine von Dranzers Zaubern auf das Gestell wirkte, denn trotz der kleinen Rauchsäulen, die sich von der Stelle emporhob, an der Holz und Lava sich berührten, sank die Treppe nicht tiefer ab.

Tyson selbst wusste nicht, ob sein Vorstellungsvermögen ihn täuschte, aber ihm war, als fiele die Eingangshalle weit größer aus, als man von außen vermutet hätte, trotz der bereits zuvor beachtlichen Größe des Anwesens.

„Wie hast du es bloß hier durch geschafft Allegro?“, fragte Tyson beeindruckt.

„Kinderspiel, meine Herren. Vor etwas Lava weiche ich nicht!“

Ray lachte leise. Die Unerschrockenheit mit der die Springmaus sprach, passte gar nicht zu ihrer winzigen Statur.

„Leute, ich kippe gleich um! Diese Hitze macht mich wahnsinnig!“, beschwerte sich Max.

„Mein Junge, was erwartest du von einem Feuer Bit Beast? Dranzer fühlt sich hier am wohlsten.“

„Aber wenn Kai das hier sieht merkt er doch dass etwas nicht stimmt. Jedenfalls wäre er ganz schon blöd wenn er das auf eine neue Inneneinrichtung schiebt…“

Allegro legte den Kopf nachdenklich zur Seite.

„Hmm… Das stimmt allerdings. Jetzt wo du es sagst: Dranzer hat nur das obere Stockwerk Kais Erinnerungen angepasst. Das gesamte Fundament des Hauses schwimmt aber auf Lava.“

„Warum sollte es das tun?“

„Vielleicht ein kleiner Heimvorteil. Ein Feuer Bit Beast ist natürlich am Stärksten, wenn es direkt auf seiner Energiequelle sitzt. Aber um euch zu töten, braucht Dranzer nicht solche Vorsichtsmaßnahmen. Ihr seid für einen Uralten kleine Fische…“

Synchron schoben sich alle Mundwinkel nach unten und auf die Gesichter der Jungen trat ein empörter Ausdruck. Natürlich machte sich keiner von ihnen etwas vor, aber man konnte sich immer dezenter ausdrücken. Mehr zu sich selbst murmelte Allegro:

„Wofür braucht Dranzer wohl eine solche Masse an Hitze?“

„Eigentlich passt Dranzer doch gar nicht zu Kai. So kühl wie er ist, käme jedes Bit Beast aus der Antarktis in Frage…“

Tyson seufzte.

„Max, das gehört jetzt nicht hierher.“

„Sorry. Ich wollte bloß die Stimmung auflockern…“

Eigentlich war das einmal einer von Tysons Lieblingssätzen gewesen, doch mit den Jahren war Max zunehmend aufgefallen, wie sehr sein Freund von solchen Sprüchen über ihren ehemaligen Teamleader auf Abstand ging. Gemeinsam machte sich die Gruppe daran den Lavasee zu überqueren. Dabei bildete Allegro die Vorhut.

„Hast du Kai eigentlich gefunden?“, fragte Ray, während er von einem Marmorfelsen zum nächsten sprang.

„Ich habe einen Jungen gefunden der eurem ähnlich sieht. Er ist im oberen Stockwerk. Aber… er scheint mir etwas jünger zu sein. “

„Gut, das mag schon sein. Wir sind alle wieder jünger geworden.“

„Dieses Kind ist aber nicht älter als-…“

„Ray! Nicht so schnell da vorne. Max und ich kommen kaum nach!“

Ray drehte sich zu seinen Freunden um und ihm fiel auf, wie langsam sie durch Maxs Verletzung vorankamen. Tyson musste ihrem Freund immer wieder bei den Sprüngen helfen. Rays Augenbraue schoss skeptisch in die Höhe und er fragte:

„Warum heilt Maxs Wunde nicht mehr so schnell wie vorher? Einpaar Stunden zuvor hätten wir gegen eine Wand rennen können, nach zehn Minuten wäre die Beule weg.“

„Weil ihr nicht mehr jünger werdet. Ihr habt das Alter erreicht, dass eure Bit Beast wollten.“

„Was hat das damit zu tun?“

„Wenn ihr eine Wunde habt und dann jünger werdet, verschwindet eure Verletzung, weil sie logischerweise zuvor nicht da war.“

„Heißt das, wir sind hier gar nicht unsterblich?“

„Natürlich nicht! Ihr besitzt ewige Jugend, aber falls ein Unglück passiert, könnt ihr hier trotzdem sterben. Unsterblichkeit und ewige Jugend sind zwei Paar Schuhe.“

Ray lief es eiskalt über den Rücken. Als seine Freunde nur noch einen Sprung von seinem Standpunkt entfernt waren, reichte er Max die Hand, um ihn zu sich auf den Stein zu hieven.

„Das heißt ab jetzt haben wir unser Ass verloren. Wir müssen verflixt aufpassen.“, widmete er sich seinen Freunde zu.

„Wäre ja auch sonst zu einfach. Wer will das schon?“, kam die pampige Antwort von Max.

Es gab seltene Augenblicke in denen ihr Strahlenmann mürrisch wurde, aber einer davon war, wenn es so heiß wurde, dass sein Hemd klatschnass wie eine zweite Haut an ihm klebte. Schweigend folgte die Gruppe dem provisorischen Weg zur Wendeltreppe. Ray und Allegro gingen voraus. Als sie endlich gemeinsam der baufälligen Treppe gegenüber standen, wanderten ihre Blicke hinauf.

„Wie kommen wir da hoch?“, fragte Max.

„Da hilft leider nur eins…“, meinte Allegro.

„Das wäre?“

„Rennen.“

„Spitzenklasse. Das Klappergerüst wird unter unseren Füßen zusammenbrechen.“

„Dann müsst ihr eben oben sein, bevor es euch in die Tiefe reißt.“

„Und wie kommen wir dann wieder zurück?“, kam die perplexe Frage von Max.

„Darüber machen wir uns Gedanken, wenn es soweit ist…“, entgegnete Ray, der sich nicht einmal sicher war, ob sie lebend bis zu Kai kommen würden.
 


 

*
 

Die Dame Solowéj saß zufrieden in einem Sessel und beobachtete die kleine Kinderhand, wie sie mit dem Zeigefinger eine Zeile, nach der anderen entlangfuhr. Sie achtete darauf, wie Kais Augen stumm jedem Wort folgten und den Sinn des Buches aufsogen.

Wie er dort auf seinem Bett saß - ruhig, ausgeglichen und sorglos.

Er vertraute ihr mit Leib und Seele, nahm ihre Anwesenheit als selbstverständlich hin.

Es war fast wie früher.

Kurz bevor sie ihn zu ihrem Kind auserkoren hatte… Nur viel schöner.

Hier in der Irrlichterwelt konnte sie mit ihm sprechen. Von Angesicht zu Angesicht.

Sie konnte ihn sogar berühren - Wann immer sie wollte.

Trotzdem…

Wie sie ihn damals gefunden hatte, war ein einzigartiges Erlebnis gewesen.
 

Ein Bit Beast ist viele Jahre alt. Es sieht unzählige Menschen kommen und gehen.

Nationen erleben ihren Höhepunkt und ihren kulturellen Verfall.

Auf die Blüte folgt stets der Niedergang.

All die Jahre hatte Dranzer diesem Schauspiel stillschweigend beigewohnt. Ohne ein besonderes Interesse. Wozu auch? Für ein Bit Beast war ein Menschenleben ein Wimpernschlag. Es war unbedeutsam.

Mit den Jahren, vergingen viele Jahreszeiten.

Eine davon war der Winter.

Die Jahreszeit die Dranzer stets verabscheute…

Er war kalt, eintönig, es gab keine Möglichkeit ein Feuer zu verursachen.

Und wenn doch einmal die Gelegenheit kam, dann zündeten Menschen nur das Kaminfeuer an. Das war der einzige Grund, weshalb Dranzer Orte aufsuchen musste, wo zurzeit Winter herrschte. Es war ihre Pflicht Wärme zu spenden, wo Wärme gebraucht wurde.

Der Winter gehörte Draciel und Wolborg. So war es der Brauch.

Für ein Feuer Bit Beast eine sehr eintönige Periode, denn wann immer sie sich den kalten Regionen näherte, spürte sie wie ihre Macht mit jedem Flügelschlag abnahm.

Doch es musste sein…

Dafür musste man lernen sich in verschneiten Gebieten die Zeit zu vertreiben.

Also beobachtete Dranzer während dem Winter stets die Menschen, auch wenn sie ihr zuwider waren. Wenn Menschen wichtig waren, weshalb lebten sie so kurz?

Sie waren wie Eintagsfliegen… nicht der Rede wert.

Trotzdem schätze diese Rasse ihre Existenz viel zu hoch ein, dabei war die Erde 4,6 Millionen Jahre alt, während der moderne Mensch gerade mal kümmerliche zweihunderttausend Jahre auf diesem Planeten weilte.

Dranzer mochte keinen Menschen, daraus machte sie auch keinen Hehl.

Mit der Erschaffung dieser Spezies waren zu viele Probleme aufgetaucht und sie hätte diesen Parasit, der sich über die Oberfläche ihrer geliebten Mutter Erde wie die Krätze fraß, am liebsten endlich Einhalt geboten und sie ausgerottet.

Die Erde war das Werk der Uralten und sie hätte doch gemeint, wenigstens etwas Mitspracherecht in dieser Sache zu haben. Zwar war ihr Mentor Drigger derselben Meinung wie sie, auch Draciel schien sich beinahe auf ihre Seite geschlagen zu haben, doch die letzte Unterhaltung die sie vor vielen Jahren diesbezüglich mit Dragoon hatte, ließ keinen Zweifel zu, dass er einen Narren an diesem launischen Volk gefressen hatte.

Er mochte ihre Zankereien, ihre Kriege, die Gewalt mit der sie ganze Landstriche verwüsteten, aber - aus einem ihr unerfindlichen Grund - auch ihre Willenskraft, ihre Standhaftigkeit und… die Art und Weiße wie sie liebten.

Wie sie liebten?!

Sie war fassungslos gewesen als er ihr das damals offenbarte.

Er hatte dieses arrogante Lächeln aufgesetzt, welches sie so an ihm hasste, gelassen mit der Rechten ihre Einwände verworfen und nur gemeint:

„Sieh dir diese Lebewesen doch an! Sie stecken voller Überraschungen, voller wunderbarer Widersprüche und verworrener Moral. Nimm dir ein Beispiel an diesem Weib…“ er reichte ihr eine der Verästelungen von Yggdrassil, die zuvor tief in sein Fleisch gestochen hatten und mit deren Hilfe man in sekundenschnelle einen Einblick über die gesamte Menschenwelt erhielt. „Vor kurzem wurde das Königreich ihrer Familie von einem verfeindeten Volk überrannt. Ihre gesamten Verwandten kamen dabei um, einem nach dem anderen wurde auf Befehl des neuen Herrschers der Kopf abgetrennt, nur dieses Mädchen – das hat er behalten, weil er sich auf der Stelle in sie verliebt hat. Mit Blumen, Geschenken und schönen Versen hat er das Kind überhäuft und jetzt rate mal was die Kleine tut?“

Ein böses Grinsen huschte über Dragoons Lippen.

„Obwohl sie sich ständig einredet, dass er der Mörder ihres Geschlechts ist und ihn immer wieder zurückweist, teilt das Luder nach zwei Jahren doch mit ihm das Bett. Ist das nicht verrückt? So unterworfen sind diese Wesen ihren Gefühlen. Es ist ein einziges Chaos. Wie ein Sturm…“

Dranzer war diese Seifenoper in der Menschenwelt damals auch nicht entgangen. Voller Abscheu hatte sie auf diese Frau geblickt, die scheinbar keinerlei Prinzipien besaß. Alles was ihr als Vater gleichkam war Drigger. Hätte jemand gewagt ihn zu verletzen…

Niemals hätte sie dem Übeltäter verzeihen können!

Er war ihre Familie – wenn auch der Letzte.

Trotzdem musste sie gestehen, das diese Frau nicht ganz alleine Schuld an ihre Lage war, denn Dragoon hatte auch seine Finger mit im Spiel, denn so wie Dranzer Menschen in einen tranceartigen Zustand versetzen konnte, konnte er mit seiner Fähigkeit kleine Zweifel in den Köpfen von Lebewesen sähen und ihren Glauben ins Wanken bringen. Zu dieser direkten Manipulation waren nur Dragoon und sie in der Lage. Weder Drigger noch Draciel konnten Einfluss auf den Geist eines Wesens nehmen.

Dragoons Eingriff verlief meist so schnell, dass der Betroffene gar nicht merkte, wie ihm geschah. Mit einem kleinen Lufthauch, vollkommen unscheinbar und kaum zu spüren, konnte er verwirrende Worte in die Ohren der Menschen flüstern.

Jedem der Uralten gefiel es mit Menschen zu spielen, doch in dieser Hinsicht hatte Dragoon alle seine Register perfektioniert. Er liebte es, nein, er lechzte danach, seine Tragödien mit diesen Eintagsfliegen zu treiben. Fromme Menschen ließ er zu brutalen Monstern werden, Freunde zu unerbittlichen Gegnern, aber auch geborene Feinde zu sündigen Liebhabern, ganz gleich ob sie damit ihre Familie, oder sogar ihr Volk betrogen.

Am besten fand er die Geschichten, in denen ein einziger Trümmerhaufen zum Ende hin übrigblieb und Menschen sich vor sich selbst ekelten, weil sie Dinge getan hatten, die sie nicht in den dunkelsten Ecken ihrer Seele für möglich gehalten hatten. Damit schien für ihn dann die Arbeit getan und er konnte sich neue Spielzeuge suchen.

Diese schreckliche Seite an ihm hätten die Menschen wohl als „teuflisch“ bezeichnet.

Selbst hier in der Irrlichterwelt trieb er diesen Unfug und auch bei ihr hatte er mehrmals versucht sie in seine Intrigen zu spinnen. Trotzdem hatte Dranzer es immer geschafft ihn zu durchschauen, mit den Jahrhunderten hatte sie einen sechsten Sinn dafür entwickelt. Sie wusste dass sie ihm niemals würde vertrauen können, selbst wenn er ihr mit den liebsten Worten schmeichelte, die man sich wünschen konnte.

Und wenn sie so etwas konnte… Wenn sie die Gefahr stets im Nacken spürte, warum war es für Menschen so schwierig, Dragoons Spielen zu entkommen?

Nein!

Seit dieser Unterhaltung mit Dragoon, vor mehr als vierhundert Jahren, verabscheute sie die Menschen für ihre Willensschwäche und ihn für seine Hinterhältigkeit. Ihrer Meinung nach gehörte die Menschheit schon lange ausgerottet, da sie zu korrupt und verdorben geworden war – von dem Schaden dem sie ihrem Planeten antaten ganz zu schweigen.

Diesen Gedankengängen folgte sie auch an jenem Wintertag, als sie Kai das erste Mal traf.
 

Der Schnee hing den Menschen damals bis zu den Knien.

Die Straßen in Japan waren voll von dem hässlichen Weiß und man sprach von einem der härtesten Winter seit Jahrzehnten. Unsichtbar für die Menschen, thronte der herrliche Phoenix auf einem Baum, etwas weiter oberhalb von Tokio, auf einem Plateau.

Es war ein wunderschönes Gebiet im Sommer. Dann standen die Blätter auf der Allee in voller Pracht, die Sonne schien erbarmungslos herab und der Ausblick auf die Stadt war sagenhaft. Jetzt im Winter war alles weiß und trist.

Trotzdem zog dieser Ort Dranzer magisch an.

Er war nicht so überfüllt wie der Rest der Stadt. Angenehm ruhig und abgeschieden.

In der Nähe des Baumes stand ein stattliches Anwesen, allerdings etwas zu finster für ihren Geschmack. Sie fand dass es die Idylle trübte und zog schon mehrmals in Erwägung, einen Brand darin zu verursachen. Der Ort hätte dann soviel mehr Schönheit an sich…

Eines Tages änderte sich aber etwas.

Ein schwarzer Wagen fuhr durch die Einfahrt des Anwesens und hielt direkt vor der zugeschneiten Haustür, die sich wie auf Kommando öffnete. Eiligst trat ein älterer Mann aus dem Haus, um die Tür des Wagens aufzuhalten.

Der Mann verbeugte sich tief, nur um einen weiteren alten Kauz zu begrüßen, der seine Beine aus dem Rücksitz schwang. Sein Gesicht war düster und grimmig, doch obwohl er sichtlich gut genährt war, waren seine Wangen etwas eingefallen und tiefe Furchen lagen um seine Mundwinkel. Dranzer mochte ihn auf Anhieb nicht. Sein Blick fiel missbilligend auf den Hof und er maulte seinen Bediensteten an, weshalb die Einfahrt nicht frei gekehrt worden war.

Eigentlich wollte Dranzer dem Szenario keine weitere Beachtung schenken, da öffnete sich die andere Hintertür des Wagens. Ganz langsam und vorsichtig…

Eine kleine Gestalt trat in den Schnee. Die Knie versanken im satten Weiß.

Ein Junge von vielleicht acht Jahren - wenn überhaupt - eingepackt in einer warmen Winterjacke, kam zum Vorschein. Seine Haut war blass, genau wie der Schnee und der Blick ernst und zutiefst gelangweilt, wie der des Alten, dem er nur bis zum Bauch reichte.

„Master Kai! Wie hat ihnen die Abtei gefallen? So warten sie doch, ich trage sie! Dieser hohe Schnee bringt sie um. Nicht das sie ausrutschen…“, rief der Bedienstete aus und eilte um den Wagen herum, nur um einen strafenden Blick zu erhalten.

„Lass das!“, sagte der Junge herrisch und schlug die helfende Hand barsch weg.

Eine kleine Diskussion entflammte, denn auch der Großvater schien ein Wörtchen mitreden zu wollen. Der Junge hatte seiner Meinung nach ein zu großes Mundwerk. Doch Dranzer war das gleich. Ihre Aufmerksamkeit galt dem Kind und ein teuflischer Plan keimte in ihrem Kopf auf.

Kinder spielten gerne mit Feuer. Das war allgemein bekannt.

Sie wurden davon angezogen, wie Motten vom Licht.

Vielleicht konnte man so das hässliche Anwesen loswerden?

Ein herrlicher Zeitvertreib für den Winter…
 

Von diesem Zeitpunkt an, wartete Dranzer auf ihre Chance, lag auf der Lauer wie ein Raubtier. Sie beobachtete den kleinen Menschenjungen jeden Augenblick.

Wie Kai im Haus nachmittags Zusatzunterricht bekam. Wie er abends seinen Großvater, vor dem Kamin, aus einer russischen Lektüre las oder am frühen Morgen alleine durch den Garten spazierte.

Ihrem messerscharfen Adlerblick entging keine Bewegung.

Ab dem Moment, an dem er von der Schule heim kam, wartete sie darauf, ihn mit einer kleinen Kerzenflamme anzulocken und ihn dazu zu verleiten, mit dem Feuer zu spielen.

Nur ein winziger Funke genügte und sie könnte ihn in ihren Bann ziehen.

Feuer konnte unglaublich anziehend sein - fast schon hypnotisch.

Kinder waren besonders empfänglich für derlei Magie.

Das war Dranzers Stärke.
 

Dann, eines Tages, kam der Junge von der Schule und trug eine Schachtel mit sich.

Dranzer beobachtete wie er eiligst vom Rücksitz des Mercedes sprang, mit dem er täglich abgeholt wurde und wie immer ignorierte Kai sämtliche Anweisungen die vom dem alten Hausverwalter kamen. Stattdessen rannte er geradewegs in das Haus und verschwand in einem der unteren Räume. Aus purer Gehässigkeit, ließ er die Eingangstür ins Schloss fallen, damit der bevormundete Hausverwalter gezwungen war, den Hintereingang zu benutzen.

Dranzer dachte sich nichts weiter dabei, bis sie es spürte…

Eine Flamme.

Jemand hatte eine Flamme im Anwesen entzündet!

Das Bit Beast wandte seine Augen zum Kamin des Hauses und eine herrliche Rauchsäule, stieg daraus empor. Endlich war es soweit. Das Spiel konnte beginnen.

Kein Mensch im Haus konnte ahnen, wie der Feuertod sich in jenem Moment durch den Kamin ins Haus schlich. So gelangte Dranzer zum ersten Mal in das Anwesen der Hiwataris. Versteckt in den trügerischen Flammen eines Kaminfeuers.

Von dort aus konnte das Bit Beast beobachten, wie der kleine Junge ihr den Rücken zugewandt auf dem Boden kauerte. Er entledigte sich seiner dicken Winterkleidung und warf sie achtlos auf die Couch. Es war ein edler Raum, zusätzlich ausgestattet mit zwei gemütlichen Sesseln vor dem Kamin, zwischen denen Kai auf einem weichen Teppich kniete.

Unwissend das er beobachtet wurde…

Er brauchte nur einen Blick in die Flammen zu werfen, schon konnte Dranzer damit beginnen ihn zu bezirzen. Sie würde ihn dazu verleiten, unvorsichtig zu sein, mit dem Feuer zu spielen, sich daran in Brand zu stecken und das Haus gleich mit dazu.

Dann endlich…

Kai drehte sich zum Kamin, in der Hand die kleine Schachtel von zuvor. Er kauerte sich näher zu den Flammen, suchte die wohlige Wärme - allerdings nicht für sich.

Denn als Dranzer neugierig in die Schachtel spähte, konnte sie darin drei kleine, hellgrüne Vogeleier erkennen. Ein Blick von ihr genügte, um zu wissen, dass die Küken darin niemals schlüpfen würden. Sie waren kalt. Die Mutter wahrscheinlich längst fort.

Es war ein sinnloses Unterfangen sie jetzt noch zu wärmen. Der Winter war zu gnadenlos.

Insgeheim schien der Junge das auch zu ahnen, denn der Ausdruck der auf seinem Gesicht lag, war tief betroffen. Seine Augen sprachen Bänder. Dranzer konnte die Traurigkeit darin sehen. Besonders faszinierend fand sie den Schimmer in den kleinen Kinderaugen.

Es lag etwas Rötliches in ihnen - wie die Glut eines Feuers, zwei tiefrote Rubine.

Gerade als sie sich ihrem eigentlichen Vorhaben zuwenden wollte, wurde die Tür geöffnet.

Der Hausverwalter kam herein und als er die Flammen im Kamin sah, weiteten sich seine Augen.

„Master Kai? Wer hat das Feuer entfacht?“

Der Junge blieb stumm.

„Waren sie das?!“

Ein Nicken.

Sofort bekreuzigte sich der alte Mann und schritt hektisch an die Flammen heran.

„Allmächtiger! Erst sperren sie mich aus und nun das?! Ein achtjähriger Junge darf doch kein Kaminfeuer entfachen! Nur ihr Großvater macht das. Wenn er nicht da ist, ist der Kamin für sie tabu! Er will nicht das jemand anderes außer ihm daran herumwerkelt, dass wissen sie genau!“

Dranzer sah ihren Plan als gescheitert, denn der alte Mann schritt bereits auf die Flammen zu, um sie zu löschen. Das Bit Beast wollte sich wieder unbemerkt mit dem Rauch aus dem Haus stehlen, als der Hausverwalter die Eier bemerkte.

„Na so etwas“, sagte er überrascht und beugte sich langsam zu dem Jungen hinab. Seine Wut schien verflogen und die tiefen Zornfalten auf seiner Stirn glätteten sich. „Master Kai, wo haben sie denn die Vogeleier her?“

„Schulhof.“, antwortete der Junge knapp.

Der alte Mann schien schnell eins und eins zusammenzuzählen. Sein Blick wanderte vom Feuer zu den Eiern, bis er sich seufzend zu dem Kind setzte.

„Master Kai, ich glaube nicht dass diese Eier noch schlüpfen werden.“

Kai senkte den Blick, antwortete aber nicht.

Dranzer fand das ungewöhnlich für ein Menschenkind in diesem Alter. Die Kinder die ihr in den letzten Jahrhunderten begegnet waren, plapperten ohne Ende, bis man ihnen den Mund verbietete. Dieser Junge schien seine Gedanken zu verschließen. Das kannte sie stets nur von den älteren Menschen. Dabei loderte doch eindeutig so viel Temperament in diesen Kinderaugen.

„Kai? Hörst du mich?“, wiederholte der Mann, diesmal unformell.

„Ja Lew.“

„Dann lass sie uns fortwerfen. Vergeude deine Zeit nicht damit Junge.“

Plötzlich regte sich etwas in dem Kind. Seine Augen weiteten sich und er fragte:

„Fortwerfen? Aber vielleicht…“

„Mein guter Junge, diese Eier sind faul. Sie werden nicht schlüpfen. Es gibt kein vielleicht. So leid es mir um die Küken tut.“

„Ein Phönix könnte sie vielleicht schlüpfen lassen…“

Der Satz hing ganz unvermittelt im Raum.

Er erstaunte nicht nur den Hausverwalter, sondern auch Dranzer.

Seit Jahrhunderten hatte sie keinen Menschen mehr, in ihrer Gegenwart, von einem Phönix sprechen hören. Es gab mal eine Zeit, da wurden sie verehrt, aber das lag lange zurück.

„E-Ein… Wie war das?“

„Der Feueratem eines Phönix wäre bestimmt warm genug.“

„Himmel, Junge! Wo hast du denn diese Albernheiten aufgeschnappt?“, lachte Lew schallend auf, ganz überrumpelt von dieser kindlichen Aussage. Erzürnt über diese Frechheit, ließ Dranzer die Flammen etwas höher peitschen. Sofort blieb das Lachen dem alten Mann im Hals stecken, als er zurück schrak, während der Junge nur unbeeindruckt antwortete:

„Ich habe in einem Buch mal von einem Phönix gelesen.“

„Die gibt es nicht wirklich. Also lass diese Ammenmärchen nicht deinen Großvater hören. Du weißt wie sehr er Aberglauben hasst. Er ist mit Haut und Haaren Realist.“ Lew ließ den Blick in die Flammen schweifen und suchte nach der Ursache für die Stichflamme. Mehr zu sich selbst murmelte er. „Was war das nur? Der Abzug ist doch nicht etwa kaputt? Das ist gefährlich…“

„Vielleicht steckt in jeder Legende ein Funken Wahrheit?“

Kai strich mit seinen Fingern über die Vogeleier, als hoffte er, sie damit aus einem Winterschlaf zu erwecken. „Wenn ich einen Phönix sehen würde, würde ich ihn bitten, die Küken schlüpfen zu lassen.“

„Du bist ein guter Junge, aber ich befürchte du wartest umsonst.“, antwortete Lew gedankenverloren. Er legte beiläufig seine Hand auf den Kopf des Kindes und die Enttäuschung, in dessen Augen, war nicht zu übersehen. Für Dranzer jedenfalls…

Lew schien mehr um den Kamin bemüht, als um Kai. Der alte Mann ahnte nicht, wie viel er mit seinem rationalen Verstand, in dem Kind kaputtmachte.

Vielleicht war Dranzer einfach geschmeichelt von Kais Worten.

Vielleicht freute es das Bit Beast auch nur, durch diesen kleinen Jungen, nicht in Vergessenheit geraten zu sein.

Doch nachdem sie die ehrliche Trauer in den kleinen Kinderaugen erblickte, wich ihr eigentliches Vorhaben in weite Ferne. Plötzlich konnte sie diesem Jungen nichts mehr antun. Wie er da saß, gekränkt von den Worten dieses alten Narren, darauf hoffend, dass er sich irrte. Er schien so offen für eine Welt hinter der Fassade.

So viel weiser als man ihm glauben machen wollte.

Zu gerne hätte sie ihm gesagt: „Schau her, hier bin ich! Es gibt mich wirklich!“

Der Wunsch von ihm gesehen zu werden war so unglaublich stark.
 

Und plötzlich beugte er sich vor…

Kais Augen wurden groß, er fixierte einen Punkt in den Flammen und Dranzer hätte schwören können, dass er ihr direkt in die feurigen Pupillen starrte! Sie blickten sich gegenseitig an und wussten beide um die Anwesenheit des Anderen.

„Lew, schau mal. Siehst du das auch?“, flüsterte er leise.

Als ob er an dem zweifelte, was er sah.

Doch dann…

„Aus dem weg Master Kai, ich lösche das Feuer. Es ist Zeit für sie ihr Russisch zu üben.“

Dranzer hätte schreien können. Plötzlich nahm der alte Mann eine Schaufel und versuchte mit der Asche im Kamin, die Flammen zu ersticken. Ihr herrliches Feuer erlosch mit jeder Ladung und das Bit Beast sah sich bereits gezwungen, aus dem Haus zu verschwinden.

Dabei wollte sie noch so gerne bei dem Kind bleiben…

Es fehlte nicht mehr viel und das letzte bisschen Glut wäre erstickt, bis Kai sagte:

„Aufhören!“

„Ja aber warum?“

Kai erhob sich und ging zu einem der umliegenden Regale. Forschend suchte er die Einbände darin nach einem ganz bestimmten Titel ab, seine Finger streiften dabei die Bücherrücken, bis er eines herauszog. Mit einem dicken dunkelgrünen Wälzer nahm er wieder vor dem Kamin platz, direkt gegenüber von Lew.

„Wenn ich russisch lernen muss, will ich auch ein Buch lesen, dass mir gefällt und wo es mir gefällt!“, forderte der Junge.

„Master Kai. Sie sind erst acht, ich befürchte dieser dicke Wälzer ist noch etwas zu schwer für ein Kind in ihrem Alter. Wir wollen es doch nicht übertreiben.“

Es war eine Notlüge. Das spürte Dranzer.

Der alte Mann befürchtete den restlichen Tag vor dem Kamin verbringen zu müssen, obwohl sich die Arbeiten im Haus häuften.

„Na und? Ich will! Also machen wir das auch so!“

Gebieterisch schlug Kai die erste Seite auf und ignorierte den verzweifelten Blick des alten Hausverwalters. Er setzte seinen Zeigefinger auf die erste Zeile und begann in gebrochenem russisch den Titel vorzulesen: „Der Feuervogel“
 

Von da an besuchte Dranzer regelmäßig die Flammen des Hiwatari Kamins. Wann immer sich die Gelegenheit ergab, huschte das Bit Beast ins Feuer um einen Blick auf den kleinen Menschenjungen zu werfen, der sie von mal zu mal mehr faszinierte.

Fast immer erwischte sie ihn dann bei seinen Leseübungen.

Wie es von ihm verlangt wurde, saß er dann neben seinem Großvater auf einem gepolsterten Hocker und las laut vor. Wenn das Oberhaupt des Hauses da war, bestimmte immer er, an welches Buch sich Kai heranwagen sollte. Meist handelte es sich dabei um historische Bücher. Grimmig saß er dann da, zog die Brauen tief ins Gesicht und man sah ihm an, dass Kai seiner Meinung nach, nicht genug Fortschritte machte. Selten kam eine lobende Bemerkung aus seinem Mund.

Nur der Hausverwalter Lew ließ dem Jungen freie Hand.

Dann suchte Kai sich häufig Titel mit Sagen und Legenden aus. Vor allem von den Erzählungen, über den Phönix, schien er magisch angezogen zu werden. Er liebte spannende Bücher, nicht die trockenen Themen die er von seinem Großvater vorgesetzt bekam. Entzückt lauschte das Bit Beast dann Kais Worten, sog den Klang seiner Kinderstimme auf und folgte den Bewegungen seiner Lippen.

Den ganzen Winter verbrachte Dranzer so ihre Zeit.

Bald schon sprach sie nicht mehr von dem Menschenkind, sondern von ihrem Menschenkind. Und ab da war die Sache für den Phönix beschlossen....
 

Wenn ein Bit Beast seine Wahl trifft, dann heimlich. Im Stillen.

Ohne das das betreffende Kind überhaupt etwas ahnt.

Sie hatte Kai lange genug beobachtet. Jeden seiner Schritte genau verfolgt.

Sein Verhalten studiert, seine Denkweise erspürt.

Und sie hatte erkannt. Erkannt, wie ähnlich sie waren…
 

Es war Anfang Februar, als Dranzer sich entschloss den letzten Schritt zu tun. Der alte Hausverwalter hatte Kai gebeten, die Vogeleier endlich fortzuwerfen. Der Junge hatte es bis dahin nicht übers Herz gebracht, schließlich hatten die kleinen Küken nicht einmal das Licht der Welt erblicken dürfen. Man sah es ihm nicht an, doch Dranzer spürte, dass Kai dieser Gedanke traurig stimmte. Für Tiere schien er mehr Vertrauen und Zuneigung zu empfinden, als zu Menschen, denen er sehr argwöhnisch gegenübertrat.

Eine weitere Eigenschaft die Dranzer an dem Kind schätzte…

Da Kai die toten Eier nicht einfach in den Mülleimer werfen wollte, trat er an einem ruhigen Sonntag hinaus in den Schnee, eingepackt in einer dunkelrote Winterjacke und einem weißen Schal. In der Hand, hielt er zum einen die Schachtel mit den Eiern, zum anderen einen kleinen Kreisel, den Lew ihm kurz zuvor geschenkt hatte.

Der gutmütige Hausverwalter wollte den Jungen etwas aufheitern und hatte sich deshalb in den örtlichen Läden, nach dem neuesten Spielzeug umgehört. Dabei stieß er auf ein neues Beyblade, dass er Kai gleich mitbrachte.

Kai schien zu diesem Zeitpunkt aber kein großes Interesse darin zu haben und empfand das neue Spielzeug wohl als schwachen Trost. Erst später erfuhr Dranzer, dass seine anfängliche Abneigung gegenüber dem Bladen, mit seinem zweijährigen Aufenthalt in der Abtei zusammenhing.

Der kleine Junge stapfte mit ernstem Blick, durch den großen verschneiten Garten des Anwesens, auf der Suche nach einer geeigneten Grabstätte. Das Gebäude war schon in weite Ferne gerückt, als er an einer Trauerweide inne hielt. Er schien den Namen passend für die Situation zu finden, denn hier wollte er die Eier begraben.

Plötzlich ging ein starker Windzug durch die schmalen Zweige der Weide…

Der Schal des Jungen flackerte in der Luft. Der Wind wirbelte den Schnee um ihn herum auf.

Kai blinzelte verwundert, blickte sich fragend nach der Ursache für diesen Sturm um. Dann meinte er einen Schatten auf dem Boden unter sich zu erkennen.

Sein Blick schnellte nach oben…

Dranzer konnte beobachten, wie Kai seine Augen konzentriert zusammen kniff. Er schien zu ahnen, dass er nicht alleine war.

Die Strahlen der Wintersonne schien auf ihn herab, blendeten den Jungen, doch inmitten dieses hellen Glanzes, meinte er eine Gestalt zu erkennen. Er konnte die schimmernde Silhouette des Phönix sehen, die sich langsam vom Licht der Sonne trennte und auf ihn herab schwebte.

Die Augen des Kindes wurden groß, er blinzelte mehrmals, als könnte er nicht glauben, welcher Anblick sich ihm bot. Für ihn war es, als wäre ein Sonnenstrahl zum Leben erwacht.

Als Dranzer zu ihm hinab stieg, trafen sich ihre Blicke. Sie spürte nicht einen Funken Angst in dem kleinen Kinderkörper. Kai blieb ruhig und ließ den Moment auf sich wirken. Das brachte das Bit Beast zum Lächeln.

Die Schwingen des Phönix umschlossen den Jungen. Dranzer konnte die Wärme spüren, die von dem kleinen Herzen im Menschenkörper ausging, wie es gegen den Brustkorb schlug, mit all seiner Energie. Das Bit Beast senkte den Kopf zu Kai hinab und legte die Stirn auf seine. So verharrten sie einen Moment.

Als könnten sie in die Seele des anderen blicken.

Irgendwann senkte Kai die Lider, genoss einfach nur den Augenblick – bis die Wärmequelle plötzlich versiegte. Sofort schlug er die Augen auf und blinzelte irritiert.

Nichts…

Da war nichts mehr.

Der schillernde Vogel war verschwunden!

Kai drehte sich einmal um sich selbst, suchte die verschneite Gegend nach Dranzer ab.

„Das habe ich mir doch nicht eingebildet?“, flüsterte er. Dann bemerkte er zum ersten Mal das Leuchten seines Beyblades. Er warf einen prüfenden Blick darüber und auf dem kleinen Chip, konnte er deutlich die Zeichnung eines feuerroten Phönix erkennen.
 

„Dame Solowéj?“

Dranzer öffnete ihre Lider und vorbei war es mit dem Ausflug in die Vergangenheit. Ihr Blick fiel auf den kleinen Jungen, der neben der Sessellehne stand und sie musterte. Vor seiner Brust hielt er ein Buch.

„Ich habe sie nicht geweckt?“

„Nein“, entgegnete sie sanft. „Was hast du mein Liebling?“

In Kais Wangen schoss die Röte, wie immer wenn sie ihn so nannte. Es entlockte ihr jedes Mal aufs Neue ein entzücktes Lächeln. Dranzer hatte fast vergessen wie schüchtern Kai als Kind gewesen war. Er versuchte sein Gesicht unauffällig hinter dem Einband zu verstecken und senkte den Blick verschämt. Seine ersten Versuche, Gefühle zu verbergen, waren in jungen Jahren überhaupt nicht gelungen.

„Draußen“, flüsterte er. „Im Flur ist es laut geworden…“

Dranzer zog die Brauen tief ins Gesicht.

Das Bit Beast ließ seine Sinne gleiten und spürte, dass Kais Freunde sich die Treppe hinauf bemühten. Sie konnte, vor ihrem inneren Augen, das Feuer in den pochenden Herzen näher kommen sehen. Jeder war entschlossener als der Andere.

Lews Phantom hatte versagt…

Aber eigentlich hatte sie damit gerechnet. Es war ihr nur recht, denn er war ihr auf die Nerven gegangen. Sie wollte nicht, dass Kai sich ihm anvertraute. Der Junge sollte nur sie kennen und wo dieses Phantom herkam, gab es noch viele weitere.

Sie strich mit ihrer Hand über den kleinen Kinderkopf und sprach:

„Darum kümmert sich bald schon jemand. Verschwende keine düsteren Gedanken daran.“

Dann zog sie ihn zu sich auf den Sessel und fragte: „Was hast du da für ein Buch?“

„Der Feuervogel…“

„Eine schöne Geschichte. Ließt du mir daraus vor?“

Kai nickte zaghaft und klappte das Buch auf. Er setzte den Finger unter die erste Zeile und nach kurzer Zeit erfüllte der Klang seiner Stimme den Raum. Mit einem Seufzen bettete Dranzer ihren Kopf auf die Kinderschulter vor ihr und lauschte mit geschlossenen Augen ihrem kleinen Menschen. Jede Silbe die er von sich gab wurde aufgesogen.

Bis Kai stoppte…

Dranzer öffnete die Lider und blickte ihn an. Kai fixierte mit offenem Mund einen Punkt vor sich, voller Erstaunen in den Augen.
 

„Wie rührend. Man könnte meinen der Junge vertraut dir tatsächlich…“
 

Erschrocken zog sie die Luft ein, als sie vor sich Dragoon erblickte. Er lehnte neben der Zimmertür, gegenüber ihrer Sitzgelegenheit und beobachtete das Schauspiel mit unverhohlenem Spott. Ihr Blick verfinsterte sich und wütend presste sie die Lippen aufeinander. Natürlich hatte sie damit gerechnet dass er bald auftauchen würde, um ihrem Treiben ein Ende zu bereiten, doch nicht schon so verfrüht.

Sie hasste seine unvorhergesehenen Auftritte. Er besaß die Fähigkeit aus dem Nichts zu erscheinen. Das verschaffte ihm schon immer einen Gewissen Vorteil in ihren Kämpfen. Doch zu ihrer Freude, erkannte Dranzer auch einen gewissen Maß an Angespanntheit in seinem Gesicht. Ihre Blicke trafen sich, bohrten sich herausfordernd ineinander - bis Dragoon sich dem Jungen zuwandte. Er schenkte dem Kind in ihren Armen ein freundliches Lächeln und legte den Kopf leicht zur Seite. Instinktiv verstärkte Dranzer den Griff um den Jungen.

„Du bist Kai, nicht wahr?“, der tiefe Klang seiner Stimme erfüllte den Raum.

Der Junge nickte, noch immer irritiert von seiner plötzlichen Erscheinung.

Dragoon stieß sich von der Wand ab und tat die ersten Schritte auf die beiden zu.

„Gefällt es dir hier… bei ihr?“

„Natürlich tut es das!“, herrschte ihn Dranzer an. „Ich bin sein Gegenstück!“

„Meine Frage galt nicht dir.“, kam die ruhige Antwort. Wieder blieb sein Augenmerk an Kai hängen. „Also? Willst du mir nicht antworten, Junge?“

Kai sah Dragoon lange Zeit stumm an. Dann fragte er mit monotoner Stimme:

„Warum sollte es mir hier nicht gefallen? Hier ist mein zuhause.“

„Was ist mit der Welt da draußen? Mit den Menschen die dort auf dich warten?“

„Da gibt es niemanden…“

Dragoons Brauen zogen sich zusammen.

„Deine Freunde?“

„Ich habe keine…“

„Erinnerst du dich nicht?“

„Woran?“

Dragoon antwortete nicht. Stattdessen wanderte sein Blick zu dem Buch in den Händen des Jungen. Etwas Abwertendes trat in sein Gesicht, als er den Titel erkannte.

„Der Feuervogel?“, lachte er abfällig. Ein strafender Blick von Dranzer traf ihn, den er geflissentlich ignorierte. „Hat dir unsere liebreizende Dame den Titel in die Hand gedrückt? Wahrscheinlich giert es sie danach, die alten Lobpreisungen der Menschen an den Phönix, aus deinem Mund zu hören. An Eitelkeit mangelt es ihr nicht, unserer Dame Solowéj.“

„Ich verstehe nicht…“, der Junge schien die Feindseligkeit zwischen den beiden Erwachsenen zu spüren. Verunsichert sah er zu Dranzer auf und fragte: „Wer ist dieser Mann?“

„Ein ungeladener Besucher.“, war ihre Antwort. Sie stemmte sich, mit dem Kind auf den Armen auf und taxierte Dragoon geringschätzig. „Die schlimmste Sorte von Besuchern, wenn du mich fragst. Noch schlimmer sind aber schlechte Verlierer. Sie wissen einfach nicht wann es Zeit ist, sich geschlagen zu geben.“

Ein gemeines Grinsen huschte über ihren Mund und siegessicher wiegte sie das Kind in ihren Armen. Kai war Dranzers Trophäe. Dragoons Junge hing an seinen Freunden. Er könnte niemals glauben, dass diese Welt real war, wenn einer von ihnen fehlte. Sie gaben ihm das Gefühl einer Familie, Geborgenheit und Sicherheit – sie waren sein Zuhause. Das wusste Dragoon nur zu gut. Deshalb machte es ihn rasend, dass Dranzer ihren Jungen nicht herausrückte.

Sein ganzer Plan drohte zu scheitern - Dank ihr.

Eine herrliche Genugtuung, für all die Niederlagen, die sie in der Vergangenheit gegen Dragoon erlitten hatte, erfüllte sie bis in ihre tiefsten Knochen.

„Schlechte Verlierer sagst du? Seltsam… Dasselbe geht mir stets durch den Kopf, wenn mir dein hübsches Antlitz gegenübersteht.“, spottete Dragoon. Die Temperatur im Raum nahm merkbar zu. Dranzers Wut erhitzte die Umgebung. Doch Dragoon fuhr fort.

„Du liest gerne Geschichten über Sagen, Kai? Nun, dann wird dich meine Erzählung vielleicht interessieren. Sie steht nämlich in keinem Buch, ist aber so alt wie die Welt selbst.“

„Er will das nicht hören!“

„Möchtest du dem Jungen nicht selbst entscheiden lassen? Oder kannst du Menschen nur an dich binden, indem du ihnen ihren freien Willen nimmst?“ Er lachte leise. „So ist das eben mit der Manipulation. Im Hinterkopf nagt der Verdacht, dass unsere Puppen gar nicht so willenlos sind, nicht wahr? Was hältst du davon Kai?“

„Richte dein Wort nicht an ihn! Ich bestimme für den Jungen!“

„So ist das.“, stellte Dragoon belustigt fest. „Aber ich vergaß. Ich wollte dem Jungen noch eine Geschichte erzählen. Kennst du die Sage um Luft und Feuer?“

Kai schüttelte verneinend den Kopf.

„Vor unzähligen Jahren, als dieser Planet noch jung war, herrschte nichts außer Ödnis und Kargheit. In unserem Universum gibt es unzählige solcher Sterne, aber jeder einzelne von ihnen ist nutzlos, wenn er kein Leben spenden kann. Es gab aber vier Geister, die diesen Missstand erkannten und diesen Planeten zum Blühen brachten. Es dauerte viele Millionen von Jahren, bis die Erde ihren heutigen Zustand erreichte, doch letztendlich hatte sich ihre Arbeit gelohnt. Ein Geist ließ die Kontinente entstehen, überwuchte die Landschaft mit unzähligen Bäumen. Dieser Geist war für die Vegetation zuständig. Dank seiner Hilfe, verwandelte sich die Erde, in ein blühendes Paradies, voll kräftiger Bäume, fruchtbaren Äckern und erzreichen Gebirgen. Damit seine Pflanzenwelt aber nicht wieder eingingen, arbeitete er eng, mit dem Geist des Wassers zusammen. Er ließ Bäche und Flüsse entstehen, bewässerte die Gärten der Erde, indem er Regen herabfallen ließ und brachte sprudelnde Quellen hervor. Dank seiner Hilfe, blieb das Paradies auch auf Dauer erhalten. Diese beiden Geister hatten früh erkannt, wie viel Nutzen sie durch ihrer beider Fähigkeit voneinander hatten. Sie arbeiteten vorbildlich zusammen.

Dann gab es da aber noch den Geist der Luft und des Feuers. Da die anderen beiden Geister die Voraussetzungen für die Grundressourcen gegeben hatten, ohne die Leben auf diesem Planeten nicht möglich wäre, stand es den andern beiden zu, dieses Leben auch zu erhalten. Nach Jahrhunderten entstanden durch den Gleichklang der vier Mächte die ersten Tiere. Der Geist des Feuers spendete den Körpern seine Wärme. Er sorgte dafür, dass die Geschöpfe ein schlagendes Herz, voller Energie und Tatendrang besaßen und sich frei bewegen konnten und gab ihnen Licht in der finstersten Dunkelheit. Doch all die Macht des Feuergeistes nützte nichts, solange der Geist der Luft ihm nichts von seinem Atem abgab. Ohne ihn gingen die Geschöpfe auf der Stelle ein. Das Feuer in den Herzen erstickte, kaum dass es aufgeflackert war. Wie du siehst, waren diese beiden Geister auch voneinander abhängig. Der eine von dem anderen allerdings mehr, als der sich eingestehen will…“

Sein Blick huschte für weniger als einen Wimpernschlag zu ihr, doch es reichte aus, um Dranzer verkrampfen zu lassen, trotzdem blieb das Bit Beast stumm. Das Buch über den Feuervogel lag zurückgelassen auf den Polstern des Sessels. Dragoon nahm es in die Hand und strich mit seinen Fingern über den Titel.

„Es vergingen Jahrhunderte in denen jeder seiner Aufgabe nachging. Die Pflanzen, Tier und Menschenzahl wuchs und wuchs. Es wurden so viele, dass die Macht der Geister immer weiter abnahm. Zu viele Seelen mussten mit ihrer Energie bewirtet werden, was sie immer schwächer werden ließ.“

„Das verstehe ich nicht… Warum werden die Geister schwächer?“, erfüllte Kais Zwischenruf den Raum.

Dragoon schenkte dem Kind ein nachsichtiges Lächeln.

„Magst du Kuchen?“

Kai blinzelte verwirrt, nickte aber schließlich langsam.

„Natürlich magst du das… Kinder naschen doch alle gerne.“, lachte er leise. „Dann stell dir jetzt vor die Energie der Geister ist eine riesige Torte, mein Kleiner. Jeder will ein Stück abbekommen. Aber wenn es zu viele sind, kriegen alle nur noch winzige Krümel ab. Was machst du wenn es so viele werden, dass weniger als nichts übrigbleibt?“

„Einen weiteren Kuchen backen?“

Dragoons Lachen erschallte laut durch den Raum. Als er sich beruhigte meinte er:

„Herrlich! Der Junge ist einfach herrlich! Er ist meinem Tyson doch recht ähnlich, findest du nicht meine Dame?“, doch er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern sprach. „Da hast du wohl Recht, Kai, aber was ist wenn du mit dem backen nicht nachkommst?“

Darauf wusste Kai keine Antwort mehr. Er blieb stumm, deshalb fuhr Dragoon wieder fort.

„Ab und zu mussten die Geister deshalb einige unbeliebte Maßnahmen einleiten, die für die Menschen doch recht grausam sein mochten, doch darauf gehe ich jetzt nicht weiter ein… Nichtsdestotrotz war es doch eine sehr friedliche Zeit. Die Geister wachten über ihre Geschöpfe, beobachteten wie ihre kindergleichen Wesen aufwuchsen und wundersame Kulturen aus ihnen hervorkamen. Sie waren interessant, wirklich sehr interessant…

Einige Sachen konnten sogar die Geister von ihnen lernen.

Bis der Hochmut über sie kam.

Von den Menschen sahen sie des Öfteren, dass sie sich in Wettkämpfen maßen. Schließlich waren sie so töricht es ihnen gleich zu tun, mit dem Ziel, den Sieger über die anderen zu stellen. Der Kampf dauerte viele Jahre, bis der Geist der Luft und des Feuers sich als letztens gegenüberstanden. Aus den einstigen Verbündeten wurden Rivalen.

Der Geist des Feuers war bei seinen vorherigen Kämpfen stets als eindeutiger Sieger hervorgegangen, doch als er dem Geist der Luft gegenübertrat…“

„Genug davon! Kai, in dein Bett!“

Der Junge schreckte auf. Es war das erste Mal das sie ihn mit solch herrischem Ton ansprach.

„Ich möchte aber die Geschichte zuen-…“

„Du gehst schlafen!“

Wieder erfüllte Dragoons Lachen den Raum.

„Dein Vögelchen lernt aber schnell fliegen. Kaum hast du ihn gefügig gemacht, fängt er schon wieder an zu widersprechen. Pass auf das er dir nicht entwischt! Wo wir aber schon dabei sind - es ist besser du vertraust mir nun den Jungen an.“

Er tat einen Schritt auf die beiden zu und wurde ernst.

„Wir wollen den Jungen doch nicht zu etwas zwingen, was er nicht möchte, nicht wahr? Gib ihn mir. Es wird Zeit.“

„Untersteh dich!“, zischte Dranzer.

„Vergiss nicht unseren eigentlichen Plan. Muss ich dir erst drohen?“

„Du kannst mich nicht mehr bedrohen.“, aus den Mund der Frau schallte unvermittelt ein merkwürdiger Gesang. Das Kind sah zu ihr hinauf, doch schon flackerten die Lider und er verfiel in einen tiefen Schlaf. Der kleine Kopf klappte zur Seite und blieb auf ihrer Schulter ruhen. Dranzer registrierte das mit einem Lächeln. Nun konnte sie frei reden, ohne dass Kai Dinge hörte, die nicht für seine Ohren bestimmt waren.

„Siehst du das? Mein Junge ist auch ohne die anderen glücklich. Er braucht nur mich! Du kannst ihn nicht mehr mitnehmen... Es ist zu spät. Die Erinnerung an seine Freunde sind fort. Ich habe sie ausgemerzt wie Ungeziefer.“

„Dummes Stück!“, zischte Dragoon erbost und Dranzer lachte ihn nur gönnerhaft an. Sie schmiegte ihren Kopf an Kai und entgegnete nur:

„Aber, aber! Weshalb so ausfallend? Erzürnt es dich, dass dein Junge nun niemals glauben wird, dass diese Welt real ist, während mein Kind mir mit Leib und Seele wieder vertraut?“

„Das glaubst du doch selbst nicht. Du hast den Jungen manipuliert. Seine Augen spiegeln eine verwirrte Seele, die wie eine leere Puppe in diesem Haus vegetiert. Quält dich dieser Gedanke nicht? Du hast ein Geschöpf erschaffen, welches dich nur verehrt, weil er es nicht besser weiß! Nur ein Blick hinter deine trügerische Fassade und er wird dir abhanden kommen. Ich dagegen werde Takao dazu bringen, aus freien Stücken hier zu bleiben.“

„Wie willst du das anstellen? Du hast Kai nicht? Solange die Gruppe nicht vereint ist, wird Takao dir die heile Welt nicht abkaufen. Sie denken wir stecken unter einer Decke… Meine Taten sind auch deine.“

„Dein Bengel wird sich wieder von dir abwenden. Er ist nicht dumm. Früher oder später erkennt er, dass etwas nicht stimmt und du bist wieder allein und verlassen…“

„Du kriegst ihn nicht.“

„Dann hole ich ihn.“

„Das werde ich verhindern…“

„Ach ja?“, Ein schiefes Grinsen zog sich über Dragoon Gesicht, dass etwas unheilvolles hatte. „Wie denn? Es ist offensichtlich wer in einem Zweikampf zwischen uns als Sieger hervorgeht.“

Dranzer antwortete nicht. Stattdessen fixierte sie ihren Gegner ernst – bis auch bei ihr ein spöttisches Grinsen ihr Gesicht zierte. In einer langsamen Geste hob sie das Kind, mit beiden Händen, über ihren Kopf.

„Mag sein dass ein Phönix einen Drachen nicht besiegen kann, aber du hast meinen entscheidenden Vorteil dir gegenüber vergessen. Egal wie oft du mich besiegst, ich steige immer aus meiner Asche auf.“

Ihre Hände wurden zu Krallen, die sich in das Fleisch des Kindes bohrten. Es gab ein leises Stöhnen von sich, erwachte trotz der Schmerzen aber nicht.

„Wenn du es wagst ihn mir wegzunehmen, werde ich uns beide verbrennen!“

Für eine Sekunde wurde es still im Raum. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, bis Dragoons Stimme das Schweigen durchbrach.

„So weit gehst du nicht…“

Doch ein Blick in ihre Augen genügte. Dragoon schüttelte den Kopf, als hätte er ein begriffsstutziges Kind vor sich.

„Mir scheint, nicht nur der Junge ist verwirrt. Hörst du dir selbst zu wenn du sprichst?“

„Ich bin noch nie klarer bei Verstand gewesen. Du selbst hast mich auf diese Idee gebracht. Was sagtest du noch mal, als ich nicht aus Kais Körper weichen wollte?

Wenn du dich ungerecht behandelt fühlst, töte ich deinen Jungen hier und jetzt. Dann haben wir alle einen Rückschlag erlitten…

Zum ersten Mal blickte Dragoon entsetzt und Dranzer fuhr unbeirrt fort.

„All die Jahrhunderte hast du mich gedemütigt, schikaniert und gequält! All das nur weil ich mich nicht von dir Verwirren ließ, wie Drigger und Draciel. Weil ich mich nicht beugen wollte – so waren doch deine Worte!“, schallte ihre Anklage durch den Raum. „Was hast du mir deshalb nicht alles angetan? Mit welchen Intrigen hast du mich gegen die, die ich liebte, ausgespielt! Selbst deine Stellung als unser Anführer hast du dir ergaunert… Und nun bin ich es, die die Fäden in der Hand hält! Wenn die anderen Kinder erfahren, dass Kai tot ist, werden sie alles daran setzten von hier fort zu kommen. Sie werden euch niemals mehr vertrauern. Ihr werdet für sie Mörder und Verräter sein. Sie werden euch hassen und fürchten! Ich sehe schon Takaos Wut in den Augen… Er wird dich mit Leib und Seele hassen – so wie ich!“

„Dann nehmen wir den Kindern ihre Erinnerung!“

„Dafür war ich zuständig. Keiner der Uralten besitzt sonst diese Fähigkeit. Ich habe die Kinder verwirrt, sodass sie sich nicht mehr an ihre Liebsten entsinnen. Und nur ich kann die Flammen der Vergessenheit heraufbeschwören. Was meinst du wie ich Kais Erinnerungen ausgelöscht habe? Die Magie die ich an ihm angewandt habe ist sogar noch stärker als bei den anderen… sie ist unwiderrufbar! Indem Moment aber, indem ich uns beide in Flammen setzte, wird jedes der Menschenkinder seine Erinnerung Schritt für Schritt zurück erhalten und der Hass, den sie gegen euch verspüren, wird wieder aufleben.“

Wieder kehrte Stille ein und beide beobachteten sich, bis Dragoon die Augen zuschlug und eine Sekunde später ein melancholischer Ausdruck auf sein Gesicht trat.

Er seufzte…

„Sei vernünftig Dranzer, soll alles umsonst gewesen sein? Nur weil wir beide unsere Differenzen haben, “ er schlug absichtlich einen versöhnlichen Ton an, sprach geradezu sanft auf sie ein. „Mein Liebes… Mein kleines Täubchen, denk doch nach? Ist es das wirkl-…“

„Hör auf damit!“, schrie sie ihm entgegen, denn sie wusste das er gerade dabei war seine Magie auf ihr wirken zu lassen. Er versuchte sie dazu zu bewegen an sich selbst zu zweifeln. „Lass deine Spielchen! Die kannst du bei den Menschen anwenden, doch bei mir zieht keines deiner werbenden Worte. Ich weiß was du für ein Schuft bist. Du hast es einmal genug bewiesen!“

„Diese alte Geschichte schon wieder?“

„Ich werde sie niemals vergessen…“

„Und wegen dieser Sache soll dein Menschenkind sterben?“

„Ich habe nichts mehr zu verlieren. Es ist alles deine Schuld! “ die aufkommend Wut ließ die Augen des Bit Beasts wässrig glänzen. „Denkst du ich weiß nicht, worauf dein Plan hinausläuft? Hältst du mich für so einfältig? Du willst die Vergangenheit in die Gegenwart holen. Du willst das Takao wieder an lächerlichen Wettkämpfen teilnimmt, zusammen mit den anderen. Aber hast du mich jemals gefragt, ob es das ist, was ich wünsche?! Kai würde die nächsten Jahrhunderte damit verbringen, in einer Welt zu leben, in der ich nur als sein Bit Beast existiere. In einem endlosen Trott, ohne zu bemerken, dass er nicht altert!“

„Du wärst stets an seiner Seite. Was möchtest du mehr?“

„Ich wäre stets im Hintergrund!“, schrie Dranzer auf und ein verbitterter Blick trat auf ihr Gesicht. „Er würde mich nur als sein Bit Beast kennen, nicht als die, die ich bin! Ich könnte nicht mit ihm sprechen, ihn nicht berühren! Wenn wir uns nur damit zufrieden geben, diese Bande in einer endlosen Kindheitserinnerung leben zu lassen, sind wir für sie doch nicht mehr als Haustiere!“

Dragoon fauchte erbost und seine Augen glühten auf.

„Takao sah mich nie als sein Haustier! Ich war sein Partner!“

„Einen Partner, den er in einer alten Schachtel hat verstauben lassen.“

Dranzer sah zu dem Jungen in ihren Händen auf und zischte.

„Einst war ich genauso töricht wie du. Ich dachte, Kai würde mich als seine Gefährtin sehen. Als den Mittelpunkt seines Lebens. Aber… Er hat mich vergessen. Weil ich unterschätzt habe, wie schnell Menschen vergessen.“

Eine einsame Träne bahnte sich den Weg über ihre Wange hinab.

„Hätte ich damals schon einen Menschenkörper besessen, hätte ich immer in seiner Nähe sein können. Dann wäre es nie soweit gekommen. Ich hätte ihn immer daran erinnert, dass ich noch bei ihm bin. Seine Schwester wäre niemals im Stande gewesen, meinen Platz an seiner Seite einzunehmen.“

„Du redest wirres Zeug. Reicht es dir nicht, mit ihm Seite an Seite zu kämpfen? Wozu mit ihm reden, wozu ihn berühren? Was hat das für einen Nutzen für dich? Du redest wie eine liebestolle Menschenfr-…“

Schlagartig verstummte Dragoon. Erst nachdem er begriff, fand er wieder Worte.

„Nein... Wie kannst du nur?! Du lässt dich auf eine so niedere Ebene herab? Wie kannst du es wagen, du verfluchtes Miststück!“ seine Stimme donnerte durch den Raum und sein Zorn ließ die Erde erbeben. Jegliche Selbstbeherrschung die er zuvor gehabt hatte machte blanker Wut platz. Dragoon erhob mahnend den Finger und drohte: „Wage es nicht, Dranzer! Gib mir den Jungen und verschwinde aus meinen Augen, bis du wieder bei klarem Verstand bist! Ich habe dir schon viele Dummheiten verziehen, aber das schlägt dem Fass den Boden aus!“

„Warum? Was stört dich daran?“

„Es ist das niederste Gefühl das existiert und verblendet die Sinne! Du bist eine der Uralten und sollst dich um deine Aufgaben kümmern und nicht einer sterblichen Eintagsfliege schöne Augen machen!“

„Deine Aufgabe ist auch nicht Sterbliche in unsere Welt zu locken!“

„Diese Kinder dienen mir nur zur Unterhaltung. Das taten sie schon immer. Deshalb vernachlässige ich noch lange nicht meine Pflichten!“ Verbittert schaute er auf das Kind und sagte mehr zu sich selbst. „Ein Mensch… Ich fasse es nicht! Von allen Wesen muss es ein Mensch sein?“

Doch der Ausdruck blieb nicht lange erhalten. Plötzlich straffte sich Dragoon und unerbittert sagte er: „Gib ihn mir.“

Dranzer trat zurück.

„Nein! Eher verbrenne ich uns beide!“ Das Bit Beast entflammte und schrie: „Und gemeinsam mit uns, wird dieses Haus auch dein Grab sein!“

Eine Stichflamme zog sich ihren Körper hinauf und drohte den Jungen zu erreichen. In einem verzweifelten Versuch ihn zu retten, ließ Dragoon einen starken Wirbelwind den Raum erfüllen. Möbel verschoben sich durch den Sog und ein Bild an der Wand, brach von seiner Halterung und flog durch das Zimmer. Es traf Dranzers Hände, bevor diese zusammen mit dem Kind, im Feuer verbrannte. Der Junge fiel einpaar Schritte von ihr zu Boden und blieb dort reglos liegen. An seinen Armen zeichneten sich ihre Krallen rötlich von der blassen Haut ab.

Beide Bit Beast drehten sich abrupt zu ihm. Sofort brach Dranzer ihr Vorhaben ab und ließ die Flammen abklingen, doch ihr Menschenkörper hatte unter dem Zwischenfall gelitten. Er war an den Beinen versengt und feine Risse zogen sich an den Waden hinauf. Winzige Hautfetzen blätterten ab, zerfielen zu Ruß, wenn sie den Boden berührten. Dranzer hatte keine Zeit sich zu regenerieren, denn neben ihr verwandelte sich Dragoon zuckend und brüllend in seine Bit Beast Gestalt. Blitze peitschten um ihn und sein Körper begann sich aufzublähen. Seine Haut brach auf, wie die Schale einer überreifen Frucht, präsentierte die bläulich leuchtende Reptilienhaut darunter. Der gigantische Körper des Drachen zwängte sich aus der menschlichen Hülle, die reglos und einem schmutzigen Kleidungsstück ähnelnd, auf dem Boden zurück blieb. Es war kaum zu glauben, dass diese riesige Kreatur, bis vor einpaar Sekunden noch, in diesem winzigen Menschenkörper gehaust hatte.

Dragoons Kopf schlug gegen die Zimmerdecke. Nach anfänglichem Widerstand, gaben die Deckenbalken nach und brachen. Es polterte als das Holz auf das Parkett krachte.

Dort wo sich die riesigen Klauen hineinfraßen, hinterließen sie lange Spuren und der Boden sprang auf. Mit einem Brüllen ließ der Drache einen weiteren Wirbelsturm durch den Raum jagen, dann schnappte er mit der länglichen Schnauze nach dem Jungen – was nicht im geringsten Dranzers Wunsch entsprach.

Mit einem gellenden Schrei tat sie es ihrem Kontrahenten gleich und kurz darauf durchfluteten helle Flammen das Zimmer. Eine Fontäne schoss hinauf und alles was zuvor noch von der Decke heil geblieben war, stürzte hinab. Ein ausgewachsenes Bit Beast war bereits zuviel verlangt, doch der Masse zwei solcher Ungetüme konnte der Raum nicht mehr standhalten. Als Dranzer dem nach Kai schnappenden Dragoon in den Nacken biss, peitschte der Schwanz des Drachens durch die Wände, und hinterließ eine Schneise der Verwüstung.

Ein weiterer Schlag folgte und ein riesiges Loch klaffte im Boden.

Kurz darauf schien das Haus zu erbeben und ein lautes Rumoren folgte – bis weitere Flammenfontänen unter dem Parkett hervorbrachen! Eine von ihnen traf Dragoon direkt am Unterleib. Das Bit Beast brüllte vor Schmerz und ein schallendes Kreischen folgte von Dranzer. Es klang als ob der Phönix sichtlich Freude an den Qualen seines Gegners besaß.

Desto mehr Löcher die Fontänen in den Boden fraßen, desto instabiler wurde er.

Es krachte und dröhnte von allen Seiten und als Dragoon den Phönix am Gefieder zu fassen bekam, stieß er sich, samt Beute, hinauf in den Himmel ab, zerlegte alle Stockwerke über sich in Schutt und Asche. Erst als der Drache aus dem Häuserdach gebrochen war und viele Meter über dem Gebäude schwebte, entließ er Dranzer aus seinem Kiefer. Sofort machte er sich daran, den zornigen Phönix weiter zu attackieren, mit dem Ziel, ihn soweit fort von Kai zu drängen, wie nur möglich – ohne zu ahnen, dass das zerfallende Gebäude eine weitaus größere Gefahr für die Jungen darstellte.
 


 

*
 

Die Treppe allein war schon ein Wagnis an sich gewesen. Als die Gruppe es gemeistert hatte, in einem rekordverdächtigen Tempo die Stufen hinaufzurennen, brach eine nach der anderen hinter ihnen zusammen. Sie mussten achten das keiner zurückblieb, aber auch das niemand zu schnell war. Der Letzte von ihnen hätte das nachsehen, der Vorderste würde die Stufen für die anderen zerstören. Als sie oben ankamen, blickten sie schwer atmend dem hinab fallenden Treppengeländer nach, welches in die rötliche Lavamassen stürzte und kokelnd darin verschwand.

„Ich wäre gerne mal wieder bei Kai zuhause, ohne das die ganze Stube brennt.“, meinte Max mit zuckender Augenbraue. Eine riesige Lavablase erschien an der Oberfläche.

In seiner Fantasie malte er sich aus, wie der See genüsslich die Treppe verschlang, einen kleinen Rülpser ausstieß und darüber nachsinnte, wie ihm drei blutjunge, knackige Menschenjungen schmecken würden.

„Wo hast du Kai gesehen?“, fragte Ray an Allegro gewandt.

Die kleine Maus hüpfte von Tysons Schulter auf den Boden. Angestrengt erhob sie sich auf die Zehenspitzen und witterte in der Luft. Der beißende Gestank von Schwefel, schien Allegro nicht zu stören, denn kurz darauf deutete er mit seiner winzigen Pfote in Richtung des Flurs.

„Da drüben. Das erste Zimmer rechts. Aber seid gewarnt! Der Junge war nicht allein. Als ich ihn zuletzt sah, war etwas Totes bei ihm.“

„Etwas Totes?“, Max schauderte. „Wie meinst du das?“

Allegro bekam keine Gelegenheit ausführlicher zu werden, denn ein lautes Beben erfüllte ihre Umgebung, gefolgt von den lauten Schreien zweier unmenschlich klingender Geschöpfe. Dann erschallte ein lautes Schmettern und der Putz bröckelte von der Decke herab. Keine Sekunde später ging ein entsetzter Ausruf durch die Gruppe, als die massiven Deckenbalken, eine nach der anderen auf den Flur hinab fielen. Ein großer Spalt öffnete sich über ihnen, als hätte ein Riese mit einem Messer, das Dach aufgeschnitten. Schwere Geschosse fielen aus dem oberen Stockwerk auf sie herab.

Max hielt schützend die Hände über seinen Kopf. Er war wohl der festen Überzeugung, dass ihm gleich der Schädel gespalten würde. Doch noch ehe er reagieren konnte, wurde er von seinen Freunden an die Wand gedrängt und zu Boden gedrückt. Die Gruppe robbte sich vorwärts, bis sie unter einem größeren Beistelltisch Schutz suchte. Dort verweilten sie, bis eine Wolke aus Schutt und Staub sie unter sich vergrub.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis das Rumoren um sie herum verstummte. Als die Gruppe wieder aus ihrem Versteck kroch, lag der Flur vor ihnen, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Ein riesiges Loch klaffte in der Decke und das Licht von draußen drang herein, während die Staubpartikel darin tänzelten.

Tyson war der Erste, der aufrecht stand. Als er alle wohlbehalten vor sich fand, kletterte er über den Geröllhaufen weiter auf die Tür zu, die ihnen Allegro genannt hatte. Er meinte noch zu wissen, dass Kais Zimmer dahinter lag.

Als Tyson die Tür öffnete, sah auch dieser Raum nicht besser aus. An vereinzelten Stellen brannte es und der Boden war versengt und brüchig. Außerdem ging die Tür nicht richtig auf, da sie auf der anderen Seite von Geröll versperrt war. Mit aller Kraft warf sich Tyson so oft dagegen, bis sich ein kleiner Spalt auf tat, durch den er sich hindurch zwängen konnte. Seine Freunde taten es ihm nach. Als Max den ersten Schritt in den Raum tat, blinzelte er durch den Staub in die Höhe. Das Tageslicht kam kaum durch, doch irgendwann deutete er nach oben.

„Seht mal da!“

Seine Freunde wandten den Blick hinauf und erkannten weit über ihnen, die Umrisse von Dragoon und Dranzer, die sich inmitten der Nebelschwaden bekämpften. Diese Fehde schien weit aggressiver zu sein, als alles was sich während ihrer Beybladekämpfe zugetragen hatte.

Die beiden Bit Beast gönnten sich nichts und ihre Kraft schien viel mächtiger als früher. Erst jetzt wurde sich Tyson bewusst, wie viel Macht eigentlich in seinem Dragoon steckte. Er beobachtete wie sein Bit Beast mit seinem kräftigen Kiefer nach dem Hals des Phönixes schnappte. Wie er Donner und Blitze nach ihm warf und über dem Gebäude einen Wirbelwind formte, der alles in ihrer Umgebung mit sich riss. Gebannt von diesem Schauspiel, konnte er erst den Blick abwenden, als Ray an ihm vorbeistürmte.

„Ist das Kai?!“

Tyson fuhr herum. Einpaar Schritte von Ray entfernt, kauerte eine kindliche Gestalt von vielleicht fünf Jahren auf dem Boden – reglos und vom Staub besudelt. Tyson eilte an Rays Seite, der die Hände nach dem kleinen Jungen ausstreckte und ihn langsam auf den Rücken drehte. Er wischte den Staub vorsichtig von dem Gesicht und begutachtete das Kind genau.

„Das ist doch nie im Leben Kai?“, meinte Max argwöhnisch, als er zu seinen Freunden trat und sich über den Jungen beugte.

Tyson konnte sein Misstrauen gut verstehen.

Allegro hatte sie zwar vorgewarnt, doch dieses Kind war viel zu jung. In diesem Alter hatten sie Kai noch nie erlebt. Diese winzige blasse Gestalt, war ein herber Kontrast, zudem dreizehnjährigen Jungen, den sie kennengelernt hatten.

„Vielleicht ist er das auch gar nicht?“, fragte Ray irritiert und wich abrupt zurück. Sein Blick schlich argwöhnisch durch den Raum. „Womöglich ist das nur eine Falle? Kai müsste doch in unserem Alter sein…“

„Nicht unbedingt“, mischte sich Allegro ein. „Euer Freund hat sein Bit Beast wohl viel früher kennengelernt als ihr. Das wird des Rätsels Lösung sein.“

„Hast du nicht gesagt, dass etwas Totes hier im Raum ist?“, Max wich einpaar Schritte zurück. „Vielleicht ist das auch nur ein Phantom…“

„Nein. Der Junge ist echt. Was ich gewittert habe, war auch kein Phantom.“

Während seine Freunde mit Allegro diskutierten, ging Tyson vor dem Jungen langsam in die Hocke. Er legte seine Hand auf die Schulter und rüttelte sachte daran, um dem Kind eine Regung abzugewinnen. Es dauerte seine Zeit, bis ein leiser Laut zu ihm hinauf drang. Tyson beugte sich über das Gesicht des Kindes und beobachtete, wie seine Lider flackerten. Sie öffneten sich einen spaltweit, nur um sich wieder erschöpft zu schließen.

Doch Tyson hatte gesehen, was er wissen wollte – das rote Glimmen in Kais Augen.

„Das ist er“, unterbrach er die Diskussion neben sich. „Lasst uns schnell verschwinden, bevor diese Godzillaverschnitte da oben merken dass wir hier sind.“

Er spürte dass Ray neben ihm Einwände erheben wollte und fuhr ihm dazwischen:

„Wir haben jetzt keine Zeit für so etwas!“

Sein Freund gab nur ein resignierendes Nicken von sich. Er wollte gerade seine Hände nach dem Kind ausstrecken, als über ihnen das Dach von einem riesigen Feuerball getroffen wurde.

Die Ziegel auf dem Dach lösten sich und regneten durch die Öffnung ins Zimmer herab. Zwar erschienen die Bit Beast nicht am Horizont, doch dieser Schlag schien eine Kettenreaktion ausgelöst zu haben.

Kurze Zeit herrschte Stille.

Die Gruppe war noch froh, nicht von einem der brennenden Ziegel getroffen worden zu sein, doch drückte sich schützend an die Wand, als ein lautes Rumoren das Haus erbeben ließ. Die Wände begangen zu erzittern, der Boden vibrierte, der Putz begann an allen Ecken hinab zu rieseln und Bilder fielen von ihrer Halterung.

Das Gebäude hörte sich an, als ob es sich vor Schmerz krümmen würde.

Dann ging ein Ruck durch den Raum und Tyson meinte zu spüren, dass das Haus verrutschte. Seine Vermutung sollte sich bestätigen, denn kurz darauf, begannen sich die Möbel im Raum zu verschieben und rutschten auf die Rechte Seite zum Fenster. Der Boden unter ihnen ächzte, bis er laut aufsprang und den Raum in zwei Hälften teilte. Die linke Plattform sank unaufhörlich hinab, die andere, auf der sie standen, neigte sich immer weiter zur Seite.

Unglücklicherweise war Kai nicht auf ihrer Hälfte, was sie aber zu spät bemerkten.

Tyson versuchte mit aller Macht nicht das Gleichgewicht zu verlieren und über den Spalt hinweg, nach seinem Freund zu greifen, doch sie trieben auseinander, als würden sie auf zwei Eisschollen im Pazifik schwimmen. Irgendwann war der Boden so schräg, das es unmöglich war, nicht ins Straucheln zu geraten. Max rutschte als Erstens aus und schlitterte schreiend hinab. Er knallte mit dem Rücken gegen die Wand und hielt sich stöhnend den verletzten Arm. Neben sich hörte Tyson Allegro aufgeregt piepsen.

Die kleine Springmaus hatte sich in Rays Hemdkragen versteckt und hielt den Jungen an, nicht nachzulassen. Der junge Chinese biss eisern die Zähne zusammen.

„Wir müssen Kai holen!“, rief er Tyson durch den Lärm zu. Der Boden war bereits so schräg, dass sie sich an der Spaltkante vor sich festhalten mussten, um nicht wie Max gegen die Wand zu schlittern.

„Ray, hilf mir hoch!“, bat Tyson seinen Freund. Ein Nicken kam als Antwort, dann streckte er seinen freien Arm nach ihm aus. Tyson trat auf seine Handfläche und mit soviel Kraft wie er momentan aufbringen konnte, schubste ihn Ray die Kante hinauf.

Oben angekommen griff Tyson nach seiner Hand, um auch ihn hinaufzuziehen. In diesem Moment kippte ihre Hälfte aber endgültig auf die Seite und ließ das Gebäude erzittern. Ray griff an Tysons Hand vorbei und rutschte auch hinab – genau auf Max, der laut ächzte:

„Oh Gott! Warum immer ich?!“

„Ich habe das nicht geplant Max!“, fauchte Ray zurück.
 

„Hey ihr beiden? Geht es euch gut?!“, rief Tyson von seiner Anhöhe hinab.

„Es ging mir noch nie besser! Ich bin in einem Haus, das sich zweiteilt und mein bester Freund sitzt auf mir drauf! Ich muss ein scheiß Glückspilz sein“, schrie Max genervt hinauf. „Sieh endlich zu das du Kai holst und lass uns von hier verschwinden!“

Tyson atmete erleichtert auf und staunte nicht schlecht. Das Bild vor ihm sah seltsam skurril aus. An den Fenstern war nur Grasfläche und Erde auszumachen. Sämtliche Möbel lagen auf einem Haufen und inmitten dieses Chaos, Ray und Max – beide sichtlich angepisst.

Er wandte seinen Blick durch die Umgebung und konnte dort, wo früher das Dach gewesen war, die Öffnung ausmachen, die die Bit Beast verursacht hatten. Die rechte Hälfte des Gebäudes lag nun vor ihnen wie ein Kanal.

„Wartet draußen auf uns!“, wies er seine Freunde an und deutete auf den Ausstieg. Dann raffte er sich auf und kletterte allein den Weg weiter.
 

Die linke Zimmerhälfte war schon ein beträchtliches Stück hinabgesunken. Tyson hatte alle Mühe den Abstieg schnell und ohne Verletzungen zu bewerkstelligen, da er sich noch irgendwie unbeschadet über den Spalt hangeln musste. Es war die reinste Bergwanderung, die mehr schlitternd als kletternd vonstatten ging.

Als er die sinkende Plattform fast eingeholt hatte, sprang er die letzten Meter hinab, rutschte bei der Landung aber auf etwas aus und stürzte mit dem Gesicht voran in den Dreck.

Fluchend rieb er sich das angeschlagene Kinn. Als er sich nach seiner Stolperfalle umdrehte, blinzelte Tyson irritiert, bis er mit einem angeekelten Schrei zurückwich.

Fast unerkannt, unter einer dicken Staubschicht, lag ein menschlicher Körper. Er wirkte dünn und ausgezerrt, als wäre kein Tropfen Blut mehr in den Adern. Der Rücken war aufgerissen.

Für eine winzige Sekunde spielte Tyson mit dem Gedanken, sich das Gesicht näher anzuschauen, was er aber für keinen sehr guten Einfall hielt. Das ganze Szenario wirkte wie aus einem Horrorfilm, weshalb sich also noch weitere unliebsame Erinnerungen einhandeln?

Kurzerhand wandte er sich um und eilte zu Kai.

Er ging vor seinem Freund in die Hocke und wunderte sich über dessen tiefen Schlaf. Für gewöhnlich wachte Kai bei der kleinsten Regung auf. Während ihrer Beybladezeit, hatte die Gruppe öfters Mal einen Gemeinschaftsschlafraum in Anspruch genommen. Wenn Max oder Tyson mitten in der Nacht mal auf die Toilette gegangen und auf dem Rückweg im Dunkeln gestolpert waren, war Kai der Erste, dem ein missmutiges Murren entwich.

Ausgerechnet jetzt wurde er zum Tiefschläfer.

„Wach auf Kai!“, versuchte er ihn zu wecken. „Bitte!“

Doch es kam nichts. Tyson seufzte niedergeschlagen und überlegte, wie er den bewusstlosen Jungen hinaufschaffen sollte, bis ihm ein Einfall kam. Er zog seine Jacke aus, nahm Kai auf seinen Rücken und zog sich anschließend die Jacke wieder an, sodass sein Freund zwischen seinem Rücken und dem Kleidungsstück eingezwängt war. Zuletzt zog er den Reißverschluss zu. Es war wahnsinnig eng und umständlich zu vollbringen, außerdem sah er aus wie Quasimodo, doch das kleine Kind passte gerade noch in die Jacke hinein. Für den Moment musste das reichen, sonst konnte er mit Kai auf den Armen nicht wieder hinauf klettern. Er versicherte sich noch mal, dass Kai auch wirklich nicht hinausrutschend konnte, anschließend rannte Tyson zurück und machte sich an den Aufstieg. Bald würde die Plattform das Erdgeschoss erreichen und dort wartete ein See aus Lava. Bis dahin musste er wieder oben sein. Er spürte schon die Hitze in die Zimmerhälfte kriechen.

Ohne weitere Zeit zu vergeuden, setzte Tyson einen Fuß nach dem anderen und begann mit seiner Kletterpartie. Ihn trennten bereits einige Meter von der anderen Plattform und er griff nach allem, was ihm auf seinem Weg nach oben Halt gab. Hätte er hinabgeschaut, wäre ihm aufgefallen, dass bereits Lava über die Plattform rollte.

Die glühende Masse griff nach der versinkenden Hälfte wie ein Schwarm Hände. Doch dabei blieb es nicht... Irgendwann meinte Tyson das Zischeln mehrerer Stimmen von unten zu hören. Er hielt für einen kurzen Moment inne und starrte argwöhnisch hinab.

Dann begriff er, dass die Laute aus der Lava kamen.

„Gib ihn zurück…“

„Was?!“ fragte eine Stimme in Tysons Hinterkopf, doch dann begannen sich die Lavaklumpen zusammenzufügen und es entstanden einpaar menschlich wirkende Gestalten. Vor Schreck klappte ihm die Kinnlade auf. Die Figuren erhoben sich aus der Lava, torkelten auf den Hang zu und begannen zielstrebig den beiden Jungen hinterher zu klettern.

„Gib ihn zurück!“, klagte die vorderste Gestalt, während die anderen in ihr Flehen mit einstimmte. „Wir brauchen ihn! Gib ihn uns zurück!“

Dann erhärteten die Köpfe und die Gesichter wurden zu jenen Menschen, die Kai tagtäglich um sich hatte. Der grimmige Großvater, der alte Lew, die beiden Hausmädchen die dem Hiwatari Haus dienten. Alle Gesichter waren mager und ausgezerrt und flehten nach Kais Erinnerungen.

Mit einem lauten Fluch auf der Zunge, legte Tyson an Tempo zu.

Die Phantome kamen näher und schnappten mit ihren Fingern nach seiner Schuhsohle.

Voltaires Phantom kam ihm so nah, dass er die Hitze seiner Lavahände bereits am Fußknöchel spürte – bis ein Stein den alten Großvater am Kopf traf.

Der Schädel sprang entzwei, wie ein Kürbis der auf den Bordstein knallte. Die Gestalt fuchtelte kopflos mit den Händen, verlor das Gleichgewicht und stürzte die Wand hinab.

Mit einem hässlichen „Platsch“ zersprang sie auf der Oberfläche und hinterließ nur eine Pfütze.

„Schneller!“, hörte Tyson von oben. Max und Ray hatten seinen Rat nicht befolgt und warteten auf der oberen Zimmerhälfte. Tyson konnte nur raten, wie sie es die Wand hinaufgeschafft hatten. Sein amerikanischer Freund drängte ihn zur Eile, während Ray mit einem Stein ausholte und die nächste Kreatur direkt zwischen den Augen traf. Das machte ihm sogar sichtlich Spaß, denn er rief: „Hast du den Schuss gesehen, Max?!“

Ein ungläubiges Lachen später, setzte Tyson seinen Weg fort.

Seine Freunde gaben ihm Rückendeckung, zielten nach jedem Lavaphantom, das nur ansatzweise in seine Nähe kam. Manche regenerierten sich nach einem Treffer und setzten Tyson wieder nach, doch so schnell, wie seine Freunde warfen, waren sie schon wieder zu einer Pfütze zerflossen.

Voltaires Phantom war am hartnäckigsten. Doch da die Gruppe noch nie gut auf den alten Miesepeter zu sprechen war, bekam er immer zuerst einen Stein ab.

Rays Stein traf den alten Mann erneut. Der wächserne Kopf zersprang und die Gestalt zerfloss vor ihren Augen. Mit einem letzten verzweifelten Schrei, formte sich noch einmal der Mund und über Voltaires Lippen schallte ein Ruf:

„Herrin! Das Kind! Sie nehmen ihn mit! Haltet sie auf!“

Das Echo schallte durch die Ruine bis in den trüben Himmel hinauf.

Für eine Sekunde schien alles still zu stehen. Dann hörte Tyson das schmerzerfüllte Brüllen von Dragoon und einen lauten Aufprall draußen.

Das klang gar nicht gut, was auch seinen Freunden klar wurde.

Max rief total hibbelig hinab: „Beeil dich Tyson!“

Allegro stand auf Rays Schulter und meinte: „Das hat sie gehört! Oh weh! Sie hat das ganz bestimmt gehört! Beeilt euch!“

Tyson griff nach Rays Hand, der schon darauf wartete, ihn hinaufzuhieven. Dann…

KRACH!

Die Erde bebte, als Dranzer kreischend durch die Trümmer über ihnen brach. Der Phönix musste es geschafft haben, Dragoon loszuwerden. Für eine winzige Sekunde konnte Tyson nicht verhindern, dass er sich um sein Bit Beast sorgte, auch wenn es in der jetzigen Situation unpassend war. Dranzer beobachtete indessen die Gruppe. Die Augen des Phönix glitten von einer Person zur nächsten und blieben an Tyson hängen. Dann Schrie das Bit Beast seine Wut hinaus und raste auf ihn hinab. Es hatte erkannt, wer von ihnen Kai versteckte.

Ray zog Tyson hinauf und gemeinsam rutschte die Gruppe die andere Seite hinab, während das Bit Beast den Schnabel dort hinein rammte, wo sie zuvor noch gestanden hatten.

Ohne weiter darauf zu achten, nahmen die Jungen ihre Beine in die Hand und rannten was das Zeug hielt. Der Lärm hinter ihnen verriet, dass sich Dranzer bereits befreit hatte.

In Tysons Kopf schoss immer wieder die Bitte durch den Kopf, es noch aus dem brüchigen Gebäude zuschaffen. Der Ausstieg war noch ein ganzes Stück von ihnen entfernt, der Weg von etlichen Hürden versperrt, als der Flügelschlag des Phönix den Staub in der Ruine aufwirbelte und ihnen die Sicht raubte.

Ein Sturm aus Asche und Dreck entstand.

„Ray, Tyson?! Wo seid ihr?!“ hörte er Max nach ihnen rufen.

Er selbst hatte vor lauter zerbröseltem Mörtel auch die Orientierung verloren. Die Rufe seiner Freunde schallten zu ihm, die wohl nacheinander suchten. Tyson torkelte in der Staubschicht umher, bis er gegen etwas lief, dass ihn zu Fall brachte.

Gerade noch rechtzeitig landete er auf der Seite, bevor er Kai unter sich erdrückte. Der Dreck sammelte sich in seiner Lunge und ließ ihn gequält husten.

Die Luft war pures Gift.

„Tyson! Wo seid ihr?!“, schallte Rays verzweifelter Ruf durch die Ruine – es klang erschreckend weit von ihnen entfernt. „Tyson! Max! Sagt etwas!“

Rays Stimme entfernte sich immer weiter von ihnen und in Tyson brach Panik aus.

Was wenn er zurück gelassen wurde? Wenn seine Freunde bereits fort waren und er zusammen mit Kai hier herumirren musste?

Hustend raffte sich Tyson auf und folgte der Richtung, aus der er seine Freunde meinte zu hören. Er wollte antworten, aber die schlechte Luft hinderte ihn an seinem Vorhaben. Mehrmals brach er, inmitten der trüben Suppe, schnaufend zusammen.

Irgendwann tastete sich Tyson nur noch auf allen Vieren voran.

„Wenn jetzt die Wände über dir zusammenbrechen, siehst du es nicht einmal!“, verkündete eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf unheilvoll. Er mochte gar nicht daran denken. Seine Augen juckten wie verrückt und er musste dem Impuls widerstehen sie zu reiben. Mehr tastend als sehend, stolperte er durch die Ruine, bis er etwas unter seinen Fingern fühlte, was kein Beton war. Es fühlte sich schuppig und rau an und spreizte sich gegen Ende hin, wurde scharf. Als Tyson mit hochgezogener Braue weiter aufwärts griff, ertastete er weiches… Gefieder.

„Oh Gott…“

Seine Hand schreckte zurück und er unterdrückte jeden weiteren Hustanfall. Der Staub lichtete sich etwas und gab den Blick, auf eine von Dranzers Klauen frei. Die scharfen Krallen klackten, bei der kleinsten Bewegung, auf dem Boden.

Tyson meinte einen größer werdenden Schatten unter sich zu erkennen.

Er schluckte und spähte voller böser Vorahnung hinauf – und ein funkelndes Augenpaar starrte zurück.

„Ich sehe dich, Takao…“, hörte er ein Wispern, gefolgt von einem unheilvollem Kichern.
 


 

*
 

Nja, nach fast drei Monaten doch mal wieder ein Kapitel... Ehrlich gesagt habe ich mit dem Gedanken gespielt, die Geschichte endgültig auf Eis zu legen, da mir die ganze Schreiberei nach der Arbeit viel zu anstrengend wird (ganz zu schweigen von der anhaltenden Schreibblockade). Dieses Kapitel liegt schon seit Monaten auf dem Rechner, aber allein es zu überarbeiten und auf Rechtschreibfehler zu filzen hat wieder eine heiden Ewigkeit gedauert. Zu meinem Glück - obwohl, eher Unglück - lieg ich mit einer Grippe im Bett und habe endlich mal wieder etwas Zeit gefunden. Aber jedes Mal wenn ich am nächsten Kapitel dran sitze, ertappe ich mich dabei, wie ich lieber tausend andere Sachen mache - jetzt in diesem Moment suche ich nebenbei nach Schuhen für den Sommer. xD
 

LG Eris

Als Tyson in den Kindergarten kam, gab es da mal einen Vorfall, der ihn bis heute geprägt hatte. Damals war er klein, hatte dicke Hamsterbacken, große Kulleraugen und war eingeschüchtert von dem neuen Umfeld und – es ließ sich nicht abstreiten – ziemlich beleibt.

Er war ein richtiges kleines Pummelchen. Wahrscheinlich war die Skizze von Pummeluff aus Pokemon sogar auf seinen Mist gewachsen. Er konnte sich gut vorstellen, wie der verzweifelte Mangaka auf einer Parkbank in der Nähe eines Spielplatzes saß und immer wieder verzweifelt murmelte: „Die Nummer neununddreißig… Wie soll Pokemon Nummer neununddreißig aussehen?! Scheiße, mir gehen die Ideen aus…“

Der Mangaka hätte sich dann die Haare gerauft, bis Hitoshi mit Tyson im Schlepptau auf den Spielplatz kam, der im Sandkasten eine Ladung Matschkuchen mampfte. Tyson war mit seinem beleibten Körperbau deshalb auch ein gefundenes Fressen für etliche Hänseleien damals gewesen.
 

Wie es der Zufall aber so wollte, gab es in Tysons Kindergartengruppe jemanden, der ihn um Längen und Breitengrade bei weitem übertraf.

Wenn Tyson Pummeluff war, war dieses Kind Relaxo.

Wie es das Schicksal wollte, war dieses „Relaxo“ nicht gut auf Tyson zu sprechen.

Wie es die Vorsehung wollte, lauerte dieses „Relaxo“ Tyson an jeder Ecke auf.

Für Tyson waren diese Begegnung in etwa so, als schaue er auf einen großen schwabbelnden Fleischklumpen hinauf, der ihn böse anfeixte und diese unliebsamen Treffen endeten stets damit, dass er ohne Taschengeld, aber dafür mit einem blauen Auge nachhause kam. Ein langgezogenes „Scheiße“ war ihm dann immer über die Lippen gekommen – seine erste Verwendung für dieses Wort fand er damals. Jedenfalls hatte Tyson es irgendwann vollbracht, diesem Fleischklumpen die Stirn zu bieten. Es hatte ihn eine blutige Nase gekostet, sein Körper war übersät von blauen Flecken und eine Woche Hausarrest war auch herausgesprungen, aber Gott verdammt… Es war eine herrliche Genugtuung gewesen, den Fettklops heulend zur Erzieherin laufen zu sehen, während die anderen Kinder auf ihn zeigten und schadenfroh ein Liedchen über seine Niederlage anstimmten. Obwohl er zwei Minuten später von der Gruppenaufsicht am Ohr gepackt und zur Strafe den ganzen Tag alleine in einer Ecke verbringen musste, war er der Held seiner Kindergartengruppe geworden. Beflügelt von diesem Erlebnis, ging er danach mit einer neuen Sicht der Dinge durch die Welt - und einer großen Schnauze.
 

Jetzt stand Tyson Dranzer gegenüber und ihm dämmerte: „Relaxo wäre mir jetzt lieber.“

Wo das Fleischklumpenkind einen kleinen Schatten auf ihn warf, verdeckte Dranzers gigantische Statur den gesamten Horizont.

Das Paradoxe war – dieser Anblick war beängstigend und schön zugleich.

Das rötliche Gefieder schimmerte selbst durch die Staubwolken hindurch und die glühenden Augen flackerten wie eine spiralförmige Flamme. Vom Körper des Phönix stoben bei jedem Flügelschlag feine Staubpartikel, die aber nicht grau und trist, sondern glimmend im Wind tänzelnden, wie die glitzernden Funken eines Feuerwerks. Er konnte nicht leugnen das Kais Bit Beast wunderschön war – was ihm bereits bei ihren Beyblade Kämpfen mehrmals durch den Kopf gegangen war. Trotzdem hatte er sich von Dranzer noch nie so bedroht gefühlt, wie jetzt in diesem Moment…

„Takao, wohin des Wegs?“, fragte ihn das Bit Beast spöttisch und ihm jagte eine Gänsehaut durch den Körper, als er das Wispern vernahm. „Du hast etwas das mir gehört.“

Der Phönix spähte auf seinen Rücken, wo Tyson unter seiner Jacke, den zum Kind gewordenen Kai versteckt hielt. Anstatt einer Antwort kam vom sonst so vorlauten Japaner nur ein unverständliches Kauderwelsch.

„Gib ihn mir, Takao.“, forderte das Bit Beast und beugte sich drohend hinab. „Tust du es nicht, wirst du es bereuen. Willst du sterben, mein Junge? Denn das erwartet dich, wenn du ihn mir nicht zurückgibst. Ich kann alle die dir lieb sind auslöschen! Deine gesamte Familie, den Rest deiner Freunde! Sei also kein Narr, mein kleiner Mensch… Gib ihn mir zurück und ein großes Unheil wird von dir abgewendet.“

Zwar hatte Tyson gehörig die Hosen voll, aber er ließ sich nichts anmerken und entgegnete trotzig: „Damit du Kai wieder in diesem Geisterhaus einsperrst?“

„Vorsicht kleiner Mensch. Du weißt nicht mit was für einer höheren Macht du dich anlegst.“, um ihren Worten noch mehr Ausdruck zu verleihen, spreizte der Phönix gebieterisch die Schwingen.

„Da spuck ich drauf! Eine schöne höhere Macht bist du! Du sperrst deinen Freund einfach ein, als ob er ein Hamster in einem Käfig ist!“

„Freund? Er ist mehr als ein Freund. Genau deshalb sperre ich ihn auch ein. Etwas das nicht wegfliegen soll, setzt man in einen Käfig, nicht wahr?“

„Da stehst du mit deiner kranken Denkweise wohl alleine dar… Was hast du mit Kai gemacht? Warum wacht er nicht mehr auf?“

„Er braucht nicht mehr zu erwachen. Was uns bevorsteht muss er nicht bei klarem Verstand erleben.“

Tyson zog die Brauen tief ins Gesicht. Was sollte das bedeuten?

Es hörte sich jedenfalls nicht gut an und er tat einen Schritt zurück.

„Was meinst du?“

„Wir werden uns bald aufmachen…“

„Wohin?“, der Ausruf kam ungeduldiger als beabsichtigt.

„An einen Ort, wo ihn niemand mehr bekommen kann, wo es nur uns gibt. Kein lebender Mensch wird ihn dort erreichen.“, von draußen schallte ein Brüllen in das Gebäude, dass Dranzer in arge Bedrängnis brachte. Tyson erkannte es sofort als Dragoons Kampfschrei. Das Phönix Bit Beast ließ die Augen zu Schlitzen werden und wandte sich von dem Geräusch wieder zu Tyson.

„Gib mir den Jungen!“

„Nein!“

„Dreckiges Balg!“, herrschte Dranzer ihn an und die blanke Wut erfasste das Bit Beast.„Mir ist es gleich! Dann sollt ihr beide zum Abschied gemeinsam brennen! Im Tode werdet ihr trotzdem nicht vereint sein!“

Eine Feuerkugel sammelte sich im Schnabel des Bit Beasts und verdammt… Tyson wusste was ihn gleich erwarten würde! Er sah das Bild der sterbenden Phantome vor seinem Auge, als Dranzer nur zum Spaß ihre Wut an ihnen ausließ. Er mochte sich nicht ausmalen wie schrecklich der Feuertod war.

„Ich will nicht sterben!“, dachte er. „Nicht so…“

Und auf einmal stand sein gesamter Körper unter Strom.

Er fühlte sich an jene zahlreichen Momente erinnert, in denen er mit Dragoon an seiner Seite ein Match ausgefochten hatte und die Blockade, die ihn kurz zuvor noch dazu verurteilt hatte erstarrt auszuharren, löste sich aus seinem Kopf und verlieh ihm den Blick auf seine verbliebenen Optionen.

Deckung – Es gab keine Möglichkeit sich zu verstecken.

Nach Links oder Rechts Ausweichen – Er würde nicht rechtzeitig aus Dranzers Schussfeld kommen. Das Bit Beast stand direkt vor ihm und egal in welche Richtung Tyson auswich, es brauchte nur den Kopf leicht zur Seite zu drehen und die Flammen auf ihn wieder zu lenken.

Es sei denn er kam aus ihrem Blickfeld hinaus…

Klick.

Die Lösung kam kurz vor knapp.

Wie von selbst verlagerte sein Körper das Gewicht nach vorne und als die Feuerfontäne aus Dranzers geweitetem Schnabel hervorquoll, schlitterte er auf dem Boden eilig zwischen den Beinen des Bit Beasts hindurch.

Ein überraschter Schrei entfloh dem Bit Beast, als es merkte wie das anvisierte Ziel unter den Beinen entwich, dann schlug es mit den Flügeln und drehte sich in der Luft – und das kam Tyson zugute. Dranzer wirbelte wieder den Staub auf und im Schutz des Nebels floh er von dem Bit Beast so schnell fort, wie ihn seine Füße trugen… Bis Tyson einen erschrocken Ausruf von sich gab.

In seiner Hast konnte er sich nicht mehr leisten auf den Weg zu achten und ehe er es sich versah, trat er plötzlich mit seinem Fuß ins Leere. Schon spürte er keinen festen Boden mehr unter sich und kurz darauf rutschte er holpernd einen niedrigen Spalt hinab. Keine Sekunde später, peitschten Flammen über die Öffnung hinweg, genau an der Stelle wo er kurz zuvor noch gestanden hatte, während er weiter den Abhang runter rollte. Ohne großartig zu überlegen, nutzte er nach der Landung die Gelegenheit, um einen sicheren Abstand zu gewinnen. Er nahm sich eine Sekunde um Kai auf seinen Rücken, in eine angenehmere Position zu ziehen, wunderte sich dabei immer noch über den tiefen Schlaf seines Freundes. Erst dann schlug er sich durch den engen Spalt weiter, immer auf der Suche nach einem Ausweg aus diesem zerfallenden Labyrinth. Nur hatte er keinen Orientierungspunkt mehr.

Im engen Spalt war es nicht so trüb, wie an der Oberfläche – insgeheim fühlte sich Tyson wie ein Maulwurf, der sich durch seine Erdlöcher schleicht, aber der Weg war behindert von Gerümpel und Gestein. Oben schabte das Bit Beast an anderer Stelle wütend am Spaltrand, um an seine Beute zu kommen.

„Tyson! Hier her!“, hörte er plötzlich ein piepsen.

„Oh man, Allegro! Dich schickt der Himmel!“, stieß Tyson selig aus. Die schwarze Springmaus kam im Schatten des Spalts auf ihn zugehopst und gestikulierte wild mit den kleinen Fäusten.

„Hinaus mit dir Junge! Dranzer ist da oben und sucht nach dir!“

„Wirklich? Ich dachte da oben steigt bloß eine Parade! Sag mal, denkst du ich habe keine Augen im Kopf?!“

„Warum sollte ich das denken? Ich sehe doch deine Augen!“

„Ach ver-…“, fauchte Tyson genervt, bis ihm klar wurde, dass dem Bit Beast Sarkasmus wohl ein Fremdwort war. „Wo sind Max und Ray?“

„Ich habe sie hinausgeführt. Aber ich fürchte, sie werden nicht mehr lange auf meine Rückkehr warten. Diese voreiligen Lümmel stehen dir in deinem Übereifer in nichts nach.“

Allegro drehte sich um und deutete in die Richtung aus der er gekommen war.

„Folge mir Junge! Wenn wir länger auf uns warten lassen, rennen sie womöglich noch hinein, um uns zu suchen. Dann laufen sie Dranzer direkt in die Klauen!“

Tyson nickte nur und sprintete der Maus hinterher. Dabei geisterten ihm Dranzers Worte durch den Kopf.

Zum Abschied gemeinsam brennen…

Wollte das Bit Beast Kai etwa auch töten? Tyson warf einen hastigen Blick auf das Gesicht des Jungen, dessen Haarschopf auf seiner Schulter ruhte. Sollte Kai deswegen nicht aufwachen? Weil Dranzer ihm die Schmerzen ersparen wollte? Aber das ergab doch keinen Sinn. Kai war schon so lange in Dranzers Gewalt, warum hatte das Bit Beast ihn nicht eher getötet?

„Allegro? Was könnte Dranzer meinen, wenn es sagt, dass es Kai an einen Ort nehmen will, wo es nichts gibt, außer sie beide?“

Die Springmaus hielt kurz inne und seine Ohren zuckten auf.

„Was?! Wie?! Hat Dranzer das gesagt?“

Tyson nickte und wiederholte hastig was er soeben gehört hatte.

Allegro schüttelte nur bestürzt den Kopf und winkte ihm weiterzulaufen.

„Jetzt ist es endgültig um den Geier geschehen! Das ist pure Dekadenz!“

„Deka-… hä?“

„Dranzer muss verrückt geworden sein! Sie will sich selbst, samt dem Jungen verbrennen!“

Tyson hielt entsetzt den Atem an. Ein Frösteln jagte durch seinen Körper. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn sie zu spät gekommen wären. Instinktiv umfasste er Kais Beine fester, die unter seiner Jacke hervorschauten.

„Warum?!“

„Für Bit Beast gibt es ein anderes Jenseits als für die Menschen.“

„Also… so etwas wie eine eigene Abteilung?“, schlussfolgerte Tyson.

„So in etwa.“

„Und wenn Dranzer Kai mit sich verbrennt, was passiert dann?“

„Sie zieht seine Seele mit sich.“

Erst jetzt drang in seinen Geist, dass Allegro Dranzer schon zum zweiten Mal als weiblich bezeichnete.

„Sie?“

„Schh!“

Allegro zischte aufgebracht und lauschte, ob sich an der Oberfläche etwas tat, während Tyson sich die Hand vor den Mund hielt. Beide hielten inne, doch Dranzers wütendes Kreischen schien weit von ihrem Standpunkt entfernt.

„Wir haben ein Problem.“, flüsterte Allegro.

„Ist mir nicht entgangen…“

„Das meine ich nicht.“ Er deutete hinauf. „Der Spalt endet in Kürze. Dann müssen wir wieder an die Oberfläche.“

Das Bit Beast horchte angestrengt seine Umgebung ab und meinte: „Aber so wie ich das einschätze, ist Dranzer nicht weit genug von uns entfernt, um uns nicht zu entdecken. Wenn wir Pech haben, beißt sie dir in dem Moment den Kopf ab, indem du ihn aus dem Spalt streckst.“

Fast reflexartig fasste sich Tyson an den Hals bei dem Gedanken.

„Musst du das so unverblümt darstellen?“

„So ist es nun Mal! Diesem Bit Beast ist alles gleich!“

„Dann… warten wir bis sich eine Chance ergibt?“

Allegro schüttelte verneinend den Kopf und verkündete:

„Dieses Haus wird nicht mehr lange stehen! Als ich deine Freunde hinausgeführt habe, bemerkten wir zum ersten Mal, wie instabil das Fundament ist. Der Feuerregen draußen ist zwar vorbei, hat aber viel Schaden angerichtet. Das Haus sackt immer weiter in die Tiefe ab. Ich vermute, dass Dranzer darunter einen Lavasee erschaffen hat, um Dragoon gegenüber einen Vorteil zu haben. Dieses Gebäude war eine Falle für den Drachen!“

„Warum bekämpfen die beiden sich? Hassen sie einander?“

Allegro zuckte unwissend mit den Schultern.

„Das weiß keiner. Es muss wohl eine uralte Fehde sein, die noch vor meiner Zeit stattfand. Jedenfalls hat Dranzer es geschafft, Dragoon in einer Art Feuerkreis einzukerkern. Der Drache sitzt draußen und kämpft gegen sein Gefängnis an.“ Allegro fröstelte. „Eine solche Wut habe ich noch nie in den Augen eines Bit Beasts gesehen. Sein Zorn wird ihn bald befreit haben, bis dahin will Dranzer ihr Vorhaben wohl beendet haben.“

„Dranzer ist also echt ein Mädchen? Wow. Ich glaubs nicht. Ha… Das erklärt einiges!“

„Weshalb?“

„Naja, jetzt Mal unter uns. Nur eine Frau kann so eine Furie sein!“

Allegro stampfte erbost mit dem Fuß über diesen unangebrachten Spott.

„Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für Scherze…“, dann wurde die Springmaus bleich, falls das bei seinem schwarzen Fell überhaupt möglich war. „Lauf!“

Tysons Kopf fuhr hinauf und dort blickte ihm ein riesiges rotes Augenpaar, durch die spaltförmige Öffnung, entgegen. Dann kreischte der Phönix und hieb mit seinem Schnabel in den Einbruch hinein. Dranzer blieb für eine Sekunde darin stecken und Tyson nutzte die Gelegenheit, um seinen Frust Dampf zu machen.

Mit einem wütenden „Miststück!“, trat er gegen ihren Schnabel und rannte davon. Das Bit Beast wurde nur noch zorniger. Es zog den Kopf aus dem Spalt und hieb wie in Raserei auf die Öffnung ein. Mal tauchte Dranzers Schnabel direkt vor ihnen auf, mal knapp hinter ihnen, dann wieder weit zurück. Schließlich kamen sie zur vorhergesagten Sackgasse.

„Was jetzt?!“, schrie Tyson panisch.

„Rauf! Lauf so schnell dich deine Beine tragen!“

Tyson blieb keine Zeit zu jammern, stattdessen kletterte er schnell hinaus. Er fühlte sich wie ein lebensmüder Soldat, der aus einem Schützengraben ins Schlachtfeld rannte – bei vollem Beschuss! Dranzer war noch damit beschäftigt, etwas weiter hinten, den Spalt nach ihnen abzusuchen. Man konnte deutlich das Schaben ihrer Krallen vernehmen, mit denen sie an den Rändern kratzte, um die Öffnung zu vergrößern. Doch es dauerte nicht lange, da erregten die rennenden Gestalten ihre Aufmerksamkeit.

Mit peitschenden Flügeln rannte das Bit Beast auf die beiden zu und entflammte sich selbst.

Tyson wirbelte der Staub um die Ohren und er spürte die Vibrationen, die Dranzers Fänge auf dem Boden ausübten, wenn sie zum Flug Anlauf nahm.

Dieses Ungetüm brauchte nur drei Schritte um diese Ruine zu überqueren, Tyson dagegen unzählige! Außerdem konnte er nicht fliegen. Das war echt nicht fair! Ihm wurde schlagartig klar, wie aussichtslos seine derzeitige Lage jetzt war. Auf seinem Rücken spürte er, wie eine leichte Regung durch Kai ging. Seine kleinen Kinderfäuste gruben sich zaghaft in seinen Pullover. Jetzt wurde er wach? Ausgerechnet jetzt?!

„Verdammt!“, entrang sich der Ausruf aus seinem Mund und ihm verschwamm die Sicht vor verzweifelter Wut. Sie würden bald sterben und Kai würde es auch noch mitbekommen. Dieser Gedanke jagte ihm einen Stich in die Brust. Er wollte nicht dass sein Freund leiden musste!

Schließlich schnappte etwas nach seinem Rücken und riss ihn von den Beinen. Tyson verlor den Boden unter den Füßen und es schnürte ihm die Luft ab. Er sah keuchend hinab, konnte seine Füße in der Luft baumeln sehen und viele Meter unter sich die Ruinen erblicken. Sein Kopf schwang von einer auf die andere Seite. Es erinnerte ihn an eine Achterbahnfahrt - nur ungesichert. Dann drehte sich die Welt, als er hin und hergeschleudert wurde, bis er endlich begriff, dass Dranzer ihn an der Jacke gepackt hielt.

Er hörte Allegros entsetztes Piepsen bis hinauf. Die schwarze Springmaus flehte Dranzer an ihn loszulassen. Der sonst so stolze und mutige Allegro flehte!

„Lauf!“, rief Tyson hinunter als die Erkenntnis ihn traf. Sie würden sterben.

Er hatte es nicht geschafft Kai zu retten. Dabei war er so entschlossen gewesen…

Sie hatten sich doch alle so bemüht. Er fragte sich, was aus Max und Ray werden würde?

Hoffentlich schafften sie es aus dieser furchtbaren Welt. In ihm stieg der Wunsch auf sich von seiner Familie zu verabschieden. Doch weil dieser Wunsch unerfüllt bleiben würde, schrie er:

„Verschwinde von hier! Hau mit Ray und Max ab!“

Der Stoff der Jacke riss und er fiel gemeinsam mit Kai in die Tiefe. Unter ihnen lag der Schutt aufgetürmt und Tyson bereitete sich darauf vor, mit einem gespalten Schädel darauf zu liegen.

Im freien Fall, ergriff er Kais Hand und zog ihn zu sich.

Er schloss die Augen. Wartete auf den tödlichen Aufprall.
 

„DRANZER!“
 

Der zornige Schrei ließ die Ruinen erbeben. Dann brach aus den kümmerlichen Überresten der Häuserwand die massige Gestalt von Dragoon durch.

Die Gesteinsbrocken stoben nur so in alle Richtungen.

Die Augen des Drachen glühten furchteinflößend. Er strahlte hell, jede Schuppe seines Körpers schien von seiner immensen Energie durchtränkt. Dann entdeckte er Tyson, wie er gemeinsam mit Kai fiel und preschte vor – nur um nach ihnen zu schnappen.

Tyson sah den riesigen, mit scharfen Zähnen gespickten Kiefer näher kommen, blickte in den dunklen Rachen und konnte es nicht fassen - Sein Bit Beast wollte sie fressen!

Und als er in Dragoons Schlund fiel und sich die Schnauze des Bit Beasts über ihnen schloss, tröstete ihn nur ein Gedanke: „Wenigstens hat Dranzer Kai nicht bekommen…“
 


 

*
 

Dranzers wütendes Kreischen drang bis nach draußen und ließ die beiden Jungen zusammenzucken. Rays Blick wandte sich vom sinkenden Gebäude zu Max und seine Brauen zogen sich tief ins Gesicht.

„Zum letzten Mal Max…. Du bleibst hier! Du bist verletzt. Sieh zu das du ein Versteck findest, ich komme mit den anderen nach.“

„Ich will mit!“

„Du bist keine Hilfe.“

„Und wenn du auch nicht zurückkommst?“

„Dann bist du wenigstens noch da.“

Max stockte der Atem. Wusste Ray wie das klang? Das hörte sich einfach furchtbar an! Er wollte nicht allein in der Irrlichterwelt bleiben. Nicht ohne seine Freunde. Da war ihm dieses Höllenfahrtskommando wesentlich lieber.

„Geh jetzt! Max verschwinde, bitte!“, Ray gab ihm einen unsanften Schubs und er geriet ins Straucheln. „Los! Mach das du wegkommst!“

„Ich will nicht…“, stotterte Max und seine Augen wurden groß. Er blickte seinen Freund verzweifelt an. Tyson und Kai waren seid zehn Minuten weg. Allegro hatte ihnen gesagt, dass sie verschwinden sollten, wenn er in fünf Minuten nicht zurück war. Und jetzt wollte Ray auch noch zurück und das ohne ihn!

Er sollte sich feige aus dem Staub machen und bei ihrem jetzigen Pech, auch noch alleine zurückbleiben. Ihm graute dieser Gedanke und er schüttelte immer wieder nur verneinend den Kopf. Das konnte Ray nicht von ihm verlangen.

Er blickte verstört zu dem sinkenden Gebäude zurück und zog entsetzt die Luft ein, als er Allegros hüpfende Gestalt zwischen den Grashalmen erkannte. Weder Tyson, noch Kai folgten ihm.

„Wo sind sie?“, fragte Max verzweifelt und rannte der kleinen Maus entgegen. „Allegro? Was ist passiert? Warum sind Tyson und Kai nicht bei dir?“

Die schwarze Springmaus ließ den Schweif samt den kleinen Ohren hängen.

„Oh weh! Es tut mir… oh weh.“ Allegros Knopfaugen schwammen in Tränen. Die Gesichter der beiden Jungen wurden totenblass. „Verzeiht mir. Ich bin… ich bin so unnütz! Es tut mir so Leid… oh weh!

Ray fand als erster seine Worte.

„Ist das ein schlechter Scherz?!“

„Nein…“, schluchzte Allegro und vergrub das Gesicht in seinen Pfoten. „Es tut mir so Leid! Ich konnte nichts tun! Ich schäme mich so! Dragoon… Er hat. Oh weh… Er hat die beiden einfach verschlungen… oh weh, oh weh… Ich bin eine Schande… Oh weh…“

Mehr brachte er nicht mehr zu Stande. Enttäuscht über seine mangelnden Kräfte setzte sich Allegro auf den Boden und schluchzte haltlos. Er kauerte vor ihnen wie ein Häuflein Elend und er hätte Ray und Max sicherlich auch Leid getan, wenn die beiden Jungen nicht wie vom Donner gerührt erstarrt wären. Beide konnten nicht begreifen, was ihnen die Springmaus da erzählte. Zwei ihrer ältesten Freunde, sollten…

Dieser Gedanke klang so unwirklich, dass er sich nicht in ihrem Kopf verfestigen wollte, vor Angst, es könnte Realität werden. Vor einpaar Tagen erst, waren sie noch zusammen unterwegs gewesen und nun sollten sie tot sein? Irgendwann gaben Maxs Knie nach und er sackte auf den Boden hinab.

„Das kann nicht sein“, flüsterte er.

Ray war verstummt. Er sah aus als wäre etwas in ihm gestorben. Selbst die lauten Kampfgeräusche der Bit Beast drangen nicht in ihr Bewusstsein hindurch. Allegro hörte auf zu Schluchzen und sah seine Begleiter an. Sie schienen jeglichen Willen verloren zu haben. Er entsann sich Tysons Worten und richtete sich langsam auf.

„Flieht. Flieht! So schnell ihr könnt! Tyson hat gesagt, ich soll euch von hier wegbringen... Irgendwie bringe ich euch nachhause! Ich verspreche es euch!“

„Ohne Tyson und Kai nachhause!“, schrie Max unvermittelt und auf sein Gesicht trat eine Wut die Ray noch nie erlebt hatte. „Wir sollen nachhause und so tun, als wäre nichts gewesen?!“

„Nein, natürlich nicht.“, entgegnete die Springmaus betrübt. „Aber ich bitte euch, ihr könnt hier nicht bleiben. Bitte geht…“

Niemand rührte sich. Max schüttelte nur mit dem Kopf und stierte verbittert drein.

Ray schien nicht anwesend. Allegro sah dieses Trauerspiel und konnte nur Seufzen.

Warum war er nicht stärker?

Warum nur so eine schwächliche Springmaus?

Dann krachte es hinter ihnen. Allegro fuhr als einziger herum und musste beobachten, wie Dragoon dabei war, Dranzer an der Kehle zu packen. Die Bit Beasts kämpften verbissen miteinander. Ein Feuerregen seitens Dranzer, prasselte auf den Drachen ein, der ihn mit einer starken Windböe in alle Himmelsrichtungen verstreute. Dann holte er mit seinem langen Schweif aus und schlug zu. Dranzer bekam einen Schlag direkt auf den Schädel, dass ihr Kopf nur noch zur Seite schwang. Das Bit Beast schrie schmerzerfüllt und raste auf den Boden zu.

Als es aufprallte bebte die Erde. Mit schreckensgeweiteten Augen bemerkte Allegro, wie gefährlich nah die Kämpfenden ihnen kamen.

„Geht! Verdammt ihr dürft hier nicht bleiben! Sie werden euch zerquetschen!“

Die kleine Maus hüpfte an Rays Schuh und versuchte ihn in Bewegung zu bringen, was natürlich ein sinnloses Unterfangen war, denn selbst dafür fehlte Allegro die Kraft.
 

Indessen näherte Dragoon sich dem angeschlagenen Phönix, der vor ihm ausgebreitet auf dem Boden lag, angeschlagen und hilflos. Kurz bevor er neben ihr hielt, schnappte Dranzer mit dem Schnabel nach ihm. „VERSCHWINDE DU TEUFEL!“, schrie sie ihm entgegen.

Er packte zu.

Seine Klaue schlug schmerzhaft auf ihrem Brustkorb auf, presste sie auf den Boden, dann schoss seine Schnauze nach vorne und packte gezielt Dranzers linken Flügel. Das Bit Beast Schrie entsetzt und ein lautes Knacken erschallte, als Dragoon seinen starken Kiefer fest zudrückte und dem Phönix die Knochen brach. Dasselbe Unterfangen führte er bei ihrem anderen Flügel aus. Er hörte ihre Flüche laut an seinem Ohr schluchzen, während er sie stutzte: „Hör auf! Ich verfluche dich! Ich hasse dich!“

Dranzer wand sich unter ihm und kreischte ihren Schmerz mit ihrer hellen Phönixstimme hinaus, bis die ersten Zeichen der Bewusstlosigkeit über sie kamen. Und in diesem Moment meinte Ray, auf Dragoons Gesicht Mitleid zu erkennen. Ihm stockte der Atem und Wut keimte in ihm auf. Er beobachtete wie der Drache Dranzer entließ und den Kopf schüttelte, als würde er bedauern, was er tat, dann setzten sich Rays Beine fast schon selbstständig in Bewegung…
 

Dranzer lag auf dem Rücken, ihr ganzer Körper war unfähig still zu halten, denn ein heftiges Zittern hatte sie erfasst. Ihre gebrochenen Flügel zuckten, während sie versuchte von Dragoon Abstand zu gewinnen. Sie schwebte an der Grenze der Bewusstlosigkeit, denn immerzu sackte ihr Kopf geschwächt zur Seite.

Wie sie dort lag, kreischend, wütend und verzweifelt, erinnerte er sie an einen verletzten Spatz, der zum Tode verurteilt auf sein Ende wartete. Er sollte sie wohl erlösen…

Dragoons Schwanz peitschte nach vorne und versetzte Dranzers Schädel einen weiteren Hieb. Sie ließ einen herzzerreißenden Schrei los, der durch Mark und Bein ging, dann erschlaffte sie und blieb regungslos am Boden liegen – erneut von Dragoon geschlagen.
 

Der Drache sah schnaufend auf seine Gegnerin hinab. Dranzer hatte ihn viel Kraft gekostet. Seine schuppige Haut war an unzähligen Stellen aufgerissen und versängt. Schuppen blätterten verkohlt an seinem Körper herab und entblößten das verbrannte Fleisch darunter. Als Dragoon sich auf die Vorderpfote fallen ließ, knickte er für eine Sekunde zusammen. Seine rechte Klaue zog einen stichartigen Schmerz durch seinen ganzen Leib. Selbst für einen Geist war das zuviel und er musste gestehen… So gnadenlos waren sie noch nie gegeneinander vorgegangen.

Wie war das alles nur wieder so aus dem Ruder gelaufen?

Er beobachtete wie eine Träne aus den Augenwinkeln des gedemütigten Phönix quoll – ganz unbewusst. Das war immer so. Wahrscheinlich wusste Dranzer selbst nicht einmal davon.

Wie denn auch?

Wenn er diese Träne erblickte, lag sie stets besiegt vor ihm.

Der Anblick hatte etwas Melancholisches und stimmte ihn traurig.

Er liebte es sie zu unterwerfen… aber nicht sie weinen zu sehen. Dafür war selbst sein Herz nicht hart genug. Wie oft hatte er in diesen Momenten dann Mitleid mit ihr empfunden, sogar ab und zu bereut, so grob gehandelt zu haben.

Reue…

Dieses Gefühl hasste Dragoon. Er wollte es nicht spüren. Dragoon war das stärkste Bit Beast, ihm stand also zu, keine seiner Entscheidungen hinterfragen zu lassen – nicht einmal von sich selbst. Doch Dranzers Träne brachte ihn stets zum Schwanken, ließ ihn nachsichtig sein, obwohl er doch schon so oft hätte härter durchgreifen müssen. Hier herrschte eine strikte Klassenordnung und trotzdem war er all die Jahrhunderte zu sanftmütig gewesen.

Doch dieses Mal…

Dieses Mal konnte er nicht mit ihr Mitleid empfinden, auch wenn ihm das Herz schmerzte.

Ihr musste Einhalt geboten werden, bevor sie noch verrückter wurde. Sie war mit den Jahren zu mächtig geworden. Desto länger sie lebte, desto stärker wurde sie. Es war an der Zeit, dass der Phönix wiedergeboren wurde und dieses Mal würde er ihre Erziehung in die Hand nehmen. Da konnte Driger toben so viel er wollte, wenn er sie nicht in den Griff bekam, musste Dragoon die Sache selbst in die Hand nehmen.

Langsam beugte sich der Drache zu der Verliererin hinab, bis seine Schnauze ihre Stirn berührte. Es wirkte wie ein sanfter Kuss… Dragoon konzentrierte sich auf das Feuer welches in dem Phönix brannte. Er senkte die Lider und suchte nach der Wärmequelle in ihrem Körper. Es dauerte seine Zeit, da sah er vor seinem inneren Auge die brodelnde Macht in Dranzer. Sie züngelte in Form einer hellblauen Feuerkugel in ihrem Leib, schlug in regelmäßigen Intervallen und pulsierte durch jede noch so kleine Ader. Dieser Anblick war herrlich. Er offenbarte Dragoon stets, wie viel Leben und Temperament in dem Phönix brannte. Etwas worum er Dranzer manchmal sogar neidete. Doch immerhin war er, Dragoon, ihre größte Schwäche.

Der Drache nahm einen tiefen und langen Atemzug – was die Flamme in dem Phönix schrumpfen ließ. Sie wurde kleiner und kleiner.

Schwächer und schwächer.

Flackerte nur noch zaghaft und rang um Luft. Er saugte ihr den Atem förmlich aus dem Leib.

Die Körper der beiden Bit Beasts fingen zu leuchten an und schließlich begann auch der Phönix zu schrumpfen, während Dragoons Körper wuchs, bis Dranzer weniger als die Hälfte ihrer ursprünglichen Gestalt maß. Für einen Uralten, war Dranzer nun geradezu kümmerlich. Erst als ihre Flamme kurz vor dem ersticken war, beendete Dragoon sein Vorhaben.

Er kappte die Verbindung zu ihrem Körper und sah auf seine ruhende Gegnerin hinab.

„Bis bald Liebes“, er schmiegte seinen Kopf gegen ihre Halsbeuge, sog noch einmal ihren Duft auf. „Vielleicht lernst du es in deinem nächsten Leben…“

Sein Blick wanderte an ihrem Gesicht entlang, weiter bis zu den hellen Federn an ihrem Kopf. Er verspürte den Wunsch sich eine davon zu nehmen, bevor er sie töten und Dranzer für die nächsten Jahre in ihrem goldenen Ei verschwinden würde.
 

„Zu Ende gekuschelt du Arschloch?!“
 

Ein Stein traf Dragoons Schädel.

Nicht mit solcher Wucht um zu schmerzen, aber genug um es zu bemerken. Es war wie ein leichtes Ziehen. Der Drache wandte langsam den Kopf und staunte nicht schlecht. Da stand doch tatsächlich Takaos Freund Ray und bewarf ihn mit Steinen.

So etwas hatte er ja noch nie erlebt…

Es belustigte ihn und ließ ihn lächeln. Er gönnte sich eine kleine Pause, ließ sich auf dem Boden nieder und beobachtete interessiert die winzige Gestalt von Ray, die ihm üble Verwünschungen entgegen schrie und ihn mit all seiner Kraft gegen die riesige Klaue trat.

„Grins nicht so blöd du Schwein! Mit diesem mausernden Mistviech hast du Mitleid, aber Tyson verschlingst du, ohne mit der Wimper zu zucken! Und Kai? Was hat der dir überhaupt getan?! Ich bringe dich um du Scheißkerl!“

Ray schlug mit der Faust auf seine Pranken ein und hätte er einen Menschen vor sich gehabt, würde dieser sich sicherlich nun vor Schmerz krümmen, doch Dragoon musste Lachen. Für den Menschen klang es zwar wie ein Brüllen, doch Ray wich trotzdem keinen Zentimeter zurück. Er hatte Mut und Courage, das musste Dragoon neidlos eingestehen. Es wäre so leicht für ihn, Ray unter seiner Tatze zu zerquetschen, doch der Junge verschwendete keinen Gedanken daran. Er ließ die Schnauze neugierig zu dem Kind hinabsinken, dass ihm mit einem wütenden Aufschrei dagegen schlug und brüllte:

„Ja genau du Arschloch! Friss mich doch! Das kannst du doch so gut, du Verräter!“

Takaos anderer Freund kam mit leerem Blick auf Ray zugetorkelt. Als Dragoon seinen Kiefer weit aufriss, riss er die Augen auf und rannte los.

„Nein Ray! Komm zurück!“

Doch der schrie nur wütend, schimpfte und tobte, schlug nach Dragoons Schnauze, bis ihm zornige Tränen aus den Augen traten. Immer wieder beteuerte er wie sehr er den Drachen hasste. Doch als er sah, dass der Drache keine Anstalten machte ihn zu fressen, stattdessen würgende Laute von sich gab, stoppte er.

„Was zum…“, er hielt inne und blickte in den Rachen.

Dragoon schnaubte und würgte. Bis ein Schwall Galle aus seinem Mund kam und auf Ray hinabplatschte. Der Junge fluchte angeekelt, wischte sich die Flüssigkeit aus dem Gesicht und schüttelte sich verärgert. Ein weiterer Schwall folgte und Ray sprang erschrocken zurück, doch schon plumpsten zwei Körper herab und begruben den Jungen unter sich.

Max blieb wie angewurzelt stehen.

„Oh mein…“, ließ er den Satz unbeendet.

Er lachte laut auf und rannte voller Freude auf den Bündel zusammen gewürfelter Körper zu. Dann umarmte er jeden von ihnen, ganz gleich ob er sich bis oben hin versaute und als er Tysons verwirrte Stimme hörte, klang es wie Musik in seinen Ohren.
 


 

*
 

„Kenny! Mach sofort die Tür auf!“, donnerte Hitoshis Stimme durch den Flur des Hochhauses. Er hämmerte mit der bloßen Faust gegen die Wohnungstür und wurde von Minute zu Minute wütender. Wenn ihm nicht auf der Stelle jemand öffnen würde, konnte er für nichts garantieren.

„Ich weiß genau dass du da bist! Ich habe bei dir in der Firma angerufen. Ich rate dir die Tür aufzumachen, sonst erzähle ich deinem Chef das du blau machst!“

Zum Blau machen fehlte Kenny seiner Erfahrung nach der Schneid, aber er wusste, dass er einen empfindlichen Nerv damit traf. Es polterte in der Wohnung, ein Stöhnen drang zu ihm hinaus, dann öffnete sich die Tür einen spaltweit und Kenny schielte hinaus.

Im ersten Moment erschrak Hitoshi.

„Chef?“, fragte er mit großen Augen.

„Hiro?“, fragte der mit noch größeren.

Dann beide zusammen…

„Wie siehst du denn aus?!“

Stille.

„Du hast dir die Haare geschnitten. Du siehst jetzt echt schick aus!“

„Und du echt scheiße…“

Erst als Kenny die Kinnlade runterklappte merkte Hiro was er gesagt hatte. Er schüttelte den Kopf um weitere Worte dieser Art abzuschütteln. In der ersten Schocksekunde war er ehrlicher gewesen als beabsichtigt. Kenny hatte tiefe Augenringe, sein Gesicht war blass und er stank bestialisch nach Alkohol, während die dunkelbraunen Strähnen fettig auf der Stirn klebten. Seine Kleidung saß locker und sein Hemd hatte Flecken, deren Ursprung er lieber nicht hinterfragen wollte – Hiro wollte nicht wissen wie lange Kenny es schon trug.

„Wo ist Tyson?“, kam er auf den Punkt.

„Bei euch zuhause? Mann, woher soll ich das wissen?! Ich hab ihn nicht mit GPS ausgestattet!“, der Chef war eingeschnappt. Eindeutig. „Ruf ihn doch einfach an…“

Der Türspalt wurde immer schmaler, doch Hitoshi schob den Fuß dazwischen.

„Er ist nicht zuhause. Sonst wäre ich nicht hier!“, schnauzte er erbost. „Und denk nicht daran mir die Tür vor der Nase zuzuschlagen!“

„Warst du schon immer so herrisch?“, fragte Kenny kopfschüttelnd.

„Ich mache mir Sorgen um Tyson. Heute Morgen war-…“

„Wow! Auszeit… Du machst dir Sorgen?!“, fuhr der Chef dazwischen. „Seid wann denn das? Sonst meldest du dich jedes Schaltjahr!“

Kenny hing schon immer an Tyson, deshalb wunderte es Hitoshi nicht, dass er auf dessen Seite stand. Wahrscheinlich traf er mit dieser Bemerkung sogar ins Schwarze. Was ihn aber doch kränkte war, mit was für einem abfälligen Ton der Chef zu ihm sprach. Er hatte ihn immer als höflichen Jungen in Erinnerung gehabt, nun schien der kleine Angsthase von damals aber jeglichen Respekt vor ihm verloren zu haben.

„Hiro, geh jetzt bitte. Ich habe einen echt fiesen Kater. Also lass mich gefälligst schlafen…“

„Kenny, bitte. Tyson ist seit gestern verschwunden und…“

„Und plötzlich haben sich deine brüderlichen Gefühle eingeschaltet und du wirst heute Nacht kein Auge zubekommen, bis er friedlich in seinem Bettchen schlummert.“, winkte der nur müde ab, während er sich über seine Augenringe rieb. „Meine Güte, Hiro. Tyson ist früher mitunter tagelang nicht nachhause gekommen. Wenn du dich mehr mit ihm befasst hättest, wüsstest du das. Bestimmt ist er bei einem Freund oder hat eine Frau abgeschleppt…“

Hitoshis Brauen sprangen in die Höhe. Wären sie nicht am Gesicht festgewachsen gewesen, hätten sie jetzt zwei Löcher in die Decke geschossen.

Sein kleiner Bruder war ein Weiberheld?

Der kleine, gutgläubige und korrekte Tyson – ein Macho?!

„Wir haben einpaar Dinge zu bereden. Lass mich rein.“, forderte er brüsk.

„Nichts da! Ich geh jetzt pennen. Gute Nacht.“ Dann blickte Kenny auf seine Uhr und korrigiert sich: „Oder besser gesagt, Guten Mittag. Ich hau mich hin.“

„Chef! Hast du heute schon mal die Nachrichten geschaut? Weißt du überhaupt was los ist?“

„Bye bye!“

BAMM

Die Tür war zu und Hitoshi blieb verlassen davor zurück.

Er hätte toben, schreien und wüten können. Stattdessen schüttelte er nur resignierend den Kopf und schritt den Flur wieder zurück zum Aufzug.
 

Wenn du dich mehr mit ihm befasst hättest, wüsstest du das.
 

Der Weg zu seinem Wagen dauerte nur zwei Minuten. Für Hitoshi war es aber wie eine Ewigkeit. Kennys Satz spukte durch seinen Kopf und er fragte sich, ob er wirklich zu wenig über Tyson wusste.

Als er sich hinters Steuer setzte, hielt er einen Moment inne und dachte nach.

Es stimmte, ja… Er hatte ihn in den letzten zehn Jahren vernachlässigt. Sein Bruder hatte sich anfangs bemüht, den Kontakt aufrecht zu erhalten, aber ihm war so vieles wichtiger gewesen. Tyson war ein Teenager und seine Geschichten am Telefon langweilten Hitoshi. Er war schließlich mit seinem Studium beschäftigt. Danach hätte er für den Jungen auch noch Zeit gehabt. Doch aus dem danach wurde nichts…

Er lernte seine Verlobte kennen, wollte bald eine Familie gründen und in das Geschäft seines Schwiegervaters einsteigen – dessen Erwartungen er gerecht werden musste.

Nun war Tyson zweiundzwanzig, steckte in Schwierigkeiten, war spurlos verschwunden und ließ Hitoshi, scheinbar seit längerem Zeitraum nicht mehr, an seinem Leben teil haben.

Ein Seufzen erfüllte den Wagen, gefolgt von einem Klingen…

Hitoshi griff zum Beifahrersitz, schnappte sich sein Handy und klappte es auf.

„Ja.“

„Wo bist du?!“

„Kenny?“

„Hast du die Nachrichten angeschaut?“

„Woher hast du meine Nummer?“

„Vergiss die Nummer! Wie ich rangekommen bin ist sowieso illegal! Tyson wird gesucht! Bei Kai hat es gebrannt! Ray und Max sind auch verschwunden! Wenn Daichi jetzt noch schwanger ist und Hiromi ein Vollbart wächst, dreh ich durch!“

„Komm runter. Genau deshalb wollte ich mit dir-…“

„Warum weckt mich niemand?!“

„Ich habe dich doch geweckt!“

„Warum nicht früher?! Was ist das für ein beschissener Albtraum!“

„Komm endlich runter, Junge! Dein Gequake nervt!“

„Ich glaub das alles nicht…“

Hitoshi hörte wie Kenny am anderen Ende der Leitung mehrmals keuchend einatmete. Das fehlte ihm gerade noch. Wenn das so weiterging sah er schon die Schlagzeilen von morgen:

Tokio - Junger Abteilungsleiter von Microsoft gestorben.

Grund: Herzversagen durch Stress. Ausnahmsweise nicht durch den Beruf, sondern durch den falschen Freundeskreis hervorgerufen. Mediziner warnen: Freunde können zu Herz- und Atembeschwerden führen.

Tatsächlich hörte sich Kenny an, als hätte er einen akuten Asthmaanfall. Hitoshi ließ ihm einpaar Sekunden um sich zu beruhigen, erst dann hakte er vorsichtig nach.

„Du weißt also nicht wo sich Tyson derzeit aufhält?“

„Natürlich nicht! Sonst wäre ich doch nicht so geschockt. Oje, ich muss ins Krankenhaus. Vielleicht sind sie bei Kai… Scheiße bei Kai hat es echt gebrannt. Ich fasse es immer noch nicht. Verdammt, verdammt…“

„Kenny bitte beruhige dich“, wies ihn Hitoshi noch einmal zurecht. Trotzdem hörte er den Chef noch leise wirre Worte der Fassungslosigkeit vor sich her murren. Außerdem klang es als würde sich Kenny nebenbei ein frisches Shirt über den Kopf ziehen.

„Ich will dir keinen Nervenkollaps verschaffen, aber du wirst jetzt niemanden finden. Kai ist auch nicht im Krankenhaus. Selbst mein Großvater ist nicht mehr dort… Alle sind wie vom Erdboden verschluckt.“

„Ich muss mich setzen. Mein Kreislauf spinnt.“

„Was?“

Drei Sekunden später hörte Hitoshi, wie der Hörer auf den Boden knallte und Kenny sich erbrach.
 


 

*
 

Tyson brauchte eine ganze Weile, bis er begriff, was er soeben erlebt hatte.

Er war im Magen eines Bit Beasts gewesen.

Auch nicht irgendeinem Bit Beast – in seinem Dragoon!

Auf diese Erfahrung hätte er zwar getrost verzichten können, doch im Nachhinein betrachtet, ließ sich mit dieser Geschichte richtig gut protzen. Falls sich jemand fand, der ihm das glaubte. Er grinste spitzbübisch und blickte auf Kai hinab, der in seiner sechsjährigen Kindergestalt in seinen Armen ruhte.

Sie beide waren in einem Drachen gewesen. Himmel, das war unglaublich!

Eine riesige Schnauze beugte sich über die Gruppe und Dragoon stupste Tyson sanft gegen den Hinterkopf. In diesem Moment konnte dieser einfach nicht anders… Er reichte Kai vorsichtig an Max weiter, der das kleine Kind sorgenvoll musterte, sprang auf und umarmte die riesige Schnauze seines Bit Beasts.

„Du bist doch wirklich der Wahnsinn!“, schrie er begeistert auf und lachte. „Du hast uns vor Dranzer gerettet! Dieses Miststück hätte uns beinahe in ein Häufchen Asche verwandelt. Und ich dachte, du willst uns fressen…“

Neben ihm rümpfte Ray die Nase und schnaubte verächtlich.

„Ist ja auch das Mindeste.“, murmelte er vor sich her.

„Sei nicht so Ray. Wer es dir lieber wenn wir tot wären?“

„Nein! Natürlich nicht!“, schreckte er auf. „Aber überleg doch mal, wem wir das alles verdanken.“ Er hob herausfordernd das Kinn und blickte Dragoon vorwurfsvoll an.

„Im Prinzip ist das alles deine Schuld! Du steckst doch mit den anderen unter einer Decke! Bist du jetzt zufrieden? Tyson und Kai hätten tot sein können…“

„Er hat es nicht soweit kommen lassen.“, verteidigte Tyson sein Bit Beast „Das war auch bestimmt nicht seine Absicht.“

„Sei doch nicht so blauäugig!“, schrie Ray zornig auf. „Das ist doch genau was er will! Du fängst wieder an dein Bit Beast als etwas Großartiges zu sehen, dabei sind sie doch nichts weiter als Monster. Sieh dich doch mal um! Sieh dir an, was sie mit dem Haus gemacht haben! Erinnere dich daran, was aus den Hyänen geworden ist!“

Das Bild der Hyänenmeute schoss in seinen Kopf und Tyson zuckte zurück.

Die Schreie der Bit Beast, wie sie im Feuerregen verendeten oder von den Erdspalten verschluckt wurden. Die Phantome die Dranzer in der Innenstadt getötet hatte. Draciel wie sie Max in Judys Gestalt auf dem Friedhof aufgelauert hatte… Sie hatte Judy getötet.

Draciel hatte einen Menschen ermordet.

Ein Bit Beast war in der Lage zu töten.

Plötzlich stöhnte Tyson gequält auf.

Eine Erinnerung nach der anderen quoll langsam in seinem Bewusstsein zurück, als wäre sein Kopf eine versiegte Quelle gewesen, die auf wundersame Weise wieder Wasser spendete. Die Bilder tänzelten vor seinem inneren Auge umher und er hatte Schwierigkeiten, sie zeitlich richtig einzuordnen. Sein altes Leben…

Er erinnerte sich wieder daran, auch wenn ihm die Erinnerungen so unreal vorkamen.

Wie konnte es sein, dass er zweiundzwanzig war, wenn er doch vor einpaar Sekunden noch steif und fest behauptet hätte, dass er ein dreizehnjähriger Knirps war?

Ein Bild brannte sich in seine Seele, wie keines der anderen zuvor.

Sein Großvater…

Er lag totenblass vor ihm, auf dem Boden ihres Hauses und schnappte nach Luft. Seine Hände gruben sich in seinen Hals, als wolle er sich krampfhaft Sauerstoff zuführen, auch wenn das bedeutete, sich den eigenen Hals aufzureißen.

„Du…“, presste Tyson schließlich hervor.

Er tat einen Schritt zurück und stierte sein Bit Beast geschockt an.

Dragoon erhob sein Haupt. Sein Blick war ernst… aber auch wissend

„Du wolltest meinen Großvater töten!“, schrie Tyson auf. Er konnte seinen Zorn kaum unterdrücken und seine Faust bebte. Egal wie viele Meter Dragoon maß, er hatte Mühe nicht vor Wut schreiend auf dessen Kopf einzuschlagen.

Anstatt einer Antwort, blickte ihm Dragoons großes Augenpaar lange entgegen. Seine dunklen Pupillen wirkten wie der Nachthimmel. Düster, undurchdringlich und geheimnisvoll. Trotz des Kampfes hatte seine schuppige Haut seinen Glanz nicht verloren. Jede noch so kleine Bewegung ließ die Kraft und Ausdauer hinter dem gepanzerten Leib erahnen. Dann reckte das Bit Beast seine Schnauze in die Höhe und hob mit einem Sprung seiner starken Hinterbeine vom Erdboden ab. Ein mächtiger Sturm erfüllte die Umgebung. Tyson hielt sich die Arme schützend vor das Gesicht, kämpfte gegen den Sturm und schrie gegen das Tosen um ihn herum an: „Bleib hier! Wo fliegst du hin?! Bring uns nachhause!“

Zwecklos…

Dragoons schlangenhafter Körper hielt nur vor dem besiegten Phönix noch einmal. Er riss den Kiefer auf und die Gruppe beobachtete entsetzt, wie der Drache Dranzer in einem Biss verschlang, als wäre sie ein mundgerechter Happen. Dann stieß er sich vom Boden ab und verschwand im trüben Himmel, als ob sein Körper mit dem nächsten Windhauch fortgespült wurde.

Als Tyson einsah, dass er keine Chance hatte ihn einzuholen, blieb er stehen und brüllte seinen Zorn geradewegs heraus: „Verräter!“

Sein anklagender Schrei schallte durch den Ort, wie ein Echo.

Da flog das Wesen davon, welches er in all den Jahren für seinen Freund gehalten hatte und dachte wohl, ihm nicht einmal eine Antwort schuldig zu sein. Das machte Tyson rasend.

Dragoon hatte sich weder gerechtfertigt, noch eine Entschuldigung für seine Tat ausgesprochen. Er wusste dass er Tyson mit seinem Angriff auf seinen Großvater verletzt hatte, doch es war ihm egal. Stattdessen ließ er ihn stehen als wäre er ihm keine Rechenschaft schuldig… als hätte Tyson seine Entscheidung nicht zu hinterfragen.

„Das hat keinen Zweck, Junge.“

Allegro war zu seinen Füßen gehüpft und blickte kopfschüttelnd zu der Stelle am Horizont, an der Dragoon in die Nebeldecke eingetaucht war.

„Er wird seinen Fehler nie begreifen. Die Uralten sind es gewöhnt, dass ihre Entscheidungen nicht angezweifelt werden. Für ihn bist du der Verräter…“

„Untereinander scheinen sie sich aber nicht zu trauen“, warf Ray nachdenklich ein, der ebenfalls mit Max nachkam. „Immerhin ist dadurch Dranzer tot. Ein Bit Beast weniger, dass uns gefährlich werden könnte.“

„Nicht zu vergessen, dass wir Kai wieder haben.“ Max blickte glücklich auf das schlafende Kind in seinen Armen hinab und die Gruppe nickte. Eine große Sorge war von ihren Schultern gefallen. Sie waren alle wieder beisammen. Zuvor war es für sie nicht in Frage gekommen, sich auf den Ausweg aus dieser Welt zu konzentrieren, doch da sie nun endlich wieder vereint waren, konnten sie diesen Teil endlich in Angriff nehmen.

„Warum wacht er nicht auf?“, fragte Max irritiert. Er rüttelte Kai zaghaft, doch außer einer kleinen Regung war ihm nichts zu entlocken. „Der liegt hier wie betäubt. So träge kenne ich ihn gar nicht.“

Seine Freunde wollten sich über Kai beugen, um ihn sich genauer anzusehen, als ein Krachen die Umgebung erfüllte. Die Gruppe blickte zu den Trümmern des Hauses, die mit einem lauten Donnern im Erdboden versanken.

„Wir gehen wohl besser!“, warf Tyson hastig ein.

„Und zwar schnell!“, setzte Ray noch hinzu, als einige der Spalten sich knackend auf sie zu bewegten. Dann nahmen die Freunde ihre Beine in die Hand und rannten vom Grundstück. Das Rumpeln des sinkenden Gebäudes schallte noch lange durch die Straßen. Einige der umliegenden Grundstücke wurden ebenfalls hinabgesogen, gemeinsam mit den Gebäuden darauf. Sie kippten in die sich ausbreitende Lava, die in ihren wandernden Spalten aussah, als würde sie nach allem greifen, was ihr in den Weg kam. Selbst die Straße hinter ihnen blieb nicht verschont.

Als Tyson einen letzten Blick auf das Hiwatari Anwesen warf, schaute nur noch ein Stückchen Dach qualmend vom Boden heraus und einen Wimpernschlag später, fiel es in sich zusammen, wurde zu Asche und vom Wind davon getragen. Die Nebeldecke verdichtete sich auf dem Grundstück und legte sich über das Szenario - wie ein Mantel der Vergessenheit.
 


 

*
 

Ich habe auf einer anderen Seite einen Kommentar bekommen, den ich wirklich sehr interessant finde und so nicht unbeachtet lassen möchte. Falls hier jemand also noch was lernen will, hier der Kommi von dieser Userin aus fanfiktion.de:
 

...Der begriff Halloween leitet sich von All Hallows Eve (Abend vor Allerheiligen) ab und ist ein christlicher Begriff und hat mit dem Ursprünglichen Fest nichts zu tun, auch wenn es unter dem Begriff Halloween noch immer gefeiert wird. Ja die Kirche hat es letztendlich nicht geschaft die alten Religionen zu vertreiben, obwohl sie alles dran gestzt hat und es heute noch immer tut. Deine darstellung von Yggdrasil gefällt mit sehr gut. Da hast du den Nagel auf den Kopf getroffen. Man kann die einzelnen Abschnitte Yggdrrasils tatsächlich mit den Schichten aus denen sich unser Heimatplanet zusammensetzt vergleichen. Du hast nicht zufällig Hexenblut in den Adern?

Noch etwas für diue FF7 Fans die diesen Kommi lesen: Yggdrasil, also der Baum des Lebens oder auch Weltenbaum, heißt in der Kabbala Sephirot. (weiter Infos hier: http://cetraconnection.de/final-fantasy-vii/kaballah/)...
 

Man lernt niemals aus. Falls ihr solche Infos habt bitte gleich her damit. Mythologie lässt sich unheimlich gut in Geschichten einbauen und ich muss zugeben, dass ich stundenlang auf Wikipedia Seiten die alten Sagen lesen könnte.
 

Und ich bin übrigens keine Hexe... xD
 

LG Eris

Den Weg zur Stadt schwieg die Gruppe. Jeder von ihnen hing seinen eigenen Gedanken nach, was mitunter daran lag, dass ihre Erinnerungen langsam zurückkamen. Dranzers Tod schien diesen Effekt ausgelöst zu haben, als wäre ein Fluch der über ihnen lag gebrochen.

Sie waren alle Anfang Zwanzig, hatten einen Job und Ray war sogar dabei, eine Familie zu gründen. Das waren Informationen die erst einmal verdaut werden mussten…

Erschwerend kam noch hinzu, dass sich keiner von ihnen noch wie ein Erwachsener fühlte.

Wenn sie auf ihre Hände blickten, waren es Kinderhände.

Wenn sie sprachen, schallten jugendliche Stimmen durch die Gassen.

Ihr altes Leben schien ihnen so fern, als wäre es nur noch ein Traum gewesen.

Vor einer Boutique hielt Tyson und begutachtete sein Spiegelbild.

Mal von rechts, mal wieder von links.

Skeptisch blickte er sich selbst an, ungläubig ob er wirklich gefangen in einem Kinderkörper oder nicht vielleicht doch nur ein Kind war. Die Unterschiede zu seinem Erwachsenen Alter Ego waren enorm. Bei dem Gedanken, dass er als zweiundzwanzigjähriger Mann ein Mädchenschwarm war, spielte ein spitzbübisches Grinsen um seinen Mundwinkel. Unweigerlich drangen einpaar Erinnerungsfetzen, der besonders intimen Art, in sein Gedächtnis und er konnte nicht anders, als stolz die Brust zu heben. Wer seine jetzige Erscheinung sah, hätte ihm wohl niemals einen solchen Lebenswandel zugetraut.

Er wurde abrupt aus seinen Überlegungen gerissen, als Maxs Silhouette ebenfalls auf das Schaufenster fiel. Seine Gangart war schwer und sein Gesicht ernst. Bis vor kurzem war Max der Überzeugung gewesen, dass seine Mutter noch lebte, nun kehrte die Realität zurück. Tyson beobachtete heimlich, wie Max auf Kai hinabblickte, dessen Glieder träge hinabbaumelten. Ihr Freund war bis jetzt nicht zu Bewusstsein gekommen.

Er schlief ruhig in Maxs Armen, als wolle er gar nicht mehr aufwachen.

Dann, als würde das Kind ihm einen sicheren Halt geben, drückte Max ihn fester an sich.

Um nichts auf der Welt hätte Tyson jetzt in Maxs Haut stecken wollen…
 

Nach einer sinnlosen Stunde des Umherirrens, machte der Trott schließlich Rast. Sie hatten nach wie vor keine Ahnung wo sich der Ausgang aus der Irrlichterwelt befand. Es war ja schließlich nicht so als ob er ausgeschildert war. Allegro konnte ihnen diesbezüglich auch nicht weiterhelfen.

„Wüsste ich, wie man von hier verschwindet, hätte ich es schon längst getan.“, versicherte er ihnen. Wie sie anschließend erfuhren, trieben Strommäuse zwar elektrische Geräte in der Menschenwelt an, aber nur so lange, bis ihre Energie, die sie von den Uralten bezogen, aufgebracht war. Danach mussten sie umgehend wieder in die Irrlichterwelt zurückkommen, sonst verendeten sie qualvoll. Nur ein Bit Beast, das eigene Energieressourcen besaß, konnte dauerhaft bei den Menschen leben. Deshalb hatte es Allegro nie geschafft, von hier zu verschwinden.

So gesehen, stellten also er und seine Sippe, das einfache Arbeitervolk da und wurden nur dirigiert. Tyson passte dieser Gedanke gar nicht. Vor allem missfiel ihm, dass ausgerechnet sein Bit Beast diesen Zustand guthieß. Sie passierten gerade eine Brücke, die zum Peninsula Tokyo führte, als sich Tyson seufzend auf einer Sitzbank niederließ.

„Das führt doch zu nichts. Wir können nicht weiterhin so planlos durch die Stadt laufen und darauf hoffen, dass uns der Ausgang zufällig in den Schoß fällt. Last uns mal eine Pause machen und uns überlegen wie es weitergehen soll.“

Ray nickte und tat es Tyson gleich, indem er sich setzte. Seine Füße schmerzten, er war müde, Hunger und Durst plagte ebenfalls. Es wäre auch mal wieder an der Zeit etwas zu essen, wenn ihnen hier schon die Fünf Gänge Menüs quasi hinterher geworfen wurden.

„Mir ist gerade etwas eingefallen“, meinte Max. Alle Augenpaare wanderten zu ihm. Seit einiger Zeit hatte sich ihr Freund nicht mehr zu Wort gemeldet. Das erste Mal sprach er jetzt wieder. „Hat Dizzy nicht zu uns gesagt, dass die Schwelle zur Irrlichterwelt, am Halloween Wochenende, immer kleiner wird?“

Die Gruppe nickte.

„Was passiert, wenn wir es bis zum einunddreißigsten Oktober nicht hier raus schaffen?“

Stille kehrte ein.

Und als sich die Erkenntnis in ihren Köpfen formte, klappte Tyson und Ray der Mund auf.

Daran hatten sie nicht im Entferntesten Gedacht.

„Ja genau! Was wird dann aus uns?“, rief Tyson erschrocken aus. „Dizzy hat doch gesagt, dass unsere Bit Beast nur an Halloween zuschlagen konnten, weil die Schwelle da am schwächsten ist. Heißt das, dass es für uns nach Halloween schwieriger wird, nachhause zu kommen?“

„Entweder das oder es ist dann unmöglich.“, antwortete Ray nachdenklich. Er kaute nervös auf seiner Unterlippe und in seinem Kopf schienen die kleinen Zahnräder auf Hochtouren zu rattern. „Wir müssen verschwinden. Egal wie, es muss schnell gehen.“

Er schaute auf seine Uhr und bemerkte, dass sie stillstand.

„Na toll. Weiß jemand wie spät es ist? Wie viel Zeit haben wir bisher vertrödelt?“

Tyson wollte antworten, doch dann stockte er…

Er meinte zu glauben, dass sie bisher an keiner einzigen Uhr vorbeigekommen waren. Das war in Tokyo schier unmöglich! In dieser Metropole wurden riesige Bildschirme an Häuserwände befestigt, um stündlich die Nachrichten zu übermitteln. Vor zwei Jahren, war er sogar in einem ziemlich schrägen Club, über eine Toilettenschüssel gestolpert, die einem mit Angelina Jolies Stimme die Uhrzeit verkündete, wenn man Wasser abließ. Er wandte sich zu Allegro, der es sich auf der Lehne der Bank bequem gemacht hatte und fragte:

„Woran merkt ihr in der Irrlichterwelt wie viel Uhr es ist?“

„Uhr? Sind das diese komischen Ziffernblätter, die ihr Menschen benutzt?“

„J-Jah! Jetzt sag mir nicht, du weißt nicht, wozu die gut sind?!“

„Ich habe schon mal vier oder fünf mit Strom versorgt, aber einen tieferen Sinn, sah ich in diesen Geräten nicht.“

Tyson jaulte auf und vergrub das Gesicht in den Händen.

„Das ist ein Alptraum“, hörten sie seine Stimme dumpf schallen.

„Wo liegt denn das Problem?“, fragte Allegro verständnislos.

Sie hätten es ihm gerne gesagt, aber wie sollte man etwas so simples und uraltes wie die Zeit erklären? Als keine Antwort kam, schüttelte die Maus den Kopf und meinte:

„Ihr seid mir schon ein komischer Haufen. Aber wenn es euch weiterhilft, ein Tag in der Menschenwelt, entspricht zwei in unserer Welt.“

Ein erleichtertes Seufzen machte die Runde, gefolgt von einigen Kommentaren:

„Das hättest du ruhig früher sagen können!“

„Gott sei Dank!“

„Ich dachte schon es wäre zu spät…“

Allegro hüpfte aufgeregt auf und ab.

„Ich bin empört, meine Herren! Das ist Allgemeinwissen! So etwas bekommen wir Strommäuse von klein auf gepredigt und ihr wollt mir weiß machen, dass ihr das nicht wusstet?“

„Natürlich nicht“, entgegnete Ray. „Wir sind schließlich nicht von hier.“

„Das ist doch keine Entschuldigung! Ich bin auch nicht von eurer Welt, trotzdem weiß ich wie viele Tage bei uns vergehen müssen, bis auch bei euch die Nacht hereinbricht.“

„Das ist aber keine Information, die man sich einfach mal so aus dem Internet zieht.“, verteidigte sich Tyson lachend und kratzte sich am Nacken.

Für Allegro mochte dieser Zustand normal sein, aber für sie war diese Umgebung vollkommen neu, auch wenn sie sich hinter der Fassade ihrer eigenen Welt verbarg.

„Derjenige der gewillt ist, wissen zu häufen, findet immer einen Weg, es sich anzueignen.“, sprach Allegro voller Inbrunst und setzte sich dabei in die Pose eines Dichters, der sein Werk vor offenem Publikum preisgab. Von Ray und Max kam ein verkniffenes Lachen, während Tyson schmunzelnd mit den Augen rollte.

„Na schön, Sokrates. Dann lass uns doch bitte einen Happen deiner geballten Power aus Weisheit abbekommen.“, er deutete hinauf. „Von dem ganzen Nebel, weiß man gar nicht ob es Tag oder Nacht ist. Wie spät ist es jetzt?“

Allegro erhob sich auf seine Hinterpfoten und schnüffelte in der Luft.

„Riecht nach Abendrot, wenn ihr mich fragt.“

Ray lachte laut auf.

„Wie riecht denn bitte schön Abendrot?“

„Na wie Abendrot eben.“, meinte Allegro Schulter zuckend. „Nach der Müdigkeit fleißiger Geister, die sich für die Nachtruhe vorbereiten und den Geschichten, den sie den Jüngeren erzählen, wenn sei gemeinsam in ihren Schlafhöhlen liegen. Nach der Sonne, die vom Horizont verschluckt wird und dem Mond, der seine tanzenden Sternenschare hinter sich herzieht, um sich auf den Weg zum Himmel zu machen.“

Wären ihre Gesichter aus Papier, hätte sich jemand die Mühe machen müssen, ihnen jeweils ein Fragezeichen aufzumalen. Jeder von ihnen sah verdatterter drein, als der andere. Sie hatten niemals mit so einer präzisen Antwort gerechnet. Tyson versuchte krampfhaft, auch nur eines der Dinge zu erriechen, die Allegro aufgezählt hatte, aber bis auf den dunstigen Nebel, konnte er nichts ausmachen. Er kratzte sich ratlos am Kopf und meinte schließlich:

„Tja, wie ihr hört ist es eindeutig Nacht Jungs.“, er wandte sich an seine Freunde und meinte müde. „Ich will genauso von hier weg wie ihr, aber ich kann meine Augen bald nicht mehr aufhalten. Wollen wir nicht einwenig Schlaf nachholen?“

„Von mir aus gerne. Kai wird so langsam schwer, “ entgegnete Max und rückte das kleine Kind in seinen Armen in eine angenehmere Position. „Aber wohin?“

„War an dieser Stelle nicht irgendwo unser Hotel? Vielleicht existiert es hier auch?“, fragte Ray.

„Ja schon. Aber…“, Max zog den Kopf leicht zwischen die Schultern. „Mir graut es davor, wenn ein Bit Beast dort auftaucht. Was ist, wenn das Gebäude genauso in sich zusammenbricht, wie das Hiwatari Anwesen? Und wir schlafen darin noch…“
 

Stille.
 

„Wir sollten draußen schlafen.“, meinte Tyson eilig. „Hier kann uns schlimmstenfalls der Himmel auf den Kopf fallen. Im Hotel wissen wir sowieso nicht, was sich draußen abspielt. Wenn ein Bit Beast sich uns nähert, können wir nicht einmal rechtzeitig schalten.“

„Aber hier draußen sitzen wir doch auch wie auf dem Präsentier-…“, Ray stoppte abrupt und fixierte einen kleinen Lieferwagen, der etwas weiter hinten am Bürgersteig parkte.
 

Die Bequemlichkeiten zum Schlafen, hatte sich die Gruppe schnell aus den örtlichen Hotels zusammengeklaubt und in den Van verfrachtet, der natürlich, wie alle anderen Autos hier auch, offen stand. Als kleinen Bonus für die Torturen der letzten Stunden, hatten sie sich zusätzlich noch mit Proviant – vor allem Süßigkeiten – eingedeckt. Die gesichtslosen Phantome, an der Rezeption des Hotels, hatten zwar entsetzt, wegen ihrem Vorhaben, die Hände über den Kopf geschlagen, doch Tyson hatte feixend auf ihr Recht als VIPs plädiert.

Als der Van mit allem ausgestattet war, was das Herz begehrte, teilte die Gruppe eine Nachtwache ein – Vorsicht war bekannterweise besser als Nachsicht. Ihr Plan bestand darin, bei der kleinsten Auffälligkeit den Motor anzuschmeißen und ein eventuell angreifendes Bit Beast ihren Staub fressen zu lassen. Die erste Schicht wollte Ray übernehmen. Dazu setzte er sich auf die Fahrerseite, wärmte sich über einem kleinen Gaskocher eine Nudelsuppe auf, während Allegro ihm Gesellschaft leistete. Die Springmaus meinte, dass sie nicht jeden Tag auf Schlaf angewiesen war. Tyson beruhigte das insgeheim.

Wenn Allegro das Abendrot riechen konnte, dann sicherlich auch feindliche Bit Beasts.

Nach Ray würde Max die zweite Wache übernehmen und zuletzt Tyson. Hinten im Gepäckraum, hüllte sich der Rest der Gruppe, in die weichen Decken des Hotels, insgeheim dankbar darüber, dass sich jemand die Mühe gemacht hatte, Autos zu erfinden.

Der Abend hatte beinahe etwas von einem ihrer früheren Campingausflüge.
 

Das Letzte was Tyson ins Auge fasste, bevor er sich in die Kissen fallen ließ, war die Gestalt von Kai, den er und Max zwischen sich platziert hatten. Noch immer war der Junge nicht zu Bewusstsein gelangt. In ihm keimte der Verdacht auf, dass Kai nicht ohnmächtig, sondern in eine Art Koma gefallen war.

„Der wird schon wieder, Kumpel.“

Tyson sah zu Max, der ihn wohl heimlich beobachtet hatte.

Ein aufmunterndes Lächeln spielte um seinen Mund.

„Das ist Kai. Der steigt immer wie Phönix aus der Asche.“

Zwar schwang in seiner Stimme eine kleine Note Sorge mit, doch Tyson überhörte sie geflissentlich und tat, als ob Max Worte ihm die Angst genommen hätten – auch wenn dem nicht so wahr. Er wollte seinen Freund nicht noch mit seinen Problemen belasten…
 

Dass Max davon nämlich genug hatte, merkte er, kurz bevor dessen Wache an der Reihe war.

Mitten im Schlaf wurde Tyson durch ein leises Schluchzen geweckt. Er drehte sich vorsichtig zu Kai, doch bei ihm hatte sich nichts getan.

Dann konnte er im Dunkeln Rays Silhouette ausmachen, die neben Max kniete und leise auf ihn einsprach. Zwar lag er mit dem Rücken zu ihm, doch Tyson konnte sehen, wie Maxs Schultern bebten. Inzwischen flüsterte Ray tröstend auf Max ein und versicherte ihm, dass sich alles wieder zum Guten wenden würde.

„Was mache ich jetzt? Meine Mum ist tot…“, hörte er ihn schluchzen. Die Erinnerung war nun vollkommen zu ihm durchgedrungen und er wurde sich der Tragweite bewusst. „Ich war so ein Arschloch. Bei unserem letzten Telefonat habe ich sie nur angeschnauzt. Ich habe mich noch nicht einmal entschuldigt…“

„Du konntest es nicht wissen, Max. Es ist nicht deine Schuld.“, flüsterte Ray eindringlich auf ihn ein, um die anderen nicht zu wecken. Er hatte wohl nicht bemerkt dass Tyson wach war.

„Ich wünschte ich wäre bei Dad. Es muss ihm furchtbar gehen. Hoffentlich macht er sich keine Sorgen um mich.“ Max Schluchzen wurde leiser und er räusperte sich. Dann richtete er sich einwenig auf und sprach fast schon beschwörend. „Ray, wir müssen nachhause! Mein Vater hat meine Mutter schon verloren. Wenn ich jetzt auch noch verschwinde, hat er niemanden mehr. Ich muss unbedingt zurück!“

„Ich weiß Max.“ Tyson vernahm die Spur eines Lächelns in Rays Stimme. „Wir schaffen das. Ich verspreche es dir. Keiner von uns hätte geahnt dass wir Dranzer überleben, trotzdem haben wir es vollbracht.“ Er hörte wie Ray Max aufmunternd auf die Schultern klopfte. „Warum sollten wir es also nicht nachhause schaffen? Wir helfen dir, wann immer du uns brauchst. Sei es in der Irrlichterwelt, oder…“ Eine kurze Pause „ …wenn du in der Menschenwelt die Beerdigung vorbereiten musst. Sobald du glaubst, dir wächst alles über den Kopf, sagst du uns sofort Bescheid. Wir lassen dich nicht alleine, okay?“

„Okay.“

Wieder trat ein kurzes Schweigen ein, bis Max es mit belegter Stimme unterbrach:

„Danke, Ray.“

„Dafür brauchst du mir nicht danken. Wir haben alles als Team gemeistert. Jetzt meistern wir auch das – Deine Sorgen sind unsere.“

Tatsächlich meinte Tyson, dass Max daraufhin etwas ruhiger wurde und wer konnte es ihm verübeln? Ray hatte eine unerschütterliche Aura, er war ein Fels in der Brandung. Durch seine Ehekrise war dieser Fels zwar ins Wanken geraten, doch nun schien er wieder mit ganzer Macht anwesend zu sein. Diese Welt konnte noch so chaotisch und verwirrend sein, doch ihren Zusammenhalt konnte sie nicht zerstören.

Dieser Gedanke machte Tyson so glücklich, wie die Tatsache dass sie jetzt alle wieder vereint waren. Gefühlte zehn Minuten später stand Ray auf und ging wieder zurück in den Fahrerbereich. Tyson drehte sich noch einmal zu Max, etwas unsicher ob es seinem Freund nicht peinlich war, dass er seinen Gefühlsausbruch miterlebt hatte...

Der war aber vor Erschöpfung wieder eingeschlafen.
 

„Aufstehen, Tyson.“

Als er zum zweiten Mal die Augen öffnete, sah man Max die Trauer über seine verstorbene Mutter nicht mehr an. Entweder ging es ihm wirklich besser oder er war ein verdammt guter Schauspieler. Mit seinem typischen Strahlemann Lächeln meinte er nur:

„Du bist jetzt dran. Und nicht wieder einschlafen! Die Ausrede dass du nur deine Augen kurz ausruhen wolltest, kennen wir alle zu gut.“

Tyson seufzte, konnte sich ein Schmunzeln aber nicht verkneifen.

Als er sich streckte und die Decke von seinen Füßen strampelte, kam ihm der Vorfall von zuvor in den Sinn. Er überlegte noch, ob er Max darauf ansprechen sollte, aber da der es sich schon wieder auf seinem provisorischen Bett gemütlich machte, ließ er von dem Gedanken ab. Ihn pausenlos an den Tod seiner Mutter zu erinnern, schien Tyson nicht hilfreich.

Als er sich in den Fahrerbereich setzte und sich aus ihrem Proviant etwas zum Essen schnappte, dachte er an die Zeit zurück, als seine eigene Mutter gestorben war.
 

Damals war er anfangs von der Anteilnahme gerührt gewesen, aber irgendwann belastete es ihn immer mehr, vor allem wenn die Leute ihn mit ihren mitleidigen Blicken musterten. Der Tod seiner Mutter war dadurch tagtäglich präsent geworden. Er hörte Nachbarn darüber sprechen, wie elend es ihr doch ergangen war und sah sie schlagartig vor seinem inneren Auge wieder im Bett liegen, wo doch das Zimmer bereits leer stand.

Das Bild von ihrem ausgezehrten Gesicht und dem abgemagerten Körper, der Tag für Tag im Bett vor sich hin vegetierte, ließ sich immer schwieriger aus seinem Kopf verbannen. Dieses müde Lächeln das sie ihm schenkte – erschöpft von dem Kampf gegen die Krankheit, den sie jeden Tag aufs Neue aufgenommen hatte.

Irgendwann war es soweit gewesen, dass, wann immer er an ihrem leerstehenden Zimmer vorbei ging, das ständige Piepsen ihrer Geräte zu hören glaubte. Eines nachts - nachdem Tyson sich erneut von der einen Seite der Matratze auf die andere gequält hatte, nur um letztendlich doch resignierend aufzustehen, um zu seinem Bruder ins Bett zu kriechen - war er in der Finsternis des Flurs, an ihrer offenen Zimmertür vorbeigeschlichen. Übermüdet wie er war hatte er gedacht, seine tote Mutter erneut in ihrem Bett liegen zu sehen, angeschlossen an den Tropf, dessen Flüssigkeit in kleinen Perlen durch den Schlauch rollte und dabei im Mondschein schaurig funkelte.

Er hatte einen heulenden Laut von sich gegeben und war die letzten Schritte zum Zimmer seines Bruders gerannt. Hitoshi wachte entsetzt auf, als seine Tür plötzlich aufgerissen wurde und sein siebenjähriger Bruder weinend auf sein Bett zugestürmt kam, nur um unter seine Decke zu schlüpfen und sich dort zu einem schluchzenden Bündel zusammenzurollen.

Beide hatten in dieser Nacht kein Auge mehr zubekommen, weil Tyson nicht aufhören konnte zu weinen, aber auch nicht in der Lage war zu beschreiben, was ihn so aufgewühlt hatte.

An dem Trugbild in jenem Zimmer, war nichts schmerzhafter gewesen als das Gesicht seiner Mutter. Ihre eingefallenen Wangen, die schwarzen Strähnen und der trockene Mund, der sich wieder zu diesem kraftlosen Lächeln formte und ihn aufmunterte näher zu kommen. Erneut hatte er gedacht das Piepsen der Maschinen zu hören, dieses Mal aber vom Röcheln ihres sterbenden Atems begleitet.

Diese Erinnerungen hatten sich in Tysons Kopf seit damals eingebrannt…

Dabei hatte er sich damals geschworen, nicht ihren Tod, sondern ihr Leben im Gedächtnis zu behalten. Das Gegenteil war nun der Fall.
 

Tyson sinnierte noch einige Zeit über diese Tage nach, als Allegro vom Gepäckraum zurück gehüpft kam. Mit einem hohen Satz sprang die schwarze Springmaus auf die Autoarmatur und hockte sich hin. Nachdenklich wiegte er den Kopf hin und her und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Also ich weiß nicht… Dieses Kind… Ein so tiefer Schlaf scheint mir recht unnatürlich.“

Tyson schreckte aus seinen Gedanken.

„Wie bitte?“

„Dieses neue Kind. Dieser Kai…“

Tyson drehte sich auf seinem Sitz und spähte durch die Tür dahinter, in den Gepäckraum. Kai lag noch immer still auf seiner Matte und hatte sich keinen Zentimeter von der Stelle gerührt. Wie er dort schlief, mit seiner blassen Haut und dem ausdruckslosen Gesicht, hätte man ihn für eine Puppe halten können.

„Ich weiß was du meinst.“, antwortete er. „Der Gedanke geht mir schon länger durch den Kopf.“

„Das ist einer von Dranzers Zaubern. Es kann nicht anders sein.“

„Aber… Sie ist doch tot.“

„Warum sollte das eine Rolle spielen? Fluch ist Fluch…“

In den Märchen die Tyson kannte war das nie der Fall gewesen. War die Hexe erst einmal weg, ging es allen Verzauberten wieder blendend. Da hatten die Gebrüder Grimm wohl einen Trugschluss in die Welt gesetzt.

„Also, bevor wir von einem Fluch ausgehen, will ich erst einmal etwas ausprobieren.“

Tyson erhob sich und betrat den Laderaum. Leise, um ihn nicht zu wecken, stieg er über Ray hinweg, beugte sich zu Kai hinab und schlug dessen Decke zurück. Er nahm das Kind auf seine Arme und trat langsam wieder nach vorne. Im Fahrerbereich öffnete er die Tür und stieg, samt seinem Mitbringsel, ins Freie.

„Wo willst du hin?“, piepste Allegros Stimme zu ihm.

„Zum Fluss.“

„Weshalb?“

„Ihm eine Ladung Wasser ins Gesicht schütten. Wenn das nicht klappt, dann stimmt wirklich etwas nicht.“

Tyson stieg vorsichtig mit seiner Last den Hang zum Fluss hinab, watete durch die Erde.

An dessen schlammigen Ufern angekommen, kniete er sich hin und tauchte seine rechte Hand ins Wasser. Es war klar, aber auch eisig kalt und verursachte eine Gänsehaut. Er schöpfte einen kleinen Schwall mit seiner Hand und ließ ihn auf Kais Gesicht tröpfeln. Die Tropfen perlten an den Wangen hinab und bahnten sich ihren Weg an seinem Hals hinunter - ließen ihn kurz aufzucken. Von der Reaktion ermutigt, wiederholte Tyson das vorhaben.

Immer wieder, bis Kais Kragen bereits feucht von den Wasserflecken war.

Doch immer gab das Kind nur ein Zucken von sich, seine Lippen öffneten sich leicht, als würden ihm einpaar Worte auf der Zunge liegen, nur um anschließend weiter zu dösen.

„Hmm, vielleicht…“, Tyson hatte etwas Skrupel davor, doch schließlich stieg er mit dem rechten Fuß voraus ins kalte Wasser.

„Sei vorsichtig!“, rief Allegro oberhalb des Hangs hinab.

„Ja doch, geh wieder in den Wagen! Ich komme gleich.“

Am Ufer war die Strömung nicht besonders stark und der Fluss nicht tief. Tyson watete einige Schritte hinein, dann hielt er inne und tauchte Kai ins Wasser, bis nur noch sein Kopf herausschaute. Augenblicklich kam Leben in den Jungen. Es durchzuckte ihn wie ein Donnerschlag.

Er wälzte den Kopf von einer auf die andere Seite und kniff die Augen verbissen zusammen. Es wirkte als wollte Kai mit ganzer Kraft zu Bewusstsein kommen, aber etwas schien ihn in seiner Traumwelt festzuhalten. In Tyson drängte sich das Gefühl auf, als ob Kais Körper sich erwärmte. Selbst im kühlen Nass spürte er die Hitze die auf Kais Haut brannte. Das Wasser um sie herum nahm an Temperatur zu, als hätte man ein glühendes Stück Eisen hineingetaucht.

„Komm schon Kai, wach auf!“, schüttelte Tyson ihn. „Du musst doch nur die Augen öffnen! Es ist doch ganz leicht. Tu es endlich!“

Er rüttelte noch energischer, bis ihn plötzlich ein Stoß Wasser im Rücken traf.

Tyson japste erschrocken auf und spähte schnell hinter sich.

Nichts…

Das Wasser war ruhig und die Strömung schwach. Was war das?

„Tyson komm schnell heraus!“

Er wandte seinen Blick den Hang hinauf, wo Allegro aufgeregt herum sprang. Was immer ihn aufregte, es schien nichts Gutes zu bedeuten. Tyson setzte sich in Bewegung, watete zum Ufer zurück und fluchte gedanklich vor sich hin – er war so nah dran gewesen Kai wach zu bekommen. Da erreichte ihn plötzlich ein donnerndes Rauschen.

Er blickte zum Ursprung und erbleichte…

Zwischen den hohen Ufern des Flusses bahnte sich eine riesige Flutwelle ihren Weg zu ihnen.

Sie schwappte über den Hang und erfasste alles, was nicht weit genug von ihrer Reichweite entfernt lag. Selbst die Brücke, die über dem Fluss ragte, gab angesichts der schweren Wassermasse nach und wurde in Stücke gerissen.

Tyson drehte sich von dem Anblick weg und sprang eiligst auf das sichere Land zu. Seine Hose hatte sich bereits vollgesogen und es kostete ihn viel Mühe vorwärts zu kommen.

Die Welle hatte ihn bereits erreicht, da formte sich ihre Gischt zu tausenden von weißen Händen. Tyson drückte Kai fester an sich, hörte wie Allegro nach ihm rief und machte sich bereit, fortgespült zu werden.

Keine Sekunde später packte ihn auch schon die Woge.

Gerade noch rechtzeitig schnappte Tyson noch einmal nach Luft. Er verlor den Boden unter den Füßen und alles begann sich zu drehen. Dann verwandelte sich die Welt in ein Karussell.

Er stieß mit der Schulter gegen etwas.

Dann wieder mit dem Fuß gegen etwas anderes.

Er versuchte nach oben zu schwimmen, musste aber feststellen, dass er keine Ahnung mehr hatte, wo oben war. Er kämpfte gegen die Strömung an, obwohl es ihn viel Mühe kostete, hielt Kai fest umschlungen und versuchte, so wenig wie möglich Angriffsfläche zu bieten. Doch als er wieder mit dem Rücken gegen einen Felsen prallte, entglitt ihm das Kind für einen kurzen Moment.

Gerade noch rechtzeitig bekam Tyson ihn am Oberarm zu fassen – da bockte Kai auf.

Er war aufgewacht! Zwischen den tosenden Fluten, in denen sie schwammen, konnte Tyson für einen kurzen Moment, ein rötlich schimmerndes Augenpaar erkennen. Entsetzen sprach aus ihnen… Und Schmerzen.

Er beobachtete wie Kai sich an den Hals fasste. Ihm ging die Luft aus. Tyson selbst erging es nicht besser. Jede Bewegung war anstrengend und ihm fehlte die Kraft, weiterhin gegen die Welle anzukämpfen. Er war müde und erschöpft.

Ein letztes Mal wurden sie um die eigene Achse rotiert, dann ließ die Strömung urplötzlich von ihnen ab. So schnell wie der Aufruhr gekommen war, ebbte er wieder ab.

„Endlich…“, flüsterte eine ausgelaugte Stimme in Tysons Kopf.

Nach Sekunden der Orientierungslosigkeit, konnte er wieder die Wasseroberfläche ausmachen. Einpaar schwache Sonnenstrahlen brachen durch sie hindurch, trotzdem wärmten sie nicht. Es war kalt. Kälter als jemals zuvor.

Tyson nahm noch einmal seine letzten verbliebenen Kraftreserven auf und strampelte.

Richtung Oberfläche.

Zur Sonne…

Zur Luft…

Bloß raus aus den eisigen Fluten.

Er verstärkte den Griff um Kais Arm und zerrte ihn mit sich hinauf.

Bald hatten sie es geschafft.

Nur noch wenige Meter trennten sie von der rettenden Luft.

Dieses Farbenspiel über ihm, wenn die Sonne in das Wasser tauchte, war Balsam für seine Seele - es verhieß Luft. Er wurde davon angezogen wie Motten vom Licht. Tyson machte sich bereit aufatmend durch die Oberfläche zu brechen…

Stattdessen knallte er mit dem Kopf dagegen.

Vor Schreck entwich ihm das letzte bisschen Luft aus der Lunge. Panisch tastete er die steinharte Fläche über sich ab, die doch eigentlich gar keine steinharte Fläche hätte sein dürfen! Warum war Wasser hart???

Er pochte gegen die Oberfläche. Sie hörte sich wie eine Scheibe an. Bei jedem Klopfen entstanden sanfte kreisförmige Wellen darauf.

„Ist das Eis?“

Urplötzlich erschrak Tyson.

Er hatte gesprochen. Unter Wasser!

Nicht dieses unverständliche Geblubber, das man im Kindergarten beim Badeausflug machte, um seinen Freunden zu beweisen, dass man ein Wassermensch war – Worte, in klarem Laut und Ton!

An seiner Hand begann Kai zu zerren.

Er fasste sich immer noch an den Hals und rang um Luft, kniff die Augen dabei fest zusammen.

„Kai, du kannst atmen! Mach den Mund auf!“, lachte Tyson erleichtert auf.

Doch anstatt das er eine Ladung Luftblasen entließ, entwich aus Kais Kehle ein Schwall heißer Dampf. Tyson riss entsetzt die Augen auf.

In der Finsternis des Wassers krümmte sich sein Freund vor Schmerzen und keuchte gequält auf. Man sah ihm an, dass er litt, doch Tyson fiel nichts ein, was dagegen hätte helfen können.

Endlich…

Kai stieß erschöpfte Laute von sich, doch das letzte bisschen Dampf entwich ihm aus der Kehle. Währenddessen tänzelte der Dampf hinauf, nahm eine ovale Form an und brach unfairer Weise durch die Oberfläche. Davon ermutigt, versuchte Tyson noch einmal hinauf zu gelangen, doch zwecklos – er kam nicht hindurch.

Erstaunt beobachtete er, wie der Dampf sich auf der anderen Seite, zu einem goldenen Ei formte und an der Wasseroberfläche trieb. Ihm klappte die Kinnlade hinunter.

Kai hatte tatsächlich ein Ei gelegt!

„Heilige Scheiße! Du bist eine Henne!“, entfuhr es Tyson.

Dann ging ein Ruck durch ihre Körper, der sie gegen die Oberfläche branden ließ. Die Schwerelosigkeit, die man für gewöhnlich im Wasser spürte, war dahin. Wie auf stinknormalem Erdboden, blieben sie auf der Oberfläche liegen. Ihre Umgebung begann sich zu drehen, als wäre die Welt eine Münze, die man je nach belieben auf die andere Seite wendete. Einpaar Sekunden blieb Tyson bewegungsunfähig liegen, schaute diesem seltsamen Spektakel kommentarlos zu. Erst als der sandige Erdboden des Flussbeets über ihnen schwebte und dort verharrte, richtete er sich wieder auf. Die feinen Sandpartikel begannen sich von oben zu lösen und auf ihrem Weg zu ihnen hinab, wurden sie zu weißem…

„Schnee?“, verdattert öffnete Tyson seine Handfläche und fing die erste Flocke auf.

Zierlich und fein lag sie auf seiner Haut, bis sie durch seine Körperwärme zu schmelzen begann. Als er sich umsah, fiel ihm zum ersten Mal auf, dass sich unter der Wasseroberfläche, kein Kanal oder dergleichen mehr befand, sondern eine andere Welt. Die Düsternis wich und machte einer weißen Winterlandschaft platz, die spiegelverkehrt und von den Blicken der anderen Bit Beasts verborgen, unter dem Wasser schlummerte.

In der Irrlichterwelt schien es keinerlei Logik zu geben. Dem wurde sich Tyson nun zu deutlich bewusst. Nun wusste er auch, warum sie nicht mehr auf die andere Seite kamen.

Ihr Teil des Flusses war zugefroren, während der spiegelverkehrte munter vor sich hin plätscherte.

„Verrückt…“, flüsterte Tyson verwirrt. „Das ist total grotesk.“ Was ihm aber mehr Sorgen bereitete, als diese bizarre Welt, war, wie sie wieder zurück zu den anderen gelangen sollten.

Seufzend kniete sich Tyson hinab und wischte die feine Schneeschicht vom Eis, um einen Blick auf die andere Seite zu erhaschen.
 

„Wann hast du Tyson das letzte Mal gesehen?“

„Freitagabend. Wir waren alle was trinken und er hat mich nachhause gebracht.“

Tyson stockte der Atem. Er ließ sich auf die Handflächen fallen und beugte sein Gesicht hinab, um mehr zu erspähen. Ihm eröffnete sich der Blick auf die Menschenwelt. Die wahre Menschenwelt, wie er sie kannte!

Nur eben aus der Sicht des Flusses…

Links und Rechts vom Wasser türmten sich die Hochhäuser auf. Der Autolärm schallte durch die Stadt und die Menschen – sie hatten Gesichter!

Nicht diese ätzenden Phantome, wie sie sich hier tummelten.

Zwei Gesichter erkannte er auf Anhieb. Am Flussufer lief Kenny…

Zusammen mit Hiro!

Beide sahen besorgt aus und den Gesprächsfetzen nach zu urteilen, musste sein Verschwinden bereits aufgefallen sein. Verzweifelt begann Tyson gegen das Eis zu pochen und rief nach seinem Bruder. Doch weder Hitoshi noch Kenny hörten ihn.

„Hätte ich mich bloß mehr mit ihm befasst…“, begann sein Bruder. Tyson wollte mit seiner Faust zu einem weiteren Schlag ausholen, doch sie verweilte reglos in der Luft.

„Er muss irgendwelche Probleme haben. Weshalb sollte er sonst abtauchen? Ich habe ihn all die Jahre mit Großvater alleine gelassen. Diese ganze Verantwortung… es muss ihm über den Kopf gewachsen sein.“

Hitoshi rieb sich müde über die Augen und flüsterte: „Ich hätte ihm helfen müssen.“
 

Das Bild unter der Eisfläche trübte sich plötzlich. Es verschwand so schnell wie es gekommen war und ließ Tyson wie vom Donner gerührt zurück.

„Hiro“, drang der Name leise über seine Lippen.

Die letzten Jahre hatte er kein gutes Haar an seinem Bruder gelassen. Er hatte sich von Hiro verlassen und ausgenutzt gefühlt. Nie war er da gewesen, wenn man ihn brauchte.

Nie hatte er ihm etwas Zeit geopfert, wenn er über seine Probleme sprechen wollte.

Theoretisch hätte die Tatsache, dass er nun krank vor Sorge war, eine wohlige Genugtuung in Tyson auslösen müssen. Stattdessen breitete sich nur Beklommenheit in ihm aus.

Genugtuung fühlte sich anders an und hinterließ nicht so einen fahlen Nachgeschmack.

„Verdammt“, murmelte er vor sich hin. „Das darf doch alles nicht wahr sein. Was machen wir jetzt?“

Es kam keine Antwort.

„Kai?“

Tyson blickte links von sich und sein Herz blieb stehen. Von seinem Freund war nichts zu sehen. Verwirrt blickte er sich um und die frischen Fußspuren im Schnee, erregten seine Aufmerksamkeit. Schnell sprang er auf und am Ufer konnte er eine kleine Kindergestalt ausmachen, die hinter einem Schneehügel verschwand.

„Kai! Wo willst du hin?“, rief Tyson hinterher. Als keine Antwort kam, setzte er ihm nach.

Mehr schlitternd als rennend, überquerte er den zugefroren Fluss und betrat das Ufer. Er folgte den Fußspuren und als Kai schon einen weiten Vorsprung hatte, verfiel er in einen schnellen Spurt.

Von Häusern war in dieser Welt nichts mehr zusehen. Überall herrschten nur Schnee, hügelige Landschaften und vereinzelte Bäume. Die Spuren führten Tyson schließlich in einen kahlen Wald. Der Schnee lag schwer auf den Ästen und nur das schwarze Holz der Stämme, durchbrach das satte Weiß.

Tyson richtete seinen Blick weiterhin auf den Boden – bis sich die Spur mitten in einer Lichtung verlor. Abrupt blieb er stehen.

Kai konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben…

Eine kahle Erle ragte neben ihm aus dem Boden. Tysons Blick tastete sich ratlos an ihr hinauf und ein Ast fiel ihm dabei besonders ins Auge. Anders als die restlichen Zweige, war dieser Ast nicht von Schnee bedeckt. Jemand musste sich vor kurzem daran hinaufgezogen haben.

„So ist das also…“, grinste Tyson in sich hinein. Er vermied einen weiteren Blick hinauf und unterdrückte dem Impuls, den Baumstamm von der anderen Seite zu inspizieren. Zwar wusste er nicht, was Kai ausgerechnet jetzt zu solchen Spielchen trieb, aber wenn er es so wollte…

„Verdammt! Ich habe ihn verloren!“, fluchte er. Er tat als ob er die toten Büsche noch einmal genauer inspizierte, dann wandte er sich um und murmelte, laut genug damit jemand in unmittelbarer Umgebung ihn auch verstand. „Vielleicht ist er tiefer in den Wald gelaufen.“

Damit stapfte Tyson weiter durch den Schnee. Er ging einige Schritte tiefer in den Wald, bis er sicher war, dass die Bäume ihn, vor Kais Blick versteckten. Dann schlüpfte er hinter den dicksten Stamm den er fand… und wartete.

So verharrte er einige Zeit. Tyson lauschte angestrengt in den Wald hinein, doch nichts rührte sich. Es vergingen weitere Minuten und er dachte schon, sich geirrt zu haben, da hörte er hinter sich ein leises Knacken.

Er spähte hinter dem Stamm hervor und tatsächlich…

Da kletterte Kais kleine Kindergestalt gerade von der Erle hinab. Er konnte seinen Atem, in Form von Wolken, in die kalte Luft entweichen sehen, seine geröteten Wangen und das konzentrierte Gesicht – er war voll und ganz mit dem Abstieg beschäftigt.

Langsam trat Tyson aus seinem Versteck hervor.

Er schritt vorsichtig zu Kai, der ihm den Rücken zugewandt, auf dem Boden landete. Der Junge klopfte sich gerade den Schnee von den Knien, als Tyson seine Hand auf dessen Schulter legte.

„Kai?“

Das Kind fuhr herum und prallte mit dem Rücken gegen den Stamm. Eine ganze Ladung Schnee fiel auf ihn hinab und er schüttelte sich fröstelnd.

„Ganz ruhig, ich bin es doch nur!“, lachte Tyson auf.

Diese heftige Reaktion…

So schreckhaft kannte er Kai gar nicht. Das war ja zu komisch!

Noch nie war es ihm gelungen, seinen Freund so aus der Reserve zu locken. Vor allem wie entsetzt Kai ihn anstarrte. Dieses Bild war Gold wert.

Noch nie hatte er soviel Angst in seinen Augen gesehen… Angst?

Tyson zog skeptisch die Brauen zusammen und sein Lachen verklang, kurz darauf erstarb auch sein Lächeln und machte einem fragend Ausdruck platz. Kais Atmung ging flach, er zog den Kopf zwischen die Schultern und zitterte am ganzen Leib, als würde er dem Leibhaftigen gegenüberstehen, was Tyson aber auf die Kälte schob.

„Alles in Ordnung?“

Keine Antwort.

„Was ist los?“

Er kniete sich zu dem Kind hinab, streckte seine Hand nach ihm aus, der aber eine unwirsche Abfuhr erteilt wurde. „Nein!“

„Was hast du denn?“

„Geh weg!“

„Warum?“

„Du sollst weg gehen!“

„Bist du wütend? Das war doch nur ein Scherz…“, Tyson blinzelte verständnislos. „Jetzt hab dich nicht so. Es tut mir leid, okay? Lass uns die anderen suchen und dann nachhause gehen.“

„Nachhause?“, plötzlich wurde das Kind ruhiger. „Zur Dame Solowéj?“

„Die Dame Solo… von wem sprichst du?“

Kai wich wieder zurück. Seine Augen wurden zu Schlitzen, die Tyson argwöhnisch musterten.

„Dann bist du also kein Freund von ihr!“, es klang wie ein Zischen.

„Nein… Ja. Ich meine, ich kenne die Frau gar…“, er begann vor Verzweiflung zu stammeln. „K-Kai, erkennst du mich nicht?“

Der Junge sah ihn nur schweigend an. Die Antwort die folgte war nur ein verneinendes Kopfschütteln. Das erschütterte Tyson. Auf sein Gesicht trat ein enttäuschter Ausdruck, wie der eines Kindes, dessen Eltern ihm zu erklären versuchten, dass sein bester Freund in eine andere Stadt zog.

Nach all der Anstrengung die sie damit verbracht hatten, Kai zu retten, konnte Tyson einfach nicht anders – er fühlte sich gekränkt. Gekränkt weil er einfach so vergessen wurde.

„Ray Kon und Max Tate?“, fragte er unvermittelt. „Sagen dir diese Namen etwas?“

„Nein.“, das Kind blinzelte ihn böse an. „Und jetzt verschwinde!“

„Du erinnerst dich nicht an deine Freunde?“

„Hab keine Freunde…“

Tyson seufzte resignierend. Er stand auf und meinte:

„Komm. Wir versuchen nachhause zu kommen.“

„Zur Dame Solowéj?“

„Nein. Zu deiner Schwester, verdammt noch mal!“

Das Kind zuckte durch den schroffen Tonfall zurück.

„I-Ich habe doch kei-…“

„Komm jetzt.“, forderte Tyson, doch er rührte sich nicht.

Stattdessen sah der Junge nur verbissen zu Boden.

„Was ist denn? Wir müssen raus aus dieser Kälte! Ich frier mir den Ar-… ARGH!“

Urplötzlich trat ihm Kai gegen sein Schienbein. Vor Schmerz sackte Tyson auf die Knie, doch kurz bevor das Kind die Gelegenheit nutzen konnte, um über ihn hinweg zu springen, bekam er Kais Hosenbein zu fassen. Gemeinsam stürzten sie zu Boden und sanken in den tiefen Schnee. Es entbrannte eine heftige Rangelei zwischen ihnen, die Tyson aber durch seine größere Körperstatur mit Leichtigkeit gewann.

Als Kai ihm wie in Raserei in die Hand biss, wurde es Tyson zu bunt – er drehte den Junge auf den Bauch, verschränkte seine Arme hinter seinem Rücken und setzte sich auf Kai drauf.

So war sein Freund zwischen ihm und der Schneedecke eingequetscht.

Das Kind strampelte wie wild unter ihm. Es zappelte und fauchte wie am Spieß. Wüste Beschimpfungen drangen an Tysons Ohr, manchmal bekam Kai, durch sein heftiges Gestrampel, selbst eine Ladung Schnee ab, die ihn aufhusten ließ. Trotzdem wurde Kai des Fluchens und Tretens nicht Leid, insgeheim bewunderte Tyson ihn sogar für seine Ausdauer.

Es vergingen fünf Minuten.

Es vergingen zehn Minuten…

Doch nach einer gefühlten Ewigkeit ging auch diesem Kämpfergeist endlich die Puste aus.

Geschlagene dreißig Minuten später, war Kai am Ende seiner Kräfte. Seine Wangen glühten vor Anstrengung und seine Bewegungen wurden schwerfälliger.

„Na endlich, “ dachte Tyson und schickte ein Stoßgebet zum Himmel.

Als Kai schließlich resignierend seufzte und reglos unter ihm liegen blieb, fragte er:

„Fertig?“

Keine Antwort.

„Sogar zum Reden zu schwach, wie?“ Er stieg von seinem Freund runter. „Selber schuld. Was machst du auch so ein Theater…“

Er blieb neben ihm sitzen und beobachtete wie das Kind sich langsam aufrichtete. Der Kleine war fix und alle, er atmete schwer und rieb sich erschöpft mit den kleinen Handflächen, über die Augen. Natürlich war Tyson klar, dass Kai wie jeder andere auch einmal ein Kind gewesen war, aber dieses Verhalten? Es war so gar nicht Kais Art.

Im Schneidersitz und mit neugierigem Blick, beobachtete Tyson seinen Gegenüber eine Weile.

„Das wird dir hoffentlich eine Lehre sein. Komm nicht noch mal auf die Idee abzuhauen.“, drohte er und musste zugeben - es verschaffte ihm einen ziemlichen Kick Kai herumzukommandieren. Deshalb setzte er noch einen drauf.

„Ich erkläre dir mal jetzt die Klassenordnung, du freche Rotznase! Kennst du den Spruch: Wenn das Brot spricht haben die Krümel zu schweigen?“

Keine Antwort, dafür traf ihn ein bitterböser Blick.

„Ich…“, Tyson deutete theatralisch auf sich „bin das Brot und du kleiner Zwerg…“ er gab Kai eine leichte Kopfnuss „bist ein winziger Krümel. Hier wird gemacht was ich sage und ich will keinen Ton von dir hören, es sei denn ich frage dich. Und wehe du beißt mich noch mal, sonst zeig ich dir, was ich in der Schule mit Leuten gemacht habe, die mir auf den Wecker gefallen sind, klar?!“

Wieder keine Antwort. Stattdessen zog Kai nur eine bockige Schnute und sah zur Seite.

„Ich fasse das mal als Zustimmung auf.“

Tyson verschränkte die Arme vor der Brust und taxierte Kai mit unverhohlener Neugier von allen Seiten. „Sag mal, für wie alt hältst du dich?“

Ein fragender Ausdruck traf ihn. Mit dieser Wortwahl konnte der Junge eindeutig nichts anfangen. Tyson räusperte sich und korrigierte seine Frage.

„Ich meine… Wie alt bist du?“

Kai senkte den Blick zu seinen Händen und begann, an seinen Fingern sein Alter abzuzählen.

Er zog die Brauen konzentriert ins Gesicht und flüsterte leise vor sich hin. In diesem Moment konnte Tyson einfach nicht anders… Der Anblick war so niedlich dass er lächeln musste.

Es hatte etwas so argloses und naives an sich, dass er dem Impuls widerstehen musste, Kai so richtig fest in die Backen zu kneifen. Ebenso wenig überrascht war Tyson, als Kai ihm schlussendlich sechs Finger entgegenstreckte.

„Sechs Jahre also, hm?“

Der Junge neigte den Kopf leicht zur Seite und nickte schüchtern. Mit einer solchen Antwort hatte Tyson fast gerechnet. Kai war viel jünger geworden, als sie alle zusammen.

„Sieben Jahre Altersunterschied.“, murmelte Tyson vor sich her und legte seine Hand nachdenklich an sein Kinn. „Kein Wunder das du uns nicht mehr kennst. Als ich sechs war, wusste ich nicht einmal dass es dich gibt. Aber warum haben wir unsere Erinnerung zurück und du nicht?“

Die Frage war mehr an ihn selbst gerichtet, trotzdem blinzelte Kai ihn an, als würde er eine fremde Sprache reden. Sein Gesichtsausdruck zeugte von purer Verwirrung.

„Naja, wie auch immer.“, Tyson stand auf und klopfte sich den Schnee vom Hosenboden. „Wir müssen weiter. Ray und Max werden sich bestimmt schon Sorgen machen.“

Er streckte dem Jungen die Hand entgegen um ihm aufzuhelfen, doch der regte sich nicht.

Das Misstrauen in seinen Augen sprach Bänder. Warum war es Kai bereits in diesem Alter schwer gefallen anderen zu vertrauen?

„Kai bitte“, flehte Tyson. „Ich will dir nichts Böses. Ich bin dein Freund.“

Wieder nur dieser stumme Blick. Hatte Dranzer ihm die Lippen zusammengeklebt oder war Kai schon damals nicht besonders gesprächig gewesen?

Was ging in diesem kleinen Kopf vor?

„Wie soll ich wissen, was dein Problem ist, wenn du nicht mit mir sprichst?!“, herrschte er ihn an. Die Wörter hallten laut um die schlafenden Bäume, trugen seinen Vorwurf bis in den verschlungensten Winkel des Waldes. Doch obwohl Tyson Kai Zeit zum Antworten gab, traf ihn wieder nur dieser stumme Gesichtsausdruck.

„Na schön, dann behalt es für dich“, meinte er mürrisch. Er packte nach Kais Oberarm und wollte ihn gewaltsam hinaufzerren…

„Ich will zur Dame Solowéj!“

„Ich weiß doch gar nicht wer das ist!“

„Sie ist meine Seelenverwandte.“

„Deine was?“, Tyson hielt inne. „Wie kommst du denn darauf? Wo bist du dieser Frau überhaupt begegnet?“

„Sie wohnt in unserem Haus. Sie kümmert sich um mich.“

Tyson blinzelte verdutzt. Dann schlug er sich mit der Handfläche auf die Stirn und sagte:

„Ach so, deine Mutter! War Solowéj ihr Mädchenname? Hört sich aber überhaupt nicht japanisch an.“

„Ich habe keine Mutter. Nur Anastasia.“

„Dann ist sie… dein Kindermädchen?“

Kai schüttelte den Kopf.

Jetzt verstand Tyson gar nichts mehr. Es hätte ihn brennend interessiert, ob es sich dabei um einen Menschen aus Kais früher Kindheit handelte, der seinem Freund, nun, da er wieder zum Sechsjährigen geworden war, wieder in den Sinn kam. Wenn ja, weshalb hatte er ihnen nichts von ihr erzählt? Sie schien ihm äußerst wichtig zu sein, wenn er von einer Seelenverwandten sprach. Allerdings, wie offen war Kai schon? Er galt ja bereits als zugänglich wenn er einem einen Guten Morgen wünschte.

„Ich kann nicht mit dir kommen, wenn du kein Freund von der Dame Solowéj bist. Sie sagt, dass ich mich vor den Menschen in Acht nehmen muss.“

„Sehe ich aus wie ein Verbrecher?“

„Menschen darf man nicht vertrauen…“

„Sagt wer?“

„Die Dame Solowéj.“

Was war denn das für eine Spinnerin? Die rabiate Weltansicht dieser Frau, mit der sie Kai regelrecht infiltriert hatte, machte ihm einen gehörigen Strich durch die Rechnung.

In seiner Not tat Tyson das, was ihm in dieser Situation am Geschicktesten schien – er log.

„Oh mein Gott! Ich bin so doof, “ lachte er gespielt auf und kratzte sich am Nacken. „Natürlich kenne ich die gute Solowéj! Die wohnt gleich bei mir um die Ecke. Wenn du mitkommst, bringe ich dich zu ihr.“

„Lügner!“

„Nein im Ernst! Ich kenne sie! Nette Frau...“

„Haarfarbe?“

„Wie?“

„Ihre Haarfarbe? Wie ist die?“

„Scheiße!“, schallte eine Stimme laut durch Tysons Kopf. Nun hieß es nachdenken…

Wie viele Haarfarben gab es? Im Grunde fünf.

Schwarz, braun, blond, rot und… blau? Nein. Blau war nur Ming Ming und die färbte sich die Haare. Eigentlich war sie gebürtige Brünette, behauptete Max jedenfalls. Der musste es ja wissen, immerhin hatte er mal einpaar nette Schäferstündchen mit ihr…

„Verdammt Tyson, konzentrier dich!“, schalte er sich selbst. „Okay. Mal nachdenken… Die Trefferquote liegt bei eins zu vier. Eins zu vier! Was mache ich denn jetzt?!“

Er bemerkte bereits wie Kai misstrauisch die Brauen verzog. Wahrscheinlich suchte sich der Dreikäsehoch schon eine Stelle aus, in die er ihm treten konnte, um dann schnell das Weite zu suchen.

„Dame Solowéj, warum nennt er sie überhaupt so?“, es war merkwürdig, aber dieser eine Gedanke verursachte eine plötzliche Kettenreaktion in Tysons Gehirn.

Es war wie der berühmte Dominoeffekt.

Seit er Kai kannte, hatte Tyson eine Beobachtung an ihm gemacht…

Der Junge konnte seine Mitmenschen anfauchen, angiften, ignorieren und ihnen die kälteste Schulter auf Erden zeigen – doch die große Ausnahme dabei waren ältere Menschen.

Und damit meinte Tyson richtig alte Menschen!

Seinen Großvater hatte Kai geradezu vorbildlich höflich angesprochen – bis die Sache mit der Abtei aufflog. Genauso aber Tysons Großvater und Mr. Dickensen. Wenn er also so übertrieben formell von der Dame Solowéj sprach, konnte es sich vielleicht um eine ältere Frau handeln?

Und wenn Tyson von seinem eigenen Großvater ausging, der stolz seine weiße Mähne in der Öffentlichkeit präsentierte, könnte es doch sein…

„W- Weiß?“ Tyson wollte sich bereits korrigieren, weil man in solchen Fällen doch eigentlich von Grau sprach, da hellte sich Kais Gesicht plötzlich auf und er strahlte bis über beide Ohren. So glücklich hatte er ihn selten erlebt.

„Das stimmt! Du kennst sie wirklich“, rief der Junge freudig aus. Er griff nach Tysons Hand und sagte: „Tut mir Leid. Ich musste sicher gehen, dass du nicht einer von denen bist.“

„Von denen?“

„Die bösen Menschen! Die Menschen welche die Dame Solowéj vor mir aussperren will.“

„Was sind das denn für böse Menschen?“

„Alle Menschen. Jeder ist böse.“

Diese Antwort klang so überzeugt, dass es Tyson die Sprache verschlug. Er stand kurz davor Widerworte zu geben, doch überlegte es sich dann anders. Er konnte nicht riskieren, sein kürzlich erworbenes Vertrauen wieder zu verlieren.

„Ähm, ja. Menschen sind schon eklig.“

„Genau“, stimmte Kai ein. Nun zerrte er fordernd an Tysons Arm. „Bringst du mich nachhause? Kennst du den Weg?“

„Natürlich“, log Tyson ohne rot zu werden. Hilary hätte ihn jetzt wieder als „Lügenbaron“ beschimpft, doch im Moment tat er diesen Gedanken mit einem Schulter zucken ab.

„Dann komm schon, wir müssen uns beeilen! Sie macht sich bestimmt schon Sorgen. Ich darf das Haus nicht verlassen und wenn ich nicht da bin, wer soll ihr dann aus ihrem Lieblingsbuch vorlesen?“

„Ist ja gut. Meine Fresse, du bist ja richtig abgerichtet auf die Alte.“

„Nenn sie nicht so! Sie ist weise und gütig und wunderschön…“

„Wow! Da wurde einem Armors Liebespfeil aber mit Karacho in den Hintern gepfeffert.“, kam die sarkastische Antwort. Insgeheim musste Tyson eingestehen, dass er einwenig neidisch wurde. Während seiner Beybladezeit hatte er so manche unglaublichen Dinge vollbracht, für die ihn die ganze Welt bestaunt hatte, aber niemals hatte Kai ihn so angehimmelt. Nur weil Kais mysteriöse Dame aber scheinbar ein heißer Feger war, vergötterte er sie regelrecht. Für so oberflächlich hätte er ihn nicht gehalten. Er stutzte kurz darauf über seine eigenen Gedankengänge und schluckte seinen Ärger runter. Schlagartig kam ihm nämlich der Vorfall im Krankenhaus in den Sinn, als Dranzer noch in Kais Körper steckte und ihn gebeten hatte zum Friedhof zu fahren. Diese Berührung als Kai Tysons Kopf sanft in seine Hände nahm und erst der flehende Blick aus diesen traurigen Augen, hatte ihn so… verwirrt.

Zum ersten Mal, seid sie in der Irrlichterwelt waren, fand er die Zeit sich zu fragen, warum er so heftig auf ihn reagiert hatte, weshalb er regelrecht euphorisch zum Friedhof aufgebrochen war um seinem Freund zu helfen. Lag es wirklich nur an Dranzers Zauber – an ihrer Verführungskunst?

Und damals, als Dranzer gemeinsam mit Driger die Hyänen ausgelöscht hatte…

Warum hatte sie wieder Tyson bezirzt? Warum nicht einen von den anderen?
 

„Du hast dich immer sehr um meinen kleinen Kai gesorgt. Warum?“
 

Das war Dranzers Frage gewesen und er erinnerte sich daran, wie sein Blick erschrocken zu seinen Freunden gehuscht war. Für eine Schrecksekunde wusste er nicht, was sie von dieser Frage halten würden, dabei war sie doch so harmlos. Was ihn wohl am meisten irritiert hatte war, dass Dranzer ihn wieder mit Kai geködert hatte.

„Warum immer Kai…“, flüsterte er leise vor sich her.

„Was meinst du?“

Tyson blinzelte verwirrt den Jungen vor ihm an, der ihn aus großen Augen anschaute, dann lachte er ertappt und tat eine wegwerfende Bewegung.

„Ach nichts! Machen wir uns auf den Weg nachhause, zu deiner heißgeliebten Dame Solowéj,“ er setzte mit rollenden Augen den Namen in Anführungszeichen, wissend das Kai mit dieser Geste nichts anzufangen wusste.

„Komm mit Krümel. Das Brot bringt dich nachhause.“ Er nahm das Kind bei der Hand und gemeinsam stapften sie durch den hohen Schnee, auf der Suche nach einem Weg hinaus aus der Eislandschaft.

Kai zog eine empörte Schnute und entrüstete sich: „Ich will aber gar kein Krümel sein.“

Doch Tyson grinste nur triumphierend und entgegnete: „Gewöhn dich dran.“
 


 

*
 

An anderen Ort, war Max erst erwacht, als er spürte, wie seine Decke immer schwerer wurde.

Schlaftrunken wie er immer war, dachte er zunächst, dass Tyson sich in wilden Träumereien auf ihn gerollt hatte, bis ihm bewusst wurde, dass der doch eigentlich Wache halten musste.

Als seine Finger dann tastend über die Decke fuhren, merkte er zum ersten Mal, wie vollgesogen sie war. Sie fühlte sich an wie ein getränkter Schwamm.

Max schlug die Augen langsam auf und murmelte:

„Was zum…“

Da hörte er neben sich Ray panisch aufspringen.

„Max!“

„Was…“

„Das Auto!“

„Was ist damit…“

„Es ist überschwemmt!“

„Ach so…“

Beruhigt schloss Max wieder die Augen und drehte sich zur Seite, wurde aber schlagartig wach, als sein Kopf dabei unter Wasser landete.

Hustend fuhr er auf, fuchtelte mit den Armen und rief:

„Ray!“

„Was?“

„Das Auto!“

„Ja?“

„Es ist überschwemmt!“

„Das hab ich dir doch gerade gesagt!“

Ray versuchte die Hintertür des Vans aufzubekommen, doch als er sie einen Spaltweit aufbekam, drang ein weiterer Schwall der braunen Brühe in den Wagen. Eilig schloss er die Tür wieder und watete nach vorne in den Fahrerraum.

Er blickte durch die Windschutzscheibe und stellte überrascht fest, dass die gesamte Straße vor ihnen, kniehoch unter Wasser lag. Von Tyson, der doch eigentlich Wache hätte halten sollen, fehlte jede Spur. Innerlich begann sich Ray über dessen Unzuverlässigkeit zu ärgern.

„Wo ist Tyson?“

Max war an seine Seite geeilt und blickte ihn verstört an.

„Ich habe keine Ahnung. Kai ist auch weg. Und Allegro…“
 

„Hilfe!“
 

Verdutzt blickten die beiden hinaus. In einer alten Konservenbüchse trieb Allegro an ihrem Wagen vorbei. Die kleine Springmaus hielt ein weißes Taschentusch in die Höhe, mit der er wie wild umher wedelte, um auf sich aufmerksam zu machen. Ohne lange zu zögern, rissen sie die Tür auf, sprangen hinaus und bewegten sich durch die Wassermassen zu dem kleinen, in Seenot geratenen, Schiffsbrüchigen.

Ray erreichte die Konserve zuerst.

Er fischte sie aus dem Wasser und hielt sie in die Höhe.

„Alles klar bei dir?“

Der kleine Mäuserich nickte eifrig.

„Dich schickt der Himmel, mein Junge. Ich dachte schon, ich müsste wie mein Vetter Pete elendig ersaufen! Oh Draciel, dieses grausame Bestie! Was hat sie jetzt schon wieder ausgeheckt?“

„Das war Draciel?“, fragte Max schnaufend, den es eine immense Kraft gekostet hatte, mit Rays Tempo Schritt zu halten. Der Chinese war schon immer durchtrainierter gewesen und Max vollgesogenen Hosenbeine, fühlten sich bleiern schwer an.

„Natürlich! Wer denn sonst?“, brauste Allegro auf. „Dieses furchtbare Monster! So überflutet sie schon seit Jahrzehnten unsere Bauten!“

„Wo sind Tyson und Kai?“, fuhr Ray dazwischen.

„Fort! Die Welle hat sie erfasst! Draciel hat sie mitgenommen!“

„Du meinst sie sind ertrunken?!“

„Nein! Sie sind in der anderen Welt.“ Allegro beugte sich über den Rand der Konservendose und deutete mit seinen kleinen Pfoten, wie wild auf das Wasser. „Da unten! Unter der Wasseroberfläche. Ihr wisst schon, die andere Welt dort unten?“

„Die Unterwelt gehört auch den Toten!“, heulte Max auf, den Allegros Beschreibung an das Reich des griechischen Gottes Hades erinnerte.

„So ein Quatsch! Dort unten geht es weiter, aber Draciel bestimmt, wen sie rein lässt, wohin die Wellen einen tragen und wen sie in den Fluten ertrinken lässt.“

Kurz entschlossen ging Max auf die Knie und drückte seinen Kopf unter Wasser. Um seine Ohren rauschte es, doch als er durch das trübe Nass spähte, sah er weit und breit nichts von einer anderen Welt. Er tauchte wieder auf und sagte:

„Das ist echt nicht komisch!“

„So wird das auch nichts, ihr müsst euch schon fortspülen lassen. Dort hinten im Fluss.“

Zunächst fuhren die Blicke der beiden, zu dem Fleck auf den Allegro wies. Die Strömung war dort viel schneller, die Wellen peitschten um die Wette und schwemmten alles in ihrem Weg davon. Eine kleine Parkbank trieb in den Wogen dahin, gefolgt von einpaar Autos, Fahrrädern, Mülleimern und diversen Holzbrettern, die ursprünglich wohl einem anderen Zweck gedient hatten, statt als Treibgut zu enden.

Ray und Max starrten sich aschfahl an. Dann kam ein lautes: „WAS?!“

Und im Anschluss darauf folgten Kommentare wie:

„Bin ich lebensmüde?“

„Du spinnst doch!“

„Seh ich aus wie Chuck Norris?“

Die schwarze Springmaus schnalzte in ihrer kleinen Büchse mit der Zunge und schüttelte den Kopf. Schließlich meinte Allegro nur:

„Wollt ihr eure Freunde etwa im Stich lassen?“

Stille. Dann…

„Na toll! Jetzt müssen wir auch noch schwimmen.“

„Das werden die beiden mir büßen!“

„Immer nur Ärger mit denen!“

„Daran ist bestimmt Tyson Schuld, so ein blödes Arsch!“

Mit diesen Worten wateten die beiden Jungen schimpfend an den Fluss. Allegro sprang aus seiner Konserve, tippelte an Rays Arm entlang in seinen Kragen und krallte sich in seinem Hemd fest. Kurzerhand warf Ray die Dose über seine Schulter hinweg fort.

Desto näher sie der Strömung kamen, desto mulmiger wurde ihnen zu Mute. Als sie an die Stelle kamen, an der früher der Hang gewesen war, hielten die beiden Freunde inne.

„Passt auf das ihr euch nicht verliert. Haltet euch gut aneinander fest.“, mahnte Allegro noch.

Die beiden Jungs nickten.

Ray streckte seine Hand nach Max aus und fragte: „Bereit?“

„Muss ja wohl...“

Mit diesen Worten packte er nach Rays Hand. Die beiden Freunde sahen sich noch einmal mit einem unguten Gefühl an. Jeder von ihnen hätte auf diese Kamikaze Aktion verzichten können.

„Dann hoffe ich doch mal, dass Draciel uns in ihre Welt einlässt.“, meinte Ray noch. So holten die beiden tief Luft und mit einem hohen Satz, ließen sie sich in die reisenden Fluten fallen.
 


 

*
 

Naja... Ganz zufrieden bin ich damit nicht, aber es gab schon schlimmeres von mir.

Danke für die vielen Kommentare letztes Mal. Habe mich wirklich sehr gefreut.
 

LG Eris d^^b

„Kai ist schon ein komisches Kind gewesen.“

Dieser Gedanke wiederholte sich mehrmals in Tysons Kopf, als er zusammen mit seinem zum Kind geworden Freund, durch das kalte Weiß des Winterwaldes marschierte. Ein verstohlener Blick wanderte zu Kai, der an seiner Hand durch den kniehohen Schnee watete.

Der Junge redete kaum.

Nur einmal hatte er von selbst das Wort an ihn gerichtet, um ihn zu fragen, wie er eigentlich hieß. Es befremdete Tyson, sich quasi ein zweites Mal neu vorzustellen, doch in dieser Situation spielte er zwangsweise mit. Kai hatte auf seine Antwort nur genickt und stellte ab da keine weiteren Fragen.

Kein Mucks war mehr über seine Lippen gekommen, als wären der Nettigkeiten genug ausgetauscht worden. Es wurmte Tyson das Kai selbst in diesem Alter nur das Nötigste von sich preisgab. Er wollte nur zu seiner begehrten Dame Solowéj - mehr nicht.

Tyson hätte es brennend interessiert, mehr aus dem Kind zu entlocken. Diese Situation war eine einmalige Chance mehr über seinen Freund zu erfahren. Vielleicht wären ihm dadurch einpaar seiner seltsamen Verhaltensmuster, die sein erwachsenes Alter Ego besaß, klarer geworden. Niemals hätte er erwartet, dass Kai bereits mit sechs Jahren so verschwiegen war.

Mehrmals versuchte er eine kleine Konversation ins Laufen zu bringen, um ihn einwenig aus der Reserve zu locken. Doch anstatt das sein Freund den Köder fraß, antwortete er immer nur knapp und verstummte anschließend. Außer einem „Ja“ und „Nein“ war ihm nichts abzugewinnen. Irgendwann beschloss Tyson das er einfach aggressiver vorgehen sollte.

„Warum redest du nie?“, fragte er geradeheraus.

Überrumpelt hielt das Kind inne und starrte ihn an, blinzelte ihn nur verwundert entgegen.

„Worüber soll ich denn reden?“

„Keine Ahnung. Erzähl etwas von dir.“

Wieder wurde er fragend gemustert, dann meinte Kai:

„Kinder soll man nicht hören. Nur sehen.“

„Wer erzählt dir denn so einen Quatsch?“

„Mein…“, Kai schien die Antwort auf der Zunge zu liegen, doch urplötzlich stoppte er, als hätte er sie vergessen. Für Tyson klang diese Wortwahl allerdings schwer nach Voltaire, womöglich sogar Boris, deshalb ging er nicht weiter darauf ein. War ja klar dass „Statler und Waldorf“ dahinter steckten.

„Also los, erzähl etwas über dich Kai!“, ermunterte er den Jungen schließlich.

„Erzählen?“, druckste das Kind herum.

„Ja. Über deine Familie, deine Freunde…“

„Hab ich nicht.“

„Was ist mit deinem Großvater?“

„Welcher Großvater?“

Das verwunderte Tyson. Warum kannte Kai seinen Großvater nicht mehr?

Der alte Miesepeter hatte ihn schließlich von klein auf groß gezogen. Kai erinnerte sich doch sogar noch an seine Regeln, wenn auch nur unterbewusst. Selbst wenn Kai ihn und die anderen aus seinem Team vergessen hatte, hätte er Voltaire noch kennen müssen, er war schließlich ein fester Bestandteil seiner frühen Kindheit.

„Du kennst deinen Opa nicht mehr?“

„Was ist das?“

Tyson klappte der Mund auf.

„Ein Opa… Ähm… oh man. Wie erkläre ich dir das?“

Er dachte kurz nach und überlegte, wie er einem Fremden, seinen eigenen Großvater erklären würde.

„Also… das ist ein alter Mann. Manchmal hat er einen Gehstock, den benutzt er um dir eine über den Schädel zu hauen, wenn du etwas angestellt hast.“

Kai starrte ihn geschockt an. Sein Gesicht verzog sich und mit kindlicher Furcht flüsterte er:

„So was will ich nicht.“

Tyson lachte schallend auf und tat eine wegwerfende Bewegung mit der Hand.

„Oh nein, ganz so schlimm ist das nicht! Das macht nur mein Opa. Der ist auch einwenig weich in der Birne. Ansonsten ist er aber echt klasse. Weißt du das er vier Mal regionaler Meister im Kendo war?“

„Ist das gut?“

„Ziemlich gut.“

„Und was macht man mit einem Opa?“

„Er gehört einfach zur Familie. Ich profitiere immer von seinen Weisheiten. Obwohl… Er hat mal versucht meinen Hamster in der Mikrowelle zu trocknen…“

Für einen kurzen Moment schweiften Tysons Gedanken zu jenem Tag zurück. „Little Samurai“, sein Hamster, war damals irgendwie aus seinem Käfig ausgebüchst und Mr. Kinomiya beim Staub saugen in die Quere gekommen. Der alte Mann hatte daraufhin panisch den Staubsaugerbeutel aufgeschnitten, den Hamster gerettet und dem verstaubten Tierchen, eine Dusche in der Spüle verpasst.

So weit, so gut... Wäre Hitoshi aber nicht zehn Minuten später von der Schule gekommen und hätte Mr. Kinomiya dabei ertappt, wie er das zitternde Kerlchen in Handtüchern bepackt, in die Mikrowelle zum Trocknen legte.

Tyson wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er neben sich ein Kichern hörte. Kai hielt sich die Hand vor den Mund und gluckste leise: „Wirklich? In die Mikrowelle?“

„Na sieh mal einer an…“, grinste Tyson in sich hinein und meinte: „Weißt du was Großväter noch für verrückte Sachen machen?“

Kai schüttelte verneinend den Kopf. Doch seine Augen verrieten Tyson, dass er es kaum erwarten konnte, mehr zu hören.

„Wenn ein LKW mit Tiefkühl Chicken Wings, vor deiner Haustür verunglückt, packt er sich eine Schubkarre und schaufelt das Zeug zu Dutzenden in die Karre. Mein Opa hat fünf Ladungen nachhause gebracht. Wir haben vier Monate nur Chicken Wings gegessen.“

Wieder lachte Kai leise.

„Und wenn unser Nachbar seinen Hund, auf unserem Teil des Gehwegs, seine Haufen legen lässt, packt mein Opa die Haufen mit einer Schaufel in eine Tüte, um in der gleichen Nacht über den Zaun unseres Nachbarn zu klettern und sich auf dessen Grundstück, vor dem Badezimmerfenster, auf die Lauer zu legen. Wenn unser Nachbar dann ein warmes Bad genommen hat, wartet mein Opa ab, bis er das Fenster zum Lüften aufreißt und donnert ihm die Tüte ins Gesicht!“

„Iiihh!“, so kindlich wie es eben nur Kinder konnten, kam dieser Laut von Kai, gefolgt von einem erneuten Lachen, dass er allerdings hinter seinen Händen versteckte, als wolle er nicht, dass man ihn so ausgelassen sah.

Darüber konnte Tyson nur schmunzeln und er beugte sich zu dem Jungen hinab.

„So viele Dummheiten mein Großvater auch macht, in einem Punkt hat er Recht - Er sagt immer: Lachen ist Treibstoff für die Seele.“

Damit nahm er Kai langsam, aber bestimmt, die Hände vom Gesicht und fügte hinzu:

„Und deshalb solltest du ein Lachen auch nicht verstecken. Das ist als ob du die Vorhänge zu ziehst, obwohl draußen das schönste Wetter ist.“

Kai legte den Kopf leicht zur Seite und fragte:

„Ist das auch eine Weisheit von deinem Opa?“

„Nein. Das stammt zu hundert Prozent von mir, Krümel.“

„Ach so.“, der Junge dachte über die Worte nach. Tyson hoffte damit einen Stein ins Rollen gebracht zu haben. Es hätte ihn gefreut, wenn Kai diesen Rat auch als Erwachsener beherzigen würde, immerhin hieß es doch, dass man Menschen in ihrer Kindheit am meisten beeinflusste.

„Wir sollten weiter.“, meinte er schließlich und erhob sich.

„Du?“

„Hm?“

„Ich bin einwenig müde…“

Tyson seufzte. Das hatte er bereits vermutet. So sehr der Wunsch, seine Dame Solowéj zu finden, ihn auch antrieb, die letzte Viertelstunde war Kai immer langsamer geworden. Unglaublich wenn man bedachte, wie lange er zuvor doch in Tiefschlaf gelegen war, womit Tyson sich aber bestätigt fühlte, dass Kai wohl tatsächlich unter einem Bann gestanden hatte. Für ihn musste es wohl noch schwieriger sein, durch den Schnee zu laufen, der ihm bis zu den Knien reichte – ganz zu schweigen von der Kälte, die selbst Tyson zu schaffen machte.

„Sorry Kleiner, aber hier können wir nicht bleiben.“

„Oh. Na gut.“

Tyson beobachte wie Kai sich die Augen rieb. Wie er versuchte standhaft durchzuhalten, tat der Junge ihm Leid. Ein anderes Kind hätte jetzt gejammert wie am Spieß.

„Komm, ich trage dich.“

„Ist okay. Ich kann noch...“

„Zier dich nicht so. Komm jetzt, du Oompa Loompa Verschnitt!“

Er kniete sich hin und wies Kai an, auf seinen Rücken zu steigen. Nach anfänglichem Zögern, gab der Junge nach und schlang seine Arme um Tysons Hals.

Und als er die ersten Schritte hinter sich legte, fragte das Kind:

„Was ist ein Oompa Loompa?“

„Also echt, das ist Allgemeinwissen. Hat man dir in der Abtei nichts Anständiges beigebracht?!“
 

Es hörte nicht auf zu schneien, die Flocken fielen ununterbrochen vom Himmel und Tyson fror. Kai ging es scheinbar nicht besser, denn die Hände, mit denen er Tysons Schultern umklammerte, machten einen unterkühlten Eindruck.

Zu allem Übel änderte sich das Bild der Landschaft nicht.

Es gab nur verschneite Bäume, verschneites Gestrüpp, und - wie könnte es anders sein - verschneite Wiesen. Sie mussten dringend einen Unterschlupf zum Aufwärmen finden, andernfalls würde ihnen die Kälte den Garaus machen, zumal sie nicht mit der passenden Kleidung ausgestattet waren. Sie irrten eine ganze Weile durch den Wald, als Tyson bemerkte, dass sich Kai nicht mehr rührte. Er spähte über seine Schulter und erschrak.

„Nicht schlafen! Wach auf!“

Das Kind riss abrupt die Lider hoch und blinzelte ihn verstört an.

„Warum?“

„Bei so einer Kälte darf man nicht schlafen!“

„Okay“, murmelte Kai und legte seinen Kopf wieder auf Tysons Schultern.

Der sah bereits, dass der wache Zustand nur von kurzer Dauer sein würde. Der Kleine war wieder dabei einzunicken und seine blau gefrorenen Lippen gefielen ihm überhaupt nicht.

„Weißt du wie sich mein Großvater anhört, wenn er schläft?“, fragte er im verzweifelten Versuch, den Jungen von der Müdigkeit abzulenken. Dann folgte seine Imitation, die sich wie ein sterbender Esel auf der Weide anhörte. Über Kais Mundwinkel huschte ein schwaches Lächeln und er flüsterte: „Das klingt komisch…“

Dann schlossen sich seine Lider bereits wieder.

Jetzt hatte Tyson leider keine andere Wahl…

Notgedrungen warf er Kai vom Rücken. Der Junge landete mit einem erschrocken Ausruf im Schnee und war wieder hellwach.

„Sorry, aber das musste sein. Alles klar, Kleiner?“

Von Kai kam keine Antwort. Er setzte sich nur schweigend auf und sah Tyson an, als wäre er der Bösewicht aus einem Film. Seiner Meinung nach war wohl gar nichts in Ordnung.

„Hey, sieh mich nicht so an! Das war zu deinem Besten… W-weinst du?“

Das Kind schüttelte verneinend den Kopf, doch seine wässrigen Augen, die in den aufkommenden Tränen schwammen, straften seine Worte lügen. Er sah nur gekränkt zur Seite und Tyson ahnte jetzt, dass der Spruch „Es tut mir mehr weh als dir“, nicht nur eine leere Floskel von Eltern war. Wie er Kai so sah, kam er sich schrecklich vor.

Warum mussten Kinder auch so… so… verdammt niedlich sein?!

Diese blöden Zwerge, mit ihren blöden Kulleraugen und diesen blöden Backen, in die man blöderweise die ganze Zeit kneifen wollte…

Kais Lippen verzogen sich zu einem Schmollmund, wie Tyson es nicht für möglich gehalten hätte und der Junge kämpfte mit aller Macht gegen die Tränen, bis die Erste sich ihren Weg an seiner Wange hinabbahnte.

„Nein, aus!“, er sprach als hätte er einen Hund vor sich. Es half nichts…

„Ich kann Heulsusen nicht ab. Aufhören!“, die großen Kinderaugen sahen ihn vorwurfsvoll an. Die Tränen wurden weggewischt, doch neue quollen aus den Augenwinkeln hervor. „Hör auf du blödes Gör! Ich entschuldige mich bestimmt nicht!“

Da folgte ein unterdrücktes Schluchzen und ihm schnürte sich der Magen zu.

„Ach bitte, jetzt wein doch nicht. Es tut mir Leid, Kai.“, rief Tyson panisch aus und fuchtelte wie wild mit den Händen. „Es tut mir wirklich, wirklich Leid! Ähm… guck mal was ich kann!“, er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, doch außer einer weiteren Träne, kam nichts.

Eine geschlagene Stunde verbrachte Tyson daraufhin so…

Er wiederholte das Schlafverhalten seines Großvaters, bot Kai an ihm einen Schneeball ins Gesicht zu werfen, erzählte haufenweise Anekdoten aus seiner Familie, versuchte ihn zu einem Schneeengel zu animieren, schlug Purzelbäume, zuletzt wagte er sich sogar als Stand up Comedian.

Gerade führte er einen Handstand vor, als er merkte, dass Kai endlich nicht mehr weinte, stattdessen aber die Arme verschränkt hielt und seine Aufführung keines Blickes würdigte. Sein Gesicht war nur beleidigt zur Seite gerichtet und er stellte auf stur.

Mitten im Handstand seufzte Tyson und ließ sich auf den Rücken fallen.

Wie hatte seine Familie ihn immer besänftigt?

„Willst du ein Eis?“

Keine Antwort.

„Na ja, dann eben nicht.“ Er setzte sich auf und fügte noch hinzu. „Wüsste sowieso nicht, wo ich eins her bekommen sollte. Die einzige Farbe die ich dir anbieten könnte ist gelb und die Geschmacksrichtung willst du bestimmt nicht probieren.“

Er hatte sich eigentlich damit abgefunden, dass Kai für den Rest ihres Aufenthaltes beleidigt sein würde, da dachte der Junge kurz über seine Worte nach und als er begriff…

„Bäh!“

… begann er zu lachen.

„Endlich!“, rief Tyson erleichtert aus. Er rollte sich auf den Bauch und beobachtete Kai, genoss das kindliche Lachen, dass durch den Wald schallte. Es war so viel ausgelassener und belebter, als alles was zuvor von ihm gekommen war. Irgendwie erfüllte es ihn mit Stolz, dass dies sein Verdienst war.
 

„Wer… seid… ihr?“
 

Tyson zuckte zusammen.

Er hatte gemeint ein Flüstern zu hören und auch Kai war verstummt. Das Echo seines Lachens hallte noch einpaar Sekunden durch die Umgebung, bis es verebbte.

Dann lauschten beide in die Stille des Waldes hinein. Zum ersten Mal legte sich eine Windbrise über das Gebiet. Einpaar zarte Schneeböen tänzelten sanft um sie herum, weiter war aber nichts zu sehen. Alarmiert sprang Tyson auf. Er hatte ein ungutes Gefühl.

„Komm weiter Kai.“

„Hast du das auch gehört?“

„Da war nichts. Sicher nur der Wind.“

Sein Versuch Kai zu beruhigen scheiterte kläglich. Er sah dem Jungen an, dass er ihm kein Wort glaubte. Trotzdem blieb er ruhig, wofür Tyson ihm mehr als dankbar war.

Er nahm Kai bei der Hand und stapfte mit ihm eiligen Schrittes durch den Wald, angestrengt nach einem Unterschlupf suchend. Als sie einpaar Meter zurückgelegt hatten, war Tyson, als ob er hinter sich ein Knirschen vernahm, wie Füße die in den Neuschnee traten. Er wandte sich abrupt um.

Nichts…

Nur schwarze Baumstämme, die aus dem weißen Erdboden emporragten und dazwischen kleine Böen, die mit dem aufgewirbelten Flocken spielten. Die wenigen Fetzen des trüben Himmels, die zwischen den dicht aneinandergereihten Bäumen hervorlugten, waren kaum vom Schnee zu unterscheiden.

Sein Blick suchte den Boden ab und er wurde aschfahl…

Zu ihren Abdrücken hatte sich ein Drittes gesellt. Da war doch aber niemand!

Er blickte wie erstarrt auf die fremde Fußspur die nur wenige Schritte hinter ihnen lag und keuchte geschockt auf.

„Tyson?“, Kai legte auch die andere Hand auf seine. Die kleinen Finger berührten ihn sachte.

Seine Nervosität war wohl nicht unbemerkt geblieben. „Was ist los?“

„Alles in Ordnung.“, er verbannte die Angst aus seiner Stimme. „Mach dir keine Sorgen, Kleiner. Alles ist bestens. Ein wundervoller Tag heute, findest du nicht?“

Er fuhr dem Jungen beruhigend durch den satten Haarschopf und rief sich zur Ordnung. Kai war als Kind sowohl physisch auch als seelisch, nicht in der Lage zu helfen. Er wollte ihn, soweit möglich, nicht allzu sehr mit der Situation überfordern.

Stattdessen atmete er durch und wies ihn auf weiterzugehen, zwang sich dabei in kein gehetztes Tempo einzufallen. Nur einmal, als er meinte, unbeobachtet zu sein, spähte Tyson über seine Schulter – das dritte Fußpaar war verschwunden. Gespenstisch…

Den Rest ihrer Wanderung blieben beide Jungen stumm. Tysons Nerven waren gespannt. Er hielt nach der kleinsten Regung Ausschau und Kai schien zu ahnen, dass es besser war still zu bleiben. Er hatte wohl einen sechsten Sinn für so etwas. Zudem nagte wieder die Müdigkeit an dem kleinen Kind, doch selbst das ließ er sich nicht mehr anmerken.

Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, erreichten sie einen Weg.

„Wurde auch Zeit, “ murrte Tyson erleichtert.

Ein Weg führte zu Häusern.

Und wo Häuser waren, konnten sie sich wärmen.

Tyson malte sich schon sehnlichst aus, wie sie vor einer Heizung oder einem Kamin ihre durchgefrorenen Körper wärmten, während sie genüsslich eine Nudelsuppe aßen. Er konnte es kaum erwarten, einpaar hohle Phantome für ihr leibliches Wohl herum zu scheuchen. Kai würde endlich etwas Schlaf finden und er sich überlegen, wie es jetzt weitergehen sollte. Irgendwie mussten sie wieder zu Ray und Max gelangen…

Gerade dachte Tyson voller Sorge an seine Freunde, als er abrupt aus seinen Gedanken gerissen wurde. Schlagartig hielt er inne und dirigierte Kai vorsichtig hinter seinen Rücken.

Seine Brauen zogen sich argwöhnisch zusammen.

Dort, am Wegrand, kauerte eine Gestalt…

Bei näherer Betrachtung konnte es sich dabei nur um eine Frau handeln, was Tyson rein von der zierlichen Statur vermutete. Ihnen den Rücken zugewandt und in kniender Pose, reichte ihr glattes, bleiches Haar bis an den Boden, mit einem hellblauen Schimmer darin. Neben ihr lag ein Weidenkörbchen abgestellt, in denen zu Bündeln gerollte Blumen lagen.

In ihrer Linken hantierten ihre schneeweißen Finger mit einem Messer.

Eine Kräutersammlerin…

Mitten in einer Winterlandschaft?

Tyson sah noch einmal genauer hin und erkannte, dass sie im Schnee grub. Alle Pflanzen im Korb waren gefroren. Etwas ließ seine Alarmglocken läuten. Er bedeutete Kai still zu sein und wollte sich mit ihm unbemerkt davonschleichen. Obwohl er keine Ahnung hatte, ob die Richtung stimmte, schlug er den Weg nach Links ein. Da sprach sie die Frau an, ohne sich zu ihnen zu drehen.

„Kein Wort zum Gruße, junge Wanderer?“

Tyson schwante Böses. Es konnte sich bei dieser Frau um ein Phantom handeln, schlimmstenfalls aber um ein Bit Beast in Menschengestalt. Vielleicht hatte dieses Bit Beast einem Menschen das Gesicht geklaut, wie Draciel bei Judy.

Vielleicht war das sogar Draciel?!

Argwöhnisch trat er zurück und meinte: „Verzeihung. Sie sehen so beschäftigt aus. Wir wollten sie nicht stören bei… was immer sie da tun.“

„Ich sammle.“

„Kräuter?“

„Seltenheiten.“

„Seltene Kräuter?“

„Nein. Seltenheiten.“

Ihre Stimme war ein leiser Hauch und jagte einem eine Gänsehaut über den Rücken.

Tyson spürte wie Kai sich einwenig von ihm entfernte. Er tat einen Schritt auf die Frau zu und musterte voller Neugierde den Korb. Erst beim zweiten Mal erblickte Tyson die eiförmigen Eisklumpen darin - in deren Inneren blaue Schmetterlinge lagen.

Zierlich und fein, erkannte man jede Kontur darin.

Die satten Farben der Flügel schimmerten förmlich zusammen mit der kalten Oberfläche des Eis um die Wette. Es war ein wirklich schöner Anblick, aber im Zusammenhang mit ihren Worten, bereitete es Tyson Unbehangen.

„Gefallen sie dir, mein Junge?“

Die Frau nahm einen der Klumpen aus dem Korb und hielt sie mit der Linken empor. Endlich wandte sie sich zu ihnen und Tyson musste schlucken – sie war bildschön.

Jung und zierlich, aber auch blass.

Ihre von dichten Wimpern umrahmten Lider waren geschlossen.

Mit einem Kimono, genauso weiß wie ihre Haut, erinnerte sie ihn vage an die Gestalt der Yuki Onna. Ein Europäer konnte diese Form der Yokai fälschlicherweise mit der Schneekönigin verwechseln. Tyson meinte aber die Gestalt von irgendwo anders zu kennen…

„Komm doch näher, mein Junge. Sieh es dir an.“, lockte sie Kai inzwischen.

Als Erwachsener hätte er wohl missbilligend die Nase gerümpft, nun trat er aber schneller an sie heran, als Tyson überrascht blinzeln konnte. Er wollte Kai bereits zurückrufen, als er sah, wie die junge Frau hilflos mit der Rechten nach dessen Hand in der Luft tastete.

„Sei so gut, und hilf mir. Ich sehe dich nicht mein Kind.“

Kai griff langsam nach ihrer Hand und sie bettete den Eisklumpen vorsichtig in seine. Sobald strich der Junge, mit einem neugierigen Ausdruck, über die Oberfläche und begutachtete das schöne Stück von allen Seiten.

„Schau mal Tyson. Das ist ja toll…“, meinte das Kind erstaunt, drehte den Klumpen voller Neugier vor seinem Gesicht, bis er davon abließ und Tyson näher heran winkte. Nur widerwillig kam er der Aufforderung nach. Anstatt das er die Gelegenheit nutzte, um den Eisklumpen zu bestaunen, fragte Tyson geradeheraus: „Wie können sie Sammlerin sein, wenn sie blind sind?“

„Wie taktlos mich so darauf hinzuweisen…“

„Mein Mitleid hält sich momentan in Grenzen. Vor allem, wenn ich glaube, an der Nase herumgeführt zu werden. Woher wussten sie überhaupt das Kai ein Kind ist wenn sie doch angeblich nichts sehen können?“

Zu seiner Verwunderung lächelte die Frau.

„Ach Takao. Du bist seit fast zwei Tagen hier und ahnst immer noch nicht, dass diese Welt in anderen Bahnen verläuft als eure.“

Diese Offenheit mit der sie sprach ließ ihn stocken.

Was immer diese Frau war, sie hatte kein Interesse daran ihnen vorzugaukeln, dass diese Welt real war. Um nicht ganz aus dem Konzept zu kommen, leitete Tyson eine Frage ein, die ihm geradezu auf der Zunge brannte:

„Was sind sie?“

„Du kränkst mich. Erkennst du mich nicht?“

„Ich bin mir nicht ganz sicher…“

„Wir hatten bereits das Vergnügen. Mehrere Male… bei den Weltmeisterschaften.“

„Also doch!“, rief eine Stimme in seinem Kopf. Dann fragte er: „Bist du Wolborg?“

„Ach ja. Dieser Name… So nannte mich mein Kind.“, ihr Gesicht wanderte verträumt gegen den Himmel, als wäre sie im Gedanken weit weg und ein Name huschte über ihre Lippen:

„Tala.“

„Du bist doch hoffentlich nicht auch auf so einem Rachefeldzug wie unsere Bit Beasts?“, fragte Tyson vorsichtig. Tala und ihn hatte nie etwas wie Freundschaft verbunden, trotzdem wollte er nicht, dass es dem kühlen Russen genauso erging wie ihnen und zu seiner Erleichterung antwortete Wolborg: „So etwas liegt mir fern. Ich brauche meine Ruhe. Menschen in unsere Welt zu locken, würde meine Stille nur trüben.“

„Oh“, Tyson kratzte sich unangenehm berührt am Nacken. Wollte sie etwa allein sein? „Dann sollten wir wohl besser gehen.“

„Das war keine Anspielung.“, erkannte sie seine Gedanken. „Gegen einwenig Abwechslung habe ich nichts einzuwenden.“, sie richtete sich auf und Tyson schmollte innerlich bei dem Gedanken, dass sie ein Bit Beast war. Diese kühle Schönheit war einfach atemberaubend. In den Kämpfen gegen Tala war ihm immer wieder aufgefallen, dass dessen Bit Beast vor einem gewaltigen Angriff, ein Licht ausstrahlte, welches die Gestalt eines Menschen zu haben schien, nur um kurz darauf als Wolf daraus hervorzupreschen. Er hatte das stets als Illusion abgetan, nun staunte er darüber, dass es dieses Bit Beast tatsächlich auch in Menschengestalt gab – und dass sie so bildschön war.

„Ich spüre dass die Kälte an euch nagt. Kommt und wärmt euch in meinem Dorf. Ihr seid meine Gäste.“

„Nichts für ungut, aber seid wir hier sind, bin ich etwas misstrauischer gegenüber Bit Beasts geworden.“, lehnte Tyson entschieden ab.

„Eine weise Entscheidung“, pflichtete sie bei und strich langsam den Schnee von ihrem Kimono. „Doch wenn ihr mir nicht folgt, wohin wollt ihr dann?“

„In ein… anderes Dorf.“

Eigentlich hatte Tyson keine Ahnung wohin.

„Das existiert hier nicht.“

„Und wohin führt dieser Weg?“

„Der existiert eigentlich auch nicht. Ich habe ihn nur erschaffen, um euch auf den richtigen Pfad zu führen.“

„Was denn für ein richtiger Pfad?“

„Den Pfad zu mir.“

Sofort klappte Tysons Kinnlade runter.

Sie waren ihr also blindlings in die Falle getappt und hatten es noch nicht einmal bemerkt!

Am liebsten hätte er sich für seine Blödheit geohrfeigt.

„Mach dir keine Vorwürfe, Takao. Es ist gut dass ihr hier seid.“

Ein geheimnisvolles Lächeln stahl sich auf ihren Mund.

„Du musst wissen, dass hier ist mein Gebiet. Ohne meine Hilfe kommt ihr nicht mehr so schnell hinaus. Ihr könnt euch also glücklich schätzen, dass ich mich eurer erbarmt habe.“

Sie wandte sich an Kai der der Unterhaltung schweigend gelauscht hatte. Was sie untereinander besprachen, musste für ihn wie Kauderwelsch klingen.

„Was denkst du, mein Küken? Würde ein Milchreis deinem ausgehungerten Magen gut tun?“

Kais Augen wurden groß aufgrund des Kosenamens. Er klammerte sich mit geröteten Wangen schüchtern an Tysons Hosenbein, wandte den Kopf ab und bejahte leise. Es sah aus als wolle er am liebsten unsichtbar sein. Tyson blinzelte nur verdattert über diese Reaktion und hatte Mühe sich ein Lachen zu verkneifen.

„Dann scheint es beschlossen. Gib mir deine Hand. Ich spüre die Richtung in die wir müssen, dafür musst du mir deine Augen leihen. Du wirst doch die Bitte einer Blinden nicht abschlagen, nicht wahr?“

Natürlich konnte Kai das nicht. Er gehorchte, reichte seine Hand und die beiden begannen, den Weg nach Rechts einzuschlagen – genau die Richtung, die Tyson zuvor nicht gehen wollte!

Dieser seufzte geschlagen und musste sich eingestehen, dass sie sich ohne Wolborg hoffnungslos verlaufen hätten. In der anderen Richtung hätte sie wohl der sichere Tod erwartet.

Diese Erkenntnis löste aber auch eine Frage in seinem Kopf aus…

Er stolperte den andern beiden hinterher, um sie nicht zu verlieren.

Als er aufgeholt hatte, fragte Tyson:

„Du hast gesagt du erbarmst dich unserer. Was passiert mit denen, die nicht so ein irres Glück haben?“

„Schau nach Rechts.“

Tyson tat wie ihm geheißen.

Zunächst konnte er nichts Auffälliges erkennen…

Bis er geschockt die Luft anhielt, und auf der Stelle verharrte. Außerhalb des Weges lag, unter einer feinen Schneeschicht bedeckt, eine Gestalt, die er nur allzu gut kannte.

Die Hyänenmutter…

Sie musste nach ihrem Badeausflug im Kanda Fluss, auch hier gelandet sein.

Abgemagert, zerzaust und schwarz gefroren vor Kälte, ruhte der Leichnam des Bit Beasts im Schnee. Die Schnauze, die in seiner Erinnerung stinkenden Speichel abgesondert hatte, war weit aufgerissen, als hätte das Bit Beast bis zuletzt um Hilfe gebrüllt.

Tyson hatte das hässliche Monstrum gefürchtet, immerhin hatte sie versucht die Gruppe ihren Kindern als Zwischengang zu servieren, trotzdem empfand er Mitleid für das tote Geschöpf. Mit einem anklagendem Ton fragte er:

„Warum hast du ihr nicht geholfen? Sie ist ein Bit Beast. Genau wie du!“

„Sie war nichts Besonderes.“, antwortete Wolborg nur leise.
 


 

*
 

Zornige Schritte hallten auf dem Wurzelpfad des Weltenbaumes. Die katzengleichen Augen des Urhebers stachen durch die Finsternis. Drigers Atem ging schwer und glich mehr einem Fauchen. Als er endlich das Ende des Pfades erreichte und die heimgekehrte Gestalt von Dragoon erblickte, fletschte er die Zähne. Angeschlagen breitete sich der Drache - wieder in seinem Menschenkörper - auf einem Wurzelgeflecht aus, das an einen Thron erinnerte. Er ließ den Kopf in den Nacken fallen und hielt die Augen geschlossen. Es wirkte als ob er schlafe.

Driger war sich dennoch sicher, dass er seine Ankunft erwartete und kurz bevor er vor ihm hielt, begrüßte ihn der Drache spöttisch: „Du wirkst Wut geladen. Du solltest Sport treiben. Jedenfalls halten die Menschen das für ein Allheilmittel.“

„Wo ist sie?!“

„Wer?“

„Du weißt genau wer!“

„Dranzer? Ach die…“

Der Drache hob seinen Kopf und grinste süffisant, klopfte sich dabei auf den Bauch.

„In Verwahrung.“

„Du hast sie verschlungen?!“

„Ich fand sie schon immer zum Anbeißen.“

„Spuck sie aus!“

„Aber, aber…“, Drigers Verhalten begann ihn zu ärgern. Eigentlich schätze Dragoon ihn, aber die Art und Weise wie er mit ihm sprach missfiel ihm. Natürlich hing es nur damit zusammen, dass er sich wie eine Glucke um sein Kücken sorgte. Als die Welt noch jung war und Dranzer gerade erst geboren, war es Driger, der die junge Uralte nach den Regeln der Geister aufzog. Aus seinen Lehren war der heutige Phönix entstanden – stark, gnadenlos und gefürchtet.

Sie war sein ganzer Stolz und diese Affenliebe mit der er sie überschüttete, reizte Dragoon bis aufs tote Blut, da sie dadurch immer hochnäsiger geworden war. Driger hätte sie zurückhaltender erziehen müssen und vor allem Dingen demütig. Stolz tat ihr nicht gut…

„Du wirst dich gedulden müssen. Ich werde sie später ausspucken.“

„Die Erde braucht Feuer! Hast du eine Ahnung was du mit deiner Aktion gerade in der Menschenwelt für ein Chaos anstellst? Dort muss die Temperatur bereits anfangen zu sinken! Willst du einen vorzeitigen Winter heraufbeschwören? Wer soll Dranzers Platz einnehmen?“

Dragoon streckte die Arme aus und lächelte.

„Du?!“, polterte Driger ungläubig und stampfte erbost mit dem Fuß auf, dass der gesamte Pfad nur so bebte. „Niemals! Was weißt du schon über Feuer?! Du kannst doch einen Funken nicht von einer Stichflamme unterscheiden! Gib sie auf der Stelle frei!“

„Sie ist schon tot.“

„Dann spuck ihr Ei aus! Du weißt doch wie es läuft, aus der Asche ihres Körpers entsteht der neue Phönix.“

„Den du dann genau so missraten erziehst wie den Letzten!“, konterte Dragoon wütend. Ein lautes Knurren seitens Driger erfüllte die Umgebung, denn mit dieser Unterstellung hatte der Drache ihn zutiefst gekränkt. Seiner Meinung nach war Dranzer etwas aufbrausend, doch ein Meisterstück einer Uralten. Gnadenlos, Gebieterisch und Stolz… So wie es sein sollte.

„Sie war so wie sie ist perfekt! Eine Uralte wie sie im Buche steht!“

„Ich kann sie nicht freilassen.“, überging Dragoon diese Aussage. „Deine personifizierte Perfektion ist verrückt geworden.“

„Das glaube ich nicht. Ich habe ihr einen kühlen und berechnenden Verstand beigebracht.“

„Sie ist ein Phönix! Temperament liegt ihr im Blut. Alles andere wäre nicht normal.“

„Dranzer wusste sich stets zu zügeln. Sie war immer eine gute Schülerin.“

„Ihre letzten Taten sprechen nicht für sie…“

Driger fauchte. Er schritt auf und ab, als habe er Mühe an sich zu halten. Seine Fäuste geballt, verrieten seine knackenden Finger, dass er den Wunsch verspürte etwas zu zertrümmern. Dann hielt er inne und als er sich in einer schnellen Bewegung zu ihm umwandte, lag sein anklagender Satz unvermittelt in der Luft.

„Du hast sie nie gemocht...“

„Das stimmt nicht.“

„Sie war dir immer ein Dorn im Auge!“

„Das ist eine Lüge…“, wiederholte Dragoon gereizt.

„Warum dann das alles?“, Drigers Augen fixierten ihn. Mit jeder Silbe wurde er lauter. „So viele Male habt ihr gegeneinander gekämpft. Seit Jahrhunderten zieht sich eure Fehde zurück, aber nie hast du es gewagt sie zu verschlingen, wenn sie besiegt vor dir lag! Was war dieses Mal anders?“

Und als keine Antwort kam.

„WAS?!“

„Weil das Miststück ein verdammtes Tabu gebrochen hat!“

Dragoons Stimme donnerte laut durch die Dunkelheit, als er mit der Faust auf seinen Thron haute und die Wucht darin, ließ die glühenden Wurzeln erbeben. Von hoch oben fiel Erde in feinen Rinnsalen herab. Zusammen mit seinen Widerworten, verstummte auch Drigers Wut. Erst nach einer langen Pause, setzte er zu einer Frage an.

„Welches Tabu?“

„Das Schlimmste… Für diesen Jungen! Sie hat angefangen den Bengel zu Umsorgen wie ein Heiligtum! Wenn du sie gesehen hättest... Schütteln wollte ich sie, bis ihr diese Flausen aus dem törichten Kopf fielen!“, Dragoons Gesicht verfinsterte sich bei diesem Gedanken, denn es war immer noch ein Mensch den Dranzer da wie eine Kostbarkeit behandelt hatte.

Ein Mensch – schwach, sterblich und in seiner Unwissenheit nicht zu übertreffen!

Dragoons Macht, die ganze Landstriche in Schutt und Asche legen konnte, hatte sie stets mit einem Schulterzucken abgetan, doch so ein kleines sterbliches Kind, dass ihr aus einem Buch vorlas, bemutterte sie wie eine Henne.

„Was?“, verdutzt wich Driger zurück. „Unmöglich… Das ist eine Lüge!“

Er schien tatsächlich um Fassung zu ringen. In einem anderen Moment, hätte Dragoon dieser Anblick belustigt. Ein erschütterter Uralter war ein seltener Anblick. Er sah bereits wie es im Kopf des Tigers arbeitete, wie er jede seiner Erziehungsmethoden und Lektionen der Vergangenheit im Geiste durch ging. Sicherlich fragte er sich was er bei Dranzer falsch gemacht hatte. Leider ließen Drigers nächste Worte ihn seinen Spott vergessen.

„Wie konnte das passieren? Wir beide hatten doch geplant, dass sie nach ihrer Ausbildung, dir zugespro-…“

„Erinnere mich nicht daran.“, fuhr Dragoon dazwischen. „Es ist schon so Kränkung genug. Du musst nicht noch Öl in die offene Wunde gießen, indem du mir diese Tatsache nochmals vor Augen hältst!“

„Vielleicht sollten wir ihren Jungen nicht hier behalten.“, sprach Driger nun nachdenklich und legte die Stirn in Falten. Was er gehört hatte, passte ihm genauso wenig wie Dragoon. Als Dranzers Vaterfigur wollte er natürlich nur das Beste für sie, deshalb musste sie wieder zu klarem Verstand kommen. „Wenn du möchtest töte ich ihren Jungen. Dann kann er Dranzer nicht mehr den Kopf verdrehen und du hättest deine Rache. Wir könnten sie dann auch wieder herauslassen.“

„Ein verlockender Gedanke. Aber wie ich dir bereits sagte, die Gruppe muss zusammen bleiben. Egal wer es ist, sei es er oder einer der anderen, wir werden die Jungen niemals ruhigstellen können, wenn einer von ihnen fehlt.“

Zudem hätte er sich dadurch nicht besser gefühlt. Die Schmach war da, mit oder ohne Rache.

Das Einzige welches ihm Freude an der ganzen Angelegenheit bereitete, war die Tatsache, dass Dranzer mit ihren Gefühlen nicht auf Gegenseitigkeit stieß. Der Junge war ihr nur verfallen, weil er von ihr komplett verdreht wurde, andernfalls hätte er sich niemals auf sie eingelassen. Er war sich gewiss, dass Dranzer sich darüber eigentlich im Klaren war.

„Aber Dranzer ist die Einzige die ihre Erinnerungen löschen kann. Jetzt wo sie fort ist, ist ihr Bann gebrochen. Wie willst du die Jungen noch freiwillig hier behalten?“

„Ich gebe zu ihr Ausbruch hat einiges durcheinander gebracht. Wir werden noch einige Verbesserungen an unserer Scheinwelt vornehmen müssen, bevor sie wirklich real wirkt.“

Ein leichtes Lächeln stahl sich um Dragoons Mundwinkel.

„Darum kümmert sich Draciel aber bereits. Übrigens, wenn du möchtest, kannst du nun auch zur Tat schreiten. Ich denke du hast lange genug auf deinen Einsatz gewartet…“

„Herrlich“, Driger war wieder bester Laune. „Du stimmst meiner Entscheidung also zu?“

„Es spricht nichts dagegen. Wie du deinen Menschen hier behältst ist allein dir überlassen. So lange die anderen Drei nichts davon merken, ist es mir gleich. Ich lasse dir freie Hand.“

„Gut. Dann mache ich mich sobald auf den Weg, “ er wandte sich um, hielt aber noch einen Moment inne. „Versprich mir aber, dich um Dranzer zu kümmern. Du kannst ihre Wiedergeburt nicht ewig hinauszögern…“

„Hmm.“

„Versprich es!“

Dragoon seufzte. Er hatte gehofft, dieses lästige Thema erst einmal auf sich beruhen lassen zu können. Ihm wäre es lieber Dranzer in guter Verwahrung zu wissen und sei es in seinem eigenen Magen. Gezwungenermaßen entgegnete er: „Schon gut, ich werde sie gleich ausspucken. Du wirst mir aber zustimmen müssen, dass es ratsam ist ihr einen Fluch aufzuerlegen. Etwas das ihren Willen erstickt… Außerdem will ich nicht dass sie sich wieder an die Oberfläche begibt. Sie steht ab jetzt unter Hausarrest.“ Er dachte kurz nach und fügte dann hinzu. „Am besten sie bleibt ganz nah bei mir. Ich muss sie im Auge behalten. Wenn ich nicht kann, wirst du das übernehmen, ansonsten hat sie mir nicht mehr von der Seite zu weichen.“

„Das wird ihr nicht gefallen…“

„Soll ich das Luder laufen lassen wie sie will?! Sie wird mir wieder stiften gehen… Nein! Dieses Mal nicht. Dieses Mal muss sie sich verdient um ihre Freiheit machen. Wenn sie die nächsten Jahrhunderte artig ist und mir gefällt, lasse ich ihr mehr Freiraum.“

„Tu alles um sie zur Vernunft zu bringen… Solange es nicht bedeutet sie wieder zu töten.“

„Als ob wir beide nicht wüssten, dass das bei einem Phönix nie vollkommen passiert.“, sprach Dragoon gelangweilt. Schließlich nickte Driger leicht, wandte sich zum Gehen und man hörte ihn murmeln: „Ausgerechnet ein Mensch. Welcher Wahnsinn hat sie getrieben?“

Damit verschwand seine Silhouette in der Dunkelheit – ließ Dragoon mit seinen eigenen Gedanken zurück.

Ja, was hatte sie dazu getrieben?

Diese Frage ließ auch ihn nicht los.

Er selbst handelte aus reinem Vergnügen… und auch gekränkter Eitelkeit.

Takao hatte von ihm so viel erhalten und zum Dank wurde er in einer staubigen Schachtel verstaut. Nach allem was sie miteinander durchgestanden hatten, war er enttäuscht von dem Jungen. Er ließ sich nicht wie ein altmodisches Spielzeug wegsperren.

Ausgerechnet er?

Was war Dragoon - ein billiges Souvenir der Vergangenheit?

Wenn Takao ihn dafür hielt, dann war die Zeit gekommen, den Spieß umzudrehen.

Hier, in der Irrlichterwelt, waren sie seiner Gnade, seinen Launen und seiner Willkür ausgesetzt. Er würde mit der Gruppe spielen.

Dragoon konnte ihnen den Himmel auf Erden schenken oder sie in Angst und Schrecken versetzten, je nachdem, wie kooperativ sie sich zeigten – er war ein Junge, der mit einem Stock in einem Ameisenhaufen stocherte. Zuckerbrot und Peitsche, so nannten es die Menschen.

Irgendwann würden sie merken, dass es ihnen besser erging, wenn sie sich seinem Willen beugten. Dann würde er ihnen einen Vorzug nach dem anderen gönnen. In kleinen Happen, bis sie sich kein schöneres Leben mehr vorstellen könnten. Das würde hundert, vielleicht auch zweihundert Jahre so laufen.
 

Und dann würde er plötzlich zuschlagen…

So unerwartet wie Takao ihm den Rücken zugewendet hatte, würde Dragoon sie zurück stoßen, in eine Welt, in der alle die sie kannten tot und ihre Namen längst vergessen waren, einer Erde die vielleicht sogar durch die menschliche Dummheit zu einem vermoderten Loch verkommen war. Ohne Heim und Familie würde Takao regelrecht darum flehen wieder zurück zu dürfen. Doch dann würde Dragoon ihm seine eigenen Medizin zu schlucken geben. Er würde ihm die Tür vor der Nase zuschließen, wie Takao es einst mit ihm getan hatte.

Genugtuung blitzte in Dragoons Augen auf.
 

Er erhob sich langsam, tat einpaar Schritte vom Wurzelwerk fort und machte sich bereit Dranzer auszuspucken. Es war nicht sein Wunsch einen Streit mit Driger vom Zaun zu brechen, der einer seiner engsten und treuesten Verbündeten war. Mit geschlossen Augen konzentrierte Dragoon sich auf Dranzers winziges Feuer, dass in ihm versiegelt lag. Sie musste mittlerweile schon ein Ei geworden sein.

Doch etwas war seltsam. Er konnte nichts mehr von ihr spüren. Dragoons Braue zuckte leicht und er räusperte sich. Selbstverständlich konnte es sich dabei nur um einen Fehler handeln.

Er konzentrierte sich erneut. Doch das Ergebnis blieb dasselbe. Er suchte jeden Winkel seines Körpers ab, doch der Phönix war nicht mehr da, bis auf…

„Unmöglich!“

Mit einem wütenden Brüllen spie Dragoon das Einzige aus, was er noch von Dranzer vorfand.

Die Überbleibsel lagen staubig in der Handfläche und fielen zwischen seinen blassen Fingern hinab.

Phönixasche.

Seine Braunen zogen sich tief ins Gesicht und seine Wut entlud sich in einem lauten Schrei:

„DU DRECKSTÜCK! DENK NICHT DU KANNST MIR SO ENTKOMMEN!“
 


 

*
 

„Was ist wenn sie gar nicht von der Welle erfasst wurden?“

„Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen.“

„Warum finden wir sie dann nicht?“

Allegro ließ die kleinen Schultern unwissend zucken und schüttelte den Kopf.

„Ich weiß es nicht. Vielleicht hat sie die Welle in eine andere Gegend verschleppt.“

„Auch das noch…“

Max ließ sich seufzend auf einem umgestürzten Baum nieder. Nachdem sie in die Fluten gesprungen waren, um ihren Freunden zu folgen, fanden sie sich kurz darauf in einem dichten Wald wieder. Es war das mit Abstand verrückteste was sie je erlebt hatten.

Die Welt hatte sich gedreht und keine Sekunde später, hielt sie inne und das Szenario verwandelte sich einfach so in eine subtropische Landschaft.

Fort waren die Gesichtslosen, die Hochhäuser und alles was an eine Stadt erinnerte.

Nun ragten überall riesige Bäume, dichtes Farngestrüpp und von Moos überwachsenes Gestein aus dem Erdboden. Das Vorwärtskommen wurde durch haufenweise Hindernisse erschwert und war ermüdend.

„Wir haben nicht einmal was zum Essen mitgenommen“, fiel Ray auf. Ihr gesamter Proviant lag irgendwo im anderen Teil der Irrlichterwelt herum, gut verstaut aber unerreichbar, im kleinen Minivan. „Na ja, es hilft alles nichts. Lass uns weitersuchen.“

„Lass mir doch noch zwei Minuten. Wir suchen seit heute Morgen. Ich kann nicht mehr.“

Zu allem übel schmerzte wieder die Wunde, die Max noch vom Vorfall im Hiwatari Anwesen besaß. Bei ihrem Ritt in den Fluten, war sie erneut aufgeplatzt und blutete wie die Hölle.

Ray hatte sie provisorisch mit etwas Stoff verbunden, behielt aber für sich, dass sie eine ungesunde Färbung aufwies. Er wollte Max nicht beunruhigen. Sie hatten so viele Sorgen und er verstand beim besten Willen nicht, was Tyson mit Kai am Flussufer gewollt hatte. Jetzt saßen sie hier fest, in einer Gegend die geradezu menschenfeindlich war.

Max stöhnte leise und Ray erkannte einen leichten Schweißfilm auf seiner Stirn. Es ließ sich nicht mehr abstreiten, die Wunde hatte sich eindeutig entzündet. Sie war angeschwollen und ließ sich nicht einmal mehr vom Verband verdecken.

„Wartet hier.“, wies er Allegro und Max an.

„Warum?“, kam die Frage prompt von Letzterem.

„Ich will nur kurz etwas suchen.“

„Alleine?“

„Ja alleine.“

Max holte zu Widerworten aus, wurde aber von Ray unterbrochen.

„Bleib einfach wo du bist. Dieser Wald kommt den in meinem Heimatdorf recht nahe. Ich will nur nach einer ganz bestimmten Pflanze Ausschau halten.“

„Wozu? Ich will nicht das du alleine herumrennst!“

„Frag doch nicht so viel. Lass mich einfach. Ich bin bald zurück.“

Er winkte mit einem zuversichtlichen Lächeln ab und verschwand in den umliegenden Büschen, ließ Max und Allegro hinter sich zurück.
 

Der Wald war an vereinzelten Stellen lehmig, manchmal unpassierbar, doch Ray wusste sich stets zu helfen. Er war mit den White Tigers früher ruhelos durch die Wälder gezogen. Daher auch sein Wissen über Flora und Fauna. Dort wo er herkam gehörte dies zur Allgemeinbildung. Wo andere an Bächen standen und sich nicht die Kleidung nass machen wollten, sprang Ray mit Freuden hinein, an Stämmen kletterte er flink hinauf und an Ästen hangelte er sich geübt auf die andere Seite eines Flusses. Als er so im Wald seinen Instinkten folgte, fühlte er sich an seine frühe Kindheit erinnert – vor den Bladebreakers.

Damals, als er noch beim Dorfältesten wohnte.
 

Rays Eltern waren früh verstorben. Sie waren vor vielen Jahren bei einem Erdrutsch ums Leben gekommen, bei dem ihr Haus unter den Massen begraben wurde. Er verdankte es einer glücklichen - wenn auch traurigen Fügung - dass er ihr Schicksal nicht teilen musste, denn er hatte zuvor ein Fieber bekommen, das von der Dorfältesten behandelt werden musste. Seine Mutter war damals, auch durch dieselbe Krankheit, ans Bett gefesselt, deshalb hatte Rays Vater seinen Bruder gebeten, trotz des starken Regens, mit dem Säugling zur Heilerin zu gehen, damit er selbst bei seiner Frau bleiben konnte.

Ray musste die Nacht über bei der Dorfältesten bleiben, würde laut ihrer Meinung aber mit den richtigen Mitteln bald wieder gesund werden. Als Rays Onkel den Weg nachhause antrat und seinem Bruder die erleichternde Botschaft übermitteln wollte, stand er aber wie vom Donner gerührt vor den Schlammmassen die die Hütte von Rays Eltern unter sich begraben hatte…
 

Es war ein furchtbar trauriges Ereignis in dem Dorf, denn Rays Eltern waren sehr beliebt gewesen. Ray selbst war damals kein Jahr alt, konnte sich also nicht einmal an ihre Stimmen erinnern. Doch nach der Trauerzeremonie, musste man sehen, wo das Kind unterkommen konnte. Rays Onkel hätte den Jungen nur zu gerne aufgenommen, doch er konnte mit seinem kümmerlichen Gehalt als Bauer kaum seine eigene Frau und Tochter ernähren. Schließlich einigte man sich darauf, dass Ray bei den Dorfältesten bleiben sollte, die auch Lees und Maos Großeltern waren.

Nach einigen ertragsarmen Jahren, entschied sich Rays Onkel schließlich, mit seiner Familie sein Glück im Ausland zu versuchen. Er reiste nach Japan wo er ein kleines chinesisches Restaurant eröffnete. Jeden Yen den er entbehren konnte, schickte er seinem Neffen, um ihn auch zu unterstützen. Somit war Ray aus finanzieller Sicht gestützt, denn mit dem Geld kam man in den Bergen ganz gut um die Runden.

Für die gute Erziehung sorgten Maos Großeltern.

Sie waren sehr liebevoll gewesen, hatten ihn nie belogen was seine Herkunft anging und ihm immer nahegelegt, die Seelen seiner verstorbenen Ahnen zu ehren. Am Todestag seiner Eltern begleiteten sie ihn zu den Trümmern des Hauses, beteten mit ihm an der Grabstätte und erzählten ihm Geschichten von ihnen. Zu seinem neunten Geburtstag hatten sie es sogar vollbracht, ein altes Hochzeitsfoto seiner Eltern aufzutreiben.

„Du darfst niemals diese beide Menschen vergessen.“, hatte der Dorfälteste damals gesagt. Er tippte mit seinen alten, dennoch starken, schwieligen Händen auf das eingerahmte Foto. „Ihre gütigen Gesichter ähneln deinem. Ihre sanftmütigen Augen sind deine Augen. Sie mögen Tod sein, aber durch dich sterben sie nie. Und wenn du nicht mehr bist, wirst du durch dein Kind unsterblich bleiben. Bereite ihnen niemals Schande, Ray. Das haben sie nicht verdient, denn deine Eltern waren gute Menschen.“

Ray hatte seine Eltern nie vergessen – mehr noch. Durch die Geschichten seiner Verwandten und Zieheltern, schienen sie jeden Tag präsent. Er hatte seine Eltern auf eine andere Art kennengelernt und wusste trotzdem, was für Menschen sie gewesen waren.

Demnach konnte er sich nicht beschweren. Trotz der traurigen Anfänge hatte er eine schöne Kindheit gehabt, denn obwohl die Menschen im Dorf nicht viel hatten, wurde er gut umsorgt.

Besonders gefiel ihm, wie die Dorfälteste ihn jeden Nachmittag, mit auf ihr kleines Feld hinterm Haus nahm und ihm alles erklärte was sie wusste.

„Siehst du das hier? Wenn du die Blätter dieser Pflanze zerstampfst und anschließend mit heißem Wasser aufbrühst, gibt das den besten Tee der Welt. Etwas Besseres wird dein Gaumen nie kriegen. Außerdem helfen die Kräuter sehr gut bei Halsschmerzen und Heiserkeit.“

Sie war eine Kräuterkundlerin und sehr weise. Allerdings auch etwas durchgeknallt…

„Und wasch dir morgens nicht mit Wasser das Gesicht. Spuck auf deine Fingerspitzen und fahr dir damit über die Augenränder. Das hält dich sauber.“

Nun gut, man musste nicht jeden Ratschlag befolgen.

Das hatte Ray schon früh bemerkt…
 

Immerhin wusste er dank Mariahs Großmutter aber, nach was er suchte und wo er es finden konnte. Er lauschte kurz in die Geräusche des Waldes, da hörte er endlich wonach er Ausschau hielt. Das Plätschern eines Wasserfalls.

Er kletterte über einen verwitterten Pfad und grinste, als er endlich auf die Pflanzen stieß, die er so dringend benötigte – Frauenmantel.

Eine weit verbreitete Heilpflanze, die bereits seit Jahrhunderten gegen Entzündungen half wie sie Max hatte. Sie wuchs vorzugsweise an feuchten Orten, suchte sich aber gerne auch Felsspalten aus. Zielstrebig trat Ray zum kleinen Wasserfall, an dessen steinigen Seiten sich ein ganzer Strauch der halbrosettenförmigen Blätter sammelte.

Anschließend kniete er sich hin und begann, wofür er gekommen war. Gute zehn Minuten war er damit beschäftigt auszusortieren, was er brauchte und was nicht.

Als er mit seiner Arbeit fertig war, stand er auf und wollte sich zum Gehen wenden, da fiel sein Blick auf eine Pflanze, die geradezu befremdlich wirkte. Sie wuchs oberhalb des Wasserfalls, hing mit ihren roten Wurzeln über dem Felsvorsprung und unterhalb ihrer Blätter wuchsen transparente Früchte, die bernsteinfarben in der Sonne glänzten.

In China hatte er dieses Kraut noch nie gesehen.

Die Neugierde packte ihn. Er kletterte den Vorsprung hinauf und begutachtete die Pflanze von allen Seiten. In den kugelförmigen Früchten schwamm ein kleiner schwarzer Punkt, der sich rührte, wie ein Wurm. Die Pflanze zuckte und in ihren durchsichtigen Stängeln, schossen in unregelmäßigen Intervallen, kleine Lichtpunkte aus den Wurzeln hinauf zu den Früchten.

Spaßeshalber nahm Ray eine der Kugeln in die Hand und wollte testen, wie viel Druck sie aushielt, da zuckte er mit einem Aufschrei zurück. Er blickte auf seine Fingerspitzen und aus kleinen Stichwunden an Zeigefinger und Daumen sickerte Blut. Die Pflanze hatte ihn tatsächlich gebissen!

„Total krank.“, murmelte er, tauchte die Hand kurz in den Bach, um die Blutung zu stillen und wandte sich danach ab. So eine widerliche Pflanze konnte es nur in der Irrlichterwelt geben. Ray sprang vom Vorsprung und machte sich, zusammen mit seiner Beute, auf den Rückweg.

Wäre er eine Sekunde länger geblieben, hätte er bemerkt, dass die Frucht, die ihn gebissen hatte, sich mit seinem eigenen Blut vollsog.
 

Die Zeit in der Irrlichterwelt mochte zwar anders vergehen, als in der Menschenwelt, trotzdem war Ray sich sicher, dass er nicht länger, als eine Stunde weg gewesen war. Umso überraschter war er, als er die Lichtung, an der er Max und Allegro zurückgelassen hatte, verlassen vorfand. Zunächst dachte er, die Stelle zu verwechseln, immerhin sah jeder Baum wie der andere aus, doch schnell entdeckte er ihre Fußspuren, womit seine Vermutung widerlegt wurde.

Was hatte das zu bedeuten?

Hatten sich die beiden auf die Suche nach ihm gemacht?

Er hatte doch ausdrücklich gesagt, dass sie hier auf ihn warten sollten.

Innerlich ärgerte sich Ray über Max. Konnte er sich nicht denken, wie schwierig es nun für Ray war, ihn zu finden? Sein Freund konnte sonst wo sein! Max war kein Naturmensch, besaß den Orientierungssinn einer Fliege, nicht wie jemand, der in einem kleinen chinesischen Bergdorf aufgewachsen war. Sicherlich hatten er und Allegro sich hoffnungslos verlaufen.

„Oh Mann, Max du Hohlbirne!“, fluchte Ray genervt vor sich her und trat frustriert gegen einen Stein. Er flog durch die Luft und direkt in ein Gebüsch – und ein Kreischen kam daraus.

Erschrocken fuhr Ray zusammen.

„Was zum…?“

Kurz darauf raschelte es im Busch und ein weißes Äffchen sprang hervor. Es klatschte sich mit den Händen hysterisch auf den Schädel, genau auf jene Stelle, an der Rays Stein ihn getroffen hatte. Dabei kreischte es wie wild, dass sein Kiefer geradezu sperrangelweit offen stand.

„Oh! Entschuldigung Klein-…“

„Penner!“

„Was?!“, Ray blieb die Spucke weg. Das kniehohe Bit Beast schlug sich wie wild mit den Fäusten auf die Brust und brüllte: „Trottel! Idiot! Vollpfosten!“

„Jetzt mach mal halblang.“

„Dir sollte man den Schädel spalten!“

„Ist ja gut! Es war keine Ab-…“

„Arschloch!“

Jetzt wurde Ray doch wütend. Dieser kleine Dreikäsehoch kam gar nicht mehr aus seinen Beschimpfungen heraus, dabei hatte er sich doch bereits entschuldigt. Drohend hob er den Finger und sagte: „Jetzt hör mir mal einen Moment zu! Es tut mir Leid, mehr kann ich dazu nicht sagen! Also wenn es dir nicht passt, mach dich vom Acker bevor ich…“

„Arschfurz!“

„HÖR AUF DAMIT!“

„Drecksack! Sitzpisser! Scheißhaufen!“

„Weißt du was? Leck mich! Ich nehme meine Entschuldigung zurück.“, genervt machte Ray auf dem Absatz kehrt und verschwand in den umliegenden Büschen. Er hatte andere Sorgen als das melodramatische Theater eines Affen. Max und Allegro waren irgendwie abhanden gekommen, irrten ziellos durch den Wald und er gab etwas auf das Geschwätz dieser Witzfigur.

Nach einigen Minuten, in denen er durch die unwirtliche Landschaft wanderte, war der Affe auch fast vergessen - bis er zu einem kleinen Erdspalt kam.

Der Spalt war nicht tief und auch nicht besonders weit, deshalb wollte Ray über ihn hinweg springen. Doch in dem Moment, in dem er Mitten im Anlauf war…

KLATSCH

…knallte etwas mit Karacho gegen seinen Kopf.

Ray kam ins Straucheln, stolperte, landete aber noch auf der anderen Seite – mit dem Gesicht voraus im Matsch. Prustend sprang er auf und spuckte den Dreck aus, den er bei seiner Aktion verschluckt hatte. Er war gerade dabei sein Gesicht von der Schlammkruste zu befreien, als er ein nur zu bekanntes Schnattern vernahm.

„Bergente! Fischkopf! Saukerl!“

Mit gefletschten Zähnen fuhr Ray herum und machte das Äffchen oberhalb eines niedrigen Baumes aus. Es gackerte fröhlich vor sich her und präsentierte ihm stolz sein Hinterteil, dass er in einem albernen Tanz hin und her schwenkte.

„Was hast du da nach mir geworfen?“, fragte Ray verstört.

„Das wüsstest du gerne, nicht wahr?“

„Ach! Ich habe keine Zeit für solche Spielchen. Wir sind jetzt Quitt! Hau ab!“

Ray wollte sich schon wieder abwenden, da rief das Bit Beast:

„Ich gebe dir einen Tipp. Es ist braun, matschig, aber wenn es trocken ist, auch mal steinhart.“

Ein konfuses „Hä?“ kam von Ray. Da machte das Bit Beast eine unmissverständliche Geste. Es zeigte mit der Linken auf sein Hinterteil und mit der Rechten hielt es sich die Nase zu.

„Oh mein…“, angeekelt klopfte sich Ray die Überreste des Geschosses aus dem Haar. Begleitet wurde das Ganze vom nervenden Gackern des Bit Beasts – und in diesem Moment sah Ray Rot. Er war kein gewalttätiger Mensch, um genau zu sein war sein Motto:

„Leben und leben lassen.“

Doch so wahr er hier stand, dieses Bit Beast würde er umbringen!

Schneller als das Äffchen sehen konnte, war Ray aufgesprungen, hatte sich flink am Ast hinaufgezogen und die Beine in einem Überschwung hochgezogen. Das Ergebnis war, das das Kerlchen seine Füße direkt in den Rücken gerammt bekam und vom Baum fiel. Als es im Schlamm landete, ließ sich Ray kopfüber vom Ast hängen und grinste süffisant.

Das war doch mal ein schöner Anblick!

Wäre Max hier, hätte er das ganze wohl mit „Payback is a bitch“ kommentiert.

Da machte das Äffchen etwas Beunruhigendes. Es begann mit den Fäustchen auf den lehmigen Boden zu klatschen und zu toben. Zuerst hatte Ray das ganze voller Genugtuung beobachtet, bis das Bit Beast immer hysterischer wurde und wie wild umher sprang.

Dann verdoppelte es sich.

Einfach so…

Es hüpfte zur Seite und ein weiters Äffchen stand da, genauso aufgebracht wie das Erste.

Aus zwei wurden drei. Aus drei wurden vier.

Bis fünf cholerische Zwerge umher sprangen.

Das wurde Ray dann doch zu heiß.

Mit einem Mistvieh kam er locker klar, aber fünf…

Plötzlich hatte er eine Eingebung und ihm wurde bewusst, wen er vor sich hatte.

Das Bit Beast seines alten Teamkollegen Kevin, als Ray noch für die White Tigers spielte.

Der hatte auch einen Move drauf, mit dem es den Anschein hatte, als hätte sich sein Blade vervielfältigt.

„Du bist Galman?!“

Doch anstatt einer Antwort, bekam er fünf Mittelfinger entgegengestreckt. Dann sprangen die Affen auf ihn los.
 


 

*
 

*Hüstel* Bitte fragt nicht ob Frauenmantel wirklich gegen Entzündungen hilft. Meine Oma hat das mal behauptet und es war die einzige Pflanze an deren Aussehen ich mich vage erinnern kann. Laut Googel ist es medizinisch nicht wirklich erwiesen das diese Pflanze überhaupt zu etwas zu gebrauchen ist. Muss wohl ein "Altweibermittel" sein...

Wenn ihr also eine Entzündung habt, fragt euren Arzt oder euren Apotheker und macht es nicht wie Ray. ^_~
 

Und noch ein Dankeschön an die Kommischreiber von letztes Mal. Jedes Kommentar spornt an und nach jedem Kommi den ich lese, freue ich mich so sehr, dass es gleich wieder flüssig läuft. ^_^

Tyson hätte nicht enttäuschter sein können als sie endlich das Dorf erreichten. Es war verlassen. Von den Phantomen, die ihnen jeden Wunsch ablasen, war nichts zu sehen und die Häuser waren mehr Holzhütten, wie man sie aus den frühen Anfängen Japans kannte.

Er ließ seinen Blick über die strohbedeckten Dächer wandern und tat seiner Verwunderung laut kund. „Gibt es hier keine Phantome?“

Wolborg schüttelte verneinend den Kopf und trat an die Schwelle einer Hütte, die sich nur durch ihre Größe von den anderen unterschied. Trotzdem wirkte sie dadurch nicht komfortabler.

„Wozu erschaffst du dir ein ganzes Dorf, wenn du nur ein einziges Haus nutzt?“

„Ich habe es nicht erschaffen…“

„Wie meinst du das?“

Wolborg strich mit ihren zierlichen Fingern am Türrahmen entlang.

„Dieses Dorf stand vor sechshundert Jahren in der Menschenwelt.“

Tyson schreckte auf.

„Aber… wieso steht es jetzt hier?“

„Ich habe es geschenkt bekommen.“

„Von wem?“

„Dragoon.“

„Und was ist mit den Menschen passiert die hier gelebt haben.“

„Tot.“

Entsetzt blinzelte Tyson ihr entgegen, doch mit einem verständnisvollen Ausdruck, sprach Wolborg: „Vor sechshundert Jahren war das Leben weitaus gefährlicher. Es kam nicht selten vor, dass in einem harten Winter ein ganzes Dorf erfroren ist. Krankheit und Tod waren allgegenwärtig. Als ich diesen Ort geschenkt bekam, waren die Bewohner bereits lange Zeit verstorben – aus vielerlei Gründen.“

Tyson fröstelte es bei diesem Gedanken und er spürte wie sich das Kind an seiner Hand verschüchtert an ihn drängte. Auch Kai schien es nicht zu behagen an diesem Ort zu bleiben.

„Weshalb macht dir Dragoon so ein… Geschenk?“

„Für meine guten Dienste? Weil ich ihm einen Gefallen getan habe?“, Wolborg wandte sich von ihnen ab und schob die Decke zur Seite, die über der Tür hing, um den Wind aus dem Haus zu halten, doch Tyson meinte für einen kurzen Moment einen verbitterten Ausdruck auf ihrem Gesicht zu sehen. „Oder womöglich weil selbst die schrecklichsten Kreaturen manchmal die Reue überkommt… Wer weiß das schon?“

Mit diesen Worten trat sie ein und ließ die Junge alleine mit ihren Gedanken stehen.

Wollte Tyson ihr wirklich in dieses Haus folgen?

Er konnte sich nicht vorstellen, dass ihnen in diesen Pappschachteln warm werden würde, aber in ihrer Situation durfte er wohl nicht wählerisch sein. Hauptsache sie kamen raus aus dem Schnee und gegen eine warme Mahlzeit würde er sich auch nicht sträuben.

Eine Stunde später saßen die Jungen in Wolborgs Hütte, hielten ihre Schüsseln mit Brei in den Händen und aßen, dabei verbrachten sie die Zeit stillschweigend.

Tyson hing seinen Gedanken nach, Wolborg rührte im großen Kessel über einer Feuerstelle in der Mitte des Raumes. Etwas seltsam fand er, dass sie die Feuerstelle nicht wirklich nutzte, denn sie zündete die Holzscheite unter dem Kessel nicht an, deshalb war der Brei den sie aßen kalt und in der Hütte dominierte die Kälte jede noch so kleine Ecke. Schließlich verstaute Wolborg ihre „Seltenheiten“ in einer Kiste und nachdem Kai gegessen hatte, bat Tyson um einpaar Decken, um den Kleinen darin einzuwickeln. Kurz darauf war das Kind auch schon neben ihm eingenickt. Tyson beobachtete eine Weile die zusammengekauerte Gestalt, die friedlich auf dem Boden zu seiner Seite schlummerte und sein Blick wanderte zu Kais Lippen, die endlich nicht mehr blau waren. Nur Kinder konnten in einer solchen Situation sorglos schlafen, dass wurde ihm in diesem Moment bewusst. Entspannt seufzte er, lehnte seinen Rücken gegen die Wand und sah Wolborg bei ihrer Arbeit zu. Was immer sie tat, sie machte es mit einer Engelsgeduld und Sorgfalt, an der sich mancher Mensch ein Beispiel nehmen konnte.

Etwas später setzte sie sich an ein altertümliches Gerät und begann an einer langen Stoffbahn zu weben. Wie sie das so behände anstellte, konnte Tyson sich nicht erklären, immerhin war sie doch angeblich blind. Trotzdem schien sie keine Probleme zu haben, den altmodischen Webstuhl zu bedienen. Er schüttelte den Kopf um sein Misstrauen zu verscheuchen, immerhin wären sie ohne Wolborg erfroren und ihm fiel ein, dass er sich noch nicht einmal erkenntlich gezeigt hatte.

Vollkommen unerwartet, sprach er in die Ruhe hinein: „Danke!“

Wolborgs Gesicht erhob sich von ihrer Arbeit und der Webstuhl verstummte.

„Wie bitte?“

„Ähm…“, Tyson rutschte unangenehm berührt auf seinem Platz hin und her.

„Ich habe Danke gesagt. Mir ist gerade aufgefallen, dass ich das vergessen hatte.“

Wolborg nickte nur um ihm zu zeigen, dass sie verstanden hatte. Dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Obwohl Tyson sie nicht nerven wollte, fragte er:

„Ist es nicht einsam hier?“

„Die wenigsten Bit Beast bevorzugen Gesellschaft.“

„Oh“, er wusste nie, ob solche Kommentare von ihr eine Anspielung waren. „Weißt du, wir bleiben auch nicht lange. Wir wollen dich nicht stören.“

„Das tut ihr nicht.“

Kurzes Schweigen kehrte ein, welches das Klappern des Webstuhls umso lauter ertönen ließ.

„Dieses Kind ist Kai, nicht wahr?“, kam es ganz unerwartet von ihr.

„Ja… Du erinnerst dich noch an ihn?“

„Ich erinnere mich an jeden von euch. Von Kai meinte ich aber, dass er älter wäre.“

„Ist er eigentlich auch. Seit wir hier sind, ist allerdings einiges vorgefallen. Ich weiß nicht warum, aber Kai ist viel jünger geworden als wir alle zusammen.“

„Hmm…“, machte Wolborg, als dachte sie über etwas nach. „Er benimmt sich anders als in meiner Erinnerung. Als ich ihn kennenlernte war er nicht so temperamentvoll. Er war kalt… genau wie ich.“

Tyson lachte auf.

„Dann hast du Kai noch nie richtig kennengelernt. Er mag zwar von Außen her kühl erscheinen, aber der Junge ist ein echter Hitzkopf.“

„Ist das so?“

„Natürlich!“

„Warum bist du dir so sicher?“

„Naja…“, Tyson überlegte. „Das erkennt man eigentlich recht schnell.“

Er schielte zu Kai um sicherzustellen, dass er auch wirklich nicht zuhörte. Was er jetzt sagte, musste das Kind nicht mitkriegen, weil es Tyson irgendwie seltsam vorkam, diese Entdeckung jemanden zu erzählen.

„Allein Kais Augen sprechen für sich. Wenn du sie sehen könntest, wüsstest du wovon ich spreche…“

Ganz unvermittelt hielt Wolborg in ihrer Arbeit inne.

„Was ist mit ihnen?“, fragte sie, scheinbar neugierig geworden und legte ihr Werkzeug auf ihren Schoß.

„Oh man, wie erkläre ich dir das, ohne das du mich für seltsam hältst?“

Tyson rieb sich den Nacken, als ihm schließlich die Erleuchtung kam.

„Weißt du dass Kai ein richtiger Mädchenschwarm ist? Als wir früher noch gebladet haben, konnte er sich vor Verehrerinnen kaum retten. Ihm ging das total auf die Nerven, weil er kreischende Girlies hasst. Sie sind ihm zu penetrant und zeigen seiner Meinung nach keine Selbstachtung. Jedenfalls war da mal ein besonders lästiges Exemplar. Die hat ihm damals aufgelauert wie eine Stalkerin. Kurz vor der zweiten Weltmeisterschaft in Japan, sind wir abends vom Training gekommen, als Kai auf seinem Bett einen Brief fand… einen Liebesbrief. Irgendwie hatte es seine Verehrerin geschafft, in unser Hotelzimmer zu kommen und das vollkommen unbemerkt! Als ihm das klar wurde, hat er ihren Brief ungeöffnet zusammengeknüllt und in den Papierkorb geworfen. Daraufhin ist er unter die Dusche verschwunden. Max und ich fanden die Liebesbriefe von dieser Irren aber immer so urkomisch, dass wir den Brief wieder aus dem Müll gefischt und durchgelesen haben. Wir konnten nicht mehr aufhören zu lachen.“

Bei dem Gedanken daran begann Tyson zu Glucksen, musste aber feststellen, dass sein Humor wohl seines Gleichen suchte. Wolborg verzog keine Miene, deshalb räusperte er sich und fuhr fort.

„Wir haben uns den Brief durchgelesen und das Mädchen hat echt schräge Sachen geschrieben. Dinge die einfach nur kitschig und schnulzig waren. Aber da war ein Satz, bei dem ich stutzen musste - weil er stimmte. Sie meinte, dass sie jedes Mal, wenn sie Kai bei einem seiner Matchs beobachtete, ein Feuer in seinen Augen sehen könnte.“

„Ein Feuer?“

Tyson nickte und fuhr schnell fort.

„Es stimmt. Manchmal wenn Kai und ich gegeneinander antraten, hätte ich schwören können, auch dieses Feuer zu sehen. Es ist seltsam… aber in diesen Momenten wurde mir immer bewusst, dass Kai so viel… lebendiger ist, als wir alle zusammen. Und heute seit wir nicht mehr bladen, bin ich sicher, dass er seine ganze Kraft für seine Schwester aufbringt.“

Etwas nachdenklich blickte Tyson auf den Streit zwischen ihm und Kai zurück. Wie sein Freund ihn zurechtgewiesen hatte, weil Tyson Trisomie kranke Kinder als Mongos bezeichnet hatte… Sein Freund wollte seine Schwester einfach nur beschützen.

„Du siehst in seinen Augen also ein Feuer?“

„Ja“, Tyson wurde verlegen. Der nächste Satz der folgte, war mehr ein Nuscheln. „Sie sehen aus wie Rubine.“

Ganz unbewusst wanderte seine Hand zu dem Haarschopf neben ihm und strich eine von Kais Strähnen aus seiner Stirn. Das Kind bewegte sich zaghaft der Handfläche entgegen, bis Tyson die warme Wange spürte. Erst als der Junge im Schlaf ein leises Seufzen von sich gab, erstarrte Tyson in seiner Bewegung. Schnell, um Wolborgs Aufmerksamkeit nicht auf sich zu lenken, verschränkte er die Hände hinter seinem Kopf und lehnte sich zurück an die Wand, während ein verstohlener Blick seine Gastgeberin traf. Doch die war mit den Gedanken weit fern.

„Rubine?“, wiederholte Wolborg das Wort, als würde es ihr irgendetwas sagen. „Flammende Rubine also…“

Dann fuhr sie wieder mit ihrer Arbeit fort. Es blieb nur kurze Zeit still, denn sie fragte:

„Wo wird euch euer Weg als nächstens hinführen?“

Tyson überlegte.

„Also zuerst müssen wir Ray und Max finden. Die beiden sind bestimmt krank vor Sorge. Anschließend auf direktem Weg raus aus dieser Welt.“

Etwas schien sie zu belustigen, denn sie lächelte.

„Was ist?“

„Auf direktem Weg aus dieser Welt? Wie willst du das anstellen?“

„Das weiß ich auch noch nicht“, gestand Tyson. „Aber wir finden bestimmt eine Möglichkeit. Bisher haben wir immer eine Lösung auf unsere Probleme gefunden.“

„Damals hattet ihr ein Bit Beast an eurer Seite.“

Etwas schnippisch kam die Antwort:

„Ich brauche Dragoon nicht! Wir kommen auch ohne ihn klar.“

„Du stellst dir das zu einfach vor.“

„Warum?“

„Ohne die Hilfe eines Bit Beasts kommen Menschen nicht in unsere Welt. Es sei denn natürlich sie sind tot. Demnach kommt ihr auch nicht ohne ein Bit Beast wieder nachhause.“

Tysons Mund klappte auf. Wenn das wahr war, hatten sie ein Problem.

„Verdammt“, er biss sich auf die Unterlippe. „Wieso? Wozu brauchen wir ein Bit Beast?“

„So wie wir in eurer Welt einen Menschen brauchen, der unsere Hüllen bedient, so brauchen Menschen in unserer Welt ein Bit Beast, das ihnen zur Seite steht. Ohne Tala, wäre ich niemals in der Lage gewesen, außerhalb der heiligen Neujahrswende in der Menschenwelt zu wandeln, ohne ständig in der Irrlichterwelt meine Kraftreserven aufzufüllen.“

„Neujahr? Wir haben erst den dreißigsten Oktober.“

„Und der einunddreißigste Oktober läutet das neue Jahr in unserer Welt ein.“

Tyson verstand nur Bahnhof. Warum spielte der einunddreißigste Oktober hier so eine große Rolle? Was war an diesem Tag so anders, dass Bit Beast stärker waren als sonst?

Wolborg las wohl seine Gedanken, denn sie fragte:

„Du verstehst nicht viel über unsere Welt.“

„Nein.“, gab er geknickt zu.

„Gut, dann lass es mich erläutern.“ Sie ließ ihre Arbeit ruhen, setzte sich zu ihm an die kalte Feuerstelle in der Mitte des Raumes und faltete die Hände sittsam auf ihrem Schoss. „Weißt du warum Bit Beast in eure Welt kommen?“

Tyson berichtete von Allegros Erfahrung, der ihnen erklärt hatte, dass Strommäuse die Elektrizität der Menschen antrieben.

„Das ist ein Anfang.“, stellte Wolborg fest. „Jedes Bit Beast hat seine Aufgaben in der Menschenwelt. Selbst der kleinste natürliche Vorgang basiert auf unserem Zutun. Das Wispern des Windes, das Flackern einer Flamme, das Rascheln der Bäume… überall steckt ein Geist dahinter. Desto größer der Vorgang, desto stärker ist das Bit Beast dahinter.“

Tyson nickte gebannt und lauschte ihren Worten.

„Das Problem an unserer Existenz ist nur, dass unsere Energiereserven in der Irrlichterwelt liegen. Wenn wir in die Menschenwelt reisen, bekommen wir nur so viel Kraft mit, wie wir benötigen, um unsere Pflichten dort zu erfüllen. Anschließend kehren wir zurück, um uns von Neuem auf unsere Reise vorzubereiten.“

„Dann ist Dragoon jedes Mal wenn ich ihn nicht gebraucht habe, zurück in die Irrlichterwelt gekommen?“

„Nein. Womit wir bei dem Grund wären, warum manche Bit Beast sich Menschen suchen. Wenn wir eine Verbindung zu einem Menschen eingehen, zapfen wir seine Energieressourcen an, um eine Rückkehr in die Irrlichterwelt zu vermeiden.“

„Wie?“

„Hast du dich während einem Kampf noch nie so stark auf dein Bit Beast konzentriert, dass du spürtest, wie deine Kraft zu Dragoon floss?“

Doch, das hatte er. Aber er war immer davon ausgegangen, dass er sich das nur einbildete.

Als er nämlich älter wurde, kam er sich dämlich vor, weil er als Junge beim Bladen immer so gebrüllt hatte, obwohl es doch eigentlich nur ein Spiel war.

„Die Wahrheit ist“, fuhr Wolborg fort. „Nur ein geringer Teil dieser Kraft wird von uns zum Kämpfen benötigt. Den Rest verbraucht ein Bit Beast für sich selbst. Man könnte es als einen Handel bezeichnen. Wir kämpfen für euch…“

„Dafür zapft ihr uns an.“, beendete Tyson den Satz. Er wusste aber nicht ob ihm das gefallen sollte. Er wollte nicht als Steckdose fungieren.

„Um aber zum einunddreißigsten Oktober zurückzukommen. An diesem Tag strömt die Energie aus der Irrlichterwelt in die Menschenwelt und macht es uns möglich, auch ohne Menschen dort auszukommen. Stell dir einen Wasserdamm vor.“

Sie zeichnete in den erdigen Boden, der um die Feuerstelle lag, eine gerade Linie ein.

Er beobachtete, wie ihre feinen Finger auf die eine Seite wellenförmige Linien zeichneten, während auf der anderen Seite eine Zeichnung entstand, die ihn an eine Mühle erinnerte. Wieder war er über ihr Geschick verwundert, mit der sie die Formen zog, obwohl sie doch eindeutig blind war. Sie deutete auf das Abbild welches den Damm symbolisierte.

„Dieser Damm ist die Mauer zwischen Bit Beast und Menschenwelt.“

Sie deutete auf die wellenförmigen Linien.

„Das ist die Energieressource hinter der Grenze, folglich die Irrlichterwelt.“

Dann zeigte sie auf die andere Seite des Damms.

„Nun stell dir vor, hier ist eine Wassermühle, die für ein Bit Beast steht, dass gerade in der Menschenwelt weilt. Da der Damm das Wasser versperrt, wird kein Korn in ihr gemahlen. Die Bauern darin müssen also allein die Räder zum Laufen bringen. Ihr Menschen seid die Bauern.“

Tysons Braue zuckte gekränkt, er verkniff sich aber ein Kommentar.

„Nun stell dir vor der Damm bricht.“

Sie verwischte mit der Handfläche die Linie, die für den Wasserdamm stand.

„Der Fluss führt wieder Wasser und die Bauern in der Mühle werden nicht gebraucht, da sich die Räder von alleine drehen. So verläuft auch der einunddreißigste Oktober für uns. An diesem Tag können wir in der Menschenwelt, ungeachtet jeglicher Barrieren, unseren Kräften freien Lauf lassen – so wie wir es in der Irrlichterwelt gewohnt sind.“

Tyson war erstaunt. Wolborg hätte eine sehr gute Lehrerin abgegeben, wenn sie ein Mensch wäre. Mit diesem ebenweißen schönen Gesicht, hätte sie auch die ungeteilte Aufmerksamkeit der männlichen pubertierenden Schüler und die tosende Eifersucht der Mädchen auf ihrer Seite. Zum Glück konnte sie nicht seine Gedanken lesen. Er lenkte sie in eine andere Richtung und sagte: „Verstehe. Deshalb diese Abhängigkeit von uns. Aber warum wollt ihr überhaupt länger als nötig in unserer Welt bleiben?“

„Würdest du gerne hier leben?“

Nein. Das würde er nicht.

Bis auf die folgsamen Phantome, war alles in der Irrlichterwelt schrecklich.

Tyson schüttelte den Kopf, merkte das Wolborg das wahrscheinlich nicht sah und verneinte schließlich.

„Da hast du deine Antwort.“ Sie richtete sich auf, tastete sich wieder Richtung Webstuhl und Tyson erkannte zum ersten Mal, dass es sich bei dem eingespannten Stoff um ein glitzerndes Material handelte, der ihn an den feinen Frost erinnerte, welcher sich in der Menschenwelt jeden morgen auf die Wiesen legte.

„Darf ich?“, er war näher getreten und deutete auf den Stoff, bis ihm wieder klar wurde, dass sie ihn nicht sah. „Den Stoff anfassen, meine ich.“

Sie nickte.

Er berührte das Material und tatsächlich… er war eiskalt.

„Es wintert bald bei euch. Da wird es Zeit für die ersten Frosttage.“, erklärte sie ihre Arbeit und Tyson war noch einmal mehr verblüfft. So entstand Frost? Das klang wie aus einem Märchenbuch.

„Wolborg, ich habe noch eine Frage. Weißt du wie Kai und ich zurück zu unseren Freunden gelangen?“

„Ja, aber ich würde dir davon abraten.“

„Warum?“

„Weil ihr euch dem Ausgang der Irrlichterwelt einen Schritt genähert habt. Weshalb also noch einmal zurück gehen?“

Tyson stellte sich kerzengerade auf. Das war doch mal eine gute Nachricht!

„Der Ausgang ist hier? Wo?“

Der Ausruf kam so laut, dass sie ihren Finger langsam an die Lippen setzte um ihn zu bedeuten still zu sein. Hinter ihnen ertönte von Kai ein leises Murren, doch als Tyson sich zu ihm wandte, drehte der sich auf die andere Seite und döste weiter.

„Der Ausgang ist nicht hier. Ihr habt ihm euch nur genähert…“

„Dann muss ich trotzdem zurück und Ray und Max holen. Kannst du solange auf Kai aufpassen?“, er war bereit zur Tat zu schreiten, doch Wolborg schüttelte den Kopf.

„Du stellst es dir wieder zu einfach vor. Wie willst du zurück?“

„Auf demselben Weg wie ich hierher gekom-...“

Was so ziemlich unmöglich war, immerhin war er in eine Welle geraten, die Welt hatte sich um hundertachtzig Grad gedreht und plötzlich war da eine ganz andere Landschaft gewesen.

Das mit der Welle hätte er im nächsten Fluss hinbekommen, aber ob er dabei nicht eher jämmerlich ersaufen würde, war auch eine Überlegung wert.

„Aber ich muss doch zurück…“, murmelte er kleinlaut, als ihm seine miserablen Erfolgschancen klar wurden. Wolborg lächelte, legte ihre Arbeit wieder zur Seite und stand auf.

„Wie wäre es mit einem kleinen Handel?“

Tyson horchte auf.

„Ein Handel? Inwiefern?“

„Ich suche nach euren Freunden und geleite euch danach hinaus aus der Irrlichterwelt. Dafür bekomme ich etwas Seltenes von euch beiden.“

„Etwas Seltenes?“, ratlos kratzte sich Tyson am Kopf und sah an sich hinab. „Tut mir Leid, aber alles was es wert wäre, dir zu geben, habe ich in der Menschenwelt. Für Kai gilt dasselbe.“

„Wir werden uns schon einig.“

Sie tastete nach seiner Hand und sagte: „Einverstanden?“

Tyson überlegte kurz, konnte aber nicht glauben, dass an der Sache ein Haken war. Wolborg kam ihm sehr kooperativ vor und hatte ihm auch sonst sehr weitergeholfen, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Schließlich griff er nach ihrer Hand und antwortete:

„Einverstanden.“ Gleich darauf fuhr ein Frösteln durch seinen Körper. Ihre Hand war eisig.

„Wow, ich find dich echt nett, aber deine Körpertemperatur liegt unter Null.“

Sie lächelte und entgegnete:

„Und du scheinst ein aufrichtiges, warmes Herz zu haben.“
 

Wie vereinbart hielt Wolborg ihr Wort. Am nächsten Morgen, als Tyson aufwachte, war von ihr nichts zu finden. Die Hütte war leer und im Topf stand sogar schon Frühstück bereit.

Das war ja fast zuviel des Guten.

Tyson füllte sich gerade einen Becher mit dem Brei ab, der nach Haferschleim aussah, aber wundersamerweise nach Schokolade schmeckte, als Kai noch völlig schlaftrunken zu ihm torkelte. Das Kind rieb sich über die Augen und murmelte: „Wo ist die Frau hin?“

„Die…“, schnell eine gute Ausrede einfallen lassen. „…sucht deine Dame Solowéj.“

„Gut.“, Kais Freude hielt sich in Grenzen was an der Müdigkeit lag. Er setzte sich taumelig neben ihn und blinzelte geistesabwesend vor sich her, im Gedanken wohl noch im Schlummerland. Tyson grinste und reichte ihm eine Schüssel.

„Warum grinst du so komisch?“

„Nur so…“, es hätte seltsam geklungen, wenn er ihm beichtete, dass Kai als ihr Teamleader, schon in den frühesten Morgenstunden alle aus dem Bett geworfen hatte, um sie um den Block zu jagen. Er war topfit, während die anderen bei jeder Pause, an einer Straßenlaterne lehnten und dösten.

„Von nichts kommt nichts!“, hatte er Tyson immer vorgehalten und wenn er nicht spurtete, durfte er bis ans Ende des Wohnblocks rennen, egal bei welchem Wetter.

„Woran denkst du?“

„Ach, an nichts…“, dann grinste Tyson gemein und sprach hämisch: „Mein müdes Küken.“

Augenblicklich verschluckte sich Kai, als er an ihre erste Begegnung mit Wolborg dachte und den Kosenamen den sie für ihn verwendet hatte. Eine leichte Röte schoss in seine Wangen und er schaute mit zusammengezogenen Brauen zu Boden.

„Hör auf das zu sagen…“, kam die verärgerte Antwort.

„Och, ist das dem kleinen müden Küken peinlich?“

Tyson piekste ihn die Seite und herrisch schlug Kai die Hand weg.

„Lass das!“

Er warf ihm einen Blick zu der Gift sprühte. Dann sagte er: „Du bist bescheuert.“

„Na schön, ich höre auf.“ Kai atmete aus, dann setzte Tyson aber ganz beiläufig hinzu: „Für mein Küken tue ich doch alles.“

Eine heftige Zornesröte kam über Kai, dass seine Wangen nur so glühten, doch Tyson sah geflissentlich darüber hinweg. Er hatte bereits nach der ersten Weltmeisterschaft aufgehört, Kai als etwas Bedrohliches anzusehen.

„Wir sind heute eine ganze Weile allein. Da wollen wir uns doch nicht streiten. Hast du Lust etwas zu unternehmen?“

„Unternehmen? Was denn?“

„Worauf hast du denn Lust?

„Weiß nicht…“

„Was machst du denn wenn dir langweilig ist?“

Kai zuckte mit den Schultern.

„Wollen wir einen Schneemann bauen?“

Kai schüttelte den Kopf.

„Nicht? Wir könnten auch Fangen spielen.“

Er schüttelte wieder den Kopf. „Zu laut.“

„Wie bitte?“

„Das ist zu laut.“, als Tyson immer noch verwirrt dreinblickte, schnalzte Kai einmal, als wäre nicht er, sondern Tyson das Kleinkind – ein verdammt beschränktes.

„Kinder dürfen nicht laut sein.“

Tyson zog die Brauen tief ins Gesicht. Wieder so eine Aussage, die nach Voltaire klang. Der alte Bock konnte sich auch an gar nichts erfreuen. Tyson wurde den Gedanken nicht los, dass Kai seine gesamte Kindheit hinter verschlossenen Mauern verbracht hatte…

Kurzerhand packte er den Jungen am Arm und zerrte ihn voller Übermut hoch.

„Wen sollen wir hier draußen schon stören?“
 

Und den sollten sie auch haben…

Knapp drei Stunden verbrachten die beiden Jungen in den weißen Schneemassen. Dabei hatte Tyson anfangs befürchtet, dass Kai nicht mitziehen würde. Er schien bereits schon mit sechs Jahren viel zu eingenommen, von den morbiden Lehren seines Großvaters. Zuerst stand das Kind unschlüssig am Türrahmen und schüttelte den Kopf, als Tyson ihn hinauszerren wollte.

„Lass mich in Ruhe! Ich mag nicht!“, hatte er immer wieder genervt betont, so lange bis Tyson von ihm abließ, ihm den Rücken zuwandte, um nach einer Ladung Schnee zu greifen und eine Kugel in seinen Händen formte. Mit einem bösen Grinsen hatte er sich zu Kai gedreht, der bereits ahnte was kommen würde.

Kurz darauf schoss die erste Kugel haarscharf an ihm vorbei.

„Hör auf damit!“, rief das Kind wütend, doch da verfehlte die Nächste knapp ihr Ziel.

„Ty-…“, getroffen taumelte er zurück und weiße Schneebrocken fielen von seinem Gesicht ab. Kais Lippen verzogen sich zu einem trotzigen Schmollmund und vor Wut färbten sich seine Wangen rot. Er wischte sich die feinen Bröckchen vom Gesicht, dann griff er entschlossen hinab in den Schnee…

Und in diesem Moment wusste Tyson, dass er gewonnen hatte!

Ein siegessicheres Lächeln trat auf seinen Mund und lachend ließ er zu, dass der erste Ball ihn traf und Kai ein schadenfrohes „Geschieht dir Recht!“ hinterher setzte. Es dauerte keine zwei Minuten, da waren die beiden Jungen auch schon in eine heftige Schneeballschlacht verwickelt.

Kais vormalige Wut löste sich immer mehr in Wohlgefallen auf, wich dem Spaß am Spiel, während Tyson ihn weiter lockte. Es war ganz einfach, wenn man den Dreh raus hatte. Man musste nur an Kais Ehrgeiz appellieren. Er wollte nicht das Opfer sein, dass von den Bällen getroffen wurde, sondern derjenige der austeilte!

Ehe sie es sich versahen, wurde Wolborgs kleine Geisterstadt von ausgelassenem Kindergelächter erfüllt. Ihre Stimmen hallten über die Dächer. Sowohl Tysons neckende Zurufe, als auch Kais üble Verwünschungen. Der unbefleckte Schnee wurde von Fußspuren übersät, die beiden Jungen tobten, rangelten und wälzten sich darin.

Ohne zu ahnen, dass sie beobachtet wurden…
 


 

*
 

„Ray? Hörst du mich?“

Ein Murren.

„Ray, wach auf.“

Jemand rüttelte ihn an der Schulter, was Ray schmerzhaft aufstöhnen ließ. Doch als sein Geist wieder ins Hier und Jetzt fand und er auch die Stimme, die mit ihm sprach, als vertraut empfand, wachte er langsam auf.

„Na endlich! Alles okay?“

„Max?“

Ray setzte sich auf und ließ seinen Blick um ihre Umgebung wandern, versuchte sich so zu orientieren. Dem Anschein nach, waren sie in einer kleinen Höhle. Es roch modrig und von der Decke flossen an vereinzelten Stellen kleine Rinnsale hinab. Hier und da schallten leise Tropfgeräusche zu ihnen. Etwas tiefer in der Höhle, konnte Ray die Oberfläche eines Höhlengewässers ausmachen. In der Dunkelheit konnte man nur erahnen, wie tief das Wasser dort war. Der Teich war umsäumt von Stalagmiten, die wie eine merkwürdige Pflanzenart, vom Boden emporragten. Das alles wäre vielleicht gar nicht so ungewöhnlich gewesen, wäre nicht noch in einer anderen Ecke, ein riesiger Haufen von Gerümpel gelegen!

Da lag ein Autoreifen, ein Bilderrahmen, ein zweirädriges Dreirad, leere CD Hüllen, ein ausrangierter Schubkarren, ein fast gänzlich kahler Besen, Gartenschläuche, ein separater Stapel nur mit Bettpfannen und eine dieser billigen Blechbadewannen, wie man sie in kakerlakenverseuchten Studentenbuden fand.

Seine Verwirrung gab Ray mit einer Frage preis:

„Was machen wir auf einer Müllkippe?“

„Frag nicht.“

Max saß im Schneidersitz gegenüber von ihm und stütze deprimiert den Kopf mit der Rechten ab. Die Entzündung an seinem Arm war schlimmer geworden, das konnte Ray auf den ersten Blick erkennen, außerdem schien sein Freund an der Stelle herumgekratzt zu haben, da der Verband etwas lose hinunter hing. Mit der anderen Hand deutete Max hinter ihn.

Als Ray sich umdrehte, sah er den Höhlenausgang. Davor tänzelten und hüpften mehrere Gestalten auf und ab, wie bei einem Kriegstanz. Auf den zweiten Blick erkannte er, dass es sich dabei um Galman und seine nervigen Duplikate handelte. Bald erklärte sich auch die Ansammlung des Mülls in der Höhle, denn die Bit Beasts hatten sich mit diversen Schrott beschmückt und benutzten die Bettpfannen als Bongo Trommeln.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst?“, fragte Ray.

„Doch.“

„Dann hast du dich gar nicht im Wald verlaufen?“

Max schüttelte den Kopf.

„Allegro und ich haben uns nicht von der Stelle gerührt. Dann kam aber dieses Pack und hat uns verschleppt!“

„Einfach so?“

„Na ja“, Max wandte sich unangenehm berührt von einer auf die andere Seite. „Vielleicht, gab es da eine Vorgeschichte…“

„Was denn für eine Vorgeschichte?“

„Ich hab einen dieser Kerlchen als mutierten Scheißhaufen bezeichnet. Das hat er nicht gerade mit Humor genommen.“

„Oh… Nun. Das macht man auch nicht.“

„Ach! Und warum bist du hier?“

„Ich habe... eventuell eines dieser Kerlchen einen Tritt in den Hintern verpasst.“

„Oh! Eventuell? Bist du etwa ausgerutscht und mit dem Fuß voraus auf seinem Arsch gelandet?“

„Hör mit dem Sarkasmus auf.“

„Herr Kon! Das macht man doch nicht!“, äffte Max ihn nach.

„Ich weiß!“, zischte Ray genervt. Dann atmete er aus und fragte: „Wo ist Allegro?“

„Den hat es am schlimmsten erwischt!“

Wieder deutete Max hinaus. Ray folgte seinem Wink und machte Allegro, über einer Feuerstelle aus. Die Affen hatten ihn an eine herabhängende Kletterpflanze geknebelt und schwangen ihn gackernd, von einer auf die andere Seite. Dabei zielten sie immer so, dass Allegros Flugbahn direkt über der Feuerstelle lag.

Der kleine Mäuserich beschimpfte seine größeren Widersacher lauthals, zog aber jedes Mal panisch den Schwanz ein, wenn er den Flammen zu nah kam.

„Rüpelhaftes Pack!“, fluchte er.

Einer der Affen krallte sich Allegro und zerrte grob an dessen Schweif, dass die Springmaus nur so vor Schmerz aufschrie.

„Ich muss doch bitten! Ich habe genau gesehen, wo sie sich mit ihren verlausten Händen überall gekratzt haben, mein Herr! Auf der Stelle verlange ich freigelassen zu werden, sie unzivilisierter prähistorischer Primat!“

Als Antwort kam nur ein grölendes Kreischen von der Affenbande, dann wurde Allegro umso kräftiger herumgewirbelt, dass sich seine Stimme vor Panik überschlug.

„Wo warst du eigentlich?“, fragte ihn Max schließlich.

Nur mit Mühe wandte sich Ray von dem Anblick draußen ab. Er griff in seinen Hemdkragen hinein und zog die gesammelten Frauenmantel Blätter heraus.

„Die helfen gegen deine Entzündung. Ich dachte es würde schneller gehen, wenn ich alleine losziehe. Hätte ich geahnt, dass uns dieses Affenpack über den Weg läuft…“

Er seufzte, lehnte sich gegen die Höhlenwand und murmelte ein kleinlautes „Tschuldigung“.

Zuvor war Max tatsächlich einwenig eingeschnappt gewesen, weil Ray sie einfach zurückgelassen hatte. Doch jeglicher Groll verflog, als er die Erklärung hörte.

Er lächelte Ray aufmunternd zu und meinte: „Vergiss es. Damit hat niemand gerechnet. Hilft das Zeug wirklich? Die Stelle fängt nämlich tierisch an zu jucken.“

„Ja. Aber ich muss es in Wasser aufkochen.“

„Oh man, Schade.“, für Max war das Vorhaben abgehakt. Von einem Wasserhahn, geschweige denn einem Herd, war weit und breit nichts zu sehen. Doch ein wissendes Grinsen huschte über Rays Lippen und er meinte nur:

„Ich finde schon eine Lösung.“
 

Und Ray sollte Recht behalten. Max staunte nicht schlecht, als eine halbe Stunde später, das Knistern einer kleinen Feuerstelle die Höhle erfüllte. Eigentlich hatte Max geglaubt, dass dieser Trick nicht funktionierte, doch Ray hatte einfach die altbewährte Feuerbohren Methode verwendet. Dazu hatte er sich einpaar trockene Stöcke zusammengeklaubt und aus einem eine Art Bogen gemacht. Die Kordel dazu fand er im Müllberg. Anschließend suchte er noch nach einem Brett, fädelte in die Sehne des Bogens einen weiteren Stock ein, den er mit der Spitze auf das Brett ansetzte und nach einpaar kräftigen Zügen von Ray, begann durch die Reibung, von dem kleinen Holzbrett tatsächlich Qualm aufzusteigen.

Ein erstauntes „Irre!“ war über Maxs Lippen gekommen und er hatte große Augen gemacht.

Als gebürtiger New Yorker Stadtmensch wäre er niemals auf so eine Idee gekommen, aber Ray war schon immer der Überlebenskünstler schlechthin. Etwas wofür er seinen Freund insgeheim bewunderte. Max konnte noch nicht einmal einen Kompass lesen!

Was er weniger erfreulich fand war, dass Ray zum Wasserkochen ausgerechnet eine der Bettpfannen verwendete, aber in seiner Situation durfte man wohl nicht pingelig sein…

Eine gute Stunde später war es soweit und Max bekam eine dicke Schicht der Salbe auf seinen Arm geschmiert. Sie sah eklig aus – wie flüssige Rotze um genau zu sein – und brannte höllisch auf der Wunde, aber er schluckte sein Kommentar runter, vor allem weil zehn Minuten später bereits das Jucken nachließ.

Als Max feststellte, dass die Schwindelgefühle abflauten, war Ray gerade dabei den Müllhaufen, nach einem Behälter zu durchsuchen, in den er sein Gebräu abschöpfen konnte.

„Wo hast du so etwas bloß gelernt?“, fragte er in die Stille hinein.

„Das ist normal bei uns im Dorf.“

„Können das alle bei euch?“

„Klar.“ Ray trat mit einem kleinen Einmachglas vom Haufen weg und begann es im Höhlengewässer gründlich auszuwaschen. Nebenbei erzählte er, „Das muss man bei uns können. Wir sind viel zu abgeschieden von der Außenwelt. Alle zwei Monate kommt mal ein Händler vorbei und bringt nur das Nötigste, den Rest bauen wir selbst an.“

„Macht dir das nichts aus?“

„Nein. Ganz im Gegenteil. Mir hat das immer Spaß gemacht! “, lachte Ray auf.

„Warum willst du dann von China weg?“

Es wurde abrupt still in der Höhle. Nur das Schnattern der Affen draußen war zu hören.

Max dachte etwas Falsches gesagt zu haben, deswegen setzte er noch hinzu:

„Also, nicht das ich dich aus Japan verscheuchen will! Wäre klasse wenn du dort leben würdest. Wenn ich Tyson besuchen würde, könnte ich gleich zu dir weiter fahren.“

Dabei spielte er vor allem auf seinen ersten Besuch bei Ray an. Es war schon immer eine Herausforderung gewesen nach China zu kommen, allein wegen den anderen Sitten dort. Bei seinem ersten Ausflug dorthin war Max erkältet gewesen und hatte bei der Zugfahrt in ein Taschentuch geschnäuzt, woraufhin mehrere Passagiere ihn angewidert angeschaut hatten. Erst durch Ray erfuhr er, dass es als unhygienisch und unhöflich galt, so etwas in der Öffentlichkeit zu tun. Die nächste Hürde waren die Tischsitten. Max staunte nicht schlecht, als Ray ihn bei seinem Aufenthalt in Hongkong in ein Restaurant einlud und die Herren am anderen Tisch lautstark schmatzten und rülpsten – obwohl er sich nach kurzer Zeit sehr gut damit arrangieren konnte, was Ray verschmitzt grinsen ließ.

Zu seiner Enttäuschung konnte sein Freund ihm sein Heimatdorf nicht zeigen. Ray meinte es wäre zu abgeschieden und Max hätte zwei Tage, auf dem Laderaum eines alten klapprigen Trucks verbringen müssen, um es zu erreichen, deshalb verbrachten sie die Tage bis zu seiner Abreise in Hongkong.

„Ich weiß schon was du meinst. Es hätte mir die Scheidungsanwälte vom Hals gehalten“, riss Ray ihn aus seinen Gedanken. Er kam zu Max und setzte sich ihm gegenüber in den Schneidersitz. „Eigentlich mag ich mein Dorf. Vor Mariahs Schwangerschaft konnte ich mir gut vorstellen, für immer dort zu leben.“

„Was ist jetzt anders?“

Ray schien mit sich zu hadern und Max erkannte, dass etwas auf seinen Schultern lastete, was er bisher für sich behalten hatte. Schließlich begann er zu sprechen:

„Kurz bevor ich Mariah geheiratet habe, hat ihr Großvater mich eines Abends zur Seite genommen und gefragt: Ray, willst du eine große Familie? Natürlich habe ich bejaht und daraufhin meinte er nur: Dann ist China nicht das richtige Land für dich. Geh mit Mao ins Ausland und werdet dort glücklich.“

„Was meint er damit?“

Ray rollte mit den Augen.

„Hallo? China? Ein-Kind-Politik! Sagt dir das was?“

„Ach so… Ja aber beschränkt sich das nicht nur auf die Großstädte?“

„Theoretisch schon. Aber es wird noch berücksichtigt, ob eines der Elternteile Einzelkind war oder noch Bruder oder Schwester hatte. Mariah hat Lee zum Bruder. Es spielen noch einige weitere Punkte eine Rolle. Ziemlich viel Politik mischt da mit…“

„Das heißt ihr dürft nur ein Kind bekommen?“

Ray nickte.

„Na gut, dann habt ihr eben nur ein Kind. Ist doch halb so schlimm. Ich bin auch Einzelkind.“

„Und wenn es ein Mädchen wird?“

„Na und? Ray, ausgerechnet von dir hätte ich so eine altmo-…“

„Max, du weißt nicht was für Folgen diese Ein-Kind Politik hat. Die chinesische Bevölkerung hat einen Überschuss an Männern. Vor einpaar Monaten war ein Mann aus einem Nachbardorf bei uns. Er hat uns erzählt, dass bei ihnen und umliegenden Dörfern einpaar Kinder geraubt wurden – alles samt Mädchen.“

„Warum das denn?“

„Vermutlich Mädchenhandel.“

Max verschlug es die Sprache. China war keinesfalls ein heiliges Pflaster, aber dass ausgerechnet Rays stilles beschauliches Dörfchen von so etwas bedroht wurde, hätte er nicht erwartet. Für kurze Zeit verfielen beide in Schweigen, dann flüsterte Ray:

„Ich würde durchdrehen wenn jemand meine Tochter verschleppt.“

„Kann ich dir nicht verdenken.“

„Nein Max, ich meine, wirklich durchdrehen! Ich glaube… ich würde den Kerl umbringen! Du hast nur ein einziges Kind und sie nehmen es dir einfach weg. Sie verkaufen es an irgendwelche alten Säcke. Ist das fair?“

Das war es natürlich nicht. Das wussten beide nur zu gut. Deswegen verzichtete Max auf eine Antwort und beide blickten nur nachdenklich in die Flammen. Im Nachhinein konnte Max Rays Lage doch sehr gut verstehen. Er war bereit sich von seinen Wurzeln zu trennen, weil er seinem Kind eine sichere Zukunft bieten wollte. Aber Mädchenhandel war überall ein Problem. In anderen Ländern mehr, in anderen Ländern eben weniger…

Womöglich begann Ray sogar den Fehler, alle anderen Staaten zu idealisieren, ohne darauf zu achten, dass weder Japan noch die USA Länder waren, in denen Milch und Honig flossen. Er konnte sein Kind nicht vor allem bewahren, es sei denn er sperrte es in einen unterirdischen Bunker.

„Hast du Mariah jemals deine Sicht der Dinge erklärt?“

Ray schüttelte verneinend den Kopf.

„Vielleicht hättest du das aber tun sollen. Euch wäre sicher einiger Ärger erspart geblieben.“

„Es spielt jetzt eh keine Rolle mehr. Ich weiß ja nicht einmal ob das Kind von mir ist…“

„Ich kann mir das nicht vorstellen.“

Es war Max einfach so herausgerutscht und wie nicht anders zu erwarten, folgte die Frage: „Woher willst du das wissen?“

Max kratzte sich unangenehm berührt am Kinn und wiegte seine Worte sorgfältig ab:

„Wenn man Mariah sieht, weiß man das einfach. Dir fällt es vielleicht nicht auf, aber einem Außenstehenden kommt es so vor, als ob du ihr persönlicher Superheld wärst. Sie hat schon immer zu dir aufgeblickt. Manchmal habe ich das Gefühl, als ob sie bis heute nicht glauben kann, dass sie dich hat. Sie weiß dich einfach zu schätzen…“

Er gab Ray einen spielerischen Stups und fügte noch hinzu:

„Wir wissen dich natürlich auch zu schätzen.“

Ray lachte leise auf, da wurden beide von Allegros Wuttiraden abgelenkt. Einer der Galmans hatte Allegros Schweif um seine klobigen Affenfinger gewickelt und verwendete den Mäuserich als eine Art lebendigen Jojo. Man konnte aus der Stimme der Springmaus heraushören das ihm mehr als schlecht war.

„Das ist echt zum Kotzen! Wir müssen ihm doch irgendwie helfen?“

„Du hättest mal sehen sollen, was sie gestern mit ihm gemacht haben.“, sprach Max bedauernd.

„Gestern? Wie lange war ich denn zuvor bewusstlos?“

„Seit sie dich gestern Abend hier her gebracht haben.“

„Das darf doch nicht wahr sein! So lange?“

Das fehlte ihnen gerade noch! Tyson und Kai waren verschollen, während sie hier festsaßen und einen ganzen Tag verplempert hatten. Wenn er richtig ausrechnete, hatten sie nur noch zwei Tage um aus der Irrlichterwelt zu entkommen. Nicht einmal die Zeit spielte für sie.

Deprimiert nestelte Ray an seiner kaputten Armbanduhr herum, sein Gesicht in tiefe Denkfalten gelegt.

Max beobachtete ihn dabei – und so wie es Geistesblitze an sich haben, schoss ihm plötzlich eine Idee durch den Kopf.

„War die teuer?“

Ray blinzelte ihn verständnislos an und schüttelte den Kopf.

„Die Uhr? Nein. Die habe ich zusammen mit Mariah gekauft, während unseren Flitterwochen in der Türkei. Ist so eine Kopie von Fossil.“

„Dann wirst du die sicher nicht vermissen. Gib her!“

Etwas irritiert starrte Ray ihn an, doch mit einem zaghaften Nicken kam er Maxs Aufforderung nach. Er drückte seinem Freund die Uhr in die Hand, der anschließend aufsprang und Richtung Höhlenausgang lief. Sofort als die Schmiere stehenden Affen bemerkten, dass er sich der Öffnung näherte, stellten sie sich ihm in den Weg und begannen wild zu kreischen.

„Zurück in die Höhle! Knotenfurz!“

„Lauwarmduscher! Rein, rein, rein, rein, re-…“

„Halt die Luft an!“, unterbrach Max das Bit Beast. „Wer ist der richtige Galman?“

Die Affen glotzen ihn an und legten den Kopf schief. Dann sagten beide gleichzeitig:

„Ich!“

Max grinste. Das hatte er erwartet.

„Ihr solltet euch einig werden, denn wisst ihr, mein Freund da hinten, ist niemand anderes als der König der Menschenwelt!“

„Wah?!“, Rays Mund klappte auf und er trat eiligst hinter Max.

„Was redest du da?“, zischte er ihm zu, doch sein Freund winkte nur ab. Währenddessen begannen die beiden Affen zu grölen. Ihre Belustigung lockte weitere ihrer Sorte an und es sammelte sich eine Meute ringsum den Eingang.

Einer von ihnen deutete auf Ray und kreischte:

„Der da? Niemals! Du lügst doch! Weichbirne!“

„Weichbirne! Weichbirne!“, echoten die anderen spöttisch.

„Ihr glaubt mir nicht? Hier ist der Beweis!“, Max hielt die kaputte Armbanduhr in die Höhe und wie vom Donner gerührt, verebbten die Rufe. Was immer diese Wesen an Ramsch mochten, es zeigte seine Wirkung. Geradezu fasziniert blickte der Haufen auf die kaputte Uhr in Maxs Hand und wie das Ziffernblatt im Sonnenlicht funkelte, hatte es tatsächlich etwas Magisches an sich. Plötzlich gehörte Max die ungeteilte Aufmerksamkeit der Affentruppe.

Selbst das Bit Beast, dass sich Allegro um den Finger gewickelt hatte, hörte auf ihn als Jojo zu benutzen.

„Was ist das?“, wimmerte einer der Galmans fast schon zittrig.

„Das hier ist das Zeichen eines Königs.“, pries Max seinen Schatz an. Er zeigte die Uhr in jede Richtung, damit auch bei keinem der Galmans der gierige Sabber ausblieb.

„Ist sie nicht wunderschön? Die glänzenden Zeiger, das hervorragend verarbeitete Edelstahlgehäuse, das sportliche Ziffernblatt…“

„Der riesige Kratzer auf dem Glas…“, murmelte Ray spöttisch vor sich her und fing einen bösen Blick von Max ein. Er hob beschwichtigend die Hände und formte ein leises „Sorry“ auf seinen Lippen. Was immer Max damit bezwecken wollte, es schien die Meute ruhig zu stellen. Sein Freund räusperte sich und fuhr fort:

„Nicht zu vergessen das schwarze Silikonband, Quarzwerk mit Datumsanzeige und Stoppfunktion, Wasserdicht und…“ Max machte eine bedeutsame Pause, „die zwei Jahre Garantie die darauf liegen.“

Ein ehrfürchtiges „Ooh!“, machte die Runde, obwohl Ray sich hundertprozentig sicher war, dass keiner von ihnen wusste, was eine Garantie war. Außerdem wurde er den Gedanken nicht los, dass Max seine Uhr besser kannte, als er selbst. Da sprach wohl die Erfahrung als kritischer Einkäufer aus seinem Freund. Schließlich kam das, worauf Max gewartet hatte.

Einer der Galmans sprang näher an ihn ran und rief: „Gib es mir!“

„Geht nicht!“, Max ließ die Uhr mit arroganter Miene hinter seinem Rücken verschwinden und als der Affe enttäuscht aufheulte, erklärte er: „Die Regel habe ich nicht erfunden! Wenn es nach mir ginge würde ich sie dir sofort geben, Kumpel. Aber wie ihr seht, hat sie zuvor dem König der Menschenwelt gehört. Also ist es doch klar, dass die Uhr nur an einen Anführer gehen kann!“

„Ich bin der Anführer!“, beteuerte der Affe und deutete hektisch auf sich.

„Ach wirklich? Hmm… Ich weiß nicht. Ihr seht alle gleich aus.“

„Er lügt! Ich bin der Anführer!“, kreischte es aus einer anderen Ecke.

„Nein! Der da lügt auch! Ich bin es!“

Plötzlich schnatterte es von allen Seiten. Max drehte sich zu Ray und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Das Spielchen lief besser als er erwartet hätte. Die Müll besessenen Freaks begannen sich gegenseitig zu streiten. Ray wusste aber immer noch nicht ganz, wie es weitergehen sollte.

Wollte Max darauf bestehen, die Uhr gegen ihre Freiheit und Allegro auszutauschen?

Wenn sich die Meute wieder besinnte, würden sie erkennen, dass sie nur gemeinsam auf Max losstürzen mussten, um die Uhr zu bekommen. Es waren immer noch zu viele Affen.

Aber diesen Missstand schien sein Freund als nächstens in Angriff zu nehmen…

Die Galmans waren gerade dabei, die ersten Schläge gegeneinander auszuteilen, als Max beschwichtigend die Hände hob und rief:

„Leute, bitte! So benimmt sich aber kein König!“, er schnalzte mit der Zunge und legte die Stirn in Falten. „So viele die behaupten der Anführer zu sein, aber nur eine Uhr! Das ist echt ärgerlich. Aber wenn es nicht anders geht, sollten wir die Uhr in ganz viele kleine Teile zerschlagen, dann hat jeder ein Stückchen. Ist nicht schön, aber selten…“

Die Affen hielten geschockt den Atem an und riefen im Chor: „NEIN!“

Etwas abseits saß eine dreier Gruppe aus Galmans, von denen der Erste sich die Ohren, der Zweite die Augen und der Dritte den Mund zuhielt. Trotzdem hob Max einen größeren Stein vom Boden auf und zuckte arglos mit den Schultern.

„Euch kann man auch nichts recht machen! Kann ich etwas dafür das ihr so viele seid?“

Endlich…

Die Bit Beast bildeten kleine zweier Gruppen, die zu einem Galman zusammen wuchsen. Der Affe der daraus entstand, suchte sich wiederum einen neuen Partner mit dem es zu einem Galman werden konnte. So ging das Spiel weiter.

Man konnte sich das vorstellen wie eine Zellteilung, nur das der Vorgang rückwärts ablief,

bis aus den dutzenden Affen nur noch einer übrig war – und ausgerechnet der hatte Allegro noch um den Finger geschnürt. Galman kam zu Max gehumpelt und streckte seine Hand aus, um seinen Tribut einzufordern. Etwas unschlüssig blickte dieser ihn an. Wie sollte er den Affen dazu bringen die Springmaus loszubinden?

„Gib ihm die Uhr“, meinte Ray leise.

Max blickte ihn zuerst geschockt an, immerhin verloren sie dadurch ihr Druckmittel, doch Ray nickte ihm nur aufmunternd zu. Da sein Freund so gut mitgespielt hatte, würde er ihm jetzt auch vertrauen müssen.

Nur Widerstrebend kam Max der Aufforderung nach und legte die Uhr in Galmans Hand.

Sofort begann der Affe zu jubilieren und sprang vor Freude im Zick Zack, während Allegro durch die Sprünge schlecht wurde.

„Willst du sie dir nicht umbinden?“, unterbrach Ray schließlich Galman.

Der Affe glotzte ihn an und fragte: „Warum denn das? Armleuchter!“

„Na weil das ein König so macht. Es sei denn natürlich, du hast gelogen und bist gar nicht der König…“

Das machte das Bit Beast wütend. Es griff nach einem Stein und warf ihn Richtung Ray, der gekonnt auswich.

„Natürlich bin ich der König, du Erbsenhirn!“, und wie nicht anders zu erwarten, begann der Affe sich die Uhr um sein rechtes Handgelenk zu binden.

Jedenfalls versuchte er es…

Seine Finger waren allerdings so unförmig, dass es ihm große Schwierigkeiten bereitete, die Schnalle zu befestigen. Zu allem Überfluss, war ihm Allegro immer im Weg. Jedes Mal wenn Galman sein Handgelenk etwas in die Höhe hielt, baumelte ihm der Mäuserich vor der Schnalle herum. Bei diesem Anblick wurde Max bewusst, warum Ray darauf bestanden hatte, dem Bit Beast die Uhr zu geben. Scheinbar hatte er bereits im Vorfeld geahnt, das Galman Probleme haben würde. Schließlich wurde es dem Affen zu bunt.

Mit einem wütenden Aufschrei, riss er Allegro von sich und warf ihn achtlos weg.

Somit war ihre Chance endlich gekommen…

Zunächst einmal warfen sich die beiden Jungs vielsagende Blicke zu.

Dann, langsam, um die Aufmerksamkeit des Bit Beast nicht auf sich zu lenken, huschten sie immer weiter in den Hintergrund, in Richtung Allegro. Als Max sich zu ihm hinabbeugte und ihm die Hand entgegenstreckte, flüsterte er: „Komm schnell.“

Es bedurfte keiner weiteren Aufforderung, da humpelte das malträtierte Bit Beast auf seine Handfläche. Dann machten sich die beiden Jungen daran, so leise wie möglich durch die umliegenden Büsche zu verschwinden. Als Ray einen letzten Blick auf Galman warf, saß das Bit Beast ihnen den Rücken zugewandt, an der Feuerstelle und versuchte immer noch hochkonzentriert, die Schnalle zu befestigen. Für einen flüchtigen Moment, sah er dabei richtig arglos aus…

Dann begann er frustriert die Armbanduhr auf einen Felsen zu schlagen und zu toben. Galman raufte sich die Haare, schlug mit den Fäusten um sich und schrie wie am Spieß. Das Bild reichte, um das letzte bisschen Mitleid aus Ray zu verbannen. So kehrte die Gruppe, dem cholerischen Bit Beast den Rücken zu und suchte das Weite…

Ohne zu ahnen, dass Galman die nächsten hundert Jahre seines ewigen Lebens, hartnäckig damit verbringen würde, sich eine kaputte Armbanduhr um sein Handgelenk zu schnallen.
 


 

*
 

Als Tyson und Kai wieder zurück in Wolborgs Hütte gingen, waren sie ausgelaugt, müde aber auch entspannt. Trotz der Kälte waren sie während der Schneeballschlacht ins Schwitzen geraten und ihre Wangen brannten wie Feuer auf ihrem Gesicht.

Insgeheim war Tyson aber sehr zufrieden mit seiner Leistung. Nachdem er Kai aus der Reserve gelockt hatte, konnte er erkennen, wie er von Minute zu Minute, ausgelassener wurde. Eigentlich war sein Freund doch wie jedes andere Kind, nur eben in einer unterkühlten Familie aufgewachsen.

In der Hütte suchte Tyson erst einmal nach einem Tuch und rubbelte anschließend Kais Haare trocken. Und genau da passierte es…

Er empfand etwas Ähnliches wie Wehmut.

Vollkommen unerwartet, überkam ihn das mefrkwürdige Bedürfnis, einen kleinen Bruder zu haben. Da seine Mutter früh verstorben war und sein Vater seitdem nicht mehr geheiratet hatte, war ihm dieses Glück ausgeblieben.

Eigentlich hätte er gerne so etwas Kleines wie Kai im Haus gehabt, dem er seine Erfahrungen weiterreichen konnte. Jemanden, dem er von seinen eigenen Jugendsünden erzählte, bei den Hausaufgaben half und vielleicht solche Sachen wie Fahrrad fahren beibrachte.

Autofahren kam ja nicht unbedingt in Frage – Max war der Ansicht dass sein Fahrstil gemeingefährlich war. Aber alles andere…

Tyson strich dem Kind vor sich eine Strähne aus dem Gesicht und dachte daran, das Kai womöglich deshalb so sehr an seiner Schwester hing.

„Bist du traurig?“

Aus seinen Gedanken gerissen, blinzelte Tyson perplex. Kurz darauf tat er eine wegwerfende Bewegung und lachte auf: „Ach Quatsch, wieso denn? Sehe ich traurig aus?“

Kai nickte.

„Das bildest du dir ein. Ich habe nur nachgedacht. So schaue ich dann immer.“

„Dann solltest du weniger denken.“

„Wieso?“

Das waren ja ganz neue Töne! Ausgerechnet von der Person, die ihm vorhielt Erwachsen zu werden. Kurz darauf legte das Kind aber seine kleinen Hände auf Tysons Gesicht und sah ihn nachdenklich an. Kai legte den Kopf auf die Seite und meinte schließlich:

„Ich mag dich nicht wenn du traurig bist. Das passt nicht zu dir...“

Und als Tyson keine Antwort gab, fragte Kai:

„Bin ich schuld? Habe ich etwas Falsches gesagt?“

Wie vom Donner gerührt starrte Tyson ihn an. In diesem Moment konnte er nicht anders…

Er zog Kai langsam in eine Umarmung. Zunächst verkrampfte sich der Junge in seinen Armen, wahrscheinlich weil er derlei Zärtlichkeiten nicht gewohnt war, doch als Tyson ihm über den Kopf strich, wurde er zunehmend ruhiger.

„Nein Kai“, versicherte er ihm und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. „Es liegt nicht an dir. Du hast überhaupt nichts falsch gemacht.“, und als er den Jungen mit einem Seufzen entließ, fügte er noch hinzu: „Eins sag ich dir, wenn ich wieder zuhause bin, suche ich mir eine hübsche Braut und mache mit ihr einen Haufen Babys, die hoffentlich genauso sind wie du. “, er zerzauste spielerisch die Haare seines Gegenübers. „Von wegen harter Kerl, du steckst voller Überraschungen. Weißt du das eigentlich du kleiner Herzensbrecher?“

Ein unwissendes Schulterzucken kam vom dem Kind. Dann dachte er nach und fragte:

„Warum willst du Babys?“

„Das will jeder Mann einmal.“

„Aber du bist doch gar kein Mann.“

Autsch! Das tat weh. Aber rein äußerlich betrachtet hatte Kai ja Recht. Er war aber wie immer zu ehrlich.

„Wie willst du eigentlich Babys machen?“

„OH VER-…“ Tyson fuchtelte wie wild mit den Armen. „Das erkläre ich dir wenn du wieder erwachsen bist!“

„Warum wieder erwachsen?“

„Ich meinte, wenn du erwachsen bist!“

„Ach so... Und warum kannst du mir nicht jetzt sagen, wo Babys herkommen?“

„Themawechsel! Hast du Hunger?“

„Nein. Warum antwortest du mir ni-…“

„Schalalala! Ich kann dich nicht hören! Schalalala!“, verbissen hielt sich Tyson die Ohren zu, während Kai ihn anstarrte als hätte er komplett den Verstand verloren. Es war nicht allein die Tatsache, dass er einem Kind erklären sollte, wofür Geschlechtsverkehr gut war, sondern dass es sich bei diesem Kind ausgerechnet um seinen besten Kumpel handelte!

Insgeheim verfluchte er Dranzer. Wenn Kai noch, wie der Rest der Gruppe, den Verstand eines dreiundzwanzigjährigen besitzen würde, wäre alles noch beim Alten – naja fast.
 

Eine kalte Brise tat sich plötzlich im Raum auf und lenkte ihre Aufmerksamkeit zum Eingang.

Die klapprige Schiebetür der Hütte ging auf und wieder zu und als Tyson aufsah, stand Kai nicht mehr neben ihm, sondern lief Wolborg entgegen.

„Haben sie die Dame Solowéj gefunden?“, fragte er geradeheraus. Das klang schon eher nach ihm, denn es hatte einen ungeduldigen Unterton. Zwar passte Tyson der Themenwechsel in diese Richtung auch nicht, aber immerhin gab es einen Wechsel. Doch wie nicht anders zu erwarten, hatte Wolborg keine Ahnung wovon das Kind sprach. Stattdessen strich sie ihm über den Haarschopf und sagte:

„Verzeih, aber eine Frau mit diesem Namen habe ich nicht gefunden.“

Eine gute Antwort. Es klang nicht so, als habe sie gar nicht nach der Dame Solowéj gesucht, was sich nicht mit Tysons Ausrede gedeckt hätte. Doch dann meinte Wolborg an ihn gerichtet: „Aber ich habe den Aufenthaltsort deiner Freunde ausgemacht.“

„Wirklich?“, euphorisch sprang Tyson auf. Seine Miene versteinerte sich aber, als Kai ihn misstrauisch anschaute.

Es war unglaublich!

Bis vor kurzem konnte er nichts von dessen erwachsenen Alter Ego wiedererkennen, doch wie der deutliche Argwohn in Kais Augen ihn anfunkelte, hätte er schwören können, alles wäre wieder wie früher! Es war der Todesblick den er seit seiner Jugend kannte.

„Welche Freunde?“, kam es selbst für ein Kind zu herrisch.

„Ähm… Das sind Freunde von der Dame Solowéj.“

„Aber was interessieren uns denn diese Leute? Ich dachte wir würden zu ihr gehen?“

„Das erklärt sich so… Ähm…“

„Weißt du etwa doch nicht wo die Dame Solowéj wohnt?“

„Den genauen Ort weiß ich nicht, aber ich weiß, dass meine Freunde wissen, wo sie lebt. Die fragen wir einfach und schon bist du bei deiner Liebsten…“

„Aber wenn du ein Freund von ihr bist, warum hat sie dir das nicht persönlich gesagt?“

„Na weil sie doch denkt, dass alle Menschen böse sind!“

„Denkt sie etwa auch dass du böse bist?“

„Ich? Nein! Sie ist nur unglaublich misstrauisch und wechselt deshalb ständig ihre Wohnung. Du müsstest mal ihre Alarmanlage sehen, da sind Laserschusswaffen eingebaut! Sie hat vierundzwanzig Schlösser an ihrer Tür befestigt und draußen stehen japanische Yakuzas vor dem Haus wache. Der Postbote muss zwei Wochen vorher eine schriftliche Anfrage ins Haus schicken, damit er einen Brief zustellen darf und selbst dann, muss er durch eine dieser Sicherheitskontrollen, wie am Flughafen. “, es war erstaunlich wie eine kleine Lüge, sich immer weiter ausweitete, wenn man erst einmal damit anfing. Tyson besaß die Fähigkeit ein gesamtes Paralleluniversum zu erschaffen - das allerdings nicht vor Logik strotzte.

Die Worte kamen aber so aus seinem Mund gesprudelt, dass Kai nicht mehr folgen konnte. Er schaute ihn nur aus großen Augen an und meinte schließlich verwirrt:

„O-kay.“

Innerlich rief eine kleine Stimme in Tysons Hinterkopf erleichtert „Puh“ und strich sich den Schweiß von der Stirn. Er hatte es vollbracht Kai quasi mundtot zu lügen. Sein Glück war dabei, dass er die Lüge einem sechsjährigen Knirps auftischte. So ließ Tyson den durchgewirbelten Kopf des Kleinen, durchgewirbelt sein und wandte seine volle Aufmerksamkeit Wolborg zu.

„Also, du hast es gehört. Mein Kumpel hier will zu seiner Herzdame. Könnten wir also gleich los und meine Freunde abholen?“

Wolborg nickte langsam und schien es für besser zu halten, sich nicht einzumischen. Sie ging an eines der altmodischen Regale und zog zwei altertümliche Fellmäntel aus einer Reihe.

„Zieht euch das an. Ihr werdet sonst frieren.“, forderte sie leise. Tyson tat, wie ihm geheißen und packte zuerst Kai, dann sich selbst in die dicken Umhänge ein.

Sie sahen aus, als würden sie einen Poncho tragen, doch von Kälte war nichts mehr zu spüren.

Dann tat Wolborg eine ausladende Bewegung Richtung Tür.

„Kommt. Es wird Zeit.“, war alles was sie sagte.
 


 

*
 

Bitte schaut über die Rechtschreibfehler hinweg. Habe das Kapitel nicht mehr durchgelesen, weil ich es schon so oft geändert, gelöscht, geschnitten, gefilzt und wieder geändert habe, dass ich dieses blöde Teil einfach nur noch on sehen will X__x
 

Trotzdem wieder vielen Dank an die Kommischreiber vom letzten Kapitel. Hoffe auch dieses Kapitel gefällt euch ^_^

Tyson freute sich schon tierisch darauf seinen Freunden Wolborg vorzustellen. Er war sogar sicher, dass die kühle Schönheit direkt Maxs Geschmack entsprach. Natürlich war das nebensächlich, immerhin hatte Wolborg nicht immer diese zierliche Gestalt. Aber er konnte sich die verblüfften Gesichter vorstellen, wenn er ihnen berichtete, dass sie auf ihrem Webstuhl Frost herstellte. Da waren die Frauen, die er ihnen in der Vergangenheit präsentiert hatte, doch nur untalentierte Hühner. In einem irrwitzigen Moment, stellte sich Tyson vor, wie sich Wolborg mit einer seiner Verflossenen einen Wettstreit bot.
 

„Guck mal, du blinde Schnepfe, ich bin so gelenkig, ich kann meinen eigenen Hintern küssen!“

„Magst du Eis?“

„Ja, wieso?“

Und WUSCH… Hätte Wolborg ihre Kontrahentin in einen Eiszapfen verwandelt.
 

„Tyson, wieso grinst du so komisch?“

„Ach, nichts Kai. Kaum der Rede wert.“

Er hatte gar nicht gemerkt dass der Gedanke seine Ex Freundin als gefrorenen Eisklumpen zu sehen, ihm solch sichtliches Vergnügen bereitete.

„Du grinst immer noch…“

„Hör auf mich zu beobachten, dann siehst du mich auch nicht grinsen! Da, hier!“ Er hielt dem Kind seine Hand vor die Augen. „So macht man das! Alles Schwarz bei dir, zufrieden?“

„Es ist schön wie du dem Jungen eine dunkle Welt näher bringst…“

Tyson zog die Hand so schnell weg, als habe er sich verbrannt. Ihm war aufgefallen, wie geschmacklos dieser Witz, in der Gegenwart einer Frau klang, die ihr Dasein blind fristete.

„Tut mir Leid. Ich habe nicht nachgedacht.“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen…“, sie verlangsamte ihre Schritte und blieb schließlich stehen. Der Schnee fiel wieder herab. Die Flocken tänzelten vom Himmel und begruben die Umgebung unter einer weiteren weißen Schicht. Wolborg schien gefallen daran zu finden, denn sie tat einen tiefen Atemzug und erzählte:

„Es ist gut wenn du den Jungen auf eine blinde Welt vorbereitest.“

„Warum?“

„Weil es schneller um dich herum finster werden kann als du glauben magst.“

Tyson musste über diese Bemerkung stutzen.

„Heißt das du warst nicht immer blind?“

„Das heißt es…“

Ein mitleidiger Blick traf Wolborg. Jemand der nicht blind war, konnte das wohl schlecht beurteilen, doch Tyson war sich immer unschlüssig gewesen, ob es schlimmer war blind geboren zu werden oder sein Augenlicht nach und nach zu verlieren. Wenn ihm eine der beiden Möglichkeiten zur Wahl stünde, wäre er lieber blind zur Welt gekommen. Was man nicht kannte, konnte man nicht vermissen. So hieß es zumindest…

„Wie ist das passiert?“

Als er keine Antwort erhielt und Wolborg stattdessen ihr Gesicht langsam zu ihm wandte, warf Tyson hastig ein: „Eigentlich geht es mich nichts an…“

„Dragoon.“

„Was ist mit ihm?“

„Er war daran schuld.“

Die Neugierde hatte ihn gepackt. „Wie?“

Wieder ließ sie mit der Antwort warten, dann begann sie zu erklären:

„Jedes Bit Beast hat seinen Bereich… und leider kreuzen sich dabei manchmal unsere Wege.“

„Ist das schlecht?“

„Wenn beide Bit Beast auf ihr Recht bestehen ist es das gewiss.“

Tyson konnte nicht ganz folgen. Bei was waren sich Wolborg und Dragoon in die Quere gekommen? Wolborg spürte wohl seine Verwirrtheit, denn sie sprach:

„Außer dem weben von Frost liegen meine Aufgaben noch in anderen Bereichen.“

„Zum Beispiel?“

„Schnee, Eis, Kälte… Alles was die Menschen im Winter frieren lässt.“

„Dizzy hat mal erzählt, dass alles von den vier Elementen abhängt. Dein Bereich scheint mir aber auch ziemlich umfassend.“

„Nun, ich bin von der Macht des Wassers abhängig, falls es das ist was du meinst. Demnach bin ich auf Draciels Kraft angewiesen, doch eine zeitlang war mein Einfluss in der Menschenwelt gewaltig…“

„Wann war das?“

„Während der Eiszeit.“

Tyson wusste nicht warum, doch dieser Gedanke ließ ihn Kais Hand fester umschließen.

„Eiszeit. Hmm… Ziemlich kalt.“

„Und eine wundervolle, stumme Menschenwelt.“, Wolborg hielt ihre geschlossenen Augenlieder in die Höhe. Es schien, als würde sie in Erinnerungen schwelgen.

„Damals war ich bereits erblindet, doch ich hörte die Natur über die Pracht der weißen Berge tuscheln. Ich wünschte ich könnte euch meine verschneiten Gletschergipfel präsentieren. Ihre scharfen Kanten und Spitzen, sollen im Sonnenlicht gefunkelt haben. Ich habe die Berge aussehen lassen, als würden sie Kronen aus schillerndem Eis tragen.“

„Es hat bestimmt etwas Schönes an sich gehabt“, pflichtete Tyson vorsichtig bei. „Aber für Menschen war diese Zeit wohl eher… feindselig.“

„Das war sie. Unerfahrene Wanderer und Kinder, die zu weit von ihren Siedlungen fortliefen, stürzten in Eisspalten oder erfroren jämmerlich in meiner weißen Wüste. Doch der Mensch war damals auch mehr Tier als Mensch. Ihr ward dumm und an euren Anfängen.“

Die Art wie sie es sagte, passte Tyson nicht. Es kam geradezu unbekümmert über ihre Lippen.

Inzwischen reckte Wolborg erneut den Kopf in die Höhe und atmete tief ein.

„Dort lang…“, sprach sie schließlich und führte die Gruppe weiter durch den verschneiten Wald. Tyson wusste nicht woran sie sich orientierte. Für ihn sah jede Stelle gleich aus. Doch da Wolborg hier heimisch war, vertraute er ihr und folgte, mit Kai an der Hand, der Richtung die sie vorgab. Eigentlich wollte Tyson mehr von dem Kampf zwischen ihr und Dragoon erfahren, doch jedes Mal wenn er ansetzte, sah ihr Gesicht hochkonzentriert aus. Kurz darauf gab sie wieder die Richtung vor.

So marschierten sie fast eine halbe Stunde hinter ihr her, überquerten verschneite Wiesen und totes Gebüsch. Sie hielten erst, als sie einen zugefrorenen Weiher erreichten. Auf der anderen Uferseite, bäumte sich eine große Gebirgskette auf, an deren felsigen Ausläufern sich ein riesiger Spalt auf tat. Tyson ahnte bereits, dass sie dort durch mussten und sein Verdacht sollte sich bestätigen.

„Dort drüben, auf der anderen Seite des Ufers, müssen wir durch den Felsspalt. Eure Freunde sind dann nicht mehr weit.“

„Dann holen wir sie und machen uns schnell auf den Weg…“

Kais Blick schnellte misstrauisch zu ihm hoch und Tyson bekam gerade noch die Kurve.

„… zur Dame Solowéj! Es ist doch nicht mehr weit, oder?“

Er hoffte inständig das Wolborg verstand was er meinte. Aufgrund ihrer Blindheit konnte er ihr nicht einmal verschwörerisch zuzwinkern. Seine Lüge nahm dafür immer größere Ausmaße an und Kai wurde zusehends misstrauischer.

„Takao“, sprach Wolborg und riss ihn aus seinen Gedanken. „Möchtest du immer noch dass ich euch hinausführe?“

„Hinaus?“

„Aus der Irrlichterwelt.“, sie wandte ihr Gesicht in seine Richtung. Ihre Augenlider waren wie immer geschlossen, doch Tyson beschlich das Gefühl, als ob sie genau wusste, wo er war. „Du weißt noch dass du ein Bit Beast dafür benötigst, oder?“

„Ja. Warum fragst du mich das?“

„Weil ich dann meinen Lohn einfordern muss. Sonst kann ich euch nicht durch den Felsspalt folgen. Das Klima dahinter ist anders... wärmer.“ Innerlich sprach Tysons ein Dankgebet Richtung Himmel. Endlich hinaus aus der Kälte! Wenn er sich genau konzentrierte, meinte er sogar einen lauen Windhauch aus dem Felsspalt zu spüren.

Inzwischen trat Wolborg langsam auf ihn zu und sprach, „Ich habe einen Teil unserer Abmachung erfüllt. Deine Freunde sind hinter dem Felsspalt.“

„Wenn du nicht hindurch kannst, woher willst du wissen, dass Max und Ray dort sind?“

„Ich weiß es einfach…,“ wich Wolborg der Frage aus und sprach: „Wenn wir eure Freunde gefunden haben und der Spur des Wurzelwerks folgen, gelangen wir in eure Welt. Dafür braucht ihr mich aber.“

„Ja, ich weiß. Aber ich habe dir doch gesagt, dass alles was wir besitzen in der Menschenwelt ist.“

„Und ich sagte dir, dass wir eine Lösung finden.“

„Was denn für eine Lösung? Wolborg, sieh uns an! Außer unserer Kleidung am Leib haben wir nichts…“

Doch davon schien das Bit Beast nichts wissen zu wollen. Stattdessen wich sie aus und sagte:

„Möchtest du wissen weshalb Dragoon mir mein Augenlicht genommen hat?“

Eigentlich hatten sie keine Zeit, doch seine Neugierde war geweckt. Er sah zu Kai, der ungeduldig dreinblickte und entschied, dass sie einpaar Minuten noch entbehren könnten.

„Warum?“

„Er hat es wegen Dranzer getan.“

„Dranzer? Was hat das Miststück mit dir zu tun?“

„Das Miststück ist meine Schwester.“, kam die Antwort wie ein Zischen.

Tyson hielt den Atem an. Dranzer und Wolborg waren Schwestern? In der Geschichte der Menschheit gab es dutzende Beispiele, für gegensätzliche Geschwister, aber ein solch krasser Kontrast war ihm noch nie vorgekommen.

„Wie könnt ihr beiden Schwestern sein? Dranzer ist ein Phönix und du…“

„Die Gestalt eines Bit Beast sagt nichts über seinen Stammbaum aus. Lediglich die niederen Klassen verweilen ihr Dasein auf diese Weise. Die höheren Klassen haben die Begabung als jene Gestalt geboren zu werden, die sie sich herbeisehnen. Demnach kann ein Katzen Bit Beast in der Irrlichterwelt auch mit einem Bären verwand sein. Was zählt ist, welchem Element es zugeordnet ist.“

„Aber da hängt die Logik doch bereits! Dranzer ist die Herrin des Feuers. Wie können Feuer und Eis miteinander verwandt sein?“

„Mein Aufgabengebiet war nicht immer das Eis. Vor vielen Jahren, habe ich zusammen mit meiner Schwester über die Flammen regiert. Dranzer spendete den Menschenkörpern ihre Wärme und Empfindungen und ich schenkte ihnen die Strahlen der Sonne.“

„Dann gab es also zwei Feuer Bit Beast?“

Wolborg nickte und ihre Miene verriet eine gewisse Melancholie. Sie fuhr sich mit den Fingern über ihre rechte Hand, bis ihre zierlichen Fingerkuppen an ihrem Puls verweilten.

„Mein Körper war nicht immer kalt. Vor vielen Jahren floss Leben in mir. Es pulsierte in meinem Leib wie eine unerschöpfliche Quelle. Doch Dragoon fand dass es nur ein Feuer Bit Beast geben sollte. Meiner Schwester sollten meine Aufgaben übertragen werden. Wir weigerten uns. Sie wollte sich nicht von mir trennen und ich mich nicht von ihr. Ich weiß noch wie sie sich als junges Kücken an mich klammerte und ihn anflehte mich nicht gehen zu lassen. Sie bat ihn mich ihr nicht fortzunehmen... Ihre große Schwester dürfe sie niemals verlassen.“ Für kurze Zeit trat ein wehmütiges Lächeln auf ihr Gesicht. „Sie war nun mal ein Kücken. Mein kleines Kücken. Zu naiv für diese Welt und voller Liebe für ihre ältere Schwester. Das machte Dragoon aber wütend. Seiner Meinung nach benötigte die Irrlichterwelt, statt einem zweiten Feuer Bit Beast, ein Wesen, das für unliebsame Maßnahmen da war. So nannte er es jedenfalls…“

„Ich glaube diese Geschichte kenne ich“, ganz plötzlich hatte sich Kai zu Wort gemeldet. Tyson sah ihn verblüfft an und fragte: „Woher?“

„Als ich bei der Dame Solowéj war ist ein seltsamer Mann aufgetaucht. Er hat mir eine Geschichte erzählt, die so ähnlich klang, aber der Mann meinte, dass es mit einem Wettkampf zwischen den Bit Beast begann und Anastasia ist daraufhin furchtbar wütend geworden. Sie wollte nicht dass ich das höre. Der Mann nannte die Geschichte: Die Sage um Luft und Feuer.“

„Eine Geschichte die nur unter uns Bit Beast erzählt wird.“, fügte Wolborg hinzu, dann aber etwas verbitterter. „Allerdings ist man hier gespaltener Meinung was den Wettkampf anging. Der größte Teil der Bit Beasts glaubt der geläufigsten Version, dass meine Schwester einen Groll gegen Dragoon hegt, weil er sie damals im Kampf geschlagen und den Thron aller Bit Beast bestiegen hat. Die Wahrheit ist aber… Er hatte den Thron bereits gewonnen! Ihr Hass ihm gegenüber kam erst als er uns voneinander trennte.“

Wolborg sah traurig zu Boden.

„Wir wollten Dragoon wirklich als unseren Gebieter anerkennen, aber… er hat es nicht verstanden. Er hat nicht begriffen dass wir zusammen gehörten. Ich bin mir sicher, er hätte jedes andere Bit Beast die Eiswelt kontrollieren lassen können, doch seine Wahl fiel absichtlich auf mich. Er wollte uns auf Gedeih und Verderb trennen. Bis heute verstehe ich nicht, was ihn so sehr an unserer Zweisamkeit störte.“

Plötzlich durchfuhr es Tyson wie ein Blitz.

Wenn Kai diese Geschichte kannte und sie nur in der Irrlichterwelt bekannt war, konnte es sich bei seiner Dame Solowéj nur um ein Bit Beast handeln. Sein Blick wanderte zu Wolborg, zu ihrer zierlichen Gestalt, dem wunderhübschen Gesicht - einem menschlichen Gesicht! Warum war ihm zuvor nie in den Sinn gekommen, dass Dranzer Kais Dame Solowéj sein könnte?

So wie Draciel Max, in der Gestalt seiner Mutter, an der Nase herumgeführt hatte, war Dranzer womöglich in menschlicher Gestalt vor Kai erschienen, um ihn zu manipulieren!

Er war lange genug in ihrer Gewalt gewesen und es würde auch erklären, warum er mehr vergessen hatte als alle anderen. Wer konnte schon sagen zu welchen Flüchen dieser hinterhältige Spatz noch in der Lage war? Allein wie sie Tyson dazu verführt hatte das Notizbuch mit den Erinnerungen in den Kanda zu werfen, zeigte wie gerissen Dranzer war.

„Was meinst du eigentlich mit unliebsamen Maßnahmen?“, fragte Tyson, dem diese Bezeichnung nun seltsam vorkam.

„Wenn sich in der Menschenwelt eine Spezies zu rasch verbreitet, sorge ich dafür, dass ihr Einhalt geboten wird.“

„Wie?“

„Durch die Eiszeit… Es ist wie mit den Käfern. Im Sommer vermehren sie sich, durch den winterlichen Schnee verrotten sie.“

Tyson hielt geschockt inne. Wolborg begann ihm unheimlich zu werden. Außerdem dachte er daran, wie viele Menschen es bereits auf der Erde gab. Wenn sich die menschliche Spezies weiter ausbreitete, würde Wolborg dann, ohne mit der Wimper zu zucken, eine Eiszeit über die Erde verhängen? Trotz der Freundlichkeit die er von diesem Wesen empfangen hatte fühlte er sich nun bedroht.

„Ich mache dir Angst. Nicht wahr, Takao?“

Er antwortete nicht. Stattdessen schob er Kai vorsichtig hinter seinen Rücken. Es war mehr ein tieferer Instinkt, der ihn das Kind verstecken ließ.

„Du brauchst keine Furcht zu haben. Ich möchte auch keine weiteren Eiszeiten über eure Welt bringen. Ich finde Gefallen am Eis, doch schau, wo es mich hingeführt hat. Abgestoßen von den anderen Bit Beast, muss ich hier alleine leben. Es ist als wolle Dragoon den Rest der Welt glauben machen, dass ich nie existiert habe. Dabei möchte ich so gerne zu meiner Schwester zurück. Er hat uns getrennt, obwohl er genau wusste, wie sehr wir einander lieben. Ihm bereitet es immer eine wohlige Genugtuung meine Schwester zu quälen, deshalb hat er mir das angetan. Er erstickte jegliche Wärme in meinem Körper und nun bin ich eine kalte Hülle. Mein Körper schmilzt, sobald ich auch nur in die Nähe der wärmeren Regionen komme… und in die Nähe von Dranzer. Als Feuer Bit Beast kann sie mich nicht berühren, ohne mich zu zerstören. Meine kleine Schwester muss von mir fortbleiben damit ich lebe. Weißt du was das heißt? Kannst du verstehen wie es sich anfühlt, wenn das einzige Wesen das du liebst dich meiden muss? Ich habe sie seit meiner Wandlung zum Eis Bit Beast nicht mehr gesehen. Das ist schon so viele Jahrtausende her. Ich habe schon aufgehört die Jahre zu zählen… “

„Du warst doch aber bereits in der Menschenwelt. Wenn du nicht einmal durch diesen Felsspalt kommst, wie bist du dann jedes Mal zu Tala gekommen?“

„Sagen wir, ich besaß eine Sondererlaubnis dafür. Draciel gab mir ihr Einverständnis um an den Beybladekämpfen teilzunehmen. Sie gab mir mehr von ihrer Kraft, um das schwankende Klima zu überleben und als ich in der Menschenwelt ankam, brauchte ich nur noch ein Menschenkind, von dessen Energie ich mich ernähren konnte. Tala hatte wirklich reichlich davon. Seine Kraft war so enorm das ich mit seiner Energie sogar den Uralten in der Bey Arena die Stirn bieten konnte. Er war mir eine große Hilfe…“

Tyson schluckte und war froh, dass Wolborg scheinbar nichts über das vorzeitige Ableben ihrer Schwester wusste und der Probleme die sie mit Dranzer kürzlich hatten. Er ahnte dass ein falsches Wort ihre Aussicht auf den Ausgang vernichten würde. So sehr ihn Wolborgs Schicksal auch berührte, er musste Dranzers Tod für sich behalten.

„Aber… wie können wir dir helfen?“

„Indem ihr mich wieder zu einem Feuer Bit Beast macht.“

Tyson konnte nicht folgen. Er wusste beim besten Willen nicht, wie sie das anstellen sollten.

„Du weißt schon, dass wir nicht zaubern können, oder?“

„Ja, trotzdem könnt ihr mir helfen. Ich brauche zwei Dinge die meinen Körper wieder erwärmen: Ein starkes Herz, voller Energie und Leidenschaft, und dazu noch ein Paar warmer Augen. Das sind die Dinge, die Dragoon mir damals genommen hat.“

Tyson seufzte und schüttelte den Kopf. Klar…

Ein Herz und ein Paar Augen. Wolborg betete ihre Forderung herunter wie eine Einkaufsliste.

„Wo sollen wir so etwas herbekommen? Dein gewünschtes Augenpaar steht bestimmt nicht im Kaufhausregal neben eingemachter Marmelade…“

Sie ließ mit ihrer Antwort auf sich warten. Tyson dachte schon sie gekränkt zu haben, da erhob sich langsam ihre Hand und sie deutete auf Kai.

„Dort steht mein Augenlicht…“

Ihr Finger wanderte weiter und blieb auf Tyson ruhen.

„Und hier mein neues Herz.“

Es wurde totenstill.

Die letzten Worte schallten zu den Jungen, wie ein endloses Echo. Tyson schluckte und spürte wie seine Kehle trocken wurde. Um seine Anspannung zu lockern gab er ein nervöses Lachen von sich und fragte: „Das war ein Scherz, oder?“

„Nein.“

„Das kannst du nicht ernst meinen! Wie soll das funktionieren?“

„Es ist einfacher als du denkst…“

Ein Bild entstand wie von selbst in seinem Kopf. Er sah Wolborg auf sie zu stürmen und ihnen Herz und Augen mit bloßen Klauen rausreißen. Ihre blassen Finger wären von Blut durchtränkt und voller Ungeduld würde sie ihre neugewonnen Organe einpflanzen. Tyson schüttelte den Kopf um den Gedanken zu verscheuchen und antwortete:

„Das kannst du vergessen! Ich will nicht sterben!“

„Du wirst nicht sterben, ich lebe doch auch…“

„Du bist ein Bit Beast!“

„Was spielt das für eine Rolle?“

Die Leichtfertigkeit mit der sie ihre Frage stellte, erschreckte Tyson.

„Na… weil wir Menschen unsere Organe brauchen! Wie soll ich ohne Herz leben? Ich würde sterben! Und Kai… er wäre sein Leben lang blind!“

Reflexartig stellte er sich vor das Kind.

„Ein Leben lang?“, ein seltsames Lächeln huschte über Wolborgs Gesicht. „Was ist schon ein Menschenleben im Gegensatz zu meiner Ewigkeit? Kai wird eines Tages durch den Tod von seiner Blindheit erlöst, und du stirbst früher oder später auch. Ob heute oder in fünfzig Jahren, wen kümmert das? Aber ich… Ich müsste weiterhin hier verweilen. Warum so etwas Kostbares wie Augenlicht und Herz an einpaar Eintagsfliegen verschwenden, wo es mir doch viel Nützlicher sein könnte?“

„Wir sind keine Eintagsfliegen!“, herrschte Tyson sie an. „Wie kommst du dazu, dich über uns zu stellen! Denkst du wir sind weniger wert, nur weil wir nicht so lange leben wie du?“

„Gewiss. Ihr seid nur Menschen.“

Sie tat einen Schritt auf die Jungen zu und Tyson zischte:

„Bleib weg! Vergiss unsere Abmachung! Wir kommen ohne dich auch zurecht!“

„Es war keine Abmachung. Es war ein Versprechen.“

„Mir doch egal!“

„Du stellst dir die Angelegenheit wieder zu einfach vor… Ein Versprechen wiegt viel in dieser Welt und ist unwiderrufbar. Du hast dich in dem Moment zu einer Gegenleistung verpflichtet, in dem du mir die Hand auf dein Wort gabst. Du schuldest mir etwas.“

„Ich schulde dir gar nichts!“

Zum ersten Mal verfinsterte sich Wolborgs Miene. Über ihr Gesicht huschte ein Schatten und kleine Schneeböen wehten um ihre Fußknöchel, lüpften den feinen Saum ihres weißen Kimonos ein kleinwenig in die Höhe.

„Ich versuche es im Guten, Takao. Doch meine Geduld neigt sich dem Ende! Wenn du nicht bereit bist, deinen Teil der Abmachung einzuhalten, ist es vorbei mit meiner Sanftheit. Leiste deine Schuld ab und ich helfe dir! Wenn nicht wirst du am eigenen Leib erfahren, was mit denen passiert, die ein Versprechen brechen – und das Kind auch!“

So sehr es ihm missfiel, er glaubte ihr. Es bedurfte keinem Genie um zu erkennen, dass Wolborg im klaren Vorteil war. Die Eislandschaft war ihr Territorium, das Wetter hier gehorchte allein ihrem Willen.

Vorsichtig schielte Tyson auf die andere Seite des Sees zum Felsspalt. Wenn er richtig verstanden hatte, besaß sie dahinter keine Macht mehr. Laut ihren eigenen Worten bekam ihr das Klima auf der anderen Seite überhaupt nicht gut… Aber wie dort hin gelangen?

Der Weiher war zu groß um ihn in einem schnellen Spurt zu umrunden und über das Eis zu rennen getraute sich Tyson nicht… Jedenfalls nicht mit Kai im Schlepptau. Summierte man ihr Gewicht, wären sie sicherlich zu schwer und würden durch das Eis brechen. Der Junge schien sich der Bedrohung außerdem zunehmend bewusster zu werden, denn er zupfte an Tysons Fellumhang. Als er vorsichtig zu Kai hinab spähte, sah das Kind ihn aus furchtsamen Augen an und flüsterte: „Ich will weg von ihr.“

„Ihr geht nirgendwo hin.“, riss Wolborgs Stimme ihn aus den Gedanken. „Nicht bevor ihr euren Zoll gezahlt habt!“

„Okay…“, Tyson hob beschwichtigend die Hände und seufzte resignierend. „Hör mal, ich will keinen Ärger. Wie wäre es also, wenn ich dir einen anderen Vorschlag mache. Wenn du möchtest gebe ich dir mein Herz - und mein Augenlicht!“

Kais Blick schnellte zu ihm und der Junge wurde blass.

„Tyson…“

„Sei still!“

„Ich will das aber nicht!“

„Du bist zu klein, Kai. Es geht nicht anders!“

„Ich will nicht deine Augen. Sondern seine.“, unterbrach Wolborg die Auseinandersetzung.

„Ach komm schon! Was soll die Scheiße?!“, brauste Tyson auf. „Spielt es eine so große Rolle, welche Augen du bekommst? Warum sollen zwei Menschen leiden, wenn es auch nur einer sein kann?“

„Weil ich solche Augen will wie er! Ich will diese flammenden Rubine besitzen, von denen du mir erzählt hast.“

Tyson biss sich auf die Unterlippe und verfluchte sich selbst für seine schnelle Zunge. Warum hatte er Wolborg nur von diesem Zwischenfall mit dem Brief erzählt? Er senkte den Kopf und musste sich eingestehen, dass er keinen Ausweg fand. Die einzige Lösung die ihm auf die Schnelle kam, beinhaltete eine Option, die ziemlich riskant war und ihm selbst Angst bereitete.

„Na schön. Du bekommst was du willst. Allerdings unter einer Bedingung! Ich will nicht, dass Kai mitbekommt, wie du mein Herz nimmst. Er wartet am Felsspalt, bis du zurückkommst…“

Es war ein letzter Versuch den Jungen zu schützen. Er hoffte inständig dass Kai die Gelegenheit nutzen und flüchten würde. Bei dem Gedanken, dass er selbst vielleicht nicht nachkommen könnte, schnürte sich seine Kehle zu und ein weiteres Mal sah er sich dem Tod gegenüber. Als winziges Trostpflaster nickte Wolborg.

„Todgeweihten schlägt man keine Wünsche aus. Du darfst wählen wo dein Grab sein soll.“, sprach sie schließlich.

Tyson wandte sich um und blickte zur verschneiten Waldlandschaft, aus der sie gekommen waren. Wenn sie weit genug hinein liefen, würden sie vielleicht von Kais Blick verborgen bleiben.

„Da hinten, irgendwo…“

„Gut.“, Wolborg wandte sich an Kai und sprach. „Du wartest am Felsspalt, bis ich wieder komme. Hast du das verstanden Junge?“

„Ich will dass aber nicht!“

„Er wird nicht leiden.“

„Ich hasse dich!“, schrie Kai unvermittelt. Er tat einen Schritt auf sie zu und ein anklagender Blick zierte sein Gesicht. „Du bist eine falsche Schl-...“

Wolborgs Hand schnellte nach vorne und verpasste Kai eine Ohrfeige, dass er zur Seite flog. Der Junge landete mit dem Kopf voraus im Schnee, wo er etwas verstört liegen blieb. Als er sich wieder aufraffte, brannte ein roter Handabdruck auf seiner Wange und Tyson wurde wütend.

„Lass ihn in Ruhe!“

„Wie du willst… Seinen Wegzoll muss auch er bald zahlen.“

Sie richtete ihre Hand auf Kai. Als sie ihre Finger ausstreckte, tat sich eine Schneeböe auf, die so gewaltig war, dass der Junge nicht mehr von der Stelle weichen konnte. Zunächst hielt sich Kai schützend die Hand vor das Gesicht, dann riss ihn der Sturm von den Füßen. Mit dem Rücken voraus, landete er auf den vereisten Weiher. Tyson musste entsetzt beobachten, wie der Junge über das Eis Richtung Felsspalt glitt. Dabei betete er dass die Eisschicht nicht unter seinem Gewicht nachgab.

„Hör auf!“

Wolborg ignorierte ihn. Tyson sah, wie Kais Finger verzweifelt Halt an der gefrorenen Oberfläche suchten, bis sie durch die Schicht brachen. Seine Hände klammerten sich an dem entstandenen Loch fest, doch gegen die nächste Schneeböe hatte er keine Chance, stattdessen schnitt er sich die Handflächen an den Rändern auf.

„Du sollst aufhören!“

Blutige Linien zogen sich über das Eis, als das Kind weiter rutschte, doch Kai versuchte weiterhin seine Finger darin zu graben.

„Stures Balg“, flüsterte Wolborg nur. Eine weitere Windböe, stärker als alles zuvor, blies den Jungen auf die andere Seite des Ufers. Erst als Kai dort zum Liegen kam, ließ Wolborg von ihm ab. „Lass uns gehen…“

Das war alles was sie sagte. Dann wandte sie sich um und schritt ihm voraus in den Wald. Tyson warf noch einmal einen sorgenvollen Blick zu Kai. Das Kind raffte sich zitternd auf und schüttelte sich den Schnee von den Schultern. Er schaute zunächst auf seine zerschundenen Hände, dann zu Tyson. Da er befürchtete, Wolborg könne ihn hören, deutete Tyson energisch auf den Felsspalt, um den Jungen zu verdeutlichen, ohne ihn zu verschwinden. Doch Kai schüttelte den Kopf.

Er wollte nicht gehen.

„Sei nicht dumm!“, wäre Tyson beinahe heraus gerutscht, als ihn Wolborgs drängender Ruf ereilte. Mit geschlossenen Lidern, stand die kalte Schönheit am Waldrand und wartete – das Gesicht ihm zugewandt. Sie wusste wieder genau wo er war, trotz ihrer Blindheit.

Mit einem letzten Seufzen folgte Tyson ihr schließlich. Innerlich betete er, dass Kai zur Vernunft kommen würde. Er musste doch einsehen, dass es besser war zu verschwinden…

Während Tyson diesen Gedanken nachhing, dachte er fieberhaft darüber nach, wie er auch für sich selbst einen Ausweg aus dieser Situation finden könnte.

Er würde Wolborg natürlich nicht sein Herz geben!

So heldenhaft war er nun wirklich nicht. Seine Absicht war es lediglich Kai einen Vorsprung zu verschaffen und dann später selbst zu flüchten. Langsam stapfte er Wolborg hinterher und wann immer sich die Gelegenheit ergab, trödelte er. Das machte das Bit Beast zwar zusehends ärgerlicher, doch er ließ sich nichts anmerken. Jeder Platz schien ihm nicht angemessen genug für sein Ableben und als ihr Gesicht sich immer weiter verfinsterte, meinte er nur frech:

„Bin ich es der sterben muss, oder du?“

Mittlerweile hatten sich die beiden so weit von dem Weiher entfernt, dass sie sich fast schon auf dem Rückweg zu Wolborgs Winterdorf befanden, doch Tyson blieb einfach der rettende Geistesblitz aus. Um das Bit Beast abzulenken, griff er auf eine Frage zurück, die ihm seit einpaar Minuten durch den Kopf spukte.

„Du hast vorhin gesagt, dass wir dem Wurzelwerk folgen müssen, um aus der Irrlichterwelt zu gelangen. Was meinst du damit?“

„Das Wurzelwerk von Yggdrassil. Dem großen Weltenbaumzwilling.“

„Kannst du dich nicht deutlich ausdrücken?“

„Wenn ihr Menschen ohne Herz wirklich nicht leben könnt, sollte dich das nicht mehr interessieren. Du wirst niemals auf dem Wurzelpfad laufen können. Jedenfalls nicht lebendig.“

„Was hat das schon wieder zu bedeuten?“

„Takao, deine Unwissenheit ist fast schon bemitleidenswert. Die Weltenbaumzwillinge verbinden euer Diesseits mit dem Jenseits. Die beiden Bäume sprießen aus derselben Wurzel. Ein Stamm wächst in die Irrlichterwelt, während sein Bruder in die Menschenwelt wächst. Am Kern der Wurzel befindet sich die Barriere und das Tor zu beiden Welten. Willst du also zurück in die Menschenwelt, musst du einem der Wurzeln folgen…“

„Und das hast du uns nicht vorher gesagt, weil…“

„Weil ich eine Gegenleistung für meine Dienste wollte.“

So war das also.

Wolborg war von Anfang an auf sein Herz ausgewesen und als sie erfuhr, dass Kai noch die Augen besaß, die sie so dringend brauchte, musste das für sie wie ein Sechser im Lotto gewesen sein. Gleichzeitig kam Tyson aber eine Idee.

„Hör mal, wir können das Ganze auch anders lösen. Ich bin zwar nicht begeistert von dieser Option, aber was hältst du davon, wenn wir dir unsere Organe erst nach unserem Tod geben? Wenn wir unser Leben gelebt haben und alt sind brauchen wir sie ja nicht mehr. Das ist so wie bei einer Organtransplantation. Da wartet man auch bis ein geeigneter Spender auftaucht, du dagegen hast deine Organe bereits unter Dach und Fach. So haben beide Seiten etwas.“

„Nein.“

„Warum?“

„Denkst du ich habe diese Möglichkeit nicht in Erwägung gezogen? Ich würde nicht nach euren Organen verlangen, wenn es funktioniert hätte. Ein totes Herz ist kalt und leblose Augen trübe und matt.“, mehr zu sich selbst gewandt flüsterte sie. „Der Tod war noch nie warm…“

„Du weißt wie Falsch das ist was du tust, oder?“

„Richtig und Falsch gibt es in dieser Welt nicht. Sonst wäre mir schon längst Gerechtigkeit widerfahren. Stattdessen spielt Dragoon sich auf wie ein Gott, während ich hier ein Dasein in Abgeschiedenheit friste. Ich bin genauso eine Uralte wie die anderen, aber behandelt werde ich wie eine Abtrünnige. Dabei habe ich mir nie etwas zu Schulden kommen lassen.“

„Du bist selbst Schuld an deiner Einsamkeit! Wenn du nicht so fixiert auf Dranzer wärst und jedes Bit Beast zu einem Eisklumpen gefrieren würdest…“

„Sei still! Was hätte ich schon von dieser verlausten Hyänenmutter gehabt? Dieses stinkende Geschöpf ist kein Ersatz für meinen Verlust – keines dieser Bit Beast das sich jemals hier her verirrt hat war das! Das sind nicht meine Schwestern!“

„Du steckst voller Widersprüche! Auf der einen Seite behauptest du, dass du die Einsamkeit vorziehst, im nächsten Moment heulst du deiner heißgeliebten Schwester hinterher. Du hältst Menschen für Eintagsfliegen, warst aber das Bit Beast eines Menschen!“

„Tala war nur Mittel zum Zweck. Hätte ich ihn nicht gehabt, wäre ich nie in Kais Nähe gekommen… und somit nicht zu Dranzer.“

Tyson fauchte genervt auf.

Dranzer, Dranzer. Immer wieder Dranzer!

Dieses verdammte Bit Beast sorgte nur für Ärger, selbst nach ihrem Tod!

Ihr Name tauchte immer auf, wie ein Korken den man verzweifelt im Klo runterspülen wollte. Mittlerweile begann er eine gewaltige Antipathie gegen sie zu entwickeln. Ebenfalls war sich Tyson sicher, dass Wolborg sie schon längst in mundgerechte Scheiben geschnitten hätte, wenn sie erfahren würde, was aus ihrer Schwester geworden war – zumal Dragoon daran wieder die Hauptschuld trug.

„Bringen wir endlich zu Ende weswegen wir gekommen sind…“, entschied Wolborg.

Sie hatten eine winzige Lichtung erreicht, die teilsweise von totem Gestrüpp umgeben war.

„Ich bin deine Spielchen leid, Takao. Glaubst du ich wüsste nicht, dass du mich hinhältst?“

Er biss sich auf die Unterlippe. Doch sie wandte sich ihm zu und ein geheimnisvolles Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Alle deine Pläne scheitern. Und deine größte Hoffnung muss ich ebenfalls zerschlagen. Kai ist nicht durch den Spalt gegangen.“

„Was?“

Schlagartig zog Tyson die Luft ein. War Kai ihnen gefolgt?

Er wandte sich ruckartig um, sein Blick durchkämmte die umliegende Landschaft – und tatsächlich! Ein ganzes Stück hinter ihnen, meinte er eine kleine Gestalt in einem langen braunen Fellumhang flink hinter einem Baum verschwinden zu sehen.

„Entzückend, nicht wahr? Er läuft dir nach wie ein treuer Streuner.“

Tyson schnürte es die Kehle zu.

„Ich dachte mir bereits dass er dich nicht verlässt. Oder hast du tatsächlich geglaubt, ich würde ihn einfach durch den Felsspalt entwischen lassen. Eher hätte ich ihn als gefrorenen Eisblock zurückgelassen, als das zu riskieren.“

Ein wütendes Knurren entrang sich Tyson und er taxierte Wolborg mit unverhohlener Wut.

Dieses wissende Lächeln mit dem sie ihn bedachte war schlimmer als alles andere.

„Ich war einmal ein Feuer Bit Beast. Ich weiß was die Menschen bewegt. Und solche Wesen wie ihn kenne ich zu genüge. Es dauert lange sich ihr Vertrauen zu verdienen, doch hast du es erst einmal voll und ganz erworben, bleiben sie loyal.“

In einer anderen Situation hätte sich Tyson gefreut. Jetzt hätte er am liebsten geheult.

Anstatt das Kai die Gelegenheit genutzt hatte, rannte er in den sicheren Tod! So tief wie sie bereits im Wald waren, würden die beiden Jungen es niemals schnell genug zum Felsspalt schaffen. Tyson allein hätte es vielleicht geschafft, aber mit einem kleinen Kind im Schlepptau?

Unmöglich!

Wie zur Hölle hatte Wolborg das Kind ausmachen können, während Tyson selbst erst jetzt Kais Anwesenheit bemerkte?

„Du kannst sehen! Du verdammte Lügnerin kannst sehen!“, schrie er auf.

„Nein kann ich nicht.“

„Wie sonst hättest du Kai erkennen können?!“

Sie lächelte eiskalt.

„Das ist ein Geheimnis.“

„Na wenn das so ist, schmink dir seine Augen ab! Du bekommst sie nicht!“

Das war ein Fehler…
 

Wolborgs Gesicht verfinsterte sich und ihre Finger begannen sich zu verkrampfen. Ein seltsames Knacken kam von ihnen und Tyson meinte ein Knurren aus ihre Kehle entweichen zu hören. Dann, zum ersten Mal, öffnete sie ihre Augen. Leere Höhlen blickten Tyson entgegen, durch die man in das Innere ihres Schädels sehen konnte.

„So einfach kommt ihr nicht mehr aus der Sache raus!“, spie das Bit Beast hervor. Ihre sanfte Stimme war einem monströsen Knurren gewichen. „Aber wenn du dich so um den Jungen sorgst, werde ich zuerst ihn zerfleischen! Dann muss er deinen Tod nicht miterleben!“

Tyson schrie erschrocken auf als Wolborgs Körper urplötzlich aufplatzte.

Ihre menschliche Hülle flog in Form von tausend schillernden Eissplittern durch die Gegend. Schützend hob er die Arme vor sein Gesicht, nur um Sekunden später zu spüren, wie sich die Splitter in seine Unterarme fraßen. Es fühlte sich an, als wäre er von tausend kleinen Nadeln getroffen worden.

Dann ertönte ein lautes Jaulen.

Aus der zierlichen Eisfrau war das blutgierige Wolfs Bit Beast geworden, dass sie eigentlich war. Die bleiche Haut wich einem schneeweißes Fell, aus ihrer Schnauze prangten seitlich lange Schneidezähne hervor und auf dem Rücken besaß das Bit Beast eine Ansammlung von spitzen Eiskristallen, die messerscharf nach oben ragten.

Noch ehe sich Tyson es versah, bäumte sich Wolborg zu ganzer Größe auf und ließ noch einmal ihr ohrenbetäubendes Heulen verlauten. Dann machte das Bit Beast einen Satz über ihn hinweg, sprintete Richtung Kai.

„KAI! HAU AB!“, schrie Tyson.

Er war sich sicher dass der Junge ihn gehört hatte, doch das Kind kam nicht hinter dem Baum hervor. Tyson stolperte dem Bit Beast hinter her, schrie ihm üble Verwünschungen zu.

Doch zwecklos!

Sie näherte sich zunehmend Kais Versteck.

Wolborg hastete ungehindert durch die Schneemassen. Ihre riesigen Pfoten hinterließen große Abdrücke, an denen man die langen Klauen des Bit Beasts erkennen konnte. Sie war viel flinker als er, viel schneller und auch nicht vor Kälte durchgefroren.

Tyson konnte nicht Schritt halten. Der Schnee ließ ihn nur schwermütig vorankommen und er drohte mehrmals auszurutschen. Gerade als Wolborg den Baum erreicht hatte, flog er hin.

Auf dem Boden liegend rief er:

„KAI! LAUF!“

Wieder rührte sich nichts.

„DU SOLLST LAUFEN VERDAMMT!“

Wolborg hatte den dicken Stamm erreicht. Sie sprang um die Ecke, dann…
 

ZACK
 

… schnellte ein Ast, wie ein Peitschenhieb, in ihr Gesicht, dass das Bit Beast vor Schmerz aufheulte! Kurz darauf kam Kai, von der anderen Seite des Stammes hervor, während das Bit Beast noch jaulte. Es schüttelte den Kopf und stieß mehrmals gegen die umliegenden Bäume, knurrte und schrie in einer Tour.

Tyson richtete sich auf und lief Kai entgegen. Als sie sich erreichten, verfrachtete er ohne lange Umschweife das Kind auf seine Arme und rannte. Rannte, so schnell ihn seine Beine trugen. Vorbei an dem vor Schmerz tobendem Bit Beast. Zurück zum großen Weiher. Er sprang über Büsche hinweg, schlitterte kleine Schneehänge hinab und überquerte im Eiltempo kleine Lichtungen. Zu seinem Glück konnte er den Fußspuren folgen, die sie zuvor hinterlassen hatten. Es war seine ganz persönliche Brotkrümelspur aus „Hänsel und Grethel“.

Als er sich schon wunderte, weshalb Wolborg ihnen nicht folgte, hörte er das Heulen der Wölfin.

„Das schaffen wir nicht!“, sagte Kai. Tyson hatte keine Zeit sich selbst ein Bild von ihrer Situation zu machen. Das Kind aber konnte auf seinen Armen direkt hinter ihn blicken.

„Sie kommt!“

Er würde nicht an Kais Aussage zweifeln.

Kurzerhand tat Tyson das Einzige, was ihm in der jetzigen Situation Zeit verschaffte.

Als sie an einem dickstämmigen Baum hielten, hob er Kai in die Höhe und wies ihn an, soweit an den Ästen hinauf zu klettern wie möglich. Dann zog er sich selbst hoch und folgte dem Kind. Rasch machte er sich an den Aufstieg, ignorierte dabei das Stechen in seinen frierenden Fingerkuppen.

Er behielt ganz besonders Kai über sich im Auge, schob ihn hoch wenn er Schwierigkeiten hatte einen Ast zu ergreifen und trieb ihn immer weiter an. Plötzlich erzitterte das gesamte Geäst und das Kind rutschte mit einem erschrockenen Ausruf aus. Tyson bekam ihn gerade noch am Handgelenk zu fassen und zog den Jungen an sich, hielt sich selbst an einem Ast über ihm fest, da erschütterte sie bereits das nächste Beben. Ein Blick hinab erklärte schließlich die Ursache.

Wolborg warf sich mehrmals gegen den Stamm um sie zum Sturz zu bewegen, bis sie merkte dass ihr Vorhaben nicht auf fruchtbaren Boden stieß. Enttäuscht wetzte sie ihre Krallen an der Rinde des Baumes ab. Zwar war sie nicht an ihre Beute gekommen, doch eines hatte Wolborg geschafft: Aus Angst sie könnten bei der kleinsten Bewegung ausrutschen, getraute Tyson sich nicht mehr weiterzuklettern. Er drängte sich und Kai näher an den Stamm, hielt den Jungen eisern fest und verharrte so.

Es änderte aber nichts daran, dass sie nun festsaßen.

Das blieb auch dem Bit Beast nicht verborgen.

„Du bist da oben, nicht wahr Takao?“

Sie hob ihr Gesicht zu ihnen hinauf. Eine lange Wunde zeichnete sich quer darüber hinweg ab. Ein Überbleibsel des Astes den Kai ihr auf die Schnauze geschlagen hatte.

„Ihr seid beide da oben, habe ich nicht Recht?“

Tyson biss sich auf die Unterlippe und für einen Moment meinte er, dass Bit Beast zufrieden Lächeln zu sehen. „Und wie soll es jetzt weitergehen? Wollt ihr für immer dort oben bleiben?“

Zum ersten Mal hörte er Wolborg laut lachen. Es klang kalt und grausam.

„Ich bin unsterblich in meiner Eiswelt, meine Geduld ist endlos. Ob ich noch einpaar Stunden mehr auf meine Organe warte ist vollkommen gleich. Ihr werdet nämlich bald vor Hunger und Kälte von eurem Ast fallen und dann bin ich zur Stelle.“

„Mach doch was du willst, Miststück!“, fauchte Tyson wütend.

„Man muss hartnäckig bleiben, wenn man seine Forderungen eintreibt…“

Mit diesen Worten ließ sie vom Baum ab. Das Bit Beast kehrte ihnen den Rücken zu und suchte sich, einpaar Meter von ihnen entfernt, eine große Tanne, unter deren Geäst sie sich zur Ruhe legte. Tyson beobachtete sie dabei.

Besonders fiel ihm auf, wie die spitzen Ohren, bei jeder noch so kleinen Bewegung zuckten.

Es hätte ihn schwer gewundert, wenn sie nicht in der Lage wäre, ihre unruhigen Atemzüge, die vorsichtigen Bewegungen und das Knacken der unter ihrem Gewicht ätzenden Äste zu hören. Seufzend lehnte Tyson den Kopf gegen den Stamm. Natürlich hatte Wolborg Recht. Sie konnten nicht ewig hier oben bleiben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihren Willen bekommen würde.

„Kai, warum bist du nicht durch den Spalt gegangen?“

Das Kind blieb stumm, sah mit ernsten Augen zu ihm auf.

„Du bist ein riesiger Idiot! Früher war dir alles und jeder egal und ausgerechnet im falschen Augenblick zeigst du Loyalität!“

„Früher?“, das Kind in seinen Armen blinzelte irritiert. Natürlich verstand er kein Wort.

„Ach, vergiss es einfach.“

„Du bist böse auf mich, oder?“

„Nein“, seufzte Tyson und bereute bereits seine Worte. „Ich bin… einfach nur traurig. Ich wollte nicht dass sie dich auch bekommt. Du bist doch nur ein kleines Kind.“

„Was hat das damit zu tun?“

„Erwachsene müssen auf Kinder aufpassen.“

„Du bist aber nicht Erwachsen. Also warum kümmert dich ein fremdes Kind?“

„Weißt du Kai, ich sehe vielleicht aus wie dreizehn, innerlich fühle ich mich aber wie Zwanzig.“ Das war natürlich nur die halbe Wahrheit, aber alles andere hätte lächerlich geklungen. „Deshalb muss ich auf dich aufpassen. Du bist auch innerlich ein Kind. Ich kann dich doch nicht einfach so in dein Unglück rennen lassen…“

Er fuhr dem Kind spielerisch durch das Haar, nur um Kai zu necken, doch dann fiel Tyson auf, wie lange der Junge ihn bereits ansah. Seine Worte schienen ihn zum nachdenken zu bewegen. Irgendetwas ging in seinem Inneren vor, denn er senkte die Lider und sprach schließlich: „Ich glaube, dass hat noch nie jemand zu mir gesagt.“

Tyson blinzelte verdutzt, doch es fiel ihm nicht schwer, seinen Worten Glauben zu schenken. Kai war schon mit jungen Jahren darauf erzogen worden, selbstständig und ohne Hilfe zu handeln. So gesehen war das nicht schlecht, wenn man es im richtigen Alter tat. Mit sechs Jahren schien diese Erziehung, seiner Meinung nach, eher fragwürdig.

Als er merkte, dass der Junge bereits wieder leicht bläuliche Lippen hatte, zog er ihn fest an sich und hüllte sie beide in seinen Fellmantel ein. Körperwärme war tatsächlich ein Wundermittel gegen Kälte, denn augenblicklich fror Tyson nicht mehr so sehr. Er rieb Kai über den Rücken, um auch aus ihm die Kälte zu treiben und meinte:

„Tut mir Leid das ich dich angefahren habe.“

„Ist schon gut.“

Kai sagte dass mit einer Unbekümmertheit wie nur ein Kind sie besitzen konnte. Er nahm es ihm tatsächlich nicht übel. Wahrscheinlich war alles bereits vergessen.

„Was machen wir jetzt?“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht warten bis sie einschläft?“

„Was ist diese Frau überhaupt?“

„Das weißt du nicht?“

Ein verneinendes Kopfschütteln war die Antwort.

„Sie ist ein Bit Beast. Hat dir das deine Dame Solowéj nicht erklärt?“

„Nein.“

„Aber sie ist doch auch ein Bit Beast!“

„Sie ist ein Mensch. Sie ist kein Monster, wie dieses Ding da drüben!“

Tyson hatte wohl einen empfindlichen Nerv getroffen, denn Kai stemmte sich sofort von ihm Weg und zog ein wütendes Gesicht.

„Schon gut, komm wieder her! Mir wird kalt.“

Er zog den Jungen brüsk zurück. Das Thema würde er wohl zukünftig meiden müssen.

„Wo bist du dieser Frau überhaupt begegnet?“

„Sie wohnt in meinem Haus. Das habe ich dir doch bereits gesagt.“

„Und dieser seltsame Mann, der dir von der Sage erzählt hat?“

„Der war auch dort. Aber ich mag ihn nicht. Er hat Anastasia geärgert… Sie war furchtbar wütend als er in meinem Zimmer aufgetaucht ist.“

Tyson dachte nach.

Wenn die Dame Solowéj tatsächlich Dranzer war, konnte Kai nur von der Zeit sprechen, als er in der Illusion seines eigenen Hauses gefangen war. Aber wer war dieser Mann?

Fieberhaft versuchte er darüber nachzudenken, ob ihm jemand weiteres im Hiwatari Anwesen aufgefallen war. Doch außer den Phantomen hatte sich dort nichts gerührt.

Nichts gerührt…

Nichts gerührt?

Aber leblos unter einer Staubschicht gelegen!

Das Bild des toten Leichnams kam ihm in den Sinn, als er auf der Suche nach Kai durch das in den Lavafluten versinkende Hiwatari Anwesen gestolpert war.

War das dieser Mann gewesen?

Was Tyson damals vor sich gefunden hatte, erinnerte ihn mehr an eine ausgehöhlte Hülle.

Ein Gefäß… Wie sie Dizzy zu ihren Lebzeiten erwähnt hatte. Eine ihrer Theorien war gewesen, dass sich die Uralten in eine bewegliche Hülle begeben hatten, die ohne fremde Hilfe zu steuern war. Vielleicht kam dafür der Körper eines Toten in Frage?

Schließlich wurde Tyson auch klar, welches Bit Beast sich in dieser Leiche befunden hatte.

Da Dranzer laut Kai eine Frau war, blieb die tote Männerhülle nur für das einzige noch dort anwesende Bit Beast übrig – Dragoon.

Eine Gänsehaut schlich sich über seinen Körper.

Sein Bit Beast konnte tatsächlich in Leichen schlüpfen. Das war unheimlich…

Er dachte an den Frauenkörper von Wolborg, der vor kurzem in tausend Eissplitter zerbrochen war. Hatte diese Frau einmal wirklich gelebt?

In der Menschenwelt? So wie er?

Womöglich sogar in dem Dorf das Dragoon ihr geschenkt hatte.
 

Tysons Bein begann einzuschlafen und er schob Kai in eine bequemere Position, um es zu entlasten, da richtete sich das Kind auf und sagte: „Da piekst was!“

„Hä? Wo denn?“

„Na da!“ Kai deutete auf Tysons Hosentasche. „Da ist was!“

„Ach so. Du meinst dein Feuerzeug?“

„Mein Feuerzeug?“

„Ich meinte… mein Feuerzeug!“

Er zog das besagte Stück aus seiner Hosentasche. Das hatte er ja komplett vergessen. Seit er es Kai im Krankenhaus geklaut hatte, war es nun in seiner Verwahrung.

„Wofür brauchst du das denn?“

„Ähm… Ich rauche.“

„Wirklich? Das ist doch furchtbar ungesund.“

„Nein echt? Dann sollte ich damit aufhören. Merk dir deine Worte aber für die Zukunft!“

Falls Kai das nicht tat, würde Tyson ihm seine jetzige Predigt ohnehin unter die Nase reiben – wobei er es auch tun würde, wenn Kai das Rauchen aufgeben würde. Er ließ das Feuerzeug einmal aufflackern. Es funktionierte noch, trotz des Badeausfluges im Fluss. Das Geräusch lenkte Wolborgs Aufmerksamkeit sofort auf sie beide. Tyson konnte noch immer die blutige Narbe erkennen, die Kai ihr zugefügt hatte. Es bereitete ihm irgendwie ein ungeheures Vergnügen sie so zu sehen, deshalb sagte er:

„Alle Achtung, du hast ihr vorhin aber einen richtig schönen Schlag verpasst. Wie hast du nur die ganze Kraft aufgebracht?“

„Ich habe das so gemacht...“ Kai demonstrierte an einem kleinen Zweig über ihnen, wie er den Ast nach hinten gespannt und ihn im richtigen Augenblick losgelassen hatte. So konnte er trotz seiner kleinen Statur eine schmerzhafte Verletzung verursachen. Es war alles eine Frage des Timings gewesen. Trotzdem schien Kai mit seiner Leistung nicht zufrieden, denn er meinte: „Ich habe es aber nicht richtig gemacht. Ich wollte ihre Nase treffen…“

„Sie scheint auch so genug Schmerzen zu haben. Gram dich nicht.“

„Aber dann könnte sie uns nicht mehr riechen und wir säßen hier nicht fest.“

Tyson blinzelte seinen Gegenüber überrascht an.

„Sie riecht uns. Ist dir das etwa nicht aufgefallen?“

„N-Nein. Wie kommst du darauf?“

„Vorhin als sie uns zum Weiher geführt hat, da hat sie immer so gemacht…“

Kai hielt seine Nase in die Höhe und bei Tyson fiel augenblicklich der Groschen. Wolborg hatte nicht die Umgebung genossen, sondern in der Luft nach dem Felsspalt gewittert. Warme Luft entwich bekanntlich nach oben und ihm war bereits vor dem Weiher aufgefallen, dass die Kälte dort nachließ. Wenn Wolborg tatsächlich so eine feine Nase besaß, musste sie sogar die Pflanzen auf der anderen Seite riechen. Vielleicht sogar die Witterung von Menschen die sich dort aufhielten. Deshalb war sie sich so sicher gewesen, dass Ray und Max dort sein mussten, obwohl sie keinen Fuß auf die andere Seite der Höhle hatte setzten können.

Ein Kichern schallte zu ihnen.

Die Wölfin lachte leise vor sich hin und meinte schließlich, mit ihrer ruhigen Stimme:

„Wie du siehst habe ich dich nicht belogen, Takao. Dein kleiner Freund scheint nur aufmerksamer auf seine Umgebung zu achten als du.“

Sie hatte jedes ihrer Worte belauscht.

Natürlich…

Sie war eine Wölfin und die hatten von Natur aus ein ausgezeichnetes Gehör. Trotzdem ärgerte sich Tyson nicht, denn in seinem Kopf hatte sich endlich ein Plan entwickelt. Wenn sie es zum Felsspalt schafften, würde er Kai von oben bis unten drücken, bis das Kind nach Luft japste.

„Mag sein aber letztendlich wird dir das dein Genick brechen. Ich kenne jetzt deinen Schwachpunkt.“

„Du meinst meinen Vorteil.“

„Wenn dein ausgeprägter Geruchssinn ein Vorteil wäre, würdest du wohl kaum Kais Augen brauchen.“

Das Bit Beast knurrte und hob den Kopf.

„Es reicht um euch zu fassen.“

„Na wenn du meinst. Ich sehe mich schon gemächlich durch den Felsspalt spazieren – quicklebendig, mit Kai zu meiner Rechten.“

„Du stellst dir die Dinge schon wieder zu einfach vor.“

Wolborg hob ihre massige Gestalt aus dem Schnee hoch. Mit langsamen Schritten kam sie auf den Baum zu. Tyson zog mittlerweile seinen Fellmantel aus und als Kai ihm einen fragenden Blick zuwarf, bedeutete er dem Jungen still zu sein.

Für Erklärungen war später auch noch Zeit.

„Durch meinen Geruchssinn, seit ihr schon tot, bevor eure Füße den Schnee berühren.“

Das Bit Beast begann den Baum zu umrunden.

„Ihr Menschen habt eine furchtbar geringe Wahrnehmung. Eure Sinne sind kümmerlich und äußert schlecht ausgebildet. Außerdem überreizt ihr sie, mit eurem Lärm, euren Farben und euren künstlichen Düften.“

Tyson ließ das Feuerzeug klicken und führte es an seinen Fellmantel. Sofort zuckten Wolborgs Ohren und die Wölfin fragte: „Was hast du da?“

„Ein Spielzeug…“

„Wie typisch für euch Menschen.“, konzentriert blieb das Bit Beast stehen und horchte nach dem vermeintlichen Spielzeug. „Das ist eine weitere eurer Unannehmlichkeiten. Ihr könnt euch nur an Dingen erfreuen die Geräusche machen.“

„Tyson…“, schnell hielt er Kai den Mund zu.

Ja. Er war dabei seinen Fellmantel anzuzünden!

Doch das war etwas dass Wolborg nur im letzten Moment erfahren durfte.

Durch den Schnee war sein Mantel an vereinzelten Stellen feucht, deshalb brauchte es seine Zeit, bis er einpaar trockene Fellhaare gefunden hatte. Schließlich kam er zur Erkenntnis, dass sich der Stoff am besten von Innen anzünden ließ. Tyson hatte gerade erfolgreich ein herrlich kokelndes Brandloch verursacht, da bahnte sich bereits die erste feine Rauchsäule Richtung Horizont. Sie zog sich in die Höhe wie ein feiner Faden.

Sofort blähten sich Wolborgs Nüstern und das Bit Beast rief:

„Ist das Rauch?“

„Vielleicht.“

„Woher kommt der?“

Tyson pustete fest gegen die Glut, da entstand die erste Flamme auf dem Mantel.

„Ich hab dich angelogen, Wolborg. Ich kann dich zu einem Feuer Bit Beast machen. Auch ohne Augen und Herz.“

„Du? Mach dich nicht lächerlich.“

Nun wurde aus der Flamme auf dem Mantel ein richtiges Feuer. Kai wich von Tyson zurück, schob sich immer weiter vom Stamm weg, zum Ende des Astes.

„Was machst du da?“, zischte das Kind verständnislos.

Doch Tyson antwortete nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, die Flamme immer weiter auszuweiten. Dann bedeutete er Kai seinen eigenen Mantel auszuziehen.

Zuerst irritiert, zog das Kind das Fell von den Schultern und überreichte es ihm.

„Wenn du mir nicht glaubst, vielleicht überzeugt dich das hier?“

Er warf seinen eigenen Mantel direkt vor Wolborgs Füße, von dem sich nun eine stattliche Flamme erhob. Das Bit Beast wich zurück, denn es kam, wie Tyson vermutet hatte. Der scharfe Qualm behinderte den Geruchssinn der Wölfin und somit ihre einzige Möglichkeit sie auszumachen. Ihre persönliche Duftnote ging darin unter. Trotzdem schien Wolborg fasziniert von dem Feuer, dem Element das sie früher nur zu gut kannte, aber seit Jahrhunderten nicht mehr in ihrer Eiswelt erlebt hatte.

Ein melancholischer Gesichtsausdruck lag auf ihrem Gesicht und da machte Tyson noch eine Entdeckung… Die Eisspitzen die aus ihrem Rückrat ragten, begannen zu tropfen. Das Bit Beast reagierte äußerst empfindlich auf die Wärmequelle. Trotzdem tat sie einen Schritt auf das brennende Material zu. Ein Fehler…

Der zweite Mantel fiel, mittlerweile auch lichterloh brennend, vom Baum – direkt auf ihren Kopf. Es vergingen einige Sekunden, in denen das Bit Beast irritiert den Schädel von einer, auf die andere Seite warf. Ihre Ohren waren verdeckt, ihr Geruchssinn vom Qualm behindert.

Tyson nutzte die Chance und sprang vom Baum.

Dann hob er die Hände um Kai aufzufangen. Ohne lange zu zögern, hopste das Kind in seine Arme und als sie im Eiltempo davonrannten, hörten sie das erste Heulen des Bit Beast.

„Was liegt da auf mir? Es ist zu heiß!“, hörten sie Wolborg jaulen.

Tyson wagte einen kurzen Blick zurück und sah, dass der Brand auf dem Mantel, auf Wolborgs sattes, weißes Eisfell übergegriffen hatte. Ihr gefrorener Körper begann zu dampfen. Das Bit Beast schwang den Kopf wie wild hin und her, doch zu ihrem Unglück, hatte sich ein Ende des Mantels in den Eisspitzen auf ihrem Rücken verfangen und war nicht mehr so leicht abzubekommen. Tyson wandte sich von dem Anblick ab und suchte den verschneiten Boden nach ihren Fußspuren ab.

Dann folgte er der Fährte zurück zum Weiher.

Im Hintergrund hörte er das Schreien des Bit Beasts. Mittlerweile musste ihr gesamtes Fell brennen, doch Tyson machte sich keine Illusionen. Es gab genug Möglichkeiten für Wolborg um den Brand zu löschen. Wenn sie sich einmal ordentlich im Schnee wälzte, wäre das Feuer dahin. Es galt also schneller zu sein!
 

Endlich…

Nach einer gefühlten Ewigkeit, erreichte er den Waldrand und noch einpaar weitere Schritte mehr, da hielt er keuchend neben dem Weiher.

„Du bist müde Tyson. Lass mich runter.“

Er schüttelte verneinend den Kopf.

Das kam nicht in Frage. Tyson behielt es für sich, doch er befürchtete, dass Kai nur langsam vorankommen würde. Das Kind ging in den tiefen Schneemassen geradezu unter. Es war sowieso nicht mehr weit, aber weil er so ausgelaugt war, kam ihm der Weiher größer vor als noch zuvor. Doch ein Gefühl der Sicherheit breitete sich in ihm aus.

Von Wolborg fehlte noch jegliche Spur.

Um nicht noch mehr Zeit zu vertrödeln, ignorierte er das heftige Seitenstechen und begann ein letztes Mal zu rennen. Als Ansporn stellte er sich einfach vor, auf eine imaginäre Ziellinie zu zulaufen. Es war wie ein Marathon. Der Schnellste würde gewinnen.

Während dem Spurt verfrachtete er Kai vorsichtig auf seinen Rücken, um besser Rennen zu können.

„Nicht nachlassen! Lauf weiter.“, flüsterte der Junge ihm zu.

Das war wie ihr Training früher. Da hatte Kai das auch immer gesagt. Allerdings sehr viel strenger. Tyson hatte ihn dafür gehasst, weil stets diese kalte Unternote in seiner Stimme mitschwang. Doch wenn er jetzt darüber nachdachte, klang es gar nicht mehr so gehässig, sondern einfach nur professionell.

„Du hast es gleich geschafft!“

Die Ziellinie kam näher.

Er überlegte, ob er die Strecke auch ohne das Training von Kai geschafft hätte. Zwar war Tyson mit dreiundzwanzig etwas aus der Übung geraten, doch in seinem jetzigen jungendlichen Körper, besaß er wieder die Ausdauer von damals.

Und endlich…

Eine riesige Last fiel Tyson von den Schultern, als er endlich den Höhleneingang betrat. Ihm war, als wäre er ein Schiffsbrüchiger, der nach Kilometern endlich eine rettende Insel erreichte. Der warme Luftzug der durch die Höhle jagte, war geradezu verlockend. Nach einigen Schritten hinein, hörte der Schnee auch schon auf und Tyson ließ Kai endlich von seinem Rücken gleiten. Kaum zu glauben, wie schwer so ein kleiner Junge werden konnte, wenn man ihn lange genug trug.

Da Tysons Herz gegen seinen Brustkorb hämmerte, nahm er endlich eine kleine Auszeit, stützte sich an der Höhlenwand ab und atmete keuchend aus. Sie waren sicher. Er konnte gar nicht glauben, dass sie Wolborg entkommen waren, zumal Dizzy sie als den Uralten als ebenbürtig beschrieben hatte.

„Ich glaube du warst gar nicht mal so schlecht.“, kommentierte Kai das Ganze nüchtern.

Tyson musste grinsen. Das waren genau die Worte, die er von seinem Teamleader immer bekommen hatte, wenn der mit seiner Leistung zufrieden war. Tyson hatte das furchtbar aufgeregt, weil er doch eigentlich ein „Wunderbar!“ oder „Unglaublich!“ hören wollte. Einfach etwas mehr Begeisterung, wie von dem Rest seiner Freunde. Doch Kai in regelrechtes Staunen zu versetzen, war eine Herausforderung, die er bis heute nicht gemeistert hatte.

„Du warst als Rucksack auch nicht schlecht.“, gab er deshalb neckisch bei.

Kai zog ein grimmiges Gesicht und sah gekränkt zur Seite, die kleinen Kinderlippen verzogen sich zu einem Schmollmund. Es passte ihm nicht als Ballast bezeichnet zu werden, dafür war er wieder zu stolz.

„Wenn ich dir so eine Last bin, warum hast du mich nicht einfach selbst rennen lassen?“

„Weil ich dich gerne in meiner Nähe habe. Da weiß ich das es dir gut geht.“

Er kniff dem Kind einmal herzhaft in die Backe. Die gelungene Flucht ließ ihn übermütig, nein, geradezu euphorisch werden! Erst dann packte er Kais Hand und sie trotten weiter durch die Höhle. Wären sie nicht bereits tief in die Dunkelheit eingedrungen, hätte Tyson die leichte Röte auf Kais Wangen bemerkt. Dafür spürte er kurz darauf, wie die kleinen Kinderfinger fester seine Hand drückten, was ihm ein überraschtes aber schließlich doch frohes Lächeln entlockte. Er musste zugeben, dieses Vertrauen das ihm Kai entgegenbrachte gefiel ihm immer mehr. So tasteten sich die beiden Jungen vorsichtig weiter.

Der Eingang zum Felsspalt und zu Wolborgs Welt war nur noch ein Stecknadel großer Punkt hinter ihnen. Tyson roch bereits den Klimawandel, der sie erwarten würde, denn es lag der Duft von süßlichen tropischen Pflanzen, Bäumen und trockener Erde in der Luft.

Und Wärme. Ja…

Er spürte eine angenehme Wärme auf seinen Körper wirken. Wie eine Motte die vom Licht angezogen wurde, drängten ihn seine Beine weiter zur Wärmequelle. Es konnte nicht mehr weit sein und endlich konnte er die ersten Strahlen der Sonne auf der anderen Seite ausmachen…

Bis ein kalter Windzug durch die Höhle wehte und einpaar einzelne Schneeflocken ihren Weg zu ihnen fanden.
 

„Tyson! Da hinten!“
 

Überrascht von Kais Ausruf drehte er sich zum Eingang und konnte die weiße Wölfin ausmachen, die in einem schnellen Spurt zu ihnen hastete. Sie hatte bald die Höhle erreicht.

Für einen kurzen Moment erstarrte Tyson.

Nicht so kurz vor dem Ziel! Wolborgs Heulen schallte zu ihnen und augenblicklich schoss wieder das Adrenalin durch ihre Körper.

„Lauf!“, wies Tyson Kai an und die beiden Jungen fanden sich erneut in der Rolle der Gejagten. Inzwischen hatte Wolborg die ersten Schritte in die Höhle getan. Desto tiefer das Bit Beast vordrang, desto mehr erfror ihre Umgebung. Die Wände der Höhle wurden von einer gläsernen Eisschicht überzogen.

Tyson konnte nicht glauben, dass er so töricht gewesen war, zu denken, Wolborg abgehängt zu haben. Gleichzeitig fragte er sich, weshalb das Bit Beast noch nicht auf den Klimawandel reagierte, immerhin war sie zuvor bereits bei den brennenden Mänteln in Bedrängnis geraten.

Sie erreichten den Ausgang und stürmten hinaus.

Blendende Sonnenstrahlen raubten ihnen die Sicht und Tyson machte den Fehler nur eine Sekunde zu zögern. Die plötzliche Helligkeit ließ ihn einen Moment innehalten.

Da packten ihn auch schon scharfe Reißzähne am Arm.

Sie gruben sich tief in sein Fleisch und er schrie vor Schmerz auf. Er blickte an seinem rechten Arm hinab, der von Wolborgs riesiger Schnauze umschlossen wurde. Sein eigenes Blut quoll zwischen den Zähnen des Bit Beasts hervor.

Dann wurde er ruckartig zur Seite geschleudert, dass er mit voller Wucht gegen die Felsen der Gebirgskette knallte. Vor Schmerz stöhnend hielt sich Tyson den blutigen Arm. Unter seinem Ärmel konnte er zum Teil seine eigenen Hautfetzen an klaffenden Bisswunden erkennen…

Er konnte den Arm nicht mehr bewegen.

Das Bit Beast hatte ihn mit einem einzigen Biss gebrochen. Er versuchte aufzustehen, musste aber feststellen, dass sich das nun furchtbar schwierig gestaltete. Nichtsdestotrotz schaffte es Tyson, sich mit der Linken an einem Felsen hochzuziehen und wieder auf die Beine zu kommen. Er suchte nach Kai – und wurde aschfahl.

Das Bit Beast hatte das Kind zwischen dem erdigen Boden und seiner riesigen Tatze eingeklemmt. Kai versuchte freizukommen, schrie aber auf, als die Krallen der Wölfin sich in seinen Rücken gruben. Unter der riesigen Pfote sah der Sechsjährige geradezu winzig aus.

Doch das Bit Beast ächzte einwenig.

Tyson bemerkte zum ersten Mal das die Gletscher auf ihrem Rücken in feinen Rinnsalen über ihr Fell liefen und es durchnässten. Sie wurden kleiner und Wolborg schwankte.

Er musste sie hinhalten!

So lange, bis sie in dem tropischen Klima einging!

„Körper!“, schrie Wolborg plötzlich.

Wie auf ihr Kommando, erschallte ein Klirren in der Höhle. Dann schossen Tausende von kleinen Splittern durch die Öffnung auf das Bit Beast zu. Sie flogen durch die Luft, bedeckten ihren Körper und fügten sich zu einem Gebilde zusammen. Nach und nach zwängte sich die Wölfin wieder in ihre menschliche Gestalt.

Tyson ahnte warum sie das getan hatte.

Die Splitter der gefrorenen Leiche würden dem Bit Beast kurze Zeit als Schutzhülle vor der Hitze dienen können. Als Wolborg ihre Metamorphose beendet hatte, stand sie angeschlagen und schwer atmend über Kai. Nur die weißen Haare waren von pechschwarzen Brandflecken geschändet. An vereinzelten Stellen ihres Kopfes, fehlten ganze Büschel und man konnte verbranntes Fleisch darunter erkennen.

„Wolborg, hör auf!“, versuchte Tyson sie zu beruhigen. „Überleg doch mal wie grausam das ist!“

„In meiner Vergangenheit habe ich viele Kinder getötet. Eins mehr oder weniger spielt keine Rolle.“

„T-Tala und er sind gute Freunde. Er würde dir das niemals vergeben!“

Ob das stimmte wusste Tyson selbst nicht. Ihm war einfach nichts Besseres eingefallen, als das seltsame Interesse des Russen an Kai zu erwähnen.

„Wenn Tala sich um mich scheren würde, würde ich dann dort hausen!“, schrie Wolborg ihm entgegen und deutete auf die Höhle. „Er hat mich vergessen. Jetzt will ich zu dem einzigen Wesen an dessen Seite ich gehöre!“

„Zu Dranzer?! Dieses fiese Miststück!“

„Wage es nicht den Namen meiner kleinen Schwester zu beschmutzen!“, drohte Wolborg. Ihre Fingerkuppen brachen auf und die Krallen ihre Pfoten kamen zum Vorschein. Sie wuchsen in die Länge und Tyson ahnte, das sie Kai bei lebendigem Leib die Augen rausreißen wollte. Das Kind schien dasselbe zu denken. Zum ersten Mal konnte Tyson etwas wie Angst bei seinem Freund erkennen. Der Junge kniff die Lider fest zusammen und harrte so aus. In seiner Panik entfuhren Tyson genau die Worte, die er eigentlich vermeiden wollte:

„Es hat keinen Sinn Dranzer noch zu suchen, sie ist tot!“
 

Es wurde still…

Und Wolborg rührte sich nicht mehr. Die Faust des Bit Beast schwebte unheilvoll über Kai, wie das berüchtigte Damoklesschwert. Tysons Worte hallten lange über den Platz, bis Wolborgs Stimme das unbehagliche Schweigen durchbrach.

„Du lügst.“

„Nein. Es ist die Wahrheit. Dragoon hat sie getötet, als sie mich angegriffen hat. Ich habe mit eigenen Augen gesehen wie er sie gefressen hat.“

Tyson wandte sich Wolborg zu und erkannte, dass nun auch ihre menschliche Hülle Risse bekam. An der Stirn zog sich eine feine Verästelung fort, die leise knackend, immer weiter aufbrach. Ihr Körper begann in der Hitze zu vertrocknen.

„Wenn du Dranzer wirklich so liebst wie du behauptest, bin ich die richtige Person um sich zu rächen. Dragoon hat sie getötet um mich zu beschützen. Er hat dir das Liebste genommen was du hattest. Wenn du wirklich Gerechtigkeit willst, solltest du ihm nehmen, was ihm am teuer ist!“

Er vermied absichtlich die Tatsache, dass die ganze Situation damals eskaliert war, weil Dranzer so versessen darauf war, Kai zu bekommen. Wolborg ließ die Faust sinken und nahm ihren Fuß von Kais Rücken, während Tyson angespannt schluckte. Er wollte Wolborg nur hinhalten bis sie schmolz, doch ihm ging der Gesprächsstoff aus. Warum konnte die Sonne nicht noch stärker scheinen? Warum konnte eine höhere Gewalt nicht sämtliche ihrer Strahlen bündeln und auf das Bit Beast richten, damit es zu einer Pfütze zerfloss?

„Steh auf.“, wies Wolborg Kai an. Etwas zögerlich kam der Junge der Aufforderung nach. Tyson hoffte das sie ihm befahl zu verschwinden, da ihr Interesse jetzt ihm galt, doch stattdessen sprach sie: „Geh zu ihm.“

„Wolborg!“

„Verschwindet von hier…“

„W-Was?“

„Geht.“

Tyson stockte der Atem. Sollte das ein Spiel werden? Katz und Maus, nur mit dem Unterschied das es eine Wölfin und zwei Kinder gab? Mit einem knackenden Laut brach Wolborgs linke Hand endgültig ab. Ihr Körperteil fiel zu Boden und zerschmolz dort zu einer Wasserlache. Sie begann zu zerbrechen.

„Du lässt uns gehen?“

Sie nickte.

„Warum? Bist du nicht wütend? Willst du dich nicht an mir rächen?“

Wolborg seufzte.

Sie wandte Tyson den Rücken zu. Der Ausgang des Felsspaltes lag direkt in einem tropischen Wald. Die hohen Bäume spendeten an vereinzelten Stellen Schatten, doch Wolborg trat bewusst auf die sonnenbefleckten Punkte zu.

„Was machst du da?“

Sie antwortete nicht. Es knackte erneut, dann brach ein Teil ihrer rechten Wade ab.

Eigentlich konnte ihm das egal sein. Er sollte nicht so untätig herumstehen, sondern Kai packen und verschwinden, bevor das Bit Beast es sich anders überlegte.

„Lauf! Jetzt mach schon!“, schrie sein Verstand. „So eine Gelegenheit bietet sich nicht noch einmal!“

Tyson nahm Kai an die Hand und ja, verdammt. Er wollte gehen!

Doch sein Gewissen stellte sich ihm in den Weg.

Als hätte seine innere Stimme sämtliche Nerven die von seinem Gehirn zu seinen Beinen führte gekappt, blieb er wie angewurzelt stehen und blickte zu dem Bit Beast, dass einfach nur regungslos in der Sonne stand und scheinbar wartete, bis es starb.

Da für ihn gewissermaßen kein Grund mehr bestand, ihr den Tod zu wünschen, sagte Tyson:

„Wolborg du schmilzt. Willst du nicht zurück in deine Welt?“

Sie senkte ihr Gesicht und dann tat sie etwas, womit er nicht gerechnet hatte - Sie schluchzte leise. Stumme Tränen bahnten sich den Weg aus ihren geschlossenen Lidern. Sie quollen herab wie schillernde Perlen, tropften zu Boden. Wolborg schüttelte langsam den Kopf.

„Warum ich mich nicht rächen will? Weil ich nichts davon hätte“, griff Wolborg seine vorherige Frage plötzlich auf. Sie hob ihre Arme, als würde sie etwas an ihre Brust halten.

„Bringt mir das meine Schwester zurück? Meine kleine, geliebte Schwester? Dieses Geschöpf das zu mir gehört hat, wie mein Schatten? Ihr Menschen und eure Rache… Was versprecht ihr euch davon? Wer glaubt das Rache seinem Kummer Linderung verschafft, der hat noch nie wahres Leid erfahren. Der Verlust einer Schwester ist eine Wunde ohne Aussicht auf Heilung. Sie klafft in deiner Seele. Nicht in deinem Körper. Es gibt keine Linderung - bis der Tod dich holt.“

Sie lächelte in seine Richtung. Es war kein fröhliches Lächeln, sondern voller Wehmut.

Als hätte Wolborg mit der Welt abgeschlossen.

„Vergeltung wird mir keine Erlösung verschaffen. Vergeltung ist einfach nur Vergeltung. Sonst hätte ich danach getrachtet Dragoon zu zerstören. Doch all die Jahrtausende habe ich nur dafür gelebt, Dranzer eines Tages wieder zu sehen. Ihre Stimme zu hören, ihr Lachen. Ich wollte sie so gerne noch einmal berühren und ihre herrliche Singstimme hören… Hören wie sie mich als ihre liebste Schwester rief und sich mir in die Arme wirft. Aber jetzt… Es gibt niemanden hier der noch auf mich wartet.“

Ihr Gesicht brach langsam auf wie eine Schale.

Doch Wolborg flüsterte nur:

„Ich bin alleine…“

„Tyson, was passiert mit der Dame Wolborg?“, flüsterte Kai und schaute verstört dabei zu, wie das Bit Beast auf die Knie sank. Doch der ging nicht darauf ein, stattdessen rief er:

„Sei nicht dumm Wolborg! Geh zurück in deine Welt! Willst du dich umbringen?“

Die Frage war überflüssig, denn Tyson wurde klar, das genau das ihre Absicht war. Das Bit Beast schlang die Arme um ihren Körper und schaukelte sich vor und zurück, dabei summte sie eine traurige Melodie vor sich hin, die Tyson stark an ein Wiegenlied erinnerte, während es die Welt um sich herum verdrängte. Er ließ Kai zurück und trat auf das Bit Beast zu. Es war in seinen Singsang verfallen und schien ihn gar nicht mehr zu registrieren.

„Wolborg bitte! Denkst du Dranzer hätte das gewollt? Wenn ihr euch tatsächlich so geliebt habt, würde sie so etwas niemals von dir verlangen! Nicht von ihrer eigenen Schwester.“

Zwecklos. Das Bit Beast hörte nicht.

„Selbstmord bringt deine Schwester genauso wenig zurück wie Rache!“

Tyson packte das Bit Beast mit der gesunden Hand an der Schulter, wollte sie zur Vernunft rütteln, da brach der Rest ihres linken Armes komplett unter seinem Griff ab. Erschrocken wich er zurück und starrte auf das, was er angerichtet hatte. Kai kam langsam auf Tyson zu und ergriff seine Hand. Das Kind zerrte an seinem Ärmel und als er hinabblickte, schwammen die Augen des Jungen in Tränen.

„Mach sie wieder ganz! Ich weiß sie war böse zu uns, aber du darfst sie trotzdem nicht einfach so sterben lassen. Am Anfang war sie doch auch nett…“

„Das weiß ich doch Kai.“

„Warum stehst du dann hier und unternimmst nichts?“

„Weil ich ihr nicht helfen kann. Das kann sie nur selbst.“, er wandte sich wieder Wolborg zu und flehte. „Steh doch auf! Ich weiß dass ein Verlust schwer ist, das musst du mir glauben. Als ich in Kais Alter war, da habe ich meine eigene Mutter verloren. Trotzdem darfst du dich nicht einfach so aufgeben. Am Anfang ist es schwer, aber irgendwann wirst du wieder nach vorne blicken können. Es muss weitergehen!“

Wolborgs Gesang verstummte und sie hob ihren Kopf.

Er hoffte sie umgestimmt zu haben.

Das Bit Beast hob ihre Hand und fuhr mit ihren Fingern über Tysons Wangen. Sie hinterließen feuchte Spuren auf seinem Gesicht und schmolzen unter seiner Körperwärme, bis von den Fingerkuppen nichts mehr übrig blieb. Dann lächelte sie ihn an. Es wirkte fast schon glücklich, doch die Tränen die aus ihren geschlossenen Lidern hervortraten, straften ihr Lächeln lügen.

„Du bist ein guter Junge. Deshalb hatte Tala wohl immer Respekt vor dir. Verzeih was ich euch antun wollte… Einsamkeit benebelt den Verstand mit den Jahren.“

Ihr Kopf senkte sich und sie flüsterte…

„Dranzer, ich komme zu dir.“

Kaum war das letzte Wort über ihre Lippen, zerbrach Wolborgs Kopf entzwei.

Tyson hatte erwartet das darunter wieder das Bit Beast in seiner Tiergestalt hervorkommen würde, doch stattdessen schoss ihm nur ein warmer Dampfschwall entgegen. Unter der menschlichen Hülle war Wolborg endgültig verdampft. Ihr ausgehöhlter Körper klappte zur Seite und als er auf dem Boden aufkam, zerbrach er in tausend Stücke. Sie stoben durch die Luft, funkelten in der Sonne und lösten sich unter ihren Strahlen auf. Betroffen beobachteten die beiden Jungen das Schauspiel.

Dann brach mit einem lauten Poltern der Durchgang zu Wolborgs Welt zusammen. Die Steine des Gebirges fielen herab und begruben alles, was jemals an das Bit Beast erinnerte.
 

Man konnte sagen was man wollte, doch ausgerechnet das kälteste Bit Beast dieser Welt, wusste was wahre Liebe war. Zeitgleich fragte sich Tyson, ob Dragoon auch nur ansatzweise ahnte, was er den beiden Schwestern angetan hatte…
 


 

*
 

Tja, das war Wolborgs Auftritt in meiner Geschichte...

Kurz und schmerzvoll. Ich wollte eigentlich nicht schon wieder Dranzer ins Spiel bringen, nur ist in dieser Geschichte Dragoon ja ausnahmsweise der "diabolische Tyrann" und ich brauche einpaar Hintergrundgeschichten, die nochmal verdeutlichen, wie eisern und brutal er seine Ziele verfolgt. Es werden auch noch mehr solcher Anspielungen folgen, aus den Blickwinkeln mehrer Personen/Bit Beasts.
 

Eigentlich wollte ich Wolborg nicht sterben lassen, nur habe ich einen Faible für Dramen. Deshalb habe ich ihre Rolle nur darauf reduziert, dass Tyson durch sie erfährt, wie man aus der Irrlichterwelt gelangt und dafür auch noch ein Bit Beast benötigt wird. Auch das es nur ein Tyson/Kai Kapitel wird, war eigentlich nicht geplant. Hoffe es hat euch trotzdem gefallen, trotz Wolborgs lahmen Abgangs. ^_^'
 

LG

„Schneeflocken?“, Kenny rümpfte die Nase und schaute auf in den Himmel, als die erste Flocke langsam aus einer Wolke tänzelte und direkt auf seiner Brille platz nahm.

„Was ist das bloß für ein Tag?“

Er schüttelte sich, denn seit einpaar Stunden ging eine Kälte durch die Stadt, die man sich selbst in den Nachrichten nicht mehr erklären konnte. Es kam öfters Mal vor, dass der Wetterdfrosch sich um einpaar Grad vertat, heute war jedoch ein angenehm warmer Tag vorhergesagt worden. Vor einpaar Stunden hatte das Thermometer aber einen beispiellosen Absturz gemacht. Nun kamen die ersten Schneeflocken und das Ende Oktober. Kenny blinzelte auf seine Armbanduhr, stellte jedoch irritiert fest, dass es viel zu früh für die eintretende Dämmerung war. Dennoch wirkte die Sonne, als wolle sie bereits über den Horizont verschwinden. Der Tag wurde von Stunde zu Stunde seltsamer…
 

„Etwas vorsichtiger, verdammt noch mal!“

Kenny schüttelte sich und obwohl es ihm zuwider war, tat er den Rückweg zum Haus der Kinomiyas an, als er Hitoshis aggressive Stimme durch die Flure poltern hörte. Hätte er seine Jacke nicht zuhause vergessen, wäre er lieber stundenlang draußen gestanden, statt sich dieses Elend weiter mit anzusehen. Doch die Kälte war einfach nicht mehr auszuhalten und er konnte Hitoshi nicht mit den Ermittlern alleine lassen – nicht bei seiner erregten Verfassung.

Kurze Zeit später machte er den ältesten Spross der Kinomiyas im Flur kurz vor dem Badezimmer aus, wo er vor einer Vitrine stand und drohte mit einem der Ermittler in die Haare zu geraten.

„Sagen sie mir nicht wie ich meine Arbeit zu machen habe!“

„Das müsste ich nicht wenn sie… Finger weg!“, unwirsch riss Hitoshi dem Beamten eine altmodische japanische Porzellan Geisha aus den Händen. „Das ist ein Erbstück! Wenn mein Großvater sehen würde wie sie unser Haus auf den Kopf stellen, dann…“

„Mr. Kinomiya, bitte entfernen sie sich aus dem Haus. Sie stören unsere Ermittlungen.“

„Einen Scheißdreck tue ich!“

„Geben sie mir die Porzellanpuppe.“

„Die gehörte meiner Großmutter! Mein Großvater ist vollkommen vernarrt in dieses Stück. Sie hat einen großen Erinnerungswert für ihn. Was wollen sie überhaupt mit ihr? Sie ist viel zu klein, als das man irgendetwas darin verstecken könnte!“

Er zupfte der Geisha den roten Miniaturkimono, mit den feinen goldenen Stickereien darauf, zu Recht und stellte sie zurück in die Vitrine. Neben ihm sah Kenny hilflos dem Spektakel zu. Er konnte sich vorstellen, dass nicht nur Großvater Kinomiya sondern auch Tyson furchtbar wütend wäre, wenn sie von der Hausdurchsuchung Wind bekamen.

Zu allem Überfluss hatte sich eine schaulustige Meute vor dem Haus versammelt. Alles Nachbarn die herbeigeeilt waren, nachdem der erste Streifenwagen vor dem Anwesen der Kinomiyas hielt. Zu ihrem Glück, kannte Kenny einpaar von ihnen, die er höflichst darum bat, die Meute etwas im Zaum zu halten oder nachhause zu schicken.

Leider erwies sich dieses Vorhaben schwieriger, als einen eingesessenen Kaugummi vom Hosenboden einer Jeans zu rubbeln, obwohl sich die Helfer sichtlich Mühe gaben. Vor allem die älteren Tratschweiber waren eine menschlich gewordene Plage. Sie standen Grüppchenweise an der Absperrung und bekundeten lautstark ihre Vermutungen.

Selbst von der Türschwelle des Eingangs konnte Kenny die Unterhaltung verfolgen.

„Das ist doch wirklich nicht mehr normal. Irgendetwas stimmt da nicht! Gestern der Krankenwagen und heute eine Hausdurchsuchung…“

„Da fällt mir ein, heute morgen hat ein Inspektor bei mir geklingelt und mich zu den Kinomiyas befragt…“

„Nein! Bei dir auch?“

„Bei mir auch!“

„Also so etwas…“

Haltloses Geschnatter entstand, bei der jede dramatisch über ihre Befragung berichtete. Der Anblick ließ Kenny seufzen und er wandte den Blick wieder zu Hitoshi, der ebenfalls in eine aufgebrachte Debatte verwickelt war. Er versuchte verzweifelt die Ehre seiner Familie aus dem Schmutz zu ziehen, was aber zur Folge hatte, dass er den Leuten von der Spurensicherung, bei jeder sich bietenden Gelegenheit, auf die Finger klopfte und somit natürlich für Unmut sorgte. Als Kenny sich kurz vor einem Rausschmiss sah, kämpfte er sich durch die Gruppen aus uniformierten Männern, die sich im engen Flur versammelt hatten, zu Hitoshi.

„Was wollen sie denn mit dem Schwamm?!“, blaffte der gerade einen Mann an, welcher im Badezimmer alle Schränke durchwühlte. „Mein Großvater wurde bestimmt nicht tot geschrubbt! Sind sie jetzt total blöde im Kopf?!“

„Hey Hiro, lass uns rausgehen.“, Kenny legte seine Hände auf die Schultern des erregten Enkels und drehte ihn zu sich. „Das hat doch keinen Zweck.“

„Die demolieren unser Haus! Opa wird durchdrehen wenn er davon erfährt. Ich kann da doch nicht herumstehen und…“

„Wir haben keine andere Wahl! Die sitzen am längeren Hebel. Mach es nicht schlimmer, komm stattdessen raus und lass die Leute ihre Arbeit machen. Desto schneller die arbeiten, desto eher sind sie weg.“

„Da spricht jemand ein wahres Wort…“, murmelte der Mann der die Schränke durchsuchte.

Hitoshi schenkte ihm einen vernichtenden Blick und zog sein Handy aus der Hosentasche. Mit Kenny im Schlepptau, machte er sich auf den Weg nach draußen, tippte aber mit tief zusammengezogenen Brauen eine Nummer ein.

„Wen rufst du an?“

„Meinen Vater.“

Kenny unterdrückte ein Kommentar, ahnte aber das Hitoshi keinen Erfolg haben würde. Seit Beginn der Hausdurchsuchung hatte er mehrere Male versucht seinen Vater zu erreichen, doch ein positives Ergebnis blieb aus. Laut Hitoshi war er gerade auf einer Expedition in Peru, was die Sache natürlich erschwerte. Kenny wusste zwar nicht viel über dieses Land, konnte sich aber vorstellen, dass dort die Telefonverbindungen samt Handynetze miserabel waren. Er meinte sogar mal gehört zu haben, dass in diesen Ländern Telefonkabel geklaut wurden, um an das Kupfer zu kommen, welches darin verarbeitet lag.

Wie nicht anders zu erwarten, klappte Hitoshi nach einpaar Sekunden das Handy wieder zu und murmelte: „Mailbox.“

Kenny antwortete nicht. Er war mit seinem Latein einfach am Ende. Alle seine Freunde waren verschwunden und seine geliebte Dizzy scheinbar mit ihnen. Zu gerne hätte er sie um Rat gebeten, stattdessen blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit Hitoshi auf die Veranda zu stellen und missmutig den ein und ausgehenden Leuten Todesblicke zuzuwerfen.

Keiner der beiden getraute sich zu der Menge vor dem Haus zu gehen. Die neugierigen Blicke der Meute waren kaum zu übersehen, bis eine der Personen Hitoshis Aufmerksamkeit erregte.

Ein ergrauter Mann stieg vor dem Haus aus einem alten Mitsubishi Lancer und steuerte zielsicher den Kiesweg zum Anwesen an auf den Eingang zu. Kenny wollte dem Mann eigentlich keine Beachtung schenken, doch er erkannte, wie Hitoshi seine Brauen tief zusammenzog und die Mundwinkel steil hinab glitten. Der pure Zorn sprach aus seinem Blick und Kenny musste zugeben, dass er Tysons älteren Bruder noch nie so wütend erlebt hatte.

Schließlich stützte sich Hitoshi von der Häuserwand ab und kam dem Mann mit geladenen Schritten entgegen: „Erklären sie mir das. Sofort!“

„Alles zu seiner Zeit…“

„Oh nein! Ich will auf der Stelle wissen was dieser…“ Hitoshi schien nach den richtigen Worten zu suchen, „…Überfall auf meine Familie zu bedeuten hat!“

Der ältere Herr lachte amüsiert und Kenny trat vorsichtig an die beiden Personen heran.

„Ich bitte sie Mr. Kinomiya. Das ist keineswegs ein Überfall.“

„Warum haben sie sich dann nicht angekündigt?“

„Eine Hausdurchsuchung wird niemals angekündigt. Warum auch? Wo kämen wir denn hin, wenn wir alle Verbrecher darauf hinweisen, dass demnächst ihre Wohnung gefilzt wird.“

„In diesem Haus lebt aber kein Verbrecher!“

„Das wird sich nach der Durchsuchung zeigen.“

„Das darf doch nicht wahr sein...“, Hitoshi fasste sich an die Stirn als stünde er kurz vor einem gewaltigen Wutausbruch. Er musste vollkommen überfordert mit dieser Situation sei. Tysons Bruder war stets für seine ruhige und souveräne Art bekannt gewesen, doch dieses Spektakel war eindeutig eine Spur zu hoch für ihn. Um die Wogen etwas zu glätten fragte Kenny: „Verzeihung, aber sind sie der Inspektor?“

Zum ersten Mal schenkte ihm der Mann einen Blick. Er taxierte ihn von oben bis unten und reichte ihm schließlich die Hand. „Der bin ich. Kato mein Name. Ich mag mich irren aber kann es sein, dass es sich bei ihnen um Kyouju handelt?“

„Nennen sie mich einfach nur Kenny. Meinen echten Namen benutzen meine Freunde kaum.“

„Kenny? Gut, gut… Fester Händedruck, gefällt mir!“

„Ähm… danke.“

„Ich wollte sie vor kurzem aufsuchen. Nun ist mir allerdings klar, weshalb ich sie nicht finden konnte. Sie scheinen der Familie mit aller Kraft beizustehen. Lobenswert. Wirklich lobenswert! Ich würde sie trotzdem noch gerne befragen.“

„Worüber?“

Misstrauisch zog Kenny die Hand zurück.

„Zum Beispiel wann sie ihre Freunde zuletzt gesehen haben.“

„Freitagabend. Wir haben Max und Ray vom Flughafen abgeholt und sind dann in ein Restaurant um einen weiteren Freund zu holen. Wir haben dort gegessen und sind dann bis in die frühen Morgenstunden um die Häuser gezogen.“

„Interessant. Und weiter?“

„Nichts, das war es auch schon.“

„Hmm…“, der Inspektor warf einen flüchtigen Blick auf Hitoshi, der genauso interessiert den Erzählungen lauschte. „Kenny, mein guter Junge. Könnten wir unter vier Augen miteinander sprechen?“

Etwas unschlüssig druckste Kenny herum. Er konnte sich denken dass Inspektor Kato nur gute Miene zum Spiel machte, deshalb traute er ihm nicht und schickte einen verunsicherten Blick Richtung Hitoshi. Der verschränkte die Arme und meinte:

„Lass dich bloß nicht täuschen! Der Kerl ist ein Mistkerl wie er im Buche steht. Erst gaukelt er dir den verständnisvollen Mann vor, zwei Stunden später stehen seine Affen mit einem Durchsuchungsbefehl vor deiner Tür.“

„Es gibt so etwas wie Beamtenbeleidigung, Mr. Kinomiya.“

„Mir Scheißegal! Ich gebe ihnen nur eine Sache mit auf den Weg... Wenn sie damit fertig sind, unser Haus auf den Kopf zu stellen und dann bedauerlicherweise erkennen müssen, dass sie die ganze Nachbarschaft umsonst angelockt haben, damit diese sensationsgeile Meute unser Haus belagern kann, werde ich ihnen, und jedem einzelnen dieser Idioten da drinnen, drei Anwälte pro Kopf auf den Hals hetzen!“

Inspektor Kato sah über diesen impulsiven jugendlichen Ausbruch hinweg und schenkte Hitoshi ein nachsichtiges Lächeln.

„Na, na, na, junger Mann… Ich kann verstehen dass sie aufgebracht sind. Diese Meute war nicht meine Absicht. Allerdings muss ich zu meiner Verteidigung sagen, dass die nicht von meinen Leuten angelockt wurde. Unsere Autos parken drei Straßen weiter, aus Diskretion vor ihrer Familie. Es ist die Presse die mal wieder für Aufregung sorgt.“

Augenblicklich schnellten die Blicke der beiden Männer zum Eingangstor. Erst jetzt fiel ihnen auf, dass von den Streifenwagen tatsächlich jede Spur fehlte.

„Welche Presse?“

„Eine wirklich penetrante Journalistin. Ich habe sie vorhin schon mehrmals gebeten zu verschw-… Mr. Kinomiya, halt!“

Noch ehe die Gruppe blinzeln konnte, war Hitoshi an ihnen vorbei gerauscht zum Eingangstor. Die Beschreibung hatte perfekt zu Ming-Ming gepasst und er konnte sich gut vorstellen, dass sie Blut witterte. Und tatsächlich…

Als Hitoshi den ersten Schritt aus dem Tor hinaus tat und von Zurufen der Schaulustigen bombardiert wurde, machte er hinter der Menge, auf der anderen Seite der Straße, einen blauen Haarschopf aus, der ungeduldig darauf wartete, dass der Kameramann sein Equipment aus einem schwarzen Minivan holte, der neben der Einfahrt einer kleinen Doppelhaushälfte parkte.

Bevor ihn die Stimmen von Inspektor Kato und Kenny erreichten, kämpfte er sich durch die Leute Richtung Fernsehteam. Einige der Menschen wollten ihn aufhalten, mit ihm sprechen, fragen ob es ihm gut ging, darunter waren auch Nachbarn die er seit Ewigkeiten kannte, doch Hitoshi hatte keine Nerven dafür, stattdessen schüttelte er die zerrenden Hände ab. Für ihn wirkten alle diese Leute, ob gut oder böse gesinnt, irgendwie bedrohlich.

Als er über die Straße laufen wollte, wäre er beinahe vor ein Auto geraten. Es bremste kurz bevor die Stoßstange seine Kniescheiben zertrümmern konnte. Der Fahrer kurbelte das Fenster hinunter und schrie ihm etwas mit hochrotem Gesicht entgegen, doch Hitoshi wandte sich ab und lief weiter zum Minivan. Sein Atem stieg in ungeduldigen Zügen vor ihm auf und er fror, doch selbst die Tatsache dass sich eine feine weiße Neuschneeschicht auf den Gehweg gelegt hatte, blieb Hitoshi in seiner Hast verborgen. Gerade als er den Van erreichte, kläffte Ming-Ming ihren Assistenten an, warum die Kamera noch nicht an sei.

„Ming!“

Sie drehte sich um und erstarrte.

„Oh! Ähm… Hi! Hiro? Mit dir habe ich ja überhaupt nicht gerechnet.“, sie gluckste verlegen und ihr Blick sprang aufgeregt in alle Richtungen. Ihm entging nicht, wie sie angespannt auf ihrer Unterlippe kaute, während sie sich selbst umschlang - vor Kälte bibbernd. Sie trug nur einen schwarzen Blazer, darunter entblößte ein weites Dekolleté ihre vom Sonnenstudio braungebrannte Haut, denn auch sie war wohl von dem Wetterumschwung überrascht worden.

„Du hast nicht mit mir gerechnet? Neben der Hausnummer steht ganz groß Kinomiya! Wie viele Leute kennst du mit diesem Nachnamen?“

„So selten ist der Name auch nicht…“, sie hauchte in ihre Hände.

„Ming. Ich will dass du verschwindest.“

„Warum?“

„Das fragst du noch? Ich will meine Familie beschützen. Es ist schon genug vor dem Haus los, da muss das Ganze nicht noch in der Presse platt getreten werden.“

„Seit wann kümmert dich deine Familie?“

Wieder dieser anklagende Satz.

„Das ist ein Extremfall. Es geht hier nicht um Kindereien, die sie eigentlich auch alleine geregelt bekommen. Sie brauchen mich jetzt wirklich!“

Als Ming-Ming trotzig den Kiefer vorschob, seufzte Hitoshi. Er wollte nicht mit ihr streiten. Eine zeitlang hatte er ihr Team trainiert, deshalb kannte er sie und ihre Macken recht gut. Sie war nicht seine Lieblingsschülerin gewesen, aber auch nicht seine Schlimmste.

Ihr Kollege Brooklyn hatte viel mehr Ärger bereitet. Ming-Ming war dagegen nur Mediengeil. Es war recht anstrengend gewesen mit anzusehen, wie sie bei jeder Kamera ihr zuckersüßes, aber auch recht kindisches Lächeln aufsetzte, ihre Stimme piepsig und hoch wurde und sie ihre Lolita Allüren anstimmte. Dabei stellte sie sich stets in ihren Rüschen besetzten Kleidern in Pose und tanzte mit großen Kulleraugen und einem ständigen Kichern auf den Lippen durch die Fotografen. Ming-Ming hatte das Rampenlicht gebraucht wie die Luft zum Atmen. Ohne die Kamera fühlte sie sich bedeutungslos und uninteressant. Erst später wurde Hitoshi klar, das die junge Frau eigentlich unter gewaltigen Minderwertigkeitskomplexen litt, da sie sich nur als Star geliebt fühlte.

Sich dieser Marotte bewusst, sprach Hitoshi deshalb in versöhnlichem Ton:

„Bitte Ming. Geh einfach. Mach es der alten Zeiten willen.“

Sie stöhnte genervt und schüttelte energisch den Kopf.

