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Die Geflügelte Schlange - Schatten

* * make love, not war * * - Teil 2
von

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1. Unterwerfung

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

1. Unterwerfung (jugendfrei)

Der Osheyprinz zögerte, roch an dem dunkelroten Getränk in dem Becher und nippte daran. Dann lächelte er verführerisch. "Wollt ihrr damit meine Lust errwecken, Majestät?"
 

Barida lächelte zurück. Anscheinend verstanden sie sich. "Legt euren Mantel ab", befahl sie weiter.
 

Der Birh-Melack trank noch einen Schluck, stellte dann den Becher auf den Tisch vor dem Fenster und ließ den Mantel über die Schultern zu Boden gleiten. Der breite Gürtel um seine Mitte betonte seine schlanke Figur. Und die sorgfältigen Falten, in die der untere Teil des weiten Untergewandes gelegt worden war, wurden durch seine offensichtliche Erregung in Unordnung gebracht. Er reagierte sehr schnell für einen Eunuchen.
 

Barida mußte sich regelrecht zwingen, ihn nicht zu berühren, jetzt, wo er nur eine knappe Armlänge entfernt von ihr stand. Ihr Mund war plötzlich ganz trocken, sie nahm einen großen Schluck und fühlte die angenehme Wärme ihre Kehle hinabrinnen. "Legt euren Gürtel ab."
 

Und der Birh-Melack wickelte mit flinken Bewegungen den Gürtel ab, die Falten lösten sich und ein leichter Luftzug, der durch das Fenster wehte, schmiegte den Stoff des Untergewandes an seinen Unterleib.
 

Barida nahm noch einen Schluck des Ostlergetränkes. "Entkleidet euch."
 

Und der Birh-Melack begann, sein Untergewand aufzuknöpfen. Es würde ewig dauern, bis er tatsächlich nackt vor ihr stand. Also öffnete sie mit einem Handgriff ihr Gewand, bot sich dem Birh-Melack dar.
 

Er raffte flink sein Untergewand, hob sie, als wäre sie ein Püppchen, ...
 

"Kann ich euch noch weiterr zu Diensten sein, Majestät?" fragte er flüsternd.
 

Barida konnte es kaum glauben, tatsächlich erlebt zu haben, was gerade geschehen war. "Bringt mich zu meinem Bett, bitte", flüsterte sie zurück. Der Birh-Melack ging die paar Schritt zu Baridas Bett und legte sie auf die Decken. Das Untergewand, das zwischen ihnen völlig zerknautscht worden war, bedeckte seinen Schoß nun wieder, aber er war noch immer erregt. Barida wollte ihn sehen. "Nun entkleidet euch", bat sie also, drehte sich auf die Seite, um ihm beim Öffnen der Knöpfe zuzusehen.
 

Diesmal waren seine Finger schnell und endlich streifte er das Gewand von den Schultern, ließ es an seinem Körper nach unten gleiten. Er war mager aber muskulös und trotz der kleinen Brüste, die er wohl der Verweiblichung durch die Kastration verdankte, sehr ansehnlich. Das Untergewand blieb schließlich am Rest seiner Erregung hängen.
 

Barida griff nach dem weißen Stoff, ... Barida stockte der Atem. Wie war sie nur auf die Idee gekommen, dieser junge Osheyprinz wäre, gegen jede Wahrscheinlichkeit, ein Eunuch? Was, wenn sie nun von diesem Jüngling empfangen hatte? Es war nicht auszudenken, wie der Rat des Königs darauf reagieren würde. Aber wie sehr ihr die Vereinigung mit diesem wahrhaften Mann gefallen hatte! Viel mehr, als gut für sie oder Tetraos war.
 

Sie hatte gar nicht gemerkt, daß der junge Mann ihre Finger ergriffen hatte, nachdem sie ihn entblößt hatte. Und nun führte er ihre Hand ... Offensichtlich war der Birh-Melack Darashy nicht weniger sondern eher mehr als ein Mann. Und trotz ihrer Befürchtungen erregte diese Tatsache Barida über alle Maßen. Sie zog den jungen Darashy auf ihr Bett.
 

Barida empfing ausschließlich bei den Zweisamkeiten mit einem ihrer Eunuchen. Sie waren ihr Besitz, sie waren nicht mehr als Werkzeuge, ihre Lust anzufachen und zu befriedigen. Doch ihrem König gegenüber war auch sie gelegentlich die Gebende gewesen. Sie erinnerte sich noch gut daran, was ihm gefallen hatte und es mochte auch diesem jungen Mann gefallen, ...
 

Der junge Osheyprinz entspannte sich und begann dann plötzlich, wieder zu zittern, bis Barida merkte, daß er leise schluchzte. Er stieß etwas in der Südlersprache hervor und weinte schließlich herzzerreißend. Barida schloß ihn in ihre Arme, zog seinen Kopf an ihren Busen, wie sie es mit ihrem Sohn zu tun pflegte, wenn er des Nachts zu ihr kam. "Ich danke euch, Majestät", hörte Barida schließlich aus den leiser werdenden Schluchzern heraus.
 

"Nenn mich Barida, wenn wir allein sind", sagte Barida daraufhin. Ob niemals zuvor seine beiden Naturen zugleich befriedigt worden waren? Barida war selbst zum Weinen zumute. Siebzehn Jahre hatte sie keinen wahrhaften Mann in sich gehabt. Wie hatte sie nur so lange auf diese ungebändigte Kraft und Geilheit, die damals ihr König und nun auch der junge Birh-Melack gezeigt hatten, verzichten können? Der junge Mann schniefte nur noch leise. "Es ist alles in Ordnung", beschwichtigte sie ihn, strich ihm durch das seidenweiche Haupthaar, erinnerte sich plötzlich an seinen Rufnamen, "Amemna", hauchte sie in sein Haar. So lange es möglich war, wollte sie seine Gegenwart genießen.
 

Er lag in ihren Armen und endlich ging sein Atem so ruhig, als schliefe er, doch plötzlich seufzte Amemna tief, legte seinen Arm um ihre Mitte und küßte ihre Brust. "Barrida", sagte er leise, "nichts ist in Orrdnung."
 

Wohlige Schauder liefen Barida über den Rücken, als er ihren Namen regelrecht schnurrte. Erst dann wurde ihr bewußt, was er gesagt hatte. Sie nahm sein Gesicht in die Hände, hob es an, damit er sie ansah. "Wovon sprichst du?" wollte sie wissen.
 

Aber Amemna wirkte nur etwas traurig, vielleicht auch müde, aber nicht beunruhigt. Und Barida vermutete, daß sein Seufzer nur der Wehmut darüber entsprungen war, nicht zugleich eine wahrhafte zweifache Erfüllung erhalten zu können, obwohl er doch von zweifacher Natur war. Aber das ließ sich ja arrangieren. Ob ihr rothaariger Eunuch dafür der Richtige war? Bei den Ostlern war die Verbindung zwischen Männern nicht unüblich, also würde er wohl weniger Vorbehalte haben, als ihre anderen Eunuchen. Der Gedanke, mit ihrem Lieblingseunuchen und Amemna gemeinsam das Bett zu teilen, erregte Barida über alle Maßen.
 

Amemna lächelte sie an, ließ seine Hand zärtlich über ihren Körper wandern, dann war sein Gesicht plötzlich wieder direkt vor ihr, seine Hände spreizten ihre Beine. "Barrida", flüsterte er kurz vor ihren Lippen, und sie seufzte zufrieden, bevor er ihr mit einem langen Kuß den Mund verschloß.
 

*
 

Barida schmiegte sich in Amemnas Arm, ruhte mit ihrer Wange an seinem weichen Busen. Es war ein angenehmes Ruhekissen. Um seinen flachen Bauchnabel sah man nun nichts von den Muskeln unter der glatten Haut. Sein Glied war endlich erschlafft, er war völlig entspannt, sein Herzschlag schien sich sogar verlangsamt zu haben. Jetzt war er wohl wirklich eingeschlafen. "Wieso hast du dafürr gesorrgt, daß ich perrsönlich vorr deinen Berraterrn sprrechen durrfte, Barrida?" Die tiefe Stimme Amemnas hallte in seinem Brustkorb nach.
 

Er war sagenhafte drei Mal über sie gekommen und schlief nicht einfach ein. Barida konnte sich nicht erinnern, mit ihrem König ähnliches erlebt zu haben, und die Eunuchen schafften es ohnehin höchstens ein Mal pro Nacht. "Ich war neugierig auf dich", gestand sie ihm.
 

"Und ist deine Neugierrde jetzt befrriedigt?"
 

Barida lachte leise über das Wortspiel. "Ich bin befriedigt, meine Neugierde ist es noch nicht ganz."
 

"Dann frrag mich, was du wissen möchtest, Barrida. Fürr das Errlebnis dieserr Nacht bin ich dirr wohl eine Antworrt schuldig." Amemna strich ihr sanft über die Wange, den Hals entlang, ließ die Hand dann ruhig auf Baridas Brust liegen.
 

"Und was bekomme ich, wenn ich dir zu vollkommener Befriedigung als Mann und als Frau verhelfe?" fragte Barida halb scherzend und halb im Ernst.
 

"Das bleibt abzuwarrten. Wirr sprrechen darrüberr, wenn es dirr gelungen ist", antwortete er langsam.
 

Barida sah nach oben und versuchte, einen Blick auf Amemnas hübsches Gesicht zu erhaschen. Sie glaubte zu sehen, daß er lächelte. "Das ist es, nach dem du hungerst, nicht wahr, Amemna?" vergewisserte Barida sich.
 

Jetzt lachte er. "Ja, vielleicht ist es das, wonach ich hungerre, Barrida. Aberr vielleicht will ich auch nurr aus diesem chelemverrfluchten Krrieg entkommen, um endlich weiterr nach meinen Elterrn suchen zu können."
 

"Was ist mit deinen Eltern", fragte Barida nach.
 

Amemna seufzte. "Ich kenne sie nicht. Ich wurrde auf dem Westmeerr ausgesetzt, in einem Kasten aus Bambus."
 

"Und wo willst du dann nach deinen Eltern suchen?" fragte Barida nach. Vielleicht enthüllte sich auf diese Weise, wie er es geschafft hatte, die Söldner ruhig zu halten.
 

Amemna entzog Barida seinen Arm und richtete sich zum Sitzen auf. Er griff nach der Wasserkanne neben dem Bett, wohl um seine Kehle für seine Geschichte zu befeuchten.
 

Barida sah ihre Chance und sagte schnell: "Ich habe etwas Besseres als Wasser." Sie klingelte nicht nach ihrer Zwergin, sondern stand selbst auf und holte die beiden noch gut gefüllten Becher mit dem Ostlergetränk von dem Tisch neben dem Fenster. Wenn Amemna sich daran berauschte, verriet er vielleicht mehr über sich, als er eigentlich vorhatte.
 

Amemna nahm einen der Becher entgegen und trank einen Schluck. "Was ist das fürr ein Elixierr, Barrida?" fragte er lächelnd.
 

Barida setzte sich auf die Bettkannte, nippte an ihrem eigenen Becher, schmiegte sich dann an ihn, und Amemna legte bereitwillig seinen Arm um sie. Nach ihren schweißtreibenden Vergnügungen roch er noch immer vor allem nach jenem angenehmen Duft, den Barida nicht zuordnen konnte. Ein Salböl schien es nicht zu sein, dessen Geruch wäre inzwischen wohl verflogen gewesen. In seiner Achsel, an seinem Hals und in den Haaren schien der Duft zu haften, wie der Wohlgeruch der Götter.
 

"Barrida", schnurrte ihr Birh-Melack. "Was ist das fürr ein Liebestrrank, den du mich trrinken läßt?"
 

Über Amemnas Wohlgeruch hatte sie wohl die Beantwortung seiner Frage vergessen. "Es ist ein Ostlergetränk, aus gegorenen Trauben. Sie benutzen es für ihre heiligen Feste." Das jedenfalls war, was Barida von anderen gehört hatte. Welcher Art diese mysteriösen Feste waren, hatte ihr rothaariger Eunuch auch nach mehrfachem Nachfragen nie erklärt.
 

Doch Amemna war mit der Antwort zufrieden. "Es schmeckt ein bißchen wie derr Dattelwein, den man in Ma'ouwat sum Festtag des Helden trrinkt", sagte er leise, wie in Gedanken.
 

"Du wolltest mir mehr über deine Eltern erzählen", erinnerte Barida ihren Liebhaber. "Hast du irgend einen Anhaltspunkt? Vielleicht ein Medaillon, das dir mitgegeben wurde, oder ein Schreiben?"
 

"Nein, nicht mehrr als die Errinnerrung an ein Oshey-Wiegenlied, kesungen von einerr Frrau mit so weißen Haarren, wie ich sie habe. Ich denke, sie muß meine Mutterr sein. Nach dem, was ich inzwischen herrauskefunden habe, wohnte sie vor einigen Jahrren in Hannai. Ich hoffte, in dieserr Stadt mehrr überr sie su errfahrren, aberr leiderr kam mirr einiges daswischen." Amemnas Akzent hatte sich verstärkt, vermutlich entfaltete das Ostlergetränk schon seine berauschende Wirkung.
 

"Fällt es dir dann nicht schwer, Hannai im Auftrag unseres Königs mit Krieg zu überziehen?" fragte Barida lauernd nach.
 

Amemna schüttelte den Kopf, danach verdrehte er die Augen, als sei ihm schwindelig. Den Becher hatte er bereits völlig geleert. "Ich habe fürr meine unirrdische Mutterr nichts su fürrchten. Die Köttin wirrd sie beschützen."
 

Unirdische, so nannten die Oshey und die Menschen aus den Städten am Rande der Wüste die Boten der Götter. Glaubte Amemna wirklich, von einem dieser Engel abzustammen? Im Bett zumindest hatte er göttliche Energien bewiesen, und auch seine Zweigeschlechtlichkeit war sicherlich außergewöhnlich. Baridas Spion hatte erzählt, der neue Birh-Melack habe vorgegeben, den Jungen selbst zu opfern, mit einem Trick Blut spritzen lassen und ihn dann angeblich geheilt. Die Söldner hatten offenbar geglaubt, Zeugen eines göttlichen Wunders zu werden. Was, wenn es kein Trick gewesen war? "Woher weißt du, daß du eine unirdische Mutter hast?" fragte Barida also nach.
 

"Weil ich überr einen Teil derr Krräfte derr Unirrdischen verrfüge", antwortete Amemna sehr langsam, als müsse er sich auf das Sprechen konzentrieren.
 

"Was für Kräfte?" fragte Barida beharrlich nach.
 

Amemna küßte sie auf den Scheitel, dann löste er sich von ihr und stand auf. "Ich habe dirr kenug fürr diese Nacht ersählt, Barrida." Er streifte sich sein Untergewand wieder über, Gürtel und Mantel nahm er in die Hand. "Ich wünsche dirr ankenehme Trräume." Und leicht schwankend verließ er die Gemächer der Regentin.
 

* * *
 

2. Studien

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

2. Studien (jugendfrei)

Die Frauen der Söldner und ihre Kinder kamen zurück ins Lager, ebenso der Bewirtschafter des Badezeltes und der einer Garküche, die Hufschmiede und ein Schuhmacher. Viele Kaufleute dagegen schickten ihre Diener, ihre Zelte abzubauen und aus dem Lager zu schaffen. Die Priester wiederum kehrten zum größten Teil zurück, und nahmen den Dienst an ihren Göttern wieder auf. Als die Dämmerung schon hereingebrochen war, führte der Wanack der Südländer, der sich Hamarem tagsüber als Übersetzer zur Verfügung gestellt hatte, Ramilla und die Priesterin der Ama zum Mawatizelt. Die beiden Mawati und der Junge waren gerade dabei, ihr Nachtmahl zu sich zu nehmen.
 

Hamarems Herz schlug schneller, als er die beiden erblickte, mit ihren vornehmen, städischen Schleiern, bodenlang und silberbestickt. Aber als Nefut das Kind aufsprang und auf seine Mutter zulief, bekam Hamarem ein schlechtes Gewissen. Er hätte schon nach der Mittagsruhe einen Boten zu den Tetraosi schicken können, nach der Amapriesterin suchen lassen, um sie zu informieren, daß ihr Sohn noch lebte. Und er hatte gar nicht mehr daran gedacht. Es war so erfreulich gewesen, in der freien Zeit zwischen den Gesprächen mit den Kaufleuten und Priestern und ihren Beauftragten zuzusehen, wie Oremar dem Jungen mit einem der Holzstöcke die Grundzüge des Schwertkampfs zeigte, ihm seine vielen Fragen zu den Verwaltungsvorgängen zu beantworten, das Hamarem nicht auf die Idee gekommen war, diese Zeit willentlich zu verkürzen.
 

Die Amapriesterin hatte sich auf die Teppiche im Zelt gekniet, hielt ihren Sohn fest umarmt und weinte leise. Ihre Erleichterung, ihn lebend vorzufinden und ihre mütterlichen Gefühle waren so stark, daß sie auch quer durch das Zelt zu Hamarem gelangten und ihn mit einer zärtlichen Wärme erfüllten. "Wie kann ich euch nur danken, Herr?" fragte sie, sah zu Hamarem, dem es peinlich war, so ehrerbietig angesprochen zu werden.
 

"Ich habe ihn nicht gerettet, das war mein Birh-Melack", gab Hamarem zurück.
 

"Aber ohne dich wäre unser Birh-Melack wohl nicht auf die Idee gekommen, den Jungen zu retten, Hamarem", mischte sich Oremar in das Gespräch ein.
 

Ohne ihn wäre es Amemna erspart geblieben, Birh-Melack eines potentiell gefährlichen Söldnerhaufens zu werden. Hamarem fühlte, wie seine Wangen vor Scham heiß wurden.
 

Die Priesterin lächelte Hamarem an. "Bitte nehmt meinen Dank an, Hamarem. Und ich möchte mich auch bei eurem Birh-Melack bedanken." Hamarem versuchte, den Dank mit Würde entgegenzunehmen und neigte leicht den Kopf. "Mein Birh-Melack ist zur Zeit Gast des Königs von Tetraos und wohnt dort im Palast", erklärte er dann. Und das war auch gut so. Über den Tag hatte Hamarem fast vergessen, wie ihn während seiner Erforschung der zukünftigen Ereignisse die Vision von verschlungenen, verschwitzten Körpern ereilt hatte, die ihn sofort erhitzte, ebenso wie Amemna mit dem Augenblick Verzögerung, den es brauchte, bis er die Gefühle seines neuen Zweiten wahrgenommen hatte.
 

"Bleibt das Amazelt im Lager, Priesterin?" fragte Hamarem schnell, als sie aufstand und ihr Kleid richtete, als wolle sie sich mit ihrem Kind gleich auf den Weg machen.
 

"Ja, alle Dienerinnen der Göttin sind zurückgekehrt. Und an einem der nächsten Tage besuche ich euren Birh-Melack in Tetraos, um mich bei ihm für die Rettung meines Sohnes zu bedanken." Einer plötzlichen Eingebung folgend sagte Hamarem nachdrücklich: "Tut das, ich bitte euch. Mein Birh-Melack hat eine besondere Beziehung zu eurer Göttin und euer Dank würde ihm sicherlich viel bedeuten."
 

Die Priesterin nickte. "Ich werde daran denken." Dann schaute sie hinunter auf Nefut, der sie eng umklammert hielt, aber ein wenig wehmütig zu Hamarem hinübersah. "Wir gehen in unser Zelt, Nefut. Ich habe alles aufräumen und säubern lassen. Wenn du darfst, kannst du morgen wieder hierher kommen."
 

"Natürlich darf er", sagte Hamarem schnell. Es war angenehm, den aufgeweckten Jungen um sich zu haben. Noch immer hatten die Kräfte um ihn nicht wieder ihren ruhigen Verlauf gefunden, aber das würde irgendwann geschehen. Und außerdem war es für sein weiteres Leben sicher gut, wenn der Junge bei den Mawati lernte, sich zur Wehr zu setzen. Gleich darauf wurde Hamarem überrascht klar, daß der letzte Gedanke anscheinend von Nefuts Mutter stammte. Ob Hamarem seinem Herrn Nefut nur deswegen so treu gewesen war, weil der verstoßene Fürstensohn einfach einen treuen Diener erwartet hatte und Hamarem diese Erwartungen damals mangels besseren Wissens für seine eigenen Gedanken gehalten hatte? Wäre damals nicht diese unüberwindliche Furcht vor dem Tod anderer gewesen, hätte Nefut ihn vielleicht sogar zu einem guten Schwertkämpfer gemacht, einfach weil Nefut erwartete, daß jeder, der mit ihm übte, ein guter Schwertkämpfer wurde.
 

Die Amapriesterin hatte sich schon von Oremar und Hamarem verabschiedet und wandte sich zum Gehen, da hörte Hamarem Ramilla ihrer Herrin zuflüstern: "Bitte, laß mich ihm danken." Die Priestern nickte und ging mit ihrem Sohn fort, Ramilla jedoch blieb im Eingang des Zeltes stehen. Auf Hamarems fragenden Blick sagte sie. "Ich möchte dir ebenfalls danken. Nefut ist wie ein eigener Sohn für mich."
 

"Ich hatte versprochen, ich würde mich um ihn kümmern", antwortete Hamarem nur. Seine Lenden erhitzten sich unter Ramillas Blick.
 

"Eine gute Nacht wünsche ich", sagte Ramilla dann nach einer Weile langsam, ging zögend hinaus, bis Hamarem endlich klar wurde, warum er so erregt war. "Ich begleite dich ein Stück", sagte er, mehr zu Oremar als zu Ramilla und lief ihr hinterher. Draußen, im hellen Mondschein faßte Ramilla nach seiner Hand, zog sie zu ihrem Mund und küßte sie. "Ich möchte dir noch viel mehr danken. Wo sind wir ungestört?"
 

Hamarems Blick fiel auf Amemnas verlassenes Birh-Melack-Zelt. Aber das hätte etwas von einem Übergriff in verbotene Gefilde gehabt. Doch Ramilla zog ihn schon zum Eingang des kleinen Zeltes. "Nein", sagte Hamarem leise, versuchte, Ramilla zurückzuhalten, doch sie achtete nicht auf ihn, betrat das Zelt des Birh-Melack Amemna Darashy allein. Hamarem stand sprachlos vor dem Zelt, dann ging er Ramilla schnell hinterher und schloß den Zelteingang. "Wir können nicht hier..." begann er.
 

"Und warum nicht?" fragte Ramilla. Sie ließ sich auf die Kissen sinken, auf denen am Vorabend Amemna geruht hatte, als Hamarem und Amemna das erste Mal bewußt die Gefühle des jeweils anderen geteilt hatten. Die Erinnerung daran und Ramillas bereits heftige Erregung ließ Hamarem fast die Beherrschung verlieren. Am liebsten hätte er Ramilla gepackt und hinausgetragen, oder sollte er lieber wie ein wildes Tier über sie herfallen?Im Zelt der Ama war alles viel gesitteter abgelaufen. Warum benahm Ramilla sich so unverschämt, so aufreizend? Sie zog ihren Kleidersaum über die weißen Beine nach oben, entblößte ihren Bauch, auf dem im hereindringenden Licht des Vollmondes nur wenige Schriftzeichen zu erahnen waren. "Ich bin bereit", erklärte sie.
 

Das war zu viel für Hamarem. Der Duft ihrer Erregung verdrängte alle Gedanken an Sitte und Anstand. Er stürzte sich auf sie und die Kräfte um sie brannten lichterloh.
 

*
 

Hamarem kam zu sich und sah helle, nackte Haut vor seinen Augen, beschriftet mit einigen Zeichen in roter Tinte, darüber Ramillas Bauchnabel, darunter duftete zart ihr Schoß. Sein Kopf lag auf Ramillas nackten Oberschenkeln und sie streichelte sein Haar, seinen Bart, fuhr mit den Fingerspitzen zärtlich über seine Lippen, auf denen sie vor kurzem noch herumgebissen, an denen sie schmerzhaft gesaugt hatte. Und trotzdem hatte es Hamarem gefallen, so wie ihm nun ihre Zärtlichkeit gefiel. Sie hatte ihr Kleid und ihr besticktes Brustband abgelegt, nur der im Lampenlicht glitzernde, durchsichtige Schleier lag auf ihren Schultern.
 

"Man kann das Licht von außen sehen, Ramilla", sagte Hamarem vorwurfsvoll. "Wieso hast du es angemacht? Nun weiß Oremar Bescheid."
 

Ramilla sah zu ihm hinunter. "Und was ist so schlimm daran, wenn Oremar Bescheid weiß?"
 

"Das hier ist das Zelt des Birh-Melack." Hamarem erschrak über den fast hysterischen Klang seiner Stimme.
 

"Der Südländer sagte, du wärst der Zweite des Birh-Melack. Warum solltest du dich nicht in sein Zelt zurückziehen, wenn er es gerade nicht benötigt und du ungestört sein willst?"
 

"Ich bin nur der Zweite der Wannim", stellte Hamarem richtig, darum bemüht, seine Stimme wieder zu normalisieren. Was war so schlimm daran wenn Oremar wußte, daß er eine wilde, hemmungslose Begegnung mit der Schülerin der Amapriesterin hatte? Oremar würde ihn dazu vermutlich beglückwünschen. Aber Hamarem wußte, daß genau in diesem Zelt seine Herren miteinander genau das gemacht hatten, was er mit Ramilla gemacht hatte - nunja, nicht exakt das Gleiche, aber doch soweit es die anatomischen Gegebenheiten zuließen. Der letzte Traum, den er mit Amemna geteilt hatte, sorgte dafür, daß Bilder vor Hamarems Augen aufstiegen, die ihm genau zeigten, was Nefut und Amemna wohl miteinander getrieben hatten, und das war schockierend und erregend zugleich. Er mußte dringend das Bild der nackten, lüsternen Männer verdrängen. Er betrachtete Ramillas von dem Schleier bedeckten Brüste neben sich. Die Brustwarzen waren fast völlig verflacht. Versuchsweise zupfte Hamarem an einem der glimmenden Fäden der Kräfte um sie.
 

Blitzschnell zogen sich die Brustwarzen zusammen und eine Gänsehaut überzog Ramillas Bauch und Brüste. Sie stöhnte kurz auf. "Was war das?" fragte sie etwas panisch.
 

"Das war ich", sagte Hamarem schnell. "Ich habe mit den Kräften gespielt", und er mußte lächeln, als ihm klar wurde, wie unverständlich sich das für Ramilla anhören mußte. "Offenbar magst du es." Denn Ramillas Duft hatte sich deutlich verstärkt.
 

Er setzte sich auf, suchte nach Worten, Ramilla zu erklären, was genau er gemacht hatte, da begann sie, unruhig hin und herzurutschen, und wie eine Vision sah Hamarem plötzlich eine Männerhand an ihrer Scham, die Finger langsam vordringend zu Amas Wunder. Erstaunt stellte Hamarem fest, daß es seine Hand war, anscheinend gelenkt von Ramillas Gedanken oder einer ihrer Erinnerungen. Hamarem ließ es geschehen.
 

"An wen erinnerst du dich?" fragte Hamarem flüsternd, während er fasziniert das Werk seiner Hand betrachtete, zu dem er nichts beitrug.
 

"Was?" fuhr Ramilla mit deutlicher Empörung auf, die Kräfte tobten um sie. Hamarems Hand ruhte nun unbewegt auf Ramillas Scham, bis sie energisch von ihm abrückte. Die Erinnerung war vergangen, hätte er doch nur nichts gesagt. Jetzt mußte er sie wohl ablenken. "Was heißt das?" fragte Hamarem und fuhr die Schriftzeichen auf Ramillas Bauch mit dem Zeigefinger nach.
 

Ramilla schlug seine Hand weg, griff aber gleich wieder danach, führte sie zum Mund und küßte sie. "Ich wollte dir nicht wehtun. Aber warum sagst du so etwas?"
 

"Und ich wollte dich nicht kränken", gab Hamarem zurück. "Aber ich würde wirklich gerne wissen, was die Zeichen auf deinem Bauch bedeuten."
 

"Hawat, segne mich", antwortete Ramilla.
 

"Was steht da genau?" bohrte Hamarem nach. Vielleicht brachte er Ramilla so weit, daß sie ihm zumindest einige der Schriftzeichen erklärte, obwohl er ein Mann war.
 

"Genau steht da 'Hawat naneschan'. Die Heiligen Zeichen sind eine Silbenschrift, von der es nur wenige Ausnahmen gibt. Hier, 'Hawat', ist so eine Ausnahme. Steht das Zeichen 'Ha' allein", Ramilla fuhr es mit der Fingerspitze nach, "steht es für die Göttin. Die nächsten drei Zeichen sind 'Na', 'Ne' und 'Scha'. Wie du siehst, ist das letzte noch einmal 'Ne'. Aber das auslautende 'e' der Silbe wird am Ende eines Wortes nicht gesprochen, außer wiederum es steht allein."
 

"Das klingt fast wie die Südländersprache", sagte Hamarem. 'Nane'Hawat' würde also Na Ne Ha geschrieben.
 

"Es ist die Südländersprache", bestätigte Ramilla. "Es sind nur andere Schriftzeichen als die, die die Südländer gewöhnlich verwenden." Sie griff nach einem Stückchen Holzkohle, das auf dem Tisch neben den Kissen lag. "Sieh her", und sie malte einige Zeichen auf den Tisch. "Eigentlich würde 'Hawat' Ha Wa Ta geschrieben", fuhr Ramilla fort und deutete beim Buchstabieren auf das jeweilige Zeichen, "aber es ist ungehörig, den ganzen Namen der Göttin auf einen sterblichen Leib zu schreiben."
 

"Und wie würde Ramilla geschrieben?" fragte Hamarem neugierig nach.
 

Ramilla lachte ihn an, wischte die Zeichen für Hawat vom Tisch und schrieb neue. "Ra Ma La", benannte sie die einzelnen Zeichen.
 

Wieder drei Zeichen mehr. "Und Hamarem?"
 

"Oh, mein Süßer", und Ramilla hauchte ihm einen Kuß auf die Wange. "Natürlich Ha Ma Ra Ma."
 

"Gibt es kein Mi oder Re?" wollte Hamarem wissen.
 

Ramilla schüttelte den Kopf. "Die Aussprache ist zwar verschieden, aber die Zeichen unterscheiden sich nicht. Bei mehrdeutigen Worten erschließt sich die richtige Bedeutung gewöhnlich aus dem Zusammenhang."
 

Hamarem fühlte sich ein bißchen schuldig, Ramilla so überlistet zu haben, aber nicht schuldig genug, um ihr Einhalt zu gebieten, als sie noch andere Namen in den heiligen Schriftzeichen der Hawatpriesterinnen niederschrieb. Ob Amemna auf ähnliche Weise die Schriftzeichen gelernt hatte? Hamarem würde die gelernten Zeichen nicht wieder vergessen und vielleicht Gelegenheit bekommen, die ihm unbekannten noch zu lernen. Damit würde er die Schriftrolle seines Birh-Melack zwar irgendwann lesen können, aber nicht verstehen, denn die Südländersprache beherrschte er nicht.
 

*
 

"Nun mußt du mir aber erklären, was es mit den Kräften, von denen du gesprochen hast, auf sich hat", drehte Ramilla den Spieß plötzlich um. "Und Prinz W'schad hat gesagt, du hättest für deinen Birh-Melack die Zukunft vorhergesehen."
 

"Über die Vorhersichten darf ich dir nichts erzählen. Das ist Orems Mysterium", antwortete Hamarem.
 

Ramilla lächelte listig. "Dann muß ich wohl die Kenntnis der Schriftzeichen wieder aus deinem Kopf holen, denn das ist Hawats Mysterium."
 

Hamarem spürte, wie er bis zu den Ohren errötete. "Entschuldige bitte, das ist eine alte Gewohnheit", versuchte er sich zu rechtfertigen. Aber wie funktionierte das mit den Vorhersichten überhaupt. Das konnten nicht alle Priester, vielleicht war sogar ein gewisses Maß an unirdischem Blut Voraussetzung dafür. "Bei der Ausbildung lernen die Orempriester vor allem, Träume anderer zu deuten und eigene Eingebungen bewußt wahrzunehmen. Wir mußten viel über die Kulturen der Menschen lernen, die sich an die Priester in Harna wenden, denn das ist für die Traumdeutung wichtig. Außerdem machten wir Meditationsübungen, die dazu dienten, die eigene Ahnungen bewußter zu erleben. Ich kann auch nicht wirklich etwas vorhersehen, es ist mehr ein Gefühl oder ein Geschmack, manchmal ein Geruch, der mir eine Ahnung des Bevorstehenden gibt. Und zur Interpretation dieser Empfindung ziehe ich meine Kenntnis der Gegebenheiten heran. Für gänzlich fremde Leute Vorhersagen zu machen, wie der Orakelpriester es tut, würde mir wohl nicht gelingen." Und doch hatte der Ehrwürdige Vater gesagt, er hätte das Zeug dazu gehabt. Und inzwischen waren es auch Bilder, die er sah, nicht mehr nur vage Empfindungen. Bilder und starke Empfindungen, als erlebe er es selbst gerade. Zumindest am Morgen im Zelt war es so gewesen. Vielleicht hatte das an Amemnas Gegenwart gelegen.
 

"Prinz W'schad erwähnte ein Zauberkraut, das du benutzt hast", bohrte Ramilla neugierig weiter.
 

"Ich nenne es zwar 'Traumkraut', aber es sind einfach getrocknete Lorbeerblätter, die nur der Reinigung dienen, um eine Geschmacksempfindung auch zu erkennen", gab Hamarem zu. "Im Heiligtum haben wir gelernt, durch ein gewisses Ritual in den Zustand zu kommen, in dem wir für die Ahnungen empfänglich sind, und jeder Priester hat sein eigenes Ritual und seine eigenen Hilfsmittel."
 

"Was machst du, um in diesen Zustand zu kommen?" wollte Ramilla wissen.
 

"Ich konzentriere mich auf Bewegungen in der Natur, das Wehen von Blättern im Wind, das Fallen von Sand, eine brennende Flamme, was immer zur Verfügung steht. Am Anfang hat es nicht jedes Mal funktioniert, aber inzwischen geht es fast im Augenblick, aufnahmefähig für die Ahnungen zu werden."
 

Ramilla nickte. "Das verstehe ich. Und was ist mit diesen Kräften?"
 

Hamarem freute sich über ihre Hartnäckigkeit, die der seinen offenbar in nichts nachstand. "Ich sehe sie als schwache Lichterscheinungen, die alles Belebte und einige unbelebte Gegenstände umgeben." Schon in Harna hatte Hamarem festgestellt, daß er der einzige der Orempriester war, der die Kräfte als glimmende oder leuchtende Fäden und Wellen sah. "Anscheinend sehen nicht alle Menschen die Kräfte auf gleiche Weise. Auf jeden Fall hängen sie zusammen mit der Lebensenergie, mit den Emotionen und mit dem... Lustempfinden."
 

Ramilla hob bei dieser letzten Bemerkung die Augenbrauen. "Ich habe nie zuvor von diesen Kräften gehört, geschweige denn, sie gesehen."
 

"Vermutlich muß man erst einmal geschult werden, sie bewußt wahrzunehmen und schließlich auch zu verstehen." Waren es nicht die Kräfte, die die Ahnungen trugen? Vielleicht brauchte man auch zu ihrer Wahrnehmung etwas unirdisches Blut.
 

"Aber sie wahrzunehmen ist nicht, mit ihnen zu spielen, wie du es eben nanntest", schloß Ramilla messerscharf.
 

"Ich habe die Kräfte gezielt in Schwingung versetzt. Ich habe ihnen praktisch vorgemacht, du wärest entflammt - und dadurch warst du es", versuchte Hamarem zu erklären.
 

"Aber ich habe nie davon gehört, daß gerade Orempriester so hervorragende Liebhaber wären", war Ramillas skeptische Erwiederung darauf. "Ich glaube nicht, daß du die Manipulation dieser Kräfte als Orempriester gelernt hast."
 

"Da hast du recht", antwortete Hamarem nur.
 

Ramilla sah ihn an, als wolle sie nun eine ausführlichere Antwort.
 

"Es hat mit dem Erbteil meiner Mutter zu tun", versuchte Hamarem sich vorsichtig an das Thema heranzuarbeiten.
 

"Du hast unirdisches Blut, nicht wahr?" fragte Ramilla überraschend geradeheraus.
 

"Wie kommst du darauf?" fragte Hamarem erschrocken.
 

"Du hattest mir schon im Amazelt gesagt, du würdest die Gefühle anderer Menschen spüren und jetzt gestehst du noch deren Manipulation. Das führt mich zwangsläufig zu diesem Schluß. Es gibt in den Annalen der Ama eine ganze Reihe von Berichten über Unirdische und menschliche Abkömmlinge von Unirdischen, die die Erregung eines anderen fühlen und beeinflussen konnten, ohne Hand anzulegen. Männer und Frauen, die einfach wußten, was der andere begehrt, weil sie selbst es auch fühlten... So wie du wußtest, daß du mich mit der Hand berühren solltest. Ich habe an niemand anderen gedacht. Ich hatte mir nur vorgestellt, was du noch machen könntest, um mir zu gefallen - und schon hast du es getan. Ebenso wie davor, als du mich so stürmisch genommen hattest. Das war wunderbar. Ich hatte schon den Verdacht, daß du unirdisches Blut haben könntest, aber du gabst dich so unwissend. Das ließ mich wieder zweifeln."
 

"Ich bin auch noch immer fast völlig unwissend was einen gezielten Umgang mit meinen unirdischen Fähigkeiten betrifft. Ich weiß ja gerade erst seit zwei Tagen davon." Vielleicht ging es ihm darin ja auch ähnlich wie Amemna, bei dem die Fähigkeiten gerade erst erwachten, und daher ebensowenig Erfahrung wie Hamarem in ihrer Anwendung hatte - wenn auch Amemnas Fähigkeiten viel stärker waren als die seines Zweiten.
 

"Vielleicht darf ich dir helfen, deine Fähigkeiten zu erkunden?" fragte Ramilla und Hamarem fühlte regelrecht, wie ihr lüsterner Blick sein Gewand durchdringen wollte, also zog er es aus.
 

* * *
 

3. Nächtliche Unruhe

Amemna war zur Regentin gerufen worden, als sie gerade erst einen flüchtigen Kuß auf Nefuts Lippen gehaucht hatte. Nefut vermutete, daß die Regentin ein erotisches Interesse an dem scheinbaren jungen Mann hatte, obwohl oder gerade weil Amemna etwa im Alter ihres Sohnes war. Die Mutter des Königs habe eine ganze Sammlung von bartlosen und unbehaarten Lustsklaven, die sie regelmäßig in der Nacht zu sich befehlen würde, hatte Nefut in den Stallungen des Palastes aufgeschnappt. Nefut hatte Amemna geraten, sich vor der Frau nicht völlig zu entkleiden, denn wer wußte schon, wie die Regentin reagierte, wenn sie entdeckte, daß sie mit einer anderen Frau im Bett lag. Es war sicherer, wenn Amemna das Geheimnis um ihre Zweigeschlechtlichkeit bewahrte. Und Amemna hatte nur gelächelt und gesagt, sie müsse jetzt gehen, da sie der Regentin durch den Vertrag zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet sei. So lange war Amemna schon fort. Ob die Regentin ihren neuen Söldnerführer die ganze Nacht bei sich behalten wollte? Immerhin hatte die Eifersucht sich nicht wieder Nefuts bemächtigt, denn eine Frau war kein Rivale für ihn, er vermißte Amemna nur so sehr.
 

Nefut konnte nicht zur Ruhe kommen. Zuerst schob er es auf das ungewohnte Bett, in dem er schlafen sollte, dann auf das helle Mondlicht, das durch das Fenster in das ihm zugedachte Zimmer schien. Als er durch den Gesang einer Grille plötzlich aufschreckte, merkte er, daß ihn auch die unheimliche Stille störte. Obwohl er einen Teil seiner Kindheit in Häusern verbracht hatte, ebenso bei Ashans auswärtigen Aufträgen, hatte er fast nie in seinem Leben allein in einem Raum geschlafen. Ihm fehlten die Atemzüge, das Schnarchen anderer neben sich, die Geräusche eines nächtlichen Zeltlagers. Vielleicht sollte er sich einfach in das Zimmer nebenan zu Derhan schleichen, um dort zu schlafen. Er wachte ohnehin immer früher als alle anderen Mawati auf, also würde er Derhans Zimmer wieder verlassen haben, bevor dieser erwachte. So würde er sich auch keine Blöße geben.
 

Wie es Hamarem wohl gehen mochte? Sein ehemaliger Zweiter war im Lager jetzt ganz auf sich allein gestellt, denn Oremar würde wohl keine große Hilfe sein. Es war keine Kleinigkeit, mit den Zivilisten über den Abzug oder den weiteren Verbleib im Lager zu verhandeln, da Hamarem ja entscheiden mußte, wer für das Lager unentbehrlich war, wo also folglich Zugeständnisse oder Versprechungen zu machen waren. Nefut erinnerte sich noch gut an Hamarems Ankunft bei den Stammeslosen. Vielleicht zwei Jahre war das jetzt her. Nefut hatte ihn in seine Obhut genommen, weil ihm sofort klar war, daß es sich bei ihm um einen sehr weltfremden Mann handelte, der sich allenfalls in den Schriften, aber in sonst nicht vielen Dingen auskannte. Und eigentlich hatte er sich bis heute kaum geändert.
 

Und Nefut bemerkte, daß er Hamarem gegenüber tatsächlich Gewissensbisse wegen seines Rückzuges aus dem Amt des Zweiten der Wannim hatte. Was hatte er Hamarem nur damit angetan, als er ihn dazu überredet hatte, an seiner Stelle der Zweite der Wannim zu werden. Hamarem mochte an dieser Aufgabe zerbrechen. Er war nicht der Mann, der notfalls mit Gewalt seine oder die Befehle seines Herrn durchsetzte. Er war überhaupt nicht der Mann, der Befehle gab. Hamarem diente und folgte mit einer an Selbstverleugnung grenzenden Hingabe. Und obwohl Hamarem von Amemnas und Nefuts Liebschaft wohl wußte, obwohl ihn das in seinen religiösen Gefühlen zutiefst verletzen mußte, hatte er nach seiner Rückkehr von woher auch immer Nefut weiterhin fraglos gehorcht, und diente nun ebenso fraglos Amemna als Zweiter. Nur gut, daß Hamarem zur Zeit nur einem Mann befehlen mußte. Wie würde es wohl werden, wenn sie alle erst wieder im Lager und auf dem Kriegszug waren? Aber in dieser Nacht wollte Nefut sich nicht auch noch darüber Gedanken machen. Also raffte er sich endlich auf, nahm seine Decken und schlich in Derhans Raum.
 

Von dem Mann waren nur die tiefen Atemzüge zu hören, anscheinend hatte er keine Probleme mit dem Bett oder dem Alleinschlafen. Leise bettete Nefut sich auf dem Fußboden in der Nähe der Tür zu seinem eigenen Raum und außerhalb des hellen Mondlichts, das auch hier durch die Fensteröffnung schien. Dann schloß er die Augen und versuchte, endlich in den Schlaf zu finden.
 

"Gefällt es dir hier besser, als in deinem eigenen Zimmer?" fragte Derhan plötzlich spöttisch.
 

Nefut richtete sich vor Schreck auf. Es hätte nicht schlimmer kommen können.
 

Auch Derhan saß und sein freches Grinsen war unverkennbar. Nefut war versucht, es ihm aus dem Gesicht zu schlagen. Anscheinend waren ihm die Gedanken auf die Stirn geschrieben, denn Derhan grinste nur noch breiter. "Willst du mich verprügeln, Nefut? Schänder fremder Ehefrauen? Ja, da staunst du, aber ich habe genug von Peitschen blutig geschlagene Rücken gesehen, um selbst bei deinen Narben genau sagen zu können, wieviel Hiebe dich getroffen haben." Es waren fünfzig gewesen, dazu bestimmt, ihn zu töten, doch er hatte es überlebt. Dank eines Arztes, wie Derhan selbst es wohl einmal gewesen war.
 

"Willst du mir nicht sagen, ob die Ehefrau jung und hübsch oder alt und hässlich gewesen ist? Bist du vielleicht deswegen nicht mehr zu Frauen gegangen sondern suchst dir jetzt Jünglinge? Wie die Städter, die auf den Wortlaut der Schriften verweisen, wonach nur der Verkehr mit Männern verboten sei, nicht jedoch der mit Knaben?"
 

Das war zuviel für Nefut. Er sprang auf, halb über das Bett, um Derhan zu erreichen und schlug ihm die Faust ins Gesicht. Und natürlich brannten seine verletzten Knöchel daraufhin wie Feuer. Aber Derhan schlug zurück, umklammerte Nefut mit erheblicher Kraft und zwang den größeren unter sich, setzte sich auf seinen Leib und preßte einen seiner Unterarme auf Nefuts Kehle. "Ich habe schon für so manchen Herrn die Drecksarbeit gemacht, Nefut. Ohne dein Schwert bist du mir nicht gewachsen."
 

Anscheinend hatte Derhan nur darauf gewartet, daß Nefut sein Amt als Zweiter niederlegte, um sich an ihm zu rächen. Nefut schmeckte Blut in seinem Mund. Derhan hatte ihm die Lippe an den Zähnen aufgeschlagen, ein oder zwei Schneidezähne schienen auch locker zu sein. Und Nefuts Arme wurden von Derhans Beinen fest an den Brustkorb gedrückt. Als Ringer war Derhan Nefut tatsächlich deutlich überlegen. Das versetzte Nefuts Stolz einen gehörigen Schlag. Er versuchte, Derhan zu treten, aber da preßte Derhan schon seine Füße gegen Nefuts Oberschenkel, so daß Nefuts Beine unbeweglich wurden. Und Derhan lachte über den vergeblichen Versuch Nefuts, sich aus der Umklammerung zu befreien. "Gib es auf, Nefut."
 

Nefut seufzte und gab auf. Er war besiegt. Er ließ seine Glieder erschlaffen, aber das sorgte nicht dafür, daß Derhan ihn gehen ließ.
 

"Warum bist du hergekommen?" fragte Derhan. "Wolltest du wissen, wie es ist, mit einem erwachsenen Mann... nein, du fühltest dich einfach nur allein, nicht wahr? Amemna wurde weggerufen, ich habe die Trippelschrittchen von einem dieser Zwerge gehört. Und du schläfst allein in dem Zimmer, ganz allein zwischen Mauern, nach dreißig Jahren oder etwas mehr, die du fast ausschließlich in Zelten geschlafen hast."
 

Nefut versuchte, den Kopf zur Seite zu drehen. Da Derhan ihm jedoch nicht genügend Bewegungsspielraum ließ, schloß er die Augen. Wieso konnte dieser Mann ihn so leicht durchschauen? Immerhin klang er nicht mitleidig.
 

Derhan ließ den Druck auf Nefuts Kehle etwas nach, strich sich mit der freien Hand den Bart. "Ich biete dir einen Handel an, Nefut. Ich sage dir, wen ich auf dem Gewissen habe, du sagst mir, wen du auf dem Gewissen hast und dann sprechen wir niemals wieder darüber."
 

Nefut sah Derhan wieder an. "Du meinst, weswegen wir verstoßen wurden?" fragte er heiser und räusperte sich.
 

"Gibt es bei dir so viel Auswahl?" wollte Derhan wissen.
 

Seit dem Aufstand gegen Ashan schon, mußte Nefut sich eingestehen. Nur gut, daß Hamarem die Schlacht gegen die Tetraosi überlebt hatte, denn dessen Tod hätte er sich wohl ebensowenig verzeihen können, wie den Tod Amemnas. "Und wie willst du sicher sein, daß ich tatsächlich niemals wieder davon spreche?" wollte Nefut herausfordernd wissen.
 

"Du wirst beim Ungenannten und allen Unirdischen schwören", entgegnete Derhan kalt.
 

"Und was bindet dich an deinen Eid? Soll ich dir glauben, daß du plötzlich ein frommer Mann geworden bist?"
 

"Ich werde ebenso beim Ungenannten und allen Unirdischen schwören, denn einem von ihnen verdanke ich mein Leben", antwortete Derhan mit einem Ernst, daß Nefut ihm Glauben schenkte. Sein eigenes, von Amemna gerettetes Leben, war Derhan anscheinend heilig, wenn auch nichts anderes. "Und dann können wir wie zivilisierte Menschen miteinander umgehen?" vergewisserte Nefut sich. "Wirst du deine Provokationen dann endlich einstellen?"
 

"Bist du gerade in einer Position, solche Forderungen an mich zu stellen?" fragte Derhan höhnisch nach.
 

Natürlich war er das nicht. Nefut lag hier in Derhans Klammergriff und fühlte sich, als ob drei Männer ihn festhielten. "Und wozu soll unser Handel dann gut sein?"
 

"Damit wir beide wissen, woran wir mit dem anderen sind. Farhan wußte über mich Bescheid, und ich über ihn. So kamen wir jahrelang gut aus. Allerdings hätte ich nicht gedacht, daß er etwas ausplaudern würde." Derhans Gesicht verfinsterte sich in Erinnerung an seinen in der Schlacht vor Tetraos erschlagenen Unterführer.
 

"Ich weiß schon, woran ich mit dir bin, Derhan", stieß Nefut hervor. "Du bist ein Mann, dem außer seinem eigenen Leben nichts heilig ist, ein Unruhestifter, der anderen nachspioniert und sich auch sonst ständig ungefragt in anderer Leute Angelegenheiten mischt."
 

"Und ich habe es mit einem arroganten, über Leichen gehenden geilen Bock zu tun, der aber den frommen Schein aufrecht erhält, koste es, was es wolle", gab Derhan nicht minder heftig zurück.
 

Sie starrten sich eine Weile wütend an, dann milderte Derhan den Druck auf Nefuts Körper etwas, und aus seinen Gesichtszügen verschwand ein Teil des Zorns. "Dann nenn' den Handel gegenseitige Erpressung, um die Ruhe in der Wannim zu halten."
 

"Und du läßt mich dann in Ruhe?" wollte Nefut noch einmal wissen.
 

"Wenn du mich in Ruhe läßt. Allerdings werden wir wohl nicht umhin kommen, gelegentlich Worte miteinander zu wechseln", gab Derhan mit einem schiefen Grinsen zurück.
 

"Das fürchte ich ebenfalls", pflichtete Nefut ihm bei.
 

Derhan richtete sich endlich auf, hatte das Gewicht ganz von Nefuts Körper genommen und kniete nun über ihm. "Also was ist? Bist du mit dem Handel einverstanden?"
 

Der Handel gefiel Nefut nicht. Vielleicht würde Derhan sogar seinen Eid halten, aber es widerstrebte Nefut zutiefst, seine damalige Tat in Worte zu fassen. "Können wir dann in einem Raum schlafen?" fragte er, um das Unvermeidliche noch ein paar Atemzüge länger hinauszuschieben.
 

"Ich hatte also recht." Derhan grinste triumphierend. "Ja, meinetwegen. Aber du wirst es mit unserem Birh-Melack nicht in meiner Gegenwart wie die Ostler treiben." Nefut ballte die Fäuste. Wenn er jetzt nur hart genug mit dem Knie zuschlug, könnte er Derhan vielleicht zum Schweigen bringen. Doch Derhan schien seinen Gedanken erraten zu haben und schwang sich behende vom Bett. "Versuch' nichts, mit dem du mich nicht sofort tötest, Nefut."
 

"Was wollen wir dem Ungenannten opfern?" fragte Nefut, um abzulenken.
 

"Ein paar Blutstropfen reichen für einen Eid, oder?" fragte Derhan zurück und zog seinen Dolch unter dem Kopfkissen hervor. Wenn er Nefut hätte umbringen wollen, wäre es also ein leichtes für ihn gewesen, mit seiner freien Hand nach dem Dolch zu greifen. Vielleicht sollte Nefut einfach versuchen, Derhans bösartige Bemerkungen zu seiner Liebschaft mit Amemna zu ignorieren, so schwer es auch fiel. In Amemnas Gegenwart würde Derhan sich sicher zusammenreißen. "Also gut. Wer fängt an?" fragte Nefut schließlich und setzte sich auf.
 

"Ich fange an", erklärte Derhan bereitwillig. Er setzte sich auf den Rand seines Bettes, nahm eine Schüssel mit Obst von dem kleinen Tisch neben dem Bett, leerte sie und stellte sie auf seinen Schoß. Dann schnitt er sich in den Unterarm, pumpte mit seiner Hand und ließ etwas von seinem Blut in die Tonschüssel laufen. "Im Namen des Ungenannten und seiner Kinder, denen ich dieses Blut opfere, werde ich nichts von dem weitergeben, was ich von Nefut heute Nacht erfahren werde. Und jetzt du." Er reichte den Dolch und die Schüssel an Nefut.
 

Nefut sah, daß die Knöchel der Hand, mit der er Derhan geschlagen hatte, wieder blutig waren, aber es war kaum angemessen das Blut einer alten Wunde für das Opfer zu verwenden. Also schnitt er sich ebenfalls in den Arm, ließ sein Blut zu dem Derhans laufen und sagte: "Im Namen des Ungenannten und seiner Kinder, denen ich dieses Blut opfere, werde ich nichts von dem weitergeben, was ich von Derhan heute Nacht erfahren werde."
 

Derhan nahm die Schüssel zurück, schubste mit der Dolchspitze ein paar glimmende Kohlestückchen aus der Feuerschale nahe der Tür dazu und stellte die stark rauchende Schüssel ins Fenster. Er reinigte den Dolch an seinem Untergewand und steckte ihn zurück in die Scheide. Sein Gesicht war ungewöhnlich ernst, als er dann sagte: "Ich habe den Mann vergiftet, der meinen Sohn geschändet hat."
 

"Bin ich diesem Mann so ähnlich, Derhan?" fragte Nefut, als ihm klar wurde, weswegen Derhan so empfindlich auf Amemnas und seine Liebschaft reagierte.
 

Derhan schüttelte den Kopf. "Nein, nicht sehr, und unser Birh-Melack ist kein Junge von neun Jahren."
 

Und nicht ich habe Amemna verführt, sondern sie hat mich verführt, genau wie jene andere Frau damals im Bad, dachte Nefut. "Ich habe die Frau eines Prinzen verführt", sagte er jedoch, denn dessen war er damals angeklagt worden.
 

"War sie schön?" fragte Derhan nach.
 

Nefut nickte. "Sie war sehr schön. Und nach der Auspeitschung war sie sehr tot." Und er hatte seinen Platz in der fürstlichen Familie damit verloren.
 

"Und warum hast du sie verführt?" wollte Derhan nun wissen.
 

Nefut sah zum Fenster, betrachtete den Qualm, der sich aus der Schale in das Mondlicht kringelte. Hatten ihn die Kräuter, die seine Stiefmutter im Bad verbrannt hatte, ebenso wie sie lüstern gemacht? Oder war es einfach der Anblick des Verbotenen gewesen, vielleicht auch die Faszination, das erste Mal eine noch dazu wunderschöne nackte Frau zu sehen? Bis zu diesem Moment hatte er sich niemals ernsthaft Gedanken dazu gemacht, warum er ihrer Verlockung erlegen war und nicht das Bad sofort wieder verlassen hatte, als er sah, wer dort war. "Und warum hast du den Mann vergiftet und nicht erschlagen?" fragte Nefut zurück.
 

"Damit er leidet", entgegnete Derhan finster. "Aber du hast meine Frage nicht beantwortet."
 

Nefut nickte. "Ich kann dir keine Antwort geben. Ich sah sie nackt und so passierte es. Es war die Sache eines Augenblicks."
 

"Es war stärker als du", schloß Derhan daraus.
 

Nefut nickte.
 

Und Derhan lächelte.
 

* * *
 

4. Kindereien

Als Barida mit ihrem Sohn am späten Vormittag den großen Beratungsraum betrat, waren die Schlachtplanungen anscheinend schon abgeschlossen. Um den Sandtisch standen ihr Feldherr, die Oberbefehlshaber der Verbündeten und der Birh-Melack ihrer neuen Söldner, außerdem der Kriegs- und der Finanzminister und ein in Tetraos ansässiger Fernhändler, dessen Geschäfte mit dem Süden und Osten zumeist über Hannai abgewickelt wurden. Das Gefolge der Minister und der kahlköpfige Leibwächter des Osheyprinzen saßen auf den Bänken entlang der Wand. Die Männer des Kriegsrates rückten beim Eintritt der Regentin und des Königs beiseite, damit auch sie einen Blick auf die aus dem feuchten Sand modellierte Landschaft um Hannai werfen konnten. Holzhäuschen verkörperten die Städte und Dörfer, Pferde und Soldaten aus Holz mit bunten Stoffbändern die Einheiten, und mit Griffeln in den Sand gezogene Pfeile sollten die Marschrichtungen verdeutlichen.
 

Der Feldherr der Tetraosi übernahm es, die Regentin und ihren Sohn zu informieren. "Es bietet sich an, die Schlacht hier in dieser großen Ebene vor Nemis zu schlagen, Majestät", begann er und zeigte mit dem Griffel auf eine halbwegs ebene Fläche, an deren Rand einige Häuschen standen. "Die Hannaiim pflegen ihr Heer bei Nemis lagern zu lassen, ein Vorbeizug bis Hannai ist also ohnehin schwierig. Außerdem gibt es hier", und der Feldherr zeigte mit dem dünnen Stöckchen auf die betreffende Erhebung, auf der ein Soldat mit grünem Bändchen stand, "einen kleinen Berg, der als Aussichtspunkt ideal ist. Wir sollten auf jeden Fall anstreben, diesen Aussichtshügel zu erobern und unser Lager vielleicht an seinem Fuße errichten."
 

Grün war bei den früheren Beratungen stets die Farbe der Hannaiim gewesen. "Der Hügel befindet sich also in der Hand der Hannaiim?" fragte Barida nach.
 

Der Feldherr nickte. "Es gibt dort einen kleinen Posten, Majestät, einen Aussichtsturm. Unsere Planung sieht vor, unsere Verbündeten aus Letran zusammen mit der Leichten Reiterei vorzuschicken und den Hügel einzunehmen. Die Letrani werden dann dort oben ihr Lager errichten, der Rest des Heeres wird an seinem Fuße etwa hier", mit dem Griffel zog er einen Halbkreis in den Sand, "lagern."
 

"Welche Leichte Reiterei?" fragte Barida nach, während ihr Sohn begann, mit dem Zeigefinger ein Loch in den Aussichtshügel zu bohren. Sie zog sanft an seinem Ärmel und er ließ von dem Hügel ab.
 

Der Feldherr ignorierte das Verhalten des Königs. "Ich spreche von der Reiterei unserer neuen Söldner, Majestät. Wir werden sie am Morgen des zweiten Marschtages mit den Reitern der Letrani vorschicken, so können wir die Hannaiim sicherlich erfolgreich überraschen."
 

"Da seid ihr zuversichtlich?" richtete Barida ihre Frage an den Oberbefehlshaber der Letrani und Amemna Darashy.
 

Die beiden Männer nickten. "Wirr können mit unserren Pferrden Pfade jenseits derr grroßen Handelsstrraße nehmen, Majestät", ergänzte der Birh-Melack und lächelte Barida in einer Weise an, die ihr mehr als freundliche Höflichkeit zu enthalten schien. "Die Hannaiim werrden uns errst bemerrken, wenn wirr berreits die Ebene errreicht haben." Baridas Herzschlag beschleunigte sich, als sie an ihre Pläne für diese Nacht dachte.
 

"Aber Pferde müssen doch auf den Wegen laufen, nicht wahr?" ließ sich überraschend der König vernehmen.
 

Die Männer des Kriegsrates sahen Barida hilflos an, denn sie wußten nicht, wie sie mit einer Frage des Königs umgehen sollten. Der Birh-Melack jedoch nahm eine der Pferdefiguren mit einem gelben Band um den Bauch von der Seite des Sandtisches und führte sie in galoppierenden Bewegungen über die hügelige Landschaft nördlich der Handelsstraße zwischen Tetraos und Hannai. "Unsere Pferde können auch hier laufen, denn sie tragen keine großen Lasten, mein König." Der König lachte vor Freude, als der Birh-Melack das Pferd bis vor ihn galoppieren ließ und es ihm dann in die Hand drückte.
 

"Und was ist mit der Schlacht selbst?" fragte Barida, um die Anwesenden wieder an den Grund ihres Hierseins zu erinnern.
 

Der Feldherr berichtete also über die zu erwartende Aufstellung des Heeres der Hannaiim, über die in der Schlacht gewonnenen Erkenntnisse über die besonderen Stärken und Schwächen des Gegners, über die an diese Erkenntnisse angepaßte Aufstellung der Tetraosi und ihrer Verbündeten, und er illustrierte seinen Bericht mit der Plazierung einzelner Holzfiguren mit grünen, blauen, roten und gelben Bändern auf dem Sandtisch. Zuletzt war die Ebene so gefüllt, daß kaum eine der Figuren umfallen konnte, ohne alle anderen mit sich zu reißen. Der König hatte in der Zwischenzeit wieder damit begonnen, die Hügel der Landschaft um Hannai zu unterminieren. Barida tat jedoch so, als sähe sie es nicht und fragte statt dessen, welche Aushebungen für diesen Schlachtplan noch erforderlich waren und wie lange die Vorbereitungen voraussichtlich dauern würden, denn bei der Schlacht gegen die Hannaiim vor sechs Tagen hatten die Truppen der Tetraosi empfindliche Einbußen hinnehmen müssen. Der Finanzminister rechnete der Regentin vor, daß die Kosten überschaubar bleiben würden und in drei bis vier Tagen auch alle Vorbereitungen abgeschlossen sein müßten, genaueres könne er am kommenden Tag sagen, da die Antworten der kriegsdienstpflichtigen Dörfer dann eingetroffen sein sollten. Nicht viel Zeit für Barida, das Liebesspiel mit dem Birh-Melack zu genießen.
 

Plötzlich griff der König sich ein weiteres gelb beschärptes Pferdchen, lief zur Tür, stieß sie auf, rief dem Birh-Melack "Fang mich doch!" zu und war verschwunden. Der junge Osheyprinz grinste, sprang auf und lief hinterher.
 

Das brachte Unruhe in den Kriegsrat. "Ungehöriges Verhalten für einen Söldnerführer", stieß der Feldherr mit einem tiefen Seufzer flüsternd hervor. Sicher war das nicht für Baridas Ohren bestimmt gewesen, also reagierte sie darauf nicht. Aber da ihr Sohn von dem jungen Birh-Melack ebenfalls begeistert schien, warum sollte sie ihm das Vergnügen vorzeitig nehmen? Sie hatte ihn selten so lebhaft im Umgang mit anderen erlebt. "Haben wir denn nicht für heute alles besprochen?", fragte sie. "Soweit ich verstanden habe, müssen wir noch die Antworten der tribut- und kriegsdienstpflichtigen Dörfer abwarten, um eine genaue Zeitplanung aufstellen zu können." Der Feldherr gab Barida untertänigst recht, denn sie war natürlich die Regentin. Wenn sie eine Besprechung für beendet erklärte, war sie beendet, mit etwaig noch ungeklärten Details mußte sie sich nicht befassen, solange alles in der versprochenen Weise funktionierte. Barida neigte knapp den Kopf vor dem versammelten Kriegsrat und verließ ebenfalls den großen Beratungsraum.
 

