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Der Zweifel stirbt zuletzt...

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Rabenmänner

1. Rabenmänner
 

„Miyano also?“Der Mann blickte mir prüfend in die Augen. Was erkannte er in ihnen? Das, was er sehen wollte oder das, was wirklich da war? Ich nickte, und versuchte, möglichst souverän zu wirken. Es ist wie bei wilden Tieren, wenn sie sie deine Angst spüren, töten sie dich. „Dann bist du also mit Shiho Miyano verwandt?“ Der Art, wie er ihren Namen aussprach, war merkwürdig, hart, aber ein wenig süßlich, so, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er sie nun mögen solle, oder nicht. Ich spürte einen sonderbaren Hass in seiner Stimme, kalt und schwer greifbar, wie Wasser, das von einem Eiszapfen tropft, ebenso, wie einen Unterton, den ich nicht deuten konnte, der mir aber fast noch größere Schauer über den Rücken jagte, gleichwohl ich nicht den Grund dafür nennen konnte. „Ja, ich bin ihre Schwester, Akemi Miyano.“
 

Der größere der beiden Männer sah – gleich seiner Stimme – auf eine eigenartige Weise anders aus. Es waren nicht nur die stechenden grünen Augen, die wie die eines züngelnden Reptils auf mich herabblickten und in meine Seele blickten, ebenso wenig, wie es das lange, silbergraue Haar war, das wirkte, wie unheimliche Nebenschwaden, die schleierartig hinter ihm her wehten, sondern seine Aura, die ihn fast selbstverständlich, wie der ständige Rauch seiner Zigarette umgab. Sie war kalt, eiskalt und leblos, ein grausiger Schatten, der seinen Opfern bewusst machte, dass es kein Entkommen gab. Wie ein Wolf, der auf ein Lamm starrt. Ich fröstelte. Das einzige, was ihn mit dem etwas gedrungen wirkenden Mann neben ihm verbannt, war die schwarze Kleidung. Diese Männer schienen immer schwarz zu tragen, das war auch das einzige gewesen, was meine Schwester von dieser mysteriösen Organisation berichtet hatte. Hüte dich vor der Farbe Schwarz, sie bedeutet den Tod…
 

Mittlerweile zweifelte ich nicht mehr daran. Ihre Mäntel waren wirklich schwarz, pechschwarz, wie die Nacht oder das düstere Gefieder der Raben, die auch an diesem Wintertag jeden Fleck der Stadt zu erobern wollen schienen. Der langhaarige Mann lächelte. Erst jetzt begriff ich, dass ich ihn die ganze Zeit angestarrt hatte, ohne ihn wirklich zu sehen. Sein Handy, welches mir gar nicht aufgefallen war, so sehr, wie ich in meinen Gedanken versunken gewesen war, steckte er zurück in die Manteltasche.

Anokata hat Ihre Daten überprüft, Sie sagen die Wahrheit.“ Er kam einen Schritt auf mich zu. Das Gefühl, mein eigenes Blut würde in meinen Adern gefrieren, verließ mich auch jetzt nicht – Die Nähe machte alles nur noch schlimmer. Falls er mein Unbehagen bemerkte, störte es ihn zumindest nicht. Mit einer fließenden Bewegung streckte er mir seine weiße, langfingrige Hand entgegen. Die Hand eines Mörders, wisperte es in mir, als ich sie zaghaft ergriff. „Willkommen in der Organisation, Fräulein Miyano.“
 

Wenig später schloss ich die Tür meines Ein-Zimmer-Apartments und lehnte mich erschöpft gegen sie. Ich hatte mich schon öfter mit Leuten aus der Organisation getroffen, immerhin hatte man meine Identität und meine Absichten eingängig prüfen wollen. Aber dieses Treffen, war anders gewesen. Gefährlicher. Mir war noch nie so sehr bewusst geworden, womit ich es eigentlich zu tun hatte. Diese Männer waren skrupellos, mit kalten Augen, die weder Reue, noch Gnade kannten. Vielleicht passte die Rabenmetapher am besten, dachte ich, während ich nachdenklich durch ein Fenster auf die aschgraue Stadt hinabblickte. Raben sind intelligent, den anderen Vögeln weit überlegen, sie töten die Muttervögel und stehlen ihre Eier und Jungen, fressen das Aas, das auf dem Boden verwest… Ich schauderte, auf einmal dasselbe, frostige Gefühl verspürend wie in dem Moment, als der Mann meine Hand ergriffen hatte. Normalerweise hätten mich keine zehn Pferde zu ihnen zurückgebracht, aber ich musste. Ich wusste, es ging nicht anders, um das Leben meiner Schwester willen.
 

Langsam, mit fast mechanischen Bewegungen, begann ich, die Umzugskartons zu packen. Die Organisation hatte mir klar zu verstehen gegeben, was sie von mir wollte. Um ihre Sicherheit zu gewährleisten, war es meine Pflicht, ein neues Leben anzufangen. Das bedeutete, ich musste fort von hier, weg von meinen Freunden, von meiner Arbeit, von allem, was ich war und was ich besaß, hinein, in ein großes, unbekanntes schwarzes Loch, das mich mit seinem mächtigen Sog anzog. Aber ich konnte sie nicht einfach dort lassen. Shiho war jünger als ich, ich war ihre große Schwester, und sie brauchte mich. Die Organisation war schuld, dass ich diese Pflicht bisher nicht erfüllen konnte. Alte Fotoalben, Tagebücher, Kleidung, alles wanderte in die Kartons. Jetzt würde alles anders werden. Ich würde bei ihr sein können und ihr helfen, diesem Albtraum zu entfliehen. Es würde wieder alles so sein, wie zu der Zeit, als wir kleine Kinder waren und zusammen im Garten spielten. Alles würde wieder so sein, wie früher. Mein Blick viel auf ein Fotoalbum, das ich noch nicht eingepackt hatte. Neugierig öffnete ich es. Gleich auf der ersten Seite erschien eines der wenigen Fotos, die ich von Shiho und mir besaß – Sie hatte es immer gehasst, fotografiert zu werden.
 

Das Foto zeigte uns draußen an einem lauen Sommerabend. Im Hintergrund ging gerade die orange-gelbe Sonne unter und strahlte mit den wunderschön bemalten Kimonos um die Wette, die wir trugen. Ich musste unwillkürlich lächeln. Es war inzwischen eine Seltenheit, dass ich mich an schöne Dinge erinnern konnte, die meiste Zeit wurden die angenehmen Seiten meines Lebens von Sorge und Angst verdrängt. Alles nur, wegen diesen Leuten, dachte ich vorwurfsvoll, während ich Shihos ernstes Gesicht betrachtete. Sie hatte selten gelacht, beinahe nie, aber wenn sie es tat, so wusste man, das es echt war, kostbar, wie ein Tropfen Wasser in der Wüste. Wäre unser Glück nur etwas näher gewesen, wir hätten es greifen können, bevor es davongelaufen ist, verschwunden, wie unsere Eltern, wie unser Leben, das wir niemals leben konnten. Seufzend schlug ich das verstaubte Album zu und packte es weg. Man durfte sie nicht zulassen, diese depressive Melancholie, die einen meistens im Winter und mich immer, wenn ich an meine Schwester dachte, überfiel. Die Trauer war tröstlich, sie wirkte wie ein Schutzwall, eine warme Decke und eine stumme Anklage zugleich, die ihren bebenden Finger auf die Welt richtete und weg von mir. Mich traf keine Schuld, es waren die anderen. Es sind immer die anderen. Mein Blick schweifte wieder zum Fenster, vor dem zu meinem Schrecken eine pechgefiederte Krähe auf dem Dach des Nachbarhauses saß. Obwohl ich wusste, dass es nicht sein konnte, kam es mir so vor, als würden ihre stechenden Augen mich anstarren und ebenso durchdringen, wie die des schwarzen Mannes. Sie töten die Muttervögel und stehlen ihre Jungen. Wenn du fliehst, so gib Acht, dass du nicht hinfällst, denn sie bohren ihre Krallen in deine Wange und hacken dir die Augen aus…

Mit einem Ruck zog ich die Vorhänge zu.

„Schluss damit.“ Den pochenden Schmerz in meiner Brust ignorierend, packte ich wie am Fließband weiterhin Kiste um Kiste zusammen. Und hacken dir die Augen aus…

Der Grund, warum sie jagen

Etwas unsicher betrat ich die Wohnung, in die die Organisation mich verwiesen hatte. Draußen klopfte der Regen mit sanften Fingern gegen die kleinen Fenster und ließ die weißen Räumlichkeiten noch karger wirken, als sie tatsächlich waren. Die Möblierung war minimalistisch, lediglich eine kleine Küchenzeile, ein Esstisch mit zwei Stühlen und ein Sofa ließ sich finden, vermutlich führten die beiden Türen, die an der gegenüberliegenden Wand lagen, zu Schlafzimmer und Bad. Bald würden sicher meine eigenen Möbel geliefert werden, aber bis dahin musste ich mich wohl mit dem begnügen, was ich hatte. Die Kartons mit meinen Habseligkeiten waren noch unten im Auto, ich würde sie wohl ganz allein hochtragen müssen, Karton für Karton, immerhin durfte niemand wissen, dass ich hier war, niemand durfte mich auch nur kennen. Ich schluckte und versuchte den Gedanken daran zu verdrängen, dass es wohl nicht anders gewesen wäre, wenn ich tot gewesen wäre. Vielleicht wären die Bestattungskosten teurer gewesen als der Umzug, aber sonst hätte es vermutlich nichts geändert.
 