„Och menno, Hirolein! Das kann nicht dein Ernst sein! Weißt du wie herrlich diese Geschichte ist? Du musst doch auch erkennen, dass das Ganze etwas mit dem Brand bei Kai zu tun haben muss. Überall wo dein Bruder samt Anhang auftaucht, ist etwas Schlimmes passiert. Wusstest du dass diese Nacht eine Krankenschwester im Hospital angegriffen wurde? Es ist bestialisch! Die Frau ist taub, blind und hat keine Zunge mehr! Die haben mich rausgeschmissen als wir sie filmen wollten, dabei musste ich durch ein offenes Fenster einsteigen - wie ein Einbrecher!“

„Das wundert dich?“

„Ich zeige nur Initiativbereitschaft.“

„Das ist skrupellos!“

Ein verständnisloser Blick traf ihn und es hätte Hitoshi nicht gewundert, wenn sie tatsächlich nichts verwerfliches in ihrer Handlung sah. In der Zwischenzeit hatten es Kenny und der Inspektor durch die Menge zu ihnen geschafft. Kato stellte sich neben Hitoshi auf und pflichtete ihm bei:

„Sie werden jetzt wirklich gehen! Ich kann Mr. Kinomiyas Standpunkt nur zu gut verstehen. Sie müssen auch seine Sicht der Dinge berücksichtigen. Noch suchen wir nur eventuelle Zeugen, allerhöchstens kann man von möglichen Verdächtigen sprechen. Eine Hetzkampagne gegen noch nicht überführte Täter wird die Polizei nicht unterstützen.“

„Na toll! Ich habe gerade die Kamera angemacht und die Verbindung zum Sender steht auch…“, stöhnte Ming-Mings Assistent. Er wollte das besagte Stück bereits wieder abstellen, da schnatterte sie:

„Die bleibt an, Shouta! Mein Gott, sei ein Mann und beweis endlich das du zwei Eier in der Hose hast!“, herrisch wandte sie sich wieder Hitoshi zu und meinte, „Wenn du willst, lasse ich deinen Namen aus dem Spiel, aber den Bericht werde ich trotzdem senden. Übrigens verstoße ich gegen kein Gesetz, so lange ich nicht die Ermittlungen behindere, geschätzter Inspektor!“

Ehe Kato etwas erwidern konnte, stieß Hitoshi hervor:

„Ich will dass du Tyson in Ruhe lässt! Er ist kein wahnsinniger Brandstifter!“

„Tja, da sagen die Beweise wohl was anderes.“ trällerte Ming-Ming, in einem Ton, der gekonnt provozierte. „Dein kleiner Saubermann scheint wohl doch nicht so ein unbeschriebenes Blatt zu sein. Was dem Ganzen hier etwas Ironisches verleiht, findest du nicht auch? Früher war er der Unbestechliche, der absolute Superheld, und jetzt ist er ein kleiner bekloppter Irrer, der Häuser in Brand steckt und Krankenschwestern die Zunge abschneidet. Würde mich nicht wundern, wenn der Rest der Truppe genauso Irre ist. Max ist doch vom Charakter her fast vom selben Schlag wie Tyson…“

Kenny zog die Brauen ins Gesicht als er begriff. Diese ganze Aktion war also nicht gegen die Kinomiyas gerichtet, sondern war Ming-Mings persönlicher Rachefeldzug gegen Max. Natürlich war ihr nicht entgangen wie nah sich die Gruppe stand, wie hätte sie Max also besser bestrafen können, als seine besten Freunde zu ruinieren und ihn vielleicht auch noch mit ins Verderben zu ziehen?

Kenny wusste wie verletzt Ming-Ming gewesen war, als sie nach dem One-Night-Stand wie eine heiße Kartoffel von Max fallen gelassen wurde – immerhin hatte er die Hassmails selber zu Gesicht bekommen, mit denen sie dessen Handy bombardierte– doch eine ganze Gruppe, wegen einer alten Liebschaft als gewalttätige Verbrecher darzustellen?

Hitoshi hielt inzwischen geschockt den Atem an.

„Welche Abgründe sich hinter der netten Fassade doch auftun, oder?“, trällerte Ming-Ming inzwischen fröhlich. Es verschlug der Gruppe für eine Sekunde die Sprache. Mit einem feixenden Gesicht drehte sich Ming-Ming zu ihrem Assistenten und fügte unbekümmert hinzu:

„Also wenn du jetzt - der alten Zeiten willen - nicht erwähnt werden willst, geh lieber aus dem Bild, Hiro. Shouta, wir fangen an. Stell die Kamera auf Play, wir senden live.“

Der Assistent werkelte an dem schweren Gerät auf seiner Schulter herum, während die Journalistin sich voll Freude über Gesicht und Frisur fuhr, gleichzeitig ihre Position einnahm. Sie zwirbelte an einer Locke, um ihr die nötige Geschmeidigkeit zu verleihen und gab Shouta mit einem Nicken zu verstehen, dass sie bereit war. Er drückte gerade einen Knopf, sie öffnete mit einem koketten Lächeln den Mund zur Einleitung, als Hitoshi aus seiner Starre aufwachte und mit vor Zorn bebender Stimme sprach:

„Du kleine Bordsteinschwalbe hältst mir eine Predigt über Abgründe? Was ist denn mit dir?! Jeder weiß das du dich bei deinem Sender nur hoch gevögelt hast!“

Anstatt dass Ming-Ming in die Kamera sprach, wurde ihr Gesicht aschfahl. Der Bericht, der wie eine kreative Quelle darauf wartete, aus ihr hervor zu sprudeln, ging in einem leisen Fiepen unter. Zur Salzsäure erstarrt blickte sie einige Sekunden ungläubig in das Objektiv, bis sie sich mit zitternder Lippe zu Hitoshi umwandte und ihn aus tellergroßen Augen anstarrte.

Der grinste sie nur siegessicher an. Ein wunder Punkt war gefunden…

„Oh ja Ming, “ feixte er spöttisch und seine Braue schoss in die Höhe. „Es spricht sich allerhand herum bei deinem Sender. Falls du mir nicht glaubst, ich habe diese Info aus einer zuverlässigen Quelle. Meinem Schwiegervater gehört der Sender und meine Verlobte arbeitet dort ebenfalls als Redakteurin. Du bist ihnen ein gewaltiger Dorn im Auge, weil sie Angst haben das der Sender zu einem Freudenhaus verkommt.“

„Ähm… Ming? Wir sind live, nur zur Info…“

„Schalt ab!“ krächzte sie und ihre Augen begannen in Tränen zu schwimmen.

Doch Hitoshi kannte keine Gnade mehr. Weshalb sollte er Skrupel zeigen, wo Ming-Ming seinen Bruder für ein Verbrechen beschuldigte, dass noch gar nicht erwiesen war? Er sah vollkommen rot, obwohl er doch eigentlich hätte wissen müssen, dass seine Worte auch seinen zukünftigen Schwiegereltern schadeten. Stattdessen höhnte er:

„Ich bin letztes Jahr mit meiner Verlobten und einpaar Kollegen von ihr was trinken gewesen. Einer deiner Redakteure hat sich dabei so abgeschossen, dass er uns alles im Suff erzählt hat. Er hat gemeint du hättest dich ihm angeboten wie eine läufige Hündin. Was für Abgründe, nicht wahr, Frau Saubermann?!“

„SCHALT AB!“, kreischte die schrille Stimme über die Menge. Zum ersten Mal galt die Aufmerksamkeit nicht mehr dem Kinomiya Anwesen und einige der Leute drehten sich neugierig nach der Ursache des Schreis um. Durch ihren panischen Ausruf wurde Shouta total hektisch. Mit zittrigen Fingern versuchte er die Kamera abzustellen und die Verbindung zum Sender zu kappen, doch da liefen bereits die ersten Tränen der Scham über Ming-Mings Gesicht.

Gedemütigt hielt sie ihre Hand vor die Augen und rote Flecken brannten auf ihren Wangen. In etwa genauso hysterisch rief Shouta: „Es ist zu spät! Es ist schon im Kasten! Verdammt, sorry!“

„Du scheiß Idiot!“

Total perplex beobachtete die Gruppe, wie Ming-Ming wutschnaubend einen Satz nach vorne machte und ihrem Kameramann mit dem Mikrofon eine überzog. Als sie ihm noch einen heftigen Stoß verpasste, ließ er vor Schreck das Gerät fallen, das scheppernd zu Boden fiel, jedoch deuteten die blinkenden Lämpchen darauf an, dass es noch nicht abgeschaltet war.

„Alles Live! Ich bin gedemütigt! Du Idiot!“ Ihre Stimme überschlug sich förmlich.

Der Inspektor ging dazwischen. Er trennte die aufgebrachte Furie von ihrem Opfer, doch bevor er ein Machtwort sprechen konnte, stieß sie sich alsbald wieder weg und schrie Hitoshi an: „Du Arschloch! Ganz Tokio hat das mitbekommen! Was soll das verdammt, willst du mich fertigmachen?! Ich bringe dich vor Gericht wegen Rufmord! Ich mache dich fertig, du Scheißkerl!“

„Jeder wie er es verdient. Du bist selbst für deine Abgründe verantwortlich!“

„Mistkerl!“

Sie warf ihr Mikrofon nach ihm, Hitoshi wich aus. Doch sie stürmte bereits auf ihn zu und trommelte ihm wütend auf die Brust, dass sich ihre Frisur an etlichen Stellen lockerte. Mit gefletschten Zähnen holte sie immer wieder aus. Kenny trat geschockt einpaar Schritte von dem Szenario zurück. So hatte er den Kinderstar noch nie erlebt. Sie lief zu Hochtouren auf, wie in völliger Raserei. Es brach ein heilloses Chaos aus. Die Stimme des Inspektors donnerte über den Platz und rief zur Ordnung auf, doch Ming-Ming hörte nicht auf, Hitoshi mit Flüchen und Tritten zu drangsalieren. Schaulustige wichen von den beiden weg. Schließlich packte Hitoshi sie mit einem schraubstockartigen Griff an den Handgelenken, kam ihrem Gesicht ganz nah und zischte voller Genugtuung: „Es reicht, du bekloppte Irre!“

Dann stieß er sie weg – und in seiner Wut mit zu viel Kraft.
 

Es war gewiss nicht Hitoshis Absicht gewesen Ming-Ming zu verletzten. Doch wenn es etwas Berechenbares an der Zukunft gab, dann war es, dass sie unberechenbar war, vor allem wenn etwas so schnell passierte, wie in diesem Moment. Anders hätte man es sich sonst nicht erklären können, dass ausgerechnet in jener Sekunde, Ming-Ming auf der schmierigen Schneeschicht ausrutschte und mit den Armen wild flatternd, geradewegs mit dem Rücken voraus auf den Gehweg stürzte. Mit einem schmerzvollen Ausruf landete die Journalistin mitten in einer Einfahrt, blieb dort stöhnend liegen….

Und erkannte genau wie alle anderen zu spät den Wagen, der Rückwärts aus der Einfahrt heraus fuhr. Genauso wenig sah der Inhaber des Wagens, die auf dem Boden liegende Frau im Rückspiegel. Er bemerkte sie erst, als ein Holpern das Auto durchfuhr, in jenem Moment als er sie überrollte…
 

Es wurde still auf dem Platz.

Der Fall einer Stechnadel wäre laut hörbar gewesen.

Dann begann ein Kind auf den Armen seiner Mutter zu weinen und schrie: „Die schöne Fernsehfrau ist platt!“ Die Frau verdeckte ihrem Sohn die Augen und kämpfte sich durch die Menge zurück in ihr Haus. Dann schwoll der Lärm um das Geschehen an.

Der Inspektor, genauso entsetzt wie alle anderen, löste sich aus seiner Starre und eilte zum Auto, aus dem der junge Inhaber stieg. Als er die regungslosen Beine unter seinem Wagen bemerkte, schlug er sich die Hände vors Gesicht und fluchte lauthals: „Wo kommt denn die her?! Die Einfahrt war frei! Sie war frei, verdammt!“

Hitoshi blickte ebenfalls erstarrt auf den Körper unter dem Wagen.

Aus dem dazugehörigen Haus zur Einfahrt, kam ein älteres Ehepaar herausgestürmt, angelockt von den Rufen ihres Sohnes. Der schwang den Kopf zur Gruppe und er deutete fahrig auf den leblosen Körper.

„Das muss Absicht gewesen sein! Ihr müsst das doch gesehen haben! Die Alte hat sich doch vor die Karre geworfen!“

„Ruhig. Komm erst mal runter…“

„Fass mich nicht an du alter Sack!“, unwirsch riss sich der junge Mann los, doch erbleichte augenblicklich als Inspektor Kato seine Dienstmarke hervorzog und ihm unter die Nase hielt. Als seine Eltern mit sorgenvollen Mienen das Geschehen erreichten, war es vorbei mit seiner Selbstbeherrschung. Seine Augen begannen in Tränen zu schwimmen, als er sich zu ihnen wandte und wimmerte: „Ich habe sie wirklich nicht gesehen, Vater! Was mache ich denn jetzt? Ich habe den Führerschein erst seit drei Monaten!“

„Sag nichts!“, zischte der Vater bang und wandte sich zu seiner Frau, mit der Aufforderung ihren Anwalt anzurufen. Inspektor Kato beugte sich mittlerweile unter den Wagen und zog eine kleine Taschenlampe aus seinem Mantel hervor. Der Mangel an Tageslicht erschwerte die Sicht, doch als er mit dem Lichtkegel den Körper entlangfuhr, wurde ihm klar, dass hier nichts mehr zu retten war. Noch ein flüchtiger Blick Richtung Kopf und er entschied, dass der Anblick zu grausam war, um ihn der Öffentlichkeit zuzumuten. Er würde den Platz räumen lassen.

Währenddessen blickte Hitoshi noch immer regungslos auf den Leichnam. Jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Er musste erst begreifen was passiert war.

„Hiro“, flüsterte Kenny neben ihm totenblass. „Oh Gott, Hiro…Was hast du getan?“

Er schrak auf. Ming-Ming war tot.

Er hatte sie getötet. Er hatte einen Menschen getötet!

Die Worte wirbelten durch seinen Kopf, während ein Dialog darin entstand und er starrte apathisch auf seine bebenden Hände, die Ming-Ming so einfach in den Tod gestoßen hatten.

Die eine Stimme machte ihm Vorwürfe, beschuldigte ihn ein Mörder zu sein. Er hätte es doch besser wissen müssen, er hätte sich doch beherrschen sollen, anstatt sich provozieren zu lassen…

Die andere Stimme wehrte sich vehement gegen die Vorwürfe. Niemand hätte damit rechnen können! Das war Pech… Schicksal! Alles außer Mord! Wäre es einpaar Sekunden langsamer gegangen hätte Hiro doch selbst noch etwas unternommen. Er wollte sie doch nicht töten!

„Das wollte ich nicht…“, verteidigte sich Hitoshi gegenüber Kenny.

Doch dieser Blick der ihn stattdessen traf – voller Anklage.

„Inspektor!“, einer seiner Männer kam aus dem Haus geeilt. Er hielt etwas in der Hand, dass nach einem Reinigungsmittel aussah. Als er bei seinem Vorgesetzten ankam, erstarrte er für eine Sekunde. „Gütiger Himmel, was ist passiert?“

„Rufen sie einen Krankenwagen und sperren sie das Gebiet ab. Und sehen sie zu das diese blöden Gaffer endlich verschwinden! Ich will niemanden hier sehen, der nicht hierher gehört.“, bellte der Inspektor.

„Natürlich. Sofort.“, er wollte wieder ins Haus eilen, da hielt ihn Kato noch einmal zurück.

„Moment! Was haben sie da?“

Der Mann hielt dem Inspektor das Reinigungsmittel hin und deutete auf die Rückseite.

„Dieses Mittel enthält einen Wirkstoff, der bei versehentlicher Einnahme eine Zyanose auslöst. Es riecht zwar einwenig, aber gewiss nicht stark genug, um es nicht in die Mahlzeit des alten Mannes unterrühren zu können. Das könnte die Atemnot des alten Herren erklären – vielleicht war es ein Giftmordversuch. Ich dachte das sollten sie wissen.“

„Sehr gut. Und jetzt gehen sie.“

„Jawohl.“

Der Mann verschwand hinter dem Eingangstor zum Kinomiya Anwesen, um einige Helfer zusammenzutrommeln und der Inspektor erhob sich langsam. Er klopfte sich den Straßenstaub von der Hose, blickte zu Hitoshi und meinte nüchtern:

„Du hast ein Problem Junge…“

Mit Kais Hilfe hatte es Tyson geschafft, ein winziges Grab für Wolborgs verbliebene Überreste freizulegen. Es war nicht viel, was sich bestatten ließ, doch was sie noch von ihr vorfanden, wie die Fetzen des herrlich weißen Kimonos den sie getragen hatte, legten sie ordentlich zusammengefaltet in das Grab und schütteten es schließlich wieder zu. Stillschweigend saßen sie davor und Tyson wollte ein Gebet anstimmen, bis ihm einfiel, dass er keine Ahnung hatte ob Bit Beasts eine Art Religion besaßen. Tysons Familie gehörte seit Jahrzehnten dem Shinto Glauben an, Max war Protestant und Ray sogar ausgebildeter Zen-Meister. Es gab so viele Religionen, die Tyson im Laufe der Jahre kennen gelernt hatte. Christen, Muslime, Hindus, Buddhisten, Juden, Konfuzianismus, Shintoismus…

Und das waren nur die geläufigsten, von denen er am Rande mitbekommen hatte.

Wo unter all dieser Vielfalt sollte er die Religion finden der Wolborg angehörte?

Womöglich besaßen Bit Beast gar keinen Glauben. Sie waren Geister, also selbst etwas Überirdisches und mittlerweile musste sich Tyson eingestehen, dass seine Vorstellung vom Leben nach dem Tod, seit ihrem Aufenthalt in der Irrlichterwelt gehörig ins Straucheln geriet.

Seine Ratlosigkeit lag ihm wohl ins Gesicht geschrieben, denn kurzerhand hörte er Kai neben sich die Hände falten und ein Gebet flüstern:

„Herr, der du bist im Himmel. Bitte lass der Dame Wolborg deine Gnade zu teil werden. Lass ihre Seele in Frieden ruhen und führe sie wieder mit ihrer Schwester zusammen, damit sie im Jenseits vereint sind. Amen.“

Tyson klappte sein Kinn runter. So fromm hatte er Kai noch nie sprechen hören.

Das Kind bekreuzigte sich inzwischen und etwas unbeholfen tat Tyson es ihm nach, nicht ahnend, dass er dafür den falschen Arm verwendete. Kai entging das nicht, denn er blinzelte ihn an, bis ein nachsichtiges Lächeln über sein Gesicht huschte.

„Warum grinst du?“

„Du bist nicht russisch-orthodox, nicht wahr?“

Tyson schüttelte verneinend den Kopf, etwas verwundert dass Kai auch einer Religion angehörte. Wie sein Freund sich stets gab, war er der festen Überzeugung gewesen, dass er Atheist war. Doch wenn er darüber nachdachte, war es naheliegend, dass in einem russischen Haushalt, auch der russisch-orthodoxe Glaube eine Rolle spielte. Als er zum ersten Mal die heiligen Hallen der Hiwataris besuchen durfte und auf der Suche nach der Toilette in die Küche hineinspazierte, waren ihm nicht die auf Holz gemalten Heiligenbilder entgangen, die eine Seite der Küchenwand zu dutzenden schmückte. Im ersten Moment fand er den Anblick unheimlich, vor allem weil im Zentrum der Wand eine kleine goldene Öllampe flackerte. Die Dämmerung hatte eingesetzt, die Küche lag im trüben Licht und der Schein der Lampe verlieh den Gesichtern auf den Bildern etwas Düsteres. Die Menschen darauf sahen ernst und streng aus, manche sogar melancholisch. Bei näherer Betrachtung erkannte er aber die zierlichen, feinen Linien auf den Bildern, die Liebe zum Detail auf den Gewändern und die schönen Farben. Er hätte noch stundenlang diese befremdlichen Menschen beobachten können, wie sie ihm erhaben entgegenschauten und sich den Kopf darüber zerbrechen können, was diese kyrillischen Buchstaben, an der Seite jedes Bildes heißen mochten, wäre Lew nicht hereinspaziert und hätte ihn kurz darauf aus der Küche gescheucht. Auf seine Frage hin, was das für Bilder waren, meinte der Verwalter nur knapp: „Ikonen.“

„Warum sind die hier?“

„Die gehören Hiwatari Senior. Also fass sie nicht an.“

„Ist das so was wie Kunst?“

Zum ersten Mal in all den Jahren seit Tyson ihn kannte, war ein Lächeln über das Gesicht des Butlers gehuscht. Es verlieh ihm auf Anhieb einen Anflug von Sympathie und er erklärte ruhig: „Das sind Heiligenbilder.“

Kurz darauf wurde er mit sanfter Gewalt aus der Küche geworfen und Tyson suchte überrumpelt die Toilette auf. Er hätte niemals gedacht dass ausgerechnet ein Mann wie Voltaire religiös war, dafür ebnete er seinen Weg zum Erfolg viel zu offensichtlich mit Leichen. Die Vorsicht des Hausverwalters bewies aber deutlich das Gegenteil. Wenn er heute darüber nachdachte, hatte Kais Großvater seinen Enkel sicherlich nicht nur wegen seiner Beybladekünste in eine Abtei gesteckt, auch wenn Tyson sich sicher war, dass Kais Glaube mit jeder Sekunde in der Abtei mehr gebröckelt war – bis er zu der Person wurde, wie ihn Tyson kannte.

„Wir müssen uns um deinen Arm kümmern.“, meinte Kai plötzlich und riss Tyson vollkommen aus seinen Gedanken. Er warf einen Blick auf die blutgetränkten Stofffetzen um seinen Arm und entschied, dass er nicht den Wunsch verspürte jemanden an die Wunde heranzulassen, der nicht mit Watte umwickelte Finger besaß.

„Das wird schon…“

„Nicht wenn wir uns nicht darum kümmern.“

Kai zog seinen Schal von den Schultern und tat einen Schritt auf Tyson zu. Dem behagte diese Situation weniger. Sein Arm hing schlaff an der Seite, schmerzte bei jeder Regung. Trotzdem ließ er zu, dass das Kind ihm den Schal um die Schultern legte und daraus eine Schlinge formte, in die er seine Rechte bettete. Tyson zog mehrmals scharf die Luft ein, denn auch wenn Kai behutsam vorging, ein Stechen ließ sich nicht vermeiden. Zudem kam ihm die Situation mehr als bekannt vor.

Tyson hatte sich schon mal in einem Anflug von Übermut den Arm verletzt.

Damals waren Max und er nach einer Feier so betrunken gewesen, dass er sich auf dem Heimweg auf eine Wette eingelassen hatte, die beinhaltete, bei einer geparkten PKW Kolonne, von einem Dach zum Nächsten zu springen. Das Ende vom Lied war, dass Tyson beim letzten Wagen ausrutschte und wie eine menschliche Knetkugel vom Dach rollte.

Max wusste sich in dieser Situation nicht anders zu helfen, als um ein Uhr morgens Kai aus den Federn zu holen und ihn um Hilfe zu bitten, da Ray an diesem Abend sein erstes Rendezvous mit Mariah hatte und somit ausfiel. Zwar wären da noch Maxs Eltern gewesen, aber denen wollte er nicht erklären, weshalb sie betrunken durch die Straßen randalierten und auf Autodächern King Kong imitierten.

Als Kai aber ankam, verdrehte er nur genervt die Augen und sah schon von weitem, dass der Arm nur verstaucht war. Erbost, weil er damals für seine Abschlussklausur gebüffelt und deshalb nur wenig Schlaf abbekommen hatte, blitzte er seine beiden Freunde zunächst wütend an. Genau wie jetzt, hatte er seinen Schal von den Schultern genommen und Tyson eine provisorische Schlaufe um den Hals gelegt, um den Arm bis zum Krankenhaus stabil zu halten.

In dieser Erinnerung schwelgend, ließ Tyson Kai stillschweigend sein Handwerk verrichten, wunderte sich dabei, wie geschickt das Kind doch mit seinen jungen Jahren war. Es war fast wie damals, als hätte Kai niemals etwas anderes gemacht. Es hätte nur noch gefehlt, dass er nach beendeter Arbeit brummte: „Den Schal will ich aber zurück, Kinomiya!“

Tyson hätte alles dafür gegeben, wenn Kai sich endlich an ihre gemeinsame Zeit erinnern könnte…

„Den Schal will ich aber zurück!“

Abrupt klappte Tyson der Mund auf und auch Kai hielt für einen winzigen Moment inne, als wäre ihm selber klar, wie vertraut ihm diese Situation eigentlich sein müsste. Der Junge stierte verloren auf Tysons Arm, als wäre er im Gedanken ganz woanders.

In einem Anflug von Hoffnung fragte Tyson: „Erinnerst du dich?“

Das Kind hob den Blick und für einen kurzen Moment erschrak Tyson. In Kais Augen herrschte nur gähnende Leere. Er schaute ihn an und sah ihn doch nicht. Fast so als wäre Tyson unsichtbar. Dann blinzelte Kai verstört und der kindliche Ausdruck nahm wieder platz, verdrängte die Leere und ließ ihn wieder zu seinem jüngeren, unwissenden Alter Ego werden.

„Was meinst du?“

„Diese Situation kam dir doch genauso bekannt vor wie mir.“

„Ich verstehe nicht was du meinst.“

Wütend fauchte Tyson auf.

„Jetzt hör schon auf! Du weißt genau dass ich einmal betrunken über Autodächer gesprungen bin!“

„Warum solltest du so etwas machen?“

Verunsichert von Tysons aufbrausender Art, trat der Junge einpaar Schritte zurück. Der Anblick reichte, um Tyson ein resignierendes Seufzen zu entlocken. Was immer für Erinnerungsfetzen in Kai aufgekeimt waren, sie waren im Erdboden versickert, wie ein Wassertropfen in einem vertrockneten Brunnen. Er fasste sich an die Stirn, nahe der Verzweiflung, einfach alles dafür gebend um endlich wieder daheim zu sein, in seinem Bett zu liegen und die letzten Stunden für einen bösen Traum zu halten.

„Scheiß drauf“, meinte er frustriert und stand auf. „Lass uns weitergehen. Irgendwo hier müssen Max und Ray sein. Wir suchen sie und dann verschwinden wir.“

„Bist du sicher dass sie wissen wo die Dame Solowéj lebt?“

Abrupt hielt Tyson inne. Jetzt erst fiel ihm ein, dass er noch dieses Problem aus der Welt schaffen musste. Wie sollte er dem Kind erklären, dass seine heißgeliebte Dame, eigentlich Dranzer war – die vor kurzem das Zeitliche gesegnet hatte?

Es war wohl an der Zeit Kai die Wahrheit zu offenbaren, egal wie absurd sie klang.

Tyson rieb sich mit dem gesunden Arm unbehaglich am Nacken, sah bedrückt auf das Kind hinab, den passenden Ansatz suchend. Schließlich räusperte er sich, ging vor Kai in die Hocke und sah ihn ernst an.

„Kannst du dich an die verstorbene Schwester erinnern von der Wolborg gesprochen hat?“

Kai nickte langsam, blickte ihn ernst an.

„Du kennst sie besser als du denkst…“

Erstaunt weiteten sich die Augen des Kindes. Er überlegte kurz und schüttelte schließlich verneinend den Kopf.

„Nein, dass kann nicht sein. Außer der Dame Solowéj kenne ich keine andere Frau. Ich war noch nie von Zuhause weg. Wo soll ich ihr begegnet sein?“

Vorsichtig berührte Tyson Kais Schulter. Langsam, damit das Kind auch wirklich jedes Wort begriff, sprach er schließlich: „Deine Dame Solowéj ist Wolborgs Schwester.“

„Aber du hast doch gesagt ihre Schwester heißt Dranzer.“

„Deine Dame und Dranzer sind ein und dieselbe Person.“

Kai blickte auf den Boden, man merkte dass es in seinem Kopf arbeitete. Tyson wusste, dass der Junge ahnte worauf er hinaus wollte. Seine kleinen Hände begannen zu zittern, bis er sie ineinander verhakte und die Finger knetete bis sie rot anliefen.

„Nein.“, das Wort kam bestimmt über seine Lippen und Kai schüttelte entschieden den Kopf. „Das ist nicht wahr. Du irrst dich. Dranzer ist tot und Anastasia lebt. Sie wartet zuhause auf mich.“

„Dein zuhause existiert hier nicht, genauso wenig wie deine Anastasia. Sie war nur eine Täuschung, um dich im Haus zu behalten. Alles in dieser Welt basiert auf deinen Erinnerungen.“

„Nein.“, es kam noch beharrlicher.

„Kai, merkst du nicht, dass mit dieser Welt etwas nicht stimmt?“

„Was soll mit ihr nicht stimmen?“

„Das fragst du noch? An jeder Ecke lauert Gefahr!“

„Natürlich. Deshalb wollte Anastasia auch nicht, dass ich hinausgehe. Sie hat gesagt, dass die Welt da draußen gefährlich ist und sie hat Recht behalten. Alles hier ist schlecht.“

„Das ist aber nicht die normale Menschenwelt! In der Realität geht es nicht so grausam zu. Du musst doch spüren, dass etwas nicht in Ordnung ist. Sieh dich doch mal um! Wir sind mitten in einem Dschungel, davor waren wir in einer Eiswelt gefangen. Kommt dir das nicht seltsam vor? Diese Welt ist wild durcheinander gewürfelt.“

„Ich will nachhause.“, Kai verschränkte bockig die Arme vor der Brust.

„Gut. Ich bringe dich nachhause.“ Er musste ja nicht wissen welches Zuhause.

„Zur Dame Solowéj!“, betonte das Kind, als hätte er seine Gedanken gelesen.

„Die existiert nicht!“

„Doch!“, schrie der Junge plötzlich auf. „Hör auf zu lügen!“

„Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen, Dranzer ist tot!“

„Anastasia ist aber nicht Dranzer!“, er deutete auf Wolborgs Grab. „Sie ist ein Mensch aus Fleisch und Blut, wunderschön und nett! Sie könnte niemals mit ihr verwandt sein.“

Tyson begann der Geduldsfaden zu reißen.

„Du sturer Esel! Begreifst du nicht dass du an der Nase herumgeführt wirst? Deine Anastasia hat dir nur eingeredet, dass alle Welt schlecht und Menschen verdorben sind, damit du bei ihr bleibst! Sie wollte dich für immer in diesem Haus einsperren, damit du ihr nicht entkommen kannst! Wären wir nicht gewesen, würdest du noch immer dort festsitzen. Diese falsche Hexe hat dich manipuliert.“

„Hör auf so zu reden!“

„Dann wach endlich auf!“

Kai hielt sich die Ohren zu und schüttelte sich, doch Tyson riss ihm die Hände vom Kopf und sprach: „Sie ist ein Monster! Ein blutrünstiges, hinterhältiges Mon- HEY!“

Tyson stürzte zurück.

Kai hatte ihm einen Schubs verpasst, dass er auf den Rücken flog. Das Kind sprang über ihn hinweg und rannte in die umliegenden Büsche. Schnell, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, stemmte sich Tyson wieder auf, den Schmerz in seinen Arm ignorierend.

Gleichzeitig bereute er, Kai nicht länger belogen zu haben. Hätte er ihn einfach hingehalten, bis sie wieder in der Menschenwelt waren, dann wäre dem Esel von allein aufgefallen, dass Dranzer ihm lächerliche Flausen in den Kopf gesetzt hatte.

Plötzlich ein erschrockener Aufschrei…

Tyson hielt inne und hörte kurz darauf, wie mehrere Stimmen miteinander diskutierten.

Er horchte in die Richtung und grinste in sich hinein. Das war eindeutig Max. Mit vorsichtigen Schritten folgte er den Stimmen, stieg über einen umgekippten Baumstamm und schob die Blätter des tropischen Gestrüpps zur Seite.

Kurz nachdem er über einen kleinen Bach sprang, sah er bereits den flachsblonden Haarschopf seines Freundes hinter einem Gebüsch hervorlugen. Geradezu euphorisch rannte er los und gab Max einen spielerischen Stoß gegen den Rücken, der gleich darauf einen entsetzen Schrei fahren ließ. Panisch sprang Max auf und brüllte: „TYSON! Hast du sie noch alle! Ich dachte du wärst ein Bit Beast!“

Der lachte nur schallend auf und konnte nicht anders als zu Grinsen. Er ließ seinen Blick wandern und sah zu seiner Erleichterung, dass Kai direkt in die Gruppe hineingerannt war. Der Junge presste sich argwöhnisch an einen Baum und schlug Rays Hand weg, der geduldig auf ihn einsprach.

„Jetzt bleib doch still. Was ist denn mit dir?“, fragte der verwundert.

„Fass mich nicht an!“

Wieder schlug er die Hand weg und Ray zog die Brauen tief ins Gesicht, während Tyson bereits erkannte, dass Kai nach einer neuen Fluchtmöglichkeit spähte. Das die für ihn fremden Jungen anscheinend zu Tysons Bekanntenkreis gehörten, passte ihm überhaupt nicht, denn er taxierte sie mit derselben Feindseligkeit, mit der er zuvor ihn bedacht hatte.

„Wieso bist du so bockig Kai?“

„Woher kennst du meinen Namen?“

„W-Woher? Soll das ein Witz sein?“

„Lass ihn, Ray.“, seufzend wandte sich Tyson ihm zu. „Kai denkt dass er sechs Jahre alt ist. Sieh einfach nur zu das er nicht türmt, er versucht nämlich am laufenden Band vor mir wegzurennen.“

Rays Mund klappte auf und zusammen mit Max starrten beide perplex zu Tyson. In einem anderen Moment, wären ihre Gesichter urkomisch gewesen, sie guckten nämlich wie zwei Fische, die bemerkten, dass die Welt aus mehr als ihrem Aquarium bestand. Doch es war genau diese Sekunde der Unachtsamkeit die Kai nutzte, um Ray einen schmerzhaften Tritt gegen sein Schienbein zu verpassen. Ihr Freund knurrte auf, presste die Zähne zusammen, während Kai verschwinden wollte. Max stellte sich ihm in den Weg, hob beruhigend die Hände: „Hey, Rambo! Bleib wo du bist… Was machst du da?“

Kai sprang an einem kleinen Felsen rechts von ihm hinauf, gabelte sich blitzschnell einen dicken Ast darüber und zog sich flink an einer Tanne hoch. Seine Bewegungen waren für sein alter geradezu flüssig. Trotz der Zurufe seiner Freunde, kletterte er weiter und rief ihnen in seiner kindlichen Manier zu: „Geht weg! Lasst mich alle in Ruhe!“

„Euer Freund ist sehr undankbar!“, bemerkte Allegro pikiert, der auf Maxs Kopf saß und den Anblick mit einen kopfschütteln kommentierte. „All die Stunden haben wir um ihn gebangt und jetzt dankt es uns der Lümmel in dem er uns zum Teufel jagt. Schimpft sich so etwas ein Freund?“

„Er ist nur verwirrt“, verteidigte Tyson ihn. „Er erkennt uns nicht! Für ihn sind wir ein Haufen Fremder. Außerdem hat ihm Dranzer seltsame Schauermärchen erzählt. Es ist wie bei einer Gehirnwäsche.“

Ray rieb sich über die schmerzende Stelle und trat an den Stamm heran, blickte mit sorgenvollem Gesicht hinauf. Die Gruppe befand sich in einem kleinen Tal, das mit vielen unterschiedlichen Bäumen bestückt war und von einer hohen Gebirgskette umsäumt war. Die Pflanzenwelt war wild durcheinander gewürfelt. Neben einer Tanne wuchsen Palmen, etwas weiter ein Bonsai und hier und da schoss auch ein Kaktus aus dem Boden. So zog sich das Spiel durch den gesamten Urwald. Feuchtigkeit lag in der Luft. Die Hitze war enorm. Man fühlte sich wie in einem Hexenkessel. Die Ausläufer des Gebirges begannen wenige Meter von ihnen entfernt, waren aber zu steil um an ihnen hinauf zu klettern. Bevor sie auf ihre Freunde trafen, hatten Max und Ray seit Stunden versucht, einen Weg aus dem Talkessel zu finden.

„Er ist also wirklich auf dem Stand eines Vorschulkindes?“, fragte Ray inzwischen. Tyson bestätigte das mit einem Nicken.

„Alles von unserem Kai ist weg. Er erinnert sich an keinen von uns. Seltsamerweise nicht einmal an seine Familie. Fast als ob Dranzer sämtliche Menschen, die ihm etwas bedeutet haben, aus dem Kopf gestrichen hat. Er weiß nicht einmal etwas von Jana. Außerdem hat sie ihm Glauben gemacht, dass er niemals sein Haus verlassen hat, alle Menschen, bis auf sie, schlecht sind und er nur ihr Vertrauen kann. Er ist komplett auf sie fixiert…“

Betreten blickten seine Freunde zu dem Kind hinauf, das nun auf der Hälfte des Baumes ausharrte und auf einem Ast Platz nahm. Mit wütendem Blick drehte er ihnen den Rücken zu und verschränkte die Arme vor der Brust, als Demonstration seiner Unzufriedenheit. Da Kai von Natur aus störrisch war und Tyson sich gut vorstellen konnte, dass es länger dauern würde, bis er wieder von seinem Ast herunter kletterte, nutzte die Gruppe die Zeit, um sich auszutauschen.

Ray und Max berichteten von ihrer Begegnung mit Galman, dem Affen Bit Beast, dass nun seine Zeit damit verschwendete sich eine kaputte Armbanduhr um sein Handgelenk zu schnallen. Anschließend erzählte Tyson ihnen von Wolborg. Beide waren mehr als erstaunt, als sie erfuhren, dass ausgerechnet sie mit Dranzer verwandt war. Sie waren geschockt als sie von Wolborgs Forderung hörten, aber erleichtert, dass sie vor ihrem Ableben, Tyson einen Hinweis auf den Ausgang gegeben hatte – das Wurzelwerk von Yggdrassil.

„Na endlich!“, Max bekreuzigte sich und schickte ein Dankgebet Richtung Himmel. „Wenigsten ein Hoffnungsschimmer, nach all dem Herumirren! Hat sie dir auch gesagt, wo wir diese Wurzeln finden?“

Tyson zuckte mit den Schultern.

„Sorry, Jungs. Da hört mein Wissen auf. Sie meinte lediglich, dass die Wurzeln das Diesseits mit dem Jenseits verbindet. Die Irrlichterwelt ist ein Teil des Jenseits, wenn wir die Wurzeln also entlanglaufen, müssen wir irgendwann an die Barriere kommen.“

„Barriere? Wie soll die aussehen?“

„Keine Ahnung. Schätze mal wie ein Tor das die Menschenwelt von dieser Welt trennt.“

„Aber dann ist doch die Sache ganz einfach!“, rief Max euphorisch aus. „Wurzeln wachsen in der Erde! Also müssen wir so lange graben, bis wir…“

Ungläubige Blicke trafen ihn und schließlich merkte auch Max, dass es nicht so einfach war, wie es sich anhörte. Losgraben bis man endlich in der Menschenwelt war? Wenn die Irrlichterwelt wie die Erde aufgebaut war, würden sie niemals ihr Ziel erreichen.

„Gut. Es ist doch nicht einfach.“, gestand er schließlich.

„Sag mal Allegro“, begann Tyson und sah die Maus hoffnungsvoll an. „Du kannst nicht zufälligerweise eine dieser Wurzeln ausmachen?“

Die Maus spitzte die Ohren und sah ihn geradezu verdattert an.

„Natürlich nicht! Uns Strommäusen ist dieser Weg zur Menschenwelt verwehrt. Wir sind nur eine Arbeiterklasse und nicht dazu gedacht uns ein eigenes Kind in der Menschenwelt zu suchen. Die Wurzeln dürfen nur die höheren Bit Beast verwenden…“

Tyson seufzte.

„War nur ein Gedanke. Wolborg meinte, dass wir ein Bit Beast benötigen, um durch die Barriere zu kommen. Ich hatte gehofft du wüsstest was sie meint.“

Die schwarze Springmaus legte ihren Kopf auf die Seite und dachte nach.

„Nun… Ich habe eine Ahnung, was sie gemeint haben könnte. Doch ob Menschen diesen Weg auch benutzen können?“

Sofort horchte die Gruppe auf und drängte das Bit Beast weiterzusprechen.

„Es ist nur eine Vermutung! Wenn wir Strommäuse in die Menschenwelt wollen, benutzen wir einen Ort, der als der Quellstrom bekannt ist. Wir tauchen in ihn ein und werden von dort in jedes Gerät geleitet, dass unsere Macht benötigt.“

„Aber wir sind keine Strommäuse…“, schlussfolgerte Ray.

„Genau das ist das Problem.“, stimmte Allegro zu. „Im Quellstrom wird man automatisch in ein elektrisches Gerät geführt. Wir treiben es mit unserer Energie an, bis sie aufgebracht ist und kehren dann umgehend wieder zurück. Das heißt im Klartext, wir können das Gerät nicht verlassen, nur nach verrichteter Arbeit auf direkten Weg wieder zurück in die Irrlichterwelt gehen.“

Das ergab durchaus Sinn, wenn man bedachte, dass Dizzy zu Anfang auch nie aus ihrem Laptop herausgekommen war. Womöglich waren Kenny und sie sich so begegnet. Sie war als die Strommaus die seinen Laptop antrieb mit ihm in Kontakt getreten und hatte so ihren Blader gefunden. Doch wie würde das für die Jungs aussehen?

Tyson stellte sich vor, wie es wäre, wenn er durch den Quellstrom in einer elektrischen Zahnbürste landete und nicht mehr herauskam. Er schüttelte sich bei der Vorstellung, in dem Mund irgendeines unwissenden Idioten zu landen, der, wenn er Pech hatte, nicht viel von Hygiene hielt und Zahnfäule besaß.

„Würg! Scheiße Leute, ohne mich!“, meinte er angeekelt und schüttelte sich.

„Aber es ist zumindest ein Hinweis dass es Wege aus der Irrlichterwelt gibt“, meinte Ray. „Es könnte doch gut möglich sein, dass der Quellstrom ein Teil des Wurzelwerks ist. Wir müssen nur zusehen, dass wir ein Bit Beast finden, welches bereit ist uns zu helfen.“

„Wie denn?“, lachte Max freudlos auf. „Nichts gegen unseren kleinen Allegro, aber alle Bit Beasts, denen wir vor ihm begegnet sind, wollten uns töten.“

„Wolborg war aber auch bereit zu helfen.“

„Aber im Gegenzug wollte sie mein Herz!“, nahm Tyson Ray den Wind aus den Segeln. „Und als kleiner Treuebonus noch Kais Augen dazu. Ehrlich Ray, wir sitzen in der Patsche! Alle Bit Beast haben einen an der Waffel, wir haben es nur nicht gemerkt, weil sie uns früher nicht umbrin-…“

Tysons Redeschwall wurde unterbrochen als ein Haufen Tannennadeln auf ihn hinabregnete. Er schüttelte sich und fuhr mit der gesunden Hand schimpfend durch sein Haar, bis ein leises Knistern aller Aufmerksamkeit nach oben richtete. Als sie hinaufspähten, sahen sie Kai weit oben auf dem Baumwipfel.

„Was machst du da?“, rief Tyson hinauf und wollte sich gar nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn er hinabstürze. Doch der Junge ignorierte ihn. Er hielt sich an der Tannenspitze fest, balancierte vorsichtig auf einem gefährlich dünnen Ast voran und streckte seine Hand nach einem langen Hain aus, der direkt gegenüber seiner Tanne, an einer großen Palmekrone wuchs.

„Er versucht auf den nächsten Baum zu kommen“, flüsterte Ray und seine Augen wurden zu Schlitzen.

„Wieso das denn?“

Ray deutete hinauf und sprach mit ernster Miene: „Siehst du es nicht, Max? Die Palmenkrone ist fast auf gleicher Höhe wie die Hügel um uns herum. Außerdem ist sie nur einpaar Meter von der Felswand entfernt. Wenn Kai es auf die Palme schafft, kann er an der Felswand hinauf klettern und aus dem Tal entkommen.“

Maxs Mund klappte auf und er meinte entsetzt:

„Du sagst das als ob das ein Spaziergang wäre.“

„Ich habe ehrlich gesagt auch schon mit dem Gedanken gespielt.“

„Nicht jeder ist so ein Trapezkünstler wie du, Ray.“

„Deshalb habe ich die Idee auch wieder verworfen.“

Etwas gekränkt weil Ray ihm solch eine Aktion scheinbar nicht zutraute, zog Max eine Schnute.

„Fragt sich nur, ob Kai nun auch ein Trapezkünstler ist.“, wandte Tyson inzwischen ein. Mit banger Miene beobachtete er, wie das Kind auf dem dünnen Ast voranschritt und sich nach dem Hain streckte.

„Wie will er das denn schaffen? Die Felswand ist viel zu steil, er wird abstürzen. Allein auf den Baum zu gelangen ist die reinste Zirkusnummer.“, entgegnete Max.

Seine Freunde hatten keine Zeit zuzustimmen, denn es kam was alle befürchteten.

Gerade als Kai sich vorbeugte und den Hain zu fassen bekam, gab der dünne Ast unter ihm nach. Es knackte und mit einem erschrocken Ausruf, sah die Gruppe dabei zu, wie ihr Freund herab fiel und sich nur noch an dem Palmenhain festhielt. Die kleine Gestalt über ihnen, taumelte von einer auf die andere Seite. Der satte Hain zog sich unter Kais Gewicht in die Länge, trotzdem gab der Junge keinen Mucks von sich, versuchte sich stattdessen auf die Baumkrone zu hieven.

„Scheiße, ich wusste es!“, rief Max aus.

„Lass dich fallen, ich fang dich auf!“, Tyson tänzelte unter der Palme umher und suchte die richtige Position.

„Nein! Er soll sich festhalten! Wie willst du ihn denn mit deinem gebrochenen Arm auffangen!“ Tyson sah auf seinen Arm hinab und merkte nun auch, was für eine schlechte Idee das war. „Na… Dann fang du ihn!“

Max hob seine Hand demonstrativ hoch, die noch immer rot und angeschwollen von der Entzündung war. Es sah aus, als hätte er den Arm stundenlang in einem Bienenstock gehabt und obwohl sich sein Freund sichtlich Mühe gab, konnte er seine dicken Finger kaum rühren. Plötzlich stürmte Ray mit vollem Anlauf an ihnen vorbei und machte einen Satz, der ihn weit hoch an den Stamm der Palme beförderte. Geschickt, als hätte er nichts anderes in seinem Leben gemacht, kletterte er hinauf und kam zügig auf der glatten Rinde voran. Obwohl es anstrengend war, verzog Ray keine Miene, sondern konzentrierte sich auf sein Vorhaben. Doch schon bald merkte er dass in Kai Regung kam. Die Vorstellung hinabzufallen, schien dem Jungen weniger Angst zu machen, als von Ray eingeholt zu werden. Er wollte mit aller Macht entkommen. Kai versuchte geradezu verbissen auf die Palmenkrone zu gelangen, um von dort auf die Felswand zu flüchten.

„Halt still! Du fällst sonst!“, warnte Ray ihn.

„Hau ab!“, fauchte der Junge und trat nach ihm aus. Entgegen jeder Vorsicht, trat er schließlich mit den Füßen auf die Rinde, um sich anschließend, wie ein Bergsteiger an dem Hain senkrecht hinauf zu ziehen. Das war zu viel für die Pflanze.

Der Hain löste sich von der Krone… und Kai fiel.

Ray sah die kleine Gestalt über sich in sekundenschnelle auf ihn zurasen.

Der Abstand zwischen ihnen war zu groß, damit Ray ihn noch zu fassen bekam, deshalb tat er das Einzige, was ihm auf die Schnelle einfiel. Kurz bevor Kai an ihm vorbei rauschte, stemmte er sich mit den Füßen vom Stamm, stieß sich ab, fing den Jungen im Fall auf und versuchte sich auf das Geäst eines anderen Baumes gegenüber zu retten.

Der erste Ast brach sofort.

Ein weiterer peitschte Ray ins Gesicht und hinterließ eine blutende Wunde.

Der dritte und vierte Ast brach ebenfalls unter seiner Last.

Von unten hörte er die erschrockenen Rufe seiner Freunde. Einen weiteren Zweig bekam er schmerzhaft in den Rücken gerammt. Erst einpaar Meter vor ihrem Aufprall, bekam Ray einen Ast zu fassen, der stark genug war, um das Gewicht der beiden Jungen auszuhalten.

Vor Anstrengung keuchend und übersät mit Kratzern, hielt Ray sich eisern daran fest, die andere Hand umschlang Kais Oberarm. Der Schweiß rann ihm in den Nacken und Ray wurde sich eines bewusst:

Das, war mit Abstand, das Dümmste was er je gemacht hatte!

Er ließ sich einpaar Sekunden Zeit - sammelte seine Kräfte.

Erst dann zog er Kai hoch und forderte ihn auf, sich an seinem Rücken festzuhalten. Genauso geschockt wie er, kam der Junge dem Befehl nach, schlang seine Arme um Rays Nacken -diesmal ohne Widerworte. Von unten war kein Laut mehr zu hören. Tyson und Max waren verstummt, blickten wie gebannt hinauf und fieberten mit, während Allegro sich die Pfoten auf die Augen presste. Schließlich hangelte sich Ray, mit beiden Händen Richtung Stamm, ertastete mit den Füßen einen Ast unter sich und ab da schien der Abstieg für ihn kinderleicht.

Einige Meter unter ihnen atmete Tyson aus und schickte ein Dankgebet gegen Himmel, dafür das Ray ein so talentierter Kletterer war. Für eine Sekunde malte er sich aus, wie kläglich seine eigenen Kletterversuche ausgesehen hätten und er musste daran denken, wie sehr er es doch verflucht hatte, dass sein Freund vor Jahren Tokyo den Rücken gekehrt und stattdessen nach seiner Hochzeit, in seinem kleinen Bergdorf sesshaft geworden war.

Damals war Tyson ziemlich deprimiert gewesen.

Max war nach Amerika gegangen und Ray kurz darauf auch fort.

Er hatte das Gefühl gehabt, dass alle die er mochte ihm den Rücken zuwendeten.

Jedoch wurde ihm jetzt klar, dass Ray das einzig Richtige für sich getan hatte. Er war kein Stadtmensch, auch wenn er mit dem Gedanken spielte, nach Tokyo zurückzukehren. Er gehörte nach China, wo er seinen Kindern irgendwann selber sein Talent weiterreichen konnte. Das beste Beispiel für seine Fähigkeiten präsentierte sich nun hier. Trotzdem atmeten seine Freunde erst erleichtert aus, als Ray neben ihnen auf sicherem Boden landete und brachen dann in euphorischem Beifall aus.

„Das war der Wahnsinn!“, jubelte Max.

Doch Ray sagte nichts. Stattdessen ging er auf die Knie und ließ Kai von seinem Rücken gleiten. Der Junge trat mit steinerner Miene einpaar Schritte von ihm weg, als müsste er selbst begreifen, was sich gerade abgespielt hatte, doch zum Erstaunen aller, packte Ray ihn blitzschnell am Handgelenk und zog ihn zurück…
 

KLATSCH
 

Die Ohrfeige schallte laut durch den Wald und Kais Augen wurden vor Überraschung groß. Auf seiner Wange entbrannte ein feuerroter Abdruck, der genauso schmerzte wie er aussah. Das Kind torkelte zurück, presste sich die freie Hand auf die Stelle und sah Ray schockiert an, genau wie der Rest der Gruppe.

„Bist du verrückt?“

„Das hat er verdient, Max!“

„Aber…“

„Was hast du dir dabei gedacht?!“, blaffte Ray Kai unvermittelt an. Der Junge zuckte zurück und blinzelte ihn an. „Verdammt noch mal! Hast du auch nur eine Sekunde überlegt wie gefährlich das war?! Das war kein Spaß mehr Kai, das war lebensgefährlich!“

Wütend haute Ray mit der Faust auf den Boden und zum ersten Mal waren sich seine Freunde bewusst, dass man ihn besser nicht provozierte wenn er zornig wurde. Er hielt Kai eine Standpauke die sich gewaschen hatte, machte ihm klar, wie viel Glück er eigentlich gehabt hatte und zeigte auch keine Scheu davor, ihm einzureden, dass er jetzt mit gebrochenem Nacken, tausender zertrümmerter Knochen und aufgeplatzten Schädel, tot auf dem Boden liegen könnte. Seine Worte waren so hart, dass Kai sich auf die Unterlippe biss. Er ließ die Wut über sich ergehen, versuchte ein trotziges Gesicht zu machen, was aber kläglich misslang. Sein erwachsenes Alter Ego hätte wohl meisterhaft Kühnheit vorgetäuscht, doch das sechsjährige Kind vor ihnen, schaffte es gerade noch die aufkommenden Tränen zu verkneifen. Ray bombardierte ihn mit Fragen.

Ob er lebensmüde sei?

Kai schüttelte den Kopf.

Ob ihm die Flucht sein Leben wert wäre?

Kai schüttelte wieder den Kopf und als der Strom aus Fragen, immer noch nicht abklang, begann der Junge doch zu schluchzen. Er wandte das Gesicht ab und erst die Tränen bremsten Ray aus. Er atmete zwar noch heftig, seine Brauen waren noch wütend verzogen, doch der Zorn verebbte.

„Ray…“

Ihr Freund blickte zu Tyson.

„Du hat ja Recht mit dem was du gesagt hast, aber ich denke, Kai hat begriffen, wie gefährlich seine Aktion war.“ Er richtete sich an die besagte Person. „Nicht wahr, Kai?“

Ein beklommenes Nicken war die Antwort und tränennasse Augen senkten den Blick.

Erst da bemerkte Ray, dass er noch immer sein schmales Handgelenk in einem schraubstockartigen Griff umschlungen hielt. Er seufzte resignierend, bemerkte wie erleichtert er doch war, dass nichts von dem was er gesagt hatte eingetroffen war und entließ Kai aus seinem Griff. Der Junge tat einpaar Schritte von ihm weg, als fürchtete er einen weiteren Zornausbruch. Die Art wie er einen Sicherheitsabstand zwischen ihnen aufbaute kränkte Ray. Die Wangen des Kindes leuchteten auf dem blassen Gesicht, vor allem die Stelle, welche die Ohrfeige zu spüren bekommen hatte. Das war wirklich nicht der Kai den sie kannten. Der Anblick löste tiefe Betroffenheit in Ray aus. Er legte seine Hand versöhnlich auf den Haarschopf des Kindes und meinte nur: „Tut mir Leid wegen der Ohrfeige. Ich bin einfach nur froh, das dir nichts passiert ist…“

Augenblicklich hörte Kai auf zu schluchzen. Er blinzelte zu ihm hinauf, als wäre er überrascht die Worte zu vernehmen. Und als Ray ihm ein reumütiges Lächeln schenkte, konnte er nicht anders, als es ihm gleichzutun. Schließlich senkte er schüchtern den Blick und nuschelte:

„Mir tut es auch Leid. Ich mach es nie wieder…“

„Versprochen?“

Ein Nicken als Antwort.

„Gut. Denn wenn du dich nicht dranhältst, versohl ich dir den Hintern so lange, bist du es gelernt hast! Ich schwöre dir, du wirst nie wieder eine Tanne sehen ohne in Panik zu geraten!“

Zuerst starrte Kai ihn verdattert an, doch als die Gruppe anfing zu prusten und sich über seinen panischen Ausdruck lustig machte, huschte auch über seine Lippen ein zauderndes Lächeln. Erneut knetete er seine Finger und blickte auf seine Hände. Schließlich beugte sich Max zu ihm hinab, wischte dem Kind eine verbliebene Träne weg und sagte freundlich:

„Und jetzt weg mit dem traurigen Gesicht. Da kriegt man ja Gewissensbisse wenn man dich so sieht.“ An die Gruppe gewandt, fügte er noch hinzu: „Auf den Kleinen müssen wir ab jetzt besonders aufpassen.“

Er stupste dem Jungen spielerisch gegen die Nase, der den Kopf verlegen wegzog und ihn vorsichtig musterte. Max musste lachen und rief: „Schaut euch das mal an, der ist ja richtig schüchtern. Ausgerechnet unser Kai.“

Nun begann auch Ray das Kind genauer unter die Lupe zu nehmen. Die beiden Freunde stellten dem Jungen haufenweise Fragen, entdeckten vollkommen unerwartete Verhaltensmuster an ihm und schienen mit jeder Minute begeisterter von der Situation. Sie verglichen die Größe seiner Hände mit ihren, zählten auf, was im Gegensatz zu Kais erwachsenem Alter Ego anders war, wie er sich äußerlich verändert hatte und staunten über die großen Augen, die sie voller scheu anblinzelten. Die vollen Kinderbacken verführten die Jugendlichen mehrmals dazu, ihm in die Wangen zu kneifen, bis er hilfesuchend zu Tyson blickte, sichtlich überfordert von all der Zuneigung. Der beobachtete die Szene aber nur mit einem Lächeln, als wolle er den Jungen dazu ermutigen, aus sich herauszukommen.

Die angeblich verdorbenen Leute, vor denen Kai gewarnt worden war, entpuppten sich als lachende Meute, die Witze riss, ihn neckte, sich um ihn sorgte und ihn geradezu mit Aufmerksamkeit überschüttete. Irgendwann schien Kai nicht mehr zu wissen, wo ihm der Kopf stand, denn als Max charmant meinte, dass er noch nie so ein niedliches Kind gesehen hätte, liefen Kais Wangen puterrot an und er stolperte zu Tyson, wo er sich hinter seinen Beinen versteckte und das Gesicht in dessen Jeans vergrub.

„Wie jetzt?“ rief der aus. „Vorhin wolltest du vor mir wegrennen, jetzt klebst du förmlich an mir.“

Wieder schallte ein Lachen durch den Wald und die Jugendlichen versuchten Kai eine Reaktion abzugewinnen, doch das Kind versteckte sich vor ihren Blicken, wie ein Strauß der den Kopf in den Sand steckt.

„Der Unterschied zu der Zeit nach der Abtei ist gewaltig.“, meinte Max erstaunt. Er legte den Kopf schief und grinste Kai verschmitzt an, als das Kind einen flüchtigen Blick auf ihn warf und sich kurz darauf wieder in Tysons Hose vergrub. Es war unübersehbar das Max diese Situation mehr als amüsant fand. Tysons selbst konnte es ihm nicht verübeln. Falls sie jemals aus der Irrlichterwelt herauskamen und Kai endlich wieder bei klarem Verstand war, würden sie ihm diesen Vorfall jahrelang unter die Nase reiben!

Allerdings mussten sie dazu endlich von hier verschwinden…

Sie begannen erneut zu beraten, wie es nun weitergehen sollte, dabei eröffneten sich ihnen zwei Optionen: Zum Einen konnten sie sich von Allegro zum Quellstrom führen lassen.

Wenn der Quellstrom Strommäuse in die Menschenwelt führte, bestand vielleicht die Möglichkeit, dass er mit Yggdrassil verbunden, oder zumindest eine seiner Wurzeln dort entlanglief. Sie stellten sich das ganze wie ein Netzwerk vor, welches an derselben Stelle zusammenlief. Das alles war aber nur eine Vermutung, sie würden also ihre ganze verbliebene Zeit auf eine Karte setzen. Zudem beichtete ihnen Allegro, dass er noch nie in diesem Teil der Irrlichterwelt war, was das vorhaben also noch einmal erschwerte.

Die andere Möglichkeit beinhaltete, dass sie ein Bit Beast fanden, dass ihnen bereitwillig half – ohne ihnen eine absurde Forderung an den Kopf zu werfen.

Doch die Wahrheit war, dass die Gruppe seit ihrem Aufenthalt in der Irrlichterwelt, das Vertrauen in die Wesen aus ihrer Kindheit verloren hatte. Sie waren nicht mehr die liebenswerten Geschöpfe, die an ihrer Seite kämpften, sondern unheimliche Geister, die Kinderseelen fraßen, in Leichen schlüpften und ihre Spielchen mit ihnen trieben.

Schließlich überwog ihr Misstrauen der Befürchtung, dass sie es nicht mehr rechtzeitig aus der Irrlichterwelt schaffen könnten und sie beschlossen, ihre Hoffnung auf den Quellstrom zu setzen. Zunächst einmal mussten sie dazu aber aus dem Talkessel finden.

„Da müssen wir wohl oder übel die Felswand nach einem günstigen Aufstieg absuchen.“, meinte Ray und tastete mit den Augen bereits die Hügel um sie herum ab.

Tyson seufzte innerlich. Das konnte ewig dauern. Das Tal schien eine beachtliche Größe zu besitzen, doch es ließ sich wohl nicht vermeiden. Also nahm er Kai an die Hand und die Gruppe begann an der Felswand entlang zu laufen. Er bemerkte nicht die belustigten Blicke die seine Freunde dabei austauschten, zumal dass doch ein recht ungewohnter Anblick war – ein geradezu vorbildlich verantwortungsbewusster Tyson, der einen unvorsichtigen kleinen Kai an der Hand hielt. Das sah man auch nicht alle Tage…
 

*
 

In einem anderen Teil des Dschungels, an dem kleinen Bach, an dessen feuchten Felsen Ray den Frauenmantel aufgesammelt hatte, tat sich inzwischen auch etwas…

Eine massige, hochgewachsene Gestalt trat aus dem Dickicht hervor, ihre mit Fell überzogenen Stiefel, hinterließen tiefe Abdrücke auf dem lehmigen Boden. Die tiefgrüne Kriegertracht, verschmolz geradezu mit ihrer Umgebung, genauso wie die braungebrannte Haut des Mannes und trotz des warmen Klimas, trug er ein weißes Tigerfell über seinen Schultern, was ihn umso erhabener wirken ließ – allerdings auch tierische Züge verlieh.

Er schritt auf das kleine Gefälle zu, über den das Wasser munter hinabplätscherte. Der Aufstieg war für ihn ein Kinderspiel, denn die Felsen, die Erde, die starken Bäume, gehorchten seinem Willen und formten wie von Zauberhand eine kleine Treppe, um ihn problemlos auf die Spitze des Gefälles zu geleiten – als würde selbst Mutter Natur den Zorn dieses Mannes fürchten.

Oben angelangt glitten seine raubtierhaften Augen über ein Gestrüpp, das er vor nicht allzu langer Zeit selbst hier angepflanzt hatte, direkt neben den feuchten Felsen des Baches. Eine für Menschen unbekannte Pflanze – seine eigene, neueste Schöpfung.

Ihre Wurzeln waren rötlich und gruben sich tief in das harte Gestein auf dem sie wuchs. In pulsierenden Intervallen zogen sich kleine Funken vom Innern der Wurzeln, zum Stiel hinauf, der länglich nach oben spross und umsäumt von kleinen, gelblichen, transparenten Kugeln war. Im Zentrum dieser seltsamen Früchte, schwamm jeweils ein kleiner schwarzer Punkt, der an einen winzigen Wurm erinnerte, wenn er ab und zu zuckte.

Driger kniete sich vor der Pflanze nieder und streckte die Hand nach einer der Früchte aus. Doch in jenem Moment kam Regung in das Kraut und es machte einen Laut, wie eine Katze die zuschnappen wollte.

„Beiß nicht die Hand die dich füttert!“, zischte Driger die Drohung.

Sofort zuckte die Pflanze zusammen und beugte ihren Stiel nach vorne, wie ein Kind das sich schämte. „Schon besser…“

Er begann die Kugeln zu untersuchen, bis er auf eine traf, die sich von den anderen deutlich abzeichnete. Sie war durchtränkt mit Blut, um einiges größer und der kleine Wurm im Innern glich einem schwarzen Fötus. Der Anblick entlockte Driger ein Lächeln und er bereute keine Sekunde, die Pflanze hier gesät zu haben.

Der kalte, steinerne Untergrund würde dieses Geschöpf genauso steinern machen, wie er es sich wünschte. Mit einem kräftigen Ruck, riss er die Frucht vom Stiel. Die Pflanze gab ein Jaulen von sich und begann zu zittern, als würde sie Schmerzen leiden.

„Nicht doch, du bist doch schon groß und stark, nicht wahr mein Mädchen?“, sprach Driger auf sie ein und streichelte behutsam ihre Spitze. Die Pflanze schmiegte sich in seinen rauen Griff, lechzte nach seiner Zuneigung. „Ich weiß. Das hast du gut gemacht.“

Er griff mit der anderen Hand in seine Tracht hinein und zog eine zappelnde Strommaus aus seinem Kragen. „Hier. Eine Belohnung.“

Ein angstvolles Fiepen ertönte, als die Maus sich ihrer Lage bewusst wurde, sie begann umso mehr zu strampeln, doch Driger ließ sie an ihrem Schweif über der Pflanze baumeln, bis eine ihrer Früchte sich öffnete und eine Reihe spitzer kleiner Reißzähne entblößte. Die Pflanze schnappte nach oben und verschlang die Strommaus in einem Happen, trennte dabei ihren Schweif vom Rest des Körpers. Driger ließ ihn achtlos zu Boden fallen…

Im Innern der Pflanze zappelte die Strommaus um ihr leben, bis sie sich in der gelblichen Flüssigkeit auflöste und nur noch ihre Knochen in der seltsamen Brühe umher schwammen.

„Gutes Kind.“, sprach Driger, tätschelte die Pflanze ein letztes Mal, bevor er die Frucht in seiner Hand gegen die Sonne hob. Die Strahlen schienen das kleine Geschöpf in ihrem Innern lebendiger werden zu lassen, denn es öffnete träge die Lider und blinzelte ihn aus seinen großen Glubschaugen an.

Driger grinste und entblößte seine scharfen Schneidezähne. Dann zerquetschte er die Frucht in seiner Faust und als er die Handfläche wieder öffnete, rührte sich der kleine Fötus darin wie ein Fisch auf dem Trockenen. Driger hob das Geschöpf näher an seinen Mund und flüsterte: „Such ihn.“

Dann schaufelte er mit seiner freien Hand eine kleine Kuhle, wo er den Fötus platzierte. Sofort begann das Geschöpf zu graben. Seine kleinen Gliedmaßen schaufelten sich immer tiefer ins Erdreich und das in einem atemberaubenden Tempo, bis es gänzlich von der Oberfläche verschwand. Driger erhob sich, ließ die Kuhle dabei nicht aus den Augen, dann entrang sich seiner Kehle ein Brummen. Er hob den Blick Richtung Himmel und sprach:

„Ich wollte es nie soweit kommen lassen, Ray.“
 

*
 

Eigentlich wollte ich dieses Kapitel nicht hochladen, weil ich in den letzten Monaten zu keinem einzigen weiteren Satz gekommen bin. Es ist echt ärgerlich, ich weiß wo die Geschichte hinführen soll, aber ich bekomme es auf Biegen und Brechen nicht hin, die Fäden ineinander überlaufen zu lassen. Das raubt einem jegliche Lust am Schreiben. Jedenfalls hoffe ich das dieses Kapitel jemandem gefallen hat und werde mich bemühen endlich den Schlussakt hinzubekommen.
 

Lg Eris

Trotz Kais anfänglichem Widerwillen war er nach der Sache mit der Ohrfeige überraschend pflegeleicht. Ihm war zwar zwischenzeitlich noch einmal eingefallen, dass er doch eigentlich zu seiner Dame Solowéj wollte, doch Max hatte die Situation geschickt gerettet, indem er sich die Tatsache zu Nutzen machte, das Kinder für gewöhnlich die Aufmerksamkeitsspanne eines Karpfen besaßen. Kurz gesagt: Er präsentierte Kai Allegro und von da an drehte sich für den Kleinen alles nur noch um die Springmaus.

Zwar motze Allegro zuerst, als Max ihn von seinem blonden Haarschopf zupfte und ihm Kai in die Handfläche bettete - „Ich bin doch kein ordinäres Haustier!“ – doch als das Kind anfing Allegro im Nacken zu kraulen, hieß es nur noch verzückt: „Oh ja! Etwas weiter unten… Genau da! Oh herrlich… Du hast die Finger eines Engels mein Junge!“

Vor Freude zuckte die Strommaus mit ihrer Hinterpfote und neigte sich Kais Handfläche entgegen. Sein Schweif schlug wellenförmige Linien, als das Kind mit seinem Zeigefinger unter Allegros kleines Ohr fuhr und ihn hätschelte.

Max beugte sich zu Kai hinab und grinste: „Ist er nicht toll?“

Die Frage war eigentlich an den Jungen gerichtet, stattdessen antwortete Allegro verträumt:

„Ja~ha! Das ist er…“

Max und Kai tauschten überraschte Blicke aus, dann begannen beide zu lachen.
 

Einpaar Schritte weiter inspizierten Ray und Tyson die Felshänge. Nachdem sie der Gebirgskette gefolgt waren, mussten sie deprimiert feststellen, dass sie im Kreis gelaufen waren. Nun berieten sie, ob sie den Aufstieg auch so schaffen konnten.

„Ich glaub kaum dass wir das hinbekommen“, meinte Tyson und ließ den Blick nach oben wandern. Sein Nacken verkrampfte sich beinahe. „Vor allem mit unseren Verletzungen. Ich will nicht wehleidig sein, aber mit einem Arm komme ich da nicht hoch.“

Ray blickte auf Tysons Verletzung und musste ihm zustimmen. Seine Hand hing schlaff in der Schlaufe. Der Ärmel darüber lag in blutverfärbten Fetzen. Max erging es auch nicht besser. Beide, sowohl Max als auch Tyson, hatten das Pech sich am Arm verletzt zu haben. Ein echt fieser Zufall.

Ray selbst ging es abgesehen von einpaar Prellungen gut. Im Gegensatz zum Rest des Teams konnte er sich noch glücklich schätzen. Vielleicht könnten sie den Aufstieg schaffen, wenn sie irgendwo eine Liane oder eine ähnliche Pflanze fanden? Irgendwo in diesem Dschungel ließ sich so etwas doch gewiss auftreiben…

Ray wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Max zu ihnen kam und sprach:

„Jungs, wir haben ein Problem.“

„Noch eins?“, kam es gleichzeitig.

„Nichts schlimmes, der Krümel muss nur mal.“, er nickte vielsagend Richtung Kai, der etwas Abseits stand und sich für etwas zu schämen schien. Jedenfalls warf er ihnen einen Blick zu, als fühle er sich unwohl in seiner Haut und streichelte mit hochroten Wangen über Allegro. Maxs Mundwinkel zuckten inzwischen aus irgendeinem Grund. Tyson und Ray blickten ihn voller Unverständnis an, dann tauschten sie einen Blick aus und fragten wieder gleichzeitig:

„Na und?“

Max grinste, als müsse er sich ein Lachen verkneifen. Dann beugte er sich vor und flüsterte:

„Er sagt, er kriegt den Knopf da unten nie auf. Ist das nicht zum Schießen!“

Ein leises Prusten kam von ihm und seine Wangen blähten sich auf. Es kostete ihn unglaubliche Anstrengung nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.

„Ich meine, das ist Kai! Und ausgerechnet er…“

„Ach Max, hör auf!“, warf Ray ein und stemmte die Hände tadelnd in die Seiten. „Du weißt genau dass er jetzt ein kleines Kind ist.“

„Ich weiß, ich fühle mich auch furchtbar, aber gleichzeitig muss ich lachen!“

Tyson rollte mit den Augen und wandte sich an Ray.

„Kannst du das machen? Ich würde ja gerne aber du weißt ja…“ er deutete auf seinen verletzten Arm „… ich bin im Moment der einarmige Bandit in der Gruppe.“

Ray seufzte lächelnd, drehte sich zu Max der immer noch versuchte seinen aufkommenden Lachanfall zu unterdrücken. Natürlich war er auch gehandicapt und das er Kai ins Gesicht prusten würde, wenn sie ihn mit ihm losschickten, war wohl kaum zu vermeiden. Das wollte er dem armen Kind ersparen.

„Bin gleich zurück.“, meinte er schließlich. Im Vorbeigehen boxte er Max spielerisch gegen die Schulter und sagte: „Reiß dich zusammen, Alter! Er ist erst sechs!“

„Eigentlich dreiundzwanzig!“, rief Max hinterher. Dann wandte er sich an Tyson und fragte: „Komme ich in die Hölle weil ich das so komisch finde?“

Tyson zuckte mit den Schultern und antwortete:

„Wenn du dich weiter so wacker hältst, stehen die Chancen für dich nicht schlecht.“
 

Zehn Minuten später schritten die beiden Jungen stillschweigend nebeneinander her. Allegro hatten sie bei Tyson und Max gelassen und nun suchten sie einen Platz wo sie vor den Blicken der anderen ungestört waren. Die Stimmung zwischen ihnen war angespannt, da Ray erst einmal mit dieser skurrilen Situation fertig werden musste und Kai sich in seiner Gegenwart deutlich unwohl fühlte – wahrscheinlich wegen der Ohrfeige zuvor.

Diese Sache schwebte immer noch zwischen ihnen, jedenfalls meinte Ray das zu spüren.

Er dirigierte Kai hinter einen Baum, wo er sich vor ihn kniete und an seiner Hose herumwerkelte. Als er den Hosenknopf geöffnet hatte, blickte Kai zu Boden und nuschelte:

„Danke.“, dann wandte er sich von ihm ab. „Du kannst jetzt zurückgehen.“

„Ich bleibe vorsichtshalber hier.“

„Nein. Geh jetzt.“, sagte Kai bestimmt.

Ray seufzte.

„Hör mal Kai. Es tut mir wirklich Leid das ich dich geohrfeigt habe. Ich hatte einfach nur Angst, weil dir etwas hätte passieren können. Du bist zu klein um auf dich selbst aufzupassen und dann so eine Aktion… Ich habe einfach Rot gesehen…“

„Ray…“

„Lass mich ausreden! Ich bin normalerweise die friedlichste Person auf der Welt. Tyson und Max können das bestätigen. Frag sie einfach mal! Die beiden habe ich noch nie verprügelt und das obwohl Tysons Aktionen einen manchmal geradezu dazu auffordern ihm eine zu knallen.“

„Ray!“

„Ich verspreche dir hoch und heilig: Ich mache es nie mehr!“ Ray hob die Hand zum Schwur, doch Kai legte ihm plötzlich beide Hände auf den Mund um ihn zum stillschweigen zu bringen. Er errötete wieder und sagte:

„Ist okay. Ich…“, er sah sich verstohlen um und sein Gesicht wurde noch einen Ton dunkler. Die Wangen brannten geradezu vor Schamesröte. Dann kam er Rays Gesicht näher und flüsterte in sein Ohr: „Ich kann nicht wenn jemand zuschaut.“
 

Stille.
 

„Ach so…“, Rays Augen weiteten sich überrascht. „Das heißt, das mit der Ohrfeige ist wirklich vergessen?“

„Ja“, Kai blickte zu Boden und meinte schließlich. „Du hast es ja nur gut gemeint, weil du dir Sorgen gemacht hast.“ Er dachte kurz nach und fragte dann: „Warum kümmert ihr euch alle eigentlich um mich? Ihr kennt mich doch gar nicht…“

„Wir kennen dich besser als du denkst.“, Ray legte einen Finger unter sein Kinn und zwang Kai ihm in die Augen zu sehen. Er lächelte. „Außerdem mögen wir dich.“

Einpaar Sekunden blickten sie sich an, bis Kai sein Lächeln erwiderte. Dann meinte er:

„Du?“

„Ja?“

„Ich muss immer noch.“

„Ähm… ja. Ich lass dich mal.“, Ray erhob sich und schlenderte auf die andere Seite des Baumes, wo er sich an die Rinde lehnte und darauf wartete dass sein Freund sein Geschäft verrichtete. Einpaar Sekunden vergingen, plötzlich drehte er sich noch mal um und fragte:

„Und du bist wirklich nicht sauer?“

„Schau endlich weg!“
 

Ray duckte sich und drehte sich nach vorne. Dann umspielte ein Lächeln seine Mundwinkel. Es beruhigte ihn, dass diese Geschichte wirklich aus der Welt war. Insgeheim hatte er sich Sorgen gemacht, dass die Sache selbst dann noch zwischen ihnen stehen würde, wenn Kai erwachsen und sie wieder in der Menschenwelt waren.

Er verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und dachte darüber nach, wie sie wieder nachhause kommen könnten. Ihm schwante das sie tatsächlich ein Bit Beast brauchten. Eines das Allegros Level bei Weitem übertraf und schon einmal in der Menschenwelt gewesen war. Insgeheim fragte er sich wie viele Bit Beast überhaupt diesen Sprung schafften. Es schien nicht selbstverständlich zu sein ein Menschenkind für sich zu gewinnen.

Das es auch eindeutig eine Klassenordnung gab war Ray inzwischen schon längst bewusst.

Allegros Strommäusesippe und die Hyänen mussten zur untersten Schicht gehören. Sein Driger und die anderen Uralten zu der gottgleichen Oberschicht. Was war aber mit den Bit Beast zwischen diesen beiden Schichten? Gehörte Galman dazu?

Nachdenklich kratzte Ray sich am Nacken und er fragte sich, ob Galman ihnen geholfen hätte, wenn sie ihn mit den richtigen Mitteln bestochen hätten. Kurz darauf schüttelte er aber den Kopf. Galman war schlicht und ergreifend dumm. Dumm und viel zu jähzornig.

Dieses Bit Beast wäre gewiss keine Hilfe gewesen. Galman hätte sie vielleicht sogar verraten. Allein eine kaputte Armbanduhr hatte genügt, um ihn auszuschalten, wie schnell hätte dieses Bit Beast dann erst die Seiten gewechselt, wenn die Uralten ihn mit den richtigen Mitteln köderten?

Und Wolborg…

Sie wäre schon eher in Frage gekommen. Nach Tysons Erzählung zu urteilen schien sie sehr intelligent, wenn auch zeitweise verblendet. Sie hatte ihren Fehler aber noch erkannt. Nur war sie jetzt tot…

Es musste doch ein Bit Beast geben das normal war.

Etwas rührte sich hinter Ray und er stemmte sich vom Stamm weg, da wurde er ruckartig am Kragen nach hinten gezogen. Überrumpelt versuchte es Ray ein weiteres Mal, da legte sich etwas um seinen Kopf. Rindige, nach Holz schmeckende Hände, bedeckten seinen Mund, ließen ihn keinen Laut von sich geben. Die Finger waren unförmig und erinnerten mehr an dünne schwarze Äste. Dann ging ein Ziehen durch seinen Körper und er wurde nach hinten gesogen…

In den Baum.

Mit ganzer Kraft kämpfte Ray gegen den Sog an, seine Hände gruben sich in die Rinde neben ihm und er fühlte wie seine Fingerkuppen aufrissen. Seine Muskeln spannten sich an bei dem Versuch loszukommen, stattdessen kam ein zweites Paar Hände und krallte sich in seinem Hosenbein fest. Das alles ging vollkommen lautlos von statten.

Schließlich biss er in die Hand vor ihm. Der dünne Holzfinger in seinem Mund brach ab und er schaffte es noch einen Namen zu rufen.
 

Kai war gerade dabei sich die Hose überzuziehen, als Ray auf der Rückseite des Baumes seinen Namen rief. Er nestelte am Verschluss herum und kindliche Freude überkam ihn, als er dieses Mal alleine zurechtkam. Ihm war es auch so schon unangenehm, dass er noch nicht wie die großen Jungs seine Hose aufbekam und Ray noch mal um Hilfe zu bitten, war ihm peinlich.

„Bin fertig!“, rief Kai. Das kleine Kind umrundete den Baum und sagte: „Wir können gehen.“

Doch da war niemand...

Verwirrt blieb Kai stehen.

„Ray?“

War er ohne ihn gegangen?

Er wollte doch auf ihn warten?

Der Gedanke stimmte Kai irgendwie traurig, weil Ray doch eigentlich darauf bestanden hatte in seiner Nähe zu bleiben und er sah sich beklommen um. Seine Augen wanderten umher, durchsuchten die Umgebung, die Büsche, das Gestrüpp rings um sie herum…

Er war das erste Mal seit langem alleine.

„Ich könnte jetzt verschwinden…“

Der Gedanke schoss ganz plötzlich durch seinen Kopf. Wenn er jetzt die Gelegenheit nicht beim Schopf packte, würde er nie mehr zu Anastasia kommen. Tyson hatte seinen Standpunkt klargemacht. Er hielt sie für ein Monster und würde ihn niemals freiwillig gehen lassen.

Dabei war sie doch so ein freundlicher Mensch…

Er machte ein paar Schritte seitwärts, um einen Blick auf den Rest der Gruppe zu werfen. Sie saßen ein ganzes Stück von ihm entfernt und steckten die Köpfe zusammen – Ray war aber nicht bei ihnen.

Das fand Kai seltsam. War ihm vielleicht etwas passiert?

Sein Blick überflog ratlos den Platz und heftete sich an die Rinde des Baumes. Etwas weiter oberhalb, zogen sich lange Kratzspuren ins Holz…

Der Anblick reichte um Kai einen dicken Kloß im Hals anschwellen zu lassen.

Er war doch nur einpaar Minuten auf der anderen Seite des Baumes, wie konnte in so kurzer Zeit etwas passieren? Kai machte auf dem Absatz kehrt und wollte den großen Jungs Bescheid sagen, doch dann hielt er inne…

Und seine Flucht? Dann saß er ja schon wieder fest!

Unschlüssig knetete er seine Finger. Ihm fiel auf, wie oft er das tat, seit er bei der Gruppe war.

Er wollte zur Dame Solowéj, aber er wollte auch dass es Ray gut ging. Beides gleichzeitig ging aber nicht. Aber er mochte doch beide…

Rays Augen kamen ihm in den Sinn, die ihn kurz zuvor noch voller Güte angeblickt hatten, sein einnehmendes Lächeln, aber auch seine ehrliche Sorge als Kai vom Baum gestürzt war. Er dachte auch daran wie traurig Max und Tyson sein würden, wenn sie erfuhren dass Ray etwas passiert war – und an Tysons Enttäuschung, weil Kai fortgelaufen war statt ihnen Bescheid zu sagen.

Das traf ihn seltsamerweise am meisten…

Er schüttelte den Kopf, als wollte er den Gedanken verscheuchen.

„Aber ohne mich sind sie doch besser dran…“, sagte er sich selbst. So wie er die Situation sah, waren alle penibel genau darauf bedacht ihn nicht aus den Augen zu lassen. Wenn er an diese seltsamen Geschöpfe hier dachte – wie die Dame Wolborg – konnte er ihre Angst sogar verstehen. Aber er wollte kein unnötiger Ballast sein, auch wenn die Gruppe ihm zu verstehen gab, dass er in seinem Alter nicht alles konnte, was sie konnten. Er spürte ihre Zuneigung und Sorge, allerdings auch ihre Angespanntheit. Sie verheimlichten ihm etwas, sagten ihm nur die halbe Wahrheit und ihn beschlich der Gedanke, dass es mit der Dame Solowéj zu tun hatte.

Wenn er jetzt nicht die Flucht ergriff würde er sie niemals wieder sehen…

Kai tat einpaar Schritte vom Baum weg, in der festen Überzeugung das er genug Skrupel besaß um den Schritt zu vagen. Doch sein Blick fiel noch einmal auf die Kratzspuren im Baum – sie zeichneten sich deutlich von der schwarzen Rinde ab, zeugten davon das etwas Schlimmes mit Ray passiert sein musste.

Und von da an konnte er nicht gehen.
 

Er schluckte die Zweifel runter, entschied erst einmal auf eigene Faust nach ihm zu suchen, um die anderen nicht noch unruhiger zu machen. Trotzdem konnte er den Impuls nicht unterdrücken, seine Hände nervös zu Fäusten zu ballen. Er ertappte sich dabei, wie er sich die Nähe der anderen herbei sehnte – vor allem Tyson.

„Ich kann das auch alleine. Ich bin doch kein kleines Kind mehr!“, tadelte er sich selber, zog die Brauen verbissen zusammen und rief schließlich nach dem Vermissten. Kai umrundete den Baum, weitete anschließend sein Suchgebiet aus und begann die Büsche zu durchkämmen, die für seine winzige Statur bereits ein großes Hindernis darstellten. Nicht selten verfing er sich in dem dichten Geäst und brauchte mehrere Minuten, bis er sich wieder frei gekämpft hatte. Er lief ein kleines Stück zu den anderen zurück, nur um herauszufinden ob Ray mittlerweile bei ihnen stand. Fehlanzeige…

Noch immer wandten ihm zwei Silhouetten in der Ferne den Rücken zu.

Er konnte Max und Tyson ausmachen, wie sie mit zusammengesteckten Köpfen tuschelten, von dem anderen Jungen fehlte aber jede Spur. Er lief wieder zurück, weitete seine Suche noch einmal mehr aus und drang tiefer in den Wald ein.

Bald war er so tief vorgedrungen, dass er fürchtete den Weg nicht zurückzufinden. Als er an einem kleinen Steilhang zum Stehen kam, fragte er sich, ob sein Freund womöglich dort hineingefallen war.

„Ray?“

Er beugte sich vor und blickte hinab. Es war dunkel dort unten und das Licht kam kaum durch die dichten Baumkronen über ihm, was den Hang noch finsterer wirken ließ. Er wollte sich gar nicht ausmalen wie es wäre dort hineinzufallen. Der Schlund war schmal und eng, aber breit genug um einen Jungen seiner Größe zu verschlingen. Ein Wurzelgeflecht spross aus der Wand hervor, die von kleinen Ausbuchtungen übersät war.

Eine Gänsehaut zog sich über Kais Rücken, denn er hatte das Gefühl, zischelnde Laute aus den Tiefen zu hören. Er kniff die Augen zusammen und war sich sicher kleine schimmernde Nebelschwaden in der Finsternis auszumachen, die wie ein geisterhafter Strom umher trieben. Er streckte sich noch etwas vor, um sicherzustellen dass Ray wirklich nicht in den Spalt gestürzt war, da bröckelte der Rand und er kam ins Straucheln. Ein erschrockener Ruf drang aus seinem Mund und kurz bevor er kopfüber in der Versenkung verschwand, wurde er am Kragen gepackt und unwirsch zurückgezogen.

„Was machst du nur für Sachen?!“, hörte er Ray über sich sagen, als er auch schon an die Brust des Jungen gedrückt wurde. Erleichtert blickte Kai in das Gesicht des älteren Jungen hinauf, der ihn kurz darauf entließ, um ihn an der Schulter gepackt tadelnd anzublicken. Wieder war da die Sorge von zuvor in seinem Gesicht… und Kratzspuren?

„Ich kann dich keine Sekunde aus den Augen lassen, da gehst du mir schon wieder stiften. Was mache ich bloß mit dir?“

„Tut mir Leid“, sagte Kai, doch sein Blick klebte an einer Schürfwunde oberhalb von Rays Arm. „Wo warst du?“

Ein überraschter Ausdruck trat auf Rays Gesicht.

„Was meinst du?“

„Wo warst du?“, wiederholte Kai die Frage. „Als ich um den Baum gegangen bin, warst du nicht mehr da.“

„Ich habe den Baum nicht verlassen.“, antwortete Ray, er rieb sich am Nacken und ein schmerzvoller Ausdruck trat auf sein Gesicht, gefolgt von einem leisen Knacken.

„War ein Monster da? Hat es dich angegriffen?“, hakte Kai drängend nach.

Belustigt über die Sorge des Kindes lachte Ray heiter auf.

„Nein Kai. Es ist alles in Ordnung. Ich denke eher du hast dich verlaufen. Du musst den Orientierungssinn einer Fliege haben. Wenn selbst der Weg um einen Baum herum für dich zuviel ist, musst du dich in Zukunft wohl doch auf Gesellschaft beim Wasser lassen einstellen, “ er tippte Kai spielerisch gegen die Nase. Der zog sofort die Brauen ins Gesicht und sein Ausdruck verfinsterte sich. Er hasste es wenn ihm jemand glauben machen wollte er sei selbst für die einfachsten Dinge zu dumm.

„Stimmt nicht! Du warst weg!“, klagte er Ray an. „Und lügen tust du jetzt auch noch.“

„Kai ich schwöre, ich habe mich nicht vom Fleck ger-…“

„Wo kommen die Kratzer her?“

„Welche Kratzer?“

„Die überall auf dir!“, er zeigte auf Gesicht und Körper seines Gegenübers, doch als er auf die Schürfwunde an Rays Schulter deuten wollte... verschwand die plötzlich. Einfach so, vor seinen Augen, tat sich die Wunde wieder zu und als Ray Kais Fingerzeig folgte, war da nichts mehr. Geschockt trat Kai zurück, blinzelte verwirrt und konnte kaum glauben was er sah. Genauso irritiert blickte Ray an sich hinunter und eine Braue schoss in die Höhe als er nichts vorfand. Schließlich wurde sein Blick skeptisch und er richtete ihn ernst an das Kind.

„Kai, was ist los? Warum lügst du mich an?“

„A-Aber da war wirkl-…“

Ray hob die Hand um ihn zum Schweigen zu bringen. Dann setzte er ein nachsichtiges Lächeln auf und kniete sich vor ihm nieder. Er sah ihm tief in die Augen und sprach schließlich: „Ich glaube ich weiß was dein Problem ist?“

Kai antwortete nicht, stattdessen zeichnete sich ein leichter Schmollmund auf seinem Gesicht ab.

„Dir ist peinlich dass du dich verlaufen hast.“

„Nein!“, protestierte er gekränkt. „Die Wunde ist gerade zu gegangen!“

„Kai, du wirst es mir nicht glauben, aber ich kenne dich besser als du denkst. Und eine deiner kleinen Macken ist, dass du ein ganz schön stolzer Sturkopf bist.“

„Aber-…“

„Lass mich ausreden!“, fuhr Ray dazwischen und hielt ihm die Hand vor den Mund. „Ich weiß das du dir kleine Fehler sehr schlecht verzeihst, es ist auch in Ordnung wenn du einwenig selbstkritisch bist. Allerdings ist es wiederum nicht in Ordnung, wenn du mir die Schuld dafür in die Schuhe schieben willst, damit du nicht dumm da stehst. Das ist lügen.“

Kais Brauen schossen fassungslos nach oben und er versuchte die Hand auf seinem Mund abzuschütteln, stattdessen hielt ihn Ray mit sanfter Gewalt am Arm fest und kam seinem Gesicht nun näher.

„Ich mag keine Lügner und ich weiß dass du das genauso wenig magst. Aber… du bist noch klein und musst das wohl noch lernen.“ Aus irgendeinem Grund huschte ein Lächeln über Rays Gesicht, als würde ihn dieser Gedanke belustigen. „Deshalb lass uns diesen Vorfall vergessen und du versprichst mir, dass du nicht mehr wegen solch einer dummen Kleinigkeit lügst. Einverstanden?“

Er entließ Kais Mund der prompt sprach: „Du warst weg! Ich lüge nicht!“

Ray seufzte und schüttelte den Kopf.

„Kai, ich muss doch besser wissen, wo ich gewesen bin.“ Er glaubte ihm nicht. „Ein Vorschlag zur Güte. Ich erzähle wirklich niemandem dass du dich verlaufen hast, in Ordnung? Meine Lippen sind versiegelt. Ich schwöre es.“

Kais Wangen färbten sich puterrot. Ray log das sich die Balken bogen, hielt ihm eine Standpauke die doch besser er zu hören bekommen sollte und besaß nun auch noch die Frechheit, ihn mit diesem aufmunternden Lächeln anzuschauen und ihm dumme Kompromisse vorzuschlagen.

In diesem Moment fand er Ray einfach nur falsch. Er presste die Lippen wütend aufeinander während seine Wangen sich leicht röteten, verkniff sich jedes weitere Kommentar und wünschte sich inständig nicht so dumm gewesen zu sein, seine Fluchtmöglichkeit einfach so vertan zu haben. Ray schien putzmunter und er hatte sich um den Heuchler auch noch gesorgt.

„Kai bitte, jetzt sei doch nicht so.“, sprach Ray, doch das Kind schaltete nur noch auf Durchzug. Er wandte den Kopf schnippisch zur Seite und verschloss sich ihm wie eine Auster. „Okay. Dann nehme ich das mal als Erlaubnis den anderen von deinem Missgeschick erzählen zu dürfen?“, neckte Ray spielerisch und tippte ihm in die Seite.

Kai schüttelte sich unwillig und tat zwei Schritte zurück, dass Ray ihn nun nicht einmal mehr ernst nahm, kränkte ihn noch mehr als alles andere. Er tat die ganze Angelegenheit einfach so ab und versuchte ihn wie ein kleines Kind darzustellen.

So klein war er gar nicht… der Dame Solowéj reichte er bereits bis an den Bauch wenn er sich streckte. Bockig blähten sich Kais Wangen und aus seinem Blick sprach die pure Anklage, als er murmelte: „Mach doch was du willst. Du drehst dir die Wahrheit doch sowieso zu Recht wie du magst.“

„Wow! Du wirst ziemlich unfair wenn du dich verläufst...“, lachte Ray.

Plötzlich packte ihn Kai an der Hand und zerrte an ihm. Ein überraschter Ausruf kam von Ray und er fragte: „Was ist los?“

„Komm mit! Sieh dir das an!“

Das Kind führte ihn zurück an den Baum an dem Kai seine Notdurft verrichtet hatte. Auf den letzten Metern ließ er Rays Hand los, rannte um den Baum herum und suchte nach den Kratzspuren auf der Rinde. Doch auch die waren weg!

Jetzt war Kai komplett verwirrt.

„Was suchst du denn da?“, fragte Ray hilfsbereit. „Hast du etwas verloren?“

Kai tastete die Rinde ab, in dem verzweifelten Versuch die Kratzspuren erscheinen zu lassen, dann blinzelte das Kind doch mit einem hilfesuchenden Blick zu Ray auf.

„Ist das der Baum gewesen wo wir vorhin waren?“

Ray grinste und nickte.

„Ganz sicher?“, fragte Kai hoffnungsvoll.

„Ganz sicher.“, Ray blickte an dem Baum hinauf. „Was hast du denn gesucht?“

„Hast du Kratzspuren auf der Rinde gesehen?“

„Nein. Da waren auch keine Kratzspuren.“, Ray schüttelte den Kopf auf die Frage, als würde er Kai für einen hoffnungslosen Fall halten. Dann streckte er die Hand nach dem Kind aus und winkte mit dem Kopf in Richtung der restlichen Gruppe. „Komm Kai. Lass es einfach gut sein, okay?“

Einpaar Sekunden starrte das Kind zögernd auf die Hilfe anbietende Hand von Ray, dann auf das neckische Lächeln das er ihm zuwarf, bis Kai schließlich seufzte und ihm seine eigene Hand reichte. Als sie den Rückweg zu Tyson und Max antraten, meinte Ray aufmunternd:

„Weißt du, es ist nicht schlimm sich im Wald zu verlaufen. Jeder Baum sieht gleich aus.“, als Kai nicht antwortete, setzte Ray noch hinzu. „Mein Angebot steht immer noch. Willst du wirklich das Tyson und Max davon erfahren.“

„Nein.“, nuschelte Kai enttäuscht und wie er so traurig neben ihm herlief, tat er Ray geradezu unendlich Leid. Doch das Kind musste nun mal früh lernen, dass Lügen kurze Beine hatten. Im Erwachsenenalter hatte Kai das schließlich selbst verabscheut. Ray fuhr sich erneut über den Nacken und merkte wie verspannt er war.

Auf seiner Schläfe lag ein dumpfes Pochen, zwischen seinen Schulterblättern spürte er einen leichten Druck und sein Nacken juckte. Zum Glück war er kein wehleidiger Mensch, der aus einpaar kleineren körperlichen Problemen gleich ein Staatsdrama machte.

Trotzdem fühlte er sich irgendwie… anders.
 

*
 

„Menschen…,“ dachte Galux, als sie die feine Fährte witterte.

Prüfend hob sie ihre Schnauze vom Erdboden und hielt sie an einen Frauenmantelstrauch, dessen Blätter vor kurzem abgerupft worden waren. Noch einmal sog sie den Geruch auf, der an der Pflanze klebte. Kein Zweifel… Ray war vor kurzem hier gewesen.

Etwas mitleidig blickte sie auf das zerrupfte Gestrüpp. Eigentlich war Frauenmantel ein ganz normales Kraut, für die meisten Menschen nichts Besonderes und auch nicht sonderlich ästhetisch, doch Galux mochte diese Pflanze, da sich an Regentagen, in den gelappten Blättern, die Wassertropfen in der Mitte ansammelten und wie ein winziger ruhiger Teich im Sonnenlicht schimmerten. Jetzt lag das Gewächs aber gebrochen und zerstört da…

„Wie meine arme Mao…“, seufzte Galux in sich hinein. Alles was Ray anfasste schien kaputt zu gehen. Er hatte Maos Gefühle verletzt und obwohl ihr Herz in Scherben lag, hielt sie noch immer verzweifelt an ihm fest, trotz der bösen Worte die ihr Mann ihr um die Ohren geworfen hatte. Genauso wie diese Pflanze den Geruch von ihrem Peiniger festhielt, klammerte sich Mao an ihren Mann. Galux konnte nicht leugnen, dass sie seit längerem einen tiefen Groll gegen Ray hegte.

Sie mochte es nicht, wenn man ihr Menschenkind beleidigte und die Nacht in der Mariah behauptet hatte, dass Kind welches das Paar sehnsüchtig erwartete, sei nicht von Ray, hatte ihr Bild von diesem Jungen komplett umgeworfen.
 

Sie war damals in Mariahs Nähe gewesen. Wie so oft wenn sie fühlte, dass ihr Menschenkind unglücklich war. Das kam in letzter Zeit häufiger vor…

Galux bemerkte die Angst die Mariah packte, wenn sie ihren Mann von dem Umzug nach Japan sprechen hörte. Sobald Mariah alleine war, zog sie immer ein Fotoalbum aus einem Bücherregal und blickte voller Kummer auf die Bilder ihrer Kindheit.

Die ersten Tage, nachdem Ray ihr von seinen Plänen erzählte, hatte sie wie verbissen versucht sich sein Vorhaben schön zu reden. Seine Argumente waren gut. Er hatte durch seinen Onkel in Japan bereits Kontakte geknüpft und ein Stellenangebot in Aussicht. Es war der gleiche Job, die gleiche Tätigkeit, aber um Längen besser bezahlt als hier. Ray hatte enorme Aufstiegschancen in Japan. Es war also wirklich besser für ihre Familie – das hatte sich Mariah zumindest versucht einzureden.

Dann war sie aber kurz darauf bei der Familie ihres Bruders zu Besuch…

Lee hatte auch sehr früh geheiratet und seine Frau ihm bereits einen Sohn geschenkt.

Mariah war vollkommen vernarrt in ihren Neffen. Wann immer sich die Gelegenheit bot, machte sie einen Abstecher zu seinem Haus und brachte dem kleinen Jungen Süßigkeiten und Geschenke mit. Zwar musste sie sich von ihrer Schwägerin anhören, dass sie den Jungen verwöhnte, doch allein deren verschwörerisches Zwinkern verriet ihr, dass sie Mariah nur aufziehen wollte.

Dieser Besuch ließ sie am Umzug aber zweifeln. Sie wurde tieftraurig wenn sie daran dachte, nicht mehr das vertraute Gesicht ihres Bruders zu sehen, die neckischen Kommentare ihrer Schwägerin zu hören und die vollen runden Kinderbacken ihres Neffen zu kneifen, der ihr auf wackligen Schritten schon von Weitem entgegenkam, wenn er seine Ăyi auf sein Haus zusteuern sah.

Und als wäre Mariah nicht schon genug von Zweifeln zerfressen, verkündete Gary kurz darauf, dass auch er sich verlobt hatte. Genau wie das ganze Dorf, waren auch Ray und Mariah auf der Verlobungsfeier eingeladen und es war einfach wundervoll gewesen, zwischen all diesen bekannten Gesichtern zu sitzen, sich Geschichten und Anekdoten aus der Vergangenheit anzuhören und in die alten Lieder einzustimmen, die ihr von klein auf beigebracht wurden.

Als sie spät in der Nacht mit Ray nachhause lief, ahnte dieser nicht, dass die Frau, die sich so zärtlich beim Laufen gegen ihn schmiegte, am liebsten anfangen würde zu weinen, bei dem Gedanken dieses Dorf zu verlassen.

Kurze Zeit später, in derselben Nacht, eilte Galux von einer inneren Unruhe getrieben, von der Irrlichterwelt in die der Menschen. Wie ein Blitz hatte sie der Instinkt gepackt, dass ihre kleine Mao in Schwierigkeiten war. In der Menschenwelt angelangt, hatte Galux damals auf dem Fenstersims, des kleinen chinesischen Hauses Platz genommen und einen Streit des Paares von draußen mitverfolgt – natürlich unsichtbar für die Augen der Insassen.

Sie wusste sofort dass Mariah gelogen hatte, als sie in der Hitze des Gefechts ihrem Mann entgegen schrie, dass das Kind nicht von ihm sei und er doch alleine nach Japan abhauen solle, wenn es ihm hier nicht mehr gefiel.

Galux hatte nie den Geruch eines anderen Mannes an ihr gerochen. Mariah war förmlich durchtränkt von Rays Duft. Deshalb hatte es das Bit Beast umso mehr verwundert, dass ihr Mann dieser Lüge auch noch Glauben schenkte. Entsetzt hatte Galux beobachtet, wie der sonst so ruhige Chinese, den sie selbst auch bereits seit seiner Kindheit kannte, von einer vollkommen dunklen Seite überwältigt wurde. Gebrüllt hatte er, ihre kleine Mao als „Hure“ beschimpft und ihr schreckliche Unterstellungen gemacht. Er wollte den Namen des Vaters wissen, er hatte Mao geradezu in die Ecke gedrängt und Himmel und Hölle verflucht – sogar sie verflucht!

An den Schultern hatte er Mariah gepackt und an ihr gerüttelt, sein Gesicht war nur noch eine wütende Maske und Galux blieben die Sätze, die Ray Mao entgegenbrüllte im Gedächtnis hängen: „Wer ist es?! Verdammt noch mal, wer ist es?!“

Galux hatte sich auf dem Fenstersims fauchend gesträubt und hätte Ray liebend gerne in sein Bein gebissen für so viel Leichtgläubigkeit, denn ihrer kleinen Mao begannen die Tränen hinabzurollen. Diese heftige Reaktion ihres Mannes, hatte ihr bewusst gemacht, was für fatale Worte sie ausgesprochen hatte. Eine Grenze die Mariah eigentlich niemals übertreten wollte, war überschritten und das nur mit einer unbedachten Lüge – ausgesprochen in einem Moment blinder Wut.

Durch diesen Satz war ein Mann zum Vorschein gebracht, den Mariah niemals kennengelernt hatte, ein Fremder der ihr Angst bereitete – noch nie hatte sie Angst vor Ray verspürt!

Wer konnte es ihr auch verdenken?

Wie Ray sie anbrüllte, gegen die Wand drückte und ihr ohne jede Rücksicht den Namen des anderen Mannes entlocken wollte, glich er mehr einem gnadenlosen Tier.

Erst als Mao an der Wand schluchzend zusammenbrach, ihre Hände gegen die Ohren presste und Ray immer wieder entgegen schrie, er solle verschwinden, ließ er von ihr ab – sehr zu Galux Erleichterung. Sie sah den Blick den er Mariah zu warf, nichts als Verachtung und blanke Wut lag darin, seine Fäuste waren geballt und hätte er sie gegen Mariah erhoben, wäre Galux dazwischen gegangen, ganz gleich welches Tabu sie damit brach und welche Strafe sie erwarten würde.

„Verschwinde von meiner Mao!“, fauchte Galux wütend gegen die Scheibe. Dieses gefährliche Tier sollte gefälligst von ihr ablassen – denn nichts anderes war dieser Mann für das Bit Beast. Tatsächlich wandte sich Ray kurz darauf von seiner Frau ab und verschwand im Schlafzimmer. Lautes Poltern kam aus dem Zimmer, geschlagene zwanzig Minuten kauerte Mariah in ihrer Ecke und traute sich nicht, auch nur in die Nähe ihres Mannes zu kommen, bis er mit einem alten ledernen Koffer aus dem Zimmer trat. Mit unsicherem Blick folgte seine Frau seinen Bewegungen, als er hastig nach seinen Autoschlüsseln in der kleinen Küche suchte. Sie waren die wenigen in ihrem Dorf, die sich ein Auto leisten konnten, da Ray knapp mehr als der Durchschnitt verdiente. Ohne sie eines Blickes zu würdigen trat er schließlich in den Flur Richtung Haustür.

„R-Ray? Wo willst du hin?“, Galux hörte die Panik in Mariahs kratziger Stimme, als ihr dämmerte, was ihr Mann gerade vor hatte. Die Antwort blieb aus, stattdessen riss Ray mit Schwung die Tür auf, dass sie laut gegen die Wand knallte. Ein kalter Schwall Nachtluft strömte in das kleine Haus hinein und kurz darauf verschwand Ray im Dunkeln, ließ die Tür hinter sich sperrangelweit offen.

Noch bevor Mao die Zeit fand sich wankend aufzurichten und ihrem Mann hinterher zu eilen, hörte sie den Motor ihres Wagens aufheulen. Sie schaffte es nicht einmal ihm hinterher zu rufen, da war Ray auch schon die Einfahrt raus und der Wagen donnerte den Schotterweg hinab der zu ihrem Haus führte und wurde von der Dunkelheit der Nacht verschluckt.
 

„Und diesen Rotzbengel soll ich jetzt auch noch suchen? Das ist doch nicht zu glauben!“, Galux wäre liebend gerne vor Gram im Zickzack gesprungen. Das Bit Beast konnte nicht fassen, auf welche Mission sie sich Mariah zuliebe eingelassen hatte. Sie ließ ihr kleines Mädchen schutzlos zurück, nur um einen Mann zu finden, der in der finstersten Ecke seiner Seele ein Tier versteckt hielt. Wie konnte Mariah nur einen solchen Mann lieben?
 

„Ray ist ein guter Mann. Ein viel besserer als ich verdient habe. Ich habe ihn verbittert. Es ist meine Schuld dass er so geworden ist. Und deshalb bitte ich dich Galux. Bitte hilf ihm!“
 

Das Bit Beast seufzte als sie an diese Sätze dachte, die vor nicht allzu vielen Stunden von Mao gesprochen wurden. Der flehende Blick ihres Menschenkindes kam ihr in Erinnerung, die großen Augen die sie so hoffnungsvoll angeschaut hatten.

Wie hätte Galux diese Bitte abschlagen sollen?

Insgeheim schämte sich das Bit Beast für seine Schwäche – wäre es doch nur standhaft geblieben, jetzt hatte es doch tatsächlich Mariah, den alten Mann und das kleine Hiwatari Kind allein gelassen. Tiefe Gewissensbisse nagten an ihr.

„Das alles für einen Mann, der dich verlassen will…“, flüsterte Galux traurig vor sich hin. Das Bit Beast blickte gedankenverloren auf die zerrupfte Frauenmantelpflanze, schweifte mit seinen Überlegungen ab, als ein leises Rascheln ihre Aufmerksamkeit erregte.

Alarmiert beugte sich Galux hinab, nahm eine lauernde Position zwischen den Sträuchern ein und harrte so aus. Ihre langen Katzenohren zuckten bei jedem noch so kleinen Laut. Sie konnte ohne Probleme die natürlichen Waldgeräusche von einem Eindringling unterscheiden und hier war eindeutig einer! Galux schob ihren Körper tiefer in den Dickicht hinter ihr hinein, kurz darauf strahlte ihr Fell hell auf, nur um dann zu erlischen und die Farbe ihrer Umgebung anzunehmen. Die Augen des Bit Beasts wurden zu scharfen Schlitzen, durchkämmten die Bäume um sie herum und nahmen jede noch so kleine Bewegung auf.

Kurz darauf hielt Galux den Atem an…

Zwischen den Pflanzen des subtropischen Dschungels in dem sie sich befand, glitt eine fast lautlose Silhouette in der Ferne zwischen den Bäumen hindurch. Ihre Figur war zierlich, menschlich, Galux erkannte blasse Haut, totenblass um genau zu sein.

Ein Geruch stieg dem Bit Beast in die Nase, der vom Wind in ihre Richtung getragen wurde und schnell erkannte sie, dass dort etwas durch den Wald streifte, was eigentlich unter die Erde gehörte. Es roch nach Tod.

Blondes Haar klebte in nassen Strähnen an den Schultern dieses Geschöpfes und den Blick starr geradeaus gerichtet, schien es ganz auf seinen Weg konzentriert. Galux überlegte ob es sich diesem Wesen nähern sollte, krabbelte schließlich leise aus ihrem Versteck hervor und pirschte sich einpaar Meter voran. Hinter einer Wurzel die knorrig aus der Erde emporragte, fand sie wieder Deckung. Sie dachte fieberhaft darüber nach, welches Bit Beast das wohl sein mochte, welches hier in einem toten Menschenkörper durch die Wälder streifte.

Es konnte nur einer der Uralten sein…

Dann kam es wie ein Blitz über sie, als Galux bemerkte, dass sie diesen Menschen schon mal begegnet war - als er noch gelebt hatte! Ein Bild aus ihrer Erinnerung drang in ihr Bewusstsein, sie sah ein volles Beyblade Station vor ihrem inneren Auge und in diesem Meer aus Gesichtern, saß eine blonde Frau mit dunkelblauen Augen und rot geschminkten Lippen im Publikum und rief voller Stolz ihrem Kind zu: „Los Max! Du schaffst das, mein Junge!“

„Draciel“, huschte der Name leise über Galux Lippen.

Blitzschnell wandte sich das besagte Bit Beast in ihre Richtung und erschrocken machte sich Galux so klein wie möglich. Draciels prüfender Blick durchkämmte ihre Umgebung, der Kopf des Bit Beasts wandte sich langsam von links nach rechts, fiel direkt auf Galuxs Versteck. Für einen kurzen Moment erhaschte sie einen Blick auf Draciels Augen.

Nichts war mehr übrig von der mütterlichen Wärme die zuvor noch in dem Blick dieser Menschenfrau gewesen waren, stattdessen hatten die Augen ihr dunkles Blau verloren und wirkten wie erstarrtes Eis. Galux konnte förmlich spüren wie alles unter diesen Augen zu gefrieren begann, selbst ihr eigenes Blut.

Es schien wie eine kleine Ewigkeit, da wandte sich Draciel endlich ab. In der Überzeugung, nicht verfolgt zu werden, schritt sie mit geisterhaften Schritten ihren Weg voran, doch selbst als sie einige Meter von ihrem Versteck trennten, wagte Galux nicht erleichtert auszuatmen. Stattdessen suchte das Katzen Bit Beast Schutz in einem Gewächs hinter ihr, das wild aus dem Boden schoss und dessen violette Blüten sie behutsam einfingen.

Galux konnte es nicht leugnen – sie hatte schon immer Angst vor Draciel.

Von allen Uralten war ihr das Schildkröten Bit Beast am unheimlichsten. Niemand wusste was im Kopf dieses Wesen vorging. Sie konnte trügerisch wie das ruhige Meer sein und in der nächsten Sekunde alles in ihre tödlichen Tiefen reißen. Wie oft hatte Galux bereits von anderen Bit Beasts gehört, die sich zu nah an Draciels Flüsse gewagt hatten, auf der Suche nach einer Abkühlung und dann plötzlich von dutzenden Händen ins Wasser gezerrt wurden. Die wenigsten entkamen Draciels Fängen und diejenigen die das Glück besaßen zu fliehen, kamen kurz darauf doch auf seltsame Weise ums Leben – als würde ein Fluch auf ihnen liegen.

Galux fröstelte es bei dem Gedanken zu ertrinken. Sie hasste Wasser!

Ihrer Meinung nach gab es keinen schlimmeren Tod. Draciel war bereits in weite Ferne gerückt und Galuxs Herzschlag beruhigte sich endlich, sie wähnte sich in Sicherheit, da hielt die Uralte noch einmal inne.

Galux beobachtete, wie Draciel ihre Hand langsam hob und damit eine Bewegung machte, als würde sie jemanden hinter ihrem Rücken dazu auffordern zu ihr zu kommen.

Dann ließ sie die Hand sinken und lief weiter.

Irritiert blickte Galux der Uralten hinterher, deren Konturen schon bald nicht mehr zu sehen waren. Fragend wandte sich das Bit Beast um, konnte jedoch niemanden ausmachen den Draciel hätte meinen können. Sie waren allein…

„Was hat das zu bedeuten?“, Galux legte den Kopf schief und dachte nach, bis ihre Ohren allarmiert zu Zucken begannen. Ein lautes Knacken erregte ihre Aufmerksamkeit, dass schon bald zu einem donnernden Rauschen wurde. Argwöhnisch spähte Galux zwischen die umliegenden Bäume, als kurz darauf hinter ihr einige der Stämme nach vorne knickten wie Streichhölzer – von einer riesigen Welle erfasst.

„Wie ist das möglich?!“, dachte Galux entsetzt. Schlagartig wurde ihr klar, wie die Bit Beasts die Draciel an den Flussufern entkamen, plötzlich gestorben waren und noch mehr durchfuhr sie die Tatsache, dass die Uralte sie zuvor gesehen, sich aber einfach nichts hatte anmerken lassen.

Panik ergriff Galux, als die geisterhaften Fluten rasend schnell auf sie zurasten und so sehr sie sich auch anstrengte, sie war nicht im Stande sich von ihrer Erstarrung zu lösen – die Angst hatte sie fest im Griff. Ihre Krallen gruben sich in den Erdboden, ein heftiges Zittern nahm Besitz von ihr und das Draciel sie einfach töten wollte, nur weil sich ihre Wege kurz gekreuzt hatten, schien ihr unfassbar.

„Zur falschen Zeit, am falschen Ort.“

Diese menschliche Redewendung kam ihr unvermittelt in den Sinn.

Die Welle türmte sich vor Galux auf, gleich danach stürzte die kalte Masse über ihr zusammen, entriss sie dem Erdboden und wirbelte sie mit sich mit. Die Welt drehte sich wie ein Kaleidoskop, in ihrer Angst öffnete Galux den Mund zu einem Schrei, erreichte aber nur dass das bisschen Luft das sie noch in den Lungen besaß, aus ihr entwich. Ihre Kräfte verließen sie schlagartig.

„Wasser…“, dachte Galux, während ihre Gedanken zunehmend träger wurden. Sie ahnte dass der Tod dabei war nach ihr zu greifen. „Warum musste es Wasser sein? Draciel, was habe ich dir getan um so etwas zu verdienen?“

Galux prallte gegen einen Baum und verpasste die Gelegenheit sich daran festzukrallen. Hoffnungslos trieb das Katzen Bit Beast in den Fluten dahin, wirbelte schlaff um ihre eigene Achse, dabei streifte ihr Blick für einen Moment die Oberfläche. Sonnenstrahlen tauchten schimmernd in die Fluten ein – und kurz darauf brach eine kräftige Faust durch die Wassermassen und packte nach ihrem Nacken. Einen Ruck später wurde sie auch schon aus dem kalten Nass entlassen. Ein gurgelndes Miauen kam aus ihrem Mund, gefolgt von einem heftigen Husten als sie das verschluckte Wasser in den falschen Rachen bekam.

„Sieh an, sieh an…“, drang eine belustigte Stimme an ihr Ohr. „Was neuerdings alles in Draciels Fluten schwimmt? Wirklich interessant.“

Müde öffnete Galux ihre Lider und starrte in das Gesicht eines Menschenmannes, dessen braungebrannte Haut an der Wange von vier striemenhaften Narben durchzogen war. Ein schiefes Grinsen spielte um seinen Mund, als er sie noch immer am Nacken gepackt vor sich baumeln ließ. Langes weißes Haar fiel ihm den Rücken hinab und Galux hätte ihn wohl nicht wiedererkannt, wenn sie nicht einen Blick in seine tierhaften Pupillen geworfen hätte.

„Liebe Güte Driger…“, flüsterte sie fassungslos. „Bist du das?“

„Wer denn sonst meine Teuerste?“, mit der freien Hand, schob er den Zeigefinger hinter ihr Ohr und begann sie zu kraulen. Nach der kürzlichen Strapaze war dies eine solche Wohltat dass Galux leise seufzte. Ohne ein Wort des Unwillens ließ sie zu, dass er sie in die Arme seines Menschenkörpers nahm, um ihr über den Rücken zu streichen. Es entlockte ihm jedes Mal ein Grinsen wenn sie sich mit solchem Wohlgefallen an ihn drängte.

„Sie wollte mich umbringen…“, flüsterte Galux kraftlos gegen Drigers Brust. Es störte ihn nicht das ihr nasses Fell seine Kleidung durchtränkte. „Ich habe ihr nichts getan und doch...“

Ein leises Brummen entwich Drigers Kehle, wie so oft, wenn sie miteinander sprachen und er ihr zeigen wollte, dass sie seine Aufmerksamkeit besaß.

„Das wollte sie wohl“, stimmte er ihr schließlich zu. „Allerdings bist du auch selbst Schuld. Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst nicht in ihre Nähe gehen.“

„Aber ich habe ihr doch nichts getan!“, verteidigte sich Galux und blickte zu dem Uralten auf. Drigers Gesicht schaute ernst auf sie herab.

„Sie braucht keinen Grund um dich töten zu wollen.“

Eine Weile blickten sich beide in die Augen, bis Galux ihren Kopf in Drigers Halsbeuge schmiegte und schnurrte: „Du hast mich gerettet. Danke.“

Ein Schmunzeln war die Antwort. Als sie die Muskeln und das sehnige Fleisch am Kragen fühlte, drang sich ihr jedoch eine Frage auf.

„Warum hast du diesen Körper?“

„Das ist nichts worüber du dir den Kopf zerbrechen musst.“

Skeptisch verengten sich ihre Augen. Diese Antwort bedeutete, dass er keine weitere Fragen in diese Richtung duldete. Natürlich wusste Galux warum Driger den Menschenkörper besaß, doch sie wollte mehr über seine Absichten erfahren. Wenn Draciel hier war und Driger ebenfalls, konnte dies nur bedeuten, dass die Menschenjungen auch nicht weit waren. Doch sämtliche Gedanken wurden verdrängt, als ihr der Geruch des Tigers in die Nase drang und Galux konnte sich ein Seufzen nicht verkneifen.

„Ich mochte dein Tigerfell…“

„Du musst ja auch nicht darauf verzichten.“, lachte er leise und als er ihr über den Rücken kraulte, fühlte sie sich wie im siebten Himmel. Draciel mochte sie vielleicht fürchten, doch Driger… wann immer er in ihre Nähe kam, strömte ein wohliges Gefühl durch ihren Körper, dass Galux sich bis heute nicht erklären konnte.

Driger war so stark, stattlich und gebieterisch. Zwar war ihr zu Ohren gekommen, dass andere Bit Beasts ihn fürchteten, ihn sogar als „Ungeheuer“ bezeichneten, doch zu ihr war er stets freundlich, fast schon zärtlich und sorgte sich um ihr Wohlbefinden. Sie mochte seine tiefe, raue Stimme, die Geduld mit der er ihr Dinge erklärte und sein Fell – oh ja, dieses herrliche Fell! Wie gerne hätte sie sich nach dem Schrecken den sie gerade durchlebt hatte, mit der Nase voraus dort hineingelegt, während er in seinem Tigerkörper seinen Kopf in ihre Halsbeuge drückte. Wie oft hatten sie so stundenlang verharrt und einfach nur die Anwesenheit des anderen genossen. Es war so friedlich gewesen…

Deshalb wollte Galux partout nicht darauf hören, was die anderen Bit Beasts sagten. Ihrer Meinung nach hatte Driger zu Recht den Titel eines Uralten und es gab weit und breit keinen Besseren! Die Menschen mochten das was sie empfand wohl als Schwärmerei bezeichnen, doch Galux war sich sicher, dass es so etwas bei Bit Beasts nicht gab. Vielleicht war es einfach nur die übliche Ergebenheit die ein rangniedrigeres Bit Beast bei ihrem Herren verspürte?

Wenn sie daran dachte, dass sie dabei war, Driger zu hintergehen, zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen. Sobald Galux vor ihm stand haderte sie mit sich selbst.

Als ihr zu Ohren kam, was die Uralten planten, hatte sie sich einzig und allein aus Sorge um die Angehörigen der Jungen in die Menschenwelt begeben. Ihrer Meinung nach sollte man die Menschen bestrafen, die für das Übel verantwortlich waren und nicht ein kleines Kind, einen alten Mann und ihre hochschwangere Mao.

Ja, Galux fand ebenfalls das die Jungen bestraft gehörten!

Wenn Driger dieser Meinung war, war sie das auch.

Sie hatte niemals vorgehabt auch nur eine Pfote für diese Bande in Bewegung zu setzten. Nur weil Mariah sie gebeten hatte, war sie gerade dabei Driger zu hintergehen. Allein die Tatsache dass sie heimlich die Familien der Menschenjungen in Sicherheit gebracht hatte, war ein schrecklicher Verrat an ihm. Bei diesem Gedanken krampfte sich alles in Galux zusammen und sie fühlte sich elend.

„Was hast du? Denkst du noch an Draciel?“

Drigers Blick lag sorgenvoll auf ihr. In seiner Gutgläubigkeit deutete er ihre Angespanntheit falsch. Galux nickte, nicht in der Lage ihn bei ihrer Lüge anzusehen und sie hätte weinen können, so widerlich kam sie sich vor.

„Wenn sie dich so in Angst versetzt werde ich mit ihr sprechen.“, beruhigte sie Driger. Dann ließ er sie zu Boden gleiten. „Keiner soll mir nachsagen, ich könnte dich nicht beschützen.“

Ihr Herz raste wie wild bei seinen Worten und sie konnte sich nicht erklären warum.

„Ach Driger, ich…“, wieder dieser angefangene Satz.

Schon länger hatte Galux das Gefühl ihm an dieser Stelle etwas sagen zu wollen, dass auch nur ansatzweise beschrieb, was in ihr vorging wenn er bei ihr war. Doch sie konnte es nicht!

Sie wusste nicht was mit ihr geschah, sie fand kein Wort dafür, denn noch nie hatte sie von einem anderen Bit Beast gehört, das von etwas ähnlichem gesprochen hatte. Wenn sie jemanden gefragt hätte, wäre wohl ein verständnisloses Kopfschütteln die Antwort gewesen.

Beide Bit Beast spürten dass da etwas zwischen ihnen war, unsichtbar lauerte es, lag wie eine Wolke um sie herum. Es gab etwas das sie immer wieder zu der Nähe des anderen zog, doch keiner von beiden war im Stande zu begreifen, was sie zu dieser Handlung bewegte.

Schließlich bemerkte Galux Drigers erwartungsvollen Blick.

Er wartete noch immer darauf, dass sie ihren Satz beendete, drängte sie nicht, sondern schaute nur mit geduldigem Blick auf sie herab, bis Galux den Kopf schüttelte und sagte:

„Es ist nichts. Bitte vergiss es.“

Ein Nicken war seine Antwort. Als er sich umwandte fragte er:

„Weshalb bist du eigentlich in diesem Teil der Irrlichterwelt? Normalerweise liegt dein Gebiet doch ganz wo anders.“

„Ich war noch nie hier und wollte diese Gegend auskundschaften.“ Wieder eine Lüge. Noch nie hatte sie gelogen und nun gleich zwei Mal an einem Tag. Desto tiefer sie in die Sache mit den Menschenjungen gezogen wurde, desto verlogener benahm sie sich. Wie sie diese Bälger hasste! Sie setzte ein Lächeln auf und entgegnete: „Soweit ich weiß, ist das hier auch nicht dein Revier. Ich könnte dich also dasselbe fragen?“

Eigentlich hatte sie erwartet, dass er sie an dieser Stelle anlächeln und für ihre Scharfsinnigkeit loben würde, stattdessen bemerkte Galux, wie sein Blick an ihrem Hals klebte. Argwöhnisch schaute sie an sich herab und ihr blieb das Herz stehen – Maos Strähne!

Der unwiderlegbare Beweis dass sie zuvor bei ihrem Menschenkind gewesen war. Das dünne geflochtene, hellrosa Band lag um ihren Hals, hatte so Drigers Aufmerksamkeit auf sich gezogen und sie wusste, er konnte mühelos Eins und Eins zusammenzählen.

Instinktiv duckte sie sich und sah ihn aus furchtsamen Augen an. Sie hätte rennen können, doch es war sinnlos zu versuchen Driger zu entkommen. Stattdessen ließ Galux zu, dass er sie erneut am Nacken packte und sie auf gleicher Augenhöhe vor sich baumeln ließ. Drigers freie Hand hob ihr Kinn in die Höhe, um einen besseren Blick auf das Band unter ihrem Fell zu erhaschen, dann strichen seine Finger prüfend darüber hinweg, wahrscheinlich entnahm er dem Duft der daraus entströmte wer der Besitzer war. Er rieb die Spitzen der Haarsträhne zwischen Daumen und Zeigefinger, dann traf sie sein Blick.

„Du warst bei dem Menschenmädchen.“

Sie konnte nicht antworten.

Sie konnte ihn nicht ansehen.

Galux war dazu verdammt stumm zu bleiben.

„Was hast du bei ihr gewollt?“

Als die Antwort ausblieb, zischte er ihren Namen.

„Galux! Schau mich an und sag was du getan hast!“

Nur mit Mühe konnte sie aufblicken. Sie erwartete unbändigen Zorn, stattdessen traf sie nur sein ernster, drängender Blick.

„Sie ist mein Menschenkind.“, brach es leise aus ihr heraus. „Ich konnte doch nicht zulassen, dass sie stirbt.“

„An der Strähne kleben noch mehr Gerüche. Wer war noch bei dem Mädchen als du sie versteckt hast.“

„Bitte zwing mich nicht sie zu verraten.“

„Stattdessen verrätst du mich?“

Nun war es ausgesprochen. Driger hielt sie für eine Verräterin.

Soweit war es schon gekommen.

„Driger…“, die Augen des Bit Beast wurden wässrig. Noch nie hatte Galux geweint. Sie hatte nicht einmal geahnt dass ein Bit Beast dazu fähig war. Sie hätte Driger anlügen können, doch dabei fühlte sie sich so widerlich. Bei jedem anderen Bit Beast hätte Galux es vielleicht noch versucht, aber nicht bei ihm – nicht ihr Driger. „Du hast Recht. Ich bin eine Verräterin. Als Dranzer und du in die Menschenwelt gegangen seid, um die Familien eurer Kinder zu töten, bin ich euch gefolgt und habe sie zuvor versteckt, zusammen mit meiner Mao.“

Galux hörte wie Driger scharf den Atem einzog. Der Griff mit dem er ihren Nacken hielt, begann zu beben.

„Ich bin eine Lügnerin und ich habe dich hintergangen.“, schluchzte Galux. „Und das schlimmste daran ist, obwohl ich meine Tat aus tiefsten Herzen verachte, würde ich es wieder tun.“ Driger hob eine seiner Brauen in die Höhe, schwieg jedoch abermals. „Sie ist mein Menschenkind. Als ich sie ausgesucht habe, habe ich geschworen sie zu beschützen. Ich bin verantwortlich für ihr wohlergehen. Es war meine Pflicht.“

„Für die anderen beiden Menschen warst du aber nicht verantwortlich. Wie erklärst du dir das?“

„Ich…,“ sie zögerte, bis sie gestand. „Ich kann es dir nicht erklären. Es kam mir einfach falsch vor sie für etwas zu bestrafen, wofür jemand anderes die Schuld trägt.“

Ein kurzes Schweigen trat ein, Galux bemerkte das Drigers Hand nicht mehr bebte. Gleichzeitig wich die Furcht aus ihrem Körper, obwohl sie genau ahnte, dass dies die letzten Minuten ihres Lebens sein würden. Aus irgendeinem Grund war sie erleichtert, dass sämtliche Geheimnisse die sie vor ihm hatte, nun aus der Welt waren.

„Du weißt in was für eine Lage du mich gebracht hast, nicht wahr?“

Sie nickte.

„Ich muss dich töten. Ist dir das klar?“

„Du hast allen Grund dazu.“

„Ich habe nicht einmal ein Wort der Entschuldigung von dir gehört.“, es klang fast schon enttäuscht. „Nicht einmal um Vergebung flehst du.“

„Das würde nichts an meiner Tat ändern und ich kann nicht um Vergebung für etwas bitten, dass ich jederzeit wieder so getan hätte. Ich würde dich belügen.“ Sie blickte ihn geradeheraus an und sprach. „Bitte zwing mich nicht dich vor meinem Tod noch einmal anzulügen. Frag mich nicht wo Mao und die anderen Menschen sind. Bring es hinter dir und töte mich einfach!“

„Hast du einen Bann auf die Angehörigen gelegt?“

Galux nickte. Es war der einzige Weg gewesen, die Gruppe vor den Blicken der Uralten zu schützen. Sie hoffte inständig dass ihre Magie noch so lange auf Mariah und den Rest der Gruppe wirken würde, bis die Halloween Feiertage vorbei waren. So konnte sie Mao nach ihrem Ableben wenigstens noch ein Jahr mehr verschaffen.

Erschüttert starrte Driger auf das Bit Beast in seiner Hand. Galux konnte erkenne wie er einen dicken Kloß in seinem Hals hinunterschluckte. Dann nickte er und sie war erleichtert dass sie keine weiteren Fragen von seiner Seite mehr erwarten musste. Sie würde mit einem reinen Gewissen aus dieser Welt scheiden.

Gefasst senkte das Bit Beast die Lider. Es war sonderbar, doch dass sie ihre letzten Minuten mit Driger teilen würde, obwohl der doch ihr Henker sein sollte, tröstete Galux. Hätte Draciel sie in ihren Fluten ertränkt, ohne dass sie ihn noch einmal hätte sehen können – der Tod wäre soviel schmerzhafter gewesen.

Die Sekunden verstrichen…

Aus Sekunden wurden Minuten, dass Beben wanderte wieder in Drigers Arm.

Doch nichts geschah.

Wollte er mit ganzer Kraft zuschlagen?

Sammelte er sämtliche seiner Energien?

Ein so kleines Bit Beast wie sie zu töten durfte für ihn doch kein Problem sein…

Vielleicht wollte er sichergehen das er wirklich nur einmal zuschlagen musste, so würde sie wenigstens nicht viele Schmerzen erleiden. Als weitere Sekunden vergingen, konnte Galux nicht mehr an sich halten und öffnete langsam die Lider. Drigers Faust schwebte vor ihr, sein freier Arm war zu einer riesigen Pranke geworden, während seine Krallen wenige Zentimeter vor ihrem Hals verharrten. Auf seinem Gesicht lag ein verbissener Ausdruck und seine Augen – es lag ein tiefer Schmerz in ihnen.

„Driger?“

Es war der Klang ihrer Stimme die ihn gequält Stöhnen ließ.

„Kannst du nicht Flehen? Wenn du mich anbettelst dich am Leben zu lassen, wärst du mir so zuwider das meine Krallen dich von ganz alleine aufschlitzen würden!“

„Würde dich das wirklich glücklich machen?“

Nein. Das musste Driger erschüttert gestehen. So sehr es ihm auch zusagte schwache Bit Beast zu quälen, seinen Rang zu verteidigen und sich als der Stärkste zu profilieren, in diesem Moment empfand er keinerlei Freude an seinem Vorhaben.

Selbst wenn er Galux befohlen hätte ihn anzuflehen und vor ihm zu Kreuze zu kriechen, sie hätte es doch nur wieder getan, um ihm zu gehorchen. Selbst im Tod war dieses Bit Beast ihm ergeben – wie sehr er ihre Hingabe doch vermissen würde, wenn sie fort wäre.

Er hatte vor kurzem Dranzer verloren, wenn es in der Irrlichterwelt so etwas wie Familienbande gegeben hätte, wäre sie für ihn einer Tochter gleichgekommen. Jetzt sollte er noch das Bit Beast verlieren, dessen Anwesenheit ihm stets einen unglaublichen Freudentaumel verschafft hatte. Nie war er glücklicher gewesen, als in den Momenten in denen sie zusammen auf Pirsch gegangen waren und sich Galux kleiner Körper in der Nacht an ihn schmiegte. Wie sehr hatte sein Herz gerast, wenn sich ihre Wege zufällig im selben Revier kreuzten und er einpaar Stunden mit ihr verbringen konnte – obwohl die meisten Bit Beasts für gewöhnlich die Einsamkeit vorzogen.

Einen Moment schloss Driger die Augen, er musste nachdenken.

Draciel war vorangegangen um die Gruppe heimzusuchen, mit ihr würde er die wenigsten Scherereien haben, doch Dragoon war bei den Wurzeln der Weltenbaumzwillinge. Die Möglichkeit dass er jetzt, in diesem Moment, sein Treiben beobachtete war nicht ausgeschlossen. Sobald einer von ihnen einen Schritt an die Oberfläche machte, konnten die zurückgebliebenen Uralten ihre Taten genauso mitverfolgen, wie bei den normalen Bit Beasts. Es hing alles davon ab wem sie gerade ihre Aufmerksamkeit schenkten.

Nur am Wurzelwerk von Yggdrassil waren sie unbeobachtet.

Er war dabei ein Tabu zu brechen – genau wie Dranzer vor ihm.

Die Uralten hatten das Recht, nein, es war ihre Pflicht, den Ungehorsam anderer Bit Beasts zu bestrafen. Ansonsten konnte der Verdacht aufkommen, sie wären weich und angreifbar. Schwäche musste ausgemerzt werden, die Unterklassen Bit Beast könnten ihnen sonst auf der Nase herumtanzen.

Driger wusste was von ihm erwartet wurde, wenn Dragoon jetzt in diesem Moment zusah – doch es bestand ebenfalls die Möglichkeit dass sein Blick nicht auf ihm ruhte.

Obwohl er wusste dass ihm seine Umgebung keine Antwort auf seine Frage schenken würde, huschte ein verstohlener Blick durch die Büsche. Er spürte dass eine dieser verdammten Strommäuse durch ein Gestrüpp schlich, Driger witterte ihre Angst, während sie sich in ihrem Versteck zusammenkauerte und darauf wartete das er endlich ging. Die musste er unbedingt fressen, da diese Nagetiere untereinander alles brühwarm weitertuschelten.

Er blickte wieder zu Galux, die ihn aus ihren großen Augen irritiert anstarrte. Womöglich hatte sie schon mit dem Leben abgeschlossen und konnte nicht begreifen weshalb er zögerte.

„Geh.“

Vollkommen überraschend ließ er sie los und ein erschrockener Ausruf kam von ihr, als sie auf dem Moos bewachsenen Erdboden landete. Reglos verharrte sie und starrte ihn noch immer vollkommen entsetzt an.

„Beweg dich! Na, los!“, zischte er ihr zu.

„Aber wenn die anderen Uralten…“

„Sprich es nicht aus.“, befahl er leise und sie verstummte. Driger beugte sich zu ihr hinab und flüsterte. „Jeder Baum hier könnte Ohren haben, also sei still und lauf weiter als wäre nichts gewesen.“

Sie schüttelte entsetzt den Kopf.

„Du brichst ein Tabu! Dragoon könnte dich-…“

„Auch wenn ich dich für deine Hingabe liebe, kränkt es mich, wenn du glaubst ich wäre so leicht zu töten.“ Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu, richtete sich auf und sprach dann geradezu unbeschwert. „Ich wünsche dir noch einen schönen Tag, meine kleine Galux. Es war mir wie immer eine Freude dich wieder zu sehen.“

Er spähte zum Gestrüpp, wo er die Strommaus vermutete, richtete seine ausgestreckte Handfläche darauf, um sie kurz darauf zur Faust zu ballen. Ein leises Fiepen ertönte aus dem Gestrüpp, als es in einen sich plötzlich auftuenden Erdspalt rutschte, der sich in sekundenschnelle wieder verschloss. Dann wandte sich Driger ab und lief in dieselbe Richtung wie Draciel. Wie ein Schatten war er plötzlich aus ihrem Sichtfeld verschwunden.
 

Einen Augenblick blieb Galux wie vom Donner gerührt stehen, dann rannte sie in entgegen gesetzter Richtung davon. Sollten ihr diese Menschenbälger doch gestohlen bleiben, ein zweites Mal würde sie ihr Leben nicht einfach so für ein paar vorlaute Jungen auf Spiel setzten!

Ob Mariah nun in diesen Ray vernarrt war oder nicht, sie würde Driger seinetwegen nicht noch einmal in solche Gefahr bringen. In rasendem Tempo wollte Galux über einen Hang hinweg springen, als sie in voller Fahrt die Krallen in den Boden rammte und schlitternd anhielt.

Eine Erkenntnis hatte sie wie ein Schlag getroffen…

Mariah hielt zu Ray obwohl Galux ihn hasste und der festen Überzeugung war, er wäre schlecht für sie. Von Drigers Grausamkeit sprach man bis aus den finstersten Ecken der Irrlichterwelt und doch wollte Galux nie auf das Geschwätz der anderen Bit Beasts hören.

Sie hatte Mariah mitleidig angeschaut, weil sie es nicht schaffte sich von Ray zu lösen und ihn trotz seiner bösen Worte liebte. Hochmütig wie Galux gewesen war, hatte sie Mariah bei ihrem letzten Treffen auch noch versichert, dass Bit Beasts nicht zu solchen Gefühlen in der Lage waren.
 

„Auch wenn ich dich für deine Hingabe liebe, kränkt es mich, wenn du glaubst ich wäre so leicht zu töten.“
 

Hatte Driger gesagt das er sie liebte? Diese Worte beflügelten sie in einer Weise, wie sie es noch nie erlebt hatte. Wie gerne wäre sie zu ihm zurück gerannt, um sich gegen seine Beine zu schmiegen und einfach nur in seiner Nähe zu sein. Endlich hatte sie ein Wort für das gefunden, was zwischen ihnen war. Es war all die Jahre doch so offensichtlich gewesen!

Entsetzt über ihre eigene Ignoranz, setzte sich Galux und schaute flehend gegen den Himmel:

„Oh Mao, verzeih mir! Ich bin nicht einen deut besser als du. Was soll ich denn jetzt nur machen?“, ratlos sah Galux zu Boden und flüsterte. „Wenn ich Driger nicht verrate, bedeutet das Rays Ende. Doch wenn Dragoon erfährt was Driger heute getan hat und ich Ray trotzdem helfe, dann…“

Sie wagte den Gedanken nicht zu Ende zu denken.

Er schmerzte zu sehr…
 


 

ENDE Kapitel 21
 

Fröhliche Weihnachten! ^_^

Nach langem ist mir aufgefallen, dass meine Schreibmoral dieses Jahr sehr zu wünschen lässt und das obwohl ich im Oktober – warum auch immer? – YUAL des Monats geworden bin.

Danke an die lieben Leute, die meine FF dafür vorgeschlagen haben! Ich dachte ich traue meinen Augen kaum. O_O

Mein Vorsatz für 2014 lautet deshalb, endlich diese Geschichte zu beenden, da ich selber ungern „FF-Leichen“ lese.

Ich wünsche euch schöne Feiertage und einen guten Rutsch!

LG Eris

„Na los, streck dich Knirps!“, vorsichtig balancierte Tyson Kai auf seinen Schultern und lüpfte den kleineren Körper näher an die baumelnden Früchte über ihnen heran. „Wenn du heute noch etwas essen willst musst du dich anstrengen.“

„Mache ich doch!“, wehrte sich das Kind gegen Tysons stillen Vorwurf. Kais Fingerspitzen schafften es gerade mal dem Apfel einen leichten Stups zu verpassen. Es hatte nur so viel Wirkung dass die Frucht leicht ins Wippen geriet, aber nicht von ihrem Platz rückte.

„Da geht noch was, mach dich lang!“

Aufmüpfig stampfte Kai mit dem rechten Fuß auf Tysons Schulter auf, was ihn schmerzhaft jaulen ließ.

„Mach das nochmal und wir spielen Rodeo!“

Ein ungläubiges Schnauben war die Antwort, dass Tyson schwer an Kais alte Starallüren erinnerte. Es steckte doch noch Feuer in dem Bengel.

„Halt die Klappe und zappel nicht so!“, kam es herrisch.

„Wenn ich zappel merkst du das schon.“

„Schlimmer als jetzt kann es nicht werden. Hey!“

Kai rief überrascht aus.

„Hör auf!“

Tyson begann übermütig auf der Stelle zu hüpfen. Als Kai mit den Händen fuchtelte um nicht die Balance zu verlieren, begann er schallend zu lachen.

„So wird das nie etwas mit dem Essen!“, klagte Kai genervt und krallte sich an Tysons Haarschopf fest, um nicht unsanft von seiner provisorischen Leiter zu stürzen. Dieser hüpfte jedoch unbeirrt auf der Stelle weiter und flötete: „Entschuldige dich. Sonst höre ich nicht auf.“

„Nein!“, kam es stur.

Tyson machte einen solchen Satz das es Kai, mit einem erschrockenen Ausruf, für einen Moment in die Luft hob, doch gab er darauf Acht, dass das Kind sicher auf seinem Rücken landete. Panisch schlangen sich zwei Arme um seinen Hals, was ganz in Tysons Sinne lag. Da sprang er schon übermütig mit seinem klammernden Anhängsel durch das hohe Graß, dass eine wundervoll weiche Matte abgegeben hätte, wäre Kai widererwarten von ihm abgefallen.

„Tyson bleib ern-…“

Er tat einen hohen Satz.

„Bleib ern-…“

Ein weiterer Sprung unterbrach das Kind in seinem Vorhaben Tyson zur Ordnung zu rufen.

„Du bist bescheuert!“, es lag bei weitem nicht mehr so viel Ernsthaftigkeit in dieser Aussage wie der Junge wohl wollte, denn das Spiel begann ihm zu gefallen. Man hörte förmlich wie er gegen den Schalk in seiner Stimme ankämpfte. Tyson begann sich zu schütteln, wie ein nasser Hund, da prustete Kai.

„Und jetzt der Hubschrauber!“, er wirbelte im Kreis, da erfüllte ein Freudenschrei die Lichtung. Einige Meter entfernt grinste Max über dieses Schauspiel.

„Seht euch die beiden an. Ein Herz und eine Seele.“, meinte er an Ray und Allegro gewandt. Als der sich den anderen Jungen zuwandte, hatte Tyson Kai über die Schulter geworfen und drehte sich mit ihm.

„So viel zum verletzten Arm…“, kommentierte er trocken.

Falls Tyson das Tempo beibehielten sollte war es nur eine Frage der Zeit bis sich einer von ihnen übergeben würde.

„Er holt den Kleinen ganz schön aus der Reserve.“, meinte Allegro und kratzte sich mit den Hinterbeinen am Ohr. Sein angestammter Platz auf Maxs Schulter war ihm etwas langweilig geworden, da hatte er neben Ray auf dem Ast Platz genommen. Der war damit beschäftigt zu den höher hängenden Früchten hinauf zu kraxeln, da sie seiner Meinung nach reifer waren. „Gehen die beiden immer so vertraut miteinander um?“

Max und Ray blickten ihn verdattert an, dann lachten sie schallend auf. Die Springmaus starrte die beiden Jungen irritiert an und fragte: „War meine Frage so töricht?“

Max winkte beschwichtigend ab.

„Nein, nein. Eigentlich ist nichts Seltsames daran. Aber hätte uns jemand vor ein paar Tagen so eine Frage gestellt…“

„Was war denn vorher?“

„Die beiden haben sich sonst nur in den Haaren.“

„Oh.“, Allegro hielt in seiner Bewegung inne und schaute Max aus großen dunklen Knopfaugen an. „Mit Verlaub, aber das mag ich gar nicht glauben meine Herren! Seht doch nur diese wundervolle Innigkeit.“

„Ja, jetzt vielleicht.“, lachte Ray freudlos auf. Er warf Max eine Frucht hinab. „Falls wir aber unsere alten Körper bekommen sollten und Kai wieder bei klarem Verstand ist, wird das schnell in der Luft verpuffen.“

„So so so. Ist das so?“, es klang erfreut, als wüsste Allegro mehr. „Naja, selbst wenn das der Fall sein sollte, werden den beiden doch diese Momente hier bleiben. Sicherlich wissen sie das im Prinzip sämtliche ihrer Streitigkeiten rein oberflächlicher Natur sind.“

„Du kennst die beiden noch nicht so lange. Woher willst du das wissen?“, fragte Max.

„Meine Güte, das riecht man doch!“, tadelte Allegro ihn kopfschüttelnd. Es klang so vorwurfsvoll, als hätte Max wissen wollen, ob Fische im Meer leben. Erneut kratzte sich die Strommaus hinter den Ohren und begann zu fluchen. Vor ein paar Stunden hatte Allegro ihnen die Vermutung kundgetan, dass ihm Galman einige Bit Beast Flöhe als Andenken vermacht hatte.

„Wie riecht so etwas?“, wollte Ray wissen. Er konnte sich partout nicht vorstellen, das Bit Beast so viel mehr Eindrücke von ihrer Umwelt, allein durch ihren Geruchssinn erhielten.

„Ach, ich vergesse mich immer. Ihr Menschen seid primitiver veranlagt.“

„Ich fühle mich ein wenig zum Primaten degradiert.“, klagte Max.

Allegro zuckte mit den Achseln.

„Pardon für diesen Affront. Aber wie soll ich euch so etwas erklären? Ich wittere einfach dass die beiden einen sehr tiefen Respekt voreinander haben… und auch sehr viel Sympathie.“ Allegro stemmte sich kurz auf die Hinterpfoten und schnupperte mit der Schnauze voraus den beiden anderen Jungen entgegen. „Vielleicht auch Zuneigung. Die Grenzen sind ziemlich vage.“

Etwas verwundert tauschten Max und Ray vielsagende Blicke aus. Es schien ihnen unbegreiflich wie viel mehr Allegro aufschnappte. Das sich Tyson und Kai nicht ganz so zuwider waren, wie sie immer taten, war ihnen klar, aber die Springmaus brachte viel mehr Einblicke auf den Tisch, als sie es jemals mit ihrer äußerst beschränkten Wahrnehmung hätten merken können.

„Und du meinst wirklich beide?“, fragte Ray ungläubig. Er flüsterte. Wobei er sich nicht sicher war weshalb. Ihm schien als würden sie in den Tagebüchern ihrer Freunde schnüffeln.

„Ja natürlich.“, Allegro begann wie verrückt hinter seinem Ohr zu kratzen. „Dieser verflixte Affe! Das ist ja nicht auszuhalten!“

Er blickte sehnsüchtig zu Kai. In den letzten Stunden hatte er sich öfters von dem Jungen hinter dem Ohr kraulen lassen. Die schmalen Kinderfinger waren viel feiner als jene der Jugendlichen, aber er schien nicht sicher, ob er das Pensum für heute nicht überschritten hatte. Er wollte ja nicht unverschämt wirken…

„Was riechst du eigentlich bei uns?“, wollte Max wissen.

„Bedingungslose Loyalität, Mut und Freundschaft. Eine vorbildliche Kombination! Ihr alle seid sehr vertraut euch gegenüber. Ich hatte ehrlich gesagt nie erwartet, einen so festen Zusammenhalt gerade unter Menschen zu finden. Es hat mich von dem Moment an beeindruckt, als ich eure Gruppe zum ersten Mal gerochen habe.“ Er sprang ungeduldig auf. „Allerdings ist eure Note doch anders als die zwischen Tyson und Kai. Da scheint die Chemie noch ein Ticken besser zu sein. Ich kann euch nicht genau sagen was es ist. Wo wir aber von letzterer Person sprechen… Ich muss mich kurz entschuldigen.“

Allegro hopste in hohem Bogen ins Gras.

Kurz darauf hörten sie Tyson überrascht aufschreien, als sich die Strommaus an seinem Hosenbein hinaufbewegte um zu Kai zu gelangen. Geradezu verzweifelt flehte er um eine erneute Kratzbehandlung. „Hilf mir, Junge! Ich verfalle noch dem Wahnsinn!“

Dabei ließ er Ray und Max zurück, die doch gerne noch etwas weiter „Mäuschen“ gespielt hätten.

„Kaum zu Glauben, oder?“, brach Max schließlich die Stille.

„Wenn man bedenkt wie die beiden sich sonst fetzen? Ja allerdings.“, warf Ray ratlos ein.

„Ich muss zugeben – ich bin etwas neidisch.“

„Worauf?“, blinzelte Ray irritiert

„Das Tyson schon immer einen besonderen Draht zu Kai hat war mir klar, aber das übersteigt jetzt doch meine Erwartungen.“

„Als besonderen Draht würde ich das nicht gleich bezeichnen! Vielleicht irrt sich Allegro auch.“

Max schüttelte den Kopf.

„Nein. Es war schon immer eine Vermutung von mir, aber man muss hier wohl einfach zwischen den Zeilen lesen.“

„Da ist leider wenig Spielraum zwischen, Halt die Klappe Tyson, oder, Kai du scheiß Eisklotz.“

„Das Eheleben hat dich abgestumpft.“, bemerkte Max nachsichtig. „Hast du wirklich vergessen wie die Kämpfe zwischen den beiden abliefen? Wie sie sich hineingesteigert haben und plötzlich auf einer Wellenlänge schwebten, obwohl sie doch von Grund auf so verschieden sind? Das war keine blinde Rivalität. In diesen Momenten hatte ich das Gefühl, dass ihre Freundschaft viel tiefer geht. Als wäre ich auf einem Abstellgleis gelandet und das wo mich doch alle als Tysons besten Freund bezeichnen.“

„Das hat er selbst behauptet.“

„Er ist sich doch gar nicht bewusst wer ihm wirklich nahe steht. Vielleicht versucht er uns alle gleich zu behandeln, doch in gewisser Weise hat auch er seine Favoriten. Mit uns beiden kann er reden und scherzen, aber Kai… der geht ihm auf eine andere Weise nahe. Wahrscheinlich brauchen beide diese Sticheleien, anders können sie doch gar nicht miteinander umgehen.“

„Altes Ehepaar.“, noch bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte, wurde ihm bewusst, wie oft er dies den beiden schon vorgeworfen hatte.

Max hielt eine flache Frucht in die Höhe und begutachtete sie argwöhnisch.

„Ist das eine Bergpfirsich?“

„Jepp.“

„Und die wächst im Apfelbaum?“

„Zusammen mit einigen Birnen und da oben sehe ich eine Nektarine.“

„Total seltsam. Stell dir mal vor solche Bäume gebe es in unserer Welt. Jeder würde sich so einen in den Garten stellen.“, Max biss herzhaft hinein.

„Mm. Ein Wunder das da keine Würstchen wachsen.“, dann griff Ray das Thema aber wieder auf. „Kai geht Tyson nahe… Was für eine merkwürdige Wortwahl.“

„So kommt es mir einfach vor. Ich kann es nicht besser ausdrücken.“, Max zuckte mit den Achseln. „Das die beiden nicht ohne einander aber auch nicht miteinander können, dürfte dir auch aufgefallen sein. Egal wie viele Streitereien sie haben, letztendlich finden sie sich trotzdem wieder an einem Tisch. Das hat sich seit unserer Bladebreakerzeit nicht geändert.“

„Hmm…“, Ray dachte an das letzte Match das die beiden miteinander ausgefochten hatten.

Das Bild von damals lag noch klar vor seinen Augen.

Er fand sich selbst wieder auf der Tribüne, unter all jenen Schaulustigen, die nur für Tyson und Kai gekommen waren… und ja, wenn er genau darüber nachdachte war er verdammt eifersüchtig gewesen. Er hatte es nicht ins Finale geschafft, obwohl er wirklich zu allem bereit gewesen war. Das stundenlange Training – er hatte förmlich Blut und Wasser geschwitzt. Nur um dann doch im Halbfinale an Kai zu scheitern. Es war ihm vorgekommen als würde es letztendlich immer auf diese Konstellation hinauslaufen… Eine Konstellation die ihn nicht mit Inbegriff.

Er war dazu verdammt gewesen letztendlich immer als Zuschauer im Finale zu versauern.

Die Menge neben ihm hatte aufgeregt mit den Füßen gestrampelt und auch wenn Max ihm gegenüber nun einräumte, dass auch er manchmal neidisch gewesen war, hatte er sich zu dieser Zeit nichts anmerken lassen. Viel mehr hatte er aus vollem Hals gejohlt und seine Freunde aus ganzer Seele damit angeheizt.

Hatte er damals auch für Tyson und Kai gejubelt? Ray wusste es nicht mehr.
 

Er hätte ihnen aber lieber den Hals umdrehen sollen…
 

Der heftige Wunsch kam so unvermittelt das ihm sein Atem stockte.

Was hatte er da gerade gedacht?

Als ihm die Tragweite seiner Gedanken bewusst wurde, wandelte sich sein Gesicht in eine aschfahle Maske. Aus welchem dunklen Winkel seiner Seele entstammte denn diese Boshaftigkeit? Er war sich sicher dass er damals genauso lauthals wie Max gejubelt hatte.

Natürlich war er angesäuert gewesen zum Zuschauer degradiert worden zu sein, dennoch war da doch nicht nur Missgunst gewesen, sondern in erster Linie kameradschaftlicher Respekt!

Ray schüttelte sich. Das entsprach gar nicht seiner Natur und er wunderte sich über sich selbst. So wollte er nicht sein. Er spähte zu Max als hätte dieser seine Gedanken erhaschen können. Der prustete aber unwissend als sich die anderen beiden Jungen wieder ihrer eigentlichen Aufgaben entsannen und das Gezanke erneut losging, da Tyson einfach nicht still hielt. Rays Finger wurden schweißnass und er versuchte sich nichts anmerken zu lassen, indem er sich auf seine Arbeit konzertierte. Es war nur ein fieser Gedanke gewesen.

Zwischen gedacht und getan lag ein großer Unterschied – so versuchte er es sich zumindest einzureden. Doch ein Funken Zweifel blieb.
 

*
 

Kazuya zog sich die Jacke bis zum Kinn und nestelte an dem Schal herum, den er als zusätzlichen Schutz vor der Kälte unter den Kragen stopfte. Es war viel zu kalt für einen Oktobertag und niemals wäre ihm eingefallen, dass es schneien könnte als er heute Morgen das Haus verließ. Da half auch die dünne Übergangsjacke nur mäßig.

Dennoch hatte er es sich nicht nehmen wollen seine abendlichen Stunden am Ufer des Kandaflusses zu verbringen. Er studierte Kunst und sobald die letzten Sonnenstrahlen auf die Fluten trafen, gab dies eine malerische Landschaft, die er gerne zu Übungszwecken einfing. Es wurde hier nie langweilig, da die anwesenden Personen ständig ein neues Bild ergaben. Selbst jetzt, wo der Neuschnee die Ufer in ein fahles Weiß hüllte, hatte die Kulisse etwas wundervoll Friedvolles. Ein anderer wäre an seiner Stelle nachhause gegangen. Er war nicht vorbereitet auf den plötzlichen Temperatursturz, dennoch nahm er es der Kunst zuliebe in Kauf, mit einer durchnässten Jeanshose im Gras zu sitzen, während die Flocken langsam vom Himmel tänzelten.

Wenn die kreativen Säfte flossen musste man unverzüglich an die Arbeit.

Vor allem in jenem Moment, wenn der Schnee der Landschaft etwas Melancholisches verlieh. Es war der gnadenlose Übergang von der bunten Herbstpracht zur Stille des Winters.

Die ersten Linien waren schnell gezogen. Mit dem skizzieren hatte er selten Probleme. Er musste kaum radieren, denn seine Züge waren sicher. Bald war er vertieft in die Einzelheiten. Die raren Grasflächen die noch unter der Schneeschicht hervor schauten, die tiefhängenden Wolken welche die Strahlen nur mäßig hindurch ließen.

Kazuya hoffte er könne nur ansatzweiße die Stimmung einfangen.

Bald war er mit den Wellen beschäftigt. Hier machte die Liebe zum Detail das Gesamtbild aus. Ein Tropfen der sich von den Wellen löste, weiße Gischt hier und da, dort die Andeutung einer stärkeren Strömung und die kräuselten Bewegungen um das goldschimmernde Objekt am anderen Ufer.

Was war das überhaupt?

Er kniff die Augen zusammen und stierte auf die Stelle.

Zunächst hatte es gewirkt als würden Sonnenstrahlen von dort reflektiert werden, wie bei einem Spiegel, doch dazu kamen die Strahlen zu selten durch die Wolkendecke. Das Objekt hing an einem Ast fest, welcher achtlos am Ufer liegengelassen worden war. Womöglich handelte es sich dabei um einen Ball und einige Kinder hatten mit dem Ast versucht, ihn aus den Fluten zu ziehen. Doch auf dem zweiten Blick war das Objekt oval und - so obskur es klang – es schien aus dem Innern heraus hell zu flimmern. Eine größere Welle erfasste es und drohte es davon zu spülen, da obsiegte Kazuyas Neugier. Bevor es davon getrieben wurde, wollte er wissen was das war.

Es sah zumindest nicht nach ordinärem Müll aus.

Kazuya erhob sich von seinem Sitzplatz und kletterte den Hang zum Gehweg hinauf. Ein Radfahrer schimpfte dort über die Straße, die sich durch Feuchtigkeit und Kälte innerhalb von Stunden in eine spiegelglatte Oberfläche verwandelt hatte. Manche Passanten nahmen den aktuellen Wetterumsturz mit Humor, manche eben weniger.

Kazuya gehörte nicht zu der Sorte Mensch die sich gerne über Dinge aufregte, die man ohnehin nicht ändern konnte. Er folgte dem Verlauf des Gehwegs, über eine schmale Brücke, auf die andere Seite. Dabei huschte sein Augenmerk manches Mal zu dem merkwürdigen Objekt in den Fluten. Kurz nachdem er die Brücke hinter sich gelassen hatte, fand er eine kleine Treppe. Vorsichtig folgte Kazuya den glatten Stufen hinab zum Ufer. Hier führte ein kleiner Pfad am Gewässer entlang, der im Sommer gerne von Sportlern zum Joggen verwendet wurde.

Es wurde dunkel und die ersten Straßenlaternen gingen flackernd an. Er hatte eigentlich nicht vorgehabt so lange hier zu bleiben. Seine Freundin würde ihn sicherlich ungeduldig erwarten, wenn er nicht bald zum Abendessen nach Hause kam. Doch das schimmernde Objekt war zwischen den dunklen Fluten schnell ausgemacht. Ratlos kniete sich Kazuya herab und betrachtete seinen Fund.

Es schien… ein Ei zu sein?

Ein Ei dessen blasse Schale nicht verbergen konnte, dass etwas Helles in seinem Innern heranwuchs. Es wirkte wie ein leuchtender Herzschlag der in kräftigen Intervallen pulsierte.

„Was zum Himmel bist du?“, fragte Kazuya aus faszinierten Augen.

Er warf einen Blick um seine Umgebung.

Zurzeit war niemand hier.

Dann krempelte er die Ärmel hoch und griff ins kalte Wasser. Das Ei war so groß wie ein Fußball und die Schale fühlte sich tatsächlich zerbrechlich an, nicht als ob es künstlich wäre. Zu seiner Überraschung strahlte es eine immense Wärme aus. Seine Finger bemerkten nicht einmal mehr die Eiseskälte der Fluten dadurch.

Es bedurfte schon zwei Hände um das Ei aus dem Wasser zu ziehen. Einige Minuten nestelte Kazuya an den Zweigen herum, die es eingefangen hielten, bis er den Ast genervt mit dem Fuß fortstieß. Das Geäst entließ seinen Fang und rutschte durch die Strömung ins Wasser. Bald trieb es im Dunkel davon und war nicht mehr auszumachen, doch dafür hatte Kazuya ohnehin keine Augen mehr. Seine Aufmerksamkeit galt allein dem irrealen Objekt das er entdeckt hatte.

Er drehte es in den Händen und musste gestehen dass es wirklich wundervoll anzusehen war. Wann immer das Herz im Innern schlug, entsandte es ein angenehmes Prickeln an seine Fingerkuppe. Ihm ging ein herrlicher Schauer über den Rücken. Desto länger er es hielt, desto intensiver wurde das Gefühl, als würde es auf seinen gesamten Körper übergreifen.

Selbst sein Magen begann zu flirren, als schwirrten tausende Schmetterlinge darin herum.

Er wurde träge und glücklich zugleich. Bald vergaß er die Zeit und gab sich damit zufrieden, inmitten des Schnees am Ufer zu sitzen und einfach nur dieses Ei zu halten. Um noch mehr von diesem herrlichen Schauern zu erfahren, legte er es sich auf den Schoß um vorsichtig seinen Oberkörper darauf zu stützen. Das war die reinste Droge… Wie ein Gefühlstaumel.

Ein verrückter Trip oder ein bevorstehender Orgasmus!

Er seufzte und setzte seinen Kopf auf die Schale. Seine Lider schlossen sich und nie mehr wollte Kazuya aufstehen. Desto länger er das Ei hielt, desto heißer wurde es.

Jedenfalls empfand Kazuya es so…

Denn eigentlich war es sein eigener Körper der einfach nur erkaltete. Das Ei auf seinem Schoß pochte dafür umso schneller. Die Schneeflocken fielen auf Haar und Schultern, hinterließen eine weiße Schicht. Sein Atem ging nur noch langsam und niemand war noch auf den Straßen unterwegs, um den jungen Mann zu retten, welcher dort am Ufer leise verstarb, während das Ei auf seinem Schoß ihm das restliche bisschen Lebensenergie aufsaugte.
 

*
 

Hana Amori hatte Hitoshi Kinomiya vor vier Jahren bei ihrem Studium in Osaka kennen und lieben gelernt. Sie mochte souveräne Männer und ihr Verlobter war die leibliche Verkörperung eines solchen. Er war intelligent, attraktiv und selbstbewusst.

Zwar schimpften ihn manche Neider als hochnäsigen Arsch, doch wusste er durchaus wovon er sprach. Denn wirklich beeindruckt hatten sie die politischen und wirtschaftlichen Debatten, die sie im Kreise ihrer Kommilitonen nach einer Vorlesung führten. Hitoshi war darin stets als Wortführer aufgetreten und wusste seinen Standpunkt geschickt zu argumentieren. Er hörte sich die Meinungen der anderen ruhig an und konterte so schnell, dass er selbst ihr so manches Mal den Wind aus den Segeln nahm. Dabei sagte man ihr stets nach dass sie äußerst Redegewand war. Sie brauchte sich zumindest nicht zu verstecken. Während einem dieser Wortgefechte war dann wohl der Funken übergesprungen, denn schon bald fanden sich beide in einer leidenschaftlichen Affäre, die später zu einer innigen Beziehung wurde – trotz anfänglicher Stolpersteine.

Hitoshis Familie war zwar einmal groß in der Presse aufgrund des früheren Beybladehype, doch man konnte nicht behaupten, dass sie sich dadurch zu Millionären gemausert hatten. Ganz im Gegenteil zu Hanas Familie, die mit dem landesweit ausgestrahlten Fernsehsender, ein gutes Polster auf dem Konto wusste. Zwar war Hitoshi nicht mittellos, doch ihr Vater hatte doch die Nase gerümpft, als sie ihm von seiner früheren Karriere erzählte.

„Na den Göttern sei Dank hat er sich wenigstens umorientiert, “ war sein bissiges Kommentar gewesen. Doch bald hatte sich seine Meinung geändert, denn Hitoshi überraschte ihren Vater positiv. Nach seinem Studium traute er ihm sogar eine Stelle in der Redaktion zu.

„Ob er das immer noch tun wird nach dieser Geschichte?“, fragte sich Hana und biss sich auf die Unterlippe. Sie mochte sich gar nicht ausmalen, welche Folgen diese Sache mit sich ziehen würde, zumal Ming-Ming ausgerechnet bei ihrem Sender angestellt gewesen war.

Innerlich tadelte sich Hana, das sie nicht früher bemerkt hatte, dass etwas im Busch lag.
 

Allein der Anruf diesen morgen, der wirklich zu einer unverschämten Uhrzeit kam, hätte sie stutzig machen müssen. Hitoshi war in seine Hose geschlüpft, obwohl sie doch seine Wärme im Bett sogleich schmerzlich vermisste. Auf ihre schlaftrunkene Frage wo er hin wolle, hatte er nur nachsichtig gelächelt.

„Zu Großvater.“, der Kuss auf ihre Stirn hatte sie wohlig aufseufzen lassen. „Ich bin zum Frühstück wieder da.“

Doch Hitoshi kam nicht.

Sie hatte sich geärgert aber nichts dabei gedacht.

Lieber schmollte sie allein am Küchentisch bei einer Schale Müsli und ermahnte sich, ihm solche Sperenzien auszutreiben bevor sie heirateten. Gegen Mittag war er jedoch noch immer nicht in ihr Apartment zurückgekommen. Hana musste sich zusammenreißen, um ihm nicht sofort eine eingeschnappte Nachricht auf sein Handy zu schicken. Sie hielt nichts von Frauen die an ihren Männern wie die Kletten klebten. So wollte sie nie werden, dazu war ihr Denken viel zu modern. Um sich abzulenken verbrannte sie lieber ein paar Kalorien auf dem Crosstrainer. Dabei ließ sie auch gerne das Radio laufen… und so erfuhr sie überhaupt vom gestrigen Brand bei dem Anwesen des Geschäftsmagnat Hiwatari.

Hana musste stutzten, denn Hitoshi hatte ihr gegenüber erwähnt, dass sein kleiner Bruder mit dem Besitzer dieses Unternehmens eng befreundet war und auch er Kai Hiwatari persönlich kannte. Sie war ziemlich beeindruckt gewesen, gerade weil man über die Familie Hiwatari wenig wusste. Sowohl geschäftlich als auch privat, ließ man sich dort nicht in die Karten schauen.

Etwas erleichtert darüber dass niemand zu Tode gekommen war, nutzte sie dennoch diese Nachricht als fadenscheinigen Vorwand, um ihren Freund anzurufen. Der ging jedoch nicht ans Handy. Sie rief bei seinem Großvater an. Auch dort meldete sich niemand. Ihre weibliche Intuition sagte ihr schließlich dass etwas nicht stimmte.

Kurzentschlossen klaubte sie sich ihre Autoschlüssel und fuhr persönlich zum Kinomiya Dojo – nur um ein Gebäude vorzufinden dessen Eingang mit neongelben Polizeisperrband versiegelt war. Sie hatte entsetzt auf das im Wind flatternde Plastik gestarrt und musste an sich halten nicht in Panik zu verfallen. Ihre Befürchtungen verschlimmerten sich noch, als sie zwei Polizeibeamten vor der Einfahrt des Nachbarhauses mit einer Kamera hantieren sah. Sie fotografierten die mit Kreide eingezeichneten Umrisse eines Menschen von Asphalt ab – und einer großen vertrocknenden Blutlache.

Es war ein schauriger Anblick.

Kurzerhand sprach sie die beiden Männer an. Diese wollten zunächst keine Auskunft geben, bis Hana sich als Hitoshis Verlobte vorstellte und daraufhin zur zuständigen Zentrale verwiesen wurde. In ihren schlimmsten Träumen hätte sie nicht geglaubt, den heutigen Nachmittag in einem Polizeirevier zu verbringen und als man sie endlich zu Hiro vorließ, hätte sie am liebsten angefangen wie ein Schlosshund zu heulen.

Ihr einst so optimistischer Verlobter, saß auf einer Pritsche und starrte verloren zum einzigen Fenster hinauf, dessen Gitter zwischen hier und der Außenwelt lagen. Mit ihm auf der Pritsche kauerte ein anderer Insasse, der unter seiner Jacke schlief. Er stank nach Alkohol.

Wahrscheinlich hatte man ihn diese Nacht von der Straße aufgegabelt.

Als Hana die Gitterstäbe umschloss erblickte sie die Handschellen an Hitoshis Gelenken. Es schnürte ihr die Kehle so zu, dass sie nur mit beklommener Stimme auf sich aufmerksam machen konnte. Sofort als er seinen Namen hörte, schnellte sein Gesicht zu ihr.

„Hana?“, Hiro wurde aschfahl. „Wie hast du mich gefunden?“

„Deine Verlobte ist kein dummes Blondchen.“, seufzte sie. „Warum hast du mich nicht angerufen? Du müsstest doch wissen wie deine Rechte lauten.“

Er zuckte mit den Schultern. Sie stöhnte gequält auf.

„Hast du wirklich gedacht du könntest das Ganze hier auf eigener Faust im stillen Kämmerchen klären?“

„Einen Versuch war es wert.“, grinste Hitoshi nur matt.

Immerhin hatte er seinen Humor nicht verloren. Sie schmunzelte und blickte zum Beamten neben ihr. „Darf ich zu ihm?“

„Natürlich. Einen Kaffee und etwas Kuchen noch gefällig?“

Ihr lag auf der Zunge ihn als „Arschloch“ zu beschimpfen, doch leider gab es etwas wie Beamtenbeleidigung. Daher blieb es nur bei einem bösen Blick.

„Hiro, wie konnte das nur passieren?“, fragte Hana ihren Verlobten geradeheraus. „Stimmt es wirklich das Ming-Ming deinetwegen tot ist?“

„Ich wünschte ich könnte das verneinen.“, kam es nüchtern. Ihm fiel es sichtlich schwer die Tatsache laut auszusprechen, so gut kannte sie ihn.

„Wie?“

Er atmete hörbar aus. Dann schilderte Hitoshi ihr sämtliche Vorfälle die während seiner Abwesenheit geschehen waren. Sie war mehr als einmal überrascht, was sich innerhalb von einem Tag alles abspielen konnte. Die Anschuldigungen gegen Takao, der Brand bei den Hiwataris, der verschwundene Großvater, selbst ein Angriff auf eine Krankenschwester… und überall waren die ehemaligen Bladebreakers in der Nähe. Das Misstrauen der Polizei lag wohl auf der Hand, nachdem die Gruppe sich in Luft aufgelöst hatte.

Da war Hitoshis „Unfall“ nur der Tropfen der das Fass zum Überlaufen brachte.

Es kränkte sie dass er nach all den Vorfällen nicht in Erwägung gezogen hatte sie anzurufen.

„Spätestens als dein Bruder verschwunden ist hättest du mich benachrichtigen müssen.“, klagte sie ihn an. „Wir wollen nächstes Jahr heiraten und du ziehst mich nie in eure Probleme mit ein. So werde ich nie einen besseren Draht zu deiner Familie bekommen.“

„Fang bitte nicht jetzt damit an.“, es kam so abgekämpft das sie ihm den Wunsch nicht abschlagen mochte. Hana wusste um seine heimliche Sorge die Kinomiyas seien zu durchschnittlich für eine Familie ihres Kalibers. Dabei war Hana sicher, dass ihr Vater und Mr. Kinomiya schnell die Sakegläser heben würden, sollte Hitoshi mal einem Familientreffen zustimmen.

„Hast du bereits einen Anwalt kontaktiert?“

„Nein.“

„Was treibst du denn die ganze Zeit?“

„Ich denke nach…“

„Das solltest du einen Juristen für dich machen lassen! Nachdem was du mir geschildert hast, reden wir hier von Körperverletzung ohne Tötungsabsicht. Schlimmstenfalls fahrlässige Tötung. Wenn du dich aber nicht wehrst, wird man dir anlasten, das du Ming-Ming mundtot machen wolltest, weil sie drohte die Ehre deiner Familie in den Schmutz zu ziehen. Das wäre Mord und du bekommst lebenslänglich!“

Er regte sich nicht. Sie hätte ein Königreich für seine Gedanken gegeben.

„Mein Vater kennt einige gute Anwälte und auch Richter. Wir könnten dafür sorgen das einer seiner Freunde deinen Fall zugewiesen bekommt.“

„Bist du verrückt?!“, herrschte er sie an. Sein Leidensgenosse regte sich schmatzend. Beide blickten auf den Trunkenbold und ahnten dass sie ihn weiterschlafen lassen wollten. Hitoshi erhob sich von der quietschenden Pritsche um sich den Gittern zu nähern.

„Was wirft das für ein Bild auf mich, wenn mich dein Vater nach so einer Aktion aus dem Gefängnis boxt?“

„Es zeigt das deine künftige Familie hinter dir steht.“, sie schob trotzig ihr Kinn vor.

„Es zeigt das ich meinen Posten bekomme habe, weil ich mit der Tochter vom Chef schlafe. Und das ich mir jetzt alles erlaube – sogar einen Mord!“

„Es war ein Unfall!“, pochte sie vehement. „Du bist doch nicht heute Morgen aufgestanden und hast gedacht: Wundervoller Morgen. Ich drehe Ming-Ming nach dem Kaffee den Hals um. Du hast nicht aus Vorsatz gehandelt!“

„Aber aus Affekt.“

„Wer hätte ahnen können dass sie so ungeschickt stolpert!“

„Ich habe keinen Autospiegel abgebrochen, dass ist dir klar, oder?“

„Sag mal willst du dich etwa schuldig bekennen?“

Als er stumm blieb, wurden ihre Augen groß.

„Hiro, ich bitte dich. Sag mir was in dir vorgeht!“

Er blickte sich unbeholfen um, als suche er ein Hilfsmittel, das seine Gedanken in Worte fassen ließ. Im Prinzip war sein ganzes Dasein auf den Kopf gestellt, doch wie ließ sich so etwas schon erklären.

„Ich bin froh dass du nicht dort warst, Hana. Dieses Bild als Ming-Ming das Auto über den Hals gefahren ist. Es ist so brutal gewesen. Weißt du aber was schlimmer ist? Das Geräusch. Dieses furchtbare Gurgeln. Ich kriege es nicht mehr aus dem Kopf.“

Einem Ertrinkenden gleich umgriff er die Gitterstäbe und lehnte seine Stirn an den kalten Stahl. Er wagte kaum die Augen zu schließen, aus Angst das Bild erneut vor sich zu sehen. Er hatte diese Frau gekannt. Sie waren keine Freunde gewesen, aber zumindest Bekannte. Er hatte ihre Mannschaft trainiert und unweigerlich stellte er sich die Reaktion ihres alten Teams vor. Crusher war Ming-Ming auch nach der Bladerzeit sehr nahe gestanden. Ihn würde es besonders treffen. Sie war Mitten im Leben gewesen…

Hanas Finger strichen über seine Wange. Es war wie ein Weckruf.

„Das muss furchtbar gewesen sein.“, flüsterte sie nachsichtig. „Es tut mir so leid dass dir so etwas passiert ist.“

„Sie war noch so jung.“

„Ich weiß, Hiro. Aber ich halte dich nach wie vor nicht für einen Mörder. Ein Täter, ja. Aber nicht aus freiem Willen. Denkst du dir würde das alles so Nahe gehen, wenn du ihr das gewünscht hättest?“

„Womöglich.“, kam es trocken und Hana hoffte ihn umgestimmt zu haben. „Aber die Hilfe deines Vaters werde ich trotzdem nicht annehmen.“

„Warum?“, sie schaute ihn flehend an.

„Ich werde nicht mit Hilfe meines Schwiegervaters den Kopf aus der Schlinge ziehen.“

„Aber wenn du…“

„Nein Hana!“, herrschte er sie an. „Ich habe meinen Posten bekommen, weil wir beide zusammen sind.“

„Weil mein Vater von dir überzeugt ist!“, korrigierte sie, doch Hitoshi überging seine Verlobte mit einem Kopfschütteln.

„Nichtsdestotrotz… Es hat für Unruhe gesorgt. Hätte es deinen Vater nicht gekränkt, wäre ich gar nicht auf sein Angebot eingegangen. Aber das hier ist eine viel heiklere Situation. Was meinst du was passieren wird, wenn herauskommt, dass ich einer Haftstrafe durch Vetternwirtschaft entgangen bin? Der Hexenkessel wird explodieren!“

„Das ist mir egal.“, es war ihr bewusst wie bockig sie klang, doch ihre Angst um Hitoshi überwog und machte Hana blind für die drohenden Konsequenzen. Natürlich hatte ihr Verlobter Recht. Die Presse würde ihre Familie zerreißen, vor allem die Konkurrenz.

„Abgesehen vom wirtschaftlichen Aspekt, könnte ich mich nicht mehr im Spiegel betrachten, wenn ich mich so aus der Affäre ziehe.“, sprach Hitoshi ernst. „Soll ich alle meine moralischen Werte über Bord werfen? Wir wollen eine Familie gründen. Stell dir mal vor unsere Kinder sprechen mich auf diesen Vorfall an. Was soll ich ihnen sagen? Ich habe einen Menschen getötet und bin durch euren Opa mit einem blauen Auge davon gekommen? Ihr dürft euch alles im Leben erlauben so lange ihr Cash auf die Hand zahlen könnt? Was sagt das über ihren Vater aus?“

Er griff nach ihrer Hand und sah sie eindringlich an.

„Hana, ich will aufrecht durchs Leben gehen. Bitte nimm mir nicht die Möglichkeit mein letztes bisschen Ehre zu bewahren! Es würde auch mein Gewissen beruhigen, wenn ich auf normalem Wege freigesprochen werde, ohne dass ich mir einen ungerechten Vorteil verschaffe. Falls nicht, sollte es einfach nicht sein. Dann will ich die Strafe auch absitzen.“

Sie erkannte ihre Niederlage und schloss resignierend die Augenlider.

„Dann werden wir wohl nächstes Frühjahr nicht heiraten?“, fragte sie mit beklommener Stimme.

„Ich fürchte nicht, Kleines.“

„In Ordnung. Ich kann warten.“

„Das musst du nicht.“, der Gedanke schnürte ihm den Hals zu, doch er sprach ihn dennoch aus. „Ich werde wahrscheinlich einige Jahre weggesperrt bleiben. Meinen Posten müsst ihr im Sender dann neu besetzen. Wenn ich irgendwann herauskomme bin ich vorbestraft. Das wird es mir nicht leichter machen eine neue Anstellung zu finden.“

Zumal keinen Arbeitgeber sein Abschluss noch interessieren würde. Die Lücke im Lebenslauf mit Verweis auf seine Vorstrafe würde ihn brandmarken.

„Ich weiß, aber das schaffen wir.“

„Du könntest es besser treffen.“

„Halt einfach die Klappe! Ich werde die Verlobung nicht lösen, falls du darauf hinaus willst. Das ist meine Art mir meine Ehre zu erhalten.“

Er schaute sie lange an. Doch dann grinste er.

„Gut gekontert.“

„Wie gesagt, ich bin kein dummes Blondchen.“

„Würde ich nie behaupten.“, raunte er und fuhr Hana über die Wangen. Es war eine Schande dass sie dem prickelnden Gefühl zwischen sich lange Zeit nicht mehr Ausdruck verleihen könnten. Dann wurde Hitoshi jedoch wieder ernst. „Tust du mir aber einen anderen Gefallen?“

„Natürlich. Jeden.“, antwortete sie neugierig.

„Mein Bruder wird beschuldigt meinen Großvater angegriffen zu haben, obwohl er dazu niemals in der Lage wäre.“

„Das ist noch nicht erwiesen.“, antwortete sie vorsichtig.

„Für mich schon! Ich kenne Tyson.“, Hana wünschte sich inständig das auch von sich behaupten zu können. Nur leider hatte man ihr nie die Gelegenheit dazu gegeben. So blieb ihr nichts anderes als ihrem Verlobten zu glauben.

„Was soll ich tun?“

„Du bist ein kluges Köpfchen, dass brauche ich momentan.“

„Schmierst du mir Honig um den Mund?“, ihre Braue zuckte nach oben.

„Nein. Das ist mein voller Ernst. Ich will dass du herausfindest was bei Tyson momentan schief läuft. Etwas muss passiert sein weshalb er und seine Gruppe verschwunden sind.“

Ihr klappte die Kinnlade einen Moment herunter.

„H-Hiro…“, stotterte sie. „Ich fürchte du überschätzt mich! Wenn die Polizei sie nicht findet, wie soll ich das tun?“

„Das tue ich ganz und gar nicht. Du bist eine fabelhafte Journalistin.“

„Das war ich vielleicht vor drei Jahren, bevor ich zur Redaktion gewechselt bin. Ich denke ich bin ganz schön eingerostet.“

„Vertrau mir. Das ist wie Fahrradfahren, so etwas verlernt man nicht. Ich bin ein Menschenkenner.“, schloss er ab. „Jedenfalls ist Tyson unschuldig. Der beste Weg dies zu beweisen ist meinen Großvater zu finden.“

„Ich verstehe…“, Hana dachte nach wo sie anfangen sollte. Zuletzt war der alte Mann im Krankenhaus gesehen worden. Zur selben Zeit waren das Hiwatari Mädchen, als auch Tysons Freunde verschwunden. Es würde schwierig werden dort hinein zu kommen, wo doch erst kürzlich jemand vom Personal angegriffen wurde, aber sämtliche Mysterien nahmen dort ihren Anfang.

„Du sagtest, du wärst mit einem von Tysons Freunden unterwegs gewesen, bevor der Unfall passiert ist?“

„Ja, Kenny.“

„Meintest du nicht dass er den Abend davor bei der Gruppe verbracht hat?“

Hitoshi bejahte. Sie holte ihr Handy hervor und ließ sich von ihm Kennys Adresse geben. Es dürfte nicht Schaden ihn noch einmal auszuhorchen. Auch um den Tathergang bei Ming-Mings Tod von einem Zeugen zu hören. Hana würde Hitoshis Entscheidung respektieren, aber sich ein eigenes Bild zu machen war wohl noch erlaubt.

Der Polizeibeamte tippte neben ihr auf seine Armbanduhr.

„Sie müssen leider gehen.“

Hana nickte und griff ein letztes Mal durch die Gitterstäbe nach der Hand ihres Verlobten.

„Bitte denk daran dass ich dich unterstützen werde. Egal ob du deine Meinung änderst oder nicht. Ich liebe dich deshalb nicht weniger.“

„Danke. Das weiß ich.“

„Schlaf eine Nacht darüber.“

„Das werde ich.“, es war eine Lüge, so gut kannte sie ihn. Sobald Hitoshi einen Standpunkt vertrat, wich er nicht mehr davon ab.

„Bitte finde meinen Großvater.“

„Ich werde alles tun was im Bereich des möglichen ist.“

„Mrs. Amori, es ist Zeit. Sie müssen gehen.“
 


 

ENDE Kapitel 22
 

Ich hatte diese FF eigentlich abgeschrieben, weil mein Interesse für die Serie irgendwann bei Minus 5 angelangt war. Dann bin ich vor Kurzem umgezogen, hatte einen neuen Kabelanbieter mit Maxdome und habe mir in einem Anflug kindlicher Erinnerungen die zweite Staffel noch einmal angesehen und siehe da - die kreativen Säfte fließen seit dem wie verrückt. Dafür sind nun so viele Monate vergangen, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass noch jemand diese FF verfolgt. Außerdem gibt es eine neue Staffel mit neuen Charas - Ich werde alt. O_o
 

Nichtsdestotrotz... The show must go on.

Das hier wird noch fertig geschrieben!

Es ist spät und meine Augen fallen mir bald zu, daher bitte ich Rechtschreibfehler zu entschuldigen. Irgendwann filze ich nochmal die ganze FF durch.

Tyson stierte seufzend auf die karge Mahlzeit auf seinem Schoß die nur aus Obst bestand. Ein wenig angesäuert stupste er eine Beere an, die auf dem Palmenblatt leicht ins Wippen geriet. Er war absoluter Fleischliebhaber und das hier kam bestenfalls nur als Kuchenbelag in Frage, aber während ihrer jetzigen Situation durfte er wohl nicht wählerisch sein – zumal Kai sich auch nicht beklagte. Er würde sich nicht die Blöße geben und wie ein Kleinkind quengeln, während das eigentliche Kind in der Gruppe brav aufaß. Was das anging hatte er sich weiterentwickelt.

Allegro dagegen schwebte im siebten Himmel. Er hatte ihnen erklärt, dass es für Strommäuse sehr schwierig war, ihre Nahrung zu sammeln, da sie dabei öfters geschnappt wurden. Diese Pattsituation stellte sich Tyson wirklich nervenaufreibend vor. Entweder man suchte nicht nach Nahrung und verhungerte oder man drohte bei der Suche selbst als Essen zu enden. Es musste wirklich schwierig sein das Schlusslicht der Nahrungskette zu bilden.

Max lag alle Viere von sich gestreckt auf dem Boden. Es war so warm das er sich nur mit Mühe dazu durchringen konnte, etwas Nahrung zu sich zu nehmen. In den letzten Stunden war die drückende Schwüle immer schlimmer geworden. Die Luft schien so dick als könnte man mit einem Buttermesser hindurchgleiten. Erst auf Allegros drängen schlang Max einige Happen hinunter. Die kleine Strommaus dagegen aß die vorgelegten Beeren, als wäre es seine Henkersmahlzeit, dabei schmatze er: „Wir müssen uns ganz nah am Quellstrom befinden. Sobald wir aufgegessen haben, sollten wir weiter gehen.“

„Wie sieht der Quellstrom eigentlich aus?“, Max wischte sich über die Stirn und stierte auf den nassen Film den sein Schweiß auf seinen Fingerkuppen hinterließ. Was hätte er nicht alles für eine kalte Cola gegeben. In den USA hatten sein Vater und er sich gerne nach getaner Arbeit auf die Dachterrasse ihres Ladens gesetzt und im Hochsommer ein kühles Bier getrunken. Es war stets eine Wohltat gewesen, da die Klimaanlage ständig ausfiel und der anstrengende Tag so schöner abklang. Er konnte nicht verhindern dass er an die Beerdigung seiner Mutter denken musste.

„Hmm… das ist unterschiedlich.“, Allegro hob die mit Beerensaft bekleckerte Schnauze an. „Es können tiefe Erdspalten sein. Manchmal sieht man auch einige Menschenseelen darin.“

Die Gruppe setzte sich gerade auf.

„Du meinst Geister?“, auf Maxs Nacken sträubten sich die Härchen.

„Richtig.“, das Bit Beast schob sich eine ganze Beere ins Maul und tupfte sich mit einem abgerupften Kleeblatt das Schnäuzchen sauber. „Deshalb müssen wir schleunigst ein Bit Beast finden dass euch hilft. Mir würden die Seelen nichts antun, aber ihr werdet Probleme bekommen.“

„Wieso?“

„Ach wisst ihr“, druckste Allegro und schien sich unwohl in der Mäusehaut zu fühlen. „Manche Menschenseelen sind nach dem Ableben etwas… missgestimmt. Gerade jene die eines plötzlichen Todes gestorben sind, kommen nicht damit klar dass es vorbei ist. Die stellen den Lebenden dann gerne Stolpersteine in den Weg.“

„Inwiefern?“, wollte Tyson wissen.

„Je nachdem wie wütend und verzweifelt sie sind, können sie manchmal die Lebenden heimsuchen und ihnen die Energie aufsaugen.“

„Was soll das nützen?“

„Im Prinzip gar nichts. Es hält ihre Seele nur davon ab in der Menschenwelt zu verblassen. An ihrem eigentlichen Zustand ändert es aber nichts. Ihr tot ist unwiderruflich, aber manche klammern sich so vehement an das Diesseits, dass sie die Energie jedes Menschen anzapfen der ihren Weg kreuzt. Die Körper dieser Geister sind aber manchmal schon am Verrotten, es gibt also keine Möglichkeit mehr wie sie wieder ihr einstiges Leben zurück erhalten. Aber so sind Geister nun mal. Bedauernswerte verwirrte Geschöpfe. Sie können kaum noch richtig von falsch unterscheiden. Ein Jammer…“

Tyson blickte nachdenklich auf sein Essen herab.

„Bit Beast brauchen Gefäße um in die Menschenwelt zu gelangen und Menschen ihre Körper um dort zu existieren. Es besteht also fast kein Unterschied.“

„Im Grunde hast du Recht. Nur kann ein kaputtes Gefäß ersetzt werden. Ein Menschenkörper weniger.“, Allegro verschränkte die Arme vor der Brust und legte den Kopf schief. „Wir müssen schnellstens ein Bit Beat finden das stark genug ist, um euch vor den Attacken eines Geistes zu schützen. Mir würden sie keine Beachtung schenken, aber auf euch werden sie sich stürzen, wie Harpyien die ein Schaf reisen.“

Nüchtern schwieg die Gruppe. Da lag der Hund also begraben. Ihre eigenen Artgenossen tummelten sich am Quellstrom und fanden sie kein stärkeres Bit Beast, das die Geister abwehren konnte, würden sie nicht nachhause kommen.

„Müssen wir da hin?“, fragte Kai leise. Ihm schien nicht wohl dabei.

„Na na na!“, Tyson schielte grinsend zu ihm herab. „Keine Panik, Krümel. Ich pass auf dich auf.“

„Ich habe keine Angst!“, markierte der Kleine den starken Mann und wandte peinlich berührt das Gesicht von ihm ab. Er nuschelte: „Und du sollst mich auch nicht Krümel nennen.“

„Ja, ist klar.“, rollte Tyson mit den Augen. Max grinste vom Boden aus amüsiert. Als er das erste Mal diesen Spitznamen vernommen hatte, fragte er seinen Freund, wie er darauf gekommen war. Daraufhin hatte ihm Tyson davon erzählt, dass er Kai die klare Ansage gemacht hatte, dass er das Brot und der Kleine ein Krümel sei. Max musste lauthals losprusten, da die vertauschten Rollen doch der puren Ironie entsprachen.

„Warum gehen wir nicht zur Dame Solowéj?“

„Darüber brauchen wir gar nicht diskutieren.“

„Aber wir könnten doch bei ihr bleiben.“, schlug Kai hoffnungsvoll vor. „Ich bitte sie einfach darum, dass ihr auch im Haus wohnen dürft. Sie sagt bestimmt nicht Nein.“

Max und Tyson tauschten unruhige Blicke aus, bis Ersterer sprach:

„Das ist zwar nett gemeint aber wir können hier keinesfalls bleiben.“

Er setzte sich schwerfällig auf. Diese Hitze…

„Warum?“

„Weil dieser Ort nicht gut für uns ist.“, Maxs tiefblaue Augen schauten ihn bittend an. Es hatte etwas Einnehmendes an sich. „Und für dich ist dieser Ort schon zehnmal gefährlicher. Wir möchten wirklich dass du mitkommst, Kai. Kannst du nicht uns zuliebe deine Dame vergessen?“

Das konnte er wohl nicht, denn Kai schaute seufzend weg. Scheinbar ging Maxs freundliche Art aber auch an ihm nicht spurlos vorbei, deshalb pochte er nicht weiter auf seinen Wunsch.

„Du wirst es irgendwann verstehen.“, entschied Tyson ruhig und fuhr dem Kind aufmunternd über den dunklen Haarschopf. Er sah keinen Sinn darin sich mit dem Kleinen zu streiten. Wie sollte er dem Kind auch erklären, was um ihn herum vorging, wenn es bereits an seinen Erinnerungen an die wirkliche Welt scheiterte. Für ihn schien nichts weiter Absonderliches an seiner Umgebung zu sein und die Gefahren hier bestärkten ihn lediglich in den Aussagen, die ihm Dranzer in den Kopf gesetzt hatte.

„Ihr Älteren behandelt mich wie ein Baby. Das ist gemein.“, kam es betrübt.

„Das stimmt doch gar nicht.“, sagte Max sichtlich betroffen.

„Warum zählt dann meine Meinung nicht?“, klagte er.

„Weil dein Einfall keine Option ist. Vertrau uns einfach. Wir wissen was wir tun.“

„Mein Gott, diskutiert doch nicht mit ihm herum!“, blaffte Ray sie plötzlich an. „Wenn du unbedingt hier bleiben willst um zu verrecken, dann mach es doch Kai!“

„Was soll das?!“, zischte Max wütend.

Ray blinzelte irritiert und ihm wurde bewusst, dass alle ihn erbost anstarrten.

„Ich… Tut mir Leid. Das ist wohl die Hitze die mir aufs Gemüt schlägt.“, er zog seinen Kragen etwas weiter und merkte wie heiß ihm war. „Ich suche mal kurz nach einer Abkühlung.“

„Du solltest nicht alleine durch die Wälder pirschen.“

„Von uns allen bin ich derjenige der am besten alleine klar kommt! Also halt dich da raus, Max!“, er warf sein Essen angesäuert beiseite und verschwand hinter einem großen Farngestrüpp.

„Was soll denn diese Arschlochaktion?!“, rief Tyson ihm hinterher. Doch Ray war bereits außer Sichtweite und bis auf ein „Pah!“, hörte man nichts mehr.

„Was stimmt denn nicht mit ihm?“, wollte er wissen.

„Keine Ahnung. Er ist auch ziemlich wortkarg momentan.“

„Seit wann nimmt ihn ein wenig Hitze so mit?“, ratlos blickte die Gruppe in die Runde, bis Tyson zu Kai blickte. Der Kleine stierte auf sein Essen, allerdings mit einer solchen Enttäuschung, dass es einem den Hals zuschnürte. Unweigerlich musste er daran denken, wie er sich in seinem Alter nach einer solchen Abfuhr verhalten hätte. Wenn Hiro ihn gescholten hatte, ließ er sich erbarmungslos auf den Boden fallen, strampelte schreiend mit Händen und Füßen und beschuldigte ihn sein böser Stiefbruder zu sein. Er war auch nicht gerade zimperlich gewesen, was den Gebrauch von aufgeschnappten Schimpfwörter betraf, vor allem wenn – wie sein Bruder es stets entnervt bezeichnete – einen Furz quer sitzen hatte. Kai konnte man dagegen förmlich dabei zusehen, wie er sich stillschweigend in sein inneres Kämmerchen verkroch. Er war wirklich sehr introvertiert.

Allegro sprang an dem umgekippten Baumstamm hoch, auf dem er und das kleine Kind saßen. Auf zwei Beinen tippelte das Bit Beast näher heran und legte mit herabhängenden Ohren den Kopf schief, als er den Jungen beobachtete. Dann tätschelte er Kais Bein, was der sicherlich nur vage spüren konnte.

„Sei nicht traurig, mein Junge. Was immer Ray in Rage versetzt hat, es hat sicherlich nichts mit dir zutun.“

„Ich bin nicht traurig.“, log er.

„Doch, doch… Da kannst du dem guten Allegro nichts vormachen. Ich rieche das schon von weitem.“ Kai schaute auf die kleine Strommaus herab. „Und genauso rieche ich auch, dass Ray das keinesfalls ernst gemeint hat. Es wäre seine letzte Absicht dass du hier elendig zu Grunde gehst. Vertrau mir, ein Bit Beast kann man da nicht so leicht belügen.“

Insgeheim schickte Tyson ein Stoßgebet Richtung Himmel für die Strommaus. Er wusste nicht wie er mit Kai umgehen sollte, wenn der tatsächlich etwas wie Trauer empfand. Um darauf reagieren zu können, hätte ihr Freund ihnen wenigstens einmal die Gelegenheit dazu geben müssen, doch das funktionierte nicht, wenn man sich vor der Außenwelt abkapselte.

So wusste sich Tyson nicht anders zu helfen, als ihm vorsichtig einen Arm um die Schultern zu legen und ihn tröstend an sich zu drücken. Max starrte beide wie von Donner gerührt an. Wahrscheinlich fragte er sich, ob Tyson sich noch bewusst war, wen er da so vertraut in den Armen hielt und das dieser Zustand nur temporär war. Irgendwann wäre Kai doch hoffentlich wieder Erwachsen und dann würde er ihn umbringen.

„Jeder hat mal einen schlechten Tag. Sogar Ray.“, sagte Tyson ruhig, auch wenn er das Verhalten seines Freundes mehr als beunruhigend empfand. „Ich verspreche dir, eher gefriert die Hölle, als das wir dich hier zurücklassen.“

Kai lächelte schüchtern und als er den Kopf an seinen Brustkorb schmiegte, klappte Max die Kinnlade verdattert runter. Er starrte zu Allegro der nur mit den Achseln zuckte.

„Ich habe es dir gesagt…“

„Was meint er?“, kam Tysons Frage.

„Nichts, nichts!“, Max hob abwehrend die Hände und lachte verlegen. „Aber wie du gesagt hast, hier wird niemand zurückgelassen! Entweder alle oder keiner.“

„Um die Kurve kommst du damit eher holpernd.“, kommentierte Allegro sein Verhalten.

Max Braue zuckte genervt. So sehr er die Strommaus auch mochte, weshalb musste er nur so verdammt ehrlich sein.

„Ist das ein Insider? Ich steig da nämlich nicht so ganz hinterher.“, fragte Tyson argwöhnisch.

Noch bevor Max eine Ausrede zurechtlegen konnte, spitzte Allegro aber plötzlich die Ohren in höchster Alarmbereitschaft. Mit der Schnauze voraus witterte er angespannt in der Luft, dann sträubten sich seine Haare.

„Oh oh oh! Das ist gar nicht gut!“

Er hüpfte an Max hoch.

„Lasst alles stehen und liegen!“

Tyson fragte gar nicht weshalb und packte Kai am Oberarm, um ihm vom Baumstamm zu zerren.

„Vielleicht könnte uns dieses Bit Beast aber helfen!“, wandte Max ein. Er hatte Mühe sich mit seinem angeschwollenen Arm aufzustemmen, da half Tyson ihm ebenfalls hoch. Doch Allegro fuchtelte nur wild mit den Ärmchen.

„Um Himmels willen! Als würde Zeus euch helfen!“
 

*
 

Dragoon kratzte sich am Kinn und begutachtete den bröckelnden Erdspalt aus dessen Inneren die flüsternden Laute der Toten drangen. Er musste gestehen dass er doch einen Schrecken bekam, als er mit den Wurzeln von Yggdrasil sah, dass Kai vor kurzem direkt davor gestanden hatte. Um Haaresbreite wäre ein Ausgang aus der Irrlichterwelt entdeckt worden. Er beauftragte umgehend Draciel mit der Dichtung des Lecks, wollte sich aber auch ein Bild davon machen. Die letzten Tage kam es häufiger vor das diese Welt instabiler wurde. Dragoon konnte sich nicht erklären weshalb. Driger hätte eigentlich merken müssen das sich in sein Erdreich ein riesiges Loch zur Menschenwelt fraß. Seit Dranzer nicht da war ließ der alte Brummtiger wohl nach.

Verstimmt dachte Dragoon dass dieses Problem auch noch zu klären war.

Wohin war sein kleiner Phönix entflogen? Es ärgerte ihn dass sie erneut ein Hintertürchen gefunden hatte, um ihm zu entkommen, doch so war seine verschlagene Dienerin einfach. Er entsann sich den Kämpfen in der Beyarena, wo sie stets für eine Überraschung gut gewesen war. Dranzer machte einen Sieg über sie nie einfach…

Er schwelgte in Erinnerungen und seufzte.

Dann schielte er aus den Augenwinkel heraus zu Draciel. Dieses Bit Beast war da komplett anders. So wie man es hinführte ließ es sich treiben – wie ein Fluss der seinem Lauf folgt.

Zu jedem seiner Befehle sagte es „Ja“ und „Amen“. Symbolisch gesprochen.

Es sprach ja nie.

Draciel war durchaus dazu im Stande, nur als Schildkröten Bit Beast eben furchtbar langsam. Irgendwann hatte es sich gar nicht mehr die Mühe gemacht, mit Worten ihrem Denken Ausdruck zu verleihen und war gänzlich verstummt. Die anderen Uralten hatten es darum gebeten, doch einfach eine neue Gestalt auszuwählen, aber Dragon beschlich die Vermutung, dass dieser Zustand dem Wasser Bit Beast ganz Recht kam.

Draciel hielt nichts von Worten.

Er dachte an seine Diskussionen mit Dranzer und musste gestehen, dass es eintönig am Wurzelwerk wurde, wenn er niemanden zum Triezen besaß. Draciel und Driger beugten sich seinem Willen. Sein kleiner Phönix war dagegen aufmüpfig und gab ihm schnell Gelegenheit die Muskeln spielen zu lassen. Das musste die Energie der Jugend sein.

Dann war da noch ihr Duft der so langsam verklang. Nach funkelnden Federn, Sonnenstrahlen und Flammen. Manchmal hatte ihn diese Note so in Wallung versetzt dass er ihr herzhaft ins Fleisch biss. Einfach um noch den Klang ihres schmerzverzerrten Schrei zu hören. Dann wurde es richtig feurig am Wurzelwerk. Sie war dann immer so wütend geworden, vor allem wenn diese Übergriffe im Schlaf passierten – zimperliche Henne.

Als konnte er etwas für seine Instinkte…

Mit einem weiteren wehmütigen Seufzen trat er einen Stein in den Erdspalt.

Er stellte fest dass die zimperliche Henne ihm fehlte.

„Sieh zu das du den Spalt unter Wasser setzt, “ trug er Draciel mit einer gelangweilten Bewegung auf und wollte sich schon aus dem Staub machen. Doch das Bit Beast starrte ihn nur wortkarg an.

„Was? Die Menschenseelen? Dann steig eben runter und scheuch die Geister in einen anderen Teil des Wurzelwerks.“, er hob süffisant grinsend eine Braue. „Du kannst den Stollen aber auch einfach unter Wasser setzten und die Seelen wie die Ameisen ersaufen lassen. Tot sind sie doch ohnehin schon.“

Keine Regung. Er rollte mit den Augen.

„Mach was du willst. Am Ende des Tages ist der Stollen aber zu, Liebes.“

Es wehrte sich nicht einmal gegen den Kosenamen. Wie langweilig…

Verstimmt wandte sich Dragoon ab, als beide Bit Beast wie vom Donner gerührt den Kopf in dieselbe Richtung schwangen. Es braute sich Finsternis im Dschungel auf, das spürten sie wie eine drückende Schwüle im Sommer, die ein bevorstehendes Gewitter ankündigte.

„Wunderbar! “ zischte Dragoon entnervt. „Erst schnappt Dranzer über, dann ihre klammernde Glucke von Schwester und jetzt noch Zeus. Kann ein Drache nicht einfach seiner Rache frönen, ohne dass sein Menschenkind ständig angegriffen wird!“
 

*
 

Ray klatschte sich das kalte Wasser ins Gesicht. Es rann ihm seinen Hals hinab in die Unterseite seines Kragens und hinterließ feuchte Spuren. Mit geschlossenen Lidern hob er den Kopf zum Himmel und atmete ruhig aus.
 

„Alleine würde ich viel schneller vorankommen!“
 

Er schüttelte sich. Das kam nicht in Frage!

Aber ganz von der Hand zu weisen war dieser Vorwurf nicht. Tyson und Max waren verletzt. Im Klettern waren sie ohnehin nicht so bewandert wie er, was einen Aufstieg an den Hängen des Talkessels schwierig gestaltete. Ray selbst hätte darin kein Problem gesehen, doch musste er sich seinen Freunden zuliebe zurückhalten.

Das hatte man davon wenn man mit Stadtmenschen in der Wildnis festsaß.

Und jetzt kam auch noch Kai dazu, der in seiner kindlichen Form einen Sonderstatuts genoss und ständig mit Samthandschuhen angefasst werden musste. Tyson behandelte ihn wie eine Porzellanpuppe, dabei waren die beiden doch sonst nicht sonderlich höflich miteinander umgegangen – und Max sprang jetzt auch auf den Zug auf. Da schien es fast, als wolle eine höhere Gottheit Ray dafür strafen, dass er nicht gehandicapt war.

Er biss sich auf die Unterlippe und unterdrückte diesen Gedanken.

Woher kam dieser Egoismus?

So war er doch nicht!

Ray blickte etwas verloren in das plätscherten Gewässer. Sein jugendliches Abbild starrte ihm ernst entgegen und erzitterte zu den Bewegungen der Stromschnellen. Etwas seltsam empfand er die beiden hellgelben Blätter, die ihm starr in seinen Nacken zu blicken schienen, bis ihm schlagartig bewusst wurde, dass hinter ihm eine hünenhafte braungebrannte Gestalt stand. Ray fuhr so ungeschickt um, dass er sich mit der Rechten abstützen musste, auch wenn sie dadurch im Wasser landete. Er versuchte die Balance zu halten, um nicht in den Bach zu stürzten, gleichzeitig starrte er voller Misstrauen auf den Mann der sich vor ihm erhob. Er war mit seiner Umgebung geradezu verschmolzen.

Irritiert blickte Ray den Hünen vor sich an.

Der lehnte mit verschränkten Armen nur an einem Baum und legte den Kopf etwas schief.

Um seinen Mund lag ein stählerner Zug, bis er ihn zu einem schiefen Grinsen verzog, der die langen Eckzähne entblößte. Mit dem hellweißen Tigerfell um den Schultern brauchte Ray nicht lange zu überlegen, weshalb ihn dieser Mann an ein Raubtier erinnerte.

Wachsam richtete er sich auf.

„Tiefe Kratzspuren im Gesicht, weißes Tigerfell, exotisches Aussehen… Ich nehme an du bist Driger in menschlicher Form?“, sprach er trocken.

„Wie aufmerksam, junger Streuner.“, die goldgelben Augen blickten sich beiläufig um. „Soweit vom Rudel entfernt? Ist dir noch nicht zu Ohren gekommen, dass man sich in der Irrlichterwelt vor Bit Beast in Acht nehmen sollte?“

„Ich komme schon klar.“

„Natürlich tust du das. Du als ausgebildeter Zen-Meister besitzt wohl die besten Kenntnisse um in der Wildnis zu überleben.“, höhnte er.

„Was willst du Driger?“, fauchte Ray ihn an.

„Ich bin nur etwas verwundert.“, zuckte der gelangweilt mit den Achseln. „Zweifelsohne scheinen dir deine Freunde ein Klotz am Bein zu sein. Dennoch hockst du bei ihnen und lässt dich zum Laufburschen degradieren.“

„Laufbursche? Davon merke ich nichts.“

„Jetzt noch nicht… Aber wie sieht es in der Zukunft aus? Zwei deiner Freunde sind verletzt, während der andere zurückgeblieben ist. Die Drecksarbeit wirst dann wohl du machen.“

„Kai ist nicht zurückgeblieben.“

„Nenn es wie du willst. Du wärst aus diesem Talkessel längst heraus, hockst aber hier fest, weil du nicht das Rückgrat hast die nötigen Konsequenzen aus der Situation zu ziehen.“

„So etwas macht man nicht unter Freunden!“, klagte Ray ihn an. „Davon verstehst du nur nichts, weil du deinen ehemaligen Partner lieber in deine verdammte Welt entführst!“

„Gib nicht mir die Schuld an deinem sentimentalen Quatsch.“, sprach Driger gebieterisch. „Ich habe dich in diese Welt entführt, damit du wieder zu dir selbst findest. Der Ray den ich kannte, hatte keine Scheu davor, seinen Freunden die Zähne zu zeigen, wenn es darauf ankam.“

„Wann soll das gewesen sein?“

„So vergesslich?“, lächelte Driger mit seinen raubtierhaften Zügen. „Die dritte Weltmeisterschaft? Hattest du da deine Gruppe damals nicht verlassen, weil du unbedingt Weltmeister werden wolltest?“

„Das ist doch wohl kaum ein Vergleich…“, er dachte kurz nach und fügte noch hinzu. „Und ich war nicht der Einzige der das Team gewechselt hat, also warum pickst du darauf herum?“

„Zugegeben, die Situationen sind vielleicht anders, aber das Grundprinzip doch ähnlich. Du steckst fest und drohst mit deinen Freunden unterzugehen. Damals warst du nicht überzeugt dass du an Tysons Seite eine Chance auf den Weltmeistertitel erhalten würdest. Nun weißt du nicht ob du es mit dieser Gruppe nachhause schaffst.“, Driger schob einen Finger unter sein Kinn und ein geradezu fragender Ausdruck trat auf sein Gesicht. „Merkwürdig. Ich hatte wirklich angenommen, dass du gerade um deiner Mariah Willen zurück willst.“

Dann tat er den Gedanken mit einem Schulterzucken ab.

„Aber gut, mir soll es Recht sein. Wenn du hier bleibst habe ich ja was ich wollte.“

„Ich will nicht hierbleiben!“, herrschte Ray ihn an.

„Dann hier ein kleiner Rat unter früheren Partnern.“, Driger hob mahnend den Finger. „Ich werde es dir nicht einfach machen von hier zu verschwinden. Da solltest du dir Gedanken machen wie viel Ballast du mit dir herumträgst, Streuner.“

„Ich habe deine Spielchen satt! Lass uns nachhause!“, rief er wütend aus. Doch das Bit Beast verschwand in den umliegenden Büschen und als Ray ihm hinterher sprintete, war es vom Erdboden verschluckt worden.
 

*
 

Kenny hatte geglaubt einen nach Vanille duftenden Engel vor sich zu haben, als da plötzlich diese hinreißend Frau an seiner Haustür klopfte. Sie war nicht besonders groß und besaß wohl ausländische Wurzeln, denn mit dem blonden Haar fiel sie komplett aus dem asiatischen Raster. Und Himmel, was hatte sie für eine reine Haut und diese dichten Wimpern!

Als bekennender Nerd verbrachte er den Großteil seines Lebens vor dem Monitor seines Rechners, sowohl beruflich als auch privat. Hätte Tyson ihn nicht manchmal mit Biegen und Brechen aus seinem Schneckenhaus geholt, wäre er die letzten Jahre noch seltener unter die Leute gekommen. Dennoch änderte es nichts daran, dass er schlecht mit Frauen sprechen konnte.

Hiromi war da zunächst die große Ausnahme gewesen - jedenfalls bis ihr Brüste wuchsen. Damit war ihm nämlich vor Augen geführt worden, dass auch ihre Jugendfreundin aus den zarten Kinderschuhen herauskam und sie gegen hochhackige Pumps austauschte. Die ganze Welt war im Wandel. Er hatte sich wirklich geohrfeigt, dass er nicht die Weichen für eine spätere Beziehung früher bei ihr gelegt hatte. Stattdessen stellte sie der Gruppe irgendwann ihren Freund vor und das gerade in der Phase seines Lebens, als er begann etwas weiter über den Monitorrand zu spähen und sie doch als recht attraktiv zu empfinden. Als sie sich dann nach einem riesigen Knall von ihrem Freund trennte, hatte er gehofft sich bei ihr einschmeicheln zu können, indem er ihr zuhörte und zur Seite stand, stattdessen verschwendete die resolute Japanerin keine Sekunde mit Liebeskummer, sondern packte ihre Koffer und verschwand in die USA als Au Pair Mädchen. Sie pflegten noch alle ein freundschaftliches Verhältnis zu Hillary – aber eben in der Friendzone.

Er besaß kein Glück mit dem anderen Geschlecht…

Nach den letzten Stunden hätte er wirklich geglaubt, dass eine höhere Macht sich endlich seiner erbarmte, doch entpuppte sich die Schönheit vor ihm als Hitoshis Verlobte. Ihn wurmte das die Männer im Haus Kinomiya wohl mit einer hinreißenden Frau nach der anderen trumpften. Tysons Liebschaften waren auch nicht gerade von schlechten Eltern gewesen und Kenny hatte seinen Freund mehr als einmal dafür getadelt, wenn er nicht treu blieb – insgeheim beneidete er ihn aber. Nerds wie er waren einfach keine Frauenmagneten.

Das war unfair und an diesem Tag konnte er diese Art von Ungerechtigkeit einfach nicht verkraften. Als wäre er heute nicht genug gestraft worden!

Nach den vorangegangenen Erlebnissen wäre er am liebsten unter seine Decke gekrochen und sehnte sich seine unkomplizierte Dizzy herbei. Im Anwesen der Kinomiyas hatte er nach seinem Laptop gesucht, doch er vermutete – wo immer die Gruppe sich momentan herumtrieb – dass sein liebes Bit Beast noch im Kofferraum von Tysons Wagen lag. Als dann auch noch sein Jugendschwarm heute Abend unter die Räder geraten war, hatte er sich gleich neben der Unfallstelle erbrochen. Er war gewohnt das die Frauen für die er schwärmte aus seinem Leben traten… aber weshalb gleich so?!

Kenny war Hiro wirklich keine Hilfe gewesen, denn zwischen einem Schwall Kotze brachte er lediglich ein ekelerregendes Kauderwelsch als dessen Verteidigung vor. Irgendwann war dem Inspektor der Kragen geplatzt und er ließ die Unfallstelle komplett räumen. Kenny brachte man mit einem Streifenwagen zum Revier, wo er seine Aussage machte. Verschämt musste er daran denken, was für einen eingeschüchterten Eindruck er wohl auf die Polizisten gemacht haben musste. Seiner Bitte, Hiro noch einmal sehen zu dürfen, wurde eine derbe Abfuhr erteilt und er nahm sich das nächste Taxi nachhause. Er hatte gerade noch geduscht und einen Tee mit Beruhigungstropfen seiner Mutter aufgesetzt, da hämmerte auch schon Hitoshis besagter Vanilleengel an die Tür und spazierte unaufgefordert in die Wohnung. Ihr hübsches Gesicht täuschte zunächst darüber hinweg, dass sie nicht auf den Mund gefallen war, denn sie quetschte ihn übler aus, als sämtliche Polizisten auf dem Revier.

Zu seiner Überraschung interessierte sie nicht nur der Unfall von Ming-Ming – den ließ sie sogar immer weiter in den Hintergrund rutschten – stattdessen konzentrierte sie sich mehr darauf, was aus den restlichen Bladebreakers geworden war.

Er wiederholte eigentlich nur, was er bereits Hiro berichtet hatte.

„Wo wart ihr etwas Essen?“

Er nannte ihr das Restaurant.

„Habt ihr viel getrunken?“

Er hob hilflos die Hände und antwortete selbst zu tief ins Glas geschaut zu haben, um das noch beurteilen zu können.

„Wann hat dich Tyson nachhause gebracht?“

Er betonte nochmal dass er betrunken gewesen war und nur noch wenig wusste.

„Welches Kennzeichen hat er und wie sieht sein Wagen aus?“

Er nannte ihr die Daten.

„Hat Tyson versucht dich am nächsten Morgen zu erreichen?“

Er bejahte.

„Wie oft?“

Er gab an das es um die sieben Mal war.

„Wann kam der letzte Anruf?“

Er musste stutzen, da er dies noch nicht überprüft hatte, zückte sein Handy und erklärte ihr, dass die letzte Nachricht, gestern um zehn Uhr morgens eingegangen war.

„Warum hast du nicht zurückgerufen? Es hätte ein Notfall sein können!“

Er blickte schuldbewusst auf seine Hände und wiederholte er sei betrunken, verkatert und nur am Kotzen gewesen. Es kam ihm vor als sei er der spanischen Inquisition in die Hände gefallen. Natürlich sorgte er sich um seine Freunde, doch die Vorwürfe die sie ihm an den Kopf warf, hatte er auch von Hitoshi zu hören bekommen. Waren alle so erpicht darauf, einen Sündenbock zu finden, dass die Hexenjagd jetzt auf ihn eröffnet war?

Mit kratziger Stimme bot er ihr erst einmal ein Getränk an, doch sie lehnte ab.

„Dafür werden wir keine Zeit haben. Ich brauche jemanden der mir bei den Recherchen hilft und hatte eigentlich auf deine Hilfe gebaut.“

Kenny verschluckte sich beinahe an seinem Tee.

„Bitte was?“

„Du willst doch wohl genauso erfahren was mit deinen Freunden passiert ist wie Hitoshi, oder nicht?“, sie taxierte ihn scharf. Ein „Nein“ war hier definitiv keine Option mehr und das obwohl es ihm wirklich dreckig ging. Sein Magen rebellierte noch immer wenn er an Ming-Mings Ableben dachte und der Kater von Freitagnacht tat sein Übriges. Unweigerlich fragte er sich, ob Hiro ihr erzählt hatte, was er ihm zu Anfang ihrer gemeinsamen Suche für Vorwürfe gemacht hatte. Es war Kenny gewesen, der Hitoshi sagte, dass er sich kaum um seine Familie scherte. Nun schienen ihm die Rollen vertauscht. Das konnte er doch nicht auf sich sitzen lassen…

„Natürlich will ich das. Ich glaube immerhin genauso wenig das Tyson seinem Großvater etwas antun würde wie Hiro! Außerdem will ich wissen was mit Kai und seiner Schwester nach dem Brand passiert ist.“

Er konnte sich nur vage an das Mädchen als Säugling erinnern. Die Bilder im Fernsehen ließen erahnen, dass es sich beim Hiwatari Anwesen nicht um einen leichten Herdbrand gehandelt hatte. Das Gebäude war lichterloh in Flammen gestanden. Er konnte sich außerdem keinen Reim daraus machen, inwieweit Ray und Max in die Sache verstrickt waren. Er machte sich ernsthafte Sorgen und fand es befremdlich, dass keiner seiner Freunde an sein Handy ging. Hana Amori nickte zufrieden und dachte nach.

„In welchen Hotels waren eigentlich Max und Ray untergebracht?“

„Oh warte, darüber hatten wir beim Abendessen gesprochen.“, Kenny rieb sich über die Augen und ließ die Zahnräder in seinem Kopf anfahren. „Das war das Peninsula Tokyo wenn ich mich recht erinnere.“

„Meinst du das nur oder weißt du es?“, drängte sie.

„Ich bin sicher!“, gab Kenny etwas angesäuert zurück. Er wusste noch wie Max seine Aussicht auf den Hibiya Park von seinem Zimmer aus angepriesen hatte.

„Ihr ward dort also noch nicht?“

„Zuerst kam Hiro zu mir. Danach wollte er zum Krankenhaus. Dort herrschte aber ein absolutes Chaos wegen dem Angriff auf das Personal. Niemand wollte uns dort weiterhelfen. Das Hotel von den beiden wäre dann unsere nächste Anlaufstelle gewesen, wenn dieser Inspektor nicht Hiro darüber informiert hätte, dass in Kürze eine Hausdurchsuchung im Dojo stattfinden würde. Gleich nachdem er aufgelegt hatte, ist Hiro mit hundertachtzig Sachen wieder zurück nach Hause gefahren. Wir sind gar nicht mehr bis zum Hotel gekommen…“, antwortete Kenny und hob hilflos die Arme.

„Wärst du doch nur ins Hotel gefahren.“, dachte Hana bekümmert. Es hätte Hitoshi den Vorfall mit Ming-Ming erspart. Doch es half nicht über verschüttete Milch zu jammern. Das Kind lag nun im Brunnen und sie hatte ihm versprochen sich um Takao zu kümmern.

„Zieh dich um. Wir gehen ins Pensula Tokyo.“

„Was wollen wir da?“

„Eventuell sind Max und Ray dort. Nun komm schon!“

„Aber glaubst du die Polizei hat nicht auch daran gedacht?“

„Das kommt darauf an… Habt ihr ihnen gesagt in welchem Hotel die beiden eingecheckt haben?“

„Nein.“, gestand Kenny. „Hitoshi wollte erst alleine mit ihnen reden. Aber die Polizei hat doch bestimmt Mittel und Wege um das herauszu-…“

„Überschätz die Leute im Revier mal nicht.“, fiel sie ihm ins Wort. „Das sind in der Regel ganz schön arme Schweine, die kaum mit ihrer Arbeit in dieser Großstadt vorankommen. In den letzten Jahren sind denen auch ziemlich viele Mittel gestrichen worden, weswegen es an Beamten mangelt. Polizisten sind gerade deshalb um jeden Wink aus der Bevölkerung dankbar, weil es ihnen sehr viel Aufwand erspart. Das wird Hiro auch geahnt haben, deshalb wollte er zuerst zum Hotel, um sich einen Vorteil zu verschaffen, falls Ray und Max dort sind und Tyson nicht. Warum denkst du hat er das Hotel dem Inspektor wohl nicht genannt?“

Das ergab durchaus Sinn, doch Kenny war trotzdem mulmig zumute. Seiner Meinung nach mischten sie sich damit in laufende Ermittlungen ein und er befürchtete dabei von der Polizei aufgegriffen zu werden. Anscheinend las Hana Amori seine Gedanken. Sie schenkte ihm ein so bezauberndes Lächeln, das ihm die Knie weich wurden, setzte sich zu ihm auf die Couch und legte ihre manikürten Finger auf seinen Oberschenkel:

„Ich könnte wirklich einen starken Mann an meiner Seite gebrauchen. Außerdem…“, sie klimperte mit den dichten Wimpern und er spürte förmlich wie er zu einer Wachslache zerfloss. „… meinte Hiro du seist ein absolutes Computergenie. Ich bin zuversichtlich das ein Mann mit deinen Qualitäten mir weiterhelfen kann.“
 

ENDE Kapitel 23
 

Ich bin wirklich in den letzten Wochen erstaunt gewesen von so vielen altbekannten Usern wieder zu hören. Gerade Minerva, bloodydream und Zion - ihr ward ja von Anfang an dabei. Daher ein dickes Dankeschön an euch. ^^

Ich habe nicht vor euch nochmal so lange warten zu lassen. Jetzt wird die Geschichte zu Ende gebracht ^_~

Auch ein Danke an die neuen Gesichter. Ich meinte wirklich dieses Genre gelte als ausgestorben, weil die Aktivitäten im Beyblade Bereich gleich Null sind. Andere posten zwar noch Geschichten aber erhalten gar kein Feedback mehr. Daher weiß ich die Kommentare wirklich zu schätzen und sehe sie nicht als Selbstverständlichkeit an.
 

In diesem Kapitel kam der Szenenwechsel etwas häufiger. Das liegt daran dass der Kessel hochkochen soll. Es gibt ja noch einige Handlungsstränge die erzählt werden wollen: Dranzers Ei, der Inspektor in der Menschenwelt, Kenny und Hana, die Uralten - und die Jungs müssen nachhause bevor der einundreißigste Oktober vorbei ist.

Ich hoffe ihr hattet dennoch Lesespaß, obwohl die Übergänge sehr schnell folgten. Einen schönen Sonntag noch!

Was Zeus anging besaß die Gruppe keinen Bedarf nach einem Wiedersehen und es hier in Natura zu sehen bestärkte sie in diesem Wunsch. Bereits in ihrer Kindheit hatte das Bit Beast einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Es war das einzige Wesen das sie schon damals in Angst versetzte. Sein Besitzer Brooklyn schien ihnen gestraft mit diesem Partner an seiner Seite. Das Bit Beast hatte eine merkwürdige Aura, die einen ungewöhnlichen Effekt auf seine Umgebung besaß. Es schien wie ein Loch, dass alles in seiner unmittelbaren Nähe in sich aufsog. Da drängte sich unwillkürlich die Frage auf, ob das schwarze Fell tatsächlich von seiner Farbe herrührte. Die Grashalme beugten sich in Zeus Richtung, als würden sie magnetisch angezogen und berührten die Hufe des zentaurenartigen Bit Beasts den Erdboden, hinterließ es einfach nur ein finsteres Loch. In jenem Moment erinnerte Tyson die Konsistenz des Bodens, an flachgerollten Teig, in den man eine runde Form stach und nur der Einschnitt übrig blieb. Außerdem bemerkte er das Zeus Bewegungen merkwürdig stockend abliefen. Als würde man einer Figur in einem Daumenkino beim Gehen beobachten.

Es wirkte so noch surrealer…

Die Schwingen des Bit Beast lagen eng an den Seiten angelehnt, dafür waren die Klauen umso mehr auf Bereitschaft. Es setzte die Spitzen ständig aneinander und wieder auf, was ein klackerndes Geräusch verursachte, wie ein Krebs mit seinen Scheren.

Das Maul war weit aufgesperrt. Der starre Kiefer mit den langen Zähnen, machte den Eindruck das Gesicht wäre nichts anderes als eine hölzerne Maske. Die giftgrünen Augen glühten und zogen einen nebligen Schimmer mit sich, sobald es den Schädel umwandte. Es besaß ergrautes Haar und an seinen Schultern sprossen schwarze Federn hervor.

Während ihrer Flucht hatte Allegro erkannt, dass es sinnlos war, vor dem Bit Beast fortzurennen, so lange der Wind ihren Geruch in dessen Nase trieb. Also dirigierte er die Gruppe in einem schnellen Spurt zu einem Gewässer, von dem er sich erhoffte, dass es ihre Fährte verdeckte.

„Ray wird uns verlieren wenn wir weiter weg rennen!“, keuchte Max.

„Ich wittere ihn schon auf! Und desto weiter uns Zeus folgt, umso besser für den Jungen.“

Tyson hoffte inständig das er damit recht behielt. Er zerrte Kai hinter sich her, der Mühe hatte durch das hohe Graß zu folgen. Max gab vor ihm einen erschrockenen Ausruf von sich, als es plötzlich bergab ging und kurz darauf trat auch Tyson ins Leere. Sie schlitterten einen kleinen Hang hinab in ein seichtes Flussbett hinein. Allegro sprang auf den flachsblonden Haarschopf von Max und hielt Ausschau nach einem geeigneten Versteck.

„Watet durch das Wasser zu dem hohlen Baumstumpf dort hinten!“, seine kleine Pfote gestikulierte wild auf die andere Seite. Dort war ein Teil des besagten Stamms in den Fluss gerutscht, während die Zeichen der Zeit in Form von Moos darüber hinweg wucherten. Die Gruppe lief gegen die leichte Strömung an und erreichte das andere Ufer noch bevor das Bit Beast sie ins Visier nehmen konnte. Sie kauerten sich in den hohlen Baumstamm, ignorierten den modrigen Geruch in dessen Innerem und wagten dabei kaum noch zu atmen. Die Sonnenstrahlen welche durch die Ritzen der brüchigen Rinde fielen, hinterließen helle Lichtflecken auf ihren Körpern. Tyson konnte in den Gesichtern seiner Freunde die Anspannung lesen.

Max kaute nervös auf der Unterlippe während Allegro ihre Umgebung abhorchte. Seine Ohren schnellten dabei in jede Richtung aus der er einen Laut vernahm. Kai hatte er zu sich auf den Schoß gezogen, da sie ansonsten nicht nebeneinander in ihr Versteck hineingepasst hätten. Alle starrten auf die Öffnung, in der Hoffnung das Bit Beast wäre zu faul, um sich hinab zu beugen und ihren Schlupfwinkel auszukundschaften.

Tyson dachte an Ray und ärgerte sich darüber, dass er einfach so überstürzt abgehauen war. Ihm wäre lieber gewesen, ihn bei sich in der Nähe zu wissen, wo er in Sicherheit wäre. Ob das aber wirklich der Fall war, bezweifelte er in jenem Moment, als sie die Rufe des Bit Beast ganz in ihrer Nähe vernahmen.

Es hatte eine grässliche Stimme die einem durch sämtliche Knochen jagte. Es war ein Misch aus Röhren und einem unheimlichen Klackern. Kai vergrub sein Gesicht in Tysons Hemd samt seiner Finger. Es erinnerte ihn daran wie Brooklyn seinen Freund, mit diesem Bit Beast, bei ihrem ersten Kampf besiegte.

Ob hier Kais Unterbewusstsein eine Botschaft schickte?

Halt dich fern von diesem Monstrum - es hat dich schon einmal verletzt?

Tyson schluckte als die Lichtkegel auf Maxs Haut erloschen. Er starrte in das Gesicht seines Freundes, der aschfahl wurde. Beide ahnten dass dies nur verheißen konnte, dass das Bit Beast sich vor dem Baumstamm herumtrieb. An der Öffnung erschienen ein Paar Vorderhufe. Sie scharrten so ungestüm im Wasser dass die Spritzer bis zu ihnen hinein flogen. Niemand atmete mehr.

Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, doch dann lief das Bit Beast rückwärts aus ihrem Sichtfeld. Der Platz an dem seine Vorderhufe geweilt hatten hinterließ eine Öffnung, in welches sich das Wasser in Form eines feinen Wirbels hinein ergoss.

Es wurde still…

Dann ging ein Ruck durch den Stamm, als das Bit Beast ihm mit einem lauten Brüllen einen Hieb versetzte. Der Teil des Baumes der nicht in den Fluss gefallen war löste sich krachend. Sobald sie wieder zum Liegen kamen trat es erneut zu und brachte den Stamm ins Rollen. Dabei lösten sich die Rinde an manchen Stellen und enttarnte sie vor den Augen ihres Verfolgers. Mit dem weiten Kiefer wirkte das Gesicht von Zeus hämisch.

Wann immer sie sich drehten schien die starre Fratze sie auszulachen.

Irgendwann hatte das Bit Beast so viel vom Stamm zerstört, dass eine große Luke sich auf einer Seite auftat. Die Karussellfahrt hatte für sie erst ein Ende, als die Ränder dieses Lochs sich in den schlammigen Untergrund im Fluss fraßen.

„Raus hier!“, schrie Allegro.

Das ließ sich keiner zwei Mal sagen.

Max und Tyson preschten auf unterschiedlichen Seiten aus dem Stamm hervor - gerade rechtzeitig. Denn mit einem weiteren Hufschlag hatte Zeus den Baum zertrümmert. Die bröselnden Überreste landeten klatschend im Wasser. Für einen Moment schien das Bit Beast sich zu fragen, auf wen es die Jagd eröffnen sollte. Tyson und Kai schienen das fragwürdige Los gezogen zu haben, denn sobald Zeus entdeckte, wer dort vor ihm türmte, setzte er ihnen im Galopp hinterher. Das Wasser stob unter seinen Hufen zu allen Seiten und kündigte Tyson an, wie weit das Bit Beast von ihnen entfernt war. Aus einer plötzlichen Eingebung heraus stieß er Kai von sich weg. Das Kind landete überrascht im Wasser, doch Zeus hatte ein solches Tempo drauf, das es an ihm vorbei galoppierte. Dafür bekam eine seine Klauen ihn am Kragen seiner Jacke zu fassen und Tyson fand sich kurz darauf in der Luft baumelnd. Das Bit Beast hob ihn an sein Gesicht und die unheilvollen Augen stierten den Jungen an. Aus der Nähe wirkte Zeus noch erschreckender. Die Fratze vor Tyson flackerte merkwürdig, als würde er in einen altmodischen Fernseher mit Störungen blicken. Es musterte ihn eindringlich und irgendwann kam die Erkenntnis, in Form eines gellenden Schreis. Nervös schluckte Tyson den Kloß in seinem Hals hinab und sagte:

„Schon lange nicht mehr gesehen.“

Das Bit Beast schnaubte. Dabei spien seine Nüstern giftgrünen Rauch hervor.

„Du erkennst mich wohl auch wieder!“, lachte Tyson verlegen auf. Sein Blick versuchte den lauernden Augen auszuweichen, doch so recht wollte es ihm nicht gelingen. „Das ist wirklich sehr schmeichelhaft, ehrlich! Aber wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne wieder runter.“

Ein dunkles Grollen drang aus der Kehle hervor. Es klang hämisch und versprach alles - nur nicht das seinem Wunsch stattgegeben würde.

„Ich habe gehört Bit Beast sind liebreizende Wesen, die überhaupt nicht nachtragend sind!“, überspielte er mit einem schalen Witz ihre gemeinsame Vergangenheit. Ein bedrohliches Knurren war die Antwort. Er fand wohl keine Zustimmung…

„Lass ihn runter!“, Kai kam auf das Bit Beast zu gerannt, doch Max eilte zu ihm und packte das Kind am Kragen. Er strampelte mit hochroten Wangen gegen den größeren Jungen an, der wiederum mit weit aufgerissen Augen um jeden Geistesblitz dankbar zu sein schien.

Zeus legte seinen Kopf auf die Seite und beugte seinen Oberkörper vor. Da seine Bewegungen ohnehin unnatürlich wirkten, jagte es Tyson einen Schauer über den Rücken. Er schien die Gesichter der beiden anderen Knaben genauestens zu studieren und blieb an Kais besonders lange hängen. Die Nüstern blähten sich und jeder Zug in die Lunge hob den Brustkorb des Bit Beasts an. Tyson rann ein Schweißtropfen die Schläfe entlang und interpretierte das folgende Fauchen, als Bestätigung dass Zeus Kai – trotz seiner Jugend - ebenfalls erkannte.

„Nein, nein, Kumpel!“, log er fadenscheinig. „Das ist nicht Kai. Der Kleine heißt… Lee.“

Er wusste beim besten Willen nicht wie er jetzt auf ihn kam.

Es verfehlte auch komplett seine Wirkung denn Zeus brüllte so laut, dass der Speichel nur wahllos aus seinem Maul spritzte. Tyson blinzelte angeekelt und wischte sich über seine Wange. Dann flog ein Schlammklumpen durch die Luft, dessen Flug ein jähes Ende im Rachen des Bit Beats fand. Augenblicklich grunzte es auf und keuchte erstickt. Seine Hufe tippelten unruhig.

„Treffer!“

Alle Blicke drehten sich geschockt zu Kai.

Das Kind streckte jubilierend die schlammbefleckten Hände in die Höhe.

In einem anderen Moment hätte Tyson das wirklich putzig gefunden, doch nicht jetzt! Allerdings musste er neidlos gestehen, dass sein Freund noch immer sehr zielgenau war.

„Er hat es nicht so gemeint!“, Max hob beschwichtigend seine gesunde Hand in die Höhe und Allegro zerrte jaulend seine Ohren vor die Augen. Doch sobald Zeus seine Überraschung überwunden hatte, bäumte es sich mit gespreizten Schwingen auf und brüllte der Gruppe seinen puren Zorn entgegen.

Max starrte ihn verdattert an, dann rief er „Ach scheiß doch drauf!“ und stieß seine freie Hand in den sandigen Untergrund. Sobald das Bit Beast im Galopp zu ihnen aufschloss, hatte er einen Klumpen aus Schlamm geformt und es Zeus direkt zwischen die Augen geworfen. Erblindet rannte es in die Gruppe hinein, die auseinander stob. Das Monstrum schüttelte den Kopf, während Tyson bald schlecht von dem schaukelnden Ritt wurde.

Mit dem freien Arm versuchte das Bit Beast seine Augen zu säubern, doch in diesem Moment waren seine langen Klauen eher kontraproduktiv und da die Jungen nicht auf den Kopf gefallen waren, nutzten sie die Gunst der Stunde. Tyson war insgeheim dankbar für ihre frühere Beybladekarriere, denn seine Freunde waren wirklich treffsicher und warfen dorthin, wo es richtig unangenehm war.

Das Bit Beast sträubte sich unter dem Beschuss bis es ihm aber zu bunt wurde. Es stampfte mit einer solchen Wucht auf den Erdboden auf, dass alles bebte und der Druck eine Welle formte, welche die beiden Jungen von den Beinen riss.

Max landete auf dem Rücken. Sein geschwollener Arm hinderte ihn daran, schnell auf die Beine zu kommen. Das Wasser um ihn herum stob in alle Richtungen, als er sich prustend versuchte aufzustemmen. Es sah aus als fände an dieser Stelle eine wilde Lachswanderung statt. Tyson versuchte sich frei zu strampeln, doch das Bit Beast hielt jene Körperhälfte von ihm zugewandt, an der sein verletzter Arm in der Schlaufe baumelte. So war es ihm unmöglich mit seiner gesunden Linken auszuholen. Er war ohnehin Rechtshänder.

Er vernahm Allegros Hilferuf und unweit neben ihm, kam Kai aus dem Wasser zum Vorschein. Das Kind schüttelte sich hustend während die klatschnassen Strähnen in seinem Gesicht klebten. Der Pegel des Flusses lag nicht hoch, reichte einem Jungen seines Alters aber dennoch bis zum Bauch. Allegro sank mit blubbernden Bläschen unter. Kai wischte sich die Strähnen aus der Sicht und mit einem schockierten „Oh nein!“ wühlte er im Wasser nach der Strommaus. Es wäre nicht von Vorteil für den wackeren Mäuserich gewesen, wenn er ausgerechnet jetzt zu einem Blitz geworden wäre, daher war er im Fluss vollkommen unterlegen. Kurz nachdem das Kind die Maus erneut zutage förderte, erschallte ein lautes Gelächter durch das Flussbett.

Mit einem Schnauben wandte sich Zeus aus schlammverkrusteten Augen dem Ursprung zu und grunzte überrascht. Wahrscheinlich starrte Tyson genauso dumm drein, denn auf einem Felsen, standen zwei Gestalten von eindeutig menschlicher Natur.

Es waren ein Mann und eine Frau.

Tysons Augen wurden groß als er Maxs Mutter Judy unter ihnen erkannte. Ihm sträubten sich die Nackenhaare, als er an seine erste Begegnung mit Draciel dachte. Er wusste noch dass die wahre Gestalt hinter diesem totblassen Gesicht, jene einer aufgedunsenen Wasserleiche war. Mittlerweile hatte es Maxs bewerkstellig sich aufzurichten. Sobald er sein ehemaliges Bit Beast erblickte erstarrte er. Es musste schrecklich für ihn sein die Überreste seiner Mutter so schamlos missbraucht zu wissen. Tyson sah wie er voller Schmerz zu den beiden Neuankömmlingen blickte und die Zähne zusammenbiss.

Er konnte ihm seine Trauer nicht verübeln. Dagegen verstand er nicht was Draciels Kompagnon so komisch fand. Wer war das überhaupt?

Ein Mann mittleren Alters, mit schwarzem Haar das zum Pferdeschwanz zusammengebunden war. Um sein Kinn lag ein leichter Bartwuchs, doch die leichenblasse Haut verriet Tyson das es sich dabei nur um ein weiteres Bit Beast in einem toten Körper handeln konnte. Das Gesicht kam ihm bekannt vor und da er ohnehin ein gutes Gedächtnis besaß was das anging, brauchte er nicht lange, um den Mann wiederzuerkennen, der ihn an jenem Abend nach seinem Streit mit Kai ansprach. Es konnte sich nur um Dragoon oder Driger handeln. Er schloss Letzteren aber aus reiner Intuition aus. Das Bit Beast krümmte sich vor Lachen und deutete auf Zeus.

„Ist das dein Ernst? Du lässt dich von den Bälgern so vorführen? Das ist einfach zu köstlich!“, er streckte sich und hielt sich die Hand lachend vor die Augen. „Unglaublich! Der Kaiser der Alpträume…“

Zeus gab ein bedrohliches Knacken von sich. Offensichtlich war es nicht in der Lage zu sprechen, dennoch verstand Dragoon was es sagte.

„Wer den Schaden hat braucht für den Spott nicht zu sorgen.“, zuckte er feixend mit den Schultern. Tyson hoffte inständig sein alter Partner möge aufhören das Bit Beast so zu reizen. Doch der legte lieber noch einen drauf.

„Du bist eingedeckt mit Schlamm man meint du kommst aus einem Scheißloch raus.“

Zeus bäumte sich und grunzte etwas mit seinen seltsamen Lauten. Dragoon winkte nur beschwichtigend ab.

„Na na… Wer wird gleich so ausfallend.“, dann nahm er einen geschäftlicheren Ton an. „Allerdings darf ich dich daran erinnern, dass du in der Irrlichterwelt nichts zu suchen hast?“

Zeus knurrte.

„Blaff mich nicht so blöde von der Seite an. Das hier ist meine Welt!“, sprach Dragoon süffisant, doch das böse Funkeln in seinen Augen ließ eine Drohung herauserkennen. „Dann bist du wohl auch für die ganzen Löcher hier zuständig? Hast du eine Ahnung wie viel Arbeit es macht hinter dir her zu räumen? Ich meine, dass ist nicht meine Aufgabe… Dafür ist sie da.“, er deutete achselzuckend auf Draciel, als hätte er sie zum Spülen verdonnert. Das Bit Beast äußerte sich aber nicht weiter dazu und starrte gleichgültig in die Ferne.

Nun wurde Zeus richtig geschwätzig. Es scharrte mit den Hufen. Wieherte, schnaubte und schüttelte sich in einer Tour. Max und Kai blickten irritiert zwischen den Bit Beasts hin und her, während Tyson in seiner angespannten Haltung schon verkrampfte. Sein Shirt schnürte ihm die Luft ab und er japste gelegentlich. Er kam sich irgendwie vergessen vor. Dragoon hörte desinteressiert dem Strom dieses Kauderwelsch zu, nickte einige Male, zum Geheiß das er noch zuhörte und schnalzte irgendwann mit der Zunge.

„Mag ja alles sein. Aber Fakt ist, deine Welt ist die Traumwelt und du bist nun Mal ein Alptraum! Hier wirst du keinen guten Einstieg in den Schlaf von Menschen finden. Dafür ist der Traumstrom da und der befindet sich bei dir zuhause.“

Zeus trabte zwei Mal mit dem rechtem Vorderhuf auf der Stelle. Was immer das Dragoon sagen mochte, er antwortete: „Ist doch dein Problem wenn der Zugang verstopft ist! Dann musst du ihn eben warten. Muss ich mich wirklich noch um deine Welt kümmern?“

Wieder kam ein Schnauben als Antwort.

„Nein, ich erlaube deinen Alpträumen nicht, eine Umleitung durch meine Welten zu nehmen. Wo kommen wir denn da hin…“

Erbost grölte Zeus.

„Du faules Aas! Mach einfach deine Arbeit richtig, anstatt immer die einfachste Lösung zu suchen! Es geht mir gehörig gegen den Strich das du ständig meine Landstriche zerstörst, nur weil du zu bequem bist, um den Traumstrom zu reparieren. Diese ständigen Umwege durch meine Welt hören gefälligst auf!“

Tyson interpretierte den nächsten Laut als eingeschnappte Geste. Denn das Bit Beast trippelte angespannt auf der Stelle. Er hätte gerne einmal gefragt ob er endlich wieder runter konnte.

„Natürlich hat das etwas mit der Geschichte in der Menschenwelt zu tun. Überall wo du auftauchst machst du alles kaputt.“, meinte Dragoon trocken. „Jetzt wilderst du auch noch im falschen Gebiet, attackierst meine Gäste und ich soll dir das durchgehen lassen? Für wen hältst du dich?“

Ein Grunzen war die Antwort und das Bit Beast reckte die Brust.

„Ich bin auch ein Monarch. Jetzt spiel dich mal nicht so auf…“, und als Zeus Tyson in die Höhe hielt und rüttelte, setzte Dragoon noch hinzu. „Mir doch egal ob du mit den Bengeln noch eine Rechnung offen hast! Lass Takao runter und troll dich auf der Stelle zurück nachhause!“

Zeus wandte den Kopf knurrend zu Kai. Die beiden Jungen zuckten zusammen und Max stellte sich schützend vor ihm auf.

„Nein verdammt, den lässt du auch in Ruhe! Sei nicht ständig so furchtbar nachtragend!“

Wütend stampfte Dragoon mit dem Fuß auf. Allem Anschein nach ging ihm diese Konversation gehörig auf die Nerven. Das andere Bit Beast spreizte bedrohlich die Schwingen und bäumte sich auf. Scheinbar hielt es nichts von Dragoons Vorschlag. Es wirkte wie eine Drohgebärde. Tysons alter Partner blitzte Zeus mit wütend zusammengezogenen Brauen an und sah wohl seine Autorität in Frage gestellt. Dann huschte sein Blick zu Tyson und augenblicklich schallte ein barscher Befehl durch seinen Kopf: „Schlüpf aus der Jacke und duck dich!“

Noch bevor er wusste wie ihm geschah machte sich Tysons Körper selbstständig.

Er warf die Arme hoch - obwohl ihm die Rechte dabei höllische Schmerzen bereitete - rutschte aus seiner roten Jacke, fiel zu Boden und kauerte sich dort zusammen.

Keine Sekunde später preschte Dragoon über ihn davon und rammte seine zur Klaue gewordene Hand in den Hals von Zeus. Die Erde erzitterte als das Drachen Bit Beast den Alptraum umwarf. Dragoon schlug den Kopf seines Gegners ins Erdreich des schlammigen Ufers und es entstand ein Wirrwarr aus schwarzen Schwingen, Hufen und wild um sich schlagenden Flüchen.

Tyson richtete sich wankend auf und hielt sich zähnefletschend den schmerzenden Arm, machte aber einen entsetzten Sprung seitwärts, als neben ihn Draciel trat. Das Bit Beast lief in seinem Menschenkörper über das Wasser und stierte gelangweilt auf das Szenario.

Er blickte auf die Füße herab. Sie schauten unter dem langen dreckigen Rock hervor und da das Bit Beast keine Schuhe trug, hatte man offene Sicht auf die faulenden Zehen. Tyson bekam eine Gänsehaut und trat vorsichtig von dem verwesenden Körper weg, dass sein Verhalten nicht weiter kommentierte. Es schaute nur dem „Gebieter“ bei seiner Rauferei zu.

Der hielt inzwischen Zeus im Schwitzkasten und schlug ihm mehrmals verärgert seine Faust gegen den Kiefer. „Bring mir nicht ständig meine Welten durcheinander!“, hörten sie ihn zwischen den Zähnen fletschen. Das andere Bit Beast deutete mit wiederholten Austritten seiner Hinterhufe an, dass er nichts von Dragoons Wunsch hielt.

„Was wartet ihr noch?! Beeilt euch und verschwindet!“, hörten die Jungen Allegro sagen. Der Mäuserich hatte sich von seinem unfreiwilligen Badeausflug erholt und hopste auf Kais Handfläche wild herum. In diesem Moment endete die Rangelei aber jäh, als Dragoon seinem Gegner einen solchen Tritt gegen den Brustkorb versetzte, dass Zeus knapp neben ihnen im Wasser landete und ihren Fluchtweg versperrte. Eine kalte Dusche empfing sie, ausgenommen von Draciel welches einen unsichtbaren Schutzschild zu haben schien. Man konnte beobachten wie die Tropfen daran langsam entlang rannen. Das Wasser schien die Rinnen eines Schildkrötenpanzers nach zu zeichnen.

„Runter von meinem Hab und Gut!“, bellte Dragoon ihm mit drohender Faust entgegen. Zeus stemmte sich mit wackeligen Beinen auf und sträubte sich. Dort wo er gelegen hatte entstand wieder eines dieser merkwürdigen Löcher in welches das Wasser abfloss. Es klackte noch einmal verstimmt und geschlagen trat das Bit Beast den Rückzug an. Dragoon bedachte mit entnervten Ausdruck die Fußspuren die es hinterließ und rief ihm hinterher:

„Und sieh zu das du den kürzesten Weg nimmst!“

Er wandte sich ab, als noch ein letztes Schnauben erklang.

„Das will ich überhört haben!“, Dragoon trat zu Draciel und krempelte sich brummend die zerschundenen Ärmel hoch, die stark in Mitleidenschaft gezogen waren. Noch leicht verärgert fragte er: „Ist der Typ zu fassen?“

Sie antwortete nicht, doch er schien das auch nicht erwartet zu haben. Ohne von seinem Ärmel aufzublicken, rief er ganz nebenbei: „Wo hast du Ray gelassen, Takao?“

Tyson war noch zu perplex von dem Nachbarschaftsstreit und zuckte zusammen. Sobald er seine Überraschung überwunden hatte, schaute er sein Bit Beast argwöhnisch an. Dragoon gab sich so gelassen, als bräuchte ihn kein schlechtes Gewissen zu plagen. Das machte ihn geradezu rasend. Er unterdrückte aber seine Wut und ermahnte sich zur Ruhe. Eventuell ließ sich diese Minute nutzen um sein Bit Beast zur Vernunft zu bringen.

„Ray wird bald zu uns dazu stoßen. Er kann außerdem sehr gut auf sich selbst aufpassen.“

„Sicher kann er das.“, stimmte Dragoon zu. Es kam irgendwie belustigt herüber.

„Was meinst du?“

„Nichts. Passt nur auf das er euch nicht abhandenkommt.“, er wandte sich ihnen zu und beugte sich verheißungsvoll vor. „Tausend Seiten Papier reichen nicht aus, um aufzulisten, was alles in dieser Welt schon verloren gegangen ist.“

Wie um ein Beispiel zu nennen, griff er nach Tysons Jacke, welche die Strömung an seinen Beinen vorbei führte und warf sie ihm zu. Er fing sie mit der Linken auf und schaute nachdenklich auf den weißen Schal, der aus dem Ärmel hervorlugte.

War das ein Wink mit dem Zaunpfahl?

„Habt ihr Ray etwas angetan?“, stieß Max prompt seinen Verdacht aus.

„Wie käme ich denn dazu.“, sprach Dragoon. Tyson beschlichen üble Gedanken und er glaubte seinem Bit Beast nicht ein Wort. Etwas lag im Busch und liebend gerne hätte er auf dem Absatz kehrt gemacht um nach ihren abwesenden Freund zu suchen. Stattdessen überlegte er sich, dass dies die erste und vielleicht letzte Möglichkeit war, mit seinem früheren Partner von Angesicht zu Angesicht zu sprechen. Er zog sich schwerfällig die Jacke wieder über und verzog das Gesicht, als er seine verletzte Hand durch den Ärmel schob. Außer schweren Vorwürfen seinerseits hatte er bei ihrem letzten Zusammentreffen nichts für sein Bit Beast übrig gehabt. Daher nahm sich Tyson nun vor die Angelegenheit diplomatischer anzugehen. Zumindest wollte er jede Möglichkeit ausschöpfen um wieder nachhause zu gelangen.

„Dragoon, können wir bitte reden?“

„Wenn du mich so höflich fragst sicher. Bei unserem letzten Treffen wirktest du etwas verstimmt.“

Das Bit Beast grinste schief und entblößte einen langen Schneidezahn. Es hatte etwas Überlegenes an sich, was Tyson überhaupt nicht mochte. Unweigerlich fühlte er sich an die Zeit erinnert, als er sich nach seinem Abschluss bei einigen Werkstätten beworben hatte und haufenweise Abfuhren erhielt. Seine schulischen Leistungen waren schlechtes Mittelmaß gewesen und er hatte sich in seine Beybladekarriere so hineingesteigert, dass seine Lehrerin ein Kreuz in ihren Kalender malte, wenn er seine Hausaufgaben doch mal mitbrachte. Zu jener Zeit war ihm nicht bewusst gewesen, dass sein schlechtes Abschlusszeugnis ihn geradezu dazu nötigen würde, bei den regionalen Werkstätten zu Kreuze zu kriechen. Es hatte ihn gelinde gesagt total angewidert…

Da war er heilfroh gewesen, als sich ein Bekannter seines Großvaters seiner erbarmte und ihm eine Lehre anbot. Er hatte sich wirklich ins Zeug gelegt um zu beweisen, dass seine praktischen Leistungen sich weit von den theoretischen unterschieden.

Trotzdem bekräftigten Tyson die unschönen Wochen der erfolglosen Suche, in seinem Entschluss, irgendwann auf eigenen Beinen stehen zu wollen. Es war eine seiner klügsten Entscheidungen gewesen, dass Geld seines Großvaters, nach seiner Lehre, in eine eigene Werkstatt zu investieren. Nie wieder wollte er sich von einem anderen Menschen so hochnäsig belächeln lassen. Das er gerade mit seinem ehemaligen Partner diese unliebsame Erfahrung jetzt wiederholte schien ihm wie blanker Hohn.

Dennoch biss Tyson die Zähne zusammen. Einen Tod musste man wohl sterben damit sie wieder heil nachhause kamen. Vielleicht konnte Dragoon auch etwas an Kais Zustand ändern?

„Was mag mein alter Freund wohl von mir wollen?“, fragte ihn sein Bit Beast süffisant.

„Ich denke du weißt worum es geht.“, er versuchte freundlich zu bleiben, auch wenn es ihm gehörig stank, wie sich Dragoon gab.

„Ihr wollt uns verlassen? Wie traurig… Ich meinte wirklich ihr hättet euch eingelebt.“

„Natürlich haben wir das!“, schnauzte Max ihn an. „ Mal abgesehen von den Anlaufschwierigkeiten durch das eine oder andere Bit Beast was uns töten wollte, sind die Tage hier eine wahre Wonne! Wenn ich nachhause komme setzte ich mich an den Laptop und schreibe einen umfassenden Erfahrungsbericht über die wundervolle Gastfreundschaft hier!“

„So etwas infantiles willst du doch nicht wirklich tun, oder?“, entrüstete sich Allegro und schaute ihn auf Kais Handfläche mit zur Seite gelegten Kopf verwirrt an.

Max stöhnte entnervt.

„Du musst wirklich mal Sarkasmus googeln.“

„Stehst du nicht etwas zu weit unten in der Nahrungskette für derlei Spott?“, wollte Dragoon wissen. Max hatte einen weiteren bissigen Kommentar auf den Lippen, doch Tyson schnitt ihm das Wort ab.

„Hör mal Dragoon, ich möchte wirklich begreifen was in dir vorgeht. Du bist wütend weil ich dich die letzten Jahre vernachlässigt habe und ich muss gestehen - ich sehe meinen Fehler sogar teilweise ein. Aber ist es wirklich nötig das du uns hier festhältst?“

„Wäre es dir lieber ich würde mich an deinem Großvater rächen?“

„Nein.“, knurrte er durch seine Zähne hindurch und hatte Mühe seinen Groll zu unterdrücken. „Aber worauf soll dein Spielchen hinauslaufen? Sollen wir bis ans Ende unserer Tage hier bleiben?“

„Wenn es dich zu Verstand bringt - warum eigentlich nicht?“

Max öffnete empört den Mund, doch Tyson hob seine Hand um ihn zum Stillschweigen zu bringen. Es trug wohl nicht zur Verbesserung ihrer Situation bei, wenn sie das Bit Beast beschimpften. Er hatte sie in der Hand. Wäre ein anderer vor ihm gestanden hätte Tyson wohl ähnlich gehandelt, doch jetzt riss er sich der Gruppe zuliebe zusammen.

„Was muss ich tun damit wir wieder auf einen grünen Zweig kommen?“

„Überrasch mich!“, frohlockte Dragoon.

„Was ist wenn ich mich entschuldige?“

„Vielleicht bringt es etwas? Lass es uns herausfinden.“

Tyson atmete hörbar aus. Er dachte an seinen Großvater und das er dabei war, sich bei dem Bit Beast einzuschmeicheln, dass ihn ins Krankenhaus befördert hatte.

„Tu es nicht, Junge!“, forderte Allegro. „Glaub ihm nicht!“

Seine Einwände wurden aber ignoriert.

„Es tut mir Leid dass ich dich so vernachlässigt habe.“

„Das war wahrlich nicht schön von dir.“, stimmte Dragoon ein. „Weiter?“

„Ich hätte dich mit dem Respekt behandeln sollen der dir zusteht.“

„Das hättest du.“

„Du standest mir immer zur Seite als ich dich während meiner Beybladematches gebraucht habe. Es war ziemlich unfair von mir, dich in Vergessenheit geraten zu lassen.“

„In der Tat.“

„Wenn du uns also wieder in die Menschenwelt zurücklässt“, wagte sich Tyson vorsichtig vor. „Werde ich dich nicht mehr als Selbstverständlichkeit erachten. Ich werde mir für dich mehr Zeit nehmen. Vielleicht könnte ich Mr. Dickenson bitten ein Turnier zu veranstalten, um der alten Zeiten willen… Würde dir das nicht gefallen?“

„Ah!“, schwärmte Dragoon. Die Augen des Bit Beast schwelgten in Erinnerungen. „Gegen ein schönes Match wäre nichts einzuwenden.“

Tyson lächelte in sich hinein – arroganter Gockel.

„Aber darüber bin ich hinweg gewachsen. Trotzdem nehme ich deine Entschuldigung an.“

„Was soll das heißen?“, fragte Max irritiert. „Lässt du uns nun gehen, oder nicht?“

„Natürlich nicht.“, flötete das Bit Beast vergnügt.

„Warum nicht?“, fuhr Tyson ihn an. „Du hast gesagt wenn ich mich entschuldige…“

„Ich sagte vielleicht“, fiel ihm Dragoon dazwischen. „Du musst lernen zuzuhören. Das war schon immer eines deiner Hauptprobleme.“

Er belehrte ihn wie ein Vorschulkind und als das Bit Beast Tysons vor Zorn geröteten Wangen bemerkte, lachte es ihm ungeniert ins Gesicht.

„Dein Groll belustigt mich!“

„Kannst du dann wenigstens etwas für Kai tun?“, das Kind blinzelte fragend zu ihm auf. Es begriff nicht worauf Tysons Bitte hinaus lief. „Er kann sich noch immer nicht an uns erinnern und das obwohl Dranzer tot ist!“

Dragoon blickte das Kind mit mitleidiger Miene an und seufzte. Tyson wusste nicht wie er diese Geste deuten sollte.

„So einfach ist das nicht. Er ist verflucht.“

„Was heißt das?“

„Das seine Erinnerungen wahrscheinlich hinüber sind. Dranzer macht da keine halben Sachen.“, zuckte er beiläufig mit den Schultern. „Ich denke nicht dass sich da noch etwas machen lässt. Das Einzige was womöglich helfen könnte, wäre ihn einer Situation auszusetzen, die ihn stark an ein Erlebnis erinnert, dass ihn in der Vergangenheit intensiv geprägt hatte. Es müsste eine Erinnerung sein die so einschneidend für ihn war, dass sie sich bis in seine Seele gebrannt hat.“

„Vielleicht Janas Geburt!“, kam Max der Einfall und tatsächlich war Tyson auch der Gedanke gekommen. Kai blickte irritiert zwischen den Jungen umher.

„Womöglich. Dumm nur dass ein Mensch nur einmal geboren werden kann. Ihre Geburt lässt sich wohl kaum wiederholen.“

Für das Bit Beast schien das Thema vom Tisch, denn die Augen schielten beiläufig zu Kai. Tyson bemerkte das Dragoons Pupillen nichts weiter als schmale schwarze Schlitze waren. Es ließ sich wohl nur teilweise verbergen was er tatsächlich war. Ein Lächeln trat auf seinen Mund, doch darin fehlten die Zeichen echter Freude. Bald begriffen die Jungen dass es Allegro galt. Die Strommaus hob nur angriffslustig den Schweif und legte sich in Kais Handfläche auf die Vorderpfoten. Es sah aus als wolle er einen Katzenbuckel machen. Wie immer ließ sich ihr winziger Held nicht einschüchtern.

„Die Welt steckt voller Überraschungen…“, sprach Dragoon gedehnt. „Ich nahm an Strommäuse pissen sich bereits ein wenn ein Blatt vom Baum fällt.“

„Da kennst du mich schlecht, du gemeingefährlicher Schuft!“, Allegro hob die Faust voller Inbrunst an die Brust und die andere Hand theatralisch zum Himmel. „Meine Ehre verbietet es tatenlos dabei zuzusehen, wie ihr diese jungen Seelen in ihr verderben reitet! Mon dieu wie könnt ihr euer Antlitz noch im Spiegel ertragen! Ich würde mich schämen!“

Dragoon hob schmunzelnd eine Braue.

„Aha.“, gab er trocken von sich. Kai schien der lauernde Blick des Mannes nicht zu gefallen, denn er hielt die andere Hand schützend über die Strommaus und schaute schüchtern auf.

Allegros Standpauke wurde nur dumpfer, die Schimpftirade verstummte aber keinesfalls.

„Es wird der Tag kommen, da werden sich nicht nur die Menschen gegen eure Unterjochung wehren, sondern auch die Unterklassen der Irrlichterwelt! Auf das die Massen sich erheben!“

Dragoon verschränkte nur ungläubig die Arme vor der Brust.

Tyson hätte zu gerne gewusst was in ihm vorging. Jedenfalls schienen ihn die Drohungen des Unterklasse Bit Beast nicht sonderlich Nahe zu gehen. Entweder war er derlei Anfeindungen gewohnt oder was wahrscheinlicher war – Allegro war ihm die Mühe nicht wert. Stattdessen kniete er sich zu Kai hinab und schaute das Kind mit einem geradezu jugendlichen Lächeln an.

„Schön dass wir uns hier noch einmal begegnen. Mit dir muss ich ohnehin sprechen, Kleiner.“

Kai schrak überrascht zurück und drängte sich an Tysons Hosenbein. Er schien nicht zu wissen, was er von dem Neuankömmling halten sollte und ohnehin war der Gruppe nicht entgangen, dass er als Kind stark fremdelte.

„Ohne seinen Rechtsbeistand werde ich keinerlei Interaktionen zwischen dir und diesem Minderjährigen gestatten!“, Allegro spreizte seine Glieder in Kais Handflächen um sich zu befreien. Dabei machte er fast einen Spagat und ein kleiner Zeigefinger deutete drohend auf Dragoon. Tyson und Max tauschten verwirrte Blicke aus, da sie nicht begriffen woher die Springmaus diese Worte immerzu aufschnappte. So langsam vermuteten sie dass er im Server einer Anwaltskanzlei seine Arbeit verrichtete.

Max fing sich jedoch schnell und sagte: „Ich halte auch nichts davon. Lass Kai in Ruhe!“

„Pah! Als könntet ihr mich davon abhalten.“, unbeeindruckt schnippte Dragoon die Strommaus weg – aber mit was für einer Kraft? Die kleine Geste genügte um Allegro in hohem Bogen aus Kais Hand zu katapultieren. Sie hörten den Mäuserich panisch schreien als er durch die Luft flog und irgendwo in einem Baumwipfel landete.

„Bist du verrückt!“, fuhr Tyson ihn an.

„Diese Viecher sind robuster als du denkst. Das bringt ihn nicht um. Driger hat mal eines im Ganzen verschluckt, da hat das Viech ihm so lange gegen die Magenwände getrommelt, bis er es ausgekotzt hat.“, Dragoon tat eine gelangweilte Handbewegung. Dann wandte er sich erneut an Kai. „Warum so schüchtern? Hast du mich vergessen?“

Das Kind legte misstrauisch den Kopf zur Seite.

„Wir haben uns in Dranzers Haus getroffen. Weißt du noch?“

„Wer ist das?“

„Natürlich. Ich vergaß… Dir hat sie sich als Dame Solowéj vorgestellt.“

Damit ging dem Kind wohl ein Licht auf. Sofort als ihm bewusst wurde wen er vor sich hatte, zogen sich Kais Brauen vorwurfsvoll zusammen.

„Sie sind der Mann der Anastasia geärgert hat!“

Dragoon grinste. Er wirkte damit wie ein boshaftes Raubtier.

„Dieses Handwerk beherrsche ich gut, nicht wahr? Das war doch ein Heidenspaß.“

„Nein. Sie waren unhöflich zu ihr.“

„Oh, das kränkt mich.“, tat Dragoon gespielt.

„Was willst du denn von ihm?!“, Tyson wusste nicht worauf das hinaus sollte und auch Max mischte sich nun ein. „Lass ihn gefälligst in Ruhe!“

Dragoon schaute die beiden nicht einmal an.

„Jetzt halte ich euch mal die Luft an.“

Der Satz kam ihm so unvermittelt in seinen Sinn und plötzlich kündigten Tysons Stimmbänder ihm jeglichen Dienst. Er hatte noch einige Fragen auf der Zunge gehabt, stattdessen bewegte sich sein Mund ohne dass ein Mucks aus ihm heraus kam und er konnte nicht atmen! Er sog mit kräftigen Zügen etwas in seine Lunge, doch es war kein Sauerstoff. Max starrte ihn geschockt an und griff sich panisch an den Hals. Der plötzliche Luftmangel versetzte beide in helle Aufregung.

„Was ist mit ihnen?“, wollte Kai wissen. Er schaute seine Freunde aus großen Augen an, die förmlich wie die Fische auf dem Trockenen japsten.

„Ich habe ihnen lediglich den Atem abgewürgt um ein wenig ungestört mit dir zu sein.“

„Aber es tut ihnen weh!“, begehrte Kai auf.

„Na dann wollen wir mal schnell machen, bevor sie tot umfallen.“, schlug er heiter vor.

Das Kind wurde aschfahl.

„Um mein Anliegen auf den Punkt zu bringen“, begann Dragoon ruhig und Tyson verfluchte ihn dafür dass er so langsam sprach. „Du warst recht lange bei der hübschen Dame. Gab es den einen oder anderen Moment, an dem sie dir von einem Notfallplan berichtete, falls sich eure Wege trennen sollten?“

Max ging auf die Knie und krümmte sich. Kai knetete voller Panik seine Hände und starrte nur hilflos auf den flachsblonden Jungen der um sein Überleben kämpfte.

„Sieh nicht die beiden an sondern mich.“, sprach Dragoon. Er setzte zwei Finger an Kais rechte Wange und mit sanfter Gewalt zwang er den Jungen in seine Richtung zuschauen. „Desto eher du dich erinnerst, desto besser für deine Freunde. Also noch einmal… Gab es eine solche Unterhaltung?“

„N-Nein.“, stotterte das Kind. Trotz des Griffes schielte es zu Tyson. Seine Lippen waren blau angelaufen und er brach nun ebenfalls zusammen.

„Gut, du lügst nicht. Das ist schon mal von Vorteil.“, stellte Dragoon nachdenklich fest. „Solltest du aber vielleicht etwas für sie verwahren? Etwas Wertvolles?“

Kai schüttelte vehement den Kopf.

„Versuch dich zu erinnern.“, drängte er. „Hast du etwas Seltsames in dem Haus gesehen?“

„Nein!“, wiederholte Kai. „Bitte mach dass sie wieder Luft bekommen!“

Sein Wunsch blieb ungehört.

„Denk erst nach bevor du sprichst!“, das Kind begann vor Anspannung zu zittern. „War etwas auf dem Grundstück? Ein goldleuchtendes Ei? War es in dem Haus? In einem der Räume?“

„Nein!“

„Konzentrier dich.“

Max rührte sich kaum noch und Kai schrie verzweifelt.

„Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht! Bitte hör auf damit, du tust ihnen weh!“

„War irgendwo ein Ei?“

„Lass sie in Ruhe. Bitte!“

Tyson war dabei das Bewusstsein zu verlieren, doch erinnerte sich plötzlich an den Vorfall als Kai das Ei erbrochen hatte. Das letzte bisschen Kraft in seinem Körper, reichte gerade noch um nach Dragoons Hosenbein zu greifen und heftig daran zu zerren. Das Bit Beast blickte fragend an sich herab, direkt in seine Augen und schien die Botschaft zu begreifen. Es schnipste. Sein Atem kam zurück und beide Jungen sogen gierig die ersten Atemzüge ein. Tyson fühlte sich als wäre er aus einem tiefen Gewässer aufgetaucht noch bevor er ertrank. Sein ganzer Körper zitterte und er versuchte seine Atmung zu beruhigen, stattdessen klang es als ob er hyperventilierte. Vielleicht tat er das sogar…

Sein Kopf war noch nicht ganz da, sondern beschränkte sich auf die wichtigste Funktion: Atmen!

Max bekam einen heftigen Hustenanfall. Er klang als wäre er kurz vor dem Erbrechen. Kai riss sich gewaltsam von Dragoon los und rannte zu dem am Boden keuchenden Jungen.

Das Bit Beast behielt seine Einwände für sich und starrte stattdessen Tyson interessiert an.

„Nun?“

„Arsch…“, war das Einzige was er hervorbrachte. Tyson stemmte sich auf wackeligen Gliedern auf die Knie. Die Anstrengung und Todesangst ließ seinen Körper noch immer zittern. Ihm war als fühle er sein Herz hart gegen den Brustkorb schlagen.

„Hast du das auch mit meinem Großvater getan?!“

„Lenk nicht vom Thema ab. Was weißt du über das Ei?“

„Warum sollte ich dir helfen?“, keuchte er.

„Na gut. Wenn Maxi noch einmal daran glauben soll. Aber dieses Mal nehmen wir noch den Knirps mit ins Boot…“, zuckte Dragoon mit den Schulter.

„Hör auf, ich rede schon!“, lenkte Tyson ein. Er legte seine Stirn auf den kühlen Sand und wurde sich seiner Machtlosigkeit zu schmerzlich bewusst. „Kai und ich sind kurz nachdem wir ihn aus Dranzers Illusion gerettet haben in den Fluss gefallen. Dort drinnen hat er sich merkwürdig gekrümmt und irgendwann dampfende Bläschen ausgespuckt.“

Tyson musste einige tiefe Atemzüge nehmen, bevor er in der Lage war noch einmal so einen Mammutsatz zu Stande zu bringen. Momentan war jedes Wort ein einziger Kraftakt. Er hörte Kai auf Max einsprechen und als er aufblickte, strich das Kind ihm sorgenvoll über den Rücken.

„Diese Bläschen haben sich an der Oberfläche zu einem Ei geformt. Es sah ziemlich unangenehm für Kai aus. Ich denke er hat es vor lauter Schmerzen gar nicht richtig wahrgenommen.“

„Das würde erklären warum ich keine Lüge erkennen konnte.“, sprach Dragoon nachdenklich und hielt sich die Hand ans Kinn. „Natürlich… Dann ergibt alles einen Sinn. Eigentlich war ihr Plan in Kai wiedergeboren zu werden. So hätte sie sich an seine Seele heften können. Aber dann seid ihr ins Wasser gestürzt. Sie braucht eine starke Wärmequelle um auf die Welt zu kommen. Die kalten Fluten hätten aber zu einer Frühgeburt geführt und Kais Körper hat das Ei wieder ausgestoßen, damit es sich eine neue Energiequelle suchen kann.“

Es klang als führte das Bit Beast einen Monolog und Tyson erkannte, dass Dragoon ihn auch nicht sonderlich beachtete. Tyson konnte ihm ohnehin nicht folgen, da er mit seinem eigenen Befinden beschäftigt war. Alles hörte sich wie Kauderwelsch an. Sein Bit Beats erhob sich und wandte sich an Draciel.

„Das Miststück ist hinterhältiger als ich annahm.“

Tyson stemmte sich hoch, knickte aber schwach ein. Er wollte zu Max.

Es bedurfte weitere zwei Anläufe bis er mehr auf allen Vieren zu ihm gelangte. Der Amerikaner hatte sich mit Kais Hilfe aufgesetzt, doch der Schreck saß ihm noch in den Gliedern. Er war totenblass und sein helles Haar bestärkte ihn nur in seinem kränklichen Anblick. Ebenso matt schaffte es Tyson ihm lediglich eine Hand auf die Schulter zu legen. Max nickte leicht. Er verstand die stumme Frage. Es ging ihm den Umständen entsprechend gut.

„Es tut mir Leid Tyson.“, sagte Kai. Das Kind schaute ihn schuldbewusst an und sein Geständnis klang tiefgetroffen. „Ich wusste nicht was ich sagen soll.“

„Das kommt unter den Besten mal vor.“, versuchte Tyson ihn zu trösten.

„Du siehst ganz schlimm aus.“, bemerkte Kai. Seine Unterlippe bebte und es hätte Tyson gerade noch gefehlt, wenn er jetzt weinte. Doch der kleine Kämpfer verbiss sich den Impuls. Tyson schenkte ihm ein mattes Lächeln.

„Alles ist gut. Mach dir keine Sorge.“

„Wo ist das Ei jetzt?“

„Was weiß ich was mit ihm passiert ist!“, fauchte er über seinen Rücken hinweg. Das Thema wurde richtig leidlich. Er drehte sich zu Dragoon der mit verschränkten Armen vor ihnen positioniert lag und ungeduldig mit dem linken Fuß tippte.

„Lüg mich nicht an.“

Die Wut wallte so stark in ihm auf, dass er sich gar nicht fragte, woher Dragoon diese Gewissheit nahm.

„Es ist irgendwo hingetrieben worden, okay?! Es sah aus wie die Menschenwelt. Vielleicht war es aber auch eure beschissene Kopie von Tokyo!“

„Zügle dein Mundwerk.“, ermahnte ihn Dragoon und wandte sich an Draciel.

„Für dich dürfte es doch kein Problem sein, nachzuvollziehen, wohin dieser Flussverlauf führt. Geh der Sache sofort nach! Wenn das Ei in der Menschenwelt gelandet ist, hat es vielleicht noch niemand aus dem Wasser gezogen. Dann kannst du es wieder in die Irrlichterwelt runterziehen.“

Draciel nickte. Das Bit Beast wandte sich langsam um.

„Ich weiß du bist eine Schildkröte aber hier ist Schnelligkeit gefordert!“

Er klatschte auffordernd in die Hände. Was immer sie dachte, ihr Gang wurde dadurch nicht zügiger. Die beiden ergaben einen ziemlichen Kontrast. Er schien geradezu sprunghaft Lebhaft, während Draciel wohl mit offenen Augen schlief.

Dragoon seufzte. Dieser Tage gute Dienerschaft zu finden war ein Elend.
 

„Das ist alles was dich interessiert, oder?“
 

Er schaute Tyson fragend an.

„Was meinst du, Junge?“

„Du hättest uns beinahe umgebracht wegen einem bescheuerten Ei!“

„Das ist ein ernstes Anliegen.“, das schien ihm wirklich mehr Sorgen zu machen. Tyson fragte sich ob er sich seiner Schuld bewusst war. „Und überhaupt, wieso umgebracht? Ihr lebt doch noch.“

„Es hätte aber auch schief gehen können!“

„Ach.“, Dragoon rollte voller Sarkasmus mit den Augen. „Was seid ihr weinerlich.“

„Weinerlich?“, echoten die Jungen wie aus einem Mund.

„Ich kenne dieses Gehabe von euch Menschen nur zu gut. Sobald ihr über den Jordan geht, werdet ihr geradezu hysterisch. Das ist allgemein bekannt.“

„Ich bin keineswegs hysterisch, du wolltest uns umbringen! Da ist es mein gutes Recht das ich mich aufrege!“

„Beruhige dich Takao.“, Dragoon hob belehrend seinen Finger in die Höhe. „Im Angesicht des Todes ist das Leben am stärksten präsent. Nimm es als Lebensweisheit mit.“

Dann zwinkerte er ihnen zu.

„Ich hätte euch schon nicht sterben lassen. Vertrau mir.“

„Wie soll ich jemanden wie dir vertrauen?!“, brauste Tyson auf. Wo immer er die Energie hernahm, er schaffte es sich aufzustemmen und sein Bit Beast scharf zu taxieren. „Wie gefiele es dir, wenn du plötzlich dein ganzes Leben an dir vorbeiziehen siehst!“

„Nicht so gut. Ich bin einige Millionen Jahre alt… Das könnte sich als langwierig entpuppen.“

„Sag mal verarscht du mich oder verstehst du wirklich nicht worauf ich hinaus will?“, Tyson begriff diese Fahrlässigkeit nicht. „Du tust das ja als reine Belanglosigkeit ab!“

„Bei aller Freundschaft Takao, aber ihr Menschen sterbt jeden Tag in Scharen. Es ist der Lauf des Lebens. Wenn ich mir um jeden Gedanken machen müsste, ob es ihm passt das er heute krepiert, oder er noch ein Jahr weiter vegetieren will, wo käme ich denn dann hin?“

„Ich rede davon dass du uns ermorden wolltest!“

„Wollte ich keineswegs. Und deshalb lebt ihr noch. Also reg dich ab.“

„Du hast mit unseren Leben gespielt!“, brüllte Tyson ihm zornig entgegen. „Für dich war das alles vielleicht ein riesen Spaß, aber wir wären tatsächlich draufgegangen!“

„Sei nicht so melodramatisch.“

„Du hast leicht reden! Dir ist das ja auch nicht passiert. Ich möchte dich mal in unserer Situation erleben! Ob du dann noch so locker scherzen würdest, wenn es um deinen Arsch gegangen wäre, bezweifle ich stark!“

Dragoon lachte dunkel und schüttelte den Kopf.

Er belächelte ihn wie ein kleines Kind und fuhr fort.

„Weißt du, Takao, was mich schon immer an euch Menschen fasziniert hat, ist euer begrenzter Horizont. Du hast gerade Mal zwei Minuten um dein Überleben gekämpft und schon machst du ein riesen Theater. Aber natürlich tust du das, wir reden hier schließlich von einem Menschenleben. Das ist ja etwas Besonderes!“ Er setzte das letzte Wort spöttisch in Anführungszeichen. „Ihr seid ja viel kostbarer als jeder Grashalm, jede Mikrobe oder Tier. Würdigt ihr aber das Leben? Da habt ihr Treibnetzte in euren Meeren, in denen Fischarten umkommen, die ihr gar nicht zum Verzehr benötigt. Ihr schlachtet Tiere, deren Fleisch für eure Kaufhäuser abgepackt werden, nur um entsorgt zu werden, wenn das Verfallsdatum einen Tag überschritten wurde. Dann willst du mich über meine Nachlässigkeit belehren? Und wie sieht es unter euresgleichen aus? Seid ihr da zimperlich wenn es darum geht, eure Grenzen zu verteidigen und religiösen Ansichten mit Waffengewalt zu verbreiten? Es stört euch nicht wenn ein anderer für eure Ziele ins Jenseits wandert, aber wehe ihr selbst seid davon betroffen. Dann jammert ihr und schreit wie die Säuglinge.“

Dragoon zuckte lächelnd mit den Schultern.

„Gut, vielleicht habe ich mit eurem Leben gespielt. Aber wer im Glashaus sitzt sollte nicht mit Stein-…“

„Ach halt doch die Klappe! Da hast du dir ja eine fadenscheinige Ausrede zurechtgelegt um deine Hände in Unschuld zu waschen!“, schnitt ihm Tyson so plötzlich das Wort ab, dass alle erstaunt die Luft anhielten. Seine Augen sprühten vor Zorn und Max war überrascht. Tyson konnte sich ärgern, sehr oft sogar. Doch das hier war pure Verachtung.

„Weißt du was mir an deiner dummen Rechtfertigung nicht passt? Dass du alle komplett über einen Kamm scherst! Einige Brennpunkte hier und da, wo irgendwelche Psychopathen oder Ungerechtigkeiten auftauchen und du schließt sofort daraus, dass alle Menschen in dieser Situation nicht anders handeln würden!“

„Würden sie nicht?“

„Natürlich nicht! Weil jeder Mensch anders gestrickt ist und einen freien Willen besitzt! Aber das kannst du gar nicht beurteilen, weil du da oben auf deinem hohen Ross sitzt und nur den Gesamteindruck siehst!“

Der Vorwurf hatte wohl getroffen, denn Dragoons Augen verengten sich.

Seine Mundwinkel fielen steil ab ob dieser Frechheit.

„Du blendest komplett aus dass der Großteil der Bevölkerung auch ohne Gewalt sein Leben führt. Eine Handvoll Spinner und natürlich ist jeder Mensch für dich verkorkst! Aber an diesem Zustand ändern tut der gottgleiche Dragoon auch nichts und wir wissen beide wieso… Weil es dir gerade Recht kommt, wenn sich einige Idioten auf der Erde den Kopf einschlagen! Dann kannst du ebenfalls deine dreckigen Spielchen treiben und danach feige die Hände in die Höhe halten und auf die schrecklichen Taten der Menschheit verweisen! Ganz nach dem Motto – die anderen machen viel schlimmere Sachen, also bin ich dagegen noch harmlos. Du versucht doch so nur dein Gewissen zu beruhigen! Und sowas wie du behauptet von sich selber ein höhere Gewalt zu sein?!“

Die Miene seines Bit Beasts versteinerte.

„Pass auf deine Wortwahl auf!“

„Hast du mich jemals einen Menschen töten sehen? Auf wie viele Leute trifft deine blöde Behauptung denn überhaupt zu?!“, ignorierte Tyson ihn und deutete auf seine Freunde. Er hatte sich so in Rage geredet, dass Dragoon gar nicht die Gelegenheit fand ihm Einhalt zu gebieten. Stattdessen zog sich der Himmel über ihnen bedrohlich zu.

„Sieh uns an! Wir kommen alle samt aus verschiedenen Kulturen die ihre Differenzen hatten. Die Amerikaner haben in Japan Bomben abgeworfen, macht das Max deshalb zu einem kriegsverherrlichenden Massenmörder? Kais Familie ist russisch-orthodox, greife ich aus religiösem Eifer deshalb zu einer Waffe und lege ihn um? Verdammt noch mal, Dragoon, die Welt besteht nicht nur aus Schwarz und Weiß! Wir Menschen sind facettenreicher als du es dir einbildest, aber da du das Leben mit Füßen trittst und keinen zweiten Blick auf uns wirfst, ist dir komplett entfallen wie verschieden die Ansichten bei uns sind!“

„Ich bin ein Uralter!“, ein kräftiger Wind kam auf der durch die Baumwipfel peitschte. Es bedurfte nicht viel Wissen über diese Welt um zu begreifen, wessen Stimmung ihre Umwelt nun wiederspiegelte. Sich solche Vorwürfe von einer vermeintlichen Eintagsfliege anzuhören, schien Dragoon trotz ihrer früheren Partnerschaft zu weit zu gehen.

„Ich habe euch Menschen schon beobachtet, als ihr noch in euren Höhlen gehaust habt und eure Ärsche noch mit Blättern abgewischt habt. Ich mag kaum noch zählen wie viele Kriege ich erlebt habe, seit ihr auf dem Antlitz der Erde erschienen seid! Und da wagst du es dir anzumaßen mir Vorhaltungen zu machen?“

„Ha!“, Tyson schnaubte unbeeindruckt auf. „Du denkst das macht dich zum Fachmann?“

„Ich weiß jedenfalls zu was ihr im Stande seid!“

„Wie willst du das beurteilen? Du hast doch keine Ahnung was einen Menschen bewegt, noch nicht einmal was ein Leben wert ist! Dir tut es noch nicht einmal Leid was du mit meinem Großvater getan hast. Genau wie der Rest deiner ach so heiligen Uralten! Haben wir jemals ein Bedauern wegen Judy gehört? Du bist doch nichts anderes als ein großes Kind mit einer Lupe das Ameisen ansengt! Jemand wie du verdient überhaupt nicht so viel Macht!“, im letzten Satz brüllte er seinen ganzen Frust hinaus.

So laut dass seine Wangen eine tiefrote Färbung annahmen.

Nur mit Mühe konnte er an sich halten, um Dragoon nicht einen herzhaften Fausthieb in das arrogante Gesicht zu verpassen. Er ahnte wie erbost sein Bit Beast war.

Der Himmel hatte sich schwarz gefärbt. Es starrte ihn aus glühenden Augen an. Auf seiner Haut zeichneten sich die Umrisse seiner blauen Schuppen ab, die sich von Innen gegen die äußere Hülle pressten. Ein weiteres falsches Wort und Dragoon würde zu seiner Drachengestalt wechseln. Er würde ihm vorführen wie mächtig er doch war und wie klein Tyson dagegen. Ein Mensch hatte es gewagt mit einem Uralten respektlos zu sprechen. Max spürte ebenfalls die lauernde Gewalttat und hielt Kai fest in den Armen. Er war alarmiert und stierte zwischen beiden Parteien hektisch hin und her. Die angespannte Aggression war förmlich auf der Zunge zu schmecken und als der Moment eintrat, indem sich die Gefühle des Bit Beasts entluden, hob es sie beinahe fort.

Eine starke Druckwelle zwang sie in die Knie.

Max umklammerte Kai fester. Das Kind war zu leicht um dem Sturm standzuhalten. Er kauerte sich mit ihm auf den Boden. Tyson selbst konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten, doch er kannte diese Situation nur zu gut. Es war wie ein Déjà-vu. Wenn man so viele Matches wie er bestritten hatte, wusste man, dass man sich bei einem Kampf nicht nur gegen die Energie eines fremden Bit Beasts, sondern auch des Eigenen wappnen musste. Es wäre Unvorteilhaft für Tyson gewesen, hätte er sich bei einer Weltmeisterschaft, von einer von Dragoon erzeugten Sturmböen wegfegen lassen. Natürlich war diese Erfahrung kein Vergleich zu der jetzigen Situation, doch es half ihm zumindest soweit, um seinem Bit Beast nicht die Genugtuung zu verschaffen, vor dessen Angriff einzuknicken. Mit wütend zusammengefletschten Zähnen beobachtete Tyson wie der menschliche Körper Dragoons in kleine Einzelteile zerbröckelte und sich der massige, schlangenartige Drachenleib aus ihm emporwand. Die Erscheinung war anders als sonst. Sie schien aus flirrenden, blauen Linien zu bestehen, die nur die Konturen offenbarten. Als wäre das Bit Beast fast schon transparent. Das Maul des Drachens öffnete sich.

„Eine Ameise sollte ein Kind mit einer Lupe nicht reizen!“, Dragoons Stimme hatte sich in ein monströses Grollen verzerrt. „Hast du eine Ahnung was du mir alles verdankst? Ich bin der Grund weshalb deine gesamte Art existiert. Dank mir durftest du dich von der gesichtslosen Masse deiner Spezies herausheben! Meiner Güte hattest du all deine Erfolge in der Vergangenheit zu verdanken. Ohne mich wärst du ein weiteres kümmerliches Subjekt in diesem Meer von grauen Gestalten!“

Es stampfte erbost mit seinen krallenartigen Hinterpfoten auf und reckte den langen schmalen Hals herausfordernd Tyson entgegen. Der Wind schien die anklagenden Sätze des Bit Beasts bis in den hintersten Teil dieser Welt zu tragen. Die Worte schallten im Talkessel noch lange nach.

„Fordere dein Glück nicht heraus, Takao! Du begreifst immer noch nicht was für ein großes Geschenk dir überhaupt zu Teil geworden ist mit meiner Freundschaft! Stattdessen wagst du es und spuckst mir in die helfende Klaue! Noch genießt ihr alle einen Sonderstatus, doch meine Güte findet auch irgendwann ihr Ende… Wäre es dir lieber gewesen du wärst nichts anderes als eine kleine Ameise geblieben?!“

Die Böe hob Tyson fast von den Sohlen.

Das Wasser des Flussbetts peitschte bereits über die Ufer, bis nur noch der lehmige Boden zurückblieb. Tyson nutzte diesen Vorteil und vergrub seine Schuhe tief in den Schlamm um sich noch mehr Halt zu verschaffen.

„Wärst du lieber eine dumme nichtssagende Ameise geblieben?! Ein kleiner jämmerlicher Wurm der nur in den Tag hineinarbeitet bis er ins Grab fällt?“

„Ja verdammt! Das wäre mir lieber gewesen!“, schmetterte er seine Antwort dem Bit Beast entgegen. So abrupt wie der Sturm aufgekommen war, so plötzlich hielt er inne.

Als wären sie im Auge eines Hurrikan. Selbst die Wolken bewegten sich kaum noch, als seien sie eine aufgemalte Kulisse. Die Schlitze der schwarzen Drachenpupille fokussierten Tyson starr. Er spürte mit jeder Faser seines Körpers das Entsetzen über seine Worte.

Der Drache war bis ins tiefste Mark seiner Seele erschüttert…

Doch verdammt noch mal - das war Tyson ebenfalls!

Seine Fäuste bebten. Zorn, Enttäuschung und Trauer ließen ihm die Sicht verschwimmen.

Er wusste dass er dabei war die alten Banden zu kappen – doch er hatte heute jegliche Hoffnung für sein Bit Beast verloren. Es würde niemals zur Vernunft kommen, dafür gingen ihre Moralwerte zu weit auseinander. Seine Stimme klang belegt als er sprach, doch es scherte ihn nicht mehr, stattdessen offenbarte er seinem Bit Beast sein Innerstes als er begann:

„Als du das erste Mal zu mir gekommen bist, konnte ich mein Glück kaum fassen. Es war nicht nur die Tatsache dass ich ein Bit Beast besitze, sondern viel mehr deine Gestalt die mich beeindruckt hat. Ich dachte: Ausgerechnet ein Drache kommt zu mir! Ein Wesen das für seine Entschlossenheit, seine Stärke, seine Tapferkeit bekannt ist. Allein dadurch fühlte ich mich unbesiegbar, weil ich ein Bit Beast an meiner Seite wusste, dass diese Eigenschaften in sich vereint! So wollte ich von da an auch sein… Bei einem Match habe ich mir immer eingeredet, dass ich genauso wie mein Partner sein muss. Du warst tatsächlich mein Vorbild! Ich wollte so wie ein Drache sein. Für meine Familie und meine Freunde ein zuverlässiger Beschützer…“

Max hielt den Atem an. Er hatte sich schon immer gefragt, woher sein Freund diesen unbeugsamen Willen hernahm. Ausgerechnet jetzt die Antwort zu erhalten, hinterließ einen traurigen Nachgeschmack. Tyson lachte inzwischen freudlos auf als er an seine Naivität dachte.

„Jetzt sehe ich hinter diese Fassade und mit jeder Stunde die ich hier bin, gehen meine Kinderträume weiter zu Bruch. Ich sehe keinen vertrauenswürdigen Beschützer mehr. Kein heldenhaftes Wesen, das für die Gerechtigkeit kämpft. Da steht nur ein selbstgefälliger Tyrann.“

Die schwarzen Schlitze vor ihm weiteten sich. Der Drache bäumte sich langsam zurück.

„Im Nachhinein denke ich, dass ein Leben als Ameise hundertmal besser ist als das hier. Zumindest hätte ich dann niemals angefangen zu jemanden aufzusehen, der mich so tief enttäuscht hat wie du.“

Die Stimmen des Windes verklangen und mit ihnen verebbte der Sturm. Doch die tiefhängenden Wolken in der Irrlichterwelt blieben. Das Bit Beast kam auf den vorderen Krallen auf und starrte ihn nur an. Niemand mochte wissen was in dem Geist vorging.

Irgendwann schüttelte der Junge ihm gegenüber nur noch den Kopf.

„Lasst uns Allegro suchen.“, meinte Tyson. Er streckte Max seine gesunde Hand hin. Der schaute zunächst argwöhnisch zu dem Bit Beast, dem sein Freund so leichtfertig den Rücken zuwandte. Doch das rührte sich nicht. Zusammen mit Kai half ihm Tyson auf die Beine, wo er wacklig wie ein Fohlen zum Stehen kam.

Er spürte kleine Finger die seinen Handrücken sachte berührten, als wolle das Kind an seiner Seite ihm tröstenden Beistand gewähren. Kais markante Augen schauten bedrückt zu Tyson auf. Er nickte nur und sagte: „Kümmern wir uns lieber um Max.“

Dann warf er sich dessen Arm um die Schulter. Bevor er aber ging wandte er sich noch ein letztes Mal zu Dragoon. Heute war ihre Freundschaft zerbrochen.

Vor sieben Jahren wäre das für ihn undenkbar gewesen…

Tyson atmete aus und hätte am liebsten angefangen zu heulen. Ihm war als ob er einen Teil von sich selbst zurück ließ - das letzte bisschen Kind das ihm noch geblieben war.

Als würde er es wie einen ungezogen Hund an eine Laterne binden und fort fahren.

„Ich hätte niemals gedacht das es so zwischen uns endet.“, gestand er ein.

Erst dann wandte er seinem alten Partner den Rücken zu. Die Gruppe kletterte den Hang des leeren Flussbetts hinauf und schlug sich durch die Büsche in jene Richtung, in die Allegros unfreiwilliger Sturzflug ihn gebracht haben mochte.
 

ENDE Kapitel 24
 

Ich hätte eigentlich schon früher das neue Kapitel hochgeladen, nur ist es für mich ständig eine Überwindung, wegen der ganzen Formatierung bei der Kursivschrift und das kommt in den künftigen Kapiteln auch häufiger vor. Mich graut es mehr davor als vor den Zombies. >.<

Ich hoffe ihr habt euren Spaß und wünsche euch ein schönes Halloween! ^_~

Ray war total außer sich, als er an die Stelle kam, wo er seine Freunde zurückgelassen hatte. Es stank ihm gewaltig, dass, wann immer er sich für eine Minute von den anderen entfernte, einer von ihnen – oder wie in diesem Fall alle – verschwanden.

„Wie in einem verdammten Kindergarten!“, fauchte er genervt und stampfte erbost mit dem Fuß auf. „Diese Idioten haben doch keinen anständigen Orientierungssinn!“

Diese ganze Situation war für ihn mehr als frustrierend.

Er verfluchte Allegro, da die Strommaus doch angeblich alles und jeden wittern konnte, aber nicht so schlau war, die Gruppe zu ermahnen still sitzen zu bleiben, bis er wieder kam. Es wurmte ihn das Tyson sich als Anführer aufspielte, man seinen kleinen Kai mit Samtpfoten anfassen musste, während sich ständig einer von ihnen verlief. Ganz gehörig ging ihm aber gegen den Strich, dass Max auf diese Weise schon einmal abhandengekommen war, als er den Frauenmantel für ihn gesucht hatte.

War die Gruppe etwa schon wieder in ein Bit Beast gerannt?

Unweigerlich musste Ray daran denken, wie sein Leben ablaufen sollte, wenn sie nicht rechtzeitig aus dieser Welt fanden. Musste er als ständige Leibgarde fungieren, nur weil die anderen in der Wildnis nicht klar kamen? Er wollte nicht ständig mit der Befürchtung leben müssen, dass seine Freunde von einem Bit Beast zerfleischt wurden, nur weil er mal kurz einen Strahl in die Ecke stellte.
 

„Wenn sie tot sind muss ich mich wenigstens nicht mehr um sie kümmern.“
 

Abrupt umfasste Ray seinen Kopf und raufte sich die Haare. Er atmete stoßweise aus und merkte, dass sein Schädel sich anfühlte, als wolle er zerbersten. Um die pochende Ader an seiner Schläfe zu beruhigen, fuhr er mit seinen Fingerkuppen in kreisenden Bewegungen über den Punkt. Es war ein verzweifelter Versuch seine innere Mitte wiederzufinden.

Sein Zen-Meister hätte wohl über ihn gestaunt.

Er dachte an seine Lehre und wie einfach es ihm immer gefallen war sein Zentrum zu finden. Nun fand er sich aber im Zwiespalt mit seinem inneren Dämon… das machte ihm Angst.

Es raschelte hinter ihm und Ray wandte sich alarmiert um. Mit tief zusammengezogenen Brauen stierte er in die Richtung, aus der sich etwas näherte. Doch bald hopste nur ein kleiner Blitz aus dem hohen Graß, direkt auf die Lichtung zu und manifestierte sich zu seiner nagetierähnlichen Gestalt.

„Na hallo, Monsieur! Schön euch noch lebend wieder zu sehen!“, das Bit Beast verschränkte die Arme vor der Brust und tippte mit dem länglichen Fuß auf dem Boden. „Du hast ganz schön etwas verpasst!“

Ray atmete beruhigt aus. Allegro war noch zu Scherzen aufgelegt, also konnte es nicht so schlimm gewesen sein. Die böse Stimme in seinem Kopf schimpfte:

„Und darüber bist du auch noch erleichtert?!“

Erneutes Rascheln kündigte die Ankunft der restlichen Gruppe an. Kurz darauf folgte ein dunkler Haarschopf und eine Hand schob ein großes Farnblatt zur Seite. Ein nachdenkliches Gesicht kam zum Vorschein und erst als Tysons tiefbraune Pupillen sich ihm zuwandten, wurde er aus seinen Überlegungen gerissen.

„Ray!“, scheinbar ebenso erleichtert wie er hellte sich seine Mimik auf.

„Wo wart ihr denn?!“, überrascht musste er feststellen, dass die Frage herrischer kam als beabsichtigt. Um den vorangegangenen Satz abzuschwächen, fügte er hinzu:

„Ich war krank vor Sorge.“

Tyson schaute ihn zunächst schweigend an. Ihm war der schroffe Tonfall nicht entgangen, dennoch ließ er sich mit der Ausrede abspeisen.

„Wir wurden von Zeus angegriffen.“

„Du meinst… Brooklyns Zeus?“

„Genau den.“, er lotste Max an sich vorbei der einen kränklichen Eindruck machte. Ihm schien die Begegnung nicht gerade gut getan zu haben. Wahrscheinlich musste er nun schon wieder die Krankenschwester spielen. Kai kam erst nach den anderen in sein Sichtfeld. Im hohen Gras war er kaum auszumachen. Genau wie der Rest der Gruppe war er triefend nass und nieste einmal leise. Ray entging nicht die merkwürdige Stimmung, als läge etwas Unausgesprochenes in der Luft.

„Ist noch etwas?“

„Wir haben Draciel gesehen.“, antwortete Max. Seine Stimme war kratzig. Er fasste sich an den Hals und räusperte sich. „Dragoon war auch da.“

Wahrheitsgetreu hätte Ray beinahe eingeworfen, dass auch er seinem Bit Beast in die Hände gelaufen war, entschied sich dann aber doch Stillschweigen zu bewahren. Zum einen wollte er sich nicht anhören müssen, dass Max ihn davor gewarnt hatte, einem Bit Beast begegnen zu können. Er würde nicht von seinem Standpunkt abweichen, dass er auch alleine klar kam. Zum anderen wollte die Gruppe dann sicher wissen, was Driger und er zu besprechen hatten. Obwohl er nichts Falsches getan hatte, empfand Ray ein schlechtes Gewissen. Womöglich weil die böse Stimme in seinem Hinterkopf ihm sagte, dass Driger im Prinzip Recht behielt. Um seine Gedanken von diesen dunklen Pfaden zu lenken, fragte er:

„Was genau ist passiert?“

„Das lass dir mal von Tyson erzählen…“, Maxs Stimme klang seltsam matt.

Erwartungsvoll blickte Ray zur besagten Person, doch der schien nicht gerade Lust auf das Thema zu haben. Er wirkte geradezu bedrückt.

„Muss ich dir alles aus der Nase ziehen oder rückst du endlich mit der Sprache raus?!“

Tysons Brauen zogen sich wütend zusammen und er fauchte geradeheraus:

„Ich habe keine Ahnung was dir für eine Laus über die Leber gelaufen ist, aber pass auf deinen scheiß Tonfall auf!“

„Oh Verzeihung, dass ich hier auftauche und mich frage wo ihr abgeblieben seid!“

„Niemand hat zu dir gesagt dass du dich vom Acker machen sollst.“

„Komm mir nicht mit blöden Vorwürfen! Von uns allen seid ihr immerhin wieder einmal von einem Bit Beast aufgegriffen worden!“

„Das lag nicht in unserer Hand, Ray!“, zischte Tyson ihn bedrohlich an. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden die geradezu Gift sprühten.

„Du wirst wirklich unfair!“, mischte sich auch Max ein.

„Ach halt doch die Klappe! Wenn ich deine Meinung hören will frage ich Tyson!“

Allegro spürte wohl, dass noch ein falsches Wort fehlte und jemand würde mit der Faust ausholen. Die Strommaus hopste zwischen die Jungen.

„Nun ist aber mal gut, meine Herren!“

Er sprang erneut in ihr Sichtfeld.

„Das ist doch kein Grund sich zu streiten!“, wieder federte er vom Boden ab und streckte noch in der Luft die Glieder aus, um ihnen Einhalt zu gebieten. „Lasst mich nicht bereuen, dass ich vor kurzem eure Freundschaft angepriesen habe!“

Stille kehrte ein…

Tyson schien sich zu sammeln.

Er schloss die Lider für einen Moment und atmete hörbar aus.

Ray spürte dass er ernsthafte Schwierigkeiten besaß es seinem Freund nachzumachen. So sehr er sich auch bemühte seinen aufwallenden Zorn im Zaun zu halten, es schien eine kleine Ewigkeit zu dauern, bis der brodelnde Kessel in seinem Bauch wieder auf Sparflamme köchelte. Ihm lag auf der Zunge, der Gruppe von diesem seltsamen Phänomen zu erzählen, doch sonst war immer er der Fels in der Brandung. Er befürchtete auf Besorgnis oder vielleicht sogar Missverständnis zu stoßen. Es ärgerte ihn, dass ausgerechnet dem aufbrausenden Hitzkopf Tyson etwas gelang, was für ihn doch sonst kein Problem war.

„Tut mir Leid. Ich habe seit einigen Stunden tierische Kopfschmerzen.“

Es war nur die halbe Wahrheit, doch genügte wohl als Ausrede.

„Warum hast du uns das nicht früher gesagt?“, stöhnte Tyson genervt. „Stattdessen fragen wir uns die ganze Zeit, was mit dir los ist. Wir reißen dir doch deshalb nicht den Kopf ab.“

„Ich… Ich habe keine Ahnung. Wahrscheinlich weil wir andere Probleme haben.“

„Ist es so schlimm?“, wollte Max wissen.

„Es ist zumindest nicht angenehm. Jedes Geräusch klingt wie ein Paukenschlag gegen die Schläfe.“, er unterdrückte die boshafte Bemerkung, dass ihr Gequake es noch verschlimmerte. Weshalb verspürte er das Bedürfnis seine Mitmenschen zu kränken?

„Hört sich nach einer Migräne an.“, Max legte nachdenklich den Kopf zur Seite. „ Meine Mutter hatte das früher auch. Manchmal war es so schlimm, dass sie kaum aus dem Bett kam. Jeder Sonnenstrahl im Raum war dann zu viel.“

„Ja… Lässt sich aber momentan wohl nicht ändern.“, Ray massierte sich wieder die Schläfe und biss sich auf die Zähne. „Es ist ein unpassender Zeitpunkt, aber da muss ich eben durch. Ich fürchte ich gehe damit aber nicht gerade vorbildlich um, deshalb entschuldigt wenn ich euch mal über den Mund fahre.“

Tyson tat eine wegwerfende Bewegung.

„Hör auf dich zu entschuldigen. Das hast du nicht mit Absicht gemacht.“

Er musste gerührt Lächeln. Es war erstaunlich wie leicht Tyson über solche Dinge hinwegsehen konnte. Eben war er noch sauer, danach konnte er schon wieder scherzen.

„Das muss er ja auch. Er braucht dich noch.“

Ein schmerzhafter Laut drang aus seinem Mund und er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Ihm war als nehme er seine Umgebung nur noch durch einen Tunnelblick wahr.

Diese Geste entging auch seinen Freunden nicht, die sich vielsagende Blicke zu warfen.

„Wir sollten uns zum Quellstrom aufmachen. Uns läuft sonst die Zeit davon.“, sprach er gequält.

„Ich denke du solltest dich erst ausruhen.“, mahnte Max.

„Nein!“, schmetterte er den Vorschlag entschieden ab.

„Aber Ray, du…“

„Wir haben keine Zeit für so etwas!“

„Ray wir sind am Ende unserer Kräfte.“, sprach Tyson eindringlich auf ihn ein. „Heute Morgen musste ich Wolborg davon abhalten Kai und mir die Organe zu entnehmen. Ihr hattet währenddessen Galman am Hals. Danach sind wir durch diesen Dschungel geirrt und während du weg warst, hat uns Zeus angegriffen.“

„Vergiss nicht Dragoons Art uns mundtot zu machen.“, warf Max säuerlich ein. Tyson überging aber den Einwand. Er hatte wirklich keine Lust noch über sein Bit Beast zu sprechen. Für ihn war Dragoon gestorben. Doch die ganzen Strapazen hatten sie alle an die Grenzen gebracht.

Er las es in Maxs blassem Gesicht.

Er las es in Rays dunkeln Augenringen.

Er las es in Kais schmutziger Aufmachung.

Himmel, der Kleine sah aus wie ein zerlumpter Bettelknabe. Hätte er für Oliver Twist vorgesprochen, wäre er die Hauptbesetzung.

„Wir brauchen eine Pause. Sowohl du, als auch ich. Denkst du deine Migräne kommt von ungefähr?“

„Denk du doch mal nach wie viele Stunden wir noch haben!“, Rays Lautstärke stieg erneut an und er begann ihnen vorzurechnen. „Wir sind am Samstag hier gestrandet. Am Sonntag ist schon Halloween. Das macht zwei Tage in der Menschenwelt. Das entspricht in der Irrlichterwelt vier Tage. Einen Tag haben wir verplempert als wir hier angekommen sind und wie aufgescheuchte Hühner den Ausgang gesucht haben, später haben wir Kai vor Dranzer gerettet. Ein weiterer Tag ging drauf als wir in den Fluss gestürzt sind. Erst heute Morgen sind wir von Wolborg und Galman losgekommen. Heute ist der dritte Tag und es geht schon auf den Abend zu! Uns rennt die Zeit davon und wir müssen endlich zusehen, dass wir aus diesem beschissenen Talkessel finden!“

„Pah pah pah!“, gab Allegro plötzlich von sich und klopfte mit seiner länglichen Hinterpfote auf den Boden. „Na, mein lieber Junge. Da hast du dich aber gewaltig vertan. Wir sind noch immer im zweiten Tag.“

„Was?!“

Die überraschten Blicke aller richteten sich auf die kleine Strommaus.

„Wir haben zwei Nächte hier verbracht.“, sagte Max. „Wie kommst du denn darauf?“

„Als Galman uns in seiner Höhle gefangen gehalten hat, haben wir eine ganze Nacht dort verbracht, bevor wir es schafften auszubrechen.“

„Und Kai und ich haben in Wolborgs Dorf übernachtet.“, erinnerte sich Tyson.

„Oh ihr dummen Unwissenden. Das war doch dieselbe Nacht wie am Tag zuvor.“

„So ein Blödsinn.“, fauchte Ray.

„Überhaupt kein Blödsinn!“, äffte Allgro ihn brüskiert nach, stemmte eine Hand in die Seite und hob die andere mahnend mit dem Zeigefinger voraus an ihn gewandt. „Wir sind durch den Sturz in den Fluss einfach nur in einem anderen Gebiet der Irrlichterwelt gelandet. Gerade ihr Menschen müsstet diesen Phänomen doch am besten kennen. Immerhin hat es uns Bit Beast noch nie interessiert einen Tag in Stunden aufzuteilen. Wir brauchen so etwas wie Zeit nicht um uns zu orientieren.“

Allegro schaute nachdenklich zum Himmel und tippte sich ans Kinn.

„Ich glaube ihr nennt das… Zeitzonen?“

„Moment, halt!“, Max hob irritiert die Hände um den Redeschwall einzudämmen. „Habe ich das richtig verstanden? Wir sind also durch den Sturz in den Fluss in einer Zeitzone gelandet, in welcher der dritte Tag noch gar nicht begonnen hat?“

„Ja natürlich. Was dachtet ihr denn?“

Ihnen war unbegreiflich das Allegro nicht ihr Problem sah, aber es erklärte zumindest, weshalb sie auf dem Zahnfleisch gingen. Sie hatten alle nicht viel Schlaf abbekommen und litten scheinbar unter einer Art Irrlichterwelt Jetlag. Dazu kam die obskure Verschiebung der Zeit, die für sie, als Außenstehende, kaum nachzuvollziehen war.

Dennoch lachte Tyson plötzlich erleichtert auf.

„Verdammt, dann war das ganze ja sogar eine glückliche Fügung! Wir haben durch den Sturz in den Fluss einen Tag dazu gewonnen!“

„Wer sagt dass wir im anderen Teil nicht schon längst den Ausgang gefunden hätten?“

„Ray, ehrlich… Wenn ich nicht wüsste das es dir schlecht ginge, würde ich dir mal einen Satz heiße Ohren verpassen! Kannst du dich überhaupt noch an etwas erfreuen?“, Tyson sah ihn mehr als entnervt an, während sich sein Freund so fest auf die Unterlippe biss, dass es schon vom Zuschauen weh tat. Er schien richtig an sich zu halten, um nicht eine weitere aggressive Bemerkung von Stapel zu lassen. Diese Migräne machte ihn zu einem komplett anderen Menschen – Pessimistisch, launisch und streitsüchtig.

So kannte Tyson ihn nicht und er mochte diesem Ray auch keine Sympathie abgewinnen.

„Wir haben Glück im Unglück. Wir können die Zeit endlich nutzen um zu Kräften zu kommen.“

„Ich kann noch durchalten!“

„Die anderen aber vielleicht nicht, du Arsch!“, knirschte Tyson mit den Zähnen.

Erneut wallte die unangenehme Stimmung auf. Ray sah sich in einen Haufen müder Gesichter um. Mit einen „Na fein“ gab er sich widerwillig geschlagen.

„Aber wir verplempern keine Zeit mehr mit der Suche nach einem Schlafplatz. Es wird hier gepennt, nach alt bewehrter Art! Egal wie unbequem es für euch Prinzessinnen ist!“, forderte er. „Ich will irgendwann noch einmal hier herauskommen.“

„Schön! Dann bleibt aber jemand wach um Schmiere zu stehen und es wird abgewechselt!“

„Jawohl werter Lord!“, konterte Ray sarkastisch.

„Du darfst mich ruhig Tyson nennen.“, gab er sich gespielt geschmeichelt.
 

Die Dämmerung kam als sich die Gruppe ihren Schlafplatz richtete. Sie hatten Blätter gesammelt und trockenes Geäst für ein Lagerfeuer. Zunächst erfüllte es nicht die Absicht sie zu wärmen, sondern um gegen die plötzliche Finsternis anzukämpfen, die über sie hereinfiel. Es war eine weitere Absonderlichkeit dieses Teil der Welt.

Die Nacht kam schlagartig als würde jemand eine Decke über das Tal stülpen.

Tyson musste dabei unweigerlich an Wolborg denken, die in ihrem Eisparadies einsam auf ihrem Webstuhl den Frost vor sich her gewebt hatte. Das Bild von damals hinterließ einen traurigen Nachgeschmack. Womöglich existierte aber irgendwo ein Bit Beast, das die Nacht über sie brachte. Mit der Dunkelheit war aber auch die Wärme dahin. Tyson war froh das er noch seine Jacke besaß. Sein provisorisches Bett war nicht besonders bequem, erfüllte aber seinen Zweck. Ihn erinnerte das Ganze an sein Überlebenstraining mit Daichi. Auf dem Boden kauernd lehnte er an den umgestürzten Stamm, hatte den Kragen seiner Jacke bis zum Gesicht gezogen und dachte nach. Zu seiner Beunruhigung herrschte eine wirklich angesäuerte Stimmung in der Gruppe.

Sie hatten sich schon öfters Mal gezankt, dass gehörte bei einer soliden Freundschaft auch dazu, doch in ihrer jetzigen Situation, konnten sie es sich nicht leisten, Haarspalterei zu betreiben. Es lag einfach zu viel auf dem Spiel…

In der Menschenwelt wären sie sich in solchen Fällen für einige Stunden aus dem Weg gegangen, um ihre Gemüter abzukühlen. Das war hier aber keine Option. Was diesen Punkt anbetraf hatte Ray nämlich Recht - Sie konnten keine unnötige Zeit mehr verschwenden. Selbige Person versprühte aber auch Gift und Galle ohne Rücksicht auf Verluste. Im Verlauf des Abends hatten ihn Max und Tyson mehrmals ermahnt, sich endlich am Riemen zu reißen. Er war heilfroh als ihr Freund sich endlich schlafen legte. Tyson selbst meldete sich freiwillig als erste Wache. Zum einen, da Max Dragoons Angriff wirklich mitgenommen hatte, zum anderen, damit Ray endlich von seiner Migräne und den daraus resultierenden Launen erlöst wurde. Der Gedanke daran ließ ihn verbissen in die Flammen blicken. Ihm war als hätten Ray und Kai die Rollen getauscht. Dann schüttelte er aber den Kopf und fand, dass er Kai damit böses Unrecht tat.

So schlimm war er nie gewesen. Hier lagen Welten dazwischen…

Er war perfekt darin die kalte Schulter zu zeigen, doch solche Allüren hätte er sich nie geleistet. Kai hätte in einer so ernsten Situation gewusst, dass man auf die anderen Rücksicht nehmen musste. Ihm kam in den Sinn, wie sich ihr Teamleader freiwillig gemeldet hatte, Kenny und Hillary zum Leuchtturm zu begleiten, als sie während der zweiten Weltmeisterschaft von einer dieser obskuren Organisationen, auf einer Insel festgehalten worden waren. Kai hatte eingewandt, dass man die beiden nicht alleine lassen dürfe und es war einer dieser Momente, der Tyson vor Augen führte, dass sein Freund im Grunde genau wusste, wann gesunder Egoismus angebracht war und wann nicht. Eine klare Linie war vorhanden.

Ray dagegen schien aber vollkommen verwandelt. Er wollte auf Biegen und Brechen aus der Irrlichterwelt, auch wenn er sich und anderen schadete. Das war seltsam, denn er kümmerte sich sonst vorbildlich um seine Mitmenschen. Als ihr Freund endlich schlief, hatte er jeder erdenklichen höheren Gewalt gedankt. Nach der heftigen Auseinandersetzung mit Dragoon verspürte er den Wunsch, in sich zu gehen und über den Vorfall nachzudenken. Auch wenn er sich vor den anderen nichts anmerken ließ – der Bruch mit seinem Bit Beast ging ihm Nahe. Eigentlich war ihm zum Weinen zu Mute, denn ein kleiner Teil hatte doch immer noch gehofft, dass Dragoon einen triftigen Grund besaß, um sich so verkehrt zu verhalten. Da war diese leise Zuversicht gewesen, dieser naive Optimismus, der wie die Flamme einer Kerze ausgepustet worden war. Tränen der Enttäuschung prickelten unter seinen Augenlidern. Er blinzelte sie weg und schielte verstohlen zu den Schlafenden.

Allegro hatte sich auf dem Baumstamm zusammengerollt und ein Blatt über seinen Körper geworfen. Auch die Strommaus musste sich endlich eine Pause gönnen. Als er zu Kai blickte fröstelte der Junge auf seiner provisorischen Bettstatt. Jetzt wurde es doch verdammt kühl. In was für einer wankelmütigen Welt waren sie gestrandet?

Tyson zog sich die Jacke aus und fletschte die Zähne, als er seine verletzte Hand aus dem Ärmel zerrte. Es wäre eine große Hilfe wenigstens nicht mehr gehandicapt zu sein. Er schob den Gedanken beiseite, da sich an diesem Zustand ohnehin nichts ändern ließ und beugte sich über das Kind, um ihm die Jacke über die Schultern zu legen. Etwas überrascht stellte er dabei fest, dass Kai noch gar nicht schlief. Als ihn Tyson zudecken wollte, drehte er den Kopf und blinzelte zu ihm hinauf.

„Ist dir nicht selber kalt?“

„Es geht schon, Kleiner.“, Tyson setzte sich neben ihn. „Warum schläfst du noch nicht?“

Kai zuckte mit den Schultern, behielt seine Gedanken aber für sich.

„Bedrückt dich etwas?“

Zuerst schwieg der Junge, als wisse er nicht, ob er sich ihm anvertrauen sollte. Dann setzte er sich langsam auf und vergrub seinen Körper tief in den Stoff der roten Jacke. Er ging beinahe komplett darin unter.

„Als wir am Fluss waren, da hast du zu diesem komischen Mann etwas gesagt.“

„Ich habe einiges gesagt.“, seufzte Tyson. Er mochte nicht über Dragoon sprechen.

„Du hast ihn gefragt ob er etwas für mich tun kann… Weil ich mich noch immer nicht an euch erinnern kann.“

„Ach das.“

„Was hast du damit gemeint?“

„Das ist schwierig… Sehr schwierig.“

„Kannst du es nicht versuchen zu erklären?“, bat das Kind.

Tyson schaute ihn lange an. Er wusste nicht wie er sich an das heikle Thema herantasten konnte, zumal Kai bei seinem letzten Versuch Hals über Kopf geflüchtet war. Es war aber auch prekär. Da saß sein Freund, der doch eigentlich nichts mehr über ihre gemeinsame Zeit wusste und dem die echte Welt komplett fremd geworden war. Gleichzeitig spürte er, dass etwas nicht stimmte, konnte sich aber keinen Reim daraus machen, was die Älteren vor ihm verheimlichten. Kai blinzelte ihn aus diesen unwissenden Kinderaugen an und nun sollte Tyson ihm erzählen, dass er doch dreiundzwanzig war, ein stattliches Familienimperium führte und eine schwerkranke Schwester daheim auf ihn wartete. Der Rest der Gruppe wusste zumindest noch, wie es sich anfühlte Erwachsen zu sein und was sie alles verband. Tyson mochte gar nicht daran denken, wie schrecklich es für ihn wäre, sollte Kai all ihre wundervollen Momente, die sie als Team einten, verloren haben.
 

„Er ist verflucht.“
 

Dragoons Worte machten ihm kaum Hoffnung...

Nachdenklich kratzte er sich am Kinn. Was hätte er in Kais Situation gedacht?

Er stellte sich vor, wie es für ihn gewesen wäre, hätte ihn jemand nach dem Kindergarten aufgegabelt und ihm sein ganzes Erwachsenenleben, mit all seinen Höhen und Tiefen, geschildert. Ganz klar - er hätte nur Bahnhof verstanden! Wahrscheinlich wäre er verwirrt zu seinem Bruder gerannt, um ihm von dem komischen Fremden zu berichten. Er wusste doch selbst kaum mit dieser Situation umzugehen, wie sollte es dann Kai können?

„Lass mich dir stattdessen eine Geschichte erzählen…“

Das Kind blinzelte ihn neugierig an.

„Eine über deinen Großvater? Wie die als er deinen armen Hamster in der Mikrowelle trocknen wollte?“

Die Geschichte musste dem Jungen besonders in Erinnerung geblieben sein.

„Nein, heute Mal nicht.“, Tyson lächelte. Die Art wie offenkundig Kai den Hamster bemitleidete ließ eine Idee in ihm aufkeimen, wie er die Geschichte kindgerecht umschmücken könnte. Vielleicht kam es einfach nur auf die Verpackung an?

„Heute erzähle ich dir mal von einem… Katzenrudel.“

Kai bekam große Augen. Sie leuchteten ihn förmlich an.

„Ich mag Katzen.“, gestand er geradezu ehrfürchtig ein.

„Tatsächlich?“, das war Tyson neu, aber ein eifriges Nicken zementierte die Aussage.

„Die haben ein flauschiges Fell und hübsche Augen… und die Pfoten sind so klein.“, kam es geradezu verträumt. Er musste perplex blinzeln. Dann strahlte Tyson bis über beide Ohren.

„So so, der harte Kerl mag Katzen! Na dann wird dir diese Geschichte gefallen.“, er freute sich diebisch über diesen Volltreffer. Am liebsten hätte er Max geweckt und ihm von diesem leisen Einblick in Kais Seele erzählt. „Also es gab da mal eine Katze. Genaugenommen einen Kater…“

„Was für ein Fell hatte der Kater?“, kam die Zwischenfrage.

„Ist das wichtig?“

Kai zuckte mit den Schultern und meinte mit kindlicher Ehrlichkeit: „Ich finde schon.“

„Na gut. Es war dunkel.“, er zupfte an einer Strähne die ihm in die Stirn fiel und begutachtete sie eingehend. „Sagen wir sie hat im rechten Licht einen leicht bläulichen Ton.“

„So wie bei dir?“

„Ja! Was für ein Zufall, oder?“, lachte er auf. Das ganze könnte interessant werden. „Jedenfalls hatte dieser Kater vier Freunde und sie kannten sich bereits als sie noch ganz klein waren. Einer von ihnen hatte ein braunes Fell und konnte manchmal ein furchtbarer Angsthase sein. Aber er war sehr schlau und hatte das Herz am rechten Fleck. Allerdings war er ziemlich kurzsichtig und trug eine dicke Brille.“

„Katzen tragen gar keine Brillen.“

„Ja da hast du Recht.“, Tyson überlegte. „Es war eher… seine Fellzeichnung. Sie hatte um die Augen die Form einer Brille. Dieser Kater war furchtbar faul und ließ sich nie das Fell schneiden. Er hatte ganz langes Haar, dass fiel ihm wild ins Gesicht. Man konnte kaum seine Augen ausmachen.“

Kai legte seinen Kopf auf die Knie und hörte Tyson aufmerksam zu. Ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als könne er sich das Bild vorstellen.

„Dann gab es da noch einen Kater mit sehr blassem Fell und Augen so tiefblau wie das Meer. Der besaß richtig komische Essgewohnheiten. Zum Beispiel aß er für sein Leben gerne Mayonnaise und das wirklich auf allem. Egal ob Nudeln, Fleisch, Gemüse oder Fisch… Es musste immer eine Tube Mayonnaise neben seinem Napf stehen. Außerdem war er immer gut gelaunt und eine richtige Frohnatur. Aber wenn er doch einmal traurig war, dann hat man es diesem Katzenjungen sofort angesehen. Er bekam dann immer richtige Schmolllippen, große Kulleraugen und sah dann eher aus wie ein bedrückter Teddybär.“

Tyson ahmte Max nach und setzte einen übertrieben bekümmerten Blick auf, dabei schob er seine Unterlippe beleidigt vor. Ein Kichern kam von dem Kind.

„Diesem Katzenjungen konnte man selten lange böse sein. Er war sehr loyal und für jeden Spaß zu haben. Genau wie der Nächste in der Gruppe. Das war ein schwarzweiß gestreifter Kater, der fast schon einem weißen Königstiger ähnelte. Seine Augen waren hell und besaßen eine gelbliche Note. Er hatte etwas von einer Raubkatze aber war keineswegs gefährlich, sondern sehr hilfsbereit und mutig. Ihn konnte so schnell nichts aus der Ruhe bringen und er hatte schon früh gelernt, auf sich selbst aufzupassen.“

Rays heutiges Verhalten kam ihm in den Sinn.

„Manchmal… da konnte er auch Zähne zeigen. Das war aber eigentlich eine Seltenheit, weil es lange brauchte bis man ihn wirklich zur Weißglut trieb. Seine Freunde wussten aber trotzdem dass man sich auf ihn verlassen konnte, wenn man ihn braucht. Der blaue Kater mochte ihn, gerade weil er sich so verantwortungsbewusst verhielt und sich um seine Mitmenschen sorgte. Da er in einem fernen Dorf tief in den Bergen, weit weg von der Großstadt aufwuchs, kam der getigerte Katzenjunge sehr gut in den Wäldern zurecht.“

Tyson hielt inne als gerade die angedeutete Person sich rührte. Das Laub knisterte unter seinem Gewicht, doch er drehte sich nur auf die Seite. Sowohl er als auch Kai blickten in Rays Richtung, denn er murmelte im Schlaf. Auch das war neu. Er besaß einen wirklich ruhigen Schlaf, aber vielleicht war das Tyson entgangen, weil er sonst immer vor ihm eingedöst war, wenn sie in einem Gemeinschaftsraum übernachtet hatten. Um ihn nicht zu wecken rutschte er näher an Kai heran und verfiel in ein leises Flüstern.

„Dann gab es da noch einen Kater der war sehr speziell.“

„Wegen seinem Fell?“

„Darauf wollte ich eigentlich nicht hinaus, aber ja, warum eigentlich nicht? Er sah auch etwas speziell aus. Nicht das er hässlich war.“ Tyson schielte zu seinen schlafenden Freunden und beugte sich näher an Kais Ohr. Verschwörerisch flüsterte er: „Das war sogar ein sehr ansehnlicher Kater. Er besaß ein silbergraues Fell, mit dunklen Pfoten und um die Wangen herum hatte er zwei kleine Streifen. Und dann noch seine Augen… Die waren tiefbraun. Doch in manchen Momenten da machte es den Eindruck als würden sie feuerrot schimmern, als ob er eine Flamme in seinem Inneren verborgen hielt, die er nicht jedem preisgab. Die Katzendamen waren alle ganz verrückt nach ihm.“

„So eine Katze würde ich gerne sehen…“

Tyson schmunzelte. Offenbar hatte Kai die Parallelen nicht begriffen. Aber was erwartete er? Mit knapp sechs Jahren, hätte er ihm auch weiß machen können, dass der Storch die Babys brachte.

„Das wirklich Besondere an ihm war aber sein Charakter. Als kleines Kitten hatte er die Angewohnheit manchmal tagelang zu verschwinden und herumzustreunen. Er ließ sich nur ungerne etwas sagen oder anfassen, aber gleichzeitig hatten die anderen Respekt vor ihm.“

„War er etwa ein böser Kater?“

„Wie meinst du das?“

„Hat er gekratzt?“

„Oh… Nun, er konnte schon manchmal eine fiese Kratzbürste sein.“, grinste Tyson verschmitzt. Es war doch recht amüsant wie Kai entging, dass er über ihn sprach. „Im Grunde war er aber eine gute Seele. Aber leider war dieser Kater sehr scheu. Es fiel ihm unglaublich schwer Vertrauen zu anderen zu fassen und er sagte nie, was ihm durch den Kopf ging. Darüber ärgerte sich der blaue Kater mehr als einmal und manchmal stritten sie deshalb sogar.“

„Das ist schade.“

„Ja, sehr schade.“, stimmte Tyson zu. „Aber die beiden haben sich auch schnell wieder versöhnt. Es war also halb so schlimm. Jedenfalls, die Mitglieder dieses Rudels kannten sich bereits, als sie noch ganz kleine Jungkatzen waren und sie hatten eine große Spielwiese. Dort verbrachten sie viel Zeit zusammen, denn es war eine ganz besondere Wiese.“

Er sah den fragenden Ausdruck und fügte theatralisch hinzu:

„Es gab nämlich magische Schafe auf dieser Wiese.“

Kai zog skeptisch eine Braue in die Höhe. „Schafe?“

„Ja. Das waren die Beschützer von den kleinen Kitten. Jeder von ihnen hatte ein eigenes und auf der Wiese erlebten sie dadurch sehr viele Abenteuer. Es kamen andere Katzenrudel mit ihren Schafen und forderten sie zu einem Kampf heraus. Dann kamen Bären und wollten ihre Schafe klauen. Einmal wurde der braune Kater verschleppt, dann ein anderes Mal sogar alle zusammen auf einer Insel ausgesetzt und sie mussten wieder zurückfinden. Manchmal stritten sie sich auch untereinander. Einmal kam das alte Rudel des getigerten Katers und wollte sie zum Kampf herausfordern. Es kam vor das jemand verloren ging, dann mussten sie ihn suchen. Das silbergraue Katzenjunge hatte es sogar einmal geschafft, auf einem zugefrorenen See festzufrieren und wäre beinahe ertrunken!“

Kais Augen weiteten sich erwartungsvoll.

„Wie haben sie ihn da herausbekommen?“

„Indem sie alle zusammen an ihm zerrten bis sich seine Pfoten vom Eis lösten.“

„Hat er so etwas öfters gemacht?“

„Nein… Aber wenn er mal was Blödes machte dann im großen Stil.“, spottete Tyson. Er hatte Kai schon manches Mal diesen Vorfall unter die Nase gerieben. „Es vergingen viele Jahre und das Katzenrudel verbrachte auch weiterhin die Zeit miteinander. Selbst als sie die Spielwiese verlassen mussten, weil sie zu groß für sie wurden und ihre Schafe dort zurückließen. Als sie älter wurden verliebte sich der getigerte Kater in ein Katzenmädchen, dass er schon sehr lange kannte. In der Zwischenzeit eröffnete der blaue Kater eine Werkstatt…“

„Was ist eine Werkstatt?“

„Ein Laden.“

„Hat er da etwas verkauft?“

Tyson dachte nach und entschied, dass es für die Geschichte nicht relevant war, wenn er die Wahrheit der Handlung zuliebe abwandelte. Damit es zur kindlichen Erzählung passte, antwortete er: „Ja klar… Er hat dort Thunfisch verkauft. Der silbergraue Katzenjunge hatte in der Zwischenzeit eine kleine Schwester bekommen, in die er total vernarrt war. Sie mochte ihn natürlich auch sehr. Dieses Katzenmädchen hatte kleine schwarze Knopfaugen und ein nussbraunes Fell. Leider war sie krank, doch das störte ihren Bruder nicht. Er kümmerte sich wirklich aufopferungsvoll um sie und tat alles damit es ihr an nichts fehlte.“

Einen Moment wartete Tyson ab, ob diese Beschreibung etwas in Kai wachrüttelte. Leider verriet dessen Neugierde, dass der Wunsch nicht erhört wurde. Er seufzte enttäuscht und fuhr dann aber unbeirrt fort:

„Später feierten der getigerte Kater und seine Katzendame eine tolle Hochzeit in seinem Heimatdorf. Leider blieb er in dem Dorf und auch der Kater mit dem Teddybär Gesicht musste das Rudel verlassen, weil er seiner Katzenmutter in ein Land, weit hinter einem großen Meer folgte. Jetzt sah sich die Gruppe seltener aber verlor sich trotzdem nie wirklich aus den Augen. Sie schrieben sich Briefe oder fanden andere Wege um in Kontakt zu bleiben. Es gibt so viele Geschichten über dieses Rudel zu erzählen, ich vermute, ich könnte darüber ein ganzes Buch schreiben…“, wehmütig lächelte Tyson und schwelgte in Erinnerungen. Rückblickend hatten sie wirklich eine aufregende Zeit gehabt. Er dachte gerne daran und hätte sich gewünscht, dass es auch in Zukunft so blieb.

„Sie hatten schon früh gelernt, dass man eine Freundschaft auch über weite Distanzen pflegen kann. In ihrer Jugend trennten sich ihre Wege auch mehr als einmal. Einmal stand der blaue Kater sogar fast alleine da. Nur der braune Kater blieb damals bei ihm, zusammen mit einem roten Wildkater, der etwas später zu der Gruppe dazu stieß und einer Katzendame, namens Hillary.“

„Hatte er sich mit seinen Freunden gestritten?“

„Nein. Nicht direkt.“, wiegte Tyson seine Worte ab. „Sie hatten zu diesem Zeitpunkt einfach nur verschiedene Ziele und wollten auch mal bei anderen Rudeln mitspielen.“

„War der blaue Kater da nicht traurig?“

„Sehr traurig.“, gestand Tyson. Als sich alle während der dritten Weltmeisterschaft von ihm abwanden, hatte er gedacht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er wusste noch zu gut wie er Ray, in einem Anflug von blinden Zorn, am Kragen gepackt und ihm vorgeworfen hatte eifersüchtig zu sein, während er Max mit Schimpf und Schande verfluchte. Als dann Kai noch abgesprungen war, dachte er die Welt hätte sich gegen ihn verschworen.

„Allerdings begriff der blaue Kater schnell, dass eine starke Freundschaft auch so etwas aushält. Man darf sich nicht an Kleinigkeiten aufhängen, wenn man genau weiß, dass deine Freunde im Ernstfall hinter dir stehen. Denn obwohl sie so viele Höhen und Tiefen hatten, kam die Gruppe letztendlich wieder zusammen. Und im Laufe der Jahre wuchsen sie immer mehr zu einer Familie heran, trotz der Kilometer die sie trennten.“

„Dann war der blaue Kater damals nicht böse auf seine Freunde?“

„Anfangs schon. Er war ein ziemlicher Hitzkopf, “ räumte Tyson etwas schmunzelnd ein. „Aber später verstand er es und vergaß diesen Vorfall sehr schnell.“

„Obwohl sie ihn allein gelassen hatten?“

„Er war nie wirklich allein.“, lachte Tyson heiter auf.

„Ich mag den blauen Kater.“, gestand Kai und rieb sich müde über die Lider.

„Tatsächlich?“, er musste strahlen wie ein Honigkuchenpferd. Das Kind nickte neben ihm schläfrig. Scheinbar rief das Traumland, doch Tyson wurde neugierig. Warum den jetzigen Zustand nicht nutzen um etwas mehr aus Kai heraus zu kitzeln? Mit einem spitzbübischen Grinsen hakte er nach: „Was magst du denn an ihm?“

„Alles. Er ist ehrlich… und er erinnert mich an dich.“, zuckte Kai unbedarft mit den Achseln.
 

Stille kehrte einen Augenblick ein. Dann…
 

„Wirklich? Du magst mich?“, es klang fast schon hoffnungsvoll und Tyson konnte sich kaum erklären, weshalb alles in seinem Inneren kurz davor stand zu jubilieren. Er musste richtig an sich halten. Kai nickte.

„Wenn ich groß bin will ich wie du werden…“

Verdattert über diese Ehrlichkeit starrte er auf das Kind hinab. Es bemerkte nicht einmal seine Reaktion sondern rieb sich weiterhin unbefangen über die Augenlider. Er hoffte inständig diese offene Sympathiebekundung rührte nicht davon her, dass Kai bloß müde war. Das Kribbeln kam mit voller Wucht zurück…

Dieselbe intensive Zuneigung als Kai ihn im Krankenhaus bat zum Friedhof zu fahren.

Er hatte angenommen damals einem von Dranzers Zaubern erlegen zu sein. Dennoch empfand Tyson einen taumeligen Glückrausch, der umso stärker wurde, als sich das Kind gähnend an ihn schmiegte und die Lider vertrauensselig schloss.

Vertrauen…

Das war es was er sich so sehr von Kai wünschte. Er hielt den Atem an, denn eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf wollte verärgert wissen, weshalb er so sensibel darauf reagierte und das er sich doch wie ein verdammter Mann verhalten sollte.

Sicherlich ahnte Kai gar nicht was er gerade in ihm auslöste.

„Erzählst du weiter?“, kam die leise Frage zu seiner Seite.

„J-Ja gleich…“, jetzt war er komplett aus dem Konzept geraten.

Tyson biss sich einen Moment auf die Zunge, weil ein anderer Part in ihm beinahe laut geantwortet hätte, dass er alles für Kai tun würde, so lange er nur so lieb darum bat. Es klang aber viel zu intim und er schob dem Satz im Geiste einen zentnerschweren Riegel vor. Dabei verstörte ihn sein impulsives Verlangen, dass Kai doch auch mal so zutraulich sein könnte, wenn er endlich wieder Erwachsen war. Ein Bild entstand in seinem Kopf, dass dort definitiv nicht hineingehörte. Er verdrängte es in die hinterste Ecke seines Unterbewusstseins. Dennoch schwoll ihm ein Kloß im Hals an, denn ihm wurde bewusst, dass er keinesfalls so fühlen sollte. Das hier war weit entfernt von Sitte und Norm.

Bei seiner ersten Freundin war dieses Verlangen angebracht gewesen. Auch in den Diskotheken, wenn er eine Frau als sehr attraktiv empfand und herausfordernd wissen wollte, wie nah er ihr im Laufe des Abends noch kommen würde. Aber er konnte doch nicht hier sitzen und darauf hoffen, Kais erwachsenes Alter Ego, irgendwann genauso im Arm halten zu dürfen, wie das kleine Kind jetzt. Ausgeschlossen!

Tyson räusperte sich um sich von der Beklemmung zu lösen. Diese Seite an ihm beunruhigte ihn seit seinem Gespräch mit Dranzer an der Brücke. Sie wollte damals von ihm wissen, weshalb ihm Kai immer so sehr am Herzen lag. Er hätte zu gerne gewusst wie viel von diesen konfusen Gefühlen auf ihren Mist gewachsen war.

„Magst du nicht mehr erzählen?“

„Doch, doch… Gib mir nur eine Sekunde.“, seine Stimme klang kratzig.

Tyson tat einen schweren Atemzug, legte sich zwei Finger auf die Stirn und schloss konzentriert die Augen um sich zu sammeln. Er zählte im Gedanken rückwärts von zehn zurück und tippte sich im Takt gegen die Stirn. Seine linke Braue zuckte dabei angespannt.

„Nun. Diese Jungen standen sich also ziemlich nah-…“

„Es waren doch Katzen.“, murmelte Kai dösig.

„Ja… Das meinte ich auch. Junge Katzen.“, Tyson räusperte sich erneut und fand mit viel Mühe endlich den Faden. „Was der blaue Kater aber nicht ahnte – was sie alle nicht ahnten - war, dass tatsächlich einige falsche Freunde die ganze Zeit unter ihnen weilten. Sie lauerten unter ihrer Verkleidung, oder besser gesagt, einem weißen Pelz. Die Schafe die auf sie aufpassen wollten, entpuppten sich irgendwann nämlich als hinterhältige Wölfe, die anfingen ihnen Böse mitzuspielen, weil das Rudel die Wiese verlassen hatte.“

Kai blinzelte irritiert zu ihm hinauf. Er hatte wohl nicht mit dieser dramatischen Wendung gerechnet. Die farbenfrohe Erzählung nahm neue Formen an, was Tyson aber endlich zum Kern der Geschichte führte.

„Die Wölfe in Schafspelzen griffen die Familien der Katzenjungen an. Einer verletzte den Großvater des blauen Katers, obwohl dieser ihm niemals etwas getan hatte. Es war seine Art sich zu rächen, weil man ihn auf der Wiese vergaß. Der blaue Kater musste erkennen, dass sein Schaf ihm all die Jahre etwas vorgegaukelt hatte. Es war gar nicht sein Freund und hielt ihn nur für einen mickrigen Wurm. Ein hinterhältiger Wolf eben…“

Etwas verbittert schaute Tyson in die klackernden Flammen.

„Ein anderer Wolf nahm dem blassen Kater mit dem Teddybär Gesicht, eine wirklich wichtige Person weg - Seine Katzenmutter. Darüber waren sie alle furchtbar bestürzt, doch dabei beließen es die Wölfe nicht. Sie drohten dem Rudel mit noch mehr Unheil, wenn sie nicht zurück auf die magische Wiese fanden. Dann tricksten die Wölfe sie sogar aus und entführten sie in eine Welt, wo die Wölfe als Könige herrschten. Am schlimmsten erwischte es dabei den silbergrauen Kater mit den hübschen roten Augen.“, ertappt biss sich Tyson einen Moment auf die Unterlippe und ermahnte sich die Sentimentalitäten wegzulassen. „Sein Wolf im Schafspelz nahm ihm all die schönen Erinnerungen, welche die Gruppe so viele Jahre gesammelt hatte. Plötzlich erkannte der silbergraue Katzenjunge weder den blassen, den getigerten, noch den blauen Kater. Sie wurden ihm alle fremd, als hätte es sie niemals in seinem Leben gegeben. Nicht einmal an seine Schwester mochte er sich noch erinnern. Als wollte sein Wolf ihn jeden vergessen lassen, der ihm einmal etwas bedeutete…“

Tyson blickte auf Kai hinab. Er schaute nachdenklich und die Müdigkeit schwand.

Womöglich erkannte das Kind die ersten Parallelen.

„Als wäre das nicht genug schrumpfte sein Wolf den silbergrauen Kater. Er war nun wieder ein kleines Katzenkind und vollkommen unwissend. Sein Wolf hatte ihn zudem mit Lügen verwirrt. Er dachte nun alle anderen Katzen auf der Welt seien abscheulich und bösartig. Dabei hüllte sich der Wolf in die Gestalt einer wunderhübschen Fee, die dem Katerchen den Kopf verdrehte und versprach, dass er nur ihr vertrauen könne. Als seine Freunde ihn endlich aus ihrer Gewalt befreiten, war er bereits komplett von ihr eingenommen. Er wünschte sich sehnlichst wieder zu ihr zurückzukehren, doch das konnten seine Freunde natürlich nicht zulassen. Sie hatten Angst um ihn… Man sieht nicht dabei zu wie ein Freund ins Verderben rennt, findest du nicht?“

Er sprach ihn bewusst offen an, um Kai zum Nachdenken zu animieren. Doch der Junge gab keine Antwort, als wäre er erstarrt. Tyson wusste das er an dem Punkt angelangt war, wo jedes Wort mit äußerster Sorgfalt gewählt sein musste. Er fuhr langsam fort.

„Und während die anderen versuchten ihn vor dem Bösen, dass in der Welt der Wölfe lauerte, zu beschützen, fragte sich der kleine Kater ständig, ob sie ihm auch wirklich die Wahrheit erzählten.“

Kai hob seinen Kopf an und schaute mit offenem Mund zu ihm auf. Seine Augen weiteten sich ungläubig. Er schien endlich den tieferen Sinn hinter dieser Geschichte begriffen zu haben. Tyson ließ ihm Zeit eine Frage zu stellen, doch der erschütterte Blick verriet, dass das Kind noch damit beschäftigt war, die Zusammenhänge richtig zu verknüpfen. Sicherlich ging ihm seine Dame Solowéj durch den Sinn und die Frage ob sie sein böser Wolf war.

„Der kleine Kater meinte sogar einmal, dass man ihn wie ein frisch geworfenes Katzenbaby behandelt und seine Meinung nicht zähle.“, wandelte Tyson Kais damaligen Vorwurf ab. Er lächelte entschuldigend auf ihn herab. „Aber er weiß vieles nicht mehr und seine Freunde haben große Sorge, dass er sich an ihre gemeinsame Zeit nie mehr erinnern wird. Sie würden alles für ihn tun, aber manchmal… manchmal muss man die Wahrheit einfach für sich behalten, wenn man jemanden schützen will.“

Kai setzte sich nun vollends auf. Er schien bestürzt und auch unfähig zu sprechen.

Es wurde still zwischen ihnen. Nur noch das Knistern des Feuers lag über ihrem Schlafplatz. In dieser stummen Zweisamkeit schien jeder seinen Gedanken nachzuhängen. Ein kleiner Windhauch umspielte sie und wiegte die Flammen vor ihnen sachte mit sich. Tyson lehnte den Hinterkopf gegen den Baumstamm und sah hinauf in den Himmel, wo die Sterne um die Wette strahlten. Hier war kein Nebel wie in der Kopie von Tokyo. Wahrscheinlich weil dieser Teil der Irrlichterwelt nicht den Erinnerungen aus ihrem Kopf entsprang.

Seit geraumer Zeit hatten klare Nächte einen eigenartigen Effekt auf Tyson.

Während einem Match mit Kai, hatte er nämlich eine ähnliche Situation wie jetzt erlebt, nur waren die Sterne einem schimmernden Regen gleich zur Erde gefallen. Es war einer ihrer aufregendsten Kämpfe gewesen und Tyson wusste nicht mehr, ob er sich das Meiste davon nicht eingebildet hatte. Wahrscheinlich war es sogar so…

Ihm schienen seine Kämpfe damals einem atemberaubenden Trip gleich. Es war eine einzige Droge gewesen und je stärker sein Gegenpart, desto intensiver erlebte er die Empfindungen. Desto älter er geworden war, desto mehr waren diese Erinnerungen verblasst. Doch eines wusste er noch…

Mit Kai war jedes Match fesselnd gewesen.

Reagierte er deshalb immer so empfindlich auf ihn?

Seine Haut hatte stets gekribbelt wenn er auf der anderen Seite des Beystadiums Kais Gestalt erhaschte. Eine seltsame Spannung lag dann auf seinem Körper. Es war die reinste Vorfreude gewesen, weil er ahnte dass sie sich nichts schenken würden – und dass er damit nicht alleine stand. Ein einzelner Blick auf seinen Kontrahenten und Tyson erhaschte die Anzeichen einer Verwandlung, die auch sein Freund durchlebte. Plötzlich war da keine distanzierte Gleichgültigkeit mehr.

Das kalte Augenpaar schmolz unter der Hitze seiner inneren Glut. Der faszinierende Schimmer war wieder da. Er sah seinen Rivalen einen ruhigen Atemzug nehmen und dann warf er ihm sogar eines seiner seltenen Lächeln zu. Es kam ihm damals wie ein Geschenk vor - das nur ihm alleine gehörte.

Allein diese stumme Geste war es ihm wert gewesen sich bis ins Finale zu kämpfen.

„An diese Details erinnerst du dich noch? Nach all den Jahren?“, schoss es durch seinen Kopf. Tyson seufzte. Seit sie hier waren hatte er keinen freien Moment gehabt um über die letzten Tage nachzudenken. Jetzt da er es tat, bereute er es fast.

Es ließ sich wohl nicht mehr abstreiten. Er war nicht normal…

„Dieses eine verdammte Match!“, fluchte er innerlich.

Es musste schon damals angefangen haben.

Tyson hatte die letzten sieben Jahre mehrmals darauf zurückgeschaut, hatte aber davon abgelassen die Gedanken zu vertiefen. Stattdessen speiste er seinen Verstand mit der Ausrede ab, dass er immer so impulsiv während einem Kampf war. Nun konnten sie sich aber nicht aus dem Weg gehen… und Kai hing auch noch so lammfromm an ihm.

Vielleicht war es eine glückliche Fügung das er nun ein Kind war.

Er gab es ungerne zu, doch Tyson traute sich selbst nicht mehr.

Wäre sein Freund nun erwachsen, wer weiß was er für Dummheiten gemacht hätte?

Dranzer hatte schon bemerkt, wie sehr er um Kais Anerkennung förmlich bettelte und kämpfte. So langsam begriff Tyson, dass es ein Ausmaß annahm, was nicht mehr normal war. Etwas lief hier gehörig falsch…

Er biss sich auf die Unterlippe und untersagte sich weitere Gedanken in diese Richtung.

„Bitte lass das an Dranzers Zauber liegen.“, bat er insgeheim und schaute zu dem Jungen an seiner Seite. Der war schon recht lange stumm. Es interessierte ihn was dem Kind gerade durch den Kopf ging.

„Was hältst du von dieser Geschichte?“

„Ich weiß nicht genau…“

„Gefällt sie dir nicht?“

„Doch schon. Ich mag die Katzen.“, murmelte Kai leise. Das Flackern vor ihnen ließ den tiefroten Schimmer in seinen Augen tänzeln. „Wie geht sie denn aus?“

Tyson wog seine Antwort vorsichtig ab. Es war nicht seine Absicht ihn zu verängstigen.

„Das steht noch offen. Aber ich kann dir so viel sagen, dass die Gruppe alles tun wird, um wieder nachhause zu kommen. Dann werden sie wieder bei ihren Familien sein.“

Und als das Kind nichts erwiderte, fragte er geradeheraus:

„Kai? Verstehst du warum ich dir diese Geschichte erzähle?“

„Ich glaube schon.“, kam es unsicher. Er knetete seine Finger wieder. Tyson fiel auf wie oft er das tat. Es war wohl ein nervöser Tick gewesen, den sich Kai mit den Jahren abgewöhnte. Etwas lag ihm auf der Zunge, doch er rückte nicht damit heraus.

„Hat sie dir Angst gemacht?“

Er schüttelte vehement den Kopf.

„Und woran denkst du gerade?“

Kai blieb stumm. Tyson seufzte, wandte sich im Schneidersitz zu ihm und schaute ihn eindringlich an. „Sag es einfach... Ich will wissen was in dir vorgeht.“

„Warum haben sich der blaue Kater und der Silbergraue immer gestritten?“

Es klang wie ein eingeschüchtertes Nuscheln. Überrascht blinzelte Tyson ihn an, denn er hätte nicht erwartet, dass ihn ausgerechnet das beschäftigte. Er blickte zurück auf die vergangen Tage in dieser Welt. Bis auf ihren holprigen Start gingen sie sehr umgänglich miteinander um. Es erstaunte seine Freunde, als auch ihn selbst, wie sehr das Kind ihm vertraute. Also warum hatten sie es nie geschafft, sich früher auch auf dieser Ebene zu bewegen? Er dachte an das erwachsene Alter Ego seines Freundes.

Das ernste Gesicht wenn er sich abwandte.

Die Lippen die nie aussprachen was in ihm vorging.

Sie hatten Kai so oft die Hand gereicht, dennoch war er nie wirklich aus sich herausgekommen. Die einzige Person die diese Frage beantworten konnte saß vor ihm.

„Weißt du, ich denke die beiden sind sehr verschieden.“, sprach er seine Vermutung aus. „Der blaue Kater sagt gerne frei heraus, was ihm durch den Kopf geht. Damit fällt er ziemlich oft auf die Nase, aber es ist nun mal seine Art mit Dingen umzugehen. Er hält nichts davon mit seiner Meinung hinterm Berg zu bleiben.“

„Was bedeutet hinterm Berg bleiben?“

„Das der silbergraue Kater sehr viel verschweigt.“

„Was denn zum Beispiel?“

„Das er eine kranke Schwester hat.“, antwortete Tyson ernst. „Er hat niemandem davon erzählt und sich von den anderen Katzenjungen zurückgezogen. Sie haben sich gefragt was mit ihm los ist. Als der blaue Kater dann den Grund erfahren hat, war er wirklich traurig.“

„Warum?“

„Weil es ihm vorkam als wolle der silbergraue Kater ihn ausschließen.“

„Oh… Aber ich bin nicht so, oder?“, wollte Kai wissen.

„Doch. Manchmal machst du das leider auch.“, sprach Tyson unverblümt. „Wenn man nicht bei dir nachbohrt, erfährt man selten was du denkst.“

Kai blinzelte betroffen und grub sein Gesicht tiefer in den Stoff. Es wirkte etwas geknickt. Ihm kam es vor, als wäre dem Kind gar nicht bewusst, dass auch er bereits dieses merkwürdige Verhaltensmuster an den Tag legte. Tyson spürte das jetzt der Zeitpunkt war, Kai endlich zu beichten, was ihn schon so lange an ihm störte.

„Du darfst das nicht falsch verstehen, Kleiner. Der blaue Kater mag das graue Katzenkind trotzdem… Er mag ihn sogar sehr.“

Vielleicht sogar zu sehr, befürchtete eine Stimme in seinem Hinterkopf. Er ignorierte sie.

„Man kann seinen Freunden aber nicht hinter die Stirn schauen. Wenn man dann noch aufhört ehrlich zueinander zu sein, ist das schlimmer als jeder Streit. Dann hat man nämlich kein Vertrauen mehr zueinander. Zumindest denkt der blaue Kater so.“

Kai wandte den Kopf von ihm ab und schaute vertieft in die züngelnden Flammen.

Schließlich fragte er zögerlich:

„Wäre der blaue Kater traurig wenn sich sein Freund nicht mehr an ihn erinnert?“

„Ziemlich.“, bekannte Tyson offen.

Das Kind schluckte, als hätte es selbst vor der nächsten Frage Angst.

„Und was passiert wenn sich der graue Kater niemals mehr erinnert?“

„Wie meinst du das?“, fragte er perplex.

„Werden sie dann trotzdem noch Freunde bleiben?“
 

Stille…
 

Die Frage kam so hoffnungsvoll dass Tyson ihn erschüttert anstarrte. Kai hatte es vollbracht mit dieser simplen Bitte, sämtliche Widerstände in ihm zu einem Trümmerhaufen zu verwerfen. Der zentnerschwere Riegel schob sich von seiner Zunge und ließ ihn sämtliche Zuneigung die er empfand in einer einzelnen Geste ausdrücken. „Komm her kleiner Kater…“

Tyson öffnete die Arme und lächelte aufmunternd.

Etwas unschlüssig blickte Kai auf die einladende Geste.

„Hör auf dich zu zieren und komm her Casanova!“, er zog ihn lachend an sich, schmiegte seinen Kopf gegen seine Stirn und versprach: „Wenn der graue Kater sich nicht mehr erinnern sollte und ein Kitten bleibt, wird der blaue Kater eben auf ihn aufpassen… Bis aus ihm wieder ein großer Kater wird.“

Beruhigt atmete das Kind aus und lächelte scheu, bis Tyson ihm spielerisch mit beiden Händen durch den Haarschopf fuhr und es ordentlich durcheinander brachte.

„Du hast ein richtig weiches Fell. Hat dir das schon einmal jemand gesagt?“

Eine heftige Röte war die Folge und beschämt vergrub das Kind sein Gesicht im Shirt des älteren Jungen. Der grinste nur, positionierte die Jacke auf Kais Schultern neu, damit sie es warm darunter hatten und legte seine Arme um ihn. Sein Verstand schwieg dazu, obwohl es ihn zuvor für sein absonderliches Verhalten gerügt hatte. Stattdessen gab sein Herz dem befremdlichen Gefühl nach. Er hatte keine Ahnung wohin das hier führen würde, doch es fühlte sich wundervoll an. Tyson kam zu dem Schluss, dass er am besten verfuhr, wenn er alles auf sich zukommen ließ. Das war doch eigentlich schon immer seine Devise gewesen und war das nicht immer die beste Lösung gewesen?

Selbst wenn sich sein Verdacht bestätigen sollte… Das Kind lag offenbar schon im Brunnen.

Ändern ließ es sich trotz seiner inneren Proteste nicht mehr. Ohnehin gab es jetzt erst einmal andere Probleme zu bewältigen

„So oder so… Es wird schon alles gut werden. Ich verspreche es dir.“, er tätschelte Kai zuversichtlich über den Rücken. In jenem Moment wurde aus der stummen Zweisamkeit einer friedvollen Einigkeit. Sie erfreuten sich an der Gegenwart des anderen, schauten gemeinsam ins flackernde Feuer und irgendwann döste Kai auf seiner Brust ein.

Nur ein Wunsch kam ihm zuvor noch müde über die Lippen.

„Ich will mich wieder an dich erinnern können, Tyson.“

Dann war er auch schon eingenickt.
 

ENDE Kapitel 25
 

An der Feder haftete noch immer ihr Duft.

Nach Feuer, Sonnenschein und heißer Glut…

Wann immer man den Schaft bewegte reflektierte die Fahne im rechten Licht einen karmesinroten Schimmer von sich. Die zarten Nebenfedern zum unteren Nabel waren wundervoll flaumig. Sobald man eine ausladende Bewegung mit der Feder vollführte, hinterließ sie in der Luft einen zarten Regen aus goldglimmenden Phönixstaub. Hier in der Finsternis seines Reiches saß der Herrscher der Bit Beasts auf seinem Thron aus Wurzelgeflecht und drehte gedankenverloren den Schaft seines verloren gegangenen Phönixs zwischen den Fingern. Die Geschichte welche Takao dem Kind erzählt hatte regte zum Nachdenken an. Es war nicht die Tatsache dass sämtliche Ereignisse, zum geistigen Wohle des kleineren Jungen, verklärt dargestellt worden waren, sondern viel mehr in welchem Licht ihn sein Kind präsentiert hatte. Bereits zu den frühen Jahren der Menschen, war Dragoon aufgefallen, wie sehr sie Wölfe fürchteten. Weshalb auch nicht?

Sie rissen ihr Vieh, jagten sie des Nachts in schauerlichen Träumen und raubten ihnen die Säuglinge, wenn sie nicht Acht gaben. Er selbst war auch seit geraumer Zeit nicht sonderlich angetan von diesen Wesen. Nicht einmal die näheren Verwandten dieser Rasse konnte er ausstehen, obwohl sie doch als die besten Freunde des Menschen galten. Er wusste noch wie verstimmt er gewesen war, als Takao sich von seinem Großvater einen Hund wünschte und diesen tatsächlich bekam, jedoch glücklicherweise nach zwei Monaten schon wieder abgegeben musste, da sich herausstellte, dass der alte Mann eine Allergie dagegen besaß. Dragoon hatte sich damals schadenfroh ins Fäustchen darüber gelacht.

Er hasste Hunde, aber noch mehr verabscheute er Wölfe. Es verwunderte ihn auch nicht, als irgendwann die Redewendung „Ein Wolf im Schafspelz“ bei den Menschen in Umlauf kam. Er hatte nur nicht erwartet dass ihn Takao irgendwann genauso sehen würde…
 

Tyrann.
 

Wieder etwas das ihm sauer aufstieß.

Anfangs war dieses Wort nie im Zusammenhang mit seinem Namen gefallen.

Zumindest nicht bei jenen Bit Beasts, die nicht den Unterklassen angehörten. Seine Gefolgschaft ehrte ihn und war dankbar für den Atem den er ihnen spendete. Die Kräfte der Uralten machten sie zum Ursprung allen Lebens. Dieser Tage musste er jedoch feststellen, dass die Verunglimpfung seines Titels immer weitere Kreise zog. Zunächst waren es nur die einfachen Schichten gewesen.

Der erste Aufstand kam von den Makrelen Bit Beasts. Der Großteil davon war damals für den Wellengang zuständig gewesen, belieferte die Gewässer der Menschenwelt aber auch mit Dragoons Sauerstoff für die Fischgründe. Irgendwann war das aber nicht genug.

Sie beklagten sich man würde ihre Leistungen nicht genügend würdigen und sie nur als Futter für die obigen Klassen sehen. Dabei war es seit jeher dieselbe Nahrungskette, der die Bit Beasts folgten. Dragoon war aufs äußerste erbost gewesen. Kurzerhand hatte er einen Großteil der Aufständischen erstickt. Die Folge davon war ein Fischsterben in der Menschenwelt. Noch immer kämpfte man dort gegen die schwindende Fischpopulation an, doch Dragoon war keine Wahl geblieben – er musste seinen Rang verteidigen. Wann immer man sich aber in der Irrlichterwelt dieses Ereignisses entsann, fiel das Wort Tyrann.

Die Unterklassen Bit Beasts dachten er höre ihre Beleidigungen nicht, doch Dragoon konnte sie alle hören. Sobald er einen Schritt an die Oberfläche des Weltenbaumes tat, trugen ihm seine Winde sämtliche gesprochenen Worte seiner Untergebenen ans Ohr, denn, ohne Luft, keine Stimme. Selbst den Menschen war mit ihrem stark beschränkten Denkvermögen irgendwann klar geworden, dass es Luft aus ihrer Lunge bedurfte, um ihre Stimmbänder für Klänge vibrieren zu lassen. Manchmal war ihre Wissenschaft doch erstaunlich. Kein anderes Lebewesen war bisher hinter diesen raffinierten Trick der Natur gekommen. Da sein Atem den menschlichen Körper durchlief, bekam Dragoon daher sehr viele Einblicke in das Innerste seiner Umgebung mit, selbst mancher Gedanke war zu hören, wenn eine Person dabei besonders laut ausatmete. An den Wurzeln Yggdrasils fungierten die Verästelungen selbst als seine Augen. Das machte ihn fast allgegenwärtig.

Zunächst tat er sich die Mühe, die wenigen Lästerer die seinen Namen verunglimpften zu strafen, indem er sie aus heiterem Himmel mit einer starken Windhose in die Luft erhob.

Weit hoch… Bis über die Wolken.

Nur um sie dann fallen zu lassen.

Sein Zorn machte schnell die Runde – doch die Stimmen schwiegen nicht.

Bald waren es so viele dass Dragoon Dreiviertel der Unterklasse hätte vernichten müssen, um endlich dem Treiben Einhalt zu gebieten. Er wäre auch dazu bereit gewesen, hätte man nicht auf ihn eingeredet. Die anderen Uralten baten ihn, doch einfach über diese Torheit hinwegzusehen und nur gelegentlich noch ein Exempel zu statuieren, um ihre Macht zu demonstrieren.

„Bitte vergiss nicht welches Chaos das alles in der Menschenwelt und auch in unserer anrichten würde.“, hatte Driger gemahnt. Er war kein Freund der Sterblichen, aber erinnerte er ihn daran, dass diese Rasse ihrer aller Schöpfung war. Zudem hatte er damals seinen ersten Kontakt mit Ray gehabt, für den er so viele väterliche Gefühle entwickelte, wie für seinen Phönix. Die dagegen hatte ihn damals nur stumm betrachtet…

Dragoon wusste weshalb.

Wann immer derlei Vorfälle stattfanden, sah er die leise Anklage in ihren Augen.

Dranzer bejammerte nicht die dummen Makrelen. Sie war eine Uralte und die Unterklassen waren ihr genauso gleich, wie den restlichen Mitgliedern. Es war die Verbannung ihrer älteren Schwester, an jene sie sich in diesen Momenten entsann. Wann immer sie daran dachte, wandte sein Phönix den Kopf von ihm ab und schaute schweigsam in die Ferne. Eine für ihn unbegreifliche Melancholie erfasste sie dann und nicht einmal anstacheln ließ sie sich noch. Manchmal drehte sie ihm sogar den Rücken zu und entschwand. Das machte ihn anfangs sprachlos, da er doch einen ihrer stürmischen Streitereien erwartete, nicht aber einen widerstandslosen Rückzug. Er konnte mit ihrem Zorn umgehen. Er belustigte sie sogar. Aber Traurigkeit?

Es vermittelte ihm immer ein Gefühl von – wie Menschen es wohl nannten – Schuld.

Das mochte er nicht, denn dann kam er sich vor, als ob er etwas Böses getan habe.

Außerdem passte Traurigkeit so gar nicht zu einem Feuer Bit Beast.

Die waren aufregend, gefährlich und impulsiv – eine Mixtur aus purem Nervenkitzel.

Trauer war etwas für mimosenhafte Wasser Bit Beasts. Die waren schließlich auch für Tränen zuständig. Es war einer der Gründe weshalb er Draciel als seine Partnerin abgelehnt hatte. Zunächst war die stille Schildkröte nämlich als seine Gefährtin zur Auswahl gestanden, obwohl sich niemand so sicher war, welches Geschlecht sie vorzog.

Die zweite Kandidatin war Wolborg.

Doch Dragoon mochte ihrer Bit Beast Gestalt rein gar nichts abgewinnen.

Ein Wolf schien ihm so banal und einfach. Zudem jaulte sie ständig.

Des Nachts fand man keine Ruhe und an Vollmondnächten hätte er sie am liebsten erdrosselt…. Das ging ihm gehörig auf die Nerven!

Das alles war noch zu jener Zeit gewesen, als Dranzer noch nicht geboren, ja, noch nicht einmal jemand etwas von ihrer baldigen Geburt ahnte. Bit Beasts kamen auf unterschiedliche Arten zur Welt. Zumindest nicht so wie Menschen.

Ein Blatt das im Wind wehte konnte ihre Geburt einläuten.

Ein kräuselnder Wasserstrudel spuckte eines von ihnen aus.

Eine sich zur Sonne öffnende Knospe ließ sie das Licht der Welt erblicken.

Dragoon war damals recht missgestimmt, ob der Auswahl seiner Partner. Es war keine Bund im menschlichen Sinne, wie beispielsweise eine Ehe, da ja keine Kinder daraus hervorgingen, sondern mehr eine Arbeitspartnerschaft um die Evolution auf der Erde voranzutreiben. Zudem musste im Falle eines unvorhergesehenen Ablebens, der Partner den Posten so lange übernehmen, bis ein neuer Uralter für das Element geboren war.

Es hatte eben alles seinen Zweck in der Irrlichterwelt.

Daher spielte es auch eigentlich keine Rolle, welches Geschlecht der Partner besaß. Er hätte Driger nehmen können, aber der zog Draciel vor, da seine Faune mit ihrem Wasserreichtum viel schneller gedieh und sich zudem darüber brüskierte, dass Dragoons Winde ihm immer seine Bäume umstießen. Sie lagen sich ständig in den Haaren deshalb, bis sich beide entnervt eingestanden, dass sie besser verfuhren, wenn sie ihr Zusammenspiel auf so wenige Male wie möglich reduzierten.

Es stand auch schon vorher fest, dass Draciel einen erheblichen Teil zu der Evolution auf der Erde beitrug, Dragoon aber nicht mit ihrer lahmen Art zurechtkam. Hier passte die Chemie einfach überhaupt nicht, denn bis sie endlich einmal in die Gänge kam…

Es war ein einziges Ärgernis und wann immer er mit ihr zusammenarbeiten musste, hatte er hinter der Schildkröte gestanden, um ihr einen kräftigen Schubs zu verpassen, damit sie endlich einen Zahn zulegte. Einmal hatte er ihr über einem Meer, einen solchen Hieb versetzt, dass sie wie ein flacher Stein auf der Wasseroberfläche hopste, bis sie auf der anderen Seite Festland erreichte. Das Ende vom Lied war, dass sie sich in ihren Panzer verkroch, sobald die Arbeit in Mühsal ausartete. Wie gesagt - ein Ärgernis!

Driger hatte ihm einmal geraten nicht so stürmisch zu sein.

Er hätte ihm genauso gut sagen können nicht mehr zu atmen.

Ein Luft Bit Beast war nun einmal lebhaft! Es war der Grund, weshalb er in Takao eine Art Seelenverwandten gesehen hatte. Beide waren von einem stürmischen Temperament.

So blieb dem Drachen damals aber aus Mangel an Kandidatinnen doch nur die heulende Wolfsfrau, da Feuer kaum ohne Luft bestehen konnte – bis Dranzer mit dem ersten Sonnenstrahl, der durch die dicke Wolkendecke auf die frühe Erde traf, zum Leben erwachte. Damals staunten die Uralten nicht schlecht, als sich plötzlich ein weiteres Feuer Bit Beast neben Wolborg unter ihnen fand. Zwei Uralte für dasselbe Element?

Das hatte es noch nie gegeben! Es war faszinierend was sich die Natur ständig Neues einfallen ließ. Dragoon hatte Dranzers Gestalt auch weitaus mehr fasziniert, als es die anderen Uralten vermochten. Er war voller Euphorie, als hätte eine weitaus höhere Macht - als er selbst - seine Gebete erhört. Dabei wusste er gar nicht, weshalb sie ihm so viel mehr zusagte. Womöglich weil Vögel Bit Beasts zu seiner Leibspeise zählten. Etwas später erfanden die Menschen sogar eine Redewendung dazu:

„Jemanden zum Fressen gern haben.“

Das schien ihm Recht passend, auch wenn er nicht ganz sicher war, ob er den Sinn richtig gedeutet hatte. Ihm war noch nie unter die Augen gekommen wie sich Partner gegenseitig aufaßen. Jedenfalls nicht bei Menschen.

Sobald das Küken ungeschickt durch ihre Reihen tapste hafteten seine Pupillen an ihr. Geradezu trottelig stolperte das winzige Wesen bei jedem zweiten Schritt über die eigenen Füße. Er hätte gerne mal einen Bissen von ihr gekostet, einfach weil sie so verflucht schmackhaft duftete, doch zu seinem Unglück war Wolborg genauso entzückt von ihrer neugewonnen Schwester. Das Wolf Bit Beats brachte ihr mit Engelsgeduld all jene Dinge bei, die ein Feuer Bit Beasts können musste. Des Nachts schlief das Küken gelehnt an das struppige Fell der Wölfin, tagsüber folgte es der älteren Schwester mit flatternden Flügeln zu Fuß. Sie sah dann aus wie ein in vollem Galopp rennender Strauß. Bald spie Dranzer Feuer aus dem Schnabel, ließ in Zusammenarbeit mit Driger Vulkane erbeben und erhellte gemeinsam mit Wolborg die Erde mit Sonnenlicht – bis es etwas gab, das das Küken weder von ihrer Schwester, noch von einem anderen Uralten lernen konnte.

Sie war noch immer nicht im Stande zu fliegen.

Ein Zustand der für ein Vogel Bit Beasts undenkbar war.

Dragoon musste damals dunkel lachen als er ihre kläglichen Versuche sah.

Es war nur ein jämmerliches Flattern mit den Ärmchen, was nur kräftig genug war, um sie auf die Krallenspitze ihrer Füße anzuheben. Wirklich mit dem Wind gleiten vermochte das Küken so nicht. Damit war seine Zeit gekommen, ihr eine seiner Weisheiten zu erteilen, denn wer mochte einem Vogel das Fliegen durch die Lüfte besser vermitteln, als der Herr des Himmels?

Zu seinem Wohlgefallen war seine Schülerin äußerst gelehrig. Sie war brav und horchte auf ihn. Driger hatte sie ermahnt, es sich nicht mit ihm zu verscherzen und da sie noch recht zutraulich war, dachte Dranzer gar nicht daran, dass Dragoon ihr jemals übel mitspielen würde. Mutig rannte sie über seinen Schweif, pickte neugierig an seinen Schuppen herum und begutachtete seine langen Klauen eingehend. Selbst in die Schnauze spähte sie ihm einmal hinein, was doch etwas unangenehm war…

Ihm lief dabei förmlich das Wasser im Munde zusammen als ihm ihr Geruch in die Nüstern stieg. Es war wirklich schwierig eine Partnerin haben zu wollen, die genauso gut als Mahlzeit dienen könnte. Doch er wusste sich zusammenzureißen und er liebte Herausforderungen.

Sie verbrachten einige Tage miteinander.

Er lehrte sie die Grundregeln, die Körperhaltung in jeder Windlage und worauf sie in der Luft achten musste. Da er aber selbst kein Kind von Traurigkeit war, alberten sie auch oftmals einfach nur herum. Einmal hatte er sie auf seine Nüstern gesetzt und so viel Luft daraus ausgespien, dass seine kleine Phönixdame wie ein Pfeil durch den Himmel schoss. Sie krachte scheppernd in einen Baum und doch bettelte sie in ihrer jugendlichen Energie um mehr. Der damalige Tag lag noch gestochen scharf vor seinen Augen…
 

„Oh bitte!“, aufgeregt hatte sie mit den Flügelchen geflattert. Dabei tippelten ihre Klauen auf dem Gras, während Dragoon seinen schlangenartigen Körper auf dem Boden zusammengerollt hatte und den Kopf auf den Klauen ruhen ließ. Aus den Augenwinkeln beobachtete er die kleine Phönixdame dabei, wie sie voller Übermut fiepte. Sie brauchte vier menschliche Stunden um wieder zu Fuß zurück zu ihm zu finden, war aber voller Vorfreude auf einen weiteren Ritt durch die Lüfte.

„Ich pick dir auch die Bit Beast Flöhe hinterm Ohr weg!“, hatte sie versucht ihn zu locken.

Mit dieser Masche war sie bereits bei Driger weitergekommen. Einmal hatte Dragoon ihn dabei erwischt, wie er sie sein Fell durchkraulen ließ. Wie eine ordinäre Katze lag er auf dem Rücken und wandte ihr träge jene Seite zu, die sie noch bearbeiten sollte. Offenbar hatte er sich wohl gefühlt, denn er schnurrte dabei genüsslich, als wäre er im siebten Himmel. Vor allem als sie mit den Krallen an den Punkten scharrte, die besonders zwickten und das Ungeziefer herauspuhlte. Ein Grund weshalb Dragoon keine Gestalt gewählt hatte die ein Fell besaß…

„Damit kommst du bei mir nicht weiter, Liebes. Durch meine Schuppen beißt sich keine Flamme, keine Kälte und erst recht kein Floh.“

„Dann befehle ich es dir. Los! Lass mich fliegen!“, sie stapfte trotzig auf und da plusterte sich die winzige Aristokratin auch noch stolz auf. „Ich bin eine Uralte. Du musst schon tun was ich dir sage!“

„Herrlich! Den gebieterischen Ton hat dir Driger vortrefflich beigebracht.“

„Dann lässt du mich jetzt fliegen?“, sie hatte hoffungsvoll das Köpfchen geneigt, als habe sie selbst nicht damit gerechnet, mit dieser Finesse weiterzukommen.

„Nein.“

„Warum nicht?“, ihre herrische Art fiel jäh ab und wich einem enttäuschten Schmollen. „Bin ich nicht brav gewesen? Ich habe alle Übungen gemeistert die du mir gezeigt hast.“

„Das schon aber nichts im Leben ist umsonst. Desto früher du das lernst desto besser.“

Das Küken plusterte beleidigt das Federkleid auf. Damals war es noch nicht von einem samten Rot, sondern gänzlich weiß und flauschig. Aus dem Hinterteil ragte nur ein kleiner Flaum, dem man nur schwer ansehen konnte, dass daraus ein funkelnder Schweif werden sollte. Es ähnelte eher einem süßen Kaninchenschwanz.

„Wenn du dich aufplusterst siehst du wie ein Schneeball aus.“

„Oh wie gemein du wieder zu mir bist! Warum hast du nie ein nettes Wort für mich übrig?“

Ein tiefes Grollen war aus seinem Maul gedrungen. Allein ihre Gegenwart munterte ihn auf. Er hoffte inständig sie würde dieses Temperament auch als ausgewachsener Phönix beibehalten.

„Nette Worte schwächen den Charakter. Willst du umschmeichelt werden, musst du die anderen Bit Beast um dich herum in Angst versetzen. Erst wenn sie im Staub vor dir kriechen, kannst du sicher sein, dass sie dir alles sagen werden, was du von ihnen hören willst, um deine Gunst für ihr Überleben zu sichern.“

„Das weiß ich selbst. Meine Schwester hat mir das schon beigebracht.“, hatte sie eingewandt. Ihr schien es nicht zu passen, dass er sie mit Offensichtlichkeiten abspeiste.

„Dann solltest du gerade deshalb wissen dass du die Sonderhappen vergessen kannst. Gib mir etwas dass ich möchte und du sollst deinen Willen haben.“

„Ja aber was willst du denn von mir?“, erklang ihr Stimme hilflos.

„Lass dir etwas einfallen.“

„Willst du Mäuse? Ich suche dir welche!“

„Ich bin doch nicht Driger… Die schmecken mir außerdem nicht.“

„Soll ich dir ein Lied singen?“

„Dein Stimmchen gefällt mir zwar, aber nein.“

„Ich kann es wieder Feuerbälle regnen lassen.“, hatte Dranzer vorgeschlagen.

„Was bringt mir das?“

„Oh weh… Du machst es mir nicht leicht. Sag mir doch bitte was du dafür möchtest.“, sie tippelte näher an seinen Schädel heran, der viel größer als sie selbst war und hatte flehend in sein rechtes Auge geblickt. Ein Sinnbild aus Liebreiz und Unbekümmertheit. Dragoon hatte in sich hineingelächelt. Sein Plan ging leichter auf als vermutet, damals war sie allerdings auch nicht sonderlich schlau. Ihr fehlte es an Erfahrung. Das hatte es ihm umso einfacher gemacht…

„Willst du so gerne wieder in den Himmel steigen?“

„Oh ja! Bitte, bitte.“, sie hopste auf der Stelle.

„Wie wäre es dann damit… Sobald dein erstes Federkleid verschwindet und du zu einem wahren Phönix herangereift bist, musst du mir die Treue als meine Partnerin schwören.“

Sie hielt inne.

„Was ist eine Partnerin?“

„Eine Gefährtin.“

„Oh… Und wenn ich das nicht will?“

„Wenn du das wissen möchtest, scheint dir ein weiterer Flug nicht so wichtig zu sein.“

„Doch!“, hatte Dranzer eifrig beteuert.

„Dann gib mir dein Versprechen. Sobald du erwachst gehörst du mir allein.“

Nachdenklich hatte das Küken sein Köpfchen auf die Seite geneigt.

„Das hört sich nicht richtig an. Wie kann jemand einem allein gehören?“

„Indem du tust was ich dir sage. Niemanden außer mir an deiner Seite duldest und mich als deinen Herren ansiehst.“

Das war natürlich geflunkert, denn nichts davon entsprach einer Partnerschaft, doch er wollte sich nicht das Zepter nehmen lassen. Außerdem gefiel es ihm schon damals die Oberhand über jemanden zu haben.

„Pah! Das ist es mir dann doch nicht wert…“

„Auch nicht wenn ich dich sieben Tage und sieben Nächte, auf dem Rücken des Windes, über beide Welten hinweg fliegen lasse?“, er hatte das Küken lauernd angeschaut. „Ich nehme dich gerne mit auf meinen nächsten Rundflug.“

Voller Neugierde schaute sie an.

„Wirklich? Das machst du für mich?“

„Das Wort eines Uralten ist bindend.“

„Aber wie willst du das anstellen wo ich noch nicht fliegen kann?“, hatte sie gefiept.

„Da ich der Wind bin fliegst du auf meinem Rücken.“

„Oh! Das klingt tatsächlich wundervoll!“, sprach sie verträumt.

„Dann gib mir dein Wort als eine Uralte.“

„Meine Schwester sagt aber, ich soll sie um Erlaubnis bitten, bevor ich einen Schwur gebe.“, er hatte geknurrt, denn die Affenliebe mit der Wolborg das Küken hütete ging ihm gehörig auf die Nerven. „Sie meint ein Wort bindet auf ewig und ich soll es nicht leichtfertig erteilen.“

Was für eine schreckliche Streberin…

„Dann wird das arme kleine Phönixküken niemals erfahren, wie es ist als Windböe durch die Welten zu fliegen.“, hatte er silberzüngig gesprochen. „Ihr Vögel denkt ihr gleitet edel durch die Lüfte. Doch tatsächlich hat nur der Wind allein dieses Handwerk perfektioniert.“

Er hatte seinen massigen Körper gemächlich auf den Rücken gedreht und gespielt gleichgültig gegähnt, während er mit der rechten Klaue seinen Bauch kratzte.

„Aber da du nicht möchtest kann ich dir nicht helfen. Ich würde dich ungerne einfältig sterben lassen, aber deine Schwester wird ja wissen, ob ein Flug auf meinem Rücken ein Versprechen wert ist. Vielleicht will sie auch gar nicht das du es selbst lernst…“

„Das darfst du ihr nicht vorwerfen. Sie möchte stets das Beste für mich und selbst das ist gerade noch gut genug. So sagt sie es zumindest.“

„Ihre Worte sprechen aber vom Gegenteil.“

„Sicherlich tut sie das nicht mit Absicht. Sie kann doch selbst gar nicht fliegen.“

„Ja richtig. Jetzt wo du es sagst! Wolborg kann das ja gar nicht beurteilen.“, gab er sich erstaunt. „Woher will eine Feuerwölfin wissen, ob ein Flug auf meinem Rücken einen Schwur wert ist, wo sie nur auf allen Vieren vorankommt? Es ist wirklich eine Schande dass deine Schwester dich so zurückhält. Vielleicht solltest du gar nicht erst Fliegen lernen, um dir den Ärger mit ihr zu ersparen. Dann bleiben deine kleinen Flügelchen wohl auf ewig ungenutzt und verkümmern. Aber dann trägt dich Wolborg eben durch die Gegend oder du rennst weiterhin hinter ihr her wie ein Kampfstrauß.“

„Ich bin kein Kampfstrauß!“, empörte sich das Küken. Offenbar gefiel ihr dieser Gedanke nicht. Jetzt war sie noch klein und man belächelte sie sanftmütig, doch sobald sie ausgewachsen war, würde es ein lächerliches Bild abgeben.

„Kannst du nicht eine Ausnahme machen?“

„Nein.“

„Und wenn ich dich ganz lieb bitte?“

„Mal sehen…“, hatte Dragoon geraunt. „Bettel mich einfach mal an.“

„Bitte, bitte, bitte!“

„Geht das noch besser?“

„Du hättest meinen ewigen Dank und einen festen Platz in meinem Herzen sicher.“

„Das klingt schön.“, musste er einräumen. Nur wollte er einfach mehr. „Aber es reicht nicht um mich umzustimmen.“

Dranzer hatte bekümmert an ihren Flügeln hinab gesehen. Unbeholfen spreizten sich dabei ihre Federn, als wäre ihr in jenem Moment durch den Kopf gegangen, was das größere Opfer sei - Ihrer Schwester zu gehorchen oder Dragoon seinen Willen zu lassen.

„Ich weiß gar nicht was ich als deine Gefährtin machen muss.“, gestand sie peinlich berührt ein. Wahrscheinlich weil Wolborg niemals in Erwägung gezogen hatte, dass er Interesse an ihrer kleinen Schwester zeigen könnte. Für ein Bit Beast war sie noch zu jung, auch wenn die paar Jahrtausende für ein sterbliches Wesen viel sein mochte.

„Das wirst du schon lernen.“

„Und wenn ich etwas falsch mache? Schimpfst du mich dann aus?“

„Fehler müssen immer bestraft werden.“, die schwarzen Schlitze seiner Pupille hatten ernst auf ihr gelegen. Der Gedanke brachte sein Blut in Wallung. Auch wenn er nicht allein von Instinkten getrieben war, so lag es doch in der Natur von Bit Beasts ihre Dominanz auszuleben. „Aber als meine Partnerin würde ich dir natürlich niemals etwas antun, was dich aus dieser Welt komplett verschwinden lässt.“

„Aber du darfst mir auch nicht weh tun!“

„So lange du keine Fehler machst, kommt das ohnehin nicht vor.“

„Versprichst du mir das?“

„Wenn du mir versprichst meine Gefährtin zu werden?“

„In Ordnung. Dann will ich das tun.“, damit war ihr Entschluss gefallen. „Ich schwöre dir als Uralte das ich deine Gefährtin werde.“

„Und damit hast auch du mein Wort als Uralter.“, seine langen Fangzähne entblößten sich mit einem strahlenden Lächeln. Ein überlegenes Blitzen trat in seine Augen. Der Herr des Himmels stemmte sich mit seinen starken Hinterläufen auf und beugte sein Haupt, damit das kleine Phönixküken wie auf einer Treppe, auf seinen Rücken spazieren konnte.

„Und nun lass uns fliegen.“
 

Es waren tatsächlich die schönsten sieben Tage, die Dragoon erlebt hatte und es bestätigte im Nachhinein seine Vermutung, dass jene Momente, die am kürzesten verweilten, am wertvollsten waren. Daher entschied er kurzerhand, dass er noch weitere sieben Tage anhängen würde und als diese vorüber waren, weitere sieben.

So hielt das Spiel viele Wochen.

Aus Wochen wurden Monate.

Aus Monaten wurden Jahre…

Letztendlich verbrachten die beiden Bit Beast ein ganzes menschliches Jahrhundert fern von ihren anderen Artgenossen. Für einen Geist war das nicht viel, aber ihre Abwesenheit blieb dadurch nicht mehr unbemerkt. Doch er hatte einfach nicht genug bekommen.

Er empfand ein warmes Gefühl in Dranzers Gegenwart.

Es kam mit dem Sonnenaufgang, verweilte mit dem Tag und selbst des Nachts, wenn das Küken an seiner Seite schlummerte, ließ es nicht von ihm ab. Dann rollte er sich zusammen und schützte ihren zierlichen Körper mit seinem eigenen. Der Wind trieb ihren Duft in seine Nüstern, ihr Gefieder war wundervoll warm und er dachte dann, das er auf ewig bei ihr so liegen wollte. Dragoon wusste nicht was ihn so empfinden ließ, aber das es sich gut anfühlte… und das es mit ihr zu tun hatte.

Für ihn war die Sache damit auch erledigt, denn was musste er mehr wissen?

Dennoch rief irgendwann leider die Pflicht. Die Welt war gerade dabei sich zu formen und er musste seinen Aufgaben nachkommen. Als sie zurückfanden besaß Dranzers Federkleid bereits einen zartroten Hauch und sie konnte endlich fliegen. Ausgewachsen war sie noch lange nicht, doch auf dem besten Weg ihrem Eid bald nachzukommen. Ihm gefiel die rote Farbe ihres Gefieders. Bald würde es regelrecht ins Auge stechen.

Über die andauernde Abwesenheit hatte sie sich nicht einmal beklagt. Dranzer schien viel zu viel Freude daran entwickelt zu haben, mit ihm über den Himmel zu gleiten. Seine künftige Gefährtin war ebenso wetteifernd wie er, denn sie wollte sich ständig mit ihm messen. Natürlich hatte sie beim Fliegen keine Chance gegen ihn, doch er ließ ihr gerne die Illusion, sie könne mit ihm konkurrieren, indem er zu Anfang eines Wettstreits das Tempo drosselte, nur um auf den letzten Metern wie ein Blitz durch die Luft zu schießen.

Dennoch musste er gestehen, dass sie ihn einmal fast überrumpelt hätte, als sie seine List erkannte und es ihm mit barer Münze heimzuzahlen versuchte. Sie gaukelte ihm vor, noch immer keine Fortschritte gemacht zu haben und als die Zielgerade näherkam, schoss auch sie pfeilschnell vor – verschlagenes Stück. Er hatte dennoch Stolz empfunden, denn seine Schülerin war weitaus schlauer geworden als noch vor ihrem Schwur.

Das Erste was sie tat, als sie Heim kamen, war den anderen Uralten ihre Fortschritte zu präsentieren. Dem alten Brummtiger standen sogar die Tränen in den Augen und als er bemerkte, dass Dranzers Federkleid die ersten Farben annahm, meinte er nur rührselig, dass sein Kleines endlich erwachsen wurde. Sie piekte auch wie ein Specht fordernd auf Draciels Panzer herum, damit das ältere Bit Beast endlich seinen Schlaf beendete, um ihre Flugkünste zu bewundern. Die Schildkröte streckte den Kopf dösig heraus und als Dranzer in der Luft ihre Bahnen zog, folgten ihre Augen gähnend langsam ihrer Route. Es hätte Dragoon gewundert wenn sie tatsächlich mitkam…

Auch Wolborg nahm die Fortschritte ihrer Schwester wahr, allerdings bemerkte er ihren Groll, als sie spitzzüngig wissen wollte, ob der Herr der Lüfte wirklich ein so hundsmiserabler Lehrmeister sei, dass er ein ganzes Jahrhundert benötigte, um Dranzer das Fliegen beizubringen. Scheinbar hatte die Sehnsucht nach ihrem wertvollen Kleinod sie äußerst missgestimmt. Er würdigte sie kaum eines Blickes. Zunächst war die Runde auch ausgelassen ob des jugendlichen Übermuts des Kükens. Ihre gemeinsamen Abenteuer sprudelten aus ihrem Schnabel, dass Driger kaum die Gelegenheit für eine Zwischenfrage fand. Dranzer berichtete von farbenfrohen Sonnenaufgängen, unendlich wirkenden Meeren, weiten Steppen, unwegsamen Dschungellandschaften und hohen Gebirgen, die durch die Wolkendecke schnitten. Sie schwärmte von einem See der so glasklar war, dass man seinen Grund ausmachen konnte, obwohl er doch dutzende Meter tief war. Und von dem Ritt auf Dragoons Rücken…

„Es fühlt sich an als würde sich dein Körper auflösen und mit dem Wind davongetragen werden. Aber es schmerzt keinesfalls! Vielmehr empfindest du nur noch mit dem Geist, denn dein Leib ist zu einem Teil der Luft geworden. Man sieht Landschaften in Sekundenschnelle an sich vorbeiziehen und doch nimmt man so viele Eindrücke auf, denn die kleinen Partikel in die sich dein Körper verwandelt, berühren jeden Grashalm, sobald du über eine Wiese wehst. Ich fühlte mich schwach und stark zugleich. Das muss Freiheit sein…“

Nun war es Dranzer doch gelungen ihn zu verblüffen.

Er hatte angenommen dass sie den Ritt relativ unspektakulär fand, doch letztendlich ließ sie erkennen, wie sehr ihr die Reise doch Freude bereitet hatte. In jenem Moment wurde ihm klar, dass seine künftige Gefährtin ihn wohl gerne im Ungewissen ließ. Wahrscheinlich weil sie ihm vorgeworfen hatte, dass er schrecklich arrogant sein konnte. Zunächst hatte er wenigstens ihre Gedanken ab und an noch erhascht, doch sie war auch dahinter irgendwann gekommen und passte von da an genau auf, wann sie in seiner Gegenwart ausatmete.

Freilich entsprach seine Arroganz der Wahrheit, doch weshalb sollte er auch nicht?

Welches Wesen konnte von sich behaupten die totale Freiheit zu erleben. Sicherlich war dies auch Dranzer nicht entgangen, doch sie neckte ihn, indem sie ihm ihre Bewunderung vorenthielt – sein tückisches kleines Mädchen. Seine Augen hatten voller Vorfreude geblitzt, denn er stellte sich dieses Spiel als recht anregend vor. Daran würde er Gefallen finden…

Umso weniger Gefallen fand er an Wolborgs Reaktion, als sie erfuhr, dass Dragoon ihrer Schwester einen Schwur abgerungen hatte. Da war es aus mit der heiteren Stimmung.

Sie begann das Küken zu tadeln, schimpfte es leichtgläubig und als sie ihr gestand, wie enttäuscht sie von Dranzer war, begann sein Liebes zu schluchzen und vergrub sich beschämt in Drigers Fell. Es riss ihm das Herz entzwei…

Und es animierte Dragoon dazu einzuschreiten.

Bald fanden sich die beiden Bit Beasts in einer heftigen Debatte.

Wolborg warf ihm vor mit Heimtücke an Dranzers Schwur gekommen zu sein. Sie empfand sein Verhalten als unwürdig eines Uralten. Er sei leichtsinnig und ein schlechtes Vorbild für ihre Schwester und das der Drache ihr gesamtes Bemühen, Dranzer zu einer ehrwürdigen Respektperson zu erziehen, mit seinen Possen im Keim erstickte.

Dagegen wandte Dragoon ein, dass Dranzer ihm ihr Versprechen freiwillig erteilt hatte und er Wolborgs gluckende Art leid war. Es gehöre ebenso zu ihren künftigen Pflichten Entscheidungen zu fällen, die sie nicht jederzeit mit ihrer Schwester absprechen könne. Zu seiner Überraschung lächelte Wolborg nur kalt über diesen Satz und antwortete:

„Du vergisst dass wir beide Feuer Bit Beasts sind. Das Schicksal hat uns auserkoren auf ewig gemeinsam über Licht, Flammen und Glut zu herrschen. Ich bin Dranzers ältere Schwester und damit das Familienoberhaupt. Als ihre Feuerverwandte wird sie immer zuerst meinen Rat suchen. Was uns verbindet, wirst selbst du, als ihr künftiger Partner, niemals erreichen.“

Damit hatte sich Wolborg erhoben. Ihr Blick war kalt. Ihre Stimme ungerührt.

„Wie bedauerlich… Da hattest du so viel Mühe eine zweite Hälfte zu finden und musst selbst diese jetzt teilen. Nagt das nicht an dir?“

Und als sie ein jaulendes Kommando in Richtung ihrer Schwester tat, schreckte das Küken auf, spreizte die Flügel und eilte ohne Widerworte der davon sprintenden Wölfin hinterher. Dranzer entschwand seiner Sicht. Ihr süßer Duft verflog im Wind und nichts außer dem Klang ihrer Stimme blieb zurück, die zu seinem Verdruss nur eines zu sagen hatte:

„Bitte warte auf mich Schwesterherz!“
 

Dieser Augenblick war eine herbe Niederlage für ihn gewesen, an welche sich Dragoon nur zähneknirschend erinnerte. Er wusste dass die Worte der Wölfin einer Kriegserklärung gleichkamen – und dass sie der Wahrheit entsprachen. Wolborg hielt das Phönixkind genauso für ihr Eigentum wie er. Nur hatte sie als ihre Feuerverwandte bereits seit deren Geburt ein Anrecht auf ihren Gehorsam, während er es sich nun erkämpfen musste.

Nicht das ihn die Herausforderung nicht reizte, doch bemerkte er schnell, wie anhänglich das Küken ihrer Schwester gegenüber war. Sie war einfach noch zu jung. Wann immer der Drache sie von der Wölfin fortführte, war die Zweisamkeit nur von kurzer Dauer. Er konnte necken, sticheln und Dranzer mit noch so verheißungsvollen Abenteuern locken – Wolborg ließ schnell erkennen wer die eigentliche Macht über ihre Schwester besaß.

Sobald sie pfiff, rannte das Küken.

Und das versteckte sie gekonnt hinter einer sanftmütigen Fassade.

Wann immer Dranzer ihr gehorchte, lobte sie die Wölfin mit süßlichen Worten und er sah die pure Freude in den Augen seiner künftigen Gefährtin. Sie schmiegte sich dann an das Fell ihrer Schwester, beteuerte ihr, dass sie das Liebste auf der Welt für sie war und ihr Federkleid begann zu glühen – denn auch ein Phönix konnte rot werden. Dragoon ärgerte sich über ihre Dummheit, denn sie merkte nicht einmal, dass sie von Wolborg mit allen Regeln der Kunst manipuliert wurde. Die Wölfin machte ihre Schwester zu einer Schachfigur, mit dem Ziel, ihn bei jeder Gelegenheit zu verärgern, denn sie wusste, er wollte nicht Dranzers Gunst verlieren und dass sein Phönix stets Wolborgs Partei ergriff. Bald wurde Dragoon klar, dass er drohte gegen dieses Band nicht anzukommen. Seine Befürchtung teilte er in einem stillen Moment Driger mit. Der hatte nur den Kopf geschüttelt und ihm nahe gelegt, sich mit der Situation zu arrangieren. Er wollte aber mehr!

„Ihr seid nur Gefährten, die beiden aber Geschwister. Was gibt es da mehr zu wollen?“

Das war auch Dragoon ein Rätsel geblieben. Er wusste nicht wonach sein Herz sehnte, doch das es trauerte, wann immer sein Täubchen die Gegenwart ihrer Schwester ihm vorzog. Nur in einem konnte Wolborg sie ihm nicht abspenstig machen – in der Ausübung ihrer Pflichten als Uralte. Denn wann immer Dragoon die Unterstützung eines Feuer Bit Beasts brauchte, um beispielsweise eine neue Spezies auf der Erde zu kreieren, überging er rigoros die Erfahrenere der beiden und wandte sich nur noch an Dranzer, denn dafür war sie als seine Gefährtin nun mal da. Zusammen flößten sie den ersten Wesen Leben ein.

Sie sorgte für ein warmes schlagendes Herz und er hauchte den ersten Atemzug in die Körper, damit Dranzers Flamme nicht sofort wieder erlosch.

Mehr brauchte es nicht um eine neue Art zu erstellen, denn die Natur nahm dann schon von alleine ihren Lauf. Umso erstaunter waren sie, als das Ergebnis eine Rasse war, die in ihrer Statur und Kraft stark an Dragoon ähnelte. Selbst die schuppige Reptilienhaut war da…

Manch einer von ihnen besaß große Reißzähne, die überwiegend Fleisch als Nahrung bevorzugten. Für diejenigen die jedoch trotzdem Pflanzenfresser wurden, hatten Draciel und Driger ein blühendes tropisches Paradies wachsen lassen. Das mussten sie auch, denn diese Wesen hatten einen gewaltigen Appetit, der sie alle in Atem hielt.

Sie hätten wohl noch heute existiert, wäre nicht irgendwann jener Kampf zwischen den Bit Beasts entbrannt, der das Ende für diese Geschöpfe einläutete – und entschied wer von den Uralten fortan als Herr der Geister gelten sollte.

Es war zu jener Zeit viel böses Blut unter ihnen gewesen, vor allem zwischen Wolborg und ihm. Er hatte so viele Jahrtausende dabei zugeschaut, wie Dranzer die Wölfin ihm vorzog, dass er irgendwann die Fronten klären musste.

Sie hatte versprochen ihm alleine zu gehören. Alleine!

Das beinhaltete seines Wissens nach nicht Wolborg. Stattdessen brach Dranzer ihren Schwur und dachte sich noch nicht einmal etwas dabei. Er konnte und wollte sie nicht länger mit ihrer vermaledeiten Wolfsschwester teilen. Der Zorn darüber war in seinem Leib herangereift und fraß ihn von innen heraus, wie ein bösartiges Geschwür auf. Also hatte er die anderen Uralten angestachelt, untereinander herauszufinden, wer der Stärkste von ihnen war. Er war schon immer ein gekonnter Redner gewesen und da keiner von ihnen mit einem geringen Maß an Eitelkeit gesegnet war, sprangen sie sofort darauf an – selbst als er ihnen vorschlug, dass der Sieger, als ihr Herrscher gelten und fortan sämtliche Befehlsgewalt besitzen sollte. Sie hatten nicht widerstehen können…

Diese Aussicht darauf ließ damals ihr Blut so stark wallen, dass er es förmlich hören konnte.

Aber so waren Bit Beasts nun einmal – Kämpfernaturen.

Dragoon war sich bewusst, dass es nicht einfach werden würde und dass er alles auf eine Karte setzte. Genauso gut hätte er verlieren können. Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, sich bis zur Spitze zu kämpfen. Die Natur litt unter den Streitigkeiten der Uralten enorm. Es war so schlimm, dass die Geschöpfe auf der Erde ein Massensterben aufwiesen. Doch den wetteifernden Geistern war es gleich, denn es lag im Wesen eines Bit Beasts, ihre Artgenossen zu unterwerfen. Als sich nur noch die beiden Feuerschwestern und Dragoon gegenüberstanden, wurde der Kampf so gewaltig, dass die Wesen auf der Erde von ihrem Antlitz radiert wurden.

Doch Dragoon hatte es vollbracht.

Seine reptilienartigen Abbilder hatte er opfern müssen, doch dafür war er als Sieger aus dem finalen Kampf hervorgetreten… Und seine erste Amtshandlung war, die störende Wölfin in die Eiswüste der Irrlichterwelt zu verbannen.

Noch heute konnte er Dranzers ersticktes Aufkeuchen hören als sie das Urteil vernahm.

Ihre Welt brach mit einem Mal zusammen und sie fiepte flehend um Erbarmen für ihre Schwester. Fast wäre sein Herz erweicht.

Dranzers glühende Augen waren in Tränen geschwommen, in einem merkwürdigen Spiel aus Wasser und Feuer. Sie formten sich zu funkelnden Perlen, glitten an ihrem Gefieder herab. Doch Dragoon ahnte, wenn er Wolborg jetzt nicht verbannte, würde seine Gefährtin sich niemals von ihrem Einfluss befreien und ihm alleine gehören. Als Dranzer unwissend fragte, weshalb er einen solchen Groll gegen ihre Schwester hegte, wurde er in diesem Verdacht nur bestätigt. Weder Driger und Draciel griffen ein, als er Wolborg packte und durch die Luft in den kältesten Teil der Irrlichterwelt verfrachtete. Beide waren noch zu geschwächt von ihren Kämpfen und hatten geschworen, sämtliche Entscheidungen ihres Herren zu akzeptieren. Sie waren an diesen Versprechen gebunden.

Dranzer dagegen verweigerte den Gehorsam, nahm das bisschen Kraft das sie noch besaß, um den beiden davonfliegenden Bit Beast zu folgen. Er konnte sich noch genau an das Bild erinnern, was der verletzte Phönix abgegeben hatte, als er während seinem Flug einen Blick über seine Schulter warf. Obwohl sie sichtlich erschöpft war, gab sie nicht nach, rief Wolborgs Namen und wollte auch dann nicht ablassen, als sich der Abstand zwischen ihnen immer weiter aufbaute.

Ihre Tränen fielen auf die verkohlte Erde.

Ihre Rufe hallten als Klagelied im Sturm.

Ihre Flügel flatterten verzweifelt um den Anschluss nicht zu verlieren.

Desto weiter sie sich entfernten, desto mehr schien sie innerlich zu sterben.

Er wusste noch dass es ihn gewundert hatte, woher sie noch all die Kraft hernahm.
 

„Bitte nimm sie mir nicht weg! Oh bitte nimm sie mir nicht weg!“
 

Die Rufe schallten von immer ferner, bis er Dranzer weit hinter sich gelassen hatte.

Und als er in der Eiswelt ankam, wurde Dragoon bewusst, dass er sämtliche Brücken für eine Wiederkehr Wolborgs einreißen musste, um sein Täubchen vor ihrem Einfluss zu befreien. Doch es hatte nichts genutzt…

Selbst als er der Wölfin Augen und Herz nahm, ihr Körper zu jenem eines Eis Bit Beasts gefror und Dranzer damit nicht mehr in ihre Nähe kommen konnte, ohne sie zu zerschmelzen, hatte seine Gefährtin niemals aufgehört, an ihre Schwester zu denken. Es waren Millionen von Jahre ins Land gezogen, doch seinen vermeintlichen Verrat konnte sie ihm nicht verzeihen.

Irgendwann hatte er ihr schlichtweg verboten, dass Thema noch einmal in seiner Gegenwart anzusprechen. Dafür strafte sie ihn mit einer Verachtung die seinesgleichen suchte. Als sie sich erneut an eine Spezies heranwagten, war Dranzer geradezu lieblos bei der Sache gewesen. Dragoon versuchte sie zu ärgern, mit neckenden Bemerkungen und freundschaftlichem Spott, doch sie war eine melancholische Gestalt geworden. Ihm schien damals, als sei sie noch unerreichbarer als zuvor. Er hätte gerne wieder eine Schöpfung nach seinem Abbild erschaffen, doch ließ er ihr bewusst die Oberhand, um sie aus der Reserve zu locken.

„Was hältst du davon, wenn wir noch etwas mehr Glut in das Herz geben?“

Dranzer hatte mit den Achseln gezuckt.

„Etwas Sturm? Für eine starke Seele?

„Was immer dir beliebt…“

Es klang gar nicht als wolle sie ihm damit eine Freude bereiten.

Er wünschte sich sein feuriges Kleinod zurück. Seine Verzweiflung ließ er sich aber nicht anmerken, versteckte sie lieber hinter einer Maske aus Hohn, ob ihres kindischen Verhaltens. Dennoch…

Zum Zeitpunkt ihres absoluten Tiefpunktes, kreierte sie ein Geschöpf, das in dieser Form noch nicht da gewesen war. Dranzer flößte ihm nämlich nicht nur Energie ein, sondern in einem unbeobachteten Moment auch Gefühle. Scheinbar hatte sein Phönix den Wunsch verspürt etwas zu erschaffen, das genauso in der Lage war tiefen Schmerz zu empfinden, wie sie selbst. Es entstand der erste Mensch…

Eine Lebensform welche die Erde in ihren Grundfesten erschüttern sollte.

Dragoon war begeistert gewesen! Diese unscheinbaren Kreaturen lernten rasch, entwickelten sich rapide weiter und versetzten ganze Landstriche mit ihren Streitereien in Schutt und Asche und dennoch waren sie auch zu tiefbewegenden Handlungen imstande. Es war ein stürmisches hin und her. Ganz nach seinem Geschmack und er hatte Dranzer sogar für ihre Eingebung gelobt - doch der war es gleich.

Sie erkannte gar nicht, was sie da geleistet hatte.

Er hätte sie am liebsten geschüttelt um sie endlich aufzuwecken. Bei einem gemeinsamen Ausflug in die Menschenwelt hatte er das Thema einmal sogar angesprochen.

„Sieh doch! Wir haben etwas Erstaunliches vollbracht! Glaubst du, du wärst dazu in der Lage gewesen, wenn du nicht endlich aus Wolborgs Schatten getreten wärst?“

„Ich war glücklich wo ich war…“

„Du bist ein einfältiges Stück!“, hatte er nur gegrollt. „Dein Körper mag nun der eines erwachsenen Phönix sein, aber dein Geist ist dümmer als je zuvor!“

„Und du bist wie dieser Mann dort, der sich als Meister aller Dinge aufspielt!“, ihr kalter Blick verweilte auf einer Gestalt, die in der Menschenwelt schon lange für ihre Grausamkeit bekannt war. Sein blinder Zorn war dort gefürchtet und er besaß keine Scheu lästernde Zungen mundtot zu machen. Sein Körper war in eine Toga gehüllt, das Haupt schmückte ein Lorbeerkranz. Auf einer Sänfte ließ er sich durch die Menge tragen, die ihn dennoch bejubelte und mit Blüten bewarf. Er winkte gleichgültig seinen Untergebenen zu, während sein Namen aus der Menge echote: „Calligula!“

Die Menschen vor ihm warfen sich in den Staub seines Antlitzes und Dragoon verstand nicht, weshalb das etwas Schlechtes sein mochte.

„Jetzt bejubeln sie ihn, doch sobald er ihnen den Rücken zuwendet, kennen sie nur ein Wort für ihn - Tyrann.

„Dann hat er wohl alles richtig gemacht, denn obwohl sie ihn verachten, liegen sie ihm zu Füßen.“

„Und dafür blickt er jeden Tag in verlogene Gesichter. Wie lobenswert…“

„Dann sollten die Würmer in seinem Schatten umso mehr Acht geben, dass er davon nicht Wind bekommt.“, hatte er die Anspielung abgetan. „Wer weiß wie lange sie sonst leben?“

„Als wäre ein Leben unter einem Tyrann lebenswert.“

Sie hatte schnippisch den Kopf abgewandt und für diese Frechheit biss er ihr herzhaft in den damit offengelegten Hals. Es befriedigte ihn ungemein. Sie dagegen war gar nicht erfreut gewesen. Mit den Jahren wurde es aber zu ihrem alltäglichen Spiel, denn obwohl sie nicht gerne von ihm Gewalt erfuhr, ließ sie von den spitzzüngigen Kommentaren auch nicht ab. Dragoon kam irgendwann zu der Erkenntnis, dass sie es wohl nicht anders haben wollte, sonst hätte sie endlich mit den Sticheleien aufgehört. Da half es auch nicht das Driger ihn um etwas mehr Behutsamkeit bat. Offensichtlich hatte sich seine Gefährtin bei ihm beklagt, weil er ihr einmal so den Flügel brach. Er hatte Driger nur süffisant geantwortet, dass Dranzer damit rechnen musste, wenn sie einen Drachen herausforderte, immerhin sei sein starkes Gebiss nicht nur zur Zierde da. Er wusste ohnehin nicht, weshalb sie sich so brüskierte, immerhin heilten Bit Beast viel schneller als die Lebewesen in der Menschenwelt. Dennoch wurde das Wort Tyrann zum Dauergast in den Hallen des Wurzelwerks, denn Dranzer warf es ihm immer häufiger vor. Zunächst tat er es nur ab.

Sie war einfach ein nachtragendes Stück und als wirkliche Beschimpfung sah er es zur damaligen Zeit auch nicht an… Bis die Unterklasse Bit Beasts dieses Wort auch verwendeten.

Es kam ihm merkwürdig vor, dass sie es in einem ebenso abfälligen Ton aussprachen, wie seine Gefährtin. Und langsam begriff er, dass es wohl tatsächlich nichts Positives war. Doch konnte er es sich durchaus leisten, einige von ihnen für diese Beleidigung zu töten.

Dennoch blieb dieser Ruf hartnäckig an ihm kleben.

Er hatte sich nach dem Vorfall mit den Makrelen Bit Beasts fast schon damit abgefunden, da kam nun Takao und brandmarkte ihn ebenfalls als Tyrann!

Sein Menschenkind…

Er hatte ihn nicht mehr mit der kindlichen Bewunderung von früher angesehen. In seinem Blick war auch kein Hass gewesen – damit hätte er umgehen können - vielmehr aber eine abgrundtiefe Enttäuschung, die Dragoon bis ins Mark traf.

Es erinnerte ihn mehr denn je an Dranzer.

Als sein Küken erwachsen wurde war ihre Bewunderung für ihn zunichte.

Takao war ein Mann geworden und empfand ebenfalls keine Ehrfurcht mehr vor ihm.
 

„Jetzt sehe ich hinter diese Fassade und mit jeder Stunde die ich hier bin, gehen meine Kinderträume weiter zu Bruch.“
 

Der Satz schallte in seinem Kopf, als stünde der Junge noch vor ihm.

Dragoon stemmte sich aus dem Thron heraus und begann nachdenklich in der Finsternis des Wurzelwerks umher zu laufen.

Takaos Kinderträume waren zu Bruch gegangen?

Seinetwegen? Aber genau das hatte er doch vermeiden wollen! Es war seine Absicht gewesen ihn wieder zu seinem jugendlichen Selbst zurückzuführen, nicht zu einem dieser verbitterten Erwachsenen, die durch die gesichtslosen Menschmassen schlängelten. Scheinbar nutzte es nichts, seinen Körper zu schrumpfen und er brauchte Dranzer um seine Erinnerungen an sein altes Leben zu zerstören.
 

„Ich sehe keinen vertrauenswürdigen Beschützer mehr. Kein heldenhaftes Wesen, das für die Gerechtigkeit kämpft.“
 

Dragoons Menschenhände formten sich zu Fäusten. Es war sein Glück, dass der tote Körper nichts empfand, denn die Nägel gruben sich tief ins Fleisch, bis sie kleine Furchen auf der blassen Haut hinterließen. Er begriff nicht weshalb Takao das offensichtliche nicht sah.

Genau das was er dachte, Dragoon sei es nicht mehr, war er doch all die Jahre gewesen.

Er hatte ihn geschützt.

Er hatte für ihn gekämpft.

Er hatte alles für den Jungen gegeben.

Derselbe Wunsch nach Macht war ihr Ansporn gewesen.

Takao wollte Weltmeister sein, er seine Stärke unter Beweis stellen.
 

„Da steht nur ein selbstgefälliger Tyrann.“
 

Die Haut unter seinen Fingernägeln riss. Dragoon scherte es nicht.

Ihm wurde klar wie ähnlich sich Takao und Dranzer im Grunde waren.

Sie hatten sich beide in jenem Moment von ihm abgewandt, als er Härte zeigen musste, um sie auf den rechten Pfad zu führen. Manchmal musste ein Uralter unnachgiebig sein. Das hatte nichts mit Boshaftigkeit oder Tyrannei zu tun, es war der Lauf der Dinge.

War ein Raubtier boshaft nur weil es seine Beute riss? Nein!

Es brauchte Fleisch um sich und seinen Nachwuchs am Leben zu erhalten. Die Natur war nun einmal so. Sie Unterschied nicht in Gut und Böse. Man tat was man tun musste, um seine Position zu bekräftigen und wenn es mit Gewalt war.
 

„Wie willst du das beurteilen? Du hast doch keine Ahnung was einen Menschen bewegt, noch nicht einmal was ein Leben wert ist!“
 

Dieser Satz brachte ihn so in Rage, dass er mit einem gellenden Zornschrei gegen den Wurzelstamm schlug. Die Knochen in der Hand brachen. Er spürte wie die Splitter sich lösten und unter der Haut auf Wanderschaft gingen. Einen Menschen hätte der Schmerz gelähmt. Doch das beunruhigte Dragoon weniger…

Vielmehr riss er entsetzt die Faust fort, als er feststellte, welche Wunde er im Weltenbaum hinterlassen hatte. Ein klaffendes Loch schaute zurück.

Selbst die Schuppen unter seinem Menschkörper erbleichten bei diesem Anblick. Die Schlitze seiner Pupillen wurden klein ob des Schreckens der ihn durchfuhr. Er legte seine Hand bedacht auf die Rinde und spürte den Puls des Baumes laut hämmern. Seine Verästelungen glühten im Takt auf, wie Nervenstränge welche Schmerzimpulse durch einen Körper schossen. Es kam nicht oft vor, dass Dragoon eine Tat bereute, um genau zu sein ging er dieser Empfindungen rigoros aus dem Weg, indem er seine Gedanken einfach in andere Bahnen lenkte. Doch dieses Geschöpf war ein Heiligtum!

Yggdrasil war der Ursprung allen Lebens – auch seines. Er fühlte sich als habe er seine Mutter geprügelt. Seine Finger zitterten als das zerstörte Holz zum Rand der klaffenden Wunde bröckelte. Er legte die Handfläche auf den freigelegten Stamm und hoffte inständig dem geschundenen Baum möge keine Narbe zurückbleiben. Das wäre schrecklich. Es könnte schlimme Naturkatastrophen in beiden Welten mit sich ziehen.

„Verzeih mir.“, sprach er die Bitte im Zwielicht leise aus.

Noch nie hatte Dragoon sich entschuldigt. Es war eine gänzlich eigenartige Erfahrung gewesen und doch kam der Wunsch aus dem tiefsten Inneren seiner Seele. Das hier…

Das war wirklich Boshaft gewesen.

Betroffen schaute er auf die Wunde. In seinem blinden Zorn hatte er den Baum verletzt. Gerade er hätte doch wissen müssen, dass jede Wunde an Yggdrasil fatale Konsequenzen für beide Welten mit sich zog. Er biss sich auf die Unterlippe.

Sicherlich bahnte sich da oben in den Welten gerade ein Tsunami, Tornado, Erdbeben oder vielleicht alles zusammen an. Während Dragoons Finger beruhigend über die entblößte Stelle strichen, schweiften seine Gedanken weiter und er fand seltsame Parallelen zu zwei weiteren Wesen, denen er einst einmal etwas bedeutet hatte.

„Jede Tat hinterlässt ihre Spuren…“

Doch weiter kam er nicht, denn die vage Eingebung wurde zerstreut, als Dragoon sich umdrehte und Draciels Gestalt im Dunkeln vernahm. Sie war reglos, wie eine marmorne Skulptur, deren Augen ihn voller Anklage anfunkelten.

„Das war nicht meine Absicht.“, räumte er sofort ein. Das Bit Beast blieb wo es war. Genau wie der vorwurfsvolle Blick. Dragoon fletschte die Zähne als der Zorn hochkochte.

„Scher dich lieber um deine eigenen Angelegenheiten!“, sie machte keine Anstalten zu gehen, daher fragte er. „Wo ist das Ei?“

Obwohl sie nichts entgegnete hörte er die Antwort.

„Du machst mir Vorwürfe und bringst es nicht einmal zustande ein verdammtes Phönixei zurückzubringen?! Brütet sie sich bereits aus?“

Ihr Nicken kam langsam.

„Na herrlich!“, brach es genervt aus ihm heraus. Wenn Dranzer das tat, hatte sie vielleicht schon begonnen, den Lebewesen in der Menschenwelt die Energie zu enteignen. Momentan dürfte sie noch ungefährlich sein, zudem brauchte sie einen Zwischenwirt, um außerhalb der Irrlichterwelt zu schlüpfen, aber ein Geist von ihrem Ausmaß verlangte nach Kraft.

Nach sehr viel Kraft!

Ein Bit Beast war nicht dafür gemacht um in der Menschenwelt geboren zu werden. Dranzer brauchte die Energie aus der Irrlichterwelt. Da der einunddreißigste Oktober aber bald vorbei war würde auch diese Energiequelle bald versiegen. Dann würde sie in der Menschenwelt auf dem Trockenen liegen.

Dragoon kratzte sich nachdenklich den Hals.

Es gab keinen Zweifel, sie würde sich die Kraft zusammenklauen.

Ein einzelner Wirt reichte dann aber nicht. Wenn sie nicht in der Geisterwelt schlüpfte, würde sie die Straßen der Menschen so lange mit Toten pflastern bis sie genug Energie dafür besaß, aber selbst dann wäre das nur ein temporärer Zustand. Sie müsste sich permanent mit neuer Kraft eindecken.

Zudem war das was von den Wirten zurückblieb… gewöhnungsbedürft.

Dieser Vorgang glich eigentlich fast denen der Wespen, die ihre Eier in den Körper einer wehrlosen Raupe pflanzten. Der Wirt wurde dann von Innen heraus aufgezehrt, während sein Wille immer weiter erlahmte. Es ging soweit dass die Raupe sogar einen Kokon für die Parasiten in ihrem Laib spann und die brütenden Wespen mit dem Leben verteidigte.

Dranzers Wirt würde auch alles tun um das Ei zu schützen.

Selbst wenn seine Kraft aufgebraucht war und sie eine neue Unterkunft brauchte.

Von dem Wirt selbst blieb dann auch nichts Schönes übrig. Er wäre körperlich intakt, aber innerlich verwelkt. Schlimmstenfalls könnten die Überbleibsel der Wirte versuchen, die verlorene Energie an anderer Stelle zu rauben. Je nachdem wie viele Tote Dranzer zurückließ, könnte sich das Ganze zu einer bösartigen Epidemie entwickeln, wenn nicht sogar zu einer Pandemie. Dagegen wäre das Leben auf der Welt nicht gewappnet.

Gedankenversunken legte Dragoon einen Finger an sein Kinn. Er musste Dranzer finden.

Sicherlich wollte sie Kais Schwester suchen, um sich an dem Mädchen zu rächen. Wenn er erspüren könnte, wo das Kind war, hätte er seiner Gefährtin dort auflauern können. Doch zu seiner Verwunderung waren alle näheren Angehörigen der Gruppe von seinem Radar verschwunden. Selbst mit den Verästelungen des Weltenbaumes ließen sie sich nicht aufspüren. Er kannte jemanden, der tatsächlich diese Fähigkeit besaß. Eine leichte Ahnung wer seine Finger dabei im Spiel hatte, keimte in ihm auf…

„Ich muss wieder an die Oberfläche.“, entschied er und deutete auf Draciel. „Du bleibst hier und überwachst die Menschenwelt. Such mit den Wurzeln nach den Angehörigen der Gruppe und halt Ausschau nach dem Ei.“

Es kam keine Antwort.

Er hatte auch keine erwartet, sondern schritt eilends an dem Bit Beast vorbei.

Das blieb lange reglos stehen. Selbst als die schweren Schritte ihres Herren schon nicht mehr zu hören waren und die Finsternis Draciels einziger Gefährte wurde. Die Augen des Bit Beasts hafteten an der Wunde im Wurzelwerk. Noch immer pumpten die Nervenstränge.

Die feinen Äderchen glommen im Takt. Es schien wie eine pochende Wunde die anschwoll.

Erst schleichend kam Draciels sterblicher Körper in Bewegung. Ihre Finger legten sich auf jenen Teil des Stammes, der durch Dragoons fatalen Hieb zerfetzt worden war. Die Schmerzen des Baumes waren greifbar.

„Arme… Mutter.“

Die Worte waren nur ein Hauch.

Das Bit Beast lehnte das Gesicht an den Stamm und eine einsame Träne fand ihren Weg an dessen Wange entlang. Ein weiterer stockender Satz entwich ihrem Mund.

Das Wispern hörte nur die Finsternis und der Weltenbaum.

„Mutter… leidet.“

„Wie sie auf dem folgenden Anschauungsmaterial sehen können, lässt sich durch die Plattentektonik relativ genau erahnen, welche Gebiete besonders erdbebengefährdet sind.“ Ein Bild mit einem ausgebreiteten Globus wurde hinter dem Studiengast eingeblendet. Darauf wiesen schwarze Linien die Grenzen zwischen den einzelnen Kontinentalplatten auf.

„Betrachtet man den europäischen Bereich, ist das ägäische Meer in Relation zu seiner geringen Größe ein brodelnder Hexenkessel. In den letzten fünfzig Jahren erschütterten vermehrt Beben bis zu einem Spitzenwert der Stärke 7,1 diese Region. Werfen wir jedoch einen Blick auf Russland, das sich so gut wie durchgehend auf einer eigenen Kontinentalplatte befindet, ist dort kaum mit schweren Erdbebenaktivitäten zu rechnen. Bestenfalls konnte man in der Region um Moskau nur von einzelnen Echos aus anderen Erdbebengebieten sprechen, wie im Dezember 2000 durch das Beben in Turkmenistan. Mit einer Stärke von 3 bis 4 Punkten, ist das kein Vergleich zu der Ägäis. Umso unbegreiflicher ist deshalb die Wucht der Naturkatastrophe, die vor nicht einmal einer Stunde dort stattgefunden hat und mehrere Hochhäuser zum Einsturz brachte.“

Kenny starrte auf den Bildschirm und versuchte sich zu erinnern in welchem Stadtteil die Abtei gestanden hatte. Zumindest war es nicht beim Kreml. Er wusste noch dass er den Bus hatte nehmen müssen um die Basilius Kathedrale zu besichtigen. Er meinte sich noch vage an den Namen Golowinski erinnern zu können. Kenny besaß keine besonders ausgeprägten freundschaftlichen Gefühle für die Blitzkrieg Boys, doch wusste er das Spencer vor drei Jahren geheiratet und nach der Geburt seines ersten Kindes nach Moskau gezogen war.

Er schluckte hart bei dem Gedanken. Es war seltsam jemanden in einem Krisenherd zu wissen, den man persönlich kennengelernt hatte.

„Wenn ich Dizzy jetzt hätte, könnte ich recherchieren, wo sich die anderen Blitzkrieg Boys befinden.“

Jene Eingebung wurmte ihn besonders. Er wusste nur vage was aus der restlichen russischen Konkurrenz geworden war. Max hatte einmal standfest behauptet, Tala arbeite für den russischen Geheimdienst, aber so recht glauben wollte er ihm das nicht. Sie hatten sich lustig darüber gemacht, weil es einfach zu sehr nach einem abgedroschenen Klischee stank. Dennoch plädierte er darauf, diese Info aus zuverlässiger Quelle zu haben – was so viel hieß das es nur hirnloses Hörensagen war. Sicherlich hatten die All Starz dieses Gerücht in die Welt gesetzt. Auch Kai hatten sie ausgequetscht, der warf ihnen aber nur einen vernichtenden Blick zu, und kommentierte das Ganze zähneknirschend mit: „Warum glauben alle ich wäre über jeden verdammten Schritt, den irgendein Russe auf diesem Planeten macht, im Bilde?“

Zugegen…

Sie dachten manchmal wirklich in Klischees.

Der Moderator bedankte sich inzwischen bei dem, eigens für das Interview angereisten, amerikanischen Professor Dr. Blair und schaltete zur Liveaufnahme nach Moskau. Im Hintergrund des Auslandskorrespondenten türmten sich die Trümmer, wie bei einem Nachkriegsszenario.

„Aus Moskau live zugeschaltet ist nun mein Kollege Wataru Minami. Guten Tag, Wataru.“

„Guten Tag nach Tokyo.“

„Wataru, dieses Erdbeben hat Russland direkt im Herzen getroffen. Der Verwaltungsapparat liegt größtenteils im Kreml, doch ausgerechnet das Epizentrum ist wenige Kilometer außerhalb der Weltmetropole. Wie sieht der derzeitige Stand dort aus?“

Der Livereporter lauschte der Frage die ihm durch die Kopfhörer durchgeben wurde und antwortete in sein Mikrofon mit dem abgebildeten Senderlogo:

„Aktuell zögern die russischen Behörden mehr Informationen zu dem Vorfall preiszugeben, was aber nicht unbedingt mit Geheimniskrämerei zu tun haben muss. Wie bereits von dir richtig erwähnt, wurde gerade der Verwaltungsapparat schwer getroffen. Einige Gebäude sind historisch geschützte Bauwerke in denen sich auch manche Behörden befinden. Diese waren jedoch nie auf ein Erdbeben dieser Stärke gefasst und sind mancherorts in sich zusammengebrochen, wie das berühmte Kartenhaus. Einige Regierungszweige scheinen deshalb lahmgelegt worden zu sein. Momentan schweigt der Kreml noch, allerdings werden Stimmen lauter, die das Ereignis bereits heute als Jahrhundertkatastrophe bezeichnen. Seit Stunden werden Tote aus den Trümmern der Häuser geborgen, während der Einsatz der Armee im Krisengebiet bereits beschlossene Sache zu sein scheint.“

„Wie hoch schätzen sie die Zahl der Toten?“

„Darüber kann beim besten Willen noch keine exakte Angabe gemacht werden, da das Unglück sich erst vor weniger als einer Stunde zugetragen hat. Momentan wurden achtundvierzig Tote geborgen, diese Zahl wird sich aber bis zum Ende des Tages, mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit weiter nach oben korrigieren. Wir müssen bedenken, dass einige Einsatzorte aufgrund der Trümmer kaum noch zu erreichen sind. Es wird Wochen dauern um das Chaos zu beseitigen…“

Hana haute einige Meter neben ihm auf den Tresen der Rezeption. Sie diskutierte bereits seit Minuten mit der jungen Frau dort, welche nicht willens war sie hinauf in die Zimmer von Max und Ray zu lassen. Inzwischen sammelten sich die Zuschauer in der Lobby des Hotels um den großen Bildschirm an der Wand. Ein eisiger Zug wehte durch die Eingangshalle, als die automatische Tür zur Seite schwang und kalte Luft hereinströmte. Draußen hatte sich eine Schneeschicht gebildet die bis zum Fußknöchel reichte. Kenny ging durch den Kopf das er noch keine Winterreifen auf dem Auto hatte. Dazu kam der Wetterumschwung zu überraschend. Nicht das Klima war verrückt, sondern die ganze Welt!

„Es tut mir wirklich leid, doch das Management untersagt es uns, fremde Personen in die Räume unserer Gäste zu lassen.“, hörte Kenny die Rezeptionistin eindringlich auf Hana einreden. Sie bemühte sich um einen höflichen Tonfall doch kam wohl an ihre Grenzen.

„Ich soll nur etwas aus den Zimmern holen“, log Hana. „Wir haben für ein Geburtstagsgeschenk zusammengelegt und weil wir so spät dran waren, haben wir es in einem der beiden Zimmer in der Hektik liegen gelassen. Ich möchte nur kurz hoch auf ihre Zimmer. Wenn sie mir sagen in welchen Räumen sie sich befinden, dann…“

„Dann hätten sie die Zimmerkarten ihrer Freunde nicht vergessen dürfen.“

„Dafür habe ich mich doch schon entschuldigt, aber ich kann jetzt nicht den ganzen Weg zur Party fahren, nur um die Zimmerkarten zu holen. Die findet am anderen Ende der Stadt statt und wir sind ohnehin schon spät dran.“

„So sehr ich ihre Lage auch verstehe, mir sind die Hände gebunden. Es wird ihnen leider keine andere Wahl bleiben.“

„Na toll.“, resignierte Hana. Die Ausrede war nach hinten losgegangen. Sie wandte sich ohne ein Wort des Dankes ab und stöckelte angesäuert zu Kenny. Ihre Absätze schalten laut auf dem glänzenden Marmorboden.

„Ich sagte dir dass das nicht funktioniert.“

„Ach sei doch still.“, fuhr sie ihm über den Mund. „Hättest du die Zimmernummer gewusst, wären wir wenigstens bis vor die Tür gekommen. So bin ich ja regelrecht genötigt, mir eine Lüge einfallen zu lassen.“

„Ich – war – betrunken!“, betonte Kenny erneut. „Außerdem fragt doch niemand seine Freunde in welchem Zimmer sie schlafen. Wenn ich die beiden hätte sehen wollen, hätte ich sie auf dem Handy angerufen und mich von ihnen in der Lobby abholen lassen.“

„In Bangkok hat der Trick funktioniert.“, spielte sie auf ihre Erfahrung in Thailand an.

„Dann sind die Leute in Bangkok ganz schön leichtgläubig.“

Hana funkelte ihn böse an. Kenny tat einen Schritt zurück. Irgendetwas sagte ihm, dass man Hitoshis Verlobte besser nicht belehrte. Er hob beruhigend die Hände hoch.

„Das soll kein Vorwurf sein, aber ich verstehe die Dame auch. Stell dir mal vor jeder kommt mit so einer Ausrede in die Zimmer der Hotelgäste herein. Es wäre nur eine Frage der Zeit bis dann etwas geklaut wird.“

Hana überlegte. Er hoffte inständig dass sie das Vorhaben damit sein ließ, denn insgeheim fürchtete Kenny, die Polizei könne auch bald hier auftauchen, um Ray und Max zu suchen. Doch da wurde Hanas Rücken gerade und sie hob den Hals in Richtung der Rezeption.

Dort kam ein junger Mann aus einer Tür hinter dem Tresen hervor. Der neu eingetroffene Hotelangestellte, unterhielt sich mit seiner Kollegin, die sich kurz darauf bückte, um ihre Handtasche aus den Staufächern unter dem Tresen hervorzuholen.

„Sieht nach Schichtwechsel aus.“

„Ja und?“, wollte Kenny wissen. „Das Management des Hotels hat sich deshalb noch nicht geändert.“

„Wart es ab.“, Hana begann in ihrer Tasche zu kramen und holte einen kleinen Notizblock mit Stift hervor. Noch war sie mit ihrem Latein nicht am Ende. Sie kritzelte etwas auf das Papier, riss es ab und verfuhr mit dem nächsten Blatt genauso. „Du wartest hier.“

Kenny fühlte sich zum Schoßhund degradiert. Sobald der Schichtwechsel vollzogen und sich die vorherige Angestellte verabschiedet hatte, ließ Hana ihn stehen. Als sie erneut an den Tresen trat, schenkte sie dem jungen Mann ihr liebstes Lächeln.

„Verzeihung, könnten sie mir einen Gefallen tun?“

Der Rezeptionist blickte von seinen Monitor auf und blinzelte sie freundlich an. Es hieß nicht ohne Grund, dass ein Lächeln entwaffnend wirken konnte.

„Natürlich. Was kann ich für Sie tun?“

Hana spielte mit einer Strähne und meinte schüchtern.

„Ich habe gestern Abend zwei junge Männer in einer Bar kennengelernt, die Gäste in diesem Hotel sind.“, sie fuhr mit dem Zeigefinger verträumt über das polierte Holz. „Einer von ihnen hat mir total gefallen, aber ich Dummchen habe ihm vor lauter Nervosität meine alte Handynummer gegeben. Jetzt wollte ich sie fragen, ob sie den beiden meine richtige Nummer hinterlassen können.“

„Wäre es nicht einfacher nur ihrem Herzblatt die Nummer zu hinterlassen.“, lachte der Mann auf. Ihr Verhalten konnte durchaus zweigleisig interpretiert werden.

„Ja schon. Aber ich dachte mir, wenn sein Freund auch meine Nachricht bekommt, könnte das die Sache beschleunigen. Vielleicht kommt er zuerst herunter und kann ihm dann gleich Bescheid geben.“

„Ich verstehe. Das wird sich natürlich einrichten lassen.“

Hana schob ihm mit einem dankbaren Wimpernschlag die beiden Zettel zu.

„Wem darf ich die Nachrichten ins Fach legen?“

„Ray Kon aus China und Max Tate aus den USA.“

Er begann auf seiner Tastatur zu tippen. Es brauchte seine Zeit doch er wurde fündig.

„Da haben wir die beiden ja.“

Der Rezeptionist drehte sich zu den Fächern hinter seinem Rücken, die den Zimmern nach durchnummeriert waren. Hana beobachtete genau seine Bewegungen. Er legte einen Zettel in das Fach mit der Nummer 112. Der andere wanderte in die Reihe weit Links mit der Aufschrift 98.

„Erledigt.“, meinte er nach getaner Arbeit.

„Vielen Dank. Sie haben mir wirklich sehr geholfen.“

„Gern geschehen. Dann hoffe ich doch auf baldige Nachricht für sie.“

„Na das hoffe ich doch auch.“, antwortete Hana kichernd wie ein Schulmädchen und wandte sich ab. Als sie zu Kenny zurückkam saß er auf einem Hocker und massierte sich die Schläfen. Neben ihm auf einer Couch hockte ein indisches Paar, mit einer beachtlichen Anzahl an Kindern, von denen jedes lauter war als das andere. Bedachte sie die derzeitige Verfassung ihres Begleiters, vermutete sie das sein Kopf kurz vor dem zerbersten stand. Das die Eltern in der heimatlichen Sprache neben ihm ohne Punkt und Komma schnatterten, mochte nicht zur Verbesserung seines Zustandes beitragen. Doch darauf würde Hana jetzt keine Rücksicht nehmen. Wer saufen konnte, konnte auch arbeiten. Sie haute mit der flachen Hand schroff gegen seinen Oberarm.

„Aufstehen, hopp!“, er sprang fahrig auf und stand prompt stramm wie ein Zinnsoldat.

„Die Zimmernummern lauten 112 und 98.“

„Woher…“

„Ich bin nicht auf den Kopf gefallen. Jetzt müssen wir aber hoch kommen.“

„Aber wir haben keine Karten!“, wandte Kenny ein. „Wie wollen wir in die Zimmer gelangen?“

„Ein Schritt nach dem anderen…“

Ein Page kam in die Lobby und begrüßte mit einer Verneigung die indischen Gäste. Hana fiel auf das sich auch ein älteres Ehepaar weiter hinten von den Hockern erhob und begriff, dass es sich um die Großeltern handeln musste. Eine beachtliche Anzahl an Reisemitgliedern…

Der Page verfrachtete das Gepäck in den entsprechenden Rollwagen, dabei kam er ganz schön ins Schwitzen und als die Gruppe in Bewegung kam, packte Hana Kennys Arm.

„Verhalt dich unauffällig.“

Im Wirrwarr aus Hotelgästen fielen sie kaum auf, als sie an der Rezeption vorbeihuschten und da der Page mit der Masse an Koffern zu kämpfen hatte, welche die indische Familie mit sich schleppte, schenkte er ihnen kaum Beachtung. Dafür wurde es umso enger im Fahrstuhl und als sie sich alle endlich hineingezwängt hatten, hieß es für die beiden Eindringlinge Bauch einziehen.

„Ich glaube wir haben die erlaubte Anzahl an Fahrgästen überschritten.“

„Da steht neun Erwachsene erlaubt.“

„Wir sind elf…“

Durch den stattlichen Umfang des Vaters fand sich Kenny bald an die Wand der Kabine gepresst.

„Die Kinder zählen nur die Hälfte.“, zischte seine Leidensgenossin durch die Zähne.

Kenny hatte einmal gehört, dass Inder sehr tolerant gegenüber geringer Körperdistanz, in öffentlichen Räumen waren. Sollte ihn jemand fragen, würde er dieses Klischee bestätigen können.
 

*
 

Max wachte auf noch bevor Tyson ihn weckte.

Zunächst hatte er versucht für einige Minuten nochmal die Augen zu schließen, doch seine Träume waren unruhig. Er sah Draciel mit dem Gesicht seiner Mutter vor sich. Sie schob es wie eine Maske von ihrem Kopf weg und entblößte eine faulende Fratze darunter. Wann immer er die Lider schloss, tauchte das Bild vor ihm auf.

Die trüben toten Augen.

Der bläulich angelaufene Mund.

Die fehlende Wärme in ihrem Auftreten.

Er hätte gerne die Stimme seiner Mutter noch einmal gehört, doch alles was er noch von ihr besaß, war die Sprachnachricht auf seiner Mailbox, von einem Handy das weit außerhalb seiner Reichweite lag. Er dachte an seine Kindheit zurück und wie ihr sanftmütiges Lächeln ihn immer begleitet hatte. Natürlich musste jeder einmal Abschied von seinen Eltern nehmen, doch die Brutalität mit der sie ihm entrissen worden war und das jenes Wesen, dass er in ihrer aller Leben gelassen hatte, daran Schuld war, machte ihm zu schaffen.

Sie hatte Draciel ebenso vertraut wie der Rest seiner Familie. Wenn er sein Blade aufmotzen wollte, hatte sie alles daran gesetzt, ihrem Sohn und dem Bit Beast, das ihn vermeintlich beschützte, zu helfen. Ein großer Klumpen aus Trauer und Wut formte sich wieder in seinem Magen. Die Ungerechtigkeit drohte ihn zu übermannen und er blinzelte die Tränen die aus purer Enttäuschung bestanden fort.

„Dafür ist jetzt keine Zeit. Du kannst nicht ständig wie ein geprügelter Hund heulen!“, ermahnte er sich. An Schlaf war aber auch nicht mehr zu denken, also setzte sich Max langsam auf, vorsichtig darauf bedacht sein Gewicht so zu verlagern, dass sein verletzter Arm nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die Schwellung pochte unter dem Verband den ihm Ray in Galmans Höhle angelegt hatte. Max hätte ihn gerne gebeten ihn auszutauschen, doch da er momentan so gereizt war, getraute er sich nicht. Es war kalt geworden und er fröstelte. Neben ihm murmelte Ray im Schlaf. Das kam ihm merkwürdig vor, doch er war die letzten Stunden ohnehin komisch drauf.

„Max du kannst weiterschlafen. Es ist noch nicht soweit.“

Er blickte zur Feuerstelle, wo er Tysons Gesicht ausmachen konnte, welches im stetigen Flackern des Lichtes beleuchtet wurde. Obwohl er in seinem jugendlichen Körper gefangen war, hatte Max das Gefühl, als würde sein Freund mit jeder Minute die er hier verweilte reifer werden. Sein Blick war ernst, aber standhaft. Es zeugte davon das Tyson herbe Rückschläge erlitten haben mochte, aber noch lange nicht bereit war aufzugeben.

Max wollte es nicht laut aussprechen, doch in den letzten Stunden wurde er zusehends dankbarer um die Anwesenheit seines Freundes. Tyson entwickelte sich immer mehr zum festen Anker, der die Gruppe beieinander hielt. Es war als wäre er zu ihrem Teamleader geworden, nachdem Kai dieser Rolle leider nicht mehr gerecht werden konnte. Etwas überrascht erkannte er, dass gerade selbige Person mit dem Gesicht auf Tysons Brustkorb gelehnt, unter dessen Jacke schlief. Offensichtlich stand er mit seiner Auffassung nicht alleine da. Max hob belustigt eine Braue. Irgendwie putzig wie der Kleine an Tyson hing. Dieses Verhalten erinnerte ihn an ein frischgeschlüpftes Küken, dass die erste Person, die es zu Gesicht bekommen hatte, als seine Mama anerkannte. Wenn Kai jemals wieder Erwachsen werden sollte, würde er ihm das unter die Nase reiben, soviel war sicher!

„Ich habe leider nicht so einen festen Schlaf wie er.“

Tyson grinste und schaute auf Kai herab. Durch die Bewegung rutschte seine Jacke etwas von den Schultern des Kindes. Es murrte und griff mit den kleinen Fingern zaghaft in den Stoff seines Oberteils.

„Der Schlaf des Gerechten.“

„Anscheinend.“, Max fuhr sich über die Augen um die Müdigkeit aus den Gliedern zu treiben. „Ich kann jetzt Wache halten.“

„Du hast noch nicht einmal zwei Stunden geschlafen.“

„Es wird auch nicht besser…“

„Wir werden vielleicht keine weitere Gelegenheit haben um uns zu erholen.“

„Ich kann nicht mehr schlafen. Nicht nachdem ich Draciel gesehen habe…“

„Das war hart für dich, oder?“

Er lachte freudlos auf.

„Hart ist wenn du einen Stein gegen den Kopf bekommst. Das hier war ein 40-Tonner der mit Höchstgeschwindigkeit über mich gebrettert ist.“

Es war die perfekte Definition von dem was auch in Tyson vorging.

„Ja, das trifft es sicherlich für uns alle auf den Punkt.“

Max stand auf und stieg über Ray hinweg, um sich neben seinen Freund an die Feuerstelle zu setzten. Um Wärme suchend rutschte er nah an die Lichtquelle und streckte die gesunde Hand in Richtung der Flammen.

„Zum Glück kann sich Kai nicht mehr an Dranzer erinnern. Da bleibt ihm eine herbe Enttäuschung erspart.“

„Er weiß jetzt die Wahrheit.“

Max schaute schockiert auf.

„Seit wann?“

„Er hat mir Fragen gestellt und ich wollte ihn nicht mehr anlügen. Da habe ich ihn vorhin aufgeklärt.“

„Und… Er hat das wie aufgenommen?“

„Ich denke ich konnte ihm das Ganze recht gut vermitteln.“

„Er wollte nicht türmen?“

„Würde er sonst hier liegen?“

Max schielte misstrauisch zu dem Kind.

„Schläft er oder hast du ihn bloß K.O. geschlagen?“

„Sehr witzig.“, schmunzelte sein Gegenüber. Tyson streckte seine Beine aus und drückte das Kind näher an sich heran. Bei der klammen Kälte war Körperwärme eine Wohltat. Es musste schön sein als Kind so umsorgt zu werden.

„Max… Es tut mir Leid was Judy passiert ist.“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Dafür kannst du nichts.“

„Das nicht. Aber als mein Großvater angegriffen wurde habe ich dich angeschnauzt.“

Er hatte diesen Vorfall eigentlich schon wieder vergessen. Tyson war ziemlich aufgebracht gewesen, als er von Dragoons Angriff auf seinen Großvater erfuhr und hatte Max vorgeworfen nicht zu wissen, wie es sei, ein Familienmitglied zu verlieren. Kurz darauf erfuhr die Gruppe dass Judy tot war…

„Wir haben alle nicht damit gerechnet. Wie könnte ich dir deshalb also Vorwürfe machen?“

Max nahm einen Stock und bohrte damit in der Glut. Das Thema stimmte ihn traurig. Es war ihm noch immer unbegreiflich wie schnell ein Mensch aus dem Leben verschwinden konnte. Am Morgen telefoniert man noch mit der Person, gegen Mittag konnte sie weg sein. Ohne ein Wort des Abschieds…

Sowas sollte es nicht geben. In einer idealen Welt mit einem gerechten Gott, hätte jeder Mensch die Gelegenheit, sich von seinen Lieben zu verabschieden, bevor sie starben. Seine Großmutter war sehr gläubig gewesen. Zur Weihnachtszeit war seine Familie immer zu ihr in die USA geflogen, um zusammen Heiligabend zu feiern. Es war ein prunkvolles Fest, in das sie viel Mühe investierte, doch sie hatte es mit einer Inbrunst getan, welche die ganze Familie jedes Jahr überraschte. Selbst die Bibel kannte sie auswendig, auch wenn er öfters Mal eingeschlafen war, wenn sie ihm daraus vorlas. Max fragte sich was sie denken würde, wüsste sie von der Irrlichterwelt – und davon dass ihr Enkel dabei war den Glauben an einen Gott zu verlieren. Nach einer kleinen Pause, in welcher beide Jungen ihren Gedanken nachhingen, meinte er: „Geh schlafen Tyson. Ich übernehme ab jetzt.“

„Bist du sicher?“

„Es ist okay. Ich brauche etwas Zeit um nachzudenken. Und nach mir ist ohnehin Ray mit Wache halten dran. Dann kann ich vielleicht auch wieder schlafen.“

„Max, wenn du reden willst…“

Er schüttelte den Kopf.

„Wenn wir wieder zuhause sind können wir stundenlang reden. Jetzt sollten wir all unsere Energie für den Weg zurück sammeln.“

Tyson schaute ihn lange an. Zwar war da der Wunsch seinem Freund eine Stütze zu sein, doch den Drang für einen Moment seinen eigenen Gedanken nachzugehen, verstand er nur zu gut. Er würde Max nicht verwehren, was er vor wenigen Stunden auch gesucht hatte. Seufzend breitete er sich auf seinem Schlafplatz aus. Das Laub unter seinem Körper raschelte dabei. Kais Augen öffneten sich für einen Moment, blinzelten verschlafen, nur um dann doch weiter zu dösen.

„Max, ich wünschte ich könnte irgendetwas tun oder sagen, damit es dir besser geht.“, sprach Tyson dennoch einmal offen seine Gedanken aus. „Ich fühle mich so machtlos, als ob ich dich mit deinen Problemen allein lasse.“

Max stützte den Kopf ab und blickte ihn an.

„Es gibt Dinge die kannst du nicht ändern. Selbst mit den besten Vorsätzen nicht.“, ein melancholisches Lächeln umspielte seinen Mund. „Manchmal sind wir einfach machtlos. Aber allein das meine Freunde sich so um mich sorgen, macht das Ganze etwas erträglicher. Es gibt mir das Gefühl als wäre ich nicht allein auf dieser Welt.“

Er warf ein paar Zweige in die Feuerstelle.

„Ich brauche einfach nur Zeit… Zeit um zu trauern. Und das kannst du mir leider nicht abnehmen.“
 

*
 

Sie saß im Schein der morgendlichen Sonne…

In dem kleinen Garten hinter ihrem Haus. Er hatte viel Mühe in die Bepflanzung der Bäume gelegt. Damals mit Lee, waren sie bei brütender Hitze zu Gange gewesen, doch Ray wollte seiner Familie ein schönes Zuhause bieten und sein Schwager scheute die Arbeit mit Spaten und Hacke genauso wenig wie er. Als das Ergebnis fertig war, hatte seine Frau Stunden in dem kleinen Paradies verbracht, dass er ihr mit viel Schweiß errichtet hatte.

Doch es lohnte sich, denn Mao liebte den Garten.

Und er war glücklich wenn sie glücklich war…

Die Blätter formten auf ihrer Haut ein Spiel aus Licht und Schatten.

Sie trug ein Cheongsam. Das bedeutete im chinesischen so viel wie „langes Kleid“.

Den weißen seidenen Stoff zierte eine Stickerei, aus purpurnen Fäden, geformt zu einem Gebilde aus hunderten wehenden Kirschblüten. Ray empfand Maos Figur für dieses traditionelle Kleidungsstück schon immer als perfekt. Sie besaß eine wundervolle Taille. Der Cheongsam hatte seiner Frau stets geschmeichelt und ihm war nicht entgangen, wie die Männer bei feierlichen Anlässen verstohlene Blicke zu ihr warfen.

Das hatte ihn stets mit Stolz erfüllt. Seine Mao war eine schöne Frau.

Doch er hätte den verstohlenen Blicken mehr Beachtung schenken sollen.

Wie konnte einem Mann entgehen, wie verführerisch diese unschuldigen Augen mit den goldenen Sprenkeln darin waren?

Und da war dieser Mann. Neben ihr in der Sonne…

Eine finstere Gestalt, deren Gesicht er nicht ausmachen konnte.

Dort lag er neben ihr im gemachten Nest, während Ray so viele Strapazen auf sich genommen hatte, um aus der Irrlichterwelt wieder Heim zu finden. Es interessierte ihn kaum noch, ob das Kind von einem anderen war, denn ihm war klar geworden, dass seine Liebe zu ihr ungebrochen war. Und doch…

Sie hatte ihn ersetzt. Der Säugling von dem er nicht wusste, ob er überhaupt der Vater war, lag in ihren Armen. Sie schaukelte es mit einem Wiegenlied in den Schlaf, in der aus jeder Silbe, die Liebe zu ihrem Kind mitschwang.
 

„Merkwürdig. Ich hatte wirklich angenommen, dass du gerade um deiner Mao Willen zurück willst.“
 

Das hatte Ray doch gewollt!

Mit jeder Faser seines Herzens.

Der Gedanke in dieser Welt auf ewig zu verharren, während er für seine Familie nicht da sein konnte, hatte ihn schier wahnsinnig gemacht. Er besaß Verpflichtungen und sein Ehrgefühl ließ nicht zu, denen nicht nachzukommen.

Doch weshalb saß Mao dann dort an der Seite eines anderen Mannes?

Ray erhob sich und seine Schritte lenkten ihn zu ihrer Silhouette, die ihm den Rücken zugewandt, arglos das Kind wiegte. Er fühlte sich wie betäubt. Ihm war das Szenario das er vorfand unbegreiflich.

Waren ihre flehenden Worte, vor seiner Verbannung in die Irrlichterwelt, nichts wert gewesen? Leere Floskeln, ohne eine tiefere Bedeutung...

Als er hinter ihr zum Stehen kam, blickte er zu dem fremden Mann hinab. Er hielt die Augen geschlossen und ruhte wenige Meter neben ihr im Graß. Sein Gesicht lag im Schatten, doch das selbstgefällige Lächeln stach dafür umso mehr hervor. Es schien wie eine schwarze Maske, die ihn höhnisch angrinste.

„Sie wollte dich nur zurück um einen Vater für ihr Balg zu haben, du blöder Trottel!“

Die böse Stimme in seinem Kopf war wieder zurück.

Nur sprach sie aus was er befürchtete. Jemand war aufgetaucht der ihn ersetzte. Deshalb scherte sie auch nicht mehr wo ihr Mann war. Galt Ray als verschollen, konnte sie mit ihrem Liebhaber zusammen sein – in jenem Garten den er ihr gepflanzt hatte. Kein übles Wort der Nachrede würde sie treffen, denn sie war immerhin die verlassene junge Mutter, deren treuloser Ehemann sie im Stich ließ.

„Da siehst du wohin dich dein Pflichtbewusstsein gebracht hat.“

Ray presste seine Handflächen gegen die Ohren.

„Es hat dich gehindert deine Freunde zu verlassen.“

Warum hatte er so viel Rücksicht darauf genommen?

„Und jetzt wurdest du verlassen!“

Die Wut kochte in ihm auf.

„Die Schlampe hätte auf dich warten müssen… Bring sie um!“

Sein Zorn schwoll wie ein brodelnder Kessel über. Er sah wie seine Finger nach ihrem schlanken Hals griffen.

„Bring das verlogene Stück um!“

Seine Hände legten sich auf ihre Haut.

Sie versteifte sich unter seinen Fingern.

„Bring sie um!“

Ihre hübschen Augen blickten ihn schockiert an, als Mao einen Blick über die Schulter warf und dort ihren als verschwunden geltenden Ehemann erblickte. Er sah wie ihre Lippen sich zu seinem Namen formten. Doch der letzte Teil ging unter, als er zudrückte und ihr die Luft abschnitt.
 

*
 

Ein Krächzen drang an Tysons Ohr. Unwillig schon wieder aufzustehen, schmatzte er und wandte sich verstimmt auf die andere Seite. Es konnte nicht schon wieder an der Zeit sein aufzustehen. Weshalb waren die Nächte immer so kurz?

Neben ihm raschelte das Laub.

Er brummte unwillig, denn es klang, als wären Schritte auf den Weg zu ihm. Innerlich bereitete er sich schon darauf vor, eine Hand auf seiner Schulter zu spüren, die ihm gleich verkündete dass es weiterging. Bei seinen Freunden war er noch nie dafür bekannt gewesen, ohne Widerworte aufzustehen, doch es kam ihm vor als habe er sich gerade erst hingelegt. Ein Fuß rutschte dicht neben seinem Kopf weg. Erneut vernahm er leise Laute. Sein Unterbewusstsein regte sich und sagte ihm, dass etwas falsch daran war. Die Bewegungen hinter seinem Rücken klangen so hektisch. Schlaftrunken öffnete Tyson die Augen einen spaltweit und lauschte in die Nacht. Er sah Kai neben sich liegen. Das Kind schlummerte unter der Jacke die er ihm übergeworfen hatte. Im Flackern des Feuers konnte er die blassen Finger ausmachen, die unter dem Stoff hervorschauten.

„Hil…“

Was sollte das bedeuten?

Er drehte sich wieder auf die andere Seite und blinzelte irritiert über das Szenario was er vorfand. Ray lag über Max gebeugt. Im Schein des Lichtes machte er aus, wie der Unterlegene der beiden, seine Hand gegen die Wange des Chinesen stemmte, um ihn wegzudrücken. Dessen Gesicht glich nur noch einer wutverzerrter Fratze. Die Augen seines Freundes waren weit aufgerissen, doch seine Pupillen waren zu kleinen Punkten geworden – und seine Hände strangulierten Max, dass die Muskeln an seinem Oberarm nur hervorstachen.

„Hil…“

Tyson blickte in die Augen von Max. Darin lag pure Panik. Er zuckte augenblicklich zusammen, als ihm endlich der Ernst der Lage bewusst wurde. Schlagartig war jegliche Trägheit aus seinem Körper gewichen. Er sprang mit einem Keuchen auf und rannte auf die beiden rangelnden Gestalten zu, dass die Blätter unter seinen Sohlen nur so in der Luft wirbelten.