Auf den Gängen des Palastes wiesen die Pagen, Diener und Wächter Barida den Weg, den der König und der ihn jagende Birh-Melack genommen hatten. Amemnas kahlköpfiger Leibwächter folgte ihr nun, aber er hatte seinen Herrn nicht abgehalten, dem König hinterher zu laufen. Vielleicht hätte die Anwesenheit seines Lehrers Amemnas eigenes jugendliches Ungestüm etwas gebremst. So aber hatte der König offensichtlich sein Vergnügen. Den letzten Rest des Weges konnte Barida auch dem weithin zu hörenden ausgelassenen Gelächter der beiden jungen Männer folgen. Sie jagten sich um die Säulen des hinteren Innenhofes, die beiden Holzpferdchen, die der König vom Sandtisch entführt hatte, schwammen in dem großen, flachen Wasserbecken, das den Boden im Zentrum des Hofes einnahm. "Du kriegst mich nicht!" rief der König triumphierend und rannte mit hoher Geschwindigkeit den Säulengang hinunter, so daß er fast gegen die Mauer lief, bevor er die Kurve nehmen konnte.
 

Aber der junge Osheyprinz stand ihm kaum nach. Genauso wild kürzte er planschend quer durch das Wasserbecken ab und stellte sich dem König entgegen, der ihm in die Arme lief und den Birh-Melack umriß. Lachend kugelten sie sich über den Steinboden, obwohl der Sturz Barida schon beim Zusehen Schmerzen bereitet hatte. Und endlich waren sie vor lauter Lachen so außer Atem, daß sie keuchend ruhiger wurden und sich voneinander lösten. Amemna blieb auf dem Rücken liegen, aber der König sprang auf und setzte sich rittlings auf ihn. "Hah, hab ich dich doch besiegt, großer Krieger", und piekste ihn mit dem Zeigefinger auf das Brustbein. Nun lachte Amemna wieder. "Hab Erbarmen, mein König. Ich will dir auch stets treu dienen."
 

Und Barida kam ein fast genialer Einfall, als sie die beiden so spielen sah. Wieso nicht Amemna Darashy zur Gattin ihres Sohnes machen? Sie würde ihn kastrieren lassen und alle Ärzte und Hebammen würden bezeugen können, daß er tatsächlich eine Frau war, trotz seiner tiefen Stimme. Falls er sich als Frau unfruchtbar erwies, aber in der vergangenen Nacht Barida geschwängert hatte, konnte man das von ihm gezeugte Kind als ein von ihm geborenes ausgeben. Ansonsten würde man, gegen eine entsprechende Belohnung, schon ein ansehnliches Mädchen aus gutem Hause finden, das bereit war, dem König ein Kind zu gebären und darüber zu schweigen. Noch immer balgten sich die beiden wie Kinder auf dem Boden des Säulenganges, während die Bediensteten schon gafften. Täuschte es, oder waren tatsächlich beide Jünglinge deutlich erregt? Nun mußte Barida wohl einschreiten, bevor einer der beiden hier, vor den Augen des ganzen Hofes, auf die Idee kam, noch weniger unschuldige Spiele zu spielen. "Mein König, steht auf", rief Barida den Säulengang hinunter und eilte zu ihrem Sohn.
 

"Ich will aber noch weiter spielen", protestierte der König, während Amemna schon aufgesprungen war und seine Kleidung richtete. Dann verneigte der Osheyprinz sich vor der Regentin.
 

"Wenn ihr weiter spielen wollt, Majestät, dann geht bis zur Mittagsruhe in einen der Palastgärten. Wenn es euch beliebt, nehmt auch gerne den Birh-Melack mit. Er wird euch in allem gehorchen."
 

"Au fein!" rief der König aus, sprang auf und rannte schon wieder los. Und Amemna rannte genauso flinkt hinterher. Der kahlköpfige Leibwächter mußte ebenfalls laufen, um den Anschluß an seinen Herrn nicht zu verlieren.
 

Es wäre natürlich eine furchtbare Verschwendung, Amemna das hübsche Glied und die Hoden abschneiden zu lassen. Vielleicht ging es ja auch ohne Kastration. Sie durfte nicht außer acht lassen, daß Amemna Darashy ein Oshey war und er sich Baridas Vorhaben - trotz der Aussicht, Gemahlin des Königs und damit Regentin von Tetraos zu werden - zu sehr zu Herzen nehmen mochte. Man könnte vielleicht vor der ärztlichen Überprüfung des Geschlechts einfach die männlichen Genitalien mit einem Tuch wegbinden und die Untersuchung unter einem Gewand und von hinten stattfinden lassen, um die Gefühle der angehenden Königsgattin nicht zu verletzen. Das hätte auch den Vorteil, daß die Vermählung des Königs sogar noch vor dem Feldzug offiziell bekannt gegeben werden konnte, da nicht erst Wochen oder sogar Monate das Abheilen der Kastrationsnarbe abgewartet werden mußte. Barida würde Amemnas tiefste, aufrichtigste Dankbarkeit erlangen müssen, um ihn zu dem Plan mit der Hochzeit zu überreden, das war ihr klar. Aber es sollte zu machen sein, mit Hilfe ihres rothaarigen Lieblingseunuchen.
 

*
 

"Herrin, etwas Furchtbares!" weckte das panische Geschrei der Zwergin Barida. Sie war sofort hellwach und fuhr von ihrem Ruhelager hoch. "Was ist geschehen?"
 

"Ein Attentat, Herrin, auf euren Söldnerführer", stieß die Zwergin keuchend hervor. Offenbar war sie eine lange Strecke bis in die Räume des Königs gerannt, wo Barida sich auf einer Liege zur Mittagsruhe gebettet hatte. Der König dagegen schlief trotz der plötzlichen Unruhe weiterhin tief und fest, das Herumtollen mit Amemna hatte ihn erschöpft.
 

"Was für ein Attentat und wo?" fragte Barida, legte den Schleier zurecht und stand auf.
 

"In der Amalaube", war die gekeuchte Antwort. "Ein Besucher, ein Kind, hat mit einem Dolch auf den Söldnerführer eingestochen." Die Zwergin eilte voran, doch Barida hatte sie rasch ein- und überholt. Als sie zur Mittagsruhe ihren Sohn in seine Gemächer geleitet hatte, bestand Amemna darauf, sich allein in die Amalaube zurückzuziehen. Seinen Leibwächter hatte er weggeschickt, und Barida hatte es zugelassen, da die Laube ja versteckt in einem der Palastgärten lag und an diesem heiligen Ort auch keine Gefahr zu vermuten war. "Sind die Ärzte da?" schnappte sie, nun von dem Weg über Treppen und Flure ebenfalls außer Atem.
 

"Ich weiß es nicht. Ich kam sofort zu euch, als ich von dem Angriff erfuhr, Herrin."
 

Sie hatten den Garten erreicht, kamen in Sichtweite der von Efeu und Wein umrankten Amalaube. Einige von Baridas Wachen standen in einem Grüppchen neben der Laube, außerdem zwei Dienerinnen mit Wasserschalen und Schwämmen und drei Ärzte in ihrer Nähe. Und im Näherkommen sah Barida, daß im Eingang der Laube Amemna saß, der Hals und das weiße Untergewand von Unmengen an Blut besudelt. Er hielt einen kleinen Jungen im Arm, der ebenfalls blutbefleckte Kleidung trug und herzzerreißend weinte. Amemna streichelte sein Haar, flüsterte ihm anscheinend Worte der Beruhigung zu. Barida verschnaufte einen Moment und fragte dann den Kommandanten ihrer Wache im Flüsterton: "Was genau ist passiert?"
 

Der Mann sah erschüttert aus, dabei wußte Barida, daß es kaum das viele Blut sein konnte, das ihn erschreckte. "Majestät, zwei Besucher wollten zu dem Birh-Melack der Söldner, eine Frau, die sagte, sie sei die Amapriesterin aus dem Söldnerlager und ihr Sohn, dieser Junge dort. Der Birh-Melack schickte den Wächter, der die beiden begleitet hatte, fort und sprach wohl eine Weile mit der Frau, die den Garten dann wieder verließ, allerdings ohne ihr Kind. Dann hörten wir, wie der Junge wild schrie. Als wir dazukamen lag der Birh-Melack in seinem Blute und der Junge stieß ihm wiederholteinen Dolch in die Kehle. Und dann, bei allen Göttern, erhob der Birh-Melack sich und sagte, es ginge ihm gut und er verbot, den Knaben anzurühren."
 

"Jemand soll die Leibwächter des Birh-Melack holen", befahl Barida und ging näher an den Eingang der Laube. Der süßliche Geruch des Blutes ließ die Übelkeit in ihr aufsteigen, aber sie riß sich zusammen, hielt ein Ende ihres parfumierten Schleiers vor Mund und Nase. "Majestät", wandte der Kommandant der Wächter ein, aber Barida schüttelte den Kopf. Der Dolch, mit leicht gekrümmter Klinge und weißem, blutbeflecktem Griff, lag mitten in der Laube, vor dem Bild der Ama, außerhalb der unmittelbaren Reichweite des Jungen oder Amemnas. Die kostbare Steinskulptur war von oben bis unten mit Blut bespritzt. "Ama verzeih", entwich es Barida flüsternd, als sie die Schändung des Bildnisses entdeckte. "Was ist hier passiert?" verlangte sie dann von Amemna zu wissen, als sie noch eine Armlänge von ihm entfernt stand.
 

Der Junge ruhte mit der Wange an Amemnas Brust in dessen blutigen Armen, und mit blutbeschmiertem Gesicht sah der junge Osheyprinz zu Barida auf. Seine hellgrauen Augen wirkten in diesem Moment nicht exotisch sondern bedrohlich fremdartig. "Dieserr Knabe wollte eine Schuld begleichen, Majestät", sagte Amemna leise, strich dem Jungen noch einmal mit seinen blutroten Händen liebevoll über das Haar.
 

"Was für eine Schuld?" wollte Barida wissen.
 

Amemna hob das Kinn des Jungen an, so daß dieser den Osheyprinzen ansehen mußte. "Sprrichst du fürr dich selbst?"
 

Der Junge nickte und sah Barida an. "Es war eine Schuld am Ungenannten, Herrin", flüsterte er dann kaum hörbar. "Aber ich war verblendet. Ich hielt den Unirdischen für einen Dämon, weil er das Opfer an den Ungenannten verhindert hatte. Ich hatte nicht verstanden, daß es der Wille des Ungenannten war, daß ich nicht geopfert werde."
 

"Der Unirdische? Sprichst du von meinem Söldnerführer Amemna Darashy?" fragte Barida nach. Ob das der Sohn des Feldherrn war, den Amemna Darashy durch einen Trick vor der Opferung an den Ungenannten gerettet hatte? Aber mit welchem Trick hatte er sich selbst vor den Stichen des blutigen Dolches dort in der Laube gerettet? Mit welchem Trick hatte er eimerweise Blut in der Laube und auf seinen Gewändern verteilt, ohne eine Verletzung aufzuweisen? Der Junge sah ungeachtet seiner Tat so unschuldig aus, daß es Barida bei dem Anblick seiner von den blutigen Gewändern des Birh-Melack gefärbten Wange einen Stich gab, als sei der Knabe Opfer eines Überfalles geworden, nicht der junge Osheyprinz.
 

"Ich habe dein Blut verrgossen, du hast nun mein Blut verrgossen. Sind damit alle Schulden beglichen?" fragte Amemna den Knaben leise.
 

"Ja, Herr", antwortete der Junge ebenso leise. "Ich würde gerne mit meiner Mutter zurück ins Lager gehen, Herrin", sagte er dann zu Barida. Barida konnte nicht fassen, daß das Geschehene so spurlos an dem Jungen abglitt, als habe zufällig jemand einen Eimer Farbe ausgegossen. Nicht einmal ihren schwachsinnigen Sohn hätte dieses Blutbad ungerührt gelassen.
 

"Majestät, die Mutter des Kindes wartet am Eingang des Gartens", ließ sich der Kommandant der Wachen vernehmen.
 

"Sie ist eine Priesterin der Ama, nicht wahr? Dann soll sie, nachdem das ganze Blut weggewaschen worden ist, die Laube auch spirituell reinigen. Danach mag sie mit ihrem Sohn gehen." Die einzige Erklärung dafür, daß Amemna blutüberströmt aber anscheinend wohlauf vor ihr saß und sich nun geschmeidig zum Stehen erhob, war, daß er tatsächlich ein Engelswesen war. "Ich würrde mich gerrne säuberrn und dann im Lagerr nach dem Rrechten sehen, Majestät", sagte Amemna nun mit einer Verbeugung.
 

"Ich würde mich freuen, wenn ihr dem König und mir beim Nachtmahl Gesellschaft leisten würdet", entgegnete Barida daraufhin mit einem mechanischen Lächeln, drehte sich um und lief fast dem kahlköpfigen Leibwächter Amemnas in die Arme. "Verzeiht mir, Majestät", beeilte sich dieser sofort zu sagen, mit auffällig bleichem Gesicht, wahrscheinlich durch den Anblick den sein Herr ihm bot. Barida verdrängte das Bild des blutbesudelten Jünglings, versuchte, keinen Gedanken zuzulassen, der mit Amemna, diesem Attentat oder größeren Mengen an Blut zu tun hatte und eilte in ihre eigenen Gemächer. Eine ihrer Zofen brachte ihr von dem Ostlergetränk und sie stürzte zwei, drei volle Becher hinunter, bis ihr so schwindelig war, daß sie kaum mehr stehen konnte. Dann ließ sie sich auf ihr Bett fallen. War ihr da von den Göttern wirklich ein Engel als Liebhaber und zukünftige Gattin ihres Sohnes gesandt worden? Den Göttern hatte es auch gefallen, ihren König viel zu jung zu sich zu holen und seinem Sohn auf Dauer den Verstand eines kleinen Kindes zu geben. Warum sollte sie jetzt nicht eine Wiedergutmachung dafür erhalten?
 

* * *
 

5. Ernüchterung

Hamarem erwachte von dem Morgenruf, der direkt vor dem Mawatizelt durch das Heerlager ging. Erst als er sich fragte, warum denn nun gerade von diesem Punkt der Morgenruf zu beginnen hatte, erinnerte er sich daran, daß Amemna seit dem vorvergangenen Abend Birh-Melack der Söldner war. Und für Hamarem begann sein zweiter Tag als Zweiter der Mawati, auch wenn es keine Wannim zu befehligen gab sondern nur einen einzelnen Mann. Hamarem hatte sich mit Oremar darauf geeinigt, daß dieser sich um die Tiere und das Essen kümmerte, und die Verhandlungen mit den Zivilisten in Hamarems Händen lagen. Nicht das für den heutigen Tag noch so viele dieser Verhandlungen zu erwarten waren, denn die meisten Zivilisten hatten sich bereits am Vortag entschieden, ob sie zurückkommen oder mit ihren Besitztümern gehen wollten. Nun würde der bürokratische Teil deutlich überwiegen.
 

"Guten Morgen, Hamarem", begrüßte Oremar ihn mit einem frechen Grinsen, nachdem Hamarem sich endlich erhoben hatte. "Deine Amapriesterin hat dir einen Knutschfleck zur Erinnerung an eure wilde Nacht dagelassen."
 

"Sie ist die Schülerin der Amapriesterin", stellte Hamarem richtig. Seine Unterlippe fühlte sich tatsächlich noch etwas wund an, aber daß es sogar im frühmorgendlichen Dämmerlicht des Zeltes so deutlich zu sehen war, ließ noch einige Peinlichkeiten im Laufe des Tages erwarten. Plötzlich bemerkte Hamarem am Eingang einen kleiner Schatten. Hamarem sprang auf, um den Besucher willkommen zu heißen. Es war Nefut das Kind. "Guten Morgen, Nefut", begrüßte Hamarem ihn. Die Kräfte um Nefut waren in ungewöhnlicher Unordnung. "Hast du Kummer?" fragte Hamarem deshalb.
 

Aber der Junge schüttelte den Kopf. "Nein, ich habe keinen Kummer. Darf ich heute eure Morgenübungen mitmachen? Oremar hatte es mir gestern versprochen."
 

"Weiß deine Mutter denn, daß du so früh zu uns gekommen bist?" Vielleicht war der Junge so aufgeregt, weil er seiner Mutter ausgerissen war.
 

Nefut lächelte. "Ja, natürlich weiß sie Bescheid. Sie wollte heute dem Birh-Melack für meine Rettung danken und holt mich auf dem Weg nach Tetraos hier ab." Also war es wohl nur die Aufregung, seinem Retter nun endlich selbst danken zu können, die für solchen Aufruhr in dem Kind sorgte.
 

Wie versprochen bekam der Junge einen der Übungsstäbe in die Hand und Hamarem und Oremar machten gemeinsam mit ihm die Morgenübungen, sehr zum Erstaunen des anderen Nefut, der aus der Stadt dazu kam, als sie gerade begonnen hatten. Auch der Mawati Nefut schloß sich den Morgenübungen an, aber entgegen seiner früheren Gewohnheit überließ er Hamarem die Führung, wie um zu verdeutlichen, daß Hamarem mit seinem Einverständnis der Ranghöhere war. Nach dem Waschen fragte der ehemalige Zweite der Wannim den Jungen mit einem seltsamen Grinsen: "Du gehörst jetzt also zur Wannim?"
 

Der Junge erwiderte das Grinsen mit einem nervösen Lächeln, senkte dann aber scheu den Kopf. "Eigentlich bin ich nur zu Besuch. Meine Mutter ist gestern wieder ins Lager gekommen und wird mich bald abholen."
 

"Deine Mutter ist die Amapriesterin?" vergewisserte Nefut sich.
 

Der Junge nickte. "Und ich glaube, sie will mich zu Verwandten in Tetraos bringen, damit ich nicht noch einen Kriegszug mitmache", erklärte er dann.
 

"Das ist sehr vernünftig von deiner Mutter", antwortete Nefut darauf erstaunlich ernst. "Ein Heerlager ist nicht der richtige Ort um aufzuwachsen." Nefut wurden von den Kräften wie von Schlangen umwunden, als er das sagte. Es schienen wenig erfreuliche Erinnerungen zu sein, die ihn heimsuchten. Bis jetzt hatte Hamarem immer geglaubt, Nefuts Kindheit sei, abgesehen vom Tod seiner Mutter, recht glücklich gewesen. Über seine Zeit in den Heerlagern, in denen sein Vater als Söldner beschäftigt gewesen war, hatte Nefut allerdings nur sehr summarisch gesprochen.
 

In dem Moment rief die Amapriesterin vor dem Zelt "Nefut mein Augenstern, wo bist du?" und beide Nefuts drehten sich zum Zelteingang.
 

"Du wirst also auch einmal zu den hundert Männern gehören, die sich umdrehen, wenn auf dem Markt nach einem 'Nefut' gerufen wird", lachte Nefut der Mawati, als er zu dem Schluß gekommen war, daß es wohl die Mutter des Jungen gewesen sein mußte, die gerufen hatte. Aber seine zur Schau getragene Fröhlichkeit stand in auffälligem Gegensatz zu dem Aufruhr der Kräfte um ihn.
 

Der Junge sah hoch zu dem anderen Nefut, der ihm um einiges überragte, und auch um ihn brodelten vor lauter Aufregung wieder die Kräfte. "Dann seid ihr wohl der große Krieger, von dem Hamarem sprach, als wir miteinander spielten."
 

Nefut zog eine Augenbraue hoch, maß Hamarem mit einem skeptischen Blick. "Der große Krieger, so hat er mich genannt? Nun, der Zweite der Wannim muß es ja wissen."
 

Aber der Junge hörte Nefut gar nicht mehr zu. Er lief zu Hamarem, schlang die Arme um seine Mitte und als Hamarem sich zu ihm hinunterbeugte, hauchte er Hamarem einen Kuß auf die Wange. "Ich danke dir für alles, Hamarem." Dann lief er schnell hinaus, vielleicht um seine Abschiedstränen zu verbergen, und zog seine Mutter fort von den Zelten, bevor sie noch ein Grußwort an einen der Mawati hatte richten können.
 

"Ein aufgewecktes Kerlchen", bemerkte Nefut. "Er hat dir den Dolch gestohlen. Den siehst du so bald nicht wieder."
 

Hamarem faßte an seinen Gürtel. Tatsächlich, sein Dolch mit dem Griff aus Knochen war fort. Aber bei Nefut dem Kind würde er gut aufgehoben sein, und Hamarem gefiel der Gedanke, daß der Junge immer, wenn er den Dolch sah oder benutzte, an ihn denken würde. "Wenn er ihn nicht selbst genommen hätte, hätte ich ihm den Dolch zum Abschied geschenkt", behauptete Hamarem.
 

"Hast du dich von allen bisher so übers Ohr hauen lassen als Zweiter der Wannim?" fragte Nefut nach, setzte sich an das Herdfeuer und bediente sich an dem von Oremar zubereiteten Frühstück.
 

Erst jetzt beim Essen fiel Hamarem plötzlich auf, daß Nefuts Unterlippe verletzt war. Das sah nicht nach einem Kutschfleck aus. Was mochte ihm in Tetraos geschehen sein? "Mußtest du unseren Birh-Melack schon gegen Angriffe verteidigen?" fragte Hamarem alarmiert.
 

Nefut sah ihn verdutzt an, aber dann faßte er an seinen linken Mundwinkel, grinste wieder. "Nein, das hatte nichts mit unserem Birh-Melack zu tun. Das war Derhan."
 

"Und du hast Derhan totgeschlagen?" mutmaßte Oremar daraufhin.
 

Nefut explodierte fast vor Lachen, aber es klang erschreckend schrill. Als er sich wieder etwas beruhigt hatte, schüttelte er den Kopf. "Nein, Derhan geht es gut, und unserem Birh-Melack geht es gut. Und dem gesamten Hof von Tetraos mit König und Regentin geht es gut. Ich wollte nur mal nachsehen, wie Hamarem als Zweiter der Wannim zurecht kommt. Und vielleicht ein paar Worte mit ihm wechseln." Das 'allein' mußte er nicht aussprechen, der intensive Blick, mit dem er seinen ehemaligen Untergebenen musterte, war anscheinend auch für Oremar überdeutlich. "Ich muß mich noch um die Tiere kümmern", fiel ihm prompt ein, stand auf und verließ das Zelt.
 

Nefut sah Hamarem aber nur eine ganze Weile schweigend an, bis Hamarem schließlich fragte: "Darf ich dir einen Tee anbieten?"
 

Nun huschte das erste echte Lächeln über Nefuts Lippen. "Du darfst mir einen Tee anbieten", antwortete er ebenso förmlich. Und er wartete wieder schweigend, bis Hamarem den Tee zubereitet und endlich zwei Schalen gefüllt hatte. Sie tranken ein paar Schluck. Nefut schien darauf zu warten, daß Hamarem als der Höherrangige das Gespräch begann.
 

"Nefut, was ist nicht in Ordnung im Palast?" fragte Hamarem schließlich, als beide ihre Schalen schon fast geleert hatten.
 

"Es ist alles in Ordnung im Palast", log Nefut. Die aufgewühlten Kräfte um ihn waren praktisch greifbar. "Und du kommst zurecht als Zweiter der Wannim?"
 

Hamarem nickte. "Danke der Nachfrage. Ja, ich komme gut zurecht."
 

"Und was ist mit den Zivilisten, um die du dich kümmern sollst? Da klappt auch alles?" fragte Nefut wieder.
 

Hamarem nickte erneut. "Ja, die Zivilisten sind sehr umgänglich. Alles läuft wunderbar."
 

"Kann ich dir irgendwie helfen?" Wieso wirkte Nefut so schuldbewußt?
 

"Ich habe mir schon fähige Helfer rekrutiert, die für mich übersetzen und die vorgebrachten Besitzansprüche überprüfen."
 

Nefut schien erleichtert, das zu hören, aber trotzdem waren die Kräfte um ihn noch immer in Aufruhr. "Was für einen Streit hattest du mit Derhan?" fragte Hamarem also.
 

Nefut wich seinem prüfenden Blick aus, trank einen Schluck Tee, schien sich zu sammeln. "Es gibt keinen Streit mehr. Wir haben ihn beigelegt."
 

"Indem ihr euch verprügelt habt?"
 

Nefut ballte seine Fäuste, bis der Schorf auf seinen Knöcheln zum Zerreißen gespannt war, und löste sie anscheinend nur mit großer Anstrengung wieder. "Und von wem stammt das?" fragte Nefut statt einer Antwort gepresst, und zeigte auf Hamarems Lippe.
 

"Das ist immerhin ein Zeichen ihrer Zuneigung", entgegnete Hamarem darauf und straffte seine Haltung. "Weswegen bist du hier, Nefut?"
 

Nefut schwieg, doch sein Schuldbewußtsein war deutlich geringer geworden. Hatte er also nur feststellen wollen, ob Hamarem mit seinen Aufgaben als Zweiter der Wannim zurecht kam? Aber gerade, als Hamarem sich entschloß, die Sache auf sich beruhen zu lassen, antwortete Nefut langsam: "Du hast dich so verändert, seit wir vor Tetraos liegen. Eine Bemerkung Derhans läßt mich vermuten, daß dein Verschwinden vor zwei Tagen etwas mit meinem Verhalten zu tun hatte. Stimmt das?"
 

Der untertänige Diener hatte sich von seinem Herrn emanzipiert, das war geschehen. Und Nefut selbst hatte mit der Übertragung des Amtes des Zweiten der Wannim diese Entwicklung besiegelt. Aber das wußte Nefut doch. Was wollte er also von Hamarem hören? Nefut fühlte sich offensichtlich unbehaglich durch Hamarems Schweigen. Und Hamarem verlängerte die Pause noch bewußt, indem er langsam seine Teeschale leerte und Nefut durch das Heben der Kanne eine zweite Schale voll Tee anbot.
 

"Hamarem, was ist los mit dir?" brach es da endlich aus Nefut hervor. "Wir waren so vertraut, fast wie Brüder. Ich wußte, was ich von dir zu erwarten, wie ich selbst dein Schweigen zu verstehen hatte. Doch nun ist alles anders."
 

Hamarem nickte. "Ja, Nefut, es ist ALLES anders. Mein Verschwinden hatte nichts mit dir zu tun, es hatte etwas mit mir zu tun. Ich habe mich wirklich verändert. Aber du hast dich ebenso verändert. Was ist mit dir passiert? Wo ist der von fürstlichen Idealen bestimmte Anführer geblieben, dessen Gedanken allein um das Wohlergehen seiner Leute kreisten?" Dieser Nefut hätte das Amt eines Zweiten des Wanack nie abgegeben, außer um selbst Wanack zu werden. Und wenn Nefut die Vertrautheit von früher vermißte, wieso konnte er dann nicht einfach mit der Wahrheit herausrücken? Früher hatte Nefut keine Probleme damit gehabt, die Dinge beim Namen zu nennen. Wollte Nefut etwa von ihm hören, daß er über die Liebschaft zwischen ihm und Amemna Bescheid wußte? Wieso lag Nefut daran so viel? Intimitäten waren nie ein Gesprächsthema gewesen. War Nefut so unwohl bei seiner Verhältnis zu Amemna, daß er Rat suchte? "Was ist dir begegnet? Was bewegt dein Herz, seit wir hier sind?" fragte Hamarem also klar und deutlich nach.
 

Nefut seufzte, sah in seine Teeschale. "Ich hadere mit den Launen Amas. Anscheinend hast du die Freuden von Amas Wunder inzwischen kennengelernt. Du wirst verstehen, daß ein Mann darunter leidet, wenn Ama plötzlich andere Pläne mit ihm hat."
 

Da sprach Nefut wohl gerade von sich und Amemna. "Und die Launen der Göttin wären welche?" fragte Hamarem nach und kam sich vor, als müsse er Nefut jedes einzelne Wort aus der Nase ziehen.
 

Nefut rieb sich seine verschorften Knöchel. "Mir gegen Sitte und Verstand Liebe ins Herz zu senken", antwortete er zögernd.
 

Hamarem konnte nicht mehr mit ansehen, wie Nefut sich quälte. "Du meinst begehrliche Liebe zu unserem Birh-Melack", sagte er leise.
 

Nefut sah erstaunlich überrascht aus und plötzlich wallten die Kräfte um ihn wieder hoch. "Also weißt du Bescheid!" fuhr er auf, und das Geständis versetzte Hamarem trotz seiner Gefühle für Ramilla unerwartet einen Stich. "Du mußt mich doch hassen dafür."
 

Ahnte Nefut etwas von Hamarems Zuneigung zu Amemna? "Wieso müßte ich dich hassen?" fragte er vorsichtig nach.
 

"Dafür, daß ich den Wahren Weg verlassen habe, und dafür, daß ich dir das Amt des Zweiten aufgedrängt habe, weil ich mit meinen eigenen Gefühlen nicht ins Reine kam. Dafür..."
 

Hamarem hob die Hände, um Nefut Einhalt zu gebieten. "Dich hassen dafür, daß du dem Zauber eines Unirdischen erlegen bist?"
 

"Das ist es nicht allein, glaub mir, Hamarem", sagte Nefut mit einem Kopfschütteln. "Es ist viel mehr als bloßes Begehren."
 

"Aber du wagst nicht, dich dem Willen der Göttin ganz zu ergeben, richtig?" fragte Hamarem angesichts der Bewegung der Kräfte um Nefut. "Erwidert der Birh-Melack deine Gefühle nicht?"
 

"Doch, das tut s.er. Aber bisher wagte ich nicht, mich Amemna zu offenbaren und meine Gefühle vor der Wannim zu bekennen, weil ich fürchtete, dich zu verletzen", gab Nefut flüsternd zu.
 

Nefut mußte über Hamarems Gefühle Bescheid wissen. Wahrscheinlich hatte Derhan ihn aufgeklärt und dann dafür Prügel von Nefut bezogen, weil der nicht glauben wollte, daß sein schrifttreuer ehemaliger Diener sich ebenfalls nach dem unirdischen Jüngling verzehrte. "Wieso meinst du, mich mit diesem Liebesgeständnis zu verletzen?" fragte Hamarem und versuchte, seine Stimme sachlich und ruhig zu halten.
 

"Ich hatte immer das Gefühl, du blickst zu mir auf, gerade weil ich mich bemühte, stets, auch unter widrigen Umständen, dem Wahren Weg zu folgen. Nun wirst du mich sicher verachten, und das schmerzt mich sehr."
 

Ahnte er wirklich nichts? "Es ist Amas Wille", stellte Hamarem also fest. "Wie könnte ich dich dafür verachten?"
 

"Du hast dich wirklich sehr verändert, Hamarem", bemerkte Nefut dazu mit einer Mischung aus Verwunderung und Anerkennung.
 

"Hamarem, hier sind Männer, die dich dringend sprechen wollen", erklang in dem Moment Oremars Stimme von draußen.
 

"Entschuldige mich bitte", sagte Hamarem zu Nefut und erhob sich.
 

Aber auch Nefut stand auf. "Du hast zu tun und ich will dich nicht länger belästigen." Er kaute auf dem geschwollenen Teil seiner Lippe herum. "Vielleicht betest du gelegentlich für mich zu Ama. Genieße die Zeit mit der Frau, der du das Liebesmal verdankst", dann verließ er mit Hamarem das Zelt, verabschiedete sich von Oremar und ging davon.
 

*
 

Während der Mittagsruhe las Hamarem die noch nicht abgearbeiteten Rückforderungen von Zelten und ihrem Inhalt und notierte sich, was nachzuprüfen war und wo eine Rückerstattung ungeprüft erfolgen konnte. Er war gerade dabei, Oremar mit einigen Notizen für seine Helfer zum Lagerplatz des Trosses zu schicken, als eine große, schlanke Gestalt gebückt durch den Zelteingang trat - Amemna.
 

Hamarem sprang erfreut auf. "Seid gegrüßt, Birh-Melack. Es ist schön, euch zu sehen."
 

"Seid gegrüßt", ließ sich auch Oremar vernehmen. "Nefut hat uns heute auch schon besucht."
 

"Es sieht aus, als sei alles in Orrdnung bei euch", antwortete Amemna auf die Begrüßung, sah sich im Mawatizelt um. "Hamarrem", sagte er dann zu seinem Zweiten, "ich habe etwas, das dirr gehörrt." Er zog einen Dolch aus dem Gürtel, der einen auffällig hellen Griff hatte, einen Griff aus Knochenstücken.
 

"Wie...", begann Hamarem, doch Amemna schüttelte seinen Kopf und steckte den Dolch wieder weg. "Wirr haben einiges zu besprrechen, koch einen Tee und komm dann in mein Zelt."
 

Hamarem beglückwünschte sich dazu, noch in der Nacht die Spuren von Ramillas Besuch im Birh-Melack-Zelt beseitigt zu haben. Doch als Amemna sich umdrehte und das Mawati-Zelt wieder verließ, stellte er fest, daß die Kräfte um den Birh-Melack irgendwie seltsam waren. Hamarem wußte nicht, wie er ihr langsames Fließen deuten sollte. Außerdem trug er einen alten, an den Rändern schon zerschlissenen Mantel und sein Untergewand war in einer Art verknautscht, die Hamarem an die Querfalten in seinem eigenen Untergewand erinnerte, und die es durch die stürmische Vereinigung mit Ramilla in der Nacht zuvor erhalten hatte. Was war im Palast nur los? Kümmerten sich weder Nefut noch Derhan darum, wie ihr Herr aussah?
 

Hamarem schickte Oremar zum Troß und kam dann dem Befehl seines Birh-Melack nach. Vor dem Eingang des Birh-Melack-Zeltes verharrte Hamarem einen Moment, versuchte, jede Erinnerung an Ramilla und ihr nächtliches Treiben in diesem Zelt zu verdrängen, erst dann trat er ein. Von Ramillas Duft lag nichts mehr in der Luft, oder es wurde von Amemnas unirdischem Zauber überdeckt. So intensiv hatte Hamarem den Duft nicht einmal aus dem Kopftuch seines Herrn wahrgenommen. Anscheinend hatte Amemna in diesem Untergewand tatsächlich etwas ähnliches gemacht, wie Hamarem in der vergangenen Nacht, und der Geruch seiner unirdischen Lust hing noch in dem Stoff. Hamarem wurde schwindelig und er blieb nahe des Eingangs stehen, versuchte, frische Luft zu erhaschen.
 

"Komm näherr", forderte Amemna seinen Zweiten auf. Er war völlig ruhig, die Kräfte um ihn bewegten sich geradezu träge und nichts deutete auf eine momentane Erregung des jungen Mannes hin.
 

Hamarem spürte jedoch, wie die Erregung begann, sich in ihm selbst breitzumachen. Allein der Duft Amemnas reichte und davon war nun betäubend viel vorhanden. "Ich sollte genau hier stehenbleiben, Herr", widersprach Hamarem seinem Birh-Melack mit Entschiedenheit. Jetzt, da er um Nefuts und Amemnas tieferen Gefühle zueinander wußte und seit ihrem letzten Gespräch zudem klar war, daß sein Birh-Melack Hamarems Gefühle eben nicht erwiderte, konnte er nicht wieder eine gegenseitige Erhitzung riskieren. Außerdem hätte es ihm trotz seiner Zuneigung zu Ramilla nur wieder das Herz zerrissen.
 

"Dann reiche mirr wenigstens den Tee", antwortete Amemna gleichmütig, füllte dann zwei der edlen, dünnwandigen Schälchen, die eigentlich höherrangigem Besuch des Wanack oder Birh-Melack vorbehalten waren, und reichte eine davon an Hamarem, der sie mit lang gestrecktem Arm entgegennahm. Amemna nippte an dem Tee, musterte forschend Hamarems Gesicht, der eingedenk Nefuts und Oremars Bemerkungen zwei Finger der freien Hand schuldbewußt zu seiner Lippe führte. "Das sieht nicht nach einerr Schlägerrei aus", bemerkte Amemna.
 

Hamarem sah zu Boden.
 

"Sieh mich an, Hamarrem", verlangte der Birh-Melack.
 

Zögernd gehorchte Hamarem, sah seinem Birh-Melack in das wunderschöne Gesicht.
 

"Hast du den Jungen, derr mirr diesen Dolch brrachte, zu mirr geschickt?" fragte Amemna und sein Blick hatte etwas Lauerndes.
 

"Ich hatte eigentlich seine Mutter zu euch geschickt, weil sie euch für die Rettung des Knaben danken wollte." Hamarem hatte das Gefühl, noch etwas zu dem Dolch sagen zu müssen, den Amemna locker in seiner freien Hand hielt. Als Hamarem kaum die kindliche Stirnlocke abgeschnitten worden war, hatte er mit einem Stein seinen Namen in den Knochengriff geritzt und später, als er in das Lager der Banditen kam, das 'Temhaly' mit einer glühenden Klinge getilgt. "Der Junge hat mir den Dolch heute morgen gestohlen."
 

Amemna legte den Dolch auf ein Kissen neben sich. "Vielleicht hast du doch nicht alles so gut im Grriff, wenn du dirr deinen Dolch von einem kleinen Jungen stehlen läßt", vermutete Amemna mit einem sehr abweisenden Gesichtsausdruck. Aber nicht einmal das schwächte Hamarems unerwünschten Erregungszustand. "Was verrbindet dich mit dem Jungen?" wollte Amemna nun wissen und nippte wieder an seiner Teeschale.
 

Hamarem hätte seine Gefühle für Amemna bekennen müssen, um seinen Herrn um Rücksichtnahme zu bitten. Aber Amemnas Scham über ihre gemeinsame Erhitzung war ihm noch deutlich in Erinnerung. Wenn Hamarem auf die Gefahren hinwies, konnte das vielleicht die Rettung sein. "Wenn ich es euch erzähle, Birh-Melack, könnte es sein, daß..."
 

"Keine Ausflüchte, Hamarrem. Errzähl mirr alles," befahl Amemna aber nur barsch.
 

"Dann erlaubt wenigstens, daß ich euch dabei nicht ansehe, Herr", bat Hamarem. Er war sicher, daß dann seine Sehnsucht nach diesem junge Mann wieder mit Macht erwachen würde. Amemna würde seine Gefühle erkennen, und wie konnte Hamarem es dann noch wagen, Amemna oder Nefut je wieder in die Augen zu sehen?
 

"Du wirrst mich ansehen, Hamarrem. Derr Junge hat mirr den Dolch nicht in die Hand gegeben, err wollte mich damit töten."
 

Hamarem nahm plötzlich den Blutgeruch, der Amemna noch quälte, wahr. Das ernüchterte ihn schlagartig. Deswegen war der junge Nefut so aufgeregt gewesen. "Aber warum sollte er euch töten wollen?" fragte Hamarem erschrocken nach.
 

"Laß mich errst hörren, was euch aneinanderr bindet. Dann erfährrst du, was err mirr sagte."
 

Hamarem setzte sich jetzt doch, allerdings neben den Eingang, nicht zu seinem Herrn. "Ich mag den Jungen, er ist fast wie ein Sohn oder kleiner Bruder. Ich habe ihn vor vier Tagen kennengelernt und mit ihm das Bohnenspiel gespielt, ebenso wie am Tag darauf. Mir erschien er freundlich und recht aufgeweckt für sein Alter. Und diesen Eindruck hat er auch gestern wieder bestätigt, als angenehmer und interessierter Begleiter meiner Pflichten, wenn er nicht gerade mit Oremar Schwertübungen gemacht hat. Vor zwei Tagen habe ich von der Amapriesterin selbst erfahren, daß er wirklich ihr Sohn ist, auch wenn ich es schon vorher vermutet hatte." Selbst mit diesen dürren Worten wurden die Geschehnisse der letzten Tage in Hamarems Vorstellung wieder lebendig.
 

"Du lagst also in den Arrmen derr Amaprriesterrin, als du verrschwunden warrst? Ich hatte mirr Sorrgen um dich gemacht." So vorwurfsvoll klang Amemnas Stimme, als habe er gerade erst festgestellt, daß die ausgestandenen Ängste völlig unbegründet gewesen waren.
 

Jetzt hatte Hamarem also die Gewißheit, daß Amemna nicht nur seine Gefühle, sondern auch seine Gedanken wahrnahm. "Ja, ich war zwei Mal im Zelt der Ama, einmal vor drei Tagen und einmal vor zwei Tagen. Dabei habe ich unter anderem die Amapriesterin und ihre Schülerin kennengelernt und mit ihnen das Lager geteilt. Und ich erfuhr, daß der Sohn des Feldherrn gerade im Zelt der Amapriesterin gesucht werden sollte, da ihr Sohn sein Gesellschafter war. Als die Männer dort einen prinzlich gekleideten Knaben im richtigen Alter fanden, sollte der als Sohn des Feldherrn dem Ungenannten geopfert werden. Ich versprach der Amapriesterin, ihren Sohn zu retten, und ihr selbst habt schließlich seine Opferung verhindert." Hamarem hatte versucht, alles möglichst knapp darzustellen, aber er konnte nicht verhindert, daß immer lebhaftere Erinnerungen an die Begegnungen mit der Amapriesterin, Ramilla und Karit in ihm aufstiegen. Erfolglos versuchte Hamarem, die wieder stärker werdende Erregung einzudämmen. Schließlich stellte er die kostbare Teeschale auf den Boden und faltete die Hände schamhaft über seiner auffälligen Erektion. Allein die Erinnerung an Ramillas Wildheit in der vergangenen Nacht jagte Hamarem eine Gänsehaut über den Rücken bis zu seinem Gesäß, und er glaubte, wieder Ramillas Hände zu spüren.
 

Amemnas Wangen wurden rot, als er Hamarems Empfindungen und Erinnerungen teilte. Er stellte seine Teeschale vorsichtig auf dem niedrigen Tisch neben sich ab, die andere Hand hatte er fest in sein ohnehin verknautschtes Untergewand verkrallt. Hamarem gelang es nicht, gegen den Befehl seines Herrn den Blick zu senken, wider Willen sah er zu, wie Amemnas Nasenflügel bei seinen tiefen, stoßweisen Atemzügen zitterten und die Anspannung seiner Gesichtsmuskeln zeigte, daß er die Zähne aufeinander presste. Aber Hamarem konnte an nichts anderes denken als an Ramilla mit ihrer entblößten Scham, wie sie vor ihm saß, an der Stelle, an der nun sein Birh-Melack saß, die Beine und Amas Wunder weit für ihn geöffnet. Er versuchte, diesen Anblick zu verdrängen, aber das erweckte nur das Traumbild des nackten, erregten Amemna in ihm. Das durfte nicht sein! "Bitte laßt mich gehen, Birh-Melack", bat Hamarem flüsternd. Auch sein Atem ging nun keuchend und sein Herz pochte so ungeheuerlich, als habe er gleich den Höhepunkt erreicht.
 

"Nein", stieß Amemna atemlos hervor.
 

Und Hamarem fühlte die begehrliche Umschlingung von fülligen, weichen Armen und Beinen, ein ebenso weiches Gesäß in seinen Händen, ein unbekannter, behaarter weiblicher Schoß, der ihn umfing. Das kam von Amemna. War das der Körper von Amemnas Frau, den er spürte? Und Hamarem merkte, wie die Kräfte an ihm zogen, ihn wegreißen wollten, aber Amemnas graue Augen starrten ihn an, erlaubten Hamarem nicht, zu gehen, bis sein Körper der Anspannung schlicht erlag und er sich ergoß - ebenso wie sein Birh-Melack.
 

Hamarem stellte fest, daß er seine Hände in seine Oberschenkel gekrallt hatte, seine Erektion war noch deutlich zu sehen, ebenso wie die seines Herrn. "Was warr das?" fragte Amemna, noch immer außer Atem. "Warrum passierrt das, wenn du in meinerr Nähe bist? Vorrgesterrn hielt ich es noch fürr einen Zufall, ich dachte, es ginge von mirr aus. Aber gesterrn bei den Verrhandlungen und eben gerrade ging es mit Sicherrheit von dirr aus, Hamarrem."
 

"Ich hatte versucht, euch zu warnen, Herr. Warum habt ihr mich nicht einfach gehen lassen?" fragte Hamarem resignierend. Noch immer raste sein Herz und seine Hände zitterten so sehr, daß er nicht wagte, nach der kostbaren Teeschale zu greifen.
 

"Weil ich es verrstehen will. Du bist ein Oshey, du liebst Frrauen, Männerr sind dirr durrch die Schrriften verrboten, und trotzdem...", Amemna verstummte und schüttelte langsam den Kopf. "Erklärr es mirr, Hamarrem."
 

"Ihr seid ein Unirdischer", begann Hamarem.
 

"Ja, das sagtest du schon", fiel Amemna ihm ungeduldig ins Wort. "Aber was bedeutet das? Das hierr", und er sah hinunter auf seinen Schoß, in dem sein Glied das Untergewand noch immer deutlich anhob, "liegt nicht an meinem Heilungsverrmögen."
 

"Es ist eure Natur zu begehren und Begehren nach euch zu wecken. Und ihr teilt die Gefühle anderer", versuchte Hamarem zu erklären. Kannte Amemna denn nicht die Geschichten der Oshey über den Besuch der Unirdischen im Traum, über ihren verführerischen Duft?
 

"Und du hast soeben auch meine Gefühle geteilt, Hamarrem", erinnerte Amemna íhn.
 

"Weil auch ich unirdisches Blut in den Adern habe. Weit weniger als ihr, Herr, aber gerade genug dafür", gab Hamarem zurück, und er wußte, daß Amemna sich an ihr Gespräch bei den Pferdepferchen erinnerte, als Hamarem seinem Herrn offenbart hatte, daß er den Tod anderer in seiner Nähe spüren konnte. Als Amemna ihn so liebevoll getröstet hatte, und Hamarem genau den Zeitpunkt, zu dem er selbst Amemna sein Begehren, seine Zuneigung hätte gestehen können, durch seine Angst vor dem schwarzen Abgrund ungenutzt hatte verstreichen lassen.
 

"Und was ist das fürr ein Unfug mit dem Begehrren wecken?" fragte Amemna fast zornig nach.
 

"Es ist euer Duft, Herr", versuchte Hamarem zu erklären. "Der Duft der Unirdischen, der die Menschen alles andere vergessen macht, und unwiderstehliches Begehren in ihnen weckt, so daß sie sich den Unirdischen hingeben. In vielen Geschichten der Oshey wird davon berichtet. Und glaubt mir, ihr verfügt über diesen Duft."
 

"Mein Siehvaterr hat mirr einmal eine dieserr Keschichten errzählt. Es sind Märrchen", antwortete Amemna aufgebracht. "Niemand, derr in einem sterrblichen Körrper auf derr Errde wandelt, kann einen anderren in dieserr Weise beherrrschen. Ich habe die Fünfhunderrt Künste studierrt, ich weiß, was möglich ist und was nicht, wenn man nicht su Drrogen oder einem... einem Werrkseug krreifen will."
 

"Wie sterblich seid ihr denn, Herr?" fragte Hamarem, bevor sein Verstand ihn daran hindern konnte. Doch als Amemna vor Verblüffung nicht antwortete, und  auch um das aufsteigende Gefühl der Sehnsucht nach Amemnas Duft zu unterdrücken, setzte Hamarem nach: "Und wer sagt euch, daß der Duft der Unirdischen für Sterbliche keine Droge ist? Vielleicht wirkt er wie der Willkommenstrunk im Zelt der Ama. Egal wie groß die Furcht ist, die Begierde wird geweckt und das Opfer an die Göttin wird vollzogen." Hamarem wagte nun doch den Griff nach seiner Teeschale, trank bewußt langsam ein paar Schluck, um sich weiter zu beruhigen.
 

Amemna saß nur da, starrte Hamarem an und schwieg. Schließlich griff er ebenfalls nach seiner Teeschale, hielt sie aber nur in den Händen, als hätte er sie schon wieder vergessen. "Geht es dirr auch so, Hamarrem?" fragte er schließlich nach einer ganzen Weile, offensichtlich bewußt um eine deutliche Aussprache bemüht. "Weckst auch du Begierrden mit deinem Duft?"
 

Was hätte Hamarem darum gegeben, wenn Amemna damit gemeint hätte, daß er sich ebenso zu Hamarem hingezogen fühlte, wie es umgekehrt der Fall war. Doch das war leider ausgeschlossen, denn Amemna hatte Nefut erwählt. Also schüttelte Hamarem den Kopf. "Nein, über diesen Duft verfügen nur die wahrhaften Unirdischen und anscheinend ihre Kinder."
 

"Und hast du schon unterr einerr durrch meinen Duft geweckten Begierrde gelitten?" fragte Amemna dann weiter.
 

Er hatte darunter gelitten und sich danach verzehrt. Hamarem sah, wie Amemna die Kräfte um sich zog, als versuche er, sich darin einzuschließen. Der junge Mann hatte Angst vor diesen Fähigkeiten, die sich ihm gerade erst offenbarten, das konnte Hamarem deutlich spüren. Und Amemna fühlte sich schuldig. Wie sollte er auch aus diesem Teufelskreis ausbrechen? Er weckte die Begierde eines anderen ohne es zu wissen, spürte sie dann bei diesem anderen und konnte nichts anderes denken, als daß der andere sich ihm freiwillig hingab. "Hamarrem, ich habe dich etwas gefrragt", erinnerte der Birh-Melack seinen Zweiten ungeduldig.
 

"Ja", hauchte Hamarem und sah in seine Teeschale. Amemna wußte, daß er den unirdischen Zauber meinte.
 

"Eben gerrade auch?" fragte Amemna leise nach. Seine Stimme klang so schuldbewußt, daß es Hamarem weh tat.
 

"Eben gerade besonders", gab Hamarem zur Antwort. Er hatte vorher gewußt, daß der Geruch, der dem Untergewand seines Birh-Melack entströmte, viel zu stark war, um dem mehr als eine Flucht entgegen setzen zu können, aber sein Herr hatte ihn allein durch den Blick seiner Augen gebannt, Hamarem hatte das Zelt nicht verlassen können. Und wäre er nicht auf diese Art gebannt gewesen, hätte er vielleicht eher seiner wieder mit Macht erweckten Sehnsucht nach Amemna nachgegeben, als sie zu fliehen, hätte versucht, den jungen Mann zu küssen und handgreiflich zu werden. Und allein dieser Gedanke weckte in Hamarem das Gefühl, sowohl Nefut als auch Amemna verraten zu haben.
 

Amemna war zutiefst verstört, litt offensichtlich unter Hamarems Antwort, vielleicht auch unter Hamarems Gedanken, da es diesem nicht gelang, sein ungebrochenes Begehren nach seinem Birh-Melack gänzlich zu unterdrücken. Plötzlich stieß er etwas in der Südländersprache aus, das wie ein Fluch klang und riß unwillig an seinem zerknautschten Untergewand.
 

"Ich werde alles daran setzen, daß uns diese Art der gegenseitigen Erhitzung niemals mehr widerfährt", versprach Hamarem, ohne auch nur eine vage Vorstellung zu haben, wie er ein solches Versprechen halten sollte. Aber Hamarem konnte einfach nicht mehr mit ansehen, wie sein Birh-Melack litt. Die Kräfte um Amemna zeigten so deutlich seine Bestürzung, und es war nur zu verständlich, daß Amemna über Hamarems mangelnden Respekt ihm gegenüber und die fehlende Loyalität Nefut gegenüber enttäuscht war.
 

Amemna atmete tief durch. "Hamarrem, nimm deinen Dolch wiederr an dich", sagte er und reichte seinem Zweiten die Waffe mit dem Heft voran. "Geh wiederr an deine Arrbeit. Wanack Perrdinim war voll des Lobes für die Errgebnisse deinerr Verrhandlungen mit den Zivilisten, ebenso wie Adí W'schad. Offenbarr ist diese Angelegenheit bei dirr in guten Händen." Die Lederscheide war feucht in den Nähten. Hamarem würde sie trocknen lassen müssen. Und plötzlich sah er blutige Hände und Ärmel vor sich, die aus der Erinnerung seines Birh-Melack stammen mußten. Hamarem erinnerte sich an die so ferne Nachricht, daß der Knabe Nefut versucht hatte, Amemna zu ermorden. "Ist der Junge tot?" fragte er, obwohl er schon aufgestanden war, um zu gehen.
 

"Aber nein, ich habe ihn mit seinerr Mutterr wiederr hierrherr geschickt. Geh nicht zu strreng mit ihm um. Err dachte, err opferre dem Ungenannten einen Dämon. Und jetzt geh bitte."
 

Und Hamarem ging, spürte aber zugleich, wie die Erinnerung an den Blutgeruch in seinem Herrn aufstieg. Kaum hatte er das Zelt verlassen, wurde Hamarem von dem erinnerten Blutgeruch sterbenselend zumute, so daß er zum Abort lief und sich übergab. Waren das Amemnas Empfindungen die er teilte oder seine eigenen? Oder war es der Verrat an Nefut und Amemna, der diese Übelkeit verursachte? Nefut hatte sich so ernsthaft Gedanken darüber gemacht, daß er möglicherweise Hamarems Gefühle verletzte, wenn er sich dazu bekannte, Amemna zu lieben. Und Amemna hatte Hamarem schon am Vortag klar gemacht, wie peinlich ihm sein Erregungszustand in Hamarems Gegenwart gewesen war. Hamarem hätte über den Duft der Unirdischen schweigen sollen - oder das ganze zumindest diplomatischer formulieren müssen, denn Amemna zu sagen, daß er allein durch seine Natur das Begehren anderer erzwang, hatte diesem wohl auch noch den letzten Rest seiner jugendlichen Unbeschwertheit genommen, ihn vielleicht sogar Nefut entfremdet. Als hätte Amemna die Rettung des Kindes Nefut nicht schon genug gekostet, das nun zu allem Überfluß auch noch versucht hatte, seinen Retter zu töten. Aber sein unirdischer Birh-Melack mußte in Hamarems Gedanken immerhin erkannt haben, daß Nefut seinem neuen Zweiten glaubhaft versichert hatte, es wäre weit mehr als dieses erzwungene Begehren, daß ihn bewegte, Amemna zugeneigt zu sein. Ebenso wie er sicherlich auch Hamarems ganz konkretes und völlig unangebrachtes Begehren ihm gegenüber erkannt hatte. Hamarem war bewußt, daß Nefut die älteren und besseren Rechte hatte und mußte sich zudem eingestehen, daß er wohl vorrangig auf den Duft reagiert hatte, denn sonst wäre es ihm ja nicht so leicht gefallen, mit Karit, Ramilla und der Amapriesterin Intimitäten zu pflegen. Die Amapriesterin, sie war die Mutter von Nefut dem Kind, den er fast wie einen Sohn geliebt hatte. Und bei diesem Gedanken wurde Hamarem erneut unwohl.
 

Der Knabe hatte mit listiger Tücke versucht, Hamarems geliebten Herrn zu erschlagen. Und nun mußte Hamarem befürchten, ihm hier im Lager bald wieder gegenüber zu stehen. Er überlegte, ob er den Zweiten der Birh-Mellim nicht bitten sollte, dafür zu sorgen, daß der Junge in Tetraos blieb, andererseits wagte er nicht, Amemnas Urteil in Frage zu stellen. Schließlich säuberte Hamarem sich und nutzte dankbar die Ablenkung, die die Lektüre der noch ungeklärten Besitzrückgabeforderungen darstellte, bis Oremar ihm sagte, daß Amemna gerade das Lager verlassen habe. Hamarem entschuldigte sich für einen Besuch im Badezelt und entschloß sich danach, Ramilla im Zelt der Ama aufzusuchen. Sie hatte ihn schon einmal sein Begehren nach Amemna vergessen lassen. Ihre Gegenwart würde ihm auch nun wieder Trost schenken.
 

Tatsächlich war es auch Ramilla, die ihn im Zelt der Ama willkommen hieß. "Du bist unersättlich, Hamarem", tadelte sie ihn mit einem Lächeln und nahm die Silbermünze entgegen. "Ich werde gleich eine der Frauen zu dir schicken."
 

Hamarem blieb stehen. "Ich will mit dir der Göttin dienen", sagte er entschieden.
 

Auch Ramilla blieb nun stehen. "Ich diene der Göttin zur Zeit nicht, ich vertrete nur die Priesterin, da sie noch immer in Tetraos ist. Wenn du dich mit mir vergnügen willst, Hamarem, warte, bis meine Priesterin zurückgekehrt ist. Ich komme dann zu dir in dein Zelt."
 

"Warum ist die Priesterin noch in Tetraos? Hat es etwas mit ihrem Sohn zu tun?" fragte Hamarem alarmiert.
 

"Nefut ist wieder im Lager, in seinem Schlafzelt", entgegnete Ramilla völlig ruhig. "Aber meine Priesterin hat mir eine Nachricht geschickt, daß ein Amaheiligtum im Palast entsühnt werden müsse und um einige Utensilien gebeten. Spätestens heute abend ist sie wieder hier. Und dann komme ich zu dir so schnell mich meine Füße tragen." Sie hauchte Hamarem einen Kuß auf die Lippen und eilte dann wieder in das Zeltlabyrinth.
 

Die Silbermünze hatte sie behalten und eine andere Frage, die Hamarem auf der Zunge brannte, hatte er gar nicht mehr stellen können. Warum diente Ramilla der Göttin momentan nicht, war aber bereit zu ihm zu kommen, obwohl ihr doch klar sein mußte, was Hamarem mit ihr vorhatte? Hamarem hätte lieber sofort als erst am Abend mit Ramilla das Lager geteilt, doch er mußte warten, so schwer es ihm auch fiel. Aber immerhin fand er nach seiner Rückkehr Oremar nicht im Mawatizelt vor, so daß er ungestört die unerträgliche Begierde nach Ramilla und zugegebenermaßen auch nach Amemna vorläufig dadurch reduzieren konnte, daß er sich selbst befriedigte.
 

* * *
 

6. Unerwartetes

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

6. Unerwartetes (jugendfrei)

Als Barida sich beruhigt hatte und die erste heftige Wirkung des Ostlergetränkes langsam abklang, wurde ihr klar, daß sie verhindern mußte, daß die Nachricht von einem versuchten Menschenopfer an den Ungenannten ausgerechnet in einer der Ama geweihten Laube die Runde im Palast oder gar in der Stadt machte. Sie raffte sich auf, befahl ihren Zofen, sie zurecht zu machen und kehrte an den Ort der Bluttat zurück. Sie gab dem Kommandanten der Wache einige Befehle, aber der nickte nur dazu. Er war ein erfahrener Befehlshaber und hatte bereits alles Nötige veranlaßt. Trotzdem war es wohl gut, von der Regentin noch einmal die Bestätigung dafür zu erhalten. Tatsächlich war auch das Blut schon fortgeputzt, Amemna und der Junge waren natürlich fort und die Amapriesterin aus dem Lager der Söldner kniete vor der Amastatue in der Laube und sprach Gebete. Ihren Schleier hatte sie abgenommen und vor der Laube auf eine der Gartenbänke gelegt. Anscheinend hatte sie starke Nerven, da sie trotz des Attentatversuches ihres Sohnes die innere Ruhe aufbrachte, die Amalaube zu entsühnen.
 

Das konzentriertes Gesicht der Priesterin war hübsch, ihre Haare hatte sie auf ihrem Hinterkopf zu einem Knoten zusammengewickelt, aber einige lockige Haarsträhnen hatten sich daraus gelöst. So erweckte sie in Barida den Eindruck, sie habe der Göttin erst vor kurzem ein Opfer gebracht. Das gehörte ja sicherlich auch zur Entsühnung der Laube. Aber war Barida so lange in ihren Gemächern gewesen? Und mit wem mochte die Priesterin dieses Opfer vollzogen haben? Barida fand es erregend, jeden der Wächter hier im Garten zu mustern und zu versuchen festzustellen, wer von ihnen wohl gerade der vornehm gekleideten Priesterin beigewohnt hatte. Plötzlich hob die Priesterin den Kopf, sah hinüber zu Barida. "Majestät, jetzt muß noch ein Opfer vollzogen werden", sagte sie mit klarer, heller Stimme. Also hatte bisher doch noch keines stattgefunden.
 

Barida stellte sich in den Eingang der Laube. "Was habe ich damit zu tun?" fragte sie neugierig. Sicher wollte die Priesterin doch nicht, daß sich die Regentin von Tetraos in dieser Laube vor ihren Palastwachen entblößte.
 

Die Priesterin erhob sich mit einer eleganten Bewegung, ging dicht an der Regentin aus der Laube heraus, so daß Barida den Weihrauchgeruch, der im Kleid der Priesterin zu hängen schien, wahrnahm, und griff nach ihrem Schleier, jedoch ohne ihn wieder über ihren Scheitel zu legen. "Der Verursacher der Störung muß das Opfer vollziehen", dozierte sie mit leiser Stimme. "Aber mein Sohn ist noch ein Kind. Ich werde also an seine Stelle treten. Es wäre wünschenswert, das Opfer mit dem Stifter der Laube oder einer ihm verwandten Person darzubringen, Majestät."
 

Ihr König hatte die Laube anläßlich seiner Hochzeit mit Barida errichten lassen. "Also wollt ihr den König, Priesterin", schloß Barida aus dem, was die andere Frau gesagt hatte.
 

"Er ist euer Sohn, nicht wahr, Majestät?" fragte die Priesterin.
 

Barida nickte. Ihr Sohn war in dem Alter, in dem er der Göttin bereits Opfer bringen konnte, aber sein kindliches Gemüt und seine Unerfahrenheit sprachen dagegen. "Auch für ihn wird ein Vertreter das Opfer vollziehen müssen", erklärte Barida bestimmt. "Wäre eine der Wachen akzeptabel?"
 

Erwartungsgemäß schüttelte die Priesterin den Kopf. "Ein Verwandter wäre akzeptabel, ein Bediensteter sicher nicht, Majestät."
 

"Vielleicht seine zukünftige Frau, auch wenn die Verlobung noch nicht stattfand." Amemna würde dieses Opfer sicherlich souverän vollziehen.
 

"Majestät, wenn ohnehin nur eine Frau zur Verfügung steht, warum dann nicht seine Mutter anstatt der Frau, die noch nicht wahrhaft seine Frau ist?" fragte die Amapriesterin mit kritischem Blick.
 

Daß sie selbst das Opfer mit der Priesterin vollziehen sollte, verschlug Barida zunächst die Sprache. Zu erklären, daß die zukünftige Frau des Prinzen zum Teil ein Mann war, würde in diesem Moment allerdings zu weit führen, entschied sie dann. "Es wäre völlig im Einklang mit dem Willen der Göttin, wenn zwei Frauen das Opfer an ihr vollziehen, Majestät", erklärte die Priesterin in Baridas Schweigen.
 

"Hier in der Laube", vergewisserte Barida sich erschüttert. In Tetraos galt der Dienst in einem Heiligtum der Göttin als gesegnete, ehrenvolle Handlung, war also keinesweg so anstößig, wie in Baridas zeitlich und örtlich so weit entfernt liegender Heimat. Trotzdem war Barida unwohl bei dem Gedanken, gewissermaßen öffentlich und ohne den ehelichen Segen das Amaheiligtum zum Feiern der Göttin aufzusuchen.
 

"Selbstverständlich in der Laube", antwortete die Priesterin und lächelte. "Aber es spricht nichts dagegen, einen Sichtschutz aufzustellen, Majestät. Wir wollen die Göttin gnädig stimmen und nicht euren Hof unterhalten."
 

"Und wann soll das Opfer vollzogen werden?" Eigentlich hatte Barida für die Nacht ganz andere Pläne und entsprechende Vorbereitungen schon am Morgen befohlen.
 

"Sobald euer Wächter, der meinen Sohn in das Heerlager zurückbringt, mit den Utensilien zurückgekehrt ist, die er für die Entsühnung aus dem Zelt der Ama mitbringen soll, Majestät."
 

"Was für Utensilien?" fragte Barida neugierig.
 

"Rote Tinte und eine Kanne eines Getränkes, mit dem die Dienerinnen der Göttin den Dienst an ihr beginnen, Majestät", antwortete die Priesterin bereitwillig. Ihr Lächeln wirkte so jugendlich, dabei konnte sie als Mutter eines vielleicht zehnjährigen Sohnes gar nicht so viel jünger als Barida selbst sein. "Der Trunk zum Willkommen der Göttin wird auch euch helfen, das Opfer an ihr zu vollziehen, Majestät", versprach sie und griff wie tröstend nach Baridas Hand, drückte sie kurz mit ihren etwas plumpen Fingern.
 