Der Regen prasselte weiterhin an die schmucklosen Fenster aus viel zu dünnem Glas. Ich lag mit ausgestreckten Beinen auf dem schlichten Doppelbett, das immer noch nicht bezogen war – Ich hatte die Bezüge aus Versehen in den Umzugswagen gepackt, der immer noch nicht da war – und starrte an die Decke, oder besser gesagt auf eine der zahlreichen Kameras, die in der Wohnung installiert waren. Man hatte mir gesagt, sie würden aus bleiben, sofern kein Verdacht des Verrats bestünde, aber sie sagten viel, wenn der Tag lang war und ich glaubte ihnen kein Wort. Gerne hätte ich es herausgefunden, vielleicht in dem ich einen Kaugummi nahm und auf die Linse klebte, aber ich traute mich nicht. Am Ende würden sie mich noch beseitigen, nein, mit der Organisation war wohl nicht zu spaßen. Müde stand ich auf, zog meine Schuhe wieder an und griff nach meinem Mantel. Meine Armbanduhr zeigte Viertel vor Acht. Langsam wuchs die Aufregung, die ich bisher verzweifelt zu verdrängen versucht hatte. In einer halben Stunde würde ich endlich meine Schwester wiedertreffen.
 

Als Shiho Miyano gehört hatte, dass ihre Schwester in der Organisation angefangen hatte, hatte sie es tatsächlich irgendwie geschafft, ein Treffen zu vereinbaren. Normalerweise hatte sie nicht viele Rechte in der Organisation, geschweige denn Privilegien, aber Akemi war nun ein Mitglied der Organisation und vielleicht hoffte die Führungsriege, sie würden sie so an sie binden können – und umgekehrt. Verräter waren lästig. Besonders Gin ließ das alle spüren, wenn es jemanden zu beseitigen gab, so tat er das mit grimmiger Begeisterung, für ihn waren das keine Menschen – sie zweifelte daran, dass überhaupt jemand für ihn den Wert eines menschlichen Wesens besaß – im Gegenteil, es waren Maden, widerliche kleine Parasiten, die einem die schöne Aussicht auf das selbstgemalte Weltbild versauten und dabei büßen mussten. Für den Rest der Organisationen waren sie im eigentlichen Sinne lästig, ein unnötiger Störfaktor, den es zu eliminieren galt, aber nicht für Gin, für Gin spielte das Wort auf ihren Wert an, denn für ihn waren sie lediglich Tiere, die er jagte. Aber was nun der wahre Grund war, das düstere Zähnefletschen hinter dem aufgemalten Lächeln des Zirkusclowns, das spielte keine Rolle, wichtig war nur, dass sie ihre große Schwester endlich wiedersehen würde. Das war der glücklichste Gedanke, den sie je gefasst hatte, seit sie im Labor der Organisation arbeitete.
 

Das Licht in der Bar wär spärlich, die ohnehin gedimmten Lampen waren mit toten Fliegen und Motten übersät, sodass sie einen schaurig schattenhaften Schein verbreiteten. Ich hätte meine Schwester lieber in einer anderen Bar getroffen, aber ich wir hatten von der Organisation diese zugewiesen bekommen. Sie gehörte anscheinend einem hochrangigen Mitglied, was nur bedeuten konnte, dass man uns noch nicht so recht traute. Man wollte uns überwachen. Etwas verschüchtert blickte ich mich um. Wo war sie nur? Dann entdeckte ich sie. Einen Moment lang sah ich sie einfach nur an und war unfähig zu ihr zu gehen. Es war so lange her und sie sah auf einmal so erwachsen aus. Sie war nicht mehr das kleine, rothaarige Mädchen, das ich gekannt hatte, sie war jetzt eine Frau. Allerdings entging mir trotz des dämmrigen Lichts nicht, dass sie mitgenommen aussah. Ihre Haare glänzten nicht so wie früher, ihre Haut war blasser und sie hatte abgenommen. Wut stieg in mir auf. Was machten diese Kerle mit ihr? Wer gab ihnen das Recht meiner Schwester die Freude an ihrem Leben zu rauben? Diese zynischen Fratzen, die ihre Spielchen spielten, lachten und lachten, während sie dir das Messer in den Rücken rammten. Ich nahm mir vor, es ihnen eigenhändig heimzuzahlen, ganz gleich was aus mir werden würde, allerdings erst, wenn ich meine Schwester gerettet hatte. Vorher war selbst ein Heldentod undenkbar. Schließlich fasste ich mir ein Herz und ging auf den Tisch zu.
 

Als Shiho den Kopf hob, blickte sie nach so langer Zeit endlich in die warm funkelnden ihrer Schwester. Sie sah gut aus, hübsch und adrett wie immer, mit einem freundlichen Lächeln und langen, dunklen Haaren, die den asiatischen Einschlag ihrer Familie viel stärker bewiesen als sie selbst.

„Setz dich doch.“ Ärgerlich stellte sie fest, dass ihre Stimme unsicher klang, fast schon zittrig. Es war blödsinnig, vor ihr stand ihre Schwester und dennoch war sie angespannt. Vielleicht hört das nie wieder auf, dachte sie traurig, vielleicht jagen sie auch in Gedanken. Akemi setzte sich zu ihr. Auch sie wirkte schüchtern, blickte sie nicht richtig an und spielte mit ihren Händen, die sie vor sich auf den Tisch gelegt hatte. Es war beinahe lächerlich, dass zwei Schwestern sich so gegenübertreten mussten, das waren die Verbrechen der Organisation, die niemand sah. Sie lächelte.

„Wir haben uns lange nicht mehr gesehen. Wie geht es dir?“ Shiho blickte sie an. Sie wusste nicht wie so, aber sie hätte am liebsten geweint. Geweint wie ein kleines Kind, etwas was sie schon so lange nicht mehr getan hatte, dass sie sich nicht an das letzte Mal erinnern konnte. Geweint, um die unwiederbringlich verlorene Zeit…
 

Wie geht es dir? Eine gute Frage. Ich kannte die Antwort nicht. Einerseits fühlte ich mich erleichtert sie zu sehen und war glücklich darüber, aber andererseits tat es mir auch weh. Meine Schwester war eine Fremde für mich geworden und die einst so starke Bindung war Fragen gewichen, Fragen die wir weder stellen noch beantworten konnten. Dennoch redeten wir lange und versuchten zu ignorieren, dass der Barkeeper uns misstrauisch beäugte und die anderen Gäste plötzlich tausend Augen und Ohren hatten. Wir tranken, wir lachten und wir lebten, wie wir es schon lange nicht mehr getan hatten. Aber wie es in den meisten Geschichten ist, fordert Glück sein Tribut und selbst nach dem lautesten Gelächter ist die Stille unvermeidlich, die uns zweifellos mit eisigen Fingern heimsuchen wird, sobald wir unser Illusion von Frieden den Rücken kehren.

Ein falsches Spiel

Gin drückte seine Zigarette langsam im Aschenbecher vor sich aus und beobachtete mit scharfen, grünen Augen, wie die Rauchschwaden langsam gen Himmel wuchsen. Interessant.

„Was sinnierst du so vor dich hin?“ Vermouth, einen durchsichtigen Cocktail in der Hand, setzte sich neben ihn und lächelte spöttisch, während ihr Blick dem seinen neugierig folgte.

„Ach, ich verstehe.“ In ihrem Spott schwang eine Spur Grausamkeit mit, wie ein bitterer Nachgeschmack, der sich auf die Zunge legt. „Du beobachtest deinen kleinen Augenstern.“

Gin antwortete nicht. Sollte Vermouth doch reden. Stattdessen richtete er seinen Blick wieder auf die beiden jungen Frauen, die am anderen Ende des Lokals saßen und nach ihrer anfangs etwas holprig wirkenden Unterhaltung immer freudiger redeten und lachten. Zwei Schwester, glücklich vereint, mir kommen die Tränen, dachte er, als er sich eine neue Zigarette ansteckte und einen tiefen Zug nahm.