„RAY!“, schrie er fassungslos. „Was machst du da?!“

Lediglich ein Knurren war die Antwort. Anstatt Max zu entlassen, verfestigte sich Rays Griff und er hielt an ihm fest, wie ein Raubtier das seine Beute verteidigte.

„Bist du wahnsinnig?! Du bringst ihn um!“

Tyson versuchte ihn am Kragen zu packen und wegzuziehen, doch wurde zurückgeschleudert. Er fiel gegen den Baumstamm dass der ins Wanken geriet und die Strommaus darauf erschrocken aus dem Schlaf fuhr. Allegros überraschter Laut war zu vernehmen, als er über die Rinde rollte und auf der anderen Seite landete. Tyson fand keine Zeit sich um ihn zu sorgen, stattdessen nahm er seine ganze Kraft zusammen, stemmte sich vom Baum weg und rammte Ray mit der linken Körperhälfte voraus. Ein wütendes Fauchen war die Antwort, doch endlich war Max befreit. Er schnappte nach Luft und als erstes Kommentar fiel ihm ein: „Warum wollen mich heute alle erwürgen?!“

Es folgten wüste Beschimpfungen in seiner Muttersprache.

Durch den lauten Schrei wurde auch Kai wach.

Doch Tyson schenkte dem gerade wenig Beachtung. Er schluckte hart, als Ray sich aufstemmte und er in dessen Gesicht blickte. Ein Rinnsal aus Blut kam aus seiner Nase. Bereits zuvor hatte er gespürt, dass er Rays Kopf mit dem Ellbogen ungeschickt erwischt hatte. Er schaute ihm in die Augen und bemerkte wie dunkelrote Äderchen dort hervorstachen. Es wirkte als sei Ray auf einem gefährlichen Drogentrip.

Augenblicklich wurde Tyson klar dass er nicht bei klarem Verstand sein konnte. Womöglich hatte mit den Früchten, die sie gegessen hatten, etwas nicht gestimmt. Die Bäume waren ohnehin sonderbar gewesen. Er hob beschwichtigend die Hand, als sein Freund ihn aus zusammengefletschten Zähnen taxierte. Wie ein Tier folgte er Tysons Bewegungen.

„Ray, bitte bleib ruhig.“

„Halt dein blödes Maul! Du wirst dich nicht ins gemachte Nest setzten!“

„Ich weiß nicht was du meinst?“

„Niemand nimmt mir meine Familie weg und wenn ich sie eigenhändig umbringen muss!“

„Ray du sprichst im Wahn! Komm zu dir!“

Max rutschte von den Kämpfenden weg, in dem verzweifelten Versuch aus der Schusslinie zu kommen. Es hatte zur Folge dass er durch das Rascheln der Blätter nur umso mehr in Rays Fokus geriet.

„Ich kämpfe mich hier ab um wieder nachhause zu kommen und du mieses Flittchen bandelst mit irgendeinem Drecksack an!“, klagte er Max an.

Tyson begriff endlich welchem Trugbild Ray erlag.

„Das ist nicht Mariah! Ich weiß nicht was in deinem Kopf vorgeht aber du musst zur Vernunft kommen!“, schrie er ihm entgegen. Doch er sah bereits wie alles in Ray sich darauf vorbereitete, noch einmal zur Tat zu schreiten. Er beugte sich vor um auf sie zuzustürmen, da ergriff Allegro das Ruder. Der kleine Mäuserich verwandelte sich in einen Blitz und schoss auf ihren Freund zu. Das grelle Licht erhellte die Nacht und traf Ray mit solcher Wucht dass es ihn in ein Gestrüpp fegte.

Wie erstarrt rührte sich niemand mehr.

Tyson blickte zu Max der sich schweratmend aufsetzte.

Seine Bewegungen waren ebenso vorsichtig wie seine, als er sich langsam aus der Hocke erhob. Beide befürchteten einen weiteren Angriff. Es war Tyson unbegreiflich das er ausgerechnet von Ray so etwas befürchten musste. So war er doch nicht!

Allegros Kraft schien mit dieser heftigen Attacke aufgebraucht.

Mit einem letzten Funken verwandelte sich das Bit Beast in seinen Ursprungszustand zurück. Es positionierte sich schützend vor den anderen Jungen, doch auch wenn Tyson seinen Mut mehr als bewunderte, ahnte er, dass Allegro nichts gegen einen weiteren Angriff vorbringen könnte. Von ihnen allen war Ray der Einzige welcher körperlich nicht angeschlagen war. Allegro lag auf allen Vieren auf der Lauer während die Ohren sich aufrichteten und lauschten was sich in dem Gebüsch tat.

Plötzlich richtete er sich auf.

„Er läuft fort!“

Tysons Augen weiteten sich in purem Entsetzen und seine Schritte bewegten sich zum Gebüsch. Er riss das Geäst zur Seite und offenbarte ihnen den Blick auf einen kleinen Hang der dahinter steil abfiel. Maxs schwere Atemzüge kamen hinter ihm näher.

In der Ferne machten beide Rays Gestalt aus.

Er rannte von der Gruppe fort als hinge sein Leben davon ab.
 


 

ENDE KAPITEL 27
 

Seine Umgebung zog an ihm vorbei wie in einem Tunnelblick.

Bäume rauschten. Geäst und Blätter, überall nur Dunkelheit.

Er beachtete die Zweige kaum noch die ihm an der Wange entlangschabten. Stattdessen rannte er ohne Rücksicht durch den Urwald. Sein Fuß traf auf ein Farngebüsch. Es stoben blaue Blitze daraus hervor, als einige Bit Beasts sich vor seinen eiligen Schritten in Sicherheit brachten. Blanke Panik ließ seine Beine wie unter Strom laufen.

Rays Kopf war noch nicht im Stande die vergangen Minuten richtig zu verarbeiten.

Er sah Mariah vor sich.

Er hatte sie versucht zu erwürgen.

Dann waren da aber die Schreie von Tyson und Max dazu gestoßen.

Es hatte alles nicht zusammen gepasst, doch diese furchtbare Stimme in seinem Kopf, drängte ihn seine Frau weiter zu strangulieren. Plötzlich stürzte Ray. Es war ohnehin ein Wunder, dass er so weit gekommen war ohne zu straucheln. Mit einem Schmerzensschrei fiel er in eine Kuhle, wo er sich den Fuß umknickte. Es tat weh…

Doch es war der Weckruf der ihn endlich aus seinem Schock riss.

Einen Moment blieb Ray schweratmend liegen wo er war.

Das letzte Bild schoss ihm durch den Kopf, kurz bevor Allegros Blitz ihn wachgerüttelt hatte.

Der Nebel der seinen Verstand umschlungen hielt, hatte einen kleinen Einblick hinter die Fassade erlaubt, die ihn so in Rage versetzte. Da war nicht mehr Mao gestanden, sondern Max. Er hatte sich den Hals gehalten und schwer gekeucht, doch seine Hand konnte nicht die Würgemale verbergen, die Ray ihm zugefügt hatte. In seinen Augen war Furcht gewesen. Furcht vor ihm!

Ray setzte sich langsam auf. Sein Knöchel schmerzte.

Er hielt sich den Fuß und warf den Kopf in den Nacken.

Seine Freunde hatten Angst vor ihm gehabt…

Tyson, Max und Kai.

Allegro hatte ihn taktiert wie einen ausgebrochenen Schwerverbrecher.

Ray starrte auf seine Hände. Jene die vor wenigen Minuten Max den Hals umdrehen wollten. Sie zitterten. Ihm wurde mit jeder Minute die Tragweite seiner Tat bewusst. Das Frösteln griff auf seinen restlichen Körper über. Er wischte sich den kalten Schweiß vom Gesicht. Als er über seinen Mund fuhr, blieb Blut zwischen seinen Fingern kleben. Er tastete die Stelle ab und bemerkte dass er Nasenbluten hatte.

„Was passiert mit mir?“

Ray war keineswegs nah am Wasser gebaut. Er wusste sich stets zusammenzureißen.

Doch jetzt klang seine Stimme erstickt und tatsächlich spürte er wie sich die Tränen ihren Weg bahnten. Eine tiefe Schuld brach über ihn ein.

Er wollte den Menschen die er liebte nicht schaden. Warum tat er es dann?!

Seine Freunde gehörten ebenso zu seiner Familie, wie die Frau welche er in seinem Wahn hatte erdrosseln wollen. Er griff sich ins tiefschwarze Haar und versuchte ein Schluchzen zu unterdrücken… Da erstarrte seine Bewegung.

Etwas fühlte sich verkehrt an.

Ray begann seine Kopfhaut zu durchsuchen. Seine Fingerkuppen erspürten eine beachtliche Beule. Hatte er sich gestoßen? Er konnte sich nicht erinnern wann das gewesen sein sollte. Ein Keuchen drang aus seinem Mund als die Wölbung sich unter der Haut regte.

Seine Kehle wurde trocken. Vorsichtig glitten seine Finger durch sein Haar. Da durchfuhr ihn ein grausamer Schmerz, schlimmer als alles was ihm je zugefügt worden war. Als habe ihm jemand einen Eispickel in den Schädel gerammt. Es schnürte ihm den Hals zu und lähmte seine Gedanken. Die Sicht verschwamm ihm…
 

„Quält dich etwas?“
 

Rays Kopf kippte gequält zur Seite. Er brauchte lange um den Ursprung in der Finsternis auszumachen. Eine hünenhafte Gestalt bedachte ihn mit verschränkten Armen. In der Kuhle war es ohnehin dunkel, doch die Statur des Neuankömmlings verdeckte das bisschen Mondlicht was noch einfiel. Dafür war das schiefe Grinsen mit dem spitzen Schneidezahn am Mundwinkel kaum zu übersehen…

„Driger?“

„Du siehst so abgekämpft aus. Was mag dir wohl aufs Gemüt schlagen?“

Die pure Schadenfreude in seiner Stimme ließ Ray begreifen dass er durchaus im Bilde war.

„Was hast du getan?“, fragte er geradeheraus. Die Ader an seiner Schläfe pochte hart gegen die Seite. Driger beugte sich herab und begutachtete ihn.

„Was glaubst du habe ich getan?“

Ray schmeckte Blut auf seinen Lippen. Er fuhr sich mit fahrigen Fingern über den Mund.

Etwas stimmte nicht mit ihm. Sein Körper versagte ihm immer mehr. Er war erschöpft und besaß keine Kraft mehr im Leib um noch weiter auf dieses Machtspielchen einzugehen.

„Warum tust du mir das an?“, wollte er schaudernd wissen. „Ich dachte wir wären Freunde!“

Driger schnalzte bedauernd.

„Freunde… Ja, das ist so eine Sache. Ich habe die letzten Jahre viel getan. Vor allem für dich.“ Seine Miene blickte gleichgültig auf ihn herab. „Weißt du Ray, ich hatte wirklich mehr von dir erwartet. Ich nahm an du wärst so scharfsinnig ein Bit Beast zu verstehen. Unsere Natur und unser Wesen. Ich hielt dich für eines jener seltenen sterblichen Geschöpfe die hinter die Fassade blicken können. Doch einiges scheint dir selbst nach so vielen Jahren noch nicht ganz klar. Daher lass mich dir einige Weisheiten über uns auf den Weg geben.“

Driger wischte ihm väterlich das Blut vom Kinn. Seine Finger waren eiskalt und rau. Widerwillig ließ Ray es über sich ergehen.

„Da wäre zum Einen das gerade die Oberklassen sehr kämpferisch veranlagt sind. Die Turniere an denen wir teilnahmen, kamen daher nicht nur dir zugute. Es ist ein ständiges Kräftemessen was bei uns stattfindet. Mit den Weltmeisterschaften haben wir Bit Beast es nur vollbracht, unsere Energie in eine andere Richtung zu kanalisieren. Das war recht nett. Doch eines hätte dir klar sein müssen…“

Driger hob mahnend den Zeigefinger.

„Nichts im Leben ist umsonst. Das war dein erster entscheidender Fehler. Dachtest du wirklich unser Bündnis wäre eine Einbahnstraße?“

„Wir haben nie darüber gesprochen...“

„Unwissenheit ist keine Ausrede.“

„Ich habe auch für dich gekämpft! Weißt du nicht mehr als die Saint Shields mir dich weggenommen hatten? Ich habe alles dafür getan, damit ich dich zurückbekomme. Zählt das überhaupt nichts?“

„Nun das mag sein. Doch wir sind uns wohl inzwischen beide einig, dass dieser Verlust für dich schlimmer gewesen wäre als für mich. Denkst du in einen Felsen gesperrt zu werden, hätte irgendeine Auswirkung für mich, in der Ausübung meiner Pflichten gehabt? Vor dir steht ein Uralter. Ich war vielleicht von meinem Gefäß weggesperrt, doch in die Irrlichterwelt konnte ich deshalb dennoch reisen. Du dagegen wärst ohne mich in den Arenen dieser Welt zu Grunde gegangen.“

„Daran habe ich auch nie gezweifelt…“

„So?“

„Denkst du ich wusste nicht dass du einen Teil zu meinem Ruhm beigetragen hast?“

„Und dennoch hast du mich nach ein paar lumpigen Menschenjahren aus deinem Dasein verbannt!“, konterte er. Ray warf stöhnend den Kopf in den Nacken.

„Driger bitte begreif doch endlich… Wir Menschen werden erwachsen.“

„Das ist ebenfalls keine Ausrede.“

„Doch ist es! Wir leben keine Millionen von Jahren wie ihr Geister. Ich bin einfach älter geworden! Ich hatte mich in Mao verliebt und eine Ausbildung angefangen. Da konnte ich nicht meine ganze Zeit in mein Hobby stecken! Wenn man erwachsen wird, will man eine Familie gründen und das hätte ich nicht gekonnt, wenn ich weitergemacht hätte. Es war zeitlich nicht mehr machbar! Damit wollte ich dich aber niemals verletzten… Ich wusste doch nicht das so etwas in dir vorgeht!“

Seine Stimme überschlug sich vor Verzweiflung. Er ahnte dass dies die letzte Möglichkeit sein könnte seinen Standpunkt klar zu machen.

„Und deshalb bist du jetzt hier. Du wirst nun alle Zeit der Welt haben, um über dein Fehlverhalten nachzudenken.“, beteuerte Driger aber nur kalt.

„Was hast du mit mir gemacht?“, wollte Ray wissen.

„Nicht viel… Ich habe lediglich eine winzige Maßnahme eingeleitet, damit dir meine Lehre nicht so schnell wieder aus dem Kopf entweicht. Du musst wissen, mein junger Streuner, das menschliche Gehirn ist eine wundersame Sache. Zum Beispiel hier.“, Driger tippte jenen schmerzhaften Punkt auf seinem Schädel an, wo Ray kurz zuvor die Beule entdeckt hatte. „Genau hier wird die Aggressivität gesteuert. Eine wirklich heikle Angelegenheit.“

„Was?“, blinzelte er irritiert. „Was soll das heißen?“

„Das du Kai Unrecht getan hast. Das arme Kind war ganz verwirrt, als du ihn beschuldigt hast, gelogen zu haben. Dabei hast du nicht einmal bemerkt wie mein kleiner Parasit dich aufgegriffen und sich in deinen Körper eingenistet hat. Er ist den ganzen Weg von deinem Nacken hinauf in dein Gehirn gewandert, um sich einzuquartieren. Dort wächst und gedeiht er prächtig vor sich her…“

Sicherlich um ihn zu malträtieren tippte Driger noch ein weiteres Mal gegen die Beule.

Ray zog scharf die Luft ein.

„Genau hier steckt er. Dein ganz persönliches Geschwür, welches ich nur für dich allein kreiert habe. Und nun lausche gut meinen Worten, denn ich komme zum Kern meiner Lehre. Wir Bit Beast nehmen ein Bündnis sehr ernst und in deiner Kindheit hatte ich meinen Teil unseres Paktes erfüllt – nämlich die Loyalität. Selbst in deinen dunkelsten Stunden hielt ich zu dir und das obwohl ich so manches Mal ein neues Kind hätte wählen können, da du niemals alleiniger Weltmeister geworden bist. Doch es war mir gleich, denn ich hatte mich dir verpflichtet. Wir tauschen unsere Partner nicht wie Socken aus. Ein Bit Beast hält seinen Schwur, selbst wenn es ihm zu Schaden kommt. Du dagegen wolltest dich einfach aus unserem Pakt davonstehlen und so etwas wird in der Irrlichterwelt schwer geahndet.“

Der letzte Satz war ein tiefes Knurren und Ray hatte Mühe den lauernden Augen trotzig standzuhalten. Doch dann zeichnete sich ein amüsiertes Grinsen um Drigers Mundwinkel ab.

„Du willst nachhause? Gut. Dann geh! Doch wie gesagt… Nichts im Leben ist umsonst. Wenn du gehst dann mit diesem Geschwür im Kopf. Meine neuartige Schöpfung welche dich zu einer gespaltenen Persönlichkeit macht. Kein sterblicher Mediziner wird in der Lage sein dich davor zu retten. Desto näher du dem Ausgang der Irrlichterwelt kommst, desto schlimmer wird die Erkrankung. Desto weiter du dich davon entfernst, desto rascher heilt sie. Das ist dein Wegzoll in die Freiheit.“

„Und nun denkst du ich bleibe aus Angst hier!“, fauchte Ray heftig. „Vergiss es! Lieber krepiere ich in der Menschenwelt elendig an dieser Krankheit, als für immer auf deine Gnade angewiesen zu sein.“

„Welch große Worte!“, höhnte Driger. „Aber bist du auch so kühn wenn es um deine Frau geht? Wie reagierst du, wenn du eines Morgens neben ihr aufwachst und sie in deinem blinden Zorn, mit den eigenen Händen erdrosselt hast? So wie du es gerade eben mit Max tun wolltest…“

Ray wurde aschfahl.

„Von wollen war keine Rede und halt Mao da raus!“

„Das habe ich bisher. Weißt du, mein Streuner, es gibt da eine Freundin die sehr an ihr hängt und weswegen ich nicht bereit war, deine Frau in unsere Fehde zu verwickeln. Denk doch mal nach… Takaos Großvater wurde angegriffen. Maxs Mutter ist tot. Kais Schwester entging ebenfalls knapp dem Tod. Doch deine Mao… Warum ist ihr nichts zugestoßen?“

Die lauernden Tigeraugen schauten Ray abwartend an. Er schluckte hart.

„Von welcher Freundin sprichst du?“

„Ich denke du weißt genau wen ich meine.“

„Galux… Ihr Bit Beast.“

„Schlauer Streuner.“

„Du willst mir also sagen dass mich diese Krankheit früher oder später zu einer Gefahr für meine Familie macht?“

„Nicht nur das. Sie ist vererbbar. Solltest du also nochmal Kinder in die Welt setzen wollen, werden sämtliche deiner Nachfahren dieses Geschwür ebenfalls besitzen. Alle künftigen Generationen werden dieser Krankheit erliegen und mit jedem Kind wird sie früher ausbrechen.“

Ray riss die Augen auf und ihm stockte der Atem. Er musste an sein Heim denken.

Mit jedem Spatenstich den er vollführt hatte, war ihm das Bild seiner spielenden Kinder durch den Kopf gegangen. Sein Haus sollte erfüllt von ihrem Gelächter sein. Er dachte daran wie enttäuscht er gewesen war, als Maos Großvater ihm sagte, dass seine Mühen wegen der Ein-Kind-Politik in China wohl umsonst wären. Nun würde er nicht einmal bei einem Umzug ins Ausland die Chance auf eine große Familie haben. Schlimmer noch! Er war eine tickende Zeitbombe die seiner Frau etwas antun könnte.

„Das kann doch nicht dein ernst sein?“

Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Das Ausmaß von Drigers Rache wurde ihm bewusst. Das war schlimmer als alles was Ray sich in seinen schrecklichsten Albträumen hätte ausmalen können, denn es warf seinen sehnlichsten Wunsch über den Haufen. Eine große Familie – etwas das er niemals besessen hatte.

„Ein Bündnisbruch muss immer bestraft werden. Eine weitere Regel der Irrlichterwelt.“

„Das hat nichts mit Recht zu tun. Das ist einfach nur blinder Hass.“

„Oh nein, Streuner.“, schüttelte Driger den Kopf und belächelte ihn nur. „Es ist doch eigentlich das gleiche Prinzip, welches euch Menschen schon seit Jahrhunderten so geläufig ist. Auf jeden Gesetzesbruch folgt eine Strafe. Je schlimmer das Vergehen, desto schwerer die Folge.“

„Hältst du dich für einen Richter?“

„Womöglich. Immerhin sorge ich für ausgleichende Gerechtigkeit.“

„Nein. Das ist Rache!“

„Das ist ausgleichende Gerechtigkeit doch immer. Strafen sind nur eine abgewandelte Form von Rache. Nur beruhigt ihr Menschen euer Gewissen, indem ihr euch vorgaukelt, dass es legal ist. Ihr nehmt dafür lieber das Wort Gesetz in den Mund, weil es doch so viel angenehmer im Ohr klingt, als die verachtungswürdige Rache.“

Ray begriff dass er gegen diese Logik nicht ankam. Sein Bit Beast sah in seinem Verhalten nichts Falsches - es war wie ein Soziopath.

„Dann räch dich an mir. Aber lass meine Familie aus dem Spiel!“

In einer unschuldigen Geste hob Driger die Hände.

„Aber Ray, es liegt mir fern deiner Mao etwas anzutun. Du allein triffst die Entscheidung. Alle Fäden laufen bei dir zusammen. Ob sie lebt oder stirbt liegt nun allein in deiner Hand.“, er richtete sich zu voller Größe auf. „Überleg dir also gut was du deiner Familie zumutest.“

Sämtliche Worte schienen damit gesprochen. Es wurde still zwischen ihnen. Das Bit Beast wandte sich von ihm ab und wollte Ray mit dieser unfairen Entscheidung zurücklassen. Bis der die Stille noch einmal durchbrach.

„Ich wünschte du wärst ein Mensch…“

Driger drehte sich zu ihm. Seine Augenbraue zuckte fragend nach oben.

„Wie bitte?“

„Ich wünschte du wärst nur einmal ein richtiger Mensch.“

„Bin ich das nicht schon?“

„Nein. Das da…“, mit einem abfälligen Nicken deutete Ray auf ihn. „Das ist nur eine tote Hülle. Ich rede von einem Menschen der ein richtiges Leben führt. Der geboren wird, der Freunde findet, eine Familie gründet und der sich seiner Sterblichkeit bewusst ist. Ein Wesen das genau weiß, dass die Uhr für ihn tickt und er deshalb ständig vorwärts schreiten muss.“

„Ein Uralter muss ewig Leben.“

„Und gerade deshalb kannst du das Leben nicht schätzen. Du weißt gar nicht wie es ist, sämtliche Abschnitte eines Lebens zu durchleben – und jemanden zu lieben. Ansonsten würdest du verstehen wie viel mir meine Freunde und meine Frau bedeuten.“

„Weißt du es?“

„Ja. Jetzt weiß ich es.“, entschied Ray. „Und deshalb bleibe ich hier. Du hast gewonnen.“

Für einen Moment blinzelte Driger irritiert. Sogar sein Mund klappte ihm etwas auf. Sicherlich weil er nicht angenommen hatte so früh sein Ziel zu erreichen. Doch das Bit Beast fing sich relativ schnell. Triumphierend blickte es auf ihn herab.

„Tatsächlich?“

„So lange ihnen nichts dabei passiert ist es mir egal.“

„Vorbildlich! Du scheinst dein Rückgrat wieder gefunden zu haben.“

Ray verbiss sich die Beleidigung die ihm auf der Zunge lag.

„Ich hoffe das hat deine verletzte Eitelkeit damit besänftigt.“

„Es ist zumindest ein Anfang.“

„Schön. So langsam dämmert mir nämlich wie ein Bit Beast denkt. Im Grunde bist du nämlich eine verdammt traurige Gestalt.“

Driger hob seine Braue, erwartete aber geduldig seine Erläuterung.

Ray holte tief Luft und erklärte: „Du lebst in deiner Unendlichkeit, ohne zu wissen wie es ist, jemanden zu haben, für den du alles geben würdest. Selbst wenn es dein eigenes Leben ist. Weil ihr Bit Beats unsterblich seid, könnt ihr nicht begreifen, dass gerade die Sterblichkeit ein Leben so kostbar macht. Du bist dagegen abgestumpft… Und ich würde keinen Tag mit dir tauschen wollen. Dieses Leben wäre mir zu einsam und es verbittert dich.“

„Wirklich rührselig.“, Driger klatschte spöttisch in die Hände. „Aber das ist der Preis den ein Uralter zahlen muss. Wir müssen die Geschicke beider Welten lenken. Da können wir nicht unsere Zeit in etwas wie Liebe, Familie und Freundschaft investieren. Ich bin auch nicht sonderlich erpicht darauf, diesen sentimentalen Launen der Natur zu verfallen. Wo kämen wir denn dahin, würden wir unsere wertvolle Zeit einem einzelnen Wesen opfern?“

„Du hättest mehr Verständnis für uns Menschen.“

„Will ich das? Ich denke nicht. Die Natur war schon immer gnadenlos. Ein ewiges Leben härtet dich ab, und Härte ist es was die Welt von jeher gebraucht hat. Diese Erkenntnis wirst du mit den Jahren hier auch machen.“

„Ich werde niemals so wie du…“

„Vielleicht wirst du sogar schlimmer? Immerhin hast du die Erinnerung an dein altes Leben mit Mao. Ich für meinen Teil kann nichts vermissen, was ich nicht kenne. Wir Bit Beasts stehen über Gefühlen. Du dagegen nicht.“, nun wandte er sich endgültig von ihm ab, fügte aber noch hinzu. „Wir werden sehen was die Ewigkeit aus dir macht.“
 

*
 

Was Maxs Zimmer anging hatte ihnen Fortuna in die Hände gespielt.

Hanas Herz machte einen freudigen Hüpfer als sie das Zimmermädchen erspähte, dass die Laken im Raum 112 wechselte. Das Hotel war westlich gehalten und das wirkte sich scheinbar auch auf die Belegschaft aus. Die altmodischen japanischen Herbergen legten viel Wert auf geschultes Personal. Ihre Reisen hatten Hana aber gelehrt, dass gerade dann die Reinigungskräfte der hiesigen Sprache nicht mächtig waren, wenn sie für eine große Hotelkette aus dem Ausland arbeiteten. Dann legte man Wert auf einen niedrigen Stundenlohn statt auf besondere Qualifikationen. Auch in Japan nahmen die ausländischen Arbeitskräfte in diesem Bereich daher immer weiter zu. In einem anderen Moment hätte sie der Niedergang der traditionellen Werte zum Wohle des Profits geärgert. Jetzt machte Hana sich diesen Umstand zu Nutze, indem sie tat was sie am besten konnte – die hochnäsige Schnepfe markieren.

Sie stolzierte mit einer Selbstverständlichkeit in Maxs Zimmer, als ob es ihr gehören würde, ließ sich mit einem theatralischen Seufzen in den Sessel fallen, zog die Pumps aus und würdigte die Putzkraft keines Blickes. Als sich das eingeschüchterte Mädchen dem Badezimmer zuwenden wollte, bat Hana sie in vier Stunden wieder zu kommen, da sie einfach todmüde von ihrer Stadtrundreise sei.

Wie vermutet verstand das Mädchen kein Wort, überspielte ihre Unsicherheit mit einem schüchternen Lächeln und Hana hielt ihr daraufhin das „Bitte nicht stören“ Schild vor die Nase. Dessen Botschaft war dagegen unmissverständlich. Die junge Frau deutete eine Verbeugung an und rollte ihren Putzwagen hinaus. Offensichtlich besaß sie keinen Zweifel daran, dass sie die tatsächlichen Bewohner des Zimmers vor sich hatte. Kenny stand puterrot neben der Tür und half der jungen Frau noch dabei, den Karren hinauszuschieben.

Hana musste darüber schmunzeln. Hier war das perfekte Beispiel für die Sorte Mann, welche das Herz am rechten Fleck hatte, denen aber jede Frau auf der Nase herumtanzte. Sobald er die Tür hinter ihr schloss, wandte sich Kenny Hana zu.

„Und jetzt? Sie sind nicht hier.“

„Dann sind sie vielleicht in Rays Zimmer. Geh mal rüber und klopf an der Tür.“

„Warum denn ich?“

„Weil ich nicht gleich wieder raus gehen kann, wenn das Zimmermädchen im Flur herumrennt. Ich habe sie erst vor zwei Minuten hinaus gescheucht, weil ich doch angeblich müde bin. Jetzt stell dir vor sie findet mich ein Stockwerk tiefer vor Rays Zimmer.“

„Ach und wenn sie mich sieht ist das besser?“

„Lass dir eine Ausrede einfallen. Vielleicht kannst du auch an der Tür lauschen ob jemand drinnen ist.“, zuckte Hana mit den Schultern und zerrte an dem Sportbeutel den Max unter dem Beistelltisch verstaut hatte. Sie nestelte an dem Reißverschluss und öffnete ihn geräuschvoll.

„Hey! Du kannst nicht einfach in Maxis Sachen herumwühlen!“, empörte Kenny sich fassungslos über so wenig Pietät. Eine seiner Shorts flog auf den Teppichboden.

„Mir macht das auch keinen Spaß. Aber ich will wissen ob er seinen Ausweis und das Bargeld mitgenommen hat.“, Hana rümpfte die Nase, als sie ein Oberteil hervorzog das extrem nach Alkohol stank. „Das hat er wohl bei eurer Sauftour angehabt.“

„Ja. Irgend so ein betrunkener Trottel hatte ihm ein Glas Tequila in der Diskothek drüber geschüttet.“

„Himmel, das stinkt ja furchtbar.“

Kenny hätte ihr gerne an den Kopf geworfen, was sie eigentlich erwartet habe, doch getraute sich nicht. Stattdessen blinzelten sich beide verdutzt an als es im Beutel summte. Hana wühlte tiefer, doch wurde nicht auf Anhieb fündig. Als sie das Handy endlich zutage förderte, war es bereits wieder verstummt. Sie schüttelte den Kopf.

„Was seid ihr für ein merkwürdiger Haufen? Du hast die letzten Stunden nicht auf dein Handy geschaut. Deine Freunde nehmen auch nicht ab. Max nimmt sein Smartphone gar nicht erst mit. Ihr wisst das ein Handy kaum einen Nutzen hat wenn man es nicht bei sich trägt, oder?“

„Natürlich wissen wir das!“, maulte Kenny eingeschnappt.

„Sei nicht so schnippisch.“

„Ich bin nicht schnippisch wenn du dich nicht wie meine Lehrerin verhältst.“, murmelte er kleinlaut. „Wir machen das nicht mit Absicht.“

„Ach. Und wo hast du nochmal dein Handy gelassen?“, ihre Braue zuckte herausfordernd nach oben. Kenny schürzte die Lippen, als ihm der Vorfall im Wagen einfiel. Er hatte sie gebeten ihn nochmal nachhause zu fahren, da er sein Smartphone in der Hitze des Gefechts in seiner Wohnung vergaß.

„Zuhause auf der Kommode.“

„Na, da liegt es gut. Euch gehört wirklich mal der Kopf gewaschen. Falls deine Freunde auftauchen kläre ich euch mal über den tieferen Sinn eines Handys auf.“

Kenny zog den Kopf zwischen die Schultern und versenkte die Hände schmollend in den Hosentaschen. Im Grunde hatte sie natürlich Recht. Wären sie in ihrer Kindheit schon im Besitz eines Handys gewesen, hätte er sich sogar einmal eine heftige Zankerei mit Tyson erspart, der vehement darauf pochte Kais Schal mit einem GPS Sender auszustatten. Der war damals wieder mal untergetaucht, weil sie ihm ziemlich auf die Nerven gefallen waren. Er hatte Tyson versucht sachlich zu erklären, dass ihr Freund keine Katze sei, die man einfach mit einem Chip versehen konnte. Tyson erklärte ihm ebenso sachlich, dass ihm seine Meinung am Arsch vorbei ging.

„Wenn Kai sich wie ein Streuner verhält wird er auch so behandelt!“

Wahrscheinlich wäre Kenny sogar eingeknickt. Tyson konnte verflucht hartnäckig sein wenn er etwas wollte. Sie hatten sogar bereits im Internet nach dem kompakten Equipment gegoogelt, hätten sie nicht innerhalb der Gruppe über diesen Vorschlag abgestimmt. Es war ein knapper Sieg, aber immerhin stimmte der Großteil von ihnen dafür, Kai ohne Wanze weiter ziehen zu lassen. Kenny würde ohnehin jetzt in Kuba leben, hätte Tyson sich durchgesetzt und Kai den GPS Sender entdeckt. Er wusste dass der ihm niemals etwas antun würde, aber man musste sein Glück auch nicht herausfordern…

Hana tippte inzwischen auf dem Smartphone herum und stöhnte.

„Fingerabdrucksensor.“

„Gib mal her.“

„Was? Hast du Maxs Ersatzdaumen dabei?“, fragte sie belustigt.

„Sieh her und staune.“

Das war sein Fachgebiet und in diesem Bereich war er der Crack, was Hana aber nur vom Hörensagen wusste. Da sie ihn noch nie in Aktion gesehen hatte, beobachtete sie ihn skeptisch, während er an dem Gerät nestelte. Wie er ohne Hilfsmittel den Sensor umgehen wollte, war ihr ein Rätsel und insgeheim wartete sie nur darauf, dass er gleich frustriert aufgab. Stattdessen verkündete ein leises Fiepen das er ins Hauptmenü gelangt war.

„Bitte schön.“

Ihre Augen wurden groß und sie pfiff anerkennend.

„Na sieh mal einer an was für ein Supermann sich unter der dicken Haarpracht versteckt.“

Kenny grinste verlegen und freute sich wie ein Schneekönig. Eigentlich fand sie das recht putzig. Sollte er ruhig seine Sternstunde auch mal genießen. Sie begann im Gesprächsprotokoll die letzten eingegangen Anrufe zu durchforsten. Drei Kontakte stachen in ihrer Häufigkeit dabei besonders heraus:

Mum, Dad und Chef.

Sie wusste von Hiro das Kennys Spitzname so lautete.

Es mussten also jene Anrufe sein, die er tätigte, als ihn Hiro zwangsläufig aus seinem Alkoholdelirium holte und er erfuhr, dass seine Freunde vermisst wurden. Maxs Mutter war gestern Morgen recht oft abgewiesen worden. Sein Vater hatte seit gestern Abend mehrmals versucht ihn zu erreichen, war aber als unbeantworteter Anrufer dutzende Male aufgelistet. Es versetzte Hana einen Stich, denn sie begriff, dass die Gruppe nicht im Hotel sein konnte. Andernfalls wäre Max sicherlich einmal in sein Zimmer gekommen und hätte die Anrufe seines Vaters gesehen. Ihr Daumen schwebte über dem Kontakt namens Dad. Sie kaute unentschlossen auf der Unterlippe. War es nicht zumindest einen Versuch wert?

„Kennst du Maxs Vater gut?“, wollte sie wissen.

„Ja, warum fragst du?“

„Er hat ziemlich oft versucht ihn zu erreichen. Allein heute Morgen acht Mal.“

„Verdammt… Er macht sich bestimmt Sorgen. Maxs hat ein sehr enges Verhältnis zu seinen Eltern. Und das obwohl er Judy durch ihren Job nicht oft gesehen hat.“

„Judy?“

„Seine Mutter.“

Hana nickte nachdenklich und fiel eine Entscheidung. Sie tippte auf den letzten unbeantworteten Anruf und anschließend auf Wählen. Die Umleitung in die USA wurde aufgebaut. Schnell reichte sie Kenny das Handy.

„Sprich du mit seinem Vater.“

„I-Ich?“

„Ja. Mich kennt er nicht. Erklär ihm was los ist. Wenn Max einen engen Kontakt zu seinen Eltern hat, hat er vielleicht von einem anderen Telefon mit ihnen gesprochen. Womöglich wissen sie wo er steckt.“

Hana drückte auf den Lautsprecher als der Freiton erklang.

„Nun nimm schon! Denk doch mal nach wie seltsam es wäre, wenn eine komplett fremde Frau ihn von diesem Handy zurückruft. Er sollte wenigstens eine vertraute Stimme hören.“

„Mm… Na gut.“

„Versuch aber nicht mit der Tür ins Haus zu fallen. Du musst ihm schonend beibringen was hier vorgeht und weshalb wir Max so dringend suchen.“

Kenny kam nicht zum Antworten. Auf der anderen Leitung nahm eine hektische Stimme ab, die er trotz der vergangenen Jahre, noch allzu gut erkannte. Obwohl in Englisch, verstand Kenny jeden Vorwurf, der von der anderen Seite kam. Maxs Vater schimpfte darüber, wie lange sein Sohn sich nicht gemeldet habe und das er krank vor Sorge gewesen sei.

Ein Redeschwall brach über ihm ein, den er nur schwer eindämmen konnte.

Er vernahm dass Maxs Vater gedacht hatte, dass sich sein Sohn etwas angetan hätte. Das machte ihn stutzig. Zu seinem Schrecken hörte Kenny auch heraus, dass der Mann auf der anderen Leitung den Tränen nahe war. Ihm kam das freundliche Gesicht von Mr. Tate in den Sinn, dass stets so zuversichtlich in die Welt schaute. Sowohl Hana als auch er begriffen, dass das keine einfache elterliche Fürsorge mehr war. Es musste eine Vorgeschichte zu diesem Verhalten geben…

„Mr. Tate, einen Moment bitte! Ich bin nicht Max. Hier spricht Kenny.“

Sein Gesprächspartner geriet ins Stocken.

„Kenny?“, hakte die Stimme auf der anderen Leitung nun auf Japanisch nach. Sie hörten ihn auf Englisch murmeln. Es klang abgekämpft. „Ich werde noch wahnsinnig… Wo ist Max? Warum hast du sein Handy?“

„Er hat es im Hotel liegen gelassen.“

„Seit gestern Abend? Wollt ihr mich veralbern?!“

Kenny hatte Mr. Tate als ebenso heitere Frohnatur wie seinen Sohn erlebt, doch jetzt klang er, als ob er keine Nerven mehr für irgendwelche Späße hätte. Geradezu energisch sagte er:

„Gib ihn mir! Ich muss sofort wissen wie es ihm geht.“

„Ich kann nicht.“, sprach Kenny gequält und als sich die Stimme auf der anderen Seite zu einem Machtwort erhob, fiel er ihm dazwischen. „Es ist nicht so dass ich nicht möchte, aber ich weiß leider selbst nicht wo Max steckt.“

Es wurde totenstill auf der anderen Seite.

„Mr. Tate, eine Bekannte und ich suchen seit einigen Stunden ebenfalls nach ihm. Er ist aber nicht der Einzige der verschwunden ist. Sowohl Tyson, Ray als auch Kai sind wie vom Erdboden verschluckt.“

„Seit wann?“

„Seit wir Freitagabend zusammen weg waren. Wir haben getrunken. Tyson hat mich zuerst abgesetzt und danach die anderen zum Hotel gefahren. Ich war am Tag danach ziemlich verkatert und hatte das Telefon abgeschaltet. Seit dem habe ich nichts mehr von den anderen gehört.“

„Moment, ich muss mich setzen.“, Kenny hörte wie Mr. Tate schwer atmend einen Stuhl zurückschob. Er konnte sich schon ausmalen dass sämtliche Motoren im Kopf von Maxs Vater auf Hochtouren liefen. Wahrscheinlich malte er sich in seiner elterlichen Sorge die schlimmsten Szenarien aus. „Das heißt du weißt auch nicht wo mein Sohn sich herumtreibt?“

„Leider nein. Es ist auch… einiges vorgefallen.“

Als Mr. Tate wissen wollte, was er meinte, erzählte Kenny ihm in ruhigem Ton von den Verdacht gegen Tyson, dem Brand im Hiwatari Anwesen und das Mr. Kinomiya als auch Kais Schwester ebenfalls verschwunden waren. Es schien mehr zu sein als der Mann zurzeit verkraften konnte, denn er hörte nur ungläubig zu. Als Kenny geendet hatte, ließ er ihm Zeit für eine Zwischenfrage. Doch es kam nichts…

„Ehrlich gesagt hatte ich gehofft dass sie uns weiterhelfen können. Wir wollen den Verdacht gegen Tyson wiederlegen. Das können wir aber nicht, wenn wir ihn und die anderen nicht finden. Oder zumindest seinen Großvater.“

„Etwas ist hier gehörig faul...“

Sowohl Hana als auch Kenny schauten irritiert ob dieser Aussage.

„Wie meinen sie das?“

„Weil das zu viele Unfälle auf einmal sind.“

„Das denkt die Polizei auch aber da kann Tyson nichts dafür!“

„Ich weiß, ich weiß... Darauf wollte ich auch nicht hinaus. Es ist nur…“

Kenny wurde aus dem Gestammel nicht schlau, da schnappte ihm Hana das Handy weg.

„Mr. Tate, ich bin Hana Amori. Die Bekannte von Kenny.“, stellte sie sich kurz vor. „Zum einen möchte ich ihnen sagen, dass wir wirklich alles tun, um ihren Sohn zu finden. Wir glauben dass keiner von ihnen zu diesen Anschuldigungen imstande ist. Allerdings habe ich jetzt auch eine Frage an sie. Als sie abgenommen haben, haben sie gesagt, dass sie schon befürchtet haben, dass Max sich etwas angetan hat. Warum haben sie das gedacht?“

Sie hörten schwere Atemzüge. Es klang als müsste sich der Mann auf der anderen Seite der Leitung sammeln. Beide Anwesenden warteten auf die unausgesprochene Botschaft, die so unheilvoll in der Luft schwebte.

„Gestern Nachmittag habe ich Max das letzte Mal gesprochen.“, begann er traurig. „Ich musste ihm sagen dass seine Mutter ertrunken ist.“
 


 

*
 

Man musste Ray lassen dass er verdammt schnell sprinten konnte.

Es war Tyson unmöglich gewesen ihm nachzujagen. Allein die Zeit welche er benötigte um den Hang hinab zu schlittern, reichte dem Chinesen um wie ein Hase auf dem Feld Haken zu schlagen. Dann war da noch die Dunkelheit, welche ihm die Sicht erschwerte. Allegro dirigierte ihn zwar, doch das Dickicht war so unwegsam, das die Strommaus gar nicht mehr aus den Schilderungen heraus kam. Es hatte nur zur Folge, dass Tyson mit der Stirn voraus gegen einen Ast prallte.

„Das ist doch zwecklos! Ich suche ihn allein.“, entschied das Bit Beast.

„Nein. Ich komme mit.“

„Du siehst doch kaum die Hand vor den Augen.“

„Allegro, wir brauchen dich! Außerdem weiß Dragoon jetzt das du uns hilfst. Ich will nicht dass dir etwas zustößt. Was ist wenn er dich aufgreift wie die arme Dizzy?“

Das Bit Beast tätschelte ihm gerührt die Wange.

„Nun mach dir keine Sorgen, mein Junge. Den guten Allegro erschüttert nichts so leicht.“

„Das weiß ich doch, aber bleib trotzdem hier. Lass uns zusammen suchen. Wir holen Max und Kai. Es würde uns gerade noch fehlen wenn alle sich zerstreuen.“

Tyson vernahm ein resigniertes Seufzen von seiner Schulter.

„Na fein, aber lass uns schnell machen.“

„Gut.“, er drehte sich um und tastete sich durch das Zwielicht. Der Mond kam kaum durch das Blätterdach. „Hoffentlich passiert Ray nichts…“

„Es verwundert mich wie bekümmert ihr um ihn seid.“

„Ich sagte dir doch bereits dass das nicht seine Art ist. Etwas stimmt nicht mit ihm.“

Allegro legte den Mäusekopf nachdenklich auf die Seite.

„Mmm… Das denke ich allerdings auch. Sein Geruch hatte sich die letzten Stunden stark verändert. Eine so rasche Verwandlung habe ich noch nie erlebt. Mir war als würden sämtliche seiner vorbildlichen Eigenschaften stückchenweise von ihm abbröckeln. Pass auf den Ast auf.“

Tyson knallte mit dem Kopf dagegen.

Er zischte ein leises „Verdammt“ und rieb sich über die Stelle.

„Das mag ja alles sein aber warum hast du uns nicht früher Bescheid gesagt?“, er bückte sich unter dem Ast hindurch.

„Ihr meintet ihr kennt euch. Da nahm ich an das ihr auch eure schlechten Seiten kennt.“

„Tun wir auch, aber das ist nicht Teil seiner schlechten Seiten! Ray ist nicht gewalttätig. Ich habe ihn einmal während einem Streit am Kragen gepackt und er hat mich nur ernst angesehen. Da bin ich viel schneller mit den Fäusten unterwegs.“

„Sonderbar. Wirklich sonderbar. Unter dir ragt eine Wurzel hoch.“

„Wo denn?“, zwei Sekunden später fuchtelte er wie wild mit den Händen. Gerade noch rechtzeitig hielt er sich an einem Baumstamm fest.

„Vielleicht konzentrieren wir uns lieber auf den Weg.“, schmunzelte Allegro.

„Da hast du wohl Recht.“

Es war Tyson schleierhaft wie schnell Ray vorangekommen war. Entweder war er ein noch größerer Überlebenskünstler, als sie vermutet hatten oder er selbst stellte sich einfach nur wie der letzte Trottel an. Stillschweigend tastete er sich vor, während Allegro ihn lotste.

Es vergingen einige Minuten bis er das Licht des Lagerfeuers ausmachte. Er kraxelte so gut es ging den kleinen Hang wieder hinauf, doch es nahm ob seiner Verletzung seine Zeit in Anspruch. Kurz bevor er ankam vernahm er Maxs Stimme die drängend rief:

„Was noch? Erzähl weiter! Kai das ist wichtig!“

Allegro und er tauschten vielsagende Blicke. Dann rief Tyson hinauf:

„Hey Max! Etwas Hilfestellung hier unten wäre nett!“

„Warte. Das erzählst du jetzt auch Tyson und lass bloß nichts aus.“, wies sein Freund Kai zurecht. Er fragte sich was es ausgerechnet jetzt so Dringendes zu besprechen gab. Kurz darauf sah er einen blonden Haarschopf oberhalb hervorlugen.

„Wo ist Ray?“

„Nicht zu finden. Wie die Nadel im Heuhaufen.“

„Okay. Wir kommen runter.“

„Eigentlich wollte ich zu euch hoch kommen.“

„Nein, lass das mal. Ich erklär dir gleich alles. Wir löschen nur schnell das Feuer und kommen dann.“

Also wartete Tyson einige Minuten. Er vernahm die hektischen Bewegungen von oben und die Lichtquelle erlosch immer weiter. Ihm fiel ein dass sie ohne Feuer kaum vorankommen würden, doch daran hatte Max wohl selbst gedacht. Noch bevor er ihn darauf hinweisen musste, rutschten die anderen beiden Jungen den Hang hinab, bepackt mit einer provisorischen Fackel. Sie hatten die Wartezeit wohl genutzt, um Kais Schal in kleine Bahnen zu zerreißen und einige der Zweige mit dem Stoff zu umwickeln. Hier in der Irrlichterwelt schien der Schal für alles gut gewesen zu sein, nur nicht um seine eigentliche Funktion zu erfüllen. Selbst an einen Vorrat hatten sie gedacht.

Tyson strahlte als ihm Max eine überreichte.

„Klasse! Du ahnst gar nicht wie finster es da draußen ist.“

„Ich will auch eine!“, Kai zupfte fordernd an Maxs Hosenbein.

„Ne, Kleiner! Du hältst schön den Vorrat.“

„Warum?“

„Messer, Gabel, Schere, Licht, sind für kleine Kinder nichts.“, belehrte ihn Max.

Kai zog einen Schmollmund und schaute zu Tyson hinauf. Scheinbar als stumme Aufforderung ihm Beistand zu leisten. Der zuckte mit den Schultern und meinte:

„Sorry, Krümel. Aber wo er recht hat, hat er recht.“

Der Kleine blähte die Backen vor Groll auf.

„Du hast gesagt der silbergrauer Kater war auch mal groß!“, klagte er ihn an.

„Ja, aber jetzt ist er es nicht mehr! Und er ist jetzt zu klein um mit einer Fackel herumzuhantieren. Also verlass dich auf die anderen aus dem Katzenrudel.“

„Silbergrauer Kater, Katzenrudel…“, blinzelte Max irritiert. „Wovon redet ihr beiden? Habt ihr eine Geheimsprache entwickelt?“

„Erzähle ich dir ein anderes Mal Max… Ach Kai, komm schon! Sieh mich doch nicht so vorwurfsvoll an. Wir müssen uns jetzt wirklich auf andere Dinge konzentrieren. Also sei brav und lass uns mal machen.“, Tyson hielt das Stoffende seiner Fackel an Maxs Feuer und entzündete sie.

„Wie weit seid ihr gekommen?“, wollte der wissen.

„Lässt sich schwer sagen bei der Dunkelheit. Aber bestimmt nicht allzu weit. Ich bin mehr gestolpert als gelaufen. Entweder ist Ray noch geschickter als er durchblicken lässt, oder er versteckt sich irgendwo.“, er deutete in die Richtung aus der sie kurz zuvor gekommen waren. „Allegro meinte dort führt seine Fährte lang.“

„Okay. Lasst uns los laufen.“, es kam Bewegung in die Gruppe und Max fuhr fort. „Da ist noch etwas was du wissen solltest.“

„So?“

„Ja. Kai hat mir vorhin erzählt, dass etwas Merkwürdiges passiert ist, als Ray ihn begleitet hat. Du weißt schon...“, er schielte beiläufig zu dem Kind und flüsterte. „Als er nicht den Hosenknopf aufbekam, aber auf die Toilette musste.“

„Tatsächlich?“, fragte Allegro. „Jetzt wo du es sagst, zu der Zeit habe ich gerochen, dass eine Veränderung in dem Jungen vorgeht.“

„Veränderung?“

„Ach! So eine Witterungssache schon wieder.“, warf Tyson unwirsch ab. So langsam fand er sich damit ab, dass die Strommaus mehr roch, als er jemals in der Lage sein würde. „Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen, was noch?“

„Kai, wie war das nochmal?“, fragte Max das Kind. „Du warst hinter einem Baum und Ray hat auf der anderen Seite gewartet. Und als du fertig warst und ihn gerufen hast, war er plötzlich nicht mehr da.“

„Ja. Er war weg.“, stimmte der Kleine ihm zu. „Da waren nur noch unheimliche Kratzspuren auf dem Baum.“

„Und dann?“

„Dann habe ich Ray gesucht.“

Tyson hielt urplötzlich inne und schaute das Kind streng an.

„Du rennst alleine durch den Wald, obwohl es hier vor gefährlichen Bit Beasts wimmelt?! Warum bist du nicht sofort zu uns gekommen und hast uns Bescheid gesagt?“

Kai schaute zur Seite und nuschelte schließlich kleinlaut:

„Ich wollte nicht dass ihr euch wieder Sorgen macht.“

Er musste seufzen. Irgendwie konnte er diesem Jungen einfach nie böse sein.

„Na gut. Aber das nächste Mal sagst du Bescheid.“

Kai nickte eifrig.

„Was ist danach passiert?“

„Ray ist wieder da gewesen. Und er hatte auch Kratzer im Gesicht. Ich habe ihn darauf angesprochen, aber…“, etwas unschlüssig hielt er inne.

„Aber?“, drängte Tyson.

„Es war ganz komisch. Die Wunden sind plötzlich von alleine zu gegangen. Und als ich ihn gefragt habe, wo er war, hat er mich nur ausgelacht und gesagt, ich hätte mich bestimmt nur verlaufen. Er meinte er hätte sich nicht von der Stelle gerührt… und das ich ein Lügner bin.“

Max packte Tyson plötzlich am Arm.

„Was ist wenn das gar nicht Ray ist?“

„Du meinst eine Kopie?“

„Ja! Denk doch nur an die Gesichtslosen! Die haben sich auch verhalten, als wäre ihnen gar nicht klar, dass sie nur eine Kopie sind. Was ist wenn der echte Ray noch in diesem Baum steckt und gegen die Kopie ausgetauscht wurde.“

Tyson starrte ihn aus großen Augen an. Daran hatte er nicht gedacht…

„Allegro? Du bist doch die Superspürnase.“, wandte er sich an den Mäuserich. „Wie riechen Gesichtslose? Würdest du den Unterschied erkennen?“

„Oh weh, oh weh, da hast du meinen wunden Punkt getroffen.“, er verschränkte die Ärmchen vor der Brust und legte angestrengt grübelnd den Kopf zur Seite. „Das ist so eine Sache mit diesen Phantomen. Sie entspringen nämlich eurer Erinnerung. Der Duft eines Menschen gehört da ebenso dazu wie sein Charakter. Das sind alles Eindrücke aus eurem Unterbewusstsein und die Eigenschaften nehmen sie auch an.“

„Verdammt…“

Sie mussten eine Entscheidung treffen. Zurück zu dem Baum, den sie bei ihrem Glück wohl im Dunkeln nicht so schnell fanden oder diesen Ray suchen und hoffen, dass es der Richtige war. Tyson biss sich angestrengt auf die Unterlippe.

„Wir suchen ihn.“, warf er schließlich in die Runde.

„Aber wenn es der Falsche ist…“

„Müssen wir es aus ihm herauskitzeln. Und zwar schnell! Es ist der einzige Strohhalm den wir noch haben, also kommt in die Gänge. Die einzige Möglichkeit die Wahrheit herauszufinden ist diesen Ray zu finden!“

Nun wurden ihre Schritte schneller. Allegro sprang voller Tatendrang von Tysons Schulter und wurde zu seiner kleinen funkelnden Blitzgestalt.

Es erhellte ihnen den Weg in der Finsternis.
 

ENDE KAPITEL 28
 

Ray wusste gar nicht wie es von nun an weitergehen sollte. Seiner Meinung nach rentierte es sich kaum noch, sich aufzuraffen und nach seinen Freunden zu suchen. Ohnehin könnte er ihnen nicht mehr nachhause folgen. Zudem war er eine tickende Zeitbombe, sobald er sich dem Ausgang der Irrlichterwelt näherte.

Also verfuhr er doch besser, wenn er gar nicht mehr zu ihnen ging?

Vielleicht gaben sie auf und entschieden sich, ohne ihn nachhause zu gehen. Es schmerzte zwar, aber war doch eigentlich die beste Lösung für alle. Um ihn herum rauschten die Blätter sachte im Wind. Die Nacht war ruhig und kühl. Leider ließ das Blätterdach kaum einen Blick auf den Nachthimmel zu. Nur der Mond schaffte es manchmal mit seinen silbrigen Strahlen das Dickicht zu durchbrechen. Ab und an erhaschte er die Gestalt eines Bit Beasts – nur die Kleinen. Er meinte den Schädel eines Marderhundes aus einem Busch hervorlugen zu sehen. Das Wesen spähte neugierig zu ihm herüber, irritiert über den seltsamen Anblick den es hier vorfand. Der Vorfall mit den Hyänen Bit Beasts hätte Ray eigentlich in Erinnerung rufen müssen, dass selbst die kleinsten dieser Wesen gefährlich waren. Es scherte ihn aber nicht mehr. Genauso gut hätte er sich jetzt auch zum Sterben hinlegen können.

Irgendwann vernahm er Stimmen die seinen Namen riefen.

Es war der Weckruf der ihn aufforderte sich endlich zu erheben. Zum Wohl aller musste er verschwinden. Er hoffe inständig seine Freunde waren so schlau, die Suche bald abzubrechen, um ohne ihn den Heimweg anzutreten.

Geradezu betäubt raffte er sich auf.

Die Schläfen pochten hart gegen seine Seiten.

Er spürte wie ihm das Blut in den Kopf schoss.

Wenn seine Krankheit wirklich schlimmer wurde, sobald er sich dem Ausgang näherte, hatten sie ihr Ziel bald erreicht. Ray taumelte in die entgegengesetzte Richtung und wünschte seinen Freunden von ganzem Herzen, sie mögen noch ein schönes Leben haben. Er hatte sich innerlich von dem Gedanken verabschiedet sie wiederzusehen.

Seine Füße taten einen wankenden Schritt vor den anderen.

Die Rufe entfernten sich. Das war gut…

„Du läufst in die falsche Richtung, Menschenkind.“

Ray blinzelte aus fiebrigen Augen den Spalt hinauf.

Im Mondlicht saß eine silbrig glimmende Gestalt. Es kostete ihn viel Anstrengung zu erkennen, dass das Wesen die Figur einer anmutigen Katze besaß. Einen weiteren Blick brauchte es, um die bläulichen Muster auf dem schimmernden Fell auszumachen.

Ein mattes Lächeln huschte um seine Mundwinkel.

„Galux.“

„Du erkennst mich?“

„Wie könnte ich nicht?“

„Das ehrt mich, Menschenkind.“

Sie besaß eine wundervolle Stimme. Klar und melodisch wie ein Frühlingstag.

Doch selbst wenn sie sprach, bewegten sich ihre Lippen nicht.

„Mir ist zu Ohren gekommen, dass ich es dir zu verdanken habe, dass meiner Frau bisher nichts passiert ist.“

Das Bit Beast wirkte überrascht. Es neigte den Kopf zur Seite.

„Woher?“

„Von Driger.“

„Ihr habt also bereits miteinander gesprochen...“

Ray nickte. Er hätte sie bitten können ihn nachhause zu führen, doch aufgrund seiner Krankheit war das wohl keine Option mehr. Er könnte sich dem Ausgang ohnehin nicht mehr nähern, ohne dass ihm der Schädel vor Schmerzen bersten wollte.

„Warum bist du hier?“

„Ich habe ein Versprechen zu erfüllen. Eine Person die uns beiden sehr am Herzen liegt, wollte dass ich dich zurück nachhause führe.“

Sein Atem stockte als er begriff.

„Du hast Mariah getroffen?“

„Ja.“

„Dann weiß sie was passiert ist…“

„Sie ist im Bilde und leidet schlimme Ängste um dich. Es tut mir im Herzen weh, aber ich muss zu meinem Leidwesen gestehen, dass du mich in einen schweren Gewissenskonflikt bringst.“

Galux schaute ihn mitleidig an.

„Du musst wissen, dass mir Driger ein ebenso teurer Freund ist, wie meine Mao.“, sie wandte ihr Gesicht zur Seite und fügte leise hinzu. „Vielleicht sogar mehr.“

Ray fuhr sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn. Eine unterschwellige Botschaft lag in diesem Satz, doch sein Geist war viel zu umnebelt ob des brütenden Parasiten in seinem Kopf. Er fühlte sich hundeelend.

„Driger und du… Wie nah steht ihr euch?“

„Ich weiß nicht genau. Ein Sterblicher würde wohl behaupten sehr nahe. Er ist mein Meister, aber auch mein Beschützer. Erst vor kurzem hat er seine Hand schützend über mich gehalten, deshalb verzeih mir… aber ich kann dir nicht helfen.“

„Das dachte ich mir fast.“, Ray stützte sich an der Wand der Mulde ab. Die kalte Erde unter seinen Fingern bröckelte leicht. „Dann wirst du erleichtert sein, wenn ich dir sage, dass ich sowieso nicht mehr zurück kann. Für mich ist das Spiel gelaufen.“

„Du meinst wegen dem Geschwür in deinem Kopf?“

Überrascht schaute er auf.

„Woher?“

„Die wenigsten wissen, dass ich das Bit Beast der Heilkunde bin. Alle Blumen und Pflanzen die den Lebewesen zur Genesung dienen fallen in mein Gebiet. Deshalb sehe ich auch eine Krankheit noch bevor sie ausbricht.“

„Und du kannst mich trotzdem nicht heilen?“

„Nein.“ Der vage Hoffnungsschimmer wurde erbarmungslos erstickt. „Alles basiert auf den Mächten der Uralten. Auch meine Kraft. Wenn Driger nicht bereit ist, dich von deinem Fluch zu erlösen, kann ich nichts unternehmen. Seine Macht ist wie der festgewachsene Stamm eines Baumes, während ich nur eines seiner vielen Blätter bin, das sich an seiner Energie labt. Versagt er mir diese Energie, kann ich meine Kraft nicht frei entfalten…“

„Er hat kein Hintertürchen offen gehalten.“

„Er denkt vorrausschauend. In der Tat.“

Die Stimmen seiner Freunde waren in der Finsternis verklungen.

„Dann verstehe ich aber umso weniger, weshalb du jetzt vor mir stehst. Du kannst nichts für mich tun.“

„Nein. Das ist richtig. Doch pflegen wir Bit Beasts unsere Versprechen sehr ernst zu nehmen. Ein Bündnis kann nicht so einfach gebrochen werden.“

„Worauf willst du hinaus?“

Galux beugte ihr Haupt. Es kam Ray vor als wolle sie eine Bitte vortragen.

„Es gibt nur zwei Menschen, die mich hier und jetzt, von diesem Bündnis freisprechen können. Mao und du. Euch beide betrifft nämlich der Schwur den ich ihr gab. Daher ersuche ich dich, mich von dem Versprechen das ich ihr gab, zu befreien.“

„Und wenn ich es nicht tue?“

„Dann ist mein Leben nichts mehr wert. Ich kann dann weder Driger noch Mao gerecht werden, da ich ohnehin nichts an deiner Situation ändern kann, aber ihn trotzdem verraten müsste.“

Eine andere Idee entstand in Rays Kopf. Galux mochte Recht haben, was seine Lage betraf, doch die Bündnistreue von Bit Beasts, könnte zumindest jemand anderem zu Gute kommen. So wäre er zumindest fähig seinen Freunden gegenüber Genugtuung zu leisten.

„Ich entlasse dich nur unter einer Bedingung aus deinem Schwur.“

Hoffnungsvoll schaute sie auf.

„Du musst meine Freunde heil aus der Irrlichterwelt führen.“

Galux zuckte augenblicklich zurück.

„Das ist grausam.“

„Ganz und gar nicht. Damit dürftest du Driger nicht in die Quere kommen. Du hast selbst gesagt das er dein Meister ist. Was die anderen Uralten mit meinen Freunden am Hut haben, dürfte dir also egal sein!“

„Ja aber du zwingst mich einen unmöglichen Schwur, gegen einen anderen unmöglichen Schwur zu tauschen. Wie soll ich es schaffen deine Freunde unter den Augen der Uralten hinauszuführen?“

„Tut mir Leid, aber darauf kann ich beim besten Willen keine Rücksicht nehmen.“, antwortete Ray eisern. „Ich verstehe deine missliche Lage und das du, was mich betrifft, zwischen den Stühlen stehst, aber was die anderen angeht, dürfte der Gewissenskonflikt nicht da sein. Du bist Driger Rechenschaft schuldig, nicht aber den anderen Uralten. Also sehe ich keinen Grund, weshalb du nicht wenigstens ihnen helfen könntest! Dafür werde ich keine weiteren Forderungen stellen was mich angeht. Du wirst Mao sagen können, dass ich freiwillig hier geblieben bin.“

„Wie tückisch.“

Sie wandte den Kopf zur Seite und verstummte. Scheinbar schien Galux seinen Vorschlag zumindest zu überdenken und die bessere Variante für sich abzuwägen.

„Aber gut... Diese Bitte werde ich dir nicht abschlagen. Ich werde mein Möglichstes tun um deine Freunde in die Freiheit zu führen.“

„Ich will nicht dein Möglichstes. Schwör mir, auf alles was einem Bit Beast heilig ist, dass du sie nachhause bringst!“

„Du lässt keinerlei Spielraum zu. Deine Vorsicht erinnert mich an Driger.“

Ray knirschte angesäuert mit den Zähnen. In seiner jetzigen Lage hätte sie sich denken können, dass das für ihn kein Kompliment war. Dennoch fuhr er fort.

„Richte ihnen noch von mir aus, dass es mir Leid tut was ich Max angetan habe. Ich wollte ihm niemals absichtlich wehtun und ich hoffe dass sie mir verzeihen. Sie müssen aber unbedingt ohne mich nachhause gehen! Erklär ihnen weshalb und das es für mich keinen anderen Ausweg mehr gibt… und das ich nicht möchte das sie sich meinetwegen Vorwürfe machen.“

Zum Ende hin wurde ihm immer schwerer ums Herz.

Sie schaute ihn lange an und nickte letztendlich.

„Noch etwas?“

Er dachte nach. Ihm fiel tatsächlich noch etwas ein.

Einen Moment befürchtete er, seine Freunde würden dieser Bitte nicht nachkommen, doch der Zweifel wurde schnell erstickt. Sie würden ihm diesen Wunsch keinesfalls abschlagen. Egal was zwischen ihnen vorgefallen war, dazu kannte er sie einfach zu gut. Sie waren untereinander nie nachtragend gewesen. Das machte ihre Freundschaft einfach aus.

„Ja. Sag ihnen sie sollen sich bitte um meine Frau kümmern.“ Ray blickte traurig zu Boden. „Und richte ihr aus das ich sie liebe. Ich wünsche jedem von ihnen viel Glück.“

„Du beweist viel Edelmut, Menschenkind.“

Er lachte trocken auf.

„Hast du eine Ahnung. Ich würde am liebsten meine Verzweiflung hinausbrüllen, weil ich eine Heidenangst vor dem Leben hier habe…“

„Angst ist kein Zeichen von Schwäche. Du akzeptierst deine Strafe und das beweist wahre Größe. Sollte ich irgendwann dein Kind bei Mao antreffen, werde ich sie wissen lassen, wie tapfer ihr Vater war.“

„Ihr?“, Rays Kehle wurde kratzig. Ihm klappte die Kinnlade hinunter und er starrte das Bit Beast wie vom Donner gerührt an. Seine Stimme war rau als er die nächste Frage stellte. „Es wird ein Mädchen?“

Galux schien wissend zu lächeln.

„Sie wird deine Augen haben.“

„Woher weißt du…“, die Frage war unnötig. Ihm wurde klar dass er ein Bit Beast vor sich hatte. Einen kurzen Moment fragte sich Ray, ob Galux ihm beantworten konnte, ob er tatsächlich der Vater war. Doch sie hatte bereits gesagt, dass seine Tochter, seine Augen hätte. Als habe das Bit Beast seine Gedanken gelesen, sprach es: „Und ja. Sie ist deine Tochter. Deine Mao hat dich nie betrogen. Es war die Angst China zu verlassen, die sie in diesem Moment zu diesen harten Worten verleitet hat. Du hast schon immer einen festen Platz in ihrem Herzen gehabt.“

Aus irgendeinem Grund musste er an Kai denken – an jenen Tag als er seine Schwester zum ersten Mal in den Armen hielt. Man hatte förmlich gespürt, wie dieser Moment ihn veränderte. Das kleine, hilfsbedürftige Wesen hatte damals verschlafen zu ihm auf geblinzelt, während ihr leises Fiepen ein zögerliches Lächeln um dessen Mundwinkeln zauberte. Ray würde seine Tochter niemals so halten können…

Durch den Streit waren Mao und er noch nicht einmal dazu gekommen, sich einen Namen auszusuchen. Er würde hier leben. In der Gewissheit eine Tochter zu haben, für die er nicht da sein konnte - deren Namen er nicht einmal kannte.

Die Zeit würde in der Menschenwelt vergehen.

Sie würde älter werden, während Ray hier nicht alterte.

Und irgendwann… Irgendwann würde es auch sie nicht mehr geben.

Der aufkommende Tränenfilm trübte Ray die Sicht. Er blinzelte ihn weg, denn er weigerte sich, an der Situation zu verzweifeln. Sein Ehrgefühl ließ nicht zu, dass er seine Fassung verlor. Er würde standhaft bleiben. In seiner Vorstellung sah er ein kleines Mädchen im Garten vor seinem Haus spielen. Hoffentlich blieb Mao doch in China. In diesem Haus, was er Stein für Stein, mit seinen eigenen Händen, in mühsamer Arbeit zusammengesetzt hatte. Dort wären beide gut aufgehoben. Die Gewissheit dass Mariah noch Lee als helfende Hand besaß und auch seine Freunde ihr, trotz der Entfernung, immer beistehen könnten, tröstete ihn. Seine Stimme war belegt ob dem Kloß im Hals.

„Danke Galux.“

Erneut nickte das Bit Beast andächtig. Sie wandte sich zum Gehen ab, doch hielt noch einen Moment inne. Dann warf sie ihm über die Schulter hinweg einen mitleidigen Blick zu.

„Falls es dir ein Trost sein sollte, ich beginne zu verstehen wie ihr Menschen empfindet.“

„Ja?“, fragte Ray monoton. „Ich wünschte diese Erkenntnis käme auch über Driger.“

Damit ließ er Galux stehen und schritt mit taumelnden Schritten fort…
 


 

*
 

Rika schnaufte als sie den Getränkekasten die Kellertreppe hochschleppte. Die Sakeflaschen klirrten bei jeder Stufe. Sie war leicht angesäuert, denn das schien ihr keine geeignete Aufgabe für eine junge Frau. Doch Klagen würde sie nicht.

In dieser Großstadt fand sich selten noch ein Nebenverdienst der so gut bezahlt war.

Aufgrund ihrer Schwangerschaft hatte sie die Schule abgebrochen. Deshalb hangelte sie sich von einem Job zum nächsten. Es war nicht einfach, doch sie konnte von Glück reden, dass ihre Eltern ihr beistanden. Sie waren geschockt gewesen, als sie ihnen berichtete, dass ein Kind auf dem Weg war, dessen Vater kaum genug Yen besaß, um sein klappriges Auto zu finanzieren, doch sie hatten Rika dennoch nicht verstoßen. Ihre Familie war modern und scherte sich nicht darum, ihr Kind zu verleugnen, nur um das Gesicht in der Öffentlichkeit zu wahren. Und als sie ihren Enkel endlich in den Armen hielten, war es um sie ohnehin geschehen.

Das war keine Selbstverständlichkeit.

Für viele Japaner galt nach wie vor, das die Ehre der Familie an oberster Priorität stand.

Verliere nicht dein Gesicht. Trage jedes Leid mit einem Lächeln.

Zumindest den letzten Grundsatz würde Rika in Ehren halten.

Sie hielt ihren Eltern ihre aufgeschlossene Ansicht immer zu Gute.

Es war ihr Ansporn alles zu geben und da ihr Freund sich ebenso ins Zeug legte, sich von einem Schichtbetrieb zum Nächsten hangelnde, stand es für Rika außer Frage, dass auch sie etwas zu den Finanzen beitragen musste. Ihre Eltern unterstützten diese Entscheidung und so wusste sie ihren süßen Sohn in fürsorglichen großelterlichen Händen. Die Aussicht ihm bald wieder in seine dicken kleinen Backen kneifen zu können, beflügelten sie in ihrer Arbeit. Es war erstaunlich wie sehr Kinder einen Menschen verändern konnten…

Als sie am oberen Treppenabsatz angelangt war, stöhnte sie entnervt.

Die Tür war wieder zugefallen. Rika stellte den Kasten ab und drückte sich mit ganzem Körpereinsatz gegen das Holz. Es war ein renovierungsbedürftiges Gebäude und die Tür klemmte ständig. Dennoch lief die Bar relativ gut und der Besitzer hatte ihr erzählt, dass er Geld zur Seite legte, um diesen Schuppen nächstes Jahr endlich zu restaurieren. Aus dem unbenutzten oberen Stockwerk sollte eine Wohnung werden und da er ihren Arbeitseifer schätze und auch im Bilde ihrer ungeschickten finanziellen Situation war, schlug er ihr vor dort oben einzuziehen – zu einem fairen Mietpreis. Rika hatte Tränen in den Augen gehabt und sich bei ihm tausendmal für seine Großzügigkeit bedankt. Seine Lachfalten waren hervorgetreten und er klopfte ihr warmherzig auf die Schulter.

„Na, na, na… Erhofft euch mal nicht zu viel. Aus fünfundsechzig Quadratmetern lässt sich leider kein Spa zaubern.“

Rika hatte bis über beide Ohren gestrahlt und ihm geantwortet, dass man ein Zuhause nicht an der Anzahl der Quadratmeter maß, sondern an der Liebe die dort einzog. Kurz nachdem sie ihrem Freund davon erzählte, hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht. Er versprach ihr, sein Bestmöglichstes zu geben, um das nötige Geld für eine schöne Hochzeit aufzutreiben, selbst wenn er auf allen Vieren durch die Gegend kriechen sollte.

„Sieh uns an, Rika! Wir schreiben rote Zahlen auf den Kontoauszügen, aber sind dafür umso reicher an Freunden! Kann so ein kleines Stück Papier das beziffern?“

Dieses schelmische Grinsen war auf seine Lippen getreten. Er zog sie in eine Umarmung und da ihr Glück sie überwältigte, konnte sie nicht an sich halten und hatte angefangen zu heulen wie ein kleines Mädchen.

So nervenaufreibend die letzten drei Jahre noch waren… Es ging endlich bergauf.

Durch die billigere Wohnung über ihrem Arbeitsplatz wäre sie nicht auf den Zug angewiesen. Auch die Firma ihres Freundes wäre nun mit dem Fahrrad erreichbar. Er wollte das Auto vorerst verkaufen, um Versicherung und Sprit zu sparen. Mit jedem Monat würden sie der Hochzeit einen Schritt näher kommen und das obwohl ihre Schwiegereltern nichts mehr von ihrem Verlobten wissen wollten – sie hatten ihn verstoßen.

Die Schande war zu groß für seine Familie.

Bei diesem Gedanken gab Rika der Tür einen solch heftigen Tritt, dass das Holz bald aus den Angeln flog. Etwas erschrocken über diesen kleinen emotionalen Ausbruch, zog sie den Kopf zwischen die Schulter und blickte ertappt drein. Doch es schien alles noch ganz.

Sie tippelte vorsichtig mit dem Kasten aus dem Türrahmen, froh dass niemand sie im Hinterhof sehen konnte, als ihr vor Schreck beinahe der Kasten aus den Fingern entglitt. Im Zwielicht machte sie den Umriss einer strauchelnden Person aus, die ihr dem Rücken zugewandt im Hof stand. Sie wippte leicht.

Sicherlich ein Betrunkener. Heute war schließlich Halloween.

Daher gaben sich so manche Leute die Kante, aber der Abend war noch jung, daher musste dieser Mann schon recht früh ins Glas geschaut haben. Die Parade würde erst gegen 19 Uhr losgehen. Über solche Leute konnte Rika nur den Kopf schütteln. Etwas Zurückhaltung wäre jetzt noch angebracht, aber Männer waren ohnehin viel unvernünftiger als Frauen, was Alkohol betraf.

„Entschuldigung, aber dieser Hof ist nur für das Personal.“, rief sie ihm zu. Er rührte sich jedoch nicht. Stattdessen kippte sein Kopf träge von einer auf die andere Seite. Ihr wurde mulmig. Sie wusste dass manche Menschen sich an Halloween einen Spaß machten, ihre Freunde zu erschrecken. Letztes Jahr kam sie in den Genuss eines ziemlich üblen Streichs. Die Frau des Besitzers lag hinter dem Fenster der Damentoilette auf der Lauer – als Ringu Geist verkleidet. Rika hatte gekreischt wie am Spieß und war kaum dazu gekommen, ihr Höschen wieder hochzuziehen, so panisch sprang sie vom Toilettensitz auf.

Die Besitzerin hatte ihre Freude daran. Was für ein Spaßvogel…

„Verzeihung, aber ich muss sie bitten diesen Bereich zu verlassen. Er ist lediglich für das Personal bestimmt.“, wies sie erneut den Gast zu Recht. Dieses Mal kam eine Reaktion.

Taumelnd wandte er sich zu ihr um.

Eine Gänsehaut fuhr über ihren gesamten Körper.

Er war leichenblass und hatte sich trübe weiße Kontaktlinsen eingesetzt. Sein Haar war ergraut. Ein hervorragendes Halloweenkostüm. Sicherlich stellte er einen Zombie dar.

„Kalt…“

„Wie bitte?“

„Kalt…“, wiederholte er.

„Ist ihnen nicht gut?“

Sie bemerkte dass er zitterte. Bestimmt war ihm zum Kotzen zu Mute und war hier hinausgekommen, um sich zu übergeben. Dieses Spiel kannte sie zur Genüge. Ihr war jedoch nicht wohl, dass sie alleine mit ihm im Hinterhof stand. Betrunkene konnten manchmal unberechenbar werden und wie immer wenn sie ihr Pfefferspray brauchte, lag es außer Reichweite in ihrer Handtasche. Rika wollte bereits in die Bar huschen und ihren Chef darauf hinweisen, dass sich hier draußen jemand herumtrieb. Mit seinen massigen Pranken konnte er jeden des Hauses verweisen, da fiel ihr Blick auf ein glimmendes Objekt in den Händen des Fremden – es schien ein Ei zu sein.

Sie starrte wie gebannt darauf, denn in seinem Inneren pulsierte etwas, was wie ein Herzschlag wirkte.

„Kalt...“

Es fiel ihr schwer die Augen von dem Objekt abzuwenden. Rika blinzelte irritiert.

„Ich hole eine Decke.“, log sie hilfsbereit und wollte den Besitzer holen. Da kam der fremde Mann ihr wankend näher und streckte ihr das Ei entgegen.

„Gib ihr Wärme...“

Es sah kostbar aus.

Es musste kostbar sein!

So ein merkwürdiges Ei hatte Rika noch nie gesehen…

„Gib ihr Wärme.“, hörte sie den Mann erneut raunen. Nur wenige Meter trennten sie noch. Augenblicklich fragte sie sich wie sich das Ei anfühlen mochte. Es schien warm zu sein und desto näher er ihr kam, desto drängender wurde der Wunsch es anzufassen. Sie konnte spüren wie ihre Haut förmlich anfing zu prickeln, dabei merkte sie schon gar nicht mehr wie ihr eigentliches Vorhaben verpuffte.

Er kam vor ihr zum Stehen, da hörte sie nur noch vage, wie einige Leute auf dem Gehweg hinter der Mauer lachend sprachen. Rika hätte die Tür zum Hinterhof abschließen sollen, doch soweit dachte sie schon gar nicht mehr. Als er ihr das Ei anbietend entgegen hielt, stellte sie langsam den Kasten ab. Die Flaschen klirrten kaum, so unendlich sacht war ihre Bewegung.

Ihr verschwamm die Sicht.

Eine Nebeldecke schirmte alles ab, selbst den Mann der ihr die Kostbarkeit entgegenstreckte. Wie bei einem Tunnelblick. Nicht einmal das Gesicht wollte sich ihr Recht offenbaren. Da waren nur zwei blasse Hände die das glühende Ei hielten. Es pulsierte immer stärker, als freute es sich, Rika zu sehen. Sie sah ihre eigenen Finger danach greifen.

Es war seltsam…

Ihre Hände handelten ganz von alleine.

Als wäre sie nicht mehr Herrin ihres eigenen Körpers.

Sie schien diesem seltsamen Schauspiel wie ein stummer Zuschauer beizuwohnen.

Das Prickeln wurde stärker, mit jedem Millimeter, dem sie sich der Schale näherte. Als ihre Fingerkuppen endlich Körperkontakt zu dem Objekt aufbauten, durchfuhr es sie wie eine Welle. Ihr Atem ging schnell, sie stöhnte auf und ihr versagten die Beine. Rika nahm das Ei, umschlag es regelrecht und sank langsam auf die Knie.

Die Tür hinter ihr schwang auf.

Sie vernahm es nicht mehr. Dafür aber der Fremde.

Er torkelte auf die neueingetroffene Gestalt zu und raunte auch der zu: „Gib ihr Wärme.“
 


 

*
 

„Das ist ärgerlich.“, sprach Allegro. Sie waren an einem kleinen Bach vorbeigekommen und schauten betroffen auf das plätschernde Wasser. „Das ruiniert mir meine Fährte.“

Max stöhnte.

„Das darf doch nicht wahr sein! Wo kann er nur abgeblieben sein?!“

„Meine Herren, es hat keinen Zweck. Ich muss darauf bestehen alleine weiterzusuchen.“

„Das steht nicht zur Debatte.“

„Aber Tyson, denk doch nach mein Junge. Ihr könnt kaum etwas sehen, die Fackeln sind bald heruntergebrannt und ich habe das andere Ufer viel schneller nach Rays Fährte auf eigener Faust durchschnüffelt, als mit euch im Schlepptau.“

Hilfesuchend schaute Tyson zu Max.

„Was denkst du?“

„Ich weiß es nicht. Ehrlich.“, er leuchtete unbeholfen mit der Fackel die Gegend ab. Allgemeine Ratslosigkeit machte die Runde. „Vielleicht wäre es besser wenn wir uns aufteilen?“

„Nein, nein, nein!“, pochte Allegro auf Tysons Schulter mit dem Hinterbein auf. „Ihr bleibt zusammen. Es ist leichter eine Gruppe zu finden als zwei Teile davon, welche allesamt ziellos durch den Dschungel herumirren.“

Er sprang auf einen Felsen und gestikulierte mit den Fäustchen.

„Nun seid doch vernünftig! Wartet hier auf mich, ich komme schon klar!“

„Aber Dragoon…“

„Ich habe keine Furcht vor dem Halunken!“, sprach er standhaft.
 

„Welch törichte Worte, von einem törichten Wesen.“
 

Die Gruppe fuhr herum. Tyson leuchtete in die Gegend aus der sie die Stimme vernommen hatten. Zunächst konnte er nichts ausmachen, bis Kai neben ihm an seinem Ärmel zerrte.

Als er hinabblickte wies das Kind hoch in den Himmel.

„Schau, da oben!“

Er folgte dem Fingerzeig und machte auf einem Ast eine silbrige Gestalt aus.

Zunächst erschrak er. Der Anblick war keinesfalls beängstigend, doch mittlerweile war das Misstrauen gegenüber Bit Beasts, in ihrer aller Seelen, so fest verankert, dass er auch einem hübschen Katzen Bit Beast jede erdenkliche Bosheit zutraute. Wolborg hatte auch mit ihrem schönen Gesicht über ihre eigentlichen Absichten hinweggetäuscht. Niemand konnte garantieren dass es jetzt nicht anders war. Er schielte beiläufig zu Allegro, doch der Mäuserich war erstarrt.

Katze und Maus…

Als Tyson dies klar wurde, stellte er sich schützend vor ihm auf. Das hätte ihnen gerade noch gefehlt, wenn ihr treuer Begleiter im Rachen seines natürlichen Fressfeinds verschwand.

„Du kommst mir bekannt vor.“, meinte Max. Er blickte das Bit Beast argwöhnisch an und auch Tyson hatte das Gefühl beschlichen. Es wurmte ihn geradezu das er nicht auf Anhieb darauf kam. Dann schnippte Max neben ihm plötzlich mit dem Finger, als die Eingebung ihn traf. „Galux! Du bist Mariahs Bit Beast!“

Es senkte in einer geradezu anmutigen Geste den Kopf.

„Das ihr Menschenkinder mich nicht vergessen habt…“, sprach das Bit Beast mit samtiger Stimme. Tyson spürte wie Allegro hektisch seinen Rücken hinauf kraxelte und sich an seiner Haarsträhne festhielt. Es fühlte sich an als würde der arme Kerl zittern. Doch er starrte nur weiterhin sprachlos auf das Katzen Bit Beast. „Dabei heißt es, ihr Menschen vergesst sehr schnell. Ich muss gestehen, ich bin erfreut, dass ihr mich vom Gegenteil überzeugt habt.“

Tyson bemerkte das sie eine sehr edle Ausdrucksweise besaß. Hätte sie eine menschliche Gestalt, wie Dranzer und Wolborg, er könnte sie sich als Geisha vorstellen.

„Kommst du im Auftrag der Uralten.“, sprach Tyson dennoch geradeheraus.

„Ihr misstraut mir?“

„Ehrlich gesagt, ja! Die letzten Tage haben wir die Schattenseite der Bit Beasts erlebt.“

„Diese Seiten besaßen wir schon immer.“, erklärte Galux ruhig. „Nur sehen Kinder in ihrer jugendlichen Unschuld nicht die Grausamkeit der Natur. Ein Hai der einen Fisch frisst, ist für sie beeindruckend. Eine Löwin die eine Gazelle reißt, ist für sie stark. Und ein Bit Beast, das für sie kämpft, ist ein treuer Weggefährte. Dabei stecken wir alle im großen Rad der Nahrungskette fest. Kinder begreifen das nur noch nicht.“

Galux sprang vom Ast herab. Sie landete federleicht auf ihren Pfoten und setzte sich auf. Ihr langer Schweif schlang sich zwei Mal um ihren Körper.

„Wir Bit Beast haben uns nicht geändert. Tatsächlich leben wir so, wie noch vor hunderten Millionen von Jahren. Es seid ihr die euch verändert haben. Ihr seid einfach keine Kinder mehr. Das ist alles…“

Tyson ließ die Fackel etwas sinken. Er schaute noch immer leicht misstrauisch, doch er musste gestehen, es legte sich.

„Das sagen wir unseren Bit Beast seit wir hier sind, aber das wollen sie einfach nicht verstehen. Könntest du diese Eingebung nicht auch mal Dragoon ins Gewissen reden?“

„Ich bedaure. Doch ich mische mich nicht in die Belange der Uralten ein.“

„Warum bist du dann hier?“

„Weil ich euch nachhause führen muss.“

Ein ungläubiges Aufatmen ging durch die Runde und Tyson spürte wie sein Herz einen freudigen Hüpfer tat. Mit jedem Tag stieg ihre Verzweiflung und so plötzlich sollte sich alles zum Guten wenden?

Endlich war da ein Bit Beast erschienen, das sie nachhause führen wollte?

Max sah ihn mit offenem Mund an, dann wandte er sich wieder Galux zu.

„Du hast doch gemeint, du mischt dich nicht in die Belange der Uralten ein?“

„Das ist richtig.“

„Und warum willst du uns dann helfen?“

Sie senkte den Blick einen Moment, als dachte sie über etwas nach, was ihr unangenehm war. Tyson kam ein böser Gedanke.

„Was ist deine Gegenleistung?“, fuhr er sie so herrisch an, dass Max sogar kurz aufschreckte. Galux blinzelte etwas irritiert.

„Gegenleistung?“

„Das letzte Bit Beast, dass uns seine Hilfe angeboten hat, wollte von Kai seine Augen und von mir mein Herz! Wolborg hat es als Wegzoll abgetan! Wenn du auf so etwas aus bist, dann…“

„Mir schwebt nichts dergleichen vor.“, beschwichtigte sie ihn. „Es ist ein Versprechen das mich hierher führt.“

Nun war Tyson gänzlich verwirrt.

Hatte jemand anderes den Wegzoll für sie bezahlt?

„Ich verstehe nicht...“

„Dann beruhigt eure Gemüter. Ich werde euch erzählen was ich weiß. Ein Tag in der Menschenwelt, mag zwar in dieser Welt zwei Tagen entsprechen, dennoch solltet ihr euch bewusst sein, dass die Uhr für euch tickt. Ihr müsst bald den Heimweg antreten, so lange die heilige Neujahrswende noch nicht vorbei ist. Momentan steht das Tor noch offen, doch sobald der einunddreißigste Oktober vorbei ist, wird die Grenze zwischen den Welten mit jeder Minute schwinden. Wenn morgen die Sonne aufgeht… Seid ihr hier verloren.“

„Das wissen wir.“, antwortete Tyson. „Aber wir müssen Ray finden. Mit ihm stimmt etwas nicht und er ist vor uns weggelaufen.“

„Ihr müsst ihn zurücklassen.“

Zunächst blieb die Gruppe still. Es hatte ihnen die Sprache verschlagen. Gerade weil Ray der Ehemann ihres Menschenkindes war, hätten sie nicht erwartetet, dass Galux ihnen so eiskalt diesen Vorschlag unterbreitete.

„Niemals!“, fauchte Tyson.

„Ray kann nicht mit euch zurück.“

„Woher willst du das wissen?!“, rief Max aus. Seine Stimme überschlug sich vor Wut.

„Weil es seine Bitte war euch nachhause zu führen. Ich bin in seinem Auftrag hier.“

„Du lügst!“

„Nein, tut sie nicht.“, warf Allegro plötzlich ein.

„Aber warum sollte Ray so etwas machen?“

„Ich weiß es nicht… Aber sie tut es.“, die Strommaus blickte Galux ernst an. „Lasst sie ausreden.“

Das Katzen Bit Beast schaute ihren Artgenossen eindringlich an.

Sie besaß grünlich schimmernde Augen, die wie helle Smaragde hervorstachen.

„Danke.“, sie nickte ihm zu und fuhr an die Gruppe gewandt fort. „Ursprünglich war ich im Auftrag von Mao hier. Als mir zu Ohren kam, was die Uralten im Schilde führen, hatte ich Bedenken ob sie wirklich die richtigen Leute für die Taten anderer bestrafen. Ich muss klarstellen, dass auch ich euer Verhalten scharf verurteile. Wie konntet ihr nur erwarten, dass so mächtige Geister eure Nachsichtigkeit einfach so hinnehmen? Ich hatte euch wirklich für gescheiter gehalten.“

„Komm mir nicht so.“, brummte Tyson verstimmt. Galux ignorierte ihn.

„Dennoch… Zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht klar, wie weit ihre Rache gehen würde. Bis die Menschenfrau starb.“

„Du meinst meine Mutter?“, fragte Max mit nüchterner Stimme. Das Bit Beast nickte.

„Als mir das zu Ohren kam… Da bekam ich furchtbare Angst um meine kleine Mao. Trotz der Jahre die vergangen waren, hütete sie meine Hülle wie einen Schatz. Manchmal da holte sie mein Gefäß in einem unbeobachteten Moment sogar hervor und sprach mit mir. Ich lauschte dann immer ihren Worten, ihren Problemen und ihren Erlebnissen. Sie hätte es niemals verdient durch den Zorn der Uralten zu Tode zu kommen. Also bin ich – sobald die heilige Neujahrswende begann – in die Menschenwelt geeilt, und habe sie gewarnt. Von Angesicht zu Angesicht.“

Tysons Augen wurden tellergroß.

„Du meinst… Mariah weiß was hier vorgeht?“

„Ja.“, Galux nickte zur Bestätigung. „Und auch das kleine Hiwatari Mädchen und dein Großvater. Sie sind gut behütet in der Menschenwelt und durch einen meiner Zauber vorerst in Sicherheit. Es ist als würden sie unter einem Deckmantel liegen.“

Einen winzigen Moment vergaß Tyson Ray.

Sein Großvater… Es ging ihm gut.

Er hätte am liebsten laut aufgeheult vor Erleichterung.

Da sein Großvater bei ihrer Ankunft in dieser Welt, noch im Koma lag, war ihm immer die Frage nach dem Befinden des alten Mannes, im Hinterkopf geblieben. Es hatte ihn schrecklich frustriert das er nicht für ihn da sein konnte. Wann immer er in seiner Kindheit krank gewesen war, hatte sein Großvater alles stehen und liegen gelassen, um seinem „Grünschnabel“ beiseite zu stehen. Erst später war Tyson bewusst geworden, dass dies eigentlich die Aufgabe seiner Eltern gewesen wäre, doch damals war er noch zu jung um das zu hinterfragen. Ausgerechnet jetzt hier gefangen zu sein, wo es an ihm lag, diese Schuldigkeit wiedergutzumachen, nagte an ihm.

Doch ein anderer Gedanke drängte sich ihm auf…

„Aber warum ist Ray nicht bei dir?“

Galux schaute in die Ferne und seufzte irgendwann.

„Die letzten Tage habe ich das Gefühl, ständig der Überbringer schlechter Nachrichten zu sein.“, sprach sie voller Bedauern. „Mao bat mich eigentlich, Ray und euch zu suchen – und heil in die Heimat zu führen. Doch leider ist es für ihren Mann zu spät. Euer Freund… ist krank. Sehr krank sogar! In seinem Kopf nistet ein Parasit welcher ihn zu einer Gefahr für sich und andere macht.“

Tysons Atem stockte.

Er dachte an Kais Erzählung und an Rays kurzes Verschwinden am Baum. Wenn Galux Recht haben sollte, musste der Parasit ihn dort aufgegriffen haben. Eine Gänsehaut zog sich über seinen Nacken. Es hatten sie doch nur wenige Meter getrennt…

Wie hatte das so schnell passieren können?

„Gerade wenn Ray krank ist müssen wir ihn aber doch nachhause bringen!“, dränge Max. Die tiefblauen Augen blickten Tyson verzweifelt an. „Wir müssen ihn finden, bevor es schlimmer wird!“

„Nein. Das könnte ihn töten.“

„Weshalb?“

„Weil dieser Parasit tückisch ist. Es existiert kein Heilmittel in eurer Welt. Diese Krankheit ist eine Kreation die nur den Nutzen hat, Ray vom Ausgang fernzuhalten. Desto näher euer Freund dem Wurzelwerk kommt, desto rasanter wütet der Parasit in seinem Kopf. Dies wirkt sich auf Rays Gemütszustand aus. Er wird euch gefährden.“

„Deshalb war er so seltsam.“, sprach Tyson mit trockener Kehle. Ihm wurde die Tragweite dieser Nachricht bewusst. Sollte Ray nicht gesund werden… Ja. Was dann?

Als hätte Galux seine Befürchtungen erraten, fuhr sie fort.

„Und darum bin ich jetzt hier.“ Sie senkte den Blick. „Ich soll euch eine Botschaft von Ray übermitteln. Er bedauert zutiefst was vor wenigen Stunden vorgefallen ist. Es tut ihm wirklich von Herzen Leid…“

Tysons schluckte hart.

„Es war nie seine Absicht euch zu verletzen – körperlich als auch seelisch. Die Worte die er gesprochen hat, die Bosheiten die über seine Lippen kamen… Er schämt sich dafür und er hofft das ihr ihm vergeben könnt.“

Tyson sah Ray vor sich. Ihre erste Begegnung…

Den freundlichen Jungen, mit dem übermütigen Grinsen und Augen in welchen der Schalk förmlich blitzte. Bereits damals hatte er geahnt, dass er in diesem Jungen einen Freund fürs Leben finden würde.

„Er bittet euch – trotz seiner Boshaftigkeiten – seine Frau und sein Kind in Zukunft zu unterstützen.“

Max stöhnte neben ihm gequält auf. Er ahnte wie ernst es Ray war.

„Und ihr sollt euch keine Vorwürfe machen. Geht. So lange ihr noch könnt.“

Das Bit Beast blickte in die Runde.

Sie sah so viele entsetzte Gesichter…

„Nein.“, erklang Maxs tränenerstickte Stimme. Von ihnen allen hätte er am meisten Grund gehabt, Ray für den Angriff zu verachten. Doch sie kannten ihn gut genug um zu ahnen, dass mehr hinter seinem Verhalten lauerte, als es den Anschein machte.

Tyson zitterten die Knie. Ihm war als verliere er den Boden unter den Füßen.

Er musste sich setzten…

„Heißt das Ray kommt nicht zurück?“, wollte Kai ungläubig von ihm wissen.

Er war nicht in der Lage zu antworten.

Nach all den Jahren, sollten sich ihre Wege so trennen?

Das konnte es doch nicht gewesen sein!

Tyson lehnte sich gegen einen Baum und versuchte nachzudenken. Doch sein Verstand war wie betäubt. Ihm kam das ganze wie Rays Todesurteil gleich. Sein Kopf malte sich aus, wie er einfach so in der Menschenwelt weiterleben sollte – mit der Erkenntnis einen seiner besten Freunde dafür geopfert zu haben.

Sie hatten doch immer alles zusammen gemeistert!

Nur vage nahm er wahr, dass Max in die Knie ging und den Tränen nicht mehr Herr wurde. Vor ein paar Tagen hatten sie noch lachend in Tysons Auto gesessen. Er hatte seine Freunde vom Flughafen abgeholt und sich ein schönes Wochenende ausgemalt.

Sie wollten ihre Jugend genießen, von alten Zeiten sprechen und sich auf die neuen Zeiten freuen. Wie war das alles nur so aus dem Ruder gelaufen?
 

„Meine Teuerste, wären sie so freundlich, meine lieben Freunde Heim zu geleiten?“
 

Tyson atmete schwer auf als er hinter sich blickte. Seine Sicht war durch die aufkommenden Tränen verschwommen. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass Allegro von seiner Schulter gehopst war. Die kleine Springmaus war vor Galux getreten und obwohl es sich doch hier, um seinen natürlichen Erzfeind handelte, sprach er:

„Ich bin beschämt eine so reizende Bit Beast Dame allein mit dieser Aufgabe zu lassen, doch ich möchte mich an dieser Stelle von den Herren verabschieden.“

Max schaute auf, seine Augenränder waren rötlich.

„Was? Du… Du willst auch gehen?!“

„Ich weiß euch jetzt in guten Händen. Mademoiselle Galux wird eher in der Lage sein, euch vor den Geistern am Wurzelwerk zu schützen, als ich es jemals könnte. Meine Pflicht liegt jetzt darin mich um Ray zu kümmern. Ich bewundere seinen Mut und möchte ihm beistehen.“

Etwas irritiert über seine impulsive Aussprache blinzelte ihn die Katze an.

Allegro drehte sich zu der Gruppe.

„Ihr müsst jetzt vernünftig sein. Das Tor schließt sich bald. Ray hat vollkommen Recht, wenn er möchte, dass ihr ohne ihn geht.“

„Nein.“, Tyson stützte sich langsam vom Stamm ab. „Das geht nicht.“

Er musste daran denken, wie einsam er sich fühlte, als ihn alle seine Freunde, während der dritten Weltmeisterschaft verlassen hatten. Wenn schon so etwas schmerzte, wie einsam war es dann, für immer in einer fremden Welt zu vegetieren?

Dann war da noch das Bild von dem Jungen aus seiner Kindheit. Dieser lebenslustige Ray, der für jeden Spaß zu haben gewesen war. Wie sollte er ihn zurücklassen?

Ray war doch auch ein Teil seines Lebens…

Ein treuer Begleiter.

Er wandte sich um. Eine Ruhe hatte ihn ergriffen.

Endlich wusste Tyson was er zu tun hatte.

„Ich kann ihn hier nicht alleine zurück lassen.“

Max wischte sich am Ärmel die Tränen weg und zog geräuschvoll die Nase hoch. Er stand auf und nickte beklommen.

„Okay. Vielleicht finden wir nächstes Jahr einen Weg hin-“

„Nein, das meine ich nicht.“, Tyson tat einen Schritt auf ihn zu und lächelte aufmunternd. „Ich will dass du nachhause gehst.“

Einen Moment blieb Maxs Kiefer offen. Ein paar schwache Laute kamen aus seiner Kehle, doch er brachte nicht die Kraft auf, einen ganzen Satz zu formulieren.

„Was?“

„Hör zu. Auf dich warten Verpflichtungen in der Menschenwelt. Du musst dich jetzt um deinen Vater kümmern. Und da sich Ray nicht um Mariah kümmern kann… Ich will das du ihr hilfst!“

„Aber… Dein Großvater?

„Es geht ihm gut. Galux hat es doch gerade bestätigt. Das ist alles was ich wissen muss.“

Max schüttelte den Kopf.

„Nein. Nein das geht nicht! Entweder alle oder keiner.“

„Ich glaube wir sind was das angeht an unsere Grenzen gekommen.“, antwortete Tyson verzweifelt. „Gerade deshalb ist es so wichtig dass du nachhause gehst. Wir können Ray nicht alleine zurück lassen, darin sind wir uns wohl beide einig. Aber wir haben alle wiederum unsere Verpflichtungen zuhause. Auch das lässt sich nicht von der Hand weisen. Fakt ist - Jemand muss sich um die Probleme hier kümmern und jemand anderes um unsere Angelegenheiten in der Menschenwelt.“

„Wie stellst du dir das vor?!“, brauste Max auf. „Ihr bleibt hier und ich mache mich klammheimlich vom Acker?“

„Ich werde versuchen mit Ray eine Lösung zu finden.“, versprach Tyson ihm. „Aber wir werden es nicht innerhalb von einem Tag schaffen. Das ist zu wenig Zeit! Aber bis nächstes Halloween… Bis dahin könnten wir einen Ausweg gefunden haben! Das Tor wird sich dann wieder öffnen.“

„Oh mein Gott!“, Max stieß ihn weg und schlug sich fassungslos die Handfläche ins Gesicht. „Hörst du dir überhaupt zu was du da redest? Woher willst du wissen ob ihr bis nächstes Jahr überhaupt eine Lösung gefunden habt?! Eher geht ihr elendig drauf! Wir sind in den wenigen Tagen hier, schon mehrmals von einem Bit Beast angefallen worden und sind nur mit mehr Glück als Verstand entkommen! Wie wollt ihr beiden das ein ganzes Jahr durchhalten?!“

„Ich kann nicht glauben, dass es keinen Weg gibt, diesen Parasiten aus Ray zu bekommen.“

„Woher willst du das wissen? Bist du neuerdings Wunderheiler?“

„Wir können ihn nicht sich selbst überlassen!“

„Das will ich auch nicht! Ich will nur nicht ohne euch zurück!“, Max schlug verzweifelt mit Gesten um sich. Er schien richtig Panik bei diesem Gedanken zu bekommen. „Weißt du wie lahm mein Leben ohne euch wird? Was soll ich Mariah sagen? Was soll ich deinem Großvater sagen? Sie werden mich dafür hassen! Ich werde wie ein Feigling dastehen.“

„Du bist kein Feigling. Und denk doch mal nach... Wir können Kai doch nicht alleine nachhause schicken! Jemand muss auf ihn aufpassen.“

„Was? Wieso mich?“, Kai trat von den diskutierenden Jungen schockiert weg. Er war wohl tatsächlich davon ausgegangen, dass er bei ihm bleiben durfte.

„Weil du ein kleines Kind bist! Es wäre unverantwortlich dich noch länger hier zu lassen!“

Der Junge schaute ihn mit weitaufgesperrtem Mund an. Sein Gesicht war ein Bild der Entrüstung. Tyson nutzte diesen Moment und rüttelte Max wieder an den Schultern.

„Das musst du doch auch so sehen. Sieh ihn dir doch an! Die stecken ihn doch in ein Waisenhaus, sobald sie ihn von der Straße aufgabeln!“

„Galux kann ihn zu Mariah bringen…“

„Und dann? Was ist mit Jana? Soll sie drei kleine Kinder hüten, von dem eines Trisomie hat und auf ärztliche Hilfe angewiesen ist? Das schafft sie doch niemals! Ich würde ja sagen, dass mein Großvater auf Kai und Jana aufpassen soll, aber er ist selbst ein Pflegefall. Und was ist mit deinem Vater? Er hat seine Frau verloren, soll sein einziger Sohn jetzt auch noch als vermisst gelten? Wer bleibt ihm denn dann noch?“

Max heulte auf und fing an sich in Unbehagen zu winden. Er begann seine Logik zu begreifen, doch kämpfte gegen den Gedanken an.

„Bitte!“

„Ich will nicht…“

„Tu es für die Menschen die uns brauchen, Max. Mach es für den Kleinen hier.“

Sein Freund schaute auf Kai herab, der vehement den Kopf schüttelte. Er ahnte dass alles jetzt von Maxs Entscheidung abhing. Der bedachte ihn sorgfältig.

Die kleine Statur.

Das runde Gesicht.

Die naiven Kinderaugen… und der verräterische wässrige Glanz darin.

Kai würde sich nicht mehr um seine Schwester kümmern können. Nicht wenn er weiterhin ein Kind blieb. Sie hatten keine Garantie, dass er tatsächlich wieder Erwachsen wurde, sobald sie auf heimischen Boden traten. Dranzers Tod hatte auch nicht seine Erinnerungen zurückgebracht.

Max dachte an Rays Frau, welche hoffnungsvoll auf dessen Rückkehr wartete. Sie müsste ein Kind großziehen dessen Vater nicht mehr Heim kehren würde. Und dann noch Tysons Großvater, der nicht wusste wo sein Enkel steckte. An seinen eigenen Vater…

Der traf wahrscheinlich bereits die Vorbereitungen für die Beerdigung seiner Mutter.

„Schick uns nicht weg!“, Kai begann an Tysons Ärmel zu ziehen. Er spürte das Maxs Entscheidung drohte, nicht zu seinen Gunsten auszufallen. „Warum willst du uns nicht mehr bei dir haben?“

Anstatt einer Antwort überging Tyson ihn aber.

„Max, bitte. Du weißt das ich Recht habe.“

„Ja. Irgendwo hast du das tatsächlich…“

Tyson atmete beruhigt aus, auch wenn er sich eingestehen musste, dass er eine Heidenangst vor einem Leben in dieser Geisterhölle hatte. Sobald die beiden Weg wären, würde er wohl erst einmal eine riesen Heulattacke bekommen. Max blickte inzwischen mit einem entschuldigen Lächeln auf das entsetze Kind herab.

„Diese Welt ist wirklich viel zu gefährlich für dich.“

„Aber Max…“

„Ich sollte mich jetzt eigentlich auch verantwortungsbewusst verhalten und dich nachhause bringen.“, schnitt er dem Jungen ins Wort. „Aber ich kann nicht. Es tut mir Leid, Kai. Ich werde hier bleiben. Komme was da wolle.“

Einen Moment wusste Tyson nicht, ob er richtig verstanden hatte.

Dann weiteten sich seine Augen.

„Hast du nicht begriffen was ich…“

„Ich habe es begriffen!“, rief Max aus. „Jedes einzelne Wort. Ich weiß dass wir alle unsere Verpflichtungen haben und ich könnte heulen wenn ich an all die Menschen denke, die auf der anderen Seite auf uns warten. Aber es geht nicht!“

„Sag mal rede ich hier gegen eine Wand?“

„Eher gefriert die Hölle als das wir jemanden hier zurücklassen! Das waren deine Worte, Tyson!“, erinnerte Max ihn anklagend. „Wir haben alle zu dieser Situation beigetragen. Also kommt es nicht in Frage, das nur zwei von uns die Suppe auslöffeln, während die anderen beiden in der Menschenwelt weitermachen, als wäre nichts gewesen! Das war noch nie unser Stil. Wir bladen vielleicht nicht mehr, aber ein Team sind wir trotzdem!“

Kai schaute aus strahlenden Augen zu ihm auf. In diesem Moment hatte sich Max wohl zu seinem persönlichen Superhelden gemausert. Tyson fauchte genervt und drehte sich zu Galux, um sie zu fragen, ob der Weg für das Kind auch ohne die Begleitung eines Erwachsenen machbar sei. Da blieb ihm das Wort im Halse stecken.

Es hätte ihnen auffallen müssen, dass die beiden Bit Beasts schon ziemlich lange verstummt waren. Denn dort - unter der Schuhsohle von Dragoon – strampelte Allegro eingeklemmt, während sein ehemaliges Bit Beast, Galux im Nacken gepackt hielt. Er hob sie auf Augenhöhe an. Tyson konnte sehen, wie sie unter dem starren Blick, der reptilienhaften Pupillen, vor Angst gefror. Die Miene des Uralten war eine wütende Fratze.

„Du funkst also ständig dazwischen.“, knurrte Dragoon bedrohlich.
 

ENDE KAPITEL 29
 

„Lass sie los!“, fauchte Tyson seinem Bit Beast entgegen.

Das schenkte ihm jedoch wenig Beachtung. Lediglich ein abfälliger Blick war die Antwort, gefolgt von einem Schnauben. Dann wandte sich Dragoon an Galux, die er fest am Hals gepackt hielt. Das Bit Beast gab erstickte Laute von sich und schabte erfolglos an seinem Griff, während ihre Beine in der Luft strampelten. Unter seinem rechten Fuß, sah man die länglichen Füße von Allegro hervorspähen, der mit aller Gewalt versuchte hervorzukriechen. Den Jungen wurde klar, dass es nur einen kräftigen Tritt bedurfte und ihr wackerer Begleiter, würde mit gebrochenem Nacken, tot auf dem Erdboden liegen.

„Ich hätte es mir denken können.“, vernahmen sie Dragoons tiefe Stimme. Sie klang unmenschlich, mehr wie das dunkle Grollen eines Tieres. „Es gibt wenig Bit Beasts, die einen Schutzbann auf Menschen legen können und nur eines davon, genießt die Gunst eines Uralten.“

Er verstärkte den Klammergriff um ihren Hals. Galux gab einen abgehakten Schmerzensschrei von sich. Es ging Tyson unter die Haut und die Gruppe wurde aschfahl. Keiner hegte einen Zweifel daran, dass Dragoon ihr ebenfalls schnell den Hals brechen könnte. Obwohl er doch im Grunde genau wusste, dass er keine Chance gegen sein Bit Beast hatte, machten sich Tysons Beine in seinem Zorn selbstständig. Mit einem wütenden Aufschrei rannte er auf ihn zu und versenkte mit aller Kraft seine Faust in Dragoons Gesicht.

Bei einem nächtlichen Ausflug mit Max, hatte er einmal eine heftige Rangelei in einer Kneipe gehabt. Das Ende vom Lied war, dass er seinem Gegenüber einen Zahn ausgeschlagen hatte und sein Großvater ihm am nächsten Morgen eine Standpauke hielt, weil er mit einem blauen Auge nachhause gekommen war. Seinem Kontrahenten hatte es weitaus schlimmer erwischt. Allerdings war Tyson nun wieder in seinem jugendlichen Körper gefangen, beraubt seiner früheren Kräfte. Dragoon klappte nicht einmal der Kopf zur Seite. Er starrte weiterhin ruhig auf Galux herab. Dann grub sich seine freie Faust so schnell in Tysons Magen, dass er nur noch erstaunt japsen konnte. Er beugte sich vor, denn der Schmerz strahlte in sämtliche Gliedmaßen und schnürte ihm die Luft ab. Kurz bevor er zusammenklappte, packte ihn sein Bit Beast am Kragen und hob Tyson mühelos in die Luft. Er fühlte wie seine Füße den Boden verloren.

„Spiel lieber nicht mit deinem Glück, Junge.“, vernahm er dessen Zischen ganz nah an seinem Ohr. „Nach deiner frechen Schnauze vor kurzem, kannst du dich glücklich schätzen, dass ich dir nicht den Kopf abbeiße.“

Dann stieß er ihn von sich. Er landete schwer keuchend auf dem Rücken. Tyson hörte seine Freunde nach ihm rufen. Doch sobald die Hände nach ihm griffen, um ihm aufzuhelfen, spuckte er Blut und kippte wieder zurück. Er blickte aus verschwommener Sicht in Kais Gesicht, der ihm die Finger behutsam auf die Wangen legte, als habe er Angst ihm mit seiner Berührung noch mehr Schaden zuzufügen, während Max ihn versuchte zu stützen.

„Hast du eine Ahnung mit wem du dich hier anlegst?!“, fragte Dragoon inzwischen Galux herrisch. Als Antwort vernahmen sie nur ihr Krächzen.

„Du magst Drigers kleines Liebchen sein. Du magst deshalb auch einen Sonderstatus genießen, weil er dich in Watte packt, als wärst du aus Porzellan. Aber das gibt dir nicht das Recht, dich in die Belange der anderen Uralten einzumischen!“

„Mao…“, es war alles was Galux zusammen brachte.

„Was schert mich dein Menschenkind! Ich habe ein eigenes und das erziehe ich, wie ich will!“, er schüttelte sie. Der Körper der Katze taumelte hilflos in der Luft. „Denkst du dein Kind ist wichtiger als meines? Wer ist hier höher gestellt?!“
 

„Sie macht das weil sie an ein Versprechen gebunden ist!“
 

Dragoons Kopf schnellte zur Seite. Aus einem Dickicht hinter der Gruppe, formte sich eine Gestalt. Es wirkte als würde ein getarnter Soldat aus seinem Versteck kommen, dabei war er ein Hüne von einem Mann. Seine Haut war dunkel, wie die tiefgebräunte Rinde eines Baumes, über sein Gesicht zogen sich geradlinige Narben, wie von der Klaue eines Raubtiers. Ein spitzer Eckzahn lugte aus seinem rechten Mundwinkel hervor, da die Lippen verstimmt verzogen waren. Trotz der Hitze lag ein weißes Stück Fell um seine Schultern, wie eine exotische Schutzpolsterung.

„Driger.“, hörte Tyson Max neben sich keuchen. Er hatte dasselbe geahnt. Es war das majestätische Fell was den Neuankömmling sofort entlarvte. Die Streifen darauf waren grün. Er kannte nur einen Tiger, dessen Streifen von diesem intensiven Blattgrün waren.

„Na wer kommt denn da endlich aus der Versenkung?“, spottete Dragoon höhnisch. „Wie schön dass du mich auch endlich mal wieder mit deiner Anwesenheit beehrst.“

„Ich war dabei deine Anweisung auszuführen. Weshalb also deine angriffslustige Art?“

Dragoon hob ungläubig eine Braue an.

Etwas Unausgesprochenes lag in der Luft.

„Meine Anweisung… Ist das so?“

„Natürlich und wie du siehst geht alles so auf wie du wolltest.“, Driger tat eine ausladende Bewegung zu den Jungen. Zunächst begriff Tyson nicht was damit gemeint war. Wäre Dragoon nicht aufgetaucht, hätte er weiterhin auf Max eingeredet, bis dieser endlich mit Kai aus der Irrlichterwelt floh. Dann stockte sein Atem. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Ihre Bit Beast kannten ihren Zusammenhalt - sie spekulierten sogar darauf!

Stöhnend lehnte er den Kopf zurück gegen Maxs Brustkorb.

„Wärt ihr doch bloß mit Galux gegangen.“, warf er ihm mit kratziger Stimme vor. „Jetzt hast du genau das getan, was sie von dir erwartet haben.“

„Was meinst du?“

„Sie haben damit gerechnet dass wir nicht ohne Ray gehen.“

Max sah ihn aus tellergroßen Augen an, als die Erkenntnis ihn nun auch traf.

Inzwischen fuhr Dragoon fort.

„Wenigstens etwas woran du dich gehalten hast. Immerhin durfte ich die letzten Tage immer häufiger Zeuge deiner Verfehlungen werden.“

„Verfehlungen?“, wollte der Hüne wissen. Er legte den Kopf verständnislos auf die Seite. „Ich bin mir keiner Schuld bewusst. Hilf mir doch auf die Sprünge…“

„Deine Perle hier!“

Galux landete mit einer solchen Wucht vor Drigers Stiefeln, dass der Aufprall geradezu staubte. Es verdeutlichte der Gruppe, wie viel Kraft in jeder Bewegung eines Bit Beasts steckte, selbst wenn sie in einem toten menschlichen Körper hausten. Die Augen des Uralten weiteten sich, als seine liebe Freundin vor ihm zum Liegen kam. Sie ächzte leise und schaute ihn aus den smaragdgrünen Iriden angeschlagen an. Seine Mimik erstarrte für einen Moment. Dann blickte Driger mit einem Knurren auf, während man seine Kiefern mahlen hörte.

„Das war unnötig.“

„Findest du?“, sprach Dragoon belustigt. „Ich finde nämlich schon. Einer sollte ihr die Leviten lesen. Du willst es ja scheinbar nicht machen… Und das obwohl du sie bereits vor einigen Stunden hier erwischt hast.“

Drigers Rücken wurde kerzengerade.

Ein schales Lachen war die Entgegnung auf diese Reaktion.

„Ach bitte! Wie naiv bist du? Hast du allen Ernstes geglaubt, mir ist deine Unterhaltung mit ihr entgangen? Kommen dir diese Worte bekannt vor? Auch wenn ich dich für deine Hingabe liebe, kränkt es mich, wenn du glaubst ich wäre so leicht zu töten.“

Ein Knurren kam von Rays Bit Beast. Tyson sah wie es die Fäuste ballte, dass jeder Finger darin leise knackte.

„Wirklich rührselig. Ich hätte beinahe angefangen zu weinen.“, meinte Dragoon voller Häme.

„Spar dir deinen Spott und lass sie zufrieden.“, Driger beugte sich zu Galux herab und nahm ihre schlaffe Gestalt behutsam in die großen Pranken. Er zupfte ihr die hängen gebliebenen Dreckklumpen aus dem Fell, was sie mit einem leisen Mauzen wahrnahm. „Du hättest sie beinahe erwürgt. Sieh dir die Spuren an ihrem Hals an.“

„Ist das dein Ernst? Du machst dir mehr Sorgen um sie, als um deine Pflichtverletzung?“

„Sei vernünftig Dragoon. Denkst du ich wüsste nicht, dass sie der Gruppe keine Hilfe ist? Wir haben beide geahnt, dass sie nicht ohne Ray gehen würden.“

„Und das macht ihren Verrat ungeschehen?“

„Du kennst den Codex der Bit Beasts. Wir sind dazu verpflichtet, unseren Eid gegenüber den Menschenkindern einzuhalten. Galux hat nur getan was sie geschworen hat. Kann sie etwas dafür das Rays Frau ihr Kind ist?“, beinahe drängend erklärte er, „Das Mädchen hat ihr das Versprechen abgeluchst ihren Mann zurückzubringen. Nun kann sie Ray nicht helfen und muss auf sein Geheiß, die anderen Bälger heimführen, um ihre Schuld auszugleichen. Sie handelt, wie es jeder von uns tun würde. Das arme Ding war zur falschen Zeit, am falschen Ort. Sie steht doch nur zwischen den Stühlen.“

„Himmel, hör dich an! Wie du nach Ausflüchten für sie suchst. Das ist ja widerlich.“

„Ich werde sie nicht für ihr Ehrgefühl verurteilen!“, fauchte Driger. „Sie hat einen Schwur geleistet. Du hättest nicht anders gehandelt wäre dein Menschenkind in Gefahr.“

„Das ist etwas anderes…“

„Weshalb? Weil du der König der Bit Beasts bist?“, kam es voller Verachtung. Dragoons Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen. „Korrekt.“

Es kehrte kurzes Schweigen ein. Dann hörten sie Driger schnaufen.

Er schüttelte den Kopf und sah enttäuscht zu seinem Verbündeten.

„Dieser Titel hat dich verändert. Wo ist der alte Freund geblieben, der noch unseren Rat gesucht hat, anstatt uns wie Untergebene zu scheuchen?“, er blickte Dragoon ernst an. „Du warst ja schon immer ein eitler Gockel, aber vor wenigen Jahren noch, hättest du niemals solche Worte in den Mund genommen. Nicht uns gegenüber.“

„Als würdest du nicht auch ständig auf deine Stellung pochen.“

„Aber doch nicht unter Freunden!“, klagte Driger. „Natürlich weiß ich ob meiner Position hier. Doch wir sind die Uralten. Wir sind jenes Quartett, welches schon seit Millionen von Jahren, die Geschicke dieser Welt lenken. Diese Welt haben wir zusammen erbaut!“

„Da hast du Recht.“, stimmte Dragoon leise zu. „Wir sind ein Quartett.“

Er nickte mit lauerndem Blick, zu dem kläglichen Bündel, was so schlaff in Drigers Armen ruhte. „Das schließt sie aber aus, oder?“

Sein Gegenüber blieb stumm.

Es schien die Antwort zu sein, welche er erwartet hatte.

„Dachte ich es mir.“

Driger nahm einen tiefen Atemzug. Seine Nüstern blähten sich dabei. Eine bedrohliche Stimmung lag in der Luft und intuitiv spürte Tyson, dass es bis zur Eskalation nur noch ein schmaler Grat war. Er spähte zu Allegro, der es bewerkstelligt hatte, sich bis zum Hinterteil unter Dragoon hervorzuziehen. Seine länglichen Füße stemmten sich gegen die Sohle, um nun auch den Oberkörper zu befreien. Dann war da noch Galux…

Ihretwegen saß sie nun in der Patsche. Er hatte ein schlechtes Gewissen dabei, die beiden sich selbst zu überlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Inzwischen setzte Driger das malträtierte Katzen Bit Beast sachte auf dem Boden ab. Tyson überraschte mit was für einer Zärtlichkeit er das tat. Er strich ihr behutsam mit den großen Händen durch das Fell, als wäre Galux eine zerbrechliche Kostbarkeit. Da schien es mehr zwischen ihnen zu geben.

„Mag sein dass sie keine Uralte ist. Doch ihre Arbeit verrichtet sie stets vorbildlich. Ich werde Galux nicht töten, falls es das ist worauf du hinaus willst. Die Jungen haben sich ohnehin gegen eine Heimkehr entschieden. Damit kann sie auch dieses Versprechen nicht einhalten. Sie ist keine Gefahr mehr…“

„Gut.“, Dragoon klatschte mit einem Lächeln in die Hände. Es lag etwas Verschlagenes darin. „Dann geben wir deiner Liebsten doch einfach die Möglichkeit der Rehabilitation. Sie muss den Bann von ihrem Menschenkind nehmen. Sofort! Dann sehe ich von ihren Verfehlungen ab.“

Galux zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Sie schüttelte den Kopf und blickte aus panischen Augen zu Driger auf.

„Das kann ich nicht! Wer weiß was er mit meinem Kind anstellt?!“

„Sie scheint nicht sehr kooperativ.“, merkte Dragoon amüsiert an.

„Warum willst du das überhaupt?“, fragte Driger argwöhnisch. „Ich dachte das Thema wäre vom Tisch. Du hast doch selbst gemeint, dass der alte Großvater dich nicht mehr schert.“

„Ich brauche ein kleines Lockmittel um Dranzer aus dem Versteck zu locken. Sie treibt sich in der Menschenwelt herum und sinnt auf Rache. Da dachte ich mir, weshalb ihr nicht Kais Schwester als Happen anbieten. Das geht aber nicht, da deine Perle einen Bann über die Angehörigen der Kinder gelegt hat.“

„Dranzer lebt?!“, keuchte Tyson auf. Er spürte wie Maxs stützende Finger sich auf seinen Schultern verkrampften. Diese Hiobsbotschaft gab ihm die Kraft sich aufzustemmen, auch wenn er noch immer einen stechenden Schmerz im Brustkorb fühlte. Er schmeckte Blut in seinem Mund.

„Mach langsam. Der Hieb sah übel aus.“, ermahnte ihn Max.

Doch er ignorierte dessen Einwände und rief Dragoon entgegen:

„Du kannst Jana nicht als Lockvogel missbrauchen!“

„Mit Speck fängt man Mäuse.“, sein Bit Beast würdigte ihn keines Blickes und wandte sich mit einem unschuldigen Ausdruck Galux zu. „Und? Das Hiwatari Mädchen dürfte dir doch egal sein. Ihr hast du keinen Schwur geleistet. Also was spricht dagegen?“

„Das ist aber nicht richtig!“, begehrte sie heftig auf.

„Ich werde mein Bestes tun, damit der Kleinen kein Haar gekrümmt wird.“, beteuerte Dragoon mit einem achtlosen Schulterzucken, dass seine Worte Lügen strafte. Dann huschte ein träges Lächeln über sein Gesicht. „Allerdings können Kollateralschäden nicht ausgeschlossen werden. Sowas kommt einfach vor.“

Es war eine Falle. Dragoon suchte nach einem Grund um Galux der mangelnden Loyalität anzuklagen. Sobald sie den Bann aufhob, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis Dranzer sich auf die Suche nach Jana machte. Da Mariah bei ihr war, würde sie ins Kreuzfeuer geraten und das würde Galux niemals riskieren. Dragoon wusste das. Er hatte gar nicht vor sie am Leben zu lassen. Das begriff nun auch Driger. Sein massiger Stiefel schob sich schützend vor das Katzen Bit Beast.

„Lass mich Dranzer suchen. Ich bringe sie zur Besinnung.“

Es war ein verzweifelter Versuch die Wogen zwischen ihnen zu glätten.

„Der ist nicht mehr zu helfen. Das hübsche Kind hat einen Dachschaden.“

„Ich bin wie ein Vater für sie. Auf mich wird sie hören.“

„Ha!“, entfuhr es Dragoon. „Du hast sie mit deiner Erziehung doch erst so verkorkst!“

„Sie ist perfekt geraten!“, verteidigte sich Driger mit donnernder Stimme. „Such nicht ständig bei mir den Grund für ihre Abneigung gegen dich! Sie hat tausend Gründe um dich nicht ausstehen zu können!“

„Perfekt ist etwas anderes…“

„Ich hatte dich ermahnt sie besser zu behandeln. All der angefressene Zorn von ihr, ist doch nur da, weil du sie unterdrückt hast! Einen Vogel sperrt man nicht in einen Käfig. Man lässt ihn fliegen, so wie es sich gehört!“

„Soll ich mit meinen Untergebenen so nachlässig umspringen wie du?“, Dragoon deutete auf Galux. „Da siehst du was es dir beschert hat! Eine kleine Verräterin aus der Unterklasse, die dich selbst jetzt noch, fest um den Finger gewickelt hält. Es gab Zeiten, da wärst du am strengsten von uns allen, mit deinen Untergebenen ins Gericht gegangen. Aber du hast erschreckend nachgelassen!“

„Verzeih wenn ich keinen Wert auf deine Ratschläge lege. Immerhin hat deine Partnerin das Weite gesucht, nachdem du ihre Schwester in die Eiswelt verbannt hast!“

Dragoons Blick wurde kalt. Seine Mimik starr.

„Wag es nicht mir mit dieser alten Kamelle zu kommen.“, zischte er bedrohlich. „Mach lieber was sich für einen Uralten gehört. Bring die Verräterin um!“

„Nein!“, flüsterte Max erschrocken aus.

Scheinbar hatte Driger in seiner Wut, einen wunden Punkt getroffen und sein Gegenüber ging damit nicht sonderlich tadelhaft um. Geradezu furchtsam verbarg sich Galux hinter dem Stiefel ihres Beschützers. Tyson musste inzwischen an Wolborg denken. Erneut plagte ihn die Frage, was in seinem Bit Beast vorging. Weshalb hatte er die Schwestern so kaltblütig getrennt? Dieser Vorfall schien eine tiefe Kluft zwischen ihm und Dranzer aufgerissen zu haben, die nun auch auf die anderen Uralten übergriff. Ihm war als hätte sein Bit Beast zwei Seiten. Eine die geradezu übermütig und verspielt war, während die andere kaltblütig und eisern an seinen Prinzipien festhielt.

„Ich werde Galux nicht töten.“, sprach Driger inzwischen entschlossen. „Verlang von mir Dranzer zu beschwichtigen oder die Kinder in der Irrlichterwelt zu halten. Doch diesen Befehl kann und will ich nicht ausführen.“

„Dann mache ich es.“

„Du wirst die Finger von ihr lassen!“

„Interessant. Ray und du… Ihr gleicht euch wie ein Ei dem anderen.“

Perplex blinzelte die Runde über diese Aussage. Tyson hätte seine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass sein Freund nicht einmal ein Drittel von Driger besaß. Dieser Meinung schien auch dessen Bit Beast zu sein.

„Vergleich mich nicht mit diesem treulosen Bengel!“, geradezu erbost stampfte er mit dem Fuß auf, dass die Erde unter seinem Tritt bebte. „Du hast kein Recht mir mangelnde Loyalität vorzuwerfen! Seit jenem Tag, an dem du an die Macht gekommen bist, war ich dir ein treuer Berater. Deine Befehle habe ich ausgeführt und deine wankelmütigen Launen ertragen! Ich bin ein Bit Beast von Ehre das seine Schwüre hält. Ray dagegen hat meine Gnade abgetan, sobald er Erwachsen wurde. Ich habe mein Bündnis mit ihm Ernst genommen, während er es mit den Füßen getreten hat! Für den Jungen bin ich bis ans Äußerste gegangen, doch sobald er das Mädchen geheiratet hat-…“

Driger stockte. Die katzenhaften Pupillen wurden groß.

Sein Gegenüber feixte nur, als die Erkenntnis über ihn kam.

„Ja? Sprich nur weiter…“

„Das ist nicht dasselbe.“, dementierte Driger vehement.

„Oh ich finde schon.“, Dragoon kickte Allegro unter seiner Sohle weg.

Er rollte fluchend über den lehmigen Boden.

„Mieser Schuft!“, empörte sich die Maus. Doch Tysons Bit Beast überging ihn.

„Lass uns mal nachdenken. Zweifelsohne warst du mir lange Zeit treu was deine Dienste betraf. Genau wie Ray dir gegenüber. Du warst mir ein guter Gefährte. Das trifft ebenfalls auf Ray zu. Doch dann kommt dieses zarte Wesen zu deinen Füßen daher…“, er beugte sich vor und fokussierte Galux mit einer gehörigen Portion Hohn. Die duckte sich unter seinem Blick und ging hinter Drigers Beinen in Deckung. „Und schon ist dein Pflichtgefühl dahin. Genau wie Ray dich abgeschoben hat, sobald er seine kleine Mao kennenlernte, oder täusche ich mich da?“

„Bit Beast lieben nicht. Allein deshalb ist es nicht dasselbe!“

„Wir sollten es nicht. Es verblendet uns. Und unsere Seelen sind ohnehin nicht dafür konzipiert.“

Tyson stutzte über diese Bemerkung.

Weshalb sollten Bit Beast nicht lieben können?

Die letzten Tage war er Zeuge so vieler Widersprüche geworden. Da war Allegro, der trotz seines Ranges und der Feigheit seiner restlichen Sippe, komplett anders geraten war. Er musste an Dranzer denken, die mit ihrer erdrückenden Liebe zu Kai, doch ein weiteres Beispiel gab, dass diese Aussage nur falsch sein konnte. Und jetzt fügte sich noch Driger mit in die Reihe ein…

„Selbst wenn es so wäre was ist daran so verkehrt?“, rief Tyson aus.

„Wir sollten uns nicht einmischen?“, zischte Max ihm zu, der dabei gewesen war, Allegro mit einem hektischen Handzeichen zu verdeutlichen, näher heran zu kommen. Sicherlich schwebte ihm eher vor, die Strommaus zu packen und davon zu rennen.

„Davon versteht ihr Menschen nichts.“, entgegnete Dragoon gleichgültig.

„Als wüsstest du was einen Menschen bewegt!“, konterte er verächtlich.

„Genug davon!“, donnerte die Stimme seines Bit Beasts durch den Dschungel. Er hob den Finger in einer Drohgebärde. „Ich werde dich jedes deiner frechen Worte, die nächsten Jahrhunderte bereuen lassen! Du wirst keine Nacht schlafen können, ohne Angst haben zu müssen, dass du während dem Schlaf, von einem meiner Untergebenen verschlungen wirst!“

„Warum machst du es nicht selbst?“, forderte ihn Tyson heraus.

Damit hatte er es geschafft, dass Dragoon ihn einen Moment verdutzt anstarrte.

„Du kannst es nicht!“, lachte er ihm hämisch ins Gesicht. „Weil du als mein Bit Beast geschworen hast, mich zu beschützen! Ihr Bit Beast nehmt dieses Versprechen nämlich verdammt ernst, nicht wahr? Und dann machst du Galux Vorwürfe, weshalb sie Mariah beschützt? Du Heuchler! Dir sind doch genauso die Hände gebunden wie ihr!“

Das schien auch Driger zu denken, denn während sein Gesicht ihm zugewandt war, schielte er aus den Augenwinkeln doch zum anderen Uralten.

„Du musstest Dranzer davor bewahren mich zu töten, als wir Kai aus dem Anwesen gerettet haben und auch Zeus hast du meinetwegen abgeschmettert! Alles wegen diesem Schwur! Und doch stehst du hier und klagst sie an! Wahrscheinlich würdest du mich liebend gerne jetzt in der Luft zerreißen, aber selbst das kannst du nicht machen!“

„Glaub mir. Der Wunsch drängt sich mir immer weiter auf.“, grollte Dragoon ihm düster zu.

„Oh Gott, Tyson. Was tust du da?“, versuchte Max ihm flüsternd einzuhalten. Doch ein Plan hatte sich in seinem Kopf geformt. Er wandte sich direkt an Rays Bit Beast. Es war das einzige Wesen, was ihnen noch aus ihrer miserablen Lage helfen konnte. Doch nun bedurfte es Redegewandtheit und die besaß Tyson - wenn er wollte.

„Warum lässt du dir Vorwürfe machen? Er sagt du wärst wie Ray und weißt du was? Das ist vollkommen in Ordnung! Es hat einmal einen Grund gegeben, weshalb du ihn als Kind ausgesucht hast. Wahrscheinlich genau deswegen! Weil ihr beide dieselbe Moral habt und auch den Wunsch hegt ein Beschützer zu sein. Es ist nichts Falsches daran, für diejenigen einzustehen, die einem am Herzen liegen! Wärst du lieber wie Dragoon? Was ist überhaupt so schlecht daran zu lieben!“

„Bit Beast sollten das nicht. Wir haben in dieser Welt unsere Funktion und die sieht nicht vor, uns mit einem einzigen Wesen zu befassen. Das sind jene Worte, die du auch Dranzer eingebläut hast! Es lenkt uns ab und lässt uns schwach werden. Willst du das, Driger?!“, war Dragoons herrisches Gegenargument.

„Wer erzählt so einen Mist? Wer stellt solche Regeln überhaupt auf?“

„Es gibt sie schon seit Urzeiten. Empfindungen schwächen das Urteilsvermögen. Und die Schwachen werden gefressen!“, knurrte Dragoon und wandte sich seinem Verbündeten aus zornigen Augen zu. „Wie oft hast du mir diesen Satz in unserer Jugend vorgehalten! Willst du wirklich die alten Normen mit den Füßen treten? Es fängt mit den Strommäusen an, dann folgt Galux und schon tanzen uns die restlichen Unterklassen auf der Nase herum!“

Es entbrannte zwischen ihnen ein hitziges Wortgefecht, dessen Ziel es war, den unschlüssigen Uralten, auf die jeweilige Seite zu ziehen.

„Na vielleicht wird es auch Zeit dafür! Wenn diese Normen wirklich so alt sind, brauchen sie endlich mal ein Upgrade. Ihr könnt nicht so leben, wie vor Millionen von Jahren, während die Welt um euch herum sich immer weiter wandelt!“

„Die Natur wandelt sich nie.“

„Blödsinn! Nichts ist so beständig wie der Wandel!“, schnitt Max Stimme nun auch dazwischen. „Das nennt sich Evolution! Aber das ist nicht das einzige Beispiel. Ein Umdenken der alten Regeln ist in jeder Lebenslage mal notwendig!“

Er schien begriffen zu haben worum es Tyson wirklich ging.

„Weißt du dass es für euren Fall ein sehr gutes Beispiel gibt, Driger? In unserer Welt gibt es nämlich viele Religionen und eine davon ist das Christentum. Meine Familie gehört ihr an. Jedenfalls sind alle Geschichten und Regeln, in einem Buch zusammengefasst, das sich die Bibel nennt. Vor Hunderten von Jahren war dieses Buch das Lehrbuch schlechthin, für jeden Gläubigen. Zur damaligen Zeit haben die Menschen einfach etwas gebraucht, was ihnen einen Leitfaden, in einer chaotischen Welt bietet. Doch heute ist so vieles anders geworden und viele Regeln darin, sind veraltet, manchmal auch zu grausam und überhaupt nicht mehr zeitgemäß. Was tut man also? Man überdenkt manche der Passagen und stellt sie in Frage. Und das musst du jetzt auch tun!“

Maxs flehender Blick lag inzwischen auf Rays Bit Beast. Tyson war dankbar um dieses Beispiel, denn es hätte nicht besser treffen können.

„Oh bitte!“, empörte sich Dragoon fassungslos. „Willst du wirklich auf dieses Gewäsch eingehen? Was haben wir mit den dummen Fabeln der Menschen am Hut! Allein dieses Buch, lässt sie seit Jahrhunderten gegenseitig die Köpfe einschlagen!“

„Weil es Menschen von deinem Charakter gibt, welche genau wie du, zu viel Angst vor einer Veränderung haben!“, klagte Tyson ihn an. „Du bist ein Feigling! Du fürchtest dich vor den möglichen Konsequenzen, die folgen könnten, wenn man die Regeln lockert.“

„Halt deinen Mund!“, brüllte Dragoon urplötzlich. Seine Augen glühten auf und der Himmel zog sich erneut unheilvoll zu. Die Nacht wurde pechschwarz, da die Wolken den Mond verdeckten. „Bring die Verräterin um! Los, Driger!“

Der Befehl wurde geradezu gebellt.

„Niemand macht dir Vorwürfe dass du Galux beschützen willst!“, kämpfte Tyson gegen den aufkommenden Wind an. „Aber was du Ray angetan hast, war dafür umso unfairer! Du hast in dem Moment dasselbe getan, was Dragoon jetzt tut! Er verurteilt Galux für eine Sache, die er nicht anders gemacht hätte und du verurteilst Ray für den Wunsch, seine Frau zu schützen, obwohl du dasselbe jetzt für Galux tust!“

„Er ist mir Rechenschaft schuldig!“

Eine Windböe hob Tyson fast von den Sohlen.

Doch Dragoon konnte ihn nicht töten. Das wusste er jetzt endlich…

„Bitte Driger, du musst ihn von diesem Parasiten erlösen! Er hat das nicht verdient, genauso wenig wie du es verdient hast, das Wesen töten zu müssen, dass du doch so offensichtlich liebst! Wegen ein paar Regeln, die schon lange nicht mehr zeitgemäß sind, willst du sie auf sein Geheiß töten?“

„Halt dich da raus!“, rief ihm Dragoon entgegen. Da fühlte Tyson bereits wie ihm die Luft abgeschnürt wurde. Sein Atem wurde erstickt, weil die Wahrheiten die er sprach, nicht in das Weltbild seines Bit Beasts passten. Er sah Dragoons Hand, deren ausgestreckte Finger gnadenlos in seine Richtung deuteten. Doch insgeheim ahnte Tyson, dass es nur eine Einschüchterungstaktik war. Es war nur eine Frage der Zeit, dann müsste sein Bit Beast von dieser Folter ablassen – weil es nicht weiter gehen konnte. Tyson würde jedenfalls nicht vor ihm betteln! Ihre Blicke trafen sich. Er stierte standhaft in das Augenpaar seines Bit Beasts, das ihn ebenso eisern fokussierte, bis ein boshaftes Grinsen über Dragoons Lippen huschte.

„Mag sein das ich dich nicht töten kann.“, erriet er seine Gedanken erschreckend präzise. „Aber wie sieht es mit deinen Freunden aus? Soll ich dieses Mal den armen kleinen Kai härter rannehmen?“

Tysons Augen weiteten sich bei diesen Worten. Er sah bereits die reptilienhaften Pupillen zu dem Kind huschen, genauso wie Max, der sich schützend vor Kai aufstellte, als könne er das Bit Beast damit von seinem Versuch abhalten. Da schnellte aber ein hellgrüner Blitz hervor. Er schlug in Dragoons Hand ein, der sie mit einem schmerzvollen Zischen zurückzog. Seine spitzen Eckzähne lugten hervor, als sein Kopf knurrend zum anderen Uralten schnellte. Augenblicklich kehrte Tysons Atem zurück. Er schnappte gierig nach Luft.

„Dann ist deine Entscheidung damit also gefallen.“, hörte er Dragoon kalt sprechen.

„Allerdings… Weil ich genug von dir habe!“

Drigers Haltung straffte sich, während Galux zwischen seinen Füßen ehrfürchtig zu ihrem Beschützer auf blinzelte. In jenem Moment schien sie eher einem scheuen Kätzchen gleich. Tyson sah Rays Bit Beast die Zähne bedrohlich fletschen. Erst als Galux sich furchtsam an sein Bein schmiegte, blickte er an seinem Körper herab, in ihr saphirgrünes Augenpaar.

Die Zuneigung welche beide füreinander empfanden, war geradezu greifbar und was immer Driger zu diesem Zeitpunkt durch den Kopf ging, ihr Anblick ließ ihn tatsächlich eine Entscheidung fällen. Tyson beobachtete wie der Uralte die Brauen tief ins Gesicht zog.

„Geh!“, zischte er an Galux gewandt. Sie starrte ihn an. „Na los geh!“

„Sie geht nirgendwo hin!“

„Wenn du sie töten willst, wirst du an mir vorbei müssen!“, brüllte Driger seinem ehemaligen Verbündeten zu. Max fuhr erschrocken zusammen, als die ersten Blitze um den Uralten herum zur Seite stoben. Ein Kampf schien sich anzubahnen. Drigers rechter Stiefel kam langsam in Bewegung. Mit sanfter Gewalt schob er Galux von sich weg. Eine stumme Aufforderung seinem Willen nachzukommen.

„Du bist nicht mehr derselbe wie vor dem Kampf der Uralten! Seit du den Thron bestiegen hast, erkenne ich dich kaum wieder. Du bist arrogant, selbstherrlich und machthungrig geworden!“

„Und wenn es so ist, dann liegt es an all den verfluchten Verrätern, um mich herum!“, fauchte Dragoon ihm seinen gesamten Zorn entgegen. Er hielt sich die verwundete Hand, von welcher sich ein dünner Rauchfaden emporhob.

„Erst Dranzer, dann ihre vermaledeite Schwester, dann Takao… und jetzt auch noch du! Was stimmt denn mit euch allen nicht?! Dir habe ich mehr vertraut, als allen anderen und nun hintergehst du scheinheiliger Mistkerl mich auch noch!“

Sein Gesicht war eine Maske aus purer Enttäuschung und Hass. Die Drachenschuppen in seinem menschlichen Körper, pressten sich erneut gegen die obere Hautschicht. Bald würde der Drache wieder aus seiner provisorischen Hülle ausbrechen.

„Die Verräter geben sich hier ja geradezu die Klinke in die Hand! Ich habe euch alle sowas von satt! Gerade du hast es nötig, mir mit deiner fragwürdigen Moral, von Güte und Ehre zu kommen! Ausgerechnet du?!“

„Was hat diese Unterstellung zu bedeuten?“

„Das weißt du genau!“

Auch die Gruppe begriff, dass mehr hinter Dragoons Worten steckte. Ein offener Vorwurf schwang in seinem Satz mit. Doch nun formte sich ein Trichter aus den Wolken, der sich bedrohlich seinen Weg zu ihnen hinab tastete.

„Eine Windhose!“, erkannte Max panisch. „Tyson wir müssen weg! Schnell!“

Auch der begriff, dass sie wirklich andere Probleme hatten.

„Wir brauchen aber Galux!“, rief er seinem Freund entgegen. Sie war noch immer kaum von der Stelle gewichen. Ihr Blick lag sorgenvoll auf Driger.

„Bitte lass es! Er könnte dich töten!“, hörten sie Maos Bit Beast drängend zu ihm hinauf rufen. „Bitte tu das nicht! Lass uns wegrennen!“

„Auch wenn ich dich für deine Hingabe liebe, kränkt es mich noch immer, wenn du glaubst ich wäre so leicht zu töten.“, grinste der aber in jenem Moment, mit seinen raubtierhaften Zügen. Etwas schienen ihr diese Worte zu sagen. Tyson sah, wie sie ihr Gesicht gequält verzog und Galux Augen in Tränen zu schwimmen begannen.

„Oh bitte…“

Doch Driger wandte sich nun den Jungen zu.

„Geht! Und nehmt Ray mit! Galux hat meine Erlaubnis ihn zu heilen! Von meiner Seite aus, müsst ihr nicht länger in der Irrlichterwelt bleiben. Ich erteile euch freies Geleit.“

Tyson vernahm ein glückliches Jauchzen von Max. Er selbst wäre am liebsten vor Freude in Tränen ausgebrochen. Doch der Wolkenschlauch griff über ihnen bereits durch die Blätterdecke. Das Laub wurde förmlich hinauf gezogen und ihm wurde klar, dass es höchste Zeit war, den Schauplatz schnellstens zu verlassen. Er spürte einen Sog, der ihn hinauf ziehen wollte.

„Beweg dich Galux!“, bellte Driger ihr nun entgegen. Die Sorge um sie, ließ seine Worte schroffer werden. „Ich will dich nicht in der Nähe haben wenn es losgeht!“

„Bitte bleib am Leben! Bitte komm zu mir zurück!“, flehte Galux ihn noch einmal verzweifelt an. Dann erst wandte sie sich endlich ab. Pfeilschnell huschte sie auf die Gruppe zu. Ihre glimmende Gestalt hüpfte über einen Fels und kam vor ihnen zum Stehen. Dann peitschte ihr langer Schweif um Tysons verletzten Arm. Er zog scharf die Luft ein, packte jedoch mit der anderen Hand nach Kais Kragen.

„Greif nach Max!“, schrie er durch den lärmenden Sturm. Die Blätter rauschten hinter ihnen und die ersten Bäume kippten knackend zur Seite. „Und halt ihn so fest du kannst! Hörst du!“

Kai nickte, umfasste die gesunde Hand ihres Freundes, da kam auch schon Bewegung in die Gruppe. Galux zerrte sie vom Sog weg. Der Schmerz um Tysons Arm ließ nach. Ihr Körper fühlte sich merkwürdig angenehm an. Wie ein wohltuendes Kräuterbad und sie duftete auch geradezu nach ätherischen Ölen. Ihm stieg ein Geruch in die Nüstern, der ihn stark an Lavendel erinnerte. Zu ihren Seiten erspähte er kleine Blitze die aus den Büschen stoben. Der Teil von Allegros Verwandtschaft, der hier angesiedelt war, lief auch schon eiligst davon.

„Schnell weg!“, hörte er eine Gruppe Feldmäuse rufen.

Sie verschwanden in der Dunkelheit der Nacht.

„Wir müssen Ray finden! Ohne ihn gehen wir nicht!“, stellte Tyson noch einmal durch den Lärm hinweg klar.

„Das werden wir auch nicht.“, antwortete Galux. „Das ist ein Versprechen!“
 


 

*
 

Mariah fand ein Kartendeck in ihrem Koffer. Als die Wartezeit unerträglich wurde, hatte sie begonnen, ihre Kleidung in den Schrank einzuräumen. Es war bedrückend nicht hinaus zu können, doch sie hatte Galux ihr Wort gegeben, sich nicht aus dem Zimmer zu bewegen. Doch drei Leute, auf gerade mal fünfundzwanzig Quadratmeter, empfand sie als äußerst beengend. Einige Male musste sie deshalb mit Mr. Kinomiya diskutieren.

„Ich muss nachhause! Sieh mich doch mal an wie ich herumlaufe, Kleines. Außerdem muss ich diesen Hornochsen auf der Präfektur klar machen, dass mein Enkel nicht versucht hat mich zu ermorden.“

„Das verstehe ich ja, aber gedulden sie sich heute noch. Und ihre Kleidung ist doch nun wirklich das geringste Problem.“, sie hatte ihm ihre Tagesdecke gereicht. Seit sie schwanger war, wurde ihr schnell kalt. „Hier. Die können sie haben, wenn es ihnen so unangenehm ist.“

„Ich nehme doch einer Schwangeren nicht die Decke weg. Soviel Anstand muss sein.“

Mariah zuckte mit den Schultern und teilte die Karten aus. Um ehrlich zu sein hatte ihr Mr. Kinomiya bisher mehr Schwierigkeiten bereitet, als Kais kleine Schwester. Die war ein wahrer Goldschatz. Sie hatten sich vor einer Stunde eine Pizza aufs Zimmer liefern lassen. Während dem Essen sprang Jana plötzlich auf und tanzte wie verrückt vor dem Fernseher, als Taylor Swift mit „Shake it off“ spielte. Sie schien vergessen zu haben, dass sie nicht alleine war. Es kümmerte sie auch gar nicht, dass sie dabei beobachtet wurde, lieber ahmte sie etwas tollpatschig, aber dafür zuckersüß die Bewegungen nach. Beide Erwachsenen vergaßen für einen Moment ihre Sorgen und sie konnten nur noch lauthals lachen, dabei klatschten sie, um das Mädchen zum Weitermachen zu animieren. Als Jana fertig war, strahlte sie und entblößte eine kleine Zahnlücke.

„War gut?“, wollte sie mit ihrem hellen Stimmchen wissen.

Mariah lächelte ihr zu. „Einfach Spitze.“

Das Kind faltete die Händchen selig vor dem Oberkörper und wiegte sich freudestrahlend, von einer auf die andere Seite. Man konnte sie wohl schnell glücklich stimmen. Insgeheim fragte sich Mariah aber, woher ihre Frohnatur herrührte.

Es konnte nicht an Kai liegen…

Sie hatte ihn durch Ray zwar näher kennengelernt und auch im Grunde als wirklich anständig empfunden, doch das er zu Ernst war, ließ sich nicht von der Hand weisen. Sie hoffte dass Jana ihrem Bruder, was das betraf, nicht nacheiferte, auch wenn sie ihn mit den Jahren wirklich angefangen hatte zu mögen. Dabei dachte sie daran was sie zu Anfang von ihm hielt - es war nicht gerade nett gewesen.

Ihr Urteil über Tyson und Max war da weitaus gnädiger ausgefallen, denn es war leichter sich über jemanden eine Meinung zu bilden, wenn er etwas aus sich herausließ, als wenn er sich nur wortkarg abwandte. Ray hatte ihr zwar ständig versichert, dass Kai einen sehr guten Kern besaß, doch Glauben schenkte sie dieser Behauptung erst, als ihr Dorf durch einen erneuten Erdrutsch, ihres Trinkbrunnes beraubt wurde. Es war ein Desaster gewesen, denn zu jener Zeit, besaßen die wenigstens Häuser eine direkte Verbindung zu den Wasserleitungen. Das war die Kehrseite wenn man in einem abgeschiedenen Bergdorf wohnte, welches noch an den Traditionen von vor hundert Jahren hing. Ray und sie waren frisch verlobt, Max war noch nicht in die USA ausgewandert und Kai hatte gerade seinen verstorbenen Großvater in der Firma abgelöst. Sie wusste noch, wie ihr Mann betrübt einen Brief an Tyson verfasste und ihm darin mitteilte, dass er leider nicht zu ihrem Treffen nach Japan kommen konnte, da er bei den Aufräumarbeiten helfen wollte.

Irgendwie musste das Unglück des Dorfes die Runde gemacht haben, denn zwei Wochen darauf, bat ein Vertreter einer Baufirma aus Japan, um eine Unterredung mit ihrem Dorfältesten. Er wollte für eine Werbekampagne beim Wiederaufbau helfen und verlangte lediglich dafür, einige Fotos schießen zu dürfen, um sie in einem Projektkatalog für seine Kunden aufzuführen.

„Ein paar lächelnde Gesichter dort, ein paar Kinder die glücklich in die Kamera winken hier, und die Kundschaft ist tiefberührt vom sozialen Engagement unserer Firma.“, hatte der Vertreter sich begeistert dazu geäußert. Sein Ziel war es die Trinkwasserversorgung zu sichern und das Fundament der Häuser zu stärken, außerdem sollte auch endlich eine Anbindung an das Kommunikationssystem erfolgen. Mariah wusste noch wie sie jubiliert hatte, denn das hieße endlich, dass man nicht in die nächste Ortschaft laufen musste, nur um ein Ferngespräch zu führen. Ray hatte sein Glück kaum fassen können, war aber, genauso wie ihr Bruder, skeptisch gegenüber diesem Angebot, denn es kam ihm viel zu wohlwollend vor. Dennoch schlug ihr Ältester, in Anbetracht der misslichen Notlage ein und bat Ray und Lee, dem Mann bei den Vermessungen und anderen Beratertätigkeiten beizustehen.

Eines Tages kamen die beiden, mit einer Infomappe des Vertreters, zu ihnen nachhause und studierten die Grundrisszeichnungen die er entworfen hatte. Da der Weg in ihr Dorf beschwerlich gewesen war, stand der Mann unter Zeitdruck, denn er musste zur nächsten Ortschaft fahren, um seinen Vorgesetzten Auskunft, über die Zustimmung des Dorfältesten zu erteilen und die ersten Bestellungen, für das Baumaterial, ins Rollen zu bringen. Man hatte bei ihnen einen miserablen Empfang was das Handy anging, es war als lebte man in einem Funkloch. Die wenigsten von ihnen besaßen deshalb eines. Damals griff man noch auf den guten alten Briefbogen zurück. Also boten Ray und Lee dem Vertreter an, dass er seine Mappe doch bei ihnen lassen könne und sie ihm bei seiner Rückkehr, eine grobe Skizze, mit den Abmessungen gezeichnet hätten. Der Mann hatte ihnen freudestrahlend seinen Dank ausgesprochen und war eine Stunde später aufgebrochen. Die beiden waren den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen und als sie abends bei ihnen zuhause saßen, spähte Mariah neugierig über ihre Schultern hinweg und horchte mit. Diese Zukunftsmusik, die endlich Einzug in ihr beschauliches Dorf halten sollte, empfand sie als geradezu aufregend. Dabei fand die Gruppe zwischen den Plänen ein Dokument, das offenbar nichts bei den Zeichnungen zu suchen hatte. Es war offenbar das Schreiben eines Auftraggebers der Baufirma, was ihnen zunächst allen merkwürdig vorkam, da das Projekt doch angeblich nur der Öffentlichkeitsarbeit diente. Lee hatte das Blatt zuerst in den Händen gehalten. Seine Augen hatten sich geweitet.

„Wie heißt Kai nochmal mit Nachnamen?“

Als Ray ihm etwas irritiert, über diese plötzliche Frage eine Antwort nannte, schob er das Blatt auf der Tischplatte, zu ihm herüber und tippte mit dem Zeigefinger auf das Firmenlogo.

Zunächst blinzelte Ray perplex. Er nahm das Blatt in die Hand…

Und las den Namen der Firma einmal laut vor: „Hiwatari Corp?“

Dann ein weiteres Mal…

„Hiwatari Corp?!“

Er starrte verdutzt auf den Briefkopf. Danach auf die selbstsichere Unterschrift, welche dieses Schreiben abgesegnet hatte - bis die Erkenntnis ein breites Grinsen über seine Mundwinkel zauberte. Er strahlte in die Runde und meinte nur:

„Das bleibt aber unter uns. Versprochen?“

„Aber wieso denn?“, Mariah wusste noch wie fassungslos Lee über Rays Worte war. „Er ist dein Freund! Und er hat unserem Dorf einen großen Dienst erwiesen! Wir müssen ihm doch wenigstens ein Zeichen des Dankes entgegenbringen!“

Zu ihrer beider Überraschung hatte Ray aber darauf nur den Kopf geschüttelt. Ein nachsichtiges Lächeln lag um seinen Mund und er hielt die Lider geschlossen. Diese heimliche Geste hatte ihn tief gerührt.

„Er will das nicht. Sonst hätte er daraus nicht so ein riesen Geheimnis gemacht.“

„Das lässt meine Ehre nicht zu!“, hatte ihr Bruder die Brust gestreckt. „Ich will mich erkenntlich zeigen. Das ist das Mindeste!“

„Und genau das lässt Kais Ehre nicht zu. Er braucht keine Anerkennung und will sie auch nicht. Glaubt mir, ich kenne ihn. So ist er nun mal…“

Am nächsten Morgen überreichten beide dem Vertreter, die Mappe mit den Skizzen wieder. Während der Übergabe, fragte Ray mit einem unschuldigen Lächeln, ob er das Anschreiben seines Auftraggebers vermisse. Ihr Gegenüber wurde aschfahl und verbeugte sich vielmals. Gleichzeitig bat er darüber Stillschweigen zu bewahren.

„Mein Mandant meinte er lege äußersten Wert auf Diskretion. Er wollte gar nicht das sein Name, mit diesem Bauprojekt in Verbindung gebracht wird.“

Ray versprach ihm daraufhin das Ganze als Ungeschehen zu betrachten.
 

Ein Jahr darauf, als das Dorf wieder aufgebaut, sie endlich ihre Hochzeit feierten und die restlichen Bladebreakers dazu angereist waren, saßen sie in ihrem frisch fertiggestellten Häuschen, inmitten einer fröhlichen Runde. Ray hatte seine Freunde als Ehrengäste betrachtet und sie deshalb bei sich daheim einquartiert. Da er kaum noch Verwandtschaft besaß, schien es Mariah, als ob seine Ersatzfamilie im Haus sei. Zuvor ermahnte er aber Lee noch einmal, mit keinem Wort, das Thema mit dem Bauprojekt, anzusprechen. Sie wusste noch, wie verstimmt ihr Bruder gewesen war. Es widersprach seiner Ehre sich nicht bei Kai dafür erkenntlich zeigen zu dürfen. Das verging aber Recht schnell, als die ersten Schnapsflaschen geöffnet wurden. Es war ein wirklich lustiger Abend gewesen.

Was hatten sie nicht alle gelacht…

Tyson und Max hatten ganz schön was gebechert, irgendwann veranstalteten sie sogar ein Trinkspiel mit Lee, während Kai sich zum Schluss nur auf Tee beschränkte. Er hatte die Krawatte gelockert und sich die Schläfe massiert, da die Gruppe mit zunehmenden Alkoholpegel lauter wurde. Dennoch lag um seine Wangen eine leichte Röte, denn auch wenn er nur zur Hälfte asiatischer Abstammung war, machte sich Alkohol bei ihm ebenso deutlich bemerkbar, wie beim Rest der Gruppe – wenn auch nicht so heftig wie bei Kenny. Der hatte vielleicht ausgehen!

Selbst unter seinem buschigen Haarschopf, sah man den angelaufenen Kopf. Die Röte begann beim Hals und war weitergewandert bis in die Wangen, bis er überall von Flecken übersät war. Er glühte wie eine rote Ampel und Mariah merkte, dass er überhaupt nichts vertrug, da der Chef als erster mit dem Lallen begann. Zum Schluss war jedes gesprochene Wort aus seinem Mund, nur noch ein schwerfälliges Kauderwelsch. Als sie Kai dagegen einschenkte bedankte er sich seriös. Sie merkte dass er wirklich viel Wert auf Etiketten legte. Offensichtlich kam da doch manchmal seine vornehme Erziehung bei ihm durch. Er hatte sich auch viel mehr zurückgehalten, als die restlichen Besucher. In ihren Augen schien er stets darauf bedacht, in jeder Situation seine stolze Haltung zu wahren. Vor allem die so typische japanische Distanz zu anderen Personen, stach ihr ins Auge, dabei hatte sie das immer für ein Klischee gehalten.

Irgendwann im Laufe des Abends, als die Stimmung bereits ihren Höhepunkt erreichte, lallte Kenny gutgelaunt, dass er sich ihr Dorf ganz anders vorgestellt habe, denn die Fortschritte aufgrund des Bauprojektes, hatten das Leben hier viel angenehmer gemacht. Daraufhin erzählte Ray ihnen von der Baufirma aus Japan, ließ aber ihre geheime Entdeckung außen vor. Es überraschte Mariah wie talentiert Kai sein Pokerface aufsetzte. Man hätte meinen können, er habe tatsächlich nichts damit zu tun gehabt und er machte auch keine Anstalten, seine Mithilfe hervorzuheben. Er lauschte unberührt Rays Worten und bediente sich stillschweigend am Menü. Ihr wurde an jenem Tag klar, dass er kein Interesse daran besaß, sich in den Vordergrund zu drängen – und dass ihn so etwas auch eher in Verlegenheit brachte. Denn sobald Tyson hörte, dass eine japanische Firma der Auftraggeber gewesen sei, schnellte sein Blick zu ihm und er haute mit einem lauten "AHA!“ auf die Tischplatte.

„Das war's du!“ Sein Finger richtete sich anklagend auf Kai. Der hatte sich gerade, von den frisch aufgetischten Tellern, etwas nehmen wollen. Wie vom Donner gerührt, verweilte er einen winzigen Moment, mit den ausgestreckten Essstäbchen zwischen den Fingern. Dann nahm er sich eine Portion und führte sein Schälchen ungerührt ans Kinn.

„Ich weiß nicht was du meinst.“, sprach er gleichgültig.

„Ach komm schon, das trägt deine Han… Handschrift!“, stolperte Tyson über das letzte Wort.

„Du bist betrunken.“, kommentierte Kai lediglich trocken.

„Un du bis Außen weich und Innen butterweich.“

„Da verwechselst du etwas.“

„Ja dann das andere. Innen hart, weich…“, etwas verwirrt versuchte er die richtige Reihenfolge zu finden, gab dann aber mit einer unwirschen Handbewegung auf. „Auf jeden Fall klingt das nach dir. Solche heimlichen Aktionen mach’s nur du. Das lieb ich an dir!“, fröhlich haute Tyson ihm auf den Rücken, das Kais Häppchen vom Stäbchen hopste. Mariah musste kichern, als es vor ihr, in Rays Glas landete. Ihr frischgebackener Ehemann schaute sie traurig an und schmollte ob des guten chinesischen Schnaps, für den sie zu diesem Anlass, doch so viel hingeblättert hatten. Kais Augen wurden zu Schlitzen und sie hatte sich amüsiert gefragt, wie lange er wohl diese Maskerade noch aufrecht halten wollte. Stattdessen sahen alle überrascht dabei zu, wie Tyson ganz unverfroren mit der Hand dessen Gesicht umfasste und herzhaft seine Wangen presste. Kais Augen waren im ersten Moment vor Schreck groß geworden, bis sie sich zu einem mörderischen Blick verzogen.

„Seht ihn euch an! Is er nicht butzig? Will nich selbst für sich die Trommel rühren…“, ein Schluckauf unterbrach Tyson. Dann beteuerte er Kai: „Keine Sorge, ich mach das schon für dich!“

„Hör auf! Das ist ja peinlich was du hier treibst.“, riss der sich verärgert los.

„Er war`s Ray!“, petzte Tyson ganz unverfroren. „Das is so typisch Kai. Unsre Primadonna is zu verklemmt, um mal ein paar Gefühle raus zu lassen!“

„So ein Blödsinn.“

„Er is sehr schüchtern, weiß du Mao.“, hatte er sich ihr gutgelaunt zugewandt. „Der arme Junge kann seine Ge… Gefühle nicht ausdrücken. Aber wir lieben ihn trotzdem.“

„Alles was er jetzt sagt, solltet ihr nicht auf die Goldwaage legen.“, Kai hatte neben ihm verärgert das Kinn angehoben. „Wenn er betrunken ist redet er Mist.“

„Ich liebe diesen Jungen!“, rief Tyson plötzlich geradeheraus und die Gruppe musste schallend lachen, als er den anderen Arm stürmisch um Kais Schulter warf und ihn herzlich an sich drückte. „Un ich steh dazu, verdammt!“

Der stöhnte nur genervt. Kai schien sich zu fragen, womit er das verdient hatte.

„Reiß dich zusammen!“

„Ja Liebling.“

Es ließ die Gruppe erneut schallend lachen. Sie wusste noch wie Lee sich die Tränen weggewischte. Tyson hatte in der Zwischenzeit nach der nächstbesten Flasche gegriffen und sich summend eingeschenkt, wobei nur eine Hälfte des Schnapses es ins Glas schaffte, während er den anderen Teil großzügig über die Tischdecke verteilte. Dabei gerieten beide in Bewegung, doch von Kai ablassen wollte er offenbar auch nicht. Ray stöhnte als er die Verschwendung dieses edlen Tropfens mitansehen musste.

„Pass doch auf! Hast du eigentlich nicht genug?“

„Nääh... Zum Wohl!“

„Dann trink und halt dabei wenigstens die Klappe.“

„Nein, ich muss dir jetzt nämlich mal sag´n… Das war wieder ein feiner Zug von dir!“, philosophierte Tyson und tätschelte Kai freundschaftlich die Wange. „Wie damals als mein Opa im Krankenhaus lag. Ich war richtig fertig mit den Nerven… Und Kai hat mich aus meinem Loch geholt.“ Ein kleines Hicksen ließ ihn kurz verstummen. „Er tut zwar immer, als ob er hart is, aber der Junge hat nen goldenen Kern…“

Mariah hatte belustigt gekichert, während Tyson sich trotz seines heftigen Schluckaufs, nicht davon abbringen ließ, ihnen von dem damaligen Erlebnis zu erzählen. Sie musste dabei mehrmals zu Kai schielen, der mit jedem Satz immer wortkarger wurde und erkannte zu ihrer Verblüffung, dass er tatsächlich ziemlich verklemmt war. Es war wirklich interessant, wie falsch sie mit ihrem ersten Eindruck bei ihm lag. Sie hätte nicht erwartet, dass gerade dieser abgebrühte Kerl, etwas wie Beschämung empfinden konnte. Dazu war er einfach zu selbstsicher aufgetreten. Nun kniff er aber mehrmals gequält die Augen zusammen, wenn Tyson ihn, mit einem verschwörerischen Grinsen, in die Seite stupste und presste die Lippen fest aufeinander, sobald er von seinem goldenen Kern schwärmte.

„Wisst ihr, ich hab schon immer ge… gewusst, dass der Junge uns insgeheim liebt.“

Sie sah Kais Braue angespannt zucken. Offenbar besaß Tyson ein Talent dafür, dessen Fassade bröckeln zu lassen. „Wärs du ne Frau ich würd dich flach legen.“

Sie hörte ihn zischend ausatmen, während das Grölen wieder die Runde machte. Nun brannte sein Gesicht auch ohne Hochprozentiges lichterloh. Kenny kam aus dem Glucksen gar nicht mehr heraus und japste erstickt nach Luft.

„Hört! Hört! Ihr würdet vielleicht ein Paar abgeben!“, rief Lee ebenso beschwipst und prostete Tyson zu. Dann hatte er sich lallend seinem frischgebackenen Schwager zugewandt: „Der Junge is stockbesoffen!“

Auch Mariah musste Grinsen, weil Kai Tyson kurz darauf vorwarf, sich einfach peinlich zu benehmen. Er solle mal ein wenig Rückgrat zeigen. Der quittierte das Ganze, mit der äußerst belustigten Bemerkung, dass Kai das bereits seit Jahren behauptete und dennoch mit ihm befreundet sei, woraufhin Kai grantig konterte, dass er sich die Kugel verpasst hätte, wenn er schon früher gewusst hätte, was bei einer Freundschaft mit ihm, auf ihn zukam. Tyson quittierte das Ganze mit einem übertriebenen Schmollmund, doch das Rollen mit den Augen, ließ sie ahnen, dass dieses Gespräch nicht zum ersten Mal zwischen ihnen stattfand. Ohnehin war es die reinste Wonne, die beiden in Aktion zu erleben. Ray hatte bereits ein paar Mal erwähnt, dass sie sich wie ein zankendes Ehepaar verhielten, sobald sie erst einmal mit ihren Sticheleien begannen, und sie prustete auch gleich darauf verhaltend in ihr Glas, als Tyson dem ganzen noch die Kirsche aufsetzte.

„In deinem nächs´n Leben muss du ne Frau werden. Das wär mal ne geile Kombi…“

„Eher nicht.“, sie sah Kai mit den Zähnen knirschen, während seine Wangen brannten.

„Warum nicht?“

„Ich bin russisch-orthodox und wir glauben – Gott sei Dank - nicht an Wiedergeburten.“

„Nääh, so en Stuss! Ihr Christen seid doch alle Banane im Kopf!“

Max hatte die Stirn für eine beleidigte Entgegnung von der Tischplatte gehoben, ließ den Kopf aber doch wieder erschöpft sinken. Offenbar war ihm das die Anstrengung nicht wert gewesen. Kurz darauf folgte eine amüsante Diskussion der beiden, in welcher sie mehrmals einen Blick zu ihrem Bruder warf. Beide hatten nicht erwartet, dass Tyson und Kai so miteinander umsprangen. Eher hätten sie gemeint, dass Tyson irgendwann vor seinem ehemaligen Teamleader einknickte - aber Fehlanzeige! Der Junge nahm sich überhaupt kein Blatt vor den Mund, obwohl Kai doch der Ältere war. Sie wusste noch, wie Ray ihr einen Arm um die Schulter legte und ihr grinsend ins Ohr hauchte:

„Altes Ehepaar. Hab ich dir doch gesagt.“

Erst als Max verkündete dass ihm übel sei, ließ Tyson von seiner „großen“ Liebe ab und tätschelte seinen Freund aufmunternd über den Rücken. Kurz darauf beteuerte er ihm ebenfalls seine unendliche Zuneigung. Kai hatte lange auf die beiden geblickt, bis er seufzte und sich unangenehm berührt, dem frisch vermählten Paar zuwandte.

„Ich kann mich bei euch beiden nur für dieses Trauerspiel entschuldigen.“

Doch Ray tat eine wegwerfende Bewegung mit der Hand und entgegnete, dass er froh sei, sein neues Heim mit so viel Gelächter erfüllt zu wissen. Dann schenkte er Kai, Mariah und sich ein. Er hob sein Glas und meinte: „Ich bin einfach nur froh dass ihr hier seid. Und dass wir dich unseren Freund nennen dürfen.“

Ein verschwörerisches Augenzwinkern folgte. Zunächst hatte Kai ihn finster angeschaut, wahrscheinlich weil er befürchtete, dass Ray das Thema mit dem Erdrutsch, nun auch ausweiten wollte. Er ahnte welche versteckte Botschaft dahinter steckte und das die Katze nun doch aus dem Sack war. Sentimentalitätsbekundungen gehörten offenbar wirklich nicht zu seinen Stärken. Da hob Mariah auch ihr Glas und lächelte ihn freundlich zu.

„Ja. Vielen Dank Kai. Du weißt gar nicht wie sehr du unserem Dorf damit geholfen hast.“

Sein ernsthafter Blick haftete noch lange auf ihnen.

Doch dann hatte er verächtlich geschnalzt und dann doch zum Glas gegriffen.

„Schon gut. Wenn ihr dann endlich Ruhe gebt… Damit ist das Thema dann aber endlich von Tisch, okay? Ich will nichts mehr darüber hören.“

Mariah strahlte als er durch die Blume hinweg eingestand, was allen mittlerweile schon längst klar geworden war und bemerkte voller Belustigung, wie unangenehm ihm das war. Er war tatsächlich etwas zurückhaltend, wenn es darum ging, seinen Freunden seine Zuneigung entgegenzubringen. Auch ihrem Mann entging das nicht.

„Klar, ich weiß doch dass du kein Fan von Rührseligkeiten bist.“, Ray hatte sein Glas an den Mund gehoben und mit einem unschuldigen Grinsen hinzugefügt. „Tysons inbrünstige Liebeserklärung kann ich ohnehin nicht toppen.“

Kais giftiger Blick hatte sie beide auflachen lassen, doch da sie es ihm versprochen hatten, ließen sie von weiteren Anspielungen ab. Es war eine so schöne Feier gewesen und bis in die frühen Morgenstunden saßen sie beisammen. Die Gruppe hatte gelacht, gesungen und herumgealbert. Auch wenn die Strafe am nächsten Morgen auf dem Fuße folgte, als Kenny in die Toilette reiherte und somit feierlich das neue Haus einweihte. Doch Mariah hatte alles mit einem Lächeln hingenommen, denn es war schwer diese Truppe nicht lieb zu gewinnen - und Kenny hatte die Toilette ohnehin selbst saubermachen dürfen. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, dass diese Zeiten bald vorbei sein könnten. Ein Leben ohne ihren Mann konnte sie sich gar nicht vorstellen…
 

„Mara, wann Kai wieder komme?“, wollte Jana plötzlich wissen.

Die Frage hatte sie aus ihren Überlegungen gerissen.

„Oh Spätzchen…“, bedachte sie das Mädchen traurig. Was würde aus ihr werden wenn die Gruppe tatsächlich nicht mehr Heim kehrte? Der Gedanke trieb ihr die Tränen in die Augen. Es war nicht nur das Mitleid für das Kind, sondern auch die Aussicht Ray nie wieder zu sehen - und sie hätten sich noch nicht einmal versöhnt. Es waren so schlimme Worte zwischen ihnen gefallen. Ob es die Hormone waren oder doch der Druck der auf ihr lastete, plötzlich verschwamm ihr die Sicht. Sie räusperte sich um wieder Herrin über sich selbst zu werden. Krampfhaft versuchte sie den aufkommenden Tränenfilm wegzublinzeln.

„Alles in Ordnung, Kindchen?“, fragte Mr. Kinomiya sorgenvoll.

„Ja. Das sind die blöden Schwangerschaftshormone. Das passiert…“

Der gute Mann stand auf, um ihr die Box mit den Kosmetiktüchern, von der Kommode zu bringen. Sie nahm sie dankend entgegen und tupfte sich die ersten frechen Tränen weg.

„Arme Mara. Nich weine!“, Jana legte den Kopf auf ihren Schoß und streichelte ihr Knie. „Alles gut. Ich da. Pass auf dich auf.“

Mariahs gerührtes Glucksen war tränenerstickt.

„Du passt auf mich auf? Ehrlich?“

„Ja. Ich weiß wie geht!“, beteuerte das Mädchen ganz stolz. „So wie Kai immer zu mich sagt. Wenn ich weine er sagt alles werde gut.“, Jana tätschelte sanft ihr Bein. „Hat du Aua? Soll ich Fu mache?“

„Nein. Mir geht es gut kleiner Schatz.“, Mariah schnäuzte sich und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen wollte.

„Kinder sind wirklich was feines.“, strahlte Mr. Kinomiya und verschränkte die Arme vor der Brust. Mariah erkannte in dieser Geste Tyson wieder. In jenem Moment wurde ihr klar, wie ähnlich er seinem Großvater war. Es schnürte ihr ein weiteres Mal die Kehle zu und sie ermahnte sich, vorerst nicht an die Gruppe zu denken. Ihr Gemütszustand machte dadurch nur einen steilen Schlenker abwärts.

„Weißt du, wo immer die Grünschnäbel sich herumtreiben, die werden klar kommen.“

Sie nickte hoffnungsvoll.

„Wir müssen einfach auf Galux vertrauen.“, irgendwie beschlich Mariah das Gefühl, als wollte sie sich mit diesen Worten eher selbst beschwichtigen. Ihr ungeborenes Kind trat kurz im Bauch und sie keuchte leise auf.

„Galu Kuschelkatze.“, kommentierte Jana verträumt. „Hat flauschig Fell.“

Mariah kicherte leise über diesen kindlichen Gedankensprung, bis die Gruppe aufschreckte, als draußen vor dem Fenster das Scheppern von Blech zu ihnen hochschallte. Janas Kopf schoss hoch. Sie ließ sofort von Mao ab und rannte zur Scheibe, um ihr Gesicht schaulustig dagegen zu pressen.

„Oh oh… Auto putt! Guck Opa!“

Die beiden Erwachsenen gesellten sich neugierig zu ihr. Draußen war ein PKW gegen eine Straßenlaterne gefahren. Scheinbar wollte der Fahrer einer Fußgängerin ausweichen, der gerade danach war, inmitten des Verkehrs einen Spaziergang zu machen. Sie hielt etwas in den Händen. Mariah konnte von hier oben nicht erkennen was es war, doch es leuchtete. Sie vermutete ein Lampion, denn es schien oval zu sein. Etwas an der Frau bereitete ihr Unbehagen, denn ihre Bewegungen wirkten merkwürdig. Ihre Schritte waren klein und schleifend. Sie machte sich auch nichts aus dem schreienden Fahrer, der mit hochrotem Gesicht aus dem Wagen stieg und sie zur Rede stellen wollte. Es machte den Anschein als wolle sie sich vom Unfallort entfernen, da rannte er ihr hinterher und packte sie am Oberarm.

„Hiergeblieben! Das nehme ich nicht auf meine Kappe!“

Seine zorngeschwängerte Stimme hallte bis hinauf. Da machte Mariah eine weitere Gestalt aus, die in etwas größerem Abstand hinter der Frau heranschlurfte und nun aufholte. Er packte den Fahrer am Kragen und warf ihn rücklings auf den asphaltierten Boden.

„Ui ui!“, hüpfte Jana klatschend auf der gepolsterten Fensterbank. „Kloppe!“

„Das sind bestimmt Betrunkene von einer Halloweenparty.“ Mr. Kinomiya presste genauso begierig das Gesicht gegen die Scheibe. Er schien sich das keinesfalls entgehen lassen zu wollen. „Herrlich so eine Rauferei. In meiner Jugend hättet ihr mich mal erleben müssen. Der rechte Haken der mich treffen konnte, musste erst noch geboren werden!“

„Also wirklich! Das ist nichts für die Kleine.“

Mariah zog die Vorhänge entschieden zu und ein langgezogenes „Oh!“ machte die Runde.

Sie konnte kaum sagen wer von den beiden enttäuschter schaute.
 

ENDE KAPITEL 30
 

Desto weiter Ray lief, desto mehr flaute das drückende Gefühl auf seinen Schläfen ab. Es war ein schwacher Trost, doch er versuchte positiv zu denken, auch wenn es ihm noch so schwer fiel. Ein klarer Kopf war das Einzige was ihm jetzt noch blieb. Er verweigerte sich jegliche Gedanken in Richtung seiner Familie, seiner Freunde, seinem alten Leben…

Es hätte ihn nur dazu verleitet seine Entscheidung zu überdenken.

Oder sogar daran zu verzweifeln. Das konnte er nicht gebrauchen.

„Denk an etwas Schönes.“

Einen Moment hielt er inne.

Die Luft war frisch und von einer angenehmen Kühle.

Wie in den Wäldern seines Heimatdorfes. Als er es so überstürzt verlassen hatte, lagen die Bäume in ihrem bunten Herbstkleid. Das Farbenspiel begann in den Ästen und hinterließ irgendwann eine leuchtende Decke aus Rot-, Gelb- und Brauntönen auf dem Erdboden. Ray hielt inne. Seine stützende Hand ruhte auf der groben Rinde eines Baumes und zitterte.

Er tat es schon wieder…

Ständig schweiften seine Gedanken zurück zu seinem alten Leben.

Ein wehmütiges Lächeln trat auf sein Gesicht. Genaugenommen entsprach das, was er hier tat, der blanken Ironie. Er hatte China unbedingt verlassen wollen und nun, da er es nie wieder sehen sollte, war es mitunter einer der schmerzlichsten Erinnerungen.

Eigentlich hatte er sich die Auswanderung doch nur schön geredet.

Die Ein-Kind-Politik war ihm ein Dorn im Auge gewesen. Die Angst vor den Mädchenräubern hatte ihm das Herz zugeschnürt. Da war der Streit mit Mariah doch nur der Tropfen der das Fass zum Überlaufen brachte. Hätte ihn jetzt jemand gefragt, er wüsste dennoch keinen schöneren Ort als seine Heimat. Es war sonderbar, doch sobald ihn die Sehnsucht danach packte, kam ihm die Luft dort sauberer, die Bäche klarer und das Grün der Bäume satter vor. Ray wusste noch, wie er einmal vor seinen Freunden, von den Nächten in seinem Dorf geschwärmt hatte.

„Du siehst dort viel mehr Sterne als in Tokio. Einfach weil die Luft dort sauberer ist. Es gibt keine Hochhäuser, die deine Sicht trüben und wenn du zum Mond schaust, kannst du jeden einzelnen Krater auf ihm zählen.“

Er wusste noch wie Tyson gelacht hatte und ihm vorwarf zu übertreiben. Bis der sich bei seiner Hochzeit mit Mao selbst ein Bild davon machen konnte. Seine Freunde waren eine ganze Woche geblieben und Ray hatte sie zum höchsten Punkt, ihres Dorfes geführt. Von einem Hügel aus, blickten sie auf das Tal hinunter und in seiner Euphorie konnte Tyson nicht anders, als einen lauten Jubelschrei fahren zu lassen. Er fand den Ausblick einfach zu herrlich. Sein Ruf war noch lange als Echo zu vernehmen, bis auch Max johlend einstimmte. Der Dorfälteste meinte einmal grinsend, man habe ihre Stimmen, bis in den leisesten Winkel jeder Hütte vernommen. Seine Freunde hatten damals gemeint, dass sie nun öfters zu Besuch kommen wollten.

Dafür war es wohl nun zu spät…

Ray schloss die Lider und ermahnte sich nicht daran zu verzweifeln. Es stellte keine Verbesserung seiner Situation dar. Er fröstelte als ein Windhauch durch das Blätterdach fegte. Es war eiskalt und aus dem Hauch wurde schnell eine heftige Böe. Sein Blick richtete sich zu dem Geäst über ihm und seine Intuition sagte ihm, dass etwas daran verkehrt war. Das Blätterwerk rauschte zu heftig und irgendwo in der Ferne, vernahm er ein geräuschvolles Poltern, als stürze ein Baum einen Hang hinab.

Das Rascheln wurde hinter ihm lauter.

Ray kniff die Augen zusammen und wachsam schaute er in den finsteren Dschungel hinter sich. Er machte kleine funkelnde Punkte aus, die eiligst auf und ab hüpften. Der Anblick kam ihm bekannt vor, bis eine Schar Strommäuse an ihm vorbeihuschte. Genau wie bei Dizzys Beerdigung, flitzten die winzigen Bit Beasts, als farbenfrohe Blitze zwischen seinen Beinen hindurch. Dabei fiepten sie in heller Aufregung:

„Aus dem Weg!“

„Schnell beeilt euch!“

„Den letzten holt der Drache!“

Eine Springmaus traf Rays Wade. Er schrak auf als die elektrische Ladung ihn durchfuhr, genauso wie das Feldmäuschen, was gegen ihn gerannt war. Es schüttelte sich verwirrt und quiekte panisch als es ihn erblickte. Dann flackerte es auf und suchte das Weite.

„Ach verdammt, bleibt mir heute nichts mehr erspart?“, fauchte er erbost und rieb sich die Wade. Der Stromschlag tat höllisch weh. Unweigerlich musste sich Ray fragen, was er in seinem früheren Leben ausgefressen hatte, um so etwas zu verdienen. Vielleicht war er ein Kinderschänder gewesen, ein Kannibale, ein Serienkiller – oder sogar Hitler!

Inmitten seiner frustrierten Überlegungen, schwoll der Sturm um ihn herum zu voller Kraft an. Er musste einen Unterschlupf finden, bis die Windböen sich gelegt hatten. Mit einem unguten Gefühl dachte er dabei an seine Freunde. Ob sie ohne ihn klar kamen?

Er hoffte inständig, das Galux sie bereits aus diesem Teil der Irrlichterwelt führte und sie somit dem aufbrausenden Orkan entkamen. Wenige Meter neben ihm krachte es da plötzlich laut. Ray fuhr erschrocken auf, da kippte auch schon ein Baumstamm dicht neben ihm um.

Er musste weg. Sofort!

Sein Blick haftete an der zertrümmerten Rinde und ihm wurde klar, wie knapp der zentnerschwere Stamm sich neben ihm in die Erde fraß. Er formte unter sich eine Kuhle und türme den Dreck zu beiden Seiten nur so auf. Und da geschah es…

Es war nur ein flüchtiger Moment der Unachtsamkeit.

Er hatte nur darüber nachgedacht das er jetzt unter diesem Stamm liegen könnte.

Dabei versuchte er einzuschätzen, wie viel Gewicht auf seinen Körper gewirkt hätte, denn ihm wurde klar, dass sämtliche seiner Knochen zertrümmert worden wären. Ein dicker Kloß schwoll in Rays Hals an. Da vergaß er dem Blätterwerk über ihm mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Dort schwebte ein dicker Ast, weniger Meter über dem Boden und schaukelte heftig im Wind. Eine tiefe Kerbe zog sich durch dessen Oberfläche. Mit jeder Böe die ihn erfasste wurde der Riss größer.

Er wippte und klackte.

Immer wieder…

Und zu dem Zeitpunkt, als er den äußerlichen Krafteinwirkungen nachgab, stand Ray noch genau unter ihm. Als es über ihm krachte, jagte sein Blick hinauf. Er reagierte zwar schnell, aber nicht schnell genug. Als er zur Seite hechtete, war der Ast bereits auf voller Talfahrt. Das Holz brach über ihm zusammen und zerbarst in zwei Hälften. Etwas erwischte ihn am Hinterkopf. Ray schaffte es nur noch sich auf den Bauch zu werfen und fühlte kurz darauf einen betäubenden Schmerz im Oberschenkel. Wie gelähmt verweilte er einen Moment, mit weit aufgerissen Augen auf dem Boden. Ein Schmerzensschrei wollte aus seiner Kehle kommen, doch der Laut blieb im Angesicht der immensen Qualen nur ein abgehacktes Keuchen. Augenblicklich begann sein Körper unter der Anstrengung zu erzittern. Ray stemmte benommen seine Brust hoch, um besser über seine Schulter spähen zu können. Er wollte wissen was da passiert war, denn sein Bein ließ sich nicht anheben.

Der Tunnelblick war wieder da…

Der Schmerz legte einen betäubenden Schleier auf seinen Verstand.

Seine Pupillen huschten über seinen Oberschenkel. Etwas ragte dort heraus.

In der Finsternis machte er nicht viel aus, doch als der Mond eine seine Strahlen zu ihm herab senkte, tauchte er seinen Körper in sein kaltes Licht - und offenbarte ihm das Ausmaß der Verletzung. Ray stockte der Atem. Gefangen in seinem Schockzustand, war es alles wozu er im Stande war.

Er sah Geäst. Kleine Zweige. Große Zweige…

Und inmitten dieses Wirrwarrs aus Blättern und Dickicht einen kräftigen Ast, der sich wie ein Pflock durch seinen Oberschenkel bohrte und ihn fest auf den Boden pinnte. Zitternd versuchte sich Ray aufzurichten und womöglich das Astwerk mit sich. Es hatte nur so viel Wirkung, dass der Schmerz ihm durch alle Glieder jagte und er laut aufbrüllte. Dann kroch die Panik in seinem Körper hoch und ließ ihn geradezu in seiner Stellung gefrieren. Er kam nicht mehr alleine frei. Nicht unter diesen Voraussetzungen. Verstört legte Ray seinen Kopf auf den kalten Erdboden. Der Geruch von Gras und feuchter Erde stieg ihm in die Nase. Seine Finger krallten sich in die Halme. Erst langsam begriff er wie schnell sein Atem nun ging.

„Ray!“

Er hielt es für eine Einbildung.

Er meinte Tysons Stimme inmitten des Sturms auszumachen.

Der Wind toste bedrohlich, als ob eine wütende Bestie anklagende Worte brüllte.

Wie ein wildes Tier…

„Ray! Bitte komm zurück!“

Diese Person klang besorgt. Ihre Stimme überschlug sich förmlich.

„Max?“, murmelte er die leise Erkenntnis ins feuchte Gras. Sein Verstand konnte nicht klar denken. Ray war wie betäubt. Er spürte wie ihm durch den Schlag auf den Hinterkopf, das warme Blut an der Wange herabrann. Aus den Augenwinkeln nahm er vage eine Lichtquelle wahr, welche nicht vom Mond herrührte. Sie näherte sich und leuchtete hektisch die Umgebung ab.

„Ich wittere ihn!“

Über ihm knackte das Blätterwerk weiter. Irgendwo polterte etwas in der Dunkelheit herab. Es klang wie ein Erdrutsch. Ihm ging durch den Kopf das seine Eltern bei einem Erdrutsch gestorben waren.

„Großer Gott! Tyson da unten!“

Der Lichtkegel kam näher. Er hörte schlitternde Laute. Schritte die sich eiligst näherten und den Sturm um ihn herum. Dann umgriffen Finger seine Schultern. Er spürte Hände die ihn vorsichtig berührten.

„Ray, hörst du mich?“

Max Gesicht erschien in seinem Blickfeld.

Es war aschfahl. Die tiefblauen Augen weit aufgerissen.

Er fühlte zwei Finger die seinen Hals abtasten. Sie verweilten an einem Punkt.

„Er lebt!“

„Warum antwortet er nicht?“

„Ich glaube er steht unter Schock!“

„Tyson, schau mal da! Da ist ein Stock in Rays Bein.“

Eine Kinderstimme… Was machte ein Kind hier?

Die Menschen um ihn herum verstummten einen Moment.

Ein grüner Blitz erhellte den Himmel in sein unnatürliches Licht.

Er meinte diesen Anblick zu kennen.

„Scheiße. Das sieht verdammt übel aus.“

„Es hat sich durch sein Bein gebohrt… Er steckt fest!“

„Wir müssen ihn rausziehen.“

„Und wenn es alles nur schlimmer macht?“

„Der Ast hat ihn am Boden fixiert. Wir haben keine andere Wahl, Max! Wir können wohl schlecht einen Sanitäter hier her rufen!“

„Dein Freund spricht die Wahrheit. Tu was er sagt, Junge.“, vernahm Ray eine angenehme Stimme. Sie klang weich, jedoch drängend, als wäre Eile geboten. Er blinzelte müde. Seine verklärte Sicht ließ ihn nur erahnen, wie sich jemand neben ihm herabgekniete. Er kam nicht darauf wer das war…

„Ich habe aber mal gehört, dass gerade so etwas die Blutung stoppt. Wenn wir den Ast herausziehen, könnte das…“

„Bitte. Habt Vertrauen in mich. Ich weiß wovon ich spreche.“

„Max, verdammt noch mal! Denk nicht so viel nach! Sie wird uns schon helfen!“

„Woher willst du wis-…“

„Ich weiß es einfach! Überleg nicht so viel!“

„Okay, okay…“, es klang beunruhigt.

„Steckt ihm einen Zweig zwischen die Zähne, damit er sich nicht auf die Zunge beißt. Und um seinen Schrei zu vermindern. Was ihr jetzt tut wird ihm schlimme Schmerzen bereiten. Wir sind einem Uralten entkommen, es ist nicht nötig, das wir jetzt auch noch die Aufmerksamkeit von anderen Bit Beasts erregen!“

Ray spürte jemanden hinter sich. Er kam mit seinem Mund ganz nah an sein Ohr.

„Tut mir Leid. Wir müssen das jetzt machen. Du schaffst das. Bitte halt noch etwas durch.“

War das Tyson? Seine Finger strichen ihm beruhigend über den Kopf, dann schoben sie etwas zwischen seine Lippen. Er schmeckte altes Holz auf seiner Zunge.

„Kai komm her.“, Ray vernahm vage wie sein Freund sich mit dem Kind unterhielt. „Halt seinen Kopf und sprich ihm gut zu. Er soll wissen dass wir hier sind. Machst du das?“

„Okay.“

„Guter Junge. Komm.“

Kurz darauf fühlte er ein kleineres Paar Hände, dass sich auf seinen Haarschopf legte. Es strich mitfühlend durch seine Strähnen. Er hörte die Kinderstimme, welche ihm beteuerte, dass alles gut werden würde… und dass er nicht allein war.

„Max, halt sein Bein fest. Ich ziehe. Auf drei!“

Finger schlossen sich um die schmerzende Stelle. Sie pressten sein Bein fest in den Untergrund. Ray vernahm dumpf wie Tysons Stimme herabzählte. Langsam begriff er was sich um ihn herum anbahnte. Noch bevor er in Panik protestieren konnte, ging ein höllischer Ruck durch seinen Oberschenkel. Er schrie seinen Schmerz hinaus, wie ein Raubtier das in der Falle saß.

Dann wurde alles Schwarz…
 

*
 

Judy Tate.

Hana blickte auf den Namen der von dem kleinen Notizblock zu ihr aufschaute. Eine weitere tragische Gestalt. Ein weiteres Puzzlestück das sie nicht in Einklang mit der Gesamtsituation bringen konnte. Dann schrieb sie dahinter: Ertrunken.

Und fügte hinter dem Namen die Familienangehörigen ein.

So verfuhr sie mit jedem Namen.

Großvater Kinomiya. Vermisst.

Sie zeichnete drei Linien dahinter welche den alten Mann mit seinen Enkeln und deren Vater verband. Letzterer – so wusste sie bereits von Hiro – war so gut wie nie zuhause anzutreffen. Sie hatte ihn auch niemals persönlich kennengelernt und empfand das als traurig, aber ihr Verlobter meinte damals nur, dass sein Vater ebenso sei. Er schien sich damit abgefunden zu haben, dass Tatsuya Kinomiyas Beruf einen höheren Stellenwert besaß, als seine Pflichten gegenüber der eigenen Familie. Bei Hitoshis Namen auf dem Papier wurde ihr schrecklich flau im Magen. Am liebsten hätte sie geschluchzt, doch sie verwehrte es sich. Die nächsten Jahre würde sie reichlich Zeit finden, um ihrem Verlobten hinterher zu weinen. Jetzt hatte sie ein Versprechen zu erfüllen.

Jana Hiwatari.

Sie kritzelte dahinter: Nach Brand vermisst.

Im selben Krankenhaus wie Großvater Kinomiya. Seitdem verschwunden. Zufall?

Hana dachte nach. Eigentlich kannte sie die Antwort und strich das letzte Wort wieder durch. Es folgte ein weiterer Strich, der das kleine Mädchen mit ihrem Bruder verband. Bei Ray verfuhr Hana anders. Zuerst notierte sie dessen Namen und kritzelte ein Fragezeichen daneben. Sie tippelte nachdenklich, mit den Nägeln gegen das Lenkrad und tat ihren Gedanken dann kund.

„Kennst du jemanden der Ray besonders nahe steht?“

„Mariah wahrscheinlich.“

„Wer ist das?“

„Seine Frau.“

Hana nickte nachdenklich und notierte neben dem Fragezeichen den Namen.

„Sonst noch jemand?“

„Keine Ahnung.“

„Denk doch wenigstens nach. Seine Eltern?“

„Die sind tot. Er hatte noch einen Onkel aber der ist vor drei Jahren an Krebs gestorben.“

„Ist das alles? Mehr Verwandtschaft hat er nicht?“

„Lee…“

„Und das ist wer?

„Mariahs Bruder.“

„Hat er mit seinem Schwager ein besonders gutes Verhältnis.“

„Hmm…“

Die Tonlage von Kenny ließ Hana aufblicken.

Erst jetzt bemerkte sie wie blass er war.

„Alles in Ordnung?“

„Nein.“, seine Stimme klang beklommen.

„Hey, was ist los?“, mitfühlend legte sie eine Hand auf seine Schulter und fuhr tröstend darüber. „Du siehst aus als würdest du am liebsten weinen.“

„Bitte lass mich einen Moment in Ruhe. Ich muss das verdauen...“, er nahm die Brille ab und rieb sich unter den langen Strähnen die Augen. Dabei verkündete das Hochziehen seiner Nase, dass er tatsächlich um Fassung rang.

„Hast du Maxs Mutter gekannt?“

Er lachte erstickt auf.

„Natürlich! Sie war eine Koryphäe auf ihrem Gebiet. Bevor die Beybladewelle abgeklungen ist, hatten wir regelmäßigen Emailkontakt und haben unser Wissen ausgetauscht. Ich habe Max immer wegen seiner Mutter beneidet. Sie hat sich für das, was er getan hat, so begeistern können. Meine Eltern waren dagegen eher damit beschäftigt, darüber nachzudenken, welche Nudelsuppe sie als Tagesgericht anbieten. Judy dagegen hat mich verstanden. Sie war mein Vorbild. Und ein wirklich herzensguter Mensch…“

„Das glaube ich dir.“

Kenny zog die Brille wieder auf und atmete tief ein.

Er fuhr sich über den Mund. Seine Kehle fühlte sich trocken an.

„Armer Maxi… Ich verstehe das nicht. Dieses ganze Chaos. Das können doch keine Zufälle mehr sein.“

„Der Ansicht bin ich auch.“, Hana blickte auf ihren Notizblock.

„Bitte sag mir nicht, dass du glaubst, dass meine Freunde wirklich dahinter stecken.“

Sie wiegte ihre Antwort sorgfältig ab.

„Ich denke ein Zusammenhang ist definitiv da – aber nicht so wie du es annimmst. Die Fäden laufen alle bei ihnen zusammen. Das sie also der Kern des Rätsels sind, lässt sich nicht abstreiten. Doch ich glaube, dass sie eher unfreiwillig in etwas hineingerutscht sind.“

„In was aber?“

„Ich weiß es nicht. Aber eines kann ich dir sagen… Es ist zu offensichtlich, dass ihnen da jemand etwas anhängen möchte. Hätten sie wirklich versucht ihre Angehörigen – aus welchem Grund auch immer – aus dem Weg zu räumen, hätten sie es logischerweise nicht zum selben Zeitpunkt machen dürfen. Sie müssten schon sehr naiv sein, um zu glauben, dass so etwas nicht auffällt. Die Polizei weiß, wer alles mit Tyson verschwunden ist. Man hätte nur im Hotel nach Maxs Daten nachfragen müssen und schon wären sie an seinen Vater gekommen. Früher oder später wäre also herausgekommen, dass Maxs Mutter ebenfalls etwas zugestoßen ist. Und euer Freund Kai ist ein hohes Tier. Allein der Brand war groß in der Presse. Sicherlich sucht die Polizei schon nach dem Hiwatari Mädchen.“

Kenny atmete beruhigt aus. Ihm fiel ein Stein vom Herzen, dass seine Verbündete in der Aufdeckung dieses Komplotts, nun auch an der Schuld seiner Freunde zweifelte. Er hatte Hana bisher noch nicht hundertprozentig über den Weg getraut, denn sie war nun einmal eine Außenstehende, welche nicht den Zusammenhalt innerhalb der Gruppe kannte. Außerdem wirkte sie etwas schroff, was ihn manchmal einschüchterte. Mittlerweile legte sie geistesabwesend die Finger ans Kinn und fuhr fort.

„Diese Ereignisse überschlagen sich geradezu, als stände jemandem nur eine kurze Zeitspanne zur Verfügung, um zuzuschlagen.“

„Ich habe echt Angst um meine Freunde.“, sprach Kenny nun offen aus. „Was ist wenn sie… naja. Du weißt schon.“

„So darfst du nicht denken. Versuch positiv zu bleiben.“

„Das fällt mir leider schwer.“

„Kennst du diese Mao?“

„Natürlich. Ich war auf Rays Hochzeit.“

„Wir sollten sie anrufen. Ich habe ein verdammt schlechtes Gefühl. Vielleicht müssen wir sie warnen.“

„Mariah lebt in China.“

„Ich dachte sie heißt Mao?“

„Das ist ihr richtiger Name. Mariah der Spitzname.“

Als Hana den Mund öffnete – wahrscheinlich um ihn darüber zu belehren, das Spitznamen den Sinn hatten, kürzer als der eigentliche Name zu sein – tat er eine unwirsche Bewegung mit der Hand.

„Wie auch immer, sie lebt in China in einem alten Kuhdorf. Es wird schwer werden sie zu erreichen. Außerdem ist sie Ray fremdgegangen und er will sich von ihr scheiden lassen.“

„Trotzdem. Wir sollten nachhaken. Aber zuerst fahren wir ins Krankenhaus.“, beschloss Hana und startete den Motor. Sie legte den Blinker ein und fädelte sich in den Verkehr. „Vielleicht herrscht dort ein solches Durcheinander das wir gar nicht weiter auffallen.“

„Aber dort sind sie doch definitiv nicht. Willst du etwa mit der Krankenschwester sprechen, die dort angegriffen wurde?

„Nein. Das ist zwecklos. Die wird sicherlich im Auge behalten und wir sollten der Polizei aus dem Weg gehen.“

„Was wollen wir dann dort?“

„Es gibt noch eine Möglichkeit die wir noch nicht bedacht haben. Der Eingangsbereich wird bei Krankenhäusern für gewöhnlich überwacht. Womöglich kommen wir an das Filmmaterial. Es wird aber sicherlich nicht so einfach wie beim Hotel.“

Kenny setzte sich kerzengerade auf.

„Fahr mich zuerst nachhause. Wir müssen meinen Ersatzlaptop holen.“

„Warum?“

Er grinste sie an.

„Wirst du sehen wenn wir vor dem Krankenhaus stehen. Glaub mir... Es wird nur von Vorteil sein.“
 

*
 

Ein langer Schweif peitschte durch den Dschungel und mähte jeden Baum nieder, der ihm im Weg stand. Ein paar Drachenschuppen fielen vom Körper, dennoch traf Dragoon den fauchenden Tiger geradewegs am Schädel. Ein lautes Knurren erfüllte die Umgebung, während sich mehrere Windhosen um den Kampfplatz gebildet hatten, welche das umliegende Gestrüpp in ihren Rüssel aufsogen. Dazwischen wurde das Land von heftigen Erdbeben erschüttert.

„Was sollen wir machen? Wir sitzen fest!“, Mathildas Bit Beast starrte mit bangen Blick hinauf zum Himmel, wo sich ein weiterer Tornado bilden wollte. Es hätte wohl doch nicht die Gestalt eines Igels wählen sollen. Zum einen ließ es sich mit den kurzen Beinchen schlecht laufen, zum anderen musste es dem Drang widerstehen, sich zu einer Kugel zusammenzurollen.

Pierce Hedgehog hatte doch eigentlich nur seine Arbeit verrichten wollen und sich aus seinem Bau herausbewegt, um in der Menschenwelt, die Kastanien mit ihren stacheligen Hüllen zu versehen. Nun fand es sich hier mit anderen Leidensgenossen zusammen, die nicht mehr aus dem Dschungel herauskamen, weil sie nicht fliegen konnten. Diejenigen die einen Bau hatten, wären ja wieder hineingekrochen, um tief unten in der Erde Schutz zu suchen, doch die Angst vor Drigers Erdbeben hielt sie davon ab. Die Aussicht lebendig begraben zu werden, war ebenso furchteinflößend, wie in der Luft zerrissen zu werden.

Dennoch wünschte sich das Bit Beast Fliegen zu können.

Immerhin hätte es noch eine Option besessen, um dann aus dem Kampfgebiet zu verschwinden. Doch selbst diese Fähigkeit versprach kurz darauf keine hohen Überlebenschancen. Die angesammelten Bit Beats beobachteten erschrocken, wie Falborg in der Nähe der kämpfenden Uralten, kreischend durch das Blätterdach brach und versuchte vor dem Sog des Sturmes zu flüchten. Das adlerartige Wesen flatterte um sein Leben, doch die Finger des Windes packten ihn und zogen ihn immer weiter zum Auge des Tornados.

„Oh nein, ich mag gar nicht hinsehen!“, wimmernd schlug Pierce Hedgehog die Pfoten vor das Gesicht. „Was machen diese Ungetüme denn bloß?“

„Sie richten ein ebenso großes Unheil an, wie damals bei dem Turnier der Uralten! Erinnert ihr euch?“, Salamalyon war ein goldgeschupptes Salamander Bit Beast, dessen Kind Johnny hieß. Durch die kürzliche Niederlage von Dranzer, gegen den König der Bit Beasts, hatte es schwer mit der Erfüllung seiner Aufgabe zu kämpfen. Für gewöhnlich wäre es gar nicht in diesem Teil der Irrlichterwelt anzutreffen gewesen, doch neuerdings musste es zu Fuß seine Reisen antreten, denn es konnte nicht mehr durch die Magmaströme treiben. Die waren nach Dranzers Verlust komplett versiegt, denn er bekam keine Energie mehr von ihr, dabei war Lava Mutter Naturs Art, Erde an die Oberfläche zu holen, um neue Inseln entstehen zu lassen. Ein Fauchen drang unmittelbar in ihrer Nähe an ihr Ohr. Die Bit Beasts blickten verängstigt in die Richtung aus welcher das Poltern zu vernehmen war. Dann fielen zwei riesige Gestalten durch die Bäume. Unter der Last der massigen Körper, brachen sie wie trockene Zweige. Scharfe Drachenklauen blitzten im Mondlicht.

Hellleuchtende Augenpaare in welche der pure Zorn sprühte.

Pierce Hedgehog gab ein spitzes Quieken von sich und flüchtete so schnell ihn die kurzen Igelbeine tragen konnten. Salamalyon hatte das Pech für einen Moment unter den riesigen Körpern begraben zu werden. Es blieb benommen am Boden zurück.

Die Kämpfenden scherte es nicht.

Driger hielt Dragoons Kehle in seinem festen Griff. Der kräftige Kiefer grub die Zähne so unnachgiebig in die schuppige Haut, bis die ersten Furchen auf ihr aufsprangen. Selbst einen Drachen ließ Drigers Gebiss nicht kalt. Ein bedrohliches Brüllen drang aus der Kehle des Kontrahenten, bis Dragoon seinen schlangenartigen Schweif, um den Unterkörper des Tigers drehte. Der erste Versuch ihn von seiner Kehle wegzuziehen misslang. Driger hatte sich fest in seinen Hals verbissen.

Wäre er ein Mensch, hätte Dragoon gleich eine blutige Sauerei erwarten müssen.

Dennoch musste er gestehen – auch als Geist tat das hier verflucht weh.

Für den nächsten Ruck brachte er seine gesamte Kraft auf.

Es hatte zur Folge, dass er den Tiger von sich bekam, allerdings unter dem Verlust einige seiner steinharten Drachenschuppen, welche die weichere Hautschicht darunter entblößten. Das war keineswegs angenehm. Hätte Driger ihm bei vollem Bewusstsein einen Zahn gezogen, wäre ihm das weniger aufgefallen. Dranzer war mit ihrem Schnabel nur spärlich durch die Haut gekommen, ganz zu schweigen von ihren Flammen, welche ihn zwar verkohlten, aber nicht so schlimm in Mitleidenschaft gezogen hatten, dass er sich nicht mehr regenerieren konnte. Das hier würde seine Zeit in Anspruch nehmen. Er holte aus und im hohen Bogen warf er den Tiger auf den Boden. Mit einem lauten Donnern grub er sich durch die Wucht ins Erdreich. Um sein linkes Bein lag noch Dragoons Schweif. Bevor er sich wieder aufrichten konnte, hob er Driger erneut auf und ließ ihn wieder durch die Luft fliegen, nur dieses Mal in die entgegensetzte Richtung.

Er wiederholte das Spiel.

Immer wieder…

Diese dummen Vierbeiner kamen nicht klar, wenn man einen ihrer Beine packte, erst Recht nicht, wenn man sie auf den Rücken fallen ließ. Mit jedem weiteren Mal wo Dragoon Schwung holte, packte er mehr Kraft in den Schlag. Sein Kiefer mahlte vor Zorn und er konnte gar nicht sagen, wie viel Genugtuung es ihm bescherte, diesen Verräter zu quälen.

Mit einem finalen Schlag brüllte er seine Wut hinaus.

Der Hieb war so schwer, dass die Erde erbebte, als Driger auf ihr zum Liegen kam.

Einen Moment blieb der benommen wo er war, während Dragoon schnaufend auf ihn herabblickte.

„Du hast schon einmal gegen mich verloren, woher nimmst du die Frechheit zu glauben, dass du es dieses Mal schaffst?“, Dragoon richtete sich zu ganzer Größe auf und fuhr seine Krallen aus. „Es hat sich nichts geändert! Ein Beweis mehr das ich Recht habe! Wie viele Millionen von Jahren sind wir so gut verfahren, mit dem Zustand wie er jetzt ist… und dann kommt deine kleine Unterklassen Katze daher und du willst eine Veränderung?! Wo ist die Härte die du mir immer vorgepredigt hast?“

Driger drehte sich auf den Bauch und stemmte sich langsam hoch.

„Genau deshalb sind Gefühle ein Tabu! Siehst du was es aus dir macht? Wozu hat es uns getrieben? Ich konnte mich immer auf dich als meinen Berater verlassen und nun hat dich dein verklärter Verstand zum Verräter gemacht! Nun muss ich mich für dich schämen!“

Diese Wortwahl kam Driger bekannt vor. Inmitten der Trümmer brauchte es seine Weile, bis er den Vorfall zuordnen konnte. Es war lange her, noch zum Anfang der Welt, da war er es gewesen, der Dragoon solch harte Worte an den Kopf geworfen hatte…
 


 

„Du wirkst bedrückt. Was ist mit dir?“

„Nichts.“ Dragoon hatte ihm verstimmt den Kopf abgewandt. Sein schlangenhafter Körper lag zusammengerollt auf dem Boden, während sein Schädel auf den großen Krallen ruhte. Er blickte betrübt drein und Driger war besorgt gewesen, da ihm anscheinend der Elan fehlte, um sich seinen Aufgaben noch zu widmen. In jenen Tagen hatte er sich fast gänzlich von ihnen zurückgezogen und ließ sich kaum noch bei seinen Artgenossen sehen.

„Bit Beasts sollten nicht unaufrichtig sein, also warum bist du es?“

„Woher willst du wissen dass ich lüge?“, hatte der Drache gemurrt.

„Du kommst deinen Pflichten nicht mehr nach.“

„Stimmt doch gar nicht.“

„So? Dann sag mir doch, wann hast du das letzte Mal meine Pflanzen mit Sauerstoff versorgt?“

„Erst neulich.“

„Von wegen, sie gehen schon ein! Du weißt doch wie Fotosynthese funktioniert. Pflanzen produzieren Luft, aber brauchen einen kleinen Teil für sich selbst. Wenn du nicht in die Gänge kommst, gibt es keinen Überschuss mehr!“

„Ich sagte doch, das habe ich erst neulich gemacht.“

„Du meinst vor einem Monat!“, schaute Driger seinen Gefährten streng an. „Was bist du nur nachlässig geworden. So kenne ich dich nicht.“

„Ach, dafür gibt es meine Handlanger. Lass mich jetzt einfach…“

„Nein! Ich weiß nicht was mit dir los ist, aber du musst dich wie ein Uralter verhalten. Was immer dich quält, leg es gefälligst beiseite und kümmere dich um deine Pflichten, bevor du mit deiner Gleichgültigkeit, der neuen Welt schadest.“

Ein Seufzen war Dragoon auf diese Bemerkung entflohen. Er hatte sich in den nebligsten Ort, im dunkelsten Teil der Irrlichterwelt verkrochen und dennoch hatte Driger seine Witterung aufnehmen können. Als er ausatmete teilten sich die Nebelschwaden vor ihm, nur um kurz darauf wieder zurückzugleiten, wie ein trüber Vorhang. Geradezu schwerfällig hatte sich Dragoon erhoben.

„Na fein. Danach lässt du mich aber in Ruhe.“

„Lieber Himmel, deine mangelnde Tatkraft ist erschreckend.“, Driger war es Angst und Bange geworden, denn diese merkwürdige Melancholie die Dragoon erfasst hatte, war ihm nicht geheuer. Geister verhielten sich nicht so. Sie waren Arbeitstiere, die ihrer Aufgabe ohne großes Wenn und Aber nachgingen. Er hatte sich vor den Auswirkungen gefürchtet, welche auf die Teilnahmslosigkeit des Drachen folgen könnten. „Nun sag doch schon was dich bedrückt! Bin ich dir nicht immer ein guter Kamerad gewesen?“

„Wie soll ich dir erklären was ich selber nicht verstehe?“

„Versuch es einfach und sprich nicht in Rätseln.“

Dragoon hatte sich ihm zugewandt. Die schlitzartigen Drachenpupillen waren argwöhnisch auf Driger gerichtet gewesen.

„Ich glaube… ich wurde vergiftet.“

„Was?“, ein irritiertes Blinzeln war die Antwort gewesen und Driger wusste noch, wie sich seine Gedanken geradezu panisch überschlagen hatten. Zum Anfang der Welt, war das Gleichgewicht sehr labil gewesen und wäre Dragoon plötzlich verstorben, hätte es eine riesige Lücke, in ihre Arbeitsaufteilung aufgerissen. Man hätte schnellstens Vorkehrungen treffen müssen um dem entgegenzuwirken und Dranzer, als die Partnerin des Drachen, seine Aufgaben kurzfristig übernehmen müssen, bis der nächste Luftgeist geboren wurde.

„Aber du bist ein Drache! Der Kiefer welcher deine dicken Schuppen durchbeißt, müsste schon so kräftig wie meiner sein und die Reißzähne noch giftig dazu.“

Einen Moment waren Drigers Überlegungen zu Wyborg geschweift, doch er hatte bezweifelt, dass diese Unterklassen Schlange auch nur ansatzweise durch den Drachenpanzer des Uralten kam. Wie blind war er damals gewesen, um nicht zu begreifen, welches Gift Dragoon tatsächlich zerfraß.

„Sollte man meinen, aber ich muss dir wohl nicht erklären, dass es nicht immer einen Biss bedarf, um jemanden zu vergiften.“

„Wer soll das gewesen sein?“

„Ich bin mir nicht sicher.“

„Nun sprich es schon aus. Wir finden diese Unterklasse Ratte!“

„Es ist niemand aus der Unterklasse…“

„Du meinst von der Elite?“

Ein verneinendes Kopfschütteln war die Antwort gewesen. Es hatte gedauert bis Driger seinen Gedanken folgen konnte. Diese Unterstellung war so skandalös, als das er ihr auch nur einen Funken Wahrheit abgewinnen konnte.

„Ein Uralter? Niemals!“

„Anders kann ich es mir nicht erklären.“

„Wer?“

„Eine von den Feuerschwestern.“

„Jetzt sei nicht albern! Beide Schwestern wissen, dass sie ohne deine Luft keine Flammen mehr entstehen lassen können und mein kleines Küken ist deine Partnerin. Sie würde dir niemals absichtlich schaden.“

„Und weshalb geht es mir in ihrer Gegenwart immer so elend?“

„Na das ist etwas ganz Neues. Du bist jedes Mal euphorisch, sobald du Dranzer siehst und willst ihr gar nicht mehr von der Seite weichen.“

„Ja. So lange sie da ist… Aber sobald ihre heimtückische Schwester daher kommt und sie mir wegnimmt, ist der Fall danach umso tiefer. Ich spüre dann wie der Zorn in mir aufwallt, wie schlechte Galle und möchte die Welt in Schutt und Asche legen. Das ist doch nicht normal!“

Auf diese Behauptung hatte Driger keine Antwort gewusst. Eine solche Krankheit war ihm nie zu Ohren gekommen und das obwohl er in der Lage war, jedes Geschwür, in jedem Körper wachsen zu lassen. Er zerbrach sich den Kopf darüber, was Dragoon solch Unwohlsein bereitete, kam aber nicht dahinter.

„Sehr seltsam. Wirklich.“, meinte er ratlos. „Und es passiert wann immer Dranzer von dir fortgeht?“

Der Drache hatte genickt. Er war doch eigentlich als Frohnatur bekannt gewesen und ihn so betrübt zu sehen, empfand Driger damals als äußerst ungewöhnlich. Es passte nicht zu ihm…

„Aber Dranzer kann nicht immer bei dir bleiben. Sie muss auch ihren anderen Verpflichtungen nachkommen.“

„Das weiß ich doch.“

„Steigt die schlechte Galle in dir auch hoch, wenn sie sich mit mir von dir entfernt?“

Dragoon hatte nachgedacht. Dabei huschten seine Pupillen grübelnd nach oben.

„Nein.“

„Bei Draciel?“

„Nein.“

„Aber bei Wolborg.“

Ein tiefes Knurren war die Antwort gewesen.

„Mit voller Wucht! Jedes Mal wird es schlimmer. Ich möchte sie zerreißen und mir Dranzer schnappen und vor ihr verstecken. Einmal habe ich überlegt sie in eine Windhose zu stecken und nicht mehr raus zu lassen.“

„Ein Vogel gehört nicht in einen Käfig.“

„Dieser Vogel schon!“, hatte Dragoon wütend gefaucht. „Ständig schwirrt sie um ihre Schwester herum und bettelt um ihre Gunst! Sobald die Wölfin nach ihr jault, lässt sie mich stehen und eilt ihr zur Hilfe, selbst wenn Wolborg sie gar nicht benötigt! Sie ruft sie für die lächerlichsten Aufgaben. Letztens saßen wir zusammen, in schönster Zweisamkeit, da meinte Wolborg, sie bräuchte ihre Schwester, um mit einigen Sonnenstrahlen, eine Blumenwiese aus dem Winterschlaf zu holen. Ist das zu fassen?! Das ist doch wohl das einfachste auf der Welt, selbst ich als Luft Bit Beast weiß das. Aber es ist ihre Art mir zu zeigen, dass sie die Macht über Dranzer hat.“

„Ja aber die hat sie nun einmal!“, hatte Driger hilflos mit den Schultern gezuckt. „Sie ist ihre Feuerverwandte. Du nur Dranzers Partner. Was erwartest du? Das sie ihrer Schwester nicht den Gehorsam zeigt, der ihr gebührt? Das wäre doch wirklich vermessen von ihr.“

„Ich mag sie nicht teilen. Sie bricht ihr Versprechen!“ Das Geständnis hatte ihn überrascht. „Sie wollte niemanden außer mich an ihrer Seite dulden! Stattdessen denkt sie nicht eine Minute mehr an ihren Schwur… Eine freche Lügnerin ist sie! Und ich bin ein Narr, das ich es Dranzer einfach so durchgehen lasse!“

Driger hatte versucht ihn zu besänftigen, doch der Zorn schien ihn wieder zu übermannen. Der Drache schimpfte über Wolborgs gluckende Art, spottete verächtlich über Dranzers Naivität und dass sie nicht erkannte, was ihre Schwester für ein lächerliches Spiel mit ihr trieb. Er zürnte darüber wie sie förmlich um die Gunst der Wölfin bettelte und diese ihre Dummheit ausnutzte, um ihr Honig um den Schnabel zu schmieren.

„Du solltest Wolborg sehen, wenn Dranzer in ihren Augen etwas richtig gemacht hat! Oh mein liebes kleines Küken, das hast du brav gemacht. Deiner Schwester läuft das Herz vor Stolz über.“, hatte Dragoon sie verächtlich nachgeahmt. „Und dann plustert sich das Federkleid von Dranzer auf und sie glüht vor Freude.“

„Sie ist eben noch jung. Da hängt man noch am Rockzipfel. Das wird vergehen…“

„Ja, aber sie schmiegt sich auch an sie. Als wir zu zweit durch die Welten geflogen sind, hat sie das immer bei mir gemacht. Sie wollte auf meinem Rücken reiten und hat mit mir die Freiheit genossen. Es war viel besser als jetzt. Ich will sie wieder für mich allein…“

Der letzte Teil hatte trauriger geklungen, als wäre die Erinnerung allein schmerzlich.

Und dieser Moment hatte Driger erzürnt - denn er mochte keine Schwäche.

Wäre Galux damals doch schon geboren gewesen…

Hätte Driger damals schon gewusst was er heute erkannte!

Dann wären die richtigen Worte über seine Lippen gekommen.

Er hätte dem Drachen sagen können, was dieses Gefühl war, welches ihn so beflügelte, verwirrte, schmerzte und zu Dummheiten verleitete – und das zur gleichen Zeit.

Stattdessen war er grausam mit ihm ins Gericht gegangen.

Er hatte ihn einen Narr gescholten, ihn angefaucht er solle die Sentimentalitäten sein lassen und sich seiner Pflichten besinnen. Damals hielt er ihm einen Vortrag, wie sich ein Uralter verhalten musste und das er Härte im Angesicht dieser Situation zeigen sollte.

Wie unnachgiebig war sein Urteil über ihn ausgefallen…

„Jetzt sieh dich doch mal an! Wie du hier liegst und jammerst! Sonst ist deine Schnauze groß, aber nur weil dir Dranzer ein paar Mal den Rücken kehrt, verfällst du in Melancholie. Man könnte meinen du bist ein Wasser Bit Beast! Du prahlst mit deiner stürmischen Art, dabei hast du nicht den Mumm, dich der Situation zu stellen! Du redest davon frei wie der Wind zu sein, aber legst dir selbst Ketten auf! Ich schäme mich für dich!“
 


 

Ich schäme mich für dich…

Dieser eine Satz, er schallte besonders Laut durch Drigers Kopf, als hätte dieses Gespräch erst vor wenigen Stunden stattgefunden. Wie hatte er das sagen können?

Driger schüttelte den Kopf und ermahnte sich, mit seinen Gedanken bei der Sache zu bleiben. Dennoch musste er sich eingestehen, dass er offenbar eine große Teilschuld, an der störrischen Haltung seines Gegenübers trug. In seiner Unwissenheit hatte er ihm einen schlechten Ratschlag erteilt und ihn in eine fatale Richtung gelenkt.

Nur schwerfällig konnte er sich aufstemmen. Die eingesteckten Schläge hatten es in sich gehabt. Dabei dachte er daran, dass es niemals seine Absicht gewesen war, sich heute mit seinem alten Kameraden bekriegen zu müssen. Er hatte eigentlich über sich selbst gestaunt, als er Galux beiseiteschob und sie dazu aufforderte, so schnell wie möglich mit den Jungen zu verschwinden, denn im Grunde konnte er Dragoons Denkweise verstehen.

Er klärte nur die Fronten.

So wie es ein Uralter tun musste.

Dennoch verspürte er eine große Menge an Verachtung in ihm aufwallen, als er wieder auf den Füßen stand und seinem Gegner einen zornigen Blick zuwarf. Ihrer menschlichen Hüllen hatten sie sich schon längst entledigt, genauso wie den Bäumen, welche von einer Windhose Dragoons aufgesaugt worden waren. Er hatte sofort erkannt, dass er die Pflanzenwelt um ihn herum vernichten musste, um den Vorteil seines Gegenübers zu minimieren. Der Dschungel stellte für Driger ein Heimspiel dar. Hier gab es Blätter, Ranken, Bäume, Stein und Erde…

Messerscharf wie Dragoons Verstand eben war, hatte er zunächst sämtliche seiner Angriffe eingesteckt, um seine gesamte Kraft darauf zu konzentrieren, ihre Umgebung zu verwüsten. Danach war er umso erbarmungsloser gegen ihn vorgegangen. Es zwang Driger sogar, auf eine seiner Spezialattacken zurückzugreifen – das Abfeuern grüner Blitze.

„Meine Worte scheinen dich damals tief getroffen zu haben.“, merkte er inzwischen an.

„Es war der weiseste Ratschlag den du mir jemals gegeben hast.“, Dragoon deutete mit der Klaue auf ihn. „Wärst du nicht gewesen, hätte ich mich vom Kummer zerfressen lassen. Aber ich habe mich an deine Weisheit gehalten und Härte bewiesen. Vom Jammern wäre nichts besser geworden, also habe ich Wolborg fortgeschafft und schon war das Problem gelöst!“

„Du hast Dranzers Gunst dadurch verloren.“

„Die hatte ich ohnehin nie! Sonst wäre sie anders mit mir umgesprungen!“

„Das ist nicht wahr. Sie hat dich gemocht. Du wolltest nur zu viel…“

„Was hättest du dann an meiner Stelle getan?“

„Versucht mich mit Wolborg besser zu stellen. Ihr hättet das Kriegsbeil begraben sollen.“

„Pah!“, schnaubte Dragoon. „Du mieser Heuchler! Wir wissen beide, dass vor wenigen Millionen von Jahren, deine Antwort noch anders ausgefallen wäre. Du redest bloß so diplomatisch, weil du nun auch ein Liebchen hast, was dir den Kopf verdreht. Und nun ist es ausgerechnet jene Person, die du so scheinheilig belehrt hast, welche wahre Größe bewahrt!“

„Größe?!“, wiederholte Driger das Wort abfällig. „Du hast Dranzer gefressen, obwohl du weißt wie sehr die Welt Feuer braucht! Es schneit bereits in Regionen, wo noch eigentlich der Herbst herrschen sollte… Du hast Wolborg fortgeschickt, obwohl du geahnt hast, wie sehr die Schwestern aneinander hängen! Nun ist auch sie tot und große Teile, der neuen Welt gefrieren, weil niemand das Eis kontrolliert über die Erde verteilt. Ich sehe keine Ehre in deine Taten! Sie sind achtlos und ohne Skrupel! Du kämpfst so verbissen um deine Machtposition, dass dir alles gleich geworden ist!“

„Weil deine Gefühle dich verblendet haben. Du weißt doch schon lange nicht mehr worauf es wirklich ankommt, du verlauster Verräter!“

„Es sind nicht die Gefühle die mich zum Verräter gemacht haben.“, Driger schüttelte den Staub aus seinem Fell. Es war durchzeichnet von getrockneten Spuren aus lehmiger Erde. „Es war deine maßlose Sturheit!“

Sein Schädel wandte sich ihm vollends zu.

„Du warst schon immer eitel und selbstgefällig. Doch die Macht der letzten Jahrtausende, hat deinen Charakter zerfressen. Übrig geblieben ist nur ein ausgehungertes Gerippe, das Freund von Feind nicht mehr unterscheiden kann. Und ich hatte dir auch noch dabei zugesehen…“, verächtlich nickte er in seine Richtung. „Du fragst mich was Galux aus mir gemacht hat? Sieh an was deine Macht aus dir gemacht hat! Ich hätte schon bei deinem ersten Atemzug als Monarch eingreifen müssen – du hattest kein Recht Wolborg wegzusperren! Ich verfechte ein Versprechen ebenso wie jedes andere Bit Beast auch, doch damit bist du zu weit gegangen! Aber was habe ich getan? Dir zugesehen! Das und meine Ratschläge von früher sind meine eigentlichen Vergehen an dir. Hätte ich geahnt was meine Worte aus dir machen, ich wäre umsichtiger mit ihnen umgegangen.“

„Wie rührend!“, höhnte Dragoon. Sein Oberkörper bäumte sich vor. Driger spürte das ein weiterer Angriff nahte. „Glaub mir, dafür bedarf es keine Entschuldigung. Zumal du ohnehin bald von deine Schuldgefühlen erlöst wirst!“

Pfeilschnell war der Drache bei ihm. Seine längliche Schnauze schnappte nach Driger, doch er wich seitlich aus und versetzte ihm mit der Pranke einen Hieb gegen das rechte Auge. Geschockt wich Dragoon einen Moment zurück, denn sofort trübte sich seine Sicht. Er spürte dass die Krallen seines Kontrahenten tiefe Furchen auf seinem Augapfel hinterlassen hatten. Ein Mensch wäre auf dieser Seite für den Rest seines Lebens erblindet. Er konnte von Glück reden, dass Geister viel schneller heilten. Allerdings wollte Driger es gar nicht so weit kommen lassen. In wilder Raserei hieb er auf die andere Seite ein. Dragoon begriff was er vorhatte. Wenn er sein anderes Auge auch noch beschädigte, könnte er sich nur noch auf seinen Geruchssinn verlassen. Noch bevor der Tiger seinen Plan vollenden konnte, drehte er sich, holte mit dem Schweif aus und versetzte ihm einen Schlag gegen die Seite. Mit einem Fauchen schleuderte es Driger durch die Luft, in eine entfernt liegende Baumgruppe, die noch verschont geblieben war. Die Stämme wackelten bedrohlich und stürzten über ihm zusammen. Sie begruben ihn unter sich, mit jedem Aufprall erschütterten sie seinen Körper, doch er war ein Erd Bit Beast und robust gebaut. Und er besaß eine Spezialattacke die nicht in das herkömmliche Repertoire seines Elementes gehörte. Ein Geschenk von Dranzer…

Sie war so stolz gewesen, als sie ihm diese Fähigkeit als Präsent überreichte.

„Einfach weil du mir lieb und teuer bist.“, hatte sie damals lächelnd gegurrt.

Sein kleines Mädchen. Heute kämpfte er ebenso für sie!

Zwischen zwei der Stämme hatte sich eine kleine Lücke gebildet. Sie legte die Sicht auf das Geschehen vor ihm frei. Er erspähte Dragoon, wie er nach ihm Ausschau hielt, was mit einem Auge schwieriger wurde. Sein Schädel wandte ihm die heile Seite zu, doch er ließ davon ab ihn anzugreifen. Driger ahnte weshalb. Er wollte nicht riskieren, noch einmal mit der Schnauze voraus, in die Nähe seiner Krallen zu kommen. Dafür war ihm sein Augenlicht zu teuer…

Insgeheim ärgerte sich Driger über seinen misslungen Versuch ihm den Augapfel auszureißen. Er hatte vorgehabt ihn danach zu verschlingen. Auf diese Weiße hätte Dragoon sich gar nicht mehr von der Attacke erholt und wäre komplett erblindet – wie Wolborg damals.

Nun musste er sich spurten, sonst heilte die Verletzung auch noch wieder.

Lauernd blinzelte er zwischen dem Spalt hindurch. Sein Atem stand still, sonst würde er Dragoon nur verraten, ob er noch bei Bewusstsein war. Der Drache durchsuchte mit der linken Pupille argwöhnisch den Geröllhaufen auf ein Zeichen von ihm. Er war angespannt. Dann huschte sein Auge über den Spalt. Der schwarze Schlitz in dessen dunkler Iris wurde kleiner.

Er hatte ihn erkannt...

Und Drigers Moment war gekommen.

Er schoss unter den Stämmen hervor und rief:

„Schöne Grüße von Dranzer!“, dann peitschte ein hellgrüner Blitz aus seinem Rachen.

Dragoon jaulte auf, als die elektrische Ladung direkt in sein heiles Auge traf. Der einzige weiche Punkt, unter all diesen unzähligen steinharten Drachenschuppen. Die Wucht schleuderte seinen Schädel zurück, doch während dem Fall drehte er sich auf dem Bauch, um nicht auch noch den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ein grollender Laut entrang sich seiner Kehle. Driger schlich sich hinter seinen Rücken.

„Das wird nichts nützen!“, spie der Drache zornig aus. Er musste ausweichen, als der Schweif nur wenige Zentimeter entfernt, auf jener Stelle einschlug, wo er kurz zuvor noch lauerte. Sein Geruchsinn war nach wie vor hervorragend. Doch es war das Einzige was Dragoon momentan noch geblieben war. Drigers helle Pupillen durchsuchten den Panzer des Drachens nach einem Schwachpunkt. Es musste doch irgendwo eine Möglichkeit geben, an das Fleisch darunter heranzukommen?

Er fixierte die Kehle. Jene Stelle die er zuvor bereits angegriffen hatte wirkte angeschlagen.

Vereinzelte Schuppen fehlten dort, doch mit einem bläulichen Aufblinken, schob sich bereits die neugeborene Panzerung wieder hervor. Bei jedem Millimeter erglühte sie einen Moment, presste sich hervor, verweilte kurz, um dann wieder aufzuglühen und das Spiel fortzusetzen. Das musste er verhindern. Heute Nacht durfte Dragoon nicht lebend aus diesem Dschungel kommen. Sonst würde er Galux finden und töten.

„Du oder ich, alter Freund.“, knurrte er. Dann preschte er hervor.

Der erste Versuch misslang. Dragoon hatte ihn gewittert. Er holte mit seiner Klaue aus und hinterließ eine blutige Schneise auf seinem Fell, dass es ihn von den Füßen hob. Driger landete auf den Rücken, rollte sich hektisch auf die Beine, um schnell seiner Schnauze auszuweichen. Das Schnappen des Kiefers schallte laut, als Dragoon ins Leere biss. Driger verlor keine Zeit und griff wieder an, noch bevor sich der Drache aufrichten konnte. Er nahm Anlauf, sprang auf dessen Rücken und bekam die Schulter zu packen. Er fuhr die Krallen aus und machte Anstalten, sie in der Panzerung zu vergraben, doch auf der glatten Oberfläche rutschten sie ab. Der Drache schüttelte sich, versuchte verzweifelt den Angreifer von sich zu reißen, doch seine Klauen reichten nicht bis hinter seinen Rücken. Da spürte Driger wie ein Ruck durch ihre Körper ging.

Dragoon erhob sich in die Luft.

Dort schwang er Kreise, sauste auf die verbliebenen Bäume zu, rammte seinen Rücken dagegen, doch Driger ließ nicht ab. Er verbiss sich gnadenlos tiefer, bis er Fleisch auf der Zunge schmeckte und den Puls darunter spürte. Nur noch wenig fehlte…

Da drehte sich Dragoon um seine eigene Achse.

Erst langsam, dann immer schneller, dabei stieg er höher, immer höher.

Die Kraft die auf Driger wirkte wurde zunehmend stärker. Seine Gelenke baumelten hilflos in der Luft. Lediglich sein Kiefer hielt ihn wo er war. Alles drehte sich rasend schnell um ihn. Er kniff die Augen zusammen. Hier würde gewinnen wer den längeren Atem besaß. Unweigerlich fragte er sich, wie Dranzer an so etwas Gefallen finden konnte. Fliegen war scheußlich!

Er spürte wie das Fleisch in seinem Kiefer nachgab. Seine Fangzähne hatten den Schulterknochen erreicht. Was bezweckte dieser Wahnsinnige damit?!

Dragoon würde seinen Arm verlieren, wenn er nicht endlich aufhörte!

Da riss Driger die Augen auf, als ihn die Erkenntnis traf. Alles oder nichts…

Seine Pupillen blickten fahrig die Umgebung ab. Er konnte nicht einschätzen wie hoch sie waren, doch sie brachen bereits durch die Wolkendecke. Wenn er den Biss lockerte, würde er hinwegweggeschleudert. Brach der Schulterknochen aber ebenfalls. Es war zu spät um noch loszulassen – er würde am Erdboden zerschellen!

Galux…

Driger dachte an ihre hübschen Augen.

An die Muster auf ihrem Fell. Sie symbolisierten die Blumenvielfalt, welche ihre Anwesenheit erzeugte, denn als er einmal genauer hinsah, erkannte er die Umrisse vieler kleiner heller Blütenblätter. Wenn er seinen Kopf auf ihren zierlichen Körper legte, konnte er sogar den Duft von gelben Rosen wittern. Sie wollte doch dass er am Leben bleibt…

Da spürte Driger wie der Knochen in seinem Kiefer brach. Dragoon gab nicht einen Laut von sich. Er schien damit abgeschlossen zu haben, dass er nun als dreibeinige Missgestalt durch die Irrlichterwelt laufen würde. Wie weit war der Wahnsinn auf ihn übergegriffen, dass er nicht einmal mehr vor seinem eigenen Körper Halt machte?

Alles worum Driger ihn nur gebeten hatte war Galux zu verschonen.

Warum hatte er ihm diesen Wunsch nicht gewähren können?

Wie war es soweit gekommen?

Der Arm riss.

Und das Einzige was Driger noch einfiel, war, dass er ihn verschlingen musste, dann könnte Dragoon ihn sich nie wieder einverleiben. Wenn er schon aus der Welt schied, sollte der Drache für den Rest seines ewigen Daseins, daran erinnert werden, wer ihn entstellt hatte.

Als die übrigen Hautfetzen sich vom Körper lösten, wurde er bei der nächsten Umdrehung hinweggeschleudert. Driger behielt den Arm seines alten Kameraden fest im Maul umschlossen. In einem günstigen Moment schluckte er ihn hart den Rachen hinunter. Während er sich in der Luft drehte, fiel sein Blick eine winzige Sekunde auf Dragoon. Dort oben vom Himmel aus, blickte er auf ihn herab – seine Miene war ein schmerzverzerrter Ausdruck.

Das rechte Auge war inzwischen wieder geheilt. Es stand offen und beobachtete seinen Fall.

Der reptilienhafte Schlitz darin zitterte, bis sich das Lid darüber legte und so verblieb.

Was mochte ihm wohl durch den Kopf gehen?

Dragoon wurde ein immer kleinerer Punkt - bis die Wolkendecke ihn verhüllte.
 

ENDE KAPITEL 31
 

„Ich finde es ja wirklich toll, dass du auch mal die Initiative ergreifst, aber verdammt nochmal, was treibst du da, Kenny?!“

Hana schaute ihn verärgert an, während er wie besessen auf seine Tasten haute. Über den Bildschirm seines Laptops flimmerten dutzende von Zahlen. Es sah aus wie die Anfangssequenz aus dem Film Matrix. Auf ihre Frage machte er eine unwirsche Bewegung mit der Hand, um ihr zu bedeuten still zu sein. Seine Finger fuhren zum Rand des Displays, wo er den Winkel einer Art – sie fand gar keinen besseren Ausdruck dafür – Miniantenne neu positionierte, die er dort angebracht hatte.

„Ich kann es nicht leiden wenn man mich übergeht.“, sprach sie spitz aus.

„Jetzt sei doch mal ruhig! Ich muss mich konzentrieren.“, fauchte er.

„Tss!“, kam es eingeschnappt. Na wunderbar…

Kaum hatte er einen Laptop in der Hand, wuchs ihm ein Satz Eier. Blöder Nerd!

Sie überlegte, ob sie ihn im Auto sitzen lassen sollte, um durch die Eingangshalle des Krankenhauses, in den Überwachungsraum zu schleichen.

„Mmm…“, machte Kenny neben ihr nachdenklich. „Fahr den Wagen etwas näher an das Gebäude heran.“

„Warum?“

Er schnalzte genervt.

„Vertrau mir einfach!“

„Vertrauen ist gut, Kontrolle besser. Bevor dieser Wagen auch nur einen Zentimeter rollt, will ich wissen, ob du nicht gerade meine Zeit verschwendest!“

Kenny holte zischend Luft und fragte sich, weshalb Hillary nicht mit ihm im Auto sitzen konnte. Sie war immer eine zuvorkommende Assistentin gewesen, egal ob am Laptop oder beim Austauschen irgendwelcher Ersatzteile für ein Beyblade. Dagegen war diese Frau hier eine anstrengende Diva.

„Ich mache das was ich am besten kann – ich hacke!“

„Und… Worin hackst du dich?“

„Na in das Betriebssystem des Krankenhauses.“

„Okay. Was soll das bringen?“

„Ach!“, machte Kenny verärgert. „Na ich will an die Überwachungsaufnahmen aus der Kamera heran kommen.“

„Was?“, horchte Hana und fuhr auf ihrem Sitz zu ihm herum. „Sowas kannst du?!“

„Ja klar.“

„Aber sind die nicht auf Videobändern drauf?“

Kennys Mund klappte auf. Er schaute sie entsetzt an.

„Videobänder? Aus welchem Jahrzehnt stammst du denn?!“

„War das so eine dumme Frage?“

„Ähm, ja! Das läuft alles heutzutage über die Wlan Verbindung und geht dann auf einen Server. Wer arbeitet noch mit Videobändern?“

„Entschuldige dass ich gefragt habe…“

„Pah! Videobänder…“, wiederholte er abfällig, als wäre sie ein besonders beschränktes Kind. Irgendwie kam sie sich wie ein Dinosaurier vor, dabei konnte sie nicht so viel älter als er sein. Aber gut, er durfte sie auch für ein Lama halten, so lange er weiterhin auf seinen Tasten klimperte und sie damit näher an ihr Ziel brachte. Total aus dem Häuschen faltete Hana die Finger ineinander wie zum Gebet. Wenn er wirklich solche Wunder vollbringen könnte, würde sie nie wieder, in irgendeiner Art und Weiße, gehässig von ihm denken. Soviel schwor sie sich.
 

Bling!
 

„Ja!“, rief er aus.

„War das ein gutes Bling-Geräusch?“, wollte sie eifrig wissen.

„Ja und wie! Ich bin drin.“

„Huhu! Du kleiner Wunderknabe!“, hüpfte sie begeistert auf ihrem Sitz. Der Wagen ruckelte dabei. Von außen machte der Anblick sicherlich einen zweideutigen Eindruck.

„Naja, Wunderknabe nun nicht…“, tat Kenny es ab.

„Nein, nein, nein! Ehre wem Ehre gebührt! Wo warst du nur während meiner Zeit als Journalistin? Ich hätte mit dir die besten Skandale ans Tageslicht befördert!“

Kenny wand sich auf seinem Sitz. Er lief puterrot an und grinste dabei wie ein verlegener Schuljunge, der von der hübschen Vertretungslehrerin ein Dankeschön, für einen mitgebrachten Apfel bekam. Es hätte nur noch eine Matrosenschuluniform gefehlt, eine Schultasche und das Bild wäre perfekt.

„Ich muss nur noch die Aufnahmen finden.“

„Na dann los! Schön suchen, ja?“, drängte sie ihn unwirsch.

„Ist ja gut. Ich bin doch schon dabei...“

Er klickte sich durch die Ordner auf dem Display. Irgendwann öffnete er eine Mappe in welcher mehrere Unterordner mit nummerierten Namen standen.

„Uff. Das sind einige. Jetzt müssen wir suchen.“

„Ich glaube nicht. Die Zahlen sehen nach einem Datum aus, nur ohne ein Trennungszeichen dazwischen und das Jahr scheint zuerst zu kommen.“

Kenny beugte sich näher an den Bildschirm und rückte seine Brille prüfend zurecht.

„Ja… Ja, das könnte stimmen. Aber dann bin ich im falschen Jahr. Das ist 2013.“

Er klickte sich heraus und scrollte hinab. Kurz darauf tippte er das Symbol eines anderen Ordners an. Neben ihm suchte Hana ebenso eifrig nach dem richtigen Datum.

„Da!“, sie deutete hektisch mit dem Finger auf einen Ordner. „Das muss der Abend des Brandes gewesen sein! Euer Freund und seine Schwester müssten da eingeliefert worden sein. Am selben Tag ist Hitoshis Großvater verschwunden.“

„Okay. Dann sehen wir uns den doch mal an.“, schlug Kenny konzentriert vor. Er klickte auf eine der Dateien und ein Fenster öffnete sich, kurz darauf betätigte er den Play Button. Schnell bemerkten beide aber, dass die Uhrzeit um Mitternacht begann.

„Ach Mist…“, schimpfte Hana. Sie holte ihren Notizblock hervor und blätterte darin herum, wurde aber nicht fündig. „Ich habe keine genaue Uhrzeit wann der Großvater eingeliefert worden ist. Nur das es morgens war…“

Sie blätterte weiter und jaulte gequält auf.

„Und bei dem Hiwatari Brand dasselbe Spiel! Hier steht nur abends. Haben du und Hiro dazu etwas herausgefunden.“

„Naja, die Uhrzeit für den Brand könnten wir im Internet recherchieren. Dann wissen wir ungefähr wann Kai und seine Schwester eingeliefert worden sind und müssen nicht den ganzen Tag anschauen. Die anderen müssten kurz darauf auch im Krankenhaus eingetroffen sein. Aber Mr. Kinomiya… Puh! Das war eines der Themen die wir Tyson eigentlich gefragt hätten, wenn wir ihn gefunden hätten. Wir waren ja selbst ziemlich überrumpelt von dieser Nachricht. Ich weiß weder wann er eingeliefert worden ist, noch wann er verschwunden ist.“

„Und über einen ehemaligen Dojolehrer zerreißt sich die Presse natürlich nicht so das Maul, wie über einen Geschäftsmagnaten und seine kleine Schwester. Naja.“, Hana holte ihr Handy hervor und tippte in Google den Suchbegriff Hiwatari Anwesen Brand ein. „Es bleibt uns dann wohl nichts anderes übrig, als den ganzen Tag anzuschauen. Wir wissen schließlich nicht wann Mr. Kinomiya verschwunden ist. Immerhin wird es bei Kai und seiner Schwester einfacher.“

„Hoffen wir mal.“

Was folgte war eine Stunde vor dem Laptop, in welcher sie mehrmals das Band vorspulten und jedes Mal inne hielten, sobald der Krankenwagen vorfuhr oder eine Person aus dem Eingangsbereich heraustrat. Es war ein wenig nervenaufreibend, da wirklich immer Hochbetrieb in solchen Gebäuden herrschte. Außerdem legte Kenny ein anderes Tempo vor als sie, da Hana länger brauchte, um die Gesichter zu studieren. Dann schnalzte er immer missbilligend und erklärte ihr, dass er seine Freunde selbst mit verbundenen Augen erkennen würde. Als sie fast den ganze morgen durch hatten, fanden sie endlich die Aufnahme, in welcher der gebrechliche alte Großvater eingeliefert wurde. Hana legte die Hand aufs Herz, denn es tat ihr weh ihn so zu sehen. Als sie ihn das erste Mal nach seinem Schlaganfall zu Gesicht bekam, lag er zwischen vielen Schläuchen und trotzdem traten Lachfältchen um seine Mundwinkel. Er hob ziemlich angeschlagen den Daumen und krächzte dennoch seinem Enkel anerkennend zu, dass er sich da eine kleine Schönheit angelacht habe. Was für ein tapferer Mann…

Hana notierte sich die Uhrzeit und ließ Kenny erst weiterspulen, als er die Aufnahme mehrmals wiederholte. Sie empfand den Zustand des Großvaters als ziemlich beunruhigend. Dabei tippte sie sich mit dem Stift nachdenklich gegen die Unterlippe. Er sah nicht aus, als hätte er sich schnell davon erholen können. Wie er alleine aus dem Krankenhaus kommen sollte, war ihr ein Rätsel. Sie schloss auf einen Helfer.

Das nächste relevante Ereignis auf ihrer Liste, war die Einlieferung von den Hiwatari Geschwistern. Als der gesuchte Krankenwagen vorfuhr und dessen Türen sich öffneten, hörte Hana ihren Nebenmann schwer schlucken. Kenny starrte auf seinen Freund, der an den Beatmungsgeräten hing und auf einer Trage hereingerollt wurde – ganz offensichtlich bewusstlos. Er hielt die Aufnahme an und schaute leichenblass auf das Bild.

„So habe ich Kai noch nie gesehen…“, kam das betroffene Flüstern. Hana schaute aus den Augenwinkel zu ihm und musste mitleidig feststellen, dass er wieder einen dicken Kloß im Hals bekam. Armer kleiner Nerd. Er blinzelte mehrmals, offenbar um den Tränenfilm loszuwerden und zog die Nase geräuschvoll hoch.

„Hast du ein Taschentuch?“, fragte er etwas verlegen.

„Im Handschuhfach.“, sie beobachtete mitleidig, wie er mit zittrigen Fingern die Klappe öffnete und sich daran bediente. Irgendwie fand sie es wirklich niedlich, wie besorgt er um seinen Freund war.

„Oh man… Ich fühle mich so scheiße. Einmal im Leben braucht er uns und ich verpenne es.“

„Oh, Schätzchen.“, sie klopfte ihm tröstend auf die Schulter. „Niemand hat geahnt dass der Tag so enden würde. Mach dir doch bitte keine Vorwürfe. Du kannst doch nicht verhindern, was du nicht voraussehen kannst.“

„Ja, aber sieh ihn dir doch an! Das ist doch Kai. Er war sonst immer der Starke…“

„Es gibt für alles ein erstes Mal. Und du kannst wirklich nichts dafür.“, versuchte sie ihn aufzumuntern. Sie bedachte den Mann auf der Trage, konnte aber durch die Maske auf seinem Gesicht nicht erkennen, wie er aussah. Hana hatte aber einmal ein Foto von ihm in der Zeitung gesehen, als die Presse ihn für seinen souveränen Führungsstil, in der letzten Finanzkrise lobte. Er war verdammt gutaussehend, ganz ohne Zweifel, doch auf keinem der Bilder welches ihr unter die Augen kam, lächelte Kai. Sein Blick war streng und kühl. Das machte ihn für Hana doch etwas unsympathisch. Einmal hatte sie ihren Verlobten gefragt, ob er wirklich so eiskalt war, wie er wirkte.

Hitoshi hatte das vehement verneint, ihn aber als sehr ehrgeizig beschrieben.

„So ehrgeizig das es schon weh tut.“, war der genaue Wortlaut gewesen.

Sie deutete mit dem Zeigefinger auf eine Gestalt, die gerade aus dem offenen Krankenwagen, mit einem Kind auf den Armen herauskommen wollte. Ein Sanitäter.

„Ist das seine Schwester?“

„Ich denke schon. Die Kleine habe ich schon lange nicht mehr gesehen.“, bejahte Kenny unsicher.

„Es scheint ihr besser zu gehen als ihm.“, Hana legte den Kopf schief und merkte an: „Sehen sich aber gar nicht ähnlich die beiden.“

„Sie ist seine Halbschwester.“

Hana blickte auf das verstörte Kindergesicht, dessen Hamsterbacken von Tränen gekennzeichnet waren. Etwas daran kam ihr merkwürdig vor, doch sie beließ es dabei.

„Verstehe.“, sie hob Stift und Block. „Lass mich die Uhrzeit notieren. Dann halten wir nach dem Großvater und deinen Freunden weiter Ausschau.“

Sobald sie geendet hatte, drückte Kenny wieder auf Play. Sie beobachteten wie Kai in das Gebäude geschoben wurde, da blitzte das Bild an jener Stelle kurz auf, als die Sanitäter die Trage in Richtung Kamera drehten.

„Was war das?“

„Keine Ahnung? Vielleicht war es windig an dem Abend. Kleine Störungen eben.“

Es verging nicht viel Zeit, da erblickten sie auch tatsächlich auf dem Monitor, eine Gruppe junger Männer, die eiligst in das Krankenhaus rannte. Hana schaute sich die Gesichter interessiert an. Es war eines die Namen zu kennen und etwas anderes, endlich eine Person dem zuordnen zu können. Sie prägte sich die Merkmale genau ein.

Max war unschwer zu erkennen.

Sie hatte bereits mitbekommen, dass er gebürtiger Amerikaner war. Mit seinem flachsblonden Haar, dem hellen Teint und den dunkelblauen Augen, stach er als Ausländer sofort hervor. Er besaß eher ein rundlicheres, weicheres Gesicht, als der Rest. Seine Brauen waren sorgenvoll herabgezogen, während er seinen Freunden die Tür aufhielt und ihnen mit einer hektischen Geste andeutete, etwas schneller zu laufen. Dagegen war Hana unsicher, wer von den beiden asiatisch stämmigen, wer war. Keiner von beiden besaß eine besondere Ähnlichkeit mit Hitoshi und sie hatte Tyson nur flüchtig kennengelernt, als sie Mr. Kinomiya, zusammen mit ihrem Verlobten, bei seinem Schlaganfall im Krankenhaus besuchten. Es war so kurz und abgehakt gewesen, dass sie keine Zeit bekam, sich ihm richtig vorzustellen, doch Hiro wollte an diesem Tag unbedingt zurück zur Universität. Er war auch nur gekommen, weil sie ihn dazu gedrängt hatte, nach seinem Großvater zu sehen. Sein Verhalten hatte damals zu ihrer ersten heftigen Zankerei geführt, weil Hiro doch tatsächlich zu ihr meinte, das eine traditionellere Japanerin, die Klappe halten würde, wenn ihr Verlobter eine Entscheidung traf.

„Als wäre man mit Paris Hilton zusammen! Dein Vater hätte dich niemals drei Jahre in die USA, zu deiner Tante schicken dürfen. Dann hättest du jetzt nicht so eine vorlaute Schnauze!“, knirschte er damals wütend mit den Zähnen. Daraufhin schmiss Hana ihm sein Bettlaken zu, mit der Begründung, dass ein traditioneller Japaner wie er, in Zukunft dann auf dem Sofa pennen dürfe, wenn er sich weigerte mit der Zeit zu gehen.

„Dich kotzt doch nur an dass ich Recht habe! Und das dir die Argumente ausgehen!“

„Du machst mich wahnsinnig, du freches Weibsstück!“

Kurz darauf warf sie ihm fauchend ein Glas hinterher. Wenn sie stritten ging es immer heiß her. Dennoch musste sie schmunzeln, als er später in der Nacht, reumütig ins Bett zurückkam und sich bei ihr mürrisch für sein Verhalten entschuldigte.

„Ist das Ray?“, fragte sie aus einer Eingebung heraus. Es war ein hochgewachsener junger Mann, mit einem traditionellen Pferdeschwanz, den sie in dieser Form aus China kannte, auf den sie deutete. Er schien von der körperlichen Statur die anderen zu überragen, während Max der Kleinste war. Das fand Hana etwas seltsam, weil Amerikaner doch angeblich so viel größer als Asiaten waren, da kam ihr aber der Gedanke, dass sie vielleicht einfach nur in plumpen Klischees dachte. Rays Kleidung sprach von einer stolzen Herkunft. Hana mochte zwar eher eine moderne Mode, doch diese traditionelle Aufmachung stand ihm.

Kenny nickte inzwischen und fügte hinzu: „Der andere ist Tyson. Den kennst du ja bestimmt.“

„Leider nein.“, dachte Hana angesäuert. Es war ihr peinlich es offen zuzugeben. Sie wollte demnächst in diese Familie einheiraten und erkannte nicht einmal ihren künftigen Schwager. Was sie dagegen noch wusste, war, dass Hiro und sein Bruder ähnliche Augen besaßen, nur wirkte Tyson sehr geknickt, als sie ihn zum ersten Mal erblickte. Allerdings hatten sie sich auch unter ungünstigen Umständen kennengelernt. Sie wusste auch, dass er eigentlich Takao hieß, aber sich sein Spitzname einfach durchgesetzt hatte. Er besaß viel dunkleres Haar als sein älterer Bruder. Im Licht des Eingangsbereiches schien es sogar einen bläulichen Stich zu haben. Er hatte ein markantes Gesicht. Genaugenommen war jeder der jungen Männer auf seine Art und Weise recht attraktiv. Wäre sie fünf Jahre jünger, hätte sie wohl sogar mit Ray angebandelt, einfach weil sie hochgewachsene Männer mochte. Dabei dachte sie wehmütig an ihr Exemplar, das nun in einer Gefängniszelle versauerte. Sie hatte es doch immer so geliebt, sich auf die Zehenspitzen stellen zu müssen, um Hitoshi zu küssen und er scherzte dann stets, dass Hana wie ein Klammeräffchen sei. Ein schwerer Atemzug kam aus ihrer Kehle.

„Was ist?“

„Nichts.“, log Hana. Sie notierte sich die Uhrzeit. „Mach weiter. Jetzt wird es erst richtig interessant. Wir müssen herausfinden, wer wann das Gebäude verlassen hat.“

Kenny nickte. Es folgte eine weitere Stunde, in der sie jede Person genau durchleuchteten, die aus dem Eingangsbereich kam. Plötzlich klickte er das Stopp Symbol an.

„Da! Das sind sie doch!“, rief Kenny aufgeregt aus. „Warte mal… Kai ist ja auch dabei?“

„Tatsächlich. Der wirkte doch zuvor noch wie tot.“

„Wow! Es geht ihm wieder gut.“, freute er sich wie ein König. Hana musste darüber schmunzeln. Sie beobachteten wie die Gruppe sich vor dem Eingangsbereich versammelte. Gerade als sie skeptisch fragen wollte, wo Tyson abgeblieben sei, drängte er sich an den anderen eiligst vorbei und fuhr kurz darauf mit einem roten Wagen vor.

„Der Wagen ist sein ganzer Stolz.“, gluckste Kenny neben ihr kurz auf. „Er hat zum Teil selbst daran herumgeschraubt.“

Hana rollte mit den Augen als sie das hörte. Männer…

Der Rest der Gruppe, blieb wo er war, während Max auf Kai einzureden schien.

„Der Großvater ist nicht dabei…“, meinte Hana verwundert.

Kai blickte in Richtung der Kamera. Da flackerte der Bildschirm wieder auf.

„Was ist los?“

„Ich weiß es nicht!“, verärgert nestelte Kenny an der Antenne herum. „Das Ding hat vielleicht einen Wackelkontakt. Mit Dizzy würde mir sowas nicht passieren.“

Er spulte die Aufnahme zurück. Doch der Bildschirm blitzte an derselben Stelle auf und verzerrte Kais Gestalt.

„Komisch. Die anderen sind alle gut sichtbar. Nur bei Kai erscheint immer diese Störung.“

„Ach egal. Mach weiter.“, schlug Hana ungeduldig vor. Sie war nicht vom Fach und eigentlich war ihr die Bildqualität auch Schnuppe. Es ging ihnen ja auch nur um die Uhrzeit. Während sie sich die Zeit notierte, hörte das Flackern aber nicht auf. Ein greller Stich zog sich immer wieder über das Gesicht des jungen Hiwatari Oberhauptes und Kenny begann zu fluchen.

„So ein Mistbock! Meine nächste Prämie geht für einen gescheiten Ersatzlaptop drauf.“

Sie beobachtete wie die Gruppe in den Wagen stieg und davon fuhr. Kai blieb jedoch zurück. Während Kenny an der Antenne herumnestelte, passierte etwas Merkwürdiges auf dem Bildschirm. Wie von Geisterhand kam Nebel auf. Er waberte träge vor dem Eingangsbereich und Hana hielt den Atem an. Sie ergriff Kennys Hand, die noch immer an dem Zubehör werkelte.

„Hör auf.“

Es dauerte nicht lange bis er auf das Geschehen aufmerksam wurde.

„Was zum…“, er schob seine Brille hoch und rieb sich unter dem dichten Haarschopf die dunklen Augen. Plötzlich ging eine Windböe durch den Nebel. Wie bei einem Pinselstrich, konnte man jeden winzigen Luftstrom erkennen, bis er sich zu einem kleinen Wirbel formte. Einen Wimpernschlag später stand hinter Kai ein fremder Mann.

„Stopp! Das ging mir zu schnell.“, sprach Hana verwirrt. „Geh zurück. Ich habe gar nicht gesehen, woher der Typ kam.“

„Ich auch nicht.“

Doch die Aufnahme wurde nicht besser.

Erst stand Kai alleine da. Im nächsten Moment dieser Mann hinter ihm.

Kenny spulte immer wieder zurück, doch es schien, als wäre er aus dem Nichts aufgetaucht. Selbst die Schiebetür zum Eingangsbereich ging hinter den beiden nicht auf. Ratlos lehnte er sich gegen den Sitz.

„Fehlen ein paar Sekunden?“, wollte Hana wissen.

„Nein. Sieht nicht so aus…“, er kratzte sich ratlos am Kopf. Vielleicht war der Wind so stark an diesem Abend gewesen, dass die Kamera einen Wackelkontakt bekam und ein Teil fehlte. Kenny ließ das Video weiterlaufen. Da erschien das Flackern auch auf dem Gesicht des Fremden. Sein Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, während die Strähnen vorne in die Stirn fielen und ein leichter Bartwuchs lag um sein Kinn. Er wirkte etwas älter als Kai.

„Wer ist das? Ein Freund von euch?“

„Noch nie gesehen.“

„Aber er spricht mit ihm.“

„Jaa… Huh! Was macht er da?“

Kenny klappte die Kinnlade herunter. Dieser Typ fuhr mit seinem Finger über Kais Halsbeuge, nur um sich kurz darauf auch mit dem Kopf dorthin zu beugen.

„Ist Kai schwul?!“, fragte Hana perplex.

„N-Nein… Also. Er lässt nicht viel aus sich heraus, aber bisher hat er uns nur Frauen vorgestellt! Wenn auch nur durch Zufall. Er redet nicht gerne über so etwas.“

„Jetzt wissen wir auch warum…“

„Oh man, Nein! Wirklich. Das kann nicht sein!“

„Aber sieh mal, wie er es über sich ergehen lässt. Er rührt sich ja kaum.“

„Ja. Das ist… total komisch. Er steht da wie ein Geist.“

„Dieses Flackern nervt! Jetzt mach doch etwas dagegen.“

„Ich weiß, aber was soll ich denn tun?“, kämpfte Kenny verzweifelt gegen die fehlerhafte Technik an. Er wollte sich das Gesicht des Fremden näher ansehen. Womöglich kannte er ihn doch und Kai hatte all die Jahre mit ihm ein Verhältnis. Das wäre ja ein starkes Stück, wenn ausgerechnet er…

Heilige Scheiße! Ob die anderen davon wussten?!

Kenny hatte noch nie Andeutungen in diese Richtung bemerkt. Immer wieder hielt er die Aufnahme an. Doch entweder war der Kopf des Fremden zur Seite gedreht oder der Blitz huschte über sein Gesicht. Bei Kai war es dasselbe Spiel.

„Das ist unheimlich…“, sprach Hana plötzlich neben ihm.

„Was? Das einer meiner besten Freunde schwul sein könnte?!“

„Nein. Aber diese Blitze. Es sieht aus, als würde jedes Mal ein… Gesicht aufflackern.“

Sie deutete mit offenem Mund auf den Bildschirm. Kenny hatte an einer Stelle gehalten, als beide Köpfe der Personen, von dem Flackern verdeckt wurden. Sie starrten auf die Aufnahme. Es wirkte als hätten sich verzerrte Masken auf die Gesichter gelegt. Wie wenn man mit Wasserfarbe eine Figur malte und über das Blatt wischte, bevor die Farbe richtig trocknete. Jene des Fremden strahlte bläulich, während die über Kais Kopf hellrot blitzte.

Kenny erkannte Augen. Einen höhnisch verzerrten Mund…

„Check nochmal die anderen Aufnahmen davor. Vielleicht ist das nur ein Zufall.“, meinte Hana. Er nickte beklommen. Irgendwie überkam ihn eine seltsame Ahnung, die aber zu obskur war, als das er sie aussprechen wollte. Es waren die Farbe in jenen die Fratzen leuchteten. Wie zwei starke Energiequellen. Sie kamen ihm so bekannt vor.

Tatsächlich fanden sie bei den Aufnahmen davor, an jeder Stelle, wo die Blitze auftraten, ebenfalls die schaurigen Gesichter vor. Da stockte Kenny der Atem, als er sich an etwas erinnerte. Ein Telefonat mit Tyson, einige Tage, bevor sie alle zusammen am Freitagabend ausgegangen waren. Er vernahm dessen Stimme klar in seinem Kopf, die ihm damals, von der anderen Seite des Hörers aus, erzählte:
 

„Wenn ich es dir doch sage Kenny! Dragoon hat versucht mit mir zu sprechen!“
 


 

*
 

Ray war bewusstlos. Der Schmerz hatte ihn übermannt.

Doch es ging ihm besser, zumindest nach den ruhigen Atemzügen zu urteilen, die Tysons Wange streifte. Er trug ihn auf seinem Rücken, während Max das Kind an der Hand hielt und eiligst stolperten sie durch die Finsternis des Dschungels. Sowohl die Strommaus, als auch Galux fungierten als ihre Lichtquelle. Allegro hinterließ bei jedem seiner Sprünge einen zarten Schimmer hinter sich, wie die Brotkrümelspur aus Hänsel und Gretel, die drohte zu verschwinden, wenn man nicht Acht gab. Mehrmals hielt das Bit Beast inne, um nach ihnen zu sehen und sie zur Eile zu drängen. Tyson war komplett außer Atem, doch er nickte nur jedes Mal. Nachdem Galux mit ihrem Schweif seine Wunde umschlossen hatte war seine Verletzung geheilt und er zögerte danach auch nicht lange, um Ray auf seinen Rücken zu heben. Deshalb bestand er auch zuvor darauf, den Ast aus dessen Oberschenkel zu ziehen, weil er Instinktiv fühlte, dass Galux Spezialgebiet darin bestand, zu heilen. Sicherlich wäre sie auch mit Max so verfahren, hätte der Sturm um sie herum, nicht alle so nervös gemacht. Stattdessen beobachtete die Gruppe, wie das Bit Beast sich zu ihrem bewusstlosen Freund hinabbeugte und etwas Luft auf die Wunde an seinem Bein hauchte. Was ihr dabei entwich, war ein zartglimmender Regen aus purpurnen Funken, die sich sanft auf die Verletzung legten. Irgendwie überkam Tyson das Gefühl, dass es Blut war.

Womöglich glich sie damit den Blutverlust aus?

Rays Blässe nahm daraufhin auf der Stelle an Intensität ab, selbst die Augenringe verschwanden und seine Wangen wirkten lebendiger. Anschließend hatte Galux ihre Stirn gegen seine gelehnt. Sie war einen Moment mit geschlossenen Lidern so verblieben, bis sie urplötzlich ihre Augen öffnete, die in einem grellen weißen Licht aufstrahlten. Dann war etwas Unglaubliches passiert.

Jede Vene im Leib des Bit Beasts pulsierte hell und das Leuchten griff von der Stirn aus, auf Rays Körper über. Sie erkannten feine Verästelungen von Nervensträngen unter seiner Haut, die begannen, sich dem Takt der Impulse des Bit Beasts anzupassen. Das Glimmen drang tiefer in Rays Gehirn ein, bis sie einen Knoten erreichten, bei welchem es sich offensichtlich um das Geschwür handelte, welches von ihrem Freund Besitz ergriffen hatte. Einen flüchtigen Moment bekam es Tyson mit der Angst zu tun. Was wenn Galux nicht gegen diesen Parasiten ankam?

Er hätte dann erneut mit Max darüber diskutieren müssen, dass er mit Kai gefälligst wieder den Heimweg antreten sollte. Sie wären wieder in ein Pro und Kontra darüber verfallen, ob sie alle zusammen oder ein Teil hier bleiben sollte.

Als das Glimmen aber bei dem Geschwür ankam, schrumpfte es langsam in sich zusammen. Rays Augen hatten sich ebenfalls geöffnet, in genau demselben Licht wie jene von Galux. Er begann wild zu Zucken und Max wollte nach ihm greifen, um ihn zu beruhigen, da hopste Allegro aber auf dessen Handrücken und bedeutete ihm mit einem energischen Kopfschütteln, es bleiben zu lassen.

„Das ist sein Chi!“, erklärte er ehrfurchtsvoll. „Mademoiselle Galux bringt seinen Energiefluss wieder ins Reine. Hüte dich lieber davor ihn anzufassen, mein Junge, du würdest ihm keinen Gefallen damit tun, wenn du seinen Fluss, mit deiner eigenen Energie, wieder aus dem Gleichgewicht bringst!“

Daraufhin nickte Max nur wortkarg. Dennoch blieb der besorgte Ausdruck auf seinem Gesicht. Tyson hörte aber kurz darauf, dass neben ihm ein Aufatmen durch Kai gegangen war, als sich der Parasit in viele kleine Teile auflöste, bis er gänzlich aus Rays Gehirn verschwand. Er hatte zu dem Kind hinabgeblickt, das ihn ebenso erstaunt anblinzelte.

Doch der Moment hielt nicht lange an, denn schnell ließ Galux von Ray ab und sie fanden sich kurz darauf, in einem eiligen Parcours, durch den Wald. Als Tyson während ihrem Lauf einmal nach hinten blickte, weil Kai über eine emporragende Wurzel stolperte und Max ihm aufhalf, erkannte er tief im Dschungel eine riesige finstere Windhose. Sie mähte sich durch die Pflanzenpracht und was immer sie fand zerstreute der Tornado in alle Himmelsrichtungen. Einmal war ein riesiger Klumpen, knapp vor Tysons Füßen gelandet. Es kam so urplötzlich, dass er eine Vollbremsung hinlegte und Max in ihn hineinrannte. Desto weiter sie sich aber entfernten, desto weniger Geschosse schlugen bei ihnen ein. Dafür kreuzten ihre Wege aber viele Bit Beasts. Das erste welches sie trafen war eines des F-Dynasty Teams. Leider hatte sich Tyson nie unterscheiden können, welcher Pegasus das von Julia und welcher das von Raul war. Das Bit Beast bäumte sich vor ihnen auch nur wiehernd auf und galoppierte ihnen voraus davon. Offenbar war sämtlichen Bewohnern des Talkessels klar, dass diese Gegend ein Schlachtfeld war und man besser verfuhr, schnellstmöglich das Weite zu suchen, als sich um die Menschenkinder zu scheren. Erst kurz vor der Gebirgskette hielten sie an.

Tyson schnaufte aus allen Rohren und konnte sehen, wie jene Bit Beasts, die Fliegen konnten, über die Bergspitze davon flatterten, während die anderen eiligst hinaufkraxelten. Das war aber leider keine Option für sie. Galux hatte noch keine Zeit gefunden, Max Hand zu heilen und Ray war nach wie vor bewusstlos. Außerdem bezweifelte Tyson, dass Kai mit seiner kleinen Statur dort hinauf kam. Er spürte dass der Schweiß seinen Rücken hinabrann und sein Kopf brannte lichterloh, ob der Anstrengung.

„Geht es?“, wollte Max wissen. Auch auf seinen Wangen zeichneten sich rote Flecken ab. Er war nur zu einem atemlosen Nicken im Stande und rückte Ray auf seinem Rücken wieder zurecht.

„Meine Herren, keine Zeit zum Plaudern! Kommt schnell hier lang!“, Allegro hüpfte wie wild vor einem Felsbrocken herum, der an den Ausläufern des Gebirges begann. Darunter witterte Galux nach etwas und scherte kurz darauf wie verrückt in der Erde. Sie schaufelte sich immer tiefer.

„Was macht sie da?“

„Ich bin mir nicht sicher… Mademoiselle? Wären sie so gnädig uns zu berichten, was dieses Vorhaben bezwecken soll?“

„Wir brauchen eine Wurzel.“, erklärte Galux knapp. „Da unten ist eine.“

„Müssen wir uns etwa den ganzen Weg bis zum Wurzelwerk durchgraben?!“, fragte Max fassungslos.

„Aber nein! Nur ein einzelner Keim ist von Nöten.“

Ratlos schaute die Gruppe ihr dabei zu, bis Tyson ein Stöhnen an seinem Ohr hörte. Er ging in die Hocke und ließ Ray langsam von sich hinunterrutschen. Zusammen mit den anderen legten sie ihn erst einmal behutsam auf der Grasfläche ab. Er murrte und sein Gesicht drehte sich gequält von einer auf die andere Seite, bis sich endlich flackernd seine Lider öffneten. Aus erschöpften Augen blinzelte er zu ihnen empor. Sein Blick wirkte verklärt, bis er langsam ins Diesseits zurückfand.

„Hey Kumpel…“, grinste Tyson ihm entgegen. Max begann vor Freude zu strahlen.

„Hast uns ja einen ganz schönen Schrecken eingejagt!“, scherzte er. „Sagst einfach zu Galux wir sollen ohne dich nachhause gehen…“

„Ja. Wir haben uns beinahe ins Hemd gemacht, als wir diese Hiobsbotschaft gehört haben.“

„Als ob wir ohne dich gehen würden, du blöder Spinner!“

Wie zwei freche Bengel lachten sie ihm heiter entgegen. Ray blickte beide wie versteinert an, als er endlich zu erkennen schien, wen er vor sich hatte. Dann schlossen sich seine Lider wieder und sein Körper begann zu beben. Er versuchte etwas zu sagen, doch es ging in einem heißeren Gestammel unter. Tyson beugte fragend sein Ohr zu seinem Mund herab.

„Was? Brauchst du etwas?“

„Es tut mir so leid.“, hörte er stattdessen auf seine Frage. Die Erinnerungen kamen zurück…

Und mit ihnen offensichtlich die Reue. Ray biss sich auf die Lippen, im verzweifelten Versuch den aufkommenden Tränen Herr zu werden, doch der Damm brach, als Max ihm aufmunternd auf die Schulter klopfte und ihm sagte, dass er sich doch bitte keine Vorwürfe machen sollte.

„Wie kannst ausgerechnet du das sagen?! Ich wollte dich erwürgen!“, keuchte er schwer. Er presste die Lider aufeinander und eine Träne rann seine Wange herab.

„Nein, wolltest du nicht.“

„Ich habe es doch versucht!“

„Das war ein anderer Ray. Einer der von einem ekelhaften Parasiten dazu getrieben wurde. Der Ray den wir kennen, liegt gerade hier und ist traurig, weil er seinen Freunden geschadet hat. Er ist zu verantwortungsbewusst, als dass er so etwas bei klarem Verstand tun würde.“

„Ich schäme mich so…“

„Du hattest einen schwachen Moment. Das kommt vor.“, beteuerte Tyson ihm. Sie hakten ihre Arme unter seinen Ellbogen, um ihn langsam aufzusetzen. Dabei war das Zittern seines Körpers genau zu spüren. Obwohl er wieder Farbe im Gesicht hatte, schien er noch benommen.

„Ich kann nicht mit euch nachhause.“, sprach Ray seufzend.

„Doch. Jetzt kannst du es wieder.“

„Aber der Parasit…“

„Der ist weg!“, versicherte ihm Tyson. Er begann ihm zu erklären, dass Driger seine Meinung geändert hatte und nun im Dschungel gegen Dragoon kämpfte. Ray blinzelte verwirrt in die Richtung, aus jener der Kampflärm, bis vor kurzem noch zu ihnen herübergeschallt war. Dann wandte sich sein Blick zu Galux. Nur noch ihr Schweif ragte aus dem Erdloch, das sie emsig grub, während Allegro sich zwei Blätter geschnappt hatte, um als moralische Unterstützung zu fungieren:

„Rechte Pfote, linke Pfote!“

Dabei hob er abwechselnd immer ein Blatt hoch.

„Wunderbare Technik Mademoiselle!“, hörten sie sein anerkennendes Lob.

Inzwischen kam Kai angerannt. Tyson verschlug es den Atem als er merkte, dass der Kleine einfach unbeobachtet durch die Büsche verschwunden war. Er fragte sich wie lange er weg gewesen war und konnte sich ein Zähneknirschen nicht verkneifen. Dieser Junge war wirklich ein streunender Kater! Einen Moment wolle er ihm auch schon eine lautstarke Standpauke halten, bis das Kind Ray, ohne viele Worte, ein Blatt hinhielt. In dessen Mitte hatte es etwas Wasser geschöpft. Mit zittrigen Fingern nahm ihr Freund die kühlende Erfrischung entgegen und trank gierig daraus.

„Das tut gut…“, rief er aus, als das frische Wasser seine trockene Kehle benetzte. Ein dankbares Lächeln folgte, was auch das Kind zögerlich die Mundwinkel heben ließ. Dann bot Ray den anderen auch etwas an.

„Trinkt ihr euch mal satt. Ich hole mir selbst etwas.“, wich Tyson aus und wandte sich an den kleinen Jungen. „Zeig mir doch mal wo du das her hast, okay?“

Das Kind nickte eifrig. Tatsächlich führte ihn Kai wenige Schritte von ihrem Standpunkt entfernt an eine kleine Quelle, die geräuschvoll die Felswand hinabplätscherte. Stolz erklärte er ihm, dass er einen kleinen Wasserlauf gesehen habe, als sie kurz zuvor hier entlanggerannt waren und ihm gefolgt sei. Tyson atmete erleichtert aus. So weit war er also doch nicht von der Gruppe weggelaufen. Er ergriff Kais Hand und führte ihn aus dem Sichtfeld der anderen. Der Junge blinzelte ihn fragend an, als er sich mit einem ernsten Gesicht zu ihm herabbeugte.

„Hör mal, Kleiner. Ich finde es toll das du Ray helfen wolltest, aber bitte überlass solche Dinge den Älteren.“

„Warum? War das böse?“

„Nein, nein! Überhaupt nicht.“, beteuerte Tyson auf das traurige Gesicht seines Gegenübers. „Aber du bist klein und wir haben gar nicht bemerkt dass du weg warst. Du siehst doch wie schnell Ray von einem Bit Beast aufgegriffen wurde, was denkst du wie leicht es dann für eines ist, dich zu packen?“

„Vielleicht sehen sie mich nicht, gerade weil ich so klein bin.“, zuckte er arglos mit den Schultern und deutete auf die Büsche. „Schau, die sind viel höher als ich.“

„Darauf können wir uns aber nicht verlassen.“, wehrte Tyson den Vorwand entschieden ab. „Wenn wir dir sagen keine Fackeln, kein Feuer und keine Alleingänge, dann meinen wir das so! Und wenn ich dich das nächste Mal darum bitte, dass du mit Max nachhause gehst, dann tust du das ohne Wiederworte und schlägst dich nicht auf seine Seite! Hätte uns der Zufall nicht in die Hände gespielt, säßen wir alle ohne einen Ausweg hier fest, obwohl du die Möglichkeit gehabt hättest, nachhause zu gehen.“

„Max doch auch. Und ihn schimpfst du nicht aus.“

Kai schaute ihn aus großen Kinderaugen vorwurfsvoll an. Seine Lippen verzogen sich zu einem Schmollmund. Da tat Tyson seine Tonlage auch schon wieder leid.

„Max kann für sich selbst Entscheidungen treffen. Auch wenn ich nicht begeistert darüber war. Aber du bist der Kleinste von uns und wir müssen auf dich aufpassen.“

„Wolltet ihr mich loshaben?“, fragte Kai unsicher.

„Mein Entschluss hatte nichts damit zu tun, dass ich dich loshaben wollte. Ich wollte dich in Sicherheit haben.“

„Das ist doch dasselbe…“

„Nein. Jemanden loshaben will man, wenn er einen nervt. Jemanden in Sicherheit bringen, weil man ihn gerne hat. Wir sind für dich verantwortlich und nicht du für uns.“

„Aber ich war doch auch mal ein großer Kater…“

„Eben! Du warst es einmal. Momentan bist du außer Gefecht gesetzt.“

Kai schaute zu Boden und verhakte die Finger ineinander. Ein trotziger Ausdruck trat auf sein Gesicht. In jenem Moment war er seinem erwachsenen Alter Ego erstaunlich ähnlicher geworden.

„Nur weil ihr groß seid, müsst ihr doch nicht alles machen.“

„Wer soll es sonst machen?“

Kai dachte nach, kam wohl aber zu keinem Ergebnis.

Stattdessen schaute er beschämt zur Seite.

„Ich will aber nicht dass ihr euch immer um mich sorgen müsst.“

Tyson blickte ihn lange an. Er dachte an ihren Streit bevor sie hier gestrandet waren. Damals hatte er Kai vorgeworfen seine Probleme ständig für sich zu behalten, weil er sie nicht um Hilfe bitten wollte. Er wusste dass zum Teil sein übermäßig ausgeprägter Stolz daran schuld war – aber vielleicht machte den Löwenanteil davon, eher dieser kindliche Wunsch aus? Er umfasste sanft seine Schultern und lächelte ihn versöhnlich an.

„Na sieh mal an. Ich habe schon wieder etwas über dich gelernt.“, er kniff ihm spielerisch in die Backe. „Das kleine Geheimnis lüftet sich nach und nach.“

Kai schaute ihn verständnislos an und legte den Kopf zur Seite. Offensichtlich begriff er nicht, worauf Tyson anspielte. „Das streunen lässt du aber jetzt wirklich sein.“

„Okay.“

„Nein, nein, nein! Sag nicht okay, wenn du es danach wieder vergisst!“

„Habe ich das?“

„Ja! Als du uns davon erzählt hast, dass du Ray im Wald verloren hattest und du ihn zunächst alleine gesucht hast. Da meinte ich zu dir, du sollst nicht ohne uns hier herumschleichen.“

„Ooh.“, machte Kai aus großen Augen. Das schien ihm tatsächlich wieder entfallen zu sein.

„Das war vor wenigen Stunden und du hast es trotzdem wieder vergessen. Dieses Mal will ich ein feierliches Versprechen! Und wenn du es brichst, musst du… Pfeffer auf deine Zunge streuen!“

„Ich will aber keinen Pfeffer auf der Zunge.“, verzog er angeekelt das Gesicht.

„Na, dann halt dich lieber daran. Rechte Hand aufs Herz, los!“

Das Kind folgte der Anweisung.

„Andere Hand hoch. Nicht die Finger kreuzen!“

Kais Linke schnellte hinauf.

„Und jetzt versprich mir, dass du nicht mehr ohne einen Erwachsenen irgendwo hingehst oder einfach abhaust, ohne uns Bescheid zu geben.“

„Ich verspreche es.“

Grimmig nickte Tyson und stemmte sich auf. Er wandte sich zur Quelle und bemerkte, dass er tatsächlich ziemlich durstig war.
 

Als sie zurück kamen half Max dem wackligen Ray auf die Beine. Sobald er auf den Füßen stand, rieb er sich verwundert über die Stelle, wo zuvor der Ast seinen Oberschenkel durchbohrt hatte und begutachtete den Riss in seiner Hose. Nur der blutdurchtränkte Stoff, zeugte noch von der Verletzung, die zuvor dort gewütet hatte.

„Heureka!“, jubilierte Allegro plötzlich. „Sie hat einen! Eilt herbei, meine Kinderlein! Es geht in die unteren Etagen.“

Tyson ergriff Kais Hand, während der Rest der Gruppe auch zum Erdloch rannte. Dort hatte Galux eine Wurzel freigelegt, welche knorpelig herausragte. Sie umrundete den Keim und einen Moment rümpfte Tyson ungläubig die Nase, weil das Gewächs überhaupt nicht spektakulär aussah. Niemals wäre er darauf gekommen, dass ausgerechnet diese Wurzel mit dem Weltenbaum zusammenhing.

„Hoffen wir nur dass es ein leichter Weg ist.“, meinte ihre Wunderheilerin inzwischen beunruhigt.

„Warum sagst du das?“, kam die Frage von Max.

„Weil wir sonst eine andere Wurzel finden müssen. Viele Wege führen in die Menschenwelt, aber nicht jeder Weg ist gut passierbar. Vor allem für Wesen wie euch, die nie auf Yggdrasil reisen. Doch diese hier… riecht eigentlich recht gut.“

Galux umrundete die Wurzel und biss schließlich hinein, um dreimal daran zu ziehen. Zunächst passierte nichts, doch da hörten sie hinter der Felswand ein lautes Poltern. Plötzlich zog sich ein Riss durch das Gestein. Es knackte und kleine Splitter rieselten herab.

Dann ging alles rasend schnell…

Sie schraken zurück, als ein Teil der Wand in ein dunkles Erdloch hinabgezogen wurde. Der zentnerschwere Brocken fiel in die Finsternis darin. Unsicher trat die Gruppe näher. Tyson spitzte die Ohren und versuchte den Aufprall auszumachen, doch es schallte nichts zu ihnen hinauf. Das Eigenartige aber war, dass, sobald die Wurzel nicht mehr vom Mondlicht berührt wurde, im Stollen anfing zu schimmern. Sie bahnte sich in einer steilen Kurve ihren Weg hinab, tief ins Erdreich, bis auch diese Lichtquelle verschluckt wurde.

„Da sollen wir runter?“, fragte Max ungläubig.

„Ihr sollt nicht. Ihr müsst.“, korrigierte Galux ernst. „Wir müssen aus diesem Teil der Irrlichterwelt verschwinden. Niemand weiß wie der Kampf zwischen den Uralten ausgehen mag. Driger ist Dragoon ein ebenbürtiger Gegner und wird es ihm keinesfalls leicht machen!“

Sie senkte den Blick und der nächste Satz schien ihr schwer über die Lippen zu kommen.

„Aber falls der König der Bit Beasts doch…“

Die Worte blieben unausgesprochen.

„Müssen wir von hier verschwunden sein.“, brachte Ray die Lage klar auf den Punkt. Er wusste nicht was er von Drigers Tat halten sollte. Ein kleiner Teil von ihm wollte ihm seine Grausamkeit nicht vergeben. Doch ein weitaus größerer Teil wünschte ihm auch nicht den Tod. Er wandte sich an die Gruppe. „Denkt ihr wir können es wagen?“

„Ich bin noch verletzt.“, merkte Max etwas unsicher an.

„Diese Wunde ist eine Leichtigkeit für mich.“, erklärte Galux.

„Und Kai?“

„Ich kann doch auch allein hinunterklettern?“

„Nein, du bist zu klein.“, kam es von allen gleichzeitig. Er schaute bockig zu Boden.

„Hey, ich mache es wie damals als wir ihn vor Dranzer gerettet haben. Er soll auf meinen Rücken steigen und ich ziehe meine Jacke über uns beide drüber.“, meinte Tyson.

„Okay… Das könnte klappen.“, Max blickte nachdenklich in den Stollen. „Nur mal so aus Neugierde. Wie tief geht es dort hinunter?“

„Wie tief?“, Galux legte ihren Kopf verwirrt zur Seite.

„Nur eine ungefähre Zahl. Zwanzig, dreißig, hundert Meter?“

„Wie willst du die Tiefe von etwas messen was keinen Boden besitzt?“

„Aber…“, Max verschlug es einen Moment den Atem. „Es muss einen Boden geben! Worauf wächst die Wurzel den sonst? Worauf steht die Irrlichterwelt? Es muss einen Erdkern geben, auf dem sich das Gestein schichtet! Die Wurzel kann ja wohl kaum im Nichts herumschweben.“

„Gewiss tut sie das. Warum auch nicht?“

Die Gruppe blinzelte das Bit Beast konfus an und Galux blickte ebenso irritiert zurück. Offenbar begriff hier keine Partei, den Standpunkt der anderen, weil ihre Denkweisen zu weit auseinander drifteten.

„Wohin klettern wir dann jetzt?“

„Ihr klettert auf den Weltenbaumzwillingen. Sie sind das Fundament auf welchem beide Welten stehen. Ein Stamm wächst in die Irrlichterwelt, während sein Zwilling in die Menschenwelt ragt. Sobald wir ihren Knotenpunkt passiert haben, gelangen wir wieder in eure Heimat.“

„Aber worauf stehen diese Bäume denn?“, fragte Max erneut, allerdings drängender.

„Auf Nichts, mein unwissendes Menschenkind. Es bedarf keinem Boden, nur seinen Verästelungen.“

„Aber das ist…“

„Unlogisch? Keinesfalls. Ihr Menschen glaubt doch auch, dass eure Planeten im Nichts herumschweben. Warum darf das also nicht der Weltenbaumzwilling?“

Betroffene Gesichter schauten das Bit Beast an.

„Gebt Acht dort unten und stürzt nicht hinab. Desto tiefer ihr fallt, desto ungewisser ist euer Schicksal. Ihr könntet auf ewig in der Unendlichkeit schweben.“

Die Blicke schnellten zu Galux.

„Faszinierend!“, Allegro kletterte auf Tysons Schulter und lugte neugierig in den Stollen hinein. Ihm fiel ein, dass die kleine Strommaus ihnen einmal erzählt hatte, dass es der Unterklasse untersagt war, diesen Weg zu verwenden. Es musste für ihren wackeren Mäuserich genauso spannend sein, wie für sie. Was das betraf konnte man ihn wohl als Pionier bezeichnen.

„Naja. Es hilft wohl nichts.“, antwortete Max widerwillig.

„Nein. Ich gehe aber voraus.“, erklärte Ray.

„Warte mal, du hattest vor einer halben Stunde noch einen Ast im Bein!“

„Es geht schon Tyson. Ich habe überhaupt keine Schmerzen mehr und du solltest mit Kai die Mitte bilden, falls ihr abrutscht.“

„Keiner von euch bildet die Vorhut. Das mache ich.“, erklärte Galux. „Ich bin die Einzige welche die Menschenwelt dort unten wittert. Es gibt tausende Abzweigungen und jede könnte zu einem falschen Ort führen. Wir könnten im falschen Land, auf dem falschen Kontinent, oder schlimmer noch, in einer menschenfeindlichen Gegend herauskommen. Ich vermute keinem von euch beliebt die Vorstellung, am tiefsten Punkt eines Meeres aufzutauchen.“

Betretenes Schweigen trat auf.

„Okay, das ist Argument.“, pflichtete Tyson schließlich bei. „Also, Galux geht vor. Danach Ray. Ich folge mit Kai. Danach kommt Max.“

„Wieso bin ich der Letzte?“

„Weil du scheiße kletterst.“, kam es von seinen Freunden wie aus der Pistole geschossen.

„Hey! Ihr könntet wenigstens höflich bleiben!“

„Als wären wir in unseren Umgangsformen jemals höflich gewesen.“, antwortete Tyson mit einem Schulterzucken. Maxs berüchtigter Schmollmund trat auf. Er schaute seine Freunde vorwurfsvoll an und das schlechte Gewissen ließ nicht lange auf sich warten.

„Hör auf so zu schauen.“, antwortete Ray mit einem nachsichtigen Lächeln. Galux tippelte vorsichtig zur Wurzel und begann den Abstieg, während er ihr folgte. „Wenn wir jemanden brauchen der uns in New York, zum nächsten Pizza Hut führt, darfst du zuerst voraus.“

Als es endlich an Max war, an der Wurzel hinabzuklettern, rief er seinen Freunden hinunter:

„Immerhin kann ich anständig Auto fahren, ihr Blindgänger!“
 

Es mochte eine viertel Stunde später sein, da waren sie schon ein beachtliches Stück geklettert. Der Untergrund war atemberaubend, denn immer wieder fanden sich kleinere, leuchtende Abzweigungen, welche zu einem anderen Ausgang des Wurzelwerkes führten. Einmal erspähten sie sogar einen Wasserfall, der vor einem Loch friedlich herabströmte, bis Tyson bemerkte, dass auch Fische munter in den Fluten herumschwammen. Sie trieben stromauf und wieder stromabwärts, da wurde ihm erst klar, dass das gar kein Wasserfall, sondern ein Flusslauf war. Als er genau hinsah, erkannte er sogar Bäume, die links und rechts neben dem Ufer heraufragten. Eine weitere Wurzel führte in einer schier endlosen Spirale in einen Ausgang, der steil nach unten führte. Dort machte man aber an der Öffnung nur den Himmel aus, während kleine Schäfchenwolken vorbeizogen. Es gab am Wurzelwerk scheinbar weder oben, noch unten. Kein Rechts, kein links. Hier suchte man vergeblich nach physikalischer Logik. Sie kletterten hinab, aber kamen vielleicht auf einer Bergspitze heraus? Er wunderte sich schon gar nicht mehr darüber…

„Schau mal Tyson.“, wisperte Kai leise neben seinem Ohr. Das Kind lockerte den Griff um seinen Hals und deutete auf einen wirklich kümmerlichen Ausgang. Gerade mal ihr Kopf hätte da hindurchgepasst. Dort schien die Wurzel tatsächlich in das Innere eines Baumes zu führen, wo ein dunkelgraues Eichhörnchen Bit Beast selig schlief. Hinter dem winzigen Geschöpf lag eine Öffnung im Baum und ein Blick nach draußen verriet, dass es sich in einem Teil der Irrlichterwelt befand, welcher unter einer dicken Schneeschicht ruhte.

Womöglich war es Wolborgs frühere Heimat…

„Ob es Winterschlaf hält?“, wollte Kai neugierig wissen. Er flüsterte so behutsam, als fürchtete er, ein kleiner Laut könne das winzige Wesen aufschrecken.

„Vielleicht.“, grinste Tyson auf die kindliche Frage. Einfach putzig…

Sobald ein Tier in der Nähe war, konnte der Kleine nicht mehr die Augen davon ablassen. So langsam schien er in ihrer Gegenwart auch richtig aufzutauen. Er bemerkte wie Kai noch während der Kletterpartie, einige Mal von seinem Rücken aus hinauf spähte, in der Hoffnung noch einen letzten Blick auf das Bit Beast erhaschen zu können. Wenn sie wieder zuhause waren, würde er mit ihm einmal in den Zoo gehen, einfach um seine Reaktion zu beobachten.

Oder vielleicht ein Tierheim?

In seinem Kopf malte er sich aus, wie Kai in einen argen Gewissenskonflikt kam, weil er insgeheim den sehnsüchtigen Wunsch hegte, einen winzigen Welpen zu streicheln, aber gleichzeitig nicht vor seinen Freunden wie ein Weichei dastehen wollte. Vielleicht entpuppte sich das aber auch als dessen Kryptonit und er konnte gar nicht anders, als seine Deckung fallen zu lassen und den Welpen mit einem leisen Seufzen, auf den Arm zu nehmen und an sich zu drücken.

Ob er dann genauso verträumt dreinschaute, wie bei der Katzengeschichte?

Tyson überlegte ob er sich nochmal ein Haustier zulegen sollte. Dieses Mal aber ein Kätzchen. Ein Hund kam ja wegen der Allergie seines Großvaters nicht mehr in Frage. Dann würde Kai vielleicht öfters bei ihm vorbeikommen. Sie könnten mehr Zeit miteinander verbringen.

Heilige Scheiße, er tüftelte schon an einer Strategie um ihm näher zu kommen…

Tyson verzog verärgert die Mundwinkel, weil er seine verwirrenden Gefühle nicht im Zaun halten konnte, erst recht nicht, als Kai traurig das Kinn auf seiner Schulter legte, weil das Eichhörnchen nun außer Sichtweite war. Wären sie in einer anderen Situation gewesen, hätte der Kleine wohl stundenlang, das niedliche Tierchen bei seinem Winterschlaf beobachtet und über jedes Zucken seiner Beinchen gelächelt. Wie konnte jemand der als Kind so wundervoll war, als Erwachsener nur so verflucht verschlossen werden?

Er hätte Kai vielleicht mehr auf den Zahn fühlen sollen. Auch wenn sie sich jetzt mittlerweile ein Jahrzehnt kannten, so richtig viel von seiner Zeit in der Abtei, oder seiner frühen Kindheit, hatte er nie preisgegeben. Dann war da noch die Sache mit seinen Eltern. Es war erst herausgekommen, als Kais Mutter wieder auftauchte. Tyson hatte sich die Frage einfach nicht verkneifen können, was damals vorgefallen war, dass seine Eltern ihn ausgerechnet bei Voltaire zurückließen. Ihm schien es offensichtlich, dass der grantige Alte, nicht dafür geeignet war, einen Jungen großzuziehen. Die Gruppe wusste, dass Kai nicht gerne offen über diese Zeit sprach, doch es war eine Frage, über die sie alle bereits zu lange spekuliert hatten. Er konnte sich noch erinnern, wie ernst Kai in die Runde geschaut hatte. Sein Blick war nachdenklich, von einem Gesicht zum Nächsten gehuscht, bis er mit einem leisen Seufzen nachgab und ihnen so knapp wie möglich, eine kurze Schilderung, der damaligen Ereignisse gab. Als Tyson zum Ende hin fragte, weshalb er ihnen das nicht schon früher erzählt hatte, war Kais Antwort nur gewesen, dass er damit abgeschlossen habe. Irgendwie beschlich ihn aber das Gefühl, dass er nur verdrängte, was ihm damals widerfahren war. Als wollte Kai sich nicht eingestehen, wie tief ihn diese Zurückweisung verletzt hatte. Tyson musste an ihren letzten Streit denken. Wie hasserfüllt Kai über seine Mutter gesprochen hatte. Es war nicht dessen Art, jemanden als „Schlampe“ zu bezeichnen.

Wenn er jemanden beleidigte, dann mit spitzen Bemerkungen, die so gescheit formuliert waren, das man manchmal gar nicht sofort begriff, wie viel Sarkasmus eigentlich darin mitschwang. Stumpfsinnige Schimpfwörter verwendete Kai wirklich nie. Tyson spürte dessen Atem seine Wangen streifen. Die warmen Kinderbäckchen an seiner Haut. Was war mit seinem silbergrauen Kater passiert, dass er damals so wütend die Krallen gegen ihn ausgefahren hatte?

Tyson hätte so gerne noch einmal mit Kai über diesen Streit gesprochen.

Sie fuhren sich gerne schon mal über den Mund, aber das damals…

Das war vollkommen ausgeartet. Er hatte Kai noch nie die Faust gegen ihn ausholen sehen.

Diese Überlegung ließ Tyson keine Ruhe – und es machte ihn unachtsam.

Er rutschte mit der Schuhsohle von der Rinde und ließ sie beide erschrocken ausrufen.

„Was ist los?“, schallte Rays Stimme besorgt zu ihnen auf. Er war schon viel weiter gekommen, als der Rest der Truppe, hielt aber mehrmals inne, um nach ihnen Ausschau zu halten.

„Ich bin nur abgerutscht. Alles in Ordnung.“

„Ha! Du kletterst auch scheiße!“, trällerte Max schadenfroh von oberhalb.

„Und trotzdem immer noch besser als du!“

„Hört ihr jetzt auf damit?! Galux meint ihr sollt leiser sein, wenn ihr keine Geister anlocken wollt!“, er spürte wie sich Kai auf seinem Rücken verkrampfte. Dann fügte Ray hinzu: „Die Wurzel wird dicker.“

Tyson horchte auf.

„Ist das ein Problem?“

„Ja, weil sich dann nicht mehr richtig umfassen lässt. Ihr müsst gleich wirklich aufpassen.“, rief er hinauf. Tyson wollte Max zurufen, ob er auch Rays Warnung verstanden habe, da ließ ein lautes Donnern die Wurzel erzittern.

„Was ist das?“, fragte Kai entsetzt.

„Keine Ahnung!“

Tyson grub seine Nägel so fest in das Holz das es schmerzte. Als er hinaufschaute, konnte er weit in der Ferne, den Eingang aus dem sie gekommen waren, nur noch als winzigen, stecknadelgroßen Punkt ausmachen. Dann hörte er etwas Poltern und später Max, der einen erschrocken Schrei von sich gab, als das Gestein um das Erdloch herum sich löste und an ihm vorbeisauste. Keine zwei Sekunden später rauschte es um Haaresbreite auch an ihnen vorbei.

„Passt auf da unten!“, Tyson hoffte inständig das sie seine Warnung noch hörten. Gerade eben hatte Galux Ray vom Geschwür befreit, da musste es nicht sein, dass er jetzt auch noch ein Loch im Kopf hatte. Unweigerlich fragte er sich, was einen solchen Erdrutsch ausgelöst haben mochte.

Eine Attacke?

Es könnte durch die Erschütterungen, welche die kämpfenden Uralten in ihrem Teil der Irrlichterwelt verursachten, entstanden sein.

„Tyson, da oben rutscht Max auf uns zu!“

Kais erschrockener Ausruf riss ihn aus seinen Überlegungen. Er hörte einen Schrei, der sich immer schneller in ihre Richtung anbahnte und da bemerkte Tyson erst, dass Max auf direktem Weg zu ihnen herabrutschte.

„Halt dich doch fest!“, rief er ihm panisch entgegen.

„Was glaubst du versuche ich hier?!“, brüllte der ihm noch panischer entgegen.

Sie kollidierten gegeneinander und Tyson geriet durch das zusätzliche Gewicht auf ihm ebenfalls ins Rutschen. Maxs Hintern presste sich gegen seine Schädeldecke. Er versuchte verzweifelt sich an der Wurzel festzukrallen, doch das tat höllisch weh, vor allem wenn sich das Holz löste und die Splitter drohten, sich unter seinen Nagel zu schieben.

„Vorsicht da unten!“, warnte Allegro von Maxs Haarschopf aus. „Menschliches Gesäß auf Kollisionskurs!“

Sie rutschten gnadenlos weiter, bis er Rays erschrockenen Ausruf vernahm, als der nun in den Geschmack seines Hinterns kam. Also das passte Tyson nun überhaupt nicht. An seiner Hinterpforte wollte er verdammt noch mal niemanden haben!

„LEUTE!“, schrie ihr Untermann angeekelt aus.

Er konnte sich vorstellen, dass Ray die Vorstellung von Tysons Pobacken auf seinem Kopf, auch nicht sonderlich gefiel. Freunde hin oder her, manche Sachen musste man echt nicht teilen. Doch bevor er ihm beteuern konnte, dass das absolut nicht in seiner Absicht war, hörten sie auch schon Galuxs Fauchen, als die Gruppe sie in voller Talfahrt erfasste. Es klang als wäre ihr jemand auf den Schwanz getreten – wie eine aufgebrachte Katze eben!

Tyson spürte das die Wurzel zwischen seinen Armen immer breiter wurde und er bekam zunehmend Schwierigkeiten sich daran festzuhalten. Da machte die Pflanze einen Schlenker und sie brachen alle aus der Kurve heraus. Er vernahm die panischen Schreie seiner Freunde neben sich und erspähte mitten im Flug eine riesige, glimmende Wurzel, auf welche sie direkt zusteuerten. Wie ein Mantra schoss das Flehen durch seinen Kopf, doch bitte darauf zu landen und irgendeine Gottheit musste es gut mit ihnen meinen. Der Aufprall war verdammt schmerzhaft, doch Tyson fühlte kurz darauf die rettende Wurzel unter sich. Sie rollten über ihr hinweg. In diesem Wirrwarr bekam er Rays Verse in den Magen, Kai keuchte unter ihm erstickt, auf als Tyson auf dem Rücken landete, doch siehe da…

Sie lebten noch!

Als sie zum Liegen kamen, blieb er zunächst reglos liegen. Ein weiteres Mal hatten sie mehr Glück als Verstand gehabt. Da bekam er einen unsanften Hieb gegen seine Schulter.

„Du erdrückst mich!“, vernahm er die dumpfe Stimme des Kindes unter sich. Kais Füße zappelten an seiner Seite um frei zu kommen. Er setzte sich stöhnend auf und hörte sein Anhängsel panisch nach Luft schnappen, da drang Maxs Schrei zu ihnen.

„Hilfe! Jungs helft mir!“, alarmiert schaute sich Tyson um, doch er bemerkte erst wo das Problem lag, als Ray neben ihm wie von einer Tarantel gestochen aufsprang, um zu einem Paar Hände zu rennen, welches sich verzweifelt am knorpeligen Rand der Wurzel festklammerte. Dabei überschlug sich Maxs Stimme vor Angst. Tyson rannte Ray hinterher und machte die Gestalt seines Freundes im Dunkeln aus, dessen Füße in der Luft baumelten und von der unebenen Rinde der Wurzel abrutschten, während sich unter ihm nur gähnende Leere auftat. Gemeinsam packten sie Max an den Handgelenken und zerrten ihn auf den Weg zurück.

„Du kannst von Glück reden dass dich Galux zuvor geheilt hat.“, blaffte ihn Tyson an.

„Bei seinen Kletterkünsten wäre er sogar mit einem Arm besser dran.“, maulte Ray neben ihm ebenfalls los. Max rieb sich den Kopf und schaute seine Freunde anklagend an.

„Es tut mir Leid, okay?“

„Das nächste Mal lassen wir Kai klettern und schnallen dich auf den Rücken.“

„Lass mich raus!“, hörten sie die erstickte Stimme des Kindes auch schon. Tyson spürte wie er sich krampfhaft gegen seinen Rücken stemmte um sich frei zu bekommen. Kai versuchte unter dem Stoff der Jacke hervorzukriechen, war aber irgendwie steckengeblieben, bis Tyson ihn entließ. Sein Kopf war hochrot, die Haare wild durcheinander und er atmete schwer aus, dabei schaute das Kind ihn grimmig an.

„Ich gehe da nie wieder drunter!“, stellte er eingeschnappt klar.

„Oh weh! Das ist wahrlich ein Missgeschick.“, sie erspähten Galux Gestalt, die mit einem besorgten Kopfschütteln am Rand des Weges stand und in die Finsternis hinabschaute. „Das war keinesfalls der Weg welchen ich im Sinn hatte!“

„Sind wir sehr weit abgekommen?“

„Das nicht.“, erklärte sie Ray mit ihrer ruhigen Tonlage. „Doch das hier ist ein Wurzelweg, der mit Vorliebe von kürzlich verstorbenen Geistern genommen wird. Gerade das wollte ich eigentlich vermeiden. Frisch Verstorbene sind nämlich besonders aggressiv.“

„Ai, ai, ai!“, entfuhr es Allegro bang. „Und es gibt keine Möglichkeit wieder zurück auf den alten Pfad zu finden, Mademoiselle?“

„Ich könnte es mit einem beherzten Sprung schaffen. Aber die Menschen…“, sie blickte seufzend auf die Wurzel, welche sie zuvor für den Abstieg genutzt hatten. Weit außerhalb ihrer Reichweite, leuchtete sie im Zwielicht munter vor sich her, während sie nun auf der falschen Abzweigung festsaßen.

„Müssen wir jetzt zu den Geistern?“, wollte Kai wissen. Tyson war sich nicht sicher was er ihm nun antworten sollte. Natürlich wollte er ihn nicht belügen, aber offensichtlich hatte das Kind Angst, was ja auch verständlich war. Ihm selbst jagte der Gedanke auch einen kalten Schauer über den Rücken.

„Leider ja.“, antwortete Ray neben ihm. „Aber wir passen auf dich auf. Du brauchst keine Angst zu haben.“

„Ich habe keine Angst.“, nuschelte er. Doch dabei knetete er so heftig mit den Fingern, dass die Geste seine Worte nur Lügen strafte. Scheinbar verspürte Kai den Wunsch, innerhalb der Älteren nicht schwach zu wirken. Warum kam ihm das so bekannt vor? Tyson rollte bei diesem Gedanken mit den Augen und legte seine Finger auf den Haarschopf des Jungen.

„Wir schaffen das. Du bleibst bei uns und lässt meine Hand einfach nicht los.“

Er stützte sich auf und klopfte den Staub von seiner Hose.

„Bleibt uns noch Zeit um vielleicht einen Umweg zur alten Wurzel zu finden?“

„Keinesfalls.“, sprach Galux todernst. „Wir müssten wieder an die Oberfläche steigen, den Weg zum Talkessel finden und wieder durch den Dschungel, zu unserem Ausgang klettern. Es wäre ein Umweg von mehreren Tagen!“

Er wandte sich seufzend dem Rest der Gruppe zu. In jedem der Gesichter las er dasselbe.

Keiner wollte einen Geist treffen – aber sie wussten das es nur noch diesen Weg für sie gab.

„Was meint ihr?“

„Naja.“, murmelte Max. „Wir sind soweit gekommen.“

Ray verschränkte grübelnd die Arme vor der Brust.

„Und wir wussten dass die Gefahr einen Geist zu treffen besteht.“, er zuckte ratlos mit den Schultern. „Eine andere Wahl bleibt uns nicht, oder?“

Tyson nickte. Es ließ sich nichts mehr daran ändern. So knapp vor dem Ziel durften sie jetzt nicht nachgeben. Da zog er irritiert die Braue hoch. Weit hinter seinen Freunden machte er eine humpelnde Gestalt aus. Sie leuchtete in einem fahlen, kalten Licht und wirkte wie eine glimmende Nebelschwade. Ihre Bewegungen waren unnatürlich und sie steuerte auf die Gruppe zu. Er brauchte nicht lange um zu ahnen was das war. Augenblicklich wurde ihm eiskalt, womit er nicht alleine dastand. Max fröstelte und bemerkte verdutzt, dass sein Atem als kleine Wolke aufstieg.

„Beeilt euch.“, drängte Galux leise. Sie hatte ebenfalls bemerkt dass sie nicht mehr alleine waren. Ihre Augen wurden zu wachsamen Schlitzen. „Wir müssen weiter. Von nun an tun wir besser daran, immer in Bewegung zu bleiben.“
 


 

*
 

Sie fühlte die Hände ihres Kindes. Die Fingerkuppen strichen langsam über den geschundenen Leib. Wohltuend, vorsichtig, mitfühlend. So wie sie es liebte.

Derlei Zärtlichkeit war in den letzten Tagen so selten geworden, sie konnte sich kaum erinnern wann eines ihrer Kinder so besorgt um sie gewesen war. Jeder von ihnen ging seinen eigenen Weg und sie als Mutter hatte deshalb losgelassen. Denn so war das Leben eben…

Man wuchs heran und suchte seinen Platz. Sie wusste immerhin auch ihren eigenen.

Wie hätte sie ihren Kindern also verwehren sollen ihrer Bestimmung nachzugehen?

Dennoch…

Dieser Tage hinterfragte sie immer mehr ihren damaligen Entschluss.

Denn was sich um sie herum abspielte, ließ ihre Rinde vor Trauer brüchig werden.

Ihr Ältester war tot! Ermordet durch ihren zweiten Sohn. Dieser Schmerz…

Er hinterließ eine weitere, viel tiefere Kerbe in ihrem Körper, die sich bis ins Innerste ihres Kernes hineinfraß. Sie wollte Schreien. Sich Gehör verschaffen.

Diesen Grausamkeiten ein Ende bereiten.

Doch niemand hörte ihr Klagen, denn dazu fehlte ihr die Stimme.

Keiner wusste dass sie weinte, denn wo hätte sie die Tränen hernehmen sollen?

Wie beneidete sie ihre Kinder um diese Fähigkeit, zumal sie hier stand, fest angewurzelt an ihren Zwillingsbruder, mit einer Trauer im Leib, welche aus ihr herauswollte, der sie aber keinen freien Lauf lassen konnte. Zumindest eines bereitete ihr Linderung.

Eines ihrer Kinder war hier.

Und es weinte. Für die Mutter.

Für jenes Geschöpf was als Weltenbaum dazu nicht in der Lage war.

Sie hatte diesen Geist auf den Namen Draciel getauft. Es war nach Driger eines der ältesten Wesen. Und mitunter das verständnisvollste…

Es galt unter seinesgleichen als verschwiegen, manche schimpften Draciel sogar als unheimlich. Dabei eiferte das Bit Beast doch nur seiner Mutter nach. Schon während ihrer zarten Anfänge hatte die Schildkröte gespürt, dass der Weltenbaum sich mitteilen konnte, wenn man nur genau hinhorchte. Deshalb war Draciel auch verstummt, denn es wollte keinen Laut der Mutter verpassen. Es war so gehorsam und auf andere Art treu ergeben. Daher spürte es den Kummer, der durch ihre Verästelungen pulsierte, als ihr geliebter Sohn starb. Draciel wusste das ihr zum Weinen zu Mute war und weil sie selbst dazu außerstande war, tat die Schildkröte es eben für sie. Über das menschliche Gesicht, welches es sich geborgt hatte, rollten dicke Perlen, die eine feuchte Bahn auf der blassen Haut hinterließen. Warum waren nicht alle ihre Kinder sowie Draciel geraten?

Etwas musste sie falsch gemacht haben…

Die Vorwürfe waren schlimmer als die Trauer um Drigers Verlust. Der Weltenbaum konnte sich nicht erklären, weshalb ihr jüngster Sohn sich so grausam verhielt. Was er tat, war nicht im Sinne der Natur. Nicht in ihrem Sinne!

So hatte sie ihre Kinder nicht aufgezogen.

Das Wurzelwerk knarzte leise, der Klang schallte noch lange in der Finsternis.

Es war ihre Art zu schluchzen. Ihre Überlegungen schweiften zurück, zu jener Zeit, als die Welt sich noch formte - als auch sie noch jung war. Sie erinnerte sich, wie Dragoon sich eine Gefährtin gewünscht hatte, da ihm keiner der anderen Uralten zusagte. Ihr Sohn war so enttäuscht gewesen und da er damals noch der Jüngste in der Gruppe war, hatte sein Kummer sie ebenfalls traurig gestimmt. Er war doch ihr Nesthäkchen gewesen und man verwöhnte das jüngste Kind doch immer ein wenig. Also hatte der Weltenbaum darüber nachgedacht, wie sie ihren Sohn wieder glücklich machen könnte, denn so waren Mütter nun einmal. Sie wollten nur das Beste für ihren Nachwuchs.

Es gab da aber ein Problem…

Die Elemente waren bereits komplett. Doch da gab es Eines, mit dessen Erschaffung sie gezögert hatte, da sie nicht wusste, ob es zum Wohle der Welten war. Emotionen…

Denn ja, auch die waren ein Element.

Wenn auch eher ein unsichtbares, doch das war die Luft schließlich auch.

Gefühle konnten wundervoll beflügelnd, aber auch verstörend grausam sein.

Und die Weltenbaummutter hatte eigentlich bereits beschlossen, dass die Nachteile den Vorteilen gegenüber zu stark überwogen. Es war schon sicher gewesen, das dieses Element nicht auf das Angesicht der Erde treten sollte. Sie befürchtete dass die Geister dadurch nur in heillose Streitereien verfallen könnten. Zudem gab es zu diesem Zeitpunkt auch nur vier Lebewesen.

Driger, Draciel, Wolborg und Dragoon…

Der neue Geist hätte sich womöglich gelangweilt, weil dessen Aufgabengebiet sich zunächst nur, auf diese wenigen Wesen beschränkte. Aber dann war da Dragoon gewesen. Er wirkte so niedergeschlagen ob des jetzigen Zustandes und so hatte sie ihre Entscheidung noch einmal überdacht. Ihr kam in den Sinn, dass das wichtigste Gefühl – nämlich die Liebe – doch eine warme Empfindung war und der Langeweile entgegengesteuert werden könnte, indem man dieses Bit Beast, auch zu einem Feuerwesen machte. Es sollte Wolborg zur Hand gehen und ihre Schwester werden. Also gebar der Weltenbaum aus einem Sonnenstrahl, ein kleines Phönixküken, das von da an als Dranzer bekannt sein sollte, füllte ihr Herz mit Empfindungen und gab ihr somit ein Stückchen von ihr selbst mit – wie sie es bei jedem ihrer Kinder tat. Dragoon war so glücklich gewesen. Seine Augen strahlten als er Dranzer erblickte und sein Herz quoll sofort über mit dieser warmen Empfindung.

Liebe auf den ersten Blick…

Ja, die gab es tatsächlich.

Dabei wusste ihr Jüngster noch nicht einmal was da mit ihm vorging.

Hätte sie Lächeln können, die Weltenbaummutter hätte es getan. Diese Naivität ihrer Kinder war einfach herzallerliebst. Die zaghaften Annäherungen in Form von neckenden Worten.

Wie er Nacht für Nacht Dranzers Nähe suchte und beide gemeinsam aufbrachen, damit Dragoon sie das Fliegen lehren konnte. Es war ihre Idee gewesen, aus dem zweiten Feuer Bit Beast einen Phönix zu machen, denn so bräuchte das Küken einen Fluglehrer. Auch wenn sie etwas überrascht ob Dragoons Gerissenheit war, als er Dranzer recht hinterhältig in einen Pakt lockte.

Doch das Herz wollte, was das Herz eben wollte.

So dachte sie zumindest…

Sie schaute gerührt auf die beiden Gestalten, welche sich des Nachts aneinanderschmiegten und empfand ihre Entscheidung damals als richtig - bis der Neid die junge Liebe zerfraß. Die Mutter aller Bit Beats war entsetzt, als sie erblickte, was diese Emotion mit ihren Geschöpfen anstellte. Selbst ihren Zwillingsbruder bat sie um Rat, doch was viele Lebewesen nicht wussten war, dass ihr Bruder, dessen Stamm in die Menschenwelt wuchs, der Weltenbaum des Todes war. Deshalb besaß jedes Wesen dort nur eine begrenzte Lebensspanne, während man in der Irrlichterwelt sein Dasein ewig fristen konnte, so lange man nicht von einem anderen Bit Beast getötet wurde. Den einzigen Rat, den er ihr also erteilen konnte, war, dass alles ein Ende fand. Selbst die zärtlichste Liebschaft konnte in einem entsetzlichen Hass enden – und er ermahnte sie, den Dingen ihren Lauf zu lassen.

So sah der Weltenbaum des Lebens dabei zu, wie die Fehde zwischen Dragoon und Wolborg anschwoll. Und das alles weil sie Dranzer in die Welt gesetzt hatte.

Dabei war der Anfang doch so verheißungsvoll gewesen…

Die Weltenbaummutter entschied daraufhin, nie wieder einen solchen Einfluss auf die Dinge zu nehmen. Sie hatte einen Fehler gemacht. Die Natur war eben auch nicht fehlerlos. Selbst als ihr jüngster Sohn, Wolborg vertrieb, schwieg sie zu diesem Racheakt. Doch als ihre kleine Wölfin starb, da war es für die Weltenbaummutter ein großer Schmerz. Sie hatte gedacht, dass nichts ihr Leid übertrumpfen konnte – bis nun auch Driger vom Antlitz der Welt verschwand.

Zwei ihrer Kinder waren tot.

Dabei hatte sie jeden Schritt der beiden von klein auf verfolgt.

Sie wusste noch wie Driger als winziger Tiger, das erste Mal versuchte einen Fisch zu fangen und dabei ungeschickt ins Wasser stürzte. Als er aus den Fluten wieder hervortapste, hatte er am ganzen Leib gebibbert und sein Fell klebte ihm auf der Haut. Er machte einen so betrübten Eindruck, dass es die Weltenbaummutter bekümmerte, dass sie keine Glieder besaß, um ihn in eine tröstende Umarmung zu ziehen. Wie ein kleines nasses Fellknäuel schaute er drein und leckte sich dabei schmollend trocken.

Und Wolborg…

Wie sie als junge Wölfin ruhig in ihrem Unterschlupf schlummerte und sich dabei in ihrem dicken Fell einrollte. Ihre Ohren hatten dabei gezuckt und manches Mal, da jaulte sie auch leise, weil sie träumte. Wann immer die Blätter rauschten, hatte sie schläfrig den Kopf gehoben, in der Luft nach Gefahr geschnüffelt, um dann doch wieder selig weiterzuschlafen.

Dann war da Dranzer.

Ihr putziges kleines Küken.

Das war doch einst so liebreizend gewesen, bevor der Schmerz ihr Herz zerbrach. Wie hatte der Weltenbaum es nicht geliebt, wenn sie ihren Kameraden ein schönes Schlaflied fiepte. Wann immer sie es tat, ging die Sonne mit ihrem Gesang unter. Es war ihre Art gewesen, der Welt eine gute Nacht zu wünschen. Doch anstelle ihrer Liebe, war da nur noch blinder Hass. Der unstillbare Durst nach Rache. Sie konnte nicht begreifen, weshalb ihre einst so süße Tochter, ihr so wehtat. Erneut knarzte das Wurzelwerk. Der Kummer würde sie noch umbringen.

„Mutter…“, hörte sie Draciels Flüstern. Die Zeit des jahrelangen Schweigens hatte die Stimme des Bit Beasts schwächer werden lassen. Als wären die Stimmbänder aus der Übung geraten. „Du… leidest.“

Ja. Sie litt Qualen.

Ihr wäre es lieber zu sterben.

Erneut tropfte eine von Draciels Träne auf ihre Rinde. Was hatte sie doch für ein liebes Kind…

Inmitten dieses Gedankens fühlte sie jedoch Schritte auf ihrem Körper. Es waren die Menschenkinder, die den Wurzelweg passierten. Diese Geschöpfe welche von Dragoon hierher verschleppt worden waren. Der Ursprung des jetzigen Tumults.

Einen Moment beobachtete der Weltenbaum die Gruppe, welche von zwei weiteren Bit Beasts begleitet wurden. Auch diese waren doch eigentlich ihre Kinder und dennoch halfen sie den Menschen. Sie musste an die Worte ihres Bruders denken, der sie ermahnt hatte, nicht mehr in das Geschehen einzugreifen. Doch sie verwarf den Gedanken. Draciel war des Schweigens überdrüssig geworden- und sie nun auch!

Einer ihrer dünnen Wurzeln streckte sich in einem verzweifelten Kraftakt, zum Handgelenk ihres Kindes. Es brauchte viel Stärke um diese kleine Bewegung zu vollführen, denn ein Baum bewegte sich nur, wenn der Wind durch sein Laub wehte. Dennoch schaffte sie es behutsam über Draciels Haut zu streicheln, um ihre Botschaft zu übermitteln. Das Bit Beast schaute lange auf die Wurzel herab, bis es endlich nickte. Draciel hatte verstanden. Es wischte sich die letzte Träne fort.

Damit erhob es sich endlich.
 


 

ENDE KAPITEL 32
 

„Und was machen wir jetzt?“

Hana blieb stumm und tippte mit ihrem Bleistift nachdenklich auf dem Notizbuchrand herum. Diese Situation war ihr bekannt. Jener Moment in welchem alle Möglichkeiten ausgeschöpft schienen. Die Aufnahmen aus dem Krankenhaus waren interessant gewesen. Sie hatten herausgefunden, wann die Gruppe das Gebäude verließ. Diese merkwürdigen Blitze auf dem Monitor konnten sie sich jedoch beide nicht erklären.

Insgeheim beschlich sie aber das Gefühl, dass die Aufnahmen Kenny mehr sagten, als ihr, doch als Hana nachhakte, wich er aus und tat es als Störung ab. Ihr entging nicht wie nervös er mit seinem Kiefer malte. Das Thema verlief sich im Sand, als er plötzlich wie wild auf den Monitor deutete, wo Mr. Kinomiya mit dem kleinen Hiwatari Mädchen herausgerannt kam. Beiden klappte der Mund auf, als sie bemerkten, in welch gutem Zustand der alte Herr schien. Das Mädchen war vor ihm her gehopst und als er sich mit einem Kopfschütteln weigerte hinaus zu treten, hatte sie den Großvater an der Hand gepackt und fordernd an ihm gezerrt. Scheinbar kam die Initiative tatsächlich von dem Kind.

Das Einzige was ihnen das aber sagte, war, in welche Richtung die beiden ungefähr gelaufen waren, denn irgendwann verschwanden sie im linken äußeren Bildrand. Hana war daraufhin eingefallen, dass sie nicht gesehen hatten, wie Kai das Gebäude verließ, nachdem er wieder in die Eingangshalle verschwunden war. Etwas missmutig schauten sie daraufhin die kompletten Aufnahmen noch einmal an, doch sie wurden einfach nicht fündig. Vielleicht war er durch einen Hinterausgang verschwunden. Das ärgerte Hana, denn durch die erneute Einsicht der Aufnahmen, war ziemlich viel Zeit verstrichen, bis sie endlich den Motor wieder anschmeißen konnte, um vom Krankenhausgelände zu fahren. Das schien ihr so langsam nötig, denn da war ein Pfleger neben dem Eingang gestanden, der bereits zum dritten Mal zum Rauchen hinaus gekommen war und skeptisch die Braue hob, als er ihren Wagen noch immer vor dem Gebäude parken sah. Kenny hatte ohnehin die wichtigsten Aufnahmen auf seinen Laptop gezogen – dieser kleine Wunderknabe.

Erst als sie das Gelände verlassen hatten, hielt Hana in der nächsten Parkbucht und zog ihr Notizbuch hervor, um ihre weiteren Schritte zu planen. Viele Optionen blieben nicht mehr. Ihr Blick huschte zu einem Blumenladen gegenüber der Krankenhauseinfahrt, vor dessen Schaufenster, die Kübel auf einem Treppchen drapiert waren.

„Eigentlich können wir jetzt nur eines tun…“, griff sie Kennys Frage auf.

„Das wäre?“

„Wir fragen uns durch.“

„Wie durchfra-… Hey! Steig nicht aus wenn ich mit dir rede!“

Kennys angesäuerter Ausruf ging dumpf unter, als sie ausstieg und die Fahrertür hinter sich zu knallte. Noch bevor er sich abschnallen konnte, hatte Hana bereits die Straße überquert und lief schnurstracks auf den Laden zu. Dort beriet die Floristin gerade ihre Kundschaft vor der Tür. Ein Pärchen ließ sich von ihr einen Strauß zusammenstellen und sie zog die gewünschten Blumen aus den Kübeln heraus. Dabei geizte sie nicht mit Tipps zur Gestaltung des Straußes. Hana hielt mit einigen Metern Abstand und wartete ab, bis die Frau ihre Kundschaft erst einmal zu Ende bediente. Nachdem das Paar die Blumen ausgesucht hatte, verschwand die Floristin mit den beiden in den Laden, um dort den Strauß anzufertigen. In der Zwischenzeit kam Kenny hinter ihr hergerannt.

„Das meinst du mit durchfragen?!“, fragte er fassungslos, als ihm klar wurde, was sie vorhatte.

„Ja was denn sonst?“

„Tysons Großvater könnte sonst wo lang gelaufen sein! Wie kommst du auf die Idee, dass sich jemand an Mr. Kinomiya erinnert?“

„Na, zum einen war er ziemlich auffällig gekleidet. Du musst bedenken, dass er mit einem Patientenkittel das Gebäude verlassen hat. Dann auch noch barfüßig und das zu dieser Jahreszeit. Glaubst du so jemand fällt nicht auf?“

„Mm… Na gut. Irgendwo hast du vielleicht Recht.“

„Natürlich habe ich das! Das ist viel auffälliger, als wenn beispielsweise wir beide, das Krankenhaus verlassen hätten. Wir müssen uns nur durchfragen.“

Sie deutete auf eine Konditorei neben dem Laden. Dahinter lehnte eine Cafeteria an der Häuserwand.

„Sieh dich nur mal um. Haufenweise Läden wo man draußen oder drinnen sitzen kann. Als Mr. Kinomiya verschwunden ist, war noch gutes Wetter. Womöglich saßen einige Leute im Café draußen und der Kellner, der sie bedient hat, wurde auf ihn aufmerksam. Wir müssen jetzt einfach einen langen Atem beweisen und hartnäckig bleiben. Das Hiwatari Mädchen, in Begleitung eines ziemlich freizügig gekleideten Patienten, dürfte wohl für Aufsehen gesorgt haben.“

Kenny kratzte sich etwas ratlos am Nacken.

„Was wenn er ein Taxi genommen hat?“

Sie rollte schmunzelt mit den Augen.

„Du hast doch in den Aufnahmen gesehen, dass er nur den Kittel getragen hat. Wo soll sein Geld gewesen sein? Entweder hatte er keines dabei, oder er hat es dort versteckt, wo Drogenkuriere ihre Päckchen hineinstecken.“

Kenny verzog angeekelt das Gesicht bei diesem Gedanken. Irgendwie war diese Frau ziemlich salopp in ihrem Sprachgebrauch. Ihr Sarkasmus brachte ihn außerdem in Verlegenheit.

„Mm… Okay. Einen Versuch ist es vielleicht wert.“

„Uns bleibt auch gar keine andere Wahl.“

Das Pärchen kam aus dem Laden, in der Hand einen farbenfrohen Strauß haltend, den die Frau entzückt bewunderte. Hana spähte durch das Schaufenster, wo die Floristin sich an der Theke der Kasse zuwendete und die Geldscheine einsortierte, während eine jüngere Kollegin, die abgeschnittenen Überreste des angefertigten Straußes zusammenkehrte. Als sie in den Laden gingen, verkündete das Klingeln eines Glöckchens ihr eintreten. Sofort schauten die Verkäuferinnen auf und warfen ihnen ein freundliches Lächeln zu.

„Guten Tag. Wie darf ich Ihnen helfen?“, fragte die Floristin geschäftig. Hana schätzte das sie in den Vierzigern war. Sie grüßte zurück und trat an die Theke.

„Ich habe eine eher ungewöhnliche Bitte. Könnten Sie mir ein paar Fragen beantworten?“

Die beiden Verkäuferinnen blinzelten irritiert, dennoch nickte die Besitzerin. „War ihr Geschäft gestern auch offen?“

„Sicher. Die meisten Leute haben nur am Wochenende Zeit, um ihre Angehörigen im Krankenhaus zu besuchen. Dafür haben wir montags und donnerstags Ruhetag.“, sprach sie wahrheitsgetreu. „Die meisten Läden handhaben das hier so. Die Cafés in dieser Straße, sind unter der Woche auch kaum voll, doch am Wochenende sieht man die Patienten öfters, mit ihren Familien dort sitzen. Vor allem an schönen Tagen.“

„Das ist gut… Ich müsste nämlich wissen, ob sie am Samstag einen alten Mann beobachtet haben, der im Patientenkittel das Krankenhaus verlassen hat.“

„Im Patientenkittel?“, sie schaute nachdenklich zur Decke und versuchte sich zu erinnern.

Kenny trat neben Hana.

„Er ist ungefähr so groß.“, er hielt seine Hand weit über seinen Kopf. „Dann trägt er noch einen grauen Schnauzer und die Haare zusammengebunden zu einem Pferdeschwanz. Er ist grauhaarig, Mitte Sechzig und sein Kittel war hellblau.“

„Samstag? Hmm… Nein. So ein Herr ist mir nicht aufgefallen.“

„Aber mir!“, meldete sich die jüngere Kollegin zu Wort und legte den Besen ab. „Weißt du nicht mehr, ich hab dir doch beim Abendessen davon erzählt. Als ich vor dem Laden gefegt habe, war da ein alter Herr mit einem kleinen Mädchen. Papa hat noch gesagt, dass ich die Polizei hätte rufen sollen, weil der Kerl vielleicht ein Triebtäter war und die Kleine verschleppt hat!“

„Daran kann ich mich gar nicht erinnern…“

„Oh Mama, du bist immer so zerstreut! Ich habe dir doch gesagt, dass du da nicht im Laden warst, weil du beim Gärtner die Bestellung abgeholt hast.“

„War ich das?“, sie kratzte sich gedankenverloren an der Schläfe. Anscheinend war die gute Frau tatsächlich etwas vergesslich. Umso erfreulicher empfand Hana es, dass ihre Tochter, was das anging, nicht nach ihr kam. Sie wandte sich direkt an das Mädchen und da sie viel jünger als Hana schien, ließ sie die Formalitäten bleiben. „Weißt du noch in welche Richtungen sie gelaufen sind?“

Die Tochter nickte eifrig.

„Ja. Oh Himmel, war das wirklich ein Triebtäter?! Seid ihr von der Polizei?“

„Nein, nein.“, beruhigten Kenny und Hana sie gleichermaßen amüsiert, bis er fortfuhr. „Das ist nur der Opa von einem Freund von uns. Die Kleine ist… seine Enkelin. Er war ziemlich durch den Wind nach einem Schlaganfall und jetzt sind beide verschwunden. Wir haben Angst das ihnen etwas passiert ist.“

„Oh weh…“, die ältere Frau hob mitleidig die Finger an den Mund. Insgeheim war Hana froh über Kennys Geistesgegenwart. Ihm war wohl ebenfalls klar, dass Mr. Kinomiya schräg beäugt werden könnte, wenn herauskam, dass Jana überhaupt nicht mit ihm verwandt war. Einem trotteligen Großvater in Begleitung seiner hyperaktiven Enkelin, drückte man nicht gleich den Stempel eines Verbrechers auf.

„Ich zeig es euch.“, das Mädchen drängte sich an der Theke vorbei. Der Laden war recht klein, daher wirkte er selbst dann überfüllt, wenn nur zwei Kunden darin standen. Sie schritt hinaus ins Freie, während Hana und Kenny ihr folgten. Draußen hob die junge Frau die Hand und begann zu gestikulieren. „Also die beiden sind da lang gelaufen. Es war windig und der alte Herr hat ständig seinen Kittel gehalten, weil er Angst hatte das man seine Unterwäsche sieht, wenn ein Lüftchen weht. Das Mädchen hat ihn ständig deshalb ausgelacht. Sie wirkten so urkomisch zusammen, dass ich gar nicht daran gedacht habe, dass etwas nicht stimmt. Es sah aus, als würde sie ihn zu einem Spaziergang drängen, obwohl er eigentlich falsch angezogen war.“

Sie machte mit ihrer Hand einen Schlenker nach rechts.

„Am Ende der Straße sind beide dort drüben abgebogen. Danach habe ich sie aus den Augen verloren.“

„Super! Vielen Dank. Das ist uns wirklich eine große Hilfe.“, beteuerte ihr Hana strahlend. Als sie sich verabschiedeten, wünschten ihnen die beiden Verkäuferinnen noch viel Glück bei ihrer Suche. Erst dann wandten sie sich um. Kenny steuerte geradewegs auf den Wagen zu, bis er bemerkte, dass Hana offensichtlich nicht vorhatte, wieder darin einzusteigen.

„Vergiss das Auto erst einmal.“, wandte sie sich an ihn, sobald sie sein Zögern bemerkte. „Wenn wir ständig aus und einsteigen müssen, kommen wir nie voran. Vor allem müssen wir dann immer einen Parkplatz suchen. Da sind wir zu Fuß viel schneller.“

„Ist das dein Ernst? Aber… Es ist so kalt.“

„Dann laufen wir eben zügig. Dir wird dann schon warm werden. Stell dir einfach vor wir machen Speed Walking.“

„Oh man, Hana…“

„Hör auf dich zu beklagen und komm jetzt endlich.“

Kenny wiegte sich unwillig von einer auf die andere Seite, bis er von der Wagentür abließ und ihr hinterherlief.

„Willst du dich jetzt durch die ganze Stadt fragen?“

„Wenn es sein muss.“

„Du weißt dass es nur bloßer Zufall war, dass das Mädchen sich die beiden gemerkt hat? Sie könnten sonst wohin gelaufen sein. Vielleicht sind sie jetzt am anderen Ende der Stadt!“

„Zu Fuß? Das glaube ich kaum.“

Damit bog Hana zielstrebig um die Ecke und ignorierte Kennys resignierende Trauermiene.
 

*
 

Es war ihr Glück das der Wurzelpfad leuchtete. In der tristen Finsternis unter der Erde, war es der einzige Anhaltspunkt. Tyson wollte gar nicht wissen, wie Dunkel es hier unten wäre, hätten sie nicht wenigstens diese Lichtquelle unter ihren Füßen gehabt. So sah man zumindest, wohin man trat, auch wenn die fortlaufenden Verästelungen irgendwann auch von der Dunkelheit verschluckt wurden. Einige Male hielt Galux vor ihnen an, wenn sich mehrere Abzweigungen auftaten. Dann witterte sie in die jeweilige Richtung.

Schien ein Weg nicht sicher, wandte sie sich kommentarlos ab.

Einmal fragte Tyson das Bit Beast wonach es roch.

„Geister.“, antwortete sie knapp. „Ein Toter hat vor kurzem diesen Weg benutzt.“

Da spürte er schon wie die kleinen Finger in seiner Hand fester zudrückten. Von da an machte Kai das jedes Mal, wenn sie vor einer solchen Wahl standen. Auch wenn er sich bemühte, vor ihnen keine Angst zu zeigen, so konnte er diese einfache kindliche Reaktion nicht unterdrücken. Dann blinzelte er auf den Weg, den Galux als gefährlich einstufte, als befürchtete er, aus der Finsternis könne ein Gespenst hervorspringen.

Es tat Tyson insgeheim leid ihn solch einer Situation auszusetzen. Ihm kam es vor, als wäre er ein sadistischer Babysitter, der einem Vorschulkind einen Horrorfilm sehen ließ und ihm danach auch noch, mit einer Halloween Maske unterm Bett auflauerte. Auch seinen Freunden entging Kais Verhalten nicht. Als Galux geradezu argwöhnisch einen dieser Pfade beäugte und ein leises Knurren dabei entwich, drängte sich das Kind verunsichert an Tysons Hosenbein. Daraufhin legte ihm Max seine Hand auf den Haarschopf und zwinkerte ihm zuversichtlich zu.

„Alles gut Kleiner.“, beteuerte er flüsternd. „Wir sind doch da. Hab keine Angst…“

Es ließ Kai schüchtern zu ihm aufschauen, offenbar weil er sich für sein Verhalten schämte. Er lief hochrot an und Tyson war dankbar, dass seine Freunde sich dieses Mal nicht darüber lustig machten. Es schien dem Kind schon unangenehm genug, da musste es nicht sein, dass er nun aus Trotz den starken Kerl spielte. Irgendwann passierten sie einen Weg, der sich wie eine Brücke, über die dickste Wurzel schwang, die sie bisher zu Gesicht bekamen. Ihre Breite hatte die Ausmaße von einer mehrspurigen Autobahn.

Am Zenit ihres Weges angelangt war es dann soweit…

Sie erhaschten einen ersten Blick auf menschliche Geister. Als sie hinaufschritten, hörten sie seltsam verzerrte Klänge von unten heraufschallen. Desto höher sie ihre provisorische Brücke hinaufliefen, desto kälter wurde es, bis sie am Höhepunkt standen und es sich nicht verkneifen konnten, hinab auf die untere Ebene zu spähen. Dort unten wandelten hunderte kleiner Nebelschwaden. Es wirkte wie eine Herde, welche zielstrebig auf denselben Ort zusteuerte. Schaute man genau hin, konnte man inmitten dieser Nebelwolken, menschliche Konturen ausmachen.

Arme, Beine, Kopf, Torso…

Sämtliche Gliedermaßen dieser Geschöpfe vollführten ihre Bewegungen geradezu schleichend langsam. Sie torkelten eher. Wie eine betäubte Masse. Als könnte keiner dort unten glauben, dass ihr Leben in der Menschenwelt nun vorbei war. Tyson fiel auf, dass manche Nebelschwaden anders strahlten. Einige wirkten grau und fahl. Diese Geister wimmerten dann auch viel öfters und manches Mal, vernahm man ein lautes Schluchzen. Dagegen leuchteten einige von ihnen in einem wärmeren Farbton und wirkten kaum bekümmert. Eines von diesen Geistern stellte ein junges Mädchen da. Sie tanzte geradezu grazil davon, als wäre der Tod für sie eine Erlösung gewesen. Er beobachtete, wie sie verträumt die Arme über den Kopf hob und eine langsame Drehung vollführte, wie eine anmutige Ballerina. Unweigerlich fragte sich Tyson, was mit einer so jungen Frau passiert sein mochte, dass sie bereits hier unten wandelte.

„Könnt ihr euch vorstellen, dass uns das auch einmal bevorsteht?“, flüsterte Ray.

Er war nicht alleine mit diesem Gedanken. Auch Tyson hatte das gedacht, als er diese unheimliche Masse erblickte. Ein beklommenes Kopfschütteln war die Antwort. Tyson fühlte die Finger in seiner Handfläche leicht zittern. Als er zu Kai hinabschaute, blinzelte der in jenem Moment auch zu ihm auf.

In den rötlichen Iriden las er Verunsicherung und Furcht.

Kai wandte den Blick wieder von ihm ab und hob plötzlich die Brauen, gefolgt von einem geschockten Aufatmen. Tyson bemerkte auch bald weshalb. Er sah einen kleinen Jungen inmitten der Massen. Nicht viel älter als er selbst. Das Kind trottete an der Hand eines Mannes, der vielleicht sein Vater sein könnte.

„Er sollte das nicht sehen.“, meinte Ray und drehte Kai mit sanfter Gewalt von dem Anblick weg. Ein Seufzen kam aus seiner Kehle. „Das hier… ist wirklich deprimierend.“

„Es wirkt nur so trist, weil diese Geister noch nicht bereit waren zu sterben.“, erklärte Galux ruhig. Sie hatte sich an den Rand der Brücke gesetzt und blickte mitleidig auf die Gestalten unter ihnen.

„Woher weißt du das?“, fragte Max.

„Das da unten ist der Weg, jener Menschen, die vor ihrer Zeit gestorben sind.“

Tyson schluckte. Es waren so viele…

„Hungersnöte, Kriege, Verbrechen oder einfach nur tragische Unfälle. Ihr wisst gar nicht, wie wenig Menschen das Glück haben, im Beisein ihrer Liebsten den letzten Atemzug zu vollführen. Manchmal geht es so schnell… Dann wird ihre Seele schon hinabgerissen, obwohl sie doch noch gar nicht begreifen, was mit ihnen passiert ist. Einen Augenblick zuvor, stand ihr Geist noch neben ihrer leblosen Menschhülle, verwirrt darüber wie das sein kann und dann geht es schon abwärts.“

Tyson schaute dem Mann mit dem Kind hinterher. Ob sie bei einem Unfall gestorben waren?

Womöglich hatte er einmal die Zeitung aufgeklappt und einen Bericht darüber gelesen. Einer von vielen Todesfällen, die tragisch waren, einen mitleidig mit der Zunge schnalzen ließen, aber dann doch schnell in Vergessenheit gerieten, sobald man sein Tagesgeschäft anging.

„Gibt es…“, begann Max stockend. Ihm schien seine Frage sichtlich schwer zu fallen. „Gibt es keinen Himmel?“

Tyson fiel ein, das sein Freund ja Christ war und diese an einen Himmel und eine Hölle glaubten. Das war ihm immer sonderbar vorgekommen, weil er – als Spross eines shintoistischen Haushaltes – eine ganz andere Vorstellung vom Tod hatte. In seiner Religion war man der Auffassung, dass keine Seele die Welt endgültig verließ und deshalb wurden den Verstorbenen auch Opfergaben gebracht. Doch nun sah er vor sich diese graue, trostlose Masse, die ihren Weg ins Ungewisse antrat. Es versetzte ihnen allen gleichermaßen einen herben Stich, bis Galux, auf Maxs Frage sanft lächelte.

„Ich weiß, der Mensch sehnt sich nach dieser Antwort. Doch das ist ein Geheimnis, was kein Bit Beast euch genau voraussagen kann. Was nach dem Tod kommt, hängt von euch ab. Aber ich sage euch so viel... Auf jedes Leid, folgt etwas Gutes. Das Leben, sowie der Tod, ist ein endloses auf und ab. Sobald die Talsohle erreicht ist, wird es auch wieder aufwärts gehen, vielleicht sogar zu jenen Dingen, die ein Mensch sich erhofft.“

„Das heißt es wird für diese Geister irgendwann einmal besser?“, fragte Ray hoffnungsvoll.

„Lasst euch überraschen…“

Damit schien für sie das Thema beendet – auch wenn ihr Lächeln eine versteckte Botschaft hinterließ. Galux erhob sich. Sie wandte sich um, doch verharrte plötzlich wie zur Salzsäule erstarrt. Ihre hellgrünen Augen fokussierten einen Punkt hinter Tysons Rücken und plötzlich sträubte sie sich fauchend. Er fuhr alarmiert um und beobachtete eine humpelte Gestalt, die aus der Finsternis hervortrat und sich direkt auf die Gruppe zubewegte. Tyson vernahm ein lautes Keuchen neben sich, als die Erkenntnis seine Freunde traf. Er starrte das Gespenst an und wurde augenblicklich aschfahl. Es besaß kurze, vereinzelt ergraute Haare, die in fettigen Strähnen in die Stirn fielen. Das Gesicht war eingefallen, doch das war nicht einmal das Erschreckendste – es war die Tatsache, dass sie diese Person kannten, auch wenn die Zeit sie gnadenlos gezeichnet hatte. Um die Mundwinkel lag ein zynischer Ausdruck. Die Augenhöhlen waren nur zwei dunkle Löcher, ohne eine Pupille, ohne einen Augapfel darin. Das Gespenst streckte die abgemagerten Arme nach ihnen aus und riss die ausgedörrten Lippen zu einem gequälten Schmerzensschrei auf. Tyson hätte ihn beinahe nicht erkannt.

Es war auch so viele Jahre her gewesen.

In seiner Erinnerung besaß Boris auch noch keine grauen Haare. Seine Seele wirkte so verkümmert, dass Tyson sich unweigerlich fragte, wie lange er schon auf dem Wurzelwerk umherschritt. Sein Geist war geradezu abgemagert.

„Ein Verdammter!“, rief Galux aus. Boris Seele humpelte weiterhin auf sie zu.

Aus seinem Maul drangen unnatürliche Laute. Verzerrt und unverständlich. Er besaß kaum noch Zähne. Es jagte Tyson einen Schauer über den Rücken. Er schob Kai hinter sich und war schon auf das Schlimmste gefasst. Da schnellte Galux zwischen der Gruppe hindurch und stellte sich schützend vor ihnen auf. Plötzlich ging mit dem zierlichen Bit Beast eine Verwandlung durch. Der dezente Farbton auf ihrem Fell wurde signalrot, dass nun von einem schwarzen Leopardenmuster gezeichnet war, während die Krallen an ihren Pfoten weit ausgefahren wurden. Tyson war bereits aufgefallen, dass sie in seiner Erinnerung gefährlicher gewirkt hatte und nun entsprach Galux Gestalt schon mehr jener, welcher er aus Mariahs Kämpfen in der Arena kannte. Ihre Statur gewann an Größe, auf den Schultern des Bit Beasts wuchsen spitze Platten hervor, die einer messerscharfen blauen Panzerung glichen.

„Lieber Himmel!“, entfuhr es Allegro auf Tysons Schultern perplex. „Nun kommt die Kämpferin in unserer lieben Mademoiselle durch!“

Es war wirklich ein herber Kontrast zu ihrem damenhaften Auftreten von zuvor.

Das Bit Beast starrte Boris Geist aus lauernden Augen an. Dessen Finger waren geradezu schmerzhaft verkrampft, er fuchtelte mit den Händen, holte immer wieder aus und schlug wie ein verrückter in der Luft um sich, dass man hätte meinen können, er versuchte Fliegen zu fangen. Sein Körper hinterließ bei jeder Bewegung eine Dunstwolke, wie kleine Aschepartikel die von ihm abfielen. Die stark ergraute Haut, ließ Tyson irgendwie auch befürchten, dass er tatsächlich nur noch aus Asche bestand. Er musste daran denken, in welche pompösen Mäntel sich ihr früherer Widersacher, mit Vorliebe gehüllt hatte. Boris war einst hochgewachsen gewesen und auch ziemlich kräftig. Nicht dick, aber eben massiv.

Alle Kinder mussten unweigerlich zu ihm aufsehen, auch wenn sie es gar nicht wollten.

Jetzt wirkte sein entblößter Oberkörper so schmächtig, man hätte seine Rippen zählen können. Der Stoff seiner Hose hing in Fetzen von ihm herab und sein Rücken wies eine so starke Verkrümmung auf, selbst in Tysons jugendlichem Körper, wären sie auf gleicher Augenhöhe gewesen. Es wirkte als wäre seine Wirbelsäule mehrmals gebrochen.

„Was ist mit ihm passiert?“, fragte Max aus geweiteten Augen. Er wich neben Tyson fassungslos zurück.

„Er ist ein Verdammter. So wie es Mademoiselle Galux gesagt hat!“, erklärte Allegro.

„Was heißt das?“

„Das ihm der Weg auf dem Wurzelwerk erschwert wird!“, der Mäuserich hob sich an einer von Tysons Strähnen fest, beugte sich vor und deutete wie wild auf das Gesicht von Boris. „Seht ihr das? Seine Augenhöhlen! Die sind nicht grundlos leer… Es hindert schlechte Seelen daran, das Licht des Wurzelwerkes zu sehen und auf ihm weiterzuschreiten. Sie sind verdammt in dieser Endlosigkeit zu wandeln, ständig vom Rand der Wurzel zu stolpern, weiterzuwandern, und doch niemals an ihrem Ziel anzukommen. Wann immer er von einer Wurzel fällt, prallt er irgendwann auf einer anderen, weiter unten in der Tiefe auf, bricht sich sämtliche seiner Knochen und ist dazu verurteilt, keinen richtigen Tod zu finden. Das was ihr da seht, sind sogar die Überreste seines richtigen Körpers. Für diese Wesen wäre das Eintreten in das Jenseits, eine Erlösung, die man ihnen nicht einfach so gönnt. Desto schlimmer sie zu Lebzeiten waren, desto länger wird ihre Tortur gehen.“

„Die Talsohle bevor es bergauf geht.“, wiederholte Ray die Worte von Galux ernst. Einen Moment dachte Tyson nach, wie das gemeint war, bis es ihm klar wurde. Es spielte keine Rolle, welcher Religion man angehörte, hier, auf diesem Pfad, zählten lediglich die Taten eines Menschen. Desto reiner die Seele war, desto leichter wurde ihr die Reise gemacht. Es war ein Leidensweg, den jeder antreten musste und was danach kam, konnte alles Mögliche sein. Vielleicht wussten die Bit Beasts selbst nicht genau, wohin es mit den Menschenseelen ging. Er starrte auf Boris verkrüppelten Geist, der wie ihm Wahn versuchte, an Galux vorbeizukommen. Etwas schien er sich von der Gruppe zu erhoffen, denn einige Male peitschte der Schweif des Bit Beasts nach vorne und versetzte ihm einen bösen Hieb. Dennoch war er schnell wieder auf den Beinen, um erneut wie im Wahn zu ihnen zu gelangen. Sie beobachteten hilflos das Schauspiel und keiner wusste so genau, was sie überhaupt unternehmen konnten, um Galux den Kampf zu erleichtern, bis die Stimmen von der unteren Ebene lauter zu ihnen hinauf schalten.

Ein Blick hinab und Tysons Augen weiteten sich.

Boris Geschrei hatte die Aufmerksamkeit der anderen Geister auf sie gelenkt.

Er sah in dutzende fahle Gesichter, die alle zu ihnen aufschauten. Manche streckten die Arme nach ihnen aus und richteten ihr Wehklagen an die Gruppe. Nur jene Seelen, die im wärmeren Licht schimmerten, führten ihren Weg ungeachtet ihrer Anwesenheit fort.

„Oh weh, oh weh!“, jaulte Allegro panisch auf. „Sie spüren eure Energie!“

„Was heißt das?“, fragte Ray.

„Geister versprechen sich davon, dass sie wieder ins Leben zurückkehren, wenn sie einen Menschen anzapfen. Passt bloß auf das euch keiner zu nahe kommt!“

„Leute, ich will ja niemanden in Panik versetzen, aber einige von denen klettern hoch!“

„Was?!“, auf Maxs Beobachtung schnellten die Köpfe der anderen, zu jener Stelle, auf die er mit dem Finger deutete. Tatsächlich begannen einige der Geister, nach den nach unten hängenden Ausläufern der Wurzel zu packen, auf der die Gruppe stand. Eine von ihnen hing besonders tief, an jener Stelle, wo die Brücke wieder abfiel.

„Die werden uns den Weg abschneiden, wenn sie dort hochklettern!“, erkannte Ray sofort.

Das war auch Tyson klar geworden. Sein Kopf wandte sich ungeduldig zu Galux, die mit dem Schweif ausholte und wie bei einem Peitschenschlag, Boris die Füße vom Boden riss. Sein Geist geriet ins Straucheln und ehe man es sich versah, stürzte er vom Rand und verschwand jammernd in der gähnenden Leere. Sofort wandte sich Galux um.

„Folgt mir!“, sie trabte vorwärts. Keiner von ihnen ließ sich das zweimal sagen. Sie hetzen hinter ihr her, so lange der Weg vor ihnen noch frei war. Gerade als sie den Punkt passierten, unter dem die Geister hochkletterten, packten gebrechliche Finger aber nach Tysons Fußknöchel. Es dauerte keine Sekunde, da überkam ihn eine Kälte, die in jeden seiner Knochen fuhr. Sein Bein versagte ihm. Er stürzte auf die Knie und entließ Kais Hand aus seinem Griff. Bei der unsanften Landung schleuderte es Allegro von seiner Schulter. Der Mäuserich rollte über die Wurzel, kam aber kurz vor dem Rand schnaufend zum Erliegen. Inzwischen griff die blanke Panik Tyson und er versuchte mit dem anderer Fuß, die Finger von sich zu treten, doch traf nur ins Leere.

Dicht neben ihm, schaffte es das Gespenst, seinen Kopf über den Rand der Wurzel zu hieven. Tyson blickte in ein fahles Antlitz, was den Mund weit aufgesperrt hielt, als hätte es eine Gesichtslähmung. Die Seele rüttelte an seinem Knöchel und versuchte sich unnachgiebig aufzuziehen. Mit jeder Sekunde die er Tyson umschlossen hielt, fühlte sich die Stelle immer tauber an.

„Geh weg von ihm!“

Kai schnellte vor und trat dem Geist ins Gesicht. Es war ein gezielter Tritt, hatte aber ob seiner geringen Körpergröße kaum eine Wirkung. Tyson war sich nicht einmal sicher, ob Geister noch etwas wie Schmerz spüren konnten, denn die Seele tat keine Anstalten von ihm abzulassen. Kai packte Tyson am Kragen und zerrte mit Leibeskräften an ihm, um ihn von dem Wesen wegzubekommen.

„Mademoiselle! Hier hinten steckt jemand in ernsten Nöten!“, rief Allegro aus. Er hüpfte auf sein Hosenbein und versuchte den Griff des Geistes zu lockern. Da beobachtete Tyson, wie seine Freunde endlich auf den Ruf reagierten und eine Vollbremsung hinlegten. Ihre Köpfe schnellten zu ihnen. Offenbar hatten sie nicht bemerkt, was sich hinter ihrem Rücken abspielte. Er hörte Max erstickt aufschreien, sah die beiden schon wenden, da preschte Galux wie ein Blitz hervor. Ihr langer Schweif peitschte geräuschvoll über Tyson in der Luft und kurz darauf fühlte er auch schon, wie die Finger von ihm abließen. Ein Blick hinter sich und die Seele war vom Rand verschwunden.

„Nun aber schnell, mein Herr!“

Kai half ihm mühsam hoch, während Allegro auf dessen Haarschopf sprang. Er sah die feinen Glieder der Springmaus hektisch gestikulieren. Tysons Fuß fühlte sich jedoch an, als wäre er gar nicht mehr mit ihm verwachsen. Als würde er ein fremdes Körperteil mit sich ziehen, hüpfte er auf einem Bein voran, bis sich ein größerer Körper, stützend unter seine Armbeuge schob. Er blickte in Maxs Gesicht. Die Beunruhigung stand ihm auf die Stirn geschrieben. Eine kleine Schweißperle rollte seine Schläfen entlang. Zu Tysons anderer Seite hatte Ray das Kind ergriffen.

„Mademoiselle Galux scheint uns einen Vorsprung verschaffen zu wollen.“, rief Allegro aus. Tyson hätte sich auch gerne ein Bild, von der Situation hinter ihnen gemacht, doch so armselig wie er humpelte, durften sie keine Zeit mit sinnlosem Glotzen verschwenden. Allegro sprang von Kais Haarschopf und hopste voraus. Sie ahnten auch bald weshalb, denn kurz darauf tat sich vor ihnen in der Dunkelheit, erneut eine Gabelung auf. Nun übernahm die Strommaus die Witterung nach Geistern. Er sah das Bit Beast hektische Atemzüge nehmen, dass die winzige Nasenspitze des Mäuserichs nur so erzitterte.

„Nicht gut.“, es schüttelte den Kopf und wandte sich einem anderen Pfad zu.

Tyson konnte sich nicht verkneifen, einen Blick hinter sich zu werfen, so lange die Strommaus beschäftigt war. Offenbar waren die Geister in einen wilden Tumult verfallen, als sie die Menschen bemerkten. Galux hatte alle Hände mit ihnen zu tun. Von beiden Seiten der Wurzel kamen sie hochgekraxelt. Sie wäre wohl schneller, ohne die Gruppe vorangekommen, denn das Bit Beast war den Geistern eigentlich vollkommen egal. Sie griffen Galux nie direkt an, sondern suchten nur ein Schlupfloch, um an ihr vorbei zu huschen. Dabei scherte es die Seelen kaum, dass sie dabei einige Hiebe von ihr einsteckten. Die blinde Gier nach Lebensenergie trieb sie an. Dutzende von ihnen rutschten während der Auseinandersetzung in die unheimliche Finsternis – und jeder von ihnen streckte in seiner verzweifelten Hoffnung, die Arme nach ihnen aus. Als wäre die Gruppe die verheißungsvolle Lösung aus ihrem Leid.

„Hier lang!“, rief Allegro endlich auf.

„Und Galux?“

„Wir helfen ihr kaum, wenn wir noch länger dort herumstehen. Das lockt nur noch weitere Geister an! Dort unten ist ein endloser Strom von denen. Desto schneller wir von hier verschwinden, desto weniger Grund bieten wir ihnen hinaufzukommen. Dann wird unsere wackere Mademoiselle sicherlich wieder aufschließen können.“

„Aber wie soll sie uns-…“

„Pap, pap, pap!“, tat Allegro verärgert. „Was für eine Frage! Sie hat ein gutes Näschen. Wie jedes Bit Beast! Sie wird uns schnell einholen. Wir suchen uns ein sicheres Fleckchen und warten dort, bis sie unsere Fährte aufgenommen hat und zurückkommt!“

Da hüpfte die Strommaus auch schon vorwärts.
 

Es brauchte seine Zeit, bis sie weit genug waren, damit das Wehklagen hinter ihnen endlich verklang. Während ihrer Flucht kam kein einziger Laut über ihre Lippen, als könnten selbst ihre hektischen Atemzüge, den Wesen hier unten ihre Anwesenheit verraten. Ohne Galux fühlte sich die Gruppe auch ziemlich schutzlos. Natürlich hegte keiner von ihnen einen Zweifel daran, dass Allegro alles tun würde, um sie zu beschützen, aber bei all seinem Edelmut – er war nun einmal ziemlich winzig.

Tysons Bein fühlte sich seltsam taub an, als hätte er des Nachts ungeschickt darauf gelegen. Allegros Mäusegestalt tippelte auf allen Vieren voran, sein Schnäuzchen stets zu Boden gerichtet. Er witterte mit einer solchen Konzentration, dass keiner von ihnen wagte, ihn mit einer Zwischenfrage dabei zu stören. Irgendwann passierten sie einen Punkt, wo einige der Verästelungen, in einem undurchschaubaren Wirrwarr, einen riesigen Knoten bildeten, während der eigentliche Pfad dicht darum herumführte. Es wirkte wie das zu groß geratene Nest eines Webervogels. Da hielt Allegro auch schon an und schaute nachdenklich an der seltsamen Verknorpelung hinauf. Er kratzte sich grübelnd am Kinn und nickte schließlich.

„Da könnten wir vorerst unterkommen.“, der Mäuserich wandte sich an Ray. „Wärst du so lieb, unserem gemeinsamen Freund, beim Aufstieg behilflich zu sein?“

„Was für eine Frage…“, kam die belustigte Antwort. Zunächst schob er Max, mit einer Räuberleiter die glatte Rinde hinauf, damit der von Oberhalb nach den anderen greifen konnte. Als erstes reichte er ihm Kai, da das Kind doch ziemlich ratlos, vor ihrem hohen Unterschlupf stand und nicht so recht wusste, wie er allein dort hoch kommen sollte. Danach verhalf er Tyson hinauf. Mit der tatkräftigen Unterstützung seiner Freunde, erreichte er den oberen Teil der merkwürdigen Verästelung. An einer Stelle, war der Knoten so locker, dass sie mit etwas Körperkontakt, sich alle gemeinsam in den Spalt zwängen konnten. Dabei wäre Max beinahe ausgerutscht, weil er etwas zu spät merkte, wie steil es abwärts ging, sobald man in das Schlupfloch eintrat. Als Tyson sich auf der Rinde niederließ, krempelte er neugierig den Stoff seiner Hose hoch, um einen Blick auf seinen Knöchel zu werfen.

„Heilige Scheiße.“, murmelte Max neben ihm. Er hatte gerade Platz nehmen wollen, als er in seiner Bewegung inne hielt und auf das Überbleibsel der Attacke starrte. Es war die exakte Wortwahl, wie sie auch Tyson durch den Kopf schoss. Ein pechschwarzer Handabdruck prangte an seinem Knöchel. Es war kein blauer Fleck, sondern wirkte irgendwie anders. Er fuhr mit dem Zeigefinger irritiert über die geschwärzte Haut und stellte entsetzt fest, dass er an dieser Stelle überhaupt nichts mehr fühlte.

„Was ist das?“, er musste sich zusammenreißen, um nicht allzu weinerlich zu klingen. Allegro sah sich den Abdruck an und schnalzte bedauernd mit der Zunge.

„Noch ein paar Sekunden länger und du hättest den Fuß verloren.“

„Wirklich?“, Ray beugte den Kopf zu Tysons Knöchel hinab und schaute besorgt auf die Stelle. „Es sieht aus als wäre seine Haut…“

Mitten im Satz hielt er inne. Tyson ahnte weshalb.

Er wollte ihm mit seiner Befürchtung keine Angst machen.

„Dein erster Gedanke war schon richtig.“, erriet Allegro seine Gedanken. „Ich selbst kenne es nur vom Hörensagen, doch es heißt, dass eine Berührung dieser Geister, fatale Folgen auf menschliche Körper hat. Du kannst vom Glück reden, dass du keinen direkten Hautkontakt zu ihm hattest. Wäre der Stoff deiner Kleidung nicht gewesen, hätte die Seele sämtliche Energie aus deinem Fuß ausgesaugt, bis er abgestorben wäre.“

Tyson musste an einen Film denken, wo ein Mann seine Zehen verloren hatte, als er bei einer Bergsteigertour auf dem Himalaya, in einen Sturm geriet. Die Glieder des Mannes waren pechschwarz gefroren, als er sie sich abtrennte. Unweigerlich fragte er sich, ob dies dasselbe Prinzip war.

„Das wird wieder.“, tätschelte Allegro ihn zuversichtlich an der geschundenen Stelle. Sein ausgeprägter Geruchsinn hatte wohl seine Furcht wahrgenommen. „Du bist jung. Sobald deine Lebensenergie wieder durch die Stelle fließt, wird der Abdruck verblassen. Womöglich bleibt dir nicht einmal eine Narbe. Aber ich ermahne euch nochmal, diesen Geistern nicht zu nahe zu kommen!“

Er richtete seinen kleinen Zeigefinger nun ganz besonders auf Kai.

„Du hast nach dem Geist getreten, das ist mir nicht entgangen! Das lässt du in Zukunft bleiben. Stell dir vor er hätte nach dir gepackt, du wärst nicht gerade glimpflich davon gekommen. Das kann wirklich böse ins Auge gehen!“

„Ist schon okay. Mir tut gar nichts weh…“

„Weil der Körperkontakt zu kurz war. Dennoch, lass so etwas bitte sein, mein Junge. Versprichst du das deinem Allegro?“

Offenbar konnte Kai gar nicht anders, als auf die Bitte ihres kleinen Helden einzugehen.

Er schaute nachdenklich drein und nickte dann doch zögerlich.

„Braves Kind.“, entgegnete die Strommaus anerkennend. Dann wandte er sich wieder an alle. „Vergesst niemals, wo wir uns hier befinden! Das ist nicht die Welt der Lebenden. Nur tote Seelen sollten diesen Ort passieren. Daher stellt ihr, meine Herren, eine Art Fremdkörper in diesem Kreislauf dar. Die Reaktionen auf euer Erscheinen fallen deshalb äußerst negativ für euch aus.“

„Warum greifen die Geister keine Bit Beasts an?“, wollte Max wissen.

„Weil wir selbst auch Geister sind. Zwar eine andere Form von Geistern, aber trotzdem können sie von uns keine Lebensenergie absaugen. Wir bestehen aus der Energie unseres Elements. Menschen ziehen ihre Kraft aber aus allen vier Elementen. Daher sind wir für Geister uninteressant. Eine solch komplizierte Mixtur kommt bei Bit Beasts einfach nicht vor.“

Tyson dachte über diese Worte nach. Ihm fiel ein, dass, wann immer er Allegro auf seiner Handfläche gehalten hatte, der Mäuserich sich anfühlte, als ob Strom durch seinen Körper floss. Es prickelte dann ein wenig auf der Haut. Nicht so das es unangenehm war, aber man spürte, dass die Springmaus aus etwas elektrischem bestand. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er kleine Finger auf dem Abdruck an seinem Knöchel spürte. Kai fuhr zaghaft darüber hinweg und schaute ihn dann mitleidig an.

„Tut das sehr weh?“, wollte das Kind wissen. Tyson schüttelte lächelnd den Kopf. Er konnte schon wieder etwas an der Stelle fühlen. Das schien ein gutes Zeichen zu sein. Es musste wie bei einem eingeschlafenen Fuß sein. Irgendwann normalisierte sich die Blutzufuhr.

„Galux braucht ziemlich lange.“, stellte Ray fest. Er spähte besorgt um die Ecke, um einen Blick hinab zu werfen, da zog er sich abrupt zurück und presste den Oberkörper gegen die Wurzel.

„Was ist?“, fragte Max. Ray hielt den Finger an den Mund um ihn zum Schweigen zu bringen. Sie ahnten weshalb. Tyson war als würden alle den Atem anhalten. Er beobachtete wie Allegro vorwärts schlich, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen. Doch die Strommaus gab kurz darauf nur ein erleichtertes Seufzen von sich.

„Es ist nur einer.“, flüsterte er zuversichtlich. „Und auch noch ein Weibchen. Zur Not komme ich mit der auch klar.“

Etwas beruhigt entspannte sich ihre Körperhaltung wieder. Allegro schien einige Zeit den Geist zu betrachten, bis er das Köpfchen bedauernd schüttelte.

„Mon Dieu… Das arme Ding ist ja schrecklich zugerichtet.“

„Ist das eigentlich normal?“, wollte Tyson wissen. „Also ich meine, das die Geister so aussehen, wie sie gestorben sind. Ich hätte eher gedacht, dass man nach dem Tod keinen Körper mehr hat.“

„Ich vermute das ist kein Dauerzustand. Die Seele steckte einfach nur ziemlich lange in ihrer menschlichen Hülle fest. Ich könnte mir vorstellen, dass es wie mit flüssiger Schokolade ist, die man in eine Form gießt. Ist die Schokolade kalt, bleibt sie so lange in ihrer Form, bis sie wieder schmilzt. Ich bin ziemlich sicher, dass die Geister nicht mehr lange ihre irdische Gestalt behalten. Soweit ich mich recht entsinne, hat man uns in der Mäuseschule sogar eingetrichtert, dass die Menschen ihr Aussehen verlieren, sobald sie in ihr Jenseits gelangen. Ich weiß noch, wie ich mich mit meiner guten Freundin Dizzy, ständig darüber unterhielt. Wir fanden den Gedanken äußerst faszinierend.“

Bei der Vorstellung an eine Bit Beast Schule ging ein Schmunzeln durch die Gruppe. Trotz ihrer ernsten Lage schien das jeder von ihnen amüsant zu finden. Als Tyson Kai einen verstohlenen Blick zuwarf, schaute der gedankenverloren nach oben, als malte er sich – mit viel kindlicher Fantasie - bereits dieses Szenario aus. Dabei blieb sein Mund einen spaltweit offen. Wahrscheinlich stellte er sich vor, wie die kleinen Strommäuse, bepackt mit ihren winzigen Lehrbüchern, auf ebenso winzigen Schulbänken saßen, in einer entzückenden kleinen Schule, die nicht größer war, als ein Puppenhaus. Wenn Tyson so darüber nachdachte, war der Gedanke tatsächlich ziemlich drollig.

Max begann auf einmal zu frösteln. Er rieb sich über die Oberarme und murmelte: „Hoffentlich braucht Galux nicht mehr so lange. Diese Geister sind echt unheimlich.“

Ray seufzte und gab ein erschöpftes Nicken von sich.

„Ich täte alles dafür um endlich wieder nachhause zu kommen. Ein warmes Bett, eine schöne Dusche vorher...“

„Da bist du nicht der Einzige.“, pflichtete ihm Tyson bei. „Ich kann es gar nicht abwarten meinen Großvater wiederzusehen. Momentan wäre ich sogar froh, wenn ich Hiro zu Gesicht bekomme… den alten Klugscheißer.“

„Ich bin froh, wenn ich wieder bei Mao bin und mich bei ihr persönlich, für ihre Hilfe, bedanken kann.“

„Wir haben echt was gut bei ihr. Stell dir vor sie hätte Galux nicht geschickt.“

„Ja. Das haben wir.“

Rays Stimme klang sehr nachdenklich.

Einen Moment wurde es still zwischen ihnen. Tyson sah wie Max auf der Unterlippe kaute. Das tat er ständig wenn er etwas zu sagen hatte, aber sich nicht getraute es laut auszusprechen. Allerdings bedurfte es keine Telepathie um zu erraten, was ihnen beiden jetzt durch den Kopf ging.

„Sag mal Ray.“, begann Tyson sich vorsichtig an das Thema heranzutasten. „Ich will mich wirklich nicht in eure Ehe einmischen, aber wegen eurer Scheidung…“

„Du brauchst nicht weiterzusprechen.“

„Nein, du verstehst mich falsch. Ich will dich wirklich nicht umstimmen! Ich finde nur sie hätte es verdient, dass du das ganze wenigstens nochmal gründlich überdenkst, wenn wir zuhause sind. Kein Mensch ist fehlerlos und vielleicht…“

„Das weiß ich. Und ich will mich auch nicht mehr scheiden lassen.“

Er sprach es so plötzlich aus, dass es seine Freunde überrascht blinzeln ließ.

„Also gibst du ihr eine zweite Chance?“, fragte Max erleichtert.

„Das brauche ich gar nicht. Ich weiß das sie mich nicht betrogen hat.“

„Woher?“, kam es von beiden wie aus einem Mund.

„Von Galux.“, ein Lächeln huschte über Rays Gesicht. „Es wird außerdem ein Mädchen. Und sie wird meine Augen haben. Aber mir war schon vor meinem Gespräch mit Galux klar, dass ich Mao eigentlich nicht verlassen will. Ich… Ich hänge einfach zu sehr an ihr.“

Gegen Ende des Satzes war er immer leiser geworden. Er zuckte etwas unbeholfen mit den Schultern und starrte mit hochrotem Gesicht zur Seite, als er das breite Grinsen seiner Freunde sah.

„Jetzt hört doch auf mich so anzugaffen, Leute! Das ist mir echt peinlich.“

„Schon klar.“, kam es unisono.

„Sprecht ihr von dem Katzenmädchen, in das sich der getigerte Kater verliebt hat?“, wollte Kai von Tyson wissen. Auf sein zustimmendes Nicken, blinzelten die anderen beiden nur umso irritierter drein.

„Was habt ihr die ganze Zeit mit irgendwelchen Katzen?“, fragte Max perplex.

„Insider.“, erklärte Tyson prahlerisch. Das war sein kleines Geheimnis, was ihn allein mit Kai verband und das wollte er so schnell nicht aufgeben. Dafür klopfte er Ray auf die Schulter. „Ich bin froh dass sich für dich alles zum Guten gewendet hat. Jetzt müssen wir nur noch hier hinausfinden, dann kannst du deine Süße auch von mir einmal herzhaft drücken.“

„Machst du Witze? Wenn wir es dank Galux hier raus schaffen, kaufe ich Mao einen Wagen!“, versprach Max und legte seufzend die Stirn gegen seine Kniescheibe.

„Pass auf was du sagst. Ich nehme dich beim Wort.“, deutete Ray grinsend auf ihn. Es war ansteckend und Tyson kam nicht umhin, sich für ihn zu freuen. Es tat gut ihn endlich wieder ausgelassener zu erleben – wenn auch nur für diesen Moment.

Nachdem Ray ihnen die Hiobsbotschaft, von Mariahs angeblichem Seitensprung offenbart hatte, schien er so verbittert gewesen zu sein. Doch endlich war der Groll, der sein Herz fest umklammert hielt, von ihm abgefallen, fast so, als hätte Galux nicht nur Rays äußerlichen Wunden geheilt, sondern auch seine gekränkte Seele. Plötzlich zuckten Allegros Ohren und er wandte das Köpfchen in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

„Na endlich! Mademoiselle Galux ist auf dem Weg zu uns. Ich muss ehrlich zugeben, dass ich dabei war in Sorge zu verfallen.“, er hopste aus seiner Sitzposition auf und fügte hinzu. „Genug der Plaudereien, meine Herren. Wir sollten keine unnötige Zeit verschwenden und hinabklettern. Eine Dame sollte man nicht warten lassen, daher lasst uns schon mal hinabklettern, damit unsere liebe Mademoiselle nicht hinaufklettern muss. Die Seele von vorhin ist auch schon weitergezogen. Es müsste also sicher sein.“

Zustimmendes Nicken war die Antwort. Ray begann zuerst den Abstieg. In der Zeit, in welcher sich seine Freunde, vor ihm, aus dem Schlupfwinkel hinauszwängten, nutzte Tyson die Wartezeit, um seinen Knöchel abzutasten. Der Abdruck war nach wie vor da, wenn auch etwas blasser. Als er aufstand und sachte auf den Fuß trat, tat es zumindest nicht mehr weh.

„Brauchst du Hilfe, Kai?“, fragte Max auf einmal.

Er schaute zur Öffnung und musste sich ein lautes Prusten verkneifen, als er Kais Versuch erblickte, über den Rand ihres Unterschlupfes zu klettern. Seine Beine waren einfach zu kurz und die Oberfläche der Wurzel zu glatt, aber immerhin – er ließ nicht locker.

„Nein. Ich kann das schon.“, beteuerte Kai eifrig und fuhr unbeirrt fort. Sie warfen sich ziemlich amüsierte Blicke zu. Offenbar verspürte der Kleine das Bedürfnis, nicht mehr in Watte bepackt, sondern wie ein ganz Großer behandelt zu werden. Etwas schmunzelnd bemerkte Tyson, dass dieses Verhalten erst eingesetzt hatte, nachdem er dem Kind erklärte, das er eigentlich einmal erwachsen gewesen war. Wahrscheinlich wurde Ray schon ungeduldig, weil sie so lange brauchten.

„Also wenn du doch Hilfe brauchst…“, begann Max.

„Nein, ich kann das wirklich!“, brüskierte sich der Kleine schmollend.

Tyson rollte amüsiert mit den Augen und als der Junge endlich das eine Bein, über den Rand geschwungen bekam, legte Max seine Hand doch unauffällig auf dessen Hosenboden, um ihm mit einen sanften Schubs hinüber zu helfen. Glücklicherweise merkte Kai nichts davon, sondern rutschte kurz darauf, auf der anderen Seite die Wurzel hinab. Dafür war Tyson zusehends erstaunter, wie leicht man Kindern ein kleines Erfolgserlebnis bescheren konnte.
 

Während sie auf Galux warteten wurde die Gruppe wieder angespannter. In ihrem Unterschlupf hatten sie sich ein wenig sicherer gefühlt. Hier draußen auf dem Wurzelpfad, war es aber, als würde man auf dem Präsentierteller liegen. Man wusste einfach nie so genau, was sich um einen herum in der Finsternis abspielte, sondern konnte nur dem leuchtenden Weg ins Ungewisse folgen. Allegro tippelte ungeduldig im Kreis herum. Er schien sich tatsächlich Sorgen um Galux zu machen. Das war irgendwie grotesk…

Eine Maus die sich um ihren natürlichen Fressfeind sorgte.

Aber was war in der Irrlichterwelt schon normal?

Plötzlich schossen Allegros Ohren wieder hinauf.

„Ich glaube da kommt sie.“, er tippelte einige Schritte, in die Richtung aus der die Gruppe gekommen war und hob sich auf die Spitzen seiner Hinterbeine. Dann begann er wie wild zu winken. „Mademoiselle! Hier sind wir!“

Tyson atmete erleichtert aus, als er das schimmernde Fell von Galux, in der Ferne ausmachen konnte. Dieses Bit Beast an seiner Seite zu wissen, war doch ein sehr großer Trost in ihrer derzeitigen Lage. Da ging ein erschrockener Ausruf durch die Runde, als plötzlich etwas von oben herab, kurz vor Galux, auf dem Weg aufprallte.

„Vermaledeit noch mal!“, schimpfte Allegro verärgert. „Noch ein Verdammter!“

Ohne seine Augen musste dieser bedauernswerte Geist von seinem Weg gestolpert sein. Zu ihrem Glück schien Galux nicht viel Mühe zu haben, ihn in Schach zu halten. Dennoch beobachtete die Gruppe angespannt, wie sie mit dem Schweif ausholte und den Verdammten von den Füßen riss. Da klatschte ein weiterer Körper nur wenige Meter vor ihnen auf den Boden auf.

„Ui ui! Das wird jetzt heikel!“, fuchtelte Allegro. Seine kleinen Ärmchen gestikulierten wie wild auf die Biegung, welche der Weg um den Wurzelknoten machte. „Lasst uns dahinter in Deckung gehen bis Mademoiselle bei uns ist.“

Tyson beobachtete den Versuch des Verdammten sich aufzurichten. Sein Arm besaß einen unnatürlichen Winkel, weswegen er nur schwerfällig auf die Füße kam. Auf allen Vieren kroch er auf dem Pfad umher, mit der einen Hälfte des Oberkörpers auf dem Boden. Es wirkte als würde er, wie ein deformierter Hund nach Spuren wittern. Bevor der Geist auf sie aufmerksam werden konnte, machten sie hektisch auf dem Absatz kehrt. Tyson packte Kai am Arm und eilte seinen Freunden hinterher.

Er sah Max als Erstens um die Ecke biegen…

Und kurz darauf mit wehenden Armen einen Rückschritt machen.

Ein panischer Ausruf kam aus dessen Mund, als er mit dem Hintern voraus auf dem Boden landete, da sah Tyson auch schon blasse Arme, deren dazugehöriger Körper noch außerhalb seines Sichtfelds lag. Ray packte Max am Kragen und zerrte ihn eiligst hoch, dann streckte er die Hand in seine Richtung aus.

„Bleibt weg von hier!“

Kai kam ins Straucheln als Tyson die Vollbremsung hinlegte. Als er zurück schaute, war Galux noch immer mit dem Verdammten beschäftigt. Der Zweite hatte es vollbracht, sich mit einem Arm auf die Füße zu stemmen. Geradezu unheimlich rappelte er sich hoch, dabei bemerkte Tyson, das er auf einem geknickten Knöchel voran schlurfte. Nun war auch dem ihre Anwesenheit bewusst geworden. Er streckte die Finger nach ihnen aus, mit einem Maul, was unheimlich verzogen war. Die Augenhöhlen wie bei Boris hohl und von einer dunklen, gähnenden Leere. Unweigerlich fragte er sich, was dieser Mensch zu Lebzeiten getan hatte, um den Stempel eines Verdammten aufgedrückt zu bekommen. Kais Finger gruben sich in den Stoff seiner Jeans. Er bemerkte wie das Kind zu zittern begann. Diese hübschen Augen, die Tyson doch sonst als so unerschrocken kannte, starrten in blanker Panik auf die torkelnde Gestalt. Er verfrachtete Kai auf seine Arme, der sich in seiner kindlichen Furcht, nur noch so zu Helfen wusste, indem er seinen Kopf in Tysons Halsbeuge vergrub und auf das Schlimmste wartete.

„Ich hab Angst…“, murmelte er nun doch leise.

Bei diesen Worten verzog Tyson gequält das Gesicht. Es tat ihm weh diesen Satz ausgerechnet aus dessen Mund zu hören - dieser Junge der doch sonst so mutig war.

Als er einen Ruf zu Allegro schickte, wurde ihm klar, dass der Mäuserich noch immer mit dem Geist vor ihnen beschäftigt war. In seiner Blitzgestalt sauste er auf dessen Gesicht zu. Er vernahm gequälte Laute und die Stimme der Seele. Sie kam hinter der Biegung hervorgetorkelt und Tyson schluckte hart.

Es war eine weitere Person die er kannte!

Die hatte er zu allem Überfluss noch vor kurzem erst gesehen. Kleine Locken, hochgesteckt zu einem seriösen Dutt, mit einzelnen Strähnen, welche das mädchenhafte Gesicht umrahmten und in einem edlen Hosenanzug gekleidet.

„Heilige Scheiße! Ray das ist Ming-Ming!“, rief Tyson entsetzt aus.

Eigentlich hatte er nur dem offensichtlichen einen Namen verpasst, denn auch seinen Freunden war das längst klar geworden. Vor allem Max starrte sie fassungslos an. Ihm ging wohl durch den Kopf, wie hinreißend dieses Mädchen in ihrer gemeinsamen Liebesnacht ausgeschaut hatte. Was immer aber zu ihrem plötzlichen Tod geführt hatte, war als grausige Verunstaltung auf ihrem Antlitz zurück geblieben. Tyson erkannte seltsame Muster an ihrem Hals, die verdächtig nach Reifenabdrücken aussahen. Dennoch war sie keine Verdammte. Sie besaß noch ihre Augen, auch wenn die Äderchen darin aufgeplatzt waren.

„Max!“, ihre Stimme klang verzerrt. Sie reckte die Arme nach ihrer verflossenen Liebe aus. „Hilf mir… Bitte! Wo bin ich hier?“

Tyson hörte hinter sich einen harten Schlag. Kurz darauf atmete Kai auf seinen Armen erleichtert auf. Galux hatte aufgeholt und dem anbahnenden Verdammten einen derben Hieb, mit dem Schweif, gegen den Hinterkopf verpasst. Er klappte nach vorne und drohte wieder auf dem Bauch zu landen, da schlang sich Galuxs Schweif erbarmungslos um seinen Hals. Mit einem lauten Fauchen, drehte sich das Bit Beast um die eigene Achse. Der Verdammte hob in die Luft ab und wie beim Kugelstoßen, ließ sie am schwungvollsten Punkt von ihm ab. Tyson beobachtete wie die Gestalt von der Finsternis verschluckt wurde.

„Da ist noch einer!“, Kai deutete vor ihnen auf Ming-Mings Geist, der von Allegro in Schach gehalten wurde. Hinter der Biegung kam die schimmernde Silhouette einer Frau aus dem dunkeln. Es war einer jener Geister, der in einem wärmeren Licht erstrahlte, doch zu ihrer aller Erstaunen, besaß es kein Gesicht. Sie war in ein helles Kleid gehüllt, was ihr bis zu den Waden reichte und dessen Bewegungen seltsam fließend waren, als hätte sie sich in Wasser gekleidet. Tyson beobachtete, wie Galux sich zum Angriff bereit machte, da hielt sie überrascht inne. Der Neuankömmling schenkte ihnen keine Beachtung, sondern stürzte sich auf ihre Artgenossin. Sie packte Ming-Ming am Kragen und zog ihre bettelnde Seele von der Gruppe weg. Er sah den entsetzten Ausdruck in den Gesichtern seiner Freunde, als ihr Geist verzweifelt die Hände nach ihnen ausstreckte.

„Helft mir!“, wimmerte Ming-Ming ihnen zu. „Bitte! Es darf nicht so enden! Ich will leben!“

„Eine recht frische Tote.“, erkannte Galux. „Selbst die Stimme ist ihr noch geblieben.“

„Wir kennen sie!“, erklärte Max fassungslos.

„Ich weiß. Auch ich erinnere mich.“

„Was sollen wir jetzt tun?“

„Euch beeilen!“, wies Galux die Gruppe zurecht.

„Aber wir können sie so doch nicht zurück lassen!“, rief Tyson aus.

„Ihr ist nicht mehr zu helfen! Und wenn euch schon solch unerwartete Hilfe widerfährt, nutzt die Gelegenheit und stellt keine weiteren Fragen!“

Die gesichtslose Seele zerrte Ming-Ming weiter mit sich. Sie tat eine hektische Handbewegung auf den restlichen Weg, als würde auch sie die Gruppe zum Weiterlaufen animieren wollen. Offenbar waren nur die grauen Geister verwirrt. Galux hopste an den rangelnden Gestalten vorbei.

„Nun beeilt euch doch!“, rief das Bit Beast ihnen zu. Mit einem weiten Abstand, huschte die Gruppe an den beiden Seelen vorbei. Tyson blickte auf die Geister, auf Ming-Mings Finger, die sich krampfhaft nach ihnen ausstreckten.

„Nein!“, schallte ihre Stimme hinter ihnen, überschlug sich vor Verzweiflung. „Bitte! Ich hatte doch noch so viel vor! Ich will noch nicht hier sein. Bitte lasst mich nicht allein!“

Er sah sie in Tränen ausbrechen, etwas, was Geister offensichtlich auch noch konnten. Da drückte die gesichtslose Seele sie in eine Umarmung. Ming-Mings hilfloses Schluchzen, lastete schwer auf der Gruppe. Die Talsohle vor dem Ziel, musste für jeden Verstorbenen, eine unglaubliche Herausforderung sein. Während der andere Geist der jungen Frau tröstend über den Haarschopf fuhr, wandte sie ihnen den gesichtslosen Kopf zu. Tyson hätte schwören können, dass sie ihnen nachschaute.
 

*
 

Der Kampfplatz war augenblicklich verstummt als Driger auf der Erde aufkam. Fast so, als würde das Element, was er verkörperte, mit seinem Verschwinden den Atem anhalten. Als er den Tiger in die Tiefe stürzen sah, blieb Dragoon noch lange über der Wolkendecke. Etwas in ihm hatte sich dagegen gesträubt, hinab zu fliegen und sich davon zu vergewissern, dass er tatsächlich fort war. Er sah noch immer die Anklage in Drigers Augen, kurz bevor er unter ihm, in der Wolkendecke verschwand. Als er aufkam, vernahm er einen Laut, der bis zu ihm hinauf schallte. Es klang wie der Aufprall eines Kometen. Kurz darauf konnte er jeden Baum dort unten Knacken hören, als ob die Druckwelle den Dschungel in Stücke riss.

Die Pflanzen starben ab, sobald ihr Meister nicht mehr lebte.

Es erinnerte Dragoon daran, dass er sicherstellen musste, dass vorläufig Draciel den Platz von Driger übernehmen musste. Immerhin hatte der Tiger, die Schildkröte als Partner auserkoren. Daher musste er gewährleisten, dass sich seine Macht auf Draciel übertrug, damit das Gleichgewicht nicht zu stark, aus den gewohnten Bahnen sprang. Dennoch dauerte es lange, bis Dragoon den Abstieg wagte.

Er fragte sich was ihn so zögerlich machte.

Da war ein beklemmendes Gefühl in seiner Magengegend, dass ihm bleiern schwer belastete. So etwas hatte er schon einmal gespürt. Kurz nachdem er Wolborg in die Eiswüste verbannt hatte. Dragoon war gerade zu seinen Kameraden zurückgeflogen und fand sein Phönixküken in Drigers Fell begraben. Sie hatte so bitterlich geweint, dass ihm einen Moment der verwirrende Gedanke durch den Kopf schoss, ob er tatsächlich richtig gehandelt hatte. Diese Empfindung war äußerst konfus für ihn.

Ein Bit Beast hinterfragte seine Handlung für gewöhnlich nicht.

Es wusste was es zu tun hatte.

Die Natur hatte sie dafür mit ihren Instinkten ausgestattet.

Daher war ihm klar gewesen, dass er seine Stärke beweisen musste, als Wolborg ihm in die Quere kam und sein Handeln, durch Drigers Zurechtweisung, nur noch mehr bestätigt gewusst. Doch als er Dranzer so unglücklich sah, da empfand er etwas, was er so nicht kannte. Dragoon wollte nicht dass sie litt und dass sein Handeln dies verursachte, machte ihn geradezu hilflos dieser befremdlichen Situation gegenüber. Er hatte nicht gewusst, was in diesem Moment angebracht war. Daher hatte er die Lider gesenkt und war noch einmal davongeflogen. Es schien ihm besser als ihr herzzerreißendes Weinen weiterhin zu hören.

Als er nun mit den Krallen auf der Erde aufkam, war das erste was er tat, seinen menschlichen Körper wieder zu sich zu rufen. In Form von kleinen Splittern, ähnlich seinen Drachenschuppen, legte er sich auf seine Haut, bis seine Bit Beast Gestalt schrumpfte und sich in dem Toten wieder einnistete. Etwas betrübt blickte er auf die Stelle, in welcher sein verlorener Arm eigentlich stecken sollte. Dort klaffte eine trostlose Lücke.

Driger hatte ganze Arbeit geleistet.

Mit einem Seufzen ließ Dragoon die verbliebenen Stücke des Menschenkörpers über die Lücke wachsen, während die überflüssigen nutzlos zu Boden fielen. Es sah nicht schön aus, würde seinen Zweck aber dennoch erfüllen. Noch hatte er genug Gliedmaßen, um seinen Pflichten nachzukommen. Erst danach ließ er den Blick über den Kampfplatz schweifen. Etwas in ihm wollte nicht nach Drigers Leichnam suchen. Er wollte den Anblick nicht sehen.

Es war merkwürdig…

Gerade eben war er noch voller Hass gegen seinen alten Verbündeten gewesen. Diese Scheinheiligkeit mit der er ihn damals verurteilt hatte, während er selbst doch keinen Deut besser war, hatte ihn schier wahnsinnig gemacht. Was war er nicht hart mit Dragoon ins Gericht gegangen, als ihn Dranzers Abwesenheit mehr und mehr belastete.

Dennoch…

Da waren Momente in jenen sie auch gemeinsam gelacht hatten. Er kniff die Augen fest zusammen und ermahnte sich Stärke zu beweisen. Desto schneller er Drigers Energie zu Draciel brachte, desto eher würde ein neuer Erdengeist geboren werden. Womöglich war dieser dann auch besser geraten als der Letzte.

Bei diesem Gedanken nickte Dragoon grimmig. Endlich fand er den Ansporn um sich in Bewegung zu setzen. In Ermangelung von Kraft, begann er die Umgebung zu Fuß abzusuchen. Er kletterte schweratmend über das unwegsame Gelände und steuerte schon bald auf einen Punkt zu, dessen Zentrum ein tiefer Krater war. Dabei bemerkte er wie schwierig sich das mit einem Arm gestaltete. Etwas wehmütig musste er dabei an die Sterblichen denken, wenn die eines ihrer Gliedmaßen verloren. Er hatte sich immer gewundert, weshalb sie sich darüber so brüskierten, doch nun dämmerte ihm so langsam, wie anstrengend das war. Da seine Kraftreserven fast gänzlich aufgebraucht waren, war Fliegen momentan auch keine Option mehr. Er war wirklich erschöpft…

Dragoon brauchte Zeit um zu heilen. Womöglich könnte er sich seine Energie von einigen der Lebewesen in der Umgebung zurückholen. Immerhin zehrten diese ja auch von seiner Macht. Wenn er die wieder brauchte, sollten sie eben selber schauen, wie sie zurechtkamen.

Am Rand des Kraters hielt er inne - und schluckte plötzlich hart.

Drigers Leichnam hatte sich in Stein verwandelt. Jenem Element dem er entsprang.

Wann immer ein Bit Beast starb, wurde sein Körper zu dem, aus was er geboren war.

So war der Kreislauf des Lebens. Ihn nun aber vor sich zu sehen, ließ ihn erst erkennen, wie endgültig nun alles war. Sein Blick wanderte an dessen Körper entlang. Er lag auf der Seite. Kurz vor seinem Tod hatte er wohl noch versucht, mit einem wachsenden Gestrüpp seinen Aufprall zu mildern. Es war ein letzter verzweifelter Versuch gewesen, sein Überleben zu sichern. Seine Geschwindigkeit war aber so schnell gewesen, dass der Aufschlag dennoch zu hart war. Die Zweige um ihn herum begannen zu vertrocknen. Sie färbten sich langsam von einem satten Blattgrün, Richtung braun, bis sie langsam welk und spröde wurden. Dragoon ergriff eines der trockenen Blätter, das zwischen seinen Fingern jedoch zerbröselte. Ein schwerer Atemzug kam aus seinem Mund.

Dieser Anblick…

Irgendwie war er traurig. Dragoon starrte auf das geöffnete Maul des Tigers.

Er brauchte einen Reißzahn von ihm. Darin war noch ein kleiner Teil von Drigers Energie enthalten. Die Kraft eines Bit Beast verpuffte nicht auf einen Schlag. Es war ein langsamer Prozess. Wenn er einen Reißzahn nahm und ihm Draciel brachte, könnte es sicherlich Drigers Macht noch aufrechterhalten, bis der neue Uralte ins Leben trat. Doch etwas an dem Mund machte ihn melancholisch. Daraus würde er kein Wort mehr vernehmen. Er würde nie mehr mit Driger sprechen können. Dabei hatten sie sich seit den Anfängen der Welt gekannt. Der Tiger war noch vor ihm auf die Welt gekommen.

Und jetzt war weg.

Wirklich komplett weg…

Einen Moment wandelte sich Dragoons Ausdruck bei diesem Gedanken. Seine eisernen Gesichtszüge wurden deprimiert. Auf einmal war da ein dicker Kloß in seinem Magen und er fühlte sich tatsächlich elend. Mit seinem verbliebenen Arm rieb er sich über die Nasenwurzel. Was war los mit ihm?

Eine Löwin empfand schließlich auch nicht so, wenn sie in der Savanne ihre Beute riss.

Die fraß sich an dem Körper satt. Dennoch brauchte er einige Minuten, um sich klar zu werden, dass er an Drigers Ableben die Schuld trug. Einen Moment blinzelte Dragoon verwirrt über seine eigenen Gedankengänge.

Schuld.

War ihm dieses Wort tatsächlich durch den Sinn gegangen?

Er hatte doch nichts verbrochen! Also wofür sollte er sich schuldig fühlen?

Das Leben sah vor, dass ein anderes Leben dafür starb, damit man weiter existierte. Ansonsten würde jedes Wesen, das auf der Erde wandelte, doch verhungern.

„Das hatte aber nichts mit Hunger zu tun…“

Diese Erkenntnis ließ ihn einen Moment schlucken. Der Kampf hier im Dschungel war beendet, doch nun tobte eine weitaus schlimmere Schlacht in seinem Kopf.

Da waren zwei Parteien.

Sein Instinkt sagte ihm, dass er richtig gehandelt hatte.

Ein Bit Beast musste seine Stellung gnadenlos verteidigen. Driger war zu weit gegangen!

Er hatte sich ihm in den Weg gestellt, dafür musste er in die Schranken gewiesen werden. Hätte er Dragoon seinen Willen gelassen, wäre er doch auch nachsichtiger mit ihm umgesprungen.

Die andere Partei – ein Teil von ihm der ihm bisher unbekannt war – dachte an all die Jahre zurück, als er gemeinsam mit seinen Kameraden glückliche Zeiten verlebte. Jener Part warf ihm vor, jemanden ausgelöscht zu haben, der ihm doch so viele Male ein guter Freund gewesen war. Der sich bemüht hatte, ihm mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

„Und wegen einem einzelnen Fehltritt hast du ihn getötet!“

Dragoons Augen wurden starr.

„Du hast ihn ausgelöscht!“

Aufhören…

„Er existiert nicht mehr! Er war dein Freund!“

Das konnte doch nicht normal sein…

Dragoon kniff die Lider fest zusammen, um sich zu sammeln. Was immer das hier war, es war neu für ihn und er wusste nicht damit umzugehen. Dieser schreckliche Kloß im Magen wollte nicht leichter werden, stattdessen gewann er mit jedem Vorwurf an Gewicht. Es war wie eine erdrückende Last, die weiter um sich griff, sich auf seine Schultern legte und ihn erbarmungslos zu Boden drücken wollte, bis er auf allen Vieren kroch.

„Nein!“, brach der instinktive Teil in ihm aus und er schrie seinen Zorn laut hinaus. „Ich bin der Wind! Ich bin der Sturm! Ich lasse mich nicht zu Boden reißen! Der Wind gehört hoch in den Himmel, nicht in die Tiefe!“

Sein Blick schnellte zu Drigers Leichnam. Die Lider die sich über dessen Augen gelegt hatten. Auf den Mund mit den Reißzähnen der für immer verstummt war.

„Du bist selbst schuld!“, brüllte er dem leblosen Körper entgegen. „Ich wollte es niemals soweit kommen lassen! Du hast mich dazu getrieben! Hörst du mich?!“

Kein Mucks kam von ihm.

Da war nichts mehr da.

„Du blöder Hornochse! Hättest du dich bloß nicht so angestellt! Wie konntest du so dumm sein und deine Existenz für sie aufs Spiel setzen?!“

Stille. Nichts weiter…

„Glaubst du ich wollte das?! Nur wegen einer kleinen Unterklasse Hexe? Was hat es dir gebracht? Das hast du dir selbst zuzuschreiben! Da liegst du nun! Du liegst da und bist…“

Er hielt inne. Etwas wollte den letzten Teil nicht aussprechen.

Es wäre dann endgültig. Fassungslos über seine eigene Unfähigkeit diese Hürde zu überwinden, fuhr er sich stöhnend über das Gesicht – und spürte etwas Feuchtes auf seiner Wange.

Er blickte irritiert auf den zurückgebliebenen nassen Film auf seiner Hand, zerrieb ihn zwischen seinen Fingerkuppen. Dann blinzelte Dragoon hinauf in den Himmel und fragte sich, ob es zu regnen begann.
 

ENDE KAPITEL 33
 

„Mademoiselle, ist ihnen aufgefallen das sie uns noch immer verfolgt?“

Galux nickte nachdenklich. Bei diesen Worten drehte sich Tyson vorsichtig um. Er hielt Kai auf dem Arm, denn das Kind war im Angesicht der vielen Geister, nur noch am Zittern. Für ein so junges Gemüt, war diese Situation einfach zu viel. Er tätschelte ihm mitfühlend über den Rücken, was Kai damit quittierte, dass er seinen Kopf beschämt in seiner Halsbeuge vergrub und die Augen schloss, um den Anblick um ihn herum nicht ertragen zu müssen. In solchen Momenten fiel es Tyson schwer, ihn sich noch als Erwachsen vorzustellen, denn diesen Verhalten passte wirklich zu seinem Aussehen – ein Kind was die Augen zukniff, um das Grauen nicht zusehen. Als die Gruppe inzwischen hinter sich spähte, erhaschten sie tatsächlich die gesichtslose Geistergestalt dort. In einem weiten Abstand flackerte sie vor sich her. Allegro hatte vermutet, dass sie ohne Augen bald vom Weg stürzen würde, doch seltsamerweise schritt sie äußerst souverän voran, als sei sie gar nicht blind. Bisher konnten sie sie auch nicht abschütteln, stattdessen folgte sie ihnen, mit ihrem fließenden Kleid, das ebenso wie der Körper, in einem sanften Licht getaucht war.

„Ist sie eine Verdammte?“

„Ich bin mir nicht so sicher. Auch unter den Geistern gibt es viele Unterschiede und nicht alle sind mir geläufig. Um ehrlich zu sein, ist mir dieses Geschöpf ein Rätsel. “, sprach Galux langsam, als würde sie ihre Wortwahl sorgfältig abwägen. Sie wandte den Kopf zu dem Gespenst und beäugte es argwöhnisch. „Sie schreitet viel zu sicher, als würde sie von einer inneren Intuition geleitet werden, selbst ohne ein Gesicht. So etwas habe ich auch noch nie erblickt.“

„Sie hat Ming-Ming abgeschüttelt.“

„Nein. Sie hat sie besänftigt. Das ist etwas weitaus mächtigeres. Dieses Mädchen war erst vor kurzem verstorben und mit der Situation überfordert. Vielen Menschen ergeht das so, vor allem wenn ihr Tod zu plötzlich kam. Die ersten Tage hier unten, irren sie über die Wurzeln, ohne zu wissen, was sie mit sich anfangen sollen. Manche fürchten sich sogar vor ihren Leidensgenossen, weil sie nicht begreifen, dass sie selbst, auch bereits zu ihnen gehören. Durch ihre sanfte Art, hat dieser Geist das Mädchen aber getröstet. Womöglich hat sie ihr Schicksal nun akzeptiert und sich auf den Weg zu ihrem Jenseits gemacht…“

Galux hielt einen Moment inne und blickte zurück. Die gesichtslose Gestalt blieb ebenfalls stehen, als würde sie einen Sicherheitsabstand zu ihnen halten wollen. Eine Hand lag auf ihrer Brust und offenbar schien sie jeden von ihnen genau zu beobachten, auch ohne Augen – bis sich ihre Finger erhoben. Tyson sah Max neben sich den Gruß unsicher erwidern, bis Ray ihm mit den Ellbogen einen Stups gegen die Rippe verpasste.

„Du musst nicht mit allem flirten was dir unter die Augen kommt!“

„Mache ich doch gar nicht.“, maulte er beleidigt. Max zuckte mit den Schultern und murmelte vor sich her, dass er nur nett sein wolle, dabei grub er die Hände schmollend in die Taschen seines Overalls.

„Ich weiß mir nicht zu helfen, doch dieser Geist kommt mir keinesfalls verwirrt vor. Es scheint viel Verstand in ihr zu stecken.“, sprach Galux ernst. „Zumal sie in einem anderen Licht leuchtet. Der Glanz in jenem sie strahlt, ist jener der Seelen, die kurz davor standen, sich von allem irdischen abzukapseln. Sie muss bereits auf dem Weg in ihr Jenseits gewesen sein… Bis sie etwas davon abgehalten hat.“

„Womöglich ist es ein Hinterhalt.“, Allegro verschränkte auf Rays Schulter die Ärmchen vor der Brust und legte den Kopf argwöhnisch auf die Seite. „Sie könnte uns etwas vorgaukeln, um dann zuzuschlagen, sobald wir Vertrauen zu ihr fassen.“

„Womöglich…“, kam Galuxs Antwort. Ihre Augen wurden zu Schlitzen. Die Seele faltete sittsam die Hände vor sich und blickte schweigend in ihre Richtung.

„Ich mag sie.“, gestand Kai leise ein. „Sie ist nicht so böse wie die Anderen.“

Es ließ ein belustigtes Schmunzeln die Runde machen.

„Dennoch müssen wir vorsichtig bleiben.“, ermahnte Mariahs Bit Beast die Gruppe streng. „Lasst uns weitergehen. Sollte sie weiterhin nicht von uns ablassen, werde ich sie uns zur Not, mit Gewalt vom Halse schaffen.“

Tyson nickte und wandte dem Gespenst den Rücken zu. Es passte ihm ganz und gar nicht, sie hinter sich zu wissen. Dennoch wurde auch er das Gefühl nicht los, dass diese Seele anders gestrickt war. Als sie weiterschritten, bemerkte er, dass sie tatsächlich immer dann anhielt, sobald sie drohte, ihnen zu nahe zu treten. Es trennten sie stets mehrere Meter, als wäre es nicht ihre Absicht, die Gruppe mit ihrer Anwesenheit zu verängstigen. Irgendwann gesellte sich plötzlich ein weiterer Geist zu ihr. Dieses Mal allerdings wieder im fahlen grauen Licht. Sofort fühlte Tyson, wie Kai sich auf seinen Armen verkrampfte, doch da ging die gesichtslose Seele auch schon dazwischen, um ihren jammernden Leidensgenossen von einer Verfolgung abzubringen. Galux hielt es daher nicht für nötig einzuschreiten. Es nahm so viel Zeit in Anspruch, dass die beiden Geister, irgendwann aus ihrem Sichtfeld verschwanden und von der Dunkelheit hinter ihnen verschluckt wurden.

„Na also.“, sprach Allegro anerkennend und nickte. „Wir sind sie los.“

„Wo sie herkommt gibt es genug andere.“

„Aber Mademoiselle… Ich muss doch bitten! Woher dieser düstere Pessimismus?“

„Ich kann erst sicher sein, meine Pflicht erfüllt zu haben, wenn wir die Jungen wieder hinaus geführt haben.“, seufzte Galux. Sie kam Tyson etwas betrübt vor. Womöglich dachte sie an Driger, der sich so aufopferungsvoll für sie einsetzte. Es hätte ihn auch brennend interessiert, ob der Kampf noch immer zwischen den beiden Uralten anhielt. Dabei wurde ihm bewusst, dass er sich eines Versäumnisses schuldig gemacht hatte.

„Bei all den Turbulenzen, konnte ich dir noch gar nicht für deine Hilfe danken.“

„Für Danksagungen ist es noch verfrüht.“

„Ich finde nicht. Allein deine Unterstützung ist mehr als wir erwartet haben. Seit wir hier sind, habe ich den Glauben an Bit Beasts verloren, aber euer beider Rückgrat gibt ihn mir doch irgendwie wieder zurück.“

Ray und Max schauten stillschweigend auf den Weg.

Es war wohl eine Sache die auch ihnen durch den Kopf ging.

„Du gehst hart mit euren Bit Beasts ins Gericht.“

„Wundert dich das?“

„Ja. Denn gerade weil Dragoon mit dir so erbarmungslos gegen dich vorgeht, hätte ich angenommen, dass du dich mit vorschnellen Unterstellungen zügelst.“

Tyson hielt wie vom Donner gerührt inne.

„Was soll das heißen?“

Auch Galux blieb nun stehen. Ihre saphirgrünen Pupillen musterten ihn wissend.

„Es gibt einen Grund, weshalb eure Bit Beasts euch ausgesucht haben. Das waren genau jene Worte, die du Driger gesagt hast, als du ihn davon überzeugt hast, Ray zu euren Gunsten, von seinem Fluch zu befreien.“

Irritiert blinzelte Tyson sie an.

„Ich verstehe nicht worauf du hinaus willst…“

„Ich schon.“, zischte Max - überraschend abfällig.

„Sie will damit sagen, dass wir unseren Bit Beasts ähnlich sind. Sowohl in ihren guten, als auch in ihren negativen Seiten.“

Er taxierte Galux anklagend.

„Und weißt du was? Ich halte das für absoluten Mist, also lass von solchen üblen Vergleichen ab! Ich bin keineswegs wie Draciel! Mir würde niemals in den Sinn kommen, jemand anderes Mutter zu töten, nur um mich zu rächen.“

„Draciel hat lediglich auf Dragoons Anweisung gehandelt. Es tritt kaum von alleine in Aktion.“

„Das ist keine Entschuldigung!“

„Aber so ist Wasser nun einmal. Es folgt jenen Bahnen, die sich ihm ergeben. Dragoon hat nichts anderes getan, als den Flusslauf zu ändern und Draciel hat jene Richtung eingeschlagen, die sich auftat.“

„Ein äußerst poetischer Vergleich.“, sinnierte Allegro.

„Ihr wollt blödsinnige Vergleiche? Na was ist dann mit einem Tsunami?“, fragte Max ziemlich giftig. „Da ist Wasser auf einmal nicht mehr so teilnahmslos, nicht wahr?“

„Durchaus nicht… Doch ist ein Tsunami eine Ursache, oder nur eine Folgeerscheinung?“

Einen Moment wurde es ruhig. Tyson versuchte zu verstehen, was Galux ihnen mitteilen wollte. Er dachte an die letzte Dokumentation, die er nach der vergangenen Tsunamikatastrophe verfolgt hatte. Demnach entstanden diese Monsterwellen erst, in Folge einer Erschütterung, wie beispielsweise einem Erdbeben. Also war es eigentlich nur eine Folgeerscheinung. Er spann den Gedanken weiter und tatsächlich - da waren Parallelen.

Wenn ein Bit Beast wirklich sein Element verkörperte, handelte es dann vielleicht auch dementsprechend?

Er blickte zu Max. Wenn ihre Bit Beasts ihnen tatsächlich ähnelten…

Es ließ sich nicht abstreiten, dass auch er sich gerne mit Vorliebe, von ihrer Gruppe mitreißen ließ. Max war kein wirkliches Alphatier. Vielmehr ließ er die anderen die Entscheidungen fällen und fügte sich der breiten Masse. Deshalb verbrachte Tyson auch so gerne Zeit mit ihm. Es war ziemlich einfach ihn für etwas zu begeistern. Wie eine Welle die vom Wind aufgepeitscht wird…

Als ihm klar wurde, welche Rolle er dabei spielte, musste er schlucken.

„Heißt das, dass der Charakter eines Uralten, sich aus seinem Element ergibt?“, stellte Ray jene Frage, die auch ihm durch den Sinn ging. Das Bit Beast seufzte.

„Das euch das nicht schon früher klar war… Ward ihr all die Jahre tatsächlich so blind?“

Etwas ratlos schüttelte er darauf den Kopf.

„Natürlich haben wir uns gedacht, dass unsere Bit Beast etwas mit den Elementen zu tun haben. Aber wir haben nicht gewusst, dass sie dieses Element so stark verkörpern – mir zumindest war das nicht so klar. Ich konnte ja nie wirklich mit Driger sprechen. Eine richtige Unterhaltung, von Angesicht zu Angesicht, hatte ich erst hier mit ihm.“

„Sie verkörpern ein Element nicht nur. Sie sind dieses Element. Mit Haut und Haaren. Durch ihre Venen fließt kein Blut, sondern Erde, Feuer, Wasser oder Luft.“

Galux blickte in die Runde.

„Es ist doch eigentlich recht simpel. Wenn ihr den Elementen einen Charakter zuschreiben müsstet, welcher wäre das? Findet das heraus und ihr werdet viel über euch selbst lernen. Denn eines muss euch klar sein – selbst wenn euch diese Wahrheit noch so sehr missfällt – ihr seid jene Geschöpfte, die den Uralten am ähnlichsten sind. Deshalb haben sie euch ausgesucht. Deshalb wurdet gerade ihr Vier ihre Menschenkinder! Ich kann verstehen, wie ein Bit Beast in jenem Moment fühlt. Als ich meine Mao fand… da war es für mich, als würde ich in einen Spiegel blicken, der mir meine eigene Seele offenbart.“

Es wurde schlagartig ruhig, denn niemanden von ihnen ließ diese Überlegung los. Selbstverständlich hatte Tyson geahnt, dass Dragoon etwas mit dem Wind zu tun hatte, doch daraus Schlüsse auf dessen Charakter zu ziehen - dieser Gedanke war ihm noch nie gekommen. Er sinnierte darüber, wie er den Wind beschreiben würde.

Stürmisch, aufbrausend, wild, nicht zu bändigen, einfach unkontrollierbar.

Weit oben im Himmel und unnachgiebig gegen alles, was sich unter ihm befand. Störrisch pfiff er um die Bergspitzen, als wollte er sie zum Einsturz bringen, auch wenn dieses Unterfangen noch so zwecklos war und wenn er sich erst zu einer tosenden Windhose aufbäumte, ließ er einen mit Schrecken erkennen, wie winzig der Mensch im Angesicht seiner Kraft war. Tyson biss sich auf die Unterlippe bei diesem Gedanken.

Es gab so viele negative Charakterzüge, dass es ihm merkwürdig vorkam, weshalb ihm das nicht schon eher in den Sinn gekommen war. Dragoon verhielt sich tatsächlich nur seinem Element entsprechend. Was ihn aber noch mehr missfiel, war, dass tatsächlich ein gewisser Wahrheitsgehalt in Galuxs Worten lag, was ihn selbst betraf. Allein in seiner Kindheit, hatte Hitoshi geradezu verzweifelt auf Tysons eigensinnige Art reagiert. Er sah seinen Bruder vor sich, wie er ihn, nach einer erneuten Prügelei in der Vorschule, abholte und streng mit den Worten bedachte:

„Du bist viel zu aufbrausend! Lern endlich mehr Geduld zu haben. Ich kann nicht ständig Ausflüchte für deine große Klappe beim Direktor suchen. Hast du eine Ahnung wie anstrengend du bist?“

Hiro war wirklich verzweifelt gewesen, weil es nicht die erste und auch nicht die letzte Auseinandersetzung dieser Art war. Zudem musste er die Rolle ihres Vaters übernehmen, obwohl er doch selbst noch ein halber Junge war. Nach dem Tod ihrer Mutter, hatte der sich nämlich komplett in seine Ausgrabungen gestürzt – offensichtlich ein Versuch der trostlosen Stimmung im Haus zu entkommen. Sein Bruder hatte sich damals besorgt zu ihm herabgebeugt.

„Ich weiß doch dass du im Grunde ein lieber Junge bist. Du hast das Herz wirklich am rechten Fleck. Aber wenn du so aus der Haut fährst, machst du es den Leuten schwer, mehr in dir zu sehen, als eine vorlaute, bockige Rotznase. Jetzt haben die Menschen um dich herum noch Mitleid mit dir, weil Mutter gestorben ist, aber bald wird dein Welpenschutz vorbei sein - und ihre Nachsichtigkeit wird dann in Ärger umschlagen!“

Hiro hatte seine Hände auf seine Schultern gelegt und seinen kleinen Bruder eindringlich gemustert.

„Du musst geduldiger werden – und vor allem ruhiger. Deine stürmische Art wird dir sonst zum Verhängnis.“

Er war kein einfaches Kind gewesen…

Tyson wusste noch, dass er trotz der gutgemeinten Worte, voller Zorn gedacht hatte, dass der andere Junge die Trachtprügel doch verdient habe. Am nächsten Tag geriet er wieder mit ihm aneinander und sein Großvater legte ihn dafür übers Knie, weil er seine Faxen einfach satt hatte. Erst dann lernte Tyson seine Lektion. Bei diesem Gedanken zog er nachdenklich die Brauen herab. Auch seine Freunde bemängelten ständig seine Ungeduld, seine trotzige Haltung und wie schnell er manchmal aufbrausen konnte. Diese Parallelen zu Dragoon, machten ihm irgendwie Angst. Schlagartig fragte er sich, ob tief in seinem Inneren, ebenfalls ein solches Monster versteckt lag.

Er musste hart Schlucken, als ihm seine dritte Weltmeisterschaft in den Sinn kam. Daichi hatte damals gemeint, dass er sich wie ein kleiner Tyrann aufführte. Er erinnerte sich wieder, wie sehr ihn der Ausstieg seiner Freunde gekränkt hatte, wie er mit Vorwürfen geradezu um sich schlug – so wie Dragoon momentan. Damals hatte er auch alles daran gesetzt, seine ehemaligen Teamkameraden in die Schranken zu weisen, weil Tyson sich in seinem Stolz verletzt sah. In seiner blinden Wut, hatte er seinen Partner bis ans äußerste zur Höchstleistung drangsaliert und ständig in Daichi die Schuld, für sein eigenes Versagen gesucht. Genau wie Dragoon es jetzt tat!

Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Er schloss einen Moment gequält die Augen und atmete schwer aus. Ihn beschlich das Gefühl, mit jeder Sekunde in dieser Welt, einen neuen Eindruck von sich selbst zu gewinnen. Eine versteckte Seite, die tief unter der Oberfläche lauerte und nun zutage befördert wurde. Erst wurde ihm klar, wie unnatürlich weit seine Gefühle zu Kai reichten, nun auch noch, wie ähnlich er seinem Bit Beast im Grunde seiner Seele war. Mit beidem wusste er nicht so recht umzugehen und einmal mehr fragte er sich, wie es weitergehen sollte, wenn sie jemals aus der Irrlichterwelt herausfanden. War Dragoon wirklich sein Spiegelbild?

Mit den Jahren war er doch reifer geworden… Oder etwa nicht?

„Ich will das nicht hören!“, sprach Max inzwischen aufgebracht. Es ließ Tysons Blick zu ihm schnellen, denn diesen herrischen Ton kannte er kaum von ihm. „Mein Bit Beast hätte wissen müssen, dass man niemanden willkürlich ermordet! Mit Draciel lasse ich mich ganz bestimmt nicht auf eine Stufe stellen. Keiner kann mir nachsagen, dass ich Richtig von Falsch nicht unterscheiden kann!“

„Und doch sehe ich sehr viel Wasser in deiner Seele.“, entgegnete Galux nur ruhig. „Selbst jetzt, wo du dich so sehr dagegen sträubst, ähnelst du dem Meer. Deine Oberfläche mag klar und ruhig sein, doch in deinen Tiefen brodelt es, als würde dort ein unterseeischer Vulkan, die Wassermassen zum Kochen bringen.“

Bei diesen Worten trafen Max viele besorgte Blicke. Er trug den Tod seiner Mutter tatsächlich mit Fassung, doch wahrscheinlich nur, um ihnen in ihrer jetzigen Situation, nicht auch noch diesen Ballast aufzubürden. Er fügte sich der Gruppe zuliebe in sein Schicksal. Wie es unter dieser Fassade wirklich aussah, mochte keiner von ihnen sagen. Tyson beobachtete, wie mitleidig Ray ihn bedachte, bis Max mit einem verbissen Ausdruck den Kopf abwandte.

„Ich bin nicht wie Draciel…“, stellte er erneut klar. Allerdings klang es eher, als müsste er sich selbst davon überzeugen. Tyson sah einen verräterisch Glanz in seinen Augen schimmern. „Lasst uns endlich weitergehen. Ich will einfach nur noch nachhause.“

„Max…“

„Hör auf Ray! Ich will nicht darüber reden.“, er drehte sich von ihnen weg. Tyson beschlich das Gefühl, dass er seine Tränen verbergen wollte. „Wo geht es lang?“

„Ich nehme an in diese Richtung, oder täusche ich mich Mademoiselle?“, Allegro deutete von Rays Schulter aus, auf die vor ihnen liegenden Abzweigung. Galux nickte auf seine Worte, da kam in Max auch schon Bewegung. Es war ziemlich unvorsichtig von ihm, die Vorhut zu bilden, wo er sich nicht gegen die Geister wehren konnte. Das musste auch Ray durch den Kopf gehen, denn er eilte ihm sofort hinterher, um nicht den Anschluss zu ihm zu verlieren. Auch Tyson schritt wieder voran, dennoch blieb er etwas zurück und sprach vorwurfsvoll an Galux gewandt: „Du hättest nicht in dieser Wunde bohren müssen.“

„Die Wahrheit kann schmerzvoll sein.“

„Er trauert aber noch! Da ist es grausam einen solchen Vergleich aufzustellen. Du stellst ihn damit auf dieselbe Stufe wie mit dem Mörder seiner Mutter.“

„Das habe ich nicht behauptet. Ich möchte lediglich, dass er weiß, dass ihre Wesen im Grunde nicht allzu verschieden sind.“

„Momentan ist das aber keine Hilfe.“

„Das er seinen Kummer zurückhält ist besser?“

Da war sich Tyson hingegen nicht so sicher. Er schaute nachdenklich auf die beiden Gestalten vor ihnen. Ray versuchte mehrmals ein Gespräch mit Max zu beginnen, doch er sah ihn nur unwirsch den Kopf schütteln, bis er wütend zischte, dass er nicht darüber reden wolle. Es tat weh ihm nicht helfen zu können. In einer anderen Situation hätte Tyson alles dafür getan, um Max von seiner Trauer abzulenken, doch hier unten, hatten einfach andere Dinge Vorrang.

„Irgendwann wird sein Damm brechen.“, prophezeite Galux düster. „Wir können nur hoffen, dass es nicht zu einem ungünstigen Zeitpunkt geschieht. Denn dann werden seine Wassermassen alles vernichten, was sich nicht vor ihm retten kann.“

Damit schien für sie das Thema beendet. Sie tippelte wieder voraus, zwischen den beiden Menschen hindurch, um die Vorhut zu bilden. Einen Moment ließ sich Tyson diese Worte durch den Kopf gehen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ausgerechnet Max eine Bedrohung darstellen könnte. Dazu war er einfach zu friedliebend. Selten brach aus ihm ein böses Wort hervor.

Womöglich dachte Galux auch einfach zu schwarz...

„Warum ist Max so traurig?“, riss ihn Kais Frage aus seinen Gedanken. Tyson blickte auf das Kind in seinen Armen, das ihn verunsichert anblinzelte.

„Erinnerst du dich an das blasse Katzenkind?“, stellte Tyson die Gegenfrage. Kai nickte.

„Weißt du noch was sein Wolf ihm angetan hat?“

„Er hat ihm seine Katzenmama weggenommen.“

„Genau… und deshalb ist Max so traurig.“

Kais Oberkörper drehte sich zu den Gestalten vor ihnen.

Er sah die großen Kinderaugen ihren Freund eingehend mustern.

„Armes Katzenkind…“, flüsterte er mitleidig. Es ließ Tyson lächeln. Dieser Junge war purer Zucker. Jedoch kam ihm einmal mehr die Frage in den Sinn, wie dieses Kind nur zu einem so verschlossenen Erwachsenen heranreifen konnte. Er überlegte, ob Dranzer und Kai sich auch ähnlich waren. Zunächst sah er keinerlei Parallelen, bis ihm klar wurde, dass er das ganze vielleicht aus einem falschen Blickwinkel betrachtete. Vielleicht sollte er sich nicht auf Dranzer konzentrieren, sondern auf ihr Element, denn eigentlich wusste er kaum etwas über sie, um daraus Schlüsse auf ihr Wesen zu ziehen - zumindest keine guten Schlüsse. Tyson schaute nachdenklich drein. Er versuchte das Element Feuer zu charakterisieren.

Warm, leidenschaftlich, temperamentvoll…

Er mochte Kai zwar, doch das waren nicht wirklich Eigenschaften, die auf ihn besonders zutrafen. Nur spärlich kam sein Temperament durch und das obwohl Tyson sicher war, dass er wirklich mehr davon besaß, als er durchsickern ließ. Dazu war Kai aber viel zu sehr darauf aus, seine Haltung zu wahren - jedenfalls sein erwachsenes Abbild.

Obwohl…

Wenn Tyson darüber nachdachte, konnte Kai richtig schön aufleben, wenn man nur etwas hartnäckiger bohrte. Etwas verschmitzt dachte er an all die Male, in jenen er ihn absichtlich zur Weißglut trieb. Es war mit den Jahren zu seinem persönlichen Spiel geworden, weil es ihm gefiel, wenn er ihn aus der Reserve lockte. Tyson musste nur etwas aufdringlich werden, dann fühlte Kai sich schon auf den Schlips getreten. Allein wie seine Augen ihn dann anfunkelten. Sie wurden dann richtig stechend und mit einer diebischen Schadenfreude, hatte er dann beobachtet, wie seine Lippen sich trotzig verzogen.

Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

Feuer musste entfacht werden! Und er hatte das all die Jahre mit Vorliebe gemacht, wie Luft, die der Glut mit einem Fächer hinzugeführt wurde. Er konnte gar nicht mehr an einer Hand abzählen, wie oft er diesen ähnlichen Vorwurf von Kenny zu hören bekam.

„Du spielst mit dem Feuer! Bist du lebensmüde?! Warum machst du das?“, wollte der einmal von Tyson wissen, als Kai sich nach einer seiner Sticheleien zähneknirschend von ihnen abwandte. Er hatte darauf nur grinsend mit den Schultern gezuckt und geantwortet: „Na weil es Spaß macht!“

Kurz nach dieser Überlegung, biss sich Tyson auf die Unterlippe. Vielleicht war er tatsächlich ein wenig wie Dragoon. Der ging scheinbar auch keiner Konfrontation aus dem Weg. Langsam wurde ihm auch klar, dass Feuer doch sehr treffend für Kais Charakter sein könnte.

Womöglich verhalf ihm diese Tatsache ihn besser zu verstehen.

Vor seinem inneren Auge, stellte er sich die kleine Flamme einer Kerze vor, die wohlig warm in der Finsternis flackerte. Da stutze er auch schon. Kai besaß eine Begabung dafür, Licht ins Dunkel zu bringen. Während ihrer Zeit in einem Team, hatte Tyson nicht selten darüber gestaunt, wie schnell er die Antworten zu Problemen fand, die ihnen allen Kopfzerbrechen bereiteten. Er war äußerst scharfsinnig, ein Grund, weshalb er es wohl in seiner Karriere so weit gebracht hatte. Derlei Vorfälle wurden auch nach ihrer Zeit als Blader nicht weniger.

Tyson begann den Gedanken weiter zu spinnen.

Feuer konnte bedrohlich sein. Kai war verdammt gefährlich als Rivale.

Das hatte er mehr als einmal zu spüren bekommen. Man mochte in der Arena noch so sehr aufpassen, aber ein unachtsamer Moment und man verbrannte sich an ihm die Finger. Wie eine heimtückische Stichflamme, die etwas in Brand steckte und ohne Rücksicht auf Verluste zerfraß. Als Kai nach der dritten Weltmeisterschaft, einfach so in die BEGA eintrat, war Tyson fassungslos über dessen Skrupellosigkeit gewesen. Er hatte nicht begriffen, wie er ihre Kameradschaft mit den Füßen treten konnte. Das ihm sein brennender Ehrgeiz wichtiger war, als das Band zu seinem Team. Er zog die Brauen nachdenklich zusammen. Das alles…

Es passte wie die Faust aufs Auge! Hätte ihm das jemand eher erklärt, das kleine Rätsel, was jetzt so arglos in seinen Armen saß, wäre schon eher entschlüsselt worden. Er schielte zu dem Kind, was die finstere Umgebung um sie herum, inzwischen argwöhnisch beobachtete. Momentan war Kai nur eine kleine Flamme, die während eines Sturmes zu erloschen drohte, doch wenn die Gruppe ihre Hände schützend um ihn legte, flackerte sein Licht wieder ruhiger.

Erneut stellte er sich die Kerze vor. Ihre Flamme mochte hell sein und einem ein sicheres Gefühl vermitteln, doch man konnte sich ihr nie gänzlich nähern, auch wenn sie noch so anziehend wirkte. Eine sichere Distanz musste gewahrt bleiben.

Kai duldete ebenfalls keine Nähe.

Als ob er sich davor fürchtete erstickt zu werden.

Tyson atmete schwer aus, als ihn diese Eingebung traf, wenngleich ihn die Erkenntnis auch furchtbar traurig stimmte. Es bedeutete doch eigentlich nur, dass er niemals gänzlich an Kai herankommen könnte, auch wenn er sich noch so sehr bemühte. Er würde nie wirklich greifbar werden, denn Feuer konnte man nicht anfassen, lediglich aus der Ferne bewundern – so wie die Sonne.

Er blieb unantastbar…

Bei diesem Gedanken tat sein Herz einen unliebsamen Aussetzer. Seine Reaktion entsetzte ihn, denn wenn diese Vorstellung ihn schon so schmerzte, konnte er kaum noch leugnen, wie tief seine Zuneigung für Kai bereits ging. Tyson hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte, wenn er wieder nachhause kam. Wie sollte er sich ihm gegenüber verhalten?

Er war noch nie gut darin seine Gefühle zu unterdrücken.

Einen egoistischen Moment, formte sich der Wunsch in seinem Kopf, Kai möge seine Erinnerungen nie mehr zurückerlangen. Er wäre dann bestimmt nicht so von seinem Stolz zerfressen. Womöglich würde er so zutraulich bleiben, wie dieser wunderbare kleine Junge in seinen Armen – und Tyson besäße eine reelle Chance. Er drückte das Kind unbewusst fester, da riss ihn gerade dessen Stimme aus seinen Befürchtungen.

„Jetzt schaust du auch traurig.“

Er blickte auf ein besorgtes Augenpaar herab. Sie blinzelten ihn voller Unwissenheit an. Ohne zu ahnen, dass sie der eigentliche Grund waren, weshalb seine gesamte Gefühlswelt, aus den gewohnten Bahnen sprang.

„Tue ich das?“, er lächelte Kai an, um über sein aufwühlendes Innenleben hinwegzutäuschen. Ein leises Nicken war die Antwort. Der Kleine ließ sich nicht beirren.

„Ja… Ganz traurig. Geht es dir nicht gut?“

„Es ist alles in Ordnung.“

„Lügst du?“, fragte das Kind geradezu arglos. Tyson seufzte leise.

Kais Intuition war offensichtlich noch da.

„Ich musste nur an etwas denken.“

„An was?“

„Das der graue Kater wohl nie richtig zahm wird.“

„Warum?“

„Weil es einfach seine Art ist. Er ist wie Feuer. Du kannst ihm niemals wirklich nahe kommen.“, er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme dabei etwas enttäuscht klang. „Wahrscheinlich wird er auch niemals dem blauen Kater richtig vertrauen. Weil er keinen an sich heranlässt…“

Kai blickte ihn lange an, total konfus ob dieser Wortwahl. Offensichtlich war dieser Vergleich zu komplex für seinen kindlichen Verstand, bis er unsicher die Arme um seinen Nacken schlang und den Kopf auf seine Schulter legte.

„Aber Tyson… Ich bin doch hier.“, nuschelte er gegen seine Halsbeuge. Es ließ ihn verdutzt blinzeln. Kais Ärmchen drückten ihn fest an sich, als wollte er ihn mit aller Macht vom Gegenteil überzeugen. „Ich will doch gar nicht weg von dir.“

Es klang geradezu vorwurfsvoll. Als wäre Kai beleidigt, weil er ihm so etwas überhaupt unterstellte. Einen Moment blickte Tyson hilflos zu seinen Freunden. Noch immer versuchte Ray, Max in ein Gespräch zu verwickeln.

„Ja. Jetzt vielleicht noch.“, antwortete er beklommen. Er besaß erhebliche Zweifel daran, dass ihre innige Beziehung noch lange anhielt. Sobald Kai erwachsen wurde, rechnete er damit, dass der ihn wieder mit kalter Gleichgültigkeit strafte. Die Vorstellung machte ihn fertig, weil er nicht wusste, ob er einfach so weitermachen könnte, wie vorher.

„Nein.“, schüttelte das Kind jedoch trotzig den Kopf. „Niemals! Ich mag den blauen Kater. Er ist mein bester Freund. Ich will immer bei ihm bleiben.“

„Schon gut. Ich glaube dir ja.“, sprach Tyson. Obwohl er es nicht tat. Kai klang jedoch wie ein Junge, der sich fest vornahm, Feuerwehrmann zu werden, sobald er einmal groß wurde. Es ließ Tyson seufzen. Er würde seinen kleinen grauen Kater wirklich sehr vermissen.

„Monsieur, du solltest da hinten wirklich aufholen!“, schreckte ihn Allegros Stimme auf einmal aus den Gedanken. „Sie ist wieder da.“

Als er hinter seinen Rücken spähte, war dort erneut eine fließende Lichtgestalt, die ihnen im sicheren Abstand folgte.
 


 

*
 

„Mir fallen gleich die Beine ab.“, meckerte Kenny. Er trat auf der Stelle um sich zu wärmen, und seiner Begleiterin, die gerade mit ihrem Notizblock aus einer Tankstelle kam, seine Verdrießlichkeit klar zu machen. „Außerdem ist mir kalt! Hätte ich geahnt das wir das Auto stehen lassen, hätte ich aus dem Keller noch meine Winterjacke herausgekramt.“

„Mir ist auch kalt.“, konterte Hana gleichgültig. „Es ist aber jetzt wie es ist.“

„Hast du wenigstens etwas erfahren?“

„Also da drinnen hatte ich endlich Glück.“, sprach sie mit einem siegessicheren Lächeln. „Der Besitzer hat sich an die beiden erinnert, weil das Mädchen beinahe in die Einfahrt gerannt wäre, obwohl gerade ein Auto dort hinein wollte. Der Fahrer hat eine Vollbremsung hingelegt und der Großvater das Mädchen von dort weggezogen, bevor etwas passieren konnte. Sie sind die Straße hinunter und haben an der Hauptstraße, an der Fußgängerampel dort drüben, die Seiten gewechselt. “

Sie deutete in die besagte Richtung.

„Meine Fresse.“, schnalzte Kenny irritiert mit der Zunge. „Was ist mit den beiden? Wir haben allein eine Stunde für die Strecke gebraucht. Wozu legen sie diesen Marathon zurück?“

„Das werden wir sie selbst fragen müssen.“, antwortete Hana ihm ebenso ratlos. „Ich kann mir daraus selbst keinen Reim machen. Dieser Weg führt weder zum Kinomiya Anwesen, noch zu den Hiwataris. Keiner von beiden wollte also nachhause.“

„Ich friere wie verrückt und meine Schuhe sind nicht wasserdicht. Wenn wir durch den Schnee stampfen, kommt ständig Wasser durch. Ich fühle mich, als würde ich in nassen Schwämmen laufen! Wie lange willst du dich eigentlich noch durchfragen?“

„Drei Mal darfst du raten...“

Diese Frau war unglaublich stur. Insgeheim fragte sich Kenny, wie Hiro an diesen Hexenbesen geraten war. Eigentlich kannte er Tysons Bruder als ziemlich dominantes Alphatier, aber irgendwie beschlich ihn das Gefühl, dass sie bei ihrer Ehe, die Hosen anhaben würde. Falls die Hochzeit noch stattfand…

„Wann wollten Hiro und du eigentlich heiraten?“, rutschte ihm dabei die Frage gedankenlos heraus. Erst als Hana ihn ernst anschaute, merkte er, dass es eine klaffende Wunde war, an welche sie vielleicht gar nicht denken mochte. „Tut mir Leid.“

Sie seufzte auf seine Bemerkung und deutete in die nächste Biegung, die ihr der Besitzer geschildert hatte. Als sie antwortete klang sie ziemlich betrübt.

„Schon gut… Es hätte nächstes Jahr im Mai sein sollen.“

„Ehrlich? Tyson hat mir davon gar nichts erzählt.“

„Wahrscheinlich weil Hiro ständig ein Geheimnis aus allem macht. “

Das hörte sich sogar nach ihm an. Kenny hielt die Hände in den Hosentaschen versenkt und zog den Kopf enger an die Schultern, um sich vor dem kalten Wind zu schützen. Eine weiße Schneeschicht lag auf seiner, für seinen Geschmack, viel zu dünnen Übergangsjacke. Dabei ging ihm durch den Kopf, wie Schade es eigentlich war, was für ein angespanntes Verhältnis sich mit den Jahren, zwischen den beiden Brüdern aufgebaut hatte.

„Darf ich dich etwas Persönliches fragen?“

Er blinzelte Hana neugierig an. Es wunderte ihn, dass sie erst um Erlaubnis bat, wo sie sich bisher kein Blatt vor den Mund nahm.

„Öhm… Ja, klar.“

„Ist es möglich dass Tyson und Hiro nicht sonderlich gut miteinander auskommen?“

Kenny dachte lange nach bevor er antworte. Es war das Letzte was er wollte, in eine Familienfehde hineingezogen zu werden. Deshalb formulierte er seine Worte sehr bedacht.

„Ich weiß nicht so genau. Was ich mitbekommen habe, lässt zumindest darauf schließen.“

„Du hast also auch den Eindruck?“

„Naja, Tyson redet nicht viel über Hiro. Früher hat er zu seinem Bruder aber aufgesehen. Ich denke sie haben sich mit den Jahren ziemlich stark entfremdet.“, es war nur die halbe Wahrheit, denn so wie es für ihn aussah, blockte Hitoshi den Kontakt ab, sobald er beim Sender angefangen hatte. Einmal bekam Kenny mit, wie er seinem kleinen Bruder eine Standpauke hielt, weil Tyson sich nicht mehr in der Schule angestrengt hatte und nur eine Lehre als Automechaniker abbekam. Eigentlich wollte Kenny ihn an diesem Abend gerade abholen, weil sie zusammen ins Kino wollten, stattdessen platzte er mitten in ein Familiendrama hinein. Er wusste noch, wie Tyson seinen älteren Bruder geradezu erbost entgegenfauchte, dass nicht jeder so eine verdammt ehrgeizige Bulldogge sein konnte, wie er. Als sich dann auch noch Mr. Kinomiya, auf die Seite seines jüngsten Enkels schlug, hatte Hiro nur verächtlich geschnalzt.

„War ja klar dass du dich wieder auf die Seite unseres Nesthäkchens schlägst!“

Da war Tyson auch schon aus der Haut gefahren. Man konnte ihn beleidigen, aber niemals seinen Großvater. Er hatte seinem Bruder frei Schnauze vorgeworfen, nur beim Sender angefangen zu haben, weil er sich für etwas Besseres hielt.

„Du bist doch ein versnobter Großkotz! Es ist einfach lächerlich, wie du mit aller Macht versuchst, in die High Society aufzusteigen!“

„Ich bin dein älterer Bruder, also pass auf wie du mit mir sprichst!“, hatte Hiro seine Stellung in der Familie hervorgehoben. „Und so lange du dich mit einer billigen Lehre als Automechaniker zufrieden gibst, hast du kein Recht, mir den Mund zu verbieten!“

Dann war sein Blick strafend zu Mr. Kinomiya gewandert.

„Und du nimmst ihn auch noch ständig in Schutz! Verdammt, wie kannst du nur so nachlässig mit ihm sein?! Aus ihm wird nie etwas, wenn er sich auf seinen Lorbeeren ausruht!“

Tysons Großvater hatte nur düster gegrollt, dass sein jüngster Enkel, eben einen anderen Weg für sich suche und auch mehr Interesse daran besitze, den Dojo zu übernehmen, als Hitoshi, den er das letzte Mal im Trainingsraum gesehen habe, als er das Fenster dort drinnen schließen wollte. Hiro hatte gekontert, dass es wohl das Einzige sei, worauf Tyson irgendwann zurückreifen könne, immerhin wäre er zu beschäftigt damit, sich ein schönes Leben mit seinen Freunden zu machen, als mal an einer richtigen Karriere zu arbeiten.

„Wenn es dir nicht passt, dann verpiss dich doch einfach!“, hatte Tyson seinem älteren Bruder entgegengebrüllt. Kenny wusste noch, wie er den Atem bei diesem Satz angehalten hatte, aber es gab Dinge, die waren Tyson heilig. Niemand durfte ein Wort gegen seine Freunde richten!

Ihm ging dabei durch den Kopf, dass er sogar einmal einen Typen durch die halbe Stadt gejagt hatte, weil er Hilary, am helllichten Tag, ihr Smartphone aus der Hand riss und damit türmen wollte. Kenny war wie erstarrt stehen geblieben und hatte dem Dieb mit offenem Mund nachgeschaut.

Doch Tyson…

Der war dem Kerl ohne zu zögern hinterhergesprintet, um ihm eine handfeste Lektion zu verpassen. Obwohl Hilary glücklich war, dass sie ihr Smartphone zurückbekam, hatte sie dennoch fassungslos gemeint, dass Tyson so etwas nie wieder tun sollte.

„Er hätte gefährlich sein können!“

„War er aber nicht. Du hast doch gesehen wie das Weichei gewimmert hat.“

„Und wenn er eine Waffe hervorgezogen hätte?“

„Dann hätte ich ihm die Beine langezogen!“

„Oh man, Tyson! Das ist nicht witzig.“, sie hatte ihm tadelnd das Smartphone vor das Gesicht gehalten. „Davon kann ich mir immer ein neues kaufen. Die Dinger sind doch schon alt wenn du sie aus dem Laden trägst! Einen toten Freund kriegt man aber nicht zurück…“

Anstatt sie ernst zu nehmen, hatte Tyson aber nur gutgelaunt gelacht und ihr gesagt, sie solle das Ganze nicht so eng sehen, während Kenny noch immer wacklige Knie bekam, allein wenn er an diesen Vorfall zurückdachte. Wie gerne hätte er auch nur einen Fingerhut voll von Tysons Mut. Da holte ihn Hana aus seinen Selbstzweifeln zurück.

„Das ist wirklich schade. Ich habe selbst eine Schwester und könnte niemals ohne sie leben. Und die beiden schauen sich nicht einmal mit dem Hintern an. Männer sind echt verstockt, was ihre Gefühle zueinander angehen.“

Kenny biss sich auf die Lippen.

„Weißt du, ehrlich gesagt, hat Tyson lange Zeit versucht, den Kontakt zu Hiro aufrecht zu erhalten.“

„Aber?“

„Aber nichts! Es hat einfach nicht geklappt.“

„Du weißt doch mehr als du herauslässt.“

Kenny seufzte über diese Scharfsinnigkeit.

„Also, das ist jetzt nicht meine persönliche Meinung, aber Tyson kam es so vor, als würde Hiro sich für seine Familie schämen. Er wollte ihn ständig dazu drängen, in einen anderen Berufszweig einzusteigen. Weg von der Mechaniker Branche. Aber ein Bürojob… Naja. Wer Tyson kennt weiß, dass das nichts für ihn ist. Die ganze Zeit zwischen Schlipsträgern in einen Raum eingesperrt sein? Nicht mit ihm! Er gibt sich lieber mit weniger zufrieden, aber genießt dafür sein Leben und er ist gerne selbständig. Die Werkstatt war das Beste was ihm passieren konnte.“

Hana blickte nachdenklich zu Boden.

„Die beiden sind aber auch verschieden. Tyson ist ein fröhlicher Mensch, der gerne Spaß hat, sich mit seinen Freunden trifft und keine Gelegenheit auslässt, um auf den Putz zu hauen. Er macht sich nichts aus Regeln oder Zwängen. Das macht ihn fast schon unberechenbar, weil er mit Aktionen kommt, die einen total überrumpeln können. Einmal hat er mich mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt, weil er zwei Last-Minute-Tickets in die USA ergattert hat, um dort unseren Freund Max zu besuchen. Ich hatte zwanzig Minuten Zeit um meinen Koffer zu packen, da sind wir auch schon losgefahren, um unseren Flieger zu bekommen.“

Er sah Hana bei dieser Erzählung schmunzeln.

„Ich würde ihn als ziemlich sprunghaft bezeichnen. Dennoch ist er seinen Freunden gegenüber unglaublich loyal. Dagegen ist Hiro sehr ruhig und bestimmt. Er weiß was er will und war schon immer sehr zielsicher. Für kurze Zeit war er sogar unser Trainer. Hat er dir das erzählt?“

„Ja, das hat er. Er war sehr stolz darauf, dass sein Team, unter seiner Führung, den Weltmeistertitel geholt hat.“

„Er war auch zweifelsohne ein guter Trainer. Das kann ich neidlos zugeben.“, stimmte Kenny ihr zu. „Aber als er danach wieder zuhause wohnte, hat Tyson sich nur noch mit ihm in die Haare bekommen.“

„Warum?“

„Ich weiß nicht ob ich dir das erzählen sollte.“ sprach Kenny unwillig. „Ich kenne nicht beide Seiten und Tyson kann ein Sturkopf sein, wenn er wütend wird. Dann ist jeder Schuld, nur nicht er.“

„Hiro hat momentan genug andere Probleme. Du glaubst doch nicht tatsächlich, dass ich ihm das hier brühwarm erzähle?“

Er wiegte nachdenklich den Kopf hin und her.

„Naja. Tyson meinte einmal, Hitoshi würde sich selbst nach so vielen Jahren noch, wie sein Trainer aufspielen.“

„Tut er das?“

„Nach seiner Meinung schon.“

„Ich will aber deine Meinung hören.“

Hana blieb stehen und schaute ihn ernst an. Ihr Blick wurde richtig stechend. Da kam wohl die hartnäckige Journalistin in ihr durch.

„Ja. Tut er.“, brach die Antwort aus ihm heraus, noch bevor ihm klar wurde, was er da sagte. Panisch fügte er noch hinzu. „Aber was weiß ich schon? Ich kenne ihn kaum…“

„Ich glaube du kennst ihn sogar sehr gut. Sag mir was du von Hiro hältst.“

„Oh man, warum willst du das wissen?“

„Wenn du mir deinen Eindruck sagst, schildere ich dir meine Sicht der Dinge.“

Kenny stutzte über diese Bemerkung, bis er langsam einlenkte.

„Hiro kommandiert ihn wirklich ständig herum. Als Tyson seine Lehre als Automechaniker antrat, hat er ihn deshalb immer kritisiert.“

„Denkst du nicht, dass er einfach nur das Beste für seinen kleinen Bruder wollte, als eine schmuddelige Autowerkstatt?“

„Vielleicht. Aber was ist so schlimm daran, wenn man Automechaniker wird? Hiro hat sich beinahe aufgeführt, als würde Tyson auf den Strich gehen, um seinen Unterhalt zu verdienen. Und ganz ehrlich… er war manchmal monatelang nicht zuhause, hat während seinem Studium nie angerufen, um zu fragen, wie es der Familie geht, aber sobald Hiro einen Schritt über ihre Türschwelle gemacht hat, hat er sich aufgespielt, als wäre er das Familienoberhaupt. Das ging früher gut, als Tyson noch ein Teenager war, aber er ist jetzt selbst erwachsen! Da ist es doch nur logisch, dass er sich das nicht mehr gefallen lassen will. Vor allem von jemanden, der vielleicht mal jedes Quartal auftaucht. Es ist einfach schwierig, weil beide Brüder einen sehr starken Charakter haben…“

„Weißt du wie alt Hiros war als seine Mutter starb?“

Die Frage ließ ihn perplex blinzeln. Der Themenwechsel kam einfach so abrupt.

„Aus dem Stehgreif kann ich das nicht so genau sagen.“

„Aber ich. Er war elf.“, sie blickte ihn eindringlich an. „Kannst du dir vorstellen wie schwierig es für einen Jungen dieses Alters ist, den Tod eines Elternteils zu verkraften?“

„Natürlich. Aber das hat doch nichts mit Tyson zu tun.“

„Doch, in gewisser Weise schon. Ich will dir nämlich jetzt etwas verraten. Allerdings musst du mir versprechen, dass das unter uns bleibt. Takao darf das nicht erfahren!“

Kenny nickte mit einem neugierigen Ausdruck. Sie atmete aus und nickte ebenfalls anerkennend. Dann sprach sie: „Als Hiros Mutter gestorben ist, bekam sein Vater kurz darauf ein Alkoholproblem.“

Als er das hörte weiteten sich Kennys Augen. Das war ihm total neu.

„Davon wusste ich nichts. Tyson hat mir noch nie etwas davon erzählt!“

„Weil er nichts weiß. Hiros Großvater hat das ganze so gedreht, dass die beiden lange Zeit nichts mitbekommen haben. Aber eines Tages fand Hiro seinen Vater betrunken vor der Haustür, als er morgens zur Schule gehen wollte. Kannst du dir vorstellen, was das für einen Eindruck, in der Seele eines Jungen hinterlässt?“

Er schüttelte mit steinerner Miene den Kopf.

„Hitoshi hat mir erzählt, dass sein Großvater ihn von dem Anblick wegzog, sobald er mitbekam, was sich vor der Haustür abspielte. Es war ein Ausrutscher, der sich glücklicherweise niemals mehr wiederholte. Von da an raufte sich sein Vater nämlich zusammen. Doch der Schaden war angerichtet… Auch dann noch, als sein Vater einen Arzt aufsuchte, um sein Alkoholproblem in den Griff zu bekommen.“

Ein wehmütiger Atemzug kam aus Kennys Mund. Es war erstaunlich, dass selbst die anständigsten Menschen ihre Leichen im Keller versteckten. Er hatte Tysons Vater wirklich als lieben Mann kennengelernt, der aber seinem Beruf den Vorrang, vor seinen Söhnen gab.

„Irgendwann, nahm Hiros Vater ihn eines Abends zur Seite und führte ein eindringliches Gespräch mit ihm, über diesen Vorfall. Er erklärte ihm, weshalb er so abgedriftet sei, wie schwer ihn der Tod seiner Frau getroffen habe und das er niemals wollte, das einer seiner Söhne ihn so erlebt. Aber er erklärte ihm auch, dass der Arzt ihm geraten habe, Abstand vom Haus zu gewinnen, um den Trauerprozess richtig zu bewältigen. Der Arzt ermahnte ihn eindringlich, dass er ansonsten rückfällig werden könnte. Deshalb nahm er eine Stelle für eine Expedition im Ausland an.“

Kenny dachte an all die Male, in jenen Tyson sich über seine Vater geärgert hatte. Sein verbittertes Gesicht, wenn das Thema angesprochen wurde und das verächtliche Schnauben, was danach folgte.

„Und Tyson weiß das nicht?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Sein Großvater - und auch sein Vater - waren der Ansicht, dass es schon schlimm genug sei, dass Hiro das überhaupt mitbekommen habe. Hiro hat mir erzählt, dass sein Vater sich aufrichtig dafür geschämt habe. Er macht ihm auch keine Vorwürfe deswegen. Es war eine wirklich harte Zeit für seine Familie und es sind viele Dinge im Hintergrund passiert, die Hitoshi niemals seinem Bruder erzählt hat. Einfach weil er seinem Vater versprochen hatte, Tyson nichts davon zu verraten. Er meinte einmal zu mir, dass er das ohnehin niemals tun könnte, weil er nicht möchte, dass sein Bruder sich für seinen Vater schämt, so wie er es in jenem Moment tat, als Hiro ihn sturzbetrunken vorfand. Doch nun stell dir vor, dein Vater verlässt die Familie und bittet dich, seinen Platz zu übernehmen. Dich um deinen kleinen Bruder zu kümmern und ihn auf den richtigen Weg zu führen, obwohl du doch selbst noch ein halbes Kind bist. Hast du eine Ahnung was für eine Verantwortung auf dir lastet?“

„Tysons Großvater war auch noch da.“

„Aber trotzdem hat jemand im Haus gefehlt. Ein Großvater kann nicht Mutter und Vater zugleich ersetzen. Das geht einfach nicht! Es bleibt immer eine Lücke offen. Hiro hätte die beiden doch selbst noch gebraucht, aber musste die Vaterposition einnehmen, während die Mutter gänzlich im Haus fehlte. Ich stelle mir das wirklich schwer vor. Vor allem wenn der ältere Bruder, seine ganze Trauer verdrängen muss, um seiner Rolle gerecht zu werden.“, sie blickte zur Seite. „Er hat diese Rolle aber so gut es geht angenommen. Bis Tyson ihm alt genug schien, um auf sich selbst aufzupassen.“

„Ist er deshalb irgendwann gegangen?“

„So hat er es mir zumindest erzählt.“

„Das er dir überhaupt davon erzählt. Ich hatte das Gefühl, er macht so etwas gerne mit sich selbst aus.“

„Tut er auch, aber ich bin hartnäckig. Ich habe so lange gebohrt, bis ich auf Öl gestoßen bin.“, grinste Hana keck und hob das Kinn. Es ließ auch Kenny schmunzeln, weil er keinen Zweifel an ihren Worten hegte. Da fuhr sie auch schon fort.

“Ich weiß dass du Hiro vielleicht für einen Egoisten hältst, weil er sich nicht um einen engeren Kontakt mit seiner Familie bemüht hat. Als das damals mit dem Schlaganfall seines Großvaters passiert ist, war ich selbst überrascht, wie kalt ihn das äußerlich gelassen hat. Aber sieh es doch mal aus seiner Perspektive… Irgendwann wollte auch er seine Ziele in die Tat umsetzen und nicht nur seinem kleinen Bruder dabei zusehen, wie er sich seinen Traum vom Weltmeistertitel erfüllt, während Hiro ihm zuliebe, immer zurückstecken musste. Er hatte doch schon seine Kindheit für Tyson aufgegeben.“

„Willst du damit sagen, Hiro nimmt ihm das Übel?“

„Ich bin mir nicht sicher… Vielleicht. Er meinte einmal, sein Großvater würde Takao ständig bevorzugen, weil er immer das Nesthäkchen war.“

„Das ist unfair!“, sprach Kenny und konnte seine Empörung kaum verbergen. „Das hätte ich von ihm echt nicht erwartet.“

„Ich weiß.“

„Es klingt als würde er Tyson grollen, nur weil er geboren wurde! Er kann doch nichts dafür, dass alles so gekommen ist.“

„Aber so ist das nun einmal. Menschen haben Fehler! Dieser innerliche Frust ist wohl Hiros großer Makel. Ich kann mir gut vorstellen, dass er deshalb so gleichgültig reagiert hat, als Mr. Kinomiya seinen Schlaganfall hatte. Wahrscheinlich geht ihm einfach nicht aus dem Sinn, wie viel sein Großvater von ihm, in seiner Kindheit, abverlangt hat, während er Tyson einen Sonderstatus verpasst hat. Wir wissen doch beide, wer den Dojo bekommt, wenn Mr. Kinomiya stirbt. Da macht sich Hiro auch gar nichts vor. Deshalb fokussiert er sich so stark auf seine eigene Karriere, weil er nicht zu kurz kommen möchte. Er baut sich das auf, was sein kleiner Bruder ohnehin bekommt.“

Kenny schaute mit zusammengezogen Brauen zu Boden, als er das hörte. Er mochte Mr. Kinomiya, doch das der alte Dojolehrer, Tyson schon immer bevorzugte, war ein offenes Geheimnis. Das war wohl dessen Makel…

„Wir sind alle nur Menschen.“, sprach er gedankenversunken. Da kam ihm eine andere Überlegung. „Warum suchst du eigentlich so dringend nach Tyson, wo doch Hiro dich viel mehr braucht?“

Hana lächelte wehmütig. Ihm kam es vor, als wäre sie im Gedanken bei ihrem Verlobten und nicht hier, auf diesem Gehweg.