Barida entzog ihr nicht unfreundlich die Hand. "Befehlt meinen Dienern, alles in angemessener Weise vorzubereiten, Priesterin. Und laßt mich wissen, wenn die Vorbereitungen abgeschlossen sind." Ohne eine Verabschiedung verließ Barida den Garten mit der Amalaube und ging an einen anderen Ort, den sie mit ihrem König gerne besucht hatte, hinauf in die oberste Etage des Königsturms, der sich neben dem Stadttor von Tetraos erhob und ihr den ungehinderten Blick über die Stadt und die Ebene zu Tetraos Füßen erlaubte. Die Stadtwachen waren nur bis zur zweitobersten Etage des Turms zugelassen, das oberste Stockwerk, die offene Plattform, gehörte von alters her zum Palast. An der Seite ihres Königs hatte sie oft hier gestanden und sich von ihm seine Heimat zeigen lassen, die inzwischen auch zu der ihren geworden war.
 

Und auch die Amalaube im Palastgarten, der eigentlich der königlichen Familie vorbehalten war und heute belebt gewesen war, wie der Marktplatz kurz vor dem Morgengebet an Upar, hatte sie mit ihrem König häufig besucht und darin die Göttin mit ihm gefeiert. Ihr König war so kraftvoll gewesen, wie Amemna sie in der vergangenen Nacht genommen hatte. Doch die Erinnerung daran erregte Barida nicht in der gewohnten Weise, sondern machte sie eher wehmütig. Ein Unheil schien aufzuziehen, Barida konnte es fast fühlen, so wie den aufkommenden Wind, der schon den Geruch des Regens in sich trug. Viel zu früh in diesem Jahr. War es das viele Blut gewesen, das Amemnas Gewänder heute getränkt hatte, oder war es nur die Erinnerung an den blutigen Tod ihres Königs, die dieses Gefühl des Unheils aufkommen ließ? Sie sollte vor Vorfreude über den Abend erzittern, an dem sie Amemna zu einer wahrhaften Befriedigung seiner beiden Naturen verhelfen wollte, doch sie konnte nur daran denken, daß sie binnen kurzem mit einer Amapriesterin die geschändete Laube entsühnen sollte, in der der König seine letzte gemeinsame Nacht mit Barida verbracht hatte, bevor sie ihn in seinen blutigen Gewändern zu ihr zurückbrachten, mit aufgeschlitztem Hals, so daß die Wunde klaffte wie ein zweiter, riesiger, blutroter Mund und Barida Einblicke in die menschliche Anatomie bekam, die sie sich gerne erspart hätte.
 

Amemnas zwei Naturen zu befriedigen beinhalteten allerdings auch, seinen weiblichen Teil zu befriedigen. Gestern Nacht hatte es Barida keinerlei Überwindung gekostet. Warum sollte sie also vor einem Amaopfer mit der Priesterin zurückschrecken, von der sie in dieser Hinsicht vielleicht sogar noch einiges lernen konnte, was selbst ihr gut ausgebildeter rothaariger Eunuch nicht kannte - und was Barida ihrerseits wieder in der Nacht nutzbringend anwenden konnte, um mit höherer Wahrscheinlichkeit Amemnas Zustimmung zu den Hochzeitsplänen einfordern zu können. Sie ließ noch einmal den Blick über die ruhig in der Sonne liegende Ebene, das Heerlager der Tetraosi und das ihrer Söldner schweifen. Dann stieg sie die Treppe des Turmes hinunter zu dem Gang, der wieder in den Palast führte.
 

*
 

Als Barida fast ihre Gemächer erreicht hatte, hielt ein Diener sie auf und teilte ihr mit, daß die Priesterin alles bereitet hätte und Barida in der Amalaube erwarte. Barida ließ ausrichten, daß sie sich der Göttin angemessen geschmückt darzubringen gedächte und setzte den Weg in ihre Gemächer fort, wo ihre Dienerinnen ihr in aller Eile ein Bad bereiteten. Geschmückt wie eine königliche Braut, mit zwei Kränzen aus roten und weißen Blüten, einer auf ihrem offenen Haar und ein längerer um ihren Hals, der auf ihren mit einem perlenbestickten Brustband zu einem ansprechenden Dekolleté hochgebundenen Brüsten auflag, in einem seidenen Kleid aber ohne den Schleier, den sie getragen hätte, wenn sie zu einem Mann gegangen wäre, machte sie sich auf den Weg in den Garten. In ehrfürchtigem Abstand folgten ihr drei Dienerinnen mit Teppichen, Kissen und Decken. Die Palastwachen und Diener, denen sie begegnete, ignorierte Barida hoheitsvoll.
 

Die Priesterin nahm sie am Eingang zum Garten in Empfang. Auch sie trug ihre Haare jetzt offen, so daß sie in großen Locken über ihre Schultern und ihren Rücken flossen. Sie hatte Stoffbahnen um die Laube herum aufspannen lassen, außerdem hatte sie dafür gesorgt, daß sich kein Wächter und keiner der Bediensteten mehr in dem Garten aufhielt. Baridas Dienerinnen bat sie, ihre Last in die Laube zu tragen und danach wieder zu gehen. Erst als die Dienerinnen den Garten verlassen hatten, nahm die Priesterin sanft die Finger von Baridas rechter Hand in ihre und führte sie zu dem leuchtend bunten Stofflabyrinth, in dessen Mitte die aus schmalen Steinpfeilern und Pflanzenranken bestehende Laube stand wie der Stempel des Lotos zwischen den Blütenblättern, durch die Rosen, mit denen die Priesterin die Statue der Göttin geschmückt hatte, erfüllt vom Blütenduft. Die Dienerinnen hatten die Kissen und Decken auf den Teppichen, die den steinernen Boden der Laube fast völlig verdeckten, ausgebreitet. Das Blätterdach aus Efeu und Wein warf unregelmäßige Schatten auf dieses Lager, und die Statue der Ama trug außer dem auf ihren nackten steinernen Brüsten ruhenden Kranz aus Rosen nun ein kostbar besticktes Tuch als Rock um die Hüften. Vor ihren Füßen stand eine kleine Metallschale mit glimmender Holzkohle, auf die die Priesterin ein Stück Weihrauch legte. "Majestät, laßt mich noch ein Gebet an die Göttin auf euren Leib schreiben, bevor wir mit dem Dienst an ihr beginnen", sagte die Priesterin dann leise und lud Barida mit einer Handbewegung ein, sich niederzulassen.
 

Langsam ließ Barida sich auf die dicken Teppichen sinken. "Was für ein Gebet?" fragte sie ebenso leise, auch wenn niemand es wagen würde, sich unerlaubt im Palastgarten aufzuhalten.
 

"Ein Gebet an Ama. Habt ihr einen besonderen Wunsch, Majestät?"
 

Barida fiel das Gebet ein, das in das Amaamulett graviert war, das sie besaß aber selten am Leibe trug. "Ama, beschütze meine Familie", sagte sie also.
 

Die Priesterin nickte. "Das ist eine gute Wahl. Bitte entkleidet euren Bauch, Majestät." Die Priesterin kniete sich Barida gegenüber, griff nach einem kleinen Döschen und einem dünnen Pinsel, dessen Haare leuchtend rot eingefärbt waren. Das Döschen enthielt eine rote Paste, in die sie nun den Pinsel tupfte. "Ihr könnt die Tinte mit Salböl wieder von eurem Körper waschen, Majestät", versicherte die Priesterin.
 

Barida hob den Blütenkranz von ihrer Brust, öffnete zögernd ihr Kleid und legte so das prächtige Brustband, ihren Bauch und ihre Scham frei.
 

Für einen Moment musterte die Priesterin das Brustband mit unverhohlener Bewunderung, dann legte sie die rechte Hand auf Baridas Bauchnabel und zog den sich darunter wölbenden Bauch straff nach oben. Mit dem Pinsel in der Linken schrieb sie in sehr wohlgestalteten Zeichen das kurze Gebet, für das Barida sich entschieden hatte. Das jedenfalls nahm Barida an, denn sie sah nur den Anfang des Textes und den noch über Kopf. Der zarte Strich des Pinsels über die Haut kitzelte ein wenig. Schließlich legte die Priesterin den Pinsel beiseite und pustete leicht über Baridas Haut, anscheinend um die Tinte zu trocknen. Der sanfte Luftzug erweckte unerwarteterweise zarte Erregung in ihr.
 

"Wenn ihr wünscht, könnt ihr euch wieder bekleiden, Majestät", sagte die Priesterin mit einem sehr freundlichen Lächeln.
 

Barida schüttelte den Kopf und ließ statt dessen den Rest des Gewandes von ihren Schultern gleiten.
 

"Laßt uns noch mit dem Genuß dieses Getränkes die Göttin willkommen heißen, Majestät", hielt die Priesterin sie zurück, als Barida schon begann, ihr Brustband zu lösen. Sie reichte Barida einen Becher, den sie aus einer bereitstehenden Metallflasche füllte. Ein wunderbares Aroma von Kräutern und Blüten entstieg diesem Trank, als sei darin der Atem der Ama selbst eingefangen.
 

Barida nahm den mit Blumen und Tieren verzierten Silberbecher entgegen und nippte ein wenig an dem Getränk. Es war anscheinend mit Kräuterauszügen angereichertes Wasser. Und es schmeckte so wunderbar, wie es roch. Schnell hatte Barida den Becher geleert. Die Priesterin nahm den Becher wieder entgegen, füllte ihn neu und trank nun selbst, danach stellte sie Becher und Flasche aus dem Weg.
 

"Wie können wir der Göttin überhaupt wahrhaft dienen?" fragte Barida und merkte, das sie damit endlich die Frage stellte, die ihr unbewußt schon die ganze Zeit Nervosität bereitet hatte. "Ich dachte, allein die Verbindung zwischen Mann und Frau beschere der Göttin das Opfer, das sie verlangt."
 

Die Priesterin lächelte Barida offen und sehr herzlich an. "Die Ekstase ist das Opfer an die Göttin. Der Weg dorthin ist unerheblich, solange er in gegenseitigem Einverständnis gegangen wird, Majestät." Und dann löste sie die Wicklungen ihres eigenen Kleides. Sie trug kein Brustband, allein der Stoff ihres Kleides hatte ihre Brüste gehalten, die sich nun, des feinen Gewebes entledigt, jedoch nur ein paar Fingerbreit senkten. Wunderschön waren diese Brüste mußte Barida neidvoll anerkennen. Ihr Bauch war unter dem Bauchnabel ebenfalls beschriftet, aber mit fremdartigen Schriftzeichen, die Barida nicht lesen konnte.
 

Plötzlich spürte Barida die Hitze in sich aufsteigen. Dafür war wohl der Trunk, den die Amapriesterin ihr gereicht hatte, verantwortlich. Eine leichte Röte überflog nun auch Wangen und Halspartie der Priesterin. Mit einer fließenden Bewegung erhob sie sich, um ihr Kleid ganz abzustreifen. Barida wurde beim Heben ihres Kopfes etwas schwindelig, als habe sie gerade einen halben Becher des Ostlergetränkes zu sich genommen.
 

Die Amapriesterin lächelte in einer geradezu verlockenden Art und Weise. Wieso waren Barida zuvor ihre vollen Lippen nicht als wahrhaft begehrenswert aufgefallen? Mutig beugte sie sich zu der Jüngeren hinüber und küsste sie sanft auf den Mund. Die Priesterin schloß die Arme um Barida, küßte sie sehr sinnlich zurück. Mit dem Schauder der Erregung, der sie hierauf durchfuhr, hatte Barida nicht gerechnet. Sie stöhnte unwillkürlich auf. Es war gar nicht viel anders, als von einem Mann begehrlich geküßt zu werden. Und sie merkte, daß die Priesterin während der Umarmung Baridas Brustband gelöst hatte, das nun hinunter auf ihre Oberschenkel glitt. ...
 

...
 

Barida merkte erst nach einer Weile, daß sie so in Schweiß geraten war, als habe sie mit einem Mann der Göttin gehuldigt. "Die Göttin wird zufrieden sein", sagte die Priesterin leise, stützte sich auf ihren Arm und sah die noch erschöpft auf dem Rücken liegende Barida mit leuchtenden Augen an. Das war der Blick einer befriedigten Frau, wurde Barida klar. Nun war sie zuversichtlich, Amemnas weibliche Seite zufriedenstellend beglücken zu können. Dieser Gedanke gab Barida einiges der zuvor verausgabten Kraft zurück. "Ja, ich denke auch, daß die Göttin zufrieden ist", antwortete Barida, küßte die Priesterin liebevoll, erkundete mit sanften Zungenschlägen ihren Geschmack.
 

Aber die Priesterin erwiderte ihre Liebkosungen nicht mehr. "Verzeiht mir, Majestät, aber ich muß zu meinem Sohn, zurück in das Heerlager, jetzt wo eure Laube wieder entsühnt ist."
 

Barida hauchte zum Abschluß noch einen Kuß auf die Brust der Priesterin und nickte dann, auch wenn sich für einen Moment ein unbestimmtes Gefühl des Bedauerns ihrer bemächtigte. Einer Eingebung folgend griff Barida nach ihrem Brustband und reichte es der Priesterin. "Ich schenke es euch."
 

Die Priesterin zögerte, es anzunehmen. "Das ist ein sehr kostbares Geschenk, Majestät."
 

"Seid unbesorgt, ich kann mir ein solches Geschenk durchaus leisten. Nehmt es mit meinem Dank für dieses gemeinsame Opfer an die Göttin." Barida lächelte und neigte ihren Kopf in der Art, die ihr Sohn gerne verwandte, wenn er von ihr eine Zustimmung erbat.
 

Die Priesterin mußte leise lachen. "Ich bin selber Mutter eines Sohnes und immun gegen solche Tricks. Aber ich danke euch von Herzen und nehme es gerne an." Sie nickte dankend und nahm dann das perlenbestickte Brustband entgegen. Natürlich legte sie es nicht an, sondern verstaute es in dem verschließbaren Holzkorb, in dem die Tinte, der Weihrauch und das Getränk hierher gebracht und nun wieder fortgeschafft wurden. Und Barida und sie zogen sich wieder an.
 

Zuletzt legte Barida der Amastatue ihre beiden mehr oder weniger zerdrückten Blütenkränze um und verließ dann mit der Priesterin die Laube. Am Eingang des Gartens trennten sich ihre Wege. Wie die Priesterin um ihren Sohn besorgt war, der sich im Lager wohl in der Obhut einer Verwandten befand, wollte Barida noch vor dem Nachtessen sichergehen, daß die Vorbereitung für die Nacht mit ihrem Birh-Melack gediehen waren. Die beiden Frauen verneigten sich noch einmal voreinander, dann gingen sie auseinander.
 

*
 

Noch den ganzen Nachmittag wanderten Baridas Gedanken immer wieder zurück zu der seltsamen aber sehr befriedigenden Vereinigung mit der Amapriesterin, doch je näher das Nachtessen rückte, das der Osheyprinz mit Barida und ihrem Sohn einnehmen sollte, desto öfter dachte sie an ihren jugendlichen und für eine verwitwete Regentin der Tetraosi eigentlich viel zu männlichen Liebhaber. Doch der Birh-Melack nahm entgegen Baridas Gebot nicht am Nachtessen teil. Nachdem Barida sich in ihre Gemächer zurückgezogen hatte, befragte sie zunächst einen der Wächter, die den Flur vor den Räumen des Birh-Melack bewachten, dann ihren Spion, der dem Birh-Melack am Nachmittag ins Söldnerlager gefolgt war. Deren Berichten nach hatte Amemna sich, nachdem er seinem Leibwächter-Diener seine blutigen Kleidungsstücke zur Wäsche überlassen hatte, allein auf den Weg in das Söldnerlager gemacht, um dort nach dem Rechten zu sehen. Er war nicht lange dort geblieben, aber hatte sich nach seiner Rückkehr nicht mehr aus seinen Gemächern begeben. Einer seiner Leibwächter hatte ihm ein Nachtessen gebracht, aber ob er oder die Leibwächter es verzehrt hatten, konnte sie nicht erfahren.
 

Was war nur los mit ihrem hübschen Osheyprinzen. Ihr Spion hatte aus dem Söldnerlager nichts wirklich Auffälliges zu berichten gewußt. Der Birh-Melack war durch das Lager gegangen, hatte mit dem Zweiten seiner Birh-Mellim und mit dem Zweiten seiner Wannim gesprochen und war dann wieder zurückgekehrt, mit finsterem, verschlossenem Gesichtsausdruck, wurde Barida berichtet. Und dann hatte er sich in seinen Gemächern verkrochen. Er war so männlich und stark gewesen in der Nacht zuvor, doch er war auch verletztlich, hatte in ihren Armen sogar geweint. Nach dem Überfall war er doch noch so gelassen gewesen, anscheinend unverwundbar. Im Söldnerlager mußte also irgendetwas geschehen sein, was ihn tief erschüttert hatte. Und es mußte eine persönliche Nachricht gewesen sein, denn hätte sie das ganze Söldnerheer betroffen, so wäre Barida vom Rat längst unterrichtet worden.
 

Sie befahl den rothaarigen Eunuchen in ihre Gemächer, und auch den Birh-Melack, doch der ließ sie erneut warten. Es war ein sehr schlechtes Zeichen, daß sie Amemna ein zweites Mal rufen lassen mußte. Um sich wieder auf angenehmere Gedanken zu bringen, sah sie noch einmal nach ihrem Eunuchen. Er wirkte nervös, also sprach sie ein paar beruhigende Worte zu ihm. Es sollte eine lustvolle, befriedigende Nacht werden und Barida fühlte, wie die aufsteigende Erregung ihr Gesicht erhitzte. Aber wo blieb der Birh-Melack? Würde er wirklich wagen, ihren Zorn, einen möglichen Vertragsbruch ihrerseits heraufzubeschwören? War ihm nicht klar, daß sie nur die Wasserlieferungen einstellen mußte, um das ganze Söldnerheer zu vernichten? Doch da kehrte die Zwergin endlich zurück und der Birh-Melack folgte ihr. Er sah müde und erschöpft aus, seine Augen waren gerötet, als habe er lange geweint. Sogar seine Schultern ließ er ein wenig hängen. Es mußten in der Tat schlimme Nachrichten gewesen sein, die er im Sölderlager erhalten hatte. Um so mehr würde er dessen bedürfen, was Barida plante, um so dankbarer würde er ihr sein, und sie würde diese Dankbarkeit für ihre Pläne zu nutzen wissen. Barida ging dem jungen Osheyprinzen entgegen, winkte der Zwergin, die Becher mit dem Ostlergetränk zu holen.
 

"Ihrr wünscht meine Dienste heute Nacht, Majestät", stellte Amemna fest. Wieso nannte er sie nicht Barida? Auch ihm sollte klar sein, daß die Zwergin nur ein belebtes Ding war, keine Person, deren Anwesenheit zählte. Aber dann sah Barida, daß die Zwergin das Tablett mit den befohlenen drei Bechern in seinem Blickfeld abgestellt hatte. Er ahnte also, daß noch jemand anwesend war. Barida ging näher zu ihm. Er trug frische Kleidung, und sie vermisste den verführerischen Duft, den er die Nacht zuvor an sich gehabt hatte. Nur ein Hauch war davon zu riechen, und feuchtes Haar. Er mußte geradewegs aus dem Bad zu ihr gekommen sein. "Legt euren Mantel ab, Birh-Melack", antwortete sie also ebenso förmlich.
 

Natürlich gehorchte er umgehend, doch tat er nicht mehr, als sie geboten hatte.
 

Barida kam also noch näher und löste langsam seinen Gürtel, ließ ihre Hände bei jeder Wicklung über seine Hüften streichen. Da, sein Atem ging schneller, flatternd schlossen sich für einen Moment seine Augenlider. Die grüne Schärpe floß an seinen Beinen entlang zu Boden und Barida begann, die Knöpfe seines Untergewandes zu öffnen. Sie ließ sich Zeit, denn die Nacht hatte sich gerade erst über die Stadt gesenkt und nach dem zweifachen Unglück, daß ihren Birh-Melack an diesem Tag getroffen hatte, wollte sie ihm nun umso mehr Zärtlichkeit und Vergnügen schenken. Zuletzt hatte sie solche Gefühle für ihren König gehabt, vor siebzehn Jahren, als er das letzte Mal vom Schlachtfeld zurückkehrte für eine gemeinsame Nacht.
 

"Vergiß den Kummer dieses Tages, Amemna. Ergib dich den Wonnen, die auf dich warten", flüsterte sie ihm zu und streifte das Untergewand über seine makellosen Schultern. Kein Kratzer war an seinem Leib zu sehen, obwohl er doch nach den Worten eines ihrer vertrauenswürdigsten Wächter zahlreiche Stiche in den Hals erhalten hatte. ...
 

Ein zittriger Atemzug war alles, was von ihrem Osheyprinzen zu vernehmen war. Doch langsam stieg auch der Wohlgeruch der Götter Barida wieder in die Nase. Sie lehnte sich an ihn, streckte sich, um seine Brust unterhalb der Kehle zu küssen, strich dann zärtlich die Rundungen seiner weiblichen Brüste entlang. Die feinen Härchen seiner Haut stellten sich für einen Moment auf, doch dann griff er fast schmerzhaft fest ihre Oberarme, hielt Barida auf Abstand. "Seid ihrr sicherr, daß ihrr wollt, was ihrr angefangen habt, Majestät?"
 

Sie sah zu ihm auf. "Wie kommst du auf die Idee, ich sei mir dessen nicht sicher?"
 

Seine Hände glitten ab von ihr und Barida streifte ihr Gewand von den Armen, ließ es zu Boden fallen. Er konnte nun sehen, daß auch sie in höchstem Maße erregt war. Er sollte sie zunächst allein nehmen, dann würden sie gemeinsam mit Baridas Eunuchen noch weitere Höhepunkte erklimmen. Aber worauf wartete Amemna? Sie sah doch, daß er sich kaum noch beherrschen konnte. Also stellte sie sich noch einmal auf die Zehenspitzen, um die Arme um seinen Nacken zu schlingen. "Nimm mich", befahl sie ihm flüsternd.
 

Und Amemna gehorchte, zuerst zögernd, doch dann so stürmisch wie die Nacht zuvor, als sei plötzlich eine Last von seinen Schultern abgefallen. ... Mit noch zittrigen Beinen ging Barida zu dem Tisch, auf dem das Tablett mit den drei Bechern voll des Ostlergetränkes stand und reichte Amemna einen davon.
 

"Ich danke dirr, Barrida", flüsterte er nahe an ihrem Ohr, als er sich nach vorne beugte, um den Becher von ihr entgegenzunehmen. Barida lächelte, nahm die beiden anderen Becher und bedeutete ihrem göttergesandten Liebhaber mit einer Kopfbewegung, ihr hinter den Wandschirm zu folgen.
 

Der Eunuchsah Barida und dem Birh-Melack erwartungsvoll entgegen. Der Birh-Melack verharrte einen Moment mit überraschtem Gesichtsausdruck, als er den rothaarigen Ostler in Baridas Bett erblickte, öffnete den Mund, aber schloß ihn gleich wieder, ohne etwas zu sagen. Und der Eunuch setzte sich plötzlich auf, machte eine schnelle Handbewegung vor seiner Brust und flüsterte ein paar Worte in seiner Ostlersprache. Der Blick, den er dem Birh-Melack zuwarf, war von untertäniger Ehrfurcht erfüllt.
 

* * *
 

7. Der Plan

Nachdenklich ging Nefut vom Mawatizelt fort, ließ Hamarem im Gespräch mit irgendwelchen Kaufleuten zurück. Natürlich war er darüber erleichtert, daß Hamarem seine Aufgaben offensichtlich souverän meisterte und alle diesbezüglichen Befürchtungen überflüssig gewesen waren. Seltsamerweise hatte Hamarem jedoch über Nefuts grobe Verletzung der Gebote der Schriften durch das Bekenntnis, sich körperlich zu einem scheinbaren Mann hingezogen zu fühlen, kein Wort verloren. Dabei schien der Wahre Weg der Dreh- und Angelpunkt von Hamarems Denken gewesen zu sein, als sie noch in Ashans Lager gelebt hatten. Konnte sich ein Mann innerhalb eines Mondes wirklich so ändern? Dachte Hamarem, Nefut hätte rein theoretisch gesprochen? Nein, er hatte doch Bescheid gewußt über Nefuts leidenschaftliche Zuneigung zu Amemna, es aber sofort abgetan mit der Wirkung des unirdischen Zaubers. Wie lange wußte Hamarem schon Bescheid? Hatte er inzwischen einfach Zeit gehabt, sich mit dem Gedanken abzufinden, daß Nefut anscheinend zum Liebhaber eines Mannes geworden war? War die Erkenntnis von Nefuts Abkehr vom Wahren Weg vielleicht wirklich Ursache seiner plötzlichen Krankheit gewesen? Nefut merkte, daß er auf dem Weg zum Badezelt war. Das Wasser in den Bottichen dampfte, das Badezelt war also wieder in Betrieb - dank Hamarem. Anscheinend wußte Hamarem wirklich, was er tat, auch wenn es Nefut schwer fiel, den fähigen Administrator, als der Hamarem sich hier im Lager erwies, mit dem unterwürfigen und weltfremden Tagträumer, als den er ihn kennengelernt hatte, zu vereinbaren.
 

Nefut entkleidete sich, wusch sich und stieg endlich in einen der Bottiche. Das frisch eingefüllte heiße Wasser entspannte Nefut so sehr, daß er nach ein paar Augenblicken nahe daran war, einzunicken. Hamarem mußte den unirdischen Zauber Amemnas selbst, am eigenen Leibe, kennengelernt haben, ging Nefut plötzlich durch den Kopf und er war wieder hellwach. Es paßte alles zusammen. Sein Verständnis für Nefut, als Zweiter eines Unirdischen eine schwere Last zu tragen, die ungewöhnlich kalte Art Hamarems an jenem Abend nach der Schlacht, als Nefut beide belauscht hatte und Hamarem jeden Körperkontakt mit Amemna auffällig vermieden hatte, Hamarems Besuch oder Besuche im Amazelt - wie anders hätte er die Priesterin der Ama und ihre Schülerin als solche erkennen können - und schließlich das Liebesmal an seiner Lippe, das wohl kaum aus dem Amazelt sondern eher von einer besitzergreifenden Geliebten stammte. In Ashans Zelten war er an den sinnlichen Freuden so auffällig uninteressiert gewesen, und nun schien es, als habe Hamarem die Versäumnisse von Jahren aufholen wollen. Hatte er durch die Besuche im Amazelt und durch eine heftige Affäre versucht, sich Amemnas unirdischem Zauber zu widersetzen? Anscheinend war er damit erfolgreich gewesen, anders als Nefut. Für einen Moment war Nefut sich nicht sicher, ob er Hamarem beneiden oder bedauern sollte für seine Charakterstärke, Amemna nicht erlegen zu sein.
 

"Ich werde Ama ein Dankopfer darbringen", hörte Nefut plötzlich leise einen Mann sagen, der in einem der Nachbarbottiche sitzen mußte. "Ich habe das Zelt schon gestern abend besucht. Es ist gut, daß die Dienerinnen der Göttin zurückgekehrt sind", antwortete ein anderer Mann.
 

Von Schelschér wußte Nefut, daß es im Süden auch üblich war, der Hawat ein kleines Opfer zu bringen, Frauen eine Blüte und Männer eine Haarlocke. Er sollte der Ama ein kleines Opfer bringen und um ihren Beistand bitten, denn er würde ihn brauchen, jetzt, wo er sich Amemna endlich offenbaren wollte. Der Gedanke an die Dienerinnen der Göttin hatte erstaunlicherweise nichts Verlockendes für Nefut. Alle Künste, die sie beherrschten, beherrschte auch Amemna. Und darüber hinaus hatte sie Verständnis für die Dinge des Krieges, wußte mit einem Schwert umzugehen, konnte befehlen. Sie war mehr als eine Frau, und auch wenn es Nefut noch immer deutliches Unbehagen verursachte, wollte er ernsthaft versuchen zu akzeptieren, daß auch ihre männlichen Genitalien ein Teil von ihr waren. Sie hatte immerhin nie verlangt, daß er sie wie einen Mann befriedigen sollte, also konnte er ihr kaum Vorwürfe machen für eine körperliche Eigenart, die sie ihrer unirdischen Natur verdankte.
 

Nefut würde sich zu Amemna bekennen und seine Liebe nicht mehr verheimlichen. Und Hamarem und Oremar würden eben wie Derhan damit leben müssen, daß Nefut scheinbar zum überzeugten Liebhaber eines Mannes geworden war. Er mußte Amemna endlich sagen, daß er sie liebte, in einer Art und Weise daß sie merkte, wie ernst es ihm war. Dafür versuchte Nefut, seine Kenntnis der Südländersprache wiederzubeleben. 'Tschan' war der oder die Liebste, 'fr'tschan' - meine Liebste, 'fr'tschan ne' - du bist meine Liebste, ich liebe dich. Und mit neuer Energie erhob Nefut sich aus dem Wasserbottich, trocknete sich ab und bekleidete sich. Das Amazelt lag gleich neben dem Badezelt, im offenen Eingangsbereich stand eine mit einem bunten Tuch bekleidete, mit einigen Blüten geschmückte Amastatue. Nefut sammelte sich, trat dann in den leeren Eingangsbereich, kniete sich vor die Statue, die lächelnd auf ihn hinabschaute. "Ama, große Göttin, segne meine Verbindung mit meiner Geliebten", flüsterte Nefut. Dann schnitt er mit seinem Dolch eine Haarsträhne ab und legte sie an den Fuß der Statue, wo schon einige andere Haarsträhnen lagen. Er steckte seinen Dolch zurück, versank einen Moment im Anblick des Bildes der Göttin und senkte dann noch einmal den Kopf, drückte die Stirn auf die Teppiche. "Ama, laß sie meinen Sohn tragen." Nach einer Weile des Verharrens, hörte er das Klingeln von Schmuck, das neben ihm innehielt.
 

Nefut schaute auf und erblickte eine junge Ostlerin, barfuß und in einem schlichten blauen Kleid, die unnahbar zu ihm heruntersah, fast wie die Göttin selbst. "Seid gegrüßt im Zelt der Ama", sagte sie. "Wollt ihr der Göttin auch ein großes Opfer bringen?"
 

Nefut erhob sich, neigte ehrerbietig den Kopf vor der Dienerin der Göttin. "Nein, ich wollte nur zu ihr beten. Aber nehmt das für den Weihrauch." Und er zog für die Frau eine Silbermünze aus seinem Gürtel.
 

"Die Göttin möge euch segnen", und das Gesicht der Frau schien etwas freundlicher.
 

"Euch ebenfalls", erwiderte Nefut dankend, dann machte er sich auf zu den Pferdepferchen, um zurück nach Tetraos und seiner Geliebten zu reiten.
 

*
 

Als Nefut den Palast erreichte, entdeckte er in den Stallungen, daß Amemnas Stute fehlte, Derhans Wallach jedoch war noch da. Und während er sein Pferd versorgte, sah er, wie gerade jetzt zufällig der Mann sein Pferd zurück in den Stall führte, der den Stall am Morgen kurz vor Nefut verlassen hatte. Ein seltsamer Zufall war das. Nefut eilte zu den Gemächern, die dem Birh-Melack und seinem Gefolge zugewiesen worden waren und fand sie leer. Er lief hinaus auf den Gang und fragte den Wächter vor ihren Räumen, wo Derhan denn sei. Der wies ihm den Weg zu den Wirtschaftsräumen im Erdgeschoß des Palastes. Nach seinem Weg vorbei an den Waschbottichen mit kichernden Wäscherinnen, von denen Nefut im Vorbeigehen Bemerkungen wie 'Ein Leibwächter des schönen Birh-Melack' und 'Ein Leibwächter von Baridas neuem Liebling' aufschnappte, entdeckte er Derhan schließlich in einem kleinen Hof, in dem er gerade dabei war, Amemnas Mantel zu waschen. "Wo ist unser Herr?" fragte Nefut, während Derhan den edlen Stoff in dem Wasserkübel eifrig stampfte.
 

Derhan sah auf zu Nefut, stampfte dann wortlos weiter, holte den Mantel aus dem Wasser und wrang ihn aus. Dann schüttelte er das nasse Gewebe auseinander, begutachtete sein Werk, roch an dem Stoff, schien zufrieden und legte den Mantel, sorgfältig ausgebreitet über eine quer durch den Hof gespannte Leine. "Unser Herr geruhte, den Palast zu verlassen, um im Lager nach dem Rechten zu sehen. Vielleicht sucht er auch dich dort, wer weiß?" antwortete Derhan dann in der gestelzten Art, der sich die Zwergendiener im Palast bedienten. Dann hockte er sich vor den Bottich und zog noch ein weißes Untergewand aus dem Waschwasser und schließlich den grünen Gürtel, den Amemna am Morgen gerade umgebunden hatte, als Nefut sich aufmachte ins Heerlager.
 

"Hat Amemna sich beim Frühstück bekleckert?" fragte Nefut scherzend und erntete dafür einen kritischen Blick.
 

"Nein, er bekam nur Gelegenheit, seine unirdischen Kräfte auch hier im Palast vorzuführen", antwortete Derhan von der Leine her, über der nun auch das Untergewand und der Gürtel hing.
 

Das klang nicht gut. "Was soll das heißen?" rief Nefut aufgebracht über Derhans Rätselspielchen und die plötzlich aufkeimende Angst um Amemna.
 

"Genau, was ich sagte. Unser Birh-Melack hat gezeigt, daß auch ein Dutzend Dolchstiche in den Hals ihn nur zum Bluten, aber nicht zum Sterben bringen."
 

"Wer hat es gewagt?" schrie Nefut und war drauf und dran, Derhan am Kragen seines Untergewandes zu packen, hielt sich aber gerade noch zurück. Wieso sollte Derhan Amemna irgend etwas antun?
 

Derhan hielt Nefut mit kampfeslustiger Miene stand. "Es war ein kleiner Junge, Hamarems kleiner Junge um genau zu sein, mit Hamarems Dolch. Amemna bringt den Dolch gerade zurück zu seinem Besitzer."
 

Der Dolch, den der kleine Nefut Hamarem gestohlen hatte. "Aber Hamarem hat doch nichts mit dem Anschlag auf Amemna zu tun!" ereiferte Nefut sich. "Das kann doch auch Amemna nicht glauben. Der Junge hat Hamarem den Dolch gestohlen, gerade als ich dabei war. Ich habe ihn noch damit aufgezogen, daß er es nicht gemerkt hat. Oh ihr Götter!" Nefut schüttelte den Kopf. "Ich muß zurück ins Lager und Amemna erklären..."
 

"Du mußt gar nichts, Nefut", unterbrach Derhan ihn. "Amemna hat mir befohlen, hier zu bleiben und dir sollte ich das selbe sagen, wenn du wieder auftauchst."
 

"Aber..."
 

Derhan schüttelte den Kopf. "Unser Birh-Melack wird erkennen, ob Hamarem schuldig ist oder nicht. Daran zweifle ich nicht. Wieso vertraust du ihm in dieser Sache weniger als ich?"
 

"Weil...", begann Nefut, doch er verkniff sich fortzufahren mit dem, was er befürchtete. Daß Hamarem vielleicht doch nicht unschuldig war, daß der kleine Nefut und Hamarem ihm und Oremar nur etwas vorgespielt hatten, um den unirdischen Verführer zu töten. Diese Durchtriebenheit mochte er Hamarem nicht unterstellen, aber der Verdacht ließ sich nicht mehr zum Verstummen bringen, denn Hamarem hatte Nefuts Offenbarung viel zu gelassen zur Kenntnis genommen und offensichtlich steckte in Hamarem ja weit mehr, als es in Ashans Lager den Anschein gehabt hatte.
 

*
 

Im Laufe des Nachmittags kehrte Amemna zurück in den Palast. Sie zeigte sich Derhan und Nefut nur, um zu sagen, daß sie nicht gestört zu werden wünsche, egal wer nach ihr verlangte, und verschoß die Tür zwischen ihrem Zimmer und dem Vorzimmer, in dem Derhan und Nefut sich aufhielten. Sie hatte ausgesehen wie ihr eigener Geist. Das konnte doch nur bedeuten, daß ihr Vertrauter aus der Zeit als Gefangene Ashans, mit dem sie sich im Lager der Hannaiim zu nächtlichen Gesprächen an den Pferdepferchen weggestohlen hatte, ihr Vertrauen auf das Schwerste enttäuscht hatte. Wie hatte Hamarem nur soetwas tun können? Er war es doch gewesen, der als erster davon gesprochen hatte, Amemna sei ein Unirdischer. Er war es der ihre offenbar gewordenen Kräfte zum Zeichen ihrer unirdischen Natur erklärt hatte, der auf dem Schlachtfeld einen Kniefall gemacht und geschworen hatte, ihr immer treu zu dienen. Hamarem, der Nefut gefragt hatte, wo dessen fürstliche Ideale geblieben seien, um Nefuts Verbindung mit Amemna wissend. Sah Hamarem in Amemna eher einen böswilligen Verführer als einen Liebenden? Was unterschied denn Dämonen und Unirdische in den Schriften - außer ihre Taten und ihre Haltung gegenüber den Menschen? Beide waren doch ursprünglich die Kinder des Ungenannten, die einen, denen ihr Vater wohlgesonnen war, dienten dem Nächtlichen Träumer, die anderen, die Verstoßenen, dem Herrn des Totenreiches. Und wenn es nur eine einzige Verfehlung war, die einen Unirdischen aus den Gärten der Freude in Chelems Reich fallen ließ? Doch Nefut schreckte davor zurück, diesen ketzerischen Gedanken weiterzuspinnen.
 

Aber wie hatte Hamarem auf die Idee kommen können, Amemna mit einem Dolch töten zu können? Oder war die Wahl des Attentäters die eigentliche Waffe gewesen? Ein unschuldiges Kind, durch die unterbrochene Opferzeremonie noch immer dem Ungenannten geweiht, das mußte eine sichere Waffe gegen einen Dämonen sein. Nur das Amemna offensichtlich doch kein Dämon war und daher den Anschlag überlebt hatte. Nefut sah hilflos zu Derhan, aber der zuckte mit den Schultern. Er hatte wohl keine Hoffnung, etwas an Amemnas Zustand ändern zu können. Also klopfte Nefut an die Tür seiner Geliebten. "Birh-Melack, darf ich mit euch sprechen?" fragte er leise. Amemna antwortete nicht, dabei war Nefut sicher, daß sie ihn hatte hören können. Er klopfte noch einmal.
 

"Laß mich, Nefut", erklang es durch die Tür, als stünde sie genau auf der anderen Seite.
 

"Amemna", flüsterte er, versuchte, seine ganze Sehnsucht in dieses Wort zu legen.
 

"Laß mich", war jedoch wieder die Antwort, dann hörte Nefut ihre Schritte, die sich von der Tür entfernten.
 

Es drehte Nefut das Herz im Leib um, wie sie ihn von sich stieß, jetzt da er endlich den Entschluß gefaßt hatte, ihr seine Liebe zu gestehen, da er sie aus eigenem Willen aufsuchte, nach der langen Abstinenz sicherlich nicht durch ihren unirdischen Zauber gezwungen, und da sie des Trostes offenbar dringend bedurfte. Und sie ließ ihn nicht zu sich. Schließlich hatte Nefut das Gefühl, bald platzen zu müssen vor angestauten Emotionen. Sein Zorn auf Hamarem und seine Sorge um Amemna, zusammen mit der nun endlich selbsteingestandene Liebe zu ihr bildeten eine explosive Mischung. Nicht einmal Derhan wagte, ihn mit seinen bösartigen Bemerkungen zu provozieren, denn er ahnte wohl, daß Nefut sich diesmal sicher nicht zurückgehalten hätte. Schließlich griff Nefut sich sein Übungsschwert, um sich abzureagieren. Er lief hinunter zu den Wirtschaftsräumen, in den kleinen Hof, in dem Derhan Amemnas Kleider aufgehängt hatte und machte sich mechanisch an die Übungen: vor, vor, zurück, Hals, Kehle, Schwerthand...
 

Ein Huschen im Säulengang zog Nefuts Aufmerksamkeit auf sich, aber er tat, als habe er nichts bemerkt. Er veränderte während der Übungen langsam die Position im Hof, um die betreffende Säule besser im Blick zu haben, ohne gerade darauf sehen zu müssen. Da stand ein Mann im Schatten der Säule, zweifellos. Und es schien genau der Mann zu sein, der am Vormittag so auffällig zeitgleich mit Nefut den Palast verlassen und wieder erreicht hatte. Nefut wurde also, sicher im Auftrag der Regentin, beschattet. Vermutlich wurden sie alle drei beschattet und sicherlich hatte die Regentin auch Spione im Lager ihrer neuen Söldner. Nefut kam ins Schwitzen, entkleidete seinen Oberkörper und fuhr fort mit den Übungen. Vielleicht konnte der Mann der ihn beobachtete, davon noch etwas lernen.
 

"Was seid ihr für ein stattlicher Mann", hörte Nefut eine junge Frauenstimme hinter sich. Er beendete die Übungseinheit und drehte sich dann um, lächelte der Wäscherin zu, und begann die nächste Übung.
 

"Wird euch das nie langweilig, Oshey?" fragte die Frau nach ein paar Augenblicken.
 

Nefut mußte grinsen, aber er machte weiter.
 

"Die Eunuchen der Regentin halten sich mit Ringkämpfen in Form", erklärte sie dann. "Für wen übt ihr euch?"
 

Vor Erstaunen hielt Nefut inne. "Für den Kampf", antwortete er.
 

"Nicht auch für das Bett einer schönen Frau?" fragte die Wäscherin kokett zurück.
 

Nefut konnte bei diesen offenen Worten nicht verhindern, daß er errötete. Er flüchtete sich wieder in seine Übungen.
 

"Unsere Regentin hat heute nacht ja wohl etwas ganz Besonderes mit eurem Birh-Melack vor, nach der ganzen Aufregung heute Mittag", sagte sie dann beiläufig.
 

Nefut versuchte, die Wäscherin zu ignorieren.
 

"Wenn euer Herr heute Nacht beschäftigt ist, seid ihr doch frei von Verpflichtungen. Vielleicht können wir zwei dann auch etwas ganz Besonderes unternehmen?" fragte sie mit einem eher ordinären als verführerischen Augenaufschlag.
 

Also wieder eine Nacht, in der die Regentin Amemna für sich beanspruchte. Nefut verwünschte den mit offensichtlich viel Vorbedacht formulierten Vertrag. Wieso beschränkte Barida sich bei ihren Vergnügungen nicht auf ihre Lustsklaven? Amemna hatte nicht so ausgesehen, als sei sie in der Verfassung, der Regentin heute einen kraftstrotzenden Jüngling vorzuspielen. Nefut legte die Besorgnis über Amemnas Zustand und die Wut auf die Regentin in seine Schläge, die Wäscherin wich vor ihm vorsichtshalber in den Säulengang zurück. Warum konnte sich die Regentin nicht einen richtigen Mann suchen?
 

Schließlich hielt Nefut inne, ging zu dem Brunnen in der Ecke des Hofes und legte das Holzschwert ab. Die Wäscherin gesellte sich zu ihm. "Wie groß ihr seid", hauchte sie in dem unverhohlenen Bemühen, ihn zu verführen.
 

Nefut schöpfte einen Eimer Wasser, trank ein paar Schluck aus der hohlen Hand und wusch sich dann oberflächlich. "Ich habe das Gelübte abgelegt, mich keiner Frau zu nähern", behauptete er, als er die Arme wieder in sein Untergewand steckte und begann, die Kopfleiste zu schließen.
 

"Das ist nicht euer Ernst, oder?" fragte die Wäscherin enttäuscht.
 

"Doch, das ist mein Ernst", antwortete Nefut. Er steckte das Schwert in den Gürtel und nahm Amemnas inzwischen getrocknete Gewänder von der Leine. "Ich diene ausschließlich meinem Birh-Melack. Den Segen Tyrimas für euch", und er ging zurück in die Gemächer der Mawati.
 

*
 

Auch für das Nachtessen öffnete Amemna nicht ihre Tür, und schon vor Einbruch der Nacht befahl die Regentin Amemna zu sich. Zunächst reagierte Amemna wieder nicht auf Nefuts Klopfen und die Nachricht, dann öffnete sie die Tür schließlich einen Spalt und befahl, heißes Wasser für ein Bad und die gewaschenen Gewänder zu bringen. Sie sah Nefut nicht an, wich seinem Blick absichtlich aus, aber er sah ihre rotgeweinten Augen, als er ihr gemeinsam mit Derhan das Bad bereitete. Zum Baden schloß sie sich wieder ein. Schließlich kam die Zwergin ein weiteres Mal, und Amemna tauchte fertig gewaschen und bekleidet aus ihrem Zimmer auf und folgte der Zwergin mit grimmigem Gesicht und ohne ein Wort der Verabschiedung an ihre Mawati.
 

"Unser unirdischer Birh-Melack sah nicht aus, als würde er sich auf die Nacht mit der Regentin freuen", bemerkte Derhan leise.
 

Dieser chelemverfluchte Vertrag! Irgendwie mußten sie Amemna aus den von der Regentin erzwungenen privaten Verpflichtungen lösen, etwa damit, daß sie durch kriegswichtige Dinge beschäftigt wurde und so der Regentin nicht zur Verfügung stand. "Derhan, zeigst du mir, wie das Bohnenspiel geht?" fragte Nefut mit einem honigsüßen Lächeln.
 

Derhan zog die Augenbrauen mißtrauisch zusammen, aber er fragte nicht nach. "Ich besorg' Bohnen und einen Spielplan", antwortete er nur und verschwand.
 

Nefut setzte sich mitten im Vorzimmer auf den Boden und sah sich mit gelangweiter Miene um. In den mit Blumenranken bemalten Wänden sah er keine offensichtlichen Löcher durch die sie beobachtet werden konnten, aber das hieß nichts. Es war durchaus möglich, das Stücke der scheinbar massiven Mauern von einem Geheimgang aus herausgenommen werden konnten, um die Bewohner dieser Räumlichkeiten zu beobachten. Aber vielleicht reichte es Barida ja auch schon, das Gefolge ihres Birh-Melack durch die Tür oder von einem benachbarten Fenster aus zu belauschen.
 

Derhan kam mit zwei Schüsseln voll Bohnen und einem Stoffetzen zurück. Er gebot Nefut, das Stück Stoff auf dem Boden straff zu ziehen und begann dann mit einem kalten Stück Kohle, die spielplantypischen gekreuzten Linien zu ziehen. "Wir setzen die Bohnen abwechselnd auf die Schnittpunkte der Linien", erklärte Derhan dann. "Man muß versuchen, die Bohnen des anderen mit den eigenen zu umschließen, damit nimmt man sie gefangen. Und man versucht außerdem, die eigenen Bohnen in einer unangreifbaren Stellung zu plazieren, um sie nicht an den Gegner zu verlieren." Derhan legte eine Handvoll Bohnen auf den Spielplan. "Zum Beispiel", fing er an und rückte die roten und weißen Bohnen zurecht, "diese Stellung ist unangreifbar. Setzt Weiß eine Bohne in diese Lücke, ist sie von Rot völlig umschlossen, also verloren, denn dort ist eine zweite Lücke, die Weiß nicht gleichzeitig schließen kann, um so Rot völlig zu umschließen."
 

Nefut nickte abwesend und rückte dann selber die Bohnen auf dem Spielplan zurecht. "Wenn wir hier also den Fürsten haben", sagte er und ignorierte Derhans zweifelnden Blick, "und hier seine Leibwächter", und zwei weitere weiße Bohnen wurden dazugelegt, "und hier den anderen Fürsten und seine Spione...", und vier rote Bohnen wurden gegenüber den weißen plaziert.
 

Derhan nickte langsam. "Du hast es also gemerkt", stellte er fest, bedeutete Nefut dann aber, weiterzusprechen.
 

"Die weißen Bohnen müssen irgendwie versuchen, ihren Fürsten in das Heerlager zu bekommen, anstatt in den Zugriff des roten Fürsten."
 

"Glücklicherweise haben die roten Bohnen nur noch drei oder vier Runden, danach erreichen die weißen Bohnen ohnehin ihr Heerlager und sind in Sicherheit", bemerkte Derhan.
 

Also drei oder vier Tage noch bis zum Feldzug. Das war wirklich eine Erleichterung.
 

"Und wie würdest du vorschlagen, daß die weißen Bohnen ihren Weg über den Spielplan nehmen, ohne von den roten Bohnen verraten oder gehindert zu werden? Meinst du, es ist eine gute Idee, zur Ablenkung den roten Fürsten persönlich anzugreifen?" fragte Derhan leise und schob eine der als Leibwächter bezeichneten weißen Bohnen neben die rote Fürstenbohne.
 

Nefut wiegte zweifelnd den Kopf. "Ich glaube es wäre schwer für eine der Leibwächterbohnen, die rote Fürstenbohne von der weißen Fürstenbohne abzulenken. Ich dachte an ein indirekteres Vorgehen. Eigentlich müssen die weißen Bohnen doch nur dafür sorgen, daß stets ein Abstand zwischen den Fürstenbohnen bleibt." Er griff nach der Schüssel mit den weißen Bohnen und legte eine ganze Reihe zwischen die beiden zu Fürsten erklärten Bohnen.
 

"Wir verändern das Mengenverhältnis, das ist gut", stimmte Derhan zu. "Aber es stehen nur zwei weitere Leibwächterbohnen zur Verfügung", sagte er und wollte die Überzähligen vom Spielplan nehmen.
 

"Es stehen etwa acht Leibwächterbohnen zur Verfügung", korrigierte Nefut seinen Waffenbruder. Er zeigte stumm auf seinen Mantel und sein Kopftuch, die beide auf einem Stuhl lagen. Es gab noch eine andere Oshey-Wannim im Lager und sie hatten noch fünf oder sechs makelose Ma'ouwatitücher von ihren gefallenen Gefährten. Ihren unirdischen Birh-Melack würden wohl auch die anderen Oshey beschützen wollen. "So sollte es doch möglich sein, den weißen Fürsten mehrfach pro Runde zu seinem Heerlager zu rufen, wo der rote Fürst keinen Zugriff hat."
 

Derhans Gesicht zeigte zunächst seine Ratlosigkeit doch erhellte sich dann plötzlich. "Natürlich, die grauen Bohnen sehen für die roten Bohnen genauso aus, wie die weißen Bohnen." Offensichtlich hatte er verstanden. "Dann müssen die grauen Bohnen jedoch mobilisiert werden."
 

"Gleich morgen, bei der ersten Gelegenheit", gab Nefut zurück.
 

Derhan nickte. "Morgen früh ist gut. Ich wasche jetzt lieber noch das Untergewand unseres Birh-Melack, es roch heute morgen schon zu sehr nach seinen nächtlichen Aktivitäten, aber er konnte das Lager ja nicht blutig besuchen." Und er stand auf.
 

In Nefut wallte noch einmal der Zorn über die Verletzung seiner Geliebten auf und er ballte die Fäuste, doch was konnte er jetzt tun? Es war wohl gut, daß er Amemna nicht in ihrem eigenen Blute gesehen hatte, unbedachtes Verhalten seinerseits hätte zu einer Katastrophe führen können. Er löste die Fäuste, aber dann schlug er mit der flachen Hand doch so fest gegen die steinerne Wand, daß es schmerzte, denn er konnte sich nicht verzeihen, den Vormittag für ein Gespräch mit dem verräterischen Hamarem frei genommen zu haben, als Amemna eigentlich seiner Gegenwart bedurft hätte.
 

*
 

Nefut wartete die halbe Nacht im Vorzimmer der Gemächer des Birh-Melack auf Amemnas Rückkehr. Natürlich konnte Amemna den Befehl der Regentin nicht einfach ignorieren, das hätte die ganze Birh-Mellim gefährdet. Aber war es zuviel verlangt gewesen, daß Amemna ein paar Worte mit Nefut wechselt? Er sehnte sich so sehr nach ihr. Aber sie ignorierte den Mann, den sie nach eigenem Bekunden liebte, strafte ihn mit Nichtachtung. Wie konnte er sie trösten, wenn sie ihn nicht an sich heranließ?
 

Endlich wurde die Tür geöffnet und Amemna kam langsam, offensichtlich müde und wie geschunden wirkend, herein. Sie stolperte über den Mantel, den sie über dem Arm trug, so daß Nefut dazu sprang, um sie zu stützen. Schwer ließ sie sich in seine Arme sinken. Sie roch stark nach dem berauschenden Getränk der Ostler. Was hatte die Regentin mit ihr gemacht? War es in der vergangenen Nacht ebenso gewesen, als Nefut von Amemnas Rückkehr nichts mitbekommen hatte? "Was ist mit dir, Amemna, fr'tschan?" fragte Nefut zärtlich, während er sie auf dem Weg zu ihrem Bett stützte. Wie kam es nur, daß sie ihn in ihrer Hilflosigkeit so erregte? War das wieder ihr unirdischer Zauber? Aber an ihr schien weniger ihr eigener Duft zu sein, als der von parfümiertem Öl, das wohl von der Regentin stammte und der Geruch von Sperma, das immerhin Amemnas eigenes sein mußte. Nefut schämte sich, daß gerade jetzt, nachdem Amemna von der Regentin als Mann wer weiß wie gefordert worden war, eine unbändige Lust in ihm aufstieg und ihn zittern ließ.
 

Trotz ihres Zustandes entging Amemna Nefuts Erregung anscheinend nicht. "Du willst mich als Frrau, nicht wahrr?" fragte sie flüsternd. Sie zog Nefuts Dolch aus seinem Gürtel und setzte sich auf den Rand ihres Bettes. "Vielleicht sollte ich mich kastrrieren, Keliebterr. Dann hast du endlich, was du willst." Sie schüttelte die Scheide von der Klinge des Dolches und hob mit der anderen Hand zugleich den Saum ihres Untergewandes, als wolle sie wirklich ihre männlichen Genitalien abschneiden.
 

Nefut hielt ihre Hand fest. "Laß das sein. Du bist trunken vom Oinos."
 

Aber Amemna war stark und wand ihre Hand mühelos aus Nefuts Griff. "Keinerr von euch will mich wirrklich als Mann", begehrte sie auf. "Laßt mich derr Köttin ihrr unerrwünschtes Keschenk surrückkeben. Dann seid wenigstens ihrr klücklich."
 

Nefut gelang es, ihr den blanken Dolch doch abzunehmen, dann drückte er Amemna auf das Bett und nahm sie fest in die Arme. "Ich will nicht, das du dich verstümmelst", sagte er voller Überzeugung.
 

"Dann halt mich fest Nefut und beschütze mich diese Nacht", bat sie leise.
 

"Ja" versprach Nefut, aber Amemna war schon eingeschlafen in Nefuts Armen, der seine heftige Erektion an ihren Schenkel preßte und die Nase in ihrem duftenden Haar vergrub. Und nach einer ganzen Weile flüsterte er: "Amemna, ich liebe dich, fr'tschan ne, Tk'awla." Er würde verhindern, daß Amemna noch eine weitere Nacht bei der Regentin verbrachte.
 

* * *
 

8. Das Wunder

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

8. Das Wunder (jugendfrei)

Die Gebieterin wurde warten gelassen. Er selbst hätte das niemals gewagt, aber er war auch kein freier Mann wie der Birh-Melack, den die Regentin schon vor einer geraumen Weile durch ihre kleine Dienerin zu sich befohlen hatte. Jochawam rätselte, warum sie außerdem ihn zu sich gerufen hatte. Die fast durchscheinende, dünne Decke, die er über seinen nackten Körper hatte breiten sollen, die Erleuchtung des Zimmers mit ungewöhnlich vielen Lampen, in denen kostbares, exotisch duftendes Öl brannte, der Wandschirm, um den Blick auf das Bett von der Tür aus zu verwehren, all das sah nach Vorbereitungen für eine aufwendige Liebesnacht aus. Diesen Aufwand trieb sie nicht für ihren Sklaven, da war Jochawam sicher. Verlangte es den Birh-Melack nach der Gesellschaft eines Eunuchen? Oder hatte er sein Vergnügen daran, zuzusehen, wie Barida sich von Jochawam befriedigen ließ? Unter den Sklaven und Bediensteten des Hofes wurde getuschelt, der Birh-Melack der Söldner habe zur Mittagsstunde in Blut gebadet. Hatte er vielleicht abartigere Wünsche, die Barida ihm erfüllen wollte?
 

"Geh noch einmal zum Birh-Melack und erinnere ihn an den Vertrag, den abzuschließen er selbst gefordert hat. Erinnere ihn an seine Verpflichtung zu unbedingtem Gehorsam, die in diesem Vertrag niedergelegt ist. Und erinnere ihn an unser Gespräch in der vergangenen Nacht. Sag ihm, ich hätte vor, seinen Hunger zu stillen", hörte Jochawam Barida mit schon angespannter Stimme befehlen, dann trippelte die Dienerin hinaus.
 

Barida kam hinter den Wandschirm, sah nachdenklich auf Jochawam herunter. Was für einen Hunger wollte sie einem Birh-Melack stillen, der in Blut badete? Seine Gebieterin schien zu ahnen, daß Jochawam die Ungewißheit nervös machte. "Frag, was du erfahren willst", forderte sie ihn großzügig auf.
 

"Welche Art von Hunger soll heute Nacht gestillt werden, Gebieterin?" fragte Jochawam also ehrerbietig, aber er konnte selbst die Angst in seiner Stimme hören.
 

Barida lächelte beruhigend. "Keinen Hunger, den du nicht bereits mir gestillt hast. Nur wirst du heute Nacht jemand anderem dienen." Und sie schien den Gedanken daran erregend zu finden. Also wollte Barida anscheinend zusehen, wie Jochawam einen Mann befriedigte. Wenn er halbwegs ansehnlich war, sollte das kein Problem darstellen. Er hatte der Göttin nicht nur in seiner Jugend in ihrer männlichen Gestalt gehuldigt, sondern auch als Eunuch in den Diensten vieler Herren.
 

Als die trippelnden Schritte der kleinen Dienerin sich wieder näherten, eilte Barida vor den Wandschirm. Nun waren auch schwerere Schritte langer Beine zu hören. Ob das der Birh-Melack war?
 

Durch einen Spalt im Wandschirm konnte Jochawam nur einen kurzen Blick auf den in schwarzen Mantel und weißes Untergewand gekleideten Birh-Melack werfen. Er hatte kinnlang geschnittene, weiße

Haare, war auffällig groß - Barida reichte ihm gerade bis zur Brust - und trotz seines dunklen Nordländerteints und der nach osheyart schwarz bemalten Augenlider keinen Bart, was für einen erwachsenen Oshey ungewöhnlich war. Barida und er redeten leise miteinander, doch dann verstummten die Stimmen. ... In Jochawam erwachte der Neid über soviel männliche Kraft und er wünschte sich für einen Augenblick an Baridas Stelle zu sein, wenn schon nicht an der des Birh-Melack. Jochawam begann, sich unter der Decke mit der Hand zu stimulieren. Irgendwann würden sie ja fertig sein und wohl um den Wandschirm zum Bett kommen. Er wollte für seine Gebieterin einen guten Eindruck bei dem Birh-Melack machen.
 

Endlich verstummten die Geräusche und ein paar Augenblicke später führte Barida den Birh-Melack tatsächlich zu ihrem Bett, in dem Jochawam wartete. Wohlgefällig blickte die Regentin auf ihren Eunuchen, dessen Körper sich unter der hauchdünnen Decke deutlich abzeichnete. Dann reichte sie ihm einen der Becher voll Oinos. Und Jochawam konnte die Augen nicht von dem nackten Birh-Melack wenden. Jetzt konnte Jochawam sehen, daß die Haut des Birh-Melack so glatt war, wie Jochawams eigene und er zusätzlich kleine Brüste hatte. War er etwa einer der Zwitter, die die Große Mutter der Legende nach in die Welt geschickt hatte, um die Menschheit die Liebe zu lehren? Jochawam schickte ein Stoßgebet an die Göttin, daß es so sein möge. Dann schmeckte er den süßen, berauschenden Oinos auf der Zunge. Vor Aufregung hatte er gar nicht gemerkt, daß er aus seinem Becher schon etwas getrunken hatte.
 

"Was seht ihrr mich so an?" fragte der sehr junge Birh-Melack, lächelte dann ein wenig unsicher. "Erinnerre ich euch an jemanden, so wie ihrr mich an jemanden errinnerrt?"
 

Der Körper des Birh-Melack war so makellos wie ein Bildnis der Göttin. "Ja, ihr erinnert mich an die Bildnisse der Großen Mutter. Seid ihr wahrhaft einer derjenigen, die sie nach ihrem Bilde formte und als Mann und Frau zu den Menschen geschickt hat?"
 

Das Lächeln des Birh-Melack wurde herzlicher. "Findet es heraus", forderte er Jochawam auf. Er stellte seinen Becher ab und setzte sich in der Reichweite von Jochawams Armen auf die Bettkante.
 

Jochawam legte langsam seine freie Hand auf eine der Brüste des Birh-Melack, streichelte sie halb untersuchend und halb liebkosend. Sie fühlte sich an wie die Brust einer Frau. 'Amemna' hatte Barida ihn genannt.
 

Amemna setzte sich ganz auf das Bett, Jochawam gegenüber, strich nun ihm über die glatte Wange und die ebenso glatte Brust. Dann nahm er ihm den Becher aus der Hand, trank selbst einen Schluck daraus und stellte auch diesen Becher beiseite. Allein der Geruch dieses Zwitterwesens erregte Jochawam in ungeahnter Weise. So hatte er sich nicht mehr gefühlt, seit er verschnitten worden war. Und Amemna begann, die dünne Decke von seinem Unterleib zu ziehen, um Jochawam zu enthüllen. Als er Jochawams Schoß betrachtete, zog Amemna hörbar Luft zwischen den Zähnen ein, als hätte er nicht mit dieser Entdeckung gerechnet, trotz des bartlosen Kinns und der haarlosen Brust des Rothaarigen. Dann sah er dem Eunuchen ins Gesicht und Jochawam konnte schon nach wenigen Augenblicken das Mitleid in den Augen des anderen nicht mehr ertragen, wandte sein Gesicht ab und bedeckte seine Scham mit den Händen. Seit dem Tag, an dem er zum Eunuchen gemacht worden war, hatte er sich nicht mehr so unvollkommen gefühlt. Seine Augen begannen zu brennen. Gleich würde Amemna sich von ihm abwenden und Jochawams Hoffnung, sich mit diesem Gesandten der Göttin vereinen zu dürfen, zerstören.
 

Aber Amemna faßte zärtlich das Kinn des Eunuchen, und bewegte Jochawam so dazu, ihn wieder anzusehen. "Du sehnst dirr deine Männlichkeit zurrück, nicht wahrr?" fragte Amemna flüsternd. Was half dieses Sehnen schon? Er hatte schon vor Jahren aufgehört, die Göttin um ein Wunder zu bitten. Barida bot ihm immerhin ein viel luxuriöseres Leben, als er es jemals zuvor gehabt hatte.
 

Amemna kniete sich vor ihn auf das Bett, löste Jochawams Hände aus der Verklammerung vor seinem Genital und der verstümmelnden Narbe, und strich mit seinen sanften Händen langsam über Jochawams Bauch, zu seinen Leisten und führte sie dann an seinem wieder erschlafften Glied zusammen. Ein plötzlicher, brennender Schmerz ließ Jochawam aufschreien, ihm wurde schwarz vor Augen, doch ganz plötzlich war der Schmerz vergangen und es war eher das Gefühl höchster Erregung, das ihn erfüllte.
 

"Was hast du getan?" hörte Jochawam seine Gebieterin rufen. Wohin war sie verschwunden gewesen? "Du hast mein Eigentum beschädigt", schimpfte Barida weiter. "Wie kannst du es wagen?"
 