„Verrückt, sie sehen sich nicht einmal ähnlich.“ Vermouth lachte und schnappte sich ohne vorher zu fragen, eine Zigarette aus seiner Schachtel. Gin verkniff sich einen Kommentar. „Ihre Schwester wirkt viel asiatischer, außerdem sieht sie viel zu brav aus.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Die ist wahrscheinlich noch verklemmter als dein Zuckerstück.“ Sie trank einen Schluck von ihrem Drink und lehnte sich entspannt zurück, während der Qualm aus ihrer glühenden Zigarette einen unbekannten Tanz zum Besten gab. „Was meinst du?“

Irritiert blickte er sie an. „Was?“

„Wird sie zugrunde gehen oder durchhalten, jetzt, wo sie eine von uns ist?“

Gin hätte am liebsten laut gelacht, besann sich aber eines besseren, da er nicht vor hatte, von Shiho und ihrer Schwester, wie sie auch immer heißen mochte, bemerkt zu werden. Stattdessen trank er einen Schluck von seinem Scotch.

„Sie ist keine von uns. Leute wie sie stehen ganz unten in der Nahrungskette, kleine Fische, die von Haien wie uns zum Frühstück verspeist werden.“ Er seufzte theatralisch. „Außerdem ist die Göre nur aus Geschwisterliebe hier, die wird abgeknallt, bevor sie bis drei Zählen kann.“ Vermouth lächelte geheimnisvoll und schwieg einen Moment, wie um das Gesagte sacken zu lassen, bevor sie antwortete.

„Ich glaube, in der kleinen steckt einiges an Potential. Ich meine, sieh sie dir doch mal an. Fällt dir etwas auf?“ Gin schüttelte entnervt den Kopf. Er hatte keine Lust auf Vermouths Spielchen. „Denk doch mal nach. Die kleine Schwester ist ein Genie, hochbegabt in allen Bereichen, wunderschön, geheimnisvoll und sie ist…? Kein Mensch ist vor Gefühlen wie Neid und Eifersucht sicher, wenn diese einmal geweckt sind, lässt sich in diesem Engelchen sicher auch ein Teufel finden, den wir für unsere Zwecke nutzen können.“ Er musterte sie nachdenklich. Also wirklich wieder eines ihrer Spiele.

„Und wie willst du das anstellen?“

„Indem ich Zweifel säe.“
 

„Du weißt, was du zu tun hast, oder?“ Die Stimme des etwas älteren Mannes klang gestresst, vermutlich musste er wieder einmal Überstunden machen.

„Natürlich. Ich habe alles Wichtige in die Wege geleitet, allerdings…“ Er seufzte. „…scheinen sie mir noch nicht so recht zu trauen. Eigentlich haben wir meine neue Identität perfekt gefälscht, aber sie nehmen es mit Neulingen wohl tatsächlich so genau, wie wir befürchtet hatten. Ich denke, ich brauche noch etwas Zeit, bis ich sie erfolgreich infiltrieren kann.“ Obwohl er seinen Gesprächspartner nicht sehen konnte, wusste er in diesem Moment, dass er vermutlich mit seinem typischen nachdenklichen Nicken da saß und fieberhaft überlegte, wie er ihn unterstützen konnte – was natürlich schwierig war, wenn man auf einem anderen Kontinent saß. Schließlich räusperte er sich.

„Sei vorsichtig. Ich möchte, dass du mit allen Mitteln kämpfst, die uns zur Verfügung stehen, um diese Organisation zu stoppen, aber bitte, versprich mir, dass du aufhörst, bevor es um Leben und Tod geht, das hier ist kein Spiel.“

Er lachte trocken. „Ich weiß und genau deshalb, darf ich nicht aufhören.“

Mit einem klickenden Geräusch beendete er das Gespräch und ließ seinen Blick über den durch die Reflexion der Stadtlichter sternenlosen Himmel schweifen.

Wie kann ich nur zu ihnen durchdringen?

Noch ahnte er nicht, wie nahe er der perfekten Gelegenheit tatsächlich bereits war.

Schicksal

Als Shiho schließlich aufstand und sich verabschiedete, war es schon weit nach Mitternacht. Trotzdem ging sie mit den federnden Schritten der Erleichterung, die die ständige Müdigkeit, die ihre Arbeit mit sich brachte, in die hinterste Ecke ihres Bewusstseins verdrängte, zur Tür und übersah in ihrer leichtsinnigen Freude Gin und Vermouth, die immer noch wie bedrohliche Wächter an der Bar saßen und sie beobachteten. Ein Spiel, dachte Gin und musterte Akemi, die immer noch an ihrem Tisch stand und mit melancholischer Nachdenklichkeit ihrer verlorenen Schwester hinterher blickte.

„Wir sollten auch gehen.“

Er drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und erhob sich ohne Hast. „Du wirst noch früh genug deine Chance bekommen.“
 

Nachdem meine Schwester gegangen war, fühlte ich mich seltsam, beinahe unwohl. Es gab diese ganz besondere Art von Trauer, diesen vollkommen irrationalen Abschiedsschmerz, der doch vollkommen unsinnig war, wenn man bedachte, dass man denjenigen sicher wiedersehen würde.

Sicher?

Nein, nichts im Leben war sicher, vielleicht war es insgeheim genau das, was mir Angst machte. Niemand garantierte uns, dass wir lebend aus dieser Sache rauskamen, nicht einmal, dass wir vor die Tür treten konnten, ohne von einem Auto überfahren zu werden, war uns garantiert. Diese Welt spielte selbst ein gnadenloses Spiel, würfelte um unser Leben und verspielte unser Schicksal.

„Du hast etwas Besseres verdient.“, flüsterte ich. Das haben wir alle.

Doch auch, wenn ich mich im ersten Moment entschlossen und voller Tatendrang fühlte, gab es in mir einen Zweifel. Eine Stimme, die flüsterte, dass ich keine Chance hatte. Wie sollte ich, nicht die Hübscheste, nicht die Intelligenteste, nicht die Mutigste, wie sollte so jemand eine Organisation wie diese bezwingen? Das hier war kein Märchen, das war die bittere Realität, eine Welt, die Helden schon früh an ihrem Eifer ersticken lässt und sie mit herausquellenden Augen und einem zahnlos geifernden Lächeln zurücklässt.

Als ich das Lokal verließ und in die herbstliche Kälte hinaustrat, bemerkte ich auf einmal eine junge Frau, die neben der mit Kreide aufgemalten Speisekarte an der steinernen Wand lehnte und lächelte. Normalerweise wäre sie mir gar nicht aufgefallen, doch ein Lichtstrahl, der aus der geöffneten Türe fiel, tauchte ihr Haar in goldenes Licht und entlarvte sie als Ausländerin. Ihre blauen Augen schienen zu funkeln wie die einer hungrigen Katze, als sie mich erblickte.

Alles Einbildung.

„Möchtest du eine Zigarette?“

Sie streckte eine perfekt manikürte Hand aus, in der eine frische Zigarette lag, die angenehm nach Tabak duftete und nicht nach beißendem Rauch, der sich einem in die Kehle fraß.

„Nein danke, ich bin Nichtraucherin.“

Ihr Lächeln wurde breiter. „Natürlich, wie dumm von mir.“ Sie sprach komplett akzentfrei, wie mir jetzt auffiel. „Du siehst viel zu brav aus für jemanden, der mit Zigaretten seine Gesundheit aufs Spiel setzt. Du trinkst nicht einmal Alkohol, nicht wahr?“

Ich dachte an die Cola, die ich mir eben bestellt hatte, obwohl es eigentlich schon zu spät gewesen war für ein solch koffeinhaltiges Getränk und wurde ärgerlich. „Das geht sie ja wohl nichts an.“

Ich wollte schnell weitergehen, damit sie nicht merkte, wie ich rot wurde, weil ich eben eine Fremde in einem derartig schroffen Tonfall angesprochen hatte, doch sie hielt mich zurück.

„Akemi Miyano, nicht wahr?“

Ich drehte mich überrascht um. „Was?“ Da war wieder dieses katzenhafte in ihren Augen. „Woher wissen Sie das?“

Sie zwinkerte vergnügt, als hätte ich etwas besonders amüsantes gesagt und streckte mir wieder die Hand - diesmal ohne Zigarette - hin.

„Mein Name ist Vermouth.“
 

Und wieder hatte sich ein ungewollter Beobachter in die Szenerie geschlichen. Ein Mann stand nicht weit von ihnen im Schatten eines großen Gebäudes, verborgen vor aller Augen, und musterte die beiden Frauen nachdenklich.

War das vielleicht der Wink des Schicksals auf den er gewartet hatte?

Die blonde Frau kam ihm bekannt vor, nein, er kannte sie. Obwohl es durch nichts begründbar war, entstand in seinem Kopf die Idee, dass das Mädchen, das bei ihr war, ihm helfen konnte. Sie wirkte anders. Anders als diese Brut. Sie war ihm völlig unbekannt, aber etwas an ihr, ließ ihn ihr vertrauen, seine Hoffnung in sie setzen. Es war wie ein geisterhafter Umhang, der um ihre Schulter lagen, das klischeehafte Strahlen einer reinen Aura, ein Gedanke, der ihn spöttisch grinsen ließ. Ja, das Mädchen wirkte tatsächlich wie ein gefallener Engel, wie sie da stand und die Frau mit aufgerissenen Augen anstarrte. Als hätte sie zum ersten Mal das Böse erblickt. Er wusste nicht wie, er wusste nicht warum, aber dieses Mädchen würde ihm helfen. Sie würde die ersehnte Erlösung verheißen und den Stein ins Rollen bringen, der die Organisation überrollen und in Schutt und Asche legen würde. Zweifellos ein Wink des Schicksals. Behutsam zog er sich in die Schatten zurück.
 