„Weil ich es Hiro versprochen habe.“

„Nach all den Streitereien zwischen den beiden, bittet er dich Tyson zu suchen?“

„Du bist Einzelkind, oder?“

Etwas überrascht nickte Kenny.

„Dann kannst du nicht mitreden. Geschwister streiten sich immer. Ich habe mal meiner älteren Schwester, eine tote Maus ins Bett gelegt, weil sie Lippenstift verwendet hat, der nachweislich an Tieren getestet wird.“

„Wääh!“, machte Kenny angeekelt. „Du bist doch echt krank!“

„Sie ist selbst schuld… Die blöde Kuh.“

„Wo hattest du die tote Maus her?“

„Unsere Katze hat sie angeschleppt. Es schien mir ein Wink des Universums zu sein.“

„Da sind Tyson und Hiro fast harmlos.“

„Sollte man meinen. Ich habe die Maus sogar noch mit ihrem Lippenstift bemalt.“

„Wieso das denn?!“

„Na, überleg mal! Kosmetische Tierversuche? Ist doch eine tolle unterschwellige Botschaft.“

Er starrte sie verdattert an. Da bekam er fast Angst, dass seine Eltern nochmal mit einem kleinen Bruder nachlegten. Dem Himmel sei Dank, war seine Mutter schon in den Fünfzigern. Hana genoss es regelrecht, ihn so aus der Fassung gebracht zu haben, bis sie sich von ihm abwandte und den Blick die Straße hinunter wandern ließ. Da zog sie plötzlich skeptisch die Braue hoch.

„Was ist denn dort drüben los?“

Als Kenny den vorherigen Gedanken abschüttelte und sich wieder auf das wesentliche konzentrierte, wurde auch er auf die Meute, am Ende der Biegung aufmerksam. Dort torkelten mehrere Menschen die Hauptstraße entlang.

„Ach… Das schon wieder.“, stöhnte er genervt. „An Halloween finden manchmal Zombie Walks statt. Total bescheuert wenn du mich fragst. Die ganzen Freaks kommen dann raus und verstopfen ständig die Straßen. Letztes Jahr saß ich mit meinem Auto, eine halbe Stunde lang in einer dieser Paraden fest. Das kann man nach der Arbeit echt nicht gebrauchen!“

Hana schnalzte missbilligend

„Das hat uns gerade noch gefehlt. Wir müssen dort durchkommen…“

„Hey, mir fällt gerade etwas ein!“, klatschte sich Kenny in die Hände. „Wenn man eins vorher rechts abbiegt, kommt man an eine Fußgängerbrücke. Es ist ein kleiner Umweg, aber wir könnten dann den feierwütigen Mobb auf der Hauptstraße umgehen.“

„Perfekt! Den Weg nehmen wir.“, als sie die Straße ansteuerten, sprach sie wichtigtuerisch. „Siehst du? Mit dem Auto würden wir jetzt wahrscheinlich bei den Zombies festsitzen.“

Kenny rollte murrend mit den Augen.

Bevor er abbog, heftete sich sein Blick auf eine Person, die von der Hauptstraße aus, in ihre Richtung strauchelte und einen glänzenden Gegenstand in den Händen hielt. Einen Moment wollte er stehen bleiben und das Objekt genauer anvisieren. Für eine irrwitzige Sekunde hatte er tatsächlich angenommen, ein leuchtendes Ei zu sehen, doch bevor er einen zweiten Blick darauf werfen konnte, hatte ihn Hana unwirsch am Ärmel gepackt, um mit ihm in die Seitengasse einzubiegen.

„Trödel doch nicht herum!“, meinte sie nur ungeduldig.

„Lass mich doch nur mal schauen…“

Er konnte sich gar nicht erklären, weshalb er so versessen darauf war.

„Vorhin hast du dich über die Zombie Walks beschwert, jetzt willst du selber gaffend daneben stehen?“

Kenny gab ein trauriges Seufzen von sich, als sie um die Häuserwand bogen. Etwas in ihm war richtig betrübt darüber, dass das leuchtende Objekt nun aus seinem Sichtfeld verschwunden war. Sie stiegen die ersten Stufen zur Fußgängerbrücke hinauf. Kurz bevor sie das Konstrukt betraten, hielt ein Radfahrer vor ihnen mit quietschenden Bremsen, dass beide perplex innehielten. Der Mann stieg mit einem entschuldigenden Lächeln ab und trug sein Bike die Stufen hinunter. Dann schwang er sich in den Sattel, um mit einem Affenzahn, in die Richtung zu verschwinden, aus der sie gekommen waren.

„Manche Leute können echt nicht langsam machen…“, maulte Kenny, als sie ihren Weg fortsetzten. Er sah das Schmunzeln auf Hanas Lippen, sie öffnete den Mund auf ein Kommentar, da schrien beide jedoch panisch auf, als die Brücke bedrohlich zu schwanken begann. Kenny packte nach Hana, die ins Straucheln geriet und beide fielen auf die Knie, als die Erde unter ihnen, sich bedrohlich hob und senkte. Die Hochhäuser zu ihren Seiten, taumelten wie große betrunkene Gestalten. Aus den umliegenden Läden rannten die Menschen in heller Aufregung hinaus. Er hörte ein lautes Kreischen von der Hauptstraße heraufschallen. Und er betete…

Kenny betete, dass keines der Gebäude, durch das Erdbeben, über ihnen zusammenbrach und die Brücke der Erschütterung standhielt.
 


 

*
 

Dragoon blickte hinab, als er das Poltern aus der Menschenwelt vernahm. Die Kontinentalplatten, welche von Drigers Macht zusammengehalten wurden, drifteten bereits unkontrolliert auseinander. Er hatte damit gerechnet, dass es durch den Tod des Uralten dazu kommen könnte. Doch nicht so früh…

Das Wurzelgeflecht unter der Erde knarzte bedrohlich.

Es war auch Drigers Aufgabe gewesen, die Verästelungen der Weltenbaumzwillinge, unter der Erde, zu warten. Dragoon wusste noch, wie er die überflüssigen Zweige stutze, die guten Keimlinge großzog und die Abgestorbenen von Yggdrasil abriss. Einmal hatte Dranzer eine hellgrüne Verästelung entdeckt und neugierig beobachtet, wie Driger sie zurecht stutzte.

„Warum hast du das getan? Die sah doch gut aus.“, es war zu jener Zeit gewesen, als sie noch ein unwissendes Küken war. Dragoon hatte das nachsichtige Lächeln des Tigers noch vor sich.

„Nun, mein Liebes.“, erklärte er mit seiner tiefen, ruhigen Brummstimme. „Eigentlich ist das Wurzelwerk Yggdrasils wie ein Garten. Natürlich könnte ich alles kreuz und quer Wuchern lassen, doch dann würden die neuen Keimlinge in unsere, oder gar in die Menschenwelt wachsen.“

„Wäre das schlimm?“

„Nicht wirklich. Zumindest wenn du ein Geist bist. Aber der Keimling den ich abgetrennt habe, der ist viel zu schnell in die Höhe gewachsen. Wenn er dort oben, in der Menschenwelt, durch ihre Erdkruste emporgeschossen wäre, hätte er ein heilloses Chaos verursacht. Er könnte eine Pflanze, ein Felsen, oder sogar ein Berg werden! Stell dir mal das verdutzte Gesicht der Menschen vor, wenn plötzlich ein Gebirge neben ihrem Haus steht, wo doch einen Tag zuvor nichts war. Und dann erst das Erdbeben das Folgen würde… Wenn man nicht aufpasst ist es so stark, dass es einen ganzen Landstrich verwüsten kann oder einen Kontinent spaltet. Den Fehler habe ich zur Anfang der Welt gemacht und jetzt sind viele Platten entstanden. Da muss man schon ein Auge darauf haben.“

Sein Blick war zu Dranzer gewandert.

Sie hatte verwirrt den Kopf zur Seite gelegt.

„Du verstehst es nicht?“

„Nein.“, jammerte sie hilflos.

„Hast du dir die anderen Planeten mal angeschaut?“

„Die sind alle scheußlich… und dort lebt nichts!“

„Richtig. Weil es keine Macht gibt, welche die Kräfte in geregelten Bahnen lenkt. Dort ist alles chaotisch. Die Erde aber lebt, weil sie das richtige Maß von allem besitzt. Es ist ein kompliziertes System – und äußerst sensibel. Daher ist es so wichtig, immer das Gleichgewicht zu wahren.“

„Aber manchmal lässt du doch auch die Erde beben?“

„Ja natürlich. Allerdings nur, wenn es sich nicht mehr vermeiden lässt. Wenn man die Kraft so lange unterdrückt, staut sie sich manchmal an einem anderen Punkt, bis man eben eine größere Portion freisetzen muss. Dann haben die Lebewesen auf der Erde dafür wieder länger ihre Ruhe.“

„Warum setzt du nicht einfach immer dasselbe Maß an Energie frei?“

„Weil selbst das schon wieder zu viel wäre. Die Erde würde ständig vibrieren. Wie sollen die Lebewesen auf der Erde dann auf dem Boden laufen? Sie würden ständig auf allen Vieren unsicher vorankriechen.“

Dranzer hatte sich ratlos mit den Krallen am Gefieder gekratzt und eingestanden, dass sie nicht begriff, wie das vonstattenging. Natürlich konnte ein Vogel nicht verstehen, weshalb die Lebewesen auf der Erde, nicht einfach das Fliegen lernten, um diesem Problem aus dem Weg zu gehen. Daraufhin erklärte Driger ihr mit einer Engelsgeduld erneut, wie ein Erd Bit Beast arbeitete. Doch er vergaß dabei, dass sie nun einmal ein Feuerwesen war.

Kein Element verstand das andere zu hundert Prozent.

Nicht einmal der Partner des Bit Beasts.

Deshalb war es umso nötiger, dass bald ein neuer Uralter geboren wurde, damit Draciel wieder von der Bürde, des Erdelements befreit war. Es konnte nur vorübergehend diesen Part übernehmen, weil es schlicht und ergreifend ein Wasserwesen war. Die Vorgänge der Erde wären auf Dauer, selbst für Draciel zu komplex. Eine Vertretung war nie so gut wie jene Person, welche die Arbeit bereits seit Jahrtausenden ausübte und auch Dragoon musste zugeben, dass er Drigers Part nicht verstand.

Er besaß schon immer eine Abneigung zum Erdboden, weil alles dort so fest angehaftet war. Außerdem war es dreckig und staubig. Obwohl es ihm Spaß machte den Wüstensand aufzuwirbeln…

Doch die Pflanzen rührten sich kaum. Sie standen einfach nur in der Sonne herum. Die Gebirge thronten ebenfalls nur stillschweigend in ihrem Glanz. Driger dagegen, konnte manchmal den Blättern sogar beim Wachsen zusehen, ohne die Muße daran zu verlieren. Einmal versuchte Dragoon es ihm nachzumachen. Bereits nach zwei Stunden, waren ihm die Augen zugefallen, weil es so schrecklich öde war. Für ein Luft Bit Beast wie ihn, was in ständiger Bewegung war, war ein festgewachsener Zustand unbegreiflich.

Dragoon blickte auf den Reißzahn in seiner Hand. Als er neben Drigers Leichnam gemerkt hatte, dass es gar nicht regnete, sondern er tatsächlich Tränen weinte, war er zur Salzsäule erstarrt. So etwas war ihm noch nie passiert. Er hatte nie begriffen, was ein Wesen zum Weinen bewegte – bis er den Anblick des toten Tigers vor sich sah.

Es war absolut grotesk, denn eigentlich hätte Dragoon voller Verachtung auf ihn spucken sollen, immerhin war er ein Verräter. Stattdessen waren so viele Erinnerungen in ihm aufgekommen. Momente in jenen er mit seinem Kameraden gelacht hatte.

Es war ihm schwer gefallen, seine Gedanken davon abzuwenden und sich Drigers Verrat noch weiterhin in Erinnerung zu rufen. Selbst jetzt schwebte ihm durch den Kopf herum, wie sie als junge Geister, zusammen auf einer Wiese spielten. Driger hatte überall Pusteblumen aus dem Boden sprießen lassen und Dragoon die Pollen, mit einem Windhauch, von ihren Stielen abgetrennt. Daraufhin sausten sie wie verrückt über das Gras, denn derjenige der die meisten Pollen schnappte, sollte der Gewinner bei ihrem Spiel sein. Sie waren jauchzend über die Wiese gerannt und Driger hatte Tränen gelacht, als eine Polle sich in Dragoons Nüstern verfing und ihn so heftig zum Niesen brachte, dass ihre ganze Beute erneut davonflog. Schließlich einigten sie sich darauf, die Pollen zu fressen, doch als sie fertig waren, fiel ihnen ein, dass sie nun gar nicht mehr zählen konnten, wer die meisten gefangen hatte. Am Tag danach bekamen sie heftige Bauchschmerzen, doch es war die Freude am Spiel, die es wert gewesen war. Dragoon hielt bei dieser Überlegung inne und rieb sich erschöpft über die Nasenwurzel.

Himmel, wo kamen diese Zweifel her?

„Reiß dich zusammen.“, flüsterte er sich selbst im Zwielicht des Wurzelwerkes zu. Er hob die Nase und witterte nach den Menschen. Sie waren weit gekommen. Er hatte Zeit verloren, bei der Suche nach dem Eingang, den sie verwendet hatten. Bei seinem Kampf mit Driger, war er durch das Beben verschüttet worden. Zu allem Überfluss war der Eingang auch noch zu klein für seine Bit Beast Gestalt. Da hatte Drigers heimtückisches Liebchen gut mitgedacht. Dragoon musste sich mithilfe seines menschlichen Körpers mühsam hindurchzwängen. Eigentlich hatte er danach mit dem Gedanken gespielt, seine Hülle vollkommen abzustreifen, doch falls er sie dann noch einmal bräuchte, könnte sie in den Irren des Wurzelwerkes verloren gegangen sein. Hier unten musste man wirklich vorsichtig mit seinem Hab und Gut sein. Wenn es von den tausend Wegen stürzte, würde es in der Finsternis auf ewig verschwinden. Zudem wusste er nicht, wie weit genau die Gruppe gekommen war. Wenn sie es bis in die Menschenwelt schafften, bräuchte er seinen Körper noch, um ihnen zu folgen, denn eines stand für Dragoon fest – nachdem er so viel für seine Rache geopfert hatte, sollte dieses Pack nicht ungestraft davonkommen!

Nicht nachdem er seinen Arm verloren hatte.

Nicht nachdem Driger ihretwegen tot war.

„Er ist deinetwegen tot...“

Abrupt verweilte Dragoon ob dieser Überlegung. Wo kam das schon wieder her?

Er griff sich stöhnend gegen den Kopf und hoffte inständig, diese düsteren Gedanken mögen sich bald in Luft auflösen.

„Konzentrier dich.“, sprach er sich selbst zu. Dann tat das Bit Beast einen tiefen Atemzug und grübelte wie es am besten fortfahren sollte. Er könnte natürlich der Fährte folgen, welche die Gruppe auf dem Wurzelpfad hinterlassen hatte, aber hier unten herrschten andere Gesetze. Es könnte schwierig werden, auf jedem Weg den Duft von Sterblichen zu wittern. Die Geister der Toten sondernden nämlich auch eine Note ab, die den Geruch bald übertünchen würden, je nachdem wie viele Seelen über die Fährte latschten. Die nahmen ohnehin kaum auf etwas Rücksicht, weil sie mit ihrem Selbstmitleid beschäftigt waren. An einem Punkt, schienen die Menschen sogar von ihrem ursprünglichen Pfad abgekommen zu sein. Es hatte Dragoon lange gebraucht, um ihre Fährte wieder auf einer anderen Wurzel zu finden. Momentan befand er sich auf jener Spur, welcher die Gruppe anschließend gefolgt war, nur ob seine Methode nicht zu zeitaufwendig war…

Dragoon zog nachdenklich die Brauen ins Gesicht.

Am Knotenpunkt der Wurzeln, jener Stelle, an welchen die Weltenbaumzwillinge verwachsen waren, könnte er eine der Verästelungen nutzen, um die Menschen aufzuspüren. Dadurch würde er herausfinden, zu welchem Ausgang Galux die Jungen führte. Etwas sagte ihm, dass sie schlau genug war, um nicht denselben Weg zu wählen, den Draciel benutzt hatte, um die Gruppe am Friedhof einzufangen. Aber wenn er zu seinem Wurzelthron zurückkehrte, könnte er ebenfalls kostbare Zeit verlieren.

Im Geiste wog Dragoon die beiden Varianten ab. Dann wandte er sich in die Richtung, die seinem Instinkt nach, zum Wurzelthron führte. Für einen Uralten war die Energie, welche von dort verströmt wurde, wie ein Leuchtturm in der Nacht. Sie wussten stets in welche Richtung sie sich wenden mussten. Dragoon musste einfach schneller sein, die Gruppe am Wurzelthron orten und dann eiligst aufbrechen, um sie am Ausgang abzufangen.

„Wer zuerst am Ziel ist, Takao.“, sprach er düster.
 


 

ENDE KAPITEL 34
 

Nach dem Erdbeben hatte die blanke Panik im Hotel um sich geschlagen. Draußen in den Fluren hörte man die Menschen hektisch reden. Das eilige Fußgetrappel war selbst im Zimmer zu hören. Die Bilder an der Wand waren von ihrer Halterung gerutscht. Eines davon war besonders massiv gewesen, war auf die Kommode darunter gestürzt und zertrümmerte die kunstvoll, verschnörkelte Dekoschale darauf, die aus filigranem Glas gefertigt war. Das Chaos hatte Jana einen solchen Schreck eingejagt, dass sie aus voller Kehle zu kreischen begann. Zu allem Übel war sie in ihrer Panik auch noch auf einen der Splitter getreten.

Mr. Kinomiya hatte sie beruhigend auf den Arm genommen, während Mariah nun mit der Pinzette aus ihrer Kosmetiktasche versuchte, den Splitter herauszuziehen. Allein dem Mädchen die Socke auszuziehen, war mühselig gewesen. Sie hatte Angst jemanden an das „Aua“ heranzulassen und brüllte verzweifelt nach ihrem Bruder.

„Ist ja gut, Mäuschen.“, sprach Mr. Kinomiya auf sie ein. „Unsere Mao kann das auch.“

„Nein!“

„Nicht bockig werden. Gleich hast du es.“

Er hielt ihren Fußknöchel fest, damit das Mädchen ihn nicht wieder wegzog und Mariah an den Splitter herankam. Als sie nur noch heftiger zu zappeln begann, umgriff Mao kurzerhand den Knöchel, zwängte ihn unter ihre Achsel und presste fest den Oberarm dagegen. Jana begann bitterlich zu wimmern und schrie dann nur noch lauter, doch durch diesen groben Eingriff, bekam Mariah den Splitter endlich mit der Pinzette zu fassen. Mit einem kurzen Ruck war er aus dem Fußballen entfernt, es ließ Jana erschrocken Quieken wie ein Ferkel, doch schon drückte Mariah ein Taschentuch gegen die Wunde.

„Alles halb so schlimm. Ist doch nur ein kleines Wehwehchen.“

„Gar nich. Ist schlimm!“, beklagte Jana sich empört.

„Das geht vorbei.“, dann wandte Mariah sich an den Großvater. „Wir ziehen besser unsere Schuhe an. Nicht das wir auch auf Glas treten.“

Mr. Kinomiya nickte auf ihren Vorschlag grimmig.

Er setzte Jana auf der Fensterbank ab und hob den Zeigefinger.

„Nicht von der Stelle rühren, junge Dame!“

„Ich will zu Kai.“, jammerte das Mädchen nur störrisch. Tränen rollten über ihre feuerroten Wangen. Ein lautes Schniefen kündigte an, dass bald ein weiteres Taschentuch gebraucht wurde. Gleich nachdem Mao sich schwerfällig in die Schuhe gezwängt hatte, kam sie dem Bedürfnis auch gleich nach. Sie drückte dem Mädchen ein Tuch gegen die Nase, was sie ungeniert zu schnäuzen begann. Da hörte sie Mr. Kinomiya zum Telefon greifen.

„Wen rufen sie an?“

„Na, den Zimmerservice. Die sollen jemanden schicken der die Splitter aufsaugt.“

„Denken sie nicht die haben genug andere Probleme?“

„So lassen können wir es aber auch ni... - oh, hallo! Schon jemand dran. Gut! Also im Zimmer 481 haben wir ein kleines Problem, dass mal schnell aufgesaugt werden sollte.“

Gerade als Mr. Kinomiya weitersprechen wollte, schien er unterbrochen zu werden. Mao hörte die Stimme auf der anderen Leitung, jedoch nicht was gesprochen wurde. Es klang dumpf aus dem Hörer, dann wurde der alte Mann grantig.

„Ja ich weiß, dass wir ein Erdbeben hatten, aber…“

Erneut sprach jemand auf der anderen Seite.

„Nein, das geht nicht. Wir können nicht herunter kommen.“

Mao wurde hellhörig und ließ sofort von Jana ab. Sie wandte sich abrupt um und starrte wie gebannt auf Mr. Kinomiya.

„Nein uns ist nichts passiert. Wir wollen einfach nicht!“

Nun wurde er aufgebracht.

„Was soll das heißen wir müssen! Außer sterben, muss ich gar nichts, junger Mann!“

Mariah eilte zum alten Herrn und nahm ihm den Hörer ab. Es hätte gerade noch gefehlt, wenn er durch sein aufbrausendes Temperament, aus dem Zimmer geschmissen wurde. Etwas mürrisch dachte sie dabei, dass sie nun wusste, woher Tyson diese vorlaute Art hatte, da sprach sie auch schon in den Hörer.

„Entschuldigen sie bitte. Mein Großvater ist etwas senil.“

Mr. Kinomiya blähte fassungslos die Wangen, doch sie tat eine unwirsche Handbewegung, um ihm zu bedeuten, doch bitte still zu bleiben.

„Wir verstehen, dass sie in der jetzigen Situation etwas überfordert sind, aber hier drinnen ist eine Glasschale kaputt gegangen. Meine…“, sie schaute fragend zu Jana. Da sie nur für eine Person eingecheckt hatte, sprach sie, „Meine Nichte hat sich deshalb einen Glassplitter zugezogen. Wir wollen eigentlich nur das jemand kurz durchsaugt, mehr brauchen wir wirk-…“

„Tut mir Leid, sie hier unterbrechen zu müssen, doch wie ich bereits ihrem Großvater erläutert habe, werden die Zimmer vorerst geräumt.“, unterbrach sie eine junge Männerstimme.

„Geräumt?“

„Das ist eine Vorsichtsmaßnahme falls ein Nachbeben kommt. Wir bitten alle unsere Gäste, ihre Zimmer zu verlassen und sich in der Lobby zu versammeln. Wir begeben uns dann alle gemeinsam nach draußen, bis die Behörden die Entwarnung geben.“

„Oh das…“, Mariah schluckte hart. Sie dachte an Galux, die ihr nahegelegt hatte, niemals das Zimmer zu verlassen. „Das ist wirklich nicht nötig. Wir kommen schon klar.“

„Oh doch, das ist nötig!“, sprach der junge Mann auf der anderen Leitung schroff. Offenbar lagen auch bei ihm die Nerven blank und er besaß keine Muße, um noch Höflichkeit vorzutäuschen. „Das ist eine ausdrückliche Anordnung. Sie müssen verstehen, dass es hier um das Wohl unserer Gäste geht.“

„Das ist lobenswert, aber wir bleiben auf eigener Verantwortung hier oben. Sie brauchen sich nicht weiter um uns…“

„Das ist leider kein Aspekt, auf den sie Einfluss nehmen können.“, sie hörte den Mann erschöpft schnaufen. Wahrscheinlich hatte er derlei Unterhaltungen bereits mit einigen anderen Hotelgästen geführt. „Sie müssen verstehen, dass wir für das Befinden unsere Gäste verantwortlich sind. Sollte ihnen bei einem Nachbeben etwas zustoßen, ist es dem Gesetzgeber egal, ob sie auf eigene Verantwortung gehandelt haben, weil wir in der Verpflichtung waren, alle unsere Gäste zu evakuieren. Ich bitte sie deshalb ein letztes Mal, aus eigenem Ermessen herunterzukommen. Ansonsten müssen wir sie leider aus dem Zimmer holen. Die ersten Sicherheitsleute sind bereits unterwegs, um sämtliche Etagen zu räumen.“

Mariah japste panisch. Sie starrte mit hilflosem Blick zu Mr. Kinomiya, der in einer ebenso machtlosen Geste die Arme hob und dabei das Gesicht panisch verzog.

„Nein.“, sprach sie schließlich. Ihre Wangen wurden warm, wie immer wenn sie nervös wurde. „Das wird nicht nötig sein. Wir kommen hinunter.“

„Danke.“, der Hotelangestellte atmete erleichtert aus und fügte dann versöhnlicher hinzu. „Diese Unannehmlichkeit tut mir wirklich außerordentlich leid, aber sie müssen verstehen, dass wir nun einmal auch, an unsere Vorgaben gebunden sind. Solche Situation sind immer unerfreulich. Wir lassen nach der Entwarnung, auch sobald wie möglich ihr Zimmer durchsaugen.“

„Ja… Ja, das verstehe ich natürlich. Auf Wiederhören.“

Mariah legte auf und atmete schwerfällig aus. Sie blickte sich im Zimmer um. Jana hatte sich auf der Fensterbank hingelegt und schien nun äußerst theatralisch in Selbstmitleid zu baden. Dabei kullerten noch immer dicke Krokodilstränen aus ihren Augenwinkel, die sie mit aller Macht hervorzwängte. Als sie bemerkte, dass ihr gekünsteltes Weinen nicht auf Gehör stieß, drückte sie beleidigt ihr Stofftier an sich und begann zu schmollen.

„Was jetzt?“, fragte Mr. Kinomiya.

„Naja… Erst einmal brauchen sie eine Jacke. So können sie draußen nicht herumlaufen. Die Hotelpantoffeln können sie ja anbehalten.“, Mariah begann in ihrem Koffer zu kramen. Sie meinte Rays Mantel eingepackt zu haben, da er nach ihrem Streit so überstürzt aufgebrochen war, dass er kaum etwas mitgenommen hatte. Damals erhoffte sie sich davon, dass er bemerkte, wie sehr sie noch um sein Wohl besorgt war. Es entsprach ja auch der Wahrheit. Glücklicherweise war Mr. Kinomiya nicht dick, deshalb nahm sie an, er würde keine Probleme haben, hineinzuschlüpfen. „Als nächstens müssen wir hinunter in die Lobby.“

„Also verlassen wir doch endlich einmal diese Bude. Wird auch Zeit.“

„Nur vorübergehend.“, stellte Mao mit streng erhobenem Zeigefinger klar. „Sobald die Entwarnung gegeben wird, rennen wir wieder schnurstracks hier hoch.“

„Uns ist doch bisher nichts passiert! Ich weiß gar nicht was das ganze Theater noch soll.“

„Und warum ist uns wohl nichts passiert? Weil mein Bit Beast uns beschützt hat.“

Sie zog Rays Mantel aus dem Koffer. Er war dunkelbraun und eher sportlich gehalten. Für die Winter in ihrem Dorf optimal.

„Mr. Kinomiya, ich muss wirklich darum bitten. Wir dürfen jetzt nicht unachtsam werden. Momentan kommen wir nicht umhin hinauszugehen. Aber es sind nur noch wenige Stunden, dann könnte der ganze Spuk vorbei sein.“

Sie half dem alten Herrn in die Jacke, dann tippelte sie vorsichtig zwischen den Scherben hindurch und packte Jana in ihre Tagesdecke ein. Das Mädchen murrte unwillig. Mao wischte ihr zärtlich die Tränen weg und sprach ihr gut zu.

„Ach, verdammt! Ist doch echt zum Mäusemelken. Das ausgerechnet jetzt dieses blöde Erdbeben kommen muss. Und erst der Aufstand deshalb. Vor dem letzten Beben war man noch nicht so pingelig.“

„Die Angestellten machen nur ihren Job. Ich verstehe wenn man kein Risiko eingehen möchte.“

„Das ist ein freies Land. Ich kann ja wohl machen was ich will!“, zeterte der alte Herr.

Darauf konnte Mao nur entnervt mit den Augen rollen. Diese Sturheit zog sich wie ein roter Faden durch die Familie.
 

Zehn Minuten später lief die kleine Gruppe durch die Flure. Der Hauptstrom aus panischen Hotelgästen schien sich bereits gelegt zu haben, denn der Großteil war schnurstracks hinausgestürmt, in heller Furcht vor einem Nachbeben. Die wenigen Mutigen die noch hier waren, waren offensichtlich genauso Unwillens, ihr Zimmer zu räumen wie sie. Als Mariah in eine der anderen Suiten spähte, verstaute ein Mann geradezu hektisch seine Sachen im Hoteltresor und bellte seiner Frau zu, ihr alles Wertvolle zu reichen.

„Wer weiß ob das Personal nicht klaut!“, sprach er wichtigtuerisch. Mariah hätte alles darum gegeben, dessen blöde Probleme zu haben. Sie war hochschwanger und ihr Ehemann verschollen, mit dem sie zu aller Übel auch noch in einer schweren Beziehungskrise steckte. In einem Anflug von Selbstmitleid, strich sie sich traurig über den runden Bauch, während Mr. Kinomiya Jana auf dem Arm hielt. Sobald sie in den Flur traten, schlug deren bockige Haltung prompt in kindliche Neugierde um.

„Opa? Wohin wir gehe?“, fragte sie und wandte das Köpfchen aufgeregt in alle Richtungen.

„Wir gehen jetzt hinaus, Kleines. Etwas frische Luft schnappen.“

Jana dachte nach und zog dabei eine unbekümmerte Schnute.

„Könne mir Spieleplatz gehe?“

„Wohl eher nicht. Eigentlich solltest du im Bett liegen.“

„Oi, Opa. Will Saukel gehe!“, bat sie mit dicken Schmolllippen. Es entbrannte ein Pro und Kontra zwischen den beiden und tatsächlich schien Tysons Großvater einknicken zu wollen. Jana besaß eine zuckersüße Art ihre Forderungen durchzuboxen. Sie bettelte aus großen Kulleraugen, tätschelte Mr. Kinomiya die Wange und sprach dabei ganz liebreizend:

„Komm, Opa. Spiele gehe. Ja?“

Dabei nickte sie eifrig, als wäre es beschlossene Sache.

„Nein. Das geht jetzt wirklich nicht.“

„Doch, gehe.“, bejahte Jana zuversichtlich.

„Nein, du kleiner Frechdachs.“, gluckste er.

„Doch. Musst nur hinlaufe.“, schlug das Mädchen vor, als sei es damit tatsächlich getan. Einen verschmitzten Moment stellte sich Mariah vor, dass sie diese Debatten womöglich auch mit ihrem Bruder führte, bis sie dem alten Herrn einen mahnenden Blick zuwarf, um ihm zu bedeuten, dass ein Besuch auf dem Spielplatz keine Option darstellte.

„Mao gehe mir Saukel?“

„Tut mir Leid, Süße. Aber wir müssen bald wieder ins Zimmer.“

„Oi nein… warum?“

„Weil es dunkel draußen wird. Da sollten kleine Mädchen schlafen und von der Zuckerfee träumen.“, sprach sie verschwörerisch. Jana bekam tellergroße Augen.

„Zuckerfee?“

„Ja. Wenn du brav bist und du nachher ins Bett gehst, erzähle ich dir die Geschichte. Aber du musst auf uns hören und anständig bleiben. In Ordnung?“

Jana dachte ausgiebig darüber nach, als würde sie sich fragen, ob sie auf einen Kuhhandel einging.

„Is Zuckerfee hübsch?“

„Oh ja! Eine wunderhübsche Fee.“

„Mmm… Okay.“

Damit schien die Sache für sie auch schon in Ordnung. Kurz darauf trafen sie auf einen Mann von der Security. Der schwarzgekleidete Herr lotste sie ins Treppenhaus, da die Fahrstühle nicht benutzt werden sollten. Dort schlossen sie sich dem Strom der anderen Hotelgäste an, die Stufe um Stufe, im Gänsemarsch hinabschritten. Für Mao wurde es zu einer kleinen Herausforderung, weil es immer schwerer für sie wurde, mit dem Babybauch vor sich zu erhaschen, wohin sie eigentlich trat. Eine bedrückende Stimmung lag auf den Menschen. Vielen lag noch der Schreck in den Gliedern. Mariah kam dabei das furchtbare Beben vor einigen Jahren in den Sinn, der einen verheerenden Tsunami in manchen Teilen Japans mit sich brachte. Ray und sie hatten gerade zusammen gekocht, als das Radio die Eilmeldung verkündete. Kurz darauf sah sie ihren Mann zum Fernseher rennen. Als sie die Bilder auf dem Monitor erblickte, die Wassermassen, welche ganze Schiffe ins Landesinnere Japans spülten, war ihr der Atem stehen geblieben. Wie von der Tarantel gestochen war Ray zum Hörer gestürmt, um Tyson anzurufen, doch die Leitung war ständig belegt. Dasselbe Spiel trug sich bei Kai zu und auch Kenny war nicht zu erreichen. Selten hatte sie ihren Mann so nervös erlebt. Immer wieder legte er den Hörer auf, wählte eine Nummer und schimpfte dann doch nur, weil niemand zu erreichen war. Den Einzigen den er an die Strippe bekam war Max. Der hatte in den USA ähnlich reagiert und saß auf glühenden Kohlen, weil er ebenso dringend wissen wollte, ob es seinen Freunden gut ging. Erst später fanden sie heraus, dass das Netz unter der Masse von Anrufen, für kurze Zeit zusammengebrochen war und als Kenny sich endlich meldete und ihnen versicherte, dass die Region um Tokyo nicht betroffen war, machte ein lautes Aufatmen die Runde.

Mariahs Blick wanderte zu den anderen Menschen im Flur. Die Anspannung im Gebäude war förmlich auf der Zunge zu schmecken. Als sie in der Lobby eintrafen, stand das Hotelpersonal mit Klemmbrettern im Raum und hakte auf einer Liste ab, welche Gäste sich bereits eingefunden hatten, verglichen mit den Daten aus dem Computer, wer von den Gästen vorübergehend außer Haus war und diskutierten, welche Gruppe von wem betreut werden sollte. Als Mariah ihren Namen nannte, wurde sie argwöhnisch gemustert.

„Laut unseren Daten haben sie aber alleine eingecheckt.“, sprach die ältere Frau ihr gegenüber fragend.

„Das hier ist mein Großvater. Er hat mich mit meiner Nichte besucht. Ich kann meine Schwester nicht erreichen, damit sie die beiden abholt.“

Die Frau biss sich unangenehm berührt auf die Unterlippe.

„Aus versicherungstechnischen Gründen, müssten wir die beiden eigentlich nachhause schicken. Das Hotel haftet nicht für Außenstehende, falls noch etwas passieren sollte.“

„Oh bitte nicht!“, bat Mariah verzweifelt. „Ich kann die beiden doch nicht nach diesem Beben wegschicken! Ich weiß ja noch nicht einmal wie es meiner Schwester geht…“

Sie wurde mitleidig bedacht, dann nickte die Frau ihr zu.

„Natürlich nicht. Ich würde das an ihrer Stelle auch nicht wollen. Bei Fragen wenden sie sich aber bitte an mich und kein Wort zu dem anderen Personal darüber.“

Mariah faltete in tiefer Dankbarkeit die Hände vor dem Gesicht und deutete eine Verbeugung an. Auch der Großvater tat es ihr gleich und da trällerte Jana auch schon ein langgezogenes:

„Dankeschön!“

Die Frau nahm es stillschweigend zur Kenntnis, warf ihren Kollegen einen wachsamen Blick zu und vollführte mit dem Klemmbrett eine Bewegung Richtung Ausgang.

„Die Gäste aus Etage fünf, bitte mir Folgen!“, verkündete sie lautstark, um die plappernde Menge zu übertönen. „Wir werden draußen im Hof warten, bis die Entwarnung der Behörden kommt. Bitte entfernen sie sich nicht von der Gruppe und bleiben sie in meiner Reichweite.“

Ein Murmeln ging durch die Masse, dann formierte sich eine Menschentraube, die ihrer Betreuerin folgte. Sofort als sie ins Freie traten, verschlug es Mariah einen Moment den Atem und sie fröstelte. Draußen herrschte eine Eiseskälte.

Einfach nichts passte an diesem dummen Tag!

Ihr Mann war verschwunden, samt seiner Freunde. Es schneite und zu allem Überfluss kam nun auch noch dieses Erdbeben hinzu, was die Leute zwang, im Kalten auszuharren, bis die Entwarnung kam. Zu ihrem Glück verteilte das Hotelpersonal noch weitere Decken und auch heiße Getränke. Sie musste zugeben, man war hier wirklich gut organisiert und da sie keine Kinderjacke für Jana besaß, schnappte sich Mao sofort eine weitere Decke für das Mädchen, samt einem Becher warmen Kakao. Zusammen mit ihren Leidensgenossen, nahm sie etwas abseits vom Rest der Gruppe Platz. Nicht nur die Gäste des Hotels harrten im Freien aus, auch die Einwohner dieses Stadtteils. Als Mariah sich umblickte, hatten sich dutzende Gruppen auf den Gehwegen gebildet. Der Verkehr auf der Straße war vorerst zum Erliegen gekommen. Sie erspähte einen Mann, der neben seinem Auto stand und mit seiner Mutter telefonierte, dabei versicherte er ihr mehrmals total entnervt, dass es ihm gut ging.

„Nein, ich lasse meinen Wagen nicht unbeaufsichtigt zurück und laufe Heim. Das Auto ist geleast, Mutter!“, bellte er in den Hörer.

Mariah fiel auf, dass ihr Zimmer auf die andere Seite des Gebäudes schaute, denn vor ihrem Fenster aus, war die Prügelei zwischen den beiden Betrunkenen, auf der Hauptstraße zu sehen gewesen. Ihr kam die merkwürdige Frau mit dem Lampion in den Sinn. Doch schnell war sie vergessen, als Mariah Jana den Becher mit Kakao reichte.

„Uuh, Schoki!“, gluckste Jana total begeistert. Gierig nahm sie den Plastikbecher entgegen und trank einen großen Schluck daraus. Dann rief sie kurz darauf panisch: „Hu ha! Heiß!“

Sie streckte die Zunge so entsetzt raus, dass die beiden Erwachsenen laut lachen mussten, vor allem weil ein Schokoladenrand um ihre Mundpartie zurückblieb.

„Da vergisst man doch glatt die Sorgen!“, rief Mr. Kinomiya freudig aus. „Weißt du, Tyson war genauso. Es konnte noch so eine schlechte Stimmung im Haus herrschen, er hat es immer geschafft, alles mit seinen Faxen aufzulockern.“

„Ray meinte auch einmal dass er eine Begabung dafür hat.“

Mariah setzte sich auf die niedrige verschneite Mauer, zu Seiten der Hoteleinfahrt, welche das Grundstück absperrte. Auf der Rückseite des Gebäudes schien sie an Höhe zuzunehmen, wahrscheinlich um die Hotelgäste vom Lärm zu schützen, der von der Schnellstraße dahinter ausging. Als Mariah an die Prügelei dachte, die vor ihrem Zimmerfenster stattgefunden hatte, kam ihr das ganz gelegen. In den unteren Etagen, wollte bestimmt keiner der Hotelgäste diesen Anblick, direkt von seinem Zimmer aus sehen.

„Ich hoffe nur dass wir bald wieder etwas von ihnen hören.“

„Den Grünschnäbeln geht es bestimmt gut. Die haben Dinge zusammen gemeistert, das kann man sich kaum vorstellen.“, lachte Mr. Kinomiya mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Das Einzige worum ich mir sorgen mache, ist die Beschuldigung gegen meinen Enkel. Sobald dein Bit Beast wieder hier auftaucht, packe ich mir diese Holzköpfe im Präsidium und ziehe denen die Ohren lang! Tyson würde mir niemals etwas antun! Darauf kannst d-…“

Abrupt hielt Mr. Kinomiya inne, denn unweit von ihnen, wandten sich plötzlich zwei Passanten ihnen zu. Sie fuhren so fahrig auf dem Gehweg herum, dass es auch Mariah auffiel, weil der junge Mann dabei fast auf der Schneeschicht ausgerutscht wäre und wild mit den Händen ruderte. Einen Moment wollte sie zickig reagieren und den beiden entgegen fauchen, wie unhöflich es war, fremden Gesprächen so offensichtlich zu lauschen, als auch ihre Augen groß wurden.

„Ja heilige Scheiße!“, rief Tysons Großvater, mit wehenden Armen, überrascht neben ihr aus. „Wenn das nicht der Chef ist!“

„Mr. Kinomiya! Ich dachte schon ich hätte mich verhört!“

Eine junge Frau war in seiner Begleitung und etwas neidisch bemerkte Mariah, wie hübsch sie war. Zu ihrer Überraschung gab die aber ein lautes Jauchzen von sich und klatschte überglücklich in die Hände, als sie den Großvater erblickte.

„Kenny, wir haben ihn gefunden!“, der Blick der Frau schoss zu dem Kind an ihrer Seite. „Und sieh mal an, wer da noch ist – das kleine Hiwatari Mädchen!“

„Dem Himmel sei Dank! Kais Schwester geht es auch gut…“

Jana schaute irritiert zu den beiden Fremden, als der Name ihres Bruders fiel. Dann reckte sie den Hals hinauf und sprach mit unverhohlener Neugierde.

„Opa? Wer is das?“

Der hatte aber anderes im Kopf.

„Was machst du denn hier, Chef?“

„Wie bitte?! Was machen Siedenn hier? Wir haben die halbe Stadt nach ihnen durchsucht!“

„Ich bin die ganze Zeit bei Rays Perle hier gewesen.“

Mariah erhob sich langsam von der Mauer und hob die Hand zum Gruß. Erst als sie sich rührte, wandte Kenny ihr das Gesicht zu. Er schob irritiert die Brille unter seinem buschigen Haarschopf zurecht und rief dann aus: „Meine Güte, du bist ja auch hier. Davon hat Ray mir gar nichts erzählt.“

„Kann er auch gar nicht. Ich bin ihm nachgereist, weil ich mit ihm sprechen wollte und erst gestern Morgen hier eingetroffen.“

„Weißt du wo er ist?“, sie hörte die Verzweiflung aus seiner Stimme heraus. Er tat einen Schritt auf Mariah zu und fragte geradezu drängend: „Sind Tyson, Max und Kai auch bei ihm?“

Sie atmete hörbar aus und warf einen vielsagenden Blick zum Großvater. Es war offensichtlich was Kenny in solch Aufruhr versetzte. Auch er sorgte sich um seine Freunde. „Seit wann hast du nichts mehr von ihnen gehört?“, wollte Mariah wissen.

„Seit Freitagabend.“

„Na dann setzt dich mal auf deine vier Buchstaben, Grünschnabel.“, sprach Mr. Kinomiya düster aus. „Es gibt hier einiges zu erzählen.“
 

*
 

„Sie verschwindet einfach nicht. Das ist ja zum aus der Mäusehaut fahren!“

Argwöhnisch verschränkte Allegro die Arme. Dabei ließ er von Rays Haarschopf aus, nicht den gesichtslosen Geist hinter ihnen aus den Augen. „Was will sie nur von uns? Sie greift nicht an, sie kommt nicht näher, aber von uns ablassen mag sie auch nicht.“

„Sie beschützt uns. Ist das denn nichts?“, wollte Tyson wissen. Er drehte sich einen Moment zu der Lichtgestalt um und lief einige Schritte rückwärts weiter. In der Zwischenzeit waren weitere Begegnungen mit anderen Geistern vorgekommen. Bei jeder war ihre Helferin tatkräftig eingeschritten. Sie stärkte ihnen den Rücken, während Galux die Vorhut bildete. Außerdem schien ihre Präsenz einen tröstenden Effekt auf ihre Artgenossen zu haben, denn die grauen Geister ließen schneller von ihnen ab, sobald sie sich einmischte, als könne sie sich trotz dem fehlenden Gesicht mit ihnen verständigen.

„Es ist eine fragwürdige Hilfe.“, sprach Galux ernst, doch sie tat auch keine Anstalten, die Seele zu verscheuchen. Als Tyson sich wieder von ihr wegdrehte, spürte er, wie Kai seine Lippen an sein Ohr führte und hinein flüsterte: „Ich mag sie trotzdem.“

Es ließ ihn lächeln und Tyson schob den Kleinen hoch, um ihn bequemer tragen zu können. Dabei spürte er, wie Kai sein Kinn auf seine Schulter platzierte und der Gestalt hinter ihnen vorsichtig zuwinkte. Seit sie da war, schien er die Angst verloren zu haben, vielleicht weil es ihn aufmunternde, das nicht alle Geister sie angreifen wollten.

„Wie lange geht es noch?“, wollte Max wissen. Es war das erste Mal, seit einer gefühlten Ewigkeit, dass er von sich aus das Wort an Galux wandte. Offenbar war er noch immer wütend über den Vergleich, den sie zuvor in die Runde geworfen hatte.

„Wenn wir in diesem Tempo weiterkommen, könnten wir bald den Abstieg wagen.“

„Wir müssen klettern?“

„Nein.“

„Aber du hast doch gesagt wir absteigen.“

„Hier unten solltet ihr Abschied von irdischer Logik nehmen.“, erklärte Galux. „Mag sein das wir hinauflaufen, doch je nachdem, wo die Wurzel endet, könnten wir hinablaufen.“

„Als uns Draciel auf dem Friedhof aufgeschnappt hat, sind wir in die Erde gezogen worden.“, fiel Ray wieder nachdenklich ein. Max verkrampfte sich neben ihm einen Moment. Offensichtlich plagte ihn noch immer der Gedanke an Draciels heimtückische Art, ihm mit dem Gesicht seiner Mutter aufzulauern. Kurz darauf antwortete Galux: „Diesen Ausgang verwenden wir nicht.“

„Warum?“

„Mon dieu, meine Herren. Ist das nicht offensichtlich?“, kam es von Allegro. „Es gibt vier Uralte und davon ist nur einer auf unserer Seite. Dragoon und Driger kämpfen vielleicht noch, aber die anderen beiden treiben sich irgendwo herum.“

„Dranzer ist in der Menschenwelt.“, sprach Tyson. „Das heißt es könnte sich dabei nur um Draciel handeln.“

Abrupt hielt Ray inne als er das hörte.

„Wie meinst du das?“

Tyson blinzelte ihn einen Moment verdutzt an, bis ihm wieder einfiel, dass er zu jenem Zeitpunkt, als sie diese Information erhielten, auf der Flucht vor ihnen war.

„Das war der eigentliche Grund weshalb Driger uns geholfen hat. Dragoon wollte, das Galux den Schutzbann von unseren Familien nimmt, damit Dranzer aus ihrem Versteck kommt. Er wollte Jana als Lockmittel missbrauchen.“, Tyson starrte verbittert, ob diesen Kalküls seines Bit Beasts, zur Seite. „Als sie sich geweigert hat, hat er sie als Verräterin hingestellt.“

„Das heißt Dranzer lebt?“, schloss Ray aus geweiteten Augen heraus.

„Ja. Und es ist ein weiterer Grund, weshalb wir nicht den Weg verwenden werden, von dem ihr gekommen seid.“, sprach Galux. „Wir werden einen kleinen Umweg nehmen. Es kostet uns ein wenig Zeit, doch sollten wir weiterhin so zügig vorankommen, sehe ich keinen Grund, weshalb wir es nicht rechtzeitig auf die andere Seite schaffen sollten. Sobald ihr wieder heimischen Boden unter den Füßen habt, werdet ihr aber vorerst bei Mao Unterschlupf suchen müssen, bis die heilige Neujahrswende vorbei ist.“

„Warum das?“

„So lange das Portal offen steht, seid ihr nicht außer Gefahr. Ihr könntet noch immer aufgegriffen werden. Zudem sprechen wir hier von den Uralten. Ihre Macht ist groß.“

„Wird es sich sofort schließen, wenn die Sonne in der Menschenwelt aufgeht?“ fragte Max.

„Das ist schwer zu sagen.“

„Ihr müsst doch wissen wann sich die Tür schließt?“

„Genau da liegt die eigentliche Problematik. Das Portal an sich, kann nicht allein als eine Tür gesehen werden.“, Galux schaute empor, wo sich über ihnen dutzender kleiner leuchtender Verästelungen, kreuz und quer durch die Dunkelheit zogen. „Schaut über euch. Jeder dieser Zweige ist mit beiden Welten verknüpft. Momentan führen sie ungehindert ihre Energie in beide Reiche. So gesehen, gibt es also nicht nur ein Portal. Es sind Milliarden. Jeder Zweig welcher in die Menschenwelt führt, ist ein potenzieller Ausgang. Wir Bit Beast können sie fast ohne Einschränkungen verwenden. Ihr Menschen dagegen nur eine Handvoll. Eure Körper sind für die wenigstens tauglich, außerdem enden sie an den unmöglichsten Orten. Sobald sich aber das Ende der Neujahrswende nähert, werden nach und nach, die Wege in die Menschenwelt, auch für uns Bit Beast spärlicher. Stellt es euch wie ein Haus vor, in dem alle Fenster offen stehen, um es durchzulüften. Sobald ihr friert, lauft ihr von Zimmer zu Zimmer, um jedes Fenster, eines nach dem anderen, zu schließen. Das braucht Zeit. Genauso wird es ablaufen, wenn sich das Portal wieder verschließt. Jeder einzelne Ausgang wird dann nach und nach blockiert.“

„Als ich Wolborg getroffen habe, hat sie mir erklärt, dass ihr Bit Beast dann nur noch in der Irrlichterwelt, an eure Energie herankommt.“, sprach Tyson nachdenklich. „Und das das auch der eigentliche Grund ist, weshalb ihr euch Menschenkinder sucht. Ihr zapft ihre Kraft an, um nicht zwischen beiden Welten ständig pendeln zu müssen.“

„Das ist richtig. An der heiligen Neujahrswende, sind uns keine Grenzen gesetzt. Wir können immer an unsere Energie herankommen.“

„Aber wann schließen sich nun alle diese Verästelungen da oben.“, wollte Ray nun drängender wissen. „Es hört sich nicht so an, als ob der Spuk Punkt Mitternacht vorbei ist.“

„Das wird er auch nicht. Doch mit jeder Stunde die vergeht, wird es schwieriger für die Uralten, in eurer Welt ungehindert an ihre Energie heranzukommen. Sobald alle Portale geschlossen sind, seid auch ihr sicher.“

„Aber nur für ein Jahr.“

„Nur für ein Jahr. Das ist wohl wahr.“, pflichtete Galux mit geschlossenen Lidern bei.

„Wie soll es danach eigentlich für uns weitergehen?“, fragte Tyson bei dieser Überlegung. „Ich meine, gibt es eine Möglichkeit, wie wir uns in Zukunft vor unseren Bit Beast schützen können?“

„Erst einmal solltet ihr es hinausschaffen, bevor ihr so weit denkt.“

„Trotzdem. Nur für den Fall, wir schaffen es, was können wir tun?“

Galux seufzte ob seiner Hartnäckigkeit.

„Ich kann euch nur raten eure Bit Beast, bis zur nächsten Neujahrswende, zu besänftigen. Driger wird euch wohl keine Probleme mehr bereiten. Er hat seinem Menschenkind vergeben. Doch was euch andere angeht, ihr werdet große Abbitte leisten müssen.“

Max schnaubte. Der pure Unwille Draciel zu vergeben sprach aus seinem Gesicht. Galux ignorierte ihn jedoch und wandte den Blick direkt an Tyson.

Du wirst besonders achtsam sein müssen. Nutze das Jahr, um deinen Geist zu beschwichtigen. Sprich Dragoon gut zu. Zeig ihm, dass du ihn wertschätzt, indem du ihm Opfergaben bietest. Die Uralten sind erhabene Geister und so solltet ihr sie auch behandeln. Womöglich könnte es seinen Zorn, bis zur nächsten Neujahrswende lindern. Dragoon ist die treibende Kraft hinter dieser Fehde. Der einzige Weg für dich aus dieser Geschichte, ist mit Vergebung. Ihr werdet euch beiden vergeben müssen.“

„Das kann ich nicht!“, spie Tyson zornig aus. „Nach allem was passiert ist, kann ich nicht so weitermachen, als wäre nichts gewesen!“

„Und doch musst du. Denk immer daran, er mag dich nicht angreifen können, doch er kann jene angreifen, die du liebst. Und er kennt dich… Du bist sein Abbild. Er weiß genau, wem er schaden muss, um dich am schwersten zu treffen.“

Ihm schien als ob sie ganz besonders Kai fokussierte. Bei diesem Gedanken wurde er aschfahl. Das Kind auf seinem Arm neigte fragend den Kopf auf ihre Worte. Erst als ein Stöhnen vor ihnen, die Ankunft eines weiteren Geistes ankündigte, wandte sich Galux ab. Ein weiterer Verdammter näherte sich. Tyson fiel auf das an jener Seele selbst Teile der Haut fehlten. Darunter kamen nur noch spröde Knochen zum Vorschein.

„Ai ai, der streunt wohl schon lange herum.“, sprach Allegro. Tatsächlich schien der Geist vor ihnen bald zu Staub zu verfallen. Es bedurfte nicht einmal mehr Galuxs eingreifen. Die Seele war so kraftlos, dass sie nur noch schleichend vorankam. Sie huschten an ihr vorbei und obwohl sie ihrer Anwesenheit gewahr wurde, war sie nur noch in der Lage, den Arm nach ihnen auszustrecken, ohne sie wirklich ernsthaft zu greifen zu bekommen.

„Was passiert eigentlich mit den Verdammten, wenn sie es nicht bis zu ihrem Jenseits schaffen?“

„Dann regnet es Asche wenn sie zu Staub zerfallen.“

Der Gedanke ließ Tyson schaudern. Er fragte sich, wie viel passieren musste, damit ein Mensch dieses Schicksal verdient hatte. Sie folgten dem Pfad, der vor ihnen eine Kurve machte. Irgendwie erinnerte Tyson die Strecke, an das beleuchtete Gleis einer Achterbahn, welches unsicher in der Luft schwebte. Plötzlich legte Galux eine Vollbremsung hin. Es kam so überraschend, dass die Gruppe ineinander rannte. Erst kurz vor dem Hindernis wurde Tyson klar, was das Problem war. Ihre Wurzel hatte ein Loch. Es war auf dem leuchtenden Pfad deshalb nicht sichtbar, weil der Weg dort einen steilen Schlenker abwärts machte, wie bei einer Schaukel. Glücklicherweise hatte Ray schnell reagiert. Bevor Tyson in ihn hineinrennen konnte, strafte er vor ihm den Rücken. Ein dumpfer Laut kam von Kai, als er gegen Ray prallte, da hörten sie Max neben sich schreien. Er hatte nicht so schnell reagiert. Tyson hielt geschockt den Atem an, als er ihn mit fliegenden Armen am Rand der Wurzel balancieren sah. Da erblickte er die geisterhafte Hand der Lichtgestalt die Max am Kragen packte. In Sekundenschnelle schoss Galux Schweif hervor, um ihn zusätzlich noch am Arm zu halten. Einen Ruck später war er aus der Gefahrenzone gezerrt. Maxs Augen waren geweitet und sofort als er sicheren Boden unter den Füßen hatte, ließ die Seele von ihm ab und verschwand wieder weit in den Hintergrund, als wolle sie niemanden zu nahe treten. Er starrte ihr aus aschfahlem Gesicht nach. Das alles war so schnell passiert, dass es ihnen den Atem verschlagen hatte.

„Verdammt, war das knapp!“, entfuhr es Ray. Max nickte, nicht in der Lage seinem Schrecken anders Ausdruck zu verleihen.

„Damit hatte wohl keiner von uns gerechnet.“, sprach Allegro. Als Tyson etwas näher an den Abhang vor ihnen herantrat, erblickte er etwas besorgt die Schneise vor ihnen. Nur noch wenige Sehnen hielten die Wurzel zusammen. Das Gerüst wirkte dadurch ziemlich unsicher und sofort befiel ihn ein Gefühl der Beunruhigung.

„Wie kommen wir da hinüber?“

Galux schien bereits die Antwort darauf zu haben. Neben ihnen sträubte sich das Bit Beast und wandelte sich zu ihrer Kämpfergestalt. Die Gruppe trat von ihr weg, denn dadurch gewann sie an solcher Größe, dass sie mehr Platz auf dem Pfad in Anspruch nahm.

„Einer nach dem anderen klettert nun auf meinen Rücken. Ich springe mit euch über den Schlund.“

Tyson war froh, dass sie diesen Einfall von sich aus einbrachte, denn auch er hatte diese Idee gehabt. Allerdings kam es ihm etwas unverschämt vor, es laut auszusprechen, wo Galux sich doch so damenhaft verhielt. Man konnte ja nie wissen, wann ein Bit Beast sich auf den Schlips getreten fühlte. Falls dies der Fall war, ließ sie sich allerdings nichts anmerken. Zuerst verhalf sie Max über den Spalt, danach ihm, mit Kai im Schlepptau. Als sie auf der anderen Seite Fuß fassten, bemerkte Tyson jedoch voller Entsetzen, dass sich ein weiterer Geist Ray näherte. Galux beeilte sich, um wieder zu ihm, auf die andere Seite zu gelangen, doch dank der gesichtslosen Seele, blieb das graue Gespenst von Ray fern. Der beobachtete ziemlich verunsichert, wie sie sich zwischen ihnen aufbäumte. Sie streckte die Arme aus, um den Geist am Weitergehen zu hindern. Als er an ihr vorbeiziehen wollte, legte sie die Hände nur beschwichtigend auf die Schultern ihres Verfolgers, während Galux hinter ihr auf der anderen Seite aufkam, um Ray abzuholen. Tyson beobachtete wie er schnell auf ihren Rücken kletterte und sich in ihrem Fell festkrallte. Erst als sie mit einem beherzten Sprung, ihren Freund zu ihnen verfrachtete, ging ein aufatmen durch die Gruppe. Als Ray abstieg, schien er heilfroh, nun auf dem sicheren Ufer zu sein.

„Das war wirklich knapp.“

„Allerdings. Die tauchen manchmal wie aus dem Nichts auf.“, meinte Tyson.

„Das liegt an der Finsternis hier unten.“, erklärte Galux. „Sie verschluckt jegliches Licht. Daher ist es umso wichtiger immer beisammen zu bleiben. Der einzige Anhaltspunkt hier unten ist der Wurzelpfad. Jedenfalls für euch Menschen. Wir Bit Beasts können uns noch auf unseren Geruchsinn verlassen.“

„Und doch muss ich sagen, dass er uns manchmal zu trügen scheint.“, sprach Allegro. Der Mäuserich stemmte einen Arm in die Seite, während der andere sich an Rays Strähnen festhielt. „Ich habe kaum bemerkt, dass dieser Geist sich anbahnt.“

„Das liegt an ihr.“, Galux nickte zu ihrer Helferin, welche ihren Artgenossen im Zaun hielt. Tyson schien als würde eine lautlose Kommunikation zwischen den beiden stattfinden. Irgendwann ließ der graue Geist nämlich von seinem Vorhaben ab und trottete mit schleichenden Schritten davon. „Da sie ebenfalls tot ist, haftet auch an ihr der Geruch, einer dahingeschiedenen Seele. Das verfälscht den Duft um uns herum.“

„Trotzdem ist sie uns eine Hilfe.“, warf Tyson ein. „Sie hat doch ganz offensichtlich etwas an sich, was die grauen Geister besänftigt! Und sie tut uns nichts. Wäre Ray auf der anderen Seite alleine herumgestanden, dann hätte der graue Geist ihn aus dem Hinterhalt angreifen können, noch ehe wir es richtig bemerkt hätten.“

„Mademoiselle, ich muss ehrlich gestehen, dass ich da seiner Ansicht bin.“, pflichtete nun auch Allegro bei. „Wäre sie auf die Energie der Jungen aus, hätte sie sich Ray doch schnappen können, als er schutzlos auf der anderen Seite herumstand.“

Galuxs Blick lag nachdenklich auf der Strommaus. Dann wandte sie ihre saphirgrünen Augen zu der Lichtgestalt auf der anderen Seite. Die schaute ratlos auf den Abgrund vor sich und schien sich zu fragen, wie sie ihnen jetzt noch folgen sollte. Es wäre die Gelegenheit, die unliebsame Fremde abzuschütteln. Als der Rest der Gruppe ebenfalls den Blick zu ihr schweifen ließ, schien ihre Verfolgerin den Kopf hängen zu lassen. Obwohl sie kein Gesicht besaß, kam es Tyson vor, als würde sie betrübt zu Boden schauen.

„Nun gut. Ich habe mich schon einmal geirrt. Vielleicht irre ich mich auch dieses Mal.“, sprach Galux schließlich. Kurz nach diesen Worten, tat sie einen beherzten Sprung über die Kluft, um das neueste Mitglied, ihrer bunten Truppe, auf die andere Seite zu verhelfen.
 

*
 

Der Ausgang welchen sich Dragoon näherte kannte er gar nicht. Es war eine unscheinbare, schmale Wurzel, dessen Pfad abwärts führte, zu den ersten Erdschichten die an die Menschenwelt grenzte. Einmal mehr war er überrascht über Galuxs Voraussicht, denn die glimmende Wurzel führte in einen engen Stollen, wo sie in einer Tropfsteinhöhle endete, was sicherlich dem Zweck diente, dass Dragoon ihnen nicht in seiner Drachengestalt folgen konnte, da sein Körper zu massig für diese Umgebung war.

„Wie die Ratten die sich in ihren Löchern verkriechen.“, knurrte er bissig und bedachte den Weg. Mit einem Arm hatte er Schwierigkeiten voranzukommen. Ihm fehlte die Stabilität und er musste sich erst daran gewöhnen, dass sein Gewicht nun recht einseitig verteilt war. Das machte vor allem große Sprünge hier unten schwierig. Für gewöhnlich wäre es ein leichtes für ihn gewesen, in der Finsternis von einer Wurzel zur Nächsten zu fliegen. Doch nun befand er sich ständig in einer störenden Seitenlage. Dragoon fletschte verbissen die Zähne und berührte mit seiner verbliebenen Hand, den kümmerlichen Stumpf zur Seite seines Torsos. Driger hatte wirklich ganze Arbeit geleistet…

Dann nahm er Anlauf und schoss erneut zwischen den dutzenden Wurzelsträngen hindurch. Gleich nachdem er mithilfe des Weltenbaumes, den Standpunkt der Gruppe ausfindig gemacht hatte, war er ihnen schnellstens hinterher geeilt. Zu seiner Überraschung war Draciel auch bereits auf dem Weg dorthin. Das es von alleine handelte, war ihm neu, doch es freute ihn, dass die Schildkröte endlich mal einen rechten Geistesblitz bekam. Für gewöhnlich musste er immer klare Anweisungen erteilen, bevor es in Bewegung kam.

Bei diesem Gedanken huschte ein schiefes Grinsen über seinen Mund.

Es entblößte einen langen Schneidezahn. Ihm gefiel die Vorstellung, dass die Gruppe nun direkt in Draciels Arme lief. Allein wegen Takaos dümmlichen Gesichtsausdruck, wollte er so schnell wie möglich am Ziel ankommen. Diesem vorlauten Gör sollte es noch leidtun, dass er Driger gegen ihn aufgehetzt hatte. Diese großspurigen Worte, mit denen er dessen Verstand regelrecht infiltrierte, waren geradezu eine Frechheit gewesen.
 

„Warum lässt du dir Vorwürfe machen? Er sagt du wärst wie Ray und weißt du was? Das ist vollkommen in Ordnung! Es hat einmal einen Grund gegeben, weshalb du ihn als Kind ausgesucht hast. Wahrscheinlich genau deswegen!“
 

Ja, Driger war wie Ray. Da hatte der Junge allerdings recht gehabt.

Es war ein offenes Geheimnis, dass sich Bit Beast jene Kinder aussuchten, die ihrem Naturell am ehesten entsprachen. Desto identischer sie ihnen waren, desto besser ließen sie sich anzapfen. In Takao hatte er viel Sturm in der Seele gesehen. Seine gesamte Familie war von dieser Eigenschaft gezeichnet. Es zog sich wie eine Linie durch den Stammbaum der Kinomiyas. Daher hatte Dragoon gerne über diese Familie gewacht, denn es kam auch ihm zugute. Takao war damals ein regelrechter Wirbelwind gewesen und nur zu gerne, war Dragoon seinem Flehen nachgekommen, als der Junge sich kurz vor einem entscheidenden Match, an ihn wandte, um ihn um seinen Beistand zu bitten. Er wusste noch wie entschlossen der Junge war, wie unnachgiebig in seinem Willen, diesen vorlauten Knaben namens Carlos zu besiegen. Es war Dragoon vorgekommen, als braue sich in Takao ein Tornado auf, genau wie all die anderen Male, in jenem er vor einem entscheidenden Match stand. Doch nun wagte dieser Bengel es, diese Seite gegen ihn aufzubringen.

Nach einem weiteren Sprung, landete Dragoon auf der Wurzel, die zu einer jahrhundertalten Tropfsteinhöhle in der Menschenwelt führte, zu der Galux die Gruppe steuerte. Er roch die Anwesenheit der Jungen. Sie waren nicht mehr fern, doch noch lagen sie hinter ihm.

Er hatte es tatsächlich vollbracht vor Takao hier anzukommen.

„Du kannst nicht schneller als der Wind sein, Junge.“, sprach Dragoon voller Genugtuung, dann wandte er sich dem Stollen zu. Er überwand die letzten Meter. Die vorher in der Schwebe liegende Wurzel, wurde zu einer Kuhle, als formte sie sich zu einem länglichen Boot, bis die feinen Ranken sich zum Ende hin, zu einem komplizierten Flechtwerk auftürmten, das einen Schlauch bildete. Desto tiefer man in den Stollen eindrang, desto mehr würden sich die Verschnörkelungen des Weltenbaumes, in festen, glanzlosen Untergrund wandeln, wie ihn die Menschen zu ihren Füßen kannten. Hier verbanden sich die Weltenbaumzwillinge und bald würde er das Reich des Totenbaumes betreten. Dragoon schritt in die Höhle. Augenblicklich roch er die unterschiedlichsten Düfte die ihn in der Welt der Sterblichen erwarteten. Der Ort, welchen die Gruppe anstrebte, war in deren Heimat, als die Fugaku Windhöhle bekannt. Dieser Umstand spielte Dragoon in die Hände, denn dieses seltene Naturschauspiel, war eines der wenigen Phänomene, was ihm ermöglichte, auch unter der Erde seine Winde zu verwenden. Für gewöhnlich hörte sein Einflussgebiet dort auf, wo seine Luftströme nicht mehr heranreichten. Nicht das er dann komplett wehrlos war, doch von Vorteil waren derlei Orte selten für den Drachen. Während ihrem Kampf, hatte Driger deshalb mehrmals versucht, ihn zu packen und mit einem seiner Ranken unter die Erde zu ziehen. Dort unten wäre Dragoon im Nachteil gewesen und hätte auf seine bloße Körperkraft zurückgreifen müssen. Doch diese Höhle besaß durch die Temperaturdifferenzen einen Höhlenwind. Selbst im Hochsommer herrschte dort eine angenehme Kühle und in ihrem Inneren, befanden sich je nach Jahreszeit auch Eiszapfen. Da in Japan momentan der Herbst Einzug hielt, war sich Dragoon sicher, dass Draciel deshalb dort auf die Kinder wartete. Sicherlich genoss sie die Feuchtigkeit in der Höhle, deren komplizierte Vergabelungen, weit in die Erde reichten. Davon wussten die Menschen allerdings natürlich nichts. Zwar erforschten sie solche Plätze mit Vorliebe, doch kaum einer besaß noch die Weitsichtigkeit, um jenen Pfad zu finden, der in die Zwischenwelt führte. Jener Ort, der eine Art Grauzone, zwischen den Weltbaumzwillingen bildete. Es war so gesehen ein Niemandsland, was weder so recht zum einen, noch zum anderen Baum gehörte.

Dragoon nahm das leise Plätschern von Wasser wahr. Mit jedem Schritt wandelten die Wurzeln ihr Aussehen, wurden zu hartem Felsgestein. Der Boden wurde rutschiger ob der Feuchtigkeit. Dragoon fuhr nachdenklich mit der Hand über die groben Wände über sich. Er musste geduckt voranschreiten, denn der Gang war beengend. Driger hätte diesem Ort bestimmt mehr abgewinnen können. Bevor der Gedanke drohte ihn traurig zu stimmen, schüttelte er den Kopf und besann sich wieder. Ihm fiel ein dass er Draciel seinen Reißzahn geben musste. Um das Attribut der Erde nicht zu verlieren, hatte ihn sich Dragoon kurz einverleibt. Er ließ seine verbliebene Hand zu einer Faust werden. Aus ihrem Inneren glomm ein Licht und als er die Handfläche wieder öffnete, lag darin Drigers Reißzahn. Der Anblick drohte ihn erneut melancholisch werden zu lassen, deshalb konzentrierte er sich von da an nur noch auf den Weg. Es war stockfinster im Stollen geworden, da die Wurzeln ihren Glanz verloren, sobald sie sich mit der Erde der sterblichen Welt vermischten. Er orientierte sich hauptsächlich an Draciels Geruch. Dragoons Nüstern weiteten sich. Der Menschenkörper den die Schildkröte bewohnte, sonderte einen recht penetranten Gestank von Verwesung ab - wie eine Wasserleiche eben. Da hörte er auch schon die Schritte von Draciel. Jedes Knistern eines Fußtrittes, wurde von der kühlen Luftzirkulation an sein Ohr getragen, wie ein verräterisches Wispern.

Sie näherten sich einander.

Der Stollen machte einen Schlenker aufwärts, wo er in einem weiten Raum endete. Mit einem beherzten Sprung entfloh er der Enge des Ganges und landete in einer Wasserlache. Die Tropfen stoben bei seinem Aufprall nur so herum. Als Dragoon sich umschaute, lag die Höhle im kühlen Glanz der Eiszapfen. Sie bildeten glitzernde Säulen, hingen messerscharf von der Decke herab oder umhüllten ganze Felsblöcke, wie eine transparente zweite Haut.

Schnell verriet ihm der Luftzug in der Höhle, wo sich Draciel befand.

„Ich habe etwas für dich.“, sprach er ohne ein Wort des Grußes. Die Schildkröte saß auf einem Felsvorsprung, der inmitten eines Tümpels emporragte. Die Hände des toten Körpers lagen sittsam gefaltet auf dem Schoss. Der Kopf war gesenkt, die Lider geschlossen. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn Draciel schon wieder ein Nickerchen hielt. „Du wirst mitbekommen haben, was Driger getan hat.“

Ein langsames Nicken ließ erkennen, dass sein Gegenüber bereits im Bilde war.

„Es ließ sich nicht ändern. Er hat uns verraten“, fuhr Dragoon fort. Er wusste gar nicht vor wem er sich rechtfertigte, denn die Frage war gar nicht gefallen. Ihn beschlich das Gefühl, als ob er diese Worte zu sich selbst sprach. Etwas lag da in seinem Inneren verborgen, was beschwichtigt werden wollte.

„Du musst Drigers Part übernehmen. Ich habe hier seinen Reißzahn. Das wird als Attribut ausreichen. Ich hoffe es wird nicht lange brauchen, bis das neue Bit Beast geboren wird.“

Etwas gedankenverloren blickte er ein letztes Mal auf den Reißzahn. Seltsamerweise drängte sich der Wunsch in ihm auf, dieses kleine Überbleibsel zu behalten. Nicht weil er Drigers Macht für sich beanspruchte – sondern als Erinnerung an seinen dahingeschiedenen Kameraden. Da bemerkte er eine Regung vor sich. Als Dragoon aufblickte, streckte Draciel die blasse Hand nach dem Attribut aus. Die Lider waren geschlossen. Kein Atemzug kam von den Lippen. Er fragte sich, ob Draciel denn gar keine Trauer verspürte. Beide waren mit Driger groß geworden und dennoch gab es keinen Mucks von sich. Als spiele es keine Rolle, ob ihr jahrelanger Freund vom Angesicht beider Welten verschwunden war.

Dragoon schüttelte verächtlich den Kopf. Scheinbar war ihm Draciel was das anbetraf, in etwas voraus. Es verhielt sich so, wie es sich für einen Uralten geziemte. Wenigstens ein Bit Beast was an den alten Normen festhielt. Er überwand die letzten Meter zwischen ihnen, hob seinen Arm, um das Attribut in die ausgestreckten Finger zu legen – doch einen Moment später verweilte er. Da Draciel so gut wie stumm war, war seine einzige Möglichkeit, mit dem Bit Beast zu kommunizieren, indem er die Gedanken der Schildkröte abhörte. Doch da war kein Atemzug, aus dem Dragoon schlauer werden konnte. Das kam ihm seltsam vor.

„Weshalb hältst du den Atem an?“, fragte er.

Seine Stimme wurde leise, bedrohlich und voll von Misstrauen. Erst kürzlich musste er miterleben, wie sich ein weiterer seiner Verbündeten gegen ihn stellte. Von Dranzer war er böse Gedanken gewohnt gewesen. Sie war von einem hitzigen Gemüt und irgendwann empfand er die Flüche, die in ihrem hübschen Köpfchen herumspukten, als geradezu erfrischend belustigend. Vor allem wenn es sie ärgerte, dass sie ihren Groll vor ihm nicht verbergen konnte. Dragoons drachenhafte Pupillen hefteten sich auf Draciels Gesicht. Die farblosen Lippen des menschlichen Körpers blieben stumm. Die Hand verweilte in der Schwebe, bereit das Attribut von ihm entgegenzunehmen. Sein Blick huschte kurz zu den Fingern. Sie waren ruhig. Er sah kein Zittern. Keine Nervosität.

Seine dunklen Pupillen irrten erneut zu dem Gesicht. Die Lider über den Augen waren gesenkt, als wäre das Bit Beast entspannt. Wie die friedliche Oberfläche des Meeres, das nicht offenbarte, was sich in ihren Tiefen befand. Trügerisch…

Als er bemerkte, dass Draciel noch immer keine Anstalten machte, vor ihm auszuatmen, packte sein Gegenüber so plötzlich zu, dass er keine Zeit mehr hatte, seinen Arm zurückzuziehen. Er wollte sich losreißen, was aber in Ermangelung eines weiteren Arms schwierig wurde. Während er mit einem verbissen Ausdruck, seinen Oberkörper zurückzog, versuchte Draciel seinen Griff um das Attribut zu lockern, in einer so energischen Anstrengung, dass ihm klar wurde, wie viel davon abhing.

„Erst will ich deine Gedanken hören!“, fauchte er.

Und endlich hörte Dragoon sie. Mit einem winzigen Atemzug…

Ihm folgten dutzende Überlegungen. Sie klangen leise, wie ein Wispern. Dennoch vernahm er die schweren Vorwürfe, welche durch Draciels Geist schallten. Es war erzürnt, dass Dragoon so leichtfertig Driger ausgelöscht hatte, wütend, weil ihm das Band zwischen seinen Kameraden so egal war. Es grollte, ja, hasste ihn dafür, dass seine Rache ihm wichtiger war, als seine Verbündeten.

„Das ist nicht wahr!“, brüllte er Draciel entgegen. „Es war nicht meine Schuld! Ich wollte es niemals so weit kommen lassen!“

Und da erhaschte er bereits einen weiteren Atemzug – und damit die Erkenntnis in wessen Auftrag Draciel handelte! Als er die Drahtzieherin erkannte, riss er entsetzt die Augen auf.

Die Weltenbaummutter. Seine Mutter…

Sie stellte sich ihm nun auch in den Weg!

„Warum?“, fragte er mit geweitetem Blick. Seine Stimme überschlug sich vor Enttäuschung. Das hatte er niemals erwartet. Ihrer aller Mutter, die sich nie zu den Belangen ihrer Kinder äußerte, tat es ausgerechnet jetzt, um ihn aufzuhalten.

„Weshalb schert es sie, was wir untereinander treiben?! Sonst hat sie sich immer in stillschweigen gehüllt und ausgerechnet mit dir, tüftelt sie an einem Plan, um mich zu stürzen?!“

Er vernahm Draciels Gedanken. Die bodenlose Unterstellung das er zu weit ging. Es klang wie ein leiser vorbeiziehender Schall. So wie jeder Gedanke, der mit dem Atemzug eines Lebewesen mitschwang.

Die Anklage tat weh.

Der Verrat noch viel mehr.

Er konnte nicht begreifen, dass sich die ganze Welt gegen ihn wandte. Dieses beklemmende Gefühl in seinem Bauch nahm nun überhand. Selbst wenn er noch gewollt hätte, er konnte diese Trauer nicht mehr unterdrücken.

Dass die Mutter aller Bit Beats ihn so hinterging – es schmerzte!

Bei seinem Versuch sich von Draciel wegzuziehen, zerrte er es vom Felsen hinab. Da fühlte er das kühle Wasser an seinen Waden. Es sprudelte förmlich um ihn herum. Die Tropfen flogen nur so durch die Gegend. Er hob den Fuß und verpasste Draciel einen Tritt in den Magen. Damit bekam er sich endlich frei. Die Schildkröte fiel rückwärts über den Felsen, doch mitten in ihrem Flug, streckte sie die Hand in seine Richtung aus. Gerade rechtzeitig sprang er aus dem kleinen Teich. Das Wasser darin wurde zu einer Fontäne, die wie bei einem Geysir, ihre Massen aufwärts spie. Wäre er noch an jener Stelle gestanden, hätte es ihn gegen die felsige Höhlendecke geschleudert, die noch dazu mit spitzen Eiszapfen bespickt war. Hier unten zu kämpfen war ein absoluter Nachteil für ihn.

Das wurde nun auch Dragoon klar. Draciel hatte ihn absichtlich hier drinnen, in dieser klammen Enge erwartet und nicht draußen auf dem Wurzelpfad, wo er im grenzenlosen Nichts hätte abtauchen können. Er konnte fliegen, Draciel nicht.

Das hatte das Wasser Bit Beast gewusst und die Gunst der Stunde wahrgenommen. Dragoon blickte auf das Attribut in seiner Handfläche. Hätte er Draciel auch noch Drigers Macht gegeben, wäre er komplett unterlegen. Den Reißzahn durfte er nun keinesfalls mehr verlieren. Draciel würde die Kraft nutzen um ihn hier unten, zwischen all dem Gestein zu zerquetschen. Bei diesem Gedanken kam ihm ein Einfall, vor dessen Ausführung er sich jedoch sträubte. Er hatte keine Ahnung wie man die Kraft eines Erd Bit Beasts lenkte. Womöglich schadete es Dragoon mehr als das es ihm half.

Er schaute argwöhnisch auf, als er gurgelnde Laute vernahm. Als sein Blick durch die Höhle irrte, quoll aus sämtlichen Teichen das Wasser über. Tückische, alte Schildkröte!

Entweder trat er nun den Rückzug an oder Dragoon tötete Draciel, bevor es ihn hier unten absaufen ließ. Sein Verstand sagte ihm, es sei das Beste nachzugeben, die Jungen ziehen zu lassen und dafür zu sorgen, dass die Welt nicht noch mehr, durch den Tod eines weiteren Uralten, aus den Fugen geriet. Da war ein Teil in ihm, der auch nicht noch einen Kameraden verlieren wollte.

Doch seine tierischen Instinkte übermannten ihn. Er fühlte sein Blut unerbittlich in seinen Venen pulsieren. Seine Schläfe pochte hart an seinem Kopf. Pures Adrenalin. Es umnebelte seinen Geist, wie jedes Mal, wenn er sich zum Kampf bereit machte. Sein Atem beschleunigte sich. Seine Augen nahmen Draciel ins Visier.

Er wollte kämpfen. Er wollte sich nicht unterwerfen lassen!

Einen leisen Moment drängte ihn sein Verstand vernünftig zu bleiben. Die Konsequenzen zu überdenken.

„Willst du einen weiteren Kameraden verlieren?!“

Doch es drang nicht mehr zu ihm durch. Es war wie eine Mauer, die beide Parteien voneinander splittete, sodass sie unfähig waren, einen Kompromiss auszudiskutieren. Er konnte nur noch auf einer Seite stehen. Als Draciel sich wieder aufrichtete, sah er noch die geweiteten tiefschwarzen Pupillen seines Gegenübers, in welchen eine ebenso unnachgiebige Kampfeslust herrschte. Selbst die Schildkröte konnte nicht anders. Keiner von beiden würde nachgeben. Sie waren nun einmal Bit Beasts…
 

*
 

Die verschlungene Höhle war kühl und finster. Nur das Licht, was von den Körpern der beiden Bit Beasts ausging und das ihrer geisterhaften Begleitung, erhellte noch den Weg, da der Glanz der Wurzel irgendwann erlosch, bis sie sich unter ihren Füßen zu harten Felsen wandelte. Es machte den Stollen stockdunkel. Ray war einen Moment irritiert stehen geblieben, als er das Gestein unter sich bemerkte. Etwas hilflos hatte er zu Galux geschaut.

„Der Pfad leuchtet nicht mehr.“

„Weil ihr auf der Grenze zur Menschenwelt steht. Ihr betretet die Zwischenwelt. Ein schmaler Grad zwischen beiden Orten.“

Es war ein merkwürdiges Gefühl gewesen, direkt auf der Schwelle zu stehen und ehrlich gesagt, erschien Tyson der Rückweg viel einladender. Vor ihnen war nur noch eine gähnende Finsternis und er spürte, wie furchtsam Kai seine Hand drückte. Kinder hatten nun einmal Angst im Dunkeln. Die typische Urangst schlechthin…

Sie hatten sich Schritt für Schritt vorgetastet und Tyson musste gestehen, dass ihm sein Herz bis zum Hals hämmerte. Überall um ihn herum, fühlte er feuchtes Gestein. Irgendwann bemerkte er, dass der Gang nicht einmal mehr breit genug war, um die Arme auszustrecken. Der Gedanke ließ ihn schneller atmen. Man konnte Wassertropfen vernehmen, die in der klammen Stille von der Decke fielen, sah aber nicht weiter, als bis zu dem spärlichen Leuchten der Bit Beasts. Es wirkte, als würden sie in einem dunklen Rohrschacht wandeln, ohne Aussicht auf ein Ende. Es war äußerst beengend und drückte ihm aufs Gemüt. Tyson überkam ständig die Furcht, Max hinter sich zu verlieren. Zudem lief der gesichtslose Geist wenige Schritte hinter ihm her. Zwar blieb sie in sicherem Abstand von ihm entfernt und tat auch keine Anstalten, sie hinterrücks zu überfallen, doch Tyson fühlte sich dennoch unwohl. Er konnte sich sein Unbehagen selbst nicht so genau erklären, aber er war ja auch noch nie an so einem Ort gewesen. Irgendwann bat er Max, die Hand auf seine Schulter zu legen.

„Ich will wissen dass du noch da bist.“, hatte er aus kratzigem Hals erklärt. Als Ray das hörte, drehte er sich im fahlen Licht der Bit Best zu ihnen um und schaute ihn forschend an. Da er ihre Lichtquelle dadurch im Rücken hatte, wurde sein Gesicht ein vager Umriss. Tyson bemerkte kalten Schweiß auf seiner Stirn.

„Bist du okay?“, fragte er besorgt. Ihm fiel auf, dass nicht einmal seine Lippen zu erkennen waren. Als würde ein Schatten zu ihm sprechen.

„Ich komme klar.“

Ehrlich gesagt war dem aber ganz und gar nicht so. Er riss sich nur Kai zuliebe zusammen, um das Kind nicht nervös zu machen. Es war eine geradezu klaustrophobische Situation für ihn und wurde immer bedrückender. Er kam sich total eingezwängt vor und wollte doch eigentlich nur frische Luft um sich herum haben, nicht diesen Modergeruch der ihm in die Nase stieg. Es hatte etwas von einem Grab. Als wäre er lebendig in einem Sarg, den man viele Meter tief, unter einer dicken Schicht Erde verschüttet hatte.

„Galux, wo endet diese Wurzel denn?“, wollte er schließlich wissen.

„In einer Höhle. Ihr Menschen nennt sie die Fugaku Windhöhle.“

„Wirklich?“, lachte Ray erstaunt aus. „Da waren wir doch schon einmal!“

„Ja stimmt! Kenny, Hilary und Daichi waren damals auch dabei. Die Höhle liegt doch in den Aokigahara Wäldern.“, erinnerte sich Max. „Dieser Ort war wirklich interessant… Die merkwürdigen Eisformationen darin, die meterdicken Säulen die sie gebildet haben und obwohl es Hochsommer war, hat man dort drinnen richtig gefroren. Ein Foto von damals, habe ich mir damals entwickeln lassen, um es zuhause an die Wand zu hängen. Die Höhle wirkte auf mich geradezu surreal…“

„Weil sich in vielen solcher Orte ein kleines Schlupfloch in die Irrlichterwelt befindet.“, erklärte Galux. „Für meine Art ist es selten ein Problem diese zu wittern. Die Augen der Sterblichen haben damit aber ihre Schwierigkeiten. Besonders eure Spezies ist mit den Jahrhunden so abgestumpft, dass sie selten noch die Energie der Wurzeln wahrnimmt, die einem solchen Ort innewohnt. Es ist ein Jammer…“

„Tyson, du zitterst.“, bemerkte Kai plötzlich.

Schlagartig wurde es still. Ray drehte sich erneut zu ihm um.

„Mir ist nur kalt.“, dennoch ging es vor ihnen nicht weiter. Auch Galux bewegte sich nicht fort. Inmitten dieser Enge schien ihr Flackern, wie ein gespenstischer Wegweiser. Ihre saphirgrünen Augen blieben lange auf ihm ruhen. Tyson spürte eine unerklärliche Panik in sich hochsteigen - einfach weil es nicht weiterging. Der Gedanke dass jeder Schritt, den sie nicht taten, eine weitere Sekunde hier drinnen bedeutete, zerrte an seinem Nervenkostüm. Er verstand selbst nicht was mit ihm los war. Die Finsternis konnte nicht das Problem sein. Bevor sie in den Stollen geklettert waren, schwebte der Wurzelpfad doch auch in dieser unendlichen Dunkelheit. Maxs andere Hand gesellte sich auf seine Schulter.

„Ist wirklich alles klar?“

„Ja. Alles in Ordnung.“, beteuerte Tyson schnaufend. Er schwitzte ziemlich stark. Sein Lachen klang selbst für ihn zu nervös. Da sprach Galux auf einmal:

„Ich verstehe. Die Angst der Enge. Ein typisches Problem für eine Seele in der viel Wind lebt.“

„Angst vor Enge?“, wiederholte Ray perplex. „Das hört sich wie Klaustrophobie an.“

„Die habe ich nicht!“, bestritt Tyson prompt. Zumindest war ihm das selbst nie so vorgekommen. Er mochte weite offene Räume, war gerne im Freien, aber das traf doch auf viele Menschen zu. Das machte noch lange keinen Klaustrophobiker aus ihm. „Ich war damals in der Höhle auch dabei!“

„Nun, mir scheint fast so, als würde das Problem auch nur in Extremfällen auftreten.“, sprach Allegro. Er sah die kleine Gestalt der Strommaus ratlos auf Rays Schulter ihren Kopf zur Seite neigen. „Darf ich fragen, ob du dich schon einmal an einem solchen Ort befunden hast?“

„Ich war schon einmal in einer Höhle!“, betonte Tyson erneut gereizt.

„Aber auch in einem so engen Schacht wie diesem hier? Für eine Strommaus wie mich, mag es riesig wirken, aber ein so großes Wesen wie du, könnte sich hier doch stark eingeschränkt fühlen, oder täusche ich mich?“

„Ich weiß nicht… Ich denke nicht.“

„Ruhig Tyson. Deine Atemzüge sind ganz flach.“

„Lass mich einfach in Ruhe, Max!“

„Drängt ihn nicht.“, sprach Galux ein strenges Machtwort. „Es ist selten hilfreich, eine Angst weiter zu schüren, indem man der Person hilft, sich in sie hineinzusteigern!“

Es wurde einen Moment ruhig. Tyson nutzte die Stille und sprach keuchend:

„Lasst uns einfach weitergehen, okay?“

„Deine Hände sind ganz feucht.“, sprach das Kind an seiner Seite besorgt.

„Kai, kommst du zu mir?“, bat Ray ihn. Er begriff worum es hier ging und desto mehr das Kind auf seinen Symptomen herumritt, desto unerträglicher machte es die Situation für Tyson. Dankbar entließ er den Kleinen, in die Obhut seines Freundes und fühlte nur umso mehr, wie Maxs Finger seine Schultern drückten.

„Wir sind da. Konzentrier dich einfach auf deinen Weg. Und atme ganz ruhig…“

Tyson hatte gar nicht bemerkt wie hektisch seine Atemzüge wurden und schluckte hart. So einem bedrückenden Ort war er noch nie ausgesetzt gewesen. Diese ganze Situation…

Wäre er alleine hier unten, er wäre schon längst wahnsinnig geworden. Sie schritten weiter und er musste zugeben, es tat gut Maxs Hand auf seiner Schulter zu spüren und Rays Gestalt vor sich zu sehen, der Kai sicher neben sich hielt. Es war eine Sorge weniger, ihn in guten Händen zu wissen. Das Kind drehte sich mehrmals zu ihm um und schaute ihn besorgt an. Tyson schenkte ihm dann immer ein mattes Lächeln. Irgendwann fragte er sich, wie sich Menschen fühlten, die im Bergbau tätig waren. Doch sofort schob er diesem Gedanken einen Riegel vor. Er versuchte ihn gar nicht erst zu vertiefen, denn allein die Überlegung ließ ihn schneller Atmen.

„Tyson, weißt du woran ich gerade denke?“, fragte Max ihn plötzlich.

Er antwortete nicht, denn seine Kehle fühlte sich zu trocken an. Er hätte alles für einen Schluck Wasser gegeben. Inmitten seiner düsteren Gedanken, vernahm er Maxs Stimme.

„Kannst du dich daran erinnern, als wir ein zweites Mal nach Paris geflogen sind?“

„Ja.“, sprach er knapp angebunden. Bei ihrem ersten Besuch hatten sie wenig von der Stadt mitbekommen und wollten sich bei diesem Städtetrip, einfach nur dem französischen Flair hingeben.

„Und wie wir vor dem Élysée-Palast standen? Erinnerst du dich?“

„Dieser Vorfall mit der Polizistin?“, fragte Tyson schweratmend nach.

„Ja. Im Reiseführer stand, dass man den Palast mal anschauen soll, wenn man in Paris ist. Die meinten aber von außen. Wir dachten aber man kann hinein und ihn besichtigen, dabei war es der Staatssitz vom französischen Präsidenten und wir sind den ganzen Morgen, um das Gebäude herum gelaufen, weil wir den Ticketautomaten gesucht haben, bis wir die Polizistin davor gefragt haben, wo der Eingang für die Touristen ist.“

Tyson erinnerte sich. Die Wache war aus allen Wolken gefallen, als sie ihre Frage vernahm, denn man spazierte ja auch nicht einfach in den Buckingham Palast, um der Queen einfach mal so einen Besuch abzustatten. Die Brauen der Polizistin waren so verwundert hoch geschossen, dass sie kaum noch unter ihrem Pony zu sehen waren. Vor ihm erklang ein belustigtes Lachen von Ray, als er sich daran erinnerte.

„Ja genau. Du bist zu ihr gelaufen und hast in deinem schrecklichen Englisch gefragt, wo man Eintrittskarten kaufen kann.“, er begann ihn zu imitieren. „Sorry Misses? But where can I buy tickets for that stupid building?!“

Die Überlegung lockerte den Griff um seine Kehle.

„Jah!“, sprach er schließlich etwas heiterer. „Das Beste war ihre Antwort.“

„No tickets! No no! It`s forbidden!“, ahmte Max die entsetzte Stimme der Beamtin nach. „Ihr Englisch war genauso beschissen wie deines.“

„Ich hätte dich vorschicken sollen.“

„Bei ihrer Aussprache hätte ich auch nicht weiterhelfen können. Die hatte einen so üblen Akzent drauf, dass meine eigenen Muttersprache wie arabisch klang.“

Ein leises Lachen ging durch die Runde. Es ließ Tyson einen Moment die klammen Felswände um ihn herum vergessen und entspannter werden.

„Und Kai hat uns auch noch ins Verderben geschickt! Er wusste genau, dass man den Palast nicht besichtigen darf.“, sprach Ray. Das Kind an seiner Hand schaute verdutzt zu ihm auf.

„Ich?“, fragte es ganz arglos.

„Oh ja… Du kleiner Fuchs hast noch zu uns gemeint, dass wir so früh wie möglich aufstehen sollten, damit wir auch wirklich die ersten in der Schlange sind. Aber selber wolltest du nicht mitkommen.“

„Und als wir wieder im Hotel waren, saß er am Mittagstisch über einer Zeitung gebeugt und hat ganz scheinheilig gefragt, wie das Frühstück beim französischen Staatspräsidenten war.“, sprach Max hinter ihnen gutgelaunt.

„Warum? Kann der gut kochen?“, kam die kindliche Frage. Da prustete die Gruppe auch schon los. Tyson schwor sich, dass er diesen Satz, Kai sein Leben lang unter die Nase reiben würde, sollte er wieder erwachsen sein. Beinahe vergaß er seine Angst. Da sträubte sich Galux abrupt vor ihnen und blieb so plötzlich stehen, dass Ray fast über sie gestolpert wäre. Wie zur Salzsäule erstarrt, verweilte sie längere Zeit an einem Fleck, dabei beobachtete die Gruppe, wie ihre Nase sich bewegte und ihre Ohren zuckten. Dann schüttelte sie den Kopf und trat fassungslos zurück.

„Oh nein…“

„Mademoiselle?“

„Er ist hier!“, flüsterte sie nur aus erschüttertem Blick. Es dauerte nicht lange, bis die Gruppe begriff, wen das Bit Beast meinte.

„Folgt er uns?“, fragte Max panisch. Tyson fühlte wie die Finger von seinen Schultern verschwanden. Der Gedanke Dragoon in dieser Enge über den Weg zu laufen, ließ auch ihn erstickt keuchen.

„Überall, nur nicht hier!“, war der einzige Gedanke der ihm durch den Kopf schoss.

Da sprach Galux: „Nein. Er ist vor uns…“

Diese beiden Sätze schlugen ein wie eine Bombe. Sie ließen Tysons Gedankenwelt wild um sich schlagen. Wenn Dragoon ihnen auflauerte, hieß das, dass sie erneut den Rückweg antreten mussten, um einen neuen Pfad zu suchen. Er würde diesen ganzen verdammten Stollen wieder zurücklaufen müssen. Tyson schloss einen Moment die Augen und versuchte seine Atmung zu beruhigen.

„Bleibt uns noch Zeit für einen anderen Weg?“, sprach Max seine nächste Befürchtung laut aus. Galuxs vages Kopfschütteln ließ ihrer aller Herzen abwärts rutschen.

„Ich wünschte ich könnte euch das versprechen. Aber ich kann es nicht…“

Daraufhin entbrannte eine heftige Diskussion. Galux wollte kein Risiko eingehen und einen Umweg einschlagen. Die Gruppe sehnte sich aber nachhause und wollte nicht die Chance verstreichen lassen, dass der nächste Ausgang den sie ansteuerten, sich schloss, bevor sie die Gelegenheit fanden, durch ihn hindurch in die Menschenwelt zu gelangen.

„Du hast selbst gesagt, dass es knapp wird!“, schallte Rays Stimme dumpf im Stollen.

„Meine Herren! Mademoiselle Galux kann es nicht mit einem Uralten aufnehmen! Das können wir nicht von ihr verlangen. Es wäre ein Selbstmordkommando! Ich verstehe nur zu gut ihre Bedenken. Ihr geht zudem ebenfalls ein hohes Risiko ein.“, legte Allegro ihnen nahe und hob mahnend den kleinen Zeigefinger.

„Wenn wir es aber nicht hinausschaffen, müssen wir ein weiteres Jahr bleiben!“

Max düstere Voraussagung, ließ die Gruppe geschockt, in ihren Gedanken aushaaren. Die Vorstellung machte ihnen allen Angst. Jeder von ihnen hatte im Zuge ihrer Beybladezeit ein Survivaltraining gemacht, doch zum einen waren ihre Kenntnisse eingerostet, zum anderen, sah dieses Training keine Zeitspanne von einem Jahr vor. Es sollte lediglich die Sinne schulen und ihnen die nötigen Grundlagen zum Überleben liefern. Tyson fasste nach der unebenen Felswand über ihm. Sie endete nur wenige Zentimeter über seiner Schädeldecke. Er schnaufte laut aus als er das spürte. Ihn überkam das obskure Bedürfnis, seine Hände dagegen zu pressen, im irrwitzigen Glauben, es könnte den Gang breiter machen.

„Flipp jetzt nicht aus.“, flüsterte eine Stimme in seinem Hinterkopf. Dabei ermahnte er sich krampfhaft, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und nicht seiner Angst zu verfallen.

„Leute, wir müssen uns entscheiden.“, sprach Ray besorgt. Er behielt ihn offensichtlich genau im Blick. „Und wenn es geht schnell.“

„Ja. Da hast du Recht.“, meinte Max etwas hektisch. „Also was uns auf der anderen Seite erwartet, können wir von hier aus gar nicht wirklich beurteilen. Wir waren alle einmal in der Höhle. Soweit ich mich erinnern kann, war die ziemlich verschachtelt. Womöglich kommen wir an einem Punkt heraus, wo wir gute Chancen haben, unbeobachtet zu entwischen.“

„Oder sie warten gleich am Ende dieses Stollens auf uns!“, rief Allegro empört aus. „Was ich für weitaus wahrscheinlicher halte.“

„Es gibt einen kleinen Nebenzweig, den ich schon einmal hier verwendet habe.“, erklärte Galux nachdenklich. „Aber…“

Sie wurde still.

„Aber was?“, drängte Ray sie.

„Er ist noch viel schmaler…“

Tyson stöhnte laut auf als er das vernahm. Allein beim Gedanken wurde ihm schlecht.

„Dann müssen wir zurück. Er schafft das nicht.“

„Doch!“, rief er energisch. „Ich bekomme das schon hin. Das ist… nur eine Frage des Willens.“

„Du schnaufst doch schon aus dem letzten Loch!“

„Hör auf so zu reden, Max. Das macht es mir nicht einfacher.“

„Okay, tut mir Leid... Lasst uns nachdenken. Wir sind insgesamt sechs Leute. Nehmen wir Kai mal aus der Entscheidung heraus, weil er einfach zu klein ist. Dann sind wir fünf Leute. Wir stimmen jetzt einfach ab, was wir machen. Wer ist dafür das wir den engeren Pfad nehmen und nicht den Rückweg antreten?“

Tyson hob zitternd die Hand. Das hier war für ihn ohnehin keine Frage des Wollens, sondern des Müssens. Nach anfänglichem Zögern, hob auch Allegro das Fäustchen und auch Galux hielt ihre Pfote hoch.

„Das ist nicht dein Ernst, oder?“, fragte Ray ihn fassungslos. „Du musst dir das nicht antun! Das würden wir niemals von dir verlangen… Wir können noch immer zurück!“

„Ich schaffe das.“

„Tyson, du musst jetzt wirklich nicht den Helden spielen.“, drängte Max ihn.

„Das will ich doch gar nicht!“, wehrte er sich gegen den Vorwurf. „Ehrlich gesagt, macht es mir sogar mehr Angst, den ganzen Gang wieder zurücklaufen zu müssen! Und jede Minute, in der wir nicht weiterlaufen, will ich am liebsten Schreien! Also Bitte Leute, lasst uns diesen Nebenzweig nehmen. Ich will einfach nur noch hier raus!“

Er brauchte kein Licht, um die Gesichter seiner Freunde zu sehen. Sicherlich hätten sie sich vielsagende Blicke zugeworfen, könnten sie sich im fahlen Licht besser erkennen.

„Okay. Wenn du meinst.“, sprach Ray beunruhigt. „Sind wir noch weit vom Ausgang?“

„Wären wir dem ursprünglichen Weg gefolgt, nein. Es wäre nur noch bis zur nächsten Biegung. Da wir aber jetzt einen Umweg gehen werden, rate ich euch zur Eile. Dieser Stollen liegt dicht am Boden. Ich denke Dragoon wird ihn übersehen haben, als er hier vorbeilief. Er ist nicht mehr, als ein kleiner Spalt. Bei eurer Statur, werdet ihr die nächste Strecke dann noch robben müssen.“

Tyson schloss die Augen. Das alles auch noch im Dunkeln…

Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen, denn es ärgerte ihn, dass seine Freunde ihn für so einen Weichei hielten. Sie waren soweit gekommen, da weigerte er sich zurückzuschrecken, nur wegen einer lächerlichen Phobie. Er fühlte zarte Kinderfinger nach seiner Hand greifen. Als er hinabsah, schaute Kai zu ihm auf. Das Licht der Bit Beast erhellte nur die ihnen zugewendete Partie seines Gesichtes. Er konnte den zuversichtlichen Ausdruck in seinen Augen erkennen.

„Du schaffst das. Ich glaube an dich.“, sprach er. „Du bist doch mutig.“

Diese Worte ließen Tyson zärtlich lächeln. Kai hatte bereits als ihr Teamleader die richtigen Töne getroffen, wenn es darauf ankam. Allerdings waren die eher strenger ausgefallen. Doch dieser simple Zuspruch, gab ihm den Glauben an sich selbst zurück. Er drückte seine Hand fester.

„Was plätschert hier denn so?“, fragte Allegro plötzlich. Irritiert zuckten seine Ohren.

Tyson hörte zunächst nichts, bis auch ihm auffiel, dass die Geräuschkulisse vor ihnen, von einem vereinzelten Tropfen, zu einem fliesenden Tosen umstieg. Da gab Galux vor ihnen auch schon ein angeekeltes Fauchen von sich. Kurz darauf fühlte er, wie seine Sportschuhe sich mit kaltem Wasser vollsogen.

„Wo kommt denn das auf einmal her?!“, fragte Max hinter ihm entsetzt. Tyson hob einen Fuß an und hörte das Rauschen mehr, als das er die Fluten sehen konnte. Da Wasser kam ihm pechschwarz vor. Ein böser Gedanke sickerte in ihm durch. Er erspähte Galux, wie sie sich fauchend sträubte und panisch versuchte an der Felswand hinaufzukraxeln. Offenbar griffen ihre Katzeninstinkte nun über, denn sie schien nicht mehr klar zu denken. Als Ray sie aus den Fluten hob, fing er sich einige Kratzer ein und hielt das Bit Beast weit von sich.

„Oh weh! Unsere liebe Mademoiselle scheint mir extrem wasserscheu!“, ergriff Allegro nun das Ruder. „Das muss Draciels Werk sein. So hat es auch ständig unsere Bauten überflutet!“

„Dann will sie uns nun auch ersaufen lassen?!“, fauchte Max zornig. Als Tyson sich ihm zuwandte, um ihm zu raten, seinen Groll erst einmal zu vergessen, bemerkte er, wie ihre geisterhafte Begleitung sich an die Wand presste und die Hände vor das Gesicht schlug. Es wirkte als ob sie weinte. Er schielte zu ihren nackten Füßen. Das Wasser floss einfach durch sie hindurch. Es konnte ihr wohl kaum gefährlich werden. Plötzlich schlug die Erkenntnis in ihm ein wie ein Donnerschlag.

„Max, ich glaube…“

Er kam nicht weiter. Denn kurz darauf ergriff sie eine Sturzflut. Sie war nicht sonderlich groß, doch stark genug, um sie von den Füßen zu hauen. Tyson landete auf allen Vieren und ließ Kais Hand los. Das Kind drohte vom Wasser davon getrieben zu werden, doch Max packte ihn am Kragen, bevor er davongeschwemmt wurde. Er zerrte ihn an sich, drückte ihn fest an seine Brust und richtete sich triefend nass wieder auf, während Kai eine Ladung Wasser ausspie. Sein Husten schallte durch den Stollen.

„Vorwärts, meine Herren! Beeilung!“, ermahnte Allegro sie von Rays Schulter aus hektisch.

„Aber wenn wir zurück gehen…“, begann Tyson.

„Mon dieu, bist du des Wahnsinnes, mein Junge! Bis wir draußen sind, ist der Stollen doch schon überflutet! Wir müssen zum Ausgang bevor wir elendig ertrinken!“

So kämpften sie sich vorwärts, während die Strömung immer weiter stieg. Bald reichte sie ihnen bis zum Unterleib. Eine ziemliche Panik ergriff Tyson. Das kalte Wasser ließ sämtliche seiner Glieder taub werden und er bibberte wie verrückt. Er packte nach Max Arm, um ihm dabei zu helfen, mit seinem Anhängsel vorwärts zu kommen. Die Haut unter seinen Fingern konnte er kaum spüren. Er fühlte sich wie ein laufender Eiszapfen und es war ein Kraftakt, mit ihrer vollgesogen Kleidung vorwärts zu waten. Er sah Ray Galux über seinen Kopf lüpfen. Das Bit Beast wirkte wie erstarrt. Mit eingezogenem Schwanz und furchtsam hängenden Ohren, ließ sie sich über die Flut balancieren, bis ihr irgendwann stöhnend einfiel: „Oh weh, der Nebenzweig wird schon längst überflutet sein! Wir müssen den anderen Ausgang nehmen!“

„Dann rennen wir ihnen in Falle!“, sprach Max laut aus.

„Aber wir haben immerhin noch eine kleine Chance zu überleben!“

Eine weitere Welle schwappte in den Schacht. Tyson hörte Kai hinter sich schmerzhaft husten, offenbar weil er wieder Wasser verschluckt hatte. Doch endlich sah er ein Licht vor ihnen. Es schien wie eine Luke die an der Decke befestigt war.

Dort oben würden also Draciel und Dragoon auf sie warten.

Der Gedanke dass sein Bit Beast sie nun doch geschnappt hatte, machte ihn einen Moment wütend, doch lieber rannte Tyson ihm in die Arme, als hier unten wie eine Ratte zu ersaufen. Das Schlimmste was Dragoon tun konnte, war ihn wieder zurück in die Irrlichterwelt zu verschleppen. Die Chance rechtzeitig in die Menschenwelt zu gelangen, war wohl damit aber vertan. Er konnte sich das schadenfrohe Gesicht seines Bit Beasts bereits vorstellen. Dennoch verwarf er den Gedanken. Hier galt nur noch das Überleben.

Ray erreichte zuerst die Öffnung und schob Galux hinauf. Sobald sie festen Boden unter den Füßen hatte, stieß das Bit Beast ihren langen Schweif in die Fluten, um nach Tyson zu greifen. Inzwischen war Ray aus dem Schacht hinausgeklettert. Aus seiner Kleidung strömte das Wasser in Bächen seinen Rücken hinab.

„Beeilt euch!“, rief er ihnen entgegen. Das Wasser reichte dem Rest von ihnen bereits bis zum Hals. Tyson erblickte die Finger seines Freundes, die sich nach ihm ausstreckten. Kurz darauf ging ein Ruck durch seinen Körper, als Galux ihren Schweif, um seinen Bauch schlang. Tyson hielt Maxs Arm fest umklammert und ließ sich von dem Bit Beast immer weiter vorwärts ziehen, bis auch er die Öffnung erreichte. Kurz bevor er den Rand umfassen konnte, stürzte eine weitere Welle in den Stollen hinein. Er sah Ray sich gegen die Sturzflut lehnen, wie das Wasser an seinem Rücken aufprallte und in alle Richtungen stob, während er versuchte, nicht den Halt zu verlieren. Da blieb Tyson auch schon die Luft weg als der Gang gänzlich überflutet wurde. Der Schrei den er ausstoßen wollte, ging wortwörtlich unter und er verschluckte lediglich eine Ladung Wasser. Seine Finger griffen fahrig nach dem felsigen Rand und kurz darauf, spürte er Ray seinen Kragen packen und ihn unsanft hinauszerren. Gleich danach krachte er schmerzhaft auf die Knie. Auf allen Vieren krabbelnd, zog er sich hustend von der Luke weg, Maxs Handgelenk noch immer fest umklammernd, bis auch dessen Gesicht aus den Fluten hervorkam. Plötzlich riss er sich von Tyson los, um mit beiden Händen Kai aus den Fluten zu heben. Gleichzeitig stieß Galux ihren Schweif ins Wasser, um auch Max einen sichereren Halt zu geben. Tyson griff nach Kai, der völlig durchnässt seine Hände nach ihm ausstreckte und in seine Arme sank. Seine Haare klebten ihm wirr im Gesicht. Kurz darauf war auch Max aus dem überfluteten Stollen befreit.

„Es ist noch nicht vorbei!“, warnte sie Allegro, noch bevor sie die Gelegenheit fanden zu Atem zu kommen. Auch der Mäuserich hatte einiges abbekommen. Um nicht von Rays Schulter gespült zu werden, hatte er sich unter seinen Kragen gerettet, wo er zwischen Stoff und Brust klebte. „Auch dieser Teil der Höhle wird bald überflutet sein! Noch sind wir in der Zwischenwelt. Also weiter, meine Herren! Immer weiter!“

Tysons Blick irrte durch ihre Umgebung, in Erwartung irgendwo das selbstgefällige Grinsen von Dragoon zu erspähen. Glücklicherweise war dieser Teil der Höhle größer, also bräuchte das Wasser länger, um die Kammer zu überfluten. Der Ort wirkte wie eine unwirkliche Halle, geformt aus Stalagmiten und Eiszapfen. Tyson spähte mit offenem Mund, zu den uralten Tropfsteingebilden, den Eisformationen die von der Decke ragten und bemerkte, wie sie bedrohlich erzitterten, im unregelmäßigen Takt eines dumpfen Schlages.

Kurz darauf erblickte Tyson sein Bit Beast…

Während es einen harten Schlag von Draciel kassierte.

Verdutzt blinzelte er zu dem Szenario was sich vor ihm auftat. Dafür dass Maxs Bit Beast im Körper einer zierlichen Frau steckte, schien es gut austeilen zu können. Es erzeugte eine Ansammlung von Wasserfontänen, deren Druck Dragoon gegen die felsigen Wände katapultierte, wann immer er nicht flink genug war um auszuweichen. Überhaupt schien sein Bit Beast hier unten ziemlich im Nachteil, denn die Höhle war zu eng, um sich in seine wahre Gestalt zu verwandeln. Stattdessen sah Tyson dabei zu, wie er mit einem lauten Platschen im Wasser landete, dessen Pegel zunehmend anstieg. Ihm stockte der Atem, als er merkte, dass Dragoon nur noch einen Arm hatte. Dadurch fiel es ihm schwerer sich wieder aus dem Wasser zu stemmen. Da trat Draciel auch schon auf seinen Rücken und drückte ihn mit einer geradezu unheimlichen Kraft, zurück ins kalte Nass, offensichtlich um ihn zu ertränken. Tyson spürte eine Hand die nach ihm packte. Als er sich umwandte schaute er in das drängende Augenpaar von Ray.

„Wenn das Glück dir in die Hände spielt, steh nicht herum und lass dir die Chance entgehen!“, kam es düster von ihm. „Lauf endlich weiter! Der Grund für ihren Kampf braucht uns nicht zu interessieren!“

Das war wohl äußerst treffend. Tyson nickte ihm zu und rückte Kai auf seinen Armen zurecht. Er fühlte anhand dessen Zittern, dass der Junge ebenso verfroren war, wie er selbst. Seine Lippen waren ganz blau und er schaute recht erschöpft drein, beklagte sich jedoch nicht. Galux tapste durch die Fluten, dabei gab sie ein mürrisches Mauzen von sich. Wann immer sie eine Pfote aus dem Wasser hob, schüttelte die Katze sie angewidert, bis Ray sie wieder aufhob, bevor sie noch mehr Zeit durch ihren Ekel verschwendeten.

„Wo lang?“, fragte Tyson Galux.

Das Bit Beast deutete verstimmt hinter eine Formation aus dutzenden Eissäulen. Sofort verfiel die Gruppe in hektische Bewegung. Er begann schwerfällig durch das Wasser vorwärts zu waten, hörte das dumpfe Dröhnen des Kampfplatzes, bis Tyson bemerkte das Max ihnen nicht folgte. Er stand weiterhin wie angewurzelt am selben Fleck – den Blick hasserfüllt auf Draciel gerichtet.

„Max!“, rief er entgeistert aus. „Das ist nicht der richtige Moment um zu gaffen!“

Es ließ die Schildkröte auf sie aufmerksam werden. Draciel blickte auf und Tyson fluchte über seine eigene Dummheit, doch es tat keine Anstalten sie anzugreifen.

Das Bit Beast starrte lediglich zu seinem früheren Menschenkind herüber, ohne ihn von der Flucht hindern zu wollen. Ihm schien als ob sich ihre Blicke tief ineinander bohrten. Einen Moment befürchtete er, Max würde in seinem Hass, etwas Einfältiges tun, wie auf Draciel zuzustürmen und es zu hauen.

Doch stattdessen hörte er ihn brüllen: „Das ändert gar nichts!“

Erst dann wandte er sich um, sein Gesicht eine verbitterte Maske. Unter seinem Bit Beast bewerkstelligte es Dragoon, sich zu befreien, indem er einen Wirbel erzeugte, der die Fluten von sich fort stob. Es ließ den Pegel im übrigen Teil der Höhle weiteransteigen und drängte auch die Gruppe weiter vor. Tyson stieß wieder zu Ray auf, der zwischen den Eissäulen hindurch watete. Jeder seiner Schritte ließ das Wasser zur Seite spritzen. Sie erreichten eine Wand, auf deren Anhöhe, ein weiterer Stollen, aus der Halle hinausführte. In seiner Eile, warf Ray sein Anhängsel ohne sonderliches Feingefühl hinauf. Galux landete recht unsanft im Stollen und erst ihr Fauchen ließ Ray erkennen, wie forsch er gewesen war.

„Hupps…“, blinzelte er schuldbewusst.

„Etwas mehr Fingerspitzengefühl, wenn ich doch bitten darf! Das ist eine Lady, die du da durch die Gegend wirfst!“, kam prompt der brüskierte Gentleman in Allegro durch.

„Wer sich mit Toten rauft, wird bestimmt nicht zimperlich sein.“, mischte sich Tyson ein, noch bevor die Standpauke in die nächste Runde gehen konnte und lüpfte Kai über seinen Kopf. Der Junge kletterte in den Stollen und kurz darauf hielt Ray ihm seine Hände hin, um Tyson mit einer Räuberleiter ebenfalls hinauf zu verhelfen. Dann drehte er sich um und streckte Max sich unwirsch entgegen.

„Was treibst du denn so lange?! Komm endlich! Wir müssen von hier verschwinden!“

Von seiner Anhöhe aus, sah Tyson dabei zu, wie Max etwas in die Tasche seines Overalls gleiten ließ.
 

ENDE Kapitel 35
 

Wo immer Galux sie jetzt auch hinführte, es wurde zunehmend kälter. Bald zog sich über die harten, kantigen Felsen eine feine Eisschicht und da die Gruppe schon einmal in der Fugaku Höhle gewesen war, ahnten sie, dass der Ausgang nicht mehr weit sein konnte. Tyson erinnerte sich, dass sie bei ihrem Ausflug dorthin, rutschfeste Schuhe tragen sollten. Etwas das sie jetzt auch hätten gebrauchen können. Es kam nicht selten vor, dass einer von ihnen auf seinem Hinterteil landete. Das erschwerte ihr vorankommen. Zudem nagte auch noch die Gewissheit an ihnen, dass jene Kammer, welche sie hinter sich gelassen hatten, bald überflutet sein könnte und die Wassermassen dann eine Etage steigen würden. Allein der Gedanke jagte Tyson eine Gänsehaut über den Rücken. Der Gang den sie jetzt durchmaßen, war glücklicherweise weitaus größer, als der beengende Stollen, der Tyson zuvor den Atem abgeschnürt hatte. Zwar fühlte er sich noch immer eingezwängt, doch es war im Bereich des erträglichen. Irgendwann fiel Tyson jedoch auf, dass eine Person fehlte.

Die fliesende Geistergestalt…

Sie war nicht mehr bei ihnen. Ihm ging durch den Sinn, wie verängstigt ihre Gestik gewirkt hatte, als der Stollen überflutet wurde. Bei der Erinnerung an diesen Geist, biss er sich auf die Unterlippe. Er hätte gerne mit seinen Freunden darüber gesprochen, doch so hektisch wie sie durch die verwinkelten Höhlengänge stolperten, war dafür einfach keine Zeit mehr.

Momentan war alles reine Spekulation – und für die wollte er niemanden in Gefahr bringen.

Galux hielt plötzlich vor ihnen inne. Ihr glimmender Schein, ließ das Eis um sie herum, das Licht reflektieren. Als die Gruppe bei ihr ankam, endete auch dieser Gang in einer weiten Kammer. Vor ihnen fiel der Weg steil ab. Die glänzende Eisschicht ließ den Pfad wie eine natürliche Rutschte aussehen, welche im Nirgendwo weiterging. Alles außerhalb von Galuxs Schein, lag im Dunkeln verborgen.

„Man sieht kaum das Ende.“, stellte Ray fest. Das Klappern seiner Zähne war zu vernehmen. Ihnen allen war furchtbar kalt. Kai hatte bereits blaue Lippen und sah ziemlich müde aus. Einige Male mussten sie das Kind bestärken wach zu bleiben, bis Tyson ihn von seinem Arm nahm und ihm befahl selbst zu laufen. Es war nicht böse gemeint, aber in einer solchen Kälte wegzunicken, konnte tödlich enden.

„Ich habe kein gutes Gefühl dabei da hinunterzurutschen.“, Max begann zitternd seine Arme durch die Enden seines Overalls zu schieben. Für gewöhnlich hielt er die Ärmel immer um seine Hüften geschlungen. „Die Oberfläche ist spiegelglatt und wenn wir bei voller Fahrt hinuntersausen, können wir uns nirgends festhalten.“

„Euch bleibt keine andere Wahl.“, stelle Galux klar.

„Aber wir können nicht einmal sehen, wo der Weg endet. Alles dort unten ist Zappen duster.“

„Ihr werdet mir vertrauen müssen.“

Max blickte unsicher zu Tyson, schlug dabei mehrmals mit überkreuzten Armen auf seine Schultern, um die Kälte aus seinen Gliedern zu treiben.

„Was… Was meinst du?“

„Sie hat uns so weit gebracht und ich vertraue ihr.“, auch Tyson bibberte. Es gelang ihm kaum das Zittern aus seiner Stimme zu verjagen.

„Ein wahres Wort, mein Junge.“, pflichtete Allegro bei. „Nun habt ihr es auch soweit geschafft, also lasst euch nicht von einer kleinen Rutschpartie einschüchtern.“

Sie blickten sich an, da kam von seinen Freunden ein zögerliches Nicken zurück.

„Ich gehe zuerst hinab.“, sprach Galux. Sie tippelte vorsichtig an den Rand, denn auch ihr schien die glatte Oberfläche nicht ganz geheuer. „Versucht in einer geraden Bahn hinunterzugleiten. Ich werde dort unten auf euch warten.“

Damit tat sie einen Satz vorwärts. Als das Bit Beast hinabsauste, erhellte ihr Schein die Umgebung, wie eine Laterne, die auf einem Schlitten einen Berg hinunterschlitterte. Tyson wagte nicht zu blinzeln, als er ihr nachstarrte, dabei versuchte er abzuschätzen, wie tief es hinabging. Seine Pupillen verfolgten den Lichtkegel. Es dauerte beunruhigend lange, bis er endlich als kleiner Punkt in der Ferne, still verweilte.

„Sie schaut aus wie ein winziger Leuchtturm.“, stellte Kai kindlich fest. Darauf ging ein kurzes Schmunzeln durch die Gruppe, da der Vergleich tatsächlich sehr treffend war.

„Okay, also es bringt nichts es weiter vor sich her zu schieben.“, sprach Ray schließlich leicht nervös. „Wenn ihr nicht unbedingt wollt, mache ich den Anfang.“

„Pass bloß auf, mein Junge. Bemüh dich wirklich dieselbe Bahn wie Mademoiselle Galux einzuschlagen.“

„Ich fürchte darauf habe ich kaum Einfluss, aber versuchen kann man es ja mal.“

Damit trat er vor und setzte sich an den Rand. Es brauchte eine Weile bis er sich getraute, dann sahen sie ihn einen tiefen Atemzug nehmen und kurz darauf, stieß er sich von der Kante ab. Rays Gestalt sauste die Oberfläche herab, sein langer Zopf wehte ihm hinterher und anders als bei Galux, verschmolz seine Silhouette irgendwann mit der Finsternis um ihn herum. Die Verbliebenen hielten inne, horchten genau, ob ein Schmerzensschrei kam, doch kurz darauf vernahmen sie lediglich Rays Stimme, die aus der Ferne verkündete, dass er in Ordnung war. Max wandte sich Tyson zu.

„Einer von uns sollte den Kleinen nehmen.“

„Ich mache das.“

„Dann gehe ich zuerst. Falls ihr ungeschickt aufkommt, können wir euch unten auffang-…“

„Still ihr zwei!“

Augenblicklich verstummten sie. Tysons Blick huschte auf Maxs Schulter, wo Allegros winzige Mäuseohren wie verrückt zuckten. Er legte den Kopf auf die Seite und begann sich zu sträuben.

„Oh oh! Seht zu das ihr beide hinabsaust!“

Noch bevor einer von ihnen fragen konnte, weshalb, hörten sie es. Etwas kam Schlag um Schlag näher. Es folgten Erschütterungen auf jedes Dröhnen, was den Wänden mit jedem Folgebeben, eine kleine Erdschicht entriss. Sie fiel in einem kleinen Rinnsal von der Decke. Der Untergrund vibrierte.

„Los runter!“, sprach Tyson.

„Etwa alle zusammen?“

„Ja doch! Schnell!“

Max setzte sich an die Kante und stieß sich ohne weitere Umschweife ab. Gleich danach schwang Tyson seine Beine über den Rand und folgte ihm mit Kai. Der kühle Fahrtwind rauschte an seinen Ohren vorbei. Er fühlte die eisige Höhlenluft auf seinen Wangen, sah Maxs Rücken weniger Meter vor sich und fühlte wie kalt sein Hosenboden, durch die rutschige Oberfläche unter ihm wurde. Kai klammerte sich auf seinem Schoss an ihm fest. Er fühlte wie die kleinen Finger sich in die Ärmel seiner Jacke vergruben. Gleich darauf kam ein finaler Schlag von oberhalb, der die Erde erzittern ließ. Noch bevor Tyson etwas sah, spürte er es…

Feine Steinbrocken die auf seinen Körper regneten, gefolgt von einem Lärm, der unangenehm in der Kammer schallte. Er riskierte einen Blick hinauf und erspähte zwei grelle Gestalten, die durch die Wand hinter ihnen brachen. Offensichtlich hatten die kämpfenden Uralten es nun doch riskiert, sich der klammen Enge ihrer menschlichen Hüllen zu entledigen. Dabei brachten sie die Höhlenwand zum Einsturz, wie zwei unkontrollierte Abrissglocken. Dragoons bläuliche Silhouette flog über den Raum hinweg, wand sich schlangenhaft zwischen den herabhängenden Tropfsteinen hindurch, um so viel Abstand, wie irgendwie möglich von Draciel zu gewinnen.

Max Bit Beast war dagegen schwieriger auszumachen. Zwar ging von den Konturen der Schildkröte ein violetter Glanz aus, doch ansonsten war der Körper der massigen Schildkröte, mit einer pechschwarzen Panzerung umsäumt. Tyson hörte ein beunruhigendes Donnern hinter sich, spürte wie die Erde bebte, da schnellte sein Kopf nach vorne und er erblickte endlich die Gestalt von Galux, der sie sich rasant näherten. Sofort als Max auf dem Boden aufkam, rollte er sich weg, damit Tyson nicht in ihn hineinsauste. Gleich danach fühlte er unter seinen Füßen eine rutschige Oberfläche. Gemeinsam mit Kai, schlitterte er zunächst einige Meter weiter, bis auch er endlich Halt fand. Dann spürte Tyson auch schon ein paar kräftige Hände, die ihn auf die Beine hievten.

„Wir müssen weg von hier!“, sprach Ray hektisch, doch bevor sie wegrennen konnten, zwang sie eine weitere Erschütterung in die Knie. Als Tyson zu den kämpfenden Uralten spähte, erkannte er, dass die Felswand, welche sie kurz zuvor noch hinabgerauscht waren, in sich zusammen gebrochen war. Selbst von dem Durchgang den sie benutzt hatten, um in diese Kammer zu gelangen, war nicht mehr viel übrig, als ein klaffendes Loch. Der Rückweg hatte sich in ein Trümmerfeld verwandelt, der zwischen den einzelnen Gesteinsbrocken unzählige Lücken ließ, die den Wassermassen aus dem vorherigen Raum, Tür und Angel öffneten, um nun auch in diesen Teil der Höhle zu gelangen. Plötzlich schlug etwas wenige Meter neben ihnen ein, dass die Jungen sich einen entsetzten Schrei nicht verkneifen konnten.

„Um Himmelswillen!“, vernahm Tyson Allegros panische Stimme. „Dieser Wahnsinnige von einem Drachen schlägt die Tropfsteingebilde über uns von der Decke!“

Als er aufsah um sich selbst ein Bild zu machen, leuchtete ihm endlich Dragoons Taktik ein. Sein Bit Beast säbelte die kegelförmigen Stalaktite mit seinem Schweif ab, um Draciel damit zu treffen. Da die Schildkröte unfähig war zu fliegen, befand sie sich direkt in der Schusslinie, als die Gesteinsgebilde, mit der Spitze voraus, auf das Bit Beast zu sausten. Tyson beobachtete wie es den Kopf einzog, um sich in der natürlichen Panzerung zu verkriechen. Zwar waren dadurch die weicheren Stellen des Körpers geschützt, doch ganz so spurlos ging der Zusammenprall, von harten Fels auf Knochenpanzerung, nicht von statten. Er hörte Draciels lautes Grölen, es klang schmerzverzerrt und kurz darauf, zeichnete sich eine weitere violette Linie auf der Panzerung ab, offenbar ein Riss der sich aufgetan hatte. Unter solchen Bedingungen hatte Maxs Bit Beast noch nie Kämpfen müssen.

Beim Anblick dieser erbarmungslosen Brutalität zwischen den Uralten, riss Tyson panisch die Augen auf und schluckte hart. Er schnappte sich Allegro vom Boden, der einen japsenden Ausruf von sich gab, dann leuchtete er mit dessen spärlichen Licht ihre Umgebung ab. Plötzlich bemerkte er, dass etwas nicht stimmte.

„Ich muss doch bitten! Sehe ich aus wie eine ordinäre Taschenlampe!“, brüskierte sich die Springmaus in seiner Faust. Tysons Kopf schnellte jedoch zu seinen übrigen Freunden als er nicht fündig wurde. „Wo sind Max und Galux?!“
 


 

*
 

Es war ruhig geworden, nachdem Mariah den Neuankömmlingen von den Vorfällen der letzten Stunden berichtet hatte. Sie musste zugeben, sowohl Kenny, als auch seine Begleiterin, waren angenehmere Zuhörer als Mr. Kinomiya. Der war ihr ständig ins Wort gefallen, als Galux sie vor der bevorstehenden Gefahr warnte, weil er seine Neugierde nicht im Zaun halten konnte. Der gute Mann war einfach sehr impulsiv und wetterte damals, dass er sich nicht von einem Bit Beast ins Bockshorn jagen lassen würde. Manchmal hatte Mariah das Gefühl, er vergaß schlichtweg, zu was diese Wesen alles fähig waren. Es handelte sich dabei nicht um ungehorsame Hunde, die man an die Leine legte oder in einen Zwinger steckte, wenn sie jemanden gebissen hatten. Kenny schien den Ernst der Lage deshalb sofort zu begreifen.

„Tyson und ich hatten ein Telefonat, kurz bevor Ray und Max nach Japan gekommen sind.“, sein Gesicht war zu einer düsteren Maske geworden bei diesem Satz. „Er meinte damals zu mir, dass Dragoons Blade, in der Nacht zuvor, angefangen hätte zu leuchten. Ich… Ich wollte ihm nicht glauben. Stattdessen habe ich nur zu ihm gemeint, dass er sich bestimmt wieder überfressen hat und deshalb so schlecht geträumt hat.“

Es war nicht zu überhören wie viele Vorwürfe er sich deshalb machte. Dann erzählte Kenny von seinen eigenen Entdeckungen. Mariah war überrascht, als sie zu aller erst erfuhr, wer seine Begleiterin überhaupt war. Sofort als diese sich vorstellte, klatschte sich Mr. Kinomiya an die Stirn und entschuldigte sich dafür, dass er sie nicht sofort erkannt hatte.

„Himmel, wie mir das Leid tut! Da erkenne ich doch glatt das Herzblatt von meinem ältesten Enkel nicht!“, irritiert beobachtete Mariah, wie er der doch recht verdutzten Frau, geradezu überschwänglich die Hand schüttelte, bis ihm der Ring an ihrem Finger auffiel. Er hob perplex die Brauen, starrte auf die Hand und fragte sie, ob Hiro auch etwas von ihren Heiratsabsichten wisse. Mariah sah Hanas Augen tellergroß werden, bis sie Mr. Kinomiya etwas enttäuscht mitteilte, dass Hiro es selbstverständlich wisse – immerhin sei er ihr Verlobter.

Eine unangenehme Stimmung kam auf. Man konnte förmlich spüren, wie peinlich diese Situation dem armen Großvater war. Scheinbar schien man ihn tatsächlich noch nichts davon erzählt zu haben. Kenny zog den Kopf so furchtsam zwischen die Schultern, als befürchtete er Zeuge eines Familiendramas zu werden.

„Ha!“, machte Mr. Kinomiya stattdessen. „Na dann… Willkommen in der Familie!“

Er drückte Hana so plötzlich an sich, dass sie überrascht nach Luft japste. Als er sie wieder entließ, meinte er gutgelaunt: „Erinnere mich daran, Hiro dafür einen mit dem Kendostab überzuziehen.“

„Weil er mich heiraten will?“

„Weil er sein Maul nie aufkriegt! Dieses blöde Gör…“

„Ich dachte wirklich er hätte es ihnen erzählt.“

„Nein. Aber dafür hat man ja einen Kendostab.“

„Aber Tyson hat es doch gewusst! Zumindest ihm hat Hiro von unserer Verlobung erzählt…‘“

„Oh, tatsächlich? Na, dann haben wir schon zwei glückliche Kandidaten für eine Trachtprügel.“

„Ich wollte nicht die Büchse der Pandora öffnen.“

„Keine Sorge, Kleines. So handhaben wir das immer bei uns in der Familie. An die Ruppigkeit wirst du dich gewöhnen müssen.“, er gluckste amüsiert. „Jedenfalls beim männlichen Teil der Familie. Deshalb suchen sich unsere Männer immer Frauen, die etwas mehr Grips in der Birne haben, als sie selbst.“

Dieses ehrliche Geständnis lockerte die Stimmung wieder auf. Mariah musste jedoch an Tyson denken, denn Ray hatte ihr gegenüber einmal erwähnt, dass sein Beutegebiet, keine künftige Nobelpreisträgerin hervorbringen würde. Fassungslos hatte sie ihn angeblinzelt und gefragt, ob er nicht übertreibe.

„Ganz und gar nicht…“, Ray hatte damals entnervt geschnalzt. „Eine von seinen Leuchten, hat mir mal betrunken auf die Schuhe gekotzt. Wollte wohl das bisschen Hirn was noch da war auch loswerden.“

„Wird das nicht langweilig? Ich meine… Über was redet er mit diesen Frauen?“

Sie wusste noch wie Ray sie belächelte. Dann kniff er ihr in die Wange und beteuerte ihr, wie zuckersüß er es fand, dass sie noch immer keine Ahnung hatte, woran Männer hauptsächlich dachten. Erst dann begriff sie, worum es Tyson bei seinen Frauen ankam. Ihr empörter Gesichtsausdruck, ließ ihren Mann aus vollem Halse lachen, dass ihm die Tränen aus den Augenwinkeln traten.

„Kenny, als wir uns die Aufzeichnungen vor dem Krankenhaus angesehen haben, bist du so still geworden.“, holte Hanas Aussage sie aus ihren Gedanken. Hiros Verlobte war während ihrer Schilderung recht ruhig gewesen und einige Male hatte Mariah beobachtet, wie ihre Braue irritiert nach oben zuckte. Es gab Menschen die tatsächlich keine Bit Beasts sehen konnten, selbst wenn sie in der Arena gegeneinander kämpften und Mariahs Intuition sagte ihr, dass auch Hana mit dem Glauben an deren Existenz, ein Problem besaß.

„Diese… Fratzen welche wir auf dem Monitor gesehen haben… Das sollen Bit Beasts gewesen sein?“

Kenny nickte.

„Ich habe mir die immer spektakulärer vorgestellt.“

„Das war nur ein vager Schatten davon. Du hast noch nie eines hautnah erlebt?“

„Hiro hat davon gesprochen, aber so richtig begriffen habe ich das nie. Es klang nach viel esoterischem Humbug. Für mich waren das immer nur Bildchen, auf diesen kleinen Kreiseln.“

„Das sind sie keineswegs!“, erklärte Mariah drängend. „Du darfst sie nicht unterschätzen!“

Hana verschränkte die Arme und bedachte sie mit skeptischen Ausdruck.

„Das ganze übersteigt ehrlich gesagt meinen Horizont. Und ich fürchte, dass der Polizisten auch. Mag ja sein, dass diese Kreisel einmal recht populär waren, aber ich selbst habe im Fernsehen, immer nur einige schwammige Lichtflecken ausgemacht, die für mich eher wie ein unschöner Pixelfleck aussahen.“

Es war das was Mariah erwartet hatte.

Diese Frau dachte zu rational um hinter die Fassade blicken zu können.

„Menschen die sich davor verschließen, haben Probleme ein Bit Beast zu sehen.“, sprach sie ernst. „Es spielen viele Faktoren eine Rolle, wenn ein Bit Beast nicht gesehen werden will. Vor allem bei Erwachsenen, weil ihr Denken zu sehr auf das beschränkt ist, was sie durch Logik schlussfolgern können.“

„Da hat sie recht.“, pflichtete ihr Kenny bei. „Einer Freundin von uns ging es genauso wie dir. Sie konnte einfach partout keine Bit Beast sehen, weil sie sich zunächst komplett davor abgeschottet hat. Bevor wir sie kennengelernt haben, fand sie Bladen bescheuert, zog ihr Wissen lediglich aus Schulbüchern und hat sich schrecklich aufgespielt, weil sie die Klassensprecherin war. Als sie dann endlich Bit Beasts sehen wollte, ließen sie sich lange Zeit nicht vor ihr blicken. Erst als sie die Begeisterung für den Sport entdeckte und sich auch eingestand, das Dinge existieren, die wir Menschen nicht erklären können, gaben sie sich ihr zu erkennen.“

Mariah fragte sich ob er von Hilary sprach.

Etwas Ähnliches hatte ihr nämlich auch einmal Ray erzählt.

„Ich kann nichts dafür, dass ich es langweilig finde, wenn zwei Kreisel in einer Suppenschüssel herumeiern.“, sprach Hana nur genervt. „Es ist ja nicht nur das Bladen was ich schnöde finde. Ich finde Sport an sich ätzend! Mir wird auch nie einleuchten, weshalb Leute gerne Fußball schauen. Zweiundzwanzig Männer, in kurzen Höschen, die stundenlang einem Ball hinterher rennen? Da kann ich ja gleich auf den Hundeplatz gehen…“

Kenny und Mr. Kinomiya wieherten los und auch Mariah musste schmunzeln. Eigentlich hätte sie jetzt sauer sein müssen, weil Hana ihr Hobby so schamlos durch den Dreck zog, doch solche Unterhaltungen hatte sie schon oft geführt. In ihrem Dorf in China, war sie die einzige Bladerin gewesen, da sich die wenigen Mädchen die es dort gab, kaum dafür interessierten. Es war dort als Hobbys für Jungs verpönt. Als Mariah dann ihre zarten Anfänge machte, hatten ihre Freundinnen ihr kichernd vorgehalten, dass sie nur beweisen wolle, dass auch Mädchen darin gut sein könnten.

Zugegeben, es war ein Grund gewesen - aber nicht der Hauptgrund!

An vorderster Stelle stand für sie der Spaß und mit ihrem Team zusammen zu sein, dass für sie zu einer zweiten Familie wurde. Während sich die anderen Mädchen, mit traditionelleren Dingen beschäftigen, wie das Flechten von Körben, besticken von Stoffen und das Spielen mit selbstgemachten Puppen, geriet Mariah immer weiter ins Abseits und scherte sich nicht einmal sonderlich darum. Jedoch bekam sie einmal mit, wie die anderen Mädchen, irgendwann darüber tuschelten, dass sie niemals einen Mann abbekommen würde, wenn sie nicht endlich mal etwas vornehmer wurde. Mariah wusste noch, wie eine von ihnen, sie auf fieseste Art nachgeahmt hatte, während sie bei einem Match ihr Bit Beast anfeuerte.

„Sie sieht dann aus wie eine fauchende Furie! Genau wie dieses Katzenmonster, was sie in ihrem Spielzeug hat! Der Mann der sich die anlacht, wird es schwer mit so einer Kratzbürste haben.“

Einstimmiges Gekicher war die Antwort gewesen. Mariah war so zornig geworden, dass sie hinter der Häuserecke hervorsprang, von der aus sie gelauscht hatte und schimpfend auf die Gruppe zu rannte. Die Mädchen stoben geradezu kreischend in alle Richtungen davon, wie eine aufgeschreckte Antilopenherde. Dennoch schallte aus jeder Ecke dieselbe hämische Bemerkung nach: „Hilfe! Die Furie kommt!“

Als Mariahs Wut abebbte und die Mädchen verschwunden waren, spürte sie, wie tief sie die gehässigen Äußerungen gekränkt hatten. Augenblicklich wollte sie allein sein, kletterte auf einen Hügel unweit von ihrem Dorf, hockte sich unter einen Pfirsichbaum und ließ ihren Tränen dann doch freien Lauf - bis sie ihr Team fand. Sie setzten sich in einem schützenden Kreis um sie, was ihr sofort das Gefühl einer tiefen Geborgenheit vermittelte.

„Ich würde nicht ein winziges bisschen an dir ändern.“, hatte Ray ihr nur lächelnd beteuert. „Sei einfach wie ein Fels und lass die Bemerkungen von dir abprallen, als wären sie Regentropfen. So wie du bist, bist du für uns genau perfekt. Das ist alles was zählt…“

„Obwohl du den Fisch einen Tick länger in der Pfanne lassen könntest, wenn du kochst.“

„Nicht jetzt Kevin!“

„Ich mein ja nur… Ist okay, wenn er frisch ist, aber wenn er auf dem Teller noch Saltos vollführen kann, sollte man noch einmal mit dem Hammer ausholen.“

Für dieses Kommentar kassierte Mariahs kleingeratener Teamkamerad, sofort eine heftige Kopfnuss von ihren Bruder. Sie musste daraufhin amüsiert kichern. Es wirkte wie Balsam auf ihrer geschundenen Seele, als ihr Team sie tröstete und am Abend, als das gehässige Biest, das über Mariah so schlecht gesprochen hatte schlief, warf Lee einen Kuhfladen durch deren Schlafzimmerfenster. Der zornige Vater des Mädchens, hatte ihn am nächsten Tag zwar in die Mangel genommen, doch ihr Bruder behauptete noch heute steif und fest, dass es das wert gewesen sei.

Dennoch begriff Mariah damals, dass nicht jeder von ihrem Hobby so angetan war. Ihr Lehrmeister gab ihr deshalb sogar, einmal eine seiner Weisheiten mit auf dem Weg, damit sie sich nicht ständig ärgerte.

„Wünschst du, dass deine Ansicht respektiert wird, beginne damit, die Ansicht der anderen zu respektieren. Gegenseitiger Respekt ist der Schlüssel zum friedlichen Beisammensein. Doch dafür muss eine Seite die Größe besitzen, den ersten Schritt zu vagen.“

Mariah hatte diese Lehre lange zu denken gegeben und es brauchte Jahre, sie auch im Alltag umzusetzen. Theorie und Praxis waren einfach zwei verschiedene paar Schuhe. Kurz darauf wandte sich Tao an die männlichen Mitglieder ihres Teams. „Und euch gebe ich den Ratschlag, niemals gegen den Wind zu pinkeln. Die Flecken auf der Hose sind die Erleichterung nicht wert.“

Der gute Tao hatte manchmal wirklich eine Schraube locker…

Dennoch half ihr seine Weisheit, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass sie Hanas Meinung achten sollte. Mariah blickte von ihren Überlegungen auf. Kenny schob inzwischen nachdenklich die Brauen ins Gesicht.

„In einem Punkt hat Hana recht… Unser Filmmaterial ist nur für uns wirklich aufschlussreich. Natürlich könnten wir zur Polizei gehen und erklären, was es mit den Flecken auf sich hat, doch ich befürchte, sie werden es nur als banale Störung abtun.“

„Ist es so unscharf?“, fragte Mariah enttäuscht.

„Es sieht auf den ersten Blick aus wie ein Flimmern. Ein Bit Beast habe ich zuerst auch nicht darauf erkannt. Wir hätten es beinahe übersehen, wenn wir nicht ständig auf Standbild gedrückt hätten, um die Uhrzeiten zu notieren. Es sieht mehr wie eine Bildstörung aus.“

„Aber zumindest ist es ein Beweis!“

„Ich möchte hier niemanden zu nahe treten, gerade weil ich weiß, dass ihr alle irgendwie mit diesen… Wesen zu tun hattet.“, begann Hana vorsichtig. „Aber sehen wir das ganze doch mal aus der Perspektive eines Beamten. Die wollen etwas Handfestes haben. Etwas Einleuchtendes! Einem mystischen Wesen die Schuld für all diese Unglücke zu geben, wird denen zu weit hergeholt vorkommen. Wir könnten wie Spinner wirken!“

„Aber eine Zeitlang waren Bit Beast sogar im Fernsehen. Viele Menschen weltweit haben die Meisterschaften verfolgt.“, entgegnete Mariah.

„Gab es aber auch nur einen Fall, in dem diese Wesen Menschen angegriffen haben?“

„Ja!“, rief Kenny aufgeregt aus. „Als wir in Rom waren, haben wir gegen einen Blader namens Enrico gekämpft. Er hat sein Bit Beast so schlecht behandelt, dass es ihn attackiert hat!“

„Und das habt ihr gemeldet?“

„N- Nein.“, blinzelte er verdutzt. „Es ist auch alles noch einmal gut gegangen.“

„Habt ihr es wenigstens auf Kamera aufgenommen?“

„Also… Ähm… Nein.“

„Dann ist das alles nur Hörensagen…“

Kennys Euphorie ebbte wieder ab und er ließ die Schultern enttäuscht hängen. Mariah biss sich ebenfalls auf die Unterlippe, als sie die Aussichtlosigkeit ihrer Situation erkannte. Hana seufzte auf ihrer aller Reaktion und fuhr fort.

„Ich könnte es der Polizei ehrlich gesagt nicht einmal verdenken, wenn sie uns nicht glauben möchte. Diese Sache könnte einen herben Präzedenzfall in der Rechtsgeschichte verursachen. Plötzlich könnte jeder Psychopath daherkommen und behaupten, dass ein Geist den Mord begangen hat, für den er eigentlich verantwortlich ist. Es ist heutzutage ohnehin schon schwierig genug, jemanden hinter Gitter zu bekommen, ohne das seine Zurechnungsfähigkeit überprüft wird. Es sitzen dutzende Psychopathen in unseren Nervenheilanstalten, die eigentlich lebenslänglich in ein Gefängnis gehören. Welche Ausmaße könnte unser Fall also nach sich ziehen?“

Ein verstimmtes Brummen kam von Mr. Kinomiya und auch Mariah musste zugeben, dass Hanas Argumentation stichfest war. Sie würden heftige Stolpersteine in den Weg gelegt bekommen. Inzwischen fuhr Hiros Verlobte fort.

„Ich bringe meinen Nachbarn um, weil mir seine Nase nicht passt und schiebe es dem Monster von Loch Ness in die Schuhe? Wo kämen wir denn da hin? Das alles ist… Nun ja… Es ist wirklich sehr heikel. Wir bewegen uns auf sehr dünnen Eis und mit unseren Beweisen, kommen wir nicht weit. Das meiste basiert auf unseren Aussagen.“

Hana schüttelte bedauernd den Kopf.

„Nein… Das Video können wir leider vergessen. Was wir darauf finden sind nur vage Andeutungen auf eine übernatürliche Macht. Es lässt zu viel Interpretationsspielraum. Unsere ganze Theorie wirkt zu obskur, auch wenn sie tatsächlich wahr sein sollte. Man wird uns nicht glauben. Man möchte uns so etwas doch gar nicht glauben.“

„Dann hilft es nichts! Ich gehe zur Präfektur.“, sprach Mr. Kinomiya entschlossen. „Ich muss denen klar machen, dass ich noch quicklebendig bin und Tyson nichts an meinem Unfall zu tun hatte!“

„Wie wollen sie das beweisen?“, fragte Hana skeptisch. Er dachte gründlich nach.

„Ha!“, Mr. Kinomiya klatschte in die Hände. „Ich könnte behaupten, dass ich meine Medikamente falsch eingenommen habe!“

„Okay… Dann müssten wir überprüfen, ob eine falsche Einnahme ihrer Medikamente, tatsächlich zu ihren Symptomen passt.“

„Wir sollen lügen?“, fragte Mariah fassungslos.

„Natürlich! Alles ist glaubwürdiger als die Wahrheit.“

„Lügen nicht gut… Nicht lügen!“, empörte Jana sich plötzlich. Sie hatte zu Mariahs Seite gelehnt, eingerollt in ihre Decke und geistesabwesend mit ihrem Stofftier gespielt. „Kai sage nich machen! Ist nicht gut…“

„Ja, da hat er ganz recht.“, beteuerte ihr Mr. Kinomiya glucksend und tätschelte ihr über den nussbraunen Haarschopf. „Spiel du mal weiter mit deiner Katze. Lass die Erwachsenen ihr langweiliges Gespräch führen.“

„Is wirklich langweilig.“, murmelte Jana vor sich her, da vollführte sie auch schon wieder hüpfende Bewegungen, mit ihrem Stofftier auf der Mauer. Wenigstens eine die dem ganzen recht unbekümmert entgegenschaute.

„Das ist aber nicht unser einziges Problem.“, sprach Hana ernst. „Der Gruppe wird auch der Brand im Hiwatari Anwesen zu Lasten gelegt. In beiden Fällen waren sie immer vor Ort, als die Unglücke passiert sind. Zumindest hat Ming-Ming das schon seltsam gefunden. Es wird nicht lange brauchen, bis die Polizei das auch komisch findet. Womöglich verfolgen sie bereits schon diese Fährte?“

Kenny gab ein Murren von sich. Sein Gesicht verzog sich, als ginge ihm eine Idee durch den Kopf, die ihm selbst nicht ganz behagte.

„Naja… Vielleicht gäbe es eine Möglichkeit, um auch diesen Vorwurf fallen zu lassen.“

„Und wie?“, blinzelte Hana fragend zu ihm herüber.

„Wir waren schon einige Male in dem Anwesen.“, begann er zögerlich. „Im Erdgeschoss befindet sich eine kleine Bibliothek. Sie liegt gleich zur rechten Seite, wenn man in die Eingangshalle kommt und besitzt einen großen Kamin. Kai meinte einmal zu uns, sein Großvater hätte ihm früher strengstens verboten, den Raum zu betreten, wenn er nicht im Haus war. Dann war das Zimmer für ihn absolutes Sperrgebiet.“

„Weil das alte Ekel Angst hatte, dass seine teuren Enzyklopädien, ein paar Fingerabdrücke zu viel abbekommen?“, fragte Mr. Kinomiya verächtlich. Es war unüberhörbar, dass er nichts von Kais verstorbenem Großvater hielt. Es deckte sich mit dem, was Mariah über ihn gehört hatte. Seine Erziehungsmethoden sollten geradezu drakonisch gewesen sein, auch wenn er es seinem Enkel, in materieller Hinsicht, an nichts fehlen ließ.

„Nein.“, rollte Kenny inzwischen mit den Augen. „Ausnahmsweise hatte das sogar einen nachvollziehbaren Grund. Voltaire hatte Angst, dass Kai am Kamin herumspielte und sich dort verbrannte. Als er noch ein Kind war, hat sein Großvater ihn auch nie nah an das Feuer herangelassen. Er sollte immer einen gewissen Abstand wahren.“

„Donner! Hat man Worte… Corleone hatte tatsächlich eine mitfühlende Schokoladenseite.“

Mariah musste schmunzeln, weil ihr dieser Wortlaut bekannt vorkam. Ihr war bereits mehrmals zu Ohren gekommen, dass zu Lebzeiten Voltaires, im Hiwatari Anwesen eine Atmosphäre herrschte, als würde der Pate persönlich darin residieren. Max hatte Voltaire sogar einmal vor versammelter Mannschaft imitiert.

„Frag mich niemals nach meinen Geschäften, Kai.“, wandte er sich damals mit der rauchigen Stimme von Don Corleone an seinen Freund. Alle hatten gelacht - bis auf Kai, der das ganz und gar nicht komisch fand. Der hatte nur mit einem entnervten Seufzen die Augen verdreht.

„So viele Fehler der Mann auch besaß, was Kai anging, schien er nicht immer so eine… Beißzange zu sein.“, suchte Kenny nach einer höflichen Umschreibung. „Jedenfalls meinte Kai einmal zu uns, das das Modell was in der Bibliothek steht, relativ altmodisch wäre und schon seit geraumer Zeit renoviert werden müsse.“

„Also ist der Kamin eine potenzielle Gefahrenquelle?“, Hana legte nachdenklich ihren Finger ans Kinn. Kenny nickte zustimmend und fuhr fort.

„Man sollte zumindest vorsichtig sein im Umgang mit diesem Ding. Ich habe ihn schon mehrmals aus der Nähe betrachten können - der Kamin ist riesig. Ein wahres Monstrum! Nicht wie diese kompakten modernen Modelle, die man heute auf dem Markt findet. Das Anwesen ist auch recht alt. Weitestgehend Parkettböden, viele Teppiche, schwere Vorhänge.“

„Alles entflammbar.“, bemerkte Mariah. Sie begann zu verstehen, worauf Kenny hinauswollte und war mit dem Gedanken nicht allein.

„Du spekulierst also darauf, dass Kai den Brand auf seine Kappe nimmt.“, brachte Mr. Kinomiya es auf den Punkt. Auf das erneute Nicken seines Gegenübers, verschränkte er die Arme argwöhnisch vor der Brust. „Mmm… Na, das ist schon ein schwerer Vorwurf. Der Junge scheint mir zu verantwortungsbewusst, um einen solchen Patzer zu begehen.“

„Das wissen die Polizisten aber nicht…“, sprach Kenny. „Die kennen ihn nicht persönlich. Und Irren ist bekanntlich menschlich. Das könnte jedem Mal in einer unachtsamen Minute passieren!“

„Und wenn der Eigentümer des Gebäudes den Brand selbst zugibt, sagt man ihm nur nach, dass es ein unglücklicher Unfall war. Dann wäre die Brandstiftung zumindest vom Tisch.“, Hana beugte sich vor, legte ihre Ellbogen auf den Knien ab, um ihr Gesicht in den Handflächen abstützen zu können. Sie schloss nachdenklich die Augen und man hörte förmlich, wie die kleinen Zahnräder in ihrem Hinterkopf auf Hochtouren liefen. „Das ist alles schön und gut. Doch all unsere Ideen setzen voraus, dass die Gruppe endlich wieder aus der Versenkung auftaucht. Wir bräuchten zumindest dringend Kais entlastende Aussage. Mit Mr. Kinomiya können wir lediglich nur den Vorwurf widerlegen, dass er von Takao vergiftet wurde. Der Brand ist damit noch nicht vom Tisch. So wie ich das verstehe, sind wir jetzt also zum Warten verurteilt. Wir können lediglich auf die Rückkehr von diesem… Ding hoffen.“

„Das Ding ist ein Bit Beast und heißt Galux.“, warf Mariah pikiert ein.

„Nichts für ungut, aber ich habe andere Probleme, als jetzt Haarspalterei zu betreiben.“

Irgendwie war diese Frau ganz schön unverschämt. Mariah musste an sich halten um nicht verärgert zu schnauben. Da bemerkte sie, wie bekümmert Kenny zu ihr blickte.

„Tut mir Leid, Hana. Nun hast du dich so beeilt, weil du Hiro schnell Bescheid geben wolltest und nun können wir wahrscheinlich vor dem Morgengrauen, gar nichts Konkretes sagen.“

Auf seine Worte nickte sie. Mariah hatte das Gefühl, das Hana auf einmal sehr bedrückt war.

„Hiro kann doch zu uns stoßen. Wo treibt sich der Junge überhaupt wieder herum?“

„Er ist bei der Polizei.“

„Etwa wegen Tyson?“

„Ja… Also… Zuerst war das auch deshalb.“, druckste Kenny panisch herum. Sein Mund schloss und öffnete sich immer wieder, also läge ihm etwas ziemlich unangenehmes auf der Zunge, was er nicht so richtig in Worte fassen konnte, bis Hana ihm einen unwirschen Stoß mit dem Ellbogen, in die Seite verpasste. Beide tauschten einen vielsagenden Blick aus, den Mariah nicht recht zu deuten wusste. Ihr kam es vor, als wolle man dem Großvater etwas vorenthalten, was ihn nur unnötig aufregen könnte. Da antwortete Hana auch schon: „Genau deshalb. Keine Sorge, Mr. Kinomiya. Bleiben sie einfach hier und lassen sie Hiro schon machen…“

„Herrlich! Tyson und er liegen sich ständig in den Haaren, aber wenn einer von ihnen in Schwierigkeiten steckt, halten sie doch zusammen.“, strahlte der Großvater stolz. Er verschränkte die Arme vor der Brust und nickte zufrieden – ohne zu bemerken wie traurig Hana wirkte.
 


 

*
 

Zunächst erklang ein störendes Piepsen in seinem Ohr, als Max sich nach langem endlich aufrichtete. Kurz vor seinen Füßen war ein riesiger Felsbrocken aufgekommen, dessen Wucht ihn einige Meter zurück geschleudert hatte. Er kam auf dem Rücken auf, stieß sich schmerzhaft den Hinterkopf und für einen Moment war ihm schwarz geworden, bis er begann, gegen die Ohnmacht anzukämpfen. Wie lange das ging, konnte Max nicht genau sagen.

Ein paar Sekunden…

Vielleicht lag er aber auch schon einige Minuten bewusstlos auf dem Rücken?

Etwas Warmes sammelte sich in seinem Nacken. Max brauchte kein Genie zu sein, um zu wissen, dass es wohl sein eigenes Blut war, das sich in den Stoff seines Kragens sog. Seine Umgebung nahm er nur unter flirrenden Lidern war. Er erhaschte hin und wieder eine leuchtende Gestalt. Mal war sie kleiner, mal größer. Doch benommen wie er war, konnte Max kaum sagen, ob es sich um die raufenden Uralten, oder um ihre Verbündeten handelte.

Die Lichtflecken schwirrten geradezu verrückt umher, als würde er in einem Karussell sitzen.

Letztendlich kam er zu dem Schluss, dass er besser verfuhr, wenn er sich von allen Lichtgestalten erst einmal fernhielt, bis er seine Freunde in der Finsternis wiederfand. Mit wackligen Knien stemmte er sich auf, tat in der dunklen Kammer mehrere Schritte, bis er auf kalten Fels stieß. Mit der Abwesenheit von Mariahs Bit Beast war ihm die einzige Lichtquelle in der Höhle beraubt. Er tastete sich mit den Händen voraus seinen Weg. Das Piepsen in seinen Ohren wollte nicht nachlassen. Da manifestierte sich aus der Finsternis eine weitere fließende Lichtgestalt. Für Max spielten sich ihre Bewegungen wie in Zeitlupe ab, doch tatsächlich machte es den Anschein, als würde sie auf ihn eilig zu rennen. Er blinzelte irritiert, denn da stand das gesichtslose Wesen bereits vor ihm, was sie zuvor begleitet hatte. Es ging alles so rasant schnell und der Geist gestikulierte verzweifelt vor seiner Nase herum.

Max schloss die Augen für einen Moment.

Ihre hektischen Bewegungen irritierten seine betäubte Wahrnehmung nur umso mehr.

Ihm war schlecht. Er wollte einfach nur auf den Boden fallen und sich ausruhen. Die drückende Kälte hier drinnen tat ihr übriges. Da packte ihn etwas an seinem Overall. Mit einem Keuchen öffnete er die Lider. Die Lichtgestalt hielt ihn am Oberteil gepackt und zerrte ihn fort, weg vom Kampfplatz. Kurz darauf erschallte ein dumpfer Aufprall hinter ihm, der die Erde erzittern ließ, genau an jenem Punkt, wo er zuvor gestanden hatte. Durch die Erschütterung versagten seine Beine. Er wollte zu Boden sinken, doch die Gestalt zog ihn drängend auf, bis sie etwas erreichten, was wie eine Vertiefung innerhalb der Felswand wirkte. Sobald er inmitten des schützenden Unterschlupfes war, ließ sich Max benommen an ihren kalten Felswänden hinabgleiten. Rufe schallten durch die Finsternis, er meinte seinen Namen zu vernehmen, doch der Kampfplatz war zu nah, als das er hätte unterscheiden können, was nicht von dessen Geräuschkulisse herrührte. Max spähte aus schummrigen Sichtfeld hinaus zu den Uralten, sah wie Draciel aufbrüllte, weil einer dieser spitzen Stalaktite auf den Rücken seines Bit Beasts landete. Früher hätte ihm dieser Laut das Herz zerrissen, als würde er selbst die Treffer abbekommen. Max wäre schier verzweifelt, bei dem Gedanken, seinen Partner nicht beistehen zu können.

Doch jetzt begann er schadenfroh zu kichern…

„Geschieht dir recht. Mieser Verräter.“

Er war selbst überrascht, wie gemein er sein konnte. Sowas war eigentlich ganz und gar nicht seine Art. Er entwickelte sich hier zu einer ziemlich rachsüchtigen Person. Das machte ihn stutzig, weil es insgeheim das bestätigte, was Galux prophezeit hatte. Mit einem Seufzen klappte sein Kopf in die andere Richtung. Die flirrenden Lichter aus seinem Versteck heraus zu verfolgen, empfand er als ziemlich anstrengend. Er schloss die Augen und versuchte ruhig zu atmen. Unter seinen Fingerkuppen spürte er die glatte Eisschicht, die sich über die Felswände zog. Das eisige Klima ließ ihn dösig werden…

Bis ein kurzes Klatschen seine Wangen berührte. Max verzog das Gesicht. Es fühlte sich unangenehm an, aber eigentlich war doch alles hier unten nicht einladend. Er begann sich zu fragen, ob er es riskieren könnte, wenigstens für eine winzige Millisekunde wegzunicken.

Da klatschte schon wieder etwas unwirsch gegen seine Backen. Er sträubte sich. Es fühlte sich so seltsam an, wie wenn für einen kurzen Moment das Blut aus seinen Wangen entwich. Als er die Lider öffnete stand dort die Geistergestalt vor ihm. Ihre zierlichen Hände schwebten wenige Zentimeter vor seinem Kopf, wagten es aber nicht, ihn erneut zu berühren.

„Nur fünf Minuten.“, flüsterte Max erschöpft. Sie schüttelte vor ihm energisch den Kopf.

„Bitte.“, sprach er aus kratziger Kehle. Seine Lider schlossen sich wieder, da klatschte sie erneut ihre Handflächen kurz gegen seine Wangen. Eigentlich hätte ihn das beunruhigen müssen. Allegro hatte die Gruppe eindringlich gewarnt, sich keinem längeren Körperkontakt mit einem Geist auszusetzen. Doch ihre Art erinnerte ihn an seine Mutter.

Die hatte ihn auch früher so geweckt…

Max war zwar kein Morgenmuffel, doch bis er aufwachte, brauchte auch er einige Anläufe und wälzte sich lieber noch zweimal im Bett herum, bevor er den Tag begann. Wenn seine Mutter mal Urlaub hatte, wollte sie diese Zeit immer bei ihrer Familie verbringen. Dann ließ sie es sich nicht nehmen, ihren Sohn zu wecken. Ständig hatte Judy ihm dann die Wange getätschelt. Immer ganz kurz. Drei neckende Klatscher auf seine Backen. Gefolgt von ihrem belustigten Kichern, wenn sie Maxs genervtes Stöhnen hörte.

„Ich höre erst auf, wenn du aufstehst, Sonnenschein!“, hatte sie dann immer neckend gesungen. Als der Geist vor ihm erneut Zugriff, riss er genervt seinen Kopf weg. Es hätte nur noch gefehlt, wenn sie ihm als letzten Ausweg auf den Bauch trommelte. Keine Sekunde nachdem er diese Überlegung dachte, fühlte er, ihre Hände an jener Stelle. Sie klopften einen kurzen Rhythmus. Erst da begriff Max endlich…

Seine Lider öffneten sich ruckartig.

Er blickte das helle Lichtwesen vor sich entsetzt an, was die Hände wieder von ihm fernhielt, ganz so, als ließe sie die kurzen Berührungen nur zu, um ihn aus seiner Benommenheit zu reißen, nicht um ihm unnötig zu schaden. Wie eine erkältete Mutter, welche ihr Kind nicht küsste, aus Sorge, sie könne es anstecken.

Max Atmung beschleunigte sich.

Plötzlich verstand er woher seine anfängliche Sympathie gegenüber ihr herrührte. Ihm kam in den Sinn, wie furchtsam dieser Geist auf das Wasser reagiert hatte, als der Stollen, durch den sie sich zwangen, überflutet wurde. Es ergab nun endlich einen Sinn!

„Mum?“, fragte er unsicher. Dabei konnte er nicht verhindern, dass seine Stimme bebte. Die Hoffnung welche in ihm aufstieg, machte ihm Angst. Denn er ahnte, wie machtlos er wäre, sollte sie es wirklich sein. Er wusste nicht wie er seiner Mutter helfen konnte. Unweigerlich erinnerte er sich an eine griechische Sage, in welcher der Held Odysseus, seine verstorbene Mutter, im Reich des Hades wieder vorfand, nachdem diese sich nach einer falschen Nachricht, um den Verbleib ihres jahrelang verschollenen Sohnes, selbst umbrachte.

Wer war Max in dieser Geschichte?

Etwa der tragische Held, der dazu verdammt war, seine eigene Mutter hier unten zurückzulassen?

Er biss sich hart auf die Unterlippe, bis er Blut schmeckte. Etwas in ihm wollte ein „Nein“ hören. Sein Körper begann zu zittern. Einerseits wollte Max nicht das das seine Mutter vor ihm war, auch wenn ein weitaus größerer Part in ihm, es wiederrum doch schmerzlich herbeisehnte, um ihr ein letztes Mal sagen zu können, wie sehr er sie in seinem Leben vermissen würde. Wie wichtig sie ihm gewesen war…

Dass er es bereute, sie nicht mehr geschätzt zu haben.

Sie als selbstverständlich betrachtet hatte, so wie es Kinder nun einmal taten, in der närrischen Vorstellung, dass jedes Elternteil für immer in der Nähe blieb. Man verdrängte gerne die Tatsache, dass auch deren Zeit auf Erden, begrenzt war. Die Jahre verflogen so schnell und ihr Tod kam so plötzlich für ihn, ganz ohne Vorwarnung, dass er erst danach begriff, wie kostbar jede verpasste Gelegenheit, mit seiner Familie gewesen war.

Doch sie entgegnete nichts…

„Mum?!“, fragte Max erneut. Nun überschlug sich seine Stimme, wurde drängender und die Seele vor ihm, ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Ihre Finger schwebten noch immer wenige Zentimeter vor seinem Gesicht. Und da nickte sie…

Diese leise Geste ließ Maxs Damm brechen.

Er konnte nicht mehr an sich halten. Ein lautes Aufheulen kam aus seinem Mund und die erste Träne war schnell vergossen. Er streckte seine Finger nach ihr aus, wollte seine Mutter in die Arme nehmen – doch da wich sie zurück.

Es wirkte geradezu schreckhaft. Sie erhob sich eiligst, schüttelte immer wieder den Kopf und tat mehrere Schritte von ihm weg, bis sie auf die kalte Gesteinswand in ihrem Unterschlupf traf. Judy wusste genau, wie gefährlich sie ihrem Sohn in ihrem Zustand war - und sie wollte ihm nicht schaden.

Max Hand schwebte in der Luft. Er starrte seine Mutter aus geweiteten Blick nach. Sah ihre Schultern beben, doch ihr fehlten die Augen, um den Tränen freien Lauf zu lassen. Sie konnte nicht weinen, so sehr sie es auch wollte. Doch er ahnte was in ihr vorging.

Das alles hier…

Es war so unfair!

Dieser Moment kam Max so grausam vor. Er wollte doch nur seine Mutter noch ein letztes Mal umarmen, aber selbst das war offenbar zu viel verlangt. Die Ungerechtigkeit übermannte ihn. Er raufte sich fauchend die Haare, bettete seine Stirn auf seinen Knien ab und begann haltlos zu schluchzen, dass sein Körper nur so erzitterte.

Bis ihn der spitze Reißzahn in seiner Hosentasche in den Oberschenkel kniff, den er beim Kampf zwischen Dragoon und Draciel, vom Boden aufgehoben hatte. Beinahe hätte er den vergessen. Der Schmerz riss ihn aus seiner Verzweiflung.

Er fuhr sich schniefend über die tränennassen Wangen, bis ihn der spitze Gegenstand erneut zwickte. Kurz darauf streckte Max vorsichtig sein Bein durch, um besser in die Tasche seines Overalls greifen zu können. Seine Finger glitten behutsam zwischen den Stoff und zogen den Reißzahn hervor. Er war größer als seine eigene Handfläche, nicht unbedingt dick, aber dafür länglicher. Trotzdem wirkte er sehr stabil.

Ihm fiel prompt auf, dass die winzige Spitze sich durch den Boden seiner Tasche gebohrt und sein Bein darunter leicht angeritzt hatte. Max hob den Zahn in die Höhe und spürte die Energie welche dadurch pulsierte. Dann änderte er den Griff und haute den Zahn, mit voller Wucht, in das Gestein unter ihm. Er blieb tatsächlich tief im Felsen stecken…

Als Max ihn aus dem Boden zog und in der Dunkelheit die Stelle abtastete, war er durch die harte Schicht gedrungen und hatte ein beachtliches Loch im Gestein hinterlassen. Dieser Reißzahn war eine richtige Waffe. Max besaß in seinem Arm sicherlich nicht halb so viel Kraft, wie Driger in seinem Kiefer und dennoch war er so tief eingedrungen. Er drehte den Zahn vorsichtig zwischen seinen Fingern, bemerkte dass davon ein Kribbeln ausging, als würde er unter Strom stehen. Selbst er, als einfacher Mensch, spürte die Energie darin.

Seine Gedanken verdüsterten sich. Ihm kam etwas in den Sinn. Jene Sätze welche Tyson seinem Bit Beast entgegengeschmettert hatte, als er erkannte, weshalb sein Partner ihm trotz seines Grolls, ständig das Leben rettete, sobald er ernsthaft in Gefahr geriet.
 

„Du kannst es nicht! Weil du als mein Bit Beast geschworen hast, mich zu beschützen! Ihr Bit Beast nehmt dieses Versprechen nämlich verdammt ernst, nicht wahr?“
 

Tyson war so herrisch zu Dragoon gewesen, hatte sich kein Blatt vor den Mund genommen, trotz der bedrohlichen Situation und dennoch - sein Bit Beast konnte ihn damals nicht töten. Lediglich einen Warnschuss abgeben.

Max Braue zog sich nachdenklich zusammen. Als er den Blick hob, schaute er zunächst auf den Geist seiner Mutter. Seine Augen hefteten sich auf das leere Gesicht. Dort hätte jetzt eigentlich ihr Lächeln sein sollen, dann noch ihr azurblaues Augenpaar, was ihn stets so mitfühlend bedacht hatte. Mit den Jahren hatten sich um Judys Mundwinkel Fältchen gebildet, doch seine Mutter hatte stets betont, dass ihr das nichts ausmachte, immerhin kämen diese vom vielen Lachen.

Nun verdeckte sie aber das Gesicht mit den Händen, als wüsste sie selbst um ihr merkwürdiges Erscheinungsbild. Judys Haare wehten unnatürlich, als wäre ihr Kopf bedeckt, mit einer flammenden Haube, die sich zu jedem Windhauch neigte. Noch immer bebten ihre Schultern, als würde sie Schluchzen. Ihr war wohl ebenfalls elendig zumute.

Sie konnte ihr einziges Kind nicht umarmen…

Max erhob sich schweratmend. Sein Blick klärte sich, irrte zu den kämpfenden Uralten – auf die feinen Furchen in Draciels Panzerung. Sie zogen sich wie glimmende Fäden über den Körper der Schildkröte. Äußerlich war Maxs Gesicht starr geworden, doch seine Faust legte sich so fest um den Reißzahn, dass er ihm ins Fleisch schnitt.

Er wusste was er zu tun hatte…
 

*
 

Für die Idee mit den Tropfsteingebilden, hätte sich Dragoon liebend gerne auf die Schulter geklopft. Mit einer wahren Schadenfreude beobachtete er, wie jeder Fels, krachend auf Draciels Panzerung zerschellte. Als er in der vorherigen Kammer beinahe zu ertrinken drohte, hatte er nur einen Ausweg aus seiner Misere gesehen – Draciel zu packen und ihren Körper, gegen die Wände der Höhle zu schlagen.

Um sich nicht zu verletzen, hatte die Schildkröte ihre sterbliche Hülle abgestreift, noch bevor sie auf dem harten Gestein aufprallte. Der Körper zerstob in dutzenden kleinen Wasserperlen davon. Die wuchtige Tiergestalt hatte augenblicklich den Raum eingeengt, bis auch Dragoon in seine wahre Form schlüpfte. Für einen Moment war es unerträglich Eng in der Kammer geworden, bis die schwächste Wand nachgab und in sich zusammenbrach. Sofort hatte Dragoon die Gelegenheit genutzt, um mit seinem schlangenhaften Körper, aus der entstandenen Öffnung zu entwischen.

Gerade als er hindurchfliegen wollte, packte ihn Draciel aber am Schweif und so stürzten sie gemeinsam in den nächsten Raum, der zu seinem Glück weitaus höher war, als das enge Rattenloch, in welchem ihm die tückische Schildkröte zuvor aufgelauert hatte. Sobald er wieder genug Freiraum besaß, um sich in die Luft zu erheben, fühlte sich Dragoon wie neu geboren. Diese Enge war überhaupt nichts für ihn gewesen. Derlei Einschränkungen hasste er. Der Wind ließ sich einfach ungerne einpferchen.

Dagegen brauchte es nur einen harten Schlenker gegen die Höhlenwand und sein Schweif entglitt zwischen den klumpigen Tatzen der Schildkröte. Er hatte gefühlt wie die kurzen, aber scharfen Krallen, über seine Schuppen schabten. Gleich darauf schallte ein lautes Donnern von den Wänden, als Draciel den Abhang hinabrollte.

Es klang wie eine Lawine aus Geröll und Stein. Einen Moment musste Dragoon den Atem anhalten. Denn diese Situation war ihm erschreckend bekannt vorgekommen. Ihm kam in den Sinn wie Driger in den Tod gestürzt war. Vor seinem inneren Auge, sah er dessen Gestalt erneut unter ihm, durch die Wolkendecke brechen. Seine Glieder hatten sich geradezu verkrampft, als wollte sich sein Körper auf den Aufprall vorbereiten. Die tiefgrünen Augen des Tigers hatten Dragoon bedacht.

Er hatte keine Angst darin erhascht – vielmehr wirkte es damals wie bedauern.

Ob es daran lag, wie sie auseinandergegangen waren?

War Driger enttäuscht gewesen, weil ihre jahrelange Freundschaft so blutig endete?

Diese seltsame Schuld, die er seit neuem empfand, hatte sich erneut schwer in seinen Magen gelegt. Diese winzige Erinnerung hatte Dragoons Instinkte kurz zurückgedrängt und verschaffte jener Seite in ihm Gehör, die sein Handeln scharf verurteilte.

„Hör auf! Lass es endlich gut sein!“

Er hatte Draciel den Hang hinabdonnern sehen. Das Bit Beast hinterließ eine Schneise der Verwüstung hinter sich, der selbst die alten Gesteinsschichten hier unten, nicht gewachsen waren. Der massige Körper rollte sich unnachgiebig seine Bahn hinab.

„Du wirst es bereuen wenn du noch einen Kameraden verlierst!“

Die Schildkröte hatte das Ende erreicht und sofort als sie auf geraden Boden traf, reckte sich der Kopf zu ihm auf. Er sah die lederartige Haut auf dem kahlen Schädel, die kleinen violetten Muster darauf. Ihre Blicke trafen sich einen Moment.

Einen solchen Kampfeswillen hatte er noch nie in Draciels Augen erspäht. Nicht einmal zu ihren Zeiten, in der Arenen der Menschenwelt.

„Selbst die Weltenbaummutter will dass du aufhörst! Lass es sein! Lass es endlich gut sein!“

Er konnte beobachten, wie die kurzen Beine sich in den Untergrund gruben, um der Gerölllawine, die Draciel bei der Talfahrt ausgelöst hatte, mit sicherer Haltung entgegenzuwirken.

„Das ist es nicht mehr wert! Du fährst zu hohe Verluste ein!“

Die Gesteinsbrocken stürzten auf die Panzerung des Bit Beasts hinab und begruben es unter sich. Einen verwirrenden Moment bekam es Dragoon deshalb mit der Angst zu tun.

„Du willst doch gar nicht das Draciel auch noch stirbt!“

Um nicht verschüttet zu werden, bäumte sich die Schildkröte mit einem ohrenbetäubenden Grölen auf. Die herumfliegenden Trümmer wurden zu gefährlichen Wurfgeschossen. Dragoon vernahm die Schreie der Menschenjungen, die sich vorsichtig in Sicherheit brachten. Inmitten der Dunkelheit, waren ihre Schritte, wie das unsichere Tapsen von Neugeborenen.

„Du kannst es beenden. Sieh einfach über deinen verdammten Stolz hinweg!“

Kurz darauf schallte ein bedrohliches Blubbern zu ihm auf. Keine zwei Sekunden später, stoben aus den natürlichen Unterwasserteichen, die sich in dem komplexen Tunnelsystem angesammelt hatten, gewaltige Fontänen empor, mit dem Ziel, Dragoon zu treffen.

Einer traf ihn mitten in die Magengrube.

Mit einem schmerzhaften Schrei wurde er gegen die Decke geschleudert. Er fühlte spitze Steine in seinem Rücken, die glücklicherweise nicht durch seine dicken Schuppen kamen. Dennoch schluckte er Wasser, als Draciels Fontäne ihn unbarmherzig gegen das kalte Gestein presste. Er hatte versucht sich aus dem Wasserstrahl zu befreien, jedoch war der Druck so enorm gewesen, dass er sich kaum von der Stelle rühren konnte. Sicherlich wirkte er zu jenem Zeitpunkt wie ein Fisch, der auf dem Trockenen zappelte. Die Stimme in seinem Hinterkopf, war inmitten seines Überlebenskampfs dafür endlich verstummt. Sein Schweif prallte ungeschickt gegen harten Tropfstein, was unter dem Hieb nachgab. Kurz darauf bemerkte er verblüfft, wie Draciel von ihm abließ.

Es war seine Chance aus dem Schussfeld zu entkommen.

Als er eiligst davonflog, wurde ihm erst bewusst, was für einen Schaden sein ganzes Gezappel angerichtet hatte. Er sah Draciel die Gliedmaßen schnellstens in die Panzerung ziehen, um die weicheren Körperteile vor den Wurfgeschossen in Deckung zu bringen.

Ihm schien als seien die Karten neu gemischt worden.

Die Verlagerung des Kampfes in den nächsten Raum, konnte nicht in Draciels Ermessen gelegen sein. Die Schildkröte mochte hier unten im Vorteil sein, doch dafür konnte Dragoon fliegen. Nun, da er sich genug Freiraum verschafft hatte, kam Draciel auch nicht mehr so leicht an ihn heran. Die Geysire mussten eine weitere Strecke zurücklegen, um bis zur Decke zu schießen, in dieser Zeit war Dragoon aber schon auf und davon. Jedoch ahnte der Drache, dass er lediglich auf Zeit spielte. Er musste die Schildkröte in ihre Schranken weisen, bevor auch diese Kammer unter Wasser stand. Dabei spielte es ihm in die Hände, dass sich ihre Menschenkinder noch hier drinnen befanden. Draciel konnte nicht riskieren, den Raum zu überfluten, so lange die Gruppe hier eingeschlossen war.

Es musste ebenso am Pakt festhalten wie er selbst.

Und der besagte, dass sie ihre Kinder beschützen mussten.

Dragoon hatte in der vorherigen Kammer schnell bemerkt, wie leicht es der Schildkröte eigentlich gefallen wäre, ihn zu ertränken – hätte sich Takaos Freund nicht dort befunden. Mit den anderen Jungen, wäre Draciel sicherlich kaum so zimperlich umgegangen. In Handumdrehen, hätte es den Raum bis zur Decke geflutet und Dragoon wäre elendig darin ertrunken. Es war jener Gedanke, der in ihm wieder die alte Wut aufleben ließ. In seinem Blutrausch, schmälerten sich die reptilienhaften Schlitze in seinen Augen. Die tierischen Instinkte griffen wieder über und gerade in jenem Moment wurde ihm bewusst, wie wundervoll schmerzhaft es für die Schildkröte wäre, wenn die Stalaktiten, auf deren Panzerung zerschellten. Zwar mochte Draciel von allen Uralten, am besten geschützt sein, doch auch dieser natürliche Schutzmantel, konnte mit genügend Ausdauer, sicherlich durchbrochen werden und als der erste glimmende Haarriss auf der Knochenpanzerung erschien, stahl sich ein diabolisches Grinsen auf Dragoons Gesicht.

„Wo sind Max und Galux?!“

Es war Takaos Stimme, die von weit unterhalb zu ihm hinauf schallte. Der Junge klang geradezu panisch. Sein Geist brauchte eine Weile um ihn zu orten. Inmitten seines Tunnelblickes sah er sein Menschenkind, nur als vagen Umriss, der sich nur spärlich von der Finsternis um ihn herum abzeichnete. Er roch ihn mehr, als das er den Jungen sah.

Auch die kleine Verräterin war anwesend.

Drigers Liebchen, was seinem Freund so dermaßen den Kopf verdreht hatte, dass er sich gegen ihn stellte. Er roch Blut. Bit Beast Blut…

Offenbar war sie verletzt worden.

Er wäre liebend gerne hinabgerauscht, um sie mit einem Happen zu verschlingen, doch da kündigte ein lautes Sprudeln an, dass sich ein weiterer Geysir bedrohlich näherte. Dragoon wich aus und fokussierte ein Tropfsteingebilde, was aus unzähligen, herabhängenden Spitzen bestand, ähnlich formiert wie eine Traube. Er manövrierte seinen schlangenhaften Körper, zu dem Konstrukt, um pfeilschnell hineinzurasen. Ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass er mit diesem Unterfangen, selbst Verletzungen davon trug. Kurz darauf hörte er das Gestein um seinen Kopf herum klirren und die ersten Splitter, bahnten sich wie Speerspitzen ihren Weg hinab. Der Anblick wirkte so surreal…

Es war wie ein Regenschauer aus hunderten von Pfeilen.

Dragoon beobachtete wie die Geschosse auf die Erde zurasten, da stockte ihm einen Moment perplex der Atem. Eines der Menschenkinder rannte mit einem verbissenen Ausdruck, direkt auf ihr Schlachtfeld zu, auf eben jenen Punkt, der sicherlich bald von den tödlichen Bolzen erwischt wurde. Für eine winzige Sekunde befiel ihn Panik, denn der einzige, dem er so viel Dummheit zutraute, war Takao. Doch dem war nicht so.

Es war Draciels Kind…

Dieser blasse Sterbliche mit den flachsblonden Haaren.

Und auch die Schildkröte wurde sich der Gefahr bewusst, in der das Menschenkind schwebte, dem es Schutz geschworen hatte. Dragoon vernahm einen panischen Laut, ähnlich einem warnenden Schrei, da ging auch schon ein Ruck, durch den massigen Körper. So schnell hatte er die Schildkröte noch nie laufen sehen. Auf allen Vieren scherten die kurzen Stummelbeine über den Boden, steuerten direkt auf den Jungen zu.

Dragoon kannte dieses Verhalten.

Wenn das Menschenkind eines Bit Beasts in ernsthafter Gefahr schwebte, war der Drang ihm zur Hilfe zu eilen, wie ein Notschalter, der im Kopf umgelegt wurde. Getrieben von diesem einen Wunsch, blendete ein Bit Beast dann jeglichen Gedanken aus.

Es reagierte dann nur noch…

„Und das kann ich mir zu Nutzen machen!“

Gleich nachdem die Überlegung ihn befiel, tat Dragoon eine steile Kurve abwärts. Während seinem Fall, konnte er genau beobachten, was sich unter ihm abspielte.

Es geschah alles blitzschnell – doch für ihn wie in Zeitlupe.

Bevor die Stalaktiten den Jungen treffen konnte, hatte Draciel sich über das Kind geworfen. Er vernahm den schmerzhaften Schrei der Schildkröte, sah weitere Risse auf der schwarzen Knochenpanzerung sprießen, als die Geschosse darauf trafen. Die Haut darunter, leuchtete hell durch die feinen Furchen, wie ein Geflecht aus violetten Wurzeln.

Dragoon nahm die Kehle der Schildkröte ins Visier.

Eine der wenigen weichen Stellen seines Gegners.

Wenn er Draciel erreichte und es dort zu packen bekam, noch bevor es in seiner Panzerung verschwinden konnte, hatte er den Sieg in der Tasche. Er müsste lediglich die Halsschlagader treffen. Der Drache schoss wie ein Blitz hinab, sein Maul öffnete sich, bereit zuzupacken.

„MAX!“

Es war Takaos Schrei. Er klang vollkommen panisch.

So hatte er den Jungen noch nie gehört. Seine Stimme war ein Zeugnis, seiner ernsthaften Furcht um seinen Freund. Es war wie ein Blitz der durch Dragoons Körper schoss.

Prompt weiteten sich die schmalen Schlitze in seinen Augen wieder.

Und er blieb stehen…

Mitten im Flug. Nur wenige Meter bevor er Draciel erreichte.

Dragoon konnte sich nicht erklären weshalb.

„Tue es nicht!“

Erneut war da diese Stimme in seinem Inneren, doch drängender als jemals zuvor. Sie hinderte ihn daran sich zu rühren und das alles nur, weil Takaos lächerliche Angst um seinen Freund, ihn daran erinnerte, dass ein winziger Teil in ihm, ebenfalls nicht wollte, dass ein weiterer seiner Kameraden verschwand.

„Du willst das doch gar nicht.“

Er blickte aus schreckensgeweiteten Augen auf Draciel herab. Dieses Bit Beast das ihn doch verraten hatte, was mit seiner Mutter gemeinsame Sache machte, um ihn vom Thron zu stoßen. Für einen Moment riss er sein Maul weiter auf. Doch zubeißen wollte er noch immer nicht…

„Du musst das nicht tun. Es gibt noch immer ein zurück…“

Auch Draciel schaute nun auf. Die Schildkröte war aus der Panik, um ihren Menschenjungen erwacht, der in Sicherheit vor den Geschossen, unter ihrem Körper nun kauerte. Er sah die dunklen Pupillen zu ihm auf blinzeln. Es bedurfte nur noch wenige Meter und er könnte dem verräterischen Bit Beast die Kehle aufreißen.

Das war ihnen beiden bewusst.

Dennoch hatte er seine Chance vertan. Einfach so…

Ihre Blicke trafen sich. Plötzlich musste Dragoon schlucken. Ihm kam in den Sinn, wie Draciel und er sich zum ersten Mal begegnet waren. Es war am Meer gewesen, an einer steinigen Küste um genau zu sein. Die ersten Fische hatten sich im Wasser getummelt und sein innerer Instinkt sagte Dragoon, dass sie sicherlich wunderbar schmeckten.

Allerdings war es anstrengend gewesen sie zu fangen, denn diese kleinen Biester, waren unglaublich flink im Wasser gewesen. Dragoon war in die Fluten gesprungen, wie eine Seemöwe auf Beutezug, doch herausgekommen war er stets mit leeren Krallen und einem Maul voller Salzwasser. Gegen Abend war es soweit, dass er dachte, verhungern zu müssen.

Er hatte sich mit seinem knurrenden Magen am Ufer zusammengerollt und sich zugegebenermaßen in Selbstmitleid gesuhlt, bis aus dem Wasser, ein kleiner, kugelrunder Kopf aufstieg, gespickt mit zwei dunklen Knopfaugen, die ihn neugierig musterten. Ein zappelnder Fisch lag im Maul von Draciel und mit einer raschen Bewegungen des Schädels, warf es die gefangene Beute, direkt vor Dragoons Krallen.

Sie waren beide damals noch kleiner gewesen. Viel kleiner…

Er selbst maß damals vielleicht gerade mal zwei Meter. Das war nichts im Vergleich zu seiner jetzigen Statur, während Draciel, nur wie ein unförmiger, laufender Felsen ausschaute. An Land bewegte es sich geradezu tollpatschig voran, doch im Wasser, da war es bereits ein gefährlicher Jäger geworden. Zunächst hatte Dragoon schmollend gedacht, dass Draciel nur deshalb so gut darin war, weil es einfach älter war, als er selbst. Doch schnell erinnerte ihn sein knurrender Magen daran, dass da eine zappelnde Köstlichkeit vor ihm lag. Der Drache hatte perplex auf den Fisch geschaut, der vor ihm auf dem Boden hüpfte. Er sah die Kiemen, die sich immer wieder öffneten, den schnappenden Mund und bei dem Anblick lief ihm förmlich das Wasser im Mund zusammen.

„Für mich?“, wollte Dragoon erstaunt wissen. Er hatte seinen Kopf verwundert zur Seite gelegt. Da nickte die Schildkröte auch schon. Ein strahlendes Lächeln stahl sich daraufhin auf sein Gesicht. Ohne lange Umschweife hatte er nach dem Fisch gepackt und gierig darauf herumgekaut. Etwas Delikateres war ihm noch nie zwischen die Kiefer gekommen. Womöglich hielt ihn seit damals auch nur sein Verstand zum Narren, weil er an jenem Tag solchen Hunger gelitten hatte, doch noch heute gehörte Fisch zu seinen absoluten Leibspeisen. Draciel war das erste Bit Beast, aus dem Kreis der Uralten gewesen, was ihm zu jenem Zeitpunkt über den Weg gelaufen war. Er konnte sich kaum noch an die Jahre erinnern, bevor er seinen Kameraden begegnete, möglicherweise weil er noch zu jung gewesen war.
 

„Oder weil sie dein Leben so bereichert haben, dass dir die Zeit davor, wie ein farbloser Abschnitt vorkommt?“
 

Die Erkenntnis ließ ihn ausatmen.

Plötzlich wurde Dragoon jäh bewusst, dass er noch immer, wenige Meter, vor Draciel schwebte. Er setzte langsam seine Hinterbeine auf dem eisigen Erdboden ab, verweilte jedoch noch in aufrechter Haltung. Nachdem sein Gegenüber merkte, dass er keine Anstalten mehr tat, ihn anzugreifen, blieb auch die Schildkröte tatenlos.

Ihre Blicke bohrten sich förmlich ineinander.

„Willst du das wirklich?“, kam die Frage schließlich aus Dragoons Mund. Sie durchschnitt die Stille, die zwischen ihnen aufgekommen war. Er erhielt keine Antwort. Lediglich ein leichter Aufschlag mit den Lidern kam von Draciel.

„Denn… ich bin mir nicht mehr so sicher, ob ich das will.“

Er setzte nun auch mit seinen Vorderfüßen auf dem Erdboden auf. Es verging eine lange Zeit, bis von der Schildkröte eine Regung kam. Draciel war nun einmal kein Bit Beast, der besonders schnellen Sorte. Doch schließlich…

Nach einer quälenden Atempause, schüttelte es endlich den Kopf.

„Und was kann ich tun, damit wir das hier friedlich beenden können?“, wollte Dragoon nun wissen. Es war das erste Mal das er eine Art Kompromiss einging. Er wusste nicht genau, wie man diplomatisch handelte, lediglich, wie man für seine Ziele kämpfte. Daher kam er sich merkwürdig unbeholfen vor.

Eine lange Stille kam auf. Fast hätte er gemeint, dass Draciel sich wie sonst auch, in stillschweigen hüllte. Da öffnete das Bit Beast vor ihm den Mund. Die Laute die kamen, klangen leise, wie das heisere Flüstern eines Sterbenden.

„Gib… auf.“

Es waren zwei Worte, die eine fatale Schlacht in seiner Seele auslösten. Da entstanden zwei Parteien in ihm. Sein tierischer Instinkt weigerte sich vehement nachzugeben. Er wollte nicht von seinem Plan ablassen. Wenn er jetzt, nach all der Anstrengung, einfach so aufgab, dann wäre Drigers Tod doch vollkommen umsonst gewesen…
 

„Aber wenn du weitermachst, wirst du einen weiteren Kameraden verlieren. Dann wirst du den doppelten Verlust zu spüren bekommen.“
 

War es das wert?
 

„Dann wird auch Draciels Blut an deinen Händen kleben.“
 

Dragoon starrte auf seine Krallen hinab. Die zermürbte Schildkröte verharrte stumm.

Erwartete nun seine Antwort. Desto weniger Muße er besaß, den Kampf fortzuführen, desto mehr ebbte das grelle bläuliche Licht, was Zeugnis seiner immensen Energie war, auf seinen Schuppen ab.
 

„Ab einem gewissen Punkt, ist selbst ein Sieg eine Niederlage.“
 

Er konnte doch eigentlich gar nicht mehr riskieren, noch einen weiteren Uralten zu vernichten. Wenn Draciel nun auch vom Antlitz der Welt verschwand, würde das katastrophale Folgen auf die Erde haben.

Endlich ließ die Raserei von ihm ab…

Das Blut was in seinen Ohren hörbar pulsierte, legte einen sanfteren Rhythmus ein. Dragoon begann seine Instinkte zum ersten Mal, in seinem gesamten Leben, bewusst zu unterdrücken, zwang sich rational zu denken. Als Uralter hatte er seine Verpflichtungen gegenüber diesem Planeten. Eine davon besagte, das Gleichgewicht der Erde nicht zu stören. Doch tötete er Draciel ebenfalls, war er gezwungen, den Part von Driger und auch jenen der Schildkröte zu übernehmen – und das konnte er nicht!

Er war eine Partnerschaft mit Dranzer eingegangen, wusste um ihre Arbeit, doch niemals hatte er einen Gedanken daran verschwendet, wie die Abläufe der anderen Uralten vonstattengingen. Er wusste nicht einmal, ob er die Energie von so vielen Uralten kontrollieren konnte und brauchte Draciel zurzeit mehr denn je, gerade weil er Driger durch sein unüberlegtes Handeln ausradiert hatte - und auch noch im Clinch mit seiner Phönixdame stand. Ganz zu schweigen davon, dass er wirklich nicht noch einen weiteren Freund verlieren wollte.

Er musste an Driger denken.

Seinen alten Berater.

Seinen Gefährten.

Seinen Freund…

War das tatsächlich Reue was er hier empfand?

Dragoon schloss die Augen. Er war so erschöpft. Die ständigen Kämpfe begannen ihn zu ermüden. Das alles war so aus dem Ruder gelaufen. Diese Erkenntnis ließ ihn ausatmen und endlich jene Worte sprechen, die sein Gegenüber herbeisehnte.

„Lass uns nachhause gehen, Draciel.“

Es kam selten vor, dass die Schildkröte eine Gefühlsregung zeigte, doch er hätte schwören können, einen glücklichen Glanz in den dunklen Knopfaugen zu sehen. Es ließ ihn matt Lächeln und insgeheim dachte er, dass er nun vielleicht doch richtig handelte. Dragoon wandte sich um, roch sein Menschenkind ganz in seiner Nähe. Er erhaschte die Gestalten der anderen Jungen unweit von ihm. Sie standen in sicherem Abstand von ihnen entfernt, schauten aus geweiteten Augen auf die beiden Uralten, ihr Blick starr auf ihren Freund gerichtet, um dessen Leben sie noch immer bangten.

Es hätte nur einen kleinen Hieb von Dragoon bedurft, dann wäre Draciel wohl über dem Menschenkind zusammengeklappt, hätte den Jungen unter dem massigen Körper, gnadenlos zerquetscht. Das war wohl auch den anderen aus seiner Gruppe klar.

Er sah in Takaos Augen.

Seine dunklen Pupillen waren starr auf ihn gerichtet, als wisse er nicht, was er von seinem Sinneswandel halten sollte – als könne er selbst kaum glauben, dass Dragoon bereit war, ihn endlich, nach all den erlitten Strapazen, mit seinen Freunden ziehen zu lassen. Einen kleinen Moment fühlte er den alten Ärger aufwallen, weil er ausgerechnet vor einem mickrigen Sterblichen zurückweichen musste.

Da vernahm Dragoon ein Krächzen hinter sich.

Als er mit fragenden Ausdruck zu Draciel blickte, war der Kiefer der Schildkröte weit aufgesperrt und die Augen tellergroß geworden. Seine Brauen zogen sich argwöhnisch zusammen, bis er seinen Fokus auf den Menschenjungen setzte. Dragoon ging einen riesigen Schritt zurück, senkte den Oberkörper und legte den Schädel auf die Seite, um besser auskundschaften zu können, was der Schildkröte solche Schmerzen bereitete. Er erspähte die Beine des Jungen. Beinahe wäre ihm ein trockenes Lachen entwichen, als er bemerkte, wie das schmächtige Bürschlein seine Handflächen gegen den Brustkorb der Schildkröte presste, ganz so, als wolle er den massigen Körper über ihn, von sich fort stemmen. Dieses närrische Menschlein dachte wohl tatsächlich, ein federleichtes Gänseblümlein über sich zu haben. Da bemerkte Dragoon erst, das der Junge etwas in der Hand hielt. Seine Pupillen hefteten sich auf den leuchtenden Gegenstand zwischen dessen Fingern, da weiteten sich die Schlitze in seinen Augen vor Schrecken. Er hatte angenommen den Reißzahn in der anderen Kammer verloren zu haben!

„Nein!“, keuchte Dragoon.

Sein Kopf schnellte hinauf. Er starrte in Draciels Gesicht…

Und erkannte die Schmerzen, die das Bit Beast durchlebte, sah das Entsetzen, als sich Drigers Reißzahn, durch den Brustkorb, weiter in Richtung Herz bohrte. „Hör auf!“

Dragoons Stimme überschlug sich vor Panik, da versuchte Draciel den massigen Körper anzuheben, bevor das Menschenkind noch weiter mit dem gefährlichen Attribut vordringen konnte - nur leider war das ein Fehler! Der Platz der dadurch entstand, genügte dem Jungen, um nun auch noch seinen Fuß anzuheben.

„Das ist für meine Mutter, du verfluchter Verräter!“, hörte Dragoon ihn mit tränenerstickter Stimme brüllen. Dann trat er gegen den Reißzahn und beförderte ihn tief in Draciels Fleisch. Es gelang Dragoon noch einen letzten Blick in die dunklen Knopfaugen der Schildkröte zu werfen. Die Lider senkten sich flirrend. Draciel wusste was auf es zukam. Keine Sekunde darauf, blähte sich der Körper der Schildkröte auf. Aus jeder Ritze zwischen der Panzerung, trat die immense Energie in einem gleißenden Lichtstrahl hervor. Es wirkte wie eine Bombe die hochging. Kurz darauf erschütterte eine ohrenbetäubende Druckwelle die Höhle und Draciels Panzerung flog in Splittern durch die Gegend.
 

ENDE Kapitel 36
 

Er sah die pechschwarze Schildkröte über Max ragen, der dem Monster wagemutig den Reißzahn in den Bauch rammen wollte. Die anderen großen Jungen hatten nicht sofort bemerkt, was sich auf dem Kampfplatz abspielte, waren viel mehr in Panik verfallen, als sie sahen, wie ihr Freund mitten ins Geschehen rannte.

„Ist er wahnsinnig geworden?!“, hörte er Ray entgeistert fragen, sobald die Gestalt von Max, im fahlen Schein der Monster, aus einer dunklen Ecke hervor hechtete. Kai ging durch den Kopf, dass die Schildkröte vielleicht dessen böser Wolf war, denn Maxs Ausdruck war ganz anders als sonst. Er schaute unglaublich zornig – nicht so heiter wie sonst.

So hatte er ihn noch nie erlebt und irgendwie schüchterte es das Kind auch ein. Dennoch war er erstaunt, als die Schildkröte sich schützend über Max warf, als er drohte, von den spitzen Eiszapfen und Felsbrocken, zermalmt zu werden. Kai hatte einen Moment den Atem angehalten, weil er fürchtete, sein Freund würde nun von dem Monstrum zerquetscht werden, doch glücklicherweise verschafften ihm die kurzen Stummelbeine der Schildkröte, noch genug Platz, um unter dem massigen Leib des Wesens, in Deckung zu gehen. Doch es sah schrecklich eng aus…

Da erhaschte das Kind zum ersten Mal den Gegenstand in Maxs Hand, der in seinen Augen so seltsam wirkte. Genau wie die Bit Beasts, schimmerte auch der Reißzahn in einem merkwürdigen Farbton. Kai hatte an Tysons Ärmel gezupft, um ihn zu fragen, ob er auch sah, was Max da in der Hand hielt, doch die anderen Jungen waren zu sehr damit beschäftigt gewesen, in einer hitzigen Debatte einen Plan auszutüfteln, wie sie ihrem Freund aus seiner Misere helfen konnten, während Allegro wie wild auf der Stelle hüpfte, in heller Aufregung. Tyson wollte schon ungestüm losstürmen, da packte ihn Ray unter den Achseln und fragte ihn entsetzt, ob er noch ganz bei Trost sei. Kai vernahm nur vage, die Gesprächsfetzen welche die Monster miteinander austauschten, da sah er auch schon, wie Max den Reißzahn mit einem Tritt, in die Brust des Bit Beasts verfrachtete.

Kurz darauf erhellte ein gleißendes Licht die Kammer, dessen Zentrum von der Schildkröte ausging. Es begann bei den feinen Linien, welche die Konturen der schwarzen Oberfläche des Panzers abzeichneten. Dann entstanden seltsame Muster an Stellen, wo sie nicht hinzugehören schienen. Wie sprießende Veilchen, zogen sich immer mehr Risse über den Rücken der Schildkröte. In einem hellen Violett strömte das Leuchten, aus dem Inneren von Maxs Bit Beast, hinaus an die Oberfläche. Kai hörte knackende Laute. Es erinnerte ihn an die Schale einer Walnuss, die geräuschvoll aufsprang. Er wich zurück, denn das gefiel dem kleinen Kind ganz und gar nicht. Und auch die anderen Jungen schienen es zu merken…

Da wurde das Licht so grell, dass es Kai in den Augen schmerzte und er die Hände vor das Gesicht schlug. Er vernahm noch Tysons Stimme, fühlte dessen Fingerspitzen, die ihn noch am Arm streiften, ganz so, als wollte er ihn noch ergreifen, da riss es Kai aber schon von den Füßen. Er fühlte wie er weit durch den Raum katapultiert wurde.

Wie Blätter in einem Sturm driftete die Gruppe auseinander.

Der eiskalte Wind in der Höhle pfiff um Kais Ohren. Die Stimmen seiner Freunde entfernten sich von ihm, als auch sie von der Druckwelle erfasst wurden. Während seinem Flug, wurde Kai ständig um die eigene Achse gedreht. Dabei erhaschte er einen Blick auf das zerschellende Bit Beast.

„Der Wolf vom blassen Kater…“, dachte Kai noch erstaunt, beobachtete, wie das Monster in tausend Tropfen zerstob, die sich zu einer riesigen Welle formten. Selbst den Drachen riss es mit sich und Kai konnte hören, wie durch den Druck sämtliche Eiszapfen in der Höhle abbrachen und auf Talfahrt gingen. Er betete noch inständig, seine Freunde mögen von den Geschossen verschont bleiben, da landete er schmerzhaft auf kaltem Untergrund. Dass er über den Boden rollte, merkte er schon gar nicht mehr, denn da war schon alles um ihn herum schwarz geworden…
 

Es kam Kai wie eine gefühlte Ewigkeit vor, als er langsam wieder aus der Dämmerung erwachte. Er fror entsetzlich und spürte kurz darauf auch schon, dass er in einer Pfütze lag. Das kalte Wasser stach auf seiner Haut wie tausend Nadeln. Die dünnen Eisschollen, welche die Oberfläche bedeckt hatten, waren unter seinem Gewicht eingebrochen. Es war sein Glück, dass er auf dem Rücken gelandet war, andernfalls hätte er durch seine Bewusstlosigkeit ertrinken können. Sofort als Kai begriff, worin er lag, bäumte sich der Junge fahrig auf und sträubte sich unwillig. Ihm war so furchtbar kalt. Seine Kleidung klebte an seinem Rücken, da sich dort der Stoff mit Flüssigkeit vollgesogen hatte und als er sich aufstemmen wollte, merkte Kai, dass er bereits ein wenig festgefroren war. Der erste Versuch loszukommen misslang. Erst beim zweiten Mal riss er sich mit aller Kraft los, watete eiligst aus dem Wasser, was ihm lediglich bis zu den Knöcheln reichte und kletterte über den höher gelegenen Rand einer Felsformation, um aus dem kleinen Tümpel herauszukommen. Er spürte jeden Knochen im Leib, denn alles tat ihm weh. Bestimmt hatte er viele blaue Flecken. Am liebsten hätte Kai geweint, doch da die großen Jungen das auch nie taten, verkniff er es sich, auch wenn das Kind ein Schniefen mit der Nase nicht unterdrücken konnte. Beinahe hatte sich Kai endgültig aufgezogen, als er einen erstickten Laut von sich gab und wieder mit dem Fuß zurückrutschte. Erst als er auf der anderen Seite keine Regung vernahm, getraute das Kind sich nochmal, auf die Zehenspitzen zu stehen und seine obere Gesichtspartie, über den Rand zu heben. Seine großen Kinderaugen blinzelten neugierig darüber hinweg. Nur wenige Meter von ihm entfernt, erhaschte Kai einen Blick, auf die riesenhafte Gestalt, von Tysons bösem Wolf.

Der Drache lag auf dem Rücken, er wirkte wie tot, die Klaue seines verbliebenen Arms ragte verkrampft empor. Sein Rachen war weit aufgesperrt, dadurch konnte Kai jeden einzelnen Zahn erblicken. Das Gebiss wirkte furchteinflößend und voller Erstaunen, begann das Kind, jeden einzelnen Fangzahn abzuzählen. Er kam nur auf zwölf. Nicht weil es etwa so viele Zähne waren, sondern weil Kai partout nicht darauf kam, welche Zahl nach der Zwölf folgte. In seiner Grübelei vergaß er für einen kurzen Moment seine Freunde, stattdessen fragte er sich, ob es normal war, dass ein Monster noch immer so himmelblau leuchtete, selbst wenn es doch eigentlich verstorben war. Er hätte erwartet, dass es sich mit diesen komischen Wesen, wie mit Glühwürmchen verhielt. Wenn die starben, wurden sie zu kleinen schwarzen Bällchen. Sie sahen dann aus wie Hasenhäufchen. Verstohlen spähte Kai, von seinem Versteck aus, zu dem toten Drachen und wie er ihn so liegen sah, da packte ihn seine kindliche Neugierde. Er wollte so gerne wissen, wie sich die Schuppen von diesem Monster anfühlten. Er stellte sie sich ganz rau vor - oder vielleicht doch glatt? Wie bei einem Aal…

Den schlangenhaften Körper besaß der Drache doch schon. Kai wollte eifrig seinen Fuß über den Rand seines Versteckes schwingen, um sich das Ungetüm einmal näher anzuschauen, da fiel ihm siedend heiß ein, dass er doch eigentlich nach seinen Freunden suchen sollte.

„Tyson hat gesagt, du sollst nicht von ihm weggehen!“, rief er sich energisch in Erinnerung. „Du hast es sogar geschworen! Und wenn du nicht auf ihn hörst, musst du Pfeffer auf die Zunge streuen.“

Einen Moment verzog er beleidigt das Gesicht, denn das wollte Kai nun wirklich nicht. Dennoch spielte er mit dem Gedanken, ganz leise zum Drachen zu schleichen, ihn kurz anzufassen und dann auch schnell wieder davon zu rennen. Vielleicht merkte Tyson gar nicht, das er unartig gewesen war. Er konnte es ihm doch verheimlichen…

„Du tust es schon wieder! Du willst etwas verheimlichen… Tyson mag das nicht.“

Es ließ Kai einen Schmollmund ziehen. Er hatte ihm versprochen, kein Streuner mehr zu sein, also würde er ihn jetzt auch suchen. Versprochen, war versprochen.

Das Kind kletterte aus seinem Versteck hervor, bog aber entgegen seines ursprünglichen Ziels, nach links ab, weg von dem Drachen, auch wenn er nicht verhindern konnte, dass er noch einmal anhielt und einen sehnsüchtigen Blick auf das Monster warf. Etwas unschlüssig ob der Versuchung, knetete er die Hände, bis er sich mit einem energischen Kopfschütteln abwandte. Umso weiter sich Kai von dem Wesen entfernte, umso dunkler wurde es wieder. Das machte ihm irgendwie Angst, aber die anderen Jungen waren so mutig, also wollte er das auch sein. Er tapste wacklig über die unebene Fläche, vorbei an zerstörtem Gestein, schlang dabei die Arme um seinen Körper, um die Kälte aus seinen Gliedern zu treiben. Mehrmals hauchte er sich seinen warmen Atem zwischen die Finger, rieb die Hände ineinander, doch ihm schien es eher wie vergebliche Liebesmüh. Ihm fiel auf wie ruhig es plötzlich in der Kammer geworden war. Lediglich das leise Plätschern des Wassers drang an sein Ohr, gelegentlich ein Tropfen der zu Boden fiel.

„Tyson?“

Kais kindliche Stimme schallte durch die Höhle.

Doch keine Antwort kam zurück.

„Ray?“

Es war dasselbe Spiel. Das Echo verklang, ohne eine Entgegnung.

Kai biss sich auf die Unterlippe, begann seine Finger nervös ineinander zu verhaken.

„Max? Wo seid ihr?“

Einen furchtbaren Moment erwartete er erneut, dass sein Rufen ungehört blieb, da schrak Kai auf, als ein gequältes Stöhnen dicht neben ihm erklang. „Wer ist da?“

Anstatt einer Antwort, kam wieder nur ein Schmerzenslaut. Kai tapste in der Finsternis vorsichtig zum Ursprung des Geräusches, da stolperte er über etwas, was der Länge nach, seinen Weg versperrte. Er fiel über den Gegenstand, der sich zu seinem Schreck bewegte und wich entsetzt davon zurück. Es kostete das Kind viel Überwindung, seine Hand auszustrecken und tatsächlich ertastete er Stoff zwischen seinen Fingern. Nur Menschen trugen Kleidung. Da lag jemand unter einem Steinhaufen verschüttet. Kai sprang alarmiert auf und begann, Brocken um Brocken, Stein um Stein, von der Person fortzuschaffen. Die Stimme klang weder nach Tyson, noch nach Ray. Er ahnte um wen es sich dabei handelte und kurz darauf, erblickte er im fahlen Licht der Höhle, einen hellen Haarschopf.

„Max! Oh nein, geht es dir gut?“

Dessen Antwort war nur ein ungesundes Husten. Etwas befleckte Kais Gesicht dabei und er kniff verdutzt die Augen zusammen. Eine warme Flüssigkeit war auf seine Wange gefallen. Er fuhr mit den Fingern über die Stelle und blickte auf den dunklen Film, der daran zurückgeblieben war. Etwas ratlos stand er auf, näherte sich einige Schritte der einzigen, größeren Lichtquelle hier unten – Dragoons Leichnam. Desto näher er dem Körper des Bit Beasts kam, desto weiter wurden seine Augen. Irgendwann blieb Kai entsetzt stehen.

Es war Blut…

Max hatte Blut gespuckt!

Er fuhr wieder zu seinem Freund herum, rannte auf ihn zu, fiel vor ihm auf die Knie und berührte seine Wange vorsichtig. Jetzt bekam das Kind wirklich Angst, weil Kai nicht wusste, was er nun tun sollte. Max hatte eine schlimme Verletzung.

„Was soll ich tun? Sag es mir! Ich weiß es nicht…“, begann er panisch.

Sein Freund öffnete mehrmals den Mund zu einer Antwort. Es war ein Krächzen. Allein der Versuch zu sprechen, ließ ihn wieder einen bösen Hustenanfall bekommen, der seine Lippen mit Blut benetzte. Die Flüssigkeit glänzte im fahlen Licht.

Da kam Kai endlich die rettende Lösung.

„Ich suche Galux. Du musst durchhalten!“, das Kind drückte seine Hand und spürte, wie sein Freund die Geste schwach erwiderte. Anstatt mit Worten zu antworteten, nickte er nur schwach mit dem Kopf. Es musste das gewesen sein, was er bereits die ganze Zeit sagen wollte. Kai sprang auf und begann nach Galux zu rufen und auch nach den restlichen Mitgliedern ihrer Gruppe. Wie er Max so gesehen hatte, kam er kaum umhin, sich zu fragen, ob sie vielleicht nicht auch so übel zugerichtet wurden. Der Gedanke raubte ihm einen Moment die Stimme, doch er schüttelte den Kopf und ermahnte sich, nicht aufzugeben. Tyson gab schließlich auch niemals auf…

Da sah das Kind auch schon weit in der Ferne eine Lichtquelle, die regungslos auf dem Boden verharrte. Allein die Farbe verriet ihm, welches Bit Beast es sein musste. Sofort rannte Kai los. Er hopste über einen weiteren Felsvorsprung und geriet augenblicklich ins Straucheln, als er auf spiegelglatter Oberfläche aufkam. Kai plumpste auf die Knie. Er tastete irritiert den Boden ab und begriff, dass er auf einem weiten, zugefroren See stand. Das Kind klopfte gegen die Eisschicht, doch sie schien meterdick, also stand er wieder auf und rutschte vorsichtig voran. Das große Katzen Bit Beast lag auf der Seite, offenbar bewusstlos. Ihre Glieder ruhten kraftlos auf dem Boden, doch desto näher Kai trat, desto mehr war er sich sicher, die stetigen Atemzüge ihres Brustkorbes zu sehen. Als das Kind bei dem Bit Beast eintraf, berührte er zaghaft ihr Fell. Es fühlte sich samtweich zwischen seinen Fingern an und verwundert stellte er fest, dass die aufgescheuerten Handflächen, durch ihre bloße Berührung verheilten.

„Galux?“, er begann sie vorsichtig zu rütteln. „Wach auf, bitte.“

Zu seiner Erleichterung gab sie ein Murren von sich. Es ermutigte ihn so sehr, dass er nun energischer ihren Oberkörper schüttelte. Das Bit Beast war am Kopf verletzt worden. Dort war eine feine Wunde, die noch während er sie begutachtete, langsam zuwuchs. Der Heilungsprozess sah merkwürdig aus. Es erinnerte das Kind an Moos, was sich Millimeter um Millimeter vorankämpfte, in der Absicht, irgendwann einen weichen Teppich zu bilden. Kai strich ihr zaghaft an den Rändern ihrer Verletzung entlang, was Galux einen schnurrenden Laut von sich geben ließ, bis sie endlich die Augen öffnete. Ihre saphirgrünen Pupillen huschten unendlich träge zu ihm aus, als wäre sie noch benommen, bis sich ihr Blick gänzlich auf ihn heftete.

„Geht es dir gut?“, wollte Kai wissen.

Ihre Mundwinkel schienen sich zu einem Lächeln zu verziehen, dann erhob sie sich, ohne ihm eine Antwort zu geben, auf ihre wackligen Beine. In der Ferne hörte man Maxs Husten wieder durch die Höhle schallen. Kai beobachtete, wie sich Galuxs Ohren dem Geräusch zuwandten. Ihr Schweif begann unruhig von einer zur anderen Seite zu peitschen.

„Max geht es ganz schlecht! Du musst ihm schnell helfen!“, begann Kai sie zu drängen.

„Ich höre es.“, doch geschwächt wie das Bit Beast war, klappte es zunächst zusammen. Galux schloss schwer atmend die Augen, um wieder zu Sinnen zu kommen. „Du solltest vom Eis runter. Steig auf meinem Rücken.“

„Nein. Du bist doch selber geschwächt. Kümmere dich lieber um Max!“

„Kleine Menschenkinder sollten nicht auf zugefroren Seen laufen.“

„Du hast keine Zeit! Bitte beeil dich!“

Das nächste Husten klang mehr nach einem blutigen Gurgeln. Galux blickte unschlüssig zu dem Kind, dann sprach sie hastig: „Geh auf demselben Weg zurück, wie du gekommen bist. Wenn das Eis dich bis hier her getragen hat, wird es dein Gewicht auch ein weiteres Mal aushalten. Verstehst du das, kleiner Mensch?“

Das Kind legte den Kopf auf die Seite, nickte jedoch. Damit ging das Bit Beast in die Hocke und federte sich vom Boden ab. Kai fand es erstaunlich, wie weit sie springen konnte. Galux machte einen weiten Bogen, rollte sich in der Luft mehrmals mit einem Salto, landete jedoch etwas holprig auf dem felsigen Ufern des Sees. Einen Moment keuchte er auf, weil sie noch einmal in sich zusammenklappte. Sie schüttelte jedoch energisch das Schwindelgefühl ab und kraxelte schließlich humpelnd den Hang hinauf, wo ihr Licht hinter der Anhöhe verschwand. Kai überlegte, ob er nach seinen Freunden suchen sollte, doch ihm fiel ein, was ihm Galux zunächst aufgetragen hatte. Er stemmte sich vorsichtig auf und tat einen achtsamen Schritt, nach dem anderen in Richtung Ufer, bis er einen weiteren reglosen Lichtfleck, etwas tiefer im Zentrum des Sees erhaschte, der viel kleiner als alle vorherigen wirkte. Seine Augen weiteten sich, dann flüsterte Kai: „Allegro…“
 

*
 

Tyson wurde wach, als er einen polternden Laut in seiner unmittelbaren Nähe hörte. Er versuchte sich aufzurichten, da fiel ihm jedoch auf, dass etwas Schweres auf seinen Armen lastete. Zaghaft versuchte er seine Finger zu bewegen und stellte erleichtert fest, dass dies noch funktionierte – doch er konnte sich nicht aus eigener Kraft befreien. Beinahe hätte ihn die Panik übermannt, da horchte er in die Stille hinein. Das Poltern kam näher. Er hörte schnaufende Laute und eine Stimme, die dumpf durch die Felsbrocken, unter denen er verschüttet lag, seinen Namen rief. Kurz darauf fühlte er, wie die Last von seinem rechten Arm abfiel. Sofort riss Tyson den Arm hoch.

„Ray! Hier bin ich!“

„Warte, ich habe es gleich.“

Er hörte ihn weiterschaufeln und konnte gar nicht sagen, wie glücklich er war, ihn bei sich zu wissen. Es verging keine Minute, da schob er vorsichtig den Brocken weg, der wenige Zentimeter über seinem Kopf eingeklemmt, vor seinen Augen ragte. Eine Schweißperle rann Tyson ins Genick, als er daran dachte, was für ein Glück er gehabt hatte, dass der Stein kurz vor seinem Gesicht, eingezwängt worden war. Er bezweifelte das Galux einen gespaltenen Schädel heilen konnte. Sobald er sich mit seinem rechten Arm etwas Freiraum verschaffte, begann er Ray zu helfen, das Geröll von ihm zu entfernen. Sämtliche Brocken, die auf ihm lagen, waren glücklicherweise recht klein geraten, doch die Masse machte das Gewicht auf seinem Körper aus. Irgendwann griff Ray nach seinem Arm und zerrte ihn aus dem restlichen Haufen hinaus. Es staubte und beide begannen zu husten. Dieses Gefühl verschüttet gewesen sein, war noch weitaus schlimmer, als in dem engen Tunnelsystem herumzuwandern.

„Wo sind Kai und Max?“, fragte er prompt.

„Ich weiß es nicht. Kannst du laufen?“

„Probieren geht über Studieren.“, er hob sich stöhnend auf alle Viere und atmete erleichtert aus, als sämtliche seiner Gliedmaßen ihm gehorchten, wenn auch mit ziemlichen Schmerzen. Tyson hätte es nicht gewundert, wenn er durch diesen unschönen Zwischenfall, mit einigen blauen Flecken übersät war. Er schaffte es dennoch sich auf die wackligen Füße zu heben. Als er sich umsah, versuchte Tyson auszumachen, woher die Lichtquelle herrührte, die unmittelbar aus einer Ecke der Kammer, zu ihnen herüber leuchtete.

Er erstarrte…

Zunächst war Tyson sich nicht sicher, was er da sah.

Bis er einige Schritte auf den riesigen, schlangenhaften Leib zu tat. Er merkte nicht einmal, wie seine Gesichtszüge entglitten, als er dieses Wesen aus seiner Kindheit, leblos auf dem Rücken liegen sah. Dragoons Maul war aufgerissen, als hätte er mit einem letzten Atemzug einen Schmerzensschrei ausgestoßen. Seine Lider waren geschlossen. Auf seiner schuppigen Haut hatten sich tiefe Risse aufgetan.

Entsetzt stellte Tyson fest wie nah ihm dieser Anblick ging.

Er fühlte sich, als würde er vor dem Grab eines verschollenen Freundes stehen, mit dem er nach einem bösen Streit, im Unguten auseinandergegangen war und erst dessen Tod, brachte sie nun wieder zusammen – allerdings zu spät um sich noch zu versöhnen.

Ohne ein Wort des Abschieds.

Tyson merkte gar nicht, dass seine Schritte ihn wie betäubt zu dem Leichnam seines Bit Beasts führten. Als er vor Dragoons massiger Gestalt stehen blieb, streckte er seine Finger, nach seinem alten Partner aus. Zum ersten Mal konnte er die schuppige Haut tatsächlich unter seinen Kuppen fühlen. Nach allem was zwischen ihnen vorgefallen war, sollte er doch glücklich sein, dass Dragoon tot war. Er konnte aber einfach nicht so empfinden.

Sie waren doch einmal Partner gewesen. Hatten Seite an Seite gekämpft.

Es tat so schrecklich weh ihn so zu sehen…

„Tyson.“

Erst Rays Stimme holte ihn zurück aus seinem Entsetzen. Als er sich zu ihm umwandte, sah er das staubbefleckte Gesicht seines Freundes. Rays Unterlippe war aufgeplatzt. Er schaute aus als wäre er verprügelt worden. Dennoch ruhte sein helles Augenpaar mitleidig auf ihm.

„Ich verstehe dich.“, war alles was er dazu sagte.

Mehr Worte bedurfte es auch nicht.

Einen Moment wurde es still zwischen ihnen. Warum auch immer, aber Tyson war zum Weinen zu mute. Er fühlte sich elend, obwohl er wusste, dass er es nicht sollte. Beschämt blickte er zur Seite, weil er das Gefühl hatte, einen Verrat an seinen Freunden zu begehen, die aufgrund seines Bit Beasts, doch so viel hatten durchstehen müssen. Auf Rays verständnisvolle Anteilnahme konnte er nur wortkarg nicken.

Da riss beide ein lautes Husten aus ihren Gedanken.

Sie wandten sich prompt zum Geräusch.

„Das klang nach Max!“

„Hört sich gar nicht gut an.“, sprach Ray hastig. Da machte er auch schon auf dem Absatz kehrt. Tyson blieb noch eine Sekunde zurück. Seine Hand ruhte noch immer auf dem Körper seines verblichenen Bit Beats. Er sah wehmütig zu ihm auf und flüsterte:

„Ich wollte niemals dass es so kommt, Dragoon.“

Erst dann fand er die Kraft seinem Freund hinterher zu jagen.
 

Rays weiße Tracht war gut in der Dunkelheit auszumachen. Die Sorge um ihren Freund ließ beide geradezu wendig durch die unwegsame Landschaft hüpfen. Aus einer anderen Richtung erhaschte Tyson einen Lichtfleck, der auch auf die qualvollen Geräusche von Max zusteuerte. Kurz darauf kreuzte Galuxs Gestalt pfeilschnell ihren Weg und rannte zielsicher auf den Punkt zu, aus dem sie ihren Freund wittern musste. Sofort nahmen beide die Verfolgung auf. Max Husten schallte geradezu schmerzlich in seinen Ohren und als Galuxs helle Silhouette, in einiger Entfernung, vor ihnen zum Stehen kam, hielt Tyson geschockt die Luft an. Es war schlimmer als er angenommen hatte…

Maxs Haut war leichenblass, auf seinem Shirt hatten sich blutige Flecken gebildet, während unter seinen Augen tiefe Ringe lagen. Sobald sie ihn erreichten, sank Ray vor ihm auf die Knie und umgriff seine Hände, während Galux sich über ihren Freund beugte und ihren Zauber wirken ließ. Tyson konnte nur entsetzt daneben stehen und machtlos wie er sich fühlte, war er zu nichts anderem im Stande, als mit offenem Mund auf Max zu starren.

Ein Tunnelblick tat sich vor ihm auf.

Maxs heller Haarschopf war mit Staub befleckt. Tyson sah, wie Ray nach einem Stück Eis tastete, um es seinem Freund kühlend auf die Stirn zu legen. Sofort atmete der seufzend aus und desto länger die Behandlung ging, desto ruhiger wurde er. Nur ganz beiläufig registrierte Tyson, dass die Lichtgestalt, die sie begleitet hatte, auch dazu gestoßen war. Sie hielt fassungslos die Hände vor das Gesicht, schüttelte immer wieder den Kopf und irgendwann fiel sie vor Max auf die Knie. Lediglich ihre bebenden Schultern zeugten von der Trauer in ihrem Herzen…

Nun fühlte sich Tyson in seinem Verdacht bestätigt. Eine so tiefe Sorge konnte nur eine Mutter empfinden. Er ging neben dem Geist in die Hocke, blickte ebenfalls auf Max herab, beobachtete, wie Galuxs sonderbarer Zauber, etwas mehr Leben in den Körper seines Freundes hauchte. Der hellrote Sprühregen kam erneut aus ihrem Mund. Es bedurfte mehr davon, als damals bei Ray. Anders als bei ihm, verzichtete Galux darauf, ihre Stirn auf Maxs Kopf zu legen. Stattdessen platzierte sie ihn dieses Mal auf seinen Bauch.

Erst da begriff Tyson, was ihr Freund hatte – innere Blutungen.

Als Draciel explodiert war, musste Max die ganze Wucht abbekommen haben. Der Druck der Wassermassen hatte dessen Körper wahrscheinlich in arge Mitleidenschaft gezogen. Tyson stöhnte gequält. Er griff nach Max Hand und sprach mit beklommener Stimme:

„Verdammt, was machst du nur für Sachen? Wie konntest du nur so blöd sein?“

Doch es kam keine Antwort von ihm. Er sah lediglich Maxs blaues Augenpaar zu ihm huschen und dann zu der Geistergestalt an seiner Seite. Sein Blick heftete sich auf sie und verzog sich zu einem gequälten Ausdruck. Er wusste wer sie war…

„Ich glaube kaum, dass Judy so etwas von dir wollte! Sieh doch was für Sorgen sie sich um dich macht!“, erriet er dessen Gedanken. Der Vorwurf ließ Rays Atem stocken und erst da schaute er auf. Seine Augen hefteten sich auf die Lichtgestalt zu ihrer Seite und weiteten sich in Unglauben, als auch ihn endlich die Erkenntnis traf. Mittlerweile zeigte Galuxs Magie endlich die erhoffte Wirkung. Tyson kam es vor, als ob es länger dauerte, als beim letzten Mal – und das es sie mehr Kraft kostete. Denn als sie nach langem endlich von Max abließ, schien sie sehr erschöpft. Das Bit Beast tat einige Schritte zurück und ließ sich auf die Pfoten fallen. Doch es schien ohnehin vollbracht zu sein…

Endlich richtete sich Max vorsichtig auf, hielt sich jedoch den Bauch, als könne er dort den Schmerz noch spüren. Sein Gesicht wirkte verschlossen.

„Das war so unglaublich dumm von dir!“, sprach Ray fassungslos.

„Und wenn schon…“

„Und wenn schon?!“, wiederholte Tyson. Die Art wie gleichgültig er es sagte, machte ihn so wütend, dass der Zorn in ihm hochkochte. Er packte Max am Kragen.

„Bist du dir im Klaren, dass du mit deinem Leben gepokert hast?! Du kannst dich nicht einfach so ins Kreuzfeuer stürzen! Wäre dir deine Rache dein eigenes Leben wert gewesen?!“

Max Mund verzog sich lediglich zu einem störrischen Ausdruck - und doch vermied er es, Tyson in die Augen zu sehen. Der ging mit ihm inzwischen hart ins Gericht.

„Wir haben uns Sorgen gemacht! Du hättest immerhin Tod sein können! Hast du auch nur einen Moment an uns gedacht?!“

Er schloss die Augen. Entgegnete noch immer nichts.

Es machte Tyson so wütend, dass er Max am liebsten verprügelt hätte.
 

„Und dein Vater? Hast du nicht einen Moment an ihn gedacht?“
 

Ihre Gesichter schossen zur Seite. Alle starrten Judys Geist an, denn es war zweifelsohne ihre Stimme gewesen, die sie da vernommen hatten. Vor Schreck entglitt Tyson der Kragen zwischen seinen Fingern und Max fiel zurück. Doch prompt setzte er sich wieder auf und starrte wie gebannt auf seine Mutter.

Auf ihrem Gesicht ging eine Wandlung durch…

Nach und nach, taten sich auf der blanken Oberfläche, menschliche Züge auf. Eine zierliche Stupsnase trat hervor, gefolgt von einem Augenpaar, dessen Lider sich mehrmals blinzelnd darüber legten. Genau wie bei ihrem Sohn, war auch Judys Iris von einem tiefdunklen Blau, dass an den nächtlichen Himmel erinnerte. Die Augen lagen umrahmt von dichten, schwarzen Wimpern, während die Brauen sich langsam in Form brachten. Judys Finger fuhren erstaunt zu ihren Lippen, die sich begannen rosig abzuzeichnen. Man hatte den Eindruck, als würde vor ihren Augen, ein Portrait gemalt werden. Offenbar irritierte Mrs. Tate ihre eigene Stimme, genauso sehr, wie den Rest der Gruppe. Als ihr Gesicht vollendet war, getraute sich niemand von ihnen so recht, die aufgekommene Stille zu durchbrechen. Sie alle waren schlicht und ergreifend sprachlos…

Judy tastete verwirrt ihre neugewonnenen Konturen ab, fuhr mit den Fingerkuppen über ihre Wangen, da holte sie Galuxs Murmeln aus ihrer Starre.

„Draciel ist tot. Und ein totes Bit Beast braucht kein Gesicht.“, ein erschöpftes Seufzen entrang sich ihr. „Nun lichtet sich das dunkel. Mir war klar, dass ihre Seele mir bekannt vorkommt. Doch damit hatte selbst ich nicht gerechnet…“

„Dann hat es sich gelohnt.“, zischte Max zwischen seinen Zähnen hindurch. „Draciel hat bekommen, was es verdient hat und meine Mutter endlich ihr Gesicht zurück!“

„Wie kannst du nur so etwas sagen?!“, herrschte Judy ihren Sohn stattdessen an. Ihr Blick legte sich tadelnd auf ihn. „Deine Freunde haben ganz Recht! Was du getan hast, war der schiere Wahnsinn! Ich bin tausend Tode deinetwegen gestorben!“

Max stand auf. Seine Schritte wirkten taumelig.

„Ich musste es tun.“

„Nein, musstest du nicht!“

„Du verstehst das nicht…“

„Das tue ich auch nicht! Diese Tat war so sinnlos! Hast du auch nur einen Moment daran gedacht, dass dein Vater zuhause auf dich wartet? Du hättest sterben können!“

„ICH MUSSTE ES TUN!“, brüllte Max auf einmal los. Das Echo schallte noch lange in der Kammer. Seine Augen wirkten so zornig, dass Tyson einen Moment den Atem anhielt. Noch nie hatte er ihn so wütend erlebt. Als sein Blick zu Maxs Händen huschte, hatten diese sich zu zitternden Fäusten geballt. Offenbar war das jener Damm, von dem Galux prophezeit hatte, dass er irgendwann brechen würde.

„Ich musste es tun! Weil es meine Schuld ist, dass du jetzt tot bist!“

„Aber nein… Das sagt doch niemand.“, versuchte Ray ihn zu beruhigen. Doch als er freundschaftlich seine Hand auf Maxs Schulter legen wollte, schlug der sie mit einem Fauchen zurück.

„Natürlich bin ich schuld! Ich habe dieses Monster in unser Haus geholt! Ich war es der Draciel bekommen hat und anstatt zu begreifen, was ich da für eine tickende Zeitbombe in meinen Händen halte, bin ich damit umgegangen, als wäre es ein Spielzeug!“

„Wir wussten es alle nicht.“, sprach Tyson, erschüttert über diesen Gefühlsausbruch.

„Unwissenheit schützt nicht!“, brach es lediglich verbittert aus Max heraus. „Ich allein bin dafür verantwortlich… Seht sie euch doch an! Seht was Draciel aus meiner Mutter gemacht hat! Sie ist ein gottverdammter Geist!“

Judy hielt sich die Hände vor den Mund. Sie blinzelte aus betroffenen Augen zu ihrem Sohn. Der richtete die nächsten Worte verzweifelt an sie.

„Ich hatte gar keine andere Wahl, Mum! Nicht nur um deinetwillen, sondern auch um meinetwillen! Ich bin den Pakt mit diesem Monster eingegangen – also musste ich es auch in die Schranken weisen! Dein Blut, klebt genauso an meinen Händen, wie an Draciels! Mir doch scheißegal ob ich dabei draufgegangen wäre, ich-…“
 

Klatsch!
 

Die Ohrfeige schallte geräuschvoll durch die Kammer.

Tysons Atem stockte vor Entsetzen, als er sah, wie Judys Geist mit der Hand zulangte. Sie mochte zwar auf ihrer Seite stehen, doch sie war eine tote Seele – und das machte jede ihrer Berührungen zu einer potenziellen Gefahr. Seine Augen wurden tellergroß. Ein pechschwarzer Handabdruck war auf Maxs Wange zurückgeblieben. Seine Finger fuhren irritiert zu der Stelle und er starrte seine Mutter aus offenem Mund an. Deren Blick war jedoch weitaus gekränkter, als seiner. Irgendwann schaute Max verbittert zur Seite.

„Du hast mich noch nie in meinem ganzen Leben geohrfeigt – und ausgerechnet hier fängst du damit an?!“, sprach er geradezu vorwurfsvoll.

„Ja. Weil ich nicht fassen kann was ich da höre!“

Offensichtlich hatten sich beide ihre Zusammenkunft anders vorgestellt. Eine ganze Weile wurde es still. Etwas besorgt huschten Tysons Pupillen zwischen den beiden Personen umher, bis Judy das Wort direkt an ihn richtete.

„Ich muss mit ihm unter vier Augen sprechen. Von Mutter zu Sohn…“

Etwas unentschlossen sah er Rays Blick zu ihm irren. Beide waren sich nicht sicher, ob es klug war, ausgerechnet einen Geist mit Max alleine zu lassen – selbst wenn es seine eigene Mutter sein mochte. Dennoch nickte Tyson irgendwann.

„In Ordnung. Ich mache mir ohnehin Sorgen um Kai.“

„Ich weiß wo ihr ihn findet. Deine Sorge ist unbegründet.“

Der Satz ließ ihn erleichtert ausatmen. In all der Aufregung um Max, hatte er doch tatsächlich den kleinen Jungen vergessen. Irgendwie bekam Tyson ein schlechtes Gewissen dabei. Ray beugte sich zu Galux hinab, denn etwas stimmte mit dem Bit Beast nicht. Der Glanz der von ihr ausging wirkte irgendwie trüb. Behutsam hob er sie auf den Arm, was die Katze mit einem leisen Miauen quittierte.

„Wendet euch mehr nach rechts und dann immer geradeaus. Ich sage euch schon, wenn ihr vom Weg abkommt.“, Galux Stimme klang leise.

Bevor er Max zurückließ, warf Tyson ihm einen besorgten Blick zu, doch der schien sich keine Gedanken zu machen, dass er von jetzt an mit einem Geist alleine war. Tatsächlich schien es ihrem Freund weitaus mehr zu beschäftigen, dass seine Mutter nicht seinen Standpunkt begriff. Geradezu verbittert blickte er zu Boden, während sein Kiefer zornig mahlte. Als Tyson zu Judy blickte, nickte diese ihm aufmunternd zu. Das sanfte Lächeln auf ihren Lippen genügte, damit Tyson sich in dem Gefühl bestätigt wusste, dass dieses Gespräch hier stattfinden musste. Damit wandte er sich beruhigt ab…
 

*
 

Die Schritte seiner sich entfernenden Freunde klangen noch lange in seinem Ohr nach. Dennoch schenkte Max ihnen wenig Beachtung. Irgendwie war ihm das ganz recht, denn Tysons Vorwurf war ihm sauer aufgestoßen. Allein diese lächerliche Frage…
 

„Hast du auch nur einen Moment an uns gedacht?!“
 

Natürlich tat er das! Seit ihrer Ankunft hier, gab Max sein bestmöglichstes, um der Gruppe eine Stütze zu sein. Nicht einmal hatte er sich beklagt!

Er war mit der Gruppe kommentarlos in das verwunschene Hiwatari Anwesen gestürmt, um Kai aus Dranzers Fängen zu befreien – weil er an seine Freunde dachte.

Er hatte es Tyson nachgesehen, dass er ihr Notizbuch mit den Erinnerungen in den Kanda Fluss geworfen hatte – weil er an seine Freunde dachte.

Selbst als Ray ihn durch den Parasiten hinterrücks im Schlaf angriff, kehrte er jeglichen Groll unter den Teppich – weil er an seine Freunde dachte!

Und das obwohl ihm die ganze Zeit, der düstere Gedanke durch den Hinterkopf schwebte, dass er bei seiner Ankunft in der Menschenwelt, seine Mutter zu Grabe tragen musste, während sein Vater wahrscheinlich in tiefer Trauer auf ihn wartete. Das Drama war für Max nicht vorbei, wenn er es nachhause schaffte. Es ging für ihn dann gleich weiter. Was er getan hatte, war gefährlich gewesen, das wollte er gar nicht abstreiten, aber Draciel hatte es verdient. Es war eine einmalige Gelegenheit gewesen, es diesem Verräter heimzuzahlen, die sich nie wieder ergeben hätte. Wie wahrscheinlich war es auch, dass er – ein kleiner Mensch der dazu im Körper eines Jungen steckte – einen Uralten besiegte!

Und nun, da er das Unmögliche vollbracht hatte, erntete er nur Vorwürfe von allen Seiten. Er war bestimmt kein Jammerlappen, doch er kam sich ziemlich missverstanden vor. Selbst von seiner eigenen Mutter…

Anstatt ihm dafür zu danken, dass er ihren Mörder zur Strecke gebracht hatte, wurde er wie ein kleines Kind geohrfeigt. Max rieb sich noch immer über die Wange. Sie fühlte sich merkwürdig taub an. Noch nie hatte seine Mutter ihn geschlagen. Bei dieser Überlegung schnaubte er verächtlich, weil ihm der Moment für dieses erste Mal, so verkehrt vorkam – als hätten beide jetzt nicht andere Sorgen. Es lenkte Judys Aufmerksamkeit auf ihn, die bis dahin stillschweigend beobachtet hatte, wie sich seine Freunde entfernten. Ihr Blick legte sich mitleidig auf seine Gestalt.

„Unser Wiedersehen hatte ich mir anders vorgestellt…“

„Nicht meine Schuld.“, blockte Max angesäuert. Er vernahm ihr Seufzen.

„Ich bin nicht hier um mit dir zu streiten, mein Schatz.“

„Ach wirklich? Der Eindruck kam mir aber!“

„Das war keine Ohrfeige aus einem Streit heraus. Es war ein Weckruf für dich.“

„Ich bin wach. Sonst hätte ich nicht gemerkt, was sich für eine Chance vor mir aufgetan hat!“

„Die Chance auf Rache?“

„Natürlich. Was denn sonst!“, er wandte sich von ihr ab. Als Max die USA verlassen hatte, war er heilfroh gewesen, eine Weile Ruhe vor seiner Mutter zu haben. Sie war nach ihrem Rauswurf aus dem Institut, ständig so verstimmt gewesen und als sie starb, machte er sich Vorwürfe, weil sie beide sich in ihren letzten Tagen so häufig angeschnauzt hatten. Nun waren sie für kurze Zeit wieder vereint – und kabelten sich doch wieder. „Ich verstehe dich nicht. Da räche ich deinen Mord und alles was du dafür übrig hast, ist den einzigen Moment zunichte zu machen, der uns vielleicht noch bleibt!“

„Wie kannst du nur so etwas sagen?“, Judys Stimme war ein Wispern. Ein fassungsloses, tief verletztes Wispern. „Hast du eine Ahnung, wie weh mir diese Worte tun? Und allein deine Aktion von vorhin! Das dein Leben dir so egal ist… Das ist das Schlimmste was du mir antun kannst.“

„Ich konnte Draciel damit nicht davonkommen lassen.“

„Diese Rache hätte dich das Leben kosten können!“

„Es ist doch alles noch einmal gut gegangen. Warum regen sich alle so auf?!“

„Weil du zu jung bist um zu sterben. Deine Zeit ist noch lange nicht gekommen!“

„Deine auch nicht!“, rief er verbittert aus. „Sollte ich es einfach so hinnehmen? Wie hätte ich Dad unter die Augen treten sollen? Allein das ich ihm erklären muss, dass mein eigenes Bit Beast, seine Frau getötet hat…“

„Um Himmelswillen, Maxi! Bitte gib dir doch nicht die Schuld dafür!“, sie tat einen Schritt auf ihren Sohn zu. „Glaubst du wirklich ich hätte so etwas von dir verlangt? Ich würde doch niemals dein Leben vor meines stellen! An meiner Situation lässt sich nichts mehr ändern, warum sollte ich also mein einziges Kind, auch mit ins Unglück stürzen?“

„Das ist mein Leben. Ich kann damit machen was ich will!“

„Dann bin ich wohl eine schlechtere Mutter gewesen, als ich angenommen habe…“

„Das habe ich doch nie behauptet!“, Max keuchte geschockt. „Ich habe das für dich getan, Mum! Warum fällst du mir so in den Rücken?!“

„Das du glaubst ich wäre so selbstsüchtig, kränkt mich. Ich kann nicht fassen, wie unachtsam du mit deinem Leben umspringst - wo es mir doch alles bedeutet!“

Max Blick senkte sich. Er versuchte sich in Erinnerung zu rufen, dass hier die letzte Gelegenheit war, mit seiner Mutter im Guten auseinander zu gehen. Er würde sie nie wieder sehen. Bei diesem Gedanken tat sich ein dicker Kloß in seiner Kehle auf.

„Weißt du was ich in meiner Zeit hier gelernt habe, Maxi?“, begann seine Mutter plötzlich aus heiterem Himmel. „Das am Ende deines Lebens nur zählt, was du im Leben erreicht hast. Ich war vielleicht eine gute Wissenschaftlerin, ich habe Preise gewonnen, Diplome erhalten und meine Glanzmomente gehabt... Doch das größte und wertvollste was ich für die Nachwelt hinterlasse, sind nicht meine polierten Pokale oder staatlich beglaubigte Papierfetzen. Das großartigste was ich zustande gebracht habe – das bist in erste Linie immer noch du gewesen.“

Max war nicht in der Lage zu antworten. Seine Lippen bewegten sich, denn er wollte darauf entgegnen, wie viel ihm diese Worte doch bedeuteten, aber sein Hals war wie ausgedörrt. Stattdessen starrte er Judy nur weiterhin an. Da lag ein glänzenderen Tränenfilm in ihren Augen, bis seine Mutter den Kopf schüttelte. Ihre fliesenden Haare wehten dabei sachte mit ihren Bewegungen. Kurz darauf sprach Judy mit sanfter Stimme:

„Habe ich dir jemals erzählt, wie dein Vater und ich zusammengekommen sind?“

Max schwieg zunächst, noch immer unfähig zu sprechen. Nur zögerlich kam sein verneinendes Kopfschütteln. Es ließ sie wissend die Augen schließen.

„Als ich noch eine junge Absolventin war, gerade erst frisch eingestiegen, in ein wachsendes Forschungsinstitut, gab es da zahllose Männer, die allesamt um mich warben. Es klingt schrecklich großspurig, aber es verging kaum ein Tag, an welchem ich nicht angesprochen wurde. Meistens handelte es sich dabei um Kollegen, allesamt studierte Männer, die gerne mit ihrem Wissen vor mir prahlten. Was diese eingebildeten Herren aber wussten, wusste ich schon zehnmal, deshalb langweilten sie mich eher. Das einzige, was für mich zählte, waren meine Forschungen. Ich war so auf meine Arbeit fixiert, dass ich mitunter recht genervt reagierte, sobald mich jemand ansprach. Die Männerwelt muss mich für eine ekelhafte Zicke gehalten haben.“

Ein melancholischer Ausdruck trat auf Judys Lippen – ihre Gedanken schienen weit weg.

„Dann kam aber der Tag, an welchem ich deinem Vater begegnete. Ich führte einen Rundgang durch unser Institut und er war einer jener Besucher, innerhalb der Gruppe, die ich betreuen sollte. Alle stellten professionelle und äußerst seriöse Fragen. Es waren ganz hohe Tiere aus dem Ausland unter den Besuchern und ehrlich gesagt, machte mich das etwas nervös. Die einzige Frage die dein Vater aber an mich richtete, war, ob ich noch zu haben sei.“

Die Erinnerung ließ Judy kurz kichern und auch Max musste schmunzeln. Es klang so typisch für seinen Vater, der wirklich gerne nach Herzenslust herumalberte.

„Du hättest die Gesichter der anderen Teilnehmer mal sehen sollen. Aller Blicke richteten sich auf ihn. Er stand aber nur wie ein frecher Junge, inmitten dieser Schlipsträger und kratzte sich strahlendend am Nacken. Während der Führung versuchte er mehrmals mit mir ins Gespräch zu kommen, aber sein unseriöses Verhalten empfand ich als unverschämt – bis wir in eine Abteilung mit einer strengen Sicherheitskontrolle ankamen und alle ihre Besucherausweise vorzeigen sollten. Erst dort stellte sich heraus, dass dein Vater gar keinen besaß! Du musst dir mal vorstellen, was das für einen Aufruhr verursachte! Der Chef des Sicherheitspersonals fuhr komplett aus der Haut, weil es so einfach für deinen Vater gewesen war, in unser Forschungsinstitut hineinzugelangen. Ich bekam ebenfalls ziemlichen Ärger, weil mir der Fehler nicht früher aufgefallen war. Ich war so sauer und dein Vater flog hochkant aus dem Institut hinaus!“

Max klappte der Mund etwas auf. Das war ja dreist…

„Als ich am Abend das Gebäude verließ, stand dein Vater aber unten an der Treppe, die zu der Eingangshalle hinaufführte. Als ich ihn erblickte, wollte ich eigentlich schnurstracks an ihm vorbeilaufen, immerhin hatte ich seinetwegen eine schlimme Standpauke kassiert. Er hatte aber eine Becherhalterung dabei, mit verschiedenen Kaffee Sorten darin. Die brachte er mir als Friedensangebot – so nannte er es jedenfalls. Da er nicht wusste, welche Sorte ich mochte, hatte er von jeder eine gekauft und meinte zu mir, er wolle sich dafür entschuldigen, dass er mir solch schreckliche Unannehmlichkeiten bereitet habe. Es wäre nie seine Absicht gewesen, dass ich Ärger bekomme. Ich war recht schnippisch und fragte ihn, warum er überhaupt an der Führung teilgenommen habe. Die könne man für ein paar Dollar, auch ohne weitere Probleme online buchen – da sagte er doch tatsächlich zu mir, dass ihm die Führung eigentlich Schnuppe gewesen sei. Er habe mich jeden Morgen beim Bäcker angetroffen, aber ich sei ständig so vertieft in meine Lektüren gewesen, dass ich ihn gar nicht registriert habe. Ständig hätte er mir die Tür aufgehalten, mich gegrüßt, mir einen schönen Tag gewünscht, versucht mit mir in ein Gespräch zu kommen – doch ich bin wohl ein halbes Jahr an ihm vorbeigelaufen, ohne ihn auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Also ist er mir einmal hinterher gelaufen, um zu beobachten, wo ich nach meinem morgendlichen Besuch beim Bäcker überhaupt hingehe.“

„Und seine Mühen haben dich so gerührt, dass du nachgegeben hast?“, fragte Max.

„Ganz und gar nicht. Ich fragte ihn ob er ein verrückter Stalker sei. Er fragte mich nur grinsend, ob ich das nicht bei einem Abendessen herausfinden wolle.“

Sie seufzte, dennoch spielte ein Lächeln um ihren Mund.

„Ich habe es ihm nicht gerade einfach gemacht. Ehrlich gesagt, war ich auch noch so geladen, von der Zurechtweisung zuvor, dass ich ihn stehen ließ. Ich ging die darauffolgenden Wochen, auch gar nicht mehr zu meinem üblichen Bäcker, weil ich deinem Vater nicht begegnen wollte. Lieber ging ich morgens mit hungrigem Magen zur Arbeit. Dafür stand er dann eines Morgens, mit einem Plunderstück, vor der Eingangshalle und meinte, dass, wenn ich schon seinetwegen nicht mehr zum Bäcker käme, er nun auch dafür sorgen müsste, dass ich nicht auf der Arbeit verhungere. Das fand ich dagegen schon charmanter. Ich fragte deinen Vater, weshalb er sich denn bloß so viel Mühe mit mir gab. Er fragte mich stattdessen, ob ich die Legende vom roten Faden kennen würde. Als ich verneinte, antwortete er, dass er es mir erzählen würde – allerdings nur wenn ich mit ihm zu Abend esse.“

Max musste lächeln, denn er kannte diese Erzählung. In Japan war sie ein weitverbreiteter Volksglaube. Hilary hatte ihm den Mythos einmal erklärt, weil vor allem junge Mädchen, diese Vorstellung romantisch fanden.

„Ich gab also nach, weil mich die Beweggründe deines Vaters interessierten. Mich wunderte, wie ein Mensch sich nur zu so dummen Handlungen verleiten lassen konnte. Wir trafen uns noch am selben Tag zum Abendessen in einem italienischen Restaurant. Dort erzählte mir dein Vater von sich – davon, dass er viel um die Welt gekommen sei, weil dein Opa doch als Militäroffizier gedient hatte. Dabei sei er auch einmal in einer Militärbasis in Japan gewesen, wo er von der Legende des roten Fadens erfuhr. Jener unsichtbare Faden, der zwei Menschen miteinander verbindet, die vom Schicksal dazu bestimmt sind, zueinander zu finden. Angeblich ist er am kleinen Finger befestigt. Unsichtbar, auch unzerreißbar und die Verbindung zu der uns bestimmten Person, soll bereits seit dem Tag unserer Geburt bestehen. Als ich deinen Vater fassungslos fragte, ob er tatsächlich an so einen Humbug glaubte, meinte er nur – natürlich. Immerhin hätte er den roten Faden selbst gesehen. Er erklärte mir, dass, als er mich das erste Mal beim Bäcker bemerkte, ich einen roten Mantel getragen hätte. Den konnte ich noch nie wegwerfen, weil er einfach so wundervoll warm hält, obwohl er alt und abgetragen ist. An jenem Tag, als dein Vater mich das erste Mal bemerkte, war auch noch eine Naht an meinem Ärmel aufgerissen. Beim ersten Luftzug der durch die Bäckerei ging, flog einer der Fäden, zu deinem Vater an den Tisch, während er gerade seinen üblichen Morgenkaffee trank und eine Zeitung las. Der Faden legte sich direkt auf seinen kleinen Finger, als wolle er auf den Mythos hinweisen. Dein Vater blickte von seiner Zeitung auf, sah mir nach und behauptete seit diesem Tag, steif und fest, dass es ein Wink des Schicksals gewesen sei. Er war schon immer ein unglaublicher Romantiker. Dabei habe ich sowas früher immer belächelt… Ich glaubte ihm natürlich kein Wort und musste anfangen zu lachen. Dennoch ging ich ein weiteres Mal mit ihm aus, vielleicht weil ein kleiner Teil in mir, deinem Vater von ganzem Herzen gönnte, dass sein Wunschglaube doch wahr wurde. Und ehe ich es mich versah, waren wir bald ein Paar, heirateten und ein Jahr nach unserer Trauung, kamst du auch schon auf die Welt. Wenn dein Vater und ich über diese Zeit sprachen, strahlte er bis über beide Ohren und prahlte damit, dass er wirklich Recht gehabt hätte. Er war der festen Überzeugung, dass der rote Faden uns zueinander geführt habe. Ich neckte ihn dann immer und meinte, dass ich einfach nur Mitleid mit ihm bekam und deshalb noch einmal mit ihm ausgegangen bin.“

Ein verschwörerisches Lächeln trat auf Judys Mund.

„Aber ich verrate dir nun etwas, Maxi. Etwas was ich selbst kaum glauben konnte, als ich hier ankam… Denn diesen roten Faden - den gibt es wirklich!“

Seine Mutter bedachte ihn wehmütig.

„Es fiel mir gleich als erstes auf, während ich starb. Eine hauchdünne, rote Schnur, die an meinem kleinen Finger befestigt ist, welche ich zu meinen Lebzeiten aber nie bemerkt hatte. Man sieht wirklich ein gleißendes Licht, wenn man stirbt. Es kommt von dem Faden. Ich weiß genau, dass er direkt zu deinem Vater führt. Mit diesem Wissen kommt man hier einfach an. Es ist so selbstverständlich wie der erste Atemzug. Doch was dein Vater wohl nicht ahnen konnte, ist, dass seine Erzählung nur zur Hälfte korrekt war. Es hängt nämlich nicht nur ein Faden an meinem kleinen Finger, es sind dutzende weitere und sie führen nicht nur in die Menschenwelt, sondern auch ins Jenseits. Seit ich tot bin, fühle ich jede Person, die am Ende jedes Fadens auf mich wartet. Es muss sich dabei nicht zwangsläufig um einen Ehemann handeln, denn es können auch Menschen sein, die einfach dazu bestimmt sind, zu deinem Leben zu gehören – einen großen Teil zu deiner Persönlichkeit beizutragen. Bei mir führen zwei Fäden zu meinen verstorbenen Großeltern, die ich als kleines Mädchen so abgöttisch geliebt habe, dass ich wochenlang weinend in meinem Bett lag, als sie bei einem Autounfall umkamen. Sie waren wundervolle Menschen und haben mich so geprägt, wie es nicht einmal meine eigenen Eltern vermochten, obwohl auch zu denen Fäden führen. Ein anderer Faden führt sogar zu einer engen Kindheitsfreundin, die viel zu früh an Krebs verstarb und deren Tod mich unendlich traurig stimmte. Selbst als ich schon längst Erwachsen war, dachte ich manches Mal an sie, an jeden Moment, an welchem wir zusammen gelacht haben und wie kurz ihr Leben doch gewesen war. Die Bekanntschaft mit ihr ließ mich manches Mal überdenken, worauf es im Leben wirklich ankommt, vor allem wenn ich zu vertieft in meine Arbeit war und drohte euch zu vernachlässigen. All diese Fäden leuchten mir in der Dunkelheit den Weg ins Jenseits und als ich starb, tröstete es mich auf der Stelle, dass dort jemand ist, der mich empfangen wird.“

Judy hielt ihre Hand in die Höhe, als bedachte sie die Spuren, welche für seine Augen im Verborgenen lagen.

„Und dann sind da noch jene Fäden, die in die Menschenwelt führen. Die deines Vaters beispielsweise... Ich bin auch hier noch verbunden mit ihm und kann jetzt umso deutlicher spüren, wie es ihm gerade geht. Mir ist elend zu Mute, weil ich weiß, wie sehr ihn mein Verlust getroffen hat. Ich höre, wie er weinend in der Küche sitzt, ich sehe, dass er ein Bild von mir in den Händen hält und spüre jede Träne, die er meinetwegen vergießt. Sein Kummer bricht mir das Herz. Ich würde ihn so gerne umarmen und ihm sagen, wie viel er mir bedeutet hat! Diese Worte sind so schnell gesagt und trotzdem habe ich sie so selten ausgesprochen… Ich wünschte ich hätte es ihm jeden Tag gesagt.“

Ihr schienen nun selbst die Tränen zu kommen. Ein wässriger Glanz lag in ihren Augen. Sie fuhr sich mit den Fingern über die Lider, um sich zu sammeln. Ihre Stimme klang belegt, als sie fortfuhr.

„Und ob du mir glaubst oder nicht, Maxi… Ein roter Faden führt auch zu dir. Als ich kein Gesicht mehr hatte und spürte, dass du hier unten feststeckst, da führte mich unser beider Faden zu dir. Ich brauchte keine Augen, um den Weg zu sehen. Ich konnte fühlen, wie verzweifelt du bist und hörte förmlich all die Schuldgefühle, die auf dir lasten. Es war nie notwendig, dass du mir mein Gesicht zurück bringst! Denn was ich wirklich sehen musste, konnte ich sehen.“

Nun wurden auch Maxs Augen feucht. Er blickte beschämt von ihr weg.

„Es gibt einen Grund, warum manche Geister nicht von ihrem Leben ablassen können – weshalb manche von ihnen, in diesem fahlen grauen Licht leuchten. Diese Seelen tragen Trauer. Es ist wie die schwarze Kleidung bei einer Beerdigung. Allerdings trauern wir nicht um uns selbst, sondern um unsere Hinterbliebenen. Diese Geister wollen mit aller Macht noch eine Sekunde länger bei den Lebenden sein – um ihnen Trost zu spenden. Desto länger ihre Hinterbliebenen um sie weinen, desto schwieriger macht man es auch der Gegenseite, ins Jenseits einzutreten. Doch es gab etwas, was mich davor bewahrt hat, zu einer dieser verwirrten Gestalten zu werden. Das war der tröstende Gedanke, dass ihr beiden, du und dein Vater, noch einander habt.“

Judy tat einen Schritt auf ihren Sohn zu.

„Und noch ein weitere Gedanke, hat mich vor der grauen Farbe gerettet – deine Freunde. Diese Menschen sind etwas ganz besonderes und wie ihr euch in der Irrlichterwelt geschlagen habt, konnte ich durch den Faden deutlich erkennen. Ich weiß du bist verzweifelt, weil ich nicht mehr bei dir sein kann, aber Maxi… Du darfst durch meinen Tod nicht die Lebenden um dich herum vergessen! Es gibt so vieles, was auf der anderen Seite auf dich wartet. Auch du hast sicherlich noch einigen roten Fäden zu folgen – und ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass ein paar von ihnen, auch zu deinen Freunden führen. Dein Vater und deine Freunde. Diese Menschen geben mir im Jenseits das Gefühl, dass du in guten Händen bist. Und ohne diese Gewissheit, werde ich auch eine graue Gestalt. Ich muss wissen, dass es dir gut geht. Du bist doch mein Kind.“

Sie blickte ihn nun beinahe flehend an.

„Bitte lass dich nicht von der Trauer zerfressen, mein Liebling. Ich will nicht, dass du nur an den Tod denkst. Halt nicht daran fest. Das wird es auch mir schwerer machen…“

„Ich kann es mir einfach nicht vorstellen.“, brach es aus Max mit tränenerstickter Stimme heraus. „Du warst immer da!“

„Wir sind miteinander verbunden. Ich bin auch jetzt noch da…“

„Bevor du gestorben bist – da habe ich dich wieder angefahren! Es hat mich so geärgert, dass meine letzten Worte an dich, so abweisend waren…“

Er brauchte seine Zeit, um den feuchten Film auf seinen Augen, zu unterdrücken. Judy kam ihm näher, auch wenn sie darauf achtete, ihn nicht damit zu gefährden.

„Schatz, das ist doch normal. In den besten Familien streitet man sich. Die Kunst ist es, sich danach auch wieder zu versöhnen – und sich zu entschuldigen. Auch ich hatte meine schlechten Tage. Das ist menschlich…“

Sie lächelte ihn an.

„Und nach deinem vorherigen Ausbruch, denke ich, dass du dich bei deinen Freunden entschuldigen solltest. Sie haben es nicht verdient, von dir so abgewiesen zu werden.“

„Aber Tyson hat mir unterstellt, dass ich nicht an unsere Gruppe denke!“, grollte Max beleidigt, allerdings war seine Wut mittlerweile stark abgeflaut. „Ich habe mich bisher immer meinen Freunden zuliebe zurückgehalten und musste mir so eine Unterstellung anhören!“

„Wir haben denselben Satz gehört und dennoch interpretieren wir einen komplett anderen Sinn heraus. Für mich klang es nämlich nicht, als ob er dir zu wenig Zusammenhalt vorwirft – sondern dass du nicht daran gedacht hast, wie entsetzlich es für deine Freunde wäre, wenn dir gestorben wärst.“

Max stutzte. Dann ging er im Geiste noch einmal Tysons Vorwurf durch.
 

„Hast du auch nur einen Moment an uns gedacht?!“
 

Er seufzte, fuhr sich über die Nasenwurzel, denn offenbar war sein Verstand, tatsächlich so von seinen Rachegelüsten umnebelt gewesen, dass er nicht gesehen hatte, wer es eigentlich noch gut mit ihm meinte. Jetzt erst fiel ihm auf, wie betroffen seine Freunde geschaut hatten.

„Genau diese Weisheiten werde ich vermissen, Mum.“

„Ich weiß, aber jedes Kind trägt irgendwann seine Eltern zu Grabe. Für dich kam dieser Moment nun leider auch. Aber wenn deine Zeit gekommen ist, werden wir uns wiedersehen. Ich bin dann bei dir, mein Schatz. Und ich will die Erste sein die dich in Empfang nimmt.“, sie lächelte ihn mitfühlend an. Eine weitere ihrer Eigenheiten, die er schmerzlich vermissen würde. „Die Menschenwelt ist nicht mehr weit. Du musst jetzt wieder zurück zu deinen Freunden gehen. Es wird Zeit das du nachhause kommst…“

„Musst du etwa gehen?“, fragte Max beklommen.

„Leider ja. Ihr habt es nicht mehr weit – aber für mich ist die Reise hier vorbei. Ich muss zurück.“, sie seufzte traurig. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gerne ich dich zum Abschied noch einmal umarmen würde. Aber tust du mir noch einen Gefallen?“

„Natürlich…“

„Erzähl deinem Vater auch von dem roten Faden – und das ich ihn immer lieben werde.“
 

*
 

„Warum hast du Kai alleine zurückgelassen?“, fragte Ray recht vorwurfsvoll. Das der Kleine nun irgendwo, bis zu ihrer Rückkehr, alleine ausharren musste, missfiel auch ihm. Inmitten dieser Düsternis war Tyson dieser Gedanke ebenfalls gekommen. Ginge es nach ihm, wären sie den restlichen Weg gerannt, einfach weil er sichergehen wollte, dass es dem Kind gut ging. Doch die felsige Umgebung war an vereinzelten Stellen, von einer spiegelglatten Schicht überzogen, was es schwierig machte, schnell voranzukommen. Es bedurfte äußerste Vorsicht. Tyson erinnerte sich, wie Hilary in der Fugaku Windhöhle böse auf den Hintern gelandet war. Kenny hatte sie damals gewarnt, mit ihren flachen Ballerinas mitzukommen, doch ihre Eitelkeit war größer gewesen. Hinterher jammerte sie allen im Wagen die Ohren voll, weil sie einige blaue Flecken abbekommen hatte, was Tyson mit dem bissigen Kommentar quittierte, dass sie das nächstes Mal gleich noch beschissenere Schuhe tragen sollte. Inzwischen blickte Galux müde zu Ray auf.

„Das Kind bestand darauf, dass ich mich um euren Freund kümmere. Er war dem Tode einfach zu nahe.“

„Den Anblick vergesse ich nicht so schnell.“, brummte Ray gedankenverloren. Etwas anderes hätte Tyson auch gewundert. Allein das Geräusch von Maxs blutigem Gurgeln, klang noch in seinen Ohren nach. Sein aschfahles Gesicht, mit den dunklen Augenringen auf der blassen Haut, war erschreckend gewesen. Für einen Moment hatte Tyson wirklich geglaubt, er sterbe ihnen unter den Fingern weg. Mit dieser Selbstmordaktion hatte er allen eine ziemliche Angst eingejagt. Sobald seine Sorge verflogen war, wollte Tyson ihn dafür verprügeln!

Einfach so in den Kampf der Uralten zu rennen, war lebensmüde gewesen. Er hoffte inständig das Judy ihm ins Gewissen redete – ein letztes Mal zumindest.

Es war ein recht trauriger Gedanke…

„Galux, du wirkst so erschöpft. Stimmt etwas nicht?“, fragte Ray inzwischen. Lange Zeit blieb sie stumm, dann antwortete das Bit Beast, in einer geradezu schmerzvollen Tonlage: „Ich glaube Driger ist tot.“

Es ließ Ray einen Moment inne halten. Er blickte auf Galux herab, deren Körper matt auf seinem Arm ruhte. Dabei sprach sie nur aus, was alle befürchtet hatten, als sie Dragoon in der Höhle vorfanden. Es konnte gar nicht anders sein…

Wäre Driger als Sieger hervorgegangen, wäre sein Gegner wohl kaum hier aufgetaucht. Dennoch hinterließ diese Nachricht einen fahlen Nachgeschmack.

„Warum bist du dir da so sicher?“, wollte Ray wissen. Seine Stimme klang gefasst, aber nicht besonders euphorisch. Tyson versuchte einen Blick in dessen Gesicht zu erhaschen. Nach allem was passiert war, konnte er seinem Bit Beast kaum noch sonderlich viel Zuneigung entgegen bringen - dennoch wirkte Ray nicht glücklich über diese Botschaft.

„Ich meine, euch das schon einmal erklärt zu haben… Drigers Macht ist wie der Stamm eines Baumes. Doch ich bin nur eines der vielen Blätter, was sich an seiner Energie labt.“, Galux seufzte müde. „Ich glaube… nun bricht der Herbst über mich herein. Also kann mein Stamm nur schlafen oder gar tot sein.“

Tyson stockte einen Moment der Atem.

„Was bedeutet das? Bist du in Gefahr?“

Ihm schien als würde das Bit Beast ihm ein müdes Lächeln schenken.

„Ich muss sparsamer mit meiner Kraft umgehen. Das ist alles. Und ich sollte meiner kleinen Mao einen Besuch abstatten, sobald ich in der Menschenwelt bin.“

„Warum?“, fragte Ray verwundert. Doch Tyson wusste die Antwort bereits von seiner Unterhaltung mit Wolborg.

„Weil das Menschenkind eines Bit Beast, wie eine Art Energiequelle fungiert.“, wiederholte er Wolborgs Worte nachdenklich. Ihm kam es damals so vor, als wäre er nur eine Steckdose für Dragoon. Das hatte ihn im ersten Moment ziemlich gekränkt. Dennoch schaute er Ray nun drängender an. „Mariah kann ihr helfen. Wir sollten Kai holen und zusehen, dass wir von hier verschwinden. Galux muss ihre Kräfte schonen.“

„Beeilt euch. Ihr habt nicht mehr viel Zeit um hinauszugelangen.“, drängte das Bit Beast schwach. Ein Nicken war die Antwort. Da erblickte die kleine Gruppe einen hüpfenden Lichtfleck, der eiligst auf sie zusteuerte. Kurz darauf vernahmen sie Allegros Rufe, der bereits von weitem auf sich aufmerksam machen wollte.

„Himmel… Eine Sorge weniger!“, stieß Tyson strahlend aus. Er hatte sich schon gefragt, was aus ihrem wackeren Mäuserich geworden war. Der legte auf den letzten Metern zu ihnen eine Vollbremsung hin. Doch bevor er ihm seine Erleichterung beteuern konnte, sahen sie die kleine Springmaus, wie wild mit den Ärmchen rudern.

„Bei allen Uralten, habe ich euch endlich gefunden!“, die winzige Gestalt vor ihnen, warf mit Gesten förmlich um sich. „Kommt schnell, meine Herren! Beeilung!“

„Was ist los?“

„Der kleine Mensch! Da wollte mir das Kind etwas Gutes tun und mich von einem Eissee herunterholen, nun steckt der arme kleine Tropf selbst in Schwierigkeiten!“

„In was für Schwierigkeiten?“, keuchte Ray entsetzt.

„Er ist festgefroren… Auf der Eisschicht!“

„Was?!“, kam es von den beiden Jungen wie aus einem Mund. Es war die Situation an sich, die ihnen so verboten bekannt vorkam, dass es beinahe schon makaber wirkte.

„Na wenn ich es euch doch sage! Als ich wieder aufgewacht bin, habe ich den kleinen Kai auf mich einreden hören. Er nahm mich behutsam in die Handflächen und wollte dann auch schon mit mir ans Ufer laufen, da bemerkten wir aber, dass er nicht mehr von der Stelle kam! Der Ärmste ist festgefroren und bekommt sich nicht los. Nun ist der Helfer zum Opfer geworden und ich musste los, um euch zu finden!“

Galux atmete hörbar aus.

„Ich hatte ihm gesagt, er soll sofort von der Eisfläche hinunter!“, stieß sie empört hervor.

„Ai, ai, ai… Was soll ich da noch antworten, meine liebe Mademoiselle?“, Allegro hob hilflos die Ärmchen. „Man mag kaum glauben, wie gering die Aufmerksamkeitsspanne von einem Kind ist. Da horcht jeder Goldfisch im Glas besser zu!“, Galux versuchte sich von Rays Armen aufzustemmen, glitt jedoch müde zurück.

„Menschen machen stets nur Ärger. Ist ein Problem aus der Welt geschafft, sorgen sie auch schon für das Nächste.“, beklagte sie sich.

„Jetzt vergiss doch deine Vorwürfe!“, stieß Tyson aufgebracht aus. „Allegro, das Eis ist doch nicht aufgebrochen, oder?“

„Das nicht…“

„Dann führ uns sofort zu ihm!“

„Jawohl, die Herren!“, die Strommaus salutierte vor ihm, tat mit einem Hüpfer in der Luft kehrt und rannte schleunigst in die Richtung, aus der er gekommen war, während die beiden Jungen ihm hinterherschlitterten. In Tysons Kopf tauchte das Szenario vom Baikalsee auf.

Innerlich fluchte er, weil Kai es geschafft hatte, sich erneut in eine so dämliche Lage zu manövrieren. Was stimmte mit dem Jungen nicht, dass er ständig auf irgendwelchen bescheuerten Seen festfror?

Damals auf dem Baikalsee war es schon eine Schnapsidee gewesen, darauf zu bladen, aber er hatte ja dort unbedingt den knallharten Kerl markieren müssen. Kenny war nicht sonderlich begeistert davon gewesen, als sie ausgerechnet die spiegelglatte Oberfläche des Sees, als Austragungsstätte für ein finales Match zwischen ihnen wählten, doch Kai war so stur geblieben und hatte darauf beharrt, an Ort und Stelle die Fronten zu klären. Das Ende vom Lied war, dass er ihr Match verlor, die Blades einen solchen Schaden auf der Eisschicht hinterließen, dass sie aufsprang und Kai es irgendwie vollbrachte, auf einer der Schollen festzufrieren und dabei drohte abzusaufen! Toller Plan Mr. Hiwatari…

Noch heute warf Tyson ihm diesen Zwischenfall vor. Einmal wollte er sogar von Kai wissen, ob es möglich war, dass Black Dranzer als Pfand für seine immense Kraft, die Gehirnzellen seines Bladers außer Kraft setzte. Kai hatte ihm daraufhin schmerzhaft gegen die Schulter geboxt, weil er diese alte Kamelle, nach all den Jahren, einfach nicht mehr hören wollte.

Inzwischen sprang Allegro über eine kleine Anhöhe, die stark an einen Damm erinnerte.

„Da unten! Er scheint noch unversehrt.“

„Galux, du bleibst hier.“, wies Tyson sie an. „Ich denke wir bekommen das schon alleine hin. Es sollten so wenig wie möglich Leute auf dem See herumspazieren.“

Das Bit Beast nickte dankbar, während Ray sie auf dem Boden absetzte. Kurz darauf kraxelte er über die Steigung, während Tyson bereits über den Rand gekommen war. Gleich dahinter, ging es steil bergab. Es wirkte wie der Tellerrand einer Suppenschüssel. Bis auf die Größe des Sees und die Umgebung, in welcher sie sich befanden, hätte Tyson schwören können, in einer Vergangenheitssequenz fest zu stecken.

Anstatt waldige Landschaft umsäumte ein steiles Ufer den unterirdischen See. Seine Oberfläche wirkte dunkel, ja geradezu finster. Nicht wie damals auf dem Baikalsee, dessen dicke Eisschicht vom puderartigem Neuschnee, des letzten Abends, bedeckt war. Tyson rutschte den Abhang hinab Richtung Ufer und bemerkte ein weiteres Mal, wie spiegelglatt die Felsen waren, denn er bekam keinen richtigen Halt. Stattdessen schlitterte er holprig näher an den See heran, als eigentlich beabsichtigt und landete schmerzhaft auf dem Rücken. Innerlich fluchte er über Kai – weil er nun seinetwegen hier herumschlittern musste.

Dem Jungen gehörte der Hosenboden versohlt!

Sobald Tyson sich stöhnend aufgerichtet hatte, spähte er zu der Kindergestalt im Zentrum des Sees. Aus der Ferne betrachtet, schien die dunklere Silhouette noch immer damit beschäftigt zu sein, sich mit aller Kraft, vom Eis zu lösen. Ihm den Rücken zugewandt, beobachtete Tyson, wie Kai geradezu verzweifelt versuchte, sich zu befreien. Er packte seinen eigenen Fuß und zerrte daran, als könne sein leichtsinniges Vorhaben, etwas an seiner misslichen Situation ändern.

„Sei gefälligst vorsichtiger! Du weißt nicht wie dick die Eisschicht unter dir ist!“

Als die herrische Forderung zu Kai schallte, geriet der vor Schreck ins Straucheln. Das Kind musste seine Handflächen auf dem Eis abstützten, um nicht auf den Hintern zu landen. Kurz darauf blickte es geradezu vorwurfsvoll, über seine Schulter hinweg, zu ihm und rief:

„Das war gemein! Du hast mich erschreckt!“

Ray tat neben Tyson den ersten zaghaften Schritt auf die Eisfläche, um die Stabilität zu überprüfen. Als er sicher war, das sie sein Gewicht hielt, arbeitete er sich mit schleifenden Bewegungen vorwärts. Inzwischen fühlte Tyson, wie Allegro sein Hosenbein hinaufkraxelte, um auf seinem Cappy Platz zu nehmen. Kurz darauf folgte er Rays Beispiel, tat einen Schritt vor den anderen, konnte es aber auch nicht lassen, Kai weiterhin zu tadeln: „Wie zum Geier bist du wieder festgefroren?!“

Ihm leuchtete einfach nicht ein, wie ein einzelner Mensch, so viel Pech haben konnte. Womöglich war etwas an Kais Gangart verkehrt und er watschelte mit den Schuhsohlen, wie es Gänse taten.

„Ich weiß nicht. Es ist ganz plötzlich passiert.“

„Das ist doch unglaublich!“

„Tut mir Leid.“, hörte er Kais schuldbewusste Stimme.

„Dich kann man nie aus den Augen lassen!“

„Ich habe doch gesagt, dass es mir Leid tut…“

„Zweimal!“, redete sich Tyson stattdessen in Rage, während sie sich weiter dem Zentrum näherten. „Das ist das zweite Mal das du auf einem verdammten See festfrierst!“

„Gar nicht wahr…“

„Doch! Als du Erwachsen warst! Das hatte ich dir erzählt!“

„Hör auf mich auszuschimpfen!“, klagte das Kind nun trotziger. Tyson konnte sich gut ausmalen, wie seine blassen Wangen vor Zorn rot brannten.

„Dir gehört es nicht anders!“

„Leute, ich fand es eigentlich ganz angenehm, das ihr euch hier so selten gestritten habt.“, warf Ray inzwischen genervt ein. Sein Kommentar ging aber ungehört unter, denn da schallte Kais Ruf auch schon wieder zu ihnen.

„Das war doch gar keine Absicht!“, stellte der Kleine klar.

„Den Eindruck hat man aber!“, blaffte Tyson nach vorne. „Ich habe dir doch erklärt was mit dem grauen Katzenkind passierst ist! Hörst du mir eigentlich nie zu?“

„Das habe ich vergessen…“

Ein fassungsloses Schnauben kam aus seiner Kehle.

„Vergessen! Na dann rühr dich wenigstens nicht von der Stelle, bevor Ray und ich kommen. Oder willst du das auch wieder vergessen?!“

„Leute…“

„Ich kann gar nicht weg! Ich bin festgefroren!“, kam Kais schnippische Entgegnung.

„Auch noch neunmalklug? Noch ein Wort und du bleibst wo du bist!“

„Leute!“, knirschte Ray erneut mit den Zähnen.

„Monsieur, bitte etwas mehr Konzentration bei der Sache.“, tadelte auch Allegro ihn.

„Du bist manchmal richtig doof!“, hörte Tyson das Kind ihn anklagen.

„Wag es nicht, jetzt auch noch frech zu werden!“

„Du hast angefangen!“

„Wenn ich dich in die Finger kriege, zieh ich dir die Ohren lang, du kleiner Unruhestifter!“

„Sofort die Klappe halten!“, fauchte Ray ein Machtwort. Seine Stimme schallte noch lange in der Kammer. Er blieb so abrupt stehen, dass Tyson in ihn hineinrannte. Da drehte sich sein Vordermann auch schon zu ihm um und taxierte ihn böse. „Können wir uns für ein paar Minuten darauf konzentrieren, dass wir den Kleinen vom See bekommen? Ohne ein großartiges Drama daraus zu machen?!“

Eine unangenehme Stille kam zwischen ihnen auf. Tyson blickte in Rays helles Augenpaar, auf die Brauen darüber, die verärgert zuckten. Wie von alleine wanderte seine Hand in seinen Nacken und ein verlegenes Lächeln trat auf seinen Mund.

„Tschuldigung. Die Macht der Gewohnheit.“

„Diskutier nicht mit ihm. Du bist älter!“, mahnte Ray mit erhobenem Zeigefinger.

„Eigentlich ist er...“

„Hörst du jetzt auf?!“

„Bin schon ruhig.“, Tyson vollführte eine Bewegung, als würde er einen Reißverschluss vor seinen Mund zuziehen. Es dauerte bis sein Freund den strengen Blick von ihm abwandte. Als er wieder vorsichtig voran schritt, vernahm Tyson noch etwas, was verdächtig nach „altes Ehepaar“ klang. Dieser Vorwurf ließ ihn entnervt die Augen verdrehen. Er konnte gar nicht mehr an einer Hand abzählen, wie oft er diesen Spruch von Ray zu hören bekam, sobald Kai und er sich einmal kabelten. Es entwickelte sich zu seinem persönlichen Slogan. Immerhin hatten sie sich in den letzten Tagen doch zusammengerissen, da konnte ein Rückschlag einmal passieren. Dennoch nahm Tyson die Standpauke hin, denn eigentlich wäre es ihm auch lieber, Kai vom Eis herunterzuholen, bevor etwas schlimmeres passierte. Das Eis knarzte leise unter ihren Sohlen, dennoch gab es nicht nach.

Es schien tatsächlich äußerst dick zu sein, aber die Vergangenheit hatte sie gelehrt, dass ihr Urteilsvermögen ziemlich schlecht war, was dieses Thema betraf. Immerhin hatten sie sich auch auf dem Baikalsee sicher gefühlt. Sie gingen deshalb auch äußerst umsichtig vor. Beinahe bei dem Kind angekommen, bemerkte Tyson, wie bockig es zur Seite schaute und die Lippen zu einem Schmollmund verzogen hatte, dabei hielt Kai auch noch die Arme beleidigt vor der Brust verschränkt. Er schmunzelte und musste gestehen, dass der Kleine mehr putzig, als störrisch ausschaute. Scheinbar war Tysons eigenes „Inneres Kind“ mit ihm durchgegangen, was ihm auch schon wieder Leid tat. Ray machte vor ihm einen weiteren Schritt, als sie ein Knacken vernahmen, was nicht ganz so gut klang. Beide hielten den Atem an, doch Kai schien es noch nicht bemerkt zu haben.

Er sollte nun bloß nicht in Panik verfallen…

„Ich denke, ich gehe besser alleine weiter. Zwei Personen, sind bestimmt zu viel.“, flüsterte Ray leise an ihn gewandt, offenbar um das Kind nicht zu beunruhigen. Doch Tyson packte ihn am Handgelenk und schüttelte energisch den Kopf.

„Du bist größer als ich. Wahrscheinlich dann auch schwerer. Lass mich vorangehen.“

„Okay, aber bleib vorsichtig.“, ermahnte Ray ihn besorgt. Er setzte ein zuversichtliches Lächeln auf und nickte. Erst dann folgte ein zögerlicher Schritt vorwärts. Er ließ seine Schuhsohle ganz nah über der Oberfläche schleifen, um mit dem Aufsetzen seines Fußes, keine unnötigen Erschütterungen auf dem Untergrund zu verursachen. Es knackte auch weniger als zuvor. Tyson entfernte sich einige Schritte von Ray, der aufmerksam jede seiner Bewegungen verfolgte. Kurz vor dem Kind, streckte er die Hand aus, um Kai zu verdeutlichen, dass er bald bei ihm angekommen war, bemerkte aber, dass der noch immer ob seiner Standpauke schmollte. Er schnalzte genervt mit der Zunge.

„Bist du noch immer sauer?“

„Ja!“, beklagte der Junge sich. Sichtlich empört, dass er überhaupt noch fragte.

„Muss das jetzt sein?“

„Du schimpfst immer mit mir! Das ist gemein!“

„Darüber reden wir später. Gib mir deine Hand.“

Er streckte seinen Arm weiter in dessen Richtung aus. Dennoch griff Kai nicht zu.

„Worauf wartest du?“

„Ich mag dich nicht mehr. Ray soll mich holen…“

„W-Was? Wieso?!“

„Weil du mich nicht ausschimpfen darfst! Ich bin auch ein großer Kater! Das hast du selbst gesagt!“

„Aber jetzt bist du klein!“

„Mir egal… Ich will zu Ray.“

„Oh, tut mir Leid werter Prinz!“, brauste Tyson verärgert auf. „Du wirst mit mir Vorlieb nehmen müssen, also stell dich gefälligst nicht so an!“

„Nein.“, weigerte sich Kai bockig und schüttelte nur umso sturer den Kopf. Beinahe wären Tyson die Sicherungen durchgebrannt - jetzt hatte der Zwerg schon viel mehr von seinem erwachsenen Alter Ego! Er hörte wie Allegro, dicht neben seinem Ohr, die Hände verzweifelt ins Gesicht schlug.

„Was für ein Starrsinn!“, jaulte die Strommaus auf.

„Um Himmels willen, Kai! Jetzt gib ihm endlich deine Hand!“, rief nun auch Ray hinter ihm entgeistert aus. Er konnte sich gut vorstellen, dass der sich vor Verzweiflung die Haare raufen wollte.

„Aber ich will nicht immer ausgeschimpft werden!“

Tyson wurde es zu bunt. Er tat einen weiteren Schritt auf das Kind zu, da hörte er ein unheilvolles Knarzen unter seiner Schuhsohle. Als sein Blick hinabirrte, erkannte er eine zarte weise Linie, die wie die wirre Verästelung einer Baumkrone wirkte, der vor einem dunklen Hintergrund prangte. Seine Augen weiteten sich und nun hatte auch Kai das Geräusch gehört. Das Kind hielt die Luft an und starrte mit offenem Mund in seine Richtung.

Es wurde einen Moment still zwischen ihnen.

„Krümel… Wir reden später darüber.“, sprach Tyson nun mit äußerstem Nachdruck. Er streckte seine Hand weiterhin in Kais Richtung aus, setzte jedoch eine Miene auf, die keine weitere Diskussion zuließ. „Ich möchte, dass du nach meiner Hand greifst. Jetzt… sofort! Hast du das verstanden?“

Das hatte er…

Denn Kai wurde sich nun seiner Lage doch bewusst. Er löste vorsichtig die verschränkte Haltung vor seiner Brust, als habe er Angst, dass selbst diese Bewegung zu viel war und streckte sich nach ihm aus. Als Tyson ihn zu fassen bekam, fühlten seine winzigen Finger sich eiskalt, in seiner Handfläche an.

„Ich ziehe jetzt. Okay?“

„Geht es da unten tief hinunter?“, kam die eingeschüchterte Frage.

„Das wollen wir gar nicht erst herausfinden. Auf drei ziehe ich. Eins, zwei… Drei!“

Kai verzog das Gesicht, als Tyson den Ruck ausübte – leider erfolglos. Stattdessen ließ sein Vorhaben weitere Verästelungen aufblühen. Bei dem Gedanken trat ihm kalter Schweiß auf die Stirn. Tyson versuchte seine Position zu ändern, um nicht ständig wegzurutschen, sobald er zog. Das war aber leichter gedacht als getan.

„Kannst du mir deine andere Hand auch noch reichen?“

Kai streckte sich noch weiter vor, um seinen Vorschlag in die Tat umzusetzen, da knackte es umso lauter. Nun schossen die Risse, wie ein Blitz über die Eisfläche, tanzten knisternd um Kai herum, da tat sich auch schon ein Sprung, direkt zwischen ihnen auf. Es gab einen lauten Knall und schon fühlte Tyson wie er ins Schlittern geriet, als die Scholle auf und ab wankte. Er geriet ins Straucheln und fiel auf den Boden, die zarten Kinderfinger in seiner Handfläche entglitten ihm. Sein Sturz brachte eine solche Erschütterung mit sich, dass das Eis unter ihm komplett von restlichen Teil abbrach. Er hörte Rays Ruf hinter sich.

„Zurück, Junge! Zurück!“, forderte Allegro prompt.

Tyson fühlte, wie die Scholle auf der er trieb, unter seinem Gewicht absank. Die kalten Wassermassen, saugten sich in seinen Jeansstoff und machten seine Bewegungen dadurch noch schwerfälliger. Er warf einen Blick zu Kai, der mit weit aufgerissen Augen, wie ein Schiffsbrüchiger auf einer verlassenen Insel wirkte – seine Eisplatte sank jedoch nicht. Bevor er unterging, rappelte sich Tyson eiligst auf und mit einem beherzten Sprung rettete er sich, auf die noch unversehrte Platte von Ray, der entsetzt die Augen aufriss und einige Schritte zurückwich.

„Monsieur! Hüpf hier nicht herum wie ein Reh im Wald!“, ermahnte Allegro ihn eindringlich. „Du hättest dabei auch diese Eisplatte zerbrechen können! Willst du die Oberfläche vollends beschädigen?“

Tyson verzog peinlich berührt das Gesicht. Das hatte er in seiner Panik fast vergessen, aber immerhin sagte das viel, über die Dicke des Eises, auf dieser Seite aus.

„Verdammt!“, fluchte Ray laut und blickte hilflos zu dem Kind hinüber. „Versuch dich so wenig wie möglich zu bewegen!“

„Okay…“, kam es ziemlich nervös zurück. Kai atmete schnell, als wäre er in Panik, knetete dabei mit seinen Fingern heftiger als je zuvor. Die Eisplatte auf der Tyson zuvor gelegen hatte, brach inzwischen in viele weitere auseinander, während das größte Stück davon, vor ihren Augen, blubbernd auf und ab schwappte. Die Wellen die es dabei auf dem See erzeugte, ließen auch Kais Platte in Bewegung geraten, bis die Gruppe mit stockendem Atem zusehen musste, wie das letzte Stück, was seine Eisscholle, mit dem übrigen Teil verband, auch abbrach. Der Junge ruderte erschrocken mit den Armen um das Gleichgewicht zu halten – doch sein kindlicher Körper kam ihm in diesem Fall sogar zugute. Kai war viel leichter, als damals auf dem Baikalsee, weshalb sich seine Platte nicht hinabsenkte. Noch nicht…

Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie womöglich auch auseinander brach. Tyson konnte seinen Blick nicht von ihm abwenden, wie der Kleine vorsichtig die Arme streckte, um die wankende Platte unter sich, wieder ruhiger werden zu lassen. Kais Kopf war starr erhoben, doch seine Augen schielten bang auf seinem Untergrund.

„Vielleicht kommen wir von der anderen Seite besser an ihn heran.“, spekulierte Ray.

„Und wenn die auch einbricht?“, warf Allegro vehement ein. „Beinahe wäre schon Tyson untergangen, es würde uns gerade noch fehlen, wenn wir dich auch noch aus dem Wasser fischen müssten.“

„Vielleicht können wir ihn irgendwie herüberziehen? Mit einem Stock oder so…“

„Wo willst du hier einen finden?“

„Und was sollen wir dann machen?!“, jaulte Ray geradezu verzweifelt. „Darauf hoffen, dass der See in den nächsten fünf Minuten wieder zufriert, wird uns nicht weiterbringen!“

„Er hat Recht. Wir müssen es zumindest versuchen.“, sprach Tyson entschlossen an Allegro gewandt. Da bemerkte er wie Kai zu zappeln begann. Er wollte ihn schon dazu ermahnen, gefälligst still zu bleiben, da fiel ihm erst auf, dass das Kind sein Bemühen lediglich auf seine Beine beschränkte. Irgendein Plan schien sich in seinem Kopf gebildet zu haben. Als Tyson auf Kais Füße spähte, wurde ihm endlich klar, was er da trieb. Er versuchte aus seinen Schuhen zu schlüpfen.

„Hör auf damit!“, rief er ihm panisch zu. „Das ist Wahnsinn! Eher kippt die Platte noch um, bevor du dich aus deinen Schuhen befreien kannst. Oder sie geht kaputt!“

„Doch… Das geht!“, beteuerte ihm Kai energisch. „Ich bin schon fast draußen!“

„Nein, Junge, hör auf ihn! Lass deine Freunde dir helfen!“

„Ich schaffe das!“

Die Scholle geriet bedrohlich ins Schwanken, doch plötzlich machte Kai einen kleinen Hüpfer, um seinen Schuhen zu entsteigen. Tyson starb tausend Tode. Er sah die Platte unheilvoll auf und ab springen. Kai kam ungeschickt, jedoch auch unversehrt auf ihr auf. Noch einige Zeit rutschte das Kind leicht auf der glatten Oberfläche umher, vollbrachte es doch aber tatsächlich, sich auf ihr zu halten. Als die Erschütterungen nachließen, atmete der Junge erleichtert aus und blickte zu ihnen herüber. Dieser kleine, flinke Kater…

Tyson musste grinsen und auch über Kais Gesicht huschte ein Lächeln, als sich ihre Blicke trafen. Womöglich unterschätzte er tatsächlich manchmal das Kind.

„Okay. Das war zwar gewagt, aber gut gemacht.“, sprach er anerkennend.

„Hab ich dir doch gesagt…“

Der Kleine klang ganz schön stolz. Tyson rollte mit den Augen, ließ ihm aber mit einem Schmunzeln, seinen Glanzmoment durchgehen.

„Vielleicht kann ich auch zu euch herüber springen?“

Sofort rutschte ihm das Herz wieder in die Hose. Ihm stockte der Atem.

„Auf gar keinen Fall!“, warf Ray entsetzt ein. „Das ist viel zu weit für dich!“

„Ich kann es doch probieren…“

„Nein Kai!“, schrie Tyson fast schon panisch. „Lass es bleiben! Das Eis könnte brechen!“

Doch da versuchte das Kind auch schon soweit es ging Anlauf zu nehmen. Ihm gelangen lediglich zwei kleine Schritte. Die Platte geriet durch die plötzliche Bewegung in eine extreme Schräglage und als Kai den Rand erreichte, erhob sich das andere Ende bereits steil in die Luft, wie bei einer Wippe. Nur ein kleiner Satz gelang ihm, da landete das Kind auch schon im eiskalten Wasser.

„Um Himmels willen!“, rief Allegro aus.

Mit geweiteten Augen beobachtete Tyson, wie die Eisplatte hinter Kai sich auf die andere Seite wendete, als wäre sie eine Münze, die sich in der Luft um die eigene Achse drehte. Sie verfehlte nur haarscharf den Kopf des Jungen, der wie ein ertrinkender Welpe in den Fluten voran kraulte. Als ihre flache Oberfläche auf das Wasser klatschte, stoben die Tropfen nur durch die Gegend. Eine kleine Welle entstand dabei, die Kai erfasste und weiter in ihre Richtung trieb, dennoch nicht nah genug, damit er an den Rand fassen konnte. Tyson ging eiligst in die Knie und streckte sich soweit es ging, in seine Richtung aus. Unter ihm war das Wasser pechschwarz. Kais Hände vor ihm verfehlten ihn mehrmals. Das Gewicht seiner nassen Kleidung musste schwer auf ihm lasten, denn er drohte unterzugehen.

„Greif nach mir! Bitte Kai, versuch meine Hand zu erreichen!“

Seine Stimme überschlug sich vor Panik. Doch Kai erreichte ihn nicht. Er schien auch kein besonders guter Schwimmer zu sein. Vielleicht konnte er es in diesem Alter auch noch gar nicht. Die Erkenntnis ließ Tysons Augen weiter werden. Kai stellte sich so ungeschickt an, dass es gar nicht anders sein konnte!

„Halt mich fest Ray!“, es bedurfte keiner zweiten Aufforderung. Sein Freund begriff sofort was Tyson vorhatte. Der schob sich weiter vorwärts, bis sein Oberkörper über den schwarzen Fluten schwebte und als Kai unterging, tauchte er ihn hinab, während Ray seine Beine zu Boden drückte, damit er nicht auch gänzlich hineinrutschte.

Das Wasser plätscherte Laut um seine Ohren als er eintauchte. Augenblicklich umfing ihn eine tödliche Stille, samt einer schmerzenden Kälte. Sie stach auf seiner Haut wie tausend Nadeln. Ihm blieb komplett die Luft weg. Selbst die Augen taten ihm weh. Inmitten dieser Schwärze, war Kais winzige Gestalt, wie ein heller Lichtfleck, der drohte, von seiner eigenen Kleidung hinabgesogen zu werden. Sein blasser Arm streckte sich nach ihm aus und Tyson bäumte sich noch ein weiteres Mal vorwärts, lehnte sich gegen Rays Griff auf, um noch ein paar Zentimeter mehr zu gewinnen und das Kind zu fassen zu bekommen. Endlich fühlte er die kleine Handfläche, die sich in seine eigene legte. Er versuchte seinen Oberkörper hoch zu stemmen, damit Ray begriff, dass er wieder hinaus wollte. Sofort spürte er den festen Griff, an seiner Jacke, der ihm aufhalf. Tyson stieß den Kopf keuchend aus den Fluten, atmete dabei japsend nach Luft.

„Hast du ihn?!“, wollte Ray wissen.

Er nickte mit dem Kopf. Immer wieder.

Immer wieder…

Weil er zu nichts anderem in der Lage war, um sich Gehör zu verschaffen. Ständig verschwand er mit dem Oberkörper in den Fluten und jeder Satz von ihm, ging in einem hustenden Gurgeln unter. Kai strampelte verzweifelt unter Wasser an seiner Hand. Mit aller Macht versuchte Ray ihn herauszuzerren. Doch offenbar war es ein enormer Kraftakt, zwei Menschen aus einem See zu bekommen, deren Kleidung sich gleichermaßen mit Wasser vollgesogen hatte. Tyson hob den Kopf ein weiteres Mal aus der Kälte, um nach Luft zu schnappen. Seine Lunge gefror förmlich.

„MAX!“, hörte er Ray verzweifelt brüllen. Da ging er auch schon wieder unter. Die Stimme klang dumpfer unter Wasser. Tyson versuchte mit der anderen Hand nach Kais Arm zu greifen, doch brauchte er die, um wenigstens noch hinaufpaddeln zu können und sich einen Atemzug zu verschaffen.

„MAX!“

Rays Stimme glich nun einem Brüllen, wie ein Tier was in einer Falle festsaß. Noch immer hielt er Tyson fest am Kragen gepackt, um ihm auf zu helfen. Der fühlte wiederum, wie die Bewegungen in seiner Hand träger wurden. Seine tauben Finger hielten Kai fest umschlossen, weigerten sich, von dem Jungen abzulassen. Ihn trieb der Gedanke, dass er es nicht ertragen könnte, wenn der Kleine irgendwo dort unten, leblos dahin trieb. Da schallte auch schon der nächste Schrei aus Rays Kehle. Nun klang es wie das Brüllen eines Tigers. Lauter als je zuvor…

„MAX! WIR BRAUCHEN DICH!“
 

ENDE Kapitel 37
 

Er fühlte seine Finger nicht mehr. Sie waren irgendwann taub geworden. Als wären sie gar nicht mehr da. Lediglich der Ruck der permanent auf seinem Arm ausgeübt wurde, erinnerte Kai daran, dass da noch jemand war, der ihn in dieser Finsternis hielt. Sein Körper kam ihm beinahe schwerelos vor. Winzige Bläschen entstiegen seinem Mundwinkel.

Das Kind fror…

Er bekam keine Luft und Kai wurde so müde. Da lag ein Druck auf seinem Kopf. Eigentlich wollte er gar nicht mehr kämpfen. Einfach die Augen schließen und das unvermeidliche Geschehen lassen. Er vernahm die Stimmen über der Wasseroberfläche. Sie klangen dumpf zu ihm herab. Ein kleiner hüpfender Lichtpunkt war dort verschwommen zu sehen.

Allegro…

Kai bedachte aus schwermütigem Blick jenen Arm, dessen Hand seine eigene fest umschlossen hielt. Ab und an tauchte ein Gesicht im Wasser auf, als würde jemand kopfüber hineingedrückt werden. Tysons Augen waren dann stets geweitet – sie wirkten so bestürzt.

Und er schien große Angst zu haben.

Das tat dem Jungen Leid, weil Kai der Grund war, weshalb sein Freund so litt. Einen Moment versuchte er seine Finger zu lösen, damit wenigstens Tyson von ihm loskam, doch der hielt seine Hand eisern umschlossen – und ehrlich gesagt, bekam Kai auch Angst.

Er wollte wieder hinaus an die Oberfläche.

Er wollte nicht alleine hier unten bleiben.

Er wollte bei seinen Freunden sein!

Und er wollte noch weitere Geschichten hören. Von dem Katzenrudel, welches das Kind so mochte. Dieser finale Gedanke, ließ ihn noch einmal nach Leibeskräften strampeln.

„Ich will noch mehr Geschichten hören!“

Er bewegte seine Füße. So schnell er konnte…

Das Kind tat kräftige Tritte, um etwas weiter aufzusteigen.

„Und ich will sie von Tyson hören!“

Seine freie Hand machte kreisende Bewegungen. Erneut sah er das Gesicht über ihm durch die Wasseroberfläche brechen. Ein verbissener Ausdruck lag darin. Tyson fletschte die Zähne, zerrte an ihm und tatsächlich schien seine Mühe, ihn etwas weiter aufsteigen zu lassen.

Kai brauchte Luft. Er musste durch die Oberfläche brechen!

Da oben wartete das Leben auf ihn. Doch er fror so schrecklich.

Und das Wasser war so eisig…

Plötzlich ging ein Ruck durch Tyson. Er sah dessen Augen vor Schreck weiter werden, da bäumte sich sein Oberkörper aus dem Wasser – und zog Kai ein Stückchen weiter mit sich ins Leben zurück. Doch noch war es einfach nicht genug. Er fühlte die Kraft, mit der Tyson ihn hoch zu zerren versuchte, auch, dass er es scheinbar endlich vollbracht hatte, sich aufzusetzen, spürte, dass seine eigenen Fingerkuppen dabei aus dem Wasser brachen. Selbst die kühle Höhlenluft empfand er als Wärmer, als die Kälte hier unten. Da stieß ein weiterer Arm in die Fluten. Aus trüben Augen beobachtete Kai, wie die ausgestreckte Handfläche nach ihm tastete, bis sich dessen Finger um sein Gelenk schlossen – und auf einmal empfand er den Anblick so merkwürdig vertraut.

Als habe er etwas ähnliches schon einmal erlebt.

Hände, die sich nach und nach, um seinen Arm legten…

Kurz darauf schnappte er verzweifelt nach Luft als er aufstieg. Der Sauerstoff füllte prompt seine Lungen. Es tat so schrecklich weh und dennoch war Kai erleichtert, endlich wieder zu Atem zu kommen. Das Kind hustete hart, als sein Oberkörper aus den Fluten kam. Es klang mehr wie ein Gurgeln. Die dumpfen Unterwasserklänge wurden nun endlich zu den heißeren Stimmen seiner Freunde. In all diesem Chaos wirkte es auf ihn, als würden sie durcheinander sprechen. Sein Blick irrte umher. Nur schemenhaft nahm er die Gesichter wahr. Ihm kam es vor, als würde etwas hart gegen seine Schläfe pochen.

„Ich habe ihn, Ray! Du kannst Tyson loslassen!“

Noch immer schaute das Kind auf die beiden Hände die ihn hielten, als sich eine weitere dazu legte und ihn aufzog. Er spürte, wie er hochgehoben wurde, wie seine Beine einen Moment in der Luft baumelten und wie das Wasser in Bahnen aus seiner Kleidung triefte. Dennoch lag sein Blick auf diesem Bündel aus Händen.

Es brannte sich förmlich in seinen Kopf ein.

Jede einzelne Hand, die ihn fest gepackt hielt. Aus irgendeinem Grund fragte Kai sich, wo die vierte Person abgeblieben war, die ihn einmal so gehalten hatte. Er stutzte perplex über seine eigenen Gedanken. Da hörte er etwas, was sich nicht in Einklang mit dem bringen ließ, was sich gerade abspielte. Es ging wie ein Blitz durch seinen Geist.
 

„Wir reden später! Hör auf zu quasseln und komm!“
 

Er blinzelte.

Immer wieder, immer wieder…

Und mit jedem Wimpernschlag, änderte sich etwas an dem Szenario vor ihm.

Er senkte die Lider. Die kargen Wände der Höhle wichen zurück.

Er schloss sie ein weiteres Mal. Ein klarer Himmel tat sich über ihm auf.

Er kniff die Augen fest zusammen und öffnete sie schlagartig. Da sah er seine Freunde vor sich, diese bunt zusammengewürfelte Truppe, die besorgt zu ihm herüber schaute.

Kai erblickte Tyson vor sich. Er hatte sich jedoch auf einmal verändert…

Zwar lag da noch immer dieser verbissene Zug um seine Mundwinkel, doch wirkte seine Erscheinung noch jünger, als kurz zuvor. Dicke Kinderbacken prägten sein Gesicht, er kam Kai dadurch grober vor, sogar etwas wilder und er drängte ihn geradezu herrisch, endlich seine Hand zu ergreifen.

Dabei meinte Kai dass er das schon getan hatte…

Irritiert stellte das Kind jedoch fest, dass Tyson noch immer seine Finger nach ihm ausstreckte und plötzlich auch ein anderes Paar Handschuhe trug. Sie waren aus braunem Leder, standen ihm am Unterarm weit ab und er streckte sich weit vor, um Kai zu erreichen.
 

„Er hat Angst! Er traut sich nicht!“
 

Etwas war merkwürdig hier...

Das Bild vor Kais Augen flackerte. Es erinnerte ihn an eine asphaltierte Fahrbahn, die am Horizont entlangführte, während die brennende Hitze der Mittagsonne, ihre Oberfläche tänzeln ließ. Wie eine Fata Morgana…

Kai hustete erneut hart. Rays Aussage kam ihm so sonderbar vor.

Weshalb sollte er sich nicht getrauen zu seinen Freunden zu kommen?

Doch da stellte das Kind fest, dass sie sich umringt von einer weißen Schneelandschaft sahen, die friedlich um einen gigantischen See herum ruhte, der viel größer wirkte, als alle Seen, die ihm je unter die Augen gekommen waren. Weit in der Ferne erhaschte er den Anblick, von hohen Bergen, deren Gipfel im kalten Glanz erstrahlten, sobald die Sonne sich mit ihrem Licht im Eis brach. Die Gebirgskette wirkte endlos lang. Es raubte Kai den Atem, denn er konnte sich einfach nicht erklären, weshalb sie sich auf einmal wieder im Freien befanden. Passierte das hier wirklich?

Er schaute hinab und sah erneut die Eisplatte unter seinen Füßen. Wie das Wasser über die Oberfläche schwappte und sich gierig bis zu seinen Schuhspitzen fraß.

Entsetzt keuchte Kai…
 

„Er kommt wenn er begriffen hat, dass wir ein Team sind!“
 

Sein Blick huschte hastig zu Max. Dessen tiefblaue Augen schauten ihn verzweifelt an – als hätte er große Angst um ihn. Er stand zwischen der Menschenansammlung, die Kai eindeutig als seine Freunde wieder erkannte, wenngleich sie anders gekleidet waren und jeder von ihnen jünger wirkte. Alle waren sie da!

Auf einmal machte sich ein Gefühl der Schuld in Kai breit. Ihm drängte sich in den Sinn, dass er es nicht verdient hatte, gerettet zu werden, obwohl ihm nicht ganz klar war, weshalb. Das Einzige, was er mit Gewissheit sagen konnte, war, dass er seine Freunde betrogen hatte.

Er wusste es einfach…
 

„Egal was du gedacht hast, wir waren immer für dich da!“
 

Kai atmete erschrocken aus, denn auf einmal erkannte er vor sich, eine vollkommen neue Person zwischen seinen Freunden. Der Junge besaß buschige, haselnussbraune Haare, die ihm geradezu verwahrlost ins Gesicht fielen, während er die dicken Gläser seiner Brille über die Stirn geschoben hatte. Er trug ein weißes Hemd, mit einer locker um den Hals hängenden, giftgrünen Krawatte. Vollkommen unpassend für die kühle Jahreszeit. Und obwohl er hätte schwören können, ihn heute zum ersten Mal vor sich zu sehen, wusste Kai prompt den Namen dieses Jungen. Kenny…

Der Name tauchte einfach so aus seinem Unterbewusstsein auf, wie ein Stück Treibholz, das unter Wasser an einem Felsen hängen geblieben war und sich irgendwann, durch eine kräftige Welle befreit hatte, um geradewegs an die Oberfläche geschwemmt zu werden.
 

„Obwohl du ein spitzen Spielverderber bist! Kai, nimm endlich meine Hand!“
 

Tyson war wütend auf ihn, aber dennoch überwog die Sorge. Er wollte nicht, dass Kai ertrank, trotz des Ärgers, den er verursacht hatte. Das wusste das Kind ganz genau und vollkommen unerwartet, vernahm es plötzlich seine eigene Stimme, die seinen Freunden verunsichert sagte, dass er nicht wisse, ob er sich jemals ändern könne.

Dabei bewegten sich Kais Lippen doch gar nicht…

Als wäre er nur der stumme Zuschauer einer Szene, auf die er keinerlei Einfluss besaß. Die Antwort seiner Freunde war jedoch lediglich, dass sie ihn weiter darum drängten, nach ihren Händen zu greifen. Tysons ausgestreckte Finger schwebten wenige Meter vor ihm in der Luft. Da brüllte er ihm den entscheidenden Satz entgegen:
 

„Wir würden nie jemanden aus dem Team in Stich lassen!“
 

Es ließ Kai endlich seinen Fehler begreifen, sich für seinen Verrat entschuldigen, er fühlte wie eine einzelne verräterische Träne aus seinen Augenwinkeln trat. Er blinzelte sie energisch fort, da erblickte das Kind seine eigene Hand vor sich, die endlich nach Tyson packte. Sie wirkte größer als noch zuvor. Als würde er keine Kinderhand dort vor sich sehen.

Einen flüchtigen Moment fragte er sich, ob das hier nur ein Traum war.

Ihm kam es vor als wäre er gar kein Kind mehr…

Tyson erreichte ihn inzwischen. Er packte zu.

Ihre Finger verhakten sich fest ineinander, es gesellten sich weitere hinzu und irgendwann entstand ein Knäuel aus Händen, was energisch an ihm zog. Und als Kai sich an die Wärme erinnerte, die von diesen Menschen ausgegangen war, daran wie fest all diese Griffe um sein Handgelenk lagen, nicht willens auch nur eine Sekunde lang von ihm abzulassen, da ahnte er, dass das hier wirklich passiert war.

Es war kein Traum. Es war viel mehr als das!

Es war ein Augenblick der sich in sein tiefstes Innerstes gebrannt hatte.

Es war der Moment indem er sich trotz allem Argwohn eingestand, dass es tatsächlich Menschen da draußen gab, die nicht nur aus reinem Eigennutzen handelten.
 

Es war seine wertvollste Erinnerung…

Es war der Tag, indem das Eis um sein Herz herum brach.
 

*
 

Das kleine Kind in seinen Armen war leichenblass. Der Anblick machte Tyson schreckliche Angst. Kai war sehr lange im Wasser gewesen und als Max endlich dazu stieß, war er sich bereits sicher, dass es zu spät war. Der Junge war triefend nass gewesen. Das kalte Wasser aus seiner Kleidung, fiel in Strömen von ihm ab und als Kai endlich in seinen Armen lag, fühlte sich der kleine Körper eisig an. Tyson fuhr mit seinen Fingern zaghaft über die unheilvoll blauen Lippen. Ein kleiner Spalt hatte sich zwischen ihnen aufgetan. Die Lider lagen reglos über den Augen und Tyson fürchtete, dass er tatsächlich ertrunken war. Er spürte keinen Atemzug. Schließlich riss ihn Ray aus seiner Starre, indem er eine Herzdruckmassage vorschlug. Eiligst verfrachteten sie das Kind, noch an Ort und Stelle, auf die kalte Oberfläche, während Max zurückrannte, um Galux zu holen. Egal ob sie geschwächt war, sie brauchten nun ihre Hilfe mehr denn je. Allegro hatte mitfühlend seine Hand, auf die totblassen Kinderwangen gelegt. Immer wieder schüttelte er den Kopf, als wolle er selbst nicht glauben, dass der Junge nicht mehr lebte.

„Oh weh, oh weh…“, jammerte er in einer Endlosschleife. Tyson platzierte seine Handballen auf Kais Brustkorb, begann rhythmische Bewegungen mit ihnen auszuführen. Immer wieder übte er Druck auf den kleinen Kinderkörper vor ihm aus, während Ray versuchte, dem Jungen Leben einzuhauchen.

„Komm schon, Kai.“, zischte Tyson verzweifelt, mit jedem Ruck auf dessen Brustkorb. „Bitte!“

Das ging recht lange so. Zumindest kam es ihm wie eine Ewigkeit vor.

Und irgendwann ließ Ray nach. Er schaute aus aschfahlem Gesicht zu dem Kind herab, auf die blauen Lippen, über die einfach kein Atemzug kommen wollte. Seine Augen waren weit aufgerissen. Er starrte einfach nur auf Kai herab.

„Er… Er war zu lange dort unten.“

Ray klang als habe er selbst Angst die Worte auszusprechen.

„Nein!“

„Es war zu lange Tyson.“, seine Stimme wurde brüchig.

Er stand kurz vor den Tränen.

„Nein, sag das nicht!“

Tyson stieß in einem Anflug von Panik fort, um nun auch die Atemzüge selbst zu vollführen. Sein Gesicht nahm einen störrischen Ausdruck an, als wäre er der festen Überzeugung es besser zu können. Sein Verstand dachte nur daran weiterzumachen – nicht aufzugeben.

Ray blickte schweratmend auf das reglose Kind vor ihnen, wirkte dabei geradezu betäubt. Ihn verließ die Hoffnung.

Als noch immer keine Regung kam, umfasste Tyson Kais Schulter und schüttelte ihn.

„Atme jetzt endlich verdammt!“

Ray streckte zitternd seine Finger nach ihm aus, versuchte ihn zu beruhigen. Er stieß die Hand nur wieder weg, begann von neuem mit der Herzdruckmassage und merkte dass sein Blick durch die aufkommenden Tränen verschwamm.

Da schallte das erlösende Gurgeln zu ihnen herauf…

Tyson hörte Ray neben sich erleichtert aufheulen. Das Kind warf mehrmals den Kopf in den Nacken, als wäre es kurz vor dem Erbrechen, da rollte er Kai auf die Seite. Gleich darauf würgte der Junge einige ordentliche Schlucke Wasser hervor. Ray vergrub neben ihm das Gesicht in den Händen. Endlich hörten sie das ersehnte Husten, wie Kai nach Luft schnappte. Schwer atmend setzte sich Tyson auf den Hosenboden und hob den Brustkorb des Kindes, in seine Arme hoch, damit es besser zu Luft kam. Er strich ihm über den Haarschopf, ließ dem Jungen Zeit sich von seiner Tortur zu erholen.

Tyson war nicht gläubig. Nein, ganz und gar nicht.

Doch in jenem Moment schickte er ein Dankgebet zu allen existierenden Gottheiten, ganz gleich welcher Religion sie auch entsprangen. Kais Lider zuckten, bis er sie irgendwann langsam öffnete. Ein verklärter Blick kam darunter zum Vorschein und als wäre ihm nicht ganz klar, wo er sich befand, erforschten seine Augen die felsige Umgebung. Er blinzelte irritiert.

„Du kleiner Dummkopf.“, sprach Tyson. Allerdings klang es mehr belegt als böse. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“

Noch immer kam nichts von Kai. Stattdessen hefteten sich seine Pupillen auf ihn. Doch irgendwie beschlich Tyson der Eindruck, als sehe der Junge ihn doch nicht wirklich. Als wäre er weit weg mit seinen Gedanken. Er konnte beobachten, wie sich Kais Lider immer wieder träge über seinen Augen senkten.

„Ich denke, nach allem was der Junge durchlebt hat, sollten wir von Vorwürfen ablassen.“, sprach Allegro mitfühlend. Er kraxelte an Rays Schulter hinauf, der inzwischen näher an seine Freunde heranrutschte und seine Hand auf Kais Stirn legte.

„Seht euch nur diese blauen Lippen an.“, sprach er betroffen. Es ließ das Kind von Tyson wegschauen und nun Ray beobachten. Tyson nickte erschöpft. Er legte Kais Kopf kurz auf seinem Schoß ab, um sich aus seiner Jacke zu zwängen. Zwar war auch die ziemlich nass geworden, doch alles war besser, als den Jungen nun ungeschützt zu lassen. Er wickelte das Kind in den Stoff und noch immer blinzelte es seine Freunde an. Tyson fragte sich, was ihm durch den Kopf ging.

„Da kommt Max.“, erkannte Ray bereits von weitem. Ihre Blicke hoben sich. Mehr schlitternd als laufend, kam er Schritt für Schritt aus der Dunkelheit hervor. Galux folgte ihm, jedoch sichtlich antriebslos. Tyson schoss die Frage durch den Kopf, ob sie momentan wirklich mit der mangelnden Energie kämpfte, oder schlicht und ergreifend um Driger trauerte. Sie schien mit den Gedanken nicht ganz da. Offenbar hatten sie jetzt nicht nur eine angeschlagene Person, in ihrer Gruppe, um welche sie sich kümmern mussten. Ihm selbst war auch furchtbar kalt. Das Zittern seines Körpers bekam Tyson kaum in den Griff. Da fühlte er Kais Finger ihn sachte am Arm berühren. Als er wieder zu ihm hinabschaute, öffnete sich sein Mund und er flüsterte ihm etwas zu, was Tyson nicht prompt verstand. Seine Stimme klang kränklich, ja geradezu hauchdünn. Er beugte sein Ohr herab.

„Wo ist der Schnee hin?“

Perplex hob Tyson wieder den Oberkörper an und starrte verständnislos auf das Kind herab.

„Welcher Schnee?“

„Die Berge sind weg…“, nuschelte Kai. Er schien geradezu geistesabwesend, sein Blick wirkte irgendwie trüb. Besorgt legte ihm Tyson eine Hand auf die Stirn, strich ihm mitfühlend die feuchten Strähnen aus dem Gesicht.

„Du hast geträumt, kleiner Kater.“, raunte er ihm zu.

„Gott sei Dank, er lebt!“

Wenige Meter vor ihnen, hielt Max inne als er bemerkte, dass Kai wieder erwacht war. Tyson vernahm sein erleichtertes Aufschnaufen. Sobald er die letzten Schritte überwunden hatte, sank er auf die Knie herab und griff nach Kais Hand. Tyson kam es vor, als bräuchte Max das, als müsse er sich selbst überzeugen, dass wieder etwas Leben in den Jungen gekommen war. Sobald Max von ihm abließ schüttelte er den Kopf.

„Es tut mir so leid. Wäre ich hier gewesen… Wir hätten uns nicht trennen dürfen!“

„Hör auf Max. Das ist einfach dumm gelaufen. Dafür kannst du nichts.“, antwortete Ray erschöpft. „Wir haben einfach kein Glück was zugefrorene Seen betrifft.“

Max gluckste erleichtert, dann beugte er sich über das Kind und sprach:

„Ein drittes Mal kommt das hoffentlich nicht vor. Zumindest nehmen wir dich nicht mit, wenn wir Schlittschuhlaufen gehen.“

Es ließ die Gruppe kurz auflachen. Erst recht als Max ihm spielerisch das nasse Haar zerzauste und Kai die Augen zukniff, als schäme er sich für seine Aktion. Überglücklich umfasste Tyson inzwischen die eisblaue Kinderhand und führte sie an seinen Mund, um etwas Wärme darauf zu hauchen. Ihm kam es vor als bekämen Kais Wangen augenblicklich mehr Farbe, als er das beobachtete. Seine Lippen öffneten sich, als wolle er etwas sagen, doch bis auf ein leises Krächzen kam kein Ton aus seinem Mund.

„Wo ist Judy?“, fragte Ray.

„Sie… Sie ist gegangen.“, Max senkte den Blick zu Boden. Zwar zeugten seine Augen noch immer von seiner Trauer, doch irgendwie schien ihn diese letzte Unterhaltung besänftigt zu haben. Er wirkte wieder ruhiger und wagte es nicht sie direkt anzusehen, als schäme er sich für seinen Wutausbruch.

„Und das sollten wir nun auch tun.“, kam die drängende Warnung von Galux. „Lasst uns gehen. Wir alle haben zu lange in dieser Grauzone verbracht. Nur noch wenige Meter und wir gelangen von hier aus in die Windhöhle. Beeilt euch… Bevor der Ausgang sich schließt.“

Ein langsames Nicken ging durch die Gruppe. Eigentlich waren sie alle am Ende. Nicht nur dem Bit Beast ging es schlecht und Tyson fragte sich, wann sie das letzte Mal geschlafen hatten. Es musste gewesen sein, kurz nachdem ihnen Ray ihm Dschungel abhandengekommen war. Das schien ihm eigentlich gar nicht so lange her zu sein, dennoch fühlte er sich ausgelaugt. Die Vorstellung eines schönen, warmen Betts, kam ihm wie der Himmel auf Erden vor. Das eisige Wasser, in das er ständig, mit dem Oberkörper voraus, getaucht war, hatte ihn müde gemacht. Sie erhoben sich nach und nach, wirkten dabei wie eine betäubte Masse. Tyson positionierte das Kind so, dass es die Arme um seinen Hals schlingen konnte. Etwas zaghaft legte es die Hände um seinen Nacken und bettete müde seinen Kopf auf seine Schulter. Er wusste nicht, woher diese scheu auf einmal wieder kam, vielleicht weil sich Kai für seine misslungene Aktion schämte.

„Die Sonne ist weg…“, murmelte das Kind vor sich her.

„Was sagt er da?“, wollte Ray irritiert wissen, doch Tyson schüttelte nur den Kopf.

„Vergiss es. Der Kleine steht neben sich.“

Galux dirigierte die Gruppe derweil vom See hinunter. Sie kletterten die steile Anhöhe wieder hinauf, durchmaßen die holprige Kammer, jener Ort, der für zwei ihrer Bit Beasts zum Grab geworden war. Dabei passierten sie den Leichnam von Dragoon. Aller Blicke hefteten sich auf die gigantische Gestalt des Drachen. Keiner von ihnen sprach auch nur ein gehässiges Wort, denn irgendwie schien sie dieser Anblick alle samt traurig zu stimmen. Es war wie ein Kindheitstraum den man zu Grabe trug – wie ein Denkmal an welchem man vorbeischritt.

Tyson spürte etwas aufkommen, was ihn stark an Nostalgie erinnerte. Noch immer strahlte Dragoons Haut. Er prägte sich jede Schuppe noch einmal ein. Die Umrisse, die scharfen Kanten, den massigen Kiefer, den er früher immer so bestaunt hatte. Wie stolz war Tyson einst darauf gewesen, dieses Wesen, seinen Partner nennen zu dürfen. Ein Drache kam ihm damals so mächtig vor. Gefährlich, mutig, unbezwingbar…

Und doch lag Dragoon nun hier. Er seufzte schwer, als sie an dem Bit Beat vorbei waren. Da spürte er die zarten Kinderfinger von Kai seine Wange leicht streifen. Als er einen Blick zu ihm warf, schaute der Junge ihn drängend an.

„Es tut mir so leid.“, sprach er geradezu betroffen. Seine Augen wirkten verklärt.

„Du meinst unseren Streit auf dem See?“

„Ja.“

„Schon okay. Vielleicht habe ich wirklich zu oft mit dir geschimpft.“

„Nicht dieser Streit!“, krächzte das Kind mit heißerer Stimme. Irritiert blinzelte Tyson auf ihn herab. Er sah Kai erschöpft die Augen reiben, sein Gesicht verzog sich gequält, dann legte das Kind seine Hand auf die Stirn, als habe es Kopfschmerzen.

„Es tut mir leid. Ich will nie wieder so gemein sein…“

Tyson tätschelte dem Jungen aufmunternd den Rücken, begriff aber nicht, was ihn so aufwühlte. Er ließ den Kopf wieder auf seine Schulter sinken und murmelte wie im Fieberwahn vor sich her. Da riss Allegro aller Aufmerksamkeit auf sich. Die Strommaus sprang von Rays Schulter herab, auf einen höher liegenden Felsen und fragte: „Mademoiselle, ist es tatsächlich wahr, dass wir nicht mehr lange bis zur Menschenwelt brauchen?“

„Wie ich bereits erwähnte, sind es nur noch wenige Meter.“

Die Strommaus seufzte und wandte sich daraufhin der Gruppe zu.

„Dann werden sich von hier aus unsere Wege wohl trennen.“

Einen Moment kehrte entsetztes Schweigen ein. Der Satz schlug ein wie eine Bombe. Alle blickten betroffen auf ihren kleinen Helden, der in den letzten Tagen doch so viel für sie riskiert hatte und sich nun einfach so verabschieden wollte.

„Das ist nicht dein ernst?“, brach Maxs Stimme fassungslos durch die Stille. „Ich dachte du kommst mit!“

„Das habe ich so nie behauptet.“

„Aber… Ich dachte das wäre selbsterklärend?“, fragte Ray irritiert.

„Leider nein.“

„Galux kommt doch auch mit uns! Wieso willst du nicht?“

„Das ist keine Frage des Wollens, sondern des Könnens.“, erklärte die Strommaus. „Mademoiselle besitzt ein Menschenkind. Ich dagegen leider nicht. Meine Sippe verwendet für gewöhnlich den Quellstrom, um in eure Welt zu gelangen. Der lässt allerdings nicht zu, dass wir uns dort frei bewegen. Wir treiben lediglich die elektrischen Geräte an und kehren auf direktem Weg wieder zurück nachhause. So hatte es meine gute Freundin Dizzy auch stets gehandhabt.“

„Dizzy hatte auch ein Menschenkind - Kenny!“

„Das war aber kein herkömmlicher Pakt, wie er bei der Elite üblich ist.“, mischte sich Galux in das Gespräch mit ein. „Dieser Pakt war unausgereift, weil die Strommaus durch den Quellstrom, ihr Menschenkind gefunden hat. Sie nahm unerlaubt Kontakt zu ihrem Jungen auf und das auch noch über jenes Medium, was sie eigentlich mit Energie versorgen sollte. Das war ein grober Tabubruch, der nur unbestraft blieb, weil es niemand sonderlich scherte, was eine kleine Strommaus treibt.“

„Mit Medium meinst du Kennys Laptop?“, wollte Ray wissen.

„Richtig.“, senkte Galux wissend ihre Lider. „Ich schätze, daher konnte sie das Medium, was sie bewohnte, auch niemals verlassen. Ein wahrer Pakt, lässt zu, dass sich das Bit Beast an der Energie des Kindes labt und sich in der Menschenwelt frei bewegt. Dazu muss es aber erst auf die Suche nach einem Kind gehen. Desto ähnlicher man sich ist, desto reiner ist die Energie, welche man von dem Menschen erhält.“

„Oder, um es zu versinnbildlichen… Ihr könnt den billigen Wein - der mit Wasser verdünnt ist - kaufen, oder auf das qualitativ reinere Exemplar zurückgreifen. Das eine bereitet euch Kopfschmerzen, dass andere nicht. So müsst ihr euch die passende Energie vorstellen. Das Finden eines Menschenkindes gleicht einer Weinprobe.“

Etwas perplex dachte Tyson über diesen Vergleich nach. Er hatte sich noch nie als eine Weinflasche gesehen. Irgendwie empfand er diesen Vergleich noch beleidigender als den mit der Steckdose. Dennoch warf er energisch ein: „Dann such dir einen Menschen! Du solltest mit uns kommen. Das hast du dir doch so gewünscht! Du wolltest die Menschenwelt so gerne einmal besuchen!“

Die Strommaus senkte traurig die Ohren und schnalzte bedauernd.

Auch er schien betrübt über diesen Abschied.

„Mein lieber Junge, sicherlich wünsche ich mir das, seit dem ersten Tag, an dem Dizzy mir von eurer Welt erzählte. Doch leider ist es ein Traum, der wohl nie für mich in Erfüllung gehen kann. Wir Strommäuse verfügen über zu wenig Energie, um lange genug in eurer Welt zu überleben. Wir sind wie ein kleiner Funken. So schnell wie er aufleuchtet, erlischt er auch wieder. Ich müsste schon sehr viel Glück haben, um gleich zu Anfang mein Menschenkind zu finden und die heilige Neujahrswende ist auch bald vorbei. Das bedeutet – keinerlei Energiezufuhr aus unserer Welt.“

Er hob hilflos die Ärmchen und sprach: „Selbst Dizzy war deshalb immer wieder gezwungen, des Nachts aus ihrem Medium zu schlüpfen und wieder zurück, in die Irrlichterwelt zu kommen, um sich dort aufzuladen. Es war ein Vorgang, den ihr Menschkind gar nicht mitbekommen hat, weil sie es immer dann tat, wenn er sie für einige Stunden entbehren konnte. Dabei blieb ihr nur der Quellstrom als Möglichkeit, um mit ihrem Kind in Kontakt zu bleiben.“

Tyson kaute auf seiner Unterlippe und dachte angestrengt nach. Dann rief er aus:

„Kenny hat kein Bit Beast mehr! Die Uralten haben Dizzy getötet! Wir könnten mit ihm reden und ihn bitten, dich an ihrer Stelle aufzunehmen. Es wäre zumindest ein kleiner Trost für ihn, wenn er schon ohne Bit Beast auskommen muss!“

„Pah, pah, pah!“, klopfte die Strommaus verärgert mit dem Fuß auf und Tyson sah auch Galux bedauernd über seine Unwissenheit den Kopf schütteln. Er musste wohl etwas ziemlich Dummes gesagt haben. „Mein guter Junge, das stellst du dir zu einfach vor! Ein Menschenkind kann sein Bit Beast nicht wechseln, wie ein paar gebrauchte Socken. Das ist eine Bindung die kompatibel sein muss. Die Seelen müssen fast gänzlich identisch sein. Deckungsgleich wenn du es so ausdrücken möchtest. Dieser Junge mochte zu Dizzy passen, doch das heißt noch lange nicht, dass das auch auf mich zutrifft.“

Ray schnaufte traurig und auch Max schien mit seinem Latein am Ende. Er zog ein ziemlich bekümmertes Gesicht. Sie alle tauschten verzweifelte Blicke aus. Tyson dachte darüber nach, wie Kai sein Bit Beast gegen Black Dranzer eingetauscht hatte. Zwar schien er dadurch an Kraft zugenommen zu haben, aber auch seelisch labiler gewesen zu sein. Womöglich aus diesem Grund?

Bit Beast und Seele des Bladers hatten nicht miteinander harmonisiert. Kai war nicht mehr in der Lage gewesen, Richtig von Falsch zu unterscheiden, als würde das Bit Beast ihn kontrollieren und nicht umgekehrt.

„Geh nicht weg…“, sprach der nun auch traurig. Es klang so kindlich, man meinte er bat seinen Vater, ihm beim ersten Schultag nicht von der Seite zu weichen. Allegro lächelte ihn aufmunternd an und sprach umso beruhigender:

„Aber, aber… Das ist doch nicht das Ende. Ich bin nicht aus der Welt, mein lieber Kleiner.“, dann wandte er sich an den Rest der Gruppe. „Immerhin kann ich behaupten, dass ich so weit gekommen bin, wie keine andere Strommaus vor mir! Das ist mehr als ich mir jemals erhoffen durfte. Ich denke, ich werde nun jedes Jahr die Neujahrswende nutzen, um für ein paar Stunden, über die Schwelle zu gehen und mir von hier aus, einen kleinen Einblick, in eure Welt zu gönnen. Doch für dieses Jahr ist es zu spät… Das Tor schließt sich bald und ich sollte dann nicht auf eurer Seite der Welt sein, wenn die Schotten geschlossen werden. Ich möchte ungerne elendig an Energieverlust verdursten, bis ich das nächste Schlupfloch in die Heimat erreiche.“

„Du wirst uns fehlen.“, sprach Ray ziemlich enttäuscht. Er beugte sich über die kleine Strommaus herab. „Das ist wirklich ein bitterer Abschied. Ich wünschte du könntest bei uns bleiben.“

„Ich auch. Aber wir müssen der Tatsache wohl ins unschöne Antlitz schauen.“

„Bitte komm wirklich jedes Jahr hier her. Wir werden dich dann besuchen.“, bat Tyson. „Vielleicht könnten wir auch mit einigen Freunden eine Tour hier hermachen, die noch keine Bit Beasts besitzen. Dann findet sich vielleicht jemand für dich!“

„Oh, nun. Das wäre eine feine Sache…“

Allein der Gedanke schien Allegro hoffen zu lassen.

„Wirst du den Weg zurück denn alleine schaffen?“

„Hmm… Ich denke schon. Mademoiselle Galux war eine hervorragende Lehrerin, was das Wittern der Wege betrifft und ich habe aufmerksam zugeschaut. Den Geistern bin ich ohnehin egal.“

„Du hast keine Ahnung, wie dankbar wir dir sind!“, sprach Tyson traurig. „Wir schulden dir so viel. Wenn wir dich nicht gefunden hätten… Du bist der Grund, weshalb wir wahrscheinlich noch leben.“

„Oh weh… Bitte hört auf damit. Mit meiner Selbstbeherrschung geht es immer weiter abwärts.“, Allegro rieb sich mit dem Handrücken über die Augen und seine Stimme klang ziemlich belegt. „Immerhin kann ich sagen, in euch einige wunderbare Freunde gefunden zu haben. Das ist etwas, das wird uns niemand so leicht nehmen.“

Plötzlich schallte ein lautes Poltern zu ihnen, was sie alle zusammenzucken ließ. Die Gruppe drehte sich um, denn das Geräusch klang, als würde etwas hinter ihnen umgewälzt werden. Zunächst konnte Tyson nicht erkennen, was sich hinter ihnen abspielte, da hörte er Galuxs heißere Stimme.

„Es ist soweit!“

„Was meinst du?“, fragte Max.

„Na was schon, meine Herren!“, rief Allegro hektisch aus. „Diese Pforte schließt sich!“

Er tat einige unwirsche Handbewegungen, als würde er sie verscheuchen wollen.

„Es ist nun aller höchste Zeit. Geht! Geht! Wir habe schon viel zu lange getrödelt!“

„Du kommst jedes Halloween hier her! Versprichst du das?“, rief Tyson aus.

„Das tue ich.“

„Vergiss uns nicht!“, bat ihn Ray.

„Natürlich nicht! Wie könnte ich solch hochinteressante Personen wie euch vergessen? Und nun geht. Lauft! So schnell ihr könnt, meine Herren!“

Der Geräuschpegel wurde lauter. Es klang, als würde etwas ziemlich wuchtiges, direkt in ihre Richtung geschoben werden. Wie eine Wand, hinter der sich viele Menschen positioniert hatten, um sie mit vereinten Kräften vorwärtszudrücken.

„Folgt mir!“, Galux lief voraus. Nur schwer fand die Gruppe die Muße sich abzuwenden. Es kostete sie reichlich Überwindung, ihren kleinen Begleiter zurückzulassen.

„Leb wohl, Allegro!“, rief Kai noch einmal von Tysons Schulter aus. Er spürte dass der Junge dem Mäuserich zuwinkte.

„Auf Wiedersehen, mein kleines Menschlein. Und halte dich in Zukunft von zugefrorenen Seen fern!“

Es war das letzte was sie von der Strommaus hörten…

Galux dirigierte die Gruppe zwischen einer Ansammlung Stalagmiten hindurch, die von einer glänzenden Schicht aus Eis überzogen waren. Sie ragten von unten spitz herauf, wie eine gefährliche Speerfalle. Als der Glanz ihrer Begleiterin die Eisfläche traf, reflektierten diese ihr Licht, wie ein Spiegel. Die Jungen bahnten sich ihren Weg hindurch und als sie die dahinterliegende Felswand erreichten, erkannten sie einen weiteren Stollen. Tyson unterdrückte ein gequältes Stöhnen. Die weite Kammer empfand er als weitaus angenehmer, als die Enge der Verästelungen, die zu ihr geführt hatten. Während seinem Sprint, drehte er sich noch einmal zu Allegro um und erspähte seine hüpfende Gestalt. Doch eine Sekunde später wurde sein Licht von einer schwarzen Decke verschluckt.

„Was ist das?“, wollte Tyson wissen.

„Die Grauzone wird nun gänzlich Schwarz.“

„Und Allegro?! Wo ist er hin?“

„Dem Mäuserich geht es gut. Er steht nun lediglich hinter der Tür.“, erklärte Galux hastig während ihrem Spurt. „Doch solltest du weiterhin deine Zeit damit verschwenden, ihn zu beobachten, anstatt angestrengt zu rennen, wirst du ihm bald Gesellschaft leisten!“

Zunächst begriff Tyson nicht, was Galux damit meinte, bis er einen weiteren Blick hinter sich warf. Die Stalagmiten, die zuvor noch so hell hinter ihnen geleuchtet hatten, wurden nach und nach von der Düsternis umhüllt. Als würde sich ein pechschwarzer Vorhang über sie stülpen. Die Finsternis fraß sich vorwärts, drohte ihren Stollen zu erreichen.

Reihe für Reihe…

Tropfstein für Tropfstein…

Bis Tyson gar nichts mehr von der Kammer hinter ihnen erspähen konnte. Womöglich spielten ihm seine Augen einen Streich, doch ihm war, als wäre dort wirklich nichts mehr. Das laute Poltern kam näher. Es erinnerte ihn an ein Schiff das in einen Hafen einlief. Ein innerer Instinkt sagte ihm, dass er gar nicht wissen wollte, was passierte, wenn der schwarze Mantel sie einholte. Die Gruppe schlitterte den Stollen vorwärts. Jeder von ihnen hatte Mühe, nicht auszurutschen, das machte sie langsamer. Dennoch tauchte irgendwann vor ihnen eine neue Öffnung auf, wie das hellerleuchtete Ende eines Rohres und dahinter kam eine weitere Kammer zum Vorschein. Tyson meinte das flackernde Licht von elektrischen Lampen zu erkennen.

Dieser Gang war glücklicherweise kürzer, als die anderen zuvor. Zuerst schaffte es Galux in die nächste Kammer. Prompt änderte sich vor ihnen ihr Erscheinungsbild. Plötzlich besaß sie kaum noch Konturen, sondern wurde zu einer durchsichtigen, vagen Gestalt. Kurz darauf rannte einer, nach dem anderen, durch die Öffnung – bis Tyson an die Reihe kam.

Sobald er hindurch gehuscht war, zog Kais Gewicht ihn rapide hinab, als habe er dutzende von Kilogramm zugelegt. Er japste überrascht nach Luft, als sie beide zu Boden stürzten und er im freien Fall, mit dem Schädel voraus gegen dessen Kopf prallte. Ungeschickt landete er auf Kais Brustkorb, der ihm viel größer vorkam, als noch vor wenigen Sekunden. Er hatte zuvor seine Hand schützend auf dessen Hinterkopf gelegt, nun kam ihm der Schädel zwischen seinen Fingern aber viel größer vor. Ein finales „Rumms!“ war hinter ihnen zu vernehmen. Es klang geradezu endgültig. Als Tyson stöhnend den Kopf hob, erspähte er unter sich Kais Gesicht. Es war gealtert.

Einfach so…

Von einem Wimpernschlag auf den nächsten.

Es verschlug Tyson den Atem. Er war lediglich in der Lage auf ihn herab zu starren, fühlte die hektischen Atemzüge des Brustkorbes, der sich unter seinem eigenen Körper hob und senkte, schaute auf die blasse Haut, das dichte Haar, was sonderbarerweise an Kais Stirn immer viel heller war, als die restliche Partie in seinem Nacken. Sein geweiteter Blick heftete sich auf die Lippen, die sich ob der unsanften Landung gequält verzogen hatten, auf die Augen, deren Lider sich zuckend zu öffnen begannen. Kurz darauf erhaschte er die dunklen Iriden darunter, deren rötliche Note, im fahlen Licht der Kammer, kaum zu erahnen war, sogar eher an ein dunkles Violett erinnerten.

Das war Tyson noch nie aufgefallen…

Kai öffnete die Augen vollends, schaute zu ihm auf.

Immer wieder senkten sich dessen Lider, als verstünde er nicht, weshalb er ihn so verdattert anstarrte. Dann fuhren seine Finger vorsichtig zu seiner Unterlippe, wo ihn Tysons Stirn, bei ihrem unerwarteten Sturz, offensichtlich getroffen hatte. Sie war leicht aufgeplatzt.

Diese ganzen Eindrücke gewann Tyson innerhalb von wenigen Sekunden. Ihm kam es aber wie eine Ewigkeit vor. Dabei fühlte er ein verrücktes Prickeln in seinem Magen, was ihn schier in den Wahnsinn trieb, während seine Haut von einer heftigen Gänsehaut befallen wurde. Kais erwachsenem Selbst so nah zu sein, löste ein Wechselbad der Gefühle in ihm aus. Erst als er die Jubelrufe von seinen Freunden dicht an seinem Ohr vernahm, setzte er sich ruckartig auf, um nicht ihren Verdacht zu erregen. Er rutschte eiligst auf dem Hosenboden von Kai weg, wie von einer Feuerstelle, an welcher er sich drohte, die Füße zu verbrennen – einfach um Abstand zu gewinnen.

Da spürte er auch schon Maxs Hände, die unter seine Achseln griffen, um ihm überschwänglich aufzuhelfen. Es ließ ihn stolpernd auf den Füßen aufkommen.

„Wir haben es geschafft! Tyson, sieh uns an!“

Es gelang ihm nur mäßig, seinen Blick von Kai abzuwenden und seinem Freund die Aufmerksamkeit zu schenken, nach der er in seiner Euphorie verlangte. Der musterte Tyson eingehend, klopfte ihn an den Seiten ab.

„Wir sind wieder erwachsen! Du auch! Und schau doch!“

Max spreizte die Arme vor ihm aus, als wolle er sich präsentieren. Er trug erneut seine dunkelblaue Levis Jeans, welche er vor ihrem Eintritt in die Irrlichterwelt angehabt hatte, mit einem grauen Pullover darüber und einem Schal um den Hals, der ein kariertes Muster aufwies. Sein Gesicht war nun wieder jenes eines jungen Mannes, die kindlichen Züge fast gänzlich verpufft. Seine tiefblauen Augen sprühten förmlich vor Erleichterung, in ihren Winkeln erblickte Tyson die verräterischen Anzeichen von Freudentränen. Als er von ihm wegschaute und sein Blick zu Ray irrte, tastete der verdattert die kalte Wand hinter ihnen ab. Überrascht stellt Tyson fest, dass der Stollen fort war, als hätte es ihn an dieser Stelle nie gegeben. Rays Finger fuhren über die kantigen Felsen, als fürchtete er, es könne nicht dabei bleiben, bis er – offensichtlich mutiger geworden – der Wand einen Tritt verpasste, um sie auf ihre Festigkeit zu prüfen. Doch es blieb dabei. Der Stollen war weg…

„Da ist nichts mehr.“, sprach Ray. Es klang fast schon ehrfurchtsvoll.

„Dieser Pfad ist verschlossen. Das nächste Jahr wird ihn kein Mensch mehr finden, erst recht nicht, wenn er nicht die Sinne dafür besitzt.“, sprach Galux ruhig.

Als Ray sich zu ihnen umwandte, strahlten seine hellen Augen und auch Tyson musste breit grinsen bei dessen Anblick. Sein langer Pferdeschwanz hatte an Länge eingebüßt. Genau wie bei Max, trug auch er wieder seine alte Kleidung. Doch entgegen dem eher lässigen Stil seiner Freunde, hatte er einen langärmligen Tang-Anzug an, die er schon immer bevorzugte, da Ray mit Vorliebe seinen Traditionen treu blieb. Auf das blattgrüne Oberteil, war mit kunstvoll, vergoldeten Fäden, ein Tiger aufgestickt, während der sichtbare Innenstoff der gekrempelten Ärmel weiß war, passend zu den Unterhemden, die man für gewöhnlich dazu trug.

Tyson blickte auf seine eigenen Hände herab.

Sie waren die eines Mannes, strotzen nur so vor Kraft, nicht mehr jene eines pubertierenden Jugendlichen. Er besaß leichte Schwielen von seiner Arbeit in der Werkstatt, die ihn aber noch nie sonderlich gestört hatten. Selbst ihre aufgeregten Stimmen schallten reifer durch die Kammer, waren wieder dunkler und tiefer. Er tastete erstaunt seinen Brustkorb ab, als könne er selbst nicht glauben, dass dort wieder seine dunkle Jacke, mit dem Pullover darunter war. Er hüpfte auf der Stelle, beobachtete seine großen Sportschuhe dabei, weil sein Verstand noch nicht begriff, dass er wieder viel größer war. Der Abstand zum Boden kam ihm auf einmal so viel weiter vor. Nach vier Tagen in der Irrlichterwelt als Jugendlicher, musste er sich wieder umgewöhnen. Wenn er sich ausstreckte, konnte er sogar problemlos die Decke berühren.

Er atmete voller Erleichterung aus, dennoch heftete sich sein Blick wieder schnell an Kai. Der hatte sich mittlerweile aufgesetzt, starrte wie gebannt auf seine Hände, drehte sie immer wieder von einer, auf die andere Seite, schloss und öffnete die Finger. Schließlich begann er verwundert die Linien auf seiner Handfläche nachzuzeichnen. Tyson beobachte ihn dabei, sah einen kleinen Spalt zwischen seinen Lippen aufkommen, als wäre auch Kai vollkommen überrascht, ob seiner plötzlichen Verwandlung. Dessen Garderobe war schon immer recht dunkel gewesen. Tyson konnte sich nicht daran erinnern, ihn jemals mit farbenfrohen Oberteilen gesehen zu haben. Er trug ein weißes, langärmliges Hemd, was bis zu den Ellbogen hochgekrempelt war, darüber eine hellgraue Weste. Er war noch relativ formell gekleidet, offensichtlich weil Dranzer ihn aufgegriffen hatte, kurz nachdem er von der Arbeit gekommen war und er im Krankenhaus noch keinen Patientenkittel bekommen hatte.

Vorsichtig stemmte Kai sich auf, seine dunkle Hose wies leichte Schneespuren vom Boden auf. Tyson trat eilig an ihn heran, als er sah, wie unsicher er auf den Beinen stand. Er glich einem wackligen Fohlen, das erst Laufen lernte. Was sich hier abspielte, musste für den Jungen, der er kurz zuvor noch gewesen war, unbegreiflich sein. Kai war ein Kind, gefangen im Körper eines Mannes. Mit dieser Überlegung stand Tyson nicht alleine da. Sobald er den Oberkörper helfend unter den Arm seines Freundes geschoben hatte, um ihn zu stützen, trat Ray auf sie beide zu.

„Wie geht es dir?“, wollte er wissen. Sein Kopf senkte sich, um besser ins Gesicht ihres Freundes schauen zu können, den er mit zunehmenden Alter überragt hatte. Der öffnete die Lippen, Kais Augen huschten verwirrt umher, tasteten ihre Umgebung ab. Doch er war unfähig zu sprechen.

„Das muss für dich seltsam sein, nicht?“

Er nickte – es wirkte geradezu starr.

Seine Freunde bildeten einen Kreis um ihn.

„Das legt sich. Wir sind hier.“

„Ich verstehe eure Euphorie, doch sollten wir nicht allzu lange hier verweilen.“, erklärte Galux. Sie hatte stillschweigend der Gruppe ihren Glücksmoment gelassen, doch schien des Wartens nun Leid. „Ich habe meiner Mao gegenüber noch ein Versprechen zu erfüllen. Bitte, lasst uns nun zu ihr gehen.“

Tyson schaute sich etwas unbeholfen in der Höhle um. Dieser Teil davon war noch weitaus stärker vereist, als der andere, doch der Einfluss von Menschen, auf die Natur, war hier endlich sichtbar. Mehrere Abzweigungen stoben in verschiedene Richtungen, manche von ihnen waren mit einem Zaun abgesperrt, andere führten mit Treppen auf oder abwärts. Selbst Lampen waren über ihnen befestigt. Der Eingang zur Irrlichterwelt führte tatsächlich durch ein Abteil der Fugaku Windhöhle, der von Besuchern regelmäßig besucht wurde – und doch hatte es niemand bemerkt. Allerdings konnte jeder Weg hier unten, sie vom Ausgang weiter weg führen.

„Weiß jemand von euch noch, wie wir vor ein paar Jahren hier herausgekommen sind?“, fragte Tyson etwas peinlich berührt.

„Keine Ahnung.“, zuckte Max ratlos mit den Schultern. „Du Ray?“

„Die Höhle ist recht groß.“, biss der sich auf die Unterlippe. „Und wir hatten einen Fremdenführer. Ich war mehr damit beschäftigt Fotos zu schießen, als mir den Weg zu merken.“

„Na toll - Ihr seid ja witzig! Soll das heißen wir gehen jetzt hier unten bei der Kälte drauf, weil keiner von euch sich den beknackten Weg gemerkt hat?“, wollte Tyson aufgebracht wissen.

„Du hättest ihn dir genauso merken können!“, kam die schnippische Entgegnung zurück.

Plötzlich streckte Kai seinen Armen aus. Er deutete aus trüben Blick auf einen Gang, dessen Boden mit Rutschmatten ausgelegt worden war, um den Besuchern der Höhle mehr Schutz beim Aufstieg zu bieten.

„Da entlang.“, murmelte er leise. Einen Moment wurde es Mucks Mäuschen still. Allen stockte der Atem. Sie starrten auf Kai, dessen Augen verklärt wirkten, dennoch deutete er zielstrebig auf den Weg. Schließlich räusperte sich Max, kam Kai etwas näher und fragte mit einem freundlichen Lächeln: „Bist du sicher? Woher weißt du das so genau?“

Lange Zeit kam keine Antwort. Dann sprach er wie in Trance:

„Weil ich dort ein Mädchen namens Hilary auf den Hintern fallen sehe.“
 

*
 

Inspektor Kato warf seine braune, abgewetzte Lederjacke über seine Stuhllehne, als er nach langem, endlich wieder im Büro eintraf. Der heutige Tag war wahrhaft scheußlich gewesen. Seit den frühen Morgenstunden rannte er, wie ein gedoptes Frettchen, durch die Straßen Tokyos und schlitterte von einem Dilemma ins Nächste.

Er wusste gar nicht, an welches Problem er zuerst herangehen sollte. Sein eigentlicher Fall war doch schließlich der vermeintliche Mordversuch an Mr. Kinomiya Senior. Als er den anonymen Anruf aus der Nachbarschaft erhielt, hatte er angenommen, dass das nur das leidige Geschwätz von zänkischen Hausfrauen war. Die ältere Dame hatte sich recht streitsüchtig am Telefon angehört und es hätte Inspektor Kato nicht gewundert, wenn sie mit dem Besitzer des Dojos auf Kriegsfuß stand. Er vermutete, dass er diese Sache schnell abhacken könnte, er aber der formhalber ihr Anliegen zumindest anhören musste. Als der Inspektor die alte Dame befragte, sprach sie davon, dass die Familie Kinomiya ein schrecklich lauter Haufen sei, ständig ein reges Treiben dort herrschte und brüskierte sich darüber, dass die Liebschaften des jüngsten Enkels sich die Klinke in die Hand gaben.

„Sie hätten ihn mal erleben sollen, als er noch in dieser komischen Mannschaft war.“, hatte der Inspektor das eingefallene Gesicht der Nachbarin noch vor Augen. Ihre grauen Strähnen waren zu einem strengen Dutt gebunden, während ihre buschigen Brauen in sämtliche Richtungen abzustehen schienen. Um ihre Mundwinkel lagen tiefe Falten, während unter ihren Augen dicke Tränensäcke, bei jeder Bewegung wippten. Sie besaß ein unansehnliches Muttermal am Kinn, aus dem zwei Härchen sprossen und er hatte Mühe, ihr wirklich vorzugaukeln, dass er ihre Aussage ernst nahm. Ihm schien es mehr, als würde die Frau einen langangestauten Groll ablassen.

„Als Takao noch jung war, gingen seine Freunde in dem Haus ein und aus. Ständig hat man das Geplapper gehört und selbst nachts gaben die Bälger keine Ruhe. Ich musste immer mal wieder einen Schrei fahren lassen, dass diese Rüppel doch endlich mal die Klappe halten sollen! Es gibt Leute die müssen schließlich noch arbeiten. Da hat Takao aber immer nur herüber gerufen, dass ich ihn mal gerne haben könne – und dass ich ein ekelhafter Besen sei! Eine bodenlose Unverschämtheit ist das, aber der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm! Ich kenne seinen Großvater seit wir zusammen zur Schule gegangen sind. Der war genauso ein vorlautes Großmaul!“

Ihre Augen blitzten zornig. Inspektor Kato hatte dagegen nur gehofft, dass sie endlich mal zum Punkt kam.

„Dann waren da noch diese albernen Spielzeuge! Sie wissen schon, diese merkwürdigen Kreisel - die haben einen Radau gemacht, sage ich ihnen! Ständig ist bei denen dort drüben etwas zu Bruch gegangen. Einer seiner Freunde hat mal meine Scheibe kaputtgemacht. So ein kleiner Rotschopf. Hat sich aufgeführt wie ein Wilder. Als Takao durch diese affige Sportart auch noch Weltmeister geworden ist, hörte der Besucherstrom gar nicht mehr auf. Immer tauchten irgendwelche komisch gekleideten Gestalten in unserer schönen Gegend auf. Zustände wie in Mexiko, sag ich ihnen - wie bei einem Bandenkrieg!“

Inspektor Kato hätte beinahe mit den Augen gerollt und fragte sich an dieser Stelle, ob die gute Frau jemals in Mexiko gewesen sei, um solche Vergleiche ziehen zu können. Sie machte den Eindruck, als wäre sie noch nie aus ihrem Viertel herausgekommen.

„Da war sogar mal ein Junge, mit wilden schwarzen Haaren, stechend grünen Augen und einer einzelnen roten Strähne, die aus diesem Vogelnest - was sich Frisur schimpft – hervorstand. Ich denke, das war ein Okkultist! Diesen Punk hätten sie mal erleben sollen! Grässlich schaute der aus und nicht einmal ordentlich gekleidet war der Junge. Wo sind die hübschen Schuluniformen von früher hin? Ich verstehe nicht, was gegen einfache Knickerbockerhosen und Hemdchen spricht! Dieser Punk hat mich mehr an diese lächerlichen Spielzeugpuppen aus den Sechzigern erinnert. Die mit den hochstehenden, knallbunten Haaren, ja wie hießen die denn gleich noch mal?“

„Sie meinen die Zaubertrolle?“, kam es monoton von Kato.

„Ja, genau die! Und frech war der Bursche! Hat mir geradezu befohlen, ich solle Takao ausrichten, Ozuma sei da gewesen. Er wolle ihn zu einem Match herausfordern. Lächerlich! Ich habe ihm gesagt, einen feuchten Dreck würde ich ausrichten und ich würde die Polizei anrufen, wenn er weiterhin, über anderer Leute Grundstücksmauern gesprungen kommt, anstatt wie ein anständiger Mensch die Klingel zu benutzen! Ja ist das hier ein Urwald?! Ich lasse mich doch nicht von einem Punk einschüchtern! Hab dem Lümmel dann meinen Pantoffel hinterhergeworfen!“

Inspektor Kato wäre wahrscheinlich noch bis zum nächsten Morgen dort gestanden, hätte er die alte Dame nicht irgendwann verärgert abgewürgt, um zu jenem Vorfall zurück zu kommen, weshalb er überhaupt die Befragung durchnahm. Er hatte das ganze hier tatsächlich für einen unnötigen Einsatz gehalten, doch leider bestätigte ihm die restliche Nachbarschaft ebenfalls, dass es wirklich zu einem Streit gekommen war, kurz bevor der alte Mann vom Krankenwagen abgetragen wurde. Einer seiner Freunde sei vorher mit einer jungen Frau aus dem Anwesen spaziert, die hochschwanger gewesen war, während der alte Herr zeterte, dass Takao und seine Gruppe doch weich in der Birne wären. Einige beschrieben allerdings die Familie als von Natur aus „äußerst lebhaft“. Abgesehen von dem zänkischen Weib, hatten sich die verbliebenen Nachbarn, auch eher vorsichtiger ausgedrückt, ganz so, als wolle man den Kinomiyas nichts anlasten. Das war durchaus normal, denn die meisten Leute behielten im Hinterkopf, dass sie mit diesen Menschen in ihrer Nachbarschaft, noch weiterhin zusammen leben müssten. Die wenigstens waren so unvorsichtig wie seine Tippgeberin und er wäre froh gewesen, wenn die übrigen Nachbarn, ihre Aussage, dementiert hätten. Zum jetzigen Zeitpunkt waren die Zufälle aber einfach zu groß. Streitereien durfte es in den besten Familien geben, das stand außer Frage, nur landete für gewöhnlich nicht jemand gleich danach im Krankenhaus – mehr tot als lebendig wohlbemerkt.

Dass die Kinomiyas problematisch waren, konnte Kato immerhin nun auch bestätigen.

Allein die Enkel waren ein Trauerspiel…

Dort wo der Jüngste auftauchte, herrschte Mord und Totschlag, immerhin war kurz nach seiner Ankunft im Hiwatari Anwesen, dass Haus abgebrannt. Nachdem die Gruppe aus dem Krankenhaus verschwand, war eine Pflegerin schwer entstellt aufgefunden worden, während der Großvater, mit der Schwester des Hiwatari Oberhauptes, das Weite gesucht hatte. Kato war aus allen Wolken gefallen, als er kürzlich durch die Videoaufnahmen entdeckte, wie der alte Mann aus dem Gebäude hinausspazierte – ganz zu schweigen in welchen quicklebendigen Zustand er zu sein schien. Er wusste mittlerweile auch, wann Takao, mit seinen Freunden, das Krankenhaus verlassen hatte, aber seitdem war der Junge untergetaucht. Ihm ging einfach nicht in den Kopf, warum die Gruppe verschwinden sollte, wenn sie nichts zu verbergen hatte.

Prompt danach, mischte sich der älteste Enkel bei der Suche ein und gab einer eifrigen Reporterin, einen so ungeschickten Schubs, dass sie vor ein Auto geriet und überrollt wurde. Eigentlich tat ihm dieser bedauernswerte Tropf Leid, denn er wäre gar nicht in die Geschichte verwickelt worden, hätte Kato ihn nicht auf die familiären Probleme hingewiesen.

Er hatte sich doch nur erhofft, dass ihn der älteste Enkel zu seinem Bruder führte.

Einen so tragischen Zwischenfall konnte doch niemand vorhersehen...

Das Erdbeben war dann nur noch der Gipfel des Eisberges gewesen. Die Telefone klingelten daraufhin ununterbrochen. Kato nahm einen Moment schnaufend an seinem Schreibtisch Platz und schob die oberste Schublade, des angelehnten Rollcontainers auf. Dort lag eine Schachtel Zigaretten, gleich daneben eine Schachtel Nikotinpflaster. Seine Hand schwebte unschlüssig zwischen den beiden Packungen hin und her. Kurz darauf huschte sein Blick auf das Familienfoto, was in einem schlichten Rahmen, auf der Schreibtischkante stand. Das Abbild seiner Frau schien ihn vorwurfsvoll zu beobachten.

„Du hast es ihr versprochen!“, schoss es ihm durch den Sinn.

Er gab einen grunzenden Laut von sich, griff zu den Pflastern und schob zähneknirschend die Schublade wieder zu. Gerade als der Inspektor dabei war, den Klebestreifen aus der flachen Verpackung zu fingern, rief einer der jüngeren Polizisten ihm zu, dass der Anwalt von Hitoshi Kinomiya eingetroffen sei.

„Jetzt schon? Ihr habt doch gesagt, der Kerl hätte noch nicht einmal telefoniert!“

„Er meinte, er komme im Auftrag von Kinomiyas Verlobten.“

Der Inspektor stöhnte entnervt. Allein an der Aufmachung der jungen Frau, hatte er erkannt, dass sie aus wohlhabendem Hause kam. Es gab nichts schlimmeres, als die Anwälte, von kleinen verzogenen Firmentöchtern. Er riss schnaubend die Schublade wieder auf und packte nach der Zigarettenschachtel, kurz danach beugte er sich zum Foto herab:

„Entschuldige Liebling, aber dieser Tag ist einfach zum Kotzen.“
 

Etwas später hob Hitoshi Kinomiya verwundert den Kopf, als die vergitterte Tür geräuschvoll aufgeschlossen und sein Name gerufen wurde. Eigentlich hatte er erwartet, die ganze Nacht hier verbringen zu müssen und darüber sinniert, wie es für ihn jetzt weitergehen sollte. Ihm war klar, dass er einen freien Anruf hatte, doch der war bisher ungenutzt geblieben. Umso erstaunter war er deshalb, als ihm mitgeteilt wurde, dass sein Anwalt eingetroffen sei. Er hatte nicht erwartet, so schnell einen Pflichtverteidiger zu bekommen, umso grantiger wurde er, als der seriös gekleidete Mann vor ihm sagte, im Auftrag von Hana zu kommen.

„Ich habe ihr gesagt, ich will die Hilfe von ihrem Vater nicht!“

„Deshalb hat auch sie mich beauftragt, nicht ihr Vater. Ich bin ein Studienfreund von ihr.“, das erklärte weshalb er so jung war. Hiro hatte schon eine spitze Bemerkung auf der Zunge, dass er sich erst einmal die Eierschalen hinter den Ohren abkratzen sollte, da sprach sein Verteidiger: „Übrigens, wir beide kennen uns auch.“

„Wir? Das wüsste ich…“, meinte er ungläubig.

„Du kannst dich nicht mehr an den Typen erinnern, der dir eine reingehauen hat, weil du mit seiner Freundin geschlafen hast?“

Stille…

Hiro blinzelte ihn mehrmals an. Dann huschten seine Augen peinlich berührt nach oben, als er erkannte, dass er Hanas Ex vor sich hatte.

„Hups.“

„Ja. Hups.“

„Benjiro, richtig?“

„Schön dass du das wenigstens noch weißt.“

„Jah… Tut mir leid dafür.“, Hiro räusperte sich, um über die unangenehme Situation hinwegzutäuschen. „Obwohl ich mich fragen muss, wie du dazu kommst, gerade meinen Fall zu übernehmen. In Anbetracht unseres gemeinsamen Hintergrundes, bin ich doch verwundert.“

„Junge, du bist nicht der Einzige, der eine steile Karriere hingelegt hat.“, sprach sein gegenüber mit einem verächtlichen Augenrollen.

„Und jetzt bist du hier um mir das unter die Nase zu schmieren.“

„Es ist nicht der Hauptgrund, aber warum soll ich nicht auch meinen Spaß haben?“, er durchmaß die winzige Zelle auf seinem Weg zu ihm. „Auch wenn ich genau weiß, dass du kleiner, beschissener Angeber dich für einen ganz abgebrühten Kerl hältst. Nichtsdestotrotz wäre ich heute nicht hier, wenn ich nicht auch Typen wie dich vertreten würde. Ich bin professionell und das weiß Hana. Deshalb hat sie mich engagiert.“

Einen Moment verzog sich Hitoshis Miene angesäuert und er spürte einen Hauch von Eifersucht aufkommen. Ihm missfiel der Gedanke, dass seine Verlobte, mit ihrem früheren Liebhaber noch Kontakt hatte. Es gab doch gewiss auch andere seriöse Anwälte, stattdessen sollte ausgerechnet der Mann ihn verteidigen, dem er die Frau ausgespannt hatte. In seinem Kopf malte er sich die schlimmsten Szenarien aus. Sollte sich Benjiro aber an seiner Lage ergötzen, ließ er sich tatsächlich wenig anmerken. Vielmehr setzte er sich zu ihm auf die Pritsche und begann ihn sachlich über seine Rechte aufzuklären. Er schien überrascht, wie viel Hitoshi davon auch wusste, und noch mehr, als er erfuhr, von wie wenigen seiner Rechte er gebraucht gemacht hatte.

„Hiro, du bist doch nicht auf den Kopf gefallen.“, sprach Benjiro fachmännisch. „Es muss doch einen Grund geben, weshalb du noch nicht einmal nach einem Anwalt gefragt hast.“

Er blickte verbissen auf seine Finger bei diesem Satz, denn es gab einen Grund.

Hitoshi war schuldig. Daran ließ sich doch ohnehin nichts ändern. Er hatte Ming-Ming in den Tod gestürzt, egal ob Absicht, oder nicht. Anstatt zu antworten, fragte er:

„Wann hast du mit Hana gesprochen?“

„Vor circa einer Stunde. Ich war gerade beim Abendessen mit meiner Frau. Da ruft sie mich an, und meint, sie hätte einen dringenden Notfall und bräuchte einen Mann, der etwas von seinem Handwerk versteht.“

„Vor einer Stunde…“, wiederholte er nachdenklich. Unweigerlich fragte sich Hitoshi, ob sie schon etwas erreicht hatte. Als er in die Zelle kam, nahm man ihm bei der Leibesvisitation das Handy ab, daher besaß er keine Möglichkeit, mit seiner Verlobten noch zu sprechen. Inspektor Kato zeigte sich zuvor äußerst gnädig mit ihm und behielt ihn auf den Laufenden, was seinen Fortschritt über den Verbleib seiner Familie betraf, doch als das Erdbeben kam, hatten die Telefone hinter der Tür zum Polizeibüro, angefangen im Chor zu singen. Hitoshi war selbst erschrocken, als die Erde bedrohlich vibrierte und selbst seinen betrunkenen Leidensgenossen, hatte es von seiner Pritsche gehoben, der seinen Rausch anschließend auf dem Boden ausschlief. Draußen waren Sirenen zu hören gewesen und auch die Wärter, vor der Tür, waren im Angesicht dieser heftigen Katastrophe, nur hilflos auf die Knie gesunken.

„Geht es ihr gut?“, wollte Hitoshi besorgt wissen.

„Alles bestens. Mach dir keine Sorge. Sie ist zusammen mit einem Freund von dir, bei einem Hotel untergekommen und wartet darauf, dass die Behörden die Entwarnung geben.“

„Das man dich überhaupt zu mir gelassen hat. Ich hätte gemeint, dass man Momenten andere Probleme da draußen hat.“

„Ich bin überzeugend.“

„Wie ist die Lage da draußen.“

Benjiro schnaufte einmal. Es klang nicht verächtlich, sondern eher etwas erschöpft.

„Eingestürzte Häuser, einige umgekippte Bäume. Shibuya hat es meines Wissens nach etwas heftiger erwischt. Dort soll ein Teil des Metro Tunnels eingebrochen sein. Glücklicherweise führte keine Bahn in diesem Moment durch, aber für diejenigen, die nachhause kommen wollen, ist die Metro nun natürlich gestrichen. Du musst mit langen Wartezeiten rechnen und selbst dann weißt du nicht, ob der Zug wirklich kommt. Das Epizentrum liegt außerdem mehr außerhalb im Norden.“

„Wie schwer war das Beben?“

„Nicht so schlimm wie 2011, aber stärker als das Letzte. Die Leute sind daher ziemlich beunruhigt.“

„Es gab aber keinen Tsunami?“

„Doch, den gab es. Aber seit dem letzten schweren Beben, sind wir schlauer. Die Dämme haben gehalten.“, er klang recht unbekümmert, was Hitoshi als geradezu fahrlässig empfand. 2011 hatte sich Japan auch für gut gewappnet gehalten, bis ein Beben sie erreichte, dass in solchem Ausmaß, noch nie in ihrer Geschichte vorkam. Der Mensch konnte noch so sehr versuchen, die Natur zu zähmen, irgendwann fand sie einen Weg, um auszubrechen. Doch bald holte ihn Benjiro wieder aus seinen düsteren Überlegungen. „Vergiss nun erst einmal das Beben. Du hast andere Sachen die wir anpacken müssen.“

Er kramte in der Innentasche seines Anzuges nach einer Packung Zigaretten und hielt sie ihm hin. Hitoshi war zwar Gelegenheitsraucher, lehnte aber ab – doch Benjiro senkte die Packung nicht.

„Ich rauche wirklich selten.“

„Bei Stress?“

„Zum Beispiel.“

„Dann solltest du jetzt mal anfangen. Denn was ist stressiger, als eine Verhandlung, wegen fahrlässiger Tötung.“

Etwas genervt blickte Hiro zu ihm auf. Benjiro sprach es so provokativ aus, dass er sicher war, dass dieser Mistkerl ihm eins auswischen wollte. Da stutzte er jedoch. Sein Anwalt besaß schmale tiefschwarze Augen, die kurz zu dem Wärter huschten, der vor seiner Zelle schmiere stand. Dann hoben sich die Brauen von ihm auffordernd. Irritiert blinzelte er Benjiro an. Bisher hatte Hitoshi die Ellbogen auf seine Knie gestützt um nachdenklich seine Finger vor seinem Gesicht zu verhaken. Nun irrten auch seine Pupillen flüchtig zu dem Wärter, bevor er seine Haltung zögerlich löste und zu der Packung griff. Als er die Schachtel öffnete, erkannte er auf der Innenseite des Deckels ein paar Kanji Zeichen. Die Botschaft darin lautete:
 

„Großvater gefunden. Alles in Ordnung mit ihm. Morgen früh habe ich vielleicht deinen Bruder. Erkläre dir dann alles. Liebe dich, Hana.“
 

*
 

Tyson hatte lange mit sich gehadert, ob er Kai die entscheidende Frage stellen sollte, denn er wirkte eigentlich noch recht geistesabwesend. Manchmal blieb er einfach so stehen, blinzelte auf einen Punkt, wo doch nichts war außer kahler Felswand und schüttelte dann irritiert den Kopf, als müsse er einen hartnäckigen Gedanken verscheuchen. Es kam auch vor, dass er einfach die Augen fest zusammenpresste. Dann verstummte Kai gänzlich und ging leicht in die Knie, als müsse er sich sammeln. Die Gruppe ließ ihm dann stets die Zeit, welche er dafür brauchte, während Tyson seinen Griff um dessen Taille verstärkte, damit er nicht neben ihm zusammenklappte und mit hinabriss. Falls Kai seine Erinnerungen tatsächlich zurückbekam, war es allein verwunderlich, dass er Tyson gestatte ihn zu stützen. Er nahm sonst kaum Hilfe an.

Hinter ihnen war in der Zwischenzeit das Getuschel immer lauter geworden, weil Ray und Max sich insgeheim dieselbe Frage stellten. Man hörte gut vernehmbar ein:

„Fragst du?“

„Ich?“

„Ja.“

„Wieso nicht du?“

„Wieso ich?“

„Wieso immer ich?“

„Jetzt mach schon…“

„Nein! Stell dich nicht so an, jetzt mach du auch mal.“

„Stell du dich doch nicht so an!“

Tyson schnalzte missbilligend mit der Zunge. Diskretion war etwas anderes. Er schaute zu Kai, der das Getuschel hinter sich genau hörte, jedoch kein Kommentar dazu abgab, stattdessen mit steinernem Gesicht neben ihm herlief, bis Tyson das Wort an ihn richtete:

„Ich muss dich das jetzt fragen, bevor die beiden vor Neugierde platzen - Erinnerst du dich an etwas? Irgendetwas?“

Es wurde totenstill hinter ihnen, man konnte förmlich spüren, wie die hinteren Reihen ihre Ohren spitzten. Alle erwarteten Kais Antwort, während sie Schritt für Schritt voran gingen. Es brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis eine Regung von ihm kam. Er machte auf Tyson den Eindruck als wäre er in einem Schockzustand.

„Ich weiß nicht…“

Seine Stimme klang rau – und sehr leise.

Er wirkte komplett in sich versunken und schaute ihn nicht einmal an.

„Das vorhin mit Hilary hättest du nur wissen können, wenn du dich wieder erinnerst.“

Doch darauf sagte er nichts. Diese Wortkargheit kam Tyson leider beunruhigend bekannt vor. Ihm fiel ein, dass damit der kleine Junge, den er doch so gemocht hatte, mit Kais wiedererlangten Erinnerungen, für immer in den endlosen Tiefen seiner Seele begraben war. Dabei konnte Tyson sich nicht einmal richtig von ihm verabschieden. Als wäre nicht nur Allegro hinter der Wand zurückgeblieben, sondern auch sein kleiner Kater. Ihm war, als fühle er noch die Ärmchen, die sich hilfsbedürftig um seinen Hals legten, dass Köpfchen das sich vertrauensselig auf seine Schulter bettete.

Plötzlich hielt Kai wieder geschockt inne. Er fokussierte starr einen Punkt vor ihnen. Tyson bemerkte wie seine Pupillen begannen, hin und her zu huschen, als verfolgte er die Bewegungen einer Person, welche für ihre Augen verborgen war. Ziemlich irritiert blickte er ebenfalls voraus und hob seine Braue argwöhnisch an. Dort war nichts…

Lediglich eine Treppe führte hinauf. Ihre Stufen wirkten glatt, als wären sie vereist, die Rutschmatten waren äußerst unpräzise darauf drapiert worden. Tyson kam die Stelle bekannt vor.

„Was ist los?“, fragte er.

„Ich weiß nicht so genau…“

„Kai, irgendetwas ist doch? Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen!“

Er schüttelte sich unwillig, auf einmal kam ein Keuchen von ihm. Etwas fahrig trat er zwei Schritte zur Seite. Es kam so plötzlich, dass beide ins Wanken gerieten. Gleich darauf beobachtete Tyson, wie Kai seinen Blick langsam nach vorne schweifen ließ, als verfolgten seinen Augen jemanden, der sich seitlich an ihnen vorbeidrängte.

„Kai?“

Sein Gesicht schnellte zu ihm. Er riss sich auf einmal los.

„Wie… Wieso bist du hier?“, kam die entsetzte Antwort.

„Leute, mir gefällt das nicht!“, sprach Ray. „Halluziniert er?“

„Er sieht die Geister der Vergangenheit.“, entgegnete Galux auf einmal entschieden. Aller Blicke wandten sich ihr zu. Da fuhr sie auch schon fort. „Ganz offensichtlich kann sich der Junge noch sehr lebhaft an euren Besuch, in dieser Höhle erinnern. Er besitzt einen wachen Verstand, andernfalls kämen ihm wohl kaum sämtliche Bewegungsabläufe, von damals noch in den Sinn.“

Sie tippelte näher an Kai heran. Der beobachtete inzwischen wachsam die Treppe.

Auf einmal hob er erstaunt die Braue, als habe sich dort etwas Außergewöhnliches abgespielt.

„Bisher war sein Verstand eine versiegte Quelle. Etwas muss jedoch dafür gesorgt haben, dass sie wieder sprudelt. Ich kann euch leider nicht sagen, wie Dranzers Magie im Detail funktioniert, dass liegt außerhalb meines Verstandes, doch mir kommt es zumindest so vor, als sehe der Junge sein altes Leben an sich vorbeiziehen.“

„Der See!“, rief Tyson aus. Endlich begriff er was Kai in der Kammer gemeint hatte. „Als wir ihn aus dem See gefischt haben, sprach er von Gebirgen und Wäldern. Um den Baikalsee gab es welche!“

„Galux, was meinst du mit Geistern aus der Vergangenheit?“, fragte Ray. „Das klingt so dubios. Erinnert er sich jetzt, oder nicht?“

Das Bit Beast wiegte den Kopf unsicher hin und her.

„Es ist eine besondere Form des Erinnerns. Womöglich weil er auf ebenso besondere Weise seine Erinnerungen verloren hat. Hier war böse Magie am Werk, kein Unfall, der seinen Verstand durch eine Verletzung in Mitleidenschaft gezogen hat. Dranzer muss seine Erinnerungen förmlich verbrannt haben. Daher müssen sie wieder neu aufleben. Eine, nach der anderen. Wie der Phönix der seiner Asche entsteigt.“, sie bedachte Kai nachdenklich. „Ich kann euch nicht versprechen, dass sein Zustand bald nachlässt – doch sicherlich wird diese Phase irgendwann auch wieder vorbei sein. Wann, kann ich euch jedoch nicht sagen. Gebt seinem Verstand die Zeit, sämtliche Geschehnisse aus seiner Vergangenheit, wieder nachzuspielen. Ihr seid noch junge Menschen. Allzu viele Erinnerungen dürften es nicht sein.“

Die Gruppe blickte besorgt zu ihm. Tyson folgte Kais Blick, fuhr zu jenem Punkt, den er gerade so konzentriert fokussierte. Er dachte fieberhaft nach, was sich dort zugetragen hatte, dass es ihm so lebendig im Kopf hängen geblieben war, da klatschte er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.

Daichi war damals auch in der Höhle dabei. Er hatte sich ständig über die kalten Temperaturen beklagt, da er von der tropischen Insel, auf welcher er aufgewachsen war, derartiges nicht gewohnt war. Auch sein ehemaliger Partner hatte nicht die Weitsicht besessen, festes Schuhwerk zu verwenden, doch anders als bei Hilary, war das nicht aus sturer Eitelkeit passiert, sondern weil der Kleine einfach nicht wusste, was sie erwarten würde. Als Daichi also diesen Gang entlanglief, war er so mit seinem Gejammer beschäftigt gewesen, dass er nicht genug auf seine Schritte achtgab. Kurz vor der Treppe, geriet er heftig ins Straucheln und packte ausgerechnet nach Tysons Pferdeschwanz, um nicht rücklings umzustürzen. Allerdings half das wenig, stattdessen landeten beide auf dem Boden, während er selbst, Daichi am liebsten vor Wut erwürgt hätte.

„Dort bin ich gestürzt.“, sprach er.

„Wirklich?“, Max schaute fragend hinauf. Es war so lange her, dass manches einfach in Vergessenheit geraten war.

„Ja doch. Wegen Daichi!“

„Oh jah!“, meinte Ray nun mit einem angesäuerten Augenrollen, als es ihm ebenfalls wieder in den Sinn kam. „Ich musste dazwischen gehen, weil ihr euch beide bald geprügelt hättet!“
 

„Wer ist da?!“
 

Wie unter einem Peitschenhieb zuckte die Gruppe zusammen. Eine herrische Männerstimme schallte von oberhalb der Treppe zu ihnen herab. Ihr Echo hallte noch lange nach, bis sie die schweren Schritte von Stiefeln, auf gefrorenen Boden vernahmen. Der Lichtkegel einer Taschenlampe legte sich auf die Stufen und irgendwann wandte sich der Strahl, direkt in ihre Richtung. Tyson vernahm schnaufende Atemzüge. Wer immer hier herunterkam, er war nicht sonderlich gut in Form. Er hob die Hand, blinzelte irritiert hinein, bis der Mann das Licht senkte und er in das grantige Antlitz des örtlichen Fremdenführers blickte.

„Wo zum Geier kommt ihr denn her?!“, bellte er unfreundlich. Tyson schielte zu Galux, die absolut gelassen auf dem Boden saß. Ihr Schweif hatte sich geschmeidig um ihren Körper geschlungen. Scheinbar schien der Mann sich ihrer Anwesenheit nicht bewusst. Etwas nervös begann Ray zu lügen: „Wir sind mit der Mittagstour hier hereingekommen und…“

Tyson verdrehte die Augen, denn sein Freund war noch nie ein sonderlich guter Lügner gewesen. Man sah Ray an der Nasenspitze an, dass seine Ausrede geflunkert war. Tyson hätte sich gewünscht, dass er ihm den Forttritt gelassen hätte, einfach weil er seinen Weibern auch stets das Blaue vom Himmel herunter lügen konnte.

Er war einfach geübt darin.

„Ja, ja… Ich weiß mit welcher Tour ihr hineingeschlichen seid!“, bellte er verstimmt. „Habt euch für ganz schlau gehalten und wolltet keinen Eintritt zahlen! Solche wie euch kenne ich nur zu gut! Wisst ihr wie lebensgefährlich es ist, ausgerechnet heute hier unten zu sein?!“

Anstatt sich zu rechtfertigen, sprach Ray kleinlaut: „Tut uns leid.“

Er ließ die Flinte ziemlich schnell ins Korn fallen, doch es gab momentan auch wirklich schlimmeres, als wegen dem versäumten Eintrittspreises, ein paar auf die Finger zu bekommen. Sie wollten eigentlich nur noch hinaus.

„Habt euch ja einen feinen Tag ausgepickt. Euch gehören ein paar hinter die Ohren gepfeffert. Mitkommen! Und etwas dalli, wenn ich bitten darf! Ich muss nachhause, um nach meiner Frau zu sehen!“

„Wie spät ist es denn?“

„Viel zu spät.“

Tyson schnaubte entnervt. Der alte Kerl erinnerte ihn irgendwie an seinen Großvater, nur weitaus ungepflegter. Er trug eine dicke, abgewetzte Daunenjacke, mit runden Reflektor Aufklebern an den Ärmeln. Im Gegensatz zu ihnen schien er nicht so jämmerlich zu frieren. Seine Stiefel waren zumindest dick gefüttert. Die Gruppe folgte ihm wortkarg, bis auf Kai, der noch immer verträumt vor sich herschaute. Als Tyson seine Hand auf dessen Schulter legte, schrak der aus seinem Tagtraum.

„Komm mit.“, er setzte ein freundschaftliches Lächeln auf. „Deine Schwester wartet auf dich.“

Kai blinzelte ihn einige Sekunden irritiert an. Dann fragte er: „Ich habe wirklich eine Schwester?“
 

Die Stufen waren nicht sonderlich symmetrisch. Eine war schmal, die nächste breiter, die darauffolgende wiederum total in der Schräglage. Während dem Aufstieg, ließ sich der Fremdenfrüher verärgert darüber aus, wie dämlich man sein musste, um bei ihrer dünnen Aufmachung, hier hinunter zu kommen. Es war etwas, was er ihnen nicht extra hätte sagen müssen, denn sie froren ohnehin wie verrückt. Das Klappern ihrer Zähne war ihr ständiger Begleiter geworden, seit sie den Wurzelpfad verlassen hatten. Tyson freute sich schon darauf, endlich wieder frische Luft zu riechen. Er hoffte dass es nicht regnete, am liebsten wäre ihm, dass sie strahlender Sonnenschein empfing. Doch seltsamerweise blieb es beim Aufstieg weiterhin so kalt. Mehrmals huschten seine Augen zu Kai. Er beobachtet, wie der mit jeder Stufe, seine Handfläche an der Wand abstützte. Einmal geriet er ins Straucheln. Als Ray ihm helfen wollte, schüttelte er jedoch den Kopf und meinte, dass er nicht angefasst werden wolle. Es ließ Tyson seufzen. Seine alten Marotten kamen schnell wieder zum Vorschein, auch wenn es eher wie eine Bitte vorgetragen wurde, als wie eine harsche Abfuhr. Es klang als würde Kai momentan Abstand brauchen. Irgendwann huschte Galux zwischen ihren Füßen hindurch, passierte den zeternden Greis vor ihnen und hüpfte flink, Stufe um Stufe, hinauf zu einer Öffnung, die sich vor ihnen auftat. Als sich der Ausgang aus der Fugaku Windhöhle näherte, erhaschte Tyson einen Blick auf den Himmel. Zunächst bemerkte er die grauen Wolken, was ihn enttäuscht stöhnen ließ und kurz darauf entdeckte er noch entsetzter, dass dicke Schneeflocken vom Himmel herabtänzelten.

Es war erst Ende Oktober!

Draußen sollte eine herbstliche Stimmung herrschen, mit farbenfrohen Blättern, die von den Baumkronen wehten. Stattdessen trafen seine Füße auf den letzten Stufen auf eine dicke Schneeschicht. Augenblicklich fröstelte es Tyson noch mehr. Sobald sie im Freien waren, schlang der Großteil von ihnen die Arme um den eigenen Oberkörper und trat auf der Stelle. Sie waren mitten in den Aokigahara-Wäldern herausgekommen. Neben dem Ausgang thronte, auf einem riesigen Erdhöcker, ein morscher Baum. Seine Wurzeln fraßen sich um den Klumpen herum. Der Anblick erinnerte Tyson an den Wurzelpfad.

„Oh nicht das noch! Es schneit!“, klagte Max bibbernd.

„Jaa… Schon den ganzen Tag, du Neunmalkluger!“

Kai entfernte sich einige Meter von ihnen. Er blickte schweigsam hinauf in den Himmel. Ein letzter Fetzen Abendsonne brach durch die Wolkendecke. Es schien ihn regelrecht in den Bann zu ziehen. Tyson fragte sich, ob erneut eine Erinnerung in ihm hochkam. Da lenkte ihn Rays Stimme ab.

„Fahren die Busse noch?“

„Die Antwort wird dir nicht gefallen, Junge.“

„Wie sollen wir dann nachhause kommen?!“, jaulte Max fassungslos.

„Na, wie seid ihr denn hier hergekommen?“, blaffte der alte Mann.

„Das ist… eine ziemlich lange Geschichte.“

Tysons Blick huschte wieder zu Kai. Er reckte eine Hand in den Sonnenstrahl. Ihn hätte brennend interessiert was er dort sah. Inzwischen ging die Diskussion neben ihm weiter.

„Können wir irgendwo ein Telefon benutzen um ein Taxi zu rufen?“

„Hah!“, schallte es höhnisch. „Du glaubst doch nicht, hier fährt noch ein Taxi hoch?“

„Können wir es trotzdem einmal versuchen?“

„Wir sind mitten im Wald und es wird bald dunkel. Ihr könntet zwar zum Försterhaus laufen, aber ob ihr bei der jetzigen Situation dort Glück habt, bezweifle ich. Die sind alle schon vor Stunden zu ihren Familien gerannt. Da hat man nur noch Staubwolken gesehen.“

„Das nenne ich Arbeitsmoral…“, kam es sarkastisch von Max.

„Jungchen, es ist nicht jeder so schlau, nach einem Erdbeben hier her zu kommen, um klammheimlich in eine Höhle einzusteigen! Da denken die Leute in erster Linie an ihre eigene Verwandtschaft und nutzen die Gunst der Stunde nicht, um den Eintrittspreis zu prellen.“

Tysons Blick schnellte zu dem Fremdenführer, genau wie der seiner Freunde. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie Galux geradezu alarmiert die Ohren spitzte. Sie waren recht lang, daher wirkte sie in diesem Moment eher wie ein Hase, der im Gras auf der Lauer lag.

„Ein Erdbeben?“, wiederholte Ray stockend. „Wann war das?“

„Ja Himmel eins! Was habt ihr denn überhaupt da unten mitbekommen?“, rief der alte Mann nun aus. Er ließ die Hände fassungslos über den Kopf fliegen. „Vor einigen Stunden hat hier die Erde gewackelt, man meinte, die Götter bearbeiten den Boden mit einem Presslufthammer!“

Tyson sah Rays geweiteten Blick starr zur Seite huschen, im Gedanken wohl bei seiner Mao, die laut dem letzten Stand, in ihrem Hotel, auf seine Rückkehr gewartet hatte. Wenn das Gebäude nicht mehr stand, konnte sie jetzt sonst wo sein – oder schlimmeres.

Er biss sich auf die Unterlippe bei dessen Anblick, denn er selbst musste an seinen Großvater und Bruder denken. Allein wie es Kenny gehen mochte, ließ ihm keine Ruhe. Tyson fuhr sich stöhnend über die Nasenwurzel, als er Max mit dem alten Mann diskutieren hörte, weil der wissen wollte, ob man in den Nachrichten irgendetwas darüber gesagt hatte, dass der Flughafenverkehr wegen den Unwettern zum Erliegen gekommen war. Jeder von ihnen besaß seine eigenen schwerwiegenden Sorgen…

„Das muss mit der Abwesenheit der Uralten zusammen hängen.“, sprach Galux mit ruhiger Stimme neben ihm. Er hätte gerne mit ihr darüber gesprochen, doch in Anwesenheit des Fremdenführers ließ sich das kaum einrichten.

„Haben sie ein Handy?“, fragte Max inzwischen drängend. „Wir müssen wirklich nachhause!“

„Ach! Jetzt habt ihr es eilig? Aber vor einigen Minuten…“

„Ist doch scheißegal was da war! Wir brauchen ein Taxi!“

„Blaff mich nicht so frech an, Bursche! Kein Taxifahrer der etwas Grips im Hirn hat, kommt jetzt, bei diesem Wetter hier hoch! Der bleibt doch kläglich stecken! Und die Handyleitungen sind seit Stunden überlastet. Da kommt man nur mit viel Glück durch. Wo steht denn euer Wagen?“

„Vor einem Tempel in der Stadt.“, erklärte Tyson verstimmt und nannte ihm das Krankenhaus, indessen Nähe die Anlage war.

„Wie zum Geier seid ihr dann hier hoch gekommen? Das ist doch ein riesen Stück zu Fuß!“

Ihre Geschichte wurde immer fragwürdiger. Fieberhaft versuchte er, eine plausible Erklärung zu finden, wie sie bei diesem Wetter – auch noch bei Einbruch der Dämmerung – in die Höhle gelangt waren. Die Stadt war ein ganzes Stück entfernt und ohne Auto die Strecke kaum zu überwinden.

„Mit euch stimmt doch etwas nicht… Seid ihr Junkies die sich einen Platz gesucht haben, um in Ruhe ihr Gras zu rauchen?“

Tyson lachte trocken auf. Selbst das wäre plausibler, als ihre tatsächliche Geschichte. Da hätte er dem Mann gleich erzählen können, dass sie durch ein Hasenloch im Wunderland gelandet waren. Auf einmal wandte der den Blick hinter Tyson. Der fuhr herum und beobachtete verwundert, wie Kai noch immer die Hand in die Sonne ausstreckte und vor sich her murmelte.

„Und der hat wahrscheinlich einen zu viel geraucht!“, kam der Vorwurf vom Fremdenführer.

„Wir hatten einen Unfall mit seinem Wagen.“, dachte sich Tyson eine Lüge aus. „Und er muss etwas am Kopf abbekommen. Als wir ihn einen Moment aus den Augen gelassen haben, war er weg und wir haben ihn erst in der Höhle wieder gefunden.“

Eigentlich hatte er ein schlechtes Gewissen, Kais geistige Verwirrung zu ihrem Vorteil zu missbrauchen, doch irgendwie musste er an das Mitleid des alten Greises appellieren. Tatsächlich glättete sich die Zornesfalte auf dessen Stirn ein wenig.

„Es geht ihm wirklich nicht so gut und wir würden ihn gerne ins Krankenhaus bringen. Wir müssen sicher gehen, dass er nichts hat.“

Der alte Herr begann verstimmt zu schmatzen, als kaute er grübelnd auf seiner Zunge herum. Sein Blick huschte argwöhnisch zu Kai, der sich auf einmal langsam zu ihnen umwandte. Er lächelte zu ihnen herüber und sprach:

„Der Feuervogel ist schön. Findet ihr nicht auch?“

Nun wurde Tyson endlich klar, was er vor sich sah. Der Rest der Gruppe tauschte vielsagende Blicke aus, doch keiner entgegnete etwas, bis der alte Mann seufzte. Die Falte auf der Stirn war nun gänzlich geebnet, sein Groll offenbar verflogen.

„Naja, der scheint wirklich nicht ganz da zu sein. Keiner soll dem alten Shinji nachsagen, er hätte ein Herz aus Stein. Ihr könnt bei mir mitfahren. Der Tempel von dem ihr gesprochen habt, ist auf meinem Heimweg. Ich kann euch leider nicht ins Krankenhaus fahren, das wäre ein zu großer Umweg für mich, aber zumindest bei eurem Wagen kann ich euch ablassen.“

Tyson lächelte beruhigt und bedankte sich.
 

Etwas später halfen sie Shinji, seinen Wagen erst einmal vom Schnee zu räumen. Interessanterweise war auch er eher unfreiwillig hier oben. Er wollte eigentlich nur die Rehe, im örtlichen Freigehege versorgt wissen, bevor er sich ebenfalls auf den Heimweg machen wollte, als er ihre Stimmen aus der Höhle hinausschallen hörte. Im Nachhinein war er froh, sie gefunden zu haben, denn sein kleiner Truck, war durch ihre längere Diskussion schon wieder eingeschneit.

„Ist man vorne fertig, ist er hinten schon wieder zugekleistert. Deshalb hasse ich den Winter.“

Ohne ein weiteres aufmüpfiges Wort, halfen sie ihm dabei, die Schneeketten an den Reifen zu befestigen, die er in einer Holzkiste auf der Ladefläche verstaut hielt.

„Man kann hier oben nie wissen. Meine Kollegen haben mich sonst immer dafür ausgelacht. Bin mal gespannt ob die es bis nachhause geschafft haben…“, erklärte er brummig. Keiner von ihnen beschwerte sich darüber, dass Kai nicht mithalf. Der beobachtete fasziniert einen Eisklumpen, der von einem Baum gefallen war und eine tiefe Versenkung im Schnee hinterließ. Als die Gruppe bereit zum Aufbruch war, riss Tyson ihn aus seinen Überlegungen heraus, indem er ihm sachte die Hand auf die Schulter legte.

Als er ihm mitteilte, dass sie bereit zum Aufbruch waren, fragte Kai ihn aus heiterem Himmel, ob er sich an den Eisklumpen erinnerte, den ihm Wolborg geschenkt hatte.

„Weißt du noch die Farben von dem Schmetterling darin?“

„Ja.“

„Sind wir hier in Wolborgs Welt?“, Kai blinzelte irritiert in die Umgebung.

„Nein. Wir sind wieder zuhause.“

„Oh…“, kam es leise von ihm. Er wirkte auf Tyson recht orientierungslos. Dann fragte er: „Glaubst du unser Schneemann steht dort noch?“

Dabei klang Kai überraschend kindlich, fast schon wie der kleine Junge, den Tyson so gemocht hatte. Offenbar war die Erinnerung an diese Zeit noch tief in seinem Kopf verankert, während sein altes Leben, nur nach und nach in sein Bewusstsein zurückdrang, wie ein leeres Fass, was Tropfen um Tropfen gefüllt wurde.

„Vielleicht…“, antwortete Tyson und schlang die Arme frierend um seinen eigenen Körper. Ein kräftiger Windhauch peitschte durch die Baumwipfel. Es ließ einige der stumpfen, kleinen Eiszapfen, die von den Ästen herabhingen abbrechen und in einer schrägen Flugbahn zu Boden fallen. Tyson fiel auf, wie schön sie dabei funkelten, als das letzte Licht der Abendsonne sich in ihnen brach, erhob sich Kai rasch. Auf einmal wurde sein Gesicht todernst. Er blickte den Eisbröckchen nach, die im Glanz der Sonne, wie auseinanderbrechende kleine Sternschnuppen wirkten.

„Ich war mal an einem Ort, da hat es Sternschnuppen geregnet.“, sprach Kai plötzlich mit heißerer Stimme. „Ich glaube… Du warst auch da. Nur wir beide.“

Er wandte sich mit einem verwirrten Ausdruck Tyson zu.

„Es wirkte damals alles so… sonderbar. Wie ein unglaublicher Traum.“, Kai schaute ihn aus großen Augen fragend an. „Ist das wirklich passiert oder bilde ich mir das nur ein?“

Es ließ Tyson überrascht aufatmen. Eigentlich dachte er auch manchmal, sich die Geschehnisse während ihrem finalen Match, nur eingebildet zu haben. Doch ein sanftes Lächeln trat kurz darauf auf seine Lippen. Er dachte so gerne an diesen letzten Kampf zwischen ihnen, daher war die dritte Weltmeisterschaft, immer etwas ganz besonderes für ihn geblieben. Es war wie ein kostbarer Schatz für ihn.

„Nein.“, versicherte er Kai. „Das ist wirklich passiert…“
 

Kurz darauf bestiegen sie die Ladefläche des kleinen Trucks, eng aneinander gereiht. Shinji hatte ihnen eine mottenzerfressene Decke aus dem Fahrerhaus nach hinten geworfen und sie ermahnt, sich gut festzuhalten, denn es würde kein leichter Ritt werden.

„Ich muss langsam machen, wegen dem verdammten Schnee. Aber lieber langsam die Straße hinunter, als schnell den Abhang hinab.“

Ray versicherte ihm, dass sie in den letzten Stunden genug Turbulenzen hatten und es eine angenehme Abwechslung sei, einfach mal gemächlich voranzukommen. Als der alte Motor geräuschvoll startete, schien der Fremdenführer so konzentriert auf die Straße zu schauen, dass sie endlich miteinander sprechen konnten. Sobald Tyson das Gefühl hatte, nicht belauscht zu werden, fragte er Galux: „Denkst du das bleibt so mit dem Unwetter?“

Das Bit Beast hatte zuvor verdrossen über den Rand der Laderampe geschaut. Offensichtlich passte ihr diese Art der Fortbewegung nicht sonderlich. Ihm fiel auf, dass sie kleiner geworden war, als würde Galux immer weiter in sich zusammenschrumpfen. Sie wandte sich ab und sprach an Tyson gewandt: „Ich meinte, Driger hätte mir davon erzählt, dass die Uralten für solche Fälle gewappnet sind.“

„Du weißt aber nicht wie?“

„Gewiss nicht. Es ist den unteren Klassen nicht gestattet, die Vorgänge der Uralten zu hinterfragen. Sie sind es die uns kontrollieren, nicht umgekehrt.“

„Sie existieren aber nicht mehr.“, warf Max ein. „So wie ich das sehe, seid ihr Bit Beasts momentan führerlos. Da solltet ihr nicht blind auf eine höhere Macht hoffen.“

„Uns bleibt keine Wahl.“

„Ihr könntet diesen Umstand doch nutzen und ein neues System einführen.“, schlug Ray vor. „Nach allem was ich mitbekommen habe, wäre etwas mehr Unabhängigkeit von den Uralten doch nichts Schlechtes.“

„Und wie stellst du dir das vor? Wir benötigen die Kraft, welche von ihnen ausgeht. Keiner der unteren Klassen kann sich auf Dauer selbst versorgen.“

Tyson stellte sich das ganze wie ein Kraftwerk vor, was außer Betrieb war. Momentan herrschte in der Irrlichterwelt wohl eine Art Stromausfall. Die Bit Beasts versorgten sich nun vorübergehend mit Kerzen und hofften, dass das Werk wieder Energie lieferte, bevor sie hinuntergebrannt waren. Galux rollte sich müde zu einem Knäuel zusammen und schloss die Lider.

„Ich vertraue auf Drigers Worte. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Uralten so unachtsam waren und den Tod einen ihrer, nicht wenigstens einmal in Erwägung gezogen haben.“

Diese Worte beruhigten Tyson, dennoch fragte er sich, ob sie auch einmal den Extremfall einkalkuliert hatten - nämlich dass jeder von ihnen sterben könnte. Inzwischen fuhr Galux fort: „Wir werden vorerst einen furchtbaren Energieengpass haben. Ich vermute, dass die meisten Bit Beast einen Massenansturm auf die Menschenwelt antreten werden, um sich dort ihre Kraft, aus ihren Kindern zu ziehen. Selbst jene, die kein Kind in ihre Obhut nehmen wollten, werden wohl jetzt eines suchen.“

„Gibt es auch solche Bit Beasts?“, fragte Max überrascht.

„Gewiss. Manche mögen dieses Band einfach nicht. Oder ihnen kam noch kein würdiger Mensch unter die Augen.“

„Dieser Massenansturm… Könnte der nicht schädlich für die Kinder dieser Bit Beasts sein?“, wollte Ray argwöhnisch wissen.

„Wenn sie ihren Kindern nicht wohlgesonnen sind, vielleicht.“

Nachdenklich schaute Tyson geradeaus in die Ferne. Ein kleiner Teil des Waldes lichtete sich zu ihrer linken Seite, ließ den Blick auf die Stadt Tokyo zu. Alles lag dort wie unter einer weißen Schicht aus Puderzucker begraben. Er hoffte inständig, die anderen früheren Turnierteilnehmer, waren schlauer als er und hatten ihr Bit Beast nicht so vernachlässigt. Hätte das Tyson auch nicht getan, würde Dragoon jetzt noch leben. Er biss sich auf die Unterlippe bei dieser Überlegung. Zwar hatte sein Bit Beast ihm so schrecklich mitgespielt, doch ein kleiner Teil in ihm, musste ständig daran denken, dass es erst gar nicht so weit gekommen wäre, wenn er mit seinen Partner umsichtiger umgesprungen wäre.

Sie alle…

Er schaute auf Galux Gestalt und machte sich doch etwas Vorwürfe, nicht so weise mit seinem Bit Beast umgegangen zu sein, wie Mariah. Vielleicht waren Frauen einfach einfühlsamer was das betraf.

Auf einmal hielten sich alle fest und Shinji machte eine Vollbremsung.

Die Erde bebte. Die Gruppe beobachtete, wie die Bäume am Straßenrand bedrohlich schlingerten. Ihr Blätterwerk rauschte geräuschvoll. Irgendwo aus den Tiefen des Waldes, vernahm man ein lautes Knacken eines umstürzenden Stammes.

„Das ist nur ein Nachbeben!“, rief Shinji zu ihnen nach hinten, überraschend gelassen. „Das Beben vor einigen Stunden war noch weitaus Schlimmer. Einfach Zähne zusammenbeißen und warten!“

Als hätten sie eine andere Wahl gehabt…

Die Ladefläche unter ihren Hintern vibrierte und sie klammerten sich an ihrem Rand fest, um nicht wegzurutschen. Kurz darauf bemerkte Tyson, wie eine kühle Schneelawine auf ihn stürzte. Ein Aufschrei ging durch die Gruppe, doch glücklicherweise, war oberhalb der Berghänge, die sich zur anderen Seite der Straße auftürmten, nicht noch mehr Schnee ins Rollen geraten. Dennoch saßen sie jetzt mittendrin. So schnell wie der Spuk über sie kam, verklang er kurz darauf wieder.

„Na ganz toll!“, stöhnte Max entnervt und strampelte sich aus der kühlen Masse hervor. „Als wäre uns nicht schon kalt genug!“

Ray sträubte sich angewidert und hob die Decke vorsichtig an, um den Schnee über die Ladefläche zu befördern. Kais dünnes Hemd klebte an ihm wie eine zweite Haut, denn von ihnen allen, war er am unpassendsten gekleidet. Die feuchten Strähnen fielen ihm ins Gesicht. Tyson beobachtete, wie er sie mit den blassen Fingern aus der Stirn strich. Seine Lippen waren bläulich angelaufen, dennoch beklagte er sich nicht. Es brauchte seine Zeit, bis sie wieder losfuhren, doch eine Stunde später, waren sie endlich vom Berg hinunter und auf der Hauptstraße Richtung Tokyo, nichtsahnend was sie dort erwarten würde.
 


 

ENDE Kapitel 38
 

„Wirfst du mir einen Karton herüber?“

„Klar.“, Ray wandte sich um, wo ein vorgefalteter Stapel darauf wartete, mit allerlei Habseligkeiten befüllt zu werden. Eigentlich wollte er während seinem kurzen Aufenthalt in Japan, nur seine Freunde besuchen, dennoch half er jetzt ebenfalls bei Maxs Umzug, einfach weil es für ihn eine Selbstverständlichkeit darstellte. Er griff nach einem der leeren Pappkartons und warf ihn quer durch den chaotisch wirkenden Laden, direkt in seine Richtung, so dass Tyson ihn auffing. Kurz darauf fuhr der damit fort, die Gläser vor ihm auf den Tisch, in Zeitungspapier einzurollen. Nur noch wenige Tage, dann kehrte Max Japan auch den Rücken zu. Er hatte es Tyson versucht schmackhaft zu reden, indem er ihm erklärte, dass sie sich jedes Quartal treffen könnten.

„Der Flug ist nicht das teuerste - es sind die Hotels. Aber wenn ihr mich besuchen kommt, fällt das schon mal weg. Das wird also ein Schnäppchen! Jedes Mal wenn wir uns treffen, werden wir was Tolles unternehmen. Bei Ray genießen wir die Wildnis, bei mir die Großstadt, bei dir hängen wir wie in alten Zeiten ab. Das wird toll!“

Tyson hatte ein Lächeln aufgesetzt. Es fiel ihm unglaublich schwer es ehrlich wirken zu lassen. Eigentlich war er ziemlich bedrückt, weil Max nun auch ins Ausland verschwand. Um ehrlich zu sein, hatte Tyson sogar schreckliche Angst, dass sie sich nun komplett aus den Augen verloren. Allein die Entfernung zu Ray machte es schwer, ihn überhaupt noch zu erreichen. Zwar hatte der sich, nach seiner Hochzeit mit Mao, endlich ein Handy gekauft, damit er nicht immer auf Briefpapier zurückgreifen musste, doch die Verbindung in seinem Dorf war noch immer katastrophal, so lange die Modernisierungsarbeiten dort liefen. Einmal war Ray so genervt gewesen, dass er auf den obersten Wipfel einer Tanne kletterte, nur um einen Balken auf seinem Display aufblinken zu sehen. Dafür rauschte es im Hintergrund während dem Telefonat, da der Wind durch die Bäume pfiff, dennoch nahm es Ray mit Humor und knipste dort oben auch noch ein Foto von sich. Tyson hatte vor Lachen gegrölt als er das Bild erhielt. Wie er da auf seinem Ast hockte, mit einem überspielten panischen Ausdruck, während er den Stamm fest umklammerte, um nicht hinuntergefegt zu werden, sah einfach urkomisch aus. Allerdings ließ es sich dadurch kaum noch von der Hand weisen, dass die Kilometer zwischen ihnen, ihrer aller Freundschaft, auf eine harte Zerreisprobe stellte. Das machte ihm wirklich Sorgen…

„Kopf hoch, Grünschnabel. Das Leben besteht nun einmal aus Veränderungen.“, hatte sein Großvater versucht ihn aufzumuntern, als Tyson tief enttäuscht nachhause kam, kurz nachdem er von Maxs Hiobsbotschaft hörte. Er war total fertig gewesen, als er von dessen Absicht erfuhr, wieder zurück in die USA zu ziehen, um seiner Mutter aus ihrer Depression zu helfen. „Für deinen Freund ist das bestimmt auch kein leichter Schritt. Aber es gibt Situationen, da müssen auch unliebsame Entscheidungen getroffen werden, wenn es um deine Familie geht. Das wirst du irgendwann auch tun müssen, mein Junge.“

Tyson hatte darauf nur beklommen genickt, doch seine melancholische Stimmung legte sich trotzdem nicht. Für ihn gehörten seine Freunde ebenfalls zur Familie, das war für ihn ein und dasselbe.

Kenny und Max kamen inzwischen die Treppe in den Laden hinunter, beide bepackt mit einem beschrifteten Karton. Letzterer wirkte etwas besorgt und auch in sich versunken. Tyson fragte sich, ob Max nur durch den Kopf ging, was er heute noch alles erledigen musste, oder ob der Umzug ihm trotz seiner Zuversicht doch aufs Gemüt schlug. Zumindest wirkte er nicht glücklich darüber, immerhin hatte er sich hier viel aufgebaut, auch wenn der Laden die letzten Monate schlecht lief. Die beiden verschwanden durch die Eingangstür ins Freie, wo Mr. Tate den Umzugstransporter belud. Das Judys Kündigung solch einschneidende Folgen hatte, ärgerte Tyson. Er war vertieft in sein Selbstmitleid als ihn Rays Stimme aus seinen düsteren Gedanken riss.

„Hast du dich mit Kai eigentlich wieder versöhnt?“, wollte er wissen, während er auf eine Leiter stieg, um eine Lampe von der Decke herunterzuschrauben. Tyson rollte entnervt mit den Augen bei diesem Satz…
 

Letztes Wochenende hatten sie sich wieder wegen irgendeiner Lappalie in die Haare gekriegt. Er wollte abends bei Kai vorbeikommen, weil ihm langweilig war und kam eben unangemeldet durch, wie bei seinen anderen Freunden sonst auch. Sie waren schon immer locker in ihren Umgangsformen. Doch anstatt das Kai mitkam, stellte er sich quer und meinte, er wolle seine Mutter nicht alleine mit seiner kleinen Schwester lassen.

„Wofür sind Mütter sonst da?“, hatte Tyson fragend die Braue aufgezogen. „Jetzt stell dich nicht so an. Lass uns um die Häuser ziehen!“

„Ich kann wirklich nicht mitkommen.“

„Warum nicht?“

„Meine Schwester ist heute etwas aufgedreht. Das nächste Mal musst du einfach anrufen, okay?“, wies Kai ihn vehement ab und wollte die Tür schon wieder schließen, doch Tyson hatte den Versuch abgeblockt, indem er sich irritiert dagegen stemmte.

„Hey, was soll das? Warum schlägst du mir die Tür vor der Nase zu?“

„Ich habe heute wirklich keine Zeit. Bitte geh jetzt!“

„Ach komm schon! Wann war ich das letzte Mal bei dir? Man könnte meinen dein Großvater lebt noch, so selten darf man bei dir vorbeikommen! Bei euch zuhause schleichen so viele Bedienstete herum, die sich mit deiner Schwester befassen können, da kann ich doch wenigstens etwas bei dir abhängen?“

„Tyson, nicht heute.“, sprach er drängender. „Du kannst kommen, wenn meine Schwester nicht da ist. Ich rufe dich dann an.“

„Du willst deine Schwester aus dem Haus schicken, nur weil ein Freund vorbeikommt?“

Der Gedanke war so urkomisch, dass Tyson ihn beinahe ausgelacht hätte.

Ein Schmunzeln konnte er dennoch nicht verkneifen.

„Ich…“, Kai war ins Stocken geraten, denn darauf hatte er wohl keine Antwort parat gehabt. Er wirkte auf Tyson an diesem Abend ohnehin etwas angespannt, was er darauf schob, dass ihm die Vorstellung nicht behagte, einer seiner Freunde könnte sehen, wie er mit seiner kleinen Schwester spielte. Wahrscheinlich hätte das wieder einmal an seinem Ego gekratzt. Da erhaschte Tyson den Blick auf eine Tür hinter Kai, die sich in der Eingangshalle langsam öffnete. Das Geräusch lenkte dessen Aufmerksamkeit einen Moment von ihm ab. Laut vernehmbares Kinderweinen drang aus dem Zimmer heraus, doch anstatt Jana, war Kais Mutter hervorgekommen. Sie hatte einen schwarzen Rock, mit einer eleganten lockeren Bluse getragen, die um den Kragen herum, eine kleine schwarze Schleife aufwies, deren langen Enden über der Brust baumelten. Ihr feines Haar war in hübsch geformten Locken bis zu den Schultern gefallen. Die dunklen Strähnen hatten das makellose Gesicht umrahmt, wo besonders die verführerischen roten Lippen hervorstachen. Es war unverkennbar, wie viel Wert Kais Mutter auf ihr aufreizendes Erscheinungsbild legte, denn sie trug selbst zuhause Schminke. Zwischen ihren zierlichen, blassen Fingern, hatte Tyson das rötliche Glimmen einer Zigarette erkannt.

Er wünschte ihr einen guten Abend, doch anstelle einer einladenden Antwort, nickte sie nur knapp und tat einen tiefen Zug an ihrer Zigarette. Ihm fiel der stechend rote Nagellack ihrer manikürten Finger dabei auf. Nachdem sie den Rauch achtlos in den Raum entließ, hatte sie sich kommentarlos abgewandt und stieg die Treppe ins Obergeschoss hinauf, ohne die beiden jungen Männer noch weiter zu beachten. Etwas verstimmt hatte Tyson gedacht, dass die Frau zwar einen hübschen Hintern besaß, aber leider genauso unfreundlich, wie der Rest der Familie war. Ihr kurzer Auftritt ließ Kais Braue für eine winzige Sekunde zucken, bevor er sich mit einem missbilligenden Schnalzen zu ihm umdrehte. Tyson fand in jenem Moment, dass sein Freund ebenfalls so wirkte, als könne er etwas Abwechslung vertragen, weil man ganz klar spürte, dass der Haussegen auch hier schief lag.

„Mir ist total langweilig und das Maxs auswandert frustriert mich. Ich brauche etwas Ablenkung! Ich bringe der Kleinen auch bei, wie man das Alphabet rülpst!“, er hatte bei dem Gedanken begeistert grinsen müssen.

„Sehr komisch. Aber heute nicht. Wenn du willst können wir nächste Woche etwas ausmachen…“

„Wow! Jana muss dich ja ordentlich auf Trapp halten. Keine Sorgen, ich helfe dir!“

Er wollte sich schon unbekümmert Eintritt verschaffen, da hatte Kais Arm ihm den Weg blockiert. Tyson wusste noch, wie ihn dessen Augen mahnend taxierten.

„Du musst endlich lernen ein Nein zu akzeptieren!“, hatte Kai ihn plötzlich angefaucht.

Zunächst blinzelte Tyson verdutzt über diese unfreundliche Abfuhr, dann wandelte sich seine Verblüffung in Ärger und kurz darauf entbrannte auch schon eine hitzige Debatte zwischen ihnen, die sich so aufbauschte, dass Tyson seinen Freund irgendwann zum Teufel wünschte und wutschnaubend abhaute.

„Warum kannst du nicht in die USA abhauen und Max bleiben?!“, hatte er Kai in seinem Zorn noch entgegengebrüllt, als er den Kiesweg zur Einfahrt wieder zurücklief, um in seinen Wagen zu steigen. „Dich bekommt man ohnehin nie zu Gesicht, selbst wenn du in derselben Stadt wohnst! Und deine Freunde sind dir doch sowas von scheißegal!“

Kurz darauf hörte er auch schon, wie die Eingangstür geräuschvoll zuknallte. Dieser Streit hatte Tyson an diesem Abend den Rest gegeben. Kenny war auch noch auf einer Schulung in Osaka gewesen, weshalb er bei ihm auch kein vorläufiges Asyl bekam und so blieb ihm nichts anderes übrig, als nachhause zu fahren und eines seiner Betthäschen anzurufen, um sich mit der die Zeit zu vertreiben. Seit dem Wochenende hatte er kein Wort mehr mit Kai gewechselt.
 

„Ich melde mich ganz bestimmt nicht bei dem Arsch!“, antwortete Tyson bissig auf Rays vorherige Frage. Der war inzwischen von der Leiter abgestiegen und hatte die Lampe in Zeitung eingewickelt, um sie in einer der Schachteln zu verstauen. Auf seine Worte schmunzelte Ray nur amüsiert und meinte wohl, Tyson könne seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, so lange er sich nur tief genug über den Karton vor ihm beugte. In der Zwischenzeit rannte Max an ihnen vorbei und verschwand wieder die Treppe hinauf.

„Was soll das?“

„Was meinst du?“, Ray blinzelte unschuldig zu ihm herüber.

„Dieser Gesichtsausdruck?“, Tyson ahmte ihn nach, allerdings ziemlich überzogen, was seinen Freund Lachen ließ.

„Wir wissen beide, dass du dich doch wieder bei ihm meldest.“

„Wieso sollte ich?“

„Na, weil ihr euch immer vertragt.“

„Nicht bevor er sich bei mir entschuldigt!“

„Eher entschuldigst du dich wieder…“

„Warum soll ich immer den ersten Schritt machen?!“, protestierte Tyson aufgebracht. Etwas öfters als nötig, fuhr er mit dem Kleberoller über die Klappen seines Kartons. „Warum geht ihr alle davon aus, dass ich mal wieder was falsch gemacht habe? Warum könnt ihr nicht einmal von Anfang an auf meiner Seite sein?“

„Weil du die Begabung hast, in Fettnäpfchen zu treten. Außerdem regst du dich schnell auf. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Kai weniger Schuld trifft, als du mir weiß machen willst.“

„Das ist nicht wahr! Ich weiß gar nicht, wieso ich das mit mir machen lasse? Bin ich ein verlauster Köter, dass er mit mir so umspringen darf?“

„Natürlich nicht. Aber wenn er sagt, dass er keine Zeit hat, dann musst du es auch einfach mal so stehen lassen. Du kannst sehr hartnäckig sein, wenn du etwas willst.“

Ein genervtes Stöhnen war die Antwort.

„Was soll dieses Geräusch, mir jetzt sagen?“, blinzelte Ray verwundert.

„Jetzt geht deine Predigt wieder los!“, Tyson hob seinen Finger streng an, als wäre er ein nörgelnder Klassenlehrer und äffte ihn nach. „Du musst nicht immer deinen Willen durchboxen. Ich finde du bist zu weit gegangen. Am besten du entschuldigst dich bei Kai für deine aufdringliche Art.“

„So rede ich nicht…“

Kenny rauschte mit einem Karton an ihnen vorbei und sprach beiläufig: „Doch, sogar ziemlich oft.“

Es ließ Ray erbost schnalzen, da war der Chef aber auch schon zur Tür hinaus, bevor er etwas Gehässiges kontern konnte.

„Wie auch immer… Du weißt doch wie Kai ist. Das musst du endlich einmal respektieren.“

„Eben, ich weiß wie er ist! Bei dem muss man immer hartnäckig bleiben…“

„Oder, du könntest einfach mal seine Grenzen akzeptieren.“

„Oder, hartnäckig bleiben! Sonst klappt das auch immer.“

„Dann darfst du dich nicht wundern, wenn du dir die Finger an ihm verbrennst.“

„Ich wollte nur bei ihm abhängen und keine verdammte Niere von ihm! Seit seine Schwester aber auf der Welt ist, darf man gar nicht mehr bei ihm vorbeischauen.“

„Vielleicht hat seine Mutter etwas dagegen…“

„Als hätte die viel Arbeit mit dem Kind. Ich habe sie an dem Abend doch gesehen - die war die Ruhe selbst! Wahrscheinlich ist sie die meiste Zeit bei der Maniküre, während zwei Dutzend gluckende Kindermädchen, jeden Schritt von Jana überwachen. Kai hat gar keinen Grund, um immer abzusagen! Er hat das Geld und die Mittel um sie zu betreuen.“

„Er leitet noch eine Firma – und das in seinem Alter.“

„Hat ihn sonst auch nicht gestört. Der hält sich doch nur für etwas Besseres. Bestimmt sind wir ihm nicht mehr vornehm genug!“

„Meine Güte, Kai ist doch nicht so oberflächlich! Vielleicht war Jana an diesem Tag auch nur krank?“, kam es leicht genervt von Ray zurück. „Wie alt ist die Kleine jetzt? Vier oder Fünf? Auf keinen Fall älter. Kleinkinder können anstrengend sein, Tyson! Lees Sohn war unausstehlich, als er die Zähne bekommen hat. Er meinte der Junge hätte so viel geplärrt, dass er tatsächlich mit dem Gedanken gespielt hätte, ihn im Wald auszusetzen, bis die scheiß Milchzähne endlich draußen sind. So jedenfalls sein genauer Wortlaut…“

„Das ist keine Entschuldigung umso pampig zu werden!“, verstimmt riss Tyson einige Zeitungen auseinander, um sie anschließend zu einem Knäuel zu zerdrücken. „Ich bin keiner seiner versnobten Geschäftspartner - ich bin einer seiner ältesten Freunde!“

„Das weiß er doch auch.“

„Tut er das? Mir kommt es nämlich nicht so vor! Ich habe das Gefühl, als müsste ich eine schriftliche Anfrage schicken, um einen Termin bei dem gnädigen Herren zu bekommen?“

Tyson zwängte seinen Knäuel schnaubend in die Ritzen innerhalb des Kartons, um die zerbrechlichen Gegenstände darin zusätzlich zu dämmen. Ray sah ihm etwas beunruhigt dabei zu, offenbar in Sorge darüber, ob er mit seiner groben Art, nicht mehr kaputt machte, als er schützte. Dennoch lief er kommentarlos an Tyson vorbei, um Kenny an der Eingangstür die Kiste zu reichen, welcher der Mr. Tate bringen wollte. Kurz darauf stellte er sich neben ihm auf, um Tyson dabei zu helfen, die restlichen Gläser zu verstauen.

„Er hat sich gebessert.“, sprach Ray nachsichtig. „Überleg doch mal, wie es während unserer Bladebreaker Zeit war. Da wollte er privat mit uns nichts zu tun haben.“

„Er ist trotzdem noch zu unterkühlt. Als hätte er einen Stock verschluckt!“

„Und was war damals bei dem Erdrutsch? Tyson, er hat meinem Dorf damit unglaublich geholfen! Ich kann noch heute nicht glauben, dass er das für uns getan hat. Andere Firmen würden sich damit schmücken, um in der Öffentlichkeit gut dazustehen und er will nicht einmal einen Dank von uns hören. Lieber kehrt er alles stillschweigend unter den Teppich.“

„Ach komm schon! Er will nur nicht, dass jemand weiß, dass ihm seine Freunde am Herzen liegen.“

„Weil er nicht damit umgehen kann! Du weißt wie Voltaire war. Ich bin als Vollwaise aufgewachsen und habe von den Dorfältesten mehr Zuneigung abbekommen, als er von seinem leiblichen Großvater! Und was in der Abtei war, wissen wir bis heute nicht… Kai ist auf seine eigene Art ein Freund. Das musst du respektieren. Du verlangst zu viel.“

Tyson seufzte entnervt und hielt einen Moment in seiner Arbeit inne.

„Ich behaupte ja auch nicht, dass er das Herz nicht am rechten Fleck hat, aber für mich bleibt er immer noch ein Buch mit sieben Siegeln. Da glaubt man endlich er ist aufgetaut, da stößt er einen ohne Vorwarnung weg! Warum sagt er mir nicht einfach was los ist? Ich weiß doch nicht einmal, was ich falsch gemacht habe.“

„Hallo? Wir reden von Kai!“, lachte Ray auf. „Das er wortkarg ist, dürfte dir doch nicht neu sein und seine Probleme macht er gerne mit sich selber aus. Zu unseren Anfängen saß er immer nur teilnahmslos in einer Ecke, jetzt spricht er wenigstens ganze Sätze mit uns. Da bekommt man den Eindruck, man zieht ein Kleinkind groß – wir warten sogar alle auf sein erstes Wort.“

Die Vorstellung wäre amüsant gewesen, hätte Tyson nicht eine so üble Laune gehabt.

Stattdessen knirschte er frustriert mit den Zähnen.

„Trotzdem nervt es.“

Er musste auf Ray recht verbittert wirken, denn es wurde einen Moment still zwischen ihnen.

„Bist du wirklich auf Kai sauer oder ist es weil Max nun auch ins Ausland zieht?“

Etwas unschlüssig zuckte Tyson mit den Schultern.

Wahrscheinlich wirkte er dabei wie ein bockiger Junge.

„Komm schon… Wir kennen uns nun schon ewig. Du tust zwar, als würdest du damit klar kommen, aber eigentlich bist du total sauer, weil er in die USA muss. Nicht wahr?“

Einen Moment schaute er störrisch zur Seite. Dann brach es aus Tyson heraus:

„Natürlich bin ich sauer! Wie könnte ich auch nicht?! Alle verschwinden nach und nach! Aber was soll ich denn machen? Ich kann niemandem von euch verbieten ins Ausland zu ziehen!“, er stützte sich schnaufend an den Seiten des Kartons ab. „Es ist nur… Bei dir habe ich fast damit gerechnet, dass du irgendwann nach China zurückkehrst und trotzdem hat es mich geschockt. Natürlich bin ich froh, wenn du glücklich bist, aber dennoch ist es hart, gerade einen seiner engsten Freunde ziehen zu lassen.“

Ray legte den Kopf zur Seite und bedachte ihn mitleidig, da fuhr Tyson auch schon fort.

„Das mit Max kam nun aber auch noch so unerwartet! Ich konnte mich gar nicht richtig darauf einstellen. Natürlich habe ich auch noch andere Freunde neben euch, aber ihr bleibt für mich einfach mein Team! Die Einzigen dir mir aus unserer Gruppe aber jetzt noch bleiben, sind Kenny und Kai - weil Hilary auch noch in den USA bleiben will! Kai lässt sich aber auch kaum noch bei mir blicken und so sehr ich ihn auch mag – ich kann mit ihm nicht so reden wie mit euch beiden! Zwischen uns ist das irgendwie so… anders. Mit ihm könnte ich zum Beispiel niemals über eine meiner Beziehungen sprechen!“

„Warum?“

Tyson zuckte ratlos mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht. Es kommt mir einfach falsch vor. Als ob ich gar nicht erst will, dass er etwas davon weiß. Jedes Mal wenn er etwas von meinen Bettgeschichten mitbekommt, habe ich ein schlechtes Gewissen.“

„Wahrscheinlich weil du ihn noch als unseren Teamleader siehst. Das ist, wie wenn dein Klassenlehrer dich dabei ertappt, wie du wild mit einem Mädchen herummachst. Du musst dich aber von dem Gedanken endlich lösen. Er kann dir nicht mehr vorschreiben, wie du dein Leben führen solltest. Du musst weder einen Trainingsplan einhalten, noch dich ausschließlich auf das Bladen konzentrieren. Ihr seid jetzt beide erwachsen und habt natürlich ein Privatleben.“

Einen Moment blinzelte Tyson verdutzt, denn daran hatte er noch nie einen Gedanken verschwendet. Er zog die Brauen zusammen und stierte in den Karton vor sich, in die Überlegung vertieft, wie viel Wahrheitsgehalt hinter Rays Worten lag. Eigentlich war er ziemlich sicher, dass das nie sein Problem war. Schon zu ihrer Zeit in einem Team, begegnete er Kai auf gleicher Augenhöhe. Dazu hatte einfach seine vorlaute Klappe beigetragen.

„Kai hat doch auch seine Frauen gehabt. Also wofür schämst du dich?“

„Von wie vielen weißt du eigentlich?“

„Nicht vielen. Bis auf die eine die wir einmal zufällig auf der Party getroffen haben, ist mir keine weitere zu Gesicht gekommen. Aber von der hatte er sich ja auch schon wieder damals getrennt.“

Tyson erinnerte sich. Sie war ziemlich hübsch gewesen und obwohl Kai sie ihnen, als seine Ex Freundin vorstellte, gingen sie doch sehr freundlich miteinander um. Tyson schüttelte den Gedanken von sich, denn aus irgendeinem Grund hatte er sie nicht leiden können. Eine solche Voreingenommenheit kannte er nicht von sich.

„Das ist doch gar nicht mein eigentliches Problem. Ihr beide hinterlasst einfach eine zu große Lücke! Auch wenn ich noch andere Freunde hier in Japan habe, Kenny und Kai – die beiden sind nicht wie ihr. Menschen sind schließlich keine Massenware.“, er suchte einen Moment nach einer Möglichkeit, um Ray seine Gedanken mit passenderen Worten, noch verständlicher zu vermitteln. „Unser Team ist für mich… wie ein funktionierender Körper! Max und du, ihr seid meine Hände und Füße. Kenny ist das schlaue Hirn und Kai… keine Ahnung. Sagen wir einfach er ist in diesem Vergleich das eiskalte Herz.“

Ray schnalzte, würdigte das gehässige Kommentar jedoch keiner weiteren Bemerkung.

„Wenn ihr beide fehlt, lebe ich vielleicht noch, aber es ist kein schönes Leben. Genauso wenig könnte ich ohne Kai zurechtkommen, aber er ist bei mir einfach für einen anderen Part zuständig. Du kannst Hirn und Herz nicht sagen, dass sie für dich das Laufen übernehmen sollen. Und alle anderen Menschen sind für mich nur billige Prothesen. Es wird mit denen niemals so sein wie mit euch.“

Ein trauriges Seufzen kam aus seinem Mund.

„Heute könnte das letzte Mal sein, dass wir hier zusammensitzen. Und das… Das bereit mir schon Bauchschmerzen.“, er wurde leiser bei diesem Geständnis, denn eigentlich schämte Tyson sich dafür. „Ich habe das Gefühl, mein gesamter Freundeskreis zerstreut sich in alle Himmelsrichtungen. Diese plötzlichen Veränderungen sind einfach scheiße! Als hätte ich ein verdammtes Déjà-vu Erlebnis…“

Er spürte Rays bestürzten Blick auf sich ruhen, denn natürlich verstand er die Anspielung prompt. Da klopfte ihm eine Hand auf die Schulter. Als er sich zur Seite wandte, schaute er in Maxs tiefblaues Augenpaar. Tyson hatte gar nicht bemerkt, wann er wieder dazu gestoßen war. Ein wehmütiges Lächeln umspielte dessen Mundwinkel. Dann sprach er ruhig:

„Hey, Kumpel… Ich bin auch traurig. Sehr sogar.“

Max tat einen Schritt von ihm zurück. Sein Blick huschte über die kahlen Wände jenes Ladens, der lange Zeit sein Zuhause gewesen war.

„Und was du da sagst… ich verstehe das! Weil ich auch eine riesen Angst davor habe, was die Zukunft für mich bringt. Glaub mir, du bist nicht Einzige, der nachts wach liegt und sich diese düsteren Gedanken macht. Ich muss mir in den USA ein komplett neues Leben aufbauen - und das obwohl mein Leben hier einfach perfekt war! Das alles hier… Es fällt mir ganz und gar nicht leicht. Natürlich möchte ich meinem neuen Leben in den USA eine Chance geben - aber ihr habt die Messlatte ziemlich hoch gehängt.“

Tyson blinzelte ihn etwas erstaunt an. Dann räumte er etwas beschämt, die schlimmste seiner Befürchtungen ein: „Am meisten macht mir die Aussicht Angst, dass wir uns alle nie mehr wiedersehen könnten. Das wir uns vor lauter Alltag aus den Augen verlieren…“

Max Gesicht hellte sich auf einmal auf und da prustete er auch schon los.

„Im Ernst?! Also daran habe ich noch keinen einzigen Gedanken verschwendet! Ich weiß doch ganz genau, dass das niemals passieren könnte!“

Neben ihm begann auch Ray zu Lachen.

Als er zu ihm herüber sah, verdrehte der belustigt die Augen

„Ich klettere jedes Mal für ein Telefonat mit euch auf eine verdammte Tanne! Glaubst du allen Ernstes, die paar Kilometer werden uns auseinanderreißen? Es macht die Sache schwieriger – aber nicht unmöglich! Wir schaffen das schon irgendwie…“

Tyson schaute von einem Gesicht zum Nächsten. Er dachte über diese Worte nach und nickte dann doch irgendwann, da machte sich auch schon ein verlegenes Lächeln auf seinen Lippen breit. Er kratzte sich am Nacken. Eigentlich sollte er es tatsächlich besser wissen.

Sie hatten schon andere Distanzen gemeistert, weshalb sollten sie ausgerechnet jetzt scheitern?

„Jah. Ihr habt ja recht.“, er dachte kurz nach und schaute etwas betreten in den Karton. „Vielleicht entschuldige ich mich doch bei Kai. Ich habe ihm etwas ziemlich mieses an den Kopf geworfen.“

„Oh man...“, Ray fuhr sich stöhnend über die Nasenwurzel. „Was hast du jetzt schon wieder gesagt?“

„Das er sich in die USA verziehen soll und Max dafür bleiben kann. Und das wir ihm ohnehin alle scheißegal sind…“, murmelte er ziemlich kleinlaut. Er hörte wie seine Freunde scharf die Luft einzogen, schaute unschuldig zur Decke und fügte noch hinzu: „Eventuell auch, dass er sich zum Teufel scheren soll.“

Ein Stöhnen ging durch die Runde.

„Ein klassischer Tyson.“, kam es kurz darauf unisono.

„Ja, ja. Sehr witzig.“, sein Zorn war eigentlich schon wieder komplett verflogen und wich nun dem Schuldgefühl. „Glaubt ihr er ist noch sauer? Vielleicht ist er deshalb noch nicht da und taucht gar nicht mehr auf.“

„Eigentlich hatte Kai versprochen dass er mithilft.“, überlegte Ray. „Er gibt ungerne ein Versprechen, aber wenn er es mal tut, dann ist es in Stein gemeißelt.“

„Ehrlich gesagt hat er mir schon so viel geholfen, dass ich ihn gar nicht mehr um Hilfe bitten will.“, Max packte nach einem der Umzugskarton und brachte ihn zum Tisch, um ihn dort mit Klebeband zu schließen. „Ich bin ihm so dankbar, Leute! Ohne ihn hätten Dad und ich das niemals finanziell stemmen können. Aber das muss ich euch mal in einer ruhigen Minute erklären, nicht wenn er jeden Moment gleich auftauchen könnte. Ihr wisst ja, dass er um so etwas keinen großen Wirbel mag. Wenn Kai hört, dass ich euch auch noch brühwarm davon erzähle, macht er mir die Hölle heiß!“

Total neugierig wollte Tyson ihn schon dazu drängen, doch wenigstens eine Kurzfassung daraus zu machen, da vernahm er aber auch schon Kennys Stimme von draußen, die Kai begrüßte und ihm versicherte, wie froh er doch sei, dass er es noch geschafft hatte.

„Ich habe es versprochen…“, war dessen einziger Kommentar dazu.

„Da siehst du es.“, sprach Ray an Tyson gewandt. „Wenn es darauf ankommt, halten wir doch immer zusammen. Das wird sich niemals ändern.“

Er lüpfte einen Karton vom Boden und machte sich gutgelaunt auf den Weg hinaus.

Dabei fügte er glucksend hinzu: „Wir waren schon immer ein Team. Glaub mir, es müsste einiges passieren, damit wir uns aus den Augen verlieren.“

Beide ließen Tyson zurück, bepackt mit ihren Kartons. Dem fiel inzwischen ein Bilderrahmen auf, der aus einem der Umzugskisten hervorschaute. Es war ein Gruppenfoto von ihnen. In einem Anflug von Nostalgie zog Tyson es zwischen den anderen Sachen hervor. Dieses Bild besaß er auch zuhause. Ihm fiel auf, wie sorgfältig Max darauf geachtet hatte, dass es auch an oberster Stelle lag. So wie er ihn kannte, würde es das Erste sein, was er sich in seinem neuen Heim, an die Wand nagelte. Draußen vernahm er, wie die Gruppe miteinander redete. Mr. Tate hatte einen Witz gemacht, den wohl alle ziemlich komisch fanden, da spürte Tyson jemanden hinter seinem Rücken, der geradezu lautlos an ihm vorbeihuschte. Manchmal bekam man den Eindruck Kai könne fliegen, so leise bewegte er sich fort. Tyson schielte zur Seite, wo sein Freund bereits dabei war, einen weiteren Karton zu ergreifen.

Ohne ein Wort des Grußes…

Diese Stimmung zwischen ihnen, nach einem ihrer Reibereien, kannte er nur allzu gut. Er konnte förmlich fühlen, dass es in Kai noch brodelte. Ihm war klar, dass die anderen so lange abwarteten, bis er wieder einmal den ersten Schritt machte. Manchmal nervte Tyson das, weil Kai einfach nie von seinem hohen Ross herunter steigen musste, aber das er selbst auch über die Stränge geschlagen hatte, war ihm auch bewusst. Er tat einen tiefen Atemzug, wollte bereits zu einer reumütigen Entschuldigung ansetzen, da fuhr ihm Kai dazwischen: „Was du am Wochenende gesagt hast… das stimmt nicht.“

Es klang nicht wütend – eher bitter.

Irritiert blinzelte Tyson ihn an. Für gewöhnlich warf Kai ihm nie eine seine vorlauten Äußerungen nochmal vor, als wären sie absolut nichtig. Wenn sie sich versöhnten, zuckte er sonst nur mit den Schultern und versicherte ihm hochmütig, dass es ihn ohnehin nicht scherte, was er über ihn dachte – auch wenn Tyson wusste das er sich doch insgeheim geärgerte hatte. Er starrte Kai verdutzt an. Dessen Gesicht war von ihm abgewandt, dennoch erhaschte er eine leichte Röte auf seinen blassen Wange.

Da ging ein aufatmen durch Tyson, als er endlich begriff. Ihre üblichen Zankereien waren eher oberflächlich, daher hielt es Kai nicht für nötig, sie noch einmal aufleben zu lassen. Doch was am Wochenende gesagt wurde, das hatte ihn tatsächlich gekränkt. Er starrte ihn einen Moment mit offenem Mund an, dann wurde sein Ausdruck reumütig und er schloss wissend die Lider. Ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht.

„Ja. Das weiß ich doch.“, er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schaute seufzend zur Decke. „Ich hatte echt einen miesen Tag und habe es an dir ausgelassen. Tut mir Leid.“

Nun wandte Kai ihm doch das Gesicht zu. Er wirkte ziemlich ernst und auch etwas abgekämpft, womöglich weil er direkt von der Arbeit kam. Tyson erhaschte sogar den leichten Anflug von dunklen Augenringen. Doch letzten Endes nickte Kai nur.

„Vergiss es.“, kam die Antwort. „Wir hatten wohl beide keinen guten Tag.“

„Hattest du Probleme daheim?“

Einen Moment hätte er schwören können, dass sich die Augen vor ihm erschrocken weiteten, doch da drehte Kai auch schon wieder den Kopf von ihm weg.

„Nein. Alles in Ordnung. Aber das nächste Mal ruf vorher an.“

„Ja. Schon gut.“, murrte Tyson verstimmt, ließ ihm aber seinen Willen. Es gab wohl Dinge, an denen konnte man bei Kai einfach nicht rütteln und er wollte ohnehin nicht mehr streiten. „Ist dann jetzt alles wieder okay zwischen uns?“

Ein geheimnisvolles Lächeln huschte über Kais Mundwinkel.

„Warum? War etwas?“

Damit drehte er sich um und trug den Karton zur Tür hinaus. Das war eines jener Dinge, die Tyson an ihm schätzte. Dieser Junge war kaum nachtragend, zumindest sprachen sie nie ein zweites Mal über solche Vorfälle. Er wusste dass damit die Sache aus der Welt war. Sie hatten sich immer irgendwie vertragen und mit seinen restlichen Freunden, würde er auch immer irgendwie in Kontakt bleiben. Ray hatte ganz Recht. Die Distanz machte die Sache schwieriger, aber nicht unmöglich. Tyson musste zufrieden grinsen und etwas erleichtert schaute er auf das Bild in seiner Hand.

Da entglitten ihm die Gesichtszüge.

Das Glas innerhalb des Rahmens bekam Risse.

Sie lebten klackernd auf – wie spinnwebenartige Blüten.

Tyson stockte der Atem, während seine Augen sich weiteten. Da schrak er auf, weil dicht in seiner Nähe eine altmodische Standuhr läutete, die kurz davor noch nicht dort gewesen war. Wie von Geisterhand, war sie in einer Ecke des Ladens erschienen. Seine dunklen Pupillen folgten dem goldenen Pendel im hölzernen Uhrwerk. Beobachteten wie es von einer, auf die andere Seite schwang. Ihr dumpfes Schlagen übertönte die Stimmen seiner Freunde und klang geradezu alarmierend in seinen Ohren.

Inzwischen legte sich jeder Sprung in dem Bild, über das Gesicht einer seiner Freunde, bis die ganze Scheibe übersät von ihnen war. Tyson starrte mit flachen Atemzügen auf das Foto, sah mit an, wie eine Person, nach der anderen, hinter dem Riss verschwand, wie hinter einem milchigen Schleier. Sie wurden unkenntlich. Sein Griff um den Rahmen zitterte. Denn letztendlich blieb nur noch seine eigene Gestalt auf dem Foto zurück.

Ganz allein…
 

„Hey, du solltest bei dieser Kälte nicht schlafen!“
 

Tyson schlug ruckartig die Augen auf, als er einen Ellbogen gegen die Rippe bekam, da saß er auch schon kerzengerade. Er blinzelte irritiert umher, bis ihm Maxs besorgte Miene zu seiner Seite auffiel.

„Das ist so ziemlich das Dümmste was du bei diesem Wetter machen kannst.“, erklärte der vorwurfsvoll und zog die Decke noch etwas enger um seine Schulter, denn auch er bibberte am ganzen Körper. „Wir haben es gleich geschafft. Bitte nick uns jetzt nicht einfach weg.“

Tyson gab ein müdes Murren von sich. Kurz vor ihrem Ziel merkte er, wie erschöpft er eigentlich war. Er fragte sich wie lange er eingedöst war.

Sein Blick huschte durch die Gruppe und wie Ray gegenüber von ihm, seinen Kopf so abstützte, machte es den Eindruck, als ob ihm sein eigener Schädel, von Minute zu Minute schwerer wurde. Bei jeder Erschütterung schrak er hoch und schüttelte sich, um die Trägheit aus seinen Gliedern zu bekommen. Sie alle brauchten wohl dringend eine Mütze voll Schlaf. Tyson rieb sich über die Augen und schaute zu Kai. Der sah einfach nur in die Ferne – komplett in seinen unergründlichen Gedanken versunken. Es schien als sei lediglich sein Körper anwesend, sein Geist aber weit fort.

„Hat er bisher etwas gesagt?“, wollte Tyson wissen.

„Nein.“, es kam recht enttäuscht von Max. Dann neigte er sich etwas zur Seite und flüsterte ihm zu. „Er bereitet mir ehrlich gesagt ziemliche Sorge.“

„Galux meinte, dass muss so sein. Bisher hat sie uns immer gut beraten, also vertrau ihr.“

Er nickte zum Bit Beast, was in der Mitte der Ladefläche, zu ihrer aller Füßen schlief. Sie wirkte wieder etwas kleiner als noch vor zehn Minuten, wie eine Flamme die langsam herunterbrannte.

„Ja schon, aber wie sollen wir uns jetzt verhalten? Außerdem müssen wir aufpassen, wem wir in der Stadt in die Hände laufen.“

„Wieso?“, fragte Tyson verdutzt.

Max schnalzte, offenbar weil er das Offensichtliche nicht erkannte.

„Erinnerst du dich an den Brand im Hiwatari Anwesen?“

„Wie könnte ich den vergessen…“

„Und wie lange hat es gebraucht, bis die Presse vor seiner Haustür stand? Kai ist ein hohes Tier in der Finanzwelt. Wenn irgendwie herauskommt, dass er psychisch labil ist, könnte sein Ruf angeknackst sein! Wir sollten ihn versteckt halten, solange er nicht ganz bei Sinnen ist.“

Tyson tat einen hörbaren Atemzug als der Groschen fiel. Sie mussten tatsächlich vorsichtig bleiben - allein wegen Jana. Niemand konnte sagen, wie lange Kais Verwirrung anhielt und in seinem Zustand, konnte er sich gar nicht richtig um seine Schwester kümmern. In manchen Momenten sprach Kai noch so kindlich, dass man den Eindruck bekam, er habe eine gespaltene Persönlichkeit.

„Ich kann nicht in die USA zurück.“

Der Satz riss Tyson aus seinen Überlegungen. Mit offenem Mund starrte er zu Max hinüber. Der biss sich inzwischen auf die Unterlippe und blickte auf seine bebenden Fäuste, die sich fest in der Decke verkrallt hatten.

„Nicht wenn er in diesem Zustand ist. Ich hätte ein schlechtes Gewissen ihn einfach so zurück zu lassen.“, er schaute zu Kai, der seinen eigenen Gedanken nachhing und alle um sich herum ausgeblendet hatte. Inzwischen spann Max anscheinend bereits einen Plan zurecht. „Also zunächst einmal sollten wir…“

„Fang gar nicht damit an. Du gehst auf jeden Fall in die USA zurück.“, fuhr ihm Tyson dazwischen. Maxs Blick schnellte auf. Seine Augen weiteten sich. „Du hast ja recht, dass wir auf ihn Acht geben müssen, aber es gibt keinen Grund mehr für dich, nicht sofort nachhause zu fliegen. Du hast jetzt deinen eigenen Part zu tragen.“

„Aber…“

„Nein, kein aber.“, flüsterte Tyson ihm zu. „Es ist okay… Nachdem uns Shinji bei meinem Wagen abgelassen hat, soll uns Galux erst einmal zu Mariah führen. Anschließend fahre ich euch zum Hotel und du klärst dann, wie du am schnellsten wieder in die USA gelangst.“

„Kai braucht uns.“

„Er braucht einen von uns. Es ist nicht notwendig dass du auch noch bleibst, wo du daheim mehr benötigt wirst.“, Tyson seufzte und schaute verdrossen in die Ferne. „Eigentlich sollten wir dir jetzt helfen… Ich wünschte ich könnte mit dir kommen und dir beistehen, Kumpel. Judy war so ein herzensguter Mensch und nachdem was auf dem Wurzelpfad war, möchte ich ihr eigentlich auch gerne die letzte Ehre erweisen.“

Zu spät bemerkte er, dass diese Worte seinen Freund womöglich wieder deprimieren könnten, doch zu seiner Überraschung, klopfte ihm Max nur mit einem aufmunternden Lächeln auf die Schulter. Es wirkte zwar traurig, dennoch schien es Tyson, als würde in ihm neue Kraft stecken.

„Mum hat große Stücke auf euch gehalten.“, erklärte er. „Daran wird sie sich nicht aufhängen. Für sie ist es wichtiger, dass wir zusammenhalten. Und ganz weg ist sie nie…“

Max schaute lächelnd auf seine Hand. Tyson fragte sich was er dort sah, doch da stutzte er. Es war sonderbar, wie schnell man einen Traum, kurz nach dem Erwachen, wieder vergessen konnte, doch sobald Maxs Worte dessen Mund verlassen hatten, fiel er Tyson wieder ein. Er dachte an die hölzerne Standuhr und dabei kam ihm in den Sinn, dass sie kurz vor ihrer Reise in die Irrlichterwelt, in einem anderen Traum vorgekommen war. Doch womöglich spielte ihm sein Kopf nur einen Streich. Dennoch machte sich ein beklemmendes Gefühl in seiner Magengegend breit. Gerade als er Max davon berichten wollte, kam der Truck holprig zum Stehen, dass es sie einen Moment von den Sitzplätzen hob.

„So, meine Herren, da sind wir!“, schallte Shinjis Stimme zu ihnen.

Augenblicklich kam wieder Leben in die Gruppe. Tyson trat die Decke eilig von seinen Füßen und beugte sich über die Ladefläche. Er sah die steile Treppe vor sich, die den Hang hinauf zum Tempel führte, hinter welchem sich der Friedhof befand, auf dem sie Draciel geschnappt hatte. Ein breites Grinsen stahl sich auf sein Gesicht, als er unter einer dicken Schneeschicht, seinen Wagen zumindest erahnte.
 


 

*
 

Ein Tropfen rollte träge an der Außenwand des Stalaktiten ab.

Millimeter um Millimeter, bahnte er sich seinen Weg hinab, bis er an der Spitze verharrte und sich gähnend langsam in die Länge zog – bis sich der Tropfen endlich vom Gestein löste. In einer steilen Talfahrt fiel er in die Dunkelheit unter sich, prallte auf dem gigantischen Augenlid des enormen Drachens ab, der unbewegt auf dem Rücken verharrte. Den Kiefer noch immer weit aufgesperrt, mit dem bedrohlichen Gebiss darin. Selbst mit der feinen Staubschicht an vereinzelten Stellen befleckt, wirkte Dragoon noch im Tode furchteinflößend.

Dennoch saß neben dem Koloss, ein kleiner unerschrockener Funken, in Gestalt einer Maus. Die winzigen Ärmchen hatten sich verschränkt und beobachteten den leblosen Uralten, bis Allegro irgendwann das Köpfchen schüttelte.

„Herrje… Wie bedauerlich. So viele sinnlose Tode.“

Der Mäuserich seufzte.

„Und das alles nur für etwas so belangloses wie Rache. Mon Dieu, was ging nur in seinem Kopf vor? Das kann es doch nicht wert gewesen sein…“

Ein weiterer Tropfen ging auf Talfahrt. Wie sein Vorgänger prallte auch er auf derselben Stelle auf. Allegro setzte sich auf und sträubte sich, um die Kälte aus seinen winzigen Gliedern zu bekommen.

„Nun gut, es hat keinen Zweck. Ich kann nur hoffen, dass der nächste Uralte das Leben mehr schätzt, als der eitle Drache hier. Auch wenn man über Tote nicht schlecht spricht, so war dieser Schurke doch verblendet von seiner Macht. Recht geschieht es ihm allemal…“

Allegro machte auf dem Absatz kehrt und begann den Weg zurück zu hüpfen. Die kleine Strommaus kam bis zur anderen Seite der Kammer, wollte bereits Fels um Fels, den Hang hinaufkraxeln, der zum beschädigten Stollen oben führte, da hörte er eine Regung hinter sich, als würde eine Walze den Boden umpflügen.

Die kleinen Ohren Allegros zuckten. Er machte mit einem beherzten Sprung in der Luft kehrt und verweilte in Alarmbereitschaft. Einen Moment wollte der wackere Mäuserich nicht glauben, was er da sah und rieb sich verdutzt über die Augen. Auf der anderen Seite der Kammer, an jener Stelle, wo noch kurz zuvor Dragoons schimmernder Leichnam gelegen hatte, war nur noch triste Finsternis. Perplex fragte sich die Strommaus, ob der Uralte sich nun vollends in Luft aufgelöst hatte – immerhin war er auch ein Luft Bit Beast – da merkte Allegro, wie ein helles Licht näher an ihn herankam und seine Umgebung erleuchtete. Etwas irritiert witterte die Strommaus nach dem Ursprung, bis er merkte, dass die Quelle von oberhalb kam.

Er reagierte prompt richtig. Sein Instinkt sagte ihm, keine Zeit damit zu verschwenden, einen Blick nach oben zu werfen. Stattdessen tat er einen flinken Hopser vorwärts und das keine Sekunde zu spät, denn da grub sich Dragoons Gebiss bereits in die Stelle, auf welcher er zuvor gestanden hatte. Er hörte dessen Kiefer die Bröckchen in seinem Mund mahlen, bis der Drache sie wieder ausspie, offenbar weil er bemerkte, dass er kein Mäusefleisch zwischen seinen Zähnen schmeckte. Allegro kam inzwischen auf einem Felsvorsprung auf und blickte zu dem Uralten, verdattert über das, was er da sah.

„Du Gauner! Du lebst also noch?!“, rief er furchtlos aus. Dann ballte die Strommaus die Fäustchen vor sich und tippelte auf der Stelle, wie ein kleiner Boxer, während er Lufthiebe verteilte. „Willst mich wohl verputzen, weil ich dir einen Strich durch die Rechnung gemacht habe?! Komm nur her! Monsieur Allegro kneift vor so einem Schuft wie dir nicht den Schwanz ein!“

„Dir stopfe ich dein großes Maul, du wandelnde Landplage!“, knurrte Dragoon zornig aus. „Hast du eigentlich eine Ahnung was ihr Maden angerichtet habt?!“

„WIR?!“, brüskierte sich die Maus empört. „Wer hat den Stein denn erst ins Rollen gebracht, du arroganter Pfau?! Ihr wolltet Rache und es ist nach hinten losgegangen! Jetzt sind zwei Uralte tot. Die Konsequenzen musst du ganz alleine tragen! Selbst schuld!“

„Dich fresse ich in einem Happen!“

„Na dann, komm nur her, Bursche! Ich werde in deinem Magen Foxtrott tanzen, dass dir schlecht wird und du mich im hohen Bogen wieder heraus reihern mus-…“

Ein Beben erschütterte die Höhle, dass von der Decke der Dreck nur in Strömen herabfloss. Die Vibrationen ließen die Springmaus, ohne ihr eigenes Zutun auf der Stelle hüpfen, wie unter einem Presslufthammer. Dragoon dagegen schaute argwöhnisch hinauf. Die reptilienhaften Pupillen wurden zu schmalen Schlitzen, da erschallte ein lautes Poltern in der Kammer. Es war so finster hier drinnen, das der Drache zunächst nicht begriff, aus welcher Ecke das Geräusch kam, da schoss etwas pfeilschnell auf ihn zu. Hastig rauschte Dragoon in die Höhe. Sobald er in der Luft war, versuchte er auszumachen, was da auf ihn zugesteuert kam, da vernahm er erneut ein Surren in seiner unmittelbaren Nähe. Wieder wich der Drache aus, dieses Mal flüchtete er sich in Richtung der kahlen Felswände, denn er erhoffte sich dadurch, seinen Rücken wenigstens gedeckt zu haben. Doch plötzlich brach etwas aus dem Gestein hinter ihm hervor und bekam seinen Schweif zu packen. Dragoon gab ein aggressives Brüllen von sich, versuchte sich zu befreien, aber etwas hielt ihn fest gepackt.