"Dann rreparriere dein Eigentum wiederr. Oderr überrlasse diesen Mann mirr. Warr es nicht dein Plan, mirr eine Nacht wahrrhafterr zweifacherr Errfüllung zu schenken?" konterte eine sachliche Männerstimme. Der Birh-Melack bot der Regentin furchtlos die Stirn.
 

Langsam konnte Jochawam wieder sehen. Amemna kniete noch immer vor ihm auf dem Bett, hatte sich aber zu Barida, die am Fußende saß, umgedreht. Sie sah so zornig aus, wie Jochawam sie selten erlebt hatte. Und als Jochawam sich über die heiße Glut der Lust wunderte, die plötzlich durch seinen Körper floß, als er seine nackte, trotz ihres Alters noch immer recht ansehnliche Gebieterin und den ebenso nackten jugendlichen Zwitter betrachtete, die sich beide in einem deutlichen körperlichen Erregungszustand befanden, senkte er seine Augen zu seinem Schoß und ihm blieb vor Erstaunen die Luft weg. Er war wieder vollständig! Der Gesandte der Göttin hatte ein wahrhaftes Wunder vollbracht und die über zehn Jahre zurückliegende Kastration rückgängig gemacht.
 

"Reparieren, das ich nicht lache! Weißt du wie lange es dauert, bis eine solche Wunde bei einem Sterblichen wieder verheilt ist? Bei den Göttern, er war mein Lieblingseunuch. Mußtest du unbedingt an ihm deine Zauberkräfte zeigen?" Sie schüttelte zornig den Kopf, aber Amemna war blitzschnell bei ihr, kniete nun vor ihr und nahm ihr Gesicht zärtlich in beide Hände.
 

Amemna küßte sie, so daß ihr die Luft wegbleiben mußte, und sie schlug wütend mit ihren Fäusten auf seine Schultern ein. Er griff nach ihren Handgelenken, hielt daran ihre Arme leicht zu den Seiten ausgestreckt, so daß sie ihn nicht mehr erreichte. "Barrida", flüsterte er dann.
 

Barida hielt inne, seufzte leise aber sehr lustvoll. "Irgendwie mußt du das wieder gutmachen", verlangte sie ebenso flüsternd. Und Amemna reagierte sofort auf ihren Seufzer.
 

Jochawams Gebieterin erschauderte in einer Weise, die Jochawam an ihr bisher nur selten erlebt hatte. ...
 

Direkt vor Jochawams Augen vereinigten sie sich, und Jochawam rückte schnell näher heran an den Gesandten der Göttin, schob sich ungeduldig ein Kissen zurecht, um sich darauf knieend mit Amemna vereinigen zu können.
 

... Dann wurde ihm erneut schwarz vor Augen und die Beine sackten einfach unter ihm weg.
 

*
 

Amemna küßte Jochawam, lächelte ihn an. "Ich danke dirr", flüsterte er zärtlich, rollte sich wieder auf den Rücken und schloß die Augen. Amemna lag neben Jochawam, auf der anderen Seite des Gesandten der Göttin lag Barida, die sich auf einen Ellbogen aufstützte, um auch ihren ehemaligen Eunuchen sehen zu können und nun ein siegessicher zu nennendes Lächeln auf den Lippen hatte.
 

"Was ist passiert?" fragte Jochawam mit einem Zittern in der Stimme, das ihn selbst überraschte. Er hatte das Gefühl, alle Kraft habe seine Glieder plötzlich verlassen, wenn es auch auf höchst angenehme Weise geschehen war.
 

"Wir hatten wohl Anteil an Amemnas wahrhafter zweifachen Befriedigung", antwortete Barida.
 

"Den hattet ihrr wohl", bestätigte Amemna matt, aber noch immer lächelnd.
 

Jochawam gelang es, sich auf einen Arm gestützt halb aufzurichten. Sein Blick traf den Baridas, die ihn mit nachdenklich zusammengekniffenen Augen musterte. "Ich überlege noch, was ich nun mit dir mache", sagte sie nicht unfreundlich. Wenn ihr wollt, laßt mich wieder kastrieren, solange ich mich nur noch einmal mit dem Gesandten der Göttin vereinigen darf, dachte Jochawam im Stillen. Seine Kraftlosigkeit wich zunehmend einem sehr aufregenden Prickeln und Amemnas so schöner nackter Leib schrie geradezu danach, berührt zu werden. ...
 

Barida beobachtete Jochawam, aber schien nicht zu wünschen, daß er sein Tun unterließ, also ließ er seine Hand noch tiefer gleiten. "Ihr seid noch gar nicht müde, oder?" flüsterte Jochawam dem Birh-Melack ins Ohr, ... bis sich wieder ein Lächeln auf Amemnas Gesicht zeigte und er die schwarz geschminkten Augen öffnete. Sie waren so grau wie die Wolken eines Sturmhimmels. "Darf ich euch mit meinem Körper noch weiter zu Diensten sein?" fragte Jochawam wieder flüsternd, auch wenn er sicher war, daß Barida ihn verstand. Aber da sie ruhig zusah, war es wohl in ihrem Sinne.
 

"Bist du denn schon wiederr bei Krräften?" fragte der Birh-Melack.
 

"Ja, ich denke schon, Gesandter der Göttin." Auch wenn es ihn selbst überraschte, fühlte er sich tatsächlich bereit, sich ein weiteres Mal mit Amemna zu vereinigen. Und er fügte hinzu: "Ich heiße Jochawam."
 

"Und ich heiße Amemna, Mann aus dem Osten. An welche Arrt von Dienst dachtest du denn, Jochawam?"
 

"An eine weitere Huldigung der Göttin. Nach euren Wünschen in ihrer männlichen oder in ihrer weiblichen Gestalt", antwortete Jochawam leise ...
 

"Gefällt es euch nicht?" fragte Jochawam besorgt und hielt inne.
 

Amemna kraulte mit der Hand durch Jochawams lange Haare. "Doch es kefällt mirr kut, Jochawam. Ich wünschte nurr... mach bitte weiterr", beendete der Birh-Melack seinen Satz überraschend. Und plötzlich sah Jochawam ein Bild vor Augen und er wußte, an welche Art von Vereinigung Amemna dachte. ...
 

Für einen Moment hatte er das Gefühl, seine Ekstase werde aus ihm herausgesaugt und zugleich war Jochawam, als habe er Anteil an etwas Größerem, etwas Kosmischem, wie er es nie zuvor erlebt hatte. Doch diesmal blieb er bei Bewußtsein.
 

Daß er Barida ganz vergessen hatte, wurde Jochawam erst klar, als sie Jochawam ein Tuch reichte, damit er sie reinigen konnte. Jochawam benutzte es jedoch auch dafür, Amemnas Schoß zärtlich zu säubern.
 

Amemna hatte die Augen wieder geschlossen, lag mit einem verträumten Lächeln locker ausgestreckt auf dem Bett und schien das Wirtschaften an und um ihn herum zu ignorieren oder zu genießen. "Das warr wunderrbarr, Jochawam", flüsterte Amemna nach einer Weile.
 

"Das könntest du häufiger haben, Amemna", ließ Barida sich vernehmen.
 

Amemna schlug die Augen auf.
 

"Habe ich nicht etwas verdient für die Wonnen, die ich dir ermöglicht habe, Amemna?" fragte sie berechnend über Jochawam hinweg.
 

Jochawam wünschte sich, sich unsichtbar machen zu können, oder einfach zu verschwinden, aber Barida hatte besitzergreifend ihre Unterarme auf ihn gestützt und sah hinüber zu dem Gesandten der Göttin. Was hatte sie vor?
 

"Das hast du, Barrida", antwortete Amemna etwas matt ohne sie anzusehen.
 

Jochawam merkte, wie sehr es Barida gefiel, in dem Südlerakzent mit ihrem Namen angesprochen zu werden. Das war die erste Schwäche die Jochawam an ihr bemerkte, obwohl sie ihn seit etwa einem halben Jahr regelmäßig in ihr Bett befahl.
 

"Sag mir, Amemna, empfindest du es als eine kleine Schuld mir gegenüber, oder als eine große?"
 

Jochawam versuchte, Amemnas Blick zu erhaschen, um ihn dazu zu bewegen, sich seine Antwort gut zu überlegen, aber Amemna schloß wieder die Augen. "Ich glaube kaum, das es möglich ist, soetwas noch einmal in dieserr Forrm zu errleben", sagte er leise. "Dafürr stehe ich wohl lebenslang in deinerr Schuld, Barrida."
 

Sag soetwas nicht. Sie wird dich lebenslang versklaven dafür, dachte Jochawam, aber natürlich wagte er nicht, es auszusprechen. Und das siegessichere Lächeln in Baridas Gesicht zeigte ihm, daß er wohl richtig vermutet hatte.
 

"Bekenne dich dazu, eine verkleidete Frau zu sein und willige ein, nach dem Kriegszug meinen Sohn zu heiraten", verlangte Barida unumwunden. "Gebäre dem König nur einen Sohn. Wenn es dir beliebt, kannst du danach jede Nacht über mich oder meinen Sklaven verfügen."
 

"Wirrst du Jochawam seine Männlichkeit wiederr nehmen lassen?" fragte Amemna, als sei das seine einzige Sorge.
 

Barida lächelte so verschlagen, daß Jochawam sich wider besseres Wissen einmischte. "Herr, mein Schicksal sollte euch nicht kümmern."
 

"Das sollte es in der Tat nicht", stimmte Barida ihrem Sklaven kalt zu.
 

"Wie soll das alles vonstatten gehen? Wirrd euerr Thrronrrat nicht prrüfen lassen, ob ich tatsächlich eine Frrau bin? Und was ist mit den Männerrn meinerr Wannim?" fragte Amemna jetzt ebenso sachlich, wie Barida ihren Preis für diese Nacht vorgetragen hatte.
 

"Die Prüfung laßt meine Sorge sein. Und was eure Wannim betrifft: entlaßt die Männer oder behaltet sie als eure Diener, wie es euch gefällt."
 

"Und was ist, wenn mirr gefällt, in derr Schlacht vorr Hannai zu fallen?" fragte Amemna.
 

"Das wird nicht geschehen, seid dessen versichert. Ihr werdet zu euren Mawati eine Leibwache aus Tetraos beigestellt bekommen."
 

"Was, wenn ich berreits von einem anderren Mann empfangen habe?" war Amemnas nächste Frage, als suche er nach einem Schlupfloch aus der Falle, in der Barida ihn gefangen hatte.
 

"Es gibt Mittel und Wege, ein solches Kind zu beseitigen, falls sich seine Existenz erweisen sollte. Die Hochzeit mit meinem Sohn wird nicht eher als nach der Regenzeit erfolgen. Und bis dahin werdet ihr als Frau keusch leben."
 

"Was, wenn ich mich als Frrau unfrruchtbarr errweisen sollte?"
 

"Dann werdet ihr das Kind einer anderen als eures ausgeben."
 

"Ihrr habt an alles gedacht, nicht wahrr?"
 

"Ich habe in euch, was ich für meinen Sohn wünsche: eine intelligente und gebildete junge Frau von edler Herkunft und angenehmem Äußeren, die den König akzeptiert, wie er ist. Und die, wenn die Götter gnädig sind, fruchtbar ist und für den Erhalt der königlichen Linie Sorge trägt. Ihr werdet nach mir Regentin von Tetraos werden, bis euer Kind alt genug ist, zu herrschen."
 

"Um den Prreis, den Rrest meines Lebens als Frrau zu leben", ergänzte Amemna bitter. "Wollt ihrr mich dafürr kastrrierren?"
 

Jetzt wirkte Barida doch ein wenig schockiert. "Nicht, wenn es nicht wirklich nötig ist. Ich hatte gehofft, eure Gegenwart noch häufiger genießen zu dürfen."
 

Amemna sah nicht gerade glücklich aus über die Aussicht, in Zukunft der Königin den Liebhaber und ihrem Sohn die Ehefrau zu verkörpern. Er setzte sich auf, leerte einen der Oinos-Becher vom Tisch neben dem Bett in einem Zug. "Ihrr errhaltet meine Antworrt morrgen", sagte er, auch wenn ihm klar sein mußte, daß ihm die Entscheidung bereits abgenommen worden war. Wenn er nicht sein Leben oder das Leben seiner Söldnertruppe riskieren wollte, mußte er Barida wohl gehorchen. Er trank viel zu schnell noch einen zweiten Becher leer, stand auf, wankte langsam hinter den Wandschirm und verschwand schließlich aus Baridas Gemächern.
 

"Und was soll ich nun mit dir machen, ehemaliger Eunuch?" fragte Barida und spielte mit Jochawams langen roten Locken. Jochawam hätte gerne wie Amemna einfach den Raum verlassen. "Wirst du darüber schweigen, daß mein göttergesandter Birh-Malack ein Wunder an dir gewirkt hat? Wirst du weiterhin allen gegenüber den Anschein erwecken, sie hätten es in dir mit einem Eunuchen zu tun?"
 

Sollte es so einfach für ihn sein? Das war gar nicht die Art seiner Gebieterin. Aber vielleicht war sie ja auch nur großzügig, weil sie sich gerade erfolgreich eine Schwiegertocher erpreßt hatte. "Ich werde alles tun, damit niemand auf die Idee kommen kann, ich sei kein Eunuch mehr", versicherte Jochawam ernsthaft.
 

"Ich will dir glauben, Sklave", gab Barida hoheitsvoll zur Antwort. Dann endlich wurde er in seine eigene Kammer entlassen.
 

*
 

Jochawam erkannte, daß es der Göttliche Zwitter war, der ein Stück entfernt mit dem Rücken zu ihm stand, also ging er zu ihm. Amemna schien ihn zu erwarten, drehte den Kopf leicht zur Seite, wie um Jochawam zu signalisieren, daß er ihn kommen hörte und er sich nähern dürfe. Sein weißes, fast bodenlanges Untergewand war offenbar aufgeknöpft, denn der weite Halsausschnitt war über eine Schulter gerutscht. Jochawam sah, wie sich die wohlgeformten Muskeln bewegten, als Amemna mit beiden Händen den Saum seines ungegürteten Gewandes nach oben zog.
 

Jochawam strich mit seiner Hand liebkosend über die weiche, dunkle Haut der Schulter, küßte sie und schaute um den Göttlichen Zwitter herum. Doch was er sah, ließ das Blut in seinen Adern stocken. Das Gewand hielt Amemna auf der Höhe seines Bauchnabels zusammengerafft, doch nur mit einer Hand, in der anderen hielt er jetzt einen Dolch. Für einen Moment streiften Amemnas Lippen Jochawams Wange, dann schob er das Gewand so hoch, daß er es mit dem an den Körper gepreßten Oberarm festhalten konnte, schloß die freie Hand um seine Genitalien und schnitt sie sich selbst mit einer raschen Bewegung des Dolches ab. Jochawam spürte den Schmerz im eigenen Unterleib, fühlte noch einmal das Messer, daß ihm die Hoden abgetrennt hatte, und erwachte schreiend.
 

Schweißgebadet fand er sich in seiner Kammer im Palast von Tetraos wieder, allein, seine Decke heruntergerutscht auf den Boden, die eigene Hand um seine wiedererhaltenen Hoden und sein Glied gelegt. Hier war niemand, der sie ihm erneut nehmen wollte, nicht jetzt zumindest. Doch noch immer spürte er den Schmerz und sein Herz raste vor Panik, so daß sich der Schmerz in seiner Brust mit dem Schmerz in seinen Lenden messen konnte, der doch nur eine Erinnerung an vor langer Zeit Erlittenes war.
 

Aber wieso dieser Traum? Wieso träumte er, daß Amemna sich das nahm, was er Jochawam neu geschenkt hatte? Nein, er hatte sich alles abgeschnitten, als hätte er versucht, sich zu einer Frau zu machen, als hätte er versucht, Baridas Befehl, die Braut des Königs zu werden, wörtlich zu befolgen. "Große Mutter, das kannst du doch nicht zulassen!" flehte Jochawam inbrünstig. Auch wenn er schon seltsamere Dinge von Männern gehört hatte, die während des Rauschfestes, unter dem Einfluß des Oinos, Messer oder Dolche in die Hand bekamen, war Amemna doch ein Gesandter der Göttin und die Große Mutter würde ihn doch daran hindern, sich selbst zu verschneiden.
 

Draußen, vor dem schmalen Fenster, durch das Jochawams Kammer Licht erhielt, dämmerte es gerade erst. Es würde noch eine Weile dauern, bis die Sonne aufging. Noch einmal vergewisserte Jochawam sich, daß er tatsächlich wieder Hoden hatte, befühlte sie, betrachtete sie ihm Dämmerlicht des frühen Morgens und sah in seiner Erinnerung noch einmal das scharfe Messer aufblitzen, erst silbrig, dann rot, bevor ihn die Erkenntnis erreichte, ein Stück seines Körpers durch den Scharfrichter der siegreichen Garam-Berr verloren zu haben. Dann erst kam der Schmerz, die Ohnmacht. Nun aber war ihm nur ein wenig schwindelig, also stand er auf, um aus dem Fenster in die Wirtschaftshöfe des Palastes von Tetraos hinunterzuschauen, die noch kühle Morgenluft einzuatmen. Wann seine Gebieterin wohl zu dem Schluß kam, daß sie mit einem Eunuchen mehr anfangen konnte, als mit einem wieder vollständigen Mann? Vielleicht sollte er den Birh-Melack aufsuchen und ihn bitten, ihm zur Flucht zu verhelfen. Der göttliche Zwitter war Jochawam so überaus dankbar gewesen für die erwiesenen Dienste, als seien sie etwas Besonderes gewesen, als sei Jochawam etwas Besonderes. Es war ein erhebendes und doch zugleich beängstigendes Gefühl, denn seit Jochawam ein Sklave war, hatte es sich selten als vorteilhaft erwiesen, die Aufmerksamkeit eines Mächtigen zu erregen.
 

Ein trotz der vergangenen Nacht noch immer ungewohntes Gefühl durchströmte Jochawam. Wenn er es zuvor noch bezweifelt hätte, nun zeigte sich, daß er tatsächlich wieder ein ganzer Mann war, ein Mann, dessen Lust plötzlich wie Feuer durch seine Adern pulsierte, allein bei dem Gedanken an den jungen Birh-Melack. Plötzlich glaubte er, sogar noch jenen verführerischen Duft des göttlichen Zwitters in seinen Haaren wahrzunehmen. Zehn Jahre lang war er nur nach eingehender körperliche Stimulation zu einer Begattung fähig gewesen, und nun schien plötzlich all jenes Mannsein, daß ihm genommen worden war, stärker und heftiger als jemals zuvor in ihm erwacht zu sein. Er merkte, daß er zitterte vor unerfüllter Lust, also verschaffte er sich mit der eigenen Hand Erleichterung, Amemnas Antlitz vor Augen und seinen Namen auf den Lippen, als er die Göttin erkannte.
 

* * *
 

9. Der Traum

Ramilla kam am Abend in das Mawatizelt, gerade als Oremar und Hamarem sich zum Essen niedergelassen hatten. Hamarem lud sie ein, mitzuessen, aber nachdem sie höflich von allem etwas gekostet hatte, saß sie nur noch dabei und sah vor allem Hamarem beim Essen zu. Nach einer Weile machte es Hamarem sehr nervös, so durchdringend gemustert zu werden, während Oremar vergeblich versuchte, das breite Grinsen in seinem Gesicht hinter seiner Speisenschüssel zu verstecken. "Laß uns hinausgehen", raunte Ramilla Hamarem schließlich zu und Hamarem konnte wieder einmal ihre Erregung riechen. Das weckte auch seine vorübergehend verschwundene Begierde nach ihr wieder.
 

Ganz selbstverständlich ging Ramilla zum Birh-Melack-Zelt, aber Hamarem hielt sie diesmal mit aller Kraft zurück. Er würde die ganze Zeit an Amemna, Nefut und die Geschehnisse des vergangenen Nachmittags denken müssen und das würde das Zusammensein mit Ramilla ernsthaft stören, egal wie groß Ramillas Erregung war. Schon jetzt war seine gerade beginnende Erektion wieder verschwunden.
 

Ramilla rieb sich, über die unsanfte Behandlung sichtlich erstaunt, den Arm, nachdem Hamarem sie losgelassen hatte. Anscheinend ahnte sie, daß irgendetwas im Argen lag. "Was ist geschehen?" fragte sie mitfühlend.
 

Hamarem schüttelte den Kopf, doch dann entschied er sich, Ramilla sein Verhalten zu erklären. "Es hat mit meinem Birh-Melack zu tun", sagte er leise. "Nachdem Nefut den Birh-Melack ausgerechnet mit meinem Dolch angegriffen hatte, mußte ich mich ihm gegenüber rechtfertigen, schließlich fielen viele böse Worte und ich habe meinem Herrn dadurch großen Kummer bereitet. Ich kann das Zelt nicht betreten, ohne daran denken zu müssen." Von der gegenseitigen Erhitzung, die Hamarem zu allem Überfluß bis zu einem gewissen Grade sogar genossen hatte, schwieg er allerdings, denn er fühlte sich ohnehin schon, als ob er nicht nur sich selbst sondern auch Amemna vor Ramilla entblößte.
 

Selbst wenn Ramilla ahnte, daß Hamarem etwas Wesentliches ausließ, war sie doch zu höflich oder, angesichts der in Wellen um sie ziehenden Kräfte vielleicht der möglichen negativen Konsequenzen für ihr Verhältnis zu Hamarem zu sehr gewahr, als das sie nachfragte. "Wo können wir dann hin?" fragte sie nur.
 

"Wir können ins Mawatizelt und eine Decke als Sichtschutz aufhängen", schlug Hamarem vor. Oremar hatte doch ohnehin schon in der Nacht zuvor alles mitbekommen, laut genug hatten sie es in Amemnas Zelt ja getrieben. Und Ramilla nickte zu Hamarems Erleichterung dazu. Oremar war ziemlich verblüfft darüber, daß Hamarem und Ramilla zurückkamen und um Hamarems Lager einen Sichtschutz aufhängten, aber dann tat er, als würde er sie gar nicht mehr sehen und reinigte das Geschirr.
 

Dunkel war es zwischen den Decken, aber die Kräfte um Ramilla leuchteten hell. Sie war sehr erregt, angefangen hatte es schon, als Hamarem die Seile spannte und die Decken darüberlegte, als stimuliere sie der bloße Gedanke daran, hier ein Liebeslager zu bauen. Und natürlich entzündete ihre Lust sogleich auch wieder Hamarems Begehren nach ihr, das er am Nachmittag so einsam befriedigt hatte. Ihre Lust war einfach unwiderstehlich für Hamarem und vielleicht war es sein unirdisches Erbteil, das ihn dazu trieb, sich dieses fremde Begehren zueigen zu machen und zu befriedigen. Er würde Amemna Abbitte leisten müssen, denn dem jungen Mann mußte es mit Nefut doch ebenso ergehen. Es war tatsächlich unmöglich, so heftiges, auf einen selbst gerichtetes Verlangen zu ignorieren, wollte man nicht die Person fliehen, die es verspürte.
 

Doch Ramilla war überraschenderweise in einer sehr zärtlichen Stimmung, küßte und liebkoste Hamarem, als er sie entkleidete, ihre Brüste aus der Umschlingung eines perlenverzierten Brustbandes befreite. Für einen Moment ereilte Hamarem die unerwünschte Erinnerung an die Unterredung, die Erhitzung mit Amemna, die seine Lust nun erstaunlicherweise noch verstärkte, doch Ramillas so betörend duftende Präsenz vertrieb den schattenhaften Amemna von Hamarems Lager und er vereinigte sich mit seiner Geliebten. Sie liebten sich lange. Bewußt verzichtete Hamarem darauf, mit seinen unirdischen Fähigkeiten die Kräfte um Ramilla über ein sanftes Schwingen hinaus zu reizen, bis sie schließlich beide einen sehr befriedigenden Höhepunkt erlebten. Und endlich schliefen sie Arm in Arm ein.
 

*
 

Die große, geflügelte Schlange kroch über den Steinboden der Eingangshalle von Harna. Immer weiter kroch die Schlange, bis zu einer schlanken, weiß gekleideten Person, die Hamarem den Rücken zuwandte. Es schien ein schlanker Jüngling zu sein. Und kaum hatte die Schlange diesen Jüngling erreicht, zog er einen Dolch aus dem Gürtel, griff nach der Schlange und schnitt ihr den Kopf ab. Das sterbende Tier fiel zu Boden, das Blut sprudelte aus seinem Hals, bis die Pfütze den aus Stein und Metall eingelegten Erdkreis bedeckte und die Schlange mit ein paar letzten Zuckungen ihrer blutverschmierten Flügel verendete.
 

Hamarem hatte sich vor Schreck zunächst nicht rühren können, aber nun rannte er zu dem Jüngling, wollte ihn zur Rede stellen, aber der bewegte sich viel schneller als Hamarem selbst, hörte auch nicht auf Hamarems Rufe und verschwand aus der Halle, lief in die Wüste und über die Dünen. Blutige Fußspuren hatte er im Sand hinterlassen, so daß Hamarem ihm leicht folgen konnte und so betrat er schließlich ein Zelt.
 

Es mußte wohl die Zeit der Mittagsruhe sein, denn auf einem Lager aus Kissen lag die schlanke Gestalt, das Gesicht zwischen den langen, schwarzen Haaren und den Decken verborgen, das Untergewand jedoch bis zum Nabel heraufgerutscht, so daß ihr nacktes Hinterteil das erste war, was Hamarems Blick gefangen nahm. Hamarem sank neben dem Lager auf die Knie, um dieses sehr schöne, wohlgeformte, erregende Hinterteil zu betrachten. Die schlafende Gestalt schob das Becken noch weiter heraus, so daß ihm auch noch ein Blick auf eine unbehaarte weibliche Scham zwischen den Oberschenkeln gestattet wurde, die nur einen winzigen Spalt weit geöffnet war.
 

Das konnte wohl nicht der Jüngling sein, dem er gefolgt war, ging Hamarem durch den Kopf, als er andächtig diesen jugendlichen, so verführerisch duftenden Zugang zu Amas Wunder anbetete und nahe daran war, ihn mit seinem Mund zu liebkosen. Da aber bewegte sich die schlafende Frau, drehte sich herum, so daß ihr Bauch zu sehen war. Drei Zeichen in der heiligen Schrift der Hawatpriesterinnen waren mit roter Tinte auf diesen Bauch geschrieben: Ha Wa Ta. Die Tinte glitzerte noch feucht, aber plötzlich wußte Hamarem, daß diese Zeichen mit dem Blut der Schlange geschrieben worden waren.
 

Hamarem betrachtete die halb verhüllten Schönheit, die sich nun aufsetzte, und ihn ansah, aus sehr traurigen hellgrauen Augen. Zuerst dachte Hamarem, sie wäre eine Verwandte Amemnas, doch dann wußte er, es war Amemna selbst, mit schwarzen Haaren und im Körper einer jungen Frau. Jetzt standen sie sich beide nackt gegenüber und Hamarem sah, daß die feuchten Schriftzeichen verliefen und das Schlangenblut zu Amemnas Schoß und dann ihre Beine herunterrann, bis sich eine Pfütze unter ihr bildete. Und da erkannte Hamarem, daß die Schriftzeichen gar nicht aufgemalt, sondern in die Haut geschnitten waren und das Blut, das an Amemna der Frau herablief, folglich ihr eigenes war. "So heile dich doch", verlangte Hamarem, aber Amemna die Frau schüttelte den Kopf.
 

"Ich kann mich nicht heilen, wenn ich nicht ganz bin", erklärte sie. "Du mußt mirr helfen."
 

"Was kann ich denn tun?" fragte Hamarem verzweifelt, sah sich um, wo ihre Untergewänder geblieben waren, denn die hätte man als Verband nehmen können. Aber sie waren nirgends zu sehen.
 

Amemna faßte sanft Hamarems Hände. "Mach mich ganz, Hamarrem. Nurr so kannst du mirr helfen."
 

"Aber wie soll ich dich ganz machen? Soll ich die tote Schlange hierher holen?"
 

Amemna schüttelte stumm den Kopf. "Mach du mich ganz, Hamarrem", sagte sie und sah hinunter auf Hamarems Glied, das schlaff herunter hing, trotz der Erregung, die ihn zunächst bei dem Anblick ihrer nackten Scham ergriffen hatte. Diese Schlange sollte in den nun blutigen Schoß der weiblichen Amemna kriechen?
 

"Ja, du sollst mich nehmen", bestätigte Amemna Hamarems unausgesprochene Frage. "Aberr zuerrst mußt du eine Frrau finden, die meinen Platz hierr einnehmen kann. Schön muß sie sein, klug und gebildet, von edlerr Herrkunft und frruchtbarr, um einem Mann einen Sohn schenken zu können."
 

"Wo soll ich eine solche Frau finden? Ich bin in einem Heerlager unter lauter Männern", begehrte Hamarem auf.
 

"Und du liegst mitten in diesem Heerrlagerr mit einerr Frrau in deinem Arrm auf deinerr Schlafstätte", erinnerte Amemna ihn.
 

Hamarem schrak durch einen Stoß an seine Schulter auf. Die Morgendämmerung hatte noch kaum begonnen.
 

"Was ist mit dir, Hamarem?" fragte Ramilla besorgt. "Du hast meinen Namen gerufen", behauptete sie.
 

"Das habe ich getan?" fragte Hamarem erstaunt.
 

"Ja. Du schliefst so unruhig, daß du mich geweckt hast. Und ich habe deutlich gehört, wie du eben sagtest: 'Nicht Ramilla mein Liebling.' Da habe ich dich geweckt."
 

"Du bist eine schöne Frau, klug und gebildet. Aber bist du auch von edler Herkunft und fruchtbar?" fragte Hamarem, der sich seinen Ausruf nicht anders erklären konnte, als daß er im Schlaf zu dem Schluß gekommen war, Ramilla solle Amemnas Platz einnehmen.
 

Das Dämmerlicht reichte, um Ramillas Erstaunen zu erkennen. "Danke für deine Komplimente. Aber im Gegensatz zu meiner Priesterin bin ich wirklich nicht von edler Herkunft. Ich bin das Kind einer Sklavin aus dem Osten. Meine Priesterin zog mich auf wie eine eigene Tochter, bildete mich aus, schickte mich sogar nach Ma'ouwat in den großen Tempel der Hawat, um dort noch mehr zu lernen. Und was meine Fruchtbarkeit betrifft... das werden wir sehen. Zur Zeit diene ich der Ama nicht, weil ich empfangen könnte."
 

Hamarem ließ die letzten Worte einen Moment auf sich wirken. "Das heißt... es könnte sein... daß du bald... mein Kind trägst?" fragte er mit stockender Stimme.
 

Ramilla strich ihm liebevoll über den Bart. "Ja, es könnte sein, daß ich bald dein Kind trage, Hamarem."
 

"Und", Hamarem schluckte, "deine Priesterin ist von edler Herkunft?" Da sie einen Sohn hatte war sie ohne Zweifel fruchtbar und an Bildung und Verstand stand sie Ramilla in nichts nach, da war Hamarem sicher.
 

Ramilla umarmte Hamarem, küßte ihn federleicht auf die Wange. "Warum bist du so aufgeregt? Ja, sie ist von edler Herkunft. Ihr Vater ist ein Fürst aus Berresh, soweit ich weiß. Ihr Götter, wie dein Herz rast", flüsterte sie Hamarem ins Ohr.
 

Aber es war Panik und nicht Lust, die von Hamarem Besitz ergriffen hatte. Was immer sein ungewöhnlicher Traum von Amemna zu bedeuten hatte, er konnte diesen Hilferuf nicht ignorieren. Dieser Traum war wie ein wahrhaftes Gespräch gewesen, und Hamarem hatte eine große Schuld an Amemna zu begleichen. "Ich muß zu deiner Priesterin, Ramilla", sagte er im Aufspringen und zog sich rasch an.
 

"Sie wird noch schlafen. Warum ist es so eilig?" wollte Ramilla wissen.
 

"Ich hatte einen beängstigenden Traum. Und vielleicht kann deine Priesterin meinem Birh-Melack helfen", versuchte Hamarem zu erklären und zog die Decken beiseite, um das Zelt zu verlassen. "Warte, ich komme mit", rief Ramilla ihm nach, aber Hamarem hatte das Gefühl, daß er sich keinen Augenblick des Verweilens erlaubten durfte. Er eilte durch das Lager zum Schlafzelt der Priesterin und ihres Sohnes und erst dort holte Ramilla ihn mit laut klingelndem Schmuck ein.
 

"Laß mich sie wecken", keuchte sie atemlos. Hamarem nickte stumm und Ramilla verschwand hinter dem Sichtschutz.
 

Hamarem hörte Ramillas Stimme und die der Priesterin. Sie sprachen sehr leise, aber Hamarem hörte, daß die Priesterin von Ramilla eine Erklärung für die frühe Störung verlangte, und Ramilla von einem Notfall sprach. Und er hörte eine der beiden Frauen gähnen. Auch Hamarem pflegte für gewöhnlich nicht, sich so früh vor Sonnenaufgang von seinem Lager zu erheben, aber dies war in der Tat ein Notfall.
 

Ramilla kam wieder hervor und führte Hamarem in das Innere des Zeltes hinein. Die Priesterin saß auf ihrem Lager, hatte nur eine Decke um sich gewickelt. Daneben befand sich das Lager Nefuts, der allerdings noch friedlich schlief und wie das unschuldige Kind wirkte, als das Hamarem ihn vor einigen Tagen kennengelernt hatte.
 

"Was für ein Notfall führt euch her?" fragte die Priesterin mit einer gewissen Schärfe in der jedoch gedämpft gehaltenen Stimme.
 

Hamarem versuchte, sich die Worte aus dem Traum wieder genau in Erinnerung zu rufen, auch wenn ihm dann ebenso Amemnas blutiger weiblicher Schoß wieder vor Augen stand und ihn die Verzweiflung seines Herrn im Frauenkörper erneut erschaudern ließ. "Mir träumte von meinem Herrn, dem Birh-Melack Amemna Darashy, der euren Sohn vor dem Tod rettete und gestern von ihm verletzt wurde. Er sagte mir im Traum: 'Du mußt eine Frau finden, die schön ist, klug und gebildet, von edler Herkunft und fruchtbar, um einem Mann einen Sohn schenken zu können.'"
 

Die Amapriesterin sah zweifelnd zwischen Hamarem und Ramilla hin und her.
 

Ramilla kniete sich neben ihre Priesterin. "Er ist ein Orempriester. Wenn er soetwas träumt, hat das bestimmt etwas zu sagen."
 

"Aber ich verstehe nicht, wieso das ein Notfall sein sollte", widersprach die Amapriesterin.
 

"Ich fürchte, meinem Herrn droht der Tod oder Verstümmelung, wenn ich seinen Wunsch nicht erfülle", sagte Hamarem, versuchte seine Stimme trotz der Dringlichkeit der Botschaft zu dämpfen. Gerade jetzt wollte er um keinen Preis Nefut aufwecken und noch mit ihm konfrontiert werden.
 

"Und was erwartet ihr von mir, Orempriester?" fragte die Priesterin mit forschendem Blick.
 

Hamarem hob schon an, gegen die Bezeichnung als Orempriester zu protestieren, hielt sich dann jedoch zurück. Es würde seiner Sache nicht von Vorteil gereichen, wenn er als gewöhnlicher Mann mit seinem Anliegen vor die Priesterin trat. "Ich denke, ihr solltet mit meinem Herrn sprechen. Zumindest entsprecht ihr wohl allen Kriterien. Was er genau wünscht, weiß ich nicht. Aber ich glaube nicht, daß euch Gefahr droht - anders als meinem Herrn."
 

"Könnt ihr sichergehen, daß mir keine Gefahr droht, wenn ich eurem Wunsch nachkomme und mit eurem Herrn spreche?" fragte die Priesterin. "Immerhin seid ihr ein Orempriester und verfügt damit doch über die Mittel, Vorhersagen zu machen, oder?" Die Priesterin sah aus, als erwarte sie von Hamarem jetzt einen Rückzieher.
 

Hamarem nickte ergeben und zog zwei Blätter des Traumkrauts aus der Manteltasche. Er sah sich um nach etwas, das er zur Versenkung verwenden konnte, aber außer der flackernden Lampenflamme fand sich nichts. Er setzte sich also auf die Teppiche, stellte die Lampe vor sich und begann, die Blätter zu kauen.
 

Bitter das Traumkraut, süß der Geschmack von Honig auf seiner Zunge, Fenchel und Kreuzkümmel: das war Hochzeitsgebäck, das er schmeckte. Und in der Flamme sah er die Priesterin, geschmückt wie eine Braut neben einem noch sehr jungen Mann, der kostbare Gewänder trug. "Meine Vision zeigt eine Hochzeit", sagte Hamarem langsam, "ich kann keine Gefahr für euch feststellen."
 

Die Priesterin zog die Augenbrauen hoch. "Was für eine Hochzeit? Der einzige, von dem ich weiß, daß er bald heiraten soll, ist der junge König von Tetraos. Soll ich den Segen über sein Ehebett sprechen?"
 

Hamarem schüttelte den Kopf. "Es sieht eher so aus, als solltet ihr ihn heiraten."
 

Jetzt schien die Priesterin plötzlich sehr neugierig. "Ich hatte schon beinahe die Ehre, seine Braut kennenzulernen. Wieso sagt ihr, ich solle seine Frau werden? Bei den Tetraosi ist es meines Wissens nicht üblich, mehrere Frauen zu haben."
 

"Ich fürche, das müßt ihr im Gespräch mit meinem Herrn herausfinden", gab Hamarem zurück. "Und ich glaube es wäre ratsam, in einer unauffälligen Verkleidung nach Tetraos zu reiten", auch wenn Hamarem nicht hätte sagen können, worauf diese Überzeugung beruhte.
 

Die Priesterin nickte. "Ich werde mit eurem Birh-Melack sprechen. Er war gestern sehr freundlich zu mir und ich stehe tief in seiner Schuld, da er verhinderte, daß Nefut für seinen Angriff gestern getötet wurde. Was empfehlt ihr mir als unauffällige Verkleidung?"
 

"Männerkleidung", schlug Ramilla vor und im gleichen Moment antwortete Hamarem: "Geht als einer der Mawati zu meinem Herrn."
 

Die Priesterin nickte. "Versuchen wir das. Aber dann müßt ihr euch, so lange ich bei eurem Birh-Melack bin, um Nefut kümmern", verlangte sie von Hamarem. "Und mir natürlich entsprechende Kleidung überlassen, um euren Birh-Melack als ein 'Mawati' zu besuchen."
 

Hamarem nickte, auch wenn es ihn große Überwindung kostete, Nefut wieder im Mawatizelt willkommen zu heißen. Doch wenn der Besuch der Priesterin Amemna rettete sollte es so sein.
 

*
 

Die Sonne stand schon am Himmel, als die Priesterin endlich mit Oremar nach Tetraos aufbrach, gekleidet in die in aller Eile gekürzten Gewänder des toten Doshan. Sein Mantel aus gutem, festen Stoff kaschierte die prächtigen Brüste der Priesterin, und die nach Osheyart geschminkten Augen veränderten ihr Aussehen so stark, daß selbst Ramilla sie kaum wiedererkannte.
 

Nefut war sehr still, als seine verkleidete Mutter mit Oremar zu den Pferchen ging, wich Hamarems Blick schuldbewußt aus, und die Kräfte um ihn wirkten sehr matt.
 

Hamarem faßte sich endlich ein Herz und fragte: "Nefut, warum hast du das getan?" Hamarem mußte die Tat nicht genauer in Worte fassen, Nefut wußte sicher, was er meinte.
 

Nefut starrte auf seine bloßen Füße, scharrte ein wenig in der steinigen Erde mit ihnen. "Ich dachte, ich müßte ihn dem Ungenannten opfern, weil er verhindert hatte, daß ich geopfert werde. Ich wollte..." Nefuts Stimme versagte in einem Schluchzer, aber er fing sich wieder, "... ich wollte verhüten, daß der Zorn des Ungenannten dich oder meine Mutter trifft."
 

Es sah nicht aus, als habe der Junge diese Reihenfolge der Personen aus Berechnung gewählt und es schmerzte Hamarem, das zu hören, denn er war dennoch nicht bereit, dem Jungen seine Tat zu verzeihen.
 

"Du kannst mir nicht verzeihen, nicht wahr?" fragte Nefut mit überraschender Einsicht.
 

Hamarem nickte. "Noch fällt es mir sehr schwer, denn mein Birh-Melack wurde nicht nur durch die Tat sondern auch durch ihre Nachwirkungen sehr verletzt."
 

Nefut nickte verständig wie ein Erwachsener. "Vielleicht kannst du mir später einmal verzeihen."
 

Hamarem sah ihn an, sah den aufgeweckten, klugen Jungen in ihm und zugleich den durchtriebenen Attentäter, der für seine Tat die Zuneigung Hamarems schamlos ausgenutzt hatte. "Ich kann es dir nicht versprechen", gab er zurück.
 

* * *
 

10. Boten

Nefut erwachte mit schmerzenden Schultern. Anscheinend hatte er die ganze Nacht Amemna in seinen Armen gehalten. Sie schlief noch, sah so schön aus wie nie zuvor, als seien die Geschehnisse der Nacht alle durch den Schlaf von ihr abgefallen. Nur der leichte Parfumgeruch an ihr erinnerte noch an den Vorabend, und Nefuts Dolchscheide, die ein Stück von Amemnas Bett entfernt auf dem Boden lag. Jetzt überwog wieder der Duft der Unirdischen und Nefut konnte nicht anders, als ihr Gesäß zu entblößen, mit dem sie sich an ihn geschmiegt hatte. Er streichelte es sanft, sie kippte, leise und höchst erregend schurrend, ihre Hüfte, so daß Nefut mit seiner Hand leicht ihre Vulva erreichen konnte und merkte, daß Amemna schon sehr feucht war. Offenbar tat sie nur so, als ob sie noch schliefe. Nefut küßte sanft Amemnas Nacken, zog während dessen sein eigenes Untergewand beiseite, und schob dann das Knie ihres Beines ein wenig nach oben um in sie einzudringen.
 

Amemnas Schnurren verstärkte sich, sie faßte zärtlich nach Nefuts Hand an ihrem Bein und verschränkte ihre Finger mit seinen. "Ja, nimm mich, Nefut, und dann nehme ich dich", flüsterte sie.
 

Es war so leise, daß Nefut erst dachte, er hätte sie falsch verstanden. Doch dann erreichte die Erkenntnis auch Nefuts Genitalien und seine Lust war plötzlich vergangen. Er ließ von Amemna ab.
 

"Ach Nefut", seufzte Amemna, "ich bin nun einmal nicht nurr eine Frrau", und sie drehte sich zu Nefut um. Ihr edles, weißes Untergewand war nicht zugeknöpft, so daß er in dieser Lage einen guten Blick auf eine ihrer wunderschönen Brüste hatte, deren Brustwarze vor Erregung noch immer fest zusammengezogen war. Und Amemna wirkte ehrlich traurig. "Es tut mirr wirrklich weh, dich so enttäuscht zu sehen, aberr ich möchte mich auch hin und wiederr einmal als Mann fühlen."
 

Nefut fühlte sich, als hätte sie ihm einen Schlag versetzt. Sie wußte doch, daß er in der Liebe seine Probleme mit ihrer männlichen Natur hatte. "Reicht dir die lüsterne Regentin nicht?" fragte er darum gehässig, auch wenn es ihm fast leid tat.
 

Amemnas Gesicht umwölkte sich. "Barrida will mich kastrrierren", sagte sie finster. Das war wohl Amemnas bildhafte Umschreibung für die Unersättlichkeit der Regentin.
 

"Du hattest mir gesagt, daß du mich liebst. Ist das nun plötzlich alles vorbei?" wollte Nefut flüsternd wissen.
 

Amemna strich ihm so zärtlich über den Bart, daß Nefut fast versucht war, sie zu küssen, aber er unterließ es. "Ich habe mich in dein Begehrren verrliebt, glaube ich", sagte sie fast entschuldigend, dann zog sie die Augenbrauen wieder zusammen. "Und seit gesterrn weiß ich nun, daß ich selbst dieses Begehrren in dirr ausgelöst habe, daß es nicht deine willentliche Entscheidung warr, sonderrn mein chelemverrfluchterr unirrdischerr Zauberr, wie du es nennst", aufgebracht hieb sie mit der Faust auf die Matratze.
 

"Aber ich habe mich in dich verliebt, nicht in deinen unirdischen Zauber, fr'tschan", hauchte Nefut in ihr Ohr.
 

Amemna rollte sich weg von Nefut auf den Rücken und schloß die Augen. "Aber du willst nurr eine Hälfte von mirr. Und das ist mirr nicht genug", sagte sie leise aber entschieden.
 

Nefut bekam plötzlich Angst, Amemna ganz zu verlieren, aber er wagte auch nicht zu fragen, ob er Amemna für ihre weibliche Hälfte denn überhaupt genug war. "Laß dich wenigstens von der Regentin nicht so schinden", flüsterte er statt dessen, denn Amemnas Stimmung konnte nur damit zu erklären sein. "Derhan und ich können dir helfen, ihr aus dem Weg zu gehen und den Vertrag dennoch nicht zu verletzen", raunte Nefut. "Eskerta parut'sker", ergänzte er in der Südländersprache, auch wenn es vermutlich schlimm geradebrecht war, verstand Amemna wohl, wovon Nefut sprach: von vertragserfüllendem Vertragsbruch.
 

In dem Moment klopfte es an der Tür. "Eine Nachricht von der Regentin für euch, Birh-Melack", hörte Nefut Derhans Stimme. Nefut sprang aus dem Bett, wickelte seine Haare zu einem Knoten, während Amemna sich eher gemächlich erhob, als wolle sie eine unliebsame Pflicht möglichst lange hinauszögern. "Du könntest zum Kriegsrat gerufen werden", gab er zu bedenken.
 

"Dann wärre die Nachrricht nicht von derr Rregentin", gab Amemna zurück. Sie zog das aufgeknöpfte Untergewand über den Kopf und begann sich zu waschen, mit besonderer Sorgfalt an ihren Genitalien.
 

Nefut merkte, daß Amemnas Duft an ihm haftete, obwohl er sie nur im Arm gehalten hatte. Er sollte sich also auch waschen und zog ebenfalls sein Untergewand aus.
 

Es klopfte wieder an der Tür. "Boten aus dem Heerlager", sagte Derhan knapp.
 

Das immerhin mochte wichtig sein. Nefut zog sein Untergewand unverrichteter Dinge wieder über, zog die Tür nur einen Spaltbreit auf und schlüpfte hinaus.
 

Derhan reichte Nefut mit betont ausdruckslosem Gesicht einen Brief und einige weiße Leinenbinden, die Nefut automatisch entgegen nahm. Die Boten aus dem Heerlager waren Oremar und ein kleiner, plump wirkender Jüngling mit Ma'ouwati-Turban und in Doshans abgeschnittenem Mantel. Konnte es sein, daß Derhan Hamarem bereits von ihrem Plan zur Ablenkung berichtet hatte?
 

"Brring mirr etwas zum Anziehen", befahl Amemna durch die fast geschlossene Tür.
 

Jetzt mußte also auch Oremar über Nefuts besonderes Verhältnis zu Amemna Bescheid wissen, doch wie Derhan verzog er keine Miene. Nefut erinnerte sich selbst daran, daß er sich zu seiner Liebe bekennen wollte, griff nach dem sauberen Untergewand des Birh-Melack, und kehrte in das Zimmer zurück.
 

Amemna zog sich das frische Untergewand an, knöpfte es zu. Erst dann griff sie nach dem Brief der Regentin, erbrach das Siegel und las mit steinerner Miene.
 

"Draußen wartet Oremar", erinnerte Nefut, als Amemna von dem Schreiben aufblickte und nahm seinen Dolch von dem Tisch neben dem Bett.
 

"Nefut, ich muß mich zunächst um meine Kastrration kümmerrn", sagte Amemna ernst.
 

"Ich dachte, das wäre bildlich gesprochen gewesen." Allein der Gedanke zog Nefut das Herz in der Brust zusammen. "War die Regentin gestern nicht zufrieden?"
 

Amemna schüttelte unwillig den Kopf. "Laß mich allein, Nefut." Sie hob die Dolchscheide vom Fußboden auf und warf sie Nefut zu. "Warrte", sagte sie dann plötzlich, "hat Orremarr eine Nachrricht von Hamarrem?"
 

"Das ist anzunehmen. Er ist mit einem Mawati-Jüngling hier."
 

"Schick den Jüngling herrein", befahl Amemna ihrem ehemaligen Zweiten.
 

Bevor er zur Tür ging, neigte Nefut sich zu Amemna und flüsterte ihr zu: "Es könnte sein, daß die Wände hier Ohren haben." Und sie nickte. Ihrem Blick nach hatte sie verstanden, was Nefut damit sagen wollte.
 

Nefut schickte den verkleideten Jüngling zu Amemna, dann ging er in das Zimmer, das die beiden Leibwächter Amemnas sich seit der vorvergangenen Nacht teilten. Er wusch sich endlich, kämmte sich die Haare, stutzte sich den Bart und konzentrierte sich ganz darauf, um nicht über Amemnas merkwürdige Stimmung grübeln zu müssen. Als er in das Vorzimmer zurückkehrte, sah er, daß Oremar und Derhan damit begonnen hatten, sich die Zeit mit einer Partie Bohnenspiel auf dem noch bereitliegenden Spielplan zu vertreiben.
 

Nefut schaute ihnen zu als er die letzten Knöpfe seines eigenen frischen Untergewandes schloß und fragte Derhan beiläufig: "Und was hält Hamarem von unseren Plänen zum Bohnenspiel?"
 

"Was für Pläne?" fragte Oremar viel zu laut.
 

"Ich habe sie Hamarem noch nicht vorgetragen", sagte Derhan, stand rasch auf, nahm seinen Mantel, das Ma'ouwatituch und sein Schwert. "Einen schönen Tag wünsche ich euch", und schon war er durch die Tür in den Gang hinaus.
 

"Der Birh-Melack wird zum Kriegsrat gerufen", kam es von einem vorbeieilenden Diener durch die noch offene Tür.
 

"Das ist ja wie in einem Taubenschlag hier", staunte Oremar beeindruckt.
 

Es war in der Tat viel hektischer, als am vorangegangenen Morgen, als Nefut sich für den Vormittag hatte entschuldigen dürfen. Er kopfte an die Tür zu Amemnas Zimmer. "Der Kriegsrat läßt euch bitten, Birh-Melack."
 

Erstaunlicherweise öffnete sich die Tür fast sofort. "Begleite mich, Nefut", befahl Amemna und schloß die Tür wieder. "Oremar, bleib bitte hier. Wir kommen zurück, wenn die Beratungen abgeschlossen sind."
 

*
 

Der große Raum wurde von einem riesigen Sandtisch bestimmt, um den die Befehlshaber des Heeresaufgebotes der Tetraosi und der Kriegsminister standen, die Nefut schon von der Beratung und der Vertragsunterzeichnung kannte. Er erinnerte sich, als Kind einmal einen ähnlich aufwendigen Sandtisch gesehen zu haben, als sein Vater ihn zu Schlachtplanungen mitgenommen hatte, damit er frühzeitig ein Verständnis für Strategie entwickelte. Nun war sein Platz jedoch nicht am Tisch, sondern nahe der Wand auf einer der Bänke, auf denen die Schreiber und Leibwächter der anderen Anwesenden saßen. Trotzdem blieb Nefut stehen, um wenigstens auf die Entfernung einen Blick auf den Tisch und die darauf aus Sand geformte Landschaft werfen zu können, mit Holzhäuschen, die Dörfer und Städte darstellten.
 

Der Feldherr der Tetraosi wies mit einer Hand aus dem Fenster des Beratungsraumes, auf die großen Wolkenschiffe, die am Himmel schwammen. Anscheinend war die Regenzeit näher, als Nefut angenommen hatte. "Angesichts des Wetterumschwunges, müssen die Feldlager in der Ebene möglichst noch heute abgebaut werden. Der Untergrund der Senke ist den Wolkenbrüchen nicht gewachsen. Die Lager müssen auf sicheren Boden verlegt werden", erklärte der Feldherr.
 

"Am besten wohl schon auf den halben Weg nach Hannai, nicht wahrr?" fragte Amemna und betrachtete den Verlauf einer breiten Straße zwischen den Städten, die wohl Hannai und Tetraos darstellten. "Was sind das fürr Hügel?" fragte sie dann bei einem Gebiet, das nicht ganz in der Mitte zwischen den beiden Städten lag.
 

"Das sind die Grasberge, dieser Boden ist vor dem Monsun sicher", erklärte nun einer der verbündeten Feldherren. "Und dahinter entspricht das Klima auch schon fast dem der maribischen Ebene. In einem halben Tag können wir Tarib erreichen", und er zeigte auf ein einzelnes Häuschen in den Grasbergen, "und dort auf die neu ausgehobenen Truppen warten."
 

"Die neuausgehobenen Truppen werden erst in ein bis zwei Tagen marschbereit sein", ließ sich der Kriegsminister vernehmen.
 

"Also müssen wirr heute nach derr Mittagsrruhe aufbrrechen oder einen Nachtmarrsch in Kauf nehmen", schloß Amemna aus dem Gehörten.
 

"Ein Nachtmarsch ist nicht zu empfehlen. Wir befürchten, daß in den Grasbergen noch Reste der Hannaiim stehen könnten", gab der Feldherr der Tetraosi zu bedenken. "Entsprechende Nachrichten erhielten wir in der Nacht."
 

"Das errschwert also möglicherrweise auch die Zusammenführrung mit den noch auszuhebenden Trruppenteilen", mutmaßte Amemna.
 

Der Feldherr der Tetraosi nickte. "Wir müssen versuchen, den Weg der neu ausgehobenen Truppen zu sichern. Vielleicht..."
 

"Die Regentin befiehlt den Birh-Melack sofort in seine Gemächer", ließ sich ein Diener vernehmen, dem einer der Schreiber die Tür geöffnet hatte.
 

Der Kriegsminister und der Feldherr der Tetraosi sahen nicht gerade glücklich aus, als Amemna sich höflich verneigte und dem Befehl nachkam. Nefut eilte ihr nach, dem Diener hinterher die Gänge entlang bis in die Gemächer, die Amemna und ihre Mawati bewohnten. Bei Oremar warteten zwei Männer und eine alte Frau. Der ältere der beiden Männer sagte: "Ich bin der Leibarzt der Regentin. Sie befahl uns, in einer Angelegenheit hierher zu kommen, von der ihr unterrichtet wurdet." Wurde jetzt also wirklich ernst gemacht mit der Kastration?
 

Aber Amemna war sehr ruhig. "Ja, ich weiß Bescheid. Die betrreffende Perrson warrtet in diesem Rraum", und sie öffnete die Tür zu ihrem eigenen Zimmer. Ob der als Mawati verkleidete Jüngling noch dort wartete? "Falls ihrr noch einen Wunsch habt, findet ihr mich wieder im Kriegsrat", sagte Amemna noch, ließ den Mann und die alte Frau das Zimmer betreten und schloß die Tür dann wieder von außen.
 

"Und was willst du?" fragte Nefut den anderen Mann.
 

"Seid ihr der Birh-Melack?" fragte er Nefut und streckte ihm einen Brief entgegen, umwickelt mit einem grünen Faden.
 

Nefut schüttelte den Kopf und Amemna war schon neben ihm. "Ich bin derr Birrh-Melack. Was ist das fürr ein Brrief?" fragte Amemna ungeduldig. Erklärtermaßen wollte sie ja zurück zum Kriegsrat. Und wenn bereits nach der Mittagsruhe der Aufbruch bevor stand, mußte auch das Heerlager unterrichtet werden.
 

Dr Bote starrte Amemna nur an, anstatt ihr den Brief, den er in der Hand hielt, zu reichen. "Ihr habt eigentümliche Verwandtschaft in Hannai", sagte er dann.
 

"Wovon sprrecht ihrr?" fragte Amemna nun barsch, streckte ihre Hand nach dem Brief aus.
 

"Ihr seht einem Mann ähnlich, den ich in Hannai kenne. Ich weiß nichts über seine Familie, aber dem Aussehen nach muß er ein Verwandter von euch sein, Birh-Melack", beeilte sich der Bote zu erklären und reichte Amemna auch endlich den Brief.
 

Amemna betrachtete Rück- und Vorderseite des Briefes. "Von wem kommt derr?"
 

"Von eurer Gattin, Birh-Melack", antwortete der Bote. Diese Gattin mußte die Tochter von Murhan sein, von der Amemna einmal gesprochen hatte.
 

Amemna nickte, machte aber keine Anstalten, den Brief zu öffnen. "Und von was fürr einem Mann in Hannai sprrecht ihrr?"
 

"Ein Mann von eurer Größe, mit eurem Profil, wohl mehr als doppelt so alt wie ihr. Allerdings ist er kein Oshey, und hat er weder so weiße Haare noch so helle Augen wie ihr, Birh-Melack."
 

"Natürrlich nicht", spottete Amemna.
 

"Und wenn ihr so verächtlich den Mund verzieht möchte ich sagen, ihr seid sein leiblicher Sohn", entgegnete der Bote mutig.
 

"Wie heißt derr Mann?" fragte Amemna mit offensichtlichem Interesse nach.
 

"Hemafas aus Menrish ist der Name, den er benutzt. Er wohnt im Südviertel, nahe des Königspalastes von Hannai. Ein wichtiger Mann, der aber, wie man so sagt, mehr im Verborgenen wirkt. Und es gehen Gerüchte, daß er in seiner Jugend ein Meuchelmörder gewesen sein soll." Was war das für ein Bote, den die Darashyprinzessin sich da ausgesucht hatte, wenn er mit Meuchelmördern auf vertrautem Fuße stand? Aussehen tat er wie ein gewöhnlicher Bauer.
 

"Das klingt wirrklich nach eigentümlicherr Verrwandtschaft", murmelte Amemna. "Warrtet ihrr noch auf Antworrt?" fragte sie dann, weil der Bote sie noch immer anstarrte.
 

Der Mann schüttelte den Kopf, verstand die Entlassung und beeilte sich, den Raum wieder zu verlassen.
 

Amemna sah den Brief eine Weile nur an, befühlte ihn und öffnete ihn schließlich, um ein goldenes Ohrgehänge daraus in ihre Hand zu schütteln. "Merrat", flüsterte Amemna und faltete den Brief auseinander, hielt ihn so, daß Nefut, der noch neben ihr stand, das Schreiben problemlos lesen konnte.
 

"Mein überaus geliebter Amemna,
 

ich war sehr erleichtert zu lesen, daß du der Gefangenschaft der Stammeslosen entkommen bist. Ich sehne mich so sehr nach deinen Berührungen, nach deiner Liebe, und es darf doch nicht sein, daß Amati ohne einen Bruder bleibt, der sie beschützen kann, wenn wir einmal nicht mehr sind.
 

Ich bin dir nachgereist und erreiche wohl zur morgigen Mittagsstunde das Heerlager, in dem sich die ehemaligen Söldner der Hannaiim befinden sollen. Ich teile dir hierdurch auch mit, daß ich nicht gedenke, deinen Scheidebrief zu akzeptieren. Schließlich bin ich keine rechtlose Städterin, die soetwas von ihrem Ehemann hinnehmen müßte. Ich bin ungeduldig, dich wieder in meine Arme zu schließen und mit dir endlich wieder der Göttin zu huldigen. Es war ein sehr einsamer Mond für mich.
 

In Liebe, Merat."
 

Amemna brauchte etwas länger als Nefut, den Brief zu lesen, so daß er Gelegenheit hatte, ihr Mienenspiel zu beobachten. Sie biß die Zähne aufeinander und zog unzufrieden die Augenbrauen zusammen. "Oshey'ha skerr", stieß sie dann sehr leise wie einen Fluch in der Südländersprache aus, Oshey Gesetze.
 

"Sie hat recht", erklärte Nefut ungefragt. "Sie muß den Scheidebrief nicht akzeptieren."
 

Als wurde sie sich erst jetzt seiner Gegenwart bewußt, sah Amemna Nefut an. "Geh ins Heerrlagerr und nimm meine Frrau in Empfang", befahl sie mit unnahbarem Gesichtsausdruck. "Und laß Hamarrem Wanack Perrdinim sagen, daß das Heerr nach derr Mittagsrruhe nach Süden aufbrricht. Derr offizielle Marrschbefehl kommt wohl in Kürrze "
 

"Soll ich deine Frau hierher bringen?" wollte Nefut wissen.
 

Amemna schüttelte den Kopf. "Nein, sag lieberr Derrhan, err soll sein Gepäck abholen und nimm deines gleich mit. Und du gehst mit ihm, Oremarr."
 

Nefut nickte so gehorsam wie Oremar, aber bewegte sich nicht vom Fleck. Wie sollte er Amemna nur nach der Kastration fragen?
 

"Was ist noch?" fragte Amemna ungeduldig.
 

"Hat dieser Arzt", und Nefut zeigte vage in Richtung von Amemnas Zimmer, "irgendetwas mit der Operation zu tun, von der du gesprochen hast?"
 

"Ich hoffe, es wirrd zu keinerr Operration kommen", antwortete sie entschieden. "Und nun muß ich zurrück zum Krriegsrrat." Brief und Ohrgehänge steckte sie in ihren Gürtel und eilte hinaus.
 

Nefut war nicht wohl dabei, Amemna ohne Leibwache zurückzulassen, aber vielleicht konnte er Derhan schnell genug wieder hierher schicken, damit er Amemna notfalls eine Hilfe war. Also suchte Nefut rasch sein Gepäck zusammen und verließ mit Oremar die Gemächer des Birh-Melack. Sie liefen die Treppen hinunter zu den Stallungen und ließen den Palast hinter sich, bevor irgendjemandem einfallen konnte, sie aufzuhalten. Vielleicht war diese Befürchtung unbegründet, aber nicht nur die Wolken der beginnenen Regenzeit schienen sich über dem Palast zusammenzuballen.
 

*
 

Nefut überließ es Oremar, beide Pferde in die Pferche zu führen und lief zum Mawatizelt. Aus dem Zelt war das Lachen von Frauen zu hören. Anscheinend war Merat Darashy bereits eingetroffen.
 

Es saßen fünf unbekannte Oshey, Hamarem, Derhan und ein Junge beim Tee und etwas abseits drei Frauen, die sich anscheinend gerade über das putzige Verhalten eines noch sehr kleinen Kindes freuten, das auf dem Schoß einer der Frauen saß.
 

Hamarem sprang auf, als er Nefut sah, schien sich dann erst wieder der geänderten Rangordnung zu erinnern und kam gemesseneren Schrittes zu ihm. "Was ist los?" fragte er.
 

Konnte Hamarem wirklich einen Anschlag auf Amemna geplant haben? Nefut war nicht in der Lage nachzuvollziehen, wie er überhaupt auf diesen Gedanken gekommen war. "Das Heerlager wird nach Süden verlegt", erklärte Nefut dann. "Nach der Mittagsruhe soll es losgehen. Amemna befiehlt, daß du dem Zweiten der Birh-Mellim Bescheid gibst." Hamarem nickte und zog sich zu seinem Lager zurück. Holte er für den Weg sein Schwert?
 

Nefut gelang es, Derhans Aufmerksamkeit zu erregen. "Derhan, du sollst dein Gepäck aus dem Palast holen. Das Heerlager wird nach der Mittagsruhe abgebrochen", rief Nefut ihm zu und erkannte plötzlich, daß der Junge, der neben Derhan saß, der Sohn der Amapriesterin war. Er war also hier im Zelt, obwohl er versucht hatte, Amemna zu töten. Dann waren Nefuts schlimmste Verdächtigungen gegen Hamarem anscheinend doch richtig gewesen! Und Derhan schien auch nicht unbeteiligt an dem Anschlag auf Amemna, so angelegentlich wie er sich mit dem Jungen unterhalten hatte. Ob es angesichts dessen klug war, Amemna ausgerechnet mit Derhan allein zu lassen? Doch Derhan hatte das Zelt schon verlassen.
 