„Vermouth? Sind Sie etwa…?“ Ich merkte, wie mir leicht schwindelig wurde. Ein Codename. Alkohol. Mein Mund wurde trocken.

Sie lachte. „Ganz recht, Darling, ich bin eine von ihnen.“

Ich hatte das Bedürfnis wegzulaufen und mich zu verstecken wie ein kleines, ängstliches Kaninchen. Vielleicht war ich das auch. Ein Kaninchen, das dumm genug war, sich in einem Fuchsbau zu verstecken.

„Aber keine Sorge…“, fuhr sie unbeirrt fort „ich tue dir nichts. Warum denn auch? Du bist jetzt eine von uns.“ Ihre Hand strich mit beängstigender Sanftheit über meine Wange. Ich zuckte zusammen, als hätte sie mich geschlagen.

„Im Gegenteil, ich möchte dir helfen. Ich glaube nämlich, dass du mindestens genauso viel Potenzial wie deine Schwester hast.“

Genauso viel Potenzial, flüsterte es in mir. Hatte das überhaupt schon jemals jemand zu mir gesagt? Dass ich potenzial hatte? Ich war doch immer die graue Maus gewesen. Das Mädchen, das niemand sah. Ich war immer eine Magierin gewesen, die nicht einmal ihren Zauberstab zücken musste, um ihre wunderbar schreckliche Gabe zu entfalten. Ich war immer unsichtbar gewesen. Keine Magie, kein überlegener Zauber, nichts als ein Fluch. Ein Fluch, der mich zu einem Schatten machte, einer bloßen Idee, die hoffte, betete, aber niemals lebte. Ich existierte überhaupt nicht. Obwohl ich das bereits wusste, wurde es mir in diesem Moment auf so schockierende Weise klar, dass es mir auf einen Schlag meine gesamte Kraft nahm. Ich sank vor der blonden Frau auf die Knie. Diese blickte mich von oben mit einem mitleidigen Lächeln an. Pass auf die Krähen auf, sonst picken sie dir die Augen aus.

„Keine Angst, mein Kind, vertraue mir und ich werde dich retten.“

Es gibt kein Zurück mehr

„Hier werde ich also arbeiten?“ Etwas unsicher sah ich mich in der großen Halle um, die durch ihre hohe Decke und die riesigen Fenster den Anschein erweckte, noch gewaltiger zu sein. Die Wirkung wurde auch nicht durch die spärliche Möblierung gemindert, die nur aus ein paar Sitzgelegenheiten und Bankautomaten bestand. Ich atmete tief durch und ging zu einem der Schalter, an dem eine adrett gekleidete junge Frau uns bereits mit einem freundlichen Lächeln erwartete.

„Willkommen in der Mitsubishi UFJ, mein Name ist Keiko Suzumi.“ Der Händedruck, den sie mir gab, war überraschend fest für eine so zierliche Frau und auch so wirkte ihr Auftreten sehr bestimmt und energisch, eine Frau von Welt, die genau wusste, was sie wollte. Obwohl ich schon öfter in einer großen Bank gearbeitet hatte, war ich dennoch nervös. Vielleicht, weil es Vermouth gewesen war, die mir diesen Job besorgt hatte und sie immer noch ein wenig unheimlich auf mich wirkte, oder aber, weil ich nun selbst ein Mitglied dieser grausigen Organisation war, die meine Schwester in ihrem Spinnennetz gefangen hatte und nun damit begann, sie bei lebendigem Leibe zu verdauen, während ich noch an den seidigen Fäden zappelte und auf die Spinne wartete. Vermutlich war das ein guter Grund, um etwas angespannt zu sein.

„Sie haben sich für die Stelle, die frei geworden ist, beworben, nicht wahr?“

Wieso betont sie das Wort „frei“ so eigenartig, oder bilde ich mir das ein?

Als ich ihren fragenden Blick bemerkte, beeilte ich mich zu antworten. „Äh… ja, genau, ich bin Akemi Miyano. Ms. Vineyard hat mir diese Stelle vermittelt.“

Keiko lächelte wissend. „Natürlich.“ Sie nickte Vermouth zu. „Wir sind alte Freundinnen, musst du wissen, da ist es selbstverständlich, dass ich ihr einen Gefallen tue und beim Chef ein gutes Wort für ihren Schützling einlege.“ Der flüchtige Blickwechsel zwischen ihr und Vermouth entging mir nicht und gab mir sofort ein ungutes Gefühl, doch ich beschloss, zu schweigen. Unter diesen Umständen war es ganz normal, dass ich ein wenig paranoid wurde und in jeder Kleinigkeit mehr zu sehen glaubte, als dort tatsächlich war. Außerdem hatte Vermouth gesagt, dass sie mir helfen würde, warum also, sollte sie jetzt plötzlich ein falsches Spiel mit ihr spielen?

Weil sie eine manipulative Massemörderin ist.

Ärgerlich über mich selbst, verdrängte ich diesen Gedanken rasch. Es war nicht fair, vor schnell über sie zu urteilen. Ich kannte sie ja nicht und womöglich war sie ähnlich wie Shiho in diese Organisation gelangt, als Kind, vollkommen allein und schutzlos, ohne eine Chance auf Rettung oder Hilfe.

Wie grausam wäre ich dann? Nun schämte ich mich beinahe für meine Gedanken und war erleichtert, dass ich sie nicht ausgesprochen hatte. Es würde alles ganz einfach sein, genauso, wie sie gesagt hatte.
 

„Du bist hier, weil du deine Schwester befreien willst, nicht wahr?“

Das durch unser Schweigen hervorgerufene Knistern in der Telefonleitung, erinnerte mich an das Geräusch von kleinen Ästen, die im Feuer brachen.

„Woher?“

„Komm schon, ich bin nicht dumm. Aus welchem Grund könntest du sonst einer Organisation wie dieser beigetreten sein? Du bist keine Verbrecherin, dass sehe ich in deinen Augen. Sie sind klar und rein, wie die eines Engels.“

Ein Engel? Auf einmal kam mir Shihos Lächeln ins Gedächtnis und tanzte wie ein einst farbenfrohes Porträt längst verflossener Jahre vor meinem inneren Auge. Ist sie etwa kein Engel?

„Meine Schwester…“

„Sie hatte keine eigene Wahl.“ Ihr Lachen klang glockenklar und dennoch erinnerte es mich ein bisschen an das selbstzufrieden Kichern einer Hyäne, die gerade einem Löwen einen besonders großen Kadaver vor der Nase weggeschnappt hatte. „Sie hat getan, was getan werden musste und nun ist es an dir, es zu tun.“

Ich blickte in den Spiegel vor mir und sah mein verängstigtes, müdes Gesicht mit seinen großen, tiefbraunen Augen, die mir zweifelnd entgegenstarrten. Was getan werden muss.

„Also, wie gedenkst du, sie rauszuholen?“

„Nun… ich weiß nicht… vielleicht mit Geld?“ Auf einmal wurde mir bewusst, wie schrecklich naiv ich gewesen war. Ich hatte mich eingeschleust, um bei ihr sein zu können und um ihr zu helfen, von der Organisation loszukommen. Irgendwann. War ich wirklich so einfältig? Wie konnte ich glauben, dass sie sie einfach gehen lassen würden, nach allem, was sie für sie getan hatte. Sie war von unschätzbarem Wert für die Organisation, ein Schatz, den sie um keinen Preis aufgeben würden.

„Nun, jeder hat seinen Preis, oder nicht? Ich könnte mich schon nach einer Möglichkeit für dich umsehen, ein bisschen Geld beiseite zu schaffen. Sherrys Projekte werden ja nicht ewig dauern, womöglich gibt es also wirklich noch Hoffnung, sie aus der Organisation freizukaufen.“

Erleichterung machte sich in meinen Zügen breit und entspannte meine furchtsamen Augen.

„Sie meinen also, sie können mir tatsächlich helfen?“

Wieder dieses Lachen. Als würde ich sie amüsieren, wie ein lustiger Hund, dem man Stöckchen zuwirft.

„Nun, ich kann sehen, was ich tun kann. Eine Freundin von mir arbeitet in einer Bank, ich werde einfach mal nachfragen, ob sie eine Stelle für dich freihätten. Du hast doch während deines Studiums schon einmal in einer Bank gearbeitet, oder?“

Wie gut sie sich informiert hat.