„Loslassen!“, kam es zornig. Der Griff wurde nur umso erbarmungsloser, desto mehr Dragoon versuchte, seinen Schweif zu befreien. Er blickte hinter sich und blinzelte perplex, als er auf seinen leuchtenden Drachenschuppen, eine pechschwarze Ranke ausmachte. Einen Moment dachte er, Driger wäre wieder zum Leben erwacht, um sich an ihm zu rächen oder vielleicht sogar die Weltenbaummutter hielt ihn gepackt. Doch noch nie war ihm eine schwarze Wurzel untergekommen und jene seiner Mutter, leuchteten doch für gewöhnlich in diesem tröstenden warmen Glanz. Er schnappte nach der Ranke, versuchte sie abzutrennen, verfehlte jedoch sein Ziel, da die Wurzel so mit ihrer Umgebung verschmolz, dass er sie kaum ausmachen konnte.

Er drehte sich erneut um seine Achse, schnappte jedoch wieder daneben.

Bald trieb er dieses Spielchen einige Male, bis er sich wie eine Katze fühlte, die ihren eigenen Schwanz jagte. Es machte ihn unsagbar zornig.

Plötzlich ging ein Ruck durch die Pflanze. Sie riss an Dragoons Schweif, zerrte ihn in die Tiefe, bis er mit einem lauten Brüllen auf dem Boden aufkam. Um ihn herum stoben die Bröckchen nur so umher. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die winzige Springmaus in Zick Zack Linien den Geschossen auswich. Sobald er sich schwerfällig aufrichtete, drehte Dragoon erneut seinem Kiefer zur Ranke. Dieses Mal verfehlte er sein Ziel nicht. Er schmeckte die hölzerne Note auf seiner Zunge, doch als er begann, mit seinem Gebiss darauf zu kauen, schlang sich eine weitere Wurzel um seine Schnauze.

Und es blieb nicht dabei…

Überall aus dem Boden sprossen sie hervor.

Pechschwarz, knorrig und unaufhaltsam. Dragoon versuchte sich in die Luft zu erheben, doch mit einem weiteren Stoß, ging er unsanft in die Knie. Das machte ihn rasend. Diese unterwürfige Haltung wollte er nicht einnehmen und wie bei einem Tobsuchtsanfall, begann er zu schreien und an den Stricken zu reißen. Es blieb vergebens, denn er schaffte es nicht einmal mehr auf die Füße. In jenem Moment wurde ihm schmerzlich bewusst, wie sehr ihn Driger geschwächt hatte, als er einfach so seinen Arm verschluckte. Jene Kraft aus diesem Körperteil fehlte ihm und er verlor das Gleichgewicht sobald er versuchte sich aufzustemmen, klappte stattdessen schnaufend zur Seite. Dragoon fühlte wie die Wurzeln, über seine Schuppen schlichen. Sie umwickelten ihn, fesselten ihn, zwängten ihn ein, wie eine Boa die ihre Beute erdrückte.

Dieses Gefühl war unerträglich für ihn, denn er war doch der Wind. Er wollte frei sein!

Es war schrecklich sich nicht mehr bewegen zu können. Vor sich erhaschte er die kleine Gestalt der Strommaus, die recht neugierig auf einem neuen Felsen hockte und verwundert zu ihm herüberschaute. Offenbar war nur Dragoon das Ziel dieser Attacke, denn keine der Wurzeln scherte sich um den Mäuserich. Erbost knurrte der Drache, denn das kam ihm nun doch sehr ungerecht vor. Als hätte er heute nicht genug durchlitten, nun durfte die großmäulige Strommaus auch noch erleben, wie der König der Bit Beasts, von ein paar lächerlichen Ranken, wie ein Paket verzurrt wurde. Wenn er Pech hatte, würde sie gleich das Weite suchen und ihrer Sippschaft davon erzählen, bevor er ihn zu packen bekam. Diese Nagetiere waren schrecklich geschwätzig.

Jene Verästelung die seine Schnauze umwickelt hielt, schlich sich nun immer weiter, mit ihrem spitzen Ende voraus, zu seinem Ohr. Es fühlte sich an als würde eine feingliedrige Spinne auf ihm herumkrabbeln. Erneut versuchte Dragoon, sich noch einmal loszureißen, da packte die Pflanze nur fester zu. Es war wie ein Knoten. Desto mehr er zerrte, desto enger wurde es.
 

„Hörst du mich?“
 

Verdutzt blinzelte Dragoon, denn die Stimme an seinem Ohr, klang so unwirklich. Sie war leise, jedoch kräftig, von einer tiefen Tonlage, schallte aber merkwürdig nach, wie ein Echo. Seine Pupillen huschten zu seinen Augenwinkeln. Er suchte die Umgebung ab, war jedoch sicher, den Urheber dieser Worte, dicht an seinem Ohr zu finden. Dragoon blieb ruhig, wartete ab, doch irgendwann rang er sich zu einem Nicken durch. Es war alles was die Wurzel zuließ.

„Weißt du wer ich bin?“

Dragoon begann nachzudenken. Es konnte definitiv nicht die Weltenbaummutter sein. Ihre Wurzeln waren nicht schwarz. Einen Moment huschten Dragoons Augen nachdenklich hinauf, denn er konnte sich nur vorstellen, dass es sich bei dieser Ranke, tatsächlich um deren Zwillingsbruder handelte - der Weltenbaum des Todes.

Jener Sprössling der in die Menschenwelt hinaufwuchs.

Doch ein Bit Beast hatte mit dem doch nichts zu schaffen…

Seine Spezies bezog die Kraft von der Mutter, nicht von deren Bruder. Daher konnte sich Dragoon partout keinen Reim daraus machen, weshalb der Totenbaum ihn hier gefesselt hielt. Da er noch keine Antwort gegeben hatte – und auch zu nichts anderem als einer winzigen Kopfbewegung fähig war – nickte er erneut. Sofort lockerte sich der Griff um seine Schnauze und gab ihm wenigstens so viel Freiraum, um seine Lippen zum Sprechen zu bewegen.

„Gut...“

„Gut? Gar nichts ist gut! Was willst du von mir?!“, brauste Dragoon auf und stemmte sich nochmal hoch, nur um den Griff wieder fester um seinen Leib zu spüren. Es dauerte bis die Antwort folgte, als müsse der Baum viel Kraft aufbringen, um seinen Satz zu sprechen.

„Reden… Mein Neffe.“

Dragoon stutzte. Er hatte noch nie daran gedacht, den Totenbaum, als seinen Onkel zu sehen. Es klang sonderbar von ihm so angesprochen zu werden, wo er derlei Familienbanden lediglich von den Menschen kannte. Einen Moment fragte er sich, wie man sich einem Onkel gegenüber verhielt. So wie er das mitbekommen hatte, war ein solches Familienmitglied älter und genoss auch den größeren Respekt. Das passte Dragoon gar nicht, denn prompt fühlte er seine Autorität untergraben.

„Weshalb zürnst du so, Junge?“

„Ich bin kein Junge!“, empörte er sich beleidigt.

„Doch verhältst du dich so…“

„Das ist nicht wahr.“

„Weshalb dann diese Unbeständigkeit?“

„Ich bin zornig und unbeständig, weil ich von dir festgehalten werde, wie eine verfluchte Töle an einer Leine! Also lass mich frei, bevor ich mich vergesse!“

Er beschwor einen seiner Winde herauf, der aber kläglich versagte. Nicht einen Millimeter bekam er sich frei.

„Damit du dem Herz meiner Schwester eine weitere qualvolle Kerbe zufügst?“

Dragoon stöhnte, denn der Griff um seinen Leib wurde kräftiger. Offenbar war hier jemand recht schlecht auf ihn zu sprechen. Womöglich verfuhr er besser, wenn er sich vorerst mit seinen Drohungen zurück hielt. Er sah die Strommaus näher kommen. Die Ohren zuckten neugierig und er witterte in der Luft. Offenbar fragte sich der Mäuserich, mit wem er sprach. Dragoon konnte es ihm nicht verdenken, denn auch er hätte die Stimme des Baumes nicht vernommen, wäre er einfach an seiner Wurzel vorbeigeschritten.

„Hat die Weltenbaummutter auch dich aufgehetzt?“, schnaubte er inzwischen. Noch immer nahm er ihr übel, dass sie Draciel geschickt hatte, um ihn in die Schranken zu weisen. Bei dem Gedanken dass es nun auch fort war …

Dragoon musste hart schlucken, denn erst jetzt wurde ihm so richtig bewusst, dass er einen weiteren Kameraden verloren hatte. Der Drache schloss die Lider gequält. Er war doch bereit gewesen den Kampf aufzugeben, damit Draciel weiterleben konnte. Wer hätte aber ahnen können, dass ausgerechnet jenes Menschenkind, was es geschworen hatte zu beschützen, so hinterhältig zuschlug. Dabei hatte sich die Schildkröte sogar schützend über den Jungen geworfen. Dennoch war in den Augen des Kindes ein abgrundtiefer Hass gewesen, den Dragoon so nur von Dranzer kannte.

„Ich handle nicht für meine Schwester – Ich handle aus freien Stücken. Denn jedes Wesen ist für sein Handeln selbst verantwortlich.“, erklärte der Totenbaum nur ruhig. „So wie ihr Uralten für eure Taten gerade stehen solltet, wenn ihr eure Macht missbraucht.“

„Was meinst du?“

„Allein die Frage zeugt von deiner unendlichen Torheit…“

Dragoon keuchte gequält, denn der Druck um seinen Leib wurde stärker. Er kam sich wie eine Walnuss vor, deren harte Schale man versuchte zu knacken, um sein innerstes zu Tage zu fördern.

„Sag mir Neffe, welchen Grund gibt es noch, um dich am Leben zu lassen?“, die Stimme klang dunkel, fast schon bedrohlich und dennoch war sie von einer Ruhe, als würde der Baum nur vom Wetter sprechen. „Deine Engstirnigkeit hat ein Chaos erschaffen, was das Ende beider Welten einläuten könnte. Dabei seid es gerade ihr Uralten die doch Ordnung schaffen sollten. Also sag mir Neffe, was hat dein Leben noch für einen Wert, wenn du deinen angeborenen Verpflichtungen nicht nachkommst?“

Ihm wurde schlecht und bald fühlte Dragoon wie seine Knochen unheilvoll zu knacken begannen. Diese Enge machte ihn schier wahnsinnig. Er spürte schon gar nicht mehr, dass der Mäuserich über seine Schuppen kraxelte und sein Ohr auf die Wurzel legte, um zu lauschen.

„Du hast mehr Zerstörung angerichtet, als du Leben erhältst. Ich bin in arger Bedrängnis deinetwegen. Zum einen mag ich meiner Schwester nicht das Herz brechen, indem ich sie eines weiteren ihrer Kinder beraube. Doch andererseits bewahrst du das Leben nicht – viel schlimmer noch – du achtest es gar nicht einmal mehr. Wie ein ignorantes Kind, was mit Steinen nach Fröschen wirft. Du magst an deiner Macht deine Freude haben, doch der Frosch stirbt im Ernst...“

„Ich handle doch nicht willkürlich, die Natur ist nun einmal erbarmungslos!“, wehrte sich Dragoon gegen den Vorwurf. „Und weshalb predigst ausgerechnet du mir vom Leben?! Du bist der Totenbaum! In deiner Welt hat jedes Wesen nur eine lächerlich begrenzte Lebensspanne - wie eine Eintagsfliege! Würdest du die Wesen auf deiner Oberfläche wirklich so schätzen, wie du mir vorheuchelst, hättest du ihnen das ewige Leben geschenkt, wie es die Weltenbaummutter bei uns tat.“

„Albernes Kind. Welch einfältige Worte du sprichst. Allein im Angesicht des Todes erkennt man den wahren Wert des Lebens. Doch was erwarte ich von einem Wesen, dass im Zustand unendlicher Jugend verweilt, ohne die Möglichkeit geistig zu reifen.“

Die Unterstellung machte Dragoon zornig. Erneut begann er sich gegen die Wurzeln zu wehren. Er brauchte Freiraum, Platz, die Möglichkeit sich zu bewegen, um endlich einen Gegenangriff zu starten! Der Griff um ihn herum wurde aber nur noch erbarmungsloser.

„Als meine Schwester und ich, eure Welten erschufen, ermahnte ich sie, das es töricht sei, euch Bit Beast ein ewiges Leben zu schenken. Der ständige Schatten des Todes, lässt einen erst begreifen, wie kostbar die Gegenwart ist. Er lässt einen umsichtiger mit der zugestandenen Lebenszeit umgehen. Der Schmerz, der auf den Verlust eines geliebten Wesens folgt, lässt dich fürchten, dich weinen, dich bangen und was noch viel wichtiger ist – das eigene Leben immer wieder aufs Neue hinterfragen. Eine Eigenschaft welche die Sterblichen deiner Spezies voraus sind. Mit Schrecken ruft der Tod ihnen in Erinnerung, wie schnell ihr Leben vorbei sein kann. Wie kostbar dieses Gut doch ist.“

Dragoons Versuche sich zu befreien wurden schwächer.

„Doch meine Schwester konnte den Gedanken nicht ertragen. Denn eine Mutter will derlei Dinge nicht hören. Eine Mutter möchte niemals ihre eigenen Kinder überleben. Und so bist du abgestumpft, in deinem Glauben, die Welt würde ewig in ihrem jetzigen Zustand verweilen. Der Tod bringt nämlich auch den Wandel mit sich…“

Dragoon hörte auf sich gegen seine Fesseln zu wehren, stattdessen blinzelte er verdutzt auf die letzten Worte. Auf sonderbare Weise erklärte es, weshalb er sich so verwirrt fühlte, seit seine beiden Kameraden aus der Welt verschwunden waren.

„Du fängst an zu begreifen, Neffe. Ich spüre den Schmerz in deinem Leib. Trauer beginnt sich durch deine harten Schuppen, hinein in deine Seele zu fressen - wo zuvor noch keine Empfindungen waren. Ein Gefühl was du einst gekonnt mit deiner Stärke umgangen bist, denn noch nie musstest du einen wahren Verlust erleben. Die Unterklassen hast du nur als belangloses Fußvolk gesehen – doch deine Kameraden hatten einen festen Platz in deinem Herzen. Und dieses Herz trauert nun zum ersten Mal – es fühlt Schuld und Reue. Seit Beginn deines Lebens waren sie deine Begleiter. Jeden Tag. Und nun stell dir dein künftiges Leben vor. Wie viele Tage dir dank deiner Unsterblichkeit noch bevorstehen – ohne die Gegenwart deiner Kameraden.“

Dragoon verharrte starr. Er wollte eigentlich nicht einmal daran denken.

Auf einmal kam ihm die Ewigkeit so unendlich lange vor.

„Es wird neue Uralte geben…“, sprach der Drache. Jedoch recht beklommen.

„Mag sein, mein Neffe. Doch wirst du dich der neuen Generation, jemals so verbunden fühlen, wie jenen Kameraden, mit denen du von klein auf groß geworden bist?“

„Es sind ebenfalls Uralte. Warum sollte ich nicht?“

Die Worte kamen über seine Lippen, als wolle er sich selbst überzeugen, denn wirklich daran glauben, konnte Dragoon auch nicht so recht. Immer mehr hatte er den Eindruck, sich eigentlich selbst zu belügen.

„Es werden aber andere Uralte sein. Sie werden niemals Driger oder Draciel gleichen können. Ein Fisch im Schwarm, mag sich optisch nicht von seinen Artgenossen unterscheiden, dennoch… Betrachtest du ihn genauer, wirst du feststellen, dass sein Schuppenmuster niemals identisch, zu seinem Nebenmann ist. Wenn bereits diese banale Äußerlichkeit den Fisch einmalig macht, was glaubst du, wie es in seiner Seele aussieht?“

Der Vergleich erinnerte Dragoon an seinen Streit mit den Makrelen Bit Beasts. Damals hatte er abfällig behauptet, dass einer wie der andere war. Als wäre die Last seiner Schuldgefühle nicht schon erdrückend genug, gesellte sich nun auch diese hinzu. Er schloss gequält die Augen, in der irrsinnigen Hoffnung, die Wahrheit damit nicht zu sehen.

„Denn auch das lehrt uns der Tod. Wen immer wir verlieren - er war einzigartig. Es ist ein wundervolles, melancholisches Zusammenspiel, aus vielen kleinen Facetten. Doch du, mein Neffe, du wolltest es all die Jahre nicht erkennen. Ausgerechnet deine Unsterblichkeit hat dich erblinden lassen.“

Dragoon schaute wieder in die Ferne, auf einen Punkt, den er doch nicht wirklich sah, tief versunken in seinen Überlegungen.

„Lass die Trauer um deine Kameraden zu.“

„Ich will nicht. Es ändert nichts daran und… es tut nur weh!“

„Das sollte es auch. Ein gefühlstauber Uralter, kann keine Welt erhalten. Du musst diesen Schmerz spüren. Es ist eine Lehre vor der du dich nicht mehr verstecken darfst. Deine Rache hat dir mehr geschadet, als das sie dir Genugtuung bereit. So wie bei Dranzer.“

Dragoon wandte unwillig den Kopf ab.

„Hör auf von dieser alten Geschichte zu sprechen…“

„Wenn sie so alt ist, weshalb beschäftigt sie dich dann heute noch?“ , fragte ihn der Totenbaum. Seine Verästelungen wanderten zu seiner Brust, wo die Spitzen sich auf sein Herz legten, wie feingliedrige Fingerkuppen die zu glimmen begannen. „Dieser Schmerz ist der Ursprung, weshalb du eine tiefe Abneigung gegen jegliche Empfindungen hegst. Deine erste Emotion war die Liebe zu Dranzer. Doch da sie unerwidert blieb, hat es dich tief bis ins Mark erschüttert. Du bist ein gebrandmarkter Junge der das Feuer meidet.“

„Ein Bit Beast liebt nicht!“, spie Dragoon verbissen die Worte aus.

„Sie haben lange Zeit nicht geliebt. Denn mit Dranzers Geburt habt auch ihr diese Fähigkeit erhalten – ohne es wirklich zu begreifen.“

Geschockt hielt der Drache den Atem an…

Dann weiteten sich seine Augen immer mehr.

Die Erkenntnis war wie ein Schalter der sich umlegte. Auf einmal spielten sich in seinem Kopf unzählige Szenen ab, die er mit Dranzer durchlebt hatte, als ihre Zuneigung zueinander noch jung und unerschütterlich schien. Sein kleines Küken war ihm wie ein wertvoller Schatz vorgekommen und da ein Drache dafür bekannt war, geradezu argwöhnisch über seine Beute zu wachen, hatte er sich jede Nacht um seine zierliche Phönixdame gerollt, damit sein Leib ihr als Schild vor angriffslustigen Bit Beast diente. Nicht eine Sekunde scherte es ihn, das er sich damit selbst zur Zielscheibe machte, denn ihre Sicherheit war ihm das oberste Gut geworden. Mit ihrer Geburt war seinem Leben ein Sinn gegebenen worden, denn zuvor hatte er sich gefühlt, als sei er inmitten seines tristen Alltags gefangen und schlagartig in ein gleißendes Licht getaucht worden. Auf einmal schien es mehr zu geben, als seine Pflichten als Uralter. Jede Sekunde mit ihr schien ihm so unendlich kostbar…

Dragoon blinzelte mehrmals. Die Sicht vor ihm trübte sich durch die wässrige Schicht, die sich unter seinen Lidern bildete. Er kämpfte dagegen an.

„Flieh nicht davor...“

Ihm war als zwinge ihn der Totenbaum, sämtliche Gefühle erneut aufleben zu lassen, die damals in ihm vorgegangen waren. Er spürte wie die feinen Wurzeln an seiner Brust, seinen Körper mit einer Energie füllten, die einen merkwürdigen Effekt auf ihn besaß. Als würde sich ein Knoten in seiner Brust langsam lösen. Eine unendliche Trauer fraß sich in jede Faser seines Herzens. Als könne er sich nicht mehr innerlich davor verschließen.

„Deine Seele ist in Ungleichgewicht. Lass mich die Waagschalen wieder ausbalancieren.“

Das wollte er nicht! Nein, er wollte es nicht!

Doch ihm war als bliebe ihm gar keine andere Wahl. Auf einmal erinnerte Dragoon sich daran, wie sein Herz vor Freude zerbersten wollte, sobald Dranzer ihm einen Blick aus ihren schimmernden Augen schenkte. Er hatte es geliebt… So schmerzlich geliebt!

Die Art wie sie ihn anhimmelte, zugleich ihre neckenden Worte und obwohl sie ihn ständig für seine hochmütige Eigenheit tadelte, schmiegte sie dennoch jede Nacht ihr hübsches Köpfchen an seinen und flüsterte ihm ein Schlaflied ins Ohr.

Es klang damals so wundervoll…

Ihr Duft lag ihm dann in den Nüstern. Kurz bevor er einnickte, vernahm er jedes Mal, wie sie ihm leise dafür dankte, dass er ihr ein so guter Fluglehrer war. Ein treuer Beschützer – ein Freund. Selbst das Geräusch von rauschenden Baumwipfeln, vermochte ihn nicht einmal annähernd so zu berühren, wie eine Silbe aus ihrer Kehle es damals konnte. Allein wie sie seinen Namen stets gerufen hatte. Nach der Fehde mit Wolborg spie sie ihn nur noch voller Verachtung aus.

„So viel Trauer…“

Er presste die Augen fest zusammen. Geradezu krampfhaft versuchte er nicht daran zu denken, nicht dem Schmerz zu erliegen, der aufkam, sobald er sich in Erinnerung rief, welche Verbundenheit er verloren hatte. Die Energie drang nur umso tiefer in ihn ein.

„Flieh nicht davor…“

„Bitte hör auf.“, seine Stimme war erschreckend brüchig. Da stieg in ihm auch schon das Bild auf, wie Dranzer zu ihrer Schwester flatterte, ihr aufgeregt schilderte, welche Abenteuer sie mit Dragoon erlebt hatte… und ihm von da an kaum noch Bedeutung schenkte. Auf einmal wurde er wieder ihrer Gegenwart beraubt. Ihre Schwester hielt sie stets in Beschlag, weigerte sich, sie herauszugeben, weil Dranzer sich auf ihre Pflichten als Uralte konzentrieren sollte. Vorbei war es mit den innigen Momenten, den lieben Berührungen – dabei war er doch regelrecht süchtig danach geworden!

„So viel Zorn…“

Er hatte es doch geliebt, wie sie mit ihrem Schnabel zärtlich an seiner Drachenhaut knabberte, ihr Köpfchen voller Vertrauen gegen seinen Leib schmiegte. Dragoon presste die Augen zusammen, tat einen erstickten Atemzug. Doch der Totenbaum förderte die unterdrückten Gefühle nur weiter ans Tageslicht, wie ein Bergbauer der nach Kohle grub.

„Flieh nicht mehr davor…“

Er zwang ihm den Schmerz wieder auf - dieselbe Verletzlichkeit von damals überfiel ihn. Es hatte ihn so gequält wie unbeschwert Dranzer weiterleben konnte, obwohl er doch so furchtbar litt. Dass sie kaum einen Gedanken an ihn zu verschwenden schien, tat mehr weh, als Wolborgs Gehässigkeit ihm gegenüber.

„Ich hasse sie!“, entfuhr es ihm auf einmal.

„Nein, tust du nicht. Du liebst sie noch immer.“

„Nein! Ich hasse sie! Schau doch was sie aus mir gemacht! Zuvor war mein Leben ohne Sorgen!“, er fühlte das aufkommendes Prickeln unter seinen Lidern. „Wofür soll Liebe gut sein, wenn sie einem einfach so entrissen werden kann? So etwas sollte es nicht geben! All dieser Kummer der danach folgt, ist doch keine einzige Sekunde dieses Glückes wert!“

„Und deshalb wolltest du ihr auch Schmerzen bereiten?“

„Ja verdammt! Sie sollte wissen, wie es sich anfühlt, einfach so ohne Grund verletzt zu werden!“, schrie Dragoon verbittert aus. Er fühlte eine feuchte Bahn auf seiner Wange. „Ohne Wolborg war unser Leben so wunderbar! Aber kaum das wir zurück waren, hat sich Dranzer von mir abgewandt! Als hätte unsere gemeinsame Zeit ihr nichts bedeutet!“

Die alte Wut kochte wieder ihn ihm hoch. Die Augen leuchteten bedrohlich und doch traten aus ihren Winkeln nur weitere Tränen hervor.

„Ich lasse mich von niemandem mehr so behandeln! Weder von Dranzer - noch von Takao!“, und dann schrie er den letzten Teil hinaus, dass die Wände der Kammer unter seinem Zorn erbebten. „Ich bin kein aussätziger Köter, den man einfach so an einen Baum bindet und vergisst!“

Der Satz schallte laut in der Kammer nach, als er seine Qual in die Welt hinausbrüllte. Als würde das tobende Monster, was so lange in seiner Seele gehaust hatte, endlich hervorbrechen. Gleichzeitig begann sein Körper zu beben. Erschüttert von dem altbekannten Kummer. Die Tränen rannen in Bahnen aus Dragoons Augen und lange Zeit, äußerte sich der Totenbaum dazu nicht mehr.

Er schwieg nur noch…

Kein Wort der Anklage kam von ihm.

Er hielt den Drachen nur fest umschlungen, als wolle er ihn davor bewahren, weiterhin vor seinen Empfindungen zu fliehen – doch zugleich kam es Dragoon auch wie eine tröstende Umarmung vor. So viele Jahrhunderte hatte er den Zorn unterdrückt, seine Trauer tief in der Seele vergraben, weil ein Bit Beast sich doch nicht seinen Schwächen hingeben sollte. Ein Tier das kränkelte war eine leichte Beute für den Jäger. Dennoch…

Nachdem er seinen Zorn hinausgebrüllt hatte, die Tränen langsam versiegten, der Damm endlich gebrochen war, wurde er zunehmend ruhiger. Irgendwann kam nur noch ein erschöpftes Seufzen von Dragoon. Sobald der Sturm vorbei war, überfiel ihn eine unsagbare Trägheit und er fühlte sich matt. Als habe der Drache all die Jahre seine Macht aus diesem Groll gezogen. Einige wehmütige Atemzüge entwichen seiner Kehle. Er musste wieder an seine gefallenen Kameraden denken. Gleich darauf wünschte er sich voller Reue, die Zeit zurückdrehen zu können. Hätte er die Möglichkeit gehabt, er hätte jetzt einige Male anders gehandelt. Er war so schrecklich traurig und einsam…

„Auch der stärkste Orkan muss irgendwann wieder zu einem sanften Hauch werden.“, sprach der Totenbaum dicht an seinem Ohr. Endlich löste sich der Griff um Dragoons Leib. Die hölzernen Finger wichen knackend von ihm, dennoch rührte er sich nicht, blieb auf dem Erdboden nur reglos liegen. Zunächst hielt der Drache die Lider geschlossen, atmete ruhig ein und aus. Erst als Dragoon fühlte, wie etwas Winziges auf seiner Schnauze Platz nahm, öffnete er träge die Augen. Erschöpft blickte er auf die kleine Strommaus hinab, die ihn mit unverhohlener Neugierde begutachtete und die Ärmchen nachdenklich vor der Brust verschränkte. Dann sprach der Mäuserich, mit zur Seite geneigten Köpfchen:

„Äußerst faszinierend. Dabei dachte ich immer Liebeskummer gäbe es nur bei Menschen.“
 

*
 

„Oh mein Liebling!“, frohlockte Tyson. Er lag auf seinem Lenkrad und strich mit einem verträumten Ausdruck über die Armatur. An diesem Wagen hatte er so viele Stunden herumgebastelt, es hätte ihn gegrämt, wenn er abgeschleppt worden wäre. Neben ihm ließ sich Ray müde in den Beifahrersitz gleiten und verdrehte die Augen. Was dieses Thema anging, trennten sie beide Welten. Er wusste dass für ihn ein Wagen nur vier Räder und einen Motor brauchte. Als sie zu Rays Hochzeit nach China reisten, hatte Tyson ihn fassungslos gefragt, warum er sich mit dem eingenommen Geld von der Feier, nicht einen schicken Wagen gönnte, anstatt den klapprige Truck weiterhin zu fahren, den er tatsächlich sein Auto schimpfte.

„Das ist kein Wagen, das ist ein Zustand! Wo ist denn der rechte Spiegel abgeblieben?!“

„Der war schon nicht dran, als ich ihn gekauft habe.“, hatte Ray trocken gelacht und noch gemeint, dass ein Porsche bei ihm im Dorf wohl mehr als fehl am Platz war, immerhin seien die Straßen so staubig, das man nach zwei Stunden vor seiner Haustür, nicht einmal mehr die Farbe des Lacks erkennen könnte.

„Bitte schmeiß einfach nur den Wagen an und fahr los. Danach könnt ihr beiden euch von mir aus ein Zimmer nehmen.“, murrte Ray gelangweilt. Tyson ließ ihm den Spott durchgehen, konnte sich ein Grinsen dennoch nicht verkneifen. Seit sie wieder zuhause waren, überkam ihn der alte Übermut. Es war wundervoll endlich in der Heimat zu sein, nachdem sie unwegsamen Dschungel, lebensfeindliche Eislandschaften und finstere Höhlen überwunden hatten – ganz zu schweigen von dem Lavasee, den Dranzer erschaffen hatte, um Kai im Hiwatari Anwesen festzuhalten. Vor einigen Stunden sah es noch so aus, als würden sie es gar nicht mehr nachhause schaffen. Selbst das Auto vom Schnee zu befreien, ärgerte ihn nicht einmal mehr, stattdessen fegte er mit den Armen stürmisch über das Dach hinweg, dass Max eine Ladung abbekam und es ihm mit einem Schneeball ins Genick heimzahlte.

Tyson begann am Rückspiegel zu nesteln, dabei fiel ihm Kais Gestalt ins Visier, der seinen Kopf an die Scheibe lehnte und mit mattem Blick hinausschaute. Es erinnerte ihn daran, wie er nach ihrer durchzechten Nacht, neben ihm auf dem Beifahrersitz eingenickt war, in genau dieser Haltung. Er sah damals so friedlich aus und eine winzige Sekunde, stellte er sich vor, wie es wohl wäre, diesen Anblick jeden Morgen beim Aufwachen, neben sich im Bett zu haben. Gleich darauf flaute seine Euphorie auch schon ab und er räusperte sich unangenehm berührt, dabei kämpfte er gegen das Brennen auf seinen Wangen. Auf einmal fühlte sich sein Kopf an, als hätte man ihm glühende Kohlen in die Backen gestopft. Tyson fragte sich, ob ihm in Zukunft nun vermehrt solche Überlegungen bevorstanden. Er hatte ständig das Gefühl, seine Freunde könnten etwas bemerken, dass sein eigener Körper verräterische Signale sendete und da er keine Ahnung hatte, wie sie zu diesem Thema standen, machte ihn das ziemlich fahrig. Seine Finger zitterten leicht vor Unbehagen, als er weiter am Rückspiegel herumwerkelte. Dagegen schien Kai gedanklich weggetreten. Doch plötzlich setzte er sich auf und platzierte die gespreizte Handfläche sachte auf der Scheibe, dabei neigte er den Kopf zur Seite. Auch Tysons Blick huschte nun hinaus, doch wie schon die Male zuvor, war draußen nichts Besonderes zu erkennen - bis auf viel Schnee. Er hätte alles darum gegeben, einen leisen Einblick hinter Kais Stirn zu erhaschen. Zu gerne wollte er wissen, welche Erinnerung sich erneut vor seinem inneren Auge abspielte. Dann schien er jemandem zuzuwinken...

Tyson beobachtete, wie seine Fingerkuppen sich neigten, wie bei einem zaghaften Gruß.

„Alles okay?“, kam die Frage auf einmal von Max. Irritiert blinzelte Tyson. Er hatte Kai so konzentriert beobachtet, dass er gar nicht bemerkte, wie ruhig es im Wagen geworden war, denn auch den anderen Anwesenden, war dessen Verhalten nicht entgangen. Anstatt zu antworten nickte Kai nur stumm. Seine Augen wirkten irgendwie trüb. Tyson kam es vor, als habe er gar nicht richtig begriffen, dass Max mit ihm sprach. Der rutschte auf der Rückbank näher an ihn heran und schaute über Kais Schulter hinweg, ebenfalls aus dem Fenster.

„Was siehst du da?“, fragte er heiter. Es klang jedoch etwas aufgesetzt, als wolle er seine Besorgnis damit nur überspielen. Lange Zeit blieb es ruhig. Da murmelte Kai nur leise: „Kinder…“

Es wurde erneut mucksmäuschenstill im Wagen.

„Und was machen diese Kinder?“

„Sie verabschieden sich von mir.“

Seine Stimme klang monoton.

„Okay… Warum machen sie das?“

„Weil ich morgen nicht mehr zurückkomme. Ich soll in einen neuen Kindergarten gehen.“

Eigentlich wollte Tyson nicht so offensichtlich starren, doch bei diesem Satz fuhr er herum. Es war das erste Mal, dass Kai etwas aus seinen frühen Kindertagen preisgab.

„Seid ihr einmal umgezogen?“, fragte er wissbegierig.

„Nur ich… Opa sagt ich darf ins Ausland.“

Tysons Augen weiteten sich und als er sich im Wagen umschaute, ging es seinen Freunden ähnlich. Sie ahnten alle welchen Moment Kai gerade durchlebte.

„Musst du dich verabschieden, weil du nach Russland gehst?“, kam die Frage von Ray. Da wandte sich Kai um. Geradezu verwirrt blinzelte er ihn an.

„Nein. Großvater sagt nur, dass ich in einen neuen Kindergarten komme, so lange meine Eltern fort sind.“, dann fragte er geradezu verwundert. „Was ist Russland?“

Es wurden vielsagende Blicke untereinander ausgetauscht. Soweit schien Kai also noch nicht gekommen zu sein. Tyson fragte sich, was genau die Erinnerungen in seinem Kopf wachrief. Offensichtlich musste es nicht zwangsläufig mit Orten zu tun haben, die er tatsächlich einmal besucht hatte, sondern konnte auch nur vage einer Szene aus der Vergangenheit ähneln. Im Geiste stellte er sich vor, wie sein kleiner grauer Kater, einmal in einem Auto saß und von dort aus, seinen Freunden aus Kindergartentagen zuwinkte, die ihn von der anderen Seite der Scheibe aus nachschauten - während Kai leichtgläubig auf die Worte seines Großvaters vertraute. Ohne zu ahnen, dass es für ihn eigentlich in die Abtei ging. Einem Ort der weit davon entfernt war, auch nur ansatzweise an einen gut behüteten Kindergarten heranzureichen. Der Gedanke stimmte Tyson so traurig und wütend zugleich, dass ein verbissener Ausdruck auf sein Gesicht trat und er sich dem Lenkrad zuwandte. Geradezu trotzig ließ er den Motor aufleben und sprach: „Für dich geht es heute nur noch nachhause.“
 

Etwas später steuerte Tyson den Wagen durch die zugeschneiten Straßen der Stadt. Offenbar kam der Winterdienst nicht mehr mit dem Streuen nach, denn nur wenige Wege waren richtig freigeräumt. Max warf die Vermutung in den Raum, dass der Wintereinbruch wohl einfach zu plötzlich kam und wahrscheinlich nicht einmal genug Salzvorräte da waren, um alle Stadtteile damit zu versorgen. Bis in den späten November herrschte in Japan für gewöhnlich ein angenehmes Herbstklima. In die wenigen Straßen die noch frei waren, zwängten sich die Autos geradezu hinein, um den Schnee zu umgehen.

Tyson musste gestehen, dass die Fahrt eine ziemliche Zerreisprobe für sein Nervenkostüm darstellte. Desto schlechter das Wetter war, desto dämlicher stellten sich manche Fahrer an, zumindest seiner Ansicht nach. Mehrmals musste er den Wagen umständlich um Hindernisse herum manövrieren, kam dabei manches Mal ins Schlittern und stellte zu seinem Ärger fest, dass sich Max auf dem Rücksitz wieder einmal ins Leder festkrallte und Tyson für seine waghalsige Fahrweise verfluchte. Es gab nicht vieles worüber sie beide streiten konnten, aber das war eines ihrer Dauerbrenner. Max legte viel Wert auf defensive und sichere Fahrweise. Tyson vertrat die Meinung, dass allen Rentnern die das Gaspedal nicht fanden, der Führerschein entzogen gehörte.

Allerdings fuhren heute alle wie Rentner…

Das ganze Wetterchaos musste eindeutig mit den Uralten zusammenhängen. Tyson schielte zu Galux, die auf der Rückbank zusammengerollt schlummerte. Ihm kam es vor, als würde sie sich ihre Energie aufsparen – als würde sie sich auf einen Winterschlaf vorbereiten. Dennoch war sie um ein weiteres Stück geschrumpft. Während der Fahrt setzte sich Kai plötzlich kerzengerade auf und fragte aus heiterem Himmel, ob Dranzer tatsächlich sein Haus niedergebrannt hatte. Er klang ernst dabei, viel erwachsener als noch wenige Minuten zuvor. Als Max bejahte – sichtlich gestresst wegen der Schlitterpartie auf der Fahrbahn - nickte Kai nur und ließ sich wieder in die Lehne fallen. Ein verbissener Zug lag von da an um seine Mundwinkel, aber zumindest beklagte er sich nicht permanent wegen seinem Fahrstil. Ihn hatte es noch nie geschert. Tyson schien es, als könne man Kai förmlich dabei zuschauen, wie er immer weiter geistig heranreifte. Der Ausdruck auf seinem Gesicht wurde zunehmend verschlossener.

Obwohl da gewisse Feinheiten waren, die sich unterschieden…

Manches Mal schaute Tyson in den Rückspiegel und meinte Kais Augen von ihm weghuschen zu sehen, wenn sich ihre Blicke drohten zu treffen. Es war das Blinzeln mit den Augen, was ihn dann verriet, weil er es einmal zu viel tat. Als Tyson ein weiteres Mal in den Spiegel schaute, passierte es gerade wieder. Dabei erhaschte er sogar den Hauch einer Röte auf Kais Wange. Er musste schmunzeln. Der Anblick war irgendwie süß. Tyson konnte sich ein aufkommendes Grinsen dabei nicht verkneifen, weil Kai ganz offensichtlich immer nervöser wurde. Wahrscheinlich begriff er allmählich, wie anhänglich er als Kind ihm gegenüber gewesen war – wie sehr er Tysons Nähe gesucht hatte. Ein kaum vernehmbarer Atemzug kam aus Kais Mund, als müsse er sich sammeln. Er sah wie sich dessen Brustkorb dabei leicht anhob. Tyson hätte ihn stundenlang im Rückspiegel beobachten können, doch zwang ihn das Verkehrschaos vor ihm, seine Aufmerksamkeit nicht hauptsächlich auf ihn zu fokussieren. Auch wenn er kaum umhin kam, nicht wenigstens an ihn zu denken. Früher wäre ihm nie aufgefallen, dass Kai beunruhigt war, aber wenn man sich so lange kannte, wie sie beide, lernte man die Zeichen zu deuten. Er schaute dann stets gleichgültig weg, als wollte er einem weiß machen, dass er sich um nichts und niemanden scherte – doch er blinzelte zu oft. Kai überspielte seine Verunsicherung mit seinem Selbstvertrauen und kam damit eigentlich auch ganz geschickt durch. Sobald Tyson aber dahinter gekommen war, begann er ihn gerade dann am hartnäckigsten zu triezen. Irgendwie lag ihm jetzt auch ein neckender Kommentar auf der Zunge. Einfach um zu schauen wie Kai reagierte, wenn er ihn gezielt auf ihre gemeinsame Zeit ansprach. Es hätte Tyson nicht gewundert, wenn er sich dafür in Grund und Boden schämte. Nur war jetzt kaum der richtige Augenblick hierfür. Allerdings schwor er sich, Kai bei nächster Gelegenheit, mal herzhaft damit zu necken. Moment hatte er aber noch Welpenschutz.

„Du musst dich Links halten…“

Ab und an kam doch noch ein Murmeln von Galux. Es war gespenstisch wie präzise sie die Anwesenheit ihres Menschenkindes spürte. Man hatte den Eindruck sie besaß einen inneren Kompass. Tyson hielt an und schaute stöhnend in die Straße, in welche er einbiegen sollte. Der Schnee lag dort bald meterhoch aufgetürmt.

„Aber da kommen wir nicht durch!“, er bedachte die einzige freie Straße, welche weiter geradeaus führte und verzog verärgert das Gesicht. „Vollgestopft! Na toll…“

„Vielleicht wurde noch keine Entwarnung gegeben?“, Ray beugte sich aus dem Fenster. Sein Blick wandte sich nach vorne, zu den Autofahrern die neben ihrem Wagen standen. Einige telefonierten, manche plauderten, andere rauchten nervös eine Zigarette nach der anderen, oder traten auf der Stelle um die Kälte aus ihren Gliedern zu treiben. Es tummelten sich sehr viele Menschen auf dem Gehweg herum. Gerade weil es so eisig war, kam der Gruppe das seltsam vor. „Ich glaube die fahren gar nicht weiter. Die warten alle…“

Tyson ließ sich schnalzend in den Sitz zurückgleiten. Als sein Hintermann hupte zog er schnaubend die Braue auf, ignorierte es jedoch.

„Was jetzt?“

„Ich weiß nicht. Galux wie weit ist es noch?“

Das Bit Beast erhob sich, streckte sich dabei ausgiebig. Tyson sah, wie ihre Krallen kurz aus ihren Pfoten hervortraten. In jenem Moment wirkte sie eher wie eine ordinäre Hauskatze.

„Nein.“, war ihre Antwort. Ihm fiel auf, dass sie äußerst kurz angebunden war.

„Ist etwas?“

„Nein.“, wiederholte sie träge. Das Bit Beast setzte sich schläfrig auf. „Mich überkommt lediglich eine ungekannte Müdigkeit. Mir ist als könnte ich nur noch schlafen.“

Die Gruppe tauschte beunruhigte Blicke aus. Sie ahnten was das bedeutete, obwohl es Galux selbst, wohl nicht so ganz klar schien. Offensichtlich war nicht nur ihr Körper träge, sondern auch ihr Verstand. Sie musste schnellstens zu Mao gebracht werden.

„Wir laufen.“, entschied Tyson. Niemand widersprach.

Fast schon synchron schwangen alle Türen auf, bis auf Maxs, der zuvor Galux behutsam auf seinen Arm schob. Als er ausstieg, wirkte sie wie ein dösender kleiner Säugling. Tyson fragte sich, was wohl jene Menschen denken mochten, die das Bit Beast nicht sehen konnten. Wahrscheinlich würden sie glauben, Max könne seine Arme nicht richtig anwinkeln, weil er eine Behinderung besaß. Als Tysons Hintermann bemerkte, dass sie keine Anstalten mehr machten, ihren Wagen von der zugestopften Straße zu schaffen, entbrannte ein penetrantes Hupkonzert. Niemand ließ sich von ihm beeindrucken. Ray setzte sogar noch einen drauf, indem er ihm heiter zuwinkte. Tysons Blick schweifte über ihre Gruppe und blieb erneut an Kai hängen. Als Dranzer ihn aufgegriffen hatte, trug er nicht einmal Schuhe. Shinji hatte ein paar abgetragene Gummistiefel bei sich auf dem Truck gehabt, die er ihm gnädig überließ. Eine Jacke konnte er leider nicht beisteuern.

Kais Blick hob sich. Er bemerkte das Tyson ihn beobachtete und wandte rasch den Kopf von ihm weg. Geradezu verbissen presste er die Lippen zusammen und rieb sich sachte über die Arme. Tyson hätte beinahe über sein Unbehagen gelacht, wäre ihm nicht aufgefallen, dass die Haut unter seinen Fingernägeln eine bläuliche Färbung aufwies. Ein mitleidiger Ausdruck trat auf sein Gesicht, da fiel ihm siedend heiß ein, dass er noch ein Sweatshirt im Auto haben musste. Er hatte immer seine Sporttasche dabei. Seine Freunde wollten sich schon auf den Weg machen, als er noch einmal an den Kofferraum ging und ihn aufklappte. Das Hupen seines Hintermanns ergab so langsam einen richtigen Beat. In der Tasche fand Tyson sogar einen Kapuzenpullover, zog ihn aus dem Beutel hervor und klappte die Haube wieder lautstark hinunter. Er stapfte durch den Schnee auf die wartende Gruppe zu.

„Ihr habt nichts dagegen, wenn ich Kai den Vortritt hierfür überlasse, oder?“, fragte er an die anderen gewandt. Max schüttelte lächelnd den Kopf.

„Schon okay. Mir wird schon kalt, wenn ich ihn nur anschaue.“

Tyson nickte dankbar und hielt Kai das Oberteil hin, der es geradezu gebannt anstarrte.

„Was ist?“, fragte er verwundert. Doch es kam keine Antwort zurück. Offenbar schien ihr Freund sich wieder an etwas zu erinnern. Unschlüssig ließ Tyson das Oberteil sinken, da fiel ihm zum ersten Mal auf, wie weit Kais Pupillen wurden. Seine Augen waren fast gänzlich in tiefe Schwärze gehüllt. Er wirkte als wäre er auf einem beängstigenden Drogentrip.

„Lew… Wo sind meine Eltern?“, kam auf einmal die Frage. Als ob Kai mit einem Wimpernschlag wieder zum Kind geworden wäre. „Warum kümmerst du dich um mich und nicht Mutter? Und warum kommt Papa nicht mehr heim…“

Einen Moment kehrte Stille ein. Seine Worte verklangen traurig. Die Gruppe war lediglich imstande ihn bestürzt anzustarren. Tyson musste sich unweigerlich vorstellen, wie viele Stunden sein kleiner Kater wohl damit verbracht haben mochte, sich diese Fragen zu stellen. Er wollte ihn so gerne umarmen, so wie er es mit dem kleinen Kind immer getan hatte.

„Hey ihr da vorne! Ihr spinnt doch!“, brüllte ihr Hintermann mit hochrotem Gesicht auf einmal, aus dem heruntergelassenen Fenster. Damit war der Moment vorbei. Der Zwischenruf ließ Kai perplex blinzeln, als habe er mit einem Mal sämtliche Orientierung verloren. Seine Pupillen schrumpften wieder in sich zusammen. Er sah sich innerhalb ihrer Gruppe um, bemerkte all die bedrückten Gesichter, die ausschließlich ihn bedachten - und erkannte seinen fatalen Ausrutscher. Zunächst schaute er mit steinerner Miene zurück. Sein Atem schien zu stocken. Bis er sich irgendwann abwandte.

„Starrt mich nicht so an…“

Es klang keineswegs herrisch. Vielmehr wie eine verzweifelte Bitte. Er senkte die Augen, während Tyson ihn traurig ansah. Zum ersten Mal bat Kai sie um etwas.
 


 

ENDE Kapitel 39
 

Kenny schaute auf Jana. Er beobachtete wie sie ihre winzige Zunge zwischen die Zähne klemmte. Ihre mandelförmigen Augen kamen ihm viel zu klein vor. Jana bemerkte nicht einmal, wie präzise sie von ihm gemustert wurde.

Sie spielte ungestört zu Mariahs Seite mit ihrem Stofftier, welche auf der Backsteinmauer saß und sich müde an dessen Pfosten lehnte. Offenbar war sie dabei einzudösen. Manchmal rief Jana während ihrem Spiel „Pui, Pui!“ und dann, urplötzlich, presste sie die kleine Katze in einem Anflug von inbrünstiger Zuneigung so fest an sich, dass Kenny froh war, es nicht mit einem echten Tier zu tun zu haben. Bei der Kraft die das Mädchen in die Umarmung steckte, wäre ein richtiges Lebewesen zerquetscht worden. Er blinzelte sie argwöhnisch an. Das Kind machte ihn irgendwie neugierig. Da er ohnehin nichts Besseres zu tun hatte, holte er seinen Ersatzlaptop aus der Tragetasche hervor, klappte ihn auf und setzte noch den Surfstick ein. Hana hatte sich zwischendrin aus dem Staub gemacht. Sie stand auf der anderen Straßenseite und telefonierte auf dem Gehweg mit jemanden, unweit von seinem Sichtfeld. Kenny vermutete dass es mit Hiro zu tun hatte. Sicherlich wollte sie vermeiden, dass Großvater Kinomiya etwas mitbekam. Der lief seit geraumer Zeit im Kreis. Zum einen aus Ungeduld, zum anderen weil ihm – so sein genauer Wortlaut – so kalt war, dass ihm der Arsch abfror.

Kenny wollte das erste Schlagwort in den Internetbrowser eingeben, da flimmerte ein Banner über seine benutzeroptimierten Startseite, welches die Eilmeldung verkündete, dass die Küste Skandinaviens von einer heftigen Welle getroffen wurde, die sich bis tief ins Landesinnere gefressen hatte. Irritiert klickte er auf den Bericht, wo prompt der Link zu einem Amateurvideo zu finden war, der von einem Einheimischem stammte, welcher vom Balkon seiner Wohnung aus, ein forttreibendes Auto filmte, bevor er verdutzt feststellte, dass das Wasser so schnell anstieg, dass er lieber in eine höher gelegene Etage verschwinden sollte. Es ließ Kenny den Kopf schütteln. Er hatte noch nie begriffen, wie manche Menschen, in einer so lebensbedrohlichen Situation, lieber zum Smartphone griffen, anstelle die Beine in die Hand zu nehmen. Da er nicht sonderlich viel von Skandinavien wusste und auch ohnehin andere Probleme hatte, klickte er irgendwann das Video wieder weg. Momentan kam es ihm vor, als sei die Welt verrückt geworden. Die ständigen negativen Nachrichten schlugen ihm aufs Gemüt, deshalb besann er sich lieber wieder seinem eigentlichen Vorhaben. Kenny begann im Internet einige Schlagwörter einzugeben.

„Kind streckt ständig Zunge heraus.“

Das Ergebnis waren lauter Bildchen, von irgendwelchen Rotznasen, die Grimassen zogen. Er verdrehte die Augen ob seiner eigenen Blödheit. Ein Computer war nur so klug, wie die Person, die ihn bediente und er hatte definitiv die verkehrte Frage gestellt. Er überlegte und zog dabei die Brauen zusammen. Kenny meinte sich an etwas zu erinnern, was zu Janas Äußerlichem passte. Er hatte eine beunruhigende Vermutung, aber ihm fiel nicht ein, wie die Krankheit hieß. Also ging er auf eine bekannte Homepage für Symptome und tippte einige von Janas Gesichtsmerkmalen ein. Mehrmals rückte Kenny seine Brille zurecht, schielte über den Monitor verstohlen zu ihr und tippte weiter. Irgendwann stockte er, weil er den Begriff gefunden hatte, der ihm vage durch den Kopf schwebte.
 

Trisomie 21
 

Er schaute das Wort lange an. Dann kopierte er es heraus und fügte es in die Suchmaschine ein. Er klickte den Reiter Bilder an, um sich einen Überblick zu verschaffen, wie Kinder mit dem Down-Syndrom aussahen. Dutzende lachende Kindergesichter schauten zu ihm auf. Manche mit ausgestreckter Zunge, aufgeklappten Mündern, aber alle mit kleinen, mandelförmigen Augen und einem strahlenden Ausdruck darin.

Er schluckte hart. Geschockt starrte Kenny aus geweitetem Blick zu Jana. Einen Moment blieb ihm fassungslos die Kinnlade offen. Er klickte auf einen Bericht, weil er irgendwo nachlesen wollte, ab welchem Alter man erkennen konnte, wenn Kinder an diesem Syndrom litten. Ein böser Verdacht keimte in seinem Kopf auf – und etwas in ihm hoffte inständig er würde sich widerlegen lassen. Dem war aber nicht so…

Die Diagnose konnte ziemlich genau nach der Geburt getroffen werden, manchmal sogar früher. Es gab also keine Möglichkeit dass Kai nichts davon wusste. Er hatte es ihnen verheimlicht – all die Jahre!

Kenny starrte Jana so lange mit steinerner Miene an, bis Mr. Kinomiya ihn aus den Gedanken riss. Der alte Mann hatte über seine Schulter gespäht und flüsterte: „Du hast es also auch bemerkt?“

Sofort klappte der Chef den Laptop entschieden zu und nickte. Mr. Kinomiya nahm neben ihm auf der zugeschneiten Mauer Platz. Während Kenny seinen Laptop zurück in die Tasche packte, fragte er sich ziemlich verstört, was er von dieser heimlichen Aktion nun wieder halten sollte. Da war ein Teil in ihm, der Kai bemitleidete und sich selbst nahe legte, mit seinem Freund nicht zu streng ins Gericht zu gehen. Sicherlich gab es irgendeinen plausiblen Grund, weshalb er es Kenny verschwiegen hatte – ganze fünf Jahre.

Wenn er sich recht erinnerte wurde Jana sogar bald sechs. Bei diesem Gedanken schürzten sich seine Lippen. Dennoch versuchte er analytisch zu bleiben. Sachlich.

So wie man es eben von ihm gewohnt war…

Doch da war ein weitaus größerer Part in ihm, den er geradezu vehement zu unterdrücken versuchte, weil dieser das Ganze doch verdammt persönlich nahm. Ray hatte ihnen schließlich auch bei der ersten Gelegenheit erzählt, dass er vorhatte sich von Mariah zu trennen und dadurch wusste Kenny jetzt, dass er sich ihr gegenüber nicht sonderlich freundschaftlich benehmen sollte. Er blieb höflich, aber auch etwas unterkühlt.

Der Feind seiner Freunde, war auch seiner. Das war zwar undiplomatisch, aber er war nun einmal in erster Linie Rays Freund, nicht der von Mariah. Weshalb Kai sie aber nicht auch Anteil an seinen Problemen haben ließ, war ihm total schleierhaft. Kenny verlangte ja nicht, dass er prompt zum Hörer griff, um ihm wie eine Klatschbase, alles brühwarm zu erzählen - aber fünf ganze Jahre!

Diesen Zeitraum musste man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen. Er war doch auch im Krankenhaus dabei gewesen, als sie Kais Mutter, kurz nach Janas Geburt dort besuchten. Sie hatte als kleiner Säugling damals in seinen Armen gelegen, auch wenn Kai ihn mit Argusaugen beäugt hatte, als befürchtete er, Kenny könnte sie fallen lassen. Er kam nicht umhin sich zu fragen, ob er ihnen nach so vielen Jahren, immer noch nicht vertraute. Kenny räusperte sich, um über seinen Groll hinwegzutäuschen und wandte sich gefasst an Mr. Kinomiya. Obwohl er um Gelassenheit bemüht war, bemerkte er, dass seine Stimme vor unterdrücktem Ärger bebte.

„Wann ist es ihnen aufgefallen?“

„Schon als die Kleine mich im Krankenhaus aufgegriffen hat. Aber richtig davon erfahren habe ich bereits vorher, kurz bevor das ganze Drama hier losging.“

Kennys Kopf schnellte zum Großvater.

„Soll das etwa heißen sie wissen schon länger davon als ich?!“

„Jepp. Und ich verbitte mir den empörten Tonfall. Übrigens deine Freunde wissen es auch.“

„Oh… Cool. Schön.“, jetzt konnte er nicht einmal mehr verhindern das er die Lippen fest aufeinanderpresste.

„Du wirkst etwas angesäuert.“

„Nein, nein. Ist doch alles in Butter!“, beteuerte er mit einem falschen Lachen. Irgendwie bekam er den Sarkasmus in seiner Stimme nicht mehr in den Griff. „Kai und ich kennen uns ja noch gar nicht so lange. Ich meine zehn Jahre - was ist das schon?! Ich renne hier ja auch nicht durch die halbe Stadt, weil ich mich auch um ihn Sorge. Er ist ja nur ein flüchtiger Bekannter. Aber toll das wenigstens die anderen davon wissen! Da sieht man wem er wirklich vertraut!“

Seine Stimme wurde gegen Ende lauter.

„Hey Chef, ganz locker bleiben…“

„Ich bin immer locker!“, betonte er bockig.

„Die anderen wissen es auch erst seit eurer Feier.“

„Ich kann mich nicht erinnern, dass Kai das vor uns erwähnt hat. Da muss ich wohl auf dem Klo gewesen sein.“, kam es pampig zurück. Das Stimmchen der Vernunft redete panisch auf ihn ein, sich nicht weiter in seine Wut hineinzusteigern, aber verflucht, er war doch auch nur ein Mensch! Da war ein kleines Männchen in seinem Kopf, dass wie Rumpelstilzchen im Kreis tänzelte, während das andere Männchen, mit Engelsgewand und Heiligenschein, beschwichtigend auf seinen Gegenpart einredete.

„Das war ja auch am Morgen danach.“, erklärte Mr. Kinomiya. „Tyson hat ihn nach eurer Sauftour nachhause gefahren und Kai von eurem genialen Einfall mit seinem Terminplaner erzählt. Ihr habt den Arzttermin von der Kleinen abgesagt und der muss ziemlich wichtig gewesen sein. Er war so sauer, dass mein Grünschnabel einen saftigen Fausthieb dafür von ihm kassiert hat.“

Kenny hob verblüfft die Braue, die kleinen Männchen in seinem Kopf hörten verdutzt auf zu lärmen und er brauchte eine Weile um zu begreifen, was der alte Herr damit meinte, bis ein lautes Ausatmen davon kündete, das der Groschen gefallen war.

Der neun Uhr Termin bei Dr. Hamilton…

Ihm rutschte das Herz in die Hose.

Mit einem leisen „Shit!“ hob er die Hände an den Kopf und fluchte innerlich weiter.

„Ich hatte den anderen gleich gesagt, dass das eine bescheuerte Idee ist! Man hakt sich nicht einfach so in den Account von anderen Leuten, um ihre Termine zu verpfuschen. Das ist hochgradig kriminell!“

„Hoho! Du edler Ritter!“, spottete Mr. Kinomiya höhnisch. „Du bist doch auch nicht so unschuldig an dem Dilemma! Immerhin bist du das Computergenie in eurer Gruppe. Ohne dich hätten sie das gar nicht hinbekommen. Hast dich bestimmt wieder sang und klanglos breittreten lassen. So kennt man dich gar nicht anders…“

Die Aussage tat natürlich weh, da sie direkt ins Schwarze traf. Kenny biss sich ertappt auf die Unterlippe. Er schwankte zwischen seinem Argwohn und dem schlechten Gewissen.

„Sie haben ja Recht. Das war dumm von uns.“, räumte er versöhnlicher ein. „Aber ich begreife immer noch nicht, warum Kai uns das überhaupt verschwiegen hat? Rechnen wir mal hoch, wie lange wir uns kennen. Wir waren fast drei Jahre in einem Team. Nach der Bladebreakers Zeit kommen noch einmal sieben Jahre dazu. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir seine längsten Freunde sind! Also was soll das Ganze?!“

„Das der Junge verschlossen ist dürfte dir doch nicht neu sein.“

„Ja klar...“

„Aber natürlich hast du Recht. Was immer der Grund dafür war, ich verstehe ihn auch nicht. Auch wenn eure Idee einfach nur hirnverbrannt war! Aber was das angeht, habe ich Tyson schon den Kopf gewaschen.“

„Hat er wieder einmal eine mit ihrem Kendostab über den Schädel bekommen?“

„Er und Ray.“

„Tyson ist es gewohnt seine Gehirnzellen auf die Art zu verlieren. Wenn sie Ray auch noch auf sein Niveau herunterziehen…“

„Pah! Eine Trachtprügel hat noch niemandem geschadet! Den anderen Hornochsen habe ich aber noch nicht erwischt. Übrigens du stehst auch auf meiner Liste. Bild dir bloß nicht ein dass ich dich nicht im Visier habe! Deine Strafe kommt, wenn du es am wenigsten erwartest.“, Mr. Kinomiya deutete grimmig auf ihn, was Kenny kurz zurück zucken ließ, dann fuhr er aber bestimmt fort. „Ich kann dir nicht sagen, was in Kai vorgeht. Ich weiß nur so viel, dass er aus einer schwierigen Familie stammt. Zumindest hat mir das Mr. Dickenson erzählt, als die Sache mit seinem Großvater aufflog.“

„Das weiß ich auch.“

„Wir wissen aber nicht alles.“

„Weil er doch nie etwas aus sich herauslässt! Er ist wie eine verdammte Sphinx!“

„Und was willst du jetzt machen - ihn zwingen? So etwas geht nicht so schnell, vor allem Dingen, wenn man in so einem Drecksloch wie der Abtei großgeworden ist. Auch über diese Zeit wissen wir kaum etwas. Zumindest ich nicht. Daher sollten wir uns hüten voreilige Schlüsse zu ziehen.“, Mr. Kinomiya schüttelte bedauernd den Kopf und sprach weiter. „Weißt du, als meine Schwiegertochter gestorben ist, da hatte ich wirklich Angst um meine beiden Enkel. Es ist schwierig wenn ein Elternteil stirbt und der andere ständig weg bleibt. Aber man muss dennoch versuchen den Kindern beizubringen, dass das Leben auch seine Schokoladenseiten hat. Sonst verschließen sie sich davor oder werden gar misstrauisch. Nun sieh dir aber Kai an... Das was mit ihm passiert ist, das hätte meinen Jungs genauso passieren können.“

„Wie meinen sie das?“, blinzelte Kenny verständnislos.

„Meine Fresse, dass du das nicht selbst siehst, Chef? Aber gut… Nehmen wir mal Tyson als Beispiel. Mein Jüngster hatte auch keine Mutter die daheim auf ihn gewartet hat. Seinen Vater sieht er ebenfalls kaum. Hiro ist irgendwann einmal auch gegangen, also hatte er nur noch mich. Seine Lage ist fast dieselbe wie bei Kai. Was mit seinen Eltern ist, wissen allein die Götter. Er wurde auch von seinem Großvater aufgezogen. Nur liegt der feine Unterschied darin, dass ich versucht habe, Takao zu vermitteln, das seine Freunde und Familie im Ernstfall immer für ihn da sein werden. Und das er sich an seinem Leben erfreuen soll. Ich wollte ihm unter keinen Umständen das Vertrauen in die Welt nehmen. Eigenlob stinkt zwar, aber ich hoffe mal, dass ich meine Sache gut gemacht habe. Zumindest kann ich ohne schlechtes Gewissen behaupten, dass ich mich wirklich bemüht habe. Dagegen kann ich mir kaum vorstellen, dass so ein Ekel wie Voltaire darauf Rücksicht genommen hat. Der hatte doch nur seine Geschäfte im Sinn, sonst hätte er den Jungen nicht in die Abtei abgeschoben, wo er ihm nicht über die Füße stolpern kann, wenn er seine kriminellen Partner daheim empfängt.“

Kenny zog nachdenklich die Brauen zusammen. So hatte er das Ganze noch nie betrachtet. In Prinzip glichen sich Tyson und Kai tatsächlich. Zumindest in ihrem Familienverhältnissen. Sie waren wie zwei Samen, die im selben Beet gepflanzt, aber anders aufgezüchtet worden waren. Der eine mit bedingungslose Zuneigung, der andere in vornehmen Wohlstand. Was mehr Erfolg brachte, musste jeder für sich selbst entscheiden. Irgendwann nickte Kenny.

„Ja, mag schon sein. Es ist nur…“, er seufzte bekümmert. „Wann immer Kai so etwas macht, komme ich nicht umhin, mich total überfahren zu fühlen! Ich weiß dass er verschlossen ist. Wir wissen auch alle dass er ein übles Vertrauensproblem hat. Aber warum uns gegenüber? Was haben wir ihm getan, damit wir noch immer dieses Misstrauen verdienen?“

Er presste fröstelnd seine Handflächen zwischen seine Knie und schüttelte bedauernd den Kopf. Seine Stimme war lauter geworden als beabsichtigt, aber das Kenny sich aufregte, konnte er ohnehin kaum noch verbergen.

„Irgendwann muss Kai doch mal sehen, dass wir ihm nichts Böses wollen! Wir sind seine Freunde – keine Feinde.“

„Wenn du von Kind auf kein Vertrauen lernst, dauert das als Erwachsener umso länger. Das ist, wie wenn man eine Fremdsprache übt. Wenn du noch jung bist, saugst du die Wörter auf wie ein Schwamm. Bist du zu spät dran, versuchst du die Wörter schweißtreibend in Stein zu meißeln.“

„Ich dachte aber mit dem Auftauchen seiner Mutter, wäre er endlich aufgetaut - und mit der Geburt von der Kleinen! Ich dachte wirklich, er würde uns endlich als seine Freunde sehen. Menschen die an seinem Leben teilhaben wollen.“

Mr. Kinomiya brummte gequält. Es kam Kenny vor als würde er an etwas Unangenehmes denken.

„Ich befürchte, diese Frau ist mitunter der Ursprung allen Übels.“

„Wie meinen sie das?“

„Ach… Das musst du dir von Kai selbst erzählen lassen. Ich habe schon zu viel gesagt.“

„Er wird mir ohnehin nichts sagen! Dieser alte Geheimniskrämer... Da kann ich genauso gut darauf warten, dass meine Deckenleuchte mit mir eine Unterhaltung führt!“

„Du wirst dich gedulden müssen.“

„Aber wie lange noch? Nach zehn Jahre verliert man jede Hoffnung! Ich habe so langsam echt die Schnauze voll von seinen blöden Spielchen! Irgendwann muss es doch mal mit ihm Berg auf gehen! Müssen noch einmal zehn Jahre ins Land gehen?“

„Warum fragst du Kai nicht selbst?“

Beide fuhren mit einem Satz zurück, da fühlte Kenny auch schon einen Arm, der sich freundschaftlich um seine Schulter legte. Zunächst glaubte er ein Gespenst zu sehen. Es dauerte eine Sekunde, bis sowohl Mr. Kinomiya, als auch er begriffen, wer sich da klammheimlich von hinten angeschlichen hatte. Doch ein Blick in das dunkle Augenpaar seines Gegenübers genügte für ihn, um den üblichen Schalk darin zu erkennen, der für Tyson so typisch war. Kenny blinzelte verdutzt, öffnete den Mund, schloss ihn in Ermangelung eines gescheiten Satzbaus wieder, öffnete ihn erneut und starrte letztendlich doch nur perplex seinen Freund an. Da sprang auch schon Mr. Kinomiya von der Mauer auf und haute seinem Enkel mit einer Kopfnuss gegen den Schädel.

„Du blöder Esel, schleich dich nicht von hinten an! Willst du das ich vor Schreck krepiere?!“

„Hey! Verdammt Opa! Ein einfaches Hallo hätte gereicht!“, rief Tyson beleidigt aus, während er sich den Kopf rieb. Kurz darauf japste er aber auf, als sein Großvater sich über die Mauer lehnte und in eine stürmische Umarmung zog. Er drückte seinen Enkel herzlich an sich, tätschelte ihm den Rücken und irgendwann legte auch Tyson mit einem weiten Grinsen die Arme um ihn. Gleichzeitig schimpfte der alte Mann über seinen Jungen, der ihm ständig solche Sorgen bereitete. Es war ein aufwühlender Mischmasch zwischen Ärger und purer Erleichterung. Nun fühlte Kenny sich wahrhaftig überfahren. Wie gerädert erhob er sich von der Mauer und als er hinter seinen Rücken spähte, waren da weitere Gestalten aufgetaucht, die in Tysons Begleitung angekommen waren. Sein Blick huschte von einer Person zur Nächsten. Zunächst hielt Kenny geschockt den Atem an als er Kai sah.

Ihm wich jegliche Farbe aus dem Gesicht…

Ausgerechnet wenn er mit Mr. Kinomiya über ihn sprach, tauchte die Gruppe wie aus dem Nichts auf. Ihm schoss die Frage durch den Kopf, wie viel er von ihrer Unterhaltung mitbekommen hatte – all die Vorwürfe die laut über seine Lippen gekommen waren. Sein Herz machte einen unliebsamen Schlenker abwärts. Die kleinen Männchen in seinem Kopf schlichen heimlich, durch den Notausgang, aus seinem Kopf und hinterließen eine gähnende Leere. Kenny spürte wie seine Wangen vor Scham zu brennen begannen. Das passierte ständig wenn er in einer peinlichen Situation steckte und er hatte auch keine Kontrolle darüber. Ihm pochte das Blut gegen die Schläfe. Sein eigener Groll ebbte sofort ab, allerdings auch, weil er noch nie ein Freund von Konfrontationen gewesen war. Er hatte zu viel Respekt vor Kai, um ihn offen auf sein Verhalten anzusprechen. Er hätte sich zwar darüber geärgert, aber es doch stillschweigend ertragen.

Als er mit einem ertappten Grinsen zu Kai schaute, wandte der den Kopf von ihm ab. Kenny biss sich auf die Unterlippe und fragte sich, ob er wütend war. Doch den Anschein machte es nicht. Stattdessen schaute er lediglich nachdenklich in die Ferne. Sein Gesicht wirkte verschlossen - aber auch irgendwie betroffen.

Was Kai durch den Kopf ging, konnte man aber nie so genau sagen. Kenny wollte bereits zu einer reumütigen Entschuldigung ansetzen und ihm versichern, dass seine Worte nicht so ernst gemeint waren, da fiel ihm Max auf, der ihm zaghaft zuwinkte. Prompt schoss ihm durch den Sinn, dass dessen Mutter tot war. Sollte er warten, bis Max das Thema von sich aus ansprach, oder ihn gleich darauf ansprechen?

Er wirkte unglaublich abgekämpft. Dunkle Augenringe zeichneten sich in seinem Gesicht ab, als habe Max lange nicht mehr geschlafen – und in seinen Armen hielt er ein glänzendes Bündel. Überrascht weitete sich Kennys Blick, als er inmitten dieses Lichts die feinen Gliedmaße, eines Katzen ähnlichen Wesens erspähte. Auf ihrem Fell prangte ein anmutiges Leopardenmuster. Der Anblick zog ihn geradezu in seinen Bann, denn sofort begriff er, welches Bit Beast Kenny vor sich hatte. Es war Jahre her seit er eines aus der unmittelbaren Nähe betrachten durfte. Überhaupt kam es ihm vor, als wäre er einem Bit Beast noch nie so nahe gewesen, wie in jenem Moment. Ein Gefühl von tiefer Ehrfurcht befiel ihn. Etwas zaghaft stieg er über die Mauer hinweg, um sich Galux genauer anzuschauen. Überrascht stellte er fest, dass das Bit Beast schlief.

„Was ist nur mit euch passiert?“, fragte er verwundert an Max gewandt.

Ein mattes Lächeln war dessen Antwort. Gefolgt von einem hilflosen Schulterzucken.

„Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll.“, kam das ehrliche Geständnis und als Kenny noch einmal zu Kai blickte, bemerkte er, dass auch er ziemlich angeschlagen wirkte. Seine Aufmachung war zudem total seltsam. Anzughose, darüber ein Sweatshirt, mit Gummistiefel an den Füßen und die Kapuze hatte er sich tief über den Kopf gezogen. Weiße Wölkchen entstiegen mit seinem Atem in die Nachtluft. Seine Lippen waren dunkel von der Kälte. Das Gesicht sehr blass. Auf einmal fiel Kenny ein, dass er Ray noch nicht gesehen hatte.

Ziemlich fahrig fuhr er herum und machte ihn erleichtert hinter seiner Frau aus. Mariah war dabei aus ihrem Halbschlaf zu erwachen. Der Tumult den die Gruppe verursachte, schien sie gestört zu haben. Sie setzte sich wieder gerade auf, rieb sich schlaftrunken über die Augen, doch als sie die Hände wieder sinken ließ, legten sich fremde Finger auf ihr Gesicht. Verdutzt öffnete sich ihr Mund, da beugte sich Ray zu ihr herab und flüsterte ihr etwas ins Ohr, als würde er sie sanft aus dem Schlaf holen wollen.

Es brauchte eine Weile, bis sie begriff…

Kenny konnte beobachten, wie ihre Lippen zu zittern begannen. Da griff sie zaghaft nach den Händen, die ihre Augen verdeckt hielten, schob sie von ihrem Gesicht fort und blinzelte zu ihrem Mann auf. Er sah Ray auf sie herabschauen, bemerkte wie seine Finger zärtlich über ihre Wangenknochen spielten und sobald sich ihre Blicke trafen, schien Mariah die Situation zu übermannen. Kenny erkannte es am Beben ihrer Schultern, obwohl darauf die dicke Wolldecke ruhte. All die Furcht der letzten Stunden, all die Sorgen…

Sie brachen aus Mariah hervor. Unendlich langsam drehte sie sich zu ihrem Mann um, umarmte seine Taille und kurz darauf war auch schon ein lautes Schluchzen zu vernehmen. Verwundert bemerkte Kenny, dass Ray keinerlei Versuche unternahm, seine untreue Gattin von sich zu schieben, nein, ganz im Gegenteil… Er half der hochschwangeren Mariah sogar noch von der Mauer auf, umfasste anschließend ihr Gesicht und küsste sie liebevoll, während die nicht aufhören konnte zu weinen, ihm tränenerstickte Sätze entgegenhauchte – ihm beteuerte wie unendlich glücklich sie war, dass Ray endlich wieder zurück war. Perplex wandte Kenny sich Max zu, der das Ganze ebenfalls mit einem leichten Lächeln beobachtet hatte.

„Ich dachte sie hätte ihn betrogen?“, flüsterte er ihm die Frage zu.

„Nein.“, schüttelte Max den Kopf und schaute auf das Bit Beast in seinen Armen herab. Galux schlummerte dort weiterhin friedlich. „Sie hat uns gerettet.“

Noch bevor Kenny etwas entgegnen konnte, ging neben ihnen ein Ruck durch Kai. Er sah seinen Freund verwundert an seinem Körper hinabschauen, wo seine kleine Schwester die Augen zukniff, in ihrem angestrengten Versuch, Kais Bein so fest zu umklammern, dass ihm jegliche Blutzufuhr darin abgeschnitten wurde. Ihr Bruder blinzelte aus weitem Blick auf sie herab. Kenny fiel auf wie schwarz seine Augen in jenem Moment wurden. Er fragte sich, ob es nur eine optische Täuschung, aufgrund der Dämmerung war, oder ob seine Pupillen tatsächlich so groß wurden. Da schaute Jana mit einem strahlenden Lächeln, das eine kleine Zahnlücke entblößte, zu ihm auf. Mit der Ankunft ihres Bruders schien für sie die Sonne aufzugehen.

„Hab dich so vermisst!“, quiekte sie überglücklich. „Wo war du?“

Dann geschah es ganz schnell…

Kai sank so plötzlich auf die Knie, dass Kenny für einen Moment dachte, er klappte einfach zusammen. Doch stattdessen drückte der seine Schwester fest an sich. Noch nie hatte Kenny erlebt, dass Kai jemanden umarmte. Er fühlte wie Tyson neben ihn trat und ebenfalls auf dieses seltene Phänomen hinabschaute. Ein Lächeln lag um seinen Mund.

Seine Augen wirkten geradezu zärtlich…

„Kai, warum du so lang weg?“, wollte das Mädchen inzwischen vorwurfsvoll wissen. „Hat du andere Schwesterchen? Nich mehr Jana wolle?“

Sie sprach es aus, als wäre es ihre schlimmste Befürchtung. Doch Kai schüttelte nur den Kopf und drückt sie umso inniger. Etwas lag da um seine Mundwinkel, was ihn geradezu verbittert wirken ließ.

„Nein… Du allein bist meine Schwester.“, versicherte er ihr schließlich leise. Seine Stimme zeugte davon, dass er sich schwere Vorwürfe machte. „Es tut mir so leid. Wie konnte ich dich nur vergessen? Wie konnte ich dich nur einfach so vergessen…“

Beinahe hätte Kenny geglaubt, dass er kurz vor den Tränen stand. Seine Stimme klang geradezu erstickt. Etwas war anders an Kai. Noch nie hatte er ihnen einen so tiefen Einblick in seine Gefühlswelt gewährt. Jana schaute ihn inzwischen fragend an. Dieser Ausbruch schien auch ihr Sorgen zu machen, als wäre ihr das nicht ganz geheuer. Letztendlich lächelte sie aber, schlang ihre Ärmchen um seinen Hals und bettete den Kopf auf seine Schulter.

„Is okay, Kai. Hab dich lieb.“, sie tätschelte mitfühlend die Wange ihres Bruders. „Nich mehr weggehe. Ja? Bei Jana bleibe…“

Ihr Bruder schloss die Augen, drückte seine Finger sachte gegen das kleine Hinterköpfchen in seinen Armen. Und da vernahm Kenny auch schon, wie Kai seiner Schwester zuraunte: „Nein, nie mehr. Das schwöre ich.“
 


 

*
 

„Du hast mich erschöpft, Neffe.“

Der Totenbaum klang müde.

„Deine Ergreifung hat mich viel meiner kostbaren Energie gekostet. Ein Baum ist nicht dafür geschaffen sich zu rühren.“

Es war ein schwerfälliges Röcheln nahe Dragoons Ohr. Er hatte noch nie erlebt, dass einer der beiden Weltenbaumzwillinge, sich so bewegte, wie der Totenbaum heute. Überhaupt war er wohl einem Irrglauben erliegen, denn all die Jahre dachte er, Yggdrasil habe keine Stimme. Es war ohnehin sonderbar, zu was der Totenbaum imstande war. Nachdem er Dragoon gezwungen hatte, seine unterdrückten Gefühle, endlich wieder an die Oberfläche zu holen - seinem Schmerz verhalf aus ihm auszubrechen - überfiel den Drachen eine innere Ruhe, die er schon lange nicht mehr verspürt hatte. Früher, als Takao noch an Turnieren teilnahm, war es ihm danach ähnlich ergangen. Die Kämpfe verhalfen ihm dabei, sich wieder zu entspannen. Es war sein Ventil gewesen.

„Und deshalb konnte es erst soweit kommen.“, erläuterte ihm der Totenbaum und erriet auf wundersame Weise seine Gedanken. „Du bist der Wind. All die Jahre dientest du als Schutzgeist für die Familie deines Menschenkindes. Einer Blutlinie, die für ihren Kampfeswillen berüchtigt war. Für den Sturm in ihrer Seele. Doch die Zeiten haben sich geändert. Die Menschen greifen in manchen Landstrichen kaum noch zu den Waffen. Und dein Menschenkind ist den kindlichen Schuhen entwachsen. Es ließ dich nicht mehr als sein Schutzgeist, in Schlachten antreten und so konnte sich dein Schmerz wieder aufbauen, wurde auch noch genährt, von neuen Qualen. Wie zu jener Zeit, als dich dein Groll zu Wolborg zerfraß.“

Dragoon hatte ruhig den Worten gelauscht, denn nachdem der Sturm in seinem Herzen vorbei war, konnte sein Verstand endlich wieder klar denken. Es war wie eine Nebeldecke die sich lichtete.

„Ich konnte es beobachten. Wie die Böen in deiner Seele stärker wurden. Wie sie immer schnellere Kreise um denselben ewigen Hass zogen – bis in deinem Herzen ein zerstörerischer Tornado aufkam. Vergiss niemals, was du bist, mein Neffe! Du bist der Wind. Und wenn du drohst, dich zu einem Sturm aufzubäumen, musst du rechtzeitig einschreiten.“

Dragoon schloss die Augen. Ausgerechnet er musste sich erklären lassen, wie sein Herz funktionierte. All die Jahrhunderte hatte er sich mit seinen unterdrückten Gefühlen selbst geschadet.

„Wenn du trauerst – trauere. Wenn du liebst – liebe.“, sprach der Totenbaum. „Der Wind kann sich nicht einpferchen lassen. Weder körperlich noch seelisch. Es ist ein Teil deiner Natur deine Gefühle nah an der Oberfläche zu tragen. Du bist nicht dafür geschaffen sie zu unterdrücken. Das ist kein Lebewesen. Sowohl Fels, Wasser, als auch Feuer, haben ihre Momente, in welchen sie wüten müssen, um wieder zu ihrer Balance zu finden. Du brauchst diese Zeiten jedoch öfters als die anderen. Du bist nun einmal ein leibgewordener Sturm – in jeder Lebenslage.“

Das Knacksen des Totenbaums zeugte von seiner Erschöpfung. Selbst die spitzfindige Strommaus war still geworden, um die Wurzel nicht in ihrem Redefluss zu stören, bevor sie ausgesprochen hatte, was sie so dringend erläutern musste. Der Mäuserich hielt angestrengt sein Ohr gegen die Verästelungen um auch ja kein Wort zu verpassen.

„Meine Schwester und ich… Wir sind angeschlagen. Sie zerfrisst der Kummer um ihre verstorbenen Kinder. Mich ermüdet der Kraftakt den ich hier vollführen musste. Eure Fehde ist für uns fatal. Schon einmal habt ihr die Welt kurz vor den Abgrund gestellt. Es war unsere Energie, welche noch einmal dafür gesorgt hat, dass auf diesem Planeten wieder Leben entstehen konnte.“

Dragoon verstand prompt wovon der Weltenbaum sprach. Niemals hätte er geahnt, dass der Kampf zwischen den Uralten, der vor Millionen von Jahren, für die Ausrottung aller Lebewesen auf der Erde sorgte, auf dem Rücken von Yggdrasil ausgetragen wurde. Hätte er das geahnt, wäre er doch niemals auf die Idee gekommen, seine Kameraden zu einem Wettkampf, um die Krone der Bit Beasts anzustacheln.

„Ihr habt damals sehr gelitten.“

„Das haben wir…“

„Wieso habt ihr nichts gesagt?“

„Ich brauche meine Energie um das Geäst meiner Welt zu halten. Es ist so anstrengend, mit euch zu sprechen.“

Ein weiteres Knarzen schallte laut durch die Kammer. Es klang wie das Stöhnen eines alten kränkelnden Greises.

„Ich muss endlich ruhen. Meine Kräfte wieder dem zuwenden, was zu meiner Natur gehört… Deine Arbeit ist jedoch keinesfalls vorbei, Neffe. Also hör gut zu, denn das, was ich dir zu sagen habe, vermag ich nur einmal auszusprechen.“

Dragoon horchte auf und auch die kleine Strommaus auf seinem Schädel presste die Lauscher fester gegen die Wurzel.

„Eure Fehde hat die Welt ein weiteres Mal in arges Ungleichgewicht gebracht. Ein Ungleichgewicht das so fatal ist, dass ich kaum weiß, wie meine Schwester und ich, den Planeten noch einmal zum Erblühen bringen sollen. Auch unsere Kraft ist irgendwann am Ende. Auch wir sterben wenn die Zeit gekommen ist… Sieh dir nur einmal den Nachthimmel an. All die funkelnden Sterne dort draußen, sind manches Mal schon erloschen, noch bevor ihr Licht die Entfernung zu uns überwunden hat. Jeder kahle Planet dort draußen, ist doch nur ein weiteres Mahnmal dafür, was auch unseren beiden Welten einmal bevorsteht. Es sind Leichname die in der Finsternis treiben. Dort draußen schwebt der Tod durch den Raum. Doch das schien all die Jahre in ferner Zukunft für uns zu sein – bis jetzt.“

Dragoon keuchte. Er wusste das das Ableben seiner Kameraden nicht ohne Folgen bleiben konnte, doch das sie tatsächlich so rapide waren, war ihm nicht klar gewesen. Es hatte aber auch noch nie einen solchen Ernstfall wie heute gegeben. Beim Kampf um die Krone über die Bit Beats, war immerhin keiner der Uralten zu Tode gekommen. Lediglich die echsenartigen Wesen, die Dragoon so ähnlich geschaut hatten. Sein Verstand begann auf Hochtouren zu arbeiten. Wenn es der Wahrheit entsprach, was der Totenbaum erzählte und alles Leben absichtlich eine begrenzte Spanne besaß – selbst die Weltenbaumzwillinge – dann musste ihre Fehde dazu geführt haben, dass Yggdrasil nun kränkelte. Er war wie ein menschlicher Körper, der mit seiner gesamten Kraft, gegen einen Virus ankämpfte. Das mochte einmal gut ausgegangen sein, doch offenbar wusste der Totenbaum nicht, ob er und seine Schwester, genügend Energiereserven besaßen, um auch diesen Angriff noch einmal auszukurieren. Dragoon schloss gequält die Augen, als ihm klar wurde, wer diesen Virus heraufbeschworen hatte. Seine Taten schwächten Yggdrasils Immunsystem. Er selbst war die schleichende Krankheit, die an den Kräften der Weltenbaumzwillinge nagte.

„Was muss ich tun?“, kam die Frage aus seinem Mund. Und es war ernst gemeint…

Der Drache begriff, dass er für sein Handeln gerade stehen musste. Nun hieß es Schadensbegrenzung zu betreiben, koste es was es wolle. Es wäre auch sein Ende, wenn dieser Planet nicht mehr existierte.

„Hast du die Krankheiten der Menschen studiert?“

„Nur bedingt.“

„Kennst du den Blutkrebs?“

„Ich habe davon gehört… Doch alles weiß ich nicht darüber.“

„Aber ich!“, antwortete die Strommaus erpicht. Dragoon verzog genervt das Gesicht und verdrehte die Augen. Dieser kleine Wichtigtuer war ein schrecklicher Streber. „Ich war einmal in der Datenbank eines Arztes. Das ist eine Krankheit, in welcher sich die weißen Blutkörperchen, im Leib eines Menschen, gegen ihn selbst stellen, obwohl sie für gewöhnlich zu seinem Schutz da sind.“

„Wie wäre es wenn du kleiner Klugscheißer den Baum sprechen lässt?“

„Du Schurke hast mir gar nichts zu sagen! Von dir lasse ich mir den Mund nicht verbieten!“

„Pass auf das ich dich nicht fresse!“

„Schweigt!“, der Totenbaum ließ sein Geäst beben. Sofort verstummten die Streitenden. Es brauchte eine Weile bis er sich wieder zu Wort meldete, während die lockere Erdschicht über ihnen, an vereinzelten Stellen in feinen Rinnsalen abfiel. Dragoon hörte das Röcheln dicht an seinem Ohr.

„Zwar mag er klein von der Statur her sein, doch Recht hat der Mäuserich. Du hättest manches Mal gut daran getan, auch den kleineren Wesen mehr Geltung zu schenken.“

Dragoon verzog verstimmt den Mund, während die Strommaus ihm höhnisch die Zunge herausstreckte. Frechheit…

„Was sich in der Menschenwelt abspielt, könnte man mit diesem Krankheitsverlauf vergleichen. Nur ist der Virus der sich gegen uns schlägt, ausgerechnet deine Gefährtin.“

Sofort vergaß der Drache seinen Groll. Seine Augen weiteten sich…

Sein liebes Küken, seine wunderhübsche Phönixdame, sollte ein ekelhafter Virus sein?

„Nein! Das kann nicht sein!“, rief Dragoon fassungslos aus. „Nicht Dranzer! Als sie jünger war, da war sie so liebreizend! Sie ist keine abscheuliche Krankheit…“

„Was einmal war spielt jetzt keine Rolle mehr. Denn dein Phönix hat all die Jahre, genau wie du, wider ihrer Natur gehandelt. Nur macht sich dies bei euch beiden unterschiedlich bemerkbar. Wenn du deine Stürme nicht auslebst, bauscht du die Winde in deinem Inneren auf, bis sie umso verheerender herausbrechen und alles um sich herum zerstören. Dranzer jedoch verkümmert innerlich, wie die Flamme einer Kerze die herunterbrennt. Denn sie ist das einzige Wesen, was einen gesunden Nährboden braucht, um Liebe zurückzugeben. Feuer braucht immer eine Grundlage auf dem es gedeihen kann.“

Nun war Dragoon komplett verwirrt. Er blinzelte verdutzt und auch dem Mäuserich klappten für einen Moment die Ohren steil herab. Offenbar stand er mit seiner Verwunderung nicht alleine da. Dragoon verstand nicht, weshalb Dranzer etwas mit Liebe zu tun haben sollte. Ein leises Seufzen war zu vernehmen, wie von einem Lehrer, der mit seinem Latein am Ende war, weil sein Schüler das Offensichtliche nicht erkannte.

„Ihr Uralten… Ihr seid zu jung im Geiste. Meine Schwester hätte Dranzer zuerst erschaffen sollen. Doch da sie unschlüssig war und sich erst im Nachhinein dazu hinreißen ließ, ward ihr nicht in der Lage, mit euren Empfindungen, von Anfang an aufzuwachsen. Ihr habt nie begriffen was Dranzer wirklich darstellt.“

„Was soll dieser Vorwurf? Ich bin es nicht gewesen, der sie erschaffen hat!“, wehrte sich Dragoon. „Woher sollten wir also wissen, weshalb es ein zweites Feuer Bit Beast geben musste? Ich wusste bis jetzt noch nicht einmal, dass wir mit euch reden können, warum hätten wir eure Pläne also hinterfragen sollen? Mir war Dranzers Geburt ohnehin schleierhaft. Hättet ihr nicht wenigstes auf Wolborg verzichten können? Das hätte uns einiges an Ärger erspart!“

„Dummer Narr. Dranzer - ist mehr als Feuer! Sie ist die Energie in den Körpern. Sie ist das Feuer in den Herzen. Sie ist das Verlangen nach einem anderen Wesen.“

Ein Aufatmen kam vom Mäuserich.

„Mon dieu! Sie verkörpert auch die Liebe in Person!“

„So ist es. Die Liebe… Eines der wichtigsten Empfindungen! Man verspürt sie zu seinen Eltern, man verspürt sie zu seinen Kindern, man verspürt sie gar zu Geschwistern und manches Mal, können Lebewesen sogar ihr Herz, für einen zuvor Fremden öffnen. War es denn nicht auch so bei dir – als du Dranzer zum ersten Mal begegnet bist?“

Dragoon dachte nach. Sehr lange nach…

Desto tiefer er diese Aussage überdachte, desto weiter wurden seine Augen, als ihn nach und nach die Erkenntnis befiel. Es war auf einmal so offensichtlich. Gleich nachdem sein süßes Küken auf die Welt kam, hatte die Zuneigung sein Herz erfüllt. Dabei kannte er Dranzer noch kaum. Es war einfach so über ihn gekommen. Sofort nach ihrer Geburt…

„Doch durch eure erste Fehde, hast du deiner Gefährtin ihrer Basis beraubt, aus der sie ihre Liebe geschöpft hat. Wolborg war ihre Familie. Der erste Grundstein um Liebe in einer gewohnten Umgebung zu erlernen. Da war es kaum verwunderlich, dass ihre Zuneigung zu dir auch absterben musste. Der einzige Nährboden, der daraufhin noch für sie da war, war ihr unsagbarer Hass gegen dich.“

Der Satz bohrte sich in sein Herz. Schnürte ihm die Luft ab.

Es erinnerte ihn schmerzlich daran, was er verloren hatte.

„All die Jahre ohne ihre Quelle, haben Dranzer Fähigkeiten eingehen lassen. Denn auch zu dir konnte sie keine Liebe mehr empfinden. Das setzt Vertrauen voraus. Doch du hast durch dein Handeln dieses Vertrauen in Keim erstickt. Ihre Seele welkte vor sich hin wie eine Blume ohne Sonnenschein, zehrte nur noch von ihrem Hass. Sie drohte von einer Blume, zu Unkraut heranzureifen. Bis sie ihr Menschenkind traf…“

Daher also ihre ungesunde Fixierung auf Takaos Freund. Dragoon schloss die Lider. Endlich verstand er, was seine Gefährtin in den Wahnsinn trieb. Sie war ausgedörrt. Suchte krampfhaft nach einem Ersatz für ihre versiegte Energiequelle. Womöglich war Dranzer genauso wenig in der Lage, klar zu denken, wie Dragoon vor kurzem. Durch die Teilnahme an den Turnieren, war sie ihrem Menschenkind nahe gewesen. Diesem Objekt dem sie sich so verbunden fühlte. Zu welchem sie einen Hauch von Zuneigung empfinden konnte und vielleicht sogar zurückbekam. Doch auch diese Quelle blieb ihr irgendwann verwehrt, als der Junge zu einem Mann heranwuchs.

Daher also der Zorn.

Daher die kranke Eifersucht auf das kleine Menschenmädchen…

Zu seinem Schrecken musste er gestehen, dass er Dranzers Gefühle sogar nachempfinden konnte. Er selbst hatte ebenfalls so gefühlt, als Wolborg noch den Uralten angehörte. Es hatte ihn unsagbar gekränkt, wenn Dranzer ihre Schwester ihm vorzog.

„Du musst sie aufhalten…“

Die Aufforderung klang gebieterisch in seinem Ohr. Die Wurzel übte mehr Druck aus, wie ein drängender Griff.

„Deine Gefährtin schaufelt sich ihr eigenes Grab. Desto mehr Menschen sie tötet, desto mehr ihrer eigentlichen Energiequellen zerstört sie. Die lieblosen Hüllen die übrig bleiben, werden jagt auf die Lebenskraft der übrigen Lebenden machen. Es wird sich ausbreiten wie eine Seuche. Bis die Herzen sämtlicher Menschen erloschen sind! Wenn dann noch die Tierwelt ihnen zum Opfer fällt, ist alles aus! Dann wird Dranzer keine Energie mehr vorfinden – keine Wesen die noch fühlen können. Die Erde wird abgenagt sein.“

„Was wird dann aus uns?“, wollte Dragoon wissen.

„Zwei Uralten sind tot. Jene Bit Beats, die ihre Kraft von ihnen bezogen haben, brauchen ihre Menschen nur mehr denn je. Sie können Ihnen als Energiequelle dienen, bis die neuen Uralten auf die Welt kommen. Doch sollten diese Menschenkinder zuvor Dranzer zum Opfer fallen – wie sollen diese Bit Beasts dann überleben?“

Auf einmal kamen Dragoon die Menschen doch nicht so wertlos vor, wie noch vor einigen Stunden. Sie könnten eine große Stütze sein, zumal sie so Vielzählig waren. Da fuhr der Totenbaum unheilvoll fort: „Deine Gefährtin ist das fehlgeleitete weiße Blutkörperchen, das sich gegen den eigenen Wirt schlägt – bis dieser an der Krankheit zu Grunde geht. Und das wird auch ihr Untergang sein! Ein Krebsgeschwür wütet nur so lange, bis es seinen Körper getötet hat. Dann geht auch er zu Grunde…“

Der Drache schluckte hart.

Die Welt konnte sich keinesfalls die Abwesenheit eines weiteren Uralten erlauben. Wahrscheinlich liefen die ersten Bit Beasts bereits auf Sparflamme, weil sie keine Energie mehr von ihren Schutzpatronen erhielten… und Yggdrasil war geschwächt. Die beiden Zwillingsbäume könnten niemals die Kraft aufbringen, den Planeten noch einmal aufzuforsten. Nicht ohne die Uralten. Die Erde würde ein ebenso kahler Fleck werden, wie all die zahllosen Gestirne am Firmament.

„Ich bin erschöpft… So erschöpft. Lass mich ruhen.“

Der Totenbaum zog die pechschwarzen Wurzeln knisternd von Dragoons Schädel fort. Sie zogen sich langsam in den Untergrund zurück…

Aber einige starben auch einfach so ab. Sie wurden zu trockenen, mürben Zweigen, als wäre mit ihrem Kraftakt, sämtliche Energie aus ihnen entwichen. Der Baum war am Ende und wusste sich nicht anders zu helfen, als jene Triebe abzuwerfen, die er entbehren konnte. Wie ein Mensch, dem nach und nach die Zehen schwarz gefroren, damit der Körper jene Organe weiter mit Blut versorgte, die sein Überleben sicherten.

„Beeil dich Neffe…“

Es war das letzte was Dragoon vernahm. Er hätte noch so viele Fragen gehabt, denn der Totenbaum schien so voller Weisheit zu sein. Doch er musste ihm nun seine Ruhe gönnen, denn seine Macht wurde für anderes benötigt. Mit der letzten Wurzel, die vor seinen Augen verdorrte, wurde es auf einmal still in der Höhle. Kein Wort war mehr zu hören.

Dragoon erhob sich schwerfällig auf die Beine - zumindest jene die ihm geblieben waren. Er fragte sich, wie er Dranzer in die Schranken weisen sollte. Wenn er gegen sie kämpfte, könnte er sie töten – oder sie ihn. Keiner wusste was ihre Durststrecke aus ihr gemacht hatte. Nachdenklich sah Dragoon auf den felsigen Untergrund zu seinen Füßen. Da erhaschte er voller Wehmut einen Blick auf Drigers Reißzahn, der in der Finsternis leise vor sich hin leuchtete. Selbst die Explosion der Schildkröte hatte ihm nichts anhaben können. Langsam stakte der Drache durch die Trümmer um ihn herum. Die Höhle war stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Wie viele Jahrtausende mochte sie unversehrt geblieben sein, bis er auf die Idee kam, mit Draciel hier drinnen zu kämpfen?

Wäre er doch bloß eher zur Einsicht gekommen…

Dabei war er bereit gewesen, den Kampf aufzugeben und mit seinem verbliebenen Kameraden die Heimreise anzutreten. Auf einmal ging ein Aufatmen durch Dragoon. Als er Draciel sein Friedensangebot überreichte, hatte die Schildkröte eingewilligt. Womöglich war die beste Methode, gegen Dranzer zu kämpfen, indem er nicht gegen sie kämpfte. Er musste versuchen ihr ebenso ins Gewissen zu reden, wie er es bei Draciel geschafft hatte. Etwas verstimmt dachte er daran, dass das auch bedeuten könnte, seine Fehler ihr gegenüber einzuräumen – doch der Gedanke sie ebenfalls zu verlieren, war weitaus erschreckender, als über seinen Schatten zu springen. Es ließ sich schlecht leugnen. Nach all den Jahrhunderten, war er noch immer ein kleinwenig vernarrt in sie.

Ein Funken Zuneigung war geblieben.

Dragoon schloss die Augen. Er rief im Geiste nach seinem Menschenkörper. Bald vernahm er leise klirrende Laute, wie kleine Kieselsteine, die über das Eis rollten. Die Splitter seines Körpers stoben um ihn herum, wie winzige Luftpartikel, fügten sich zu einem großen Ganzen zusammen. Sein Drachenlaib zwängte sich in die schmale Hülle. Es gehörte starke Magie dazu, um sich in ein solches Gefäß hineinzudrängen. Besonders ungewohnt war es für ihn, auf zwei Beinen zu schreiten. Als er das erste Mal diesen Körper in Besitz nahm, war er aus Macht der Gewohnheit, auf allen Vieren vorangeschritten. Die ersten Menschen denen er begegnete, hatten ihm perplex nachgestarrt. Nun würden sie wahrscheinlich komisch schauen, wegen dem unschönen Stummel, an dem früher sein Arm befestigt war.

Dragoon beugte sich zu Drigers Reißzahn herab und steckte ihn ein.

Danach suchte er in den Trümmern der Höhle, nach einem Überbleibsel der Schildkröte. Wenn er tatsächlich zu Dranzer durchdringen sollte, mussten sie auf der Stelle klären, wer von ihnen, welches Element übernahm. Das empfand er doch als Herausforderung.

Sowohl mit Wasser, als auch Erde, hatte er nichts am Hut. Er müsste sich alles selbst beibringen.

„Was wirst du jetzt tun?“

Als er sich zur Strommaus umwandte, stand die leuchtende Gestalt auf einem Felsen und hielt die Ärmchen verschränkt. Geradezu argwöhnisch wurde Dragoon taxiert, dabei tippte der Mäuserich mit dem rechten Fuß, einen ungeduldigen Rhythmus auf dem Boden.

„Ich hoffe doch, du bist endlich zur Besinnung gekommen, Halunke!“

„Ach, halt die Klappe.“, spie er beleidigt aus.

„Hättest du wohl gerne… aber mich bekommst du nicht mundtot! Du siehst doch hoffentlich, was du angerichtet hast?“

Dragoon schnalzte genervt mit der Zunge, beließ es jedoch dabei.

„Ich werde das wieder gerade biegen.“, versicherte er. „Doch du kannst dich ausnahmsweise auch mal nützlich machen.“

„Das will ich mal überhört haben!“

„Wonach immer dir der Sinn steht.“, zuckte Dragoon mit den Schultern. „Ich habe jedenfalls ein Anliegen an dich.“

„Pardon, ich glaube ich habe Dreck in meinen Lauschern! Bittet der große Drache tatsächlich eine kleine Strommaus um Hilfe?“

Der Drache brummte angesäuert.

„Was immer du willst - ich höre es mir an. Ob ich dir allerdings wirklich helfen möchte, nach allem, was du meinen lieben Freunden angetan hast, werde ich mir schwer überlegen!“

Der Mäuserich deutete unerschrocken mit erhobenem Zeigefinger auf ihn.

„Ich bin mir durchaus dem Ernst der Lage bewusst. Aber verzeihen werde ich dir ganz gewiss nicht!“

„Darüber können wir später streiten.“, sprach Dragoon und trat näher heran. „Ihr Strommäuse seid doch zahlenmäßig sehr weit verbreitet. Ich will, dass du mithilfe deiner Sippe, folgende Botschaft in jede Ecke der Irrlichterwelt trägst. Berichte den Bit Beasts, die zur Elite gehören, dass sie unbedingt sparsam mit ihrer verbliebenen Energie umgehen müssen. Jene die ein Menschenkind besitzen, sollen es aufsuchen, falls sie drohen, zu verdursten. Doch sie sollen umsichtig bleiben. Kein weiterer Mensch darf grundlos sterben!“

„Hoho… Wie edelmütig.“

Dragoon ignorierte den Hohn.

Das hatte er wohl verdient.

„Jeder aus der Elite soll versuchen, seinen Aufgaben nachzugehen, allerdings mit dem geringsten Maß an Energie. Außerdem sollen sie Prioritäten setzen. Es mag sein, dass manche Bit Beasts nur für eine bestimmte Aufgabe geboren sind, doch jetzt gilt es, über den Tellerrand hinaus zu schauen! Es ist nicht notwendig, dass jede Rose auf der Welt, wunderhübsch blüht, wenn eine Region weiter, ganze Landstriche wegen einem Erdbeben einbrechen. Alle Bit Beast, die ihre Kraft vom Wasser beziehen, sollen zusammen arbeiten und gemeinsam an die wichtigsten Aufgaben herangehen. Alle Bit Beast, die ihre Kraft von der Erde beziehen, ebenfalls. Alles was der Natur nur zur Zierde dient, muss warten!“

Die Strommaus kratzte sich am Kinn, unterließ aber ein weiteres Kommentar und nickte.

Dragoon fuhr fort.

„Wir müssen die Zeit überbrücken, die es braucht, bis die neuen Uralten geboren werden. Zumindest so lange, bis Dranzer und ich uns einig über unsere Arbeitsverteilung sind. Bleibt also sparsam! Wir müssen das gesamte System, so lange am Laufen halten, bis die Geburt der neuen Uralten bereit ist. Es gilt Yggdrasil zu entlasten. Wenn die Weltenbäume zusammenbrechen, werden wir es auch!“

„Das hört sich überraschend vernünftig an.“

„Na dann… Nimm die Beine in die Hand! Hoffentlich bist du so schnell wie dein Mundwerk!“

„Ich habe noch kein Bitte heraus gehört.“

Die Strommaus schaute ihn mit verschränkten Ärmchen an. Dieses gerissene Biest wusste ganz genau, dass Dragoon beim besten Willen keine Zeit mehr hatte, um sich einen neuen Boten zu suchen. Er würde jetzt ohnehin recht lange damit beschäftigt sein, sich ein offenes Schlupfloch in die Menschenwelt zu wittern, da das Portal hier verschlossen war. Verstimmt knirschte er mit den Zähnen.

„Bitte…“

„Heureka!“, der Mäuserich klatschte in die Hände. „Der Esel macht große Fortschritte. Wenn ich das Mal so gemein sagen darf…“

„Bei allen Gestirnen am Himmel, mach dich endlich auf den Weg, du gehässiges Nagetier!“, herrschte Dragoon ihn wütend an. Da salutierte das kleine Männchen und hopste über den Felsen davon. Der Drache sah seiner funkelnden Gestalt nach, bis das Leuchten von der Finsternis verschluckt wurde. Als er sich umwandte, streifte er mit den Schuhspitzen etwas, was nicht aus Fels bestand. Ein abgebrochenes Stück aus Draciels Knochenpanzerung.
 


 

*
 

„Ich würde gerne ins Hotel zurück.“

Tyson nickte nachdenklich, denn er verstand Maxs Anliegen. Natürlich wollte der sobald es sich einrichten ließ, den nächsten Flieger in die USA nehmen.

„So lange die Straßen zugestopft sind, wird das schwierig.“, gab er zu bedenken.

„Ich weiß… Versuchen muss ich es aber. Zumindest muss ich Dad endlich anrufen. Ich will ihm sagen, dass ich auf dem Weg zu ihm bin.“

Tyson kramte in seiner Jackentasche, verzog dann aber das Gesicht. Er hatte überhaupt kein Bargeld dabei, damit Max wenigstens von einer Telefonzelle aus anrufen konnte. Wo seine Geldbörse war, fiel ihm zu allem Übel auch nicht mehr ein, genau wie sein Handy. Er meinte sie das letzte Mal gesehen zu haben, als sie im Krankenhaus waren.

„Da hilft wohl das hier…“, Hiros Verlobte hielt Max ihr Smartphone hin.

„Das wird ein Auslandsgespräch. Könnte teuer werden…“

„Schon in Ordnung. Nimm es.“

Nach anfänglichem Zögern, griff Max dankbar zu und versicherte ihr, dass er sich kurz fassen würde. Er trat einige Schritte von ihnen weg und begann die Nummer einzutippen. Sobald er ihnen den Rücken zuwandte, ließ Tyson seinen Blick über das Gelände schweifen. Die Gruppe war noch nicht dazu gekommen sich gegenseitig auszutauschen, doch Tyson stellte schnell fest, dass die anderen dank Mariah, schon sehr gut im Bilde waren. Ray und sie hatten sich ein wenig abgesetzt. Das Paar unterhielt sich schon sehr lange miteinander und da Tyson ahnte, dass es um ihre Ehe ging, wollte er sich nicht einmischen. Sie brauchten nun Zeit für sich. Auf Maos Schoß lag ihr Bit Beast, das sich liebevoll gegen ihr Menschenkind schmiegte.

Kurz bevor sie hier eintrafen, hatte Galux aufgehört zu sprechen. Sie war nicht mehr wachzubekommen gewesen, als wäre sie in ein Koma gefallen. Die Gruppe rannte daraufhin die letzten Meter und glücklicherweise hatte Ray prompt die Gegend wiedererkannt, weil er noch wusste, wo er Mariah hingebracht hatte, nachdem sie ihre letzte Unterhaltung geführt hatten. Sobald Galux in die Arme ihres Menschen gelegt wurde, war sie langsam erwacht. Auch hörte sie auf zu schrumpfen, bis sie sich stillschweigend auf Mariahs Schoß zusammenrollte. Diese war aus den dankbaren Beteuerungen gar nicht mehr herausgekommen und man konnte förmlich sehen, wie stolz Galux war, ihrem Menschenkind eine Freude gemacht zu haben. Offenbar schien ihr Mariahs Glück das höchste Gut zu sein.

Wie die drei nun dort zusammen saßen, Mann, Frau und Bit Beast…

Es wirkte wie eine kleine Familie.

Trotzdem konnte Tyson nicht aufhören an Dragoon zu denken, wie er Mariah so innig mit ihrem Bit Beast umgehen sah. Sie kraulte Galux hinter den Ohren, sprach davon, was für eine wundervolle Freundin sie doch war und dass sie sich keinen besseren Schutzgeist vorstellen könnte. Früher hatte Tyson ähnlich gedacht…

Für ihn war Dragoon das beste Bit Beast auf der Welt gewesen.

Er konnte sich noch an den Stolz erinnern, der seinen Körper durchflutete, sobald er nach einem gewonnenen Match Autogramme verteilte und gerade seine jüngeren Fans ihn dafür beneideten, das er einen so starken Partner an seiner Seite hatte.

„Das stärkste Bit Beast für den Weltmeister!“, hatte Tyson dann übermütig getönt.

Einmal fragte ihn ein Junge, ob es sehr schwer sei, Dragoon zu kontrollieren. Er hatte ihm kackfrech ins Gesicht gelacht und geprahlt, dass das selbstverständlich nicht jeder könne, immerhin müsse man bei einem starken Bit Beast, genauso viel auf dem Kasten haben, wie sein Partner. Er hatte sich aufgespielt, als habe er die komplizierte Psyche Dragoons begriffen. Dabei wusste er damals nicht das Geringste…

Tyson biss sich auf die Lippe und schaute noch einmal zu Ray. Offenbar gab es für ihn ein Happy End in dieser Geschichte, auch wenn er ebenfalls sein Bit Beast verloren hatte. Jana wollte inzwischen ihrem großen Bruder den lustigen „Opi“ zeigen, den sie kennengelernt hatte und zerrte an Kais Hand, um ihn zu seinem Großvater zu führen.

„Schau! Opa hat Rock an…“, erklärte sie und zerrte an Mr. Kinomiyas Jacke, damit ihr Bruder auch einen besseren Blick, auf die Kleidung darunter bekam. Sein Großvater schlang den Stoff panisch um seinen Leib und rief empört: „Das ist kein Rock sondern ein Patientenkittel, du Frechdachs!“

Tyson sah wie Kai inzwischen Mr. Kinomiya lange beobachtete. Seine Augen hefteten sich nachdenklich auf das altersgezeichnete Gesicht vor ihm. Womöglich begann er sich auch an ihn zu erinnern. Tysons Blick huschte weiter, zu der Frau an seiner Seite.

Er war aus allen Wolken gefallen, als er Hana ebenfalls hier sah. Fast wäre ihm recht pampig über die Lippen gerutscht, was sie hier zu suchen hatte, doch da erklärte ihm Kenny rechtzeitig, dass ausgerechnet sie ihn dabei unterstützt hatte, seinen Großvater und Jana zu finden. Als er vor der versammelten Gruppe irritiert fragte, wo Hiro war und ob er wisse, dass seine Verlobte hier sei, tauschten Kenny und sie einen komischen Blick aus.

Tyson schlussfolgerte daraus, dass sein Bruder es nicht wusste…

Es revidierte seine anfänglich schlechte Meinung über Hana, verstärkte aber seinen Groll gegen Hitoshi. Es wäre seine Aufgabe gewesen, sich um ihren Großvater in seiner Abwesenheit zu kümmern, stattdessen schickte er seine Verlobte vor. Dabei war Tyson sicher gewesen, in der Irrlichterwelt gesehen zu haben, wie sein Bruder mit Kenny durch die Straßen irrte um ihn zu suchen, kurz nachdem Kai das Phönixei im Fluss ausgespuckt hatte. Womöglich war es aber auch nur ein Trugbild gewesen. Was in der Irrlichterwelt real war, konnte man doch ohnehin nie so richtig sagen…

Der Gedanke an das Ei ließ ihn plötzlich stutzen. Das hätte er beinahe vergessen. Vielleicht konnte Kenny, mithilfe seiner schlauen Dizzy orten, wo sich Dranzer befand. Doch sobald die Überlegung ihm durch den Sinn schoss, wurde Tyson aschfahl.

Dizzy…

Er schloss gequält die Augen und fuhr sich nervös über den Mund. Irgendjemand musste Kenny erklären, dass sie tot war. Sein Blick huschte durch die Gruppe. Ob Kai wusste, was mit Dizzy passiert war bezweifelte er, immerhin war er zu jenem Zeitpunkt unter Dranzers Fluch gestanden. Wahrscheinlich konnte er sich momentan noch nicht einmal an sie erinnern. Überhaupt wollte Tyson ihn nicht als Sturmkrähe vorschicken. Genauso wenig wie einen der anderen…

Er schaute zu Max, der mit toternster Miene telefonierte. Seine Unterhaltung fand mittlerweile auf Englisch statt. Alles was Tyson aufschnappte drehte sich um Judy und den schnellsten Flug in die USA.

Er blickte zu Ray der mit seiner Frau ebenfalls so vieles zu bereden hatte. Wahrscheinlich waren alle noch so aufgewühlt von ihren Erlebnissen, dass sie komplett vergaßen, dass auch Kenny einen Verlust zu beklagen hatte. Selbst Tyson war das entfallen. Die letzten Tage waren aber auch so nervenaufreibend gewesen, dass sie alle nur damit beschäftigt waren, um ihr eigenes Leben zu bangen, und keinen Gedanken daran verschwendet hatten, wie sie ihrem Freund diese schlimme Botschaft überbringen sollten. Bis vor wenigen Stunden wussten sie auch gar nicht, ob sie es überhaupt noch aus der Irrlichterwelt schaffen würden. Weshalb hätten sie also das Thema aufgreifen sollen?

„Takao, ich muss mit dir dringend ein paar Worte wechseln…“, begann Hana inzwischen.

Ihm war schon länger aufgefallen, dass sie seine Nähe suchte. Sicherlich wollte sie sich für Hitoshis Abwesenheit entschuldigen. Beinahe hätte er verächtlich geschnaubt. Sein Bruder war so ein Weichei – schickte seine Verlobte vor, um die Drecksarbeit zu machen. Aus der Straße von der sie gekommen waren, sah er einen Schneepflug kommen. Augenblicklich schoss ihm eine Idee durch den Kopf.

„Kann das noch einen Moment warten? Ich muss meinen Wagen holen, bevor er dem Winterdienst den Weg versperrt. Danach können wir weiterreden.“

„Es ist aber wirklich dringend. Und wir sollten das besprechen, so lange dein Großvater-...“

„Ich komme ja auch gleich wieder.“, versicherte er ihr mit einem aufgesetzten Lächeln. „Da gibt es etwas, was ich noch vorher dringend erledigen muss. Pass du bitte so lange auf die anderen auf? Vor allem auf Kai…“

„Warum? Was ist mit ihm?“

„Er steht ziemlich neben sich.“, er drehte besagter Person den Rücken zu und verfiel in ein Flüstern. „Auf dich könnte er etwas… verwirrt herüberkommen. Das legt sich aber bald wieder. Wenn wir bei uns zuhause sind, erkläre ich dir die Einzelheiten näher. Allerdings müssten wir so lange aufpassen, dass niemand ihn erkennt.“

Er sah Hanas Braue argwöhnisch nach oben schießen, dann huschten ihre Augen zu Kai, doch letztendlich nickte sie.

„Danke. Du hast echt etwas gut bei mir.“, sprach Tyson. Er wandte sich dem Chef zu. „Kenny, kannst du mich begleiten?“

Der sah ihn verdutzt an, dann erhellte sich sein Gesicht, als ihm der Einfall durch den Kopf schoss.

„Ja klar! Ich muss sowieso noch Dizzy aus deinem Kofferraum holen!“

Einen Moment blickte Tyson seinen Freund starr an, fühlte wie ihm die Farbe aus den Wangen wich. Er wusste was für eine treue Gefährtin ihm sein Bit Beast gewesen war. Für Kenny würde es ein furchtbarer Schock werden. Er schluckte hart, nickte aber dann.

„Ja. Deshalb solltest du mitkommen…“

Als er sich umwandte, feilte Tyson bereits fieberhaft im Geiste an der richtigen Wortwahl, um die schlimme Botschaft zu überbringen, ohne zu bemerken, dass Hana seinem Freund mit einem Nicken zu verstehen gab, das auch er etwas Wichtiges zu berichten hatte.
 

Etwas später stakten beide zu seinem Wagen. Der Schneepflug hatte die weißen Massen zur Seite gedrängt. Nun war die Straße frei, aber der Gehweg blockiert. Einige Anwohner, die mit dem Kehren beschäftigt gewesen waren, begannen ihre Arbeit nun fluchend wieder von neuem vor ihrer Haustür. Doch die ersten Autos schlichen immerhin wieder im Schneckentempo voran. Tyson hatte den Wagen nur soweit es ging zur Seite gefahren, dass wenigstens eine Rettungsgasse möglich war. Er fragte sich, ob sein Hintermann mit der schnellen Hupe es vollbracht hatte, weiterzukommen. Falls nicht war dem Typen sicherlich die hochrote Birne vor Wut weggeflogen. Früher hätte er sich aufgeregt, aber jetzt war ihm das überraschend gleichgültig. Tyson kam es vor, als wäre er mit anderen Prioritäten, aus der Irrlichterwelt zurückgekommen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Alltag so schnell wieder bei ihm Einzug halten würde. Kenny war recht ruhig an seiner Seite. Irgendwann tauchte am Ende der Straße sein Wagen auf. Sie waren nicht lange weg, dennoch hatte sich wieder eine zarte Schneeschicht auf der Windschutzscheibe gebildet. Während sie sich dem Ziel näherten, dachte Tyson mehrmals über den richtigen Ansatz nach. Irgendwann blieb sein Begleiter aber plötzlich stehen und schnaufte, sodass er sich verwundert zu Kenny umdrehte.

„Was ist?“

„Oh man, ich weiß echt nicht wie ich dir das erklären soll…“

Tyson bemerkte wie unruhig er wurde. Bei Kenny war das schon immer ziemlich offensichtlich gewesen. Der Chef besaß kein Pokerface. Er trug seine Gefühle nah an der Oberfläche. Dann huschten seine Augen immer wie wild umher, im verzweifelten Versuch, seinem Gegenüber nicht direkt ins Gesicht zu schauen.

„Was meinst du?“

„Naja…“, er fuhr sich nervös über den Nacken. „Seit wir losgelaufen sind, versuche ich die richtigen Worte zu finden, um dir etwas mitzuteilen.“

Tysons Braue schnellte überrascht hoch.

„Ich ehrlich gesagt auch.“, gestand er Kenny mit ernster Meine ein.

„Ja, aber meine Sache ist wichtig.“

„Meine auch. Sehr sogar...“

„Bitte, lass mir zuerst den Vortritt! Ich bin nicht gut in so etwas und muss das endlich loswerden! Du hast gar keine Vorstellung, wie schwer das auf mir lastet.“

Es kam so unglücklich von ihm, dass Tyson einen Moment irritiert blinzelte. Er schaute Kenny argwöhnisch an. „Okay, jetzt bin ich neugierig. Um was geht es?“

„Um deinen Bruder.“

Sofort kam ein verächtliches Schnalzen von ihm.

„Hör mal Chef, ich habe genug andere Probleme, als mir jetzt Gedanken zu machen, weshalb Hiro seine Verlobte vorschickt, um Opa zu suchen.“

„Du musst mir bis zum Ende zuhören. Dein Bruder steckt in ernsten Schwierigkeiten!“

„Was denn für Schwierigkeiten?“

„Er ist festgenommen worden!“, es brach förmlich aus ihm heraus.

Einen Moment wurde es totenstill. Tyson blinzelte seinen Gegenüber nur stumm an. Die Sekunden verstrichen und dennoch wollte ihm nicht in den Kopf gehen, was er soeben vernommen hatte.

„Was redest du da?“

„Hiro und ich sind bei euch zuhause auf Ming-Ming gestoßen. Sie wollte herumschnüffeln, wegen dem Brand im Hiwatari Anwesen. Und auch wegen den ganzen anderen Vorwürfen gegen euch!“

Tysons Brauen schossen nun total perplex hoch. Er öffnete den Mund zu einer Gegenfrage. Doch er kam gar nicht soweit…

„Die beiden haben sich angefangen zu streiten, weil sie eine tolle Story gewittert hat und das Ganze öffentlich machen wollte. Sie hat eine regelrechte Hexenjagd gegen euch gestartet! Hiro wollte sie fortschicken. Dann hat sich die Sache aber total hochgeschaukelt! Sie war so furchtbar hartnäckig!“, die Sätze sprudelten nun ohne Punkt und Komma aus Kenny heraus. Tysons Gedanken begannen sich dagegen chaotisch zu überschlagen. Dutzende Fragen blühten in seinem Kopf auf. Irritiert dachte er an Ming-Mings Geist zurück, dem sie auf dem Wurzelpfad begegnet waren. Ihn beschlich die böse Vorahnung, dass er gleich den Grund für ihr vorzeitiges Ableben erfahren würde. Dann fragte er sich, von was für anderen Vorwürfen Kenny sprach. Noch bevor er etwas entgegnen konnte, schlugen die nächsten Sätze wie eine Bombe ein.

„Es war nur ein Versehen! Ich war dabei! Es ging wirklich unglaublich schnell! Sie ist auf Hiro losgegangen und er hat ihr einen Schubs verpasst, dabei ist sie in einer Einfahrt gelandet und plötzlich kam von dort ein Wagen rückwärts heraus und der Fahrer hat sie nicht gesehen…“

„Moment mal, halt!“, sprach Tyson nun ein Machtwort. Sein Gegenüber verstummte, während er sich über die Schläfen rieb. Es bedurfte einige tiefe Atemzüge, um wieder den Faden zu finden. „Kenny, ich komme überhaupt nicht mit… Versuchst du mir gerade ernsthaft weiß zu machen, das mein Bruder, für Ming-Mings Tod verantwortlich ist?“

„Ja! Abes es war wirklich ein Unfall!“

„Ist deshalb Hana hier und nicht er?!“

Der Chef nickte wie wild mit dem Kopf.

„Hiro wollte das sie dich und auch euren Großvater weitersucht - weil er es doch nicht mehr konnte! Die Polizei hat ihn gleich mitgenommen. Ich weiß nicht ob sie ihn so schnell laufen lassen. Es gab dutzende Zeugen die gesehen haben, dass er mit ihr zuvor gestritten hat!“

Tyson Herz rutschte aus der gewohnten Halterung. Das wollte ihm Hana also erzählen…

Und er hatte sie kaltschnäuzig abgewimmelt, weil er nur das Schlimmste von seinem älteren Bruder dachte. Tyson packte Kenny unwirsch an den Armen und sprach mit düsterer Miene.

„Wo ist er jetzt?“

„Wahrscheinlich noch in Untersuchungshaft im örtlichen Revier.“

„Weiß mein Großvater davon?“

„Nein. Hana wollte nicht dass ich ihm das erzähle.“

Darüber war er mehr als froh. Sein Großvater hatte ohnehin ein schwaches Herz und wer konnte schon sagen, wann er das letzte Mal seine Medikamente bekommen hatte. Diese Nachricht würde ihn komplett aus der Fassung bringen. Hitoshis Verlobte war wohl glücklicherweise sehr vorrausschauend.

„Kein Wort zu ihm! Er hat sich ohnehin schon wegen mir genug aufgeregt. Ein Wunder das sein Herz noch nicht schlapp gemacht hat!“

„Tyson da ist noch mehr. Ihr alle werdet…“, auf einmal stutzte Kenny. Er starrte geradeaus, zu etwas, was sich hinter seinem Rücken abspielte. Dann weiteten sich seine Augen und er packte ihn am Handgelenk. „Wir müssen schnell weg!“

„Warum?“

„Da sind zwei Polizisten bei deinem Wagen.“

Tyson riss sich los und wandte sich um. Tatsächlich…

Da notierte sich einer sein Kennzeichen, während der andere die Nummer telefonisch auf seinem Handy durchgab. Das hätte ihm gerade noch gefehlt, wenn ihm jemand jetzt noch das Auto abschleppte. Kenny ergriff erneut sein Handgelenk, doch er zerrte nur unwirsch an den Fingern.

„Wir müssen hier weg!“, sprach er panisch und kämpfte gegen Tysons Gegenwehr an. Seine Stimme war ein warnendes Flüstern.

„Ich brauche den Wagen! Wie soll ich sonst zu meinem Bruder aufs Revier fahren? Das ist viel zu weit weg!“

„Das muss warten! Komm schnell weg!“

„Wie kannst du so etwas sagen?!“

„Geh da nicht hin!“, drängte Kenny ihn. Da hatte er sich aber so heftig losgerissen, dass der Chef auf dem Schnee ausrutschte und ins Rudern geriet. Sofort als er sich freibekam, eilte Tyson zu seinem Auto. Der eine Beamte sprach noch immer in sein Handy, während der andere die weiße Schicht auf der Frontscheibe wegwischte, um einen Blick ins Wageninnere zu werfen. Letzterer besaß ein ziemlich kantiges Kinn. Er wirkte dadurch richtig abgebrüht.

„Verzeihung, aber das ist mein Wagen!“, sprach Tyson hastig, sobald er schlitternd näher trat. „Ich fahre ihn gleich weg. Tut mir wirklich leid, aber ich musste einen Moment aussteigen.“

Der Beamte am Telefon verstummte, während sein Kollege die buschige Braue hochhob.

„Ihr Wagen?“, kam die Frage recht belustigt.

„Ja ich weiß… Ich dürfte hier nicht stehen. Böser Takao! Aber die Straße war komplett dicht und ich musste unbedingt etwas erledigen.“

„So so… Mussten sie das?“

„Sie haben ja Recht. Ich bin im Halteverbot. Tja, schuldig im Sinne der Anklage.“

Ein nervöses Lachen kam aus seinem Mund, doch noch immer war da nichts Versöhnliches in der Mimik der beiden Beamten zu sehen.

„Da kann ich mich wohl nicht herausreden. Den Strafzettel bezahle ich auch brav. Versprochen!“, verkündete Tyson reumütig, dann bettelte er förmlich weiter. „Ich brauche den Wagen. Bitte lassen sie ihn nicht abschleppen. Das ist lebensnotwendig für mich!“

Der Beamte mit dem kantigen Kinn kam auf ihn zu. Tyson seufzte und streckte die Hand aus. Um den Strafzettel würde er also nicht umhin kommen, doch es gab sicherlich schlimmeres. Da rastete etwas klackend an seinem Handgelenk ein. Er blinzelte verdutzt hinab - erhaschte kalten Stahl. Einen Moment dachte er, in einer dieser fiesen Gameshows zu sein, wo man arglose Passanten auf die Schippe nahm.

„Das ist doch wohl ein Scherz?“, fragte er perplex.

„Ganz und gar nicht.“

Plötzlich vollführte der Beamte eine ruckartige Bewegung, die Tyson geradewegs mit dem Oberkörper voraus, auf die Motorhaube beförderte. Er bekam eine Ladung Schnee zu schmecken, als sein Kinn auf dem Blech aufkam, spie fluchend aus und als er den Kopf zu Kenny wandte, raufte der sich entgeistert die Haare, um kurz darauf auf dem Absatz kehrt zu machen.
 


 

*
 

Hana schielte auf ihre Armbanduhr. Die beiden waren ziemlich lange weg. Sie schob die Verzögerung aber auf die unwegsamen Straßen. Momentan kam man zu Fuß wohl genauso schlecht voran, wie mit dem Auto. Sie hauchte sich auf die Finger und rieb die Handflächen gegeneinander. Manches Mal huschte ihr Blick zu Mariah. Wie sie so glücklich mit ihrem Mann sprach, es ließ Hana schwer schlucken. Wann würde sie Hitoshi wieder so nahe sein können?

Würden sie sich nur noch an den vorgeschriebenen Besuchstagen sehen?

Mit einer Trennscheibe zwischen ihnen, während sie sich über eine Sprechanlage unterhielten?

Inmitten ihrer düsteren Gedanken, schwebte auf einmal eine Hand vor ihrem Gesicht. Sie blinzelte irritiert, weil es sie so plötzlich aus ihren Überlegungen gerissen hatte und erhaschte ein tiefblaues Augenpaar vor sich.

„Danke dass ich telefonieren durfte.“, Takaos Freund Max sah etwas mitgenommen aus. Sie musste daran denken, wie verzweifelt dessen Vater am Telefon geklungen hatte, weil er so lange nichts von seinem Sohn zu hören bekam. Etwas anderes drängte sich ihr kurz darauf in den Sinn.

„Kein Problem. Übrigens… Mein herzliches Beileid.“

Max blinzelte verwirrt.

„Davon wisst ihr auch?“

Hana nickte.

„Wir waren in euren Hotelzimmern, weil wir nach einer Spur gesucht haben. Da hat dein Handy in deiner Tasche geklingelt. Wir haben uns mit deinem Vater unterhalten und er hat uns daraufhin erklärt, was passiert ist. Ich hoffe du nimmst es uns nicht übel, dass wir deine Sachen durchsucht haben. Wir haben einfach nach jedem Strohhalm gegriffen…“

„Es gibt schlimmeres.“, er vergrub seine Hände in der Jacke, sichtlich müde.

„Ich weiß nicht viel über deine Mutter, aber Kenny hat in den höchsten Tönen von ihr gesprochen.“

„Hat er das?“

„Sie soll ein lieber Mensch gewesen sein.“

„Ja, das ist sie…“

Etwas irritiert hob sie die Braue. Es klang zwar melancholisch, dennoch lächelte Max dabei. Diese Geste verwirrte Hana mehr, als das er von seiner Mutter sprach, als wäre sie noch am Leben. Als wäre sie nicht von dieser Welt verschwunden…

„Wo ist Tyson?“

Als Hana sich umwandte stand dort das Hiwatari Oberhaupt. Er hielt seine Schwester auf den Arm, denn sobald ihr Bruder eingetroffen war, klammerte sich das Mädchen an ihn, wie ein anhängliches Äffchen. Dabei plapperte sie munter vor sich her, über all die Dinge die sie erlebt hatte. Das große Highlight war für das Mädchen, dass sie mit dem Großvater eine Kissenburg, in Mariahs Hotelzimmer gebaut hatte. Es ließ Hana schmunzeln. Wie gerne wäre sie noch einmal Kind gewesen – noch einmal mit so einer wundervollen Arglosigkeit gesegnet.

„Er ist mit Kenny seinen Wagen holen gegangen.“

Kai schaute sie lange an. Plötzlich sprach er aus heiterem Himmel:

„Seine Ex hat den Lack zerkratzt.“

„Wie bitte?“, blinzelte sie perplex.

„Sie hat Arschloch auf die Motorhaube geritzt.“

„Ich verstehe nicht…“

Die Einzige welche sich nicht dadurch irritieren ließ, war seine kleine Schwester, die fröhlich gluckste, weil ihr Bruder ein schlimmes Wort gesagt und ihrer Ansicht nach, deshalb einen Groschen in eine Büchse werfen musste.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Hana schließlich geradeheraus. Anstatt einer Antwort stierte Kai gedankenverloren vor sich her, als würde er einen Punkt fixieren, den er doch nicht so wirklich sah. Noch bevor sie etwas nachlegen konnte, fühlte sie einen vorsichtigen Griff auf ihrem Arm. Als sie zu Max schaute, blickte der sie eindringlich an.

„Frag nicht.“

„Aber…“

„Nein.“

Er schüttelte entschieden den Kopf, was sie nur seufzen ließ. Diese Leute waren wirklich sonderbar. Da wurde an merkwürdige Fabelwesen geglaubt, man verschwand von der Bildfläche und das einer geistig verwirrt schien, wollte man einfach unter den Teppich kehren.

„Habt ihr Turteltäubchen eigentlich fertig getuschelt?“, Mr. Kinomiya war vor Ray und Mariah getreten und verschränkte ungeduldig die Arme vor der Brust. „Ich will eure Wiedervereinigung nicht trüben, aber nachdem wir alle den ersten Schrecken überwunden haben, müssen wir dringend mal einige Punkte klären. Da gibt es nämlich ein paar Probleme, die während eurer Abwesenheit aufgetreten sind.“

Hana biss sich auf die Unterlippe, denn so mit der Tür ins Haus fallen, wollte sie eigentlich nicht. Jedoch nickte Mariah langsam und erhob sich. Sie schaute sich um.

„Aber… Tyson ist ja verschwunden? Und Kenny auch…“

Das schien nicht einmal der Großvater bemerkt zu haben. In dem ganzen Menschengetümmel um sie herum, waren die beiden recht gut untergegangen.

„Er holt mit dem Chef den Wagen.“, antwortete Max. „Wir sollten warten bis er zurück ist.“

„Ich denke Kenny wird ihn schon auf den neusten Stand bringen.“, sprach Hana und näherte sich dem Rest der Gruppe. „Es gibt da tatsächlich noch einiges zu besprechen. Zunächst einmal aber eine Frage vorneweg. Habt ihr während eurem Ausflug, auch nur ansatzweise mitbekommen, was sich hier zugetragen hat?“

„Nein. Wir wussten nicht einmal das der Winter eingebrochen ist.“

So dünn wie die Gruppe angezogen war, hegte Hana keinen Zweifel an Maxs Aussage. Sie nickte langsam und fuhr fort: „Es gibt einige unschöne Ereignisse. Ich muss dazu erst einmal weiter ausholen. Zunächst einmal wäre da die Attacke auf Großvater Kinomiya. Wir müssen unsere Aussagen abgleichen.“

„Was denn für Aussagen?“, blinzelte Ray verblüfft.

„Naja, während eures Aufenthaltes im…“, Hana überlegte, wie sie es formulieren sollte, „…sagen wir einfach mal im Wunderland, hat sich hier das Gerücht aufgetan, dass Takao absichtlich seinen Großvater vergiftet haben soll.“

„Ha!“, lachte Ray trocken auf. „Wer erzählt denn so einen blöden Stuss?!“

„Leider ist das ausgerechnet eine übereifrige Reporterin vom Sender meines Vaters gewesen.“

„Okay. Du brauchst gar nicht weiterreden. Ich kann mir denken wer das war.“

Die Art wie er es sagte, ließ darauf schließen, dass Ray nicht gerade vorteilhaft von Ming-Ming dachte. Er stützte sich auf seine Arme, schaute in den Nachthimmel und murmelte nachdenklich vor sich her: „Ob sie deshalb auf der Wurzel noch lief?“

„Was denn für eine Wurzel?“

„Ach nichts. Das ist ein Insider.“, Max schnalzte bedauernd mit der Zunge. „Du sagst der Sender gehört deinem Vater?“

Hana nickte.

„Gibt es dann keine Möglichkeit die Berichterstattung zu stoppen?“

Sie schüttelte den Kopf.

„So funktioniert das nicht bei einem Nachrichtensender. Das ist Pressefreiheit. Aber natürlich habe ich Vater bereits telefonisch kontaktiert. Ich habe ihm nahegelegt, dass er vorsichtig mit den Informationen umgehen muss, da Ming-Ming nicht ausreichend recherchiert hatte, um solche Unterstellungen öffentlich zu machen. Das könnte sonst eine Klage mit sich ziehen. Die Gerüchteküche brodelt nun allerdings. Sobald ein Sender mit der Nachricht kommt, ziehen die anderen in der Regel nach.“

„Aber wieso wurde der Bericht dann überhaupt veröffentlicht?“, wollte Ray wissen.

„Ich weiß es nicht. Ehrlich gesagt, bin ich selbst überrascht darüber, dass diese Angelegenheit so dermaßen aufgebauscht wurde.“

„Wahrscheinlich weil Ming-Ming mir eins auswischen wollte.“, räumte Max langsam ein. „Und wie ginge das besser, als den Ruf eines meiner besten Freunde durch den Dreck zu ziehen.“

„Das hört sich nach einer Vorgeschichte an.“

Er wiegte den Kopf unwillig hin und her.

„Ich… Ich hatte mal etwas mit ihr und habe sie gleich danach in den Wind geschossen.“, Max vergrub die Hände in den Taschen und schaute betreten zur Seite. „Das ist schon ewig her, aber die Art wie ich mit ihr Schluss gemacht habe, war wohl im Nachhinein betrachtet, nicht gerade fair.“

„Ich traue mich kaum zu fragen, aber wie hast du mit ihr Schluss gemacht?“

„Also genaugenommen waren wir nie richtig zusammen! Ich wollte nur etwas… Spaß. Und sie hat nicht nachgefragt, ob ich an einer festen Beziehung interessiert bin, also habe ich die Sache einfach mal laufen lassen und mich aus dem Staub gemacht, sobald sie mit dem Thema begann.“

Aus der weiblichen Ecke kamen empörte Blicke. Es ließ Max den Kopf zwischen die Schultern ziehen.

„Hey, ich war da noch jünger! Und welche Frau die etwas Ernstes will, steigt mit einem Mann in die Kiste, nur weil er auf einer Party mal eine halbe Stunde mit ihr gesprochen hat? Sie hat mir eindeutig falsche Signale vermittelt!“

Es klang nach einer verzweifelten Rechtfertigung, doch die Blicke aus der weiblichen Ecke wurden nur finsterer. Mariah und Hana schauten sich vielsagend an. Auf einmal schien die weibliche Front zusammenzuhalten, wie Pech und Schwefel.

„Ihr haltet mich für ein Arsch, oder?“

„Ja.“, fauchten beide Frauen ihm zu.

„Eigentlich bin ich sehr…“

„Vergiss es Max. Wenn Frauen sich zusammenrotten, bist du immer der Arsch.“

Ray erhielt einen heftigen Ellbogenhieb von seiner Frau gegen die Rippe. Kurz darauf verschränkte Mariah erbost die Arme vor der Brust. Er sah seine Frau entschuldigend an und rieb sich über die Stelle, fuhr dabei fort: „Gut, belassen wir es dabei. Dann sollten wir Tyson so bald wie möglich Bescheid geben. Er muss wissen was die Leute über ihn reden!“

„Das hat aber leider sehr weite Kreise gezogen.“

„Wie weit?“

„Bis zur Polizei.“

Einen Moment wurde es still. Die jungen Männer tauschten fassungslose Blicke aus, da sprang Ray auch schon von der Mauer auf, die er zuvor als Sitzgelegenheit genutzt hatte.

„Wie bitte?!“, rief er geradezu wutentbrannt aus. „Das ist absoluter Mist! Tyson würde so etwas niemals tun – dafür lege ich meine Hand ins Feuer! Wenn es sein muss, bezeuge ich das auch.“

„Es war Dragoon!“, erklärte Max ebenso aufgebracht. „Er hat es selbst zugegeben, als wir ihm in der Irrlichterwelt begegnet sind!“

Hana wollte schon fragen, wer das war, da erklärte ihr Mr. Kinomiya, dass es sich dabei um das Bit Beast von seinem jüngsten Enkel handelte. Sie erinnerte sich daran, wie Hitoshi über dieses Wesen gesprochen hatte. Er schilderte es ihr als einen majestätischen Drachen. Doch als er ihr einmal eine Videoaufnahme, von dem Match seines kleinen Bruders präsentierte, hatte sie auch darauf nur einen ungelenkigen Pixelfleck erkannt und gelangweilt gefragt, ob Sex and the City nicht lief. Sie schüttelte den Kopf.

Diese Aussage könnt ihr gleich mal at acta legen. Wir sind uns alle einig, dass wir besser verfahren, wenn ihr diese Wesen gar nicht erst auf dem Revier erwähnt.“

„Warum?“, fragte Ray. „Es ist die Wahrheit! Soll ich etwa lügen?“

Mariah legte beruhigend die Hand auf den Arm ihres Gatten. Ihr Groll gegen ihn schien von sehr kurzer Dauer zu sein.

„Ich habe auch so gedacht, aber wir müssen realistisch bleiben, Ray. Viele Menschen besitzen nicht die Fähigkeit um ein Bit Beast zu sehen. Vor allem den Erwachsenen fällt es schwer. Weißt du nicht mehr, was uns Tao darüber gelehrt hat?“

Was immer dieser Tao ihm gesagt haben mochte, Ray schien über die Worte seiner Frau gründlich nachzudenken. Hana beobachtete wie er die Brauen nachdenklich ins Gesicht zog.

„Vielleicht… Habt ihr recht.“

„Aber was sollen wir dann sagen?!“, fragte Max wütend in die Runde. „Wir haben nichts Falsches gemacht! Ich sehe gar nicht ein, dass wir uns in irgendwelche Lügenmärchen verstricken sollen!“

„Die Wahrheit hört sich aber eher wie ein Lügenmärchen an…“

„Hitoshis Ehefrau in spe hat Recht, Jungs. Wir haben deshalb auch schon die Köpfe zusammengesteckt.“, antwortete Mr. Kinomiya grimmig. „Ich werde auf dem Revier behaupten, dass ich meine Medikamente falsch eingenommen haben. Damit dürfte der Vorwurf gegen meinen Enkel schnell verworfen sein.“

„Verstehe… Und wenn Ray und ich noch behaupten, dass wir im selben Raum wie Tyson waren, müsste er aus dem Schneider sein.“

„Theoretisch.“, erklärte Hana. „Allerdings steht ihr beide auch nicht in gutem Licht da.“

Beide starrten sie verdutzt an auf ihre Worte. In einem anderen Moment wäre es sogar recht witzig gewesen. Hana konnte gar nicht sagen, wer von den beiden, die größeren Augen bekam. Irgendwann deutete Ray auf sich selbst und fragte unschuldig: „Wir? Wieso?“

„Der Brand im Hiwatari Anwesen…“

Es dauerte bis die beiden begriffen. Man sah ihnen an, dass ihre Köpfe auf Hochtouren kombinierten. Auf einmal rief Max fassungslos aus: „Soll das heißen, man legt uns den Brand auch noch zur Last?!“

Hana nickte bedeutungsschwer.

„Da hat ja Ming-Ming die Gerüchteküche richtig toll angeheizt!“

„Sie war Reporterin. Die versuchen mit Vorliebe, jede Leiche aus dem Keller zu ziehen. Es sind allerdings auch viele Zufälle im Spiel. Wo immer ihr aufgetaucht seid, hat sich irgendetwas Schlimmes zugetragen.“

„Das war leider kein Zufall. Wir sind nämlich hier die Opfer!“, pochte Ray vehement auf seine Unschuld. „Der Brand ging auf Dranzers Kosten! Sie hat versucht Jana anzugreifen und Kai anschließend in die Irrlichterwelt verschleppt.“

„Das stimmt.“, sprach nun auch das Hiwatari Oberhaupt. Als Hanas Blick zu ihm huschte, schaute der erneut geistesabwesend zu Boden. Ihr fiel auf, wie weit seine Pupillen geworden waren. „Sie hat die Gestalt einer brennenden Frau. Jeder einzelne Schritt von ihr hinterlässt einen flammenden Abdruck auf dem Holzboden. Das Feuer bekommt Hände in ihrer Nähe. Es frisst sich in den Raum. Zentimeter für Zentimeter…“

Einen Moment wurde es still zwischen ihnen. Die Gruppe schaute Kai betroffen an, bis der mehrmals blinzelte, als würde er aus einem Tagtraum erwachen. Sobald er aufschaute, fielen ihm die Blicke auf, die sich auf ihn gerichtet hatten. Er tat einen hörbaren Atemzug und wandte ihnen den Rücken zu, während Hana stöhnend die Hand auf die Stirn legte.

„Jungs, bitte! Versucht von solchen Aussagen abzusehen, wenn wir auf dem Revier sind!“, sprach sie verzweifelt. „Mag sein das ihr Recht habt, aber das wollen die Polizisten nicht hören! Wir müssen das ganze so drehen, als wäre es eine unglückliche Aneinanderreihung, von richtig blöden Zufällen!“

„Das geht mir sowas von gegen den Strich.“, sprach Max und verschränkte bockig die Arme vor der Brust. „Als hätten wir nicht schon genug durchgemacht! Jetzt müssen wir uns für Dinge verantworten, die wir nie begangen haben!“

„Hast du eine bessere Idee?“

„Nein. Aber ärgern darf man sich doch wohl darüber!“

„Du darfst. Ob es hilft bezweifle ich aber! Also lass das Gejammer gefälligst bleiben!“, kam es frech zurück. Ihr Gegenüber zuckte zurück, ob ihrer schroffen Wortwahl, da wusste Hana schon, dass sie ihn mundtot bekommen hatte. Als sie triumphierend weitersprechen wollte, murrte Max etwas, was verdächtig nach „zickiger Hexenbesen“ klang. Ihr Blick schnellte düster zu ihm, da pfiff der Lümmel nur unschuldig vor sich her und schaute weg. Sie schnaufte einmal aus und bemerkte dass Kenny ihr viel angenehmer war, als diese beiden Rotzbengel. Die waren weitaus aufmüpfiger als er.

„Um zum Brand zurückzukommen.“, Hana wandte sich direkt an Kai. „Dein Freund meinte, es gäbe in eurem Haus eine Bibliothek mit einem riesigen Kamin. Er soll recht altmodisch sein und auch wartungsbedürftig.“

Er schaute sie nur starr an. Dieser Mann war wohl kein Freund von großen Worten. Da sie nicht sicher war, ob er überhaupt begriffen hatte, wovon sie sprach, hakte sie nach.

„Gibt es den wirklich?“

Kai blinzelte irritiert.

„Nun?“

„Ich… Ich weiß nicht.“, kam es recht unsicher zurück. Hana stutzte. Sie schaute zu Mr. Kinomiya und Mariah, die ebenso verdattert drein starrten. Offenbar teilten sie die Befürchtung, ihren schönen Plan als gescheitert zu sehen. Alle schienen sich zu fragen, ob Kenny sich vertan hatte. Da sagte Hana argwöhnisch: „Du musst doch wissen ob in eurer Bibliothek ein Kamin steht!“

„Ich erinnere mich nicht…“

„Wie du erinnerst dich nicht?“, blinzelte sie verwirrt. Dabei bemerkte sie nicht, wie seine beiden Freunde sich neben ihr vielsagende Blicke zuwarfen.

„Ich weiß nicht wie diese Bibliothek aussieht.“, erklärte Kai. Er klang recht hilflos, dabei dachte sie, dieser knallharte Firmenboss sei ein abgebrühter Hai. Unweigerlich fragte sie sich, wie reich man sein musste, um ein Haus von einer solchen Größe zu besitzen, dass man nicht einmal alle Zimmer kannte. Takao hatte zwar gesagt er sei verwirrt, aber das grenzte ja schon an Demenz.

„Das verstehe ich nicht. Kenny meinte ihr hättet einen zuhause…“

„Ich…“, er geriet ins Stottern. Da mischte sich auch Mariah ein.

„Kai, bitte! Das ist wichtig!“

„Ich habe keine Ahnung!“, rief er verzweifelt aus und wich vor der Gruppe zurück. „Ich weiß nicht wie das Haus aussieht. Ich kenne nur die Illusion aus der Irrlichterwelt!“

„Was denn für eine Illusion?“

„Hana, auf ein Wort!“, sprach Ray streng. Er hob an die anderen gewandt mahnend den Zeigefinger, um klar zu machen, dass sie Kai keine weiteren Fragen stellen durften. Dann gab er Max mit einem Nicken zu verstehen, dass er mitkommen sollte. Die Drei taten einige Schritte von der Gruppe weg, offenbar um aus Kais Hörweite zu gelangen, dessen Miene inzwischen steinern geworden war. Ihn schien dieser Vorfall hier auch zu beschäftigen. Kurz darauf sprach Ray an sie gewandt: „Hör auf ihn mit Fragen zu löchern!“

„Das ist aber wichtig! Wir wollten dass er den Brand auf seine Kappe nimmt und das geht nur, wenn auch wirklich ein Kamin in der Bibliothek steht! Wie sollen wir sonst das Ganze als einen Unfall verkaufen?“

„So habt ihr euch das also gedacht…“

„Natürlich! Ich frage das doch nicht aus Boshaftigkeit, das sind Dinge, die müssen wir einfach im Vorfeld klären!“

Max und er tauschten erneut einen Blick aus. Da sprach Ersterer: „Das wollen wir dir auch gar nicht unterstellen. Nur siehst du doch, dass er nicht ganz da ist. Er macht das genauso wenig mit Absicht.“

„Was ist denn mit ihm passiert? Er kommt mir von euch allen am seltsamsten vor!“

Sie starrten sie verdattert an. Dann kam es unisono: „Wir sind doch nicht seltsam…“

Hana verdrehte die Augen auf diese Aussage.

„Erklär einem Verrückten dass er verrückt ist.“

„Hey, wir stehen noch neben dir! Hast du das eigentlich bemerkt?“, fragte Ray zähneknirschend.

„Mir doch egal…“, kam es schnippisch zurück. Ein düsterer Blick traf sie.

Dann wandte er sich seinem Freund zu und sprach frei Schnauze heraus: „Einen Besen braucht Hiro so schnell nicht mehr kaufen - den nimmt er schon zur Frau!“
 

Bamm!
 

Es war wie ein Schalter der umklappte und schon sah Hana rot.

„Ich bin kein Besen!“, fauchte sie ihm zornentbrannt entgegen. Ihr adrett geschminktes Gesicht war eine beängstigende Fratze geworden. Die beiden Männer wichen panisch zurück. „Und pass auf wie du mit mir redest, ich bin nicht deine Frau und auch einige Jahre älter als du kleiner Macho!“

„Ähm…“

„Was – ähm?! Gerade noch so vorlaut und jetzt keine Eier mehr in der Hose?! Ich habe die Federn von stolzeren Pfauen gebrochen. Solche Marotten habe ich Hitoshi innerhalb von einer Woche abgewöhnt - da fresse ich dich doch zum Frühstück, du blöder Lümmel!“

„T-tut mir Leid…“

„Das hoffe ich auch! Beim nächsten frechen Wort von euch beiden, zerreiße ich euch in der Luft, bis nur noch Konfetti übrig bleibt! Ich bin eine Wahnsinns Frau und Hiro kann sich scheiße glücklich schätzen, so einen Feger wie mich abzubekommen! Geht das in euer Erbsenhirn hinein, ihr vorlauten Rotzbengel?!“

Sie nickten eifrig. Man sah den beiden regelrecht an, wie sie in sich zusammenschrumpften, während Hana sie mit hochrotem Kopf schnaubend taxierte. Der Rest der Gruppe, der etwas abseits stand, blickte ob ihres impulsiven Zornausbruchs verdattert zu ihnen herüber. Dem Großvater klappte sogar der Kiefer hinunter. Selbst einige der Passanten waren stehen geblieben. Es wurde einen Moment totenstill auf dem Platz, bis die beiden sich kleinlaut für ihre Aussagen entschuldigten.

„Vielleicht sollten wir zum Thema zurück kommen.“, sprach Max verlegen.

„Ja! Das würde ich auch begrüßen!“, spie Hana geradezu aus. Sie deutete auf Kai, der irritiert blinzelte, weil er jetzt genau merkte, dass man über ihn sprach. „Was stimmt mit dem nicht? Und jetzt mal ganz hoppla heraus mit der Antwort! Hat der Junge eine zu viel mit der Pfanne über den Schädel gezogen bekommen?!“

„Hey, man zeigt nicht mit dem Finger auf andere Leute!“, zischte Max panisch und ergriff ihre Hand, um sie zu senken. Er warf einen wachsamen Blick über seine Schulter, wo Kais kleine Schwester auf den Armen ihres Bruders, munter vor sich her kicherte, ohne zu bemerken, wie düster dessen Gesicht wurde. Offenbar fragte er sich, worüber die Gruppe tuschelte. Max winkte ihm heiter zu, doch der Blick von ihm, wurde nur noch argwöhnischer. Erst als er Hana noch etwas weiter weg drängte, begann Max zu erklären.

„Dranzer hatte ihm sämtliche Erinnerungen genommen. Bis vor wenigen Stunden wusste Kai noch nicht einmal, dass er eine kleine Schwester hat. Das alles kommt erst jetzt, nach und nach, in ihm wieder hoch.“

„Wer ist Dranzer?“

„Kais Bit Beast…“

Sie hob irritiert die Braue, da verpuffte ihr Zorn auch so schnell, wie er gekommen war, wich stattdessen ihrer ehrlichen Verblüffung. Es ließ beide perplex blinzeln, weil diese Stimmungsschwankung so schnell ging. Hana führte aber nur nachdenklich ihre Finger ans Kinn.

„Echt jetzt? Also Sachen gibt es…“

Ihr Atem stieg als kleine zarte Wolke vor ihr auf. Das alles klang so furchtbar verrückt und Hana musste zugeben, dass sie Schwierigkeiten bekam, den ganzen Hintergründen noch zu folgen. So vieles hier entzog sich jeglicher Logik. Es kam ihr vor, als würden alle über einen Film sprechen, den sie nie gesehen hatte und sie deshalb sämtliche Insider dazu nicht kennen. Jetzt bereute sie es fast, Hitoshis Hobby nicht mehr Beachtung geschenkt zu haben – aber es war nun einmal so furchtbar langweilig gewesen!

„Ich wünschte mein Verlobter wäre hier. Er würde eher bergreifen wovon ihr hier redet.“, gestand sie ein. „Ich kann noch nicht einmal sehen, wo Mariah denn ihr Haustier hat. Alle rufen, oh ja da ist es! Nur ich stehe da wie der letzte Trottel.“

Ein nachsichtiges Lächeln huschte um die Münder von Takaos Freunden.

„Falls es dich beruhigt, so einen Fall hatten wir auch schon mal bei uns in der Gruppe. Immerhin verdeutlicht uns deine Anwesenheit, wie die Polizisten denken könnten. “, sprach Ray versöhnlich. Hana wusste nicht, ob sie das als etwas Positives werten sollte. „Aber um zu Kai zurückzukommen. Bitte dräng ihn nicht mehr. Er wird sich deshalb nicht schneller erinnern. Wir wissen gar nicht, was manche Erinnerungen anstößt. Es passiert ganz plötzlich…“

„Das hättet ihr mir mal früher sagen können, bevor es so herüberkommt, als wäre ich ein taktloser Hexenbe-…“

Sie hielt ertappt inne, als ihr klar wurde, was sie das gerade aussprechen wollte. Ihre Braue zuckte dabei. Sie sah schon, wie die Mundwinkel der beiden, sich für ein schadenfrohes „HA!“ öffnen wollten.

„Nur ein kleiner Mucks…“, drohte sie düster. Sofort klappten die Münder zu. Hana kam wieder zur Sache und begann den beiden zu erklären, wie wichtig es sei, das Kai sich an die genaue Einrichtung der Bibliothek erinnerte, damit es sich nicht mit der Aussage der Spurensicherung biss. Sie war zwar nicht vom Fach, aber womöglich ließ sich selbst durch die verkohlten Überbleibsel rekonstruieren, ob es Abweichungen an seiner Aussage gab. „Wenn er sich nicht einmal daran erinnern kann, wo genau der Kamin stand, kann das zu ernsthaften Problemen führen. Er muss doch wenigstens wissen, wo der Brandherd war.“, sie war in ein drängendes Tuscheln verfallen, damit Kai nicht noch mehr von ihrer Unterhaltung mitbekam. „Die Kunst im Lügen ist, so nah wie möglich an der Wahrheit zu bleiben. Das wird so aber nicht funktionieren! Er weiß ja noch nicht einmal wie sein Haus aussieht, wahrscheinlich dann nicht einmal wo er genau wohnt. Was war das eigentlich für eine Illusion von der er gesprochen hat?“

„Das?! Oh Gott, vergiss es!“, rief Max panisch aus. „Da war ein Lavasee in der Eingangshalle! Wenn Kai das Anwesen so schildert, führen die ihn gleich in einer Zwangsjacke ab!“

Hana blinzelte total perplex.

„Also… Jetzt verarscht ihr mich doch.“

„Ganz und gar nicht!“, kam es wie aus einem Mund.

„Sorry, aber ich muss euch das jetzt fragen. Kifft ihr?“

„NEIN!“, fauchten beide sie wütend an. Hana hob beschwichtigend die Hände und wollte schon zu einer Entschuldigung ansetzen, da hörten sie einen panischen Zwischenruf. Als sich die Gruppe umwandte, kam Kenny so schnell auf sie zu gerannt, dass der Schnee unter seinen Füßen wild umher wirbelte. Da er noch nie besonders sportlich war, pfiff er aus dem letzten Loch, als er endlich vor ihnen zum Stehen kam. Sein Kopf war hochrot geworden. Er japste geradezu nach Luft und hielt sich an Maxs Ärmel fest, um sich zu stützen, während die anderen aus der Gruppe sich nun doch zu ihnen gesellten. Während Kenny noch schnaufte, bildete sich ein Kreis um ihn, bis Ray ihn fragte, wo denn Tyson abgeblieben sei. In Ermangelung von Luft brachte der Chef aber nur ein Wort zusammen: „Po… Polizei!“
 


 

ENDE Kapitel 40
 

„Ob wir zu Fuß nicht doch schneller gewesen wären?“, fragte Ray besorgt. Max wiegte den Kopf von einer auf die andere Seite und zuckte letztendlich mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht. Aber jetzt haben wir diesen Wagen, also sollten wir die Gelegenheit nutzen. Zumal wir Glück haben das Hanas ehemaliger Kommilitone in der Nähe gewohnt hat.“

Er schaltete umständlich in den nächsten Gang, denn sein Auto in den USA besaß Automatik, deshalb war er diese Art der Schaltung nicht mehr gewohnt. Es musste jedoch ausreichen…

Kenny besaß keinen Führerschein, weil er ständig durch die Praxisführung gerasselt war – er hatte nämlich Nerven aus Pudding wenn es um Prüfungen ging - Mr. Kinomiya war sein Führerschein nach dem ersten Schlaganfall entzogen worden, Kai war noch nicht eingefallen wie man fuhr, Jana war natürlich viel zu jung und Rays Führerschein nicht im Ausland gültig. Max eigener war nur deshalb zugelassen, weil er seine Fahrprüfung in Japan abgelegt hatte – das war noch Jahre bevor ihn die Depression seiner Mutter zwang, in die USA zurückzukehren.

„Ziemlich fragwürdiges Glück wenn du mich fragst.“, maulte Großvater Kinomiya inzwischen von hinten aus. „Das hier ist doch kein Wagen, sondern ein Zustand! Zwischen den Ritzen habe ich einen Zwiebelring entdeckt.“

Es stimmte schon - dieses Auto war ekelhaft. Hana hatte die Gruppe aber auch vorgewarnt, als sie eiligst zum Wohnblock liefen, in welchem ihr Bekannter lebte. Sie war der festen Überzeugung, dass sie bei dem Chaos auf den Straßen, kaum ein Taxi finden würden. Stattdessen rief sie ihren Freund vom Handy aus an und bat in einer geradezu süßlich liebreizenden Art darum, ob er der Gruppe nicht seinen Wagen ausleihen würde. Es überraschte Max, dass er tatsächlich zusagte. Er selbst hätte niemals einer wildfremden Meute sein Auto überlassen, erst recht nicht bei diesem Wetter, wo eine Delle bald vorprogrammiert war.

Doch Hana meinte, dass ihr Freund ziemlich locker sei – wahrscheinlich sogar zu locker.

Zunächst begriffen sie nicht, weshalb Hiros Verlobte es in einem solch merkwürdigen Tonfall aussprach, bis sie auf dem Weg zum Wohnblock erwähnte, dass er sein Studium abgebrochen habe, kurz bevor es zum endgültigen Rausschmiss aus der Universität in Osaka kam. Offenbar hatte Hanas Bekannter einmal zu oft, vor einer Vorlesung, zur Wundertüte gegriffen und war dabei erwischt worden, wobei Mr. Kinomiya verwundert fragte, ob das eines dieser neumodischen Wörter für das Internet sei. Die jüngere Generation versicherte dem alten Mann peinlich berührt, dass sie ihm in einer ruhigeren Minute erklären würden, was es damit auf sich hatte.

Hanas Bekannter hielt sich seit seinem Rauswurf scheinbar nur noch, mit diversen kleineren Jobs über Wasser und als die Gruppe ihn zum ersten Mal sah, schien er mit seinem Leben auch ganz zufrieden, so lange er seine ganz spezielle Hydrokultur auf der Feuertreppe anpflanzen durfte. Der Wagen zeugte nur geradezu von seiner lockeren Lebensweise. Es war ein klappriger Honda, Kenny sprach von einem CR-V und war total verwundert gewesen, dass solche Autos noch auf japanischen Straßen existierten, immerhin wurde dieses Modell seit 2001 nicht mehr produziert. An dieser Aussage hatte der Rest der Anwesenden keinen Zweifel. Der vordere Teil des Wagens besaß keinen Lack mehr. Hanas Bekannter erklärte, dass er den eigentlich komplett hatte abschleifen wollen, als ihm auffiel, dass sein Honda nun ausschaute, als habe er richtige Kuhflecken und das ganz ulkig fand. Max vermutete jedoch eher, dass ihm noch Mitten in seinem Vorhaben die Muße verlassen hatte.

Wäre die Gruppe nicht in solcher Eile gewesen, keiner wäre in diese Blechdose eingestiegen. Es war nie ein sonderlich gutes Zeichen, wenn der Besitzer eines Wagens das Auto vor einer Fahrt kurzschloss, weil er die Schlüssel einige Wochen zuvor verloren hatte. Diese Kiste schien ziemlich viel mit ihrem Besitzer mitgemacht zu haben. Kenny raufte sich fassungslos die Haare, als Hanas Bekannter ihnen gutgelaunt erklären wollte, wie sie die Kiste wieder starten konnten und ihnen die bunten Kabel präsentierte, die unter dem Lenkrad wahllos hinunterbaumelten. Allerdings war die Gruppe noch überraschter, als Kai aus heiterem Himmel meinte, dass er bereits wisse wie so etwas funktioniert.

„Woher zur Hölle weißt du, wie man ein Auto kurzschließt?!“, hatte Max ihn verdattert angestarrt. Kai hatte einige Zeit zurückgeblinzelt, als ob er sich diese Frage ebenfalls stellte. Dann antwortete er nach einer langen Denkpause: „Ich glaube so ein Rotschopf namens Tala hat mir das einmal beigebracht.“

Er klang dabei genauso erstaunt wie Max, doch immerhin verdankten sie Ivanovs fragwürdiger Lehrstunde, dass sie das Auto jederzeit wieder anbekamen, falls es auf halber Strecke absaufen sollte.

Auf Mr. Kinomiyas Aussage tat Ray inzwischen einen genervten Atemzug. Dann wandte er sich auf dem Beifahrersitz um und taxierte Tysons Großvater düster, der zwischen Kenny und Kai, breitbeinig und mit verschränkten Armen, im Zentrum der Rückbank saß.

„Bei allem Respekt Mr. Kinomiya, aber der Wagen dürfte jetzt wirklich unser geringstes Problem sein!“

„Na… Da magst du sogar Recht haben, Junge.“, der alte Mann schüttelte den Kopf. Auf einmal begann er in der Luft zu schnuppern. „Warum riecht es hier eigentlich so pflanzlich?“

Im vorderen Teil des Autos warfen sich Max und Ray vielsagende Blicke zu. Letzterer räusperte sich.

„Keine Ahnung was sie meinen.“, lenkte er vom Thema ab, allerdings hatte sich Ray diese Frage bereits beim Einsteigen gestellt und neugierig das Handschuhfach aufgeklappt, wo er die Antwort in einem kleinen Tütchen fand. Noch bevor jemand etwas merkte, schlug er die Klappe wieder zu und flüsterte Max aus dem Mundwinkel heraus zu, dass sie das Auto lieber einige Blocks vom Revier entfernt parken sollten, damit kein Beamter auf die Idee kam, ihn näher zu durchsuchen. Mittlerweile huschten seine Augen zu Mr. Kinomiyas Nebenmann. Kai blickte nachdenklich aus dem Fenster, auf seinem Schoß seine kleine Schwester haltend. Die nestelte summend an den Bändern des Kapuzenpullovers herum, den Tyson ihm überlassen hatte. Sowohl Mariah als auch Hana waren nicht mitgekommen. Ray hatte seine Frau ermahnt, mit Galux in ihrem Hotel zu bleiben und sobald die Entwarnung kam, wieder ins Zimmer zu gehen. Man hatte Mao angesehen, dass es ihr überhaupt nicht passte, schon wieder zum Warten verurteilt zu sein, doch Ray hatte ihr mit ehrlicher Sorge erklärt, dass es bereits für ihn beschwerlich gewesen sei, durch den Schnee zu waten, da würde das für eine hochschwangere Frau wie sie, umso schwieriger werden.

Außerdem war sie zu dick für den Wagen…

Das hatte er natürlich nicht gesagt, aber jeder von ihnen dachte es insgeheim.

Auch die kleine Jana sollte eigentlich bleiben, doch sobald sie hörte, dass sie wieder von ihrem Bruder getrennt werden sollte, begann sie ganz bitterlich zu weinen. Sie hatte sich an Kais Hosenbein geklammert und aus hochrotem Gesicht zu ihm aufgeschaut, während dicke Krokodilstränen aus ihren Augenwinkeln kullerten. Dabei wimmerte sie, dass er ihr doch versprochen habe, von jetzt an bei ihr zu bleiben. Dieser Vorwurf schien ihren Bruder zu treffen. Kai hatte unschlüssig auf seine Schwester geschaut. Es war unübersehbar dass er wusste, wie wichtig seine Aussage auf dem Revier war und das er Tyson auch wirklich helfen wollte – doch das kleine Mädchen wieder zurückzulassen, schien er nicht übers Herz zu bringen. Letztendlich sah jeder in der Gruppe ein, dass es zeitsparender wäre, sie einfach mitzunehmen, als dem heulenden Kind mühsam zu erklären, warum sie da bleiben musste, auch wenn es im Wagen dadurch noch enger wurde. Dafür hatte sich Hana aber bereiterklärt nachzukommen. Der Plan sah vor, dass die Gruppe schon mal voraus fuhr, während sie selbst, sich auf den Weg zu ihrem eigenen Auto machte, um anschließend zum Revier zu fahren.

„Im Prinzip seit ihr die wichtigsten Zeugen. Mariah und ich sind entbehrlich, aber ihr seid die Personen, deren Aussagen am dringendsten gebraucht werden. Deshalb solltet ihr schon einmal los. Ich komme nach, sobald ich zu meinem Wagen gelaufen bin – und Kenny soll während der Fahrt noch einmal ganz genau die abgesprochenen Geschichten mit euch durchgehen.“

Gleich nachdem sie die Gruppe zu ihrem Bekannten führte, hatte sie sich auch schon von ihnen verabschiedet, allerdings nicht ohne noch einmal Ray und Max zur Seite zu nehmen, um ihnen nahezulegen, Kai auf dem Revier nur das nötigste reden zu lassen, falls es sich irgendwie einrichten ließ.

„Der Junge kommt total verwirrt herüber. Bitte übernehmt ihr dort also das Reden. Mit seinem lückenhaften Gedächtnis, stellt er sonst eine Schwachstelle dar. Und erklärt ihm wie der Kamin aussah, wo er steht, und wo die Bibliothek in seinem Haus war. Er muss glaubhaft klingen, wenn er von dem Brand spricht!“

Mittlerweile schaute Ray ihr Sorgenkind etwas unschlüssig an, das seinen Ellbogen am Fensterrahmen abstützte und sein Kinn auf die Handfläche gebettet hatte. Während er nach den richtigen Worten suchte, um Kai sein Anliegen zu erklären, zögerte Ray es so lange hinaus, das der von alleine bemerkte, dass er angestarrt wurde. Er hob sein Kinn von der Handfläche und wandte sich ihm zu: „Was ist los?“

„Nichts.“, tat Ray arglos. „Soo… Du erinnerst dich also wieder an Ivanov?“

„Ivanov?“

„Tala. Ivanov ist sein Nachname.“

„Verstehe.“, Kai schaute wieder gedankenverloren aus dem Fenster. „Ich bin mir nicht ganz sicher. Der Name schwirrte mir einfach vorhin durch den Kopf.“

„War es in deiner Erinnerung ein Rotschopf mit blauen Augen?“

Er nickte langsam und sprach: „Der Junge hatte ein merkwürdiges Grinsen drauf. Irgendwie… boshaft.“

„Ja. Das ist Tala.“, meinte Ray knapp. Dann versuchte er sich vorsichtig an das Thema heranzutasten. „Ist es vielleicht möglich, dass du dich auch an das Hiwatari Anwesen erinnerst?“

Kai überlegte, schloss dabei einen Moment die Lider, als versuchte er sich zwanghaft das Gebäude in Erinnerung zu rufen.

„Die Dame Solowéj hatte mich in einen Raum geführt mit einem Kamin.“

Max tat einen hörbaren Atemzug.

„Kai, ich weiß es ist schwierig für dich, aber könntest du versuchen, deine Kindheit in der Irrlichterwelt, nicht mit deiner echten in der Menschenwelt zu vertauschen?“, sprach er vorsichtig. Als Max in den Rückspiegel spähte, hoben Kenny und Mr. Kinomiya verwundert die Brauen. Diesen Teil der Geschichte kannten sie schließlich noch nicht. Doch bevor einer von ihnen unnötige Fragen stellte, gab Ray ihnen ein Handzeichen, um ihnen zu gebieten einfach still zu bleiben. Sie würden noch genug Zeit haben, ihre gesamten Erlebnisse zu schildern, nun mussten sie aber Kai erst einmal auf seine Aussage vorbereiten. Der schaute mit einem unergründlichen Ausdruck nach vorne.

„Was ist denn meine echte Kindheit?“, wollte er auf einmal wissen. Max öffnete den Mund, merkte dann aber, dass Kai ihnen eigentlich kaum etwas darüber erzählt hatte. Sie kannten ihn nur als Jugendlichen, nicht bereits seit klein auf. Er war all die Jahre zu verschlossen gewesen und das schien sich nun zu rächen.

„Ehrlich gesagt wissen wir das auch nicht genau…“, erklärte Ray. „Wir wissen eigentlich kaum etwas über deine Zeit in der Abtei, nur ein bisschen über deine Familie… Aber über deine gesamte Kindheit, hast du noch nie mit uns gesprochen.“

„Abtei.“, wiederholte Kai das Wort. Er hob eine Braue fragend. „Was ist eine Abtei?“

„Das weißt du also auch noch nicht?“

„Nein.“

„Naja, vielleicht ist das nicht einmal so schlimm.“

„Warum wisst ihr nichts über meine Vergangenheit?“

„Sag du es uns…“

„Wie meinst du das?“, kam es verwundert. Offenbar schien Kai tatsächlich nicht klar zu sein, dass sein eigenes Verhalten, an ihrer Ahnungslosigkeit Schuld trug. Rays Mund bleib einen Moment sprachlos offen. Er schaute hilfesuchend zu Max, den diese Erkenntnis genauso schockierte, bis er ihm zuflüsterte: „Er versteht es noch nicht, weil ihm zu viele Erinnerungen fehlen.“

Offensichtlich wusste Kai schlicht und ergreifend noch nicht, was für ein Mensch sein erwachsenes Alter Ego war. Was ihn schlicht und ergreifend zu Kai machte. Denn einen Menschen prägten vor allem seine Erinnerungen. Sie zeichneten ihn und formten auch den Charakter. Einen Moment kehrte betretenes Schweigen ein, was nur von Janas Singsang getrübt wurde und dem klackernden Motor des Hondas, bis Kai noch einmal drängender forderte: „Was meinst du damit? Sag es doch einfach! Hört auf mir ständig alles zu verheimlichen und mich in Watte zu packen! Ich bin kein Kind mehr!“

Das gerade er ihnen Geheimniskrämerei vorwarf, hinterließ einen fahlen Nachgeschmack. Ray schnalzte missbilligend. Einen hämischen Moment hätte er ihm liebend gerne gefragt, wie es sich anfühlte, wenn einem etwas verschwiegen wurde – wie Kai seine eigene Medizin schmeckte.

Dann sprach er geradeheraus: „Gut, wie du willst… Ich kann dir nicht sagen, warum wir nichts über deine Kindheit wissen. Denn der Grund dafür bist du. Du hast dich immer davor gescheut uns etwas von dir zu erzählen. Wir haben zwar ständig versucht, die Zeit in der Abtei aus dir heraus zu kitzeln, aber du bist immer wütend geworden, wenn man zu sehr nachgehakt hat, manchmal sogar richtig aggressiv und pampig! Einmal meintest du zu mir, dass du keine Lust hast, dich von uns sezieren zu lassen, wie einen Frosch. Du hast mir vorgeworfen dich analysieren zu wollen. Du bist einfach… schwierig was dieses Thema betrifft und verschließt dich komplett vor uns, wenn man damit anfängt. Deshalb ist es für die meisten von uns zum Tabu geworden, dich überhaupt noch danach zu fragen. Der Einzige der hartnäckig daran festhält ist Tyson. Dafür streitet ihr aber auch entsprechend oft.“

Kais Augen weiteten sich. Seine offensichtliche Überraschung ließ Ray seufzen und er versuchte seinen aufkommenden Groll zu zügeln. Milde walten zu lassen…

„Um die Wahrheit zu sagen, wir glauben das du uns nie wirklich vertraut hast. Vielleicht auch, dass du es einfach nicht kannst. Und irgendwann, da haben wir einfach aufgehört es zu versuchen und uns damit abgefunden. Wir respektieren dich Kai. Wir sehen dich als unseren Freund an - dass musst du uns wirklich glauben. Aber wenn ausgerechnet du mich fragst, weshalb wir nicht mehr über deine Vergangenheit wissen, kann ich dir nur antworten, dass wir es versucht haben – und wir an dir gescheitert sind.“

Ray wartete auf Kais Reaktion. Er bemerkte das Max es ihm gleich tat, indem er die hintere Reihe vom Rückspiegel aus beobachtete. Kai schaute tatsächlich verblüfft drein, als könne er das selbst nicht glauben. Es vergingen einige Sekunden in denen er Ray nur stumm anstarrte, bis er irritiert den Kopf schüttelte.

„Ich… Ich verstehe nicht warum ich das machen sollte? Ich meine…“, er geriet ins Stocken. Mit seinen fehlenden Erinnerungen schien ihm sein Schutzpanzer geraubt worden zu sein. Er war nicht mehr schlagfertig. „In der Irrlichterwelt habt ihr euch nichts anmerken lassen. Da habe ich euch doch auch vertraut. Ich sehe keinen Grund, weshalb das als Erwachsener jetzt anders sein sollte? Ich kann mir das nicht vorstellen…“

„Weißt du das Jana Trisomie hat?“, fragte Max ihn auf einmal.

„Tyson hatte etwas über eine Krankheit erzählt, aber was Trisomie ist weiß ich nicht. Vielleicht fällt es mir bald ein…“

„Gut, mag sein. Das spielt auch jetzt keine sonderlich große Rolle - aber hat Tyson dir auch erzählt, dass du uns Janas Zustand verschwiegen hast?“

„Ich glaube… Ja. Da war irgendetwas.“

„Hat er dir auch gesagt wie lange?“, bohrte Max nach. Ray sah wie sich dessen Finger fester um das Lenkrad klammerten. Kai dachte inzwischen nach und antworte wahrheitsgetreu: „Nein. Das hat er nicht.“

„Schön. Dann halt dich gut fest… Du hast es uns nämlich seit ihrer Geburt verheimlicht! Und jetzt schau dir deine Schwester an und sag mir, für wie alt du sie schätzt. Sie ist der wandelnde Beweis dafür, wie du die einfachsten Dinge jahrelang vertuschst.“

Kai starrte auf seine Schwester herab. Die lehnte ihr Köpfchen an seine Brust, ohne zu begreifen, dass momentan von ihr die Rede war.

„Seid ihr sicher dass ich euch das nicht erzählt habe?“, fragte Kai etwas hilflos.

„Ganz sicher.“, sprach Max. Er klang verbittert.

„Aber warum sollte ich das tun?“

„Sag du es uns.“, forderte Ray erneut.

„Aber ich kann es nicht! Ich weiß doch kaum etwas über mich!“

„Dann weißt du jetzt wenigstens, wie sich das anfühlt…“, kam der beleidigte Satz aus Kennys Ecke. Seine Worte schlugen ein wie eine Bombe, denn augenblicklich wurde es im Auto Mucks Mäuschen still. Kai schaute mit steinernem Ausdruck zu ihm hinüber, doch Kenny schien es nicht zu wagen, den Blick zu heben. Er starrte verbissen auf seine Finger herab, kaute nervös auf seiner Unterlippe, als fürchtete er, ein weiterer solcher Satz könnte daraus hervorbrechen. Die unangenehme Atmosphäre war geradezu greifbar nah.

Mit einem lauten „Puh!“, verlieh Mr. Kinomiya seinem Unbehagen inzwischen Ausdruck und sprach: „Jungs, vielleicht heben wir uns diese kleine Reiberei für ein andermal auf.“

„Ja, sie haben recht.“, kam es von Ray. Er wandte sich wieder nach vorne und schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich hätte nicht damit anfangen sollen. Wir haben jetzt wirklich andere Probleme, auf die wir uns konzentrieren sollten. Tut mir Leid, Jungs.“

„Ja. Das gehört hier jetzt wirklich nicht her.“, pflichtete ihm Kenny bei. Er rückte seine Brille zurecht und fuhr sachlich fort: „Dann sollten wir jetzt noch einmal die Aussagen durch…“

„Nein. Mir tut es leid.“, unterbrach Kai ihn auf einmal.

Erneut kehrte Stille ein, doch dieses Mal spürte man, wie die geladene Stimmung, durch diesen einen Satz verflog. Als Ray sich noch einmal nach hinten drehte, senkte Kai bestürzt den Blick. Er sah traurig aus. So traurig, dass seine kleine Schwester die Hand nach seinem Gesicht ausstreckte und ihm liebevoll die Wange tätschelte.

„Patt, patt.“, erklang ihr helles Stimmchen durch den Wagen. Der Anblick ließ Ray schmunzeln. Kai machte den Eindruck, als sei er mit einem Mal wieder zum kleinen Jungen geworden. Der hatte auch so reumütig geschaut, als Ray ihn wegen seinem waghalsigen Fluchtversuch ohrfeigte. Irgendwie vermisste er diesen Kleinen. Kai war damals so brav und anständig gewesen…

Etwas versöhnlicher sprach er: „Mach dir jetzt erst einmal keinen Kopf darüber. Wir hätten damit gar nicht erst anfangen sollen. Es ist nicht fair dich hier vor versammelter Mannschaft in die Ecke zu drängen, wo du nicht einmal die Möglichkeit hast, dich gegen unsere Vorwürfe zu wehren. Das ist als würden wir einen Mann treten, der schon am Boden liegt. Womöglich gibt es tatsächlich einen triftigen Grund für dein Verhalten?“

„Ich wüsste keinen.“, sprach Kai leise. „In jeder Erinnerung in der ihr vorkommt, ward ihr immer freundlich zu mir - und in der Irrlichterwelt auch.“

Diese Ehrlichkeit ließ Ray und Max grinsen. Sie tauschten belustigte Blicke aus. Auf einmal klang Kai nämlich wieder, wie der kleine Junge, der kein Wässerchen trüben konnte und einfach nur arglos sagte, was ihm durch den Kopf ging. Ein winziges bisschen vom dem Kind schien noch immer in ihm zu stecken.

„Wie wäre folgender Vorschlag?“, begann Max. „Irgendwann, wenn dieses ganze Chaos vorbei ist, und du alle deine Erinnerungen wieder zurück hast, setzen wir uns zusammen an einen Tisch. Wir trinken Sake, essen etwas Gutes und du erzählst uns, welche Erinnerungen dich zu dem Kai Hiwatari gemacht haben, wie wir ihn kennen. Glaubst du, das schaffst du irgendwann?“

Eine Weile blieb es ruhig im Wagen. Dann nickte Kai langsam, während ein leichtes Lächeln um seine Mundwinkel spielte.
 


 

*
 

Tyson bollerte stürmisch gegen die Tür des Verhörraumes.

Nicht genug, dass er einfach so festgenommen worden war...

Nicht genug, dass man ihm nicht einmal großartig erklärte, weshalb er wegen Falschparkens ein Satz Handschellen verpasst bekam…

Nicht genug, dass die Beamten kaum Interesse an seiner Version zeigten und einfach gleichgültig die Trennscheibe im Wagen hochfuhren, um sein lästiges „Geplärre“ während der Fahrt nicht ertragen zu müssen…

Nein, zu allem Übel, wurde Tyson nun auch noch seit einer dreiviertel Stunde warten gelassen. Das verriet ihm das nervige Ticken der Uhr über der Tür. Für einen Menschen wie ihn, der noch nie mit sonderlich viel Geduld gesegnet worden war, ein absolutes Ärgernis. Bei der Festnahme waren ihm lediglich kurz und knapp seine Rechte verlesen worden. Zumindest wusste er dadurch, dass der erste Beamte, welcher durch diese Tür marschierte, sofort wieder schnurstracks hinausgehen durfte, um ihm ein Telefon zu besorgen. Auf einen Anwalt würde er ganz sicher nicht verzichten. Bereits einige Male hatte er gegen die stählerne Tür geschlagen, um seine Forderung hinauszurufen, doch ihn beschlich die Vermutung, dass man ihn absichtlich ignorierte. Tyson besaß ein lautstarkes Organ. Die Beamten auf diesem Revier hätten schon alle taub sein müssen, um ihn nicht zu hören.

„Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, ihr blöden Affen!“

Er wusste dass das Beamtenbeleidung war, aber so langsam wurde ihm alles egal. Außerdem wollte er die Polizisten auf der anderen Seite dazu verleiten hereinzukommen, um ihn über sein Verfehlen zu belehren, dann hätte Tyson nämlich prompt auf einen Anwalt gepocht. Mal sehen, ob sie dann noch so tun konnten, als hätten sie seine Forderung nicht gehört!

Leider blieb sein schöner Plan fruchtlos. Es dauerte noch weitere zehn Minuten, in denen Tyson immer mal wieder das Ohr auf der massiven Tür platzierte, um auszuhorchen was auf der anderen Seite vor sich ging. Irgendwann gab er aber sein Unterfangen schnaubend auf, als ihm einfiel, dass in den meisten Krimiserien, hinter der Wand mit der Scheibe, die Polizisten standen und sich besprachen. Wahrscheinlich lachten sie sich ins Fäustchen, weil er tatsächlich glaubte, dass sie sich ausgerechnet vor der Tür zum Verhörraum unterhielten. Er durchmaß unruhige Kreise durch den Raum. Irgendwann blieb Tyson vor der Scheibe stehen und begann dagegen zu klopfen.

„Hallo? Wird das heute noch etwas?“, fragte er und drückte sein Gesicht dagegen.

„Hörst du sofort auf deinen Nasenabdruck dort zu hinterlassen?“

Tyson fuhr herum. Endlich war jemand hereingekommen. Ein älterer Mann mit ergrauten Haaren. Es knallte als er die Tür hinter sich schloss. Offenbar war er nicht bester Laune, aber das war Tyson ja auch nicht. Der Beamte vor ihm besaß ein kleines Bäuchlein, das knapp über seinem Gürtel hervorragte und kam mit einer Fallakte herein. Mit ihm zog der Geruch von Zigarettenqualm in den Raum. Allein wegen diesem Gestank, verstand Tyson nicht, wie Kai mit dem Rauchen anfangen konnte und er schwor sich, ihm diese Marotte so madig wie möglich zu machen, bis er freiwillig damit aufhörte. Eine seiner Verflossenen war starke Kettenraucherin gewesen. Tyson hatte sich gefühlt als ob er einen Aschenbecher küsste.

„Ich will-…“

„Einen Anwalt. Das wissen wir.“, kam es gelangweilt. Der Beamte warf die Akte auf den Tisch und setzte sich. „Na dann, nennen sie uns doch mal die Kontaktdaten ihres Anwalts. Sie sprechen, ich notiere.“

Er hielt einen Kugelschreiber parat, dessen Miene über einem leeren Blatt Papier schwebte.

Tyson verstummte perplex. Er hatte noch nie einen Anwalt gebraucht.

„Eigentlich müsste ich erst einen suchen…“

„Wie die meisten wenn sie hier hereinkommen. Dann musst du auf einen Pflichtverteidiger hoffen.“

„Hoffen? Ich will definitiv einen!“, pochte er unnachgiebig. „Also schnell her mit ihm!“

„Hast du schon einmal einen Blick nach draußen geworfen?“

„Ja klar.“

„Dann kannst du dir denken, dass es länger gehen wird…“

„Wie lange?!“

„Wie lange ging es, bis meine Kollegen dich aufs Revier gebracht haben?“

„Keine Ahnung… Eine halbe Stunde? Kam mir ewig vor bei dem Schneechaos.“

„Na dann…“, der Beamte klappte ungerührt die Akte auf. „Werden wir einige Zeit haben, um miteinander eine nette Unterhaltung zu führen.“

„Ohne einen Anwalt dürfen sie mich gar nicht befragen.“

„Wer sagt das?“

„Na… Das ist einfach so!“

„Woher willst du das wissen?“

„Aus dem Fernsehen. Das weiß man doch!“

Der Beamte verdrehte mit einem spöttischen Schmunzeln die Augen.

„Lass mich raten. Law and Order? Du weißt das dort das amerikanische Rechtssystem behandelt wird?“

„Na und?“

„Und wir sind hier in Japan!“, bellte er verärgert über den Tisch hinweg, dass Tyson einen Moment verdutzt zurückzuckte. „Setzen!“

Es dauerte bis er der Aufforderung nachkam. Doch irgendwann fauchte Tyson genervt und nahm Platz, denn da er keine Ahnung, über die Unterschiede der einzelnen Rechtssysteme besaß, musste er sich geschlagen geben. Er war einfach nicht vom Fach.

„Kommen sie sich jetzt toll vor?“, fragte er den Beamten grantig.

„Wenn ich einem Großmaul, der sein Wissen aus einer Serie zieht, darüber belehren kann, dass das echte Leben anders funktioniert – dann ja.“, gab sich der Beamte unbeeindruckt. „Wir haben einige Anschuldigungen abzuarbeiten. Reden wir darüber…“

„Anschuldigungen?! Ich bin nicht vorbestraft!“

„Hmm.“, sein Gegenüber hob die Braue. „Ich habe hier einen Vermerk, dass sie einmal betrunken gegen die Hundehütte ihrer Nachbarin gepinkelt haben.“

Es wurde still im Raum.

„Bis auf das…“, murmelte Tyson. Dann warf er wütend die Arme über den Kopf. „Das so ein scheiß überhaupt von euch vermerkt wird! Ein paar Jugendsünden darf doch jeder haben!“

„Das ist richtig.“

„Ich habe dieser alten Hexe die Hütte neu gestrichen. So ordentlich wie danach, sah die Bude für ihr dämliche Töle noch nie aus!“

„Junge, ich kann mir denken, dass du nicht sonderlich begeistert bist, hier drinnen zu hocken – aber mäßige deinen Tonfall! Ich bin momentan noch freundlich.“

„Als könnte irgendwer Zweifel an ihrer Frohnatur haben.“, sprach Tyson trocken. Er verschränkte die Arme hinter den Kopf und wippte auf dem Stuhl. Da schlug der Inspektor mit der flachen Hand auf den Tisch und brüllte: „Klappe halten! Still gestanden! Und hör auf zu wippen, du blöder Lümmel!“

Tyson fuchtelte erschrocken mit den Händen und setzte sich kerzengerade auf.

Dieser Mann besaß ein Organ das einem durch Mark und Bein ging.

„Ja Sir! Tut mir Leid Sir! Ich bin doch schon ruhig, Sir!“

Sein Gegenüber quittierte seine Worte mit einem grimmigen Brummen.

„Hoffe ich auch. An deiner Stelle wäre ich nämlich schön ruhig.“

„Wegen Falschparkens? Ernsthaft?!“

„Ha! Erzähl mir nicht, du wüsstest nicht was los ist…“

„Was meinen sie?“

„Schaust du keine Nachrichten?“

„Ich hatte die letzten Tage keine Zeit. Tut mir echt leid, dass ich nicht die Füße in die Höhe strecken konnte, wie manch anderer! Sie haben keine Vorstellung was ich die letzten Tage durchgemacht habe…“

Ihm fiel ein das er seinen aufbrausenden Tonfall mäßigen sollte, doch der Inspektor sah ihn lediglich ernst an, bis er sich zurücklehnte.

„Na dann… Klär mich auf.“

„Muss ich?“

„Es wäre von Vorteil für dich.“

„Sie werden mir nicht glauben.“

„Lass mich das entscheiden.“

Tyson konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Er hob spöttisch die Braunen.

„Na schön. Machen wir uns den Spaß.“, er faltete fachmännisch die Hände vor sich und begann: „Was würden sie sagen, wenn ich Ihnen erzähle, dass ich gemeinsam mit meinen Freunden in eine Welt verschleppt wurde, in der mystische Wesen namens Bit Beasts herrschen und wir dort zahlreiche Gefahren durchstehen mussten. Dazu gehörte, dass wir vor einer gewaltigen Riesenschlange davongerannt sind, weil sie die Seele eines Kumpels fressen wollte. Die Überquerung eines Lavasees, um einen zum Kind gewordenen Freund zu befreien, der von seinem rachsüchtigen Bit Beast, in der Illusion seines eigenes Hauses festgehalten wurde. Das Austricksen einer mordlustigen Wölfin, die die Gestalt einer wunderhübschen Frau im weißen Kimono angenommen hat, um mich hereinzulegen, weil sie mein Herz und die Augen des Kindes wollte. Dann die verzweifelte Suche nach einem weiteren Freund, weil er durch eine bösartigen Parasiten, so manipuliert wurde, dass er versucht hat, meinen anderen Freund, im Schlaf mit den bloßen Händen zu erwürgen und anschließend von uns weg, mitten in den tiefsten Dschungel geflüchtet ist. Und das auch noch bei Nacht! Oh… und nicht zu vergessen, wie wir auf einer riesigen leuchtenden Wurzel gewandert sind, die Mitten im Nichts schwebt und direkt durch das Jenseits führt, wo uns Untote gejagt haben, weil sie an unsere Lebensenergie wollten. Ganz zu schweigen davon, dass ich zwischendrin immer mal wieder, einige Reiberein mit meinem eigenen Bit Beats hatte, weil er sich partout geweigert hat, uns wieder nachhause gehen zu lassen und dann einige wüste Kämpfe, mit seinen Mitverschwörern hatte – und nun tot in einer Tropfsteinhöhle liegt, deren Zugang nur für begrenzte Zeit sichtbar ist und direkt in die Fugaku Windhöhle führt. Ich denke das war so ein grober Überblick…“

Der Inspektor starrte ihn an. Nur das Blinzeln seiner Augen ließ erkennen, wie verwirrt er über diesen sprudelnden Vortrag war.

„Aha. Sonst noch etwas?“

„Mm, nein… Obwohl doch! Wir waren auf einer Beerdigung mit Gospelmäusen, zum Gedenken an unsere Freundin Dizzy und das Bit Beast meines alten Gegners Brooklyn, ist der Herr der Alpträume. Der kann übrigens nicht sprechen und hinterlässt bei jedem Schritt ein Loch im Rasen. Das hat Dragoon wahnsinnig gemacht.“

Es wurde still. Sehr lange still…

Tyson schaute belustigt in das Augenpaar seines Gegenübers, bis der den Blick zu seiner Akte wandern ließ und etwas notierte.

„Was schreiben sie da?“

„Nur das du ein Hornochse bist. Nichts weiter…“

„Hey! Das ist Beamtenbeleidigung!“

„Beamtenbeleidigung wäre es, wenn du mich beleidigst.“, stellte er schnaubend klar und ließ die Mappe achtlos auf den Tisch fallen. Trotz Tysons erbosten Blick faltete er nur die Hände auf seinem Bauch und begann zu erklären.

„Da du dich offenbar für besonders witzig hältst, konfrontiere ich dich mal mit den harten Fakten. In den letzten Stunden herrschte überall Mord und Totschlag, wo immer du aufgetaucht bist.“

„Wie bitte?“, seine Brauen hoben sich verblüfft.

„Zum einen erhielten wir kurz nach dem vermeintlichen Schlaganfalls deines Großvaters, den Hinweis, dass du dich zuvor noch heftig mit ihm gestritten hast.“

„Na und? Wir zanken uns ständig…“, kam es perplex von Tyson. „Seltsam wäre es, wenn wir mal leise wären. Dann sollte man die Polizei holen.“

Doch der Beamte hob die Hand, um ihn zum Stillschweigen zu bewegen.

„Der nächste Punkt ist das Anwesen des Hiwatari Clans, das fast bis auf die Grundmauern niedergebrannt ist und aus dem es das Oberhaupt der Familie, mehr tot als lebendig herausgeschafft hat. Laut Zeugenaussagen der Sanitäter und den Kameraaufnahmen auf dem Grundstück, sind du und deine Freunde dort eingetroffen, kurz bevor das Feuer loswütete.“

Tyson klappte der Mund auf. Irgendwie überkam ihn das ungute Gefühl, dass er tatsächlich nicht wegen Falschparkens hier saß. Er wollte etwas erwidern, wurde aber unterbrochen.

„Nächster Punkt. Nachdem ihr im Krankenhaus ward, ist dort eine Pflegerin aufs Übelste entstellt worden. Sie wurde ins künstliche Koma versetzt, nachdem man ihr die Zunge auf brutalste Art entrissen hat. Die Augen wurden ausgekratzt, die Hornhaut dabei so stark beschädigt, dass sie höchstwahrscheinlich nie mehr sehen wird. Zudem scheint sie auch noch taub zu sein…“

„W-Was? Was hat das mit uns zu tun?“

„Ich weiß nicht. Sag du es mir?“, er griff erneut nach der Mappe und kramte zwischen den Unterlagen herum.

„Ich weiß von keiner Krankenschwester! Wollen sie mir ernsthaft unterstellen, ich hätte etwas damit zu-…“, Tyson fuhr erschrocken zurück, als der Inspektor ein Foto auf die Tischplatte klatschte. Er blinzelte verdutzt auf das Motiv darauf, bis seine Augen sich in blanken Entsetzen weiteten. Auf dem Hochglanzfoto lag eine, aufs übelste zugerichtete Frau, in einem Krankenbett. Einige ihrer Bandagen waren blutdurchtränkt. Sie schien recht beleibt, zumindest wölbte sich die Decke stark über ihrem Bauch. Ihre Haut war leichenblass und zerkratzt, wodurch die blauen Flecken, an Armen und Beinen umso mehr hervorstachen. Tysons Finger streckten sich zu dem Bild aus, um das Gesicht näher zu mustern. Er hatte das Gefühl diese Frau zu kennen, selbst wenn ihre Augen mit Pflastern zugeklebt waren und der Mund von den Schläuchen des Beatmungsgerät verdeckt wurde. Ihre Wangen kamen ihm zu dick vor, als hätte man ihr etwas in die Backentaschen gestopft, wie nach einem Zahnarztbesuch, bei dem man diese widerlichen Wattekugeln bekam, um die Blutung im Rachenraum zu stillen. Tyson runzelte nachdenklich die Stirn. Was Gesichter betraf, besaß er ein recht gutes Gedächtnis. Er drehte das Foto mehrmals, darüber grübelnd, woher er diese Frau kannte, bis der Groschen fiel. Er tat einen hörbaren Atemzug als er sie erkannte. Es handelte sich dabei um die unfreundliche Nachtschwester, die er auf Kais Verschwinden hingewiesen hatte, als der wie aus dem Nichts in den Besucherräumen erschienen war und sie alle weckte. Auf einmal musste Tyson hart schlucken.

Er war vorlaut, aber sicherlich nicht dumm - konnte Eins und Eins zusammenzählen.

In Kais Körper hatte damals Dranzer gesteckt. Und der war auch dann noch im Krankenhaus geblieben, als die Gruppe zum Friedhof aufbrach. Tyson fuhr sich nervös über die trockenen Lippen, ohne zu bemerken, wie genau er von seinem Gegenüber gemustert wurde. Er spürte, dass sämtliches Blut aus seinen Wangen wich, denn wie er dieses grauenhafte Foto in den Händen hielt, wurde ihm klar, dass das sein Großvater hätte sein können oder sogar die kleine Jana, wäre Galux nicht rechtzeitig eingeschritten. Dadurch dass sie die beiden zu Mariah brachte, hatte sie ihnen dieses Schicksal erspart. Ihm wurde klar wie weit Dranzer gegangen wäre. Ob Kai überhaupt wusste, wozu ihn sein Bit Beast, mit seinem eigenen Körper getrieben hatte…

Bei diesem Gedanken wurde Tyson noch blasser, ja, geradezu aschfahl. Er wusste nicht was er noch sagen konnte, ohne den Verdacht auf ihn zu lenken. Kai war als einziger von ihnen dort zurück geblieben. Wenn Tyson davon berichtete, dass sie das Krankenhaus, noch vor dem Angriff auf die Nachtschwester, verlassen hatten, dann könnte er ins Visier der Behörden geraten. Andererseits musste er Ray und Max schützen…

„Was schwirrt dir durch den Kopf wenn du dieses Foto siehst?“, wollte der Inspektor wissen. Sein Ausdruck war ernst. Die dunklen Augen ruhten auf Tyson. Ein schwerer Kloß bildete sich inzwischen in dessen Hals. Er schluckte hart, doch irgendwie schien sich nichts zu lösen. Auf einmal schien es sehr leise im Raum zu sein, als könne man selbst seine Gedanken hören. Die Uhr über der Türschwelle kam ihm mit jedem Tick lauter vor.

„Es ist furchtbar.“, war alles was er hervorbrachte. Tyson räusperte sich. „Wann ist das passiert?“

„Weißt du das nicht?“

„N- Nein.“

„So so… Du weißt also nicht, ob die Krankenschwester noch heil war, als ihr das Gebäude verlassen habt?“

Er zuckte ratlos mit den Schultern. Doch eigentlich dachte Tyson darüber nach, wie er seine Antworten so schwammig wie möglich gestalten könnte. Er musste den Verdacht auf eine Uhrzeit lenken, in welcher Kai sich unmöglich noch im Krankenhaus befinden konnte. Allerdings wusste er selbst nicht genau, wann das gewesen war.

„Wann habt ihr das Krankenhaus verlassen?“

„In der Nacht…“

„Eine Uhrzeit.“

„Keine Ahnung. Acht Uhr?“

„Bist du sicher?“

„Nein. Ich weiß es nicht mehr.“

„Wer ist alles gegangen?“

„Na wir alle. Meine Freunde und ich eben…“

„Ihr alle?“

Tyson nickte. Da zog der Inspektor ein weiteres Bild aus der Akte. Er schob das Schwarzweißfoto über die Tischplatte, damit er auch wirklich einen uneingeschränkten Blick darauf bekam. Es war eine Kameraaufnahme. Sie zeigte wie sie das Krankenhaus verließen – ohne Kai. Der stand nur vor dem Eingang und sah ihnen nach, wie sie einstiegen.

„Doch nicht alle, oder?“

„Woher haben sie das?“

„Kam herein kurz nachdem wir dich aufgegriffen haben.“

Tyson starrte stillschweigend auf das Foto, blickte auf die Uhrzeit, die rechts unten eingeblendet war. Er hatte sich um einige Stunden vertan, denn es war kurz vor elf gewesen, als sie zum Friedhof aufbrachen. Kurz darauf musste Dranzer die Krankenschwester attackiert haben…

„Ich frage mich ob der Angriff vor oder nachdem ihr gegangen seid stattfand. Das würde zumindest dich entlasten, nicht wahr? Immerhin war einer von euch noch da…“

Er tippte mit dem Finger auf Kais Gesicht. Es ließ Tyson knurrend die Zähne fletschen.

„Halten sie ihn da heraus!“

„Warum so wütend?“

„Kai hat viel durchgemacht! Er musste mit ansehen, wie sein eigenes zuhause niedergebrannt ist! Er kam mehr tot als lebendig heraus und hat es trotzdem noch geschafft, zuvor seine Schwester aus dem Gebäude zu retten – also lassen sie gefälligst die Finger von ihm!“

„Nicht so aggressiv… Er könnte den Brand immerhin selbst gelegt haben.“

„Seine Schwester war daheim!“, fuhr Tyson ihn an. „Sie kennen ihn nicht! Er würde niemals etwas tun, was ihr schadet. Er sorgst sich vorbildlich um Jana, weil sie Trisomie hat.“

„Davon hörte ich von den Ärzten, die sie nach dem Brand untersucht haben. Aber…“

„Nein!“, fuhr Tyson dazwischen. Ein energischer Ausdruck trat auf sein Gesicht. „Kai pflegt seine Schwester mit einer Disziplin, die man nicht vergleichen kann! Vor kurzem habe ich mir einen dummen Streich erlaubt. Dadurch habe ich versehentlich einen Arzttermin für Jana platzen lassen. Kai war außer sich! Er wollte sogar nie mehr mit mir reden und den Kontakt abbrechen! Denken sie allen Ernstes, dass jemand, der seine Schwester so offensichtlich, vor seine Freunde stellt, absichtlich einen Brand legt, um sie zu töten? Das ist doch Wahnsinn!“

„Überforderte Menschen tun manchmal verrückte Dinge.“

„Er hat Personal das ihm hilft.“

„Dennoch… Kam er dir zu irgendeinem Zeitpunkt überfordert vor?“

„Nein.“, es war eine Lüge. Denn bei ihrem Streit fiel es Tyson zum ersten Mal auf.

„Weißt du etwas über das Brandopfer im Hiwatari Anwesen?“

„Was?!“, Tyson blinzelte perplex. „Was denn für ein Brandopfer?“

„Aus den Trümmern wurde die Leiche einer Frau geborgen.“

„Keine Ahnung! Davon höre ich zum ersten Mal. Sie müssen sich irren!“

„Das glaube ich weniger. Übrigens ist dein Großvater auch seit kurzem entschwunden.“

„Nein, ist er nicht.“, Tyson setzte sich kerzengerade auf. Das ernste Gesicht des Inspektors wich einem verdutzten Ausdruck. „Er ist in einem Hotel bei einer Bekannten. Zusammen mit Kais kleiner Schwester!“

„Das Hiwatari Mädchen?“

„Ja! Nach dem Erdbeben sind sie dort untergekommen.“

Die Brauen des Inspektors zogen sich zusammen. Tyson fragte sich, was diesem Mann durch den Kopf ging. Ihm wurde bewusst, dass er sich selbst auch verdächtigt hätte. Das waren wirklich verdammt viele Unfälle und es sah auch für Kai nicht besonders gut aus. Tyson wand sich auf seinem Stuhl und suchte nach den richtigen Worten.

„Hören sie, ich weiß, das hier sind Zufälle, die nicht gerade für mich sprechen.“

„Nicht nur du wirst verdächtigt. Auch deine beiden anderen Freunde.“

„Ray und Max? Die haben nichts damit zu tun!“, rief Tyson entsetzt aus.

„Das werden wir entscheiden.“

Auf einmal kochte die Wut in ihm hoch, denn das ging ihm nun zu weit. Es war wie eine Sicherung die in ihm durchbrannte. Niemand beschuldigte ungestraft seine Freunde. Er haute mit den Handflächen auf den Tisch und erhob sich so schnell, dass sein Stuhl geräuschvoll nach hinten kippte. „Ich habe echt die Schnauze voll! Sie kennen die beiden nicht! Das sind die anständigsten Menschen auf der Welt! Für die beiden lege ich meine Hand ins Feuer! Sie haben keine Ahnung was wir in den letzten Stunden alles durchmachen mussten!“

„Erklär es mir.“

„Das würden sie mir nie glauben. Lassen sie die beiden einfach in Ruhe! Die haben ihre eigenen Probleme. Rays Frau ist hochschwanger und Max… seine Mutter ist vor kurzem gestorben! Die beiden haben wirklich andere Sorgen, da müssen sie nicht noch mit ihren behämmerten Beschuldigungen daher kommen!“

„So wie ich das sehe, haben wir hier berechtigten Grund zu zweifeln.“

„Mir doch scheiß egal! Wir können nichts dafür, wenn ihnen die Verdächtigen ausgehen!“, brüllte Tyson ihm entgegen. Er stand schnaufend vor dem Inspektor, der sich lediglich grübelnd über das Kinn fuhr. Dieser Mann hatte Nerven aus Stahl, denn er ließ sich kein bisschen provozieren. Man hörte förmlich, wie die kleinen Zahnräder in seinem Kopf auf Hochtouren liefen. Irgendwann begann er wieder in der Mappe zu kramen.

„Adresse?“

„Welche Adresse? Geht es genauer?!“, fauchte er unfreundlich über den Tisch hinweg.

„Vom Hotel. Wir überprüfen das.“

Tyson taxierte ihn lange. Sein Blick sprühte förmlich vor Gift. Irgendwann setzte er sich grimmig und nannte ihm die Angaben, woraufhin der Stift des Inspektors über das Papier kratzte. Der nickte kurz darauf zur verspiegelten Wand und hob den Zettel in die Höhe. Es dauerte keine Sekunde, da öffnete sich die Tür zum Verhörraum und ein junger, uniformierter Beamter huschte herein. Der schnappte sich den Zettel und verschwand so schnell wie er gekommen war, offenbar genau im Bilde über seine Aufgabe. Gleich danach fuhr der Inspektor fort.

„Dein Großvater befand sich in einem recht kritischen Zustand, als er im Krankenhaus eingeliefert wurde.“

„Ja. Aber jetzt ist er wieder putzmunter. Er konnte mir sogar wieder eine Kopfnuss verpassen, als ich ihn gefunden habe. Aber notieren sie sich das bloß nicht! Wir wollen ja nicht, dass er wegen versuchten Mordes weggesperrt wird.“, höhnte er mit überspitzten Humor. Der Inspektor ließ sich nicht ärgern.

„Da habe ich wohl einen Nerv getroffen.“

„Haben sie mit etwas anderem gerechnet? Sie beschuldigen Menschen, die mir Nahe stehen und das nur, weil wir zur falschen Zeit, am falschen Ort waren!“

„Das wird sich noch herausstellen. Warum bist du so still geworden, als du das erste Foto gesehen hast?“

„Wer wäre da nicht still? Ich musste erst einmal verdauen, was ich da geboten bekomme.“

„Oder weil du die Frau kennst?“

Tyson schnaubte verärgert. Dann meinte er wahrheitsgetreu: „Ja. Ich kenne sie. Ich bin ihr an diesem Abend zum ersten Mal begegnet, habe aber keine großartigen Worte mit ihr gewechselt.“

„Ein Patient meinte, er hätte in seinem Zimmer gehört, wie sie dir mit Prügeln gedroht hat, wenn du nicht verschwindest.“

Er rollte entnervt mit den Augen.

„Sie war unfreundlich! Kai ist verwirrt durch die Gänge geschlichen und anstatt das die dumme Kuh ihre Arbeit macht und mir bei der Suche hilft, pflaumt sie mich auch noch an! Der Junge stand total neben sich und die Alte rührt sich keinen Millimeter von ihrem fetten Arsch!“

„Sie hat dich wütend gemacht.“

„Mir tut es Leid was ihr passiert ist, okay? Das ändert aber nichts daran, dass sie ihren Job scheiße gemacht hat!“

„Ihr habt euch also gestritten?“

„Ja. Aber sonst war da nichts weiter…“

„Aha, also eine weitere Person, mit der du eine deiner harmlosen Diskussionen hattest. Und kurz darauf wird sie zum Pflegefall – genau wie dein Großvater.“

„Sie reimen sich da vielleicht einen Stuss zusammen! Opa wird sie vom Gegenteil überzeugen.“

„Falls er aufzufinden ist.“

„Natürlich ist er das!“

„Waren deine Freunde auch dabei als du mit der Schwester gestritten hast?“

Tyson haute mit der Faust auf den Tisch, dass die Blätter darauf einen kleinen Satz machten.

„Nein, verdammt! Und hören sie auf sie zu beschuldigen! Keiner von ihnen war bei mir - ich war vollkommen alleine mit der blöden Schachtel!“

Der Inspektor hob die Braue und dachte lange nach.

„Du weißt, es trägt nicht dazu bei, dass du in einem besseren Licht da stehst, wenn du so von ihr redest. Du gestehst außerdem damit ein, dass du eine der letzten Personen warst, die sie noch unversehrt gesehen hat.“

„Wenn es nun einmal die Wahrheit ist! Soll ich etwa lügen?!“

„Nein. Natürlich nicht.“, er klang fast schon versöhnlich. Dann fragte der Inspektor: „Es regt dich auf, wenn man deine Freunde beschuldigt, nicht wahr?“

Tyson starrte ihn bedrohlich an. Dann beugte er sich vor und sprach: „Meine Freunde sind mein Heiligtum. Diese Menschen kenne ich von klein auf. Wer einen von ihnen angreift, der greift auch mich an! Sie sind genauso Teil meiner Familie, wie mein eigener Großvater oder Bruder. Also halten sie sich mit ihren Vorwürfen gefälligst zurück...“

„Ist das eine Drohung?“

„Vielleicht. Legen sie es weiter darauf an und sie sehen was passiert!“

Es wurde still. Tyson starrte in das dunkle Augenpaar vor ihm, während sein eigenes, zu angriffslustig Schlitzen geworden war. Es wäre noch milde gesagt, wenn man behauptet hätte, dass er böse war. Seine Brauen waren tief ins Gesicht gezogen. Der Inspektor begann sich wieder über das Kinn zu fahren, dann blickte er auf die Akte in seinem Schoß und notierte sich etwas anderes.

„Was schreiben sie jetzt schon wieder auf?“

„Nichts Besonderes.“

„Ich will das wissen!“, pochte Tyson eisern.

Der Inspektor schnalzte, blieb aber ruhig. Dann meinte er: „Ich notiere nur, dass du ungewöhnlich loyal bist. Selbst dann, wenn es dir schadet.“

Darauf blitzte er verdutzt. Tyson wollte schon zu einer Antwort ansetzen, da öffnete sich die Tür erneut und der Kopf einer Beamtin schob sich durch den Spalt. Sie schaute ganz schön eingeschüchtert und besaß eine Stimme, die eher an eine Maus erinnerte.

„Inspektor Kato. Würden sie bitte einen Moment mitkommen.“

„Neuigkeiten?“

„Ja. Aber keine sonderlich guten…“

„Wunderbar. Passt zu diesem Tag.“, er nahm seufzend die Mappe vom Tisch. Tyson hoffte inzwischen das die schlechte Nachricht, das Eintreffen seines Anwalts betraf. Da entschuldigte sich der Inspektor und verschwand auch schon aus der Tür, ließ ihn alleine zurück, in seinen düsteren Gedanken vertieft. Tyson wusste beim besten Willen nicht, wie sie aus dieser Sache glimpflich herauskommen sollten. Sein Großvater könnte die Beschuldigungen gegen ihn vielleicht noch entkräften, aber die Sache mit der Krankenschwester – die war dubios.

Ihm fiel auf, dass er sich vor allem um Kai sorgte. Wenn die Beamten herausfanden, dass er aus dem Krankenhaus verschwunden war, kurz nachdem die Nachtschwester attackiert wurde, dann wäre die Sache klar. Max und Ray wären dann aus dem Schneider, vielleicht sogar er selbst, aber Kai…

Der Brand würde ihn auch nicht in einem guten Licht dastehen lassen. Tyson kaute nervös auf der Unterlippe, dachte an die Leiche im Hiwatari Anwesen und konnte sich partout keinen Reim daraus machen, woher die nun so plötzlich auftauchte.

Eine weibliche Leiche…

War Kais Mutter im Haus gewesen, als Dranzer das Gebäude in Brand steckte?

Das konnte nicht sein. Kai hatte doch erzählt, dass sie abgehauen war. Da zuckte Tyson zusammen, als die donnernde Stimme des Inspektors, von draußen in den Raum schallte.

„Was soll das heißen die Leiche ist weg?! Verarscht ihr mich?!“

Er blinzelte perplex auf die geschlossene Tür. Offenbar war der gute Mann ganz schön in Rage. Wen immer er da auf der anderen Seite zusammenfaltete, er wurde übel in die Mangel genommen, denn kurz darauf hörte Tyson auch schon die verzweifelte Rechtfertigung, einer weiteren männlichen Person, womöglich der Partner der Polizistinnen, welche Kato herausgebeten hatte.

„Die Pathologin meinte, die Leiche wäre vom Seziertisch aufgesprungen und vor ihren Augen aus dem Raum spaziert!“

„Und ihr glaubt diesen Scheiß?!“

„Natürlich nicht! Aber sie ist noch immer fertig mit den Nerven! Sie ist kreischend aus dem Saal gerannt und spricht davon, dass sie kündigen will.“

„Findet diese verdammte Leiche, bevor unsere Vorgesetzten erfahren, dass sie einfach verbummelt wurde!“

„Ähm… Da gibt es ein klitzekleines Problem. Die verstorbene Reporterin hat davon schon berichtet!“

„Na dann ein Grund mehr die Leiche zu finden! Sonst wird sich unser Revier bis auf die Knochen blamieren, wenn das herauskommt!“

„Aber Inspektor Kato, wir haben eine Videoaufnahme, in der der Körper tatsächlich zu sehen ist. Er läuft wahrhaftig aus der Pathologie heraus, als wäre nichts weiter dabei!“

„Leichen spazieren nicht einfach durch die Gegend, du Esel!“

Nur leider wusste es Tyson besser – und schon ahnte er, woher die Leiche im Hiwatari Anwesen herkam. Sie war Dranzers Hülle gewesen…
 


 

*
 

Henry Archer war leidenschaftlicher Angler. Er liebte es mit seinem kleinen Motorboot auf den Lake Michigan hinaus zu fahren und auf hoher See, die Füße über den Rand baumeln zu lassen, während er langsam in den Schlaf abdriftete. Wenn ihn dann das Klappern der Spule seiner Angelrute aufweckte, sah er stets voller Freude unter seiner Mütze auf, um sich kurz danach einen weiteren Barsch - an guten Tagen sogar einen Lachs - aus den Fluten herauszuziehen. Da er pensionierter Lehrer war, besaß er genug Zeit für sein Hobby. Der Wind auf dem See war herrlich, die Ruhe auch, vor allem wenn seine Frau mal wieder zänkisch war, ergriff er gerne die Flucht hinaus aufs Wasser. Auch heute war er brummend aus der Haustür gestakt, um ihrem Gekeife zu entrinnen, auch wenn sie berechtigten Grund zum Motzen besaß.

„Henry, ich fühle es in meinen alten Knochen. Das Wetter spielt total verrückt. Geh nicht raus auf den See. Fällt es dir so schwer mit deinem Hintern mal zuhause zu bleiben? Du könntest zur Abwechslung mal die Garage aufräumen!“

„Herrje, Lulu, lass es doch gut sein!“

„Das ist nicht sicher! In den Nachrichten bringen die eine Hiobsbotschaft nach der anderen. In Brasilien gab es einen schweren Erdrutsch. Auf den Malediven einen Tsunami. Alles geht den Bach runter! Das ist der Weltuntergang…“

Sie fuchtelte mit ihrer Bibel herum, was ihren Mann nur Grunzen ließ.

„Wir sind verdammt! Das ist das Jüngste Gericht.“

„Sei nicht immer so eine Exzentrikerin! Ich habe es außerdem Penny versprochen.“

„Du willst sie doch nicht mitnehmen?“

„Natürlich. Ich könnte ihr das nie abschlagen. Mein kleiner Engel will mit Opa auf den See.“

Seine Frau hatte entsetzt die Hände über den Kopf geschlagen, denn ihrer Meinung nach war ihr Mann ebenso stoisch, wie ein Esel auf dem Acker. Dennoch packte sie irgendwann ihre jüngste Enkelin, in eine dicke Daunenjacke ein und zog ihr die Gummistiefel, mit den hübschen rosa Blümchen über, die Penny so liebte. Die Kleine plapperte aufgeregt davon, wie gerne sie einen Wal fangen wollte, denn vor kurzem war sie mit ihren Eltern in Seaworld gewesen, wo ihr besonders Shamu imponiert hatte. Stolz wie ein Maikäfer tapste das Mädchen schließlich an der Seite ihres Großvaters zum Steg, der an ihrem Haus am See lag, über die Schulter ihre pinke Kinderangel baumelnd, welche mehr zum Schein ins Wasser geworfen wurde, als um wirklich einen Fisch zu fangen. Henry half seinem kleinen Engel in das Boot, wo sie erst einmal ein glückliches „Hui!“ von sich gab, weil die Wellen den Boden so schwanken ließen. Als er den knatternden Motor anschmiss, klatsche Penny begeistert in die Hände und winkte ihrer Oma noch lange hinter her, die nur kopfschüttelnd am Steg stand, die Arme in die Seiten gestemmt, sichtlich besorgt um ihr kleines Engelchen und den alten Esel. Henry störte es schon gar nicht mehr, dass sie ihn mit diesem Spitznamen triezte.

Pennys Zöpfe flatterten seitlich an ihrem Kopf wild im Wind. Das ihr Opa absichtlich einige unnötige Kurven hinlegte, brachte sie zum Kichern. Seine Frau hätte sicherlich wieder geschimpft. Sobald er auf die Mitte des Sees zusteuerte, überkam ihn der typische Glücksrauch und Henry ließ den Motor verstummen, damit sie gemächlich auf den Wellen treiben konnten. Um den Lake Michigan herum war noch niemand wach. Die meisten Leute schliefen, doch Penny wollte unbedingt einen Sonnenaufgang über dem See erleben, auch wenn sie zunächst gequengelt hatte, weil er sie so früh weckte. Wenn die hellen Strahlen sich in den Fluten brachen, fühlte man sich wie in einem Meer aus Diamanten. Hier draußen kam Henry sich immer frei vor. Dennoch behielt er seine blondgelockte Enkelin genau im Auge, denn irgendwann schaute die nur noch in die Fluten unter sich und kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Er musste glucksen, denn ihre großen Kulleraugen sprühten geradezu vor Euphorie und sie sprach davon, dass sie unter sich einen Meerjungfrauenmann sah.

„Ein Meerjungfrauenmann?“

„Ja. Das ist der Mann von der Meerjungfrau.“, erklärte sie arglos.

„Nun, dann meinst du einen Meermann. Es sei denn sie hat sich einen Prinzen vom Land geangelt, der von Natur aus keine Flossen hat.“

Ihre großen Augen schauten grübelnd auf.

„Okay.“

Den Gesichtsausdruck kannte er. Wenn Penny so schaute, konnte sie ihm nicht mehr folgen.

„Opa, da ist ein Meermann.“, erklärte sie noch einmal.

„Aber Engelchen, die gibt es doch nicht.“

„Doch Opa. Da unten ist einer. Ich glaube er kommt hoch zu uns.“

Sie beugte sich weiter vor, starrte mit offenem Mund über den Rand und begann zu winken. Während Penny in ihre kindliche Fantasie vertieft war, nahm er seinen Flachmann aus der Innentasche seiner Jacke und gönnte sich einen heimlichen Schluck.

„Was hast du da?“

„Nur etwas Fruchtsaft für Große.“

„Oh… Opa der Mann ist gleich da.“

„So so…“

„Doch Opa. Schau mal!“, sie deutete wieder hinab.

„Lass Opa noch einen Schluck nehmen. Danach…“

„Aber du musst jetzt schauen.“, pochte sie mit dicken Schmolllippen. Er schnalzte missbilligend, ließ den Blick flüchtig über die Fluten irren und sprach dann in gespieltem Erstaunen: „Na sowas! Ein Meermann. Was sich alles in diesem See herumtreibt.“

„Du hast gar nicht richtig geschaut. Und Opa, er hat gar keine Flossen! Meerjungfrauen haben Flossen.“, beklagte sie sich. Früher hatte sie nie bemerkt, wenn er sie auf den Arm nahm. Doch seit sie in die Vorschule ging, wusste sie, dass Opa ihr nicht einfach die Nase klauen konnte. Kinder wurden schrecklich schnell erwachsen. Henry nahm noch einen weiteren Schluck aus seinem Flachmann, erst dann wandte er sich seinem Angelkasten zu, um sein Equipment aufzustellen, da brachte eine Erschütterung das Boot zum Schwanken.

„Was zur Hölle…“

Er packte nach seiner Enkelin, damit es die nicht über den Rand katapultierte. Der fiel nichts Besseres ein, als ihn darüber zu belehren, dass er für seine derbe Wortwahl, einen Dollar in die Fluchkasse werfen sollte. Das Mädchen blieb überraschend ruhig, trotz des Rucks der auf das Boot ausgeübt wurde, während ihr Großvater die altersgezeichneten Finger, fest im Holz verkrallte. Auf einmal schossen zwei Hände aus den Fluten hervor. Es ließ Henry verdattert blinzeln.

„Uuuh!“, machte seine Enkelin ehrfürchtig.

„Hey, du Hornochse!“, brüllte ihr Großvater jedoch nur los, als er einen dunklen Haarschopf erblickte, der sich über den Rand zog. „Du bringst noch das Boot zum kentern! Zerr nicht so daran herum!“

„Opa, du musst noch einen Dollar in die Fluchkasse legen.“

„Ja, doch Penny! Nun sei doch mal still. Lass Opa einen Moment in Ruhe.“, er schob seine Enkelin beiseite und packte den Mann am Handgelenk, um ihn ins Boot zu hieven, dabei stand er auf und verlagerte sein Gewicht so, um das Gefährt nicht aus der Balance zu bringen. Ihr unerwarteter Gast spie angeekelt Wasser aus und fluchte. Zumindest hörte es sich so an, denn die Sprache kannte er nicht. Nur die Tonlage ließ ihn erkennen, dass er einen Ausländer vor sich hatte. Rein von den Klängen, hätte er auf eine asiatische Sprache gewettet, zumindest klang es wie das Geschwätz der Köche, aus diesem Sushi Restaurant in Chicago, dass seine Frau so sehr liebte. Als er den Mann aus dem See fischte, spreizte der erst einmal schnaufend alle Viere von sich und sah zum Himmel. Es war ein recht junger Bursche – allerdings mit einem fehlenden Arm. Er konnte höchstens Dreißig sein, besaß einen pechschwarzen Haarschopf und ein ebenso dunkles Paar Augen, was im Licht der Sonne einen leichten Braunstich hatte. Etwas verdutzt fragte sich Henry, ob der Kerl tatsächlich Schlitze als Pupillen besaß, wie bei einer Eidechse. Er wurde aber aus seinen Überlegungen gerissen, als der ihn in seiner fremden Zunge ansprach.

„Nichts verstehen!“, antwortete er genervt und wurde lauter, bis ihm einfiel, dass er keinen Tauben vor sich hatte, sondern einfach nur einen Ausländer. Schlimm genug, dass alle Taxifahrer einen nicht verstanden, nun musste er sich schon auf seinem hübschen Boot, mit solchen Leuten herumschlagen. Der Mann sah ihn an und sagte wieder etwas.

„Pah! Lern meine Sprache.“, bellte Henry verächtlich. „Du bist in meinem Land!“

„Okay, aber dein Land ist es nicht.“

Er stutzte verdattert.

„Aha… Sprichst ja doch unsere Sprache.“

„Ich spreche jede Sprache. Mir war nur nicht ganz klar, was in dieser Region angebracht ist.“

Der fremde Mann setzte sich auf, zog seine Schuhe aus und schüttete das Wasser darin heraus. Dabei bemerkte er seine Enkelin zum ersten Mal. Die schaute ihn mit unverhohlener Neugier an. Ihr Mündchen war weit aufgeklappt. Sie starrten sich gegenseitig eine Weile an, bis der Fremde die Hand ausstreckte und ihre Kinnlade hochklappte.

„Mach das zu. Der Anblick irritiert mich irgendwie.“, forderte er Penny auf.

„Kannst ihr nicht verdenken, wenn sie dumm aus der Wäsche guckt. Man zieht nicht jeden Tag einen Mann, in voller Montur aus dem Wasser.“

„Wirklich nicht?“

Im ersten Moment dachte er, dieser Kerl veralberte ihn nur, doch er schaute genauso erstaunt, wie die Kleine. Was für ein komischer Kautz…

Henry ließ den Blick über das Wasser schweifen. Sie waren am tiefsten Punkt des Sees und dieser Typ planschte in seiner Alltagskleidung darin herum, wie Flipper im Meer – zudem noch mit einem Arm. Das Gewicht seiner Kleidung hätte ihn wie einen Stein untergehen lassen müssen.

„Sie haben echt Glück dass wir hier unterwegs waren. Sie könnten jetzt tot sein!“

Der Fremde schnaubte ungläubig und zog sich die Schuhe umständlich wieder über. Er schien aber nicht in der Lage, sie zuzubinden, weil er ja nur einen Arm besaß. Etwas hilflos schaute er auf die Schnürsenkel und fragte: „Braucht ihr Menschen die wirklich? Oder kann man auch ohne diese Dinger an den Füßen leben?“

Henry stutzte über seine Wortwahl. Da quiekte Penny auch schon: „Ich kann das! Du musst das Hasenohrreim aufsagen.“

„Was für ein Reim ist das?“

„Guck, ich zeig es dir!“

Ihre kleinen Finger griffen hilfsbereit nach seinen Schnürsenkeln und trugen den Kinderreim auf, den sie von der Vorschule kannte, während sie diesem ausgewachsen Mann die Schuhe zuband.

„Ein Hasenohr, noch ein Hasenohr. Kuscheln sich ein, bring einen Knoten hinein.“

Der Fremde starrte mit aufgezogener Braue auf das vollendete Werk, wackelte mit dem Fuß in der Luft herum. Dann strahlte er förmlich, als habe er eine bahnbrechende Entdeckung gemacht und sagte: „Ach, so macht man das! Danke kleines Weibchen.“

Er sprang flink auf die Füße, dass das Boot ins Hopsen geriet. Es ließ Henry mit wehenden Armen auf dem Hintern landen und Penny glücklich Jauchzen. Dann sträubte er sich wie ein Hund, um das überschüssige Wasser loszuwerden. Seine Enkelin gluckste vergnügt und gab ein „Bäh!“ von sich.

„Etwas mehr Feingefühl! Hier ist ein Kind an Bord!“

Dabei bemerkte Henry, dass er eine ausgezeichnete Balance besaß. Wie er es vollbracht hatte, mit einem fehlenden Arm hinauf zu schwimmen, war ihm ein absolutes Rätsel. Im Gegensatz zu ihm, kam ihr blinder Passagier kaum ins Straucheln. Der deutete inzwischen auf ihn.

„Du, alter Mann! Auf welchem Kontinent befinden wir uns?“

„Ich schmeiß dich gleich hochkant zurück ins Wasser, wenn du mich noch einmal alt nennst!“

„Warum seid ihr Menschen immer so empfindlich, wenn es um euer Alter geht?“, rollte er mit den Augen. „Ich bin Millionen von Jahren alt und mich schert es nicht. Nun sprich schon!“

Der Kerl war doch verrückt…

„Du bist hier auf amerikanischem Boden! Wie kann man nicht wissen, auf welchem Kontinent man sich befindet?!“

Anstelle einer Antwort, kratzte sich der Fremde nachdenklich am Kinn.

„Und in welcher Richtung liegt der Landstrich, den ihr Japan nennt?“

„Japan?“, wiederholte Henry total konfus. Er dachte fieberhaft nach. Als ehemaliger Erdkundelehrer sollte er das eigentlich wissen, aber diese Frage kam doch recht unerwartet. Jemand anderes hätte nach seinem unfreiwilligen Badeausflug, erst einmal um ein Handy gebeten, um die Rettungskräfte zu verständigen, aber nicht danach gefragt, wo Japan lag.

„Im Westen.“

Der Fremde drehte sich in die besagte Richtung. Er zog die Brauen tief ins Gesicht. Henry sah, wie sich seine Nüstern blähten.

„Ja. Da ist er. Ich wittere Takao zwar kaum noch, aber wenn man sich anstrengt, spürt man seine Energie. Dieses Portal muss weit weg gewesen sein. Verdammt… Hier fällt wirklich eine Tür nach der anderen zu. Jetzt muss ich den ganzen Weg zurück fliegen. Das wird bestimmt an meiner Kraft zerren…“

„Du kannst auch ein Kanu Richtung Heimat nehmen.“, spottete Henry.

„Ich habe schon genug Zeit verplempert. Da greife ich doch nicht auf solche prähistorischen Mittel zurück.“

„Wenn es in Japan so fortschrittlich ist, hält dich niemand in diesem Land.“, empörte er sich. Seine Aussage kränkte ihn in seiner patriotischen Ehre. „Was hast du überhaupt in diesem See gemacht, Junge!“

„Da unten war das einzige freie Portal, was noch in meiner Nähe offen lag. Muss an der Zeitverschiebung der Erde liegen.“

„Aha…“

Nun starrte Henry total verdutzt. Er holte seinen Flachmann wieder hervor und studierte die Rückseite, um sich auch wirklich sicher zu sein, ob nicht irgendwelche bewusstseinsveränderte Inhaltstoffe darin enthalten waren. Vielleicht war das gar nicht seine Enkelin mit ihm an Bord und er hatte einen Baumstumpf eingepackt.

„Naja, über verschüttete Milch jammert man nicht. Ich muss mich spurten.“, sprach der Fremde mit einem Schulterzucken. Er hob die verbliebene Hand zum Abschied. „Danke dass ihr mich aus dem See gefischt habt. Es war nicht nötig aber dennoch hilfreich. Einen angenehmen Tag noch. Und passt auf, dass ihr in den nächsten Stunden nicht drauf geht.“

Damit ging er in die Knie und stieß sich plötzlich los. Henry stockte der Atem…

Er legte eine solche Kraft in den Sprung, dass es ihr Boot einen Moment tiefer in die Fluten drückte und Wasser über den Rand schwappte. Henry griff nach seiner Enkelin, die einen kleinen Hopser machte und wiedermal heiter dabei gluckste. Danach blickte er aus geweitetem Blick, auf die Flugbahn die der Mann beschritt. Sie reichte weit in den Himmel und machte einen hohen Bogen, bis er zu einem kleinen schwarzen Punkt wurde, der auf dem Festland aufkam.

„Uuuh! Opa der Mann kann fliegen!“, strahlte Penny begeistert. Ihre hellen Kinderaugen funkelten förmlich. „Vielleicht war das ein Supermann? Opa, was machst du mit deinem Fruchtsaft?“

Er antwortete nicht mehr. Mit zitternden Fingern drehte Henry den Deckel seines Flachmanns auf und schüttelte den Inhalt ins Wasser. Nach reichlicher Überlegung flog auch das Fläschchen über Bord. Dann lenkte er das Boot eiligst zurück und schwor sich, das nächste Mal auf seine Frau zu hören.
 


 

ENDE Kapitel 41
 

„Name?“

„Ray Kon.“

„Staatsangehörigkeit.“

„Volksrepublik China.“

„Und sie befinden sich in Japan, weil…“, der Beamte sah Ray gelangweilt an und wartete darauf, dass er den Satz beendete.

„Ich habe meine Freunde besucht. Wie ich bereits mehrfach erklärt habe.“, betonte er genervt, denn es ging auf diesem Revier einfach nicht voran. In China musste man den Behörden gegenüber immer respektvoll bleiben. Ray hatte sich bemüht, diese Angewohnheit auch im Ausland beizubehalten, doch so langsam fiel es ihm zusehends schwerer. Der Beamte an der Rezeption notierte seine Angaben langsam. Gähnend langsam…

Mit jedem Mal wo sein Kugelschreiber über das Papier kratzte, wurde Ray zorniger.

„Können sie Kon buchstabieren?“

Er blinzelte fassungslos.

„Kon? Ich soll Kon buchstabieren? Die drei Buchstaben?!“

„Dann halt nicht…“

Er notierte weiter, während sich Ray über den Mund fuhr. Wenn er nicht aufpasste, rutschte ihm gleich etwas Pampiges heraus. Hinter dem Beamten war eine verglaste Wand, die ein Großraumbüro vom Eingangsbereich abtrennte. Dahinter lief uniformiertes Personal geschäftig von einer auf die andere Seite. Ray schluckte seinen Groll hinunter und begann erneut einen Vorstoß.

„Es geht mir eigentlich in erster Linie darum, dass sie vor mehr als einer Stunde, einen Freund von uns festgenommen haben. Wir haben von den Vorwürfen gegen ihn gehört und wollen das ein für alle Mal klarstellen.“

Der Beamte schaute desinteressiert auf. Seine andere Hand stützte seinen offenbar schwer gewordenen Kopf. Wieder so eine seelenlose Leiche, die ihren Job hasste und nur darauf wartete, endlich in Rente gehen zu dürfen.

Er deutete auf Max und fragte: „Ihr Name?“

Ein fassungsloses Stöhnen ging durch die Gruppe, da hielt ein Beamter hinter der Glasfront inne und stierte gebannt in ihre Richtung. Er runzelte nachdenklich die Stirn, schaute auf ein Blatt in seiner Hand. Ray erkannte, dass er sie erkannte und da entschwand der Beamte auch schon hinter einer Tür, die wohl in einen Nebenflur führte. Als Max bereits anfangen wollte, seine Daten aufzugeben, eilte derselbe Beamte aus einem anderen Flur, rechts von ihnen hervor. Er kam auf seinen Kollegen zu und sprach äußerst herrisch: „Du weißt doch hoffentlich wer die sind?“

„Wenn ich die Daten aufgenommen habe, ja.“, kam es monoton zurück. Ein Blatt wurde ihm vor die Nase gehalten und Ray beschlich die Vermutung, dass darauf wahrscheinlich ihre Fahndungsfotos abgebildet waren. Der Rezeptionist stierte auf das Blatt und sprach: „Ey Dicker, sowas sollte mir gesagt werden. Ihr könnt nicht von mir erwarten, dass ich in eine Glaskugel schaue.“

Sein Kollege packte fauchend dessen Kopf und drehte ihn in Richtung der Pinnwände zu ihrer Linken, auf deren Oberfläche dutzende Fahndungsmeldungen befestigt hingen. Der zuvor schon recht gelangweilte Beamte, blinzelte aus trüben Blick darauf. Als die Gruppe in dieselbe Richtung schaute, wussten sie, was dessen Kollegen so in Rage versetzte. Es gab eine Suchmeldung für Tyson, eine weitere für Max und Ray. Sogar eine für Großvater Kinomiya und Jana, weil sie nach ihrem Krankenhausaufenthalt als vermisst galten. Kai schien schon wieder überklebt worden zu sein, zumindest schaute sein Gesicht, unter einer anderen Suchmeldung nur zur Hälfte hervor.

„Ooh…“, machte der Rezeptionist.

„Es gehört auch zu deinen Aufgaben, die Plakate dort drüben ordentlich an die Wand zu heften, nicht kreuz und quer, wie einen deutschen Krautsalat!“

„Sorry, Bro…“

„Klappe! Und lass diese Gossensprache!“, er gab seinen Bro einen Schlag gegen den Hinterkopf, dass sein Kinn aus der Handfläche rutschte und gegen die Tischplatte knallte. Der rieb sich seinen Kiefer und jaulte mit scherzverzerrtem Gesicht, da kam sein Kollege bereits um den Tisch herum und streckte zuerst Kai die Hand entgegen. Es war ganz klar, dass er wusste, wen er vor sich hatte und dass er ihm die höhere Rangordnung zumaß.

„Mr. Hiwatari! Es ist eine Ehre sie kennenzulernen. Meine Tante arbeitet in ihrem Sekretariat und lobt sie in hohen Tönen. Als sie davon hörte, dass nach ihnen gesucht wird, hat sie mich sofort hyperventilierend angerufen.“

Kai sah unsicher auf die Geste herab. Seine Schwester schaute genauso argwöhnisch darauf, klammerte sich dabei an seinem Hals fest. Sie bettete ihr Köpfchen auf seine Schulter und streckte die Zunge aus dem offenen Mund heraus. Seit die Geschwister sich wiedergefunden hatten, weigerte sie sich vehement, auch nur einen Millimeter von Kais Seite zu weichen. Dennoch löste Kai einen Griff um sie und erwiderte den Handschlag, jedoch ziemlich zaudernd. Wahrscheinlich weil ihm nicht einfiel, wer diese Tante sein könnte.

Ein höfliches „Danke“ kam aus seinem Mund. Kurz darauf schüttelte der Beamte auch die Hände der anderen Anwesenden, allerdings nicht so überschwänglich, wie bei dem bekannten Firmenmagnat. Ray bemerkte dass Kai nicht besonders souverän wirkte. Es machte nicht den Eindruck, als könne er sich daran erinnern, überhaupt eine Firma zu besitzen. Allerdings war er schlau genug, um zu wissen, dass jetzt keine unnötige Nachfrage angebracht war.

Auf einmal fiel Ray auf, dass auf das Eintreffen dieses Beamten, zwei weitere folgten. Nun schien es ernst zu werden. Einer von ihnen besaß ein kantiges Gesicht und schaute unter buschigen Brauen zu ihnen herüber. Seine Augen huschten von einer Person zur Nächsten und es war ganz klar, dass er für die groben Dinge zuständig war. Offenbar hielt er sich für einen ziemlich abgebrühten Kerl, denn er lief breitbeinig herum, wie ein Cowboy der durch die Steppe stakte. Ray hob herausfordernd das Kinn in seine Richtung, um ihm insgeheim zu verdeutlichen, dass er sich von seiner Statur nicht einschüchtern ließ. Dennoch war nun auch dem Letzten von ihnen klar, dass man sie erkannt hatte und sie nicht mehr gehen lassen würde, bis sie alle von ihrer Unschuld überzeugten. Er schielte zu Max und Kai. Ersterer kaute nervös auf seiner Unterlippe. Ray konnte es ihm nicht verdenken. Das gesamte Lügenkonstrukt, das sie mit Kenny im Wagen aufgebaut hatten, war schwierig im Kopf zu behalten. Außerdem log Ray aus Prinzip nicht gerne. Es widersprach sämtlichen Werten auf die er sein Leben aufbaute – aber für Tyson würde er es tun.

Er schaute zu Kai und erstarrte. Seine Pupillen waren schon wieder geweitet!

Ausgerechnet jetzt erinnerte er sich an etwas…

Der hilfsbereitere Beamte tat eine einladende Geste, zu jener Tür, aus der er zuvor gekommen war. Es kam gleich Bewegung in die Masse. Als Ray bemerkte, dass Kai keine Anstalten machte, dem Menschenstrom zu folgen, drängte er sich an seine Seite und packte ihn am Arm. Mit einem Keuchen riss es ihn aus seinen Tagträumen. Er blinzelte und sah sich orientierungslos um.

„Alles klar?“, flüsterte ihm Ray aus den Mundwinkeln heraus zu.

„Ich… Ich weiß nicht ob ich das schaffe.“

„Überlass uns einfach das reden. Halt dich verdeckt.“

„Und wenn sie uns trennen?“

Ray schluckte geschockt, denn daran hatte er überhaupt keinen Gedanken verschwendet. Kais Überlegung war gar nicht so abwegig. Es war gut möglich, dass man sie alle einzeln vernehmen wollte, um zu verhindern, dass sie sich gegenseitig Hilfestellung leisteten.

„Mir ist etwas anderes eingefallen. Vielleicht hilft es uns weiter…“

„Mach jetzt bloß keine Experimente!“, flüsterte Ray. „Bitte vertrau uns einfach.“

„Das tue ich - glaub mir.“

Es ließ ihn verdutzt blinzeln. So etwas hatte Kai ihm noch nie gesagt und es war ihm auch noch so leicht über die Lippen gekommen, ohne viel Wenn und Aber. In einem anderen Moment, wäre er wirklich mehr darauf eingegangen, doch da sprach Kai auch schon weiter: „Das Problem seid nicht ihr – ich bin es. Diese Aussetzer kann ich nicht kontrollieren. Sie kommen einfach so über mich. Ich vertraue mir nicht…“

Sie hielten einen Moment inne, als es vor der Tür eng wurde. Reihe um Reihe, drängte sich hindurch. Es hatte sich ein Menschenpuffer gebildet, der sie von den Beamten vor ihnen und hinter ihnen abschottete. Er sah Max, der sich zu ihnen umdrehte, offenbar weil er ihr Getuschel mit halben Ohr mitanhörte. Kenny und Mr. Kinomiya bildeten ihre Rückendeckung. Tysons Großvater schien ihnen auch zu lauschen, hielt die Arme verschränkt und begann irgendwann die Beamten hinter ihnen, in ein Gespräch zu verwickeln. Der Chef kaute dagegen nur nervös auf seinen Fingernägeln herum die wirklich unansehnlich ausschauten. Bald hätte er nichts mehr zu knabbern, weil alles heruntergenagt war. Er war kein Mensch, der mit solchem Druck sonderlich gut umgehen konnte. Außerdem ließ sich Kenny gerne von Autoritätspersonen einschüchtern.

Oder von Frauen…

Oder von Rüpeln…

Oder von lauten Kindern…

Oder von bellenden Hunden.

Streng genommen ließ er sich von allem einschüchtern.

Während sie sich in den Flur zwängten und Ray einen verstohlen Blick, zu dem Beamten vor ihnen warf, flüsterte er Kai zu: „Was schwebt dir durch den Sinn?“

„So nah wie möglich an der Wahrheit bleiben.“

„Aber du erinnerst dich nicht. Oder etwa doch?“

„Nicht wirklich…“

Seine aufwallende Hoffnung ebbte so schnell ab, wie sie gekommen war.

„Dann musst du uns das Reden überlassen. Kai, bitte, das ist wichtig!“

Dessen Augen wandten sich ihm nachdenklich zu. Der Kopf seiner kleinen Schwester reckte sich dagegen aufgedreht in alle Richtungen. Im Flur waren alle Wände verglast, weshalb man in die Büros zu beiden Seiten hineinspähen konnte. Sie begann einer Gruppe Politessen wie wild zuzuwinken und sprach begeistert davon, wie hübsch die netten Frauen doch ausschauten, während die Beamtinnen ein entzücktes „Oow!“ von sich gaben.

„Ich bin ein Risikofaktor.“, flüsterte Kai indessen leise.

„Sag sowas nicht. Das kriegen wir hin.“

„Aber nicht wenn wir getrennt werden.“

„Hoffen wir dass es nicht soweit kommt.“

„Aber falls es passiert, brauchen wir einen Plan B.“

„Kai, was hast du vor? Ich muss es wissen!“

Er blieb aber stumm, schaute gedankenverloren vor sich her.

„Wenn es hart auf hart kommt, redet euch nicht um Kopf und Kragen.“, riet er ihm.

Ray schaute ihn verständnislos an.

„Was meinst du damit?“

„Vertraust du mir auch?“

Die Frage kam so plötzlich, dass er einen Moment stutzte.

„Natürlich tue ich das.“, beteuerte er.

„Gut. Dann bitte ich dich – hör auf mich. Wenn wir zusammenbleiben sollten, überlasse ich euch ohne Widerworte die Führung. Aber sollten wir getrennt werden, müsst ihr mir vertrauen.“

„Warum?“, fragte er noch einmal mit Nachdruck.

„Desto weniger ihr wisst, desto besser.“

Ray schnaubte genervt. Offenbar ging nun wieder die Geheimniskrämerei los. Da erhaschte er jedoch einen entschlossen Ausdruck in Kais Augen. So hatte er ihn das letzte Mal während ihrer Bladerzeit erlebt, als sie bei der Vorrunden der dritten Weltmeisterschaft, gegeneinander antreten mussten. Er tat einen tiefen Atemzug und nickte letztendlich. Dann gab er Max vor sich einen leichten Stups und fragte leise: „Hast du mitgehört?“

Er sah ein stummes Nicken von seinem Vordermann. Um nicht weiter aufzufallen, drehte Max sich nicht zu ihnen um. Ray tat einen verstohlenen Blick über seine Schulter, zu ihren anderen Leidensgenossen. Er war sich nicht sicher ob die beiden verstanden hatten was sie beredeten, doch im Prinzip, mussten sie ja nur an ihrem Plan festhalten. Der Beamte vor ihnen hielt am Ende des Flures inne. Dort taten sich mehrere Türen auf, an deren Frontseite jeweils eine Liste hing. Ray vermutete, dass darin eingetragen wurde, von wem der Raum belegt wurde. Über den Rahmen waren kleine rote Lämpchen befestigt, doch nur über einer Tür brannte sie auch. Genau in jene entschwand der Beamte. Ray schenkte ihm keine weitere Beachtung, bis Kenny hinter ihnen laut ausrief: „Da ist Tyson drinnen!“

Sofort wandten sich alle Köpfe zur besagten Tür. Ray tat einige hastige Schritte zurück und schielte durch den Spalt. Dahinter war ein weiterer kleiner Raum, mit einer Glasfront, hinter der man wiederum Tyson ausmachen konnte. Er debattierte wie wild mit einem grimmigen Mann, der etwas in die Jahre gekommen zu sein schien, zumindest wenn man auf die ergrauten Haare und die Falten um seine Mundwinkel schloss. Der Beamte war zu ihm in den Raum geeilt und flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin dieser von seinem Stuhl aufstand und den verdutzten Tyson zurücklassen wollte. Auf einmal rauschte Mr. Kinomiya polternd an ihnen vorbei in den Raum.

„Flossen weg von meinem Enkel, ihr blöden Esel!“

Zunächst blieben die anderen beiden Beamten wie verdattert stehen, dann rannten sie dem Großväterchen auch schon mit wehenden Armen hinterher. Plötzlich entstand das pure Chaos im Flur. Mr. Kinomiya war in den Verhörraum gestürmt und brüllte den Inspektor darin aus voller Kehle entgegen, dass er sich ein Päckchen mit Hirn kaufen solle – ganz offensichtlich zweifelte er dessen Intelligenz an.

Sein Kopf wurde hochrot, während Tyson aufsprang und beruhigend auf ihn einsprach, ihn darum bittend, doch sein schwaches Herz nicht zu überanstrengen und gefälligst nicht so vorlaut zu sein. Der Inspektor schaute dagegen wie eine Kuh auf der Weide. Ziemlich sprachlos…

Ray konnte es ihm nicht verdenken. Wenn es richtig war, was Kenny und Hana ihnen erzählt hatten, dann galt Mr. Kinomiya eigentlich als vermisst. Nun stand er leibhaftig im Verhörraum und hielt dem Inspektor die Standpauke seines Lebens. Als die anderen Beamten versuchten, Tysons Großvater hinauszudrängen, wandte sich Kenny stöhnend an den Rest der Gruppe.

„Na toll… Jetzt haben wir einen bleibenden Eindruck hinterlassen! Wir sind sowas von geliefert!“

„Ach komm. Sei nicht so ein Schwarzseher!“, sprach Max im verzweifelten Versuch heiter zu klingen. Allerdings zuckte dessen linke Braue verräterisch. „Vielleicht lockert sein Auftritt die Stimmung auf? Ein alter Mann, der wie ein Taxifahrer auf einem Polizeirevier flucht, ist doch immer witzig anzusehen.“

Dann durchbrach Mr. Kinomiyas Gezeter ihre Unterhaltung nochmal.

„Wenn ich meinen Kendostab hier hätte, würde ich euch allesamt etwas Hirn in eure Melonen bläuen! Sind die Köpfe auf eurem Hals nur zur Dekoration da?!“

Ein geschlagenes Seufzen ging durch die Runde. Dann fragte Max, wie sie die Bettenaufteilung in ihren Zellen handhaben wollten.
 


 

*
 

Hitoshi schaute auf, als die vergitterte Tür geräuschvoll zur Seite geschoben und sein Name aufgerufen wurde. Irritiert fragte er, was los sei, bis man ihm mitteilte, dass er im Zuge der laufenden Ermittlungen, in die Untersuchungshaft verlegt wurde. Sein Anwalt hatte ihm bereits vorgewarnt, dass das passieren könnte, allerdings nicht so früh. Noch vor wenigen Stunden erklärte Benjiro ihm, dass dafür eine richterliche Anordnung nötig sei und diese könnte sich – zumindest nach seiner fachmännischen Meinung – stark verzögern, da es seine Zeit brauchen würde, bei diesem Wetter, die Unterschrift mit einem Boten einzuholen.

„Eher kommst du frei, weil ein Tag verstrichen ist, ohne dass es zu einer Anklage kam.“, tat er wichtigtuerisch. Hiro schnaubte verächtlich.

Toller Fachmann. Da hatte Hanas Ex sich wohl getäuscht…

Einen gehässigen Moment, fühlte er sich richtig überlegen, auch wenn Hiro in seiner jetzigen Lage kaum einen Grund dafür besaß. Seine Verlobte würde sicherlich ausflippen, wenn sie erfuhr, dass Benjiro sich verspekuliert hatte. Allerdings musste er zugeben, dass er tatsächlich sein Handwerk verstand. Hanas Ex hatte so lange auf ihn eingeredet, bis er sich bereit erklärte, zumindest für seine Freilassung zu kämpfen.

„Was passiert ist, ist passiert. Es ist schrecklich, aber du musst bedenken, dass sie dich provoziert hat. Das Mädchen hat dich zuerst angegriffen. Du hast dich lediglich gewehrt.“, erklärte Benjiro ihm überraschend verständnisvoll. „Das hätte jedem passieren können. Mir ebenso. Im Ernstfall ist man sich immer selbst der Nächste und wer konnte schon damit rechnen, dass sie vor ein Auto gerät. Das ist einfach dumm gelaufen.“

Hiro hatte eingewandt, dass man sich gegenüber Frauen nicht vergriff. Es war glatt gewesen, der Neuschnee lag auf dem Gehweg und er hätte doch seinen Grips einschalten müssen.

„Genau wie sie! Wer mit hohen Pfennigabsätzen durch den Schnee stöckelt, braucht sich nicht wundern, wenn er deshalb auf der Nase landet! Nach deiner Logik, müsste ich mich für jede hohle Blondine in hohen Hacken schuldig fühlen, die ich bei diesem Wetter auf dem Gehweg versehentlich anremple.“

Er klang nicht gerade so, als empfinde er viel Mitleid für Ming-Ming. Wahrscheinlich stumpfte man ab, wenn man seinen Beruf eine Zeitlang ausübte und nach jedem Haar in der Suppe suchte, um seine Mandanten freizubekommen. Allerdings gaben Hiro seine Argumente tatsächlich zu denken. Doch wirklich überzeugt hatte Benjiro ihn erst, als er meinte: „Es ist doch nicht so, als täte dir die ganze Sache nicht aufrichtig leid. Ist es nicht schon schlimm genug, dass du mit dieser Bürde zurechtkommen musst? Willst du etwa jetzt dein Leben ruinieren, weil du ihres kaputt gemacht hast? Wem wäre damit geholfen? Ihren Eltern bringt es die Tochter nicht zurück. Deine Ehre? Die hast du auch dann verloren, wenn du im Gefängnis hockst. Versuch lieber dein Leben in die Hand zu nehmen und auf anderem Wege, deine Tat wieder gutzumachen. Von mir aus gründe eine Stiftung auf ihren Namen, oder biete ihrer Familie deine lebenslange Unterstützung an, aber sitz nicht hier herum und spiel den schuldbewussten Mönch!“

Dann sprach er etwas bissig: „Wir wissen beide, dass gerade du kein Heiliger bist.“

In Anbetracht ihrer gemeinsamen Vergangenheit, musste sich Hitoshi diese Stichelei wohl zähneknirschend gefallen lassen. Dennoch willigte er ein, zumindest nun seine Rechte einzufordern, erst recht als Benjiro vorher noch genüsslich meinte, dass Hana mit ihm, wohl aufs falsche Pferd gesetzt hatte.

„Jetzt wünscht sie sich bestimmt, ich wäre noch zu haben. Zu dumm das ich glücklich verheiratet bin – und sie es wahrscheinlich nie sein wird.“

Hiro wusste, er spielte absichtlich auf seine Eifersucht an und leider funktionierte es auch. Das war eines der Dinge, die er leider zu seinen Makeln zählen musste. Eine weitere Stunde später war Hanas Ex gegangen – nicht bevor sie sich gegenseitig die Hand zum Abschied gaben, mit der giftigen Entgegnung, dass der jeweils andere ein mieses Arschloch sei - und nun musste Hiro doch in Untersuchungshaft.

Das würde er dieser neunmalklugen Bazille mit äußerster Genugtuung aufs Brot schmieren. Der Beamte der ihn aus seiner Zelle holte, ließ einen Satz Handschellen aufblitzen. Er nickte zu seinem Leidensgenossen, der nach dem Erdbeben seinen Rausch, auf dem kalten Betonboden ausschlief und fragte ob Hiro sich verabschieden wolle.

„Ich glaube kaum dass der mich bemerkt hat.“, kam es trocken.

Der Beamte wiegte bekümmert den Kopf.

„Schon möglich. Der sitzt wegen Trunkenheit am Steuer öfters hier drinnen. Wir nennen ihn Charly Harper.“, während er Hiro die Handschellen anlegte, meinte er glucksend. „Manchmal, wenn man ihn aufweckt, denkt er das Sandmännchen steht neben ihm. Ist eigentlich recht witzig.“

Polizisten hatten scheinbar ihren eigenen Humor…

Hitoshi ließ sich ohne große Widerworte hinausführen. Sein Begleiter hob hilfsbereit jede Tür auf, die ihm im Weg stand, wahrscheinlich weil er sich bisher so pflegeleicht zeigte. Sie passierten mehrere Zellen und traten irgendwann in einen Flur, der zu beiden Seiten komplett verglast war. Es empfing ihn grelles Licht, was ihn mehrmals blinzeln ließ, da es in der Zelle zuvor doch recht dämmrig gewesen war. Da hörte er einen Aufschrei.

„Aber… Das ist doch Hiro!“

Entsetzt blinzelte er, denn diese Stimme kam ihm bekannt vor, auch wenn er sie schon lange nicht mehr gehört hatte. Sie klang nach Tysons Freund Max. Die Lichtflecken trübten ihm zunächst die Sicht, bis nach und nach mehr Konturen vor ihm auftauchten. Er sah eine Gruppe vor sich und mit jedem Wimpernschlag erkannte er mehr Gesichter. Zunächst begriff er nicht, was sich hier vor ihm abspielte, bis er seinen Großvater vor sich erblickte, der bei Inspektor Kato stand und offenbar mit ihm debattiert hatte - bis Hiro eintrat.

Der blieb wie angewurzelt stehen. Seine Augen weiteten sich.

Genau wie jene seines Großvaters.

Er starrte Hiro an. Der starrte zurück…

Und sah sämtliche Farbe aus dem Gesicht des alten Mannes weichen.

„Hitoshi?“, kam es fassungslos. Die Augen seines Großvaters huschten an seinen Armen hinunter, zu den Handschellen die ihn in Ketten hielten. „Was zum…“

Inspektor Kato hob irritiert die Braue. Sein Blick schnellte zu Kenny, der bei seiner Verhaftung doch anwesend gewesen war und er fragte: „Du hast es ihm nicht erzählt, Bursche?!“

„T-Tyson wollte es nicht! Und Hiros Verlobte hat auch gesagt, wir sollen…“

„Ihr wusstet es?!“, brauste Mr. Kinomiya auf. Kurz darauf fuhr er sich zischend an die Brust.

„Großvater, bitte reg dich nicht auf!“, rief Hiro aus.

„Ich soll mich nicht aufregen?! Mein ältester Enkel sitzt hier fest und niemand hält es für nötig, mich darüber zu informieren?!“

„Tyson wollte es regeln!“, wehrte sich Kenny, allerdings recht kleinlaut. Er zog den Kopf furchtsam zwischen die Schultern. „Wir waren gerade auf dem Weg zu seinem Wagen und da habe ich ihm erzählt, was mit Hiro passiert ist. Er wollte sofort zu seinem Auto und zum Revier fahren, um ihn zu sehen, aber da hat ihn die Polizei auch schon aufgegriffen! Es ist alles so schnell passiert, wir haben gar nicht die Gelegenheit gehabt, es ihnen richtig zu schildern und Hana meinte, wir sollten es ihnen in einem ruhigen Moment erklären!“

Hitoshi stöhnte gequält, als er das hörte. Ein unendlich schlechtes Gewissen befiel ihn, denn ausgerechnet, weil sein Bruder sich auf den Weg zu ihm machen wollte, war er geschnappt worden.

„Wo ist Hana?“, fragte er geradeheraus. Hiros Blick huschte von einem Gesicht zum nächsten. Ihm fiel auf wie geschockt er von allen Seiten bedacht wurde – und wie abgekämpft die Gruppe vor ihm wirkte. Es war außerdem einige Zeit her, seitdem ihm die Clique seines kleinen Bruders, das letzte Mal unter die Augen gekommen war. Ray war geradezu in die Höhe geschossen. Hitoshi meinte sich zu erinnern, dass ihm Tyson einmal am Telefon erzählt hatte, dass er zu dessen Hochzeit nach China reißen würde. Das musste schon Jahre her sein. Seine Augen huschten zu Max, welcher der Inbegriff des typischen Amerikaner geworden war. Blond, tiefblaue Augen, aber anders als sonst, lag da ein trauriger Zug um dessen Mundwinkel.

Bei Kai blieb sein Blick besonders lange hängen. Zunächst einmal war es dessen zerstreutes Antlitz. Er wirkte fast schon verwahrlost, seine Kleidung wild zusammengewürfelt. Auf seinen Armen hielt er ein kleines Mädchen und so selbstverständlich wie sie ihn hielt, konnte es sich dabei nur um dessen Schwester handeln – obwohl Hiro kaum Ähnlichkeit sah. Sie klammerte sich an seinem Hals fest und schaute fragend durch die Gegend ob des Tumults. Prompt fiel Hitoshi auf, dass sie Trisomie hatte. Ihm waren bereits solche Kinder unter die Augen gekommen und er fragte sich, ob ihm Tyson jemals etwas davon erzählt hatte. Er meinte nicht…

Als sein Blick zu Kais Gesicht huschte, musste Hiro stutzen. Sie beide brachten sich kaum Sympathie entgegen, dennoch schaute er ihn mitleidig an. Das kannte er so nicht von ihm, denn sonst ignorierten Kai ihn wie verbissen. Das lag nicht daran, dass sie für kurze Zeit zusammen in der BEGA gewesen waren. Damals, bei den Vorrunden gegen Brooklyn, hatte Kai kläglich verloren und Hiro dem ganzen seinen gehässigen Stempel aufgedrückt. Er musste zugeben, dass er absichtlich Öl in die Wunde gegossen hatte. Doch nach der Weltmeisterschaft, warf ihm Kai diese Sache niemals vor, auch wenn er etwas unterkühlt ihm gegenüber wurde.

Nein. Der wahre Grund, weshalb sie sich nicht im selben Raum aufhalten konnten, ohne sich gegenseitig den Tod zu wünschen, war, das Kai ihm schwere Vorwürfe gemacht hatte, als Hiro einige Wochen nach dem Schlaganfall seines Großvaters, aus Osaka anreiste.

Er wusste noch, wie er nach der langen Autofahrt, endlich erschöpft aus seinem Wagen stieg, seinen Reisebeutel hinter sich herschleppte und als erstes Kai auf der Veranda ihres Hauses antraf. Der lehnte damals an einem der Eckpfeiler, studierte einige Dokumente vor sich, die er ordentlich auf dem Holzboden verteilte, offenbar weil sie durcheinander geraten waren. Es hatte Hiro verdrießlich mit den Augen rollen lassen. Sowohl sein Großvater, als auch Tyson, konnten einfach keine Ordnung halten, was wichtige Dokumente betraf und es war für ihn ein Armutszeugnis, dass sein kleiner Bruder, seinen alten Kontrahenten ins Haus bat, damit der ihm mit diesem Papierkram half. Ihm kam es damals vor, als habe Tyson einfach kein Rückgrat. Kai war zuvor sein schlimmster Gegner gewesen und diese Schwäche, würde er ihm bestimmt irgendwann unter die Nase reiben.

Doch als er an dem Kontrahenten seines Bruders vorbeirauschte, hob der den Kopf und sein Blick verdüsterte sich. Zunächst wollte ihm Hiro keine weitere Beachtung schenken. Er hatte geglaubt, dass Kai ihm die Sache mit der BEGA wohl doch noch übel nahm. Da warf der ihm aus heiterem Himmel vor, dass er ein mieser Feigling sei. Hitoshi war wie angewurzelt stehen geblieben. Er hatte sich abrupt umgedreht und Kai fassungslos angeschaut.

„Was hast du da gesagt?“

„Du hast mich schon verstanden!“

Ich? Aha. Das wirst du mir erklären müssen...“

Kai war langsam aufgestanden und hatte ihm die Dokumente vor die Nase gehalten. Sein Blick sprühte geradezu vor Gift und Hiro konnte sich nicht erklären, woher diese heftige Abneigung auf einmal herkam. Für einen Moment glaubte er, Kai wolle die alte Debatte aus ihrer BEGA Zeit wieder aufleben lassen, da blinzelte er jedoch perplex, als ihm der wahre Grund an den Kopf geworfen wurde.

„Willst du mir wirklich weiß machen, dass es vollkommen in Ordnung für dich ist, dass dein Bruder sich hier alleine durchschlägt, während dein Großvater knapp dem Tod entkommen ist? Du hättest schon viel früher hier sein müssen!“

„Das… Das regt dich auf?“, Hiro begann zu Stammeln, denn damit hatte er einfach nicht gerechnet.

„Na was denn sonst?“

„Jetzt bleib mal ganz locker. Opa lebt ja noch…“

Hitoshi hätte beinahe aufgelacht, denn er konnte kaum glauben, was er da hörte. Der abgebrühte Hiwatari sorgte sich tatsächlich um einen alten Mann.

„Es ging ihm wirklich schlecht! Das ist kein Witz! Und Tyson konnte damit kaum umgehen! Du weißt doch wie nahe sich die beiden stehen!“

„Opa ist alt. Irgendwann musste es soweit kommen.“

„Das heißt, wenn dein Großvater gestorben wäre, hättest du deinen Hintern trotzdem nicht hier her verfrachtet? Dieser Mann hat euch großgezogen - und so dankst du es ihm? Ein feiner Enkel bist du! Von deinem Großvater kannst du diese Gleichgültigkeit zumindest nicht haben!“

Hitoshi hatte wütend die Lippen aufeinander gepresst, denn diese Unterstellung, empfand er als eine bodenlose Frechheit.

„Gerade du redest von Gleichgültigkeit…“, es war ein wütendes Zischen gewesen.

„Ich dränge mich nur nicht gerne auf.“, Kai hatte seine gehässige Anspielung prompt verstanden. „Aber das was du getan hast, das war gleichgültiges Wegschauen. Du wusstest genau das du zuhause gebraucht wurdest, aber hast dich geweigert zu kommen!“

„Ich musste meine Prüfungen ablegen!“, Hitoshi hatte ihn finster angeschaut. Er konnte nicht fassen, dass er sich ausgerechnet vor Kai rechtfertigen musste. Vor seinem Bruder, ja. Aber doch nicht vor ihm!

„Von denen kann man befreit werden, wenn familiäre Notstände ausbrechen. Du hättest sie problemlos nachholen können. Komm mir nicht mit faulen Ausreden!“

„Pass auf was du sagst! Du gehst zu weit…“

„Ich denke gar nicht daran. Tyson hätte dich gebraucht! Er hat keine Ahnung von Versicherungen und amtlichen Dokumenten. Wie konntest du ihn nur so auflaufen lassen, wo diese ganzen Unterlagen, für deinen Großvater doch lebenswichtig sind? Würde ich mich nicht damit auskennen, hätte Tyson keinen Yen gesehen! Er wäre komplett auf den Behandlungskosten sitzen geblieben, weil er die Frist verpasst hätte, um das Geld einzufordern. Das kann doch unmöglich auch in deinem Sinne gewesen sein?“

Etwas ertappt hatte Hiro geblinzelt, denn auch er hatte nicht daran gedacht. Doch anstelle seinen Fehler einzuräumen, sprach er: „Du mischt dich in familiäre Angelegenheiten ein!“

„Nun… Einer musste es tun. Du warst ja nicht da. Dein Großvater kann sich aber glücklich schätzen, wenigstens einen Enkel zu haben, der so viel Rückgrat besitzt um ihn zu pflegen. Tyson hat sich dieser Herausforderung wenigstens noch gestellt, auch wenn seine Versuche holprig waren – du dagegen bist gar nicht erst angetreten! Und genau das macht dich zum Feigling!“

Seine Worte trieften damals geradezu vor Verachtung und da Hiro sich nicht mehr anders zu helfen wusste, hatte er Kai nur zu gezischt, sofort sein Haus zu verlassen. Der warf ihm daraufhin mit einem bockigen „Fein!“ die Dokumente ins Gesicht und sprach dann davon, dass ja nun das Familienoberhaupt hier sei, um sich um die Ablage zu kümmern – allerdings mit einer gehörigen Portion Spott. Kai hatte ihn an jenem Abend regelrecht vorgeführt und ihn in arge Verlegenheit gebracht. Hiro wusste noch, wie sehr ihn dessen Worte, in seiner Ehre verletzten.

Bis zu diesem Zeitpunkt besaß er eigentlich eine hohe Meinung von Tysons Rivalen. Er hatte sogar gehofft, dass das Konkurrenzdenken der beiden, soweit auf seinen kleinen Bruder abfärbte, dass der irgendwann nachzog, um mit seiner Karriere, nicht hinter Kai stecken zu bleiben. Doch dummerweise hatte Tyson einfach kein Ambitionen was das betraf…

Nach dieser Unterhaltung, war Hitoshi wutschnaubend in die Küche gegangen, wo sein Bruder gerade am Telefon mit einem der Ärzte sprach. Er riss ihm den Hörer aus der Hand und legte auf. Dann erklärte er dem verdatterten Tyson, dass Kai ab jetzt Hausverbot hatte. Er konnte sich noch gut an den Gesichtsausdruck seines Bruders erinnern. Dann zogen sich dessen Brauen tief zusammen. Er bedachte ihn mit einer Wut, die er noch nie erlebt hatte und kurz darauf, fand sich Hiro auch mit ihm in einer hitzigen Debatte.

„Keiner meiner Freunde wird diesem Haus fern bleiben! Schon gar nicht Kai! Eher schmeiße ich dich raus als ihn!“

Diese Worte hatten Hitoshi tief getroffen, denn ihm war damit schlagartig klar geworden, dass sein kleiner Bruder ihn nicht mehr respektierte. Tyson sah in Hiro keine ältere Bezugsperson mehr, von deren Lehren er sich noch etwas abschauen wollte, sondern war auf dem besten Weg, mit ihm um die Vormachtstellung im Dojo zu kämpfen. Er durchlebte eine Pubertät wie sie im Buche stand – voller Trotz, Zorn und ständig dabei, seine Grenzen auszuloten.

In den wenigen Tagen, in denen Hiro zuhause blieb, bemerkte er, dass ihre Beziehung schwer ins Negative gekippt war. Sein Bruder vertraute ihm nichts mehr aus seinem Leben an. Wenn sie zu Abend aßen, ohne den heiteren Großvater am Tisch, herrschte eisiges Schweigen zwischen ihnen. Er versuchte noch mehrmals einen Vorstoß, um mit ihm über den Vorfall mit Kai zu sprechen, denn er wollte seinem Bruder klar machen, dass es sich einfach nicht für einen Jungen in dessen Alter gehörte, so mit ihm zu sprechen.

„Kai lebt schon sehr lange in Japan. Trotzdem weiß er nicht was sich gehört. Er ist nicht in der Position um so mit mir zu sprechen. Ich habe das Recht des Älteren auf meiner Seite.“

„Er war da als ich jemanden gebraucht habe. Du nicht…“

Es war alles was Tyson zu dem Thema sagte, denn wann immer er noch einmal mit ihm darüber sprechen wollte, blockte der ab und meinte, dass sie niemals einer Meinung sein würden. Dieser Vorwurf lag Hiro noch heute schwer im Magen. Doch auch als seine Wut auf Kai verflogen war, er noch einmal über diesen Zwischenfall nachdachte und sich eingestand, dass der Junge in gewissen Punkten leider doch Recht gehabt hatte – seiner Familie sogar einen großen Dienst erwies - war er zu Stolz gewesen, um diesen Fehler einzugestehen. Ihn nun hier, nach so langer Zeit zu sehen, war für ihn deshalb recht sonderbar. Vor allem in dieser merkwürdigen Aufmachung.

Auf seine vorherige Frage, antwortete Kenny: „Ich weiß nicht wo Hana sich herumtreibt. Sie hat uns einen Wagen besorgt und wollte später nachkommen.“

„Wenn sie auftaucht, sagt ihr, sie soll Benjiro anrufen. Und Großvater…“, er bedachte den alten Mann, der sich noch immer schnaufend über die Brust fuhr. Offenbar war er am Ende seiner Kraft. „Bitte sorg dich nicht. Kümmere dich um Tyson. Ich werde klar kommen.“

„Oh Hiro… Was ist denn bloß passiert?“

„Nicht jetzt Opa. Mach es nicht schlimmer als es schon ist.“

Der Beamte begann ihn weiter zu drängen. Er wehrte sich nicht gegen den Griff. Die Gruppe sah ihn mit bangen Blick hinterher, bis er hinter der nächsten Tür verschwand.

„Wo bringt ihr ihn hin?!“, hörte er seinen Großvater krächzen. Hiro kniff die Augen fest zusammen. In der altersschwachen Stimme schwang so viel Verzweiflung mit. Er musste daran denken, wie gleichgültig er reagiert hatte, als Kai ihm davon berichtete, wie schlecht es seinem Großvater nach dem Schlaganfall ging. Nun schämte er sich dafür.

„Mein Junge! Ich will wissen wohin ihr meinen Jungen bringt?!“

Hiro wünschte sich inständig die Hände frei zu haben. Er wollte die Finger auf die Ohren pressen, um diese Verzweiflung nicht mehr heraus zu hören. Sein Großvater fragte nicht einmal, was er getan hatte. Er wollte einfach nur wissen, was mit seinem Enkelkind passierte…
 


 

*
 

Es war recht mühselig sich zwischen all den Seelen wieder zurück in die Irrlichterwelt zu kämpfen. Nicht das die Toten die kleine Strommaus zu ihren Fersen interessiert hätte, es war vielmehr die Tatsache, dass der schnellste Weg in die Heimat, über eine vielbenutzte Wurzel führte. Allegro hatte viel Geschick aufbringen müssen, um nicht unter den schleichenden Füßen einer Seele zu geraten, doch er fand unverhofft Hilfe in der Mutter seinen Kameraden Max. Gerade als er zwischen all den Knöcheln umherhuschte, traf er noch einmal auf jene Frau, welche seine Freunde in dieser lebensfeindlichen Umgebung geschützt hatte – oder besser gesagt, sie trat versehentlich auf ihn.

Mit einem erschrockenen „Verzeihung“ hatte Judy den Fuß gehoben und schnell erkannt, wen sie da beinahe zertrampelt hätte. Ein gütiges Lächeln huschte über ihre Lippen, wie es eben nur Mütter haben konnten und mit einem mitleidigen „Ach, du armer kleiner Kerl“, hob sie Allegro auf ihre Handfläche und verhalf ihm so, unversehrt durch die Seelenmasse zu gelangen, bis sich ihre Wege wieder trennten. Er tat eine tiefe Verbeugung vor ihr, als sie ihn auf einem Nebenzweig absetzte. Obwohl in ihren Augen eine gewisse Melancholie lag, schenkte ihm die Mutter seines Kameraden, ein trauriges Lächeln.

„Ich bin so froh zu hören, dass es Maxi mit seinen Freunden heil nachhause geschafft hat.“

„Und ich bin froh, ihnen mit meinen Neuigkeiten, wenigstens ein kleines Schmunzeln, auf das betrübte Gesicht zaubern zu dürfen, Madam.“

Auf einmal war da keine Trauer mehr. Judy hatte gelacht. Es klang geradezu heiter, als habe sie für einen Moment ihren eigenen Tod vergessen. Sie schaute dankbar auf Allegro herab und meinte: „Hätten wir beide uns nur zu meinen Lebzeiten getroffen. Dann hätte ich in meine Forschungsstudien erwähnt, wie charmant manche Bit Beast sein können.“

„Sie schmeicheln mir, meine Teuerste!“, er war tatsächlich rot geworden und es hatte Funken aus seinen Ohren gesprüht, denn auch wenn er eine Maus war, so machte es auf ihn den Anschein, dass Maxs Mutter eine hübsche Frau sein musste – zumindest für menschliche Verhältnisse. Er empfand ihr Lächeln einfach als sehr einnehmend.

Dennoch musste sich Allegro spurten, ließ es sich jedoch nicht nehmen, ihr gegenüber den aufrichtigen Wunsch zu äußern, sie möge in ferner Zukunft wieder mit ihrer Familie vereint sein.

„Irgendwann einmal. Das spüre ich.“, hatte Judy gesagt und traurig die Lider gesenkt. „Ich werde einfach warten – doch auch wenn ich die beiden jetzt schon schrecklich vermisse, hoffe ich, dass mein Mann und Maxi noch ein sehr langes Leben vor sich haben. Ich hoffe es von ganzen Herzen…“

Ein wahrlich selbstloser Wunsch und als er sich von ihr verabschiedete, merkte der Mäuserich, dass er tiefen Respekt für ihre Art von Liebe empfand. Es ließ ihn schneller auf den Verästelungen rennen, denn er dachte daran, wie viele Familien wohl durch die Umweltkatastrophen in der Menschwelt gespalten wurden - wie viele traurige Mütter, Väter und Kinder hier unten landen könnten. Zunächst nahm Allegro an, dass es einfach für ihn werden würde, einen Ausgang zu finden, aber tatsächlich gestaltete sich das als schwieriger wie erwartet. Bei dem ersten Schlupfloch aus dem er hervorkraxelte, stieß seine Schädeldecke auf etwas Federndes, was sich auch anzuheben lassen schien. Als er sich mit der Schnauze voraus hinauswitterte, hörte er einen lauten Schrei und stellte zu seinem Entsetzen fest, dass er direkt in dem Nest von Griffolyon gelandet war. Das Bit Beast war natürlich überhaupt nicht erfreut, dass er ihm wortwörtlich in den Hintern kroch und versuchte mit dem Schnabel nach ihm zu schnappen, allerdings legte Allegro geschickt den Rückwärtsgang ein. Zu seinem Glück war sein Gegner viel zu stämmig, um ihm durch die Öffnung folgen zu können. Als die Springmaus endlich einen Ausgang fand, der für ihn die optimale Größe besaß, zudem sicher schien und nach der gewitterten Fährte die in seiner Nase lag, auch in die Nähe seiner Sippschaft führte, eilte Allegro zu ihnen, so schnell ihn seine winzigen Füße trugen.

Er war wieder in jenem Teil der Irrlichterwelt, den die Uralten in das Abbild der Stadt Tokio verwandelt hatten. Zu seinem Erstaunen musste er bei seiner Ankunft aber feststellen, dass der Ort nun wirklich schauderhaft wirkte. Früher war die Nebeldecke durch die Anwesenheit der Hyänenmeute entstanden, doch nun trübte auch ohne deren Einfluss, eine graue Dunstwolke das Gebiet. Bald konnte sich Allegro nur noch auf seinen Geruchssinn verlassen, denn seine dunklen Knopfaugen, erkannten nur noch schemenhafte Silhouetten. Jedoch war es töricht von ihm, sie geschlossen zu halten, denn dadurch rannte er irgendwann mit dem Kopf voraus, gegen einen Gegenstand, der doppelt so groß war wie er. Irritiert blieb Allegro stehen und bei genauer Begutachtung bemerkte er, dass es sich dabei um dieses seltsame Kleidungsstück handelte, was die Menschen zu ihren Füßen trugen. Der Schuh zuckte leicht, offenbar lehnte sein Träger sitzend an der Häuserwand, die Beine weit von sich gestreckt. Es war einer der Gesichtslosen, offenbar ein männliches Exemplar. Doch sah der kaum noch menschlich aus…

Seine Haut, die eher die Konsistenz von Wachs besaß, tropfte von ihm herab. Ein Loch hatte sich zwischen den Kiefern aufgetan, darunter erhaschte Allegro nichts weiter, als gähnende Leere. Keine Knochen, kein Gewebe…

Offenbar hatten sich die Uralten, bei der Erschaffung der Gesichtslosen, noch nicht einmal die Mühe gemacht, ihnen innere Organe zu geben. Sie waren hohle Hüllen, als würde man eine Kinderpuppe auseinandernehmen. Allegro schnalzte als er das bedauernswerte Geschöpf vor sich erblickte. Mit dem Tod von zwei Uralten, schien es auch mit den Gesichtslosen vorbei zu sein. Sicherlich war es besser so. Die verbliebene Energie von Dragoon, sollte nicht für derlei Spielereien verschwendet werden, dennoch war es traurig, dass dahinscheiden dieser merkwürdigen Rasse zu erleben.

Ihr kurzes Dasein glich denen einer Eintagsfliege.

Allegro wandte sich von dem Anblick ab und huschte in eine finstere Gasse hinein. Der feuchte Dunst hinterließ einen nassen Film auf seinem Pelz. Irgendwann, gegen Ende des Weges, tat sich eine grüne Rasenfläche zwischen den Hochhäuserwänden auf, vollkommen deplatziert an diesem Ort aus Asphalt und Backstein. Im Zentrum der kreisförmigen Fläche, erhob sich ein geborstener Baumstumpf, umgeben von Farn und gelben Löwenzahn. Vor einigen Jahrzehnten, hatte einer von Drigers Blitzen, versehentlich den Baum getroffen. Man warf ihn nicht einmal vor, dass es aus Böswilligkeit geschah, der Uralte musste Nießen und dabei stoben ihm eben dummerweise Blitze aus den Nüstern. Der umgekippte Stamm, der ihm dabei in die Quere kam, hing seit damals quer neben seinem Stumpf. Nur wenige Sehnen hielten ihn noch zusammen. Es war zwar ein Missgeschick gewesen, doch für seine Sippe, war es das perfekte Zuhause geworden, denn nachdem man die Rinde abnagte und die glatte Oberfläche darunter zutage förderte, konnte man den schrägliegenden Stamm als Rutschbahn verwenden. Die jungen Mäuse hatten ihre Freude daran. Auch wenn seine Sippe am Ende der Nahrungskette lag, so wollte man doch nicht auf den Spaß verzichten. Als die Uralten einfach so die Abbildung von Tokio in diesen Teil der Irrlichterwelt platzierten, hatten sie deshalb große Angst gehabt ihr schönes Heim zu verlieren. Mit Schrecken musste seine Sippe beobachten, wie ein Gebäude nach dem anderen, zu beiden Seiten ihres Heimes aus dem Boden schoss und mit wachem Blick starrten sie auf den Zement, der sämtliches Grün Millimeter für Millimeter verdeckte. Eine höhere Macht musste es gut mit seiner Sippe gemeint haben, denn ihr Unterschlupf blieb verschont. Allegro wusste aber, dass dies nur Glück gewesen war, denn anderer Orts, waren die Eingänge in den Bauten der Strommäuse, unter dem Asphalt zerdrückt worden.

Am unteren Teil des Baumstumpfes, dort wo sich die Wurzel in die Erde fraß, lag ein kleiner Spalt, der hinunter in die unterirdischen Tunnelsysteme der Strommäuse führte. Allegro erhaschte die Gestalt einer seiner Cousinen, die vor dem Eingang mit einem Eichenblatt den Dreck fortkehrte. Als er angerast kam und in einer waghalsigen Vollbremsung vor ihr zum Stehen kam, gab sie ein erschrockenes Quieken von sich, nicht ohne dabei einen großen Satz aus Funken zu machen. Fast wäre seine Cousine wieder in den Bau entschwunden, als sie witterte, wen sie vor sich hatte.

„Allegro? Du liebe Güte… Bist du das?“, sie besaß ein sehr helles Stimmchen, wie jede Strommausdame.

„Wie er leibt und lebt, liebe Mimi.“

„Du liebe Güte! Ich hätte nicht erwartet dich noch einmal lebend zu Gesicht zu bekommen! Unser Prediger hat erzählt, du hättest dich mit diesem Menschenpack eingelassen.“

„Das habe ich auch und wie du siehst, habe ich es überlebt.“, er reckte Stolz die Brust und seine Cousine machte große Augen. Sie umklammerte ehrfürchtig den Stil ihres Eichenblattes.

„Und du schwindelst nicht?“

„Selbstverständlich nicht!“

„Und die Uralten haben dich nicht bemerkt?“

„Doch.“

Cousine Mimi tat einen hörbaren Atemzug.

„Und sie haben nichts unternommen?“

„Sie haben versucht mich aufzuhalten! Vor allem Dragoon dieser Schuft.“

„Du liebe Güte!“

Dieser Ausruf kam mehrmals am Tag aus ihrem Mund. Sie war die Sorte Maus, die wirklich schnell beunruhigt war und auch gerne eine sichere Hand brauchte, die sie führte. Seine Ankunft hatte inzwischen Aufsehen erregt. Bald sah sich Allegro umzingelt von einer kleinen Meute Jungmäusen, die erpicht darauf waren, noch mehr von seinen Erlebnissen zu hören.

„Ich erzähle euch ein andermal von meinen Abenteuern.“, beschwichtigte er die aufgeregten Gemüter ungeduldig. „Jetzt gibt es anderes zu bereden! Großes Unheil steht uns bevor, meine lieben Freunde!“

„Hast du etwa die Uralten zu uns geführt?“, kam der erschrockene Ausruf gleichzeitig von zwei Mäusezwillinge. Die beiden Kinder drängten sich furchtsam aneinander.

„Nein, das habe ich nicht. Und selbst das wäre das kleinere Übel!“, Allegro sprang an einem kleinen Stein hoch, denn mit jeder weiteren Minute, gesellte sich eine weitere Maus zum Rest der Meute. Sie waren von Natur aus Gaffer und aufregende Geschichten sprachen sich schnell herum. Er sah unzählige Arten vor sich, von denen jede ihn neugieriger musterte als die Nebenmaus. Bald hatte er wirklich Mühe sich Gehör zu verschaffen. „Meine lieben Brüder und Schwestern! Einigen mag es womöglich schon an die Lauscher getragen worden sein, doch vor kurzem sind zwei Uralte von uns gegangen.“

„Zwei?“

Diese Zahl irritierte die Strommäuse. Allegro erhaschte dutzende fragende Gesichter und konnte sich auch denken weshalb. Der Kampf zwischen Driger und Dragon wurde in der Irrlichterwelt ausgetragen. Hier war seine Sippe weit verbreitet.

Sei es unter der Erde, in einem hohlen Baum, zwischen viel Geäst und Steinen…

In der Regel tummelten sich die Mäuse hier in jeder Ecke herum, es sei denn sie witterten Gefahr. So hatte sich Drigers Ableben sicherlich schnell verbreitet. Doch Draciel war in der Grauzone verstorben – ein Ort an den sich noch keine Strommaus zuvor hin getraut hatte.

„Wer ist der zweite Uralte? Ist es Dragoon – oder gar diese scheußliche Dranzer?“

„Nun, mir ist es gleich. Von denen ist doch jeder Schlimmer als der andere.“, tat eine Wühlmaus ihre Meinung trotzig kund.

„Das sollte euch keineswegs gleich sein!“, ermahnte Allegro. „Denn wir haben nun alle ein ernsthaftes Problem!“

„Warum? Wenn zwei Uralte weg sind, lebt es sich doch für uns sicherer?“

Einstimmiges Murmeln war die Antwort und Allegro konnte es den Mäusen hier nicht einmal verdenken. Die wenigsten scherten sich um die Mächte die ihre Welt lenkten. Für den Großteil zählte lediglich ihr Überleben. Vor allem die jungen Mäuse wurden angehalten, sich nicht allzu weit von ihrem Bau zu entfernen. Da war es ausgeschlossen von diesen einfältigen Kindern zu erwarten, etwas über den Tellerrand zu wittern.

„Ihr denkt nicht vorausschauend!“, erklärte Allegro kopfschüttelnd. „Die Uralten mögen uns das Leben schwer gemacht haben, doch ihre Daseinsberechtigung hatten sie dennoch!“

„Das sagst ausgerechnet du?!“, empörte sich die Wühlmaus erneut. „Du bist es doch immer, der gegen die Uralten gewettert hat!“

„Weil ich nicht dulden konnte, dass sie uns wie ihr Fußvolk behandelt haben! Das ändert aber nichts daran, dass wir sie ebenfalls brauchen. Denn durch den Tod von zwei Uralten, wird die Welt, wie wir sie kennen, bald in arges Ungleichgewicht geraten.“

Nun wurde das Murmeln beunruhigt. Offenbar hatten die meisten hier noch nicht so weit gedacht und Allegro erspähte viele Augenpaare, die nachdenklich aufschauten. Eine Hand erhob sich aus der Mäusemasse. Sie gehörte Cousine Mimi.

„Wird das Auswirkungen auf uns haben?“

„Natürlich wird es das! Und nicht nur auf uns, sondern auf alle andere Sippen ebenfalls! Selbst die Elite wird davon nicht verschont bleiben!“

„Du liebe Güte...“

„Moment! Woher willst du das wissen, Allegro!“, der Protest kam aus einer ganz anderen Ecke. Dort war eine kleine Zwergmaus, an einer kräftigen Löwenzahnblüte hochgeklettert, da sie in der Masse unterzugehen drohte. „Also bisher ist noch alles gut hier. Ich merke nicht viel von diesen Auswirkungen, die du uns so düster prophezeist! Ehrlich gesagt glauben die meisten von uns so langsam, dass die Uralten nicht halb so wichtig sind, wie sie immer getan haben! Womöglich brauchen wir sie gar nicht!“

Zustimmendes Nicken war die Antwort.

„Seid doch nicht so einfältig! Das ist ein schleichender Prozess – doch es wird passieren! Momentan versucht Yggdrasil das Ungleichgewicht auszubalancieren, doch die Weltenbaumzwillinge werden das nicht allzu lange aushalten. Ich habe es mit meinen eigenen Ohren gehört - die Bäume leiden! Sie sind geschwächt von den dauernden Fehden zwischen den Uralten.“

„Umso besser wenn sie weg sind, oder nicht?“

„Nein! Ihr müsst euch unsere Welt nämlich wie ein Dach vorstellen, dass von vier Säulen getragen wird. Zwei Säulen sind weggebrochen und drohen nun auf das Fundament zu stürzen. Wir alle Leben auf dem Rücken der Weltbaumzwillinge, aber sie drohen von der Masse ihrer Last zerstört zu werden!“, Allegro deutete hinauf zum Himmel. „Der Totenbaum hat es Dragoon und mir erklärt. Dort oben ist der leblose Beweis dafür, was uns demnächst blüht, wenn die Welt nicht wieder in Balance gebracht wird.“

„Du meinst wir werden Wolken?“

„Herrje! Doch nicht die Wolken! Was habe ich nur für eine begriffsstutzige Verwandtschaft!“

Er hopste geladen auf der Stelle. Wenn das so weiter ging, würde er wieder zum Blitz werden.

„Ich meine die Sterne! Ich denke dem Einfältigsten ist schon einmal zu Ohren gekommen, das unser Planet einer der wenigen ist, auf dem Leben existiert – und der Grund dafür sind die Uralten. Wenn ihre fehlenden Plätze nicht schnellstens besetzt werden, wird unsere Welt bald genauso aussehen, wie all diese kahlen Orte da draußen, von denen ihr in der Mäuseschule gehört habt!“

„Hast du einen Beweis dafür?“

„Also dafür muss man doch kein Gelehrter sein, oder? Die ersten Zeichen sind schon da! Schaut euch doch nur die Gesichtslosen an! Warum glaubt ihr gehen sie ein? Sie haben keine Energie mehr. Unsere Welt geht bald auf Sparflamme – und die ersten Dinge, die unterversorgt werden, sind jene, die nicht von Nutzen sind. Die Gesichtslosen waren nur eine Spielerei. Nun da wir aber auf die Energiekrise zusteuern, werden sie zuerst abgestoßen!“

„Du liebe Güte!“, fiepte Mimi aus ihrer Ecke. „Ja stimmt, das ist mir auch schon aufgefallen! Die welken dahin wie Maiglöckchen im Winter.“

„Das hat noch gar nichts zu heißen!“, sprach die misstrauische Wühlmaus.

„Woher willst du das wissen?“, fragte die Cousine. „Was ist wenn er Recht hat und das wirklich nur der Anfang ist?“

„Er war schon immer ein Unruhestifter! Und sieh ihn dir nun jetzt an. Gestern zetert er über die Uralten. Nun sind zwei tot und er braucht offensichtlich eine neue Beschäftigung!“

„Pah pah pah!“, Allegro stampfte erbost mit dem langen Fuß auf. „Na das will ich mal schwer überhört haben, Monsieur! Glaubst du wirklich es hört mit den Gesichtslosen auf? Was glaubst du verschwindet als nächstes? Wahrscheinlich diese Stadt! Wenn wir Pech haben bricht bald ein Stein nach dem anderen in sich zusammen, wie bei einem Kartenhaus.“

Er deutete mahnend mit dem Finger auf ihn.

„Die Gesichtslosen und die Stadt können wir entbehren. Sie waren ohnehin nie Bestandteil dieser Welt. Aber was wird erst geschehen, wenn uns der Boden unter den Füßen wegbricht?“

„Ach sei doch nicht immer so ein Schwarzseher…“

Allegro wollte schon aufgebracht zu einem weiteren Kontra ansetzen, als alle Mäuse zu Schreien begannen. Ein Beben erfüllte ihre Umgebung. Sämtliche Nagetiere hüpften ohne ihr Zutun auf der Stelle. Die beiden Zwillingsmäuse klammerten sich verzweifelt aneinander, als wären sie festgewachsen. Doch so schnell wie das Beben kam, verschwand es auch schon wieder. Der Schrecken blieb aber…

Viele Mäuse waren gestürzt. Ein bunter Fellhaufen hatte sich manchen Orts gebildet. Allegro war von seinem Stein gerutscht und auf dem Rücken zum Liegen gekommen. Er richtete sich auf, klopfte sich den Staub vom langen Schweif und als er aufschaute, waren da viele beunruhigte Gesichter, doch so ganz überzeugt schienen die Hartnäckigsten unter ihnen noch nicht.

„Das beweist noch gar…“, wollte die Wühlmaus offensichtlich seine Gedanken erraten, als ein lautes Poltern zu vernehmen war. Sämtliche Köpfchen wandten sich in Richtung der Hauptstraße. Alle Ohren zuckten bei dem Versuch, das Geräusch genauer zu definieren. Durch den Nebel konnte man nicht genau erkennen, was dort in sich zusammenbrach, doch es war laut, unheilvoll – und ziemlich groß. Und es wirbelte viel Staub auf, der sich langsam in ihre Gasse zwängte.

„Tja, mein lieber Cousin.“, wandte sich Allegro an den Skeptiker. „Hört sich nicht nur nach einem Kartenhaus an, was da in sich zusammenfällt. Oder was denkst du?“

Auf einmal war selbst der standhafteste Kritiker mundtot. Mit einem grimmigen Nicken quittierte Allegro das aufgekommene Schweigen und kraxelte wieder an seinem Stein hoch.

„Meine Brüder und Schwestern, hört mir bitte jetzt genau zu. Denn uns bleibt nicht viel Zeit um dieses Unheil abzuwenden.“

„Uns?“, fragte Mimi verdutzt und das Wort breitete sich wie ein Lauffeuer durch sämtliche Reihen aus. „Warum denn nur wir?!“

„Weil es jetzt auf uns ankommt.“

„Aber Allegro, was können wir schon tun?“, klagte seine Cousine furchtsam. „Wir sind doch nur Strommäuse! Wenn das alles stimmt, was du sagst… Du liebe Güte! Dann sind wir ja alle verloren!“

Nun wurde seine Sippe richtig unruhig. Alle Köpfe wandten sich panisch umher und die ersten von ihnen stoben schon davon, um die unheilvolle Botschaft weiter zu erzählen. Allegro versuchte mit ganzer Kraft, gegen die Stimmen anzukämpfen, doch es war zwecklos. Sobald sich Strommäuse in ihre Angst hineinsteigerten, konnte man das Geschwätz kaum aufhalten. Also griff er nach Mimis Eichenblatt, rollte es flink zu einem Trichter zusammen und brüllte hinein: „ZUHÖREN!“

Es schallte über die Mäusemasse wie mit einem Megaphon. Die Stimmen verebbten und alle Augen richteten sich wieder auf ihn.

„Das alles kann noch aufgehalten werden! Und es liegt in unseren Händen! Die Lösung liegt darin, die Weltenbäume so lange zu entlasten, bis die neuen Uralten geboren werden. Wir können das natürlich nicht, aber da Driger und Draciel tot sind, haben jene Bit Beast, die dem Element Erde und Wasser unterliegen, keine führende Hand mehr. Sie beschränken sich lediglich auf jene Aufgaben, die sie seit ihrer Geburt erledigen. Wir müssen aber alle diese Bit Beasts aufsuchen und ihnen klar machen, dass Dragoon von ihnen möchte, dass sie zusammen arbeiten.“

„Soll das etwa heißen, dass dieser Auftrag vom König der Bit Beasts persönlich kommt?“, kam es voller Ehrfurcht von der Zwergmaus.

„Ganz Recht! Dragoon selbst hat mir diese Botschaft mitgegeben. Er sagt, dass wir Strommäuse, zahlenmäßig so weit verbreitet sind, dass es keine Probleme für uns darstellen dürfte, diese Nachricht in der ganzen Irrlichterwelt zu verbreiten.“

Auf einmal ging ein ungläubiges Raunen durch die Massen. Das der König der Bit Beasts ihnen eine so große Bedeutung zumaß, schien wie ein wahrgewordener Traum, für die sonst so gebeutelte Unterklasse. Natürlich hatte Dragoon aus Eigennutz gehandelt, doch es sprach nichts dagegen, diesen Umstand als Werbung zu nutzen.

„Mesdames et Messieurs, es ist so wie ich es euch stets gesagt habe! Eines Tages wird der Tag kommen müssen, an dem die Oberklasse erkennt, dass wir Mäuse mehr sind, als einfaches Futter! Dragoon hat seinen Fehler bereits begriffen und er wird versuchen, Dranzer ebenfalls ins Gewissen zu reden, damit sie ihre Aufgaben wieder aufnimmt. Doch so lange müssen alle zusammenhalten und wir sind das perfekte Sprachrohr, um das Ganze zu koordinieren. Deshalb meine lieben Freunde, geht zu allen unseren Brüdern und Schwestern! Geht zu den Bauten der anderen Sippen! Sprecht mit den Oberklassen und richtet ihnen Dragoons Befehl aus! Eilt so schnell euch eure Füße tragen zur Elite! Sagt ihnen, dass alle Wasser Bit Beasts, ihre Kräfte bündeln müssen. Dasselbe sagt ihr allen Erd Bit Beasts. Dragoons Befehl lautet, dass alles, was Mutter Natur nur zur Zierde bedarf warten muss. Die Elite muss Prioritäten setzen! Die wichtigsten Aufgaben immer zuerst! Sie müssen sparsam mit ihrer Energie umgehen!“

„Und wenn sie nicht auf uns hören?“

„Dann sagt ihnen dass ihr im Auftrag von Dragoon selbst kommt! Die Oberklasse wird momentan genauso verwirrt sein, wie wir alle. Keiner außer den Uralten, weiß was zu tun ist. Deshalb müssen wir alles so lange am Laufen halten, bis die neuen geboren sind! Wenn Dank uns die Weltenbaumzwillinge nicht zusammenbrechen, haben wir nicht nur unser Leben gerettet, nicht nur das der Elite – sondern auch unsere Ehre gewonnen! Kein Bit Beast wird danach vergessen, wer in dieser Krise einen kühlen Kopf behalten hat! Zeigt der Elite, dass selbst ein kleines Mäuschen, einen Stein ins Rollen bringen kann!
 


 

*
 

Der alte Großvater war doch recht bemitleidenswert. Da kam er hier her ins Präsidium, um seinen jüngsten Enkel zu entlasten und musste feststellen, dass der Älteste ebenfalls in Handschellen abgeführt wurde. Das dürfte kein schöner Anblick für ihn gewesen sein. Da sah Inspektor Kato gnädig über seinen impulsiven Vortrag hinweg.

Er fuhr sich über die Nasenwurzel und schloss einen Moment die Augen. Dieser Tag wurde von Stunde zu Stunde konfuser. Er wollte die Aussage von Takao Kinomiya, was den Verbleib des alten Mannes betraf, erst nachprüfen lassen, da stand der auch schon leibhaftig vor seiner Nase – putzmunter und mit genug Energie, um ihm eine Standpauke zu halten.

So wie er das nun auch beurteilen konnte, war der alte Herr tatsächlich sehr laut, so wie der Junge es geschildert hatte. Es musste unglaublich anstrengend sein mit ihn in einem Haus zu leben. Inspektor Kato blickte auf seine Notizen. Mit den Jahren war seine Menschenkenntnis geschult worden und er musste zugeben, nachdem er Takao Kinomiya von Angesicht zu Angesicht gegenübersaß, war er unschlüssig, in wie weit der Junge noch in die Vorfälle involviert war. Allerdings wusste er etwas…

Kato kam es vor, als würde Takao Kinomiya jemanden schützen. Er fuhr sich über das unrasierte Kinn, grübelte darüber nach, wie er nun am besten vorgehen sollte, denn auch seine unter ihm stehenden Kollegen, erwarteten eine Antwort von ihm, während er hier im Verhörraum saß und die Zeugen sich draußen die Beine stramm standen. Am Aufwendigsten wäre es, wenn er alle einzeln befragen würde. Das machte ihn dann auch sicherlich unbeliebt in der Belegschaft, denn die meisten von ihnen waren schon weit über ihre vorgeschriebenen Stunden hier. Selbst als das Erdbeben das Revier erschütterte, hatte er ihnen nicht gestattet, ihren Posten zu verlassen, es sei denn es betraf ihre dienstlichen Pflichten oder einen ernsten familiären Notfall.

Kato dachte nach wen er zuerst befragen sollte…

Der Großvater wäre schon Mal eine gute Wahl. Einfach um sicherzustellen, dass sein Enkel nichts mit seinem Krankenhausaufenthalt zu tun hatte. Es wäre zumindest ein Punkt, in diesem Wirrwarr aus fraglichen Unfällen, den man endlich klären könnte.

Doch wer sollte danach folgen?

Kato breitete die Fotos noch einmal vor sich auf der Tischplatte aus. Eines zeigte den Großvater im Krankenbett, wie er aschfahl unter der Decke lag. Der war aber nun wieder quicklebendig. Auf dessen Aussage war er wirklich gespannt. Oder womöglich doch jemand anderes?

Seine Finger fuhren weiter, über das nächste Bild. Die verkohlte Leiche im Hiwatari Anwesen war darauf abgebildet. Sie war im Schlafzimmer des Oberhauptes aufgefunden worden, lag dort auf dem Rücken. Auf dem Hochglanzfoto konnte man die stark verkrampfte Haltung erkennen, weshalb die Leiche ein Hohlkreuz aufwies. Ihr Kiefer war weit aufgesperrt. Es sah wahrhaftig schauderhaft aus. Der Mensch auf diesem Bild war eindeutig tot…

Und doch behauptete die Pathologin felsenfest, dass diese Leiche heute Morgen vom Obduktionstisch aufgesprungen sei. Dabei konnte niemand solche Verbrennungen überleben. Inspektor Kato verschränkte die Arme vor der Brust und musterte dieses Foto besonders eingehend. Er kannte die zuständige Pathologin. Sie war eine angesehene Spezialistin in ihrem Bereich, besaß einen kühlen Kopf. Das ausgerechnet sie mit solchen Schauermärchen aufkam, konnte er kaum fassen und erst recht nicht, dass davon eine Videoaufnahme existieren sollte. Obwohl er seinen Untergebenen kaum Glauben schenkte, hatte er sich dazu bereit erklärt, sich zumindest die Aufnahme später anzuschauen, auch wenn ihm das nicht sonderlich vielversprechend vorkam. Er weigerte sich an einen solchen Humbug zu glauben und war unglaublich wütend, dass die Leiche nun abhandengekommen war. Sollte sie nicht mehr auftauchen, wäre das eine Blamage für das gesamte Revier und diese verfluchte Reporterin, hatte auch noch davon berichtet. Er war viel zu beschäftigt gewesen, um die Nachrichten zu verfolgen, sonst hätte er dem ganzen einen Riegel vorgeschoben. Die ganze Angelegenheit war nun wirklich heikel…

Kato kratzte sich nachdenklich am Kinn.

Er könnte behaupten, dass es nie eine Leiche gegeben habe und die Reporterin ein falsches Gerücht in die Welt gesetzt hatte. Immerhin wurde die Aussage nicht von ihrer Abteilung bestätigt. Aber wollte er wirklich einer Toten die Schuld in die Schuhe schieben?

Der Staatsanwalt würde ihm verächtlich ins Gesicht lachen, wenn Kato ihm von dem Verdacht erzählte, aber die Leiche auf die der Fall aufbaute, vom Erdboden verschwunden war. Sie hatten noch nicht herausgefunden, um wen es sich bei dem Opfer handelte, dazu war die Leiche zu kurz in der Obhut der Pathologin gewesen. Noch nicht einmal das Alter hatte sie bestimmen können, dafür wären zumindest Fingerabdrücke, oder gerade bei Brandopfern, Aufnahmen vom Gebiss nötig.

Kato seufzte. Auf was sollte da noch geklagt werden?

Besonders lange verweilte sein Blick auf dem Foto der Krankenschwester, dass er zuvor Takao Kinomiya vorgelegt hatte. Der Junge gab offen zu, dass ein Streit zwischen ihnen aufkam - doch ob er wirklich mehr damit zu tun hatte?

Katos Finger tippte auf dem Foto herum. Er fragte sich, was für einen Grund es geben mochte, das der Junge behauptete, alle hätten zusammen das Krankenhaus verlassen. Kai Hiwatari war doch eindeutig zurückgeblieben. Er erinnerte sich daran, dass er auf den Aufnahmen mit einem Mann gesichtet worden war, der kurz nach der Abreise der Gruppe, am Eingang des Krankenhauses auftauchte. Einfach so aus dem Nichts war der Fremde erschienen. Er sprach mit dem Hiwatari Oberhaupt, machte seltsame Annährungsversuche und so schnell wie er kam, entschwand er auch wieder. Kato hatte ihren Techniker die Aufnahme mehrmals überprüfen lassen, zumal sie von seltsamen Blitzen gestört wurden, doch offenbar fehlten durch einen Wackelkontakt einige Sekunden. Sie konnten nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob Kai Hiwatari tatsächlich wieder ins Gebäude gegangen war, denn ständig flimmerte eine Störung über den Bildschirm. Kato brummte verstimmt. Er hasste die heutige Technik. Sie kam ihm zu fehlerhaft vor und schien das Leben nur komplizierter zu machen. Durch diese störungsanfällige Kamera, war das Bildmaterial sehr vage. Wenn das Hiwatari Oberhaupt für den Angriff auf die Schwester verantwortlich war, würde sein Verteidiger sofort behaupten, dass nicht eindeutig geklärt werden könne, ob er wieder zurück ins Gebäude gegangen war, da die Aufnahme in der entscheidenden Minute, wieder von einem Flimmern gestört wurde.

Und doch konnte das alles hier kein bloßer Zufall sein! Oder etwa doch?

Überall wo die Gruppe auftauchte hatte es Verletzte oder Tote gegeben. Ihre einzelnen Opfer, lagen wie ein Etappenbild vor ihm. Das alles ließ Kato nicht zur Ruhe kommen…

Die Tür zum Verhörraum glitt hinter ihm auf und die junge Aoi steckte den Kopf zaghaft durch den Spalt. Wegen ihrer piepsigen Stimme wurde sie nie ernst genommen und man schickte sie auch ständig vor, wenn die Herren der Schöpfung sich nicht getrauten, ihren Vorgesetzten anzusprechen. Kato wusste das er als Miesepeter verschrien war, doch Aoi konnte man nie recht böse sein, weil man Angst bekam, dass sie in Tränen ausbrach, sobald man forscher wurde. Sobald die männliche Belegschaft das bemerkte, hatten sie das junge Ding dazu verdammt, ständig als Sturmkrähe bei ihm anzuklopfen.

„Inspektor? Verzeihen sie das ich störe, doch meine Kollegen möchten gerne wissen, ob sie zu einer Entscheidung gekommen sind?“

Draußen wurde man also unruhig. Seine Mannschaft wollte für heute endlich zum Abschluss kommen. Kato kratzte sich am Kinn und nickte.

„Wir werden alle einzeln verhören.“

Hinter Aoi schallte ein entnervtes Stöhnen durch den Flur. Offenbar hatten ihre männlichen Kollegen nicht nur zu wenig Rückgrat, um ihn selbst nach seinem weiteren Vorgehen zu fragen, sondern lauschten auch noch ganz unverfroren. Einer von ihnen maulte gut vernehmbar, dass er in Zukunft seinen Schlafsack mitbringen musste, wenn das mit den Überstunden so weiterging. Kato ignorierte die Kommentare im Flur und beugte sich über die Mappe.

„Takao Kinomiya bringt ihr erst einmal in der Ausnüchterungszelle unter. Außerdem soll Kabayashi mich bei den Befragungen unterstützen, damit es schneller geht. Er soll sich im nächsten Raum, noch einmal diesen Jungen, mit der wirren Frisur und der dicken Brille vorknöpfen. Mir ist der Name entfallen…“

„Seine Freunde rufen ihn Chef.“

„Ich glaube kaum, dass er wirklich so heißt. Bei meiner ersten Befragung sprach er davon, dass das nur einer seiner Spitznamen sei.“, Kato wurde so langsam alt. Die einfachsten Dinge entfielen ihm. Es wurde Zeit das er sich über seinen Ruhestand Gedanken machte. „Er hat schwache Nerven. Falls er uns irgendwo belogen haben sollte, wird ihn Kabayashi wie eine Walnuss knacken. Der Junge schien sich bei einem schiefen Blick von mir, bereits ins Hemd zu machen.“

Aoi schaute über ihre Schulter hinweg.

„Ja. Den Eindruck macht er auch hier…“, stimmte sie ihm verblüfft zu.

„Danach soll sich Kabayashi den Großvater vornehmen. Der Alte soll sich aber erst beruhigen. Bringt ihm einen Tee und die Sache mit dem ältesten Enkel überlasst ihr mir. Heute sprechen wir das Thema nicht mehr an. Vorerst nur Fragen zum vermeintlichen Unfall und der schrulligen Nachbarin die gegenüber wohnt.“

„Was sollen wir mit dem kleinen Mädchen machen?“

„Mmm… Ich kann kein plapperndes Kind im Verhörraum gebrauchen. Diesen Hiwatari möchte ich sowieso am dringendsten sprechen.“, er sammelte die Bilder vom Tisch ein, stopfte sie in die Mappe zurück und überlegte. „Wärst du so lieb und kümmerst dich um das Mädchen? Du könntest ihr eines der Polizeiautos zeigen. Da stehen die Kinder doch immer drauf, vor allem wenn wir die Sirene anschmeißen. Gib ihr eine Polizeimütze, eine Dienstmarke und führ sie herum.“

Aoi strahlte bis über beide Ohren. Kato schickte sie nämlich immer dann vor, wenn es darum ging, Kinder zu hüten. In gewisser Weiße war das ähnlich sexistisch, wie das Verhalten von ihren Kollegen, nur wusste er, dass ihr solche Aufgaben keineswegs etwas ausmachten.

„Aber natürlich Inspektor! Das mache ich sehr gerne!“

„Danke. Wenn das Mädchen Hunger bekommt, geht auf meine Kosten essen. Meine Geldbörse liegt in meiner obersten Schublade.“

„Uhh! Das ist so großzügig von ihnen!“

„Findest du? Na, dann vergiss bitte nicht, den anderen da draußen davon zu erzählen. Und bitte betone auch den Teil mit dem kostenlosen Essen. Ach, und schick mir zuerst diesen Hiwatari herein. Den knöpfe ich mir sofort vor.“

„Natürlich, Inspektor. Vielen Dank, Inspektor! Das ist einfach so nett von ihnen, Inspektor!“

„Ja ja… Nun geh schon!“, scheuchte er sie hinaus. Aoi frohlockte geradezu kindlich, als sie die Tür hinter sich schloss und kurz darauf hörte er die empörten Ausrufe, der männlichen Belegschaft, als sie ihnen die Aufgabenverteilung erklärte. Offenbar war man der Meinung, dass die weiblichen Kolleginnen bevorzugt behandelt wurden. Kato grinste gehässig und erwartete den ersten Verdächtigen.
 


 

ENDE Kapitel 42
 

Nach Kenny war Ray in den Verhörraum geführt worden. Er war wie gerädert aufgestanden, denn als hätte Kai es gewusst, wurden sie tatsächlich, jeder einzeln, in verschiedene Räume bestellt. Es fühlte sich wie ein Faustschlag in die Magengrube an, vor allem als sie mitansehen mussten, wie der ergraute Inspektor, der zuvor Tyson befragt hatte, ausgerechnet zuerst mit Kai sprechen wollte. Zuvor saß Ray noch in seinen Stuhl versunken, doch sobald sie diese Botschaft ereilte, hob er sich kerzengerade hoch. Er hatte Max neben sich laut Keuchen hören. Dann war Ray aufgesprungen und fragte, ob er nicht mitkommen könne, weil es Kai nicht sonderlich gut gehe, doch der Inspektor schnalzte nur missbilligend und entgegnete grimmig, dass das hier kein Wunschkonzert sei. Seine Frage machte ihn wohl verdächtig, denn die Blicke der beiden Beamten, die sie im Flur überwacht hatten, richteten sich ab da an auf ihn. Kai hob dagegen nur die Hand in seine Richtung, sah den Inspektor dabei ernst an. Er blieb gefasst. Unglaublich gefasst…

Es erinnerte seine Freunde wieder an sein altes Selbst.

Dann nickte er und fragte, ob jemand seine Schwester beaufsichtigen könne, so lange er seine Aussage machte. Jana hatte sofort einen dicken Schmollmund gezogen, sobald sie seine Worte vernahm und sich darüber brüskiert, dass sie lieber bei ihrem großen Bruder bleiben wolle, bis eine hübsche – und auch ziemlich unerfahren wirkende – Polizistin ihr den Vorschlag unterbreitete, einmal mit einem richtigen Polizeiauto zu fahren. Da leuchteten ihre Augen auch schon und sie ließ endlich von Kai ab, um aufgeregt mit der jungen Frau mitzugehen. Den ganzen Weg durch den Flur hopste das Mädchen munter umher und trällerte ein Freudenliedchen. Ray hätte in jenem Moment alles dafür gegeben, um ihre Sorglosigkeit zu besitzen, denn mit jedem Schritt, den Kai sich von ihnen entfernte, hatte er das Gefühl gehabt, das sie ziemlich in der Klemme steckten.

Alle in der Gruppe sahen ihm geschockt nach - bis die Tür hinter ihm zu glitt.

Von da an kaute Kenny auf seinen Fingerkuppen, da er seine Nägel schon komplett abgenagt hatte. Nachdem Kai verschwunden war, kam jener Beamte zu ihnen, der sie gleich zu Anfang erkannte. Er stellte sich noch einmal vor, dieses Mal aber mit dem Namen und bat Mr. Kinomiya darum, ihm für eine kurze Unterredung zu folgen.

Der alte Mann hatte auf seine Knie geklopft bevor er ging.

„Na dann bin wohl ich gefragt...“

Erst dann erhob er sich schwerfällig, dabei wirkte er recht ratlos. Keiner von ihnen wusste, was sie nun erzählen sollten, da Kai ihnen doch gesagt hatte, dass er einen anderen Plan, für das Eintreten des jetzigen Falles, im Sinn hatte. Sich großartig besprechen konnte sie sich auch nicht mehr, da sie ständig überwacht wurden. Vor allem dieser Texas Ranger Verschnitt, kreiste um sie herum wie ein Aasgeier. Der Rest der Gruppe blieb also stillschweigend zurück, jeder in seine Gedanken vertieft und irgendwann hatte Max in die Runde gefragt, weshalb Hana noch nicht aufgetaucht sei.

„Wir sind ziemlich weit gelaufen, nachdem wir uns entschieden haben, das Auto abzustellen.“, erklärte Kenny. „Mir kam es vor, als hätten wir bei der Suche nach Tysons Großvater, die halbe Stadt durchquert.“

„Hast du ihre Nummer?“, wollte er noch wissen.

„Nein. Daran habe ich nicht gedacht.“

„Sie kann uns jetzt ohnehin nicht mehr helfen. Wir müssen da alleine durch.“, Ray hatte die Arme vor der Brust verschränkt und argwöhnisch, aus den Augenwinkeln heraus, zu ihren beiden Bewachern geschielt. „Vertrauen wir auf Kai…“

„Und seine Aussetzer? Er sagt doch selbst dass er sie nicht kontrollieren kann?“

„Wir müssen ihm vertrauen.“, betonte er noch einmal deutlicher. Danach wurde es wieder ruhig zwischen ihnen, bis die Tür zum Verhörraum aufging, indem Mr. Kinomiya verschwunden war. Ray mochte sich irren, doch ihm kam es vor, als sei bereits eine Stunde vergangen, doch es gab keine Uhr hier. Es bereitete ihm Sorgen, das Kai noch nicht herausgekommen war, wo er doch zuerst aufgerufen wurde, aber dieser Ort war ja auch keine Fast Food Kette. Wer zuerst kam musste nicht zuerst bedient werden.

Zu ihrer Überraschung wurde Kenny als nächstens aufgerufen. Er hatte ein ersticktes Quieken von sich gegeben, wie ein Ferkel das man an den Füßen packte und schüttelte. Dann wollte er mit zitternder Stimme wissen, weshalb seine Aussage nun auch wieder erforderlich sei.

„Es interessiert den Oberinspektor, wie sie ihre Freunde gefunden haben, wo sie doch zuvor so standhaft behauptet haben, ihren Aufenthaltsort nicht zu kennen.“

Ein kühles Lächeln lag um die Mundwinkel des Beamten. Falls überhaupt möglich, wurde Kennys Gesicht in jenem Moment noch fahler. Als er sich erhob, wirkten seine Knie so wacklig, dass man hätte meinen können, er falle gleich in Ohnmacht. Sein Gang war taumelig, doch irgendwie brachte er die Kraft auf, dem Beamten in den Verhörraum zu folgen. Gleich darauf wurde Mr. Kinomiya von ihnen weggeführt. Auf die Frage, wohin er gebracht wurde, meinte der Polizist nur knapp: „Zu seinem Enkel…“

Damit entschwand auch der alte Mann aus dem Flur.

Die Reihen schienen sich immer weiter zu lichten.

„Das machen die doch nur, damit wir uns nicht absprechen.“, murmelte Max misstrauisch.

Ray hatte bedeutungsschwer genickt, obwohl er Mr. Kinomiya nicht verdenken konnte, dass er seinen Enkel sehen wollte. Sie saßen wahrhaftig auf glühenden Kohlen und die Tür in den Verhörraum, in welchen Kai geführt worden war, wollte sich einfach nicht öffnen. Es war die reinste Folter. Als sie irgendwann doch einmal aufgestoßen wurde, kam nur ein weiterer Beamter heraus. Er drückte einem seiner Kollegen eine Notiz in die Hand und bat darum, diese Information umgehend überprüfen zu lassen. Offenbar hatte Kai etwas gesagt, dessen Richtigkeit noch geklärt werden musste und schon eilte der Beamte davon. Ray fragte sich, ob es den Standort des Kamins betraf. Innerlich flehte er zu allen erdenklichen Gottheiten, dass sich Kai noch an die Einrichtung erinnerte – zumindest das was sie ihm über die Bibliothek erzählt hatten. Ständig huschten ihre Blicke zur Tür, doch von da an, tat sich eine weitere Ewigkeit nichts. Der Einzige der wieder zum Vorschein kam war Kenny. Wie betäubt kam er heraus, war auf seine Freunde zugeschwankt und ließ sich mit leichenblassem Gesicht, auf den Bänken im Flur neben ihnen nieder.

„Ich glaube ich brauche einen Anwalt…“, war das Erste was er sagte.

„Warum?!“, kam es gleichzeitig zurück.

„Die haben so komisch reagiert, als ich ihnen gesagt habe, dass ich mich in das System des Krankenhauses gehakt habe. Er meinte das grenze bald an hochgradigen Datendiebstahl – selbst wenn ich aus guten Absichten gehandelt habe.“

Ray wollte schon verblüfft fragen, weshalb er das auch getan hatte – immerhin kannte er noch nicht die Vorgeschichte dazu – da wurde er jedoch aufgerufen und von Inspektor Kabayashi, in den Verhörraum geführt. Zu seinem Argwohn folgte ihm auch der Beamte mit dem kantigen Gesicht. Rays letzter Blick galt seinen Freunden, die ihm beunruhigt nachschauten. Max winkte ihm zaghaft zu. Kurz darauf schloss sich schon die Tür hinter ihm.
 

Und nun saß er hier…

Das Zimmer in dem er sich befand, besaß auf einer Seite eine gläserne Front. Sie reflektierte lediglich die drei Anwesenden. Ray fragte sich wozu sie gut war, denn irgendwie fand er einen Spiegel hier unnötig. Es gab kein Fenster im Raum, weshalb es recht dämmrig wirkte, da half auch die niedrig hängende Deckenleuchte nicht. Der Tisch der im Zentrum des Zimmers stand, war ziemlich spartanisch, genauso wie die dazugehörigen Stühle. Der Raum besaß nichts einladendes, was wohl auch so beabsichtigt war. Als Ray Platz nahm, hatte er gleich das Gefühl, etwas verbrochen zu haben, auch wenn dem nicht so war. Er versuchte sich seine Beunruhigung nicht anmerken zu lassen, denn womöglich würde man daraus die falschen Schlüsse interpretieren. Dann fiel ihm aber ein, dass seine Gelassenheit wiederrum gespielt wirken könnte. Wie verhielt man sich, wenn man nicht verdächtig wirken wollte?

Diese Situation war einfach obskur…

Das er sich überhaupt rechtfertigen musste war eine Frechheit.

Inspektor Kabayashi hatte inzwischen gegenüber von ihm Platz genommen, während sein anderer Kollege an der Wand lehnte und Ray fokussierte. Er fragte sich, was dieser Typ für ein Problem mit ihm hatte. Ihm kam es vor, als würde er vor allem ihn genau ins Auge fassen. Mit sich brachte Kabayashi einen Notizblock, auf welchem schon eine Menge Punkte niedergeschrieben waren. Ray versuchte zu entziffern, was auf dem Papier stand, aber japanische Kanji auf dem Kopf zu lesen, war nicht einfach. Die Sprache hierzulande stellte keine Herausforderung für ihn dar, aber beim Schreiben hatte auch er so seine Schwierigkeiten. Nicht das Ray keinen Brief auf Japanisch verfassen konnte – darin hatte er genug Übung – aber wenn er es tat, nahm er sich viel Zeit, da er alles fehlerfrei verrichten wollte. Der Inspektor notierte sich mittlerweile einige Dinge. Die Miene seines Kugelschreibers kratzte über das Blatt. Es war noch nicht zur Befragung gekommen, offenbar weil er die wichtigsten Punkte von Kennys Aussage, noch schnell auf Papier bannen wollte, bevor sie in Vergessenheit gerieten. Inspektor Kabayashi wirkte älter als Ray. Er schätzte ihn auf Ende Dreißig, vielleicht sogar Anfang Vierzig. An seinen Schläfen sprossen die ersten grauen Haare hervor. Dennoch kam er ihm nicht so griesgrämig vor, wie der alte Mann, mit dem sich Kai abplagen musste. Rays helle Augen huschten immer wieder zu dem Block, um unauffällig einige Zeichen aufzuschnappen. Nur wenige Sätze konnte er entziffern, bevor der Inspektor die Hand über das Geschriebene legte und aufschaute. Etwas stand dort von Medikamenten und ihrer falschen Einnahme. Es musste die Aussage von Mr. Kinomiya betreffen. Seinen Beitrag hatte Tysons Großvater also geleistet. Kabayashi legte den Stift zur Seite und schaute Ray direkt an. Er besaß ein tiefschwarzes Augenpaar. Ein freundschaftliches Lächeln huschte um seine Mundwinkel, als er zu sprechen begann: „Sie stammen aus China?“

Ray nickte. Er wusste diesen Mann noch nicht einzuschätzen und blieb deshalb reserviert.

„Welche Provinz?“

„Yunnan.“

„Ah, Yunnan…“, Kabayashi lehnte sich zurück und sein Ausdruck wurde geradezu verträumt. „Wundervolles Gebiet. Als ich noch auf der Polizeiakademie war, bin ich zusammen mit einigen anderen Kadetten, während der goldenen Woche dorthin geflogen. Wir haben eine Rucksacktour durch die Berge gemacht. Man kann über China sagen was man will, doch die Landschaften die sich dort einem bieten sind unvergleichlich. Eine einzigartige Vielfalt.“

„Danke. Wir sind sehr Stolz darauf.“, Ray blieb höflich, fragte sich aber, ob das ein Spiel war. Sein Kollege lag noch immer stillschweigend auf der Lauer. Guter Bulle, böser Bulle…

„Diese Provinz ist sehr ländlich, richtig?“

„Es gibt viele abgeschiedene Gegenden dort. Das ist wahr.“

„Weshalb sind sie in Japan? Etwa beruflich?“

„Nein. Ich wollte meine Freunde besuchen. Das hatte ich aber auch schon ihrem Kollegen an der Rezeption erklärt.“

„Tatsächlich. Hier steht es doch.“, er schaute auf seinen Block und lächelte entschuldigend. Ray kam es vor, als würde er sich absichtlich dumm stellen. Wahrscheinlich um zu prüfen, ob er seine eigenen Angaben von zuvor noch wusste. Man lotete wohl im Vorfeld aus, welcher Typ Mensch vor einem saß. „Ihr Freundeskreis ist interessant. Einer kommt aus den Vereinigten Staaten. Einer stammt aus einer sehr wohlhabenden Familie in Japan. Ich bin neugierig - wie sind sie zu solchen Freunden gekommen?“

„Wir waren alle zusammen in einem Team. Die ersten zwei Jahre war unsere Gruppe als die Bladebreakers bekannt.“

„Hmm… Diese Kreiselgeschichte. Für diese Sache konnte ich mich leider noch nie erwärmen. Da war ich wohl schon zu alt, als der Trend aufkam. Wie sah es danach aus?“

„Da haben sich unsere Wege getrennt. Ich habe ein eigenes Team in China angeführt. Max ebenso aber in den USA. Tyson holte jemand Neues in seine Gruppe und Kai war in der russischen Mannschaft.“

„In der russischen?“, Kabayashi hob erstaunt die Braue. „Was hat ihn denn gerade zu den Russen verschlagen?“

„Ich weiß nicht genau. Wahrscheinlich weil er Halbrusse ist und die dortigen Mitglieder schon vorher kannte.“

„Tatsächlich? Er ist Halbrusse?“

„Väterlicherseits zumindest.“

„Oh…“, der Inspektor nickte nachdenklich. „Ich dachte immer Hiwatari Corp wäre ein heimisches Unternehmen. Zumindest klingt der Name nicht russisch.“

„Keine Ahnung. Fragen sie Kai doch einfach selbst.“, schlug er vor.

„Gut. Das ist ja auch nicht so wichtig. Sie haben sich nach all den Jahren nicht aus den Augen verloren? Trotz der Entfernung?“

„Mal war der Kontakt mehr, mal weniger. Das lag an unseren Teams. Aber letztendlich haben wir es geschafft eine Routine hineinzubekommen. Eine Zeit lang habe ich in Japan auch wieder gewohnt, um meine Ausbildung abzuschließen und zu arbeiten, bis ich geheiratet habe. Da bin ich in mein Heimatdorf gezogen.“

Sein Kollege schnaubte verächtlich. Da ahnte Ray weshalb vor allem er so misstrauisch beäugt wurde. Manche Japaner hatten ein Problem mit Chinesen, genauso wie umgekehrt. Als er vor seiner Hochzeit, bei seinem Onkel im Restaurant als Kellner aushalf, war er bei einer größeren Abendgesellschaft, mit einigen Gästen ins Gespräch gekommen. Zunächst war die Stimmung recht ausgelassen, bis man ihn fragte, was er hier in Japan machte. Wahrheitsgetreu hatte Ray geantwortet, dass er seine Ausbildung beenden und danach einige Monate hier noch arbeiten wolle, um Geld für seine Hochzeit mit Mao auf die Seite zu legen. Sie führten damals eine Fernbeziehung. Die meisten Gäste hatten seinen Fleiß bewundert – aber nicht jeder. Denn einer von ihnen meinte geringschätzig, dass das typisch für Chinesen sei.

„Ihr kommt in unser Land, klaut unsere Technologie, unsere Arbeitsplätze und danach verpisst ihr euch! Und in eurer Heimat rümpft ihr über uns auch noch die Nase!“

Seine Begleiter erröteten damals und baten Ray, es ihrem Freund nachzusehen, da er doch ganz offensichtlich schon viel getrunken habe. Es war eindeutig dass sie sich für sein Verhalten schämten. Doch Ray war wirklich geschockt gewesen. Noch nie war er in diesem Land auf eine solche Feindseligkeit gestoßen. Tyson und er behandelten sich niemals so. Das war ein absolutes Tabu. Sie machten ihre Witze auf Kosten ihrer Herkunft, aber sich beleidigen kam niemals in Frage.

Die Reaktion seines Kollegen ignorierend, fügte Ray deshalb hinzu: „Das zwischen uns ist etwas Besonderes. Ich könnte niemals den Kontakt zu meinem alten Team abbrechen. Das wäre für mich, als würde ich meine Brüder verleugnen. So etwas versteht keiner, der nicht mit uns aufgewachsen ist.“

„Tatsächlich? Es gab nie böses Blut wegen der Herkunft?“

„Kulturelle Differenzen existieren bei uns nicht. Es zählt nur der Mensch. Wenn alle Leute das so handhaben würden, wäre unsere Welt ein ganzes Stück besser.“

Er sah nicht zur Seite, spürte aber dass er verärgert taxiert wurde. Beinahe wäre ihm ein triumphierendes Grinsen um die Mundwinkel gehuscht, doch er versuchte nicht so zu wirken, als würde er bewusst provozieren.

„Verstehe. Nun, deshalb sind wir auch nicht hier.“, Inspektor Kabayashi schlug die Mappe auf. „Sie wissen weshalb nach ihnen gesucht wurde?“

„So viel mir zu Ohren kam wegen Tysons Großvater.“, tat Ray arglos.

„Mitunter. Wobei wir zugeben müssen, dass Mr. Kinomiya uns gerade seine Sicht der Dinge geschildert hat. Waren sie anwesend als es passiert ist?“

Ihm fiel auf dass er mit keinem Wort dessen Aussage erwähnte. Das machte Ray misstrauisch. Offenbar wollte man sich vergewissern, dass an den Beschuldigungen tatsächlich nichts dran war und nochmal seine Version hören. Vielleicht glaubten die Beamten auch, sie hätten Mr. Kinomiya dazu genötigt, seinen Enkel zu entlasten.

„Ich bin es gewesen der ihn gefunden hat. Tyson war zusammen mit Max in seinem Zimmer.“, berichtete Ray von den damaligen Ereignissen. „Als ich ihn zur Hilfe gerufen habe, ist Max sofort los, um den Notarzt zu rufen. Tyson und ich haben eine Herzdruckmassage ausgeübt, bis der Krankenwagen kam.“

„Wie hat sein Enkel reagiert als sie ihm von dem Fund berichtet haben?“

„Zunächst war Tyson wie erstarrt. Mir kam es vor, als könne er gar nicht begreifen, was ich ihm gesagt habe - total geschockt eben. Dann ist er wie ein Blitz aufgesprungen, um nach seinem Großvater zu schauen. Glauben sie mir… Er hatte damit nichts zu tun.“

„Woher wollen sie das wissen?“

„Er war total außer sich und hat alles getan, um ihn am Leben zu halten. So reagiert doch kein Mensch, der jemanden kaltblütig ermorden will.“

„Er hätte schauspielern können.“

Ray schnalzte verächtlich.

„So ist er nicht! Tyson trägt seine Gefühle ganz nah an der Oberfläche. Er wäre niemals in der Lage so etwas zu verbergen. Wenn er wütend ist, sieht man es. Wenn er fröhlich ist, sieht man es. Wenn er traurig ist, sieht man es! So ist Tyson nun einmal. Da gibt es nichts zu rütteln.“, die Überzeugung mit die er diese Worte sprach, schien ihre Wirkung nicht zu verfehlen. Beide Beamten tauschten nachdenkliche Blicke aus. „Ich kenne ihn schon ewig. Wie soll er denn überhaupt seinen Großvater versucht haben zu ermorden? Er hat ihn nicht angefasst und im selben Raum war er auch nicht. Dafür können Max und ich bürgen.“

„Ihr Freund kann vielleicht dafür bürgen. Sie waren gar nicht anwesend.“

„Dann eben Max allein! Er wird ihnen aber dasselbe sagen.“

„Wir haben ein Reinigungsmittel im Haus gefunden, dessen Wirkstoffe bei versehentlicher Einnahme eine Zyanose auslösen.“

„Zyanose… Ist das ihr ernst?“

„Sie wären erstaunt wie viele Hausmittel einen tot umfallen lassen, wenn man sie nur in den falschen Hals bekommt.“

„Und ausgerechnet Tyson soll wissen, welcher Wirkstoff so etwas verursacht?“

„Warum nicht?“

„Woher denn?“

„Es gibt heutzutage eine kleine Spielerei namens Internet. Sehr lehrreich um sich über Giftstoffe zu informieren.“

„Tyson hat keinen PC daheim.“

„Handys?“

„Dann überprüfen sie doch seine Verbindungen!“, schlug Ray genervt vor.

„Das haben wir. Doch selbst wenn wir nichts finden, diese Informationen kann er sich auch aus einem Internetcafe oder einer Bibliothek geholt haben.“

„Ha!“, lachte Ray ungläubig auf. „Klar… Ausgerechnet Tyson! Der künftige Nobelpreisträger, der seinen Teller, samt Gabel, in die Mikrowelle gesteckt hat und sich kurz darauf wundert, warum ihm das Gerät um die Ohren fliegt, soll auf so einen Plan kommen?“

Die Brauen von beiden Beamten schossen hoch. Sie schauten sich an und Ray musste dieses Mal nicht lange nachdenken, um zu wissen was ihnen durch den Kopf ging. Inspektor Kabayashi kaute nachdenklich mit dem Kiefer, während er ihn weiterhin bedachte. Dann wiegte er den Kopf bedauernd.

„Irgendwie traurig…. Auch sein Großvater meinte, dass er in diesem Leben kein Genie wird.“

Nur gut das Mr. Kinomiya einem seine Meinung immer so unverblümt ins Gesicht sagte. Allerdings wäre Tyson ausgeflippt, wenn er mitbekommen hätte, wie Ray gerade über ihn sprach. Um ihn nicht in einem allzu schlechten Licht dastehen zu lassen, fügte er deshalb hinzu: „Verstehen sie mich nicht falsch. Er ist keinesfalls ein Idiot. Tyson besitzt aber eher… eine andere Art von Weisheit. Für ihn zählen andere Werte, als eine überragende Ausbildung und hervorragende Mathematikkenntnisse. Er würde mit einem Tellerwäscher genauso gerne abends um die Häuser ziehen, wie mit einem Akademiker. Für ihn zählt nur, ob er sich mit der Person versteht. So etwas wie beruflicher Ehrgeiz liegt ihm auch nicht besonders. Er möchte lieber sein Leben genießen. “

„Ich mag mich irren, aber war er nicht jahrelanger Weltmeister in dieser Kreiselsportart? Dafür wird doch sicherlich auch eine riesige Portion Ehrgeiz notwendig sein.“

„Er kann sich durchaus für manche Dinge begeistern, aber nur, wenn sie ihm auch Freude bereiten. Darum geht es auch jetzt gar nicht! Etwas derart ausgeklügeltes wie irgendeinen Wirkstoff herauszusuchen, der in irgendeinem x-beliebigen Reinigungsmittel drinnen ist – das würde Tyson nie im Traum einfallen! Er ist zudem der loyalste Mensch den ich kenne. Warum sollte er das also seinem Großvater antun?“

„Er hat das Testament zu Gunsten seines jüngsten Enkels abgeändert.“

„Darüber hat er kein Wort vor uns verloren. Sind sie sicher dass Tyson überhaupt davon weiß?“, zweifelte Ray diese Theorie an.

„Schweigen bedeutet nicht Unwissenheit.“

„Haben sie Mr. Kinomiya gefragt, ob er es ihm erzählt hat?“

„Natürlich.“

„Und was kam dabei heraus?“

Ray erwartete gar keine Antwort. Es war eine rein rhetorische Frage. Der Inspektor fuhr sich nachdenklich übers Kinn und bedachte ihn eingehend, da fügte Ray hinzu: „Tyson könnte das nicht. Darauf verwette ich meine Seele! Das wird ihnen Max auch bestätigen. Und sein Großvater ist seinetwegen hier her gekommen, um ihn zu entlasten – ist das nicht Beweis genug?“

„Sie könnten ihn auf dem Weg hier her beeinflusst haben. Womöglich fürchtet er sich die Wahrheit zu sagen oder er will sie gar nicht sehen. Menschen in diesem Alter sind einsam und klammern. Ein alter, gebrechlicher Mann, wie Mr. Kinomiya, der sich nicht zu wehren weiß, könnte-…“

„Der sich nicht zu wehren weiß?!“, fiel Ray ihm fassungslos ins Wort. „Reden wir wirklich von dem zeternden Kautz, der vorhin ihren Kollegen zusammengebrüllt hat? Meine Nachbarn in China haben ihn wahrscheinlich gehört!“

Inspektor Kabayashi tat einen tiefen Atemzug und räusperte sich anschließend. Offenbar hegte auch er Zweifel daran, dass Mr. Kinomiya ein harmloser alter Gentleman war. Ray nutzte die Gelegenheit und sprach offen seine Vermutung aus.

„Ganz ehrlich… Ich weiß nicht was das Ganze hier soll? Mir kommt das wie eine verdammte Hexenjagd vor! Haben sie irgendeinen berechtigten Grund, weshalb sie Tyson hier festhalten? Alle ihre Unterstellungen sind doch total aus der Luft gegriffen!“

„Gehen wir einfach Mal zu den anderen Punkten.“

Nun war es soweit. Der Brand im Hiwatari Anwesen würde angesprochen werden. Er hatte das Gefühl, die erste Runde für sich entschieden zu haben. Zumindest klang es in seinen Ohren glaubhaft, aber das meiste davon war immerhin auch nicht gelogen. Innerlich wappnete sich Ray bereits für den nächsten Schritt, äußerlich tat er aber verwundert.

„Was meinen sie?“

„Das wissen sie nicht?“

„Nein. Sie müssen schon deutlicher werden.“

„Erst kürzlich wurden sie Zeuge, wie das Haus eines Freundes niedergebrannt ist - und doch ist es schon vergessen?“

„Vergessen bestimmt nicht, aber was hat das mit uns zu tun?“

Ray versuchte unwissend zu klingen, doch eigentlich begann es in seinem Magen zu brodeln. Er empfand diese Unterstellung als eine Beleidigung seiner Ehre.

„Nun schauen wir uns doch mal den Verlauf dieses Tages an. Zunächst wird der Großvater ihres Freundes morgens ins Krankenhaus eingeliefert. Später, am gleichen Tag noch, machen sie sich auf den Weg zum Familienoberhaupt der Hiwatari Corp. Wenige Minuten nachdem sie dort eintreffen, brennt das Gebäude lichterloh. Merkwürdig oder?“

„Ein Zufall – und auch eine glückliche Fügung! Wären wir nicht rechtzeitig aufgetaucht, hätten es Kai und seine Schwester wohl kaum aus dem Haus geschafft.“

Inspektor Kabayashi gluckste, es klang jedoch spöttisch.

„Nun, schön dass sie sich als Helden sehen, aber das Familienoberhaupt musste sich alleine aus dem brennenden Haus retten. Das geht wohl nicht auf ihre Kosten.“

„Ach… Und das Tyson Jana rechtzeitig herausbekommen hat, zählt etwa nichts?“

„Das kann niemand bezeugen. Laut ihrer Aussage am Unfallort, hat er ihnen die Begebenheiten erst danach geschildert, weil er es zuerst über den Zaun geschafft hat. Sie sind erst später dazu gekommen, weil sie hinterherklettern mussten.“

„Darauf soll das also hinaus… Sie glauben auch noch Tyson hätte den Brand gelegt!“

„Gab es früher nicht böses Blut zwischen den beiden? Mr. Hiwatari war sein ärgster Konkurrent und hat es in den letzten Jahren viel weiter gebracht als er. Könnte es nicht sein, dass der Neid an ihm genagt hat?“

„Tyson würde Kai niemals etwas antun! Sie streiten sich zwar, wie ein altes Ehepaar, aber wenn es die Situation erfordert, würden sie zusammenhalten. Heute wohl mehr denn je.“

„Schön. Wir werden das Hiwatari Oberhaupt befragen was er dazu meint.“

„Schön. Fragen sie ihn doch!“, äffte er ihn bissig nach. „Würde mich schwer wundern, wenn Kai etwas anderes behauptet. Er weiß genau dass Tyson für ihn alles tun würde.“

„Hmm…“, der Inspektor notierte sich etwas auf seinem Block. Wahrscheinlich das er diesen Punkt tatsächlich erledigen wollte. Dass solche Zweifel an seinen Worten gehegt wurden, machte Ray unglaublich wütend. Er konnte nur noch mit viel Mühe höflich bleiben.

„Glauben sie mir, dass war kein Spaß für uns, da draußen vor dem Feuer zu stehen und uns zu fragen, ob Kai noch lebt!“, griff er das Thema wieder auf. „Haben sie eine Ahnung wie schrecklich es ist, ein kleines Mädchen im Arm zu halten und nicht zu wissen, ob man ihr sagen muss, dass ihr Bruder tot ist? Das war eine Erfahrung, auf die ich gerne verzichtet hätte! Tyson hat ebenso geschockt darauf reagiert wie wir alle!“

Seine Stimme wurde lauter. In diesem Fall war sein Zorn nicht gespielt.

„Denken sie ich hätte meinen Abend nicht lieber anders verbracht? Stattdessen mussten wir uns noch mit einer übereifrigen Reporterin herumschlagen, die uns zu allem Übel auch noch auf dem Kicker hatte!“

Der Inspektor horchte auf, man sah förmlich wie er die Ohren spitzte. Sein Interesse war geweckt. Wenigstens das lief wie geplant.

„Sie meinen Ming-Ming? Das Maskottchen von Tokyo Channel Seven?“

„Ganz Recht.“

„Weshalb gab es böses Blut zwischen ihnen?“

Hana hatte ihnen geraten Ming-Mings Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen. Es passte Ray zwar nicht, über Tote schlecht zu sprechen, doch andererseits war es nicht gelogen.

„Sie hatte mal etwas mit meinem Kumpel, Max. Für ihn war es eine einmalige Sache – für sie leider nicht. Als er ihr erklärt hat, dass es vorbei ist, endete es damit, dass er die Handynummer wechseln musste, weil er permanent irgendwelche Hassmails bekam. Er sprach einmal davon, dass er sogar seinen Facebook Account löschen musste, weil sie ihm ständig üble Nachrichten auf der Pinnwand hinterließ.“

Es war Kennys Idee gewesen, dass zu erwähnen, denn es sei für einen Fachmann ein Kinderspiel, diesen Account herauszusuchen, selbst wenn er gelöscht wurde und tatsächlich notierte Kabayashi vor ihm eifrig, während er hinzufügte: „Das Mädchen war wirklich nicht ganz dicht. Noch an der Unfallstelle hat sie sich an mich herangemacht, einfach nur um Max eifersüchtig zu machen.“

„Tatsächlich?“

„Ja. Mir war klar, dass sie böse auf Max zu sprechen ist und alles tun würde, um ihm ein paar Stolpersteine vor die Füße zu legen, aber das? Einer meiner besten Freunde, war zu diesem Zeitpunkt, noch im brennenden Haus und sie versucht sich einzuschmeicheln. Außerdem bin ich verheiratet. Das ist wirklich das Letzte!“

„Wissen sie dass Ming-Ming kürzlich verstorben ist?“

Ray tat überrascht - auch wenn er es nicht war. Es hätte recht seltsam geklungen, wenn er davon berichtete, dass er ihrem Geist, in einer unwirklichen Parallelwelt begegnet war.

„Nein! Das gibt es doch nicht… Wann ist das denn passiert?“

„Hat ihr kleiner Freund mit der dicken Brille nichts gesagt?“

Jetzt war er sogar ehrlich überrascht. Weshalb Kenny davon wissen sollte, war ihm schleierhaft.

„Was meinen sie?“

„Der ältere Bruder ihres Freundes, hatte leider seine Hände nicht im Griff - und dabei ist sie unter ein Auto geraten.“

Ray blinzelte verdutzt.

„Kenny hat gar keinen älteren Bruder…“

„Diesen Freund meine ich auch nicht.“

Es wurde einen Moment still. Da wurden Rays Augen tellergroß, als der Groschen fiel.

„Ist Hiro deshalb vorhin abgeführt worden?!“

„Sie wussten es nicht?“

„Nein! Ich hatte keine Ahnung…“

Er war wirklich geschockt und konnte sich nicht erklären, was in Tysons Bruder gefahren war. Nun wurde ihm erst richtig klar, wie viele Dramen sich während ihrer Abwesenheit abgespielt hatten. Hoffentlich gab es nicht noch mehr solcher Überraschungen…

„Warum hat er das gemacht?“

„Hitoshi Kinomiya war anwesend als die Hausdurchsuchung im Dojo stattfand. Zuvor muss er versucht haben, seinen jüngeren Bruder zu finden.“, Inspektor Kabayashi blätterte in der Mappe. „Es kam zwischen den beiden zu einer heftigeren Meinungsverschiedenheit da die – wie sie so treffend formuliert haben – übereifrige Reporterin, sofort Bericht darüber erstatten wollte. Dabei geriet sie unter die Räder eines Autos, weil sie ungeschickt stürzte. Unschöne Sache… Der hübsche Hals war danach nicht mehr so hübsch.“

Ray schloss stöhnend die Augen. Er fragte sich ob Tyson schon davon wusste und ärgerte sich gleichzeitig, dass niemand etwas gesagt hatte. Allerdings war die Zeit auch knapp gewesen. Hana konnte ihnen gar nicht schnell genug erklären, was alles vorgefallen war, da rannte Kenny schon auf die Gruppe zu und sprach von Tysons Verhaftung. Bei so vielen Absprachen, musste etwas Wesentliches ja auf der Strecke bleiben. Irgendwie herrschte ein heilloses Chaos…

„Haben sie Großvater Kinomiya davon erzählt?“

„Nein. Er schien vorhin schon aufgebracht genug. Wir haben ihn erst einmal vertröstet.“

„Das ist auch besser so. Er hat ein Herzproblem und musste sich die ganze Zeit schon um uns sorgen.“

„Daran haben wir natürlich auch gedacht. Kommen wir aber zu meiner eigentlichen Frage. Nachdem das Hiwatari Oberhaupt im Krankenhaus eingeliefert wurde, hatten sie sich dort als Besucher eingetragen. Aber irgendwann haben sie zusammen mit ihren Freunden das Gebäude verlassen – wohin sind sie mitten in der Nacht aufgebrochen?“

Ray schluckte. Er war so in seine Sorge vertieft gewesen, dass er gar nicht mehr daran dachte, was er gerade von sich gab. Er sollte nämlich behaupten, dass sie alle gemeinsam wegen dem Erdbeben, in Mariahs Hotel festsaßen. Sie würde die Aussage zur Not bekräftigten. Inspektor Kabayashi mochte freundlich sein, aber ganz bestimmt nicht einfältig. Er kam absichtlich mit schockierenden Nachrichten damit Ray den Faden verlor.

„Wir waren bei meiner Frau.“

„Die ganze Zeit während sie verschwunden waren?“

„Ja. Es gab Einiges mit ihr zu bereden.“

„Was denn?“

„Das ist privat.“

„Möchten sie dass ihre Frau auch noch hier her zitiert wird?“

Ray knurrte düster. Diese Drohung kam so unverschämt heiter, dass er nicht mehr so sicher war, ob der wortkargere Kollege in der Ecke, ihm nicht angenehmer war.

„Wenn sie es unbedingt wissen müssen – wir durchleben gerade eine Scheidung! Ich bin dieses Wochenende nach Japan gekommen, um mich bei meinen Freunden davon zu erholen. Stattdessen ist meine Frau mir nachgereist. Als wir vom Krankenhaus weggegangen sind, hat sie mich kurz zuvor darum gebeten, zu ihr zu kommen.“

„Mitten in der Nacht?“

Die Fragen kamen irgendwie immer schneller.

„Sie war total aufgelöst und sie ist schwanger. Sie dachte etwas stimme nicht mit dem Baby. Soll ich einer schwangeren Frau einen Wunsch abschlagen? Es ist schließlich auch mein Kind, dass sie in sich trägt.“

„Warum sind sie alle zusammen gefahren?“

„Mein Führerschein ist im Ausland nicht gültig.“

„Sie haben wohl auf alles eine Antwort.“, stellte Inspektor Kabayashi knapp fest. Es klang recht ungläubig. „Weshalb trennen sie sich von ihr?“

Ray haute wütend auf den Tisch.

„Das geht sie nun wirklich überhaupt nichts an! Wir haben uns ohnehin versöhnt, also warum wollen sie das wissen?!“

„Schon gut. Es ist mir auch nicht so wichtig…“

Natürlich war es das nicht, denn er wollte Ray nur durcheinander bringen, deshalb zog er auch mit dem Tempo an. Da fiel ihm etwas ein, was ihn argwöhnisch die Braue aufziehen ließ.

„Warum haben sie überprüft, wann wir das Krankenhaus verlassen haben? Das war doch alles nach dem Brand im Hiwatari Anwesen.“

„Stört sie das?“

„Es kommt mir seltsam vor. Überprüfen sie etwa meinen ganzen Aufenthalt in Japan?“

„Sie sind nicht auf den Kopf gefallen.“, Inspektor Kabayashi nahm ein Foto aus der Mappe und schob es zu ihm herüber. „Ich frage wegen dieser Frau.“

Sein Finger tippte auf das Gesicht auf dem Bild. Zunächst begriff Ray nicht, was das sollte, denn er erinnerte sich nicht daran, dass Kenny ihnen im Auto von einem weiteren Punkt erzählt hatte. Sein Blick schweifte über das Foto, bis er beim zweiten Mal entsetzter hinschaute.

„Was ist denn mit ihr passiert?“

„Kennen sie sie?“

„Ich weiß nicht. Man erkennt ja kaum ihr Gesicht. Sollte ich?“

Er schaute etwas ratlos auf und merkte, dass er gemustert wurde. Polizisten schienen ziemlich genau bei einem Verhör auf die Mimik zu achten, denn ihm wurde klar, dass man jedes Muskelzucken in seinem Gesicht analysierte. Das dadurch aufkommende Gefühl der Unbeholfenheit, versuchte Ray prompt zu unterdrücken.

„Ihre gute Freundin Ming-Ming hat auch von ihr berichtet.“

„Ich konnte in den letzten Stunden keine Nachrichten sehen…“

„Schön. Dann übe ich mich heute als Nachrichtensprecher. Diese Frau ist eine Krankenschwester.“, erklärte der Inspektor geradezu unverschämt gutgelaunt. „In der Nacht während ihrem kurzen Aufenthalt im Krankenhaus, hatte sie Nachtdienst und wurde angegriffen.“

„Davon weiß ich nichts.“

In jenem Moment verfluchte er Kenny und Hana. Das wäre eine Information gewesen, die sie dringend gebraucht hätten. Wussten sie selbst nichts davon oder war es ihnen im Eifer des Gefechts einfach nur entfallen?

„Und ihr Freund hat ihnen nicht erzählt, dass er eine Meinungsverschiedenheit mit ihr hatte?“

Ray war auf der Hut, dachte angestrengt nach, denn die Richtung die sie einschlugen, gefiel ihm überhaupt nicht. Etwas war hier faul.

„Welcher Freund? Max, Kai, Tyson… Geht es präziser?“

Zumindest war seine Verwirrung nicht gespielt.

„Letzterer.“

„Nein. Wann soll das gewesen sein?“

„Gegen zehn Uhr abends. Ein Patient hat gehört, wie sich Takao Kinomiya mit ihr gestritten hat.“

Ray überlegte fieberhaft, was er um diese Uhrzeit im Krankenhaus gemacht hatte. Wenn er sich recht erinnerte, waren sie damals in den Unterkünften für die Angehörigen gewesen. Nach dem Brand im Hiwatari Anwesen, hatten sie keine Lust gehabt, noch einmal nachhause zu fahren, da sie selbst auch total erschöpft waren, also nahmen sie sich ein Zimmer und teilten die Kosten. Ray war sich ziemlich sicher, dass er schnell eingenickt war. Er hatte wie ein Stein geschlafen – bis Kai plötzlich im Raum stand und sie weckte.

Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen…

Die Erkenntnis ließ ihn aschfahl werden. Dranzer hatte zu jenem Zeitpunkt Besitz von ihm ergriffen. Ein mordlüsterndes Bit Beast das durch die Gänge eines Krankenhauses schlich, konnte keineswegs ungefährlich sein. Ray schaute noch einmal auf das Bild. Diese arme Frau war zur falschen Zeit, am falschen Ort gewesen.

Nun wurde ihm auch klar, weshalb Kenny noch einmal vor ihm verhört worden war. Ganz offensichtlich hatte der Chef nichts von dem Angriff im Krankenhaus gewusst, sonst hätte er ihnen davon berichtet und mit ihnen dafür eine Aussage vorbereitet. Wahrscheinlich hatte auch er keine Zeit gehabt, die Nachrichten zu verfolgen. Bei ihrer Ankunft musste man jedoch vermutet haben, dass er sie auf den neuesten Stand der Dinge gebracht hatte und man wollte vorsichtig aushorchen, wie viel Kenny wusste, bevor man den Rest der Gruppe ins Kreuzverhör nahm. Ray fragte sich ob seine Frau von dem Angriff wusste. Er konnte bei seiner Ankunft kaum mit ihr sprechen, dazu war Mao zu aufgelöst gewesen. Es hatte ewig gebraucht, bis sie sich von ihrem Gefühlsausbruch beruhigte.

„Warum so blass?“

Der Inspektor schaute ihn an. Seine tiefschwarzen Augen musterten ihn interessiert. Das Schlimmste war dieser blasierte Ausdruck in dessen Gesicht - diese skeptisch erhobene Braue. Kabayashi dachte tatsächlich das er ihn in der Falle hatte.

Nun zeigte sich endlich der böse Bulle…

„Weil ich nicht fasse, was sie uns hier unterstellen.“, konterte Ray auf seine Frage. „Ist das wirklich ihr Ernst?“

„Ist doch gar nicht so abwegig. Überall wo ihre Gruppe aufgetaucht ist, zieht sich eine Spur der Verwüstung hinterher.“

„Verstehen sie mich nicht falsch. Mir tut das was dieser Frau passiert ist leid, aber das sind wirklich nur dumme Zufälle!“, stellte Ray klar. „Ich habe noch nie mit ihr gesprochen. Weshalb sollte ich dieser Frau also etwas antun?“

Sie vielleicht nicht – aber zwei ihrer Freunde rücken doch sehr stark in den Fokus.“, der Inspektor begann mit seinem Kugelschreiber zu spielen. Zwischen seinen Fingern drehte er den Stift immer wieder. „Takao Kinomiya hat sich mit ihr angelegt. Kai Hiwatari ist offenbar allein im Krankenhaus zurück geblieben. Beide verdächtig…“

Ray dachte daran, wie höflich dieser Kerl mit Kai am Eingang gesprochen hatte. Geradezu zuvorkommend war er aufgetreten und nun kam hinterrücks diese Unterstellung. Dieser Mann war gefährlich, denn er versteckte seine Absichten hinter seiner freundlichen Fassade.

„Woher wollen sie wissen dass er zurück geblieben ist?“, Ray hob herausfordernd sein Kinn.

„Eine Kameraaufnahme bestätigt das.“

„Das will ich sehen!“

„Mein Kollege hat das Foto gerade im Nebenraum. Ich kann aber gerne meinen fleißigen Helfer hier nach drüben schicken, damit er mal kurz eine Kopie davon macht, sollten sie noch Zweifel hegen.“

Die hatte Ray nicht. Er blieb stumm und dachte daran, was ihm Kai geraten hatte:
 

„Wenn es hart auf hart kommt, redet euch nicht um Kopf und Kragen.“
 

Ray tat einen tiefen Atemzug. Er positionierte sich neu auf dem Stuhl und meinte:

„Ich sage nichts mehr. Denken sie was sie wollen.“

„Hören sie... Es ist ja nicht so, dass wir jeden verdächtigen.“, erklärte Inspektor Kabayashi versöhnlicher. „Aber womöglich ist da unter ihren Freunden ein faules Ei. Manchmal glauben wir, dass wir einen Menschen kennen und doch hat er eine finstere Seite.“

„Nein. Auf meine Freunde trifft das nicht zu. Ich kenne jede Seite von ihnen.“

„Sind sie sicher? Denken sie doch noch einmal na-…“

„Nein!“, rief Ray entschieden aus. „Ich weiß genau was sie vorhaben! Sie versuchen uns gegeneinander auszuspielen, damit ich gegen einen von beiden Aussage!“

„Wollen sie sich wirklich die Schuld von anderen aufhalsen? Gerade jemand der eine schwangere Frau daheim sitzen hat, sollte etwas vorausschauender denken.“

Ray stand auf. Er schaute mit erhobenem Haupt auf den Inspektor herab. Seine plötzliche Bewegung veranlasste dessen Kollegen, sich von der Wand aufzustützen, ganz so, als vermutete er, Ray wolle handgreiflich werden. Doch dessen Blick ruhte nur auf dem sitzenden Mann vor ihm, bedachte ihn mit einer Verachtung, die genau verdeutlichte, dass so eben eine Grenze überschritten wurde.

„Bin ich festgenommen?“, fragte er.

„Natürlich nicht. Wir befragen nur Zeugen.“

„Gut. Dann ist dieses Gespräch beendet. Sie können mich stundenlang hier festhalten, aber werden niemals erleben, dass ich falsche Anschuldigungen gegen meine Freunde erhebe, nur um meine eigene Haut zu retten. Auf so einen Kuhhandel gehe ich nicht ein!“, er wandte sich zur Tür und fügte noch hinzu: „Und ich weiß ganz genau, dass sie dieselbe Antwort auch von Max hören werden. Also sparen sie sich die Mühe! Einen schönen Abend noch.“
 

Damit schritt Ray erhobenen Hauptes zur Tür hinaus. Er wurde nicht aufgehalten, stattdessen sahen ihm die Beamten stillschweigend nach. Als die Tür lautstark hinter ihm zuschlug, begann der Inspektor das Foto wieder einzusammeln. Er sortierte die Dokumente und sprach nachdenklich: „Beeindruckender Auftritt. Der Junge wirkt sehr erhaben für sein Alter. Aber ob er das später nicht bereut ist die entscheidende Frage.“

Dann sprach Kabayashi über seine Schulter hinweg. „Was hältst du davon?“

Sein Kollege wiegte den Kopf nachdenklich hin und her.

„Er verheimlicht etwas. Die Antworten kamen zu flüssig…“

„Gegen Ende hin kam er aber ins Straucheln.“

„Ja, ziemlich. Da musste er schwitzen.“

„Aber ob er es war?“

„Ganz ehrlich? Ich denke nicht...“

„Dein sechster Sinn?“

„Worauf du deine Arsch verwetten kannst. Der hat damit nichts zu tun. Auch wenn ich Chinesen immer noch nicht ausstehen kann…“

„Sei nicht so rassistisch.“, rügte Inspektor Kabayashi ihn. „Bisher kamen mir alle recht anständig vor. Bis auf den Großvater - der war furchtbar anstrengend. Ich dachte immer mein Schwiegervater wäre ein kleiner Diktator, aber der Alte ist ein richtiger…“

Weiter kam er nicht, denn die Tür wurde wieder aufgerissen. Der Kollege der Eintrat kam gleich auf den Punkt: „Nebenan tut sich etwas. Der Chef will euch hinter der Glaswand haben.“
 


 

*
 

Als sein Großvater zu ihm gebracht wurde, war Tyson gerade damit beschäftigt, die unansehnlichen Platten an der Decke zu zählen. So eine Ausnüchterungszelle war wirklich deprimierend. Man saß alleine mit seinen Gedanken auf einer Holzpritsche und grübelte darüber nach, wie es einen hier her verschlagen hatte. Irgendwie erinnerte es Tyson an die unzähligen Male, die er in der Schule nachsitzen musste, nur mit einem verkaterten Kerl gegenüber und ohne etwas zu Essen in der Schultasche. Sein Leidensgenosse war irgendwann stöhnend aufgewacht und hatte recht orientierungslos durch die Gegend geblinzelt, bis er ein „Alter, nicht schon wieder…“ brummte.

Tyson versuchte zunächst mit ihm ins Gespräch zu kommen, einfach um sich die Zeit zu vertreiben, doch der Kerl war ihm nach den ersten ausgetauschten Sätzen bald nicht mehr geheuer. Dessen erste Frage war nämlich, ob sie letzte Nacht miteinander geschlafen hatten. Tyson schaute ihn mit erhobener Braue an, denn auch wenn er momentan verwirrende sexuelle Tendenzen aufwies, konnte er mit ziemlicher Sicherheit behaupten, dass der Kerl garantiert nicht sein Typ war - vor allem nicht mit diesem widerlichen Kotzstreifen an seinem Hemdkragen.

„Der Transvestit mit dem ich letztes Mal zusammen festgenommen wurde, schickt mir heute noch Rosen zum Geburtstag. Manchmal sind auch Pralinen dabei.“

„Na dann halt mal an ihm fest. Von mir würdest du nur eine Munddusche bekommen …“

Sein Sarkasmus kam wohl nicht sonderlich gut angekommen, denn von da an herrschte eisiges Schweigen zwischen ihnen, bis sein Großvater hereingeführt wurde. Zunächst war Tyson froh als er ihn sah, da fiel ihm aber auf, dass sein alter Herr sehr bedrückt wirkte. Als die Gitterstäbe zur Seite geschoben wurden und er in den kleinen Raum hineinkam, sprach er: „Du und dein Bruder habt mir ja schon viele Sorgen bereitet – aber das hier schlägt dem Fass den Boden aus!“

Tyson biss sich auf die Unterlippe, denn er konnte sich denken, was das bedeutete. Kenny musste seinen Großvater über den Verbleib von Hitoshi aufgeklärt haben. Der alte Mann trat unendlich langsam auf die Pritsche zu, kam ihm dabei so erschöpft vor.

„Es tut mir Leid Opa.“, kam es geknickt von Tyson. Das Gitter schloss sich wieder geräuschvoll und die Wache positionierte sich davor. „Ich wollte dir wirklich nicht solchen Kummer bereiten.“

„Das glaube ich dir.“, sein Großvater nahm schwer schnaufend neben ihm Platz.

„Bist du sauer?“

„Sauer? Nein… Geschockt trifft es eher. So muss sich ein Reh fühlen, kurz bevor es von einem Lastwagen gerammt wird.“

„Opa, ich muss dir noch etwas sagen. Sie glauben ich hätte…“

„Ich weiß schon Bescheid.“

„Woher?“, Tyson blinzelte verblüfft.

„Das wollten wir noch ansprechen bevor du mit Kenny abgehauen bist.“

„Na schönen Dank auch! Hättet ihr mir das nicht früher sagen können!“, maulte er gleich darauf los. „Dann wäre ich nicht direkt in die Arme eines Polizisten gelaufen! Kein Wunder haben die mich so komisch angeschaut… Ich habe mich geradezu auf dem Silbertablett präsentiert!“

„Jetzt gib nicht mir die Schuld! Konnte ja keiner ahnen, dass du Esel dein Auto mitten auf der Straße abstellst! Das bettelt ja förmlich darum, genauer inspiziert zu werden. Warum hast du dir nicht gleich eine Reklametafel umgeschnallt?!“

„Ja, ja… Jetzt bin ich wieder Schuld.“ Tyson schaute bockig zur Seite und verschränkte die Arme vor der Brust. Es wurde kurz still zwischen ihnen, da fragte er vorsichtig. „Das was die Polizei behauptet, das glaubst du doch nicht, oder?“

„Was für eine Frage - natürlich nicht!“

Als sein alter Herr die Hand auf seine Schulter legte, atmete er erleichtert auf. Es kam so überzeugend von ihm, dass Tyson keinen Zweifel an seinen Worten hegte.

„Keiner meiner Enkel hat etwas verbrochen. Keiner! Bei meiner Ehre, ich weigere mich an so etwas überhaupt zu denken! Diese Unterstellungen gegen euch...“

Er schüttelte den Kopf leicht. Seine Worte spie er geradezu aus.

„Kenny hat dir also von Hiro erzählt.“, stellte Tyson fest.

„Nein, er nicht. Schlimmer noch! Sie haben ihn vor meiner Nase abgeführt. Und sie haben mir noch nicht einmal gesagt, wohin es jetzt mit ihm geht, oder was er verbrochen hat! Wie können sie es wagen… Mein armer Junge!“

Tyson begann zu begreifen was in ihm vorging. Sein Großvater empfand es als Beleidigung des Familiennamens, das man einen seiner Nachkommen, als Kriminellen brandmarkte. Er mochte noch so aufgeschlossen sein, doch das ging ihm zu weit. Er würde sich quer stellen und es so lange Verleugnen, bis er keine andere Möglichkeit mehr hatte, als der Wahrheit ins Auge zu sehen. Tyson schloss wissend die Lider und gab einen leisen Seufzer von sich, bei dem Gedanken, dass an den Vorwürfen tatsächlich etwas dran war. Kenny war schließlich Zeuge gewesen und er konnte sich nicht vorstellen, dass der Chef gelogen hatte.

„Weißt du was sie ihm vorwerfen?“

„Nein.“, log Tyson. Er musste es seinem Großvater schonend beibringen. Nicht hier in einer Zelle, zusammen mit diesem versoffenen Kerl gegenüber, der sich stöhnend den Brummschädel massierte. Hiro hatte immerhin einen Menschen getötet. Die Tatsache dass es versehentlich passiert war, linderte nicht den Schock darüber, dass durch seine Schuld, ein Leben ausradiert wurde. Tyson dachte an Ming-Mings Geist. An die Abdrücke an ihrem Hals. Einen Moment fuhr er sich mit den Fingern über die Stelle und erinnerte sich daran, wie er sie als junges Mädchen kennenlernte. Er konnte nicht behaupten, dass sie Freunde waren. Sie kannten sich einfach nicht gut genug, es gab nur flüchtige Begegnungen, vielleicht einmal alle zwei Jahre - wenn überhaupt. Und natürlich hatte er zu Max gehalten, als der mit ihr aneinandergeraten war. Doch dass keiner von ihnen ihr so etwas gewünscht hatte, war wohl verständlich. Von seinen Gedanken ließ Tyson sich nichts anmerken, stattdessen sprach er: „Wenn ich herauskomme, werde ich das klären. Aber du solltest lieber erst einmal nachhause gehen.“

„Ohne euch beide gehe ich nirgendwo hin.“

„Wann hast du das letzte Mal eigentlich deine Medikamente eingenommen?“

„Ach, nun hör auf damit! Die sind doch jetzt wirklich nebensächlich, Grünschnabel!“, er tat eine unwirsche Bewegung mit der Hand. „Die paar Stunden komme ich auch ohne zurecht. Jetzt müssen wir warten, was aus dir und Hiro wird. “

Es ließ Tyson entnervt schnalzen. Sein Vater hatte ihm einmal vorgeworfen, er habe die Engstirnigkeit von seinem Großvater geerbt, aber für so schlimm hielt er sich nicht.

„Mensch, Opa! Diese Medikamente sind doch lebenswichtig für dich!“

„Ich habe vorher Jahrzehnte lang ohne gelebt.“

„Du meinst damals in der Edo Zeit, als die Häuser noch Strohdächer hatten und die Menschen Holzpantoffel trugen?“

„So alt bin ich auch wieder nicht! Sei nicht immer so frech, du blöder Lümmel!“

Tyson bekam eine schmerzhafte Kopfnuss und schlug jaulend die Hände auf die Stelle. Sein Mitinsasse tat es ihm ob seiner Lautstärke gleich. Er rollte sich auf seiner Pritsche wieder zusammen und schlang die Arme um den verkaterten Brummschädel.

„Gibt es da drinnen ein Problem?“, bellte der Wärter hinein.

„Nur eine deftige Züchtigung! Mein Enkel hat ein Hirn voll Stroh…“

„Dafür dass du vor kurzem noch aus dem letzten Loch gepfiffen hast, bist du wieder ganz schön streitsüchtig!“

„Dir muss doch jemand den Kopf waschen!“

„Du nervst alter Mann!“

„Sei nicht wieder so frech!“

„Ist jetzt mal Ruhe da drinnen?!“, brüllte der Wärter.

„So laut sind wir doch gar nicht…“

„Ich nicht - du schon! Du bist nur zu verkalkt um es auch zu hören!“

„Ich habe es mir anders überlegt! Behalten sie den blöden Esel hier! Ich adoptiere ein liebes, kleines Mädchen aus Afrika. Mädchen machen nie so viel Ärger wie Jungs!“

Der Wärter verdrehte entnervt die Augen, während von der gegenüberliegenden Pritsche ein dumpfes Stöhnen kam.

„Keif hier nicht so herum, Opa! Der da drüben ist verkatert!“

„Das ist doch nicht meine Schuld!“

„Sehen sie womit ich mich herumplagen muss?!“

„Du kannst gerne hier bleiben!“

„Vielleicht mache ich das auch!“

„Jetzt reicht es mir aber! Schnauze da drinnen!“, das Gitter wurde geräuschvoll zur Seite geschoben, da stand der uniformierte Beamte auch schon vor ihrer Nase. Er stemmte die Arme in die Seiten und forderte seinen Großvater mit einer Handbewegung auf, sich zu erheben. „Wenn ihr beiden nicht normal miteinander reden könnt, ist der Besuch eben vorbei. Mitkommen!“

„Wieso nicht normal? So reden wir immer miteinander…“, kam es wie aus einem Mund zurück. Der Wärter blinzelte verdutzt. Es wurde einen Moment still. Er glotzte sie fragend an. Sie glotzend fragend zurück.

„Heilige Scheiße, seid ihr beiden kaputt… Na dann mäßigt wenigstens eure Lautstärke!“, wies er sie zurecht. „Euch hält man ja im Kopf nicht aus! Ab jetzt wünsche ich nur noch Geflüster! Oder der Alte muss gehen! Verstanden?!“

„Sag noch einmal Alter zu mir und ich-…“

Tyson boxte seinem Großvater gegen die Seite.

„Ja Herr Wachtmeister. Natürlich Herr Wachtmeister.“

Ein warnender Zeigefinger richtete sich auf sie.

„Und jetzt Ruhe…“, drohte der Beamte. Sie nickten – mit ziemlich griesgrämigen Gesichtern. Er wandte sich murmelnd von ihnen ab. Eines seiner Worte klang verdächtig nach Irrenanstalt. Sobald er die Tür hinter sich schloss, flüsterte sein Großvater: „Gut. Jetzt fällt es nicht auf wenn wir Tuscheln.“

„Das war Absicht von dir?“

„Ja. Dieser blöde Inspektor hat mich nämlich beim Verhör gefragt, ob es vor meinem Anfall, tatsächlich zu einer Streiterei zwischen uns gekommen ist. Die Nachbarn hätten uns gehört. Da habe ich ihm gesagt, dass das bei uns an der Tagesordnung ist. Das wird ihm der Typ da vorne bestimmt bald bestätigen können.“

„Du gerissener alter Fuchs!“, Tysons Augen strahlten ihn an. Da legte sein Großvater einen Finger an die Lippen, um ihm zu bedeuten leiser zu sprechen. Sein Blick huschte zum Beamten, der ihnen den Rücken zugewandt hielt, als wolle er sich dieses Elend nicht anschauen.

„Da gibt es etwas, was du wissen musst, mein Junge.“

„Was denn?“

„Als ich im Krankenhaus gewesen bin, habe ich etwas sehr beunruhigendes gesehen.“

Tyson neigte ihm den Kopf näher heran und nickte, als stumme Aufforderung weiterzusprechen. Sein Großvater tat einen tiefen Atemzug bevor er fortfuhr.

„Es geht um Kai. Im Krankenhaus… Ich weiß nicht was da in ihn gefahren ist, aber er hat dort eine Krankenschwester angegriffen.“

Tyson schloss gequält die Augen. Also hatte er richtig vermutet. Diese Frau die gerade um ihr Überleben kämpfte, ging auf Dranzers Konto.

„Du warst dabei?“

„Ja. Kurz davor kam Jana in mein Zimmer. Sie meinte ich solle mich mit ihr vor der bösen Fee verstecken. Zuerst dachte ich, es sei nur ein kindliches Spiel und habe mitgemacht. Da kam gleich danach auch schon Kai in den Raum, zusammen mit einer Krankenschwester. Ich konnte von meinem Versteck aus nicht viel sehen, aber was ich aufgeschnappt habe, machte den Eindruck, als würde Kai uns suchen. Das er erfolglos blieb machte ihn ziemlich wütend… Ich kann gar nicht in Worte beschreiben was dann passierte.“

Sein Großvater fuhr sich über die Nasenwurzel, während Tyson schluckte.

„Jana meinte das wäre nicht ihr Bruder. Und ich glaube… Sie hatte Recht. In jenem Moment, da glich er mehr einem Monstrum! Der Raum hat gebebt, die Wände vibrierten. Da waren überall wirre Lichter und dieses furchtbare Kreischen wie von einem Vogelschwarm. Ich dachte wirklich, der Schrank klappt in sich zusammen. Der Junge hatte nichts mehr Menschliches an sich.“

„Das war Dranzer…“

„Das war ein Monster.“, sein Großvater schüttelte fassungslos den Kopf. „Oh Grünschnabel, wie einfältig sind wir Menschen? All die Jahre dachte ich, der große Dragoon sei nur ein kleines Emblem, auf unserem Familienschwert. Eine hübsche Verzierung und ein kleiner Glücksbringer – aber dieser Moment. Der hat mich mehr Demut gelehrt. Auf einmal ist mir klar geworden, dass wir all die Jahre eine Waffe aufbewahrt haben, die der Mensch niemals kontrollieren kann.“

„Diese Erkenntnis habe ich in den letzten Tagen auch erhalten.“, sprach Tyson traurig. Er dachte an den toten Drachenkörper in der Irrlichterwelt. Sein einstiger Partner…

Dann blinzelte er das Bild vor seinen Augen weg und fragte: „Hast du den anderen davon erzählt?“

„Nein. Wie denn auch? Kai war seit eurer Ankunft immer bei euch und es ging alles so schnell. Es gab einfach keine ruhige Minute mehr.“

„Opa, die haben mich deshalb ausgefragt. Kai darf dafür nicht ins Gefängnis kommen! Irgendwie müssen wir ihn da heraushauen.“

„Ich weiß, aber wie denn, mein Junge? Um euch alle steht es momentan nicht gut.“

„Du warst also die ganze Zeit dort, als es passiert ist?“

„Ja. Zusammen mit seiner kleinen Schwester.“

Tyson biss sich auf die Unterlippe. Dann fragte er vorsichtig: „Könntest du nicht behaupten, dass du mit Kai und Jana, zusammen in der Cafeteria warst? Oder irgendwo anders?“

Sein Großvater hob nachdenklich die Hand ans Kinn. Man sah ihm förmlich an, dass er diese Option ernsthaft in Erwägung zog. Seine Brauen zogen sich tief ins Gesicht, während er grübelte. Er hätte auch anders reagieren können. Immerhin erklärte er sich damit bereit, eine schwere Körperverletzung zu vertuschen und das für einen Jungen, der nicht sein eigen Fleisch und Blut war.

„Grünschnabel, weißt du was du da von mir verlangst?“

„Ich weiß es.“

„Diese Frau… Sie hatte nie etwas mit der ganzen Sache zu tun. Du bringst mich hier in einen argen Gewissenskonflikt.“

„Es ist viel verlangt, aber du kennst Kai. Er ist genauso ein Opfer wie sie. Wir alle haben unsere Bit Beast unterschätzt.“

Sein Großvater dachte weiter nach. Immer wieder huschte sein Blick, zwischen dem anderen Insassen und dem Wärter vor der Zelle, hin und her, auf der Hut vor einem unliebsamen Zuhörer.

„Ich weiß dass er dein Freund ist, aber…“

„Bitte Opa!“, Tyson flüsterte hastig und ergriff seinen Arm. Seine Finger zitterten. Er schaute ihn entschlossen an. „Bitte lass das nicht zu. Wenn er ins Gefängnis wegen dieser Sache kommt… Ich kann das nicht zulassen!“

„Glaubst du denn Kai könnte sich das verzeihen?“

„Ich weiß es nicht - aber er trägt einfach keine Schuld dafür. Mehr muss ich nicht wissen!“

„Es waren seine Hände die das gemacht haben.“

„Es war nur eine Hülle! Ohne den dazugehörigen Geist.“

„Dann stellt sich wohl die Frage was mehr wiegt. Körper oder Geist.“

„Das weißt du doch genau.“

„Hör zu, mein Junge. Du musst das von meinem Standpunkt aus betrachten. Ich verstehe, dass dir deine Freunde viel bedeuten. Aber in erster Linie muss ich jetzt an unsere Familie denken. Die Familie geht immer vor, dass habe ich dir als kleiner Junge stets gepredigt. Freunde sind natürlich auch wichtig, doch sie sollten dennoch an zweiter Stelle stehen. Glaubst du Kai würde das nicht auch in unserer Position so sehen?“

„Ich weiß nur dass er mir viel bedeutet.“

„So viel, dass wir uns in eine Lügennetz verstricken, das uns das Genick brechen könnte? Denk doch nur an all die anderen Vorwürfe gegen euch. Wir bauen diese Lügen auf verdammt wackligem Grund.“

„Wenn Hiro ins Gefängnis kommen muss, wie würdest du dich fühlen?“, fragte Tyson auf einmal geradeheraus. Sein Großvater blinzelte überrascht ob des plötzlichen Themenwechsels.

„Es wäre wie ein Dolchhieb ins Herz.“

„Und so wird sich das auch bei Kai anfühlen. Für mich zumindest!“

Sein Großvater tat einen tiefen Atemzug, der seinen Brustkorb stark in die Höhe schob. Er verschränkte die Arme vor sich und schloss die Augen.

„Bedeuten dir deine Freunde wirklich so viel?“

„Das sind schon lange keine Freunde mehr für mich. Das ist ein Teil meiner Familie. Bitte nimm mir nicht einen von ihnen weg. Das wäre als würdest du mir ein lebenswichtiges Organ entnehmen.“

Er schaute ihn aus verzweifelten Augen an.

„Für die Familie tut man alles. Das sind deine Worte. Also bitte hilf mir jetzt. Ich würde doch auch für dich alles tun.“

„Grünschnabel…“

Sein Großvater schaute ihn bedauernd an, schnalzte mit der Zunge, während Tyson seine Antwort erwartete. Er wiegte den Kopf zur Seite, bis er laut ausatmete. Sein Mund öffnete sich für eine Entgegnung. Da schwang im Flur vor der Zelle eine Tür auf und ein Beamter hechtete herein. Ohne Umschweife kam er auf den Punkt: „Der Chef will dass alle Zeugen hinter die Glaswand kommen.“

„Wieso?“, fragte der Wärter.

„Dieser Hiwatari geht offenbar auf einen Deal mit Kato ein.“

„Dieser alte Gauner knackt auch jeden. Jetzt beschuldigen sie sich bestimmt gleich alle gegenseitig.“

Als Tyson zu seinem Großvater schaute, blickte der mit starrer Miene zurück.

Bis ein schweres Seufzen aus seinem Mund kam…
 

Wenig später fand sich Tyson, in Begleitung seines Kerkermeisters, in jenem Raum, den er hinter der Glasfront des Verhörraums vermutet hatte. Es handelte sich dabei tatsächlich um einen Einwegspiegel, denn auf der anderen Seite hatte man einen tadellosen Blick ins Innere des Zimmers, wo er Kai gegenüber vom Inspektor sitzen sah. Es war sonderbar sich an einem jener Schauplätze zu finden, die man nur aus Filmen kannte, zumal die Darsteller in diesem makabren Stück, ausgerechnet aus seinem Freundeskreis bestanden. Kai auf der anderen Seite zu sehen war so eigenartig.

Der hielt die Augen geschlossen. Hätte er die Arme noch vor sich verschränkt, käme er seinem alten Selbst wirklich nahe. Stattdessen lagen seine Hände auf dem Tisch. Er fuhr sich über die Finger, als würde er sie ineinander verhaken wollen. Tyson fragte sich, ob Kai wirklich vorhatte, auf einen Deal einzugehen.

Und vor allem aus was dieser Deal bestand…

Die beiden Beamten, die sie hierher geführt hatten, waren zumindest davon überzeugt, dass er sie ans Messer liefern wollte. Was sein Großvater dachte, wusste Tyson nicht so genau. Er war den Weg hier her sehr still gewesen. Zu seiner Überraschung empfingen ihn Ray und Max auch in diesem Raum. Ihre Mienen wirkten ziemlich nervös. Als er sich zu ihnen gesellte, fragte er leise: „Was ist hier los?“

„Ich weiß es nicht.“, antwortete Max mit einem Blick über die Schulter. Er wollte seine Freunde bereits mit weiteren Fragen bombardieren, als eine Stimme zu ihnen schallte, die zu keinem der hier anwesenden Personen passte. Tyson bemerkte das es Lautsprecher gab, die alles was im Inneren des Verhörraums gesprochen wurde, hier drinnen wiedergaben.

„Sie haben die weitere Vorgehensweise verstanden, Mr. Hiwatari?“, die Worte stammten von Inspektor Kato. Einer seiner Helfer war mit ihm im Raum und nestelte am Tisch an einem Gerät herum, das nach einem Aufnahmegerät ausschaute. Kai nickte gegenüber von ihm.

„Bitte bestätigen sie das in ganzen Sätzen für das Protokoll.“

„Ich habe meine Rechte verstanden und bin mir bewusst, dass meine Aussage protokolliert wird.“

Auf der anderen Seite des Spiegels wurden beunruhigte Blicke ausgetauscht. Als Tyson neben sich schaute, schloss Ray stöhnend die Augen. Sie alle waren nicht vom Fach, doch dass Kai seine Aussage aufnehmen ließ, kam ihnen allen spanisch vor. Welchen Verdacht seine Freunde hatten, wusste Tyson nicht, doch was ihn selbst anging, weigerte er sich zu glauben, dass Kai ihnen etwas anhängen wollte.

„Ich kenne ihn. Er ist kein Lügner.“

Dieser Gedanke ging wie ein Mantra durch seinen Kopf. Er schaute aus zusammengezogenen Brauen zu Inspektor Kato, diesem brummigen Polizisten, von dem er nicht wusste, wie man ihn einschätzen sollte. Der schaute auf seine Notizen herab und fuhr in geschäftigem Ton fort, ganz so, als wäre das hier überhaupt nichts Neues für ihn.

„Wir werden nun protokollieren, was sie vorhin zur Aussage gegeben haben. Zunächst einmal klären wir ihre Daten.“

Während die personenbezogenen Details geklärt wurden, schaute Tyson die restlichen Anwesenden an. Unter ihnen war jener Polizist mit dem kantigen Kiefer, der ihn an seinem Wagen aufgegriffen hatte. Den würde er sicherlich nicht so schnell vergessen. Allein bei dem Gedanken tat ihm sein Kinn wieder weh. Neben ihm stand ein Beamter, den er noch nicht kannte. Er hielt die Arme verschränkt, in der einen Hand eine ähnliche Mappe wie Inspektor Katos. Tyson konnte nicht genau bestimmen, für wie alt er ihn halten sollte, denn obwohl er gar nicht mal so viel älter als er selbst wirkte, sprossen aus seinen Schläfen bereits die ersten grauen Haare. Womöglich beschwor dieser anstrengende Beruf so etwas einfach herauf.

„Inspektor Kabayashi, hätten sie einmal den Anstand uns zu erklären, was das hier soll?“, die Frage kam von Ray und richtete sich genau an jenen Beamten, den Tyson noch nicht kannte. Ihm fiel auf wie angriffslustig er dabei klang, ganz so, als habe er eine unschöne Erfahrung mit ihm gemacht. Zumindest war da keinerlei Sympathie oder Achtung herauszuhören. Jemand der so schlecht in Rays Ansehen stand, musste schon einiges ausgefressen haben, um so in seiner Gunst zu fallen. Der Inspektor hob aber nur lässig den Finger an den Mund.

„Einfach nur zuhören und lauschen.“, sprach er leise. Mehr kam nicht. Er wippte lediglich auf den Fußballen und schaute gelassen in den Raum vor ihm hinein, während Rays Blick ihn eigentlich hätte töten müssen.

„Wir gehen nun noch einmal alle Vorfälle durch, bei jenen sie anwesend waren. Beginnen wir mit dem Brand im Hiwatari Anwesen. Erklären sie was sich in jener Nacht zugetragen hat. Zumindest an die Dinge, an die sie sich erinnern können. Was wissen sie noch?“

„Ich weiß dass meine Schwester im Haus geschlafen hat.“

„Wo waren sie?“

„Das kann ich nicht genau sagen…“

„Wissen sie noch wie viele Leute anwesend waren.“

„Nein. Ich kann nur vermuten, dass ich alleine mit ihr war.“

„Sie haben vorhin gesagt, dass sie ein Feuer im Kamin gemacht haben, der zum Brand geführt hat. Können Sie das bestätigen?“

„Ja. Das weiß ich noch genau.“

„Aber wo der Kamin steht, wissen sie nicht mehr.“

„Nein. Das weiß ich leider nicht. Mein Gedächtnis ist ziemlich lückenhaft zurzeit.“

Tyson hörte seine Freunde laut aufatmen. Er fragte sich, weshalb sie so nervös darauf reagierten und auch sein Großvater biss sich auf die Unterlippe.

„Sie können also nicht mit Sicherheit sagen, ob der Brand wirklich durch den Kamin entstanden ist.“

Kai blieb zunächst stumm. Er schaute auf seine Finger herab, schien auf Tyson wieder geistesabwesend. Ein Blick in seine Pupillen und er begriff was sich gerade abspielte. Er erinnerte sich wieder an etwas. Es blieb lange Zeit still im Raum, bis sich Inspektor Kabayashi zum Mikrophon des Gerätes herabbeugte.

„Anmerkung für das Protokoll. Kai Hiwatari scheint wieder einen der vorangegangenen Aussetzer zu haben. Er blickt teilnahmslos vor sich. Seine Pupillen scheinen wieder geweitet zu sein.“

„Hören sie auf!“, rief Max aus. Er drehte sich zu dem anwesenden Inspektor in seiner Nähe um. Schaute ihn anklagend an. „Ist das überhaupt zulässig?!“

„Er hat diesem Verfahren zugestimmt.“, erklärte Kabayashi, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Noch bevor etwas zurückkommen konnte, drang die Stimme Katos wieder zu ihnen.

„Mr. Hiwatari? Hören sie mich?“

Kai blinzelte verblüfft. Einen Moment setzte er sich stocksteif auf, als sei er aus einem Dämmerzustand erwacht. Seine Augen huschten umher, bis er sich schwer atmend zurücklehnte.

„Möchten sie die Befragung abbrechen?“

„Nein. Ich glaube das wird nicht besser.“

„Wie sie wollen.“, Inspektor Kato schien nicht verärgert. Anscheinend war es nicht das erste Mal gewesen, dass dies während Kais Verhör passierte. „Ich wiederhole meine Frage. Können sie mit Sicherheit sagen, dass der Brand wirklich durch den Kamin verursacht wurde?“

„Nein.“

„Warum nicht.“

„Weil ich vor dem Kamin eingeschlafen bin.“

„Eingeschlafen?“

Kai seufzte leise. Dann korrigierte er sich.

„Eingeschlafen ist wohl das falsche Wort… Ich bin geradezu im Delirium gewesen.“

Irritierte Blicke gingen nun durch die Gruppe. Neben sich hörte Tyson seinen Großvater leise schnalzen. Etwas lief wohl nicht wie sein alter Herr wollte. Da begriff er, weshalb alle so nervös waren. Sie mussten vorgefertigte Aussagen geprobt haben und Kai schien sich nicht mehr an die Absprache zu halten. Vielleicht konnte er das auch gar nicht, da sein Zustand so labil war.

„Wodurch sind sie bewusstlos geworden?“

Es dauerte bis eine Antwort kam. Inspektor Kato beugte sich zu ihm vor.

„Mr. Hiwatari? Haben sie wieder…“

„Nein. Das fällt mir nur schwer.“, erklärte Kai. Er setzte sich auf und schaute sein Gegenüber ernst an. Was immer er denken mochte, es schien ihm Sogen zu bereiten. So nervös hatte Tyson ihn noch nie erlebt.

„Sie haben gemeint dass ich eine Firma leite.“, sprach er auf einmal.

„Hiwatari Corp. Ein Familienunternehmen in der dritten Generation.“

„In der Zweiten. Mein Vater hat sein Erbe nie angetreten.“

Daran konnte Kai sich also wieder erinnern.

„Sind diese Informationen notwendig?“

„Ja. Denn man sollte für das Protokoll erklären, wie rapide dieses Unternehmen in den letzten Jahren gewachsen ist. Mein Großvater hat es quasi aus dem Nichts gestampft, nachdem er in der Nachkriegszeit nach Japan ausgewandert ist. Und in den letzten Jahren, hat die Firma noch weitere Standorte, auf der ganzen Welt aufgebaut. Sie ist sehr profitabel.“

Kai schaute geistesabwesend in die Ferne und sprach: „Die Kehrseite davon ist, dass ich viel Zeit in das Unternehmen investieren musste. Es schert niemanden wie die mentale Verfassung eines Firmeninhabers ist – man muss funktionieren. Sobald das nicht mehr der Fall ist, kursieren Gerüchte und die Konkurrenz taucht auf.“

„Und sie wollten funktionieren?“

„Um jeden Preis.“

„Erzählen sie mir noch einmal, was sie dafür gemacht haben.“

Kai schloss die Augen. Einen Moment verweilte er so. Dann hob er das Gesicht und schaute den Inspektor vor sich mit steinerner Miene an.

„Ich habe Ritalin zu mir genommen.“

Tyson blinzelte geschockt. Woher kam denn das auf einmal?!

Er sah sich im Raum um und erkannte, dass seine Freunde ebenfalls total verwirrt wirkten. Max klappte langsam der Mund auf, bis er merkte, dass Kabayashi ihn genau beobachtete. Deshalb waren sie also hier…

Man wollte ihre Reaktion beobachten. Tyson wich dem Blick des Inspektors aus und schaute wieder in den Raum vor ihm. Er fragte sich, was er von Kais Plan halten sollte.

Wohin sollte das führen? Es hätte doch ausgereicht, wenn er behauptete, dass er vor dem Kamin eingeschlafen sei – was bezweckte er also mit dieser absurden Geschichte?

Der Inspektor schien ihm auch noch zu glauben, sonst würde er die Aussage wohl nicht aufnehmen.

„Woher hatten sie das Ritalin?“

„Durch ihre Trisomie leidet meine kleine Schwester unter Aufmerksamkeitsstörungen. Deshalb hatte ihr Arzt es ihr verschrieben. Allerdings…“, Kai schaute zur Seite. „Ich hielt nichts davon sie mit Medikamente vollzupumpen, behielt das Mittel aber für den äußersten Notfall in Verwahrung. Irgendwann aber… Da kam ich nachhause und meine Mutter war verschwunden.“

Tyson schluckte. Daran erinnerte sich Kai also auch wieder. Er trat näher an die Scheibe heran, denn endlich taten sich die Begebenheiten jener Nacht vor ihm auf.

„Ein zusätzlicher Druck bei einem Trisomie kranken Kind im Haus, nicht wahr?“

Kai antwortete nicht. Er schaute vor sich, verschwieg dem Inspektor seine Meinung dazu. Nach einer Pause, fuhr er fort: „Es hat zumindest damit angefangen. Durch die Abwesenheit meiner Mutter, hat meiner Schwester eine Bezugsperson daheim gefehlt. Sie musste viele Stunden ohne ein Familienmitglied ausharren. Da ich der Einzige bin, der ihr noch geblieben ist, gab sie so lange keine Ruhe, bis ich endlich zuhause war. Nachdem das Personal weg war, habe ich deshalb noch versucht mich mit ihr zu beschäftigen. Ich kann nicht behaupten, dass ich etwas gegen ihre Anwesenheit habe – doch Kinder sind anstrengend. Vor allem solche wie sie…“, Kais Blick huschte zum Spiegel. Tyson wusste das er sie nicht sah. Wahrscheinlich betrachtete er sich selbst. Sein blasses Gesicht…

„Ein solches Kind braucht einen Menschen der es umsorgt. Eine Firma braucht einen Menschen der sie leitet. Es ist schwierig beidem gerecht zu werden, wenn man so viel Arbeit nachhause mitbringt.“

Tyson konnte seine Pupillen sehen. Sie wurden wieder weiter. Jetzt in diesem Moment erinnerte sich Kai also erneut an etwas. Er blieb lange stumm und Inspektor Kato begriff ebenfalls, dass er ein weiteres Mal weggetreten war. Erneut beugte er sich zum Gerät herab, um das aufgetretene Schweigen zu erklären, da sprach Kai aber schon weiter: „Ich erinnere mich daran, viele Nächte lang durchgemacht zu haben.“

„Mithilfe des Ritalins?“

„Ich denke ja.“

„Sie wissen dass bei einem übermäßigen Missbrauchs dieses Medikamentes, die Wirkung auch komplett ins Gegenteil umschlagen kann?“

„Es war mir bewusst. Ich habe die Folgen aber unterschätzt.“

„Daher sind sie vor dem Kamin… eingeschlafen.“

„Ich war so unglaublich müde. Es kam mir vor, als könne ich nicht mehr die Augen offen halten. Als stände ich kurz vor der Bewusstlosigkeit.“

„Und als sie aufwachten?“

„Hatte das Feuer schon um sich geschlagen. Es ging alles so schnell…“

„Woran erinnern sie sich noch?“

„Ich hatte Halluzinationen. Von einem Feuervogel der meine Schwester töten will.“

„Eine Panikattacke?“

„Wahrscheinlich.“

„Kam das nach der Einnahme von Ritalin bereits vor?“

„Ja. Mein Gedächtnis ist zwar lückenhaft, aber daran kann ich mich erinnern.“, Kai kniff die Augen fest zusammen und fuhr sich über die Schläfen.

„Wer hat das Mädchen gerettet?“

„Ich weiß noch, dass ich Jana in mein Zimmer gebracht habe. Tyson kam die Häuserwand hinaufgeklettert und hat sie durch das Fenster hinausgeschafft.“

„Warum waren ihre Freunde überhaupt da?“

„Wir waren verabredet. Dadurch dass ich aber wie ein Stein geschlafen habe, muss der Termin einfach an mir vorbeigezogen sein. Bestimmt wollten sie nach dem Rechten sehen, weil ich nicht aufgetaucht bin.“

Eine Lüge…

Sie waren nie verabredet gewesen. Doch immerhin erklärte es endlich ihre Anwesenheit vor Ort. Als Tyson zu seinem Nebenmann spähte, schielte auch Ray gerade zu ihm. Ihre Blicke trafen sich und beide ahnten, dass Kais Aussage tatsächlich plausibel klang. Max wandte sich vom Spiegel ab. Man sah ihm seine Angespanntheit an. Er begann im Raum ziellos umherzuschleichen, die Arme vor sich verschränkt. Inspektor Kato schaute inzwischen auf seine Notizen herab. Der alte Mann nickte und sprach schließlich: „Also war es kein Zufall, dass ihre Freunde aufgetaucht sind?“

„Keineswegs. Sie machen sich einfach nur schnell Sorgen. Das ist so typisch für sie.“

Tyson hätte schwören können ein leises Lächeln zu sehen. Kai wirkte dabei so abgekämpft.

„Sie geben also zu, dass der Brand durch ihr eigenes Verschulden zu Stande kam.“

„Ja. Keiner von ihnen hatte etwas damit zu tun. Es sähe ihnen auch gar nicht ähnlich.“

Ein angespannter Atemzug kam von Tyson. Dadurch dass Kai die Schuld für den Brand auf sich nahm, war wenigstens ein Vorwurf beiseite gekehrt. Doch die anderen Punkte blieben…

„Gut. Kommen wir zum nächsten Vorfall.“, Inspektor Kato blätterte eine Seite weiter. „Als ich ihnen die Fotos von der Nachtschwester zeigte, haben sie angegeben, dass sie keinerlei Erinnerung an ihren Aufenthalt im Krankenhaus haben.“

Tyson stutzte. Ihm fiel auf das der Inspektor mit keinem Wort, die Leiche aus dem Hiwatari Anwesen erwähnte. Das machte ihn doch misstrauisch.

„Nicht eine Einzige. Es muss wohl ein Blackout sein.“

„Der Befund der uns von dort zugefaxt wurde, sagt aus, dass sie nach ihrem Erwachen, ebenfalls einige Medikamente verabreicht bekommen haben. Können sie sich zu irgendeinem Zeitpunkt daran erinnern, die Ärzte über die Einnahme des Ritalins in Kenntnis gesetzt zu haben?“

„Das habe ich nicht.“

„Der behandelnde Arzt hat aber zu Protokoll gegeben, dass sie zuvor ansprechbar waren. Weshalb haben sie nichts gesagt?“

Kai brauchte lange bis er antwortete. Doch irgendwann sagte er: „Weil ich nicht zulassen konnte, dass es herauskommt. Immerhin reden wir hier von Medikamentenmissbrauch.“

„Sie haben es also bewusst verschwiegen?“

„Ja. Und wie sie vorhin richtig gesagt haben, waren auch meine Freunde dort anwesend…“, Tyson runzelte die Stirn. Dann hatte der Inspektor mit dieser Information, Kai geradewegs in die Hände gespielt. Doch worauf das genau hinauslaufen sollte, verstand er noch immer nicht. Nach einer kurzen Pause, fügte Kai noch hinzu. „Ich wollte nicht dass die anderen von meiner Sucht erfahren.“

„Mr. Hiwatari, wissen sie noch, dass ihnen bei ihrer Einweisung auch Blut abgenommen wurde?“

„Nein…“

„Das wurde es aber. Der ärztliche Befund liegt mir vor. Das Medikament konnte ohne Zweifel in erhöhter Menge in ihrem Blut nachgewiesen werden.“

Tyson stockte der Atem. Er brauchte eine Weile um das Gehörte zu verdauen. Dann war das, was Kai da erzählte, nicht einmal gelogen! Er schaute zu Ray hinüber, dem der Mund aufgeklappte. Sie wussten es also auch nicht…

„Wissen sie wie lebensgefährlich dieser Medikamentencocktail in ihrem Blut war?“

„Ich wusste es, aber wie gesagt – ich habe die Folgen ignoriert.“

Am liebsten hätte Tyson ihn jetzt geschlagen! Er konnte nicht fassen dass Kai so weit gegangen war und die Wut kochte in seinem Bauch hoch. Das ihm sein Stolz zu solchen Dingen trieb, war einfach unbegreiflich. Anstatt sich einfach Mal helfen zu lassen, hatte er sich lieber mit Medikamenten aufgeputscht. Tyson musste an ihren Streit denken. Daran das er Kai in jener Nacht kaum wiedererkannt hatte.

„Du blöder Idiot!“, zischte er. Diese Enttäuschung tat einfach nur weh…

In seinem Zorn haute er gegen die Scheibe und trat wutschnaubend von ihr weg.

„Hey! Benehmen sie sich!“, fuhr ihn Kabayashi an.

„Halt die Fresse!“

„Was war das?“

„Tyson sei still.“, bat Max eindringlich. Dabei wollte er doch lieber platzen…

„Fassen wir das also zusammen.“, schallte Katos Stimme aus dem Verhörraum hinaus. „Bevor der Brand ausbrach, hatten sie erneut Ritalin zu sich genommen, weshalb sie bewusstlos wurden. Der unbeaufsichtigte Kamin sprühte Funken und als sie wach wurden, brannte das Feuer bereits lichterloh. Nach ihrer Einweisung im Krankenhaus, aufgrund ihrer Rauchvergiftung, verschwiegen sie den behandelten Ärzten die Einnahme des Ritalins. Als Folge dessen, können sie sich durch die Einwirkungen all dieser Medikamente, nicht mehr an die Nacht im Krankenhaus erinnern. Bis auf eines…“

„Das ich diese Krankenschwester schon einmal gesehen habe.“, beendete Kai den Satz. Er schloss die Augen und fuhr fort. „Ich glaube sie taucht vage in meinen Erinnerungen auf. Und es würde auch das absonderliche Verhalten meiner Freunde erklären.“

Auf einmal verpuffte Tysons Wut. Eine böse Vorahnung machte sich in ihm breit.

„Bitte erläutern sie das für das Aufnahmegerät.“

„Ich bin mir sicher, dass ich es gewesen bin, der dieser Frau etwas angetan hat. Durch diesen Medikamentenmix, muss es wieder zu einer Panikattacke gekommen sein. Ich hatte schon einmal eine. Es war wirklich heftig.“, schallte Kais Erklärung zu ihnen.

Tysons verzog gequält das Gesicht. Jetzt wurde ihm klar worauf dass alles hinauslief.

Er sah den traurigen Ausdruck in Kais Augen. Das konnte er doch nicht zulassen!

Prompt machte er auf dem Absatz kehrt, doch noch bevor Tyson die Tür erreichte, stellte sich der Beamte, mit dem bulligen Kinn vor ihm auf.

„Aus dem Weg!“, fuhr er ihn an.

„Na na… Wir hören uns erst den Rest an.“, sprach der anwesende Inspektor. Es kam so unglaublich überheblich, am liebsten hätte er ihm den Hals umgedreht. Er konnte Rays Abneigung gegen ihn, nun allzu gut nachvollziehen.

„Das ist eine üble Nebenwirkungen von Ritalin.“, merkte Inspektor Kato inzwischen an. Er spähte auf ein Blatt in seiner Hand. „Ihre Schläfrigkeit und der Schwindel, von der sie zuvor gesprochen haben, sind noch weitere davon.“

„Ich weiß. Ich litt auch sehr lange unter Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen. Es ist wirklich eigenartig. Man ist unendlich müde und dennoch kommt man nicht zur Ruhe.“

„Übermüdungserscheinungen können zu Halluzinationen führen. Daher vielleicht ihre Vision von diesem Feuervogel.“

„Ja. Das wird es sein... Ich hatte seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen, aber weiterhin das Ritalin zu mir genommen. Deshalb bin ich sicher, dass ich etwas mit dem Angriff auf die Nachtschwester zu tun habe. Es muss während der Panikattacke passiert sein.“, erklärte Kai.

„Er lügt!“, keuchte Max aus. „Er will uns nur schützen, damit wir nicht verdächtig wirken!“

„Haben sie einen Grund um verdächtig zu sein?“, wollte Inspektor Kabayashi wissen. Seine Braue hob sich fragend.

„Nein! Wir haben nichts getan - Kai aber auch nicht!“

„Hören wir uns doch an, was ihr Freund noch dazu zu sagen hat…“

Max wollte zu Widerworten ansetzen, doch der Inspektor hob die Hand um ihn zum Schweigen zu bringen. Er deutete in den Raum vor ihnen, wo das Gespräch fortgeführt wurde.

„Erklären sie wie sie zu ihrer Annahme kommen.“

„Als wir hier her gefahren sind, haben sich die anderen mit ihren Aussagen abgesprochen.“

Tyson vernahm ein Zischen von Max, als habe man ihm einen Hieb verpasst. Daran musste also tatsächlich etwas dran sein. Als er zu seinen Freunden blickte, biss sich Ray heftig auf die Unterlippe. Offenbar krempelte Kai ihren Plan ganz schön um, weil er nicht der Überzeugung war, dass ihre Theorie standhielt.

„Meine Freunde meinten zu mir, es sei besser für mich, wenn ich so wenig wie möglich wisse und sage. Es hieß ich solle still bleiben, weil ich durch meine Aussetzer, mich an etwas erinnern könnte, was ich mir niemals verzeihen würde. Und als sie mir vorhin diese Fotos gezeigt haben, von dieser verletzten Frau im Krankenbett und wie die anderen zuvor das Krankenhaus verlassen haben, ohne mich, da war mir klar was sie tun… Sie schützen mich.“

Neben Tyson fand nun eine heftige Diskussion statt. Beide, sowohl Ray als auch Max, behaupteten standhaft das Kai log und es diese Absprache nie gegeben habe. Allerdings kannte Tyson die beiden lang genug, um zu wissen, wann sie flunkerten. Max kreuzte dann immer die Finger an seiner linken Hand, um sie knacksen zu lassen. Außerdem war sein Großvater so ruhig. Sein alter Herr stand aufrecht und fuhr sich nachdenklich über den Bart, ohne sich an der Unterhaltung zu beteiligen. Es war ohnehin seltsam, dass er so wenig sprach, dass passte nicht zu ihm.

„Aber an die Tat selbst haben sie keine Erinnerung?“

„Nein.“

„Mr. Hiwatari, wo waren sie nach ihrem Aufenthalt im Krankenhaus?“

„Ich weiß es nicht genau. Ich muss von dort geflüchtet sein. Das Erste woran ich mich wieder erinnern kann, ist, dass ich in der Nähe einer Tempelanlage zu mir gekommen bin. Ich bin dort eine ganze Weile ziellos durch die Gegend gelaufen, bis meine Freunde mich wieder gefunden haben. Sie hatten die ganze Nacht nach mir gesucht, weil ich während ihrer Abwesenheit aus dem Krankenhaus verschwunden war. Und als sie merkten in welchem Zustand ich war, begriffen sie, dass etwas mit mir nicht stimmte. Sie drängten mich dazu ihnen die Wahrheit zu erzählen, so lange, bis ich irgendwann meine Ritalinsucht beichtete. Da muss auch ihnen klar geworden sein, was ich getan habe. Und sie sprachen davon, dass sie niemals zulassen würden, dass es herauskommt…“

Kai schaute auf. Sein Gesicht wirkte bedauernd.

„Das ist so typisch. Immer halten sie die Hand schützend über mich. Sie wussten wie viel für mich auf dem Spiel stand. Tablettensucht und der Angriff auf eine Krankenschwester, würden meinem Ruf das Genick brechen. Ich könnte die Firma verlieren, wenn ich ins Gefängnis komme – und das Sorgerecht für meine Schwester! Auf dem Weg in die Stadt, tüftelten sie deshalb an einem Plan, der mich entlasten sollte. Da wurde Tyson an seinem Wagen aber von ihren Beamten festgenommen, als wir für kurz bei Rays Frau hielten, um uns in Ruhe abzusprechen. Deshalb weicht seine Aussage auch ab, weil er nicht alle Absprachen kennt. Wenn sie aber Max und Ray schon vernommen haben, werden sie feststellen, dass die beiden fast das Gleiche sagen. Das liegt daran, dass sie genug Zeit hatten, um sich abzustimmen. Zeit die Tyson nicht blieb…“

Selbst daran hatte Kai gedacht. Dieser Junge war ein Phänomen.

Auch in dieser Situation behielt er den Überblick über alle Eventualitäten.

„Würde erklären warum Mr. Kon auf alles eine Antwort hatte.“, kam es höhnisch von Inspektor Kabayashi.

„Ach halten sie doch die Klappe!“, fuhr Ray ihn an.

„Vorsicht. Wir wollen doch nicht wegen Beamtenbeleidigung hinter Gittern kommen.“

„Ihre blöden Drohungen können sie sich sparen!“

„Es gibt ein schönes Sprichwort für ihre jetzige Situation. Nur getroffene Hunde bellen.“

„Sie können sich glücklich schätzen, wenn ich nur belle.“

Zwischen den beiden musste ganz schön viel böses Blut herrschen, denn so angriffslustig kannte Tyson ihn nur, wenn er wirklich sauer war. Ray hielt die Arme verschränkt und schaute mit erhobenem Kinn in den Raum, ohne das feixende Gesicht zu seiner Seite eines weiteren Blickes zu würdigen. Tyson konnte es ihm nicht verdenken. Der grimmige Alte im Verhörraum kam ihm nun viel sympathischer vor. Kato schloss mittlerweile seine Mappe.

Er lehnte sich im Stuhl zurück und bedachte Kai aus ernsten Augen.

„Sie kennen ihre Freunde besser als ich. Trauen sie ihnen wirklich zu ein solches Lügenkonstrukt aufzubauen?“

Kai blieb lange ruhig. Er schaute nachdenklich vor sich auf den Tisch. Seine Lider waren gesenkt, als wäre er mit seinen Überlegungen in weiter Ferne. Als er endlich weitersprach, glich seine Stimme einem Flüstern.

„Es ist nicht ihre Art. Aber Loyalität spielt bei ihnen einfach eine größere Rolle, selbst wenn sie sich damit selbst schaden. Selbst wenn es die Person kaum verdient hat…“

Tyson schloss die Augen als er diesen Satz vernahm. Er seufzte schwer.

Alles in ihm wollte so gerne bei Kai sein.

„Es ist eigenartig das mir das vorher nie richtig bewusst war. Erst in den letzten Stunden habe ich richtig begriffen, wie tief diese Treue geht.“, sprach der inzwischen. Tyson fiel auf das er seine Finger zu kneten begann – wie sein grauer Kater. Dieser kleine Junge war noch immer in Kai verborgen. „Kann ich mich darauf verlassen, dass sie ihr Versprechen halten?“

„Streng genommen ist es Beihilfe zur Vertuschung einer Straftat.“

„Ich bin verantwortlich dafür – und ich werde das auch aussitzen. Aber bitte bestrafen sie die anderen nicht, nur weil sie gute Freunde sein wollten. Das haben sie einfach nicht verdient…“

Inspektor Kato dachte lange nach. Dann nickte er.

„Kann ich mich auf ihr Wort auch wirklich verlassen?“, wollte Kai noch einmal wissen. Offenbar dachte er dabei an das Aufnahmegerät, denn ein einfaches Kopfnicken könnte Kato im Nachhinein abstreiten. Seine Worte auf Band aber nicht. Kato tat einen tiefen Atemzug, weil ihm das wohl auch klar war. Dennoch ließ er Kai seinen Willen und sprach: „Wir werden keinerlei weitere Untersuchungen gegen ihre Freunde unternehmen. Doch sie müssen sich im Klaren sein, dass wir gegen sie weitere Maßnahmen einleiten müssen. Der Medikamentenmissbrauch allein ist schon schlimm genug, doch die Tatsache dass sie die Krankenschwester angegriffen haben, ist eine wirklich ernste Angelegenheit. Ich kann ihnen leider auch nicht versprechen, dass es zu mildernden Umständen kommen wird. Sie waren zwar geständig, zum Tatzeitpunkt auch nicht bei Sinnen – doch die Frau wurde zu übel zugerichtet, als dass ein Richter ein Auge zudrücken würde. Das muss ihnen klar sein. Es wird noch einige Punkte zu klären geben.“

Tyson dachte wieder an Dranzers Hülle. Sicherlich würde man versuchen, Kai auch daraus einen Strick zu drehen. Seine geballten Fäuste zitterten bei diesem Gedanken. Inspektor Kabayashi betätigte einen Knopf und die Lautsprecher verstummten. Von da an konnte er nur noch raten, was im Verhörraum besprochen wurde. Die Münder der beiden Anwesenden bewegten sich, ohne dass ein Laut zu ihnen hinein schallte, während der Beamte neben Kato das Protokoll weiterführte, immer wieder nebenbei nickend. Kabayashi blickte sich inzwischen im kleinen Raum um. Eine Person nach der anderen wurde gemustert.

„Nun… Ich höre?“

Niemand antwortete ihm.

„Ihre Loyalität in allen Ehren meine Herren, doch wir sollten jetzt realistisch bleiben. Bei Medikamentenmissbrauch kann der Gesetzgeber noch ein Auge zudrücken, vor allem da er nicht vorbestraft ist. Doch die Sache mit dem Brand und im Krankenhaus, wird ein böses Nachspiel haben. Wollen wir da nicht endlich alle Karten auf den Tisch legen?“

Noch immer herrschte eisiges Schweigen. Ihre Blicke sprühten geradezu vor Gift.

„Sehen wir das ganze doch positiv. Zumindest können sie als freie Männer hinausspazieren.“, er nickte in Tysons Richtung. „Auch sie. Ihr Großvater hat sie entlastet.“

„Ich bleibe bei meiner Version.“, sprach Max stoisch.

„Eine Version die viele dumme Zufälle beinhaltet.“

„Passiert eben…“

„Wir haben hier wohl einige schlechte Verlierer.“, sprach Inspektor Kabayashi kopfschüttelnd. „Wie auch immer. Ein plausibles Geständnis ist nun protokolliert. Sie können gehen…“

Die Tür hinter dem Koloss öffnete sich endlich. Doch Tyson rührte sich nicht von der Stelle. Er war wie betäubt, denn ihm wurde klar, dass er Kai nun für eine lange Zeit nicht mehr Nahe sein könnte. Sie konnten ihn nicht mitnehmen.

Dieser Gedanke machte ihn einfach fertig…

Seine Augen wurden feucht. Er wollte nicht ohne ihn gehen!

Da legte sich die Hand seinen Großvater auf seine Schulter. Als er zu ihm aufschaute, zwinkerte der ihm unauffällig zu, dann sprach er mit donnernder Stimme: „Moment mal ihr Leuchten! Eure Theorie ist ja ganz nett, aber leider hat sie einen dicken Haken!“

Sein Großvater verschränkte die Arme vor der Brust.

Ein gebieterischer Ausdruck trat auf sein Gesicht.

„Mir ist klar, dass ihr unbedingt einen Täter fassen wollt. Aber Kai ist es ganz bestimmt nicht gewesen! Als es nämlich passiert ist, war er bei mir. Pech gehabt meine Herren…“

Auf einmal schaute Inspektor Kabayashi dumm aus der Wäsche. Es ließ Rays Mundwinkel höhnisch zucken.
 


 

*
 

Eine geschlagene Stunde später saß Kato über seinem Schreibtisch gebeugt, die Arme verschränkt über seinem Wohlstandsbäuchlein und grübelte. Der Pappbecher mit dem Kaffee war schon lange leer, die verbliebene Flüssigkeit darin schon getrocknet.

„Diese Bande macht mich noch wahnsinnig…“, jammerte Kabayashi. Er beklagte sich schon seit geraumer Zeit das er endlich Heim wolle, aber da Kato, als sein Vorgesetzter, keine Anstalten machte dem zuzustimmen, musste er ausharren bis die Sachlage endlich geklärt wurde. Ein Aschenbecher stand neben ihnen auf Schreibtisch, in dem drei ausgedrückte Zigarettenstummel langsam vor sich her glommen. Die leiteten Inspektoren, hatten sich nach Großvater Kinomiyas neuester Aussage, in Katos Büro zurückgezogen, um sich zu beraten. Das nahm eben Zeit und Nerven in Anspruch.

„Ich weiß gar nicht was es da noch zu diskutieren gibt. Das ist doch alles erstunken und erlogen, was der Alte da faselt!“

„Dennoch müssen wir der Angelegenheit nun nachgehen. Fassen sie noch einmal die Punkte zusammen, Kabayashi.“

Sein Untergebener verzog genervt das Gesicht, da bellte Kato ihm über den Tisch hinweg zu, nun endlich mit dem Schmollen aufzuhören. Augenblicklich setzte er sich kerzengerade auf seinem Stuhl auf und holte seinen Notizblock hervor. Kurz darauf las Kabayashi auch schon vor: „Der Angriff auf die Krankenschwester wird auf circa elf Uhr abends geschätzt. Der genaue Zeitpunkt ist noch nicht ganz geklärt. Wir wissen aber anhand der Videoaufnahme von der Eingangshalle, dass Takao Kinomiya, Max Tate und Ray Kon, das Gebäude circa eine halbe Stunde zuvor schon verlassen haben. Sie scheiden mittlerweile als Verdächtige aus. Die Einzigen die zurückblieben, waren das Hiwatari Oberhaupt, seine kleine Schwester – die aber in der Kinderabteilung untergebracht war – und der nervige Alte.“

„Lassen sie die Gehässigkeiten!“

„Ja Chef. Entschuldigung Chef.“

„Sie können so unprofessionell sein, wenn sie auf Probleme stoßen!“

„Ich will doch nur nachhause…“

„Und sie wollen Oberinspektor werden?! An ihren Manieren müssen sie dann aber noch feilen. Und lassen sie sich einst gesagt sein, ich habe in ihrem Alter einige Überstunden geleistet – und das ohne Murren! Also wenn sie von mir eine Empfehlung wollen, reißen sie sich jetzt zusammen!“

„Verzeihung, Chef. Es ist nur wirklich frustrierend, wenn man Heim kommt und das Gefühl hat, dass die Frau die man geheiratet hat, schon wieder eine Falte mehr hat.“

„So lange sind sie nun auch nicht weg! Wenn sie zu ihrer Familie nachhause wollen, fangen sie an sich anzustrengen!“

„Natürlich.“, Kabayashi kratzte sich peinlich berührt am Kinn. „Darf ich fortfahren?“

„Ja, verdammt! Ich warte!“

„Schon gut! Ich mache ja schon…“, er pfiff aus. Kato wusste das seine herrische Art unter der männlichen Belegschaft gefürchtet war und auch wenn der Mann vor ihm talentiert sein mochte, rückte er ihm gerne mal den Kopf zurecht. Bald stand sein Ruhestand bevor und Kabayashi sollte sein Nachfolger werden. Zumindest hatte Kato mit dem Gedanken gespielt, ihn bei seinen Vorgesetzten hervorzuheben. Wenn dieser Kerl sich aber nicht endlich ins Zeug legte, würde er seine Empfehlung noch einmal gründlich überdenken.

„Der Großvater scheidet als Verdächtiger ebenfalls aus. Er ist eindeutig nicht in der körperlichen Verfassung, um einen solchen Kraftakt aufzubringen. Dagegen hätte das aufgeputschte Hiwatari Oberhaupt, durch eine Panikattacke sonst etwas anstellen können. Nun behauptet der Großvater aber, ihn in der Herrentoilette vorgefunden zu haben, wie er sich die Seele aus dem Leib kotzte, kurz nachdem die Gruppe das Krankenhaus verlassen hat. Er soll nicht ansprechbar gewesen sein und im Fieberwahn geredet haben. Wahrscheinlich hervorgerufen durch den Medikamentencocktail den er verabreicht bekommen hat.“

„Das ist leider sogar plausibel, weil sie im selben Stockwerk stationiert waren.“

Kabayashi nickte mürrisch und fuhr fort: „Der alte Mann hat einige Zeit mit ihm auf der Toilette verbracht, weil er sich um ihn sorgte. Als er rausgehen wollte, um die Nachtschwester zu suchen, stellte er fest, dass etwas auf dem Stockwerk nicht stimmen konnte, da die Rezeption seit geraumer Zeit nicht mehr besetzt war. Außerdem war das kleine Hiwatari Mädchen von der Kinderstation entwischt. Als er sich in der Etage umschaute, fand er die Nachtschwester schließlich in der Blutlache liegend in seinem eigenen Zimmer vor. Er rief die Ärzte zur Hilfe, was diese sogar bestätigen können und in dem Tumult, der daraufhin entstand, vergaß er das Hiwatari Oberhaupt. Als er sich wieder auf dem Weg zu ihm machte, war der verschwunden. Er suchte zuerst das Hospital nach ihm ab, wurde aber nicht fündig.“

Kato rieb sich nachdenklich übers Kinn.

„Das Zimmer war ziemlich verwüstet.“

„Richtig.“

„Viele Glasscherben?“

„Als wäre ein wütender Mob Hooligans durch das Zimmer marschiert.“

„Bei ihrem Blutverlust, all dem Chaos und den Scherben, muss doch irgendwo ein Fingerabdruck zu finden sein.“

„Die Scherben sind größtenteils so klein wie Sandkörner. Ich weiß nicht, ob die Spurensicherung hier noch etwas finden wird.“

„Tatsächlich? Das ist wirklich sonderbar…“

„In der Tat. Niemand kann sich erklären, was das Fenster so zerbersten ließ. Einige Patienten sprachen von einem lauten, hohen Kreischen das sie geweckt habe, wie von einem Vogelschwarm – doch das kann ihnen auch nur so vorgekommen sein. Die Frau wird sich bestimmt lautstark gewehrt haben, wer weiß was man da im Halbschlaf zusammenträumt.“

„Hat sich jemand mal seine Kleidung angeschaut?“

„Weshalb?“

„Wenn er diese Sachen tatsächlich im Zimmer trug, müssten sie blutdurchtränkt sein.“

Es wurde einen Moment still, denn das war ein Detail, dass ihnen schon viel früher hätte auffallen müssen.

„Das nicht, aber sie hatten ihn selbst im Verhörraum.“

„Mir ist nichts aufgefallen.“

„Womöglich hat er sich umgezogen? Das oder wir haben es mit einem Magier zu tun, der immer eine weise Weste hat.“

„Lassen sie die dummen Witze, Kabayashi!“, knurrte Kato. „Fahren sie lieber mit der Zusammenfassung fort.“

„Wenn ich maule ist es nicht Recht und Witze darf man auch nicht machen…“

„Das Eis unter ihnen wird immer dünner.“

„Schon gut! Du liebe Zeit.“, schnalzte sein Untergebener und fuhr fort. „Da nach dem Fund der Verletzten ein riesiger Tumult im Haus herrschte, begab sich Mr. Kinomiya kurzerhand auf eigene Faust nach draußen, um nach dem Hiwatari Oberhaupt zu suchen. Etwas später rannte er in der Stadt seinem Enkel über den Weg, der mit seinen Freunden gerade auf dem Weg zurück war und berichtete ihnen, was im Krankenhaus vorgefallen sei. Die machten sich dann letztendlich auf die Suche nach dem Vermissten.“

„Was ebenfalls zu der Aussage von Kai Hiwatari passt, weshalb er in der Stadt aufgegriffen wurde.“, Kato lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Kinomiya Senior ist gar nicht so dumm. Er hat sich in aller Ruhe die Aussage von ihm angehört, um dann im entscheidenden Moment seinen Senf dazu zu geben. Aber er kann nicht erklären, weshalb sein Enkel aus dem Hospital verschwunden ist.“

„Er nicht. Aber ein anderer.“, schnalzte Kabayashi verstimmt. „Ray Kon hat ausgesagt, seine Freunde hätten ihn zu seiner Frau begleitet, die ebenfalls in der Stadt ist.“

„Warum ist er nicht alleine gegangen?“

„Er hat keinen gültigen Führerschein.“

„Was heißt das genau für uns?“

„Das sie der Auslöser für das plötzliche Verschwinden war. Ihr Mann hat ausgesagt, sie wolle mit ihm reden, weil sie eine Ehekrise hätten. Außerdem soll sie schwanger sein und geglaubt haben, dass mit dem Kind etwas nicht stimmt. Also ist die Gruppe los, um nach ihr zu schauen, während sie Hiwatari im Hospital zurückließen.“

Kato begann mit dem Becher zu spielen. Er drückte ihn immer wieder ein, als sei er ein Anti-Stress-Ball, während sein Hirn auf Hochtouren rannte.

„Befragt die Frau…“

„Ein Beamter ist schon auf dem Weg. Doch ich fürchte, die Gruppe hat sich abgestimmt. Die werden sich jetzt gegenseitig Rückendeckung geben.“

„Das ist ihre Schuld! Was holen sie auch die ganze Meute ins Hinterzimmer, damit sie die Aussage mithören!“

„Es war ihr Befehl!“

„Ich sagte die jungen Männer - nicht auch noch den Alten!“

„Das wurde mir so nicht mitgeteilt!“, wehrte sich Kabayashi gegen den Vorwurf.

Es ließ seinen Vorgesetzten mürrisch Brummen. Einige Beamte wurden nachlässig, je länger sie Überstunden schoben und das konnte Kato ihnen nicht einmal verdenken. Er selbst würde auch gerne eine Mütze Schlaf abbekommen. Sein Gegenüber rieb sich über die Augen, dann hob er die Hände, als habe er einen genialen Einfall.

„Wir könnten die zuständige Krankenschwester befragen, die in jener Nacht Dienst hatte, ob sie die beiden auf der Toilette gesehen hat!“

„Sie sind mir vielleicht ein blöder Esel…“

„Wieso denn jetzt schon wieder?!“, blinzelte er empört.

„Weil die Krankenschwester doch das Opfer ist!“, bellte Kato. „Sie liegt im Koma, sie Trottel!“

„Oh...“

„Vielleicht gehören sie tatsächlich nachhause. Ihre Einfälle werden immer dämlicher.“

„Ich habe einen fünfzehn Stunden Tag hinter mir. Irgendwann funktioniert das gescheiteste Hirn nicht mehr!“, verteidigte sich Kabayashi. Er warf seinen Block auf den Tisch und gähnte ungeniert. „Verdammt, wir hatten diese Lümmel! Dann kommt der Alte mit seinem Alibi. Dabei ist doch klar, dass er das nur aus reiner Gefälligkeit macht…“

„Das müssen wir jetzt beweisen. Sonst steht der Fall auf wackligem Sockel.“, Kato begann nachzudenken. „Die Leiche aus dem Anwesen ist noch immer nicht aufgetaucht?“

„Nein. Nach wie vor entschwunden.“

Kato begann sich über das unrasierte Kinn zu streichen. Wenn er eingestand, dass eine Leiche verbummelt worden war, könnte seine Abteilung in ernsthaften Verruf geraten. Er bereute mittlerweile Takao Kinomiya davon berichtet zu haben. Selbstverständlich war er kein Freund von Vertuschungsaktionen, doch das war wirklich eine ernste Sache.

„Bei den anderen Verdächtigen wurde die Leiche nicht erwähnt?“

„Mit keinem Wort.“

„Gut. Desto weniger Leute davon wissen, desto besser.“

„In unserer jetzigen Situation wäre es doch aber ratsam die Leiche zu erwähnen?“, schlug Kabayashi vor. „Sie wurde im Anwesen des Hiwatari Clans aufgefunden, dessen Oberhaupt eine schwerwiegende Tablettensucht zugegeben hat. Womöglich hat er die Frau bei einer seiner vorherigen Panikattacken erschlagen? Wenn wir ihn schon nicht wegen dem Angriff im Krankenhaus belangen können, dann doch deshalb?“

„Das wird nicht funktionieren…“

„Warum?“

„Weil ich diesen Job schon ziemlich lange mache. Jeder Mordfall den ich auf dem Tisch hatte, der ohne die Leiche des Opfers geführt wurde, ging vor Gericht wie ein Stein im Wasser unter. Das ist ein schwieriges Unterfangen, zumal wir nicht die geringste Ahnung haben, wer die Tote überhaupt war.“

„Wir haben die Fotos!“, brauste sein Untergebener auf. Er holte das Bild des verbrannten Leichnams aus der Mappe hervor und hielt es demonstrativ in die Höhe. Sein Griff zitterte vor Ärger. „Das muss doch auch zählen!“

„Auf so etwas können wir keinen Fall aufbauen! Solche Fotos kann sich jeder Hornochse aus dem Internet ziehen und dann heißt es, wir würden Beweise manipulieren! Das würde uns gerade noch fehlen… Und nun denken sie doch einmal nach! Man wird Fragen stellen, Kabayashi!“, sprach er eindringlich auf ihn ein. „Wollen sie ernsthaft vor dem Staatsanwalt zugeben, dass unsere Abteilung diese Leiche verloren hat?“

Er tippte auf das Bild.

„Natürlich nicht…“

Einen Moment kehrte Stille ein. Beide stierten frustriert drein.

Dann klopfte sich Kato auf die Schenkel und sprach: „Ich will die Aufnahme aus der Pathologie sehen.“

„Ich dachte sie wollten sich diesen Quatsch nicht antun.“

„Wir haben momentan nicht mehr viele Optionen.“, erklärte Inspektor Kato. „Als der Angriff im Krankenhaus stattfand, lagen achtundneunzig Patienten dort, auf sieben Stockwerke verteilt. Pro Stockwerk gab es eine Nachtschwester. Eine kann uns nicht mehr berichten was auf ihrer Etage passiert ist, weil ihr die Zunge fehlt. Das heißt entweder befragen wir nun alle Patienten, samt dem anwesenden Personal, ob sie irgendwie bestätigen können, wie sich das Hiwatari Oberhaupt auf dem Klo die Seele aus dem Leib gekotzt hat, oder wir schaffen es, ihn wenigstens wegen der Leiche im Anwesen zu belangen.“

„Klingt nach einer Verzweiflungstat.“

„Das Personal im Krankenhaus ist in Aufruhr. Wir müssen den Täter wegsperren. Bringen wir Hiwatari wegen der Leiche in seinem Haus ins Gefängnis, werden die Gemüter sich beruhigen, selbst wenn wir ihn nicht wegen der Attacke auf die Nachtschwester drankriegen. Für die Öffentlichkeit wird dann auch so klar sein, wer der Täter war.“

„Von all diesen Leute im Krankenhaus muss doch jemand etwas gesehen haben.“

„Es war Mitten in der Nacht. Die meisten Patienten auf dieser Etage haben geschlafen – zwei liegen sogar im Koma. Es wären sogar drei, wenn der alte Großvater nicht erwacht wäre und ausgerechnet er, ist nun der Entlastungszeuge. Das wird schwierig Kabayashi…“, er zog den Gürtel hoch, auch wenn es wenig brachte. Sein strammer Bauch hielt ihn schon an Ort und Stelle. „Der halbe Ortsteil ist in Panik wegen dieser Sache! Die Leute glauben ein brutaler Schläger ist in ihrer Nachbarschaft unterwegs. Hätte diese bescheuerte Reporterin ihre Klappe gehalten, müssten wir gar nicht so dringend zum Abschluss kommen. Wir müssen nun wirklich vorankommen und einen Täter finden.“

„Und was versprechen sie sich von den Aufnahmen?“

„Das wir denjenigen finden, der die Leiche verbummelt hat. Wir müssen diese Person finden und sie wieder in unseren Besitz bringen. Dann können wir die Leiche auch endlich untersuchen. Sie kann unmöglich von alleine hinausspaziert sein. Ich weigere mich an solch einen Unfug zu glauben! Wahrscheinlich hat sich da nur jemand einen makabren Halloweenstreich erlaubt. Also finden wir denjenigen und zwar schnell!“

Er öffnete die Tür und bellte hinaus, dass man ihm sofort die Kameraaufnahme, aus der Pathologie bringen solle.
 

Zu diesem Zeitpunkt waren sich beide Beamten noch ziemlich sicher, in ihrem Beruf bereits die verrücktesten Dinge erlebt zu haben. Doch wie sich eine Stunde später herausstellen sollte, lernte man im Leben nie aus. Denn als sie die Aufnahme in Inspektor Katos Büro, vor versammelter Mannschaft abspielten, lief da tatsächlich eine verkohlte Leiche durch die Gänge der Pathologie, ohne sich um die Mitarbeiter zu scheren, die sich kreischend gegen die Wände im Flur drückten oder sich zu einem wimmernden Häufchen zusammen kauerten. Es regnete Asche hinter dem Leichnam her. Die Aufnahme war gestochen scharf, man konnte jeden Hautfetzen erkennen, der von ihr herabbröselte und zerfiel, wie trockene Herbstblätter auf die eine Schuhsohle traf. Selbst in das innere ihres Torsos ließ sich ein Blick erhaschen, wodurch man genau sah, dass es sich dabei um kein originelles Kostüm handelte. Nach der Aufnahme herrschte zunächst eine geschockte Stille.

Bis die Belegschaft aufgeregt um die Wette debattierte.

Die Thesen wurden dabei ziemlich abenteuerlich…

Einer behauptete standhaft es handele sich dabei um einen Roboter, der vielleicht ein Prototyp der Hiwatari Corp sei, um dem Besitzer des Unternehmens den Hintern zu retten. Ein anderer beteuerte, dass sich die Pathologie sicherlich einen Scherz mit ihnen erlaubt habe und irgendwo hauchdünne Fäden befestigt waren, die die Leiche wie eine Marionette durch die Flure zog, ohne dass die Fäden von der Kamera erfasst wurden.

Ein anderer begann seine Religion zu hinterfragen.

So oder so…

Es fand sich keine plausible Erklärung hierfür. Und als seine Mitarbeiter ratlos durch den Raum starrten, am Ende mit ihrem Latein, merkte Kato, dass es keinen Zweck mehr hatte, die Gruppe im Revier zu behalten.

„Wir geben also auf?“, fragte Kabayashi ihn hilflos.

„Nein. Wir kommen einfach nicht weiter. Für heute müssen wir es gut sein lassen.“

„Und die Leiche?“

Das gesamte Kollegium schaute ihn abwartend an.

„Welche Leiche?“, fragte er. Es war das Stichwort, auf das man gewartet hatte. Einer der Beamten ging zum Monitor und ließ die Aufnahme verschwinden. Kabayashi zerriss die Fotos und warf die Fetzen in den Schredder. Ohne Leiche, kein Fall.

Doch auch wenn man stillschweigend beschloss, dass dieser Vorfall nie passiert war, wussten alle Beteiligten, dass sie in dieser Nacht, mit einem ziemlich mulmigen Gefühl zu Bett gehen würden. Denn es waren immer die ungelösten Fälle, die einem Polizisten im Gedächtnis blieben.
 


 

*
 

Der Schnee in seiner Handfläche schmolz durch seine Körperwärme, wurde zu einem winzigen Tropfen. Tyson tat einen tiefen Atemzug. Er konnte kaum glauben, dass er als freier Mann aus dem Präsidium gehen durfte. Außerdem kam es ihm wie eine Ewigkeit vor, seit er das letzte Mal daheim gewesen war. Mit einem beklommenen Gefühl starrte er auf das Absperrband der Polizei, dass im kalten Wind vor dem Tor zum Kinomiya Anwesen wild flatterte. Das grelle Gelb wurde deutlich sichtbar durch das Licht der Straßenbeleuchtung. Nach der Aussage seines Großvaters, ging es knapp zwei Stunden, da kam auf einmal Inspektor Kato auf die Gruppe zu und verkündete ihnen aus heiterem Himmel, dass sie alle nachhause durften – auch Kai.

Es kam so plötzlich, dass den meisten von ihnen erstaunt die Kinnlade herunterklappte. Sie konnten es kaum glauben, erst als Kai zu ihnen geführt wurde. Tyson wollte noch wissen, ob man sie nun tatsächlich in Ruhe lassen würde, auch wegen der Leiche im Hiwatari Anwesen. Zu seiner Verblüffung entgegnete der Inspektor aber, dass in dieser Hinsicht wohl ein Fehler passiert sei, denn das Foto, dass man Tyson gezeigt hätte, wäre von einem anderen Tatort gewesen und nur durch schlampige Ablage, in seiner Fallakte gelandet. Da ahnte Tyson woher der Wind wehte…

„So lange sie uns deshalb nicht mehr belästigen, bleiben meine Lippen versiegelt.“

Er hatte Inspektor Kato lange angeschaut. Direkt in die Augen. Beide wussten welche unterschwellige Drohung dieser Satz beinhaltete. Doch letztendlich nickte der alte Mann, sprach aber davon, dass er zwei seiner Freunde trotzdem noch einmal näher zur Brust nehmen müsse. Kenny habe mit seiner Aktion im Krankenhaus einen schweren Datendiebstahl begannen, immerhin habe er sich unerlaubt in das Betriebssystem eines öffentlichen Gebäudes gehakt. Tyson antwortete nur mit erhobenem Kinn, dass er vielleicht doch mal an die Presse gehen sollte, wegen dem Ausrutscher mit der Leiche, immerhin hätte man ihnen wegen diesem Fehler einen Mord unterstellt. Kato hatte geknurrt, wie eine Bulldogge die getreten wurde, schnalzte dann aber mit der Zunge und meinte, man könne über diesen Vorfall ja auch mal hinwegsehen, so lange Kenny versprach, solche Aktionen von nun an zu unterlassen.

Als Tyson wissen wollte, ob die zweite Person, die auf seiner Liste stand, Kai war, nickte der Inspektor und sprach davon, dass man ihm wenigstens einen Warnschuss verpassen sollte, damit er in Zukunft die Finger von dem Ritalin ließ. Tyson hatte zu seiner Seite geschielt, wo Kai gerade seine kleine Schwester von einer jungen Polizistin entgegennahm. Seine Augen hatten sich nachdenklich verengt.

„Ein Klaps auf die Finger. Mehr nicht…“, war Tysons Antwort darauf und das in einen Tonfall, der eindeutig klar machte, dass eine Strafe zwar angebracht war, aber nur bis zu einem bestimmten Maße von ihm geduldet wurde. Was Kai betraf war er momentan ziemlich gespalten. Auf der einen Seite war da ein tiefer Groll, aufgrund seiner Verfehlungen der Vergangenheit. Es ärgerte Tyson wie falsch er sich zuvor verhalten hatte – dass ihm sein Stolz ständig im Weg stand. Warum hatte er sich ihnen nicht einfach anvertraut?

Sie hätten gemeinsam bestimmt eine Lösung gefunden.

Doch da war auch ein Teil in ihm, der eine unendliche Zuneigung zu ihm empfand, weil Kai bereit gewesen war, sich für die Gruppe zu opfern. Er hätte tatsächlich alles hingeworfen…

Tyson musste lächeln als er daran dachte. Dieser Junge war einfach ein Phänomen. Auf der einen Seite konnte er so unsagbar kalt wirken und doch zu solch tiefbewegenden Handlungen fähig sein. Es war wohl einer der Gründe, weshalb Tyson niemals von ihm ablassen konnte. Etwas in ihm wusste, dass sie Kai insgeheim viel bedeuteten.

Und das bedeutete wiederum ihm viel…

Inzwischen lief sein Großvater zu dem Absperrband und riss es wutschnaubend weg. Er wetterte dabei lautstark über die Beamten und als er sah, wie sich hinter den Gardinen des Nachbarhauses etwas regte, rief er der alten Hexe von Gegenüber zu, dass nur sie es gewesen sein konnte, die ihnen die Polizei auf den Hals gehetzt hatte.

„Du alte Trockenplaume! Mit dir habe ich morgen noch ein Hühnchen zu rupfen!“

Sofort zogen sich die Vorhänge wieder zu. Offensichtlich hatte da jemand nicht damit gerechnet, seinen Großvater so schnell noch einmal zu Gesicht zu bekommen und bereute die große Klappe.

„Mr. Kinomiya, ich staune darüber woher sie noch die Energie zum Streiten aufbringen.“, sprach Ray mit einem müden Seufzen. Dann wandte er sich Tyson zu. „Ich würde Mao gerne abholen. Und wir haben bei all dem Ärger den Wagen von Hanas Freund, in der Nähe vom Revier stehen lassen.“

„Hat das nicht bis morgen Zeit?“, fragte Max genervt und ließ die Wagentür hinter sich zufallen. Er stakte durch den Schnee, um Tysons Auto herum, auf den Rest der Gruppe zu, schlang dabei bibbernd die Arme um seinen Oberkörper. „Ich meine, Mariah können wir ja gerne noch holen. Ich will ja auch ins Hotel um meine Sachen zu packen. Aber diese Schrottkiste sieht nicht so aus, als würde der Typ sie sonderlich vermissen.“

„Trotzdem. Er hat uns einen Gefallen getan. Wir sollten Anstand beweisen.“

„Wenn wir ihm einen Gefallen tun wollen, sollten wir diese Suppenschüssel einen Abhang hinunterrollen, damit er die Versicherungsprämie kassiert!“, schnaubte Max. „Ehrlich Ray, sei nicht immer so rechtschaffen. Wir haben genug andere Dinge zu erledigen.“

Das Tor zum Anwesen wurde von Tysons Großvater aufgeschoben. Zumindest versuchte er es. Da niemand da gewesen war, um den Schnee wegzukehren, lag er kniehoch vor dem Eingang, während die Nachbarn schon brav ihre Bürgerpflicht erfüllt hatten – indem sie den Schnee von ihrer Seite, zu ihnen auf den Gehweg hinüberschoben. Es bedurfte seinen alten Herren mehrere Anläufe, um die Tür überhaupt einen spaltweit aufzubekommen. Erst nachdem er sich mit vollem Körpereinsatz gegen das Tor stemmte, kam es stockend in Bewegung, bis ihm Kenny noch zur Hilfe eilte. Tyson fiel auf dass kaum eine Menschenseele auf dem Gehweg unterwegs war. Alles schien sich in ihre Häuser zurückgezogen zu haben, um der Kälte zu entkommen. Offensichtlich hatten die Behörden in der Zwischenzeit auch die langersehnte Entwarnung nach dem Erdbeben gegeben. Es kam Tyson auch nicht mehr so stürmisch vor wie bei ihrer Ankunft.

„Also, ich sehe das wie Max.“, sprach er schließlich an Ray gewandt. „Wäre es nicht so eng im Wagen, hätten wir Mao gleich abholen können, aber bis wir uns jetzt durch den Verkehr geschlagen haben… Außerdem muss ich Opa noch seine Tabletten geben und die sollte er nach dem Essen einnehmen – und da ist noch die Sache mit meinem Bruder. Der Wagen von Hanas Kumpel kann da doch wirklich bis morgen warten!“

Ray wiegte unwillig den Kopf hin und her. Er schien nicht wirklich zufrieden mit dieser Lösung, denn schon auf dem Weg hier her, hatte er das Thema angesprochen. Sofort war eisiges Schweigen im Wagen aufgekommen, denn es war eine dieser Situationen, in denen jemand eine Aufgabe in den Raum warf, zu der sich niemand freiwillig melden wollte.

„Und was ist mit Hana? Sollten wir ihr nicht zumindest Bescheid geben, dass wir wieder zuhause sind?“

„Jetzt wo du es sagst - warum ist der Hexenbesen nicht im Revier aufgetaucht?“

„Wahrscheinlich ist das Schneechaos schuld dar-…“, Tyson verstummte einen Moment. Er blickte zu Kai. Der stand wie betäubt vor dem Eingang des Anwesens und rührte sich nicht vom Fleck. „Leute, helft doch mal Opa das Tor aufzuschieben. Kenny hat ja weniger Muskelmasse als ein Säugling.“

Ihre Blicke wandten sich zu den anderen und als sie Kai sahen, verstanden sie was Tyson wirklich beschäftigte. Sie nickten langsam, wandten sich aber noch nicht um.

„Übrigens… Wir sollten Mal ein ernstes Wort mit ihm reden. Du weißt schon warum.“, ermahnte ihn Max beiläufig. Sein Gesichtsausdruck war ungewöhnlich streng. Doch Tyson tat eine unwirsche Handbewegung.

„Ich mache das schon.“

„Ich finde er sollte wissen, dass wir uns Sorgen machen. Wir alle!“

„Wir sollten uns aber nicht in der Gruppe auf ihn stürzen. Erst recht nicht, wenn er so drauf ist wie jetzt. Das ist nicht fair.“, und als sie sich nicht rührten, fügte er noch hinzu. „Als er ein Kind war, bin ich am besten an ihn herangekommen, wenn ich unter vier Augen mit ihm gesprochen habe.“

„Das ist aber nicht das Gleiche! Er fängt wieder an wie ein Erwachsener zu denken.“, entgegnete Ray und spähte aus den Augenwinkeln hinüber. „Du hast ihn im Revier erlebt. All diese Dinge die er sich ausgedacht hat – auf so etwas kommt kein Kind! Das war eindeutig Kais erwachsene Hälfte, die sich diesen Plan zurecht gelegt hat. Er hat mit einer Logik argumentiert, die ein Kind unmöglich besitzen kann. Wir müssen uns damit abfinden, dass er so langsam der Alte wird und versuchen wieder zur Routine zu kommen. Das wird auch für ihn das Beste sein.“

Mit anderen Worten - sie sollten sich von dem kleinen Kai verabschieden.

Der Gedanke schmerzte Tyson. Etwas in ihm wollte diesen Jungen nicht ziehen lassen. Er war doch so liebenswürdig und vertrauensselig gewesen. Ein schüchternes kleines Kind, das einfach nur gerne an der Seite seiner Freunde blieb.

„Lasst es mich wenigstens versuchen. Wenn er nicht einsichtig ist, können wir noch immer gemeinsam mit ihm reden.“

Max tat einen hörbaren Atemzug. Anscheinend passte ihm diese Bitte nicht.

„Na schön. Aber was das Ritalin angeht will ich gefälligst eine Erklärung hören. Wenn nicht heute, dann spätestens morgen!“

„Das beschäftigt euch, nicht wahr?“

„Blöde Frage, natürlich!“, sprach Ray. Sein Blick wirkte verärgt. „Ich konnte damit leben, dass er uns die Abtei verheimlicht – aber das hier geht zu weit! Ich will wissen wie viel Wahrheit hinter seiner Aussage steckt. Das kann gar nicht gelogen sein, wenn die Blutwerte aus dem Krankenhaus ergeben haben, dass Ritalin bei ihm nachgewiesen wurde. Ist dir klar dass das der erste Schritt zu einer richtigen Sucht ist? Wir müssen das ernst nehmen!“

„Vielleicht hat uns der Inspektor nur belogen…“

„Das glaube ich nicht. Kai hat es zu realistisch geschildert!“

„Ich weiß.“, einen Moment kehrte bedrücktes Schweigen ein, bis Tyson es unterbrach. „Aber jetzt geht erst einmal hinein und wärmt euch auf. Wir kommen gleich nach. Okay?“

Nach einem flüchtigen Blick zu ihrem Sorgenkind, kam ein zögerliches Nicken von den beiden. Damit wandte Tyson sich ab und stapfte mit knirschenden Sohlen auf Kai zu. Der bemerkte nicht einmal, wie seine kleine Schwester, in ihrer dürftigen Bekleidung, sich einfach in den Schnee hockte und versuchte einen Kuchen zu formen. Ihre Finger waren feuerrot, doch sie fasste weiterhin ungerührt in die kalte Masse und sprach davon, dass sie jetzt Puderzucker auf ihren Muffin streuen würde. Da hob Tyson sie schon aus dem Schnee heraus in seine Arme.

„Ey!“, machte sie empört. Prompt zog sie einen dicken Schmollmund.

„Du solltest dich nicht einfach so in den Schnee hineinsetzen. Sonst wirst du krank.“

„Aba Puderzucker!“, sie präsentierte ihm den Schneeball, als sei er ein plausibler Grund, weiterhin in der Kälte herumzukrabbeln. Doch Tyson ignorierte ihre Einwände. Er beobachtete ihren Bruder, beugte sich etwas vor, um einen Blick auf Kais Pupillen zu erhaschen. Tiefe Schwärze…

Keine Spur von diesem seltsamen Farbenspiel was Tyson so liebte. Das wenige Licht, das von der Straßenlaterne kam, wurde von der schwarzen Linse komplett verschluckt.

„Kai?“

Er rührte sich nicht, stand nur wie versteinert auf dem Fleck. Einen so langen Aussetzer hatte Tyson noch nie bei ihm erlebt. Es war als wolle Kai gar nicht mehr aus seiner Trance erwachen. In der Zwischenzeit hatten die anderen es vollbracht, das Tor aufzubekommen, indem sie die Tür einen spaltweit aufschoben, damit sich einer von ihnen auf die andere Seite zwängen konnte, um dort den Schnee beiseite zu kehren. Tyson wurde mulmig zumute. Er griff nach Kais Handgelenk, da kam die erste Regung von ihm. In einer unendlich langsamen Bewegung, wandte er ihm den Kopf zu. Dann verzog sich sein Gesicht zu einer finsteren Maske.

„Was willst du?“, sein Tonfall war schroff.

Einen Moment blinzelte Tyson ihn irritiert an.

„Du kamst mir so abwesend vor.“

„Kümmere dich um deinen eigenen Kram!“

„Hey, du musst nicht gleich pampig werden!“

„Zum letzten Mal Kinomiya - wir sind keine Freunde! Also tue nicht so, als würde es dich scheren was mit mir ist!“

Tyson tat einen zischenden Atemzug. Dann zogen sich seine Brauen zusammen und beinahe hätte er die Zähne vor Zorn gefletscht. Nach allem was sie gemeinsam durchgestanden hatten, besaß dieser Mistkerl wirklich die Frechheit, ihm so etwas an den Kopf zu werfen. Am liebsten hätte er ihn für diese Worte am Kragen gepackt und geschüttelt.

„Kai, das ganz gemein!“, protestierte Jana von seinen Armen aus los. Sie schaute ihren Bruder vorwurfsvoll an und zog eine bitterböse Schnute. Da bemerkte Tyson, dass ihre Worte, etwas in Kai wachrüttelten. Er blinzelte mehrmals, seine Pupillen schrumpften wieder in sich zusammen. Endlich erhaschte er wieder etwas Farbe in ihnen. Da brüskierte sich Jana auch schon weiter: „Nicht streiten! Is doof! Du bis böse!“

Kai schaute auf seine Schwester, wie sie in seinen Armen saß und ihn für seine herrischen Sätze tadelte. Dabei hob sie mahnend den kleinen Zeigefinger und befahl: „Sei brav, sons muss du Zimmer! Ohne gute Nach Geschichte!“

Tyson beschlich das Gefühl, dass sie ihren Bruder nachahmte, wenn er mit ihr schimpfte und hob die Braue irritiert. Inzwischen blickte Kai nur aus großen Augen zu ihm auf. Tyson musste wohl ziemlich verärgert dreinschauen, denn sein Anblick ließ ihn mit starrer Miene über seine Lippen fahren, als könne er selbst nicht begreifen, woher diese Worte stammten.

„Ich… Ich weiß nicht warum ich das gesagt habe.“, sprach er. Es musste wohl tatsächlich nur eine Erinnerung gewesen sein, die er gerade durchlebt hatte.

„Schon gut.“, murmelte Tyson, sah jedoch leicht eingeschnappt zur Seite. Auch wenn es keine Absicht gewesen war, tat es unglaublich weh. Er versuchte sich zu erinnern, wann ihm Kai diese Sätze das letzte Mal an den Kopf geworfen hatte, nur leider kam das in der Vergangenheit mehr als einmal vor – und es kränkte immer wieder aufs Neue.

„Es tut mir so leid.“

Perplex blinzelte er und schaute Kai wieder an. Seine Stimme bebte bei jeder Silbe und als er ihn genauer musterte, waren seine Augen traurig, fast so als wäre er von sich selbst enttäuscht. Irgendwann seufzte er und fuhr sich erschöpft über die Stirn.

„Das hätte ich nicht sagen dürfen.“

Da verflog Tysons Groll auf ihn auch schon wieder. Eine simple Entschuldigung konnte so viel bewirken. Stattdessen bedachte er Kai mit einem Lächeln.

„Hey, mach dir keine Sorgen. Das war doch keine Absicht von dir.“

„Ich meine nicht dass ich es jetzt gesagt habe! Das ich es damals gesagt habe. Das war so unfair! Warum bin ich so?“, gegen Ende des Satzes wurde er immer leiser und ohne richtig zu begreifen, was er da tat, begann Kai seine Finger ineinander zu verhaken. Da war er wieder…

Tysons kleiner grauer Kater. Ein schiefes Grinsen erschien auf seinen Lippen.

„Vergiss es… Krümel.“

Damit wollte er ihn schon die ganze Zeit triezen - und die Reaktion ließ auch nicht lange auf sich warten. Als Kai seinen Spitznamen aus Kindertagen hörte, weiteten sich seine Augen und die Luft blieb ihm in Halse stecken. Kein Atemzug war noch zu vernehmen. Wenn er noch etwas Blut in dem blassen Gesicht hatte, wich es für eine Sekunde komplett heraus - nur um umso heftiger zurückzukommen. Es war wie eine Welle. Auf einmal entflammten seine Wangen umso dunkler. Kai schaute auf seine Hände hinab, registrierte was er da eigentlich tat und löste prompt den Griff.

„Du bist so ein blöder…“, er hielt sich noch zurück, wahrscheinlich wegen seiner Schwester, aber er klang ohnehin nicht halb so zornig, wie er wohl gerne wollte. Es ließ Tyson glucksen und auch Jana grinste, entblößte ihre kleine Zahnlücke. Da fragte sie auch schon mit einem unverhohlenen Schalk in den Augen: „Bis du ein Kümel, Ai?“

„Natürlich nicht.“, kam es gereizt von ihm zurück.