Der Junge blieb sitzen, bis Hamarem ihm einen Brief in die Hand drückte. Der Attentäter machte also Botendienste für die Mawati. Was war hier los? Wie weit ging diese Verschwörung? Wußte auch Oremar darüber Bescheid? Er war ja derjenige gewesen, der noch bis vor kurzem in Amemna nur die Hülle eines Dämons gesehen hatte und nach Hamarems merkwürdigem Verhalten am vergangenen Vormittag, dem Anschlag und seiner und Derhans Freundlichkeit gegenüber dem jugendlichen Attentäter... "Habt ihr Nachricht von meinem Mann?" fragte plötzlich die jüngste der drei Frauen, die sich Nefut genähert hatte, während er den Jungen beobachtete.
 

Nefut raubte dieser Anblick für einen Moment den Atem. Sie war eine wahrhafte Prinzessin, mit großen, schwarzen Augen, glänzendem hüftlangen Haar und einem Kleid, das ihre wunderbar frauliche Figur in vornehmer Art und Weise zur Geltung brachte. Nefut mußte schlucken, bevor er ein Wort herausbrachte. "Ja, äh, er sagte, ich solle euch in Empfang nehmen. Der Birh-Melack wird hierherkommen, wenn der Kriegsrat beendet ist, denke ich, Herrin."
 

Nach einem betörenden Augenaufschlag fragte die Prinzessin: "Geht es meinem Mann gut?"
 

"Nun, er kämpft gerade, wie wir alle, damit, daß sich die Dinge überschlagen. Ihr hättet zu einem günstigeren Moment hier erscheinen können, Herrin", wagte Nefut zu behaupten.
 

Die Prinzessin lächelte verführerisch. "Welche Funktion habt ihr?"
 

"Ich bin einer der Leibwächter eures Gatten, Herrin", beeilte Nefut sich zu antworten.
 

"Nach dem, was ihr sagtet, müssen wir uns wohl auch wieder abreisebereit machen, nicht wahr?" fragte die Prinzessin mit hörbarem Bedauern in der Stimme.
 

"Nein, das heißt, ja, wir alle müssen nach der Mittagsruhe die Zelte abbrechen, aber ihr könnt selbstverständlich beim Heerlager bleiben, Herrin." Diese tiefschwarzen Augen verwirrten Nefut. War es einfach ihre Art oder zeigte sie ein auffälliges Interesse an dem körperlich größten Leibwächter ihres Mannes? Sie war selbst recht hochgewachsen, also eindeutig Murhans Tochter, und hatte ein so liebliches Gesicht, das es Nefut in jeder Menge magisch angezogen hätte. Ihre unglaublich großen Augen jedoch bannten ihn geradezu. Nefut, das ist die Frau deines Birh-Melack, rief er sich selbst zur Ordnung, die Frau deiner Geliebten. Sie ist für Amemnas andere, für ihre männliche Hälfte zuständig. Kein Wunder, daß Amemna sich fern von ihr als Mann unerfüllt fühlte. Die Prinzessin war bestimmt noch keine zwanzig Jahre alt und das Feuer ihrer Leidenschaft konnte Nefut in ihren Augen erkennen. Wieso nur hatte Amemna ihr einen Scheidebrief geschrieben anstatt sie zu sich zu holen?
 

* * *
 

11. Hochzeitspläne

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

11. Hochzeitspläne (jugendfrei)

Barida erwachte mit einem unbestimmten Gefühl der Unruhe, als hätte sie etwas Wichtiges versäumt. Es stand noch ein Treffen des Kriegsrates in den Morgenstunden an. Die Nachrichten aus den tributpflichtigen Dörfern mußten inzwischen eingetroffen sein, die genauen Zeitplanung für den Feldzug konnte nun endlich gemacht werden. Aber am Anfang war die Anwesenheit der Regentin nicht zwingend erforderlich. Und Ergebnisse würden wohl erst kurz vor der Mittagsruhe zu erwarten sein. Außerdem gab es keinen Grund, warum der König an den Beratungen teilnehmen mußte. Sie würde ihm heute seine Freude mit den Fischen lassen. Natürlich wollte Barida Amemnas Verlobung mit ihrem Sohn vor dem Abrücken des Heeres verkünden, und dafür mußte sie noch, gewissermaßen amtlicherseits, Amemnas Weiblichkeit bestätigen lassen. Das konnte heute oder am nächsten Tag erledigt werden. Sie hatte vor, ihren eigenen Leibarzt und eine ältere Hebamme, die in den Adelsfamilien Tetraos' großes Ansehen genoß, mit der Prüfung zu beauftragen. Die beiden konnte sie jederzeit zu sich bestellen. Und Amemna würde nicht wagen, sein Wort zu brechen, immerhin hing das Leben seiner 579 Söldner davon ab. Ihr Ostlereunuch, nein, ihr ehemaliger Ostlereunuch, mußte vorsichtshalber unter Beobachtung gestellt werden. Wer konnte schon ahnen, welche Energie ein wieder zum Mann gewordener Eunuch entwickelte, um sich aus der Sklaverei zu befreien? Das sollte sie nicht zu lange hinausschieben, aber so früh am Morgen, kaum daß die Dächer des angrenzenden Palastflügels zu erkennen waren, hatte sie auch in dieser Angelegenheit wohl noch nichts versäumt.
 

Barida stand auf, ging an das Fenster und erkannte, warum das Gefühl der Unruhe sie umtrieb. Über den Bergen und auch über der Stadt waren dicke Wolken zu erkennen. Heute schon, spätestens aber morgen würde die Regenzeit beginnen. Vor der Mittagsruhe würde wohl der Abmarschbefehl an die beiden Heerlager hinausgehen, und mit dem Söldnerheer würde auch sein Birh-Melack ziehen, ob es Barida nun gefiel oder nicht. Barida gelang es, die aufkommende Hektik zurückzudrängen. Wenn das Heer ohnehin abzog, hatte sie kein Druckmittel gegen Amemna mehr - außer sie schätzte die Bedeutung, die seine Männlichkeit für ihn hatte, richtig ein. Nichts war bisher verloren, für alles war genug Zeit. Mit neuer Zuversicht setzte sie sich an den Tisch vor dem Fenster und schrieb einen Brief an den Birh-Melack.
 

"Ihr erinnert euch an unser Gespräch gestern Nacht, und eure Zusage. Ich werde in Kürze einen Arzt und eine Hebamme zu euch schicken, die im Auftrag des Thronrates prüfen, ob ihr tatsächlich ein Weib seid. Wollt ihr nicht doch noch Teile eures Körpers verlieren, an denen mir nicht so viel liegt wie am Wohl meines Sohnes, versteckt sie mit Binden, so daß man unter einem Gewand nichts davon ahnt, welcher Art eure Natur ist. Barida."
 

Barida war sicher, Amemna damit zum unbedingten Gehorsam bewegen zu können. Zufrieden befahl sie also ihrer Zwergin, den versiegelten Brief und einige Leinenbinden zum Birh-Melack zu bringen, schickte eine Dienerin, den Arzt und die Hebamme zu ihr zu bestellen und eine andere, den Thronrat einzuberufen, dann ließ sie sich von ihren Zofen bei ihrer Morgentoilette helfen. Bevor sie ganz fertig war, wurden schon der Arzt und die Hebamme zu ihr geführt und Barida beschrieb ihnen ihre Aufgabe. "In den Gemächern des Birh-Melack befindet sich eine Frau, die sich bisher allenthalben in Männergewändern gezeigt hat. Da sie als Gattin meines Sohnes in Betracht gezogen wird, aber aufgrund ihres vorherigen Wirkens Zweifel an ihrer weiblichen Natur aufkommen könnten, sollen diese Zweifel durch eine nach Möglichkeit respektvolle Untersuchung ausgeräumt werden. Ich habe die junge Frau bereits benachrichtigt und sie erwartet euch."
 

"Und wem berichten wir das Untersuchungsergebnis?" wollte der Arzt wissen.
 

"Falls Bedarf besteht, berichtet ihr dem Thronrat, der im kleinen Beratungsraum einberufen wurde", erwiderte Barida. "Haltet euch nach der Prüfung zur Verfügung, bis ihr anderes von mir hört."
 

*
 

Im kleinen Beratungsraum warteten mit den Schreibern schon sechs der sieben Männer des Thronrates, unter anderem der Finanzminister, der Hohepriester Upars und der Bürgermeister der Stadt, als Barida endlich eintraf und sich auf ihren Platz am Kopfende des Tisches setzte. "Majestät", begann der Finanzminister. "Ich soll den Kriegsminister entschuldigen, er ist zur Zeit bei den Beratungen nebenan unabkömmlich."
 

Barida nickte. Auch sie würde sich wohl noch beim Kriegsrat blicken lassen müssen. "Hier geht es um die Verheiratung meines Sohnes. Die aktuellen Kriegsangelegenheiten sind davon nicht direkt betroffen, sie beeinflussen aber die Zeitplanung für die Verlobung und Vermählung unseres Königs."
 

Die Männer nickten zu Baridas Worten, aber konzentrierten sich mehr auf die gebratenen und gebackenen Köstlichkeiten, die als Vormittagsimbiss vor ihnen auf dem Tisch standen. Bisher war die Vermählung des Königs und die damit über kurz oder lang verbundene Ablösung Baridas als Regentin nie ein ernsthaftes Thema des Thronrates gewesen, vermutlich vor allem deshalb, weil es bisher immer gelungen war, keinen Mann in den Thronrat aufzunehmen, der sich durch eine unverheiratete Tochter im heiratsfähigen Alter einen Machtvorteil im Rat hätte verschaffen können. Man hatte die Frage der Verehelichung des Königs bisher mehr oder weniger stillschweigend in Baridas Händen gelassen, also konnte sie den Thronrat nun auch vor vollendete Tatsachen stellen. "Ich bin schon seit geraumer Zeit der Meinung", begann sie mit fester Stimme, "daß mein Sohn bald vermählt werden sollte, denn ich bin inzwischen in einem Alter, da die Verpflichtungen des Regentenamtes schon fast zu schwer auf meinen schmalen Schultern lasten."
 

Es gab murmelnde Laute des Bedauerns und der Zustimmung und der Bürgermeister warf ein: "Allerdings bedarf es zu einer Vermählung einer geeigneten Kandidatin, Majestät."
 

"Richtig", stimmte Barida ihm zu. "Aber wie es den Göttern gefiel, habe ich im Söldnerlager eine junge Frau entdeckt, die meiner Meinung nach eine ideale Kandidatin als Gemahlin meines Sohnes wäre. Ihre Verbundenheit mit dem Söldnerheer macht jedoch eine unziemliche Eile der Verlobung erforderlich, da angesichts der vorzeitig eintretenden Regenzeit wohl mit einem baldigen Abzug des Heeres zu rechnen ist."
 

"Vermutlich noch am heutigen Tage, Majestät", warf nun der Finanzminister ein.
 

"Könnt ihr uns nicht ein bißchen mehr über diese Kandidatin berichten, Majestät?" fragte der Hohepriester nach.
 

Barida nickte. "Natürlich, Eminenz. Ich habe einige Male mit der jungen Frau gesprochen. Ihr Lebenswandel ist untadelig, sie entstammt einem Fürstengeschlecht, ist gebildet und intelligent, und meinem Eindruck nach ist zu erwarten, daß sie in wenigen Jahren auch meinen Platz als Regentin ausfüllen kann. Außerdem wird sie dem König aller Voraussicht nach wenigstens einen Sohn gebären können, so daß die Linie der Könige von Tetraos weitergeführt wird."
 

"Und ist sie hübsch, Majestät?" fragte der Bürgermeister mit gelindem Interesse.
 

"Ja, soweit ich das beurteilen kann", entgegnete Barida steif. Es fehlte noch, daß sich verbreitete, wie Barida Amemnas Schönheit pries. Die abendlichen Einbestellungen konnte sie immer noch zu Unterredungen mit der zukünftigen Braut erklären.
 

"Wir würden sie gerne sehen und befragen, Majestät", sagte der Hohepriester langsam, holte von den anderen Männern am Tisch durch prüfende Blicke Zustimmung ein.
 

"Aber natürlich, Eminenz", beeilte Barida sich, zuzustimmen.
 

"Und falls sie geeignet ist, Majestät, kann natürlich keinesfalls erlaubt werden, daß sie womöglich das Söldnerheer auf dem Heerzug nach Hannai begleitet", ergänzte der Hohepriester noch.
 

Das war Barida nur recht und sie nickte entschieden. Sie hoffte, daß die Söldnereinheit auch ohne Amemnas Führung ihre Aufgabe zufriedenstellend erfüllte, denn sie hatte keinen Zweifel daran, daß ihr göttergesandter Liebhaber jeden von seiner Eignung als Königsgattin überzeugen würde. Dann winkte sie einen Schreiber heran. "Schick einen Diener zu den Gemächern des Birh-Melack und laß sagen, daß der Thronrat die Braut des Königs kennenlernen will."
 

Kurz nachdem der Schreiber den kleinen Beratungsraum verlassen hatte, kam ein Schreiber des Kriegsministers herein. "Majestät", sagte er mit einer Verbeugung vor Barida, "mein Herr weiß, daß auch die hier besprochenen Dinge keinen Aufschub dulden, aber er bittet euch dennoch, für eine kurze Unterredung in den Kriegsrat zu kommen."
 

"Können die Herren mich eine Weile entschuldigen?" fragte Barida also in die Runde.
 

Die Männer nickten und der Hohepriester sagte mit einem angedeuteten, fast frech zu nennenden Lächeln: "Majestät, es ist vielleicht sogar ganz gut, wenn die junge Frau uns zunächst in eurer Abwesenheit Rede und Antwort steht, damit wir feststellen können, ob sie euch wahrhaft ebenbürtig ist." Es klang allerdings eher so, als wolle er nur sicherstellen, daß Barida der Kandidatin nicht ihre Antworten eingab.
 

Nun, da konnte er beruhigt sein. Amemna würde überzeugend für sich selbst sprechen. Und Barida würde den Besuch im Kriegsrat so lange ausdehnen, wie es eben angemessen war, wenn man eigentlich einer anderen Beratung beiwohnen sollte. Sie ging also rasch in den benachbarten großen Beratungsraum, in dem der Feldherr, die Oberbefehlshaber der Verbündeten und der Kriegsminister um den Sandtisch standen. "Mir wurde gesagt, ihr wolltet mich dringend sprechen."
 

Der Feldherr nickte und kam gleich zur Sache. "Majestät, angesichts des Wetterumschwungs sind wir wohl gezwungen, die Heeresteile unabhängig voneinander aufbrechen zu lassen. Die neu ausgehobenen Truppenteile werden erst morgen und übermorgen marschbereit sein, aber die beiden Heerlager in der Ebene müssen in jedem Fall noch heute aufgelöst werden. Wenn der Monsun erst beginnt, werden sie ansonsten unterspült."
 

"Wir werden die Heeresteile wohl nahe Tarib zusammenführen, Majestät", ergänzte der Kriegsminister diese Ausführungen und zeigte auf eine kleine Ortschaft, die zwischen den die Grasberge darstellenden Hügeln an der Handelsstraße nach Hannai lag.
 

"Ist das nicht der Punkt, von wo ihr die Leichte Reiterei und die Letrani vorschicken wolltet, um den Aussichtshügel zu besetzen?" fragte Barida nach.
 

Der Feldherr nickte und der Kriegsminister sagte ehrerbietig: "Ja, Majestät, Tarib ist der schon ursprünglich für unser erstes Nachtlager anvisierte Punkt. Insofern ändert sich also nicht viel, nur steigt natürlich die Verletzlichkeit der neu ausgehobenen Truppenteile, wenn sie nicht von Anbeginn im Schutze des gesamten Heeres marschieren, sondern den Weg zunächst allein nehmen müssen, bei schlechtem Wetter und stets in der Gefahr, daß irgendwo hier in den Grasbergen", und er zeigte vage zwischen Tetraos und Tarib, "doch noch Reste der Hannaiim verborgen liegen."
 

"Können nicht die Reiterei unserer Söldner und der Letrani für ihren Schutz sorgen?" fragte Barida nach.
 

"Das haben wir auch schon überlegt, Majestät", gab der Feldherr zurück, "aber wir konnten diese Angelegenheit noch nicht in jedem Detail besprechen, weil der Birh-Melack der Söldner auf euren Befehl aus den Beratungen gerufen wurde."
 

"Wir hoffen, daß er in Kürze wieder hier erscheint, Majestät", setzte der Kriegsminister drängend hinzu.
 

Scheinbar hatte der Kriegsrat sie also nur Amemnas Abwesenheit wegen zu den Beratungen gerufen. Barida lächelte entschuldigend. "Ich werde selbstverständlich dafür sorgen, daß der Birh-Melack zu euren Beratungen zurückkehrt. Entschuldigt, daß ich euch die Planung so erschwert habe. Wenn es recht ist, werde ich jetzt wieder nach nebenan zum Thronrat gehen, der Birh-Melack steht euch spätestens dann wieder zur Verfügung, wenn die Angelegenheit dort erledigt ist."
 

Die Männer nickten ergeben und Barida ging.
 

*
 

Nachdem Barida sich frisch gemacht hatte, fand sie den Thronrat in ausgesprochen guter Laune vor, sie sah lauter lächelnde Gesichter.
 

"Eine wahrhaft passende Gattin, die ihr für unseren König gefunden habt, Majestät", sagte der Hohepriester des Stadtgottes, kaum das Barida wieder in den Raum trat. Also schien es ja schon beschlossene Sache zu sein.
 

Und ihr Leibarzt nickte Barida von der Bank neben den Schreibern mit einem entspannten Lächeln zu, also war auch die Prüfung erfolgreich verlaufen. Nun konnte nichts mehr schief gehen, dachte Barida erleichtert und kehrte zurück an ihren Platz am Kopf des Tisches. Und endlich sah sie zu der in dem bodenlangen orangenen Gewand und dem bestickten Schleier sehr weiblich wirkenden Person hinüber, die auf der anderen Seite des Tisches stand und anscheinend die Fragen der Männern des Thronrates zur vollen Zufriedenheit beantwortet hatte, während Barida im Kriegsrat gewesen war. Es war eine gute Idee von Amemna gewesen, hier in den Gewändern einer Frau zu erscheinen.
 

Und dann wurde Barida klar, daß diese sanft lächelnde Frau nicht Amemna war, sondern die Amapriesterin aus dem Heerlager der Söldner. Und sie bekam keine Gelegenheit, dagegen zu protestieren, denn von allen Seiten beglückwünschten die Angehörigen des Thronrates nun die Regentin zu ihrer guten Wahl der zukünftigen Königsgattin. Und die Priesterin nickte Barida sehr freundlich zu.
 

Aber Barida konnte den Spieß auch umdrehen. "Was ist mit eurem Sohn?" fragte sie die Priesterin herausfordernd.
 

"Wir hatten uns schon darauf geeinigt, daß er am Hofe eine angemessene Erziehung erhält, Majestät", ließ sich der Finanzminister darauf vernehmen.
 

"Und könnt ihr eure Pflichten als Priesterin der Ama einfach so ablegen?" wollte Barida dann wissen.
 

"Ich habe eine Schülerin, die geradezu darauf brennt, meine Nachfolge anzutreten, Majestät. Sie ist nun bereit dafür und ich bin dafür bereit, das Amt als Priesterin hinter mir zu lassen", antwortete die Priesterin mit ihrer so unverwechselbar hellen, klaren Stimme wahrhaft hoheitsvoll. "Ich würde dem König ein tugendhaftes Weib sein."
 

"Prinzessin, ihr werdet die Gemahlin des Königs", sagte der Hohepriester Upars nachdrücklich. "Da die Regentin euch vorschlug, war die Entscheidung des Thronrates einstimmig, auch wenn ihre Majestät in dem Moment der Abstimmung gerade abwesend war."
 

Zufriedenes Gemurmel erhob sich in der Runde. Das würde Amemna ihr noch büßen, schwor Barida sich.
 

"Also verkünden wir heute Abend die Verlobung Parsan Faretims, König von Tetraos mit Lilain Hiame von Berresh", sagte der Haushofmeister im Aufstehen. "Ich werde mich sofort um die Festvorbereitungen kümmern." Nun, immerhin war sie eine Fürstentochter alten Geschlechts, wenn sie zu Recht ihren Namen trug.
 

Der kleine Beratungsraum leerte sich rasch, und schließlich waren die Priesterin - Lilain Hiame - und Barida allein. "Ihr wißt, daß ich nicht euch ausgewählt hatte, meinen Sohn zu heiraten", sagte Barida geradeheraus.
 

Lilain nickte. "Ja, aber eure Wahl war nicht gut. Euer Sohn braucht keinen Spielkameraden sondern eine Gattin, die später aus euren Händen die Regentschaft übernehmen kann, bis der Sohn des Königs alt genug ist, die Königswürde zu tragen."
 

Es hätten Baridas eigene Worte sein können. "Wieso meint ihr, Amemna wäre meinem Sohn eher ein Spielkamerad als eine Gattin gewesen?"
 

"Amemna ist viel zu jung, um ihr eine solche Verantwortung aufzubürden. Sie kennt ihre eigenen Kräfte nicht, sie versteht noch nicht, was sie von uns Sterblichen unterscheidet. Nun, vielleicht beginnt sie langsam, es zu verstehen. Euer Sohn braucht jedoch einen Menschen an seiner Seite, keine Göttin der Lüste. Und in meinem Sohn kann er außerdem einen Spielkameraden haben."
 

"Aber es war nicht eure eigene Entscheidung, den König zu heiraten, oder?" wollte Barida wissen.
 

Lilain sah hinaus aus dem Fenster. Die Wolken trieben langsam über die Ebene. Bald würde der Regen kommen. "Ich habe letztendlich selbst die Entscheidung getroffen, aber zugleich begleiche ich auch eine Lebensschuld."
 

Barida war sicher, daß sie nicht einmal durch eine peinliche Befragungen ihrer Spione herausfinden würde, wie es Amemna genau gelungen war, die Priesterin dem Thronrat vorzustellen, ohne daß Barida selbst eine Chance gehabt hatte einzuschreiten, bevor es zu spät war. Und sie nahm an, daß Amemna dafür wohl eine Reihe von Schulden eingetrieben hatte. Aber noch war die Göttin der Lüste, wie Lilain Amemna genannt hatte, wohl hier im Palast, jetzt vermutlich wieder im Kriegsrat. Barida musterte Lilain noch einmal. Amemna hätte einen schlechteren Ersatz finden können. "Sorgt dafür, daß eure Besitztümer und euer Sohn hier in den Palast gebracht werden, Priesterin. Bedient euch der Palastdiener und -wachen wie immer ihr es für richtig haltet", gebot Barida.
 

"Nennt mich bitte Lilain, Schwiegermutter", antwortete die ehemalige Priesterin darauf.
 

Barida nickte zur Bestätigung, daß sie verstanden hatte, dann verließ sie den kleinen Beratungsraum, um den Kriegsrat wieder mit ihrer Anwesenheit zu beehren.
 

*
 

Schon als sie die Tür des großen Beratungsraumes öffnete, konnte Barida Amemnas weißhaarigen Schopf zwischen den schwarz- und grauhaarigen Männern, die sich über den Sandtisch beugten, erkennen. Die Männer begrüßten die Regentin und der Kriegsminister erläuterte ihr die geplante Vorgehensweise zur Zusammenführung der Truppenteile bei Tarib. Zunächst sollten die neu ausgehobenen Truppen in einem Bergdorf nahe Tetraos gesammelt werden. Da zu erwarten war, daß diese Sammlung etwa zwei Tage dauern würde, sollte die Leichte Reiterei in den Grasbergen patrouillieren, um etwaig verbliebene Hannaiim zu vertreiben und die Reiterei der Letrani sollte dann in voraussichtlich zwei Tagen für den Schutz der neuen Fußtruppen beim Marsch durch die Grasberge sorgen. Mit diesem Bericht war der Kriegsrat zunächst beendet und der Befehl erging, die Heerlager abzubauen und sich zum Marsch nach Süden zu sammeln. Genauere Anweisungen für den Marsch selbst würde es zur Mittagsstunde im Feldherrenzelt der Tetraosi geben.
 

Barida winkte Amemna zu sich und er blieb so dicht vor ihr stehen, daß sie den Kopf etwas in den Nacken legen mußte, um ihm in seine eisgrauen Augen zu schauen. "Ich habe noch einige Fragen an euch, Birh-Melack, bevor ihr Tetraos verlaßt", sagte sie mit um Festigkeit bemühter Stimme. Er war so bedrohlich groß und anders als bei ihren nächtlichen Treffen trug er nun einen Dolch und ein langes Oshey-Schwert in seinem Gürtel.
 

Aber Amemna nickte und fragte höflich: "Wo wollt ihrr mit mirr sprrechen, Majestät?"
 

Diese tiefe, eher männliche Stimme hätte Barida nie mit der Stimme der Priesterin verwechseln können, jedoch der bloße Anschein und ihre eigenen Erwartungen hatten diese Macht gehabt. "Da ihr nun wohl eure Abreise vorbereitet, gerne in euren Gemächern", antwortet Barida ernüchtert.
 

Amemna willigte ein und ging mit langen Schritten durch die Gänge, so daß Barida Probleme hatte, ihm zu folgen.
 

Die Gemächer, die dem Söldnerführer zur Verfügung gestellt worden war, sahen aus, als seien ihre Bewohner schon ausgezogen, aber in einem Zimmer lagen doch noch Kleidungsstücke auf einen Stuhl, ein paar lederner Satteltaschen daneben, und der Helm des Birh-Melack, mit gelbem Federbusch, umwickelt mit einem bunten Turban, stand auf einem Tisch in der Nähe. Keiner hatte sich darum gekümmert, das Bett in diesem Zimmer zu machen und auf dem Kissen waren deutlich die Abdrücke von zwei Köpfen zu erkennen.
 

Amemna sah Barida erwartungsvoll an. "Was wollt ihrr mit mirr besprrechen?"
 

Die Tür des Zimmers und die des Vorzimmers zum Gang stand noch auf. Barida schloß die Zimmertür und lehnte sich von innen dagegen. "Ihr habt euer Wort nicht gehalten und ihr habt euch meinem Befehl widersetzt, womit ihr wiederum den Vertrag verletzt habt, Birh-Melack", erklärte Barida langsam.
 

"Ihrr sagtet, ihrr wünscht fürr eurren Sohn eine intelligente, gebildete Frrau edlerr Herrkunft, zudem hübsch und frruchtbarr, die dem König rrespektvoll begegnet und irrgendwann eurre Nachfolge antrritt, Majestät. Genau eine solche Frrau wirrd err bekommen", Amemna verschränkte seine Arme vor der Brust. "Ich wärre eurrem Sohn keine Frrau gewesen." Das klang sehr entschieden.
 

"Ich könnte euch noch immer kastrieren lassen", erinnerte Barida ihn.
 

"Ihrr könntet mirr Schmerrzen berreiten, Majestät", berichtigte Amemna sie. "Denkt nicht, daß mirr an mirr selbst nicht gelingt, was mirr an eurrem Sklaven gelang."
 

Barida sah ein, daß er damit wohl recht hatte. Ihr Blick fiel wieder auf die nebeneinanderliegenden Mulden im Kopfkissen. Die Berichte ihrer Spione schwiegen dummerweise zum Liebesleben ihres Söldnerführers. "Mit wem habt ihr euer Bett hier geteilt?" fragte sie also geradeheraus, zeigte auf das Kopfkissen. "Mit einem eurer Leibwächter? Mit einem Mann, der euch als Frau nimmt?" Sie hatte ins Blaue hinein Vermutungen angestellt, aber als Amemnas Augen sich leicht verengten wußte sie, daß sie ins Schwarze getroffen hatte. "Ein Mann, der euch ausschließlich als Frau nimmt, nicht wahr?"
 

Amemna wich ihrem Blick aus.
 

"Ihm seid ihr also eine Frau. Warum wolltet ihr das nicht für meinen Sohn sein?" Aber Barida erwartete keine Antwort. Der Grund für solch irrationales Verhalten hieß zumeist 'Liebe'. Barida erinnerte sich mit Wehmut daran, wie leidenschaftlich Amemna als Mann gewesen war, wie sehr er offenbar genossen hatte, sowohl als Mann als auch als Frau zu lieben, und gleichzeitig fühlte sie soetwas wie Mitleid mit ihm, da er zumindest seinem Osheygefährten nie ein Mann sein durfte. Und dann hatte Barida eine Idee, was sie mit ihrem für sich selbst unbrauchbar gewordenen ehemaligen Eunuchen machen konnte. "Ich werde euch noch ein Abschiedsgeschenk schicken, Birh-Melack", sagte Barida zärtlich, als die Erinnerung an die beiden Nächte mit Amemna das Feuer der Erregung noch einmal in ihr glühen ließ und sie angenehm wärmte. Vielleicht trug sie sogar ein Andenken an Amemna in ihrem Leib, denn die rechte Zeit wäre es gewesen, als er sie mit seiner jugendlichen und sehr männlichen Kraft genommen hatte.
 

Barida drehte sich um, wollte die Tür öffnen, aber Amemna war plötzlich so dicht bei ihr, stützte die Arme rechts und links neben Barida gegen die Tür. "Errlaube mirr, dirr ebenfalls ein Abschiedsgeschenk zu machen, Barrida", hauchte er in ihr Ohr und Barida erschauderte vor plötzlich aufwallender Lust. Bevor sie wußte, wie ihr geschah, hatte er sie gepackt, auf einen freien Stuhl gesetzt und schob nun ihr Gewand nach oben, bis er ihre Scham enthüllt hatte. Erwartungsvoll spreizte Barida die Beine, soweit das in einem Stuhl mit Armlehnen möglich war und Amemna kniete sich vor sie.
 

Er drückte sanfte Küsse auf ihre Oberschenkel, ...
 

Amemna sah erneut zu ihr hinauf. "Behalte mich nicht in schlechterr Erinnerrung, Barrida", sagte er zwischen heftig gewordenen Atemzügen leise keuchend, ... Barida zitterte unkontrollierbar, hielt sich an den Lehnen des Stuhles fest und nahm nur am Rande wahr, daß Amemna ihre Beine losließ. Sie schloß die Augen und ließ sich endlich fallen.
 

Einen Augenblick später stellte Barida fest, daß sie allein in einem leeren Zimmer saß. Ihr Kleid war wieder über ihre Beine nach unten gerutscht. Was immer Amemna mit ihr gemacht hatte, es schien nicht von dieser Welt gewesen zu sein. Und erstmals verstand sie wirklich, was es bedeutete, von der Göttin berührt worden zu sein.
 

* * *
 

12. Briefe

Merat umfaßte das Hawat-Amulett vor ihrer Brust, streichelte mit den Fingerkuppen über das Relief der Flügel. 'Hawat, beschütz' ihn', erflehte sie stumm für ihren Mann und hoffte, daß es noch nicht zu spät war. Nun übernachteten sie die dritte Nacht am Rande der Handelsstraße zwischen Hannai und Tetraos, diesmal erstmals in der Nähe eines Dorfes. Am vergangenen Tag hatten sie auf der Straße von den Söldnern der Hannaiim erzählen gehört, die nach der ersten schweren Schlacht gegen die Tetraosi von ihrem Feldherrn verlassen worden waren und deswegen noch immer vor Tetraos lagen. Viele Tote hätten die Hannaiim verbrennen müssen und fast alle davon seien Söldner gewesen. Und heute hatten sie auf dem Markt, auf dem sie ihre Vorräte ergänzt hatten, erfahren, daß die Tetraosi die Reste dieser Söldnertruppe, die zunächst auf Seiten der Hannaiim gekämpft hatte, nun in ihren Dienst genommen hatten. Merat steckte das Amulett wieder zwischen ihre Brüste und zog den Brief ihres Mannes aus ihrem Brustband, den sie vor dreiundzwanzig Tagen erhalten hatte. "Geliebte Merat", stand dort, "ich wurde von Stammeslosen auf dem Weg nach Hannai gefangen genommen. Sie fordern ein Lösegeld von einhundert Tar für meine Freilassung. Ich vermisse dich, Amemna."
 

Natürlich hatte Merats leiblicher Vater, der zugleich Amemnas Ziehvater war, verboten, daß Merat das Lösegeld zahlte. Er hatte Amemna dafür verflucht, daß er nicht bei seiner Schmiede, bei seiner Frau und seiner Tochter geblieben, sondern heimlich nach Hannai aufgebrochen war, um dort nach seinen leiblichen Eltern zu suchen. Wer so unvernünftig war, sich allein auf eine solche Reise zu begeben, mußte sich nicht wundern, wenn er Räubern in die Hände fiel, war Murhans abschließende Bemerkung zu diesem Thema gewesen. "Oh ihr Götter, warum mußtet ihr gerade mich mit so ungehorsamen Söhnen strafen?" hatte er noch geseufzt, als Merat schon aufgestanden war, um das Zelt ihres Vaters zu verlassen. Merat hatte schon als Kind in Ma'ouwat gewußt, daß ihre Mutter nicht Murhans erste Frau gewesen und früh gestorben war. Aber nie zuvor hatte sie gehört, daß Murhan, abgesehen von seinem Ziehsohn Amemna, einen oder mehrere leibliche Söhne gehabt hatte, denn seine Südländerfrau hatte ihm zwei Töchter geboren. Also war Merat zu ihrer Tante, der Schwester ihrer leiblichen Mutter gegangen, die sich über ihre Nichte und deren Kind freute wie über eine eigene Tochter und ein eigenes Enkelkind, und Merat hatte sie gefragt, welche Söhne Murhan außer Amemna gehabt hatte.
 

Ihre Tante hatte darauf begonnen, zu weinen. Merat hatte versucht, sie zu trösten, doch es dauerte lange, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Und endlich sagte sie: "Du sollst erfahren, wie deine Mutter gestorben ist und wieso Murhan die Zelte wieder verließ und nach Ma'ouwat zog. Du weißt, daß Murhan als Söldner diente bei den Städtern", und Merat nickte. "Doch nach vielen Jahren kehrte er mit seinem halb erwachsenen Erstgeborenen, seinem Sohn Nefut, zurück und heiratete meine Schwester. Sie waren sehr glücklich, es war das erste Mal, daß ich Murhan nach dem Tode seiner ersten Frau so glücklich gesehen hatte und sie bekamen eine Tochter, eine kleine Merat." Merats Tante lächelte in Erinnerung, streichelte ihrer kleinen Großnichte auf ihrem Schoß die schwarzen Locken und küßte sie auf die so weichen Wangen. "Du warst ein so wunderschönes Kind wie deine eigene Tochter, Merat. Sie sieht dir sehr ähnlich, bis auf die Augenfarbe." Amati, die Tochter von Amemna und Merat, hatte bunt gescheckte Augen, fast wie eine Wildkatze, als habe sich das Schwarz der Augen ihrer Mutter und das Grau der Augen ihres Vaters nicht recht gemischt. Tupfer von grau und schwarz, dunkelbraun und hellbraun, das fast wie Gold aussah, hatten sich in Amatis noch vor kurzem ganz gewöhnlich babygrauen, aber von Anfang an wunderschön großen Augen gebildet.
 

"Und wie starb meiner Mutter?" fragte Merat nach, die bis dahin nur gewußt hatte, daß ihr Vater mit seiner kleinen Tochter nach dem frühen Tod seiner zweiten Frau nach Ma'ouwat gezogen war, doch nie mehr erfahren hatte.
 

Wieder liefen die Tränen aus den Augen von Merats Tante. "Meine Schwester wurde als Ehebrecherin verurteilt. Murhans Erstgeborener hat sie im Bad verführt, an dem Tag, als sie sich dort nach ihrer Wöchnerinnenzeit reinigte. Und Murhan selbst hat beide gerichtet, sie ausgepeitscht, bis seine Frau tot war und sein Sohn halbtot. Er verstieß Nefut aus dem Stamm und sprach nie wieder von ihm. Und nun hat sich sein zweiter Sohn von ihm abgewendet, hat Murhan nicht gehorcht sondern seinen eigenen Kopf durchgesetzt, als er sich aufmachte nach Hannai. Murhan muß das Gefühl haben, die Götter hätten ihn verflucht, da sie ihm drei Frauen und zwei Söhne genommen haben."
 

Der Tod ihrer eigenen Mutter war seltsam weit weg, berührte Merat weniger als die Ermordung von Murhans dritter Frau, in deren Obhut sie aufgewachsen war, deren Tod durch die Hand der aufständischen Ma'ouwati vor zwei Jahren sie hatte miterleben müssen. Und trotzdem spürte sie Zorn gegen jenen unbekannten Bruder, der ihr die Mutter genommen hatte. In dem Moment schwor sie sich, den Tod ihrer Mutter zu rächen, sollte sie jemals die Gelegenheit dazu bekommen. Und ebenso war sie auf ihren Vater zornig gewesen, der sich weigerte, ihren Ehemann aus der Gefangenschaft auszulösen. Sie verstand Amemnas Beweggründe, nach seinen leiblichen Eltern zu suchen, sehr gut. Er wollte wissen, warum er so anders war, zugleich Mann und Frau, und Merat hatte ihm zugeredet, der Spur, die nach Hannai zu führen schien, zu folgen. Doch Amemna war gegen Merats Rat ohne Murhans Erlaubnis aufgebrochen und nach der Gefangennahme wußten allein die Götter, ob sie ihren Mann, ob Amati ihren Vater jemals wiedersehen würde.
 

Wie erleichtert war sie gewesen, als sie den zweiten Brief aus Amemnas Feder erhielt, vor nunmehr sechs Tagen. Aus Nemis hatte er ihr geschrieben, in der Schrift und Sprache der Südländer, die er viel besser beherrschte, als die der Oshey, doch das, was er ihr geschrieben hatte, hatte sie fast zur Verzweiflung gebracht. Es war ein Scheidebrief gewesen. Er hatte sie aus ihrem Ehegelöbnisentlassen, da er nicht wisse, wann jener Kriegszug nach Tetraos, dem er sich als Wanack habe anschließen müssen, zuende sei. Wütend hatte sie den Brief zerrissen und ins Feuer geworfen. Sie war wahrhaft zornig auf Amemna gewesen. "Er kann mich nicht einfach ablegen, wie einen alten Mantel!" hatte sie geschrien, und ihre kleine Tochter hatte erschrocken vom Schoß ihrer Amme zu ihr gesehen, da sie einen solchen Ausbruch von ihrer Mutter nicht gewohnt war. "Ich werde ihm sagen, daß ich diesen Scheidebrief nicht annehme! Ich werde ihm nachreisen!" Durch ihr Geschrei hatte sie es tatsächlich geschafft, die kleine Amati zum Weinen zu bringen, und Tabit mußte mit ihr hinausgehen, weil Merat so aufgebracht war und nicht zur Ruhe kommen konnte. Nun lebte ihr Mann also noch, war nicht von den Banditen getötet worden, obwohl sie kein Lösegeld erhalten hatten, und Amemna hatte nichts Eiligeres zu tun, als sich von Merat zu scheiden. Als er aufbrach nach Hannai hatte er ihr noch unverbrüchliche Liebe geschworen, ihr als Liebespfand sein Hawatamulett überlassen, das er seit seiner Kindheit getragen hatte, und nun das. Allein durch die Erinnerung kochte ihr Zorn wieder hoch.
 

Merat hatte sich nicht damit aufgehalten, ihren Vater um Erlaubnis zu fragen, sie suchte direkt beim Fürsten um eine Audienz nach, erhielt sie überraschenderweise sofort und kniete sich vor ihrem Großonkel auf die dicken Teppiche seines Zeltes.
 

"Merat, Balsam meiner alten Augen, was wünscht du?" hatte der Fürst freundlich gefragt.
 

"Mein Mann hat mir einen Scheidebrief geschickt, den ich nicht akzeptieren will", hatte Merat erklärt.
 

"Womit hat er seinen Entschluß begründet?" hatte der Fürst wissen wollen.
 

"Mit dem Hinweis darauf, daß er als Söldner der Hannaiim dienen müsse und nicht wisse, wann der Kriegszug beendet sei. Ich will ihm nachreisen und an seine Pflichten mir gegenüber erinnern", hatte sie zornig geantwortet.
 

Der Fürst hatte milde gelächelt. "Ja, ich merke, in dir brodelt die Leidenschaft der Jugend, Merat, du brauchst deinen Mann. Dann reise Amemna mit meinem Segen hinterher und sag ihm, daß du die Scheidung nicht akzeptierst. Aber du nimmst fünf von meinen Wachen mit dir." Gegen den Beschluß des Fürsten konnte selbst Murhan nichts einwenden, also hatte auch er seiner Tochter seinen Segen gegeben. Und früh am nächsten Morgen war Merat aufgebrochen, in für eine Prinzessin angemessener Weise mit ihrer Tochter und deren Amme Tabit, ihrer eigenen Dienerin Losat und fünf fürstlichen Wachen auf nach Tetraos. Das war nun fünf Tage her, die Reise in der Kamelsänfte war unbequem gewesen, aber dafür hatten sie nun schon fast die Ebene vor Tetraos erreicht.
 

Merat faltete Amemnas Brief aus seiner Gefangenschaft bei den Stammeslosen wieder zusammen, steckte ihn zurück in ihr Brustband und betrachtete die schlafende Amati in ihrer Wiege. Hoffentlich lebte Amemna überhaupt noch. Erst morgen zur Mittagszeit würde sie Genaueres wissen, dann hätten sie das Heerlager der ehemaligen Söldner der Hannaiim erreicht. Und Merat zog sich den niedrigen Tisch heran, legte sich den am Tage gekauften Papyrus, Tinte und Feder zurecht und schrieb einen Brief an ihren vielleicht schon längst getöteten Mann.
 

"Mein überaus geliebter Amemna,
 

ich war sehr erleichtert zu lesen, daß du der Gefangenschaft der Stammeslosen entkommen bist. Ich sehne mich so sehr nach deinen Berührungen, nach deiner Liebe, und es darf doch nicht sein, daß Amati ohne einen Bruder bleibt, der sie beschützen kann, wenn wir einmal nicht mehr sind.
 

Ich bin dir nachgereist und erreiche wohl zur morgigen Mittagsstunde das Heerlager, in dem sich die ehemaligen Söldner der Hannaiim befinden sollen. Ich teile dir hierdurch auch mit, daß ich nicht gedenke, deinen Scheidebrief zu akzeptieren. Schließlich bin ich keine rechtlose Städterin, die soetwas von ihrem Ehemann hinnehmen müßte. Ich bin ungeduldig, dich wieder in meine Arme zu schließen und mit dir endlich wieder der Göttin zu huldigen. Es war ein sehr einsamer Mond für mich.
 

In Liebe, Merat."
 

Sie faltete den Papyrus zusammen, legte eines der filigranen Ohrgehänge, die Amemna ihr zur Geburt Amatis gemacht hatte, in den Brief hinein, band einen Faden kreuzweise um das Schreiben und versiegelte den Brief mit ein paar Tropfen Wachs, auf die sie ihren Daumen preßte. "An den Wanack Amemna Darashy", schrieb sie daneben.
 

"Patris!" rief sie dann aus ihrem Zelt und der Anführer der fürstlichen Wächter, die sie begleiteten, kam zu ihr.
 

"Was wünscht ihr, Herrin?" fragte er mit einer leichten Verbeugung.
 

"Bitte sucht im Dorf einen Boten, der diesen Brief bis morgen früh in das ehemalige Heerlager der Hannaiim bringt. Bezahlt ihn gut", befahl Merat und reichte dem Wächter den Brief.
 

Der Mann nahm ihn entgegen. "Ich erledige es sofort, Herrin", versprach er und zog sich zurück. Und Merat legte sich schlafen.
 

*
 

Als die Sonne die fernen Berge, an deren Fuß Tetraos lag, endlich erreichte, hatte Merat nach einer unruhigen Nacht schon wieder Platz in ihrer Sänfte genommen, und die Durchschüttelei über die Handelsstraße ging weiter. Amati hatte mit ihrer Amme eine eigene Sänfte, und sie schien das Geschaukel auf dem Kamel zu genießen, wenn sie nicht selig schlief, war sie auf der Reise stets guter Laune gewesen. Doch Merat wurde immer nervöser, je näher sie der Ebene vor Tetraos kamen, je weiter sie sich der möglichen Nachricht von Amemnas Tod näherten. Sie wußte, wie stark ihr Mann war, wußte ebenso, daß er ein guter Schwertkämpfer war, doch der Krieg war immerhin etwas ganz anderes als Übungen mit Murhan. Einen unerfreulichen Einblick hatte sie während des hautnah miterlebten Bürgerkrieges in Ma'ouwat erhalten. Und wer wußte, ob Amemna die Schlangenklinge Murhans noch sein eigen nannte? Vielleicht war er aus der Gefangenschaft der Stammeslosen geflohen, mit nichts als der Kleidung am Leibe und hatte sich im Kampf mit einem schlechteren Schwert verteidigen müssen.
 

"Herrin, man kann das Heerlager schon sehen", rief Patris plötzlich.
 

Merat schob den Vorhang beiseite. Tatsächlich, da war eine wie auf einem Spielplan aufgestellte Ansammlung von bunten Zelten, umgeben von einem Erdwall und einem hölzernen Zaun in der großen Senke vor ihnen, ein ganz anderer Anblick, als ihn die gewöhnlich in Kreisen umeinander angeordneten einheitlich braunen Zelte eines Stammes bildeten. Dahinter erstreckte sich eine graugrüne Ebene bis zu den Bergen. Sie würden nicht einmal bis zur Mittagsstunde brauchen, dieses Heerlager zu erreichen. Noch etwa zwanzig Pferdelängen bis zu seinem Eingang, vielleicht bis zu der Nachricht, daß auch Amemna zu den vielen Toten der Schlacht gehört hatte. Merat spürte, wie ihr das Herz bis in den Hals klopfte und hatte das Gefühl, daß ihr die Luft wegblieb. Mit großer Anstrengung konzentrierte sie sich darauf, weiter zu atmen, bis ihre Kehle sich nicht mehr wie zugeschnürt anfühlte und die Panik nachließ. Wenn Amemna tatsächlich tot war, würde sie Zeit genug haben darüber nachzudenken, was weiter geschehen sollte.
 

Wieder schob sie den Vorhang beiseite, sah die Zelte des Heerlagers schon viel dichter, erkannte Tierpferche, sogar einzelne Osheyzelte in dem Heerlager. In einem von denen würde Amemna doch wohl sein. Er durfte einfach nicht tot sein. Wer sollte sie denn trösten, falls sie erfuhr, daß sie Witwe geworden war? Sie flehte alle guten Götter an, daß es Amemna gut gehen möge, daß er sie bereits ungeduldig erwartete, nachdem er ihren Brief ja bereits am Morgen erhalten haben mußte. Vielleicht eilte er ihr auch gerade entgegen, weil er ihre Kamelsänfte am Horizont gesehen hatte. Er mußte doch wissen, daß nur sie es sein konnte, denn welche Städterin würde wohl auf diese Weise reisen? Noch ein Blick auf die Ebene. Dort waren tatsächlich Reiter unterwegs, zwischen dem Heerlager und der großen Stadt am fernen Ende der Ebene, die aus dem Stein des Gebirges gehauen zu sein schien. Und große, bedrohlich wirkende Wolkengebirge hingen darüber im Himmel.
 

Ihnen kam niemand entgegen. Die ersten Menschen, die sie trafen, waren die zwei Wächter am Eingang des Heerlagers. Merat hielt den Vorhang nur einen winzigen Spalt geöffnet und überließ Patris das Reden. "Wir sind auf der Suche nach dem Wanack Amemna Darashy", sagte der fürstliche Wächer.
 

Die zwei Mann starke Lagerwache musterte mit unverholener Herablassung die beiden Kamelsänften, das Lastenkamel mit ihren Zelten und dem Gepäck, die fünf Männer und die Frau auf ihren Pferden. "Fragt im Zelt des Zweiten der Birh-Mellim, wo dieser Wanack sich aufhält, Oshey."
 

Doch als Patris den Eingang passiert hatte, die anderen ihm folgen wollten, kreuzten die Wachen ihre Speere. "Ihr geht allein. Wenn der Zweite der Birh-Mellim einverstanden ist, könnt ihr die anderen nachholen."
 

Patris blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. "Ich bin so schnell wie möglich zurück, Herrin", sagte er zu Merat hinauf, dann eilte er den Weg zwischen den Zelten entlang, den die Lagerwache ihm gewiesen hatte.
 

Die anderen fürstlichen Wächter saßen ab, halfen auch Losat vom Pferd. Die Kamele durften sich niederlassen, aber Merat hielt den Vorhang der Sänfte geschlossen, ebenso wie die Amme, in deren Armen Amati vermutlich schlief, denn Merat konnte nichts von dem gewöhnlich lauten Schmatzen und Schnaufen ihrer Tochter hören, wenn sie gestillt wurde.
 

"Wünscht ihr irgend etwas, Herrin?" fragte Merats Dienerin vor der Sänfte leise.
 

"Nein, Losat", antwortete Merat ebenso leise. Immerhin hatte die Lagerwache nicht gesagt, daß der Wanack Amemna Darashy längst tot und verbrannt war. Nach einer Ewigkeit, die den anderen fürstlichen Wachen jedoch gerade genügt hatte, ein paar Schluck aus ihren Wasserschläuchen zu trinken, kam Patris zurück, zusammen mit einem vornehm aussehenden Städter, vor dem sich die Lagerwachen sofort verbeugten.
 

"Laßt die Oshey passieren", verlangte der Mann mit einer befehlsgewohnten kurzen Handbewegung und die Lagerwachen machten tatsächlich den Weg frei.
 

Der Städter verbeugte sich vor Merats Sänfte. "Ich bin Wanack Perdinim, der Zweite des Birh-Melack. Laßt mich euch zu den Zelten eures Gatten führen, Herrin."
 

Merat wollte nicht unhöflich erscheinen. Sie zog ihren Schleier wieder über die Haare und öffnete den Vorhang der Sänfte, um sich zu zeigen. "Ich danke euch, Wanack Perdinim... Es klingt... als sei mein Gatte... nicht zugegen", brachte Merat dann ihre Beunruhigung zögernd in sprachliche Form.
 

"Er ist, denke ich, bei den Kriegsplanungen in Tetraos, im königlichen Palast. Bitte folgt mir zu seinen Zelten, damit ihr euch nach der langen Reise erfrischen könnt, dann lasse ich euch nach Tetraos zu eurem Gatten bringen."
 

Merat nickte zustimmend und reichte ihrer Dienerin die Hand, damit sie ihr beim Aussteigen aus der Sänfte helfen konnte. Sie ließ sich von Wanack Perdinim durch das geschäftige Heerlager geleiten. Losat und die Wächter führten die Pferde und Kamele am Zügel, Tabit aber blieb auf Merats Wink mit Amati in ihrer Sänfte. Im Vorbeigehen wies der Wanack den fürstlichen Wachen den Weg zu den Tierpferchen, zu seinem Zelt und den Zelten der Götter im Zentrum des Lagers. Und endlich erreichten sie zwei Osheyzelte, ein kleines und ein größeres, zwischen denen gerade zwei Männer und ein Junge, nur in ihre Untergewändern gekleidet, Waffenübungen machten. Der größere der beiden Oshey, mit auffälligerweise kahl rasiertem Kopf, half dem Städterknaben, korrigierte seine Schläge, während der etwas kleinere, sehr schmächtige Mann unbeirrt mit seinen Übungen fortfuhr. Das Oberteil seines Untergewandes hatte er ausgezogen und es hing locker um seine Hüften, der Rest wurde von einem braunen Gürtel gehalten. Die sich unter der schwitzenden Haut deutlich abzeichnenden Rücken-, Brust- und Bauchmuskeln dieses Mannes, einzelne, während der Bewegung hervortretende Adern, seine trotz seiner fehlenden Körpergröße so ausgeprägt männliche Statur machten Merat nervös, so daß sie ihren Blick abwenden mußte. Niemals hatte sie sich wirklich klar gemacht, daß jeder Mann, nicht nur ihr Vater, genau so aussah, und gewöhnlich keine Brüste hatte, wie Amemna sie aufwies.
 

Der Wanack sprach den schmächtigen Mann an, der sofort die Übungen unterbrach und zu ihnen kam. Im Gehen steckte er die Arme wieder in die Ärmel seines Untergewandes, verschloß rasch ein paar Knöpfe, so daß es geschlossen blieb, als er sich vor Merat verneigte. "Welche Ehre, Herrin, in euch die dritte aus dem Fürstengeschlecht der Darashy in der Birh-Mellim begrüßen zu dürfen. Ich bin der Zweite von Birh-Melack Darashys Wannim. Ich habe den Boten mit eurem Brief in den Palast geschickt. Ich denke, euer Gatte wird euch dort erwarten", begrüßte er sie mit erstaunlich voller Stimme.
 

Amemna war der Birh-Melack der Söldner? Und wer mochte neben Amemna und ihr selbst der dritte Verwandte des Fürsten der Darashy sein, von dem der Zweite der Wannim sprach? Es konnte niemand sein, den Merat kannte, doch bis auf ihren verstoßenen Halbbruder kannte sie die ganze fürstliche Familie. Aber sie fragte nicht nach, sondern neigte nur freundlich den Kopf. "Ich danke für eure Begrüßung, Zweiter der Wannim. Bedeuten eure Worte, daß ich im Palast wohnen soll?"
 

Der Mann zog die Augenbrauen wie besorgt aneinander. "Das sollte besser euer Gatte entscheiden, Herrin. Zunächst ist wohl zu empfehlen, daß ihr eure Zelte hier bei denen eures Mannes aufstellen laßt, wenn ihr nicht vorzieht, in dem Teil des Lagers zu wohnen, in dem der Troß liegt."
 

"Schickt einen eurer Männer zu mir, wenn ihr nach Tetraos geleitet werden wollt, Herrin", verabschiedete sich Wanack Perdinim, nahm Merats Dank mit einer stummen Verbeugung entgegen und ging.
 

Und Merat nahm mit ihrem Gefolge die Einladung des Zweiten der Wannim zu einem Begrüßungstee an.
 

*
 

Der herbe Geruch des Tees, die Gespräche der benachbarten Männerrunde, all das war halb vertraut und daher beruhigend, obwohl sie sich von Amemnas Wohlbefinden bisher nicht hatte überzeugen können. Merat saß mit Losat und Tabit, bei der die wieder erwachte Amati auf dem Schoß saß, etwas abseits, nippte an dem heißen Tee. Merat beschloß bei sich, den fürstlichen Wachen zu befehlen, die Zelte zu errichten, wenn sie diese Schale Tee geleert hatte. Sie selbst würde den Zweiten der Birh-Mellim bitten, sie zu ihrem Gatten zu bringen. Dann endlich würde sie wieder von Amemnas starken Armen umfangen werden, durfte sich seinen Küssen hingeben, ihrem gemeinsamen Begehren.
 

Ein sehr großer Mann hatte das Zelt betreten, aber breiter, viel männlicher als Amemna sah er aus, eine wahrhaft fürstliche Erscheinung, dessen Präsenz sich auch auf die Männerrunde auswirkte. Selbst der Zweite der Wannim sprang sofort auf, als er ihn sah, eilte zu ihm, um mit ihm zu sprechen. Der große Mann nahm den Tarra'kt ab, löste den Knoten mit dem er seine langen Haare gebändigt hatte, so daß sie ihm über die Schultern fielen. Wie sehr Merat dieser Anblick an Amemna erinnerte, der in Ma'ouwat seine wunderbaren Haare auf die gleiche Weise unter dem Fischerturban getragen hatte, als sie ihm noch bis zu seiner Taille gereicht hatten, bevor ihm Murhan  auf der Flucht zurück zu den Stämmen den Schädel rasiert hatte, um aus seinem Ziehsohn einen Oshey nach seinem Bilde zu machen.
 

Nach dem, was der Ankömmling sagte, kam er gerade aus dem Palast von Tetraos, in dem sich doch Amemna aufhalten sollte. Merat erhob sich und ging zu ihm, hielt einen sittsamen Abstand, und trotzdem raubte ihr sein Anblick von nahem fast den Atem. Er hatte einen Körper, wie ihn vielleicht ihr Vater in der Blüte seiner Jahre gehabt haben mochte, wohlgestaltet und voller Energie. Sein edles Gesicht wirkte etwas nachdenklich, sein vornehm gestutzter Bart umgab einen schön geschwungenen Mund, bei dessen vollen Lippen sich Merat unwillkührlich fragte, wie es wohl sein würde, von ihnen geküßt zu werden. Und sie stand hier in ihrer unansehnlichen Reisekleidung, noch mit dem Staub der Straße an Gesicht und Haaren.
 

"Habt ihr Nachricht von meinem Mann?" fragte Merat, als sie sich wieder gesammelt hatte.
 

Er antwortet, aber Merat nahm nur wahr, wie seine wundervollen Lippen sich bewegten, achtete nicht auf die Worte. Sie fragte noch etwas und noch etwas, nur um zu sehen, wie diese Lippen sich teilten, die weißen Zähne dahinter kurz aufblitzten, die Zunge. Und die Lippen schlossen sich wieder. Immerhin sickerte endlich die Erkenntnis zu Merat durch, daß das Heer wohl kurz vor dem Aufbruch stand. Ein Besuch im Palast war überflüssig geworden, sie konnte Amemna ebenso gut hier erwarten. Und dieser Mann stand in Amemnas Diensten.
 

Sollte sie Amemnas Scheidebrief doch annehmen? Das war ein frevelhafter Gedanke. Wie konnte sie nur dieser wundervollen Lippen wegen, wegen des Anblicks eines bärtigen Kinns und breiter Schultern den Vater ihrer Tochter plötzlich vergessen? Doch sie mußte all ihre Kraft zusammennehmen, um den Blick von diesem Mann abzuwenden, die Augen auf den Teppich unter ihren Füßen zu richten. "Ich danke euch", hauchte sie und ging rasch zurück zu ihren Frauen und Amati, zu ihrer Teeschale, die noch halb gefüllt war, mit inzwischen kalt gewordenem Tee.
 

* * *
 

13. Lebenselixier

Nachdem Hamarem seinem Birh-Melack die Priesterin geschickt hatte und diese Angelegenheit nun in Orems und wohl auch Amas Händen lag, versuchte er zu ignorieren, daß der Knabe Nefut neben dem Kochfeuer saß und ihn beobachtete. Statt dessen richtete er den Blick starr auf die Besitzrückgabeforderungen vor sich. Vielleicht wünschte sich der Junge, das Bohnenspiel zu spielen oder Schwertübungen zu machen, aber Hamarem konnte sich nicht dazu überwinden, zu Nefut auch nur hinüberzuschauen, obwohl diese letzten Anforderungen nicht allzu eilig waren. Er hatte die wie ersterbend um Nefut gesponnenen Kräfte gesehen, wußte, daß der Knabe ehrlich gedacht hatte, mit Amemnas Tod den Zorn des Ungenannten von seiner Mutter und Hamarem abzuwenden. Und wie hätte er auch wissen können, daß Hamarem glücklich den Zorn des Ungenannten auf sich genommen hätte, solange es seinem Herrn Kummer ersparte?
 

Und auch Hamarem selbst hatte Amemna verletzt, nicht mit einem Dolch, sondern mit Worten und Gedanken. Es war keine gute Idee, weiterhin in Amemnas Nähe zu bleiben. Hamarems unirdisches Erbe und das seines Birh-Melack würden wieder dafür sorgen, daß irgendwelche unerfreulichen Dinge geschahen. Sie würden einander, Hamarem würde Amemna erneut Kummer bereiten. Also mußte er, sobald klar war, daß Amemna der Gefahr entronnen war, dem ehemaligen Nefut Darashy den Posten als Zweiter der Wannim zurückübertragen und machen, daß er aus dem Heerlager fortkam. Vielleicht konnte Hamarem nach seinem Abschied aus der Wannim Ramilla dazu überreden, das Zelt der Ama zu verlassen um mit ihm in eine der Oasen in der Nähe der Stämme zu ziehen.
 

Die Ankunft eines Boten riß Hamarem für einen Moment aus seinen finsteren Gedanken. Der Bote hatte einen Brief für Amemna Darashy, also schickte er ihn mit seiner Botschaft in den Palast. Als Hamarem zurück in das Zelt zu seinem Schreibbrett und den Papyri ging, traf ihn der Kummer des Knaben mit beunruhigender Wucht. Das ganze Zelt schien damit angefüllt zu sein. Es war nicht recht, daß ein Kind solchen Kummer haben mußte. Hamarem würde glückliche Kinder mit Ramilla aufziehen. Ihm wurde ganz warm ums Herz, als er daran dachte, daß er wohl schon bald Vater werden würde. Und endlich stellte er fest, daß das Gefühl der Ausweglosigkeit, das ihn umfangen gehalten hatte, von dem Knaben Nefut ausgegangen war. Hamarem konzentrierte sich auf seine Gedanken an Ramilla, an die Lust, an die Liebe die sie miteinander verband, und endlich konnte er sich von den fremden Gefühlen befreien.
 

Hamarem sah wieder hinüber zu Nefut, der noch immer ganz in seine düsteren Gedanken versunken war. Wie konnte er diesem Kind seine frommen Befürchtungen verdenken? Außerdem hatte Amemna dem Jungen vergeben, dann sollte er es doch auch tun, oder? Nefut war noch ein Kind und hatte in guter Absicht Ungemach bereitet - und glücklicherweise nicht mehr als Ungemach. Er konnte den Kummer des Jungen nicht länger mit ansehen. "Würdest du Botendienste für mich machen, Nefut?" fragte er also.
 

Die Kräfte um den Knaben füllten sich plötzlich mit neuer Energie als er aufsah und eifrig nickte. "Gerne, Herr. Sagt mir, was ich tun soll." Bisher hatte er Hamarem nie so ehrerbietig angesprochen. Vielleicht versuchte er auf diese Weise, die Scharte seiner Verfehlung auszuwetzen.
 

"Ich dachte daran, daß du im Troß die Bewilligungen der Rückgabeforderungen verteilst. Kannst du denn lesen?" Nefut nickte noch eifriger und seine Wangen glühten förmlich. Also konnte er ihn mit mehreren der Anforderungen gleichzeitig losschicken.
 

Hamarem suchte die Papyri zusammen, auf denen er die Herausgabe der Händlerwagen und einiger Zelte an die Händler genehmigt hatte, bündelte sie mit einem Faden. "Bring diese Briefe zu den Beauftragten der Händler, die sie betreffen. Laß dir jeweils den vollen Namen des Händlers nennen und kontrolliere, ob er mit dem Namen auf dem Schreiben übereinstimmt. Wenn du deine Sache gut machst, sehen wir, wie du dich weiter nützlich machen kannst."
 

"Oh ja, ich werde meine Sache gut machen." Nefut griff nach den gerollten Papyri und lief flink aus dem Zelt.
 

Hamarem beugte sich wieder über sein Schreibbrett, aber er konnte sich noch immer nicht darauf konzentrieren, die Briefe zu lesen. Auch wenn Nefuts düstere Stimmung das Zelt nicht mehr anfüllte, meldeten sich doch Hamarems eigene Schuldgefühle erneut. Amemnas unirdische Fähigkeiten erwachten gerade erst und der Birh-Melack wußte praktisch nichts über die Unirdischen, da er anscheinend nicht einmal die unter den Oshey verbreiteten Legenden kannte. Hamarem war das eigentlich klar, er wußte, daß sein Herr in Ma'ouwat, fern der Zelte seines Stammes aufgewachsen war, und dennoch hatte er seinem Birh-Melack Vorwürfe gemacht, anstatt ihm zu helfen. Wenn dieser junge Unirdische von einem der Mawati Verständnis erwarten konnte, dann doch wohl von Hamarem, der nun selbst endlich wußte, daß er die Gefühle und einige Gedanken anderer teilte, weil sein unirdisches Erbe dies eben bewirkte. Und Hamarem hatte inzwischen ebenfalls am eigenen Leibe erfahren, daß begehrliche Gefühle eines anderen eine lüsternde Bestie in ihm weckten, die nur darauf bedacht war, den Rausch der Vereinigung zu erleben, sich an der Ekstase der Geliebten weiter zu berauschen. Es war unmöglich, diese Bestie zu zähmen, man konnte ihr nur geben, was sie verlangte. Dabei hatte Hamarem einen Bruchteil des unirdischen Blutes in seinen Adern, über das Amemna verfügte.
 