„Aber ich habe nicht allzu viel verdient, weil ich nur eine Aushilfe war. Würde das Geld denn reichen, um Shiho, äh Sherry, befreien zu können?“

„Wenn du normale Aufgaben erfüllst, wohl eher nicht. Allerdings…“

Ich wurde hellhörig. „Ja?“

Die bedeutungsvolle Pause, die mit ihrer Stille den gesamten Raum, und nicht zuletzt auch mein Herz ausfüllte, drohte beinahe mich wie einen kleinen Käfer zu zerquetschen. …Ja?

„Es gäbe für dich die Möglichkeit, Transaktionen für die Organisation durchzuführen. In diesem Fall würden wir dir ein ordentliches Gehalt zahlen.“

„Illegale Transaktionen?“ Ein unbehaglicher Kloß hatte sich in meiner Kehle gebildet, doch ich zwang mich, mich zusammenzureißen. Du tust es für Shiho.

„Was glaubst du denn?“

„Also schön. Ich bin bereit sämtliche Aufträge der Organisation auszuführen, solange meiner Schwester kein Haar gekrümmt wird.“

Ich war nicht halb so selbstbewusst, wie meine Stimme, die überraschend fest klang, zu vermitteln versuchte. Der Gedanke daran, dass es für mich jetzt kein Zurück mehr gab, sorgte auch nicht gerade dafür, dass ich mich besser fühlte, sondern ließ mehr denn je den Wunsch von mir Besitz ergreifen einfach fortzulaufen und mich nicht ein einziges Mal umzudrehen.

„Das hört man gern.“

Aufgelegt.
 

„Das hier ist Ihr neuer Arbeitsplatz.“ Keiko Suzumi hatte uns schnellen Schrittes in ein winziges Zimmer geführt, das sich als ein sporadisches, aber modern und sauber eingerichtetes Büro entpuppt hatte.

„Ich bekomme ein eigenes Büro?“

Die Angestellte nickte. „Du wirst vor allem für die Transaktionen von Firmen zuständig sein, die Diskretion und eine private Atmosphäre bevorzugen.“

Bevor ich nachhaken konnte, was genau sie damit meinte, war sie durch die, wie alles in diesem Raum, weiß lackierte Tür, verschwunden und hatte mich allein mit Vermouth zurückgelassen.

Diese lächelte überraschend warmherzig, so, wie vielleicht eine Mutter ihre Tochter anlächeln würde, die gerade ihren ersten Job gefunden hatte und nun fast schon auf eigenen Beinen stand.

„Das ist doch großartig gelaufen, oder? Jetzt wird es Zeit, dass du dich einmal in der Praxis erprobst.“

Sie griff in die ledrig-braune Aktentasche, die sie bei sich trug und überreichte mir eine Mappe mit Unterlagen. „Halte dich genau an die Anweisungen, dann solltest du keine Probleme haben. Wenn der Auftrag reibungslos über die Bühne geht, kriegen wir das Okay von Anokata und du kannst weitermachen.“

Sie zwinkerte mir aufmunternd zu. „Viel Glück, Darling.“
 

„Ich denke, das Präparat ist vielversprechend, allerdings sollten wir noch ein wenig hiervon hinzufügen.“

Shiho nickte die Chemikalie, die er ihr zeigte, mit einem ausdrucklosen Gesicht ab.

Gleich wird er es einer armen kleinen Maus spritzen und sie wird vermutlich daran krepieren.

„Ich verlasse mich auf Sie.“

Seufzend beendete sie ihren Rundgang und nahm wieder an ihrem Arbeitsplatz – einem langen weißen Tisch, voller Unterlagen, Gläser und Fläschchen – Platz und blätterte in einer Akte. Obwohl sie mit aller Kraft versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, gelang es ihr nicht. Viel zu viele Gedanken spukten in ihrem Kopf, machten sie wirr und drehten sich in einer irren Spirale wie ein kaputtes Karussell.

Warum hast du das getan, Akemi? Warum bist du hier?

Alles an der Vorstellung, Akemi würde nun auch einer der zahlreichen Schatten der Organisation werden, widerstrebte ihr. Die fröhliche, liebevolle Akemi, ein namenloser Schatten? Ein willenloses Geschöpf, dessen Schicksal einer höheren Macht oblag, die mit ihnen spielte, ganz wie es ihr gefiel?

Als wären wir nicht mehr als Schachfiguren. Rauben sie uns deshalb unsere Namen?

Ihren ganzen restlichen Arbeitstag lang, wollten die Fragen einfach nicht aufhören, sie zu quälen. Wie obskure Geister, die die Menschen entgegen jedes Mythos auch am Tag nachstellten, stahlen sie sich in ihr Gehirn und schienen ihr jeden klaren Gedanken stehlen zu wollen.

Und dabei ist die reale Welt noch viel schrecklicher als die Gespenster, die wir uns erschaffen.

„Na, Kleine? Verstößt es nicht gegen irgendein Gesetzt, dass du so spät noch arbeiten musst?“

Vor Schreck hätte sie beinahe ihre Unterlagen fallen lassen, als sie den warmen Atem in ihrem Nacken spürte. Es roch unangenehm nach Rauch und verschwitzter Männerkleidung.

„…Gin? Müssen Sie sich so anschleichen?“ Vermutlich galt eine solche Anrede schon als zu forsch, aber der Schock saß so tief in ihren Gliedern, dass es ihr herzlich egal war. Ihm ging es anscheinend ähnlich, denn er lachte nur selbstgefällig.

„Entschuldige bitte. Ich komme gerade von einem Auftrag und bin es wohl einfach noch gewohnt, mich lautlos zu bewegen.“ Seine Lippen kräuselten sich zu einem leicht spöttischen Grinsen, während er sprach. Der unangenehme Rauchgeruch kam von der Zigarette, die er in seinen Mundwinkel geklemmt hatte.

„Äh…“ Shiho räusperte sich, schon um einiges weniger vorlaut. „Können Sie vielleicht die Zigarette ausmachen? Hier befinden sich viele leicht brennbare Materialien.“

„Aber selbstverständlich, junge Dame.“ Er schnipste den Stummel in den Papierkorb, knapp vorbei an einigen wertvollen und vor allem hochentzündlichen Flüssigkeiten. Shiho glaubte, ihr Herzschlag würde einen Moment lang aussetzen.

Ist dem Typen bewusst, dass er uns gerade fast in die Luft gejagt hat?

„Du hast doch nichts dagegen, wenn ich dich mal besuchen komme, oder?“ Seine behandschuhte Hand streckte sich auf einmal ihrem Gesicht entgegen. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, hatte er ihr Kinn im festen Griff und zwang sie, ihn anzusehen. Was wird hier gespielt?

„Man könnte sagen, ich bin ein Liebhaber der Forschung.“ Er grinste gemein und seine giftgrünen Augen fixierten ihre mit einer zu dem wahnsinnigen Feuer in seinen Pupillen ambivalenten Kälte.

„Aber Sie, Sie haben eigentlich keinen…“

„Shh…“, sein Finger legte sich auf ihre Lippen, dann wanderte seine andere Hand nach unten und schnürte sich fest wie ein Schraubstock um ihren Unterarm. Shiho spürte, wie ihr in bleierner Vorahnung schwindelig wurde und sie das Gefühl hatte, in ein tiefes Loch zu fallen, ein Loch, aus dem es keine Wiederkehr, kein Zurück, mehr geben sollte. „Du wirst mich schon nicht verpfeifen, oder meine Süße?“

Seine eiskalten Lippen pressten sich auf ihre und seine Zunge glitt in ihren vor Schreck geöffneten Mund, wie die wulstigen Finger eines Dämons, der ihr die Seele aus dem Leib reißen wollte.

Kein Zurück.

Keine Fragen stellen

Eine wohlbekannte Melodie wirbelte durch meine Gedanken, als mein Telefon klingelte. Hastig drückte ich den Anrufer weg, ohne überhaupt nachzusehen, wer es war. Meine neuen Arbeitgeber sahen es sicher nicht gerne, wenn ich Privatgespräche führte, obwohl jederzeit Kunden anrufen konnten. Außerdem hatte sich Vermouth angekündigt. Es war jetzt bereits über eine Woche her, dass sie mir diesen Job verschafft hatte und langsam begann ich, mich einzuarbeiten. Das Gefühl war immer noch etwas eigenartig, ich erfüllte Aufträge ohne Fragen zu stellen, verschickte riesige Geldmengen über den ganzen Globus und zerstörte vielleicht das ein oder andere Leben, ohne dass ich es überhaupt mitbekam. Dieser Gedanke war so unbehaglich, dass ich ihn schnell wieder verdrängte und stattdessen einige Überweisungsscheine unterschrieb. Stell keine Fragen.