„Doch, und was für einer!“, widersprach Tyson aber gutgelaunt. Dann zerwühlte er, in einem Anflug von Übermut dessen Haarschopf, was Kai mit einem Murren über sich ergehen ließ. Dieser Augenblick erinnerte Tyson mehr denn je, an ihre gemeinsame Nacht am Lagerfeuer.

„Dein großer Bruder war mal ein richtig süßer Knirps. Ein lieber kleiner Tollpatsch.“, erzählte er Kais Schwester ungeniert, während die Röte auf dessen Wangen um eine weitere Facette dunkler wurde. „Weißt du Jana, Kai schämt sich irgendwie für dieses Kind. Ich weiß nicht warum, aber er schließt es ständig weg. Es kommt mir vor, als könne er diesen kleinen Jungen nicht ausstehen, dabei ist er mir wirklich ans Herz gewachsen.“, Tysons Tonlage wich vom Spott ab und wurde ernster. Das schien auch Kai nicht zu entgehen. Sein Blick hob sich als er diese Worte vernahm – fast schon zaghaft. Da tippte Tyson dessen Schwester auf die Brust und raunte ihr verschwörerisch zu: „Du musst mir helfen. Wir beide müssen nämlich aufpassen, dass dieser Junge nicht verloren geht. Im Gegensatz zu dem großen Kai, ist der kleine Kai ehrlich und hat auch keine Probleme damit, seinen Freunden die Wahrheit zu sagen, oder sie auch mal um Hilfe zu bitten, wenn es ihm schlecht geht. Dieser Junge ist so herzensgut, dass er sich sogar für eine kleine Maus, auf einen zugefroren See wagt - nur um dann selbst dort festzufrieren.“

„Oh oh…“, machte Jana aus großen Augen. „Was dann passiert?“

„Wir mussten ihn aus dem Wasser herausfischen. Er wäre beinahe ertrunken.“

„Oh nein.“, sie flüsterte es ehrfürchtig.

„Und das alles nur für eine kleine Maus, die so leicht ist, dass sie ohnehin nicht durch das Eis gebrochen wäre. Kai war zwar ein Tollpatsch – aber ein liebenswerter. Wäre doch schade wenn so ein netter Junge verschwindet, oder?“

Ein langgezogenes und äußerst bekümmertes „Jaah“ kam aus Janas Mund, auch wenn Tyson sicher war, dass sie nicht verstand, um was es hier wirklich ging. Doch Kai verstand es…

Er blickte ihn betroffen an – mit diesen Augen, die in jenem Moment sein gesamtes Innenleben spiegelten. Ob Kai auch nur ansatzweise ahnte, wie ausdruckstark sie sein konnten, sobald er es einmal zuließ?

Inmitten dieses Gedankens fiel Tyson plötzlich auf, bei wie vielen seiner Verflossenen, er auf dieses besondere Merkmal geachtet hatte. Er besaß ganz ohne Zweifel eine Schwäche für schöne Augen. Tyson schenkte Kai ein vielsagendes Lächeln.

„Hilfst du mir dabei, Jana?“, fragte er, ohne den Blickkontakt zu ihm zu unterbrechen. Das Mädchen legte den Kopf fragend zur Seite. Sie schien zu spüren, dass da etwas zwischen den beiden Männern war, was sich außerhalb ihres jungen Geistes abspielte. „Kai darf den kleinen Jungen nicht vergessen. Sonst hört er irgendwann komplett auf zu lachen und erfreut sich gar nicht mehr an seinem Leben. Findest du nicht auch dass er immerzu traurig wirkt?“

Sie nickte eifrig mit dem Kopf.

„Jah! Kai immer traurig…“, und da klagte sie ihm schon ihr kindliches Leid. „Nie lache! Nie mit Jana spiele könne. Is immer nur müde. Immer auf Arbeit!“

Nun huschte Kais Blick zu ihr.

„Un manche Mal…“, sie tat eine bedeutungsvolle Pause. „Er noch nich Heim, wenn Jana schlafe gehe muss.“

„Nein!“, tat Tyson empört.

„Doch! Dann kriege keine Umarmung! Und keine Gute Nacht Geschichte!“, dass schien sie besonders zu ärgern. Sie zog wieder einen dicken Schmollmund und schaute den Übeltäter finster an. „Un Gute Nacht Kuss auch nich! Dann Jana is traurig und weine! Aber Kai nich da! Nich mich sehe wenn weine!“

Doch jetzt sah er es…

Kai starrte seine kleine Schwester an, bis er mit einem Seufzen die Lider senkte.

„Das klingt ja furchtbar.“, bemitleidete Tyson ihre Sorgen. „Also so kann das doch wirklich nicht weitergehen. Was ist denn das für ein großer Bruder, der seine Schwester nicht vor dem Schlafen gehen umarmt.“

„Is gemein! Darf nimmer…“, stimmte Jana bockig zu und verschränkte die schmächtigen Ärmchen vor der Brust. Dabei schüttelte sie wie wild den Kopf.

„Wir müssen unbedingt dafür sorgen, dass sich das ändert. Vielleicht sollte er weniger arbeiten? Dann ist er bestimmt nicht mehr so müde? Und er kann wieder mit dir spielen...“

„Ja!“, rief sie aus und klatschte in die Handflächen. „Spiele!“

„Was hältst du davon, Kai? Hast du nichts zu deiner Verteidigung zu sagen?“

Doch er schwieg, hielt das Gesicht von ihm abgewandt.

„Ich glaube Kai sieht das genauso. Aber er braucht einfach etwas Starthilfe. Dann kümmern wir uns in Zukunft darum, dass er nicht vergisst, dass er auch mal Spaß haben muss. Abgemacht?“, fragte Tyson dessen Schwester.

„Ja! Jana helfe!“, kam es zurück. „Jana ihn kitzeln, dann Kai mehr lache!“

„Schlaues Mädchen! Das ist doch ein super Vorschlag.“, gluckste Tyson. Sie klatschten sich gegenseitig ab, wobei Janas Augen vor Freude strahlten. Ihr schien es Spaß zu machen Teil seines Komplotts zu sein. Dann entließ Tyson sie von seinen Armen und sprach: „Und jetzt schau mal, ob die anderen es schon bis zum Haus geschafft haben. Wenn du dort ankommst, soll dir Opa ein paar Manjus geben. Wir kommen gleich nach…“

„Was Manju?“

„Na hör mal, du lebst in Japan und kennst keine gefüllten Dampfnudeln?“

„Uuh!“, Janas Augen wurden tellergroß. „Lecker Manju! Lecker, lecker!“

Damit wandte sie sich eilig ab – oder zumindest versuchte sie es. Mehrmals wehten ihre Ärmchen durch die Luft, im verzweifelten Versuch nicht auf dem Hosenboden zu landen, doch die Aussicht auf Süßigkeiten ließ sie nicht verzagen. Eine Weile schaute Tyson ihr grinsend nach, bis sie hinter dem Tor verschwand, dann sprach er an Kai gewandt: „Ich kann nicht glauben, dass du so einen Hüpfer vor uns verstecken wolltest.“

Doch der antwortete nicht. Seine Augen waren starr auf den Boden gerichtet. Einen Moment hätte Tyson schwören können, einen wässrigen Glanz in ihnen zu sehen.

„Sag doch etwas.“, bat er ihn.

„Das ist so unfair von dir.“, antwortete Kai. Da wandte er sich ihm auch schon zu, mit einem verbitterten Ausdruck. „Sie so gegen mich auszuspielen... Sie weiß doch gar nicht von was sie da redet und du nutzt das schamlos aus! Hättest du mir das nicht unter vier Augen sagen können, ohne Jana gegen mich aufzustacheln?“

„Ich halte dir den Spiegel vor.“, Tyson verschränkte die Arme vor der Brust.

„Sie sollte das aber nicht mitbekommen! Ich versuche sie zu schützen und du redest ihr ein, dass sie sich um mich sorgen muss! Ich bin es der auf sie aufpassen muss – nicht umgekehrt!“

„Deine Schwester fühlt sich vernachlässigt. Und du kannst das alles nicht mehr alleine stemmen… Jana bekommt deinen Zustand mit.“, er richtete den Finger anklagend auf ihn. „Du hast sie gehört, Kai! Sie sieht ihren erschöpften Bruder jeden Abend Heim kommen, der zu müde ist, um mit ihr etwas Zeit zu verbringen! Du bist schon zu lange über deine Grenzen hinaus und musst anfangen Abstriche zu machen!“

„Wie denn?!“, fuhr Kai ihn an.

„Gib endlich etwas von deinen Aufgaben in der Firma ab – hör auf ständig die Kontrolle behalten zu wollen! Dir muss klar werden, dass du eine Familie daheim hast, selbst wenn es nur deine Schwester ist! Dieses kleine Mädchen braucht dich mehr als deine Firma! Du bist das Einzige was ihr an Familie geblieben ist!“

Als er in die Augen vor sich schaute, zitterte der wässrige Glanz darin. Kai tat Anstalten sich abzuwenden, da ergriff Tyson dessen Handgelenk.

„Wer ist dir wichtiger?“

„Natürlich Jana!“

„Dann handle auch so! Zieh dich aus der Firma zurück. Deine Schwester ist nicht blöd!“, sprach er eindringlich. „Sie spürt dass etwas nicht mit dir stimmt. “

Einen Moment blieb Kai reglos stehen. Dann kam ein wehmütiges Seufzen von ihm.

„Ich weiß…“, er klang unendlich enttäuscht. „Manchmal, da unterschätze ich sie wohl.“

„Du musst etwas in deinem Leben ändern. So darf es nicht weitergehen! Du agierst auf einem Leistungslevel, das du unmöglich halten kannst! Da braucht es ja schon zwei Leben um dem allem gerecht zu werden! Das ist einfach zu viel – selbst für den perfekten Hiwatari!“

„Tyson…“

„Nimm endlich Hilfe an! Und wenn es in der Firma wirklich klemmt, kann ich dir auch mit der Kleinen aushelfen. Nur ein Wort von dir und ich lasse alles liegen! Aber bitte rede mit mir!“

Er zog energisch an dem Handgelenk. Seine Augen taxierten Kai förmlich.

„Lass es gut sein…“

„Zuerst versprichst du es mir!“

„Hör endlich auf!“, keuchte Kai. Er fasste sich an die Stirn und geriet ins Schwanken. Seine Beine schienen ihm den Dienst zu versagen. Völlig überrumpelt umgriff Tyson schnell seine Taille, um ihn noch zu stützten, während Kai die Augen fest zusammenkniff, im verzweifelten Versuch wieder Herr seiner Sinne zu werden. Seine Finger vergruben sich in seinem Haarschopf und es sah aus, als würde er dem Wahnsinn verfallen – und doch hielt Tyson ihn ganz fest.

„Alles in Ordnung. Ich bin da.“

„Es dreht sich alles…“

„Tut mir leid. Ich wollte nicht wieder übertreiben.“

„Da sind so viele Bilder in meinem Kopf… Wo kommen die bloß alle her?“

Tyson griff nach seinem Arm, überlegte noch, ob er ihn einfach umarmen sollte. Zumindest würde ihm das gefallen. Er konnte fühlen, wie der Körper in seinen Händen noch taumelte und tat einen Schritt nach vorne, damit Kai sich gegen ihn lehnen konnte, mochte es auch noch so intim wirken. Seine hektischen Atemzüge waren zu vernehmen. Sie entstiegen als kleine weiße Wolke zwischen Kais Lippen. Tyson konnte nicht verhindern, dass er auf sie starrte.

Für ihn bildeten seine Lippen einen regelrechten Blickfang. Er konnte sehen wie sie sich bei jedem Atemzug ein wenig spalteten. Seine Augen hefteten sich förmlich auf jenen Punkt und da spürte er auch schon, wie sein Herz ihm bis zum Hals schlug. Er konnte sein Blut in den Ohren pochen hören, während der sehnsüchtige Gedanke durch seinen Kopf schoss, diesen Lippen einen Kuss zu entlocken. Doch von all dem bemerkte Kai nichts…

Stattdessen senkte er irgendwann eine Hand und vollführte mit den verbliebenen Fingern kreisende Bewegungen an seiner Schläfe. Als er sich wieder gefasst hatte, einen kleinen Schritt zurück von ihm trat und seine Augen sich langsam öffneten, wandte sich Tyson mit einem schweren Schlucken von dem Anblick ab. Erst Kais Flüstern ließ ihn wieder zur Vernunft kommen.

„Ich weiß selbst dass etwas bei mir schief läuft.“

„Dann ist es umso mehr Zeit, dass du etwas änderst. Es ist nicht zu spät dafür.“, er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme einen sanfteren Tonfall anschlug, ja, geradezu zärtlich wurde. Auf seine Worte schaute Kai jedoch nur mit einem traurigen Lächeln auf.

„Bei dir klingt alles immer so einfach…“, nun wandte er sich vollends ab, entglitt seinem Griff. Der entschwindende Körper hinterließ ein Gefühl auf Tysons Fingern, als würden sie in Flammen stehen. Noch während Kai sich von ihm entfernte, starrte er auf seine zitternde Handfläche. Eigenartig wie eine simple Berührung so stark nachhallen konnte.

„Momentan ergibt vieles für mich noch keinen Sinn.“, erklärte Kai inzwischen. Er klang äußerst nachdenklich. „Dieser Mensch den ich sehe, diese Person die ich einmal war – ich kenne ihn nicht. Geschweige denn verstehe ich ihn.“

„Dann brauchst du wohl Zeit um dich selbst kennenzulernen.“

Tyson rieb seine Fingerkuppen gegeneinander, bis er endlich die Kraft fand, sich von seinen Sehnsüchten zu trennen und sich voll und ganz auf Kais Sorgen zu konzentrieren.

„Das alles ist schwer für dich. Nicht wahr?“

Ein Nicken war die Antwort.

„Es ist sehr verwirrend. Ich finde mich so plötzlich in einer Erinnerung wieder, dass ich gar nicht begreife, dass sich das alles nur in meinem Kopf abspielt. Ich sage Dinge in jenen Momenten, auf die ich keinen Einfluss habe. Ich weiß noch so wenig… Und da ich nicht weiß, wie viel mir noch fehlt, habe ich keine Ahnung, wann das endlich ein Ende findet.“

„Du musst Geduld mit dir haben.“, riet er.

„Womöglich…“

„Das klingt sehr ungläubig.“

Eine Weile schwieg Kai, bis er ihm ein unerwartetes Geständnis machte.

„Es ist nur, dass dieser Mensch, den ich immer näher kennenlerne… Ich mag ihn nicht.“

Das gerade die Person, die er liebte, so von sich dachte, tat Tyson unendlich leid.

„Ach Kai…“

„Wie hältst du das nur mit mir aus?“

„Ich?“, er blinzelte überrascht. „Es ist für mich doch keine Bürde dich zu kennen!“

„Wirklich?“

„Natürlich nicht! Kai, ich habe dich so gerne in meiner Nähe, das kannst du dir kaum vorstellen! Ich könnte niemals von dir ablassen, nur wegen ein paar oberflächlichen Reibereien zwischen uns.“

Es kam so schnell aus seinem Mund, dass er keine Zeit hatte, darüber nachzudenken, wie impulsiv er es vortrug. Seine Worte sagten zu viel über sein Innenleben aus. Da wandte sich sein Gegenüber auch schon zu ihm um. Im schummrigen Licht der Straßenbeleuchtung, konnte er nur vage den Ausdruck in Kais Augen ausmachen. Dafür sah Tyson dessen sanftes Lächeln umso deutlicher. Er schenkte es ihm heute so oft…

Dennoch blieb Kai ihm eine Entgegnung schuldig, ging nicht weiter auf seine Worte ein. Dieser Junge war ein hübsches Geheimnis. Ständig verschwieg er einem, was er wirklich dachte.

„Eines muss ich noch loswerden.“, sprach Tyson entschieden, allerdings mehr um vom Thema abzulenken. „Wegen dem Ritalin…“

„Du musst es nicht noch einmal ansprechen. Ich werde ab jetzt die Finger davon lassen.“

„Versprichst du mir das?“

„Ja. Das schwöre ich dir.“

„Gut.“, einen Moment dachte er nach, bis Tyson vorsichtig sprach. „Ich würde aber auch gerne wissen warum. Wie konnte es soweit kommen? Kannst du mir das noch erklären?“

„Das würde ich gerne, aber ich verstehe es selbst auch nicht.“, Kai klang sehr enttäuscht. „Sieh mich doch nur an. Was bin ich nur für ein Mensch geworden? Und vor allem… wann bin ich so geworden?“

Das war eine gute Frage. Irgendwann im Laufe der Jahre, musste Kai ihnen entglitten sein. Da dachte man einen Menschen zu kennen und plötzlich offenbarten sich solche Abgründe. Tyson schaute ihn mitleidig an, dann sprach er: „Ich weiß es nicht. Du hast dich in den letzten Monaten von uns zurückgezogen und dich kaum noch gemeldet. Wir dachten deine Firma nimmt dich zu stark in Anspruch.“

„War es so?“

„Weißt du das nicht? Im Präsidium hast du doch davon gesprochen.“

„Der Inspektor hat mich gefragt, ob es nicht anstrengend sei, eine Firma in meinem Alter zu führen. Er sprach davon, dass das bestimmt ein enormer Druck sein müsse. Es klang als würde er glauben ich sei überfordert – als hätte er sich sein Urteil schon gebildet. Ich habe ihn einfach in diesem Glauben gelassen.“

Etwas ratlos zuckte Kai mit den Schultern. „Er schien eine Vermutung zu haben. Ich habe mir angehört welche und habe das Ritalin noch erwähnt, damit er einen weiteren Beweis zu seiner These hat. Was genau meine Aufgaben in der Firma sind weiß ich noch gar nicht so richtig. Nur das sie mir gehört und ich mit verdammt viel Papier zu tun habe.“

So war das also. Kai hatte Katos Worte gegen ihn selbst ausgespielt.

„Dann ist das aber wirklich wahr mit dem Ritalin?“

„Ja. Ich habe mich daran erinnert wie ich es eingenommen habe. Mehrmals.“

„Gott Kai… Wie konntest du nur?“

„Bitte, lass es gut sein.“, er hob die Hand in seine Richtung. „Ich schwöre dir, ich werde es von jetzt an bleiben lassen. Das wird sich nie mehr wiederholen.“

Ein Versprechen zählte viel bei Kai. Daher nickte Tyson langsam. Es gab ihm Hoffnung, dass er an seinem Vorsatz festhielt. Zumindest würde er ihn nun sehr genau ins Visier nehmen. Offenbar waren sie dem Trugschluss erliegen, dass ihr Freund wirklich vom Glück gesegnet war, ohne die düsteren Details zu sehen. Leider konnte Kai das aber auch sehr gut verbergen.

„Dieses Geständnis das du vorhin auf dem Revier gemacht hast…“, fiel Tyson ein. „Das hättest du nicht tun müssen. Keiner von uns wollte ein solches Opfer von dir. Das hätte wirklich böse schief gehen können!“

Kai wandte ihm den Rücken zu.

„Ich musste es tun.“, kam es entschieden.

„Nein, musstest du nicht! Hör doch endlich auf alles im Alleingang zu bewältigen. Wir sind noch immer ein Team! Die Irrlichterwelt haben wir doch auch gemeinsam gemeistert.“

„Ich konnte nicht zulassen, dass euch etwas passiert.“

Es war ein Flüstern…

Stille kehrte zwischen ihnen ein. Kai schaute nicht auf, doch in seinem Inneren spürte Tyson wieder eine Woge der Zuneigung für ihn aufkommen. Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre dem Wunsch ihn fest zu umarmen nachgekommen.

„Wir hätten gemeinsam eine Lösung gefunden.“, raunte Tyson.

„Ich war es euch schuldig.“

„Warum? Etwa wegen der Sache in der Irrlichterwelt?“

„Natürlich deshalb!“, sprach Kai mit heißerer Stimme aus und drehte sich ruckartig zu ihm. „Wenn ihr nicht gewesen wärt, wäre ich jetzt nicht hier! Ich wäre bei der Dame Solo-…“ er hielt einen Moment inne, als ihm klar wurde, dass da noch immer der kindliche Irrglaube in ihm steckte, der sein Bit Beast als ein menschliches Wesen sah. Kai fuhr sich über die Nasenwurzel. Nach einem schweren Atemzug erklärte er: „Dranzer hätte mich noch in ihrer Gewalt. Ich wäre für immer dort gefangen. Und wenn ich widererwarten entkommen wäre, dann hätte mich etwas anderes umgebracht. Das ist Fakt! Ich mache mir da nichts vor, Tyson.“

„Und dafür fühlst du dich nun schuldig?“

„Ja. Weil ich es niemals soweit hätte kommen lassen dürfen.“

„Das hättest du gar nicht verhindern können. Wie denn auch?“

„Ihr wolltet mich noch vor ihr warnen.“

„Ja, aber da war das Unglück bereits im Gange! Sogar Dizzy hatte Angst sich einzumischen.“

„Du verstehst es nicht.“, antwortete er schwermütig und ehrlich gesagt, tat Tyson das wirklich nicht. Er schaute ihn fragend an und als Kai endlich fortfuhr, da bebte seine Stimme. „Als ich mit Dranzer in dieser Illusion von meinem Haus festsaß, da hat sie so lange auf mich eingeredet, bis ich ihr die Lügen, die sie mir eingetrichtert hat, wirklich geglaubt habe. Sie sprach davon, dass alle Menschen um mich herum, nur falsch und verlogen seien. Meine Eltern, mein Großvater – und auch ihr. Selbst das Jana gar nicht existiert und ich sie mir nur eingebildet habe… Selbst das habe ich ihr geglaubt. Ich habe meine kleine Schwester verleugnet! Wenn ich es durch euch nicht zurück geschafft hätte, wer hätte sich dann noch um sie gekümmert? Was wäre aus ihr geworden?“

Es schien seine schlimmste Angst zu sein…

Das niemand mehr da war der Jana pflegte. Dieses bedürftige kleine Mädchen das auf den Schutz eines Erwachsenen angewiesen war. Tyson erwiderte nichts. Stattdessen ließ er Kai seine Zeit um weiterzusprechen. Der senkte den Kopf, wirkte dabei so erschöpft.

„Ich habe keinen Gedanken daran verschwendet, was aus ihr werden könnte. Dabei habe ich zu Anfang wirklich noch versucht gegen Dranzers Lügen anzukämpfen. Doch nach einer Weile ergaben alle Dinge, auf merkwürdige Art und Weise einen Sinn. Plötzlich habe ich wirklich angefangen meinen Verstand zu hinterfragen. Dranzer sprach davon, dass ich im Fieberwahn geglaubt hätte, dass das Haus brennt. Als ich bei ihr erwachte, da stand es noch heil da. Ich wurde in Janas Zimmer geführt - es war nur verstaubt und leer. Sie sprach davon, dass ich gar nicht Erwachsen sei, und als ich in den Spiegel schaute, stand da nur dieser kleine, dumme Junge!“

„Du warst doch wieder ein Kind.“

„Ein Kind das drauf gegangen wäre. Gott, ich war ja sogar zu blöd um einen scheiß Baum gescheit hinaufzuklettern! Ray hätte sich deshalb auch beinahe den Hals gebrochen! Und das alles weil ich Dranzer geglaubt habe.“

„Du gehst zu hart mit dir ins Gericht. Sie hat mich auch manipuliert. Sogar zweimal. Sie ist geschickt darin… Ich bin der Letzte der dir deshalb Vorwürfe macht.“

„Trotzdem. Sie war mein Bit Beast. Aber ich habe sie nie richtig gekannt. Ich wusste bis jetzt ja noch nicht einmal das sie weiblich ist.“, er gab ein freudloses Lachen von sich. Doch nach einer Weile schüttelte Kai den Kopf, offenbar fassungslos über seine eigene Ignoranz. „Wie konnte ich nur so blind sein?“

„Wir alle waren blind.“, sprach Tyson traurig.

„Ich hätte es aber besser wissen müssen! Vor allem als Dranzer meinte, dass sie mich befreien könne. Von all meinen Verrücktheiten.“

„Verrücktheiten?“, er legte mit einem fragenden Ausdruck den Kopf zur Seite. Da nickte Kai auch schon langsam. Dann erklärte er: „Sie gab mir diese Schale mit kleinen Papierfetzen, auf denen Namen geschrieben standen und meinte, ich solle sie ins Feuer werfen. Es würde mir helfen von meiner alten Welt loszulassen.“

Kai hielt einen Moment inne, als würde ihm dieses Geständnis besonders schwer fallen.

„Ich habe ohne zu zögern hineingegriffen und jeden einzelnen Namen ins Feuer geworfen. Die meiner Eltern, meines Großvaters, Janas, Rays, Maxs, Kennys – und auch deinen. So sind überhaupt erst meine Erinnerungen verschwunden.“

Tyson schaute ihn ernst an. Ihm fiel auf dass Kai auf eine Reaktion von ihm wartete. Doch den Gefallen tat er ihm noch nicht. Dazu hatte er noch zu wenig gehört. Da fuhr Kai auch schon fort: „Sie hat mich nie dazu gezwungen. Ich allein habe jede Erinnerung den Flammen vorgeworfen.“

„Du warst verwirrt…“

„Nein. Ich wollte mich befreien! Ich wollte vor meinem Umfeld flüchten! Dranzer war vielleicht diejenige, die mich auf den Stein zugeschoben hat, ich habe ihm aber den entscheidenden Tritt verpasst, damit er überhaupt erst ins Rollen kommt! Es war meine eigene Entscheidung. Ich wollte euch alle tatsächlich vergessen…“

Er spähte vorsichtig zu Tyson hinüber, fast so als befürchtete er das Schlimmste.

„Es ist mir so leicht gefallen… Und die ganze Zeit, seit meine Erinnerungen zurückkommen, frage ich mich nach dem Warum? Alles was euch betrifft – das sind gute Momente. Dennoch wollte ich euch loswerden. Was für ein Freund tut so etwas?“

Kai senkte die Augen wieder, als ertrage er seinen Blick nicht.

„Warum wollte ich euch freiwillig aus meinen Kopf verbannen? Warum gerade euch? Warum meine kleine Schwester? Das hattet ihr doch nicht verdient.“

Tysons Mundwinkel hoben sich. Sein kleiner störrischer Dummkopf, kam nach so vielen Jahren endlich zur Besinnung und erkannte, dass es Menschen um ihn herum gab, die schon immer hinter ihm gestanden hatten. Eine ganze Weile wurde es still zwischen ihnen. Da schritt Kai auf die Grundstücksmauer seines Heims zu. Tyson beobachtete wie seine blassen Finger, sich auf das rötliche Gestein legten. Sie strichen gedankenverloren über die Ziegel hinweg.

„Dieser Ort ruft so viel in mir wach. Und das obwohl ich noch gar nicht richtig drinnen war. Es ist wie eine Sturmflut aus positiven Erlebnissen. Weshalb wollte ich das vergessen? Ich schäme mich für meine Entscheidung...“

„Wir alle machen Fehler. Egal was war, ich bin trotzdem für dich da.“

„Das warst du schon immer, nicht wahr?“

Ein wehmütiges Lächeln umspielte Kais Mundwinkel, als er sich ihm wieder zuwandte. Offenbar weil er selbst nicht fassen konnte, was alles passieren musste, damit er endlich sein Umfeld richtig wahrnahm. Er musste sich wie ein Blinder fühlen, dem das Augenlicht geschenkt wurde.

„Ist das eine Frage oder eine Feststellung?“

„Eine Feststellung…“

„Ich will einfach ein guter Freund sein.“, kam es leicht verlegen von ihm zurück. Tyson vergrub die Hände in den Hosentaschen. Er hatte Angst zu viel von sich zu verraten. Ein weiteres Mal verweilten sie leise, in weiter Ferne konnte man sogar das Kläffen eines Hundes hören. Irgendwer eine Straße weiter, musste sich bei diesem Wetter doch noch hinauswagen, damit sein Haustier etwas Auslauf bekam, aber ansonsten war es still draußen. Wenn man genau hinhorchte, vernahm man selbst den rieselnden Schnee.

„Wir sind vorhin am Kanda Fluss vorbeigekommen.“, durchbrach Kais Stimme das andächtige Schweigen. „Als wir über die Brücke gefahren sind, ist mir eingefallen, dass wir uns dort unten an seinen Ufern, zum ersten Mal begegnet sind.“

Tyson tat einen hörbaren Atemzug als der Groschen fiel. Bereits im Wagen war ihnen nicht entgangen, dass Kai wie gebannt auf den zugefroren Fluss gestarrt hatte. Doch was ihm in diesem Moment durch den Kopf schoss, behielt er wie immer für sich.

„Ja das stimmt.“, kam es von Tyson. Er grinste als er sich daran zurückerinnerte. „Zuerst habe ich Carlos den Hintern versohlt. Gleich danach kamst du um die Ecke und hast mir den Hintern versohlt. Es war unser allererstes Match.“

„Und als mir zwei Jahre später, der Hintern von Brooklyn versohlt wurde, hast du mich dort trotzdem wieder mit offenen Armen empfangen.“, kam es belustigt.

„Das weißt du auch wieder?“

„Ja. Ich erinnere mich sogar daran, wie beschämt ich war - weil ich mich damals für so perfekt hielt, dass ich geglaubt hatte, es problemlos in die BEGA schaffen zu müssen. Der große Kai Hiwatari verliert keine Vorrunden. Aber ich habe kläglich versagt… Und obwohl ich euch einfach so den Rücken zugekehrt habe, obwohl ich offensichtlich keinen Funken Loyalität besitze, hast du mir dort doch nur wieder die Hand gereicht.“

Er bedachte Tyson mit einem unergründlichen Blick.

Es konnte Mitleid sein - oder Zuneigung.

„Natürlich habe ich das. Wie hätte ich auch nicht?“

„Weil ich auf dem Baikalsee nichts dazu gelernt habe. Damals habe ich euch schon verraten und dennoch habe ich denselben Fehler, zwei Jahre später wiederholt. Ihr hättet mich von Anfang an in eurem Team gebraucht, aber ich wollte lieber zur BEGA, weil mir mein persönlicher Erfolg wichtiger war.“

„Lass uns diese alten Kamellen nicht aufwärmen. Wir waren doch noch halbe Kinder. Es ist vergangen. Allein wie du als Erwachsener bist zählt jetzt.“

Kai neigte fragend den Kopf.

„Bist du nie wütend wenn du daran zurückdenkst?“

„Nein. Ich konnte dir noch nie lange böse sein.“

„Wie kannst du nur ständig über meine Fehler hinwegschauen? So oft…“

Tyson tat einen tiefen Atemzug. Etwas lag da in Kais Stimme, dass ihn innerlich dahinschmelzen ließ. Da war ein Flirren in seiner Magengrube, eine immense Spannung auf seinem Körper. Er hatte Mühe sie zu unterdrücken.

„Erinnerst du dich an die Abtei?“

„Das ist das dritte Mal das ich danach gefragt werde. Warum will das jeder wissen?“, kam es verwirrt zurück. Tyson tat einige Schritte auf ihn zu.

„Weil es eine entscheidende Rolle in deinem Leben gespielt hat. Zumindest glauben wir das. Ich denke dein Vertrauensproblem und dieser immense Ehrgeiz fängt dort an – auch wenn deine Familie ihren Teil bestimmt dazu beigetragen hat.“

„Ray meinte ebenfalls ich hätte ein Vertrauensproblem…“

„Wer dich kennt weiß einfach, dass du eine Mauer um dich herum aufrecht hältst.“

Kai schaute nachdenklich in den Himmel auf.

Die Schneeflocken umtanzten sein blasses Gesicht.

„Auch jenen Menschen gegenüber, die mir so viel bedeuten wie ihr?“, wollte er wissen.

Seine Frage raubte Tyson einen Moment den Atem. Er starrte ihn an, denn noch nie hatte Kai ihm so offenkundig eingestanden, dass er für seine Freunde etwas empfand. Er deutete es stets durch sein Handeln an, ließ sich aber nicht gerne in die Karten schauen. Nach einer Weile antwortete Tyson: „Ja. Leider auch uns gegenüber.“

Ein schweres Seufzen folgte.

„Verstehe…“, Kai schien in die Ferne zu schauen und doch nichts zu sehen. Zu vertieft in seine Überlegungen. „Ihr taucht so oft in meinen Erinnerungen auf. Vor allem du. Ich sehe dich ständig vor mir.“

„Tatsächlich?“

„Ja. Du lachst sehr viel. Manchmal bist du auch verärgert. Aber die meiste Zeit bist du voller Tatendrang und lebensfroh. Wie ein Wirbelwind. Ich mag das.“

Tyson fühlte förmlich wie seine Kehle ausdörrte. Er war nur noch in der Lage Kai anzuschauen. Der überwand die letzten Schritte zwischen ihnen, bedachte ihn dabei eingehend, fast so, als würde er ihn heute zum ersten Mal richtig bemerken.

„Dein Gesicht… Es taucht immer wieder auf. Wie eine sichere Konstante. Ein roter Faden der sich durch mein Leben zieht.“

Es klang als ob er zu sich selbst sprach - und mit seinen Worten änderte sich etwas.

Die Stimmung zwischen ihnen. Tyson hätte schwören können, eine innige Verbundenheit zu spüren. Da war keinerlei Zurückhaltung mehr von Kai. Er offenbarte ihm seine Gedanken ohne jeglichen Argwohn. Eine zarte Schneeschicht hatte sich auf dessen Schultern gebildet. Tyson strich sie fürsorglich fort und musste zugeben, dass sein Herz förmlich zerspringen wollte. Da hielt er inne, als der nächste Satz an sein Ohr drang: „Ich werde nie verstehen, wie man jemanden wie dir, nicht vertrauen kann.“

Seine Hände blieben auf Kais Schultern ruhen. Etwas in ihm wollte ihn einfach anfassen, selbst wenn es eine noch so simple Geste war. Für ihn waren diese Worte so unsagbar wertvoll. Kais Blick wirkte so viel sanfter, voller Zuneigung. Etwas war definitiv anders an ihm…

Er war komplett seiner Distanziertheit beraubt. Da war kein Misstrauen mehr, dass sie trennte - nur noch aufrichtiges Vertrauen. Offenbar hatte ihre Reise in die Irrlichterwelt, nicht nur bei Tyson Spuren hinterlassen. Die Frage war jedoch, ob Kai diesen Zustand auch beibehalten konnte. Immerhin fehlten ihm noch die Erinnerungen aus der Abtei. Eine Zeit die wohl wirklich prägend gewesen sein musste.

„Schön dass du das auch so siehst. Endlich…“

Tysons Worte waren nicht mehr als ein Raunen. Und als hätte Kai seine Befürchtungen geteilt, sprach er: „Wenn mir das jemals wieder entfallen sollte, musst du mich daran erinnern. Ich will niemals vergessen, was in der Irrlichterwelt passiert ist.“

„Vorsicht! Ich nehme dich beim Wort.“, schmunzelte Tyson. „Aber damit eins klar ist, das was wir gemacht haben, war wirklich selbstverständlich. Komm also nicht noch einmal auf die Idee, für uns eine Falschaussage zu machen. Sonst erzähle ich deiner Schwester, dass du als Kind nicht einmal einen Hosenknopf alleine aufbekommen hast.“

Er zwinkerte ihm zu, was Kai die Augen rollen ließ.

„Das wird mir nun wohl eine ganze Weile nachhängen…“

„Aber holla und wie! Du redest hier immer noch von mir, Krümel!“

„An deine freche Art erinnere ich mich dagegen wieder ziemlich gut.“, antwortete Kai, allerdings klang es amüsiert. Dann fügte er etwas ernster hinzu. „Trotzdem solltest du wissen, dass ich euch dankbar bin. Ich kann das niemals wieder gut machen. Vor allem dir bin ich so viel schuldig.“

„Es gibt nichts wieder gut zu machen. Man sieht einem Freund nicht dabei zu, wie er ins Verderben rennt.“

„Das hast du mir schon einmal gesagt… Am Lagerfeuer.“, erinnerte sich Kai. Seine Stimme wurde wieder leise, als wäre er gedanklich bei dieser Nacht. Beide dachten in jenem Moment an dasselbe Erlebnis, das konnte Tyson genau fühlen. Seine Hände wanderten an Kais Schultern hinab, umschlossen dessen Finger vor sich fest, mochten sie auch noch so kalt sein. Er fühlte ein Kribbeln über seinen Körper jagen und wusste nicht, wie lange sie den Blickkontakt schon hielten, aber ihm kam es wie eine kleine Ewigkeit vor. Es war fast schon wie ein innerer Zwang und er konnte es auch nicht unterlassen, die Haut zwischen seinen Fingern, mit seinem Daumen zu streicheln.

Da huschten Kais Augen hinab – blieben an dem Bild ihrer Hände hängen.

Im Schein der Laterne hatte ihrer beider Haut, die Farbe eines warmen Orange angenommen. Der Schnee tanzte zart zu Seiten ihrer Finger herab. Manchmal landete eine Flocke auch auf ihnen, nur um zwischen ihren Händen zu zerschmelzen. Da begriff Tyson erst so richtig, dass er gerade seinen ersten Vorstoß wagte. Diese Berührung hier war viel zu intim unter Freunden und hielt auch zu lange an. Er stand nicht einmal mehr eine Armlänge von Kai entfernt. Doch der tat auch keinerlei Anstalten, seine Hand von ihm zu lösen. Oder auf Abstand zu gehen…

Nicht eine Sekunde hatte er sich seiner Annäherung verweigert. Er blinzelte einfach nur auf den Anblick herab, als wisse er selbst nicht so genau, was er von diesem innigen Moment halten sollte. Tysons Herz begann laut zu pochen, pumpte ihm das Blut glühend heiß durch sämtliche Venen. Könnte das hier nicht als offene Einladung gewertet werden?

Etwas in ihm machte sich gerade Hoffnung und er hatte Mühe ihr nicht zu erliegen. Nutzte er Kais momentane Schwäche gerade aus oder spürte er von dessen Seite tatsächlich eine tiefere Zuneigung? Vielleicht sollte er es einfach wagen…

„Kai?“, auf seinen geflüsterten Namen schaute der auf. Ein kleiner Spalt hatte sich zwischen dessen Lippen aufgetan. Da war dieser drängende Wunsch in Tyson, mit dem Daumen darüber zu fahren, auszukosten ob sie sich unter seinen eigenen Lippen weich anfühlten. Dieser Ausdruck in Kais Gesicht…

Es ließ ihn sich seinen Sehnsüchten hingeben. Tysons Atmung wurde flacher. Ohne es richtig unterbinden zu können, wurde der Abstand zwischen ihren Körpern kleiner. Ihm wurde wohlig warm. Er kam sich wie eine Motte vor, die vom Licht angezogen wurde. Und über Kais Blick, senkten sich langsam dessen Lider herab.
 

Da ließ sie aber das Knallen einer Tür aufhorchen…

Tyson fluchte, als der Stimmungskiller wie eine Bombe einschlug.

„Chef warte! Lass es uns doch erklären!“

„Nein, verdammt! Ich will nichts mehr hören, Max!“

Die aufgebrachten Stimmen näherten sich. Tyson konnte von der anderen Seite der Grundstückmauer vernehmen, wie der Schnee unter der Last von mehreren Schuhsohlen knirschte. Mit einem erschrockenen Keuchen entriss Kai ihm seine Finger. Dieser plötzliche Entzug seiner Nähe war wie das unsanfte Erwachen aus einem Traum. Er tat ein paar Schritte von ihm Weg, starrte Tyson mit geweiteten Blick an, als könne er selbst nicht fassen, was sich beinahe zwischen ihnen abgespielt hatte. Er blinzelte mehrmals, umfasste jene Finger, die zuvor noch in seinem Griff ruhten und schaute auf sie herab. Auch ihm war mit einem Schlag die Intimität dieses Augenblickes bewusst geworden. Das sie dabei gewesen waren, weiter zu gehen, als es unter Freunden gestattet war.

„Kai?“

Er schüttelte den Kopf und wandte sich von ihm ab, unwillig darüber zu sprechen, als schon das Tor zum Anwesen aufgeschwungen wurde. Die lauten Stimmen der Anderen schnatterten geradezu durch die Nacht. Tyson hatte noch gar keine Zeit sich so richtig von seinem Gefühlschaos zu erholen, da sah er auch schon Kenny zwischen dem Torbogen herausrennen. Der Chef sah sich um, suchte offenbar nach ihm und eilte dann auf Tyson zu. Ihm fiel auf wie gerötet seine Wangen wirkten. Seine Augen glänzten, als stünde er kurz vor den Tränen. Kurz danach kamen auch Ray und Max herausgerannt, beide ohne Jacken. Offenbar hatten sie ihre Abwesenheit genutzt, um sich im Haus ein wenig aufzuwärmen, bevor sie aufbrechen wollten.

„Gib mir deine Autoschlüssel!“

Kenny streckte ihm die zitternde Hand entgegen. Sein Atem kam so stockend, dass die kleinen Wölkchen aus seinem Mund hektisch wirkten.

„Chef, bitte, das hat keinen Sinn.“, Max versuchte ihm verzweifelt an die Schulter zu fassen. „Sie ist nicht mehr da.“

„Fass mich nicht an!“, Kennys Stimme überschlug sich förmlich. So kannte Tyson ihn nicht. Dann hielt er ihm noch einmal fordernder die Hand hin. „Deine Autoschlüssel!“

Er war noch zu verwirrt von der vorangegangen Situation um zu widersprechen. Stattdessen blinzelte er seinen Freund doof an. Da packte Kenny nach seiner Jacke.

„Hey! Was zum…“

Tyson fühlte wie seine rechte Tasche um das Gewicht seiner Schlüssel erleichtert wurde. Gleich danach drehte sich Kenny auf dem Absatz um. Er schaute einen Moment verdutzt zu Kai, der ebenso irritiert zurückblinzelte. Inzwischen stolperte der Chef zwischen den anderen beiden hindurch und steuerte auf Tysons Wagen zu.

„Was ist los?“

Ray wandte sich ihm für eine Erklärung zu, während Max nur noch betreten zu Boden starrte, die Arme um seinen frierenden Leib geschlungen. Sein Ausdruck wirkte gequält.

„Jemand musste es ihm doch sagen…“

„Was denn?“

„Na was wohl!“

Er schaute ihn an als wäre es glasklar. Dabei konnte Tyson momentan nur noch daran denken, wie sich Kais Finger zwischen seinen Handflächen angefühlt hatten, dass er sogar schon dessen Atem auf seiner Wange gespürt hatte. An den Ausdruck in seinen Augen und das heftige Flirren, dass Tysons Körper befallen hatte. Nur eine Sekunde mehr – wer weiß was dann passiert wäre?

Noch immer seinen geplatzten Hoffnungen nachhängend, blickte er geistesabwesend zu Kenny, der um seinen Wagen herum lief, direkt auf den Kofferraum zu. Da kroch die Panik auch schon in ihm hoch. Sämtliches Blut wich aus seinen Wangen. Er suchte Dizzy…

Tyson stöhnte laut auf und fuhr sich über die Nasenwurzel. Plötzlich war er mit einem Schlag wieder in der Realität. Wie hatte er das vergessen können?!

Liebe machte tatsächlich blind, vor allem aber unempfänglich für die Probleme anderer. Kenny öffnete den Kofferraum und als er den Laptop nicht vorfand, begann er die Sachen darin auszuräumen. Dabei wussten sie alle, dass dessen Überbleibsel irgendwo in der Irrlichterwelt verstreut lagen. Tysons Sporttasche flog zuerst heraus. Er hörte Kenny fiebrig murmeln, denn natürlich wollte der nicht wahrhaben, dass seine Dizzy nicht mehr zurückkommen sollte. Von ihnen allen, hatte er wohl die innigste Beziehung zu seinem Bit Beast gepflegt. Im Gegensatz zu ihnen, war Dizzy nämlich als richtiger Gesprächspartner aufgetreten. Etwas das sie zu Kennys engster Vertrauten gemacht hatte.

Ziemlich unbeholfen sahen sie dabei zu, wie alles was hinten im Kofferraum gewesen war, nach und nach im Schnee versank. Bis es nichts mehr gab, was man hätte hinausbefördern können und Kenny sich fassungslos am Rahmen abstützte. Tyson näherte sich ihm. Er sah wie ihr Freund, sich so fest auf die Unterlippe biss, dass sie weiß hervorstach. Eine dicke Tränenbahn raste an seinem Gesicht herab.

„Es tut mir Leid…“

Und es war ernst gemeint. Es kam aus Tysons tiefsten Innerem.

„Ihr habt sie alle für schwach gehalten!“, fauchte der Chef erstickt. Seine Stimme bebte bei jedem Wort. „Für einen Witz habt ihr sie gehalten! Weil sie nicht so stark war wie eure Bit Beasts! Für ein geschwätziges, vorlautes Computerprogramm, dass man mal herauskramt, wenn man etwas wissen möchte! Für eine Spielerei!“

Er war wütend – und er musste diesen Zorn herauslassen.

Die erstbeste Person anklagen die ihm unter die Augen trat.

„Ja. Das stimmt leider.“, gestand Tyson traurig ein. Es hatte keinen Zweck es zu leugnen.

„Aber für mich war sie wichtig! “, schrie ihn Kenny an. Seine Stimme schallte durch die Nacht. Die Gardinen im Nachbarhaus bewegten sich wieder. Das Gebrüll auf der Straße lockte die neugierige alte Hexe von Gegenüber wieder ans Fenster. „Wie konntet ihr das zulassen?! Habt ihr auch nur einen Moment an mich gedacht!“

Tyson wollte ihm etwas antworten. Aber alles was ihm einfiel, klang wie eine faule Ausrede.

Er schloss die Augen und tat einen tiefen Atemzug.

„Es tut mir wirklich leid.“, wiederholte er.

„Das bringt mir Dizzy nicht zurück!“, fauchte Kenny ihn an.

„Ich weiß! Ich wünschte ich könnte dir irgendetwas sagen, damit du dich besser fühlst. Aber alles was ich tun kann, ist mich zu entschuldigen!“

„Es waren eure Bit Beast! Sie haben bei euren Kämpfen auch von ihrem Wissen profitiert! Das ist so undankbar… so verdammt unfair! Sie haben sie verraten!“

Max näherte sich ihnen. Dann sprach er: „Chef… Wir sind selbst geschockt darüber, wie rachsüchtig sie eigentlich waren. Diese Seite an ihnen - die haben wir nie gekannt!“

„Nun, ich habe jede Seite an Dizzy gekannt.“, er schlug den Kofferraum lautstark zu. Seine Fäuste waren geballt, die Schultern bebten. „Ich finde ein guter Blader, sollte so etwas wissen! Vor allem wenn man mit seinem scheiß Weltmeistertitel ständig prahlt, als sei man die Gottheit in Person!“

„Dann warst du offensichtlich all die Jahre der bessere Blader von uns beiden.“, sprach Tyson. „Denn deine Beziehung zu Dizzy – die war vorbildlich. Ich habe meinen Partner aber all die Jahre nie wirklich gekannt. Ich war wohl doch nur ein dummes Kind.“

Seine Ehrlichkeit ließ Kenny aus tränennassem Gesicht auf blinzeln.

Unter dem buschigen Haarschopf wirkten seine Augen so enttäuscht.

„Du musst uns glauben, Chef. Diese Reise die wir gemacht haben, hat uns erst richtig gezeigt, wie wenig wir eigentlich wussten. Ich habe Dragoon haushoch unterschätzt! Ich habe ihn nie richtig verstanden wie du deine Dizzy! Und was unsere Bit Beast ihr angetan haben – das werden wir uns nie verzeihen! Sie war eine von den Guten. Sie war vielleicht klein und schwach… Aber wenn ich eines jetzt weiß, dann ist es, dass wahre Größe nur von Innen kommen kann! Das ist keine Frage der körperlichen Statur…“

Noch immer schaute Kenny ihn an. Seine Brust hob sich bei jedem hektischen Atemzug zitternd mit. Tyson legte ihm die Hände behutsam auf die Schultern. Ihm war auch zum Weinen zu mute, wenn er ihn so verzweifelt sah.

„Wenn ich nur die Zeit zurückdrehen könnte… Ich würde alles tun, damit ihr das niemals passiert. Ich wünschte wirklich ich wäre schlauer gewesen.“

„Ich wünschte wir alle wären schlauer gewesen.“, stimmte Ray traurig ein. Kenny schaute von einem betretenen Gesicht zum nächsten. Dann schüttelte er den Kopf und sank schluchzend am Wagen hinab.

„Das hätte früher kommen müssen!“, klagte er sie an. „Viel früher!“

Der letzte Teil kam immer wieder. Immer wieder…

Er hinterließ einen traurigen Nachgeschmack bei ihnen. Denn leider entsprach es der Wahrheit.
 


 

*
 

Inspektor Kabayashi sammelte die verbliebenen Unterlagen ein, die er noch für die Fallakte verwenden konnte. Sein Vorgesetzter hatte sich endlich auf den Weg nachhause gemacht, was für ihn auch endlich Feierabend bedeutete. In Momenten wie diesen, in denen er spät abends nachhause kam, wünschte er sich eine Stelle im Ausland, wo ein Beamter nicht seltsam beäugt wurde, nur weil er vor seinem Vorgesetzten ging. Hier in Japan war das nicht gerne gesehen, weshalb die Menschen in manchen Bereichen, furchtbare Arbeitstiere waren. Allein wenn er hörte, dass Polizisten in Europa viel mehr Urlaubstage bekamen, als hier zu Lande, wurde ihm das Herz schwer. Es wäre toll mal wieder ein Privatleben zu haben. Seine Frau beklagte sich bereits permanent über seine ständige Abwesenheit und sprach davon, sich scheiden zu lassen. Da ackerte man wie ein Gaul und Undank war der Lohn. Manchmal war das Leben nicht fair, erst recht nicht wenn er an das hämische Grinsen dieses Chinesen dachte, der vor einigen Stunden erhobenen Hauptes an ihm vorbeistolziert war. Dabei empfand Kabayashi eigentlich gar keinen Groll gegen ihn. Er hatte seinen Job gemacht. So verlangte man das von ihm. Dennoch wurde er tagtäglich mit der bockigen Haltung konfrontiert, welche die Angehörige eines Verdächtigen einem Polizisten entgegenbrachten. Die meisten Menschen wollten nicht wahrhaben, dass jemand aus ihrem direkten Freundeskreis, eine Leiche im Keller versteckt hielt. Und das zeigte sich gerne in großen Unmut ihm gegenüber. Kabayashi ließ seufzend die Fallakte zuschlagen und rieb sich anschließend über die Augen. Er hoffte inständig dass die Straßen wieder frei waren, sonst würde er im Wagen, vor der nächsten roten Ampel einschlafen. Als er jung war und den Entschluss fasste, Polizist zu werden, hatte er geglaubt, den Menschen helfen zu können. In den letzten Jahren war aber die große Ernüchterung über ihn gekommen. Der Beruf eines Polizisten bestand hauptsächlich darin, skeptisch beäugt zu werden, Überstunden ohne Ende zu leisten, betrunkene Streithähne zu trennen und das alles mit einer miserablen Bezahlung. Hoffentlich kam er weiter als Kato, sodass er irgendwann als Polizeidirektor die Füße hochlegen konnte. Die Tür zum Großraumbüro öffnete sich und sein Kollege aus der Drogenfahndung steckte breitgrinsend den Kopf herein.

„Kabayashi, wie sieht es aus? Noch einen Feierabendschnaps?“

Wie schaffte es dieser Nobuki ständig so gut gelaunt zu bleiben. Vielleicht war das sein jugendlicher Übermut. Mit einem herzhaften Gähnen erhob er sich und rückte seinen Stuhl unter die Schreibtischplatte.

„Ach, nein. Lass mal. Ich muss mich bei meiner Frau sehen lassen.“

„Ein Grund warum ich lieber Single bleibe. Übrigens beweisen Studien, dass die ohnehin weniger Sorgen haben, als verheiratete Altersgenossen.“

„Na dann sieh zu das du nie heiratest.“, kam es mürrisch zurück, während er sich die Jacke über die Schulter warf.

„Meine Fresse, bist du scheiße drauf. Jetzt vergiss doch diesen Fall.“, sein Kollege hielt ihm die Tür auf, als er auf sie zusteuerte. Beim Vorbeigehen klopfte er Kabayashi aufmunternd auf die Schulter. „Das ist dumm gelaufen. Mit einem Gläschen Schnaps sieht die Welt aber ganz anders aus.“

„Ich will befördert werden, dass klappt aber nicht, wenn ich solche Fälle auf den Tisch bekomme. Das sieht bei der Obrigkeit beschissen aus!“

„Solche Führungsstellen bekommen immer nur Glückspilze. Oder wenn man Vitamin B besitzt. Deshalb sollte man sich mit weniger zufrieden geben. Oder du bummst einen aus der Chefetage.“

„Ich bin nicht schwul.“

„Gibt auch Frauen da oben.“

„Ja. Aber hast du die mal gesehen?“

„Einen Tod muss man immer sterben. Dann bleib doch lieber bei der Bescheidenheit. Ich wiederhole – gib dich mit weniger zufrieden.“

„Mit was denn? So ein Schluckspecht zu sein wie du?“

„Ach komm, sowas kannst du doch nicht sagen. Das tut mir jetzt auch weh!“, sprach Nobuki in gespieltem Bedauern. Er fuhr fort in seiner Absicht, Kabayashis miese Laune aus dem Keller zu holen, während sie den Flur zur Eingangshalle passierten. Sein Kollege hätte auch einen guten Professor abgegeben, denn ständig hielt er einem Vorträge über neueste Studien, deren Endresultat aussagte, dass alleinstehende Männer glücklicher lebten, als verheiratete. Dieses Spiel trieb er so lange, bis Kabayashi sich breit treten ließ und mit ihm zur nächste Kneipe marschierte, wo ein Schnaps nach dem anderen auf seine Kosten ging, da Nobuki ja die unleidliche Angewohnheit besaß, seine Geldbörse daheim liegen zu lassen. Doch heute Abend wollte er wirklich nachhause.

Bis auf die abendliche Notbesatzung, waren die Büros weitestgehend geleert. Sobald die ersten Vorgesetzten nachhause verschwanden, ging es hier wie im Taubenschlag zu. Da flatterten sämtliche Beamten aus der Morgenschicht so schnell hinaus, dass nur noch eine Staubwolke von ihnen übrig blieb. Die Tür zur Eingangshalle wurde schwungvoll von Nobuki geöffnet. Er fing gerade von einer schwedischen Studie an, die sicherlich aussagte, dass alleinstehende Männer auch das bessere Sexualleben besaßen, als beiden Polizisten auffiel, dass eine junge Frau im Zentrum der Halle stand. Sie schaute hinauf zur gläsernen Kuppel, die das altmodische Gebäude besaß. Zu den Seiten des Glases türmte sich der Schnee langsam hoch, was den Raum morgen früh bestimmt dunkler machte als sonst. Kabayashis Augen huschten an der Gestalt entlang und kurz darauf zur unbesetzten Rezeption. Er schnalzte erbost, denn die Nachtschicht war noch nicht eingetroffen. Einen Moment überlegte er, ob sie nicht über die Garagen hinausschleichen sollten, aber Nobuki gab ein Pfeifen von sich, offenbar weil ihm der kleine Feger gefiel.

Natürlich war auch Kabayashi nicht blind. Die Frau vor ihnen hatte einen hübschen Hintern, aber es könnte ewig dauern, bis sie ihr Anliegen entgegengenommen hatten und ob es sich für ein schönes Gesicht lohnte, noch mehr Überstunden zu leisten, wollte er doch stark bezweifeln. Außerdem war ihr Haar so hell, im dämmrigen Licht hier drinnen, wirkte es schneeweiß. An der modischen Jacke erkannte er, dass sie sehr viel Wert auf Marken legen musste. Eindeutig nicht Nobukis Preisklasse. Wenn er diese Frau auch noch auf einen Schnaps mitnahm, musste er am Ende auch noch ihre Zeche zahlen. Dennoch schlenderte sein Kollege mit wehenden Schritten auf sie zu, sein charmantestes Lächeln auf den Lippen. Noch während Kabayashi genervt dachte, dass er wohl bald sein Nachtlager hier aufschlagen musste, hörte er, wie er das verwöhnte Ding umschmeichelte.

„Guten Abend, die Dame.“

Sie schaute weiterhin auf, vertieft in den Anblick der Schneeflocken über ihr. Nobuki räusperte sich und fragte: „Darf man ihnen irgendwie behilflich sein? Ich biete mich gerne an.“

Schleimbolzen…

Dennoch verweilten ihre Augen wo sie waren. Ganz offensichtlich kam sein Kollege einfach nicht professionell genug herüber. Eine Autoritätsperson behandelte man zumindest anders und schon kurz darauf, warf Nobuki ihm einen hilflosen Blick zu. Kabayashi seufzte genervt. Das Letzte was er gebrauchen könnte, wäre, wenn ein Opfer sich beklagte, dass man sich ihrem Fall nicht annahm, weil er lieber Feierabend machen wollte. Er war von Kato deshalb schon gerügt worden und seiner Beförderung käme es auch ungelegen. Also erbarmte sich Kabayashi und näherte sich der jungen Frau. Womöglich war sie ein traumatisiertes Missbrauchsopfer, das vor Angst erstarrt war, weil sie der erste Polizist den sie hier traf, gleich mal anbaggerte. Also kam er sofort auf den Punkt.

„Brauchen sie Hilfe?“

Nach einer kleinen Ewigkeit, schüttelte sie jedoch den Kopf.

„Und was suchen sie dann hier, wenn ich mal fragen darf?“, er konnte nicht verhindern, dass er leicht angesäuert klang. Nobuki verzog das Gesicht, anscheinend weil er dabei war, ihm die Tour zu versauen. Doch auf eine solche Zeitverschwendung hatte er wirklich keine Lust.

„Ich bin dem Geruch gefolgt…“

Es war ein kleiner Satz. Und doch entging Kabayashi nicht, dass sie eine hauchzarte Stimme besaß. Auf einmal war sämtlicher Ärger verflogen und er räusperte sich.

„Verzeihung, aber ich verstehe nicht.“

„Mein Menschenkind. Es war hier. Ich rieche seine Fährte.“, Nobuki und er tauschten verwirrte Blicke aus. Da fuhr die junge Frau mit ihren ominösen Äußerungen fort. „Für Menschen mag es eine Ewigkeit her sein, doch für mich kommt es so vor, als sei es erst gestern gewesen. Vor wenigen Jahren, da habe ich ihn gefunden… an einem kalten Tag wie heute. Es schneite damals auch. Wann immer ich Schneeflocken sehe, muss ich nun daran denken.“, sie senkte das Haupt endlich herab und schloss die Augen, legte mit einem verträumten Lächeln den Kopf zur Seite. Einen winzigen Moment dachte Kabayashi, dass sie eigentlich recht verrückt klang, doch sie besaß eine so wundervolle Stimme, dass weder er, noch Nobuki in der Lage waren, die Kraft aufzubringen, um sie zu unterbrechen. So fuhr sie mit ihrer kryptischen Schilderung fort: „Mein Menschenkind war damals noch ganz klein. Ein junges Küken. Unschuldig und verletzlich. So liebenswert… Und doch war er schon so verschlossen und enttäuscht von der Welt. Ich konnte es in seinen Augen lesen. Der Ausdruck darin, erinnerte mich an mich selbst. Wie ein kleiner Spiegel. Diese großen Kinderaugen reflektierten meine Seele zurück. So jung und doch lag das kleine warme Herz in seinem Leib schon in Scherben. Wie meines… Als ich noch ein Küken war.“

Ein wehmütiges Seufzen kam aus ihrem Mund. Ihre Trauer war geradezu fühlbar, griff auf Kabayashis Körper über und weil sie so melancholisch war, wurde er es auch. Ihr Schmerz war in jeder Faser seines Herzens, nistete sich dort ein. Es ließ ihn vergessen, dass er nicht alleine war.

„Diesen Anblick werde ich niemals vergessen…“, sie wandte sich ihm zu. Er blinzelte wie betäubt, denn das Bild vor ihm schien zu flackern. Er kam sich wie ein Betrunkener vor, der alles nur noch verschwommen wahrnahm. Spielten ihm seine Augen einen Streich?

Begannen sämtliche Venen dieser Frau vor ihm zu glühen?

Er hatte den Eindruck als würde unter ihrer blassen Haut Magma köcheln - als würde durch ihre Blutbahnen etwas siedend heißes pulsieren. Sein wirrer Blick blieb an ihren Augen hängen. Zwei feuerrote Ringe. Selbst das Züngeln dieser Flammen meinte er darin erhaschen zu können. Es erinnerte ihn an etwas…

Kabashi konnte es jedoch schwierig in Worten fassen, denn sein Verstand kam ihm immer träger vor. Im ersten Moment, musste er an eine Nahaufnahme der Sonne denken, wie sie auf dem dunklen Hintergrund des Weltalls im Nichts schwebte, während immer wieder eine Flammenfontäne aus ihr hervorschoss. Ja, das war es! Ihre Augen kamen ihm wie zwei winzige Abbilder der Sonne vor. Diese glühend heiße Kugel, mit ihren gefährlichen Eruptionen an der Oberfläche. Womöglich hatte er Übermüdungserscheinungen, hervorgerufen durch seinen anstrengenden Beruf. Nur vage nahm er das Lächeln von ihr wahr.

„Er war hier bei euch. Sein Duft liegt in diesem Raum. Er muss es also zurück in diese Welt geschafft haben. Da täusche ich mich nicht, oder?“

Aus irgendeinem Grund nickte Kabayashi, ohne zu merken, dass die Tür der Eingangshalle langsam aufgeschoben wurde und mehrere Menschen hereintorkelten. Sie kamen ihm wie schwankende Schatten vor, zerstreuten sich im Raum, huschten in die anliegenden Flure, wie Bienen die ihrer Königin in die Waben ihres Baus folgten. Ihre Anwesenheit machte die Eingangshalle kälter. Die einzige Wärmequelle die es noch gab war sie.

„Er ist mein Menschenkind. Ich habe geschworen ihn zu schützen. Er soll ein gutes Leben haben – niemand darf ihn noch einmal verletzen. Niemand darf uns noch einmal verletzen.“

Ihre Stimme war nun ein Zischeln, wie das Züngeln einer Flamme. Kabayashi nahm eine Regung von ihr wahr. Sie streckte die Finger zum Körper seines Nebenmannes aus und platzierte ihre Hand auf dessen Brustkorb, genau dort wo das Herz lag. Stillschweigenden beobachtete er, wie etwas aus dem Leib zwischen ihren Fingern herausgesogen wurde. Auch dort schien sich Energie zu befinden, diese köchelnden Venen, die wie flüssige Lava ausschauten und für sein bloßes Auge zuvor unsichtbar gewesen waren. Doch unter ihrer Hand schien diese Kraft nun auch für ihn erkennbar. Er sah das pulsierende Herz seines Kollegen, wie es dumpfe Schläge von sich gab, dabei immer wieder seine Kraft ausschüttete, bis das letzte Bisschen verbraucht und mit einem finalen Schlag erstarb.

„Ein Bit Beast nimmt seine Pflichten ernst. Es ist ein Versprechen für die Ewigkeit.“

Kabayashi vernahm einen Schrei hinter sich. Doch es scherte ihn gar nicht mehr. Seine Beine rührten sich keinen Millimeter vom Fleck, als wären sie angewachsen. Wäre er bei klarem Verstand, hätte er alarmiert seine Waffe gezogen und seinen Kollegen, die sich in den Großraumbüros befanden, zur Hilfe geeilt. Doch er war es nicht…

Stattdessen sah er aus mattem Blick dabei zu, wie das merkwürdige Geschöpf vor ihm, die Hand auch nach seinem Brustkorb ausstreckte, sobald sie den Körper von Nobuki ausgesaugt hatte. Er fühlte ihre Finger. Sie brannten sich durch seine Kleidung, geradewegs in seine Haut. Inmitten der kalten Wesen um ihn herum, schien sie so warm. Wie die Strahlen der Sonne an einem schönen Frühlingstag. Dabei fühlte er gar nicht, mit welcher immensen Hitze, sie seinen Körper brandmarkte.

„Ich muss ihn beschützen. Es ist meine Pflicht. Und wenn diese Welt droht ihn zu verletzen, werde ich sie verletzen. Niemand darf ihm schaden. Er ist mein Menschenkind. Mein Küken…“

Es waren die letzten Worte die Kabayashi hören sollte.
 


 

ENDE Kapitel 43
 

Kenny wollte nach der traurigen Nachricht von Dizzys Ableben keine Minute länger bleiben und das obwohl sie sich darum bemühten ihn umzustimmen.

„Hör dir doch bitte die ganze Geschichte an. Komm herein und lass es uns erklären…“, hatte Max ihn gebeten. Doch er verneinte geradezu vehement und meinte, er wolle nachhause und allein sein. Als Tyson ihm anbot, ihn wenigstens noch Heim zu fahren, antwortete er nur: „Momentan will ich keinen von euch sehen. Lasst mich einfach nur in Ruhe!“

Das tat weh…

Tyson hatte Kenny noch nie so fertig erlebt. Er erinnerte sich daran, dass dessen Großmutter vor zwei Jahren gestorben war, doch da seine Mutter mit dem giftigen Schwiegermonster, nie so richtig klar kam, hatte der Chef keinen sonderlich guten Draht zu ihr gehabt, weil er ebenfalls der Meinung war, dass sie ein ekelhafter Charakter gewesen sei. Doch nun erlebte Tyson ihn wahrhaftig trauernd. Dizzy hatte ihm einfach zu viel bedeutet. Eine ständige Begleiterin, von morgens bis abends.

Sie war wirklich seine engste Vertraute gewesen…

Tyson konnte gar nicht mehr an einer Hand abzählen, wie viele Entschuldigungen von ihrer Seite kamen, doch offensichtlich war Kenny einfach in einem tiefen Loch gefangen und wusste sich nur zu helfen, indem er sich in sein Schneckenhäuschen zurückzog. Irgendwann hatte Ray das erkannt und auf Tysons Drängen nur die Hand erhoben, um ihn zum Stillschweigen zu bringen. Doch bevor Kenny sich einfach so in die kalte Nacht hineinwagte, fragte Tyson noch einmal hoffnungsvoll, ob er sich bald bei ihnen melden würde. Der Chef hielt einen Moment inne, dachte lange mit gesenktem Kopf nach, blieb ihnen dann aber die Antwort schuldig. Er zog den Kragen seiner Jacke höher und verschwand, während sie ihm mit einem beklommenen Gefühl nachschauten. Sie diskutierten daraufhin noch lange darüber, ob sie ihn einfach so hätten gehen lassen sollen.

„Wenn man trauert sollte man nicht allein sein!“, war Tysons Ansicht.

Doch Maxs Entgegnung stimmte ihn letztendlich um.

„Jeder Mensch geht anders damit um. Und wir müssen das akzeptieren. Wenn er Zeit will um zu trauern, müssen wir ihm diese Zeit geben. Wir sollten ihn nur nicht komplett aus den Augen lassen…“

Von ihnen allen wusste Max wohl am besten wovon er sprach. Es ließ Tyson schließlich beklommen nicken, auch wenn seine Sorge blieb. Insgeheim nahm er sich vor, gleich morgen nach Kenny zu schauen. Er musste ohnehin früh hinaus, um im Revier mit seinem Bruder zu sprechen, denn er hatte von Kato erfahren, wo Hiro nun untergebracht wurde. Doch zunächst musste er seinen Großvater diese Schreckensbotschaft mitteilen, denn um diese Uhrzeit war nichts mehr zu machen. Im Inneren des Hauses, bat Ray zunächst darum, mit seiner Frau telefonieren zu dürfen. Natürlich hatte Tyson keine Einwände, doch als sie in die Küche marschierten, war sein Großvater gerade dabei, im örtlichen Telefonbuch zu blättern, während das altmodische Schnurrtelefon, neben ihm auf dem Tisch lag. Jana hockte gleich zur nächsten auf einem Stuhl, über einen Teller Manjus gebeugt und ließ schmatzend die Beine baumeln. Ihr beim Essen zu zuschauen, lockte Tyson ein Schmunzeln über den Mund, denn bei jedem Biss, gab sie ein langgezogenes „Mmm“ von sich und ließ vergnügt die Schultern schwingen. Offenbar fühlte sie sich pudelwohl inmitten so vieler Menschen. Auch Kai entging das nicht. Er legte den Kopf nachdenklich auf die Seite und beobachtete das kleine Mädchen dabei, das ihm mit vollem Mund entgegenlachte.

„Was suchst du da?“, fragte Tyson seinen Großvater inzwischen.

„Na was denn wohl…“

„Das ist keine Antwort.“

„Mensch, Grünschnabel! Ich rufe die örtlichen Polizeistationen an! Irgendwohin müssen die deinen Bruder doch verschleppt haben.“

Tyson trat an ihn heran und klappte das Buch entschieden zu.

„Hast du auf die Uhr geschaut? Als wir das Revier verlassen haben, war es draußen stockfinster und in den Büros fast keine Sau mehr da.“

„Da wird es bestimmt eine Notbesetzung geben. Wenn ein Einbrecher irgendwo einsteigt, wartet man ja auch nicht bis zum nächsten Morgen um es zu melden!“

Ein verzweifeltes Schnaufen kam von Tyson. Eigentlich wollte er dem alten Mann erst etwas zu Essen machen, danach die Medikamente verabreichen und anschließend ihm in Ruhe, bei einer Tasse Tee alles erläutern. Doch er hatte unterschätzt wie engstirnig dieser aufmüpfige Alte sein konnte.

„Opa… Ich muss mit dir über etwas reden.“

„Kannst du gerne machen. Ich suche inzwischen weiter.“

Er klappte das Telefonbuch wieder auf und blätterte zu der Seite, die er zuvor offen gehabt hatte, bevor er von Tyson gestört wurde.

„Es geht um Hiro…“

Nun schaute sein Großvater doch auf. Er taxierte seinen Enkel und begann wohl in seinem Hinterstübchen zu kombinieren. Seine Brauen zogen sich argwöhnisch zusammen.

„Auf dem Revier hast du gemeint, du wüsstest nicht was mit ihm ist.“

Er wollte wissen ob Tyson ihn belogen hatte. Was ja auch der Fall war…

„Lasst ihr uns ein paar Minuten allein?“, bat der seine Freunde. „Ray, du kannst das Telefon im Flur benutzen. Du weißt ja noch wo es steht.“

Ein starres Nicken kam von ihm. Aus irgendeinem Grund hatte Tyson den Eindruck, dass er bereits im Bilde war. Ray scheuchte Max mit sanfter Gewalt aus der Küche hinaus, während Kai seiner kleinen Schwester die Hand entgegenstreckte. Mit einem auffordernden Lächeln nickte er zur Tür.

„Komm mit Jana. Wir gehen ins Wohnzimmer.“

„Darf ich Fernseh gucke?“, wollte sie wissen.

„Das musst du Tyson fragen. Wir sind bei ihm zu Gast.“

Sie blinzelte mit ihren dunklen Knopfaugen erwartungsvoll zu ihm herüber. Die stumme Bitte war unübersehbar. So langsam begriff Tyson, weshalb Kai ihr keinen Wunsch abschlagen konnte, denn das Mädchen besaß einen zuckersüßen Hundeblick. Ihr diese Bitte abzuschlagen, wäre wie einen Karton voller Welpen am Straßenrand abzustellen.

„Klar darfst du. Und nimm den Teller mit.“, er kniff ihr spielerisch in die volle Wange, woraufhin sie ein strahlendes Lächeln, mit einer kleinen Zahnlücke entblößte. Und schon sprang das Mädchen vom Stuhl auf und tänzelte hibbelig um ihren Bruder herum, drückte ihm kommentarlos den Teller in die Hand, als Aufforderung ihn zu tragen. Tyson bewunderte Kais Ruhe, denn die Kleine schien auch etwas anstrengend zu sein. Den ganzen Weg zum Wohnzimmer, hörte man sie im Flur plappern, hüpfen und singen. Allerdings war es auch irgendwie süß, in welchem Ausmaß sie Kai zu vergöttern schien, denn offenbar hatte sie ein Lied komponiert, dass allein aus dessen Namen bestand und das sie nun zum Besten gab.

„Du weißt also doch etwas…“, lenkten die Worte seines Großvaters ihn vom Geräuschpegel im Flur ab. Tyson seufzte und rieb sich über die Augenlider. Er musste zugeben dass er hundemüde war. Am liebsten würde er den Kopf auf die Tischplatte senken und noch an Ort und Stelle einschlafen. Doch es gab einfach noch zu viel zu erledigen, bevor er zu Bett gehen konnte.

„Ja, ich weiß es. Kenny hat es mir erzählt, kurz bevor ich von der Polizei aufgegriffen wurde.“

„Warum hast du mich belogen?“

„Weil es nichts ist, was man zwischen Tür und Angel erklären sollte. Ich wollte es dir in Ruhe erzählen, damit du dich darauf einstellen kannst. Aber nicht so…“

„Grünschnabel, ich mag zwar mittlerweile nicht mehr der Kräftigste sein, aber aus Porzellan bin ich noch lange nicht.“

„Du hast ein schwaches Herz und das sollte man schonen.“

„Zum Donner noch eins!“, sein Großvater haute zornig auf die Tischplatte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Seit ich das erste Mal im Krankenhaus lag, behandelst du mich wie einen Pflegefall! Ich bin immer noch das Familienoberhaupt! Und ich will nicht von meinem Enkel belogen werden! Von keinem von euch beiden!“

Tyson atmete hörbar aus.

„Okay, schon gut. Es tut mir Leid.“

„Sollte es auch! Und nun heraus mit der Sprache! Was ist mit deinem Bruder passiert? Und wehe dir du schwindelst mich wieder an, dann verpass ich dir einen Schädelbasisbruch der sich gewaschen hat!“

„Jetzt beruhige dich! Ich erzähle es dir ja…“, schnalzte Tyson genervt mit der Zunge. Er zog einen der Stühle vor und nahm neben seinem Großvater Platz. Einen Moment dachte er nach, wie er beginnen sollte. „Zunächst einmal solltest du wissen, dass ich selbst noch nicht alles in Erfahrung bringen konnte. Ich weiß eigentlich nur das, was mir Kenny erzählt hat - und selbst das war eher dürftig. Es war einfach nicht genug Zeit da und jetzt ist er weg.“

„Ihr konntet den Jungen also nicht beruhigen?“

„Nein.“, sprach Tyson traurig.

„Wundert mich nicht.“

„Mich auch nicht. Deshalb will ich ihn auch nicht noch einmal darüber aushorchen. Er war total fertig mit den Nerven.“

„Ist mir nicht entgangen.“, sein Großvater fuhr sich nachdenklich über den Bart, nickte jedoch irgendwann. Offenbar wollte er das Kenny ebenfalls nicht zumuten. „Was hat er dir erzählt?“

„Während wir abwesend waren ist das Anwesen durchsucht worden.“

„Das ist ja nichts Neues. Ist ja kaum zu übersehen! Diese Stümper haben noch nicht einmal das Absperrband entfernt und im Haus liegt alles kreuz und quer. Da kommt man sich vergewaltigt vor!“

„Ich hatte noch keine Zeit mich umzuschauen…“, Tyson wand sich unangenehm auf seinem Stuhl. „Jedenfalls muss Hiro dabei gewesen sein, als sie alles auf den Kopf gestellt haben. Er und Kenny haben uns zuvor gesucht und sind irgendwie auf die Hausdurchsuchung aufmerksam geworden. Wahrscheinlich aus dem Fernsehen – wegen Ming-Ming.“

„Du meinst diese bekloppte Reporterin?“

„Ja.“

„Ich habe in Mariahs Hotel ihren Bericht gesehen. Eine einzige Frechheit.“, brummte sein Großvater verstimmt. „Diese Frau kommt mir aber irgendwie bekannt vor.“

„Mensch, Opa! Sie war doch auch eine Bladerin. Eine aus dem BEGA Team.“, rollte Tyson mit den Augen. Sein Großvater kratzte sich grübelnd am Kopf.

„Da klingelt nichts. Ich bin eben nicht mehr der Jüngste. Da lässt das Erinnerungsvermögen nach.“, dann fragte er: „Ist das überhaupt von Bedeutung?“

„Ja.“

„Warum?“

„Weil sie der Grund ist weshalb Hitoshi überhaupt erst festgenommen wurde.“

„Hör auf in Rätseln zu sprechen und komm zum Punkt!“

„Okay, wie du willst.“, schnalzte Tyson. Er verschränkte die Arme vor der Brust und sprach dann frei heraus: „Sie ist tot. Und so wie es aussieht ist Hitoshi Schuld daran.“

Da wurde sein Großvater auch schon still.

„Wiederholst du das? Ich glaube ich habe dich nicht richtig verstanden.“

„Ich glaube du hast mich schon richtig verstanden.“

Er blickte seinen Enkel an, forschte in seinem Gesicht nach einem Anzeichen, ob seine Worte nur ein makabrer Scherz waren. Doch kein Muskel regte sich darin. Kein verräterisches Zucken um die Mundwinkel war zu erhaschen. Es verging eine gefühlte Ewigkeit, in der Tyson auf eine Reaktion wartete.

Als diese aber ausblieb, fragte er: „Opa?“

Eine winzige Schrecksekunde glaubte er, dass sein alter Herr wieder einen Schlaganfall bekam. Doch irgendwann erhob er sich vom Tisch. Seine Bewegungen wirkten wie gerädert, aber ein Nicken war dabei. Er lief zur Küchenzeile und stützte sich über dem Waschbecken ab. Tyson vernahm seine Atemzüge. Inmitten dieser Stille, wirkten die Geräusche aus dem Wohnzimmer, umso lauter, obwohl Tyson sicher war, dass seine Freunde auf einen gemäßigten Tonfall achteten und Kai den Fernseher für seine Schwester, nicht zu laut aufgedreht hatte. Diese Botschaft lastete einfach schwer im Raum. Tyson blickte auf seinen Großvater, der ihm noch immer den Rücken zugewandt hielt. Er schien aus dem Fenster über der Spüle zu schauen.

„Wie ist das passiert?“, wollte er irgendwann wissen.

„Wenn man dem Chef glauben darf, hat Hiro ihr während einer Streiterei einen Schubs verpasst. Sie ist ungeschickt gestürzt und in einer Einfahrt gelandet. Gerade als das Auto von den Nachbarn dort rückwärts hinausfuhr.“

„Deshalb war auch bei denen ein Absperrband…“

Das war Tyson gar nicht aufgefallen. Wahrscheinlich weil er draußen zu sehr auf Kai geachtet hatte, anstatt einmal den Blick über die Umgebung schweifen zu lassen. Er schnaufte und sprach traurig: „Wahrscheinlich.“

„Ist Kenny wirklich sicher, dass Hiro schuld daran war? Oder ist das einfach nur Hörensagen? Ich meine… Die Polizei lag schon einmal falsch! Warum nicht ein weiteres Mal?“

Er wollte es nicht wahrhaben, hoffte immer noch es sei nur ein falscher Verdacht. In seiner Verzweiflung griff sein Großvater nach jedem Strohhalm. Selbstverständlich tat er das, denn seine Familie war ihm sein edelstes Gut und Hiro genauso ein Teil davon. Doch Tyson antwortete nur leise: „Kenny war dabei...“

Auf diese Worte hörte er den alten Mann stockend ausatmen. Seine rechte Hand hob sich vom Waschbecken, wanderte hinauf zum Gesicht. Auch er sah keinen Grund darin, weshalb der Chef lügen sollte.

„Das ist… Das ist eine wahrhaft schlimme Botschaft.“

Er stützte sich wieder am Waschbecken ab.

„Ich muss mit ihm reden.“

„Opa, ich habe bereits mit Inspektor Kato gesprochen. Er meinte dass die Besuchszeit erst morgen früh wieder losgeht. Wir können heute nichts mehr machen…“

„Weiß seine Verlobte davon?“

„Ich habe nicht mit ihr darüber gesprochen, aber Kenny machte eine Andeutung. Sie muss es für sich behalten haben, weil sie weiß, dass du Herzprobleme hast.“

„Eine Schweinerei ist das! Den ganzen Abend saßen wir alle da draußen in der Kälte, aber keiner von beiden macht das Maul auf!“

„Das war bestimmt nicht böse gemeint.“

„Mag sein. Aber in Ordnung ist das trotzdem nicht… Hiro mag schwierig sein, aber er ist genauso mein Junge wie du.“

Eine Weile kehrte wieder Stille ein. Tyson konnte Rays dumpfe Stimme hören, wie er am Telefon sprach. Dann wandte sich sein Großvater ab und stellte sich gerade auf.

„Nun gut. Jammern bringt nichts. Die Familienehre hat die ersten Flecken abbekommen. Wir müssen jetzt zusehen, wie wir den Karren aus dem Dreck ziehen!“, er setzte sich wieder an den Tisch, auch wenn Tyson nicht entging, dass seine Augen wässrig glänzten. Doch stolz wie sein alter Herr war, blinzelte er diesen Anflug von Schwäche fort und sprach: „Zunächst einmal brauchen wir einen Anwalt.“

„Warst du nicht neulich bei einem?“

„Das ist ein Freund von mir und der ist nicht auf… Mord spezialisiert.“, er hatte gezögert, bis er sich dazu überwand das Wort auszusprechen. „Das ist wirklich heikel Grünschnabel. Zunächst einmal unser Ruf in der Straße... Dann noch der finanzielle Aspekt. Wir sollten keinen Stümper beauftragen. Er sollte sein Fach verstehen. Das wird dann aber nicht billig.“

Tyson dachte nach. Da kam ihm etwas in den Sinn.

„Vor drei Monaten wollte jemand die Werkstatt kaufen. Oder vielmehr das Gründstück.“

„Tatsächlich? Das hast du mir gar nicht erzählt.“

„Weil der Preis eine Frechheit war. Allein die Zeit die ich in den Laden investiert habe, deckt das Angebot nicht ab. Aber wenn es nicht anders geht, dann…“

„Vergiss es! Du hast so lange da drinnen herum gehandwerkelt, das sollte wirklich die letzte Option bleiben.“, sein Großvater rieb sich die Nasenwurzel. „Das hätte zu keinem schlechteren Zeitpunkt passieren können. Gerade als wir in den Umbaumaßnahmen für den Dojo stecken. Die oberste Etage ist in zwei Wochen fertig. Den Bau können wir nicht mehr stoppen.“

„Haben wir keine Ersparnisse mehr?“

„Doch, natürlich. Aber ich weiß nicht, wie viel so eine Verhandlung kosten wird. Wenn wir verlieren sollten, bleiben wir außerdem auf den Kosten sitzen.“

„Hiro kann bestimmt auch aushelfen und seine Verlobte scheint auch gut betucht zu sein.“, Tyson erhob sich und ging auf den Kühlschrank zu. „Ich werde morgen früh gleich zu ihm fahren und mit ihm über seine Möglichkeiten sprechen. Aber jetzt koche ich etwas und danach nimmst du endlich deine Tabletten ein. Vertrau mir Opa, ich kläre das.“

Er holte eine Schachtel Eier heraus.

„Meine Familie beschütze ich mit meinem Leben. Das weißt du doch…“
 

Für heute Abend gab es lediglich ein Spiegelei für seinen alten Herren, doch was Essen anging, waren sowohl er als auch Tyson, nicht gerade Gourmet Feinschmecker. Was gut aussah, wurde zwischen die Kiemen geschoben, da war man in diesem Haus noch nie sonderlich penibel gewesen. Dem Rest der Gruppe würde er etwas feineres servieren, denn sein Großvater äußerte die Bitte, Tyson möge sich um den Besuch kümmern, da er hoch gehen würde, um seine Tabletten einzuwerfen.

„Du klärst das also mit Hiro morgen?“

„Natürlich.“, versprach er auf die besorgte Frage noch einmal. Erst nach diesen Worten, fand sein Großvater die Kraft sich zu erheben und langsam in die obere Etage zu humpeln. Sein Gang wirkte träge, als würde ihm die Last der Hiobsbotschaft auf dem Haupt lasten.

„Ich bereite das Bettzeug vor.“, rief er über seine Schulter hinweg.

„Das kann ich doch machen. Leg dich lieber hin.“

„Herrje, Grünschnabel! Ich bin kein Soufflé das beim ersten Furz in sich zusammenklappt!“

Damit stapfte er hinauf, während Tyson ihm mürrisch hinterherschaute.

„Schon gut. War ja nur ein Angebot…“

Trotz seiner Sorgen schien sein alter Herr des Zeterns nicht Leid. Als Tyson in die andere Richtung des Flurs ging, um den Rest der Gruppe zu fragen, ob sie bis zu Mariahs Ankunft mit dem Essen warten wollten, fielen ihm sogleich die besorgten Gesichter auf. Ray lehnte neben der Wand beim Telefon und starrte mit zusammengezogenen Brauen, nachdenklich zu Boden, während Max leise auf ihn einsprach. Kai spähte durch die traditionellen, verglasten Schiebewände, hinaus auf den verschneiten Hof, während eine Tür weiter, das Flackern des Fernsehers in den Flur trat, gefolgt von Janas kindlichen Selbstgesprächen. Er näherte sich den anderen, hörte sie während ihren Grübeleien murmeln. Als er vor der offenen Tür kurz stehen blieb, erspähte er Jana dabei, wie sie zu Taylor Swift auf dem Sofa hopste. Ein wirklich aufgedrehter Floh…

„Alles in Ordnung?“

Die Köpfe hoben sich. Nur mit mäßigem Erfolg, gelang es ihm Kai nicht anzuschauen. Der wandte sein Gesicht auch bald wieder von ihm ab, blickte mit starrer Miene hinaus. Allerdings erhaschte Tyson einen zarten Hauch einer Röte auf dessen Wangen. Er wollte so gerne noch einmal mit ihm Reden…

„Nicht wirklich.“, antwortete Max auf seine Frage.

„Warum?“

„Es gibt Probleme mit dem Flugverkehr. Vor kurzem wurde zwar der Airport in Tokyo wieder geöffnet, aber man spricht davon, dass das Wetter so unberechenbar geworden ist, dass kein Meteorologe noch voraussagen kann, wann es wieder umschlägt.“

„Ich frage mich ob das am Tod der Uralten liegt.“, äußerte Tyson seine Vermutung.

„Ist uns auch schon durch den Kopf gegangen, aber müsste es dann nicht schon viel schlimmer sein?“, fragte Ray. Er stützte sich von der Wand ab. „Außerdem ist es seit einigen Stunden auch anderenorts wieder besser geworden. Man berichtet noch von einigen Naturkatastrophen, doch diese schlimmen Wetterverhältnisse, scheinen in einigen Regionen wieder komplett zurückzugehen.“

„Okay. Und wo liegt dann das Problem?“

„Wir haben darüber diskutiert, ob es nicht besser wäre, wenn wir gleich heute Nacht abfliegen, bevor das Wetter sich wieder verschlechtert. Sonst stecken wir auf unbestimmte Zeit in Japan fest.“

„Wir?“, fragte Tyson und blinzelte perplex in die Runde. „Wieso wir? Ich meine, ich verstehe dass du gehen möchtest Max. Auf dich wartet immerhin eine Beerdigung. Aber weshalb hast du es auf einmal so eilig, Ray?“

Der schaute wieder mit starrer Miene zu Boden.

Nach einem tiefen Atemzug begann er zu erklären: „Einige Tage, bevor ich China verlassen habe, habe ich die Scheidungspapiere eingereicht.“

„Die lassen sich doch bestimmt zurückziehen. Und Mariah muss ja auch noch zustimmen.“

„Das hat sie getan.“

Tyson schaute verdutzt.

„Moment... Ich dachte sie war gegen die Scheidung!“

„War sie auch, aber der Anwalt den ich engagiert habe, hat ihr anscheinend so zugesetzt, dass sie die Papiere unterschrieben hat.“

„Was?!“

Sein geschockter Ausruf, ließ Janas Köpfchen zu ihm hinüberschauen. Sie blinzelte über die Lehne, bis der Chor von Taylor Swift sie wieder ablenkte.

„Warum ist sie dann überhaupt noch in Japan aufgetaucht?“, wollte er wissen.

„Weil Mao es zwar bereut hat, die Papiere unterschrieben zu haben, aber erst den Mut dazu gefasst hat, für unsere Ehe zu kämpfen, nachdem Lee sie dazu gedrängt hat.“

„Na wenigstens einer aus der Familie, der etwas in der Birne hat! Das darf doch nicht wahr sein…“, fauchte Tyson und verschränkte genervt die Arme vor der Brust.

„Gibt es in China kein Trennungsjahr?“, fragte Max inzwischen.

„Nein. Und wenn die Scheidung einvernehmlich ist geht es ziemlich zügig über die Bühne. Und mit ihrer Unterschrift, hat Mao bereit erklärt, dass sie es auch möchte.“

„Das hat uns gerade noch gefehlt.“, murmelte Tyson. Er wollte eigentlich endlich mal zur Ruhe kommen. Nachdenklich begann er auf und ab zu laufen. „Wann hat sie die Papiere unterschrieben?“

„Letzte Woche.“

„Das heißt das Ganze könnte schon in Bearbeitung sein?“

„Vermutlich. Ich glaube es gibt noch eine Anhörung vor einer Registerbehörde, aber ob wir da noch etwas ausrichten können…“

„Was ist denn diese Registerbehörde? Ist das eine Gerichtsverhandlung?“

„Frag mich nicht. Ich habe doch auch keine Ahnung!“, Ray hob hilflos die Hände. „In unserem Dorf lässt man sich für gewöhnlich nicht scheiden. Ich kenne niemanden außer mir, der das versucht hat. Daher ist mir dieses ganze Prozedere auch neu. Ich wüsste nicht, wen ich fragen könnte.“

„Na, deinen Anwalt!“

„Ich habe die Telefonnummer nicht hier. Die ist in meiner Unterkunft in China. Alle Dokumente zur Scheidung habe ich dort gelassen.“

„Warum hast du sie denn nicht mitgenommen?“, stöhnte Tyson.

„Weil ich dieses eine Wochenende meine Ruhe haben wollte! Eine Scheidung ist wirklich anstrengend und ich wollte eine Verschnaufpause davon.“

Das konnte er ihm nicht einmal zum Vorwurf machen.

„Und Mariah hat die Papiere auch nicht dabei?“

Ein Kopfschütteln war Rays Antwort. Tyson dachte kurz nach und fragte dann:

„Wie wäre es mit der Auskunft?“

„Der Anwalt heißt Li Yang. Du hast keine Vorstellung wie häufig dieser Name in China vorkommt...“

„Aber du weißt die Stadt in der die Kanzlei steht?“

„Kunming ist kein Bergdorf!“, lachte Ray trocken. „Diese Stadt ist eine der größten Industriestädte der Provinz Yunnan. Das wird die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.“

„Wir könnten die Adresse googeln.“, warf Max ein. Doch auf seinen Einfall schaute Tyson mit einem unangenehm berührten Blick zur Decke.

„Ich habe keinen PC. Das wisst ihr doch…“

„Immer noch nicht?!“, fragte Max fassungslos.

„Nein. Opa hasst diese Dinger! Er sagt so etwas kommt ihm erst ins Haus, wenn seine Leiche unter der Erde liegt. Er bekommt ja schon einen Anfall, wenn er eine Horde Jugendlicher zusammensitzen sieht und alle nur auf ihr Handy starren.“

„Hey, unsere Handys!“, klatschte Max begeistert.

„Die liegen im Hotel und selbst dann wird es schwierig die Adresse zu finden.“

„Oh… Mein Gott Tyson, wie könnt ihr nur so hinterwäldlerisch sein?“

„Hey, ich bin auch ganz gut ohne PC aufgewachsen, okay?! Ich mag diese scheiß Stromfresser auch gar nicht! Und wenn es wirklich mal notwendig war, habe ich Kenny mit seiner Dizzy kommen…“

Tyson verstummte und auch der Rest blieb einen Moment ruhig, beim Gedanken an das verschiedene Bit Beast. Irgendwann schüttelte er den Kopf, um die trübsinnige Überlegung zu verscheuchen.

„Es muss doch eine Lösung geben den Anwalt zu erreichen.“

„Selbst wenn er ihn erreicht, Tyson, was ist wenn ein Telefongespräch nicht ausreicht?“, fragte Max in den Raum. „Ich bin vielleicht auch kein Spezialist, aber womöglich verlangt der Anwalt ein Dokument, dass ihm schwarz auf weiß beglaubigt, dass Ray die Scheidungspapiere zurückzieht. Wahrscheinlich kommt er durch den ganzen Arbeitsaufwand auch nicht um eine gepfefferte Rechnung herum! Oder der Anwalt will sogar eine erneute Unterredung…“

„Ray ist sein Mandant. Der Kunde ist König!“, warf Tyson entnervt ein. „Wieso hat der Typ Mariah überhaupt so bedrängt? Darf der das?“

Die Antwort blieb längere Zeit aus. Ray schloss lange Zeit die Augen und seine Reaktion sagte den restlichen Anwesenden, dass er gerade mit sich haderte. Als Max ihn erneut ansprach, seufzte er schwer.

„Kurz bevor wir in der Irrlichterwelt gestrandet sind – da war ich wirklich unglaublich wütend auf Mao. Es war so schlimm, dass ich sie am liebsten in die Hölle gewünscht hätte.“, gestand er beschämt. Etwas überrascht tauschten Tyson und Max Blicke aus. Natürlich war ihnen nicht entgangen, das Ray gekränkt wirkte, doch einen solchen Zorn hatte er sich nicht anmerken lassen. „Diese Wut… Es fühlte sich an, als würde ich tief in der Magengrube einen Schrei unterdrücken, den ich nicht hinausbrüllen darf! Der Gedanke das sie mich betrogen hat, war eine furchtbare Demütigung für mich.“

„Sowas verkraftet doch niemand leicht.“, sprach Max verständnisvoll.

„Ja vielleicht… Aber dieser ganze Zorn der sich in mir angefressen hatte, hat mich nur noch daran denken lassen, wie ich Mao am besten verletzen kann. In mir hatte sich wirklich der Wunsch festgenagt, mich an ihr zu rächen. Also habe ich mich gleich nach meiner Ankunft in Kunming, nach dem hartnäckigsten Scheidungsanwalt umgehört. Ich wurde natürlich auch irgendwann fündig. Und als wir uns trafen, fragte er mich, wie weit ich gehen wolle, um die Scheidung durchzuboxen. Ich habe ihm gesagt, dass Mao keinen Groschen sehen darf, ich das Haus behalten möchte und kein Unterhalt für das Kuckuckskind in Frage kommt. Und dazu wäre mir jedes Mittel recht.“

Ray schaute schuldbewusst zur Seite.

„Natürlich hätte sie auch einen Anwalt nehmen können, aber ich habe unsere Konten geräumt, damit sie keinen von meinem Einkommen bezahlen kann. Sie selbst ist ja nur Hausfrau. Aber ich wusste ohnehin, dass Mao in derlei Dingen nicht bewandert ist. Also habe ich ihm gesagt, er soll zusehen, dass sie mit dem Kind auf der Straße landet. Je eher, desto besser.“

Tyson klappte einen Moment der Mund auf. Natürlich verstand er, dass Ray sich nach einem solchen Betrug, gewissen Rachegelüsten hingab, aber dieses Verhalten passte nicht zu ihm.

„Wow…“, kam es geschockt von Max. „So kenne ich dich gar nicht.“

„Ich mich auch nicht!“, keuchte Ray gequält aus. „Und das Schlimme ist, dass der Anwalt meinte, ich könne mich darauf verlassen, dass die Scheidung innerhalb einiger Tage durch sei. Er habe Kontakte zu angesehenen Scheidungsrichtern, die mit ein wenig Geld unter der Hand, Mao ganz schnell aus dem Haus jagen könnten. Ich müsste es mich nur etwas mehr kosten lassen. Ich habe den Betrag bezahlt und er versprach mir dafür zu sorgen, dass sie die Papiere innerhalb der nächsten Woche unterschreibt.“

Es kehrte Stille ein. Tyson bemerkte aus den Augenwinkeln, wie sich Kai langsam der Gruppe zuwandte. Auch ihm schien klar zu sein, wie ernst die Lage für das junge Paar war.

„Als ich vorhin mit Mao telefoniert habe, hat sie gesagt, dass der Anwalt wirklich sehr energisch gewesen sei. Er muss sie regelrecht genötigt haben zu unterschreiben. Sie meinte, er habe ihr Angst gemacht. Vor allem kam er nicht allein. Er hat zwei riesige Typen bei sich gehabt.“

„Wurde sie bedroht?“, wollte Tyson wissen. Der Gedanke schoss im sofort durch den Sinn, weil er sich so eine Situation sehr beängstigend vorstellte, vor allem für eine Frau in Mariahs Verfassung.

„Nicht direkt. Er soll aber ständig mit unterschwelligen Drohungen gearbeitet haben. So auf die Art, wenn du nicht unterschreibst, könnte sich deine Untreue herumsprechen und wie schrecklich muss es dann für dein armes Kind sein, als Bastard verrufen zu sein.“

„Was ist das denn für ein Anwalt?“, fragte Max.

„Der beste von seinem Fach.“, Ray massierte sich die Nasenwurzel. „Wahrscheinlich deshalb. Und ich habe ihm auch noch den Freibrief erteilt…“

„Wie konntest du dich auf so einen Handel einlassen?“

„Ich war so unglaublich wütend! Ich wollte mich einfach nur gegen diese Ungerechtigkeit wehren! Wenn wir nicht in der Irrlichterwelt gelandet wären, hätte ich meine Frau, samt meinem eigenen Kind, auf die Straße geworfen!“, er schloss die Augen, lehnte sich wieder an die Wand, den Kopf in den Nacken gelegt. „Aber das wirklich Schlimme an der Sache ist, dass ich jetzt verstehe, was Galux gemeint hat. Ich bin wirklich wie Driger. Wenn ich mich rächen will, kann ich nicht mehr zwischen richtig oder falsch unterscheiden. Stattdessen mache ich meine eigenen Gesetze. Ich bin dann einfach nur noch furchteinflößend und suche nach einem Weg, meine Ehre wiederherzustellen.“

Etwas unbeholfen schaute Tyson zum Rest seiner Freunde. Er wusste nicht was er darauf erwidern sollte, da fiel ihm auf, wie Max sich nachdenklich über den Hals fuhr. Er erinnerte sich wohl daran, wie Ray ihn beinahe im Schlaf erwürgt hatte. Stille kehrte zwischen ihnen ein. Jeder dachte an Galuxs warnende Worte. Doch irgendwann durchbrach Tyson das Schweigen.

„Okay… Also wie geht es weiter?“

„So wie es aussieht, muss ich jetzt erst einmal zu Mao ins Hotel.“, sprach Ray. „Da die Entwarnung gekommen ist, ist sie jetzt auf ihrem Zimmer. Ich habe ihr gesagt, sie soll schnell die Sachen packen und an der Rezeption darum bitten, uns die frühesten Flüge zu buchen. Für Max sucht sie auch nach einem Ticket in die Staaten. Dann könnten wir vielleicht heute noch alle vom selben Flughafen aus fliegen. Wenn du uns zu Mao fahren könntest und danach bei unseren Hotel ablädst, könnten wir von dort aus alle zusammen ein Taxi-…“

„Ich bringe euch selbst zum Flughafen. Erzähl nicht so einen scheiß!“

Ein Schmunzeln kam von seinen Freunden. Natürlich wussten sie dass dieses Angebot kommen würde, doch man wollte Tyson einfach die Wahl lassen.

Eine Weile wurde es ruhig. Dann sprach er: „Wow… Das geht jetzt alles doch recht schnell.“

Irgendwie wurde Tyson traurig, aber das war normal. Wann immer die beiden in die Heimat aufbrachen, überkam ihn ein Gefühl der Beklommenheit. Da spürte er jedoch Maxs Hand auf seiner Schulter. Er schaute ihn mit einem aufmunternden Ausdruck an.

„Kopf hoch, Kumpel. Wir sehen uns in drei Monaten wieder. Und dann ohne rachsüchtige Bit Beast. Diese Woche wird dann genau so, wie wir uns das vorgestellt haben.“

„Und du bist dann gefälligst auch wieder dabei, Kai. Du weißt was du uns im Wagen versprochen hast?“

Etwas irritiert blinzelte Tyson zu seiner Seite. Er hatte gar nicht bemerkt, dass auch Kai scheinbar recht enttäuscht wirkte, ob der Botschaft dieses frühzeitigen Aufbruchs. Auf Rays Worte hob er jedoch den Blick und nickte nach einer Weile - mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.
 


 

*
 

Es gab Orte in der Menschenwelt, da kostete es selbst ein Bit Beast große Überwindung, nicht der Trägheit zu verfallen und die Beine baumeln zu lassen. Hawaii war einer dieser Flecken. Wenn Dragoon einmal hier halt machte, nutzte er gerne die Zeit, um die Wellen vor der Küste anzupeitschen und die Surfer zu beobachten, die in atemberaubenden Stunts auf ihnen hinwegfegten. Doch heute landete er nur in Honolulu, um eine winzige Verschnaufpause zu machen. Mehr durfte es nicht sein, das gestattete seine Zeit nicht. Hier auf der Insel war kein einziges offenes Portal noch zu spüren. In Japan dürften die Schotten schon gänzlich dicht sein und desto länger er brauchte, desto mehr würde sich Dranzer an der Energie der Menschen dort laben. Das bereitete ihm seit seinem Aufbruch vom amerikanischen Kontinent Kopfzerbrechen. Während er seine Energie für den Flug nach Japan immer weiter verschwendete, würde Dranzer zunehmend erstarken. Zu seinem Bedauern musste er außerdem feststellen, dass er sein Menschenkind zwar spüren, aber nicht auf dessen Energie zugreifen konnte. Etwas störte ihre Verbindung. Ihr Unverständnis füreinander schien ihr Band gestört zu haben, daher schwächelte Dragoon gerade und ihm blieb irgendwann keine andere Möglichkeit, als auf einem der Hochhäuser der Stadt, eine kurze Rast einzulegen. Dragoon stützte sich an den Knien ab und schnaufte schwer, während er den Blick über die tropische Landschaft wandern ließ, zur Nachbarinsel hinüber. Er brauchte Takao eigentlich mehr denn je…

Mit einem Mal wurde ihm bewusst, wie vollgepumpt der Junge doch von Willenskraft war. Schon immer war die Blutlinie der Takao entstammte, von dieser immensen Stärke gesegnet gewesen. Jeder seiner Ahnen besaß viel Wind in der Seele, aber sein Menschenkind war schon eine Klasse für sich. Doch nun schien ihm diese Quelle verwehrt.

Etwas zähneknirschend dachte Dragoon, wie schwierig es werden würde, ein ähnliches Kind zu finden. Natürlich könnte er versuchen, mit Takao wieder ins Reine zu kommen, doch ob er diese Wogen jemals glätten könnte?

Etwas Stolz war ihm zudem noch geblieben. Das sich ein Uralter bei einem Menschen entschuldigen sollte, schien ihm undenkbar. Ein Wind kam auf. Es fühlte sich erfrischend auf seiner Haut an. Dragoon hatte das Gefühl ein Luft Bit Beast hinter dieser Böe zu spüren. Das gab ihm sofort neue Energie. Seine Untergebenen mussten mittlerweile wissen, wie viel von seinem Erfolg abhängte und das sie ihn unterstützen sollten. Ihm war vor kurzem schon aufgefallen, dass die Balance auf der Welt etwas ausgeglichener wirkte, wenn auch noch bedrohlich in der Schräglage war. Scheinbar musste die Strommaus tatsächlich Erfolg bei ihrer Sippe gehabt haben und sein Plan bereits in die Tat umgesetzt worden sein. Während er seine Rast einlegte, überlegte Dragoon, ob es nicht besser war, seinen menschlichen Körper abzulegen. Dessen Handhabung kostete ihn ebenfalls viel Kraft. Doch wenn er diese Hülle abstreifte, müsste er zurück in seinen Blade. Und der konnte nur mit Takaos Unterstützung in Bewegung gebracht werden. Er musste einfach schneller sein. So rasch wie möglich zu Dranzer gelangen, bevor seine Energie aufgebraucht war. Gerade wollte Dragoon wieder starten, da spürte er, wie sich etwas Bedrohliches hinter ihm aufbauschte. Er wandte sich um und ließ den Blick über das Meer schweifen. Neben ihm war ein hoher Mast aufgetürmt, an dessen Spitze das hawaiianische Wappen, lustlos herabbaumelte. Dragoon roch es in der Luft.

Da stürzte er sich ohne Vorwarnung vom Gebäudedach herab.

Der Wind rauschte während seinem Flug an seinen Ohren vorbei. Er sah den Erdboden auf sich zurasen und desto mehr er sich ihm näherte, hörte er das panische Kreischen der Passanten, als sie seinen freien Fall bemerkten. Köpfe reckten sich zu ihm herauf. Eine Gruppe stob auseinander und die Frauen schlugen die Hände vor die Augen, in Erwartung eines schlimmen Unheils. Doch Dragoon überzog den sterblichen Körper mit Drachenschuppen. Er vollführte kurz vor dem Aufprall eine Rolle und kam lautstark auf den Füßen auf, dass der Zement unter seinem Gewicht barst. Ein roter Wagen machte neben ihm einen Hopser, genau wie die Menschenmenge um ihn herum. Es sah eigentlich recht witzig aus, wie es sie von den Füßen fegte. Drachen konnten zwar Fliegen, waren deshalb aber nicht leicht. Neben ihm kreischte eine Frau in ihrer heimischen Zunge, hielt die Augen fest zusammen gekniffen.

„Ich will das nicht sehen! Ich will das nicht sehen!“, jammerte sie.

„Hör auf zu nerven, du blödes Weib! Ich lebe noch!“, fuhr Dragoon sie an. Dennoch wagte sie nicht aufzusehen. Die Frau blieb auf dem Boden liegen und presste die Hände fest auf ihre Augen, während ein Mann, zu ihrer Seite, sich aus geweitetem Blick aufrichtete.

„Schatz! Mach die Augen auf.“

„Bist du verrückt!“

„Der Kerl lebt noch!“

„Oh Gott, ich will ihn nicht krepieren sehen...“, wimmerte sie jedoch nur angsterfüllt.

Dragoon rollte entnervt mit den Augen und stemmte die Arme in die Seiten. Er schaute sich um. Ein Menschenkreis hatte sich um ihn gebildet. Viele Gesichter reckten sich in seine Richtung. Der Hund eines kleinen Jungen zog wie verrückt an der Leine. Sein winseln schallte über die Menge. Jene Menschen die sich bereits wieder aufgerichtet hatten, erhoben sich langsam aus der Hocke, wagten nicht ihm näher zu kommen, während die hinteren Ränge, sich neugierig auf die Zehenspitzen stellten. Dragoon sah einen alten Greis dicht vor sich und deutete auf ihn. „Du da! Alter Mensch!“

Der Greis zuckte perplex zurück, starrte ihn mit aufgesperrtem Kiefer an. Für Dragoon eine typische menschliche Reaktion. Dragoon wusste nicht woran es lag, aber jedes Mal, wenn er in einem toten Körper, einen Abstecher in die Menschenwelt wagte, zog er ständig die Aufmerksamkeit der Sterblichen auf sich. Inzwischen deutete der alte Greis auf sich.

„Meinen sie mich?“

„Natürlich. Wer ist euer Anführer?“

„Unser Anführer?“

„Ja. Auf dieser Insel.“

„Ich verstehe nicht…“

„Du liebe Zeit, seid ihr Sterblichen stumpfsinnig!“, schlug Dragoon sich gegen die Stirn. Dann sprach er. „Wer kann eurem Anführer sagen, dass bald ein Tsunami die Insel trifft?“

Das Getuschel um ihn wurde lauter.

„Soll das ein Scherz sein?“

„Keinesfalls.“

„Junge, mit so etwas spaßt man nicht!“

„Tue ich auch nicht. Ihr solltet euch deshalb lieber in Sicherheit bringen.“

„Erst von einem Hochhaus springen und alle in Panik versetzen und dann das?!“, beklagte sich eine recht verärgert wirkende Frau. Ihr faltiges Gesicht war von Zorn gezeichnet und sie schien die Mutter des Jungen zu sein, der die Töle an der Leine hielt. Dragoon schaute das Tier mit verächtlichem Ausdruck an. Hunde konnte er einfach nicht ausstehen, da fragte die Frau: „Sind sie von einem Fernsehsender?“

„Ich weiß nicht was das sein soll.“, sprach er mit einem Schulterzucken. „Aber ihr seid gewarnt! Normalerweise sage ich euch Sterblichen nicht einmal Bescheid, wenn euch etwas bald um die Ohren fliegt, aber in diesem Fall mache ich eine Ausnahme, weil ich nicht ganz unschuldig an diesem Zustand bin.“

Er trat mit dem rechten Fuß demonstrativ auf den Boden.

„Wenige Kilometer von hier, muss es ordentlich gewackelt haben. Ich bin zwar nicht vom Fach, aber wenn Draciel mir das richtig erklärt hat, sind das die besten Voraussetzungen für einen Tsunami. Ich kann bereits feuchten Sand riechen, weil sich das Wasser an eurer Küste zurückzieht. Ein Vorbote dafür, dass sich das Wasser an einer anderen Stelle sammelt.“

Er deutete zum Meer, wo sich die hellere Sandschicht, deutlich von der nassen abzeichnete.

Die Köpfe der Menschen wandten sich seinem Fingerzeig zu. Einige sahen sich unsicher an. Da fuhr Dragoon auch schon fort.

„Der Wind trägt mir außerdem lautes Rauschen ans Ohr. Das ihr Menschen das nicht hören könnt, ist mir wirklich schleierhaft, aber eure Sinne waren ja schon immer plump.“

„So ein Quatsch.“, sprach ein junger Mann. Er trug weite Hosen, die ihm viel zu weit um die Hüften schlabberten und kaum einen Hintern andeuteten. Dragoon fand, er hätte sich genauso ausziehen können, aber Menschen schienen eine obskure Abneigung dagegen zu haben, sich in der Öffentlichkeit entblößt zu präsentieren.

„So so… Quatsch? Und was ist mit den Tieren?“, fragte er höhnisch.

„Was soll mit denen sein?“

Dragoon deutete auf zum Himmel. Dort flog gerade ein Schwarm schnatternder Möwen fort.

„Uuuh!“, tat der freche Mann unbeeindruckt. „Möwen die davon fliegen! Etwas ganz neues auf Hawaii. Ich bin froh wenn die blöden Viecher mir mal nicht die Terrasse voll kacken…“

„Na schön, Schlabberhose.“, tat Dragoon eine wegwerfende Handbewegung. „Ich habe euch gewarnt. Man kann mir also nicht nachsagen, dass ich nicht zumindest guten Willen bewiesen habe. Was ihr mit meinem Wissen anstellt, bleibt euch selbst überlassen…“

„Hawaii besitzt ein Frühwarnsystem.“, kam es aus einer anderen Ecke. „Wir lassen uns doch nicht in Panik versetzten, nur damit ihr Mistkerle vom Fernsehen, euch in irgendeiner Show kaputtlachen könnt.“

„Wie ihr wollt. Ihr hättet locker eine Stunde Vorsprung haben können. Wenn ihr mich nun entschuldigt… Ich werde an anderer Stelle gebraucht. Zu dumm, dass jede Köter bessere Sinne hat, als ihr. Der Kläffer winselt nämlich aus Angst. Nicht weil er von der Leine will.“
 

Und schon gleich darauf, hob Dragoon wieder in die Luft ab, eine Menschenmenge hinter sich lassend, die darüber spekulierte, mit welchen technischen Hilfsmitteln man einen Mann so wendig zum Fliegen bringen konnte. Bis eine Stunde später die Sirenen des Frühwarnsystems erschallten. An diesem Tag wurde kein Bericht gesendet, der davon handelte, wie man einige arglose Passanten hereingelegt hatte – aber darüber das Hawaii nun eine Insel weniger besaß.
 


 

*
 


 

Tyson breitete ein frisches Laken über seinem Bett aus, während Kai hinter ihm geduldig darauf wartete, bis er fertig war, seine kleine Schwester behutsam in den Armen haltend. Die hatte ihr Köpfchen auf dessen Schulter gebettet und war mit offenem Mund eingedöst. Irgendwann war es verdächtig ruhig im Wohnzimmer geworden und als Kai nachschaute, lag das Mädchen mit einem Sofakissen auf dem Teppich, lutschte dabei geräuschvoll an ihrem Daumen, während ihre Augen immer kleiner wurden. Kurz darauf hatte Kai ihn gefragt, wo seine Schwester schlafen könne. Natürlich bot er sein eigenes Bett dafür an, auch wenn Tyson zugeben musste, dass es nicht unbedingt aus reiner Nächstenliebe geschah.

In all den Jahren, in welchen er hier wohnte, hatte er sich nämlich geweigert, ein größeres Bett zu kaufen. Wenn nämlich eine seiner Verflossenen zu betrunken gewesen war, um den Heimweg anzutreten, hatte er ihr mit einem charmanten Lächeln sein eigenes Bett angeboten, aber dabei ausdrücklich betont, dass er nicht einsehe auf dem ungemütlichen Boden zu schlafen. Meistens hatten die Mädchen sich dann geziert und gemeint, er solle bitte seine Finger über Nacht bei sich behalten. In den meisten Fällen war es nur ein guter Vorsatz geblieben…

Natürlich hatte Tyson keine Ambitionen, gerade mit Jana in einem Bett zu schlafen, aber zumindest war sein Bett zu eng, damit Kai auf die Idee kam, auch hier zu übernachten und er wäre gezwungen, mit ihm im Dojo zu bleiben. Als er in sein Zimmer trat, sah der sich auch nachdenklich um. Irgendwann bemerkte Tyson aber, das er ziemlich verwirrt wirkte.

„Was ist los?“

„Ich… Ich war der festen Überzeugung das dein Zimmer im Erdgeschoss liegt.“

Einen Moment hielt Tyson inne, bis er begriff was Kai beschäftigte. Durch den Umbau war er nach oben gezogen, während sein Großvater bald die kompletten Räumlichkeiten unten beziehen würde. Das musste Kai irritieren, weil in seiner Erinnerung alles anders aussah. Für ihn war Tysons Zimmer immer im Erdgeschoss gewesen. Jetzt verstand er auch, weshalb er so gezögert hatte, als er ihn die Treppe hinaufführte. Geradezu hilflos hatte Kai ihm vom Absatz aus nachgeschaut, bis er sein Zaudern bemerkte und sich zu ihm umdrehte. Erst dann folgte er ihm langsam hinauf.

„Das war es auch. Keine Sorge. Dein Verstand spielt dir keinen Streich.“

„Ich kann mich nicht erinnern, überhaupt einmal hier oben gewesen zu sein?“

„Wirst du wahrscheinlich auch nicht. Dieser Bereich gehörte bis vor wenigen Monaten noch Opa. Wenn ich Gäste empfangen habe, dann immer nur unten. Er will aber demnächst runter ziehen, dann bekomme ich das große Schlafzimmer. Aus dem oberen Abteil wird eine eigene Wohnung und nächste Woche ist auch schon der separate Eingang fertig. Naja, obwohl bei diesem Wetter könnte sich das jetzt verzögern.“, Tyson behielt für sich, dass er auf diese räumliche Abtrennung bestanden hatte, weil er nicht wollte, dass seine Liebschaften durch die untere Etage liefen, wenn sie nachhause wollten. Ihm war es irgendwann doch peinlich geworden, wenn sein Großvater ihn mit erhobener Braue taxierte, weil eine andere Frau als wenige Wochen zuvor, sein Schlafzimmer verließ. Vor Kai wollte er erst recht nicht darüber sprechen. Jetzt wusste er auch, weshalb er sich immer dagegen gesträubt hatte, ihm etwas von seinem Sexleben zu erzählen. Daher erklärte Tyson an ihn gewandt: „Für Großvater ist das ständige Treppensteigen zu anstrengend geworden. Er schnauft jedes Mal aus dem letzten Loch, wenn er hier hochkommt. Also entweder muss ein Fahrstuhl her oder er zieht nach unten.“

„Dein Großvater ist sehr…“, Kai zögerte.

„Laut, forsch, ein verrückter Spinner?“, witzelte Tyson.

„… alt geworden.“

Er sprach es überrascht aus. Wieder eine Sache die Kai zu irritieren schien. In solchen Momenten fragte sich Tyson, wo er gerade in seiner Entwicklung steckte. Kamen seine Erinnerungen überhaupt in der richtigen Reihenfolge zurück, oder hielt alles komplett durcheinander in dessen Kopf Einzug? Er stellte sich diese Situation ziemlich schwierig für ihn vor und doch trug Kai es mit dieser gewissen Würde, die ihm so eigen war.

„Menschen werden nun mal älter mit den Jahren.“

„Ja… Ihr seid auch älter geworden.“

„War es seltsam für dich uns als Erwachsene zu erleben?“

„Sehr seltsam.“, gestand er leise. Das konnte Tyson ihm nicht verdenken. Er warf die Decke auf das Bett zurück und hob sie an. Nach einem auffordernden Nicken kam Kai in Bewegung. Ihm fiel auf, dass er sich bemühte, nicht all zu nahe an ihn heranzutreten. Dabei kam Tyson nicht umhin, sich darüber zu ärgern, dass seine Freunde ihm zuvor so in die Quere gekommen waren. Mittlerweile war er ziemlich sicher, dass er eine ernsthafte Chance auf einen Kuss gehabt hätte. Eine Minute mehr und sie würden jetzt nicht in dieser Grauzone stecken. Doch nun lag diese unangenehme Stimmung zwischen ihnen. Ein erster Kuss hätte die Fronten bestimmt geklärt. So mussten sich beide aber nun fragen, was sie aus dem Verhalten des jeweils anderen interpretieren sollten – und wie weit sie noch gegangen wären.

Tyson beobachtete Kai dabei, wie er seine Schwester vorsichtig ins Bett verfrachtete. Dabei streiften sich ihre Arme, als er hilfsbereit die Decke über sie legte. Diese flüchtige Berührung ließ Kai inne halten und zu ihm aufschauen.

„Bist du nervös?“, fragte Tyson geradeheraus.

Er konnte sich nicht helfen – man hörte förmlich den Schalk in seiner Stimme.

„Habe ich einen Grund dazu?“

„Das kommt wohl auf deine Erwartungen an.“

Kai strich nachdenklich die Decke über Janas schmächtigen Körper glatt.

Sie drehte sich nur auf die Seite und schlummerte weiter.

„Tyson?“

„Hmm…“

„Ich kann nicht mit zum Flughafen kommen. Wegen Jana…“

Das gar nicht auf seine Anspielung eingegangen wurde, machte ihm doch Sorgen. Es schien Tyson fast, als wolle Kai ihr Erlebnis komplett ausblenden.

„Ich glaube das haben sich die beiden schon gedacht.“, er überlegte kurz, wie er am besten vorgehen könnte. „Willst du warten, bis ich zurückkomme, oder soll ich dir gleich das Bettzeug für den Dojo herrichten?“

„Ich denke sie haben es eilig. Ihr solltet keine weitere Zeit verlieren.“

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Jana auch fest schlief, erhob sich Kai wieder von der Bettkante und wandte sich der Tür zu. Tyson fiel auf, dass er sich bemühte, ihm nicht ins Gesicht zu schauen. Er tat einen tiefen Atemzug, nahm seinen Mut zusammen und sprach: „Gut. Vielleicht könnten wir dann noch einmal miteinander reden?“

Kai blieb stehen. Wenn er jetzt fragte, was es zu bereden gab, dann wäre die Sache für Tyson klar. Dann wollte er den Vorfall schnellstens vergessen und sie würden den Rest ihres Lebens darüber schweigen. Ob er nun wollte oder nicht…

Ihm kam die Minute bis Kai antwortete unendlich lange vor.

„Darf ich dich etwas fragen?“

Ein zentnerschwerer Klotz machte sich in seiner Magengrube breit. Die Entscheidung war dann wohl gefallen. Etwas enttäuscht murmelte er: „Ja. Klar…“

„Wie stehen wir beide zueinander?“

Tyson blinzelte ihn verdutzt an. Das war nicht die Frage die er erwartet hatte.

„Du meinst wie unsere Beziehung zueinander ist?“

„Ja.“, Kai spähte über seine Schulter hinweg zu ihm nach hinten. „Du hattest doch gemeint wir streiten oft. Aber das da draußen…“

„War ein wenig zu vertraut?“

Ein zögerliches Nicken folgte.

„Ab und zu fliegen die Fetzen zwischen uns. Auch wenn es vorhin nicht den Anschein machte. Das weißt du ja mittlerweile.“

„Aber das da draußen - was war das?“

Nun wandte er sich ihm vollends zu, schaute ihn fragend an.

„Wie meinst du das?“

„Ist das normal unter uns? Ich meine… Kam das öfters vor?“

Eine Weile starrte Tyson verständnislos zurück. Da weitete sich sein Blick, als der Groschen endlich fiel. Kai fragte sich, ob sie bereits eine Affäre hatten und ihm die Erinnerung dazu einfach noch fehlte. Eine hinterhältige Sekunde überlegte er, ob er tatsächlich flunkern sollte. Einfach um zu schauen wie Kai reagieren würde. Vielleicht warf er sich ihm in die Arme und ein Kuss sprang heraus? Wenn das das Eis zwischen ihnen nicht brechen würde…

Doch irgendwann schüttelte Tyson den Kopf, um die Überlegung zu verscheuchen und ermahnte sich, nicht mit seinem Kleinhirn zu denken. Das hier war nicht eines seiner Betthäschen - sondern Kai. Sein Kai…

Sie kannten sich eine Ewigkeit, ihm lag viel an ihm und doch ging er mit denselben fragwürdigen Methoden auf Angriff, wie bei seinen Verflossenen. Das war wohl die Macht der Gewohnheit – oder auch derselbe Egoismus wie ihn Dragoon besaß. Tyson schluckte bei dem Gedanken.

„Ehrlich gesagt nein. Das kam noch nie zwischen uns vor.“, er kratzte sich am Nacken und seine Antwort ließ auch Kai still werden. „Glaubt man kaum, oder? Nach allem was da draußen war.“

„Ja. Allerdings…“

Beide schauten zu Boden. Nach all den Zärtlichkeiten, all den Worten zwischen ihnen, musste das wirklich merkwürdig wirken.

„Dann ist das also eine völlig neue Entwicklung?“, wollte Kai wissen.

„So kann man es wohl nennen. Naja, ich weiß nicht so recht.“, er räusperte sich, um den Kloß in seinem Hals zu lockern. Beinahe wäre ihm herausgerutscht, dass seine Gefühle offenbar schon länger unter der Oberfläche lauerten. „Doch. Ich denke das alles ist ziemlich neu für unsere Verhältnisse.“

Betretenes Schweigen kehrte ein. Diese Stimmung war unerträglich, weil Kai nicht aussprach, was er dachte – Tyson aber auch nicht. Er wollte aber vorankommen.

Jemand musste doch den ersten Schritt wagen. Er holte tief Luft. Einmal, zweimal…

Dann überwand Tyson die letzten Meter zwischen ihnen und ergriff zaghaft Kais Finger. Dessen Blick hob sich prompt, als hätte er ihn damit aus seinen Überlegungen gerissen.

„Bereitet dir das Sorge?“, wollte er wissen.

Kai dachte lange nach, wog seine Antwort gründlich ab. Er blinzelte zu oft, was ein offensichtliches Zeichen seiner momentanen Unsicherheit war. Aus dem Erdgeschoss schallten die Stimmen der anderen hinauf. Sicherlich machten sie sich bereit zum Aufbruch, dabei wollte Tyson ihnen noch wärmere Kleidung aus dem Wandschrank heraussuchen.

Doch er musste es jetzt einfach wissen, sonst könnte er die ganze Fahrt über an nichts anderes denken.

„Kai?“

Der schaute aber nur auf ihre Hände herab. Es war derselbe vertraute Anblick den sie erst vor kurzem geboten hatten. Tyson hätte schwören können, dasselbe Knistern zwischen ihnen zu spüren, wie draußen unter der Straßenlaterne.

„Nein. Irgendwie nicht…“, er klang selbst überrascht darüber. Es ließ Tyson erleichtert Aufkeuchen und die Euphorie von zuvor nistete sich wieder in seinem Körper ein. Das könnte seine Chance sein.

„Lass uns noch einmal darüber reden wenn ich zurück bin! Heute noch… Ja?“

Es war mehr ein Drängen als ein Vorschlag. Er wollte sich wirklich bemühen, Geduld zu beweisen, doch die bloße Vorstellung, dass Kai seine Gefühle erwidern könnte, ließ ihn rastlos werden. Tyson war sich ziemlich sicher, dass er nicht mehr in der Lage war, seine Sehnsucht vor ihm zu verbergen. Und Kai schaute ihn auch unendlich lange an…

Der Himmel allein mochte sagen was ihm durch den Kopf ging. Immer wieder senkten sich die Lider über dem schönen Augenpaar, forschten in seinem Gesicht nach etwas, was ihm eine Antwort darauf gab, wie er nun handeln sollte.

„Tyson, ich…“, kam es vorsichtig. „Ich bin nicht sicher, ob wir bei einer Unterhaltung nicht etwas ans Tageslicht befördern, was vielleicht besser im Dunkeln bleiben sollte.“

„Das wissen wir beide nicht. Aber wir könnten es doch herausfinden?“

„Du sagst das so leicht. Denkst du nicht an dein Umfeld? Wäre es nicht besser, wenn wir die Dinge so belassen, wie sie sind?“, fragte Kai, doch klang er selbst nicht so überzeugt von seinem eigenen Vorschlag. „Weißt du, ich will einfach diese Freundschaft zu dir nicht aufs Spiel setzen. Sie ist mir wirklich wichtig geworden. Nach den letzten Tagen mehr denn je.“

„Was fühlst du für mich?“, wollte Tyson wissen. Die Frage war aus ihm herausgerutscht, noch bevor er seiner Zunge Einhalt gebieten konnte. Doch die Unwissenheit machte ihn ungeduldig. Er brauchte eine Antwort. Kais Augen weiteten sich, schauten ihn überrumpelt ob seiner Offenheit an.

„Was ich fühle?“

„Ja. Hörst du gerade auf deinen Kopf? Redet er dir diese Zweifel ein?“

„Warum fragst du mich das?“

„Weil ich dich sehr gut kenne. Du warst schon immer ein Kopfmensch. Das hat dir vielleicht auch sonst geholfen, aber bei solchen Dingen wie jetzt, ist er kein guter Berater. Lass deinen Kopf außen vor.“

„Außen vor…“, wiederholte Kai seine Worte nachdenklich.

„Nur dieses eine Mal!“, drängte Tyson ihn weiter. „Kannst du mir zuliebe nicht deine Logik einfach mal über Bord werfen? Eine einzige Unterhaltung! Mehr verlange ich nicht. Gib mir diese eine Chance dich zu überzeugen.“

Etwas an Kais Blick veränderte sich, kaum dass die Worte über seine Lippen gekommen waren. Plötzlich schienen alle seine Zweifel davon gefegt worden zu sein, wie Blätter die vom Wind davon getragen wurden. Er schaute ihn nur noch an – mit Augen voller Mitleid, Bedauern, aber auch tiefer Zuneigung. Da beugte sich Tyson vor und raunte ihm ins Ohr: „Es fühlt sich an als ob ich innerlich platze. Ich muss das einfach loswerden. Bitte Kai…“

Er vernahm ein leises Seufzen neben sich. Dann folgte endlich die erlösende Antwort.

„Eine Unterhaltung bin ich dir wohl schuldig. Wenigstens eine.“

Tysons Magen begann vor Aufregung zu flirren. Er würde alles geben, um Kai für eine Beziehung zu erwärmen – alle Zweifel bei ihm auszumerzen.

„Danke.“

Sie verharrten einen Moment wie sie waren. Tysons Kinn ruhte beinahe auf Kais Halsbeuge, er konnte sogar dessen Geruch einatmen. Hätte er seinen Kopf nur noch ein wenig mehr zur Seite geneigt, würden sich ihre Gesichter aneinanderschmiegen und doch stieß Kai ihn nicht fort, ließ zu, das Tyson die Hand zwischen seinen Fingern fest umschloss. Da hörte er wie sein Großvater ihn von unten rief, da sie beide schon zu lange weg blieben. Nur schwer fand er die Muße einen Schritt zurück zu tun, bemerkte dabei, dass Kai die ganze Zeit die Augen geschlossen gehalten hatte. Erst als er den Kopf zu ihm hob, öffneten sich die Lider wieder.

„Ich werde mich beeilen.“, versprach Tyson.

„Mach das nicht. Bleib lieber vorsichtig da draußen.“

„Sorgst du dich etwa um mich?“, wollte er wissen. Auf sein verschmitztes Grinsen hoben sich auch Kais Mundwinkel. Doch er blieb ihm die Antwort schuldig.

„Unterschätz das Wetter nicht.“, riet er stattdessen.

„Es ist schon besser geworden.“

„Trotzdem… Nichts drängt dich. Ich warte.“

„Das ist das erste Mal das du auf mich wartest.“, fiel ihm auf. Ihre Blicke trafen sich und Tyson erhaschte ein Lächeln vor sich. Die Luft um sie herum schien regelrecht unter Spannung zu stehen. Kai musste etwas für ihn empfinden. Es konnte doch gar nicht anders sein. Und so sehr sich Tyson auch bemühte - er erlag vollkommen seiner Hoffnung.
 


 

*
 

Mariahs gepackter Koffer lag noch aufgeklappt auf dem Bett. In ihren Flitterwochen mit Ray, hatte sie so viele Sachen eingepackt, dass sie den Deckel nicht alleine zubekam. Erst nachdem sie sich auf den Koffer setzte und ihr Mann mit einem amüsierten Grinsen meinte, dass sie vielleicht keine typische Frau sei, aber dafür in Sachen Kleidung sich nicht von den anderen Vertreterinnen ihres Geschlechts unterschied, bekam er den Reißverschluss endlich zu. Dieses Mal hatte sie aber mehr Dinge für Ray eingepackt. Am Telefon bat er sie darum, den Koffer keinesfalls zu tragen, es täte dem Baby bestimmt nicht gut, wenn sie so schwere Sachen schleppte. Es hatte sie zärtlich lächeln lassen, denn nach all den vorangegangen Streitereien, ihn endlich wieder auf ihrer Seite zu wissen, war wie das glückliche Erwachen aus einem Alptraum. Mariah war sicher – jetzt würde alles gut werden.

Sie mussten nur noch verhindern, dass die Scheidung vollstreckt wurde. Neben ihr auf dem Bett lag Galux. Das Bit Beast döste seelenruhig zu ihrer Seite, wie eine ordinäre Hauskatze, die sich an ihren Besitzer schmiegte. Mariah beugte sich zu Galux herab und streckte zögerlich die Hand nach ihrem Fell aus. Es fühlte sich samtweich an, war warm und es duftete nach Tuberose, ausgerechnet Mariahs Lieblingsblume. Als sie den Geruch das erste Mal im Zimmer wahrnahm und Galux auf diesen Zufall ansprach, lächelte das Bit Beast sie milde an.

„Ich mag diese Blume auch sehr…“

Es war fast schon unheimlich wie viele Gemeinsamkeiten sie besaßen. Mit Galux zu sprechen, empfand Mariah auch als äußerst angenehm. Obwohl sie zuvor noch nie von Angesicht zu Angesicht, mit ihrem Bit Beast reden konnte, kam es ihr vor, als wüsste es bereits alle ihre Geheimnisse. Als sie dem Wesen vor sich am Nacken entlang fuhr, gab es ein wohliges Seufzen von sich. Mao fiel ein, wie sehr sie es liebte, wenn Ray das bei ihr tat. Wenn er sie manchmal massierte, wurden seine Berührungen zum Ende hin immer sanfter, sobald sich ihre Muskulatur entspannte. Dann war sie immer überrascht, wie zärtlich seine Hände sein konnten, obwohl sie doch so rau wirkten.

„Du siehst noch immer sehr müde aus.“, sprach Mao inzwischen an Galux gewandt.

„Ich bin auch müde…“, gestand es ein. Ihre Lider öffneten sich ein spaltweit, sodass sich das Blattgrün ihrer Iris erhaschen ließ. „Das ist höchst sonderbar. Ich möchte nur noch schlafen.“

„Reicht meine Energie nicht aus?“

„Du trägst ein Kind unterm Herzen. Zu viel darf ich nicht für mich beanspruchen.“

Mao legte ihre Hand ratlos auf den Babybauch. Ihr Mann hatte erklärt, dass Galux momentan ihre Energie bräuchte, aber nicht weshalb. Seit ihr Bit Beast zurück war, kam sie sich matt vor, ganz anders als bei ihrer ersten Begegnung vor dem Hotel. Eigentlich sollten sie Galuxs Worte beunruhigen, doch da war ein tiefes Vertrauen, dass sich darauf verließ, dass ihr Bit Beast nur so viel Energie abzweigte, um sich zu erholen, nicht um Mao und dem Kind zu schaden. Ihr Ungeborenes strampelte auch noch munter in dem runden Bäuchlein, trat ihr bald schon Beulen ein, also musste Galux wirklich behutsam sein. Mariah kam sich einfach nur schlapper vor als sonst, nichts was sie von der Schwangerschaft ohnehin schon kannte.

„Was ist eigentlich passiert?“

„So vieles. Ich könnte ein Buch damit füllen…“

„Willst du es mir nicht erzählen?“

Ihr Bit Beast seufzte schwer.

„Ich muss zugeben dass ich wenig Muße dazu habe.“

„Warum? Ist etwas Schlimmes passiert?“

Eine ganze Weile blieb Galux stumm. Mariah konnte sehen, wie das Bit Beast seinen Schweif enger um den Leib zog, fast so, als wolle es sich selbst umarmen. Ihr entging nicht der traurige Blick.

„Bitte sag es mir. Ich höre dir gerne zu wenn du Kummer hast.“

Galux hob den Kopf von ihren Pfoten und blinzelte zu ihr auf.

Nach einer kleinen Ewigkeit antwortete sie: „Mein engster Verbündeter ist fort…“

Mariah entging nicht die brüchige Stimme, auch wenn ihr Bit Beast sich wohl Mühe gab, ihre Haltung zu wahren.

„Meinst du Driger?“

Ein stummes Nicken war die Antwort. Mariah erinnerte sich daran, wie Galux ihr sagte, dass Bit Beast nichts fühlen würden.

„Mochtest du ihn?“

„Das weiß ich nicht genau… Ich denke aber schon.“, Galux schloss die Augen, legte ihr Kinn auf den Pfoten ab. „Seit ich von seinem Tod weiß, halten mich merkwürdige Gedanken im Bann.“

„Was für welche?“

„Es ist schwer zu beschreiben. Es sind Überlegungen, die ich nicht kannte. Die mich früher nie beschäftigten.“

„Erzähl mir davon…“

Galux schien lange nachzudenken, wie sie ihr Anliegen schildern könnte.

„Ich fange an mich zu fragen, wie lange ich selbst auf dieser Welt wandeln werde. Das ist höchst eigenartig. Mir war sonst immer bewusst, dass mir die Ewigkeit gehört.“

„Bekommst du Angst vor dem Tod?“, wollte Mariah wissen.

Doch das Bit Beast schüttelte nur unschlüssig den Kopf.

„Was dann?“

„Da ist durchaus eine Angst in meinem Herzen verborgen. Zumindest fühlt es sich so an. Doch nicht vor dem Tod… Mir macht auf einmal die Ewigkeit Angst.“

Ein wehmütiges Seufzen kam aus Mariahs Mund. Ihre Finger fuhren tröstend über das Fell ihres Bit Beast. Sie begriff was es beschäftigte, selbst wenn Galux es noch nicht klar war.

„Denkst du daran, Driger nicht mehr wiedersehen zu können?“

„Ja.“, es klang sehr beklommen. „Weißt du Mao, mir hat der Gedanke stets Freude bereitet, ihm bei meiner nächsten Jagd womöglich begegnen zu können. Ich mochte sein stattliches Erscheinungsbild. Seine tiefe Stimme. Seine interessanten Geschichten. Seine…“

Galux hielt auf einmal inne und auch Mariah entging nicht weshalb. Aus dem zierlichen Körper neben ihr, war ein Schluchzen entflohen, der das Wesen erzittern ließ. Es brauchte mehrere Atemzüge, bevor es weitersprechen konnte.

„Mein Leib gehorcht mir nicht mehr. Ich habe das Gefühl mich nur noch zusammenkauern zu wollen – und für immer zu schlafen.“

„Oh Galux…“, entwich es Mariah mitleidig. Ihre Worte trieben auch ihrem Menschenkind die Tränen in die Augen und ein dicker Kloß tat sich im Hals auf.

„Ich weiß dass es falsch ist! So darf ich nicht denken. Ich bin ein Bit Beast und habe meine Verpflichtungen auf der Welt. Vom Tod darf ich mich nicht ablenken lassen. Aber…“, ein schweres Schlucken war zu vernehmen. „Der schreckliche Gedanke lastet auf mir, dass ich in Zukunft durch die Wälder streifen werde, ohne diese eine Hoffnung, ihm morgen zufällig irgendwo anzutreffen. Diese Hoffnung hat mein Leben doch erhellt. Sie war wie ein wundervoller Sonnenstrahl. So warm und wohltuend. Doch diese Ewigkeit… Sie fühlt sich nun umso mehr wie ein schlimmer Fluch an.“

Galux Stimme brach ab. Das Bit Beast senkte das Gesicht tief zwischen ihren Armen, um sich vor ihrem Blick zu verstecken.

„Verzeih mir Mao. Ich weiß nicht was mit mir ist. Ich schäme mich für mein Verhalten. Mein Körper fühlt sich so schwer an. Er gehorcht mir nicht mehr.“

„Entschuldige dich doch nicht dafür…“

Äußerst bedacht griffen ihre Finger nach dem Bit Beast, hoben es auf ihre Schulter, wie einen kleinen Säugling den es zu trösten galt. Dieses bemitleidenswerte Wesen, dass nun auf ewig ohne ihre Hoffnung aushaaren musste. Mariah konnte das Zittern in dem winzigen Leib fühlen.

„Ich habe solche Angst vor der Ewigkeit.“, kam das leise Geständnis. Es war ein Wimmern.

„Ich bin für dich da. Das schwöre ich dir.“

Ein erleichtertes Ausatmen kam von Galux. Mariah spürte, wie ihr Bit Beast das Köpfchen dankbar gegen ihre Halsbeuge lehnte, während sie es in ihrer Umarmung hielt.

„Ich dachte Bit Beast lieben nicht. All die vielen Jahrhunderte…“

„Du hast dich wohl geirrt.“, ihre Finger fuhren kraulend durch das Fell am Nacken. „Aber vielleicht, eines Tages, kannst du wieder lieben. Du brauchst nun einfach deine Zeit.“

„Nein! Nie wieder!“, sprach Galux mit einer Entschlossenheit, die Mariah verdutzt zucken ließ. „Es war schon richtig, dass die Uralten keine Liebe gestattet haben! Dieser Schmerz ist einfach nur furchterregend. So etwas Abscheuliches darf es nicht geben…“

In jenem Moment bemerkte Mao zum ersten Mal, dass es auch gravierende Unterschiede zwischen ihnen gab. Trotz all ihrer Gemeinsamkeiten, trennte sie beide immer noch die Tatsache, dass sie ein Mensch und Galux ein Bit Beast war.
 


 

*
 

Der Garten des Anwesens lag unter einer dicken Schneeschicht begraben. Es führten mehrere Spuren zum Tor, hinter welchem vor wenigen Minuten seine Freunde verschwunden waren. Der Moment in dem sie sich verabschiedeten, hatte Kai so sehr aufgewühlt, dass es ihn noch lange beschäftigte. Etwas in ihm wollte bei ihrem Aufbruch darum betteln, nicht von ihnen getrennt zu werden, dabei hatte er wirklich angenommen, endlich wieder den emotionalen Stand eines Erwachsenen erreicht zu haben. Doch als sich Ray und Max, mit einem traurigen Lächeln an ihn wandten, hatte Letzterer irgendwann zaghaft die Arme gehoben. Die tiefblauen Augen ruhten mitleidig auf ihm.

„Wie wäre es mal mit einer brüderlichen Umarmung zum Abschied? Nur dieses eine Mal?“

Es war eine Bitte. Max wünschte es sich…

Kai hatte unsicher auf die einladende Geste gestarrt, da legten sich auch schon zwei Arme um ihn. Er fühlte wie ihm aufmunternd auf den Rücken geklopft wurde.

„Mach´s gut Kai. Bitte pass auf dich auf…“

Die Worte klangen belegt und ihm wurde voller Schrecken klar, dass er dabei war, es Max gleich zu tun. Es war ihm unglaublich schwer gefallen, nicht die Haltung zu verlieren. Ein dicker Kloß hatte sich in Kais Hals gebildet, die Sicht verschwamm vor ihm, dabei war das überhaupt nicht typisch für ihn. Soweit er sich richtig erinnerte, war er der Starke, der Unantastbare, der Berechnende und Kühle.

Und doch war nichts mehr von diesem Menschen da, obwohl viele seiner Erinnerungen zurückgekehrt waren. Sobald auch Ray ihn mit einer zögerlichen Bewegung in die Arme schloss, spürte er wie ein Tränenfilm seine Augen benetzte. Kai war unfähig gewesen etwas zu sagen, weil nur der leiseste Laut zu viel verlangt wäre. Als Ray ihn auch noch bat, sich in Zukunft doch öfters bei ihnen zu melden, hätten ihn seine Emotionen beinahe überrannt. Er musste einen Schluchzer unterdrücken. Sobald seine Freunde von ihm abließen, drehte Kai sich weg. Er hörte noch eine ganze Weile ihre Stimmen hinter sich, wandte sich aber auch dann nicht zu ihnen um, als sie auf dem Weg nach draußen, einen letzten Abschiedsgruß zu ihnen herüberriefen. Kai schaute ihnen nicht nach, als sie durch das Tor entschwanden und als der Moment verstrichen war, die Türen von Tysons Wagen mit einem finalen „Rumms“ zufielen, bereute er es doch wieder. Etwas wollte seinen Freunden nachlaufen, wie ein einsamer Kater, der seinen Besitzern hinterherrannte. Stattdessen hatte Kai sich mit einer Hand am Eckpfeiler der Veranda abgestützt, überwältigt von diesem Gefühlschaos, bis der Motor auf der anderen Seite der Mauer aufheulte.

Es kam ihm vor als ob da ein Stück von ihm wegfuhr…

Die Ruhe die danach aufkam lastete bedrückend auf seinem Gemüt. Wie hatte er all die Jahre so etwas genießen können? Das Alleinsein machte ihm nun Angst. Als Tysons Großvater ihn fragte, ob Kai nicht hereinkommen wolle, bat er darum einige Minuten draußen bleiben zu dürfen. Er musste sich irgendwie sammeln. Ansonsten konnte er nicht garantieren, sein Gesicht wahren zu können. Er brauchte wirklich einen Moment um in sich einzukehren.

„Aber bleib nicht lange in der Kälte. Und untersteh dich mal wieder klammheimlich abzuhauen! Der Grünschnabel hat gesagt ich soll dich schön im Auge behalten!“

Kai hatte verärgert die Brauen zusammen gezogen und doch ließ er die Predigt über sich ergehen, war zu mehr als einem stummen Nicken nicht im Stande gewesen. Dabei konnte er sich wieder gut daran erinnern, wie zuwider es seinem erwachsenem Alter Ego war, von irgendwem bemuttert zu werden. Gleich nachdem Mr. Kinomiya im Anwesen verschwand, hatte er seine freie Hand auf der Brust platziert und einige Male tief durchgeatmet. Unter seinen Fingern fühlte er sein Herz laut pochen. Die eiskalte Nachtluft war bis in den kleinsten Winkel seiner Lunge zu spüren, verhalf ihm dabei sich zu beruhigen.

Er schloss die Augen und dachte angestrengt nach…

Seine Reaktion kam ihm einer emotionalen Labilität gleich. Es konnte doch nicht normal sein, sich einer solchen Trauer hinzugeben, nur weil man von seinen Freunden Abschied nahm. Oder etwa doch?

Etwas ratlos wandte sich Kai wieder dem Hof zu. Seine Augen huschten an den Fußspuren im Schnee entlang. Noch immer war da diese furchtbare Wehmut, weil er die Gelegenheit nicht genutzt hatte, um seinen Freunden ein letztes Mal nachzuschauen. Er hatte kaum etwas gesagt. Und Kai war so unendlich traurig, dass die beiden nun bald abfliegen würden. Gedankenverloren verweilte sein Blick auf dem Schnee. Sie alle hatten so tiefe Spuren darin hinterlassen. Ob seine Seele wie dieser Schnee war?

Seufzend schaute Kai auf zum Himmel.

Warum hatte sein Körper so heftig auf diesen Abschied reagiert?

Früher war es doch auch nicht so dramatisch gewesen, doch jetzt fühlte er sich, wie ein kleiner Bengel, der zum ersten Mal von seinen Eltern in einer Kindertagesstätte abgegeben wurde. Dabei würde sein Verhalten eher zu seiner Schwester passen. Die hatte auch jedes Mal geschluchzt, sobald er das Haus verließ, um zur Arbeit zu gehen. Dann sprach Jana davon, dass Kai bestimmt nun auch bald nicht mehr Heim käme.

„Genau wie Mama…“, hatte sie dann geschmollt.

Er sah Jana vor sich auf dem Treppenabsatz hocken. Ihre Lippen zitterten, während ihr schmächtiger Körper von Schluchzern geschüttelt wurde. Die Eingangshalle wirkte so riesig und dunkel, sie dagegen wie ein winziger einsamer Stern. Kai fühlte tiefe Schuld in sich aufkommen, weil er seine kleine Schwester wieder so lange alleine lassen würde, trotz des Dienstpersonals das sich diskret im Hintergrund hielt.

Es war einfach kein Familienersatz…

Auf einmal schrak Kai zusammen, sobald diese Szene durch seinen Geist schoss. Er hatte gar nicht bemerkt, wie schnell sich diese Erinnerung wieder in seinem Kopf einistete. Für eine Sekunde hätte er schwören können, in der Eingangshalle des Hiwatari Anwesens zu stehen, direkt an der steinernen Türschwelle, von wo aus er stets mit einem schlechten Gewissen zu seiner Schwester zurückgeblickt hatte. Selbst der Geruch des polierten Holzes war ihm wieder in die Nase gestiegen, dass einsame Kinderweinen an sein Ohr geklungen, das durch die hohe Halle schallte. Auch die Anwesenheit seines Assistenten hatte er neben sich spüren können, der ihn jeden Morgen abholte, um bereits auf dem Arbeitsweg den Tagesplan durchzusprechen. Draußen lief dann der Motor der Limousine. Er konnte ihr geschmeidiges Summen hören. Es war die erste Erinnerung die sich in seinem eigenen Heim abspielte. Und sie war einfach nur traurig…

Wegen diesem unglücklichen kleinem Mädchen, dass jeden Tag alleine zurückblieb. Ganz anders als hier, wo Jana so unbeschwert wirkte. Sie schien sich in diesem kleineren, aber auch gemütlicherem Anwesen, viel heimischer zu fühlen, als in dem gigantischen Baukomplex, wo man sich regelrecht verlaufen konnte. Wo ein Kind ewig suchen musste um auf einen Erwachsenen zu treffen. Kai dachte über diese Szene nach. Sie hatte sich geradezu detailliert in seinen Kopf gebrannt. Er wusste wieder, dass Janas dicke Kinderbäckchen hochrot gewesen waren, mit einer feuchten Tränenbahn auf der Wange. Es war so offensichtlich, dass sie mit der Situation nicht umgehen konnte. Kai fragte sich, ob er sie wenigstens noch einmal tröstend gehalten hatte, oder doch nur desinteressiert aus der Tür spaziert war. In seinen Überlegungen vertieft begann er seine Finger ineinander zu verhaken. Ihn beschlich die böse Vorahnung, dass er keine Sekunde auf Janas Kummer eingegangen war. Hatte Jana in seiner Erinnerung gesagt dass seine Mutter fort war?

Es war eigenartig, aber ab einem bestimmten Zeitpunkt, tauchte sie einfach nicht mehr in seinem Kopf auf. War sie verstorben?

Hier klaffte doch eindeutig wieder eine Lücke in seinem Kopf. Er wusste noch immer nicht die Vorgeschichte zu Janas Aussage. Nur das seine Mutter eben weg war. Kai griff sich stöhnend an die Stirn, denn er hasste diese Aussetzer. Manche gingen länger, viele davon waren aber so lächerlich kurz, dass es unmöglich war, genügend Informationen daraus zu filtern. Und dann tauchten seine Erinnerungen auch noch so chaotisch auf.

Wie sollte er sachliche Folgerungen ziehen, wenn er nicht die Zusammenhänge begriff?

Das Schlimmste daran war, dass er einfach keinen Einfluss darauf nehmen konnte. Alles was ihm blieb war abzuwarten, ob sich einige Szenen freiwillig zu seinen anderen Erinnerungen fügten und dann endlich einen Sinn ergaben. Mit einem erschöpften Seufzen ließ Kai die Hand wieder sinken. Er lehnte den Kopf in den Nacken, schaute eine Weile in den Nachthimmel, bis er die Augen schloss. Irgendwie kam er sich gespalten vor. Wie ein Fremder in der eigenen Haut. Der Erwachsene in ihm, war gerade ziemlich froh, einmal alleine zu sein, da er die Chance darin sah, seine Schwäche unbemerkt auszuleben – aber das Kind in ihm sehnte sich weiterhin nach dem Schutz seiner Gruppe.

Seines Katzenrudels…

Diese Wesen aus dieser albernen, aber auch irgendwie schönen Geschichte, die ihm Tyson am Lagerfeuer erzählt hatte. Kai fuhr sich über die Schläfe, als ihm klar wurde, dass wohl genau das gerade sein Problem war. Noch immer steckte da dieser kleine Junge in ihm, der ihn daran hinderte, wieder zu seinem alten Selbst zurück zu finden. Die letzten Tage waren sie ständig in der Gruppe unterwegs gewesen und plötzlich zurückgelassen zu werden, erinnerte ihn nur wieder daran, wie er sich gefühlt hatte, als Tyson ihn mit Galux zurück in die Menschenwelt schicken wollte. Alleine - ohne die Anderen.

Er hatte damals wahrhaftige Trennungsängste durchlebt, ähnlich wie die seiner Schwester. Das Kind in ihm war in höchstem Maße verletzt gewesen, weil er bei seinen Freunden bleiben wollte, egal ob es nun gefährlich war, oder nicht. Doch mittlerweile hatte der Erwachsene in Kai Verständnis für Tysons damalige Entscheidung. In seiner Lage hätte er keinesfalls anders gehandelt. Sein Verhalten war nur vernünftig gewesen, immerhin war Ray im Dschungel verloren gegangen und es hatte sich eine Chance aufgetan, einen von ihnen zu retten. Tyson hatte ohnehin während ihrem gesamten Aufenthalt, bemerkenswert verantwortungsbewusst gehandelt. So zuvorkommend, zielstrebig und hilfsbereit. Er hatte die Gruppe beisammengehalten. Seine eigenen Ängste zurückgesteckt, um selbst den Schwächsten zu unterstützen. Er war wundervoll gewesen…

Kai blinzelte perplex über seine eigenen Gedanken und eine heftige Röte befiel ihn, als ihm klar wurde, dass er sich seinen kindlichen Schwärmereien hingab.

Das war so verwirrend… Und es gab ihm zu denken.

Allein wie er sich in Tysons Gegenwart verhielt, war ihm ein einziges Rätsel. Sobald er alleine war, konnte Kai wieder logisch denken, glich Chancen ab, handelte nach besten Gewissen. Doch es reichte nur ein Blick von Tyson und schon war es vorbei mit seiner Selbstbeherrschung. Da wurde er zum dummen Knirps, der sein Idol anhimmelte, ihm keinen Wunsch unerfüllt lassen wollte - sich von jedem Vorschlag begeistern ließ. Anscheinend klinkte sich der Kopfmensch komplett aus, sobald er in der Nähe war. Sein Versprechen von zuvor bereute Kai bereits, doch es bedurfte nur wenige liebgemeinte Worte und er war außerstande gewesen, Tysons Bitte auszuschlagen. Eine Gänsehaut zog sich über seinen Nacken, als er an ihre letzte Unterhaltung dachte. Es hatte nicht viel gefehlt und er wäre bald zu Wachs zerflossen. Als würde das Kind in ihm noch immer versuchen, es seinem großen Helden recht zu machen. Sein großer Held?

Kai schaute nachdenklich zu Boden.

Ja. Er musste gestehen, dass Tyson ihn unglaublich beeindruckt hatte. Wie er sich Hals über Kopf in Gefahren stürzte, selbst in der Gegenwart einer Übermacht. Dabei war das doch so einige Male in höchstem Maße unklug gewesen – wie immer bei diesem Hitzkopf.

Dennoch hatte Kai sich imponieren lassen. Wahrscheinlich weil Tyson schon immer Anklang bei jüngeren Gemütern fand. Es war die einzige logische Erklärung für ihn. Einen Moment musste er daran denken, wie Tyson ihn vor Wolborg beschützen wollte. Er hatte ihr ohne zu zögern seine eigenen Augen als Wegzoll angeboten. Dabei wäre Kai in seinem kindlichen Körper nicht weit gekommen. Es wäre klüger gewesen ihn zurückzulassen, um sich selbst zu retten, stattdessen hatte er ihn als Ballast durch die gesamte Irrlichterwelt mitgeschleppt.

„Du tust es schon wieder!“

Der Satz schoss ganz unvermittelt durch seinen Kopf.

Er schüttelte sich. Diese Schwärmerei war wie ein Zwang…

Kai massierte sich gequält die Schläfen und versuchte sachlich seine Lage einzuschätzen. Offensichtlich erwachte der Erwachsene in ihm immer weiter zum Leben, stieß aber mit jeder weiteren Erinnerung, auf Kritik von dem kleinen Jungen, der sich vehement weigerte, den neugewonnen Platz in seiner Seele zu räumen. Auf sein Bauchgefühl durfte er nicht hören. Seine Emotionen waren verfälscht, denn der Erwachsene Kai würde niemals so handeln. Sobald Tyson zurück war, musste er ihm dringend klar machen, dass seine innige Zuneigung nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Es wäre Selbstmord für ihre Freundschaft. Da fuhr ein heftiges Stechen durch Kais Brust und er zischte leise auf. Noch ehe er seine Zweifel zu Ende denken konnte, überfiel es ihn einfach. Es fühlte sich wie ein tosender Kampf in seinem Inneren an.

„Das will ich nicht!“

Etwas weigerte sich Tyson weh zu tun.

„Niemals!“, fuhr das Wort durch seinen Kopf.

Kais Finger verkrallten sich in seinem Oberteil und er begann stockend auszuatmen. Ihm wurde schwindlig. Seine Füße schienen den Boden zu verlieren. Die freie Hand tastete zitternd nach dem Pfeiler, in der verzweifelten Suche nach Halt. Sobald seine Finger auf das Holz trafen, lehnte er sich daran und atmete wieder tief ein. Kai brauchte eine unendlich lange Zeit um sich zu sammeln, währenddessen er aus dem Haus das Klappern von Tellern vernahm. Offenbar machte ihm Tysons Großvater tatsächlich etwas zu essen, so wie ihn sein Enkel darum gebeten hatte.

„Bitte kümmere dich gut um die beiden so lange ich weg bin. Machst du das für mich Opa?“

Tyson hatte es ausgesprochen, als könne er nicht eher das Haus guten Gewissens verlassen, bevor er Jana und ihn nicht gut versorgt wusste. Kais Stirn sank gegen das kalte Holz und sobald er sich dessen Worte in Erinnerung rief, musste er traurig lächeln.

Dieser blöde, leichtsinnige, naive, gutherzige Idiot…

Was war denn bloß in ihn gefahren?

Wie konnten sich seine Gefühle nur so verändern?

Kais Großvater würde von den Toten auferstehen, sollte er tatsächlich so dumm sein und bei ihrer nächsten Unterhaltung, auf Tysons Werben eingehen. Dabei konnte er noch immer nicht fassen, wie er reagiert hatte. Sein ganzer Körper war heiß geworden, in seinem Magen hatte es geradezu geflirrt, gleichzeitig war er aber von einer heftigen Gänsehaut erfasst worden. Es hatte ihn viel gekostet, seine Selbstbeherrschung aufrecht zu halten. Kai öffnete die Augen. Er könnte einfach schlafen gehen. Eigentlich zwang ihn doch niemand sein Versprechen einzuhalten – oder etwa doch?

Etwas wollte an seinen Worten festhalten. Es kam ihm undankbar vor, Tysons Bitte in den Wind zu schlagen, nach all ihren gemeinsamen Erlebnissen. Kai könnte sich doch zumindest anhören, was er zu sagen hatte, aber seinem Drängen nicht nachgeben. Er würde ihm sagen, dass er seine Gefühle respektiere, ihn niemals dafür verurteilen würde, sein Geheimnis bei ihm auch sicher war - aber seine Zuneigung leider nicht erwidern könne. Das war doch ein fairer Ansatz. Nach einem tiefen Seufzen nickte Kai entschieden.

Ja, das würde er tun. Zuhören…

Damit Tyson sich alles von der Seele reden konnte. Egal was für Gefühle er für ihn hegte, deshalb würde Kai ihn nicht weniger schätzen. Dazu war einfach viel zu viel vorgefallen. Er stieß sich vom Pfeiler ab und fragte sich, woher seine Melancholie herrührte, als er neben sich jemanden reden hörte.
 

„Was machst du denn hier?“
 

Perplex blinzelte Kai zu seiner Seite. Dort lag Tyson in Seitenlage auf der Veranda, dick eingepackt in einen Pullover, blätterte in einem Automagazin herum und schaute ungläubig zu ihm auf. Ohne es richtig kontrollieren zu können, huschte Kais Blick hinaus zum Hof. Es taute überall. Ein Großteil der Rasenfläche war wieder sichtbar. An der Überdachung der Veranda hingen die letzten Eiszapfen herab, die im Schein der Sonne tropften. Tyson hatte den ersten milden Tag genutzt, um überall im Haus die Trennwände sperrangelweit aufzuschieben, damit ordentlich gelüftet wurde.

Um den Winter zu verscheuchen – wie man im Volksmund so sagte.

Man konnte von hier aus fast sämtliche Räumlichkeiten überblicken, bis auf die Küche, weil diese von einer tragenden Steinwand getrennt wurde. Kai roch Oolongtee und als sich sein Blick wieder Tyson zuwandte, dampfte die tiefgrüne Flüssigkeit neben ihm in der kleinen Tasse. Der setzte sich inzwischen gähnend auf und nahm im Schneidersitz Platz. Mit argwöhnischen Ausdruck verschränkte er die Arme vor der Brust und sah zu ihm auf.

„Das ist ja ewig her seitdem du dich unter das gemeine Volk mischst.“

„Du darfst dich geehrt fühlen.“, sprach Kai, ohne richtig zu wissen, weshalb er so hochnäsig tat. Tyson prustete jedoch unbeeindruckt mit der Zunge, was er ungemein kindisch fand und ihn mit den Augen rollen ließ. Dennoch folgte er dessen Aufforderung sich zu setzen, als sein Gegenüber auf den Holzboden vor sich klopfte.

„Finde ich toll das du dich Mal bei mir im Dojo blicken lässt.“, sprach Tyson anerkennend.

„Es ist schon länger her…“, hörte Kai sich sagen. Dabei war er gar nicht sicher ob es auch wirklich stimmte. Seine Worte kamen einstudiert, als wäre er der Artist in einem Bühnenstück, mit vorgegebenem Text. Das alles hier wirkte auf ihn so vertraut.

„Ich weiß. Genau vier Monate, achtundzwanzig Tage und wenn ich die Wohnzimmeruhr von hier aus richtig lese, fünfzehn Stunden.“, meinte Tyson düster.

„Wirklich komisch…“

„Meine tote Oma kommt öfters zu Besuch.“

„Ich finde es erschreckend dass du auf den Tag genau weißt, wann ich letztes Mal da war.“

„Wieso, habe ich richtig geraten?“

Kai musste schmunzeln. Aus irgendeinem Grund, schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass dieser kleine Mistkerl, doch wirklich auf alles ein freches Kontra besaß.

„Du hast hoffentlich Mal etwas Zeit mitgebracht. Wäre toll wenn du nicht gleich abhaust und mal etwas mit mir plauderst.“

„Da muss ich dich enttäuschen. Ich werde nicht lange bleiben.“

Dabei wusste Kai gar nicht, wohin er danach gehen wollte.

„Ach…“, kam es trocken zurück. Vor ihm hopste Tyson Braue verärgert hoch.

„Hör auf so zu schauen. Ich kann es nicht ändern.“

„Das bezweifle ich. Willst du einen Tee?“

„Wie gesagt - Ich habe nicht viel Zeit mitgebracht.“

Kai konnte seinen abweisenden Tonfall einfach nicht steuern, als hätte er keinerlei Einfluss auf sein Handeln. Er war wie ein stiller Beobachter, aus der Perspektive seines eigenen Körpers. So herrisch wollte er gar nicht klingen.

„Okay…“, kam es knapp. Da wandte sich Tyson um und brüllte in Richtung Küche. „Hey Opa! Bring Kai mal einen Tee! Und du weißt ja – einen Löffel Honig, dafür keinen Zucker.“

„Bin ich deine Konkubine, du blöder Esel?!“, schallte die Stimme vom anderen Ende des Flurs verärgert hinaus. Kai stöhnte gequält und fuhr sich über die Nasenwurzel. Da debattierten die beiden Streithähne auch schon weiter.

„Ach komm schon! Du bist doch sowieso in der Küche. Jetzt sei mal ein anständiger Gastgeber!“

„Wärst du ein anständiger Gastgeber, würdest du ihn selbst kochen! Du weißt das guter Oolong Tee seine Zeit braucht.“

„Weißt du wer nicht so viel Zeit hat? Kai! Willst du ihn ohne etwas Warmes im Bauch aus dem Haus jagen? Es ist noch knackig kalt hier draußen!“, Tyson wandte sich ihm mit gespielter Entrüstung zu, schüttelte dabei fassungslos den Kopf. „Unmöglich dieser Kerl, oder? Kann keine Rücksicht auf deinen straffen Terminplan nehmen!“

Kai sah das verräterische Zucken um seine Mundwinkel und konnte sich vorstellen, wie amüsant sein Gegenüber es fand, sich ein wenig Zeit von ihm ergaunert zu haben. Und doch war Kai fast schon etwas geschmeichelt, weil er versuchte, ihn nach allen Regeln der Kunst dazu zu verleiten, länger zu bleiben als er durfte. Dennoch wollte er in die Küche rufen, dass er wirklich keinen Tee bräuchte, da schallte aber auch schon Großvater Kinomiyas grantige Antwort durch den Flur.

„Ich mache das nur für Kai! Glaub ja nicht dass ich dir eine Freude machen will!“, kurz darauf vernahm er wie in der Küche der Wasserhahn aufgedreht wurde, offenbar um die Kanne zu füllen. „Und warte nur bis ich ein totaler Pflegefall bin, dann darfst du mich jeden Tag die Stufen hochtragen!“

„Na dann hast du ja sogar Recht mit dem Esel…“, spottete Tyson.

„Kai kriegt vielleicht einen Tee, aber du nur den Kendostab über den Schädel gezogen!“

Sein Enkel verdrehte grinsend die Augen.

„Also alles wie immer…“

Die Schiebetür wurde geschlossen und das Radio in der Küche aufgedreht. Gleich darauf trällerte Mr. Kinomiya zu seinem Lieblingssong als sei nichts gewesen. Kai schüttelte den Kopf über dieses Verhalten. Bisher konnte er sich an kein einziges Mal erinnern, an dem die beiden nicht miteinander gezankt hatten, als wären sie zwei Taxifahrer, die sich gegenseitig die Vorfahrt klauten. Doch obwohl er ihre Umgangsformen als ziemlich amüsant empfand, kam entgegen seiner Meinung, geradezu aristokratisch aus seinem Mund: „Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du deinem Großvater mehr Respekt zollen solltest.“

„Wieso?“

„Dein Verhalten ist absolut unangebracht. Du sprichst mit ihm, als wärst du das Familienoberhaupt - nicht er.“

„Und doch bin ich sein Lieblingsenkel.“, frohlockte Tyson.

„Solchen Spott hätte dir mein Großvater nie durchgehen lassen.“

„Wahrscheinlich ein Grund weshalb du so steif geraten bist.“, kam es nur mit einem Achselzucken. Kai fragte sich, ob etwas an diesen Worten dran war. War er wirklich versteift? Trotz seiner Zweifel, machte sich sein Mund weiterhin selbstständig.

„Zwecklos dir noch etwas Ehrgefühl beizubringen.“

„Hey, ich bin Mitte zwanzig! Der Zug ist leider abgefahren, Teamleader.“

„Das befürchte ich leider auch. Dir konnte ich in all den Jahren einfach nichts beibringen.“, er schnalzte bedauernd. „Wenn ich daran denke, wie viel Zeit ich an dir vergeudet habe.“

„Dann lass es endlich! Mich bekommst du nicht geändert. An mir beißt du dir die Zähne aus.“, Tyson entblößte demonstrativ sein Gebiss für ein schiefes Grinsen. „Eher knacke ich dich, als du mich! Wäre eine Niederlage mehr die auf dein Konto geht.“

Damit zog er Kai wohl gerne auf. Die Sicht vor ihm verdunkelte sich, offenbar weil er genervt die Augen schloss. Als er die Lider wieder öffnete, sprach er unterkühlt: „Der Tee war unnötig.“

„Ich bin nur nett.“

„Ich wollte nicht bleiben.“

„Jetzt musst du doch.“

„Ich könnte auch einfach gehen…“

„Und meinen armen Opa umsonst den Tee kochen lassen?“, fragte Tyson in gespielter Bestürzung. Seine Finger umgriffen die dampfende Tasse zu seiner Seite und als er sie an seine Lippen hob, sprach er über den Rand hinweg: „Wer weiß nun nicht, was sich gehört?“

Ein freches Zwinkern folgte. Eigentlich wollte Kai gerade lachen. Da hatte sich Tyson ja etwas einfallen lassen, um ihn mit seinen eigenen Worten in die Ecke zu manövrieren. Stattdessen schnalzte er aber mit der Zunge und schaute gelangweilt zur Seite.

„Jedes Mal dasselbe. Und dann wunderst du dich, weshalb ich nicht öfters komme? Ich habe Arbeit die auf mich wartet.“

„Ist ja was ganz Neues…“, schnaubte Tyson unbeeindruckt. „Jetzt erzähl Mal. Was führt dich in unser Armutsviertel?“

Sein Rücken straffte sich und Kai erklärte geschäftlich: „Max scheint etwas nach seinem Umzug zu vermissen. Er glaubt es könnte bei dir liegen.“

„War ja klar dass du nicht meinetwegen kommst.“, kam es eingeschnappt und er hätte schwören können, dass Tysons beleidigte Schnute, dieses Mal nicht gespielt war. Sein abweisendes Verhalten tat ihm unendlich leid. Eigentlich wollte er nach allem was passiert war, ganz anders reagieren. Zumindest freundlich bleiben…

„Naja gut, ich schau gleich danach. Sonst etwas Neues bei dir?“

„Nein. Alles wie gehabt.“, nach einer kurzen Pause, fragte Kai vorsichtig. „Und bei dir?“

„Bestens...“

„Du hast dich also davon erholt, dass Max wieder im Ausland lebt?“

Das wusste Tyson doch bereits…

Irgendwie verwirrte Kai diese Unterhaltung immer mehr. Er hatte das Gefühl das etwas nicht stimmte, doch diese Eingebung erstarb so schnell, wie sie gekommen war, als würde ihn etwas daran hindern, den Gedanken zu Ende zu denken.

„Muss ich ja wohl. Wenn ich jammere ändert sich auch nichts.“, schnaubte Tyson inzwischen. Dann beobachtete er ihn etwas skeptisch. Kai fühlte ein kleines Lächeln auf seinen eigenen Lippen. „Was ist so witzig?“

„Nichts...“, kam es in einem arglosen Tonfall. Dennoch spürte er dass seine Mundwinkel sich weiter hoben.

„Jetzt sag schon!“

„Ich denke nur gerade daran, dass bei dir vielleicht doch nicht alles verloren ist. Zumindest hältst du dich weniger weinerlich, als ich von dir erwartet habe - und das obwohl du deine bessere Hälfte ziehen lassen musstest.“

„Verstehe. Jetzt sind wir für dich schon ein schwules Pärchen.“, murrte Tyson genervt.

„Ehrlich gesagt, haben Ray und ich schon gewettet, wann ihr gemeinsam durchbrennt. Aber um zum Thema zurückzukommen… Ich hatte eigentlich ein Drama erwartet, wie bei unserem Teamzerfall, während der dritten Weltmeisterschaft.“

„Uh! Hat man Worte…“, Tyson machte große Augen und stützte sich auf den Armen zurück. „War das jetzt ein verstecktes Kompliment über meine geistige Reife?“

„Nein. Vielmehr ehrliche Überraschung.“

„Heilige Scheiße. Den Tag muss ich mir im Kalender ankreuzen!“

„Immer noch der große Sprücheklopfer, Kinomiya?“

Ihm fiel auf dass er skeptisch beäugt wurde.

„Sag mal… Was braucht Max überhaupt?“

„Seine Kamera. Beim Umzug hat er danach gesucht, weißt du noch?“

Tysons Braue hob sich ein ganzes Stück weiter.

„Ja, hat er.“, kam es ziemlich knapp. Sein Gesichtsausdruck gab Kai irgendwie zu denken. Er fragte sich woran sein Gegenüber gerade dachte, also fuhr er fort: „Max war sich nicht ganz sicher, ob er sie dir nicht vielleicht ausgeliehen hatte. Und da du nicht einmal einen Lastwagen unter einem Heuhaufen finden würdest, habe ich mich bereit erklärt, kurz vorbeizuschauen und nach der Kamera zu suchen. In deinem Saustall findest du bestimmt nichts.“

„Aha... Hast du?“

„Ich denke ich schaue danach so lange der Tee kocht.“

Kai wollte sich schon erheben, bis Tysons zuckende Lippen ihm ins Auge stießen. Er hielt in seiner Bewegung inne und blinzelte ihn irritiert an. Ein ziemlich abgehaktes „Okay“ kam von seinem Gegenüber und plötzlich prustete er schon los. Sein Lachen schallte laut über den Hof, bis Tyson sich den Bauch hielt und sich vorne über beugte, während Kai total konfus auf den sich krümmenden Mann blickte. Er schaute sich um, als gäbe ihm seine Umgebung einen Anhaltspunkt dafür, was so komisch war.

„Worüber lachst du?“

„Über dich!“

„Warum?“, er sank wieder auf den Hosenboden zurück. Sich keinerlei Schuld bewusst, fragte er: „Was habe ich gemacht?“

„Du sorgst dich um mich - deshalb bist du hier!“

„Das stimmt nicht!“, wehrte sich Kai gegen die Unterstellung.

„Ach nein? Die Kamera ist also kein Vorwand, um Mal kurz vorbeizuschauen und zu prüfen, ob ich auch wirklich damit klar komme, das Max weg ist?“

Er schnalzte nur verächtlich.

„Du bist so selbstverliebt, das hält man kaum im Kopf aus! Es dreht sich nicht alles nur um dich! Ich suche lediglich Maxs Kamera…“, er verschränkte die Arme vor der Brust und schaute verärgert in den Hof. Kai fühlte wie sich seine Brauen zusammenzogen. „Interpretier nicht Dinge in meine Handlung, die gar nicht wahr sind. Wenn ich jemandem helfen möchte, dann nur dem verzweifelten Blondschopf, der wahrscheinlich wieder nicht weiß, wie er dich um die Kamera bitten soll, ohne unhöflich dabei zu wirken.“

„Na klar. Das ist der Grund.“

„Du glaubst mir nicht?“, kam es verärgert.

„Vielleicht würde ich es, wenn Max die Kamera nicht schon längst gefunden hätte.“

Es wurde still…

Kai wollte eigentlich verdutzt zu Tyson schauen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Ihm war jegliche Befehlsgewalt darüber geraubt worden. Stattdessen starrte er wie gebannt in den Hof und merkte, dass seine Wangen auf einmal heiß wurden.

„Was redest du da? Er hat beim Umzug doch selbst gesagt, dass sie verloren gegangen ist. Er wollte sich sogar eine Neue kaufen und hat sich furchtbar geärgert.“

„Jah…“, kam die langgezogene Bestätigung. „Und als Max zum Schluss in seinen Wagen gestiegen ist, hat er sie auf der Rückbank gefunden. Das war kurz nachdem du schon gegangen bist.“, Tyson schnalzte bedauernd mit der Zunge. „Das ist das Blöde, wenn man immer zuerst die Party verlässt. Die besten Sachen passieren zum Schluss, Kumpel.“

Kai spürte dass seine verschränkten Arme sich fester vor ihm zusammenzogen, wie ein Schutzmechanismus, um sich von dieser Unterstellung zu distanzieren.

„Oh…“, selbst in seinen Ohren klang er viel zu ertappt, als dass es keine Lüge sein könnte. „Dann hat Max sich bestimmt vertan.“

„Ich kann ihn ja mal anrufen und fragen?“

Tysons Vorschlag kam so süffisant, man hörte förmlich heraus, mit wie viel Genuss er ihn triezte. Er amüsierte sich köstlich.

„Oder ich habe es einfach falsch verstanden…“, es klang als wolle Kai einen Kompromiss eingehen, um noch etwas von seiner Restwürde zu bewahren. Aber nicht mit Tyson.

„Das lässt sich auch mit einem Anruf klären. Sollen wir?“, fragte der unschuldig. Doch dieser Mistkerl wusste genau was er tat. Kai fühlte wie seine Lippen sich fest zusammenpressten. Sein Blick huschte endlich einmal zu seinem Nebenmann, wenn auch nur aus dem Augenwinkel. Er sah Tyson triumphierend grinsen und sein Kopf neigte sich.

„Brauchen sie einen Anwalt oder verweigern sie die Aussage, Mr. Hiwatari?“

Tyson zuckte herausfordernd mit den Brauen auf und ab. Es ließ Kai wütend fauchen.

„So klingt das also wenn du entlarvt wurdest?“

„Das war einfach nur ein Missverständnis!“

„Ja, natürlich. Ein Missverständnis…“, Tysons setzte das letzte Wort mit einem ungläubigen Augenrollen in Gänsefüßchen. „Du hast in letzter Zeit einfach kein Glück, was deine heimlichen Aktionen angehen. Entweder lässt du nach oder das Schicksal meint es nicht gut mit dir.“

„Ich wollte Max einen Gefallen tun. Nicht dir!“, stellte Kai verbissen klar. Da ging die Schiebetür geräuschvoll auf und Mr. Kinomiya humpelte mit einem Tablett heraus. Er war wieder bester Laune, aber irgendwie gab man sich in diesem Haus nie lange einem Groll hin.

„So Kai. Hier Mal etwas Gutes für Körper und Geist.“

Zu mehr als einem anerkennenden Nicken war er nicht im Stande. Tysons selbstgefälliges Grinsen von Gegenüber ließ seinen Bauch rumoren. Es war höchst eigenartig diese Empfindung aufgezwungen zu bekommen, denn eigentlich verstand er selbst nicht so genau, weshalb er sich so sehr dafür schämte. Was war schon dabei?

Er mochte Tyson und selbstverständlich sorgte man sich um seine Freunde.

Während Großvater Kinomiya die Tasse vor ihm abstellte, stützte sein Enkel sich weiterhin gutgelaunt an den Händen ab und beobachtete jede von Kais Bewegungen. Ohne es kontrollieren zu können, schlossen sich seine Augen. Ihm kam es vor, als würde er versuchen sich vor dem Anblick zu schützen. Sein Geist war eingesperrt in einem Körper, der nach festgeschriebenen Bewegungen handelte.

„Toll Opa. Du bist eben doch der Beste!“, dankte Tyson ihm.

Kai wusste genau woher seine heitere Art herkam.

„Na, weißt ja. Gastfreundschaft ist eine Tugend. Lass es dir schmecken, Junge!“

Kai spürte wie ihm auf die Schulter geklopft wurde und als er die Augen ein wenig öffnete, entschwand Mr. Kinomiya wieder in die Küche, um dort seine Arbeiten zu verrichten. Offenbar kochte er etwas, denn mit einer Ladung Dampf, kam auch der Geruch von gegartem Gemüse durch die offene Tür, bis sie wieder zugeschoben wurde. Als Kai ein amüsiertes Kichern hörte, huschte sein Blick kurz zu Tyson, nur um dann doch wieder zur Seite zu weichen.

„Idiot!“, zischte er giftig, seine Finger griffen nach der Tasse. Sie fühlte sich warm an. Doch sobald Kai an ihrem Rand nippte, drang laut hörbar an sein Ohr: „Du bist doch echt süß!“

Beinahe hätte er sich verschluckt, was seinen Gegenüber nur lauthals prusten ließ. Kai räusperte sich mehrmals, um den Frosch im Hals zu lösen und stellte anschließend seine Tasse so geräuschvoll ab, dass die Tropfen nur so durch die Luft stoben.

„Bist du eigentlich noch ganz bei Trost? Sowas sagt man nicht unter Freunden. Und schon gar nicht unter Männern. Sprich mit deinen Püppchen so, aber nicht mit mir!“

„Wenn es doch aber die Wahrheit ist?“

„Dein Großvater werkelt dahinten in der Küche herum und du fängst wieder mit deinem sentimentalen Stuss an! Nicht genug das du dich bei Rays Hochzeit so daneben benommen hast, nun sülzt du auch schon nüchtern herum!“

„Sei nicht immer so verstockt. Ich mag deine mitfühlende Schokoladenseite, also nimm das Kompliment an.“

„Hör endlich auf das zu sagen!“, zischte Kai. Seine Wangen fühlten sich an, als würden sie in Flammen stehen. „Das ist einfach nur… peinlich.“

„Was ist denn schon dabei?“, fragte Tyson. Er beugte sich vor, umfasste seine Fußknöchel und begutachtete ihn, wie ein aufregendes Schulprojekt. „Wir sind nicht blöd! Es gibt einen Grund, weshalb du dich mit uns weiterhin triffst. Und der ist ganz einfach, dass du uns magst. Nun gib es doch endlich zu!“

„Sprich nicht so laut…“

„Hey ihr da draußen! Kai mag seine Freunde!“, brüllte Tyson durch den Hof. Es ließ ihn laut einatmen und für eine Sekunde wollte Kai ihm tatsächlich eine scheuern. Die Finger seiner rechten Hand ballten sich zu einer Faust. Stattdessen versteifte er sich.

„Da! Niemanden schert es…“, meinte Tyson gleichgültig.

„Als würde man mit einem Neandertaler reden!“

„Ach komm schon. Du weißt wie ich das meine. Wir sind für dich deine Ersatzfamilie, also warum immer noch diese Verklemmtheit? Ist es dir wirklich so wichtig, was deine Umgebung über dich denkt?“

„Das hat mich noch nie geschert.“

„Das gibst du vielleicht vor, aber dir ist es peinlich, wenn die Leute wissen, dass dir an deinen Freunden etwas liegt.“

„Ich möchte nur von deinen… Sentimentalitäten verschont bleiben. Aber du bist schon immer ein blauäugiger Trottel gewesen. Warum sollte sich das ändern?“

„Spiel mir nichts vor! Ich weiß genau, dass du nicht halb so schlecht von mir denkst, wie du immer tust. Dir liegt etwas an mir, nicht wahr?“, hakte Tyson nur unverfrorener nach.

„Hättest du wohl gerne.“

„Du darfst ruhig zugeben, dass du meinem Charme erliegst.“, prahlte er und weitete die Arme theatralisch. „Es ist einfach eine Begabung, gegen die auch der kühle Hiwatari nicht gewappnet ist. Sowas muss man schon in die Wiege gelegt bekommen. Obwohl es manchmal schrecklich anstrengend ist, von der Welt so abgöttisch geliebt zu werden.“

Dieses Mal verdrehte Kai freiwillig die Augen.

„Mein Gott…“

„Wie nett von dir. Du darfst mich aber auch nur Tyson nennen.“

„Nun hör schon auf, du arroganter Pfau!“, herrschte er ihn an. „Das ist ja nicht auszuhalten wie eingenommen du von dir selbst bist!“

„Hey, nun mal nicht so verstockt.“, ein verspieltes Stupsen traf seine Seite. „Ich zieh dich doch nur auf. Nimm es mit Humor.“

„Du weißt dass ich das nicht ausstehen kann.“

„Weil du alles immer so schrecklich ernst nimmst. Warum fällt es dir so schwer, dich auf solche Dinge einzulassen?“

„Weil du jedes Mal einen solchen Aufriss machst, wenn ich dir einmal helfe!“, brach es aus Kai heraus. Er sah Tyson vor sich überrascht blinzeln. „Genau deshalb verheimliche ich solche Sachen! Wann immer ich dir helfe, führst du dich auf, als würde ich übers Wasser laufen! Es ist kein Weltwunder was ich vollbringe, also halt einfach die Klappe, nimm es hin und erwähn es nicht mehr vor mir! Ich will nicht dargestellt werden, wie ein Kleinkind, das die ersten Schritte vollführt!“

Eine Weile blieb es still zwischen ihnen und mit einem verstimmten „Hmm“, wich Kai dem Blick vor ihm aus. Er starrte nur noch düster in den Hof. Über ihnen erklang das Gurren einer Taube, die auf dem Dach herumkraxelte. Da hörte er Tyson sagen: „Aber das mache ich doch nur, weil ich mich so darüber freue, dass du dich um uns sorgst! Das bedeutet mir unglaublich viel.“

Kai antwortete nicht. Er blieb stumm, unfähig etwas zu erwidern.

Es wurde lange Zeit ruhig zwischen ihnen, dennoch spürte er Tysons Blick auf sich. Er wartete offenbar auf eine Reaktion, doch anstelle ihm diese zu gönnen, griff Kai wortkarg nach seiner Tasse und führte sie an die Lippen. Er fühlte noch immer die Wärme auf seinen Wangen, auch wenn da keinerlei Spott in Tysons Stimme gewesen war, sondern ehrliche Freude. Das machte ihn offen gestanden nervös. Mit so etwas konnte er nicht gut umgehen. Irgendwann wagte er einen Blick zur Seite. Er erhaschte ein sanftes Lächeln vor sich und tiefdunkle Augen, die ihn mitleidig bedachten.

„Armer Kerl…“, bedauerte Tyson ihn auf einmal. Da rutschte er auch schon zu ihm herüber, legte mit einem wehmütigen Seufzen den Arm um seine Schultern. „Du tust mir echt immer mehr leid. Mein armer verstockter Kai…“

Er wurde mitfühlend an ihn gedrückt. Ein unwilliges Brummen kam aus seinem Mund, offenbar weil jemand seine Wohlfühlzone ungefragt betrat. Sein Rücken blieb kerzengerade. Da lehnte Tyson seinen Kopf gegen seinen und sprach: „Selbst nach so vielen Jahren, schaffst du es nicht Voltaire abzuschütteln.“

„Was hat Großvater damit zu tun?“

„Dieses Ekel wollte dich gefühlstaub machen und nur deshalb bist du jetzt so unbeholfen. Du kannst mit Zuneigung so unfassbar schlecht umgehen. Ständig steht dir dein Stolz im Weg.“

Er konnte ein Lächeln heraushören, erwiderte aber nichts.

„Aber schau doch mal, es taut da draußen - und du tust das auch allmählich.“, Tyson deutete auf die gefrorene Überdachung. „Noch ein wenig mehr, dann hast du es endlich geschafft. Dann sieht die Welt endlich den Kai Hiwatari, den wir schon die ganze Zeit in dir sehen. Das wird auch wirklich Zeit. Ich hatte schon Angst, dass dieser Kampf ewig andauert.“

Kais Blick blieb an den schmelzenden Eiszapfen hängen. Die Sonne ließ ihre Oberfläche hell strahlen. Dabei formte sich ein Tropfen an einer der Spitzen, zog sich unendlich träge in die Länge. Er glitzerte förmlich wie ein kleiner Brillant.

„Ich habe dich nicht darum gebeten, um mich zu kämpfen.“, stellte er klar. Seine Stimme klang jedoch leise. Er war nicht mehr böse. Tyson hatte es vollbracht, ihn zu besänftigen. Auf seine eigene ungewöhnliche Art.

„Manche Menschen sind es wert, dass man um sie kämpft.“

Kai fühlte wie er die Lippen aufeinander presste. Nicht aus Wut, sondern aus Befangenheit. Ein kleiner Teil in ihm war tatsächlich gerührt. Gleich danach folgte der Gedanke, dass Tyson doch wirklich charmant sein konnte – wenn er nur wollte.
 

„Um Himmels willen, Junge! Komm sofort herein!“

Tysons Stimme verklang. Kai wurde von ihm fortgerissen. Einfach so…

Es ging unglaublich schnell. Nur ein Wimpernschlag genügte und er fand wieder die verschneite Landschaft vor sich, fühlte schlagartig eine Eiseskälte in jeden Winkel seines Körpers kriechen. Einige Zeit blinzelte er erstaunt auf den plötzlichen Kulissenwechsel vor sich und ihm fiel auf, dass etwas Feuchtes sein Gesicht benetzte.

Kai schaute hinauf zum Himmel. Es fing an zu regnen…

Die Tropfen waren eiskalt, ließen seine durchnässten Strähnen an der Stirn kleben. Nun war das Wetter komplett außer Kontrolle und er saß mitten im Schneeregen. Kais Blick fuhr weiter zu seiner Seite, wo ihn Mr. Kinomiya verdattert anstarrte.

„Du holst dir noch den Tod! Jetzt kommst du aber endlich herein, Junge! Ich rufe schon die ganze Zeit nach dir!“

Hatte er das? Kai konnte sich nicht daran erinnern…

Während seiner Reise in die Vergangenheit war die Gegenwart komplett ausgeblendet worden. Stattdessen hatte er sich auch noch auf den Rand der Veranda niedergelassen, an jenen Punkt, wo er in seiner Erinnerung mit Tyson gesessen hatte und der trotz der Überdachung, auch einige Regentropfen abbekam. Seine Finger waren taub geworden und unter den Nägeln war die Haut bläulich angelaufen. Als Kai begriff, dass Tyson nicht mehr neben ihm saß, straffte sich sein Rücken. Ein ungekanntes Gefühl der Einsamkeit überfiel ihn. Nach all ihren gemeinsamen Erlebnissen, kam es ihm so falsch vor, ihn nicht mehr an seiner Seite zu haben. Er war einsam…

„Kai, bitte steh auf, Junge. Nun komm doch endlich. Du holst dir noch den Tod!“

Er fühlte eine Hand die fordernd unter seine Arme griff um ihn aufzuziehen. Mr. Kinomiya sprach inzwischen mit ihm, wie mit einem verschreckten Kind und klang auch recht ungehalten. Offenbar bereitete ihm sein merkwürdiges Verhalten Kopfzerbrechen.

Wahrscheinlich nicht ohne Grund…

Kai hatte keine Ahnung wie lange er schon im Regen saß. Die Grenzen von Raum um Zeit waren für ihn komplett verschwunden. Für einen Moment hatte er wirklich angenommen, wieder mit Tyson hier draußen zu sitzen, wie an jenem Frühjahrstag. Ihm kam es vor, als könne er sogar noch dessen Anwesenheit spüren – seine Aura.

Nur schwerfällig ließ er sich von Mr. Kinomiya aufziehen. Kai fror entsetzlich und konnte das Zittern seines Körpers auch gar nicht mehr kontrollieren, als wäre ihm jegliche Befehlsgewalt darüber genommen.

„Ich lasse dir jetzt ein Bad ein. Deine Lippen sind ganz blau geworden…“

Doch Kai hörte ihn eigentlich gar nicht. Er dachte nur an seine Erinnerung zurück, wie abweisend sich sein erwachsenes Ich sonst gab. Ihm wurde mit einem Mal klar, dass Tyson schon immer mehr in ihm gesehen hatte. Er kämpfte ständig um ihre Freundschaft.

Um seine Zuneigung…

Doch er selbst bemühte sich um keins von beidem. Er nahm ständig nur, gab aber kaum etwas zurück. Das Kind in ihm fragte sich, ob es nicht Zeit wurde, Tyson endlich entgegenzukommen.
 


 

*
 

„Du bist so still. Was ist los?“

„Nichts. Ich bin müde.“, log Tyson. Er stützte seinen Oberkörper am Lenkrad ab, die Arme darum geschlungen, verdrießlich aus der Frontscheibe starrend, wo die Scheibenwischer surrend umherhuschten. Er konnte nur noch an ihren Aufbruch denken. Kai war wieder so introvertiert gewesen. Er hatte sich nicht einmal zu ihnen umgedreht. Als Tyson einen letzten Blick hinter seine Schulter warf, bevor sie aus dem Tor marschierten, hielt er ihnen sogar den Rücken zugewandt. Das bereitete ihm Sorgen, denn er wusste nicht, was er aus diesem Verhalten interpretieren sollte. In einem Moment wirkte Kai abweisend, im nächsten spürte Tyson eine tiefe Vertrautheit zwischen ihnen. Er musste an ihre bevorstehende Unterhaltung denken. Kai schien so unschlüssig als er ihm seine Bitte vortrug, aber auch nicht gänzlich abgeneigt. Desto näher der Moment ihrer Aussprache heranrückte, desto nervöser wurde er und gerne hätte Tyson sich seinen Freunden anvertraut, vor allem, bevor Mariah in den Wagen stieg. Doch er wusste einfach nicht wie sie zu diesem Thema standen. Bevor er einen von ihnen einweihte, musste er vorsichtig aushorchen, was sie von Homosexualität hielten. Viele Männer hatten ein Problem damit, er konnte also nicht erwarten, dass sie Freudentänze machten. Außerdem sollte er nichts überstürzen.

Kai hatte ihm noch keinerlei Zugeständnisse gemacht...

Er war zutraulicher, zweifelsohne, aber vielleicht war da wirklich nicht mehr.

Womöglich war er sogar einfach nur verwirrt durch seine Erfahrungen als Kind. Tyson verkniff sich ein schweres Seufzen. Es hätte nur Maxs Aufmerksamkeit erregt. Auf der einen Seite fürchtete er sich vor ihrer Unterhaltung, doch andererseits sehnte sich etwas danach, Kai seine Gefühle zu offenbaren. Bereits in der Irrlichterwelt hatte er sich gefragt, wie er sich ihm gegenüber in Zukunft verhalten sollte, dass Tyson seine Emotionen aber so wenig verbergen konnte, überraschte selbst ihn. Es hatte nicht wirklich lange gedauert, bis Kai den Braten roch. Zurückhaltung war wirklich nicht seine Stärke. Tyson kratze sich nachdenklich am Kinn und bettete nach einem herzhaften Gähnen, seinen Kopf wieder auf dem Lenkrad.

Kai hatte aber auch nicht normal reagiert - oder war das nur sein Wunschdenken?

Seine Augen hatten so verklärt gewirkt. Diese schönen Augen…

„Es ist wirklich ein langer Tag gewesen.“, sprach Max inzwischen zu seiner Seite und riss ihn aus seinen Schwärmereien. Er schloss wohl die falschen Schlüsse aus seinem Schweigen. Normalerweise schnatterten sie auch im Wagen ohne Punkt und Komma, aber Max schien auch mit der Müdigkeit zu kämpfen. Es hatte inzwischen zu regnen begonnen. Schneeregen um genau zu sein. Das Wetter war wirklich verrückt. Zuvor schneite es noch, nun steppten die Tropfen lautstark auf dem Autodach herum und drohten die Straßen in eine glatte Wasserbahn zu verwandeln, aber immerhin war es nun wieder etwas herbstlicher. Draußen auf den Straßen entstand ein ekliger Schneematsch. Ray musste geradezu ins Hotel hechten und als sich die gläserne Schiebetür öffnete, konnten sie noch sehen, wie er sich angeekelt in der Eingangshalle schüttelte. Bevor sie zu Mariah gefahren waren, hatten sie den ersten Stopp beim anderen Hotel gemacht, damit Max und Ray die Koffer packen und auschecken konnten. Die Frau an der Rezeption war etwas ungehalten gewesen, weil sie sich nicht an die vorgegebenen Zeiten hielten und hatte davon gesprochen, ihnen den nächsten Tag berechnen zu müssen, doch es gab gewiss Schlimmeres.

„Du musst am Flughafen übrigens nicht warten bis wir abfliegen.“

„Ich möchte es aber gerne.“

„Tyson, die beiden fliegen eine Viertelstunde nach mir. Keiner wird zu irgendeinem Zeitpunkt also alleine warten müssen. Geh nachhause und schlaf dich endlich aus. Du hast es dir verdient.“

Er brummte unwillig. Das lag ihm eigentlich fern. Da klopfte ihm Max auf die Schulter.

„Bei all dem Ärger konnte ich dir noch gar nicht sagen, wie toll du dich geschlagen hast.“

Ein müdes Lächeln huschte um Tysons Mundwinkel und er hob den Kopf vom Lenkrad.

„Du warst auch nicht schlecht…“

„Aber bei weitem nicht so stark wie du. Ich hätte das nicht ohne dich geschafft. Vor allem als Ray verschwunden ist, da hast du das Ruder komplett an dich gerissen. Du warst dort drüben die treibende Kraft, die uns alle beisammen gehalten hat.“

„Du klingst wie Kai.“

„Hat er das auch gesagt?“, ein überraschter Blick traf ihn. Tyson nickte langsam. Die Erinnerung an ihr erstes Gespräch, ließ ihn unvermittelt lächeln. Kai war so handzahm gewesen. Allein der Gedanke jagte ihm einen angenehmen Schauer über den Rücken. Hätte er ihn doch nur in eine Umarmung gezogen. Es musste sich herrlich anfühlen, die Finger um seine Hüften zu legen. Oje, schon wieder Kopfkino…

„Vorhin als wir geredet haben, hat er sich Vorwürfe gemacht.“, erklärte Tyson stattdessen. „Kai meinte er hätte es ohne uns niemals lebend nachhause geschafft. Deshalb hat er auch die Falschaussage gemacht. Er wollte seine Schuldigkeit begleichen.“

„Das musste er doch nicht! Er war ein kleines Kind. Natürlich wusste er sich nicht so zu helfen wie wir anderen. Was wir gemacht haben war selbstverständlich.“

„Das habe ich ihm auch gesagt, trotzdem macht er sich Gedanken.“

„Hmm…“, für eine Sekunde, war das alles was Max dazu sagte. Er fuhr ratlos mit den Fingern am Autorahmen entlang, bis er kurz auflachte. Es klang erleichtert.

„Was ist?“

„Ach nichts. Ich denke nur wir haben ihn endlich erreicht… Dabei hatte ich die Hoffnung schon aufgegeben.“

„Du meinst er taut auf?“

„Ja. Kai ist anders. Findest du nicht?“

„Vielleicht bleibt es nicht so? Immerhin fehlen ihm noch einige Erinnerungen.“

„Nein. Er hinterfragt sein Verhalten endlich. Beim Baikalsee hat er sich uns gegenüber auch etwas geöffnet. Jetzt ist die Tür aber richtig aufgeschwungen.“, Max rieb sich müde über die Augen. „Ich glaube Kai ist ein Mensch der viel Wert auf Taten legt. Worte allein nützen nichts. Er brauchte wohl einen letzten Beweis dass er uns wirklich vertrauen kann.“

„Ich hätte gedacht dass der Baikalsee genügt.“, murmelte Tyson.

„Damals haben wir ihm bewiesen, dass man als Team stärker ist als alleine. Wir haben ihn von seinem hohen Ross gestoßen. In der Irrlichterwelt haben wir ihm aber gezeigt, dass wir ihn selbst dann schützen, wenn wir keinen Nutzen von ihm haben.“

„Kai ist doch nicht nutzlos!“, kam es empört. Plötzlich war er wieder hellwach.

„So war das ja auch nicht gemeint.“, verdrehte Max die Augen. Etwas zu spät merkte Tyson, wie sensibel er reagierte, doch sein Beifahrer ging auch nicht weiter darauf ein. „Ich glaube einfach, dass ich so langsam seine Denkweise begreife. Kai hatte eigentlich nie ein Problem damit uns zu helfen. In all den Jahren hat er uns so viele Male unter die Arme gegriffen. Sein Problem ist wohl einfach, dass er sich nicht dazu überwinden kann, selbst Hilfe zu erbitten, weil er sonst fürchtet, in der Schuld von jemand anderen zu stehen. Mein Dad würde dazu sagen, dass die Konten am Ende des Monats bei ihm immer ausgeglichen sein müssen.“

Tyson dachte über diese Worte nach.

„Ich denke Kai hat Angst enttäuscht zu werden.“, sprach er irgendwann seine Befürchtung aus. „Vielleicht will er auch offener werden, aber weiß einfach nicht wie. Als würde er versuchen eine Mauer zu überwinden. Seine Familie hat bestimmt einiges bei ihm falsch gemacht. Die Abtei dann wohl den Rest…“

Seine Finger umschlossen das Lenkrad fester.

„Er war mal so ein liebes Kind. Ich wüsste zu gerne, was mit diesem kleinen Kerl passiert ist, dass er so verschlossen wurde. Er tut mir nach dieser Sache nur noch leid. Da soll nochmal einer behaupten, dass Geld allein glücklich macht.“

„Wir hätten wohl häufiger nachhaken sollen. Ich dachte immer seine Grenzen zu respektieren, wäre der richtige Weg, aber so langsam glaube ich, dass du mit deiner Hartnäckigkeit am weitesten vorgedrungen bist. Eure ständigen Konfrontationen waren vielleicht anstrengend, aber du kennst ihn dadurch besser als wir alle zusammen. Ehrlich gesagt hielt ich dich aber immer für zu aufdringlich was ihn betraf.“, bedauerte Max leise und blickte hinaus. Die beschlagene Scheibe vor ihm war von feuchten Bahnen überzogen, was die Lichter vom Hotel verschwommen wirken ließ. Irgendwann sprach er leise: „Ich mochte den Kleinen. Irgendwie bin ich traurig das er jetzt weg ist.“

„Ich auch. Das kleine Kerlchen das seinen Hosenknopf nicht aufbekam…“

Beiden entwich ein kurzes Glucksen. Als es drohte wieder stiller zu werden, sprach Max auf einmal: „Seit wir zurück sind überlege ich, ob es nicht Zeit wird, eine Familie zu gründen.“

„Ernsthaft?“, fragte Tyson, allerdings konnte er sich den belustigten Unterton nicht ganz verkneifen. Max war zwar um einiges feinfühliger zu seinen Freundinnen als er, aber als Vater konnte sich Tyson ihn einfach noch nicht vorstellen. Gewiss besaß er viel Verantwortungsbewusstsein, aber manchmal konnte ihr kleiner Strahlemann schmollen wie ein Vorschulkind. Vor allem wenn man seine Kletterkünste belächelte…

Wenn sein Kind ihn deshalb hänselte, würde er dann traurig unter die Bettdecke kriechen?

„Hey, denkst du ich wäre ein schlechter Vater?“, kam es auch gleich darauf beleidigt und ihm wurde gegen die Schulter geboxt. Tyson rutschte beinahe vom Lenkrad. Er nahm es mit einem gelassenen Grinsen hin.

„Nein. Du wärst bestimmt ein toller Dad. Aber bist du nicht noch etwas zu jung?“

„Ray ist auch nicht viel älter…“

Max lehnte den Kopf grübelnd zurück. Seine Augen waren klein, als stünde er kurz davor einzunicken. Wahrscheinlich hielt er diese Unterhaltung nur am Leben um gerade das zu vermeiden.

„Meine Eltern wollten einfach gerne ihre Enkelkinder erleben.“

„Vielleicht wartest du noch damit bis Ray sein Kind hat. Wir könnten ihn als Versuchskaninchen sehen. Was er verbockt, machen wir besser.“

„Bestimmt kommt sein Mädchen mit einem gewaltigen Karatekick auf die Welt…“

„Nicht alle Asiaten beherrschen eine Kampfsportart, Max!“, verdrehte Tyson die Augen.

„Du und Ray schon.“

„Ich sagte nicht alle! Muss ich deshalb gleich die Ausnahme sein?“

Beide begannen zu glucksen, da schraken sie geschockt auf, als auf der Fahrerseite eine wildfremde Person die Handflächen gegen die Scheibe haute. Verdattert blinzelte Tyson auf den Mann. Er war schmächtig, kleiner als er selbst und starrte mit aschfahlem Gesicht in den Innenraum hinein. Seine Augen wirkten trüb. Da der Schreck ihm noch in den Gliedern steckte, fauchte Tyson ihm unfreundlich entgegen, ob er noch ganz bei Trost sei, doch der komische Kautz rührte sich nicht vom Fleck. Er stand nur weiterhin vor seinem Fenster, ließ den Regen ungerührt über sich ergehen, während er sie anstarrte.

„Alter! Ich habe einen verdammt schlechten Tag, also verpiss dich!“, platzte Tyson der Kragen. „Wenn ich zu dir herauskomme, ist dein Tag nämlich um einiges beschissener!“

„Lass das! Ich glaube der hat getrunken.“, ermahnte ihn Max. Ihm schien nicht der Sinn nach Streitereien, sondern nur noch nach einem warmen Bett.

„Das hoffe ich auch für ihn! Wenn er das aus Spaß macht, kann er was erleben!“

„Tyson bitte, keine Dramen mehr, okay?“, stöhnte Max.

„Wenn der Typ gleich abhaut, gibt es auch keines.“

Und tatsächlich wandte sich der Sonderling ab. Seine Finger verschwanden von der Scheibe. Die Abdrücke wurden vom Regen übertüncht. Tyson hörte seinen Nebenmann schnalzen und kurz darauf sprach Max missbilligend: „Echt schlimm in der Großstadt. Zum Glück wohnt ihr außerhalb vom Zentrum.“

„Ist das bei euch auch so ätzend?“

„Ja, aber damit muss man rechnen, wenn man in New-…“

Ein spitzer Schrei unterbrach die beiden. Ihre Köpfe wandten sich nun dem Fenster auf der Beifahrerseite zu. Der leichenblasse Zombieverschnitt war auf die Eingangshalle zu getorkelt, ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als Ray endlich mit den Koffern herauskam.

Und er griff einfach so dessen schwangere Frau an!

Es dauerte keine Sekunde, da hatten beide sich abgeschnallt und sprangen aus dem Wagen heraus. Draußen waren die Koffer längst im Matsch gelandet, weil Ray seiner Frau sofort zur Hilfe eilte. Auch das Hotelpersonal war auf die Szene im Regen aufmerksam geworden. Zuvor noch mit den Aufräumarbeiten des Lagers beschäftigt, das durch die Evakuierung draußen entstanden war, ließen zwei in Regenmänteln bepackten Männer, die Klappstühle fallen und zogen Mariah vom Störenfried fort. Einer von ihnen schimpfte auf den Kerl ein und verpasste ihm einen unbeholfenem Tritt gegen die Waden.

Durch den Regen, hatten sich in kürzester Zeit Pfützen auf den Weg gebildet, die bei jedem Schritt Tysons Hose ein wenig mehr verdreckten. Er kam gerade noch rechtzeitig dazu, als der fremde Kerl sich noch einmal entzog und auf Ray losging, da packte er ihn schon am Kragen und riss ihn mit voller Wucht zu Boden. Der Angreifer landete auf dem Rücken. Damit schien der Spuk vorbei, denn er blieb benommen liegen wo er war.

Tyson wies Max an, die entsetzte Mariah sofort zum Wagen zu bringen. Die hielt noch immer Galux fest umklammert. Das Bit Beast schaute genauso verdutzt, wie die anderen Anwesenden und fauchte dem Fremden erbost zu: „Finger weg von meiner Mao!“

Ob dieser betrunkene Idiot sie hören konnte, war wohl eine andere Frage. Tyson beugte sich herab, um die Koffer aus dem Regen zu fischen. Einer war in einer größeren Wasserlache, etwas abseits des Weges gelandet. Der Stoff war völlig durchnässt. Während Max die aufgelöste Mariah wegführte, half das Personal dem strauchelnden Kerl auf die Beine. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt, sein Mund stand weit offen und er baumelte schlaff im Griff der beiden Männer. Tyson bekam schon Angst, dass er ihn etwas zu grob gepackt hatte. Eine Anzeige wegen Körperverletzung fehlte ihm gerade noch.

„Ray, mit dir ist alles klar?“

„Ja natürlich. Das halbe Hemd kann mir doch nicht gefährlich werden.“, tat der eine wegwerfende Handbewegung. „Vergiss den Kerl, das wird ein Säufer sein.“

„Wie schaffst du es nur so ruhig zu bleiben?“

„Wir haben schon Schlimmeres erlebt.“, lächelte der ihn an, wenngleich er recht abgekämpft wirkte. Die Eingangstür öffnete sich und die schwarzgekleidete Security eilte herbei. Einer von ihnen packte den Übeltäter unterm Arm und sprach gutgelaunt davon, dass sich diesen Kampftrinker nun die Polizei anschauen dürfe. Der Mann sprach dagegen nur davon, dass er Wärme bräuchte, woraufhin der Securitymann bissig konterte, dass er die gefälligst bei seiner eigenen Frau suchen solle. Pflichtschuldig wie das Hotelpersonal war, half es ihnen, die restlichen Koffer aus dem Regen zu schaffen und hinten in Tysons Wagen zu verstauen.

„Verzeihen sie bitte diesen Vorfall. Das wirft hoffentlich kein schlechtes Licht auf unser Hotel.“, es schien die größte Sorge des Personals zu sein und sie verbeugten sich tief vor Ray. „Die Sicherheit unserer Gäste ist natürlich oberste Priorität. An Halloween schauen nur leider viele Leute zu tief ins Glas.“

Ray hob beschwichtigend die Hand und sprach davon, dass es Dinge gab, auf die man wohl keinen Einfluss hatte. Kurz darauf stieg er in den Wagen. Als Tyson es ihm gleichtat, schüttelte er sich zuerst in seinem Sitz und rieb die Handflächen gegeneinander, um sich zu wärmen. Er war triefend nass geworden, seine dunklen Strähnen klebten an seiner Stirn, genauso wie Rays, der hinten bei seiner Frau Platz nahm. Sofort drängte sich Mariah bibbernd an ihren Mann und ließ sich von ihm in den Arm nehmen.

„Dieser Typ war eiskalt… Ich konnte seine Finger durch die Ärmel noch spüren.“, beklagte sie sich prompt. Ray rieb ihr über den Rücken und sprach ihr aufmunternd zu. Einen verschmitzten Moment dachte Tyson daran, an wem er sich jetzt gerne wärmen würde, wäre er daheim.

„Alles gut dahinten?“

„Geht so…“, kam es fröstelnd von Mariah.

„Die Mutter in spe klingt ungehalten.“

„Ach weißt du Tyson, nimm das bitte nicht persönlich, aber ich bin froh, wenn ich einfach wieder zuhause vor unserem Kaminofen sitze. Je schneller, desto besser.“

Das konnte er ihr nicht verübeln. Gleich darauf ließ er den Motor aufheulen, drehte die Heizung voll auf und fädelte sich in den Verkehr Richtung Flughafen ein, während Mariah in ihre Handtasche griff, um Max sein Ticket zu überreichen. Bei einem kurzen Blick in den Rückspiegel, meinte Tyson noch hinter sich auf dem Gehweg, eine große Menschenmeute zu erhaschen, die genauso betrunken auf das Hotel zu wankte, wie der reizende Säufer, dem sie gerade begegnet waren. Ganz in ihrer Nähe musste eine wirklich heftige Party stattgefunden haben. Allerdings hatte er keine Muße, auch mit den restlichen Feierwütigen Bekanntschaft zu machen und bei der nächsten Kreuzung, waren sie auch schon vergessen.
 

Etwas später waren sie beinahe auf direktem Weg zum Flughafen, als Max das Radio aufdrehte und die Eilmeldung durch den Wagen erklang, dass wegen diversen Auseinandersetzungen mit einer noch unbekannten Gruppierung, ihre Route von der Polizei gesperrt wurde. Ein entnervtes Stöhnen ging durch den Innenraum und schon fluchten alle wie die Weltmeister. Nun musste Tyson das Zentrum meiden und einen weiten Bogen einschlagen. Glücklicherweise war zu so später Stunde noch nicht allzu viel los, doch als sie die nächste Ausfahrt nahmen, die in einer ausladenden Kurve, von der Schnellstraße hinauf zu einer Brücke führte, sahen sie haufenweise Autos unter sich feststecken und Passanten, die inmitten des Staus umherschlichen.

Das alles zwischen Schnee, Regen und Matsch…

„Gott sei Dank habe ich das Radio aufgedreht! Sonst wären wir direkt hineingefahren.“, entfuhr es Max. Er blinzelte neugierig aus dem Fenster und als Tyson es ihm gleichtat, sah er die im Radio erwähnte Blockade unter sich. Das Rotlicht auf den Dächern der Polizeiautos konnten sie noch lange durch das beschlagene Rückfenster beobachten. Kurz darauf rauschten auf der gegenüberliegenden Spur, noch weitere Kastenwägen an ihnen vorbei. Ihre Sirenen schallten lange nach, genau wie das alarmierende Flackern ihrer Lichter.

„War die Welt früher auch so verrückt?“, wollte Mariah wissen.

„Ich weiß es nicht. Vielleicht kam uns als Kinder einfach alles besser vor.“, Ray ließ seinen Worten eine zärtliche Berührung folgen und küsste seine erschöpfte Frau auf die Stirn. Da sprach Galux auf einmal: „Die Welt war schon immer gefährlich, Mao. So ist der Lauf der Dinge. Kämpfe, Katastrophen und der Tod, gehören ebenso dazu, wie Glück und Heiterkeit. In einigen Regionen mehr, in anderen weniger.“

Zu Tysons Überraschung schnaubte Max hörbar.

„Klar dass ein Bit Beast so gleichgültig denkt…“

„Du klingst unzufrieden mit meiner Antwort.“

„Nein. Aber ich denke ihr Bit Beasts macht es euch verdammt leicht. Ganz nach dem Motte – wenn ich einen Fehler mache, dann gehen halt einige Menschen drauf. Wen juckt es schon?“

Galuxs Augen wurden zu Schlitzen und Tyson hatte das Gefühl, dass sich Max gerade nah an ihrer Schmerzgrenze bewegte. Für seinen Geschmack lehnte er sich etwas zu weit aus dem Fenster – und das war eigentlich sein Job.

„Du liegst falsch. Wir sind uns der Verantwortung, die auf unseren Schultern lastet, durchaus bewusst. Mehr als jedes andere Wesen…“

„Das Verhalten der Uralten sprach aber nicht gerade dafür, sonst gäbe es auf der Welt kaum so viele Katastrophen.“

„Nun, ich möchte dich daran erinnern, dass die meisten Landstriche noch immer durch Menschenhand verwüstet werden. Die beiden großen Kriege, welche diese Welt vor wenigen Jahrzehnten heimgesucht haben, waren nicht Schuld eines Bit Beasts und doch schallte ihr Echo bis in unsere Welt herüber. Noch nie habe ich so viele Tote den Wurzelpfad passieren sehen wie damals.“

Tyson schielte zu seiner Seite, wo sich Max heftig auf die Lippen biss. Irgendwie hatte er den Eindruck, dass es ihn noch immer ärgerte, dass Galux ihn einmal mit Draciel verglichen hatte. Da kam es recht stoisch von ihm: „Das mag ja sein, aber für Wesen, die so alt sind, mangelt es vielen trotzdem an Rücksichtnahme. Es ist erschreckend wie leichtsinnig einige mit ihrer Macht umgehen.“

„Du machst mir also Vorwürfe?“

„Nein! Dir ganz bestimmt nicht… Du hast Rückgrat bewiesen.“, seufzte Max. „Aber gerade die Uralten, hätten gegen jede Naturkatastrophe in der Vergangenheit, etwas unternehmen können. Niemand kann mir erzählen, dass Draciel nicht die Macht dazu gehabt hätte.“

„Ihr Menschen habt keinerlei Vorstellung mit welchen Kräften eure Bit Beasts tagtäglich zu kämpfen haben. Es ist leichtsinnig den Finger anklagend auf sie zu richten, wenn ihr nicht das nötige Wissen hierfür besitzt.“

Tyson wollte Max zuflüstern, dass er keinen Streit provozieren sollte, doch ganz offensichtlich war nach Draciels Fehlern, keinerlei Funken Respekt mehr bei ihm vorhanden. Er hatte komplett das Vertrauen in Bit Beasts verloren…

„Wie kannst du die Uralten überhaupt noch in Schutz nehmen? Nach allem was sie dir und uns antun wollten, solltest gerade du etwas kritischer sein!“

„Das bin ich.“

„Und warum ist es dir dann egal, dass sie ohne mit der Wimper zu zucken in Kauf nahmen, dass Menschen wegen ihren Fehlern sterben? Bit Beasts sind alles andere als perfekt, dass musst auch du zugeben!“

„Perfekt…“, wiederholte Galux verächtlich. „Dieses lächerliche Wort! Dabei begreife ich kaum den Sinn davon.“

„Du weißt nicht was Perfektion ist?“, fragte Ray erstaunt.

Tyson blickte in den Rückspiegel. Ihm fiel auf, das Galux wieder lebendiger wirkte, wenn auch nicht auf höchstem Niveau. Zumindest war sie nicht mehr so schlaff, wie zu jenem Zeitpunkt, als sie das Bit Beasts in Mariahs Obhut gaben. Allerdings besaß sie bei weitem nicht mehr die stattliche Größe wie in der Irrlichterwelt, was wohl daran lag, das die einzige Energiequelle, die sie hier besaß Mao war. Galux war auf die zierliche Statur einer ordinären Hauskatze geschrumpft, auch wenn ihr überlanger Schweif und das transparente, leuchtende Fell bewiesen, dass sie das ganz und gar nicht war. Mittlerweile schüttelte das Bit Beast den Kopf auf die vorangegangene Frage.

„Ich weiß was ihr Menschen meint, darunter zu verstehen, doch eure Maßstäbe dafür, scheinen mir absolut lächerlich zu sein!“, erklärte Galux sichtlich irritiert. „Tatsächlich hat uns Bit Beasts diese Perfektion lange Zeit Kopfzerbrechen bereitet, weil wir nicht auf den Sinn gekommen sind. Bis heute hat niemand herausgefunden, wann etwas in euren Augen als perfekt gilt. Es klingt nach einem erfunden Zustand, der niemals erreicht werden kann.“

Galux schaute ernst aus dem nassen Fenster und begann zu berichten: „Als dieses Wort zum ersten Mal die Lippen eines Menschen verließ, waren wir sehr ratlos. Es war so verwunderlich, dass die Uralten damals sogar eine Sitzung einberufen mussten, mit allen Bit Beasts, egal aus welcher Klasse. Wir versuchten dem Perfektionismus auf den Grund zu gehen, scheiterten aber an seiner Unberechenbarkeit.“

Verdutzt neigte Tyson den Kopf. Das ein so einfaches Wort in der Irrlichterwelt für Furore gesorgt hatte, konnte er kaum glauben.

„Ich habe noch nie so viele meiner Artgenossen auf einem Flecken gesehen wie damals, bei jener Versammlung.“, erinnerte sich Galux inzwischen. „Ich weiß gar nicht mehr, welches Bit Beast es zuerst aus dem Mund eines Menschen hörte. Ich weiß nur, wann es mir zum ersten Mal zugetragen wurde. Das war als ich mich schrecklich darüber grämte, dass ein Holzfäller meinen Lieblingsbaum in der Menschenwelt fällte.“

„Du hattest einen Lieblingsbaum?“, fragte Mariah und lächelte gerührt.

„Ich hatte sogar viele! Es sind immer die, welche hoch hinaufragen und mich den warmen Sonnenstrahlen etwas näher bringen, wenn ich auf ihr Geäst klettere, um dort mein Nickerchen zu halten. Den ersten Baum, den ich aber so mochte, war eine hochgewachsene Eiche. Sie war unsagbar stattlich, viele Vögel nisteten darauf, beglückten mich mit ihrem hellen Gesang und ich ließ die Blätter meiner Eiche, im Sommer dichter sprießen, als bei allen anderen Bäume um uns herum. Driger meinte einmal, er habe sie allein für mich wachsen lassen. Es war ein so wundervolles Geschenk.“

Einen Moment schaute Galux traurig zur Seite, was Mariah dazu veranlasste, ihr tröstend hinter den langen Ohren zu kraulen. Tyson empfand Mitleid für sie. Ganz offensichtlich dachte sie an ihren geliebten Driger. Es war schon eigenartig, dass sich gerade jene Bit Beast ineinander verliebt hatten, deren Menschenkinder verheiratet waren. Nach einem tiefen Seufzen, meinte Galux wehmütig: „Wenn die Sonne durch das Laub brach, entstand ein wundervolles Schattenspiel auf der Grasfläche unter meiner Eiche. Manchmal saß ich auf meinem Ast, schaute herab und mir wurden die Lider schwer. Ich konnte dann stets sorglos einschlafen. Der Schatten meiner Eiche war so erfrischend und auch die Tierwelt hatte ihre Freude an ihr, denn es tummelten sich viele Eichhörnchen auf ihrem Geäst herum. Sie bauten sich ihre Unterschlüpfe in jedem Spalt, versorgten ihre Jungen, sammelten die Früchte für den Winter ein und bei Regen, spendete das Blätterwerk sogar den kleinen Ameisen darunter Schutz. Wisst ihr wie fatal ein einzelner Regentropfen, für so ein winziges Wesen ist? Er zerbricht sie förmlich oder schließt sie ein, sodass sie kläglich darin ertrinken. Doch meine schöne Eiche, sie war ein Organismus, der ihrer Umwelt so viel Nutzen brachte. Bis dieser einfältige Mensch kam und sie fällte…“

Tyson hätte schwören können, dass sich Galux Brauen im Rückspiegel zusammenzogen. Selbst nach so vielen Jahren, schien sie das wütend zu machen.

„Es war ein Skandal! Es geschah einfach so während meiner Abwesenheit. Ich kam gerade von einer Wiese zurück, die ich zum Erblühen brachte, da war meine Eiche auch schon fort. Nichts anderes außer einem traurigen Stummel war zurückgeblieben. Ich war so in Rage, dass ich der Fährte des Menschen folgte, denn ich wollte wissen, ob mein schöner Baum, zumindest für eine gerechte Sache gestorben war. Stattdessen haute der Mensch ihn in Stücke, riss die Rinde achtlos herunter wie Abfall, dabei konnte ich an ihr immer so schön meine Krallen schärfen. Er sägte den kräftigen Stamm, in viele Kleinere, die unnatürlich schmal und symmetrisch waren.“

„Er hat das Holz weiterverarbeitet.“, erklärte Ray mit einem Schulterzucken. „Das ist absolut normal. In der Holzindustrie werden Baumstämme zu Brettern verarbeitet.“

„Normal? Du meinst wohl eher abnormal!“, brüskierte sich Galux. „Diese Bretter waren unnatürlich. Jedes von ihnen schaute aus wie das andere. Ich konnte meinen schönen Baum kaum wiedererkennen. Diese Bretter waren absolut gerade und auch vollkommen nutzlos, zu schmal, um noch irgendwem Schatten zu spenden. Zu dünn um ein Nest zu tragen. Und alle rochen sie nach tot! Es waren keine Ableger… Hätte ich einen von ihnen in die Erde gepflanzt, wäre kein Setzling daraus gesprossen. Diese merkwürdigen Bretter trugen nicht einmal mehr Früchte für die Eichhörnchen. Und doch stand der Mann letztendlich da, fuhr in seiner Hütte mit den Fingern, über das tote Holz und sprach davon, dass es nun perfekt sei.“

„Aber die Bretter müssen doch gerade sein, sonst wird es schwieriger sie weiterzuverwenden! Kein Mensch will einen krummen Schrank haben. Glaub mir Galux das ist absolut okay!“, prustete Ray los und auch der vordere Teil des Wagens, musste schallend lachen, über den naiven Vergleich des Bit Beasts. Keiner der Männer war der Meinung, dass man einen gefällten Baum, mit einer Naturkatastrophe vergleichen konnte.

Ein Fehler wie sich gleich darauf herausstellte…

„Habt ihr jemals einen Ast gesehen, der perfekt in die Höhe ragt?!“, tadelte sie Galux mit einem Fauchen, dass sie alle zum Schweigen brachte. Mariah versuchte ihr Bit Beast zu beschwichtigen, indem sie leise auf sie einsprach, doch der Zorn brach in Galux durch. „Seht euch nur in einem Wald um und ihr werdet erkennen, dass die Natur, solche Worte wie gerade und akkurat nicht kennt! Es gibt keine geraden Äste! Es gibt keine akkuraten Bäume! Jeder Grashalm, jede Pflanze, jeder Fels, jeder Landstrich, besteht aus geschwungenen, unkoordinierten Linien, die keinerlei Symmetrie aufweisen – was sie überhaupt so einzigartig macht! Das allein ist natürlich! Wenn die Natur keine Perfektion kennt, wie könnt ihr Menschen behaupten, dass Perfektion normal ist?“

Es wurde einen Moment still im Wagen, denn die Gruppe merkte, dass dieses Thema Galux sehr ärgerte. Der impulsive Vortrag war so ungewöhnlich für das damenhafte Wesen und da Max damit begonnen hatte, fühlte er sich wohl verpflichtet, sie zu besänftigen.

„Hör mal, Galux, sei mir nicht böse, aber du kannst doch einen kaputten Baum, nicht mit einer richtigen Katastrophe vergleichen. Das ist nicht das Gleiche!“

„Für uns war es eine Katastrophe! Es haben unzählige Tiere durch den Verlust dieser Eiche ihr Heim verloren! Es wurden tausende Ameisen unter dem herabstürzenden Stamm zerquetscht. Als der Baum fiel, fiel auch ein Nest aus der Baumkrone, von eine Elster die ihre Eier noch brütete. Sie zerschellten auf dem Boden, bevor die Küken die Chance bekamen, das Licht der Welt zu erblicken!“

„Wie viele Eier gehen kaputt weil ein Tier sie frisst?“

„Das tut das Tier um zu überleben. Dieser Tod war aber sinnlos!“

Max stöhnte gequält.

„Das mit dem Nest ist ja echt traurig, aber lässt sich eben nicht vermeiden. Soll die ganze Menschheit auf Bretter verzichten, nur damit ein paar Ameisen, Vögel und Eichhörnchen nicht ihr zuhause verlieren?“

„Sollen die Uralten nicht mehr ihrem Tagwerk nachgehen, nur weil dabei einige Menschen sterben könnten?“

„Du vergleichst Äpfel mit Birnen!“

„Nein tue ich nicht! Wir Bit Beast dürfen einfach nur keinen Unterschied zwischen Ameise und Mensch machen! Es gibt bei uns keine Maßstäbe welches Leben mehr wert ist. Du dagegen hast den Uralten Gleichgültigkeit vorgeworfen – und nun glänzt du selbst damit!“

Max wurde still und auch der Rest begriff allmählich diese Bit Beast Logik. Da sprach Galux verbittert: „So viele Tiere mussten an jenem Tag sterben. Und das nur für ein paar tote Bretter, die dieser einfältige Holzfäller auch noch als perfekt schimpfte.“

„Es tut mir Leid, dass du das anders siehst, aber Perfektion ist, naja… Ansichtssache. Es ist wirklich schwer zu beschreiben.“, versuchte Max die Wogen zu glätten.

„Dann dürft ihr Menschen auch nicht darauf hoffen, dass ein Bit Beast gerade eure Meinung darüber teilt! Für mich und all die anderen Wesen, war meine Eiche, genauso wie sie war perfekt. Für uns war es furchtbar, als sie gefällt wurde! Doch beklagen wir uns? Habt ihr jemals erlebt, dass euch die Natur wegen eurem Verhalten tadelt?“

„Ich wollte dich nicht verletzen. Es tut mir Leid…“, sprach Max bedauernd. Tyson sah aus den Augenwinkeln, wie er hilfesuchend zu ihm herüberschaute, doch er zuckte ratlos mit den Schultern. Hier trennten sie alle einfach Welten…

„Das sollte es auch! Meine Eiche brachte uns allen viel mehr Freude als den Menschen. Denn als die merkwürdigen Bretter weiterbehandelt wurden, wurde daraus ein hässlicher Schemel, der nur einer einzigen Person nutzte, nämlich derjenigen die sich darauf setzt. Wie viele Wesen mussten wegen diesem Egoismus leiden! Und doch wagt ihr Menschen mit den Finger auf die Natur zu zeigen und sie zu verteufeln, wenn sie einmal nicht nach euren Regeln spielt!“

„Ich habe damit unsere Bit Beast gemeint. Nicht dich... Dir würde ich so etwas niemals unterstellen, dass musst du mir glauben!“

„Die Uralten sind ein fester Bestandteil der Natur. Genauso wie ich! Wir sind die Natur! Wie kannst du damit also nicht auch mich meinen?“ Galux rollte sich beleidigt neben Mariah zusammen und funkelte von der Rückbank aus, böse nach vorne. „Ein großes Laster der Menschen ist, das ihr nur euch allein für den Mittelpunkt der Erde haltet! Wir Naturgeister müssen ebenso die Bedürfnisse der anderen Wesen berücksichtigen, egal wie banal sie euch erscheinen. Manchmal frage ich mich, ob euch überhaupt noch bewusst ist, dass ihr nicht alleine auf diesem Planeten seid. Ihr teilt ihn euch mit den anderen Spezies. Er gehört nicht euch allein! Die Natur kann nicht ständig auf den Mensch Rücksicht nehmen, egal wie grausam das für euch klingt. Sie hat auch andere Kinder und sie muss ihr Gleichgewicht wahren – und sie ist genauso wenig perfekt wie ihr! Missgeschicke passieren ihr genauso wie sie den Menschen passieren. Das allein ist natürlich!“

Damit schien das Gespräch für sie beendet. Galux drängte sich näher an ihr Menschenkind heran und auf Max Entschuldigung, murrte sie äußerst eingeschnappt. Tyson dagegen kam nicht umhin, an sein Bit Beasts zu denken. Das war auch nicht perfekt gewesen…
 


 

*
 

Etwas war anders an der Stadt. Dragoon spürte es tief in seinem Inneren...

Sein Instinkt sagte ihm, dass sich etwas Bedrohliches anbahnte. Auf dem Hügel über welchem Tokio gut zu überschauen war, ließ er den Blick über die nächtliche Ansicht schweifen. Die Lichter der Stadt funkelten grell. Manche flackerten, manche bewegten sich, manche erloschen, viele weitere lebten anderenorts wieder auf.

Es hatte ihn schon immer fasziniert, wie die menschliche Spezies ihre Behausungen auf engstem Raum ballte, wie sie ihre Gebäude immer weiter in die Höhe ragen ließ. Er konnte sich noch daran erinnern, wie die ersten Menschen ihre Siedlungen errichteten. Die Bit Beasts hatten sie milde dafür belächelt, denn von ihrem Standpunkt aus gesehen, war es unpraktisch, so viel Aufwand um eine einzelne Bleibe zu betreiben und nicht weiterzuwandern.

Ein Vogel baute sein Nest nur für einen bestimmten Zeitraum.

Ein Hai pendelte immer wieder von einer Küste zur nächsten.

Ein Tiger streifte rastlos durch sein Revier.

Die Natur kannte so etwas wie Sesshaftigkeit nicht. Sie war der Ansicht, dass man besser verfuhr, wenn man seine Zelte schnell abreißen konnte. Doch der Mensch war anders…

Er baute seine Unterkunft aus festem Gestein, Lehm und Ziegeln, damit es im Idealfall die Jahrhunderte überdauerte und dann hauste er so lange wie ihm möglich darin. Keine andere Spezies war so bestrebt darin, etwas zu erschaffen, was die Ewigkeit ausdauerte. Dragoon erinnerte sich daran, wie ihm das erste Haus unter die Augen kam. Es war aus Stroh gefertigt gewesen, Palmenblätter schützten den Eingangsbereich vor Wüstenstaub und weil er das Konstrukt so ulkig fand, umkreiste er es als Windböe, bis es versehentlich davon flog und er eine verdatterte Familie mitten beim Essen darunter störte. Von da an bemühte man sich um stabilere Behausungen, bis irgendwann das erste Hochhaus entstand. Heute musste Dragoon schon einen Hurrikan heraufbeschwören, damit etwas von den menschlichen Bauten davonbröckelte, allerdings musste er gestehen, dass es ihm Spaß machte, zwischen den Gassen der Wolkenkratzer umherzufliegen. Es war ein Spiel für ihn. Ein netter Hindernissparcour.

Dragoon wandte sich von dem Anblick ab und drehte sich zu dem ramponierten Gebäude um, dass hinter ihm stand. Das pompöse Anwesen, was einst Dranzers Menschenkind bewohnt hatte, war wirklich arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Wenn seine Liebste wütete, dann eben in großem Stil. Sie hatte weitaus weniger Probleme damit, die modernen Bauten zu zerstören, da war Dranzer ihm um einiges voraus. Er hatte eigentlich gehofft sie hier anzutreffen, denn es hätte ihn nicht gewundert, wenn ihr Menschenkind noch einmal hierherkam, um den Schaden zu begutachten. Leider war ihm keine Zeit geblieben, um am Wurzelthron noch einmal auszuspähen, wo sich die Jungen nun befanden, daher gestaltete sich die Suche jetzt umso schwieriger.

Er konnte Takaos Geruch wittern, aber inmitten all dieser Menschen dort unten, war seine Fährte ganz schwach. Außerdem schlossen sich die letzten Portale. Dies zerrte an Dragoons Kraft. Seine Energiereserven aus der Irrlichterwelt waren immer schwerer zu erreichen und durch ihr Zerwürfnis, konnte er einfach nicht mehr an Takao anknüpfen – und ihn schwieriger orten.

Der Junge versagte ihm komplett seine Kraft.

Da war kein Band mehr zwischen ihnen. Kein Vertrauen…

Als würde er versuchen ihn zu kontaktieren, jedoch als einzige Antwort Stille wahrnehmen. Das war wirklich sonderbar für Dragoon. Es kam noch nie vor, dass ein Bit Beast sein Menschenkind rief, aber keine Reaktion erhielt. Bisher war nur der umgekehrte Fall vorgekommen. Einmal hatte Driger nicht mehr auf die Rufe seines Jungen gehört und war sogar aus seiner Hülle verschwunden. Er konnte sich gut daran erinnern, wie eisern der Tiger an seinem Schweigen festhielt, bis er der Meinung war, das sein Kind die Lektion gelernt hatte.

Grübelnd fuhr Dragoon mit den Fingern über die Brandspuren am steinernen Türrahmen. Weder ihr Menschenkind, noch Dranzer, waren nach dem Feuer noch einmal hier gewesen. Das bisschen von ihrem Duft, was in seine Nüstern stieg, war vom Tag des Brandes und fast gänzlich verflogen. Die Spur war zu alt.

Ob ihr Junge nun im Kinomiya Anwesen hauste?

Dranzers Menschenkind mied doch Takaos Anwesenheit ebenso rigoros, wie sie Dragoons Gegenwart. Das war aber auch nicht weiter verwunderlich…

Immerhin waren die beiden Jungen ihre Abbilder.

Weshalb sollte Kai also bei Takao bleiben?

Da fiel Dragoon plötzlich ein, wie zärtlich die beiden in der Irrlichterwelt miteinander umgegangen waren. Er hatte angenommen, dass es daran lag, das Dranzers Junge zum Kind geworden war. Als sie noch als Küken durch die Gegend tapste, hatte Dragoon ebenfalls ein wundervolles Verhältnis zu Dranzer gehabt und da Bit Beasts sich generell nur jene Menschenkinder als Partner herauspickten, deren Seelen identisch zu ihren eigenen waren, hatte es ihn nicht gewundert, dass Takao und Kai prompt eine enge Beziehung zu einander aufbauten.

Doch warum sollten sie nun auch als Erwachsene anders miteinander umgehen?

Wenn Takao sein menschlicher Spiegel war, müsste er doch genauso an Kais Verachtung scheitern, wie er an Dranzers. Dragoon ließ vom Gebäude ab und schaute wieder auf die Stadt hinab. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Takao etwas gelungen war, woran er seit Jahrtausenden scheiterte. Dranzers Hass konnte er trotz zahlreicher Versuche nicht besänftigen…
 

Etwas ratlos versenkte er die Hand in der Hosentasche und lief den mit Kies ausgelegten Weg zurück. Dabei war Dragoon in seine Überlegungen vertieft. Womöglich war das der Grund, weshalb er keine Verbindung zu Takao bekam. Sein Junge könnte ihn übertrumpft haben. Wenn sie sich nicht mehr auf demselben Level befanden, war es natürlich schwieriger, mit ihm in Kontakt zu treten. Die Verbindung war dann getrübt.

Es war wie beim Hürdenlauf.

Hatte Takao ein Hindernis übersprungen, musste Dragoon dieses ebenfalls zeitgleich überwinden, um zu ihm aufzuschließen. Der unschöne Gedanke schoss ihm durch den Kopf, dass ausgerechnet ein Mensch mehr wissen könnte, als er. Takao und er waren vom selben stürmischen Charakter und dennoch könnte dieser kleine Wicht etwas vollbracht haben, was ihm bei Dranzer einfach nicht gelang. Sein Menschenkind könnte ihm in etwas voraus sein.

Ihm – Dragoon! Dem Herrn der Winde…

Er schnalzte missbilligend und unterdrückte seinen Neid. Noch war nicht gesagt, dass Dranzers Kind tatsächlich bei Takao war. Er würde sich erst selbst davon überzeugen, denn etwas in ihm wollte sich diese Niederlage partout nicht eingestehen.

Er hasste es bei etwas unterlegen zu sein…

Nichtsdestotrotz musste er ihren Jungen finden oder zumindest das kleine Mädchen. Die Geschwister wären ein ausgezeichneter Köder um Dranzer zu ihm zu locken. Allerdings musste er dazu schneller sein als sie.

Dragoon schritt durch das Eingangstor des Anwesens, an dessen marmornen Pfosten die Überreste eines gelben Bandes wehten, dass er achtlos abgerissen hatte, um sich Eintritt zu verschaffen. Als er hier eintraf, war es direkt über dem Eingang befestigt gewesen, in überkreuzter Form und gleich daneben ein Schild im Boden, was davon abriet das Grundstück zu betreten. Dragoon empfand solche Besitzansprüche der Menschen schon immer als eine bodenlose Frechheit. Er ließ sich doch von keinem Sterblichen sagen, wo er laufen durfte. Wäre ja noch schöner…

Ihm fiel auf, dass er von einer Frau beobachtet wurde, die am Ende der Straße in einer Parkbucht stand und den Kofferraum ihres Wagens öffnete, um einige grellbunte Tüten heraus zu hieven. Sie hielt in ihrer Bewegung inne und starrte argwöhnisch zu ihm herüber, doch Dragoon ignorierte sie. Kurz vor dem Abhang auf der anderen Straßenseite, tat er einen tiefen Atemzug und versuchte noch einmal eine Verbindung zu Takao aufzubauen, um den Jungen schneller aufzuspüren. Leider wieder vergebens…

Der Kontakt war noch immer schlecht. Es ließ Dragoon seufzend den Nacken kratzen und den Kopf auf die Seite legen. Das verkomplizierte alles unnötig. Er hatte das Gefühl seinen inneren Kompass verloren zu haben und die Menschenstädte sahen von Tag zu Tag anders aus. Vor allem Tokio wuchs ständig weiter, wie ein Kraken der die Arme ausspreizte. Wenn er Pech hatte, war Dranzers Junge gar nicht bei Takao, dann würde Dragoon nur seine Zeit vergeuden. Allerdings…

Wenn einer wusste, wo sich die Hiwatari Geschwister befanden, dann wohl sein Menschenkind. Sobald der Entschluss gefällt war nickte Dragoon grimmig. Er würde nicht darum herum kommen Takao gegenüberzustehen. Das würde eine unschöne Unterhaltung werden. Hoffentlich blieb der Junge vernünftig und verriet ihm wo sich sein Freund befand. Doch so wie er diesen elendigen Sturkopf kannte, müsste er einige Zeit auf ihn einreden. Dragoon wollte bereits ansetzen, um mit viel Anlauf in die Luft zu heben, da schrie die Frau am Ende der Straße auf. Ein flüchtiger Blick traf sie und da fand sich das kreischende Weibsbild inmitten einer Gruppe, von denen einer sie am Hals packte und gegen den Wagen drückte. Eigentlich wollte Dragoon mit einem Schulterzucken weiterfliegen, denn die menschliche Kriminalität war nicht sein Problem. Doch da fiel ihm etwas Sonderbares ins Auge…

Die echsenartigen Schlitze seiner Pupillen schmälerten sich, um die Finger des Angreifers genauer zu fokussieren. Blass wirkten sie.

Die Haut unter den Nägeln war schwarz angelaufen – als wäre dieser Mensch am erfrieren. Dragoon Nüstern blähten sich. Er roch tot und hörte auch keinen Atemzug. Seine Sinne tasteten die anderen Angreifer ab, da wurde ihm klar, dass diese Wesen doch sein Problem waren. Mit einem Spurt hechtete er voraus. Noch während er flog, sah er die flackernden Lider des Menschenweibs. Ihre Knie zitterten und drohten ihr den Dienst zu versagen.

Da war Dragoon auch schon da.

Wie ein Windhauch der rasch viele hunderte Meter zurücklegte. Noch bevor die erkalteten Wesen, mit trüben Blick zu ihm aufschauen konnten, holte er mit der Faust aus und verpasste dem Ersten einen Schlag, der ihn vom Hals der Frau losriss. Dennoch blieben an ihrer Haut die Spuren seiner Fingernägel zurück. Ihr spitzer Schrei hallte durch die Straße. Das Weib sank noch zu Boden, da flog der nächste Angreifer schon über die Straße und krachte lautstark gegen die Häusermauer. Als sein Kopf gegen das Gestein schlug, witterte Dragoon geronnenes Blut. Er hatte also nichts getötet, was nicht zuvor schon tot gewesen war und das schmächtige Männchen blieb auch brav liegen.

Ein weiterer Tritt folgte, da flog auch die nächste Gestalt über den Zaun. Der Letzte hielt das Weib am Pferdeschwanz gepackt. Sie wirkte gelähmt vor Angst, versuchte zitternd auf allen Vieren voranzukommen und flehte darum losgelassen zu werden, sprach davon, dass er sich ihr Geld nehmen solle und sie dafür nicht die Polizei rufen würde, wenn er sie gehen ließ. Doch dieses Wesen würde nicht gehen. An Materiellem fand es keine Freude mehr. Die Seele die einst diese Hülle beherbergt hatte, wandelte wahrscheinlich schon auf dem Wurzelpfad. Dabei war er noch ein Knabe. Jünger als sein Menschenkind.

Noch während Dragoon auf die beiden zuging, erhaschte er die schwarzgefrorenen Finger, die bedächtig über den Kopf der Frau strichen. Es wirkte fast schon wie eine tröstende Geste, doch bei jedem Berührung, blieb etwas an den Kuppen hängen.

Energiefäden. Der Junge saugte die Wärme aus ihrem Leib.

Die Lider der Frau flackerten mit jedem weiteren Hautkontakt.

„Gib ihr Wärme…“, es war das Röcheln einer Leiche.

Diese Hülle war wie eine Biene, die ihr Leben seiner Königin verschrieben hatte, nur um ihr zu dienen. Nur um ihr die nötige Energie zu liefern…

Ein Nahrungslieferant, wie sie Dranzer wahrscheinlich in der ganzen Stadt verteilt hatte, um in der Menschenwelt zu überleben. Noch bevor ihr Diener ein weiteres Mal das Weib berühren konnte, fasste Dragoon nach dessen Handgelenk. Der Kopf hob sich nicht. Warum auch?

Ein Bit Beast war uninteressant, vor allem wenn es nur aus Luft bestand, wie er. Aus ihm konnte kein Feuer geschöpft werden. Diese Frau dagegen, entsprach genau dem Beuteschema, dass Dranzer brauchte. Sie holte sich zurück, was sie den Lebewesen gespendet hatte. Als Dragoon den Jungen von dem Menschenweib wegzog, traf er kaum auf Widerstand. Wahrscheinlich bemerkte dieser arme Tropf gar nicht mehr, was um ihn herum passierte. Sobald den schwarzgefrorenen Fingern der Haarzopf entglitt, packte Dragoon den Hals des Jungen und presste ihn gegen den Wagen. Er hörte die Frau frösteln. Selbst das Klappern ihrer Zähne war zu vernehmen. Die Maschen ihrer Strumpfhose waren am rechten Bein aufgerissen und entblößten ihr blankes Knie.

„Geh in dein Heim und wärm dich. Sieh zu das du nicht erfrierst.“, riet ihr Dragoon ernst, ohne das sich sein Blick von dem Jungen abwandte. Und sie stellte keine Fragen. An ihren glasigen Augen erkannte er, dass ein warmes Zuhause genau das war, wonach sich ihr erschöpfter Körper sehnte. Ihre Lippen waren blau angelaufen. Nur mühselig gelang es ihr sich aufzurichten. Sie knickte auf den Absätzen ihrer sonderbaren Schuhe um, bis sie achtlos von ihren Füßen fielen. Die erworbenen Habseligkeiten aus den Tüten blieben auf dem Gehweg verstreut. Dragoon hörte noch wie sie wimmernd gegen die Haustür klopfte, verzweifelt nach ihrem Gatten rief, da packte er zu und brach Dranzers bedauernswertem Diener den Hals. Wie gesagt…

Er tötete nichts, was nicht bereits tot war.
 


 

*
 

In der Zeit in welcher er auf Tysons Rückkehr wartete, kamen drei Erinnerungen zurück…

Eine drang in Kais Bewusstsein, als er gemeinsam mit dem Großvater in der Küche saß. Er war bemüht gewesen, dem alten Hausherrn aufmerksam zu lauschen, doch seine Gedanken schweiften ständig fort, wann immer der Monolog drohte, etwas eintönig zu werden. Mehrmals ertappte er sich dabei, wie er aus dem Küchenfenster hinausspähte und den Regen beobachtete, sein Geist aber eigentlich bei seinen Freunden war. Die Suppe die er vorgesetzt bekam war gut, doch der Appetit fehlte. Dennoch aß Kai der Höflichkeitshalber, immerhin hatte sich Tysons Großvater zu so später Stunde noch darum bemüht, ihm etwas Warmes aufzutischen. Kai entging nicht, dass der Hausherr mehrmals versuchte, etwas aus der Irrlichterwelt aus ihm heraus zu kitzeln. Doch auf die direktere Frage, was denn nun alles passiert sei, hatte er nur ratlos geblinzelt. Es war so viel vorgefallen, er wusste gar nicht wo er anfangen sollte.

„Naja, dann vielleicht morgen?“

„Vielleicht…“, war seine Antwort gewesen. „Es ist eine wirklich lange Geschichte.“

Und Kai hatte auch überhaupt keinen Kopf für eine Zusammenfassung ihrer Erlebnisse. Nach dem Bad war er schläfrig geworden. Ihm klebten die nassen Strähnen an der Stirn, doch immerhin waren seine Fingernägel nicht mehr blau unterlaufen. Er fragte sich gerade, wie es seinen Freunden wohl gehen mochte, als Mr. Kinomiyas Worte ihn aus seinen Überlegungen rissen: „Übrigens, nur keine Scheu wenn du hier bist. Ihr beide sollt euch wie zuhause fühlen.“

„Danke, aber ich werde trotzdem versuchen ihnen nicht allzu lange zur Last zu fallen.“

„Ach komm, hör auf! Das Hiwatari Anwesen wird nicht so schnell wieder stehen.“

„Gerade deshalb sollten wir irgendwann in ein Hotel ziehen. Es wird lange dauern.“

„In einem Hotel muss man sich doch immer benehmen. Hier dagegen ist für deinen kleinen Hüpfer genügend Platz zum Toben. Außerdem bin ich zuhause. Wenn du also arbeiten musst, ist sie nicht alleine.“

Ein mildes Lächeln schlich um Kais Mundwinkel.

„Man sollte Gastfreundschaft nicht überstrapazieren.“

„Das will ich überhört haben.“, er hatte endlich seinen Teller geleert, als Mr. Kinomiya mit der Suppenkelle daher kam und ihm ungefragt die Schüssel bis zum Rand füllte. Genau in dem Moment fiel Kai ein, wie oft man in diesem Haus einen Nachschlag bekam und das er sich einmal gewundert hatte, weshalb die Familie Kinomiya, nicht aus fettleibigen, kleinen Buddhas bestand.

„Ich weiß das wirklich zu schätzen.“, sprach er stattdessen höflich.

„Hah! Ich habe zu danken, Junge. Was du da für deine Freunde auf dem Präsidium tun wolltest, das war wirklich eine edle Geste. Das zeugt von unglaublich viel Charakterstärke. Aber das warst du ja schon immer.“

Das konnte Kai leider nicht bestätigten. Stattdessen hatte er auf die klare Flüssigkeit in seiner Schale geschaut, in der die Nudeln schwammen. Da war etwas, was er Tysons Großvater schon seit ihrer Ankunft hier fragen wollte.

„Wo wir schon bei dem Thema sind...“, begann er langsam, „Auf dem Präsidium haben sie mich entlastet. Sie meinten das ich mich auf der Toilette befunden habe, als der Angriff stattfand.“

Ihm entging nicht das minimale Zögern, als Mr. Kinomiya die Kelle in den Topf tun wollte.

„Aha… Ja. Warum fragst du?“

Kai hatte seine Stäbchen auf die Seite gelegt und tat einen tiefen Atemzug bevor er sprach. Obwohl er sich vor der Antwort fürchtete, fragte er: „Haben sie gelogen?“

„Wie kommst du darauf?“

„Ich weiß nicht genau. Intuition…“

Tysons Großvater spähte über seine Schulter hinweg zu ihm. Die altersgezeichneten Augen taxierten ihn streng und die buschigen Brauen darüber, zogen sich tief ins Gesicht.

„Kannst du dich an etwas erinnern?“

„Nein.“

„Dann wirst du mir wohl einfach glauben müssen. Sei gefälligst nicht immer so misstrauisch, sonst hau ich dir irgendwann auf den Dickschädel!“, als er sich wieder der Küchenzeile zuwandte, setzte er den Deckel schwungvoll auf den dampfenden Topf. „Weißt du, manchmal muss man die Dinge einfach so stehen lassen, wie sie sind. Du bist viel zu skeptisch für dein Alter. Das ist machmal wirklich gespenstisch. Hinterfrag nicht immer alles...“

Es klang nicht als wolle Mr. Kinomiya weiter darüber sprechen. Kai blickte ratlos auf seinen Teller und griff irgendwann wieder zum Besteck. Er hätte schwören können, dass es kein Zufall war, dass der Angriff auf die Nachtschwester genau dann passierte, als er dort behandelt wurde. Diese Zeit war auch nach wie vor verschollen in seinem Kopf. Er konnte sich an nichts erinnern, was nach dem Brand passiert war, obwohl Kato doch gemeint hatte, er sei im Krankenhaus bei Bewusstsein gewesen. All die Anhaltspunkte die der Inspektor nannte, ergaben für ihn durchaus Sinn, selbst wenn es seine eigene Schuld betraf. Er hätte sich auch verdächtigt…

„Ich wollte es einfach nur wissen.“

„Weshalb beschäftigt es dich?“

„Es würde mir keine Ruhe lassen, wenn ich eine wildfremde Frau so zugerichtet hätte.“

„So schätze ich dich auch ein...“

Kai fragte sich wie er diesen Kommentar werten sollte. Es klang nicht verächtlich, vielmehr wie ehrliche Sorge. Eine Sekunde lang glaubte er, dass ihm genau deshalb seine Tat verheimlicht wurde, bis er sich ermahnte, Mr. Kinomiyas Rat zu beherzigen. Er wollte nicht mehr so misstrauisch sein, vor allem nicht jenen Menschen gegenüber, die ihm stets die Hand gereicht hatten und die nächsten Sätze, ließen ihn überrascht aufhorchen.

„Das mag wohl mein Junge so an dir. Du hast sehr viel Ehrgefühl. Was das angeht, bin ich froh, dass du auf ihn abgefärbt hast.“

Kai hob argwöhnisch die Braue. Bisher war ihm keine Situation aus seiner Vergangenheit unter die Augen gekommen, die ihn als besonders verantwortungsbewusst auszeichnete. Eigentlich sprach vieles was er sah, für einen stoischen, eingebildeten Bengel. Doch er behielt seine Zweifel für sich und schon bald plapperte der alte Herr weiter.

„Es ist eigenartig, aber in dieser Familie, ist die männliche Linie der Reihe nach dämlich.“

Ein Schmunzeln konnte sich Kai nicht verkneifen und als Mr. Kinomiya sich nach getaner Arbeit die Hände abtrocknete, drehte er sich um und konnte seine Reaktion noch erhaschen.

„Oh nein. Du darfst ruhig lachen… Ich nehme mich da nicht heraus.“, er entblößte ein schiefes Grinsen. „Schon meine eigene Mutter hat das zu mir gesagt und heute verklickere ich es meinen eigenen Jungs. Wir Kinomiyas sind während unserer Jugend ein lauter Haufen. Ungestüm, großmäulig, rebellisch - und leider auch dumm wie Brot. Mein Vater war so, ich war so, mein Sohn und meine Enkel ebenfalls. Außer Flausen haben wir in jungen Jahren nichts im Kopf, deshalb fallen wir auch so oft auf die Schnauze. Der eine mehr, der andere weniger.“

Tysons Großvater ließ das Handtuch auf die Arbeitsplatte fallen und nahm schweratmend neben ihm Platz. Auch er wirkte sehr müde, dennoch schien er in Plauderlaune: „Das wirklich erstaunliche an der Sache ist, wir suchen uns immer Frauen, die das komplette Gegenteil von uns darstellen. Meine Kiko beispielsweise… die war eine Perle. So wundervoll erhaben und edel, noch bis ins hohe Alter. Hat mich viel Mühe gekostet, ihrem Vater die Erlaubnis zur Heirat abzuringen. Der blöde Bock hielt mich für einen Tunichtgut aus einer verarmten Samurai Familie. Was diese Frau alles mit mir durchgemacht hat, kannst du dir kaum vorstellen. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass ich noch heute um sie trauere. Ach ja… Mein altes Mädchen.“

Ein wehmütiges Seufzen entrang sich seiner Kehle und Kai kam nicht umhin, ihn mitleidig anzuschauen. Dieser Mann wirkte so lebensbejahend und doch heilten manche Wunden wohl nie.

„Die Mutter von Tyson war auch so. Ein wirklich pflichtbewusstes Kind. Der Krebs musste erst streuen, damit sie endlich zur Vernunft kam. Selbst als sie krank wurde, wollte sie nicht ins Bett liegen und sich erholen. Als mein Sohn sie das erste Mal sah, da kam er zu mir und sprach – Vater, das ist die Frau die ich heiraten muss, ansonsten hat mein Leben keinen Sinn! Er nannte sie sein weißes Mäuschen. Und das war sie auch. Sie besaß ein ruhiges Stimmchen ganz anders als der Rest der Familie. Eine Haut weiß wie Porzellan und ganz dunkle Augen. Die hat Tyson übrigens von ihr geerbt – und ihre Loyalität. Es holt doch immer zuerst die Guten...“, eine wegwerfende Bewegung folgte, denn er schien den deprimierenden Todesfällen überdrüssig zu werden. „Worauf ich aber eigentlich hinaus wollte ist – Tyson hat mir in der Hinsicht Sorgen bereitet. Denn sein älterer Bruder, der konnte wenigstens einige Jahre von der Weisheit seiner Mutter profitieren. Deshalb ist Hiro auch anders geraten. Er ist genauso Sturkopf wie der Rest der Kinomiyas, jedoch in einem gesunden Maß. Aber Tyson… Der Grünschnabel war zu jung, um sich heute noch an den Charakter seiner Mutter zu erinnern, oder sich eine Scheibe von ihr abschneiden zu können. Er war damals noch ein kleines Würmchen. Und zu allem Übel pickt der Trottel sich nur die dämlichsten Hühner als Liebchen heraus. Das ist kein Witz! Eine kam mit unserem Wandtelefon nicht klar. Hat das in der Küche kaputt gemacht, weil sie das Display gesucht hat. Jetzt geht nur noch dieses alte Schnurrtelefon, dass ich mal vom Speicher herausgekramt habe und das andere im Flur.“

Kais Blick huschte mit erhobener Braue zu dem besagten Gerät. Es war ein ziemlich antikes Modell, mit einer Drehscheibe, die aber in der Mitte durchgebrochen war. Gott, die musste wirklich blöd gewesen sein. Seine Meinung behielt er aber für sich.

„Wie gesagt, keine Leuchten die Damen. Ich habe lange Zeit nicht verstanden, was mein Enkel an denen findet - bis ich bemerkte, dass das halb so schlimm ist. Denn den Göttern sei Dank, war er schlau genug, wenigstens gute Freund zu finden, die mit einer gewaltigen Portion Pflichtbewusstsein glänzten. Vor allem du stichst einem ins Auge. Du glaubst es mir vielleicht nicht, aber allein wie du ihm damals nach meinem Schlaganfall beigestanden hast, wird er dir nie vergessen. Er spricht sehr oft darüber.“

Kai öffnete den Mund um nach Einzelheiten über diesen Vorfall zu fragen, doch ihm fiel auf, dass dies vielleicht als Gleichgültigkeit gewertet werden könnte. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, als wäre ihm Mr. Kinomiyas Schlaganfall gleichgültig, nur weil er sich nicht daran erinnern konnte.

„Als ich ins Krankenhaus musste, da habe ich mir das Hirn wegen diesem Chaoten zermartert. Ich wollte sogar die Reha absagen. Mein Grünschnabel zwei Monate alleine daheim? Der lässt den Dojo doch glatt abfackeln, dachte ich. Aber als ich zurückkam, da stand unser Haus noch heil da und mein Enkel, der schien um einiges reifer als je zuvor und sprach davon, wie viel er gelernt habe.“

„Ich kann mir nicht vorstellen dass das mein Verdienst war.“

Und das konnte Kai tatsächlich nicht. In den vorangegangen Tagen, war er einem Menschen begegnet, an dessen Charakter es seiner Meinung nach, nichts zu beklagen gab. Wann immer er an Tyson dachte, sah er nur diesen mutigen Jungen vor sich, der seine Hand selbst in der dunkelsten Stunde fest umschlossen hielt. Kai erinnerte sich noch, wie viel Angst er als Kind verspürt hatte und doch geriet er nicht in Panik – weil Tyson ihm stets versicherte, dass alles gut werden würde. Er hatte sich nie etwas anmerken lassen…

„Keine falsche Bescheidenheit, Junge. Der Grünschnabel hat mir genau erzählt, was du alles für ihn damals gemacht hast. Du hast ihn auf einen ernsten Lebensabschnitt vorbereitet. Diese Wochen wo ich weg war, waren ein kleiner Vorgeschmack für ihn. Denn auch wenn Tyson selbst es nicht wahrhaben will – irgendwann bin ich nicht mehr da. Und es tröstet mich, genauso wie ihn, dass er so einen guten Freund an seiner Seite weiß, wie dich.“

Der alte Mann klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.

„Also sieh deinen Aufenthalt hier, doch bitte nicht als eine Last für uns an – sondern als eine Gelegenheit etwas zurückzugeben. Das sind Ehrenschulden unter Freunden. Für so etwas brauchst du dich nicht zu schämen. Bleib hier bis euer Heim wieder steht.“

Kai schwieg betroffen, doch irgendwann kam ein Nicken von ihm, was Mr. Kinomiya mit einem Brummen quittierte. Als der Hausherr sich erhob, war das Knacken seiner alten Knochen zu hören. Gleich darauf sprach er davon, wie gerne er Kai eine angenehmere Bleibe, als den Trainingsraum anbieten würde, wenn da nicht der Umbau wäre.

„Ich würde dir viel lieber eines der anderen Schlafzimmer überlassen, aber hier herrscht überall ein heilloses Durcheinander. Hiros altes Zimmer ist schon mehr Treppenhaus als Schlafgelegenheit. Mit der eingerissenen Wand, kann ich dich dort nicht einquartieren. Im Zimmer seines Vaters steht zu viel Gerümpel. Reicht dir vielleicht die Couch im Wohnzimmer oder magst du lieber bei Tyson im Dojo schlafen?“
 

Doch Kai hörte nicht mehr zu. Denn da kam auch schon die Erinnerung…

Sie bahnte sich an wie eine Welle, spülte die Kulisse um ihn herum davon. Die Küche wurde komplett aus seinem Bewusstsein ausradiert. Stattdessen sah er den Übungsraum des Dojos vor sich, mit den dunklen Holzdielen, die von Tyson einen Tag zuvor noch gebohnert worden waren, weil sein Großvater ihn dafür bestrafen wollte, dass er sich ständig vor dem Abwasch drückte. Er hatte dabei gejammert ohne Punkt und Komma, bis Max sich seiner erbarmte und ihm zur Hand ging. Der polierte Boden vor seinen Augen war so blank geputzt, dass sich selbst das Mondlicht darin spiegelte. Kai sah die Silhouetten seiner Freunde im Dunkeln. Futon für Futon lag aneinandergereiht. Max und Tyson kauerten unter ihren eigenen Daunendecken, witzelten und gackerten ununterbrochen, während Ray schlaftrunken murmelte, doch endlich etwas Ruhe einkehren zu lassen, immerhin hätten sie einen anstrengenden Trainingstag hinter sich gehabt. Seine Stimme klang so jung…

Kai lag dagegen etwas weiter weg von der Gruppe, als wolle er einen Sicherheitsabstand wahren. Er war müde, wollte schlafen, doch auch ihn hielten die beiden Quasselstrippen wach und die Decke über den Kopf zu ziehen, dämpfte ihre Stimmen nicht genügend ab. Sein Blick schweifte durch die offene Schiebetür hinaus. Der Garten lag im Mondschein. Die silbernen Strahlen ließen sogar die Konturen der akkurat gestutzten Bonsaibäume erahnen. Kühle Nachtluft drang von draußen herein und jeder Windhauch, der in den Raum huschte, fühlte sich angenehm auf der Haut an. Kai mochte dieses Gefühl. Milde Nachtluft auf seinem Körper. Es roch nach Sommer…

Nach trockenen Gräsern und dem Flieder welcher vor der Veranda zum Dojo wuchs. Kai merkte das er sich wohl fühlte, obwohl sein Schlafplatz nicht halb so komfortabel war, wie das, was er von zuhause aus gewohnt war. Die Müdigkeit war in Begriff, die Oberhand über ihn zu gewinnen, da hörte er Tyson aus seiner Ecke rufen: „Warum liegst du eigentlich wieder so weit abseits von uns? Schleif mal deinen Futon herüber, Kai!“

Ein genervtes Schnalzen war seine Antwort.

„Ich will nicht.“

„Warum nicht?“

„Vielleicht weil ich schlafen möchte?“

Seine Stimme triefte vor Sarkasmus.

„Ach komm! So laut sind wir nicht…“

„Doch seid ihr.“, maulte Ray. Er wurde ignoriert.

„Du willst dich nur wieder absondern!“

„Irgendwie muss man hier auch zum Schlafen kommen.“

„Warum sagst du nicht dass wir zu laut sind?“

„Ich sage das seit einer Stunde!“, empörte sich Ray. Anstatt darauf einzugehen, warf Tyson seine Decke zurück, hockte sich hin und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Nun komm endlich zu uns! Wenn ich dir was erzählen möchte, muss ich durch den ganzen Raum schreien!“

„Glaub mir, du bist auch so nicht zu überhören.“, sprach Kai gelangweilt. Er zog die Decke enger um seinen Leib.

„Haha… Seit der letzten Weltmeisterschaft habe ich dich nicht mehr zu Gesicht bekommen und alles was du machst, ist uns die kalte Schulter zeigen! Wir sind doch dein Team.“

„Ja genau!“, sprang auch Max auf den Zug auf. „Wie ist es dir seit Russland ergangen? Erzähl doch mal etwas!“

„Ich will jetzt nicht reden.“, aus irgendeinem Grund wurde Kai traurig. Er drehte sich auf die andere Seite, wandte seinem Team den Rücken zu, als er das Rascheln von Stoff hinter sich vernahm. Kurz darauf hallten Maxs und Rays erboste Rufe zu ihm herüber.

„Hey! Pass doch auf wohin du trittst!“

„Tyson du Trampel!“

Und schon kurz darauf rumste es hinter Kai, als sich ihr Wirbelwind geräuschvoll auf den Hosenboden krachen ließ. Dann ging es auch schon los. Er spürte wie ihm Tyson in den Rücken stupste. Immer wieder. Immer wieder… Gott, das nervte vielleicht!

„Hör auf damit!“, zischte Kai verärgert. Ein Stupsen folgte.

„Erst wenn du dich zu uns legst.“, flötete Tyson munter vor sich her, was Ray nur dumpf stöhnen ließ. Es klang als würde er sich das Kissen gegen die Ohren pressen.

„Der Weltmeistertitel hat dich nicht reifer gemacht.“

„Scheiß auf Reife! Wir sind noch Kinder!“

„Du vielleicht. Ich bin fünfzehn geworden.“, sprach Kai hochnäsig.

„Und wegen den paar Monaten Altersunterschied, fühlst du dich jetzt reifer?!“

Ihm wurde wieder fordernd gegen den Rücken gestoßen und zu allem Überfluss vernahm er Maxs Glucksen dazu.

„Vergiss es Kai! Gegen den Sturkopf kommst du nicht an.“

Ein genervtes Seufzen kam aus seinem Mund und schon schlug er die Decke zurück, um sich aufzusetzen. Unfassbar dass er sich bereit erklärt hatte, ein weiteres Jahr Teil dieses Teams zu sein. Das waren doch alles noch Kinder.

„Wenn ich mich zu euch lege, gibst du dann endlich Ruhe?“, fragte er Tyson mit erhobenem Kinn. Doch über dessen rundliche Backen zog sich nur ein breites Grinsen.

„Kommt darauf an was du uns für Informationen lieferst.“

„Was willst du denn noch wissen?“

„Keine Ahnung. Erzähl einfach etwas!“, zuckte er gutgelaunt mit den Schultern. „Warum hast du dich nach Russland nicht mehr bei uns gemeldet?“

„Warum sollte ich?“

„Auf dem Baikalsee ist das Eis zwischen uns wohl doch nicht gebrochen, wie?“

Er schnaubte erbost. An den See dachte Kai nur ungerne.

Er hatte einen gewaltigen Schrecken davon getragen.

„Nimm das nicht persönlich, Kinomiya, aber nur weil wir gemeinsam eine Weltmeisterschaft gewonnen und ein paar gefährliche Situationen übersanden haben, sind wir nicht gleich alle die besten Freunde.“

Ein langgezogenes und äußerst pikiertes „Eeey!“ kam von Max. Trotz der Dunkelheit konnte sich Kai nur zu gut vorstellen, wie er seinen inzwischen allseits bekannten Schmollmund aufsetzte.

„Ich sage nur wie es ist.“, stellte er klar. „Wir waren einen Sommer in einem Team, deshalb müssen wir uns nicht aufführen, als wüssten wir alles übereinander.“

„Nein, tun wir nicht.“, verschränkte Tyson die Arme. „Wir arbeiten aber daran - indem wir miteinander reden.“

„Und das bis in die frühen Morgenstunden…“, brummte Ray genervt unter seinem Kissen.

„So lernt man Leute eben kennen! Nicht wenn man teilnahmslos in einer Ecke hockt, wie Kai den ganzen Tag.“, Tyson wandte das Wort wieder an ihn. „Du bist eine Woche früher hier gewesen als die anderen und in der Zeit, hast du kaum mit mir geredet! Du bist ständig verschwunden um alleine zu trainieren!“

„Wenn es dich nervt, hättest du mich nicht einladen sollen, hier zu übernachten.“, kam es äußerst ungnädig von Kai zurück.

„Ach ja? Und wo wärst du sonst untergekommen?“

„Ich wohne in dieser Stadt.“

„Bei Voltaire! Ich lasse dich doch nicht zu diesem Ekel zurück!“

Kai hörte sich überrascht einatmen und war ganz froh, dass er sich die dunkelste Ecke im Raum ausgesucht hatte. Er fühlte wie seine Wangen warm wurden. Dennoch klang seine Stimme unterkühlt als er antwortete: „Dein Feuereifer in allen Ehren Kinomiya, aber ich werde nicht darum kommen, ihm irgendwann wieder unter die Augen zu treten.“

„Du kannst doch hier bleiben?“

„Sei nicht albern. Das funktioniert nicht…“

„Warum?“, kam es mit großen Augen von Tyson. In seiner jugendlichen Vorstellung schien die Lösung für ihn so einfach. Kai schüttelte ob dieser Naivität nur den Kopf.

„Großvater ist mein Vormund. Selbst wenn er im Gefängnis einsitzt.“

„Als meine Eltern gestorben sind, hat der Dorfälteste meine Vormundschaft übernommen.“, erinnerte sich Ray. Mittlerweile hatte er den Versuch zu schlafen begraben, denn er zog seinen Kopf seufzend unterm Kissen hervor.

„Großvater ist aber nicht tot. Der wird uns alle überleben.“, entgegnete Kai düster.

„Das Böse stirbt nie…“, gluckste Tyson. Es ließ ihn mit den Augen rollen.

„Du willst also wirklich zu ihm zurück?“, hakte Ray weiter nach. Auch er setzte sich nun auf und fuhr sich gähnend über den Nacken. „Hältst du das wirklich für eine gute Idee? Dein Großvater kam mir in Russland ziemlich angepisst vor. Ich würde mich so schnell nicht mehr in seine Nähe wagen.“

„Aus seiner Sicht habe ich unsere Familie verraten. Habt ihr erwartet das er begeistert ist?“

„Natürlich nicht. Aber hat er das so auch gesagt?“

„Nein, das braucht er nicht. Ich weiß wie mein Großvater denkt.“, kam es recht ernst von Kai. Dann meinte er mehr zu sich selbst. „Solche Dinge spricht man bei uns auch nicht an.“

„Wäre aber wohl besser. Ihr solltet das ausdiskutieren um die Wogen zu glätten.“

„Großvater legt keinen Wert auf Diskussionen.“

„Wie lange wird er denn weggesperrt bleiben?“

„Ich weiß es nicht. Die Hauptverhandlung kommt erst noch.“

Doch eigentlich war das eine Lüge. Geld regierte die Welt und er wusste das Voltaire die Mittel hatte, um seine Haftstrafe bis aufs Äußerste zu minimieren.

„Glaubst du er ist noch böse auf dich?“, fragte Max.

„Er wird es zumindest nicht vergessen haben.“

„Nachtragender Sack.“, schnalzte Tyson verächtlich. „Jetzt bleib doch einfach hier!“

„Ich glaube das ist rechtlich gesehen nicht so einfach, wie du dir das vorstellt.“, antwortete Ray nachdenklich, noch bevor Kai es tun konnte. „Die Dorfältesten meinten einmal zu mir, dass ein Haufen Papierkram auf einen zukommt, wenn man die Vormundschaft für ein Kind übernimmt. Und dann erst der rechtliche Kram! Wenn sie es aber nicht getan hätten, wäre ich in ein staatliches Heim gekommen und die sind nicht gerade toll. Wenn Voltaire Kais Vormundschaft also abgibt, dann müsste er vielleicht…“

Er hielt inne. Von ihnen allen besaß Ray wohl am ehesten ein Gespür dafür, wie Ernst seine Lage eigentlich war, obwohl auch er die Konsequenzen nicht genau begriff. Kais Zukunft lag in der Schwebe. Voltaire hatte ihn in der Hand. Der Gedanke schoss ihm durch den Kopf, dass es nur noch einen winzigen Fehltritt bedurfte und seinem Großvater würde der Kragen platzen. Es war ein Spiel mit dem Feuer…

„Heftig!“, entfuhr es Max inzwischen. Er lag noch immer unter seiner Decke und hielt das Kinn auf den Händen gestützt. „Kai, du musst doch nicht in ein Waisenhaus, wenn du mit deinem Opa nicht mehr klar kommst, oder?“

Es klang recht furchtsam. Und so schrecklich kindlich…

Dieser Junge war noch zu unschuldig, um den Ernst des Lebens richtig zu begreifen. Er kam aus einer behüteten Familie. Obwohl Kai keine Ahnung hatte, ob es der Wahrheit entsprach, entgegnete er ruhig: „Nein. Muss ich nicht.“

„Gott sei Dank!“, mit dieser Notlüge schien Maxs Welt wieder heil. Naiver kleiner Maxi…

„Hast du in letzter Zeit überhaupt mit deinem Großvater gesprochen?“

„Nein. Gleich nach dem Finale gegen Tala wurde er vorläufig festgenommen.“

„Ach ja, stimmt… Das heißt du warst die letzten Monate ganz alleine zuhause?“

„Ich war an einer Eliteschule in England.“

„Wow! Hört sich nobel an.“, staunte Max. Doch Tyson ließ das unbeeindruckt.

„Eher versnobt! Klingt als hätte dich dein Großvater dorthin geschickt, um dich zu bestrafen. Bestimmt will er nicht, dass du weiterhin Kontakt mit uns hast. Deshalb steckt er dich im Ausland in ein Internat – und damit er dich nicht mehr sehen muss, wenn er herauskommt! So eine gerissene Ratte!“

Kai fühlte wie sich seine Finger auf den Knien ballten.

„Du bist so taktvoll wie ein Vorschlaghammer, weißt du das eigentlich?!“, Ray verpasste Tyson einen Hieb gegen den Hinterkopf, dass der nach vorne kippte. Sobald er sich wieder aufsetzte, grummelte er böse und schaute über seine Schulter hinweg zu seinem Züchtiger.

„Sorry Kai, das kam falsch herüber.“, entschuldigte sich Ray an dessen Stelle.

„Nein. Er hat ja Recht. Ich weiß selbst dass es so ist.“

Dennoch…

Es rumorte in seinem Magen, auch wenn Kai gut darin war, es zu verstecken.

„Meine Aussage ist der Grund, weshalb Großvater überhaupt erst ins Gefängnis gekommen ist. Hätte ich Mr. Dickenson nicht die ganzen Informationen zugsteckt, wären die Machenschaften der Abtei nicht herausgekommen. Ich wusste auf was ich mich einlasse. Da ist diese Strafe noch überraschend milde.“

Es wurde ruhig im Dojo. Kai fühlte wie sämtliche Blicke im Raum auf ihn gerichtet waren.

„Weißt du, ich habe nie richtig begriffen, wie viel du unseretwegen auf dich genommen hast.“, erklärte Max betroffen. „Nur wegen uns bist du jetzt mit deinem Opa zerstritten.“

„Das muss dir nicht leidtun. Er hat sich dieses Grab selbst geschaufelt.“

„Trotzdem. Von uns allen musst nur du die Konsequenzen tragen. Du musst weiterhin mit ihm zusammenleben. Kannst du nicht wenigstens zu deinen Eltern ziehen?“

Kai blieb stumm, doch er hörte wie sein Atemzug stockte. In seinem Innersten zog sich etwas zusammen. Sein Schweigen schien aber ohnehin Antwort genug zu sein, denn die Stimmung schlug spürbar um. Und es war Ray der jene Frage aussprach, die auch ihn so sehr quälte: „Wo sind deine Eltern überhaupt?“

Er fühlte wie ihn viele Augenpaare bedachten. Unwissend, fragend, mitleidig…

Und aus irgendeinem Grund, schien das etwas zu sein, was er nicht ertragen konnte. Es kränkte ihn. Es griff seine Ehre an. Seinen Stolz. Er wollte nicht bemitleidet werden, denn so etwas brauchten nur Versager!

„Es ist wirklich spät für solche Geschichten. Ich will jetzt schlafen.“, Kai ließ sich wieder auf dem Futon nieder, jedoch so dass er seinem Team den Rücken präsentierte. „Seht gefälligst zu, dass ihr nicht mehr so laut seid. Euer Geschnatter weckt die ganze Nachbarschaft. Außerdem nehme ich morgen früh keine Rücksicht auf euch, nur weil ihr nicht ausgeschlafen habt. Punkt Sechs wird aufgestanden! Das gilt vor allem für dich, Kinomiya.“

Zunächst blieb es ruhig. Er hätte schwören können, dass hinter ihm vielsagende Blicke ausgetauscht wurden. Kai besaß ein gutes Gespür für das Deuten einer Atmosphäre.

„Na schön. Schlaf gut, Kumpel.“

Er konnte hören wie Tyson zurück auf seinen Futon kroch. Gleich darauf vernahm er dessen vorwurfsvolles Grummeln: „Also das war auch nicht taktvoller von euch, ihr Leuchten.“

Kai verdrehte die Augen. Seine Lippen verzogen sich trotzig. Hinter ihm kam Bewegung in die Gruppe, offenbar weil man sich nun endlich entschlossen hatte zu schlafen. Kai senkte die Lider und tat einen tiefen Atemzug. Diese Unterhaltung hatte ihn irgendwie aufgewühlt. Seine Gedanken überschlugen sich förmlich. Er mochte dieses Gefühl nicht. Er wollte Ordnung in seinem Kopf. Es half ihm die ganzen Sorgen um ihn herum emotional auszublenden, sie rational zu betrachten und dann logisch zu handeln. Da drang noch einmal Tysons Flüstern an sein Ohr. So leise, beinahe hätte Kai nicht verstanden, was er da mit den anderen tuschelte.

„Wir müssen gut auf ihn aufpassen, Jungs. Er gehört zu uns. Wenn seine Familie schon nicht für ihn da ist, müssen wir es sein.“

Zustimmendes Raunen war die Antwort. Und auf einmal fühlte Kai sich geborgen.

Seine Sorgen waren vergessen, auch wenn es nur für diese eine Nacht sein mochte…
 

„Was ist nun? Couch oder Dojo?“

„Was?“, Kai blinzelte perplex, straffte seinen Rücken. Mit einem Wimperschlag saß er wieder am Küchentisch, spürte die Lehne des Stuhles in seinem Rücken, anstelle der Wärme seiner Decke, während Mr. Kinomiya ihn abwartend musterte. Dessen rechte Braue war skeptisch in die Höhe gezogen.

„Alles gut mit dir?“

„Ja… Ich glaube, ich hatte nur wieder ein Aussetzer.“, er massierte sich über die Schläfe.

„Du solltest damit morgen zum Arzt gehen. Deine Pupillen werden tellergroß wenn das passiert, da bekommt man Angst dass du vom Stuhl kippst.“

„Ist das so?“, murmelte Kai und fuhr sich müde über die Stirn. Sein Blick wanderte zum Küchenfenster über der Spüle. Er vermisste seine Freunde wieder.

„Du legst dich jetzt wirklich hin. Eine Mütze voll Schlaf wird dir mehr als gut tun.“, Mr. Kinomiya schob entschieden die Tür auf. „Wo willst du nun schlafen? Auf der Couch oder bei Tyson im Dojo? Der Boden dort ist nicht gerade bequem und der Junge quatscht ununterbrochen. Das muss ich dir aber nicht sagen, weißt du bestimmt noch, oder?“

„Ja, aber das ist okay.“, erinnerte sich Kai. „Ich mag den Dojo. Es ist ein guter Raum…“
 

Die zweite Erinnerung in dieser Nacht handelte von Jana.

Obwohl er auf Tysons Rückkehr warten wollte, sprach Mr. Kinomiya so lange auf ihn ein, bis Kai sich geschlagen gab und dem Vorschlag ins Bett zu gehen zustimmte. Ihn beschlich die Vermutung, dass der alte Herr die Augen kaum noch offen halten konnte, aber seine Ehre als Gastgeber ihm untersagte, vor ihm in sein Zimmer zu verschwinden. Um nicht unnötig an dessen Erschöpfung zu zerren, nahm Kai die Futons entgegen und brachte sie in den Dojo, damit auch der Großvater endlich zur Ruhe kam. Er richtete die beiden Schlafplätze her und ihm wurde klar, dass der Moment der Aussprache immer näher rückte. Mit jeder Erinnerung die kam, geriet sein Vorsatz ins Schwanken und ständig tauchte die Frage auf, wie sein altes Selbst nur so lange über Tysons Loyalität hinwegschauen konnte. Er war ihm stets ein guter Freund gewesen. Kais Finger strichen gedankenverloren über den Stoff der Decke. Eigentlich war es ihm ganz Recht einmal von Mr. Kinomiya loszukommen. Er wollte alleine sein um richtig nachzudenken und auf Tyson warten konnte er auch im Dojo. Allerdings ließ Kai es sich nicht nehmen, vor dem Schlafen gehen noch einmal nach seiner Schwester zuschauen, also erhob er sich wieder und schritt zurück zum Haupthaus.

Mr. Kinomiya war noch unten im Bad zu Gange. Als Kai in Tysons Zimmer gehen wollte, ließ ihn die Macht der Gewohnheit an der Treppe vorbeilaufen, wo er den alten Mann mit Wasser gurgeln hörte. Am Ende des Flurs blieb er jedoch wie angewurzelt stehen und fluchte über sich selbst. Es ärgerte ihn, dass schon eine banale Kleinigkeit, wie dieser Umbau im Haus, ihn durcheinander brachte, immerhin hatte er selbst Jana hinauf gebracht. Kai massierte sich erschöpft die Nasenwurzel und murmelte: „Reiß dich zusammen…“

Erst dann schritt er zurück und stieg die Treppe auf. Im Obergeschoss ging er vorsichtig über die ausgelegte Plane. Sein Blick blieb zunächst an den Farbeimern hängen. Scheinbar war das Bauprojekt in der Endphase, sonst wäre Tyson wohl auch nicht schon nach oben gezogen. Es roch wie in einem Baumarkt. Kai öffnete die nächste Tür zu seiner Rechten einen spaltweit. Das Licht fiel in einer schrägen Linie in den Raum und behutsam näherte er sich dem Bett, in dem seine Schwester schlummerte. Er vernahm Janas ruhige Atemzüge. Ihr Brustkorb hob sich stetig und ihr Mund lag ein wenig offen. Die winzigen Finger zuckten im Schlaf, als wollten sie nach etwas greifen, dennoch wachte sie nicht auf. Kai sah die kleine Stoffkatze auf dem Boden liegen, hob sie auf und legte sie seiner Schwester in die zuckenden Finger. Da erblickte er im fahlen Licht die blauen Flecken an ihrer Armbeuge. Er fuhr behutsam über die Stellte hinweg.

Dann zischte Kai als er lautes Kindergeschrei vernahm. Seine Lider flackerten, bis sie sich gänzlich senkten - nur für eine Sekunde. Doch schon war Tysons Zimmer entschwunden. Da lag nun ein heller Raum vor ihm…

Es schien eine Praxis zu sein, denn da war dieser typisch sterile Geruch in der Luft. Er hörte das Summen von elektronischen Apparaten und sah seine kleine Schwester, auf dem Behandlungstisch im Zentrum des Raumes hocken. Ihre schmächtigen Beinchen baumelten über den Rand. Auf der Oberfläche des Tisches lag eine lange Papierbahn ausgeweitet, um nach jedem Patienten die Unterlage rasch zu wechseln. Janas kleine Finger krallten sich darin fest und sie schrie aus voller Kehle, weil der Arzt ihr Blut abnahm.

„Nich wieder!“, jammerte sie. Ihre dunklen Knopfaugen schwammen in Tränen.

„Shh…“, kam es beschwichtigend. „Nur noch dieses Mal. Das schaffst du. Du bist doch ein großes Mädchen, oder?“

Der anwesende Arzt besaß eine tiefe, ruhige Stimme. Mit einer Engelszunge sprach er auf das weinende Kind ein.

„Es sind nur ein paar kleine Stiche. Danach bekommst du ein Bonbon zur Belohnung und hast für ein paar Wochen deine Ruhe.“

„Nein!“

All die lieben Worte war Jana überdrüssig. Sie schien diese Versprechungen zu oft gehört zu haben und wusste sich nicht mehr anders zu helfen, als nach der Hand des Arztes zu schlagen – und zu kreischen. Aus voller Kehle.

„Will nich mehr! Geh weg!“

Damit war der Arzt am Ende seines Lateins. Er seufzte schwer.

„Schwester, bitte halten sie das Kind ruhig.“

Wie aus dem Nichts tauchte eine weitere Person auf. Sie rauschte an Kais Seite vorbei. Die junge Frau sprach mitfühlend auf das kleine Mädchen ein, umschmeichelte sie mit lieben Worten, doch Jana reagierte auf die fremden Hände die sie halten wollten, nur noch bockiger. Da trat sie auch schon nach der Frau und erwischte sie am Handgelenk. Die Helferin japste erschrocken, fuhr zurück und blinzelte eingeschüchtert, während ihr Vorgesetzter sie anfuhr, doch endlich das Kind still zu halten. Da schien Kai wie von alleine auf Jana zu zueilen. Er sah seine Hände, die ihr Gesicht umfassten, seine Schwester zwangen zu ihm aufzuschauen. Ihre Wangen fühlten sich heiß an, während der nasse Tränenfilm seine Finger benetzte. Ihr Körper bebte bei jedem Schluchzer. Die großen Augen schauten zu ihm auf. Er hörte sich selbst auf seine Schwester einreden, wie er ihr versicherte, dass es ihm Leid täte, dass sie das noch einmal durchmachen müsse, doch das die Untersuchungen nun einmal notwendig seien.

„Mama hat gesagt nur eins Mal noch…“

Jana streckte ihm demonstrativ einen Finger entgegen, um ihm klar zu machen, was sie unter einer Eins verstand.

„Eins Mal… Nich zwei!“

„Ich weiß.“

„Hat versprochen… Ehrewort!“

„Ich weiß, Kleines.“

„Will zu Mama.“

„Sie ist nicht da!“, erklärte er seiner Schwester energisch. Seine Finger umfassten ihre nun ganz fest. Sie wirkten zerbrechlich inmitten seiner Handflächen. „Wir kommen schon alleine klar. Das kriegen wir hin. Also bitte reiß dich zusammen, Jana.“

Er hob ihr Kinn an, schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.

„Nur ein Stich. Du bist doch kein kleines Baby mehr…“

„Immer ein Stich!“, jetzt schluchzte sie haltlos und schien so enttäuscht von der Welt. „Mama au gesagt. Und son wieda Stich. Jana mag nich mehr! Will nich mehr Spitze.“

Sie schniefte geräuschvoll, sah ihren Bruder flehend an.

„Ai, ich Heim wolle… Warum du das mache mit Jana? Hat du nich mehr lieb mich?“

Er ließ ihre Hände los, als habe sie ihn geohrfeigt. Da legten sich die Finger der Arzthelferin vorsichtig um Janas Handgelenke. Sie begriff dass Kai ihr nicht helfen würde, begann zu wimmern und schaute ihren Bruder vorwurfsvoll an, verstand einfach nicht, weshalb er ihr diese Strapazen erneut antat. Kai sah nur ihr kleines Gesicht vor sich, wie es sich verzog, als die Nadel durch die Haut ihrer Armbeuge stach. Es gab noch mehr Einstichstellen dort. Sie zogen sich wie ein buntes Muster über ihren blassen Ärmchen, zeugten davon, wie oft sie das die letzten Wochen schon über sich ergehen lassen musste. Kai bemerkte nicht einmal, dass der Arzt sich nun beeilte, die leeren Ampullen zu füllen. Sobald er fertig war, drückte er ein Stofftuch auf die Einstichwunde und schnallte die Manschette weg.

„So, kleiner Engel… War doch alles halb so schlimm.“

Doch für Jana war es schlimm…

Sie hatte genug von den ewigen Spritzen. Als die Schwester auch von ihr abließ, sprang sie vom Tisch, rannte zu Kai und vergrub ihr Gesicht heulend in seinem Hemd, ließ den Tränen freien Lauf und machte ihm schwere Vorwürfe. Sie bat darum endlich nachhause zu gehen. Er sah wie betäubt auf sie herab, auf ihren dunklen Haarschopf, fühlte ihre Finger, die sich im Stoff seiner Hose verkrallten. Ihr Weinen klang noch lange in seinen Ohren nach. Der Arzt wandte sich inzwischen mit traurigem Gesicht dem Anblick zu.

„Diese Tortur hätte man ihr ersparen können, wenn ihre Mutter nur umsichtiger mit den Ergebnissen umgegangen wäre, die ich ihr mitgegeben habe. Nächste Woche wird dem Kind der Shunt gesetzt, da muss man es nicht kurz vor der OP nochmal in solche Aufruhr versetzen!“

Kai nickte steinern.

„Ich kann absolut nicht nachvollziehen, wie ihre Mutter einfach so auf Reisen gehen kann und zuvor vergisst die Akte in der Klinik abzugeben! Warum hat sie sich dann überhaupt angeboten? Hätte ich das geahnt, hätte ich die Ergebnisse per Post verschickt oder der Helferin mitgegeben. Es muss doch auch in ihrem Sinne sein, dass solch wichtige Dokumente an der rechten Stelle ankommen? Das ist ihre Tochter!“

„Natürlich, dafür gibt es keine Entschuldigung. Ich werde es noch einmal zum Thema machen, sobald sie zurückkommt.“, versprach Kai ernst.

Ein schweres Seufzen kam vom Arzt.

„Na gut. Es wurde ohnehin auf beiden Seiten gepatzt. Die Praktikantin hätte Kopien vom Blutbild anfertigen müssen. Behalten sie aber dennoch mehr Ordnung als ihre Mutter! In Zukunft gebe ich dieser Frau auch keine weiteren Unterlagen mehr mit! Ein solches Chaos dulde ich in meiner Praxis nicht. Und dem Kind will ich auch nichts vorlügen müssen…“

Janas Wimmern wurde leiser und sie zerrte fordernd an Kais Hemd weil sie auf seinen Arm wollte. Das ständige Weinen hatte sie erschöpft. Ihre mandelförmigen Augen waren ganz klein, blinzelten ihn schläfrig an, die dicken Bäckchen brannten feuerrot.

„Lassen sie die Unterlagen zur Not lieber bei uns, bevor es wieder zu so einem Durcheinander kommt. Nicht zu fassen, dass die Akte einfach so verbummelt wurde.“, er grummelte den letzten Teil mehr zu sich selbst, zog seine Einweghandschuhe aus und warf sie in den Mülleimer. Es lag sehr viel Ärger in seiner Geste, denn das musste der Teil seines Berufes sein, den auch er nicht gerne ausübte. „Das Kind wird es ohnehin nie leicht haben. Da müssen wir ihr das Leben nicht unnötig schwerer machen. Operationen, Untersuchungen, Tabletten, gesellschaftliche Ausgrenzung und ständige Blutabnahmen werden Teil ihres Lebens werden. Versuchen wir also bitte, solch dumme Missgeschicke, auf ein Minimum zu reduzieren. Damit tun wir uns allen einen Gefallen. Vor allem ihr! Das Kind ist schon genug verängstigt wegen der OP nächste Woche.“

Nun fühlte Kai einen Tränenfilm bei sich selbst…

Er blinzelte um ihn wegzuscheuchen, da war der Behandlungsraum aber mit einem weiteren Wimpernschlag verschwunden. Nur seine kleine Schwester lag da noch im Bett, gemütlich begraben unter der dicken Decke. Sie hob ihre freie Hand, um geräuschvoll an ihrem Daumen zu lutschen. Einen verdutzten Moment fragte Kai sich, ob er tatsächlich mitten in der Praxis zu weinen begonnen hatte, doch da bemerkte er etwas Feuchtes auf seiner Wange. Seine Finger fuhren zu der Stelle, wo er eine einsame Träne verwischte. Er schloss seufzend die Augen, kniete noch immer vor dem Bett, bis er sich daneben auf den Boden sinken ließ. All das musste sich nur in seinem Kopf abgespielt haben und doch kam er sich wie betäubt vor. Es war diese Hilflosigkeit…

Er stützte seinen Ellbogen an der Bettkante ab und lehnte seine Stirn müde gegen die Handfläche. Ihm war tatsächlich zum Weinen zu Mute – weil Kai sich wieder daran erinnerte, wie machtlos er sich im Angesicht von Janas Trisomie fühlte. Es gab nichts was er tun konnte. Sie würde es immer schwerer haben als andere Kinder. Dabei hätte er alles darum gegeben, diesem zerbrechlichen Geschöpf jeden einzelnen Stich zu ersparen. Doch es gab Dinge im Leben, die konnte alles Geld der Welt nicht aufwiegen.
 

In dieser Nacht sollte es aber nicht bei dieser Erinnerung bleiben…

Etwas später schloss Kai behutsam die Zimmertür hinter sich, blieb jedoch einen Moment wo er war, um das Gesehene zu verdauen. Er war noch immer vertieft in die letzte Reise in die Vergangenheit. Die vorwurfsvollen Worte des Arztes klangen noch lange in seinen Ohren nach und ihm kam auch wieder die Vorgeschichte dazu in den Sinn. Seine Mutter war damals verschwunden…

Die Tage vor dem Arztbesuch, hatte Kai noch in ihrem Zimmer nach den Unterlagen von Jana gesucht. Irgendwann war er so wütend geworden, dass er sogar die Schubladen ihres Schreibtisches aus den Fächern riss und den Inhalt wahllos auf dem Boden verstreute. Seine Laune war komplett im Keller gewesen.

Kai wusste auch wieder dass er Raucher war. In dieser Zeit rauchte er ziemlich viel…

Das Hauspersonal duckte sich förmlich unter seinem Zorn und schlich um ihn herum, als habe er ihnen mit Schlägen gedroht. Keiner wagte es pünktlich nachhause zu gehen, alle blieben bis in die späte Nacht. Sie stellten das Haus auf den Kopf, das gesamte Büro seiner Mutter, durchsuchten die Flure, ihren Wagen, tasteten jede Ritze ab. Lew scheuchte die Bediensteten nur so herum, sprach gleichzeitig beschwichtigend auf seinen jungen Herren ein, um Kais Zorn zu mildern. Doch fündig wurden sie nicht…

Die Unterlagen blieben verschwunden. Bis man die vorsichtige Vermutung äußerte, dass die Ergebnisse wohl immer noch in der Handtasche seiner Mutter lagen. Die hatte keinerlei Ordnung gehalten, obwohl es für Jana doch lebenswichtig war, dass man mit ihren Sachen sorgfältig umging. Inmitten des Chaos was sie den Geschwistern hinterließ, war Kai lediglich aufgefallen, dass der Pass seiner Mutter fehlte, und so konnte er Eins und Eins bald zusammen zählen. Auch fand er einige ungeöffnete Briefe, die Rechnungen beinhalteten, welche teilweise schon angemahnt wurden – Janas Behandlungskosten. Kai hatte seiner Mutter dafür die nötigen Schecks ausgestellt. Wie er später erfuhr, war das Geld auch abgehoben worden, aber nicht von den Praxen. Da wurde ihm erst klar, was für ein falsches Spiel sie mit ihm getrieben hatte und das über Monate hinweg. Es war wie ein Fausthieb in die Magengrube…

Kai lehnte den Kopf an die Tür und schloss für einen Moment die Augen.

„Was hast du nur für eine verkorkste Familie?“, flüsterte er zu sich selbst.

Es war ein Stammbaum aus Intrigen. Der einzige Lichtfleck inmitten dieser Skrupellosigkeit war Jana. Dieses kleine Mädchen was so aufrichtig und unschuldig war, zu zart für diese grausame Welt. Es musste erst ein Trisomie krankes Kind in diese verdorbene Familie geboren werden, damit endlich etwas Gutes zu Stande kam. Kai seufzte schwer. Er fragte sich wo sein Platz war. Gehörte er zur hellen oder zur dunklen Seite?

Er konnte es nicht mit Gewissheit sagen…

So wie er das jetzt sah, war er zumindest genauso kalt, wie der Rest seiner Sippschaft. Wann immer ihn eine Erinnerung aus seinem Heim überkam, spürte er eine düstere Stimmung auf dem Hiwatari Anwesen. Die ganze Atmosphäre dort war bieder und unwillkommen, glich einer Winternacht in Moskau. Auf einmal verkrampfte sein Leib…

Kai schlug die Augen auf. Die Pupillen darin weiteten sich um ein Vielfaches. Sein Bewusstsein für das Hier und Jetzt wurde ihm geraubt. Nur die dumpfen Laute aus dem Badezimmer unten, waren noch zu vernehmen, drangen aber nicht mehr zu ihm durch.

Alles wurde ausgeblendet. Sein Geist ging auf Wanderung.

Kai selbst blieb still und bewegungslos – wie eine marmorne Skulptur.

Ein Außenstehender hätte sich gefragt, wo er nur mit seinen Gedanken war, was den jungen Mann dazu veranlasste, so einsam in den dunklen Flur zu starren. Es verging eine weitere Minute, da stieß sich Kai in Trance von der Tür ab. Seine Hände verhakten sich vor seinem Körper, kneteten unbeholfen seine Finger. Mit schleifenden Schritten lief er über die Planen hinweg. Es raschelte unter seinen Socken. Für Kai blieb das Geräusch unbemerkt. In seinem Geiste sah er eine andere Kulisse als den baufälligen Flur, stattdessen näherte er sich der Treppe. Schritt um Schritt…

Der Abgrund kam bedrohlich näher. Immer mal wieder verharrte Kai einen Moment, nur um irgendwann weiter zu schreiten. Einige Meter vor den Stufen, erwischte sein Fuß einen der leeren Farbeimer, auch wenn er selbst es nicht sofort bemerkte. Der Behälter fiel um, rollte leise klackernd vor ihm her und zu seinem Glück, stürzte er die Treppen hinab. Bevor Kai es ihm gleichtat…

Es rumste blechern bei jeder Stufe. Besonders als der Eimer unten gegen eine Kommode prallte. Das laute Geräusch ließ Kai aus seiner Trance schrecken. Seine Pupillen wurden augenblicklich kleiner, tasteten fahrig die Umgebung ab und als er den Abgrund vor sich entdeckte, wich er mit einem Keuchen zurück. Der umgestürzte Farbeimer hatte eine schmierige Schicht auf der Plane hinterlassen, die ihn ausrutschen ließ. Kai knickte schmerzhaft mit dem Fuß um, bekam aber noch das Geländer zu fassen und sank daneben auf die Knie. Einen Moment blieb er sitzen wo er war. Sein Atem ging stockend und irgendwann lehnte er seine Stirn gegen die Holzschnitzerei des Geländers. Da hörte er Mr. Kinomiya unten um die Ecke hechten. Zumindest versuchte er es, denn er humpelte schließlich seit dem Schlaganfall.

„Was ist passiert? Bist du verletzt?!“

Das Poltern hatte ihn in solche Panik versetzt, dass er sich noch nicht einmal den Schaum vom Zähneputzen weggewischt hatte. Er schaute aus als habe er Tollwut. Doch Kai war nicht in der Lage zu antworten. Der Schreck saß noch zu tief in den Gliedern – aber nicht vor der Gefahr, der er eben knapp entronnen war. Sondern vor der dritten Erinnerung an diesem Abend. Er wusste wieder, wie es sich anfühlte, klein und unbedeutend zu sein. Ein winziger Mensch inmitten einer Masse aus traurigen Kinderseelen. Unsichtbar, ungewollt und einsam, wie der Rest seiner Leidensgenossen. In wenigen Minuten, waren ganze Monate aus der Abtei, vor seinem inneren Auge vorbeigerauscht.

Es war wahrlich ein trauriger Ort gewesen…
 


 

ENDE Kapitel 44
 

Wann immer Max in den Gängen des Tokio-Narita Flughafens stand, musste er an seine dritte Weltmeisterschaft denken. Inmitten des geschäftigen Treibens, erinnerte er sich dann daran, dass sie an diesem Ort, zum ersten Mal als Blader getrennte Wege beschritten hatten. Tyson war ausgerastet, als Ray und er ihm hier eröffneten, dass sie in Zukunft in anderen Teams bladen wollten. Max wusste noch wie elend ihm zumute war, doch er sehnte sich so sehr nach der Chance den Weltmeistertitel zu gewinnen. Da aber im dritten Jahr nur Zweierteams antreten durften, war die Chance relativ hoch, dass er auf der Reservebank versauern musste, während Tyson wahrscheinlich den ganzen Ruhm wieder für sich einheimste. Etwas was bei aller Freundschaft, auch seine Sportlerehre nicht verkraften konnte. Also hatten sich Ray und er entschieden, die Bladebreakers zu verlassen und später erfuhren sie, dass auch Kai das Boot gewechselt hatte. In den folgenden Jahren, bereute Max diesen Entschluss kaum. Allerdings gab es da etwas, was er in einem anderen Leben anders gemacht hätte…

Die Art und Weise wie er es Tyson beibrachte.

Ihn mit einem gepackten Koffer am Flughafen, vor vollendete Tatsachen zu stellen, kam ihm heute falsch vor. Als er in den USA landete, seine Mutter ihn vom New Yorker Airport abholte und er sich über Tysons ungerechtes Verhalten beklagte, hatte die nur missbilligend mit der Zunge geschnalzt.

„Maxi, ich bin froh dass du jetzt bei den Allstarz bist, aber das war wirklich taktlos von dir! Das hättest du deinem Freund auch schonender beibringen können.“

„Ich dachte du wärst froh, dass ich zu euch gewechselt bin?!“, sprach er fassungslos. Sie war seine Mutter, sein künftiger Coach und er wollte gefälligst hören, dass Tyson sich falsch benommen hatte.

„Das bin ich auch, glaub mir! Aber auf eine Woche mehr oder weniger wäre es nicht angekommen. Da sieht man aber dass du noch ein Kind bist. Du kannst sehr ungeduldig sein. Ein Erwachsener hätte es deinem Freund anders beigebracht. Du hast ihm gar keine Zeit gelassen, sich auf deinen Ausstieg einzustellen. Kein Wunder ist er wütend geworden…“

Erst da begann er sein Verhalten zu hinterfragen. Manchmal brauchte auch Max Nachhilfe, aber da Tyson ihn so gemein beschimpft hatte, sah er nicht ein, sich bei ihm zu entschuldigen. Seine Mutter schmunzelte über seine Bockigkeit und als sie auch noch die Augen verdrehte, beklagte er sich, dass sie ihn wie ein kleines Kind belächelte.

„Du bist auch noch eines.“

Das war zu viel für ihn gewesen…

Die ganze Autofahrt über redete er kein Wort mehr mit ihr, auch nicht als Judy ihm neckend in die Babybacken kniff. Stattdessen bat er sie, so etwas nicht vor seinem neuen Team zu sagen, das wäre nämlich ziemlich uncool. Sieben Jahre später hätte Max natürlich anders gehandelt, denn nun wusste er, wie man am besten zu Tyson vordrang. Mit dem Koffer am Flughafen zu stehen, war die denkbar schlechteste Lösung gewesen. Da konnte er ihm kaum verdenken, dass er ihnen wortwörtlich eine Szene machte. Mit einem vernichtenden Blick, hatte er Ray am Kragen gepackt, um ihm aus gefletschten Zähnen vorzuwerfen, dass sie beide doch nur neidisch auf seinen Erfolg waren. Im ersten Moment dachte Max: „Das war’s. Ende der Freundschaft.“

An diesem Flughafen sollten sich also ihre Wege für immer trennen.

Doch überraschenderweise kam es anders als erwartet. Denn ausgerechnet die Distanz sollte sie enger aneinanderschweißen. Es war Tysons Ehrlichkeit zu verdanken, dass sie das Kriegsbeil schnell begruben, denn als sich später alle Blader, gegen Boris Vormachtstellung auflehnten, hatten sie noch einmal ein klärendes Gespräch geführt. Max erinnerte sich noch sehr gut daran. Er hatte den Dojo noch nie so voll erlebt wie an jenem Abend…
 

Nach einem langen und anstrengenden Trainingstag, hatten sich Tyson und er damals eine Pause auf der Veranda gegönnt, während die anderen Blader in der Übungshalle hockten und Kriegsrat hielten. Drinnen diskutierte man, welche Spieler für das Team gegen die BEGA aufgestellt werden sollten. Die Debatte war schon unzählige Male geführt worden. So oft das sie Max zu den Ohren hinaushing, denn man hatte es niemandem Recht machen können. Die männlichen Blader buhlten um den letzten freien Platz. Die Frauen pochten darauf, dass sie nun auch einmal zum Zuge kommen wollten. Max wusste noch, wie Julia vom F-Dynastie Team sich dafür aussprach, dass es nun endlich Zeit wurde, auch mal eine Bladerin in die Mannschaft zu holen, immerhin hätte die BEGA Ming-Ming, während Maxs damaliger Partner Rick nur verächtlich schnaubte, dass die Frauenquote schon genug kaputt gemacht habe, da müsse man nicht noch den Beybladesport mit wandelnden Büstenhaltern verpesten. Zugegeben, Rick konnte ein furchtbarer Macho sein…

Die ohnehin hitzige Diskussion erreichte damit ihren Höhepunkt. Ray hatte verzweifelt versucht zwischen den Geschlechtern zu schlichten. Vor allem da sich auch Lee und Mariah nun in die Haare bekamen. Anscheinend war was das Thema Emanzipation betraf, Blut keineswegs dicker als Wasser, auch unter den beiden Geschwistern nicht. Max hatte sich dagegen auf Zehenspitzen aus der Schusslinie gebracht, schlich irgendwann aus der offenen Schiebetür hinaus ins Freie und stellte zu seiner Überraschung fest, dass Tyson auch schon das Weite gesucht hatte. Er fand ihn auf der Holzveranda vor, im Schneidersitz und mit verschränkten Armen, die Augen fest geschlossen, die Brauen grübelnd ins Gesicht gezogen. Beinahe sah es aus als würde er meditieren. Als Max sich dazu setzte und ihn fragte, ob er, als Weltmeister, sich nicht auch an der Unterhaltung beteiligen wolle - immerhin hatte er alle Blader dazu aufgerufen sich gegen Boris zu wehren - brummte Tyson nur, dass ihm bald der Kopf platze. Es hatten noch nie so viele Leute wie zu jener Zeit im Dojo übernachtet und sein Heim kam ihm wie eine Irrenanstalt vor. Die keifende Nachbarin klingelte jede Stunde an der Tür und beschwerte sich über den Lärm, den die saublöde Bagage veranstaltete. Einmal hatte Mr. Kinomiya wütend zurückgebrüllt, dass sie selbst ihr Maul halten solle, da flog auch schon ein Pantoffel über die Grundstücksmauer.

„Dieses Problem hätten wir nicht, wenn Kai auch zu uns gestoßen wäre.“, beklagte Tyson sich kurz darauf. Für ihn war von vorneherein klar, wer der fünfte Mann sein musste, auch wenn Max und Ray ihn drängten, Kai endlich abzuschreiben. Sie alle waren ziemlich enttäuscht darüber, dass er die Seiten gewechselt hatte, aber ganz besonders Tyson wollte ihn nicht aufgeben. Max musste auf seine Worte schwer seufzen.

„Es ist sein gutes Recht. Wir dürfen ihm nicht vorschreiben, mit welchem Team er in Zukunft arbeiten möchte, auch wenn er nun unser Gegner ist. Das nächste Mal wenn wir ihn sehen, werden wir ihm in der Arena begegnen.“

Damals wussten sie noch nicht, dass Kai es nicht einmal durch die Vorrunden schaffen sollte. Sie waren fassungslos als sie erfuhren, dass er gegen Brooklyn verloren hatte. Doch zu Max Überraschung, machte ihm Tyson ein unerwartetes Geständnis.

„Ich habe kein Problem damit dass Kai nun unser Rivale ist.“

„Was dann?“

Als er endlich die Augen öffnete, erhaschte Max einen finsteren Blick.

„Ich will nicht dass er in einem anderen Team spielt! Das wollte ich auch nicht bei euch beiden. Könnt ihr das echt nicht verstehen?!“

Es bereitete Max Unwohlsein, dass er das Thema wieder aufgriff. Gerade waren sie dabei, diese unschöne Geschichte zu vergessen, da riss Tyson die alte Wunde wieder auf. Es war schlimm genug, was für fiese Worte sie sich am Flughafen an den Kopf geworfen hatten, da wäre ein Streit nun ziemlich kontraproduktiv. Boris hätte sich bestimmt vergnügt die Hände gerieben, wenn sie sich untereinander zerfleischten.

„Das hast du also nicht vergessen?“, sprach Max unangenehm berührt.

„Das werde ich niemals vergessen.“, kam es düster zurück. „Ihr habt mich mit Daichi allein gelassen. Mit Daichi!“

„Und doch hast du den Weltmeistertitel geholt.“

„Trotzdem! Ich hätte lieber euch bei mir gehabt.“

„Tyson, du darfst das nicht persönlich nehmen. Wir hatten nichts gegen dich, sondern wollten unsere Chancen verbessen. Von der Reservebank aus, hätten wir den Titel vergessen können!“

„Das weiß ich doch…“, aber wirklich besänftigt schien er nicht. Etwas wurmte ihn noch immer. Sein Ton gepaart mit der finsteren Miene sprach Bänder.

„Warum kannst du die Geschichte dann nicht ruhen lassen? Hör auf Kai Vorwürfe zu machen. Lass uns lieber das Beste aus den Bladern holen, die wir zur Verfügung haben. Wir haben wirklich eine große Auswahl und einige ziemlich gute Asse im Ärmel.“

Tyson blähte die Wangen trotzig auf.

„Die sind aber nicht so eingespielt wie wir Fünf! Du, Ray, Kai und ich… Wir sind die Blader. Und Kenny ist das allwissende Köpfchen im Hintergrund. Das konnte man nicht toppen! Ich will keinen Fremden im Team haben, ich will meine Freunde! Warum müssen wir eine Konstellation ändern die perfekt war?!“

„Weil Kai nicht mehr da ist!“, betonte Max genervt. „Er will nun einmal gegen dich antreten. Ich verstehe das nur zu gut - dass ist sein Ehrgeiz!“

„Aber warum musste er dazu in Boris Team wechseln? Warum ausgerechnet der?!“

„Ich weiß es nicht. Was in seinem Kopf vorgeht, war schon immer ein Geheimnis für mich. Aber wahrscheinlich ist ihm ein Match gegen dich wichtiger, als sein Groll gegen diesen Sack.“

„Ach, jetzt bin ich auch noch schuld?! Ich habe keinem von euch gesagt das ihr das Team wechseln sollt! Wenn ihr gegen mich antreten wollt, dann wisst ihr wo ihr mich findet! Ich bin verdammt nochmal hier! Es ist nicht nötig das ihr abhaut und euch neue Freunde sucht!“

Es war der Moment, indem Max erst so richtig begriff, was seine Mutter damals meinte. Ein Ausatmen ging durch ihn, als der Groschen endlich fiel. Gleich darauf redete sich Tyson auch schon wieder in Rage. Es regnete Vorwürfe, doch dieses Mal hörte Max die versteckte Botschaft deutlich heraus:
 

„Ich habt neue Freunde - und mich vergesst ihr!“
 

Und anders als bei ihrem unschönen Abschied am Flughafen, war er dieses Mal in der Lage, sich in ihn hineinzuversetzen. Denn als er während der letzten Weltmeisterschaft sah, wie gut Tyson sich mit Daichi zusammenraufte, während er selbst mit Rick auf keinen grünen Zweig kam, hatte Max die früher erfahrene Loyalität schmerzlich vermisst. Manchmal half ein Blick über den Tellerrand, um zu erkennen, was man an seinen Freunden besaß. Die Allstarz waren eine interessante Erfahrung gewesen. Sie hatten ihn viel gelehrt…

Aber leicht war es deshalb nicht mit ihnen. Denn anders als bei den Bladebreakers, war die Gruppe schon ein eingespieltes Team, bevor er dazu stieß, während Max den Fremdkörper darstellte, der sich nur durch seine Mutter Zutritt verschaffte. Zwar war er auch talentiert, doch die üble Nachrede hing ihm bis zum Schluss nach. Er war geduldet worden, aber so richtig dazugehörig fühlte er sich nie. Sein einziger Trost war damals, dass Rick durch seine saloppe Art noch viel unbeliebter war. Und als Tyson davon sprach, dass er nicht verstehe, warum Max die Allstarz so viel lieber mochte als die Bladebreakers, seine Vorwürfe endlich beendete, die Arme verschränkte und wutschnaubend wieder in den Hof starrte, wusste er was zu sagen war.

„Weißt du was ich wirklich bereue an meinem Ausstieg?“

Tyson hatte gleichgültig mit den Schultern gezuckt, noch zu beleidigt, um ihn mit seiner vollen Aufmerksamkeit zu belohnen.

„Das ich es dir nicht anders beigebracht habe. Die Erfahrung mit den Allstarz war wichtig für mich. Ich musste meine Fühler ausstrecken um mich weiterzuentwickeln. Der Ausstieg an sich tut mir nicht leid, aber ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, dir schon vorher zu erzählen, was ich eigentlich plane. Dann wärst du jetzt nicht so eifersüchtig.“

„Ich bin nicht eifersüchtig…“, kam das trotzige Murren.

„Doch und wie du das bist! Seit wir über diesen Streit reden, hast du mir mit keinem Wort vorgeworfen, dass ich dir den Titel klauen wollte - als wäre es total zweitrangig. Dagegen sprichst du nur noch davon, dass ich die Allstarz dir vorziehe.“

„Tust du ja auch!“, folgte prompt die Unterstellung.

„Aber nicht weil sie die besseren Freunde sind! Das sind bestenfalls Kollegen. Viele Dinge würde ich mit denen niemals besprechen. Mit dir ist das etwas anderes. Dir vertraue ich.“

Tyson hatte neben ihm die Lippen geschürzt. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden, die ihn argwöhnisch von der Seite aus musterten. Er war noch nicht ganz überzeugt.

„Das war nicht richtig von uns so überstürzt abzuhauen. Dafür wollte ich mich schon länger entschuldigen. Ich hätte mit dir Reden sollen. Von Freund zu Freund. Dann wäre der Streit am Flughafen nicht so eskaliert, weil ich dir von Anfang an gesagt hätte, dass du immer noch mein bester Kumpel bleiben wirst - selbst wenn ich in einem anderen Team blade.“

Tyson war immer noch stumm geblieben. Doch da erhaschte Max endlich ein zufriedenes Zucken um seine Mundwinkel. Es war wohl das gewesen, was er so dringend hören musste. Das ihr Ausstieg nichts damit zu tun hatte, dass Tyson womöglich ein schlechter Freund sein könnte. Das er immer noch ihr „Best Buddy Number One“ war.

Was das anging duldete er bis heute keine Nebenbuhler. Und am Tag darauf, beklagte er sich auch weniger über die anderen Teammitglieder, war endlich wieder guter Laune und witzelte sogar mit den anderen Herren über die Damenwelt, die eine Petition gestartet hatte, um „Macho-Rick“ von ihrem Projekt zu verbannen. Im Prinzip war Tyson sehr einfach gestrickt. Seine Gefühle konnte er kaum verbergen…
 

So wie jetzt, wo er mit ihnen am Flughafen saß, total übermüdet, mit dunklen Augenringen und doch nicht nachhause ging, weil er bis zur letzten Minute bei ihnen bleiben wollte. Er schaute bei jedem Abschied etwas traurig und auch heute lag da wieder diese Wehmut in seinem Blick. Ihr Gepäck hatten sie gleich zu Anfang abgeben und sich anschließend noch für einen Becher Kaffee, in eine Bäckerei gesetzt, um die Wartezeit zu überbrücken. Jeder von ihnen brauchte etwas um wieder munterer zu werden, zumindest bis sie im Flieger saßen und trotz des chaotischen Wetters draußen, war der Flugverkehr wieder aufgenommen worden. Eine Wand der Cafeteria war komplett bis zur Decke verglast, sodass man einen Blick auf die regennassen Startbahnen werfen konnte. Um dem Frost auf den Tragflächen entgegenzuwirken, wurden einige Flugzeuge mit etwas Flüssigem abgespritzt. Das grellorangene Flugpersonal war gut im Dunkeln zu erkennen und sie bei diesem Mistwetter draußen herumrennen zu sehen, entlockte jedem von ihnen ein mitleidiges Schmunzeln. Die Stimmung am Tisch war betreten, einfach weil ihnen allen der Abschied schwerer fiel als sonst. Tysons Trübsinn spürte man aber besonders.

Allerdings sorgte Mariah für eine kurze Auflockerung, als sie panisch verkündete, noch einmal dringend die Damentoiletten aufsuchen zu müssen. Irgendwie schien das bei schwangeren Frauen erschreckend plötzlich zu kommen, denn sofort ließ sie alles stehen, kippte versehentlich ihren Trolley um und schob sich wie eine kleine Dampfwalze, zielstrebig an der Schlange vor der Toilette vorbei. Dabei rief sie aus, dass alle die keinen Braten in der Röhre hatten, gefälligst das Weite suchen sollten, während Galux ihr eiligst hinterher tippelte. Das Bit Beast entwickelte sich zu ihrem zweiten Schatten, denn sie wich ihrem Menschenkind keinen Millimeter von der Seite. Es hätte keinen von ihnen gewundert, wenn sie sogar in die Toilettenkabine mit hineinhuschte. Max viel auf, dass jede Frau, die in Berührung mit dem Wesen kam, ein kurzes Schaudern von sich gab. Doch ansonsten blieb das Bit Beast unbemerkt.

„Schade dass dieses Treffen so danebengegangen ist. Unser Nächstes muss dafür umso besser werden.“, Ray nahm den Deckel von seinem Kaffeebecher, um etwas Zucker hinein zu streuen. Doch er konnte Max nichts vormachen. Er fühlte sich eindeutig dazu verpflichtet Tysons trübe Stimmung aufzuheitern und was wäre dafür geeigneter, als die Aussicht auf ein baldiges Wiedersehen. „Wisst ihr, ich habe mir überlegt, ob wir nicht Neujahr wieder zusammenfeiern wollen? Was denkt ihr?“

Schon sah man Tyson aufhorchen. Und als Max gleich darauf auf den Zug aufsprang und den Vorschlag unterbreitete, Silvester am New Yorker Times Square zu verbringen, stahl sich ein breites Grinsen auf dessen Gesicht.

„Das wäre total irre! Das wollten wir doch schon immer Mal machen.“

„Vielleicht könnten wir uns den Times Square für nächstes Jahr vornehmen? Der Geburtstermin liegt im Dezember. Ich dachte auch ehrlich gesagt eher an das asiatische Neujahr.“, ein stolzes Lächeln trat auf Rays Lippen. Die verloren geglaubte Vaterfreude war wieder zurück. „Dann könntet ihr meine kleine Tochter auch gleich sehen. Als ihr bei meiner Hochzeit da gewesen seid, war es auch lustig und in unserem Dorf wird noch richtig traditionell gefeiert.“

„Dann feiern wir dieses Jahr ein traditionelles Neujahr in China und ein modernes Silvester in New York.“, Tyson strahlte begeistert bis über beide Ohren und lehnte sich zurück. „Eins muss ich euch lassen, durch euch komme ich viel in der Welt herum. Wenn ich anderen Freunden erzähle, wo ich schon überall gewesen bin, glauben die mir nie.“

Ray musste ob seiner guten Laune anfangen zu grinsen.

„Schön dass dich das endlich wieder aufheitert.“

„Was heißt hier wieder aufheitern? Ich habe gar nichts gesagt…“

„Dein Blick spricht aber für sich. Jedes Mal wenn du uns an den Flughafen fährst, müssen wir uns etwas einfallen lassen, damit du nicht mehr wie ein geprügelter Hund schaust.“

Tyson bekam große Augen.

„Mache ich das?“

Einstimmiges Nicken war die Antwort, da kratzte er sich auch schon mit einem verlegenen Lachen am Hinterkopf.

„Ist mir gar nicht aufgefallen.“

„Weil wir dir das noch nie gesagt haben.“, auch Max konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als er an seinem Pappbecher nippte. „Das war schon immer so bei dir. Da bekommt man ein richtig schlechtes Gewissen.“

„Nun hör auf! So schlimm bin ich auch wieder nicht.“

„Nein, du doch nicht.“, seine Stimme triefte vor Sarkasmus. Dann wandte er sich an Ray. „Erinnerst du dich an sein Gesicht als wir die Bladebreakers verlassen haben?“

„Oooh ja.“, ein bedeutungsschweres Nicken kam. „Ein Wunder das wir heute noch befreundet sind. Damals dachte ich das wäre das Aus. So bissig wie Tyson geworden ist.“

„Hey! Das war ja auch ein Schock!“

„Sei nicht beleidigt. Manchmal kommt eben doch der Drache bei dir durch.“, gluckste Max.

„Du meinst weil ich wie Dragoon bin?“

Das hätte er nicht sagen sollen…

Denn gleich darauf nahm Tysons Gesicht wieder ernstere Züge an. Max bekam einen tadelnden Hieb von seinem Nebenmann auf den Hinterkopf. Da sprach Ray auch schon beschwichtigend auf ihn ein: „Vergiss was er gesagt hat! Er kann da gar nicht mitreden. Dragoon hat vielleicht den Körper eines Drachen gehabt, aber bei weitem nicht den edlen Charakter.“

„Was soll das heißen - ich kann da gar nicht mitreden?“, wollte Max wissen.

„Nun zieh nicht so ein Gesicht! Ich meine damit nur, dass jemand der nicht aus der asiatischen Kultur stammt, wenig von der symbolischen Bedeutung eines Drachen weiß. Sie sind eigentlich magische Glücksbringer. Einem Menschen der im Zeichen des Drachen geboren wurde, sagt man viele positive Eigenschaften nach. Beispielsweise Tapferkeit, Ausdauer, viel Optimismus, aber auch Großzügigkeit, Ehrlichkeit und mit zunehmenden Alter auch Weisheit. Viele Paare heiraten bei uns im Jahr des Drachen, weil die Ehe dann unter einem besseren Stern stehen soll. Unser Wirbelwind hat doch wohl bewiesen, dass er viele dieser guten Eigenschaften besitzt.“

Ray klopfte Tyson aufmunternd auf die Schulter.

„Denk nicht einmal daran dass du wie Dragoon bist.“

Doch zu ihrer Überraschung starrte er nur weiterhin nachdenklich in seinen Becher. Seine Brauen waren tief zusammengezogen und Max hatte wirklich Sorge, mit seinem unüberlegten Kommentar, seine Ehre gekränkt zu haben. Um die Wogen zu glätten, flunkerte er: „Ich habe mich vertan. Eigentlich wollte ich etwas anderes sagen…“

„Hast du nicht.“, fuhr Tyson dazwischen. „Du hast ein anderes Bild im Kopf gehabt, oder?“

„Ich weiß nicht was du meinst?“

„Du brauchst nicht zu lügen.“, endlich schaute er auf. „Kenny und ich mussten einmal ein Referat über die USA halten. Ich weiß nicht mehr viel davon. Ehrlich gesagt haben er und Hilary auch die meiste Arbeit gemacht - ich habe mich davor gedrückt. Jedenfalls musste ich einen Abschnitt vortragen, in dem es um die ersten Siedler ging. Er handelte davon, dass viele ursprünglich aus Europa stammen.“

„Ja, ich weiß. Das brauchst du mir nicht erklären, immerhin kommen meine Vorfahren mütterlicherseits aus Schweden. Warum fängst du eigentlich damit an?“

Etwas verständnislos blinzelte Max zu ihm hinüber. Mit diesem Themenwechsel konnte er nichts anfangen, aber er spürte, dass Tyson auf etwas Bestimmtes hinaus wollte. Der setzte sich nun gerade auf und sprach: „Ich habe mal gehört, dass vor allem in westlichen Ländern, Drachen eine ganz andere Bedeutung haben. Ich meine im Gegensatz zu unserer Kultur. Vor allem in Europa.“

Nun wusste er worauf das hinauslief…

Tyson hing noch immer Galuxs lächerlicher Vergleich nach.

„Das ist nur Mythologie.“, versuchte Max auszuweichen. „Blöde Märchen.“

„Sag mir wie ein Drache in Europa gesehen wird. Wie er bei euch in Amerika gesehen wird. Du hast bestimmt genauso viele Sagen gehört, wie wir hierzulande. Du bist aber mit anderen Geschichten großgeworden, oder?“

„Warum willst du das unbedingt wissen?“

„Weil das wichtig für mich ist. Ich kenne nur die asiatische Definition. Jetzt interessiert mich aber was man im Westen denkt. Und zwar nicht diesen abgedrehten Hollywood Kitsch. Ich will wissen, was man sich früher, zu den alten Zeiten erzählt hat. Also woran hast du gedacht, als du gesagt hast, dass der Drache manchmal bei mir durchkommt?“

Max tat einen schweren Atemzug. Etwas hilfesuchend schaute er zu Ray, doch der zuckte nur ratlos mit den Schultern. Er war anders aufgewachsen, kannte nur die Legenden aus China, die einen Drachen viel positiver ausschmückten. Weitaus ehrfürchtiger…

Dieses Thema aufkommen zu lassen, war wirklich nicht seine Absicht gewesen. Max kratzte sich unbeholfen am Nacken und blinzelte Tyson unsicher an.

„Naja, im Westen kommen Drachen…“, er zögerte und suchte die richtige Wortwahl. „Sie kommen nicht ganz so gut weg, wie auf dem asiatischen Kontinent. Eher noch umgekehrt…“

„Du meinst sie sind bösartig?“

„Nach den Erzählungen zu urteilen, ja. Sie werden auch mal gerne als Boten der Hölle interpretiert. Als ich aus den USA nach Japan eingewandert bin, hat es mich ziemlich gewundert, wie unterschiedlich ein Drache hier gedeutet wird. Es gibt bei uns sogar Kirchenbilder, in denen sie von Heiligen erschlagen werden. Die Sagen und Geschichten sind nicht gerade nett. Aber Tyson… Das muss doch nichts mit dir zu tun haben!“

„Kennst du eine Geschichte?“

Max blinzelte verdutzt. Tat er das?

Er begann fieberhaft nachzudenken.

Ein weiterer Blick huschte zu Ray. Der hob aber nur hilflos die Hände.

„Schau nicht so! Ich bin der Letzte der so eine Geschichte kennt…“

Es ließ ihn genervt murren. Nach einer langen Denkpause sprach Max schließlich: „Mir fallen nur wenige Sagen ein. Von den meisten weiß ich gar nicht mehr wie sie genau gehen. Auf die Schnelle fällt mir nur eine ein.“

„Welche?“

„Die um Beowulf…“

„Ist das nicht auch nur ein Film gewesen?“

„Doch schon. Aber als ich ihn gesehen habe, fand ich den Film so genial, dass ich meiner Mutter davon erzählt habe. Die hat sich darüber aber nur geärgert, da er ihrer Meinung nach voller Handlungsfehler war. Sie kannte das Original. Ich habe dann im Internet recherchiert, wie die Geschichte wirklich geht. Das ist aber auch der einzige Grund, weshalb ich davon weiß.“

„Erzähl mir davon.“, bat Tyson. Sein Blick war voller Neugierde, er neigte seinen Kopf etwas vor, lauschte bedächtig. Noch nie hatte Max erlebt, dass er sich so in etwas hineinsteigerte. Dabei wollte er doch dessen Gefühle nicht verletzen. Ein westlicher Drache war alles andere als ein Glücksbringer. Als er Maxs Zögern bemerkte, sprach er: „Egal was du sagst, ich werde nicht böse. Erzähl mir so viel dir einfällt.“

Tyson beugte sich weiter über den Tisch, taxierte ihn abwartend und auch Ray schien aufzuhorchen. Beide erwarteten die Erzählung. Max massierte sich seufzend die Nasenwurzel.

„Lass mich überlegen…“, da er um Tysons Hartnäckigkeit wusste und Ray ihm auch nicht heraushelfen konnte, beschloss er ehrlich zu bleiben. „Ich glaube die Geschichte beginnt mit einem Knecht, der seinen Lehnsherren entlaufen ist. Auf seiner Flucht findet er eine Felshöhle in der ein Lindwurm steckt.“

„Ein Lindwurm?“, fragte Tyson.

„Das ist auch ein Drache. So hat man die damals genannt.“, erklärte Max. „Jedenfalls lag dieser Drache auf einem unermesslichen Schatz. Ganze dreihundert Jahre bewegte er sich nicht vom Fleck, aus Angst, man könnte ihm auch nur einen einzigen Edelstein entwenden.“

„Er war also habgierig?“, kam erneut die Zwischenfrage von Tyson.

„Und wie! Jedenfalls findet der Knecht den Drachen schlafend vor und da er das Leben in der Gefolgschaft seines Herren satt hat, entwendet er eine mit Edelsteinen besetzte Schale und bringt sie seinem Lehnsherren um sich freizukaufen. Der ist mit dieser Gabe besänftigt, vergibt dem Knecht dass er fortgelaufen ist und erklärt sich bereit, ihn fortan aus seinen Diensten zu entlassen. Er ist also endlich ein freier Mann. Der Drache erwacht aber irgendwann in seiner Höhle. Sofort bemerkt er, dass seine Schale entwendet wurde. Er wittert den Geruch eines Menschen, aber der Dieb ist schon längst fort. In seinem Zorn beschließt er deshalb, sich an den Bewohnern der nächsten Stadt zu rächen. Er legt sie in Schutt und Asche, tötet alles Leben und brennt sogar eine Burg bis auf die Mauern nieder.“

„Klingt nach den bösartigen Feuerdrachen, die es auch in Japan gibt. Bei uns sind Drachen aber trotzdem meistens gutartige Wesen.“

„Im Westen ist ein Drache eigentlich immer etwas Böses. Zumindest bevor Hollywood kam. Er speit auch Feuer. So etwas wie einen Meeresdrachen oder Himmelsdrachen gibt es dort nicht. Er ist etwas Düsteres. Viele sahen ihn damals sogar als Dämon. Da kommt auch König Beowulf ins Spiel. Er packt Schwert und Schild, besiegt den Drachen, wird dabei aber tödlich verwundet. Mit seinen letzten Worten befiehlt er, dass der Schatz unter dem Volk aufgeteilt werden soll. Die Menschen trauern um ihren guten König und besingen ihn. Ich glaube in dem letzten Teil sprechen sie sogar davon, dass es niemals mehr einen König wie Beowulf geben wird. Das war so die grobe Zusammenfassung.“

Tyson kratzte sich nachdenklich am Kinn, bis er sich müde über die Augen fuhr. Die dunklen Augenringe waren deutlich erkennbar. Er war schon ewig auf den Beinen und gehörte eigentlich ins Bett. Max hatte ihm bereits gesagt, dass er kein gutes Gefühl dabei hatte, wenn er übermüdet ans Steuer saß. Auf einmal lehnte Tyson sich gähnend zurück und sprach: „Hört sich wirklich nach mir an…“

„Was?!“, kam es zeitgleich von seinen Freunden. Max bereute bereits dass er die Geschichte erzählt hatte. Da ergriff Ray auch schon das Wort.

„Tyson, wir sind deine engsten Freunde. Wenn also jemand dir sagen kann, dass du kein Monstrum bist, dann sind wir es.“

„Ich weiß dass ich kein Monstrum bin. Aber seit wir unsere Bit Beast kennengelernt haben, weiß ich, dass ich das Potenzial dazu hätte. Es ist so wie Allegro gesagt hat - die Seele des Menschen muss zum Bit Beast passen.“

In Max Magengrube zog sich alles zusammen. Ohne es wirklich kontrollieren zu können, entstand ein trotziger Ausdruck auf seinem Gesicht. Er war nicht wie Draciel. Mit diesem Gedanken konnte er sich einfach nicht anfreunden…

„Wisst ihr woran ich jedes Mal denke, wenn ich euch zum Flughafen bringe?“

Auf Tysons Frage schüttelten beide den Kopf.

„An die dritte Weltmeisterschaft.“

Es ließ Max überrascht blinzeln. Er nahm eigentlich an alleine mit diesem Gedanken zu sein. Da trat auch schon ein trauriges Lächeln auf Tysons Gesicht.

„Es ist seltsam, aber damals war der Hype um mich am größten. Womöglich weil niemand glauben konnte, dass ich so einen schweren Gegner wie Brooklyn besiegt habe. Aber ich selbst – ich denke nie gerne an diese Meisterschaft. Sie war eigentlich mein persönlicher Tiefpunkt. Ich habe mich zu Anfang von meiner schlimmsten Seite gezeigt. Am liebsten waren mir die ersten beiden Meisterschaften. Die wo ich euch noch an meiner Seite hatte. Als ihr bei den Bladebreakers ausgestiegen seid, ging aber von Jahr zu Jahr mein Elan flöten. Der einzige Grund, warum ich noch an den Meisterschaften danach teilgenommen habe - das ward ihr. Ich habe mich darauf gefreut meine besten Freunden bei den Turnieren zu sehen…“

Max schaute in seinen Becher. In die dunkle Flüssigkeit darin. Deshalb hatte Tyson also nach seinem Ausstieg aufgehört. Er hätte es noch viel weiter bringen können und wäre der unbesiegte Weltmeister nicht ausgestiegen, wäre die Beybladewelle bestimmt nicht so rasch abgeebbt. Es gab damals noch so viele Blader, die Tyson hatten schlagen wollen. Doch als er sich verabschiedete, kam nichts Gutes mehr hinterher. Der Weltmeister danach wurde ständig mit Tyson verglichen und jeder sprach davon, dass er nur ein Fingerhut seines Talents besaß. Max erinnerte sich, wie der arme Tropf von der Presse förmlich durch den Fleischwolf gedreht wurde. Er bladete nur eine Meisterschaft mit, dann zog er sich auch schon zurück, weil er dem Druck nicht standhielt. Tyson hatte einfach zu viele Fans, die auf dem neuen Weltmeister herumhakten. Der machte ihnen inzwischen ein Geständnis…

„Dieser Drache aus deiner Geschichte – irgendwie verstehe ich ihn. Natürlich war es grausam eine ganze Stadt niederzubrennen wegen einer bescheuerten Schale. Aber andererseits, warum musste dieser Knecht sie ihm überhaupt klauen? Sie hat ihm nicht gehört. Er hat sich einfach daran bedient. Wenn ein Wesen dreihundert Jahre auf einem Schatz hockt, muss es ihm viel bedeuten. Es muss ihm einen Grund gegeben haben zu leben. Genauso war das bei mir, als ich noch Blader war. Ohne euch in meinem Team, gab es keinen Grund mehr weiterzumachen. Und als ihr mir von eurem Ausstieg bei den Bladebreakers erzählt habt, war ich so wütend, ich wollte unbedingt noch einmal Weltmeister werden, um euch eins auszuwischen. Es ging mir nicht mehr um den Spaß – das war Rache die mich angetrieben hat. Deshalb war ich in den ersten Runden auch so schlecht. Ich hatte das falsche Ziel vor Augen.“

Ein trauriger Zug spielte um seine Mundwinkel.

„Ihr habt ja gesehen, wie ich mich damals aufgeführt habe. Opa meinte sogar zu mir, ich würde mich wie ein Ekel benehmen. Ich hätte nicht das Recht meine Freunde als meinen persönlichen Besitz zu beanspruchen und ihnen so die Zukunft zu verbauen, nur weil ich sie ständig um mich haben möchte. Ich müsste lernen eure Entscheidungen zu akzeptieren… Das Menschen nicht mir gehören. Was das angeht bin ich aber wirklich wie ein Drache. Ich hocke auf meinem Goldschatz und gebe nicht ein winziges Bisschen davon ab.“

Ein mitleidiger Ausdruck trat auf Maxs Gesicht. Und als er einen kurzen Blick zu Ray warf, konnte er erkennen, dass es dem ebenso ging. Der schloss irgendwann die Augen und nach einem tiefen Atemzug, sprach er schließlich: „Weißt du Tyson, diese Eigenschaft – du stellst sie vielleicht als Habgier, Neid oder Besitzanspruch dar – aber es muss nicht immer etwas schlechtes sein. Natürlich gab es in der Vergangenheit manchmal Reibereien zwischen uns deshalb. Bei meinem Ausstieg hätte ich dir für deine Beschuldigungen am liebsten den Hals umgedreht! Ich war wirklich sauer auf dich. Ich konnte dich nicht verstehen. Aber nun sieh uns an… Wir sitzen immer noch beisammen. Und was du in den letzten Tagen geleistet hast, dabei hat dir wohl auch diese schlechte Eigenschaft geholfen. Der Drache der auf seinem Goldschatz hockt, ist vielleicht Habgierig, aber er ist auch ein Beschützer. Und das warst du in den letzten Tagen. Ich bin dir dankbar für diesen Schutz. Euch beiden…“

Er schaute Tyson aufmunternd entgegen.

„Ich könnte noch immer in diesem Dschungel festsitzen. Meine Tochter würde ihren Vater nie kennenlernen. Das habe ich auch dir zu verdanken Tyson. Und wenn du mir damals am Flughafen, so ehrlich gesagt hättest, dass du einfach Angst davor hast unsere Freundschaft zu verlieren – dann hätte ich dir sofort die Hand gereicht. Ich hätte dir gesagt das es keinen Grund für diese Angst gibt.“

Tyson atmete lange aus und lächelte müde. Da fügte Ray ganz beiläufig hinzu: „Und ich hätte dir gesagt – sei nicht so eine blöde Memme!“

Sobald seine Mundwinkel steil sanken, begann Ray los zu prusten und auch Max konnte nicht an sich halten. Und als Tyson klar wurde, dass er nur veralbert wurde, rollte er entnervt mit den Augen und lachte mit. Sein geschockter Gesichtsausdruck war so genial gewesen, dass Max noch lange japste. Doch sobald es an ihrem Tisch wieder leiser wurde, hatte auch er eine kleine Erleuchtung erhalten. Womöglich war er wie sein Bit Beast. Womöglich steckte ein kaltblütiges Draciel auch in ihm. Doch wenn Galux in einer Sache Recht gehabt hatte, dann war es, dass Perfektion auch in der Natur nicht existierte. Und wenn er eines von Tyson lernen konnte, dann war es, mit seinen Fehlern ehrlich umzugehen.
 

So schön ihr Beisammensein an diesem Abend auch war, er fand leider auch bald ein Ende. Denn sobald Maxs Flugnummer aufgerufen wurde, war ihnen allen klar, dass dies nun ihr Abschied sein würde. Auch Ray und seine Frau beschlossen, sich auf den Weg zu ihrem Gate zu machen. Als sie sich vor den Sicherheitskontrollen trennen musste, spürte Max ein Prickeln unter seinen Augenlidern, dass er nur mit viel Mühe und Not unterdrücken konnte. Die letzten Tage kamen ihm wie ein böser Alptraum vor und doch hätte er keine besseren Gefährten an seiner Seite haben können. Sie bekamen eine brüderliche Umarmung von Tyson. Sogar Mariah, obwohl die kichern musste, weil er mit seinen Armen nicht mehr um ihren runden Babybauch herumkam. Ihrem Bit Beast gestand Tyson jedoch ein besonderes Maß des Respekts zu. Er verbeugte sich vor Galux.

„Danke für alles. Bitte pass auch weiterhin auf meine Freunde auf.“

Und obwohl sie nach ihrem tadelnden Vortrag im Wagen, recht unterkühlt gewirkt hatte, schien Galux mit dieser ehrfürchtigen Geste milder gestimmt. Max hätte schwören können, ein wohlwollendes Nicken zu sehen, ein wissendes Lächeln zu erhaschen - falls das bei einer Katze überhaupt möglich war.

Tyson stand noch eine ganze Weile nach ihrem Abschied hinter der Absperrung der Sicherheitskontrollen, die Hände in seiner ledernen Jackentasche vergraben und schaute ihnen hinterher. Das tat er immer wenn sie gingen. Und einmal mehr dachte Max daran, wie sie sich kurz vor der dritten Weltmeisterschaft, an diesem Flughafen getrennt hatten. Etwas würde sich wohl nie ändern…

Der bedrückte Ausdruck in Tysons Augen und das beklommene Gefühl in Maxs Magen, weil es ihm vorkam, einen Bruder zurückzulassen. Doch dann fiel ihm die Geschichte seiner Mutter wieder ein. Er war sich sicher, dass ein roter Faden, auch zu diesem Menschen führte. Und als sie alle zum letzten Mal die Hand zum Gruß hoben, erwiderte Tyson die Geste mit einem Lächeln.
 


 

*
 

Cousine Mimi hielt sich recht wacker, auch wenn Allegro zugeben musste, dass sie ein ziemlich furchtsames Mäuschen war. Wann immer es irgendwo knackte oder knarzte, wurde sie zu einem kleinen Blitz und verflüchtigte sich hinter einem Busch. Erst viele ermunternde Worte lockten sie dann aus ihrer Deckung hervor. Die Elite Bit Beast für ihre Mission zu begeistern, gestaltete sich schwieriger als Allegro erwartet hatte. Einigen von ihnen konnte man nämlich genau ansehen, was sie dachten, sobald sie die beiden Strommäuse erblickten: „Futter!“

Dann hieß es so schnell zu laufen, wie einen die kurzen Beinchen trugen. In solchen Momenten konnte er Cousine Mimis Furcht nur allzu gut nachempfinden. Ihr Resümee sah auch bisher so aus, dass sie acht Elite Bit Beasts sofort überzeugen konnten, aber doppelt so viele erst einmal nach ihnen schnappten. Einer hatte Allegro sogar schon im Maul gehabt. Er hatte sich mit all seiner Kraft, gegen den sich zu klaffenden Kiefer gestemmt und einen geradezu sprudelnden Vortrag darüber gehalten, weswegen er eigentlich hier war. Glücklicherweise hörte Galeon noch nebenbei zu, spuckte ihn kurz darauf aus und entschuldigte sich sogar dafür, dass er Dragoons Boten einfach so verspeisen wollte. Allegro hatte es mit Humor genommen und dem schwarzen, löwenartigen Bit Beast versichert, den Vorfall als ungeschehen zu betrachten, auch wenn er gleich darauf in der nächsten Pfütze ein Bad nehmen musste, um sich von all dem Speichel zu befreien. Cousine Mimi bewunderte voller Ehrfurcht seinen Einsatz, obwohl er selbst auf solche Bekanntschaften verzichten könnte. Sobald sie Galeon erklärten, welch große Gefahr auf sie zukam, hatte der erhabene Löwe geduldig jedem seiner Worte gelauscht.

„Dann hat mich mein Gefühl nicht getäuscht. Vor wenigen Stunden war mir, als könne ich meinen Herren nicht mehr spüren. Die Natur scheint in Ungleichgewicht geraten zu sein.“

Er war Driger untergeordnet und bezog seine Energie von ihm und Allegro legte im nahe, mit seiner Kraft wirklich sparsam umzugehen.

„Wir müssen die Weltenbaumzwillinge so lange entlasten, bis die neuen Uralten geboren sind.“

„Wie lange wird das dauern?“

„Ich weiß es nicht. Doch wir müssen unser möglichstes tun, um diese Zeit zu überbrücken.“

Galeon hatte ernst genickt und war auch sofort zur Tat geschritten. Er entpuppte sich als vorrauschauender Helfer. Zwar konnte er ihnen nicht zugestehen, sie bei ihrer eigenen Mission zu unterstützen – immerhin musste er sich sofort den wichtigsten Prioritäten zuwenden – doch da das nächste Bit Beast auf seinem Weg lag, nahm er die beiden Mäuse auf seiner stattlichen Haarmähne mit. Mimi war total aus dem Häuschen gewesen…

Noch nie durfte sie einem ihrer natürlichen Fressfeinde so nah sein, ohne Furcht haben zu müssen, in einem Happs verschlungen zu werden und Allegro war doch verwundert, wie gutmütig der Löwe wurde, sobald er erfuhr, in welch nobler Sache sie unterwegs waren.

„Ich nahm immer an Mäuse wären feige und zu nichts nutze.“

„Hoho! Falsch gedacht!“, hatte Allegro von seinem Rücken aus gerufen. „Das sind wir ganz und gar nicht!“

„Sind wir nicht?“, fragte Mimi hinter ihm recht naiv, während sie sich in der Mähne festkrallte.

„Shh Cousine! Du bringst uns in Verruf!“

„Verzeihung. Es ist nur, ich habe eigentlich doch etwas Furcht.“

Zu ihrer Verwunderung gab Galeon ein tiefes Brummen von sich, was an ein dunkles Lachen erinnerte. Ihn schien Mimis offenkundige Angst zu amüsieren.

„Nun, kleines Mäusemädchen… Auf meinen Reisen in die Menschenwelt, durfte ich in den Genuss einiger ihrer Weisheiten kommen. Diese Lebewesen sind voll von falschen Behauptungen, doch manchmal, da finden auch sie die rechten Worte für eine Situation. In deinem Fall würde sie wohl sagen - Beherzt ist nicht, wer keine Angst kennt, beherzt ist, wer die Angst kennt und sie überwindet.“

„Du liebe Güte. Was für wunderschöne Worte!“, Cousine Mimi war hingerissen.

„Nun, diese Weisheit ist nicht mein Verdienst.“, gestand Galeon bescheiden ein.

„Aber ihr habt sie wirklich majestätisch vorgetragen.“

„Nun sieh einer an. Eine Liebhaberin schöner Verse und das ausgerechnet, unter der Mäusesippschaft?“

Allegro hob die winzige Braue und begann in der Luft zu wittern.

„Eine Liebhaberin ist wohl zu viel gesagt, aber das hat selbst mein Herz ermutigt. Mein Cousin hier musste mir vier Haselnüsse versprechen, damit ich mich an dieser Aufgabe beteilige. Und da meine kleinen Geschwister stets hungrige Mägen haben, bin ich mitgekommen. Ich bin eigentlich nicht tapfer.“

„Wie bekümmert das klingt. Da tut es mir um jede Maus leid, die ich verspeist habe.“

Allegro legte das Köpfchen nachdenklich zur Seite.

„Oh weh… Ich wäre ihnen dankbar, wenn sie das in Zukunft lassen könnten, Herr Galeon. Ich habe schon zu viele Angehörige meiner Verwandtschaft ins Mäusegrab getragen. Könnten sie nicht auf Fisch umsteigen?“

„Na, wenn ich so lieb darum gebeten werde, kann ich wohl kaum Nein sagen.“

„Das ist wirklich sehr edel von ihnen. Danke schön!“, freute sich Mimi.

„Ihr seid ein sehr liebreizendes Mäuschen. Wisst ihr das eigentlich?“

„Du liebe Güte! Ich funkle schon ganz rot…“

Es klang als würde Galeon amüsiert glucksen, während Mimi tatsächlich einige Sternchen aus den Ohren stoben. Sie waren grell pink…

Inzwischen kratzte sich Allegro am Kinn.

„Ich bin mir nicht sicher ob es dasselbe ist, aber ich glaube das was ihr beiden hier macht, nennt man in der Menschenwelt flirten.“, sprach er verwundert. „Eine hochinteressante Wendung!“

„Was ist flirten?“, wollte Mimi arglos wissen.

„Das entzieht sich leider auch meinem Verständnis. Ich weiß noch nicht, ob es dasselbe wie necken ist. Aber ich habe vor, eingehende Forschungen über das menschliche Sozialverhalten einzuholen, sobald die derzeitigen Unruhen vorüber sind.“

Und da ihre Reise ohnehin kurz darauf ein Ende fand, mussten sie sich von Galeon verabschieden. Seine Cousine winkte dem stattlichen Löwen mit einer Gänseblümchenblüte nach und bedankte sich dafür, dass er sie nicht gefressen hatte. Gleich darauf begaben sich die beiden Mäuse weiter auf ihren Weg. Sie überwanden auf schwankenden Blumenstielen Bäche, die für sie wie reißende Flüsse wirkten, kraxelten an umgekippten Baumstämmen hinauf, welche aus der Sicht einer Maus, etwas von einer Bergkette hatten und erreichten irgendwann inmitten einer Lichtung, eine riesige schnarchende Gestalt. Das Bit Beast was da schlief hieß Galzzly und war unter seinesgleichen für seine Trägheit bekannt, allerdings hatte das seinen guten Grund. Seine Träume wurden nämlich zu Altocumuli, oder vereinfacht gesagt zu Schäfchenwolken. Und da diese einen bedeuteten Anteil zum Regen beitrugen, war dieses Bit Beast nach Draciels Ableben unverzichtbar für ihre Mission.

Leider gab es da ein Problem…

Galzzly war so faul dass es seinen Aufgaben nur mit viel Mühe und Not hinterherkam. Deshalb gab es auch auf der Erde viele Regionen, die über weite Phasen an einer Dürre litten. Allerdings musste man fairerweise sagen, dass er nicht wirklich etwas für seine Trägheit konnte. Dadurch dass er nämlich träumen musste, um seine Wolken zu erzeugen, gestaltete es sich schwierig für den Bären, weite Strecken zurückzulegen, ohne ein Nickerchen einlegen zu müssen. Glücklicherweise war er nur für eine Wolkenart zuständig, hätte er nämlich noch andere Typen erträumen müssen, wäre die Welt wohl um einiges trockener. Allerdings gehörte für Niederschlag noch einiges mehr dazu. So musste Galzzly sehr eng mit Seaborg zusammenarbeiten. Dieses Bit Beast hatte die Gestalt eines gigantischen Pottwals, dessen Rücken golden schimmerte. Seine Aufgabe war es den Wolken das Wasser für den Regen zu spenden. Dazu schoss es die gewünschte Menge durch sein Blasloch hinaus in den Himmel, bis das Wasser die Wolke erreichte. Das war eine äußerst schwierige Aufgabe, die viel Präzision bedurfte, denn Seaborg musste genau acht geben, wie viel er in den Himmel spie und es gelang dem Bit Beast auch nicht immer wirklich gut, dann kam es gleich wieder zu heftigen Überschwemmungen. Gemeinsam hatten alle Strommäuse mittlerweile erreicht, dass der Schneefall in der Menschenwelt nachließ. Nun wollten sie etwas gegen den ständigen Regen mancherorts unternehmen. Er musste endlich umgeleitet werden, in eine Region, die nicht so viel Wasser hatte. Cousine Mimi blieb wie angewurzelt stehen, als sie den großen, schnarchenden Hügel vor sich erblickte.

„Du liebe Güte! Der sieht aber grimmig aus!“, sie umgriff furchtsam ihren Schweif und strich über den Ansatz ihres Fellbüschels, wie ein kleines Menschenkind, was seinen Teddybären fester an sich drückte, wenn es Angst hatte. Dann machte sie aber große Augen, als sie die kleine, unfertige Wolke über dem Bit Beast erblickte. „Uh! Schau doch mal, Cousin. Da oben!“

„Deshalb sind wir hier. Diesen wohlgenährten Herrn müssen wir nun wachbekommen. Er erzeugt viel zu viele Regenwolken und das am völlig falschen Fleck. Dragoon hat keine Zeit, um die Wolken an den richtigen Ort zu pusten und seine Untergebenen kommen ohne ihn kaum nach. Also müssen wir nun helfend unter die Arme greifen und das ganze in seiner Abwesenheit koordinieren.“

„Aber sein Maul ist so groß. Sieh dir nur diesen gewaltigen Kiefer an!“

Mimis dunkle Knopfaugen verfolgten voller Ehrfurcht die Bewegungen des riesigen Gebiss, dass bei jedem Schnarchlaut weit aufklappte.

„Dasselbe hast du auch bei Galeon gesagt.“

„Und du bist in seinem Maul gelandet!“

„Niemand hat gesagt dass es nicht zu Kommunikationsschwierigkeiten kommen könnte.“, Allegro reckte tapfer die Brust. „Von so etwas dürfen wir uns keinesfalls einschüchtern lassen! Es gilt nun diplomatisches Geschick zu beweisen.“

„Oje… Mir schwant furchtbar Böses.“

„Aber Cousine Mimi, ich bitte doch um etwas mehr Optimismus.“, er tätschelte aufmuntert die Hand der Mäusedame, bevor er sich dem riesigen Bären näherte. Galzzly besaß ein nachtblaues Fell, was ihm ziemlich zerstreut in alle Richtungen schaute. Allegro bemerkte, dass er sich wohl auf dem Boden gewälzt hatte, um sein Schlaflager bequemer zu gestalten, denn überall waren tiefe Druckspuren von seinen Pranken auf dem Gras. Er wollte gar nicht wissen, wie schwer dieser Koloss war. Behutsam begab sich der Mäuserich auf den Weg zum Kopf des Bären. Er kraxelte an dem massigen Bauch hoch und musste dem Riesen dabei ein unangenehmes Jucken bescheren, denn manchmal holte Galzzly mit der Tatze aus, um sich im Halbschlaf zu kratzen. Es galt also wachsam zu bleiben…

Auf dem Kopf des Bit Beasts angelangt, hielt sich Allegro am runden, abstehenden Ohr fest und rief hinein: „Pardon mein Herr, aber sie müssen nun dringend erwachen! Ihre Dienste werden an einem anderen Ort benötigt!“

Doch es kam keine Regung.

Lediglich ein lautes Schmatzen war die Antwort.

„Monsieur! Bitte aufwachen!“

Er klopfte fordernd mit dem Hinterlauf auf die Fellschicht unter ihm. Galzzly gab ein lautes Gähnen von sich, was seinen Kiefer sperrangelweit aufriss. Von unterhalb hörte Allegro seine Cousine ein ängstliches „Du liebe Güte!“ fiepen. Doch so oft er auch in die Ohrmuschel hineinrief, ja, sogar brüllte, der Fettwanst wollte sich einfach nicht von der Stelle bewegen. Also kraxelte Allegro zu einem der gewaltigen Augenlider und versuchte es aufzuklappen.

Ein Fehler wie sich kurz darauf herausstellte…

Denn das bemerkte jeder Schlafende – und es war wohl ziemlich unangenehm! Während Allegro das eine Augenlid noch öffnete, kam ein dunkles Knurren von dem Bären. Da drehte sich die dunkle Pupille auch schon zu ihm. Er fühlte dass das gewaltige Augenlid in seinem Griff blinzeln wollte.

„Was fällt dir ein, du Ungeziefer!“

Galzzly holte aus, doch Allegro tat einen beherzten Sprung und hüpfte vom dessen Gesicht, da schlug sich der Bär selbst auf die Schnauze. Er begann laut zu jaulen – aber er war endlich hellwach. Allerdings auch ziemlich wütend…

Schwerfällig rollte er sich auf den Bauch und stemmte sich auf die Hinterbeine. Da brüllte der Bär auch schon aus voller Kehle los. Als die beiden Strommäuse kurz darauf wieder um ihr Leben rannten – nicht ohne das Cousine Mimi ihm Vorwürfe á la „Ich hab’s dir ja gesagt“ machte – hoffte Allegro inständig, dass dieser ganze Ärger die Mühe auch wert war.

Was beide Mäuschen allerdings zu dieser Zeit noch nicht wussten war, dass durch Galeons Einsatz, irgendwo in der Menschenwelt, immerhin eines von vielen Erdbeben verhindert wurde. Nur leider waren sie an diesem Tag noch öfters damit beschäftigt, um ihr Leben zu laufen, sodass sie sich nicht an ihrem Erfolg erfreuen konnten.
 


 

*
 

Eine seltsame Rastlosigkeit hielt Tyson gepackt. Er wusste gar nicht warum. Etwas fühlte sich bei diesem Abschied anders an. Es war nichts neues das er traurig war, wenn Max und Ray Heim flogen. Es war auch mittlerweile vollkommen normal, dass er während der Fahrt mit der Rolltreppe hinab versuchte, sich selbst zu motivieren, indem er sich einredete, dass ihr nächstes Treffen bald wieder in Aussicht stand. Als er das Parkhaus durchquerte, sein Ticket einlöste und sich auf den Fahrersitz seines Wagens gleiten ließ, fiel ihm endlich auf, was ihn so beschäftigte. Sein seltsamer Traum war ihm wieder in den Sinn gekommen…

Es war in jenem Moment passiert, als die Gruppe hinter der nächsten Ecke entschwand und Ray ihm noch kurz zuvor zurief, dass sie sich melden würden, sobald sie gelandet waren. Für eine winzige Sekunde dachte Tyson: „Das wird nicht passieren.“

Ihm war das Foto in den Sinn gekommen, mit den Sprüngen auf der Glasscheibe, die sich über die Gesichter seine Freunde legten. Er wusste nicht woher dieser furchtbare Gedanke so plötzlich herkam. Dann hatte er den Kopf über sich selbst geschüttelt. Er schob diese übertriebene Sorge auf die letzten Tage. Diese ständige Alarmbereitschaft musste ihm bis in die Menschenwelt gefolgt sein, was ja auch kaum verwunderlich war, wenn man bedachte, in welcher gefährlichen Situation sie gesteckt hatten. Allein die Bekanntschaft mit Zeus war erschreckend gewesen. Es fröstelte ihn noch immer wenn er an die giftgrün sprühenden Augen dachte. Tyson hatte einmal von posttraumatischem Stress gehört.

Ob das bei ihm der Fall war?

Jetzt fiel ihm auch auf, dass sie die ganze Zeit, während sie in der Bäckerei saßen, kein einziges Wort über die Irrlichterwelt verloren hatten. Sie sprachen über die Symbolik von Drachen, aber was auf der anderen Seite mit ihnen passiert war, schien keiner von ihnen vertiefen wollen. Als würden sie ihre Erlebnisse ausblenden. Außerdem waren sie schreckhafter geworden. Während sie zusammensaßen, war einem Reisenden der Gepäckwagen entglitten. Er rollte gegen einen anderen und verursachte ziemlich viel Radau, als die Koffer auf dem Boden landeten. Ihre Köpfe hatten sich alarmiert umgewandt und Max war sogar aufgesprungen. Erst danach wurde ihnen klar, wie heftig sie reagierten.

Tyson fragte sich, ob Ray jemals mit Mariah über die Irrlichterwelt reden würde. Noch während der Autofahrt, hakte sie mehrmals nach, doch er hatte unwillig gebrummt und niemand anderes im Wagen, wollte ihr Rede und Antwort stehen. Er selbst hatte auch keine Muße seinem Großvater davon zu erzählen. Das Einzige was Mariah aus ihrem Mann herauskitzeln konnte, war das Versprechen, mit ihr eine Eheberatung zu machen. Sie hatte die Befürchtung geäußert, dass ihre Probleme nur in den Hintergrund gerutscht waren, aber noch irgendwo unter der Oberfläche lauerten, daher wollte sie unbedingt an ihrer Beziehung arbeiten. Ray hatte lange über ihren Vorschlag nachgedacht und ein Blick nach vorne zu seinen Freunden verriet, dass er Angst hatte, sein Gesicht vor ihnen zu verlieren. Doch als Max meinte, dass sich das wirklich nach einer guten Idee anhöre, schien er beruhigt. Auch Ray besaß viel Stolz und der stand ihm manchmal im Weg.

Mit diesem Gedanken legte Tyson den Rückwärtsgang ein und fuhr aus der Parklücke hinaus. Seine Freunde schienen alle Pläne für die Zukunft zu schmieden.

Ray wollte wieder für seine Familie da sein. Max konnte sich nun vorstellen eine zu gründen. Früher hatte er immer gesagt, dass dafür noch genug Zeit blieb…

Als Tyson an der Ausfahrtsschranke hielt, um das Ticket in den Automaten zu schieben, ging ihm durch den Kopf, was er mit sich anfangen wollte. Er dachte an Kai. Falls tatsächlich mehr aus ihnen werden sollte – und das hoffte Tyson mit jeder Faser seines Herzens – würden sie auf Stolpersteine treffen. Wie würde ihr Umfeld reagieren?

Wollte Kai überhaupt dass jemand davon erfuhr? Wollte er das selbst?

Tyson war kein naiver Junge mehr. Er ahnte dass sie auf Ablehnung stoßen würden und hoffte inständig, es möge nicht in ihrem direkten Freundeskreis passieren. Sobald aber die Schranke zur Seite klappte, tat er eine unwirsche Handbewegung, um den Gedanken zu verscheuchen. Er machte sich sorgen um ungelegte Eier. Zunächst einmal galt es Kai für sich zu gewinnen. Das war das Einzige, indem Tyson sich momentan sicher war, dass er es wirklich wollte. Draußen im Freien stellte er zunächst erfreut fest, dass der heftige Platzregen einem sanften Nieselregen gewichen war. Immerhin…

Ihn beschlich das Gefühl, dass das Ableben der Uralten nicht halb so schlimm war, wie er befürchtet hatte. Wenn diese Befürchtung schon nicht eintraf, würden Ray und Max bestimmt auch sicher landen. Ersterer müsste sich eigentlich schon in vier bis fünf Stunden melden. Tyson hatte ihm gesagt, Ray solle sofort anrufen, egal ob er ihn weckte. Maxs Flug würde einiges länger dauern. Ganze zwölf Stunden musste er in der Luft verbringen und das war noch optimistisch gedacht, weil es eine Zwischenlandung gab.

Als Tyson die Ausfahrt langsam Richtung Schnellstraße hinausrollte, senkte er das Fenster auf seiner Seite, um etwas kühle Nachtluft in den Wagen zu lassen. Es machte ihn augenblicklich wacher und tat unglaublich gut. Er liebte es bei heruntergelassenen Fenstern durch die Stadt zu rasen, vor allem wenn er allein war und sich niemand über seinen Fahrstil beklagen konnte. Er wartete gerade auf eine Gelegenheit sich in den Verkehr einzufädeln, da öffnete sich die Tür auf der Beifahrerseite und jemand nahm Platz.

„Was zum Teufel?!“

Tyson schrak zurück. Das Auto würgte stöhnend ab. Mit aufgerissenen Augen bedachte er die Person zu seiner Seite, denn sofort hatte er Dragoon erkannt. Allein der Stummel wo sein Arm gewesen war, verriet ihn in seiner menschlichen Gestalt.

„Du?!“, fauchte er aufgebracht los.

„Wie er leibt und lebt, Junge.“

„Raus aus meinen Wagen!“

Dragoon wollte etwas erwidern, doch da drückte Tyson schon seinen Rücken gegen die Fahrertür, um besser die Füße heben zu können. Gleich darauf trat er zu. Immer wieder, während er sein Bit Beast beschimpfte. Der Wagen ruckelte unter den hektischen Bewegungen. Sein Nebenmann kam einige Male in den Geschmack seiner Schuhsolen, doch so richtig zu jucken schien es ihn nicht. Aber es störte ihn zumindest - und das war schon eine ungemeine Befriedigung für Tyson.

„Hörst du wohl auf mir deine Füße ins Maul zu schieben?!“

„RAUS!“, brüllte er ihn nur weiter an.

„Das ist ekelhaft!“

„Verschwinde aus meinem Wagen!“

„Nun beruhige dich doch erst einmal, du hysterischer Idiot!“

Das war zu viel!

Nach allem was dieser Mistkerl ihnen angetan hatte, wurde er auch noch als hysterisch hingestellt? Tyson senkte die Füße und nahm nun Gebrauch von seiner Faust. Er schlug zu. Mit aller Kraft. Doch es fühlte sich an, als würden seine Finger auf Granit treffen und schon kurz darauf jaulte er los. Dragoons Kopf klappte nicht einmal zur Seite und als Tyson die schmerzende Faust rieb, seinem früheren Partner einen düsteren Blick zuwarf, erhaschte er ein leuchtendes Schuppenmuster unter dessen Hautschicht. Sein Nebenmann hob mit einem triumphierenden Lächeln das Kinn und gab ein kindisches „Ha ha!“ von sich.

Er schnaubte wütend.

„Scheiß auf das Auto!“

Und das obwohl Tyson diesen Wagen wirklich liebte.

Dennoch stieß er die Tür auf und ließ Dragoon alleine darin zurück. Der starrte ihm verdutzt hinterher. Dann versuchte auch er wieder auszusteigen, was ihm nur umständlich gelang, weil der verbliebene Arm auf der anderen Körperhälfte lag. Er nestelte an dem Hebel herum, offenbar leicht überfordert mit menschlicher Technik, während Tyson die Beine in die Hand nahm und rannte was das Zeug hielt. Der Fahrer hinter seinem Wagen begann zu hupen, als er ihn wie einen Irren davonhechten sah, während sein Auto doch die Ausfahrt blockierte. Da hörte Tyson hinter sich, wie es Dragoon mit einem beherzten Tritt gelang, die Tür aus den Angeln zu kicken. Das Blech rauschte wenige Meter an ihm vorbei und schoss mit ganzer Wucht, in den Kofferraum eines geparkten Taxis, dessen Scheiben geräuschvoll dabei zersprangen. Die Alarmanlage heulte los. Ihre Lämpchen blinkten in der Finsternis fröhlich vor sich her und zogen die Blicke sämtlicher Passanten auf sich.

Und auch Tyson zögerte einen Moment, schaute wie verdattert auf diese Zerstörungswut, vor allem da ihm auffiel, dass der Besitzer des Blechhaufens gerade von der Bäckerei zurückkam. Der blieb wie angewurzelt auf dem Gehweg stehen, mit seinem Kaffeebecher in der Hand und starrte auf den Anblick. Der Mann blinzelte, bemerkte was für ein Wahnsinns Glück er gehabt hatte, nicht in dem demolierten Wagen gesessen zu haben, dann drehte er sich um und sprach davon, dass das Leben zu kurz für diesen „Scheißjob“ sei und rannte davon. Dagegen reagierte Tysons Hintermann nicht so gelassen. Der legte panisch den Rückwärtsgang ein, als er Dragoon aussteigen sah und verschwand wieder im Parkhaus, wo er nach dem lauten Knall kurz darauf zu urteilen, auf einen anderen Wagen traf. Was für ein Chaos…

„Hiergeblieben!“, bellte Dragoon über den Platz.

„Von wegen!“

„Ich warne dich!“

Tyson präsentierte ihm den Mittelfinger, bevor er auch schon wieder losrannte. Doch da fiel sein Verfolger quasi vom Himmel herab. Er landete direkt vor seiner Nase und bevor er reagieren konnte, streckte ihm Dragoon die Faust entgegen. Tyson bekam einen Hieb direkt in die Magenkuhle. Beinahe hätte er sich übergeben, so übel war der Schlag. Einen Moment wurde ihm Schwarz vor Augen, bevor ihn der Hieb auf den Rücken verfrachtete.

„Ich bin vielleicht nicht von hier, aber diese Geste kenne ich auch!“, hörte er Dragoon sagen. Der schaute mit überlegen erhobener Braue ernst auf Tyson herab, der förmlich nach Luft japste. Seine Lunge fühlte sich an als würde sie gleich bersten. Er drehte sich auf die Seite und hielt sich den Magen. Aus seinem Mund kamen erstickte Laute. Inzwischen beugte sich Dragoon zu ihm herab.

„Mir ist klar dass ich der Letzte bin den du sehen möchtest.“

Das hätte ihm Tyson auch sofort bestätigt, würde er nicht noch immer gegen den Erstickungstod ankämpfen. Ihm pochte das Blut hart gegen die Schläfe und seine Wangen brannten förmlich.

„Ich gebe zu, der Hieb war etwas rabiat.“, sprach Dragoon seufzend. „Aber du hast mir wenig Alternativen gelassen.“

„Leck mich!“, es waren die ersten Worte für die er genügend Luft bekam. Und gleich darauf wurde er mit einem ungesunden Husten gestraft, das aus den Tiefen seiner Lunge entsprang.

„Sturer Bock.“, schmunzelte Dragoon über seine derbe Wortwahl. Doch gleich danach wurde er wieder ernster. „Takao, wo hast du deinen kleinen Freund hingebracht?“

„W- Welchen?“, keuchte er.

„Dranzers Menschenkind.“

„Das sag ich dir doch nicht!“

„Du weißt dass ich die Mittel habe dich zum Reden zu bringen.“

Das fiel Tyson nun auch wieder ein. Bei ihrer letzten Unterhaltung hatte Dragoon ihm einfach einen Befehl in den Kopf geweht. Er konnte gar nicht anders als ihn zu befolgen, selbst als er ihm das Atmen untersagte. Tyson drehte sich auf den Bauch und hob sich stöhnend auf die Knie. Er fragte sich, ob es etwas half, wenn er sich die Ohren zuhielt.

„Nein, tut es nicht.“, beantwortete Dragoon seine Frage.

„Arsch!“

„Das werde ich mal überhören. Allerdings nur weil ich nicht unschuldig an deiner Meinung von mir bin.“

Tysons Gehirn begann auf Hochtouren zu arbeiten. Er hatte den Herrn der Winde vor sich. Alles was mit Luft zu tun hatte kontrollierte Dragoon. Also hielt er den Atem an.

„Erstaunlich! Der erste Mensch der das so schnell erkannt hat. Du bist eben doch mein Spiegelbild. Wir denken in ähnlichen Bahnen.“, es klang als habe er ins Schwarze getroffen. Das ihm anerkennend auf die Schulter geklopft wurde, empfand Tyson jedoch als blanken Hohn. „Aber lange wirst du das nicht aushalten. Das wissen wir beide.“

Versuchen musste er es aber.

„Ich meine es dieses Mal gut, Takao. Du musst mir wirklich sagen wo sich Kai befindet. Seine Schwester und er sind in Gefahr.“

„Klar sind sie das! Weil du hier bist!“, entfuhr es ihm trotzig. Gleich danach schnappte er nach Luft, was Dragoon bedauernd schnalzen ließ.

„Okay, du bist misstrauisch. Aber dieses Mal ist es mir ernst.“

Tyson rollte mit den Augen. Sein ungläubiger Ausdruck blieb nicht unbemerkt.

„Ich habe mich wirklich geändert.“

„Erzähl das jemand anderem!“

„Ist er im Dojo?“

Er hielt die Luft an, stierte ihn finster entgegen.

„Bei allen Gestirnen - ich habe keine Zeit ihn auf gut Glück zu suchen! Es zählt jetzt jede Sekunde, Junge!“

„Wer ist nun hysterisch?“, diesen fiesen Kommentar konnte er sich einfach nicht verkneifen und da wurde Dragoons Gesicht auch schon zorniger. Es tat verdammt gut sich überlegen zu fühlen.

„Du hast doch gar keine Ahnung! Diese Welt ist in ernster Gefahr! Du musst mich zu Kai führen! Durch ihn kann ich Dranzer viel schneller aus ihrer Deckung locken! Sonst bin ich gezwungen sie durch die ganze Stadt zu suchen! Das kann ewig dauern!“

Es traf ihn wie einen Blitz. Er wollte Kai als Köder missbrauchen…

Plötzlich schmerzte sein Magen vor purem Zorn. Sämtliche Muskeln spannten sich in seinem Körper an. Es fühlte sich wie ein Kessel an, der überquoll und in die Luft flog.

Niemand durfte Kai anfassen. Niemand!

Der Gedanke war wie ein Schalter der in Tysons Kopf umklappte. Er hatte keine Ahnung woher er die Kraft hernahm, doch in jenem Moment brach ein Monster in ihm aus. Er verpasste Dragoon einen harten Tritt gegen den Kiefer, der sich gewaschen hatte. Tyson fühlte nicht einmal den Schmerz der seinen Knöchel hochjagte, als hätte ihn seine Wut komplett von seinem Nervensystem abgeschnürt. Als wäre er in einer blinden Raserei…

Tyson hopste auf, sah Dragoon wie durch einen Tunnelblick. Diese potenzielle Gefahrenquelle die es wagte, einen jener Menschen als Lockmittel zu verwenden, der ihm mehr bedeutete als sein eigenes Leben. Er bemerkte nicht dessen Verblüffung.

Bemerkte nicht seine in Erstaunen geweiteten Augen…

Alles was Tyson sah, war, dass Dragoons Kopf durch den Tritt zur Seite klappte und er endlich fiel. Endlich fiel der selbsternannte König! Und er stürzte sich auf ihn wie ein Raubtier auf seine Beute. Er schlug zu. Immer wieder, immer wieder!

Es war wie ein Damm der brach. All der Frust der letzten Tage entlud sich.

Direkt in dessen Gesicht. Vor seinen Augen sah er die Drachenschuppen glimmen. Bei jedem Hieb drückte sich das Muster durch die Haut. Irgendwann bildete sich eine rötliche Schmierschicht auf Dragoons Wange. Tyson spürte gar nicht, dass es von seinem eigenen Fingern war. Das seine Knöchel bei jedem weiteren Schlag blutig aufplatzten.

Alles was er tat war brüllen. Seinen ganzen Zorn.

Er schrie Dragoon entgegen, Kai in Ruhe zu lassen.

Er schrie ihm entgegen, ihm nie wieder unter die Augen zu kommen.

Er brüllte dass es ihm scheiß egal war, welche Probleme Dragoon mit Dranzer hatte.

„Klär deine Probleme gefälligst selber! Wir beide sind geschiedene Leute!“

Es war das Letzte was er sagte, bevor das Sicherheitspersonal des Flughafens ihn fortzog. Seine Augen waren wütend zusammengezogen, die Schläfe pochte ihm hart gegen die Seite, er fauchte und spie Flüche wie ein tollwütiges Tier. Ein Menschenpulk hatte sich um ihn herum gebildet.

„Du kommst jetzt schön mit, Freundchen!“

Tyson schnaubte aufgebracht. Nun hatte er schon wieder Probleme mit der Polizei!

Inspektor Kato würde sich bestimmt wundern, wie schnell er wieder in der Zelle saß. Da fiel Tyson ein kleiner Junge in der Menge ins Auge. Er klammerte sich an das Bein seines Vaters und wimmerte, offenbar eingeschüchtert von dem Anblick den er bot. Erst jetzt fielen ihm seine blutbefleckten Fäuste auf. Er sah in die unschuldigen Augen des Jungen. Sie schwammen in Tränen. Das Kind erinnerte ihn an Kai. So hatte er auch immer geschaut, wenn er sich fürchtete. Seine großen Augen blickten dann genauso eingeschüchtert drein.

Tyson sah an sich herunter. Sein Oberteil hatte Blutspritzer abbekommen. Seine Finger schmerzten, übersät von aufgeplatzten Wunden.

Er musste furchterregend aussehen…

Der uniformierte Mann, der ihn am Arm gepackt hielt, schleifte ihn weg und als sich die Menge um Dragoon drängte, hörte Tyson ihn tatsächlich lachen. Seine Hände bluteten, brannten förmlich vor Schmerz, er hatte alle Kraft in seine Hiebe gesetzt – und doch lachte dieser Mistkerl nur über seine Mühe. Das war so unfair! Am liebsten wäre Tyson zurückgerannt, um zu Ende zu bringen, was er angefangen hatte.

Doch auf einmal ging alles rasend schnell…

Ohne es wirklich zu bemerken, hatte sich hinter ihrer aller Rücken eine andere Menschenmenge dazugesellt. Es waren komische Gestalten. Sie liefen mit schleichenden Schritten umher und griffen wahllos die Passanten auf dem Gehweg an. Verdutzt beobachte Tyson, wie eine alte Frau attackiert wurde. Ihre kränkliche Stimme rief um Hilfe.

Der Beamte neben ihm schaute unschlüssig umher, bis er entschied, dass seine Prioritäten sich soeben geändert hatten. Obwohl er sich bewusst war, dass sein Gefangener bestimmt türmen würde, entließ er seinen Arm, um der Frau zur Hilfe zu eilen. Tyson schaute ihm unschlüssig nach, in Sorge ob das kleine Großmütterchen nicht noch mehr Unterstützung brauchte, doch der beherzte Griff, mit dem der Beamte dem Angreifer zu Boden rang bewies, dass er sein Handwerk sehr gut verstand. Die komische Gestalt war schneller im Schwitzkasten als sie gucken konnten. Also hechtete Tyson zu seinem Wagen zurück, stieg ein, drehte den Schlüssel und gab Vollgas. Als er an der geparkten Taxikolonne vorbeiraste, hörte er durch das klaffende Loch auf der Beifahrerseite, noch immer Dragoons Lachen.
 

Dabei konnte Tyson nicht wissen was ihn wirklich belustigte. Denn wie Dragoon so auf dem Boden lag, musste er daran denken, dass die Seele seines Menschenkindes, tatsächlich sein Zwilling war. Wie der Junge so über ihm saß, ihn hasste und prügelte, obwohl es ihm mehr schadete, als half, hatte Dragoon sich selbst gesehen. Er sah den Drachen in Takaos Augen - und begriff wie furchteinflößend er sein musste, wenn er jemanden aus tiefsten Herzen hasste. Es fand es witzig dass er das nicht schon früher bemerkt hatte.
 


 

*
 

Endlich konnte er einige Puzzleteile zusammenfügen. Es nahm so langsam alles seine Formen an. Kai begann sich beispielsweise an seine erste feste Beziehung zu erinnern. Er wusste gar nicht so genau was diese Erinnerung angestoßen hatte. Es war einfach so passiert, als er sich nach diesem nervenaufreibenden Tag, auf dem Futon niederließ, um im Dojo auf Tysons Rückkehr zu warten und kurz wegnickte. Dabei schoss ein Bild in seinem Geiste hoch, wie er sich über eine junge Frau beugte, die in seinem Bett lag und sie küsste. Selbst jetzt spürte er noch das Gefühl ihrer Arme, wie sie seufzend seinen Hals umschlang – ihn fordernder an sich zog.

Das Mädchen hieß Sachi. Er wusste noch, dass er sie nach der vierten Weltmeisterschaft kennenlernte, kurz nachdem er aus der Beybladebranche vollends ausgestiegen war. Zuvor hatte er keine Muße gehabt, sich mit dem anderen Geschlecht zu befassen, dafür war er zu versessen auf den Ausbau seiner Fähigkeiten gewesen. Alles begann auch nur damit, dass er morgens im Park joggte und das Heulen eines Hundes an sein Ohr drang. Dessen Ursprung war ein kleiner Pinscher, der ziemlich orientierungslos durch die Sträucher schlich und jämmerlich winselte. Er hatte sich in einem Gebüsch verfangen und kam nicht mehr von alleine frei. Eigentlich wollte Kai ihn sich selbst überlassen - doch er konnte es einfach nicht.

Gerade Hunde waren auf die Gnade von Menschen angewiesen und dennoch blickten sie einen ständig so zutraulich an. Er mochte Tiere. Sie stellten keine Fragen und nahmen einen so hin wie man war, ohne die Vergangenheit zu verurteilen. Im Nachhinein war Kai froh gewesen, sich dazu entschieden zu haben, zu dem Hund zurückzulaufen, denn obwohl er sich im ganzen Park nach dem Besitzer durchgefragt hatte, war er nicht aufzufinden gewesen. Womöglich hätte der Kleine die ganze Nacht dort verbracht, wenn er ihn nicht aus dem Gestrüpp geholfen hätte. Dieser Gedanke hätte Kai wiederum keine Ruhe gelassen.

Schließlich nahm er den Welpen mit nachhause, obwohl er dafür eine Standpauke seines Großvaters erhalten würde. Wie nicht anders zu erwarten, war der über den „sabbernden Flohteppich“ nicht erfreut gewesen. Er ließ sich zwar von Kai soweit erweichen, ihn diese Nacht hier behalten zu dürfen, aber weder durfte das Tier ins Haus, noch wollte er das Gekläffe vor seinem Schlafzimmerfenster hören.

„Bind die Töle draußen an einen Baum. So weit weg vom Gebäude wie möglich!“

Es war mehr als Kai sich damals erhoffte. Dennoch tat ihm der Kleine leid, als er ihn die Nacht über draußen, neben dem Gartenhaus festband und der ihm traurig hinterherwinselte, einfach weil er nicht allein sein wollte. Wahrscheinlich konnte sich der kleine Welpe nicht erklären, weshalb ihn sein Retter auch nun wieder zurückließ. Sein Verhalten kam ihm so grausam vor.

Kai war klar dass der Hund schnell weg musste, denn sein Großvater würde nicht lange zögern und ihn ins Tierheim stecken. Da er kein Halsband trug, befürchtete er sogar, dass es auch letzten Endes darauf hinauslaufen würde, sollte er keinen Besitzer ausfindig machen. Am nächsten Morgen ging er jedoch noch einmal in den Park, fragte sich energischer durch und fand dort irgendwann ein Mädchen vor, welches Flyer an die Bäume pinnte.

Es war Sachi gewesen. Sie hatte rot unterlaufene Augen gehabt, als habe sie die Nacht zuvor geweint und als er einen Blick auf den Papierstapel in ihrem Arm warf, erkannte er den kleinen Pinscher darauf abgebildet wieder. Als Kai sie auf den Hund ansprach, erhellte sich ihr Gesicht und da schluchzte sie auch schon los – dieses Mal vor Freude.

Es war wie ein Damm der brach. Sie klagte ihm ohne Scheu ihr Leid, darüber, dass der Kleine durch ein Loch im Zaun entwischt sei und noch zu jung wäre, um alleine herumzustreunen. Er sei weder stubenrein als auch geimpft, denn sie habe erst diese Woche einen Termin beim Tierarzt bekommen und das Halsband habe sie ihm auch noch nicht kaufen können, da sei er schon unter einer losen Zaunlaute entwischt. Sie war den ganzen Morgen damit beschäftigt gewesen, die Stadt mit ihren Flyern voll zu pflastern. In ihren schlimmsten Träumen, malte sie sich aus, dass ihr kleiner Liebling unter die Räder eines unvorsichtigen Autofahrers geraten sei. Dennoch meinte Sachi, sie habe sich im ersten Moment in den Welpen verliebt, als sie ihn die Woche zuvor, von ihren Eltern geschenkt bekommen habe und wäre schier wahnsinnig vor Sorge geworden, auch wenn er ihr bereits zu Anfang solchen Kummer bereitete. Sie ging so ehrlich mit ihren Gefühlen um…

Kai wusste nicht woran es lag, doch ihre Art sagte ihm zu. Wahrscheinlich weil er ihr nicht verdenken konnte, den kleinen Kerl so zu vergöttern. Ihm selbst fiel es seltsamerweise auch sehr leicht sich einem Tier zu öffnen. Sie zogen förmlich seinen Blick auf sich. Er konnte gar nicht mehr an einer Hand abzählen, wie oft er einem Streuner etwas zu Essen brachte, wie gerne er ihnen übers Fell kraulte, auch wenn er manchmal dafür einige Kratzer einstecken musste, weil sie den Umgang mit Menschen kaum noch gewohnt waren. So manches Mal war er von sich selbst überrascht gewesen, einfach weil er ein Tier so bedingungslos lieben konnte. Bei einem Menschen wäre das für ihn undenkbar und obwohl Kai das Gefühl hatte, den kleinen Pinscher zu vermissen, war er dennoch froh gewesen, dass er bald wieder in einem schöneren Zuhause leben würde. Als er das Mädchen zu sich ins Anwesen führte, ihr den aufgeregten Hund überreichte, nahm sie den Kleinen in die Arme und drückte ihn fest an sich, schmiegte ihren Kopf in sein Fell. Später als er sie wieder aus dem Hof geleitete, hatte Sachi ihn noch nach seinem Namen gefragt und mehrmals zum Abschied die Hand gehoben, als sie sich auf den Heimweg begab, bis sie in der Ferne verschwand.

Es ließ Kai schmunzeln.

Eine Woche nach seinem ersten Treffen mit Sachi verging, er saß gerade über einer Pflichtlektüre für den Unterricht, als ihm Lew mit einem seltsamen Lächeln verkündete, Kai habe Besuch. Er hatte gleich geahnt das es niemand aus seinem altem Team sein könnte, denn zum einen, waren diese bereits mitten in der Vorbereitung zur nächsten Weltmeisterschaft, zum anderen wäre Lew dann kaum so amüsiert gewesen. Er nahm Max übel, dass er einige Monate zuvor, mit seinem Blade ein Bild im Haus halbiert hatte und sah seine Freunde seitdem am liebsten von weitem. Nachdem Voltaire sie nach seiner Haftentlassung, auch noch in seinem Wohnzimmer vorfand und hochkant mit dem Schürhaken hinausjagte, kamen sie ohnehin nicht mehr unangemeldet vorbei. Erst wenn sie wussten, dass der „grantige Alte“ auf Geschäftsreisen war. Da Kai in England auf eine Privatschule ging, sahen sie sich auch nur noch, wenn er während den Ferien daheim war.

Den Weg zur Eingangshalle hinunter, ging er im Kopf durch, wer ihn besuchen wollte. Zu seiner Überraschung stand da aber Sachi, mit einem farbenfrohen Geschenkkorb gefüllt mit selbstgemachten Süßigkeiten. Sie meinte es wäre ihr ein Bedürfnis, sich noch einmal in aller Form der Höflichkeit zu bedanken, überreichte ihm das Präsent und tat eine Verbeugung vor ihm, ein Ausdruck tiefer Dankbarkeit in Japan. Dann fragte sie, ob Kai sie nicht mit auf einen Spaziergang begleiten wolle, denn ihr kleiner Pinscher würde vor dem Tor zum Anwesen wie verrückt jaulen, weil er ihn unbedingt wiedersehen wolle.

Es gab viele Dinge zu denen er Nein sagen konnte – dieses Angebot gehörte nicht dazu.

Tiere waren sein wunder Punkt. Zunächst hatte er auch tatsächlich angenommen, es würde bei diesem einen Spaziergang bleiben. Als er Sachis Absichten aber erkannte, lies er Lew bei den nächsten Malen das Mädchen zurückweisen, sobald sie wieder klingelte. Er wusste gar nicht weshalb er das tat, denn eigentlich war sie hübsch und auch sehr höflich. Sie schien ihm sehr wohlerzogen und aus gutem Haus zu stammen. Doch offensichtlich war das ständige Sträuben gegen neue Kontakte, so tief in seiner Seele verankert, dass er gar nicht mehr anders konnte, als sie erst einmal auf Distanz zu halten. Der Hausverwalter tischte ihr in Kais Auftrag eine Ausrede nach der anderen auf, so musste er sich selbst nicht mit ihr abplagen – bis Sachi einmal sogar bei Regenwetter vor dem Tor stand und hoffnungsvoll nach ihm fragte. Da kam ihm sein Verhalten grausam vor und er wollte ihr gegenüber zumindest so ehrlich bleiben und die Fronten klären. Dazu kam es aber nicht…

Denn er hatte sie misstrauisch gefragt, weshalb sie bei diesem Mistwetter keinen Schirm dabei habe. Da erfuhr Kai erst, dass sie gar nicht aus diesem Teil der Stadt stammte und den ganzen Weg zum Anwesen, ständig zu Fuß angetreten war. Es gab keine Bahnlinie die hier in der Nähe hielt und Busse fuhren auch eher unregelmäßig hoch, da die meisten Bewohner dieser Gegend nicht auf so etwas angewiesen waren. Hier fuhren selbst die jüngsten Anwohner mit ihrem Chauffeur vor. Es gehörte einfach zum Statussymbol.

„Als ich losgelaufen bin war das Wetter noch gut.“, antwortete Sachi damals peinlich berührt.

Er war sprachlos gewesen, denn das Spiel ging zu diesem Zeitpunkt bereits drei Wochen. Dennoch blickte sie ihn an, als wäre es das größte Geschenk auf Erden, hier im Wind, zwischen Kälte und Regen zu stehen und ihn endlich wieder sehen zu dürfen. Und statt einer Abfuhr, erhielt sie die mürrische Einladung, sich erst einmal im Haus vor dem Kamin aufzuwärmen, wo sie tiefer ins Gespräch kamen.

Kai erinnerte sich das von da an die Treffen zunahmen. Sie hatte den Hund ständig als Vorwand genutzt, um ihn aus dem Haus zu locken. Lew hatte jedes Mal ein dümmliches Grinsen aufgesetzt, wenn er ihre Anwesenheit ankündigte und Kai wusste gar nicht mehr so genau, wann aus ihr etwas Ernstes geworden war. Vielleicht als Sachi ihm gestand, dass sie ihn durch die Medien wiedererkannt habe und überrascht feststellte, dass er nicht halb so gefährlich sei, wie sie ihn sich immer vorstellte.

„Die Zacken in deinem Gesicht waren mein Problem. Du wirkst dadurch abweisend, auch etwas furchteinflößend…“, gestand sie damals schüchtern ein und schob eine dunkle Haarsträhne hinter ihr Ohr. „Aber jemanden der einen kleinen Welpen so lieb umsorgt, braucht man nicht zu fürchten. Beim Umgang mit Tieren erkennt man ein gutes Herz.“

Sie war wirklich vernarrt in ihn. Das spürte Kai förmlich.

Sie hatte sogar vier Monate in einer Eisdiele als Kellnerin gearbeitet, um ihn während der Weihnachtszeit in England zu besuchen, obwohl das gar kein japanisches Fest war. Sachi meinte es sei Teil seiner Kultur und wenn es wirklich so wichtig im russisch-orthodoxen Glauben war, sollte es das auch für sie sein. Doch obwohl die Zuneigung durchaus auch von seiner Seite da war, hielt die Beziehung trotzdem nicht. Zunächst einmal kam Sachi natürlich mit seinem Großvater nicht aus, der sie als „weiteres japanisches Flittchen“ beschimpfte. Eine derbe Anspielung auf Kais Mutter, die sich wenige Jahre nach seiner Geburt auch schon abgesetzt hatte. Ginge es nach dem alten Hausherren, sollte sein Enkel wieder russisches Blut in die Familie holen, immerhin hätte die Erfahrung gezeigt, das Japanerinnen zu nichts taugten und er sprach auch bald davon, ihn an eine Privatschule nach Moskau zu schicken, da wären seine Chancen auf ein anständiges Mädchen nämlich größer.

Kai hatte sich dann meistens nicht dazu geäußert, denn mit seinem Großvater zu diskutieren, war ein Fass ohne Boden. Er nahm sich nichts zu Herzen, war engstirnig und geradezu narzisstisch, wenn es um den russischen Nationalstolz ging. Kai versuchte sich dann nicht anmerken zu lassen, wie verletzend es war, wenn sein Großvater seine asiatische Hälfte verteufelte. Diese Genugtuung gönnte er ihm einfach nicht. Auch an die Gehässigkeiten seines Großvaters erinnerte sich Kai wieder.

„Diese Schlitzaugen!“, hatte er eines Abends boshaft vor dem Kamin geflucht. Nach seiner Haftentlassung, war es mit seiner Selbstdisziplin steil bergab gegangen. Voltaire hatte bedrohlich auf seinen Enkel gedeutet. „Da sieht man doch genau, dass die nichts Gutes im Sinn haben. Und du hast dieselbe Verschlagenheit wie deine Mutter in den Augen… Du und deine dreckigen Freunde! Denk ja nicht, ich hätte vergessen, wie du mir in Russland in den Rücken gefallen bist!“

Kai ging ihm ab diesem Tag zunehmend aus dem Weg, was bei der Größe des Hiwatari Anwesens kein Problem darstellte. Irgendwann ließ er sich nicht einmal mehr zu den gemeinsamen Mahlzeiten sehen und Voltaire fragte auch nicht nach ihm. Beide lebten mit der bitteren Erkenntnis, dass sie sich so lange ertragen mussten, bis Kai volljährig wurde und ausziehen konnte. Die Haft hatte seinen Großvater noch ekelhafter gemacht. Es war schwieriger mit ihm geworden als je zuvor. Doch Sachi war ihm geduldig beigestanden - bis ein bestimmter Punkt erreicht wurde, an dem etwas anderes ihr mehr Probleme bereitete. Der eigentliche Trennungsgrund war nämlich, dass sie aus Kais Art nicht schlauer wurde.

„Du bist wie ein Puzzle. Es gibt sicherlich viele wundervolle Seite an dir, aber es offenbart sich einem erst, wenn man es mühselig zusammensetzt. Anstatt sie mir freiwillig zu zeigen, siehst du mir nur bei meiner Arbeit zu, schweigst über mein Bemühen, und lässt mich vollkommen im Dunkeln tappen. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, es macht dir Spaß, mich so hinzuhalten! Das ist einfach kräftezehrend…“, sie hatte sich die Augenwinkel mit einem Taschentuch abgetupft, denn es war ein sehr aufwühlender Moment für sie. Ein erstickter Schluchzer entrang sich ihrer Kehle. Kai war klar gewesen, dass Sachi ihn noch immer liebte, obwohl sie ganz offensichtlich dabei war, mit ihm Schluss zu machen. „Nach so vielen Monaten bist du mir noch immer fremd. Ich wünschte du würdest mich endlich nah genug an dich heranlassen. Warum stößt du mich bloß so weg?“

Er hatte sie perplex angeschaut, weil ihm nicht klar war, was sie meinte. Um ehrlich zu sein, dachte er in jenem Moment nur an die körperlichen Intimitäten und hielt das durchaus für nah genug. Als Kai wissen wollte, wie es nun weiterging, hatte sie ihn traurig angeblinzelt. Er wusste noch, dass eine Träne zwischen ihren dichten Wimpern hängen geblieben war.

„Das kommt darauf an… Kannst du mir versprechen dass es irgendwann besser wird? Kannst du mir versprechen, dass sich mein Bemühen irgendwann endlich auszahlt? Das kann doch nicht alles gewesen sein! Dieses Schweigen in das du dich ständig hüllst… Es macht mich fertig!“

Er hatte sie ruhig angeschaut. Kein Wort kam über seine Lippen. Es war wohl Antwort genug, denn kurz darauf verließ sie den Raum und wünschte ihm zuvor von ganzem Herzen, ein schönes Leben.

„Ich hoffe irgendjemand hat die Kraft zu dir durchzudringen.“, waren ihre letzten Worte an ihn. „Ich bin es nicht…“

Damit war Sachi aus seinem Leben getreten. Als sie ging, setzte er sich an das breite Fenstersims seines Zimmers und schaute nur ungerührt hinaus in die Nacht. Er hatte nicht geweint. Keine Träne kam aus seinen Augenwinkeln. Etwas was ihn doch verwunderte, weil er dachte, tatsächlich mehr für sie zu empfinden. Hätte man in so einem Moment nicht am Boden zerstört sein müssen?

Erst Jahre später wurde Kai richtig klar, dass er sie – obwohl Gefühle da waren – nicht aufrichtig liebte. Es war wohl einfach nicht genug gewesen, sonst hätte er sich für sie geändert. Sie gingen nach diesem Gespräch zumindest noch im Guten auseinander. Er hatte Sachi jedoch nicht einmal seinen Freunden vorgestellt. Womöglich weil sie ihm nicht wichtig genug war und das obwohl die Treffen mit den anderen, zu diesem Zeitraum immer weiter zunahmen. Damals kristallisierte sich so langsam heraus, welche Menschen wahre Freunde und welche nur flüchtige Bekannte waren, und die Art wie hartnäckig die anderen an ihm festhielten, ließ Kai immer weicher werden. Sie wollten dabei sein als sein Großvater beerdigt wurde. Sie waren neugierig auf Kais Mutter, als er ihren Brief erhielt, indem sie ankündigte, bald nachhause zu kommen. Sie wollten Jana sehen und das am liebsten noch am selben Tag, an dem sie geboren wurde.

Dennoch hatte er vor ihnen kein Wort über Sachi verloren.

Seine Freunde waren aus allen Wolken gefallen, als Kai sie einige Jahre nach der Trennung, zufällig auf einem Stadtfest traf, sich mit ihr unterhielt und sich später wieder der Gruppe zuwandte, um ihnen knapp zu erläutern wer sie überhaupt war. Es hatte die anderen gewundert, wie erwachsen die beiden miteinander umsprangen. Tyson machte zu jener Zeit gerade seine erste Trennung durch und seine Verflossene, war so sauer über seinen Seitensprung gewesen, dass sie ihm seinen mühselig zusammengeschraubten Wagen lädierte und das Wort „Arschloch“ in den Lack ritzte. Es war ein übler Rosenkrieg zwischen ihnen. Max hatte auch noch Ming-Ming an der Backe, um die er nach seinem One-Night-Stand, einen weiten Bogen machte, mit dem Ergebnis, dass sie ihn regelrecht terrorisierte. Der einzige in ihrer Gruppe, der Glück in der Liebe zu haben schien, war Ray, der zu dieser Zeit bereits seit zwei Jahren mit seiner künftigen Frau zusammen war. Damals war für das Paar die Welt noch heil. Sie waren das Vorzeigebeispiel dafür wie es richtig ging.

Seine Freunde hatten Kai damals mit Fragen bombardiert, denn alle fanden Sachi wirklich attraktiv und verstanden nicht, weshalb er sich von so einer Traumfrau getrennt hatte. Der einzige der schmollte war Kenny, weil er die ganze Zeit annahm, Kai stelle ihnen deshalb keine Frau vor, weil er sozial genauso unbeholfen sei wie er selbst und deshalb keine Freundin fand. Der war total genervt gewesen, weil die anderen ihn mit Fragen bedrängten, doch zu seiner Überraschung, schlug sich ausgerechnet Tyson auf seine Seite.

„Ist doch Wurst wer sie ist. Sie sind nicht mehr zusammen, Punkt! Lasst uns lieber feiern!“

Kais Gespräch mit ihr war zwar angenehm gewesen - die alten Anekdoten hatten etwas Nostalgisches an sich gehabt - doch obwohl sie sich einige Tage später, tatsächlich noch einmal zu einem Abendessen trafen, wurde aus Sachi nicht mehr als eine weitere Freundschaft, die sich irgendwann im Sand verlief. Den Frauen die darauf folgten erging es ebenso, bis Kai sich gar nicht mehr die Mühe machte, eine besondere Beziehung zu ihnen zu knüpfen. In jener Hinsicht waren sich Tyson und er erschreckend ähnlich, auch wenn Kai keine Ambitionen besaß, seine Affären in der Welt herum zu posaunen und damit zu prahlen. Er war einfach für Diskretion was das Schlafzimmer betraf.
 

„Wie ein Puzzle…“
 

Sachis Beschreibung beschäftigte ihn seit die Erinnerungen an sie, zurück in sein Gedächtnis gekehrt waren, denn so langsam wurde Kai klar, worauf sie angespielt hatte, auch wenn er es damals noch nicht verstand. Er fügte sich nun auch zusammen.

Stück für Stück. Und er war sich momentan ebenfalls ein Rätsel…

Dieser Erinnerungsverlust ließ ihn begreifen wie andere Menschen ihn sahen. Ihm war nie bewusst gewesen, wie irritierend sein Schweigen eigentlich sein konnte. Bei jedem Ausflug in die Vergangenheit, hatte sich Kai gefragt, weshalb er mit einer solchen Kühle reagierte, selbst wenn es Menschen betraf, die ihm doch stets wohlgesinnt waren. Der kindliche Teil hatte ihn verurteilt. Erst jetzt wo auch die Erinnerungen an die Abtei zurück waren, verstand dieser Part allmählich woher seine Distanziertheit herrührte. Der Junge in ihm wurde nachsichtiger - doch unzufrieden war er dennoch. Er wollte dass er sich zumindest seinen Freunden gegenüber öffnete. Kai hob ratlos seine Finger vor das Gesicht. Vor weniger als sechs Stunden, waren sie noch viel kleiner. Zierlicher, zaghafter, schwächer…

Hatte dieses Kind wirklich die Abtei überstanden?

Mehrmals öffnete Kai seine Handflächen, doch irgendwie wollte sich sein Gehirn noch nicht an den Anblick gewöhnen. Es war sonderbar von einem Moment auf den anderen, wieder in den Körper eines Erwachsenen gesteckt zu werden. Erst jetzt wurde ihm klar wie wichtig ein fließender Übergang war. Er fuhr sich auf seinem Futon erschöpft über die Augen. Kai konnte gar nicht beschreiben, wie konfus diese Situation für ihn war. Vor einigen Stunden hatte er noch wie dieses Kind gedacht. Nun brachen über diesem Jungen die Erinnerungen aus seinem alten Leben zusammen. Vor allem jene aus der Abtei erschreckten ihn. Wann immer er an diesen Ort entführt wurde, kam er sich hilflos und einsam vor, sehnte sich den Schutz seiner Freunde herbei. Kai erinnerte sich an das erste Mal, als sie ihm das Gefühl eines sicheren Halts vermittelten. Damals, auf dem Baikalsee…

Auch die unzähligen kleinen Momente danach, in jenen er sich geborgen vorkam, wie in jener Nacht, kurz vor den Vorbereitungen zur zweiten Weltmeisterschaft. Genau hier an diesem Fleck hatte er gelegen, als Tyson den anderen zu murmelte, dass sie von jetzt an auf ihn aufpassen wollten. Kai hielt sich damals für so erwachsen und doch war ihm dieses Bewusstsein für Zusammenhalt und Loyalität fremd gewesen. Eigentlich hatte er das wichtigste im Leben nie kennengelernt…

Die Fürsorge einer richtigen Familie – eines Zuhauses.

Wie es sich anfühlte einen Rückzugsort zu besitzen, wo jemand wartete, der einen mit offenen Armen empfing. Das Kind in ihm wollte mehr davon. Man konnte eben nur vermissen, was man kennengelernt hatte. Kais Finger fuhren nachdenklich über den kühlen Holzboden neben sich. Wenn die Familie das Fundament eines Kindes bildete, hatte er es erst errichtet, als er seine Freunde kennenlernte?

War er deshalb in manchen Dingen so unbeholfen – weil er noch sein Fundament baute?

Mit jeder positiven Erfahrung mussten seine Freunde einen weiteren Ziegel gelegt haben. Sie hatten das errichtet, was eigentlich seine Familie hätte aufbauen müssen. Kais Blick haftete an Tysons Futon. Hätte er seine Freunde damals schon um sich gehabt, vor der Abtei, vor dem Zerfall seiner biologischen Familie, womöglich wäre aus ihm ein ganz anderer Mensch geworden. Kai gestand es sich endlich ein…

Er hatte Probleme. Ernsthafte Vertrauensprobleme. Er musste daran arbeiten, bevor es so tief in sein Blut überging, dass es kein Zurück mehr für ihn gab. Jenen Personen sein Vertrauen schenken, die ihn nie böswillig verletzten würden. Hätte er diese Erfahrung in der Irrlichterwelt nicht gemacht, wäre ihm nie klar geworden, wie viele Defizite er besaß.

Das die Abtei ihn geprägt hatte…

Kai wollte zuvor nicht wahrhaben, dass dieser Ort bei ihm Narben hinterlassen hatte. Er hielt sich für unantastbar, stark genug um mit den Erlebnissen von damals klar zu kommen. All die Jahre hatte er sich eingeredet, dass die Abtei ihn nicht in den Fängen hielt – dass er alleine aus diesem Teufelskreis herausfinden würde.

Mit einem Seufzen schloss Kai die Augen. In Wahrheit steckte er noch immer darin...

Er hatte es einfach nur ausgeblendet, war blind dafür und lief mit seinen Scheuklappen durchs Leben. Ihm fiel auf wie oft er mit Verdrängung auf etwas reagierte, was ihn emotional belastete. Es war sein persönlicher Schutzmechanismus, um sich von allem abzukapseln, was ihn verletzten könnte. Leider galt das auch für die positiven Erfahrungen. Er hatte noch nie über die Abtei geredet. Kai erinnerte sich wieder an etwas.

An Mr. Dickinson…

Dieser grauhaarige Mann mit der Halbglatze und dem Wohlstandbäuchlein. Einst saß Kai mit ihm in dessen Büro. Das war kurz nach der ersten Weltmeisterschaft gewesen, als Tyson gegen Tala gewann. Kai erinnerte sich geradezu lebhaft an den Klang seiner alten Stimme.

„Danke, mein Junge. Hättest du mir nicht das Beweismaterial geliefert, hätten die Behörden niemals gegen die Abtei ermitteln können.“, die weisen Augen hinter der Brille, bedachten ihn voller Mitleid. „Doch was dort alles passiert ist… Ich will dir nichts vorschreiben, doch du solltest vielleicht mal mit jemandem darüber reden. Jemandem professionellem. Wir werden das allen Abteikindern anbieten. Da gibt es einige die diese Zeit sehr schlecht verarbeiten können. Ich kenne da eine Person die auch dir helfen würde.“

Mr. Dickinson hatte sich über seinen Schreibtisch gebeugt und geradezu verschwörerisch geflüstert: „Ich verliere auch kein Wort darüber. Und er ganz bestimmt auch nicht.“

Kai hatte sich bedankt und geantwortet, dass er es sich überlegen würde. In Wahrheit verschwendete er keinen Gedanken daran. Er lief aus dem Gebäude der BBA hinaus, mit dem festen Entschluss, die Tage dort tief in seiner Seele zu begraben.
 

Kai drehte sich auf die Seite, spähte zur Tür. Womöglich wäre das der erste Schritt?

Darüber reden. Einer Person der er wirklich vertraute – jemandem wie Tyson. Es wäre das erste Mal und er wünschte sich ganz offensichtlich mehr Informationen von dieser Zeit. Sie alle. Doch Kai fühlte sich noch zu unsicher…

Er tat einen hörbaren Atemzug. Mit einem schlechten Gewissen musste er daran denken, dass er entgegen seines Versprechens, doch für kurze Zeit weggedöst war. Erst die Erinnerung an Sachi ließ ihn wieder erwachen. Offenbar arbeitete sein Gehirn auch im Schlaf noch weiter und der Gedanke, er könnte mitten in Nacht von der Abtei träumen, ließ Kai nicht mehr zur Ruhe kommen. Ihm wäre es lieber sich nicht mehr daran erinnern zu müssen, denn was er davon gesehen hatte reichte ihm aus. Er verspürte Furcht…

Er wollte nicht mehr in diese Zeit zurück, selbst wenn es nur in seinem Kopf stattfand.

Kai setzte sich auf, rieb sich müde über das Gesicht, bis sein Augenmerk an dem Familienschwert hängen blieb, das im Zentrum der gegenüberliegenden Wand, auf einem kleinen Podest thronte. Tyson hatte ihnen einmal erzählt, dass der große Dragoon lange Zeit als Emblem auf dieser Waffe, über die Kinomiyas wachte. Es musste in derselben Woche gewesen sein, als sie sich für die zweite Weltmeisterschaft vorbereiteten, denn in seiner Erinnerung besaß Tyson noch diese rundliche Kinderbacken, die so gut wie immer, an irgendeiner Stelle ein Pflaster zierte, da ihr Wirbelwind sich bei seinen waghalsigen Manövern ständig eine Schramme holte. Kai musste zugeben, dass ihn die Geschichte um das Schwert damals imponierte, auch wenn er sich davor hütete, dies auch zu zeigen. Dafür hatten die anderen umso mehr gestaunt, vor allem Hilary, die damals zum ersten Mal von Bit Beasts hörte. Ein spitzbübisches Grinsen hatte Tysons Gesicht geziert. Dabei reckte er stolz die Brust und prahlte damit, dass das Bit Beast wohl in seinem Blade sei, weil es ganz offensichtlich einen würdigeren Partner gefunden habe.

Die Erinnerung ließ Kai schmunzeln. Tysons kindlichen Allüren waren doch eigentlich ganz charmant gewesen, warum hatte ihn das damals also immer so geärgert? Kurz darauf blinzelte er verdutzt über seine eigenen Gedanken, spürte dass seine Wangen warm wurden und schüttelte verärgert den Kopf über sich selbst.

Da waren sie schon wieder – diese albernen Schwärmereien!

Und als wäre das nicht schon schlimm genug, hatte er auch noch mit den Fingern geknetet. Sofort riss er die Hände auseinander, dabei ermahnte sich Kai, diesen lästigen Tick möglichst schnell wieder loszuwerden und zwar ohne Mithilfe seines Großvaters. Ständig hatte er Kai mit einem schmalen Stock auf die offenen Handflächen gehauen, sobald er ihn dabei erwischte. Erst das Knallen einer Autotür, ließ ihn aus seinen trüben Überlegungen zucken. Der Regen war ziemlich laut, daher fiel es ihm schwer die Geräusche draußen zu filtern, doch er meinte eilige Schritte zu hören, die über den nassen Kies liefen. Kai horchte genau hin. Wenn es Tyson war würde er sicherlich bald hereinkommen.

Doch da kam niemand…

Die Minuten verstrichen, aber er wartete vergebens.

Also erhob sich Kai und öffnete die Schiebetür des Dojos einen spaltweit, um einen Blick hinauszuwerfen. Da stand Tysons Wagen im Regen. Von ihm selbst aber keine Spur. Kai blinzelte überrascht und versuchte den Besitzer des leerstehenden Gefährtes auszumachen. Sein Blick huschte die Veranda entlang zum Haupthaus, wo er in einem Fenster Licht brennen sah. Er trat hinaus, folgte der Überdachung zum Eingang des Wohnbereiches, blieb aber wie angewurzelt stehen, als sein Blick noch einmal auf den Wagen fiel. Von seinem vorherigen Standpunkt aus konnte Kai es nicht sehen, aber in der Beifahrerseite klaffte ein riesiges Loch. Der Regen prasselte laut auf das Autodacht und nun auch hinein in den Innenraum. Ein Keuchen entfuhr Kai und sofort eilte er ins Haupthaus, öffnete die Tür und trat ein. Aus der Küche fiel Licht in den Flur. In einer schrägen Bahn kennzeichnete es den Weg. Er lief hinein und erspähte Tyson am Waschbecken, wo er ihm den Rücken zugewandt, die Hände unter das laufende Wasser hielt, offensichtlich wohlbehalten. Einen Moment atmete Kai erleichtert aus. Ihn hier zu sehen machte ihn irgendwie glücklich. Das Gefühl nistete sich in jede Ecke seines Körpers ein. Für eine Sekunde waren ihm die schlimmsten Szenarien durch den Kopf gegangen. Kurz darauf stutzte er perplex über seine heftige Reaktion. War das wirklich noch das Kind in ihm was so fühlte?

Manchmal schienen die Grenzen zu verschwimmen. Dann hatte Kai keine Ahnung, wer da so intensiv fühlte. Etwas verwirrt fuhr er sich über die Stirn, versuchte sich zu sammeln. Er durfte jetzt nicht albern werden und seinem Idol geradezu um den Hals fallen. Das wäre lächerlich und würde Tyson nur falsche Signale senden.

Kai wollte ihm lediglich ein guter Freund sein und Freunde sorgten sich umeinander.

Deshalb hatte er so reagiert. Er nickte kurz und spähte zum Waschbecken, wo das Wasser schon sehr lange rauschte. Tyson schien vollkommen in seine Gedanken vertieft, bemerkte ihn nicht einmal. Kai musste sich irgendwie noch immer an sein erwachsenes Abbild gewöhnen. Vor allem daran dass Tyson so in die Höhe geschossen war. Viele seiner Erinnerungen spielten sich noch in ihrer Jugend ab und damals war Kai größer gewesen. Ihm fiel wieder ein, wie gerne Tyson ihn mit seinem Wachstumsschub triezte. Sein liebster Spruch war, dass er ihn nun nicht nur als Blader übertrumpft habe. Das ging so lange, bis Kai ihm einmal gegen das Schienbein trat und beide dabei ins Stolpern gerieten. Es war nach einer Automesse gewesen und Tyson hatte ihn regelrecht bekniet mitzukommen, weil alle anderen schon anderweitig verplant waren. Als sie auf dem Heimweg in ihre üblichen Sticheleien verfielen, kam das Thema auf und wie sie auf dem Boden landeten, war Kai ziemlich sauer gewesen, bis Tyson so laut grölte, das es selbst ihn nach einer Weile ansteckte. Das war im Frühjahr gewesen…

Kai kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf um die Erinnerung zu verscheuchen. Dieser Flashback kam so schnell, dabei wollte er sich gerade wirklich auf andere Dinge konzentrieren. Er bedachte nachdenklich seinen Freund. Der triefte förmlich vor Regenwasser, vor allem der dunkle Haarschopf klebte feucht an seiner Jacke. Einer der Küchenschränke stand offen und ein kleiner Beutel lag auf dem Tisch.

Etwas stimmte nicht…

„Tyson?“

Kai sah ihn den Kopf heben. Sein Gesicht spiegelte sich auf der Fensterscheibe über der Spüle, aber inmitten des dunklen Nachthimmels, konnte er nur schwer dessen Mimik ausmachen. Er wandte sich auch nicht zu ihm um.

„Ich dachte du schläfst schon.“

„Ich hatte dir versprochen zu warten.“

„Ach ja, stimmt…“, Tyson drehte den Wasserhahn ab und trocknete die Hände an einem Geschirrtuch. Seine Bewegungen waren eigenartig. Er tupfte seine Finger zu behutsam ab, als wären sie aus filigranem Glas. „Ich bin müde. Lass uns lieber morgen reden…“

Kai bemerkte wie sehr ihn diese Aufschiebung enttäuschte. Die ganze Zeit über, hatte er darüber nachgedacht, wie er dieser Unterhaltung aus dem Weg gehen könnte und nun war er auch noch enttäuscht. Eigenartig wie sehr Tysons Gegenwart ihn wieder veränderte.

„Ist etwas passiert?“, fragte er.

„Nein, alles okay.“

„Und dein Wagen?“

Er hörte Tyson tief einatmen.

„Das hast du also gesehen…“

„Es war nicht zu übersehen. Was ist mit dir los?“

„Nichts.“ er log. Kai wusste es einfach. Sie kannten sich zu lange. „Tu mir einen Gefallen und geh die nächsten Tage nicht vor die Haustür. Bleib mit Jana drinnen. Obwohl, vielleicht sollten wir auch ein paar Tage die Stadt verlassen. Ja… Das ist eine gute Idee!“

Es klang als würde er mit sich selbst reden.

„Warum?“

„Einfach so. Nicht das ein Reporter dich sieht und über deinen Gesundheitszustand berichtet.“

„Ist das der wahre Grund?“

„Ja. Warum fragst du?“

„Es klingt nach einer Lüge.“

„Sei nicht wieder so misstrauisch! Geh schlafen.“

Kai grollte leise. Er wurde von ihm noch immer nicht voll genommen.

„Ich bin kein kleines Kind, dass du ins Bett schicken kannst, wenn es dir gerade passt!“

„Kannst du auch mal etwas machen, ohne das es in einer Diskussion endet?!“, es brach so zornig aus ihm hervor, dass Kai inne hielt. Und kurz darauf schien auch Tyson seinen Fehler zu bemerken. Er seufzte schwer, warf das Handtuch zur Seite und stützte sich über der Spüle ab. „Tut mir Leid…“

Einen Moment wurde es ruhig zwischen ihnen. Nur das Ticken der Wanduhr über der Tür klang durch den Raum. Kais Blick huschte ratlos an der Küchenzeile entlang, blieb an dem Geschirrtuch hängen. Als er die dunkelroten Flecken darauf bemerkte, wurden seine Augen zu wachsamen Schlitzen. Er näherte sich Tyson. Dieser begann sich mit einer Hand über die Schläfe zu massieren. Etwas schien ihn zu beschäftigen. Er wirkte geradezu rastlos. Kai ergriff zaghaft seine andere Hand, begutachtete die wunden Stellen darauf. Er fuhr mit den Fingern über die aufgeplatzten Knöchel und bemerkte irgendwann, dass Tyson wie gebannt zu ihm herabschaute. Er hatte tiefdunkle Augen. Nur mit viel Mühe konnte man einen leichten Braunstich darin erkennen. Sie wirkten eher tiefschwarz. Er fragte sich, ob ihm dieser Gedanke schon früher einmal gekommen war, oder erst jetzt, wo er Tyson mehr Beachtung schenkte. Jetzt, da die Scheuklappen runter waren…

„Erzählst du mir wie das passiert ist?“

„Ein kleiner Unfall. Sonst nichts.“

„Hmm...“, Kai begutachtete die Verletzung eingehender, ahnte aber, dass er wieder belogen wurde. Irgendwie würde er die Wahrheit schon herausbekommen, allerdings musste er geschickter vorgehen. „Da steckt etwas drinnen.“

„Ich weiß. Darum wollte ich mich gerade kümmern.“

Tyson versuchte mit einem gequälten Gesichtsausdruck die Hand zu einer Faust zu ballen, doch was immer da in seinem Knöchel steckte, hinderte ihn daran.

„Habt ihr irgendwo eine Pinzette?“

„Im Beutel auf dem Tisch.“

Kai begann darin zu suchen und zwischen Medikamenten, Pflastern und Mullbinden, wurde er fündig. Gleich darauf nestelte er vorsichtig an Tysons Haut. Zwischen Mittel- und Ringfinger, war eine kleine Erhebung. Die anderen Knöchel waren zwar aufgeplatzt, bluteten auch noch ein wenig, waren aber nicht so dick geworden. Tyson zischte leise, als er an der Schwellung nestelte, ertrug es jedoch recht gefasst. Was Kai irgendwann hervorbrachte wirkte wie ein Glassplitter und doch auch irgendwie nicht. Etwas war merkwürdig an dem Objekt. Es erinnerte ihn an etwas, aber er kam nicht sofort darauf. Tyson wandte sich inzwischen dem Beutel zu und versuchte seine Hände zu verbinden. Noch während der Splitter zwischen der Spitze der Pinzette klemmte, klopfte Kai damit auf die Küchenzeile, um zu prüfen, ob es porös war. Ganz im Gegenteil - es war steinhart.

Wenn man ihn im Licht schwenkte, gab er einen dunkelblauen Glanz von sich, fast schon wie ein Leuchten. Da fiel ihm endlich ein, wo er so etwas schon einmal gesehen hatte. Kais Augen wurden schmaler.

„Also lebt Dragoon…“

Er hielt Tyson die Drachenschuppe hin. Der hörte auf im Beutel zu kramen.

„Als du ein Kind warst konnte ich dich besser verarschen.“, kommentierte der recht trocken.

„Dann solltest du kein Kind mehr in mir sehen.“, Kai ließ die Schuppe auf seine Handfläche fallen und begutachtete sie neugierig. Sie war zum Ende hin spitz, sogar ziemlich scharf. Sobald er die Handfläche bewegte, reflektierte sie wieder in bläulichem Ton. Er hatte das Gefühl sie stünde unter Strom. Als könne selbst er die Energie davon spüren. Es war schwer in Worte zu fassen. Ihm ging durch den Kopf, wie er als Kind mit sich gehadert hatte, weil er so gerne wissen wollte, wie sich der tote Drachenkörper anfühlte. Nun, tot war dann wohl relativ…

„Max und Ray?“

„Sind wohlauf.“, erriet Tyson seine Gedanken. „Wir hatten uns kurz zuvor verabschiedet. Sie sind schon abgeflogen. Ich bin Dragoon erst danach begegnet.“

Erleichterung machte sich in ihm breit. Kai beobachtete wie ungelenk sein Gegenüber mit dem Verband auskam. Ständig rutschte ihm die Mullbinde von der Verletzung, also legte er den Splitter seufzend beiseite, trat zu ihm, um erneut behilflich zu sein. Ein verlegenes Grinsen huschte über Tysons Gesicht, als er ihm den Stoff abnahm.

„Diese Hände können Autos reparieren, aber mit einem Verband kommen sie nicht klar.“

„Das sehe ich…“, sprach er schmunzelnd. Kai bemerkte wie glücklich Tyson wirkte, weil er von ihm diese Zuwendung bekam. Irgendwie rührte ihn diese offenkundige Freude. Sie verursachte einen wohligen Schauer in seinem ganzen Körper. Wollte er Tyson wirklich wehtun, indem er seine Gefühle zurückwies?

Das hatte er doch nicht verdient…

„Hat dich Dragoon angegriffen?“, Kai versuchte sich auf das Anlegen des Verbandes zu konzentrieren, bemerkte aber bei jedem winzigen Körperkontakt, dieses merkwürdige Flirren zwischen ihnen. Selbst der Splitter strahlte nicht diese Energie aus. Wann immer seine Finger Tysons Haut berührten, konnte er es deutlich fühlen.

„Nicht wirklich.“, die Stimme seines Gegenübers klang rau. Kai fragte sich ob Tyson ebenso fühlte, ob er auch diese Spannung zwischen ihnen spürte. „Die Wunden gehen eigentlich auf mein eigenes Konto.“

„Wie meinst du das?“

„Ich habe mich mit ihm geprügelt. Zumindest habe ich es versucht. Ganz blöde Idee…“

Kai hatte mit angesehen welche Macht Dragoon besaß. Tyson hätte doch wissen müssen, dass er keinerlei Chance hatte. Er schaute aus großen Augen zu ihm auf und der kleine Junge in ihm, empfand unglaubliche Bewunderung für diese tollkühne Aktion.

„Ja. Das war dumm von dir.“, sprach er stattdessen.

„Ich weiß...“

„Wollte er dich wieder in die Irrlichterwelt verschleppen?“

Er merkte gar nicht wie besorgt es aus seinem Mund kam. Erst als Tyson ihm ein mildes Lächeln schenkte, wurde ihm das richtig bewusst. Der hob die andere Hand, schob eine Strähne aus Kais Stirn.

„Nein. Wollte er nicht. Mach dir keine Sorgen…“

Eine Gänsehaut jagte über seinen Körper. Das konnte selbst Tyson sehen. Die feinen Härchen auf seinen Arm hoben sich. Diese simple Berührung, diese warme Stimme – sie ließ seine Haut aufleben. Etwas das Kai so nicht kannte. Er umgriff die Finger an seinem Gesicht, um auch diese Hand zu verbinden, aber eigentlich wollte er den Körperkontakt dadurch verharmlosen. Es hinderte seinen Kopf daran sachlich zu bleiben, fühlte sich an, als würde sein Verstand nach und nach, hinter einer Nebeldecke verschwinden. Diese Sanftheit von Tysons Worten erinnerte ihn ständig daran, wie feinfühlig er sein konnte, wie viel Freundlichkeit er als Kind von ihm erfahren hatte. Er würde sicherlich irgendwann einen wundervollen Vater abgeben, dabei hätte Kai das vor wenigen Tagen noch abgestritten.

„Was wollte er dann von dir?“

„Ist nicht so wichtig… Mir fällt gerade etwas anderes ein. Warst du schon einmal in Okinawa? Ich habe dort eine Tante. Vielleicht könnten wir uns dort von unseren Strapazen erholen? Etwas Urlaub wäre toll!“

Es machte Kai misstrauisch das Tyson gerade jetzt mit einem solchen Angebot daherkam.

Er wich seinem Blick aus, schaute auf seine verbundene Hand. Also log er schon wieder…

„Was ist mit deinem Bruder?“

„Ich dachte daran, dass ich euch zum Hafen bringe und später nachkomme, wenn ich alles mit Hiro geklärt habe.“

„Warum willst du so dringend die Stadt verlassen?“

„Komm schon! Wir haben uns doch wohl eine Pause verdient!“, kam es heiter. Doch er konnte ihm nichts vormachen. Tyson versuchte es ihm schmackhaft zu machen, indem er seine Sorgen herunterspielte. Die gute Miene, zum bösen Spiel…

„Das ist nicht der Grund. Es geht um Dragoon. Du hast Angst dass er hier auftaucht.“, Kai war fertig mit dem Verband, hielt dennoch Tysons Hand umschlossen. „Ich gehe nicht von hier weg. Wenn er kommt um dich zu holen… Ich lasse dich nicht alleine.“

Es wurde einen Moment still zwischen ihnen.

Tyson schaute ihn ernst an, dennoch konnte Kai sehen, dass ihn seine Worte bewegten. Es war der Ausdruck in seinen Augen. Doch irgendwann schloss er die Lider, tat einen tiefen Atemzug und sprach: „Dragoon ist nicht das Problem. Wenn er kommen sollte, dann nicht meinetwegen.“

Etwas überrascht blinzelte Kai.

„Du meinst wegen deinem Großvater?“

„Nein. Das hat er wohl auch aufgegeben.“

Es dauerte bis Kai auf die Lösung kam.

„Wegen uns?“

„Genaugenommen wegen dir…“

„Warum? Ich bin nicht sein Blader.“

Er ließ von Tyson ab, tat einen Schritt zurück.

Der fragte gleich darauf: „Erinnerst du dich an das Ei, dass du in der Irrlichterwelt ausgespuckt hast? Kurz bevor wir in Wolborgs Gebiet aufgewacht sind?“

Kai schaute Tyson fragend an. Ein Ei?

Er begann zu überlegen. Es musste ziemlich früh passiert sein, zu seinen Anfängen in der Irrlichterwelt. Alles woran Kai sich erinnerte war, dass er inmitten des Schnees erwachte und das erste Gesicht, was er wahrnahm Tysons war. Da ihn Dranzer aber mit ihren Lügen infiltriert hatte, rannte er zunächst von ihm weg. Er dachte angestrengt nach, was davor gewesen war, als ihm etwas in den Sinn kam, was er eigentlich für einen Traum hielt. Kurz bevor Kai richtig zu Bewusstsein kam, träumte er, umgeben von Wasser, ein Ei aus seinem Mund entsteigen zu sehen.

Er umgriff mit den Fingern seinen Hals. War das wirklich nur ein Traum gewesen?

Auf einmal konnte er sich geradezu lebendig daran erinnern, wie es sich angefühlt hatte, als das Ei aus ihm hervorkam. Ihm war heiß geworden, so unglaublich heiß. Das Blut in seinen Venen schien zu kochen wie pures Magma und als ihm inmitten des Flusses, die dampfenden Bläschen zwischen seinen Lippen entstiegen, fühlte es sich an, als würde diese Hitze direkt aus seinem Herzen kommen. Es hatte rasend schnell geschlagen. In seinen Ohren pochte es förmlich.

„Ich dachte das wäre ein Traum.“, kam es verwirrt.

„Nein. War es nicht.“, sprach Tyson ungewöhnlich ernst. Seine Hände legten sich auf Kais Schultern. Er schaute ihn eindringlich an. „Es war Dranzer. Und die Stadt auf der anderen Seite des Wassers war tatsächlich Tokio. Sie muss hier geschlüpft sein.“

Kai riss die Augen auf. Da fuhr Tyson auch schon fort.

„Wir werden nun folgendes machen - Deine Schwester, Großvater und du, ihr ruht euch jetzt noch ein paar Stunden aus. Ich halte so lange Wache.“

„Ich habe schon geschlafen. Wenn sich hier einer hinlegen sollte, dann bist du es!“

„Mir geht es gut.“

„Nein, Tyson, du bist müde. Das sehe ich dir doch an.“

„Hör dir meinen Plan erst zu Ende an! Wenn wir morgen früh aufstehen, verschwinden wir sofort zum Hafen. Von dort aus geht es mit der nächsten Fähre nach Okinawa. Auf dem Schiff kann ich auch schlafen. Es ist nur noch diese eine Nacht. Dragoon kann sich dann ruhig mit Dranzer den Schädel spalten!“

Kai schaute ratlos durch die Küche.

„Und dein Bruder?“, wollte er noch einmal wissen.

Tyson blieb still, dachte lange nach.

„Ich muss jetzt Prioritäten setzen. Was kann Hiro momentan passieren? Er sitzt vielleicht eine Woche länger in Untersuchungshaft, aber Jana und du, ihr seid wirklich in echter Lebensgefahr. Euch wegzuschaffen hat jetzt einfach Vorrang.“

Kai senkte seufzend den Kopf.

Tyson war bereit seinen Bruder zurückzulassen. Für ihn…

Und er dachte nur daran, ihm einen Korb zu verpassen.

„Sie suchen uns. Nicht dich.“

„Damit fangen wir gar nicht erst an!“, kam es in schneidendem Tonfall, als ob Widerrede keine Option wäre. Die Brauen vor ihm zogen sich tief zusammen. Tyson hob mahnend den Finger, starrte Kai böse an. „Wir werden uns nicht trennen! Wenn du es wagen solltest, mitten in der Nacht abzuhauen, suche ich die ganze Stadt nach dir ab! Hast du mich verstanden?“

Der Vorwurf war deutlich zu vernehmen. Tyson sprach aus Erfahrung. Er traute Kai so etwas zu. Der sah ihn lange an, fragte sich, wie er früher auf diese Sorge genervt reagieren konnte. Dieser Mensch bemühte sich so sehr um ihn. Da spürte er auch schon wie Tyson seine rechte Hand umschloss. Sein Daumen strich zärtlich über die Haut dort.

„Versprich mir dass du keine Alleingänge machst. Bleib in meiner Nähe, okay?“

Diese Bitte. Die Art wie er es sagte…

Kai fühlte wie etwas in ihm förmlich weich wurde. Selbst wenn er gewollt hätte, er könnte Tyson seinen Wunsch nicht abschlagen. Dazu war er einfach nicht mehr in der Lage. Kai sah in das dunkle Augenpaar vor ihm, bis er die Lider senkte, um sich vor dem Anblick zu schützen. Auf der einen Seite schämte er sich für diese Schwäche, doch gleichzeitig begann etwas in ihm auf mehr zu hoffen. Er nickte wortkarg, hörte sofort ein erleichtertes Seufzen vor sich.

„Gut…“, seine Hände entließen Kais Finger. Obwohl Tyson eiskalt war, sehnte er sich die Berührung prompt zurück. Das fühlte sich nicht mehr nach kindlicher Schwärmerei an - eher nach inniger Anziehung. Ob es das war? So heftig hatte Kai es nicht in Erinnerung...

Inzwischen schaute Tyson nachdenklich durch die Küche. Er fuhr sich über das Kinn. Auf seiner Jacke glänzte noch der nasse Regenfilm. Während er über einen Weg aus ihrer Misere hinaus sinnierte, erhaschte Kai die dunklen Augenringe in dessen Gesicht. Mehr zu sich selbst, sprach Tyson: „Wir dürfen uns jetzt nicht trennen. Ray und Max sind für Dranzer unerreichbar. Sie wären wahrscheinlich auch uninteressant. Aber du und Jana steht ganz oben auf ihrer Liste.“

Er fuhr sich schnaufend über das müde Gesicht.

„Und jetzt verfolgt dich auch noch Dragoon… So eine Scheiße.“

„Was will er eigentlich von mir?“

Tyson erkannte erst seinen Fehler, als er die Frage von Kai vernahm.

Sein Blick schnellte zu ihm, bis er sich auf die Unterlippe biss.

„Naja, verfolgen ist zu viel gesagt…“

„Hör auf! Verschweig mir doch nicht immer die Hälfte!“, brach es aus Kai heraus. „Sag mir einfach die Wahrheit. Ich verkrafte es! Du musst das nicht mehr alleine durchziehen.“

Einen Moment kehrte wieder Stille zwischen ihnen ein. Kai war sehr gut im Deuten einer Stimmung und spürte, dass Tyson ihm nicht etwas aus Bosheit verschwieg, sondern aus aufrichtiger Sorge heraus. Wie so oft in den letzten Tagen. Er konnte sich noch immer nicht daran gewöhnen, wieder einen Erwachsenen vor sich zu haben, blieb für ihn stark. Irgendwann sprach er gequält: „Dragoon will dich wahrscheinlich als Lockmittel missbrauchen, um Dranzer aus ihrem Versteck zu holen. Deshalb sucht er jetzt nach dir.“

So war das also...

Kai überlegte, dann sprach er: „Du sagst dass er es wahrscheinlich versucht?“

„Ich habe meinen Standpunkt zu seiner Idee deutlich gemacht. Aber ob es ausreicht, weiß ich nicht. Ich glaube kaum das er auf mich hören wird.“

Tyson entfernte sich von ihm, trat noch einmal an das Fenster über der Spüle. Er war unruhig, erkundete ständig die Umgebung draußen. Sein Spiegelbild auf der Scheibe, schaute ihm finster entgegen.

„Dieses Arschloch wollte auch noch von mir wissen wo ihr seid. Als würde ich ihm noch irgendwas erzählen… Eher breche ich mir alle Knochen.“

Kais Blick huschte einen Moment zu seinen zitterten Fäusten.

Da stocke sein Atem, als der Groschen endlich fiel.

„Deshalb hast du dich mit ihm geprügelt?!“, kam es fassungslos.

„Ich habe es versucht aber dieser Drecksack hat nur darüber gelacht!“, er starrte verbittert auf seine Handflächen. „Ich habe so fest zugeschlagen wie ich konnte. Immer wieder! Aber alles was ich erreicht habe, war, dass ich mir beinahe die eigenen Knochen gebrochen habe - und mich die ganze Autofahrt über vor mir selbst geekelt habe!“

Er schüttelte den Kopf, kniff die Augen zusammen.

„Die ganze Zeit musste ich daran denken, wie mich die Passanten angestarrt haben. Da war ein Polizist, der mich fortgeschafft hat, weil er mich sogar festnehmen wollte! Ich habe alles wie in einem Tunnelblick gesehen, aber ich weiß noch, dass da ein kleiner Junge stand, der Angst vor mir hatte, weil ich auf Dragoon so brutal eingeschlagen habe!“

Tyson drehte sich zu ihm, schaute ihn traurig an.

„Er war in deinem Alter…“

Kai begriff sofort was damit gemeint war. Einmal mehr schloss er die Augen. Der Blick mit dem ihm Tyson anschaute war zu viel. Er konnte nicht aufhören, etwas Kindliches in ihm zu sehen. Irgendwann fuhr er fort: „Während der Heimfahrt ist mir klar geworden, dass ein normaler Mensch bei meinen Hieben, nicht nur mit einer Gehirnerschütterung davon gekommen wäre. Der wäre womöglich tot. Aber ich war so rasend vor Zorn!“

Kais Augen öffneten sich einen spaltweit. Er spähte unauffällig zu Tysons zitternden Fäusten. Die wunden Knöchel stachen besonders hervor. Dieser Dummkopf…

„Da steckt wirklich ein Monster in mir. Eines wie Dragoon.“

„Das ist nicht wahr.“, sprach Kai leise.

„Das sagst du jetzt! Du hättest mich dort erleben müssen! Glaub mir, du würdest mich mit anderen Augen sehen...“

„Du stellst zu hohe Erwartungen an dich!“, fuhr Kai ihm dazwischen. „Denk daran was Dragoon dir alles angetan hat! Allein die ganzen Strapazen der letzten Tage, sind mehr als ein Mensch ertragen kann!“

„Gerade deshalb muss ich mich vor diesem Monster in Acht nehmen! Ich habe am eigenen Leib erfahren, wozu er fähig ist. Wenn ich diesem Biest in mir die Oberhand bekommen lasse, könnte ich genauso ein mieser Tyrann werden, wie er!“

Einen Moment schaute Kai ihn erschüttert an, überlegte, wie er ihn von diesem Irrglauben abbringen konnte. Es tat weh ihn so zu erleben. Er wollte nicht das Tyson so schlecht von sich dachte. Der schaute inzwischen auf das blutbefleckte Handtuch und murmelte: „Aber das ist mein Problem. Nicht deines. Das muss ich alleine lösen…“

„Es ist unser Problem.“

Einen Moment spähte Tyson zu ihm, ein müdes Lächeln auf den Lippen.

„Das ist nett von dir, aber zunächst kümmern wir uns um deine Sicherheit. Jetzt gehst du erst einmal ein paar Stunden schlafen. Ich packe inzwischen die Sachen. Morgen in aller früh verschwinden wir gemeinsam so schnell es geht.“

Kai schaute ihn mitleidig an, wie er dort stand mit diesen tiefen Augenringen. Sichtlich am Ende, nicht in der Lage noch klar zu denken. In blinder Sorge seine Schwester und ihn aus der Schusslinie zu schaffen.

„Ich glaube nicht dass das nötig ist.“

„Ich gehe kein Risiko ein.“, kam es entschieden.

„Tyson, denk doch nach… Dranzer war bereits hier, als wir noch in der Irrlichterwelt feststeckten. Wie soll sie erfahren haben dass wir zurück sind?“

Kai sah wie er verwundert zurückzuckte. Nein, daran hatte sein übermüdeter Verstand nicht gedacht. Tyson holte hörbar Luft, massierte sich die Nasenwurzel, suchte dabei nach einem Kontra.

„Okay, das ist ein Argument. Aber sie könnte trotzdem hier vorbeischnallen.“

„Oder wir laufen ihr da draußen in die Arme.“

„Es war auch Dragoons erster Gedanke dass ihr im Dojo seid! Du warst früher oft hier.“

„Dann muss sie es in den nächsten zwei Stunden tun. Der einunddreißigste Oktober ist so gut wie überall auf der Welt vorbei. Bald sitzen unsere Bit Beast wie Fische auf dem Trockenen.“

„Das wissen wir nicht genau…“

„Doch! Erinnere dich daran, wie Allegro zurückgeblieben ist, obwohl er so gerne einmal einen Blick auf die Menschenwelt werfen wollte. Ernsthaft Tyson, dieser Mäuserich war lebensmüde! Er hat sich mehr als einmal mit Dragoon angelegt – und doch wusste er wo die Grenzen eines Bit Beasts sind. Er ist nicht mitgekommen, weil er ahnte, dass dieser eine kleine Blick auf die Menschenwelt, ihm das Leben kosten könnte!“

„Allegro ist eine Maus. Sie sind Uralte.“

„Deren Energiequelle auch in der Irrlichterwelt liegen! Sobald dieser Tag vorbei ist, können sie uns nichts mehr anhaben. Sonst hätten sie schon viel früher zugeschlagen. Denkst du sie haben umsonst auf diesen Tag gewartet?“

„Warum willst du nicht einfach gehen?!“, brach die vorwurfsvolle Frage aus Tyson hervor. „Ich will doch nur das Beste für euch!“

„Und ich für dich!“, rief Kai ebenso verzweifelt aus. Einen Moment schauten sich beide an, also überwand er die letzten Meter zwischen ihnen. Zögernd ergriff Kai das Gesicht vor ihm. Er vernahm ein Keuchen von Tyson.

„Sieh dich doch an.“, flüsterte er. „Du bist so erschöpft… Wozu dich noch einmal in Aufruhr versetzen, wenn du dich doch endlich hinlegen könntest?“

Er sah die dunklen Pupillen vor sich an seinem Gesicht entlanghuschen. Eine nasse Strähne klebte ihm noch an der Stirn. Es gab schon wieder zu viel Körperkontakt zwischen ihnen. Das wusste Kai genau und doch strich er langsam das nasse Haar zur Seite.

„Es wäre doch nur noch morgen…“, raunte Tyson.

„Das sagst du jetzt. Aber dann wäre es wahrscheinlich auch der nächste Morgen. Und dann wieder übermorgen! Tyson du musst die Irrlichterwelt hinter dir lassen. Es ist vorbei.“

Kais Hände fuhren langsam das kalte Gesicht vor ihm hinab. Er konnte den Hals vor sich schlucken sehen. Eigenartig was für eine Wirkung sie aufeinander hatten…

Diese Spannung zwischen ihnen, vernebelte Kai allmählich die Sinne.

„Dragoon kann uns nicht mehr gefährlich werden, sonst hätte er dich zuvor schon in Stücke zerlegt. Stattdessen hat er sich von dir verprügeln lassen. Genauso wenig wird Dranzer viel ausrichten können. Bald verschwinden beide nachhause – oder in ihre Blades. Ohne uns können sie dann nichts mehr hier bewegen. Zumindest für das nächste Jahr, aber darüber denken wir später nach. Jetzt musst du erst einmal keine Angst mehr haben. Aber vor allem solltest du dir nicht einreden, dass in dir so etwas wie ein Monster steckt.“

Überall traf Kai auf unterkühlte Haut. An Tysons Hals entlang, hinunter zur Brust, wo seine Handflächen auf dem nassen Oberteil verweilten. Sie waren sich so nah. Er konnte den aufgeregten Herzschlag unter seinen Finger fühlen. Seines schlug mittlerweile genauso so schnell. Eine Erinnerung kam in Kai hoch. Ganz plötzlich…

Er schloss die Augen für eine Sekunde, sah etwas vor sich. Für Tyson mochte er nicht einmal eine Minute weggetreten sein, doch Kai ließ die Szene in seinem Kopf lächeln.

„Mir fällt ein wie oft du das machst. Wenn du erst einmal anfängst an dir zu zweifeln, ist es wie ein tiefes Loch, aus dem du nicht mehr von alleine herauskommst. Dann mussten dir immer deine Freunde heraushelfen. Deine Leistung sinkt dann, weil du nicht mehr an dich glaubst. Du brauchst doch aber dein Selbstbewusstsein.“

„Tue ich das?“

„Ja. Und du hast auch gar keinen Grund heute so an dir zu zweifeln. Du müsstest überheblicher sein als jemals zuvor. Du hast wirklich alles richtig gemacht.“

Leider trat aber nur ein zynischer Ausdruck auf Tysons Lippen.

„Wenn ich alles richtig gemacht hätte, würden Dizzy und Judy noch leben.“

„Das war doch aber nie deine Schuld!“, versuchte Kai ihn zu erreichen. „Ich kann verstehen, wenn dir Kennys Worte hart aufgestoßen sind. Aber du kannst dir doch nicht vorwerfen, was du nicht voraussehen konntest! Du bist doch auch nur ein Mensch…“

Aus den Augenwinkeln fielen ihm Tysons Hände auf. Sie hoben sich allmählich, fast so, als wollten sie Kai berühren. Doch er zögerte.

„Ich habe trotzdem viel von Dragoon. Ich bin genauso ungestüm. Wenn ich etwas will muss es sofort passieren. Dann nehme ich keine Rücksicht.“

Seine Finger verharrten. Ohne sich auf seine Hüften zu legen. Mit einem Mal wurde Kai klar, wie sehr er sich das aber wünschte. Etwas sehnte sich nach einer Umarmung. Seine Haut prickelte förmlich in freudiger Erwartung, aber durch seine Angst seinem Bit Beast zu ähneln, kam Tyson jede seiner Handlungen, wie ein weiterer Beweis für seine Ähnlichkeit mit Dragoon vor. Dieser liebenswerte Dummkopf...

Dabei war er ohne seine übermäßige Portion Hochmut nicht mehr Tyson. Kai kam zu dem Schluss, dass er ihn mit Worten nicht umstimmen konnte. Er war noch nie ein guter Redner gewesen, konnte Menschen nur zurechtweisen. Tyson war es der mit seinem Enthusiasmus alle um sich herum begeistern konnte. Kai dagegen nur mit seinen Taten.

Also beugte er sich zu ihm vor…

Noch ehe sein Gegenüber verstand, wie ihm geschah, hauchte Kai einen Kuss auf dessen Lippen. Er spürte keinen Atemzug mehr aus Tysons Mund. Dazu war er wohl im ersten Moment zu verdutzt. Ein Kuss, zwei Küsse, der Nächste folgte…

Ein vorsichtiges Herantasten mit den Lippen. Und dann, nach anfänglichem Zaudern, ging es auf einmal umso schneller. Es war wie ein Sturm der aus Tyson hervorbrach. Da erwiderte er den Kuss geradezu heftig. Auch legten sich seine Finger nun endlich auf Kais Hüften, sie gruben sich förmlich in den Stoff seiner Kleidung. Es fühlte sich an, als würde Tyson ihn mit den bloßen Händen in Brand stecken. Der Griff um seine Taille kam ihm so fest vor. Kai dachte gar nicht mehr daran, wie sehr er zuvor gezweifelt hatte - das er eigentlich nicht auf Tysons Werben eingehen wollte.

Dafür fühlte sich dieser Moment zu gut an…

Die Berührung, diese Nähe, die Lippen seines Gegenübers, mochten sie auch noch so kalt sein. Selbst die Zunge die irgendwann zärtlich um Einlass bat. Noch nie hatte Kai einen Kuss so intensiv erlebt wie diesen hier. Alles in ihm flehte um mehr. Sein Körper fühlte sich an, als würde er brennen. Nur aus einem Nebelschleier nahm er noch wahr, wie sein Rücken auf Widerstand traf, weil Tyson so gierig wurde, dass er ihn gegen die nächste Wand drängte. Dabei holperte es neben ihnen, weil sie in ihrer blinden Lust auf nichts mehr achteten, nicht einmal auf die Tischplatte im Zentrum der Küche.

Der Kuss schien unendlich lange anzuhalten. Eine kleine Ewigkeit gab es nur sie beide.

Nur schwer fanden sie die Muße sich voneinander zu lösen, stattdessen pressten sie ihre Körper nur enger aneinander. Inmitten der Stille vernahm man nur ihre schweren Atemzüge. Kai fühlte Hände die sehnsüchtig an ihm entlangfuhren. Sie tasteten sich hinab zu seinem Hintern. Er selbst legte die Arme um den Nacken vor sich, zog Tyson dichter heran, ungeachtet dessen, dass er noch nass vom Regen war. Irgendwann spürte Kai aber, dass er dem ganzen Einhalt gebieten sollte. Er war bald mehr als erregt. Sie beide…

Ein Keuchen entrang sich seinem Mund, als er endlich die Kraft fand sich zu befreien. Kai lehnte seine Stirn gegen Tysons Schulter, hörte ihn genauso schwer atmen. Der lehnte sich auf ihn, hielt ihn zwischen Wand und Körper eingezwängt. Er war wieder mutiger geworden. Seine Finger gingen auf Wanderschaft, tasteten sich seine Taille hinauf, um ihn in eine innige Umarmung zu schließen. Ob es Absicht war wusste Kai nicht genau, doch für eine Sekunde streiften kühle Hände seine Haut, da Tyson bei dieser Bewegung sein Oberteil etwas anhob. Irgendwie erregte es ihn nur noch mehr - die Vorstellung von Haut an Haut.

„Wofür war das?“, hörte Kai das Raunen dicht an seinem Ohr. Er lächelte in sich hinein. Seine Finger tasteten sich langsam an Tysons Körper entlang, um sich weiter in die Umarmung zu schmiegen. Er schloss die Augen, horchte auf den Herzschlag in dessen Brustkorb. Wofür? Einen Moment fragte sich Kai das auch. Es war verrückt. Er tat alles, nur nicht das, was er sich zuvor im Kopf zurecht gelegt hatte. So konnte sich Tyson ja nur Hoffnung machen. Irgendwann kam er aber selbst auf die Lösung…

„Als ich bei Dranzer war – in diesem seltsamen Haus – da hat sie etwas gesagt, womit sie sogar ausnahmsweise Recht hatte.“, er fühlte wie ihm Tyson sanft durch die Haarsträhnen im Nacken kraulte. Es tat so gut. Kurz schauderte Kai bevor er fortfuhr. „Sie meinte, ich hätte die Angewohnheit, den falschen Menschen zu vertrauen. Ich würde aber noch weitergehen und behaupten, dass ich früher auch die falschen Menschen geliebt habe.“

Kai erinnerte sich wieder an etwas. Er schloss die Augen, flüsterte gegen die Brust vor sich.

„Kurz bevor mein Großvater starb, da hatten wir uns einigermaßen ausgesöhnt. Wie er da in seinem Bett lag, kränkelnd und altersgezeichnet, sprach er davon, dass er nicht fassen könne, wie ich all die Jahre bei ihm bleiben konnte. Er hatte erwartet dass ich gehe, sobald ich volljährig bin. Genauso wie der Rest meiner Familie.“

„Du bist nie gegangen…“

„Nein. Ich konnte einfach nicht.“, ein trauriger Blick trat in Kais Augen. „Er war ein Ekel. Aber nun einmal auch mein Großvater. Das Einzige was ich an Familie kannte. Ich hätte ihn nicht alleine lassen können. Niemals.“

Tyson umschloss ihn fester. Gerade er hatte ihn immer gedrängt seinen Großvater zurückzulassen. Mehr als einmal bot er Kai an, bei ihm einzuziehen. Das wusste er nun auch wieder. Inzwischen nestelte er mit seinem Zeigefinger ein wenig an dem Kragen von Tysons durchnässtem Oberteil, um an die freigelegte Haut darunter heranzukommen. Er küsste die Stelle. Ein erregter Schauder jagte durch den Körper vor ihm, dass konnte er deutlich spüren.

„Ich weiß nicht ob in dir ein Monster steckt.“, raunte Kai gegen die feuchte Haut. „Aber wenn ich einem Mistkerl wie meinem Großvater gegenüber Loyalität empfinden konnte, wird es ein Leichtes sein dein inneres Monster zu lieben. Auch wenn die ganze Welt mir sagen sollte, ich solle es nicht tun. Mit oder ohne Bestie – ich liebe dich, Tyson. Und ausnahmsweise weiß ich ganz genau, dass du ein Mensch bist, der es auch wirklich wert ist. Ich vertraue dir einfach.“

Er hörte ein Ausatmen. Ein Blick hinauf und Kai sah die Freude in Tysons Augen. Der zuvor müde, erschöpfte, zweifelnde Ausdruck verflog, als hätte er ihm mit diesen Worten neue Kraft geschenkt. Stattdessen kehrte tiefe Zuneigung darin ein - der alte Übermut. Tyson umfasste sein Gesicht, küsste ihn innig, bis Kai dessen Hand ergriff und ihn langsam hinaus Richtung Dojo führte.

„Dann gehen wir wohl wirklich nicht?“, wollte Tyson wissen.

„Nein. Ich halte für dich Wache.“, lockte Kai ihn aus dem Raum. „Aber zuerst wärmen wir dich auf. Du bist so furchtbar kalt.“

Er sah das Grinsen auf Tysons Gesicht. Beide hatten dieselbe Vorstellung davon, was darunter zu verstehen war. Und es schien Kai die beste Möglichkeit, ihn davon abzuhalten, sich noch weiter zu verausgaben. Immerhin schlief man hinterher bekanntlich wie ein Stein.
 


 

*
 

Max war schon fast zwei Stunden in der Luft. Er versuchte eine angenehme Liegeposition in seinem Sitz zu finden, doch so richtig gelingen wollte es nicht. Fliegen war noch nie sein Fall, obwohl er nicht genau wusste weshalb. Natürlich ließ es sich oftmals nicht vermeiden – ein Flugzeug war nun einmal das modernste und schnellste Fortbewegungsmittel – doch als die Bladebreakers gegründet wurden, war er heilfroh gewesen, als sie von den USA aus Richtung Russland mit dem Schiff fuhren. Es ging langsamer, war jedoch so viel komfortabler, weil man sich die Beine während der Fahrt vertreten konnte. Das Ticket was er noch ergattern konnte war auch noch von einem der Billigplätze. Er konnte die Füße kaum ausstrecken. Der Vordermann war beleibter und hatte die Lehne schön zurückgesetzt. Auf einem Schiff konnte sowas nicht passieren. Zumindest war der Platz neben ihm leer. So konnte er die Lehne dort hinunterklappen und sich wie auf einer Couch ausbreiten. Die Stewardess maulte zwar kurz herum, doch er ließ seinen Charme spielen, sprach davon wie Leid es ihm täte, dass so ein großer Kerl wie er, einer so hinreißenden jungen Dame solche Umstände bereitete - da zerfloss sie auch schon zu Wachs.

Ein letztes Augenzwinkern genügte und sie lief strahlend davon, nicht ohne ihm zuvor noch ein Kissen zu bringen, damit er es in seiner schrecklich engen Ecke, auch wirklich bequem hatte. Es ließ Max grinsen. Blond und blauäugig war nach wie vor heiß begehrt, auch bei den Frauen. Es dauerte nicht lange und die Müdigkeit holte ihn ein. Also rückte Max das Kissen zurecht, zweckentfremdete seine Jacke zur Decke und schlummerte auch bald in seiner Ecke ein. Allerdings waren seine Träume sehr verstörend…

Einmal sah er das Hiwatari Anwesen vor sich – zumindest die Illusion davon.

Dieses surreale Gebilde, in dessen Eingangshalle ein Lavasee köchelte. Aus dessen Tiefen entstiegen die Gesichtslosen, einer davon war die Imitation von Lew. Inmitten seines Brustkorbs ragte noch immer der lange Holzscheit heraus, der ihn aufgespießt hatte, bis sein Kopf in sich zusammen fiel.

Dann war da noch Wyborg vorgekommen. Das Bit Beast jagte Max einmal mehr durch den Hafen. Es sang ein Lied, was davon handelte, dass es ein Happen von seiner Seele naschen wollte, während riesige Schiffscontainer vom Himmel stürzten.

Erst als das Bild von Draciel in seinem Traum vorkam, riss es Max aus dem Schlaf.