Aber ob Amemna Hamarem jemals vergeben konnte, daß er ihm vorgeworfen hatte, Amemna zwänge anderen durch den Duft der Unirdischen das Begehren auf? Wie konnte Amemna denn jemals Gewißheit darüber erlangen, daß etwaiges Begehren nicht durch den Duft der Unirdischen ausgelöst worden war? Denn dieses Begehren war doch genauso echt wie durch anderes ausgelöste Lust. Und wie hatte er gegenüber Amemna behaupten können, er selbst verfüge nicht über diesen Duft? Wie sollte er das denn feststellen?
 

Zugegebenermaßen war Hamarem selbst zunächst beunruhigt gewesen, sich zu einem jungen Mann hingezogen zu fühlen, der Duft war eine willkommene Erklärung dafür gewesen. Aber das Begehren war inzwischen unabhängig von Amemnas Duft, allein ein Gedanke an den hübschen Jüngling reichte, an seine begehrlichen Berührungen im Traum. In diesen Träumen hatte Amemna jedoch wohl eher Nefut vor Augen gehabt, den er sich als Liebsten erwählt hatte. Nur in Hamarems Träumen war aus Amemnas Geliebten Hamarem selbst geworden. In dieser Nacht nämlich hatte Amemna ihn im Traum mit Namen angesprochen, diesmal hatte er also eindeutig von Hamarem geträumt, ihn aber nicht gebeten, mit ihm seine Lust zu teilen, sondern als weibliche Traumgestalt Hamarem nur widerwillig zugestanden, daß er ihn als Bezahlung für den erbetenen Dienst, nehmen könne. Deutlicher konnte der Unterschied kaum sein. Wenn es doch mit Hilfe der Priesterin nur gelang, Amemna zu retten!
 

"Guten Morgen, Hamarem", begrüßte Derhan ihn überraschend. Wieso war Derhan hier, nicht aber Amemna? Derhan erzählte irgendetwas von falschen Mawati, Verkleidungen und Nachrichten für Amemna. Redete er von der verkleideten Amapriesterin? Hatte ihr Plan nicht funktioniert?
 

Alarmiert unterbrach Hamarem ihn: "Ist Oremar mit seinem Begleiter denn nun beim Birh-Melack eingetroffen, oder nicht?"
 

"Aber ja, Hamarem. Oremar und die verkleidete Amapriesterin sind wohlbehalten bei ihm eingetroffen. Ich habe von Nefuts Plan zur Ablenkung der Regentin gesprochen." Natürlich hatte Derhan die Priesterin erkannt, trotz ihrer Verkleidung. Der Mann, der erklärtermaßen so wenig Respekt vor dem Göttlichen hatte, war sicher oft genug im Zelt der Ama gewesen.
 

"Was für einen Plan zur Ablenkung der Regentin?" fragte Hamarem. Hoffentlich entsprach die Priesterin auch in Amemnas Augen der Art von Frau, die seinen Platz einnehmen konnte. Und wieso mußte überhaupt eine Frau seinen Platz einnehmen?
 

"Der Plan, den ich dir eben vorgetragen habe", antwortete Derhan mit einem skeptischen Blick. "Ich dachte, du hättest mir zugehört."
 

"Ich habe... ich war gerade zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, um zu verstehen, was ihr da geplant habt. Wieso muß die Regentin abgelenkt werden?" gab Hamarem verwirrt zurück.
 

"Um unseren allseits geschätzten Birh-Melack vor ihren Nachstellungen zu schützen."
 

"Aber warum sollte die Regentin Amemna Übles wollen, er ist der Birh-Melack ihrer Söldner, der Krieg für sie führen soll und..."
 

"...und er ist ein auf die Regentin offenbar sehr verführerisch wirkender junger Mann. Eine Wirkung, die er nicht nur auf die Regentin hat, wie ich feststellen mußte", ergänzte Derhan dann mit einem durchdringenden Blick auf Hamarem.
 

Derhan ahnte ja schon eine Weile, wie Hamarem für Amemna empfand. Das hatte er nur allzu deutlich gemacht, als er Hamarem in das Zelt der Ama gebracht hatte. Und nach den Tagen und Nächten im Palast wußte Derhan sicher auch über die Verbindung zwischen Nefut und Amemna Bescheid, selbst wenn Nefut es nicht schon entsprechend seiner Andeutung am Vortag öffentlich gemacht hatte.
 

"Ach Derhan, ich habe unseren Birh-Melack niemals auch nur begehrlich angesprochen", bekannte Hamarem leise.
 

"Aber genau wie Nefut reagierst du wie ein Hengst auf eine rossige Stute, wenn er in der Nähe ist", stieß Derhan verächtlich aus. "Das hat sich anscheinend auch nach deinen Besuchen im Amazelt nicht geändert." Amemna war eine Frau, ebenso wie ein Mann, wurde Hamarem da plötzlich klar. Amemna Darashy war zweigeschlechtlich wie Hawat. Das hatte der Traum ihm offenbart, daher sein Begehren, obwohl Hamarem ansonsten nur von Frauen erregt wurde. So hatte Amemna also die heiligen Zeichen der Hawatpriesterinnen lernen können, so hatte sich in seinem Schoß aber ebenso die Schlange zum Flug erheben können. Vielleicht wirkte der Duft der Unirdischen überhaupt nicht so überwältigend, sondern doch nur bei denen, die sich ohnehin schon zu Amemna hingezogen fühlten. Hamarem bemerkte, daß Derhan ihn nachdenklich ansah. Richtig, eben hatte er irgendetwas Provozierendes über Hamarems Verhalten gegenüber Amemna gesagt. Da konnte er seine Theorie also gleich auf die Probe stellen: "Und du bist so fest verankert im Glauben, bewegst dich so sicher auf dem Wahren Weg, daß du gegen die Verlockungen eines Unirdischen gefeit bist, nicht wahr, Derhan."
 

"Er ist mein Birh-Melack und er hat mir mein schon fast verlorenes Leben wiedergeschenkt. Ich begegne ihm mit Ehrerbietung und Respekt und nicht mehr", gab Derhan darauf etwas steif zurück.
 

"Ebenso wie ich, auch wenn er bisher keine Gelegenheit hatte, mir mein Leben zu retten." Ob Derhan nach der Lebensrettung, nach der Berührung durch den Unirdischen, Träume von Amemna gehabt hatte? War er deswegen vielleicht Hamarem so leicht auf die Spur gekommen? Oder hatte Hamarem die Träume ausschließlich seinem unirdischen Erbteil zu verdanken? "Träumst du von unserem Herrn?" fragte Hamarem also.
 

"Nein... wieso sollte ich?" gab Derhan neugierig zurück. "Aber du träumst von ihm", stellte er dann fest.
 

Hamarem nickte nur. Derhan ging es nichts an, welcher Art diese Träume zumeist gewesen waren. Vermutlich ahnte er es ohnehin.
 

Derhan schien amüsiert über Hamarems Schweigen. "Du hast so oft im Schlaf seinen Namen geflüstert, daß es mich nicht sehr überrascht, nun eine Bestätigung von dir zu erhalten."
 

Wenn Oremar soetwas vermuten würde, hätte er Hamarem darüber sicher nicht im unklaren gelassen. Und daß Nefut nichts von Hamarems Sehnsüchten ahnte, schloß Hamarem aus dem Gespräch, daß sie am Vortag geführt hatten. Doch wie mochte Amemna sich nun in Gegenwart seines Zweiten der Wannim fühlen, nachdem er wußte, wie Hamarem für ihn empfand, denn auf Gegenseitigkeit beruhte es ja offensichtlich nicht. Und welche Auswirkungen würde Amemnas Erkenntnis haben, mit Hamarem zumindest gelegentlich im Traum verbunden zu sein, denn auch das wußte sein Birh-Melack ja nun, nachdem er Hamarems reale Antwort auf ein Traumgespräch erhalten hatte.
 

Der Knabe Nefut betrat das Zelt. "Ich habe alle Nachrichten verteilt", sagte er und verneigte sich vor Hamarem.
 

Derhan sah den Knaben überrascht an. "Du bist doch...", begann er, besann sich dann jedoch eines anderen.
 

"Ja, ich bin derjenige, der euren Birh-Melack verletzte", sprach der Knabe Nefut für sich selbst. "Hamarem erlaubt mir jedoch, mich für die Wannim nützlich zu machen."
 

Derhan schien sich nach der ersten Überraschung mit dem Gedanken anzufreunden, daß der Junge Hamarem zur Hand ging. Und als Nefut beiläufig erwähnte, wie interessant er die Waffenübungen fände, war Derhan gleich bereit, mit ihm vor dem Zelt zu trainieren. Nefut drängte Hamarem, sich ebenfalls anzuschließen, und da die Priesterin Amemna nun offenbar glücklich erreicht hatte, und um nicht noch fruchtlos darüber zu grübeln, ob denn im Palast für Amemna alles den gewünschten Gang nahm, gab Hamarem nach.
 

Als sie schon eine Weile mit den Übungen beschäftigt waren, brachte der Zweite der Birh-Mellim eine Frau zum Mawatizelt, mit dem einer Prinzessin angemessenen Gefolge. Hamarem erinnerte sich an den Boten, der am frühen Morgen einen Brief für Amemna hatte zustellen wollen, und der auch gesagt hatte, Amemna Darashys Gattin würde um die Mittagsstunde eintreffen. Amemnas Frau war sehr hübsch und noch recht jung, wohl kaum älter als Amemna selbst. Doch angesichts der Schwingungen der Kräfte um die Prinzessin hatte Hamarem plötzlich eine Ahnung von Unheil, Kummer und Eifersucht, die sich noch im Heerlager über den Häuptern der drei Kinder des Prinzen Murhan Darashy entladen würde. Außer ihren Leibwächtern und Dienerinnen brachte die Darashy-Prinzessin ihre kleine Tochter mit sich, einen Säugling von vielleicht einem halben Jahr. Das Kind betrachtete Hamarem aus großen, bunt gefleckten Augen, in denen gold und grau zu dominieren schienen. Und das kleine Mädchen lächelte ihn an, als wolle sie ihn daran erinnern, wie schön das Leben für ein Kind war, das die Liebe seiner Eltern spüren konnte wie die Wolle in seiner Wiege, das in der Zuneigung seiner Umgebung baden konnte, wie in einer Schüssel voll angenehm warmem Wasser, das die Emotionen um sich einsog, wie die Luft zum Atmen, ohne an der Richtigkeit dessen zweifeln zu müssen, alle Sinne noch weit geöffnet. Diese kindliche Unschuld, diese reine Freude an der entgegengebrachten Zuneigung hatte Hamarem seinem jugendlichen Herrn mit seinen Worten wohl genommen. Und ob dieser Zustand jemals wieder herstellbar war, bezweifelte Hamarem. Wie für sein Kind mußten auch für Amemna, den Unirdischen von fast reinem Blute, die auf ihn gerichteten positiven Emotionen wie Zuneigung, Liebe und Begehren der Stoff sein, der ihn am Leben hielt. Deshalb war es die Natur der Unirdischen, Begehren zu wecken und in sich aufzunehmen. Diese lüsterne Bestie in ihnen war das Leben selbst. Wenn Amemna begann, seine Natur zu verleugnen, würde ihn das wohl zerstören.
 

Hamarem mußte sich so bald wie möglich bei Amemna entschuldigen und irgendwie versuchen, den tiefen Kummer des jungen Unirdischen, der aus dem Traum der vergangenen Nacht so deutlich geworden war, zu vertreiben. Hamarem würde erklären, daß er sich seiner eigenen gefühlsmäßigen Verwicklungen wegen geirrt hatte und Amemna wieder auf die Stimme seines Herzens hören sollte. Doch zuvor mußte er, wie versprochen, einen Weg finden, eine erneute gegenseitige Erhitzung zu verhindern. Aber Amemna kehrte nicht zurück aus dem Palast, weder mit Nefut, der ankündigte, der Abzugsbefehl würde bald ergehen, noch bis zu dem Zeitpunkt, an dem endlich das offizielle Aufbruchsignal ertönte.
 

* * *
 

14. Mißverständnisse

Nefut konnte nicht verhindert, daß sein Blick immer wieder zu der jungen Ehefrau seines ebenso jungen Birh-Melack wanderte, während er mit den anderen Mawati Kochgeschirr, Vorräte, die Decken der Schlaflager und alles andere zusammenpackte. Wie anmutig die Prinzessin sich bewegte, wie schön sie war, schön im menschlichen Sinne, ganz anders als die eher einschüchternde, vollkommenen Schönheit Amemnas. Nefut sah, wie ihre Leibwächter, Dienerinnen und sie selbst sich schließlich erhoben und das Zelt verließen. Er war einerseits erleichtert, nicht mehr in seiner Liebe zu Amemna geprüft zu werden, zum anderen traurig, daß ihm der erbauliche Anblick nun genommen wurde. Und schließlich kam Amemna zurück, so groß, so aufrecht und so männlich sah sie aus, als sie das Zelt betrat, daß Nefut sich einen Moment fragte, was in ihm jemals das Begehren zu seinem Birh-Melack geweckt haben mochte.
 

"Eure Frau hat das Lager gerade verlassen, Herr", berichtete Hamarem. "Sie wartet etwas südlich von hier um sich dem Heerzug anzuschließen."
 

Amemna sah Hamarem lange an, dann zog sie einen Brief aus dem Gürtel und reichte ihn dem Zweiten ihrer Wannim. "Laß das meinerr Frrau brringen. Derrhan soll sich währrend des Marrsches um sie kümmerrn."
 

Hamarem nickte ehrerbietig, nahm den Brief entgegen und ging davon, wohl um Derhan zu suchen. Er wirkte völlig unverdächtig, aber irgendetwas mußte er mit dem Anschlag zu tun haben.
 

"Amemna", sprach Nefut sie an. Ihr ungehaltener Blick ließ ihn fast einen Rückzieher machen. Das Attentat war jedoch eine zu wichtige Angelegenheit, also fragte er: "Darf ich dich kurz sprechen?"
 

"Du kannst mich in das Lagerr derr Tetrraosi begleiten und auf dem Weg dorrthin mit mirr sprrechen", gestand Amemna im Weggehen zu.
 

Nefut mußte sich beeilen, Schritt zu halten. Als sie bei den Pferden ankamen, die an die letzten noch stehenden Pfosten der Unterstände gebunden waren, kam Nefut Amemna zufällig so nahe, daß der leichte Wind ihren Duft zu ihm trug und den Anblick der jungen Prinzessin aus Nefuts Gedanken fegte. "Amemna, fr'tschan ne", hauchte er, zog sie zu sich herum um sie zu küssen, obwohl sie unter freiem Himmel standen, dem Blick der ganzen Birh-Mellim ausgesetzt, auch wenn die Männer zur Zeit wohl zu beschäftigt waren, um ihre Aufmerksamkeit dem Birh-Melack und seinem Liebhaber zu schenken.
 

Amemna entzog sich der Umarmung. "Nefut, was soll das? Du liebst mich doch nicht wirrklich. Es ist nurr das durrch meinen Gerruch ausgelöste Begehrren in dirr, das dich bewegt, soetwas zu sagen."
 

Das war wie eine Ohrfeige für Nefut und gekränkt zog er sich einen Schritt zurück, drehte sich zu seinem Pferd, richtete Sattel und Gepäck. "Doch, ich liebe dich, Amemna", flüsterte er seinem Pferd zu. Wenn sie ahnen würde, wie sehr er sich danach sehnte, daß sie von seinem Samen empfangen hatte. Wenn sie ahnen würde, wie gleichgültig ihm bei aller Bezauberung die schöne Darashyprinzessin war. Amemna hatte ihm vor ihrem Aufenthalt im Palast gesagt, sie würde ihn lieben. Vertraute sie seinen Worten nicht, weil ihre nur dahingesagt gewesen waren? Oder hatten etwa ihre Erlebnisse mit der Regentin ihre Gefühle zu Nefut so stark geändert? Doch auch wenn sie ihn nicht liebte, brauchte sie ihn jetzt umso mehr, da anscheinend alle anderen Mawati in die Verschwörung gegen sie verwickelt waren.
 

"Du wünscht dirr ein Kind von mirr?" flüsterte Amemna plötzlich dicht neben seinem Ohr. Wie erstaunt sie klang.
 

Hatte er seine Gedanken laut ausgeprochen? Aber er fragte nicht nach, sondern nickte nur. "Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als inmitten unserer gemeinsamen Kinder den Rest meines Lebens mit dir zu verbringen", flüsterte er zurück, den Blick starr auf seinen Sattel gerichtet.
 

Amemna drehte Nefuts Kopf mit einer Hand, so daß er sie ansehen mußte. Ihr liefen Tränen über die Wangen. "Entschuldige, daß ich dirr Unrrecht getan habe, frr'tschan. Aberr ich weiß nicht mehrr, was ich glauben soll. Hamarrem hat mich mit seinen Worrten ganz irrre gemacht."
 

"Hamarem will dich doch tot sehen", schnappte Nefut aufgebracht. Was sein Attentäter nicht geschafft hatte, wollte Hamarem jetzt also mit Wortgewalt zum Ende bringen.
 

Amemna faßte nach Nefuts zur Faust geballte Hand. "Nein, jetzt tust du ihm Unrrecht. Err hat mirr sehrr geholfen. Ohne ihn hätte Barrida mich wohl tatsächlich kastrrieren lassen." Sie senkte den Blick. "Aber das wärre dirr vielleicht lieberr gewesen, als einen halben Mann im Bett zu haben", fügte sie bitter hinzu.
 

Nefut entzog ihr seine Hand, faßte ihr Gesicht mit beiden Händen und küsste zärtlich ihre Wangen, ihren Mund. "Sag soetwas nicht, fr'tschan", flüsterte er, wischte mit dem Ärmel die Tränen von ihren Wangen, küßte erneut ihre Lippen. "Ich möchte dich ganz. Ich alter Mann brauche nur etwas mehr Zeit als sechs Tage, um mich daran zu gewöhnen, daß du mehr als eine Frau bist."
 

Amemna erwiderte Nefuts Kuß ebenso zärtlich, schmiegte sich dabei eng an ihn, so daß er ihr Begehren fühlen konnte. Es galt ihm, dieses Begehren, dessen Auswirkung dieses feste, sehr warme Geschlechtsteil war, das an seine Hüfte gepreßt wurde. Und dennoch mußte er mit sich kämpfen, nicht hastig einen Schritt zurückzutreten. Aber es war Amemna, die sich plötzlich von ihm löste. "Ich werrde im Heerrlagerr derr Tetrraosi errwarrtet. Laß uns rreiten."
 

*
 

Auf dem Weg mußte Nefut jedoch endlich seine Bedenken des Attentats wegen vorbringen. "Irgend etwas stimmt nicht in der Wannim, auch wenn Hamarem dir nicht nach dem Leben trachten sollte. Derhan und er sind viel zu freundlich zu diesem Jungen, der versucht hat, dich zu töten."
 

"Err ist ein Kind, Nefut. Und err hat mich nicht getötet", erinnerte Amemna ihn.
 

"Aber er hatte den Vorsatz, es zu tun. Sei auf der Hut. Ich befürchte, das war nicht der letzte Anschlag auf dein Leben, Amemna."
 

"Derr Junge wirrd von nun an in Tetrraos leben. Es besteht keine Gefahrr, daß err noch einmal verrsucht..."
 

"Ich meine nicht den Jungen. Ich glaube auch nicht, daß es der Junge war, der den Anschlag geplant hat. Da steckte jemand anderes dahinter, wenn nicht Hamarem, dann vielleicht Derhan oder Oremar", ereiferte Nefut sich.
 

"Warrum nicht gleich die Amaprriesterrin?" fragte Amemna spöttisch nach. "Wederr Derrhan noch Hamarrem wollen mirr Übles, da bin ich sicherr. Und auch mit Oremarr habe ich meinen Frrieden gemacht."
 

"Und was ist mit Hamarems Worten, von denen du eben gesprochen hast? Mit denen er dich ganz irre gemacht hätte?" fragte Nefut provozierend nach. Das Heerlager der Tetraosi, nicht weniger in Auflösung begriffen als das Lager der Söldner, hatten sie fast erreicht.
 

"Ich muß noch einmal in Rruhe mit Hamarrem sprrechen, das ist unumgänglich. Aberr ich bin sicherr, daß err nicht vorrhatte, mirr Ungemach zu berreiten. Bei unserrem letzten Gesprräch warr es eherr umgekehrrt." Sie wischte sich den Schweiß von die Stirn. "Und ich muß mit Merrat sprrechen. Warrum hat sie nurr den Scheidebrrief nicht akzeptierrt? Nefut, erklärr du mirr, wie diese Osheyfrrau denkt", forderte Amemna ihn plötzlich auf.
 

"Aber wie sollte ich...", begann Nefut.
 

"Nefut, sie ist deine Schwesterr, die Tochterr von Murrhans zweiterr Frrau. Und du bist Murrhans Sohn, so ähnlich wie du ihm siehst, gelegentlich benimmst du dich sogarr wie err. Und errzähl mirr nicht, err habe dich mit irgendeinerr Frrau gezeugt und du hättest ihn nie kennengelerrnt, denn dafürr kennst du seine Schwerrtübungen zu gut."
 

'Natürlich, sie ist ihre Tochter! Tyrima steh mir bei', dachte Nefut nur, und dann wurde ihm klar, was Amemna gesagt hatte. "Wie lange weißt du, daß ich Murhans Sohn bin?" Amemna war sich ihrer Sache so sicher, warum sollte er also seine Herkunft leugnen. Aber auch Nefut mußte sich den Schweiß aus dem Gesicht wischen. Obwohl die Sonne hinter den Wolken verschwunden war, trug die durch den leichten warmen Wind bewegte Luft so viel Feuchtigkeit in sich, daß der Schweiß auf der Haut einfach nicht trocknete.
 

"Seit derr Rrast in Bussirr verrmute ich es, und seit derr Einschrreibung in Nemis bin ich mirr sicherr, daß du derr Sohn Murrhan Darrashys bist", bekannte Amemna freimütig.
 

"Und warum hast du dann nichts gesagt?" Nefut brachte sein Pferd zum Halt, denn sie hatten die Reste der Befestigung um das Lager der Tetraosi erreicht.
 

"Du hast auch nichts gesagt, dabei gab es genügend Gelegenheiten. Also warrum akzeptierrt sie den Scheidebrrief nicht? Beeil dich, ich werrde errwarrtet." Ungeduldig klopfte Amemna mit ihren Fingern auf ihren Sattelknauf.
 

"Aber ich kenne sie doch gar nicht. Sie war gerade geboren, als ich den Stamm verlassen mußte", entfuhr Nefut gegen seinen Willen. Hatte Merat Darashy ihn so verzaubert, weil sie ihrer Mutter so ähnlich sah?
 

"Du meinst also, ihrre Entscheidung hat nichts mit irrgendwelchen Osheygepflogenheiten sonderrn eherr etwas mit ihrrem Temperrament zu tun?" fragte Amemna neugierig.
 

"Wie hast du die Scheidung begründet?" fragte Nefut nach.
 

"Mit derr durrch den Krriegszug ungewissen Länge meinerr Abwesenheit."
 

"Das klingt nach einem akzeptablen Grund. Vielleicht will sie die Scheidung einfach nur deshalb nicht, weil es nicht ihre eigene sondern deine Entscheidung war", mußmaßte Nefut. Es konnte der Grund sein, wenn sie ihrer Mutter auch im Temperament ähnelte.
 

Amemna schien einen Moment darüber nachzudenken, dann winkte sie Nefut, ihr zu folgen und ritt durch den breiten Mittelweg des ehemaligen Lagers. Vor einem halb abgebauten Zelt standen einige Pferde und Diener, zu denen Amemna nun ritt und ihre Zügel einem der wartenden Männer in die Hand drückte. Nefut tat es ihr gleich und folgte ihr dann in das Zelt. Darin standen die Männer des tetraosischen Kriegsrates um einen Tisch, auf dem ein gezeichneter Plan der Wege und Ortschaften entlang der Handelsstraße nach Hannai lag. Nefut gesellte sich zu den anderen Leibwächtern und den zwei Schreibern, die an der Seite saßen und folgte nur mit einem halben Ohr der Unterrichtung über die Marschordnung und die Pläne für den Lagerbau bei Tarib.
 

Amemna hatte so überzeugt gewirkt, als sie behauptete, keiner der Mawati habe etwas mit dem Anschlag zu tun. Aber was war mit dem Jungen im Mawatizelt? Was war mit Amemnas offensichtlicher Verzweiflung, als sie am Vortag aus dem Lager zurückgekommen war? Da mußten Hamarems Worte gefallen sein, die sie 'irre' gemacht hatte. Worüber hatten sie denn gesprochen, wenn es nicht der Anschlag war? Über Amemnas unirdischen Duft? Das lag nahe, nach ihrer Bemerkung am heutigen Morgen. Aber welche Veranlassung hatte Hamarem, mit Amemna über ihren unirdischen Duft zu sprechen? Nefut wußte von Oremar, daß Hamarem sich mit der Schülerin der Amapriesterin eingelassen hatte. Vielleicht war es auch eher umgekehrt gewesen, denn Nefut konnte sich nicht vorstellen, daß der zurückhaltende Hamarem in Liebesdingen nun gerade die Initiative übernahm. Vermutlich hatte ihn sogar erst ein anderer Mann in das Amazelt mitgenommen, um Hamarem von den Freuden der Ama zu überzeugen. Aber da Hamarem Amemnas Zweiter war und er von Nefuts Verbindung mit Amemna wußte, konnte nur Nefut selbst das Gesprächsthema der beiden gewesen sein. Hatten sie sich darüber unterhalten, wieso er das Amt des Zweiten abgegeben hatte? Hatte Hamarem von Oremar inzwischen erfahren, wie Nefut zu den Verletzungen an seinen Knöcheln gekommen war? Hatte Hamarem in Amemna Zweifel an Nefut, an seiner Aufrichtigkeit oder seinen Fähigkeiten geweckt, die sich nicht mit ihren eigenen Beobachtungen deckten, so daß sie Grund hatte, von dem Gespräch 'irre' zu werden?
 

Nefut massierte seine Schläfen, um den erneut aufkommenden Zweifel an Amemnas Zuneigung ihm gegenüber zu unterbinden. Er wäre gerne einfach ins Lager der Söldner zurückgekehrt, um zu helfen, die Palisaden niederzulegen, um durch körperliche Anstrengung seine Unruhe abzubauen. Aber da er als Begleiter Amemnas hierher mitgekommen war, mußte er wohl auch bleiben, bis diese letzte Beratung auf tetraosischem Boden beendet war.
 

"Herr?" fragte zaghaft eine piepsige Stimme. Ein Kind, nein einer der Zwergendiener der Regentin stand vor Nefut.
 

"Was willst du?" fragte Nefut unfreundlicher als nötig. Auf die Regentin war er gar nicht gut zu sprechen. Niemals zuvor hatte er Amemna so verzweifelt, so bar jeder Stärke erlebt, wie in der vergangenen Nacht, als sie aus dem Schlafgemach der Regentin zurückkehrte. Nicht einmal als sie in der Schädeloase ihre Niederlage akzeptiert und sich in die Gefangenschaft ergeben hatte schien sie so verzweifelt gewesen zu sein.
 

"Herr, die Regentin schickt ein Geschenk für den Birh-Melack."
 

Richtig, Amemna war noch beschäftigt, also mußte er sich um solche Dinge kümmern. "Gib es mir", forderte Nefut und streckte die Hand aus.
 

"Er wartet vor dem Zelt, Herr", sagte der Zwergendiener. Schenkte Barida dem Anführer ihrer Söldner einen starken Wallach für die Schlacht?
 

Nefut folgte dem Zwergendiener und sah sich mit einem merkwürdig weibisch aussehenden Ostler konfrontiert, der die Tracht der tetraosischen Palastdiener trug, eine weite Hose und ein knielanges Hemd aus dünnem dunkelblauen Seidenstoff. Dieser Mann hatte sich nicht seinen Bart rasiert, es wuchs ihm keiner, und das nicht, weil er noch ein Jüngling war. Sein Körperbau war eindeutig der eines erwachsenen Mannes, und auch wenn Nefut nicht sicher war, glaubte er doch, auch einzelne weiße Strähnen in seinem langen orangeroten Haar ausmachen zu können, als wäre er schon in Nefuts eigenem Alter. "Wer ist das?" fragte Nefut den Zwergendiener, als der vor dem Ostler innehielt.
 

"Dies ist das Geschenk der Regentin an den Birh-Melack, Herr. Er ist einer ihrer Eunuchen. Euer Birh-Melack mag mit ihm tun, was ihm beliebt." Damit verbeugte er sich und verließ trippelnd das Heerlager.
 

Also hatte er mit Wallach gar nicht so falsch gelegen, ging Nefut unangemessenerweise durch den Kopf. Aber was sollte Amemna mit einem Eunuchen anfangen? Nefut bemerkte, daß der Eunuch ihn scheu musterte und seinen Blick auf Nefuts Schwert verharren ließ. Lag da Wehmut in dem Blick dieses ehemaligen Mannes? War er vielleicht als Kriegsgefangener in diese Lage geraten? War das etwa der Mawar, nach dem Amemna im Heer der Hannaiim hatte suchen lassen, der Ostler, dem sie ihr Herz geschenkt hatte?
 

"Wie ist dein Name, Eunuch?" fragte Nefut barsch.
 

Der Eunuch zuckte sichtlich zusammen. "Jochawam", sagte er sehr leise.
 

"Hast du keinen Vatersnamen?" setzte Nefut nach.
 

Der Eunuch sah Nefut aus seinen braungrünen Augen einen Moment gerade ins Gesicht. Er war nicht einmal einen Kopf kleiner als Nefut, als er seine Schultern straffte. "Ich benutze ihn nicht mehr, seit ich nicht mehr der Sohn meines Vaters bin", sagte er mit anerkennenswertem Stolz.
 

Ein seltsames Gefühl der Verbundenheit mit diesem Ostler stieg für einen Moment in Nefuts Brust auf, zwei Verbannte, die das Wirken der Götter nun gerade hier zusammengeführt hatte. "Was soll der Birh-Melack mit dir anfangen, Jochawam?" fragte Nefut dann.
 

"Ich werde ihm in jeder Weise dienen, die er wünscht", entgegnete Jochawam geradezu inbrünstig. Vermutlich war er froh, den Palast von Tetraos hinter sich lassen zu können.
 

"Was waren deine Aufgaben im Palast?" wollte Nefut wissen. Vielleicht konnte man in der Wannim eine ähnliche Aufgabe für ihn finden.
 

"Schickt dich die Rregentin?" erklang Amemnas Stimme plötzlich hinter Nefut. Der Kriegsrat war also beendet.
 

Jochawam sah kurz von Nefut zu Amemna, als überlege er, welche Frage er zuerst beantworten sollte. "Ja Herr, die Regentin macht mich euch zum Geschenk." Es klang sehr zufrieden, wie der Ostler das sagte.
 

"Err warr Schrreiberr derr Rregentin", sagte Amemna, als sie Nefut erreicht hatte, und der Ostler schloß den anscheinend gerade zur zweiten Antwort geöffneten Mund wieder.
 

"Wozu brauchst du noch einen Schreiber?" fragte Nefut erstaunt.
 

"Besorrg ihm eines von unserren Pferrden und einen Mantel", befahl Amemna jedoch anstelle einer Antwort. "Und auch eines von den Ma'ouwati-Tücherrn, frr'tschan." Und sie lächelte so lieblich wie Ama selbst.
 

"Ich finde dich im Heerzug der Tetraosi wieder?" vergewisserte Nefut sich. Er hatte das Gefühl, Amemna wollte sich seiner zumindest für eine Weile entledigen.
 

"Du wirrst mich bei den Befehlshaberrn derr Tetrraosi finden", versprach sie. "Beeil dich, frr'tschan."
 

* * *
 

15. Rachepläne

Merat zuckte zusammen, als anscheinend genau vor dem Zelt ein Signal erschallte. Hamarem winkte Patris zu sich, begleitete ihn nach einem kurzen Gespräch zu den Frauen und verneigte sich höflich vor Merat. "Herrin, jetzt müssen wir die Zelte abbrechen. Ich habe dem Anführer eurer Leibwachen erklärt, wo wir uns für den Marsch sammeln. Vielleicht wartet ihr lieber dort auf euren Gatten. Ich schicke ihn zu euch, sobald ich ihn sehe."
 

Merat nickte und versprach, außerhalb des Lagers zu warten. Was konnte sie auch anderes tun? Sie fühlte sich ohnehin zunehmend unwohl dabei, den Männern ihres Gatten im Weg zu sitzen, und auf Amemnas längst überfällige Rückkehr zu warten. Also verließ sie das geschäftige Treiben im Zelt und ging mit ihrem Gefolge durch die plötzlich leeren Zeltgassen zu den Pferchen. Anscheinend waren momentan alle Söldner mit dem Abbruch ihrer Zelte beschäftigt. Einige Männer demontierten schon die Pferche und Unterstände, andere waren damit beschäftigt, die Holzpfeiler der Lagerbefestigung aus dem Erdwall zu ziehen und zu bündeln. Es mußte etwa die Zeit der Mittagsruhe sein, aber die brennende Sonne war hinter Schleiern aus Wolken verborgen, die sich von den Bergen her über die ganze Ebene ausgebreitet hatten. Patris wies die fürstlichen Wachen an, die Vorräte an Wasser aufzufrischen, dann verließen sie das Lager endlich und ließen sich ein Stück südlich davon unter einer kleinen Baumgruppe nieder. Die Stelle lag etwas höher als das Lager, so daß Merat beobachten konnte, wie ein Zelt nach dem anderen in sich zusammensank. Über die Ebene näherte sich von der Stadt her eine Art vielfüßiger, bunter Schlange, wohl das Heer der Tetraosi, das seinen Weg vorbei an dem Lager der Söldner und der Baumgruppe nehmen würde, unter der Merat wartete.
 

Ein Oshey mit Ma'ouwati-Kopftuch ritt aus den Resten des Söldnerlagers heran, es war der kahlköpfige Mann, der sich um den Jungen gekümmert hatte. "Herrin, ich habe etwas von eurem Gatten für euch", sagte er und zog einen gefalteten Brief aus seinem Gürtel. Endlich Nachricht von Amemna! Mit Herzklopfen erhob Merat sich und streckte die Hand danach aus. Enttäuscht stellte sie fest, daß es ihr eigener Brief an Amemna war, zusammen mit dem Ohrgehänge. Immerhin hatte Amemna etwas in der Südländerschrift und -sprache unter ihre Worte geschrieben: 'Sei begrüßt im Lager der Söldner der Tetraosi, Merat. Derhan wird sich um dich kümmern bis wir den Platz für unser Nachtlager erreicht haben. Amemna.'
 

Kein Wort der Liebe oder des Begehrens, nicht mehr als neutrale Höflichkeit, und das, obwohl Amemna die Südländersprache in sehr differenzierter Weise beherrschte. Hatte Amemna schon mit ihrer Liebe abgeschlossen und deswegen den Scheidebrief geschrieben? Sie konnte sich angesichts ihres bisherigen Ehelebens kaum vorstellen, daß er es lange ohne eine Frau aushalten würde. Gegen die Gebote der Weisen und Heiligen hatte er sich selbst in Merats unreiner Zeit mit ihr vereinigt. Hatte er so schnell eine andere Frau gefunden oder hatte er, entgegen seiner Beteuerungen vor seiner Abreise nach Hannai, einem Mann seine weibliche Natur offenbart? Merat versuchte, den hochkochenden Zorn einzudämmen. Aber vielleicht hatte er sich durch seine Gefangenschaft ja geändert. Bei den Stammeslosen hatte er seine fast grenzenlos scheinende Lust wohl kaum ausleben können und vielleicht festgestellt, daß er auf ihre Befriedigung doch zeitweise verzichten konnte. Vielleicht hatte er sich in seinem Brief sogar absichtlich zurückgehalten, um seine Lust nach ihr nicht selbst zu wecken.
 

"Seid ihr Derhan?" fragte sie, als sie merkte, daß der Mawati noch immer in gebührlichem Abstand vor ihr wartete.
 

Der Mann nickte. "Ja, ich bin Derhan, Herrin", sagte er. "Euer Gatte befahl, daß ich mich um euch kümmere, bis wir Tarib erreicht haben."
 

Für einen gewöhnlichen Söldner machte der Mann einen zu gebildeten Eindruck, auch wenn sein Körperbau dafür sprach, daß er durchaus in der Lage war, seinen Lebensunterhalt mit dem Schwert an seiner Seite zu verdienen. "Welche Funktion habt ihr in der Wannim meines Mannes?" fragte Merat also.
 

Derhan grinste merkwürdig. "Die des Skeptikers", sagte er dann.
 

Merat glaubte, nicht richtig gehört zu haben, andererseits bestätigte diese Antwort ihre Annahme, die auf dem bloßen Augenschein beruht hatte: dieser Mann mußte eine Ausbildung außerhalb der Stämme erhalten haben. "Woran zweifelt ihr denn, Derhan?" wollte sie wissen.
 

"Ich mache mir zumeist keine Freunde mit meinen Worten, Herrin", antwortete Derhan allerdings ausweichend.
 

"Wir sind keine Freunde, also könnt ihr nichts verderben", erinnerte Merat.
 

Derhan lachte. "Da habt ihr recht. Aber trotzdem ist es nicht meine Aufgabe, euch über das komplizierte Beziehungsgeflecht der Mawati untereinander und zu ihrem Wanack oder Birh-Melack aufzuklären."
 

"Zumindest wißt ihr, wie ihr erfolgreich die Neugierde eines anderen wecken könnt", gab Merat zurück. Was für ein Beziehungsgeflecht meinte Derhan? Welcher Art von Beziehung vor allem? Hatte das etwas mit Amemnas auffälliger Kälte seiner Gattin gegenüber zu tun? Die Männer, die Amemna dienten waren doch alles Oshey. Da konnte es also kaum sein, daß einer von ihnen an Amemna die Art von Interesse hatte, wie es der Mawek Adarach in Ma'ouwat ihm ganz offen entgegenbrachte. Natürlich war das sehr zum Unwillen Murhans geschehen, der auch erfolgreich zu verhindern gewußt hatte, daß der rothaarige Ostler sich seinem Ziehsohn ungebührlich näherte. Und seit ihrem Fortgang aus Ma'ouwat hatte Amemna im Wachen auch nie mehr von Adarach um-Anasku gesprochen, obwohl ihn die Avancen des Mawek offensichtlich nicht gleichgültig gelassen hatten. Wenn Amemna im Schlaf gelegentlich Adarachs Namen flüsterte, hatte Merat versucht, es zu ignorieren, denn immerhin war er es gewesen, der Merat in Ma'ouwat vor dem Mob gerettet hatte, während Amemna mit seinem Rettungsversuch bei seiner und Merats Ziehmutter leider nicht erfolgreich gewesen war. Hatte Amemna sich also doch als Frau zu erkennen gegeben, wenn einer oder mehrere der guten Oshey seiner Wannim in einer Beziehung zu Amemna standen, die Derhan vor ihr nicht aussprechen konnte? Und Derhan hatte Recht gehabt, er machte sich keine Freunde mit seinen Worten. Sehr mühsam schluckte Merat den Zorn auf den Mawati herunter, der eigentlich Amemna gebührte, denn ihr Gatte war derjenige, der fehlgetreten war. Und bei aller Neugierde, welchen der Mawati Amemna dazu auserkoren hatte, seine Gelüste zu befriedigen, blieb Merat sich doch bewußt, daß es für eine verheiratete Frau nicht anständig war, sich mit einem fremden Mann weiter über ein Thema zu unterhalten, das in schlüpfrige Gefilde führte. "Habt ihr meinen Mann im Heerlager kennengelernt?" fragte Merat daher, um ein anderes Thema anzuschneiden.
 

Derhan sah hinunter zu dem Söldnerlager, von dem außer dem Erdwall kaum noch etwas stand. Die Männer beluden nun ihre Lasttiere und die Ochsenkarren. Und ein Blick auf die Heerschlange in der Ebene zeigte, daß sie tatsächlich doch ein gutes Stück östlich an ihrem Standort vorbeiziehen würde. "Ich habe ihn schon etwas früher kennengelernt, während seiner Gefangenschaft bei den Stammeslosen", sagte Derhan langsam.
 

"Dann seid ihr gemeinsam entkommen?" mutmaßte Merat.
 

Derhan nickte wie in Gedanken. "Ja, so könnte man es nennen."
 

Wie war Amemna die Flucht aus der Gefangenschaft denn so überraschend gelungen? Hatte er seinen Körper etwa in einer ganz speziellen Weise dazu eingesetzt? Nein, sie mußte aufhören, Amemna zu verurteilen, bevor sie auch nur ein paar Worte mit ihm persönlich gewechselt hatte. Allerdings waren die Männer dieser Wannim merkwürdig. Das konnte natürlich an den wohl erheblichen Verlusten in der Schlacht liegen, denn von den zehn Männern, die zu einer Wannim normalerweise gehörten, lebten von Amemnas Wannim anscheinend nur noch die Hälfte. Aber Merat war sehr sicher, daß weder der Zweite der Wannim noch dieser Derhan ein Darashy war. Als außerhalb der Stämme wohnende Männer hätten sie sicher einmal im Jahr ihre Familie besucht und auch dem Fürsten ihre Aufwartung gemacht, so daß Merat sie zumindest zwei Mal hätte sehen müssen. Aber sie waren so unhöflich gewesen, sich der Gattin ihres Befehlshabers nicht mit vollem Namen vorzustellen. "Wie kam es, daß ihr euch gemeinsam bei dem Heer der Hannaiim eingeschrieben habt? Mein Mann wollte doch nur Hannai besuchen", fragte Merat neugierig. Ob diese Männer zu den Stammeslosen gehört hatten und sich so erhofften, nach der Entlassung aus dem Heer ein ehrenhaftes Leben führen zu können?
 

Derhan sah Merat einen Moment an. "Er war durch die Umstände gezwungen, sich als Wanack zur Verfügung zu stellen", behauptete er dann.
 

Diese ausweichende Antwort bestätigte nur Merats Vermutung. Derhan und wohl auch der Zweite der Wannim waren Stammeslose. Mit einem Prinzen als Anführer würde jedoch niemand Fragen nach ihrer Herkunft stellen, jeder würde annehmen, seine Männer wären vom gleichen Stamm. Vielleicht war Amemnas Preis für die Freilassung die Annahme des Postens als Wanack gewesen. "Und wie ist mein Gatte zum Birh-Melack geworden?"
 

"Das waren die Umstände seiner Natur", antwortete Derhan darauf so schnell, daß Merat an der Ehrlichkeit dieser Antwort nicht zweifelte.
 

"War es der Umstand, daß er so auffällig über unirdisches Blut verfügt?" vergewisserte Merat sich. Es war immerhin nicht unwahrscheinlich, denn auch in den Zelten der Darashy hatte die Tatsache des auffälligen unirdischen Erbteils Amemnas vor zwei Jahren zu seiner spontanen Anerkennung als Sohn des Neffen des Fürsten geführt, obwohl Amemna kaum der Sprache der Oshey mächtig gewesen war und nichts über ihre Kultur wußte. Derhan würde vielleicht wieder eine Andeutung machen, wenn es anders war.
 

Derhan nickte aber nur, schien erleichtert zu sein, daß er nichts dazu sagen mußte. Offenbar also ein Thema, das diesem Skeptiker unangenehm war.
 

Als sie wieder in die Ebene schauten, sah Merat, daß eine zweite, schmalere, schnellere Heerschlange nun der großen hinterher eilte, das waren die Söldner, die ihr Lager inzwischen abgebrochen hatten. Patris saß auf und winkte die fürstlichen Wachen zu sich. "Es geht los", sagte Derhan und ging zu seinem Pferd, Merat begab sich zu ihrer Sänfte.
 

*
 

Auf dem langen, einsam in der Sänfte verbrachten Weg fühlte Merat sich ihren neuerlichen Verdächtigungen gegen Amemna geradezu ausgeliefert. Ihr Zorn auf ihren Ehemann wuchs ins Unermessliche. Doch plötzlich erinnerte Merat sich an die seltsame Begrüßung durch den Zweiten der Wannim und überlegte, wer der dritte der fürstlichen Familie der Darashy im Heerlager sein mochte, von dem er gesprochen hatte? Sollte Murhans Erstgeborener hier in diesem Heer ein Söldner sein? Er war ebenso ein Stammesloser wie zumindest einige der Männer aus Amemnas Wannim. Glücklich, ein besseres Ziel für ihren Zorn gefunden zu haben, beschloß Merat, bei der nächsten Rast Derhan zu befragen, denn vielleicht hatte er ja ebenso wie der Zweite der Wannim Kenntnis von dem ehemaligen Nefut Darashy erhalten, ihrem älteren Bruder, der ihre Mutter geschändet und deren Tod auf dem Gewissen hatte. So würde sie doch endlich Rache üben können.
 

Nach einigen Stunden machte ihre Abteilung des Heerwurms tatsächlich eine Rast an einem großen Brunnen. Reiter der Söldner bewachten die Rastenden, so wie sie ansonsten rechts und links des Heerwurms entlangritten. Einer der Reiter war der Zweite der Birh-Mellim, erkannte Merat, als er näherkam, sich vom Pferd schwang und vor Merat verbeugte. "Ich hoffe, der Weg ist nicht zu beschwerlich für euch, Herrin", sagte er ehrerbietig.
 

Merat lächelte ihn freundlich an. "Es ist alles in Ordnung", versicherte sie ihm. "Ich nehme an, mein Gatte ist zu beschäftigt, um mir hier während der Rast Gesellschaft zu leisten?" fragte sie dann, ohne die Hoffnung, eine gegenteilige Antwort zu erhalten.
 

"Ja, das ist er in der Tat", gab Wanack Perdinim zurück. "Aber soweit ich verstanden habe, sollt ihr bei seinen Zelten lagern und nicht im Troß, also werdet ihr euch spätestens zum Nachtessen seiner Gegenwart erfreuen können." Er verabschiedete sich mit einem knappen Nicken und ritt dann wieder davon.
 

Da Derhan sich in dem Moment in Merats Nähe niedersetzte, um etwas zu trinken, nutze sie die Gelegenheit. "Ich hörte", begann sie möglichst beiläufig, "daß sich auch ein älterer Sohn meines Vaters bei den Söldnern aufhält. Leider weiß ich nicht, wie ich ihn finden kann."
 

"Wie heißt er?" fragte Derhan ebenso beiläufig, und trank aus seinem Wasserschlauch.
 

"Einst hieß er Nefut Darashy, aber er wurde, wie ich glaube durch die Verkettung unglücklicher Umstände, vor siebzehn Jahren aus dem Stamm verstoßen. Er müßte jetzt etwas über dreißig Jahre alt sein."
 

"Also kennt ihr ihn nicht von Angesicht", schloß Derhan daraus.
 

Merat nickte. "Aber ich nehme an, daß er verhältnismäßig groß ist, vielleicht sogar so groß wie der Leibwächter meines Gatten, mit dem ich in eurem Zelt kurz sprach." Merat merkte, wie ihr Herz pochte bei dem Gedanken an diesen eindrucksvollen Mann. Ob Amemna sich gerade ihm genähert hatte? Seine Statur war ähnlich wie die des Maweks, und wenn das einen Hinweis auf Amemnas Vorlieben bei Männern gab, mochte es sein. Merat wurde unwohl bei der Vorstellung, ihrem Gatten nicht nur in Gedanken untreu zu werden, sondern vielleicht auch noch mit ihm in Konkurrenz zu treten.
 

"Und trägt er Spuren seiner Verstoßung?" fragte Derhan nach. Er sprach von ihrem unbekannten Bruder.
 

Merat erinnerte sich an die Worte ihrer Tante. "Er wurde ausgepeitscht, wahrscheinlich trägt er Narben davon."
 

"Wenn ich euch helfen kann, ihn zu finden, was wollt ihr dann von ihm?" fragte Derhan neugierig nach.
 

Ihn töten, vergiften, in eine Falle locken. Eine Falle wäre wohl das Beste, da Merat selbst dadurch gar nicht in Erscheinung trat. So konnte auch der Name Merat Darashy bei ihrem großer Bruder keinen Verdacht wecken, wenn er sich noch an den Namen des Kindes der Frau erinnerte, die er geschändet hatte. Derhan sah sie zweifelnd an, als sich die Pause in die Länge zog. "Ich würde euch bitten, ihm einen Brief zu überreichen", sagte sie schnell, und ihr fiel eine passende Geschichte ein. "Auf seine alten Tage trauert unser Vater nun seinem verstoßenen Erstgeborenen nach. Doch ich möchte meinen Bruder nicht drängen, der vielleicht noch einen Groll gegen unseren Vater hegt, also werde ich ihm schreiben, was unser Vater mir anvertraute, so daß er selbst entscheiden kann, wie er damit umgeht. Meinen Namen solltet ihr vielleicht gar nicht erwähnen, wenn ihr ihn findet." Schluckte er diese Erklärung?
 

Derhan nickte zögernd. "Ich werde mich umhören", versprach er. "Sollte ich ihn finden, werde ich es euch wissen lassen und ihm auch euren Brief geben."
 

"Ich danke euch sehr dafür", und das tat sie wirklich. Die Rache für ihre Mutter war ihr ein Herzenswunsch. Und es war eine weit bessere Beschäftigung für ihre müßigen Gedanken, als über Amemnas Gefühle oder seine Treue ihr gegenüber nachzudenken, oder über diesen eindrucksvollen Leibwächter.
 

* * *
 

16. Ehrerbietung

Jochawam gehörte der Regentin von Tetraos nun seit Anfang des Winters. Sie behandelte ihre Sklaven anständig, wenn sie die ihnen zugedachten Aufgaben zu ihrer Zufriedenheit erfüllten, Großzügigkeit war jedoch ein Charakterzug, der Jochawam an seiner Gebieterin bisher entgangen war. Er mußte damit rechnen, bald erneut kastriert zu werden. Vielleicht jedoch ließ sich dieser Moment hinauszögern, wenn er Baridas Befehl nachkam, und sich weiterhin überzeugend als Eunuch gab. Um den Anschein aufrecht zu erhalten, durfte Jochawam in nichts von seinem gewöhnlichen Tagesablauf abweichen. In der Dienstbotenküche frühstückte er mit den anderen Sklaven, fand sich zum Ringkampf in den Übungshöfen ein und begann, seine Kräfte mit einem seiner üblichen Partner zu messen. Doch er hatte nicht mit der plötzlichen, wilden Wut gerechnet, die ihn erfüllte, als der andere ihn auf dem Sandplatz ein paar Handbreit zurückgedrängt hatte. Jochawam warf seinen Gegner ohne Mühe zu Boden und hatte schon die Hände an seiner Kehle, bevor ihm bewußt wurde, was er da machte, von ihm abließ und ein paar Mal tief durchatmete, um wieder zur Ruhe zu kommen.
 

"Was ist los mit dir, Jochawam?" fragte der am Boden Liegende keuchend. Ihm war anscheinend für einen Moment die Luft weggeblieben und sein Gesicht zeigte blanke Angst.
 

Jochawam wich zurück und merkte, wie das Blut in seinen Schläfen pochte. Er bemühte sich weiter, langsam ein- und auszuatmen. Das war kein Angriff gewesen, den er rächen mußte. Das vor ihm war sein Übungspartner, und der hatte ihm nichts getan. Jochawam half dem anderen schließlich wieder auf die Beine, merkte, das seine eigenen Arme vor unterdrückter Wut noch immer zitterten.
 

"Das war heftig", stöhnte der andere, klopfte sich den Sand von seinem Rock. "Und du hast dich verletzt."
 

Erstaunt nahm Jochawam die Abschürfungen an linkem Arm und Knie zur Kenntnis, die er jedoch nur dumpf spürte. Er war offenbar ohne es zu merken über die steinerne Einfassung des Sandplatzes geschrammt, als er den anderen zu Boden gedrängt hatte. "Ich weiß nicht, wie das passieren konnte." Jochawam war zutiefst bestürzt über seine Tat. Er mußte sich in Zukunft zusammenreißen, damit er nicht doch noch andere verletzte und sich selbst verriet. Auch diese heftige Wut hatte man ihm anscheinend mit seinen Hoden genommen. Und in zehn Jahren hatte er fast verlernt, wie man sie kontrollierte. Nachdem Jochawam sich den Sand von den Schrammen gewaschen hatte, wagte sein Übungspartner jedoch trotzdem einen weiteren Gang mit ihm.
 

*
 

Die Gebieterin ließ Jochawam von den Übungshöfen zu sich rufen, dabei konnte es noch kaum die Zeit der Mittagsruhe sein. Angesichts des ungewöhnlichen Zeitpunkts ihres Befehls, wagte Jochawam nicht, sich zunächst zu waschen und umzukleiden, sondern folgte der kleinen Dienerin so verschwitzt und sandig wie er war bis in das Audienzzimmer der Regentin.
 

Barida hob mißbilligend eine Augenbraue, als Jochawam eintrat. "Du hättest dir die Zeit nehmen sollen, dich zu säubern, Sklave", wies sie Jochawam zurecht.
 

Jochawam senkte schuldbewußt den Kopf. "Ja, Gebieterin", sagte er leise.
 

"Ich kann dich nur als Eunuch brauchen", sagte Barida ohne ein erkennbares Gefühl.
 

Jochawam erschrak. So schnell also würde er seine wiedergeschenkte Männlichkeit verlieren. Vielleicht sollte er einfach versuchen, zu fliehen. Der Zwischenfall im Übungshof hatte ihm das verlorene Zutrauen in die eigene Stärke und Entschlossenheit zurückgegeben. Er wollte lieber auf der Flucht scheitern, als sich ohne Widerstand erneut entmannen zu lassen, und Jochawam merkte, daß er unbewußt beide Hände schützend vor seine Genitalien gelegt hatte.
 

Barida lächelte überheblich. "Nein, du darfst dein kostbares Geschenk behalten. Du wirst meinen Hof verlassen."
 

Jochawam atmete erleichtert auf, dann wurde ihm jedoch klar, welche Ungewißheit mit diesem Urteil verbunden war. Er mochte als Sklave der Regentin auf den Feldern eines tributpflichtigen Dorfes eingesetzt werden oder in einer der Bleiminen, aus denen kaum einer der königlichen Sklaven lebend zurückkehrte. "Was wird mit mir geschehen, Gebieterin?" fragte er, als Barida keine Anstalten machte, ihre Entscheidung weiter auszuführen.
 

Nun wurde das Lächeln Baridas freundlicher. "Ich werde dich verschenken, Jochawam. Ich denke, es gefällt deinem neuen Herrn, daß du ein Mann bist. Vielleicht läßt er dich sogar frei, zuzutrauen wäre es ihm."
 

Sie dachte an Amemna, mit unverkennbarer Lust dachte seine Gebieterin an den göttlichen Gesandten, der ihm seine Männlichkeit zurückgegeben hatte. In seinen Besitz überzugehen war ein weit erstrebenswerteres Schicksal, als alles, was Jochawam sich bisher auszumalen gewagt hatte. Wie begehrenswert Barida in diesem Moment aussah. Jochawam hatte das Gefühl, nie zuvor wahrhaft gewürdigt zu haben, wie hübsch ihr rundes Gesicht war, das volle, wenn auch an einigen Stellen schon grau werdende Haar und ihre grünen Augen.
 

"Mach dich zurecht, damit ich mich vor dem Osheyprinzen meines Geschenkes nicht schämen muß", ermahnte Barida Jochawam noch einmal. "Ich werde jemanden schicken, der dich zu ihm bringt."
 

Jochawam versuchte, seine freudige Erregung zu zügeln, verneigte sich und beeilte sich, in seine Kammer zu gelangen, um sich zu waschen und angemessen zu kleiden. Wenig später holte ihn einer der kleinen Diener der Regentin ab und führte ihn aus dem Palast, über die abschüssigen Straßen aus der Stadt und zum Heerlager der Tetraosi, das bereits zum großen Teil abgebaut war.
 

Der Diener gebot Jochawam, außerhalb eines der letzten noch stehenden Zelte zu warten, ging hinein und kam kurz darauf mit einem hochgewachsenen Oshey wieder heraus. Das war nicht Amemna, es war ein gefährlich aussehender Osheykrieger, der dem Alter nach Amemnas Vater hätte sein können. Vielleicht war er in den Diensten von Amemnas Vaters grau geworden und sorgte jetzt für den Sohn seines Herrn. Daß er sich als Beschützer Amemnas sah war jedenfalls unverkennbar. Jochawam bemühte sich, wieder ganz die Rolle des Eunuchensklaven zu verkörpern, denn in einem solchen würde dieser Krieger wohl keine Gefahr für seinen Herrn sehen. Der Oshey befragte Jochawam nach seinem Namen und seinem Begehr, doch dann trat endlich auch Amemna aus dem Zelt. Jochawam durchlief eine Welle der Erleichterung, als er sah, daß es seinem neuen Gebieter offensichtlich gut ging und der Traum von seiner eigenhändigen Entmannung wirklich nur ein böser Traum gewesen war.
 

Amemna setzte vor dem Zelt einen stoffumwickelten Helm auf, kam näher und fiel Jochawam ins Wort, als er gerade erklären wollte, daß er einer der Deckenwärmer der Regentin gewesen war. Der Göttliche Zwitter log seinem Beschützer mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen gerade ins Gesicht und schickte ihn fort, ein Pferd für Jochawam zu besorgen. Dabei schien er den anderen nicht aus Böswilligkeit zu täuschen, sondern eher aus Mitgefühl und Zuneigung. Vielleicht wollte er seinem väterlichen Vertrauten keine schlaflosen Nächte bereiten, denn Jochawams Wissen nach standen die meisten Oshey der männlichen Gestalt der Göttin mit großer Skepsis gegenüber.
 

Die anderen Männer, die aus dem Zelt herausgekommen waren, saßen auf ihre vor dem Zelt wartenden Pferde auf, Diener beeilten sich, das Zelt abzubauen und seinen Inhalt zusammenzupacken, die Reiter verschwanden zum ehemaligen Ausgang des Lagers. Amemna winkte Jochawam, ihm zu einer Fuchsstute zu folgen, saß auf und fragte: "Hast du kein Gepäck, Jochawam?"
 

Jochawam schüttelte den Kopf. "Nicht einmal die Kleidung, die ich am Leibe trage, gehört mir, Gebieter."
 

"Umso besserr. Komm hinterr mich", und mit einem Arm zog er Jochawam hinter den Sattel. Durch die Satteltaschen drohte Jochawam wieder herunter zu rutschen, so daß er seinem neuen Gebieter beherzt um die Taille griff, um sich festzuhalten. So dicht war er Amemna, hatte den dunkelhäutigen Nacken mit den zarten weißen Härchen, die dort wuchsen genau vor seiner Nase, in die nun auch der köstliche Duft des Göttlichen Zwitters stieg. Er konnte nicht anders, als Amemna einen Kuß auf den Hals zu drücken.
 

"Laß das Nefut nicht sehen", sagte Amemna leise, legte eine Hand auf Jochawams Oberschenkel.
 

"Das ist euer Vertrauter, nicht wahr, Gebieter?" fragte Jochawam und genoß die warme Hand auf seinem Oberschenkel. Die Erregung ließ sein Herz pochen und an seinen Händen, die um die schlanke Mitte seines neuen Gebieters lagen, meinte er den nicht minder erregten Herzschlag Amemnas zu spüren. Er wußte, daß die Lust in seinem Gebieter erwachte, und das Begehren nach dem wunderbaren Körper des Göttlichen Zwitters stieg in ihm auf.
 

"Du hast es auch", entfuhr es Amemna plötzlich erschrocken und er nahm die Hand von Jochawams Schenkel, löste Jochawamas Hände um seinen Leib. "So geht das nicht, rrunter mit dirr, Jochawam! Du gehst rrechts und ich gehe links des Pferrdes." Und ohne darauf zu warten, daß Jochawam seinen Befehl umsetzte, schwang Amemna ein Bein nach vorne auf die andere Seite und ließ sich aus dem Sattel gleiten.
 

"Entschuldigt, Gebieter", beeilte sich Jochawam verwirrt zu versichern und stieg ebenfalls ab. Was war dagegen einzuwenden, ein wenig in der Erinnerung an die in der Nacht zuvor genossenen Freuden zu schwelgen? Schweigend führte Amemna das Pferd am Zügel den anderen Reitern hinterher. Sie schienen die letzten zu sein, die das Lager verließen. "Gebieter, was habe ich falsch gemacht?" drängte Jochawam schließlich doch auf eine Antwort.
 

"Ich habe etwas falsch gemacht, Jochawam. Hätte ich geahnt, daß auch du unirrdisches Blut hast, hätte ich dich nicht so nah am mich herrangelassen", sagte er leise, so daß Jochawam es nur mit Mühe verstand.
 

"Was fürchtet ihr, Gebieter?" fragte Jochawam, während er sich schon anstrengen mußte, mit Amemna und dem Pferd Schritt zu halten. Was hatte es mit dem unirdischen Blut auf sich, von dem sein neuer Gebieter sprach?
 

"Ich fürrchte, mich nicht beherrrschen zu können, Jochawam. Es ist so verrlockend, sich diesen Gefühlen einfach hinzugeben. Wenn wirr heute abend das Lagerr aufgeschlagen haben, dann haben wirr vielleicht Gelegenheit, die Göttin zu feierrn." Amemna klang so traurig, als er es sagte.
 

"Ihr glaubt nicht daran, daß sich die Gelegenheit ergibt, nicht wahr, Gebieter?" fragte Jochawam nach.
 

Amemna sah ihn im Gehen über den Sattel seiner Stute hinweg an. "Es wirrd nicht einfach werrden, eine Gelegenheit zu finden, Jochawam. Nefut ist nicht nurr mein Leibwächterr, err ist mein Liebhaberr. Ich fürrchte, err wirrd eiferrsüchtig werrden, wenn err ahnt, was uns beide verrbindet. Und dann ist da noch meine Gattin, Merrat, die bisherr nicht einmal etwas von Nefut ahnt, von dirr ganz zu schweigen. Ich will ihrre Gefühle nicht verrletzten, so sehrr ich mich auch nach einerr weiterren Begegnung mit dirr sehne." Amemna war aber doch ein Gesandter der Göttin. Es war seine Bestimmung, die Lehre der Großen Mutter in der Welt zu verbreiten, Leidenschaft zu wecken und Befriedigung zu schenken. Warum hatte er jetzt plötzlich Vorbehalte, während er doch die Nacht zuvor das dreisame Beisammensein so offensichtlich genossen hatte. Amemna seufzte. "Es sind Oshey, Jochawam. Sie denken, man kann nicht gleichzeitig die selbe Zuneigung fürr mehrr als einen Geliebten empfinden, und natürrlich nicht als Mann fürr einen anderren Mann. Ich habe das Verrsteckspiel satt, aberr..."
 

"Gebieter, sie sollten euch dankbar sein für die Gunst, die ihr ihnen erweist, anstatt Ausschließlichkeitsansprüche zu stellen", wagte Jochawam einzuwerfen.
 