„Und, wie läuft’s?“

Obwohl ich damit gerechnet hatte, hob ich überrascht den Kopf. Vermouth stand mit einem lippenstiftbemalten Lächeln in der Tür, in beiden perfekt manikürten Händen, was mir für eine Killerin seltsam vorkam, zwei Coffee-To-Go. „Ich hatte gedacht, wir könnten gemeinsam Mittagspause machen. Deine Chefin hat sicher nichts dagegen, Keiko ist ganz begeistert von dir.“ Sie zwinkerte mir freundlich zu. Vielleicht hätte es mich damals wundern sollen, dass sie immer so liebenswürdig zu mir war, hätte an ihr zweifeln sollen, so wie ich es anfangs getan hatte. Aber mittlerweile war meine Devise geworden, keine Fragen zu stellen. Verschwiegenheit war die Maxime meines Jobs und in gewisser Weise auch die der Organisation, in die ich hineingeraten war.

Misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen.

„Gerne.“ Ich packte hastig die Unterlagen zusammen, die niemals unbeobachtet herumliegen durften und folgte ihr in den Aufenthaltsraum der Bank, der extra für die Mitarbeiter angelegt worden war.
 

„Und, wie schlägt sich dein kleines Vögelchen?“

Vermouth lehnte sich entspannt zurück und nippte an ihrem Martini. „Sehr gut, danke der Nachfrage, Gin.“

Er hob spöttisch die Augenbrauen, ihre leicht ironische Stimmlage entging ihm ganz und gar nicht. Einen Kommentar verkniff er sich allerdings, die Freude darüber, dass sie ihn nur allzu leicht zur Weißglut bringen konnte, gönnte er ihr nicht.

„Das hätte ich nicht erwartet. Sie wirkt wie ein ziemlicher Gutmensch.“

„Das ist sie auch.“ Vermouth lächelte triumphierend. „Und solche Menschen kann man leichter manipulieren als jeden anderen. Gute Menschen sind oftmals vor allem eines – gutgläubig. Es war ein leichtes, sie zu überzeugen, dass sie ihre Schwester retten kann, wenn sie nur genug Geld für uns verdient. Was für ein armes Ding.“ Lachend fuhr sie sich durch die platinblonde Mähne, die offen weit über ihre Schultern hinabfloss, wie ein goldener Sturzbach. Bedauernswert.

Gin fuhr mit seiner behandschuhten Hand über einen kleinen Riss in der sonst makellosen Tischplatte und sah dann wieder zu ihr auf. „Sie tut das alles also tatsächlich für ihre Schwester? Interessant. Was glaubst du, wie weit du sie noch bringen kannst?“

„Nun, vermutlich würde sie für sie sterben, aber das ist gar nicht mein Ziel.“

Gin runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“

„Wie wohl?“ Sie zog das tiefdunkle Rot ihrer Lippen sorgsam nach, als hätte sie alle Zeit der Welt dafür. Oh, wie er es hasste, dass sie ihn ständig auf die Folter spannen musste.

„Ich hatte doch bereits gesagt, dass ich Zweifel zwischen ihnen sähen möchte. Ich werde dafür sorgen, dass sie selbst zu dem schwarzen Monster wird, dass sie so sehr fürchte, werde offenbaren, dass sie genauso ist wie wir. Selbst ein Engel verkommt, wenn du ihn direkt in die Hölle schickst.“

„Wie poetisch.“ Er trank ebenfalls einen Schluck und stellte das Glas etwas härter als nötig ab, als wäre er bereit betrunken und hätte seine Handlungen nicht mehr richtig unter Kontrolle. „Aber auch Jammerschade. Es wird ihrem Schwesterchen das Herz brechen.“ Vermouth entging nicht, dass seine Augen ein beinahe bestialisches Funkeln bekamen, als er von Sherry sprach. Er erinnerte ein wenig an ein Raubtier, das über seine letzte Mahlzeit nachdachte und genüsslich die letzten Fleischfetzen von den blutigen Lippen leckte. Sie schauderte.
 

Nachdem Vermouth gegangen war, hatte ich auch bald Dienstschluss. Gleichsam müde und erleichtert trat ich aus dem Gebäude hinaus, womit zumindest meine oberflächlichen Gefühle beschrieben waren. Innerlich wäre verstört wohl der treffendere Ausdruck gewesen. Das Gespräch mit Vermouth war nicht besonders ausführlich gewesen, zumindest anfangs hatte es nur aus Smalltalk bestanden. Dann jedoch war sie dazu übergangen, über meine Schwester zu reden. Sie hatte erzählt, wie gut es Shiho hier gefiel, wie viel Macht sie bereits innehatte und ihre Stimme hatte bedauernd geklungen, es waren die Worte einer Mutter gewesen, die ihrem Kind beizubringen versucht, dass eine enge Vertraute gestorben ist. Gestorben.

Sag Shiho, bist du schon tot? Bist du eine von ihnen?

Ein schwarzer Totengräber?

„Akemi?“

Mein Blick versteinerte, als ich aufsah. Ich hatte nicht damit gerechnet, sie so schnell wiederzusehen, aber womöglich war das Gespräch ein Omen gewesen. Krähen sind bekanntlich nicht weit, wenn irgendwo Fleisch verwest.

„Shiho, was machst du hier?“ Meine Stimme klang härter als gewollt. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass ich so klingen konnte. Alt und verbittert, rau und scharf wie zersplittertes Holz. Shiho schien auch schockiert zu sein, auch wenn sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Ihr Zurückzucken war mir trotzdem nicht entgangen.

Hast du Angst vor mir? Gehörst du zu ihnen?

„I-ich wollte dich nur besuchen. Es hieß, du arbeitest jetzt hier.“ Im Gegensatz zu meiner wirkte ihre Stimme unsicher und zittrig, als wäre das Selbstbewusstsein nur eine Fassade gewesen, eine dünne zweite Haut, die man nur allzu leicht fortwischen konnte.

„Ja, tut mir leid, ich bin nur etwas müde vom langen Arbeitstag.“

„Ich auch… Können wir vielleicht irgendwo reden?“

Ich schluckte. Sie klang immer noch fremd, aber nicht nur unsicher, sie klang verängstigt. Irgendetwas Furchtbares musste ihr widerfahren sein, ihre Augen hetzten von einer Ecke zur anderen, wie die eines fliehenden Tieres und ihre Lippen waren vollkommen blutleer. Nur keine Fragen stellen.

„Dort hinten ist ein kleiner Park, wir können Spazieren gehen.“
 

Wenig später durchschritten wir zusammen in bedächtigem Schweigen die sich durch symmetrisch angelegte Grünflächen schlängelten Wege. Keiner von uns wagte es, etwas zu sagen, vielleicht fürchteten wir uns ja beide davor, was wir gleich aussprechen würde.

Weil es uns verändern wird. Oder hat es das schon?

„Ich…“

„Wie läuft die Arbeit denn so?“, schnitt ich ihr unabsichtlich das Wort ab. Wieder zuckte sie zurück und blickte hastig zu oben, was mich wieder an ein gehetztes Tier denken ließ.

Reh oder Wolf? Taube oder Krähe? Wollen wir spielen?

„Gut.“

Schweigen.

„Es ist kompliziert. Irgendwie ist alles ein bisschen…“ Sie lachte gequält. Die Äderchen in ihren Augen sahen aus, als würden sie jeden Moment hervorquellen und blutige Rinnsale über ihr Gesicht fließen lassen. Sie zitterte nun am ganzen Körper.

„Shiho? Was ist mit dir?“

„Ich…“ Gerade, als ich mir sicher war, ihre Augen würden aus den Höhlen quellen, schlossen sie sich die Lider langsam und sie brach zusammen. Obwohl ich es nicht hatte kommen sehen, packte ich sie überraschend schnell und drückte sie an mich. Tränen liefen über mein Gesicht, als ich sie fest in meine Arme schloss und ihren Puls fühlte.

„Shiho?!“

Ich hatte das Gefühl, mein eigener Herzschlag würde aussetzen, erst, als ich das zarte Pochen fühlte, konnte ich mich beruhigen. Du lebst. Doch das war nur ein kurzer Trost, der sofort von meiner Panik verdrängt wurde, als ich an die erschrockenen Augen dachten, die wie zerbrochene Glasmurmeln gewirkt hatten, milchig und voller Risse. Tot.

„Keine Angst.“ Mit den eigenen Augen voller Tränen sah ich auf. Vermouth stand direkt vor uns und hielt einen dunkelroten Regenschirm schützend über uns. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass es zu regnen begonnen hatte. Erst jetzt realisierte ich, dass die dicken Tropfen über unsere Wangen gelaufen waren und sich mit den salzigen Tränen vermischten. „Was ist mit ihr?“

Die hübsche blonde Frau sah mich mitleidig an, wieder war ich das Kind, das nichts verstand.

Erklärst du‘s mir Mama? Bitte! Ich esse auch das ganze Gemüse auf…

„Sie ist nur überarbeitet. Anscheinend gibt sie ihr ganzes Herzblut für die Organisation.“ Sie lächelte gütig. „Es tut mir leid, ich weiß, du willst alles tun, um sie zu befreien. Aber du kannst Menschen nicht zu ihrem Glück zwingen.“

Ich riss die Augen auf. „Meinst du…?“

Sie will gar nicht zurück. Sie ist freiwillig hier, obwohl es sie umbringt.