Er sah sein Bit Beast nicht in dessen wahrer Gestalt, sondern eingezwängt in diesem verwesenden Menschenkörper, nur war das Gesicht seiner Mutter das es geklaut hatte, nun auch am verrotten. Als Max erwachte, spürte er kalten Schweiß in seinem Nacken und schon bald packte ihn wieder die Wut auf sein Bit Beast. Es hatte das Andenken seiner Mutter zerstört. Max könnte sich nie mehr an sie zurückerinnern, ohne ihr Gesicht, auf dieser faulenden Leiche zu sehen.
 

„Ich will nicht dass du an den Tod denkst.“
 

Diese Worte…

Etwas Ähnliches hatte seine Mutter auch gesagt. Selbst den Klang ihrer Stimme konnte er wieder hören. Es war als könne Max sogar ihre Anwesenheit spüren. Da befiel ihn auch schon eine innere Ruhe. Sie hatte damals wie ein gutmütiger Engel ausgeschaut, eingetaucht in ein warmes, gleißendes Licht. So wollte Max sie in Erinnerung behalten. Mit diesem Gedanken döste er auch bald noch einmal weg. Und dieses Mal war der Traum wundervoll…
 

Er träumte von seinen Freunden. Von ihrer gemeinsamen Zeit bei den Bladebreakers. Da lag der Fluss wieder vor ihm, an dessen Ausläufern er Kenny und Tyson zum ersten Mal begegnet war. Da dessen Gewässer irgendwann in der Bucht ins Meer mündeten, brachte der Wind manchmal den Geruch von Salzwasser mit sich. An jenem Tag war das auch so gewesen. Max war den Kanal entlang spaziert, weil er sich dadurch erhoffte, ans Meer zu gelangen. Da drangen die panischen Rufe unten am Ufer an ihn heran. Er sah wieder Kenny und Tyson vor sich, wie sie versuchten, für ein kleines Mädchen ihren Hund aus den Fluten zu fischen. Jene beiden Menschen die einen festen Platz in seinem Leben einnehmen sollten. Sie hatten schließlich gemeinsam den Welpen gerettet und auch schnell einen Draht zueinander gehabt. Es war erstaunlich wie schnell man manche Menschen leiden konnte.

Die Chemie hatte wohl einfach gestimmt.

Max war neu in der Stadt gewesen, musste sich erst daran gewöhnen, wie anders die japanische Kultur war. Doch irgendwie hatte das Schicksal sie an diesem Fluss zusammengeführt. In seinen Träumen sah Max nun auch, was damals nachgeholfen hatte. Er lächelte im Schlaf, obwohl der Sitz manchmal ziemlich heftig rüttelte.
 

„Die roten Fäden – es gibt sie wirklich.“
 

Und er sah sie tatsächlich vor sich. Zwei schillernd rote Linien…

Einer führte zu Kenny, ein weiterer zu Tyson. Das hatte ihn also dorthin verschlagen, dabei dachte Max an diesem Tag nur, dass ihm ein Spaziergang ganz gut täte. Da wollte wohl aber eine höhere Macht, dass er genau an jenem Nachmittag, seinen besten Freunden in der Fremde begegnete.
 

„Denk daran wie schön die Zeit mit ihnen war.“
 

Maxs Brauen zuckten im Schlaf. Sein Platz war so unbequem. Dennoch wachte er nicht auf, stattdessen durchströmte ihn das Glücksgefühl von damals. Da die Schule noch nicht begonnen hatte, war er die ersten Wochen in seinem neuen Heim ziemlich einsam gewesen. Die anderen Kinder aus der Nachbarschaft hatten ihn ziemlich misstrauisch beäugt, denn es war nicht zu übersehen, dass seine Familie aus dem Ausland stammte - was ihn doch ziemlich einschüchterte.

Da kam ihm Tyson mit seinem Blade wirklich gelegen.

Er war so froh gewesen, endlich auf einen Gleichgesinnten zu treffen und dank seinen Freunden, fand er ziemlich schnell den Anschluss in Japan. Sie halfen ihm beim Einstieg, denn es war gar nicht so leicht, sich zurechtzufinden, wenn man nicht wusste, was in Japan als unhöflich galt. Wann immer er drohte in ein Fettnäpfchen zu treten, flüsterte ihm Kenny zu, worauf er achten sollte und wenn er sich doch einmal daneben benahm, stieg Tyson gleich auf den Zug mit auf, damit sie gemeinsam dumm dastanden. Er hatte danach immer breit gegrinst, sich die Nase gerieben und köstlich über die verwunderten Gesichter amüsiert. Doch Max war ziemlich sicher, dass Tyson das nur tat, damit er sich nicht schlecht fühlte. Er musste lächeln bei dem Gedanken.
 

„Du hattest einen liebevollen Vater.“
 

Ja. Das hatte er…

Max durfte sich wirklich glücklich schätzen. Ein weiterer Faden führte ihn zur nächsten Station, in das Haus seiner Eltern. Sein Dad war damals ziemlich gestresst gewesen, weil er durch den Umzug noch so viel erledigen musste. Er war zwar handwerklich geschickt, trotzdem dauerte es Wochen, bis er den Laden so gestaltet hatte, wie er es sich vorstellte. Es musste gebohrt, geschraubt, gehämmert und gestrichen werden. Dennoch, als Max freudestrahlend nachhause kam und ihm in seinem jugendlichen Übermut, einen sprudelten Vortrag über seine neuen coolen Freunde hielt, hatte er den Bohrer zur Seite gelegt und seinem Sohn lächelnd bei einer Tasse Tee zugehört. Erst Jahre später, als Max wieder in die USA musste, wurde ihm klar, wie anstrengend diese Zeit für seinen Vater gewesen sein musste – denn er selbst war damals noch zu jung, um ihm eine richtige Hilfe zu sein. Doch sein Vater beklagte sich nie.

Er hatte sich ehrlich für ihn gefreut, seinem Sohn geduldig gelauscht.

Und dank Tyson und Kenny war es auch nie mehr langweilig geworden…

In seinem Traum folgte Max zwei weiteren Fäden. Sie führten zu einer überfüllten kleinen Halle, in der die regionalen Beyblade Meisterschaften stattfanden. Er war so unglaublich nervös gewesen, doch seine Freunde und sein Vater sprachen ihm Mut zu.

Und da sah Max auch schon, wohin die nächsten Fäden führten.

Zu Ray und Kai…

Ersterer war am Anfang eigentlich ziemlich eingebildet gewesen. Ray dachte damals die anderen Turnierteilnehmer seien keine Herausforderung für ihn, beschwerte sich sogar bei Mr. Dickinson darüber, dass dieser Wettkampf doch nur Zeitverschwendung sei. Doch sobald Tyson ihn von seinem hohen Ross stieß, zeigte er seine sympathische Seite. Er hatte sich ehrlich über dessen Sieg gefreut, ein breites Grinsen aufgesetzt und gemeint, dass er wirklich gerne ein Teil der Bladebreakers wäre und sich auf die Zusammenarbeit mit ihnen freuen würde. Diese Niederlage war endlich ein Ansporn gewesen, um an seinen Künsten zu feilen. Max erinnerte sich wieder, wie Ray ihm zum ersten Mal die Hand reichte.

„Zum Glück bin ich geblieben! Ich dachte wirklich hier wären nur Amateure am Werk, aber dein Match vorhin gegen Kai war nicht von schlechten Eltern.“

Und dabei hatte Max gegen ihn verloren. Dennoch lobte ihn Ray für seine Ausdauer.

„Man hat deinen Kampfgeist gesehen. Sowas brauchen wir in unserem Team. Wir haben echt das Zeug um Weltmeister zu werden!“

Kai war dagegen ein Buch mit sieben Siegeln für ihn gewesen. Lange Zeit dachte Max auch, er habe womöglich ein Problem mit Amerikanern, denn mit ihm sprach er am seltensten. Erst in ihrem zweiten Jahr legte sich das und auch nur mit viel Überwindung. Ray hatte ihn dazu gedrängt, Kai zu fragen, ob er ihn tatsächlich wegen seiner Herkunft nicht ausstehen könne. Russen und Amerikaner – der ewig kalte Krieg.

Doch Ray war überzeugt davon, dass es sich nur um ein Missverständnis handle. Max war eigentlich zu schüchtern für diesen Schritt gewesen, denn Kai konnte so furchtbar mürrisch wirken, aber es entpuppte sich als die richtige Entscheidung, seine Unsicherheit zu gestehen. Denn auf seine Frage, hatte Kai ihn aus großen Augen angeblinzelt, völlig überrumpelt ob seiner Worte.

„Wie kommst du darauf?“

„Weil ich das Gefühl habe, dass du mich am wenigstens ausstehen kannst.“

Max wusste noch, wie betroffen Kai auf seine Worte schaute. Es war ein leiser Einblick dessen, was sich hinter seiner kühlen Fassade verbarg. Ihm war damals zum ersten Mal aufgefallen, dass Kai sich seines Verhaltens nicht immer bewusst war – auch eigentlich nicht aus Boshaftigkeit so handelte. Er war nun einmal anders. Aber anders war nicht immer schlecht…

„Mir war nicht klar, dass du das so auffassen könntest. Das war nicht meine Absicht.“

Max hatte bis über beide Ohren gestrahlt, dass es selbst seinem Gegenüber ein leichtes Schmunzeln entlockte. Und Jahre später stellte sich heraus, dass Kai ein mächtiger Verbündeter war. Max hatte es seinen Freunden nie erzählt, doch als die Bladerbranche auf Talfahrt ging, hätte das seine Familie beinahe ruiniert.

Seine Mutter forschte und entwickelte Blades. Sein Vater verkaufte sie…

Durch die Finanzkrise und den Einbruch dieser Branche, fielen also zwei Einkommen in ihrer Familie weg, denn auch wenn sein Vater selbstständig war, konnte er ohne Kundschaft nicht überleben. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, wurde seine Mutter auch noch depressiv nach ihrer Kündigung. Sie mussten zurück in die USA um ihr beizustehen und das obwohl Umzüge nicht gerade billig waren, erst recht wenn man mit einem ganzen Haushalt nach Übersee auswanderte.

Es war wirklich eine harte Zeit gewesen. Außerdem war es seinem Vater peinlich, dass er mit seinem Laden gescheitert war, also verheimlichte er es Max eine ganze Weile. Es dauerte bis ihm der Ernst der Lage bewusst wurde. Als sein Vater dann endlich alle Karten offen legte, entschuldigte er sich bei ihm, weil er ihn aus seinem schönen Zuhause reißen musste. Er war so enttäuscht von sich selbst - kam sich wie ein Versager vor - dass ihn Max mit aufkommenden Tränen umarmte und versicherte, dass er nichts falsch gemacht habe.

„Wir hatten einfach Pech, Dad. Irgendwie kriegen wir das schon hin. Wir halten einfach zusammen. So wie wir es immer getan haben…“

Als er seinen Freunden von ihrer misslichen Situation erzählte, versuchte Max sich seine Beunruhigung nicht anmerken zu lassen. Er wollte einfach positiv bleiben und den anderen vor allem keine Sorge bereiten. Doch Kai konnte er nichts vormachen.

Der zählte Eins und Eins zusammen…

Max wusste noch, wie er irgendwann bei ihm abends klingelte. Es war ein furchtbarer Tag gewesen, denn sie waren zuvor bei der Bank, um für den Umzug einen Kredit aufzunehmen. Doch sie hatten keine Chance.

„Zu wenig Sicherheiten.“, war die niederschmetternde Antwort gewesen.

Dabei mussten sie noch eine neue Wohnung in den USA suchen. Die seiner Mutter war zu klein und auch zu teuer. Sie würden aus der Stadt ziehen müssen. Doch irgendwie besaß Kai ein Gespür dafür, wenn jemand aus eigener Kraft nicht mehr weiterkam. Während ihnen sein Vater in der Küche einen Tee machte, erklärte er ihnen, dass sein Großvater vor seinem Tod, Immobilien in den USA gekauft habe. Eine dieser Wohnungen wollte Kai ihnen anbieten.

„Ich weiß nicht in welchem Zustand sie ist und auch nicht ob sie euch gefällt. Doch bevor ich sie einem Wildfremden überlasse, der sie womöglich verkommen lässt, vermiete ich sie an euch. Dann weiß ich wenigstens das sie in guten Händen ist und muss mich nicht weiter darum kümmern.“, er sagte es so geschäftlich, man hätte meinen können, es ginge ihm tatsächlich nur darum. Doch Max hatte nur in sich hinein gelächelt, erst recht als er hörte, dass Kai eine Spedition kenne, die ihnen auch noch mit dem Umzug behilflich sein könne.

„Die sind mir etwas schuldig.“

Es war so typisch für Kai. Und als er sich verabschiedete, geleitete ihn Max noch bis zum Wagen und bedankte sich bei ihm für seine Hilfe.

„Ich habe euch nicht geholfen.“, betonte er genervt. „Es geht mir nur ums Geschäft.“

Beinahe wäre Max gewillt gewesen ihm zu glauben, bis er bei seiner Ankunft in den USA die neue Wohnung begutachtete und sein Vater fassungslos meinte, dass Kai viel zu wenig dafür verlange. Er hatte so tolle Freunde - jeder auf seine Art.
 

„Vergiss das niemals, Maxi.“
 

Seine Brauen zuckten im Schlaf. Das war wirklich sonderbar. Ihm kam es vor, als könne er seine Mutter dicht neben sich hören. Max öffnete die Augen und tatsächlich. Da saß sie an der Lehne zu seinen Füßen. Ihre Haare wirbelten um ihr Gesicht herum, als befänden sie sich im Wasser. Er blinzelte verwirrt. Einmal, zweimal…

Bis er den Kopf schüttelte um das verschwommene Trugbild zu verscheuchen. Doch es wurde nicht besser. Alles um ihn herum wirkte so trüb, als wäre seine Umgebung in einen Nebelschleier gehüllt. Ob er noch träumte?

„Ich bin wirklich hier...“

„Aber wieso?“

Sein Körper kam ihm irgendwie leichter vor.

„Gut. Du hast es nicht bemerkt.“

„Was denn?“

„Es ging schnell. Ich bin froh das du geschlafen hast.“

„Was meinst du?“

Sie schüttelte bedauernd den Kopf.

„Ach Schatz… Das tut mir so leid. Ich wollte dich zwar wiedersehen – aber nicht so bald.“

„Mum, du sprichst in Rätseln. Ich begreife nicht was du meinst?“

„Das ist normal. Vor allem wenn es so plötzlich passiert wie hier.“

Max sah etwas im Hintergrund. Es wirkte wie ein schwebender schwarzer Schatten, der durch den Gang trieb. Ihm fiel auf, dass es mit jeder Minute dunkler wurde. Er kniff seine Augen zusammen, um mehr Konturen zu erkennen. Es sah aus wie eine Handtasche. Sie flog einfach so im Gang umher. Max starrte wie gebannt auf den merkwürdigen Anblick. Ihm stockte der Atem. Dann schluckte er hart. Sein Blick wanderte nach vorne, zu den anderen Sitzreihen. Jetzt da er aufrecht saß, sah er es…

Köpfe, Arme, Beine. Menschen die wie leblose Puppen in der Luft schwebten.

Und eine riesige Wunde die im Bauch des Fliegers klaffte. Es schien den rechten Tragflügel zerfetzt zu haben.

„Ihr seid in eine starke Turbulenz geraten.“, hörte er seine Mutter erklären.

Doch Max starrte weiterhin nach vorne. Alle Insassen des Fliegers trieben in Wasser umher, nicht mehr als reglose Hüllen. Sein beleibter Vorderdamm erhob sich nun auch langsam aus seinem Sitz, völlig schwerelos. Dunkles Blut zog sich wie eine feine Rauchsäule aus seiner Kopfwunde hervor.

„Der Pilot hat den Flieger nicht mehr unter Kontrolle bekommen, weil einige Geräte ausgefallen sind. Er konnte nicht ahnen, dass durch die Turbulenz ein Leck im Flieger entstanden ist. Es war nur ein winzig kleines Stück was abgebrochen ist – und doch war es fatal für euch.“

Maxs Vordermann drehte sich geisterhaft im Wasser, die Augen bis in den Hinterkopf verdreht, der Mund geöffnet. Zwischen seinen Lippen entstiegen die letzten Luftbläschen.

„Der Luftdruck ist gefallen. Deshalb bist du nicht mehr aufgewacht.“

Max versuchte aus dem kleinen Fenster zu seiner Seite zu spähen. Er sah Wasser. Kleine Algen die darin schwammen. Sie befanden sich noch immer im Sinkflug, oder mit anderen Worten – sie gingen unter. Es riss das Wrack hinab in die Tiefe. Sie mussten im Pazifischen Ozean gelandet sein. Als er begriff, dass sie direkt auf diese Finsternis da unten zusteuerten, kroch die Panik in ihm hoch.

Nicht hier! Er wollte nicht hier unten enden.

„Daran darfst du nicht denken, Liebling.“

„Ich will hier raus! Ich muss an die Oberfläche schwimmen!“

„Schatz, das ist nur dein Körper.“

„Mum, ich muss kämpfen! Ich muss wenigstens versuchen hier herauszukommen!“

Ein lautes Dröhnen drang an Maxs Ohr. Die linke Tragfläche des Fliegers löste sich. Durch das kleine Fenster, sah er den massigen Metallkörper langsam an ihnen vorbeitreiben.

Geschockt starrte er auf den beängstigenden Anblick. Dann schnellte sein Kopf zu seiner Mutter, erhaschte den mitleidigen Ausdruck in ihren Augen.

Ihre Lider senkten sich. Sie schüttelte langsam den Kopf.

„Schatz, glaubst du wirklich ich wäre hier, wenn es für dich noch einen Ausweg gäbe?“

Max blinzelte sie verständnislos an. Auf einmal fragte er sich, wie er mit ihr sprechen konnte, wo sie unter Wasser waren. Er redete sich ein einer Halluzination zu erliegen. Sicherlich war seine Mutter gar nicht hier. Doch allmählich kroch die grausame Erkenntnis in ihm hoch. Max schaute auf die Leiche seines Vordermanns – und fragte sich was direkt hinter ihm war.

„Willst du das wirklich sehen?“, erriet seine Mutter seinen Gedanken.

Er schluckte. Wollte er wirklich?

Seine Augen huschten noch einmal hinaus. Mittlerweile war alles um sie herum schwarz.

Die einzige Lichtquelle die existierte, war die Gestalt seiner Mutter. Die vorderen Ränge des Fliegers waren gar nicht mehr zu erkennen.

„Ich bin schon tot, nicht wahr?“

Sie blieb still. Ein gequälter Ausdruck trat auf ihr Gesicht. Als sie antwortete, konnte er das Beben in ihrer Stimme hören.

„Es tut mir so leid.“

„Bin ich durch den Aufprall gestorben?“

„Nein. Bereits die erste Turbulenz hat dich umgebracht.“, es war ein leises Flüstern. Sie liebte ihn, wollte ihren Sohn bei sich haben. Doch wie jede Mutter hatte sie ihm ein langes Leben gewünscht. „Du hast geschlafen und warst nicht angeschnallt. Als der erste Ruck kam, war es schon vorbei. Es war ein schneller…“

Sie ließ den Satz unvollendet, brachte nicht die Kraft auf es auszusprechen. Stattdessen wandte sie das Gesicht einen Moment von ihm ab. Ein kleines Geräusch kam von ihr. Es klang nach einem unterdrückten Schluchzer.

Doch Max fragte insgeheim nach dem Wie.

Hatte ihm der Ruck eine Kopfwunde verpasst – so wie seinem Vordermann.

Einen sauberen Genickbruch? Ein gespaltener Schädel?

Das alles klang so unwirklich. Max schaute auf seine Hände, die sich in die Lehne verkrallten. Seine Finger leuchteten, genau wie bei seiner Mutter. Doch daneben trieb auch noch ein anderes Paar Hände im Wasser. Die seines menschlichen Körpers. Er fragte sich wie seine Leiche aussehen mochte. Der Platz war wohl einfach zu eng gewesen, der Abstand zur Decke zu gering. Er schluckte hart.

„Lass uns gehen, Maxi.“

„Aber, ich…“, er stockte, konnte es noch immer nicht fassen. Etwas wollte noch nicht begreifen, dass es das für ihn gewesen war. Er schaute wieder auf seine Finger herab. Noch leuchteten sie grau. „Ich hatte so viel vor.“

„Ich weiß.“

„Und meine Freunde? Sie werden traurig sein.“, er starrte geradeaus. Ihm kam so viel in den Sinn. Alles was er tun, sagen, erleben wollte. Alles was er verpassen würde. „Wir wollten doch Neujahr zusammen feiern. Am Time Square in den USA. Ich werde Rays Tochter nicht sehen. Unser nächstes Treffen sollte besser werden. Ich hatte es Tyson versprochen! Ich werde so viel verpassen…“

„Das ist wahr. Aber Maxi, wie viele schöne Momente hattet ihr zuvor?“, sie griff über die Lehne hinweg, nach seiner Hand. Ein aufmunterndes Lächeln auf den Lippen. „Halt nicht an dem fest was du tun wolltest. Besinne dich auf das was du hattest. Und das war doch so viel wert, mein Schatz.“

Max dachte an seine Erinnerungen von zuvor.

„Irgendwann kommt der Schlussstrich. Für uns alle. Kein Leben wird für immer gelebt. Und jeder Mensch verpasst durch seinen Tod was nach ihm kommt. So ist das eben…“

Er schloss seufzend die Augen, fuhr sich über den Mund. Noch war er ein grauer Geist. Max wusste weshalb und doch konnte er nicht aufhören, seiner Trauer nachzuhängen.

„Dad… Er ist jetzt ganz alleine.“

„Nicht mehr lange, Schatz.“, ihre andere Hand legte sich auf seine, drückte seine Finger ganz fest. Sie strahlte. Weil seine Mutter losgelassen hatte. „Glaub mir, nicht mehr lange. Du wirst sie irgendwann alle wiedersehen. Früher oder später…“

Es klang wissend. Doch Max war zu geschockt um darüber nachzudenken. Stattdessen schweifte sein Blick über die wenigen Leichen, die er im Glanz seiner Mutter noch ausmachen konnte. Die Stewardess trieb an ihm vorbei.

„Warum sehe ich sie nicht?“

„Sie müssen ihren Fäden ins Jenseits folgen. Du deinem.“

„Bist du deshalb hier?“

„Wenn man stirbt, sollte das letzte Gesicht das man sieht, einem geliebten Menschen gehören. Jeder sollte jemanden haben, der auf der anderen Seite auf ihn wartet.“, die Augen seiner Mutter schauten gedankenverloren aus dem Fenster. „Aber das wirst auch du bald verstehen…“
 


 

ENDE KAPITEL 45
 

Der Morgen danach kam. Der war für Tyson eigentlich immer heikel gewesen. Er hatte sich dann stets gefragt, wie er seine Verflossene aus dem Haus bekam, ohne dass sie ihm verärgert einen Ziegelstein durch das Küchenfenster warf. Es war eine Kunst für sich, vor allem wenn man den Damen in der Nacht zuvor, noch das Blaue vom Himmel hinunterlog. Meistens wollten sie am Morgen danach weiterhin wie eine Königin umschmeichelt werden, immerhin lobte man sie doch zuvor noch in den höchsten Tönen – auch wenn man es gar nicht so meinte.

Doch an diesem Tag erwachte Tyson mit einem ungeahnten Glücksgefühl, einfach weil er Kai noch neben sich spüren konnte. Seine Haut war warm. Er roch gut. Vor allem sein Haar. Tyson hatte mit einem Grinsen sein Gesicht darin vergraben, inhalierte den Duft förmlich ein, während ein müdes Seufzen von Kai kam.

Irgendwann mit den ersten Sonnenstrahlen, war er zu ihm unter die Decke gekrochen, in der Gewissheit dass das Schlimmste nun überstanden war. Obwohl Tyson des Nachts bemerkte, dass er ziemlich lange wach blieb, um für ihn die Umgebung im Auge zu behalten. Als er einmal aufwachte, weil ein kalter Luftstrom durch den Raum zog, saß Kai noch neben der Schiebetür. Der Mond schien durch den kleinen Spalt – direkt auf dessen Gestalt.

Dieser Anblick kam ihm vertraut vor. Während ihrer zweiten Weltmeisterschaft, als seine Freunde einen ganzen Sommer lang bei ihm verbrachten, war ihm mehrmals aufgefallen, wie Kai sich des nachts neben die Tür setzte und zum Mond hinaufschaute, im Glauben seine Kameraden würden schlafen. Manchmal hatte Tyson sich dann dazugesetzt, auch wenn sie kaum miteinander sprachen. Ray und Max erfuhren nie etwas davon. Er wollte das auch nicht mit ihnen teilen. Es war einfach ihr Ding. Eine der wenigen Sachen die sie damals verband. In dieser Nacht war aber etwas anders an der Szene.

Kai saß entblößt vor der Tür, noch vollkommen nackt von dem vorangegangen Liebesspiel. Das silbrige Mondlicht was ihn beschien, ließ ihn so vollkommen wirken. Es brach sich förmlich in dessen Augen. Seine Haut wirkte schneeweiß. Manch anderen Menschen hätte so eine Blässe kränklich wirken lassen. Aber nicht Kai.

Es verlieh ihm eher etwas Edles. Erhabenheit…

Er war einfach attraktiv. Und irgendwann bemerkte Kai, dass er von Tysons Ecke aus beobachtet wurde. Da erhob er sich langsam, kniete neben seinen Futon nieder und strich mit der Hand über seinen Rücken.

„Schlaf weiter. Ruh dich aus…“, bat er leise. Seine Stimme glich einem zärtlichen Flüstern. Darauf folgte ein Kuss der Tysons Wange nur hauchzart berührte. „Du hast es dir verdient, Kinomiya.“

Es ließ ihn ein weiteres Mal lächeln. In der richtigen Tonlage, konnte sein Nachname, sogar aus dem Mund seines früheren Rivalen, wie eine wahrhaftige Liebeserklärung klingen. Kai gab in jener Nacht viele solch schöner Laute von sich. Für Tyson waren sie wie Musik in seinen Ohren. Das beste Schlaflied der Welt…

Noch etwas müde, rieb der sich inzwischen über die Augen, blinzelte umher. Es war noch nicht richtig hell draußen. Die wenigen Strahlen welche durch die Fenster fielen, verrieten, dass die Sonne erst aufstieg. Doch es war ohnehin der weniger sehenswertere Anblick an diesem Morgen. Die schlafende Gestalt zu seiner Seite war viel eindrucksvoller. Tyson schaute auf Kai herab, der noch unter seinem Arm lag. Wenn er schlief, sah er so friedlich aus. Fast schon etwas unschuldig…

Ein verschmitztes Grinsen huschte über seinen Lippen bei dem Gedanken. Seit letzter Nacht wusste er, dass das nicht der Fall war. Bereits als sie gemeinsam auf die Decke hinab sanken, raunte Kai ihm zwischen sinnlichen Küssen zu, ihn verwöhnen zu wollen.

„Es geht heute nur um dich…“, hatte seine heißere Stimme ihm ins Ohr geflüstert. Es folgten so viele schöne Worte darauf, zwischen vielen leidenschaftlichen Berührungen. Jeder Satz aus Kais Mund, erregte Tyson ein wenig mehr. Er sprach davon, ihm etwas zurückgeben zu wollen, ihm all die erfahrene Güte der letzten Jahre, doppelt und dreifach zurückzahlen. Es klang fast zu schön um wahr zu sein. Beinahe hätte er es nicht geglaubt.

Und doch war das Bild was er danach abgab einfach göttlich gewesen. Es prägte sich förmlich in Tysons Gehirn ein. Kai hatte seinen Brustkorb zuvor mit sanfter Gewalt langsam in den Futon gedrückt. Dann setzte er sich ebenso vorsichtig auf seinen Unterleib.

„Vertrau mir, ja?“

Im Mondlicht konnte er das Lächeln erhaschen.

Wie hätte er diese Bitte abschlagen können? Allein wie Kai es sagte…

Als ihm klar wurde was der vorhatte, konnte Tyson den Blick nicht mehr von ihm abwenden. Jede Bewegung wurde genau von ihm aufgesogen. Alles an Kai wirkte in jenem Moment so sinnlich. In dem verklärten Augenpaar über ihm, konnte Tyson sehen, wie ernst es ihm war. Nur eine Sekunde verzog Kai das Gesicht. Das war als er sich vollends auf ihn setzte. Er hatte kurz die Augen zusammengekniffen, leise gekeucht vom ungewohnten Schmerz. Das Geräusch erregte Tyson nur umso mehr. Im Nachhinein konnte er sich vorstellen, wie befremdlich dieses Gefühl für ihn gewesen sein musste – ihn selbst hatte es dagegen schier wahnsinnig gemacht. Und Kai beklagte sich auch nicht…

Bei diesem Gedanken lehnte sich Tyson ein Stückchen mehr über seinen Liebhaber, fasste vorsichtig nach dessen Hand, zog sie zu sich. Er hauchte einen Kuss auf die Innenfläche, fuhr mit dem Daumen zärtlich darüber. Kai wachte nicht davon auf, gab nur ein weiteres Seufzen von sich. Während Tyson seine Finger betrachtete, schwelgte er förmlich in Erinnerungen. Diese Hände hatten ihm ein echtes Verwöhnprogramm zukommen lassen.

Wie Kai auf ihm saß, sich dann und wann vorbeugte, um mit seinen Fingern über Tysons Oberkörper zu streichen. Er knetete förmlich seinen Nacken und sobald ein wohliges Brummen von ihm kam, hatte er zufrieden gelächelt.

Kaum zu glauben, dass das sein Kai war. Tyson hätte erwartet, er wäre zu Anfang zurückhaltender, doch offenbar wollte er ihm so gerne eine Freude bereiten, dass er sämtlichen Stolz hinunterschluckte.

Noch einmal umarmte Tyson ihn. Er tat einen zufriedenen Atemzug. Bald würde sein Großvater aufstehen, bis dahin mussten sie angezogen sein und sich voneinander lösen. Das wäre ein schmerzlicher Abschied von dieser Nähe. Hoffentlich bekam er heute Nacht eine weitere Dosis. Tyson hätte gerne eine weitere Runde eingefordert, dieses Mal um Kai zu verwöhnen. Nicht eine Klage war über dessen Lippen gekommen, weil er meinte, Tyson sei zu erschöpft. Er solle sich für heute einfach nur gehen lassen.

So verhielt sich Kai Hiwatari also wenn er jemanden liebte…

Hätte Tyson das früher gewusst, hätte er sich schon eher um ihn bemüht.

Allein der Sex wäre ein prima Druckmittel, damit er sich besser beim Training anstellte. Wären sie zu Kais Teamleaderzeiten schon ein Paar gewesen, Tyson hätte ihm zuliebe Klimmzüge zwischen zwei Wolkenkratzern gemacht, Hauptsache er durfte hinterher mit ihm unter die Laken schlüpfen. Er grinste über seine Gedankengänge, vergrub nochmal sein Gesicht in dem Haarschopf vor sich. Ihm fiel auf wie leise Kais Atemzüge waren.

Alles schien so perfekt. Das hier könnte wirklich klappen.

So berauscht war er schon lange nicht mehr gewesen.

Gut, er schlief mit einem Mann, aber der machte ihn glücklich. Bedurfte es mehr?

Da rührte sich Kais Kopf, weil er versuchte etwas vor sich zu verscheuchen. Eine von Tysons Strähnen war ihm vors Gesicht geraten. Einen Moment schaute Kai aus müdem Blick zu ihm auf, betrachtete den Mann, der sich über ihn gebeugt hatte.

„Morgen…“, flüsterte Tyson ihm zu.

Doch Kai blinzelte nur. Es ließ ihn lächeln, denn das erinnerte ihn daran, wie er als kleines Kind in Wolborgs Hütte aufwachte und sich zu ihm an die Feuerstelle setzte. Da hatte Kai genauso geschaut, als würde er gleich wieder im Sitzen einschlafen.

„Noch müde, wie?“

Er nickte wortkarg. Seine Augen wurden wieder kleiner. Da strich Tyson ihm über die Wange, bettete dessen Kopf in seine Handfläche. Er küsste Kai, raunte ihm gegen die Lippen einfach weiterzuschlafen. Der quittierte seine Worte mit einem dankbaren Laut. Gleich darauf war er auch schon weggenickt. Tyson wollte es ihm nicht vergönnen. Er war die ganze Nacht wachgeblieben, da sollte auch er nun seinen Schlaf finden. Gerade noch gab er ihm einen letzten Kuss auf die Stirn, bevor er aufstehen wollte, da vernahm Tyson ein Geräusch von der Tür. Sein Kopf schnellte hinauf.

Er erwartete seinen Großvater zu sehen. Stattdessen erblickte er zwei große, dunkle Knopfaugen hinter dem Türspalt. Als Jana merkte, dass sie entdeckt wurde, sprang sie von den Knien auf und rannte fort. Ihre polternden Schritte auf der Holzveranda, wurden von lautem Kinderschluchzen begleitet, während er einen dicken Kloß hinunterschluckte.
 

Etwas später schloss Tyson die Tür zum Dojo hinter sich. Er hatte sich seine Sachen von gestern noch einmal übergezogen. Kai selbst deckte er ordentlich zu, für den Fall das wider Erwarten sein Großvater hereinkam und sich fragte, weshalb er nackt auf den Futons lag. Tyson spähte durch den Hof, suchte die Umgebung nach Jana ab. Ihm fiel auf, dass der Regen aufgehört hatte, an vereinzelten Stellen fanden sich aber noch Überreste vom Schnee, in einer undefinierbaren Matschpampe. Obwohl es milder geworden war, stieg sein Atem noch als kleine Wolke auf. Kalt war es immer noch, allerdings passten die Temperaturen nun eher zur Jahreszeit.

Tyson lauschte in den Hof, konnte Jana aber nicht entdecken. Also eilte er ins Haupthaus wo er weiter nach ihr Ausschau hielt. Nicht einmal sein Großvater war schon auf den Beinen. Als er die Küche betrat, merkte er auch weshalb. Die Wanduhr über dem Türrahmen zeigte erst kurz vor Fünf an. Offensichtlich war Jana genauso ein Frühaufsteher, wie ihr Bruder – jedenfalls wenn der zuvor keine wilde Nacht gehabt hatte.

Etwas Panik kam in Tyson auf. Er wollte nicht dass Jana seinem Großvater davon erzählte, was sie gesehen hatte. Natürlich musste er ihm irgendwann reinen Wein einschenken, doch noch war die Beziehung mit Kai zu frisch. Außerdem hatte er keine Ahnung wie sein alter Herr darauf reagieren würde. Daran wollte er sich vorsichtig herantasten. Es hätte ihm gerade noch gefehlt, wenn Jana ihm da vorgriff. Als er das Mädchen nicht im Erdgeschoss fand, stieg er langsam die Treppe zu seinem Zimmer hoch. Im Flur gab er darauf acht keine zu lauten Geräusche zu verursachen, die seinen Großvater wecken könnten. Vor dessen Schlafzimmer, ging er sogar auf Zehenspitzen vorbei, da die Dielen in dem alten Haus gerne knarzten. Die ausgelegte Plane machte es auch nicht einfacher. Da horchte Tyson auf, als er einen Laut hörte. Ein Kinderschluchzen drang an sein Ohr. Er steuerte vorsichtig auf sein eigenes Zimmer zu, öffnete die Tür einen spaltweit. Auf dem zerwühlten Bett sah er niemanden, bis ihm klar wurde, dass die Geräusche aus seinem Wandschrank kommen mussten. Leise trat er in den Raum und näherte sich dem Schluchzen. Als er die Schranktür öffnete, blinzelte ihm Jana mit tränennassen Augen entgegen. Es sah wirklich herzzerreißend aus…

„Hey, was hast du denn?“, sprach er sanft auf sie ein.

„Nichs. Geh weg!“

Jana vergrub ihre glühenden Hamsterbacken auf den Knien.

Gleich darauf wurde sie wieder von einem Schluchzer ergriffen.

„Das sieht aber nicht danach aus.“

Tyson setzte sich langsam zu ihr auf den Boden.

„Hau ab!“, heulte sie wieder.

„Warum? Sind wir keine Freunde mehr?“

„Nein! Du bis doofer Freund!“, sie drehte sich von ihm weg, wippte auf dem Hosenboden vor und zurück. „Doofmann…“

Tyson schaute auf ihren Rücken. Der kleine Körper vor ihm bebte bei jedem stockenden Atemzug.

„Habe ich was falsch gemacht?“, fragte er arglos. Doch eigentlich ahnte er, was ihr sauer aufstieß. Es konnte nur damit zusammenhängen, was sie zuvor gesehen hatte. Inzwischen nickte Jana, blieb ihm die Antwort aber schuldig.

„Sagst du mir auch was ich falsch gemacht habe?“

Es dauerte bis eine Regung von ihr kam. Dann erklärte sie mit tränenerstickter Stimme: „Du nimms mir Ai weg.“

Sobald die Worte ausgesprochen waren, senkte Jana das Köpfchen wieder auf die Knie.

„Wie kommst du darauf?“

„Du has küsst Ai… Hab genau gesehe!“

„Aber deshalb nehme ich ihn dir doch nicht weg.“

„Wenn man küsst dann heiraten.“, sprach Jana bockig, als wäre es doch so selbstverständlich. „Du und Ai heiraten. Dann kein Platz für Jana. Dann keine große Bruder mehr habe. Du gemein! Nimmst mir weg… Such dir andere Bruder, aber nich meine! Hab ihn zuerst gesehe!“

Auf dem Boden des Schranks lag noch sein Blade herum, den er vor ihrem übereilten Aufbruch, aus der Truhe in der hintersten Ecke des Schranks gefischt hatte, noch bevor das ganze Unglück um sie herum, richtig in Fahrt kam. Jana griff danach und warf ihn wütend in Tysons Richtung, der ihn perplex zu fassen bekam. Noch während er nach einer Erwiderung suchte, legte Jana wieder die Stirn auf die Knie und weinte: „Jetzt ich keine Papa, kein Mama un auch kein Kai mehr.“

So war das also…

Er starrte erschüttert auf das kleine Mädchen. Ein mitleidiger Ausdruck trat auf sein Gesicht. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie viel Verantwortung auf Kais Schultern lastete. Er war Vater, Mutter und Bruder zugleich. Diesem Kind fehlten zu viele Bezugspersonen. Ein schweres Seufzen kam aus seinem Mund.

„Verstehe…“

Er hielt den Blade in seiner Hand, drehte ihn nachdenklich zwischen den Fingern, während er inmitten der aufgehängten Kleidungsstücke hockte. Wenn er es geschafft hatte, ihren Bruder in Kindergestalt zu trösten, müsste dass doch auch bei diesem kleinen Hüpfer möglich sein. Allerdings sah Kai ihn damals nicht als eine potenzielle Bedrohung an, als sie am Lagerfeuer saßen. Jana jetzt aber schon. Er war der böse Mann der ihren Bruder klaute. Den letzten Menschen aus ihrer Familie.

„Was glaubst du was passieren wird?“, fragte Tyson sie vorsichtig. „Denkst du wirklich Kai verschwindet, nur weil er jemanden geküsst hat?“

„Ja! Im Fernsehen geschaut. Geküsst, dann heiraten, dann Babys.“

Beinahe wäre ihm ein Lachen entwichen, doch er bemühte sich, ihre Sorgen ernst zu nehmen, mochten sie auch noch so unbegründet sein.

„So geht das nicht, Jana.“

„Bei Prinzessinenfilm immer so.“

„Sieht Kai wie eine Prinzessin aus?“

Eine kleine Pause entstand.

„Nein…“, kam es nachdenklich.

„Da siehst du es.“

Allerdings wirkte Jana nicht überzeugt. Es war ziemlich eng im Schrank. Um besser mit ihr auf Augenhöhe reden zu können, ohne dass ihm ständig ein Ärmel ins Gesicht wedelte, legte er sich auf den Bauch und robbte näher an sie heran.

„Weißt du eigentlich wie dein Bruder früher war? Bevor du auf die Welt kamst?“

„Kai war vorher da?“

Anscheinend konnte sie sich nicht vorstellen, dass es ein Leben vor ihr gab. Kindliche Logik eben. In Janas naiver Welt, nahm alles erst mit ihrer Geburt ihren Anfang.

„Natürlich! Es gab mal eine Zeit, da warst du noch nicht da.“, begann Tyson ihr zu erklären. „Das war als Kai noch jünger war, ich noch jünger war… Sogar mein Opa hatte noch ein paar schwarze Haare auf dem Kopf. Allerdings war das schon damals die Ausnahme. Und dein großer Bruder, der hatte auch noch einen Opa.“

„Opa?“

Tyson nickte.

„Den hast du nicht mehr kennengelernt. Er war schon weg als du geboren wurdest. Kai hat sehr lange bei ihm gelebt. Nur leider war er ein ganz gemeiner Mensch.“

„Oh...“

„Ja. Furchtbar gemein. Und deshalb war Kai manchmal sehr traurig. Er war der traurigste Junge, den ich jemals kennengelernt habe.“, Jana blinzelte ihn an. Noch immer waren ihre Augen gerötet, aber die Schluchzer ließen wenigstens nach. Allerdings zog sie dann und wann geräuschvoll das Näschen hoch. „Jedenfalls, als ich Kai kennengelernt habe, da haben wir uns gar nicht gut verstanden. Wir haben uns immer gestritten.“

„Wieso?“

„Naja, Kleinigkeiten eben. Wir waren noch Kinder. Jeder auf seine Art. Jungs streiten sich besonders gerne.“

„Jungs sin doof. Ziehen an Haaren…“

„Ja. Sind sie.“, gluckste Tyson.

„Aber jetzt ihr euch küsst.“, murmelte Jana vorwurfsvoll.

„Jah... Das kann man wohl nicht mehr leugnen.“, sprach er peinlich berührt. Es war wohl zwecklos es noch abzustreiten. „Aber das war ein sehr langer Weg bis dahin. Als Kai jünger war, hatte er kein Vertrauen zu mir. Zu niemandem. Manchmal war er zu den Leuten auch gemein.“

Tyson beugte sich mit einem verschwörerischen Ausdruck zu Jana vor.

„Er war richtig giftig. Grrr…“, ein schüchternes Glucksen kam von ihr, als er spielerisch seinen Kopf gegen sie stupste. Jana schniefte, hörte ihm aber auch weiterhin zu. Ihre dunklen Knopfaugen blinzelten zu ihm herüber. „Dann kam aber der Tag da ließ das Gift nach. Weil Kai ein Gegenmittel gefunden hatte, dass ihn heilte.“

„Was eins?“

Tyson lächelte sie an. Dann meinte er: „Dich.“

„Häh?“, Jana legte das Köpfchen zur Seite. Sichtlich irritiert.

„Du warst das Gegenmittel. Ein richtiger Zaubertrank! Ich weiß noch, wie es war, als wir dich das erste Mal im Krankenhaus besucht haben. Da warst du gerade erst geboren. Ich war auch dabei. Meine Freunde die du gestern kennengelernt hast auch. Du warst so winzig.“

Tyson zeigte ihr mit den Händen wie klein er sie in Erinnerung hatte. Geradezu lebhaft tauchte die Szene von damals vor ihm auf, wie sie in dem kleinen Bettchen lag und ihre Ärmchen in der Luft zappelten.

„Uh! Das klein…“

„Ja, sehr klein.“, grinste er. Einfach weil Jana so große Augen machte. „Jedenfalls hat dich Kai angeschaut, wie du in deinem Kinderbett lagst. Und wie das bei ihm immer so war, hat er richtig ernst geschaut. So wie immer.“

Tyson ahmte dessen Gesichtsausdruck von früher nach. Da lachte Jana auch schon hell auf. Sie wippte fröhlich auf dem Hosenboden herum, umfasste dabei ihre Fußknöchel. Ihre Sorgen mussten wohl genauso schnell verfliegen wie sie eintrafen.

„Dann kam aber der Moment als er dich anfassen sollte. Jetzt heb sie doch mal hoch – meinte mein Freund Max zu ihm. Kai rümpfte zuerst die Nase. Ich glaube er hatte Angst dich kaputt zu machen. Dann hat er sich aber einen Ruck gegeben. Er tippte vorsichtig mit dem Finger nach dir. Ganz leicht gegen deine winzig kleine Faust hat er gestupst. Und auf einmal hast du zugepackt…“, er tat eine bedeutsame Pause. „Du hast nicht loslassen wollen. In dem Moment, in dem du ihn gehalten hast, da ist das ganze Gift aus Kai herausgewichen. Du hast ihn mit nur einer Berührung geheilt. Er musste lachen, weil du nicht von ihm ablassen wolltest - und wir haben alle gesehen, dass er dich sofort lieb gewonnen hatte. Und in den nächsten Monaten wurde er allmählich netter. Zu kleinen Mädchen muss man schließlich nett sein. Das konnte er ja gut bei dir üben. Ihm ist gar keine andere Wahl geblieben, als endlich freundlicher zu werden. Auch zu uns wurde er anders. Von Tag zu Tag. Wenn er von dir spricht, dann sieht man einfach wie sehr er dich mag.“

Jana fuhr sich mit den Handflächen über die Augen. Danach schaute sie auf ihre von den Tränen nassen Finger.

„Du machst ihn glücklich. Deshalb wird er dich niemals verlassen. Glaub mir.“

Sie hob den Blick, blinzelte ihn an. Ihr kleiner Mund stand offen. Tyson war nicht so sicher, ob sie wirklich begriff was er meinte, bis sie fragte: „Ist Kai jetzt lieb geworde?“

„Besser noch… Er kann lieben. Er liebt dich. Das habe ich vom ersten Moment gesehen, als er dich in den Armen hielt. Seine Augen waren früher kalt, aber wann immer er dich anschaut werden sie ganz sanft.“

Sie wurde still. Dabei drehte sie mit der rechten Hand an ihrem linken Zeigefinger. Es erinnere Tyson an den Tick, den ihr Bruder als Kind gehabt hatte. Irgendwo waren sich die beiden Geschwister doch ähnlich, auch wenn es nicht die Äußerlichkeiten betraf.

„Tidom?”, seine Braue zuckte verstimmt, weil sie seinen Namen so furchtbar falsch aussprach. Doch ihr bekümmertes Gesicht ließ ihn von irgendwelchen Belehrungen absehen. Dafür würde in Zukunft genug Zeit bleiben.

„Was ist?“

„Kai wirklich mich lieb?“

„Natürlich…“

„Aber Jana nix hübsch.“

„Wer sagt das?“

„Mama…“

Tyson verstummte, starrte das kleine, sensible Geschöpf vor sich entsetzt an. Es vergingen einige Sekunden, da fragte er leise: „Was?“

„Mama sage Jana hässlich. Mama sage ich laut und niemand lieb habe mich. Und wenn ich weine, Kai bringe mich in Tierheim sie sage. Und dann hübsche Schwester hole…“

Sein Blick weitete sich. Für einige Sekunden war er unfähig etwas zu sagen. Da wurde der Griff um sein Blade fester. Vor Zorn traten seine Knöchel hervor. Tyson schluckte hart. In ihm flammte ein unsagbarer tiefer Hass auf, der ihn die Kiefer mahlen ließ. Seine Stimme klang beklommen als er antwortete.

„Das ist eine furchtbar gemeine Lüge.“

„Kai sage Lüge darf ma nicht.“

„Ja. Da hat er Recht.“, er strich ihr tröstend über den Haarschopf. „Und er würde dich niemals in ein Tierheim stecken. So etwas würde er nicht einmal denken. In ein Tierheim kommen auch keine Kinder hinein…“

„Mama sage ich ausschau wie Sabberhund.“

„Warum sagt sie das?“

„Wege Zunge… Mama sage Jana immer Zunge strecke. Schaut aus wie Hund.“

Sie tippte sich mit einem arglosen Ausdruck auf den Mund.

„Deine Mama hat da ganz böse gelogen! So etwas sagt man nicht!“, es war einfach zu viel für Tyson und endlich verstand er auch, weshalb Kai so heftig bei ihrem Streit reagiert hatte. Er fuhr sich seufzend über das Gesicht. Zuerst sagte diese Frau so widerliche Dinge zu ihrem gehandicapten Kind, dann verschwand sie einfach so und Tyson hatte danach nichts Besseres zu tun gehabt, als alle Mongokinder vor Kai zu verspotten. Das musste ihm natürlich sauer aufstoßen. „Das ist einfach nur fies und gemein.“

„Mama gemein?“

„Ja!“, sprach er entschieden. Für einen Moment gingen seine Gedanken auf Wanderschaft. Tyson musste wieder an Janas Geburt denken. Als er Kais Mutter damals zum ersten Mal im Krankenhaus kennenlernte, hatte er heimlich gedacht, sie sei eine verdammt attraktive Frau. Sie besaß ein ebenschönes Gesicht, mit dunklen Augen, die von dichten Wimpern umrahmt lagen. Ihr Mund war perfekt geformt. Sie wirkte wie eine zierliche japanische Porzellanpuppe, selbst in ihrem geschwächten Zustand. Er wusste noch wie sich Max zu ihm beugte und ihm grinsend zuflüsterte, dass jetzt geklärt sei, woher Kai das Näschen her habe. Tyson hatte nur verschwörerisch zurück gezwinkert, denn beide errieten die versauten Gedanken des anderen. Sie waren eben doch nur Männer und damals ohnehin mitten in der Pubertät. Dabei huschte Tysons Blick aber immer wieder heimlich zu Kai, da er die familiären Merkmale im Geiste verglich. Bis auf ihr rundliches Gesicht besaß er sehr viel von ihr.

Vor allem die Lippen...

Es war das erste Mal gewesen, dass ihm durch den Kopf ging, dass Mutter Natur äußerst gnädig mit Kai umgesprungen war. Er schien ihm die perfekte Kombination aus westlichen und asiatischen Anlagen. Nicht so viel das man ihm die ausländischen Wurzeln hierzulande auf Anhieb ansah, aber genug um noch einmal einen zweiten Blick auf ihn werfen zu wollen – und sich dabei zu denken, dass er wirklich gutaussehend war.

Tyson hätte eigentlich damals schon auf die Idee kommen können, dass er mehr von Kai wollte. Allein wie er sein Aussehen geradezu analysierte, war nicht mehr normal gewesen. Zu oft war sein Blick forschend auf ihn gefallen. Man sah seine Freunde nicht so an. Aber vielleicht war er einfach noch nicht soweit gewesen…

Im Laufe des Tages kam ihm dafür dessen Mutter umso unsympathischer vor.

Kai glänzte bereits mit wenig Interesse an seinen Mitmenschen. Doch sobald er seine Schwester in den Armen hielt, überwog die ehrliche Sorge, ob er sie überhaupt richtig hob, auch wenn er dafür den Spott seiner Freunde ertragen musste. Er hatte nur brummig gemeint, dass er kein Spielzeug in den Händen hielt und Jana nicht wehtun wolle, daraufhin musste selbst die Hebamme grinsen. Doch in all der Zeit, in welcher sie sich im selben Zimmer aufhielten, starrte Kais Mutter nur gedankenversunken aus dem Fenster.

Tyson hatte es damals auf die anstrengende Geburt am Tag zuvor geschoben. Als die Hebamme aber nach ihrem Befinden sah, winkte Kais Mutter sie mit dem Zeigefinger näher an ihren Mund heran und wollte leise wissen, wann sie wieder rauchen dürfe. Die resolute Frau erstarrte und zischte gleich ohne Umschweife, dass sie besser nicht stillen sollte, wenn sie so blöde Fragen stellte - sie täte dem Säugling damit keinen Gefallen.

Ray und er hatten es als einzige mitbekommen. Sie blickten sich an, beschlossen jedoch in stiller Übereinkunft, dass sie Kai vorerst nichts sagen würden. Er war ohnehin damals mit seiner Schwester beschäftigt gewesen und wollte sie partout nicht Kenny überlassen, da er ihm viel zu tollpatschig sei. Tyson war dagegen an diesem Tag klar geworden, dass Kai bis auf das gute Aussehen nichts von seiner Mutter innehatte. Sie schien ganz glücklich, dass sich die Jugendlichen mit dem Kind beschäftigten. Er konnte sich auch nicht erinnern, Jana jemals auf ihren Armen gesehen zu haben. Das letzte Mal als er sie traf, war sie makellos herausgeputzt gewesen, auch wirklich schön anzusehen, mit ihrer perfekten Figur und dem puppenhaften Gesicht, aber die Aura um sie herum wirkte immerzu frostig. Das sagten manche Leute zwar auch Kai nach - Tyson früher leider mehr als einmal – doch mit den Jahren kannte er den Unterschied. Bei ihm war es eine Distanziertheit die auf Argwohn beruhte. Bei seiner Mutter war es pure Eitelkeit. Womöglich war das der Grund, weshalb sie verschwunden war. Eine Frau die so auf Äußerlichkeiten Acht gab, konnte es vielleicht nicht ertragen, ein Mädchen wie Jana in die Welt gesetzt zu haben. Tyson blinzelte mitleidig auf das zarte Geschöpf vor ihm, überlegte wie er diese Wunde in der kleinen Kinderseele ein wenig heilen könnte.

„Jana? Du hast ja schon mitbekommen, dass Kai und ich uns sehr gerne haben.“

Sie senkte traurig den Kopf. Da steckte wohl noch immer die Angst im innern, ihren Bruder teilen zu müssen.

„Weißt du, wenn alles gut läuft, werden wir uns in Zukunft viel öfters sehen. Das muss aber nichts schlechtes sein. Wir könnten so viele tolle Sachen zusammen erleben. Aber vor allem wärst du nicht mehr alleine, wenn dein Bruder mal auf der Arbeit ist. Du könntest dann tagsüber hier bleiben. Mit Opa und mir. Er mag dich sehr – und ich auch.“

„Wirklich?“

Er lächelt auf die schüchterne Frage, kniff ihr spielerisch in die volle Backe.

„Natürlich… Kleiner Hamster.“

Sie gluckste zaghaft und zog ihr Gesicht weg. Da fuhr Tyson auch schon fort.

„Wir schauen Filme, wir gehen Eis essen, auf den Spielplatz – warst du schon einmal im neuen Wasserpark?“

„Was das?“

„Das heißt wohl nein.“, grinste er. „Ich will damit sagen, dass wir Freunde werden könnten. Du teilst vielleicht deinen Bruder, aber du bekommst auch etwas zurück. Einen Opa und… naja, noch einen großen Bruder. Zwei Brüder sind doch besser als einer, denkst du nicht?“

„Mmm…“, sie überlegte.

Tyson fasste zaghaft nach ihrer Hand, tätschelte sie aufmunternd.

„Wir passen dann auf dich auf. So macht man das in einer Familie.“

„Und Mama?“

„Die vergisst du schnell!“, kam es düster. „Ich will keine Mama bei uns haben, die meiner kleinen Schwester sagt, sie sei hässlich. So eine Mama ist bescheuert.“

„Bescheuert?“

Janas dunkle Knopfaugen blinzelten ihn an. Tyson wusste das er nicht das Recht hatte, um so etwas behaupten zu dürfen, doch nachdem was er gehört hatte, verspürte er den aufrichtigen Wunsch, dieses Kind vor weiteren Gehässigkeiten zu schützen. Und es schien das erste Mal zu sein, dass Jana das Verhalten ihrer Mutter überdachte. Kinder hingen wohl einfach an ihren Eltern, im blinden Vertrauen, sie würden immer die Wahrheit sagen. Jana schien lange nachzudenken, während ihre Finger an ihren Zehen herumspielten. Dabei streckte sie ihre winzige Zunge zwischen den Lippen hervor.

„Wir brauchen deine Mama nicht. Kai, Opa und ich machen das schon. Versprochen.“, er hielt ihr den kleinen Finger hin. Zunächst schaute Jana grübelnd darauf. Dann hakte sie ihren auch ein. „Sind wir jetzt wieder Freunde?“

Sie nickte wie wild.

„Wunderbar! Jetzt kommst du aber heraus. Deinem neuen Bruder wird es hier so langsam wirklich zu eng.“, schwerfällig und auf allen Vieren, kraxelte Tyson rückwärts aus dem Schrank heraus. Als er sich den Kopf irgendwo anstieß, kicherte Jana, weil er ein böses Wort ausrief. Das war einer dieser Momente, in welchen man sich sogar mit Mitte Zwanzig steinalt vorkam. Sobald das Mädchen herausgekrochen kam, hob er sie auf die Arme.

„Tidom… Ich wirklich hässlich?“, wollte sie noch einmal wissen.

„Nein, kleiner Hamster.“, seufzte Tyson schwermütig. Er tätschelte ihr aufmunternd über den Rücken, drückte sie tröstend an sich. „Hamster sind süß. Jeder liebt Hamster.“

Sie atmete aus, bettete ihr Köpfchen vertrauensselig auf seine Schulter. Gleich darauf vernahm Tyson ein Magenknurren von ihr.

„Jetzt wird erst einmal gefrühstückt.“

„Jana will Eiscreme.“

„Ähm… Wir werden sehen.“

Als Tyson sich umdrehte sah er zu seiner Überraschung Kai am Türrahmen stehen. Mit steinerne Miene starrte der auf seine Schwester. Er konnte einen verbitterten Zug um seine Mundwinkel sehen, seine zitternden Fäuste. Ganz offensichtlich wurde ihm gerade bewusst, was sich alles bei ihm zuhause abgespielt hatte, während er Jana mit seiner Mutter alleine ließ.
 


 

*
 

„Wer sind die Nächsten auf unserer Liste?“

Cousine Mimi schaute auf ihr kleines Blütenblatt, auf das sie sich ihre Notizen machte. Mit dem winzigen Kreidesplitter, den sie von einer Felswand abgekratzt hatte, tippte sie sich nachdenklich gegen das Kinn, ohne zu merken, dass es weiße Flecken auf ihrem Fell hinterließ.

„In unserem Bereich wären das dann Ariel und Gabriel.“

„Ai, ai, ai…“

„Kennst du die beiden? Von denen habe ich noch nie gehört.“

„Das liegt daran, dass sie gerne in luftiger Höhe herumhüpfen. Die kommen selten herunter.“, Allegro deutete auf die Gebirgskette, die sich vor ihnen erhob. Für ein Elite Bit Beast wäre das schon ein schwerer Aufstieg - wenn es nicht zufälligerweise fliegen konnte - für sie beide glich es einer Heraklesaufgabe. „Das sind zwei Steinböcke. Die treiben sich immer auf den Gipfeln herum. Das habe ich in der Mäuseschule gelernt.“

„Oh nein!“, Mimi schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, nein, nein! Ich mache ja vieles mit, aber das geht jetzt wirklich zu weit!“

Sie kreuzte die Ärmchen vor der Brust.

„Aber Cousinchen…“, bat er zuckersüß.

„Nein, aus die Maus! Ich sehe durchaus ein, wie wichtig unsere Aufgabe ist, aber wie wollen wir da hinauf kommen?“, sie deutete demonstrativ auf den Berg.

„Uns bleibt wohl keine andere Wahl, als es zumindest zu versuchen.“

„Du liebe Güte.“, Mimi schüttelte besorgt den Kopf. „Wo soll das nur hinführen?“

„Wenn wir als Blitze hinaufhüpfen wird es leichter.“

„Aber wir müssen sparsam bleiben mit unserer Energie - das waren deine Worte! Brauchen wir die beiden überhaupt?“

„Pah, pah, pah! Was für eine Frage! Selbstverständlich sind sie von Nöten.“, Allegro klopfte mit dem rechten Fuß auf. „In der Natur existiert nichts grundlos. Die beiden werden heute mehr benötigt als jemals zuvor.“

„Wirklich?“, Mimi legte den Kopf in den Nacken und versuchte die Spitze des Berges zu erhaschen. „Was machen die beiden da oben überhaupt?“

„Die erzeugen Luftströme. Der eine erzeugt Warmluft, der andere Kaltluft.“

„Ja aber…“, sie starrte ihn verdattert an. „Dann sind sie doch Luft Bit Beasts! Warum suchen wir die dann überhaupt auf? Ich dachte wir bemühen uns nur um die Elite Bit Beasts die Driger und Draciel unterstellt sind?“

„Cousine, bitte benutz doch deinen Verstand. Die Portale sind zu. Dragoon wird auf der anderen Seite wortwörtlich bald die Luft ausgehen. Wir müssen auch seine Arbeit übernehmen, damit er genug Kraft behält um Dranzer die Stirn bieten zu können, sollte es zum Kampf kommen.“

„Oh…“

„Na siehst du. Nun komm! Wir sollten nicht trödeln.“

„Vier Haselnüsse sind zu wenig für den ganzen Ärger. Ich hätte viel mehr verlangen sollen.“

Allegro seufzte schwer und schon schoss er als Funken empor.

Fels um Fels, Meter für Meter, Sprung für Sprung - brachte sie näher an den Gipfel.

Doch beschwerlich war es tatsächlich. Der Weg schien ewig und wann immer die beiden Strommäuse inne hielten, um zu rasten, einen sehnsüchtigen Blick zur Spitze warfen, schien das Ende kaum näher zu rücken. Cousine Mimi jammerte oftmals das sie zurück wolle, einmal rollte sie sich auf einem Felsvorsprung zusammen und meinte sie könne nicht mehr. Da bereute Allegro sie nicht am Fuße des Berges zurückgelassen zu haben. So vergingen Stunden bis sie endlich hinaufgelangten. Schnee lag sogar auf dem Gipfel.

Es war das erste was Allegro zu fassen bekam, als er sich völlig entkräftet auf einem der höher gelegenen Brocken hinaufzog, zu schwach, um sich noch in einen Blitz zu verwandeln. Sobald er Mimi auch hinauf half, legten sich beide schnaufend in den kühlen Schnee. Da drang auch schon ein lautes Poltern zu ihnen, was ihre Lauscher vor Schreck zucken ließ. Beide drehten sich um und erhaschten zwei Steinböcke, die wie wild umeinander herumrannten und sich aufs gemeinste beschimpften. Einer von ihnen trat mit den Hinterhufen aus und verpasste seinem Nebenmann beinahe einen Tritt gegen Schläfe.

„Ich will hier weg…“, kam es prompt von Mimi.

„Shh! Ruhe jetzt!“, Allegro hopste auf die Füße. „Schau einfach zu und lerne, liebe Cousine.“

Er tat einen Sprung um vorwärtszukommen, sackte aber tiefer in den Schnee hinein, dass nicht einmal mehr seine Ohren zu sehen waren.

„Hmm…“, machte Mimi. Offenbar bezweifelte sie von dieser Aktion etwas lernen zu können. Allegro zog sich keuchend aus dem Schneeloch hervor und klopfte sich das weiße Pulver von den Knien.

„Pardon.“, kam es leicht verlegen. Er räusperte sich und tastete sich vorsichtiger voran. Die beiden Steinböcke schimpften inzwischen weiter. Einer besaß ein perlweißes Fell. Der andere war fast schon rabenschwarz. Doch beide trugen sie einen Schulterpanzer. Allegro kam gerade dazu, als sie aufeinander zu rannten, um ihre Hauer mit dem Kopf voraus, gegeneinander zu schlagen. Die langen Hörner verhakten sich dabei ineinander.

„Lässt du wohl los!“

„Lass du doch los!“

„Ich war zuerst da, du Aas!“

„Selber Aas, du Rindvieh!“

„Wag es! Mein Hintern ist durchtrainierter als der eines Bullen!“

„Bulle?! Bestenfalls einer alten Milchkuh!“

„Eines Tages bring ich dich noch um!“

„Glaub mir! Ich halte das auch nicht mehr länger mit dir aus!“

Das Luft Bit Beast immer so streitsüchtig sein mussten…

Einen Moment dachte Allegro an Dragoon. Es war wohl viel Wahres dran, dass zu viel Sturm in solchen Seelen hauste, das gehörte wohl einfach zu deren Natur.

„Verzeihung die Herren, könnten sie mir ein Ohr leihen?“

Anstatt ihn zu bemerken, rammten die beiden Böcke nur die Hörner fester gegeneinander. Der eine sturer als der andere. Der Pulverschnee sprühte geradezu in der Luft, sobald sie mit den Hufen aufkamen. Allegro versuchte sich lauter Gehör zu verschaffen.

„HALLO!“

„Was war das?“, fragte einer von ihnen prompt.

„Wahrscheinlich dein Erbsenhirn was sich zu Wort meldet!“

„Leck mich doch du aufgepumpter, kleiner Ar-…“

„Hallo! Hier unten die Herren!“

Beide hielten inne. Allegro konnte sehen wie ihre Ohren zuckten. Dann tippelten sie im Kreis, offenbar nicht willens voneinander abzulassen, aber auch zu neugierig darauf, wer da sprach. Beinahe hätten ihre gespaltenen Hufe ihn erwischt, doch er brachte sich noch schnell in Sicherheit.

„Was ist das?“

„Woher soll ich das wissen?!“

„Mann, mach mich nicht dumm an, Alter!“

„Dann stell nicht so saudumme Fragen!“

„Wenn du mich endlich loslässt, könnte ich nachsehen, du Ochse!“

„Hättest du wohl gerne! Ich weiche keinen Millimeter! Ich bin heute dran mit der Warmfront!“

„Ich lege stinkende Haufen auf deine Warmfront!“

„Ich auf deine Kaltfront!“

Dann entstanden Luftströme also wenn sich diese beiden Streithähne in der Wolle lagen. Dadurch das Kalt und Wärmefront aufeinanderprallten. Das empfand Allegro doch als hochinteressant. Er überlegte ob er irgendwann auch darüber eine Studie verfassen sollte.

„Ich mach dich fertig!“

„Träum weiter!“

Und schon ging das Gezanke in die nächste Runde. Allegro schnaufte genervt. Dann suchte er sich etwas Schnee zusammen, um ihn zu einem Ball zu formen. Er war nicht sonderlich groß, doch zumindest würde er sich bemerkbar machen können. Also warf er den Schneeball mit aller Kraft gegen einen der beiden Böcke. Der blinzelte irritiert als ihn das erbsengroße Geschoss im Gesicht traf und zuckte zurück.

„Hah! Du hast losgelassen! Hab gewonnen!“, frohlockte der andere.

„Das zählt nicht!“

„Doch! Ätsch!“

„Meine Herren, ich bitte um mehr Ruhe!“, Allegro sprang zwischen den Köpfen der beiden Böcke hoch. Endlich bemerkten sie ihn. Irritiert beobachteten sie seine Flugbahn, bis er auf dem Schnee aufkam und erneut einbrach, während sein erhobener Zeigefinger nur noch herausschaute. „Hmpf Hmpf!“

„Was sagt es?“

„Keine Ahnung. Was war das überhaupt?“

„Sah wie… eine Strommaus aus?“

„Die kommen nicht so hoch, du Esel!“

„Selber Esel!“

Bevor die Streitereien weitergingen, kletterte Allegro hastig aus seinem Loch hervor.

„Halt! Nicht wieder zanken! Ich bin wirklich eine Strommaus!“, rief er aus. „Ich habe wichtige Nachrichten von eurem Arbeitgeber!“

„Arbeitgeber?“

„Dragoon!“

„Was… Du?“

Zunächst blinzelten sie ihn an. Dann gackerten sie los. Zum ersten Mal schienen sich die Streithähne einig zu sein. Einer von ihnen stieß ihn sogar unwirsch mit der haarigen Schnauze an, allerdings hatte Allegro solche Schwierigkeiten, die beiden auseinander zu halten, dass er den Übeltäter nicht beim Namen nennen konnte. Ihn beschlich die Vermutung das Luft Bit Beasts auch nur Luft im Kopf hatten.

„Pardon?! Nicht so viel Körpereinsatz, wenn ich bitten darf!“

„Sieh dir den Winzling mal an. Wie er da steht und mit den Ärmchen gestikuliert!“

„Dieser Winzling soll euch von Dragoon ausrichten, was ihr in den nächsten Stunden zu tun habt!“, protestierte Allegro.

„Du Pimpf? Na das wollen wir mal sehen…“

„Der Befehl kam von ihm höchstpersönlich!“, stampfte Allegro erbost auf. Allerdings rutschte er dadurch wieder knietief in den Schnee. „Vermaledeit aber auch!“

„Das kann jeder Dahergelaufene behaupten.“

„Es ist aber so! Ihr seid ihm unterstellt also müsst ihr seinen Worten gehorchen!“

„Hörst du dass Gabriel? Der Big Boss persönlich.“, äffte der eine ihn nach.

„Ja, der allmächtige Kaiser! Mir schlackern die Hufe!“, kam es in einem theatralischen Tonfall zurück. Dann war der weiße Bock also Gabriel. Der andere musste dann Ariel sein. Ersterer fragte unbeeindruckt: „Warum bewegt Dragoon seinen feinen Hintern nicht selbst hoch, um uns das persönlich zu sagen?“

„Er ist okkupiert.“

Zwei dümmliche Augenpaare blinzelten ihn an. Na wunderbar. Intelligent waren die beiden Böcke also auch nicht. Musste wohl daran liegen, dass sie den ganzen Tag ihre Gehirnzellen zu Püree verarbeiteten.

„Er ist indisponiert.“

Wieder nur verständnislose Blicke.

„Er ist beschäftigtet!“, erklärte Allegro gereizt.

„Aha… Der Winzling nervt mich. Drückt sich viel zu komisch aus.“, brummte Ariel seinem Kollegen aus den Mundwinkeln heraus zu.

„Das habe ich gehört! Und jetzt gut die Lauscher gespitzt! Sind sich die Herren im Klaren, dass ihre Streitereien schwere Unwetterturbulenzen in der Menschenwelt auslösen? Und das an Orten wo sie überhaupt nicht hingehören?“

„Klar.“

„Türlich…“

„Was?!“, Allegro hielt geschockt inne. Er hatte vermutet dass sie sich dessen eben nicht bewussten waren. Seine Frage war eigentlich rhetorischer Natur gewesen. „Ja aber… Wieso bewegt ihr eure Kraft dann nicht dorthin wo sie hingehört?!“

„Kein Bock.“, kam es unisono.

„Ja verdammt noch eins, dann strengt euch gefälligst mehr an! Ihr könntet durch das Wirrwarr was ihr verursacht ein Flugzeug zum Absturz bringen!“

„Wäre nicht das erste Mal…“, sprach Gabriel gelangweilt. Er tippelte gemächlich davon.

„Hiergeblieben! Wo willst du hin?“

Allegro hopste ihm in den Weg, wurde aber unachtsam zur Seite geworfen. Für den Steinbock mochte es ein kleiner Stups mit dem Huf sein, doch es haute ihn einen gefühlten Meter weg.

„Platz da, Ungeziefer! Ich habe meinen Kampf gewonnen. Also schicke ich eine richtig heftige Kaltfront Richtung Schweiz. Die werden dieses Jahr einen verdammt kalten Herbst haben. Hö hö!“

„Moment! Wer sagt das du gewonnen hast?!“, bockte Ariel prompt.

„Ist doch egal wer gewonnen hat! Ihr müsst euch auf das Wesentliche konzentrieren!“, raufte sich Allegro das Fell um den Kopf, sobald er wieder auf den Beinen stand „Wir haben eine ernste Krise in beiden Welten! Habt ihr das gar nicht mitbekommen?“

„Doch.“

„Geht uns nur am Arschfell vorbei.“

So viel Ignoranz war zu viel. Dabei dachte er Dragoon könnte niemand übertreffen.

„Das sollte es aber nicht! Ihr seid auch davon betroffen, wenn nicht alle Bit Beast zusammenhalten. Jeder muss jetzt seinen Teil beitragen!“

„Sagt wer?“, Gabriel stolzierte provokativ mit erhobenem Haupt weiter. Um nicht den Anschluss zu verlieren versuchte Allegro ihm vorsichtig auf dem Schnee nachzulaufen, ohne wieder einzubrechen.

„Dragoon!“

„Den kann ich gar nicht ab. Bäääh!“, meckerte der Bock. „Ständig lässt er die Muskeln spielen und seid er seinen Titel hat, hält er sich für was ganz Besonderes.“

„Oh! Oh! Erinnerst du dich was er letztes Mal gesagt hat?“, fragte Ariel aufgeregt. „Komm, mach es mal nach! Das kann er echt gut.“

„Soll ich?“

„Ja los! Fang endlich an!“

Gabriel reckte die Brust und äffte Dragoon nach.

„Ihr beiden seid ein Witz! Es ist schon wieder ein Flieger wegen euch abgestürzt! Wenn ich jedes Mal hier herauf kommen muss, um eure Luftströme auf die rechte Bahn zu führen, kann ich den Job gleich selber machen!“

Erstaunlicherweise konnte er sogar dessen Stimme haargenau in der gleichen Tonart imitieren. Es klang als stünde Dragoon wahrhaftig vor ihm. Die beiden Böcke gackerten boshaft los. Zum ersten Mal empfand Allegro etwas Mitleid für den Drachen. Es musste wirklich frustrierend sein, mit diesen beiden Trotteln zusammenzuarbeiten. Sein Verdacht bestätigte sich, als Ariel ein äußerst kindisches „Bäh Bäh Bäh!“ hinterhersetzte.

Allegro stemmte die Ärmchen in die Seiten, schaute beide streng an. Dann sprach er geradezu herausfordernd: „Ich frage mich ob ihr auch so eine große Klappe hättet, wenn Dragoon jetzt direkt vor euch stehen würde! Ihr kommt euch doch nur so mutig vor, weil eine Maus euch die Botschaft überbringt!“

„Ähh…“, eine ziemlich ertappte Pause entstand. Plötzlich stampfte Gabriel mit dem Huf auf.

„Der nervt mich jetzt aber wirklich! Hau ab, du Schmeißfliege!“

Er präsentierte ihm die Hörner und scharrte mit dem rechten Huf.

„Meine Herren, nun bleiben wir doch für einen Moment sachlich.“, hob Allegro beschwichtigend die Arme. „Wir wollen doch alle dasselbe. Eine ruhige Welt - ohne Turbulenzen.“

„Treib ihn den Berg hinab, sonst mache ich es!“, forderte Ariel, dabei hopste er aufgeregt auf der Stelle. Mit seinem Vorwurf hatte Allegro wohl einen wunden Punkt getroffen. Er wollte gerade wegrennen, sackte aber durch die hektische Bewegung wieder etwas tiefer ein. Gerade als er den rechten Fuß herausbekam, spürte er einen Schädel, der ihn langsam aus dem Schnee hob. Es war wie auf einem Katapult. Er wurde hinaufgestoßen in die Luft, so plötzlich, dass ihm der Atemzug im Hals stecken blieb. Hinter sich vernahm er das amüsierte Meckern der beiden Böcke, unter sich sah er Mimi, die von ihrem Versteck aus die Hände auf die Ohren legte. Ihre Lippen bildeten einen Satz, der höchstwahrscheinlich wieder ein „Du liebe Güte!“ beinhaltete. Gleich danach sauste Allegro den Berg hinab, schnurstracks Richtung Wald. Die Baumkronen rasten auf ihn zu. Er hoffte inständig nicht gegen einen Ast zu prallen. Und er hatte Glück…

Gerade als er durch das Blätterdach brach, kam er auf einem Blatt zu fallen, rutschte daran entlang. Blatt für Blatt milderte seinen Aufprall, bis er endlich so wenig Geschwindigkeit drauf hatte, um sich an einem kleinen Zweig festzukrallen.

Das war wohl einfach nicht sein Tag. Ständig machte ihm die Elite Ärger. Zwar waren viele vernünftig, aber doppelt so viele auch nicht. Allegro seufzte betrübt. Was das anging, schien ihm seine Statur wohl einfach einen Strich durch die Rechnung zu machen. Dadurch dass der Boss nicht persönlich auftauchte, nahm ihn niemand ernst. Dabei wären gerade Ariel und Gabriel eine große Bereicherung gewesen. Zwar war er sicherlich nicht Dragoons Kumpan, doch sollte dieser eingebildete Drache zurückkommen, würde er ihm ganz beiläufig erzählen, was für gehässige Dinge seine Untergebenen über ihn gesagt hatten. Mit etwas Glück, durfte er mitverfolgen, wie sie dann selbst im hohen Bogen vom Berg hinuntersausten.

Allegro zog sich den Ast hinauf, pickte sich eines der größten und kräftigsten Blätter heraus und packte die Enden fest an. Dann ließ er sich wie mit einem kleinen Fallschirm zu Boden gleiten. Gerade als er endlich wieder moosigen Untergrund unter seinen Zehen spürte, hörte er einen spitzen Schrei. Er spähte durch das Blätterdach, erhaschte eine Stelle die etwas Himmel durchließ, wo er Cousine Mimi auch schon vorbeisausen sah. Offenbar hatten diese rüpelhaften Steinböcke sie nun auch erwischt. Mit bangem Blick verfolgte er ihre Flugbahn. Er hatte den Eindruck, als würde er ihr nun wirklich mehr, als vier Haselnüsse schulden.
 


 

*
 

Kai strich nachdenklich mit den Fingern über den Rand seiner Kaffeetasse. Er hatte keinerlei Appetit, beschränkte sich nur auf das Getränk. Seine Schwester saß inzwischen im Wohnzimmer, wo sie das morgendliche Kinderprogramm im Fernsehen verfolgte, während sie ihr Frühstück aß. Zwischendrin vernahm man immer mal wieder ihr Plappern, weil sie wie ein kleiner Papagei nachahmte, was in der Serie gesprochen wurde.

Kai wusste nicht, wie viel er von dem Gespräch zwischen Jana und Tyson verpasst hatte, doch was er aus ihrem Mund hörte, stieß ihm übel auf. Er war sehr bedrückt danach, machte sich Vorwürfe, dass er seine Mutter so verboten falsch eingeschätzt hatte. Er schenkte wahrhaftig immer den falschen Leuten sein Vertrauen, hielt an seiner Familie fest, weil er glaubte, Blut sei dicker als Wasser. Es gab aber wohl keine Garantie dafür. Umso faszinierter war Kai, wie schnell Tyson einen Draht zu seiner Schwester aufgebaut hatte. Sie wollte danach gar nicht mehr auf Kais Arm, sondern bei ihrem neuen Bruder bleiben. Da wurde er fast etwas eifersüchtig…

Kai musste sanft lächeln, als im Vorschulprogramm ein Lied eingestimmt wurde und Jana geradezu inbrünstig mitsang. Sie traf keinen einzigen Ton, aber gerade das machte es so reizend. Bei ihnen daheim, durfte sie so früh am Morgen nicht vor den Fernseher und erst recht nicht auf der Couch frühstücken. Doch weil Tyson und er noch so viel bereden wollten, bevor Mr. Kinomiya aufstand, machte er eine Ausnahme. Der saß dicht neben ihm am Küchentisch. In seiner Hand hielt er seinen alten Blade, den er wohl zusammen mit Jana im Schrank hervorgeholt hatte. Er tippte immer mal wieder nachdenklich dagegen. Dragoons Emblem war noch nicht darauf zurückgekehrt. Allerdings vermuteten beide es läge daran, dass Tyson ihm befohlen hatte zu verschwinden.

„Eigenartig. Ich fühle mich diesem Ding gar nicht mehr verbunden.“, hatte er irgendwann geistesabwesend gemummelt. „Es ist nur noch ein Spielzeug für mich. Bestenfalls eine Erinnerung aus Kindertagen.“

Das verstand Kai sogar. Er hatte wissend die Lider gesenkt. Tyson war wohl endlich erwachsen geworden. In seinem Blick steckte viel Erfahrung. Er wusste jetzt wie es war, um sein Überleben zu kämpfen. Etwas was Kai in der Abtei gelernt hatte. Er kam sich deshalb seinen Freunden stets überlegen vor. Nun hatten sie ihn wohl eingeholt…

Ihm fiel auf dass Tyson nichts zum Frühstück zu sich nahm. Sonst war es das Erste was er tat, wenn er aufstand. Er hatte dann immer gestrahlt, einfach weil ihm eine gute Mahlzeit Freude bereitete. Nun wirkte er aber so viel nachdenklicher als früher.

Ihm schienen tausend Dinge durch den Kopf zu jagen. Nur bei einem Gesprächsthema erblickte Kai den alten Schalk in dessen Augen - als sie über ihre gemeinsame Nacht von gestern sprachen. Da lag schon das Verlangen nach mehr in seinem Blick. Kai war etwas unbeholfen geworden, denn das Lächeln seines Gegenübers verriet ihm, wie sehr er die vorherige Nacht genossen hatte. Gleich darauf strich er ihm liebevoll eine Strähne aus dem Gesicht, betrachtete ihn eingehend.

„Sieht toll aus es wenn du rot wirst.“

Es ließ Kai die Augen schließen. Er hatte sich gestern wirklich hinreißen lassen, Dinge gesagt, die für ihn sonst unvorstellbar waren. Eigentlich gab er in jeder Lebenslage genau darauf acht was aus seinem Mund kam. Jedes gesprochene Wort konnte gegen einen selbst verwendet werden. Deshalb wäre ihm sein gestriges Verhalten früher sauer aufgestoßen. Er hätte hinterher Angst gehabt, dass jemand etwas davon erfuhr, ihm damit einen Dolch in den Rücken rammte, gerade wenn er es am wenigstens erwartete. Diese Zweifel blieben aber heute aus…

Als er nach dem Sex auf blieb um wache zu halten, war ihm eingefallen, dass er sich bei niemandem zuvor so fallen gelassen hatte, wie bei Tyson. Mit ihm war es so einfach gewesen. Er vertraute ihm bedingslos. Auch wenn der es heute Morgen nicht unterlassen konnte, ihn ein wenig aufzuziehen. Kai war nach dem Vorfall mit Jana an der Spüle gestanden, um das Besteck zu säubern, was er für ihr Frühstück gebraucht hatte, da umschlang Tyson ihn ganz unerwartet von hinten. Er hatte gar nicht bemerkt, dass der wieder aus dem Badezimmer zurück war. Seine Finger fuhren an seinem Körper entlang und schon raunte er ihm dicht ans Ohr, dass man Kai seine hemmungslose Art kaum ansehe.

„Wie du da so stehst, siehst du aus, als könntest du kein Wässerchen trüben.“

Er hatte Tyson zu gemurrt die Klappe zu halten. Doch der gluckste nur, fuhr mit seinen Fingern an seinen Hintern und fragte ganz ungeniert, ob ihm vom gestrigen Ritt nicht etwas wehtäte. Das war dann doch zu viel. Kai war hochrot geworden und gab ihm einen kräftigen Ellbogenhieb, dass sein Hintermann nach Luft japste.

„Dir sieht man deine Perversionen auch nicht gerade an, Kinomiya!“

„Ich weiß! Deshalb habe ich den Überraschungsmoment immer auf meiner Seite.“

Er frohlockte regelrecht, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und pfiff vergnüglich vor sich her. Scheinbar war Tyson was das betraf etwas offener als er. Der nahm allerdings auch an, dass Kai entsetzt darüber wäre, das seine Schwester nun von ihrer Affäre wusste.

Zugegeben, es passte Kai nicht sonderlich - aber nur weil sie ihm zu jung für dieses Themen schien. Nicht weil er sich dafür schämte einen Mann zu lieben. Während er ihr das Frühstück richtete, sprach er noch einmal mit ihr darüber - unter vier Augen. Das war wirklich unangenehm für ihn gewesen. Noch nie hatte er Jana eine seiner Verflossenen vorgestellt.

„Warum du keine Pyjama an gehabt?“, wollte sie arglos wissen. Etwas verzweifelt wechselte er das Thema, doch Jana ließ nicht ab, fragte ihm stattdessen neue Löcher in den Bauch. „Du und Tidom knutschen? Mache ihr so?“

Sie tat als wären ihre beiden Zeigefinger zwei Männchen, lehnte die Spitzen aneinander, als seien es zwei Gesichter die sich zum Küssen vorbeugten, gab dabei die ganze Zeit ein „Ma, ma, ma, maaa!“ von sich. Als sie Kais starren Ausdruck sah, begann sie frech zu glucksen. Ihre kleine Zahnlücke kam dabei zum Vorschein. Sie zog ihn auf und das schon in dem Alter. Er rollte mit den Augen und bat seine Schwester so vorsichtig wie möglich, was sie gesehen habe, für sich zu behalten.

„Wieso?“

„Weil es unser Geheimnis ist. Und weil ich dir ein Spielzeug kaufe, wenn du es wirklich tust.“

„Uh!“, sie machte große Augen. „Okay.“

Und schon hatten sie einen Deal…

Hinterher fiel ihm auf, dass sie mit keinem Wort darüber sprach, wie eigenartig es war, dass ihr großer Bruder einen Mann küsste. Entweder waren die heutigen Kinder weiter als zu seiner Zeit, oder sie verstand einfach nicht, dass gerade das ihr zu denken geben sollte.

„Ich glaube es ist letzteres.“, meinte Tyson, als er ihm nun davon berichtete. „In ihrer unschuldigen Welt gibt es wohl solche Grenzen nicht. Liebe ist einfach Liebe.“

„Wahrscheinlich.“, seufzte Kai traurig, schaute in den Inhalt seiner Tasse. „Das würde erklären weshalb sie auch immer noch an unserer Mutter hängt. Ich habe das nie wirklich verstanden...“

Es wurde still zwischen ihnen. Als er den Blick fragend hob, fiel ihm auf, wie ernst Tyson ihn bedachte. Etwas lag ihm auf der Zunge.

„Was?“

„Kai, ich will dir nicht zu nahe treten, aber dasselbe habe ich auch ständig bei dir gedacht.“

„Bei mir?“, blinzelte er überrascht. „Nach dem was passiert ist, würde ich meine Mutter hochkant aus dem Haus jagen, wenn sie es wagen sollte erneut aufzutauchen.“

„Aber zuvor hast du sie aufgenommen. Sie glänzte jahrelang mit Abwesenheit, trotzdem hast du sie in dein Haus gelassen. Es war dein Erbe – nicht ihres. Und es ist nicht nur sie.“, sprach Tyson eindringlich. „Diese Frage habe ich mir auch bei deinem Großvater gestellt. Ich weiß nicht genau, woran du dich alles erinnerst, aber gestern Abend wusstest du zumindest wieder, was für ein Ekel er war. Ich könnte dir duzende Momente aufzählen, in denen ich dir angeboten habe, bei mir zu wohnen, aber du hast ständig abgelehnt.“

Kai schaute auf seine Finger. Der Griff um die Tasse begann zu zittern. Er wusste den Grund und jetzt wäre die Gelegenheit, Tyson davon zu erzählen. Doch etwas in ihm sträubte sich. Eine Parole aus der Abtei schoss ihm durch den Sinn.

„Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“

Diesen Satz hatte er dort so oft vernommen. Es wurde ihnen wortwörtlich eingebläut. Ihm war klar dass Tyson eine Antwort erwartete. Er spürte seinen Blick auf sich ruhen.

„Warst du schon einmal im örtlichen Tierheim?“, fragte Kai. Sein Gegenüber blinzelte perplex, verwirrt über den plötzlichen Themenwechsel.

„Nein.“

„Ich aber. Ich erinnere mich daran, einmal einen Streuner dorthin gebracht zu haben. Es war ein Kater. Die Pflegemutter meinte, dass der Kleine ganz offensichtlich gefallen an mir gefunden habe – aber ich konnte ihn wegen meinem Großvater nicht behalten. Sie versuchte mich trotzdem zu überreden ihn zu behalten. Ein Satz blieb mir damals besonders im Kopf hängen. Tiere die aus dem Elend herausgeholt werden, sind die dankbarsten Gefährten.“

„Warum erzählst du mir das?“

„Ich denke einfach so war das mit Großvater und mir.“

„Wegen deinen Eltern oder der Abtei?“, hob Tyson fragend die Braue.

Kai könnte es zugeben. Das er endlich wieder wusste, wie die Tage dort waren. Weshalb er seinem Großvater so lange loyal blieb. Wie dankbar man einem Menschen war, wenn er einen aus diesem Tierheim herausholte. Sein Großvater hatte ihm gesagt, er hätte nichts von den Zuständen dort gewusst. Kai glaubte ihm. Es blieb ihm auch keine andere Wahl. Wo hätte er auch hingehen sollen. Er war immerhin noch ein kleines Kind gewesen…

Seine Auswahl an Rückzugsorten war damals mehr als begrenzt. Er hätte diesen Gefühlen gerne Ausdruck verliehen. Sie in Worte gefasst. Doch es fühlte sich wie eine unüberwindbare Barrikade an.

„Ich weiß nicht genau… Vielleicht beides. Es ging mir einfach nur durch den Sinn.“, Kai fuhr sich gequält über die Stirn. „Ich weiß gar nicht warum ich damit angefangen habe.“

Janas Gesang ließ beide plötzlich hochfahren. An einer Stelle traf sie den Ton so unfassbar schrill, dass sie kurz darauf auflachen mussten. Singen war angeblich eine Kunst, aber es schien viel anstrengender zu sein, so falsch zu singen.

„Liegt wohl an ihren dicken Hamsterbacken.“

„Vielleicht. Du hast ihr also schon einen Spitznamen gegeben?“

„Kleiner Hamster finde ich einfach passend.“

„Ja, irgendwie… Ich wünschte manchmal sie könnte so bleiben.“, sprach Kai lächelnd. Doch eigentlich bemühte er sich nur vom vorherigen Thema wegzukommen. „Sie ist so unglaublich naiv. Wenn ich daheim war, wirkte sie auch so unbeschwert. Wie sie sich da oben bei dir im Zimmer gegeben hat, liegt zumindest nicht bei uns an der Tagesordnung. Tut mir Leid dafür.“

„Schon okay. Wir werden auskommen.“, grinste Tyson. „Und sie scheint sich wohl zu fühlen.“

„Ja. Sie mag dich.“, Kai nahm einen Schluck aus seiner Tasse. Dabei dachte er über sein jetziges Verhalten nach. Die Mauer überwinden…

„Vielleicht habe ich sie auch zu sehr eingesperrt. Sie geht noch nicht einmal zur Vorschule. Eigentlich ist sie seit einem Jahr überfällig, aber ich habe sie lieber daheim gelassen. Die Welt kann einfach so grausam sein und ich will sie nicht in eine spezielle Schule schicken.“

„Du willst sie beschützen. Das kann ich verstehen, aber wird es nicht Zeit dein Küken fliegen zu lassen? Wenigstens so dass sie neue Leute kennenlernt. Vielleicht sogar ein paar Freunde findet?“

Kai musste über den Vergleich nachdenken. Sein Küken…

Dranzer hatte ihn auch als so etwas gesehen. Geradezu zärtlich sprach sie ihn so an. Das ließ ihn einen Moment schlucken.

„Womöglich…“

Auch Tyson gaben seine eigenen Worte zu denken, schien die Parallelen zu bemerken. Er schaute auf seinen Blade herab.

„Eigentlich sollte ich heute einiges erledigen.“

„Das habe ich mir gedacht.“

„Ich kann aber nicht gehen. Immerhin…“

Er ließ den Satz unvollendet, hielt ihm stattdessen den Blade vor das Gesicht. Dabei tippte er auf das leere Emblem. Kai betrachtete es eingehend, schüttelte dann aber den Kopf.

„Es wird nichts mehr passieren. Der neue Tag ist seit einigen Stunden angebrochen und das überall auf der Welt. Du weißt wie Galux es uns erklärt hat. Die Portale sollten überall geschlossen sein.“

„Ray hat noch nicht angerufen…“

„Er wird sich um die Scheidungspapiere kümmern – oder noch unterwegs sein. Die beiden wollten immerhin mit dem Zug weiter.“, Kais Augen huschten zur Uhr. „Und Max dürfte noch nicht einmal gelandet sein. Gib den beiden Zeit sich von der Reise zu erholen. Es ist noch sehr früh. Er wird einen Jetlag haben.“

Tyson brummte verstimmt. Womöglich weil er in seiner Ungeduld dachte, dass eine kleine Nachricht nicht zu viel verlangt gewesen wäre.

„Du solltest dich jetzt ohnehin bald zum Präsidium aufmachen. Die ganze Nacht über ist nichts passiert, jetzt musst du dich um deinen Bruder kümmern.“, er dachte nach. „Könnt ihr euch einen Anwalt leisten?“

Er sah Tysons Blick zur Seite huschen.

„Sicher.“

„Falls es nicht reicht, würde ich gerne…“

„Danke, aber erst einmal versuchen wir so klar zu kommen.“, das Thema Geld schien doch an seinem Stolz zu kratzen. Aber irgendwann grinste Tyson. „Du konntest ihn eigentlich nie leiden…“

„Das spielt keine Rolle. Er ist Teil deiner Familie.“, Kai wandte den Blick ab, sprach dabei leise weiter. „Wenn du dich um Jana bemühst, kann ich das auch bei Hiro. Wir müssen uns nur verstehen. Nicht in den Armen liegen.“

Tysons Ausdruck wurde zärtlich. Er beugte sich zu ihm vor, ergriff Kais Hand und küsste sie. Anschließend betrachtete er seine Finger. Kai fiel auf wie oft er das tat. Etwas schien ihm dabei durch den Sinn zu gehen. Er fühlte wie Tysons Daumen ihm über den Handrücken fuhr, dabei schien er in Erinnerungen zu schwelgen.

„Kaum zu glauben wie lange wir gebraucht haben…“

„Findest du?“

„Zehn Jahre, Kai. Das ist doch eine beachtliche Zeitspanne, dafür, das wir regelmäßig Kontakt hatten.“, er schmunzelte wieder. „Hätte mir das zu unseren Anfängen jemand vorhergesagt, hätte ich ihm den Weg zur nächsten Irrenanstalt erklärt.“

Er könnte beleidigt sein, aber in Anbetracht ihrer ständigen Zankereien war diese Äußerung nur legitim. Ein ähnlicher Vorschlag wäre auch aus seinem Mund gekommen.

„Nicht nur du. Aber wir waren auch noch Kinder…“

„Die Hälfte dieser Zeit. Während der anderen Hälfte hätte ich es merken müssen.“

„Wo wir bei dem Thema sind – wann ist es dir klar geworden?“

Tyson zog nachdenklich die Brauen zusammen. Kai sah wie sich seine Augen kurz zur Decke richteten, während er eindeutig nach einem Anhaltspunkt suchte.

„Die Zeichen waren wohl schon vorher da. Aber so richtig klar geworden, ist mir das erst als Dranzer…“, er hielt inne. Sein Blick huschte für eine winzige Sekunde zu Kai. Dann schien er seine Antwort zu ändern. „Als wir in der Irrlichterwelt waren.“

„Wolltest du nicht etwas über Dranzer sagen?“

„Nein.“

„Du verheimlichst mir doch was.“

Er ließ von ihm ab.

„Ich erklär es dir ein anderes Mal.“

„Sag mir die Wahrheit!“, Kai beugte sich vor, sah ihn fordernd an. Lange Zeit starrten sich beide einfach nur in die Augen. Kein Wort kam aus ihrem Mund, nur das Ticken der Uhr schallte durch die Küche. Irgendwann zischte Tyson verstimmt.

„Das du es nie auf etwas beruhen lassen kannst…“, er lehnte sich im Stuhl zurück. Nach einer kurzen Pause erklärte er: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass du irgendwas davon noch weißt, aber als wir in der Irrlichterwelt gestrandet sind, hatte Dranzer zuvor Besitz von dir ergriffen.“

„Was?“, er starrte ihn verdattert an. „War das vor oder während dem Brand?“

„Danach…“

Kais Mund klappte fassungslos auf. Dann lehnte auch er sich zurück. Er schaute aus dem Fenster und sah es doch nicht so wirklich, denn sofort begann sein Verstand zu kombinieren. Ihm ging der Blackout durch den Sinn. All die Dinge die Kato ihm beim Verhör vorwarf. Kai hatte es geahnt. Etwas war faul am Angriff auf die Krankenschwester und das er rein gar nichts mehr von dieser Nacht wusste.

„Dein Großvater hat gelogen?“, fragte er aus großen Augen. Doch Tyson antwortete nicht. Er schaute ihn einfach nur an, aber sein Blick war anders als sonst. Da lag kein Bedauern, keine Reue darin.

„Dann war ich es also doch der sie so zugerichtet hat?“

„Warst du es?“, stellte Tyson die Gegenfrage. „Denn das weiß doch eigentlich keiner so genau. Alles was wir gehört haben sind Vermutungen.“

„Es kann gar nicht anders gewesen sein!“

„Und selbst wenn, ich finde nicht das es dich schuldig macht. Du selbst hättest nie so gehandelt. Es war nur dein Körper der sich bewegt hat, mit einem fremden Geist, der ihn gesteuert hat. Ich kann nicht erkennen, dass du absichtlich so gehandelt hättest, wenn du bei Verstand gewesen wärst.“

„Natürlich nicht. Ich kannte diese Frau ja gar nicht…“

„Na also! Ende der Geschichte.“

„Aber…“

„Kai, schau mich an!“, Tyson packte erneut seine Hand. Dieses Mal lag da etwas Strenges in seinem Blick. „Ich weiß dass du das nicht wolltest.“

„Warum habt ihr es dann verschwiegen? Du und dein Großvater...“

„Weil ich dich kenne! Ich wollte nicht dass du dir die Schuld dafür gibst, wie damals bei deinem Schulkameraden Wyatt - als dieser Trottel mit seinem Bit Beasts überfordert war! Niemand hatte ihm gesagt, sich mit einer dubiosen Organisation einzulassen, aber du hast dir die Schuld dafür gegeben, nur weil du ihn abgewiesen hast. Du nimmst solche Dinge viel persönlicher als du solltest! Das musst du aber nicht.“

„Sie war mein Bit Beast… Ich hätte sie kontrollieren müssen!“

„Diese Wesen kann man nicht kontrollieren, Kai! Das sollten wir beide doch so langsam wissen! Du kannst einem Sturm auch nicht sagen, er soll aufhören zu wüten. Es gab nichts was du gegen dein Bit Beast hättest tun können.“, er packte sein Handgelenk noch fester. „Genau deshalb haben wir gelogen. Weil ich genau wusste, dass diese Zweifel irgendwann von dir kommen. Aber das ist unfair. Du kannst dir doch dafür nicht die Schuld geben!“

„Ich hätte mich mehr wehren müssen…“

„Wie viele Leute werden auf Bewährung freigelassen, weil sie unter Alkoholkonsum irgendwelchen Mist verzapfen! Wie viele Leute werden wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen, obwohl jemand drauf gegangen ist! Keiner von uns weiß was passiert ist. Keiner! Das alles sind nur Vermutungen.“

„Du redest es dir schön.“

„Vielleicht tue ich das. Aber hey, wir können nichts mehr für diese Frau tun!“

Kai starrte ihn an. Er fragte sich, ob das wirklich Tyson vor ihm war.

„Bereust du es denn kein bisschen? Diese Frau ist den Rest ihres Lebens entstellt.“

„Was mit ihr passiert ist, ist verdammt scheiße! Das tut mir auch Leid. Hätte ich ihr helfen können, dann hätte ich es getan, egal wie biestig sie zu mir war. Aber indem du für diese Sache ins Gefängnis gehst, ist doch rein gar niemandem geholfen! Also wenn du wissen willst, ob es mir Leid tut das ich gelogen habe, dann sage ich eindeutig nein. Es tut mir nicht leid!“, sprach Tyson geradeheraus. „Ich liebe dich – und ich würde alles tun um dich zu schützen. Dafür schäme ich mich nicht. Die hätten dich weggesperrt und das obwohl du genauso ein Opfer von Dranzer warst! Das konnte ich nicht zulassen.“

Kai atmete tief aus, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

„Ich habe jemanden beschützt, der mir etwas bedeutet.“, rechtfertigte Tyson sich inzwischen weiter. „So bin ich nun einmal. Wenn ich die Wahl habe, wem ich zuerst helfen soll, werde ich zuerst meine Familie wählen. Das schließt dich und die anderen mit ein.“

Kai wusste nicht, was er davon halten sollte. Auf der einen Seite war er irgendwie gerührt und doch war da auch das Gefühl, Tyson hätte ihm die freie Entscheidung auf Wiedergutmachung geraubt. Er hatte über seinen Kopf hinweg einen Entschluss für ihn gefasst, ohne ihm die Wahl zu lassen. Nun musste Kai mit dieser Last auf seinem Gewissen leben. Er war alles andere als ein Engel, doch es ging einfach um seine Ehre.

„Wissen Max und Ray es auch?“

„Sie werden sich gedacht haben was passiert ist. Wir haben auch nicht mehr darüber gesprochen. Die beiden haben ihre Probleme und ich muss mich um die Baustellen kümmern, die gerade vor mir liegen.“

„Früher wolltest du alles und jeden retten…“

„Nein!“, Tyson hob den Zeigefinger. „Genau in dieser Sache hast du mich immer falsch verstanden! Du hast mir früher ständig vorgeworfen, dass ich bei jeder Gelegenheit den Helden spielen muss. Die Wahrheit ist aber, dass zu aller erst meine Leute kommen – für die würde ich mein Leben geben. Und erst danach kümmere ich mich um die anderen! Was ihr passiert ist, lässt sich sowieso nicht mehr ändern, also hast du bei mir Vorrang!“

„Dass du so sein kannst wusste ich nicht…“

Einen Moment schloss Tyson seufzend die Augen.

„Dann ist das wohl der Drache in mir. Er bleibt auf seinem Goldschatz hocken und reißt jeden in Fetzen, der ihn anrühren möchte. Dieses Mal musste eben diese Krankenschwester dran glauben…“

Kai dachte darüber nach. Es erinnerte ihn an die alten Sagen in Europa, wo man Drachen mehr als Dämonen sah, statt als Glücksbringer wie hier zu Lande. In Russland waren diese Legenden ebenfalls geläufiger. Er hätte nicht erwartet, dass Tyson die westliche Anschauung kannte. Und noch weniger hätte Kai sein Verhalten so interpretiert…

Der Drache der auf seinem Schatz sitzt. Dann waren wohl alle Menschen die Tyson am Herzen lagen eine weitere Goldmünze. Wenn man eine davon wegnehmen wollte, wurde der Drache böse. Als Kai zu ihm aufsah, konnte er einen traurigen Blick erhaschen. Er hatte versprochen Tyson zu lieben. Auch seine finsteren Seiten. Hier war wohl eine davon zum Vorschein gekommen. Sein Schock ließ ein wenig nach. Kai rief sich in Erinnerung, wen Tyson hier eigentlich schützen wollte. Es war unrecht. Beide wussten es. Doch Tyson stellte sein Wohl über das eines anderen Menschen – einfach weil er ihn liebte.

Sollte Kai eine solche Loyalität nicht schätzen?

Wie hätte er an seiner Stelle gehandelt?

Kai umgriff die Tasse vor sich fester. Die Antwort war doch eigentlich so klar…

„Wir alle haben unsere Tiefpunkte.“, entschied er leise.

„Ja, leider.“, kam es nachdenklich zurück. Für eine Sekunde kehrte andächtiges Schweigen ein. Kai dachte an die Frau, deren Leben er zerstört hatte, fragte sich ob sie Familie besaß, vielleicht sogar Kinder - doch vor allem daran, wie viele Geheimnisse er mit seinen Freunden nun teilte. Tyson drehte den Blade immer wieder vor sich auf der Tischplatte. Sein Ausdruck war geistesabwesend. Er war kein Unmensch. Es tat ihm genauso Leid wie Kai, doch er hatte seine Entscheidung gefällt. Damit trug er auch seine Bürde. Irgendwann seufzte er und fragte: „Was sind deine dunkelsten Momente gewesen?“

Es klang als würde er nur nach einem anderen Gesprächsthema suchen. Kai hob langsam den Blick. Vor ihm war ein Mensch, der seine düsteren Seiten offenlegte. Das sollte er auch endlich tun.

„Die aus der Abtei…“, antwortete Kai wahrheitsgetreu. Es wurde wieder still. Tyson blinzelte ihn verdutzt an. Erst jetzt schien ihm klar zu werden, dass seine vorherige Frage eigentlich dumm gewesen war. Kai wusste noch nicht viel aus seinem alten Leben – zumindest dachte Tyson das.

„Du erinnerst dich wieder daran?“

Sein Rücken straffte sich. Er beäugte Kai geradezu aufgeregt. Seine Reaktion ließ ihn nur ein weiteres Mal begreifen, wie sehr sich seine Freunde mehr Informationen über diese Zeit wünschten. Wenn er an diesen Lebensabschnitt zurückdachte war es auch nur verständlich. Es erklärte so vieles. Und doch schaute Kai jetzt anders darauf zurück, weil er wenigstens für ein paar Tage erfahren hatte, wie es sich anfühlte, als Kind umsorgt zu werden. In der Geborgenheit einer Gruppe zu leben…

„Erzählst du mir davon?“, fragte Tyson.

„Wolltest du nicht zu deinem Bruder?“

„Um halb sieben? Kato meinte ich soll mich vor neun Uhr nicht blicken lassen.“

„Hmm…“, Kai schaute einmal mehr auf den Inhalt seiner Tasse. Sie war mittlerweile kalt. Er horchte in sich hinein, ob er wirklich bereit dazu war. Da waren so viele Erinnerungen, die er vehement verdrängt hielt. Doch zum ersten Mal in seinem Leben, war da das Gefühl, darüber sprechen zu wollen.

„Es ist eine sehr lange Geschichte. Oder besser gesagt eine Aneinanderreihung von vielen kleinen Geschichten…“

„Wir haben doch Zeit.“

„Ich bin nicht sicher ob mir alles einfallen wird. Vielleicht erinnere ich mich noch gar nicht an alles. Und es gibt so vieles zu erzählen. Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll…“

„Dann gibst du mir jetzt eine grobe Zusammenfassung.“, Tyson lächelte ihn auffordernd an. „Und wenn wir abends alleine sind, kannst du mir alles erzählen, was dir noch im Nachhinein einfällt. Das ist wie bei einem Puzzle! Du erkennst das Motiv, aber bist erst fertig, wenn das letzte Teil an seinem Fleck liegt.“

Über diesen Vergleich musste er schmunzeln. Wie ein Puzzle…

Das hatte Kai doch schon einmal gehört. Er schloss einen Moment die Augen.

„Okay. Ich erzähle dir davon.“, dann huschte sein Blick etwas beklommen zur Seite. „Auch wenn ich etwas Angst davor habe, wie du mich danach sehen könntest.“

„Es wird sich nichts ändern.“

„Das weißt du noch nicht.“

„Doch, das tue ich. Dafür bedeutest du mir einfach zu viel…“
 

Es vergingen fast zwei Stunden, bis Tyson nach seiner Erzählung aufbrach, um sich wieder zum Präsidium aufzumachen. Kurz zuvor war dessen Großvater heruntergekommen und sie frühstückten alle gemeinsam. Als sie aßen war Tyson sehr schweigsam. Er stocherte in seinem Essen herum, noch im Gedanken bei dem eben gehörten.

Kai sah dass es ihn beschäftigte. Er wirkte sehr bedrückt. Mit seinem Großvater sprach er nur wenig, sie beredeten lediglich ihr weiteres Vorgehen was Hiro betraf. Für einen kurzen Moment bereute Kai, ihm von der Abtei erzählt zu haben. Doch irgendwann standen sowohl Mr. Kinomiya, als auch Tyson vom Tisch auf. Der eine begab sich ins Badezimmer, der andere räumte die Teller ab. Kai blieb dagegen sitzen, dachte daran, wie Leid es ihm tat, Tyson mit dieser düsteren Erinnerungen den Morgen verdorben zu haben, als er zwei Hände spürte, die seine Schulter hinabfuhren. Kurz darauf wurde er von hinten umarmt. Er fühlte Tysons Gesicht was sich warm und zärtlich an seines schmiegte.

„Danke dass du es mir erzählt hast.“, raunte er ihm ins Ohr. „Ich verstehe es endlich.“

Ein Kuss traf seine Schläfe. Eine Weile verharrten beide wie sie waren. Kai hielt die Lider gesenkt, atmete ruhig aus. Er konnte Tyson hinter sich fühlen, hörte, wie er ihm zuflüsterte, niemals mehr etwas Derartiges an ihn herankommen zu lassen. Es ließ eine warme Woge in seinem Körper aufkommen und schon waren seine Zweifel von zuvor dahin. All diese Dinge ausgesprochen zu haben - es war wie eine Last die von seiner Seele fiel.

Kai konnte endlich akzeptieren was passiert war. Das es zu seiner Vergangenheit gehörte. Es hatte ihn geprägt, seine Spuren hinterlassen, auch wenn er das bis ins Erwachsenalter leugnete. Er hatte das getan was Abteikinder für gewöhnlich nicht taten.

Er sprach darüber…

Und als Tyson kurz darauf das Haus verließ, begleitete Kai ihn bis zum Wagen. Beide mussten schmunzeln als sie das lädierte Auto sahen, mit der klaffenden Wunde auf einer Seite, dort wo einmal eine Tür war. Kai prophezeite seinem Liebhaber, dass er bestimmt bald wieder von der Polizei aufgegriffen wurde, doch Tyson zwinkerte ihm beim Einsteigen zu und meinte, dass er noch drei andere Türen besaß, da wäre eine weitere doch ein unnötiges Luxusproblem. Es war immer wieder erstaunlich, wie einfach er die Dinge sah. Gleich darauf kurbelte er das Fenster herunter.

„Viel wichtiger ist ob ich noch einen Abschiedskuss bekomme?“

Kai hatte auf ihn herabgeschaut, wie Tyson dort im Wagen saß und ihn ganz erwartungsvoll angrinste. Dieser liebenswerte Idiot…

Er warf einen flüchtigen Blick über seine Schulter, um sicherzustellen, dass niemand vom Haus aus etwas mitbekam. Erst dann beugte Kai sich herab, um einen innigen Kuss mit Tyson auszutauschen und sah ihm anschließend bis zum Schluss nach, wie er vom Hof fuhr.
 

Was Kai allerdings nicht mitbekam, war, was sich ein paar Sekunden darauf im Inneren des Wagens abspielte, nämlich zu jenem Zeitpunkt, als Tyson kurz das Radio aufdrehte. Die Nachrichten liefen. Der Sprecher leierte wie ein Wasserfall die aktuellen Themen des Tages herunter. Eine davon handelte von einer Krankenschwester, die nach einem Angriff in der letzten Halloweennacht, heute Morgen ihren Verletzungen erlag. Einen Moment hielt Tyson länger an der nächsten Kreuzung als nötig.

Er fühlte so viel Bedauern für diese Frau – aber keine Schuld.

Er liebte Kai. Niemand durfte ihm noch einmal schaden. Einfach weil er der festen Überzeugung war, dass seine Kindheit schon genug versaut worden war, da sollte ihm nicht noch seine Zukunft geraubt werden. Mit diesem Entschluss drehte er das Radio ab. Die ganze Sache blieb für ihn ein tragischer Zwischenfall.
 


 

*
 

Dragoon war noch nie so lange in der Menschenwelt ohne einen Energiespender und zum ersten Mal, machte sich das auch deutlich bemerkbar. Er fuhr sich über die Stirn. Sie war eiskalt. Seine Hülle kam ihm wie eine Last vor. Es fiel ihm unglaublich schwer jeden Muskel darin zu bewegen und dabei waren es auch noch so viele. Etwas Unkomplizierteres empfand er gerade als weitaus wünschenswerter. Allerdings war es auch faszinierend, wie sein Körper auf den Energieschwund reagierte. Die Leichenstarre schien noch einmal einzusetzen. Seine Glieder drohten zu versteifen. Diese Hülle starb also ein weiteres Mal vor sich hin. Er musste sich wirklich anstrengen um dem entgegenzuwirken. Dabei erkannte er wie komplex ein menschlicher Körper überhaupt war. So viele Muskeln, Fasern, Gehirnzellen und Nervenbahnen die angetrieben werden mussten. Ein kleines Wunder der Natur…

Über diesen Gedanken musste Dragoon traurig Lächeln. Er lehnte sich gegen eine Straßenlaterne, schnaufte schwer. Er bekam kaum noch Luft. Was für eine Ironie! Das Bit Beast was sämtlichen Lebewesen den Atem spendete, geriet ins Keuchen wie ein hechelnder Köter. Dragoon stemmte den Arm gegen das kalte Metall. Einmal mehr schloss er die Augen, versuchte eine Verbindung zu Takao aufzubauen. Doch wie die letzten Stunden blieb ihm die Energie seines Menschenkindes versagt. Nicht einmal orten konnte er den Jungen noch, dabei war diese Stadt eine einzig laute Katastrophe. Früher hatte Dragoon seinem inneren Kompass getraut. Durch dieses Wirrwarr aus Lärm, Stimmen und hektischen Bewegungen, konnte er ohne viel nachzudenken hindurch sausen. Takaos Energie war wie ein Leuchtturm, auf den er zielgenau zusteuern konnte, ohne sich um die Belange seiner Umgebung kümmern zu müssen. Jetzt war es anders…

Alles schien ihm zu viel. Die Geräuschkulisse, die Menschenmassen, selbst das Wetter!

Er wollte wieder in seinen Blade zurück, einfach kurz ruhen, aber fand einfach nicht mehr den Weg nachhause. Doch es half nichts, er musste Dranzers Jungen finden. Dragoon stieß sich ab, schwankte durch die Straßen vorwärts. Ein Passant rempelte ihn an, schimpfte über ihn, doch er fand nicht die Kraft, ihm etwas Gehässiges zu entgegnen. Die ganze Nacht hatte sich Dragoon so durch die Gassen geschleppt. Ihm liefen einige von Dranzers Marionetten über den Weg. Denen hatte er Einhalt gebieten müssen, weil sie ständig überraschte Menschen angriffen. Allein das Chaos am Flughafen war mehr gewesen, als er momentan verkraftete. Gerade dort spitzte sich die Situation besonders zu, gleich nachdem ihn Takao zurücklies. Dragoon knurrte kurz. Undankbares Balg…

Der Junge hatte ihn einfach im Stich gelassen. Er hätte auch einfach gehen sollen. Dann wäre Dragoon nun nicht so ausgelaugt. Es hatte ewig gebraucht, Dranzers hirnlose Diener in die Schranken zu weisen. In einer weiteren Gasse hielt er wieder inne. Ratlos schaute Dragoon sich um. Einfach nichts kam ihm noch bekannt vor, womöglich weil ihm allmählich der Blick verschwamm. Die Menschen nannten es einen Tunnelblick.

Ja, das was er sah, hatte tatsächlich etwas davon.

Wie präzise sie doch mit ihren Wörtern solche Dinge umschreiben konnten.

Dragoon versuchte in der Luft nach einem Anhaltspunkt zu wittern, irgendwas das ihm weiterhelfen konnte, einen Weg aus diesem Irrgang aus Häusern zu finden. Doch alles was er roch, war der eklige Gestank der Mullcontainer, die an einer der Wände lehnte. Seine Sinne stumpften immer weiter ab. Von dem Jungen war nichts zu riechen. Er fragte sich wie Menschen nur so leben konnten. Die Gegend wo Takao hauste schien ihm so viel friedlicher. Er schüttelte den Kopf und rief sich in Erinnerung sich zusammenzureißen. Er durfte sich nicht von derlei Kleinigkeiten aus der Konzentration reißen lassen und schon gar nicht versagen. Dafür stand zu viel auf dem Spiel. Dragoon schritt schwer atmend an den Containern vorbei. Es wurde heller desto mehr er sich dem Ende der Gasse näherte. Ihm fielen Silhouetten auf, deren Schatten sich durch das trübe Licht am Ausgang, zwischen den Häuserwänden in die Länge streckten.

„Wen haben wir denn hier?“

Er hielt inne. Sein Blick schnellte vom Boden auf. Zuerst dachte er diese bekannte Stimme von vorne zu vernehmen. Als Dragoon zu den Passanten am Ausgang blickte, fiel ihm zum ersten Mal auf, dass sie geradezu reglos verharrten. Alle ließen sie die Arme schlaff neben ihrem Körper baumeln, den Kopf nach unten gesenkt.

Seine Augen wurden zu wachsamen Schlitzen. Die drachenhaften Pupillen huschten zu jedem Flecken Haut, den er vor sich erhaschen konnte. Er roch Tod. Von den blassen Körper ging keine Energie mehr aus. Jede Sehne, jedes Blutäderchen, trat deutlich unter der milchigen Haut hervor. Dragoon vernahm ein Kichern. Dieses Mal wusste er woher es stammte. Sein Kopf hob sich allmählich. Dann huschte ein Schmunzeln über sein Gesicht.

„Ist das Vögelchen endlich aus seiner Asche emporgestiegen?“

„Schon längst... Und erstarkt ist es auch. Ganz im Gegensatz zu dir.“

Die Schadenfreude war nicht zu überhören. Er konnte Dranzer kaum erkennen. Sie saß im Zwielicht, auf dem Geländer einer Feuerleiter, weit oben in einer der höheren Etagen. Das Einzige was das trübe Licht hier erreichte waren ihre Füße. Ihrem menschlichen Leib fehlten die Schuhe, womöglich weil sie sich damit genauso unwohl fühlte wie Dragoon. Er konnte kleine Zehen ausmachen. Dranzers Gesicht lag dafür umso mehr im Verborgenen, umhüllt von den Schatten der Backsteinwände. Nur eines war genau zu erhaschen. Ihre Augen…

Das stechende Leuchten ihrer in Flammen stehenden Pupillen, ließ erkennen, dass er genau beobachtet wurde. Es erinnerte ihn an zwei glühende Kohlestückchen, die zwischen schwarzer Asche vor sich her glommen.

„Eine neue Hülle?“

„Ich hatte einige Anproben in den letzten Stunden…“

„Wie schmeichelhaft. Das alles nur um für mich hübsch auszusehen?“

Sie schnaubte. Selbst aus ihrer dunklen Ecke konnte er sehen, wie Dranzer schnippisch den Kopf abwandte. Für eine Sekunde schlossen sich auch die Lider über den Augen. Ihr Licht entschwand.

„Kennt deine Eitelkeit keine Grenzen?“

„Eitelkeit ist mein zweiter Name. Das solltest du doch wirklich wissen, Liebes.“

„In der Tat.“, ihre Finger huschten aus der Finsternis hervor. Dranzer hielt sie sich vor das Gesicht, offenbar um sie gelangweilt zu mustern. „Ich bin nicht überrascht dich hier anzutreffen.“

„Dann kannst du dir wohl auch denken warum ich gekommen bin.“

„Das kann ich.“

„Aber vermutlich wirst du nicht ohne Widerworte mitkommen.“

„Auch das ist richtig.“

„Dranzer, das alles hat doch keinen Sinn mehr. Komm mit mir Heim.“

„Das du überhaupt die Frechheit besitzt, mir nach allem was passiert ist, noch Befehle erteilen zu wollen!“, herrschte sie ihn auch schon an. Ihre Launen konnten sehr wankelmütig sein. Dragoon hatte ihr einmal gesagt, dass sie deshalb umso besser zu einem weiblichen Menschen passte. „Du hast mich verschluckt… Mich!“

„Aber nicht verdaut. Das ist ein Unterschied. Deine Seele war ja ohnehin schon im Jungen untergebracht.“

„Weil ich dir misstraut habe - zu Recht!“

„Es hätte dich nicht getötet. Darauf habe ich geachtet…“

„Du hattest mir geschworen niemals ein Leid über mich kommen zu lassen!“

„Dann war das also ein Test? Um zu prüfen wie weit ich gehe?“

„Richtig… Und du hast versagt!“

„Es war die einzige Möglichkeit dir noch Einhalt zu gebieten. Und auch dein jetziges Verhalten lässt an Einsicht mangeln.“

„Dennoch hättest du dich heraus halten müssen. Er ist mein Menschenkind. Wie ich ihn erziehe, ist alleine meine Angelegenheit. Ich mische mich auch nicht in eure Angelegenheiten ein!“

Dragoon schnaufte schwer. Momentan sah er sich kaum in der Verfassung, mit ihr vernünftig zu diskutieren. Selbst das raubte ihm zu viel Kraft.

„Lass uns zuhause darüber reden…“

„Ich komme nicht mit!“, fauchte sie.

„Liebes, hör mich doch an…“, bat er. Die Sanftheit mit der Dragoon seine Worte sprach, ließ sie den Kopf neigen. „Wir haben daheim einen ernsten Notstand. Etwas Derartiges gab es noch nie.“

„So?“, kam es argwöhnisch.

„Hast du es noch nicht gehört? Driger und Draciel sind tot.“

Dieses Mal kam kein Spott, keine Gehässigkeit, kein Groll…

Es wurde einfach nur ruhig. Er hätte schwören können, keinen Mucks von ihr zu vernehmen. Als sie endlich antwortete, war alles was sie sagte: „Lüge...“

Es war nicht mehr als ein böses Zischeln.

„Ist es nicht. Es ist eine traurige Tatsache.“

„Das ist nicht wahr!“, kam es eisern.

„Sieh dich um Dranzer! Spürst du es denn nicht? Die Veränderungen um dich herum, das wankelmütige Wetter, die Katastrophen überall – das ist kein Zufall!“

„Sowas gab es schon immer…“

„Aber nicht in diesem Ausmaß!“

„Ihr habt einfach eure Pflichten vernachlässigt. Strengt euch mehr an!“

„Die beiden können ihren Pflichten gar nicht mehr nachkommen!“

„Nein! Lüge! Du versuchst mich auszutricksen damit ich Heim komme! Mein Driger könnte niemals getötet werden. Nicht er! Er ist viel zu stark dafür – und auch die alte Schildkröte ist von niemandem zu besiegen. Was kann denn schon durch ihren Knochenpanzer dringen?“, die stechenden Augen beugten sich vor. Er konnte sehen, wie sie zu Schlitzen wurden. „Du bist einfach nur heimtückisch bis ins Mark. Das warst du schon immer! Wenn ich mit dir nachhause komme, hocken die beiden sicherlich am Wurzelthron, während du dich darüber amüsierst, wie einfältig ich war… Es gibt keine Kraft, die einen Uralten vernichten kann!“

„Es sei denn ein anderer Uralter tötet sie.“

Er hörte sie keuchen. Dranzer begriff schnell: „Was hast du getan?!“

Ihre Stimme bebte vor Fassungslosigkeit. Dragoon sah die Pupillen vor sich heller entflammen. Sie breiteten sich über die gesamte Augenhöhle aus, züngelten förmlich zu den Brauen herauf. Es erhellte ihr Gesicht ein wenig, lies vage Konturen erahnen. Ein tiefer Atemzug entrang sich seiner Brust. Dann gestand er ein was nicht zu leugnen war.

„Ich habe es zu weit getrieben…“

„Du Verräter!“

„Es war falsch! Ich weiß es! Und deshalb brauche ich dich umso mehr daheim! Um unserer Welten willen, müssen wir den Groll nun beiseitelegen!“

„Niemals!“, sie erhob sich. Dranzer steckte in einem zierlichen, kleinen Frauenleib, der nun barfüßig auf dem Geländer balancierte, ohne ins Schwanken zu geraten. „Ich durschaue deinen Plan! Du hast die beiden geopfert um meine Zusammenarbeit zu erzwingen. Und nun stellst du dich hier hin und versuchst an mein Pflichtbewusstsein zu appellieren!“

„Wer ist nun eitel?“, knurrte Dragoon düster.

„Versuch meine Zweifel nicht ins Lächerliche zu ziehen! Schon einmal musste ich erleben, wie du jemanden dem mein Herz gehört hat, von mir gerissen hast, einfach so um mir weh zu tun! Doch diese Skrupellosigkeit – die hätte ich selbst dir nicht zugetraut. Ich hätte gedacht sie bedeuten dir etwas.“

„Das haben sie!“

„Deine Taten sprechen nicht für sich… Driger war dir stets ein guter Berater und was konnte die alte Schildkröte schon getan haben, um deinen Zorn zu verdienen? Sie hat sich von dir immer einlullen lassen. Wie verdorben muss ein Wesen sein, dass es die eigenen Kameraden opfert?“

Dragoon fühlte einen tiefen Stich in seiner Brust. Gerade von jenem Wesen, was er so liebte, solch harte Worte zu hören, tat unsagbar weh. Er sehnte sich noch immer nach ihrem Herz, nicht nach ihrer Verachtung. Dranzer ahnte nicht einmal, dass er alles dafür getan hätte, um noch einmal jene Zuneigung von ihr zu erfahren, die sie ihm als Küken geschenkt hatte. Einen Moment schloss Dragoon die Augen.

„Da hast du leider Recht.“

Es ließ sie verstummen. Dabei hätte er schwören können, dass Dranzer ihm noch einige Gehässigkeiten an den Kopf werfen wollte. Dragoon nutzte ihr Schweigen.

„Es war ein unverzeihlicher Fehler. Ich habe in meinem Zorn nicht die Konsequenzen bedacht.“, erklärte er, dabei um innere Ruhe bemüht, mochten ihre Vorwürfe ihn noch so sehr kränken. „Mein Zorn hat mich blind gemacht. Doch jetzt sehe ich endlich klar. Ich will gut machen, was ich noch gut machen kann. Aber das schaffe ich nicht alleine. Deshalb bitte ich dich, Liebes… Komm mit mir Heim! Wir beide gemeinsam könnten all dieses Unheil abwenden. Doch dafür brauche ich dich an meiner Seite!“

Er schaute voller Erwartung zu ihr auf. Sein Blick unnachgiebig auf die lodernden Pupillen gerichtet. Er sah wie sich die Lider darüber immer wieder senkten – doch lange Zeit regte sich sonst nichts. Irgendwann glitt Dranzer wieder langsam auf das Geländer hinab.

„Wie interessant… Du bittest um etwas?“

„Ja. Denn von dir hängt nun alles ab.“

„Von mir?“

„Wenn du nicht mit mir zusammenarbeitest – dann ist es das Ende für die Menschen. Was rede ich da, sogar aller Lebewesen! Jede Sekunde die wir hier vergeuden, macht die Situation schlimmer. Wir müssen zurück zum Wurzelpfad. Ich konnte die letzten Stunden vieles in Erfahrung bringen, das mir gar nicht so richtig klar war. Du hast keine Vorstellung wie schlimm die Lage ist. Aber um dir das alles zu erklären, fehlt mir die Zeit.“

„Das Ende der Menschen?“

„Vielleicht sogar das Ende des Planeten! Oder von uns Bit Beasts... Die Folgen könnten schlimmer sein, als nach unserem Kampf um den Thron. Erinnerst du dich wie der Planet danach aussah? Wie die Wesen darauf zu Grunde gingen? Es brauchte unendlich lange, bis die Trümmer beseitigt waren – bis überhaupt wieder Leben einzog. Dieses Mal könnten wir uns aber nie mehr von diesem Schlag erholen!“

Einmal mehr verharrte sie schweigend. Ihr Blick schweifte von ihm weg. Im Gedanken versunken, verweilten ihre Augen auf der gegenüberliegenden Häuserwand.

„Wie eigenartig dass du gerade jetzt auf diesen Kampf zu sprechen kommst - wo du danach doch kein Wort mehr darüber von mir hören wolltest.“

„Dranzer… Nicht jetzt. Es ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt hierfür!“

„Sieh dich an! Wie du betteln kannst wenn du nur willst... Wenn dein eigenes Dasein davon abhängt!“, Dragoon sah, wie sich die zierlichen Finger fester um das Metall verkrallten. „Es gab einen Tag, da habe ich dich angefleht, mir einen einzigen Herzenswusch zu erfüllen. Erinnerst du dich? Wie ich hinter dir herflog und dich unter Tränen darum bat, mir meine einzige Schwester zu lassen?“

„Liebes…“

„Nenn mich nicht so! Um mich so nennen zu dürfen, müsstest du einen Funken Güte für mich im Leib haben. Doch alles was ich in den letzten Jahrtausenden von dir erfahren habe, waren Grausamkeit und Schmerz! Du hast mir grundlos wehgetan, einfach weil du deine Freude daran hattest!“

„Es hat mir nie Freude bereitet!“

„Oh, bitte!“, lachte sie freudlos auf. „Wen willst du veralbern? Du kamst dir mächtig vor, so lange ich leide… Und nun stellst du dich hier vor mir auf und nennst mich Liebes? Du bittest um meine Hilfe, wo dich nicht einmal mein Flehen damals erweicht hat?“

„Ich dachte ich tue dir etwas Gutes!“, versuchte er sich zu rechtfertigen. „Ich sah wie dich Wolborg manipuliert hatte und bekam Angst, dass du niemals von ihr frei kommst!“

„Lüge! Du wolltest mir wehtun! Weil du nicht verstehen kannst, wie schmerzhaft es sein kann, etwas zu verlieren, was man vom ganzen Herzen lieb gewonnen hat!“

„Und ob ich es verstehe!“, wehrte er sich.

„Du?!“, fauchte sie boshaft. „Du, der du dieses Gefühl untersagt hast? Wie kannst du es wagen… Du wärst nicht einmal in der Lage es zu verstehen, wenn du tatsächlich ein Herz hättest! Du bist ein emotionsloser Krüppel!“

„Du willst also unbedingt darüber reden?!“, grollte Dragoon aufgebracht. Es war vorbei mit seiner Selbstbeherrschung. Diese Unterstellung war zu viel für ihn. „Gut, wie du willst! Hier ist die Wahrheit! Ich habe dich geliebt! Das tue ich noch immer!“, schrie er zu ihr auf. Er sah Dranzers Augen vor Überraschung weiter werden und brüllte zornig hervor, was schon so lange aus ihm herausbrechen wollte. „Vom ersten Moment als ich dich sah, war es um mich geschehen! Dein Anblick, dein Duft, deine Stimme – es hat mich in den Wahnsinn getrieben! Ich wollte mehr von dir wissen. Ich wollte dich kennenlernen. Warum glaubst du bot ich mich als dein Fluglehrer an? Etwa aus purer Nächstenliebe?! Nein… Ich wollte mehr von dem Geschöpf haben, was mir so den Kopf verdrehen konnte! Aber du warst ja zu blind dafür, du einfältiges Stück!“

Er schnaubte verächtlich, sah verbittert zur Seite.

„Du fragst mich, wie ich es wagen kann… Wie kannst du es wagen! Du hockst da oben und machst mir Vorwürfe! Was ist mit der Schuldigkeit die du nie eingehalten hast?!“

„Schuldigkeit?“, wiederholte Dranzer.

„Frag nicht so dumm! Es gab einen Grund weshalb ich dich zur Partnerin wollte! Weshalb ich so hartnäckig auf dein Versprechen gepocht habe… Das du mir freiwillig gegeben hast wohlgemerkt!“, warf er ihr zornig vor. Mit erhobenem Zeigefinger klagte Dragoon sie an, deutete zu Dranzer hinauf. „Du hattest versprochen, dass du mir alleine gehörst! Hast du das etwa vergessen?! Zu diesem Pakt habe dich nie gezwungen und du hast bereitwillig zugesagt! Aber sobald wir von unserer Reise zurück waren, da bist du deiner verdammten Wolfsschwester hinterhergerannt, wie eine gehorsame Hündin! Zuvor war alles bestens zwischen uns! Du hast gar nicht gemerkt wie sie mit dir gespielt hat, so dämlich warst du! Und als ich sie weggeschafft habe, ist es allein wegen dir passiert, weil du mich dazu getrieben hattest! Hättest du dein Versprechen gehalten wäre es nie so weit gekommen. Es ist deine schuld! Deine ganz alleine!“

„Eifersucht…“

„Natürlich war es das!“, spie er in Raserei aus. „Und soll ich dir etwas sagen – ich bereue es nicht! Wolborg verdiente was sie bekommen hatte! Ich lasse mir nicht wegnehmen, was mir rechtmäßig zusteht! Von niemandem! Was mir gehört verteidige ich und wenn ich jeden zerfleischen muss, der sich meiner Beute nähert! Das liegt in der Natur eines Drachen – und auch das hätte dir klar sein sollen, als du mir dein Versprechen gabst!“

Seine Drachenschuppen pressten sich gegen seine untere Hautschicht. Nur mit viel Mühe gelang es ihm sich zu zügeln. Erst als er fühlte, wie sich sein gigantisches Gebiss förmlich aus dem Kiefer schieben wollte um zuzuschlagen, begriff er, dass sein Zorn wieder unkontrolliert aufwallte. Das Biest in ihm wollte heraus. Genau das, was er nicht zulassen konnte. Wenn Dragoon seine restlichen Reserven nun dafür vergeudete, würde er hinterher elendig an Energiearmut krepieren. Er schnaufte schwer, kniff die Augen zusammen, versuchte wieder seine Mitte zu finden. Dabei fühlte er wie Dranzers Blick auf ihm ruhte. Und irgendwann drang ein Kichern an sein Ohr…

Er knurrte erbost und schaute auf. Da lachte ihm das freche Stück tatsächlich entgegen. Geradezu ausgelassen, ungeniert, warf sie den Kopf in den Nacken, ihr kaltes Lachen, schallte durch die Enge der Gasse.

„Du findest das witzig?“

Dranzer kicherte weiter, auch wenn sie leiser wurde. Es war kein freundliches Lachen. Er kannte sie lange genug um die Boshaftigkeit in ihrer Stimme zu erhaschen.

„Wie amüsant…“, kam es irgendwann. „All die Jahre habe ich über einen Weg nachgedacht dich zu verletzen – und nun servierst du ihn mir auf dem Silbertablett.“

Mit einem zufriedenen Seufzen, schlug Dranzer die Beine übereinander, stützte sich an einer Hand ab. Ihre Bewegungen waren wie immer fließend, geradezu grazil.

„Der große Dragoon, der allmächtige Drache… hat sich unglücklich verliebt und platzt vor Eifersucht. Und all die Jahre habe ich es nicht bemerkt. Das ist doch wirklich witzig, findest du nicht?“

Er konnte sehen, wie sich ihr Kopf im Halbdunkeln neigte, ihre Augen ihn mit einem süffisanten Ausdruck musterten. Ihre Stimme triefte förmlich vor Hohn.

„Du bist so ehrlich mit deinen Empfindungen. Das bewundere ich, ehrlich. Deshalb lass mich nun auch ehrlich zu dir sein… Ich verachte dich! Mit jeder Faser meines Herzens wünsche ich dir den Tod. Du könntest bis in die Ewigkeit um meine Gunst buhlen, ich werde dich immer hassen!“

Ihre Augen glühten weiter auf. Sie wollte ihn verletzen – so wie er sie verletzt hatte. Er konnte sehen, wie sich die zierlichen Finger wieder fester um das Geländer legten, dieses Mal in freudiger Erregung.

„Sperr mich doch weg. Zerreiß jeden der mir zu nahe kommt. Mich schert es nicht, denn jetzt habe ich endlich meine Genugtuung! Ich werde dich niemals lieben! Du bist ein widerwärtiges Monstrum und verdienst es nicht geliebt zu werden!“

Dragoon schluckte hart. Er schloss die Augen und tat einen tiefen Atemzug. In seinem Leben hatte er viele Kämpfe bestritten, doch kein Schlag, Tritt oder Biss, tat so weh, wie diese Worte zu hören.

„Wenn du meinst…“, bemühte er sich um Fassung.

„Oh weh! Was höre ich denn da? Ist es Trauer? Tut es weh?“, bohrte sie voller Eifer in der Wunde. „Hast du jetzt endlich eine Ahnung wie schmerzhaft so etwas ist? Von jemandem enttäuscht zu werden, von dem man dachte, er wäre dein Freund? Ich hoffe du leidest. Ich wünsche es dir so sehr. Leb damit – genau wie ich es tun musste! Dein Schmerz ist nur ein Fingerhut dessen, wie enttäuscht ich von dir war, als du mich einfach so verraten hast!“

„Ich werde dir das durchgehen lassen, weil du blind vor Hass bist und wir wichtigeres zu erledigen haben. Nun komm herunter! Du hattest deinen Spaß! Wir müssen jetzt wirklich Heim – und verdammt nochmal diese Welt retten!“

Er konnte den Groll nicht aus der Stimme verbannen.

„Diese Welt wird nicht eher Ruhe finden bis du ihr Antlitz verlässt!“

Ein Fingerschnippen erklang und auf einmal kam Bewegung in Dranzers Handlanger. Wie auf Kommando hoben sie ihre bleichen Köpfe, starrten aus trüben Blick zu ihm herüber.

„Und zu meinem Glück, habe ich fleißige Bienen, die gewillt sind ihre Königin um jeden Preis mit Energie zu versorgen. Etwas was du offensichtlich nicht hast.“

„Ich könnte es – aber soweit gehe ich nicht.“

„Oh, das solltest du aber… Denn wie es den Anschein hat, gehst du gerade auf Sparflamme. Ich dagegen erfreue mich bester Gesundheit. Meine Sinne funktionieren noch. Ich kann Kai genau wittern, obwohl er die Verbindung zu mir gekappt hat. Du dagegen siehst ganz furchtbar aus, wenn ich das so sagen darf. Der Bruch mit deinem Menschenkind bekommt dir scheinbar nicht sonderlich gut.“, ein weiteres Kichern erklang. „Hat dir dein unartiger Junge den Energiefluss abgeschnürt? Nun, das war mein Vorteil, als ich hier geschlüpft bin. Ich habe sofort gespürt, dass meine Verbindung zu Kai zerrüttet ist und konnte noch rechtzeitig einen Plan aushecken, bevor die Portale zufallen und ich verdurste. Meine Bienen verteilen sich überall in der Stadt, decken mich reich ein, mit allem was ich brauche.“

„Das kann nicht gut gehen, Dranzer!“, schrie er ihr entgegen. „Du gehörst nicht hier her und das hat einen Grund! Lass doch endlich deinen Zorn beiseite und benutz deinen Kopf! Du bist eine Uralte – dein Energiebedarf ist viel zu groß! Es werden zu viele Menschen deinetwegen drauf gehen!“

„Sollen sie doch…“

„Gibst du erst Ruhe wenn alles kahl gefressen ist? Willst du das es keinen einzigen lebenden Menschen mehr in dieser Stadt gibt?“

„Oh, es wird noch lebende Menschen geben - zumindest einen.“

Er begriff sofort die Anspielung.

„Das willst du deinem Jungen antun? Ihn inmitten dieser Gestalten weiterleben lassen?!“, rief Dragoon aus und deutete auf die schwankenden Hüllen, die sich ihm schleichend näherten. Er wich zurück, als einer von ihnen nach ihm packen wollte. Dem Nächsten verpasste er gleich darauf einen heftigen Tritt, dass er in die restliche Meute flog und sie wie Kegel umstürzten. „Ein ganz schön bitteres Los, wenn du mich fragst.“

„Dich fragt aber keiner! Und ich schlage damit zwei Fliegen mit einer Klappe. Kai muss für seine Gleichgültigkeit mir gegenüber bestraft werden – aber beschützen muss ich ihn dennoch. Ich bin wie die Mutter die Härte zeigt, um ihr Kind auf den richtigen Weg zu führen!“

„Du bist aber nicht seine Mutter!“, zischte Dragoon zwischen gefletschten Zähnen hervor. „Du bist ein Bit Beast! Ein verdammtes Bit Beast! Besinn dich wieder auf diene Aufgaben!“

„Oh, das tue ich! Ich bin seine Beschützerin! Das ist auch Teil meiner Aufgaben. Und es waren Menschen die ihn unglücklich gemacht haben. Also müssen Menschen dafür bezahlen!“

„Und wie soll es dann weitergehen? Irgendwann hast du jeden Menschen ausgeschröpft, der in Japan lebt! Wie willst du dann noch hier überleben?“

„Es gibt noch so viele Länder hinter dem Horizont…“, kam es geradezu boshaft. „Und alle warten sie auf meine Ankunft.“

Dragoon zuckte entsetzt zurück.

„Das kann unmöglich dein Ernst sein… Du zerstörst alles wofür wir gearbeitet haben!“

„Das hast du doch auch einmal. Erinnerst du dich? Deine echsenartigen Ebenbilder die du geopfert hast, nur um den Thron zu bekommen. Warum soll ich also anders handeln?“

„Bist du erst wieder glücklich wenn die ganze Welt abgenagt ist?“

„Es wäre ein Anfang.“

Sie war wahnsinnig…

Die Erkenntnis schoss ihm wie ein Blitz durch den Kopf. Seine hübsche, kleine Phönixdame, war wahnsinnig geworden. All die Jahrhunderte, in jenen sie ihrem liebevollen Nährboden beraubt worden war, hatten sie vollkommen fehlgeleitet. Mit bangem Blick fragte sich Dragoon, ob es nicht sogar schon zu spät für Dranzer war. Wenn der Hass in ihr wie eine Krankheit war, konnte man ihn womöglich ab einem fortgeschritten Stadium nicht mehr heilen. Das machte ihm Angst. Er wollte sie nicht verlieren. Nicht nur weil er Dranzer brauchte, sondern weil er immer noch etwas Liebe für sie empfand. Sie dagegen klammerte sich an dem einzigen Lebewesen fest, was sie noch etwas fühlen lassen konnte. Jeder andere Fleck in ihrem Herzen, war nur noch von purem Zorn geschwärzt. Dragoon starrte sie mit steinernem Ausdruck an, blickte in die Pupillen, die nichts mehr von dem früheren Liebreiz besaßen, den er so vergöttert hatte.

Hatte er das verbrochen?

War er Schuld an ihrem Zustand?

War sein Kleines eine Blume die er verkehrt gepflegt hatte?

„Ich habe wahrhaftig ein Monster erschaffen.“, sprach er voller Bedauern.

„Ich, ein Monster?“, lachte Dranzer ungläubig auf. „Schau in einen Spiegel! Dort siehst du die wahre Bestie stehen.“

„Hör mich an, Liebes! Du machst das Gleiche durch wie ich! Als ich mich von dir verraten fühlte, hat mir das den Kopf vernebelt!“, der nächste Handlanger grapschte nach Dragoon. Er stieß ihn fort, doch es drängten sich nur weitere Gestalten in den engen Gang. Sie liefen achtlos über jenen Menschen hinweg, den er zu Boden gestoßen hatte, trampelten über ihn hinweg. Sollte er Dranzer nicht endlich zur Vernunft bringen, hätte er gleich ein Problem. „Ich weiß wie du dich fühlst. In meinem Groll gegen dich, habe ich auch nicht richtig nachgedacht. Ich war aber auch unfähig zu begreifen, was mich so handeln ließ! Ich war einfach nur unzufrieden! Es war wie ein furchtbarer Sturm in meinem Inneren, den ich nicht herauslassen durfte. Ich habe nicht ausgesprochen, was mich so beschäftigt hat, stattdessen habe ich den Zorn in mich hineingefressen – oder ihn an dir ausgelassen! Du magst Recht haben, dass ich dich nicht fair behandelt habe. Womöglich war ich sogar ein Tyrann… Doch jetzt bist du im Begriff meine Fehler zu wiederholen! Dabei kannst du noch daraus lernen!“

„Ich bin nicht wie du - ich bin tausendfach besser!“, schrie sie ihm entgegen.

„Dann komm mit mir, Dranzer! Beweise es! Mach es besser als ich! Lass uns von neuem beginnen und ich verspreche dir, ich werde dir ein besserer Partner sein, als jemals zuvor!“

„Es wird kein wir mehr geben! Am besten ist diesem Planeten geholfen, wenn ich ihn alleine regiere. Deine Qualitäten als Herrscher sind mangelhaft und einem Uralten unwürdig!“, sie deutete mit dem Zeigefinger auf ihn wie eine Richterin. Sie hatte ihr Urteil gefällt. „Heute werde ich den Kaiser entthronen! Und genauso wie die Menschen es gerne handhaben, wird mein Vorgänger seinem Henker zugeführt.“

Die torkelnden Gestalten rückten näher an Dragoon heran. Er hopste einige gewaltige Schritte zurück, um noch einmal Abstand zu gewinnen. Ihm wurde klar wie viele Gegner es waren – und das er eigentlich nicht die Kraft besaß, um erneut einen solchen Kampf auszutragen, wie am Airport. Das würde seine Reserven ganz schon angreifen. Dennoch machte er sich bereit. Dragoon sammelte seine verbliebene Energie, rammte die Füße fest in den Untergrund. Den einzelnen Arm hielt er in Kampfposition. Seine reptilienhaften Pupillen schmälerten sich, huschten von Angreifer zu Angreifer, visierten die Schwachstellen an. Inzwischen schwebte Dranzer von ihrem Ausguck herab. Ihre Bienen bildeten eine Gasse um die Königin ungehindert passieren zu lassen. Das blendende Licht der Morgensonne prallte auf ihren Rücken, tauchte die vordere Seite erneut in Schatten.

„Sag Hallo zu deinen Henkern, Dragoon. Sie sind zahlreich erschienen.“

Damit wandte sie sich ab, folgte der Fährte ihres Menschenkindes, während sich die Gasse hinter ihr wieder schloss. Ihm wurde klar, dass dies von Anfang an ihr Plan gewesen war. Sie hatte abgewartet, bis die Portale geschlossen waren, damit er ihr keine Gefahr mehr werden konnte. Jetzt war sie die Stärkere. Dragoon war nur ein Durstender in einer Wüste, dessen Sinne immer weiter verkümmerten. Er sah die Hüllen auf sich zu torkeln. Trübe Blicke, blaue Lippen, blasse Gesichter und geäderte Hände, die sich nach ihm ausstreckten. Dragoon ging etwas in die Knie, machte sich zum Gegenschlag bereit.

„Wir werden sehen, Liebes.“, flüsterte er, sein entschlossener Blick nach vorne gerichtet. Dann preschte Dragoon mit einem Kampfschrei vorwärts. Denn Angriff war für ihn noch immer die beste Verteidigung…
 


 

*
 

Die Innenstadt war heute verdammt unheimlich. Tyson hatte zwar noch im Radio davon gehört, dass es über die Nacht hinweg Ausschreitungen gab, doch so etwas wie hier, in Kennys Wohnviertel, war ihm noch nie untergekommen. Alles war menschenleer. Umgekippte Müllcontainer am Straßenrand, eine Polizeiblockade mit leerstehenden Autos in einer Straße und von den Beamten aus den Kastenwägen keine Spur. Die Rollläden waren bei den meisten Häusern hinuntergezogen. Papier und Plastikmüll wurde vom Wind über den Gehweg getrieben. Als Tyson mit seinem Wagen vor dem Nudelsuppenladen von Kennys Eltern hielt, jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Die Scheibe war dort eingeschlagen. Zunächst starrte er mit aschfahlem Gesicht auf dieses Szenario. Auch hier hatte man versucht die Rollläden herunterzulassen, allerdings schien es die Demonstranten nicht davon abgehalten zu haben, in den Raum dahinter zu gelangen. Durch die zerbrochenen Lamellen erhaschte Tyson die umgekippten Stühle im Laden, die ramponierten Tische. Selbst die Suppenschüsseln lagen verstreut auf dem Boden als zerbrochener Porzellanhaufen. Tyson wusste das im Laden eine Treppe hinauf in den Wohnbereich führte. Also stieg er aus dem Auto, um vorsichtig zwischen den kaputten Lamellen in das Haus zu klettern. Ihm wurde flau im Magen, als er die Zerstörungswut nun auch von innen betrachtete. Es war wirklich übel. Er hoffte inständig Kennys Familie mochte gut versichert sein. Eine tiefe Schuld kam wieder in ihm hoch. Der Chef war momentan wirklich vom Pech verfolgt – und alles musste er ohne seine Dizzy durchmachen.

Eine Sekunde war sich Tyson nicht so sicher, ob sein Freund ihn wirklich sehen wollte. Dennoch stieg er die knarzende Treppe Stufe für Stufe hoch. Er machte sich einfach Sorgen und wollte wissen, ob Kenny Hilfe brauchte. Sie waren Freunde und er empfand es als seine Pflicht ihm beizustehen. Wenn die Wohnung auch so verwüstet war, könnte er Kenny anbieten, dass seine Familie im Dojo unterkam. Das würde vielleicht seine frühere Ignoranz gut machen. Doch oben angekommen, bemerkte Tyson nur, dass die Tür verschlossen war. Er rüttelte an dem Knauf aber es tat sich nichts. Nach mehrmaligem Klopfen, lehnte er sein Ohr an die Stahltür. Vor längerer Zeit war schon einmal im Laden eingebrochen worden, weshalb sich Kennys Eltern zu dieser Sicherheitsmaßnahme entschlossen hatten. Die massive Tür verfehlte auch nicht ihren Zweck, denn es war kaum etwas von der Wohnung dahinter zu hören. Da es hier keine Klingel gab, stapfte Tyson wieder hinunter, um es beim Haupteingang zu versuchen. Der befand sich auf der Rückseite des Gebäudes, auch wenn er diesen Weg nur selten benutzt hatte. Wenn er zu Kenny hoch wollte, war Tyson immer durch den Laden gelaufen. Er stieg erneut über die Überbleibsel des zerstörten Rollladens hinweg, dabei vorsichtig darauf aus, nicht an die scharfen Glaskanten zu geraten. Draußen angelangt, bog Tyson um die Ecke, um in den hinteren Bereich zu gelangen. Gerade als er den Hof erreichte, hörte er, wie im Nachbarsgebäude das Fenster aufgerissen wurde.

„Geh da bloß nicht hinein!“

Tyson wandte sich prompt zum Ursprung um. Sein Blick wanderte die Häuserwand hinauf. Im dritten Stock stand eine junge Frau am Fenster und schaute ihn warnend an. Sie besaß dunkle Augenringe, offenbar weil sie diese Nacht wenig geschlafen hatte. Tyson kannte diese Nachbarin - wenn auch nicht beim Namen. Kennys Mutter hatte ihren Sohn letztes Jahr dazu verdonnert, ihr beim Einzug zu helfen. Es sollte wohl eine Verkupplungsaktion werden, um den schüchternen Junggesellen endlich aus dem Haus zu bekommen und weil Tyson gerade auch zufällig anwesend war, hatte er auch anpacken müssen. Allerdings stellte sich der Chef damals wieder so bescheuert an, dass das Mädchen letztendlich mehr Interesse an ihm zeigte, als an Kenny. Tyson hatte sich jaulend an die Stirn gefasst, als der Chef sichtlich schwitzend meinte, dass er dieselben Eierwärmer wie ihre, seiner Mutter zum Geburtstag geschenkt habe. Wahrscheinlich war es die erste und letzte Unterhaltung der beiden gewesen, denn so peinlich wie Kenny dieser armselige Flirtversuch war, ging er dem Mädchen wohl aus dem Weg. Inzwischen spähte Tyson zu ihr hinauf.

„Warum nicht?“, fragte er auf ihre vorangegangene Warnung.

„Da drüben war gestern die Hölle los!“

Er schluckte hart, schaute mit bangem Blick zum Eingang.

„Was ist passiert?“

„Ich habe keine Ahnung!“, sie beugte sich über die Fensterbank. „Aber was immer es war, die sind mitten in der Nacht in den Wagen gestiegen und davon gefahren. Ich denke auch nicht dass sie zurück sind. Zumindest ist das Auto weg.“

„War Kenny auch dabei?“

„Ja. Aber ich hätte mich das nicht getraut! Hier ging es gestern ab wie im Bürgerkrieg! Überall Polizisten und wir wurden aufgefordert, unsere Wohnungen nicht mehr zu verlassen. Das Dumme war nur, dass die Demonstranten bei denen dort drüben, auch noch in den Laden eingebrochen sind.“

„Die Tür nach oben ist aber verriegelt.“

„Kann ja auch abgeschlossen worden sein, nachdem diese Spinner schon in der Wohnung waren! Vielleicht ist sie auch zugefallen und jetzt hocken die dort drinnen. Keine Ahnung… Auf jeden Fall habe ich die Nachbarn noch schreiend zum Wagen rennen sehen. Sind mit Vollgas aus der Einfahrt und hinaus in die Nacht. Und gleich dahinter diese komischen Typen! Herumgetorkelt wie auf Drogen! Die Polizei hat einige von ihnen geschnappt, aber die sind auch auf die los. Und dann haben einige von den Beamten auch plötzlich randaliert! Sind ebenfalls durchgedreht. Ich weiß nicht was das sollte – es war absolut verrückt!“

„Scheiße…“, spie Tyson aus. Sein Blick huschte ein weiteres Mal zum Eingang. Da kniff er die Augen angestrengt zusammen. Hinter den Gardinen im oberen Stock schien sich etwas zu bewegen. Zunächst dachte er an Kenny.

„Da ist doch noch jemand drinnen!“

„Genau deshalb sollst du nicht hinein!“, kam es aufgeregt von oben. „Pass lieber auf, dass die nicht herauskommen. Ich glaube da sitzen noch einige von denen drinnen. Die ganze Nacht hat man das Gejaule gehört.“

Sie war sichtlich wütend und plötzlich rief sie hinüber: „Ihr blöden Freaks! Das hat doch nichts mehr mit einer Demo zu tun – ihr gehört alle in den Knast, ihr miesen Schweine! Hier hat euch niemand was getan und ihr macht alles kaputt!“

Sie schnaufte verärgert. Offenbar war es ihr ein Bedürfnis gewesen, sich das von der Seele zu schreien, da vernahm man von weiter oberhalb ein Zischen.

„Sei ruhig da unten! Provozier die Typen nicht!“

„Halt die Klappe, ich sage was ich will und wem ich es will, du blödes Weichei!“

Tysons linke Braue zuckte hoch. Er hatte nicht den Eindruck dass dieser Besen etwas für Kenny gewesen wäre. Die hätte ihn nur wieder untergebuttert. Sie beugte sich mittlerweile herab und deutete auf die untere Etage. Ihr schwarzer Pferdeschwanz fiel dabei über den Nacken.

„Bei denen wollten sie auch einsteigen! Haben alles verbarrikadiert. Wir waren die ganze Nacht damit beschäftigt die Eingangstür und Fenster zu sichern, damit keiner in das Gebäude kommt. Siehst du?“

Offenbar hatten die Nachbarn im Erdgeschoss einen Schrank vor ein kaputtes Fenster geschoben. Da kam ein trauriges Seufzen von oberhalb.

„Ich habe so furchtbare Angst – und ich als arme Singlefrau bin auch noch ganz alleine!“, kam es theatralisch von oben. Tyson verdrehte die Augen, da lamentierte sie auch schon weiter. „Was soll ich bloß machen? Ganz auf mich gestellt… Schwach und so bedürftig. Nicht einmal einen Hammer kann ich alleine heben, geschweige denn ein Gurkenglas öffnen!“

„Aha…“

„Ja. Hätte ich doch nur einen Mann an meiner Seite. Jemand der wenigstens stark genug ist, um bei einem Umzug ein mickriges Bett hochzutragen. Die meisten Männer sind heutzutage ganz furchtbare Waschlappen.“, ihr Blick huschte arglos zum Himmel. „Wenn es doch nur so einen Mann in meinem Leben gebe. Dem wurde ich prompt ein paar Bettlaken zusammenknoten und ihn herauf lassen.“

Tyson schaute seufzend zur Seite. Irgendwas stimmte mit den Frauen heutzutage nicht…

„Naja, wenn du dich dann sicherer fühlst, kannst du mit mir nachhause kommen.“, bot er an.

„Wirklich?“, kam es ganz aufgeregt zurück.

„Klar. Ach, da fällt mir ein… Du hast doch nichts dagegen, dass mein Lebensgefährte mit seiner kleinen Schwester auch dort wohnt?“

Es wurde still. Ziemlich lange still…

„Oh.“, es klang angepisst. „Ach weißt du, ich komme schon klar. Danke für das Angebot.“

„Wie du willst.“, hob er hilflos die Hände. „Pass aber auf dich auf.“

„Ja, ja… Was auch immer.“, schon schlug das Fenster hinter ihr zu und fort war die Jungfer in Nöten. Tyson schüttelte grinsend den Kopf. Erst dann drehte er sich wieder zum Eingangsbereich von Kennys Familie um. Er musterte nachdenklich das Gebäude, dabei fragte er sich, wo er nun suchen sollte. An sein Handy ging der Chef schon mal nicht. Irgendwann erhaschte Tyson einen Blick auf die Person, welche sich in der Wohnung befand. Der Fremde trat langsam ans Fenster. Ein leichenblasses Gesicht starrte Tyson entgegen, mit einem verblassten Augenpaar. Dieses Bild jagte ihm irgendwie eine Gänsehaut über den Rücken, ließ ihn wie angewurzelt verharren. So starrten sich beide Männer eine Weile lang an. Sein Gegenüber musste Mitte fünfzig sein. Jedenfalls älter als er.

Irgendwann lehnte der Eindringling seine Stirn gegen die Scheibe. Noch bevor Tyson sich fragte, was er da tat, begann er den Kopf dagegen zu hauen. Irritiert musste er beobachten, wie der Fremde immer wieder ausholte, um seine Stirn gegen die Scheibe zu schlagen, ohne dabei das milchige Augenpaar von Tyson zu wenden. Es schien als würde der Mann sich nur noch auf ihn fokussieren.

„Bekloppter Spinner…“, murmelte Tyson vor sich her. Er rief sich in Erinnerung dass er weiter musste. Ihn überkam ein ungutes Gefühl, wenn er an Kenny dachte, also tat Tyson einige Schritte zurück, immer die Augen argwöhnisch auf den Mann hinter der Scheibe gerichtet. Der verstärkte sein Bemühen. Das Klopfen wurde lauter.

Es erinnerte Tyson an eine Biene, die nicht begriff, dass sie sich hinter einem Fenster befand, aber dennoch durch die Scheibe wollte. Der lauernde Blick des Mannes verfolgte ihn förmlich. Da machte Tyson auch schon auf dem Absatz kehrt. Noch den ganzen Weg zum Wagen hörte er das dumpfe Pochen hinter sich. Das merkwürdige Bild verfolgte ihn auch dann noch, als er den Motor aufheulen ließ und an der nächsten Kreuzung links abbog. Wäre Tyson nicht so sehr in seine mulmigen Gedanken versunken gewesen, hätte er zur rechten Seite der Kreuzung, sicherlich den alten Mazda von Kennys Eltern entdeckt. Der lag dort inmitten des restlichen Chaos, mit aufgebrochenen Scheiben, die Türen sperrangelweit aufgerissen – von seinen Insassen keine Spur.
 


 

*
 

Ihre Energiesammler hatten ordentlich gewütet. Im Bezirk den Dranzer hinter sich ließ, waren viele Menschen direkt in ihre Falle gelaufen. Es war fast bedauerlich, wie arglos viele von ihnen reagierten. Einige Passanten denen sie entgegenkamen, blieben manchmal sogar stehen, blinzelten neugierig auf die Meute welche sich näherte, bis sie bereits umzingelt wurden. Die meisten konnten sich wohl einfach nicht vorstellen, dass jemand Fremdes ihnen grundlos etwas antun wollte. Dabei war das in der Natur nichts Absonderliches. Jagte ein Räuber seine Beute, tat er das auch nicht aus einem persönlichen Groll heraus, sondern um seinen Hunger zu stillen. Dranzer empfand es schon immer als eigenartig, wie viele Instinkte der Menschheit mit den Jahren abhandengekommen waren. Ein Tier hätte misstrauischer reagiert. Es würde jeden der sich näherte erst genau beäugen. Das hatte Dranzer stets an Kai begrüßt. Er wusste dass die Welt voller Grauen steckte und man sich nicht blind auf jemand anderen verlassen sollte. Zumindest dachte er bis vor kurzem noch so…

Denn als der Junge wieder seinen ersten Schritt in die Menschenwelt machte, spürte Dranzer, dass ihre Verbindung zerrüttet war. Bit Beast und Kind mussten eigentlich immer in ihrer Seele identisch bleiben, um auf demselben Level zu agieren. Doch mit Kai war etwas geschehen, was ihr untersagte an seine Energie noch heran zu kommen. Driger hatte ihr das einmal anhand einer Waagschale erklärt. Er sprach davon, dass man sich vorstellen müsse, dass auf den beiden Schalen keine Gewichte lagen, sondern kleine Männchen hockten, die gerne miteinander plauderten wollten, aber es nicht konnten, so lange sie nicht auf Augenhöhe waren.

„Sie müssen gleich viel wiegen, gleich viel zu sich nehmen und jede Bewegung genau aufeinander abstimmen, damit sie auf derselben Ebene bleiben. Ansonsten gelangen sie in Schräglage und können nur mühselig miteinander kommunizieren.“

Driger konnte so vieles erklären, sodass es ihr schnell im Gedächtnis blieb und dabei besaß er immer diese Geduld. Dass ihr Lehrmeister nicht mehr da sein sollte war für sie unvorstellbar. Etwas weigerte sich noch immer daran zu glauben. Doch sobald Dranzer den Blick schweifen ließ, für einige Minuten ihre Gedankengänge aus den Rachegelüsten herausfanden, hatte ihre Umgebung ihr die Antwort geliefert. Es lief zu vieles schief um sie herum.

Schmerzliche Trauer wallte in ihr auf. Ein ersticktes Schluchzen wäre ihr beinahe entwichen. Für einen Moment wollte sie weinen, doch auch das war einer Uralten untersagt. Ihr Lehrmeister hatte ihr erklärt, dass es sich nicht schickte, für ein Bit Beast ihres Ranges, sich solchen Gefühlsausbrüchen hinzugeben. Wenn sie es doch tat, wurde sie als Küken stets von Driger ausgeschimpft. Dranzer erinnerte sich, wie sie sich jedes Mal verkroch, wenn der Kummer um ihre Schwester sie einzuholen drohte. Nach dieser furchtbaren Geschichte, dauerte es lange, bis sie den Tränen Einhalt gebieten konnte. Einmal hatte die Schildkröte sie dabei ertappt. Es war in der Nähe ihrer Lieblingsküste gewesen. Dranzer hatte dort gerade die ersten Sonnenstrahlen hinter dem Horizont hervorgelockt. Der Anblick erinnerte sie daran, wie sehr ihre Schwester sie für dieses Naturspektakel lobte.

„Du malst wunderschöne Farben an den Himmel. Selbst ich könnte es nicht besser.“

Vertieft in ihre Erinnerung war auch schon die erste Träne hervorgekommen und als Dranzer an einem der kargen Felsen der Küste Rast machte, um sich von ihrer Trauer zu erholen, erschien Draciels Kopf aus den Fluten. Die Knopfaugen hatten sie lange angestarrt. Ohne ein Wort zu sagen. Stattdessen öffnete es irgendwann den Mund, um ein paar Blubberblasen in ihre Richtung zu senden. Draciel hatte Fontänen erzeugt wie ein Springbrunnen. Die Wassermassen schienen vor Dranzers Augen ein graziöses Ballett zu vollführen. Alles kräuselte und drehte sich, in abgestimmten Richtungen. Eigentlich konnte Dranzer Wasser nicht viel Gutes abgewinnen. Doch in jenem Moment erfreute es ihr Herz. Es lenkte sie ab von ihrem Kummer.

Ein weiteres Mal hielt Dranzer inne – mit ihr ihre Gefolgschaft.

Sie schielte zu der Meute an ihrer Seite, diesen leeren Gestalten die ihr hinterhertorkelten.

Stumpfe Blicke, seelenlose Körper, geistlose Köpfe. Von diesen Wesen konnte sie ein solches Mitgefühl kaum erwarten. Inmitten dieser Erkenntnis umschlang Dranzer einen Moment ihren Leib. Sie kam sich einsamer vor als jemals zuvor. Wie konnte Dragoon nur ihre Kameraden vernichten – waren sie nicht auch seine Familie gewesen?

Dranzer kniff die Augen zusammen. Jetzt hätte sie sich eine tröstende Umarmung gewünscht. Doch von diesen dummen Hüllen, konnte sie so etwas nicht erwarten. Ihre Finger verkrallten sich fester um ihren Körper. Irgendwann fletschte sie die Zähne. Ihre Lider öffneten sich - ein zorniger Blick erschien darunter.

Dragoon dürfte nun aus dem Weg sein. Und so war es auch gut…

Nicht eine Sekunde bereute Dranzer ihre Entscheidung, selbst wenn es bedeutete, die Welt in arges Ungleichgewicht zu stürzen. Irgendwie würde sie es auch ohne ihn schaffen. Seine jüngsten Handlungen waren zu viel des Übels. Dranzer hatte es satt gehabt. Seine ständigen Fehltritte. Sein eingebildetes Gehabe. Diese andauernden Enttäuschungen!

Jemanden wie ihn hatte sie einfach nicht mehr an ihrer Seite ertragen können. Dranzer wollte niemanden mehr um sich haben, der ihr wehtun konnte. Von nun an würde sie die Welt alleine regieren. Nun, fast alleine…

Da gab es jemanden dem sie gleich ihre Aufwartung machen würde. Es kam wieder Bewegung in sie. Doch dieses Mal blieb die Menge zurück. Es bedurfte Dranzer nicht viel, um diese Wesen zu steuern. Kein Wort war von Nöten. Allein der Gedanke zählte. So schritt Dranzer bis zu dem hölzernen Tor, was zwischen ihr und ihrem Menschenkind stand. Ihre schmalen Finger legten sich auf das Holz. Noch einmal schloss Dranzer die Augen.

Endlich war es soweit. Sie konnte zu Ende bringen, was sie angefangen hatte. Danach könnte sie mit Kai ein neues zuhause erbauen, ohne all die Verderbtheit dieses Planeten. Seine Anwesenheit wäre zumindest ein kleiner Trost für den Verlust ihrer Kameraden. Ein kleiner Hoffnungsschimmer in dieser finsteren Einsamkeit die sie am Wurzelthron erwartete.

Ein Kinderlachen erklang an ihr Ohr.

Es ließ Dranzer die Augen aufschlagen. Das Mädchen was ihr ihren Jungen abspenstig machte, lauerte also auch hinter diesem Tor. Sie hörte wie die beiden Geschwister sich unterhielten. Das unvollkommene Geschöpf erzählte lächerliche Geschichten. Erklärte ihrem Bruder, dass die Bonsaibäume im Hof, wie eine Treppe aussahen, weil die buschigen Äste sich stufenförmig hinaufbewegten. Geradezu einfältig kam die Frage aus ihrem Mund, ob es einen Bonsai gab, der bis zum Himmel hinaufführte. Es ließ Kai leise lachen. Er lachte…

Über diese törichte Frage! Hätte er früher nicht verächtlich über derlei dummes Geschwätz geschnaubt? Und doch saß er da, auf der anderen Seite der Mauer und erklärte seiner Schwester mit einer Engelszunge, wie es sich um die Bäume verhielt. Er wurde weich. Das Kind hatte ihn mürbe gemacht. Seine Instinkte waren abgestumpft, anders konnte es nicht sein, sonst hätte er sich von diesem Ballast schon längst losgesagt. Er machte sich das Leben freiwillig schwer mit diesem kranken Geschöpf. Ein Tier hätte nicht so gehandelt. Es würde ohne mit der Wimper zu zucken den Ballast abwerfen. Doch das Raubtier auf der anderen Seite der Tür, hatte stumpfe Zähne bekommen.

Dranzers Finger verkrallten sich auf dem Holz. Sie würde Kai zu alter Stärke verhelfen. Seine Zähne wieder schärfen. Er musste wieder zurück zu sich selbst finden, andernfalls fürchtete sie um sein Überleben. Die Welt war grausam. Die Natur war grausam. Das wusste Dranzer nur allzu gut.

Sie hatte es so oft am eigenen Leib erfahren. Sobald er einen Fuß in die Irrlichterwelt setzte, würde Dranzer dem Jungen diese Erinnerungen austreiben. Er sollte als Kind bei ihr aufwachsen. Sie würde ihm ihre Lehren weitergeben. Dann würden sie auch endlich wieder eine Verbindung zueinander aufbauen können. Es musste diese neugewonnene Weichheit sein, die ihr Verhältnis trübte. Mit diesem Gedanken schickte Dranzer ihre Bienen fort. Sie brauchte Energie und in ihrem Zustand, musste sie äußerst bedacht mit ihren Ressourcen haushalten. Es würde sie Kraft kosten, den Jungen wieder in die Irrlichterwelt zu schaffen.

Ihre Diener huschten davon. Sie verbreiteten sich auf die umliegenden Gassen, hielten Ausschau nach allem, was ihrer Königin Energie beschaffen konnte. Auch wenn sie diesen Wesen keine Sympathie abgewinnen konnte, waren sie Dranzer doch von Nutzen. Hätte sie nicht ihre Bienen, wären ihre Sinne genauso am Verkümmern, wie bei Dragoon. So konnte sie aber Kais Fährte aufnehmen. Dranzer war jeder Spur gefolgt, an der sein Duft hing, kreiste damit immer weiter den Suchradius ein. Die Stimmen auf der anderen Seite wurden leiser, womöglich weil die Geschwister im Haus verschwunden waren. Dranzer versuchte auszuhorchen, ob Dragoons Bengel sich auch in dem Gebäude befand, doch zu ihrer Enttäuschung, war er nicht anwesend. Es hätte ihr eine solche Freude bereitet, ihm das freche Maul zu stopfen, zumal er gemeinsam mit den anderen lästigen Maden, ihr Menschenkind geraubt hatte. Der Vorfall in der Irrlichterwelt war für sie keineswegs vergessen. Dieser Lümmel hatte ihr gegen den Schnabel getreten. Eine bodenlose Unverschämtheit!

Dranzer schnalzte verächtlich. Dann trat ein kaltes Lächeln auf ihren Mund. Ihre Bienen hatten sich inzwischen um das Gebäude verteilt. Sie wusste wie flink Kai war und wollte vermeiden, dass er ihr wieder durch die Krallen entwischte. Vor allem dieses Gör musste sie ausmerzen - das Unkraut vernichten was das Herz ihres Jungen befiel.

Nach einem tiefen Atemzug öffnete Dranzer das Tor. Sie fand einen geschwungenen Pfad vor, erinnerte sich daran, dass ihr Menschenkind einmal mehrere Sommermonate hier verbracht hatte. Damals steckte sie noch im Blade des Jungen.

Dranzers Blick huschte zu ihrer Seite, wo sie eine im Boden eingelassene Arena erhaschte. Kai war hier mehrere Male gegen Dragoons Kind angetreten. Für eine kurze Sekunde erinnerte sich Dranzer, dass auch sie bei diesem freundschaftlichen Wettstreit, für einen Moment ihren Groll vergaß. Es war eine der wenigen Erinnerungen, in jenen sie nicht mit Argwohn an Dragoon zurückdachte. Er hatte sie gerne bei ihren Kämpfen geneckt.

Ihre Menschenkinder hatten es wohl nie vernommen, doch wann immer sich die Blades umeinander drehten, war eine hitzige Diskussion zwischen ihnen entstanden. Dragoon wollte sie immer dazu überreden, dass der Verliere des Matchs, dem anderen einen Gefallen schuldete. Wenn Dranzer verlor wollte er stets ein Lied von ihr hören, oder eine Feder von ihr haben. Phönixfedern waren wie der Sonnenaufgang. Am Ende des Tages erloschen sie, also forderte er oft eine von ihr ein. Dranzer hatte nie verstanden, was er damit wollte. Nun wusste sie es…

Für einen Moment verweilte ihr Blick starr auf der Arena. Dann kniff sie entschieden die Augen zusammen, um sich vor dieser längst vergangenen Szene zu schützen. Dragoon war fort. Er hatte bekommen was er verdiente. Mit diesem Gedanken schloss sie diese Erinnerung weg, in den finstersten Winkel ihres Herzens, wie so oft, wenn ein Wort von ihm drohte sie mürbe zu machen. Irgendwo in ihrem Inneren gab es eine Ecke, wo sie all diese Momente mit ihm verstaute, sie geradezu eisern wegsperrte. Das hatte Dranzer tun müssen. Damit sie ihr Ziel nicht aus den Augen verlor. Auf diesem Weg hatte sie niemals vergessen, dass sie Dragoon ewige Rache geschworen hatte.

Sie richtete den Blick geradeaus, untersagte sich jede weitere Erinnerung. Der Kies unter ihren bloßen Füßen war nass. Die spitzen Steinchen stachen ihr ins Fleisch, doch glücklicherweise fühlte sie nichts in dem toten Leib. Dranzer folgte Schritt um Schritt, der kleinen hölzernen Treppe, die Veranda hinauf, steuerte auf den Eingang zu. An der Tür angekommen, klopfte sie gegen das geschnitzte Holz. Die gebrechliche Stimme eines alten Mannes klang heraus, bat sie um Geduld. Dranzer erkannte ihn. Es konnte nur der Großvater von Dragoons Jungen sein. Sie hatte so oft dessen gebieterische Stimme während eines Übungsmatches im Hintergrund gehört. Schritte drangen an ihr Ohr. In der Tür waren trübe Glasscheiben eingelassen, die erahnen ließen, dass sich jemand näherte. Ein Schatten huschte auf der anderen Seite näher heran. Dann wurde die Tür endlich aufgezogen.

„Hallo? Wer ist da?“

Das Gesicht vor ihr war noch älter geworden, als sie es in Erinnerung hatte. Das Augenpaar schaute fragend hinter der Tür hervor. Dann erhellte es sich auf einmal.

„Ja Donner noch eins! Eine Sorge weniger… Ich habe mich schon gefragt wo du abgeblieben bist!“, der alte Mann trat zur Seite, tat eine einladende Bewegung in den Raum. „Hättest ruhig mal anrufen können! Jetzt komm aber erst einmal herein, Mädchen. Es gibt so einiges zu erzählen.“

Dranzer lächelte dankbar. Zu den wenigen Dingen, die sie liebte, gehörte, wenn ein Plan aufging.
 


 

*
 

Im nächsten Viertel wurde es endlich lebendiger. Dort waren viele Einwohner geradezu hektisch damit beschäftigt, ihre notwendigsten Habseligkeiten ins Auto zu verfrachten, offenbar weil einem die Vorgänge in der Stadt nicht mehr sicher geheuer waren. Auf dem Weg zum Revier beobachtete Tyson mehrmals mit erhobener Braue, wie die Menschen aus ihren Häusern hinausrannten, bepackt mit haufenweise Sachen, die er persönlich als unwichtig erachtete, doch die Angst vor einer Plünderung schien die Leute dumm zu machen. Manche hatten ihre Konsolen auf das Dach des Wagens geschnallt. So etwas albernes…

Da er das Gefühl nicht loswurde, über Nacht einiges verpasst zu haben, drehte Tyson wieder das Radio auf. Was er hörte klang als wäre der dritte Weltkrieg ausgebrochen. Der Stadtteil Shibuya, zu dem auch Kennys Wohnviertel gehörte, war gestern wegen den Ausschreitungen komplett evakuiert worden. Deshalb wohl die Panik. Ein Sondereinsatzteam war auf dem Weg dorthin, um die restlichen Einwohner aus dem Viertel zu holen. Die Demonstranten schienen sich weiterhin zu verteilen und zur Überraschung aller, hatten sich auch einige Polizisten ihnen angeschlossen. Dies wurde vom Präsidium allerdings noch nicht bestätigt, wahrscheinlich weil man dort nicht fassen konnte, dass es Verräter innerhalb der eigenen Reihen gab. Bei all dem Chaos wunderte sich Tyson nicht, dass er den Chef nicht erreichen konnte. Was ihn aber noch mehr schockierte, war, dass auch das Polizeirevier im hiesigen Bezirk von den Demonstranten gestürmt wurde. Das ließ ihn verdutzt aufhorchen, immerhin war er dort erst gestern mit Inspektor Kato aneinandergeraten. Tyson konnte von Glück reden, dass er ziemlich außerhalb wohnte, denn die Innenstadt schien den Leuten nicht mehr sicher genug. Viele Straßen waren vollgestopft, der Verkehr wurde von keinerlei Polizisten geregelt. Sobald Tyson aus einem Stau herauskam, geriet er schon in den nächsten. So würde er es niemals bis zum Revier schaffen indem Hiro in Untersuchungshaft saß. Tyson hatte das Gefühl kaum von der Stelle zu kommen. Er bog gerade in eine neue Kreuzung und steckte prompt wieder fest. Am liebsten hätte er vor Verzweiflung den Kopf gegen das Lenkrad gehauen. Wahrscheinlich hatte der Freak von zuvor, gerade die Nachrichten geschaut und deshalb das Bedürfnis verspürt, sich die Schädeldecke an der Fensterscheibe zu spalten.

Was war das nur für ein verdammtes Chaos?

Irgendwann kam Tysons Wagen wieder zum Erliegen, direkt neben einem Elektronikshop. Dort flimmerten die Nachrichten über die Monitore der aufgereihten Plasmafernseher. Einige Passanten hielten immer Mal wieder davor inne, schüttelten den Kopf und unterhielten sich mit ihrem ebenso fassungslosen Nebenmann über das Gesehene. Da er ohnehin wieder nicht von der Stelle kam, zog Tyson sein Handy hervor und wählte noch einmal Kennys Kontakt. Es sprang aber nur wieder die Mailbox an. Also hinterließ er ihm eine Nachricht, mit der Frage, ob er und seine Familie wohlauf seien und der Bitte sich doch bei ihm zu melden. Dann legte er seufzend auf. Tyson fragte sich ob Kenny absichtlich nicht ans Telefon ging, weil er noch wütend auf ihn war.

Nach einem Blick auf die Uhr wurde ihm klar, dass Max auch seit einer Stunde wieder auf heimischen Boden gelandet sein müsste. Er suchte dessen Nummer heraus, schnaufte aber enttäuscht, als sich auch dort niemand zu Wort meldete. Tyson redete sich ein, dass es vielleicht bei der Zwischenlandung zu einer Verzögerung kam oder Max einfach vergessen hatte, den Flugmodus aus seinem Handy zu nehmen - auch wenn das mulmige Gefühl blieb. Ziemlich ratlos schaute er geradeaus.

Sicherlich hing ihm die Irrlichterwelt einfach noch nach. Die letzten Tage der ständigen Alarmbereitschaft mussten ja irgendwie ihre Spuren hinterlassen. Dennoch war da dieser Wunsch es auch mal bei Ray zu versuchen. Ihm machte er insgeheim am meisten Vorwürfe, dass er sich noch nicht gemeldet hatte. Kenny musste andere Sorgen haben, war wahrscheinlich auch sauer und mied den Kontakt zu ihm. Max saß vielleicht noch im Flieger. Doch Rays Strecke war nicht so lang. Soviel Tyson noch wusste, brauchte man von Tokyo nach Kunming circa fünf Stunden und das war noch großzügig gerechnet. Er hätte ruhig mal von sich hören lassen können, selbst wenn es nur ein Zweizeiler im Chat war. Also wählte Tyson auch Rays Kontakt an. Zumindest klingelte es.

Doch auch hier ging wieder niemand dran…

Er schnalzte erbost und warf das Handy achtlos auf den Beifahrersitz. Ziemlich eingeschnappt ließ er sich zurück fallen, verschränkte seine Arme hinterm Kopf und starrte finster auf den Stau vor sich. Sobald sich einer von seinen Freunden meldete, würden sie von ihm etwas zu hören bekommen. Im Radio kam nur eine Hiobsbotschaft nach der anderen, also schaltete er es irgendwann genervt ab. Er ließ den Blick gelangweilt über die Umgebung schweifen, sah die aufgetürmten Fernseher zu seiner Seite, wo auch nur eine düstere Eilmeldung nach der anderen kam. Dort wurde von einem Zug berichtet. Anscheinend waren bei einem Erdbeben die Gleise verformt worden und er entgleiste kurz vor einem Tunnel. Der rote Banner welcher unten eingeblendet wurde, sprach von hundertsechzig Toten. Tendenz steigend. Das war so frustrierend. Tyson wollte seinen Blick wieder davon abwenden, als auch der Name der Region unten eingeblendet wurde. Er meinte etwas von China zu lesen.

Seine Augen hefteten sich wieder auf den Banner. Da war die Nachricht auch schon über den Bildschirm weitergerannt. Ihm ging durch den Kopf was Kai zu ihm gesagt hatte - das Ray und Mariah noch den Zug nehmen mussten. Doch dann grinste er und schüttelte den Kopf über sich selbst amüsiert. Das wäre schon ein gewaltiger Zufall. Er machte sich doch nur verrückt. Tyson versuchte den Banner zu ignorieren, aber sein Blick huschte irgendwann doch wieder hinüber. Er wollte nur wissen welche Region es betraf. Mehr nicht…

Danach würde er seine Paranoia endlich ruhen lassen. Er verfolgte den kleinen Text. Nachricht für Nachricht huschte über den unteren Bildschirmrand. Die Anzahl der vermuteten Toten flimmerte wieder vorbei. Ein Zitat eines Pressesprechers, der von höherer und vor allem grausamer Naturgewalt sprach. Danach folgte endlich wieder der Ort.

China. Kunming…

Tysons dunkle Pupillen verfolgten diesen einen Namen. Wie das Wort von links nach rechts wanderte und einfach so im Bildschirmrand verschwand. Er blieb starr. Rührte sich nicht.

Bemerkte nicht einmal, dass sein Atem stockte. Aufnahmen vom Unfallort wurden wieder eingespielt. Zwei Wagons lagen wild aufeinander geworfen, kurz vor dem Tunnel. Die Wände davon hatten beim Aufprall einiges abbekommen. Die Decke des Tunnels war herabgestürzt. Irgendwann tasteten Tysons Finger wieder nach seinem Smartphone. Er überprüfte im Chat wann Ray das letzte Mal online war. Gestern…

Er dachte nach. Ihm fiel ein, dass sein Freund im Wagen nach seinem Handy gesucht hatte, weil er für einen Moment dachte, es wieder im Hotel vergessen zu haben. Doch irgendwann atmete Ray erleichtert auf dem Rücksitz aus, als er es in seinem Beutel fand. Womöglich hatte er gleich darauf seine Nachrichten überprüft. Von der Uhrzeit im Chat passte es sogar. Tyson tat einen tiefen Atemzug.

Er würde jetzt erst einmal ruhig bleiben. Ganz tief durchatmen…

Ray hatte gemeint dass Kunming kein Kuhdorf war. Es handelte sich dabei schließlich um eine der größten Städte in der Region Yunnan, wie er behauptet hatte. Also gingen vom dortigen Bahnhof wohl viele Züge aus weg. Er spähte wieder auf die Monitore, verfolgte ein weiteres Mal die eingeblendeten Informationen. Da stellte sich ein Passant vor den Laden.

Tyson fauchte genervt, blickte auf den Stau vor sich. Da gab es ohnehin kein vorankommen. Er stieg aus, fühlte die kalte Herbstluft um seine Ohren rauschen und schob sich zwischen den Passanten hindurch, auch wenn einige ihn dafür von der Seite dumm anquatschten.

Ein weiteres Mal las er den eingeblendeten Text.

Die Stimme der Nachrichtensprecherin klang nur dumpf hinter der Scheibe heraus. Ihm fiel auf das die Route des Zuges ebenfalls passen könnte. Tyson wusste es noch, weil sie alle bei Rays Hochzeit auch so weitergefahren waren. Kai und er hatten am Bahnhof diskutiert, welcher Zug der Richtige sei, was Max und Kenny nur genervte Blicke tauschen ließ, bis letzter meinte, dass sie wirklich wie ein altes Ehepaar zankten.

Das hier konnte doch aber nicht derselbe Zug sein – oder etwa doch?

Er wählte wieder den Kontakt auf dem Handy. Es klingelte.

Mehr aber nicht. Also sendete er Ray ebenfalls eine Nachricht ein.

„Ruf mich bitte zurück. Es ist wichtig.“

Doch irgendwie war ihm das nicht genug. Die Ungewissheit machte ihn rastlos. Auf einmal hatte Tyson einen Geistesblitz. Er öffnete seine Kontakte auf dem Smartphone und suchte nach der Nummer von Lee. Auf Rays Hochzeit hatten Tyson und er sich so gut verstanden, dass sie die Handynummern austauschten. Mariahs Bruder rief auch öfters Mal an, wenn er von ihm einen Rat brauchte, was Autos betraf. Lee bastelte ebenfalls gerne an Motoren herum und wenn er ein Ersatzteil aus dem Internet herausgesucht hatte, machte er immer zuerst ein Screenshot davon, um Tysons Meinung darüber einzuholen. Der sagte ihm dann, ob es das Geld wert war oder er sogar etwas Besseres zur Hand habe. So war der Kontakt zwischen ihnen zwar sporadisch, aber immerhin noch da.

Tyson entfernte sich vom Laden, da ihm der Tumult vor dem Shop zu viel wurde. Sobald er gewählt hatte, hielt er sich das Smartphone ans Ohr. Die Sekunden in welchen es klingelte kamen ihm unendlich lang vor. Er hatte schon Angst wieder niemanden zu erreichen, als sich endlich jemand auf der anderen Seite meldete.

„Lee?“

Doch die Stimme die redete war eindeutig nicht er, denn dazu klang sie viel zu weiblich. Und sie sprach auch noch Chinesisch. Wahrscheinlich war es dessen Frau. Tyson versuchte sich verständlich zu machen, wiederholte immer wieder den Namen der Person, die er sprechen wollte und endlich wurde der Hörer weitergereicht.

„Hallo?“

„Lee, bist du das?“

„Ja.“

„Oh gut! Lange nichts gehört.“

„Ja... Ich weiß.“

„Störe ich gerade?“

„Es... Es ist etwas ungünstig.“

Tyson fragte sich ob es an der Verbindung lag, doch Lee klang ziemlich abgehakt.

„Das tut mir Leid. Ich will eigentlich auch nicht lange stören, aber das lässt mir gerade keine Ruhe.“, begann er zu erklären. „Ich habe Ray und Mariah gestern Nacht an den Flughafen gefahren. Seitdem habe ich nichts mehr von ihnen gehört.“

Lee schnaufte auf der anderen Seite.

„Haben sie sich bei dir vielleicht gemeldet?“

„Ja.“

„Gut! Wenigstens einer der was von ihnen gehört hat. Beide wollten nach ihrer Landung mit dem Zug fahren und jetzt läuft da in den Nachrichten dieser bescheuerte Bericht…“

„Ich weiß. Ich sollte sie hier vom Bahnhof abholen.“

Tyson hielt inne.

„Oh… Okay.“, ihm wurde übel. Die Kinnlade klappte ihm langsam auf. Es war die Art wie Lee es sagte, die ihm von einer Sekunde auf den anderen den Magen umkrempelte. Er schluckte hart, dennoch fragte Tyson hoffnungsvoll. „Und, wie geht es ihnen?“

Seine Stimme war leiser geworden.

„Das weiß ich nicht.“, sprach Lee. Allmählich ahnte Tyson weshalb er so kurz angebunden war. Was er da hörte klang nach Entsetzen. Nach Schock. Dann wiederholte Lee: „Ich weiß es nicht.“

Auf einmal kam Tyson jeder Atemzug so unendlich schwer vor. Da lag ein Druck auf seiner Lunge. Er trat wieder an sein Auto, hielt sich am Rahmen fest.

„Waren sie im Zug?“, stellte er die finale Frage.

Es wurde längere Zeit still. Tyson hörte ein Kinderschluchzen von der anderen Leitung heraus. Er wusste nicht mehr genau, ob Lee einen Jungen oder ein Mädchen hatte, nur das er Vater war.

„Ja.“

Tyson schloss die Augen einen Moment. Er versuchte klar zu denken. Sie könnten auch nicht unter den Toten sein. Es gab doch auch bestimmt Überlebende.

„Weiß man schon ob…“

„Die Behörden haben mir gesagt, dass wir mit allem rechnen müssen.“, unterbrach ihn Lee. „Wir sollen uns auf das Schlimmste gefasst machen.“

„Du verarscht mich doch, oder?!“

„Natürlich nicht! Glaubst du allen Ernstes ich mache mit so etwas Witze?! Scheiße Junge, meine schwangere Schwester war in dem Zug!“

Offenbar lagen auch bei Lee die Nerven blank, denn er klang jetzt ziemlich ungehalten. Doch so oder so, verstand Tyson von seinem Ausbruch wenig. Ihm war als würden seine Ohren zufallen. Lees Stimme schien weit entfernt. Nur noch dumpf hörte er dessen Worte, wie die Trauer um seine Schwester und den Schwager ihn mit den Zornestränen kämpfen ließ, dass Plappern der Menschen die ihn umgaben, nicht einmal mehr die Geräusche der Stadt drangen zu ihm durch. Tyson bemerkte gar nicht das er das Smartphone vom Gesicht nahm. Dafür aber wie ihm das Blut schmerzhaft gegen die Schläfe pochte, obwohl es aus den Wangen zu schwinden schien. Ihm wurde übel. Er kam sich eingezwängt vor. Es fühlte sich an, als würde er wieder in einem finsteren, einengenden Stollen wandern, wie damals auf dem Wurzelpfad. Da schoss ihm auch schon etwas durch den Kopf, was er beinahe vergessen hätte. Der merkwürdige Traum…

Irgendwann drang wieder die Stimme von Lee zu seinem Geist durch. Er hielt sich das Smartphone ans Ohr, wo Mariahs Bruder irritiert nach ihm fragte. Tyson wollte gerade antworten das er noch dran sei, als ein Schrei ihn aus seiner Starre löste. Auf einmal ging es rasant schnell. Tyson hatte gar keine Zeit zu reagieren, noch viel zu entsetzt von der Botschaft die ihn ereilte, da rempelte ihn jemand auch schon an. Sein Smartphone landete in einer Pfütze an der Straßenrinne. Er wollte noch danach greifen, da krachte jedoch eine Schuhsohle auf das Display drauf. Der panische Passant bemerkte nicht einmal, dass er sein Handy zerstört hatte, rannte nur weiter davon.

Tyson starrte auf das zerbrochene Display.

Es erinnerte ihn nur ein weiteres Mal an seinen Traum. Wie das eingerahmte Foto von seinen Freunden in seiner Hand lag und das Glas über jedem Gesicht einen Sprung bekam. Er schaute dem Übeltäter nach, der zusammen mit den anderen Flüchtenden in dieselbe Richtung verschwunden war. Plötzlich ließen alle ihre Sachen stehen und liegen. Was immer man trug, wurde fallen gelassen und jene Fahrer, die wegen dem Stau im Wagen ausharren mussten, sprangen heraus, ihre Mitreisenden im Schlepptau. Es war das reinste Chaos und erinnerte Tyson an den Tumult am Flughafen.

Plötzlich wurde er am Hals gepackt. Ein geschocktes Keuchen kam aus seiner Kehle. Es war nicht der Griff der ihn erschreckte, sondern wie eisigkalt die Finger waren. Sie fühlten sich wie Eiswürfel an die auf seine bloße Haut trafen. Doch irgendwie ließ es Tyson auch zu Sinnen kommen. Sein Überlebensinstinkt erwachte wieder. Er bäumte sich mit einem Schrei auf, holte mit dem Kopf aus und traf seinen Angreifer mitten ins Gesicht. Tyson vernahm wie jemand hinter ihm wie ein Raubtier fauchte, da drehte er sich auch schon um. Er holte mit der Faust aus und schon taumelte der Mann zurück. Tyson ließ sein Handy wo es war, erhob sich aus der Hocke und musste feststellen, dass es mit diesem einen Angreifer nicht getan war. Er hörte das Schreien einer alten Frau, die von mehreren Leuten in eine Gasse gezerrt wurde. Sie war nicht die Einzige. Wo immer Tysons Blick sich hin verirrte, sah er Menschen die sich verzweifelt zur Wehr setzten. Wem sollte er denn bloß zuerst helfen?

Die Wahl fiel auf die nächstgelegene Gruppe in seiner Umgebung. Es waren zwei kleine Mädchen, die sich schreiend in eine Ecke kauerten, während ihre Mutter schützend die Arme um sie legte. Sie starrten alle in blanker Panik auf die Angreifer, die wohl ihren Vater zu Boden drückten. Tyson packte den ersten am Kragen und riss ihn mit Schwung vom Mann. Er krachte in die Motorhaube seines Wagens und rollte darüber hinweg. Dem nächsten verpasste er einen Fausthieb gegen das Kinn. Noch bevor er zurücktorkeln konnte, packte Tyson ihn am Kragen und schlug immer wieder zu. Womöglich war es der Schock der Nachricht. Oder vielleicht weil er sich von der Welt so verraten vorkam. uf jeden Fall hieb Tyson immer wieder auf ihn ein, bis der Mann schlaff in seinem Griff baumelte. Er stieß ihn von sich weg, drehte sich um. Doch bei dem dritten Angreifer hielt er inne…

Es war eine Jugendliche. Eine Schülerin um genau zu sein. Sie trug noch ihre Uniform. Es war dieselbe Schule die auch Tyson besucht hatte, als er einen der höheren Jahrgänge erreichte. Sie starrte ihn aus leeren Augen entgegen. Ihre Lippen waren blau. Dann streckte sie ihre zierlichen Hände nach ihm aus. Ihm fiel auf wie dunkel die Äderchen auf der blassen Haut hervorstachen. Doch ihre Fingerkuppen waren rabenschwarz, als wären sie völlig verfroren. Tyson trat einen Schritt zurück. Er konnte doch keine Frau verprügeln...

Da wurde ihm die Entscheidung aber auch schon abgenommen. Das junge Ding bekam einen solchen Tritt in die Seite, das sie pfeilschnell durch die Scheibe des Elektronikmarktes flog. Ein ohrenbetäubender Lärm entstand, als sie durch die aufgestellten Fernseher krachte. Die beiden Mädchen schrien gemeinsam mit ihrer Mutter auf, weil das klirrende Glas auf sie herabregnete. Dann kauerte sich die Frau zu ihrem Gatten herab, der noch immer reglos liegen blieb. Sofort als die Scheibe zerbarst, erschallten die Stimmen der Nachrichtensprecher dahinter, aus den verbliebenen Fernsehern lauter heraus.

Die meisten waren kaputt. Nur wenige liefen noch fehlerfrei. Tyson sah inzwischen auf das Bündel, was früher Mal einmal eine Schülerin gewesen war und nun unter einem Haufen funkensprühender Elektronikgeräten begraben lag. Ein Bein schaute merkwürdig verdreht heraus. Der Schuh war einem ihrer Füße entglitten. Erst eine bekannte Stimme ließ ihn den Blick von dieser surrealen Szene wenden. Tyson sah in das Gesicht und konnte gar nicht schnell genug reagieren, als er selbst schon am Kragen gepackt und gegen das Gemäuer des Ladens gepresst wurde.

„Kein Mucks mehr! Dieses Mal bleibst du gefälligst hier, Freundchen!“

Zunächst war Tyson noch zu geschockt um etwas zu sagen. Die Sorge um Ray, der Aufstand in den Straßen und jetzt noch dieses furchtbar bizarre Bild, waren mehr, als er momentan aufnehmen konnte. Doch es war der Gedanke an Ray, der seine alte Wut wieder aufleben ließ. Seine Brauen zogen sich tief zusammen. Tyson starrte zornig zu Dragoon, der ebenso wenig erfreut wirkte, was ihm persönlich aber herzlich egal war. Viel schlimmer war das dieser Mistkerl selbst mit einer Hand stark genug war, um Tyson ohne Probleme festzuhalten.

„Siehst du endlich wohin uns deine Engstirnigkeit geführt hat?!“, brüllte Dragoon ihn an.

„Was hab ich damit zu tun?“, schrie Tyson ebenso zornig zurück.

„Du hast mich nicht zu Dranzers Jungen geführt, als ich noch genug Kraft hatte, um gegen sie anzukommen! Jetzt ist sie komplett außer Kontrolle geraten - und ihre Diener auch!“

Um ehrlich zu sein verstand Tyson gerade nur Bahnhof. Er war zu sehr damit beschäftigt, den Griff um seinen Kragen zu lockern, nestelte an Dragoons Faust herum, um endlich etwas mehr Abstand zu gewinnen.

„Deine Probleme interessieren mich nicht – wir sind geschiedene Leute!“

„Was unser Band betrifft magst du Recht haben. Doch meine Probleme sind auch deine! Sieh dich nur um oder willst du behaupten, du hättest das Chaos nicht bemerkt!“

„Natürlich habe ich das! Ist ja wohl nicht zu übersehen…“

„Dann komm endlich zur Vernunft und bring mich sofort zu Kai!“

„Leck mich, du Arschloch!“

Dragoon knurrte erbost. Tyson konnte seine Pupillen erhaschen, wie die echsenhaften Schlitze darin noch schmaler wurden. Dennoch rief er vollkommen unbeeindruckt: „Du bringst nur Unglück! Ich lasse dich nicht in seine Nähe!“

„Das ist nicht wahr! Ich will Unglück verhindern!“

„Und was ist dann mit Ray passiert?!“, fauchte Tyson ihm entgegen.

„Was soll mit ihm sein?“

„Nur weil du Driger getötet hast, ist in China ein Zug verunglückt! Was ist das für eine Gottheit die so etwas zulässt?!“

„Glaubst du etwa es war meine Absicht, dass die Welt in solches Chaos hinabrutscht?!“

„Du hast das alles doch losgetreten! Du hast einen Uralten nach dem anderen vernichtet!“

„Takao, komm zu Sinnen! Wir steuern hier auf eine Katastrophe zu, die uns alle vernichten könnte! Auch dich und deine Freunde!“

Der nächste Satz kam geradezu gequält aus seinem Mund. Es kostete Tyson unglaublich viel Überwindung die Zornestränen zurückzuhalten.

„Du hast mir doch schon einen Freund genommen…“

Es tat unglaublich weh diesen Satz auszusprechen, weil es sich anfühlte, als habe er mit Ray abgeschlossen. Denn da war nach wie vor die Hoffnung, Lee möge sich irren. Irgendwie konnte Tyson das einfach nicht akzeptieren. Seine Freunde und er hatten so viel durchgestanden und es war irgendwie immer alles gut ausgegangen. Er wollte sich partout nicht eingestehen, dass ihr Glück gerade heute ein Ende finden sollte. Solche Dinge passierten anderen, aber nicht ihnen. Das durfte einfach nicht sein…

Dragoon schaute ihn lange an, sein zorniger Blick wich allmählich. Dann huschten seine Pupillen zu den knisternden Trümmern der Fernseher. So ziemlich jeder hatte seine Schrammen abbekommen. Einige sprühten Funken. Doch ein einzelner berichtete wacker von den Katastrophen der letzten Stunden. Noch immer flackerten die Bilder des Tunneleinbruchs über dessen Monitor. Dragoons Augen verharrten darauf. Er schloss mit einem wissenden Seufzen die Lider.

„Du denkst dein Freund war da drinnen?“

„War er es?“, kam die hoffnungsvolle Frage.

„Das weiß ich nicht. Er ist nicht mein Menschenkind. Driger hätte ihn vielleicht orten können, doch mein Schwur gilt dir… Nicht Ray.“

Tyson riss sich mit einem Fauchen los.

„Du bist ein Witz von einer Gottheit!“

„Ich bin ein Bit Beast! Ich habe nie behauptet etwas wie ein Gott zu sein! Um Menschen beobachten zu können, muss ich mich beim Wurzelthron befinden!“

„Ist doch egal wie du es nennst! Wenn Ray und seiner Frau wirklich etwas passiert ist, bist allein du schuld daran! Mao ist schwanger! Er hat sich so auf sein Mädchen gefreut!“

„Du richtest zu voreilig…“

„Warum auch nicht?! Hättet ihr eure Arbeit richtig gemacht, anstatt euch auf eure scheiß Rache zu fokussieren, wäre es niemals so weit gekommen!“

„Das sehe ich nun auch ein! Aber wenn du mir nicht endlich zuhörst, wird es nur noch schlimmer!“, Dragoon deutete auf den Familienvater zu ihren Füßen. Bei all den Zankereien war Tyson entgangen, dass er noch immer nicht auf die Beine gekommen war und das obwohl seine Frau versuchte ihn wachzurütteln. Die beiden Mädchen kauerten weiterhin wimmernd am Boden, riefen nach ihrem Papa. Ihr Geschrei überschallte selbst den Nachrichtensprecher aus dem Ladeninneren.

„Dranzer hat es vollbracht eine Möglichkeit zu finden, um sich weiterhin mit Energie zu versorgen - auch ohne die Hilfe ihres Jungen. Allerdings hat das fatale Konsequenzen. Das Ergebnis siehst du hier vor uns!“

Tyson schielte auf den Mann zu seinen Füßen. Er fragte sich was die Demonstranten mit ihm angestellt hatten, dass ihm jegliche Farbe aus dem Gesicht wich. Man konnte förmlich dabei zusehen, wie die rosige Haut immer fahler wurde. Er hörte noch immer die Schreie um sich herum. Doch Tyson war zu sehr mit seinem Groll beschäftigt, noch viel zu zornig auf Dragoon – und so fiel seine Antwort dementsprechend ungnädig aus.

„Dranzer ist dein Problem nicht meines…“

„Nein, ist sie nicht! Das hier geht uns jetzt beide etwas an! Schau hin was mit ihm passiert!“, er wurde am Nacken gepackt, wie ein ungezogener Bengel, dem man die Leviten las. Dragoon zwang ihn den Blick auf den Mann zu richten. Dessen Frau bemerkte nun auch, dass etwas nicht stimmte. Sie schaute ihren Gatten aschfahl an. Erst nachdem Tyson genauer hinsah, begriff er, was sie so irritierte. Er hatte die Augen endlich aufgeschlagen. Darunter kamen milchige Pupillen zum Vorschein. Es war das zweite Mal das Tyson heute etwas Derartiges erblickte. Dieser Zufall kam ihm doch irgendwie sonderbar vor.

Der Frau des Mannes war der plötzliche Wechsel seiner Augenfarbe wohl ebenfalls nicht geheuer, denn sie erhob sich vorsichtig. Da ging ein Schrei durch die Mädchen, als ihr Vater nach dem Hals ihrer Mutter packte. Tyson wollte sofort reagieren, doch wurde zurückgehalten.

„Schau genau hin!“, schallte Dragoons schneidende Stimme durch seinen Kopf. Der Befehl ließ ihn in seinem Vorhaben inne halten, denn eigentlich wollte Tyson nach dem Arm in seinem Nacken greifen, um sich los zu bekommen. Doch er konnte gar nicht anders, als die Szene zu beobachten, obwohl er doch eigentlich einschreiten sollte. Da erklärte Dragoon: „Das ist was von Dranzers Opfern übrig bleibt! Leblose, erkaltete Leichen die durch die Straßen irren, um ihrer Herrin noch mehr Energie zu bringen! Sie werden förmlich ausgesaugt, jeglicher Wärme beraubt. Das war es was ich dir schon bei unserem ersten Treffen hier klar machen wollte, doch du wolltest nicht hören!“

Das Röcheln der Frau war zu vernehmen. Eines der Mädchen lies von ihrer Schwester ab, stürmte auf ihren Vater zu und versuchte die verkrampften Finger vom Hals ihrer Mutter zu lösen.

„Unternimm etwas!“, schrie Tyson auf.

„Genau das ist es was ich die ganze Zeit schon tue!“

Endlich stieß Dragoon ihn weg. Tyson stolperte gegen das Gemäuer hinter sich. Kurz darauf stapfte sein Bit Beast gezielt auf den Mann zu und verpasste dem am Boden liegenden einen solchen Tritt gegen das Kinn, das man förmlich hören konnte, wie dessen Kiefer dabei brach. Sein Oberkörper klappte ruckartig zurück, der Hinterkopf prallte auf den Asphalt, während die Frau laut nach Luft japste und auf allen Vieren von ihrem Mann davonkrabbelte.

„Kalt…“

Es war alles was Tyson aus ihrem Mund verstand. Das kleinere der Mädchen begann haltlos zu weinen, rief nach ihrem Papa, während ihre Schwester sich zu der Mutter beugte.

„Nimm deine Kinder und verschwinde von ihr!“

„Mein Mann…“

Sie war wohl Ausländerin. Ihr japanisch war ziemlich gebrochen und auch die Kinder konnte man kaum verstehen. Tyson hatte geglaubt es läge an deren aufgeheizten Gemütern, dass er nicht begriff, was sie von sich gaben, aber ehrlich gesagt, war er im ersten Moment auch zu sehr damit beschäftigt, die Angreifer von dem Mann zu zerren. Unter dessen Hinterkopf bildete sich mittlerweile eine Blutlache. Dragoons Tritt musste ihm die Schädeldecke zertrümmert haben. Tyson schluckte hart, als er diesen Anblick sah. Ihm wurde klar dass die Mädchen alles mitbekommen hatten. Wie furchtbar musste das für beiden sein?

Mittlerweile begann sein Bit Beast mit der Frau zu sprechen. Er zog sie unwirsch auf die Beine, während sie völlig außer sich kreischte. Ihr musste klar geworden sein, dass ihr Mann sich davon nicht erholen würde. Sobald Dragoon die fremde Zunge erkannte, hielt er ihr grob den Mund zu und fuhr zu Tysons Überraschung in ihrer Sprache fort. An der Ernsthaftigkeit seiner Stimme, hörte man deutlich heraus, dass seine Worte mehr einem Befehl glichen. Irgendwann nickte die Frau aus wässrigen Augen, ergriff ihre verängstigten Mädchen bei den Händen und lief eiligst die Straße hinunter.

„Du willst sie alleine losziehen lassen?!“, spie Tyson aus.

„Sie müssen klar kommen.“

„Spinnst du?! Diese Mädchen haben gerade ihren Vater verloren!“

„Ich kann nicht jedem helfen, Takao!“, fauchte Dragoon zurück. „Wenn sie Glück haben, schaffen sie es in einen sicheren Teil der Stadt.“

„Oh, sehr aufmunternd! Dann werden alle anderen Menschen also von dir wieder geopfert!“

Tyson tat eine ausladende Bewegung auf das umliegende Areal. Überall herrschte Chaos. Viele Menschen kämpften gegen Dranzers Diener an.

„Hast du mich nicht verstanden?!“, rief Dragoon aus. „Ich habe nicht genug Energie dafür!“

„Du bist ein Feigling!“

Sein Bit Beast drehte sich ruckartig um und schaute ihn zornig an, mit gefletschten Zähnen. Er konnte förmlich hören, wie Dragoons Kiefer mahlte. Beide sahen sich eine Weile lang herausfordernd an. Dann, nach mehreren tiefen Atemzügen, schloss sein Gegenüber die Lider. Schließlich sprach Dragoon: „Ihr Menschen seid so verweichlicht. Durch den Fortschritt und euren Komfort, habt ihr vergessen, dass der Kampf ums Überleben schon immer zur Natur gehört hat.“

„Das ist deine Rechtfertigung?“, fragte Tyson mit geballten Fäusten. „Jämmerlich!“

„Ich bin mir sehr wohl meiner Verantwortung bewusst!“, wehrte sich Dragoon. „Aber die traurige Wahrheit ist, dass auch meine Kräfte begrenzt sind! Ich kann nicht mit einem Fingerschnippen alles wieder ins Gleichgewicht bringen. Momentan sind meine Mittel mehr als dürftig!“

Dragoon schaute von ihm weg. Einige der Angreifer hatten sich Eintritt in die umliegenden Läden verschafft. Ein weiter torkelte auf sie zu, wurde aber abgelenkt, als ein Jugendlicher knapp vor ihm, in eine Gasse verschwand. Da sprach Dragoon auch schon weiter.

„Was ich aber tun kann ist das Übel an der Wurzel zu packen. Damit würde ich viel mehr Menschen helfen. In meiner Position muss man manchmal unbequeme Entscheidungen treffen.“

„Alles nur Ausreden…“

„Was willst du noch von mir hören?“, knurrte Dragoon. „Ich verstehe dass du zornig bist. Womöglich war ich die letzten Tage auch tatsächlich zu… egoistisch. Aber willst du nicht genauso wie ich, dass dieses Chaos ein Ende hat?“

„Natürlich will ich das!“

„Dann lass uns ein letztes Mal zusammenarbeiten. Danach können wir getrennte Wege gehen.“

Etwas in seinem Inneren sträubte sich geradezu dagegen.

„Wofür brauchst du mich? Ich bin doch nur ein mickriger Wurm. Deine Worte, nicht meine!“

Tysons Stimme triefte vor Häme, während er anklagend auf ihn deutete. „Willst du mir etwa erzählen, dass der große Dragoon, ohne einen armseligen Menschen nichts auf die Reihe bekommt?“

„Ich brauche Energie.“

„Na und?“

„Verstehst du es nicht? Du warst all die Jahre meine Energiequelle hier. Durch unseren Streit muss unsere Verbindung jedoch gestört worden sein. Unsere Seelen sind nicht mehr kompatibel.“

Allegros Worte gingen Tyson einen Moment durch den Sinn. Obwohl sie ihm Kenny als Menschenkind anboten, hatte er damals abgelehnt. Weil die Seelen identisch sein mussten…

„Und was soll ich jetzt machen - mir eine Steckdose einbauen?“

„Dein Spott ist gerade fehl am Platz! Wir müssen wieder auf einen gemeinsamen Nenner kommen! Das wird aber nicht funktionieren, wenn du nicht endlich über deinen Schatten springst.“

„Wer sagt dass ich das will?“

„Dass du es nicht willst sehe ich selbst! Aber du solltest wenigstens so schlau sein und aus meinen Fehlern lernen.“, Dragoon beugte das Gesicht bedrohlich vor, nahm ihn genau ins Visier. „Du hast mir vorgeworfen, ich hätte meine Rachegelüste vor meine Pflichten gestellt. In dieser Sache magst du leider Recht haben. Doch nun sieh dich an… Wie du hier stehst, mir Vorwürfe machst, dich bockig stellst wie ein trotziger Bengel - anstatt deinen Groll hinunterzuschlucken und dich auf das Wesentliche zu konzentrieren!“

„Das ich nicht gut auf dich zu sprechen bin, ist ja wohl kaum verwunderlich!“, fauchte Tyson.

„Also legst du die Hände in den Schoß und wartest ab, bis irgendeine Gottheit die Arbeit erledigt?“, höhnte Dragoon. „Das ist so menschlich! Sonst brüstet ihr euch immer damit, dass ihr so fortschrittlich und überlegen seid, aber wenn ihr nicht weiterkommt, verflucht ihr jede höhere Macht die euch einfällt! Du kannst jetzt nicht auf ein Wunder hoffen, Junge! Jetzt bist du genauso gefragt! Dranzer ist auf dem Vormarsch. Und sie wird sich nach und nach holen, was du am meisten liebst. Sie muss wieder zur Vernunft gebracht werden, um mit mir weitere Katastrophen abzuhalten. Zur Not werde ich sie mit Gewalt nachhause schaffen!“

Einen Moment schaute Tyson ihn an, forschte in Dragoons Gesicht, nach einem Anhaltspunkt, ob er log. Wirklich vertrauen konnte er ihm einfach nicht mehr. Irgendwann hob sich dennoch seine Braue und er fragte voller Argwohn: „Was ist eigentlich zwischen euch vorgefallen, dass ihr so schlecht aufeinander zu sprechen seid? Hat es etwas mit Wolborg zu tun?“

Zum ersten Mal wirkte Dragoon überrascht.

„Du weißt davon?“

„Wir haben Wolborg getroffen. Bevor sie gestorben ist.“

„Sie ist tot? Wann ist das denn schon wieder passiert?!“

„Das ist eine lange Geschichte…“

Dragoon schaute aus geweitetem Blick von ihm weg. Mehr zu sich selbst flüsterte er: „Bei allen Gestirnen… Dranzer darf das nicht erfahren. Sie ist ohnehin schon aus dem Gleichgewicht, aber diese Nachricht würde ihr endgültig das Herz brechen.“

„Das Miststück hat doch gar kein Herz!“

Da geschah es ganz ohne Vorwarnung…

Grober als jemals zuvor packte Dragoon seinen Hals. Tyson hatte gar keine Zeit noch nach Luft zu schnappen. Es war anders als sonst, wenn er eine Grenze bei seinem Bit Beast überschritt. Tyson spürte das das hier mehr als eine Drohgebärde war.

Jetzt wurde es tödlicher Ernst...

Ein Keuchen entrang sich seiner Kehle. Er spürte wie ihm das Blut förmlich in den Kopf stieg. Tyson schielte röchelnd auf Dragoons verbliebenem Arm. Unter dem Ärmel von dessen Jacke konnte er etwas Haut ausmachen. Dort pressten sich erneut die Drachenschuppen gegen die obere Schicht.

„Nimm das zurück!“, brüllte sein Gegenüber auf einmal in blinder Raserei.

Und zum ersten Mal konnte Tyson beobachten, was mit einem Bit Beast geschah, dass sich ernsthaft an seinem Menschenkind vergriff. Das sich nicht an seinen Teil des Paktes hielt. Dragoons Finger schienen zu qualmen. Genau dort wo sie Tysons Hals gepackt hielten. Dennoch verstärkte er den Griff als sei es ihm egal geworden. Das Gesicht vor ihm war verzerrt, besaß nun mehr tierische Züge. Gleich darauf dröhnte Dragoons Stimme über den Platz. Sie klang verzerrt, total unmenschlich und sie schallte gespenstisch nach.

„Wag es nicht sie so zu nennen! Niemand außer mir hat das Recht sie zu beleidigen! Niemand! Hast du das verstanden?!“

Ein Fauchen folgte – wie von einem Drachen eben.

Tyson wurde fordernd gerüttelt. Er packte nach den Fingern die ihn hielten, um den Griff zu lockern. Sie begannen nach verkohltem Fleisch zu stinken. Dragoon war wohl bereit ihm den Hals zu brechen, selbst wenn die Strafe dafür verheerend sein könnte.

„Denk an deinen Schwur!“, krächzte Tyson.

„So langsam scheiße ich auf den Schwur!“, spie Dragoon bedrohlich aus. „Irgendwo sind Grenzen und du hast deine jetzt überschritten! Beleidige mich! Stell dich trotzig! Trag mir meine Vergehen nach und schimpf mich einen verdammten Feigling! Doch Dranzer wirst du nicht beleidigen – geht das in deinen Kopf?!“

Der Groschen fiel endlich…

„Du liebst sie?“, keuchte Tyson als er endlich verstand.

Da kehrte auch schon Stille zwischen ihnen ein. Das einzige was zu hören war, waren die Klänge aus dem Laden. Noch immer berichtete der Nachrichtensprecher vom Zugunglück. Mittlerweile hatten sich die Straßen geleert, auch wenn dann und wann ein Schrei aus einer Seitengasse erklang. Die meisten Autos waren verlassen, offenbar weil Dranzers Diener die Menschen vor sich her trieben, wie Schäferhunde eine Herde Lämmer. Irgendwann fühlte Tyson wie der Griff um seinen Hals sich ein wenig lockerte. Sofort schnappte er nach Luft. Dennoch baumelten seine Füße noch weiter in der Luft. Er musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um endlich Bodenkontakt zu bekommen. Und doch starrte Tyson Dragoon wissend an. Er beobachtete wie dessen Blick lange auf ihm ruhte – bis er irgendwann mit einem Schnalzen von ihm wegsah.

„Mag sein…“

Tyson wurde endlich losgelassen. Während er sich über den Hals fuhr, starrte er sein Bit Beast mit erhobener Braue an.

„Wie kannst du so jemanden nur lieben?“, wollte er wissen. „Sie ist grausam und boshaft…“

„Sie war nicht immer so!“, rief Dragoon geradezu verzweifelt aus. Es kam ihm vor, als würde er mit aller Macht an ihr festhalten. „Das mit Wolborg hat ihr mehr zugesetzt, als ich geglaubt habe. Ich dachte nicht das es sie so sehr verändert…“

„Und wenn schon! Wie kannst du jemanden in Schutz nehmen, mit dem du dich vor wenigen Tagen noch bis aufs Blut gefetzt hast? Ich war bei eurem letzten Kampf dabei! Du hast sie sogar gefressen!“

„Ein Tiefpunkt kommt immer Mal vor.“

„Das ist mehr als das! Was ihr da treibt ist doch verrückt!“

„Den Begriff Rosenkrieg habt ihr Menschen definiert. So absonderlich dürfte das für dich also nicht sein.“

„Rosenkrieg?!“, wiederholte Tyson fassungslos. „So nennst du das?!“

„Wie denn sonst?“

„Ihr tut euch gegenseitig nur noch weh! Nicht nur seelisch sondern auch körperlich!“

„Als wären du und Kai besser!“

Tyson zuckte zurück.

„Was hat das eine mit dem an-...“

„Oh bitte! Hör auf du blöder Heuchler!“, fuhr ihm Dragoon dazwischen. „Wie oft hast du ihn wieder in deine Nähe gelassen, obwohl er uns ständig in den Rücken gefallen ist?! Er hat dir in jungen Jahr so oft ein Bein gestellt, glänzte mit Egoismus und Unfreundlichkeit – hast du das etwa schon vergessen?“

„Das ist nicht das Gleiche! Kai hatte eine verdammt schwere Vergangenheit!“

„Dranzer genauso! Und wenn Bit Beasts sich streiten, dann hat das eben größere Ausmaße! Eure Rangeleien sind doch nur eine kleinere Ausgabe von unseren Kämpfen. Glaub mir, ich habe genauso eine schlechte Meinung von deinem Liebling, wie du von Dranzer!“

„Kai ist nicht wie Dranzer!“, beinahe hätte sich Tysons Stimme vor Zorn überschlagen. Bis er bemerkte, dass er ebenso heftig reagierte, wie sein Bit Beast zuvor. Ein hochmütiger Blick traf ihn. Nun hob Dragoon wissend die Braue, schaute ihn geringschätzig an.

„Was ist los, Junge? Erschrickst du darüber, wie schnell dein Blutdruck hochschießt, wenn man deinen Kleinen beleidigt?“, kam es geradezu gehässig. „Du kannst mir nichts vormachen. Meine Sinne sind vielleicht nicht auf dem Höchststand, aber Kais Geruch klebt an dir, wie eine zweite Haut. Ihr müsst euch in der letzten Nacht ja richtig eng umschlungen haben, damit du so intensiv nach ihm riechst. Gestern hast du jedenfalls noch anders gerochen.“

Tyson schnalzte erbost mit der Zunge. Doch er fühlte auch dass seine Wangen heiß wurden. Es kam nicht oft vor, dass ihm etwas unangenehm war, doch das sein Bit Beast ihn so leicht durchschaute, brachte ihn doch in Verlegenheit. Da ließen ihn Dragoons nächste Worte aufhorchen.

„Du musst mich zu ihm bringen.“

„Nicht wenn du Kai als Lockmittel missbrauchst!“

„Er ist doch schon längst ein Lockmittel! Wenn ich ihn an dir riechen kann, was glaubst du macht Dranzer, mit ihren intakten Sinnen jetzt?“, Dragoon schaute ihn warnend an und zum ersten Mal, fragte sich Tyson, ob es nur ein Trick oder ernstgemeinte Sorge war. Er begann kurz seine Lage zu überdenken. Seine Familie lebte weiter außerhalb von Stadtzentrum. Wenn er sich beeilte, könnte Tyson nachhause fahren und mit allen dort verschwinden, bevor Dranzer auftauchte. Allerdings war sein Auto zugeparkt und er müsste Hiro auch noch zurücklassen. Tyson biss sich auf die Unterlippe. Da fuhr Dragoon auch schon fort.

„Im Gegensatz zu mir hat Dranzer sich in den letzten Stunden reichlich mit Energie versorgt. Dadurch verkümmern ihre Sinne nicht so wie meine. Schlimmer noch. Sie ist wird immer stärker.“, er ballte die Faust vor sich. Schaute auf die Finger, welche sich ungelenk krümmten. Zum ersten Mal fiel Tyson auf, dass sie geradezu starr wirkten. Als Dragoon seinen Hals packte, waren sie eiskalt gewesen. „Meine Bewegungen dagegen werden immer steifer. Dieser Körper kommt mir wie ein nasser, unförmiger Sack vor, den ich mühselig mit mir herumschleppen muss.“

„Du willst also in deinen Blade zurück?“

In Tysons Kopf tat sich ein Hintertürchen auf. Er könnte Dragoon nach dem Kampf gegen Dranzer wegsperren. Womöglich sogar anschließend den Blade verschwinden lassen. Irgendwohin wo ihn niemand mehr fand. Wenn Dragoon ähnliche Ängste teilte wie Tyson, wäre es vielleicht gar nicht so dumm, den Blade unter der Erde verschwinden lassen, dort wo es furchtbar eng und stickig war. Oder vielleicht in eine kleine Kiste die auf den Meeresgrund sank…

„Ganz schön ausgefuchst, Junge.“

Er biss sich auf die Unterlippe. Diese Fähigkeit hatte Tyson ganz vergessen. Es war einfach zu ungewohnt, sich immer ins Gedächtnis zu rufen, dass er seine Atmung in Dragoons Gegenwart gezielt steuern musste.

„War nur so ein Gedanke…“, kam es unterkühlt von ihm.

„Natürlich.“, kam es ebenso frostig zurück. „Wie auch immer. Es wäre vorteilhafter wenn ich gegen Dranzer in einem menschlichen Körper antrete. Sie hat durch ihre Hülle mehr Bewegungsfreiheit und um mit ihrem Level mitzuhalten, muss ich zumindest die gleichen Voraussetzungen schaffen. Dein Blade reicht da nicht mehr aus.“

„Ich wüsste nicht wie ich dir da noch helfen kann.“

Dragoons Augen huschten zu ihm, wurden zu Schlitzen.

„Was hältst du davon mir deinen Körper auszuborgen?“

Tyson starrte zurück. Er blinzelte mehrmals, einfach weil er dachte sich verhört zu haben.

„Wie bitte?“

„Du hast mich schon richtig verstanden…“

„Vergiss es!“

„Nur für ein oder zwei Stunden! Ein Menschlein wie du würde sowieso nicht viel länger aushalten.“

„Nicht einmal eine Sekunde bekommst du!“

„Takao, es wäre der beste Weg um geg-…“

„Nein!“, er wich geradezu panisch zurück. Irgendwie kam Tyson sich allein bei dem Gedanken vergewaltigt vor. „Ich habe gesehen was Dranzer mit Kai angestellt hat! Er hatte keine Befehlsgewalt mehr über sich und war ihr vollkommen ausgeliefert! Sogar eine Frau hat er im Krankenhaus angegriffen! Glaubst du wirklich ich bin so blöde und lasse mich freiwillig auf so einen Kuhhandel ein?!“

„Es ist doch nur vorübergehend!“

„Nein verdammt! Ich will nichts mehr darüber hören, verstanden?!“

Dragoons Gesicht verzog sich verärgert. Tyson sah ihm an, dass er bereits ein böses Kontra auf den Lippen hatte, als der Nachrichtensprecher im Fernsehen seine Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. Zwischen all den brutzelnden Monitoren, verkündete der letzte heile Bildschirm, dass gerade eben eine weitere Eilmeldung hereingekommen sei. Ein Flugzeug war über dem Pazifischen Ozean abgestürzt, offenbar weil es in eine Luftturbulenz geraten war.

Dragoon schnalzte erbost.

„Diese nutzlosen Böcke! Lässt man sie aus den Augen, machen sie nur was sie wollen!“

Doch Tyson hörte gar nicht mehr richtig hin. Aus aschfahlem Gesicht starrte er auf die eingeblendete Flugnummer, die er von letzter Nacht noch kannte und vernahm die schreckliche Botschaft, dass man mit keinen Überlebenden rechnete.
 


 

ENDE KAPITEL 46
 

Die Luft war dünn und stickig. Jeder Atemzug fühlte sich an, als ob anstatt Sauerstoff nur Staub den Weg in die Lunge fand. Mehr als einmal verursachte es bei Ray einen schmerzhaften Hustenanfall, den er nur mit viel Mühe überwinden konnte. Es gab kaum ein Körperteil das ihm nicht schmerzte. Außerdem fühlte es sich an, als habe er sich eine Rippe gebrochen.

Dennoch könnte es schlimmer sein…

Er lebte immerhin noch. Auch wenn der Moment, indem der Zug auf die Tunnelwände traf, sie allesamt herumgeschleudert hatte, wie Würfel in einem Pappbecher. Ray wusste, dass sie eigentlich tot sein müssten. Doch es war Galux zu verdanken, dass sie den schweren Aufprall überlebten. Sie hatten keinen Sitzplatz in einem der Wagons mehr gefunden, also waren Mariah und er im Gang, neben den Toiletten stehen geblieben. Galux hatte eine Art Schutzschild um sie errichtet. Die Überbleibsel ihres Kraftaktes waren noch genau zu sehen. Der kleine Abschnitt indem sie sich befanden war nun wie eine Kugel ausgehöhlt. Das Material des Zuges hatte sich im Angesicht von Galuxs Energie verformt. Es erinnerte Ray an einen Ballon, dessen Oberfläche man mit Papier zugekleistert hatte. Sobald alles getrocknet war, ließ man den Ballon platzen und das Papier blieb weiterhin in dieser Form zurück. Das allein dieser Schutzschild so viel Macht hatte, ließ ihn ein weiteres Mal erkennen, wie außergewöhnlich ein Bit Beast sein konnte – auch wenn es Galux das letzte bisschen Kraft raubte. Bei dem Gedanken schloss Ray bedauernd die Augen. Hätte er doch nur nicht auf seine Frau gehört. Es war Mao gewesen, die nicht auf den nächsten Zug warten wollte. Ray hatte ihr gesagt, dass es für eine schwangere Frau schwer werden würde, die ganze Fahrt über stehend zu verbringen. Doch sie hatte sich durchgesetzt. Nun gut, es hatte keinen Sinn zu jammern.

Das würde ihre Situation nicht verbessern…

Ray ermahnte sich ruhig zu bleiben. Als er die Lider wieder öffnete, machte er im flackernden Licht der Lampe die Umrisse seiner Umgebung aus. Es tröstete ihn, dass wenigstens eine Glühbirne noch funktionierte. Die anderen waren beim Aufprall zerborsten. Was davon übrig baumelte kläglich herum. Rays Augen huschten im Gang entlang. Alles stand seitlich…

Durch die zerbrochene Scheibe der Abteiltür, die vorher wie eine Luke fungiert hatte, konnte er die herabhängenden Sitze, im nächsten Wagon ausmachen. Es war eigenartig wie viel seine Sinne momentan wahrnahmen. Jeder bröckelnde Stein von draußen schallte um ein Vielfaches lauter, jedes Wimmern in seiner Umgebung kam ihm so nah vor, obwohl die anderen Passagiere des Zuges hinter der deformierten Tür von ihnen abgetrennt waren. Es machte den Eindruck, als sei der Wagon nichts anderes als eine Blechdose, die man einfach zwischen ihnen zusammengedrückt hatte. Ray vernahm Klopfgeräusche. Jemand wollte auf sich aufmerksam machen. Ein anderer Überlebender…

Manchmal erwiderte er das Signal, einfach um dem verzweifelten Menschen hinter der Tür zu zeigen, dass er nicht alleine in diesem Elend ausharrte. Doch die meiste Zeit galt seine Aufmerksamkeit seiner bewusstlosen Frau, deren Kopf schlaff auf seinem Schoß lag. Es war der erste Gedanke gewesen, als er in den Trümmern des Zuges wach wurde. Der Zweite war ob es dem Baby gut ging. Immer mal wieder tasteten seine Finger zum Gesicht seiner Frau. Er prüfte ob ihre Atmung noch da war. Danach fuhr seine Hand weiter zu ihrem Bauch. Dort harrten seine Finger so lange aus, bis er einen Tritt von dem Baby spürte. Beim ersten Mal hätte er beinahe angefangen zu weinen. Er konnte nicht fassen dass sein kleines Mädchen noch lebte. Eine einzelne Träne konnte er sich nicht verkneifen, die er gleich darauf von seinem Gesicht wischte. Weinen brachte ihn jetzt auch nicht weiter. Er schaute zu Galux. Jeder Atemzug des Bit Beasts kam schwer, wie bei einer Sterbenden, die sich noch verzweifelt an das Leben klammerte.

„Und schon wieder schulden wir dir etwas…“, murmelte Ray aus trockener Kehle an sie gewandt. Das Bit Beast lag zu Mariahs Füßen, gab ein leises Seufzen von sich. Sichtlich geschwächt, genau wie ihr Menschenkind. Sie klang fast schon fiebrig. Ray konnte sich noch genau an den Moment erinnern, als er sah, wie die langen Lauscher der Katze sich kurz vor dem Unglück aufrichteten, ihre Augen alarmiert aufschlugen und sie dem Paar zurief, sich irgendwo festzuhalten.

„Für Danksagungen ist es verfrüht.“, sprach Galux leise.

„Ich weiß. Aber immerhin leben wir noch. Wir alle…“

„Mag sein.“

Ihm fiel auf, dass er sich bisher kein einziges Mal nach ihrem Wohlergehen erkundigt hatte.

„Du wirkst so schwach. Liegt es am Unfall oder weil du keine Energie mehr hast?“

„Ein bisschen von beidem.“, gestand das Bit Beast nach einer langen Pause. „Ich kann Maos Energie nicht anzapfen, wenn sie so geschwächt ist. Das täte weder ihr, noch dem Kind gut.“

Galux schmiegte ihren Kopf liebevoll an die Wade ihres Menschenkindes.

„Ich muss sie doch beschützen…“

„Das hast du. Mehr als einmal.“

„Und doch ist es nicht genug. Ich komme mir so hilflos vor. Wäre Driger noch am Leben… Dann hätte ich mehr Energie. Aber so? Ich bin ein Schatten meiner selbst geworden.“

Eine Weile wurde es still zwischen ihnen, denn auch Ray teilte dieses Gefühl der Verzweiflung. Sie saßen fest, inmitten von Geröll, Kabeln und Metall, ohne eine Orientierung, wie weit es bis zum rettenden Tageslicht war. Die Außentür hatte es ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen, doch dahinter war nichts anderes außer Erde. Wie viele Meter mochten sie wohl bis in die Freiheit trennen?

Das konnte wohl niemand so genau sagen. Beim nächsten Atemzug atmete Ray wieder Staub ein. Es ließ ihn schwer husten. Als er zu Luft kam, entrang er sich eines freudlosen Lachens.

„Was ist so komisch?“

„Ach nichts. Ich dachte nur daran, was für ein makabrer Zufall es wäre, wenn ich unter der Erde drauf gehe.“

„Weshalb?“

Ray fuhr sich über die verdreckte Stirn. Bevor er antwortete, schaute er nochmal auf seine Finger. Offenbar hatte er sich am Kopf verletzt, denn verkrustetes Blut blieb daran hängen. Er lehnte sich wieder seufzend zurück und sprach: „Meine Eltern sind bei einem Erdrutsch umgekommen. Ich war damals nur nicht bei ihnen, weil ich hohes Fieber hatte und mein Onkel mich zur Heilerin brachte. Meine Mutter war ebenfalls erkrankt, deshalb…“

„Blieb dein Vater bei ihr daheim und schickte seinen Bruder mit dir los.“, beendete Galux zu seiner Überraschung die Erzählung. „Ich erinnere mich wieder daran.“

„Woher weißt du davon?“

„Weil Driger mir davon berichtete.“

Ray stockte der Atem. Für einen Moment kam ihm ein böser Gedanke.

„War es er der diesen Erdrutsch verursacht hat?“

„Das kann man nicht so genau sagen.“

„Wie meinst du das?“

„Erdrutschte passieren häufig nach heftigen Niederschlägen.“

„Das heißt Draciel war daran schuld?“

„Auch das ist nur die halbe Wahrheit. Fakt ist, dass es der Pflicht eines Uralten nachkam und euer Gebiet mit Regen versorgte. Das so etwas dabei passieren kann, war sicherlich beiden klar, doch manchmal muss ein Bit Beast, trotz eines Risikos seinen Verpflichtungen nachkommen. Hätte man wegen dieser Gefahr, die nächsten Jahre auf Regen verzichten sollen? Ich denke auch das wäre nicht im menschlichen Ermäßen gewesen. Deshalb darf man nicht von Absicht sprechen…“

Galux schaute Ray lange an. Er hätte schwören können, dass er aufrichtiges Mitleid in dem glühenden Augenpaar sah.

„Harte Worte. Sie spenden dir wohl kaum Trost, das ist mir bewusst. Immerhin hast du allein diesen schmerzlichen Verlust ertragen müssen.“

„Ich war noch ein Kleinkind. Ehrlich gesagt kann ich mich nicht an meine Eltern erinnern. Das ist das Einzige was mir daran am meisten zu schaffen macht.“

Ray schloss die Augen. Seine Hand fuhr wieder zu Mariahs Babybauch. Als ob seine Tochter ihm zeigen wolle, dass er sich nicht zu sorgen brauchte, trat sie zart gegen seine Handfläche. Es ließ seine Frau inmitten ihrer Ohnmacht murmeln.

„Weißt du eigentlich, dass du Driger damals zum ersten Mal auffielst?“, fragte Galux müde.

„Durch den Erdrutsch?“

„Nicht ganz. Du fielst ihm zwei Jahre danach auf.“, erklärte das Bit Beast mit einem sanften Lächeln. „Ich habe ihn damals zu der Stelle begleitet. Wir standen gemeinsam am Abhang und begutachteten die Zerstörung, berieten uns, was wir am besten darauf pflanzen sollten. Wir waren uns einig, dass dieser Ort lange genug in tiefer Andacht geruht hatte und nun endlich wieder das erste grüne Kleid tragen sollte. Die Wochen davor begann ich bereits, die ersten Pollen auf die lehmige Erde fallen zu lassen. Ihre Wurzeln sollten die Stelle wieder stabiler machen. Driger kam an jenem Tag mit mir mit, um sich ein Bild von meiner Arbeit zu machen. Er war immer sehr korrekt was seine Wälder anging. Doch er spürte auch die leblosen Körper unter der Erde. Es ließ ihn bedauernd den Kopf schütteln.“

Ray schluckte hart. Er wusste dass die Leichname seiner Eltern niemals geborgen worden waren. Wann immer man versuchte sie frei zu graben, war der Abhang weiter abgerutscht, also beließ man es dabei und platzierte an jener Stelle, eine kleine Gedenktafel. Galux schloss die Augen.

„Es war ein sonniger Tag und wir bemerkten irgendwann, wie sich eine Gruppe Menschen dem Schauplatz näherte. Zunächst waren wir äußerst unglücklich darüber. Es störte unsere Zweisamkeit – bis du irgendwann aus der Menge hervorkamst. Ein Junge von vielleicht neun Jahren. Du hattest eine Kerze in der Hand.“

Ray tat einen hörbaren Atemzug.

„Daran erinnere ich mich. Das muss der Todestag meiner Eltern gewesen sein.“

„Ich denke ja.“

„Es war das erste Mal, dass mich die Dorfältesten dorthin mitnahmen. Mao und Lee waren auch bei mir. Ihr Großvater hat mir damals erklärt, was es mit diesem Ort auf sich hat. Das dort einmal das Haus meiner Eltern stand. Ich wusste zwar schon vorher, was mit ihnen passiert war, aber tatsächlich einmal am Unfallort zu sein, war wieder etwas ganz anderes.“

„Warum?“

„Weil ich es mir ganz anders vorgestellt hatte. Wie einen chaotischen Trümmerhaufen. Stattdessen begann alles allmählich grün zu werden und ich konnte die ersten Kleeblätter auf dem Hang sehen. Und wenn man den Blick zur anderen Richtung wandte, sah man das Tal und die Berge dahinter. Es hat mich irgendwie beruhigt, dass dieser Ort so friedlich und schön war. Die Jahre danach kam ich öfters dorthin, wenn ich die Aussicht genießen wollte. Ich stellte mir dann vor, dass meine Eltern vielleicht auch immer an derselben Stelle standen und den Ausblick genossen. Ich fühlte mich ihnen dann nah. Obwohl ich ihre Gesichter kaum kenne. Nur von einem sehr alten Foto, als sie geheiratet haben.“

„Du warst so unglaublich jung. Und doch war Driger beeindruckt darüber, mit welcher Fassung du dein Schicksal akzeptiert hattest. Du hast dem alten Mann damals Fragen gestellt, du klangst auch einige Male bekümmert - doch du wirktest nie gebrochen. Selbst Mao fragte dich, warum du nicht um dein Zuhause weinst. Und alles was du gesagt hast war…“

„Das ich wieder ein gutes Zuhause gefunden habe.“, Ray lächelte in sich hinein. Das alles war so viele Jahre her, er hätte es beinahe vergessen. Sie alle waren damals noch Kinder gewesen. Mao hatte ihn aus großen Augen angestrahlt und irgendwann seine Hand ergriffen. Sie war so glücklich darüber, dass er sich bei ihnen wohl fühlte und Lee grinste stolz. Er hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und Bruder genannt. Im Laufe seines Lebens fand Ray viele Menschen, die für ihn etwas Derartiges waren. Er hatte eine große Familie, mit viele Brüder und einer Frau für die er sterben würde.

Der Gedanke ließ ihn Maos Hand drücken.

„Standhaft wie ein Fels. So nannte Driger dich. Er sah in dir einen unerschütterlichen Geist. Und da er diesen Wesenszug an dir schätzte, erschien er deinem damaligen Lehrmeister in einer Vision, damit du sein Menschenkind wirst und nicht Maos Bruder.“

„So war das also…“, Ray schloss die Augen. Eigenartig wie viel sich um die Menschen herum abspielte, ohne dass man es mitbekam. Für eine Weile kehrte Stille ein, dass nur vom gelegentlichen Knarzen des Wagons getrübt wurde. Ray fiel auf, dass das Klopfen aufgehört hatte. Er hoffte inständig es läge nicht daran, dass die Person auf der anderen Seite der Tür, ihren Verletzungen erlegen war.

„Grollst du Driger noch?“

„Warum fragst du mich das?“

„Der Gedanke dass du schlecht von ihm denkst – es macht mich so unsagbar traurig.“

„Ihr standet euch sehr nahe, nicht wahr?“

„Er war ein so stattlicher Uralter. Ich wünschte all jene, die immer schlecht von ihm gesprochen haben, hätten ihn so gut gekannt, wie ich.“

Ray schaute unentschlossen durch den winzigen Raum.

„Ich glaube nicht dass ich ihm noch böse bin.“, gestand er sich langsam ein. „Was ich ihm aber vorwerfe, ist, dass er mir nie die Gelegenheit gegeben hat, ihn wirklich zu begreifen. Ich konnte mir nie ein Bild davon machen wer der echte Driger ist. Ich glaube wir hätten sehr viel voneinander lernen können. Hätte ich so mit ihm reden können, wie mit dir jetzt – es hätte mir die Augen geöffnet. Aber vielleicht war das auch meine Schuld. Ich habe nie begriffen, wie viel hinter einem Bit Beast steckt.“

Ray wurde müde. Er hätte gerne geschlafen. Doch er zwang sich wach zu bleiben, fuhr sich mit gequältem Ausdruck über die verletzte Rippe. Um sich wach zu halten, sprach er weiter.

„Ich glaube so fühlt es sich an, wenn man mit seinem Vater zerstritten ist und er stirbt, bevor man wieder ins Reine kommen kann. Ich kenne fast nur Drigers finsteren Seiten, aber wenn ich dich so reden höre – dann kann doch nicht alles an ihm schlecht gewesen sein.“

„Das war es keinesfalls.“, Galux senkte traurig die Lider. „Er wollte dass du überlebst. Er wollte das wir alle überleben.“

Ray fuhr mit den Fingern über Mariahs Stirn. Sie murmelte im Schlaf. Ihm fiel auf das ihre Stirn sehr heiß war.

„Wir müssen überleben. Wir werden es.“, sprach er.

„Ich wünschte ich könnte dir glauben. Die Luft wird dünner. Ich spüre es. Und nun da Driger tot ist, bleibt mir keine Kraft. Mein Stamm ist tot… Ich welke dahin. Mao kann mir ebenfalls nichts mehr spenden. Sie ist zu angeschlagen.“, Galux schmiegte ihre pelzige Wange an ihr Menschenkind. „Ich habe ihr ein paar ungewisse Stunden mehr herausgeholt. Doch was jetzt passiert, liegt nicht mehr in meiner Macht. So langsam glaube ich, ich hätte besser daran getan, sie sterben zu lassen. Es wäre so viel gnädiger gewesen, als sie hier versticken zu lassen.“

Ray riss die Augen auf. Die tränenerstickte Stimme machte ihm genauso viel Angst, wie die Worte von Galux.

„Sie werden uns finden!“

„Es trennen uns zu viele Meter.“

Das selbst ein Bit Beast unruhig wurde, besorgte auch ihn. Irgendwann zog Ray seine Jacke aus. Er rollte sie zusammen, dann hob er langsam den Kopf seiner Frau an, um den Stoff unter ihren Nacken als Stütze zu schieben. Erst dann richtete er sich mit wackligen Knien auf. Es war der erste Schritt den er seid dem Aufprall machte. Er kam sich wie ein Fohlen vor. Der erste Versuch ließ ihn mit gefletschten Zähnen wieder auf dem Hosenboden landen. Die Scherben unter ihm klirrten dabei und piekten ihn durch den Stoff, außerdem musste er sich bücken, da der Wagon ja nun umgekippt war und nach oben hin weniger Platz bot. Es war unsagbar eng hier drinnen. Dennoch versuchte es Ray. Soweit wie es der Raum zuließ erhob er sich. Die Ausgangstür lag über ihm. Durch die Luke konnte Ray den Erdboden ausmachen. Wie durch ein Wunder war die Scheibe darin heil geblieben. Er rüttelte vorsichtig am Griff. Sofort bröckelte die Erde über ihnen geräuschvoll. Kleine Steinchen lösten sich, tänzelten auf den Seiten des Wagons herab. Es klang wie bei einem kurzen Hagelsturm und ließ ihn einen Moment zurückfahren. Doch immerhin brach nichts weiter ein.

„Okay, mal überlegen.“, sprach er mehr zu sich selbst. Ihm fiel auf wie warm es hier drinnen wurde. „Kurz vor dem Unfall, wo waren wir da? Woran können wir uns erinnern?“

„An den Tunnel.“

„Ja… Der Tunnel.“, Ray strich nachdenklich über den lädierten Rahmen der Tür. An einer Seite war sie eingedrückt, offenbarte einen Spalt. Das erklärte wohl auch endlich den Staub, welcher in den Innenraum eingedrungen war. „Der Unfall hat sich kurz vor dem Tunnel zugetragen. Wenn wir bereits darin waren, würde ich dir vielleicht sogar zustimmen, dass wir noch kaum eine Chance haben. Aber sieh doch mal… Hier auf dieser Seite ist nur normale Erde. Womöglich befinden wir uns in einem der Wagons die noch nicht in den Tunnel gefahren sind? Neben der Bahnlinie ging ein Abhang hoch. Vielleicht ist von dort einfach nur etwas Erde auf uns gerutscht.“

„Oder die Decke des Tunnels ist über uns zusammengebrochen.“

„Dann müssten dort Ziegel liegen. Irgendetwas was zum Baumaterial der Decke gehört.“

„Das können wir kaum beurteilen von hier drinnen. Erst recht nicht durch diese winzige Luke.“

„Sei doch nicht so negativ…“

Ray musste sich stützen weil ihm kurz schwindelte. Der Aufprall hatte ihm wohl mehr zugesetzt als geglaubt. Es fiel ihm schwer sich zu konzentrieren.

„Der Wagon ist umgekippt. Das können wir auch mit Sicherheit sagen. Was wir leider nicht sagen können, ist, wie viele Meter Geröll uns nach draußen hin trennen.“

Er fuhr mit den Fingern über die Risse in der Scheibe. Sie könnte irgendwann einbrechen. Dann würde noch mehr Erde in den Innenraum eindringen und sie hier lebendig begraben.

„Könntest du mir auf helfen?“

Überrascht blickte Ray zu dem Bit Beast herab. Es versuchte auf die Beine zu kommen, aber klappte immer wieder in sich zusammen.

„Was hast du vor?“

„Ich will etwas überprüfen. Halt mich hoch. So nah an die Öffnung wie möglich.“

Ray beugte sich hinunter und kam ihrer Bitte nach. Er hob das Bit Beast auf die Arme und hielt es an den Spalt. Galux legte die Schnauze an den Spalt. Sie begann zu wittern. Er konnte sehen wie ihre Nasenspitze bei jedem Atemzug leicht zuckte.

„Ich rieche Grashalme. Wurzeln. Keinen Beton... Du könntest Recht haben. Wir sind vielleicht nicht allzu tief verschüttet, wie wir geglaubt haben. Die Frage ist, reicht die Luft so lange aus, bis wir gefunden werden?“, Galux schaute voller Sorge zu Mao. „Und wie lange kann sie durchhalten?“

Ray folgte ihrem Blick, starrte schwer atmend auf seine Frau. In seinem Nacken fühlte er feuchten Stoff, getränkt von seinem eigenen Schweiß. Es war so warm. Er fragte sich, ob ihm deshalb so schwindlig war - weil ihm ebenfalls die Luft dünner vorkam.

„Galux? Wäre Mao nicht schwanger und auch nicht verletzt… Könntest du etwas an unserer Situation ändern?“

„Ich hätte zumindest eine Energiequelle, die ich ohne Furcht verwenden könnte. Selbstverständlich wäre das eine große Erleichterung. Weshalb fragst du?“

„Wäre es nicht möglich, nur für dieses eine Mal, meine Energie zu nehmen?“

Er konnte sie Keuchen hören. Dann schnellte der Blick des Bit Beasts zu ihm hoch.

„Unmöglich!“, flüsterte Galux geradezu warnend.

„Warum? Hast du es schon einmal versucht?“

„Unsere Seelen sind nicht gleich.“

„Und wenn schon! Was wäre das Schlimmste was passieren könnte?“

„Das du krank wirst, schwach oder gar der Tod über dich kommt, du einfältiger Junge!“

Sie zappelte auf seinen Armen um frei zu kommen. Ungeschickt landete sie auf den Pfoten. Dann hinkte sie zu ihrem Menschenkind hinüber. Ihm kam es vor, als wolle sie das Gespräch damit beenden, doch Ray bedrängte sie weiter.

„Wir müssen es wagen!“

„Nein.“

„Wir müssen!“

„Ausgeschlossen!“, fauchte Galux auf einmal erbost. Ihr Blick sprühte vor Ärger. „Du dummer Junge! Du einfältiger, kleiner, dummer Junge! Ihr Menschen stellt euch so etwas wieder viel zu einfach vor!“

„Uns läuft die Zeit davon!“

„Ein Kind mit der passenden Seele zu finden, ist kein Unterfangen, was in wenigen Sekunden erledigt ist. Manche Bit Beast finden nach dem Ableben ihres letzten Kindes, viele Jahrzehnte keinen geeigneten Ersatz mehr! Wir können nicht auf jemanden zurückgreifen, der in neun von zehn Punkten identisch zu uns ist. Hundert prozentige Übereinstimmung… Nicht mehr oder weniger darf es sein!“

„Und die Folge davon wäre der Tod?“

„Das…“, sie kam ins straucheln. Offenbar hatte Galux es selbst nie ausprobiert. Ray schätzte sie auch nicht so experimentierfreudig ein. „Das könnte eine von vielen möglichen Folgen sein. Du musst dir das vorstellen, wie wenn du zwei unbekannte chemische Stoffe miteinander vermischt, ohne dir im Klaren zu sein, was das Ergebnis hervorbringt.“

„Komm mir nicht mit Chemie!

Ein genervter Laut kam von Ray.

„Ich verstehe deine Einwände, aber siehst du nicht, dass es Mao schlecht geht?!“

„Selbstverständlich sehe ich das! Ich spüre es mit jeder Faser meiner Seele.“

„Dann müsste dir doch genauso viel daran liegen, sie hier heraus zu bekommen, wie mir!“, wurde Ray lauter, haute sich dabei noch demonstrativ auf die Brust. „Es ist doch nicht so, dass wir auf ewig diese… Verbindung eingehen, oder wie immer du das nennen willst. Es geht mir nur darum hier heraus zu kommen. Mehr nicht!“

„Selbst das könnte zu viel sein.“

„Als der Aufprall passierte, habe ich deinen Schutzschild gesehen. Wenn allein der so stark war, was meinst du wie viel wir erreichen könnten, wenn wir unsere Kräfte verbinden?“

„Du bist zu leichtsinnig…“

„Ich muss meine Familie beschützen!“, rief Ray aus. Er deutete auf die bewusstlose Frau zu seinen Füßen, an dessen Seite Galux saß. „In Mariah wächst mein kleines Mädchen heran! Von dem Moment an, als du mir gesagt hast, dass ich eine Tochter bekomme… Von dem Moment an, als du mir gesagt hast, dass Mao mich nie betrogen hat… Da hat mich der Gedanke, zu ihnen nachhause zu kommen, in der Irrlichterwelt nicht wahnsinnig werden lassen! All die Torturen die wir durchlebt haben, hätte ich niemals gepackt, wenn ich nicht im Hinterkopf behalten hätte, dass da meine Familie ist, die auf mich wartet!“

Ray kniete sich zu Galux herab, bedachte sie eindringlich.

„Ich habe die letzten Monate so schlecht von meiner Frau gedacht. Mao war die einzige, die um unsere Ehe gekämpft hat. Jetzt bin ich an der Reihe! Ein Mann sollte seine Familie schützen können. Also bitte Galux… Bitte! Hör auf so ängstlich zu sein und lass uns endlich handeln!“

Das Bit Beast schaute ihn lange an. Ihre glühenden Augen wurden zu schmalen Schlitzen.

„Mao würde mir niemals verzeihen, wenn ihrem Gatten etwas passiert.“

„Ich könnte mir niemals verzeihen, wenn ihr etwas passiert.“, dann fragte Ray leise. „Und du auch nicht, oder?“

Stille kehrte zwischen ihnen ein. Beide starrten sich lange Zeit nur an, bis Mariahs fiebriges Wimmern, Galux Blick auf sich zog. Ray konnte sehen, wie sie das Gesicht ihres Menschenkindes genau bedachte. Das Bit Beast sah die ausgetrockneten Lippen, die blasse Haut. Schweißtropfen glänzten auf ihrer Stirn dicht am Haaransatz. Sobald sie abperlten, hinterließen sie Spuren, auf dem staubbefleckten Gesicht. Ihr Atemzug kam röchelnd. Irgendwann schloss Galux die Augen.

„Du bist der wahrhaftige Spiegel deines Bit Beasts.“, sprach sie. Ein schwermütiges Seufzen entrang sich ihrer Kehle. „Als Driger sich Dragoon in den Weg stellte… Als er mir befahl euch aus der Irrlichterwelt hinauszuschaffen… Da spürte ich tief in meinem Innern den dunklen Verdacht. Diese schreckliche Vorahnung das es der letzte Augenblick sein würde, der uns vergönnt war.“

Als sich ihre Augen wieder öffneten, schien Galux mit den Gedanken weit weg.

„Ich hatte Angst um ihn. Ich bat ihn nicht gegen Dragoon zu kämpfen. Doch er belächelte mich nur, sprach davon, wie kränkend es doch sei, dass ich ihn für so schwach halte.“

Ihr Blick huschte zu Ray.

„Und nun bin ich hier mit seinem Menschenkind. Es spricht fast dieselben närrischen Worte wie mein Driger damals. Es handelt genauso töricht wie er. Und wieder überkommt mich diese furchtbare Vorahnung. Dir blüht schlimmes, Junge. Ich spüre es genau.“

Es wurde still zwischen ihnen. Etwas in ihm zweifelte nicht an ihren Worten. Dennoch genügte ein Blick zu seiner Frau, um seinen Entschluss zu festigen. Als Mariah murmelte, ergriff er ihre Hand und küsste sie. Dann sprach er: „Lass es uns versuchen. Bitte, Galux.“

Ein schweres Seufzen kam.

„Beim ersten Tageslicht, das durch das Gestein bricht, werde ich die Verbindung kappen.“

Ray nickte. Er ahnte dass es schwer werden würde und doch verspürte er keine Furcht. Seine Finger legten sich noch einmal auf Mariahs Babybauch.

„Ich hole euch hier raus…“, flüsterte er das Versprechen an seine Tochter. „Papa wird euch beschützen.“
 

*
 

Kai lehnte den Kopf zurück, während das kindliche Gebrabbel seiner Schwester an sein Ohr klang. Irgendwann im Laufe des Morgens, war Mr. Kinomiya eingefallen, dass er unten im Keller noch einen Karton, mit den alten Spielsachen seiner Enkel besaß. Darunter waren Malbücher, ziemlich ausrangierte Rennautos, einige in Mitleidenschaft geratene Stofftiere und natürlich noch Tysons alte Blades. Letzterem schenkte Jana überhaupt keine Beachtung, als sie in dem Karton herumwühlte, weitaus interessanter fand sie die Malbücher. Es ließ Kai lächeln, denn prompt kam die Erinnerung in ihm hoch, dass seine Schwester ständig davon sprach, eine große Künstlerin werden zu wollen. Einmal erklärte sie ihm voller Inbrunst, dass sie das größte Einhorn malen würde, dass die Welt je gesehen habe. Ihrer Ansicht nach sollte es mindestens die Größe eines Wolkenkratzers besitzen. Auch damals musste Kai schmunzeln, allerdings mehr wegen dem Gedanken, dass sich Janas Berufswahl ständig änderte wie ein Fähnchen im Wind. Mal wollte sie Prinzessin werden, am nächsten Tag ein pinker Ninja und immer Mal wieder, kam das Thema Musikerin auf den Tisch. Inzwischen konnte Kai hören, wie die Buntstifte der Künstlerin in spe über das Papier kratzten, während Jana leise vor sich her murmelte. Es gab ihrem Bruder Zeit, endlich mal die Augen zu schließen und vor sich hinzudösen. Die letzte Nacht war etwas anstrengend gewesen, auch wenn er ebenfalls auf seine Kosten kam.

Kai war ganz froh, als es an der Tür klingelte und Mr. Kinomiya für ein paar Minuten den Raum verließ. Er war morgens äußerst geschwätzig und nach seinen gestrigen Aussetzern, kam es Kai vor, als würde er ihn streng im Auge behalten. Nun hörte er Mr. Kinomya aber draußen im Flur an der Haustür. Seine Stimme klang erfreut. Jemand den er kannte musste geklingelt haben. Kai gähnte schläfrig. Er stützte den Ellbogen an die Rückenlehne der Couch ab und lehnte seinen schwerer werdenden Kopf ab der Handfläche ab. Dabei beobachtete er aus kleinen Augen seine Schwester. Der Fernseher war noch an. Es flimmerte der Kindersender über den Bildschirm, allerdings hatte Kai den Ton abgestellt. Jana schaute ohnehin nur sporadisch auf. Sie kniete vor dem niedrigen Holztisch, hielt ihre Zunge zwischen den Lippen geklemmt und malte einen vorgedruckten Schmetterling aus, den sie im Malbuch entdeckt hatte. Ab und an, wippte sie auch fröhlich auf und ab, summte dabei ein Lied vor sich her, dabei flatterte sie mit den Ärmchen. Sie sang dem Schmetterling ein Schmetterlings Lied vor. Kleine Mädchen waren furchtbar kitschig, aber Kai hatte sich daran gewöhnt, auch wenn er zu Anfang seine Probleme damit hatte. In den ersten Jahren musste er ziemlich an seiner Ausdrucksweise arbeiten, weil er mit Jana genauso ruppig sprach, wie er es mit seinen Freunden tat. Das Resultat war, dass sie anfing aus voller Kehle zu heulen und Kai überrumpelt daneben stand, weil er es oftmals nicht so böse gemeint hatte, wie es in ihren Ohren wohl klang.

Mädchen waren sehr sensibel. Etwas was ihm Jana ziemlich oft in Erinnerung rief…

Kai schloss die Augen für einen Moment, dachte dabei, wie zufrieden seine Schwester doch wirkte. Tyson hatte angedeutet, mehr Zeit mit ihr verbringen zu wollen, damit die beiden einen besseren Draht zueinander fanden. Es schien ihm wirklich ernst zu sein und das obwohl Kai noch nicht so genau wusste, wie es in Zukunft zwischen ihnen weitergehen sollte. Er musste erst beobachten, wie sich alles entwickeln würde. Beinahe hätte Jana sich auch vor Mr. Kinomiya verplappert. Sie wollte ihm erzählen, was sie heute Morgen gesehen hatte, bis Kai sie unterbrach, um seine Schwester zu fragen, ob sie doch kein neues Spielzeug haben wolle. Da war ihr die Abmachung zwischen ihnen wieder eingefallen. Kai seufzte schläfrig, beinahe wäre er sogar eingenickt, der Abstand seiner Augenlider zueinander wurde immer winziger, hätte er da nicht einen minimalen Lufthauch gespürt, als ob jemand hinter der Couch entlanghuschte. Als er die Augen aufschlug, drehte er sich prompt um und schaute durch die offene Tür in den Flur. Womöglich irrte er sich, doch ein dumpfes Poltern war kurz zuvor von dort gekommen.

„Mr. Kinomiya?“, rief er hinaus. Doch es antwortete niemand. Dabei hätte Kai schwören können, dass da jemand hinter ihm gewesen war. Er zog fragend die Braue auf. Gerade kam ihm in den Sinn, wie lange der alte Hausherr schon weg war, als eine Stimme zu seiner Linken seine Aufmerksamkeit auf sich zog.

„Du lässt deine Deckung fallen.“

Sein Kopf schnellte zur anderen Seite. Er blinzelte auf den Neuankömmling, der auf der Sessellehne neben der Couch Platz genommen hatte. Einen Moment war Kai von sich selbst überrascht. Eigentlich besaß er einen sechsten Sinn dafür, wenn jemand ihn beobachtete und doch hatte es diese Person geschafft, wie ein Schatten hinter seinem Rücken, an ihm vorbei zu huschen. Doch sobald dieser Gedanke verflog, erkannte er auch schon die Frau vor ihm, ebenso wie seine Schwester, die gleich darauf rief: „Allo Hana!“

Sie winkte ihr zu. Doch es kam keine Begrüßung zurück. Stattdessen bedachte Hiros Verlobte seine Schwester mit einem unergründlichen Ausdruck. Ihr Gesicht neigte sich ihm langsam zu. Ein Lächeln erschien. Irgendwann wandte sie das Wort an ihn.

„Guten Morgen Kai. Ich hoffe du hattest eine angenehme Nacht?“

Er nickte nur kurz. Fremden gegenüber war Kai noch nie sonderlich gesprächig gewesen und das war Hana für ihn, trotz der zugestandenen Hilfe. Doch etwas kam ihm auch seltsam vor. Er brauchte nicht lange um es zu bemerken. Es war Hanas Haltung. Sie saß kerzengerade, ein Bein leicht unter das andere geschoben - wie eine edle Dame.

Ihre Aura besaß dadurch etwas Aristokratisches. Kai kannte Hiros Verlobte noch nicht lange, doch die wenigen Minuten die er mit ihr an einem Fleck verbracht hatte, reichten ihm aus, um sie ungefähr einzuschätzen. Sie war zweifelsohne eine zickige Diva, doch schien auch ziemlich locker zu sein. Ansonsten hätte sie ja wohl kaum mit einem ehemaligen Kommilitonen Kontakt, der auf einer Feuertreppe, seine persönliche Hanfplantage großzog. Kai spähte verstohlen über seine Schulter hinweg, noch einmal in den Flur, hielt Ausschau nach Mr. Kinomiya. Um ehrlich zu sein, hatte er überhaupt keine Lust, mit Hana zu reden. Nicht das er ihr gegenüber undankbar sein wollte, doch eine gepflegte Konversation überließ er schon immer anderen. Er war mehr der Zuhörer. Da aber nichts von dem Großvater zu sehen war, verkniff Kai sich einen mürrischen Laut und kam seiner Pflicht als Gesprächspartner gezwungenermaßen nach.

„Wir haben dich auf dem Polizeipräsidium vermisst.“

„Tatsächlich?“

„Ja. Du hattest gemeint du kommst nach. Anrufen konnten wir dich aber nicht, weil keiner deine Handynummer hatte.“

„Oh, glaub mir. Ich war dort.“

„Wann?“

„Spät. Zu spät… Ganz knapp um Haaresbreite verpasst.“, sie strich über die hölzerne Sessellehne unter ihr. „Ich war doch etwas traurig, dass ich euch nicht erwischt habe.“

„Dann war das wohl leider Pech.“

„Ja. So kann man es nennen.“

Er konnte sehen, wie ihr Blick zu Jana huschte. Nur für eine winzige Millisekunde. Ihre Pupillen schnellten zu ihr und dann auch schon wieder zu Kai. Wann immer sie ein Lächeln aufsetzte, zog sich eine Gänsehaut über seinen Nacken. Dennoch ließ sich Kai nichts anmerken. Er wusste selbst nicht weshalb er so heftig auf ihre Anwesenheit reagierte.

„Wärst du vor einer Stunde da gewesen, hättest du mit Tyson noch einmal zum Präsidium fahren können, um Hiro zu sehen. Da hattest du wohl leider auch wieder Pech.“

„Das lässt sich verkraften. Ich werde ihn noch erwischen.“

„Warst du schon bei ihm?“

„Bei Takao?“

„Nein, Hiro.“

„Hiro…“, sie wiederholte den Namen äußerst nachdenklich. „Ach ja. Der ältere Bruder.“

„Ja?“, kam es verständnislos von Kai. „Aber für dich in erster Linie dein Verlobter.“

Etwas daran schien sie zu amüsieren, denn sie lachte kurz auf.

„Nicht wirklich mein Geschmack, aber nun ja… Wo die Liebe bei Menschen hinfällt.“

Seine Braue fuhr hoch. Allmählich setzte sich Kai aus seiner bequemen Haltung auf. Es kam selten vor das ihn jemand so irritierte. Er war ein abgebrühter Firmenchef, der mit fiesen Finanzhaien zu tun hatte, die Unbehagen schon von weitem witterten. Dennoch besaß ausgerechnet die aufbrausende Hana die Fähigkeit, ihm dieses Gefühl aufzudrücken. Womöglich war er doch noch nicht ganz er selbst, dabei hatte er heute Morgen den Eindruck, etwas mehr von seiner alten Souveränität zurückgewonnen zu haben.

„Wo ist Tysons Großvater?“, wollte Kai wissen.

„Ich war der Ansicht, dass er sich etwas ausruhen sollte. So haben wir beide Zeit uns zu unterhalten.“

„Wir?“

„Ja, wir.“

„Worüber willst du denn mit mir reden?“

„Willst du etwa nicht mir reden?“

Geradezu erwartungsvoll schaute sie ihn an. Kai blinzelte ihr entgegen. Diese Frau entpuppte sich so langsam als Rätsel. Zumindest ließ sie ihre Absichten nicht erkennen. Irgendwann schüttelte er verärgert den Kopf. Es wurde wirklich Zeit die Fronten zu klären.

„Okay, hör zu. Ich bin dir wirklich dankbar, was du gestern alles für uns getan hast, aber um eines klar zu stellen – ich mag keine Ratespiele.“, seine Brauen zogen sich grollend zusammen. „Wenn du mir etwas zu sagen hast, dann sag es. Aber rede nicht um den heißen Brei herum. Und vor allem Dingen, hör auf meine Fragen mit Gegenfragen zu beantworten!“

Es entlockte ihr ein weiteres Schmunzeln.

„Das ist der Kai den ich kenne. Wenige Worte. Doch wenn er sich an einer Unterhaltung beteiligt, darf kein überflüssiger Satz dabei sein.“

„Soviel ich weiß, haben wir uns nur einmal getroffen, aber Hut ab das du mich so gut einschätzt.“, sprach Kai murrend. Das er so durchschaubar für sie war störte ihn. Es gab nur einem Menschen dem er dieses Privileg gestattete und der hieß von nun an Takao Kinomiya. „Na gut. Was immer du zu sagen hast… Komm zur Sache. Wie du siehst verbringe ich gerade etwas Zeit mit meiner Schwester.“

„Das sehe ich.“, ihr Kopf neigte sich leicht zu Jana. Die sah von ihrem Bild auf und grinste Hiros Verlobten zu, entblößte dabei ihre kleine Zahnlücke. Doch das Lächeln wurde nicht erwidert. Hanas Ausdruck blieb starr. „Wie schade dass ich eure Zweisamkeit gestört habe. Fast tut es mir Leid. Du wirkst wie ein Vogel der sein Küken mit Adleraugen bewacht.“

Sie schlug mit einem schweren Seufzen die Beine übereinander. Dabei schüttelte Hana den Kopf, bedachte ihn geradezu mitleidig. Warum Mitleid? Das verstand Kai nicht. Doch gerade ihr letzter Satz hing ihm hinterher. Er schallte förmlich in seinem Kopf nach.

„Ich mag dir dieses Gefühl nicht einmal verdenken.“, erklärte Hana inzwischen. Sie klang dabei geistesabwesend. Als würde sie sich an etwas aus längst vergangener Zeit erinnern. Ihre Pupillen schweiften hinaus in den Flur und doch schien sie ihn nicht zu sehen. „Ich kenne das sogar. Ich weiß wie es sich anfühlt, etwas mit aller Kraft beschützen zu wollen. Wenn man sieht, wie das Küken dem man sich angenommen hat, langsam heranwächst. Es erstarkt und zu einem kräftigen Menschen wird. Und doch macht es so viele Fehler…“

Kais Blick huschte für eine Sekunde zu dem Beistelltisch vor seinen Füßen. Jana malte ganz unbedacht darauf weiter. Ihr roter Malstift kratzte über die Seite des Buches. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass Hana keine Schuhe trug. Erst als er gerade saß, waren ihre entblößten Zehen in sein Blickfeld geraten.

„Du hast mich aufgefordert mein Anliegen auf den Punkt zu bringen. Nun… Lass mich deiner Bitte nachkommen. Ich möchte dich über etwas aufklären, Kai. Darum bin ich hier.“, ihre Augen ruhten wieder auf ihm. Die Art wie sie sprach kam ihm bekannt vor, jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Eine bedrohliche Ruhe lag in ihrer Stimme. „Über etwas was ein junger Mann wie du, wahrscheinlich noch nicht weiß. Weil du zum ersten Mal fühlst, wie es ist, etwas aufwachsen zu sehen, dass unter deinem Schutz steht.“

Jetzt bemerkte er es zum ersten Mal. In ihren Pupillen…

Zwei ringförmige, glühende Bahnen. Sie waren ganz schmal, hauchdünn wie ein Faden. Er hatte Hana zu wenig Beachtung bei ihrer Ankunft geschenkt. Wie immer wenn er jemanden Fremdes traf. Dieses Mal war sein Desinteresse aber ein fataler Fehler gewesen. Kai versuchte sich seinen Verdacht nicht anmerken zu lassen. Stattdessen sprach er: „Ich ziehe meine Schwester groß. Das ist vielleicht nicht dasselbe, wie ein eigenes Kind, aber immerhin kommt es dem sehr nah.“

Er achtete sorgfältig auf seine Betonung.

„Oh Kai… Das magst du glauben.“, sie belächelte ihn milde. „Aber die Wahrheit ist, dass manche Kinder nicht das sind, was wir zu glauben scheinen. Ihre Anwesenheit könnte uns, sagen wir mal, wie ein Klotz vorkommen. Ein schrecklicher, nervenzerreißender, zentnerschwerer Klotz.“

Beinahe hätte Kai schwer geschluckt. Er verkniff es sich, genauso wie einen weiteren prüfenden Blick zu Jana.

„Deine Sorgen sind unbegründet. Meine Schwester ist alles andere als ein Klotz. Sie ist eine kleine Bereicherung.“

Ein kaltes Auflachen kam von Hana.

„Ja, natürlich! Menschen in deiner Position reden sich das gerne ein. Ihr unvollkommenes Mündel ist etwas so Besonderes, egal ob es ihnen das Leben zur Hölle macht.“, ihre Stimme triefte vor Hohn. „Aber soll ich dir etwas sagen? Das was hier gerade stattfindet, kommt auch in der Natur vor. Kennst du den Kuckuck?“

„Du meinst den Vogel?“

„Richtig. Ein tückischer kleiner Gauner ist das. Er fliegt in unbewachte Nester, um sein Ei dort zwischen die anderen zu legen. Die ahnungslose Vogelwirtin kommt zurück und brütet das fremde Ei aus, das zu allem Übel, in den meisten Fällen auch noch früher schlüpft, als ihre eigenen Jungen. Beim ersten Tageslicht, was das Kuckuckskind erblickt, fängt das widerliche Balg an, die anderen Eier aus dem Nest zu werfen, damit die ahnungslose Vogelmutter, sich nur noch um seine Belange kümmert. Grausam nicht wahr? Aber so ist die Natur eben. Ich muss gestehen, der Kuckuck ist der einzige Vogel, dem ich wenig Sympathie abringen kann, obwohl ich seinen Einfallsreichtum interessant finde.“

Kai schloss die Augen. Seine Mutter war also der Kuckuck, Jana das Kuckuckskind. Demnach stellte er in ihrem Vergleich, jenen bemitleidenswerten Vogel dar, der das falsche Küken aufzog.

„Jana und ich sind zur Hälfte blutsverwandt. Eigene Kinder habe ich auch keine. Dein Vergleich trifft also nicht gerade zu. Es gibt keinen Grund sie als Bedrohung zu betrachten.“

Hana beugte sich vor, ihre Augen wurden zu Schlitzen.

„Klotz bleibt Klotz.“, sie hob den Oberkörper wieder an. „Und hätte die Vogelmutter mehr Verstand in ihrem hohlen Schädel, würde sie das falsche Kind aus ihrem Nest werfen, anstatt es auch noch durchzufüttern. Aber von einem Vogel kann man so viel Weitsicht nicht erwarten. Sie können schrecklich leichtgläubig sein. Vor allem wenn sie selbst noch Küken sind. Bedauerlich…“

Für einen Moment war ihre Stimme leiser geworden, klang fast schon melancholisch, bis sie den Blick wieder hob, ihn genau ins Visier nahm. Schon gewann ihre Tonlage wieder an Härte.

„Ein Vogel sieht lediglich dass das Ei, was es ausgebrütet hat, von der Farbe her zu den anderen passt und denkt sich nichts weiter dabei. Einem einfältigen Spatz könnte ich diese Beschränktheit nachsehen. Doch manche Wesen sollten mit mehr Verstand gesegnet sein. Menschen brüsten sich schon seit jeher mit ihrem überragenden Intellekt. Sag mir Kai, wir beide… Sollten wir nicht intelligenter sein? Hat uns die Vergangenheit nicht gelehrt, niemals unsere Deckung fallen zu lassen?“

„Ich weiß nicht wovon du sprichst…“

„Ich bin schockiert. Der stets so unverblümte Kai lügt.“

Ebenso erschreckend war das Gefühl dieser Transparenz. Sie las ihn wie ein Buch. Kai hob das Kinn, starrte ihr geradewegs in die Augen.

„Wenn man nur hinter seiner Deckung bleibt, hindert das die Sicht auf das, was vor einem liegt.“

„Zum Beispiel?“

„Menschen die dein Leben bereichern.“

„Oder zerstören!“, es klang zornig. „Bist du wirklich so weich geworden?“

„Du scheinst dich aufzuregen.“

„Wenn ein so verlorener Junge, auf so gemeine Art, ständig von der Welt ausgenutzt wird, kann das mein Blut durchaus zum Kochen bringen. Hast du deine Kindheit vergessen? Die Gleichgültigkeit deiner Familie? All die Schikanen der Abtei? Das Jammertal das du überleben musstest, um zu dem Raubtier zu werden, das du einmal warst? Wie oft musst du noch fallen, um endlich das Resümee zu ziehen, dass alle Wesen dort draußen von Grund auf verdorben sind? Jeder hat das Potenzial ein Verräter zu sein. Sie werden dir einen Dolch ins Herz rammen, wann immer du es am wenigstens erwartest!“

„Dafür dass wir uns erst einmal getroffen haben, scheinst du gut im Bilde über meine Vergangenheit zu sein, Hana.“, tat Kai weiterhin ahnungslos.

„Man schnappt so einiges auf…“, sie senkte mit einem wissenden Lächeln die Lider. Er konnte ihr nichts vormachen. Beide wussten dass sie sich gegenseitig durchschaut hatten. „Und wie gesagt, ich weiß wie ich mein Küken im Auge behalte. Sollte es eine Dummheit begehen, wäre ich sofort zur Stelle, um es vor einem fatalen Fehler zu bewahren.“

„Vielleicht will dein Küken das gar nicht.“, zischte Kai leise. „Wie die Vogelmutter die das falsche Kuckuckskind weiterfüttert. Offensichtlich macht es ihr nichts aus.“

„Siehst du! Genau das meine ich…“, hob Hana hilflos die Hände. Die Bewegung ließ ein Stückchen Stoff von ihrem Ärmel hinabrutschen, offenbarte die Haut darunter. Kai erkannte die Pulsadern am Handgelenk, wie sie glühendes Magma pumpten. „Du klingst ungehalten. Als wäre ich ein Monster. Dann erklär mir doch bitte, wie du an meiner Stelle handeln würdest, hättest du einen so starrsinnigen Schützling. Wer wäre dann von uns beiden der Böse? Diejenige die schützend die Hand über das Küken hält, oder derjenige der die schützende Hand beißt?“

Kai schaute ihr in die Augen. In die brennenden Ringe darin. Seine Atemzüge waren tief, die Lippen fest zusammengepresst. Eine ganze Weile starrten sich beide nur abwartend an, bis Hana sich langsam nach vorne beugte. Sie tätschelte Kais Hand, die neben ihm auf der Couch lag. Ihre Haut war heiß. Fast schon zu heiß. Dennoch fröstelte es ihn. Ein kalter Schauer jagte über seinen Nacken. Erst recht als sie mit dieser sanften Stimme fortfuhr: „Schon okay. Du weißt es einfach nicht besser. Ich dagegen schon. Vertrau auf meine Weisheit und lass dir eines gesagt sein – diese Welt ist ein Fluch. Du könntest hundert Jahre alt werden und selbst dann würde sie dich immer wieder mit neuen Schrecken überraschen. Eine davon ist, das Undank der Welten Lohn ist. Ein entsetzlich präzises Sprichwort...“

Sie zog ihre Hand weg. Kai hörte noch immer das Kratzen von Janas Malstift.

„Es beschreibt hervorragend die Tatsache, dass man sich noch so sehr anstrengen kann, aber hinterher dennoch enttäuscht wird. Gute Taten, Zuneigung, Gehorsam und nette Worte, sind keine Garantie dafür, dass man glücklich wird. Aber wem sage ich das… Das weißt du doch schon, nicht wahr, mein kleiner Kai?“

Sein Blick huschte zu Jana. Noch immer nahm sie die Arme nicht vom Tisch.

„Wie gesagt, ich bin ziemlich überrascht wie viel du über mich weißt.“

„Ach Kai… Wir wissen doch beide was du hier spielst. Du wolltest unbedingt das ich auf den Punkt komme und nun bist du es, der den Ahnungslosen mimt.“

Er schloss einen Moment die Augen.

„Dann spielen wir wohl jetzt mit offenen Karten?“

„Ich habe es vor.“

„Schön… Dann erklär mir doch erst einmal, wie du hier überlebst?“

„Ein Geheimnis um das du dich nicht zu kümmern brauchst.“

„Warum dieser Körper?“

„Ich bin eben deiner Fährte gefolgt. Wenn sie dabei meinen Weg kreuzt, ist das ihr Pech.“

Kai rutschte weiter vor, änderte seine Sitzposition, als wäre er nervös. Doch eigentlich tat er es nur, um seine Füße unauffällig unter den Tisch zu schieben. Schon länger schwebte ihm eine Idee durch den Kopf, denn einem Bit Beast würde er nicht einfach so davonrennen können.

„Wo ist Tysons Großvater?“, wollte er wissen.

„Das kannst du leicht herausfinden. Lass das Kind hier und wirf einen Blick in den Flur.“

Er schluckte hart. Eine böse Vorahnung kam in ihm auf.

„Willst du nicht nachschauen?“, flüsterte sie süffisant. Kai starrte ihr in die Augen, fühlte sich wie eine Maus in der Falle. Er konnte Jana unmöglich mit ihr alleine im Raum zurücklassen. Doch was immer im Flur passiert war, musste Mr. Kinomiya außer Gefecht gesetzt haben. Oder Schlimmeres…

Seine Pupillen huschten weiter zu seiner Schwester. Sobald Jana endlich einmal von ihrer Zeichnung abließ, endlich die Ärmchen von der Platte herunternahm, könnte Kai mit einem gezielten Tritt den kleinen Beistelltisch anheben, der Bedrohung direkt ins Gesicht werfen. Er versprach sich zumindest einen Überraschungsmoment, durch den er Jana packen und hinausrennen könnte, bevor wieder alles in Flammen aufging. Noch summte sie aber arglos vor sich her, während der Schmetterling mehr Farben auf dem Papier bekam. So würde sie die Tischplatte nur selbst gegen das Kinn bekommen.

„Ich denke ich bleibe lieber hier.“, griff Kai die vorherige Frage auf.

„Weshalb? Ich passe schon auf dein Herzchen auf.“, Hana wandte den Kopf zur Seite. Sie klatschte in die Hände, da sah seine Schwester auch schon von ihrer Zeichnung auf. „Komm mal her kleines Kuckuckskind.“

Kai stockte der Atem. Er spürte wie ihm augenblicklich sämtliche Farbe aus den Wangen wich. Seine Schwester hörte die Beleidung hinter diesem Satz nicht einmal heraus, erkannte nicht die Falschheit hinter den süßlichen Worten. Noch ehe er etwas ausrufen konnte, ließ Jana ihren Stift fallen und hopste schnell auf die offenen Arme zu. Er sah wie sie sich auf Hanas Schoß hockte. Zumindest auf ihrer Hülle. Ob noch etwas von Hiros Verlobten darin steckte?

Kai hatte keinerlei Erinnerung an seine eigene Besessenheit. Er musste komplett seines Willen beraubt worden sein. Ob es Hana ebenso erging?

Die legte inzwischen die Finger um den kleinen Hals seiner Schwester, kitzelte sie spielerisch dort, bis Jana gluckste. Kai sah ein kühles Lächeln was sich auf die rot geschminkten Lippen legte.

„Was für ein schmaler Hals. Nur ein kleiner Griff und ich könnte ihn zerdrücken.“

Seine Finger verkrallten sich im Stoff der Couch. Es kam selten vor, dass ihm das Herz raste, doch das war einer dieser Momente. Beinahe spürte er wie ihm das Blut in den Ohren pochte. Kai hatte Angst. Angst das Dranzer ihre Drohung wahr machte. Seine geweiteten Augen starrten voller Entsetzen auf die Szene vor ihm. Er kam sich hilflos vor.

„Ich kann deinen Herzschlag bis hier her hören.“, kam es neckend. Dranzer legte die Arme um seine Schwester, schaukelte das Kind sanft. „Ich weiß nicht was mich mehr enttäuscht. Deine armselige Furcht oder deine mangelnde Einsicht darüber, wie schwach sie dich gemacht hat. Schau dich an Kai. Fühl in dich hinein. Das was du jetzt spürst war dir früher fremd. So etwas passiert, wenn man andere in sein Herz lässt. Ich dachte immer das hättest du früh begriffen. Und doch schwächst du dich freiwillig…“

Sie bettete ihr Kinn auf Janas Schulter, blinzelte ihn von dort aus arglos an.

„Ich könnte das beenden. Soll ich?“

Ein starres Kopfschütteln war Kais Antwort.

„Warum so wortkarg?“

„Dranzer… Mach das nicht.“

Er sah wie sich die Augen vor ihm amüsiert schmälerten. Da quiekte seine Schwester geradezu naiv: „Nich so heiße. Heiße Hana. Wie Jana nur anders Buchstabe.“

Kai war sich unsicher, wie Dranzer reagieren würde, sollte seine Schwester Angst bekommen. So wie er Jana auch kannte, würde sie anfangen zu weinen, sobald sie seine Angespanntheit bemerkte. Womöglich würde das Geschrei Dranzer nur weiter reizen, sodass sie seiner Schwester sofort den Hals umdrehte. Allein der Gedanke lähmte ihn. Er schloss die Augen, zwang sich zu einem Lächeln und sprach: „Ja, da hast du Recht, Kleines. Sie heißt Hana.“

„Ja. Hana hübsch. Sieht wie Topmodel aus…“

Daher also ihre Zutraulichkeit. Seine Schwester bewunderte schöne Frauen, weil sie selbst mal zu einer werden wollte. Ständig hatte sie Kai gefragt, ob sie irgendwann auch einmal hübsch aussehen würde. Kleine Mädchen waren eben eitel. Egal ob sie Down-Syndrom besaßen oder nicht. Indes suchte Kai nach einer Möglichkeit die Situation zu entspannen.

„Wir müssen es nicht soweit kommen lassen.“, sprach er ruhig. „Du willst dein Menschenkind zurück? Was wäre wenn es freiwillig mitkommt – unter der Bedingung das du sie in Ruhe lässt?“

Er vermied es seine Schwester namentlich zu nennen. Sie wüsste sonst dass von ihr die Rede war. Das sie der Grund für seine angekratzte Stimmung war…

„Wie aufopferungsvoll. Ich weiß nicht ob ich dich für deinen Edelmut bewundern oder verachten soll. Immerhin zeugt es nur davon wie weich du geworden bist.“

„Kannst du meinen Standpunkt wirklich nicht verstehen? Gerade du?“

„Warum fragst du das?“

„Weil ich deine Schwester getroffen habe.“

Und da war es aus mit dem Hohn. Stille kehrte ein. Wenn auch nur für kurze Zeit…

Zum ersten Mal erhaschte Kai etwas wie Verletzbarkeit. Er konnte sehen wie Dranzers Augen sich weiteten. Zwar nur um ein paar winzige Millimeter aber dennoch schien sie ihm für eine Sekunde, um so viel weicher. Empfindsamer…

Nein. Sie konnte nicht gänzlich grausam sein. Wenn dieses Wesen wirklich sein Spiegelbild war, musste ein wenig Mitgefühl in ihrer Seele stecken. Ihre Lippen taten sich etwas auf. Sie schaute ihn eine ganze Weile an. Stumm, die Gedanken weit fern.

„Du weißt doch eigentlich ganz genau wie es ist eine Schwester zu verlieren.“

Sie senkte die Lider einen Moment. Er hörte einen tiefen Atemzug.

„Das ist nicht dasselbe.“

„Warum?“

„Sie ist meine Blutsverwandte. Das hier nur ein Mischling.“

„Ist doch egal ob halbes oder ganzes Blut – wir sind verwandt. Ich weiß was deiner Schwester zugestoßen ist. Wenn du die Möglichkeit hättest, würdest du nicht alles tun, um ihre Lage zu verbessern?“

Er vermied es ihren Tod anzusprechen. Es wäre der Sache jetzt nicht dienlich.

„Natürlich würde ich das.“, flüsterte Dranzer.

„Dann sind wir uns in dieser Sache doch ähnlich.“, es war das erste Mal das Kai das Gefühl bekam, die Oberhand zu gewinnen. Er schaute seine Schwester an. „Wir beide würden alles für unsere Familie tun. Mein Großvater hatte ein gutes Sprichwort dafür. Er sagte immer - Blut verpflichtet.“

„Ich erinnere mich. Es hatte etwas höhnisches das gerade dieses Ekel von Familienbanden predigte.“

„Er war ein Ekel. Das gebe ich zu. Ihm selbst war das auch klar.“

„Und doch hat er sich nicht geändert.“

„Und doch hat er mich aufgezogen.“, sprach Kai eisern. „So macht man das in einer Familie.“

„In einer Familie die dich stets wie Dreck behandelt hat?“

„Womöglich. Abe sie hat das nie.“, er nickte zu Jana hinüber. „Was hat sie getan, dass du sie so verachtest? Nur weil sie in deinen Augen unvollkommen wirkt? Das kann doch unmöglich der einzige Grund sein?“

„Nein! Damit könnte ich leben…“, schnitt Dranzer ihm ins Wort. Kai kam es vor, als könne er ein minimales Beben in ihrer Stimme hören. „Aber nicht mit dem was ich beobachtet habe. Nicht mit dem was dieses Ding aus dir gemacht hatte. Du warst am Ende Kai… ein nervliches Wrack! Nächtelang bist du wach geblieben und hast dicke Wälzer über Kinder wie sie durchgestöbert, ungeachtet dessen, dass du in ein paar Stunden wieder in deiner Firma gebraucht wurdest.“

„Das war ein Fehler. Mein Fehler.“

„Nein ihrer…“

„Ich habe mir nicht helfen lassen.“

„Du hättest nie Hilfe gebraucht wäre sie nicht gewesen. Als du dich nur um dich selbst gekümmert hast, ging es dir bestens. Aber nur wegen ihr hast du dir keine Ruhe mehr gegönnt! Jede freie Minute hast du diesem Geschöpf gewidmet, bist mit ihr in stickigen Krankenzimmern gesessen, hast um ihr Leben gebangt, wenn sie erneut operiert werden musste - mit einer Furcht in deinem Herzen, die ich bei dir noch nie erlebt habe!“

Jana schaute zu ihr auf, zog die Braue fragend hoch, denn auch ihr entging nicht, wie aufgebracht Dranzer nun wirkte.

„Du hattest doch ständig nur noch Angst um sie! Angst davor wie ihre Umwelt auf sie reagiert. Angst davor dass man sie verstoßen würde. Angst davor dass dieses kranke Herz in ihrer Brust einfach zu schlagen aufhört… So warst du früher nicht! Der Kai Hiwatari den ich kannte hätten solche Dinge nicht den Schlaf geraubt. Er wusste genau worauf er hinarbeitete.“

„Meine Ziele haben sich geändert…“

„Ihre Genesung ist doch kein anständiges Ziel! Sie wird niemals normal sein… Allein ihr Herz ist viel zu schwach. Du kämpfst um ihr ein oder zwei mickrige Jahre mehr zu verschaffen.“

„Ich bin für jede einzelne Minute dankbar.“

„Es ist ein Kampf gegen Windmühlen, Kai. Lass der Natur endlich ihren Lauf nehmen!“

„Das kann ich nicht…“

„Willst du wirklich so dein Leben vergeuden? Es dreht sich doch alles nur noch um das Kind. Sie ist dein erster Gedanke am Morgen und dein letzter vor dem Schlaf!“

Eine Sekunde hielt sie inne, um ihre Rage zu zügeln. Kai hörte ihre tiefen Atemzüge und konnte nicht leugnen, wie überrascht er war. Das sein Bit Beast einen so tiefen Einblick in sein Leben hatte, war ihm bis dahin nie bewusst gewesen.

„Vor wenigen Jahrzehnten hätte ich noch nicht einschreiten müssen.“, fuhr sie fort. „Aber ihr Menschen mit eurer verfluchten Medizin, wollt ja unbedingt solche Wesen so lange wie möglich am Leben erhalten. Blick ein Jahrhundert zurück und du wirst feststellen, dass dieses Kind schon längst tot gewesen wäre! Ihr Herzfehler hätte sie schnell dahingerafft…“

„Erwartest du von mir dass ich das einfach so akzeptiere?“, fragte er fassungslos.

„Die Natur sortiert solche Wesen aus! Ein krankes Tier wird von seiner Gruppe ausgestoßen.“

„Und genau das ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier!“

„Menschen sind auch nur Tiere. Das müsstest gerade du wissen.“

Er ahnte worauf sie anspielte. Vor seinem inneren Auge sah er für einen Moment die fast verblassten Kindergesichter aus der Abtei. Kai senkte die Lider, blinzelte mehrmals, um den Anblick zu verscheuchen.

„Dort hast du gelernt gnadenlos zu sein.“, erriet Dranzer seine Gedanken. „Doch mit den Jahren bist du zu einem stumpfen Dolch verkommen. Daran sind deine Freunde schuld… Der Kai den ich gekannt habe, hätte sich nicht um andere geschert.“

„Der Kai den du gekannt hast war ein egoistischer, dummer Junge.“

„Du warst reifer als all die anderen aus deiner Gruppe zusammen.“

Einen Moment dachte er über ihre Worte nach, bis ein Kopfschütteln von ihm kam.

„Nein. Das war ich nicht. Auf meine Art war ich der unreifste von allen. Ich dachte ich könnte alles und jeden durchschauen. Wie ein bockiges Kind, das glaubt, es wisse alles besser, obwohl seine Eltern ihm gut zureden. So viele Menschen haben mir versucht gute Ratschläge zu geben, mir zu helfen - und doch wollte ich nicht hören, weil ich zu stolz war.“

„Sowas wäre früher nie aus deinem Mund gekommen.“

„Ich bin erwachsen geworden.“, sie blinzelte ihn verstört an. „Erwachsen wird man ab dem Moment, indem man bereit ist, sich seine Mängel einzugestehen. Aber vor allem durch Verantwortung. Meine Verantwortung hältst du in den Armen.“

„Ich kann sie dir nehmen. Diese Bürde…“

„Ich will sie nicht abgenommen bekommen!“

„Wie kannst du das nur sagen? Die ständigen Sorgen um sie haben dich regelrecht aufgezehrt! Und womit dankt sie es dir? Mit egoistischen Wünschen, quengelnden Lauten und ständigem Geplärre!“

„So sind Kinder nun einmal!“

Sie legte wieder die Finger an Janas Hals, strich darüber hinweg. In einer stummen Drohgebärde.

„Die Natur sortiert so etwas aus, damit sie den Gesunden keine Last sind!“

„Also das wirfst du ihr vor… Das sie geboren wurde?“

Er konnte nicht anders. Dieses Mal war er nicht in der Lage sein Entsetzen zu verbergen. Seine tiefe Enttäuschung - und auch Dranzer sah es. Ein trauriges Seufzen kam von ihr.

„Mach das nicht Kai. Bitte sieh mich nicht an als wäre ich ein Monster.“

„Warum verhältst du dich dann so?“

„Das hat nichts mit Boshaftigkeit zu tun!“, begehrte sie auf. „Eine Tiermutter die in ihrem Wurf ein kränkliches Junges findet, stößt es ab, damit die anderen genug Nahrung bekommen. In erster Linie zählt für mich dein Wohlergehen! Ich habe geschworen dich zu schützen!“

„Du bist nicht meine Mutter!“

Das war ein Fehler. Denn Augenblicklich sah er wie die Äderchen unter ihrer Haut hellrot aufglommen. Ihr Blut schien vor Zorn zu köcheln, vor allem an den Pulsadern. Sein Blick huschte zu ihrer Schläfe. Er konnte förmlich dabei zusehen, wie dort pures Magma gepumpt wurde.

„Ich will dir doch nur helfen!“, schrie Dranzer zornig auf. Sie packte Janas Hals fester, dass das Mädchen erschrocken keuchte. Nun begann auch seine leichtgläubige Schwester zu verstehen, dass etwas nicht stimmte. Sie schlug gegen die Hand, fing an zu strampeln und zu zappeln. „Ich bin vielleicht nicht deine Mutter – aber dein Bit Beast! Das wiegt mehr als jede Blutsbande! Im Gegensatz zu deiner leiblichen Familie wollte ich immer nur das Beste für dich! Das ist mehr als deine echte Mutter jemals für dich getan hat!“

„Lass sie los!“, Kai fuhr auf. Ebenso wie Dranzer. Sie hielt seine Schwester mühelos mit einer Hand von sich fern. Janas kleine Beinchen zappelten in der Luft, während sie mit den winzigen Fingern am Arm der sie hielt entlangkratzte, wie eine Katze die man am Hals gepackt hielt.

„Lass sie runter!“

„Nein! Heute bringe ich es zu Ende!“

„Wenn du ihr etwas antust, werde ich dir das niemals verzeihen!“

„Du wirst, wenn du endlich merkst, wie leicht dein Leben dadurch wird!“

„Ich werde dich hassen!“, brüllte er nun voller Zorn aus. „Das schwöre ich bei allem was mir heilig ist! Und wenn mich dieser Hass frühzeitig ins Grab bringen sollte, es wird kein Tag vergehen, an dem du nicht spüren wirst, wie sehr ich dich verabscheue!“

Er vernahm an ein unheimliches Kreischen. Dann konnte er sogar hören, wie die Lava in Dranzer hochbrodelte. Rauch entstieg zwischen den rot geschminkten Lippen.

Dranzers Augen brannten lichterloh…

Inzwischen wurde Janas Kopf hochrot. Ihre dunklen Knopfaugen schwammen in Tränen. Er sah wie sie vorwurfsvoll zu ihm schielte. Hilf mir doch – das las Kai aus ihrem Blick. Sie ahnte nicht, wie leicht es für Dranzer war, ihren dünnen Hals mit nur einer Bewegung zu zerquetschen. Vor seinen Augen das zarte Genick zu brechen. Er kam sich so machtlos vor und alles was Kai konnte, war Dranzer zu verfluchen. Da bemerkte er etwas…

Jemand huschte am Fenster entlang. Kai sah einen dunklen Haarschopf. Inzwischen packte Dranzer den Hals seiner Schwester energischer, schüttelte das krächzende Kind und schrie ihm entgegen: „Du hältst dich für Erwachsenen?! Du bist das undankbarste Balg das mir je untergekommen ist! Ich werde dich Lehren was es heißt, den Schutz einer Göttin zu verschmäh-…“

Weiter kam sie nicht. Kai keuchte entsetzt auf als es geschah. Alles ging so schnell…

Scherben stoben durch den Raum. Er hielt schützend die Hand vors Gesicht. Was immer Tyson da getan hatte, es überraschte selbst ihn. Als Kai noch einmal aufschaute, war das Fenster zerschlagen und Tyson hielt schon Dranzers Hals gepackt. Mit einem grausigen Geräusch brach er ihr das Genick. Einen Moment hielt er den reglosen Körper noch vor sich. Kai konnte den Ausdruck in Dranzers Gesicht sehen - oder vielmehr von Hiros Verlobten.

Die Kinnlade heruntergeklappt.

Die Augen weit aufgesperrt. Ihr Hals merkwürdig verdreht…

Der Arm der seine Schwester hielt erschlaffte prompt. Kai erwachte erst aus seinem Entsetzen, als Jana lautstark auf dem Wohnzimmertisch aufprallte. Gleich darauf hörte er ihr schweres Röcheln. Sofort ergriff er seine Schwester, hielt sie schützend in seinen Armen und wich zurück. Dabei presste er Janas Kopf in seine Halsbeuge, damit sie nicht die Gelegenheit bekam, auch nur einen winzigen Blick auf dieses gespenstische Bild zu werfen. Sobald sie wieder genug Luft in der Lunge hatte, fing seine Schwester auch schon an zu schreien. Ihr schrilles Weinen dicht neben seinem Ohr übertünchte das Poltern, was entstand, als Tyson Dranzers gebrochenen Hals entließ. Der Leichnam fiel kopfüber nach vorne, direkt auf die Couch, wo Kai noch vor wenigen Minuten friedlich gesessen hatte. Er starrte aus geweitetem Blick zu dem schlaffen Oberkörper, dessen verrenkter Kopf in einem unnatürlichen Winkel wippte, bis er irgendwann zum Stillstand kam.

„Das wird sie nicht lange aufhalten, Junge.“

Mit trockener Kehle schaute Kai auf. Er wusste nicht was ihn mehr verwirrte. Der Leichnam von Hiros Verlobten auf der Couch oder Tysons stahlblauen Augen, mit den echsenartigen Pupillen darin.
 


 

*
 

Galux hatte ihm geraten, ihre Verbindung erst zu beginnen, wenn sämtliche Vorkehrungen, für ein schnelles Vorankommen getroffen waren. Eine davon war, Mariah so weit wie irgendwie möglich, schützend in Stoff zu wickeln, damit sie sich nicht noch mehr an den herumliegenden Glas- und Metallsplittern verletzte. Ray hatte sein Oberteil ausgezogen, es in Bahnen zerrissen und damit jede Schnittwunde verbunden, die er am Leib seiner Frau finden konnte. Selbst bei den wenigen Bewegungen lief ihm der Schweiß über den Rücken. Es kam ihm vor, als würde es zunehmend heißer werden und die Luft schien so furchtbar dünn. Er merkte dass er müde wurde. Ein Alarmsignal für den mangelnden Sauerstoff hier unten. Einmal nickte er sogar kopfüber weg. Nur Galuxs Ruf konnte ihn wieder auffahren lassen.

„Ich weiß nicht ob es ratsam ist, dich als Energieträger zu verwenden.“

„Wenn wir es nicht versuchen krepieren wir hier!“, hatte Ray geknurrt. Er war angespannt. Doch Galux sah es ihm nach, drängte ihn aber dennoch zur Eile. Sie selbst schien auch nervös. Immer wieder tippelte sie von einer auf die andere Seite. Irgendwann war es dann endlich soweit. Nach einem prüfenden Blick auf Rays Arbeit, erklärte Galux, dass es nun genug sei.

„Das wird ausreichen. Wir müssen uns spurten. Wenn du durch den Sauerstoffmangel hier unten einnickst, wirst du mir keine Hilfe mehr sein.“

Das leuchtete Ray ein. Bei einem Match war es nicht anders gewesen. War der Blader ohnmächtig, drehte sich sein Blade auch nicht mehr.

„Und wie geht es jetzt weiter?“, wollte er wissen.

„Nun, zunächst einmal werde ich die Tür zertrümmern müssen, sobald die Verbindung zwischen uns steht.“, Galux schaute auf, zu der Luke über ihnen. Durch den kleinen Schlitz in der deformierten Schiebetür, rieselte Sand in den Innenraum. Ihnen beiden war aufgefallen, dass die Risse in der Scheibe mehr wurden. Manchmal erschallte auch ein leises Knacksen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Glas zerbrach und sie noch mehr verschütten würde. Ihm kam es vor, als steckten sie in einer Sanduhr fest. „Ich werde Wurzeln erzeugen müssen, um die eindringende Erde davon abzuhalten, in den Raum zu stürzen. Anschließend muss ich schnellstens einen Tunnel graben. Er sollte in einer schrägen Bahn verlaufen. Das wird den Weg länger machen, aber dadurch…“

„Könnte ich Mao leichter hinaustragen.“, beendete er den Satz mit einem Nicken. Auch das war verständlich. Ray hatte sich bereits gefragt, wie er seine schwangere Frau hinausbekommen sollte, wenn der Tunnel steil hinaufführte, wie bei einem Brunnenschacht.

„Das könnte Zeit kosten.“, gab Galux zu bedenken. „Du wirst den Kraftverlust mit jeder Minute deutlicher spüren.“

„Ich halte es aus. Lass uns anfangen.“

„Und du bist sicher?“

Ray tat einen tiefen Atemzug. Das sie so zaudernd reagierte, machte auch ihm Sorgen, doch er begrub diesen Gedanken in die hinterste Ecke seines Kopfes.

„Was muss ich tun?“, fragte er stattdessen.

„Das ist unterschiedlich. Das Bündnis wird von Bit Beast zu Bit Beast anders eingegangen. Bei Mao wusste ich sofort, was zu tun ist. Das spürte ich aus einem tiefen Instinkt heraus.“

„Und bei mir weißt du es nicht?“

Sie schaute ihn lange an, schüttelte dann aber bedauernd den Kopf.

„Du bist mir fremd - auch wenn du ihr Gatte bist. Ich erkenne vieles von Driger in dir, das macht dich aber nicht so durchschaubar, wie es Mao für mich wäre.“

„Verstehe.“

Seine Frau und Galux teilten sich quasi eine ähnliche Seele. Für ihr Bit Beast musste es deshalb einfacher sein, von sich selbst auf Mao zu schließen, um sie zu verstehen.

„Um deiner selbst Willen, wäre es vielleicht ratsam, es auf dieselbe Art zu versuchen, wie du es mit Driger damals getan hast. Womöglich gleicht uns das etwas an. Erinnerst du dich an eure erste Begegnung?“

Tat er das?

Ray dachte angestrengt zurück…
 

Er wusste noch, wie ihm der Dorfälteste in einer feierlichen Zeremonie, die kleine Holzschatulle überreichte, indem Drigers Emblem darauf wartete, an ihn überzugehen. Sie war mit Ornamenten verziert gewesen. Mit viel Liebe zum Detail hatte man die Schnitzereien in die Wände der Schatulle geritzt. Ray erinnerte sich an die vielfältigen Muster. Es kamen Bäume darauf vor. Manchmal schlug ein Blitz in das Geäst ein. Und darunter sprintete ein angreifender Tiger…

Er hielt die Klauen ausgefahren, den Kiefer weit geöffnet, bereit ein sich zusammenkauerndes Wildschwein zu reißen. Ray hatte die Verzierungen sehr bewundert. Sie waren so fein ausgearbeitet, dass man im Maul des Tigers, sogar die kleinen Fangzähne erhaschen konnte. Dafür war er umso verdutzter, als er die Schatulle aufklappte und nur das mickrige Steinemblem darin vorfand. Zunächst war Ray ziemlich enttäuscht gewesen. Er hatte etwas Spektakuläreres erwartet. Doch damals war er noch ein halber Junge, der schnell erkennen sollte, wie viel Macht das Emblem mit dem Tigermotiv in sich bergen sollte. Die ersten Wochen, wusste er aber nichts damit anzufangen. Meistens ruhte das Emblem in seiner Hütte, auf dem altmodischen Nachtschränkchen. Jeden Abend vor dem Schlafengehen, hatte Ray es aufgeklappt und einen fragenden Blick hinein geworfen. Auch wenn es unscheinbar wirkte, kam er kaum darum herum, etwas Faszinierendes daran zu finden. Lange Zeit konnte Ray sich gar nicht erklären, warum er so reagierte, bis ihm eines Nachts auffiel, das der Tiger auf dem Emblem, jeden Tag eine neue Pose einzunehmen schien. Zunächst dachte er, einem Irrglauben zu erliegen, doch an jedem neuen Morgen, bewahrheitete sich sein Verdacht. Von da an war Ray so erpicht darauf, mehr von diesem magischen Objekt zu erfahren, begann sogar die alten Schriften dazu zu studieren, die im Schrein dazu aufgebahrt lagen - bis das Emblem irgendwann sein Geheimnis offenbarte.

Genau an dem Tag als Ray seinen ersten Blade erhielt…

Es war ein Geschenk von Tao gewesen. Damals begannen alle Kinder mit den Kreiseln zu spielen. Sie alle baten ihre Eltern ihnen auch eines vom Händler, aus der nächsten Stadt mitzubringen und bald hörte man die klackernden Geräusche, von gegeneinander rasenden Blades im ganzen Dorf. Da Ray aber keine Eltern hatte, blieb er lange Zeit nur als stummer Zuschauer am Rand der Arena sitzen, bis ihm Tao eines schenkte, damit er sich auch an den Wettkämpfen der Kinder beteiligen konnte.

Nun fiel es Ray auch wieder ein…

Der Abend indem er nichtsahnend auf seinem Bett hockte und wie jedes Mal vor dem Schlafengehen, einen prüfenden Blick in die Schatulle warf, während sein neuer Blade auf dem Kissen neben ihm ruhte. Ray wohnte damals bereits alleine in seiner Hütte, wie es der übliche Brauch bei Vollwaisen seines Alters, in ihrem Dorf war. Das lag nicht daran, dass man ihm das Gefühl übermitteln wollte, ein Außenseiter zu sein, sondern viel mehr, weil man bei ihnen zu sagen pflegte, dass die Erziehung eines Kindes, die Fürsorge der gesamten Gemeinschaft bedurfte. Tao meinte einmal zu ihm, ihn einer Familie gänzlich zuzuordnen, würde nur bedeuten, dass sich die anderen Menschen im Dorf, sich aus der Verantwortung stahlen. Der Erfolg gab ihm Recht. Rays Hütte war so gut wie nie leer. Ständig kündigte sich Besuch an. Viele Dorfbewohner sahen nach seinem Befinden.

Manchmal war ihm das sogar zu viel…

An jenem Abend hatte er kurz zuvor die letzten Besucher verabschiedet. Seine Nachbarin brachte ihm etwas zu Essen vorbei. Die Suppe köchelte über der altmodischen Feuerstelle, während Ray den Deckel der Holzschatulle, gutgelaunt hochgeklappt. Es war ein sehr aufregender Tag gewesen. Zum ersten Mal konnte er sich an den Wettkämpfen der anderen Kinder beteiligen und zu seiner Überraschung, entpuppte er sich als wahres Naturtalent. Lee hatte ihn brüskiert gefragt, ob er ihnen nur den Ahnungslosen vor mimte, damit alle ihn unterschätzen. Doch der Blade schien seine Gedanken förmlich zu erraten und dieses Talent machte ihn sehr Stolz.

Als Ray die Schatulle in dieser Nacht öffnete, um die neue Pose des Tigers zu bewundern, begrüßte ihn zu seinem Entsetzen, zuerst ein lautes Fauchen aus dem Inneren der Box. Es kam ihm vor als ob das Gebrüll, die Wände in seiner kleinen Hütte erzittern ließ. Vor Schreck hatte er die Box wieder zuklappen wollen, als auch schon ein giftgrüner Blitz herausschoss, dessen Licht die ganze Kammer erfüllte. Was dann passierte, hielt Ray lange Zeit für eine Vision, die sich nur in seinem Kopf abspielte.

Er saß auf dem Bett, auf seinem Schoß die offene Schatulle und nur wenige Schritte von ihm entfernt, die majestätische Gestalt Drigers. Sein Mund klappte auf. Ray hatte schon einmal einen Tiger gesehen. Er war in den Wäldern unterwegs gewesen, gemeinsam mit Lee und den anderen Männern des Dorfes, die den Jungen an diesem Tag Überlebenstricks in der Wildnis beibrachten. Da tauchte auf der anderen Seite eines Flussufers, das imposante Geschöpf vor ihnen auf.

Ray empfand schon dieses Exemplar als riesig.

Doch Driger gehörte definitiv einer anderen Liga an. Er war gigantisch gewesen. Sein massiger Körper erfüllte beinahe den ganzen Raum und der Panzer um seine Schultern, strahlte in satten Goldtönen. Ray war in jenem Moment froh, dass er nicht über so viele Besitztümer verfügte, wie andere Kinder in seinem Alter. Dadurch dass seine spartanische Hütte nicht so zugestellt war, warf der peitschende Schweif des Tigers nichts um. Die Krallen seiner schweren Tatzen hinterließen Kerben auf seinem hölzernen Fußboden. Ray hatte aus geweitetem Blick auf das Haupt des Tigers gestarrt. Es war merkwürdig gewesen…

Er hätte Angst verspüren müssen. Doch stattdessen empfand er tiefe Ehrfurcht vor diesem Geschöpf. Es war der Moment indem Ray begriff, was für ein mächtiges Geschenk ihm mit dem Emblem gemacht wurde. Die blattgrünen Augen vor ihm starrten ihm entgegen, zwischen ihnen nur die köchelnde Feuerstelle. Sie beide hatten sich nicht gerührt, als würden sie sich voller Neugierde auskundschaften. Da Driger keine Anstalten machte ihn anzugreifen, tat Ray die erste Regung.

Er legte den Kopf langsam zur Seite. Das Bit Beast tat es ihm gleich. Irgendwann setzte Ray die Schatulle in einer vorsichtigen Bewegung ab. Er glitt behutsam von seinem Bett und richtete sich stramm auf. Der Tiger vor ihm rührte sich noch immer nicht. Driger schien nur weiterhin seine Bewegungen zu studieren. Ab und an erhaschte Ray ein langsames Blinzeln. Er tat mit dem rechten Fuß einen Schritt auf Driger zu. Das Bit Beast setzte ebenfalls die rechte Pfote auf. Ray zog den Fuß zurück. Driger tat es auch…

Da bemerkte er, was sich hier abspielte. Das Bit Beast imitierte seine Bewegungen. Mutiger geworden, trat Ray entschiedener auf Driger zu. Und schon begann es…

Jeden Schritt den er machte, tat auch das Bit Beast. Sie umkreisten sich wie zwei Raubtiere, ließen sich dabei nicht aus den Augen. Der Abstand zwischen ihnen wurde geringer und irgendwann, als Ray sämtliche Bedenken verließen, blieb er stehen, streckte die Hand nach dem Tiger aus. Er erwartete ein Knurren. Ein Brüllen. Ein Fauchen…

Nichts dergleichen kam. Driger schnappte nicht nach ihm.

Ray schien als würde er sogar eine stumme Aufforderung hören.

„Kein Zögern. Kein Zaudern. Bleib immer standhaft.“

Und das tat Ray. Ohne weiter zu Überlegen, bettete er seine Hand auf die Schnauze des Tigers. Er hatte das warme Fell zwischen seinen Fingern gespürt, jedes einzelne Härchen – und eine innige Verbundenheit zwischen ihnen. Die Energie die von diesem Wesen ausging…

Sie richtete seine Nackenhärchen auf, als wäre er elektrisch geladen. Es ließ Ray die Augen für eine Sekunde schließen. Und als er sie wieder öffnete, war der Spuk auch schon vorbei.

Da stand er nur noch mit ausgestrecktem Arm in seiner Hütte.

Von Driger keine Spur mehr. Ray hatte verdutzt geblinzelt, kam sich auch ziemlich dämlich vor, denn hätte ihn jemand so gesehen, wäre sicherlich die Frage aufgekommen, was er da für ein komisches Ballett veranstaltete. Etwas beschämt über sein albernes Verhalten, war Ray wieder zu seinem Bett gelaufen - wo er Drigers Abbildung nun auf dem Blade sah.
 

Dieser Abend sollte der Startschuss für viele weitere Abenteuer werden…

Denn zwei Monate später, verließ Ray sein Dorf, um seine Neugierde darüber zu stillen, was er mit seinem neuen Bit Beast noch alles erreichen könnte. Dieser Tag hatte ihn verändert. Es offenbarte ihm einen Einblick darauf, wie viele Geheimnisse diese Welt doch barg und das er sie nicht entdecken konnte, wenn er weiterhin in seinem kleinen Bergdorf zurückgezogen lebte. Wäre Driger nicht zu ihm gekommen, hätte Ray niemals seine Freunde kennengelernt. Er hätte sein einfaches Leben fortgeführt, ohne zu ahnen, dass es diese Menschen gab. Diese Überlegung ließ ihn lächeln. Er hatte seinem Bit Beast einiges zu verdanken, auch wenn er die letzten Tage so manches Mal anders dachte.

„Weshalb lächelst du?“

Erst Galuxs Stimme holte ihn zurück. Ray hatte gar nicht bemerkt, dass er die Augen geschlossen hielt. Er blinzelte. Nicht aus Verwirrung, sondern weil diese kindliche Erinnerung aus alten Tagen, ihn sentimental werden ließ.

„Nichts. Ich dachte nur an den Tag zurück als ich Driger bekam.“

„Wehmütige Erinnerungen?“

„Ja, so kann man es wohl nennen.“, Ray schaute gedankenverloren zu Boden. In ihm keimte die grausige Gewissheit auf, dass es mit Galux niemals so sein würde, wie damals bei Driger. Wenn das richtig war, könnte ihr Vorhaben ein übles Nachspiel für ihn haben. Er versuchte sich diese Furcht nicht anmerken zu lassen.
 

„Kein Zögern. Kein Zaudern. Bleib immer standhaft.“
 

Drigers Worte von damals gingen ihm durch den Sinn. Es war eigenartig, dass gerade die Sätze jenes Wesens ihm Kraft spendeten, das vor wenigen Tagen noch sein schlimmster Feind war.

„Lass uns anfangen. Es wird Zeit.“

„Hast du dir das gut überlegt?“

„Ich bin auf alles gefasst.“

„Gut. Dann konzentrier dich auf mich. Versuch dasselbe zu empfinden wie an jenem Tag, als du Driger zum ersten Mal begegnet bist. Ich werde mich bemühen mich dir anzupassen.“

Ray öffnete die Lider. Er streckte seine Hand aus, wie damals bei seinem eigenen Bit Beast. Doch schon diese winzige Bewegung, fühlte sich falsch an. Es genügte ein Blick in Galuxs Augen. Sie war zu unsicher. Driger wusste was er tat. In seinem Blick lag damals nicht diese Ungewissheit. Doch Galuxs hasenhaften Lauscher zuckten ständig. Ray schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Wie bei seiner Mao, wenn sie etwas Neues ausprobierte und sich nicht wohl dabei fühlte.

„Hab keine Angst.“, sprach Ray auf sie ein.

„Wie sonderbar. Eigentlich sollte ich dich beruhigen.“

„Wir denken einfach beide daran, dass wir Mao beschützen wollen.“

Das schien Galux zu helfen. Endlich hörten ihre Ohren auf zu zucken. Sie ließ seine Berührung zu, senkte die Lider, während Ray versuchte seine Gefühle in dieselbe Bahn zu lenken. Er konzentrierte sich einzig und allein auf den Wunsch, seine Familie zu beschützen. Bald darauf spürte er auch schon, wie sich etwas in ihm veränderte. Es war jedoch schwer zu beschreiben. Es fühlte sich nicht sehr angenehm an.

Irgendwie erinnerte es ihn an eine Blutspende, wenn man dabei zuschaute, wie der Beutel sich langsam mit der eigenen Flüssigkeit füllte und man langsam schläfrig wurde. Ray unterdrückte einen gequälten Ausdruck. Er untersage sich jeden Mucks. Nein. Das hier fühlte sich definitiv anders an. Da war kein aufgeregtes Flirren, dass seine Nackenhaare aufrichtete. Nachdem er Driger das erste Mal berührte, kam Ray sich vor, als wolle er voller Tatendrang die Welt entdecken. Er stand wahrhaftig unter Strom, fühlte sich unbesiegbar und unaufhaltsam, wie ein Fels der durch einen kräftigen Schubs polternd ins Tal rollte.

Doch Galux Kraft zog ihn eher hinunter. Es fühlte sich an, als wäre er an einem einzelnen Punkt festgewachsen. Unfähig sich zu bewegen. Wie eine Blume, die dazu verdammt war, am selben Fleck auszuharren, bis sie dort elendig verwelkte. Er spürte wie Galux seinen Fingern entglitt.

„Halte durch! Ich beeile mich…“

Sie ahnte wohl dass ihm die Verbindung nicht so gut tat, wie Ray ihr vormachte. Er beobachtete aus trägem Blick, wie der Körper des Bit Beasts endlich wieder heller zu Leuchten begann. Sie fixierte mit ihren Augen angestrengt die Tür über sich. Gleich darauf hörte er von Außerhalb ein Knistern. Es klang als würde sich etwas durch die Erdschicht wühlen und schon kurz darauf sah er feine weiße Wurzeln. Sie fädelten sich umeinander wie die Maschen eines Netzes. Dann begannen sie sich zuzuziehen, pressten die Erde über der Tür zurück. Es verursachte eine leichte Erschütterung. Noch einmal rieselte durch den Spalt eine feine Staubschicht, bis der Sandfluss endlich versiegte. Vor der Scheibe tat sich eine Öffnung auf. Die Wurzeln drängten die Erde mit aller Gewalt zurück. Ray konnte sehen, wie Galux zu zittern begann. Obwohl sie sich körperlich nicht betätigte, schien dieses Unterfangen ihr auf andere Art zuzusetzen. Ihre Gestalt wuchs wieder.

Mit jedem Zentimeter den sie zulegte, fühlte Ray wie ihm mehr Energie ausgesaugt wurde.

Schließlich war die Erde vor der Tür so weit zurückgewichen, dass Galux in die Knie ging und sich mit voller Kraft gegen das Material warf. Der erste Hieb verursachte eine Beule im Metall. Der zweite Schlag ließ sie tiefer werden. Mit einem finalen Fauchen, stieß das Bit Beast die Tür aus der Halterung. Noch bevor die schwere Platte zu Boden krachte, brachte sich Galux in Sicherheit, während Ray mit seiner Frau in einer anderen Ecke kauerte. Es staubte gewaltig als die Überbleibsel der Tür bei ihnen unten aufkamen. Ray hustete, schützte seine Frau vor dieser Giftwolke, indem er seinen Oberkörper über sie legte, ihren Kopf an seine Brust drückte. In kürzester Zeit war er von einer Dreckschicht bedeckt. Es vermischte sich mit dem Schweiß auf seiner Haut.

Als Ray die Augen wieder aufschlug, sah er Mariahs Lider fiebrig unter sich flattern. Der Lärm holte sie aus ihrer Ohnmacht. Er sah einen kleinen Spalt, wie ihre hell gesprenkelten Augen träge dazwischen hervorschauten. Ihre Lippen waren spröde geworden. Sie hatte Ewig nichts mehr getrunken. Ray warf einen Blick über seine Schulter, wo Galux bereits in das Erdloch huschte. Er vernahm das Knacken, ihre schabenden Krallen, sah noch mehr Wurzeln in dem dunklen Schacht wachsen. Sie stützten den Tunnel den sie freilegte vor einem erneuten Einsturz. Da Galux wenig Möglichkeiten besaß, um die überflüssige Erde irgendwo verschwinden zu lassen, landete einiges wieder im Inneren des Wagons. Ray suchte nach seinem Sportbeutel, um seiner Frau etwas von dem Wasser zu geben, dass er darin noch verstaut hielt. Er kramte in der Tasche herum, als ihm etwas auffiel.

Seine Hände. Sie waren so kraftlos. Und sie sahen komisch aus…

Er wischte den Dreck davon weg. Wirkten sie etwa älter?

Das könnte aber auch an den Umständen hier unten liegen. Wenig Licht, der Dreck…

Ray verscheuchte den Gedanken wieder, suchte nach der Wasserflasche und wandte sich seiner Frau zu. Er hob Maos Kopf an, um ihr das Trinken zu erleichtern. Sobald sie die Flüssigkeit an ihren Lippen spürte, öffnete sie den Mund etwas, schaute aus müden Augen zu ihm auf, bis sie sich verschluckte. Zwischen einem schmerzlichen Keuchen brachte sie lediglich die Frage hervor, was denn nur passiert sei.

„Wir sind entgleist.“, sprach Ray auf sie ein. Doch es machte nicht den Eindruck, als ob Mariah schon genug bei Sinnen war, um seine Worte richtig zu begreifen. Er strich ihr zärtlich über das Gesicht. „Aber bald sind wir draußen. Ich verspreche es dir.“

Er sah den winzigen Anflug eines müden Lächelns auf Maos Lippen. Einmal hatte sie ihm gestanden, dass es sie beruhigte, wenn Ray in schwierigen Situationen so besonnen blieb. Das es ihr auch Kraft gab. Er erwiderte ihr Lächeln, bettete ihre Wange in seine Handfläche. Sein Daumen strich über ihre Haut hinweg. Und da bemerkte Ray zum ersten Mal die Altersflecken auf seinem Handrücken…

Einen Moment starrte er darauf. Er schloss die Augen, atmete tief durch. Dann schob Ray seine Arme unter den Körper seiner Frau. Sie war schwer. Natürlich war sie das, immerhin trug sie zusätzliches Gewicht mit sich herum. Seine kleine Tochter. Dennoch vollbrachte es Ray, sie irgendwie hochzuheben. Von Mao kam ein müdes Murren. Es klang als würde sie fragen, was er da tue. Ray antwortete nicht. Der Kopf seiner Frau klappte ohnehin wieder auf seine Brust. Sie kam ihm wie ein schlaffes Stoffpüppchen vor. Ein Arm baumelte unkontrolliert an ihr herab. Als Ray ihre Wunden verband, hatte er den Eindruck, er sei gebrochen. Er trat an die Öffnung.

„Galux, du musst mir mit Mao helfen!“, rief er hinauf. Ihm kam es vor, als sei das Bit Beast ganz schön lange unterwegs, bis es wieder zurückkam. Das gab ihm Hoffnung. Vielleicht schafften sie es bald ins Freie. Sobald er Galux hörte, hob Ray seine Frau mit einem Keuchen soweit auf, wie es nur irgendwie möglich war. Das Bit Beast schnappte mit den Zähnen nach ihrem Kragen. Es begann Mao in den Schacht hinaufzuziehen, während er seine Frau von unten weiterschob. Ray sah ihre Füße langsam im Dunkeln verschwinden. Mao hatte einen Schuh verloren. Er griff an den Rand der Öffnung, um sich selbst aufzuziehen - und hielt inne.

Seine Finger wirkten fahl und dünner. Das ging zu schnell!

Einen Moment hielt er seine zitternde Handfläche vor die Augen. Dann beeilte Ray sich ins Zwiellicht des Tunnels zu robben. Sobald Galux die Anzeichen erblickte, würde sie das ganze Vorhaben womöglich abbrechen, also bemühte er sich, nicht aufzufallen.

Desto weiter sie sich von der Enge ihrer Kabine entfernten, desto dunkler wurde es um Ray herum. Galux Gestalt war nicht mehr als eine fahle geisterhafte Erscheinung für ihn. Mao murmelte unverständlich vor sich her, wann immer ihr Bit Beast sie am Kragen weiter voran zog. Mehrmals hielt Galux inne, um den Stollen weiter zu graben, während Ray sich bemühte, den aufkommenden Dreck wegzukehren, um mehr Platz zu machen. Dazu musste er sich ständig über seine Frau beugen, vernahm dabei ihre flachen Atemzüge. Um sie herum knisterte es, Ray vermutete von den Wurzeln die den Stollen stabiler machten. Die Geräusche die seine Frau von sich gab wurden unruhiger. Lauter. Sowohl Galux als auch Ray ignorierten es. Beide konzentrierten sich auf ihr schweißtreibendes Vorhaben. Bald kam es ihm vor, als seien sie schon ewig in dem Stollen zu Gange. Ihm fiel auf dass Galux öfters Mal aufhörte zu graben. Das erkannte er daran, wenn die scharrenden Laute, für eine Minute in der Finsternis verstummten. Auch von ihr kam manchmal ein erschöpftes Keuchen. Insgeheim kam ihm der Gedanke, dass die falsche Energie dem Bit Beast auch nicht so gut tat. Auf einmal schwindelte es Ray. Es kam so plötzlich über ihn, dass er inne hielt, den Oberkörper auf den Ellbogen gestützt und die Augen stöhnend schloss. Ihm wurde übel. Die Luft schien mit jeder dahinstreichenden Minute dünner zu werden. Er blieb so lange reglos, bis Maos Gemurmel vor ihm lauter wurde.

„Ray?“, es war ein trockenes Krächzen. Da noch immer keine Antwort von ihm kam, wurde sie panisch. „Warum ist es so dunkel? Wo bist du?!“

Er hörte sie mit den Fersen strampeln.

„Wo sind wir?! Es ist so eng!“

Ray schlug die Augen auf. Er raufte sich zusammen, kroch vorwärts, so gut es ging an ihre Seite, bevor die Panikattacke die seine Frau befiel überhand nahm.

„Ich bin hier, Mao.“

„Ich kriege keine Luft!“

Sie begann zu hyperventilieren.

„Doch Mao. Atme langsam durch, Schatz.“

Er hörte Galux eiliger scharren, während Ray auf seine Frau einsprach.

„Du bist nicht alleine. Ich bin hier. Galux auch. Wir lassen dich nicht alleine.“

„Ich will hier raus…“, sie klang wie ein ängstliches Kind. Ganz anders als er sie kannte.

„Bald, Mao. Bald. Du musst noch ein kleinwenig durchalten.“

Es ließ sie einen Moment ruhiger werden.

„Gib mir deine Hand.“, wimmerte sie. Ihre Stimme war tränenerstickt. Ray kraxelte weiter voran, so schwer es ihm auch fiel. Er kam sich kraftlos vor, dennoch riss er sich zusammen, blieb standhaft. Er musste. Für seine Familie. Einer musste jetzt einen kühlen Kopf behalten. Er streckte seine Hand aus, tastete im Dunkeln nach Maos Fingern, die ebenfalls den Boden nach ihm absuchten. Irgendwann bekam er sie zu packen. Ihr Griff war fest. Doch nach kurzem Körperkontakt zuckten ihre Finger zurück.

„Wer sind sie?!“

„Ich bin es, Mao!“

„Nein! Sie sind nicht mein Mann!“

„Doch, Schatz. Ich bin es!“

„Galux, bist du da?!“

„Ja, Mao. Ich bin immer bei dir.“

„Wo ist Ray? Wer ist der alte Mann dort hinten?!“

Da durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Seine Hände mussten so rasch gealtert sein, dass selbst seine dehydrierte Frau den Unterschied merkte. Er ballte seine Finger zu Fäusten und spürte wie dünn und gebrechlich sie waren.

„Wir müssen aufhören!“, rief nun auch Galux aus. Sie erkannte den Ernst der Lage nun auch und die Verzweiflung ihres Menschenkindes schien sich auf sie zu übertragen. „Etwas stimmt nicht! Deine Stimme klingt zu alt!“

Das hatte Ray nicht einmal gemerkt…

„Nein! Mach weiter!“

„Ich werde ohne deine Energie weitermachen.“

„Und riskieren das das der Stollen ohne die Wurzeln einbricht?!“, fragte Ray entgeistert. „Du wirst uns alle verschütten! Ein Zurück gibt es jetzt nicht mehr! Uns wird die Luft hier unten ausgehen!“

Ray hörte seine Frau wimmern. Sie flüsterte seinen Namen, rief in ihrem Fieberwahn nach dem Mann, den sie nicht mehr an ihrer Seite erkannte.

„Mach weiter, Galux! Grab so schnell du kannst! Nimm so viel von meiner Energie wie du dafür brauchst, aber verdammt nochmal, sieh zu das du meine Frau hier heraus schaffst!“

„Du hältst das nicht aus…“

„Hör auf zu diskutieren!“, krächzte er ihr mit altersschwacher Stimme entgegen. „Du verplemperst unser aller Zeit damit!“

Und endlich vernahm Ray wie das Bit Beast wieder schaufelte. Dieses Mal schneller denn je. Für einen Moment fragte er sich grantig, weshalb sie nicht schon zu Anfang ein solches Tempo hingelegt hatte, als ihm klar wurde, dass die Übelkeit nun mit voller Wucht bei ihm einschlug. Es war so schlimm, dass er von Mao zurückkroch. Ein heißer Schwall Flüssigkeit brach aus ihm hervor. Galux musste sich zuvor mit seiner Energie zurückgehalten haben.

Nun gab sie alles - in einem Wettlauf gegen seine Zeit.

Sie grub als ob es um ihr Leben ginge, nicht um das seines. Sie war so schnell, dass Ray nicht mehr hinter kam und die Erde sich im Stollen sammelte. Die Wurzeln schienen stattdessen seinen Part zu übernehmen. Er spürte wie sie sich an ihm vorbeischlängelten. Auf einmal kam ein Poltern von vorne. Ein Spalt tat sich auf. Ein einzelner Lichtstrahl fiel hindurch. Ray sah wie der Staub darin tänzelte. Das Bit Beast warf sich gegen die Erdwand. In heller Aufregung hieb Galux auf das Hindernis ein.

Immer wieder. Immer wieder…

Es musste ein großer Erdbrocken sein der ihnen da den Weg versperrte.

Er sah Galux einige Schritte im Lichtstrahl zurückweichen. Dann legte das Bit Beast mit einem Schrei sämtliche Kraft in den nächsten Schlag. Der Fels erzitterte. Es knackste. Sand rieselte von der Decke herab und da kam das massige Ungetüm auch schon ins rollen. Ray beobachtete wie der Weg sich langsam öffnete, dann fiel das Hindernis endlich. Ihm kam es vor, als würde mit diesem Felsen, auch ein Stein von seinem Herzen fallen. Er sah wie Mariah die Hand hob. Sie tauchte ihre zitternden Finger ins Sonnenlicht. Die Schweißperlen funkelten auf ihrer Stirn. Sobald sich der aufgewirbelte Staub legte, tat Ray einen röchelnden Atemzug.

Ein angeekelter Blick neben sich und ihm wurde klar was er da erbrochen hatte. Blut…

Eine dickflüssige Pfütze glänzte auf dem Stollenboden. Aus glasigem Blick schaute Ray darauf. Ihm kam es vor, als sei er betrunken. Seine Sicht verschwamm ihm. Er hörte sein Blut hart gegen die Schläfe pochen. Seine Hände. Sie waren voller Altersflecken.

Sehnig. Dünn….

„Oh weh!“, sein Augen hoben sich. Ray sah Galux am Ende des Stollens stehen. Das Bit Beast starrte ihn entsetzt an. Es zwängte sich an Mariah vorbei, huschte auf ihn zu.

„Verzeih mir! Bitte verzeih mir!“, ihre Stimme klang fern.

„Mao… Schaff sie hinaus.“, raunte Ray unendlich müde.

Sein Kopf sank schwer auf den Boden. Er konnte einfach nicht mehr. Eine seiner Strähnen trat in sein Sichtfeld. Sie war grau…

„Dort sind Menschen. Sie kommen, Junge. Hab keine Angst mehr um sie.“, er fühlte wie Galuxs Kopf gegen seine Finger stupste. Ihre geflüsterten Sätze bebten bei jeder Silbe. „Vergib mir… Bitte vergib mir. Ich wollte das nicht.“

Ray vernahm Stimmen. Dort draußen waren Menschen. Sie redeten wild durcheinander in seiner Muttersprache. Er konnte hören, wie sich Leute auf der anderen Seite näherten. Sie kraxelten zu dem entstandenen Loch auf. Und als der erste grelle Helm der Rettungskräfte, am Ende der Öffnung auftauchte, das einfallende Sonnenlicht verdeckte, bettete er seinen Kopf auf den Arm.

„Hier ist jemand! Eine Frau…“, eine Taschenlampe leuchtete zu ihnen hinein. „Sie ist schwanger! Hört ihr?! Holt schnell eine Trage her! Und weiter tiefer liegt auch noch ein alter Mann!“

„Wie haben es die beiden bloß hinausgeschafft? Das ist ein Wunder!“, rief ein anderer aus, der unfähig war Galux zu erblicken. Ray musste Lächeln. Dann flüsterte er dem Bit Beast zu: „Danke.“

Mao rief weiterhin nach ihm, während die Helfer sie aus dem Erdloch zogen. Ihre kränkelnde Stimme entfernte sich langsam von ihm. Zwei Leben gegen eines. Zumindest hatte sich das Opfer gelohnt. Das empfand Ray als sehr guten Tausch. Er senkte erschöpft die Lider.

„Pass weiterhin auf meine Familie, Galux. Du bist ein wunderbarer Schutzgeist…“
 


 

*
 

„Tyson?“

Die Frage kam aus dem Mund von Dranzers Menschenkind, obwohl Dragoon genau heraushörte, dass er seine eigenen Worte anzweifelte. Natürlich witterte er den Braten. Dieser Junge schien schon immer mit einem wachen Verstand gesegnet zu sein. Es erinnerte ihn nur mehr an seinen Schutzgeist. Dranzer hatte auch stets so misstrauisch geschaut. Vor allem wenn Dragoon mit ihr sprach. Er konnte es dann an ihren Augen sehen. Wenn sie sich minimal schmälerten, wusste er, dass sie ihm nicht glaubte. In der Regel war das immer der Fall gewesen. Bei Dranzers Jungen sah es ähnlich aus, nur das sich dieses Mal seine Augen in blanker Panik weiteten. Selbstverständlich konnte das aber auch an der Tatsache liegen, dass Dragoon vor dessen Nase, Dranzer das hübsche Genick brach. Menschen waren was das betraf immer recht zimperlich, obwohl der Junge keinen Grund zur Sorge hatte. Jedenfalls noch nicht…

„Du solltest lieber auf Abstand gehen.“

„Was hast du mit ihm gemacht?!“, schrie der Bengel ihn auf einmal an. Der herrische Tonfall war ihm noch von früher bekannt. Der impulsive Ausbruch dagegen neu. Dragoons Braue zuckte hoch.

„Beruhige dich, Kleiner. Takao geht es gut.“

„Verschwinde aus seinem Körper!“

„Das hast du ja schnell durchschaut… Und nun raus mit dir! Das Geplärre von der Göre hält man ja kaum aus.“

„Ohne Tyson gehe ich nirgendwo hin!“

„Na hoppla! Wer hat denn da endlich gelernt wem er etwas Loyalität schuldet?“, spottete Dragoon. Allerdings musste er zugeben, dass Kais Verhalten an seinem Stolz nagte. Nicht etwa weil der Junge nach Jahren der Aufmüpfigkeit, endlich mal handzahm geworden war, sondern weil Takao etwas vollbracht hatte, was ihm bei Dranzer, selbst Jahrtausende nach ihrem Zerwürfnis, nicht gelang. Irgendwie empfand er es als ungerecht, dass sein Junge die Liebe seines Lebens bekommen hatte, während er von seiner nur Hohn erntete.

„Du dürftest gar nicht mehr hier sein!“

„Korrekt. Allerdings habe ich auch nicht vor meinen Besuch weiter in die Länge zu ziehen.“, belehrte Dragoon den Jungen gelangweilt. Er sah bereits ein zorniges Kontra auf dessen Lippen, fiel ihm aber ins Wort. „Hier passiert nichts ohne Takaos Einverständnis! Er hat diesem Verfahren zugestimmt.“

„Was für einem Verfahren?“

„Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig.“

„Dann gehe ich auch nicht!“

Dragoon schnalzte genervt. Seine Augen huschten zu Dranzers Leichnam. Die Halsschlagader begann wieder zu pochen, auch wenn sie ähnlich einer Weihnachtsbaumgirlande, in einer Spirale um den Hals herumführte. Das sah wahrlich unschön aus mit diesem verdrehten Genick.

„Wir haben ein Abkommen. Sein Körper für den Kampf, dafür bewahre ich euch vor Dranzers Zorn.“, sein Blick heftete sich auf Kai, wurde kleiner. Er hob das Kinn und zischte bedrohlich: „Also geh mir endlich aus dem Schussfeld! Nimm das kreischende Balg, verkriech dich irgendwo und komm erst heraus, wenn ich es dir befehle.“

„Du hast mir gar nichts zu befehlen!“

Er hielt ihm die Hand als Drohgebärde hin.

„Du gehörst übers Knie gelegt, weißt du das eigentlich? Verschwinde, oder ich versohle dir eigenhändig den Hintern! Etwas was deine Eltern wohl versäumt haben.“

In Kais Gesicht machte sich eine heftige Zornesröte breit.

Das fand Dragoon fast schon entzückend.

„Ich wiederhole mich nicht! Hau ab!“, brüllte er ihn stattdessen an. „Sonst mache ich als nächstens bei deiner plärrenden Schwester weiter! Hast du mich jetzt endlich verstanden?!“

Damit hatte er direkt auf seinen Schwachpunkt gezielt.

Der Blick des Jungen sprühte vor unterdrücktem Zorn. Natürlich…

Er war schon immer undankbar gewesen. Da tat man ihm einen Gefallen und es war schon wieder nicht Recht. Dragoon hätte sich von diesem Kerl niemals so auf der Nase herumtanzen lassen, wie Takao es all die Jahre tat, sondern dem Bengel ordentlich die Flügel gestutzt. Dranzers Finger fielen ihm ins Auge. Sie zuckten leicht. Da rissen ihn Kais nächste Worte doch noch von dem Anblick weg.

„Wird Tyson das überleben?“, wollte er wissen.

Es war die Art wie der Junge es sagte. Er klang tatsächlich sorgenvoll. Takao ahnte gar nicht, wie neidisch Dragoon in jenem Moment wurde. Er fuhr sich seufzend über die Nasenwurzel.

„Wenn ich es richtig anstelle wird alles gut gehen.“

„Das ist doch keine Garantie!“

„Ich werde dir auch keine erteilen!“, fauchte er ihn zornig an. „Denkst du der Junge wusste nicht worauf er sich einlässt?! Ich habe ihm die Risiken erklärt. Aber dein Wohl und das der Seinen ist ihm wichtiger. Zumindest derer die davon übrig sind.“

„Was meinst du mit die übrig sind?“, fragte Kai argwöhnisch. Dieser Junge ließ sich wirklich nie abschrecken. „Ist Großvater Kinomiya etwa…“

Er sprach nicht weiter. Glücklicherweise schloss Kai seine Anspielung auf die falsche Person. Wenn er auch nur ansatzweise an seinen anderen Freunden hing, wie Takao es stets getan hatte, wären nur unangenehme Erklärungen aufgekommen. Dafür fehlte ihm beim besten Willen die Zeit.

„Keine Ahnung. Überzeug dich besser selbst davon. Der Alte liegt wie ein misslungenes Präsentkorb an der Eingangstür.“

„Hiros Verlobte…“

„Wer?“

„Sie! Du hast ihr den Hals gebrochen!“

Er nickte zu Dranzers Körper. Da begriff Dragoon.

„Ich habe nichts getötet was nicht schon tot war.“

Noch immer keine Regung. Kai starrte auf Dranzer. Zumindest auf ihren verdrehten Kopf. Das Kreischen seiner Schwester war in ein Mitleid häschendes Schluchzen übergegangen, während das Mädchen den Kopf auf seiner Schulter gebettet hielt.

„Was dachtest du denn?“, fragte Dragoon ihn mit einem Kopfschütteln. „Das ein Mensch der besessen ist keine Folgen davon trägt?“

„Wird Tyson das auch passieren?“

„Er ist mein Menschenkind. Er wird es besser verkraften als sie. Aber diese Frau? Die war wohl relativ schnell hinüber, nachdem Dranzer sich bei ihr eingenistet hatte. Das passiert eben wenn sich zwei Wesen vermischen, die nicht dieselbe Grundlage teilen. Einer wird vom Parasiten ausgezehrt. Apropos…“, Dragoon schaute auf den Leichnam vor ihnen. „Es wäre ratsam für dich, innerhalb der Mauern des Anwesens zu bleiben. Dranzer hat einige weitere Anproben gehabt. Vor dem Haus rennen ihre leeren Kleidungsstücke nur so herum.“

Er fragte nicht nach. Kai begriff eben schnell.

Der Junge war doch sehr interessant.

„Allerdings…“, Dragoon hob mahnend den Zeigefinger. „Komm mir nicht in die Quere während dem Kampf.“

Über den Leichnam hinweg starrten sich beide eine ganze Weile lang an. Da gab der Junge endlich nach, wurde vernünftig. Kai wich zurück. Den Blick misstrauisch auf ihn gerichtet, bis auf einmal Dranzers zuvor schlaffer Arm hochschnellte. Er konnte das Keuchen von ihrem Menschenkind hören. Kai starrte auf die Hand. Ihre Finger verkrallten sich in der Couchlehne. Durch das gebrochene Genick hatte sie nun die einzigartige Gelegenheit, ihn problemlos mit ihrem giftigen Blick zu strafen, selbst wenn Dragoon hinter ihr stand.

„Du hattest schon immer etwas von einer tückischen Schlange.“, spie sie bitterböse aus. „Kein Wunder färbt das auch auf deinen Körperbau ab. Du siehst schon gar nicht mehr aus wie ein Drache. Mehr wie der Wurm der du in Wahrheit bist.“

„Du entpuppst dich wiedermal als lausige Verliererin.“

„Noch ist nichts entschieden.“

„Wenn wir es dabei belassen schon. Ich will mich nicht mehr mit dir streiten, Liebes. Sei doch vernünftig und komm mit mir Heim.“

„Das würde dir so passen!“

Dranzer richtete sich auf. Das ungewöhnliche Sichtfeld schien ihr Schwierigkeiten zu bereiten. Ihr linker Arm bekam die Lehne nicht zu fassen, da sie unfähig war, dessen Bewegungen im Blick zu behalten. Sobald sie wieder auf den Füßen stand, packte sie ihren Kopf und rückte ihn wieder zurecht. Normalerweise hätte ihr Schädel trotzdem herumbaumeln müssen, doch die glühenden Nervenstränge an ihrem Hals, verrieten Dragoon, das sie sich bereits regenerierte. Es trennte sie nur noch der niedrige Tisch.

„Du bist also erneut entwischt, Schlange.“

„Wie du hier so zischelst, klingst eher du wie eine.“

„Oh, so böse Worte? Und das deiner Liebsten gegenüber?“, kicherte sie gehässig.

„Nun, wir sind uns wohl einig, dass die Zuneigung nur von einer Seite kommt. Wie du ganz klar ausgedrückt hast…“

„Und weil dein Stolz verletzt ist, bist du jetzt hier, um mir meinen Jungen abspenstig zu machen. Wer ist nun hier der schlechte Verlierer?“

Ihre glühenden Augen wandten sich ihm zu, während Dragoon den Tisch umrundete, immer den Blick auf sie gerichtet. Er versuchte Abstand zu gewinnen, denn er gab sich keiner Illusion mehr hin. Alles deutete auf einen bevorstehenden Kampf hin. Er konnte die Feindseligkeit förmlich auf der Zunge schmecken. Zur Not würde er Dranzer auch an den Haaren Heim zerren.

„Das ist zwar nicht der Grund, aber ich kenne dich. Du hast dir deine Meinung gebildet und bleibst dabei. Selbst wenn du daneben liegst.“, er schnaubte unbeeindruckt. „Du warst schon immer ein stures Stück.“

„Genau wie du. Ich hatte gehofft meine Handlänger hätten dich zerfetzt, stattdessen hast du einen Weg gefunden, wieder durch ein Schlupfloch zu kriechen.“

„In dieser Sache hast du allerdings Recht.“, ein höhnischer Ausdruck trat auf sein Gesicht. „Das wird wohl auch der Grund sein, weshalb dir entgangen ist, dass ich mich an dich anschleiche. Du hast dich zu sicher gefühlt, Liebes. Hochmut kommt vor dem Genickbruch.“

„Sehr komisch…“

Nicht ein Muskel zuckte um ihre Mundwinkel. Sie wandte den Kopf zurück, hielt nach ihrem Jungen Ausschau. Der stand noch immer an der Tür, betrachtete die Szene mit zusammengezogenen Brauen.

„Keine Angst, Kai. Ich bin bald wieder bei dir.“, versprach Dranzer leise.

„Wenn du ihn beschwichtigen willst solltest du ihm lieber deinen Abgang ankündigen.“

„Oh, ich bin noch nicht fertig mit ihm. Aber das weiß er sicher selbst.“

Kais Brauen zogen sich tiefer. Zornig starrte er sein Bit Beast an. Die Drohung war überdeutlich. Sie wandte ihren Blick nicht von ihm ab. Seine Augen begannen von einer zur anderen Person zu huschen. Der Junge musste sich fühlen, als ob er vom Regen in die Traufe gekommen war. Seine Schwester wagte einen ersten zaghaften Blick, starrte furchtsam zu jener Frau, die sie noch vor kurzem erwürgen wollte.

„Und mit dir fange ich an.“, zischte Dranzer ihr zu. Dabei deutete sie auf das Kind.

Sofort begann die Kleine zu wimmern.

„Schaff sie weg, Junge.“

Endlich gehorchte er. Kai tat mehrere Schritte zurück.

„Wehe dir du tötest Tyson!“

Damit drehte er sich auf dem Absatz und verschwand im Flur. Nun waren sie wieder allein. Gefangen in ihrer ewigen Konstellation. Dranzer seine Gegnerin. Ihre Blicke sprühend, die Mundwinkel verächtlich verzogen. Dragoon ihr ständiger Widersacher. Der ewige Verräter in ihren Augen.

Auch ihr fiel das Makabre an dieser Situation auf.

„Und wieder sind es wir beide die bis Zuletzt stehen…“, flüsterte sie kühl. „Nach deinem Liebesgeständnis hätte ich erwartet, dass du endlich etwas daran ändern möchtest.“

„Werde ich auch.“

„Dann hättest du schon in der Gasse sterben müssen.“

„Mein Tod gehört nicht zu meinem Plan.“

„Verstehe. Dann also meiner?“

„Auch du wirst heute nicht sterben. Ich werde dich Heim holen.“

Dranzer tat ebenfalls ihren ersten Schritt, behielt ihn genau im Auge, ohne gegen ein Möbelstück zu laufen. Ihre Bewegungen waren grazil und fließend.

„Mein zuhause gibt es nicht mehr. Seit ich auf der Welt bin, hast du es nach und nach in Stücke zerschlagen. Ich werde mir ein neues Nest erschaffen. Eines aus dem du ausgestoßen wirst.“

„Och, wie schade.“, tat Dragoon in gespielter Trauer. „Ich darf nicht in dein Baumhaus?“

„Spotte du nur. Spotte nur…“, sie hielt dicht vor dem Tisch inne. Dann schrie sie: „Es wird das letzte Mal sein!“

Sie verpasste dem Tisch einen Tritt. Er flog pfeilschnell in seine Richtung.

Damit hatte es also begonnen. Dragoon ballte die Faust und hieb auf das anfliegende Geschoss ein. Die Platte zerbrach in zwei Teile, die beide an ihm vorbeizogen. Es knallte hinter ihm, als sie die vergitterten Raumteiler aus der Halterung rissen, die in dem alten Anwesen dominierten. Takao hätte sich über die Verwüstung aufgeregt. Dragoon blieb keine Zeit dafür. Sofort ging er in Deckung, denn er kannte Dranzers Taktiken. Sie wollte ihn damit nur ablenken. Schon als er die Tischplatte spaltete, war sie auf dem Weg zu ihm. Der menschliche Kopf war zu einem vogelähnlichen Gesicht geworden, ihre Finger zu Klauen. Dragoon nahm den ersten Kratzer hin.

Sein Körper blutete sofort – und die Schnittwunde tat leider auch weh.

Sowas war er von einer toten Hülle nicht gewohnt. Doch als Dranzer für den nächsten Schlag ausholte, war er schneller. Er verpasste ihr einen Hieb in die Magenkuhle, der sie zurückschleuderte. Sie prallte mit einem Ächzen gegen die Wand hinter ihrem Rücken, mitten in die Vitrine die neben dem zerborsten Fenster stand. Es regnete noch mehr Glassplitter für sie.

„Denk dir mal endlich ein paar neue Tricks aus…“

Er erwartete ein Kontra, doch stattdessen kam aus ihrem Mund ein lauter Ruf, in einer furchtbar schrillen Tonlage. Dragoon fauchte, hielt sich die Ohren zu. Takaos Trommelfell fühlte sich an, als wolle es platzen. Die Ablenkung funktionierte dieses Mal. Dranzer hechtete vor, sprang auf und verpasste ihm noch während dem Flug einen Tritt, der ihn durch sämtliche Trennwände, hinaus ins Freie katapultierte. Er rollte über den Hof und landete letztendlich im Teich. Die Tropfen stoben nur so durch die Luft, durchnässten seine Kleidung. Er spürte eine gebrochene Rippe. Takao würde ganz schön üble Schmerzen haben, wenn er den Körper wieder in Besitz nahm. Sobald Dragoon auf den Füßen stand, jagte sein Blick für einen Moment über die Umgebung. Er sah Kai. Gemeinsam mit seiner Schwester war der Junge in Richtung Trainingshalle gelaufen, das alte Familienoberhaupt helfend stützend. Bei jedem Schritt des Mannes blieb ein blutiger Fußabdruck auf dem Holz der Veranda zurück. Der Lärm hinter Kai, hatte seine Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt. Er drehte sich um, starrte aus geweiteten Augen zu ihm.

„Lauf weiter, du Narr!“

Da trug der Wind ihm schon zorngeschwängerte Schritte an sein Ohr. Als Dragoon den Blick hob, trat Dranzer durch das Loch im Haus, hinaus auf die Veranda. Sie bäumte sich dort auf und schrie über den Hof: „Reißt den Mistkerl in Stücke!“

Da kamen ihre Handlanger auch schon ins Spiel. Sie krochen aus sämtlichen Ecken hervor wie Kakerlaken. Die Ersten kletterten über die Grundstücksmauer. Wo immer ihre Füße landeten spritzte der Schneematsch unter ihren Schuhsohlen. Einige spürte Dragoon bereits direkt hinter seinem Rücken. Er vernahm das Plätschern, als sie in Raserei durch den Teich auf ihn zu rannten, bereit ihre Königin zu verteidigen. Sobald der Erste ihn packte, beschwor Dragoon aber einen Sturm herauf. Der wolkenverhangene Himmel bildete in Windeseile einen Trichter der sich der Erde entgegenneigte. Er verpasste dem Angreifer hinter sich seinen Schädel ins Gesicht, hörte wie dessen Nase brach. Dann streckte Dragoon eine Handfläche aus und dirigierte die Windhose nach seinem Willen über den Hof. Die Bonsaibäume des alten Großvaters wurden erfasst, gemeinsam mit den Shintostatuen, die schon seit Jahrhunderten im Besitz der Familie Kinomiya waren. Dranzers Hüllen wurden hochgesogen. Noch während sie im Windstrudel herumflogen, trafen sie die Ziegel vom Dach, Holz aus dem Garten und der aufgewirbelte Kies vom angelegten Weg. Die kleinen Steinchen durchsiebten die Körper förmlich in der Luft, wie die Kugeln einer Maschinenpistole. Die größeren Geschosse spalteten Köpfe, brachen Kiefer und spießten so manchen Körper auf. Sobald die letzte Hülle bewegungsunfähig gemacht war, ballte er die Faust, noch bevor Dranzer ihn mit einem Feuerball erwischen konnte. Dragoon drückte sich rechtzeitig in die Fluten hinunter. Das heiße Geschoss flog über ihn hinweg.

Da verebbte der Sturm auch schon. Für eine trügerische Sekunde wurde es still. Dann stürzte alles wieder zu Boden, was der Himmel sich geholt hatte. Es regnete Geröll, Steine und tote Körper.

Eine Leiche fiel zu ihm in den Teich. Das Gesicht der Frau war nur noch ein klumpiger Haufen. Ihr Blut färbte das Wasser rot. Sein Sturm hatte ganze Arbeit geleistet. All das ließ Dranzer unbeeindruckt.

„Wo die herkamen gibt es mehr.“

„Dann lass sie kommen!“

„Sie werden kommen. Aber zuerst sollst du meinen Sturm erleben!“

Er machte sich bereit, ließ erneut den Tornado aufkommen. Dieses Mal direkt über ihm. Dragoon hörte das unheilvolle Brodeln in Dranzers Leib sogar von weitem. Das Magma was in ihren Venen hochköchelte. Es blubberte förmlich unter ihrer Haut, wie bei einer menschlichen Lavalampe. Er roch verbranntes Fleisch. Im Gegensatz zu ihm besaß Dranzer keine Ambitionen, ihren Körper mit Samthandschuhen anzufassen. Das war ihr Vorteil. Da fegte die Feuerfontäne auch schon über den Platz hinweg, geleitet von einem Schrei wie von tausend Vogelschwärmen.

Dragoon schützte sich mit dem Wasser aus dem Teich, hob es mit der Windhose hinauf, damit die Hitze Takaos Körper nicht verbrannte. Die Leiche wurde erneut erfasst, wie ein Blatt das sich nicht gegen den Sturm wehren konnte. Es kam ihm unendlich lange vor, bis die Fontäne endlich nachließ und das kalte Nass war so schnell verdampft, dass die Wärme im Auge des Tornados, die Luft um sie herum geradezu aufheizte. Der Schweiß begann sich in seinem Nacken zu sammeln. Eine lästige Angewohnheit von Menschen. Als Dranzers Attacke vorbei war, legte sich über den Hof ein Dunstnebel und der Teich war einmal. Alles was daran erinnerte, war die tiefe trockengelegte Kuhle in der Erde. Dragoon preschte heraus und das gerade noch rechtzeitig. Dranzers nächste Attacke schoss durch den Nebel und verfehlte ihn nur knapp.

„Komm heraus, Feigling!“, rief sie gehässig. „Ich finde dich so oder so…“

Er blieb mucks Mäuschen still. Doch er hörte das Röcheln einer ihrer Diener, unmittelbar in seiner Nähe. Die Hilfsarmee war eingetroffen. Während er mit der Bienenkönigin beschäftigt gewesen war, musste es der nächste Schwarm über die Mauer geschafft haben. Dragoon horchte in den Nebel hinein.

„Du kämpfst äußerst defensiv heute.“

Ihr Ruf tanzte förmlich vor Belustigung.

„Liegt es daran dass du den Köper deines Kindes nicht beschädigen willst?“

Dragoon verkniff sich ein Knurren. Sie reizte ihn. Damit er durch einen wütenden Laut seinen Standort verriet. Sie beide waren Bit Beast, aber sie kämpften unter Bedingungen, die sie gleichermaßen einschränkten. Die Frage war wer von ihnen mit den ausgeteilten Karten besser klar kam.

„Mit deinem neuen Körper bist du vielleicht die Leichenstarre losgeworden, aber letztendlich ist es eine schlampige Lösung. Du musst zu sehr darauf achten, dass du klein Takao nicht verletzt. Ich dagegen bin in meiner Freiheit uneingeschränkt, weil ich mir genug Energie beschafft habe, um auch einen toten Körper weiter bewegen zu können, obwohl die Portale geschlossen sind.“

Dragoon verharrte weiterhin in der Hocke, horchte in den Nebel hinein, um auch ja keinen Lakaien der sich näherte zu verpassen. Selbstverständlich wäre es eine Leichtigkeit ihn auszuschalten, doch ein kurzer Schlag würde ausreichen, um seine Position zu offenbaren.

„Sieh dich doch nur an… Wie du dort irgendwo im Nebel kauerst. Du musst dich verstecken wie eine Ratte, weil in deiner momentanen Situation ein Fernkampf absolut fatal für dich ist. Nur ein kleiner Fehltritt und schon brennt Takaos noch lebender Köper lichterloh. Das kannst du natürlich nicht zulassen, nicht wahr?“

Vor den Mauern des Anwesens vernahm Dragoon die schleifenden Schritte ihrer Handlanger, die das Gebäude umringten - und jene die bereits auf dem Grundstück umherschlichen. Ihm wurde klar dass Dranzer für ihre Verhältnisse sehr laut sprach. Sonst besaß sie eher ein leises Stimmchen, das vor Kühnheit strotzte. Natürlich…

Sie wollte die Schritte ihrer Verbündeten überschallen. Damit Dragoon ihr mehr Beachtung schenkte und die Helfer vernachlässigte. Dann hätte sie ihn in der Falle. Er grübelte weiter nach. In einem Punkt hatte sie Recht. Sein jetziger Körper würde eine Flammenfontäne nicht überleben. Er steckte nicht mehr in einer Leiche. Takao besaß keine Drachenschuppen die ihn schützten und er konnte einem lebendigen Körper, nur bedingt seine Fähigkeiten aufzwingen, weil da irgendwo im Hintergrund noch die Seele eines Menschen war. Takaos Geist dachte mit irdischen Grenzen, hielt ihn so von dem zurück, was Dragoon alles erreichen könnte, hätte er diese Barriere nicht in seinem Hinterkopf. Allerdings gab es auch durchaus Vorteile…

Zum Beispiel steckte Dragoon im Körper eines Mannes, während Dranzer wiedermal aus Eitelkeit in einer Frau hockte. Im Nahkampf würde er ihr also überlegen sein, auch wenn er sich vor ihrem Schrei in Acht nehmen musste. Außerdem war Takao sein Menschenkind. Das machte seine Kräfte stärker als in seinem alten Körper, weil Dragoon direkt an seiner Energiequelle hockte. Allerdings durfte er den Bogen natürlich auch nicht überspannen…

Er musste näher an Dranzer herankommen. Dragoon tastete mit den Fingern vorsichtig den Rasen ab. Der Hof war nach seinem vorherigen Sturm so durchgewirbelt, dass er sich davon versprach, irgendwo einen Stein zu finden. Und tatsächlich wurde er schnell fündig.

Der Lakai näherte sich weiter. Sein rasselnder Atem und die taumeligen Schritte, steuerten auf seine Richtung zu. Dragoon klaubte sich einige Kiesel vom Boden. Bevor Dranzers Hülle im Nebel über ihn stolperte, warf er den ersten Stein in hohem Bogen auf die andere Seite des Anwesens. Er horchte genau hin. Der Handlanger drehte ab, folgte prompt dem Geräusch. Und wie nicht anders zu erwarten, sah er einen Feuerstrahl in dieselbe Richtung schießen.

„Gleich habe ich dich!“

Dranzer wurde hochmütig. Sie wähnte sich schon als die Siegerin, weil sie momentan mehr Energie besaß als er. Deshalb schoss sie auch wahllos umher, ohne großartig nachzudenken, während Dragoon sparsam mit seinen Vorräten bleiben musste. Als er die Handlanger um ihn herum fortweichen hörte, warf er den nächsten Stein in dieselbe Richtung und huschte zur Veranda, sobald die nächsten Flammen über den Hof schossen.

„Es nützt nichts sich zu verstecken!“, rief Dranzer aus. „Du ziehst nur in die Länge, was du nicht mehr verhindern kannst.“

Er schlich vorsichtig näher, ignorierte ihren Monolog.

„Dir bleibt kaum Auswahl. Du kannst dich jetzt stellen und vielleicht verschone ich deinen Jungen. Oder du verlässt Takaos Körper um dich in die Irrlichterwelt zu flüchten. Das wäre vielleicht sogar deine einzige Chance zu überleben. Vorausgesetzt ich erwische dich nicht vorher…“

Sie kicherte leise.

„Wie tragisch. Dann hättest du mir deinen Jungen auch noch auf dem Silbertablett serviert. Mit diesem frechen Balg habe ich sowieso noch eine Rechnung offen. Wie es ihm wohl gefallen wird, wenn ich seinen Großvater vor seinen Augen in Brand stecke?“

Ach, die alte Kamelle wieder…

Das Dranzer immer so nachtragend sein musste. Er konnte sich ein Augenrollen nicht verkneifen. Dragoon näherte sich weiterhin ihrer Stimme. Bald war er bei ihr.

„Du willst also nicht hervorkommen?“, kam die Frage in gespielter Neugierde. „Na, schön. Ich weiß wie ich dich aus deinem Versteck locke. Bringt mir den Großvater aus dem Do-…“

Noch bevor der Befehl ausgesprochen war, schwang sich Dragoon pfeilschnell die Veranda hinauf und packte Dranzer. Er drückte sie gegen den nächstbesten Pfeiler. Das Holz bekam eine dicke Kerbe unter der Gewalteinwirkung. Er sah den Zorn in ihrem Blick. Sie öffnete den Mund für einen ihrer Schreie. Da haute ihr Dragoon mit der Faust gegen den Kehlkopf.

Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Es kamen nur leise Würglaute aus ihrem Mund. Ein überhebliches Lächeln trat auf seinen Lippen. Er beugte sein Gesicht zu ihr herab und sprach: „Mein Vögelchen klingt als wäre es heißer.“

Da gab ihm sein Vögelchen allerdings ohne Vorwarnung einen Tritt in die Weichteile...

Dragoon schnürte es förmlich die Luft ab. Das tat ja mal gewaltig weh!

Wie hielten das Menschenmänner nur aus?!

Es kostete ihn unendlich viel Kraft, nicht vor ihr auf die Knie zu fallen – sogar die Tränen traten ihm in die Augenwinkel - da holte Dranzer schon aus, um ihm mit ihren brennenden Klauen den Hals aufzuschneiden. Er warf sich noch rechtzeitig zu Boden. Dann sprang Dragoon ebenso schnell wieder auf, um ihr seinen Schädel gegen das Kinn zu hauen. Es passierte mit einer solchen Wucht, dass er ihren Kiefer knacken hörte. Noch ehe sie die Zeit fand zu genesen, haute er sie mit einer fließenden Bewegung seines rechten Beins von den Füßen. Dranzer stürzte rückwärts nach hinten, vollbrachte es aber mit einer Drehung von ihm fort zu weichen. Sie versuchte Abstand zu gewinnen. Für ihre verdammten Feuerbälle…

Dragoon hechtete ihr hinterher über die Veranda, versuchte sie einzuholen, doch sobald Dranzer wieder auf den Füßen aufkam, kreuzte sie die Arme vor der Brust. Sie entflammten. Er konnte sehen, wie der Kiefer hinter der gekreuzten Verteidigung zu heilen begann. Die feinen feuerroten Nervenbahnen. Sie durfte nicht fertig genesen.

Beide wussten was der andere zu verhindern versuchte…

Dranzer streckte in einer raschen Bewegung die Arme wieder aus.

Da schoss eine x-förmige Flamme auf ihn zu. Es blieb keine Zeit auszuweichen.

Also warf sich Dragoon auf den Boden und rutschte über den polierten Holzdielen in Seitenlage vorwärts, während das Feuer über ihn hinweg fegte. Seine Schulter bekam etwas ab. Takaos Jacke begann dabei zu kokeln, roch ziemlich verdächtig. Ihm blieb keine Zeit sich darum zu kümmern. Beinahe wäre er bis zu Dranzers Beinen herangekommen, doch ein kurzer Blick genügte und ihm fiel auf, dass sie genau darauf wartete, wie eine Mutter die ihren Bengel am Ende einer Rutschpartie in Empfang nahm. Sie hielt eine Hand empor, die Finger hatten die scharfen Klauen eines Greifvogels, und eine hellblaue Flamme stob hervor. Dragoon blieb nichts anderes übrig, als sich schnellstens von der Veranda hinunter zu rollen. Es geschah gerade noch rechtzeitig…

Während er auf dem Rasen aufkam, fraß sich Dranzers Feuer in die Stelle, wo er zuvor noch gewesen war. Er sprang wieder flink auf die Füße, wich in gewaltigen Sprüngen von ihr zurück. Hinter ihm her schossen ihre Attacken. Sie wurde zusehends zorniger. Anscheinend hatte Dranzer sich den Kampf einfacher vorgestellt, weil sie sich im Vorteil sah. Da war sein Täubchen wohl wieder zu hochmütig gewesen. Ihre Angriffe erreichten mehr Hitze. Das Feuer schoss aus ihrer Handfläche, wie bei einem Flammenwerfer. Es war aber bläulich. Ein Zeichen für extrem hohe Temperaturen mit denen Dranzer nun arbeitete. Dragoon suchte erneut Schutz in der Dunstwolke, doch auch die verflog allmählich. Immer wieder tauchte einer ihrer Handlanger vor ihm auf, der nach ihm zu grabschen versuchte. Sobald er hörte wie sich der nächste brodelnde Feuerstrahl anbahnte, nutzte er ihre willenlosen Hüllen, um hinter ihnen in Deckung zu huschen. Auf diese Art kamen einige von ihnen auch wieder um. Offenbar maß Dranzer ihren Helfern auch keinen besonderen Stellenwert zu, denn obwohl sie ihre Königin bedingungslos mit Energie versorgt hatten, nahm sie ohne ein Muskelzucken in Kauf, dass sie zu Ascheklumpen verglühten. Mit ihren Flammen verjagte sie das letzte bisschen Nebel, was über den Anwesen geblieben war. Nun wurde es wirklich heikel. Dragoon hatte sich wieder abdrängen lassen und wenn ihm nicht bald etwas einfiel, hätte sie ihr hübsches Stimmchen zurück. Mit einer Hand hielt sie sich den geschundenen Hals.

Die Grundstücksmauer näherte sich vor ihm und mit ihr kam endlich der ersehnte Einfall. Dragoon würde von außen um das Gebäude herum rennen, um Dranzer von der anderen Seite zu überraschen. Er wollte schon zum Sprung ansetzen, als ihm die ächzende Geräuschkulisse auf der anderen Seite wieder in den Sinn kam. Nein. Da durfte er auf keinen Fall hinüber!

Also änderte er den Plan kurzfristig. Er stieß sich mit dem Fuß so kräftig von der Mauer ab, dass es ihn weit hinauf in die Höhe katapultierte. Für einen Moment flog er pfeilschnell durch die Luft, erblickte den Hof unter sich. Er sah verkohlte Fleischklumpen darüber verteilt, die stinkenden Rauchsäulen die davon aufstiegen, zerbröckelte Statuen, die Einschlagsspuren der Feuerbälle im Garten – und auf der anderen Seite der Mauer ein Meer aus Köpfen.

Es waren verdammt viele Hüllen geworden!

Sie strömten alle zum Dojo, schabten mit den Fingern an der Mauer, im lächerlichen Versuch hineinzugelangen. An vereinzelten Stellen hatte sich ein Knoten aus Menschen gebildet. Wie Ameisen kamen sie ihm vor, die achtlos übereinander her stiegen, wild durcheinandergewürfelt zu einem Knäul. Die obersten Ränge erreichten so den Rand der Mauer, plumpsten auf der anderen Seite herunter, wie nasse Mehlsäcke. Am Tor war es durch die Hektik besonders eng geworden. Die Massen trampelten dort übereinander hinweg, türmten ihre Leidensgenossen regelrecht vor sich auf. Beinahe hätte Dragoon hart geschluckt bei dem Gedanken, dass er jeden dieser Lakaien zu seinen Gegnern zählen musste. Bis ihm etwas aus den Augenwinkeln auffiel…

In einigen Gassen, lagen Dranzers Hüllen reglos auf dem Boden, obwohl sie noch gar nicht in die Nähe des Tumults gekommen waren. Ihre Leichen ruhten einfach so auf der Straße, ohne sich weiter am Kampf zu beteiligen. Dragoon beobachtete, wie eine weitere Hülle zusammenklappte. Einfach so…

Zunächst steuerte der Jugendliche zielsicher auf das Anwesen zu, bis ihn ruckartig die Kraft verließ und er schlaff zu Boden stürzte. Ohne Vorwarnung knallte er mit dem Kopf voraus auf den Asphalt.

Weshalb starben die Bienen?

Da ging ein Aufatmen durch Dragoon. Die falsche Energie…

Dranzer war nicht kompatibel mit all diesen Seelen. Daher war die Energie die sie erhalten hatte unrein. Das war in etwa so, als würde man in eine Uhr eine schwache Batterie einsetzen. Dann tickte sie zu langsam und gab bald wieder den Geist auf. Dranzer besaß zwar gerade ein riesiges Heer, verlor aber allmählich die Kontrolle darüber, desto mehr Energie sie in seine Verfolgung verschwendete. Sie konnte nicht beides – ihre Armee am Leben erhalten und ihn mit Feuerbällen beschießen.

Das musste Dragoon sich zu Nutzen machen. Er kam aber nicht dazu, weiter über diese Möglichkeit zu sinnieren. Einer von Dranzers Strahlen schoss zu ihm auf. Dragoon kam nur dazu sich zur Seite zu drehen, da streifte ihn die Flammenfontäne am Rücken. Sie hatte getroffen. Er spürte es deutlich. Die Haut an Takaos Oberarm war angesengt. Er roch verbranntes Fleisch. Sein eigenes…

Der Schmerz zog ihm durch sämtliche Glieder, lähmte ihn regelrecht. Dragoon fiel im Sturzflug hinab, die Augen vor Schmerz zusammengekniffen. Er zwang sich eines zu öffnen. Da erhaschte er schon Dranzer. Sie stand Mitten im Hof, beide Handflächen in seine Richtung ausgestreckt. Ihr gesamter Körper loderte. Ein eiskaltes Lächeln lag auf ihren Lippen. Da stieß sie mit einem Schrei eine ihrer Attacken nach ihm aus. Stärker als alle anderen davor…

Bevor das Geschoss zu ihm aufschloss, tat Dragoon dasselbe. Er holte alle Macht aus seinem Körper, alle Energie die er aus Takao und seiner Seele schöpfen konnte. Der Himmel spaltete sich, trug die Wolken herab, formte sie zu einem riesigen Trichter, der genauso schnell wie Dragoon zu Boden raste. Unter höllischen Schmerzen kam er auf dem Rasen auf, schaffte es gerade noch den Sturm zwischen ihnen aufrecht zu halten. Die Windböen peitschten vor seinem malträtierten Leib umher. Irgendwann begannen sich beide Elemente zu vermischen, formten einen Feuertornado. Zwischen all den kreisenden Flammen, konnte Dragoon immer wieder Dranzers Gestalt erhaschen. Sie stand dort auf der anderen Seite - mit erhobenem Kinn.

Siegesgewiss. Weil ihr toter Körper nicht vor Schmerzen aufschrie. Seiner aber schon…

Es fiel ihm schwer seine Macht aufrecht zu halten. Der Rücken brannte bei jedem Muskelzucken. In Dranzers Augen lag ein überlegener Ausdruck, sie legte noch mehr Energie in den Feuerstrahl. Mehrere ihrer Lakaien füllten den Hof im Hintergrund. Erneut sah er einige von ihnen umfallen. Einer lief aber direkt auf die Kämpfenden zu. Dragoon kniff die Lider etwas zusammen. Die Luft brannte um ihn herum, es tat schon in den Augen weh. Beide versuchten den Feuertornado in die Richtung des anderen zu drängen, als hielten sie ein Messer mit beiden Händen zwischen ihren Leibern, mit der Absicht, es dem jeweils anderen ins Herz zu treiben.

„Auf Wiedersehen, Liebster.“, eilte der Ruf spöttisch aus Dranzers Mund zu ihm. Die ersten Worte welche sie sprach, nachdem ihr Kiefer geheilt war, waren also erneut von Hohn geprägt. Ihre Augen blitzten auf. Sie würde noch mehr Energie nachlegen. Also machte sich auch Dragoon dafür bereit. Wenn er jetzt nicht der Stärkere war, würde Takaos Körper dem Feuer zum Opfer fallen. Das durfte er nicht zulassen. Er schaute voller Zorn zu Dranzer. Da blitzte etwas hinter ihrem Rücken auf.

Die Person die sich näherte, welche Dragoon für einen Lakaien gehalten hatte…

Das war gar keiner ihrer Handlanger. Es war Kai!

Er kämpfte sich durch den Sturm voran. Es hätte ihn fortfegen müssen. Doch in seinem Blick lag ein unnachgiebiger Ausdruck. Dragoons Augen weiteten sich vor Überraschung. Die Klinge blitzte erneut auf. Der Junge hob das Katana aus dem Dojo in die Höhe. Seine alte Hülle. Jener Gegenstand mit dem Dragoons Band zu den Kinomiyas überhaupt erst begonnen hatte. Kai schloss die Augen.

„Leb wohl, Dranzer.“

Sie schreckte auf…

Bemerkte dass ihr Geist so von den Rachegelüsten erfüllt gewesen war, dass sie ihre Deckung vernachlässigte. Und noch bevor sie den Kopf fassungslos zu Kai wenden konnte, säbelte der ihn mit einem lauten Schrei ab.
 

Die Flammen verebbten…

Ebenso wie der Sturm. Alles was in den Himmel aufgestiegen war, kam polternd zurück. Einer von den Handlangern klatschte neben Dragoon auf den Rasen. Ihm selbst war gar nicht aufgefallen, dass der Tornado einige von ihnen wieder erwischt hatte. Er fragte sich nur ob Kai etwas lebensmüde war. Immerhin war er freiwillig näher an den Sturm getreten. Sein Gesicht könnte nun auch so matschig im Dreck liegen. Für eine Sekunde kehrte Stille über den Platz ein.

Dragoon starrte zu dem jungen Mann, der es vollbracht hatte, selbst ihn zu überrumpeln. Der stand vor Dranzers Leichnam, hielt den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen. Blutspritzer klebten an seiner Wange. Irgendwann tat er einen hörbaren Atemzug und öffnete die Lider. Er schien sich seiner Tat stellen zu wollen. Aus starrem Blick schaute er auf den Kopf zu seinen Füßen. Dragoon fragte sich wen er mehr bemitleidete.

Jene Seele die ursprünglich in diesem Körper hauste… Oder etwa doch Dranzer?

Kai blieb ihm die Antwort schuldig. Nicht ein Wort kam über seine Lippen. Es war so ruhig, man hätte glauben können, die Welt hielte ebenfalls den Atem an. Selbst Dranzers Handlanger wirkten wie eingefroren, als wären sie mit der Enthauptung ihrer Herrin, ebenfalls kopflos geworden. Wahrscheinlich war das auch der Fall. Irgendwann schaute Kai auf, geradewegs in Dragoons Augen.

Sie starrten sich über den Leichnam hinweg an.

„Und jetzt… Verschwinde aus Tysons Körper.“

Dragoon blinzelte verdutzt. Noch zu irritiert von dem Geschehenen. Es kam für ein Bit Beast nicht oft vor, dass es erleben musste, wie ein Menschkind die Hand gegen seinesgleichen erhob. In den letzten Tagen wurde Dragoon aber schon zum zweiten Mal Zeuge einer solchen Rarität. Allein wie Takaos Freund Max, Draciel mit dem Fangzahn getötet hatte, war ein Schock für ihn gewesen. Inzwischen wurde Kais Ausdruck fordernder, ein harter Zug trat um seine Mundwinkel. Offenbar ging es ihm nicht schnell genug, denn schon befahl er herrisch: „Raus aus seinem Körper!“

„Was?“

„Du hast mich genau verstanden.“

Dragoon zog die Brauen verächtlich zusammen. Dann fauchte er ihm zu: „Genauso wie du mich verstanden hattest, als ich dir gesagt habe, dich zu verstecken?!“

„Ich folge keinen Befehlen von jemanden wie dir! Erst Recht nicht wenn ich sehen muss, wie du seinen Körper immer weiter zerstörst!“, Kai deutete mit dem Katana auf ihn. Obwohl der Himmel wolkenverhangen war, blitzte die rote Klinge im fahlen Licht. Geronnenes Blut tropfte daran herab. Dragoon erinnerte sich wie scharf seine frühere Hülle gewesen war. In diesem Gefäß hatte er so einigen von Takaos Vorfahren tapfer beigestanden, während sie ihren Feinden damit den Kopf abschlugen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Kai es tatsächlich wagte, ihn ausgerechnet mit dieser Waffe zu bedrohen.

„Ich habe euren Kampf beobachtet…“, zischte der zornig. Seine Augen wurden zu wachsamen Schlitzen. „Tyson hat Verbrennungen abbekommen, üble Tritte und Schläge! Einige Attacken gingen so haarscharf an ihm vorbei, es ist ein Wunder das er noch nicht tot ist!“

„Er wusste worauf er sich einlässt...“

Kai schnaubte unbeeindruckt.

„Hast du ihn auch darüber aufgeklärt, was für ein lahmarschiger Kämpfer du bist?“

„Wie bitte?!“

Das empfand Dragoon als eine bodenlose Frechheit. Er ballte zu seiner Seite die bebenden Fäuste und brüllte dem Lümmel entgegen: „Ich kämpfe hier nicht gegen den Osterhasen, sondern gegen eine Uralte! Glaubst du wirklich das ist eine Sache, die man wie eine Fünf-Minuten-Terrine, schnell hinter sich bringen kann?!“

„Du warst zu langsam! Das alles hätte viel schneller vorbei sein können. Du hast dich zurückgehalten, dabei gab es so einige Gelegenheiten, um sie schneller fertig zu machen!“

Dragoon schnalzte erbost. Selbstverständlich hätte er sie töten können, aber das durfte und wollte er nicht. Dranzer war die Einzige die ihm geblieben war.

„Hast du Takao gegenüber auch so ein loses Mundwerk?“

„Ihm hat nicht immer alles gepasst was ich gesagt habe.“

„Das wirst du bei mir unterlassen! Ich will keine Vorhaltungen von dir hören!“

„Ich werde nicht dabei zusehen wie du Tyson zum Krüppel machst!“

Dragoon horchte auf. Eine Spur von Verzweiflung lag in seiner Stimme. Seine Braue hob sich.

Es war dieser Blick der ihn beeindruckte. Er erkannte darin so viel Feuer und dennoch klang die Botschaft dahinter fast schon kaltblütig. Irgendwann blinzelte Dragoon auf den enthaupteten Leichnam. Dieser Junge wäre bereit alles für Takao zu tun…

„Hut ab. Du hast mehr Temperament im Leib als du durchblicken lässt.“

„Dann provozier mich nicht.“

Dragoon musste amüsiert darüber schmunzeln. Er bezweifelte das ihm Kai gefährlich werden könnte, aber dennoch war es irgendwie rührend.

„Na schön. Ich gebe mehr Acht auf dein Herzblatt. Will ja schließlich keiner dass dein Bett in Zukunft kalt bleibt.“

Er hörte Kai stockend den Atem anhalten. Dann wurden seine Wangen in Sekundenschnelle puterrot. Er setzte ganz offensichtlich zu einer bitterbösen Entgegnung an, als sein Blick fragend nach unten wanderte. Der Kopf zu seinen Füßen zuckte. Genauso wie der Körper. Die Nervenbahnen nahmen erneut ihre Arbeit auf. Als einer der Arme auf einmal nach vorne schnellte, fuhr der Junge zurück. Seine Augen weiteten sich in Entsetzen.

„Sie lebt noch?!“

„Selbstverständlich! Tritt den verdammten Kopf vom Torso weg!“

Doch Kai rührte sich nicht, schaute ihn an, als ob er seinen Vorschlag für einen schlechten Scherz hielt. Dragoon knurrte. Immer blieb die Drecksarbeit an ihm hängen. Also trat er eiligen Schrittes heran. Er stieß den Jungen unwirsch fort und verpasste dem Schädel einen Tritt, dass er pfeilschnell über den Hof sauste. Das Wurfgeschoss hatte ein solches Tempo drauf, dass es auf seinem Weg einen der reglosen Handlager von den Füßen haute und auf der Mauer zerbröselte. Er hörte Kai würgen. Der Junge sah von dem unappetitlichen Blutfleck weg und kniff die Augen zusammen. So abgebrüht er auch tat, doch das schien selbst ihm auf den Magen zu schlagen. Als Dragoon ein hauchzartes Wimmern vom Dojo hörte, sah er durch den Türspalt ein scheues Augenpaar zu ihm blinzeln, das verschreckt keuchte, sobald sich ihre Blicke trafen. Der Spalt schloss sich erneut, ohne das Kai etwas davon bemerkte. Er seufzte schwer. Menschen waren mit den Jahrhunderten sehr sensibel geworden, wenn es den Anblick von Leichen betraf. Tiere waren da eben härter im nehmen und ein Bit Beast schon zehnmal. Das sollte auch Kai gleich merken.

Eine helle Stichflamme stob aus dem Leichnam hervor. Dranzers Bit Beast Gestalt schoss in die Höhe, spreizte mit einem zornigen Schrei die Schwingen und entschwand einem hellen Blitz gleichend, hinter der anderen Seite der Grundstücksmauer. Offenbar wartete da schon die nächste Hülle auf sie. Sobald Kai sich von seinem Schrecken erholt hatte, funkelte er Dragoon böse an.

„Hast du eigentlich keinen Respekt vor den Toten?!“

„Die Toten sind tot.“

„Das ist kein Grund sie mit Füßen zu treten! Dieser Körper hat Tysons Schwägerin gehört… Hiros Verlobten! Sie war ein Mensch der uns geholfen hat! Und du trittst nach ihrem Kopf als ob er für dich nur ein gammelnder Apfel ist!“

„Ich musste sicherstellen dass diese Hülle für Dranzer unbrauchbar wird.“

„Wusstest du dass sie noch lebt?“

„Natürlich. Du etwa nicht?“

Kais Mund öffnete sich, doch da begann er auch schon seine Antwort zu überdenken. Dragoon erkannte es daran, wie seine Augen sich grübelnd schmälerten. Dann kam er von selbst auf die Lösung.

„Dann ist es wie bei unseren Blades? Die Hülle kann zerstört werden, aber das Bit Beast…“

„Nicht.“, beendete Dragoon den Satz knapp, sein Blick auf die verbliebenen Handlanger im Hof geheftet. Er tastete nach Kais Fingern. „Jedenfalls nicht in dieser Welt. Gib mir lieber das Katana.“

„Warum?“

Er behielt die Antwort für sich, denn auch so verstand der Junge rasch. Kai bemerkte es. Es kam wieder Bewegung in Dranzers Bienen. Einer ihrer zuvor festgefrorenen Diener hob langsam den Kopf. Sie beobachteten wie er aus milchigem Blick zu ihnen herüber starrte. Ihre Herrin hatte wohl eine neue Bleibe gesucht, nahm prompt ihre Arbeit wieder auf. Dragoon umfasste die Hand welche das Schwert hielt, versuchte den Griff darum zu lockern. Dabei riet er Kai ernst: „Du ziehst dich jetzt besser zurück. Junge.“

„Ich könnte helfen.“

„Du wirst mir keine Hilfe sein.“

„Warum?“

„Du empfindest Schuld. Das ist hier fehl am Platz.“

„Ich kann es aushalten.“

„Nein. Kannst du nicht. Du bist zu menschlich… Hier ist ein Biest gefragt.“

Er erwartete Widerworte. Doch stattdessen huschte Kais Blick auf all die Opfer, welche nun in Dranzers Armee dienen mussten. Sie alle waren einmal Menschen gewesen…

Genau wie Kai es war. Obwohl Dragoon nicht abstreiten wollte, dass der Junge viel Mut besaß, schien ihn die Aussicht gegen seinesgleichen zu morden, genauso wenig kalt zu lassen, wie jeden anderen Sterblichen in seiner Lage auch. Selbst wenn die Menschen um ihn herum tot sein mochten. Dragoon fühlte wie der Griff um das Katana bebte - wenn auch nur minimal.

„Geh jetzt, Junge.“

„Nenn mich nicht so. Ich bin kein Kind.“

„Du bist ein Mensch. Das ist nicht dein Kampf.“

Er hörte Kai tief einatmen. Dann sprach er leise: „Ich kann Tyson nicht im Stich lassen…“

Es klang recht verzweifelt. Als würde er sich selbst dafür hassen, nicht stärker zu sein. Nur ein Mensch zu sein. Es ließ Dragoon milde lächeln.

„Das hast du nicht. Du hast ihm gerade ein wertvolles Hilfsmittel beschert. Ich selbst hatte diese Waffe schon vollkommen vergessen, dabei lag sie direkt vor meiner Nase.“, er lockerte den Griff um das Katana. „Du dagegen hast diese Chance sofort erkannt. Alle Achtung. Dieses Schwert wird wie Butter durch Dranzers Helfer schneiden. Aber dazu darf man keine Skrupel besitzen es auch so zu führen.“

Seine Finger waren am ledernen Griff angelangt.

„Überlass es mir. Du kümmerst dich um die Lebenden… Ich mich um die Toten.“

Ein schweres Seufzen kam von seinem Nebenmann. Endlich ließ Kai von der Waffe ab. Dragoon spürte das es ihm wahrhaftig schwer fiel, die Führung aus der Hand zu geben, sich voll und ganz auf einen anderen zu verlassen. Darauf das ihm Takao in ganzen Stücken zurückgebracht wurde… Offenbar war Kai ein Mensch der Taten, niemand der sich damit abfinden konnte, hilflos auszuharren.

Und er wollte Takao zurück.

Sobald das Katana in Dragoons Hand lag, drehte er es zwischen seinen Fingern. Es war ein befremdliches Gefühl jene Hülle zu halten, in der er selbst einmal gesteckt hatte. Als würde er mit seinem eigenen Leichnam spielen. Inzwischen trat Kai zurück. Er wandte sich wieder dem Dojo zu, wo seine kleine Schwester erneut durch einen Spalt in der Tür lauschte. Bevor der Junge die Stufen hinauf erreichte, rief Dragoon: „So langsam verstehe ich weshalb er so an dir hängt.“

Kai blieb einen Moment stehen. Sie wussten beide von wem die Rede war.

Er lief ohne ein weiteres Wort weiter, doch Dragoon spürte, dass der Junge noch einmal einen sorgenvollen Blick in seine Richtung warf. Sobald die Schiebetür geräuschvoll zuging, hob er das Schwert, visierte seine Gegner an. Die Klinge schwebte dicht neben seinem Kopf. Das geronnene Blut daran war getrocknet, dennoch stieg ihm der bleierne Geruch in die Nüstern. Während sein Blick durch die sich aufreihenden Truppen huschte, kam ihm der Gedanke, dass wohl irgendwo in dieser großen Stadt, die Familien dieser bedauernswerten Geschöpfe, genauso auf deren Rückkehr warteten, wie Kai gerade auf seinen Takao.

Doch Dragoon schloss die Augen und verbannte diese Überlegung in die hinterste Ecke seines Kopfes. Solche Gedanken waren zu menschlich. Das durfte er sich jetzt nicht erlauben. Sein Blick huschte weiter über die Reihen. Er suchte nach Dranzer. Irgendwo hier oder hinter der Mauer, lauerte sie in einer neuen Gestalt. Ihr letzter Körper war ein Reinfall gewesen. Sie hatte zu eitel gehandelt.

Dieser Fehler würde ihr nicht noch einmal passieren. Dazu war sie zu intelligent.

Dragoons Brauen zogen sich nachdenklich zusammen. Dranzer war noch gar nicht hervorgetreten. Sie hielt sich also bedeckt, nutzte nun den Tumult den ihre Helfer verursachten. Wenn die Bienen im Schwarm um ihre Königin flogen, konnte man sie nur schlecht ausmachen, egal wie fett sie war. Trotzdem griff noch niemand an, als verfolgten alle einen geheimen Plan. Wahrscheinlich war das auch der Fall…

Er versuchte Dranzers Vorgehensweise zu erahnen. Wäre er an ihrer Stelle, würde Dragoon auf einen Körper zurückgreifen, der physisch stärker als jener von Takaos war. Ein Hieb gegen ihren Kehlkopf hatte ausgereicht und schon konnte Dranzer ihren Schrei nicht mehr verwenden. Den zierlichen Kiefer hatte er auch schnell gebrochen. Ein Weibchen war unvorteilhaft. Das war sicherlich auch ihr aufgefallen. Also musste er wohl nach jemanden Ausschau halten, dessen Statur seiner weitaus überlegen war. Gleichzeitig durfte Dragoon sich nicht zu weit vom Eingang des Dojos entfernen, um einen Angreifer davon abzuhalten hineinzugelangen. Er warf einen verstohlenen Blick hinter seinen Rücken. Es wäre klüger die Meute auf ihn zukommen zu lassen. Er musste durchhalten. Dranzer ernährte sich von einer Energie, die nicht optimal für sie war, deshalb starben ihre Bienen auch so schnell. Dragoon musste auf Zeit spielen.

Also erwartete er den ersten Angreifer.

Sobald sich Dranzers Armee formiert hatte kam der auch schon.

Mit einer fließenden Bewegung säbelte Dragoon ihm den Kopf ab. Der nächste Angreifer der nach ihm packte verlor die Hand und wurde kurz darauf in der Mitte halbiert. Unglaublich wie scharf diese Klinge immer noch war. Zusammen mit seiner Bit Beast Kraft, war jeder Gegner für ihn nicht mehr, als ein Stückchen Butter. Die Familie Kinomiya musste das Schwert seit Jahrhunderten wahrlich in Ehren gehalten haben. Das Katanas war noch so gefährlich wie zu den Anfängen der Familie. Für einen Moment musste Dragoon Lächeln. Es erinnerte ihn an die alten Zeiten zurück. Als die Menschen noch nicht das Blutvergießen scheuten und sich regelmäßig in stürmischen Schlachten gegenüberstanden.

Dragoon hieb, trat, schnitt und enthauptete ohne Unterlass. Seine Bewegungen wurden so rasend schnell, das menschliche Auge hätte Probleme gehabt, ihm noch zu folgen. Die Körperteile häuften sich. Der Hof war übersät von ihnen. Weg und Grasfläche bald blutgetränkt. Das Heiligtum der Familie Kinomiya wurde immer weiter besudelt. Dragoon aber versuchte seine Gedanken nur noch auf sein Vorhaben zu konzentrieren. Er würde jeden von Dranzers Handlangern zerteilen, bis keiner mehr übrig war, um ihr noch weiter Energie zu beschaffen. Dann würde ihre Glut langsam erlöschen.

Und Dragoon könnte sie endlich wieder Heim bringen…

Als hätte Dranzer seine Gedanken gehört, erspähte er beim nächsten Blick durch das demolierte Eingangstor, eine hünenhafte Gestalt, die weit hinter den angreifenden Reihen stand, wie ein Befehlshaber der seine Armee aus sicherer Entfernung bei der Schlacht beobachtete. Er hielt die Augen geschlossen, schaute nicht zu Dragoon herüber, hielt nur die Arme vor sich verschränkt.

Doch die Art wie die Bienen ihn beschützten sagte alles aus. Sie umschwirrten ihn, wie einen schützenden Mantel. Das war er also. Dragoon hatte Dranzers neuen Körper gefunden…
 


 

*
 

Jana zitterte. Ihre Arme hatten sich um Kais rechten Ellbogen geschlungen, obwohl er dadurch kaum noch Bewegungsfreiheit besaß. Dennoch duldete er es, auch wenn es ihm so schwerer fiel, nach Großvater Kinomiyas Wunde zu schauen. Kai hob die blutgetränkten Mullbinde an um darunter zu spähen. Es sah schlimmer aus als es war. Dranzer musste es so eilig gehabt haben, ins Innere des Hauses zu gelangen, dass sie sich nicht weiter darum scherte, ob Mr. Kinomiya tot oder lebendig war. Dennoch bereitete es ihm Kopfzerbrechen, immerhin war Tysons Großvater nicht mehr der Jüngste und lag nun hier, mit dieser tiefen Verletzung an der Brust. Bei alten Menschen verheilte jede Wunde langsamer, deshalb sollte sich ein Arzt ihn dringend ansehen. Als Kai ihn fand, dachte er zuerst, alle Hilfe sei vergebens. Allein die Blutlache in der er lag…

Von Mr. Kinomiya war keine Regung mehr gekommen. Er hatte dort auf der Seite gelegen, die eine Hand unter seine Rippe geschoben, von wo aus sich der Blutfleck langsam über den Holzboden ausbreitete. Eine Gänsehaut jagte über Kais Rücken bei der Erinnerung. Er war so erleichtert gewesen, als ihm auffiel, dass die Finger an Mr. Kinomiyas anderen Hand noch zuckten.

„Wie ist die Lage dort draußen?“, wollte der sichtlich erschöpft wissen.

Er war relativ schnell wieder zu Bewusstsein gekommen. Diese Familie bestand einfach aus zähen Männern, egal welchen Jahrgangs. Kai schüttelte den Kopf verneinend. Er vermied es ihr Dilemma mit Worten hervorzuheben. Es würde seine Schwester nur noch mehr beunruhigen. Als Kai zum Katana griff um Tyson beizustehen, war Jana geradezu hysterisch geworden. Sie brüllte den ganzen Dojo zusammen, stampfte mit den Füßchen auf und ihre hochroten Wangen waren feucht von den Tränenbahnen. Es hatte ihn viel Überredungskunst gekostet, sie beim Großvater zu lassen und als Kai wieder hereinkam, klammerte sie sich nur noch an seinen Arm und sprach äußerst störrisch, dass sie ihn nicht mehr gehen lassen würde. Sie hielt ihr Wort. Er konnte keinen Schritt mehr machen, ohne dass Jana an seinem Arm hing wie ein Klammeräffchen.

Ohnehin verstand Mr. Kinomiya was Kai meinte und seufzte schwer. Sie saßen fest.

Und er konnte nichts machen, als hier drinnen auszuharren und darauf zu hoffen, dass Dragoon tatsächlich das gelang, was Kai nicht mehr schaffte – Dranzer unter Kontrolle zu bekommen.

Der Gedanke ließ ihn gequält die Augen schließen.

„Es tut mir so leid, Mr. Kinomiya.“

„Was meinst du?“, wollte der alte Mann wissen. Er tat einen schweren Atemzug, legte die Hand auf den Verband an seiner Brust. Glücklicherweise war in der Trainingshalle ein Erste-Hilfe-Kasten gewesen, sonst hätte Kai ein weiteres Problem gehabt.

„Das alles ist meine Schuld. Ich habe vollkommen die Kontrolle über Dranzer verloren.“

„Kai, ich sage dir jetzt dasselbe, was ich es zu meinem Jungen gesagt habe - diese Wesen hatten wir nie unter Kontrolle.“, er seufzte bedauernd. „Es ist wohl wie mit einem Kind, das die Waffe seines Vaters findet und sich damit selbst ins Bein schießt. Bit Beast sind keine Spielzeuge. Sie entziehen sich unserem Einfluss. Wir müssen jetzt auf den großen Dragoon vertrauen.“

„Wie können sie ihm noch vertrauen? Nach allem was er ihnen angetan hat…“

„Wir sind nur Menschen. Es steht uns nicht zu ihn zu hinterfragen.“

Kai ballte die Fäuste auf den Knien und das so fest, dass selbst das Weiß seiner Knöchel hervortrat.

„Das sind wohl nicht die Worte die du hören wolltest. Hmm?“

Als keine Entgegnung von Kai kam, hakte Mr. Kinomiya nach.

„Ich weiß du misstraust ihm, aber dieses Wesen hat schon seit Jahrhunderten über meine Familie gewacht. Er hat Fehler gemacht. Aber die machen Menschen auch. Also wer sind wir, dass ausgerechnet wir uns anmaßen, einem Schutzgeist Vorwürfe zu…“

„Das ist es nicht!“, fuhr ihm Kai dazwischen.

„Was dann?“

Doch er blieb wieder stumm. Von draußen ertönte so mancher Schrei zu ihnen herein. Einige klangen fremd. Einer aber bekannt. Dragoon besaß nun auch Tysons Stimme, so wie es bei Dranzer mit Hana gewesen war. Allein die Erinnerung an Hiros Verlobte, ließ eine Gänsehaut über Kais Rücken fahren. Er war erleichtert gewesen, als bei seiner Rückkehr in den Dojo, keiner der Anwesenden mitbekommen hatte, was er ihr mit den bloßen Händen antat. Sein Schweigen hielt wohl zu lange an, denn auf einmal sprach Mr. Kinomiya: „Weißt du, ich kann dir nicht helfen, wenn du mir nicht sagst, was dir durch dein Oberstübchen geht.“

Kai schaute zu ihm auf, sah die tief zusammengezogen Brauen. Die altersgezeichneten Augen. Obwohl dieser Mann so schwer verletzt war, jammerte er nicht. Stattdessen kämpfte er gegen den Schmerz an, tat alles, damit die Stimmung im Raum nicht in Panik umschlug. Kai senkte einen Moment die Lider, bevor er antwortete: „Ich fühle mich so machtlos.“

„Da stehst du nicht alleine da.“

„Ich hasse es mich machtlos zu fühlen.“

„Das mag keiner.“

„Nein! Sie verstehen nicht… Ich hasse es mehr als alles andere auf der Welt!“, Kai zog an Janas Griff. Sie war so überrumpelt von seinem Ausbruch, dass sie für eine Sekunde vergaß, ihn festzuhalten. Also erhob er sich und trat endlich einige Schritte weg, schaffte sich Freiraum. Kai kam sich aufgewühlt vor. Ein weiteres Gefühl das ihm missfiel. Er tat einen tiefen Atemzug. „Ich will mich wehren können!“

„Junge, manchmal ist man wehrlos. Selbst als Erwachsener.“

Kai fuhr sich seufzend über die Nasenwurzel. Daran gab es leider nichts zu rütteln. Sie saßen hier fest, kamen wegen Dranzers Helfern nicht heraus und er war dazu verdammt, wie eine kauernde Ratte hier drinnen zu hocken, um einen alten Mann und seine kleine Schwester zu beschützen. Da fiel Kai ein, dass er noch nicht einmal das konnte. Sollten die Angreifer dort draußen hereinkommen, hatte er gar nichts zur Hand, womit er sie abwehren könnte. Das Katana war ja nun bei Dragoon…

Er schaute sich im Dojo um und ihm fiel der robuste, altmodische Holzschrank, mit dem Schloss davor auf. Tyson hatte ihnen einmal erklärt, dass dort drinnen weitere Schwerter gelagert waren. Jene die nicht so eindrucksvoll waren wie das Katana, aber dennoch sicher aufbewahrt wurden, da sie so viele Generationen durchwandert hatten. Als Mr. Kinomiya im Krankenhaus lag, war Kai einmal ins Anwesen gekommen, um Tyson wieder mit den Papieren zu helfen und stellte zu seiner Verwunderung fest, dass der nun den Unterricht seines Großvaters übernahm. Es war sonderbar ihn in seiner Trainingsuniform zu erleben, vor allem da ihn Kai meistens nur in seiner legeren Aufmachung kannte. Doch nach anfänglicher Gewöhnungsphase, fand er, dass Tyson der Kendolehrer wie auf den Leib geschrieben stand. Auf einmal strahlte er eine natürliche Autorität aus und keiner seiner Schüler wagte es, ihn bei seinen Erklärungen zu unterbrechen. Sie hockten auf Knien wie brave Lämmer und lauschten Tysons Worten. Er hatte die Schwerter aus dem Schrank hervorgeholt, sie der Größe nach auf dem polierten Boden sortiert und konnte die Unterschiede bis ins Detail genau erläutern, selbst wenn sie für Kai manchmal gleich aussahen. Tyson wusste sogar haargenau, aus welchem Material sie bestanden und wann sie ungefähr geschmiedet worden waren. Manchmal reichte er sie seinen Schülern, damit sie ein Gespür für das Gewicht bekamen. Während die ehrfurchtsvoll die Waffen durchreichten, erklärte Tyson ihnen, in welcher Epoche die Schwerter hauptsächlich Anwendung fanden. Kai hätte niemals erwartet, dass er sich für Geschichte interessierte, doch offensichtlich erfüllte ihn sein historischer Stammbaum mit Stolz. Man sah Tyson an dass er Freude am Unterrichten hatte. Für eine kurze Zeit, war er dadurch nicht mehr so betrübt gewesen, weil sein Großvater im Krankenhaus lag. Und Kai hatte lächeln müssen, weil er sich damals insgeheim doch um ihn sorgte, auch wenn er es niemals offen zugab. Da hatte Tyson ihn noch so sehr mit neckenden Worten aus der Reserve locken wollen, er leugnete es vehement.

Doch wahrscheinlich wusste er es auch so. Als Tyson ihn damals nämlich am Türrahmen bemerkte, hoben sich seine Mundwinkel zu einem kurzen Lächeln. Seine dunklen Augen hatten für eine Sekunde wissend auf ihm geruht. Dann ermahnte er einen seiner Schüler, beim Sitzen nicht so zu zappeln, weil der nachschauen wollte, was seinen Meister so erfreute. Kai hatte über die harsche Wortwahl geschmunzelt und sich abgewandt, um im Haus auf den Meister zu warten. Auf dem Weg dorthin fiel ihm auf, dass eine angenehme Gänsehaut ihn befiel.

Hatte es schon damals zwischen ihnen begonnen?

Seine Fäuste ballten sich bei dieser Erinnerung in purer Verzweiflung. Dieser Moment war schon so lange her. Wenn Tyson heute sterben sollte, wären sie nur für einen Wimpernschlag zusammen gewesen. Sie hätten so viel Zeit verplempert, obwohl doch die Anzeichen schon zuvor da waren.

Kai trat zum Schrank und rüttelte am Schloss. Dann schaute er hilfesuchend zu Mr. Kinomiya.

„Du kannst nichts tun, Junge.“, erriet der seine Gedanken.

„Er ist ihr Enkel!“

„Wenn Tyson sich ihm angeschlossen hat, dann sicherlich nicht, weil er lebensmüde ist. Es muss einen Grund geben, warum mein Junge so gehandelt hat.“

Ein verbitterter Zug trat auf Kais Mund. Hätte er Mr. Kinomiya doch nur nicht davon erzählt, dass Tyson freiwillig mit seinem Bit Beast kooperierte, dann würde der jetzt nicht sein gesamtes Vertrauen in Dragoon setzen. Kai wollte sich nicht allein auf ihn verlassen. Dieser Kerl war doch wie ein Fähnlein im Wind. Wankelmütig durch und durch.

„Wir wissen nicht einmal ob es wahr ist. Vielleicht hat er Tyson unter seine Kontrolle gezwungen.“

„Und warum kämpft er dann da draußen?“

„Ich weiß es nicht… Keiner kann sagen was im Kopf eines Bit Beasts vor sich geht.“, seine Stimme war nachdenklich geworden. Dann schaute Kai sich das Schloss genauer an. Es brauchte eine Zahlenkombination. Tyson hatte ihm einmal erklärt, dass es zur Sicherheitsvorkehrung gehörte, damit nicht einer der Schüler in die Versuchung kam, ein Tantō mitgehen zu lassen. So etwas war schon einmal passiert, weil diese Kurzmesser einfacher unter der weiten Trainingskleidung verschwinden konnten, also war nur noch das Katana auf seinem Podest geblieben. Hätte das im Raum gefehlt, wäre es der Familie sofort ins Auge gesprungen.

„Mr. Kinomiya, ich weiß sie werden diese Idee nicht mögen, aber wir müssen uns verteidigen können, falls der da draußen versagt.“, es klang etwas abfälliger als Kai wollte.

„Das sind keine Spielzeuge.“

„Das ist mir klar. Es sind Waffen. Die sind für den Kampf da.“

„Denkst du nicht es könnte jemanden hier im Raum erschrecken, wenn du wieder mit einer Waffe hinausrennst. Das letzte Mal war schon ein Schock.“

Kai wandte sich ihm zu und bemerkte, dass seine Schwester sich an Mr. Kinomiyas Seite gelehnt hatte, während er den Arm um sie legte. Jana lutschte am Daumen, blinzelte aus tränennassem Blick zu ihm und wippte auf dem Hosenboden. Das tat seine Schwester immer dann, wenn sie völlig überfordert war. Wenn sie nicht mehr verstehen konnte, was um sie herum passierte und die Welt sie nur noch verstörte. Es ließ Kai schwer seufzen. Was waren das nur für Pläne die er ausheckte?

Er konnte auf keinen Fall weg. Sein Platz war hier. Bei Jana…

Kai wollte sich schon vom Schrank abwenden, sich endlich geschlagen geben, als ein Schrei alle aufschrecken ließ. Eigentlich hätten sie sich bald an die bedrohliche Geräuschkulisse von draußen gewöhnt, nur kam ihnen diese Stimme sehr nah vor. Alle Anwesenden im Raum schienen die Luft anzuhalten. Kai horchte mit starren Ausdruck Richtung Tür. Doch da kam der Schrei wieder.

Und zwar von der Rückseite des Gebäudes. Er sah wie Mr. Kinomiya sich etwas von der Wand abhob. Seine Augen wurden groß. Da versuchte Kai auch schon, aus einem der Fenster zu spähen. Sie waren sehr hoch angesetzt, weshalb er sich an ihnen aufziehen musste, um überhaupt hinausschauen zu können. Er kundschaftete vorsichtig die Umgebung ab. Die Rückseite des Kinomiya Anwesens lag sehr dicht an der Grundstücksmauer. Dort gab es auch keine Holzveranda, wie beim vorderen Abschnitt. Nur wenige Meter lagen zwischen dem Gebäude und der Abtrennung und doch konnte er nichts sehen. Die Mauer war zu hoch. Der Schrei musste aber von außerhalb des Anwesens kommen. Die Rückseite des Gebäudes war menschenleer. Dranzers Helfer tummelten sich wohl vorne bei Dragoon herum. Kai setzte sich wieder auf dem Boden ab, drehte sich zu Mr. Kinomiya. Beide schauten ziemlich ratlos drein, bis gleich darauf ein weiterer Hilferuf zu ihnen schallte. Da sah Kai wie dem Großvater vor Entsetzen der Mund aufklappte.

„Ich wusste es! Diese Stimme kam mir gleich bekannt vor!“

„Ein Nachbarskind?“

„Ja! Das ist die kleine Momo!“, nun hielt es auch ihn nicht auf dem Hosenboden vor Panik. „Das Mädchen ist erst sieben! Diese Biester sollen gefälligst die Finger von ihr lassen!“

Seine donnernde Stimme überschlug sich vor Zorn, während die kleine Momo wohl draußen um ihr Überleben kämpfte. Mr. Kinomiya versuchte verzweifelt sich aufzustellen, klappte aber schneller in sich zusammen, als Kai bei ihm war. Jana wich von ihnen zurück, rutschte in die nächste Ecke und legte dort die Stirn auf die Knie, um leise vor sich her zu singen. Sie steckte die Finger in die Ohren und zog sich von da an in ihre Welt zurück. Kai wusste gar nicht, um wen er sich mehr sorgen sollte.

Der alte Mann, seine Schwester, oder das arme Ding was da draußen wie am Spieß um Hilfe schrie.

„Die Zahlenkombination!“, er zog Mr. Kinomiyas Oberkörper wieder auf, lehnte ihn an die Wand. „Genau das habe ich gemeint! Wir müssen uns wehren können! Nennen sie mir die Kombination!“

„Ich mache das! Takao würde nicht woll-…“

„Soll das ein Scherz sein?! Sie können kaum sitzen! Geben sie mir die verdammte Kombination, ich werde das erledigen!“

Zur Not sogar mit Gewalt. Doch das würde Kai nicht laut aussprechen. Es reichte aus, wenn er sich heute schon die Finger schmutzig gemacht hatte, da musste Mr. Kinomiya sich nicht auch auf seine alten Tage mit solchen Schuldgefühlen plagen. Der wollte wohl auch widersprechen. Doch der nächste verzweifelte Schrei des Mädchens, ließ ihn gequält die Augen zusammen kneifen. Beide ertrugen den Gedanken nicht, ein hilfloses Kind im Stich zu lassen.

„Vier, Acht, zwölf. Vierundvierzig.“

Kai ließ sich kein zweites Mal bitten. Er sprang auf, eilte zum Schrank, wo er schnell die Zahlen eingab. Sobald es klickte, riss er die schweren Holztüren auf und schaute sich hektisch um. Sein erster Gedanke war, ein Schwert zu ergreifen, was der Länge des Katanas entsprach. So könnte er einen potenziellen Gegner wenigstens ein wenig auf Abstand halten. Seine Finger schnellten hinauf zur Halterung, bis sie aber vor dem Griff des Schwertes inne hielten. Er konnte nicht so einfach auf die Rückseite des Gebäudes gelangen. Das Tor war voll von Dranzers Handlangern, also würde Kai nicht darum herum kommen, über die Mauer zu klettern. Mit der langen Klinge herumzuhantieren wäre da ein Hindernis. Seine Augen huschten weiter. Es war wirklich eine große Sammlung.

Kurzerhand entschloss er sich, nicht auf die Größe zu setzen. Er brauchte etwas Handliches.

Zur Not eben sogar zwei Schwerter, Hauptsache er konnte sie gut verstauen. Kai fand was er suchte. Einen Dolch steckte er in die Gürtelschlaufe seiner Hose, einen Tantō behielt er in der Hand. Manchmal war Quantität eben doch besser. Die Schreie auf der Rückseite des Gebäudes drängten zur Eile. Kai riss die Tür auf, schaute aber für einen Moment starr auf das Schlachtfeld vor ihm.

Dragoon hatte ein Massaker veranstaltet…

Überall Blut, Körperteile und tote Menschen. Und das in diesem wunderschönen Anwesen, worum Kai seinen Freund doch immer so beneidet hatte. Das Kinomiya Haus strahlte stets etwas friedliches, aber auch Erhabenes aus. Nun wurde es auf so grausame Art zu einem Friedhof besudelt. Kai schüttelte den Kopf, ermahnte sich standhaft zu bleiben. Er wollte hinaus treten und unbeobachtet auf die Rückseite des Gebäudes gelangen. Weit kam er aber nicht. Vor der hohen Veranda kauerte eine Gestalt. Sie hatte keine Beine mehr. Die Frau reckte den Oberkörper hoch und starrte zu ihm auf. Ein Arm streckte sich in seine Richtung aus, während ein blutiges Gurgeln aus ihrem Mund kam. Dann brach sie zusammen. Für eine Sekunde hielt Kai der Anblick so gefangen, dass er nicht bemerkte, wie schnell Dragoon neben ihm landete. Er packte ihn am Kragen, drückte ihn gegen die Häuserwand.

„Habe ich dir nicht gesagt, du sollst drinnen bleiben?!“, brüllte er ihn an.

Kai starrte auf das Gesicht was doch eigentlich Tyson gehören sollte. Die unnatürlich blauen Augen blitzen ihn zornig an, während die Haut darum herum in Rot getaucht war.

War das wirklich noch Tysons Körper?

Selbst seine Haarsträhnen trieften vor Blut. Dragoon zog an seinem Kragen, riss die Tür auf und stieß ihn wieder zurück in den Raum, noch bevor Kai protestieren konnte. Er landete gerade noch auf den Beinen, während Mr. Kinomiya ein geschocktes Krächzen von sich gab, als er seinen blutüberströmten Enkel erblickte.

„Keiner rührt sich hier heraus! Das ist ein Befehl!“, fauchte Dragoon aber nur gleichgültig. Dann schob er die Tür lautstark zu, dass sie beinahe aus der Halterung fiel. Gleich darauf sahen sie die Silhouette eines Angreifers auf ihn zu rennen. Die beiden Schatten hinter der Tür, hatten einen kurzen Schlagabtausch, dann schrie Jana auf, als Dragoon mit dem Katana ausholte und eine lange Blutbahn die Tür verdreckte.

„Bei allen Göttern…“, Mr. Kinomiya fuhr sich über die Stirn. „Unser Heim.“

Das war wohl auch für sein Nervenkostüm zu viel. Doch Kai…

In dem brodelte es. Dragoon führte sich auf, als sei er sein Aufseher. Er nahm keine Befehle von diesem Mistkerl entgegen, schon gar nicht, wenn er so kaltblütige Methoden an den Tag legte. Kais Fäuste ballten sich, sein Blick schnellte zum Fenster. Der alte Trotz lebte in ihm auf, zusammen mit dem Wunsch sich von niemandem etwas sagen zu lassen. Also rannte Kai zum Fenster, riss es auf und mit viel Anlauf gelang es ihm, sich soweit hinauf zu hieven, dass er das Bein über den Rahmen schwingen konnte.

„Ai! Geh nich weg!“, jammerte seine Schwester verzweifelt.

„Ich bin gleich zurück. Das verspreche ich dir!“

Damit ließ er sich auf die andere Seite fallen. Er landete auf dem Rasen und verlor auch keine weitere Zeit. Kai hopste an der Mauer hinauf und zog sich auch dort hoch. Sobald er oben angelangt war, schaute er sich um. Er hatte schon lange keine Hilferufe gehört und befürchtete bald das schlimmste, als ihm zwei Männer auffielen, die über ein kleines Mädchen, mit langen schwarzem Haar gebeugt waren. Der eine packte das reglose Kind an einem Fußknöchel und schleifte es hinter sich her, während eine Blutspur zurückblieb. Kai dachte er käme zu spät, beinahe hätte er vor Zorn aufgeschrien, bis ihm auffiel, wie sich die Lippen des Mädchens bewegten und sie leise um Hilfe flehte. Sie lebte noch...

Kai zog die Brauen zusammen. Wenigstens hier wollte er nicht machtlos sein. Er konnte dieses Mädchen retten. Der Griff um das Tantō wurde fester. Kai zog sich vollends die Mauer hinauf, balancierte vorsichtig näher und als einer der Männer seinen Schatten auf sich bemerkte, erkannte er einen milchigen Blick. Er rief sich in Erinnerung was Dragoon gesagt hatte. Die Toten sind tot…

Er durfte jetzt nicht menschlich denken, andernfalls musste dieses Kind aufgrund seiner Schwäche sterben. Der Mann öffnete den Kiefer, klackerte damit wie eine schaurige Gestalt. Er entließ den Knöchel des Mädchens und sein Kumpan folgte ihm prompt. Kai tat einen tiefen Atemzug.

Dann sprang er die Mauer herab. Die Klinge drang tief in den Schädel des Mannes ein. Er unterdrückte jegliches Würgen. Jede noch so kleine Gefühlsregung.

Jetzt, in diesem Moment, konnte er sich glücklich schätzen in der Abtei gelandet zu sein, andernfalls hätte er nicht die Kraft aufbringen können, sämtliche Emotionen in seinem Inneren im Keim zu ersticken, die sich gegen das hier sträubten. Er konzentrierte sich lediglich auf sein Ziel. Dieses Mädchen retten. Einmal sollte die verdammte Abtei für etwas gut sein.

Die Klinge blieb im Kopf seines Gegners stecken. Der Mann klappte ächzend zusammen. Der nächste Angreifer folgte schon. Ein Junge. Definitiv jünger als Kai. Er stolperte in seine Richtung. Das blasse Augenpaar war auf ihn fokussiert, während Kai nur daran denken konnte, dass dieser Junge so furchtbar früh sterben musste. Das alles nur wegen seinem Bit Beast.

Er richtete sich auf, zog den nächsten Dolch aus seinem Hosenbund und näherte sich dem bemitleidenswerten Kerl. Mit jedem Schritt sprach er sich Stärke zu. Kai hätte angenommen, dass nach dem ersten Gegner, der Zweite ihm leichter fallen würde. Dem war ganz und gar nicht so.

Es fühlte sich furchtbar falsch an. Er hatte keine Ahnung wie leichtfertig Dragoon das hinnehmen konnte. Dieses Wesen stammte eben doch von einer Bestie ab. Er tat einen tiefen Atemzug.

Es kostete ihn viel Überwindung die Klinge zu heben.

Bis zur letzten Sekunde verharrte er unschlüssig, dann, als es nicht mehr vermeidbar war, nahm er alle Kraft aus sich heraus und rammte dem Jungen den Dolch gegen die Brust. Er hielt die Augen geschlossen. Alles in ihm sträubte sich, seinem Gegner ins Gesicht zu schauen. Er rührte sich aber noch immer, zog an Kais Oberteil. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als ihn gegen die Mauer zu pressen und ihm den Dolch gegen die Schläfe zu rammen. Das hatte sich bei dem anderen Kerl schließlich bewährt. Und schon erschlaffte der Körper…

Kai atmete stockend aus, als der Junge von der Mauer herabrutschte. Er kniff die Augen mehrmals zusammen, weil wieder Blutspritzer sein Gesicht trafen. Dann geschah eine ewig lange Zeit nichts. Es war wie bei Hana gewesen. Kai musste erst so richtig begreifen, was er da getan hatte. Seine Finger fuhren an seine Stirn. Er hörte sein Blut in den Ohren rauschen. Ihm schlug das Herz bis zur Brust.

Das er wirklich das Kalkül besaß, um zu so einer Gewalttat fähig zu sein…

Irgendwie machte ihm das selbst Angst. Kai schaute in den Himmel auf.

Erst als das Wimmern des Mädchens an sein Ohr klang, fand er aus seiner Starre heraus. Sein Kopf wandte sich seitwärts, wo die Kleine in ihrer kindlichen Schuluniform lag. Sie war leichenblass. Als Kai sich zu ihr herabbeugte und ihr Gesicht vorsichtig tätschelte, schütte sie den Kopf unwillig.

„Mama… Mama, hilf mir.“

„Hey, Kleine wach auf.“

Seine Stimme bebte. Er konnte sich noch so sehr bemühen, es gelang ihm nicht, sie stabil zu halten.

Außerdem zitterten seine Finger, wenn auch nur minimal.

„Ich will Heim. Papa?“

Diese verzweifelten Worte ließen ihn schwer seufzen. Er redete sich ein, allein deshalb das Richtige getan zu haben, auch wenn es sich nicht so anfühlte. Das Mädchen klang erschöpft. Er würde sie auf keinen Fall zurücklassen. Obwohl sie Jana kaum ähnlich sah, erinnerte die kleine Momo ihn auf sonderbarerweise an sie. Kai hob das Mädchen behutsam auf seine Arme. Zunächst wandte sich ihr Kopf aus kleinen Augen der Umgebung zu, bis er erschöpft auf seiner Schulter zum Erliegen kam.

„Sie haben Mama mitgenommen.“, flüsterte sie aus tränenerstickter Stimme an Kais Ohr.

Einen Moment dachte er tatsächlich nach, ob er ihre Mutter suchen sollte. Doch eigentlich wusste Kai, was das bedeutete.

„Dich nehmen sie nicht mit.“

Er tätschelte ihr etwas unbeholfen den Rücken, bis sie ein ersticktes Fiepen von sich gab. Als er in ihre Blickrichtung schaute, wusste er, weshalb sie so reagierte. Es tauchten Schatten hinter der nächsten Ecke auf. Sie fielen auf den Gehweg. Ohne weiter zu überlegen, schob er das Kind auf seinen Rücken und kletterte mit ihr im Schlepptau, die Mauer empor. Kai landete wieder auf der Rückseite des Gebäudes, wo er so damit beschäftigt war, das Mädchen durch das Fenster zu zwängen, das ihm entging, wie hinter der Mauer, die vermeintlich niedergestreckten Angreifer wieder auf die Füße kamen.
 


 

*
 

Der Junge hatte ihn aus dem Konzept gebracht mit seinem plötzlichen Auftauchen. Dragoon war ziemlich nah an Dranzers Hülle herangekommen, an diesen Knäuel aus leblosen Menschen, die sich um sie scharrten, als er auch schon den Klang der Tür vernahm. Schon musste er wieder auf Rückzug gehen, war in weiten Sätzen zurückgesprungen, nur um den Jungen zu packen und ihn vor Dummheiten zu bewahren. Das hatte ihn furchtbar wütend gemacht und so waren die Worte an Kai dementsprechend düster ausgefallen. Dieser Bengel konnte einfach nicht hören…

Inzwischen hatte sich ein ganzer Haufen aus leeren Körpern im Hof gebildet. Es wurde so viel, dass das Eingangstor dadurch verstopft wurde, wie bei einem Rinnsal das zu viele Blätter führte. Dragoon stampfte mit den Füßen hart auf. Er war noch nie ein Fan von Müll gewesen, also wurde es Zeit, Dranzer ihren wieder vor die Haustür zu legen. Seine Finger spreizten sich. Dragoons Augen leuchteten auf, dann beschwor er eine Sturmböe herauf, die sämtliche abgetrennten oder enthaupteten Körperteile in ihre Richtung fegte, samt jedem Gegenstand, der nicht fest genug an seinem Platz saß. Die Nachbarhäuser bekamen einiges ab. Dragoon hörte splitterndes Glas, als die herumwehenden Geschosse durch Scheiben rasten. Doch das war ihm nicht genug…

Es wurde Zeit dieses Versteckspiel zu beenden. Er hatte die Schnauze voll sich mit dem Fußvolk zu befassen. Die feige Henne sollte endlich wieder hervortreten. Dranzer musste endlich wieder anfangen, ihre Energie zu verschwenden, bevor Dragoon am Limit angelangte.

Ihm war irgendwann klar geworden, weshalb sie ihre Handlanger auf ihn loshetzte.

Sie musste bemerkt haben, dass die gesammelte Energie nicht ausreichte, um ihre Armee zu lenken und gleichzeitig ihre Feuerattacken zu verwenden. Das war Dragoon bei der ersten Runde bereits aufgefallen, als einige ihrer Helfer wie die Eintagsfliegen umkippten. Sicherlich hatte es auch damit zu tun, dass Dranzer nicht auf reine Energie zurückgriff, sondern auf zweitklassige. Dadurch das sie Menschen angezapft hatte, die nicht zu ihrer Seele passten, hielt ihr Vorrat nicht lange genug.

Und nun spielte sie auf Zeit…

Dranzer versteckte sich hinter ihren Helfern, die wie eine schützende Mauer um sie herum standen, während Dragoon sich nur weiter verausgabte. Das durfte nicht so weitergehen. Auch Takaos Energie war begrenzt. Also legte Dragoon noch eine gewaltigere Böe nach, um die Karten ordentlich durch zu wirbeln. Da kam endlich Bewegung ins Spiel. Die Grundstücksmauer bröckelte. Die Ziegel der benachbarten Häuser flogen von den Dächern. Alles was nicht niet- und nagelfest war, wurde herausgerissen und als Wurfgeschoss verwendet. Das schloss auch die herumliegenden Körper ein. Mit einem gellenden Schrei warf Dragoon alles in Dranzers Richtung, was seine Winde zu fassen bekamen. Es riss eine klaffende Wunde in ihre Verteidigung. Das war seine Chance…

Genau darauf hatte er hingearbeitet. Er hatte nur einen Versuch und er musste schnell handeln, da dieser Angriff voraussetzte, dass er sich vom Eingangsbereich des Dojos entfernte. Die Tür durfte nicht zu lange ungeschützt bleiben.

Dragoon schoss vor. Verließ damit seinen Posten. Auf seinem Weg zu Dranzer, blitzten die raschen Bewegungen des Katanas immer wieder auf, sobald ein Gegner seine Bahn passierte. Er tat einen beherzten Sprung, um über einen Haufen Geröll hinwegzukommen. Während dem Fall machte er sich bereit. Er setzte das Katana an, fokussierte die hünenhafte Gestalt, die mit ausgestreckten Händen ihre Diener herumscheuchte, wie ein Dirigent. Der Mann war mindestens zwei Köpfe größer als Takao. Er musste auch weitaus älter sein, besaß wettergegerbte Haut, war aber auch mit strammen Muskeln bepackt. Womöglich war er einmal Fischer gewesen. Jemand der seine Arbeit stets im Freien verrichtete. Und nun dazu verdammt Dranzer als Behausung zu dienen…

Die Augen öffneten sich langsam. Einen Fehler hatte sie schon wieder gemacht. Diese Hülle war vielleicht ein ziemlicher Koloss, besaß aber sicherlich nicht Takaos Flinkheit, so stämmig wie er war. Dragoon sauste rasend schnell zu ihm herab. Er sah wie Dranzer einen Arm schwerfällig vor das Gesicht schob, doch schon war das Hindernis abgesäbelt und die Klinge stieß auf die Schädeldecke des Kerls.

„Hab ich dich!“, rief Dragoon triumphierend aus.

Die Handfläche flog zu Boden, offenbarte ihm das Gesicht dahinter. Er hatte das Katana dem Hünen bis zwischen die Brauen gerammt. Der Moment indem er die Augen seines Gegners endlich erblickte, war jene Sekunde, in der Dragoon die Verwechslung erkannte.

Milchige Pupillen. Es war auch nur ein Diener gewesen. Weshalb sollte Dranzer einem ihrer Helfer eine solche Leibgarde zur Verfügung stellen? Da wurden Dragoons Augen weiter.

Natürlich um ihn auf die falsche Fährte zu locken…

Eine böse Finte. Nichts weiter.

Sein kurzes Entsetzen über seine eigene Dummheit, wurde ihm sofort zum Verhängnis. Der Hüne holte mit der anderen Faust aus und verpasste ihm einen Schlag, der sich gewaschen hatte. Takaos Körper schrie vor Schmerz auf, als die Finger sich in seine Wange gruben und zum ersten Mal fühlte Dragoon, dass der Junge sich gegen die Besessenheit auflehnte. Es wurde ihm zu viel. Der ständige Schmerz ließ seinen Geist erwachen. Als würde man eine ohnmächtige Person wecken wollen, indem man ihr Ohrfeigen verpasste. Dragoon stolperte zurück, jemand packte ihn von hinten, hielt ihn im Würgegriff. Als der nächste Fausthieb sich anbahnte, hob er die Klinge, um sie dem Hünen in die Brust zu stoßen. Es hielt den Riesen für einige Sekunde auf Sicherheitsabstand. Da rammte Dragoon ihm auch schon den Fuß in den Magen, dass der Koloss nach hinten stürzte.

Es verschaffte ihm Zeit…

Zeit die er brauchte, um seine Hand auf die Brust zu legen und für eine winzige Sekunde, Takaos schlafende Seele zu beschwichtigen. Wann immer der Junge sich gegen ihn auflehnte, fühlte Dragoon, wie er die Kontrolle über den Körper verlor, seine Arme nicht die Bewegungen ausführten, die er wollte, sondern Takaos Wunsch nachkamen, sich vor den Hieben zu schützen. Sein Herz raste dann so schnell. Selbst die Schläfen pulsierten wie verrückt, hämmerten ununterbrochen gegen die Seite seines Schädels, dass es ihm die Sicht verschwamm.

„Du schaffst das Takao. Mach es für deine Familie.“, krächzte Dragoon inmitten des Würgegriffs der ihn hielt. Da wurde der Junge endlich wieder ruhig. Es ließ ihn erleichtert Keuchen. Dann hatte Dragoon schlagartig wieder die Kontrolle. Er verpasste seinen Hintermann einen gezielten Ellbogenhieb. Sobald der Griff um seinen Hals sich lockerte, machte er ihn einen Kopf kürzer. Der Hüne versuchte inzwischen sich noch einmal ungelenk aufzustemmen, als ihm dasselbe Schicksal widerfuhr. Es folgten noch einige weitere von Dranzers Handlangern, die Dragoon rasch in die Knie zwang. Vor dem Eingang des Dojos war die Straße ziemlich eng geworden, so sehr, dass er bald meinte, es schnüre ihm die Luft ab. Also beschwor Dragoon einen kurzen Sturm herauf, um sämtliche Angreifer gegen die umliegenden Grundstücksmauern zu schleudern. Dann stieß er sich weit in die Luft, um sich einen Überblick über das Schlachtfeld zu verschaffen. Seine Augen huschten über die Menschenmeute die dort unten torkelte. Irgendwo musste Dranzer doch stecken.

Da schnalzte er erbost. Der Blick von hier oben verriet ihm endlich, was sie hier trieb. Innerhalb der Gassen hatten sich einige dieser besonders dicken Menschenknollen gebildet. Immer mal wieder stach ihm ein Pulk ins Auge, worunter Dranzer wohl eine ihrer Finten versteckt hielt. Es war wie bei einem Hütchenspieler. Man wusste nicht unter welchem Becher sich die Kugel befand. Der Einzige der dabei draufzahlte war aber Dragoon. Wenn er sich von Finte zu Finte schlug, würde er sich rasch verausgaben. Und Takao wollte wieder die Gewalt über seinen Leib…

Darauf setzte sie wahrscheinlich. Das der Junge es nicht mehr aushielt. Doch etwas ließ ihn auf einmal stutzen. Es war sonderbar, dass sie ihn jetzt nicht angriff. Die Erfahrung hatte schließlich gezeigt, dass er eine gute Zielscheibe abgab, wenn er sich in der Luft befand. Jeden Moment erwartete Dragoon den brodelnden Klang eines Feuerballs. Doch der Vorbote blieb aus.

Weshalb griff sie nicht an?

Sollte er wieder zum Eingang des Dojos gehen?

Darauf warten das Dranzer von alleine zu ihm kam…

Er durfte jedenfalls nicht noch tiefer in die Menschenmeute hineinrennen, dann würde er das Anwesen und seine Bewohner ungeschützt lassen. Dragoons prüfender Blick schnellte hinter ihn, da fiel ihm erneut etwas Sonderbares auf. Die ganze Zeit über, während er sich außerhalb der Mauern des Anwesens befand, hatte kein einziger von Dranzers Handlangern die Gelegenheit genutzt, um unbemerkt auf das Grundstück zu gelangen. Alle gingen gezielt auf ihn los. Man hätte doch meinen sollen, Dranzer wäre intelligent genug, um bei dieser Gelegenheit an ihr Menschenkind heranzukommen. Da schlug eine Frage in seinen Kopf ein. Es war wie ein gleißender Blitz.

Warum war Kai vorhin hinausgegangen?

Er schien auf die Rückseite des Hauses zu zusteuern.

Was war so wichtig gewesen, dass er die Sicherheit des Dojos verließ, um dorthin zu gelangen?

Dragoons Augen wurden weiter. Sein Blick huschte für eine Sekunde nochmal hinab. Noch immer kein Angriff. Alles was er sah, waren tote Augen, kalte Körper und Arme die sich zu ihm in den Himmel streckten, als würden diese Wesen dort unten darum flehen, erlöst zu werden.

„Raffiniertes Miststück…“, flüsterte er. Dann schoss Dragoon wieder zu Boden, direkt vor dem Eingang zum Dojo. Er ignorierte das Stöhnen der Meute von außerhalb, die sich nun wieder durch sämtliche Öffnungen in der Grundstücksmauer zwängten, um zu ihm zu gelangen. Stattdessen rannte Dragoon zur Tür. Er riss sie zur Seite. Es geschah so heftig, dass die Schiebetür aus ihrer Schiene brach. Sein Blick irrte durch den Raum, blieb an einer Person hängen. Er konnte förmlich fühlen, wie Takao in seinem Inneren vor Erleichterung aufseufzte.

Da war Kai. Heil und unversehrt…

Der Junge musste kurz zuvor vor dem alten Großvater gekniet haben, um seine Wunde zu überprüfen. Er erhob sich langsam. Seine Augen bedachten ihn ernst. Er konnte die stumme Frage darin vernehmen, die Forderung um eine Erläuterung für sein stürmisches Auftauchen. Dragoon erhaschte die leicht zusammengezogen Brauen in dessen Gesicht. Dieser Junge konnte einfach nie erfreut schauen. Im Gegensatz dazu starrte der alte Großvater wieder drein, als sei einer der Toten hereinspaziert. Sein altersgeprüfter Blick huschte – warum auch immer – an seiner Statur vorbei.

Seine Schwester stand dicht neben Kai. Sie drängte sich an seine Seite. Er konnte ihre kleinen Finger sehen, wie sie nach seiner Hand griffen. Einer ihrer Knopfaugen blinzelte furchtsam zu ihm herüber, während die andere Gesichtspartie hinter Kais Hosenbein verschwand.

„Klingt nicht so als ob du da draußen fertig wärst…“

Die Stimme ihres Bruders klang streng. Offensichtlich ging es ihm nicht schnell genug. Er wartete förmlich darauf, dass Dragoon mit der Botschaft eintrat, dass Takao von jetzt an entlassen wurde. Den Gefallen konnte er ihm noch nicht tun. Sein Blick schweifte über seine Schulter. Die ersten Gegner strauchelten schon wieder über den Hof auf ihn zu. Zugegeben, er war ganz froh, dass alle noch wohlbehalten waren, dennoch kam ihm etwas merkwürdig vor. Dranzer heckte doch irgendetwas aus…

Ein weiterer wachsamer Blick in den Raum und da wurde Dragoon sich der neuen Person im Raum bewusst. Fast gänzlich verdeckt hinter den anderen Menschen, erhaschte er lediglich die Fußspitze eines schwarzen Schuhpaares, was vorher nicht da gewesen war. Seine Augen wurden zu Schlitzen.

„Wen versteckt ihr da?“

Er sah Kai überrascht blinzeln. Dann verschränkte er missbilligend die Arme vor der Brust und schaute von ihm weg: „Hier wird niemand versteckt. Das ist nur das Nachbarsmädchen.“

„Die war aber vorhin nicht da.“

Anstatt ihm zu antworten, schnalzte der Bengel nur abfällig.

„Tidom… Das Momo. Momo hat Mama verlore.“, erklärte Kais Schwester mit großen Unschuldsaugen. Zunächst begriff Dragoon nicht, dass sie ihn ansprach, bis ihm klar wurde, dass das Mädchen noch Takao in ihm sah. Da erklärte sie auch schon schüchtern: „Jetzt bei uns bleiben. Kai gerettet hat.“

Sein Blick schnellte zu ihr. Jana gab ein furchtsames Quieken von sich und huschte noch weiter hinter ihrem Bruder zurück. Etwas an ihm schien ihr Angst zu machen, auch wenn Dragoon nicht verstand, was es war. Irgendwann spürte er etwas sein Kinn hinabwandern. Er wischte es mit seiner Handfläche weg und sah auf das zurückgebliebene Blutrinnsal.

„Ich entscheide ob sie bliebt.“, sprach er dessen ungeachtet.

Dragoon schritt zielstrebig in den Raum, bis sich Kai in den Weg stellte.

„Was ist dein Problem?“, wollte er wissen.

„Das Mädchen sehe ich mir mal genauer an.“

„Hast du nicht besseres zu tun?“, er nickte hinaus.

Es klang als wolle Kai ihn rauswerfen. Frecher Bengel…

„Aus dem Weg, Junge.“

„Ich bin kein Junge! Was stört dich überhaupt an dem Mädchen?“

„Sie könnte Dranzer sein, du dämlicher Narr!“

Für einen Moment zuckte Kai zurück. Er wandte sich zu dem Kind um, dass jedoch verschüchtert näher an den Großvater rückte. Da bekam Dragoon auch endlich mehr von ihr zu sehen. Sie trug eine dunkelblaue Matrosenschuluniform, besaß pechschwarzes Haar, das ihr bis zu den Schultern reichte, mit einem akkuraten bauschigen Pony vor der Stirn. Das Mädchen wirkte wie die Unschuld in Person. Etwas was Dragoon umso verdächtiger vorkam – Kai aber scheinbar nicht.

„Das Kind fliegt hinaus.“

„Nein!“, Kai stellte sich schützend vor ihr auf und selbst der Großvater hielt einen Arm vor sie. „Hier wird kein wehrloses Kind auf die Straße geworfen!“

„Mit der Kleinen stimmt etwas nicht!“

„Wenn sie Dranzer wäre, hätte sie uns doch längst angegriffen!“

„Woher willst du wissen ob das nicht noch kommt?“

„Sie ist schon seit einer viertel Stunde hier. Wir wissen beide das Dranzer nicht viel Zeit bräuchte, um uns alle umzubringen!“

Dragoon starrte seinem Gegenüber in die Augen, dessen kleine Schwester dicht hinter ihm stand. Beide Mädchen waren fast im selben Alter. Das zielte ja förmlich auf Kais Schwachpunkt…

„Lass sie mich anschauen!“, kam der herrische Befehl.

„Nein! Sie hat genug mitgemacht! Hast du dich einmal angesehen? Du lässt Tyson wie einen wahnsinnigen Metzger aussehen! Selbst Jana hat Angst vor dir und das obwohl sich beide zuvor so gut miteinander verstanden haben. Dein Anblick wird ihr auf ewig im Gedächtnis bleiben!“

„Dranzer kennt dich! Sie weiß welchen Knopf sie drücken muss, um dein Mitgefühl zu bekommen!“, fauchte Dragoon ihn an. „Sich in einen Körper zu zwängen, der an deinen Beschützerinstinkt appelliert, schreit förmlich nach ihr!“

„Dann hätte sie schon viel früher gehandelt!“

„Ihr Menschen seid doch so leicht zu verblenden!“

Seine Geduld war am Ende. Dragoon packte Kai und stieß ihn zur Seite, dessen Schwester eilig in die nächste Ecke rannte. Sie kauerte sich dort zusammen, da stellte sich auch noch Takaos Großvater in den Weg.

„Wenn da wirklich der große Dragoon in dir steckt, bitte ich dich, dieses Mädchen zu verschonen! Ich kenne das Kind. Ich kenne ihre Familie! Ich bürge für sie! Und Tyson kennt sie au-…“

Was immer er sagen wollte, es blieb unausgesprochen. Mit einer raschen Bewegung stieß Dragoon auch den alten Mann zur Seite, der das Kind zuvor schützend zwischen der Wand und seinem Rücken verborgen hielt. Und genau da geschah es…

Dieser dumme Moment in dem er Dranzer direkt in die Hände spielte.

Als der Körper des Mannes zur Seite fiel, sah er das boshafte Grinsen auf dem zuvor unschuldigen Gesicht. Die kleinen Finger waren ausgestreckt und schon stob aus der Handfläche eine flammende Fontäne hervor. Der Abstand war zu gering, als das Dragoon noch hätte ausweichen können. Er schaffte es nur sich umzudrehen und bekam die volle Wucht in den Rücken ab. Takaos Kleidung brannte lichterloh, die Haut darunter bekam einiges ab. Sein geborgter Körper schrie vor Schmerzen auf. Es war ein abscheuliches Gefühl, als er gegen die Wand krachte. Er roch verbranntes Fleisch.

Takaos Fleisch…

Als er mit einem zornigen Brüllen zu Boden fiel, gelang es ihm noch, die Flammen auf seinem Körper zu ersticken, indem er sich zur Seite rollte. Doch der Schaden war passiert. Dragoons Atemzüge kamen röchelnd. Nicht einmal die Augen konnte er vor Schmerz noch richtig öffnen. Der Blick vor ihm war verschwommen. Er spürte das Takao zurück in seinen Körper kam. Dieser Schmerz war zu heftig, als das der Junge ihn ignorieren konnte. Doch Dragoon versuchte ihn davon abzuhalten, wieder die Kontrolle zu bekommen. Diese Qual würde seinen Verstand wie eine Welle hinwegspülen. Ein Bit Beast konnte mit einem hohen Maß an Schmerzen umgehen. Ein Mensch war dieser Fähigkeit nur bedingt mächtig. Drei Stimmen drangen in jenem Moment in Dragoons Gehörgang.

Die eine gehörte Dranzer. Ihr schallendes Lachen.

Ihre spottenden Worte, weil er nun Schachmatt war. Die andere gehörte dem Großvater. Zwischen den verklebten Augenlidern konnte Dragoon sehen, wie der alte Mann seine gesamte Kraft aufnahm, um Dranzer niederzuringen. Das Ergebnis war, dass sie ihm einen übermenschlichen Stoß verpasste, dass er gegen den Waffenschrank prallte. Es klirrte als die Klingen dicht neben dem bewusstlosen Mann zu Boden stürzten. Dann richtete Dranzer die Handfläche auf ihn. Ihre Augen blitzten vor Genugtuung. Die Worte die sie sprach klangen dumpf und doch konnte Dragoon sie ihr genau von den Lippen lesen: „Das ist für meine Schwester!“

Und es war jener Moment, in dem er die dritte Stimme vernahm. Es war Kais. Dragoon sah den brodelnden Feuerball der auf ihn zuraste. Er roch das verbrannte Holz im Raum.

Und er hörte wie Kai einen Namen schrie.

Nicht seinen. Sondern Takaos…

Der Junge warf sich auf ihn. Er umarmte schützend den geschändeten Körper seines Geliebten.

Und als der nächste Schlag auch ihn traf, schrie er nicht vor Schmerz auf. Es war immer nur Takaos Namen der aus seinem Mund kam. Diese eine Sekunde kam Dragoon so unfassbar lang vor. Er hatte so etwas noch nie erlebt. Für Takao war es ohnehin nun vorbei, weil er so nicht mehr kämpfen konnte. Ein Raubtier das sich verletzt hatte, war zum Tode verurteilt und doch versuchte Kai ihn noch immer zu retten. Als die Attacke verklang, kam keine weitere nach. Dabei wäre es die perfekte Gelegenheit gewesen ihn auszulöschen. Stattdessen kehrte Stille ein…

Eine unheimliche Stille.

Takaos Körper zitterte. Dragoon war unfähig diesen menschlichen Impuls zu unterdrücken. Dennoch schaffte er es aufzusehen, als Kai von ihm hinabrutschte. Der Junge stürzte keuchend zur Seite. Sein Gesicht lag dicht neben seinem. Seine Augen waren fest zusammengekniffen.

Und als Dragoon zu Dranzer schaute, war ihr das Lachen vergangen. Ihre Lippen waren weit geöffnet. Aus geweitetem Blick, der ihr pures Entsetzen ausdrückte, starrte sie auf jenen Jungen, den sie doch eigentlich zu beschützen versprochen hatte, und nun durch ihre eigene Hand schwer verletzt am Boden lag.

Die Minuten verstrichen. Da formten ihre zitternden Lippen nur ein Wort: „Wieso?“

Dranzer umfasste jene Hand, mit der sie geschossen hatte, als sei es eine Waffe, die sie zu verbergen versuchte. „Kai, wieso?“

Es kam keine Antwort. Da schrie sie: „Warum Kai?! Warum tust du das für ihn?!“

Dragoon erhob sich keuchend. Zumindest versuchte er es. Alles was er zu Stande brachte, war, dass er auf alle Vieren aufkam. Seine Haut rauchte noch an einigen Stellen. Der Gestank war widerlich.

„Er hat es nicht für mich getan…“

„Was?“, Dranzer blinzelte verwirrt zu ihm herüber. Dann begriff sie. „Für Takao? Für ihn?!“

„Als hättest du es nicht vorher bemerkt…“

„Ich ahnte das dein Bengel ihm hinterherschmachtet – aber mein Kai doch nicht!“

„Da hast du wohl nicht genau hingeschaut.“, Dragoon setzte sich auf, lehnte sich gegen die Wand. Ein Zischen kam aus seinem Mund, da das Holz in seinem Rücken, direkt auf die Brandwunde drückte. „Es ist beiderseitig. Wärst du nicht so sehr mit deiner Rache beschäftigt gewesen, hättest du bemerkt, was sich die letzten Tage zwischen ihnen entwickelt hat. Beide lieben sich…“

„Er kann ihn gar nicht lieben! Er ist der Spiegel meiner Seele! So wie ich für dich empfinde, muss er auch für ihn fühlen!“

„Muss er das?“, fragte Dragoon. Ein abgekämpftes Lächeln folgte. „Und du hast mich doch auch einst geliebt. Hast du es vergessen?“

Sie starrte ihn geradezu angewidert an, ihre Atemzüge kamen schnaufend. Dann kniff sie die Augen fest zusammen, schüttelte den Kopf Unwillens. Als ein Wimmern aus der anderen Ecke erklang, schwang ihr hasserfüllter Blick zu Jana. Das Mädchen duckte sich ängstlich.

„Diese kleine Hexe ist schuld! Sie hat ihn komplett verdorben!“

Dranzer richtete die zitternde Handfläche auf das Kind.

Da durchbrach auch schon ein Schrei den Raum.

„Nein!“

Dieses kleine Wort schien in jenem Moment unendlich lang.

Vor Dragoon kam Bewegung in den betäubten Körper. Kais rechte Seite war durch den Einschlag versengt. Seine Hände zitterten unkontrolliert, denn von der Schulter abwärts, hatte ihn Dranzer voll erwischt. Seine Kleidung glomm noch an einigen Stellen, entblößte das verbrannte Fleisch darunter. Dennoch vollbrachte es der Junge irgendwie noch etwas Kraft aus seinem geschundenen Leib zu schöpfen. Er hob sich auf die Knie.

„Mach das nicht! Bitte Dranzer!“

Seine Stimme war verletzt, angeschlagen - und tränenerstickt.

Dragoon hatte keine Ahnung, ob es der Schock war, doch zum ersten Mal erlebte er den Jungen vollkommen außer sich. Geradezu verzweifelt, versuchte er zu seiner Schwester zu gelangen. Zunächst auf allen Vieren und als ihm die Glieder versagten, er in sich zusammenbrach, zog Kai sich auf den Händen vorwärts. Seine Finger kratzen auf dem Boden. Und als er sprach, da klang es, als würde er mehr zu sich selbst sprechen. Als würde der Junge wie von Sinnen reden.

„Mach das nicht! Mach das nicht!“, er zog sich weiter vor. Immer seine Schwester im Fokus. „Du darfst sie mir nicht wegnehmen! Sie war der einzige Mensch, der mir einen Grund gegeben hat, nachhause zu kommen! Sie war der einzige Mensch, der jemals daheim auf mich gewartet hat! Sie war immer froh wenn ich nachhause kam! Niemand hat in diesem Haus sonst auf mich gewartet. Niemand! Erst durch sie wurde es endlich ein zuhause!“

Es war ein trauriger Anblick. Dieser zitternde Körper. Wie ein Vogel im Sand dem man beide Flügel gestutzt hatte. Und auch Dranzer starrte mit aschfahlem Gesicht auf Kais Verzweiflungstat. Da schrie er seine größte Furcht hinaus: „Bitte! Lass mir meine Schwester! Lass mir meine Familie!“

Kai zog sich wieder näher voran. Dragoons Blick heftete an seinem rechten Bein. Die Wunde unter dem zerrissenen Stoff, die den Jungen daran hinderte noch aufrecht zu stehen. Die Blutstriemen die er auf dem Boden hinterließ. Und doch ignorierte der Junge jeglichen Schmerz. Alles was er wollte, war zu diesem kleinen Mädchen zu gelangen, was in der Ecke des Raumes seinen Namen wimmerte.

„Nimm sie mir nicht weg, Dranzer! Bitte, nimm sie mir nicht weg!“

Dragoon stockte der Atem. Diese Bitte. Diese Worte. Diese tränenerstickte Stimme…

Natürlich fiel es auch Dranzer auf. Dragoon sah es an der Art wie sich ihre Augen weiteten. Die roten Pupillen zitterten darin. Sie wandte den fassungslosen Blick von Kai ab – und starrte Dragoon an.

Für wenige Sekunden, fühlten sich beide an jenen verhängnisvollen Tag zurück erinnert, der ihre Liebe vernichten sollte. Als Dragoon aus purer Eifersucht den schlimmsten Fehler seines Dasein begann. Er schaute Dranzer eindringlich an. Es war alles wozu er noch in der Lage war, denn sie hatte jetzt eindeutig gewonnen. Er war geschlagen. Sein Körper war verletzt. So konnte er niemanden mehr beschützen. Es bedurfte nur noch eine winzige Attacke und Dranzer wäre am Ziel. Dennoch rührte sie sich nicht, schaute ihm nur unentwegt in die Augen.

„Bitte, Liebes.“, wiederholte Dragoon noch einmal die Worte, die er ihr erst vor kurzem nahegelegt hatte. „Mach nicht die gleichen Fehler wie ich.“

Es wurde still. Alles was man hören konnte, war Kais verzweifeltes Bemühen zu seiner Schwester zu gelangen und deren Wimmern. Dranzer wandte den Blick zu dem Mädchen. Es hielt die Hände schützend über den Kopf, zitterte am ganzen Leib, als befürchtete sie schlimme Schläge von ihr.

Ein kleines, armes Geschöpf, was nicht einmal wusste, was es falsch gemacht hatte, um ihren Zorn heraufbeschworen zu haben. Dranzer drehte die Handfläche in ihre Richtung, starrte auf ihre eigenen bebenden Finger.

„Nein…“, hauchte sie. In ihrer Stimme schwang pures Entsetzen mit.

Da vernahm Dragoon auch einen Laut von draußen. Schwerfällig gelang es ihm, seinen Schädel zur Seite zu drehen, aus einem Auge hinauszuspähen. Genau wie Dranzer mussten auch ihre Diener die letzten Minuten erstarrt gewesen sein. Nun fielen sie. Einer nach dem anderen. Sie klappten im Hof in sich zusammen, wie die leblosen Puppen die sie eigentlich waren. Inzwischen senkte Dranzer die Hand. Sie wich zurück, schüttelte immer wieder den Kopf.

„Nein!“, kam der ungläubige Ausruf. „Oh bitte, nein!“

Sie presste beide Hände fest gegen ihre Brust, wich weiter von den Geschwistern fort.

„Was mache ich nur hier? Was ist nur aus mir geworden?! So wollte ich doch nie sein!“

Ihre Stimme überschlug sich förmlich. Und endlich fiel Dranzer…

Sie sank kraftlos zu Boden, begann zu weinen. Stürzte auf die Knie, als ob die Last ihrer Schuld sie drohte zu erdrücken. Ihr Körper bebte als die Scham sie überrannte. Dragoon vernahm ihre hemmungslosen Schluchzer, sah die Tränenbahnen die wie Bäche über ihre Wangen rollten und wusste dass die nächsten Worte ihm galten.

„Ich bin überhaupt nicht besser als du…“, es war nicht mehr als ein ersticktes Wispern. „Ich bin um ein vielfaches grausamer geworden als du damals!“

Sie vergrub das Gesicht in den Händen. In jenem Moment ließ sie endlich ihre kalte Mauer fallen.

Vorbei war es mit dem Stolz. Vorbei war es mit dem Hass. Endlich hatte Dranzer eingesehen, dass ihre Rache sie zu dem Wesen machte, das sie nie sein wollte…

Dass sie ihr eigenes Menschenkind in dieselbe Situation manövriert hatte, die sie einst erleiden musste. Damals, als Dragoon mit Wolborg fortflog. Und Dranzer unter Tränen hinterherflatterte. Schwerverletzt. Verzweifelt. Mit gebrochenem Herzen. Als sie sich von ihm verraten vorkam. Als sie Dragoon dieselben Worte hinterherschrie, wie Kai ihr gerade. Wie makaber. Offenbar teilten Bit Beast nicht nur dieselbe Seele mit ihren Kindern, sondern auch deren Schicksal. Es ließ Dragoon für einen Moment die Augen schließen.

„Nein, Liebes.“, er versuchte sich aufzurichten. „Du warst nicht immer so. Einst warst du so unglaublich liebreizend, ich konnte den Blick kaum von dir abwenden. Doch dann… Dann habe ich dich wohl kaputt gemacht.“

Seine Hand fuhr an den hölzernen Paneelen hinauf. Er zog sich an der Wand auf, stütze sich einen Moment ab, bevor er schweratmend fortfuhr: „Alles was du heute bist… Dieser ganze Hass den du in dir trägst. Es geht auf mein Konto. Es ist allein meine Schuld! Ich habe dich so gemacht. Ich war ein furchtbarer Partner.“

Sie schaute zu ihm auf, blinzelte aus feuchten Augen zu ihm. Kein Spott. Keine Häme mehr.

Zum ersten Mal seit langem, war sie willens sich zumindest anzuhören, was er sich von der Seele sprach. Sowie Dragoon zum ersten Mal die Courage besaß, sich endlich seine vielen Mängel einzugestehen.