"Aberr ich habe Angst sie zu verrlieren, Jochawam. Das Band das Nefut und mich verrbindet, ist so dünn, daß es bei ein wenig mehrr Belastung rreißen wirrd, denn err heißt nicht alle Bedürrfnisse gut, die ich an einen Mann habe. Und Merrat wage ich garr nicht vorr die Augen zu trreten. Wenn ich ihrr beiwohne, wirrd sie wissen, daß ich selbst bei einem Mann gelegen habe, das ich sie in ihren Augen betrrogen habe. Ich hatte ihrr einen Scheidebrrief geschickt, weil ich gemerrkt hatte, daß ich mehrr will, mehrr brrauche als nurr sie, und sie es wohl nicht akzeptierren wirrd. Doch nun, da sie die Scheidung nicht angenommen hat, mirr sogarr nachgerreist ist, will ich sie doch nicht verrlierren. Und mein Zweiterr..." Amemna schüttelte den Kopf, als könne er dadurch die Beziehungen zu seinen Liebsten ordnen. "Ich weiß nicht, was ich tun kann, um allen glaubhaft meine Liebe zu verrsicherrn, und ich will doch noch mehrr als das. Ich werrde sie alle und dich und mich unglücklich machen." Verzweifelt sah Amemna über das Pferd zu Jochawam, als könne er ihm helfen.
 

Er war so jung und schön, und so herzzerreißend hoffnungslos. Jochawam wünschte sich, das Pferd würde plötzlich verschwinden, so daß er seinen neuen Gebieter einfach tröstend in die Arme schließen konnte. "Gebieter, ich werde euch in allem dienen, ohne Vorbehalte. Es macht mich so glücklich, in eurer Nähe sein zu können, daß nichts dieses Glück trüben könnte, außer wenn ich eurer Gegenwart beraubt würde. Meint ihr nicht, es könnte eurer Gattin und eurem Liebhaber ähnlich gehen? Wenn man euch nahe ist, ist man der Göttin selbst nahe, das werden auch sie bemerkt haben. Denkt ihr nicht, sie wollen euch glücklich sehen? Aber vielleicht fürchten sie einfach, ihr könntet nur einen Menschen lieben, weil sie eure Natur nicht verstehen. Redet mit ihnen, oder zeigt ihnen, wie ihr fühlt. Verzweifelt nicht schon an euren Befürchtungen darüber, wie sie reagieren könnten."
 

Sie hatten den Sammelplatz der Befehlshaber und ihres Gefolges fast erreicht. Ein Teil des Heeres der Tetraosi machte sich bereits auf den Marsch, die Reiter würden sich dem Zug wohl in Kürze anschließen. Amemna blieb stehen und berührte für einen Moment ganz leicht Jochawams Hand, die dieser auf dem Sattel hatte ruhen lassen. "Ich danke dirr, Jochawam. Und wenn es nach mirr geht, wirrst du meinerr Gegenwarrt nicht berraubt werrden. Aber du sollst selbst entscheiden können, doch zu gehen, wenn es dirr beliebt. Du bist ein frreierr Mann, und in meinerr Wannim ist ein Platz fürr dich, wenn du Interresse darran hast."
 

Jochawam bedauerte, daß die Berührung der kräftigen und doch so sanften Hand nicht länger angedauert hatte. "Ich werde an eurer Seite bleiben, bis zu meinem letzten Atemzug, Birh-Melack."
 

*
 

Der Heerzug hatte sich noch nicht weit bewegt, als Amemnas Vertrauter und Liebhaber wieder zu ihnen stieß, ein weiteres Pferd am Zügel, das bepackt war mit Vorräten, Decken und einem Osheymantel, der Jochawam recht gut paßte. Während der kurzen Rast am Wegrand wickelte Jochawam auch das Ma'ouwatituch um, und Amemna setzte Nefut davon in Kenntnis, daß Jochawam nun zu den Mawati gehörte.
 

Nefut sah es mit den osheytypischen Vorbehalten gegenüber Männern aus dem Osten, aber er nahm es stumm nickend zur Kenntnis.
 

"Besorrg ihm noch ein Schwerrt", befahl Amemna mit seiner Birh-Melack-Stimme.
 

"Kannst du mit einem Osheyschwert umgehen, Ostler?" fragte Nefut daraufhin skeptisch.
 

"Kürzere Klingen sind mir vertrauter", mußte Jochawam gestehen. Allerdings lag auch der letzte Gebrauch der typischen geraden Kerrschwerter schon zehn Jahre zurück.
 

"Dann mußt du dich selbst um ein Schwerrt bemühen, Jochawam", entschied Amemna. "Frrag im Söldnerrheerr, ob vielleicht eine derr Ostländerreinheiten ein Schwerrt zu verrkaufen haben. Das Geld bekommst du von mirr wenn du weißt, wieviel du brrauchst."
 

"In Ordnung, Birh-Melack", antwortete Jochawam zackig, schwang sich auf das ihm zugedachte Pferd, um den Heerwurm entlang zur Nachhut zu reiten, in der sich nach Amemnas Angabe die Söldner befanden. Wenn Amemna Gelegenheit bekam, ungestört mit seinem Liebhaber zu reden, mochte das dafür sorgen, daß der Oshey sich der Wichtigkeit der umfassenden Befriedigung seines Herrn bewußt wurde und vielleicht sogar Verständnis dafür entwickelte. Aber möglicherweise mußte Amemna seine Liebsten auch einfach vor vollendete Tatsachen stellen und sie entscheiden lassen, ob sie damit leben konnten, daß er noch andere Menschen begehrte.
 

Bei den Söldnern fand Jochawam eine aus dem Osten stammende Hundertschaft, deren Mawar Jochawam fragte, ob er ein Schwert zu verkaufen hatte. Der Mawar musterte Jochawam neugierig. "Wer bist du und zu wem gehörst du?" fragte er dann zurück.
 

Jochawam grüßte soldatisch. "Herr, ich heiße Jochawam um-Buhachu und gehöre zu den Mawati des Birh-Belack", sagte er stolz.
 

Der Mawar grinste bei dieser Antwort. "Ein Mann aus dem Osten in einer Osheywannim? Wie bis du denn dazu gekommen?" Seinem Dialekt nach mußte er zu den Irim oder sogar wie Jochawam selbst zu den Kerr gehören.
 

"Ich war in Gefangenschaft bei den Tetraosi. Der Birh-Melack hat meine Freilassung bewirkt und mich in seinen Dienst genommen, Herr", erklärte Jochawam. "Nun brauche ich ein Schwert, mit dem ich umgehen kann."
 

"Und der Birh-Melack hätte dir nur ein Osheyschwert geben können, richtig?"
 

Jochawam nickte.
 

Tatsächlich fand sich in der Mawim ein Schwert, das zum Verkauf stand und in Größe und Gewichtsverteilung ähnlich war wie diejenigen, die die Kerr zu verwenden pflegten. Jochawam schwang es ein paar Mal zur Probe und wunderte sich, wie schnell die vor Jahren zuletzt trainierten Bewegungsmuster wieder zutage kamen. "Was soll es kosten, Herr?" fragte er.
 

"Der Birh-Melack ist gut für das Geld?" fragte der Mawar mißtrauisch.
 

Jochawam nickte. "Sagt, was ihr verlangt, Herr, und ich bringe euch das Geld."
 

"Ich gebe dir einen Brief für den Oshey-Birh-Melack mit. Das Geld hat Zeit bis wir Tarib erreicht haben", und er winkte nach seinem Schreiber.
 

Jochawam hatte das Gefühl, die Ehre seines Birh-Melack verteidigen zu müssen. "Herr, der Birh-Melack ist kein Oshey", wandte Jochawam nachdrücklich ein, während der Mawar seinem Schreiber schon den Text diktierte.
 

"Jaja, ein... Unirdischer sei er sagen die Nordler allesamt, was immer das sein mag. Aber er kleidet sich wie ein Oshey", entgegnete der Mawar mit einer wegwerfenden Handbewegung, dann nahm er von seinem Schreiber den Brief entgegen. "Hauptsache er sorgt für unsere Bezahlung."
 

Jochawam konnte die mangelnde Ehrerbietung gegenüber seinem Birh-Melack nicht ertragen. "Aber er ist einer der Gesandten der Großen Mutter, einer der Göttlichen Zwitter!" rief Jochawam aufgebracht.
 

"Woher willst du das wissen?" fragte der Mawar kritisch. Er trug ein Amulett der Göttin an seinem Gürtel stellte Jochawam fest, als der Mann eine Hand in die Nähe der Kupferplakette legte. Anscheinend achtete der Mann also wenigstens die Göttin.
 

Um seinen Worten Glaubwürdigkeit zu verleihen, machte Jochawam das Zeichen der Göttin vor seinem Herzen. "Ich bin mir sehr sicher, denn er erlaubte mir, mit ihm die Göttin zu feiern."
 

Die Augen des Mawar weiteten sich staunend. "Wie kam es dazu?" fragte er ehrfürchtig.
 

Jochawam war im Zweifel, wie viel er von den Geschehnissen der vergangenen Nacht preisgeben durfte. Er befand sich zwar nicht mehr als Eunuch im Besitz der Regentin, aber er war als Mawati noch immer im Dienst der Regentin von Tetraos, auch wenn der Birh-Melack seine schützende Hand über ihn halten würde.
 

Der Mawar zog seine Schlüsse aus Jochawams Schweigen. "Ihr habt schon recht, das betrifft nur euch, den Birh-Melack und die Göttin. Mich geht das nichts an", sagte er plötzlich in einem sehr viel ehrerbietigeren, schon fast reumütigen Ton. "Vielleicht meinen die Nordler mit 'Unirdische' die Gesandten der Göttin. Das würde auch erklären, warum sie dem Birh-Melack mit solch ehrfürchtiger Scheu begegnen. Ich hatte das bisher immer als Nordlerunsinn abgetan. Ich muß bei dem Birh-Melack Abbitte leisten. Und bis dahin versichert euren Herrn bitte meiner untertänigsten Gefolgschaft. Das Schwert ist natürlich ein Geschenk an euch." Und der Mawar zerriß den Brief demonstrativ.
 

"Aber das kann ich nicht annehmen, Herr", widersprach Jochawam, auch wenn es ihn sehr freute, nun ein so prächtiges Schwert sein Eigen nennen zu können, ohne dafür seinen Herrn wegen des Geldes belästigen zu müssen.
 

"Oh doch, das könnt ihr. Ihr seid geheiligt durch die Aufmerksamkeit, die der Birh-Melack euch schenkte. Laßt mich euch auf diese Weise meine Ehrerbietung zum Ausdruck bringen." Und der Mawar verbeugte sich förmlich vor Jochawam.
 

Jochawam erwiderte die ehrlich gemeinte Verbeugung und ritt dann erwartungsvoll zurück zu seinem Herrn. Er erinnerte sich, daß Amemna gesagt hatte, Jochawam hätte unirdisches Blut und er dachte zurück an die Geschichten, die ihm als Knabe über seine eigenen Ahnen erzählt worden waren, wonach eine seiner Ururgroßmütter während des Rauschfestes von einem Göttlichen Zwitter empfangen hätte. Vielleicht stimmte das wirklich.
 

* * *
 

17. Bettgeflüster

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

17. Bettgeflüster (jugendfrei)

Merat war in einen Zustand des dumpfen Brütens verfallen, ohne klare Gedanken, nur mit einem Knoten der Wut in ihrem Bauch, als sie endlich, mit dem Einbruch der Dämmerung, den Platz erreichten, an dem das neue Heerlager bereits errichtet wurde. Eine Reihe von Zelten stand schon, ein umlaufender Erdwall war aufgeschüttet worden, und Feuerschalen beleuchteten die Wege durch das im Entstehen begriffene Lager. Patris sorgte dafür, daß ihre zwei Zelte neben denen der Mawati aufgestellt wurden.
 

"Kann mein Mann denn nicht bei mir, ich meine in meinem Zelt wohnen?" fragte Merat angesichts des kleinen Zeltes, das nach Derhans Aussage das Birh-Melack-Zelt war.
 

"Ich nehme an, für seine repräsentativen Aufgaben wird euer Gatte sein Birh-Melack-Zelt weiterhin brauchen, aber ich denke nicht, daß es weise wäre darauf zu verzichten, die Nacht an Eurer Seite zu verbringen", antwortete Derhan. Merat mußte über dieses versteckte, jedoch höchst unanständige Kompliment lächeln und drehte schamhaft den Kopf zur Seite. "Bitte entschuldigt mich nun, ihr seid sicher im Heerlager vor Tarib angekommen, und ich werde mich jetzt wieder meinen gewöhnlichen Pflichten zuwenden." Mit einer Verbeugung verabschiedete Derhan sich.
 

Merat entließ ihn mit einem Nicken, sah ihm nach und beobachtete, wie er ein Bündel Kleidung aus dem Mawatizelt holte, einen Waschzuber bereit stellte und mit zwei leeren Eimern davoneilte, wohl um Wasser zu holen. Hatte Amemna keine Diener in seiner Wannim, die solche niederen Aufgaben erledigten? Ein weiterer Mawati trat aus dem größeren Zelt, Oremar hatte der Zweite der Wannim ihn am Mittag genannt, auch er trug einen Arm voll Wäsche heraus, legte sie zu der anderen und verschwand danach wieder im Zelt. Durch den offenen Zelteingang sah Merat, daß er offenbar für die Essenszubereitung zuständig war. Vielleicht war es doch ganz gut, daß sie mit Gefolge gereist war, überlegte Merat, auch wenn sie auf der Reise die Sänfte mehrfach verwünscht hatte, denn auf einem Pferd hätte sie vielleicht einen Teil des Weges an Amemnas Seite zurücklegen können.
 

Inzwischen hatten die fürstlichen Wachen auch ihre beiden Zelte aufgestellt, eines für Merat, Amati und ihre Frauen und eines für die Wächter. Merat betrat ihr Zelt, in dem Losat begonnen hatte, eine Nachtmahlzeit zu kochen und Tabit die kleine Amati in den Schlaf stillte. Merats Nachtlager im zweiten Zeltraum hatte Losat breiter als gewöhnlich bereitet. Auch sie ging also anscheinend davon aus, daß Amemna und Merat die Nacht gemeinsam verbringen würden, aber Merat selbst zweifelte zunehmend daran. Sie setzte sich mit ihrer Speisenschüssel in die Nähe des offenen Eingangs, so daß sie verborgen saß, aber während der Mahlzeit das Mawatizelt und seinen Eingangsbereich sehen konnte. Im Lager kehrte langsam Ruhe ein, das stete Hämmern auf die Holzpfeiler für die Lagerbefestigung war verstummt, die Zelte anscheinend alle aufgebaut und die Kochfeuer entzündet.
 

Um das Kochfeuer im Mawatizelt saßen Derhan, Oremar und der Zweite der Wannim. Der Junge war nicht mehr dabei, vielleicht gehörte er eigentlich zu einer anderen Wannim, und auch der große Leibwächter fehlte. Während der Mahlzeit sprachen die Mawati nur wenig miteinander und so leise, daß Merat nichts davon verstand. Und der Birh-Melack war anscheinend noch immer anderweitig beschäftigt.
 

*
 

Müde, enttäuscht und in diffuser Weise zornig begab Merat sich schließlich auf ihr Lager, das völlig überflüssig so verschwenderisch bereitet worden war. Sie war schon fast eingeschlafen, als leise Stimmen im Vorraum des Zeltes ihre Aufmerksamkeit weckten. Losats Stimme erkannte sie und eine fast unterwürfig klingende Männerstimme. Merat wickelte sich aus ihren Decken und zog ihr Übergewand an, dann ging sie in den vorderen Zeltbereich. "Was ist los?" verlangte sie zu wissen, noch bevor sie sah, wer da Losat überzeugen wollte, ihre Herrin zu wecken. Dann sah sie von dem Mann eine Menge roter Locken, die ihr Herz einen Schlag aussetzen ließen. Adarach hier im Heerlager? Aber es war nicht seine Stimme und dieser Mann war zu klein, um Adarach zu sein, es war nur irgendein rothaariger Ostler. Und er bot den merkwürdigen Anblick eines Osheymantels, unter dem eine städtische Hose zu sehen war.
 

"Herrin, er hat einen Brief für euch, auf den er sofortige Antwort verlangt", sagte Losat hilflos, als sie sah, daß Merat offensichtlich nicht mehr schlief, obwohl sie mit gedämpfter Stimme versucht hatte, den Ostler abzuwimmeln.
 

"Was ist das für ein Brief?" fragte Merat.
 

Der Mann sah sie an. Sein Gesicht zeigte bereits Spuren des vorgeschrittenen Alters, aber sein Kinn war bartlos wie das eines Jünglings. Sie erinnerte sich, daß auch einige Ostler unter Adarachs Kommando sich ihren Kinnbart rasiert hatten, dieser hier hatte jedoch noch nicht einmal einen Wangenbart. "Euer Gatte schickt diesen Brief durch mich, Herrin", sagte der Ostler, nachdem er sich tief verbeugt hatte und reichte Merat das Schreiben.
 

"Ich erwarte dich", stand nur auf dem zweifach gefalteten Papyrus, in den Zeichen der Oshey und zweifellos in Amemnas Handschrift, endlich! "Wo ist er? Und warum kommt er nicht, um mich zu begrüßen?" fragte Merat ungeduldig.
 

"Ich soll euch zu ihm bringen, Herrin", antwortete der Ostler mit unbewegter Miene.
 

"Dann laß uns gehen." Merat war schon beim Zeitausgang, als Losat hinter ihr hereilte und sich streckte, um ihr den Schleier über die Haare zu legen. "Herrin, ihr seid die Gattin des Birh-Melack. Ihr könnt nicht halbnackt zwischen den Zelten herumspazieren", mahnte sie. Merat ließ sie gewähren, dann aber forderte sie den Ostler auf, sie schnell zu ihrem Gatten zu bringen.
 

"Wir haben keinen weiten Weg vor uns", erklärte der Ostler, als sie Merats Zelt verlassen hatten. "Euer Gatte erwartet euch im Birh-Melack-Zelt." Und er ging voran, als könne Merat den nur zehn Schritt weiten Weg nicht allein finden.
 

Aber Merat blieb vor ihrem Zelt stehen. "Wenn er im Nachbarzelt ist, warum kommt er nicht zu mir, wie es sich für einen Ehemann gehört?"
 

"Herrin, bitte, müssen wir hier zwischen den Zelten diskutieren?" fragte der Ostler leise, kam zurück zu Merat. "Mein Herr möchte euch etwas zeigen, daher kann er nicht zu euch kommen, Herrin." Seine Stimme klang fast flehend.
 

"Was möchte mir mein Gatte zeigen?" wollte Merat wissen, ohne sich einen Schritt zu bewegen. "Wieso bringt er es nicht mit, wenn er mich besucht."
 

Der Ostler trat nahe an Merat heran. "Weil es nicht anständig für eine verheiratete Oshey wäre, soetwas in ihrem Zelt zu dulden", raunte er ihr mit einem leichten Lächeln um die Lippen zu.
 

Das verschlug Merat für einen Moment die Sprache, und Derhans Worte gingen ihr wieder durch den Kopf. Wollte Amemna ihr nun das Beziehungsgeflecht zwischen den Mawati erläutern? Wollte er ihr gar seinen - sie wagte kaum, den Begriff auch nur gedanklich zu fassen - Liebhaber vorstellen? Den Mann aus der Wannim, der wußte, daß sein Birh-Melack auch eine Frau war? Wieso erregte dieser Gedanke sie unpassenderweise so sehr? "Laß uns gehen", befahl sie barsch, zornig auf sich selbst, und ließ dem Ostler den Vortritt.
 

Das Birh-Melack-Zelt war verschlossen aber von innen schwach beleuchtet. Der rothaarige Ostler hielt den Eingang für Merat auf und schloß ihn gleich darauf wieder. Das Zelt schien leer zu sein bis auf ein paar Kissen und ein Tischchen, darüber hing eine kleine Lampe von den Zeltstreben, daneben lagen mehrere Ma'ouwati-Tücher und ein Osheymantel, der aus ehemals wohl kostbarem Stoff geschneidert, nun jedoch schon geflickt und am Saum ausgefranst war. Merat mußte dafür sorgen, daß ihr Gatte sich zukünftig in angemessenerer Kleidung zeigte. Außerdem waren im hinteren Teil des kleinen Zeltraumes einige Decken aufgehängt, anscheinend um das Schlaflager herum. Dann entdeckte Merat einen zweiten schwarzen Mantel, der neben diesen aufgehängten Decken lag. Und sie nahm rhytmischen Atemgeräusche aus zwei Kehlen wahr, die eigentlich nur einen Schluß zuließen. Merat drehte sich um, um das Zelt wieder zu verlassen, aber der Ostler schüttelte den Kopf. "Euer Gatte sagte, ihr sollt bleiben. Ansonsten tut, was euch beliebt", raunte er ihr zu, als wolle er verhindern, daß die beiden Liebenden ihn hörten. Sollte sie riskieren, von dem kräftig aussehenden Ostler mit Gewalt am Verlassen des Zeltes gehindert zu werden?
 

Ein Stöhnen mischte sich in das regelmäßige leise Keuchen das von dem versteckten Lager her ertönte. Sie könne tun was ihr beliebt, außer das Zelt zu verlassen? Warum also nicht ihre morbide Neugierde befriedigen, um zu sehen, welcher der Mawati es war, den Amemna sich zur Befriedigung seiner Gelüste auserwählt hatte. Warum nicht dem bisher nur vermuteten Liebhaber ihres lüsternen Gatten, der sich die Befriedigung anscheinend wahllos suchte, sie jedoch seiner Frau vorenthielt, ein Gesicht geben? Es war Amemnas leises Stöhnen, das sie hörte, das Stöhnen, das seinem Höhepunkt vorauszugehen pflegte. Der Gedanke trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht und ließ zugleich ihren Schoß vor Verlangen pochen. Wieso tat er ihr das an? Wieso verlangte er, daß sie Zeugin wurde, wie er sich mit einem Mann vergnügte? Wollte er sie so überzeugen, die Scheidung anzunehmen? Zitternd vor Zorn und Erregung überbrückte sie mit langen Schritten die Distanz zu den aufgehängten Decken, riß sie herunter und hielt erschrocken inne.
 

Amemna hatte sie anscheinend erwartet, denn er sah sie so unverschämt selbstgefällig an, daß Merat einen Moment brauchte, um das ganze Bild, das sich ihr bot, wahrzunehmen. Ihr Ehemann knieteauf allen vieren, hatte das Gesicht zu Merat gedreht, während er sich von seinem für Merat noch immer namenlosen Leibwächter begatten ließ. In diesem Moment wurde Merat klar, wie sehr Amemna eine Frau war, viel schmaler als der Leibwächter, mit weicheren Gesichtszügen, auf denen sich in diesem Moment Anspannung und Erleichterung durch den Höhepunkt abzeichneten. Ein Anblick, der Merat wie ein Schlag durchfuhr und es ihr unmöglich machte, sich abzuwenden. Auch der Leibwächter erkannte die Göttin, und die im Licht der kleinen Lampe wie Bronze glänzende Haut der Schultern, die sich darunter bewegenden Muskeln verzauberten Merat, so daß ihr selbst ein Seufzen entfuhr.
 

Der Leibwächter starrte sie erschrocken an, vielleicht hatte er gedacht, sein Treiben hätte die Decken heruntergezogen. Er hatte sich von Amemna gelöst, wich auf Knien ein Stück zurück, so daß Merat Gelegenheit hatte, seine kräftigen Arme und die von schwarzem Haar bewachsene muskulöse Brust, den Bauch, und die Spur aus schwarzen Haaren, die von seinem Bauchnabel hinunter führte, zu bewundern, bevor ihr bewußt wurde, auf was sie starrte. Amemna gab seiner Gattin keine Gelegenheit, nun doch die Flucht zu ergreifen, oder sich auch nur abzuwenden. Er stand plötzlich vor ihr, nahm ihr Gesicht in seine schlanken, großen Hände, hauchte ihr einen Kuß auf die Lippen. "Laß mich auch dir Befriedigung verschaffen, Geliebte", flüsterte er in der Südländersprache, streifte plötzlich den Schleier von ihrem Haar, das Übergewand von ihren Schultern und zog sie in eine begehrliche Umarmung. Und wie in ihrem heimatlichen Zelt gab es von dem Moment an für Merat nichts anderes mehr, als dieses Sehnen in ihrer Brust und ihrem Innersten, sich jetzt in diesem Augenblick mit ihrem Mann zu vereinigen oder Gefahr zu laufen, vor lauter Begierde förmlich zu platzen.
 

Merat wollte schreien vor Anspannung, aber Amemna sah es voraus und schloß ihr in diesem Moment mit seinen Lippen den Mund. Er war ein Mann, ja, jetzt war er unzweifelhaft ein Mann, der sie begehrte, wie keine andere Frau unter Tyrimas Antlitz. Sie gab sich ihm ganz hin, bis sie endlich geschwächt und wie aus einem Rausch erwachte, als Amemna sich, zufrieden lächelnd, neben ihr auf sein Lager legte. Noch einmal küßte Amemna sie, streichelte sie, so daß die Lust wieder in ihr aufflammte. Außerdem wurde sie sich eines weiteren Händepaares bewußt, das etwas zögernd über ihr Haar strich, Fingerkuppen, die ihren Nacken liebkosten, den Rücken entlangstrichen, während Amemnas Hände beide an ihrer Vorderseite lagen. Merat wollte sich diesem Überfluß an Zuneigung hingeben, aber trotzdem war sie beunruhigt über jenes zweite Paar Hände. Wem gehörten sie? Was, wenn Amemna merkte, daß sie auch die Berührungen eines anderen genoß?
 

Sie sah, daß der Ostler die Decken wieder aufhängte und befestigte, also konnten es nur die Hände des Leibwächters sein, die sie streichelten, zögernd, fast fragend, als hätte dieser Mann ebenso viele Bedenken, was Amemnas oder ihre Reaktion betraf, obwohl er sich ebensowenig dem Rausch der Lust entziehen konnte, wie Merat. Sie schloß die Augen, küßte Amemna, gab sich zugleich den Händen jenes wunderbaren Mannes hin, der sie schon am Vormittag fast ihren Ehemann hatte vergessen lassen. "Frr'tschan ne - Ich begehre dich", flüsterten zwei Männerstimmen an ihrem Ohr und Merat glaubte, plötzlich in die Gärten der Freude versetzt worden zu sein. Der Leibwächter küßte ihren Nacken, während Amemna nun ihre Brust mit den Lippen und seiner Zungenspitze umschmeichelte. Ohne die Augen zu öffnen, bot sie sich den Männern dar, einer näherte seine breite behaarte Brust ihrem Busen, küßte sie und sie erwiderte den Kuß dieser weichen Lippen. So zärtlich liebte er sie, hauchte etwas in ihr Ohr, das wie ihr Name klang, so sehnsüchtig, daß es sie erschaudern ließ...
 

Für einen Augenblick erhaschte sie einen Blick auf Amemna, dessen Glieder mit den hellhäutigen des rothaarigen Ostlers verschlungen waren, doch dem Leibwächter galt ihre ganze Aufmerksamkeit. So wunderschön, so liebevoll, so beglückend war es gewesen, von ihm geliebt zu werden und nun war sein Gesicht so nah an ihrem, daß sie seinen Atem an der Wange spürte. "Prinzessin, verzeiht", flüsterte er. "Amemna muß mich verzaubert haben, daß ich mich euch so ungebührlich genähert habe."
 

Merat steichelte seine bärtige Wange, überraschend weich waren diese Haare, einige schon ergraut. Dies war ein Mann mit Erfahrungen, ganz anders, als ihr eigener Mann. "Ich habe nichts zu verzeihen, mein Prinz", sagte sie lächelnd. Es hätte sie nicht verwundert, wenn man ihr gesagt hätte, daß er tatsächlich der Fürst eines Stammes sei, doch er zuckte bei dieser Bezeichnung zusammen, als schmerze es ihn. War auch er ein Stammesloser?
 

"Nennt mich Nefut, Prinzessin", sagte er flüsternd.
 

"Dann nennt mich Merat, Nefut", verlangte sie ebenso flüsternd. "Liebt ihr meinen Mann?" fragte sie dann. Auch wenn es den Zauber des Augenblicks zerstören mochte, konnte sie diese Frage doch nicht zurückhalten.
 

"Ich liebe sie so sehr, wie ein Mann eine Unirdische nur lieben kann", gab Nefut zurück. "Und mein Glück wäre vollkommen, würde sie von mir empfangen." Es klang, als habe er Merat gerade seine geheimsten Wünsche offenbart, dabei war sie doch eine Fremde, die nur zufällig in einem gemeinsamen Rausch der Lust das Lager mit ihm geteilt hatte. "Liebt ihr euren Gatten denn?" fragte Nefut endlich zurück.
 

Merat konnte darauf nicht sofort antworten. Sie begehrte ihn, sie sorgte sich um sein Wohlbefinden, war zornig auf ihn, als der Verdacht der Untreue sich erhärtete, aber im Gegensatz zu dem Erlebnis mit Nefut soeben, war die Verbindung mit Amemna atemberaubend und furchterregend, fast zu viel für ein einzelnes Weib. Außerdem hatte er ihr einen Scheidebrief geschrieben. "Ich bin ihm in großer Zuneigung verbunden", sagte sie ausweichend. "Immerhin ist er mein Ehemann und Vater meiner Tochter."
 

Nefuts Blick hatte etwas Prüfendes, als er ihn auf Merat ruhen ließ, ihr zärtlich die Haare aus dem Gesicht strich. "Ihr habt die Schönheit und das Wesen eurer Mutter", sagte er lächelnd, auch wenn sein Gesicht etwas traurig wirkte.
 

So alt, daß er ihre Mutter gut gekannt haben konnte, war er jedoch kaum. "Ob sich soetwas jemals wiederholen darf?" fragte sie mehr sich selbst als Nefut. Und sie merkte, daß sie es sich wünschte.
 

Nefut sah an ihr vorbei, ihre Augen folgten seinem Blick, dorthin, wo Amemna in den Armen des Ostlers lag, die Augen geschlossen, ein seliges Lächeln auf den Lippen. "Ich habe sie nie so zufrieden gesehen. Ein einzelner Sterblicher reicht vielleicht einfach nicht, ihre Lust zu stillen." Das mochte eine Antwort sein, aber sicher war Merat sich da nicht.
 

Leise zog mit einem Mal der Gesang eines Mannes durch die nächtliche Stille des Lagers, ganz in der Nähe des Birh-Melack-Zeltes mußte der Sänger sich befinden. Eine bezaubernde Stimme, die von sterblicher Liebe und der Suche nach Glück sang. Für einen Moment wurde es erstaunlich still im Lager und im Zelt waren nur noch leise Atemgeräusche zu hören.
 

Amemna hatte seinen Kopf an die Schulter des Ostlers gelehnt und wirkte plötzlich wie entrückt, als gehe er ganz in dem Liebeslied auf oder vielleicht verzauberte ihn auch einfach die wunderbare Stimme des Sängers.
 

"Wer war das?" fragte der Ostler flüsternd, als das Lied verklungen war.
 

"Das war Hamarem", antwortete Nefut, zog Merat noch ein Stückchen weiter an sich, die in Amemnas Augen nun Tränen glitzern sah. Suchte er so verzweifelt nach seinem Glück, daß ihn ein solches Lied zum Weinen brachte? Hatte er mit dieser Orgie der Lust versucht, das, was ihm trotz Merat und Amati fehlte, zu finden und doch versagt? Oder war Amemna im Grunde seines Herzens einfach doch noch der Barbar von den Westlichen Inseln, der nur nach seinen Gelüsten lebte und jetzt bedauerte, daß die Erschöpfung nach ihm und seinen Liebhabern griff?
 

Und Merat stellte fest, wie sehr sie genoß, in so starken Armen zu liegen, die kräftige Körperbehaarung eines Mannes an ihrer Wange zu spüren, seinen Bart an ihrer Stirn. Es fühlte sich einfach richtig an. Der Ostler wischte Amemna die Tränen von den Wangen, fürsorglich wie bei einem Kind und küßte ihn gleich darauf geradezu lüstern, so daß Merat die Augen schloß, um es nicht sehen zu müssen, aber das Bild stand ihr weiterhin vor den Augen: zwei bartlose Männer, die sich anschickten, sich in unnatürlicher Weise zu vereinigen. Es kam ihr vor wie ein Verrat an der Göttin, Zeugin dessen werden zu müssen und sie drehte ihr Gesicht zu Nefut.
 

* * *
 

18. Vollkommenes Glück

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

18. Vollkommenes Glück (jugendfrei)

Ramilla kam zu den Mawati, deren Zelte inzwischen abgebaut und zusammengelegt auf einem der beiden Lastenkamele verstaut waren. Da sich der Knabe Nefut und Oremar gerade ein Stück entfernt befanden, begrüßte Hamarem seine Geliebte glücklich mit einem Kuß. "Meine Priesterin bleibt in Tetraos. Sie wird wirklich mit dem König verheiratet und holt Nefut zu sich", erklärte sie und winkte den Jungen, der gerade zu ihnen herüber sah, heran. "Deine Mutter läßt dich abholen", eröffnete sie ihm.
 

Nefut machte ein langes Gesicht. "Ich will lieber hier bei den Mawati bleiben." Seinen Widerwillen gegen das Gebot seiner Mutter konnte man förmlich greifen.
 

Ramilla schüttelte ermahnend den Kopf, legte eine Hand auf seine Schulter. "Gehorche deiner Mutter, Nefut. Wenn du älter bist wirst du sicher genügend Gelegenheiten haben, an einem Heerzug teilzunehmen. Und sei nicht wieder ungehorsam, denn ein weiteres Mal wird dich vielleicht niemand retten können."
 

Vor den finsteren Gedanken Nefuts mußte Hamarem sich willentlich abwenden, um nicht wieder in ihren Bann gezogen zu werden. Er sah Ramilla an. "Wirst du auch nach Tetraos gehen oder bleibst du hier im Lager." Immerhin war sie die Schülerin der Amapriesterin.
 

Ramillas Lächeln beruhigte Hamarem sehr. "Ich bleibe im Lager. Darf ich dich besuchen, wenn wir Tarib erreicht haben?"
 

Die begehrlichen Gedanken hinter Ramillas Worten waren so deutlich, daß Hamarem merkte, wie er plötzlich errötete. "Ich würde mich freuen, wenn du mich besuchst", antwortete er flüsternd.
 

Ramilla kam ganz nahe, küßte Hamarem auf die Wange. "Und mich freut es, daß es dich freut", flüsterte sie zum Abschied. Dann nahm sie die Hand des zornig zu Boden blickenden Nefut und ging mit ihm davon, vermutlich in den Teil des abgebauten Lagers, wo die Boten der Amapriesterin auf ihn warteten.
 

*
 

Hamarem und Oremar führten die Lastkamele und die überzähligen Pferde am Zügel, während sie mit dem Rest der Söldner nach Süden zogen, zurück dorthin, von wo sie vor zehn Tagen gekommen waren. Die anderen beiden Mawati und ihren Birh-Melack hatten sie seit dem Aufbruch aus der Ebene vor Tetraos nicht wieder zu Gesicht bekommen. Oremar schwieg zumeist und Hamarem hatte Zeit, von einer Zukunft mit Ramilla zu träumen. Ob ihr gemeinsames Kind auch ähnlich bunt gefleckte Augen wie er selbst bekommen würde? Ob es insofern der niedlichen Tochter der Darashyprinzessin ähneln würde? Hamarem dachte zurück an Derhans Bekenntnis, daß das höchste Entzücken für ihn nicht das Zeugen des Kindes gewesen sei, sondern das Kind leibhaftig in den Armen zu halten. Hamarem meinte, nun eine Ahnung davon zu haben, wieso Derhan so empfand. Ein Kind war das lebendige Zeichen der Verbundenheit und Liebe zu einem anderen Menschen, geradezu die eigene Zukunft in Form eines kleinen, hilfsbedürftigen Wesens. Was konnte es Schöneres geben, als diese Zukunft in den Händen zu halten, sie wachsen zu sehen, selbst dafür zu sorgen, daß sie gedieh und weitere Früchte trug.
 

Während der Rast lagerten sie mit einem Großteil der mit den Söldnern ziehenden Priesterschaft um einen Brunnen. Hamarem hoffte im Stillen, daß er irgendwie Gelegenheit bekam, wenigstens ein paar Worte mit Ramilla zu wechseln, aber statt dessen kam ein junger Orempriester zu ihm. Es war einer von denen, die zwei Tage zuvor mit Hamarem über die Rückkehr der Orempriesterschaft in das Heerlager gesprochen hatten. "Wir brauchen eure Hilfe", begann der Priester, sichtlich verstört. "Ihr kennt doch alle Priester und Gottgeweihten hier im Lager, nachdem ihr ja für die Zivilisten im Lager zuständig seid, nicht wahr?"
 

Unwillig, sich von seinen Zukunftsträumen abzuwenden, hielt es Hamarem doch für richtig, die Vorstellungen des jungen Priesters zu korrigieren. "Alle kenne ich nicht." Als sich daraufhin deutliche Unruhe in den Kräften um den jungen Priester manifestierte, versuchte Hamarem, ihn zu beschwichtigen. "Ich kenne jedoch alle Gruppen, so daß wir sicherlich jedermann hier im Lager ausfindig machen können."
 

"Unser ehrwürdiger Vater ist verschwunden", rückte der Priester dann mit der Sprache heraus, in gedämpftem Ton, anscheinend damit Oremar, der in der Nähe saß, nicht zu viel zu hören bekam. "Gestern abend wollte er sich mit einem anderen Priester aus dem Lager treffen, den er vor vier Tagen kennengelernt habe, wie er sagte. Der ehrwürdige Vater war offensichtlich beunruhigt über irgend etwas, sprach von Dämonen und Unirdischen und daß er sich mit dem anderen Priester auch darüber unterhalten hätte und nun dessen Meinung zu jener beunruhigenden Entdeckung hören wolle, die er gemacht habe."
 

"Was für eine beunruhigende Entdeckung meinte euer ehrwürdiger Vater denn?" wollte Hamarem wissen. Er selbst hatte sich vor vier Tagen mit dem uralten Orempriester unterhalten, über Unirdische und ihre Nichtmenschlichkeit. Aber der ehrwürdige Vater konnte kaum Hamarem gemeint haben, da er ja von einem anderen Priester gesprochen hatte und der ehrwürdige Vater wußte, daß Hamarem sein Priesteramt schon vor ein paar Jahren niedergelegt hatte.
 

"Das wissen wir nicht. Er hat uns nichts Näheres gesagt. Als unser ehrwürdiger Vater heute morgen noch nicht zurückgekehrt war, nahmen wir an, er hätte mit dem anderen Priester noch bis spät in die Nacht diskutiert und dann bei ihm übernachtet, aber als zur Mittagszeit das Signal zum Aufbruch durch das Lager ging, war er noch immer nicht zurückgekehrt und wir begannen, uns Sorgen zu machen."
 

"Er ist nicht vielleicht an unserem Lagerplatz bei Tetraos zurückgeblieben? Viele Verwundete der Schlacht blieben in der Obhut einiger Priester des Ungenannten zurück", gab Hamarem zu bedenken.
 

Aber der junge Priester schüttelte besorgt seinen Kopf. "Das haben wir bereits nachgeprüft."
 

Hamarem war sich sicher, daß es während des Heerzuges nicht möglich war, einen einzelnen Mann in der Menge zu finden. "Ich werde die Lagerwachen und die Reiterei, die für unsere Bedeckung sorgt, darauf hinweisen, daß der ehrwürdige Vater verschwunden ist. So werde ich sicher sofort erfahren, falls er irgendwo zurückgeblieben ist oder sich offensichtlich irgendwo im Heerzug befindet. Ansonsten kann ich euch nur bitten, bis zu unserer Ankunft in Tarib zu warten und darauf zu vertrauen, daß Orem die seinen beschützt."
 

"Könnt ihr denn nicht irgendwie nach ihm suchen lassen?" drängte der junge Priester.
 

Hamarem schüttelte den Kopf. "Es ist alles in Bewegung. Wie könnte man da einen einzelnen Mann finden? Ich werde nach ihm suchen lassen, wenn das neue Heerlager errichtet worden ist und auch den Befehlshabern von dem ehrwürdigen Vater berichten. Dann sollten wir ihn finden, wenn er sich denn im Lager befindet."
 

Notgedrungen gab sich der junge Priester mit Hamarems Antwort zufrieden, verabschiedete sich und ging. Hamarem aber wurde das Gefühl nicht los, daß der ehrwürdige Vater doch mit ihm hatte sprechen wollen, aus welchem Grund auch immer. Was mochte ihn daran gehindert haben? Hamarem war den ganzen vergangenen Abend und die  Nacht im Lager gewesen, wenn er auch nicht die ganze Zeit im Mawatizelt verbracht hatte. In den frühen Morgenstunden hatte er ja kurz die Amapriesterin in ihrem Zelt aufgesucht. Und dann fiel ihm ein, daß er bei Amemna noch Abbitte für seine Worte am Vortag zu leisten hatte. Um zu verhindern, daß seine Gedanken wieder in einem undurchdringlichen Geflecht aus Schuldgefühlen und unangemessener Begierde seinem Birh-Melack gegenüber gefangen wurden, versuchte er, das Problem eines vertraulichen Gespräches mit dem Birh-Melack rein wissenschaftlich zu betrachten.
 

Er mußte bald mit Amemna sprechen und bis dahin einen Weg finden, die gegenseitige Erhitzung zu verhindern. Da es durch ihrer beiden unirdischen Fähigkeiten zu dem bereits mehrfach erlebten Hochschaukeln der Lust kam, wenn einer von ihnen sich an eine amouröse Begegnung erinnerte, mußte Hamarem also seine eigenen unirdischen Fähigkeiten irgendwie unterdrücken. Und er erinnerte sich an die Schlacht gegen die Tetraosi vor sieben Tagen. Da hatte er die Kräfte nur gedämpft wahrgenommen und die Gefühle anderer praktisch gar nicht geteilt - als die Betäubung des am Vorabend eingenommenen Stechapfelsuds noch wirkte. Bisher hatte er den in Hannai gekauften Stechapfelsud noch immer nicht weggegossen, vielleicht erwies sich das nun als Segen. Für den gewünschten Effekt mochte sogar eine Dosis von wenigen Tropfen ausreichen, die Hamarem nicht vollkommen betäubte. Dann wäre es, als sitze seinem Birh-Melack ein beliebiger Mawati gegenüber. Vielleicht konnte Ramilla ihm helfen, die richtige Dosis zu bestimmen, indem er den Sud tropfenweise einnahm und an ihr prüfte, wie viel ihrer Gefühle und Gedanken er noch wahrnahm. Doch dann mußte er ihr sagen, was er damit zu verhindern suchte, und mit dem ihr eigenen Scharfsinn würde sie sicher erkennen, wie viel Hamarem an Amemna gelegen war und welcher Art sein Interesse an dem schönen, jungen und aller Wahrscheinlichkeit nach zweigeschlechtlichen Birh-Melack war, obwohl er doch in Ramilla eine ebenso schöne und fast ebenso junge Geliebte hatte, die einem Mann Erfüllung genug schenkte. Vielleicht würde sie sich beleidigt oder sogar verletzt von ihm abwenden. Und Hamarem versuchte, wieder von einer kinderreichen Zukunft mit Ramilla zu träumen.
 

*
 

Mit dem Einbruch der Dunkelheit erreichten sie endlich den neuen Lagerplatz. Hamarem erinnerte sich an das Gespräch mit dem Orempriester und schickte Nachricht an die tetraosischen Lagerwachen, daß der ehrwürdige Vater der Orempriesterschaft vermißt wurde und schließlich setzten er, Oremar und Derhan sich gemeinsam zum Nachtmahl an das Kochfeuer. Sogar Nefut kam endlich dazu, zusammen mit einem rothaarigen Ostler.
 

Der Ostler trug den Mantel und das Ma'ouwati-Tuch, die Nefut noch während des Aufbruches des Heerlagers mit sich genommen hatte, außerdem ein kurzes Ostlerschwert an einem Ledergürtel, den er quer über der Brust trug. Das war also der neue Mawati.
 

Der Ostler nahm wie Nefut das Ma'ouwati-Tuch ab und verneigte sich ohne zu Zögern vor Hamarem. "Ich bin Jochawam, ein ehemaliger Eunuch aus dem Besitz der Regentin von Tetraos", stellte er sich vor. Die in leichter Bewegung um ihn befindlichen Kräfte ließen darauf schließen, daß dieser Satz mit Bedacht formuliert worden war. "Meine Gebieterin schenkte mich eurem Herrn, dem es wiederum gefiel, mich freizulassen und seiner Wannim einzugliedern."
 

Hamarem lud den Ostler ein, sich zu setzen. Im Licht des Kochfeuers sah man, daß sein schon etwas faltiges Gesicht nicht rasiert sondern, wie bei Amemna, völlig bartlos war. In Hannai und im Gefolge von Fürsten, die das Oremorakel in Harna besucht hatten, waren Hamarem schon solche jünglingshaften Männer aufgefallen, Sklaven in einem Harem und ergebene Diener ihrer Herren, doch keiner davon hatte den Eindruck gemacht, mit der Waffe dienen zu können. Hamarem hatte sich selbst mehr Fertigkeiten im Kampf zugetraut als den Eunuchen. Dieser Mann vor ihm jedoch war trotz seines Aussehens kein Eunuch, das war deutlich. Und wenn er meinte was er sagte und er wirklich ein ehemaliger Eunuch war, konnte das nur bedeuten, daß hier irgendwie die Heilungskräfte des Birh-Melack ins Spiel gekommen waren. Der Blick, mit dem ihn der Ostler musterte, war beunruhigend wissend. Er hatte erkannt, daß Hamarem ihn durchschaute, aber es war, als habe er ihm erlaubt, ihn zu durchschauen.
 

Nefut sagte zunächst nichts, sondern machte sich über den Rest des Nachmahles her, gab immerhin auch dem Ostler eine Portion ab. Doch dann sah er Derhan eine Weile über das Feuer hinweg an und fragte: "War es eine angenehme Aufgabe, sich um die Prinzessin zu kümmern? Ich sah, daß ihr euch recht angeregt unterhalten habt." Völlig unangemessene Eifersucht lag in den Kräften um Nefut. Oder galt diese Eifersucht nicht Derhan, sondern Amemnas Gattin, deren Anwesenheit Nefut jetzt den Weg in Amemnas Arme verwehrte?
 

"Sie ist eine interessante Frau", gab Derhan zurück. "Und sie hat Familiensinn." Er ließ Nefut bei dieser Antwort nicht aus den Augen.
 

Die Kräfte um Nefut reagierten auf die Worte wie auf einen Schlag. Aber er presste nur die Kiefer aufeinander und entgegnete nichts. Die Spannung zwischen ihm und Derhan war jedoch für alle greifbar. Ob auch Derhan wußte, daß Nefut und Merat Geschwister waren? Seine Worte legten es nahe.
 

In das peinliche Schweigen hinein betrat schließlich Amemna das Mawatizelt. Sogleich versuchte Oremar, Nefut den Topf mit dem Essensrest zu entreißen. "Herr, wollt ihr noch etwas von dem Nachtessen?" fragte er.
 

Amemna schüttelte den Kopf. "Ich habe keinen Hungerr. Drrei von euch werrden mich morrgen als Leibwache auf den Aufklärrungsrritt begleiten, macht unterr euch aus, werr das sein soll. Die anderren bleiben hierr und sorrgen fürr die Sicherrheit meinerr Frrau", bestimmte er. "Mit dirr, Hamarrem", und seine grauen Augen musterten Hamarem mit einem einschüchternden Blick, "will ich morrgen in allerr Frrühe rreden, ungestörrt, also sorrge dafürr, daß du deine sonstigen Pflichten delegierrst."
 

Hamarem nickte. Die Kräfte um Amemna waren mit besorgniserregender Heftigkeit in Bewegung, aber alles was Hamarem von ihm wahrnahm, war so etwas wie Ungeduld. "Wollt ihr einen Bericht über die Zivilisten, die im..."
 

"Du wirrst morrgen errfahrren, was ich will", schnitt Amemna ihm das Wort ab.
 

Hamarem hatte den Eindruck, Amemna wappnete sich für einen bevorstehenden Kampf. Er regelte alles Wesentliche für den kommenden Tag, duldete aber keine Ablenkung in seiner Konzentration auf die unmittelbar bevorstehende Aufgabe. Was hatte er vor? Wollte er seiner Gattin von Nefut und ihrer besonderen Beziehung unterrichten? Es schien fast so, denn er gab dem Ostler ein mehrfach gefaltetes Stück Papyrus. "Brring das meinerr Frrau, wenn du mit dem Essen ferrtig bist", sagte er. "Und du kommst jetzt mit, frr'tschan", befahl er Nefut dann und wandte sich zum Gehen, ohne sich zu vergewissern, ob Nefut ihm tatsächlich folgte. Fast wehmütig sah Nefut auf den Rest, der sich noch immer in dem Kochtopf befand, sprang dann aber gleich auf, um seinem Herrn zu gehorchen. Hamarem sah, wie die Kräfte um Nefut vor Begierde zu glühen begannen, dann verschwanden er und Amemna im Birh-Melack-Zelt und sein Eingang wurde verschlossen.
 

Demnach schienen Hamarems Worte glücklicherweise keinen bleibenden Schaden verursacht zu haben, wenn Amemna Nefut so offen zu seinem Lager rief und Nefut dem mit ebenso großer Offenheit nachkam. Hamarem hatte also Grund zu der Hoffnung, daß Amemna bei dem Gespräch am kommenden Morgen geneigt war, seine Entschuldigung anzuhören. Davor mußte er nur die richtige Menge des Stechapfelsuds zu sich nehmen.
 

"Sie tun es wirklich, nicht wahr?" fragte Oremar plötzlich in die Runde.
 

Derhan nickte. "Ja, sie treiben es wie die Ostler", dann wurde ihm anscheinend bewußt, wer mit ihnen am Kochfeuer saß. "Entschuldige, Jochawam. Ich wollte dich nicht beleidigen."
 

"Sieh dich lieber vor, nicht respektlos von deinem Birh-Melack zu sprechen", ermahnte Hamarem ihn. Zumal Nefut vermutlich keinem Mann beiwohnte, wenn er mit Amemna Intimitäten pflegte.
 

"Tu nicht so, Hamarem. Du weißt doch auch, was Nefut und unser unirdischer Birh-Melack treiben", gab Derhan aufgebracht zurück. "Soviel wirst sogar du von der Südlersprache verstehen. Das hat nichts mit mangelndem Respekt meinerseits zu tun, sondern eher mit mangelnder Diskretion auf seiten unseres Birh-Melack. Immerhin ist sein Eheweib hier im Lager!"
 

"Diskretion ist wohl nicht gerade eine Stärke dieser Wannim", ließ sich in dem Moment Ramilla vom Zelteingang her vernehmen. Sie lächelte Hamarem so verheißungsvoll an, daß er die anderen drei Männer ignorierte und aufsprang, um sie in die Arme zu schließen.
 

"Immerhin du hast halbwegs Vernunft angenommen, Hamarem", brummte Derhan noch leise, dann half er Oremar, das Geschirr zu säubern und das Frühstück vorzubereiten. Der Ostler war unbemerkt verschwunden.
 

Ramillas Glut und der Duft ihrer Erregung begannen bereits, Hamarem zu erhitzen. "Bitte, alle wissen schon Bescheid", flehte er peinlich berührt, als Ramilla ansetzte, ihm die Lippen mit einem Kuß zu verschließen.
 

"Wo liegt dann das Problem, wenn alle Bescheid wissen?" fragte sie herausfordernd. Bevor Hamarem einen Gedanken fassen konnte, raubte Ramilla sich einen Kuß und zog Hamarem dann zu seinem Lager. Diesmal begann sie, in aller Eile Seile zu spannen und Decken darüber zu hängen, um ein ungestörtes Plätzchen zu haben, das durch das noch immer brennende Kochfeuer sogar erstaunlich gut beleuchtet war. Hamarem konnte bei respektlosen Äußerungen der anderen Mawati zwar auf seinen Status als Zweiter der Wannim pochen, aber er hoffte, daß Ramilla bald wieder im Zelt der Ama diente, denn dann konnten sie beisammen sein, ohne daß Oremar und Derhan praktisch neben ihrem Liebeslager das Bohnenspiel spielten.
 

Ramilla umschlang Hamarem geradezu, als sie endlich auf seinem Lager saßen und entlockte ihm so ungewollt ein begehrliches Stöhnen. Nur einen Moment erstaunt über seinen Körper, der allen Bedenken über das Publikum jenseits der Decken zum Trotz sogleich auf die Berührungen antwortete, ergab Hamarem sich schnell dem Rausch der Lust, der ihn erfaßte. Ramilla erzitterte unter seinen Berührungen, als er sie hastig entkleidete, stöhnte laut, doch war es Hamarem in diesem Moment einerlei, selbst wenn es noch zwei Zelte weiter zu hören gewesen wäre. Er wollte nur Ramilla zur vollkommenen Befriedigung verhelfen, ihr mit seinem Körper dienen um dann selbst ihre Ekstase in sich aufnehmen zu können wie erquickendes Wasser oder süßen Honig.
 

Seltsame Echos der Lust erschütterten die Kräfte um Ramilla und Hamarem kurz nachdem sie das Ziel ihres Bemühens erreicht hatten, als wäre plötzlich die ganze Wannim in geiler Umnachtung übereinander hergefallen und fast verlor Hamarem wieder einmal in Ramillas Gegenwart das Bewußtsein.
 

"Bist du noch bei mir?" fragte sie, den Kopf an seine Brust gelegt.
 

"Ich bin noch bei dir", flüsterte Hamarem zurück. Er vermutete, daß diese eindeutig aus mehr als zwei Quellen stammenden Schwingungen der Kräfte aus dem Zelt des Birh-Melack zu ihnen gedrungen waren. Um nicht zu überlegen, um wen es sich bei diesen Quellen gehandelt haben mochte, zog Hamarem Ramilla enger an sich und sang für die Mutter seiner ungeborenen Kinder ein Lied über die Liebe, ihre Erwiderung und das damit gefundene vollkommene Glück.
 

"Das war ein schönes Lied", flüsterte Ramilla eine ganze Weile nachdem der letzte Ton verklungen war. Aber woher kam dieses Gefühl der unerfüllten Sehnsucht?
 

Von Ramilla sicher nicht. Die Kräfte hatten sich wie eine Decke um sie gelegt und sie schmiegte sich sehr zufrieden an Hamarem, küßte zärtlich seinen Hals, streichelte mit einer Hand seinen Bart, mit der anderen seine Brust. Hamarem beugte sich über sie und küßte sie auf die Lippen und genoß ihre warme, nachgiebige Gegenwart. Ramilla strich ihm die Haare hinter die Ohren, sah lächelnd zu ihm auf. "Du machst mich sehr glücklich", flüsterte sie. "Ich wünschte, wir könnten für immer hier liegen."
 

Hamarem mußte lachen. "Das wünschte ich auch, und doch wird es nicht möglich sein", flüsterte er zurück. "Ich muß morgen früh mit meinem Herrn sprechen und du wirst irgendwann wieder ins Amazelt zurückkehren müssen." Außerdem mußte er noch herausfinden, wie viel des Stechapfelsuds nötig war, um seine unirdischen Fähigkeiten wirksam zu dämpfen.
 

"Ich bin jetzt die Priesterin. Ich werde nicht die ganze Nacht bei dir bleiben können", flüsterte Ramilla wieder mit leichtem Bedauern in der Stimme. "Morgen abend werde ich wiederkommen, für eine Weile." Sie erhob sich zum Sitzen, umarmte Hamarem und küßte ihn auf die Wange.
 

"Ich brauche noch deine Hilfe", bat Hamarem.
 

"Wobei?" wollte Ramilla wissen, während sie sich das prachtvolle, perlenbestickte Brustband wieder umband, das Hamarem vor kurzem erst mühsam gelöst hatte. Dann schlüpfte sie in ihr Kleid, legte den Schleier auf ihren Schoß.
 

Hamarem nahm die Phiole mit dem Stechapfelsud aus seiner Tasche.
 

"Was ist das?" fragte Ramilla neugierig, nahm die Phiole aus Hamarems Hand und zog den Korken heraus. Sie roch vorsichtig am Inhalt. "Das riecht wie sehr starker Oinos, mit irgendwelchen Auszügen. Wofür willst du das verwenden?"
 

"Das ist Stechapfelsud, vermutlich ist die Aufkochung mit Oinos versetzt worden, da kannst du recht haben. Es wirkt anders, als der Sud, der in Harna verwendet wird. Er betäubt auch meine unirdischen Fähigkeiten."
 

"Wozu willst du die denn betäuben? Ich mag es, wenn du mit den Kräften um mich spielst", Ramilla grinste frech. "Und es kann gut sein, daß es allein der Oinos ist, der auf deine Fähigkeiten wirkt und nicht der Stechapfel. Deswegen wird doch das Rauschfest bei den Ostländern gefeiert." Auf Hamarems fragenden Blick ergänzte Ramilla: "Der Held Buhachan hatte den Fürst der Dämonen zu einem Wettrinken gefordert und konnte ihn in berauschtem Zustand töten, weil dessen Kräfte gelähmt waren. Und diese Dämonenkräfte werden sehr ähnlich beschrieben wie diejenigen der Unirdischen, von denen die Legenden der Nordländer berichten."
 

"Du meinst also, der Oinos reduziert uns alle auf unsere menschliche Natur, bis er uns die Besinnung ganz nimmt?" fragte Hamarem, der zwar noch nichts vom Rauschfest gehört hatte, aber schon einige wilde Geschichten über die Wirkungen des Oinos.
 

"Wozu willst du deine Kräfte betäuben, Hamarem?" fragte Ramilla noch einmal.
 

Hamarem roch selbst an der Phiole und verschloß sie schnell wieder, als der stechende Geruch in seine Nase drang. Ramilla hatte recht, es konnte sich um sehr starken Oinos handeln, der diesen Geruch und das Brennen im Hals verursachte.
 

"Antworte mir, Hamarem. Stechapfel ist keine Droge, die man leichtfertig zu sich nimmt", drängte sie.
 

Hamarem verwünschte Ramillas Bildung und ihren Verstand, und schämte sich gleich darauf dafür. Er atmete tief durch, es half ja nichts, irgendwann mußte Ramilla es erfahren. "Ich habe morgen in aller Frühe eine Unterredung mit meinem Birh-Melack. Ich möchte verhindern, daß ich wieder seine Gedanken und seine Gefühle aufnehme", raunte er ihr zu.
 

"Warum fürchtest du, seine Gefühle und Gedanken aufzunehmen? Ich finde, dein Birh-Melack sieht wie ein anständiger junger Mann aus, und ich dachte, er sei dir sympatisch", flüsterte Ramilla dicht an seinem Ohr.
 

"Wenn du wüßtest", entgegnete Hamarem und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen.
 

"Wenn ich was wüßte?" stieß Ramilla sofort nach.
 

"Ja, er sieht aus wie ein anständiger junger Mann und er ist mir sympatisch, sehr viel mehr als sympatisch. Meine Gefühle für ihn sind denen, die ich für dich hege sehr ähnlich", gestand Hamarem leise.
 

Ramilla strich lächelnd über Hamarems Bart. "Oh, mein armer, geliebter Oshey. Will sich dir die Göttin auch in ihrer männlichen Gestalt nähern?"
 

Hamarem wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken und Ramilla spottete über ihn. Immerhin war sie nicht zornig über diese Eröffnung, also nickte er zaghaft.
 

"Aber dein Birh-Melack scheint dem doch nicht gerade abgeneigt zu sein, was man so hört. Warum fürchtest du seine Gedanken? Sind sie zu begehrlich auf seinen Zweiten gerichtet?" flüsterte sie mit einem anzüglichen Grinsen.
 

"Ach, spotte nicht, Ramilla", bat Hamarem. "Es beunruhigt mich, was mit ihm und mir passiert, wenn er meine und ich seine Gedanken und Gefühle teile."
 

"Was passiert denn?" fragte Ramilla mit etwas mitfühlenderem Gesichtsausdruck nach.
 

Wie sollte er das seiner Geliebten erklären? Nun, sie kannte sich immerhin mit Gelüsten und Begierden aus. "Es genügt schon, wenn ich in seiner Gegenwart an eine erregende Situation denke. Er nimmt meine Gefühle auf und ich wiederum seine, so daß das Begehren, die Lustgefühle sich rasch potenzieren und hochschaukeln, bis zur bitteren Konsequenz."
 

"Nicht so bitter", berichtigte Ramilla ihn grinsend. "Zumindest was dich betrifft, mein Liebster."
 

"Das ist eine ernste Sache", wies Hamarem seine Geliebte zurecht. "Ich kann nicht wagen, mit meinem Birh-Melack ein vertrauliches Gespräch zu führen, und das, obwohl ich sein Zweiter bin."
 

"Meine Priesterin hätte in diesem Fall gesagt, daß ihr die ungelöste Spannung gemeinsam abbauen müßt", gab Ramilla mit geradezu wissenschaftlichem Ton von sich.
 

Hamarem mußte einen Moment überlegen, was Ramilla damit meinen mochte. "Du denkst, ich, daß heißt wir, also Amemna und ich sollen..." stotterte er.
 

"Ich denke, du solltest ihm deine Gefühle offenbaren", stellte Ramilla klar.
 

"Er weiß doch längst davon, er muß es wissen, er hat meine Gedanken gehört", und der junge Birh-Melack war peinlich berührt, ja bestürzt darüber gewesen.
 

"Wenn es dir ernst mit diesen Gefühlen ist, sag es ihm, sprich es aus", sagte Ramilla jetzt ernsthaft.
 

"Aber er hat Nefut erwählt und mir doch schon bei unserer ersten Erhitzung gesagt, daß es ihm peinlich ist, daß ich ihn so erregt gesehen habe", rechtfertigte Hamarem sich.
 

"Vielleicht ist es ihm peinlich gewesen, weil ihm etwas an dir liegt, oder vielleicht weil er sich nicht vorstellen kann, daß ein Oshey, ein ausgewachsener Orempriester, sich über einen momentanen Augenblick der Verwirrung hinaus wirklich zu ihm hingezogen fühlt, denn eure Schriften erlauben ja nicht, daß Männer miteinander die Göttin feiern, und er tritt als Mann auf. Nach dem allerdings, was euer neuer Mawati erzählt, soll er ja ein Göttlicher Zwitter, Ka'awata, sein."
 

Hamarem nickte. "Ja, Amemna ist wohl zweigeschlechtlich, wenn ich alles richtig gedeutet habe. Aber wieso äußert sich Jochawam zur Natur unseres Birh-Melack?" wollte er dann wissen.
 

"Weil zu den Geliebten deines Birh-Melack offenbar nicht nur seine Gattin und Nefut gehören."
 

"Du hast gelauscht", unterstellte Hamarem seiner Geliebten. Aber es überraschte ihn nicht zu hören, daß der Ostler Jochawam Amemnas Gunst erlangt hatte, denn das erklärte, wie es zur Heilung einer so intimen Verletzung wie einer Verschneidung kommen konnte.
 

"Es war nicht nötig zu lauschen, ihr wart laut genug", entgegnete Ramilla. "Gehst du also morgen früh zu ihm und sagst ihm geradeheraus, was du für ihn empfindest?"
 

"Aber was ist mit dir?" wollte Hamarem zögernd wissen. Wenn Amemna sein Traumversprechen wirklich wahr machte und Hamarem erlaubte, sich mit ihm zu vereinigen, wie mochte Ramilla darauf reagieren?
 

"Was soll mit mir sein? Ich werde die Zeit genießen, die wir beide haben, bis unsere Wege sich wieder trennen. Und ich hoffe darauf, einen Sohn von dir aufziehen zu können", sagte sie sachlich.
 

"Und ich dachte, du liebst mich wirklich." Hamarem war enttäuscht.
 