Auf einmal war ihr Blick furchtbar traurig, so verletzt, dass ich glaubte, einen Spiegel meiner eigenen Gefühle zu sehen. Aber ist sie nicht eine Schauspielerin?

Stell keine Fragen, mein Kind.

Das Spiegelbild bleckte die Zähne, als echte Tränen die eingefallenen Wangen herunterliefen. Einen Moment lang sah ich einen Totenschädel vor mir, eine groteske Fratze, die mich grausam anlächelte.

Wollen wir spielen? Du rennst…

Dann war der Spuk vorbei. Vor mir stand wieder die schöne Vermouth, mit reinen, aber tieftraurigen Kobalt-Augen. „Deine Schwester hat sich verändert, Akemi. Sie gehört jetzt einer anderen Welt an.“

Eine Welt, in die ich nicht passe.

Einsame Seelen

„Danke, dass du mich neulich nach Hause gebracht hast.“

„Keine Ursache.“, erwiderte ich knapp.

„Nein, wirklich, ich weiß nicht, was mit mir los war.“ Sie schluckte, als wüsste sie es ganz genau – was vermutlich der Wahrheit entsprach – und brächte es nicht über sich, es in Worte zu fassen.

„Schon gut.“ Ich ärgerte mich selbst über meine schroffe Art, die mir so gar nicht entsprach, aber ich konnte auch nicht einfach zu Normalzustand zurückkehren. So lächerlich es auch war, aus irgendeinem Grund fühlte ich mich durch das Verhalten meiner Schwester verletzt, so als hätte sie mich einfach ausgetauscht, ersetzt durch die Organisation und zurückgelassen wie einen Kadaver, den ein Vampir bis auf den letzten Tropfen Blut leergesaugt hatte.

„Akemi…?“

„Ja?“

„Können wir uns nachher im Chez Louis treffen? Ich würde gerne mal wieder mit dir Plaudern, irgendwas Normales machen.“ Sie zögerte kurz. „Fernab von alledem.“

Ich nickte automatisch, obwohl sie das natürlich nicht sehen konnte. „Klar. Um fünf bin ich fertig mit der Arbeit, denke ich.“

„Bis dann.“ Ihre Stimme, die das ganze Gespräch über leise und zittrig gewesen war, klarte ein wenig auf. Beinahe glaubte ich, wieder die alte Shiho zu hören und nicht dieses düstere, verstörende Ding, das die Organisation aus ihr gemacht hatte.

Nicht das Ding mit den Glasmurmel-Augen, den furchtbar toten, leeren Augen…
 

Da Keiko mich schon um halb fünf mit der Begründung, ich würde mich noch überarbeiten, gehen ließ, beschloss ich, Shiho abzuholen. Vielleicht würde das ja schon gleich zu Anfang eine versöhnliche Stimmung schaffen und uns unsere Differenzen vergessen lassen. Immerhin hatte ich mich noch nie mit Shiho konkret über das Thema unterhalten, da ich mir immer Sorgen gemacht hatte, sie irgendwie zu ängstigen oder zu verletzen, wo ihr Leben doch so eng mit der Organisation verknüpft war.

Untrennbar?

Womöglich wurde sie dazu gezwungen, so hart zu arbeiten und Vermouth hatte gelogen. Wirklich erfüllt hatte sie schließlich nicht ausgesehen, eher verängstigt. Je mehr ich darüber nachdachte, desto heftigere Gewissensbisse bekam ich. Auf einmal erschien alles, was ich mir zusammengereimt hatte, lächerlich absurd, abstoßend und kindisch. Es waren die Gedanken eines dummen, eifersüchtigen Kindes, das nicht mehr die volle Aufmerksamkeit bekam und nicht die einer großen Schwester, die sich um ihr einzig gebliebenes Familienmitglied sorgte. Shiho hatte vermutlich Probleme, war verzweifelt, nervlich am Ende – und ich, die ich sie hatte retten wollen? Ich hatte mich wunderbar in meinem Job eingefunden, in meinem neuen Leben und war bereit gewesen, sie im Stich zu lassen, ohne mir dessen überhaupt bewusst zu sein.

Ist es das, was sie mit den Menschen machen? Verhexen sie sie so?

Ich glaube, erst von diesem Augenblick an begann ich, ihre wahre Natur vollkommen zu erfassen. Erst jetzt wurde mir klar, wie finster und schrecklich, wie skrupellos sie wirklich waren. Schwarze Todesgötter, die vor nichts und niemandem zurückschreckten.

Pass auf die Krähen auf, wenn sie hungrig sind, dann stürzen sie sich in Scharen auf dich und zerhacken dein Gesicht, bis dir die Augäpfel wie Tränen über die Wangen laufen. Pass auf…

Viel zu scharf bog ich in die Straße ein, in der Shiho wohnte und erntete ein entrüstetes Hupen des Fahrers hinter mir. Entschuldigend hob ich die Hand. Ich war so sehr in meinem grausigen Gedankenspiel versunken gewesen, dass ich kaum auf den Verkehr geachtet hatte und konnte von Glück sagen, dass nichts Schlimmeres passiert war. Um mich zu beruhigen, atmete ich ein paar Mal tief durch.

Trottel, wenn du tot bist, hilfst du deiner Schwester am wenigsten.

Wesentlich besser gelaunt, als noch zu Beginn des Tages, parkte ich auf der gegenüberliegenden Seite des Wohnkomplexes und wollte gerade aussteigen, als ich einen europäischen Wagen mit schwarzer Lackierung davor anhalten saß. Reflexartig duckte ich mich.

Wo habe ich diesen Wagen schon einmal gesehen?

Die Antwort sollte ich wenige Sekunden später erhalten. Fassungslos starrte ich auf die hochgewachsene Person, die überraschend elegant aus dem kleinen Auto stieg und zielstrebig auf die Haustür zuging.

Soll ich dir noch was über Krähen sagen?

Nein, dachte ich, hör auf. Ich kann das alles nicht ertragen.

Wenn sie einmal eine Beute gefunden haben, dann warten sie geduldig…

Was ist denn nun die Wahrheit?

…und schlagen schließlich zu, wenn wir es am wenigsten erwarten.
 

Mit freudiger Überraschung lief Shiho zur Tür, als es läutete. Dass Akemi sie abholen kam, war ein gutes Zeichen, bestimmt war wieder alles in Ordnung zwischen ihnen – oder es würde es bald sein. Sie hatte keine Ahnung, was mit Akemi los gewesen war, vielleicht war sie überarbeitet gewesen. Oder widmete sie ihr nicht genug Aufmerksamkeit? Eigentlich hatte es immer ein stummes Verständnis zwischen ihnen gegeben, innere Absprachen, ein tiefes Vertrauen, wie es nur Geschwister kannten. Ihr die Schuld für etwas zu geben, passte eigentlich gar nicht zu Akemi, aber…

…Menschen ändern sich.

Bestimmt macht sie einfach nur eine schwere Zeit durch, verscheuchte sie den Gedanken ärgerlich. Ich bin egoistisch, wenn ich glaube, nur weil sie nicht so tief in der Organisation drinsteckt, wie ich, hat sie keine eigenen Probleme. Vielleicht zeige ich ja zu wenig Wertschätzung für ihre Opfer?

Als sie die Tür öffnete, fühlte sie sich etwas zerknirscht, sie beschloss, sich sofort zu entschuldigen und Akemi zu zeigen, dass sie sie für ihren Mut und ihre Aufopferung bewunderte, dass sie…

Sie erstarrte.

„Hallo, meine Schöne.“

Ihre versteinerten Augen, deren Pupillen winzig geworden waren, starrten in ein Meer aus blutroten Blüten, die aussahen, wie der tödliche Kranz, der sich um eine Schusswunde bildete. Darüber wuchs ein ihr wohlbekanntes Gesicht, aus dem sie grüne, funkelnde Habichtaugen fixierten. Sie wollte die Tür wieder zuschlagen, doch er hielt ihren Arm fest und schubste sie zurück in die Wohnung. Unsanft knallte sie auf den Dielenboden und erhob sich nur langsam wieder, die Glieder gelähmt von der bis eben vom Schock verdrängten Panik.

„Dabei wollte ich dir doch nur ein paar Blumen vorbeibringen. Rote Rosen sind doch deine Lieblingsblumen, oder?“ Er setzte ein gespielt trauriges Gesicht auf und kam noch einen Schritt auf sie zu.

„Bitte, verschwinde!“ Sie tastete nach dem Schuhlöffel, der gleich neben der Kommode stand, an die sie sich nun kraftlos lehnte. Vielleicht konnte sie ihn ja irgendwie außer Gefecht setzen und flüchten. Vielleicht wartete Akemi unten auf sie mit einem Wagen, vielleicht konnten sie gemeinsam fliehen.