„Was ich getan habe – es mag grausam gewesen sein. Doch auch wenn du mich hasst, Liebes, musst du mir eines glauben. Ich habe nie so gehandelt, weil ich dir wehtun wollte. Ich wollte dich ganz einfach nur befreien. Ich wollte dich für mich. Ich wollte keine Minute von dir jemand anderem überlassen. Wir Drachen können vieles gut… Doch das Teilen liegt uns leider nicht. Wir sind wohl Egoisten wenn es um Dinge geht, die wir lieben.“

Dranzer schaute auf ihre Hände herab. Sie lagen offen auf ihrem Schoß. Ihr Blick wirkte leer.

„Warum hast du mir das bloß nicht damals gesagt? Warum musste es erst so eskalieren?“

„Weil ich nicht wusste, was das ist, was mich so empfinden lässt!“, er tat einen Schritt auf sie zu. „Ich lerne erst wie man liebt. Wie ein Kind das erst lernen muss, wie man läuft.“

Eine ihrer Tränen fiel auf den Boden. Ihm kam es vor als müssten sie heraus, wie bei ihm damals, als er mit dem Totenbaum sprach. Irgendwann sprach sie: „Ich habe mich selbst ausgelöscht. Diese Rache hat alles was ich einst war von meinen Knochen abgenagt.“

Dragoon schaute sie bedauernd an.

„Vielleicht kannst du wieder so werden wie früher.“

„Ich kann doch gar nichts mehr außer Hass fühlen…“

„Nein. Das glaube ich nicht. Du hast Kai geliebt.“

„Und was hat es ihm gebracht?“

Dranzer schaute aus mitleidigem Blick zu ihrem Menschenkind, das es endlich vollbracht hatte, zu seiner Schwester zu gelangen. Kai schien ihre Unterhaltung gar nicht mehr richtig zu begreifen. Er zog sich mit letzter Kraft an der Wand hinauf, nahm das verstörte Mädchen in eine behutsame Umarmung und sank mit ihr in der Ecke zusammen. Als wäre sein Körper nur noch dafür zu gebrauchen als Schutzschild für sie zu fungieren.

„Sieh ihn dir nur an… Ich habe mein eigenes Menschenkind verletzt. Er wird auf ewig entstellt sein.“

Dragoon torkelte schwerfällig auf sie zu, unterdrückte Takaos Wunsch zurückzukommen. Er hatte Dranzer nun dort, wo er sie brauchte. Jetzt würde er endlich zu ihr durchdringen. Sie würde mit ihm Heim kommen. Sie würde ihm helfen diese Welt zu retten. All die Opfer wären nicht umsonst…

Dragoon sank vor ihr auf die Knie. Er bedachte die kindliche Gestalt in der sie steckte. Wie Dranzer so ihre stummen Tränen vergoss, kam sie ihm ebenfalls wie ein verletzliches Mädchen vor. Er griff nach ihrer Hand, drückte die zarten Finger ganz fest. Seine eigene Hand war verbrannt. Dranzer entzog sich ihm dennoch nicht. Es war das erste Mal seit Jahrtausenden, dass sie eine Berührung von ihm wieder ohne Klage gestattete.

„Ich habe meinem Menschenkind auch vieles zugemutet.“

„Du wolltest mich aufhalten. Du hast mich gewarnt. Du hast gesagt, dass ich dabei bin, dieselben Fehler wie du zu machen. Das ich verblendet bin vor Zorn….“, ein enttäuschtes Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Ihr Kopf neigte sich beschämt zu Boden. „Und ich? Was tue ich? Ich mute meinem Menschenkind dieselben Grausamkeiten zu, wie ich sie durch dich erlebt habe – und bin auch noch der festen Überzeugung besser als du zu sein!“

Ihre Schultern bebten.

„Ich wollte meinem Kai seine Schwester wegnehmen! Obwohl ich genau weiß wie weh das tut! Wie konnte ich das nicht bemerken? Was bin ich nur für ein furchtbarer Schutzgeist?!“

Dragoons Hand griff nach ihrem Kinn. Er hob es zärtlich an.

„Ich war ein furchtbarer Partner. Du ein furchtbarer Schutzgeist. Wir sind schon ein furchtbares Gespann zusammen, findest du nicht auch?“

Dranzer blinzelte aus feuchten Augen zu ihm auf. Und lachte…

Ein kurzes verzweifeltes Lachen - auch wenn es doch amüsiert klang.

Manchmal war das Leben so schrecklich, dass einem nichts anderes blieb, als über sein Pech zu lachen. Früher hatte sie ständig über seine Bemerkungen gelacht. Sie hatten so viel herumgealbert.

Dragoon strich ihr über den Handrücken. Er tat einen tiefen Atemzug.

„Die letzten Tage haben wir so viel Schaden angerichtet. Lass uns zur Abwechslung einmal etwas Gutes tun. Komm mit mir mit, Liebes. Lass uns Heim gehen. Wir beide zusammen können diese Welt retten. Das Beste was wir für unsere Menschenkinder tun können, ist ihnen eine heile Welt zu schenken.“

Dranzer antwortete nicht. Sie schaute zu Kai. In ihrem Blick lag viel Trauer.

Und irgendwann schüttelte sie den Kopf.

„Es ist zu spät für mich…“

„Nein. Wir können-…“

„Es ist zu spät für mich.“, sie drehte ihre Hände in seinen, sodass ihm der Blick auf die Flächen ermöglicht wurde. Es raubte Dragoon den Atem. Seine Augen weiteten sich vor blankem Entsetzen.

„Nein!“

„Ich habe mein Menschenkind entstellt. Ich habe ihn verletzt...“

Dragoon packte ihre Hände. Als hätte es irgendeinen Nutzen begann er über die geschundene Haut zu reiben. Dranzers Adern. Sie färbten sich pechschwarz, als würden sie kein Blut, sondern nur noch zähflüssigen Teer führen. Die Strafe für jedes Bit Beast, was aus purer Boshaftigkeit das Kind, dass es zu beschützen geschworen hatte, angriff.

„Das kriegen wir hin, Liebes!“

„Nein, tun wir nicht…“

„Doch! Er lebt noch! Du hast ich nicht getötet!“

„Ich habe ein Tabu gebrochen.“

„Gib nicht auf!“

Doch es gab kein Halten mehr. Dranzers Fleisch verfärbte sich. Ihre Finger wurden spröde, bekamen Risse. Es war nicht wie sonst, wenn sie nach einem schweren Kampf ihre Energie sammelte, indem sie zu feiner Phönixasche wurde, um daraus erholt hervorzukommen.

Ihre Hand wurde steinhart. Sie wurde zu Stein!

Die rabenschwarzen Finger bildeten nur den Anfang. Bald zogen sich die verkommenen Adern bis zu ihrem Hals auf. Voller Verzweiflung packte Dragoon ihren Arm, als könne er dadurch verhindern, dass die Versteinerung sich ausbreitet. Stattdessen war sein Griff so grob gewesen, dass beide Arme abbrachen. Sie fielen klackernd zu Boden. Dragoon keuchte entsetzt auf.

„Nein!“, schrie er verzweifelt. „Das darf doch nicht wahr sein! Nein! Nicht jetzt!“

Das Gestein hatte Dranzers Hals erreicht. So vorsichtig wie irgendwie möglich, umgriff er ihre Wangenknochen. Ihm traten die Tränen in die Augen. Er war eines der mächtigsten Wesen, dieses Planeten und konnte nur dabei zuschauen, wie jeme die er am meisten liebte versteinerte.

„Sag mir was ich tun kann, Liebes?! Sag es mir! Wie kann ich dir helfen?!“

Dranzer lächelte traurig. Dann sank ihre Stirn langsam gegen seinen Kopf.

„Erinnerst du dich, an die Zeit, als du mir das Fliegen beigebracht hast?“

„Wie könnte ich die vergessen?“

„Weißt du auch noch des Nachts… Wie du mich da gehalten hast?“

Selbstverständlich wusste Dragoon das noch. Er würde niemals auch nur eine einzige dieser Nächte vergessen, in jenen er in seiner Drachengestalt schützend Dranzers zierlichen Körper umschlungen hatte. Er hob die Arme. Es war vielleicht nicht dasselbe, doch als sie gegen seine Brust sank, stieg ihm immerhin wieder ihr Duft in die Nase. Selbst der sterbliche Körper in jenem sie festsaß, konnte nicht ihren wahren Geruch überdecken. Nach Feuer, Sonnenschein und heißer Glut…

Dragoon platzierte vorsichtig sein Kinn auf ihren Kopf. Er hörte Dranzer wohliges Seufzen.

Für eine Sekunde gab es nur sie beide. Wie damals zu ihren Anfängen.

Er streichelte ihr tröstend über das Haar – weil es das einzige war, was Dragoon für sie tun konnte.

Dann hörte er ihre letzten Worte: „Verzeih mir…“

Es klackte. Etwas brach.

Da fühlte er wie der Körper in seinen Händen zerfiel.

Steinklumpen für Steinklumpen. Sie wirkten wie schwarze Kohlestückchen.

Und alles was Dragoon tun konnte, war mit gequältem Ausdruck darauf zu schauen.

Er nahm die Bruchstücke in die Hand. Ein dicker Kloß entstand in seinem Hals. Als er die Teile gegeneinander hielt, im lächerlichen Irrglauben, Dranzer so wieder zusammenfügen zu können, verschwamm ihm die Sicht. Er fühlte Tränen. In den letzten Tagen hatte er so viel verloren.

Und jetzt auch sie…

Ein Sturm baute sich in ihm auf. Das Gefühl dieser Trauer drohte aus ihm herauszuplatzen. Dragoon ließ es zu. Ein zorniger Schrei brach aus ihm heraus. Er haute auf den Boden. Immer wieder, bis Takaos Fäuste blutig waren. Dragoon bemerkte gar nicht, wie ihn die beiden Geschwister von ihrer Ecke aus beobachteten. Brüllte seinen Schmerz in die Welt hinaus. Als seine Fäuste noch einmal auf die Dielen hauten, hinterließen sie zwei tiefe Kerben im Holz. Dragoon blieb wie er war. Das Haupt nach vorne gebeugt, das Gesicht zum Boden gewandt, die Zähne gefletscht, während auf seinen Wangen Tränenbahnen die Haut benetzten.

Ihm wurde schlagartig bewusst, dass dies das Ende war. Jetzt gab es keinen Ausweg mehr. Und wenn er so darüber nachdachte, wollte Dragoon auch gar nicht mehr weitermachen. Dazu hatte er viel zu viel verloren. Auf makabre Art war ihm der Gedanke seines eigenen baldigen Ablebens ein Trost.

Er erhob sich langsam. Kniff die Augen noch einmal zusammen um den Tränenfilm zu verscheuchen.

Dann spähte er zu den beiden Geschwistern hinüber. Kai lag mehr auf der Wand, als das er saß. Seine Augen waren geschlossen. Er hielt das Mädchen dennoch in seinen Armen, das immer wieder ihre Wange, an seine verbrannte Brust rieb. War er bewusstlos – oder sogar tot?

Die Antwort darauf folgte, als ein leichtes Beben alle im Raum aufhorchen ließ. Kai schlug die Augen auf, als habe man ihn aus dem Tiefschlaf gerissen. Seine Pupillen irrten umher, er blinzelte verwirrt, als alles um sie herum zu wackeln begann. Ein Erdbeben. Doch Dragoon spürte das es mehr als das war. Es war nur ein Vorbote. Etwas wirklich Erschreckendes bahnte sich an. Er schaute zu Kai. Der war zu erschöpft, um sofort zu begreifen, was sich um ihn herum abspielte. Dragoon erhob sich. Er trat hinaus auf die Veranda.

Überall lagen die Überbleibsel von der Schlacht mit Dranzer herum. Vor allem die Opfer.

Dragoons Blick richtete sich in den Westen. Der Fuji war heute wieder besonders schüchtern. Die weiße Bergspitze war durch die Wolkendecke nicht zu erhaschen. Doch das war ohnehin uninteressant. Vielmehr gab es ihm zu denken, was sich unterhalb des Vulkans abspielte. Er spürte wie die Welt den Atem anhielt. Vogelschwärme stoben von dort davon. Die Natur würde sich gleich von ihrer furchterregendsten Seite zeigen. Dann wurde das Beben schlimmer. Es ließ das ganze Haus erzittern und bald schon vernahm Dragoon den Klang von ächzendem Holz.

„Tidom?! Was da los?!“

Dragoon wandte sich um, schaute auf das kleine Mädchen – aber vor allem auf Kai.

Er ahnte es. Sein Blick war starr geradeaus gerichtet. Das Gesicht wirkte wie eine marmorne Maske. Er klammerte seine Schwester fester an sich. Und als das ohrenbetäubende Donnern kam, kniff der Junge die Augen zusammen. Dragoon hielt sich am Türrahmen fest. Er spürte eine nahende Druckwelle. Noch war sie viele Kilometer entfernt, doch sie war so gigantisch, dass sie selbst die Wolken um den Berg herum auseinanderstob. Auf einmal zeigte der Fuji dass er nicht nur schüchtern sein konnte. Nun erhaschte man auch die weiße Bergspitze. Eine dreckige, dunkle Rauchwolke schoss weit in den Himmel empor. Das war kein gewöhnlicher Ausbruch.

Dranzer war tot. Driger auch.

Gerade die beiden Uralten, die dieses Phänomen kontrollieren konnten.

Dragoon dagegen war zum Zuschauer degradiert worden. Er schloss die Augen, spürte die Katastrophe kommen. Ein gewaltiger pyroklastischer Strom der von dem Vulkan ausging. Der Fuji umhüllte seine Spitze erneut, dieses Mal aber mit einer Gas- und Aschewolke, die an seinen Hängen hinabdonnerte, wie eine giftige Lawine. Der Wind trug Dragoon die Schreie ans Ohr, all jener Menschen, die im unmittelbaren Umkreis des Fujis lebten.

Sie hatten keine Chance. Wie denn auch?

Es gab keine Anzeichen dafür, dass der Vulkan kurz vor dem Ausbruch stand. Keine seismische Aktivitäten die den Menschen dieser Region, einen Hinweis hätten geben können, ein Warnsignal, damit sie ihre Sachen packten und sich soweit es ging in Sicherheit brachten. Sie alle wurden nun von Mutter Natur böse überrumpelt. Sie machte was sie wollte, ohne sich an die von den Uralten auferlegten Gesetze zu halten. Das Erdbeben nahm an Intensität zu. Dragoons innerer Instinkt sagte ihm, dass sie kam. Die Druckwelle. Gefolgt von der giftigen Aschewolke die sich ihr anschloss. Ein schreckliches Paar.

„Halt deine Schwester gut fest, Kai!“

Er wusste nicht ob der Junge es noch tat. Gleich darauf fühlte Dragoon, wie die Druckwelle mit voller Wucht einschlug und das die Erde die Weltmetropole Tokyo teilte.
 


 

*
 

Der Boden war hart und kalt. Tyson lag auf dem Bauch. Seine schmerzende rechte Hand dicht neben seinem Gesicht. Er versuchte seine Finger zu bewegen. Die Haut dort spannte furchtbar. Ihm gelang es nicht, seine Hand zu einer Faust zu ballen. Stattdessen schabten seine Fingerkuppen nur leicht über den Boden. Er fühlte dass eine staubige Schicht an ihnen hängen blieb.

Tyson tat einen tiefen Atemzug und bekam erst einmal einen Hustenanfall. Es ließ ihn endlich aus seiner Bewusstlosigkeit herausfinden. Keuchend schlug er die gereizten Augen auf und würgte angewidert. Beinahe wäre ihm alles hochgekommen, doch er konnte sich gerade noch zusammenreißen. Um sich vor dem herumliegenden Staub zu schützen, schob Tyson den Kragen seines Oberteils über die Nase. Er versuchte sich mit irgendeiner sauberen Partie seiner Kleidung über die Augen zu wischen, um den Dreck von dort zu bekommen, doch musste leider feststellen, dass er von oben bis unten besudelt war. Überall klebte eine dünne graue Schicht an ihm.

Und er hatte Schmerzen…

Es war kaum auszuhalten. Sein Rücken tat besonders weh. Ihm fiel nicht ein, wo er war und was mit ihm zugestoßen war. Alles was sein betäubter Verstand zu Stande brachte, war, ihn auf allen Vieren ziellos umherkrabbeln zu lassen. Unter seinen geschundenen Händen sah er nur grau. Überall dieser Staub. Irgendwann traf er auf ein Hindernis. Er zog sich daran hinauf, doch ihm klappten die Beine weg. Erst beim dritten Anlauf, kam er auf die Füße. War er alleine?

Tyson versuchte sich umzuschauen. Seine Augen irrten über den Anblick den seine Umgebung abgab. Erst langsam kam die letzte Erinnerung in ihm hoch. Er hatte sich auf einen Deal mit Dragoon eingelassen. Allem Anschein nach, musste ihn dieser Irre, in die Vorhölle gebracht haben. Anders konnte er sich dieses Schlachtfeld vor sich nicht erklären. Tyson schloss die Augen, tat durch den Stoff noch einmal einen tiefen Atemzug. Auch wenn es ihn viel Überwindung kostete, versuchte er, die beißenden Schmerzen in seinem Rücken zu ignorieren. Stattdessen ging er auf Spurensuche.

Seine Pupillen irrten von Fleck zu Fleck, um einen Hinweis zu finden, wo er war. Zumindest konnte er sagen, dass er sich in einem Gebäude befand. Es musste aber eingestürzt sein. Ihm schoss der Gedanke durch den Kopf, ob das die Überreste vom Kampf gegen Dranzer waren.

Hatten Dragoon etwa in der Innenstadt gegen sie gekämpft?

Tyson konnte mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass er sich dort zuletzt aufgehalten hatte. Anscheinend hatten die beiden Bit Beast das Heim, irgendeines traurigen Pechvogels verwüstet. Sein Blick forschte weiter. Die obere Etage des Gebäudes schien eingebrochen zu sein. Die Betondecke über ihm lag in Schräglage, als würde er sich unter einer steinernen Plane befinden. Wie das sagenumwobene Damokles Schwert schwebte sie unheilvoll über ihm. Bei ihrem Sturz hatte sie die gegenüberliegende Wand eingerissen und durch einige Ritzen, ließ das einfallende Tageslicht die Staubkörner in seiner Nische tänzeln.

Geröll, Bretter, Holz und auf alles legte sich dieser trockene Staub. Tyson steckte sich den kleinen Finger ins Ohr, den seit er aufgewacht war, hörte er ein nervendes Piepsen darin. Es wurde dadurch aber auch nicht besser. Irgendwann gab er resignierend auf. Stattdessen torkelte er zu dem einzigen Spalt, den er in seiner Nische fand, um einen Blick hinauszuwerfen.

Draußen sah er eine Mauer, die das Grundstück umsäumte. Alles lag unter einem gespenstischen grauen Mantel. Tyson kniff angestrengt die Augen zusammen. Weit weg am Horizont, erhaschte er eine blitzende Wolkendecke am Himmel. Er sah eine kegelförmige Bergkette und da wurde ihm schlagartig klar, was da draußen passierte. Das Wahrzeichen Japans zeigte sich von seiner finsteren Seite. Tyson wich entsetzt zurück. Sein Kopf schnellte in alle Richtungen. Jetzt begriff er erst was das für ein sonderbarer Staub war. Man vermochte kaum zu sagen, ob er vom Einsturz stammte oder von der Asche des Fujis. Tyson prallte mit dem Rücken gegen etwas. Es ließ ihn schmerzhaft aufschreien. Er spürte wie der Dreck seine Schultern hinabbröckelte als etwas sich über ihm lockerte. Ein Husten seinerseits wirbelte den Dreck nur noch weiter auf. Er drohte in Panik zu verfallen. Es war entsetzlich eng hier drinnen war, wie damals in den Stollen des Wurzelpfades. Deshalb kostete es Tyson viel Kraft, dieses bedrückende Gefühl nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Eigentlich wollte er laut schreien.

„Bleib ganz ruhig…“, raunte er sich selbst Mut zu. Tyson lehnte seine Stirn gegen die Betonwand am Spalt, begann von zehn abwärts zu zählen. Es half sogar. Er beruhigte sich allmählich. Als er wieder die Kontrolle gewann, spähte er noch einmal hinaus. Da erhaschte er eine gebückte Gestalt, die durch das Grau stakte. Wer immer es war, humpelte, hielt sich die Brust, während sie die Umgebung untersuchte. Auf einmal beugte sie sich auf und schrie etwas, in blanker Verzweiflung: „TYSON!“

Es ließ seine Kinnlade hinabklappen. Dann erst begriff er wessen Haus das hier war.

Als Tyson sich noch einmal umschaute, wären ihm beinahe die Tränen gekommen.

Was zur Hölle hatte Dragoon nur angestellt?!

Er wollte ihm doch helfen – nicht alles noch schlimmer machen!

Tyson haute verzweifelt gegen die Wand, biss die Zähne zusammen, als der Schmerz seinen Arm hinaufzog. Dann fand er endlich die Kraft, um auf die Rufe seines Großvaters zu reagieren. Er sah wie die gebeugte Gestalt sich abrupt zu ihm umwandte. Inmitten des Ascheregens draußen den man fast mit Schnee hätte verwechseln können. Dann humpelte sein Großvater los. Er steuerte zielsicher in seine Richtung, folgte seinen Rufen.

„Mein Junge! Oh nein, mein Junge!“, er vernahm kraxelnde Laute auf der anderen Seite der Wand, wie ein Hund der an der Tür schabte, wenn er hineinwollte. Einer der größeren Lichtflecken am Boden erlosch und an der dazugehörigen Öffnung spähte das altersgezeichnetes Gesicht zu ihm hinein. Er sah wie die Augen seines Großvaters forschend in seine Nische blickten. Als Tyson ihm die Hand entgegenstreckte, hörte er das erleichterte Aufatmen. Die gebrechlichen Finger packten zu, hielten ihn für einen Moment ganz fest. Es war ein wunderbares Gefühl.

„Tyson! Mein armer Junge… Kannst du dich bewegen?“

Er weinte. Sein alter Herr weinte…

Noch nie hatte Tyson so etwas erlebt. Es riss ihm beinahe das Herz entzwei.

„Ich bin okay.“, er klang wie ein jahrelanger Kettenraucher. Seine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen. „Was ist denn bloß passiert?“

„So vieles, mein Junge. So vieles…“, sprach sein Großvater wehmütig.

„Wo ist Dragoon?“

„Fort… Glaube ich.“

„Und Dranzer?“

„Ebenfalls weg. Glaube ich.“, er fühlte wie ihm über die Hand getätschelt wurde. „Deine Finger. Sie sind angesengt! Ganz rot...“

Das war ihm vor lauter Asche gar nicht richtig klar gewesen. Ihm tat doch ohnehin alles weh.

„Dann war es das wohl mit meiner Karriere als Pianist.“

Es ließ seinen Großvater verzweifelt auflachen.

„Das dir noch nach Scherzen ist, Junge?“

„Na, weinen hilft ja wohl nicht weiter, oder?“, kam es recht beklommen von Tyson.

„Wohl war. Wohl war…“, er hörte ihn schnaufen. Dann gestand sein Opa: „Ich kann Kai und seine Schwester nicht finden. Die arme kleine Jana.“

Es ließ Tyson geschockt die Hand zurückziehen. Wie konnte er das nur vergessen…

Die beiden waren auch hier gewesen, als er das Anwesen verließ.

„Ich hole Hilfe! Hörst du mich, Tyson?! Allein bekomme ich den Schutt nicht weg, aber ich hole euch da irgendwie heraus! Das schwöre ich dir bei meinem Leben!“, er sah seinen Großvater verzweifelt den Kopf schütteln. „Das kann ich nicht zulassen! Die Alten sollten nicht vor den Jungen sterben!“

„Opa, hör auf! Fang nicht an dir solche Vorwürfe zu machen.“, keuchte Tyson. „Geh! Geh einfach und hol Hilfe! Das ist schon verdammt viel wert.“

„Ja, natürlich. Ich verplempere nur Zeit. Ich beeile mich! Ich komme nicht ohne Hilfe! Halte durch mein Junge, ja?“, seine gebrechliche Hand erschien wieder im Spalt. Tyson packte sie und drückte sie ganz fest, als stummes Einverständnis. Es fiel seinem Großvater schwer ihn loszulassen. Dennoch brachte er irgendwann die Kraft auf und verschwand vor der winzigen Öffnung. Sofort fiel wieder etwas Tageslicht in die Nische, wenn auch nur in bedingtem Maße. Die Sonne schien draußen ziemlich gegen die Aschewolke anzukämpfen. Tyson trat an eine der anderen Risse in der Betonwand, von wo aus er sich ein anderes Sichtfeld versprach. Die Gestalt seines Großvaters humpelte mühselig durch die Trümmer. Die Straße vor dem Anwesen ähnelte einem Schlachtfeld. Tyson taumelte einen Schritt in den ehemaligen Wänden seines Zuhauses und erdrückte etwas unter seinem Gewicht. Ein Blick hinab und er erkannte ein Familienbild. Als er es da so liegen sah, wurden ihm allmählich die Ausmaße um ihn herum bewusst. Sie hatten alles verloren.

Dieses Anwesen existierte so viele Jahrhunderte und nun war es eine Ruine.

Tysons Blick haftete an dem gerahmten Foto. Das Glas über dem Bild war gesprungen. Dahinter schaute sein Großvater mit einem stolzen Grinsen zu ihm auf. Seine Großmutter hatte bei der Aufnahme schon nicht mehr gelebt, dafür aber Tysons Mutter. Sie hielt eine jüngere Ausgabe von ihm selbst in den Armen, während sie auf einem Stuhl saß, zu dessen Seite sein Bruder Hitoshi als kleiner Vorschüler stand und schüchtern in die Kamera lächelte. Damals wussten alle beteiligten auf dem Foto noch nicht, dass seine Mutter bald an ihrer Krankheit zu Grunde gehen würde und wirkten noch zuversichtlich. Ihre Augen ruhten liebevoll auf dem Neuzuwachs. Sein Vater dagegen hatte die rechte Hand stolz auf der Schulter seines ältesten Sohnes.

Tyson blickte nur starr auf sich selbst hinab.

Auf sein kleines Abbild was damals noch ein Säugling gewesen war.

So viele Generationen hatten hier gelebt und jetzt war alles zerstört!

Er kniete sich hinab und begann zu wühlen. Das musste die Flurwand sein. Auf ihr waren noch mehr Bilder gewesen. Sie hingen alle an dieser Wand. Sie waren doch wertvoll…

Tyson spürte gar nicht mehr die Schnitte welche er sich selbst zufügte. Da erblickte er auch schon die Ecke eines Fotos, welche von einem Brocken verdeckt wurde und von dem aus ihm Ray entgegen lachte. Er rollte den Stein hektisch fort. Der Rest seines ehemaligen Teams strahlte zu ihm auf.

Tyson erblickte sich selbst, wie er den Arm um Maxs Schulter geworfen hatte, der wiederum ein Peacezeichen Richtung Kamera machte. Neben ihm stand Hilary, die ihre Hände sittsam vor sich faltete und geradezu mädchenhaft lächelte, während Kenny neben ihr seine Brille zu Recht rückte, weil Daichi ihm einen heftigen Klaps auf den Rücken verpasst hatte und sie ihm deshalb, während der Aufnahme, von der Nase gerutscht war. Ray hielt die Hände strahlend in die Hüften gestemmt und Kai stand leicht von der Kamera abgewandt, mit vor dem Oberkörper verschränkten Armen. Als wären diese beiden Fotos aus Porzellan hob Tyson sie mit bebenden Fingern auf. Diese Bilder…

Waren sie alles was ihm noch geblieben war?!

Bei diesem Gedanken geriet er ins Stocken. Er fühlte sich als würde ihm jemand die Faust immer tiefer in die Magengrube prügeln. Die Wucht der Ereignisse schnürte ihm die Luft ab. Gegen die aufkommenden Tränen war er machtlos. Auch wenn er zuvor noch gescherzt hatte, konnte Tyson es nun doch nicht verhindern. Seine Finger strichen zitternd die Konturen der vielen Gesichter nach. Diese Menschen waren wahrscheinlich alle nicht mehr da!

Max Flieger war abgestürzt. Er wusste nicht was aus Ray geworden war und Kai musste schon viel Glück gehabt haben, um dieses Schlachtfeld zu überleben! Übermannt von diesem Chaos drückte er die Fotos an sich. Seine Schultern bebten. Jeder Schluchzer fuhr ihm tief durch die Glieder. Er beugte sich vor und legte seine Stirn auf den staubigen Boden. Ihm wurde klar dass es aus diesem Albtraum kein Erwachen geben würde. Was sich hier abspielte war die gnadenlose Realität. Der trügerische Frieden in diesem Haus war geplatzt, wie eine zierliche Seifenblase. Sein Atem beschleunigte sich in hektischen Zügen. Er fühlte seine Welt um ihn herum brechen.

„Das ist nicht real!“, flüsterte er panisch. Immer wieder. Es wurde sein Mantra.

Er konnte das nicht begreifen. Das durfte einfach nicht real sein…

„Kai?!“, rief er zwischen den Trümmern verzweifelt. Dabei rechnete er gar nicht mit einer Antwort.

Es kam auch keine. Diese Menschen konnte doch nicht wirklich alle aus Tysons Leben verschwunden sein. Er vernahm das Donnern des Fujis in weiter Ferne. Der Berg spie seine glühendenden Geschosse in den Himmel auf. Doch hier in den Ruinen war alles still. Niemand erwiderte seinen Ruf.

Wenn seine Freunde wirklich alle tot waren…

Er wollte nicht so leben. Er konnte es nicht! Sie waren doch auch Teil seiner Familie gewesen.

Tyson dachte an die dritte Weltmeisterschaft. Bereits damals, als sein Team sich nach und nach auflöste, hatte es ihm den Boden unter den Füßen entrissen. Es war für ihn schwer zu verdauen, dass seine Freunde sich von ihm abwandten. Doch es war kein endgültiger Zustand gewesen, auch wenn es ihm anfangs so vorkam. Aber das hier…

Hier war eine Grenze erreicht, ein Rückschlag, von dem Tyson genau wusste, dass er sich davon niemals mehr erholen könnte, dass er es eigentlich auch gar nicht mehr wollte. Da konnte er sich ja gleich hinlegen und sterben.
 

„Ai?“
 

Ein Wimmern...

Gefolgt von einem Näschen das ganz in seiner Nähe hochgezogen wurde.

Tyson hielt den Atem an. Da vernahm er das leise Schluchzen eines Kindes.

Es lockte seinen erstarrten Verstand aus dem Nebel der ihn gefangen hielt.

„Jana?“

Er wagte kaum sich zu rühren und verharrte, um auch wirklich kein Geräusch zu verpassen.

Womöglich spielte ihm sein Verstand einen Streich.

„Kai… Aufstehe! Auge auf mache!“

Tyson fuhr hoch, geriet aber ins Taumeln. Sein Körper war die dauernden Strapazen überdrüssig geworden. Er strauchelte in Schlangenlinien der Stimme entgegen, zwängte sich tiefer zwischen dem Geröll hindurch. Weiterhinten war eine Art Luftblase entstanden, weil zwei Enden der Decke, gegeneinander gelehnt waren, wie bei einer Pyramide. Er folgte dem Wimmern. Es kam vom Boden. Unter einer umgekippten Fusuma Tür, welche in traditionellen japanischen Häusern wie ihrem Dojo, noch immer Anwendung fand, machte er Jana Stimme aus.

Sie sprach mit Kai. Also musste er auch bei ihr sein!

Der Gedanke ließ vollends seine Lebensgeister erwachen. Tyson holte seine letzte Kraft heraus und packte die Tür. Darunter waren aber nur Holzdielen. Da wurde ihm klar was passiert sein musste. Ihr Haus stand auf einem höher gelegenen Sockel. Womöglich war der Boden unter den Geschwistern eingebrochen und sie waren etwas tiefer abgesackt. Zunächst fand er viele Papierfetzen von den Raumteilern, Holzbalken und Klumpen. Er grub sich immer tiefer, legte ein Loch inmitten der Trümmer frei obwohl ihm die Finger bald bluteten, bis das kindliche Weinen unter einer weiteren lädierten Tür hervorkam. Tyson schob sie ein Stückchen vor und fand Janas schmächtige Statur darunter. Sobald sie von der Last befreit war, kniete sie sich hin. Wie durch ein Wunder schien sie unverletzt. Er lachte erleichtert auf als er das sah. Inzwischen legte sie ihre kleinen Finger auf das Gesicht einer weiteren reglosen Gestalt.

„Kai!“, der Ruf klang verzerrt aus seiner Kehle. Der eingeatmete Staub hatte sie ausgedörrt. Er rief erneut nach ihm und als er sich rührte, brach eine Woge der Erleichterung über ihm herein. Da lag einer der wenigen Menschen die ihm noch geblieben waren. Das Mädchen blickte wimmernd zu ihm auf. In ihren Augen lag die stumme Hoffnung, er möge ihrem Bruder doch bitte helfen. Augenblicklich überkam ihn das Gefühl, jetzt nicht vor ihr in Panik zu verfallen. Für sie stark zu bleiben, half ihm, sich weiterhin zusammenzureißen.

„Komm erst einmal heraus, mein kleiner Hamster, okay?“, sprach er beruhigend auf das Mädchen ein. Sie schüttelte unwillig das Ruß befleckte Gesicht und schaute wortlos auf ihren bewusstlosen Bruder. „Ja, den hole ich auch gleich heraus...“, erriet er ihren Gedanken. „Sobald du draußen bist. Greif nach meiner Hand.“

Sie rührte sich noch immer nicht.

„Wenn du willst dass ich Kai helfe, musst du zuerst heraus. Also bitte komm jetzt!“

Zögerlich streckte sie ihm, die mit Schrammen übersäten Ärmchen entgegen. Tyson packte sie unter den Schultern und obwohl er selbst nicht minder von Schmerzen geplagt war, biss er die Zähne zusammen und zog sie mühsam hervor.

„Kai au hole.“, bat sie traurig von seinen Armen aus.

„Ja, natürlich. Den holen wir jetzt auch heraus.“, beschwichtigte er sie, als er sie wieder hinunterließ. Kurz darauf begann er noch mehr Gerümpel wegzuschieben. „Wir machen es zusammen. Okay?“

Sie nickte eifrig und versuchte anzupacken. Obwohl sie sichtlich bemüht war, blieb der Löwenanteil an ihm hängen, denn natürlich konnte er dem kleinen Mädchen nicht zumuten, die schwereren Holzbalken wegzuschieben. Dennoch trieb ihn etwas wie verrückt an. Eigenartig welche Kräfte man entwickelte, wenn man für das Bisschen kämpfte, was man noch besaß. Geradezu krampfhaft riss er an den Brettern, um sie von seinem Freund herunterzubekommen. Doch irgendwann wurde Tyson das Ausmaß von Kais Lage bewusst, denn in jenem Moment, als er einen weiteren Teil der Tür wegschob, offenbarte sich ihm der Ausblick auf dessen Unterleib. Er lag eingezwängt unter einer der schweren Betonwände von der Decke. Tyson hielt den Atem an, als ihm klar wurde, was für ein Gewicht nun auf ihm lastete. Er beugte sich zu Kai herab und fühlte nach dessen Puls.

Ziemlich schwach…

Seine Finger wanderten weiter und erfühlten, ob sie einen Atemzug wahrnehmen konnten.

Der war deutlich spürbar. Er tätschelte mit der Handfläche vorsichtig Kais Wange. Dessen Gesicht war totenbleich und verdreckt, die Lippen aufgerissen. Etwas Blut hatte sich im rechten Mundwinkel gesammelt - doch die Lider zuckten.

„Kai, hörst du mich?“, es ermutigte ihn. „Wach auf. Bitte…“

Ein leises Stöhnen kam von ihm. Die Lider öffneten sich einen spaltweit und die Pupillen dahinter blinzelten ihn aus trüben Augen an. Kais Lippen bewegten sich. Er vernahm dessen Stimme, die etwas sagte oder vielmehr flüsterte. Tyson beugte sich zu ihm herab, strich ihm liebevoll über die verdreckte Wange. Er platzierte einen sanften Kuss seine Stirn, der seinen Freund leise Seufzen ließ.

„Ich bin bei dir. Hörst du? Du bist nicht allein.“, raunte Tyson ihm zu. Kais verklärte Augen wandte sich in seine Richtung. Es schien lange zu dauern, bis er ihn erkannte. Doch irgendwann trat ein abgekämpftes Lächeln auf seine Lippen. Sie begannen sich zu bewegen. Er flüsterte etwas, was Tyson nicht ganz verstand.

„Was willst du mir sagen?“

Behutsam als wäre er aus Glas, legte Tyson seine Hand auf Kais Finger und neigte ihm sein Ohr entgegen. Da verstand er endlich, was da über seine Lippen kam.

„Du bist wieder du selbst.“

Es ließ Tysons Mund zu einer schmalen Linie werden. Er kam sich so betrogen vor. Dragoon hatte geschworen, seine Familie zu beschützen, sonst hätte er nicht in den Handel eingeschlagen. Nun lag der Mensch den er liebte hier unter Trümmern. Es tat furchtbar weh Kai so verletzt zu sehen.

„Es tut mir so leid. Dragoon wollte euch retten! Dieser Mistkerl!“

„Er hat es versucht…“, raunte Kai.

„Er hat gelogen!“

„Nein… Er hat es wirklich versucht.“, seine Augen schlossen sich müde. „Dranzer ist tot.“

Tyson blinzelte perplex. Das war genau das was Dragoon doch auch verhindern wollte. Dieser Versager hatte wohl gar nichts hinbekommen. In jenem Moment konnte Tyson ihn nur hassen.

Da drang Kais Stimme zu ihm. Nur ein einzelner Name...

„Jana?“

„Sie ist hier. Und wir holen dich jetzt auch heraus.“, noch einmal strich er ihm über den Haarschopf. Er tätschelte sanft sein Gesicht. Dann erklärte er Kai seine Lage. „Du bist unter einer Platte eingeschlossen, ich werde versuchen sie anzuheben. Glaubst du, du kannst dich dann hervorziehen?“

Kai brauchte lange für eine Antwort. Offensichtlich stand er noch ziemlich neben sich. Doch irgendwann hob er die Arme an, stemmte sich schwerfällig auf und nickte langsam. Tyson tat einen tiefen Atemzug. Dann positionierte er sich vor der Platte und nahm all seine Kraft zusammen.

„Auf drei.“, er zählte herab, umgriff dabei die groben Ränder und drückte mit einem Aufschrei dagegen. Ihm zog der Schmerz den Rücken hoch, als ob er jeden Hautfetzen dort spüren könnte.

Die Platte hob sich auch nur wenige Millimeter an.

Kais Hände packten nach seinem Fußknöchel und er versuchte sich hinauszuziehen. Doch seine Beine rührten sich einfach nicht. Tyson flehte ihn an sich zu beeilen, aber was immer er tat, sein Unterleib gehorchte ihm nicht. Erst als Jana dazu kam, seinen Kragen packte und mit all ihrer Macht verzweifelt zerrte, kam sein Körper in Bewegung. Sobald er unter der Platte hervorgerobbt war, ließ Tyson sie fallen. Dabei verursachte selbst diese winzige Erschütterung einen Staubwirbel. Etwas stürzte aus dem oberen Geschoss zu ihnen herab. Er warf sich über die beiden Geschwister doch zu ihrem Glück, handelte es sich dabei nur um etwas Isolierung vom Dach. Als er Kais Körper unter sich hatte, spürte er wie der vor Schmerzen gequält zitterte. Er strich ihm vorsichtig über den Rücken, doch selbst die federleichteste Berührung schien ihm zu schaden.

„Mein Großvater holt Hilfe.“, versicherte Tyson ihm.

Er sah ein Nicken von ihm. Kai versuchte sich aufzusetzen, bis Tyson klar wurde, dass er es scheinbar nicht konnte. Er beobachtete ihn in seinem verzweifelten Versuch, sich auf den Rücken zu drehen, doch der Part, den seine Füße hätten übernehmen sollen, funktionierte nicht. Seine Beine lagen reglos auf dem Boden und versagten ihm komplett den Dienst. Tyson atmete geschockt ein. Kai ebenfalls. Beide überfiel dieselbe Befürchtung.

„Darf ich mal kurz einen Blick auf dich werfen?“, fragte er ihn zögerlich.

Kai nickte nur starr. Er ahnte es…

Behutsam hob Tyson dessen Pullover an. Er musste sich ein heftiges Zischen verkneifen.

Kais Rücken war gezeichnet von einem einzelnen, riesigen, tiefdunklen Fleck. Er begann unterhalb des Schulterblattes, zog sich weiter zu den Hüften und kroch unter den Hosenbund. Es sah furchtbar aus. Da wirkten die Verbrennungen an seiner Seite fast schon harmlos. Tyson fragte sich ob das nur eine heftigere Prellung war, denn etwas Derartiges war ihm noch nie unter die Augen gekommen. Es musste jedenfalls seine Wirbelsäule beschädigt haben, sonst hätte Kai sich bewegen können. Er wirkte zumindest den Umständen entsprechend noch fit, da man ihn ansprechen konnte. Das machte Tyson Hoffnung. Dennoch war ihm klar, dass sich das ein Arzt ansehen musste.

„Oi nein! Kai Aua.“, rief Jana tiefbekümmert aus. Sie wollte beruhigend über den Fleck streicheln, doch die Berührung ließ ihren Bruder erstickt keuchen. Seine Augen weiteten sich und er legte die Stirn schweratmend auf den Boden.

„Nicht anfassen.“, Tyson packte Janas Handgelenk. „Das tut ihm weh. Lass es lieber, okay?“

„Oh oh… Schuldigung! Böse auf mich, Kai?“

„Nein.“, beteuerte der. Seine Stimme klang beunruhigend leise. Tyson bedeckte den Rücken wieder. Ihm wurde schlagartig bewusst, dass die Einfahrt und vielleicht sogar das Wohnviertel, in Trümmern lagen. Ein Krankenwagen würde nicht einfach so hier hineingelangen. Sicherlich würde man Kai nur noch auf einer Trage hinausbekommen. Er dachte angestrengt nach, welches das nächstgelegene Krankenhaus war und ein wirklich ungutes Gefühl beschlich ihn dabei. Momentan war die Stadt ein Hexenkessel. Sie waren sicherlich nicht die Einzigen die Hilfe brauchten. Es könnte seinen Großvater Zeit kosten, bis er sich durch das Trümmerfeld geschlagen hatte.

Und wie lange erst die Rettungskräfte dann benötigten um sie zu erreichen?

Kai brauchte doch aber sofort einen Arzt…

Unmittelbar nach diesem Gedanken stemmte er sich gegen die Betonwand, die sie eingeschlossen hielt. Er drückte angestrengt dagegen, mit ganzer Kraft, warf sich mit der gesunden Schulter dagegen, während die beiden Geschwister ihn in seinem verzweifelten Versuch beobachteten. Jana ließ von ihrem Bruder ab und sprang auch auf die Wand zu. Sie platzierte ihre kleinen Handflächen auf das kalte Gestein und drückte nun ebenfalls dagegen, mit einer solchen Inbrunst das ihr Köpfchen hochrot anlief. Doch nichts rührte sich…

Offenbar hatte sich die Platte irgendwo eingekeilt. Schnaufend starrte Tyson durch die Risse im Gestein. Da erblickte er mehrere Gestalten die sich vor der Einfahrt herumtrieben. Einen Moment machte sein Herz einen glücklichen Hüpfer. Doch es war nicht sein Großvater der da kam. Eine Gruppe Menschen tummelte sich inmitten der Trümmer. Sie mussten alle ungefähr in seinem Alter sein, wobei er meinte, auch eine ziemlich alte Dame dazwischen zu sehen. Sie ging ziemlich gebückt und auch sehr langsam.

„HALLO!“, Tyson pochte wie wild gegen die Wand. Die Gruppe zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Ihre Köpfe schnellten in alle Richtungen um ihn zu orten. Er rief immer weiter um auf sich aufmerksam zu machen, doch als das Großmütterchen auf das Haus deutete, kam nur in eine junge Frau Bewegung. Sie kletterte vorsichtig über den Schuttberg und als er seine Finger durch den Spalt zwängte, fand sie ihn endlich.

„Dahinter sind Menschen!“, rief sie über ihre Schulter hinweg. Ihr Gesicht war von Asche gezeichnet und die Lippe ein wenig aufgeplatzt. Sie besaß kleine Löckchen und große dunkle Kulleraugen, die verzweifelt zu den zwei jungen Männern weit abseits blinzelten. Die kamen nur zögerlich hinterher. Einer von ihnen verzog verstimmt das Gesicht hinter seiner Brille, während der andere ziemlich ratlos dreinschaute. Tyson beschlich das Gefühl, dass er eigentlich gar nicht wissen wollte, ob sich noch Überlebende unter den Trümmern befanden. Mit Unwissenheit ließ sich besser leben.

„Wir brauchen Hilfe!“ erklärte er dennoch. Die junge Frau spähte in ihre Nische.

„Mein Freund ist verletzt. Er braucht einen Arzt!“

Er meinte den bebrillten Mann schnaufen zu hören.

„Seine kleine Schwester ist auch hier. Wir sind eingeschlossen.“

„Oh Himmel.“, die junge Frau schielte mitleidig zu Jana herab. „Wir müssen etwas tun!“

„Dafür ist keine Zeit. Die evakuieren die Stadt.“

„Lasst es uns doch wenigstens versuchen!“

„Und wenn diese komischen Freaks wieder auftauchen?! Hast du dir die ganzen Leichen in dieser Gegend mal angesehen? Hier sieht es aus wie auf einem Schlachtfeld.“

„Uns sind seit Stunden keine mehr über den Weg gelaufen! Wir können die drei doch nicht hier sitzen lassen!“

Der bebrillte Kerl bedachte die Frau mit ernster Mimik. Dann trat er an den Spalt, als wolle er sich selbst von dem Anblick dahinter überzeugen. Tyson beobachtete ihn genau. Wie seine Augen über das Szenario huschten. Er nahm sich Zeit. Studierte jeden ausgiebig. Sein Blick blieb lange an Jana hängen, dabei zuckte seine Braue und noch länger verweilten seine Augen auf Kai. Letztendlich packte er seine Leidensgenossin am Handgelenk und schob sie etwas zurück. Doch obwohl er flüsterte, vernahm Tyson jedes Wort.

„Vergiss es.“

Ihm gefror das Blut in den Adern.

„Warum?“, keuchte sie entsetzt auf.

„Sein Freund ist bald hinüber und das Mädchen… Mit der stimmt was nicht. Ich glaube das ist eines dieser Mongokinder.“

Es schnürte Tyson die Kehle zu.

Er wollte etwas sagen, doch die Sprache versagte ihm.

„Ist das ein Grund sie zurückzulassen? Wir können diese Leute doch nicht ignorieren!“

„Schatz, während wir hier debattieren, leert sich die Stadt immer mehr. Desto länger wir hier bleiben, desto weniger Rettungskräfte warten an den Sammelpunkten auf uns.“

„Was für Sammelpunkte?!“, rief Tyson durch den Spalt.

Das Mädchen schaute in seine Richtung, doch ihr Freund packte sie forsch am Handgelenk.

„Wir haben schon deine Großmutter bei uns! Das macht uns bereits langsamer. Jetzt stell dir mal vor, wir helfen denen da drinnen auch noch! Bis wir am Sammelpunkt ankommen, fliegt uns der ganze Berg um die Ohren!“

„Bitte sprich nicht so laut… Er hört was du sagst und das ist grausam!“

„Ja verdammt, dass ist es! Aber jetzt müssen wir uns um unseren eigenen Arsch kümmern! Wäre er darunter begraben, weil sein Haus wegen einer defekten Gasleitung explodiert ist, wäre die medizinische Versorgung nicht zusammengebrochen… Ich hätte doch dann auch geholfen! Sollen wir aber alle nur drauf gehen, um unser Gewissen zu beruhigen? Die ganze Stadt ist eine tickende Zeitbombe! Wir müssen weg, Izumi. Und sein Kumpel… Der macht es nicht lange! Glaub mir, ich bin Sanitäter, ich weiß wann es zwecklos ist zu helfen! Selbst wenn wir die daraus bekommen, wir müssten ihn die ganze Strecke bis zum Sammelpunkt tragen und selbst dann geht er wahrscheinlich Hopps!“

„Kommt schon! Das kann nicht euer ernst sein?!“, schrie Tyson ihnen zu. Die Frau namens Izumi starrte aschfahl zu ihm. Sie kniff die Augen zusammen, während ihr Freund weiter auf sie einredete.

„Das Mädchen ist krank. Die packt es bestimmt auch nicht.“

„Sie sieht okay aus. Und der andere scheint zumindest laufen zu können.“

„Ja toll! Einer gesund und zwei krank. Was für ein scheiß Kuhhandel!“

„Hör mal, ich wollte echt nichts sagen!“, mischte sich nun der andere Mann ein. Obwohl er hastig flüsterte, war jedes Wort zu vernehmen. Dazu war der Typ zu aufgebracht. „Aber wir schleppen schon deine Oma mit uns herum und dagegen war ich eigentlich auch schon!“

„Du Arschloch!“, fauchte Izumi ihn an. „Würdest du deine Großmutter einfach zurück lassen?!“

„Nein! Aber wenn du uns schon so einen Ballast aufbürdest, musst du uns nicht noch mehr aufhalsen!“, seine dunklen Augen blitzten sie anklagend an. „Ich will hier raus! Sofort! Meine Familie muss irgendwo am Sammelpunkt auf mich warten und ich habe keine Ahnung wie es ihnen geht! Also entweder lässt du die Typen jetzt hier zurück, oder du und deine Großmutter dürfen ihnen Gesellschaft leisten!“

Ein herzloses Ultimatum…

Tyson spähte von einem Gesicht zum anderen und begriff, dass die einzige Verbündete in diesem Streit, dabei war einzuknicken. Sie hatte die guten Absichten, aber nicht genügend Rückgrat es durchzusetzen. Offensichtlich war sich hier jeder selbst der Nächste. Die Männer wandten sich ab, während die junge Frau unschlüssig stehen blieb und damit stieg die Panik in ihm hoch.

„Hey, Izumi, richtig?!“, die junge Frau zuckte zusammen als er sie beim Namen ansprach. Sie blickte ihn furchtsam an. „Bitte, die Kleine… Sie ist gerade mal fünf Jahre!“

„Oh Himmel.“, ihr Freund rief sie drängend zu sich. Seine Stimme bellte über den Hof. „Ich schaffe das nicht alleine! Wie soll ich euch denn da herausbekommen?“

„Dann musst du deine Freunde irgendwie umstimmen! Wenn du in unserer Lage wärst, würdest du dir nicht auch Hilfe erhoffen?“

„N-Natürlich…“

„Izumi! Komm sofort her!“

Die Gruppe lief eilig weiter, während ihr Freund sie mit eisernem Gesicht taxierte. Tyson hörte das gebrechliche Großmütterchen fragen, was los sei, während der bebrillte Mann ihr antwortete, dass schon Hilfe unterwegs sei, um die fremden Leute aus den Trümmern zu bergen. Nicht nur eiskalt, sondern auch noch ein Lügner. Solche Leute hasste Tyson wie die Pest!

„Bitte hilf uns!“

„Es tut mir Leid…“, sprach Izumi tränenerstickt und tat einen Schritt von ihm weg.

„Ihr müsst doch nur helfen die Platte wegzumachen! Danach könnt ihr gehen! Ich werde mich schon um meine Freunde kümmern, aber alleine schaffe ich das nicht!“

„Tut mir Leid!“, ihre Stimme überschlug sich förmlich vor Schuld. Dann rannte sie weg. Dabei presste sie ihre Hände an die Ohren um Tysons Rufe nicht mehr zu hören. Dagegen vernahm er ihr Schluchzen umso mehr.
 

Nach dieser Gruppe stand er noch eine ganze Weile vor dem Riss in der Wand und spähte hinaus. Das ging so lange bis es draußen dämmerte und nur noch die glühenden Geschosse des Fujis über den bewölkten Himmel zogen. Selbst wenn die Brocken mehrere Kilometer entfernt aufschlugen, schallte der Aufprall laut nach, was Jana furchtsam wimmern ließ. Doch obwohl Kai so geschwächt war, sprach er stets ruhig auf das Mädchen ein. Dagegen war Tyson mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Er musste an Max und Ray denken…

Sie hätten sich niemals so verhalten wie diese andere Gruppe. Was für besondere Menschen waren die beiden doch gewesen. Und jetzt sollten sie weg sein?

Das war so unfair! Warum holte es immer zuerst die Guten?

Wann immer dieser Satz durch seinen Kopf spukte, schnürte es ihm die Luft ab. Ihm wurde schlecht, er wollte weinen, schreien, seiner Wut freien Lauf lassen oder zumindest der Welt entgegenbrüllen, was für ein ungerechtes Miststück sie war, dass sie gerade solch treue Menschen von ihrem Antlitz radierte. Hatte er ihnen das überhaupt einmal gesagt?

Beinahe wäre ihm ein lautes Aufschluchzen entwichen. Doch Jana war hier und er wollte das Kind nicht verängstigen. Und dann war da noch Kai. Er wusste es nicht einmal…

Das sie die letzten aus ihrem Team waren, die anscheinend lebten. Was wohl aus Kenny, Hilary und seinem Bruder passiert war? Selbst um Daichi machte er sich mittlerweile Gedanken. Dann war da noch sein Großvater. Der Himmel allein wusste wo es ihn hin verschlagen hatte.

„Tyson?“

Das rauchige Flüstern hinter ihm riss ihn aus den Gedanken.

Er wandte sich mit fragendem Ausdruck um. Kai schaute ihn an.

„Willst du dich nicht mal kurz setzen?“

Erschöpft blickte er auf ihn herab. Ja, warum nicht…

Momentan war ohnehin alles zwecklos. Sie mussten ausharren bis sein Großvater zurückkam. Er nickte geistesabwesend, nahm neben Jana und Kai Platz, der noch immer auf dem Bauch lag. Der wirkte furchtbar blass. Unter seinen Augen hatten sich dunkle Ränder gebildet. Er sollte sich jetzt wirklich mehr um Kai kümmern.

„Komm, wir machen es dir mal gemütlicher.“, sprach Tyson sanft und griff behutsam nach dessen Schultern, um den Oberkörper anzuheben.

„Das musst du nicht.“, es klang sehr abgekämpft.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal zu dir sage, aber sprich nicht so viel. Du musst dir deine Kräfte jetzt wirklich aufsparen. Keiner weiß wie lange es noch gehen wird, bis Opa kommt. Also spricht doch nichts dagegen, aus dem ganzen das Beste herauszuholen.“

Ein erschöpftes Seufzen war die einzige Erwiderung. Kai ließ zu, dass Tyson ihn äußerst vorsichtig auf die Seite drehte. Danach fuhr er mit seinen Fingern in dessen Haarschopf und hob den Kopf ganz langsam an, um ihn auf seinen Schoß zu betten. Dann kraulte er ihm durch den Nacken. Immer in kreisenden Bewegungen. Ein leises Seufzen drang an sein Ohr. Das gefiel ihm wohl. Dabei wäre das hier vor wenigen Wochen noch undenkbar gewesen. Das Kai so bei ihm lag und sich von ihm behüten ließ, wie ein verletzter Kater.

„Ich au kuschel…“, klagte Jana aus Kulleraugen und mit einem dicken Schmollmund. Prompt fühlte sie sich wieder ausgeschlossen, als sie diesen Anblick sah.

„Natürlich. Du auch.“, Tyson streckte ihr einladend die Hand entgegen und sie kam der Aufforderung, mit einem geradezu euphorischen Glucksen nach. Was das anging, waren die Geschwister wirklich komplett verschieden. Der eine versteckte seine Gefühle, die andere war wie ein offenes Buch. Es kehrte Stille ein, wenn man auch erwähnen musste, dass sie vom ständigen Poltern des Fujis getrübt wurde.

„Dranzer hatte sich Hanas Körper geschnappt.“, sprach Kai auf einmal leise. Doch zunächst verstand Tyson nur Bahnhof. Er brauchte lange bis er auf die Lösung kam. Ein gequälter Atemzug kam aus seinem Mund. Dann hatte Dranzer auch noch die Verlobte seines Bruders auf dem Gewissen.

„Es tut mir so leid, was mit ihr pas-…“

„Du kannst nichts dafür.“, schnitt Tyson ihm ins Wort. Er wusste zu welchen Mitteln Dranzer griff um Menschen zu manipulieren. Er hatte es schließlich am eigenen Leib erfahren. Ihm ging durch den Kopf wie willig er ihrem Wunsch nachgekommen war, als sie ihn in Kais Körper geradezu umgarnte. Sie hätte ihn darum bitten können, auf den höchsten Punkt der Welt zu steigen, er wäre frohen Herzens losgezogen, um ihre Forderung zu erfüllen. Sie war wohl einfach geschickt darin, in die Seele eines Menschen hineinzuspähen.

„Ich hätte es ahnen müssen.“, warf Kai sich vor.

„Das hatten wir doch schon. Du konntest es nicht wissen.“

Kai schloss die Lider und antwortete traurig: „Sie war mein Bit Beast. Ich habe sie nicht verstanden.“

Tyson dachte über diese Worte lange nach.

„Dann hätten wir es alle ahnen müssen. Geister sind keine Spielzeuge.“

„Nein. Das sind sie wirklich nicht.“, pflichtete Kai ihm bei. Seine Stimme klang beklommen. Es wurde still zwischen ihnen. Draußen donnerte der Fuji weiter, während Jana zaghaft, von Tysons anderer Seite aus, die Finger nach ihrem Bruder ausstreckte. Sie begann ihm über den Kopf zu streicheln und sang dabei immer wieder kaum hörbar: „Heile, heile. Alles gut.“

Scheinbar spürte sie, dass für ihn die Grenze des Erträglichen erreicht war.

„Bit du traurig, Ai?“

„Nein. Es ist schon okay.“, beschwichtigte er seine Schwester. Sie ließ sich mit der Ausrede abspeisen und begann verträumt am Reißverschluss, von Tysons Jackentasche zu spielen. Dabei summte sie leise vor sich her und vergaß ihre Umgebung bald. Ein Bild von Arglosigkeit und Unbekümmertheit.

„Du warst großartig dort drüben, weißt du das eigentlich?“

Einen Moment schaute er Kai verwirrt an.

„Dort drüben?“

„In der Irrlichterwelt.“, erläuterte der. „Das war eine sehr starke Leistung von dir.“

Er musste an Max und Ray denken. Sie hatten etwas Ähnliches behauptet.

Und doch gab es sie nicht mehr…

„Nein, war es nicht.“, sprach er traurig.

„Warum denn wieder so selbstkritisch?“

Er hätte es Kai sagen sollen. Das wäre die Gelegenheit. Doch Tyson brachte es einfach nicht übers Herz. Stattdessen antwortete er: „Sieh dich doch an. Du bist einer von vielen Gründen, weshalb ich heute versagt habe. Ich habe dir den Teufel direkt vor die Haustür gebracht.“

„Nein, das darfst du nicht denken. Du hast nichts unversucht gelassen, um dieses Unheil abzuwenden. Sogar deinen eigenen Körper dieser Sache geopfert. Woher glaubst du kommen alle deine Verletzungen? Dragoon ist nicht gerade zimperlich mit dir umgesprungen. Ich dachte einige Male das er dich noch umbringt.“

Kai hob die Hand. Er strich mit den Fingern an seinen Wangenknochen entlang.

„Also Zweifel nicht an dir, Kinomiya. Das ist furchtbar unattraktiv.“

Es ließ ihn doch kurz Auflachen. Er umfasste Kais Hand und küsste sie auf der Innenseite.

„Na schön. Aber du solltest dich jetzt wirklich schonen.“

„Das wird nichts mehr bringen. Das solltest du mittlerweile wissen…“

Ein Lächeln folgte. Es war melancholisch. Tyson hielt beim nächsten Kuss inne. Seine Lippen blieben auf der Handfläche. Er erstarrte als ihm klar wurde, worauf das hinauslief.

„Hör auf so zu reden. Willst du der Kleinen Angst machen?“, flüsterte er.

„Nein. Aber ich möchte Dinge klären.“

„Es gibt überhaupt nichts zu klären! Du musst einfach noch etwas durchhalten. Es dauert nicht mehr lange und Opa wird Hilfe hol-…“

Sein Redefluss verebbte, als er Kais Finger auf seinem Mund spürte, die ihn sachte zum Schweigen bringen wollten. Ein mitleidiger Blick traf ihn.

„Das hier kannst du nicht schön reden.“

„Kai du darfst jetzt nicht aufgeben. Das schaffst du! Du bist hart im Nehmen. Wie früher nach einem harten Match, weißt du noch?“

„Das ist doch etwas ganz anders als damals. Du vergleichst Äpfel mit Birnen.“

„Ja vielleicht, aber du…“

„Meine Beine fühlen sich taub an. So eiskalt.“

Tyson zog prompt seine Jacke aus. Zumindest die in Mitleidenschaft geratenen Überbleibsel davon. Er warf sie Kai über den Körper. Dann zog er ihn enger an sich. Er rieb ihm sachte über die Schultern um die Kälte aus seinen Gliedern zu treiben. Jana begann es ihm nachzumachen und sang immer wieder: „Heile, heile, alles gut.“

„Weißt du noch am Lagerfeuer? Da haben wir uns auch so gewärmt.“

„Das ist eine andere Kälte…“

„Bitte versuch es doch wenigstens! Du musst dich schon anstrengen!“

Er konnte der Verzweiflung nicht mehr Herr werden. Das hier lief falsch. Allein die Vorstellung konnte er nicht ertragen. Dafür war er nicht gewappnet – er wollte nicht alleine zurückbleiben!

„Man spürt wenn es zu Ende geht, weißt du?“, erklärte Kai inzwischen. Er lehnte mit dem Kopf an seiner Brust und schloss einen Moment die Augen.

„Kai was los?“, wimmerte Jana nun doch furchtsam.

„Nichts, Kleines. Komm her.“, er hob mit einem zuversichtlichen Lächeln langsam die Jacke an, damit seine Schwester zu ihm, unter den Stoff krabbeln konnte. Sie folgte der Aufforderung, lehnte ihr Köpfchen überglücklich gegen seine Oberkörper und strich zaghaft über die angesengten Stellen jenes Arms, der sich über sie legte. Währenddessen dachte Tyson fieberhaft darüber nach, wie er Kais Lebensgeister wieder wecken könnte. Er konnte ihn nicht ziehen lassen…

Das kam gar nicht in Frage! Da riss ihn dessen Flüstern aus seinen Überlegungen.

„Ich muss dir etwas beichten. Aber bitte hör mir einfach nur zu. Das ist wichtig und ich muss es dieses Mal loswerden, bevor wieder zu viel Zeit verstreicht. Ich erinnere mich wieder an unseren Streit. Den bevor wir in die Irrlichterwelt kamen.“

„Du willst jetzt ausgerechnet darüber reden?“, heulte Tyson fassungslos auf.

„Ja. Weil ich an diesem Abend etwas gesagt habe, was falsch war. Ich habe behauptet, dass ich mich nicht mit euch hätte einlassen dürfen. Aber das war so unfair von mir.“

Kais Lider öffneten sich träge. Darunter erhaschte Tyson einen betrübten Blick.

„Ich mache das ständig. Jedes Mal wenn ich das Gefühl hatte, dass ihr mir zu nahe gekommen seid, habe ich euch an den Kopf geworfen, dass ich mich nicht mehr mit euch abgeben sollte. Aber die Wahrheit ist – ihr habt mein Leben so viel reicher gemacht. Jeder von euch auf seine Art. Du ganz besonders…“

„Kai. Wir werden in Zukunft viel Zeit haben um darüber zu reden.“

„Nein. Wir sind beide Weltmeister darin, die Jahre verstreichen zu lassen. Ich bin in dieser Disziplin leider sogar der unangefochtene Champion. Selbst dich stelle ich dabei in den Schatten. Ray, Max und Kenny… Sie sind alle gestern gegangen und ich habe ihnen schon wieder nicht gesagt, was für gute Freunde sie sind. Das hätte ich endlich einmal tun sollen. Kannst du ihnen etwas von mir ausrichten?“

Tyson erstarrte. Er fühlte förmlich wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich.

Mit einem schweren Schlucken schaute er auf Kai herab.

„Sag ihnen bitte, dass es mir Leid tut, das ich nie offener zu ihnen war. Ich möchte wirklich, dass sie wissen, wie viel mir die Freundschaft zu ihnen bedeutet hat. Menschen wie ihr - die sind so selten. Wenn ich euch nicht getroffen hätte… Ich weiß nicht was aus mir geworden wäre. Wahrscheinlich ein ähnliches, verbittertes Ekel wie mein Großvater. Ihr habt mir auf eure Art mehrmals das Leben gerettet. Nicht nur damals auf dieser Eisscholle im Baikalsee. Auch in der Zeit danach. Erst durch euch konnte ich erkennen, dass die Menschheit nicht nur verdorben ist. Als ich aus der Abtei kam, dachte ich aber so…“

„Kai. Bitte quäl dich nicht. Du wirst es ihnen irgendwann selber sagen können.“

„Nein. Kann ich nicht. Richte es ihnen bitte aus, ja? Erzähl ihnen von der Abtei. Alles was du darüber weißt.“, sein Blick wurde flehend. „Sag ihnen dass es mir Leid tut, das ich so misstrauisch war. Das ich euch alle immer so auf Abstand gehalten habe… Ich habe das nicht gemacht, weil ich euch für schlechte Menschen halte. Aber wenn man in der Abtei war, lässt sich diese Angewohnheit einfach schlecht abschütteln. Ich hielt mich für so klüger und erfahrener. Euch dagegen hatte ich als einfältige Kinder abgestempelt, die niemals so ausgelassen sein könnten, wenn sie auch nur eine Woche in der Abtei verbracht hätten. Ich hielt euch für charakterschwach. Das war so hochmütig von mir. Ich hatte mir eine Meinung über euch gebildet, ohne euch die Chance zu geben, mich vom Gegenteil zu überzeugen.

„Oh Kai…“, er strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht. Diesem einsamen Wolf, der im ersten Moment auf sich allein gestellt schien, aber doch ein Rudel besaß, was ihn beschützte. Kai hatte immer zu ihnen gehört.

„Wir haben doch geahnt, dass deine Kindheit nicht so einfach war. Sofort als du uns gestanden hattest, dass du in der Abtei warst. Und auch als wir deinen Opa in natura erlebt haben. Wir wussten das es schwer für dich sein musste, bei ihm groß zu werden.“

Ein müdes Lächeln umspielte Kais Mundwinkel. In jenem Moment wirkte er so gebrechlich, aber in Tysons Augen trotzdem noch so vollkommen. Er sah so abgekämpft aus…

Jana verfiel wieder in ihren tröstenden Singsang. Da fuhr Kai in ruhigem Tonfall fort, um seine kleine Schwester nicht misstrauisch zu machen. Was sie besprachen entzog sich ihrem kindlichen Geist. Kais Finger fuhren zu Tysons Arm. Er schaute auf den Brandfleck, der wohl auf Dranzers Konto ging.

„Dir muss ich auch noch so vieles sagen. Das hätte schon viel früher kommen müssen.“, er lehnte sich tiefer in die Umarmung, tätschelte dabei seine Schwester behutsam über den dunklen Haarschopf. „Weißt du eigentlich, was deine wahre Begabung ist, Tyson?“

„Meine wahre Begabung?“

„Ja. Da ist etwas, dafür wirst du wohl nie einen Titel bekommen, aber eigentlich ist es genau das, weshalb du wirklich aus der grauen Masse herausstichst. Du besitzt die Fähigkeit die Menschen um dich herum zu begeistern. Du kannst sie öffnen. Wie ein Buch. Sie können mit sieben Siegeln verschlossen sein, aber du knackst eines nach dem anderen. Man kann sich dir gegenüber noch so sehr verschließen, sich in stillschweigen flüchten, aber du liest hartnäckig Wort für Wort, Satz um Satz, Zeile für Zeile, bis du eine Seite geschafft hast und irgendwann ein ganzes Kapitel hinter dir liegt. Du kämpfst dich einfach durch, bis man sich dir komplett hingibt. Hast du eine Ahnung, wie oft ich mich nach einer Unterhaltung mit dir, über mich selbst geärgert habe, weil ich das Gefühl hatte, dir zu viel von mir preisgeben zu haben?“

Tyson schüttelte verneinend den Kopf. Die Bewegung wirkte starr.

„Und doch ist es so… Ich mag es nicht wenn Menschen zu viel von mir wissen. Die Wahrheit ist, dass die wenigsten mich so gut kennen, wie ihr es getan habt. Du weißt wohl am meisten von mir. Deshalb habe ich wohl immer versucht dich auf sicherer Distanz zu halten. Ich habe dich wohl einfach als potenzielle Gefahrenquelle betrachtet – als mein wunder Punkt. Es sind gerade jene Menschen, denen man am meisten vertraut, bei denen ein Verrat besonders weh tut.“

Das konnte Tyson nur zu gut verstehen. Behutsam legte er seine Hand auf Kais Stirn und fuhr mit dem Daumen sanft über die Haut dort. Dabei hörte er einfach nur zu, während dieses Buch mit sieben Siegeln, sich endlich gänzlich vor ihm öffnete.

„Du siehst so einfach über düstere Seiten hinweg. Wenn du an eine Passage ankommst, die dir an einem deiner Freunde missfällt, stößt du ihn nicht fort. Du fängst an ihn zu ändern, um ihn zu kämpfen oder arrangierst dich mit seinen Fehlern. Einfach weil du der festen Überzeugung bist, dass weitaus mehr Gutes in ihm steckt. Du hast mich nie aufgegeben und das obwohl ich dich manchmal so ungerecht behandelt habe. Das Schlimme daran ist, ich habe dich deshalb immer für dumm gehalten. Ich dachte, dass du irgendwann mit deiner grenzenlosen Optimismus böse fällst. Genau deshalb habe ich mich gegen dich so gesträubt, als wir uns kennengelernt haben. Ich wollte der Beweis sein, dass du falsch liegst. Ich wollte deine Seifenblase zum Platzen bringen. Einfach so… Wahrscheinlich hat mich in diesen Momenten der Neid getrieben. Mich hat es geärgert, dass du von deinen naiven Moralvorstellungen predigst und auch noch damit durchkommst, ohne auf die Schnauze zu fallen.“

Kai atmete schwer aus, während Tyson ihn mitleidig bedachte. Er schien Schmerzen zu haben. Die dunklen Ringe unter seinen Augen schienen noch finsterer zu werden. Sein Gesicht war so blass.

„Ich habe mich so sehr gegen deine Freundschaft gewehrt. Es hat dich Jahre gekostet und trotzdem wolltest du niemals aufgeben. Das war damals so seltsam für mich, weil ich doch gedacht hatte, dass dich gerade die dritte Weltmeisterschaft wachrütteln würde. Als wir uns alle von dir abgewandt haben, war ich überzeugt, deine naive kleine Seifenblase in der du lebst, kaputt gemacht zu haben. Das du endlich anfängst dich der grausamen Realität zu stellen. Endlich verstehst dass jeder Mensch verdorben sein kann.“

Er senkte die Lider und Tyson ahnte, dass das nachfolgende Geständnis ihn quälte: „Ich war richtig schadenfroh… Weil ich dachte, dass ich deinen Optimismus damit geknackt hätte. Das war so boshaft von mir. Ich verstehe selbst nicht, wieso ich so bin! Ich habe mich richtig überlegen gefühlt… Doch stattdessen hast du dir nach deiner Talfahrt, nur den Dreck von den Schultern geklopft und bist umso höher aufgestiegen. Und als ich dann bei der BEGA rausgeflogen bin, wolltest du mich unbedingt wieder in deinem Team haben. Als wäre nie etwas zwischen uns vorgefallen. Ich verstehe bis heute nicht warum? Und ich schäme mich für diese gehässige Seite an mir… Du denkst vielleicht ich bin ein Mysterium, aber eigentlich bist du für mich ein weitaus größeres Rätsel. Ich habe nie verstanden wie du ein so unerschütterliches Vertrauen in mich besitzen kannst.“

Bei diesem Satz weiteten sich seine Augen in Erstaunen. Tyson hatte nie geahnt, dass sie beide so ähnlich übereinander dachten. Dass sie für den jeweils anderen das größte Geheimnis darstellten. Etwas nachdenklich schaute er sich in der Nische um.

„Ich habe einfach gespürt, dass du vertrauenswürdig bist.“, sprach er schließlich.

„Woher? Ich habe dir keinen Grund geliefert.“

„Du warst da wenn man dich wirklich gebraucht hat. Und du hattest selbst so viel durchgemacht. Deshalb warst du so.“

„Das konntest du damals noch nicht wissen. Du weißt erst seit gestern von den Tage in der Abtei.“

„Ich kann dir nicht sagen woher, Kai. Aber ich denke… Nein. Ich weiß es eigentlich.“, ihm kam es wieder in den Sinn. „Es waren deine Augen. Als wir uns das erste Mal begegnet sind, musste ich viel über dich nachdenken. Auf der einen Seite kamst du mir furchtbar arrogant vor. Doch andererseits wollte mir nicht in den Kopf, wie ein Junge, der ungefähr in meinem Alter ist, schon so verschlossene Augen hat. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass du glücklich bist, mit der Art wie du lebst.“

Kai blinzelte träge zu ihm auf. Dann senkte er die Lider mit einem wissenden Lächeln.

„Verstehe.“, er tat einen tiefen Atemzug. Auf einmal hustete Kai. Es klang sehr beunruhigend und ungesund. Tyson wollte ihn ermahnen von jetzt an still zu bleiben, doch er schüttelte den Kopf. Was immer ihm auf der Seele lag, Kai wollte es aussprechen. Er brauchte seine Zeit, um wieder zu Luft zu kommen. Doch als es soweit war, klang seine Stimme ruhig, auch wenn er äußerst leise sprach.

Und auch sehr langsam.

„Nach der dritten Weltmeisterschaft wusste ich, dass ich deinen Kampfgeist niemals brechen würde. Ich wollte es auch gar nicht mehr und habe mir eingestanden, dass du einfach einen unbeugsamen Willen hast. Stärker noch als meiner. Seltsamerweise machte mir das gar nichts mehr aus. Ich dachte mir, dass jemand wie du, vielleicht die große Ausnahme ist. Deshalb wollte ich auch nicht mehr weiter bladen und bin ausgestiegen. Ich wusste dass ich dich niemals schlagen könnte, dazu warst du einfach zu entschlossen. Allerdings war ich der festen Überzeugung, dass wir uns von da an nie mehr wiedersehen würden, weil die einzige Gemeinsamkeit zwischen uns, für mich, nur unsere Rivalität war. Aber ich habe mich wieder geirrt… Stattdessen standet ihr permanent vor meiner Haustür, selbst als mein Großvater aus der Haft entlassen wurde und euch wie ein verdammter Irrer, mit dem Schürhaken aus dem Haus jagte.“

Die Erinnerung ließ beide kurz auflachen. Es war ein wehmütiger Moment.

Diesen Tag würde Tyson einfach nie vergessen. Max hatte aus Trotz gegen eine Statue vor der Eingangstür getreten, als Voltaire ihn am Genick packte und zur Tür hinauswarf. Das marmorne Meisterwerk geriet daraufhin schwer ins Wanken. Als das alte Ekel seine sündhaft teure Skulptur panisch umschlang, schubste Tyson, aus purer Gehässigkeit, die andere Statue, die zur linken Seite der Tür ragte. Er beschimpfte den miesgelaunten Greis als verbohrte alte Pestbeule. Dagegen war von Kenny nur noch eine Staubwolke zu sehen gewesen, als er den Schürhaken in Voltaires Hand erblickte und als er hektisch über den Zaun kletterte, riss der Chef sich den Hosenboden auf. Was hätte Tyson nicht alles dafür getan, noch einmal Rays Lachen von damals zu hören, dass begeistert von all dem Chaos, heiter über den Platz schallte.

Ob Kai sich das auch gerade so sehnlichst wünschte? Nur noch ein einziges Mal…

Ihm war so sehr zum Weinen zu Mute bei diesem Gedanken.

„Ihr habt mich immer weiter in die Gruppe hineingezogen. Es war ein geradezu schleichender Prozess und ihr hattet alle so viel Geduld mit mir. Zehn Jahre, Tyson… Diesen Zeitraum muss man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen, findest du nicht auch? Die Jahre sind so schnell verflogen und ich dachte doch eigentlich, unsere Freundschaft würde sich irgendwann im Sand verlaufen. Ich habe nicht wirklich an unser Team geglaubt. Aber ihr hattet mal wieder den längeren Atem. Ich habe gar nicht richtig bemerkt, wie ihr immer mehr ein Teil von meinem Leben geworden seid. Ihr habt mich da ziemlich überrumpelt…“

Kai lächelte matt zu ihm auf und Tyson konnte nicht anders. Eine einzelne Träne rann seine Wange herab. Er fuhr sich unauffällig über die Stelle, damit Jana nichts bemerkte. Die döste allmählich weg.

„Ich wünschte ich könnte den anderen offen ins Gesicht sagen, wie sehr ich sie wertschätze. Stattdessen habe ich den Moment wieder versäumt. Aber dir… Dir kann ich es wenigstens sagen. Du sollst wissen, wie viel du mir bedeutest. Wie ich dich sehe.“, Kai schloss die Augen. Es schien als würde er sich einfach der Wärme seiner Umarmung hingeben. „Für mich bist du ein wirklich unbeschreiblicher Mensch. Einzigartig, vielleicht auch mit manchem Makel versehen - aber du hast es geschafft, dass mir jeder einzelne Fehler von dir ans Herz gewachsen ist. Deine Verrücktheiten, dein Leichtsinn, deine Sturheit, die Art wie albern du sein kannst, sogar deine gelegentliche Selbstverliebtheit. Ich liebe alles davon. Dabei wollte ich das immer an dir ändern. Aber ich mag es wie du mich dadurch immer zum Lachen gebracht hast. Für mich bist du so wie du bist perfekt. Genau dieser Tyson, der du heute bist – genau den liebe ich.“

Er konnte fühlen wie Kai nach seiner Hand tastete. Seine Finger streiften ihn leicht, viel zu schwach, um richtig zupacken zu können. Also tat es Tyson. Er ergriff Kais Hand ganz fest, um ihm zu zeigen, dass er nicht alleine war. Draußen verschwanden die letzten Strahlen der Sonne. Das wenige Licht das noch geblieben war, fiel gerade noch als einzelne feine Linie durch den Riss in der Wand. Der Staub tänzelte in ihrem fahlen Glanz.

„Du bist mein Wirbelwind. Ich bin so… froh dass du nicht locker gelassen hast. Das du in mein Leben getreten bist war ein großes Glück.“

Tyson stockte der Atem. Ihm wurde klar was gerade passierte. Kai fiel es immer schwerer zwischen seinen Worten Luft zu bekommen. Seine Augen waren ein kleiner Spalt. Darunter wurden die Pupillen immer trüber. Und er saß hier und konnte einfach nur zuschauen.

„Vielleicht solltest du dich aufsetzen.“, sprach er verzweifelt.

„Nein. Das nützt nichts mehr. Und so ist es gut.“ erklärte Kai mühsam. „Kannst du mir aber… zwei letzte Gefallen tun? Nur diese beiden?“

„Ich würde alles für dich tun.“, versicherte Tyson ihm aus kratziger Stimme. Was sich hier anbahnte konnte er nicht mehr aufhalten. Der Körper in seinen Armen zitterte, vielleicht war es aber auch sein eigener. Er hatte solche Angst vor dem was bevorstand, weil Tyson sich nicht vorstellen konnte, wie es ohne Kai weitergehen sollte. Zu wissen, dass alle seine Freunde von dieser Welt verschwunden waren, einfach nicht mehr da waren, nicht mit ihnen sprechen zu können – das war der Horror.

Er würde nie mehr mit ihnen Lachen…

„Bitte, pass auf Jana auf.“, sprach Kai inzwischen seinen ersten Wunsch aus. Ganz leise war seine Stimme. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel sie mir bedeutet. Bitte nimm du sie bei dir auf. Der Gedanke dass sie in ein Heim kommen könnte… der macht mich fertig.“

Er tat eine Pause um wieder zu Luft zu kommen.

Jeder Satz schien ein enormer Kraftakt zu sein.

„Ich will dass sie bei jemandem aufwächst den ich kenne. Jemandem dem ich voll und ganz vertraue. Du kannst wundervoll mit Kindern umgehen. Das durfte ich selbst erleben. Machst du das für mich?“

„Natürlich. Ich pass auf sie auf.“, versprach Tyson mit erstickter Stimme.

Er hörte Kais Erleichterung. Es war der erste Atemzug der ohne Stocken kam. Tyson schaute auf das kleine Mädchen, dass in ihrer kindlichen Unwissenheit nicht begriff, was sich zwischen ihm und ihrem großen Bruder gerade abspielte. Die noch nie einen sterbenden Menschen erlebt hatte und daher nicht verstand, was für Pläne gerade über ihren Kopf hinweg getroffen wurden. In wenigen Minuten würde Kais Körper noch da sein, aber die Seele dazu fehlen. Jana nestelte nur verträumt, mit den kleinen Fingern, an einem Ende von Kais Pullover und hielt die Lider halbwegs geschlossen. Sie war am Einschlafen.

„Und mein zweiter Wunsch… Gib dir niemals die Schuld für das alles hier. Ich will das du nach vorne schaust und weitermachst. Und das du glücklich wirst.“

Die Tränen rannen ihm nun in Bahnen herab und Tyson begann zu Schluchzen. Er konnte einfach nicht mehr an sich halten, auch nicht als Jana verwirrt zu ihm aufschaute. Sie blinzelte verschlafen und erhob sich langsam, während er Kais Hand ganz fest hielt. Zwar wurde die Geste erwidert, aber es steckte kaum noch Kraft dahinter. Die Sonnenstrahlen waren nun gänzlich verschwunden.

„Versprichst du das? Ein Versprechen muss man halten, Kinomiya.“

Tyson nickte heftig. Er hatte keine Worte mehr. Alles in ihm flehte darum, diesen Moment nicht geschehen zu lassen. Dafür war er einfach nicht gewappnet. Auf so etwas hatte ihn niemand vorbereitet. Er kam sich so hilflos vor.

„Danke, Tyson. Vielen Dank.“

Kais Blick schien weit fern. Er murmelte: „Jana, leg dich wieder hin. Komm zu mir.“

„Bist du müde Ai?“

„Ja. Sehr müde.“

„Wir mache Auge zu und schlafe, okay?“

„Das klingt gut, meine Kleine.“, jedes Wort kam langsamer als das vorherige aus seinem Mund.

„Ich liebe dich, Kai.“, beteuerte Tyson noch einmal. Er sah wie ein letztes schwaches Lächeln über dessen Gesicht huschte. Doch seine Augen waren bereits leer geworden. Die Lider senkten sich nicht vollends über ihnen. Tyson wartete auf eine Entgegnung. Ein allerletztes Wort aus seinem Mund.

Aber da kam nichts mehr…

Er starrte wie gebannt auf Kais Lippen. Selbst das Blinzeln untersagte er sich, aus Angst, er könne das kleinste Zucken versäumen. Doch vergebens. Die Sekunden verstrichen. Es wurden Minuten. Und irgendwann musste Tyson sich eingestehen, dass es tatsächlich vorbei war.

Kai war weg. Einfach so. Der Moment indem seine Seele verschwand, war mit einem Wimpernschlag vorbei. Tyson tätschelte noch einmal seine Wange. Einfach weil er noch hoffte. Dabei flüsterte er Kais Namen. Immer wieder. Immer wieder. Irgendwann blinzelte Jana von der Brust ihres Bruders auf. Sie hob den Zeigefinger an die Lippen und schaute Tyson aus vorwurfsvollen Augen an.

„Pss! Kai schlafe.“, ermahnte sie ihn flüsternd. Sie drückte ihrem Bruder einen Gutenachtkuss auf die Wange. Dann kuschelte sich Jana wieder ganz dicht an Kai heran.

„Nich wecke, Tidom. Ai ausruhe. Dann wieder gesun sein morge.“

Er starrte sie an und konnte nichts erwidern. Seine Kehle war wie ausgedörrt.

Innerlich zerbröckelte sein Herz aber in Milliarde kleine Splitter. Sein letzter Kindheitsfreund und sein Geliebter, hatte ihn damit also verlassen.
 


 

*
 

Kais Körper schien noch sehr lange warm zu sein. Tyson konnte gar nicht richtig begreifen, dass darin wirklich keine Seele mehr stecken sollte. Er wirkte so friedlich, als würde er tatsächlich nur schlafen.

Dagegen fühlte Tyson sich wie ein Schatten. Als wäre er gestorben.

Er wusste nicht woher er die Kraft aufbringen sollte, um Kais Wünschen noch gerecht zu werden. Jana hatte ihr Köpfchen auf die Brust ihres Bruders gelegt, der sich in ihren Augen nur bei einem kleinen Nickerchen, von seinen Strapazen erholte. Bald würde Tyson ihr erklären müssen, dass Kai nie wieder aufwachte. Er lachte freudlos bei diesem Gedanken auf…

Zunächst einmal müsste jemand ihm das erklären.

Tyson wollte nicht einmal von dem leblosen Körper hier ablassen. Er war doch noch warm. Als wäre noch ein winziger Teil von Kai darin verborgen, den es unbedingt zu bewahren galt. Wie das noch nichts ausgekühlte Wachs einer gerade eben heruntergebrannten Kerze.

Tyson trieben aber noch ganz andere Gedanken. Beispielsweise das er zehn Jahre verplempert hatte, ohne sich seinen Gefühlen bewusst zu werden. Das war so unfair. Gerade fanden sie zueinander, gestanden sich endlich ein, dass zwischen ihnen mehr als Freundschaft war – da verpuffte der Moment auch schon.

Letztendlich war Tysons Seifenblase doch geplatzt. Er hatte Kai verloren, noch bevor er richtig von einer Zukunft mit ihm träumen durfte. Ein wehmütiger Atemzug entrang sich seiner Brust. Seltsamerweise weinte er nicht mehr. Seit einer gefühlten Stunde starrte er nur geradeaus. In seinem Kopf ging er alle verpassten Gelegenheiten durch. Alles was er gerade fühlte war selbsthass. Wie konnte ein einzelner Mensch so unsagbar dumm sein und ein Jahrzehnt lang nicht begreifen, was in ihm selbst vorging? Sie hätten viel früher zusammenkommen können. Doch weil er zu viel Angst davor hatte, seinen Gefühlen zu Kai auf den Grund zu gehen, gab er sich lieber mit Frauen ab, die gerade Mal die niedersten seiner Bedürfnisse befriedigen konnten. Tysons fletschte die Zähne vor Zorn. Er hasste sich. Jetzt, in diesem Moment, hasste er sich so sehr.

„Du Feigling.“, flüsterte er sich selbst zu. Tyson drückte den Körper in seinen Armen fester.

„Kinomiya, du elendiger Feigling!“, er vergrub sein Gesicht in Kais Haarschopf. „Du bist der größte Idiot den es gibt!“

„Nich weine.“, tadelte ihn Jana. „Du sons Ai wecke.“

Am liebsten hätte er sie auch angebrüllt. Da war ein furchtbar wütendes Monster in ihm, das alles zerstören wollte, weil niemand seinen Schmerz heilen konnte. Doch Tyson entsann sich gerade noch, als er das runde Gesicht vor sich erblickte. Die großen, unschuldigen Augen des Mädchens schauten ihn an, bis sie die Finger nach ihm ausstreckte und sein Gesicht umfasste.

„Warum du so traurig schaue?“, wollte sie wissen. „Bin ich schuld?“

Diese Situation. Das kam ihm so bekannt vor…

Wie damals in Wolborgs Hütte, als Kai ihn dasselbe fragte. Jana sah ihm in jenem Moment so ähnlich. Es war nicht das Aussehen an sich, sondern der Ausdruck in den Augen. Sie sorgte sich um ihn. Es machte sie traurig, wenn er traurig war.

„Alles gut. Kein Angst. Ich da für dich.“, versprach Jana mitfühlend.

Tyson starrte sie an. Dieses kleine Geschöpf was einen winzigen Funken von Kai in sich barg. Ihm kam in den Sinn, das er von Max und Ray nichts dergleichen besaß. Da war nichts von ihnen zurückgeblieben, was ihn so an die beiden erinnerte, wie dieses kleine Mädchen an Kai. Seine Fäuste ballten sich entschlossen. Er musste sie hier herausbekommen. Das letzte bisschen bewahren, was er von Kai besaß. Doch wenn sie es aus eigener Kraft hinausschaffen wollten, müsste er…

Tyson wagte gar nicht die Überlegung auszuspreche. Er müsste Kais Leichnam hier zurücklassen. Der Gedanke ließ ihn starr zu dem toten Körper schauen.

Das würde er niemals über sich bringen können. Er wollte Kai begraben. Tyson wollte einen Ort haben, an den er Jana führen konnte, wenn sie erst einmal älter war. Nicht nur sie brauchte das, er würde das auch brauchen, um dieses klaffende Loch in sich zu heilen. Er wollte einen Platz, an welchem er wenigstens einem seiner Freunde Nahe sein konnte. Ihm wurde schmerzlich klar, weshalb manche Menschen so viel Zeit auf Friedhöfen verbrachten. Er würde wohl auch jeden Tag an Kais Grab wollen. Bei dem Gedanken das Ray und Max für ihn dagegen unerreichbar waren, verzog sich sein Gesicht erneut voller Gram.

Er kam sich so verlassen vor…
 

Gerade als er darüber nachdachte, wie sie endlich hier herauskommen sollten und dabei auch Kais Körper mit sich nehmen könnten, spürte er einen kläglichen Windhauch in seinem Nacken. Er fröstelte kurz. Tyson schielte zum Riss in der Wand, in der festen Überzeugung, dass der Zug daher kam, bis ihm klar wurde, dass er in die falsche Richtung blickte.

Er wurde starr. Ein Schweißtropfen rann ihm die Schläfe herab.

Da klackerten an vereinzelten Stellen ihres Unterschlupfes, winzige Splitter über den staubigen Boden. Sie rollten gespenstisch in der Dunkelheit, während sie in einem bläulichen Glanz erstrahlten, dabei zielten sie einen bestimmten Punkt an und verschwanden hinter einem großen Geröllhaufen. Die Splitter suchten sich ihren Weg durch die Ritzen.

Jana umgriff furchtsam Tysons Ellbogen.

„Was da los?“, wollte sie argwöhnisch wissen. Der fletschte aber nur die Zähne.

Ihm wurde klar was diese kleinen kieselartigen Brocken waren - Drachenschuppen.

Der Hass den er für sein Bit Beast empfand, ließ ihn endlich von Kais Leichnam ablassen. Er legte ihn behutsam auf den Boden ab und erhob sich wachsam.

„Bleib weg, Jana.“

Sie drängte sich an den Körper ihres toten Bruders und verkroch sich. Inzwischen packte Tyson ein abstehendes Rohr, was durch das Erdbeben, von den Leitungen unter ihrem Haus, zutage gefördert worden war. Mit einem verbissenen Ausdruck, begann er der Spur aus Drachenschuppen zu folgen. Der innige Wunsch Dragoon alles heimzuzahlen hatte sich in ihm eingenistet. Er fraß sich durch sämtliche seiner Knochen.

Dieser Verräter war der Ursprung allen Übels.

Er hatte nichts von dem übrig gelassen was Tyson so innig liebte.

Sein Zuhause lag in Scherben, seine Familie war verstreut und seine Freunde tot!

Dieses Bit Beast durfte nicht ungestraft davonkommen. Das wäre einfach nur unfair.

In einer regelrechten Raserei, packte er ein Bruchstück nach dem anderen. Er warf jedes einzelne Teil achtlos fort, ließ das Rohr dann doch wieder fallen, um sich schneller in die Trümmer hineinwühlen zu können. Zwischen diesem Wirrwarr aus Brettern, Stein und Rohren, glomm ein Licht zu ihm hinauf. Das Familienschwert…

Die Drachenschuppen drangen nach und nach in das Katana ein.

Natürlich. Dragoon konnte in dieser Welt ohne eine Hülle nicht mehr existieren. Dem letzten Hindernis versetzte Tyson mit einem lauten Fauchen einen tritt. Es verursachte eine Kettenreaktion und ließ die Trümmer in einer staubigen Welle in sich zusammenfallen. Dann packte er das Schwert und haute es wie ein Irrer gegen die umliegenden Wände.

Irgendwie musste er es zerstören.

Als die Schläge nicht ausreichten, setzte Tyson das Katana auf dem Boden ab. Er trat auf die Klinge und wollte im selben Augenblick den Griff nach oben reißen, in der Hoffnung, das Schwert möge zerbersten, als eine Stimme an sein Ohr drang.

„Weißt du eigentlich wie albern das aussieht?“

Sein Kopf fuhr hoch. Aus dem Schwert stoben die Drachensplitter wieder hervor und fügten sich zu einer leuchteten Menschengestalt zusammen. Tyson packte erneut das Rohr. Dragoon hatte es noch nicht geschafft, sich gänzlich Konturen zu verschaffen, sein Körper besaß zu viele Lücken. Er wirkte wie ein unfertiges Puzzle. Da holte Tyson schon mit dem Rohr aus. Die Lichtgestalt stürzte in sich zusammen, doch prompt sammelte sie sich an anderer Stelle wieder.

„Verschwinde!“, brüllte Tyson. Er holte wieder aus.

Das Spiel ging aber wieder von neuem los. Wann immer er auf Dragoon einschlug, setzte der sich wieder an einem anderen Punkt in der Nische zusammen. So ging das ziemlich lange zwischen ihnen, bis sich etwas änderte. Tyson haute das Rohr direkt gegen Dragoons Schädel. Er wollte sich prompt abwenden, um nach dem nächsten Sammelpunkt zu suchen, doch zu seiner Überraschung, blieb das Rohr dieses Mal in dem Schädel stecken. Die Schuppen wuchsen darüber zusammen.

„Lächerlich!“

Seiner Waffe beraubt, wollte Tyson mit bloßen Fäusten nach ihm schlagen. Stattdessen wurde er selbst am Kragen gepackt. Dragoons rechte Gesichtshälfte war noch unvollständig, als er Tyson näher an sich heranzog. Seine Stimme war ein drohendes Knurren.

„Du denkst das kann mir etwas anhaben?!“

Er warf Tyson gegen den umliegenden Schutt. Sofort regnete es Asche und Geröll auf ihn. Dann zog Dragoon geradezu unbeeindruckt das Rohr aus seiner Augenhöhle. Jana gab einen spitzen Schrei von sich, als es klirrend zu Boden fiel. Tyson dagegen schnaufte vor Zorn. Für kurze Zeit kehrte eine beunruhigende Stille ein, in der Dragoon sich weiter zusammenfügte. Doch selbst dem fertigen Ergebnis fehlte ein Körperteil. Noch immer gab es nur einen Arm. Beide taxierten sich eine Weile.

„Bist du jetzt zufrieden?!“, brüllte er Dragoon entgegen. „War es das was du wolltest?!“

Sein Bit Beast blieb stumm. Es hatte auf die pompöse Drachengestalt verzichtet.

„SAG ETWAS!“, gellte der Schrei aus seiner Kehle.

„Lass mich in meine Hülle zurück.“, kam es monoton zurück.

„Ist das alles?!“

„Was soll ich sonst sagen?“

„Das kannst du doch nicht gewollt haben?! Wie kannst du damit glücklich sein?!“

„Du bist erbärmlich.“

Tyson holte aus und brachte den Körper wieder zum Bersten. Es hörte sich an, als würden tausend Eiskristalle zu Boden stürzen, doch es passierte alles so schnell, dass seine Faust unaufhaltsam gegen eine scharfe Holzkante prallte. Der Schmerz jagte ihm durch den Körper. Dragoon fügte sich anderenorts wieder zusammen, war nicht mehr als eine verschwommene Lichtgestalt - und doch erkannte Tyson deutlich den gleichgültigen Blick der ihm zugeworfen wurde.

„Du bist so erbärmlich.“, wiederholte Dragoon noch einmal. „Jetzt wo es zu spät ist, da sprechen wir endlich dieselbe Sprache.“

„Was redest du da?!“, fauchte Tyson aufgebracht.

„Jetzt weißt du endlich wie es sich anfühlt, wenn man so von Hass zerfressen wird, dass dir alles egal wird!“, zischte Dragoon ihm entgegen. „Du brichst dir den Finger. Es ist dir egal. Du brichst dir die Hand. Du spuckst darauf! Du willst dich rächen, rächen und nochmals rächen! Jetzt weißt du endlich was blinde Raserei ist!“

„Ich bin nicht wie du!“, wehrte sich Tyson gegen den Vorwurf.

„Ach wirklich?!“, Dragoon gackerte ihm böse ins Gesicht. Doch es klang eher verrückt. „Du fragst mich ob es das alles wert war… Nach allem was ich geopfert habe?! Meinen Arm habe ich verloren. Meine Kameraden mit denen ich aufgewachsen bin! Meine Gefährtin für die ich Wolborg verbannt habe! Ich weiß genau was Rache ist – und was sie anrichten kann! Genau wie du um dich schlägst wie ein Irrer, ging es mir all die Jahre, als du mich einfach verleugnet hast! Genau so fühlt sich das an, Junge!“

„Ich wollte das aber nicht! Ich war einfach nur leichtsinnig! Du dagegen bist eine Plage!“

„Glaubst du ich wollte das alles?!“, brüllte nun auch Dragoon ihm entgegen.

Sein zorniger Schrei hallte durch die enge Nische, ließ irgendwo inmitten der Ruine etwas einbrechen. Als der Krach verklang, wurde es still zwischen ihnen. Tyson zitterte vor Zorn. Er hob nochmal die Faust, wollte zuschlagen. Sie bebte in der Luft. Doch er dachte daran, was sein Bit Beast ihm vorwarf. Er war bereit jeden Knochen zu brechen, einfach um ihm weh zu tun.

Genau wie Dragoon in den letzten Tagen. Er hörte Jana wimmern und als sein Blick sie traf, konnte er nicht sagen, vor wem sie sich mehr fürchtete. Er ließ die Faust sinken.

„Ich bin nicht wie du.“, zischte er noch einmal entschieden und wandte sich ab. „Du bist eine widerwärtige Naturkatastrophe! So etwas wie dich sollte es nicht geben…“

„Dann bist du es auch.“

„Stell mich nicht mit dir auf eine Stufe!“

„Stell du dich lieber der Realität! Diese vorwitzige Maus müsste dich doch schon aufgeklärt haben, was es mit unserem Band auf sich hat. Du weißt genau das ich dich nicht ausgesucht hätte, wären wir uns nicht zu hundert Prozent ähnlich.“

„Ich will das nicht hören.“

„Das ist mir klar. Immerhin ist es hart sich seine Fehler einzugestehen. Ich musste die letzten Tage mehr einräumen, als ich verkraften konnte. Noch nie habe ich so viele Entscheidungen von mir hinterfragt.“, antwortete Dragoon geistesabwesend. Tyson beobachtete sein Bit Beast, wie es von ihm wegtrat. Es beugte sich herab und hob das Katana auf. Nachdenklich drehte er die Klinge in seiner Hand.

„Wir sind uns erschreckend ähnlich.“, fällte er sein Urteil, in einer geradezu melancholischen Tonart. „Denkt ihr Menschen wirklich, wir Bit Beast suchen uns unsere Kinder wahllos aus? Es gibt einen Grund weshalb ich dich wollte. Weil ich gespürt habe, dass unsere Seelen fast identisch sind. Es war als hätte ich einen kleineren, schwächeren Zwilling. So empfanden wir Uralten bei jedem von euch…“

Tyson schaute ihn aus leeren Augen an.

„Draciel hatte sich Max ausgesucht, weil er genauso seine Eltern liebte, wie die Schildkröte die Weltenbaumeltern. Es war von ruhiger Natur, ließ sich ständig mittreiben und horchte auf die beiden. Mir selbst ist nie aufgefallen, dass die Eltern beider Welten, eine Stimme besitzen. Draciel dagegen schon. Es konnte zwischen den Zeilen lesen.“, Dragoon senkte nachdenklich die Lider.

„Ray dagegen war ein Mensch der an Traditionen hing, findest du nicht auch? Und ja… Was hing Driger nicht auch an den alten Normen. Er war ständig so rechtschaffend. Immer hielt er mir Vorhaltungen, damals, als meine Fehde mit Wolborg begann. Er meinte ich solle meine merkwürdigen Empfindungen zurückstecken und Stärke beweisen. So wie es sich für einen Uralten geziemt.“

Er schloss die Augen einen Moment.

„Und dennoch… Als Galux seinen Weg kreuzte, lag sein Hauptaugenmerk darin, sie zu beschützen. Es ist wohl immer einfacher mit dem Finger auf andere zu zeigen, wenn man nicht selbst in deren Situation steckt. Das musste Driger auch gedacht haben, als er Ray wegen seiner Frau verurteilte, aber kurz darauf gegen mich antrat, um Galux vor mir zu retten. Wollte dein Freund nicht auch mit den alten Traditionen brechen? Seine Heimat verlassen um seine Familie zu schützen? Welche Ironie das Driger zu spät bemerkt hat, wie ähnlich er Ray im Grunde war. Hätte er es eher erkannt, hätte er mir wohl rechtzeitig ins Gewissen geredet, bevor ich meinen Plan ausheckte, euch in die Irrlichterwelt zu holen.“

Dragoon lachte leise. Es klang keineswegs heiter.

Tyson ahnte wen sein Bit Beast als nächstens ins Visier nahm.

„Kai war kein bisschen wie Dranzer.“

„Sollte man meinen, nicht? Aber dann fiel mir auf, wie er sich benahm, als er in seinem kindlichen Körper steckte. Da begriff ich erst, dass beide sich in ihrer Kindheit, wie ein Ei dem anderen glichen. Jung, unerfahren, voller Zutrauen – bis beide das Leben zeichnete.“

Dragoon erhob sich und seufzte wehmütig. Seine Stimme wurde rau beim nächsten Teil.

„Dranzer war ein so wundervolles Küken. So verspielt und abenteuerlustig. Ein unschuldigeres Geschöpf war mir noch nie unter die Augen gekommen. Ihr naives Vertrauen hat mich so gerührt, ich wollte ihr die Welt zu Füßen legen.“

„Bis du sie zerstört hast.“

Er blieb lange stumm. Bis er die Klinge senkte und ihn fragend anschaute.

„Und genau das verstehe ich nicht. Es war doch niemals meine Absicht Dranzer zu verändern. Was ich wollte, war, dass sie sich von ihrer Schwester lossagt. Es ist wie bei Kai und seinem Großvater. Dem konntest du doch auch nichts Gutes abgewinnen. Hätte sich vor dir eine Möglichkeit aufgetan, hättest du dann nicht auch die Chance genutzt, um ihn aus dem Weg zu räumen?“

Tyson schaute Dragoon lange an. Es steckte doch etwas Wahrheit in seinen Worten. Er konnte nie begreifen, warum Kai seinem Großvater gegenüber loyal geblieben war. Er war doch ein so ekelhafter Mensch. Tyson hatte so manches Mal gedacht, dass er seinen Enkel nicht verdiene. Da seine Antwort einfach ausblieb, wurde Dragoon drängender.

„Was hättest du anders gemacht, Takao?“

„Ich… Ich hätte ihn nicht aus dem Weg geräumt.“

„Nun lüg doch nicht.“

„Nicht weil ich ihm vergeben könnte.“, stellte Tyson mit erhobenem Finger klar. „Ich könnte keinem einzigen aus Kais Familie vergeben. Sie haben ihm furchtbar übel mitgespielt. Aber ich hätte sie nicht verbannt. Es gibt einfach Regeln bei Menschen. Man kann nicht einfach so willkürlich jemandem aus dem Weg räumen, nur weil einem dessen Nase nicht passt. Das wäre unmenschlich!“

Dragoon schaute ihn lange an.

„Unmenschlich.“, wiederholte er irgendwann. Es klang enttäusch. Sein Blick schweifte durch die Ruinen. „Ich bin kein Mensch. Also ist wohl das Einzige was dich Kai näher gebracht hat deine Menschlichkeit.“

Er lachte trocken auf, schüttelte den Kopf.

„Dann hatte ich wohl doch nie eine Chance bei Dranzer. Ich bin ein Bit Beast. Ein Wesen das von Instinkten getrieben wird. Ich kann mich nicht wie ein Mensch benehmen oder euren Regeln beugen. Die Natur kennt keine Menschlichkeit.“

Er deutete mit dem Katana auf Jana, die sich ängstlich neben ihrem Bruder zusammenkauerte. Seit längerer Zeit jammerte sie bereits, weil Kai einfach nicht wach wurde. Sie hielt die Hand ihres Bruders und starrte aus großen Augen zu ihnen herüber. Ungerührt sprach Dragoon aber: „Mutter Natur würde für sie auch keinen Nutzen sehen. Sie ist nun einmal grausam und kennt kein Erbarmen.“

Er senkte die Klinge.

„Ich kann doch nicht unterdrücken, was tief in meiner Seele verwurzelt ist. Instinkte sind ein angeborenes Verhalten. Das wird uns in die Wiege gelegt. Wolborg im Kampf zu besiegen und fortzuschicken, war der einzige Weg den ich gesehen habe. Ich hatte doch niemals erwartet, dass Dranzer mich so sehr dafür verachtet. Ich dachte irgendwann würde sich das legen. In der Tierwelt ist es doch nicht anders. Wenn der Anführer eines Rudels verdrängt wird, hinterfragt niemand dessen Nachfolger. Man gehorcht ihm einfach.“

Tyson seufzte bedauernd. Ihm fiel es irgendwie immer schwerer Dragoon wirklich böse zu sein, weil ihm klar wurde, dass das Kernproblem darin lag, dass er einfach nicht menschlich war. Er hätte in tausend Körpern leben, sich noch so sehr wie ein Mensch ausdrücken können, tief im Inneren würde er aber immer anders bleiben. Da schallte ein heftiges Donnern zu ihnen, gefolgt von einem kurzen Beben. Es ließ Dragoon durch den Spalt hinausschauen.

„Nun denn. Es hat keinen Sinn mehr darüber nachzudenken. Immerhin müssen wir nicht mehr lange mit unseren gebrochenen Herzen leben.“, er ließ das Katana zu Boden fallen. „Wenn du mich entschuldigst, möchte ich die letzten Minuten in meiner alten Hülle verbringen. Mir ist nicht danach, in die Irrlichterwelt zurückzukehren Es würde vorbei sein, noch bevor ich meine Heimat erreiche. Da wird mir das Schwert eine gute Gaststätte bieten.“

„Was meinst du mit bald vorbei?“

„Diese Welt stirbt, Takao. Und diese Region wird den Anfang machen. Der Fuji hat sich entschieden zu einem Supervulkan zu werden. Er wird in Kürze das gesamte Gebiet hier in einen tiefen Abgrund reißen.“

Tyson blinzelte verwirrt. Er war nie gut in Erdkunde gewesen, doch zumindest hatte er hier nicht geschlafen, weil das Thema ihn in der Schule interessiert hatte.

„Der Yellowstone ist ein Supervulkan - aber doch nicht der Fuji!“

„Der Fuji hat sich entschlossen euch vom Gegenteil zu überzeugen.“, Dragoon spähte zu ihm, seine Augen wurden zu wachsamen Schlitzen. „Die Naturgesetze beruhen auf den Uralten. Jetzt da alle tot sind, sind sie außer Kraft gesetzt. All das Wissen, dass sich die Menschheit über diese Welt aufgebaut hat, könnt ihr nun getrost in die Tonne treten. Die Natur wird nun machen, wonach immer ihr der Sinn steht, ohne euch im Vorfeld zu warnen. Und wenn sie den Fuji eine gigantische Explosion machen lassen möchte, die sonst nur ein Supervulkan schafft, dann ist es eben so, egal was ihr Menschen in euren schlauen Büchern dazu notiert habt.“

Tyson stockte der Atem. Er wusste noch, wie er einmal eine Dokumentation über Supervulkane verfolgt hatte. Demnach konnte bei einem Ausbruch, jedes Leben, in einem Umkreis von hundert Kilometer, restlos vernichtet werden. Und das mit ziemlicher Sicherheit. Alles was weiter außerhalb lag, wurde von einer Aschewolke begraben. Sie waren eine globale Klimakatastrophe. Inzwischen senkte Dragoon die Lider und sprach ungerührt: „Das, was der Fuji gerade spuckt, ist nur ein Vorbote. In wenigen Minuten wird der ganze Landstrich hier in die Luft fliegen. Es gibt nichts mehr was ich noch tun könnte. Ein Uralter allein ist so nutzlos, wie ein Tisch mit drei fehlenden Beinen.“

Tyson schluckte hart. Dann sprach er: „Aber genau das wolltest du doch verhindern! Das die Welt untergeht!“

„Tja, ich habe versagt. Dranzer ist nun auch tot. Wir beide zusammen, hätten noch das Gewicht von zwei fehlenden Uralten tragen können, aber das hier? Diese Ausgangsituation ist ein Fiasko.“, er schaute bedauernd zu Jana. „Du hast Kai keinen Gefallen damit getan, als du ihm geschworen hast, auf seine Schwester aufzupassen. Was jetzt kommt, davor kann sie keiner mehr beschützen. Nimm das Schwert und schneid ihr die Kehle durch. Das wird gnädiger sein, als das was in den nächsten Stunden passiert.“

„Soll das ein schlechter Scherz sein?!“, fragte Tyson fassungslos. Er trat näher an Dragoon heran, blitzte ihn fordernd an. „Du musst doch irgendetwas unternehmen können!“

„Hast du mir nicht zugehört?“

„Doch, aber…“

„Es ist vorbei, Takao!“, fuhr Dragoon ihm entnervt dazwischen. „Ein Bit Beast allein kann niemals alle vier Elemente lenken. Das ist zu viel Kraft die kontrolliert werden muss! Also wag es nie wieder, mich zu fragen, ob ich das hier gewollt habe, denn nein, ich wollte niemals dass die Erde wegen unser beider Fehde untergeht! Es ist schließlich auch mein Ende! Ein toter Planet benötigt keinen Luftgeist. Damit habe ich ausgedient und der Grund, weshalb ich existiere, ist dahin!“

„Wird es keine neuen Uralten geben? Habt ihr nicht irgendetwas wie eine Verwandtschaft?“

Dragoon blinzelte ihn verständnislos an. Und das eine ganze Weile…

„Was?!“, war seine einzige Frage. Es klang als hielte er Tyson für blöd.

„Naja, ihr seid doch so etwas, wie… sagen wir, Könige! Und ein König hat einen Thronerben, falls er abtreten muss. Es wird doch irgendjemanden geben, der auf die verstorbenen Uralten folgt!“

„Ich kann keines natürlichen Todes sterben, Junge! Also habe ich nie etwas wie einen Erben gebraucht.“, kam es voller Sarkasmus. Doch dann dachte er laut nach. „Wenn ein Uralter aber doch stirbt, wird einfach ein neuer geboren. Von der Weltenbaummutter.“

„Das ist doch gut, oder? Wie lange wird es denn dauern, bis die neuen Uralten auf die Welt kommen?“

„Zu lange. Das ist ein jahrelanger Prozess. Als Dranzer geboren wurde, hat sich ihr Körper erst nach hundertachtzig Monaten, komplett von ihrem Sonnenstrahl gelöst. Auch der Lebensbaum ist trächtig und braucht seine Zeit, um ein Bit Beast auszutragen. Je mächtiger das Bit Beast werden soll, desto länger geht das Ganze. Dagegen sind die lumpigen neun Monate, die eure Menschenweibchen brauchen, überhaupt nichts.“, Dragoon rieb sich über die Schläfe. „Sei es drum. Vielleicht ist es besser so. Ohne meine Gefährten will ich diese Welt nicht mehr regieren. Schon gar nicht ohne Dranzer.“

„Du meinst also es ist für dich besser!“

„Ja ist es. Ich bin ein Egoist! Auch schon begriffen?“

Tyson blickte zu Jana. Er hatte Kai doch versprochen auf sei aufzupassen…

Sie kauerte weiterhin schluchzend neben ihrem Bruder. Offenbar schien sie gemerkt zu haben, dass Kai nicht aufwachte, um sie vor dem komischen Kerl hier zu beschützen. Sie rüttelte mehrmals an seinem Arm und bat ihn darum, doch endlich aufzustehen. Es riss Tyson das Herz entzwei. Sie war noch so jung und sollte schon sterben.

„Es muss etwas geben was du tun kannst!“

„Nein.“

„Streng dich gefälligst an!“

„Was schert es dich noch was mit der Welt passiert? Du hast auch alles verloren.“

„Das ist so typisch für dich! Du leidest und alle anderen sollen es nun auch!“, Tyson deutete auf Jana. „Sie hat es verdient zu leben. Sie und alle anderen Menschen auf der Welt, die nichts für unsere Streiterei können. Wir dürfen nicht zulassen, dass noch mehr Menschen zu Schaden kommen!“

„Du meinst dieses feige Rattenpack, das euch noch nicht einmal aus diesem Loch befreien wollte?“, höhnte sein Bit Beast geradezu gehässig.

„Häng dich nicht an solchen Leuten auf! Denk an die, die es verdient haben zu leben. Und jetzt unternimm endlich etwas!“

„Entschuldige mal, ich bin keine Wunschfee!“, blaffte ihn Dragoon an.

„Aber du hast so viele Fähigkeiten! Du kannst Stürme heraufbeschwören. Du konntest in einer Leiche hausen. Du bist unfassbar stark! Nun lass dir doch etwas einfallen!“

Sein Bit Beast begann endlich zu grübeln. Wenn auch eher widerwillig…

„Warum ist dir das überhaupt so wichtig?“

„Ich muss mein Versprechen halten! Ich habe Kai geschworen, Jana zu beschützen! Er wollte dass sie in einem schönen Zuhause groß wird! Ich will das sie die Chance auf ein schönes Leben bekommt, so wie Kai es sich vorgestellt hat!“

Tysons Fäuste begannen vor Verzweiflung zu beben.

„Ich habe doch schon Ray und Max verloren! Weißt du wie schwer es für mich ist, dass ich nichts von ihnen habe, was mich an sie erinnert? Aber Jana… Kai hat sie geliebt! Ich will nicht den letzten Funken, der von ihm geblieben ist, auch noch verlieren! Ein kleiner Teil von ihm steckt doch auch in ihr. Sie waren doch Geschwister!“

Es kehrte Stille ein, während Dragoon ihn nachdenklich bedachte.

Jana weinte inzwischen – weil Kai nicht mehr aufwachte. Sie rüttelte an seinem zerschlissenen Oberteil und bettelte darum, dass er endlich die Augen auftat. Die schlitzartigen Pupillen seines Bit Beast huschten einen Moment zu ihr, beobachteten wie sie das Gesicht ihres Bruders tätschelte und dicke Tränen über ihre Wangen rollten. Dann schloss er die Lider.

„Sie war also ein Teil von ihr…“, murmelte Dragoon vor sich her. Einen Moment wollte Tyson ihn korrigieren, bis ihm klar wurde, dass er nicht von Kai sprach. Stattdessen blieb er stumm und beobachtete, wie die leise Erkenntnis, in das Bewusstsein seines Bit Beats eindrang - das er mit der Verbannung von Wolborg einen Teil von Dranzer zerstört hatte.

„So war das also.“

Ein wehmütiger Ausdruck trat auf Dragoons Gesicht. Plötzlich schlug er abrupt die Augen auf und sein Kopf schnellte in Tysons Richtung.

„Ein Teil von dir. Ja genau… Das könnte eine Möglichkeit sein!“

„Wovon redest du?“

Die Art wie ihn sein Bit Beast anschaute gefiel ihm nicht.

„Wie weit würdest du gehen um diese Welt zu retten?“

„Ich?“

„Ja, du! Bist du bereit etwas dafür zu tun oder schwingst du nur große Reden?!“

„Fahr mich nicht so an… Was soll ich denn außerdem schon tun können?“

„Mehr als du glaubst. Auch wenn der Löwenanteil wohl wieder an mir hängen bleibt.“

Tyson wollte schon fauchen, ob das eine Anspielung auf ihre gemeinsame Beybladezeit war, da schüttelte sein Bit Beast unwirsch die Hand. „Es gäbe da eine Möglichkeit. Doch ich weiß weder ob sie funktioniert, noch welche Auswirkungen sie für uns hat. Der Erfolg steht wirklich auf schwankendem Sockel. Aber eventuell… Könnte es die Lösung all unserer Probleme darstellen. Und ich meine wirklich aller Probleme!“

Tyson hob fragend die Braue. Er begriff noch nicht was das heißen sollte.

„Als würde man mit einem Schimpansen reden.“, rollte sein Bit Beast abfällig mit den Augen und überging sein empörtes Gesicht. „Wie bereits erwähnt, kann ich nicht alle Elemente auf einmal kontrollieren. Der Grund dafür ist ganz einfach. Nimm ein Fass und füll es mit Wasser. Bis wohin kommst du?“

„Na… Bis zum Rand.“

„Und wenn du es weiterfüllst?“

„Dann schwappt das Wasser über. Oder vielleicht platzt das Fass sogar.“

„Genauso ist es mit der Energie die zu mir fließen würde. Ich bin nicht dafür geschaffen, eine solche Menge in meinem Körper zu behalten. Ein Fass das man zu voll macht, schwappt über oder zerbricht sogar an der Masse seiner Fülle. Genau das würde mir wiederfahren!“

„Und was soll ich nun tun?“

„Um die Energie zu lenken muss ich meinen Körper aufgeben.“

„Deinen Menschenkörper?“

„Nein. Meinen Drachenkörper. Mein Dasein als Bit Beast.“

Etwas überrascht hob Tyson die Braue.

„Aber… Was bleibt dann von dir übrig?“

„Nichts! Das ist ja das Problem. Ich muss komplett mit der Energie verschmelzen, ein Teil von ihr werden, um sie in die richtigen Bahnen zu lenken. Und da kommst du nun ins Spiel.“

Die drachenhaften Pupillen stierten ihn geradezu lauernd an.

„Ich brauche eine Garantie. Einen Unterschlupf der gewährleistet, dass nach dieser Fusion, ein kleiner Teil von mir weiter existiert, der sich von dieser Tortur erholen kann.“

„Du willst also noch einmal in meinem Körper hausen?“

„Nein. Das ist etwas viel… Intensiveres.“, er schien nach dem richtigen Wort zu suchen. „Wenn mein Geist sich lediglich in deinem Leib einnistet, würdest du als Sterblicher irgendwann an meiner Last verkümmern. Das ist wie bei einer ausgedörrten Blume. In einem menschlichen Körper muss alles ein gesundes Maß haben. Um mich zu erholen, brauche ich aber einen dauerhaften Ort. Ich brauche etwas was viel tiefer greift. Einen kleinen Nistplatz um wieder zu erstarken, damit ich meinen Platz als Luft Bit Beast später wieder aufnehmen kann. Und da würdest du dann ins Spiel kommen.“

„Wie das?“

Dragoon atmete hörbar aus. Offenbar schien ihn dieser Teil viel Überwindung zu kosten.

„Lass mich einen Platz in deiner Seele einnehmen. Dort könnte ich wieder heranreifen.“

„Ich dachte ein schwaches Menschlein, kann auf Dauer keinen Uralten beherbergen?“, kam es etwas gehässig von ihm.

„Der Körper nicht. Aber die Grenzen einer Seele können unerschöpflich sein. Es heißt nicht umsonst, dass der Geist manches Mal willig, aber der Körper schwach ist. Du musst dich endlich wieder daran erinnern, zu welchen Dingen du fähig warst, während deiner Zeit als Blader. Woher glaubst du, hast du all deine Kraft hergenommen? Das war nicht dein Körper aus welchem du deine Macht gezogen hast. Der fungierte nur als schützendes Fundament. Es war deine Seele aus der du die Kraft geschöpft hast!“

Tyson schaute nachdenklich zur Seite.

„Ich weiß nicht ob das so gut ist.“

„Ach, meinst du? Na dann warte mal ab, denn falls du dich weigerst, wird auch der letzte Uralte sterben. Auf diesem Planeten wird es dann ganz schön ungemütlich. Stell dir eine Erde ohne Luft vor. Die Menschen werden schneller krepieren als jede Eintagsfliege!“

Tyson biss sich auf die Lippe.

„Okay. Nur mal angenommen ich gebe dir diesen Nistplatz. Wofür brauchst du ihn überhaupt noch, wenn du doch alle Elemente kontrollieren kannst?“

„Diesen Zustand kann ich nicht dauerhaft aufrechterhalten.“

„Aber dann stehen wir doch kurz danach wieder vor demselben Problem? Du zögerst das Ende der Welt damit nur hinaus! Du sagst doch selbst, dass du nicht die Kraft hast, um alle Elemente auf einmal zu kontrollieren. An dieser Tatsache wird sich nach wie vor nichts geändert haben, wenn du dich in deinem Nistplatz einquartierst.“

„Ich dachte da auch eher an eine unkonventionellere Lösung. Dazu müsste ich die Kraft ziemlich zweckentfremden. An einen Neustart wenn du so willst.“

Er starrte ihn argwöhnisch an.

„Neustart? Willst du die Erde neu erschaffen?“

„Mach dich nicht lächerlich. Nein. Einen Neustart zwischen uns. Ich könnte den Lauf der Dinge bis zu jenem Punkt zurückdrehen, an welchen unsere Fehde noch nicht begonnen hatte.“

Nun blinzelte er komplett irritiert.

„Warte mal… Willst du die Zeit zurückdrehen?“

„So ähnlich.“

„Das kannst du?!“

„Vielleicht. Es ist aber reine Theorie.“, er zog die Brauen nachdenklich zusammen. „Im Prinzip müsste es möglich sein... Ich muss dazu jedes Lebewesen, jede Pflanze, jeden Partikel, jedes Mineral was sich auf diesem Planeten befindet, wieder in den Zustand zurückversetzen, in welchen er vor unserer Fehde war.“

Er bückte sich, hob etwas auf.

„Sieh dir diesen Stein an. Ich lasse ihn fallen. Wenn ich mit der Energie verschmelze, wäre es möglich, diesen Vorgang zurückzudrehen. Das muss ich aber mit wirklich allem machen. Jeder Atemzug von einem Menschen, jeder Regentropen der aus einer Wolke kommt, jede Pflanze die wächst… Jede einzelne noch so kleine Bewegung. Alles wird rückwärts abgespielt.“

Tyson stockte der Atem als er begriff. Es wäre also, als würde Dragoon eine Kassette zurückspulen. Seine geballten Fäuste begannen bei dieser Überlegung zu zittern…

Er wagte kaum daran zu glauben, was das bedeuten könnte, denn die Furcht hielt sein Herz fest umgriffen. Die Angst dass er sich zu viel erhoffte und umso tiefer fiel, sollte er alles auf diese eine Karte setzen und doch wieder verlieren. Die Gesichter seiner Freunde erschienen vor seinem inneren Auge. Sie alle…

Sie könnten wieder leben!

Da war eine kleine Stimme, die ihn ermahnte sich keinen voreiligen Illusionen hinzugeben, weil das alles viel zu verrückt klang. Doch der drängende Wunsch, diese tiefe Sehnsucht, sie griff immer weiter in seinem Herzen um sich. Max und Ray. Er könnte ihr Schicksal verhindern!

Beide waren doch so gute Menschen und dennoch mussten sie vor ihrer Zeit gehen. Sie hätten es verdient im Kreise ihrer Freunde und Familie zu sterben. Im hohen Alter, wenn die Natur einfach ihren Lauf nahm, aber keinesfalls so wie jetzt.

Max hatte einmal gescherzt, dass sie wahrscheinlich noch als alte Tattergreise zusammenglucken würden. Daraufhin mussten sie lachen, weil der Gedanke so urkomisch gewesen war, sich alle beisammen, auf der Terrasse des Kinomiya Anwesens vorzustellen, wie sie sich aus ihren Schaukelstühlen heraus, über ihre vorlauten Enkelkinder beklagten. Selbst Kai hatte die Überlegung damals ein leises Schmunzeln entlockt. Er hatte noch dessen Lächeln vor Augen…

Wie seine Mundwinkel sich belustigt nach oben schoben. Das war in einer dieser warmen Sommernächte gewesen, als sie wieder mal gemeinsam draußen saßen und in die Sterne schauten. Er blickte zu Kais Leichnam. Zu den blassen Lippen, die für immer verstummt waren. Tyson könnte wieder seine Stimme hören. Einfach bei ihm sein und sich an seiner Gegenwart erfreuen.

Zu wissen dass er noch lebte - das würde ihm vollkommen ausreichen.

Die nächste Woge der Hoffnung konnte er nicht mehr aufhalten.

Er wollte hoffen. Er wollte seine Welt wieder zurückhaben, so wie sie einst gewesen war. Selbst wenn er dafür einen Pakt mit dem Teufel einging. Dragoons Stimme holte ihn aus seinen Gedanken.

„Es gibt da allerdings ein Problem. Ich kann die Uralten nicht wieder erschaffen.“

Die Hoffnung drohte wieder abzuebben.

„Dann haben wir das gleiche Problem wie jetzt auch!“

„Oh Menschlein… Wie soll ich dir das erklären?“, Dragoon legte sich den Finger nachdenklich ans Kinn. „Stell dir die Zeit wie einen Fluss vor. Du möchtest stromaufwärts zurück, doch um nicht unterzugehen fehlt dir das Werkzeug. Also bedienst du dich in der Gegenwart eines Hilfsmittels. Du fällst einen Baum, schnitzt daraus ein Kanu und willst damit den Fluss der Zeit hinaufpaddeln. Sagen wir dieses Kanu ist die Energie aller vier Uralten. Soweit verstanden?“

Tyson nickte eifrig. Sein Herz klammerte sich verzweifelt an diesen einen Strohhalm.

„Während du zurückpaddelst, bemerkst du, wie dein Körper sich bereits verändert. Er wird wieder jünger, um sich dem Lebensabschnitt anzupassen, an welchen du gerade zurückschwimmst. Genauso verhält es sich aber auch mit deinem Boot. Was glaubst du passiert mit ihm, wenn der seinen ursprünglichen Zustand wieder einnimmt?“

Natürlich…

Während der Zeitreise, würde zuerst Dranzer wieder erscheinen und Dragoon hätte wieder nicht genug Energie, um die Zeit weiter zurückzudrehen. Das würde womöglich Kai retten, aber nicht Max und Ray!

„Du verstehst also was ich meine. Jetzt kommst du nämlich ins Spiel.“, sein Bit Beast tat eine merkwürdige Handbewegung. Mit einer Drehung seines Gelenks, erschien etwas vor Tysons Augen. Etwas was genauso wie Dragoon schimmerte, nur in einer völlig anderen Farbe. Er kniff die Augen fragend zusammen, trat näher heran und erkannte eine rötliche Feder. Die konnte nur Dranzer gehören. „Damit mir die Energie der Uralten, für dieses Unterfangen, bis zum Schluss erhalten bleibt, werde ich meine Kameraden nicht zurück ins Leben holen, sondern ihnen ebenfalls einen Brutplatz suchen. Deshalb werde ich dir vier Attribute mitgeben. Jedes wird für einen Uralten stehen.“

Dragoons Faust schloss sich um die Feder. Er presste sie fest zusammen, bis ein Licht zwischen seinen Fingern erstrahlte. Als er die Hand wieder öffnete, lagen darin auf wundersame Weise, zwei weitere Objekte. Das eine war eindeutig eine Art kleiner Reißzahn. Aus dem anderen wurde Tyson nicht ganz schlau. Es sah aus wie eine kleine Schale, nur nicht aus Kunststoff, sondern eher aus Knochen.

„Mein Attribut bekommst du sofort. Du wirst es dir einsetzen und damit unseren Pakt völlig besiegeln.“

„Und die anderen?“

„Wirst du deinen Freunden einsetzten. Eine Feder von Dranzer, ein Zahn von Driger und ein Teil von Draciels Knochenpanzerung.“

Das war also die Schale. Zögerlich nahm Tyson die Attribute entgegen. Sie fühlten sich merkwürdig an. Als würden sie unter Strom stehen. Es musste die verbliebene Energie der Uralten sein, die noch in diesen winzigen Überbleibseln steckte. Dennoch ließen sie seine Nackenhärchen aufstehen. Nachdenklich schaute er auf die Attribute herab.

„Ein Pakt.“, kamen die Worte aus seinem Mund, dann hob Tyson argwöhnisch die Braue. „Wie lange wird der anhalten?“

„Für immer.“

„Aha!“, fauchte er anklagend. „Und was sollte dein Gerede, von wegen, du willst deinen Platz als Luft Bit Beast wieder einnehmen?“

„Das werde ich auch. Allerdings wirst du von da an, auch eine Art Bit Beast sein. Wir stecken dann beide in einer Seele. Sie werden so ineinander verwachsen, dass es keine Möglichkeit mehr gibt, sie voneinander zu trennen.“

Geschockt hoben sich Tysons Brauen.

„Aber das wird doch Auswirkungen auf unser Leben haben!“

„Selbstverständlich. Ihr Vier werdet den Aufgaben der Uralten gerecht werden müssen.“

„Hast du eine Ahnung was du da von uns verlangst? Ich weiß doch gar nicht wie das geht.“

„Richtig. Aber wie du weißt sind uns die Optionen ausgegangen. Es ist die einzige Möglichkeit, noch ein Gleichgewicht in dieses Chaos zu bringen. Deshalb musst du die Attribute auch in deine Freunde einsetzen. Alleine wirst du das nicht schaffen. Egal wie, du musst einen Weg finden! Dir wird in der Vergangenheit dafür nicht viel Zeit bleiben. Höchstens bis Sonnenuntergang – wenn überhaupt.“

„Meine Freunde werden das bestimmt nicht wollen. Ich kann nicht über ihre Köpfe hinweg so eine schwerwiegende Entscheidung fällen. Das betrifft auch sie!“

„Na dann frag sie doch!“, brüllte sein Bit Beast ihn plötzlich aufgebracht an und deutete auf Kais Leichnam. „Es würde mich schwer wundern, wenn du von ihm noch eine Antwort bekommst! Das ist eine Entscheidung die nur noch du alleine fällen kannst! Also… Was willst du, Takao?! Willst du es ihnen nur Recht machen? Oder willst du das tun, von dem wir beide wissen, dass es das Beste für die Welt ist? Hast du den Mut mit den Konsequenzen zu leben, auch wenn dir deine Freunde, irgendwann einmal Vorwürfe machen könnten? Oder willst du dir selbst ständig Vorwürfe machen, weil du nicht die Chance ergriffen hast, sie wieder ins Leben zurückzuholen? Egal welchen Weg du gehst, er wird steinig, Junge, aber so ist das Leben! Man kann nicht allen Erwartungen gerecht werden…“

Tyson verstummte. Er dachte daran welche Aussicht ihm lieber war.

In einem Punkt hatte Dragoon Recht - er würde sich Vorwürfe machen, wenn er diesen Pakt nicht einging. Selbst wenn seine Freunde ihm böse sein sollten, weil er über ihre Köpfe hinweg entschieden hatte, dass sie auf immer mit jenen Geistern verbunden sein sollten, die ihnen so übel mitgespielt hatten.

„Ein kleiner Preis wenn sie dafür Leben, findest du nicht?“, schaute ihn Dragoon ernst an, als hätte er seine Gedanken erraten. „Wenn du es nicht tust, wird die Erde in der Vergangenheit erneut untergehen. Für ein paar Stunden hält sie die Abwesenheit der Uralten vielleicht aus, doch nach und nach, wird das Chaos auch dort Einzug halten. Der Weltuntergang ist ein schleichender Prozess, Takao. Es passiert nicht Schlag auf Schlag. Denk an das Fass mit der Energie der Uralten darin. Nur wird es dieses Mal langsam aufgebraucht, bis es restlos leer ist. Das Fass darf niemals überquellen, aber auch niemals leer sein! Alles muss das richtige Maß haben. Das ist die goldene Regel der Natur. Verstehst du?“

Tyson schluckte und nickte langsam. Daraufhin fuhr Dragoon fort.

„Sobald die Attribute in euren Körpern stecken, wird die Energie der Uralten, die Welt wieder versorgen können. Es wird sein als wären wir in einer Art Ruhemodus. Wir sind da, aber noch nicht vollständig in Betrieb. Die Notversorgung läuft aber. Es könnte möglich sein, dass der Anfang ein kleinwenig holprig wird, aber… auch das ist ein geringer Preis.“

Sein Bit Beast begann seine Finger nachdenklich zu begutachten, während Tyson wie versteinert auf die Attribute blickte. Er hatte keine Ahnung ob er dieser Aufgabe gewachsen war. Außerdem konnte er sich nicht vorstellen, mit einer Art Untermieter in seiner Seele zu leben. Zumal dieser ihn so boshaft verraten hatte.

„Ich rate dir deinen Groll gegen mich abzulegen. Wir werden jetzt ziemlich viel Zeit miteinander verbringen. Ich bin auch nicht begeistert darüber, komplett an dich gebunden zu sein. Etwas Privatsphäre schätze auch ich.“

„Werde ich mich verändern?“, wollte Tyson unsicher wissen.

Einen Moment blickte ihn sein Bit Beast ernst an. Dann seufzte es.

„Ich weiß es nicht.“, sprach Dragoon genauso ratlos. „Eine solche Verbindung gab es noch nicht. Es ist auch für mich Neuland. Ich kann dir nur so viel sagen, dass es der einzige Strohhalm ist, den wir haben. Einige meiner Kräfte werden sicherlich auf dich übergehen. Du musst schnell lernen sie zu unterdrücken. Ihr alle werdet das tun müssen.“

„Kräfte?“, Tyson stellte sich vor, wie er sich in eine Art Drachenmutation verwandelte. Nichts worauf er wirklich scharf war. Dagegen hätte er nichts einzuwenden, durch die Luft sausen zu können.

„Außerdem verlange ich eine Gegenleistung von dir.“

„Als würde ich nicht schon genug machen, willst du noch bezahlt werden?“, brummte er angesäuert.

„Den Löwenanteil mache ich. Also hör auf dich zu beklagen! Du hast keine Ahnung welchen Kraftakt ich gleich bewältigen muss – und wie schmerzhaft das wird. Ein Blitzschlag ist ein Mückenfurz dagegen.“

Dragoons verbliebener Arm begann sich mit glühenden Schuppen zu überziehen. Aus seinen Fingerkuppen wuchsen gefährliche Klauen hervor. Dabei fuhr er fort:

„Da ist etwas was du mir beibringen musst. Ein Defizit, dass wir Bit Beasts schon lange besitzen und welches wir in diesem Zuge gleich beheben sollten.“

„Das wäre?“

„Mit Gefühlen umzugehen. Ich weiß nicht woran es liegt, aber diese irdischen Dinge… sie entziehen sich mir komplett. Genauso wie dem Rest meiner Sippe. Es ist schwierig mit etwas umzugehen, was so lange in unserer Welt verpönt war.“

Er starrte auf die Attribute in Tysons Handfläche. Ihm war als würde sein Bit Beast ganz besonders Dranzers Feder fixieren.

„Ihr Menschen… Ihr seid uns was das angeht tatsächlich einen Schritt voraus. Wir handeln nach Instinkten. Die letzten Jahrmillionen waren die auch erforderlich, bis die ersten Moralvorstellungen in die Welt traten. In deinen Augen mag ich grausam sein, aber ich handle so, wie ich es schon seit meiner Geburt kenne.“

Es hörte sich an, als wäre sein Bit Beast ein verstaubter Computer, der dringend ein neues Betriebssystem benötigte. Irgendwie begriff Tyson so langsam, wie er dachte. Dragoons Methoden waren vor Jahrhunderten noch bewährt, hatten aber nun ausgedient. Da er aber ein veraltetes Modell war, konnte er diese neue Modeerscheinung, namens Empfindung, einfach nicht mehr begreifen. Als wäre es ein Upgrade, für das er nicht mehr kompatibel war.

„Ein veraltetes Modell…“, sprach Dragoon auf einmal. Tyson war überrascht das er exakt den Wortlaut aufgriff, bis er den Kopf über seine eigenen Vergesslichkeit schüttelte. Es war so ungewöhnlich, jemanden vor sich zu haben, der durch seinen Atem seine Gedanken aufschnappte. Da fuhr Dragoon auch schon nachdenklich fort. „So könnte man es nennen. Ein veraltetes Modell das nur mit Instinkten betrieben wird. Zwar besitzt ihr die ebenfalls, doch irgendwie habt ihr Menschen es geschafft, Gefühl, Verstand und Urinstinkt in Balance zu bringen. Mag sein das ihr in manchen Momenten noch immer strauchelt, doch wenn ich mir eure Anfänge anschaue, so scheint es fast, als würde es mit jeder Generation ein Stückchen besser werden. Euer Fortschritt ist bemerkenswert, dabei wandelt ihr noch gar nicht so lange auf diesem Planeten. Es ist ein Wimpernschlag, verglichen mit den Jahren, welche dieser Planet schon existiert. Aber wir Bit Beasts? Mir ist als wären wir in unserer Entwicklung steckengeblieben. Als könnten wir uns nicht mehr weiterentwickeln. Es fühlt sich an, als stünde ich vor einer Mauer. Offensichtlich ist das was sich dahinter verbirgt wichtig für mich, doch ich kann einfach keinen Blick darauf erhaschen.“

Tyson zog die Brauen tief ins Gesicht. Ihm ging durch den Kopf, wie viele falsche Abzweigungen, die Menschheit gegangen war und sicherlich auch noch weiterhin gehen würde, um zu ihrer heutigen Moral zu finden. Jede Generation hatte ihre Fehler begangen. Manchmal wurden sie sogar wiederholt. Dennoch…

Wie viele Folgegenerationen hatten aus diesen Fehlern gelernt?

Wie viele Leben hatte dies gekostet?

Womöglich war gerade die Unsterblichkeit der Bit Beast, der Grund, weshalb sie gefühlsmäßig so abgestumpft waren. Sie hatten das Kommen und Gehen von anderen sterblichen Lebewesen, so viele Male miterlebt, dass es gar nichts mehr Absonderliches war.

„Ich muss mich unter das gemeine Volk mischen, um das zu verstehen. Von der Irrlichterwelt aus, kann ich das einfach nicht richtig beurteilen. Ich will wissen wie es sich anfühlt, wenn man… so ist, wie du.“

„Ich kann dir lediglich meine Eindrücke vermitteln.“, antwortete Tyson unsicher.

„Das ist immerhin ein Eindruck. Und es wird uns Bit Beasts womöglich helfen, endlich eine Stufe höher in unserer Evolution zu klettern.“, sprach Dragoon mit einem Achselzucken. Doch nun schaute er ihn abwartend an. „Dann darf ich annehmen, dass du meinem Vorschlag zustimmst?“

„Ja. Ich will meine Familie zurück und dazu gehören meine Freunde. Ich will diese Welt retten, damit Kinder wie Jana, eine Chance haben darin zu leben.“

Er trat näher an sein Bit Beast heran und taxierte ihn scharf.

„Eines aber vorneweg – ich weiß nicht wie du dir das vorstellst mit den Gefühlen. Das ist nichts was man einfach aus einem Lehrbuch nimmt. Ich werde mein Bestes tun, damit du Empfindungen begreifst, aber was du wirklich fühlst, liegt ganz bei dir. Ich kann dir das nicht vorschreiben. Da wirst du auf dein Bauchgefühl hören müssen.“

Dragoon hob etwas verärgert die Braue.

„Was soll ich mit einem Bauchgefühl? Ich weiß was Hunger ist!“

„Meine Fresse.“, Tyson schlug sich die Hand auf die Stirn. Wenn das ein Vorgeschmack auf die nächsten Jahre war, musste er sich warm anziehen. Das würde eine Herakles Aufgabe werden.

„Was soll diese Geste?“

„Nichts. Das ist nur-…“

Es rumpelte. Dieses Mal war die Erschütterung so schlimm, dass der Vulkan alles um sie herum heftig durchschüttelte. Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich so instabil an, als würden sie auf einer wackligen Hängebrücke laufen. Während es Tyson von den Füßen fegte, schwebte Dragoon nur unbeeindruckt in der Luft. Sein Blick huschte durch den Spalt zum Fuji, dessen Spitze in sich zusammenfiel. Es begann. Dicke Rauchschwaden kennzeichneten die Strecke, welcher seine tödlichen Flüsse zuvor hinabgerollt waren.

Ein riesiger Betonbrocken löste sich über Jana. Tyson ließ einen Schrei fahren und versuchte zu dem Kind zu kraxeln, doch mit einer Handbewegung, erzeugte sein Bit Beast einen starken Wirbelstrom, der die Flugbahn des Brockens in eine andere Richtung lenkte. Er krachte scheppernd in die Wand, die daraufhin unter der Erschütterung nachgab.

„Kai aufwache!“, kreischte Janas spitzer Schrei inmitten des Lärms. Tyson kämpfte sich über den wackligen Boden zu ihr vor, mehr kriechend als gehend. Das Mädchen blickte ihn hilfesuchend an. „Ai wach mache!“

Er drückte sie gegen seinen Körper und fühlte, wie Jana ihre Finger in seinem Oberteil vergrub. Als er die Finger nach Kais Gesicht ausstreckte war es eiskalt. Er war wirklich fort…

Ein Stoßgebet ging zum Himmel. Die Bitte das dieses verrückte Unterfangen tatsächlich funktionieren möge. Er wollte Kai zurück. Einen warmen Kai. Nicht diese eiskalte Hülle.

„Gib mir dein Attribut!“, schrie er fordernd. Tyson wollte seine heile Welt zurück!

Koste es was es wolle. Egal ob er diese Dämonen dafür in ihre Seelen lassen musste. Lieber lebte er mit der Verachtung seiner Freunde, als mit dem Gedanken, diese Chance ungenutzt gelassen zu haben. Sie sollten leben!

Dragoons Füße flogen langsam über dem Erdboden auf ihn zu. Jana geriet in Panik, als sie die geisterhafte Gestalt auf sich zukommen sah. Sie heulte los und vergrub ihr Gesicht in Tysons Hemd, der kindlichen Vorstellung unterliegend, dass Dragoon sie dann nicht mehr sehen könne.

„Geh weg!“, wimmerte sie immer wieder. „Lass uns Ruhe.“

Einen Moment musste Tyson daran denken, dass sie nach der Vereinigung, vor ihm, vielleicht ebenso Angst haben könnte. Er drückte seine Handfläche gegen ihren Kopf.

„Es wird alles gut, kleiner Hamster. Kai ist bald wieder bei dir.“ Dragoon streckte die mit Klauen bespickte Hand nach ihm aus. Tyson tat es ihm gleich. Er reckte die Finger nach vorne. Dabei flüsterte er Jana zu: „Ich werde immer auf dich aufpassen. Das verspreche ich dir!“

Und als er die Spitze von Dragoons Klaue berührte, ging eine Welle aus purer Energie durch seinen Körper. Schlagartig wurde alles schwarz…
 


 

*
 

Zunächst war da nur die Schwärze.

Tyson wusste nicht ob es daran lag, dass er vielleicht nur die Augen geschlossen hielt, denn sein Körper fühlte sich merkwürdig an. Als wäre er gar nicht wirklich präsent, sondern nur sein Geist anwesend. Die Finsternis war undurchdringlich. Nicht ein winziger Fleck der heller schien. Einfach absolute Dunkelheit. Er blinzelte. Oder zumindest glaubte Tyson, dass er es tat.

Denn ein wirklicher Unterschied ließ sich nicht ausmachen. Er versuchte die Arme zu heben und sich voran zu tasten, doch da gab es nichts. Er kam sich schwerelos vor.

„Dragoon?“

Seine Stimme schallte nicht. Sie wurde einfach verschluckt. Als gebe es nichts, was seinen Ruf zurückschleudern könnte. Auch bekam er keine Antwort.

„Jana?“

Tyson versuchte nach ihr zu tasten. Doch sobald er Dragoons Klaue berührt hatte, konnte er sie nicht mehr bei sich spüren. Als wäre sie einfach zwischen seinen Fingern zerflossen. Bei diesem Gedanken überkam ihn die blanke Panik. Er hatte Kai doch versprochen auf sie Acht zu geben.

Er hatte es Jana versprochen!

Endlich erhellte ein Licht die Umgebung.

Es kam allerdings von seinem eigenen Körper. Oder zumindest das, was er gedacht hatte, was sein Körper gewesen war. Denn ihm wurde klar, dass sich sein Leib noch zusammensetzte. Kleine Partikel flogen auf ihn zu, zogen eine glimmende Spur hinter sich her und fügten sich eines nach dem anderen zusammen. Tyson wurde klar dass er tatsächlich nur ein Geist war. Der Anblick erinnerte ihn an Dragoon, als er sich inmitten der Trümmer des Kinomiya Anwesens, Schuppe für Schuppe zusammensetzte. Er hätte erwartet, dass so etwas wehtat, doch es gab wohl keine Nervenstränge in seinem Körper, die etwas wie einen Schmerzimpuls an sein Gehirn senden konnten.

Er blickte auf seinen Arm, der sich aus den leuchtenden Splittern vor ihm aufbaute und erkannte unter seiner Haut, die hellen Umrisse von Dragoons Drachenschuppen. Einen Moment überfiel ihn erneut die Angst, sich in ein seltsames Mischwesen verwandelt zu haben, doch da ebbte das Licht unter seiner Hautschicht bereits wieder ab. Und er hörte…

Stimmen. Viele Stimmen.

Die Lautstärke kam ihm bekannt vor.

Das Getrampel von Füßen. Rufe die sich näherten. Hände die begeistert Beifall klatschten. Tyson presste angestrengt die Augen zusammen und konzentrierte sich auf den Geräuschpegel. Er wollte darauf zulaufen, doch wie sollte dies zu bewerkstelligen sein, wo es keinen Boden gab, auf dem sich seine Füße hätten fortbewegen können? Bereits bevor der Gedanke zu Ende gedacht war, spürte er wie sich etwas gegen seine Fußsohle drückte, als wäre er in seiner Schwerelosigkeit auf Erdboden aufgekommen. Nur schien sich in diesem Fall der Boden unter seine Füße geschoben zu haben. Er wollte sich dem Geräusch nähern, doch bemerkte, dass es von alleine auf ihn zusteuerte. Also verharrte Tyson, bis sich die Lärmkulisse um ihn herum aufbaute. Ihm war als würde er ohne sein Zutun in einen Raum geschoben werden. Das alles um ihn herum kam ihm bekannt vor.

Plötzlich zuckte er zusammen, als er eine Stimme vernahm, die alle anderen übertönte.

„Und jetzt möchte ich euch die Stars des heutigen Tages vorstellen! Von mir jetzt mal völlig abgesehen... Übrigens könnt ihr mich für Partys und Hochzeiten buchen!“

Tyson riss die Augen auf.

Die Finsternis um ihn herum war mit einem Wimpernschlag verpufft. Sein Atem stockte als er sich seiner Umgebung bewusst wurde. Geradezu fahrig huschte sein Blick zu den Zuschauerrängen hinauf, die sich um ihn herum, in einem Kreis auftürmten. Hunderte junge Gesichter schauten auf sie herab, dazwischen blitzte immer wieder das Licht einer Kamera auf und im Zentrum des Geschehens, gestikulierte eine Gestalt impulsiv auf der Tribüne.

D.J. Jazzman.

Als wäre er Tysons Erinnerung entsprungen, stellte er sich in seiner schwarzen Lederkluft in Pose, die enden seines roten Kopftuchs flatterte dabei wild in der Luft, während der Spot der Scheinwerfer auf ihn gerichtet war. Tyson spürte wie jegliches Blut aus seinem Gesicht wich. Die Plötzlichkeit dieser Situation, ließ ihn einen Schritt zurücktaumeln, bis er gegen eine Person stieß.

„Hey! Konzentrier dich!“

Als er sich umdrehte stand da eine jüngere Version seines Bruders, die ihn mahnend anschaute. Zwar hatte er sich in den letzten Jahren nicht sonderlich stark verändert, dennoch stachen Tyson die Unterschiede nun besonders heraus. Da war zum Beispiel die Frisur. Hitoshis Haare hatten eigentlich an Länge verloren, nachdem Kurzhaarfrisuren wieder im Trend lagen. Er war schon immer zu modebewusst, womit Tyson ihn gerne aufgezogen hatte. Auch wenn sein Pferdeschwanz geblieben war, die wilde Mähne in seiner Stirn, war bei ihrer letzten Begegnung, nicht mehr so voluminös gewesen. Ihn so zu sehen raubte Tyson den Atem. Vor wenigen Stunden war er noch in einer Gefängniszelle versauert und schien mit dem Leben abschließen zu können.

„Schau auf die Bühne!“, wies Hiro ihn an. Er schnippte bedeutungsvoll geradeaus. „Du musst deine Gegner genau im Auge behalten, kleiner Bruder.“

Sofort schnellte Tysons Kopf zur Seite. Um das Seitenfeld der Arena hatten sich mehrere kleinere Gruppen gebildet, die im Halbdunkel darauf warteten, dass ein Scheinwerfer sich auf sie richtete und Jazzman ihre Teilnahme verkündete. Tyson schluckte hart.

„Heilige Scheiße.“, flüsterte er.

„Aber jetzt zu dem weshalb wir heute hier sind. Unseren Finalteilnehmern!“

Ein begeistertes Johlen ging durch die Menge. Jeder Zuschauer rief den Namen seines persönlichen Favoriten hinunter, in der leisen Hoffnung, dass einer seiner Lieblinge zu ihm aufschaute. Tyson scherte es nicht. Sein Blick haftete an Hilary, die er doch gemeinsam mit seinen Freunden zum Flughafen gebracht hatte, als sie vor Jahren ihre Stelle als Au Pair antrat. Sie müsste jetzt eigentlich in den USA sein. Ihm kam der Abschied von ihr in den Sinn.

Sie hatte geweint. Ihre Eltern hatten geweint.

Einige der Jungen hatten sich auch zusammennehmen müssen und es gab viele Umarmungen. Als er sie das letzte Mal in Washington besuchte, war aus ihr eine richtig selbstbewusste Frau geworden. Sie hatte Tyson durch die Hauptstadt geführt, die Touristen Tour mit ihm gemacht und ihm abends in einem Pub, begeistert ihren neuen Freund vorgestellt. Tyson wusste damals nicht, dass in den USA Thanksgiving vor der Tür stand, da hatte ihr Freund ihn kurzerhand auch zu sich nachhause eingeladen. Er war echt locker gewesen und Tyson konnte sich noch an seine Erleichterung erinnern, weil seine Jugendfreundin dieses Mal einen anständigen Kerl abbekommen hatte. Es freute ihn damals von Herzen, denn für ihn war sie wie eine kleine Schwester gewesen, auf die es aufzupassen galt. Sein holpriges Englisch war dagegen beim Thanksgiving Essen für einige Lacher gut.

Wie lange hatte er Hilary nicht mehr gesehen?

Es musste fast ein Jahr gewesen sein.

Nun stand sie hier, als junges Mädchen, in ihrer roten Jacke, mit dem BBA Logo auf dem Rücken und schaute mitfiebernd auf die Tribüne. Als wüsste sie gar nicht, dass doch eigentlich sieben Jahre, seit diesem Szenario vergangen waren. Er starrte auf ihre Hände die sich nervös vor ihr gefaltet hatten.

„Die Kids haben hart trainiert um bis hierher zu kommen. Doch eine Gruppe hat drei Mitglieder an andere Teams verloren. Ich spreche von den BBA Revolution!“

Der Scheinwerfer richtete sich auf ihre Ecke. Tyson blinzelte geblendet ins grelle Licht. Das war er echt nicht mehr gewöhnt. Sein Verstand war noch immer verwirrt ob der Ereignisse hier. Auf einem Monitor hinter Jazzman tauchte ein Bild von Daichi und ihm selbst auf - in seiner jüngeren Ausgabe. Er starrte auf seine zitternden Finger. Sie waren wieder die eines Jugendlichen. Er fühlte wie ihm kalter Schweiß den Nacken hinabrann. Dann fuhr sein Kopf zu seiner anderen Seite. Dort erspähte er Kenny, mit Krawatte und kurzer Hose. Der Chef war wieder so unglaublich klein, man hätte meinen können, einen Zweitklässler vor sich zu haben. Zwar war sein erwachsenes Alter Ego auch nicht sonderlich groß geraten, doch immerhin hatte der arme Kerl endlich den ersehnten Wachstumsschub bekommen. Er schob die dicke Brille zurecht, um eine bessere Sicht auf den Monitor zu bekommen.

Tyson starrte auf den Laptop in seiner Hand. Ob Dizzy auch wieder da war?

Dann machte er neben sich einen feuerroten Haarschopf aus.

Zu Daichi war sein Kontakt im Laufe der Jahre komplett abgebrochen. Der Altersunterschied zwischen ihnen war einfach zu gravierend gewesen. Als Tyson in die Pubertät kam, war er hinter jedem Rockzipfel her gewesen, während für den kleinen Rotschopf, Mädchen noch „Bäh!“ waren. Später hatte die Gruppe ihn nirgendwo mitnehmen können, weil er mit seinem Ausweis noch in keinen Club hineindurfte. Zu seinem Bedauern musste Tyson eingestehen, dass er auch damals nicht die Nerven für Daichi besaß. Er wusste noch wie er Max einmal zu gezischt hatte, dass der Kleine ihnen, mit seiner kindischen Art, die Tour bei den Mädels versaute. Doch jetzt war er irgendwie glücklich ihn wohlbehalten zu sehen. Womöglich waren die Naturkatastrophen in der Zukunft, auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen.

„Der Liebling der Fans, Tyson, ist immer noch heiß! Aber sein neuer Partner Daichi ist völlig unbekannt. Lassen wir uns überraschen!“

Sein Blick huschte hinauf zum Monitor. Schon als er Hiro erblickte ahnte Tyson, um welche Weltmeisterschaft es sich hier handelte. Der Monitor bestätigte seinen Verdacht. Als das Bild von seinem Team ausgeblendet wurde, erschien ein schwarzer Hintergrund, auf dessen Fläche weiße Lettern, den Grund für dieses Ereignis einblendeten. 3th World Championships hieß es dort.

Er schloss angestrengt die Augen und versuchte sich zur Ruhe zu ermahnen. Ihm wurde klar, dass dies der dümmste Zeitpunkt war, um wieder an die Vergangenheit anzuknüpfen. Der Grund dafür war, dass seine Freunde sich in andere Teams zerstreut hatten, um ihre Fühler mal auszustrecken. Dabei sollte er doch die Attribute schnellstmöglich in ihre Körper einsetzen. Ein Scheinwerfer erhellte eine andere Ecke in der Arena.

„Das nächste Team, das in die Finalrunden gebrettert ist, indem es alles kurz und klein gebladet hat, sind die PBB All Starz! Selbst die Schiedsrichter von ihnen sind gefürchtet.“

Ein lauter Beifall schallte durch die Halle. Tyson wurde aschfahl als er Max aus dieser Ecke erspähte. Zusammen mit den restlichen fünf Mitgliedern des amerikanischen Teams, winkte er zögerlich den Zuschauern zu, während seine Mutter Judy, im Hintergrund die Gruppe überwachte. Tysons Augen füllten sich einen Moment mit Tränen, doch er blinzelte den aufkommenden Film weg. Dafür war nicht der richtige Augenblick, auch wenn er Max am liebsten an sich gedrückt hätte. Sein Herz quoll förmlich über vor Freude ihn hier lebend zu erblicken. Sein Freund schaute aber nur konzentriert drein. So wie alle anderen Teilnehmer auch.

Für Max ging es hier um den Weltmeistertitel – für Tyson aber um noch viel mehr. Ihm wurde klar, dass wohl alle um ihn herum, ihr altes Leben vergessen hatten, sonst wären sie nicht damit beschäftigt, sich noch mit diesem Turnier abzugeben. Womöglich war diese Unwissenheit ein Segen.

„Aber das sind noch nicht alle! White Tiger X sind wieder da und sind bereit ihre Krallen auszufahren!“

Nun tauchte auch Ray im Licht eines weiteren Scheinwerfers auf, umringt von seinen Teamkameraden. Neben ihm schielte Lee etwas unsicher zu seinem Leader auf, da ihm der ganze Trubel doch nicht ganz geheuer schien.

Ray schaute direkt in Tysons Richtung – geradezu angriffslustig.

Einen Moment dachte er nach weshalb, bis ihm einfiel, dass sie zur damaligen Zeit, ziemlich böse auseinandergegangen waren. Er wusste noch was für Worte er ihm, in seinem Zorn entgegengeschleudert hatte.

„Du warst schon immer eifersüchtig auf mich!“

Er biss sich auf die Unterlippe bei diesem Gedanken.

Wie hatte er ihm so etwas an den Kopf werfen können?

Tyson hatte damals doch gar nicht das Recht besessen, Ray den Weg zum Weltmeistertitel zu verbauen. Er schaute verbissen auf dem Boden, als die Erkenntnis ihn traf. Ihm war es damals lieber gewesen, einen so starken Blader, auf seiner Seite zu wissen. Es hätte seinen Sieg viel einfacher gemacht. Da war es nur verständlich dass sein Freund ihn so unterkühlt bedachte.

Tyson schaute wieder auf und lächelte Ray aufmunternd zu, was der mit einem verwunderten Blinzeln quittierte. Er zog etwas fragend eine Braue auf und erwiderte seine freundliche Geste mit einem kühlen Nicken. Nach ihrem Streit hatte er wohl nicht erwartet, eine solche Reaktion bei ihrem Wiedersehen von ihm zu erhalten. Dann wandte er den Blick von ihm ab und schaute von da an starr dem Showmaster bei der Arbeit zu. Tyson konnte nicht beschreiben, wie unsagbar glücklich er war, beide wieder bei sich zu haben. Es folgte Jazzmans Monolog, der die anderen Gruppen vorstellte, die in diesem Jahr zum ersten Mal teilnahmen. Seine Stimme spielte sich nur noch in Tysons Hinterkopf ab. Dabei schielte er mehrmals zu seinen Freunden, die er fast verloren hätte.

Er wusste noch wie unglaublich wütend er gewesen war, als die drei sein Team verlassen hatten. Dennoch verspürte er jetzt nur noch pure Erleichterung. Es war ihm egal geworden, ob er sie an eine andere Gruppe verloren hatte, denn nun wusste Tyson, was ein wahrer Verlust war. Da hörte er ein Donnern, das auch Hillary neben ihm zucken ließ. Er und auch viele der Zuschauer, blinzelten hinauf zu der großen Glaskuppel, die als Dach über der Arena fungierte. Argwöhnisch bemerkte Tyson das es zu regnen begann. Die Wolken zogen sich über der Arena zu. Er konnte sich nicht erinnern, dass es bei einer der Weltmeisterschaften geregnet hatte. Die fanden meistens im Sommer satt, während der Ferien, damit auch Teilnehmer die noch die Schule besuchten teilnehmen konnten. Da schoss es wie ein Blitz durch seinen Kopf und er ahnte, woher das schlechte Wetter herrührte. Er musste hart schlucken. Ein grelles Licht zog sich über den wolkenverhangenen Himmel. Jazzman ließ sich dagegen weniger aus der Bahn werfen, tat einen kleinen Witz über das Wetter und fuhr mit seiner Show fort: „Die FF Dynastie sind ebenfalls dabei. Und alle sind hungrig nach dem Sieg!“

Nur wage nahm Tyson die beiden Blader in ihren gewagten Outfits wahr, die der Menge stolz zuwinkten. Sein Blick huschte viel mehr in die Ecke, in welcher er Kais Gestalt im Halbdunkeln wusste. Er dachte daran wie er in seinen Armen gestorben war…

Seine letzte Bitte - auf Jana aufzupassen.

Schlagartig wurde ihm klar, dass sie jetzt noch nicht einmal geboren war. Der Gedanke ließ ihn gequält zur Seite schauen. Nach allem was passiert war, hatte Kai seine Schwester doch irgendwie verloren. Und er ahnte noch nicht einmal etwas von dieser riesigen Lücke, die eigentlich jetzt in seinem Herzen klaffen sollte. Tyson dachte daran, wie er das kleine Mädchen getröstet hatte. Wie entsetzt Kai war, als er aus ihrem Mund hörte, wie boshaft sich seine Mutter ihr gegenüber gab. Er schien so froh, als er sah, wie gut Tyson mit ihr klar kam.

„Last but not least wären da noch die Blitzkrieg Boys!“, brüllte Jazzman inzwischen ins Mikrofon und der Spot des Scheinwerfers tauchte die letzte Gruppe in ein grelles Licht. Als er Kai an Talas Seite wohlbehalten erblickte, machte sein Herz einen Aussetzer.

Die Welt wurde für ihn still.

Den aufkommenden Applaus blendete sein Verstand komplett aus.

Er sah den kleinen Jungen vor sich. Seinen kleinen silbergrauen Kater…

Wie er ihm die Geschichte von dem Katzenrudel am Lagerfeuer erzählte. Kais kindliches Lächeln, als er müde, aber auch vertrauensselig, seinen Kopf gegen Tyson schmiegte und einfach nur seiner Stimme lauschte. Selbst die Wärme, als er auf seiner Brust eingeschlafen war, geschützt unter dem Stoff von Tyson Jacke, war plötzlich wieder für ihn allgegenwärtig.

Und er dachte an ihre gemeinsame Nacht…

Die Küsse die sie ausgetauscht hatten. Die Berührungen. Der Moment in dem sie für kurze Zeit eins waren. Alles in ihm sehnte sich danach ihn wieder so zu halten. Sein Blick blieb an dem Gesicht seines Freundes hängen. Der schaute äußerst gelangweilt zu Boden, senkte irgendwann die Lider, als ließe ihn das ganze Turnier vollkommen kalt. Die Gestalten zu dessen Seite registrierte Tyson kaum noch. Kais Teamkameraden wurden zu schemenhaften Randfiguren.

Erst Jazzmans Stimme machte ihm klar, dass er nun wieder den Blitzkrieg Boys angehörte.

„Sie werden die Kämpfe aufmischen! Und eure Augen täuschen euch nicht. Unter ihnen ist der einzigartige Kai! Er hat sein altes Team so überstürzt verlassen, dass er ihnen noch das heutige Mittagessen schuldig ist. Was soll’s, das wäre es mit den Teams! Und sie sind bereit alles zu geben was sie drauf haben!“

Jazzmans Prophezeiung ließ die Menge noch einmal aufleben.

Der Lärm war buchstäblich ohrenbetäubend, dass er sogar den Donner draußen übertönte. Einen Moment fragte sich Tyson wie er das immer ausgehalten hatte. Da hörte er etwas, was sich nicht mit dem in Einklang bringen ließ, was sich um ihn herum abspielte.

„Vernachlässige jetzt nicht deine Aufgaben!“

Er blickte sich irritiert um. Die Stimme war ganz dicht an seinem Ohr gewesen. Genaugenommen klang es sogar, als wäre der Satz direkt in seinem Kopf gesprochen worden. Dann spürte er wie sein Arm warm wurde. Unauffällig hob Tyson den Stoff am Ärmel an und sah wie etwas dort glühte. Die blauen Schuppenmuster erloschen aber bald wieder.

„Tyson? Ist alles in Ordnung?“, wollte Hilary neben ihm wissen. Er ließ von seinem Ärmel ab und schaute sie direkt an. Ihr Blick ruhte besorgt auf ihm. „Du bist auf einmal so blass. Vor ein paar Minuten war das noch nicht so.“

„Ja. Alles okay…“, es klang aber selbst in seinen Ohren zu beunruhigt. „Hast du das vorhin auch gehört?“

Eigentlich ahnte er ihre Antwort, doch Tyson wollte sicherstellen, dass wirklich nur er Dragoon vernehmen konnte. Zumindest sollte er darauf verzichten, der Stimme in seinem Kopf laut zu antworten, sonst schleppte man ihn in einer Zwangsjacke ab.

„Da musst du schon genauer werden. Hier drinnen hört man gar nichts. Es ist unglaublich laut!“, sie nickte in Richtung der Zuschauerränge. „Einfach klasse wie viele Leute gekommen sind, findest du nicht auch?“

Ihre nussbraunen Augen strahlten förmlich. Die Anzahl der Besucher imponierte ihr.

„Ja. Toll…“, entgegnete er ziemlich geistesabwesend.

„Das klingt gar nicht begeistert.“, schaute sie ihn ernst an. „Ist es wegen den anderen?“

Typisch Hilary. Sie war einfach eine gute Seele. Er musste lächeln.

Irgendwie hatte Tyson ihre fürsorgliche Art vermisst.

„Wahrscheinlich. Aber ich komme klar.“

„Vergiss bitte nicht dass es nur ein Turnier ist. Hier geht es nur um den Spaß. Okay?“

Ihre Stimme klang traurig, dabei bedachte sie ihn mitleidig. Auch sie hatte gelitten, als die Gruppe auseinanderbrach, aber sie war schon damals anders gestrickt als Tyson. Während er seiner Wut lautstark freien Lauf ließ, war sie eine Weile in ihr inneres stilles Kämmerchen gekrochen, um dort für sich alleine zu schmollen. Ihm war nicht entgangen, wie bedrückt sie in dieser Zeit gewesen war und das hatte ihn nur noch wütender auf seine Freunde gemacht. Auch wenn er sich ständig mit Hilary in den Haaren lag - sie war wie eine heilige Kuh. Man konnte sich über sie lustig machen, aber man durfte ihr nicht wehtun. Das war einfach ein ungeschriebenes Gesetz innerhalb ihrer Gruppe.

„Wir sind noch immer alle Freunde. Auch wenn die anderen das Team verlassen haben.“

„Ja… Ich weiß. Danke Hilary.“

„Warum lächelst du?“

„Keine Ahnung. Ich freue mich einfach.“

Tyson Blick huschte durch die Halle. Er suchte nach einer Uhr. Etwas was ihm einen Hinweis darauf gab, wie spät es war. Dragoon hatte gemeint, dass die Attribute spätestens bis zum Sonnenuntergang, in den Körpern seiner Freunde stecken sollten, sonst würden sich die ersten Naturkatastrophen wieder anbahnen. Allerdings klang er selbst etwas unsicher bei dieser Zeitangabe. Daher sollte Tyson schnell zur Tat schreiten. Über Mr. Dickensons Loge wurde er schließlich fündig.
 

„Denk an das Fass mit der Energie der Uralten. Nur wird es dieses Mal langsam aufgebraucht, bis es restlos leer ist. Das Fass darf niemals zu voll, aber auch niemals leer sein! Verstehst du?“
 

Er schluckte als ihm Dragoons damalige Worte einfielen. Wenn Jazzman endlich fertig mit seiner Show war, könnte er sich daran machen, seine Aufgabe zu erfüllen. Einen Moment überlegte er, ob er seinen Freunden das wirklich antun wollte. Da schallte auch schon ein Befehl durch seinen Kopf:

„Du musst es tun! Sonst sterben sie in dieser Zeit auch wieder!“

Tyson verzog verärgert das Gesicht. Würde das in Zukunft immer so ablaufen?

Er schaute auf die Uhr. Es war kurz vor sechs. So viel er noch wusste, hatte die dritte Weltmeisterschaft im Sommer stattgefunden. Also würde es etwas länger hell bleiben. Wenn der Showmaster auf der Bühne, also endlich mal die Klappe hielt, könnte er sofort loslegen und sich jeden seiner Freunde einzeln schnappen.

„Jetzt ist es endlich soweit! Jetzt werden wir die Beyblades kreiseln lassen! Die Finalrunden beginnen! Welche Teams werden sich als Erste gegenüberstehen?“

Tyson horchte auf. Bei diesem Satz fiel ihm siedend heiß ein, dass es gleich im Anschluss, mit dem ersten Match losgegangen war. Vielleicht konnte er sich aber davon stehlen, so lange die ersten Teams ihren Kampf austrugen…

Er dachte fieberhaft darüber nach, welche Gruppen in der ersten Runde gegeneinander angetreten waren, doch für ihn war das ganze Geschehen hier sieben Jahre her. Er konnte sich nicht mehr haargenau an den Ablauf von damals erinnern.

„Mit den Blitzkrieg Boys sind dieses Jahr sechs Teams im Wettbewerb. Wir aktivieren unseren Zufallsgenerator, der willkürlich die ersten beiden Gegner auswählen wird. Wow! Es steht ganz schön viel auf dem Spiel! Mal sehen wen es trifft…“

Der Monitor hinter Jazzman flackerte auf. Darauf waren die beiden stärksten Spieler sämtlicher Teams aufgereiht. Der Zufallsgenerator wurde aktiviert und beleuchtete jedes Gesicht einen kurzen Moment. Tyson legte sich bereits einen Plan zu Recht, wie er an seine Freunde herankommen könnte, um sie in einer unbeobachteten Minute in ein Gespräch zu locken, da fuhr ihm der Schreck durch alle Glieder, als er sein eigenes Bild auf dem Bildschirm erhaschte.

„Da ist es! Das erste Match lautet: BBA Revolution gegen White Tiger X!“

Die Menge tobte als Jazzman die frohe Kunde begeistert in die Welt hinaus posaunte.

„So eine verdammte Scheiße!“, entfuhr es Tyson lauthals. Seine Kameraden schauten ihn ob seiner derben Wortwahl entrüstet an.

„Hey, achte mal auf deine Ausdrucksweise!“, tadelte ihn Hiro prompt.

„So ein verfluchter Mist! Das passt mir jetzt überhaupt nicht!“

„Tyson! Du bist das Vorbild aller Kinder! Fluch hier nicht wie ein Taxifahrer!“

Doch der schaute sich nur hilflos um. Weit oben in der Kuppel der Arena, waren Fenster eingelassen. Die Sonne schien noch herein, aber wenn er wirklich dieses Match noch austragen musste, würde das eine Ewigkeit gehen. Tyson könnte seinen Kampf absichtlich verlieren, um die Sache zu beschleunigen, aber das Daichi dabei mitzog bezweifelte er. Der Junge würde bis zum letzten Atemzug in der Arena kämpfen und alles unnötig in die Länge ziehen. Das bedeutete, dass Ray nicht eher von der Tribüne herunterkam, bis ein Sieger feststand. Er kniff die Augen zusammen, ballte seine Fäuste und fluchte ein verzweifeltes: „Warum musste es dieses beschissene Turnier sein?!“

„Tyson, ich warne dich nicht nochmal! Zügel dein loses Mundwerk!“, sein Bruder gab ihm einen unwirschen Klapps gegen den Hinterkopf. „Wo hast du diese Gossensprache her? Nur weil du gegen einen alten Teamkameraden antrittst, musst du nicht so ausflippen!“

Er interpretierte die Situation vollkommen falsch, doch Tyson hatte beim besten Willen keine Zeit, sich ihm gegenüber großartig zu erklären. Hiro hätte ihm ohnehin nicht geglaubt. Stattdessen überging er dessen Predigt und fuhr hektisch zu seinem Partner herum.

„Daichi!“, der Junge starrte perplex auf, weil Tyson seinen Namen geradezu bellte. Er packte ihn bei den Schultern. „Du musst unbedingt verlieren!“

Einen Moment blinzelte ihn sein Partner an, genau wie der Rest des Teams. Man konnte förmlich sehen wie die rostigen Zahnräder, unter seinem feuerroten Haarschopf, ins Stocken gerieten. Dann verlieh er seiner Verwunderung mit einem ganz gescheiten Wort Ausdruck: „Hä?!“

Tyson heulte verzweifelt auf.

„Das Match das unmittelbar bevorsteht, wird ganz schön heiß werden!“, hörte man D.J. Jazzmans Kommentar inzwischen. Niemand bemerkte was sich in ihrer Ecke gerade abspielte. „Wie ihr wisst haben die stärksten Spieler dieser Teams eine gemeinsame Vergangenheit. Kommt feuert sie an!“

Erneut schallte der Beifall laut durch die Halle. Hilflos schaute Tyson sich um. In Rays Ecke kam Bewegung. Er trat näher an Daichi heran.

„Frag nicht! Verlier einfach! Wir machen einen Doppelkampf!“

„Ist das eine Taktik?“, fragte der Chef und rückte seine Brille argwöhnisch zurecht.

„Ja. Von mir aus nenn es auch eine Taktik!“

„Die habe ich nicht genehmigt.“, antwortete Hiro mit tief herabgezogenen Brauen. Dabei stemmte er die Arme in die Seiten. Er hatte offensichtlich nur den Sieg seiner Mannschaft im Kopf. „Du hast nicht einfach ohne die Zustimmung deines Coachs, eine so weitreichende Entscheidung für dein Team treffen!“

„Wir müssen verlieren!“, Tyson rüttelte Daichi an den Schultern. „Frag nicht wieso! Mach es!“

„Zerr nicht so an mir! Du machst mehr Löcher in mein Oberteil als cool aussieht!“

„Scheiß auf dein Oberteil! Ich kaufe dir tausend Oberteile wenn du das Handtuch wirfst! Du wirst in zerlumpten Shirts schwimmen können! Aber diese Runde muss schnellstens über die Bühne gehen! Wir müssen eine Fünf Minuten Terrine daraus machen! Wir müssen verlieren!“

„Wieso wir? Soll das heißen du willst dein Match auch verlieren?!“

Tyson biss sich auf die Unterlippe, als er seinen Patzer erkannte. Hätte er einfach die Klappe gehalten und an der Aussage festgehalten, dass das nur eine Taktik war. Sein Gesichtsausdruck schien Antwort genug zu sein, denn die Augen seiner Kameraden wurden tellergroß. Plötzlich überschlugen sich die fassungslosen Kommentare.

„Niemals!“, rief ihm Daichi aufgebracht entgegen. „Sag mal spinnst du?!“

„Wir verbauen uns einen riesen Vorsprung wenn wir dieses Match verlieren!“, protestierte Kenny ebenso lautstark. „Willst du deine neuen Moves geheim halten? Glaub mir Tyson, diese Taktik ist zu gewagt! Woher willst du wissen, dass unsere anderen Kämpfe zu unseren Gunsten ausfallen? “

„Das ist mir egal! Ich scheiße auf dieses Turnier!“, herrschte er alle so aufgebracht an, dass es ihnen einen Moment den Atem raubte. Niemand schien mit dieser Antwort gerechnet zu haben, wo er doch zuvor unbedingt den Titel holen wollte. Daichi zog sich unwirsch weg und deutete mit dem Zeigefinger anklagend auf ihn.

„Nur weil du den Schwanz einziehst, weil deine alten Teammitglieder das Weite gesucht haben, heißt das nicht dass ich aufgebe! Ehrlich Tyson, ich habe mehr von dir erwartet!“

„Das ist wichtig! Also widersprich nicht und mach es einfach!“

„Für mich ist dieses Turnier wichtig! Und wenn du nicht mitziehst, gewinne ich es eben auf eigener Faust! Ich brauche dich nicht!“, brüllte Daichi großspurig aus voller Kehle. Der Junge war noch nie gut darin, eine Diskussion in gemäßigter Lautstärke zu führen, stattdessen hatte er immer versucht, seinen Gegenüber in Grund und Boden zu schreien. Es war nicht einmal böse gemeint, nur hatte der Junge keine Manieren. Mit Daichi zu debattieren, ließ einen zwangsläufig denken, dass man Einstein war, der King Kong die Relativitätstheorie erklären wollte. Oberhalb ihrer Ecke wurden die ersten Zuschauer auf ihre Diskussion aufmerksam. Ein kleines Mädchen spähte über die Brüstung zu ihnen herab und verkündete einem älteren Jungen, was sie aufgeschnappt hatte. Sofort reckten sich noch mehr Köpfe zu ihnen herab. Außerhalb der Arena kam Bewegung in die Teams.

Der Anfang kam von den Blitzkrieg Boys.

Kai machte auf dem Absatz kehrt und stürmte erhobenem Hauptes aus der Halle hinaus. Sein weißer Schal wehte ihm hinterher. Einen Moment blinzelte Tyson ihm verdutzt nach, bis ihm einfiel, dass Kai es damals nicht einmal für nötig empfunden hatte, sein Match gegen Ray anzusehen. Er war genauso arrogant aus der Arena stolziert, im Geleitschutz seiner neuen Teamkameraden. Tyson war ihm damals auch noch hinterhergerannt, um ihn für seinen Verrat zur Rede zu stellen. Er hatte ihm eine richtige Szene im Flur gemacht. Immerhin konnte Tyson sich dadurch denken wo er Kai finden würde.

Die ersten Vorbereitungen wurden für das Anfangsmatch getroffen. Einige Bühnenarbeiter fegten noch einmal um die Tribüne herum, da die Zuschauer ständig etwas in die Arena warfen. Außerdem war Jazzman in einer Konfettiwolke erschienen, weshalb der Boden von knallbunten Schnipseln umsäumt war. Das war recht unvorteilhaft, wenn die Blades gleich über diese Fläche kreiseln sollten.

Tyson schaute ziemlich panisch Richtung Flur.

Weil er Kai dieses Mal nicht folgte, wurde keine unvorhergesehene Pause eingelegt. Stattdessen bat Jazzman die ersten Teams, sich für ihren Auftritt bereit zu halten. Als Max sich mit seinem Kameraden ebenfalls abwandte, wurde Tyson klar, wie schwer es werden würde gerade ihn zu finden. Er hatte weder eine Ahnung, wo sich die PPB All Starz, während dem ersten Match aufgehalten hatten, noch wo ihre Umkleidekabine gewesen war. Max könnte in der breiten Masse untergehen. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, um eine Lösung aus diesem Debakel zu finden. Dabei huschten seine Augen immer wieder zu der Uhr über Mr. Dickinsons Loge.

Ihr Sekundenzeiger tickte.

Schlag um Schlag. Tick, tack…

Ihm wurde heiß. Seine Finger schweißnass.

Er überlegte bereits, ob er verkünden sollte, dass sein Team kampflos aufgab. Doch Hitoshi war der Coach und was der sagte, war nun einmal Gesetz. Eher würde er Kenny an Tysons Stelle antreten lassen, als ihr Team ohne Gegenwehr nach Hause zu schicken. Dann kam Tyson aber auch wieder nicht an Ray heran, weil der sich bereits in einem Match befand! Gerade jetzt hatte er sowohl Max, als auch Ray, an einem Fleck und doch schienen sie unerreichbar. Seine Augen wurden vor Panik groß - wo waren die Attribute eigentlich?

„Sie werden kommen, wenn du sie brauchst. Und jetzt sieh zu, dass du an die Jungen heran kommst! Los, Takao! Los!“

„Ja verdammt!“, schrie er genervt auf und bemerkte gar nicht, dass dieser Satz laut über seine Lippen kam. Tyson raufte sich verzweifelt die Haare.

„Was heißt hier ja verdammt? Hörst du mir überhaupt zu?“

Er war so in Gedanken versunken gewesen, dass er gar nicht mitbekam, wie sein Bruder ihm eine Standpauke hielt. Dafür hatte er jetzt echt keine Nerven. Sein Blick huschte zu Jazzman. Der tupfte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn und machte sich daran, die Tribüne für die Teilnehmer zu räumen.

„Sieh mich an wenn ich mit dir rede! Was ist denn bloß los mit dir?!“, Hitoshi packte ihn am Kragen. „Egal was mit deinen Freunden war, jetzt sind sie deine Konkurrenten! Die werden dich nicht mit Samthandschuhen anfassen, nur weil ihr zusammen eine schöne Zeit erlebt habt - und das wirst du gefälligst auch nicht! Also reiß dich zusammen und hör auf ihnen hinterher zu jammern! Du gehst da jetzt raus! Das ist ein Befehl von deinem Coach!“

Ihm kam ein Geistesblitz. Er starrte Hiro an.

„Okay.“

Der unbekümmerte Ton in welchem er es sagte, ließ seinen Bruder einen Moment stutzen. Seine Verblüffung öffnete Tyson Tür und Angel. Er riss sich los und rannte auf die Bühne.

„DOCH NICHT SOFORT!“, schrie Hitoshi ihm hinterher. Kurz darauf vernahm er, wie sein Bruder seine Kameraden fragte, was für Drogen man ihm denn verabreicht habe, denn er würde sich wie ein Bekloppter benehmen. Tyson blieb ihm die Antwort schuldig. Er schwang sich die Tribüne hoch und rannte auf Jazzmann zu. Noch bevor der Showmaster, das Treppchen zu seiner Seite der Arena hinab gehen konnte, packte Tyson dessen Handgelenk und entriss ihm das Mikrophon aus den Fingern.

„Hey Alter?! Was soll da-…“

„Max, bleib wo du bist! Du auch Ray!“

Als Tysons hektische Stimme durch die Halle schallte, verebbte der Lärmpegel langsam.

Alle Blicke wandten sich langsam zu dem amtierenden Weltmeister – auch die der anderen Teilnehmer. Er suchte nach Kai. Doch natürlich war der Junge schon hinausgestürmt. Nur die restlichen Blitzkrieg Boys blieben stehen. Offenbar hatten sie keine Muße gehabt, in Kais Tempo zu verfallen und ließen ihn vorausgehen. Immerhin ahnte Tyson wo er ihn finden würde.

Kurz vor dem Eingang zum Flur blinzelten die Blitzkrieg Boys zu ihm herüber. Genauso wie Max auf der anderen Seite der Arena. Aus seinem Blick sprach purer Argwohn. Auch bei ihm hatte er es sich damals gewaltig verscherzt. Tyson erspähte Rick und Judy an dessen Seite, welche die Brauen hochhob, gefolgt von den restlichen All Starz, die dieses Jahr leider auf der Bank versauern mussten. Insgeheim freute er sich, dass nun auch die Gräueltat an Maxs Mutter nie passiert war.

Ray hatte inzwischen mit seinem Partner Lee, ihre Taktik besprochen, blickte aber mit verschränkten Armen auf, als sein Name fiel, während Mariah mit einem verdutzten Blinzeln hinter seinem Rücken hervorschaute. Er hörte ihn schnauben, wahrscheinlich weil er eine provokante Szene von ihm erwartete. Eine Kampfansage!

Sämtliche Aufmerksamkeit galt nun Tyson. Die Halle wurde mucksmäuschenstill. Viele Augenpaare die sich alle auf ihn gerichtet hatten. Er blickte hinauf zu Mr. Dickenson Loge.

„Darf ich kurz einige Worte an meine ehemaligen Teammitglieder richten?“

Mr. Dickenson stand von seinem Platz auf und spähte verwirrt zu ihm herab. Dann schüttelte er verneinend den Kopf und beugte sich zu einem Standmikrophon herab, dass vor seinem Tisch platziert war, für den Fall, das er in seiner Funktion als Veranstalter, eine Änderung im Ablauf ankündigen wollte.

„Mm… Betrifft es ihren Ausstieg? Ich möchte ungerne, das der Zeitplan durcheinander kommt, wegen ein paar kleineren Reibereien unter ehemaligen Kollegen.“

„Es betrifft den Ausstieg. Ich muss etwas wieder gerade biegen, was ich verbrochen habe.“

„Hat das nicht bis nach dem Turnier Ze-…“

„Nein! Und wenn sie sich weigern, werde ich hier und jetzt aussteigen! Dann bin ich komplett draußen aus dem Turnier und scheiße auf den Titel!“

Zunächst war es so leise, man hätte eine Stecknadel fallen hören, bis das Raunen durch sämtliche Reihen ging. Etwa jede zweite Frage aus den Zuschauerrängen war, ob man sich verhörte habe. Perplex blinzelte ihn Mr. Dickenson an, genauso wie der Rest sämtlicher Teilnehmer. Verdutzte Gesichter schauten zu ihm hinauf. Es wurden viele Blicke ausgetauscht. Hiro trat langsam an den Rand der Tribüne und bat ihn leise wieder herunterzukommen. Offenbar war sein Ehrgeiz jetzt in Sorge umgeschlagen. Er spürte dass etwas mit seinem kleinen Bruder nicht stimmte. Wahrscheinlich glaubte er, dass Tyson dem Druck nicht mehr standhielt und jetzt total einbrach.

„Komm runter. Du willst doch nicht wirklich alles hinwerfen? Denk doch mal an deine Fähigkeiten. Du bist doch zu talentiert um dich jetzt unterkriegen zu lassen.“, nun sprach endlich nicht der Coach aus ihm, sondern der ältere Bruder. Tyson tat eine sachte Handbewegung in seine Richtung, um ihn zu beschwichtigen. Hinter Hitoshi raufte Daichi sich entsetzt die Haare, während Hilary die Hände vor den Mund schlug. Dem Chef rutschte beinahe seine geliebte Dizzy aus den Fingern. Er klappte sie auf und plapperte wie verrückt auf sein Bit Beast ein, forderte sie auf, sofort Tysons Körpertemperatur zu scannen. Offenbar wurde ihm vorgeworfen einen Hitzeschlag abbekommen zu haben.

Inzwischen blickte Mr. Dickenson ihn wie vom Donner gerührt an.

Seine Kehle schien trocken geworden zu sein. Er räusperte sich voller Unbehagen.

„Bitte was?“, für gewöhnlich war der ältere Herr sehr eloquent. Er war ein resoluter Mann und trotz seines fortgeschrittenen Alters, noch immer mitten im Geschehen – und Tyson war sein liebstes Steckenpferd. Es war ungerecht diesen Vorteil für sich zu beanspruchen, doch der Zweck heiligte in diesem Fall die Mittel. Tyson entdeckte auf dessen grauer Halbglatze funkelnde kleine Perlen. Diese Ansage hatte Stanley Dickenson offenbar schön den Schweiß auf die Kopfhaut getrieben.

„Ich habe einen schlimmen Fehler gemacht.“, erklärte Tyson. „Und ich werde keine Ruhe finden, bis ich ihn wieder ausgebügelt habe und zwar bevor das Turnier richtig beginnt! Ich muss das klarstellen, sonst würde meine Leistung darunter leiden. Also entweder lassen sie mich jetzt sagen, was ich zu sagen habe - oder ich bin weg.“

„Was machst du da?!“, rief Ray plötzlich zu ihm hinauf. Offenbar bereitete ihm die Aussicht, gegen ihn nicht mehr antreten zu können, überhaupt keine Freude. Mariah fasste zaghaft nach dessen Arm, doch er riss sich los. „Soll das ein scheiß Trick sein?!“

Er ignorierte ihn. Aus der anderen Ecke schaute Max geradezu enttäuscht drein. Tyson wurde klar, dass keiner seiner Freunde sich ein Turnier, ohne ihn vorstellen konnte. Mr. Dickenson wiegte den Kopf gequält, von einer auf die andere Seite. Dabei zuckte sein grauer Schnauzer nervös über der Oberlippe.

„Naja… Also unter diesen Umständen. Obwohl ich dich bitte, hier keinen Rosenkrieg zu veranstalten.“

„Danke Mr. Dickenson. Das werde ich nicht.“, sprach Tyson erleichtert, hob dankend die Hand und strahlte bis über beide Ohren. Dann ließ er seinen Blick über die Zuschauerränge wandern. Ihm kam es vor, als wäre ihm das in seiner Jugend viel leichter gefallen. Allerdings war es einfacher für ihn gewesen, seine Wut hinauszubrüllen, als das was er jetzt sagen wollte. Er räusperte sich und meinte: „Wow! Manchmal vergesse ich wie viele Leute in so einer Arena passen. Ich bin es gar nicht mehr gewöhnt vor so großem Publikum zu sprechen.“

Vereinzelt hörte er einige Leute kichern. Wahrscheinlich weil sich das keiner bei ihm vorstellen konnte. Vielleicht hatte er sogar den Tag zuvor noch ein Interview gegeben. So genau wusste das Tyson wirklich nicht mehr.

„Ich dachte ich fange mal mit einem Witz an.“, grinste er verschmitzt. Nun lachte die Menge doch auf. Dennoch wurde Tyson schnell wieder ernst. „Aber um euch nicht länger hier aufzuhalten. Wie bereits erwähnt, gibt es da etwas, was ich klarstellen muss. Und zwar betrifft es meine alten Teamkollegen. Sicherlich wissen die meisten von euch, dass wir vor kurzem beschlossen haben, getrennte Wege zu gehen – und auch meine Reaktion darauf. Ich bin mir sicher, dass ich in einigen Interviews ziemlich fiese Kommentare dazu abgelassen habe. Einige meiner Fans werden wahrscheinlich sogar aus Loyalität mir gegenüber, meinen Standpunkt vertreten und die anderen ebenfalls für Verräter halten. Für diese Rückendeckung danke ich euch… Aber ich bin leider auch nur ein Mensch und mache genauso wie jeder von euch Fehler. Deshalb solltet ihr wissen, dass der wahre Verräter wohl in diesem Fall ich bin.“

Ein Flüstern machte die Runde. Er beobachtete wie Max der Mund langsam aufklappte.

Dagegen wurde Rays Miene geradezu steinern.

„Ich weiß dass viele die Bladebreakers geliebt haben und auch schrecklich enttäuscht waren, dass die Gruppe sich aufgelöst hat. Ich bin genauso traurig darüber, aber Fakt ist, während ich mich in dem Ruhm unseres Namens gesonnt habe, kamen meine Teamkameraden viel zu oft zu kurz. Das ist unfair, weil jeder von ihnen ein ausgezeichneter Blader ist! Ich habe das Ganze aber zu einer One-Man-Show verkommen lassen… Der Weltmeistertitel kann Segen und Fluch zugleich sein. Wenn man nicht aufpasst wird man schnell hochmütig. Und das ist mir vor kurzem passiert.“

Tyson schaute direkt in Rays Richtung. Jegliche Rivalität war aus dessen Gesicht gewichen. Er schaute nur überrumpelt zu ihm hinauf. Seine hellen Augen zitterten.

„Du hattest Recht, Ray. Ich bin wirklich das Problem gewesen.“, griff er dessen damaligen Vorwurf auf. Die verschränkte Haltung von seinem Freund löste sich und er blinzelte ihn tief betroffen an. „Ich habe mich wie ein arroganter Gockel aufgeplustert. Sogar meinem neuen Partner Daichi, habe ich immer eingeredet, dass er niemals an mich herankommt. Das war echt eine schwache Leistung von mir… Ein Weltmeister sollte inspirieren können und sein Team zusammenhalten. Stattdessen habe ich mit meinen Starallüren, mein Team nur auseinander gerissen. Ich muss hier und jetzt klarstellen, dass es nicht eure Schuld war, dass sich die Bladebreakers getrennt haben! Das ist allein auf meinen Mist gewachsen. Was das angeht habe ich auf ganzer Linie versagt.“

Nun ließ auch Daichi von seine Haaren ab. Er starrte Tyson verdattert an, während Hilarys Hände von ihrem Mund, zu ihrer Brust wanderten. Sie faltete die Finger vor ihrem Herzen und flüsterte seinen Namen. Alle waren solche Töne von ihm nicht gewohnt.

„Wahrscheinlich habe ich deshalb auch so heftig auf euren Ausstieg reagiert. Ich weiß genau was ihr beiden - und selbstverständlich auch Kai - drauf habt. Solche Leute will man lieber als Verbündete. Als Feinde können sie einem nämlich mächtig den Arsch aufreißen.“

Er grinste und rieb sich die Nase. Bei diesem Satz sah er ein belustigtes Schmunzeln um Max Mundwinkel huschen. Nun kratzte sich Tyson etwas befangener im Nacken. Das jetzige Geständnis bedurfte ihn mehr Überwindung.

„Aber was mir wirklich Angst gemacht hat, war ehrlich gesagt nicht nur die Aussicht, euch in der Arena als Gegner gegenüberzustehen. Ich denke der Hauptgrund war, dass ich Angst hatte… das ich die besten Freunde verliere, die man je haben kann.“

Max Mundwinkel glitten steil hinab. Seine Augen wurden tellergroß ob dieser Aussage. Judy legte hinter ihm ihre Hände auf seine Schultern. Sie lächelte und flüsterte ihrem Sohn etwas ins Ohr.

„Ich hätte euch was das angeht mehr vertrauen sollen. Ihr seid nicht die Art Menschen, die einen Freund einfach so abschreiben, nur weil man in ein anderes Team wechselt. Das ist mir mittlerweile auch klar geworden. Es mag sein, das wir zuvor nur zwei Jahre im selben Team waren, ich habe aber das Gefühl, das wir uns schon ein Leben lang kennen. Was das angeht, seid ihr mir aber etwas voraus. Ich bin einfach ein Hitzkopf und habe sehr üble Dinge zu euch gesagt - wie ein trotziges Kind. Diese Vorwürfe… Die tun mir einfach Leid. Es hat nichts mit Eifersucht zu tun, wenn man seinen eigenen Weg gehen möchte. Ich hatte nicht das Recht euch dafür zu verurteilen, dass ihr auch eine Möglichkeit sucht, um euren Traum zu verwirklichen!“

Ray schaute mitleidig zu ihm auf. Hinter ihm erhaschte Tyson Mariah. Er hätte schwören können, dass sie hinter Gary verschwand, damit sie sich ohne von einer laufenden Kamera gefilmt zu werden, über die Augen wischen konnte. Ungeachtet dessen, tat Tyson einen tiefen Atemzug und sprach: „Deshalb möchte ich mich hier und jetzt, in aller Form bei euch entschuldigen. Es tut mir Leid, dass ich euch die letzten Wochen gemieden habe. Ich habe mich wie ein Idiot benommen und… dafür schäme ich mich. Ich will einfach in diesem Turnier meinen Spaß mit euch haben. Egal ob ihr in anderen Teams spielt. Die Freunde meiner Freunde sind auch meine. Und ihr hättet euch keinen besseren Mannschaften anschließen können. Mit diesen Teams habe ich ernsthafte Konkurrenz bekommen!“

Neben Judy, kam von Maxs Teammitglied Emily, ein leises Seufzen. Sie nahm sich die Brille ab und putzte sich mit dem Oberteil über die nassen Gläser, während ihr Teamkapitän Micheal freundschaftlich den Arm um ihre Schulter legte und sie belustigt aufzog. Dann blickte er in Tysons Richtung und hob den Daumen anerkennend hoch. Genauso eine Reaktion kam auch von dem White Tiger Mitgliedern. Vom Weltmeister in so hohen Tönen gelobt zu werden, ließ auch Lee stolz die Arme verschränken und die Brust nach vorne recken, während Kevin bis über beide Ohren strahlte. Meister Tao strich sich summend über das Ziegenbärtchen und entblößte eine unvollkommene Zahnreihe.

„Und wir sind nicht gut?“, beklagte sich Julia pikiert aus der F-Dynasty Ecke.

„Hey, zu meiner Verteidigung… Ich kenne euch noch gar nicht.“, spielte Tyson den Unwissenden. „Aber ich bin ziemlich sicher, dass keiner von den neuen Teams grundlos in dieser Arena steht. Wer es bis ins Finale schafft, muss nichts mehr beweisen!“

„Hört, hört!“, rief ihr Trainer Romero aus und strich sich lässig eine blonde Locke aus dem Gesicht. Tyson hatte ihn als kleinen Playboy in Erinnerung, der gerne der Damenwelt Luftküsse zuwarf.

„Um also endlich zum Punkt zu kommen, und die Zuschauer da oben nicht noch länger warten zu lassen, würde ich euch bitten, dass ihr dieses eine Mal noch, über meine aufbrausende Art hinwegseht, hier hoch zu mir auf die Bühne kommt – und wir uns freundschaftlich die Hand reichen.“

Auf seine Worte ließ er Taten folgen. In einer symbolischen Geste streckte er seinen Freunden die Hand entgegen. Zunächst blieben beide noch wie vom Donner gerührt stehen, bis ein lautes Klatschen die Halle erfüllte. Es war deshalb so gut zu vernehmen, weil Mr. Dickenson von seiner Loge aus, vor dem Mikrophon anfing zu applaudieren. Seine Partner neben ihm machten es ihm bald nach. Kurz darauf stimmten noch mehr Personen ein. Tysons Blick huschte über die Menge und bald standen einige Zuschauer auf, bis kein Mensch mehr auf seinem Platz saß.

„Genauso eine Sportlerehre braucht die Welt!“, sprach Mr. Dickenson in sein Mikro. Der Beifall wurde noch lauter auf seine Worte. In der Arena sah Tyson altbekannte Gesichter, die sich ihm lächelnd zuwandten. Fast alle Teams klatschten ihm zu. Als er hinter seinen Rücken schielte, waren sämtliche eisernen Züge, um die Mundwinkel seines Bruders herum verschwunden. Hilary hatte zu weinen begonnen, genauso wie D.J. Jazzman, dem wie ein geprügelter Schlosshund, die Tränen in Bahnen herabrannen. Er verdeckte sein Gesicht beschämt hinter seinem Ellbogen und jaulte lauthals.

Den ersten Schritt tat Max auf ihn zu…

Judy hatte ihm einen zarten Schubs in Richtung Tribüne gegeben. Als er in Bewegung kam, klatschte auch sie weiter Beifall. Ray brauchte dagegen keine Starthilfe. Er kam von der anderen Seite der Arena auf ihn zu und überwand die Stufen zu ihm hinauf. Tyson war zwar froh, diesen Fehler aus der Vergangenheit, aus der Welt geräumt zu haben, gleichzeitig fragte er sich aber, wie er seinen Freunden jemals in die Augen sehen sollte, wenn sie erfuhren, dass er diese Seifenoper dafür genutzt hatte, um ihnen die Attribute klammheimlich einzusetzen.

„Dafür werden sie Leben. Willst du das nicht?“

Die Antwort war einfach. Als Ray ihm mit einem breiten Grinsen die Rechte entgegenhielt, packte Tyson ohne weiteres Zögern zu und klopfte mit seiner andere Hand auf dessen Oberarm. Die Stelle war frei von Stoff gewesen. Da begriff Tyson was die Attribute übertrug. Beim letzter Klopfen behielt er seine Hand auf Rays Arm. Prompt spürte er wie in ihm eine Wärme hochkam. Es fühlte sich wie ein Blitz an, der aus seinem Innern hochschoss und von seinem eigenen Arm aus weiterwanderte.

„Alle Achtung.“, die hellen Augen seines Freundes schauten ihn strahlend an. „Sich seine Fehler so offen einzugestehen - das ist wahre Größe!“

„Danke Ray.“

Der Blitz wurde weitergeleitet. In Rays Körper. Einen flüchtigen Moment erhaschte Tyson ein kleines, hellgrünes Aufglimmen auf dessen Oberarm, genau dort, wo er ihn berührt hatte. Es sah aus wie ein Tigermuster. Einen Moment hielt er den Atem an, denn sein Gegenüber blinzelte etwas benommen und tat einen Schritt auf ihn zu, als würde er ins Taumeln geraten. Doch Ray fing sich relativ schnell, denn Tyson überspielte den Vorfall, indem er ihn in eine brüderliche Umarmung zog.

Kurz darauf klatsche die Menge noch lauter Beifall als Max dazu stieß. Sobald er bei ihnen ankam, warf er seinem Freund ebenfalls den Arm über die Schulter und drückte auch ihn an sich. Dabei zielte er mit der Hand auf die gleiche Stelle wie bei Ray. Dieses Gefühl war anders. Es war eher als wurde Wasser in seinem Körper blubbern. Wie bei einem Springbrunnen…

„Gott Tyson, wie konntest du glauben das wir nicht mehr deine Freunde sind?“, rief Max lachend aus. Dabei bemerkte er gar nicht, dass seine Haut an jener Stelle, an der Tyson ihn anfasste, bläuliche Muster aufwies, wie die schimmernden Konturen eines Schildkrötenpanzers. Es ließ Tyson schwer ausatmen. Zwei seiner Freunde waren also die Nistplätze ihrer Bit Beasts geworden. Wie eine Bestätigung dass der Pakt vollendet war, hörte das Prasseln auf der Glaskuppel über ihnen auf, während das letzte Donnern verklang. Tyson schaute auf und bemerkte, dass die Wolkendecke bereits aufbrach. Ein Sonnenstrahl zwängte sich hindurch. Auf Maxs Aussage hin, senkte er den Blick und lächelte traurig.

„Es tut mir Leid.“, murmelte er leise vor sich her.

„Aber Tyson… Warum denn so traurig? Ist doch schon vergessen.“

Er schaute in zwei wohlwollende Gesichter. Wie Schade das keiner von beiden begriff, wofür er sich tatsächlich entschuldigte.
 


 

*
 

Kai so nahe zu kommen wie Max und Ray würde schwieriger werden, da gab sich Tyson keinen Illusionen hin. Der bekam ihre große Versöhnung nicht einmal mit, da er vorzeitig die Arena verlassen hatte. Als er sich von den beiden löste, anerkennende Schulterklopfer von ihnen erntete und sie sich gegenseitig versprachen, dieses Turnier nicht ihre Freundschaft zerstören zu lassen, wandte Tyson seinen Blick zu den Blitzkrieg Boys. Tala schaute uneeindruckt herüber und kommentierte das Ganze mit einem leicht verdrießlichen Augenrollen. Es hätte ihn auch schwer gewundert, wenn sich der hartgesottene Leader der russischen Mannschaft, von dieser Szene so erweichen ließ, wie der Rest der Anwesenden. Während die Menge noch immer klatschte, Jazzman das Mikrophon wieder an sich riss, um dieser herzerwärmenden Szene noch seinen Stempel aufzudrücken, drehte die russische Gruppe der Arena den Rücken zu und schritt erhobenen Hauptes in den Flur davon. Tyson schaute hinauf zur Uhr. Seine Brauen zogen sich zusammen. Der Minutenzeiger war wieder ein ganzes Stück weitergewandert. Dann wanderte sein Blick prüfend hinauf zu den Fenstern. Tyson wusste gar nicht nach welchem Warnsignal er Ausschau hielt. Vielleicht das der Himmel sich genauso mit schwarzen Aschewolken zuzog wie beim Ausbruch des Fujis.

Soweit würde er es auf keinen Fall wieder kommen lassen. Es war höchste Zeit Kai zu finden und ihm auch sein Attribut einzusetzen. Um Jazzmans Monolog nicht zu unterbrechen, wandte er sich an Ray.

„Wärst du mir böse, wenn ich erst einmal etwas anderes vor unserem Match erledige?“

Der schaute ihn fragend an.

„Noch etwas? Heute hast du dir ganz schön viel vorgenommen.“

„Ja, ich nehme mir einiges heraus - aber ich muss wirklich weg. Könntet ihr Jazzman sagen, dass ich für einige Minuten verschwinde.“

„Das ist keine gute Idee!“, warf Max besorgt ein. „Du könntest disqualifiziert werden! Riskier das nicht. Was immer du zu erledigen hast, es sollte warten können.“

Einen Moment wiegte Tyson seinen Kopf hin und her. Schließlich antwortete er: „Nein, kann es nicht. Dann werde ich eben disqualifiziert. Das ist jetzt wirklich zweitrangig.“

„Aber du…“

„Zieht nicht so lange Gesichter! Ihr würdet tolle Weltmeister abgeben.“, er klopfte ihnen auf die Schulter und machte auf dem Absatz kehrt. Kurz darauf hörte er Jazzmans verblüfften Ausruf, was Tyson denn jetzt schon wieder vorhabe, als er die Tribüne hinabsprang, an seinem Team vorbeirannte und geradewegs in den Flur schoss. Die anschließende Diskussion seiner Freunde, zwischen dem Moderator und ihnen, bekam Tyson schon gar nicht mehr mit, auch nicht als Mr. Dickenson von seiner Loge herunterkam und sie aufgeregt auf den alten Herren einredeten, ihn doch bitte nicht für sein Verschwinden zu disqualifizieren.
 

Etwas später hechtete Tyson durch die Gänge, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her, auf der verzweifelten Suche nach den Blitzkrieg Boys. Er konnte sich noch vage an den Flur erinnern, in welchen er Kai abgefangen hatte, musste aber einige Male fluchend feststellen, dass er dennoch die falsche Abzweigung nahm. Irgendwann hallte eine Durchsage durch die Gänge welche verkündete, dass man eine einstündige Pause einlegte und die Zuschauer, für die Wartezeit, mit kostenlosen Softdrinks vom Veranstalter entschädigt wurden. Tyson beschlich das Gefühl, dass er dies den Überredungskünsten seiner Freunde zu verdanken hatte. Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht, dennoch behielt er schnell wieder sein eigentliches Ziel vor Auge. Endlich fand er den richtigen Gang. Er erinnerte sich noch wie er vor sieben Jahren, mit den Blitzkrieg Boys, in eben diesem Flur gestanden hatte, um Kai lautstark zur Rede zu stellen. Damals war Tyson voller Zorn gewesen…

Heute voller Sorge rechtzeitig die Phönixfeder in ihn zu verfrachten. Er fragte sich wie er Kai von seinem Team lotsen könnte. Tala hatte damals unmissverständlich klar gemacht, dass er keines der Mitglieder aus den Augen ließ, während Bryan und Spencer ihn wie seine Bodyguards flankierten. Ihm war es damals vorgekommen, als wäre eine menschliche Mauer zwischen ihnen hochgezogen worden. Er bog in den nächsten Gang ein und fand zum Ende hin die Silhouetten die er suchte. Sie waren weiter gekommen als beim letzten Mal, meinte er sich zu erinnern. Bereits die Tür zu ihrer Kabine stand offen. Wahrscheinlich weil Tysons Unterhaltung mit den anderen, ihre Zeit in Anspruch genommen hatte. Die Gruppe machte sich bereit einzutreten, er schnappte einige unverständliche russische Wörter auf, die zwischen ihnen gemurmelt wurden.

„Kai, warte!“

Noch bevor der in die Kabine verschwinden konnte, hielt er inne und drehte ihm mit gelangweilten Blick den Kopf zu. Aus seinen Augen sprach die alte Arroganz heraus und Tyson begriff in jenem Moment, dass er eine Herakles Aufgabe bewältigen musste. Er konnte förmlich an Kais Aura spüren, dass seine Mauer meterdick war. Sein Blick wirkte kühl, irgendwie auch starr. Es fehlte die Sanftheit, die mit jedem vergangen Jahr in ihrer Gesellschaft, schleichend eingezogen war. Zu jener Zeit ließ Kai niemanden näher an sich heran als nötig. Es würde schwierig werden ihn zu berühren, ohne das er sich bedrängt fühlte. Er stand nun wieder am Anfang ihrer hochkomplizierten Beziehung. Alle Fortschritte der letzten sieben Jahre waren dahin…

„Was willst du, Kinomiya?“

Seine Stimme klang frostig, ja, geradezu geringschätzig. Er hörte die Distanz zwischen ihnen förmlich heraus. Für Kai war er wieder sein verschworener Rivale geworden. In seinen Augen trennten sie Dimensionen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Tyson ihn nun besser kannte, als jeder andere Mensch auf der Welt, ahnte nicht, wie viele Geheimnisse er ihm anvertraut hatte. Das Tysons Herz gerade vor Sehnsucht für ihn zu bersten drohte…

Vor seinem geistigen Auge sah er Jana an Kais Seite stehen. Wie das kleine Mädchen mit ihren winzigen Fingern, strahlend die Hand ihres großen Bruders ergriff. Kai hatte gar keine Ahnung, was da eigentlich für eine Lücke neben ihm klaffte - das Jana in seinem Leben fehlte. Es machte ihn viel zu traurig. Tyson schloss die Augen. Dann trat ein entschlossener Zug um seinen Mund.

„Ich müsste einen Moment mit dir reden.“, erklärte er ruhig.

„Wenn du mir etwas zu sagen hast, mach es jetzt.“

Es klang herausfordernd und wie als stummes Kommando, machte sich Spencer etwas größer. Alle vermuteten wahrscheinlich, das Tyson ihn wegen seines überstürzten Ausstieges, zur Rede stellen wollte. Bryan hob herausfordernd das Kinn, ein verschlagener Ausdruck im Gesicht. Dennoch blieb Tyson ruhig.

„Das ist nichts was in zwei Minuten geklärt ist. Lass uns unter vier Augen reden…“

„Kai geht nirgendwohin. Tragt das in der Arena aus.“, schaltete sich Tala nun ein. Er ließ das Alpha Männchen heraushängen, um klar zu machen, wer das Sagen in ihrem Team hatte. Ein kühnes Grinsen erschien um dessen Mundwinkel. Das musste wohl so eine Krankheit aus der Abtei sein. Die Kinder von dort konnten nie Lächeln, ohne dass man den Eindruck bekam, es wäre hämisch gemeint. Tyson ermahnte sich, Ivanovs Verhalten nicht allzu persönlich zu nehmen.

Zudem konnte er sich noch genau daran erinnern, wie Kai reagierte, als er ihn hier beim ersten Mal wutschnaubend zu Rede stellte. Dadurch dass er ihm förmlich zusammenbrüllte und eine Szene machte, hatte er eigentlich nur seinem eigenen Ansehen geschadet. Anstelle also lauter zu werden, zuckte Tyson nur mit den Schultern und meinte: „Nichts für Ungut, Tala… Aber glaubst du wirklich Kai braucht ausgerechnet deine Erlaubnis, um mal kurz einige Worte mit mir zu wechseln? Ich bitte dich…“

Tala hob fragend die Braue.

„Was soll das heißen?“

„Das er kein kleines Kind ist. Also lass ihn vom Rockzipfel, Großmütterchen.“

Bryan und Spencer klappte der Mund auf ob seiner Wortwahl, denn ihrem Teamleader so etwas Freches an den Kopf zu werfen, glich in ihren Augen wohl einem Selbstmordkommando. Gleich darauf tauschten sie fragende Blicke untereinander aus. Auch Kai blinzelte verdutzt, nur um danach umso finsterer zu starren. Tyson provozierte ihn absichtlich. Nur so konnte er ihn aus der Reserve locken, nicht wenn er sich selbst auch noch in Rage redete.

„Pass auf dein Mundwerk auf!“, zischte Tala bedrohlich.

„Ich bin nicht hier um mit dir zu streiten, okay? Lass mich einfach nur mit Kai alleine reden. Ich will ihm weder den Kopf abbeißen, noch in mein Lebkuchenhaus locken. Alles worum ich bitte ist eine Unterhaltung. Ist das wirklich eine so üble Forderung, Tala?“

Er sprach ihn gezielt an und gleich darauf, sah er dessen Augen zur Seite huschen. Die Überlegung war also gesät. Tyson bemerkte, dass Bryans Ausdruck an Gehässigkeit verlor.

„Wenn ich dabei wäre…“, dachte Tala inzwischen laut.

„Nimm das nicht persönlich, aber es gibt da einige Dinge, die ich wirklich mit ihm unter vier Augen klären möchte. Ich will keine Anstandsdame dabei haben.“

Tala schnalzte verächtlich.

„Hörst du endlich auf mich wie ein Kleinkind darzustellen, Kinomiya!“, kam es inzwischen herrisch von Kai. „Er ist nicht meine Amme! Die brauche ich auch gar nicht.“

„Dann stell dich auch nicht so an.“, ein Kopfnicken Richtung Flur folgte. „Ich habe keine Lust auf eine unschöne Szene. Das lässt sich auch anders klären. Dein Team hat damit auch überhaupt nichts zu tun, also warum müssen wir sie mit hineinziehen? Ich denke jeder hier hat kurz vor seinem Match andere Sachen zu erledigen, als sich mit unserem Kram herumzuschlagen.“

Und das war wohl tatsächlich so…

„Hör mal, Tala, ich habe eigentlich ziemlichen Hunger.“, meldete sich nun hinter dessen Rücken Bryan zu Wort. „Vor unserem ersten Match würde ich gerne noch mal etwas essen und was er sagt, hört sich doch gar nicht so blöd an. Die beiden haben ein Problem? Sollen sie es unter sich klären.“

Tyson sah den russischen Teamleader nachdenklich die Brauen zusammenziehen, während er hinter seine Schulter spähte. Trotz der Vormachtstellung schien er Kritik aus den eigenen Reihen sehr wohl zu durchdenken. Tala fuhr sich grübelnd übers Kinn, dann hob er den Kopf und fragte: „Hat es etwas mit dem laufendem Turnier zu tun?“

„Nein. Wie kommst du darauf?“

„Das fragst du noch? Mir macht es Sorge, dass du ihm eine deiner gefühlsduseligen Reden hältst, nur damit der Junge wieder in dein Team wechselt. Du musst das verstehen, Kinomiya, ich kann mir das momentan nicht leisten. Ein Seitensprung von ihm würde uns jetzt schwächen.“

Tala beäugte Kai äußerst misstrauisch.

„Was soll diese Unterstellung?“, fragte der ziemlich grantig.

„Nichts für Ungut, aber wir wissen beide das du nicht viel für Loyalität übrig hast.“

„Du kannst mich mal, weißt du das eigentlich?“

„Das will ich überhört haben.“, gab Tala kühl zurück. Dann wandte er sich wieder Tyson zu. „Und?“

„Ich habe mich bei Ray und Max nur vorhin entschuldigt, nicht darum gebeten, dass sie wieder in unser Boot wechseln. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.“

„Warum eigentlich dieser Auftritt?“

Tyson holte tief Luft. Dann gestand er: „Du kannst es dir vielleicht nicht vorstellen, aber da sind verdammt miese Worte von mir gefallen. Wärst du dabei gewesen, hättest du verstanden, warum ich das tun musste. Ich musste ein Zeichen setzen.“

Tala schaute ihn an und auch Kais Blick ruhte nachdenklich auf ihm. Er war bei ihrem Streit nicht dabei gewesen und fragte sich wohl, ob es wirklich so übel gewesen war. Tyson hätte schwören können, dass es fast schon etwas besorgt aussah.

„Und jetzt würde ich gerne von Freund zu Freund mit ihm reden.“

Tyson nickte in Kais Richtung, was ihn wieder finsterer schauen ließ. Doch Tala ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Und letztendlich zuckte er achtlos mit den Schultern.

„Dann will ich mich nicht einmischen. Er gehört dir.“

Und schon schien die Sache erledigt. Es glich einem Wunder, weil es so einfach gewesen war. Eigentlich war Ivanov doch recht vernünftig. Kai dagegen weniger…

„Ich rede nicht mit ihm!“, stellte der klar.

„Musst du jetzt wohl. Tala hat es erlaubt.“

„Als würde ich auf den hören!“

Das hätte Kai nicht sagen sollen. Sofort hielt Tala in seiner Bewegung inne und schaute düster zu ihm hinüber. Er drehte sich noch einmal um.

„Der Junge bringt gute Argumente vor - also beweg dich mit ihm hinaus!“

„Er kann gar nicht vernünftig sein. Vernunft ist bei ihm aus der Wiege gefallen.“

Tyson fauchte genervt.

„Soll ich im Kreis hopsen, damit du dich besser fühlst?!“

„Nein. Von meiner Seite gibt es nichts zu diskutieren.“

„Eine einzige Unterhaltung, Kai! Mehr will ich nicht!“

„Ist mir egal!“

Einen Moment schaute ihn Tyson an. Dann grinste er triumphierend.

„Ich glaube es nicht. Der große Hiwatari hat Schiss vor mir!“

Er begann zu lachen. Einfach weil ihm das entgangen war, als sie sich das erste Mal hier gestritten hatten. Kai war ihm damals gezielt aus dem Weg gegangen, weil er insgeheim genau wusste, wie unfair die Art und Weise seines Ausstieges gewesen war. Irgendwann in den letzten zehn Jahren, war Tyson dahinter gekommen, wie er sich verhielt, wenn ihn das schlechte Gewissen plagte. Er gab sich dann noch bockiger als sonst, weil er zu stolz war um sich zu entschuldigen. Damals konnte er das aber noch nicht ahnen. Dazu hatten sie sich nicht lange genug gekannt.

„So ein Stuss!“, wehrte sich Kai gegen den Vorwurf. Auf einmal war sämtliche Arroganz für eine Sekunde verflogen, wich einem irritierten Ausdruck. Wahrscheinlich konnte er sich nicht erklären, woher auf einmal Tysons Spürsinn herkam. Wie präzise er ins Schwarze getroffen hatte…

„Ach komm, du willst doch nur nicht mit mir reden, weil du glaubst, dass ich sauer auf dich bin. Ich reiße dir schon nicht den Kopf ab.“, beteuerte er mit einer heiteren Handbewegung.

Das fand er einfach zu göttlich und Tyson konnte sich das Prusten kaum verkneifen.

„Mir ist vollkommen gleich ob du wütend auf mich bist!“, herrschte Kai ihn an. Seine Gelassenheit war wohl nicht die Reaktion die er von ihm kannte. „Ich habe keine Angst vor dir! Warum auch? Und hör auf so blasiert zu grinsen!“

„Kann ich nicht. Das ist einfach zu komisch! Das der große Hiwatari sich wegen einer kleinen Unterhaltung rarmacht….“, Tyson vergrub belustigt die Hände in den Hosentaschen und wippte mit den Fußballen auf der Stelle, feixte ihm dabei frech entgegen. „Ganz schön schwache Leistung, mein Freund. Ganz schwach.“

Eine mahnende Hand hob sich zwischen ihnen.

„Genug davon! Mir wird euer Gekeife zu blöd!“, sprach Tala ein entschiedenes Machtwort. Irgendwie hatte Tyson das Bedürfnis sich stramm hinzustellen. Wenn Ivanov laut wurde, klang er wie ein Offizier beim Morgenapell und tatsächlich wurden alle außer Kai kerzengerade. Selbst der riesige Spencer, der Tala doch um einen Kopf überragte. Dieser Kerl war eindeutig das Alphamännchen schlechthin in der Gruppe. Er drehte sich zu Kai und begann mit ihm auf Russisch zu debattieren. Tyson wusste nicht warum, doch diese Sprache empfand er noch nie als besonders wohlklingend. Jedes zweite Wort klang wie eine Kriegserklärung und bald wurden die beiden auch lauter, weil Kai wohl der Einzige war, der nicht vor Tala kuschen wollte. Der hatte schon immer ein Autoritätsproblem, ließ sich nie beeindrucken. Erst der nächste Satz, in seiner eigenen Muttersprache, machte Tyson klar, um was es überhaupt ging.

„Ist mir scheißegal wie du es anstellst, klär das gefälligst! Wegen unserer Vergangenheit sind wir die Außenseiter bei dieser Veranstaltung - jeder beobachtet uns. Ich habe dich nicht ins Team geholt, damit du gleich zu Anfang Unruhe stiftest!“

Er deutete auf Tyson, stierte Kai dabei aber weiterhin böse an.

„Ich will dass wir dieses Jahr unsere Rehabilitierung feiern! Das lasse ich mir nicht kaputt machen. Also wenn ihr beide Probleme habt, geht nach draußen, klärt die Sache und redet wie Erwachsene es tun! Keine Szenen die dem Team schaden könnten! Überall lauern Reporter, die sich nur die Finger nach einem Fehltritt von uns lecken. Ich dulde kein Verhalten das eine üble Nachrede mit sich zieht!“

„Ich benehme mich immer erwachsen!“, stellte Kai klar.

„Tatsächlich? Momentan teile ich nämlich seine Meinung über dich…“

„Und warum das?“, kam es empört.

„Du kneifst den Schwanz ein!“

„Tue ich nicht!“

Tala fuhr sich über die Nasenwurzel. Nach einem zischendem Einatmen sprach er ziemlich gereizt: „Hör mal, Kai… Ich könnte verstehen, wenn du nicht mit ihm reden willst, wenn er hier im Zickzack herumspringt, wie Rumpelstilzchen ums Feuer. Dann wäre mir sogar lieber, wenn du ihm aus dem Weg gehst, weil wir uns nach der Weltmeisterschaft in Russland unauffälliger verhalten sollten. Außerdem steht Kinomiya in dem Fall blöd da. Nicht wir. Was dagegen ein negatives Licht auf uns wirft, ist, wenn er dir die Hand reicht und du zu eingebildet bist, um einzuschlagen.“

„Das hat nichts damit zu tun.“

„Womit dann? Nenn mir einen guten Grund!“

Das hatte Tyson echt nicht erwartet. Ivanov schlug sich auf seine Seite. Kai wandte dagegen mit einem hochmütigen „Hmm!“ den Kopf weg, als müsse er keine Rechenschaft ablegen.

„Mir doch egal was die Leute über uns reden…“, sprach er unbeeindruckt.

„Du wirst das tun, was für dieses Team das Beste ist – so wie die anderen auch! Wer nicht pariert wird rausgeworfen! Oder willst du wie dieser Giftzwerg Ian enden?“

„Du klingst wie er.“, zischte Kai auf einmal. Da wurde Talas Blick geradezu unheimlich düster. Er bäumte sich bedrohlich vor ihm auf und jetzt verstand Tyson, woher diese Angst von seinen Kameraden herrührte. Er wirkte prompt um ein Vielfaches größer.

Er hätte sich einen Scheißdreck um sein Team geschert. Er würde sich sogar die Hände vor Freude reiben, wenn du Kinomiya wie ein Stück Scheiße behandelst. Aber das wird es in diesem Team nicht geben. Sowas unterstütze ich nicht mehr! Ich will dass alles fair abläuft – von Anfang bis Ende. Und was noch viel wichtiger ist, ich werde dich nicht bevorzugt behandeln, nur weil du der Publikumsliebling bist. Ich scheiße auf deine Fangemeinde! Du bist zu uns gekommen, nicht umgekehrt! Also komm mal schnell herunter von deinem hohen Ross, denn ob es dir nun passt oder nicht, ohne ein Team an deiner Seite, kannst auch du nicht an diesem Turnier teilnehmen! Das heißt für dich auf Wiedersehen Finale! Willst du das wirklich? War es nicht das was du wolltest?“

Kais Mundwinkel zuckten verstimmt. Eine Weile lang schauten sich beide böse an. Tyson schloss einen Moment wissend die Lider. Er dachte daran was ihm Kai über die Zeit in der Abtei erzählt hatte. Auch über Tala. Er war ein Leitwolf der sein Rudel schützte. Koste es was es wolle. Auch wenn Kai das erst viel später begriff.

„Ich bin verdammt enttäuscht von dir. Du beweist gerade wenig Rückgrat. Er will nur die Fronten klären. Das ist vollkommen legitim und fair. Und etwas weniger Wortkargheit kann dir nur gut tun. Wenn du die Klappe mal öfters aufbekommen würdest, würde uns das allen die Zusammenarbeit mit dir erleichtern.“

Autsch! Das musste wehtun…

Keine Woche in einem neuen Team und schon die erste Ehekrise.

Tyson sah Kai die Lippen fest aufeinanderpressen.

„Wenn ich die Wahl hätte würde ich alleine antreten.“, zischte er verbittert.

„Da hast du dir den falschen Sport ausgesucht. Ich mag deine Eigenbrötlerei übrigens nicht.“

„Dann hättest du mich nicht aufnehmen dürfen.“, kam es ungnädig.

„Du weißt genau warum ich das getan habe.“

Es wurde still zwischen ihnen und als Tysons Blick zu Tala huschte, sah er das erste Mal keine Kälte darin. Seine Augen wanderten weiter. Überall sah er denselben Ausdruck. Bryan wandte sich auf einmal mit einem verächtlichen Schnalzen ab, murmelte vor sich her, dass er auf diese alte Kamelle keine Lust mehr habe und verschwand in der Kabine. Tyson fühlte es. Da lagen viele unausgesprochene Geheimnisse in der Luft. Geheimnisse die nur Abteikinder kannten.

Nur Kais Ausdruck war anders. Seine Miene war steinern, eisern, kalt.

Aber die Augen nicht. Da flackerte etwas. Unterdrückter Zorn…

Er schnalzte mit der Zunge und packte plötzlich nach Tysons Arm.

„Dann bringen wir es hinter uns. Für dein Team.“

Der letzte Satz kam so überdeutlich, dass man schon recht einfältig sein musste, um nicht die zynische Botschaft dahinter zu verstehen. Offenbar wollte Tala noch einmal die Wogen zwischen ihnen glätten, denn er sprach: „Es ist auch dein Team, Kai.“

„Wenn du das sagst…“

Damit schien das Gespräch beendet. Kais Griff war fest, grub sich förmlich in Tysons Ärmel. Beide durchmaßen im schnellen Schritt den Gang und als er bei der nächsten Biegung, nochmal einen Blick über seine Schulter warf, sah Tyson die verbliebenen Blitzkriegboys ihnen ratlos nachschauen. Irgendwann senkte Tala die Augen und seufzte bedauernd.
 

Auf den Gängen herrschte inzwischen buntes Treiben, weil viele Besucher aus dem Gebäude strömten, um die unerwartete Pause im Freien zu verbringen. Einmal meinte Tyson einen Reporter in Begleitung seines Kameramanns zu erhaschen, doch Kai war geistesgegenwärtig genug, um wie ein Schatten in den nächsten Gang zu verschwinden. Er hatte schon immer die Presse gemieden. Wie ein scheuer Kater eben…

Kai wirkte auch ziemlich sauer. Offenbar fühlte er seine Autorität von ihm untergraben. Selbstverständlich durfte niemand Hiwataris Autorität untergraben. Er stieß mit so viel Kraft die Tür zum Treppenhaus auf, dass sie geräuschvoll gegen die Wand dahinter krachte. Auf dem Absatz hielt Kai einen Moment inne, um zu überlegen, wo sie ungestört waren. Er vernahm die schnatternden Menschen in den unteren Etagen und entschied sich deshalb wohl weiter nach oben zu steigen. Früher hatte Tyson nie bemerkt, wie vehement er der Gegenwart von anderen Menschen aus dem Weg ging. In ihrem ersten Jahr, hatte er Mr. Dickinson sogar einmal schwere Vorwürfe gemacht, weil er nicht verstand, weshalb sie sich überhaupt noch mit diesem Miesepeter abgeben mussten. Kurz zuvor war es zwischen ihm und Kai mal wieder ziemlich hässlich geworden, also ließ er seine Wut an dem alten Mann aus. Der hatte nur ein trauriges Lächeln aufgesetzt.

„Du weißt nie was hinter der Fassade steckt. Dazu musst du dir die Mühe machen und daran kratzen. Leider wollen das die meisten Menschen nicht, weil es ihnen zu anstrengend ist.“

Tyson wusste damals genau wie das gemeint war. Dieser Spruch hatte ihn so geärgert, dass er sich in seinem kindlichen Trotz schwor, so viel aus Kai herauszupressen, wie irgendwie möglich. Einfach um Mr. Dickenson zu beweisen, dass er nicht halb so oberflächlich war, wie der ihm durch die Blume hinweg vorwarf. Erst jetzt wurde ihm klar, wie viel er dem alten Mann schuldete, obwohl er einen ganz schön miesen Trick damals anwandte.

Mr. Dickenson hatte genau auf seinen wunden Punkt gezielt. Tysons sturer Ehrgeiz. Durch seine Nachforschungen über Voltaire, bekam er wohl mehr über Kais Situation mit. Und wusste dass jemand ihm aus seinem Umfeld heraushelfen musste…

Der Gedanke ließ Tyson seufzen, dann huschte sein Blick weiter an Kais Statur entlang. Sein fliesender, weißer Schal wehte ihm hinterher. Für eine Sekunde schwand sein eigentliches Ziel. Er konnte nicht anders, als auf Kai zu starren. Er musste daran denken, wie dieser Körper entblößt aussah. Mutter Natur hatte es so gut mit diesem Jungen gemeint…

Ein erregter Schauer zog sich seinen Rücken hoch und Tyson schüttelte den Kopf, um seine Fantasien zu verscheuchen. Das war kaum der richtige Augenblick dafür. Oben angelangt stieß Kai die Tür zum Dach auf und schritt mit ihm hinaus ins Freie. Ein kräftiger Windhauch empfing Tyson. Sie waren ziemlich weit oben. Er schielte auf die bloße Haut von Kais Armen und streckte vorsichtig die Hand aus, um das Attribut unauffällig zu übertragen. Sobald seine Fingerkuppen sich auf dessen Arm legten, fühlte er schon eine Wärme in ihnen aufsteigen, die an Intensität noch weiter zunahm, als er die ganze Handfläche darauf platzierte. Ihm fiel dabei auf wie gut Kai roch. Ziemlich wehmütig dachte er dabei an ihre erste gemeinsame Nacht. Es erinnerte ihn daran, wie selbstverständlich er seine Berührungen zuließ – wie willig er geschehen ließ. In ihm kam die verzweifelte Frage auf, ob er jemals noch einmal in den Genuss einer solchen Innigkeit kommen durfte.

Musste er wieder sieben Jahre warten, bis er ihn soweit hatte?

Da hielt Kai urplötzlich inne und schlug seinen Arm herrisch fort.

„Finger weg! Was soll das?“

Die Wärme in seinen Handflächen erstarb. Tyson spürte aus einem tiefen Instinkt heraus, dass der Körperkontakt zu kurz war, um das Attribut zu übertragen. Es fühlte sich einfach falsch an, anders als bei Ray und Max. Auch blieb kein Muster auf Kais Haut zurück. Tyson biss sich auf die Unterlippe.

Das würde echt schwierig werden…

„Ich wollte dich nur beruhigen.“

„Aha… Na das kommt verdammt spät.“, Kai stieß ihn grob von sich, was Tyson hier oben als etwas gefährlich empfand. Er unterließ aber eine herrische Bemerkung. Da trat Kai auch schon von ihm weg, fast so, als wolle er Abstand gewinnen - um eine weitere Berührung auch wirklich zu unterbinden. Dabei rieb er sich mit einem trotzigen Ausdruck über die Stelle, als wäre ihm selbst das schon zu viel Körperkontakt. Er lief zum Geländer. Der schmale Balkon um die gläserne Kuppel des Stadions, fungierte wohl als Möglichkeit, besser an die hohen Fenster heranzukommen, falls mal eine Putzaktion anstand. Die Scheibe begann auf Bauchhöhe, ihr Sockel bestand noch aus dem massiven Mauergebilde. Wenn man an die Kuppel herantrat, konnte man in die Arena hinunterspähen, auch wenn das Glas vom vorangegangenen Sturm noch feuchte Regenbahnen aufwies. Die Zuschauerränge hatten sich während der Pause weitläufig geleert. Der Wind ging sachte hier oben. Nun wo die ersten Attribute in den entsprechenden Körpern nisteten, waren die Regenwolken abgezogen, doch der Boden war noch ziemlich feucht. Allerdings bemerkte Tyson, das die Sonne irgendwie fahl wirkte und kaum blendete. Als wäre sie nur eine aufgemalte Scheibe auf einer Kulisse.

Etwas anderes war aber noch absonderlicher…

Ihre Strahlen wärmten nicht. Sie mussten Hochsommer haben, denn in den großen Ferien fanden immer die Turniere statt, doch es war zügig und unangenehm kühl, als wäre die Sonne nicht in der Lage, den Windhauch auf der Erde aufzuheizen. Irgendwie fehlte es der Landschaft vor ihm auch an Farbe. Das sonst so satte Grün der Parkanlage vor dem Stadion wirkte blasser, wie an einem grauen, wolkenverhangenen Tag. Er fragte sich, wie vielen Menschen das wohl ebenfalls auffallen mochte. Kai schien zumindest seinen eigenen Problemen nachzuhängen.

„Also los… Fang an mit deinem Vortrag.“

„Was denn für ein Vortrag?“

„Ach komm schon, Kinomiya. Ich weiß genau was jetzt kommt!“, schnaube Kai und tat eine gelangweilte Handbewegung. „Du willst mir jetzt vorwerfen, was für eine hinterhältige Ratte ich bin. Das ich keinen Funken Loyalität besitze. Nur zu! Lass deine albernen Sprüche vom Stapel. Es interessiert mich überhaupt nicht was du von mir hältst.“

Kai schlenderte gelassen am Geländer entlang – mal wieder weg von ihm. Tyson beobachtete seine Hand dabei. Seine Finger fuhren federleicht über die stählerne Oberfläche der schmalen Brüstung. Er musste daran denken, wie sich diese Hand erst vor kurzem in seinem Haar festkrallte, während sie miteinander schliefen. Am morgen danach, hatte Tyson zärtlich diese Finger noch geküsst, als er sich über Kai beugte und der ihm über die Wangenknochen streichelte. Ein Schaudern durchfuhr ihn. Diese Sehnsucht würde ihn noch umbringen…

„Eigentlich will ich mit dir über deine Geheimniskrämerei sprechen.“

„Tatsächlich?“, Kai klang belustigt. Es erinnerte Tyson an Dranzer. Sie hatte auch stets mit einer amüsierten Gegenfrage geantwortet. Es war wohl ein Verwirrspiel. Da der Abstand zwischen ihnen größer wurde, sah sich Tyson gezwungen, ihm mit langsamen Schritten zu folgen.

„Ich würde gerne mit dir darüber reden, dass du ohne ein weiteres Wort gegangen bist.“

„Das dürfte dir nicht neu sein, oder? Mal abgesehen davon, dass dich auch Ray und klein Maxi dieses Mal sitzen gelassen haben.“, er verspottete ihn. Einfach weil es ihm Spaß machte ihn zu verletzten. In einem anderen Leben wäre Tyson jetzt wütend geworden.

„Dass die beiden gehen mussten verstehe ich. Sie brauchen Freiraum um sich selbst zu verwirklichen. Ich kann sie nicht länger für mich beanspruchen.“

„Und mir sprichst du dieses Recht nicht zu?“

„Doch. Ich weiß aber das du nicht deshalb gegangen bist.“

„Lass mich raten. Mangelnde Loyalität oder Neid auf dich?“

„Keins von beidem.“

„Was dann?“

„Angst.“

Kai blieb stehen, spähte über seine Schulter hinweg zu ihm. Auch Tyson hielt inne. Es war wie bei einem wilden Tier, dem man sich behutsam nähern sollte. Schritt für Schritt.

„Angst… Ich?“

„Ja.“

„Wovor sollte ich Angst haben?“

„Das du die Menschen um dich herum anfängst mehr zu mögen, als du eigentlich willst. Das sie dich mürbe machen, weich, und so sentimental, das du deine eigentlichen Ziele aus den Augen verlierst. Aber vor allem hast du Angst davor, dass du irgendwann von ihnen enttäuschst wirst, wenn du ihnen zu sehr vertraust.“

„Was für ein Blödsinn. Ich will einfach nur Weltmeister werden.“

„Du hast aber am längsten mit deiner Entscheidung gehadert, weil du auf der einen Seite mir gegenüber loyal bleiben wolltest, aber auf der anderen Seite diese Furcht war, jemanden so sehr zu mögen, dass du dir deshalb eine Chance auf den Titel entgehen lässt. Du bist hin und her gerissen gewesen, zwischen Loyalität und Ehrgeiz. Das hat dir Angst gemacht, weil du nicht schwach werden wolltest.“

„Du machst dich lächerlich. Ich habe keine Angst.“

„Du hast ein Vertrauensproblem, Kai. Früher hast du einfach jedem nicht über den Weg getraut und dein eigenes Ding durchgezogen. Aber seit dem Baikalsee, machst du eine Entwicklung durch. Du bist gespalten.“

„Hör auf wie ein studierter Professor zu reden!“, schnalzte er erbost.

„Du tust mir leid. Mir war nie klar mit wie vielen Problemen du zu kämpfen hast.“

„Und hör auch auf mich als Feigling hinzustellen!“

„Das bist du ganz bestimmt nicht.“

Kai stutzte, schaute verwundert herüber, offenbar in Erwartung einer anderen Antwort. Um Tysons Lippen huschte ein mitleidiges Lächeln. Er tat einen weiteren Schritt auf ihn zu, den Kai nun umso argwöhnischer beäugte.

„Du schaust mich an als ob ich dir was Böses will. Warum?“

„Ich frage mich was du bezweckst.“

„Was ich bezwecke? Echt traurig dieses Misstrauen. Du hast so viele schlimme Erfahrungen in der Vergangenheit gemacht, dass du nicht einmal mehr erkennst, wem du vertrauen kannst. Selbst den Menschen gegenüber, die es eindeutig gut mit dir meinen.“

„Weshalb sollte ein Rivale es auch gut mit mir meinen?“

„Sind wir nicht auch Freunde?“

„Nicht mehr.“

„Wir können doch beides sein?“

„Vergiss es. Das funktioniert nicht.“

„Sei kein trotziges Kind.“

„Trotzig? Ausgerechnet du musst mir Vorträge über Trotz halten!“

„Ich bin nicht perfekt, aber ich weiß es zumindest. Du wirst es ohne Hilfe aber niemals von deiner Eisscholle herunterschaffen. Du bist auch seelisch festgefroren.“

„An dir ist ja ein wahrer Poet verlorenen gegangen.“, spottete Kai gehässig. Tyson überging es.

„Du kannst dich gar nicht ändern, selbst wenn du es möchtest. Dazu ist dir in der Vergangenheit zu viel zugstoßen. Ich würde dir aber wirklich gerne helfen. Du müsstest mir einfach etwas mehr Vertrauen entgegenbringen.“

„Zum letzten Mal… Rede nicht wie ein verdammter Therapeut! Sowas kann ich nicht ausstehen!“, seine Augen schauten verächtlich auf ihn herab. Das er nun auch wieder größer war, musste ihn nur in dem Gefühl bestärken, über allen Dingen dieser Welt erhaben zu sein. Irgendwann antwortete Kai zynisch: „Du weißt doch gar nichts über mich, Kinomiya. Schon gar nicht über meine Vergangenheit. Also spiel dich nicht so dramatisch auf!“

„Doch. Ich weiß sogar einiges.“, Tyson tat einen weiteren Schritt auf ihn zu. „Ich kenne dich mittlerweile besser als dir lieb ist. Bestimmt würdest du ausflippen, wenn du wüsstest, wie viel ich in den wenigen Jahren, die wir uns schon kennen, über dich in Erfahrung gebracht habe.“

„Ausflippen?“, Kai lachte schallend auf. Es klang nicht heiter - sondern kalt. Er drehte sich weg, nur um sich lässig an die gläsernen Kuppel zu lehnen und legte von dort aus den Kopf abwartend zur Seite. „Na dann… Lass mich ausflippen. Überrasch mich! Ich bin gespannt was der kleine Kinomiya über mich zu wissen glaubt.“

Jedes seiner Worte triefte vor Häme. Tyson hatte ganz vergessen, wie gehässig er damals sein konnte. Früher hätte ihn das geärgert. Jetzt sah er einen verletzten Jungen vor sich, der nichts anderes kannte, als sich hinter seiner kühlen Fassade zu schützen. Er tat einen tiefen Atemzug und beschloss, sich vorsichtig heranzutasten, indem er mit den harmlosen Dingen begann.

„Du magst Katzen.“, er lächelte. „Generell magst du Tiere.“

„Generell? Seit wann so eine studierte Wortwahl?“, gab sich Kai unbeeindruckt. „Dein Bruder hat seinen Lehrplan wohl nicht nur auf das Bladen beschränkt.“

„Na, nicht ausweichen!“, hob Tyson den Finger. Er versuchte zu sticheln, um ihn aus dem Konzept zu bringen, weil Kai wusste das Tyson nicht klar dachte, wenn er wütend wurde. Das hatte er gerne für sich ausgenutzt. „Wir wollen doch fair spielen.“

Kais Antwort war eine amüsiert erhobene Braue. Was fühlte dieser Junge sich doch überlegen…

„Du fütterst sogar manchmal Streuner. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du niemals einem hilflosen Tier etwas antun würdest. Du könntest sie stundenlang beobachten, vor allem die Kleineren.“

„Oh Tyson.“, er schüttelte den Kopf bedauernd. Ein mitleidiges Schmunzeln spielte um seine Mundwinkel, dass aber eher eine offene Beleidung seiner Intelligenz darstellte. „Du hast mich also einmal dabei beobachtet, wie ich die Katzen gefüttert habe, die in der Nähe des Kanda Flusses herumschleichen. Na und? Dann hast du eben einen kleinen Lichtfleck am Horizont erhascht. Das macht aber noch lange keinen Menschenkenner aus dir.“

„Das natürlich nicht. Es lässt auch eher auf deine Psyche schließen…“

„Psyche? Wieder so eine untypische Wortwahl von dir. Schläfst du neuerdings auf einem Wörterbuch?“

„Armer Junge. Fühlst du dich wirklich so in die Ecke gedrängt?“

„Keinesfalls. Na dann… Leg mal los, Doktor Freud.“, er vollführte eine einladende Handbewegung. Tyson ging nicht auf seinen Hohn ein und fuhr fort: „Du fütterst Tiere - vor allem Streuner - weil du das Gefühl kennst, wie ein Hund behandelt zu werden, der von einem Besitzer zum Nächsten abgeschoben wurde.“

Dieses Mal folgte kein hämischer Kommentar. Das Lächeln um Kais Mundwinkel wirkte wie eingefroren. Tyson bemerkte wie seine Augen kurz an seiner Statur entlanghuschten, als würde er ihn abschätzen. Ganz so als wolle Kai wissen, ob er ihm zur Gefahr werden könnte. Er konnte ja nicht ahnen, dass Tyson nur die Sätze wiederholte, die er ihm persönlich an diesem friedlichen Morgen in der Küche, im Vertrauen sagte. Damals waren Kais Augen so traurig gewesen. Es veranlasste Tyson dazu, dessen Kinn zu umfassen und ihm einen Kuss auf die Lippen zu hauchen. Er hatte ihm danach zum ersten Mal gesagt, wie sehr er Kai liebe. Es ließ ihn lächeln und er versicherte Tyson, dass er ebenso empfand. Und das er sich ändern wolle für ihn.

„Wie kommst du darauf?“, fragte Kai inzwischen.

Tyson hatte nun sein uneingeschränktes Interesse.

„Wegen deiner Familie.“

„Du weißt rein gar nichts über meine Familie!“, kam es plötzlich herrisch zurück.

„Falsch. Ich weiß einiges darüber!“

Ein weiterer Schritt folgte. Kai wich nicht weg, schaute ihn mit zusammengezogenen Brauen an. Wer zuerst zurückwich gestand einen Rückschlag ein. Er wollte Tyson unter allen Umständen beweisen, dass er der Überlegene bei dieser Diskussion war, weil er das Gefühl brauchte, immer die Kontrolle, in jeder Lebenslage zu behalten. In seinem Blick flackerte so viel Wut.

Wie könnte er diesen zornigen Jungen bloß besänftigen?

Tyson dachte lange nach, schaute ihm dabei direkt in die Augen.

Da kam ihm endlich die ersehnte Idee…

„Gehen wir die Sache doch zur Abwechslung mal anders an. Lass mich dir lieber eine Geschichte erzählen.“

„Eine Geschichte?“, jetzt blinzelten Kai komplett verwirrt. Wieder etwas mit dem ihn Tyson überrumpelte. „Ich dachte du willst mit mir über meinen Ausstieg reden - und keine Märchenstunde abhalten.“

„Es ist leider kein Märchen. Märchen sind in der Regel schön. Diese Geschichte ist leider sehr traurig. Aber das kannst du bald selbst beurteilen…“, er verschränkte die Arme vor der Brust, tat einige Schritte von ihm weg, grübelte darüber wie und wo er beginnen könnte. Als Tyson den Faden fand, hob er den Kopf und schaute Kai noch einmal an, der ihn mit skeptisch erhobener Braue nachstarrte. Er war neugierig geworden. Beinahe erhaschte Tyson denselben Ausdruck, wie damals am Lagerfeuer, als er Kais jüngerem alter Ego die Katzengeschichte erzählte. Derselbe fragende Blick. Es entlockte ihm ein Lächeln und schon begann er zu erzählen: „Es gab da einmal einen kleinen Jungen, den hätte es im Leben eigentlich nicht besser treffen können. Er besaß eine kleine Familie, die aus seinem Vater, seiner Mutter und seinem Großvater bestand. Der Junge stammte aus einem vornehmen und vor allem reichen Haus. Einer sehr alten Familie mit einem Stammbaum, der viele Generationen zurücklag und aus erfolgreichen Vätern und Großvätern bestand. Eine schillernde Zukunft war ihm vorherbestimmt. Diese Erwartungen wurden ihm praktisch schon in die Wiege gelegt und damit der Junge, diese Ziele auch erreichte, durfte es ihm an nichts fehlen. Er besuchte die teuersten Schulen, lebte im feinsten Haus der Stadt. Schon als Baby war sein Zimmer so groß wie manche Wohnung für eine Kleinfamilie - und doch sollte sich herausstellen, dass der kleine Junge trotz seines Reichtums, nur vom Pech verfolgt war. Die vornehme Familie in die er hineingeboren wurde, war zwar reich, wohlhabend und erfolgreich, aber leider auch korrupt, hinterhältig, kalt und jedes Mitglied davon so mit sich selbst beschäftigt, dass sie nicht erkannten, dass es dem kleinen Jungen am wichtigsten im Leben fehlte. An einem liebevollen Zuhause…“

„Das ist sowas von kitschig.“, rollte Kai unbeeindruckt mit den Augen.

„Es ist traurig. Denn nur wenige Monate nach seiner Geburt, begannen sich die Jahre um den kleinen Jungen düsterer zu entwickeln. Die Menschen in seinem unmittelbaren Umfeld verließen ihn nach und nach. Den Anfang machte sein Vater. Es hieß, er habe die Mutter des kleinen Jungen nicht wirklich geliebt. Um dieser Ehe zu entkommen, verschwand er also in einer Nacht und Nebel Aktion, ließ seine junge Familie im Stich.“

Kais Augen bleiben reglos. Sein kaltes Lächeln nicht…

Die Mundwinkel senkten sich, wurden zu einer Linie. Im Gegensatz zum letzten Mal, als Tyson ihm eine seiner Geschichten erzählte, erkannte er die Parallelen sofort. Der rief sich weiterhin in Erinnerung, wie ihm Kai seine Kindheit schilderte. Seine Gedankenwelt dazu…

„Da der kleine Junge noch kaum Laufen konnte, als sein Vater sie verließ, fragte er sich in den folgenden Jahren, wie dieser Mann wohl sein mochte. Sein Großvater hatte alle Fotos von ihm verbrannt, denn er war ein sehr jähzorniger Mensch und wütend das sein Sohn abgehauen war. Daher wurde das Gesicht seines Vaters ein Geheimnis für den kleinen Jungen. Er fragte sich, wie dessen Stimme wohl klingen mochte, wie die Farbe seiner Augen war… Und was noch viel wichtiger war, ob er seinen Sohn erkennen würde, sollten sie sich zufällig einmal auf offener Straße begegnen. Obwohl er so enttäuscht von diesem Menschen war, konnte der kleine Junge nicht anders und insgeheim hoffen, ihn irgendwann kennenzulernen. Er war einfach neugierig, auch wenn sein Großvater kein gutes Haar an seinem Erzeuger ließ. Doch die Jahre vergingen und sein Vater kam nicht zurück. Er blieb verschollen. Kein Brief, kein Lebenszeichen. Er hätte genauso gut Tod sein können. Und mit jedem Tag der verging, begann der Hass auf ihn zu wachsen.“

Tyson schaute zu Kai. Der wandte aber mit einem Schnalzen den Kopf von ihm ab. Er konnte natürlich nicht zugeben, wie verletzend dieses Verhalten seines Vaters war, dazu stand ihm sein Stolz zu sehr im Weg.

„Leider ließ der nächste Schicksalsschlag nicht lange auf sich warten. Denn die Mutter des kleinen Jungen, verließ ihn auch einige Jahre später. Sie behauptete ihr Herz sei gebrochen – das sie nicht mehr in der Lage sei, ihren Sohn zu erziehen, weil sie eine schwere Depression habe. Das waren zumindest die Worte, die sie dem Großvater des kleinen Jungen sagte. Als sie ging, da verabschiedete sie sich nicht von ihrem Kind. Sie umarmte ihn nicht einmal oder gab ihm einen Abschiedskuss, wie es andere Mütter so tun würden. Er saß in seinem Zimmer auf der Fensterbank, wo er auf einer Maltafeln zeichnete. Der kleine Junge war damals gerade alt genug, um in den Kindergarten zu gehen. Er schaute durch die Scheibe, sah seine Mutter raschen Schrittes mit einem Koffer durch den Hof stapfen, als habe sie es eilig, schnell aus dem Haus zu verschwinden. Sie blickte kein einziges Mal zu seinem Fenster auf, obwohl er ihr nachwinkte. Der kleine Junge dachte sich zunächst nichts weiter dabei, bis er zwei Tage später seinen Großvater fragte, warum seine Mutter noch immer nicht Heim gekommen sei. Erst da hielt man es für angebracht, ihm von ihrem Abschied zu berichten. Als er fragte weshalb, da bekam er nicht einmal eine richtige Antwort. Denn sein Großvater mochte keine Fragen.“

Tyson blickte nachdenklich von Kai weg. Dessen Augen waren starr geworden. Wahrscheinlich weil er gerade begriff, dass hier Details ausgesprochen wurden, die er selbst niemals erzählen würde. Dinge die Tyson nicht wissen sollte.

„Ich mag diese Frau nicht. Sie ist so kalt und hat keine mütterliche Fürsorge übrig.“

„Woher willst du das wissen?!“, kam die schneidende Frage. Es ließ Tyson bedauernd die Lider senken. Kai ahnte nicht was ihm mit dieser Frau noch bevorstand. Er war jung, vertraute darauf, dass sie wirklich zurückkam – ihr Wort hielt.

So wie er immer versuchte seines zu halten, erwartete Kai so etwas auch von anderen. Womöglich waren die wenigen Erinnerungen, die er noch von seiner Mutter besaß, auch nicht immer schlecht gewesen. Auf seine Art war er eben auch noch ein Kind, selbst wenn er immer so reif tat.

„Weil sie ihren Schwiegervater kannte. Sie wusste von seiner Verschlagenheit, seiner Geldgier und seiner bösartigen Ader. Er war grausam und duldete nie ein Widerwort. Er war ein mieser Tyrann!“

Kai löste seine verschränkte Haltung, aber nur um seine Hände zu bebenden Fäusten zu ballen. Er wollte es nicht wahrhaben. Natürlich nicht, sie war seine Mutter…

„Hast du dir einmal überlegt, wie schwierig es für sie sein musste, mit einem solchen Menschen zusammenzuleben? Ihm förmlich ausgeliefert zu sein – weil ihr feiger Mann abgehauen ist?!“

„Gerade deshalb hätte sie bleiben müssen.“

„Der kleine Junge macht ihr bestimmt keine Vorwürfe, immerhin hat er selbst erfahren, wie schwierig es ist, mit seinem Großvater zusammenzuleben! Das kannst du aber nicht verstehen, weil du nicht in diesem Haus groß geworden bist!“

„Weißt du Kai… Das ist eigentlich das Tragische an der ganzen Geschichte. Dieser kleine Junge hielt nämlich auch noch an dieser furchtbaren Familie fest und das obwohl sie ihn immer weiter emotional verkrüppelten. Wahrscheinlich weil er nichts anderes kannte. Weil er nicht wusste, dass dieses Umfeld nicht normal war. Es ist wohl wie mit einem Blinden, dem man die Farbe Blau erklären möchte. Was man nicht kennt, vermisst man nicht.“

„Oh, sehr aufschlussreich, Herr Doktor!“, höhnte Kai zynisch.

Tyson ging gar nicht auf seinen Spott ein.

„Er war damals ein schüchternes Kind, das nicht viel von der Welt verstand. Er war ehrlich und arglos. Wenn er doch mal etwas anstellte, knetete der kleine Junge verunsichert seine Finger vor dem Bauch und hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen. Dabei schaute er reumütig wie ein Welpe.“

Kais Augen blinzelten überrascht. Sein Blick schnellte eine Sekunde hinab zu seinen Handflächen. Von seinem früheren Tick wusste bestimmt auch niemand. Kai Hiwatari gab solche Schwächen nicht zu. Als er wieder zu Tyson schaute, bemerkte der einen Anflug von Verunsicherung in dessen Augen. Er begann Kai tatsächlich unheimlich zu werden…

„Der kleine Junge bemühte sich auch stets brav zu bleiben, gehorchte immer seinem Großvater. Warum auch nicht? Er war sein Opa. Ich hätte an seiner Stelle nicht anders gehandelt. Er vertraute einfach darauf, dass die Menschen um ihn herum wussten, was das Beste für ihn war. Ein kleines Kind tut so etwas. Gut und Böse ist ihm fremd. Kinder hinterfragen nicht. Auch dann nicht, als sein Großvater dem kleinen Jungen einredete, dass er in einen neuen Kindergarten müsse – obwohl er ihn in eine Abtei steckte.“

„Woher…“, doch Kai hielt inne. Er schien nachzudenken, wer Tyson diese Informationen zugesteckt haben könnte. Der Kreis der Verdächtigten durfte ziemlich überschaubar sein.

„Was auch ich allerdings nicht ganz verstehe, ist, weshalb der Großvater das gemacht hat? Vielleicht damit er seinen Enkel los hatte? Weil er nicht wollte, dass ihm ein Kind in den eigenen vier Wänden im Weg stand? Was glaubst du, Kai?“

„Warum fragst du mich? Es ist deine dumme Geschichte…“, zuckte der gleichgültig mit den Schultern. Doch er klang nicht halb so souverän wie sonst, eher zurückhaltend.

„Mich interessiert deine Meinung.“

„Es ist mir egal. Ich will nicht darüber nachdenken.“

„Warum?“

„Du wirst irgendwann ein miserabler Vater, wenn du so hässliche Märchen erzählst!“

Er wich aus. Das Thema gefiel ihm nicht. Weil Tyson unerlaubt Dinge ansprach, die Kai zu persönlich waren. Die zu viel von ihm offenbarten. Die er verdrängen wollte…

„Wie gesagt, es ist kein Märchen. Ich erzähle nur die Geschichte eines traurigen Jungen, dem so übel mitgespielt wurde, dass er später nicht mehr in der Lage war, sich irgendwem noch zu öffnen.“

„Der Junge war selbst schuld an seinem Elend!“, fuhr ihn Kai an.

„Wie kommst du darauf?“

„Weil er ein Idiot war! Er hätte es besser wissen müssen!“

Da war er… Ein winziger verbitterter Zug um Kais Mundwinkel.

Eine Spur dessen was er wirklich fühlte. Verletzbarkeit.

„Du gehst ziemlich streng mit einem Kind ins Gericht, das nicht wissen kann, wie es in der Welt da draußen zugeht. Hat dein Großvater dir so etwas eingebläut?“

Kai starrte ihn böse an. Die Taten Voltaires waren noch allgegenwärtig für ihn, die Wunde noch ziemlich frisch und daher seine Verachtung ihm gegenüber auch noch groß. Es dürfte ihm nicht passen, dass er ihn mit seinem Großvater verglich, doch da Kai auf die Schnelle keine zynische Bemerkung fand, fuhr Tyson fort.

„Ich persönlich glaube, dass der Junge in die Abtei musste, damit er seinen Opa keine Last war. Dieser Mann besaß ein sehr großes Reich und das hielt ihn im Atem. Andererseits war er auch sehr habgierig und dachte nur daran, seinen Reichtum noch weiter zu häufen. Sein kleiner Enkel war ihm da wohl den Zeitaufwand nicht wert.“

„Der Enkel war nicht diszipliniert genug. Das war der Grund.“, kam es bitter.

„Und das findest du gut?“

„Disziplin schadet nicht.“

„Verstehe…“, damit hatte Tyson endlich eine Antwort. Es machte ihn traurig, wie berechnend Kai in diesem Alter schon dachte. Er konnte Voltaires Einfluss aus jedem seiner Sätze heraushören. „Nur leider war der Junge sehr unglücklich in der Abtei.“

„Das kannst du gar nicht wissen!“, fauchte Kai. „Oder hast du mit Tala gesprochen?“

„Nein. Das vorhin war eine unserer wenigen Unterhaltungen. Du kannst ihn gerne fragen.“

Tyson ahnte was ihm durch den Kopf ging. Kai war ein Mensch für den Verschwiegenheit viel bedeutete. Doch hier war nun Wissen im Umlauf, dass er selbst niemals preisgegeben hätte. Sie starrten sich gegenseitig an. Kai wütend. Tyson ernsthaft, aber auch bestimmt...

„Soll ich dir erzählen, wie der erste Tag in der Abtei für den kleinen Jungen war?“

Wie vom Donner gerührt stockte Kai. Die Augen vor ihm weiteten sich eine Sekunde. Er war schon immer recht blass gewesen, doch in jenem Moment, wich ihm das letzte bisschen Farbe aus den Wangen. Die Minute verstrich und Tyson hätte schwören können, keinen einzigen Atemzug mehr von ihm zu hören. Er nutzte dessen Starre, um etwas näher an ihn heranzutreten. Tyson streckte seine Finger nach Kais aus, mit der heimlichen Absicht, ihm das Attribut zu übertragen – aber auch weil er den Wunsch verspürte ihm nahe zu sein.

„Es tut mir so leid.“, sprach er mitfühlend, legte damit endlich die Karten offen auf den Tisch. Doch noch bevor er den Arm erreichte wurde sie weggezogen.

„Das kannst du gar nicht wissen!“, schrie Kai ihn auf einmal an. Sein zorniger Ausruf verklang mit dem Wind und doch konnte Tyson ihn nur mitleidig bedauern. „Schau mich nicht so an!“

„Tut mir Leid. Ich kann nicht anders…“

„Steck dir deine geheuchelte Barmherzigkeit sonst wohin! Das alles habe ich schon längst hinter mir gelassen! Mich braucht niemand zu bemitleiden!“

„Das redest du dir nur ein damit du dich stark fühlst.“

Es ging ganz schnell. Ihm wurde so plötzlich eine gescheuert, dass es laut schallte. Tyson stolperte einen Schritt zurück, schlitterte gefährlich nah am feuchten Geländer entlang, dass selbst Kai die Luft anhielt. Der Sturm von zuvor hatte alles rutschig gemacht. Glücklicherweise konnte er sich noch festhalten. Tyson nahm den Hieb hin. Etwas überrascht stellte er fest, dass es nicht einmal schmerzte. Es gelang ihm ohne Mühe, sich einen gequälten Ausdruck zu verkneifen, stattdessen blickte er ungerührt in das Augenpaar vor sich. Das blinzelte geschockt…

Irgendwann starrte Kai auf seine zitternde Handfläche mit der er ausgeholt hatte. Es war wohl der Moment, in dem er begriff, wie nah ihm das Ganze eigentlich noch immer ging. Das sein unbändiger Zorn noch irgendwo unter seiner kalten Fassade lauerte.

Er hatte die Beherrschung verloren - etwas was Kai nicht duldete.

Er stellte hohe Maßstäbe an sich selbst. Eine davon beinhaltete, sich niemals anmerken zu lassen, was er tatsächlich empfand.

„Sieht so aus als ob der lässige Hiwatari strauchelt.“

„Ich… Das war ein Ausrutscher…“

„Ach, mach dir keinen Kopf. Angriff ist die beste Verteidigung. Das hast du doch schon so in der Abtei gelernt. Weißt du noch?“

„Halt doch endlich deine vorlaute Klappe!“, Kai trat von ihm weg, wandte ihm den Rücken zu. Er hielt jene Hand vor sich umgriffen mit der er zugeschlagen hatte. Es tat ihm wahrscheinlich sogar schon leid, gerade weil die Situation so gefährlich gewesen war, aber zugeben konnte er das auch nicht, dafür war er zu stolz.

„Ist okay. Lass deinen Zorn heraus. Schrei ihn von mir aus in die Welt!“

„Ich bin nicht zornig!“

„Sicher? Du hast doch allen Grund dazu, oder nicht?“

„Ich weiß nicht was du meinst…“

„Doch, du weißt es genau. Dein erster Tag in der Abtei sah nämlich so aus, dass du von den anderen Kindern nicht gerade mit offenen Armen empfangen wurdest.“, er sah Kai horchend den Kopf heben. „Sie wussten wer du bist, das dein Großvater Boris wichtigster Geldgeber war. Es hatte sich schnell herumgesprochen, wer zu ihnen dazu stoßen sollte. Und Boris hat es auch so richtig schön an die große Glocke gehängt. Er war nämlich nicht sonderlich begeistert darüber, den Babysitter für Voltaires Enkel spielen zu müssen, weil er dich dadurch nur mit Samthandschuhen anfassen durfte. Etwas was jemandem wie Boris zuwider war. Er hat gerne Mal mit der Faust nach seinen Schützlingen ausgeholt.“

Kai senkte den Blick wieder. Er schien sich noch lebhaft daran zu erinnern.

„An deinem ersten Tag, führte er dich in einen der Schlafräume der Abtei. Du hast deinen kleinen Koffer hinter dir hergezogen und konntest kaum mit Boris Schritt halten. Er kam dir damals wie ein Riese vor, denn du hast ihm gerade nur bis zu den Knien gereicht.“

„Hör auf…“

Doch Tyson trat stattdessen näher.

„Bereits in den finsteren Fluren fiel dir auf, wie bedrückend die Stimmung in dem Gebäude war – aber vor allem die Blicke der anderen Kinder. Sie alle beobachteten dich auf den Weg in den Schlafraum. In jeder Ecke konntest du ein wachsames Augenpaar spüren. Du kamst dir vor, als hätte man dich einem Wolfsrudel zum Fraß vorgeworfen. In eurer Kammer hast du zuerst bemerkt, dass vor den Fenstern dicke Gitterstäbe lagen, wie in einem Hundezwinger. Du wolltest einmal aus einem flüchten, weil du als Kind einen Stab entdeckt hast, der so rostig war, dass du ihn aus der Halterung hinaustreten konntest. Eines Nachts hast du versucht dich so zwischen den Gittern hindurchzuzwängen um wegzulaufen. Du warst es nicht gewöhnt dich nicht frei bewegen zu dürfen. Aber du wurdest bei diesem Fluchtersuch verpetzt. Es war dein erster Versuch…“

Tyson tat eine kleine Pause bevor er weitersprach.

„Ihr hattet kein richtiges Licht in euren Räumen. Es gab altmodische Kerzenhalter an den Wänden und einen Kamin, der aber nie angezündet wurde, weil Boris das Feuerholz für die Kammern der Aufseher aufsparte. Die Kinder die er betreute kamen bei ihm erst an dritter Stelle, wenn überhaupt… Die meisten Gelder hat er in die Trainingseinrichtung gesteckt. Oder sich in die eigene Tasche gewirtschaftet. Nicht einmal dein Großvater wusste, wie viel Geld er ihm für persönliche Zwecke abgeknöpft hatte. Ihr musstet dafür unter den dünnen Laken frieren. Der russische Winter ist hart und wer abends nochmal aufstehen wollte, hatte Pech. Dann war die Zimmertür von außen verriegelt, weil viele der Kinder wegliefen und die Aufseher euch so im Griff behalten wollten. Und genau das wurde einigen von euch eines Nachts zum Verhängnis…“

Tyson hätte schwören können ihn hart schlucken zu hören.

„Bei einer der anderen Gruppen hat es in der Kammer gebrannt. Weißt du noch was mit den sieben Jungen passiert ist, die es nicht mehr hinausgeschafft haben?“

Ein Keuchen war zu hören. Kai presste sich die Hände an die Ohren, schüttelte unwillig den Kopf. Er wusste es noch. Als Erwachsener hatte er es Tyson lebhaft geschildert. Der Geruch von brennendem Holz und die verzweifelten Schreie aus den Flammen, von jenen Kindern die darin um ihr Überleben kämpften. Kai war damals zu klein gewesen, um zu begreifen, was sich in dieser Nacht abspielte. Weshalb sie alle im Schnee standen und niemand den Schreien jener Jungen zur Hilfe eilte, die dort in den Flammen umkamen. Doch es hatte ihn geradezu traumatisiert. Er hatte Tyson erzählt, dass ihn das vor Schmerzen wahnsinnige Kreischen, noch manche Nacht im Traum verfolgte.

„Du erinnerst dich oft an den Morgen nach dem Brand.“, es war keine Frage. Vielmehr eine Tatsache. Tyson wusste immerhin wovon er sprach. „Der Anblick dieser kleinen, schwarzen Säcke im Schnee. Wie sie im zugeschneiten Hof nebeneinander lagen.“

Er hörte Kai laut atmen. Obwohl seine Hände dicht über seinen Ohren schwebten, vernahm er jedes Wort von Tyson.

„Da war dieser eine offene Sack, mit dem entstellten Kindergesicht darin. Der Gestank den diese verbrannte Leiche absondert, wirst du niemals vergessen. Du konntest kaum glauben, dass das einmal ein Mensch war. Ein Junge wie du und ich. Ein Junge der auf eine glücklichere Zukunft hoffte. Und doch so grausam sterben musste, bevor sein Leben richtig beginnen konnte.“

„Ich will nicht daran denken…“

„Hast du jemals darüber gesprochen?“

„Ich will nicht daran denken!“, kam es entschiedener.

„Du kannst das nicht verdrängen, Kai. Du brauchst Hilfe.“

„Nein, brauche ich nicht!“

„Es lässt dir vor allem nachts keine Ruhe. Es ist wie mit dem Monster im Schrank. Sobald es dunkel wird fängt deine Fantasie an ein Eigenleben zu entwickeln. Du liegst im Bett, willst endlich deine Ruhe finden, doch sobald dein müder Geist in den Schlaf abdriftet, hörst du die Schreie von damals wieder. Du siehst das verbrannte Gesicht wieder vor deinen Augen. Du willst es vergessen – aber du kannst es nicht.“, es waren Kais eigene Worte die er zitierte. „Das wird mit den Jahren nicht besser.“

„Ich denke kaum noch daran…“, er flüsterte aber. Seine Hände zitterten, wenn auch nur minimal.

„Das redest du dir ein. Wie man es in der Abtei immer so getan hat. Und es war einfacher Boris Worten zu glauben, dass es nur ein tragischer Unfall war. Wahrscheinlich war es das auch… Aber er hatte eine große Mitschuld daran! Die Tür hätte nicht verschlossen sein dürfen. Er tat so als würde er bedauern was passiert war. Und er ist auch noch damit durchgekommen, denn diese Kinder hatte er von der Straße aufgelesen. Niemand vermisste sie. Dabei hattet ihr euch Hoffnung gemacht, dass es besser wird, wenn die Polizei auftaucht.“

„Hoffnung ist für die Dummen da…“, kam es von Kai. Er klang enttäuscht.

„Boris hatte einen Bekannten bei den Behörden, bei dem er mit einem dicken Umschlag, einen falschen Unfallbericht erkaufte. Keine Toten standen darin. Diese toten Kinder tauchten nie mehr namentlich auf. Du kennst auch nicht mehr alle Namen. Die sind irgendwann in Vergessenheit geraten. Über die Kosten für die Vertuschung ärgerte sich Boris mehr, als über die Tatsache, dass die Aufseher die Tür nicht hätten verschließen dürfen. Es änderte sich danach auch nichts. Boris hat über solche Sicherheitsmängel gekonnt hinweggesehen – weil es ihn nicht geschert hat. Gleichgültigkeit ist manchmal die schlimmste Form von Schuld. Findest du nicht auch, Kai?“

Tyson sah auf dessen Finger. Sie wanderten langsam von seinen Ohren hinab.

„Weißt du noch was er wegen dem Brand gesagt hat?“

Es war eine rhetorische Frage. Kai würde es niemals vergessen.

„Das kostet alles Geld - hat er zu euch gesagt.“

„Ich weiß…“, seine Stimme klang leise als er endlich antwortete. Der Schock dieser Nacht saß tief in jeder Seele eines Abteikindes. Es musste ihnen klar gemacht haben, wie wertlos sie für Boris waren, so lange sie keine Leistung erbrachten. Nur die Auserwählten besaßen eine Daseinsberechtigung. Alle anderen dienten als Bauernopfer.

„Viele Kinder waren krank und unterernährt, aber auch das hat Boris nicht interessiert. Der Laut eines hustendes Jungen, gehörte für euch ohnehin schon zur ständigen Geräuschkulisse des Gebäudes dazu.“

Kai wandte sich ihm langsam zu. Seine Hände schwebten noch vor seiner Brust. Das Gesicht war aschfahl geworden. Die aufgemalten Zacken auf seinen Wangen stachen dadurch umso mehr hervor. Tyson deutete auf Kais Hals.

„Deshalb hast du auch irgendwann angefangen diesen Schal zu tragen. In deinen ersten Wochen in der Abtei, hattest du eine schwere Lungenentzündung und musstest auf die Krankenstation. Die war geradezu armselig ausgestattet. Der behandelnde Arzt dort, hat sich zwar wirklich um die Kinder bemüht, aber da kaum ein Groschen für die medizinische Versorgung verschwendet wurde, waren ihm die Hände gebunden. Er hat es irgendwann auch nicht mehr ausgehalten und hat gekündigt. Diesen Schal hast du von ihm zum Abschied bekommen. Es war sein eigener. Weißt du noch was er dir sagte?“

Kai antwortete nicht, starrte ihn einfach nur an.

„Ich wünschte ich könnte mehr für dich tun.“, zitierte Tyson die Worte. Er sah wie sich die Augen vor ihm einen Moment gequält schlossen. „Du hast damals gehofft dass er zur Polizei geht. Doch niemand kam. Der Zustand der Jungen wurde dagegen von Tag zu Tag schlimmer. Das war Boris Art die Spreu vom Weizen zu trennen. Wer nicht gesund wurde kam vor die Tür. Selbst im tiefsten Winter.“

Kais Finger fuhren zu seinem Hals. Er strich mit einem geistesabwesenden Ausdruck über den Stoff seines Schals, bis Tyson fortfuhr. Erst da schaute er wieder entsetzt auf.

„Mir fällt ein, ich bin abgeschweift. Ich wollte von deinem ersten Tag erzählen.“

Kai starrte ihn aschfahl an.

„An deinem ersten Tag, als du zum ersten Mal in den Schlafraum deiner eigenen Gruppe kamst, standen alle Kinder stramm wie kleine Zinnsoldaten, jeder am Fußende seines Bettes. Keiner rührte sich. Ihre Blicke waren stur geradeaus gerichtet. Jedes Kind war ungefähr in deinem Jahrgang. Sie hatten zwei Reihen gebildet, damit Boris bequem durch sie hindurch schreiten konnte. Dir fiel auf dass keiner es wagte ihn anzuschauen. Er hielt eine ausschweifende Rede darüber, wessen Enkel du warst, darüber wie besonders du bist, im Gegensatz zu den anderen im Saal. Einer der Junge konnte nichts damit anfangen, was ein Investor war. Er war genauso neu wie du und fragte Boris ganz arglos, warum Voltaire so wichtig für die Abtei war. Der hat ihn dafür vor versammelter Mannschaft verprügelt, bis dem Jungen die Lippe aufplatzte. Und selbst dann hörte er nicht auf. Weißt du noch was er als Begründung zu euch sagte? Es war Regel Nummer Eins in der Abtei.“

„Stellt niemals Fragen.“

„Und weißt du noch was der Junge gemacht hat, als er auf dem Boden zusammengekauert lag?“

Kais Geist schien weit weg, doch er flüsterte: „Er hat sich vor Angst eingenässt…“

„Dafür gab es wieder Schläge für ihn. Und keiner hat geholfen.“

„Keiner…“

Kai schien nicht ganz da.

„Ja. Niemand rührte sich. Und du hattest Angst. Dafür schämst du dich sehr oft.“

Er kniff die Augen zusammen.

„Aber du warst selbst noch ein kleiner Junge. Und du warst geschockt. Es war dein erster Tag, du kamst zuvor aus einem schönen Kindergarten, dein Großvater hatte dir die Abtei ganz anders geschildert - und dann musstest du so etwas sehen.“, Tyson wurde schwermütig bei dem Gedanken. Es war furchtbar wie viele gequälte Seelen in der Abtei hatten ausharren müssen. Kai betonte während seiner Erzählung stets, dass es ihm nicht so übel ergangen war, wie manch anderen dort.

„Es hätte noch schlimmer sein können…“

So oft war dieser Satz von Kai gekommen. Dabei wirkten seine Augen stets trübsinnig.

„Weißt du noch wie Boris euch nannte?“, fragte Tyson inzwischen.

Kai blieb wieder stumm. Sein leerer Blick auf ihn gerichtet.

„Er nannte euch seine kleinen Hunde. Und an diesem Tag sprach er davon, dass die anderen verlauste Köter seien und du zu einer edlen Zuchtrasse gehörst. Er hatte euch tatsächlich in Rassen gestuft - als wärt ihr wirklich nur Tiere. Die Wärter haben sich daraus irgendwann einen Spaß gemacht. Sie haben an die Türen zu den Schlafräumen Bilder aufgehängt und jede Gruppe einer Art zugeordnet. Die Neuzugänge waren für sie die Straßenköter. Dich hat Boris aber als gewaltige Ausnahme hervorgehoben. Auf diese Weise hat er dafür gesorgt, dass der Neid groß war und die anderen aus deiner Gruppe, dich gleich zu Anfang als Außenseiter sahen. Er wollte verhindern, dass sie dich als Möglichkeit nutzten, Einfluss auf die Lebensweise der Abtei zu gewinnen. Du als Voltaires Enkel hättest vielleicht ein gutes Wort für jemanden einlegen können… Einen der Jungen bei deinem Großvater hervorheben können, den Boris gar nicht leiden konnte. Das war alles Taktik. Er hat immer dafür gesorgt, dass die Kinder untereinander keine Gemeinschaft bilden. Er hat euch gegeneinander aufgestachelt, falsche Gerüchte in die Welt gesetzt und seine Günstlinge absichtlich bevorzugt behandelt, auch wenn es gar nicht gerechtfertigt war.“

Tyson konnte den Impuls nicht unterdrücken, seine Hände zu Fäusten zu ballen.

„Boris hat den Hass in euren Reihen gesät. Er hat euer Konkurrenzdenken bis zum Äußersten ausgereizt. Euch scharf gemacht wie man es mit Kampfhunden tut. Indem er dafür gesorgt hat, dass unter euch keine Einigkeit herrschte, war seine Position gesichert und es entstanden ständige Machtkämpfe unter den Abteikindern. Die Aufseher haben gar nicht so oft Prügel ausgeteilt, ihr habt das selbst untereinander gemacht. Wenn einer von euch deshalb mit einem gebrochenen Bein in der Krankenstadion landete, konnte Boris so behaupten, dass ihr selbst schuld ward. Es war seine Form der Manipulation. Wenn ihr euch nicht gewehrt habt, ward ihr selbst Schuld. Habt ihr euch gewehrt, ward ihr auch selbst schuld. Er hat euch immer ein schlechtes Gewissen eingeredet, um seine Hände in Unschuld waschen zu können - dabei wäre es seine Aufgabe gewesen einzuschreiten!“

Sein Vorwurf klang nach. Es kostete Tyson viel Überwindung seinen Zorn zu zügeln. Diese Ungerechtigkeit machte ihn so rasend. Boris hatte mehr getan, als seine Aufsichtspflicht zu verletzten. Er hatte ganze Jahrgänge aus aggressiven, aber auch verschüchterten Kindern herangezogen. Nach mehreren Atemzügen, schaute er Kai bedauernd an. Dessen Gesicht war wie eine marmorne Maske.

„Und als du dann an deinem ersten Tag dort ankamst, da war dein Ruf ruiniert, noch bevor du einen Schritt über die Schwelle gemacht hattest. Boris pries Voltaire als einen der wichtigsten Gründer der Abtei an. Er sprach davon, dass du diese Einrichtung irgendwann erben würdest und die anderen dir dankbar für ihr schönes Zuhause sein sollten. Wie höhnisch musste sich das für die anderen Kinder anhören? Sie lebten in diesem Elend, rauften sich um jeden Happen Essen - und dann kamst du in die Abtei. Der Enkel jenes Mannes der dieses Elend auch noch finanzierte. Da war es doch klar, dass sie ihren Frust an dir ausließen!“

Kais Blick wich zur Seite.

„Kannst du dich daran erinnern, was Boris dir damals über das Leben in der Abtei gesagt hat, bevor er dich alleine mit den anderen im Schlafraum zurückließ? Die Kinder der Abtei pflegen ihre Probleme alleine zu lösen, meinte er. Wenn ihr euch untereinander nicht versteht…“

„Dann kommt alleine damit klar.“, Kai schloss gequält die Augen und zitierte jene Sätze weiter, die sich bis heute in sein Gedächtnis gebrannt hatte. „Denn im Leben bekommt ihr auch keine Hilfe. Das gehört zum Erwachsen werden dazu.“

„Er nannte es einen Reifeprozess.“

„Ich erinnere mich…“

„Und gleich nachdem er aus der Tür marschierte, wurdest du von den Jungen im Raum herumgeschubst. Noch bevor du mit deinem Koffer dein Bett erreicht hast, hat dir der Erste einen Tritt in den Rücken verpasst, dass du mit dem Kopf gegen eine Bettkante gestoßen bist.“ Tyson überwand zögerlich die letzten Meter zwischen ihnen. „Es hat stark geblutet und musste genäht werden. Dein erster Aufenthalt auf der Krankenstation und das keine drei Stunden nach deiner Ankunft.“

Er hob die Hand und tatsächlich ließ Kai endlich zu, dass er ihm näher kam. Vorsichtig hob Tyson mit dem Zeigefinger eine seiner Haarsträhnen an – und da war sie schon. Gefährlich nah über seine Schläfe, war ein winziges Überbleibsel dieses Abends. Eine verblasste daumenbreite Narbe. Es ließ Tyson bedauernd schnalzen.

„Derselbe Junge hat sich danach vor dir aufgebäumt, den Fuß gehoben bevor er zutrat, und gesagt…“

„Danke für mein schönes Zuhause du verzogener kleiner Prinz. Ich kenne seine Worte noch ganz genau!“, er spie es förmlich aus. Da wich Kai von ihm zurück, noch bevor er sein Gesicht zu fassen bekam, huschte von Tyson fort wie ein Schatten. Er stützte sich schweratmend am Geländer ab, schloss die Augen, im Versuch seine Haltung zu wahren.

Niemals Schwäche zeigen. Immer stark bleiben…

Das war Kai Hiwatari. Er wollte nicht wahrhaben, dass ihn etwas in Straucheln bringen konnte. Emotionale Aufgewühltheit war eines der wenigen Dinge, die er nicht mit seiner Rationalität zerpflücken konnte. Tyson senkte die Hand wieder, schaute ihn ratlos an. Das war wirklich schwierig. Er konnte ihn einfach nie ergreifen. Dieser Junge mied jeglichen Körperkontakt wie ein verwilderter Kater, den böse Menschen mit Steinen beworfen hatten. Tyson tat einen tiefen Atemzug, bevor er weitersprach. Er durfte jetzt nicht aufgeben.

„Als du deinen Großvater anrufen wolltest, um ihn zu bitten, dich von der Abtei wegzuholen, da war er nie erreichbar. Er hat mit Abwesenheit geglänzt, war ständig geschäftlich unterwegs. Wahrscheinlich wollte er deine Anrufe auch gar nicht entgegen nehmen. Einmal hat er die Abtei besucht. Er sprach stundenlang mit Boris in seinem Büro, doch dich besuchte er nicht einmal in deinem Schlafraum. Du hast erst Tage später erfahren, dass er da gewesen war. Wenn Voltaire nur einen verdammten Schritt in eure Kammer geworfen hätte, wäre ihm klar geworden, dass du da hinaus musst. Aber es interessierte ihn nicht. Er wollte nur Ergebnisse sehen. Schwarze Zahlen in seiner Bilanz… Da hast du bemerkt, dass du wirklich auf dich alleine gestellt bist.“ Tysons seufzte schwer. „Jetzt begreife ich auch endlich, warum du alles auf eigener Faust schaffen möchtest. Nach allem was ich nun weiß, wird mir so vieles über dich klar. Ich verstehe endlich woher deine Ängste kommen…“

„Ich habe keine Ängste!“, leugnete Kai verbissen, die Fäuste geballt. „Diese Zeit hat mich nur stärker gemacht!“

„Hat sie nicht - sie hat dich klein gemacht! Die Tage in der Abtei sind der Grund, weshalb du Schwierigkeiten hast, dich in eine Gruppe zurechtzufinden. Du bist zu einem Einsiedlerkrebs geworden, der sich jedes Mal in seinem Haus verkriecht, wenn er mit der Welt da draußen nicht zurechtkommt!“

„Das stimmt nicht!“, kam es umso sturer. Doch Tyson deutete auf ihn, sprach sein Urteil aus.

„Du wurdest von den anderen Kindern so lange getriezt bis das Maß voll war! Irgendwann hast du nämlich zurückgeschlagen! Du hast dem Jungen der dich ständig verprügelt hat, seine eigene Medizin zu schmecken gegeben, bis auch er blutend im Krankenzimmer lag. Es war so übel, dass die anderen von da an Angst vor dir hatten. Erst dann hast du den Respekt bekommen den du wolltest – und Boris Aufmerksamkeit. Von da an sah er in dir eine kleine Kampfmaschine, deren Brutalität man fördern sollte. Plötzlich sah er dich nicht mehr als verweichlichten reichen Bengel. Er erkannte dass du auch austeilen kannst. Du erhieltst die beste Ausbildung. Das war das Einzige was in der Abtei nicht schlecht war. Wer es einmal geschafft hatte aufzusteigen, wurde wie ein König behandelt. Und das obwohl es dir insgeheim leid tat, was du mit dem Jungen angestellt hattest. Du warst im Nachhinein selbst schockiert von dir selbst. Deshalb bemühst du dich auch nie die Beherrschung zu verlieren. Du unterdrückst sämtliche Emotionen, um nicht wieder etwas Derartiges zu machen!“

„Es war ein furchtbarer Fehler… Ich wollte das nicht!“, versuchte Kai sich zu rechtfertigen.

„Das glaube ich dir auch. Es war blinder Zorn der sich bis zu deinem Ausbruch angestaut hatte. Und du hast den Jungen auch im Krankenzimmer besucht, weil du dich furchtbar gefühlt hast. Es war nie deine Absicht ihn so übel zu zurichten. Du bist an sein Bett getreten und hast dich aufrichtig dafür entschuldigt. Und er hat dich nur angeschaut und gemeint, dass du das besser nicht laut tun solltest. In der Abtei kam man nämlich mit Entschuldigungen nicht weiter. Er meinte, er hätte dich sogar tot geprügelt, wenn es ihn eine Stufe weitergebracht hätte… Und jetzt weiß ich auch endlich, weshalb du uns in Russland verraten hast. Du wolltest allen die dich in der Abtei schikaniert haben beweisen, dass du kein kleines Kind mehr bist, das man noch herumschubsen darf. Jeder der sich dir in den Weg stellt muss sich in Acht nehmen, nicht wahr?“

„Warum weißt du das so genau?!“, kam es aufgebracht von Kai. „Von dieser Unterhaltung weiß niemand! Ich habe wirklich kein Wort über dieses Gespräch verloren! Der Junge von damals meinte ich solle meine Entschuldigung für mich behalten, weil ich sonst Ärger bekomme. Und er wurde einen Tag später auch schon aus der Abtei geschmissen!“

„Ich kann dir nicht sagen woher ich das weiß.“

„Dickinson hat es dir gesagt, nicht wahr?!“

„Du weißt doch selbst das ihr alleine ward…“

„Aber er hat im Zuge seiner Recherchen viele Kinder gefunden, die hinausgeworfen wurden. Auch den früheren Arzt aus der Abtei hat er aufgespürt!“, fiel Kai nun ein. Seine geweiteten Augen huschten nachdenklich zur Seite. Tyson sah ihm an, dass sein Kopf in Hochtouren nach einer Lösung für dieses Mysterium suchte. Kais Brauen zogen sich tief zusammen. Irgendwann spie er düster aus: „Natürlich… Es kann nur dieser alte Mistkerl gewesen sein! So ist er überhaupt erst über meinen Namen gestolpert. Er hat die Abtei bei ihrer Schließung erlebt. Er war dabei als die Behörden Boris festnehmen wollten! Dieser miese Heuchler! Er wollte es für sich behalten!“

„Er war es nicht…“

„Lügner!“

„Ich ein Lügner? Was bist dann du?!“, wehrte sich Tyson. „Dickinson wollte dich damals als Insider, nicht wahr? Das habt ihr beiden aber während der ersten Weltmeisterschaft, klammheimlich hinter unserem Rücken abgemacht! Uns habt ihr im Glauben gelassen alles sei nur ein Spiel! Erst in Russland haben wir erfahren um was es wirklich ging – und selbst das war nicht die ganze Wahrheit!“

„Wir haben euch nicht einbezogen weil ihr nur einfältige Kinder seid!“

„Genau wie du!“

Kai stutzte kurz ob des Vorwurfes. Dann verfinsterte sich sein Blick.

„Und wenn es so war - was geht es dich an?!“, fauchte er zornig zurück.

„Ihr hättet uns einbeziehen müssen. Vor allem du! Wir waren dein Team. Warum hast du dich uns nicht anvertraut?“

„Warum hätte ich? Ihr ward Fremde für mich!“

„Dann sag es mir jetzt, Kai! Sag mir die Wahrheit über diese Zeit. Ich will aus deinem Mund hören, was sich damals noch alles hinter unserem Rücken abgespielt hat!“

Tyson sah ihn die Lippen schürzen. Dann schloss Kai schnaubend die Augen.

„Ja, es ist wahr. Dickinson wollte mich als Informanten, weil ich nach der Abtei bei meinem Großvater zuhause, vieles über seine Geschäfte mitbekommen habe. Ich kannte die anderen Investoren. Sie gingen bei uns ein und aus... Aber vor allem kannte ich Boris. Ich war einer seiner Schüler. Dabei wollte ich damit zu Anfang gar nichts zu tun haben! Diese verdammten Abteikinder waren mir scheißegal!“

„Das glaube ich dir nicht. Sie taten dir Leid.“

„Mitleid ist nur etwas für Schwächlinge!“

„Ach, so ist das…“, Tysons Braue zuckte hoch, als der Groschen fiel. „Deshalb erträgst du es nicht über deine Vergangenheit zu reden. Deshalb nimmst du nie Hilfe in Anspruch. Aus lauter Angst etwas Mitleid zu bekommen. Als schwach dazustehen.“

Kai blieb lange Zeit stumm. Irgendwann sprach er mehr zu sich selbst: „Ich habe nie Hilfe nötig gehabt.“

„Nein! Es gab eine Zeit, da hast du sehr wohl Hilfe gebraucht. Du weißt genau wie sich das anfühlt - einer Situation ausgeliefert zu sein, an der man aus eigener Kraft nichts mehr ändern kann. Du kennst das Gefühl hilflos zu sein. Jedes Abteikind kennt das.“

„Gerade deshalb wunderst es mich dass du davon weißt.“

„Das rüttelt wohl ganz schön an deiner Weltanschauung… Das jemand anderes das verstehen kann. Jemand wie ich. Der aus der heilen Welt kommt.“

Er sah Kai auf die Unterlippe beißen.

„Ich verstehe endlich was damals passiert ist. Dickinson hat dir den Schubs in die richtige Richtung verpasst. Deshalb hast du damals gegen deinen Großvater ausgesagt. Du kamst von außerhalb. Du wusstest dass die Zustände in der Abtei falsch waren. Und du warst Voltaires Enkel. Die anderen Kinder waren zu verschüchtert um noch der Polizei zu trauen. Als sie aber gesehen haben, dass ausgerechnet du dich gegen dein eigenes Erbe auflehnst, haben sie nachgezogen und sich endlich getraut, auch ihre Aussagen abzugeben. Dadurch hatte Dickenson noch mehr Zeugen bekommen.“

„Ich hätte mich gar nicht einmischen sollen… Nur wegen diesem Klatschweib bin ich heute mit Großvater zerstritten. Er spielte sogar mit dem Gedanken, mich in ein Heim abzuschieben. Das war alles Dickensons schuld!“

Es kam sehr verbittert.

„Er wollte dich beschützen, damit du aus diesem Teufelskreis herauskommst. Voltaire hätte dich sonst genauso verkorkst wie sich selbst. Und du bist auch nie wie dein Großvater gewesen! Letztendlich hast du Dickinson geholfen, weil du wusstest, dass sich etwas ändern muss. Du hättest diese Kinder hassen können - aber eigentlich taten sie dir nur Leid! Du wusstest dass sie keine andere Wahl hatten, weil du selbst einmal in ihrer Haut gesteckt hast."

Kai gab einen zornigen Schrei von sich. Er tat einige Schritte von ihm weg, fuhr sich mit den Händen ins Haar. Nach einigen schweren Atemzügen drehte er sich wieder zu Tyson und funkelte ihn aus gefletschten Zähnen an.

„Wieso reden wir überhaupt noch davon? Warum fängst du mit diesen alten Kamellen an?!“

„Wieso denn nicht? Ich bin dein Freund. Es interessiert mich!“

„Jetzt auf einmal interessiert es dich - nach fast zwei Jahren?!“, brach es aus Kai heraus. Es wurde still zwischen ihnen. Tyson starrte ihn an. Er öffnete den Mund zu Widerworten, doch hielt sich noch davon ab. Es war der Blick dem ihm Kai zuwarf. Da lag etwas Anklagendes darin. Lange Zeit schauten sich beide einfach nur an, bis Tyson seufzend die Augen schloss.

„Okay. Der Punkt ging an dich.“, gestand er ein.

„Seit wann so einsichtig, Kinomiya?“, kam es höhnisch. Ein eiskalter Windhauch fegte über das Dach. Tyson kniff die Augen zusammen ob des kräftigen Zuges. Ihm fiel auf das es immer düsterer draußen wirkte, obwohl es noch gar nicht so spät sein konnte. Es waren auch keine Wolken am Himmel und doch wollte es einfach nicht warm werden. Er wusste nicht, wie lange sie schon hier standen, aber das die Zeit ihm davonlief.

„Es tut mir Leid, okay?“, sprach er reumütig. „Ich war damals noch jünger. Ich hatte keine Vorstellung davon was für ein riesiges Päckchen du mit dir herumschleppst – und das schon in deinem Alter. Aber hättest du mit nur einem Wort angedeutet das…“

„Was dann?!“, fuhr Kai ihm dazwischen. „Was hättest du dann getan? Spiel mir nicht den Helden vor! Ich weiß genau wie du mich siehst… Für dich bin ich doch auch nur ein eingebildeter, reicher Prinz!“

„Das habe ich nie behaup-…“

Doch Tyson verstummte. Denn noch bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte, fielen ihm zahlreiche Momente ein, in denen tatsächlich etwas Ähnliches über seine Lippen gekommen war. Sein Schweigen war wohl Antwort genug, denn er hörte ein verächtliches Schnauben.

„Da hast du es! Du bist genauso wie der Rest da draußen… Ihr alle haltet euch für wahre Wohltäter, die empört die Brauen heben, wenn irgendwo etwas falsch läuft - aber unternehmen würde doch keiner etwas, selbst wenn es vor der eigenen Haustür passiert! Ein Urteil fällen Leute wie du aber schnell!“, nun deutete Kai auf ihn, während Tyson sich innerlich wappnete. Er hatte eine leise Ahnung wohin das alles führte. „Das ist genau das, was ich an dir nicht ausstehen kann, Kinomiya! Du rennst durch die Gegend, mit diesem blasierten Grinsen, hältst dich für eine ganz große Nummer, einen ganz tollen Helden, du denkst das deine Freunde immer bei dir sein werden und dir niemand etwas anhaben kann, aber in Wahrheit…“

„Lebe ich in einer Seifenblase?“

Nur für eine Sekunde ließ Kai seine Verblüffung erkennen. Dann spie er umso boshafter aus: „Ganz recht! Du bist ein naiver Idiot! Ein Trottel! Blauäugig durch und durch! Du denkst dass es nur etwas Mut, Freundschaft, Zusammenhalt und all dem anderen kitschigen Scheiß braucht und schon kann man die Welt aus den Angeln heben! Aber die Wahrheit ist, dass alle Menschen in schlimmen Zeiten, nur an sich selbst denken!“

Er beleidigte ihn - weil Kai ihn nicht verstand. Weil er nicht fassen konnte, wie Menschen wie Tyson durchs Leben gehen konnten, ohne das ihnen etwas Schlimmes widerfuhr.

„Dann hätten wir dich auf dem Baikalsee ertrinken lassen sollen, anstatt Gefahr zu laufen, auch im Eis einzubrechen?“

Nun blieben ihm die Worte im Halse stecken, während Tyson ihn mit verschränkten Armen anschaute. Er legte den Kopf auf die Seite, als stumme Aufforderung weiterzusprechen. Kais Mund stand etwas offen. Er suchte nach einem überlegenen Kontra, bis er ihm das Gesicht, mit einem verächtlichen Schnalzen abwandte.

„Nein... Aber eigentlich war auch das naiv von euch! Ich hatte euch kurz zuvor noch verraten und ihr habt einfach nicht von mir ablassen wollen. So etwas… Dämliches ist mir noch nie untergekommen! Ihr seid doch total verrückt. Vor allem du!“

Doch eigentlich klang Kai selbst nicht überzeugt. Tyson lächelte. Er spürte dass er allmählich zu ihm durchdrang. Seine Worte kamen viel zu stoisch, als müsse er sich das selbst einreden. Tyson tat einen Schritt auf ihn zu.

„Nur wegen so einer Kleinigkeit, hätten wir dich sterben lassen sollen? Das ist doch verrückt.“

„Die ganze Welt ist verrückt…“

„Nein, Kai. Es gibt nicht nur schlechte Menschen dort draußen.“

„Und doch sind es zu viele.“

„Du bist zu jung um so zynisch zu sein.“

„Hör auf mit deinen Belehrungen. Das passt gar nicht zu dir…“, Kai tat einige Schritte von ihm weg. Ein kühler Windhauch jagte um die Kuppel, der seinen Schal aufbauschte. Es ließ ihn für einen Moment fröstelnd die Arme um den Körper legen. Er lief am Geländer entlang, schaute geringschätzig auf die Menschen dort unten im Park herab. Auf diese Welt dort draußen, die seiner Meinungen nach nur Enttäuschungen barg. Dann sprach Kai ziemlich verdrossen: „Ich hätte gedacht, dass dir unser Ausstieg endlich eine Lehre war. Stattdessen bist du noch naiver geworden als je zuvor. Was stimmt denn nicht mit dir?“

Es ließ Tyson einen Moment schmunzeln.

„Du würdest mich gerne fallen sehen.“

„Vielleicht…“, kam es gehässig.

„Was hättest du davon?“

Kai zögerte seine Antwort lange hinaus.

„Manchmal müssen Menschen auf die Schnauze fallen um zu lernen. Und meiner Erfahrung nach ist es ratsam, so früh wie möglich zu stürzen, um in der Zukunft schneller auf die Beine zu kommen.“

„Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen.“

Er sah Kai zucken. Dann kam es umso hochnäsiger: „Du bist der Letzte um den ich mir Gedanken mache, Kinomiya!“

Tyson legte den Kopf auf die Seite.

„Wirklich? Ich sorge mich nämlich immer um dich...“

Einen Moment blieb Kai stumm, blinzelte ihn an.

Bis er sich wieder von ihm abwandte.

„Ich bin schon immer klar gekommen. So wie ich bin, ist es gut.“

„Das glaubst du wirklich?“

„Natürlich.“

„Und die Nacht mit Black Dranzer?“

Kai hielt inne. Er hörte genau zu.

„Was soll damals gewesen sein?“

„Der Blade ist durchgedreht, weil er vollgepumpt von deinem Hass war. Deshalb hat er die ganze Trainingseinrichtung vernichtet. Ein erfahrener Blader hätte das erkannt, aber ein Trottel wie Boris, hat wohl über dieses Alarmzeichen hinweggesehen. Und auch heute noch bis du voll von Zorn.“

Kai wandte sich langsam zu Tyson um, schaute über seine Schulter hinweg zu ihm. Aus seinem Blick sprach pures Misstrauen.

„Verstehe. Jetzt wird mir natürlich einiges klar. Davon kann auch Tala gewusst haben. Er ist also der Verräter. Du hast mit ihm geredet!“, er drehte sich zu ihm. Die Brauen tief im Gesicht. „Deshalb habt ihr euch vorhin gegen mich verbündet. Er erzählt diese Dinge über mich herum. Wenn Tala mich loswerden will, soll er es mir ins Gesicht sagen!“

„Er hat nichts damit zu tun. Tala war einige Jahrgänge über dir, also kann er nicht allzu viel von deinen Schikanen mitbekommen haben. Er hatte ohnehin seine eigenen Kämpfe auszutragen.“

„Dann eben Spencer oder Bryan!“

„Die waren auch in einem anderen Teil des Gebäudes untergebracht. Nur Ian war bei dir in der Gruppe und den hat Tala deinetwegen rausgeworfen, weil er zu denen gehört hat, die dich als Kind drangsaliert haben. Deshalb tritt er dieses Jahr auch nicht an. Es ist Talas Art sich bei dir für deinen Einsatz von damals zu bedanken. Sie wissen was sie dir schuldig sind.“

„Irgendjemand muss dir aber davon erzählt haben! Irgendwer aus der Abtei! Mein erster Tag, der Brand, die Zustände dort, wie sie mit mir umgesprungen sind… Es muss jemand von dort gewesen sein!“

Tyson schnalzte, stemmte die Hände in die Hüften. Er hob das Kinn herausfordernd an.

„Und die Einzelheiten über deine Familie? Wer soll mir die erzählt haben?“

„Ich… Ich weiß es nicht.“, gestand Kai mit einem verunsicherten Kopfschütteln.

„Macht es dir solche Sorgen dass ich so viel über dich weiß?“

„Es geht dich nichts an! Niemanden!“, fuhr er ihn ein weiteres Mal an. Es machte ihm wohl Angst so transparent zu werden. Kai fühlte sich sicherer wenn die Menschen ihn nicht durchschauten. Und wenn er sich bedroht fühlte, war seine beste Verteidigung zu fauchen, wie ein Tier das man in die Ecke drängte.

„Wenn es wirklich Dickenson oder jemand von der Abtei war, wie erklärst du dir dann, dass ich von dem alten Ehepaar weiß? Das was dich gefunden hat, einige Wochen nachdem der Vorfall mit Black Dranzer passierte?“

Als hätte man ihm einen Peitschenhieb verpasst, zuckte Kai zusammen. Er wich von Tyson fort, starrte ihn aus großen Augen an. Es war eine der wenigen Erinnerungen, von denen wirklich niemand aus Kais unmittelbarem Bekanntenkreis etwas wissen konnte. Nur er allein.

Es wurde still. Sehr lange still…

Eine Weile starrte ihn Kai einfach nur verdattert an. Zwischen seinen Lippen hatte sich ein Spalt aufgetan. Irgendwann meinte er: „Wenn das ein Scherz sein soll, ist das nicht mehr komisch, Tyson.“

Seine Finger umgriffen das Geländer wie einen rettenden Anker. Zum ersten Mal klang Kai verzweifelt und vergaß sogar, ihn mit dem Nachnamen anzusprechen. Seine kühle Fassade fiel förmlich in sich zusammen. Inzwischen dachte Tyson nach, wie er weiter vorgehen sollte. Er strich gedankenverloren über das Geländer, rief sich in Erinnerung, was ihm Kai von diesen Menschen erzählt hatte. Es war der traurigste Abschnitt.

„Erinnerst du dich daran, warum du dem Jungen nicht böse sein konntest, der dich bei deinem ersten Fluchtversuch verpetzt hat?“, sprach Tyson irgendwann.

„Warum fragst du mich das?“

„Ich will damit sagen, dass es nur eine Sache gab, welche den Kindern der Abtei mehr Angst gemacht hat, als die Abtei selbst – nämlich aus der Abtei geworfen zu werden. Der Grund dafür war einfach... Draußen herrschte im Winter eine Eiseskälte. Die meisten Kinder waren schon von der Straße und die wenigsten wollten noch einmal dorthin zurück. Erst recht nicht in den kalten Monaten. Da kam ihnen selbst die Hölle wie das kleinere Übel vor. Du wusstest das aber noch nicht und hast am eigenen Leib erfahren, wie es dort draußen zugehen kann.“

Er schaute zu Kai. Der starrte ihn aus geweitetem Blick entgegen.

„Nach der Sache mit Black Dranzer bist du geflohen, weil du Angst hattest bestraft zu werden. In der Abtei gab es viele Geschichten, wie mit ungehorsamen Kindern umgesprungen wurde. Du wolltest dieser Strafe entgehen. Aber ein kleiner Junge allein in einer Millionenstadt wie Moskau? Man muss kein Genie sein, um zu wissen, wie gefährlich das sein kann, aber du hast keinen anderen Ausweg mehr für dich gesehen.“

„Ich will das nicht mehr hören…“

„Es war ernüchternd, oder? Diese Erfahrung ohne Geld, Essen und Wasser, auf der Straße auskommen zu müssen. Jede Großstadt hat ihre Schattenseiten. Moskau war da keine Ausnahme. Fast einen Monat hast du auf der Straße gelebt. Wie die anderen obdachlosen Gestalten, die keine Zukunft mehr hatten – aber in die Abtei wolltest du auf keinen Fall zurück. Wie verzweifelt muss ein Junge sein, um so ein Leben diesem Ort vorzuziehen?“

Kais Blick wich ihm aus. Er blinzelte. Zu oft…

Er war jetzt vollkommen verstört.

„Ein Obdachloser hat dich unter seine Fittiche genommen. Er hatte immer seine Hündin bei sich. Du kennst sogar noch ihren Namen. Toscha. Sie besaß ein struppiges, braunes Fell und du hast dich nachts gerne an sie geschmiegt.“

„Das kannst du nicht wissen…“, es war ein fassungsloses Flüstern.

„Das alles war noch kurz vor dem Wintereinbruch. Aber irgendwann wurden die Nächte kälter. Ihr habt euch unter einer Treppe eingenistet. Vor den Eingang habt ihr Kartons geschoben. Eines Nachts überließ dir der Obdachlose seine Jacke. Am nächsten Morgen wachte er aber nicht mehr auf. Es war einfach zu kalt geworden. Und er war auch sehr alt gewesen... Siehst du noch manchmal sein Gesicht vor dir? Wie er friedlich in der Eiseskälte eingeschlafen ist?“

Kai keuchte bei dem Gedanken.

„Von da an bist du mit Tosha alleine durch die Straßen geirrt. Bis der Winter seine erbarmungslose Seite zeigte. Es hat angefangen mit dem Schnee. Minusgrade die man sich hier in Japan kaum vorstellen kann.“

„Ich habe genug davon!“, Kai wollte sich an Tyson vorbei drängen. Doch der stemmte seinen Arm gegen die Scheibe, um ihm den Fluchtweg zu versperren. Etwas geschockt hielt er inne. Nicht weil Tyson sich ihm in den Weg stellte, sondern weil er mit solcher Kraft gegen die Scheibe gehauen hatte, dass ein Sprung auf ihr entstand. Für eine Sekunde fragte Tyson sich, aus was für einem billigen Material das Glas bestand, bis er den Gedanken verwarf, um sich auf das wesentliche zu fokussieren. Weder er, noch Kai, sahen die blaue, schuppenartige Zeichnung an seiner Hand. Dazu waren sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

„Was ist los mit dir? Schämst du dich dafür, einmal ein solches Leben geführt zu haben?“

„Lass mich vorbei!“

„Nein!“

Kai wandte sich um. Er lief in die andere Richtung, in der Hoffnung, so wieder zum Eingang des Treppenhauses zu gelangen. Tyson folgte ihm. Doch bald musste Kai erkennen, dass ihm das auch nicht weiterhalf. Sein Plan ging nicht auf. Von der anderen Seite aus, erreichte er nur die Rückseite des Treppenhauses. Eine massive Betonwand versperrte ihm den Weg. Das Geländer verschwand darin. Kai drehte sich wieder zu ihm, schaute ihn böse an, als er bemerkte, dass Tyson ihm folgte.

„Lass mich in Ruhe!“

„Erinnerst du dich wie du in die Gaststätte eingebrochen bist?“, fragte er nur.

„Ich will nicht mehr! Ich habe deine Spielchen satt!“

Kai versuchte erneut an ihm vorbeizukommen, doch Tyson warf ihn zurück. Er prallte gegen die Wand und starrte ihn daraufhin geschockt an. Beide begriffen nicht, woher er auf einmal diese Kraft hernahm, nur was es Tyson in diesem Moment egal. Mit düsterem Blick fuhr er fort: „Du hast mit einem Stein das Kellerfenster eingeschlagen und bist mit Tosha hineingeklettert. Weißt du es noch?“

„Was willst du von mir?“

„Du warst verzweifelt. Es war einfach zu kalt draußen. Du hast zwischen den Mehlsäcken geschlafen und warst bereits fiebrig. Deine Lungenentzündung war wieder da. Du hast dich einfach nur in Toshas Fell geschmiegt und bist eingeschlafen.“, Tyson trat näher heran. „Der Hund muss irgendwann bemerkt haben, dass mit dir etwas nicht stimmt. Sie hat so lange an der Kellertür gekratzt und gewinselt, bis die Besitzer herunterkamen und dich dort unten fanden.“

Kai wich zurück, starrte ihn an. Doch viel Spielraum gab es nicht mehr für ihn.

„Es war ein älteres Pärchen. Sie haben sofort begriffen dass mit dir etwas nicht stimmt. Die Frau hat dich in eine Decke gewickelt. Der Mann rannte die Kellertreppe hoch, um den Krankenwagen zu rufen. Du erinnerst dich noch an seine polternden Schritte – und an das Gesicht der Frau. Sie trug ein rotes Kopftuch, besaß kleine Grübchen. Wenn du an sie zurückdenkst, erinnert sie dich an eine kleine Matrjoschka Puppe.“

„Wie kannst du das wissen?!“

„Sie hat dir beruhigend über die Stirn gestreichelt. Dich an sich gedrückt. Es war das erste Mal seit langem, dass dir jemand eine solche Zuneigung geschenkt hat. Und das obwohl sie einen wildfremden Jungen in den Armen hielt, der ihr Kellerfenster zerschlagen hatte.“

Kai starrte ihn an.

„Dieser Gedanke ließ dich damals weinen. Du hast dich so schuldig gefühlt. Es tat dir so Leid… Doch sie meinte es sei okay. Es sind nur Scherben, hat sie sie zu dir gesagt. Die kann man wegkehren.“

Tyson sah es. Ein wässriger Glanz der in seine Augen trat. Kai bemerkte es wohl ebenfalls, denn er kniff die Lider zusammen.

„Draußen herrschte ein so schlimmes Schneegestöber, dass der Krankenwagen nicht kommen konnte. Die Ärzte haben telefonisch durchgegeben, was man mit dir anstellen soll und wollten kommen, sobald der Sturm nachließ. Der alte Mann trug dich die Kellertreppe hoch. Die Frau bereitete alles vor, um dich die Nacht über durchzubekommen. Wann immer du aus deinen fiebrigen Träumen aufgewacht bist, konntest du erkennen, dass einer von ihnen dich angeschaut hat. Er hatte ein tiefschwarzes Augenpaar. Einen gütigen Blick. Sie tupfte dir mit einem kühlen Lappen über das Gesicht, während sie dir alte Volkslieder vorsummte. In diesem Moment wurde dir klar, dass du so viel Zuwendung nicht einmal von deiner eigenen Familie bekommen hast. Das tat unglaublich weh. Nicht wahr, Kai?“

Doch es kam kein Mucks mehr von ihm. Er hielt das Gesicht von ihm abgewandt. Die Augen waren geschlossen. In den Winkeln sammelten sich allerdings die aufkommenden Tränen.

„Sie pflegten dich gut. Der Arzt lobte sie am nächsten Morgen. Er meinte, er hätte es nicht besser machen können und die kleine Frau bekreuzigte sich, dankte Gott, dass der kleine Junge auf ihrer Couch durchkommen würde. Dir hat dieser winzige Einblick bei diesen Menschen aber vorgeführt, dass du deiner Familie egal sein musstest. Wochenlang schien dich niemand gesucht zu haben. Es war allen gleich wo du abgeblieben warst. Du hättest genauso gut erfroren in einem Graben liegen können.“

Er sah Kai verbissener die Augen zusammenkneifen.

„Einen weiteren Monat verbrachtest du auf der Kinderkrankenstation. Die Ärztin dort nannte dich den traurigen Welpen. Sie fragte dich ständig nach deiner Vergangenheit aus. Zumindest versuchte sie es. All ihre Bemühungen einen Draht zu dir aufzubauen scheiterten jedoch. Manchmal hast du tagelang zugebracht, ohne auch nur ein Wort von dir zu geben. Dein Schweigen begann… Du warst der Welt so leid geworden, dass du nicht mehr die Kraft aufbringen konntest, noch eine weitere Enttäuschung zu verkraften. Richtig, Kai?“

Eine winzige Regung kam. Ein minimales Nicken. Oder vielleicht in Schluchzen…

Seine Bewegung wirkte so starr und doch reichte sie aus, damit eine Träne sich selbstständig machte. Da wagte Tyson endlich den Vorstoß. Er griff mit einem wehmütigen Atemzug nach dessen Schultern, führte seine Finger zu dessen Nacken, wie durch Zufall. Er hörte Kai laut keuchen.

„Jeden Abend schaute die Ärztin die Nachrichten, blätterte in der Zeitung nach einer Vermisstenanzeige über einen kleinen Jungen, der zu deiner Beschreibung passte. Selbst bei der Polizei fragten sie nach. Aber Boris hatte dein Verschwinden wohl nie gemeldet. Bestimmt wollte er es auf eigener Faust regeln, bevor dein Großvater von der Sache Wind bekam. Ihm muss der Arsch ziemlich auf Grundeis gegangen sein, immerhin hatte er Voltaires einzigen Erben verloren.“

Die Wärme kam auf. Es war ein brodeln. Tysons gesamter Körper schien zu brennen. Er konnte sehen, wie seine eigenen Finger zu glühen begannen.

„Es vergingen so viele Tage - aber niemand meldete sich. Du wusstest gar nicht mehr worauf du noch wartest. Du konntest nicht mehr zur Abtei. Deiner Familie wollte dich offensichtlich nicht. Und dir war klar, dass du auf der Straße nicht überleben würdest. All das Elend um dich herum raubte dir den Lebenswillen. Dir schien es als hättest du keine Zukunft mehr… Und jeder Arzt der kam um dich aufzuheitern, bekam nur dein Schweigen als Antwort. Irgendwann wurde eine Therapeutin hinzugezogen. Sie sprach von einer schweren Kinderdepression…“

Ein trauriges Lächeln spielte um Tysons Lippen. Umso länger seine Hände auf Kais Haut weilten, umso heißer wurden seine Finger. Dranzers Energie begann sich zu übertragen.

„Wie alt warst du damals? Acht oder neun? So jung und schon eine Depression… Du warst am Ende. Nur einen Satz hat deine Ärztin irgendwann aus dir herausbekommen. Weißt du noch was du gesagt hast?“

Kai senkte den Kopf. Da beantwortete Tyson auch schon seine eigene Frage.

„Ich will nicht mehr leben…“

Kein Mucks kam von ihm. Es beschämte ihn, dass er einmal so gebrochen gewesen war.

„Erinnerst du dich?“, flüsterte Tyson. „Diese furchtbare Einsamkeit in dir. Das Gefühl von allen Menschen verlassen worden zu sein. Vollkommen allein zu sein. Ausgesetzt…“

Kai wollte es vergessen. Weil sein Stolz nicht wahrhaben wollte, dass er vor langer Zeit einmal an diesem Gefühl zerbrochen war. An der Einsamkeit. Und doch stand Tyson hier und zwang ihn, sich daran zu erinnern. Die Mauer bröckeln zu lassen.

„Schon okay. Du darfst weinen...“

Tysons Hände hoben sich. Ein prüfender Blick darunter. Ein flammendes Muster. Er erkannte nicht welches. Es war ihm auch gerade egal. Sobald die Wärme in seinen Fingern erstarb, das Attribut dort war wo es hingehörte, Kai den Kampf gegen seine Trauer verloren hatte - da überwand Tyson die letzten Zentimeter zwischen ihnen. Er legte einen Arm nach dem anderen um ihn, drückte Kai ganz fest an sich.

„Es tut mir so leid.“, raunte Tyson ihm zu.

Seine Finger strichen tröstend über den Haarschopf seines kleinen Katers. Dieser Junge der so oft verstoßen und verletzt wurde. Er hörte einen beklommenen Laut.

„Du wirst nie wieder allein sein. Ich lasse niemals zu, dass dir nochmal wehgetan wird.“

Und kurz darauf fühlte Tyson den ersten warmen Sonnenstrahl auf seiner Wange. Als er eine flüchtige Sekunde in den Himmel blinzelte, wirkten die Farben wieder satter.

Und der Wind war herrlich warm…
 


 

*
 

Es dauerte seine Zeit bis Kai wieder ruhiger wurde. Tyson fiel auf wie sehr es schmerzte, ihn weinen zu sehen. Es fühlte sich an als würde sein Herz zugeschnürt werden, einfach weil er Kai noch nie so aufgelöst erlebt hatte. Manche Menschen wirkten beim Weinen richtig hysterisch. Tyson wurde dabei sogar richtig zornig und steigerte sich in seine Probleme weiter hinein, knurrte, brüllte und spie bitterböse Worte aus, auch wenn es ihm danach Leid tat. Kai war das komplette Gegenteil…

Er litt im Stillen, als wolle er nicht zu viel Aufsehen um sich machen. Es waren stumme Tränen die er vergoss. Womöglich war das in der Abtei ebenfalls ungerne gesehen und man gewöhnte sich an, äußerst leise zu weinen. Nachts, zusammengekauert unter der Bettdecke.

Oder vielleicht sogar gar nicht?

Deshalb kam es Tyson vor, als hätte Kai was das betraf, sehr viel Nachholbedarf.

Jeder Tropfen verwischte etwas mehr von den Zacken, die er sich früher ständig aufgemalt hatte. Ihre Konturen wurden zunehmend unscharfer. Tyson wusste noch, wie er einmal von ihm wissen wollte, warum er sie sich überhaupt aufmalte. Das war als er Kai zum ersten Mal ohne sah und sich insgeheim dachte, dass er sein hübsches Gesicht damit nur unnötig verschandelte.

„Um Nervensägen wie dich fernzuhalten.“, war die bissige Antwort gewesen.

Nun mussten sie doch weichen. Gegen salzige Tränen kam wohl auch diese Farbe nicht an. Sie bahnten sich ihren Weg aus seinen Augenwinkeln, hinterließen lautlos ihre Spuren und er wandte ihm stets das Gesicht ab, wenn er Tysons mitleidigen Blick bemerkte. Es war ihm peinlich. Wahrscheinlich fühlte Kai sich emotional entblößt. Als er sich einmal mit der Hand über das Gesicht fuhr, verwischte er die Farbe versehentlich noch mehr. Kai hatte auf seine blaubefleckten Finger geschaut und ein frustriertes Seufzen entrang sich seiner Kehle. Es ließ Tyson traurig Lächeln. Irgendwann hob er die Hand und wischte die verbliebene Farbe von dessen Wange, während Kai ihm nur vorwarf, dass er ein Mistkerl sei. Es war wohl sein letztes Aufbäumen.

„Schon okay...“

Es veranlasste Tyson ihm den Arm um die Schulter zu legen und seinen Kopf gegen ihn zu lehnen. Er spürte wie Kai dabei verkrampfte, doch es folgte auch keine Gegenwehr mehr. So blieben sie eine ganze Weile, ohne weitere Worte, ließen einfach nur die Zeit verstreichen. Tyson ging gar nicht mehr durch den Sinn, dass er eigentlich noch ein Match bestreiten sollte. Er wollte auch gar nicht mehr weg. Es kam ihm vor als habe er Kai gebrochen. Doch manchmal mussten Menschen wohl in Scherben liegen, um sich ihre Probleme einzugestehen. Jetzt musste Tyson beim Zusammenfügen helfen. Die Ansage dass das Turnier fortgesetzt wurde kam irgendwann. Kai hatte aus monotonem Blick gefragt, ob Tyson nicht endlich verschwinden wolle. Doch der schüttelte den Kopf und blieb wo er war.

„Du solltest jetzt nicht alleine sein…“

Da schaute Kai verwirrt zu ihm. Er wirkte erschöpft von seinem eigenen Gefühlsausbruch. Seine Augen waren auch etwas rot unterlaufen. Er würde nicht eher hinuntergehen, bevor die Anzeichen seiner Schwäche verschwunden waren.

„Und dein Match?“, wollte er wissen.

„Kenny und Daichi sollen antreten.“

„Sollte der Weltmeister nicht mehr Enthusiasmus an den Tag legen?“

„Ich bleibe bei dir!“, er hatte nach Kais Hand gepackt. Sie fest gedrückt. Der schaute mit offenem Mund auf ihre Finger. Irgendwann zog er seine Hand langsam fort und rutschte etwas von ihm weg. Auf seinem Gesicht lag ein ziemlich konfuser Ausdruck. Ganz offensichtlich wusste er nicht, was diese Annährung bedeuten sollte. Er war eben noch zu jung.

„Du könntest disqualifiziert werden. Die Menge da draußen wird dich hassen, wenn sie eine Stunde auf dich warten musste, nur damit du trotzdem nicht auftauchst.“, gab Kai zu bedenken.

„Sollen sie mich hassen. Du bist jetzt wichtiger.“

Kai hatte ihn aus großen Augen angeblinzelt. Nun vollkommen ratlos…

Es erinnerte Tyson an den kleinen Jungen den er so gemocht hatte. Er steckte noch immer irgendwo da drinnen, durfte einfach nur seltener heraus. Irgendwann senkte Kai seinen Kopf gegen das Gemäuer hinter sich, auch wenn Tyson spürte, dass er ab und an einen vorsichtigen Blick auf ihn warf. Wahrscheinlich dachte er es sei ihm nicht ernst. Es blieb wieder ruhig zwischen ihnen, bis die finale Ansage von Mr. Dickenson über die Lautsprecher zu ihnen hinaufschallte. Er erklärte den Zuschauern, dass der Weltmeister für diese Runde gesperrt sei, weil Tyson nicht wie abgesprochen angetreten sei. Es folgten fiese Buh-Rufe, welche die ganze Halle erfüllten.

„Ray wird dich umbringen.“, flüsterte Kai mit geschlossenen Augen.

„Er würde es verstehen.“

„Hast du… Ihm etwa auch davon erzählt?“, es schien seine schlimmste Befürchtung zu sein. Das sich herumsprach wie verletzlich er sein konnte. Tyson senkte wissend die Lider.

„Nein. Das muss von dir selbst kommen.“, er tat einen tiefen Atemzug. „Allerdings, denkst du nicht, sie hätten etwas mehr Vertrauen von dir verdient?“

„Damit sie mir damit so in den Rücken fallen wie du gerade?“

„Ich weiß dass ich dich aus der Bahn geworfen habe. Es tut mir Leid wenn du deshalb aufgewühlt bist. Aber wenn ich dich verletzen muss, um dir dabei zu helfen deinen Frust endlich herauszulassen, dann werde ich es jederzeit wieder tun.“, er schaute ihn nun geradewegs an. „Trauer gibt es nicht ohne Grund, Kai. Wenn du sie nicht herauslässt, wie sollen die Menschen um dich herum bemerken, dass du unglücklich bist?“

Tyson sah wie er nachdenklich die Brauen zusammenzog. Da fiel sein Blick auf Kais Hände. Er war tatsächlich so in seine Grübeleien versunken, dass ihm entging, wie er an seiner Fingerkuppe herumdrückte. Eine abgeschwächte Form seines Ticks. Tyson dachte an all die Tiefpunkte die sein kleiner Kater hatte überstehen müssen. Und das alles nur wegen dieser gleichgültigen Familie...

Ihm wurde klar das Voltaire wieder leben müsste. Seine Brauen zogen sich bei dieser Erkenntnis zusammen.

„Kai… Ich habe mir ein paar Gedanken zu dir gemacht.“, begann er vorsichtig. „Ich habe zwar noch nicht mit Opa darüber gesprochen, aber was würdest du davon halten, einfach bei uns zu wohnen?“

Er sah ihn überrascht blinzeln. Seine Braue schoss hoch. Als Kai ihm das Gesicht zuwandte, lag darin ein Ausdruck, als würde er Tyson für verrückt erklären, bis er verächtlich schnaubend den Kopf von ihm wegdrehte.

„Nein danke.“, es klang nicht im Geringsten dankbar.

„Ist das so ein dämliches Angebot?“

„Das kannst du vergessen.“

„Und warum?“

Es kam keine Antwort. Alles was Kai tat, war mit verbissenem Ausdruck vor sich her zu schweigen. Er verschloss sich ihm gegenüber, behielt für sich, was seine Beweggründe waren.

„Es ist wegen Voltaire, oder? Du willst ihn nicht alleine lassen.“

Er hatte ins Schwarze getroffen. Tyson erkannte es an der Art wie Kai die Lippen trotzig aufeinanderpresste. Sie kannten sich einfach zu lange. Zumindest Tyson. Kais Reaktion ließ ihn genervt schnalzen.

„Ich verstehe dich nicht. Du lässt einen genau erkennen, dass du keine große Meinung von ihm hast und doch bleibst du bei ihm. Bist du irgendwie masochistisch veranlagt?“

„Du hast dein Vokabular ja ganz schön aufgebessert.“, kam es sarkastisch.

„Lass das, Kai. Deine Spielchen kannst du bei jemand anderem versuchen.“

„Welche Spielchen?“

„Du provozierst mich damit ich von dir ablasse. Dir fällt es leichter wenn man dich für ein Arschloch hält, als dich mit unbequemen Fragen abzugeben.“

Wieder keine Antwort.

„Es passt dir nicht das ich dich durchschaue.“

„Nein…“, dieses Mal klang es nicht bissig. Eher beklommen. Kai schaute zur Parkanlage hinaus, wo der Wind durch die Baumkronen fegte.

„Beantwortest du noch meine Frage?“

„Du bist furchtbar hartnäckig heute. Schlimmer als jemals zuvor!“, es klang verzweifelt.

„Dann bring es hinter dir und sag mir die Wahrheit. Ich lasse nicht locker.“, Tyson schaute ihn mit zusammengezogen Brauen an und wiederholte seine Frage: „Was hält dich bei Voltaire?“

Jede Silbe klang energischer als die vorangegangene. Kai schloss die Augen. Ein Zeichen das er endlich aufgab. Er seufzte schwer. Irgendwann schaute er wieder auf seine Finger herab, begann die Farbe auf seiner Haut dort fort zu reiben.

„Er war der Einzige der mich gesucht hat.“

Seine Antwort war nicht mehr als ein Murmeln. Offenbar war es ihm peinlich, dass ausgerechnet dem selbstbewussten Kai Hiwatari, so etwas viel bedeutete. Tysons linke Braue zuckte hoch.

„Du meinst als du weggelaufen bist?“

Er nickte wortkarg.

„Du bist seinetwegen überhaupt erst in diese Situation geraten.“, kam es unbeeindruckt.

„Das verstehst du nicht...“

„Dann erklär es mir! Einmal in deinem Leben hat er dich gesucht und deshalb verkaufst du ihn mir als Heiligen? Jetzt mal ehrlich, Kai, das kann doch nicht der Grund sein? Das passt nicht zu dir!“

Es war das einzige Geheimnis, was Tyson einfach nie lüften konnte. Weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Kai hatte ihm niemals erklärt, weshalb Voltaire seine Loyalität besaß, stattdessen war er seiner Frage immer nur ausgewichen. Ein tiefer Atemzug entrang sich dessen Kehle. Dann sprach Kai äußerst gequält: „Du hast es doch selbst gesagt, Tyson. Als ich im Krankenhaus lag, da hatte ich mich aufgegeben. Ich dachte niemand wolle mich haben. Das der Welt egal ist ob ich sterbe oder lebe… Und doch stand irgendwann mein Großvater im Türrahmen und forderte die Ärzte auf, mich auf der Stelle herauszurücken.“

Kais Blick änderte sich. Sein Geist schien weit fern zu sein.

„Du hast Recht. Boris hatte mich nicht als vermisst gemeldet. Als mein Großvater herausfand, dass ich schon seit Wochen aus der Abtei verschwunden war, schickte er sofort seine Handlanger los.“

„Das hätte früher passieren müssen.“, sprach Tyson unversöhnlich.

„Wie denn? Boris hatte ihm doch gar nichts gesagt!“

Tyson konnte nicht leugnen, dass er begann sich über ihn zu ärgern. Immer wieder hatte Kai ihm vorgeworfen er sei ein naiver Idiot und nun strotzte er selbst vor Blauäugigkeit. Der fuhr mit seinen Rechtfertigungen fort: „Großvater war so unglaublich wütend an diesem Abend. Meinetwegen war er extra aus Japan angereist. Er wollte mich sofort wieder mitnehmen. Aber die Ärzte wollten mich nicht herausrücken, weil zu der Zeit bereits das Jugendamt eingeschaltet worden war. Es stand eine größere Untersuchung vor ihm. Sie wollten wissen, ob er seine Aufsichtspflicht verletzt hatte. Wie es dazu kommen konnte, dass ich auf der Straße gelandet bin. Und das auch noch in einem fremden Land…“

Kai ließ seine Hände, wie sie waren. Die Farbe war zu hartnäckig.

„Großvater bäumte sich vor ihnen auf, seine Handlanger um sich geschart und meinte, er würde die gesamte Station kurz und klein schlagen lassen, wenn man nicht sofort seinen Enkel herausrückte.“

Kai senkte den Blick, schloss die Augen.

„Noch nie hatte jemand so vehement darauf bestanden, mich wieder mit nachhause nehmen zu können. Niemand. Ich war erstaunt wie hartnäckig er um mich kämpfte – und dankbar.“

„Er wollte doch nur seinen Erben zurück, damit seine Firma am Leben bleibt, sobald er ins Gras beißt.“

„Das ist mir heute auch klar. Aber damals… Damals war ich einfach nur froh. Und egal wie man es dreht und wendet, ich bin dieser Hölle entkommen, weil er mich herausgeholt hat. Nicht mein Vater. Nicht meine Mutter. Nicht die Polizei oder das Jugendamt. Großvater war es!“

Ein Satz ging Tyson durch den Kopf. Etwas was Kai zu ihm gesagt hatte, als sie damals in der Küche des Kinomiya Anwesen saßen.
 

„Tiere die aus dem Elend herausgeholt werden, sind die dankbarsten Gefährten.“
 

Endlich verstand er wie das gemeint gewesen war…

Auf seine eigene Art gab Kai ihm damals schon die Antwort auf seine Frage. Tysons Finger wanderten zu seiner Nasenwurzel. Er tat einen tiefen Atemzug. In dem damaligem Elend musste Voltaire eine wahre Lichtgestalt gewesen sein.

„Manchmal wirkt wohl selbst der Teufel wie ein Engel.“

Kai entgegnete nichts darauf. Doch der Zug um seinen Mund verriet Tyson, dass ihm diese Worte sauer aufstießen. Er war immer sehr still geworden, wenn man über seinen Großvater schlecht sprach. Zwar schien ihm klar zu sein, dass Voltaire einen gewöhnungsbedürftigen Charakter besaß, dennoch ertrug er es. Etwas was Tyson einfach nicht ertragen konnte. Der Gedanke das Voltaire von klein auf Kais Vertrauen genoss, während er sich jeden Tag etwas mehr davon erkämpfen musste, war so unfair. Er verdiente Kai einfach nicht.

„Ich hasse deinen Großvater.“

Neben ihm atmete Kai hörbar aus. Sein Kopf schnellte zu ihm.

„Nicht einmal wegen der Sache in Russland oder seiner furchtbaren Erziehung. Ich hasse ihn, weil er in mir diesen Neid aufkommen lässt.“

„Neid?“, fragte Kai verständnislos.

„Er hatte deine Loyalität und hat sie ausgenutzt. Ich kämpfe darum, bekomme sie aber einfach nicht. Das ist einfach falsch! Dieser Mann weiß gar nicht zu schätzen was für einen Enkel er hat.“, als Tyson ihm den Blick zuwandte, blinzelte sein Nebenmann aus großen Augen. „Gib mir eine Minute und mir fallen hunderte Menschen ein, die würdiger wären dein Vertrauen zu besitzen! Ich würde dich niemals so enttäuschen!“

Doch zu seiner Überraschung, schnaubte Kai nur verächtlich.

„Nach allem was du heute gebracht hast, sprichst du von Vertrauen?“

„Was soll das denn jetzt heißen?“

Er wischte sich trotzig die letzte Tränenbahn weg.

„Jemandem wie dir meine Loyalität geben? Du würdest mich nie enttäuschen? Was sollte dann diese Aktion vorhin?! Du hast in meiner Vergangenheit geschnüffelt - einfach so um dich an mir zu rächen, weil ich ausgestiegen bin!“

Das war zu viel…

Tyson ballte die Fäuste vor Zorn und haute mit der Hand auf den Boden.

„Nein, nicht deshalb!“, schrie er ihn an. „Sondern weil du nie redest! Du zwingst einen förmlich dazu, dir auf die Pelle zu rücken!“

Es kam so stürmisch dass Kai verdutzt zurück zuckte.

„Glaubst du mir wäre es nicht lieber gewesen, wenn du dich mir von alleine anvertraut hättest?!“

„Vielleicht will ich einfach nichts mehr davon wissen!“, wurde Kai nun auch wieder lauter.

„Blödsinn! Es vergeht kein Tag an dem du nicht an die Zeit in Russland denkst! Dabei steht hier jemand, der sich jederzeit alles anhören würde! Du hattest dir aber schon deine Meinung über mich gebildet, als wir uns das erste Mal in der Arena gegenüberstanden! Ich könnte hundert Mal beteuern, dass ich dein Freund bin, du würdest mir trotzdem misstrauen!“

„Was soll ich nach dieser Aktion auch sonst von dir denken?“

„Du wirfst mir vor nichts über dich zu wissen - dasselbe gilt aber auch für dich! Wie kannst du darüber urteilen, ob die Menschen um dich herum dein Vertrauen verdienen, wenn du ihnen keine Chance lässt, dich zu überzeugen? Was muss ich denn noch alles machen?!“

Darauf fiel Kai nichts ein. Da schnaubte Tyson auch schon wütend.

„Das ist so unfair von dir… Ehrlich! Was glaubst du denn, was ich mit diesem Wissen anfange? Denkst du ich stolziere durch die Gegend und posaune es in der Weltgeschichte herum! Einfach so, um mich an dir zu rächen, weil du ausgestiegen bist? Was glaubst du eigentlich was ich für ein Arschloch bin?“

Er starrte Tyson einfach nur an. Es war wohl das erste Mal, dass Kai richtig begriff, was sein Verhalten bei seinen Freunden für einen Nachgeschmack hinterließ. Irgendwann wich er seinem Blick nachdenklich aus, da packte Tyson ihn zornig am Kragen.

„Sieh mich verdammt nochmal an wenn ich mit dir Rede! Ich würde alles für dich tun! Also sag mir gefälligst was ich verbrochen habe, dass du eine so schlechte Meinung von mir hast? Wann habe ich als Freund versagt?!“

Er schaute in das überraschte Augenpaar vor ihm, blickte ihm lange entgegen und doch wurde Tyson die Antwort wieder einmal verwehrt, bis er Kai mit einem entnervten Fauchen entließ. Geradezu ruckartig drehte der sich von ihm weg, da bereute Tyson schon seinen Ausbruch. Er hatte wieder zu impulsiv reagiert. Dabei hatte er sich geschworen, in diesem Leben anders zu werden. Müde fuhr er sich über die Augen, dachte daran, dass es wieder sieben Jahre dauern könnte, bis Kai endlich ihm gegenüber auftaute. Das würde ein furchtbar langer Kampf werden…

Ob er noch einmal die Kraft dazu aufbringen könnte?

„Naja. Vielleicht brauchst du wohl einfach noch Zeit.“, entschied er schließlich. Tyson erhob sich schwerfällig und klopfte sich den Hosenboden sauber. „Wenn du irgendwann bereit bist mit mir zu reden, weißt du ja wo du mich findest. Ich bin für dich da. Das sollst du einfach nur wissen.“

Er streckte sich. Seine Glieder fühlten sich vom langen Sitzen betäubt an. Es wurde Zeit sich dem wütenden Mob da unten zu stellen. Wahrscheinlich führte sein Bruder die Meute mit einer Heugabel an. Zumindest hatte es sich gelohnt. Kai schien nicht von seinem Misstrauen geheilt, doch immerhin war das Attribut dort, wo es nisten konnte. Dennoch fühlte er sich irgendwie wie ein Verlierer…

Es war enttäuschend, wie viel er verloren hatte. Ohne ihn weiter anzuschauen lief Tyson von Kai weg. Die Parkanlage war wieder menschenleer. Alle Zuschauer befanden sich im Inneren der Arena. Nur ein verliebtes Pärchen genoss den Sonnenuntergang. Es schlenderte Hand in Hand.

Wie ätzend… Tyson konnte sich überhaupt nicht für die beiden freuen. Er umrundete die Kuppel, bis er endlich wieder zum Eingang des Treppenhauses gelangte. Seine Hand ruhte bereits auf der Türklinke, als er Kais Stimme hinter sich vernahm: „Du hast nicht versagt…“

Es ließ ihn inne halten. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass Kai ihm folgte. Dann drehte sich Tyson um, schaute ihm dabei zu, wie er sich näherte. Zunächst wischte Kai sich ein letztes Mal über das Gesicht, schaute auf seine Hände, auf das was von der Farbe übrig geblieben war. Unten in der Arena ging ein Raunen durch die Menge, das bis zu ihnen hinaufklang. Tyson war sich ziemlich sicher, dass seine Teamkameraden von Ray gerade auseinander genommen wurden. Der war auch bestimmt ziemlich sauer. Er wollte jetzt nicht in Daichis Haut stecken. Inzwischen tat Kai einen tiefen Atemzug. Dann kam er auf ihn zu, überwand die letzten Meter zwischen ihnen. Und das sehr langsam…

Seine Bewegungen wirkten äußerst bedacht, als würde er sich auf einer dünnen Eisscholle vorsichtig zu ihm heranwagen.

„Was ich gerade gesagt habe… Vielleicht war das doch nicht ganz richtig von mir.“

Einen Moment starrte Tyson verdattert zurück. Das war neu.

Seine Finger glitten langsam von der Türklinke herab.

„Nein. Das war es wirklich nicht.“, er schaute vorwurfsvoll auf Kai, in Erwartung auf mehr. Diesen Schritt konnte er ihm nicht abnehmen. Das sollte er nun alleine bewältigen. Der umfasste inzwischen das Geländer, schaute hinaus auf die Parkanlage. Der Wind spielte mit einer seiner Strähnen und Tyson erkannte, dass Kai nach den richtigen Worten suchte. Nach einer Möglichkeit sich mitzuteilen.

„Ich muss zugeben, was du da eben alles über mich gesagt hast - all diese Dinge die du weißt - das macht mir tatsächlich Angst.“, er schluckte schwer. Es war wohl das erste Mal, dass er jemanden etwas Derartiges eingestand. „Und Angst lässt Menschen dumm werden. Oder in meinem Fall ungerecht. Ich habe mich wohl so in mein Misstrauen hineingesteigert, dass ich vergessen habe wen ich vor mir habe.“

Er schloss die Augen.

„Ich finde es einfach nur seltsam, dass du ausgerechnet dann diese alten Geschichten aus dem Hut zauberst, nachdem ich bei dir ausgestiegen bin. Mir kommt es wie ein Racheakt vor. Eine Möglichkeit mich während dem Turnier aus der Konzentration zu reißen, damit ich eine schlechtere Leistung in meinem neuen Team bringe.“

„Glaubst du wirklich ich würde mit so dummen Psychotricks spielen? Nach allem was wir gemeinsam durchgestanden haben?“, fragte Tyson enttäuscht. Kai atmete tief durch, schaute zu ihm herüber. Seine Augen huschten an seiner Statur entlang, als würden sie ihn abschätzen. Dabei konnte Tyson nur daran denken, wie schön sie waren. Wäre darin nur nicht ständig dieses verdammte Misstrauen…

„Ich weiß nicht mehr was ich von dir halten soll. Eigentlich traue ich dir das nicht zu. So ein Plan klingt zu berechnend für dich - und so habe ich dich nie eingeschätzt. Auch wenn wir Rivalen sind, kamst du mir immer sehr… aufrichtig vor.“

„Du bist für mich schon lange kein Rivale mehr. Ich sehe dich in erster Linie als meinen Freund. Einer der wichtigsten den ich besitze.“

„Es würde mir leichter fallen dir zu glauben, wenn du mir einfach sagen würdest, woher du das alles weißt.“, es klang wie eine Bitte. „Vielleicht habe ich meine Wut an der falschen Person ausgelassen. Womöglich hat dich jemand nur angestiftet, um zwischen uns Streit zusähen. Theoretisch kannst du das alles nur von jemanden erfahren haben, der selbst auch aus der Abtei stammt. Jemandem der seinen Mund nicht halten konnte. Auch wenn du Dinge weißt, von denen ich mir einfach nicht erklären kann, wie du sie überhaupt in Erfahrung bringen konntest. Es gab so vieles was ich niemals erzählt habe. Das würde ich niemals wollen.“

Tysons Blick ruhte weiterhin auf ihm.

„Ist dir meine Quelle wirklich so wichtig?“

„Es ist als hätte ich ein Tagebuch geführt und jemand darin gelesen. Dabei habe ich nicht mal eines! Das was du da erzählst hast – das waren meine dunkelsten Momente. Meine tiefsten Gefühle! Ich will doch nur wissen, wer einen solchen Einblick in mein Leben haben kann. Wie diese Informationen überhaupt in Umlauf gekommen sind. Kannst du das nicht verstehen?“

„Selbst wenn sie richtig in Umlauf kämen, wofür schämst du dich? Etwa dafür das du ein Kind warst?“

„Du verstehst es also nicht…“

„Nein, tue ich nicht. Also hilf mir dabei!“, forderte Tyson.

Kai biss sich auf die Unterlippe. Er umfasste nun mit beiden Händen das Geländer.

„Hast du eine Ahnung, wie lange es gedauert hat, bis ich endlich diesen Ruf von damals losgeworden bin? Bis die Leute aufgehört haben, mich zu ignorieren, weil ich in ihren Augen nur ein kleiner, lästiger Bengel war? Erst als ich begriffen habe, wie die Welt da draußen funktioniert, erst als ich mich den Spielregeln angepasst habe, erst da hat man mich ernst genommen. Mein Großvater, Boris, die Abteikinder - zu meinen Anfängen hat mich jeder von ihnen belächelt! Der dumme kleine Prinz, der keine Ahnung vom Leben hat - so hieß es ständig. Erst als ich stärker wurde, wachsamer, misstrauischer… Erst da hat meine Meinung Gewicht bekommen. Großvater sah mein Potenzial, Boris das in mir mehr steckt als ein verzogener Bengel und die Abteikinder, dass man mich nicht ungestraft herumschubsen darf. Ich wurde endlich respektiert! Das wäre aber niemals passiert, wenn ich auf Hilfe gehofft hätte. Wenn ich weiterhin nur ein Opfer geblieben wäre…“

„Du hast aber auch Hilfe bekommen.“

„Ich habe auf der Straße gelebt, Tyson! Und das fast einen Monat. Weißt du wie beängstigend es war, nicht zu wissen, wie es am nächsten Morgen weitergeht? Es war meinem Großvater zu verdanken, dass ich nicht wieder dort gelandet bin. Aber nur weil ich mich bemüht habe, der Enkel zu werden, den er gebrauchen kann. Wäre ich ein Kind geblieben, wäre ich nutzlos für ihn gewesen, dann wäre ich weiterhin herumgeschubst worden! Glaub mir, es gibt nichts Schlimmeres, als wenn andere Menschen dich deiner Entscheidungsfreiheit berauben. Kein Erwachsener fragt ein Kind was es wirklich möchte.“

Er sah wie sich Kais Griff um das Metall verstärkte. Die Knöchel an seinen Fingern traten weiß hervor. Der Ausdruck in seinen Augen war starr geradeaus gerichtet und doch schien er die Landschaft vor sich nicht mehr zu erkennen.

„Ich will mich nie wieder in meinem Leben wie ein Kind fühlen müssen…“

Tyson hörte es. Das minimale Beben in seiner Stimme. Und endlich begriff er das gesamte Ausmaß dieser Tragödie. Kai hatte seiner Kindheit nichts Schönes abgewinnen können. Er konnte mit keinem guten Gefühl darauf zurückschauen - erst als sie in der Irrlichterwelt strandeten und er für einen winzigen Bruchteil seines Lebens, als Kind liebevoll umsorgt wurde. Der Gedanke machte Tyson traurig. Es bedeutete doch eigentlich nur, dass seine Chancen an Kai so nah wie damals heranzukommen, damit weiter gegen null sanken. Dazu war sein Unwille zu groß etwas von dem kleinen grauen Kater herauszulassen, den Tyson doch so gemocht hatte. Ein bedauerndes Schnalzen kam aus seinem Mund.

„Bei dir ist so viel schief gelaufen. Das tut mir so leid.“

„Hör auf das ständig zu sagen!“, Kai kniff die Augen gequält zusammen. „Genau das ist es was ich vermeiden wollte! Genau dieser Blick von dir! Du siehst in mir nicht mehr was ich jetzt bin - nur noch was ich damals war!“

„Was du damals warst hätte ich sehr gemocht.“

„So ein Blödsinn!“, fuhr Kai ihn verbittert an. „Meine eigenen Eltern wollten mich nicht haben und mein Großvater lange Zeit genauso wenig! Wie kannst du dich also hier hinstellen und so etwas behaupten? Du weißt gar nicht wie ich als Kind war!“

Tyson stockte der Atem einen Moment. Dann rief er ihm verzweifelt entgegen: „Das war doch aber niemals deine schuld!“

Er tat einen Schritt auf ihn zu.

„Sieh dich doch um, Kai! Es gibt Menschen die dich schätzen! Einer steht direkt vor dir! Aber weil du noch immer der Antwort nachjagst, weshalb du ständig abgeschoben wurdest, bist du blind dafür geworden! Es ist als ob du verdammte Scheuklappen trägst!“

Kai fuhr sich über die Schläfen. Er war sichtlich müde und auch nicht wirklich überzeugt. Da tat Tyson einen ausgiebigen Atemzug, holte seine gesamten Gefühle aus seinem tiefsten Inneren hervor.

„Ich liebe dich!“

Der Satz platzte förmlich aus ihm heraus. Zunächst sah er Kai verwirrt blinzeln, seine Hand blieb wo sie war. Es wirkte als würde er sich fragen, ob er sich verhört habe. Immerhin war es ganz schön windig hier oben.

„Was hast du gesagt?“

„Du hast mich genau verstanden!“

„Nein. Ich glaube nicht. Es hat sich angehört, als…“

„Verdammt, Kai! Ich liebe dich!“, fauchte Tyson ihn zornig an. Seine Hände ballten sich zu zitternden Fäusten und noch immer blieb sein Gegenüber reglos. Kais Blick war starr geradeaus gerichtet. Er blinzelte nicht einmal mehr. Offenbar war sein Gehirn unfähig diesen Satz zu verarbeiten. Und als es dann soweit war, er endlich begriff, was ihm sein härtester Kontrahent da an den Kopf knallte, ließ die Reaktion nicht lange auf sich warten. Tyson konnte beobachten wie sein Atem stockte, die Augen sich immer mehr weiteten. Mit einem ungläubigen Ausdruck wandte Kai ihm langsam den Kopf zu.

„Was?“

Es kam ziemlich fassungslos.

Ein weiterer tiefer Atemzug entrang sich Tysons Kehle.

„Ich wollte dir das eigentlich gar nicht sagen. Zumindest nicht jetzt! Weil ich nicht der Meinung war, dass du schon bereit bist, um so etwas richtig zu verstehen. Aber das du so denkst – das macht mich einfach fertig!“, sprach er verzweifelt. „Die Wahrheit ist, ich fasse genauso wenig, wie deine Familie dich so behandeln konnte! Mir geht nicht in den Kopf, wie sie dich mit einer solchen Gleichgültigkeit strafen können. Ich würde das niemals tun!“

Kais Mund klappte auf. Doch Tyson sprach nur weiter, ungeachtet dessen, dass er genau wusste, dass seine Gefühle zum jetzigen Zeitpunkt auf Ablehnung stoßen würden. Er ahnte dass er einen Korb bekommen würde.

„Sie verdienen dein Vertrauen nicht. Ich dagegen würde alles dafür geben es zu besitzen! Das würde mir eigentlich schon reichen. Egal ob ich dich haben kann oder nicht…“

Der Wind fegte ein weiteres Mal zwischen ihnen hindurch. Selbst das Rauschen in den Baumwipfeln klang von der Parkanlage hinauf. Es war kaum zu übersehen, dass Tysons Liebeserklärung Kai sprachlos machte. Lange verharrte er reglos, seine Hand an die Stirn gehoben, als wäre er in seiner vorherigen Bewegung festgefroren. Nur das Blinzeln seiner Augen verriet Tyson, dass er nicht gänzlich zur Salzsäule erstarrt war. Eine unendlich lange Zeit passierte nichts. Irgendwann senkte Kai aber langsam seine Hand, als würde er allmählich aus seiner Betäubung erwachen.

„Tyson…“, es glich mehr einem Raunen. Dann wurde seine Stimme fester. „Ich… Ich weiß nicht was ich sagen soll. Das kommt doch ziemlich unerwartet.“

Er wandte ihm den Kopf ab, starrte entsetzt hinaus und da erhaschte Tyson die Vorboten einer heftigen Röte. Irgendwann schnalzte Kai missbilligend mit der Zunge.

„Warum sagst du so etwas?! Kannst du dir nicht denken, in was für eine blöde Lage du mich damit bringst? Wie soll ich mich denn jetzt verhalten, verdammt?!“

„Was du daraus machst ist deine Sache. Ich würde mir aber zu aller erst wünschen, dass du dich endlich besser fühlst. Zumindest das du erkennst, dass deine Familie deinen Wert unterschätzt. Und das es jemanden gibt, der dich liebt. Auch wenn sie es nicht tun… “

Kais Finger tippten angespannt auf den Geländer herum. Die Röte in seinem Gesicht blieb aber.

„Ich fühle mich anders. Auf jeden Fall ziemlich verwirrt. Ob das wirklich so viel besser ist weiß ich nicht.“, er seufzte schwer. „Ich habe keine Ahnung was ich nun sagen soll. Erwartest du etwa auch noch eine Antwort von mir?“

Tyson schaute nachdenklich zur Seite. Kai hätte eigentlich antworten können…

Aber er zog es offensichtlich vor zu schweigen. Das hieß kein Nein.

Ein Ja zwar auch nicht, aber vor allem kein Nein. Ein Vielleicht.

„Es ist okay wenn du weißt, was ich für dich fühle. Du musst mir nicht um den Hals fallen, oder mir überhaupt etwas dazu sagen. Ich habe keine Erwartungen an dich.“

„Okay, gut. Darüber muss ich wirklich nachdenken. So etwas bekomme ich nicht jeden Tag an den Kopf geworfen. Auch noch von meinem Rivalen. Das ist doch total verrückt…“

Da schmunzelte Tyson auch schon.

„Jetzt verkaufst du dich aber unter Wert. Ein hübsches Gesicht wie deines hat nicht umsonst so viele Fans.“

Kai zischte. Offenbar weil ihm dieses Kompliment peinlich war. Der Ton um seine Wangen wurde um einige Nuancen dunkler.

„Glaubst du ernsthaft ich bekomme so etwas oft gesagt? Auch noch von einem Jungen?!“

„Echt nicht? Na so etwas…“

„Spiel nicht den Blöden! Du weißt genau wie ich das meine.“

„Ich weiß. Ich ziehe dich nur auf.“, lächelte Tyson ihn sanft an. „Sieh es doch mal positiv. Du hattest die ganze Zeit Angst, ich könnte mein Wissen gegen dich verwenden. Jetzt hast du eindeutig die besseren Trümpfe gegen mich in der Hand.“

„Das ist wohl wahr…“, es kam sehr nachdenklich. Dann schielte Kai aus den Augenwinkeln zu ihm. „Ist dir klar dass ich dir damit böse mitspielen kann? Ich bin nach wie vor dein Gegner. Die Presse würde dich zerreißen, wenn sie davon erfahren würde, dass das Vorbild aller Kinder… so drauf ist.“

„Ich vertraue dir.“

Kai schaute nun direkt zu ihm. Seine Brauen waren grübelnd zusammengezogen. Das er nun ein Druckmittel gegen ihn hatte, schien ihn wieder sicherer werden zu lassen, auch wenn Tyson wusste, dass er niemals diese Karte gegen ihn ausspielen würde. Kai nutzte gerne Gelegenheiten, um seinen Erfahrungsschatz zu erweitern, doch das wäre unter seinem Niveau.

Er wollte den Titel – aber auf faire Art.

Das gebot schon alleine seine Sportlerehre.

„Wo nimmst du dieses Vertrauen in mich her?“

„Ich kenne dich.“

„Aber nicht lange genug, um dir so ein Urteil über mich bilden zu können.“

„Für dich sind es vielleicht zwei Jahre. Für mich ein ganzes Jahrzehnt.“, ein skeptisches Schmunzeln huschte um seine Mundwinkel. „Und jetzt mal ernsthaft – du warst noch nie sehr gesprächig. Erst recht nicht vor der Kamera. Ich kann mir kaum vorstellen, dass du über Nacht zur Quasselstrippe mutierst.“

Nun zuckten auch Kais Mundwinkel. Offenbar weil er das auch bezweifelte.

„Es bleibt unter uns.“, versprach er schließlich.

„Deine Geheimnisse auch.“

„Gut.“, einen kurzen Moment kehrte Stille ein. „Und… Du kannst mir wirklich nicht sagen, von wem du das alles weißt?“

Tyson schaute ihn lange an. Dann schüttelte er den Kopf.

„Tut mir Leid, aber nein.“

„Hast du es jemandem versprochen?“

„So gesehen nicht.“, überlegte er. „Aber es geht einfach ums Prinzip. Dieser Mensch der mir davon berichtet hat, hat es getan, weil er mir vertraut hat. Er wollte dass es im kleinen Kreis bleibt. Er hat es mir erzählt, damit ich dich besser verstehen kann… Ich würde niemanden verraten, der mir etwas im Vertrauen sagt.“, Tyson schaute ihn entschuldigend an. „Das gilt auch für dich.“

Sie blickten sich an. Er sah wie Kais Augen in seinem Gesicht nach Anzeichen forschten, die seine Worte als Lüge enttarnten. Doch schließlich schloss er sie resignierend.

„Na schön. Ich muss dir wohl glauben.“, dann sprach er leise. „Du hast dein Match verpasst. Meinetwegen.“

„Es war mir wichtiger hier zu sein.“

„Und was wirst du jetzt tun?“

„Gute Frage.“, Tyson stellte sich zu ihm ans Geländer. „Höchstwahrscheinlich werde ich gleich hinunter gehen und mir erst einmal von meinem Bruder eine Trachtprügel abholen. Danach gehe ich zu Daichi, der mir dir restlichen Zähne ausschlägt. Anschließend kommt Ray hinterher und verpasst mir einen Karatekick in die Eier, gefolgt von einer wütenden Meute Fans, die mich hinter ein Pferd spannt und es im vollen Galopp durch die Stadt treibt. Mr. Dickenson wird wahrscheinlich in seiner Limousine hocken und fröhlich hinterher hupen.“

Es war das erste Mal das Kai seit seinem Ausbruch lachte, auch wenn er zunächst versuchte, es zu unterdrücken. Doch das Bild in seinem Kopf schien zu lebhaft zu sein. Tyson musste ebenfalls grinsen. Einfach weil es wie Musik in seinen Ohren klang. Der Wind trug ihm Kais Geruch an die Nase. Irgendwie war es intensiver als vorher. Am liebsten hätte er ihn jetzt geküsst. Stattdessen meinte Tyson: „Was danach wird weiß ich noch nicht. Ich würde diese Weltmeisterschaft gerne etwas ruhiger angehen lassen. Ohne die ganzen Dramen.“

„Du klingst wie ein alter Mann.“

„So fühle ich mich auch.“

„Du bist sehr seltsam heute. Deine Ausdrucksweise, dein Verhalten… Sogar deine Worte klingen viel zu alt.“, Kai schaute ihn etwas befangen an. „Und dann auch noch dieses seltsame Geständnis.“

„Man wird eben älter.“, zuckte Tyson mit den Schultern. „Und man verliebt sich.“

„Aber nicht in so kurzer Zeit. Und so plötzlich…“

So plötzlich. Wenn Kai wüsste wie lange er wirklich gebraucht hatte…

Es ließ ihn zum Himmel schauen. Die Abendsonne war vor ihnen. Hinter ihnen verdunkelte es sich und der Mond war schon zu sehen. Unter anderen Umständen wäre das hier wirklich romantisch.

„Wann haben wir uns eigentlich das letzte Mal gesehen?“, wollte Tyson wissen. Es wäre gut das so langsam zu wissen. Er war sich immer noch nicht sicher welches Datum sie hatten.

„Vor zwei Wochen.“, Kais Braue hob sich verwundert ob seiner Frage.

„Ooh…“, jetzt wurde ihm erst klar, wie seltsam sein Verhalten auf seine Freunde wirken musste. Sein Kopf hatte quasi innerhalb von wenigen Tagen einen Reifesprung von acht Jahren gemacht. Technisch gesehen war er jetzt sogar älter als sein großer Bruder. Tyson fuhr sich grübelnd übers Kinn. Etwas verstimmt kam ihm in den Sinn, dass er keinen Führerschein mehr besaß, und was noch viel schlimmer war – er bekam nur noch Taschengeld. Mit einem gequälten Stöhnen, ließ er den Kopf hängen.

„So eine verdammte Scheiße…“

„Was denn?“

„Ich denke nur an mein schönes Auto.“

„Dein Auto?“

„Ähm. Vergiss es…“

„Du bist echt merkwürdig.“, Kai schüttelte den Kopf, als wäre Tyson ein hoffnungsloser Fall. Dann dachte er noch einmal nach. Was immer ihm durch den Sinn ging, schien ihn sehr zu beschäftigen. Schließlich begann er vorsichtig: „Was hier oben war… Ändert es etwas über deine Meinung von mir?“

„Wie meinst du das?“

„Das ich weinen musste... Hältst du mich deshalb für einen Schwächling?“

Es war ihm noch immer unangenehm. Kai hatte wohl Angst seinen Respekt verloren zu haben. Um seine Mundwinkel lag ein Zug der sein Unbehagen darüber ausdrückte. Tyson blinzelte ihn an, doch dann huschte ein breites Grinsen über sein Gesicht. Dann beugte er sich zu ihm vor. Noch bevor Kai wusste, wie ihm geschah, erstarrte er perplex, als Tysons Lippen seine Wangen trafen.

„Dazu bist du viel zu hübsch wenn du weinst.“, hauchte er ihm gegen die Haut. Kai zuckte zurück.

„Bist du verrückt?!“, rief er aus.

„Nein, nur verliebt. Manchmal ist das aber auch dasselbe.“

Damit wandte Tyson sich ab, ignorierte den geschockten Ausdruck auf Kais Gesicht. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass sein Kopf nun puterrot war. Die Hitze schoss Kai so schnell in die Wangen, dass Tyson es auf seinen Lippen hatte schmecken können.

„Ich kann dich immer noch nicht ausstehen, Kinomiya!“, fauchte Kai ihm zornig hinterher. „Und bei unserem Match werde ich dich auseinandernehmen! Glaub nicht ich würde Rücksicht auf deine albernen Gefühle nehmen!“

„Das will ich für dich hoffen, sonst halte ich dich doch für ein Weichei.“

„Nimm dich in Acht! Ich hole mir dieses Jahr den Titel!“

„Schon okay. Ich stehe auf Herausforderungen.“

Seine Stimme klang zweideutig. Und trotz seines Alters verstand Kai den Wink…

„Da kannst du warten bis du schwarz wirst!“

„Sag das lieber nicht so laut. Man weiß nie was die Zukunft bringt.“, grinste Tyson über seine Schulter hinweg. „Immerhin bin ich eine Kämpfernatur, Krümel.“

„Krümel?!“, blinzelte Kai verwirrt. Doch da öffnete Tyson schon die Tür, ließ ihn ohne eine Antwort auf dem Dach zurück. Er schritt mit den Händen in den Hosentaschen die Treppen hinab, sich insgeheim versprechend, nichts unversucht zu lassen, um auch in diesem Leben Kai für sich zu gewinnen. Denn wie gesagt, bisher war kein Nein gefallen. Wäre Tyson nicht so sehr mit seinen Plänen beschäftigt gewesen, hätte er bemerkt, dass Kais Röte im Gesicht etwas sonderbar wirkte, ja, geradezu unmenschlich. Seine Wangen glühte förmlich, als würde ein Magmastrom darunter fließen - wie bei einem Phönix der in Flammen stand.
 


 

*
 

Etwas später war Tyson im Erdgeschoss angekommen. Alles hier unten war nun menschenleer. Dafür war die Halle wohl umso überfüllter. Zunächst zielte Tyson auf einen der Flure an, der seiner Erfahrung nach in die Arena führte. Doch kurz bevor es hinaus ins Rampenlicht ging, hielt er noch einmal Inne. Irgendwie fühlte er sich zu alt für den Scheiß…

Die vollen Zuschauerränge da oben. Das ständige Blitzgewitter. Alles war so laut. Tyson rieb sich über die Schläfe. Ihm kam es vor, als würde er sämtliche Gerüche, Geräusche und Bewegungen viel intensiver wahrnehmen, als früher.

„Tust du auch…“

Dieses Mal klang die Stimme nicht aus seinem Kopf. Tyson wandte sich um, schielte in den verlassenen Flur. Doch bald machte er den Ursprung der Stimme aus. Sein Schatten. Er sah irgendwie sonderbar aus…

Als ob er ihm nicht gehörte. Und als wäre das nicht schon seltsam genug, besaß er auch noch Augen. Nur wenn sie blinzelten wurde der Schädel gänzlich schwarz. Es hatte etwas von einem überdimensionalen schwarzen Lebkuchenmann, dem man ein Satz Augen verpasste, indem man mit den Finger zwei Löcher ins Gesicht bohrte. Doch wenn man ganz genau hinschaute, erhaschte man die hauchdünnen Schlitze von Dragoons echsenhaften Pupillen, die hellblau hervorstachen. Tyson starrte darauf.

„Von der Kopfstimme zum Schatten?“, bemerkte er leicht unterkühlt.

„Ich bin selbst noch am Experimentieren.“, Dragoons Mund war also auch zu sehen. Ein weiterer Spalt tat sich immer dann auf wenn er sprach. „Immer noch eingeschnappt?“

„Teilweise. Ich weiß nicht was ich von dieser Verbindung halten soll.“

„Ich genauso wenig.“

„Das meine Gründe sich von deinen Unterscheiden ist ja wohl klar, oder?“

Er hörte einen tiefen Atemzug von seinem Schatten.

„Nun, ich kann dir dein Misstrauen wohl kaum übel nehmen. Allerdings werde ich nicht vor dir zu Kreuze kriechen und um Vergebung winseln.“

„Das erwarte ich auch nicht.“

„Und was ist dann dein Problem?“

Tyson verschränkte die Arme vor der Brust und schielte zu der Wand neben ihn, von wo aus sein Bit Beast ihn erwartungsvoll anschaute.

„Du hast dich nie richtig dafür entschuldigt.“

„Ich sagte dir bereits, dass ich nicht betteln werde.“

„Es hat nichts mit betteln zu tun, wenn man ein einfaches Entschuldigung von sich gibt! Das zeugt vom guten Willen sich zu bessern. Ich habe mich in der Irrlichterwelt dafür entschuldigt dass ich dich vernachlässigt habe. Was kam aber bisher von dir?“

„Ist dir das so wichtig?“

„Wenn du so blöd fragst, hast du deine Lektion nicht gelernt. Woher soll ich wissen ob ich dir vertrauen kann, wenn du deine Fehler von früher nicht einmal einsiehst? Dann kann man ja nie einen Schlussstrich unter unseren Streit ziehen.“

Eine ganze Weile blinzelte Dragoon zu ihm herüber.

„Das klingt furchtbar menschlich. In der Natur hat immer der Stärkere recht.“

„Wolltest du menschlicher werden, oder nicht?“

„So viele komische Regeln.“, sein Schatten schüttelte den Kopf. „Wie dem auch sei. Es tut mir Leid was ich getan habe. Du brauchst keine Angst haben, dass ich noch einmal auf so eine dämliche Schnappsidee komme.“

„Na bitte. Es geht doch.“, murrte Tyson. „Dann wäre das auch endlich geklärt.“

Aus der Arena kam ein Raunen. Vom Flur aus konnten beide nicht in das tiefer eingelassene Stadium sehen, deshalb wusste keiner so Recht, welche Attacke dem Publikum den Atem anhielt.

„Wie wird das jetzt in Zukunft weitergehen? Wirst du ein Schatten bleiben?“

„Bisher verschafft mir dieser Zustand am meisten Abstand von dir.“, die Schlitze huschten zur Seite. „Nicht das ich mich beschweren will, aber etwas mehr Privatsphäre käme auch mir gelegen.“

„Damit stehst du sogar nicht alleine da.“

Tyson schaute zu Ray. Weit oben auf der Arena und ihm den Rücken zugewandt, rief er seinem Blade die Attacken zu. Da kam ihm ein Gedanke.

„Wie soll Ray Driger beschwören, wenn er noch in ihm nistet?“

Die Antwort fiel äußerst dürftig aus.

„Ich habe keine Ahnung…“

Als Tyson seinen Schatten mit hochgezogener Braue anschaute, hob der entschuldigend die Hand.

„Was willst du von mir hören? Ich habe dir schon gesagt, dass das hier auch für mich Neuland ist. Wonach wir gegriffen haben war der letzte Strohhalm. Eine Verschmelzung die es so nicht geben dürfte. Es ist widernatürlich.“, Dragoon schien auch zur Arena zu schauen, wenngleich man das in seiner Situation schlecht beurteilen konnte. Immerhin konnte Tyson mit Sicherheit sagen, dass er nun ebenfalls die Arme verschränkte. „Ich kann dir weder sagen, wohin das führen wird, noch ob es gut ausgeht. Wir werden versuchen müssen das Beste aus dieser Situation zu holen. Ein fehlendes Bit Beast während einem Match, wird da das kleinere Übel sein.“

Die Menge hob es von den Sitzen. Eine Attacke musste besonders heftig gewesen sein.

„Vielleicht kommt Driger. Vielleicht auch nicht. Vielleicht wird Ray mit seiner neugewonnen Kraft, die ganze Arena in Schutt und Asche legen. Wer weiß? Unser Ziel geht nun weit über einen Weltmeistertitel hinaus, Takao. Dessen musst du dir bewusst sein…“

„Das brauchst du mir nicht sagen. Ich würde alles tun um diese Welt zu schützen. Aber vor allem die Menschen die mir wichtig sind.“

„Dann kannst du damit leben, wenn dir der Titel durch die Krallen geht?“

„Gibt ja wohl wirklich schlimmeres…“

„Hut ab. Ich hätte dir so viel Weitsicht nicht zugetraut.“

Einen Moment schauten beide stillschweigend zur Arena. Es war seltsam das alle Anwesenden in dieser Halle nicht ahnten, wie knapp sie ihrer Vernichtung entkommen waren. Auf einmal kamen Tyson seine alten Probleme so trivial vor.

„Wirst du noch einmal hinein gehen?“, wollte Dragoon wissen.

„Ich weiß nicht. Ich will irgendwie nachhause.“, Tyson schaute müde zur gläsernen Kuppel hinauf. Dort oben war das Abendrot. Vielleicht war Kai auch noch auf dem Dach und schaute zu den Menschen herunter. Bei dem Gedanken an ihn, musste Tyson kurz lächeln. „Ich möchte unseren Dojo sehen. Mein Zuhause. Opas Bonsaibäume im Garten. Den Geruch von den Azaleen vor der Veranda genießn. Das Geräusch vom Wasserspiel in unserem Teich hören. Die alten Familienfotos an der Wand anschauen... Ich will mich auf unsere Holzveranda legen und in den Sternenhimmel blicken, während draußen die Grillen zirpen. Ich will mich einfach an meinem wunderschönen Zuhause erfreuen. Dann kann ich vielleicht dieses Bild vergessen. Diese staubigen Ruinen unter der Vulkanasche...“, er senkte die Lider, tat einen tiefen Atemzug. „Und ich bin müde. So unglaublich müde. Es war eine furchtbar anstrengende Zeit.“

Dragoon brummte leise. Es klang zustimmend.

„Ich bin auch müde. Wer weiß welche Kämpfe wir in der Zukunft noch austragen müssen? Da würde nichts gegen etwas Schlaf sprechen.“, er gähnte lautstark. „Und wo könnte sich ein Drache besser hinlegen, als in deinem Zuhause? Es hat mir dort immer schon sehr gut gefallen.“

Tyson lächelte. Schließlich wandte er sich von der Arena ab.

„Hier scheint alles friedlich zu sein. Lass uns nachhause gehen…“
 


 

*
 

Sieben Jahre später…
 

Jana Hiwatari saß auf ihrem kleinen Stuhl und ließ die Beine baumeln. Sie hielt die Händchen brav vor sich auf dem Kinderpult gefaltet, denn auf keinen Fall wollte sie bei ihrer Lehrerin schlecht auffallen. Ihr Bruder behauptete ständig dass sie zappelte. Deshalb riet ihr Kai, die Hände auf dem Tisch zu lassen und einfach nur nach vorne zu schauen. Das war auch kein Problem, weil bisher noch keiner der Jungen aus ihrer Klasse es wagte, sie an den Haaren zu ziehen. Wenn das trotzdem passierte, sollte Jana ihnen sagen, dass morgen ihr großer Bruder in die Schule kommen würde, um dem Rüpel eine fiese Kopfnuss zu verpassen, der die Frechheit besaß, seine Schwester auch nur mit der Fingerspitze anzutippen. Im Kindergarten hatte das auch geholfen. Alle Jungs bekamen Angst, wenn ihr großer Bruder sie schief anschaute. Sie nannten Kai immer: „Den mit dem Killerblick.“
 

Jana schaukelte fröhlich mit den Beinen. Seit drei Wochen ging sie nun in die erste Klasse der Takeda Shingen Elementary School. Mittlerweile gefiel es ihr sehr gut. Sie hatte ganz viele neue Freundinnen gefunden, einige kannte sie sogar noch aus der Vorschule und Fräulein Bennett war ganz lieb. Jana mochte sie sehr. Sie war eine hübsche Lehrerin und unglaublich freundlich. Als Jana während der Pause einmal vom Klettergerüst stürzte, hatte sie ganz furchtbar geweint, da war Fräulein Bennett sofort angerannt gekommen, um ihr die Wunde sauber zu machen und ein Pflaster auf das blutende Knie zu drücken. Fräulein Bennett kam aus dem Ausland. Es war dasselbe Land wo auch der Freund von ihrem großen Bruder herkam. Der war genauso blond wie Fräulein Bennett. Manchmal holte er Jana sogar von der Schule ab, um ihre Lehrerin abzuchecken. Jana wusste nicht was das bedeutete, aber weil Max dabei so grinste, war sie ziemlich sicher, dass es etwas Gutes war. Fräulein Bennett kicherte dann immer sehr viel. Eines Tages wollte Jana auch so eine fröhliche Lehrerin werden…
 

Es klingelte. Fräulein Bennett beendete mit einem zuversichtlichen Händeklatschen den Unterricht und wünschte allen Kindern noch ein schönes Wochenende. Geradezu überschwänglich verabschiedete sich Jana von ihren Freundinnen und packte ihre Sachen schnell zusammen. Ihr großer Bruder hatte versprochen, mit ihr heute in den neuen Freizeitpark zu gehen. Als eine der ersten rannte sie zum Treppenhaus. Sie war sogar schneller als die Jungs aus den höheren Klassen. Auf den letzten Stufen zur Eingangshalle, tat sie einen ganz gewaltigen Hüpfer, der ihrer Meinung nach rekordverdächtig war. Irgendwann würde sie dafür ins Fernsehen kommen, da war Jana ganz sicher.

„Nicht so schnell, Kleines. Der Freizeitpark läuft dir nicht davon.“

Jana strahlte bis über beide Ohren als sie Kai erblickte. Er stand schon im Eingangsbereich, wahrscheinlich weil es draußen ein wenig nieselte. Die anderen hatten deshalb ausgelacht, weil Jana ihnen doch erzählte, dass sie heute noch in den Freizeitpark gehen würde. Doch ihr Bruder meinte heute Morgen beim Frühstück, das es wie an ihrem Geburtstag werden würde. Da regnete es auch die Tage zuvor wie aus Eimern, doch wenige Stunden bevor ihre Feier losging, war ganz schnell die Sonne herausgekommen. Es wurde so warm, dass einige Kinder sogar ihre Pullover ausziehen mussten, weil sie so schwitzten. Jana war die Einzige die damals in ihrem liebsten Sommerkleidchen und ihrer Sonnenbrille dasaß, während sie ihren Erdbeereisbecher löffelte. Und das im Februar…

Ihr großer Bruder wusste immer ganz genau wann schönes Wetter war. Jana nannte das seine Superkraft. Manchmal brauchte Kai nur hinaufzuschauen, dann verschwanden die Regenwolken. Bestimmt hatten die auch Angst vor seinem Killerblick…

Jana wusste gar nicht, warum ihn alle so fürchteten, denn zu ihr war er immer ganz brav. Genau wie heute. Er holte Jana immer von der Schule ab, obwohl Kai sehr wichtig in seiner Firma war. Sie wusste allerdings nicht genau was ihr großer Bruder dort tat. Wenn sie morgens zusammen in der Limousine losfuhren, zeigte sein Assistent ihm immer ganz viele Blätter. Manchmal malte Kai dann etwas darunter. Er nannte es eine Unterschrift. Vielleicht war er ein Künstler?

Obwohl Jana das nicht wirklich verstand. Ihr großer Bruder konnte vieles - Malen aber nicht.

Wenn sie ihn bat, ihr einen Hasen zu malen, sah der immer aus wie ein geplatztes Kopfkissen.

Nichtsdestotrotz rannte sie mit wehenden Zöpfen auf ihn zu, sprang an Kai hoch und bettelte um eine Umarmung. Er lächelte, drückte sie an sich. Jana war so aufgeregt weil er da war, dass sie beinahe vergessen hätte, an ihren Spint zu gehen, um ihre Straßenschuhe anzuziehen. Erst als Kai sie daran erinnerte, rannte sie nochmal zurück und tauschte eiligst ihre Schuhe aus. Dann lief sie zu ihrem Bruder, griff nach seiner Hand und winkte ihrer Freundin Momo zum Abschied zu. Am Wochenende übernachtete Jana manchmal bei ihr in der Nähe. Dann spielte sie jeden Tag zusammen. Sie hüpften dann Seil, malten Bilder, versuchten sich gegenseitig zu fangen oder sangen in ihrer eigenen Rockband. Jana wollte auch Sängerin werden und Momo war ihre aller beste Freundin.

Die anderen Kinder wurden von ihren Eltern abgeholt. Sie sah wie viele ihre Klassenkameradinnen zu ihren Müttern rannten. Früher wäre Jana traurig geworden. Aber die anderen Mädchen meinten einmal zu ihr, dass sie die Einzige in der Klasse sei, die von einem großen Bruder abgeholt wurde, der so gut aussah – und auch noch nett zu ihr war.

Die Brüder der anderen Mädchen waren manchmal ganz fies oder nervten. Der von Momo hatte ihr einmal eine Kaulquappe in den Schuh gesteckt. Als Jana das hörte, war sie überglücklich, dass sie ihren Kai hatte. Er war der beste Bruder auf der ganzen Welt. Beide liefen gerade durch das Schultor hinaus, während Jana ihm davon erzählte, was sie heute alles erlebt hatte. Besonders die Geschichte mit der dicken grünen Raupe, auf dem Fenstersims ihres Klassenzimmers, fand Jana besonders erzählenswert. Es war Frühjahr. Die ersten bunten Blumen blühten am Gehwegrand. Jene die Jana besonders schön fand, hob sie auf, um sie mit Heim zu nehmen. Tante Mao hatte ihr einmal gezeigt, wie man sowas zwischen Bücher presste, dann blieben die Blumen ganz platt und lange schön.

„Hey, kleiner Hamster!“

Janas Blick huschte vom Gehwegrand weg, dann ließ sie vor Freude die Blumen fallen und rannte auf ihren anderen Bruder zu. Der war nicht ihr richtiger Bruder, aber Jana hatte ihn so gern, als wäre er ein echter Bruder. Sein Name war Takao. Er kümmerte sich ganz oft um sie, wenn Kai auf der Arbeit war und sie mal nicht von der Schule abholen konnte. Bei Takao zuhause wohnte auch sein Opa. Der war richtig lustig, weil er viele verbotene Wörter sagte, vor allem wenn ihm etwas auf den Fuß fiel. Er schimpfte immer über seinen Jungen, weil der nicht so fleißig wie Kai war. Großvater sagte immer zu Jana, dass sie niemals Takao als Vorbild nehmen dürfe, denn er habe nur Stroh im Kopf. Aber eigentlich schien er ihn doch ganz gern zu haben. Ihr großer Bruder anscheinend auch. Er war sehr oft bei Takao, vor allem am Wochenende. Das war schön, weil Jana dann mit Momo spielen konnte.

„Kommst du mit uns in den Freizeitpark?“, wollte sie inzwischen wissen.

„Natürlich.“

„Toll! Aber du, Tyson… Es regnet ein wenig.“

„Och, dass bisschen...“, er zwinkerte ihr zuversichtlich zu. Dann hielt ihr Takao die Tür von seinem Wagen auf und schon kletterte Jana auf den Rücksitz. Während er sie anschnallte, stieg Kai auf der Beifahrerseite ein. Mit Takao eine Spritztour zu machen, war richtig lustig, weil er immer ganz schnell raste. Onkel Max meinte sogar er sei ein richtiger Sonntagsfahrer.

„Schlaf aber nicht auf der Fahrt zum Freizeitpark wieder ein.“, ermahnte Takao sie lächelnd.

„Mach ich nicht!“, Jana schüttelte wie wild den Kopf. Er kniff ihr grinsend in die Backen. Dann nahm er neben ihrem großen Bruder Platz und ließ den Motor aufheulen. Das Auto hinter ihnen hupte, weil Takao sich so knapp in die Straße einfädelte. Es ließ Jana kichern.

Und weil sie gluckste, mussten auch die beiden Männer grinsen. Während der Autofahrt unterhielten sie sich. Hauptsächlich darüber wo sie die anderen treffen würden und das es traurig war, dass Ray seinen Urlaub, dieses Frühjahr nicht bei ihnen im Ausland verbringen konnte, weil doch Tanta Mao so schrecklich fett geworden war. Jana fragte sich, ob sie wieder abnehmen würde, wenn der Storch das Baby brachte. Das hoffte sie zumindest, weil ihr Onkel Ray und Tante Mao fehlten. Sie brachten immer Süßigkeiten mit, wenn sie zu Besuch waren und wunderhübsche Haarspangen. Jana hatte schon sehr viele davon. Sie trug jeden Tag eine andere. Dafür kamen aber Max und der komische Onkel mit der dicken Brille mit. Er erinnerte Jana immer an Momos kleinen Skye Terrier, weil ihm seine Haare ständig vor die Augen fielen. Wenn ein Mädchen ihn ansprach, gab er auch genauso komische Laute von sich, wie Momos Hund, wenn man mit ihm schimpfte. Während die Großen im Auto sich unterhielten, schaute Jana immer argwöhnischer hoch in den Himmel. Die dicken Wolken wollten einfach nicht verschwinden.

„Kai, es regnet noch immer.“

„Das ist kein Regen. Bestenfalls Nieselregen.“

„Aber Kai…“, sie zog einen Schmollmund, konnte sehen, wie Takaos Augen im Rückspiegel zu ihr huschten. „Du hast mir mal gesagt, dass für mich immer die Sonne scheinen wird.“

„Tut sie doch auch. Ab und zu kommt sie raus. Ehrlich Kleines, diese winzige Wolke und die kleinen Tropfen werden dich nicht umbringen. Es ist so warm wie im Sommer.“

„Aber Regen ist doof.“

„Die Natur braucht den aber genauso wie Sonnenschein.“

„Kann sie ja auch haben. Nur nicht heute!“

„Es gibt wirklich Schlimmeres.“

„Was denn zum Beispiel?“, sie verschränkte eingeschnappt die Ärmchen vor der Brust. Ihr Bruder schnalzte genervt mit der Zunge. Jana hasst es wenn er das tat. Vor allem wenn er dann nebenbei eine Zeitung las. So wie jetzt. Dann wusste Jana dass er ihr gleich einen Vortrag halten würde. Vorträge waren wie Schimpfen.

„Sehr vieles sogar. Arm zu sein, hungern zu müssen. Ein zerstörtes Zuhause. Ein schrecklicher Vulkanausbruch. Oder das man nicht so gesund auf die Welt kommt wie die anderen Kinder. Mit einem schlimmen Herzfehler zum Beispiel. Du dagegen bist so kerngesund, dass dir die paar Tropfen nichts ausmachen werden.“

„Immer dasselbe mit dir. Immer sagst du sowas.“, Jana schaute mit großen Hundeblick zum Fahrer. Der rollte schon die Augen wegen Kais düsteren Schilderungen. „Tyson… Kannst du deinen Zaubertrick machen?“

„Hmm?“

„Denk nicht einmal daran.“, ermahnte Kai ihn flüsternd.

„Bitte, bitte!“, rief Jana aber aus. Jetzt zog sie einen richtig dicken Schmollmund, einfach weil sie wusste, dass Takao ihr dann nichts abschlagen konnte. Er nannte sie immer seinen kleinen Hamster. Manchmal sogar seine Prinzessin. Takaos Augen ruhten ganz lange auf ihr. Er hatte ganz komische Pupillen, aber das störte sie nicht. Immerhin schaute er mitleidig.

„Ach komm schon, Kai.“

„Tyson, das ist kein Spielzeug.“

„Wir machen doch nichts Schlimmes... An ihrem Geburtstag hast du es doch auch getan.“

„Sie wird verwöhnt.“

„Wundert dich das? Sieh sie dir doch nur einmal diese Knopfaugen an! Als würde man zu einem Korb voller Welpen nein sagen.“

Ihr Bruder schnalzte wieder. Er senkte seine Zeitung, schielte über seine Schulter zu ihr nach hinten.

Sie setzte ihren traurigsten Hundeblick auf.

„Ach verdammt…“, murrte er. Endlich bekam sie ihren Willen.

Wenn Kai gleich das tun würde, worum man ihn bat, müsste er nicht ständig dieses böse Wort benutzen. Es war eben nicht immer einfach mit ihrem großen Bruder. Doch die Frau von Onkel Hiro meinte dazu, dass man Männer eben erziehen müsse, bevor sie anfingen mit ihrer Unterhose auf der Couch zu liegen und sich die Eier zu kratzen. Das machte ihr Bruder zum Glück nicht. Jana wusste auch gar nicht weshalb Kai das tun sollte, denn wenn sie gemeinsam frühstückten, klopfte er immer mit einem kleinen Löffel gegen sein Ei. Das schien mehr zu bringen als zu kratzen. Jana wusste das so genau, weil sie eingehende Recherchen darüber geführt hatte.

„Komm schon, Kai.“

„Na gut…“, seufzte der resignierend an Tyson gewandt. „Jana, du weißt ja was du machen musst, damit der Trick funktioniert.“

„Ja!“, rief sie glücklich aus. Die Finger mussten in die Ohren. Die Augen ganz fest zu gekniffen werden. Und sie musste bis zwanzig zählen. Nur gut das sie das auch endlich konnte. Kai nannte es nämlich die Voraussetzung damit der Zaubertrick auch wirklich klappte. Jana zählte artig bis zwanzig.

Und als sie fertig war und die Augen aufschlug, war endlich strahlender Sonnenschein draußen.

„Wie macht ihr das nur immer?“, fragte sie überglücklich.

„Geheimnis.“, kam es unisono von vorne. Das war richtig gemein. Kai sagte immer, dass jeder Mensch seine Geheimnisse hatte. So etwas müsse man respektieren, aber Jana war nun einmal so furchtbar neugierig. Als die Großen wieder miteinander redeten, öffnete sie ihre Schultasche und kramte nach den Keksen, die sie jeden Morgen aus der Küche stibitzte. Ihre Finger brachen Stück für Stück ab, schoben die Brösel in die Tasche ihres Mäntelchens, wo zwei kleine Ärmchen hervorguckten und sich gütlich an der Leckerei bedienten.

„Höchsten Dank, Mademoiselle!“, hörte sie das leise Fiepen darin. Jana war so vertieft in ihrem Vorhaben, dass sie gar nicht bemerkte, wie vorne schmunzelnde Blicke ausgetauscht wurden. Dann griff Tyson nach Kais Hand und fuhr mit seinem Daumen, über die Haut zwischen seinen Fingern.
 


 

ENDE
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Wahrscheinlich denken jetzt die meisten - was'n das für ein blödes Kappi?
Ist ja nichts relevantes passiert. Im Prinzip ist es ja eigentlich nur eine grobe Zusammenfassung der Bladebreakerszeit und wer mag schon Nacherzählungen? Ich zumindest bin die erste welche bei Fillerfolgen, mit Zusammenschnitten aus anderen Folgen, gewechselt hat. Daher habe ich nach einer alternativen Lösung gesucht, weil Kai in seinem kindlichen Kopf drinnen steckt und ja mal aufgeklärt werden sollte, was sich um ihn herum wirklich abspielt. Er macht ja eigentlich momentan das, was unsere Eltern uns abgeraten haben - mit Fremden mitgehen. :-D
Ich habe die ganze Zeit überlegt, wie ich diese "Aufklärung" gestalten sollte, weil Nacherzählungen immer so ekelhaft trocken sind und das ist dann halt dabei herausgesprungen. Ich hoffe es war nicht zu kitschig.

Es werden ja auch Stimmen lauter, die Kai gerne wieder Erwachsen sehen wollen, nur leider passt das momentan nicht in den Erzählfluss, weil noch andere Handlungen laufen. Außerdem weiß ich schon, wie er wieder normal werden soll und will davon nicht ab. Da ich momentan aber sehr viel schreibe - wahrscheinlich meine Art mich von den aktuellen Geschehnissen da draußen abzulenken - habe ich sogar das letzte Kapitel fertiggestellt, obwohl die Kapitel zwischendrin noch gar nicht geschrieben sind. Es wollte einfach endlich raus aus meinem Kopf. :-D

Naja, ich hoffe jedenfalls diese Nacherzählung hat euch dennoch Spaß gemacht, euch vielleicht auch einwenig abgelenkt und ein Lächeln auf den Mund gezaubert. ^^
Wünsche euch noch einen schönen Abend!

LG Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So, da ist es...
Das letzte Kapitel für dieses Jahr, bevor der ganze Weihnachtstrubel wieder los geht. Jubel, jubel, freu, freu... =_=

Mir ist aufgefallen, dass ich alle drei Wochen poste, daher denke ich nicht, dass ich dieses Jahr noch von mir hören lasse. Ich war sehr glücklich über die letzten Kommentare, da ich nicht sicher war, wie die Katzengeschichte von Tyson ankommt, aber es mir sehr viel Spaß gemacht hatte, daran zu schreiben. Das ist dann einfach wieder etwas besonderes, daher vielen lieben Dank für die positiven und ausführlichen Kommentare letztes Mal, auch wenn ich bei einem über das Wort "Präferenzutilitarismus" gestolpert bin und trotz googeln noch immer nicht weiß was das genau bedeutet. Stattdessen musste ich auf Wiki immer mehr Wörter zu der Erklärung dieses Wortes nachgoogeln, weil ich diese auch nicht kannte und irgendwann findet man sich vor einem Wort, von dem man gar nicht mehr weiß, wie man dahin gekommen ist. xD
Ich dachte ich verfüge über einen reichen Wortschatz, Aber! Da sieht man wieder, man lernt nie aus.

Jedenfalls höre ich bei manchen Lesen heraus, dass sie der Bruch mit den Bit Beats sehr traurig stimmt. In solchen Momenten juckt es mich in den Fingern ein paar beruhigende Worte zu schreiben, nur Spoilern kann ich natürlich auch nicht, auch wenn es mir wirklich Leid tut, dass manche etwas betrübt vor dem Monitor sitzen. Das Ende ist aber schon fast erreicht...

Zu diesem Kapitel, nja, ich bin mir hier nicht so sicher, ob das ganze nicht zu abgehoben ist, aber hoffe dennoch, dass der Lesespaß nicht flöten geht. Jedenfalls musste ich die Beziehung zwischen Dragoon und Dranzer nochmal ansprechen. >_>

Ich wünsche euch alle ein wunderschönes, ruhiges - vielleicht auch weißes - Weihnachtsfest und einen guten Rutsch. Ihr lest sicherlich dann in drei Wochen wieder von mir ^^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Diese Kursivschrift... >.<
Wirklich schrecklich Zeitaufwendig.

Ich hoffe ihr habt alle die Feiertage erholsam herumgebracht und seid auch gut ins neue Jahr gekommen. Mein Vorsatz für dieses Jahr lautet zumindest diese FF zu Ende zu bringen und weniger Schokolade dabei zu Essen. Ich hoffe ihr hattet Spaß beim Lesen und wie immer ein herzliches Dankeschön für das Kommi aus dem letzten Kapitel.
Euch noch ein schönes, fröhliches und gesundes neues Jahr. ^^

LG Eris Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Mir ist bei diesem Kapitel aufgefallen, dass die Ein-Kind-Politik - die ich ja in einem der vorangegangen Kapiteln mal zum Thema gemacht hatte - jetzt abgeschafft wurde. Da sieht man wie die Zeit dahin rennt und wie lange ich die Geschichte habe ruhen lassen.
Irgendwie war mir das in dem Moment peinlich... ^_^°
Ich habe noch nie so lange an einer FF geschrieben, aber momentan schaue ich mir immer mal wieder die Folgen an, wenn mir langweilig ist und daraufhin fließen die Säfte wieder.
Es tat mir irgendwie weh Driger so grausam darzustellen, weil ich ja alle Bit Beasts sehr mag, aber gut... Dragoon kann sich ja nicht als Einziger daneben benehmen.
Ich hoffe ihr hattet viel Spaß beim Lesen!
Danke auch wieder für die Kommentare.

LG Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich habe neulich die erste Staffel fertig geschaut und fand es irgendwie herrlich, was für einen Zusammenhalt die Jungs immer untereinander hatten. Als ich dieses Kapitel geschrieben habe, wollte ich das dann einbringen. Ursprünglich fiel Maxs Entscheidung nämlich anders aus und Dragoon machte dem Vorhaben einfach einen Strich durch die Rechnung. In der Handlung hätte es also nicht viel geändert. Bei der Folge am Baikalsee dachte ich aber:
"Neee, so würden die nicht handeln."
Obwohl ich zugeben muss, dass ich auf diesem zugefroren Tümpel, schon längst das Weite gesucht hätte, bevor das Eis auch unter mir wegbricht. xD
Aber das war wohl einfach das Besondere an den Jungs.
Ich hoffe ihr hattet euren Spaß und danke auch für die lieben Kommis vom letzte Mal.
Dieses Mal habe ich auch versucht, die Kommas nicht zur Mangelware werden zu lassen. Allerdings ist das irgendwie mein Kryptonit, weil ich manchmal wie eine Bekloppte auf die Tasten haue, wenn ich im Fluss bin. Aber umso mehr heißt es dann Augen offen halten. Da hast du natürlich Recht Minerva. ^_~
Euch allen noch ein schönes Wochenende! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich wollte ja seit langem mal wieder zu den Angehörigen der Kinder switchen, da man ja von denen nichts mehr gehört hat, nur glänzen die ja momentan noch mit Handlungsunfähigkeit. Daher dachte ich, ich nutze ihren Abschnitt, um mal wieder einen Vorfall aus der Vergangenheit zu schildern. Ich weiß nur eins - so schnell baue ich keinen Betrunkenen mehr in ein Kappi ein!
Es ist sauschwierig die Ausdrucksweise zu schreiben, ohne das es so herüber kommt, als wäre man der deutschen Rechtsschreibung nicht fähig. Habe da wirklich oft getippt, ausgeschnitten, wieder getippt, gelöscht... Wäh!
Hoffe es kam trotzdem gut an und brachte euch auch mal zum Schmunzeln. Nicht ständig nur Hiobsbotschaften. Dragoon haut ja auch schon wieder auf den Putz xD

Bei den letzten Kommentar ist mir aufgefallen, dass sich Galux an einer Stelle etwas vage ausgedrückt hat, was das Zeitfenster der Jungs angeht. Also die Jungs haben nur noch bis zum Sonnenaufgang in der Menschenwelt Zeit. An der Passage werde ich demnächst noch einmal feilen. Hoffe ihr hattet bei diesem Kapitel euren Spaß, einen herzlichen Dank für die Kommis vom letzten Mal und ich wünsche euch noch ein schönes Wochenende. ^^

LG Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Da ich aufgrund einer Grippe ans Bett gefesselt bin - herzlichen Dank an meinen kleinen Bruder, der mich mit seinen Bazillen angesteckt hat - dachte ich mir, dass ich das Kapitel dann auch ein paar Tage früher hochladen kann. Ich hoffe ihr hattet Spaß beim Lesen und wünsche euch noch schöne Ostern. ^^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich habe leider momentan wenig Zeit, da ich momentan die Trauzeugin von einer Freundin bin. Viel Planung, viele Feiern, weniger Zeit zum Schreiben und online gehen. Dennoch vielen Dank für eure Kommentare vom letzten Kapitel. Das hat mich natürlich wieder sehr gefreut. Ich hoffe auch dieses Kapitel gefällt euch und ihr hattet euren Spaß.

Liebe Grüße Eris ^^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Es macht ja nie Spaß eine Person in einer Geschichte zu töten - es sei denn sie ist der Psychopath der den Finger am Abzug hält - aber bei Driger, nja, da war das ja nicht ganz der Fall. Zumindest habe ich mich bemüht ihn nicht von grundauf boshaft zu machen, sondern zu einer "Person", die erst lernt, wie man Instinkt und Moral in Einklang bringt, oder besser gesagt erst versteht, dass das auch nicht immer funktioniert. Ich hoffe zumindest das mir das gelungen ist...
Jedenfalls ist Rays Bit Beast schon immer eines meiner Lieblinge gewesen. Daher hatte ich echt keine Freude daran, ihn ins Jenseits zu befördern. Ich wusste zwar von Anfang an, wie der Handlungsstrang ablaufen wird, aber wenn man sich dann doch an so einen Abschnitt setzt, ist das echt nochmal was anderes. Ich habe zwar schon Wolborg, Judy und Ming-Ming gekillt, aber bei Driger fiel es mir echt nicht leicht.
Es musste nur leider sein, um Dragoon aus seiner Wohlfühlzone zu reißen und damit er beginnt, über den Tellerrand zu blicken.
Naja, lange Rede, kurzer Sinn.
Vielen Dank für die lieben Kommentare vom letzten Mal. Ich habe mich wieder sehr darüber gefreut. Euch allen noch ein schönes Pfingstwochenende. ^^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Eigentlich bin ich mit diesem Kapitel ncht ganz zufrieden gewesen, weil so gesehen, ist nichts relevantes für die Handlung passiert. Lediglich wieder viele Infos über die Beziehungen der einzelnen Charakteren zueinander... und ein kleines Erdbeben. *hüstel*
Ich hoffe dennoch das es euch gefallen hat. Und natürlich vielen, lieben Dank für den hinterlassenen Kommentar, vom letzten Mal. ^^

LG Eris Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich war ja zwischendrin ziemlich lange inaktiv. So lange das ich nicht gemerkt habe, dass man mittlerweile für die Autoren die Funktion eingeführt hat, auf Kommentare eine Antwort zurückschreiben zu können - was bin ich nur für ein Dinosaurier. xD
Jedenfalls möchte ich diese Funktion in Zukunft natürlich nutzen, um mich gezielter bei meinen Kommischreibern zu bedanken und kann dann auch einige Fragen beantworten. Soforn diese nichts mit dem weiteren Verlauf zu tun haben, versteht sich. Da verrate ich selbstverständlich nichts. Keine Spoilers. ^_~

Ich hoffe das Kapitel hat euch gefallen und ihr findet nicht so viele Rechtschreibfehler darin, habe das hier nämlich in einer freien Minute kurz überflogen, bin nun aber doch zu lange auf, um mich damit noch einmal zu beschäftigen. Auf Fehler dürft ihr mich natürlich gerne hinweisen. ^^

LG Eris Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich glaube das ist eine ganz gemeine Stelle um einen Cut zu machen. :-P
Eigentlich sollte das Kapitel auch länger werden, aber ich bin ab jetzt eine Woche in München und kann daher nicht schreiben. Ohnehin bin ich zur Zeit in einer leichten Zwickmühle. Bald bin ich am Finale angelangt. Darin überschlagen sich die Ereignisse aber so sehr, dass ich daraus ursprünglich ein "Big Mac Kapitel" machen wollte, damit man zwischendrin nicht so lange warten muss, bis es weitergeht. Immerhin war das erste Kapitel auch sehr umfangreich. Außerdem kann ich mir gut vorstellen, dass es wirklich anstrengend sein muss, nach so vielen Kapiteln, immer einen Kommentar zu hinterlassen. Die arme Minerva hält sich wirklich wacker und ich bin immer dankbar von ihr zu lesen ;-)
Allerdings brauche ich für den Big Mac dann leider viel, viel länger. Das heißt ihr würdet einige Zeit nichts von mir lesen. Ich kann natürlich auch die Kapitel wie gewohnt, jeden Monat online stellen, ist für mich auch kein Ding. Nur weiß ich nicht ob das jedem so recht ist, der gerne alles am Stück lesen möchte. Ihr dürft mir hierzu gerne eure eigene Meinung mitteilen.

Zu diesem Kapitel...
Nja. Das es zur Konfrontation zwischen Max und Draciel kommen musste war mir klar. Eigentlich sollte Draciel aber nicht sterben. Nachdem ich aber ständig diesen Absatz gelöscht, neu bearbeitet und noch einmal gelöscht habe, ist mir klar geworden, dass es wirklich keine logische Erklärung gibt, weshalb Max dem Mörder seiner Mutter einfach so verzeihen könnte. Zumindest wäre ich persönlich dazu niemals in der Lage, egal wen es aus meiner Familie betrifft.

Übrigens habe ich keine Ahnung, ob meine Theorie stimmt, weshalb Hilary keine Bit Beasts sehen konnte. Ich kann mich aber auch beim besten Willen nicht daran erinnern, ob das in der zweiten Staffel überhaupt mal erklärt wurde. Vielleicht in den Mangas... Aber in der deutschen Fassung habe ich echt nichts gefunden. Sorry falls ich hier also etwas durcheinander bringe. ^^

Ich wünsche euch allen noch eine schöne Woche. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Schande über mein Haupt. Ich bin zu spät dran. xD
Normalerweise lade ich ja immer alle drei Wochen hoch, aber da ich in München war, habe ich irgendwie das Zeitgefühl verloren und ruckzuck waren die Wochen vorbei. Dabie wollte ich Minvervas Vorschlag nachkommen, damit nicht so lange auf die neuen Kapitel gewartet werden muss. ^^

Ich bin mir gar nicht sicher, ob man hierzulande die Geschichte vom roten Faden kennt, allerdings gibt es die wirklich. Mir gefällt dieser japanische Volksglaube und ich wollte ihn schon immer mal irgendwo einbauen. Und da ich Judy nicht zu einer geistlosen Randfigur verkommen lassen wollte, dachte ich, warum ihre Geschichte nicht mit dem Mythos verknüpfen. Ich hoffe mal das mir das gelungen ist und es nicht zu sülzig geworden ist.

Zu Kai brauch ich wohl nichts weiter zu erwähnen. Es geht nichts über kindliche Neugierde um sich in Schwierigkeiten zu bringen. Zumindest hat man als Schreiber immer eine Ausrede parat, warum sich ein kleiner Frechdachs auf einem zugefroren See herumtreibt. ^^

Ich hoffe ihr hattet Spaß und vielen Dank für deinen lieben Kommentar Minerva! Ich habe mich natürlich wieder sehr darüber gefreut, vor allem da du stets eine gelungene Interpretation daraus machst. ^^

Wünsche euch allen noch eine schöne Restwoche. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich weiß nicht genau was es ist, aber irgendetwas an diesem Kapitel hat mir nicht gefallen. Besonders der Abschnitt von Kais aufkommenden Erinnerungen hat mir Probleme gemacht. Vielleicht weil die Originaldialoge aus der deutschen Fassungen irgendwie nicht zu meinem Schreibstil passen. Es kommt mir so holprig vor. Ich hoffe es war dennoch einigermaßen gut, denn was mich daran genau stört, kann ich ehrlich gesagt gar nicht selber herausfinden. Zumindest geht es jetzt so langsam auf die Zielgerade zu... Puh nach der FF brauch ich ne Pause xD
Wünsche euch noch eine schöne Restwoche und natürlich danke für das Kommentar ^_~ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Oje, die letzten vier Wochen sind wie im Flug vergangen und ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich in dieser Zeit nicht einen einzigen Satz geschrieben habe. >.<
Zwischen zwei Jobs, Städtetrip und Geburstagen gingen die letzten Tage wie im Schnelldurchlauf an mir vorbei. Ich muss mich wirklich ranhalten, wenn ich nicht den Vorsprung verlieren möchte. Will ja nicht wieder eine lange Pause einlegen. >_>

Wie Minerva ja schon richtig bemerkt hat, ist Dragoon für ein uraltes Wesen sehr unreif - so wie alle Uralten. Das hatte seinen Grund und hier konnte ich endlich die Auflösung bringen, denn ich stelle mir ein ewiges Leben nicht so vorteilhaft vor. Es ist zumindest nichts, was bei mir auf der Wunschliste an obererster Stelle stehen würde, denn es würde bedeuten, dass ich alle Menschen die mir wichtig sind, sterben sehen muss. Ein Mensch könnte sich wohl nur vor so viel Schmerz schützen, indem er sich innerlich davon abkapselt. Der Kelch ging an Dragoon bisher vorbei, weil er zuvor niemanden verloren hatte, der ihm wichtig war. Daher ist das ewige Leben das die Weltenbaummutter den Bit Beasts gegeben hat, Segen und Fluch zugleich. Ich hoffe ich konnte es einigermaßen gut vermitteln.

Tja, Kai fängt an sich zu erinnern. Und ihr hattet einen kleinen Vorgeschmack auf seine Reaktion. Natürlich folgt noch mehr, daher hülle ich mich erst einmal in Schweigen ^^

Ich hoffe ihr hattet euren Spaß und wünsche euch noch eine schöne Restwoche! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Uff, diese Kursivschrift macht mich fertig! Das hat mich viel Überwindung gekostet, mich heute daran zu setzen, um das Kapitel endlich on zu stellen. Und dann hätte ich den ersten Abschnitt mit Kenny beinahe übersehen und ihn nicht eingefügt. XD

Tjaa, wie schon vermutet, Dragoon ist natürlich nicht tot. Aber ich denke da konnte ich den wenigsten hier etwas vor machen. Er muss den Schweinestall den er hinterlassen hat, ja noch aufräumen. Ob er das schafft werde ich natürlich nicht verraten. ^_~

Und auch der Gruppe wird so langsam klar, dass der Ärger noch nicht vorbei ist. Ich glaube Kai kam in diesem Kapitel kaum zur Geltung, bis auf den Abschnitt aus Kennys Sicht. Er hat bei mir fast genauso wenig Text wie in der Sendung, alles wird irgendwie nur von anderen Leuten beleuchtet. O_o

Ich hoffe ihr hattet auf jeden Fall Spaß und wünsche euch noch einen angenehmen Sonntag. Und danke Minerva für deinen lieben Kommentar! Ich würde gerne als manchmal mehr darauf eingehen, aber habe dann immer Angst, zu viel zu verraten. xD Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Fast ein halbes Jahr wieder vergangen. Dabei habe ich es noch immer nicht geschafft den Schluss komplett zu schreiben, womöglich weil ich mich von ein oder zwei Wettbewerben habe ablenken lassen. Schande über mein Haupt. >_<
Aber ich bin doch weit gekommen und wie angekündigt, werden die Kapitel nun wirklich an Länge zunehmen,einfach damit es nun vorangeht. Dieses gute Stück nimmt 44 Seiten auf Word Format ein. Ich hoffe damit ist der Bedarf erst Mal gedeckt, weil so schnell kann man die Seiten ja nicht verschlingen, dass jemand nach mehr schreit ^_~
Mich allein hat das Verhör schon Nerven gekostet und ich hoffe ich konnte sämtliche Ungereimtheiten umgehen, dennoch alles verständlich erläutern. Ist wirklich schwierig sowas zu schreiben, hat aber irgendwie auch Spaß gemacht, weil man sich so richtig schönen Quatsch einfallen lassen kann. Der Kreativität waren zumindest keine Grenzen gesetzt XD

Jaa... Und das Pairing geht wie ihr seht weiter. Ich war mir nicht ganz sicher, ob Kai nicht zu OC ist. Mein Schwerpunkt lag auf der Entwicklung aller Charaktere, aber bei ihm hatte ich irgendwie den Eindruck, nun einwenig über das Ziel hinausgeschossen zu sein, obwohl meine Zweitleserin meint, ich solle es so lassen. Daher bin ich gespannt, was ihr zu ihm meint.

Das nächste Kapitel könnte auch etwas auf sich warten lassen, einfach weil die Korrektur wirklich zeitaufwendig wird. Allein die Logikfehler. Puuuuuh... Ich muss jetzt wirklich aufpassen. Aber ich denke ihr habt jetzt erst Mal genug Stoff und natürlich danke für die Kommis. ^^

LG Eris Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Sooo, wieder ein gigantisches Kapitel beendet, mit ca. 31200 Wörtern. Uff…
Ich muss mich wirklich für die Länge entschuldigen, da ich genau weiß, wie schwierig ich es den Leuten damit mache, noch so zu kommentieren, dass man tiefer auf den Inhalt eingehen kann. Nur ist mein Ziel wirklich diese FF bis Ende des Jahres fertig zu haben. Wann immer ich hier etwas hineinstelle, stolpere ich über das Datum meines ersten Updates und muss ganz schwer schlucken. Ehrlich gesagt stresst mich das sogar ziemlich. Was unvollendete FFs betrifft, bin ich wie Sheldon Cooper, der nervöse Zuckungen bekommt, wenn er nicht drei Mal an Pennys Tür klopfen kann. xD
Als ich angefangen habe diese Geschichte zu schreiben (2011 O_o), sind mir viele Nebenstränge durch den Kopf geschwirrt – ich hatte sogar eine Fortsetzung im Sinn, weil ich schon damals wusste, wie ich die FF enden lassen will, OMG, wie naiv war ich damals?! - aber momentan bin ich wirklich an einem Punkt, wo ich froh wäre, wenn das letzte Kapitel endlich online ist. Ich mache dann erst einmal einen Prosecco auf, so viel steht fest…
Bitte nimmt mir auch meine Wortkargheit bei euren Kommentaren nicht übel, aber die Zeit die ich auf Animexx verbringe, gilt fast nur noch dem Hochladen von FFs. Ich freue mich natürlich sehr über ein Feedback, auch wenn ich nie richtig darauf eingehen kann, aber in meinem aktuellen Zirkel glänze ich bereits mit Abwesenheit, dabei gibt es dort so viele tolle FFs die ich gerne zu Ende lesen würde - dort hatte ich auch einige One Shots zum TyKa Pairring versprochen, von zehn habe ich aber nur einen geschafft. Schande über mein Haupt… Und mein großer Herzenswunsch, irgendwann einen eigenen Roman zu schreiben, rutscht auch immer nur weiter nach hinten – jünger wird man bekanntlich ja nicht. Deshalb hoffe ich wirklich, dass ihr mir die riesigen Brocken die ich euch momentan vorwerfe, nachseht. Das Positive ist dass man wohl mehrere Tage daran zu kauen hat. Es hat eben alles etwas Gutes. xD

LG Eris Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ein sehr gemeiner Cliffhanger - ich weiß.
Aber ich wollte dieses Kapitel mit Max beginnen und es mit ihm beenden. Es kam mir einfach falsch vor, einfach so weiterzumachen, nachdem der arme Junge von mir auf so fiese Art gekillt wurde. Ich muss auch ehrlich sagen - es hat überhaupt keinen Spaß gemacht. Für seinen finalen Abschnitt habe ich ewig gebraucht, weshalb ich überhaupt erst in Verzug gekommen bin. Zuerst dachte ich an eine lebhaftere Schilderung des Flugzeugabsturzes, doch allein bei dem Gedanken daran hatte ich keinen Bock mehr auf die FF. Ich weiß nicht wie das der Autor von Game of Thrones macht. Der Typ muss ein Soziopath sein...

Auch der Abschnitt wie Tyson und Kai zusammen kommen, hat mir nicht ganz gefallen. Ich weiß aber nicht woran es liegt. Ich habe den Teil so oft umgeworfen und neu geschrieben, aber etwas daran mag ich nicht. Besser bekomme ich es aber auch nicht hin, daher nun dieses Ergebnis :-/

Das Kapitel ist wieder etwas kürzer geraten. Das liegt erst einmal an dem schon erwähnten Grund, aber auch weil ich am Montag eine bescheuerte OP habe und ich deshalb etwas gebraucht habe, um mich von dem Gedanken abzulenken. Auf die angefangenen Abschnitte kann ich mich gerade nicht konzentrieren, aber zumindest nochmal Gegenprüfen, was ich zu "Papier" gebracht habe. ^^'
Dafür werde ich die nächsten drei Wochen genug Zeit haben, um das nächste Kapitel nochmal auf Rechtschreibfehler zu filzen und es on zu stellen. Die nächste Wartezeit wird also definitiv kürzer. Kann ja eh nich aus'm Haus...

Hoffe ihr hattet dennoch euren Lesespaß. Trotz des traurigen Endes.

LG Eris Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Sooo... Endspurt. Das hier ist entweder das vorletzte oder vorvorletzte Kapitel. Hängt jetzt nur noch davon ab, ob ich das Ende in ein Giga Kapitel packe oder nochmal teile, um früher etwas hochladen zu können. Auf jedenfall ist der Schluss so gut wie in der Tasche, was bedeutet, ich könnte es tatsächlich schaffen, die FF bis Ende des Jahres fertig zu haben. Der Prosecco steht jedenfalls schon im Kühlschrank bereit und wartet darauf geöffnet zu werden.

Ich gehe gar nicht mal so groß auf dieses Kapitel ein. Alles was ich sagen würde, wäre momentan zu viel und ich muss aufpassen, dass ich nicht spoiler. Das sich die Lage zuspitzt merkt man wohl. Ein dickes Sorry an alle, die beim letzten Kapitel so deprimiert wegen Maxs Tod waren. Habe schon von mehren Usern (auch von anderen Seiten) gehört, dass einige das wirklich hart fanden.

Ich kann dazu nur sagen - durchhalten. Lausiger Trost, aber nu ja... Mehr geht momentan nicht. ^^

LG Eris Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Das letzte Kapitel hat leider einige Rechtschreibfehler, weshalb ich es demnächst noch einmal gründlich überprüfen muss. Tut mir Leid falls es deshalb etwas lieblos wirkt, aber ich wollte die FF endlich als abgeschlossen sehen.

Danke für all die lieben Kommentare die ich erhalten habe. Vor allem jene Leser die wirklich die Ausdauer besessen haben, um mir beinahe zu jedem Kapitel ein paar Worte da zu lassen. Ich hatte echt das Glück, auf User zu treffen, die sich wirklich bemühen, mehr als ein oder zwei lieblose Sätze da zu lassen. Da ich selber nur schlecht Kommentare verfassen kann, weiß ich wie anstrengend das sein kann.

Diese FF war wirklich ein hartes Stück Arbeit, besonders durch die Schreibblockade zwischen drin und ich bin ehrlich gesagt doch froh, dass sie nun beendet ist, auch wenn die Fortsetzung dazu wohl nur ein Wunschgedanke bleibt. Ansonsten lest ihr von mir höchstwahrscheinlich nur noch One Shots. Daher noch einmal vielen Dank und vielleicht liest man sich noch einmal, in der unendlichen Weite von Animexx.

LG Eris ^_~ Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (148)
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Von:  FreeWolf
2019-08-16T00:16:48+00:00 16.08.2019 02:16
„Tysons inbrünstige Liebeserklärung kann ich ohnehin nicht toppen.“ <3 Das alte Ehepaar.
Von:  FreeWolf
2019-08-15T22:45:54+00:00 16.08.2019 00:45
So ein schönes Kapitel 25. ;3; ich möchte weinen und hab bis jetzt alles in einem Zug durchgesuchtet. Ich fahre emotionale Achterbahn, schon die ganze Zeit aber insbesondere seit dem letzten Kapitel (24)
Von: Norrsken
2018-10-19T05:14:45+00:00 19.10.2018 07:14
Ich habe mich bisher etwas vor dem Lesen gedrückt, weil die Geschichte so lang ist und ich so wenig Zeit finde zum Lesen ... aber nachdem ich deine Oneshots schon mit viel Begeisterung gelesen habe, konnte ich nicht mehr an dieser Fanfiction vorbei. x3
Ich bin noch relativ am Anfang, aber ich möchte dir jetzt schon einmal ein großes Lob aussprechen.
Zu erst einmal ist es wirklich beeindruckend, wie viel du hier geschafft hast. Die einzelnen Kapitel haben eine beachtliche Länge, aber kein einziges Überflüssiges Wort und dass du dieses Projekt über so eine lange Zeit fortgeführt und zuende gebracht hast, ist ebenso fantastisch!
Die Kür zur YUAL ist aus vielerlei Gründen berechtigt.
Die Entwicklung der Figuren ist sehr menschlich. Vor allem, dass es nicht so Disney Happy Ever After ist (obwohl ich das bei Beyblade auch schätze, wenn es mal so ist xD). Die Motivationen aller Figuren sind nachvollziehbar. Außerdem gelingt es dir eine gute Mischung zwischen Ernst und Spaß zu finden, ohne das der Ernst seine Tragweite verliert oder der Spaß ausgesetzt wirkt. Und was ich besonders Erwähnenswert finde ist, dass du Konsequent bist. Wenn Dizzy sagt, dass sie sich in Gefahr befindet, ist sie auch in Gefahr und es sind nicht nur hohle Worte. Ich habe schön öfter gesehen, dass sich viele vor den Konsequenzen drücken. Hier habe ich das Gefühl, dass es nicht so sein wird, weil du es bisher nicht getan hast.
Ich freue mich jeden Abend aufs Lesen, wenn ich mir eine halbe Stunde dafür Zeit nehmen kann. x3

Was mich beim Lesen immer mal wieder rausbring sind kleine Fehler in Wörtern und Satzzeichen. Manchmal fehlt auch ein ganzes Wort. Ich kenne das von mir selber beim Schreiben, dass ich Schneeblind bei meinen eigenen Sachen bin, weil ich weiß, was da stehen sollte.
Ich würde dir gerne anbieten, die Fanfiction einmal korrektur zu lesen, um solche Fehler auszumerzen. Wenn du daran interesse hast, würde ich mich über eine kurze ENS freuen, damit wir das genauer besprechen können. :)
Von:  Wolkenherz
2018-04-08T00:15:32+00:00 08.04.2018 02:15
Liebe Eris,
ich habe diese Fanfiction verschlungen! Ich muss zugeben, dass ich nicht die allergrößte Leseratte bin, die womöglich schon trilliarden Bücher durch hat. Aber diese Geschichte hier konnte ich absolut nicht aus der Hand legen! Ich bin froh, dass ich sie erst jetzt entdeckt habe, wo sie gerade abgeschlossen ist. Ich glaube, es hätte mich jedes Mal ein kleines bisschen umgebracht, auf's nächste Kapitel warten zu müssen :D An dieser Stelle ein riesiges Kompliment und großer Respekt, dass du es all die Jahre durchgezogen hast! Ich hab in einem Nachwort irgendwann gelesen, dass du es eigentlich gar nicht mehr weiterschreiben wolltest. DANKE!!! Tausend Dank, dass du diese Fanfiction fertig gestellt hast. Sie ist wundervoll!!

Dein Schreibstil ist einfach unglaublich. Man kann sich zu jeder Zeit zu hundert Prozent in die Charaktere hineinfühlen. Du hast ja häufig mal ein wenig die Perspektiven gewechselt, so dass der Schwerpunkt mal abwechselnd auf den verschiedenen Charakteren lag - und selbst dann konnte man sich in ALLE anwesenden Charaktere hineinfühlen, nicht nur in den in diesem Moment im Mittelpunkt stehenden. Was habe ich an so vielen Stellen gelacht, geweint, Panik geschoben - ich muss für andere Menschen ausgesehen haben wie eine Irre. Zum Beispiel die Stelle, als die Jungs in diesem engen Stollen unterwegs waren und du Tysons Empfindungen geschildert hast, da ging mir echt der Arsch auf Grundeis. Schweißausbrüche, flache Atmung, alles dabei. Richtig schlimm war es dann natürlich an den Stellen, als es mit den einzelnen Protagonisten Zugrunde ging. Ich habe geheult wie ein Schlosshund, mein Herz brach bei jedem einzelnen in tausende kleine Stückchen. Da denkt man gerade, dass das Schlimmste endlich vorbei ist, denn unsere Helden sind wieder in ihrer Welt – und dann wird man dermaßen „von der Skyline zum Bordstein zurück“ GESCHMETTERT. Wahnsinn!

Ich muss zugeben, dass mich die Entwicklung zwischen Kai und Tyson zunächst etwas überrascht hat - ich fand einfach die Thematik der Ficition sehr interessant und hatte einfach mit dem Lesen losgelegt, ohne auf die Tags zu achten - hoops. Umso schöner finde ich es, wie du auch dies beschrieben hast. Hier wurde einem nicht die Homokeule um die Ohren gehauen, wie es zugegebener Weise oftmals in anderen Fanfictions zu solchen Serien der Fall ist. Dieser sanfte Beginn, dass man es nur ganz langsam erahnen konnte und die beiden selbst, jeder für sich, erstmal hinter diese Gefühle steigen mussten. Ganz große Klasse! Denn um der Wahrheit ins Gesicht zu blicken, ist es in der heutigen Gesellschaft noch lange nicht "normal" homosexuelle Gefühle zu haben. Von daher fand ich es unglaublich angenehm, mich in Tysons und Kais Verwirrung und Unsicherheit hineinzulesen.

Außerdem ist es bemerkenswert, wie treu du den Figuren im Sinne des Charakters geblieben bist. Ich könnte sie mir für die Zukunft nach dem Untergang der Bega echt nicht besser vorstellen. Und zwar allesamt, auch die Nebenfiguren. Und mitsamt ihrer teilweise untypischen Seiten, die eher selten ans Tageslicht kommen, bist du stets dem Charakter der jeweiligen Personen treu geblieben (z.B. Tysons Ernsthaftigkeit, Max's Wut, Kais Sanftmütigkeit und Ray's Aggressivität). Die erdachten Charaktere fand ich im Übrigen auch alle sehr passend getroffen.

Die Handlung ist der absolute Wahnsinn. Aus einer so einfachen Jugendserie eine dermaßen aufregende Geschichte zu zaubern verdient großen Respekt. Da kann ich jetzt auch gar nicht genauer werden, welche Handlungsstränge mir am besten gefallen haben, denn dann würde ich damit enden, eine Zusammenfassung der ganzen Geschichte niederzuschreiben.
Studierst du etwas in dieser Richtung? Oder ist das Schreiben einfach nur ein Hobby? Ich glaube, wenn du die Namen und die Handlung um die Serieninhalte selber etwas abändern würdest, könntest du diese Geschichte als Buch verkaufen. Ich würd's kaufen :)
Zusammenfassend kann ich zu deiner Interpretation nur sagen: Ich LIEBE sie! Dieser Fan-Roman ist fortan meine Bibel in Sachen Beybladegeschichte. Vielen lieben Dank für dieses wunderbare Abenteuer!

Ganz ganz liebe Grüße,
wolkenherz
(Funfact: ich habe mich nur bei Animexx angemeldet, um dir diesen Kommentar zu schreiben :D)

ps.: ich habe gerade einen Blick auf den vorigen Kommentar erhascht und habe gesehen, dass du Ideen zu einer Fortsetzung hast. *-* Falls du ja mal unheimlich viel Lust (und natürlich Zeit und Ernergie) dazu versprüren solltest, würde ich mich – und sicherlich so einige andere noch – sehr darüber freuen, etwas in der Richtung zu lesen. Es würde mich tatsächlich unheimlich interessieren, wie es mit den Kräften für die Jungs weitergeht. Wow ich werd ganz kribbelich und aufgeregt wenn ich nur darüber nachdenke :D
Antwort von:  Eris_the-discord
23.10.2018 21:45
Hallo Wolkenherz,

tut mir wirklich Leid, dass ich mich erst jetzt für deinen lieben Kommentar erkenntlich zeige. Ich hatte mir fest vorgenommen, wenigstens beim letzten Kapitel so höflich zu sein und mich - gerade bei einem so ausführlichen Kommentar - zu bedanken, doch irgendwie fliegt die Zeit davon und ständig hinke ich wie auf Krücken hinterher. Gott, in den Läden verkaufen die schon wieder Weihnachtsgebäck. Spinnt die Welt oder ich? >_<

Jedenfalls, ich bin wirklich baff von dem Feedback was ich bekomme, obwohl die FF noch nicht einmal ordentlich überarbeitet ist. Als ich mit dem letzten Kapitel fertig war, wollte ich noch viele Ausbesserungen vornehmen, da mir mein Schreibstil zu Anfang sehr holprig vorkommt, auch üble Rechtschreibfehler enthält. Selbst da liege ich leider seit Monaten zurück. Deshalb freut es mich umso mehr, dass selbst diese - für mich persönlich - rohe Fassung gut ankommt.

Besonders freut mich wenn du der Meinung bist, dass die "Homokeule" im Schrank geblieben ist. Eine langsame, vor allem vorsichtige Annäherung war mir wichtig, weil mir alles andere (leider) zu unrealistisch vorkommt. Ich glaube das es nach wie vor schwierig ist, wenn Homosexuelle zu ihren Gefühlen stehen wollen und das es mit vielen Unsicherheiten, Zweifeln und Ängsten verbunden bleibt. Dass die Charakteren für dich nicht OOC geraten sind, ist für mich die Kirsche auf dem Sahnehäubchen, da ich oft gedacht habe: "Okay, jetzt gehst du zu weit. Das würde der niemals so sagen."
Da bin ich froh noch nichts dergleichen gehört zu haben.

Übrigens ist es auch nur ein Hobby und ich habe nichts in dieser Richtung studiert. Aber wenn ich solche Kommentare lese, kribbelt es mir wirklich in den Fingern, nochmal eine Fortsetzung anzufangen, ganz ehrlich. Ich habe nur leider die Befürchtung, dass ich dann solchen Mist tippe, dass es besser gewesen wäre, meine Finger still gehalten zu haben. Es heißt ja, dass Fortsetzungen ihre Vorgänger killen. >.<

Jedenfalls vielen lieben Dank für deinen Kommentar und das du dir die Zeit genommen hast, in die FF hineinzuschauen. ^^

LG Eris
Von:  jasuminu
2018-02-23T21:17:36+00:00 23.02.2018 22:17
Neeeeeinnnnnn die Geschichte ist zu Enddeeeee T.T
Was soll ich denn jetzt machen...ich habe diese FF immer mit so viel Spannung verfolgt und ich wurde NIEMALS enttäuscht!
Danke für dieses Meisterwerk *heul*

Ach Eris, tut mir leid ,mein Kommentar ist längst überfällig.. Also was soll ich sagen....Verbesserungsvorschläge? Da hab ich wirklich absolut keine. Du bist die Perfektion in Person, was das Schreiben angeht. Ich denke sogar eine bessere FF wie diese, wirst du nicht mehr hinbekommen. Nicht falsch verstehen, deine One Shots sind grandios (besonders die aktuelle), aber sie kommen nunmal nicht an diesen Schinken heran. Ich mein , du hast uns wirklich alles geboten ! Vom Humor bis zum Horror war alles dabei. Das wäre meine persönliche beste Fortsetzung zur Anime Serie, selbst Mr. Aoki würde das nicht besser hinkriegen

Ich kann verstehen, dass du jetzt nur noch Kurzgeschichten schreiben möchtest, hoffe dennoch auf eine weiteres Großprojekt oder einer Fortsetzung ^.-

Ich finde was diese Geschichte so lesenswert macht, ist deine Liebe zum Detail. Ich konnte darin eintauchen und mir alles genau vorstellen , besonders die Emotionen kannst du überdurschnittlich gut rüberbringen - die Worte, die Mimik, die Gestik und die Pausen zwischen dem Gesprochenem...ein wundervolles Zusammenspiel. Da bebt der ganze Körper mit , kein Witz! Ja ich finde das ist eins deiner Markenzeichen.
Die Konfrontation zum Beispiel zwischen Tyson und Kai auf dem Dach, einfach nur der Hammer! Ich dachte ich Krieg gleich ein Herzinfarkt vor Aufregung.
Das Verhör auf dem Polizeipräsidium ...so mega spannend wie im Krimi.
Oder die Flashbacks wo nochmal deutlich wird wie eng alle doch miteinander verbunden sind aber du auch von jeden einzelnen eine kleine Geschichte zu erzählen hast wie zum Beispiel die Beziehung zwischen Ray und Mao. Ausserdem lockern diese Erinnerungen das Ganze gut auf.
Das find ich gerade so interessant, dass man einen Einblick in das Leben von jeden Charakter bekommt und nicht nur von den Hauptpersonen. Ah da fällt mir Grad eine kleine Kritik ein, ich finde Kenny ist zum Ende hin ein wenig zu kurz gekommen.

Die Persönlichkeiten der jeweiligen Charaktere hast du mega gut hinbekommen, stilecht wie im Anime. Wenn nicht sogar noch besser. Auch sehr lobenswert, dass du auf die Rechtschreibung so geachtet hast. Bei so vielen Seiten nicht einfach. Man kann es schön flüssig lesen und ist einfach verständlich. Du hast dich auch bemüht nicht immer die gleichen Wörter zu benutzen.

Obwohl ich erfundene Charakter nicht so mag , haben diese mich hier überhaupt nicht gestört ganz im Gegenteil! Allegro habe ich richtig ins Herz geschlossen.
Jana ist so süss ohne sie wäre Kai vielleicht ein ganz ander Mensch? Hiros Freundin ,auch ein sehr interessanter Charakter.

Die Welt der BitBeasts und der Weltenbaum einfach fantastisch. Am Anfang diese Menschen ohne Gesicht , das wirkte ziemlich skurill auf mich. Aber ich mag solche abgefahrenen Sachen haha Und diese verlorenen Seelen waren ziemlich gruselig.

Oft kamen Stellen, wo die Bitbeats den Menschen die achtlosigkeit gegenüber der Umwelt vorgeworfen wird. Das bringt einem zum Nachdenken, zumindest bei mir. Ja die Menschen schätzen die Natur viel zu wenig bis gar nicht. Sehr traurig.

Die Mutter von Max hast du sehr liebenswert dargestellt. Ich vergleiche das auch mit mir, da ich selbst Mutter bin. Bei maxis Tod Ohh das war so traurig und gleichzeitig so schön, wie die Mutter auf max agiert hat.

Die Intrigen zwischen Dragoon und Dranzer, die Vergleiche derer Persönlichkeiten zu den beybladern.
Kai als Kind und die einfühlsame Art von Tyson ihm kindgerecht Dinge zu erklären. So süss....

Achja mit dem Ende hatte ich wirklich nicht gerechnet. Nochmal alles zurückzudrehen mit der Aufgabe die restlichen Bitbeasts in den Körpern der Beyblader zu verfrachten. Einfach genial. Das dadurch Tyson dem alten Ich von Kai gegenübersteht hat mich richtig gefreut. Das hätte mir sonst gefehlt.


Ich fand so viele Sachen toll , zum Ende würde ich niemals kommen. Entschuldige , fals ich was durcheinander gebracht haben sollte. Bei so vielen Kapiteln, welche ich davon vor einem Jahr gelesen habe, bleibt nicht alles hängen.

Ich danke dir für diese wunderbare Geschichte. Du machst das echt prima , mach weiter so!
Antwort von:  Eris_the-discord
25.02.2018 20:55
Vielen lieben Dank für deinen Kommentar! Ich bin immer wieder überwältigt von der positiven Resonanz die ich zu dieser Geschichte erhalte. Selbstverständlich nehme ich dir da auch nicht übel, dass dein Kommentar ein wenig später kommt, vor allem wenn man als Mutter daheim gebraucht wird. ^_~

Ich hatte ja vorher kaum die Gelegenheit, einmal ausführlich auf deine Kommentare zu antworten, da ich immer nur mit Schreiben beschäftigt war und nur zum Hochladen zu Animexx kam. Daher wollte ich an dieser Stelle endlich einmal Danke sagen.

Um ehrlich zu sein, schwirren mir wirklich viele Handlungsstränge für eine Fortsetzung durch den Kopf. So viele, dass ich jetzt schon weiß, dass es wieder ein jahrelanges Projekt werden würde, weil ich wirklich keinen der Charas zu Kurz kommen lassen möchte. Wie du ja richtig erkannt hast, war es bei dieser FF zum Schluss Kenny der spurlos von der Bildfläche verschwand. Genau wie Hiro, von dem kaum noch die Rede war und wenn doch, dann nur noch über eine der anderen Personen. Daher würde es wirklich schwierig werden, so etwas großes noch einmal auf die Beine zu stellen, auch wenn ich deinen Wunsch nur zu gut nachempfinden kann. Allein bei dem Gedanken, die Jungs ihren Alltag mit ihren neuen "Kräften" bewältigen zu lassen, lässt meine Finger wieder jucken. ^^

Ich befürchte bis ich fertig wäre, würde leider niemand mehr Beyblade kennen, da bereits jetzt das Fandom dazu auf Animexx ziemlich geschrumpft ist. Dennoch vielen Dank das du die FF verfolgt hast. Es freut mich vor allem, dass du daran eine solche Freude hattest. ^^

LG Eris
Von:  Hinata-Uzumaki
2017-09-21T16:36:09+00:00 21.09.2017 18:36
Wieso musste Maxi sterben??? Aber Yeah das es zwischen Kai und Tyson endlich anfängt
Von:  sensless
2017-09-17T20:42:21+00:00 17.09.2017 22:42
Ich habe mir vorgenommen erst am Ende der Geschichte ein Kommentar dazulassen, ähnlich einer Buch Review aber das neue Kapital hat mich so dermaßen getroffen dass Ich erst mal ein paar Stunden garnicht wusste wie mir ist und dann nicht mehr aufhören konnte zu weinen.
Hut ab vor der wunderbaren Art wie du den guten Max auf die andere Seite geleitet hast auch wenns mir das Herz raus gerissen hat.
(Ich meine ich rechne fest damit dass noch was schreckliches hinsichtlich Dranzer vs Dragoon passiert aber ich hatte ernsthaft gehofft dass wenigstens Max und Rei sicher sind o.o)
Von:  Minerva_Noctua
2017-08-09T20:06:10+00:00 09.08.2017 22:06
Liebe Eris,

ich breche nun mit meinem Vorsatz die Kapitel der Reihe nach zu kommentieren. Seit vielen Monaten komme ich nicht dazu und das ist unglaublich gemein. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich diese Geschichte liebe! Deine Art zu schreiben, die Charaktere darzustellen, die Umwelt zu gestalten. Das alles ist wundervoll!
Als ich gesehen habe, dass das Kapitel online ist, hat es mich in Euphorie versetzt und ich habe es innerhalb von zwei Tagen durchgesuchtet. Ich habe dabei jedesmal bang zur Seite auf den Balken geguckt und gehofft, das Kapitel möge nie enden.
Sie sind echt viel zu kurz. Und Lesern dieses Gefühl nach so einem langen Kapitel zu geben, ist genau das, was hervorragende Autoren auszeichnet.
Vielen Dank dafür, dass du an dieser Geschichte weiterschreibst! Vielen, vielen Dank!
Natürlich hätte ich rein gar nichts gegen eine Fortsetzung;) Verzeih’ bitte die Euphorie und die Gier, natürlich weiß ich, was für eine Aufgabe diese Geschichte ist und wie erleichtert du nach Abschluss sein wirst. Die Hoffnung stirbt zuletzt

Ich hoffe, dass ich die beiden vorherigen Kapitel noch kommentieren werde, aber ich möchte dennoch einfach vorher sagen, dass ich sie fantastisch fand und Kais Verhalten nachvollziehbar. Du hast es geschafft seinen Zwiespalt hervorragend auszuarbeiten.

Nun zu diesem Kapitel:

Kennys Abgang ist bedauerlich. Es ist schade, dass er nicht bei seinen Freunden bleiben kann. Aber jeder geht anders mit Trauer um. Ich finde nicht, dass die Jungs etwas dafür können, dass Dizzy tot ist. Klar, sie haben sie dazu veranlasst für sie zu recherchieren. Letztlich war es die Rachsucht der Uralten, die nicht verstanden, dass ihre Menschenkinder nicht begriffen, was sie mit ihrer Ignoranz anrichten.

Tysons Umgang mit Jana finde ich bis jetzt gut und ich beobachte ihn neugierig.

Das Gespräch zwischen Opa und Tyson war sehr gut. Besonders beeindruckend und gut herausgearbeitet finde ich, wie mit dem Thema Ehre und „Gesicht wahren“ umgegangen wird. Die Japaner haben einen sehr ausgeprägten Sinn für Ehre und Achtung vor dem Familienoberhaupt.
Bezüglich Hiro finde ich die Befleckung der Familienehre nicht relevant, aber das liegt an meinem Kulturkreis und meiner persönlichen Auffassung.
Ich bin der Meinung, dass Hiro freigesprochen werden müsste, da es absolut unvorhersehbar war, dass Ming Ming durch den Schubs ausgerechnet vor einem ausparkenden Fahrzeug landet. Bin gespannt, was da noch alles kommt.
Ich wusste gar nicht, dass das Dojo umgebaut wird. Finde ich sehr praktisch. Vielleicht kann man ja noch ein Kinderzimmer anbauen:D
Es ist sehr verantwortungsbewusst von Tyson, dass er sagt, er kümmert sich um Hiros Verteidigung. Seine Initiative hat mich hier zugegebenermaßen positiv überrascht.

Das Drama mit der Scheidung verstehe ich nicht. Und dann sind sie halt geschieden? Sie können doch nochmal heiraten?
Rays Zorn auf Mariah war schon ziemlich arg. Es ist aber gut, dass er offen darüber redet und sein Verhalten analysiert.
In diesem Kapitel scheinst du sehr viel Wert darauf gelegt zu haben die Ähnlichkeit der Kinder mit ihren Bit-Beasts hervorzuheben. Das finde ich gut. Es ist wirklich interessant zu sehen, wie sich die Geschichte hinsichtlich des Verhältnisses und Verständnisses zwischen Kindern und Bit-Beasts entwickelt hat.

Dragoons gefühlt plötzlich gezeigtes Interesse an den Menschen und allgemein seiner Umwelt irritiert mich etwas.
Die Szene war sehr realistisch und der Hammer am Ende, dass nun eine Insel fehlt, sehr sehr gut.

Tysons kurzes Gespräch und ihr Verhalten in diesem Kapitel war sehr realistisch und gut.
Ich finde es toll, wie direkt Tyson Kai fragt, ob er nervös sei und ihn mit direkten Fragen konfrontiert. Ich finde es amüsant, dass Tyson sofort an eine Affäre denkt – als könne man sich nicht auch Monate vorher so benehmen und in einer seltsamen Grauzone verharren...
Ich bin froh und erleichtert, dass Tyson nicht lügt und ehrlich bleibt, dass er erkennt, dass sein vorangegangenes Verhalten bei Kai absolut unangebracht ist. Abgesehen davon hätte Kai es ihm nie verziehen, wäre er in dieser Situation angelogen worden.
Ich liebe es wie du jede Bewegung beschreibst, zum Beispiel Kais zu häufiges Blinzeln aus Unsicherheit.
Es ist ja auch unglaublich schwierig für Kai, da er ohne all seine Erinnerungen auch ein wenig nackt vor Tyson steht, ständig nur allgegenwärtige Gefühlsregungen herauszupicken scheint.
Dass Tyson gleich eine Chance wittert und ihn zu einem Gespräch drängt, ist charaktertypisch. Aber Kai scheint generell Stupser in dieser Hinsicht zu brauchen, also passt das schon.
Es wundert mich ein wenig wie Kai diesen Satz formuliert: „Ich bin nicht sicher, ob wir bei einer Unterhaltung nicht etwas ans Tageslicht befördern, was vielleicht besser im Dunkeln bleiben sollte.“
Also ahnt Kai bereits, dass auch er selbst von vor der Irrlichterwelt Gefühle für Tyson hatte? Oder hat er nur begriffen, dass Tyson etwas für ihn empfindet, dass besser verschwiegen worden wäre?
Es ist schön, dass Kai mehr lächelt

Galux tut mir leid, aber mit Mariah hat sie wenigstens eine verständnisvolle Freundin. Das Gespräch war sehr rührend und wundervoll beschrieben. Ich verspüre dabei beim Lesen eine Mischung aus hilfloser Rührung und trauriger Hoffnung, es möge am Schluss doch alles wieder gut werden.
Wenn Galux nur wüsste, dass seit Dranzers Geburt Liebe für die Bit-Beasts ebenso existiert...
Und so gravierend finde ich den Unterschied auf emotionaler Ebene nicht zwischen Mensch und Bit-Beast.

Die Abschiedsszene war herzergreifend. Ich kann Kai nicht so ganz zustimmen. Kai ist immer noch stark und bei dem Verhör hat man gesehen, dass er berechnend sein kann. Die Unantastbarkeit und Kühle ist seinen Erfahrungen und seiner Erziehung geschuldet. Ich bin gespannt, wie er sich nach seiner letzten Erinnerung verhalten wird...
Ich wundere mich ein wenig, dass keiner Kais wässrige Augen zu bemerken schien. Das hätte sein Verhalten erklärt. Du beschreibst seine Gefühle so anschaulich und wundervoll, dass mir selbst ganz schwer zu Mute wird.
Dass Kai sich wie ein kopflos schwärmendes Kind vorkommt, amüsiert mich zugegeben. Da erfährt einer gerade, wie sich Verliebtsein anfühlen kann.
Auch hier hast du seinen Zwiespalt sehr gut zur Geltung gebracht.
Kai entscheidet sich in diesem Abschnitt ganz klar gegen seine Gefühle und redet es sich schön, indem er daran denkt, wie er Tyson trotz seiner Gefühle respektieren wird. Das kommt mir fadenscheinig und lächerlich vor. Ich hoffe inständig, dass er bald begreift, dass er auch auf seine Gefühle hören muss, um sein Leben nicht zu verpfuschen. Aber klar, mit dieser Erziehung, in diesem Kulturkreis und bei seiner geschäftlichen Position kann ihn eine homosexuelle Beziehung ruinieren. Es ist unglaublich schwer sich für diesen Schritt zu entscheiden, auch ohne dass so viel auf dem Spiel steht.

Ich liebe Vergangenheitsszenen, die die Freundschaft der Jungs zum Thema haben.
Diese hier ist besonders interessant.
Es ist unglaublich wie sehr sich Kai anstellt seinem Freund einfach so einen Besuch abzustatten. Nein, ein Vorwand muss her. Zu dumm, dass Tyson das geschnallt hat:D
Bei der ein oder anderen Aussage hätte Tyson gekränkt sein können, war er aber nicht. Das spricht für die Vertrautheit dieser Situation.
Vielleicht hat Kai nicht allzu lange vor dieser Unterhaltung verstanden, dass er mehr für Tyson empfindet und reagiert darum so empfindlich auf die Aussage, dass er süß sei. Ansonsten wäre das schon sehr steif und weit hergeholt etwas anderes darunter zu verstehen als freundschaftliche Neckerei – auch als Außenstehender.
Ich habe während der ganzen Passage das Gefühl, dass die Abtei irgendwas gemacht hat, dass Kai nicht nur sein Urvertrauen genommen hat, sondern auch die Fähigkeit positive Emotionen anzunehmen oder zu zeigen. Was musste geschehen, um ihn sowas sagen zu lassen: „Ich will nicht dargestellt werden, wie ein Kleinkind, das die ersten Schritte vollführt!“
Nie im Mittelpunkt stehen, nie eine Belastung sein. Ich möchte Kai am liebsten umarmen.
Tyson reagiert genau richtig in dieser Situation und erklärt seine Freude über Kais Zugewandheit.
Es wundert mich, dass Kai Tysons Körpernähe zugelassen hat und ihn seine Worte, dass er um ihn kämpft und er endlich auftaut, nicht wieder verärgert haben. Er hätte es auch in den falschen Hals kriegen und wieder beleidigt sein können.
Es war sehr interessant diese Erinnerung aus Kais Sicht zu erleben. Als Teilnehmer und Zuschauer gleichzeitig. Sehr schön beschrieben.
Kai scheint sich am Ende der Passage zu unterschätzen. Denn anscheinend nimmt er nicht nur, sondern gibt auch. Es sei denn es ginge um Vertrauen und Ehrlichkeit. An seiner Offenheit hat er definitiv zu arbeiten.

Ich denke mal, dass Ray und Max es zwar irgendwie seltsam fänden Kai und Tyson als Paar zu wissen, sie aber nichts dagegen hätten und es letztlich auch passend fänden. Ich kann mir vorstellen, dass die Umstellung ein wenig dauert, aber dass das nicht an ihrer Sexualität, sondern an ihren Charakteren liegt.
Das Gespräch zwischen Max und Tyson ist sehr schön. Die Atmosphäre fühlt sich vertrauensvoll und ruhig an.
Max will also eine Familie gründen. Ich finde Mitte Zwanzig immer noch recht früh, aber das kann jeder halten wie er will. Ich kann mir das im Moment auch noch etwas schwer vorstellen. Bei Ray finde ich es ja schon gewöhnungsbedürftig. Aber ich freue mich, ihn als Vater zu erleben. Seine Tochter bekommt viele tolle Onkel:D
Ich bin froh, dass der unheimliche Überfall auf Mariah so glimpflich ausgegangen ist. So ein Glück, dass sie nicht zwischen diesen Zombies festsitzen. Echt unheimlich...

Die Diskussion mit Galux war fantastisch! Ich kann ihren Standpunkt sehr gut nachvollziehen. Sie hat recht mit der Eiche und Perfektion liegt tatsächlich zumeist – wenn nicht sogar immer – im Auge des Betrachters. Es hat mich gerührt, wie sie von den Vögeln und Ameisen sprach. Klar, die eigene Art findet sich immer am wichtigsten. Das Reh auf der Wiese wird den Tot seinesgleichen auch anders empfinden als den eines Menschen oder Igels. Ein wenig mehr Demut vor den Lebewesen, mit denen man den Planeten teilt, täte so manch einem gut. Jedes Lebewesen ist unterm Strich gleich viel wert.
Bezüglich dem Neutralitätsgebot von Bit-Beasts finde ich es allerdings problematisch, dass sie sich Menschenseelen ausgesucht haben und auch die Fähigkeit zu lieben kann, wie man sieht, zu großen Problemen führen. Nun gut, aber verletzter Stolz oder Wut schaffen das auch. Also spricht doch wieder nichts gegen die Liebe als ergänzende Emotion
„Es war schon eigenartig, dass sich gerade jene Bit Beast ineinander verliebt hatten, deren Menschenkinder verheiratet waren.“
Hehe. Wenn sie erfahren, dass Dragoon und Dranzer sich einst liebten, wird das umso interessanter. Verwandte Seelen und so

Dragoons Gedanken zu den menschlichen Bauten sind sehr schön zu lesen. Allerdings gibt es durchaus sesshafte Tiere wie z.B. Termiten oder Fledermäuse.
Dragoon begreift nicht, dass Dranzers Verachtung ihm gegenüber nichts mit Kais Verhalten seinen Freunden gegenüber zu tun hat. Dragoon hat Dranzers Vertrauen aktiv zerstört, während Kais Urvertrauen vor der Bekanntschaft zu seinen Freunden von anderen erschüttert wurde. Tyson und die anderen haben im Gegensatz zu Dragoon alles getan, um Kais Vertrauen zu verdienen und ihn für sie zu gewinnen. Ich bin gespannt, ob Dragoon das auch noch begreifen wird.
Allgemein werde ich immer neugieriger auf Dragoons Charakter, weil er durchaus auch großzügig und hilfsbereit sein kann. Dennoch wundere ich mich ehrlich, wie sich dieser unstete Kerl um die Welt kümmern konnte. Er handelt oft viel zu verantwortungslos für so eine komplizierte Aufgabe.

Ich bin froh, dass Großvater Kinomiya Kai nicht die Wahrheit gesagt hat. Ich kann mir vorstellen, dass es für Mr. Kinomiya schwer ist, aber er in seinen Grundfesten von der Richtigkeit seines Schweigens überzeugt ist.
Ich freue mich, dass er Kai mag und schätzt. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, was er sagen würde, wenn Kai sein Schwiegersohn würde. Die Traditionen wiegen schwer.
Ich frage mich, ob und wie lange Kai das Thema Krankenschwester auf sich beruhen lässt.
„Es ist eigenartig, aber in dieser Familie, ist die männliche Linie der Reihe nach
dämlich.“
Aww, ich musste echt schmunzeln. So arg ist es nu’ auch nicht:D
Ich freue mich etwas über Kiko zu lernen. Eine süße Geschichte. Allzu alt kann die Gute bei ihrem Tod allerdings nicht gewesen sein. Ich schätze Mr. Kinomiya am Anfang der Serie als noch nicht so alt ein, vielleicht 65.
Das Gespräch über Tysons Frauengeschmack war sehr erheiternd:D
Rührend finde ich die Aussagen zu Kais Beistand, als Mr. Kinomiya den Schlaganfall hatte. Natürlich ersehne ich mir Details darüber, aber es ist auch spannend im Ungewissen gelassen zu werden.

Ich liebe die Vergangenheitsszene im Dojo. Ich fühle mit Ray mit. Labertaschen sind schrecklich, wenn man schlafen möchte.
„Nimm das nicht persönlich, Kinomiya, aber nur weil wir gemeinsam eine
Weltmeisterschaft gewonnen und ein paar gefährliche Situationen übersanden
haben, sind wir nicht gleich alle die besten Freunde.“
Das passt wie die Faust aufs Auge. 100%ig Kais O-Ton.
„Und das bis in die frühen Morgenstunden…“, brummte Ray genervt unter seinem
Kissen.
Ich liebe Ray. Echt jetzt. Ich fühle mit ihm.
Allerdings liebe ich Tysons Erwiderung bezüglich des Miteinanderedens.
Kai scheint sich damals bereits von Tysons ehrlicher Loyalität und Sympathie angezogen zu fühlen – und ich meine das nicht in romantischer Hinsicht. Tysons Art ist unglaublich mitreißend.
Es ist schön zu lesen, dass sich Kai geborgen fühlte. Das ist ein herrliches und seltenes Gefühl, so kostbar.

Kais Mutter ist ein egoistisches, berechnendes und unglaublich kaltes Miststück. Ich verstehe, dass ein krankes Kind eine sehr schwere Aufgabe ist, aber so etwas zu tun? Es ist das Allerletzte. Das hat Kai gerade noch gefehlt. Ich verstehe sein Vertrauensproblem.

Die letzte Erinnerung hast du fantastisch beschrieben. Ich liebe es, wie du einerseits sehr detailliert schreibst und andererseits alles im Ungewissen lässt. Mir ist der Atem gestockt, als Kai auf die Treppen zugeschritten ist. Ganz hervorragend geschrieben.
Kai tut mir so leid und ich hoffe noch mehr zu erfahren.
Dass er sich ausgerechnet jetzt an die Abtei erinnert, ist natürlich ungünstig. Seine Freunde sind nicht da, um ihm Sicherheit zu geben, Tyson ist unterwegs. Dragoon steht jeden Augenblick vor der Tür... Viele Baustellen.
Ich dachte ja, dass Dragoon als Cliffhanger vor Kai auftaucht, aber auch so ist das Kapitelende sehr gelungen und spannend.

Ich zweifle ja daran, dass die Jungs in ihre Flieger steigen werden, bevor die Sache mit Dranzer geklärt ist, bin aber gespannt, was du dir für sie ausgedacht hast
Ich liebe diese Geschichte und bin so dankbar, dass du unermüdlich daran schreibst und so herrliche Kapitel raushaust. Ich werde sehr traurig sein, wenn die Geschichte beendet ist. Ich werde sie sicherlich noch öfter lesen
Vielen Dank für das wunderbare Kapitel und die Freude, die du mir damit gemacht hast!
Ich wünsche dir einen schönen Abend!

Liebe Grüße,

Minerva
Von:  jasuminu
2017-08-03T20:49:05+00:00 03.08.2017 22:49
Ein wahnsinns Kapitel!Ich hab mich gefreut das es soooo lang ist.Ich weiß nicht wie es die anderen sehen aber ich liebe solche langen Geschichten viel mehr, als kurze (früher immer dicke Wälzer verschlungen). Einen "Brocken" wars deshalb für mich nicht , habs in wenigen Stunden durch gehabt ^.^Aber denk ja nicht das ich dieses massive Kapitel verbunden mit der ernormen Arbeit dadurch weniger wert schätze!
Im vorherigen Kapitel fand ich Kai ein wenig zu "weich" für meinen Geschmack,wüsste aber auch nicht wie man es hätte anders machen sollen. Wenn er der ewige Kühlschrank geblieben wäre, kämen die beiden sich ja nie näher....Hach schwierig ....ich finds auch bisschen schade, dass er von seinem früheren Ich so angewidert ist. Ich mein so schlimm war er ja nun auch nicht und sein Stolz gehört nunmal zu ihm. Oder liegt das vielleicht daran das er noch nicht all seine Erinnerungen hat besonders die von der Abtei?
Ich finds herrlich wie offen Tyson gegenüber Kai und seinen Gefühlen ist, das hat mich manchesmal echt erstaunt. Über den alten Kauz musste ich schon öfters Lachen, besonders über seine Wortwahl xD Das Verhör vom vorherigen Kapitel war auch echt mega spannend! Wie schaffst du es nur an alle Details zu denken und dich nicht zu verzetteln?
Ach ja es ist toll endlich mal in Kais Gedankenwelt und Flash Backs Teil zu haben, vorher war er irgendwie so ein Mysterium. Bin wie immer gespannt, wie es weiter geht.
Hätte noch mehr zu schreiben, doch dazu müsste ich nochmal das Kapitel durchgehen. Ich hoffe mein Kommentar reicht aus es ist wirklich schwierig bei der Länge in Details zu gehen, wie du ja auch schon bemerkt hast. Aber wie gesagt ,ich hatte echt Freude daran es durchzulesen.
Ich hoffe dein Wunsch einen eigenen Roman zu schreiben geht in Erfüllung, denn du hast echt das Zeug dazu!
LG Jasuminu ^.^

Von:  Arisa-sama
2017-06-23T17:58:02+00:00 23.06.2017 19:58
Sehr gelungenes Kapitel :D auch wenn es sehr lang war. Die Charakerentwiklung ist auch gut geworden. Es ist generell schwer dir Charaktere zu treffen. Vorallem den von Kai...
Ich bin ja mal gespannt wie sich das pairing entwickelt *-*
Kannst du mal das nächste Kapitel mal aus Kais Perspektive machen?
Freue mich mit Spannung aufs nächste Kapitel! Bis dahin wünsch ich dir eine schöne zeit :)
LG Arisa-sama :)


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