„Aber, aber, wer wird denn gleich so wütend werden?“ Er blies einen Schwall Rauch in den Flur. „Das ist aber nicht die feine englische Art.“

Sie zog ihre Waffe mit einem Ruck hervor und donnerte sie Gin mit aller Kraft auf den Brustkorb. Dieser wich überrascht zurück und spuckte seine Zigarette aus. Die Hoffnung, er würde in die Knie gehen und sie könnte an ihm vorbeischlüpfen, solange er durch den Schmerz abgelenkt war, erwies sich leider als trügerisch. Gin dachte gar nicht daran, sich groß von ihrer Aktion beeindrucken zu lassen, lachend nahm er ihr den von der Wucht des Schlages gebrochenen Schuhlöffel aus der Hand und warf ihn in die Ecke.

„Du bist wirklich herzallerliebst, kleine Sherry.“

„Bestie.“, fauchte sie, während sie weiter zurückwich. Eine Waffe, dachte sie dabei, überraschend klar und sachlich. Ich brauche etwas, womit ich ihn vertreiben kann.

Ihr Blick fiel auf den Feuermelder, der kurz unterhalb der recht niedrigen Decke hing und unschuldig auf sie herabblinkte.

„Jetzt wirst du aber wirklich unhöflich. Ich habe dir doch gar nichts getan.“ Er grinste diabolisch. „Nichts, was du nicht auch wolltest, nicht wahr, Sherrylein?“

„Fahr zur Hölle.“ Wie durch ein Wunder gelang es ihr, sich von ihrer Lähmung zu befreien, vielleicht waren es die schmerzhaften Erinnerungen oder es war einfach die kalte Angst davor, alles noch einmal durchleben zu müssen, die ihr diese Kraft gab. Sie griff nach dem immer noch glühenden Zigarettenstummel und warf ihn so gut sie konnte nach oben, direkt unter den Rauchmelder. Zunächst befürchtete sie, der Rauch würde nicht ausreichen, um das Gerät zu aktivieren, doch anscheinend war es so fein gepolt, dass es schon bei kleinsten Irritationen ausschlug. Ein heulender Alarm ging los, so laut, dass die Türen der Nachbarwohnungen aufgingen und neugierige Bewohner zu ihnen hinüberblickten.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte ein älterer Herr besorgt. „Wenn es nicht wirklich brennt, müssen Sie schnell bei der Feuerwehr anrufen, sonst fahren die hier in ein paar Minuten vor!“

Sie nickte ihm zu, erleichtert, dass Gin keine Anstalten machte, jemanden anzugreifen. Das war der einzige Haken an ihrem Plan gewesen, die Furcht davor, er würde ausrasten und alle töten, doch am Ende hatten ihre Panik und vielleicht auch ihr Egoismus gesiegt, auch wenn sie sich einredete, sie hatte von Anfang an gewusst, dass Gin nicht riskieren durfte, aufzufallen und vor Anokata in Erklärungsnot zu geraten.

Er stand zunächst einfach nur da und starrte sie mit einer Mischung aus Verblüffung und Wut an, dann lächelte er plötzlich. „Du bist wirklich clever.“

Ohne ein weiteres Wort wandte er sich um und ging, doch der Schatten seines grimassenhaften Grinsens blieb zurück wie das nebulöse Abbild einer Lichtquelle, in die man zulange geschaut hatte ohne zu blinzeln.

Aber das wird dir nichts nützen, glaubte sie, wie eine Drohung aus seinen letzten Worten herausgehört zu haben.

Ich kriege dich trotzdem.
 

„So ist das also.“, murmelte ich immer noch fassungslos und startete den Motor. Wenn Shiho sich in der Organisation unwohl fühlte, warum kam dann ein hochrangiges Mitglied zu ihr? Mit einem Strauß Rosen in der Hand? Ein geschäftliches Treffen, zu dem sie gezwungen wurde, durfte es wohl kaum gewesen sein. Der Gedanke daran, dass Shiho scheinbar eine Beziehung mit einem dieser Monster eingegangen war, machte mich gleichsam wütend und traurig.

Bist du wirklich so blind? Siehst du nicht, was sie machen?

Ich hatte sie immer als Opfer gesehen, als jemanden, der keine andere Wahl hatte, doch langsam fragte ich mich wirklich, ob sie ihr Schicksal vielleicht längst akzeptiert hatte, ja sogar Gefallen daran fand. War ich die Einzige, die sich daran störte? Hatte ich vielleicht die ganze Zeit Recht gehabt? Hatte Vermouth gewusst, was zwischen Shiho und diesem Kerl lief?

Ganz entgegen meiner sonst sehr vorsichtigen Natur, gab ich mehr Gas, als nötig gewesen wäre, als ich an der Ampel anfuhr. Ich wollte einfach nur weg, weg von dieser kranken, verlogenen Welt. Weg von einem Ort, der aus Tauben Krähen machen konnte und weg von den Menschen, die perverse Spiele mit den Leben anderer Leute spielten.

Das ist also die Wahrheit. Hast du es nicht immer geahnt?

Vermutlich hätte man mir im Nachhinein vorwerfen können, ich hätte nicht aus meinen Fehlern gelernt, oder aber, hätte in den Folgen meines leichtsinnigen Verhaltens vor der Ankunft bei Shiho ein Omen oder eine Warnung sehen müssen. Aber natürlich glaubt man nicht daran, dass einem so etwas auch öfter an einem Tag passieren kann und die Wachsamkeit, die man sich fest vornimmt, lässt schnell wieder nach. So war es nicht verwunderlich, dass ich den Mann, der gerade die Straße überqueren wollte, vollkommen übersah und das Tempo nicht drosselte. Als ich ihn dann entdeckte, war es schon zu spät. Der Blick seiner verdutzten grünen Augen traf den erschrockenen meiner blauen und wenige Augenblicke später fand er sich auf meiner Windschutzscheibe wieder, den Kopf blutig und die Glieder seltsam verdreht, wie bei einer grotesken Puppe. Als mein Wagen schließlich mit einem Ruck zum Stehen kam, rutschte er hinunter und blieb regungslos auf dem Asphalt liegen.

„Oh mein Gott!“

Hastig schnallte ich mich ab und stolperte aus dem Wagen.

Das darf nicht wahr sein, oh bitte, bitte, lass ihn noch atmen. Lass ihn noch am Leben sein.

Zumindest diesen Gefallen tat mir der Mann, der dort vor mir lag, als ich seinen Puls fühlte. Gerade, als ich erleichtert die Hand von seinem Hals nahm, hörte ich ein Krächzen. Mein nach oben wandernder Blick sah eine schwarzgefiederte Krähe, die sich vom Dach eines Gebäudes erhob und unter lauten Schreien, deren Echo noch lange danach nicht vergehen zu wollen schien, davonflog. Ich erschauderte unwillkürlich und wählte die Nummer des Notrufs. Bis er eintraf, verbrachte ich eine Viertelstunde, die mir wie eine Ewigkeit erschien mit dem bewusstlosen Mann. Unermüdlich streichelte ich ihm über das blutverklebte schwarze Haar, redete ihm gut zu, flüsterte, lachte und weinte. Ich erzählte ihm von meiner Schwester, von meiner Enttäuschung, von meinem Schmerz. Gefühlte hundert Mal sagte ich ihm, dass es mir so leidtäte und dass er Leben würde – dass alles wieder gut werden würde. Als der Krankenwagen schließlich unter Blaulicht und mit jaulender Sirene vorfuhr, hatte ich die Krähe und ihre unheilvollen Schreie längst vergessen.



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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von:  Night_Baroness
2012-02-15T15:50:37+00:00 15.02.2012 16:50
Dir auch danke. ;)
Ich werde mich bemühen bald weiterzuschreiben. :]
Von:  charlie94
2012-02-14T19:41:20+00:00 14.02.2012 20:41
wirklich interessant
ich freue mich schon riesig auf mehr :)
bin gespannt wie es weitergeht :)
lg charlie
Von:  Night_Baroness
2012-02-11T13:29:10+00:00 11.02.2012 14:29
Vielen Dank euch beiden. :)
Es freut mich, dass der Auftakt schon so gut ankommt, ich hoffe, ich kann euch auch weiterhin fesseln und ihr bleibt dabei. ;)

LG NB
Von:  Malerin
2012-02-11T11:31:40+00:00 11.02.2012 12:31
Sehr spannend geschrieben! Man kann sich sehr gut in Akemi hinneinversetzten. Dir ist es auch sehr gut gelungen die bedrückende Atmosphäre zu veranschaulichen. Außerdem finde ich die Metapher mit dem Raben gut, auch wenn diese schon in vielen anderen Fanfictions verwendet wurde...
Freu mich schon auf das nächste Kapitel!

lg die Malerin
Von:  Zimtphilosophie
2012-02-11T09:30:37+00:00 11.02.2012 10:30
Ein wirklich beeindruckender Schreibstil deinerseits, mein Kompliment an den Autor! Zwar bin ich eher nicht so der Verfechter der Ich-Perspektive, aber dir scheint es dennoch durchaus gelungen zu sein, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.
Freue mich darauf, hoffentlich bald mehr von dir lesen zu können!

MfG
holmesthoughts


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