"Ich liebe dich wirklich, Hamarem. Aber du verkennst offenbar unsere Situation. Ich werde dir niemals als dein Weib folgen können, solange ich Priesterin der Ama bin. Und du wirst mich in dieser Zeit auch niemals allein für dich haben. Es werden vielleicht sogar andere Männer kommen, die solche tiefen Gefühle in mir wecken, wie du es tust. Warum sollte ich also versuchen, dir zu verwehren, ebenfalls anderen Gelüsten zu folgen? Und wie könnte ich auch nur daran denken dir zu verbieten, mit einem Gefäß der Göttin das Lager zu teilen? Ich überlege eher, dich zu bitten, für mich ein gutes Wort einzulegen, damit auch ich in den Genuß seiner Gegenwart kommen kann." Hamarem merkte, daß sie in vollem Ernst sprach. "Und das mit dem Stechapfelsud laß sein. Du bist ein Mann. Sprich offen mit deinem Birh-Melack und verlange eine ebenso offene Antwort von ihm. Mit deinen unirdischen Fähigkeiten wirst du feststellen, was wirklich in seinem Herzen vorgeht."
 

Hamarem fühlte sich wie als kleiner Junge, wenn er von seiner Großmutter belehrt wurde. Und da nahm Ramilla ihm auch schon die halb vergessene Phiole aus der Hand und steckte sie tief in die Satteltasche zurück, aus der Hamarem sie gezogen hatte. Er liebte sie so sehr, daß es fast wehtat. "Dann laß uns hoffen, daß er weiterhin uninteressiert an mir ist", flüsterte er, legte die Arme um Ramilla und streichelte ihr weiches Haar.
 

"Du Lügner", raunte sie in sein Ohr. "Danke lieber der Göttin für das Geschenk, das dich in den Armen des Birh-Melack erwartet. Und erzähl mir morgen abend davon", sagte sie noch und hauchte ihm einen Kuß auf die Wange. Sie hatte tatsächlich keinen Zweifel, daß Amemna ihn erhörte. Und ebenso war sie davon überzeugt, daß Hamarem auch nach der Vereinigung mit einem Unirdischen noch Interesse an ihr hatte. Er selbst war in beiden Punkten lange nicht so zuversichtlich. Ramilla stand auf, richtete ihren Schleier und teilte die Decken um das Lager, um hinauszugehen. Hamarem hörte, wie sie sich von Derhan und Oremar verabschiedete, das Klingeln ihrer Arm- und Fußreifen leiser wurde und endlich verklang.
 

Hamarem war durch die Mischung aus Begehren, Hoffnung und Verzweiflung für einen Moment zu keiner Regung fähig. Ja, er sehnte sich nach Amemna und ebenso sehnte er sich nach Ramilla, die gerade seine Träume von einer gemeinsamen Zukunft zerschlagen hatte. Vielleicht war es das, was das unirdisches Erbteil ausmachte, und was Ramilla ihrer Ausbildung wegen verstand. Die Unirdischen und ihre Kinder begehrten nicht nur mehr als einen Menschen, sie konnten möglicherweise auch mehr als einen Menschen lieben. Hamarem legte sich auf sein Lager, schloß die Augen. Also würde er sich morgen seinen Begierden und Amemnas möglicher Ablehnung stellen, ganz abgesehen davon, was sein Herr eigentlich mit ihm besprechen wollte.
 

* * *
 

19. Erwachen

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

19. Erwachen (jugendfrei)

Nun war er statt Leibwächter also nurmehr ein Handlanger seines Birh-Melack, ging Nefut durch den Kopf, während er mit Lehans Mantel, einem Ma'ouwati-Tuch und Doshans Wallach zurück zu den Befehlshabern des Heeres ritt. Den Zorn, der kurz aufflackerte, brachte er zum Erlöschen, denn er gehorchte seinem Herrn, wie es sich für einen Gefolgsmann gehörte. Die Befehle mußte er dafür nicht gutheißen. Amemna war unter den Reitern nicht zu sehen. Dann entdeckte er ihre Stute ein kleines Stück zurückgefallen, der Ostler ging neben dem Tier, Amemna auf der anderen Seite. Der Mann, nein, der Eunuch war recht durchtrainiert für einen Schreiber, wenn er diesen flotten Marschschritt, den Amemna vorlegte, so ohne weiteres mithielt. Die Eunuchen am Hofe von Letran hatten eher zu Fettansatz und Kurzatmigkeit geneigt.
 

Nefut ritt neben dem Heerzug, bis er zu seinem Birh-Melack aufschloß. Als er sich bemerkbar gemacht hatte, führte Amemna ihr Pferd heraus aus dem Zug, um neben der Straße zu halten. "Er gehört nun zu unserer Wannim", erklärte sie wenig überraschend und reichte dem Ostler persönlich den Mantel und das Ma'ouwati-Tuch.
 

Nefut betrachtete währenddessen die sehr gepflegten Hände des Ostlers. Kein Schreiberbein am Mittelfinger, wie es schon Kanzleilehrlinge im ersten Jahr hatten, nicht einmal Schwielen, und keine Spur von Tinte an den Fingern oder Ärmeln. Wenn dieser Mann ein Schreiber war, war Nefut ein Ziegenhirte. Warum hatte Amemna verhindert, daß der Ostler Nefuts Frage selbst beantwortete? Hatte sie ihn belogen? Hatte Amemna in diesem ehemaligen Mann aus dem Osten jemanden gefunden, der sich ihrer männlichen Seite hingab?
 

"Besorrg ihm noch ein Schwerrt", befahl Amemna plötzlich.
 

Jetzt sollte er also noch einmal zu Hamarem reiten und für den falschen Schreiber ein Schwert besorgen? Und seit wann kämpften Eunuchen? Aber vielleicht war er ja auch ein falscher Eunuch. Doch der Ostler wollte kein Osheyschwert. Nefut atmete unwillkürlich auf, als der Ostler davonritt, um sich selbst ein Ostlerschwert zu besorgen.
 

Amemna sah Nefut eine Weile prüfend an, sagte aber nichts. Dann folgte sie einem Wink des Feldherrn der Tetraosi und beeilte sich, zur Gruppe der Befehlshaber aufzuschließen. Nefut folgte sehr viel langsamer. Was wollte Amemna mit einem Eunuchen im Bett anfangen? Nun, Amemna war teilweise ein Mann, aber wenn dieser Eunuch wirklich aus dem Besitz der Regentin stammte, welche Dienste hatte er dann seiner Herrin geleistet? Wenn er einer ihrer Lustsklaven gewesen war, wie sollte das mit einem Verschnittenen funktionieren? Nefut versuchte erfolglos, diese Gedanken zu unterdrücken. Bevor Nefut die Gruppe der Befehlshaber ganz erreicht hatte, löste sich Amemna wieder von ihnen, kehrte zu Nefut zurück. Sie maß ihn mit einem nachdenklichen Blick. "Was ist mit dirr, Nefut." Ihre Stimme klang sogar etwas besorgt.
 

Nefut war danach, jemanden zu schlagen, aber er atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen und versuchte dann, die ihn umtreibenden Gefühle in eine Frage zu pressen. "Warum ist dir und diesem Ostler soviel daran gelegen, daß er zur Wannim gehört?"
 

Amemna seufzte. "Du hast keinen Grrund an meinerr Liebe oderr an meinem Begehrren nach dirr zu zweifeln, frr'tschan", sagte sie.
 

Amemna ritt weiter in Richtung Nachhut und Nefut bemühte sich, an ihrer Seite zu bleiben. "Du weichst mir aus, Amemna", stellte Nefut fest. Vielleicht hatte sie diesen angeblichen Eunuchen ja sogar im Bett der Regentin kennengelernt.
 

"Ja", sagte Amemna und lächelte zärtlich, faßte kurz nach Nefuts Hand. "Err akzeptiert bei derr Verreinigung mein Mannsein. Laß es einfach dabei bewenden."
 

"Er ist ein Ostler, also was für ein Wunder, daß er dein Mannsein akzeptiert", fuhr Nefut verächtlich auf, und wagte dann, seinen Verdacht zu äußern. "Aber er ist doch kein Eunuch! Warum diese Täuschung?"
 

"Er war ein Eunuch, als ich ihn kennenlernte", antwortete Amemna.
 

Nefut erwog diesen Satz eine Weile. Sie hatte ihm also seine verlorene Männlichkeit zurückgegeben. Bei welcher Gelegenheit mochte es dazu gekommen sein? War das der Grund für den Zorn der Regentin gewesen? Hatte die Regentin Amemna deshalb kastrieren wollen, weil eines ihrer Besitztümer beschädigt worden war? War das nicht eine zu kleinliche Reaktion für eine Herrscherin?
 

"Nefut, du hast keinen Grrund, an meinerr Liebe zu dirr zu zweifeln", sagte Amemna plötzlich noch einmal.
 

Nefut wollte Klarheit, und die erlangte er nur durch Antworten auf seine Fragen, nicht indem er fortritt um irgend etwas zu zerschlagen. Angesichts ihrer bisherigen Offenheit glaubte er nicht, daß Amemna sich das Lügen zu einer Gewohnheit gemacht hatte, vielleicht hatte sie mit der Behauptung, der Ostler sei ein Schreiber, nur versucht, seine Gefühle zu schonen. Doch er wagte nicht, Amemna anzusehen, denn der Blick, mit dem sie solche Worte wie die eben gesagten zu begleiten pflegte, hätte sein Gehirn bis auf die Begierde, sich mit ihr zu vereinigen, leergefegt. Also betrachtete er weiter die graugrüne Hügellandschaft mit den vereinzelten Bäumen während er fragte: "Was für Gefühle verbinden dich und den Ostler?"
 

Amemna schwieg eine Weile und sagte dann: "Ich denke, err ist mirr sehrr dankbarr fürr die Heilung seinerr Verrschneidung. Und err nennt mich einen Gesandten der Göttin. Das ist wohl verrgleichbarr mit den Unirrdischen, von denen die Oshey errzählen."
 

"Und was empfindest du für den Ostler?" fragte er leise.
 

Amemna schwieg so lange, daß Nefut sie schließlich doch ansah. Sie sah sehr nachdenklich aus, ließ ihren Blick zum Ende des Heerzuges schweifen, oder vielleicht auch zu den schon fernen Bergen, an deren Fuße Tetraos lag. Schließlich lächelte sie versonnen, als hege sie eine besonders kostbare Erinnerung. "Err ist so anderrs als du, Nefut. Ich denke, err sieht mich eherr als Mann, denn als Frrau."
 

"Und du begehrst ihn", schloß Nefut aus dem Gehörten. Er merkte, wie angesichst des zu erwartenden Geständnisses die Eifersucht in ihm aufstieg.
 

Amemna sah ihn so offen an, daß Nefut das Gefühl hatte, sie liefere sich seiner Gnade aus. "Die Frrau in mirr liebt dich, Nefut, aberr derr Mann in mirr sehnt sich nach Jochawam."
 

Nefut hatte schwer an diesem Bekenntnis zu schlucken, obwohl es nicht wirklich überraschend kam. Bei aller Liebe und trotz vieler Vorsätze, das zu ändern, hatte er selbst bisher erst Amemnas weiblicher Natur Befriedigung geschenkt. Brauchte sie vielleicht einfach einen weiteren Geliebten, der ihre männliche Natur befriedigte? Da sie ja gedacht hatte, ihre Gattin erfolgreich aus dem Eheversprechen entlassen zu haben, und Nefut ihre Wünsche in dieser Hinsicht nicht erfüllte, hatte sie sich vielleicht aktiv nach jemandem für ihre männliche Seite umgesehen und war mit dem Ostler fündig geworden. Amemna hätte nicht die Scheidung von ihrer Gattin betreiben sollen, denn sicherlich war die Prinzessin in der Lage gewesen, Amemnas männlicher Seite Befriedigung zu schenken. Doch Nefut wagte keine weiteren Fragen zu stellen, denn Jochawam kam zu ihnen zurückgeritten. Offensichtlich hatte er in seinem Bemühen, ein Ostlerschwert zu finden, Erfolg gehabt.
 

"Es war ein Geschenk des Mawar der Ostländereinheit", verkündete Jochawam freudestrahlend, "mit seinen besten Empfehlungen für euch, Birh-Melack." Und als er Nefuts irgendwo zwischen Nachdenklichkeit und verhaltener Eifersucht schwankenden Blick auf sich spürte, lächelte er ihn scheu an. "Ich werde unserem göttlichen Birh-Melack immer treu dienen", versprach er. Daran hatte Nefut keinen Zweifel. Nur die Art dieser Dienste weckte Unbehagen in ihm.
 

*
 

Der Feldherr der Tetraosi hatte befohlen, daß alle Reiter der Söldner, die nicht mit dem Transport beschäftigt waren, für die Bedeckung der Nachhut zu sorgen hatten. Einerseits war Nefut froh, eine Aufgabe zu haben, andererseits hätte er sich seine immer stärker werdende Eifersucht gerne durch einige Liebesschwüre aus Amemnas Mund mildern lassen. Immer wieder mußte er sich sagen, daß Amemna ihn erklärtermaßen liebte, egal wie sie zu diesem Ostler, zu Jochawam, stand. Er war nun einer der Mawati, würde ebenso wie Nefut selbst dafür sorgen, daß ihrem Birh-Melack nichts zustoßen konnte. Und er träumte wohl ebenso wie Nefut davon, am Abend in Amemnas Zelt gerufen zu werden, um ihrem Körper Befriedigung zu schenken. Für sein Wohlbefinden mußte Nefut sich willentlich davon abhalten, sich allzu genau auszumalen, wie diese Befriedigung aussehen mochte, wenn Amemna mit Jochawam das Lager teilte.
 

Amemnas Gattin zog mit den fürstlichen Wachen der Darashy ebenfalls in der Nachhut. Nefut sah, wie sie während einer Rast kurz mit dem Zweiten der Birh-Mellim sprach und sich später angeregt mit Derhan unterhielt. Sie war wirklich begehrenswert und sie war sicherlich ebenso vollkommen eine Frau, wie ihre Mutter es gewesen war. Was hatte Amemna nur bewogen, ihr einen Scheidebrief zu schicken? War es wirklich nur die unbestimmte Länge ihrer Abwesenheit von den Stämmen gewesen? Oder hatte die Prinzessin neben der Schönheit auch den Charakter ihrer Mutter geerbt, die schon kurz nach der Geburt des ersten Kindes von Murhan dessen älteren Sohn verführte, Nefut Liebesschwüre ins Ohr flüsterte und bekannte, daß sie in seinem Vater nur einen verbrauchten Mann sah, den sie mochte, dem sie auch für den durch die Heirat erlangten Status dankbar war, den sie aber weder liebte noch begehrte? Wollte sie Amemna nicht verlieren, weil sie den Status einer Ehefrau schätzte, oder hatte Amemna auch Merat so verzaubert, daß sie nun die Scheidung nicht akzeptieren konnte, weil das Akzeptieren wie das Herausreißen des eigenen Herzens gewesen wäre? Und wie mochte sie darauf reagieren, daß Amemna sich nun gleich zwei Männer gesucht hatte, sie zu ersetzen?
 

Der Zweite der Birh-Mellim befahl Nefut und einigen anderen Reitern eine Rast. Nefut suchte sich einen Platz unter einem Baum, abseits von den anderen. Als er begann, in seinen vom Schweiß feuchten Gewändern zu frieren, stellte er fest, daß auch sein Pferd geschwitzt hatte und naß dem aufgekommenen kühlen Wind ausgesetzt war. Er rieb also sein Pferd trocken und zog selbst einen trockenen Mantel aus seinem Gepäck an. Dann setzte er sich, nahm den Turban ab, um den feuchten Stoff im Wind trocknen zu lassen, trank und aß. Der Himmel über der Ebene vor Tetraos war dunkelgrau vor Wolken geworden, anscheinend regnete es dort schon.
 

Jochawam hatte recht, Amemna war in der Tat ein göttliches Wesen. Diese Überzeugung konnte Nefut dem Ostler nicht übel nehmen. Auch an Nefut hatte Amemna ein Wunder bewirkt, indem sie längst verloren geglaubte Gefühle in ihm neu erweckt hatte. Nefut konnte sich nicht erinnern, seit dem frühen Tod seiner Mutter in solcher Art für einen anderen Menschen empfunden zu haben, wie er nun für Amemna empfand. Dieses wärmende Gefühl der Liebe, das nicht einmal der Anblick dieser verführerisch schönen, jungen Prinzessin hatte verdrängen können, als hätte Amemna ihm das Herz leicht gemacht, nun endlich wieder so empfinden zu können. Das Bedürfnis, für Amemna zu sorgen, nicht um seine Aufgabe als Unterführer oder Zweiter oder älterer Bruder zu erfüllen, sondern um Amemnas Willen, um ihr die Last des Amtes zu erleichtern und die Forderungen, die alle Welt an sie zu stellen schien - oder einfach, um sie zu erfreuen. Er wollte Amemna glücklich sehen und wenn das hieß, sich in der Öffentlichkeit zu ihr zu bekennen, wie die schamlosen Ostler, die aus ihren Liebschaften zu anderen Männern keinen Hehl machten, so würde er sich eben freimütig zu seiner Liebe bekennen, wie es kein rechtgläubiger Oshey wagen würde, aber was hatte er denn zu verlieren? Er konnte ohnehin nur noch als Gefährte eines Unirdischen auf den Eingang in die Gärten der Freude hoffen, also wollte er Amemna auch mit Leib und Seele dienen. Und wenn sie für ihr Glück einen weiteren Liebhaber brauchte, einen Ostler, der ihre männliche Seite befriedigte, würde er auch das klaglos dulden. Er würde in seinem Entschluß, Amemnas Liebhaber zu sein, nicht wieder schwankend werden, auch ein weiterer Mann auf ihrem Lager würde ihn nicht wieder davon abbringen.
 

*
 

Als endlich auch die Nachhut den zukünftigen Lagerplatz erreicht hatte, sah Nefut seine geliebte Unirdische wieder und an ihrer Seite den Ostler. Jochawam und Amemna unterhielten sich, und als Nefut näher kam, hörte er, wie Amemna sagte: "Du hast rrecht damit. Und ich weiß auch schon, wie ich es ihrr verrständlich machen kann. Allerrdings brrauche ich dazu deine Hilfe, Jochawam."
 

"Ihr wißt, daß ich euch in allem dienen werde, Birh-Melack", entgegnete Jochawam so inbrünstig, daß es Nefut trotz aller Vorsätze einen Stich versetzte.
 

"Du wirrst meine Gattin zu mirr holen, aber sie darran hinderrn müssen, vorrzeitig wiederr zu gehen. Ich gebe dirr späterr einen Brrief für sie."
 

Jochawam nickte gehorsam. "Was immer ihr befehlt, Birh-Melack."
 

Amemna wollte sich also anscheinend mit seiner Frau aussprechen. Das war ein guter Gedanke. Vielleicht verließ sie das Heerlager dann endlich wieder. Nefut beunruhigten die Gefühle, die ihn erfüllten, wenn er sie sah. Sie sah ihrer Mutter einfach zu ähnlich, um ihn kalt zu lassen. "Gut, daß du wiederr hierr bist, frr'tschan", begrüßte Amemna dann Nefut. "Ich hatte Jochawam nach dirr suchen lassen, aberr leiderr konnte err dich nicht finden."
 

Ihr liebevolles Lächeln beruhigte Nefuts Herz. Er näherte sich so weit, daß er kurz nach ihrer Hand greifen konnte. "Ich habe dich ebenfalls vermißt, fr'tschan", flüsterte er.
 

"Warrtet im Mawati-Zelt auf mich", sagte Amemna, und schenkte auch Jochawam ein schmerzlich zärtliches Lächeln. "Ich werrde euch in Kürrze folgen." Dann ritt sie davon, vermutlich um sich die Befehle für den kommenden Tag zu holen.
 

Als Nefut und Jochawam bei den Mawati eintrafen, waren die Zelte schon aufgebaut und von dem Nachtessen war nur noch ein kümmerlicher Rest vorhanden. Der Junge war immerhin fort, und Hamarem und Oremar begrüßten Jochawam ebenso freundlich wie Nefut. Derhan war eher wortkarg aber er sah so unverschämt zufrieden aus, daß Nefut sich eine Bemerkung über das beobachtete Gespräch mit der Prinzessin einfach nicht verkneifen konnte. Seiner Antwort nach schien Derhan zu ahnen, daß Nefut und Merat durch Blutsbande verbunden waren. Nefut hielt sich mit weiteren Bemerkungen zurück, um keine Bestätigung für diese Vermutung zu liefern, aber es fiel ihm schwer. Glücklicherweise wurde seine Beherrschung jedoch nicht lange auf die Probe gestellt, denn Amemna kam in das Zelt und rief Nefut heraus. Er hoffte, nein, er wußte, daß er sich nun endlich wieder mit Amemna vereinigen durfte, sein Herz überschlug sich vor Aufregung und Verlangen nach ihrem wunderbaren Körper. Und so eilte er ihr hinterher, in das Birh-Melack-Zelt.
 

Kaum daß das Zelt geschlossen war, ließen sie ihre Mäntel und Ma'ouwati-Tücher fallen, und auf Amemnas Lager entledigten sie sich endlich ihrer Untergewänder, während sie kaum die Lippen und Hände voneinander lassen konnten. Nefut merkte, wie er durch Amemnas Duft den Verstand zu verlieren begann, nur noch ihr Körper, nur noch die Vereinigung mit seiner Liebsten war von Bedeutung für ihn, alles andere wurde zunehmend an den Rand seines Bewußtseins gedrängt. Wenn in diesem Moment die Decken um Amemnas Lager oder sogar das ganze Birh-Melack-Zelt verschwunden wären, er hätte sich ebensowenig zurückhalten können, wie er es nun tat. Wie im Fieber vereinigt er sich mit ihr, erklomm den Höhepunkt endlich, erschöpft, erleichtert und etwas schwindelig, als er plötzlich feststellte, daß tatsächlich die Decke verschwunden war und sie einen Zuschauer hatten. Nefut sah sich dem schreckensbleichen Gesicht einer Frau gegenüber.
 

Amemna wandte sich sofort seiner Gattin zu, und Nefut war gebannt durch den Anblick, wie sich seine Geliebte plötzlich anscheinend in einen Mann verwandelte, mit wahrhaft übermenschlicher Energie die rasch entkleidete Prinzessin auf seine Mitte hob und sie ritt, wie Nefut zuvor Amemna. Eifersucht und Lüsternheit erfüllten Nefut bei diesem Anblick der plötzlich in Ekstase verzerrten Gesichter seiner Liebsten und der schönen Prinzessin, so schnell, als wäre ihr Akt nicht von dieser Welt gewesen.
 

Amemna legte ihre Gattin auf das Lager, neben dem Nefut noch wie erstarrt stand, nackt, durch den Anblick wieder erregt und Amemna winkte ihn zu sich, bedeutete ihm, sich neben die Prinzessin zu legen. Amemnas Blick schien ihm ihre Liebe zu versichern, ihm nach ihrem eigenen Körper noch den ihrer Gattin anzubieten, Nefut aufzufordern, an dem teilzuhaben, was sie selbst gerade genossen hatte. Das schien ein Vertrauensbeweis zu sein, doch in einer Form, die Nefut schockierte, gleichzeitig aber noch lüsterner werden ließ. Das konnte Amemna doch nicht wirklich ernsthaft meinen, und das konnte doch auch die Prinzessin nicht ernsthaft dulden, aber wie unter fremdem Willen näherte Nefut sich dem Lager, kniete sich neben die junge Frau, streichelte zärtlich die weiche Haut ihres Rückens, während Amemna sie küßte. Die Prinzessin schien sich seinen Händen entgegenzudrücken, lud Nefut mit ihrem Körper ein, sie weiter zu liebkosen, und Nefut konnte nicht anders als dieser Einladung zu folgen.
 

Doch während er die Prinzessin liebkoste, sah Nefut, wie der Ostler seinen Mantel und sein Schwert ablegte, seinen merkwürdig hellen und nahezu unbehaarten Körper entkleidete, sich neben Amemna bettete, sie küßte und begehrlich geküßt wurde, als fiebere seine Liebste der Vereinigung mit Jochawam ebenso entgegen, wie die Prinzessin der mit Nefut. Nefut wandte den Blick ab und küßte die junge Frau neben sich, denn er wollte nicht sehen, in welcher Art diese Vereinigung zwischen Jochawam und Amemna erfolgte. Sein Herz schmerzte und doch erinnerte er sich an den Blick, mit dem Amemna ihn auf das Lager gewunken hatte. Nefut mußte sich wohl erst daran gewöhnen, daß Amemna anderen Menschen die gleiche Zuneigung entgegenbrachte, wie ihm. Aber die Reaktion seines Körpers auf die junge willige Frau in seinen Armen ließ ihn das für den Augenblick glücklicherweise vergessen.
 

*
 

Nefut erwachte, als die Lampe schon heruntergebrannt war. Es war so dunkel, daß er fast nichts als die nächtliche Schwärze sah. Sein Arm lag um eine weiche, runde Schulter, duftende Haare zum Teil über seinem Gesicht. Er küßte die Frau in seinem Arm auf die Stirn, auf ihre Lippen, die den Kuß fast sofort erwiderten. War es ein Traum? Eine üppige Brust, die sich in seine Hand schmiegte, der weiche Bauch und die wohlgerundeten Hüften, der unzweifelhaft weibliche Schoß, der sich seiner zarten Berührung entgegenstreckte...
 

Was tat er hier? Das war die Tochter der Frau, die sein Verderben gewesen war. Merat war seine Halbschwester. Und nun suchte sie seine Lippen, küßte ihn. "Nefut", flüsterte sie.
 

Nefut erinnerte sich, daß Amemna neben ihm gelegen, sich Jochawam in mehr als einer Weise hingegeben hatte. Als Merat nach ihrer Vereinigung mit Nefut an dessen Brust geruht hatte, die Augen von ihrem Mann und dessen Treiben abgewandt, hatte Amemna während einer erneuten Vereinigung mit dem Ostler Blickkontakt mit Nefut gesucht. Amemna hatte ihn teilhaben lassen an ihrer Ekstase als Mann, indem sie nach Nefuts Hand gegriffen und diese umklammert hatte, während sie die Göttin erkannte. Es war ein Geschenk gewesen, das hatte Nefut verstanden und daher die Hand nicht weggezogen und ihren Blick erwidert, gesehen, daß Amemna mit den Lippen Nefuts Namen geformt hatte in diesem Moment. Und trotzdem hatte es ihm das Herz im Leib umgedreht, sie in den Armen eines anderen Mannes zu sehen, der in ihr offensichtlich nicht nur einen Mann sah.
 

"Nefut, bist du wieder eingeschlafen?" flüsterte Merat. Sie legte ihre Hand auf Nefuts Hand an ihrem Schoß, mit der anderen streichelte sie seinen Bart, seinen Hals, fuhr über die Schulter und berührte mit ihren Fingerspitzen die Narben auf seinem Rücken, fuhr sie ein Stück entlang, wie Amemna im Badehaus, wie Schelschér bei ihrer ersten Begegnung.
 

Nefut merkte, wie Merat sich in seinen Armen plötzlich versteifte, ihre Hände sich verkrampften, dann von ihm verschwanden - wie Merat schließlich ganz von ihm abrückte. "Was sind das für Narben auf deinem Rücken? Stammen sie von Peitschenhieben?" fragte sie mit Panik in der Stimme.
 

Wo waren Amemna und Jochawam? Nefut tastete das Lager neben sich ab, es lagen dort nur die Decken und ein Untergewand, das vermutlich sein eigenes war.
 

"Nefut, sind es Narben von Peitschenhieben?" fragte Merat noch einmal schrill.
 

"Ja, Merat, es sind Narben von Peitschenhieben, von fünfzig Peitschenhieben für den Verführer einer fremden Ehefrau", sagte er leise. Wieso sollte er es leugnen. Sie konnte es ebenso von Amemna erfahren. Und hatte Merat nicht längst geahnt, wer er war? Er wußte, wie ähnlich er seinem Vater sah, aber vielleicht war Murhan inzwischen durch die Schicksalsschläge, die ihn in Form von drei toten Ehefrauen ereilt hatten, so sehr gealtert, daß diese Ähnlichkeit nur noch schwer erkennbar war. Amemna zumindest hatte ihn als Murhans Sohn erkannt.
 

Ein seltsamer Laut ging von Merat aus, Nefut glaubte zunächst, es wären Schluchzer, aber endlich stellte er fest, daß sie leise und immer lauter werdend lachte. War das Hysterie? Oder lachte sie über die verschlungenen Wege der Götter, die sie nun gerade mit dem Mann auf einem Liebeslager zusammengeführt hatten, der auch ihrer Mutter einst beiwohnte? Würde sie nun seinen Tod fordern, so daß sein letzter Dienst an der Göttin gerade mit der Tochter der Frau stattfand, die ihm die Freuden Amas eröffnet hatte?
 

"Du bist Nefut, der Sohn des Prinzen Murhan Darashy?" fragte Merat keuchend vor Gelächter. Dem Klang nach hatte sie sich aufgesetzt, hielt weiterhin Abstand von Nefut.
 

"Ja, der bin ich, Merat, Tochter des Prinzen Murhan Darashy", antwortete Nefut. Was mochte in ihrem Kopf jetzt gerade vorgehen? Sie mußte wissen, wie ihre Mutter ums Leben gekommen war, das war in den Zelten der Darashy sicher noch genügend Menschen in Erinnerung, allen voran der älteren Schwester ihrer Mutter, die Nefut zunächst so herzlich aufgenommen hatte, ihn dann aber bespuckte und verfluchte, als er mehr tot als lebendig auf dem Richtplatz gelegen hatte. Die ihm gewünscht hatte, die Götter mögen seine Tat strafen, indem sie ihn als Toten unter den Lebenden wandeln lassen. Ihr Fluch war in Erfüllung gegangen, obwohl seine Tat doch in nicht mehr bestanden hatte, als den Reizen der wunderschönen Mutter von Merat zu erliegen. Der leibliche Tod wäre nur noch eine Formalität gewesen, hätte ihn endlich von seinem vergeblichen Sehnen nach einer Rückkehr in seinen Stand erlöst, doch obwohl er sieben Jahre im Heer der Letrani als berittener Söldner gedient hatte, obwohl er zehn Jahre unter Ashan mit den anderen Stammeslosen zahlreiche Überfälle auf zum Teil schwer bewaffnete Karawanen gemacht hatte, war er nicht gestorben, ja noch nicht einmal ernsthaft verwundet worden, als wollten die Götter ihn tatsächlich für seine Schwäche dieser Frau gegenüber strafen. Aber vielleicht hatte er einfach nur auf Amemna warten müssen, auf ihren Zauber, der in ihm den Wunsch zu Leben wieder geweckt hatte. Amemna, die wohl gerade geboren worden war, als Murhan seinen Erstgeborenen auspeitschte um die Strafe zu vollziehen.
 

Was wollte Merat jetzt mit ihm tun? Wollte sie beenden, was Murhan begonnen hatte? Jetzt würde Nefut sich wehren, er würde sich nicht umbringen lassen für die Verfehlungen jener Frau, die mit ihrer Lüsternheit nach einem unerfahrenen Jüngling, dem kaum die Knabenlocke geschoren worden war, sich selbst und Nefut ins Verderben gestürzt hatte. "Was willst du tun, Merat, Schwester?" fragte Nefut leise, als Merats Lachen langsam verebbte.
 

Er fühlte ihre Fingerkuppen auf seinem Arm, wie sie schmeichelnd über seine Haare strichen, die Finger, schließlich die ganze Hand den Arm hinaufwandernd bis zu seinem Hals, seinem Bart, eine einzelne Fingerkuppe, die seine Lippen sanft nachzog. "Du bist schuld am Tod meiner Mutter", sagte sie leise.
 

Wieso sollte er Merat erzählen, daß ihre Mutter ihn verführt hatte. Sie war tot und hatte für ihr Vergehen gebüßt. "Hätte sie ihrer Schwester nichts erzählt, wäre sie nicht tot und ich nicht verbannt", flüsterte Nefut aber, trotz des immer noch an seinen Lippen liegenden Fingers.
 

Der Finger verschwand. "Aber du hast ihr Gewalt angetan", sagte Merat bestimmt. "Irgendjemandem mußte sie es erzählen um ihr Herz zu erleichtern."
 

Und jetzt mußte Nefut lachen, lachte die ganze Bitterkeit aus seinem Herzen heraus. "Hätte ich ihr Gewalt angetan, so hätte es mein Vater sicher gemerkt. Hätte ich sie gegen ihren Willen genommen, hätte sie sicher um Hilfe gerufen und niemand hätte daran gedacht, sie auszupeitschen." Fast einen Monat lang hatte ihn Merats Mutter fast täglich zur Mittagszeit zu ihrem Lager gerufen. Bis sie sich gegenüber ihrer Schwester brüsten mußte, daß sie nun noch ein Kind von Murhans Sohn erwartete. Nefut hatte gewußt, daß es unrecht war, aber es hatte ihm gefallen. So schön war sie gewesen, so gierig, seinen jungen Körper zu kosten, aber sie war kein ehrlicher Mensch gewesen. Zur Rede gestellt hatte sie Nefut angedichtet, er habe ihr aufgelauert, hätte sie bedroht, um seinen Willen zu bekommen. Und Nefut hatte bekannt, einen Monat lang ihr Lager geteilt zu haben und die Strafe angenommen, die sein Vater nach den Geboten der Weisen und Heiligen dafür verhängte.
 

"Hast du sie geliebt?" fragte Merat. "Und hat sie dich geliebt?" Nefut überlegte, wie er Merat die Faszination seiner ersten sexuellen Erfahrung vermitteln konnte, verboten und doch so süß. Geliebt hatte er Merats Mutter nicht, begattet hatte er sie jedoch mit Hingabe. Und wer mochte wissen, was in ihrem Kopf vorgegangen war, daß sie einen Prinzen mit dessen eigenem Sohn betrog?
 

"Mawati zu mir!" gellte da ein Ruf durch die Nacht, gefolgt von unartikulierten Schreien und dem Weinen eines Säuglings. Sofort sprang Nefut auf, riß die Decken zur Seite, griff nach seinem Schwert und lief nackt aus dem Zelt.
 

* * *
 

20. Gier

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20. Gier (jugendfrei)

Jochawam folgte dem Liebhaber des Birh-Melack zu den Pferdepferchen des schon weitgehend aufgebauten Lagers und dann zu Fuß bis zu den ärmlich aussehenden Zelten der Osheywannim. Um das Kochfeuer im sogenannten Mawatizelt saßen drei recht abgerissen aussehende, magere Gestalten auf fadenscheinigen Teppichen, in den Händen die Tonschalen, aus denen sie ihr Nachtessen zu sich nahmen. Aber trotz ihrer einfachen, zum Teil geflickten Kleidung saßen sie so gerade und blickten den beiden Ankömmlingen so stolz aus ihren schwarz geschminkten Augen entgegen, als wäre jeder von ihnen ein Prinz. Einer der drei war noch recht jung, vielleicht zwanzig Jahre, die beiden anderen mindestens zehn Jahre älter, der eine mit kahlrasiertem Schädel, breit gebaut, der andere eher zart, aber dieser trug dennoch die meiste Autorität in sich: das mußte der Zweite der Wannim sein. Nefut nahm seinen Turban ab, als er das Zelt betrat, und da die drei Oshey ebenfalls barhäuptig waren, nahm auch Jochawam das Tuch vom Kopf, entwirrte wie Nefut seine zusammengewickelten Haare. Dann verneigte er sich vor dem Zweiten der Wannim und stellte sich vor: "Ich bin Jochawam, ein ehemaliger Eunuch aus dem Besitz der Regentin von Tetraos. Meine Gebieterin schenkte mich eurem Herrn, dem es wiederum gefiel, mich freizulassen und seiner Wannim einzugliedern." Als der Zweite, Hamarem, ihn höflich willkommen hieß, erstaunte er Jochawam mit einer außergewöhnlich vollen, melodischen Stimme, außerdem musterte er Jochawam mit fast beunruhigender Intensität. Jochawam merkte, daß der andere wußte, daß er tatsächlich kein Eunuch mehr war. Vielleicht wäre es also gar nicht nötig gewesen, es zu erwähnen.
 

Jochawam setzte sich und nahm eine mit einem Gemüsegericht gefüllte Schüssel und ein Stück des flachen Nordlerbrotes entgegen. Als er aß, merkte er, daß das Hauptaugenmerk Derhans, des Kahlkopfes, dem Liebhaber Amemnas galt. Aber das Streitgespräch zwischen Nefut und Derhan, in dem es wohl um Amemnas Gattin ging, blieb durch zu viele starke Emotionen der beiden für Jochawam undurchsichtig. Der dritte und jüngste jedoch, Oremar, hielt seine Gefühle ungewöhnlich verschlossen.
 

Endlich betrat Amemna das Zelt, gab Jochawam den schon angekündigten Brief, damit er der Prinzessin beweisen konnte, daß er sie tatsächlich im Auftrag ihres Gatten in das Birh-Melack-Zelt führte und rief dann Nefut zu sich, um den Plan umzusetzen, den er mit Jochawam geschmiedet hatte. Den genauen Zeitpunkt abzupassen war nun allein Jochawams Aufgabe. Amemna und sein Geliebter mußten genügend Zeit füreinander haben, Nefut durfte aber keine Chance bekommen, das Zelt einfach zu verlassen, wenn die Prinzessin es betrat. Wenn die Gattin jedoch Amemna und Nefut vollenden sah, was sie selbst doch ersehnen mußte, würde sie sicher - allen möglichen Vorbehalten zum Trotz - bleiben, denn nach Jochawams Überzeugung war jeder Mensch empfänglich für das Antlitz der Göttin. Jochawam beschloß, für das Abpassen des rechten Zeitpunktes auf seine Eingebung zu vertrauen.
 

Die Oshey waren mit sich beschäftigt, als Jochawam das Mannschaftszelt verließ und das Birh-Melack-Zelt betrat, das vom erhebenden Gefühl des Begehrens gefüllt war. Amemna und Nefut befanden sich wohl hinter den aufgehängten Osheydecken, großgemustert gewebt mit geometrischen Formen aus rotem, schwarzem und gebleichtem Garn. Die Kissen im vorderen Teil des Zeltes waren mit einem ähnlichen, aber kleinteiliger gemusterten Wollstoff bezogen. Jochawam ließ sein Mawati-Tuch zu den anderen, die neben den Kissen lagen, gleiten, genoß für einen Moment das erhitzende Echo seines Körpers auf die fremde Lust, dann schlich er sich wieder hinaus, um der Prinzessin den Brief zu bringen.
 

*
 

Das Zelt der Prinzessin unterschied sich von außen nicht von den anderen Zelten der Wannim, nur war der grobe Wollstoff der Zeltbahnen anscheinend neuer oder weniger strapaziert, ebenso wie die bunten Teppiche, die auch hier den größten Teil des grasbewachsenen Bodens bedeckten. Der Innenraum allerdings wurde durch quergespannte Zeltbahnen unterteilt, nicht durch aufgehängte Decken. Den Brief zu überreichen und Amemnas Botschaft zu überbringen gestaltete sich überraschend langwierig. Immer übermächtiger wurde in Jochawam das Gefühl, sich nun beeilen zu müssen, um das Birh-Melack-Zelt zur rechten Zeit zu erreichen, also drängte er die vermutlich wegen der Nachtzeit schmucklos gekleidete junge Osheyprinzessin, appellierte schließlich an ihre niederen Instinkte, und endlich gelang es ihm, sie in das Zelt ihres Gatten zu bringen. Dort stellte Jochawam dann erleichtert fest, daß sie doch noch zur Zeit gekommen waren.
 

Das Begreifen dessen, was gerade hinter den Decken auf dem Lager ihres Gatten vor sich gehen mußte, zeichnete sich deutlich auf dem hübschen Gesicht der Prinzessin ab. Sie schwankte offensichtlich zwischen Neugierde und Abscheu, und es bereitete Jochawam keine Mühe, der Neugierde den Weg zu ebnen. Die Prinzessin riß schließlich in dem Moment die Decken um das Lager herunter, als der Birh-Melack und sein Liebhaber leidenschaftlich stöhnend den Höhepunkt erreichten. Die Lust der beiden Liebenden, die verzückten Gesichter, als die beiden die Göttin erkannten, entzündeten entgültig die Glut in Jochawam. Ihm wurde schwindelig vor Verlangen, also ließ er sich außerhalb des Lichtscheins der Lampe auf den Teppichen nieder und versuchte, seinen heftigen Herzschlag und den keuchenden Atem zu beruhigen. Die Unmöglichkeit, seine Lust zu teilen, machte ihn fast wahnsinnig. Aber ebensowenig war es ihm möglich, das Maß der Erregung willentlich zu senken. Als Eunuch war es ihm so leicht gefallen, das eigene, so viel schwächere Verlangen zu steuern. Doch nun konnte er an nichts anderes denken, als sich mit Amemna zu vereinigen.
 

Jochawams Blick wanderte zu dem dürftigen, aus ein paar Decken und vier Kissen bestehenden Lager und den drei dunkelhäutigen Gestalten dort. Erschrocken wurde ihm klar, daß er Nefut nicht am Verlassen des Zeltes hätte hindern können, wenn dieser es darauf angelegt hätte, doch Nefut war noch da, folgte dem Wink seines Geliebten auf das Lager. Außerdem mußte die heruntergerissene Decke wieder aufgehängt werden. Die Aufgabe lenkte Jochawam für einen Moment von seinen Gelüsten ab, doch dann sah er, daß Amemna nun sein Weib zärtlich liebkoste, sich darauf freute, mit Gattin und Geliebtem gleichzeitig der Göttin zu huldigen, der Osheykrieger jedoch nur Augen für die junge Frau hatte. Amemnas wunderbarer Körper war so unwiderstehlich. Wie konnte die Prinzessin sich da allein Nefut hingeben? Wie konnte Nefut sich Amemnas enthalten? Denn Amemnas Liebhaber nahm voller Gier Amemnas Gemahlin.
 

Amemna ließ sie gewähren, doch Jochawam merkte, wie ihm vor Enttäuschung fast das Herz im Leib barst. Nun durfte Jochawam sich nicht mehr zurückhalten. Er legte rasch die Kleidung ab und kniete sich neben das ungewohnt harte Lager, roch Nefuts so unbestreitbar männlichen Körper und die von Duftölen untermalte Weiblichkeit der Prinzessin, doch der Geruch des göttlichen Zwitters benebelte Jochawams Sinne geradezu. Hingebungsvoll erwiderte Amemna Jochawams Küsse, bog sich ihm entgegen, als Jochawam ihn zärtlich streichelte, die weiche Haut an seinen Händen genoß...Jochawam erinnerte sich seiner selbst, hielt sich mühsam zurück, paßte seinen Rhythmus dem des Osheypaares an bis sie sich alle vier im Einklang bewegten, und endlich gemeinsam den letzten Schritt in den himmlischen Tempel der Großen Mutter machten.
 

Jochawam war der Ohnmacht nahe, als Amemna mit Macht seine Empfindungen in sich aufnahm, aber dann versuchte Jochawam, seine Ekstase hinzugeben, überließ sie bereitwillig seinem Herrn und empfing dafür das göttliche Gefühl der Verbundenheit mit allem Lebenden, allem Zeugenden, allem Empfangenden und sank an Amemnas Brust, erschöpft und glücklich, ohne das Bedürfnis zu haben, ihre Körper voneinander trennen zu müssen. Und sein Herr ruhte unter ihm, lächelnd, sah ihn aus seinen sturmgrauen Augen an, flüsterte sehr zärtlich, voll Dankbarkeit, ein paar Worte in der Südlersprache.
 

Jochawam war vollkommen erfüllt von der Ehrfurcht vor dem Göttlichen, das sich in Amemna manifestierte. "Bahachter Tahach", hauchte er in der alten Sprache des Ostens, denn Amemna war die leibhaftige Göttin, die Segensspenderin, die ihn umarmte und an ihrem Busen ruhen ließ. Wie sollte er Amemna dieses Gefühl verdeutlichen? Aber sein Herr verstand Jochawam wohl auch ohne Worte, denn er war ja ein Gesandter der Göttin. Trotzdem küßte er Amemna und flüsterte: "Ich liebe dich, mein Birh-Melack", als leise der Gesang einer ausgebildeten Männerstimme durch die Nacht zog und ein Lied von Sehnsucht, Liebe und Glück entfaltete.
 

*
 

"Wer war das?" flüsterte Jochawam, als der Gesang verklungen war und wußte doch im selben Moment, daß die wunderbare Stimme wohl dem Zweiten der Wannim gehört haben mußte. Nefut beantwortete seine Frage erwartungsgemäß. Der Oshey sehnte sich nach Amemna, merkte Jochawam, er wünschte sich an Jochawams Stelle. Warum hatte er dann Amemnas Weib so gierig begattet und sich nicht noch ein weiteres Mal mit Amemna vereinigt? Und an der schönen Frau in seinen Armen war Nefut jetzt merkwürdigerweise uninteressiert, das war deutlich zu spüren. Amemna weinte lautlos, aber von ihm empfing Jochawam nicht nur die Sehnsucht nach Nefut, sondern auch die nach dem Sänger. Ob der Zweite der Wannim ahnte, wie sehr sein Herr ihm zugetan war? Jochawam wischte sanft die Tränen von den zarten Wangen seines Birh-Melack. "Ich bin dir zu Diensten für jeden Wunsch", raunte er, denn er sah, daß Amemna sich abermals vereinigen wollte. In begieriger Erwartung küßte er Amemna.
 

Amemna drückte Jochawam auf das Lager und erwiderte den Kuß so heiß und sinnlich, daß Jochawam erschauderte, dann umschlang Amemna Jochawams Zunge mit der seinen, erkundete während dessen mit sanften Fingern Jochawams Körper, verursachte so ein wunderbar erregendes Kribbeln. "Laß mich fühlen, wie sich die Männerr des Ostens miteinanderr su verreinigen pflegen, mein Keliebterr", flüsterte Amemna dann und küßte Jochawams Kehle. Jochawam war für einen Moment abgelenkt, durch den offensichtlichen Ekel der Prinzessin, die nun den Blick abwandte, ihr Gesicht an Nefuts Brust barg. Amemna mußte es doch auch spüren, aber anscheinend kümmerte es ihn nicht. Nefut drückte die Prinzessin an sich, und nun glitzerten auch in seinen Augen Tränen, als er zu Amemna sah, aber er war erfüllt von so vielen widerstreitenden Gefühlen, daß Jochawam seinerseits den Blick abwandte und versuchte, sich davor zu verschließen.
 

Jochawam konzentrierte sich auf Amemnas Zunge, die nun über seine Brust wanderte und wieder seine Begierde weckte, oder war das die Lust Amemnas, die er fühlte, die ihn wie ein plötzlicher Rausch überfiel? Die Zunge wanderte weiter nach unten, um seinen Bauchnabel, bis Amemnas Mund endlich Jochawams Schoß erreichte. Das Spiel von Amemnas Lippen und Zunge ließ ihn sich winden, seine Lust wieder mit Macht erwachen, als habe auch er Anteil an der unendlichen Energie, die den göttlichen Zwitter erfüllte...
 

Jochawam konnte kaum glauben, daß er sich schon wieder dazu in der Lage fühlte, seinen Herrn zu befriedigen, aber es war so. Also griff er selbst nach dem Salbgefäß, benetzte seine Hand mit dem Öl, führte seine Finger zwischen die feuchten Schenkel zu Amemnas Gesäß.
 

"Wage nicht, es mirr errneut vorrsuenthalten", mahnte Amemna ihn mit nur gehauchter Stimme, erinnerte sich mit leichter Wehmut der vergangenen Nacht, und doch lächelte er Jochawam zärtlich an, streckte sich ihm begierig entgegen...
 

Amemnas Höhepunkt wurde sein eigener. Doch zusammen mit Jochawams Samen hatte Amemna auch seine Ekstase mit unwiderstehlicher Heftigkeit in sich aufgenommen und Jochawam fühle sich wie ausgelaugt. Endlich trennten sie sich, und Jochawam ließ sich ermattet auf das harte Lager fallen, doch nach einem Moment genoß er die Schwere in seinen Gliedern, schloß die Augen.
 

Aber gierig küsste Amemna ihn wieder, seine Finger strichen mit wahrhafter Unersättlichkeit über Jochawams Körper. Noch immer war sein Birh-Melack von der Glut der Lust erhitzt, noch immer war er nicht völlig befriedigt und dieses Sehnen fühlte Jochawam paradoxerweise in jeder Faser seines erschöpften Körpers. Tatsächlich schien Amemnas Begierde noch größer geworden zu sein, trotz aller vorherigen Befriedigung. Und Jochawam sehnte sich danach, sich erneut mit seinem Herrn zu vereinigen, doch nun fehlte ihm die Kraft dazu. Noch ein Weilchen einfach ruhig liegen bleiben, noch einen Moment die Schwere versickern lassen, einfach den Duft genießen, der an ihren Körpern haftete und Jochawam geradezu benebelte, noch mehr der ungebrochenen Lust seines Herrn in sich aufnehmen, um selbst wieder in ausreichendem Maße erregbar zu sein.
 

Amemnas Hände bewegten sich zu Jochawams Gesäß... Die Lust des göttlichen Zwitters wurde erneut Jochawams eigene, das Feuer raste erneut durch seine Adern. Als Jochawam schon deutlich spürte, daß nur noch wenig fehlte, daß einer von ihnen die Göttin erkannte, wandte sein Birh-Melack den Blick zu seinem fast schlafenden Liebhaber. Nefut war verwirrt darüber, plötzlich in diesen Akt einbezogen zu werden, indem Amemna seine Hand ergriff und Nefuts Namen hauchte, als er den Höhepunkt erreichte, ihn an seiner Ekstase teilhaben ließ.
 

Mit der Erschütterung, die Jochawam durch Amemnas Höhepunkt durchfuhr,versuchte er, seine Erfüllung herauszuschleudern und seinem Herrn darzubringen, bevor dieser sie ihm wieder gewaltsam entziehen konnte. In Amemnas Blick las Jochawam plötzlich Bewunderung als sie sich trennten, fühlte die zärtliche Wärme der Zuneigung von ihm ausgehen, ganz anders als das Feuer der Lust, das zuvor in Amemna gewütet hatte. Amemna erschien nun tatsächlich befriedigt zu sein, als hätte er nur durch das aktive Opfer diesen Zustand erreichen können. Und Jochawam fühlte sich erstaunlicherweise viel weniger erschöpft, als zuvor, als habe es ihn weniger Energie gekostet, das Hochgefühl bewußt herzugeben, als Amemna zu überlassen, es sich selbst zu nehmen.
 

Amemnas verliebter Blick schnürte Jochawam die Kehle in ungewohnter Weise zu, trieb ihm die Tränen in die Augen. Wie konnte er dieser Zuneigung, der wahrhaften Liebe des göttlichen Zwitters gerecht werden? "Herr...", begann Jochawam leise.
 

Amemna verschloß ihm mit seinen Lippen den Mund, löste sich dann lächelnd wieder, strich sanft über Jochawams Wange. "Ich denke, dirr beginnt wiederr ein Barrt su wachsen", sagte er.
 

Das brachte Jochawam aus dem Konzept. Er befühlte selbst seine Wange und merkte, daß sein Herr recht hatte. Die Haare an seinem Kinn waren deutlich fester, als sie es vor zwei Tagen noch gewesen waren. Er würde also wieder ein wahrhaftiger Mann werden und in einigen Tagen würde nichts mehr darauf hinweisen, daß es jemals anders gewesen war. Noch ein Grund mehr, demjenigen, dem er seine Heilung zu verdanken hatte, göttliche Verehrung entgegen zu bringen.
 

"Bitte Jochawam, denk nicht so von mirr", sagte Amemna leise, strich Jochawam nun zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Fast schien es, als wollte seine Stimme versagen. Er war so jung, und von allen Seiten wurden nur Erwartungen an ihn gerichtet. "Ich bin dein Liebhaberr und dein Keliebterr, jenseits dieser Decken auch dein Wanack und Birrh-Melack und damit laß es kut sein", bat Amemna mit fast verschwindender Stimme.
 

"Aber viele andere Männer in der Birh-Mellim sehen in dir doch auch ein göttliches Wesen", wagte Jochawam einzuwenden.
 

Amemna schloß die Augen, als könne er so unerwünschte Gedanken verdrängen. "Ja, das tun sie, aber keinerr von ihnen denkt sugleich darran, mit mirr das Lagerr su teilen."
 

Jochawam versuchte also, die Gedanken an Amemnas göttliche Herkunft zurückzudrängen, und ihn allein als seinen Geliebten und Liebhaber zu sehen. Er umarmte die eher schmalen Schultern seines wunderschönen, jünglingshaften Herrn, und Amemna kuschelte sich an seine Brust, so anschmiegsam, daß sich Jochawam der Vergleich mit Barida praktisch aufzwang. Sie hatte es immer wie eine Gnade ihrerseits aussehen lassen, wenn sie in Jochawams Armen lag, aber Amemna machte den Eindruck, daß er sich in Jochawams Hand begab, sich ihm ganz auslieferte, als ob er ihm völlig vertraute. Jochawam war das ein wenig unheimlich, aber es erfüllte ihn auch mit Stolz, von Amemna erwählt worden zu sein. Mit Herz und Leib würde er seinem Birh-Melack dienen, so lange es ihm möglich war. Mit diesen Gedanken, eine Hand in den so weichen Haaren Amemnas, die andere an seinem schlanken Leib, ergab Jochawam sich dem Schlaf.
 

*
 

Jochawam erwachte, als sein Herr sich sanft aus seiner Umarmung löste, im fast verloschenen Licht der Öllampe sein weißes Übergewand überstreifte und die Decken beiseite schob, um die Schlafstatt zu verlassen. "Was ist, Herr?" raunte Jochawam, denn Amemnas Unruhe ließ darauf schließen, daß ihn etwas aus dem Schlaf gerissen hatte. Jochawam griff nach seiner Hose und dem Hemd und folgte seinem Herrn, um sich erst außerhalb der mit Decken abgetrennten Schlafstatt anzuziehen, merkte, wie sein Birh-Melack den Blick wohlgefällig über seinen nackten Körper schweifen ließ. Begehren und Bewunderung war in diesem Blick zu lesen und es erregte Jochawam.
 

Aber Amemna schien sich selbst seine Gedanken zu verbieten. "Irrgendeine Unrruhe ist da drraußen", beantwortete er endlich Jochawams Frage.
 

Jochawam zog sich schnell an. Er selbst nahm von der Unruhe nichts wahr, aber er vertraute auf das Urteil seines Herrn. Als Amemna nach seinem Schwert griff, nahm auch Jochawam sein Schwert auf und folgte seinem Birh-Melack aus dem Zelt.
 

Die Feuerschalen, die das Lager am Abend beleuchtet hatten, waren fast völlig herunter gebrannt. Es mußte schon mitten in der Nacht sein, aber weder der Mond noch die Sterne waren zu sehen, der ganze Himmel war anscheinend von Wolken bezogen. Von der Rückseite des Mawatizeltes jedoch schienen Lichtschein und Geräusche auszugehen, von der Stelle, wo es nahe an den Rückseiten zweier anderer Zelte stand. Den Abort hatte man dort gegraben, wenn Jochawam sich recht erinnerte. Amemna lief dorthin, also folgte Jochawam ihm. Kein Unglück sollte seinen geliebten Herrn treffen, wenn er es irgendwie verhindern konnte.
 

Der Zweite der Wannim kniete dort im Schein einer Lampe, die neben ihm auf dem Boden stand. Aus einigem Abstand sah er auf einen alten, bärtigen Mann und einen kleinen Jungen, die beide verkrümmt im heruntergetretenem Gras lagen. Bevor sie ihn erreicht hatten, drehte Hamarem sich zu Amemna und Jochawam um. "Bleibt weg", sagte er. "Das hier könnte selbst für Euch gefährlich sein, Birh-Melack."
 

Der kleine Junge stöhnte leise, er hatte große Schmerzen. Von dem alten Mann, dessen Hand den Knöchel des Jungen umklammerte, kam kein Ton, aber er war anscheinend nur ohnmächtig.
 

"Werr ist dieserr Mann?" fragte Amemna.
 

"Das ist der Ehrwürdige Vater der Orempriesterschaft. Er trägt Unheil in sich. Anscheinend hat Nefut ihn gefunden und das Unheil hat so auch ihn betroffen", versuchte Hamarem zu erklären, aber er schien selbst verwirrt. Und die Gedanken des Zweiten wirkten so unklar und verschwommen, als hätte Jochawam am Abend zu viel Oinos getrunken.
 

Amemna ging näher an die beiden Liegenden heran, betrachtete sie eine Weile. "Derr Junge brraucht Hilfe", sagte er dann. "Warrum ist err überrhaupt im Lagerr? Err sollte in Tetrraos sein." Amemna legte sein Schwert neben Hamarem auf den Boden, ging in die Hocke und streckte die Hand nach dem Knaben aus.
 

Hamarem warf sich förmlich dazwischen. "Herr, ihr dürft ihn nicht berühren!"
 

Amemna war erstaunt über diese Aufsässigkeit seines Zweiten, duldete jedoch dessen Hand an seinem Arm, obwohl Hamarem sicher nicht die Kraft hatte, seinen Birh-Melack zurückzuhalten, wenn dieser es darauf anlegte, an ihm vorbeizukommen.
 

Und aus dem Augenwinkel nahm Jochawam wahr, daß der scheinbar ohnmächtige Alte sich plötzlich bewegte, die Hand von dem Jungen nahm und sich merkwürdig steif auf die Knie erhob, um auf allen vieren zu Amemna zu kriechen, als werde er magisch von ihm angezogen. Da die beiden anderen davon nichts zu bemerken schienen, sprang nun Jochawam mit gezogenem Schwert vor den Alten. "Mawati zu mir!" rief er, und in dem Moment griff der Alte nach seinem nackten Knöchel.
 

Weißglühender Schmerz durchzuckte Jochawam, so daß er nicht anders konnte als zu schreien. Er sah ein langes Schwert auf sich zuzucken, und Jochawam wußte, das ihm nun der Kopf abgeschlagen werden würde.
 

* * *
 

21. Der Dämon

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21. Der Dämon (jugendfrei)

Hamarem wurde von einem Rascheln in der Nähe der Vorratsgefäße geweckt. Es mochten nur ein paar Mäuse sein, aber der Schatten, der sich aus dem Zelt stahl, war viel zu groß dafür, und an den Linien der Kräfte, die den Dieb umgaben, erkannte er den Knaben Nefut. Sofort sprang Hamarem auf, und lief dem Jungen hinterher, halb um das Zelt herum, bis er ihn vor dem Abort stellte. Es war zu dunkel, um viel mehr als das Glimmen der Kräfte zu erkennen, aber Hamarem wußte, daß der Junge vor Angst zitterte. "Ist schon gut", sprach er beschwichtigend auf ihn ein, "du brauchst nichts zu fürchten." Aber das beruhigte Nefut nicht und dann sah Hamarem ein wahrhaftes Monster. Dicke Taue der Kräfte bewegten sich wie Fangarme um ein Bündel Kleidung herum, das sich ruckartig bewegte, als wolle sich jemand aus einem zu großen Mantel kämpfen. "Geh' weg da", flüsterte Hamarem dem Knaben alarmiert zu.
 

Der Junge schien durch den Anblick, der sich ihm bot, jedoch wie gelähmt zu sein. Er starrte auf den zusammengesackten Körper vor sich, den immer wieder Zuckungen durchfuhren, dann wurde plötzlich ein magerer, faltiger Arm von den Kräftetentakeln hervorgeschleudert, und die dazugehörige knorrige Hand umklammerte Nefuts Fuß. Plötzlicher Schmerz ging von dem Jungen aus, bevor er mit einem Seufzer in das Gras sackte, sich weinend vor Pein krümmte unter den tastenden Bewegungen der Kräftetentakel.
 

Hamarem wagte nicht, Nefut zu berühren oder den Kräftetentakeln nahe zu kommen. Er griff nach der Lampe und dem Glutkästchen, die noch vom Graben des Loches neben dem Abort standen, und entzündete den Docht, erkannte im aufflammenden Licht in dem unförmigen Bündel am Boden den vermißten ehrwürdigen Vater der Orempriesterschaft. "Orem behüte uns", entfuhr es Hamarem, doch glücklicherweise zog er damit nicht die Aufmerksamkeit dieses Monsters auf sich, das in dem Körper des uralten Mannes zu stecken schien. War das ein Dämon? Es war in jedem Falle sehr kraftvoll und es ging ein so starkes Gefühl des Unheils von ihm aus, daß Hamarem noch ein paar Schritte von Nefut und dem ehrwürdigen Vater zurückwich. Das war etwas, wovor Angst zu haben sich empfahl. Es war schlimmer als der schwarze Abgrund, machtvoller als Amemna, es konnte nur ein Dämon sein.
 

Rasche, leichte Schritte näherten sich, Amemna und der Ostler. Der rothaarige Mann sah sehr erschöpft aus, hatte dunkle Ringe unter den Augen, aber obwohl seine Kräfte recht matt schienen, waren sie in auffälligem Einklang mit denen Amemnas. Inzwischen hatte Hamarem genug eigene Erfahrungen, um zu erkennen, daß die beiden wohl gerade erst der Göttin gehuldigt hatten und ihre Kräfte deswegen harmonierten. "Bleibt weg, das hier könnte selbst für euch gefährlich sein, Birh-Melack", warnte Hamarem, erhob sich aus der Hocke, ignorierte die sich aufdrängenden Bilder nackter, ineinander verschlungener Körper, schaute von Amemna und Jochawam zurück zu dem Jungen, der sich auf dem niedergedrückten Gras krümmte.
 

Nefut stöhnte vor Schmerzen, aber was konnten sie tun, ihn zu befreien? Die Hand des ehrwürdigen Vaters abhacken, um Nefut mit irgendwelchen Hilfsmitteln aus der Reichweite der Kräftetentakel zu ziehen? Nur mit halbem Ohr hörte Hamarem die Fragen seines Herrn und beantwortete sie beiläufig. Sie mußten schnell handeln, die Kräftetentakel begannen bereits, sich mit den Kräften um Nefut zu verbinden.
 

Plötzlich sah Hamarem, daß Amemna sich zu dem Jungen hinunterbeugte und er riß Amemnas Arm von dem Knaben weg. "Herr, ihr dürft ihn nicht berühren!" rief er, erschrak gleich darauf selbst, daß er gegenüber seinem Birh-Melack handgreiflich geworden war. Wie weich die Haut von Amemnas Arm sich anfühlte, tatsächlich wie die Haut einer Frau, nicht wie die eines Jünglings. Doch eine Bewegung der Kräfte am Rande seines Gesichtsfeldes ließ Hamarem wieder zu dem ehrwürdigen Vater schauen. Die Kräftetentakel streckten sich nach Amemna aus, und Hamarem stieß seinen Herrn mit aller Kraft in die andere Richtung.
 

In dem Moment sprang Jochawam mit gezogenem Schwert vor Amemna. "Mawati zu mir!" schrie der Ostler einen Alarmruf, dann durchzuckte der glühende Schmerz, der zuvor den Knaben Nefut getroffen hatte, auch ihn, schreiend sackte er zu Boden und das gedrungene Ostler-Schwert entglitt seinen Händen. Unwillkürlich war Hamarem ebenfalls ein Schmerzensschrei entwichen. Hatte auch Amemna geschrien? Nun war nur noch das Weinen der kleinen Tochter Amemnas zu hören. Auch sie hatte wohl den Schmerz gespürt.
 

"Was ist das? Was ist das für eine Finsternis?" fragte der junge Birh-Melack vor Furcht flüsternd und sah zu dem alten Mann hinunter, der nun Jochawams Knöchel umklammert hielt.
 

Nefut wimmerte noch immer vor Schmerzen, aber die Kräftetentakel waren verschwunden, sie sammelten sich nun um Jochawam, verbanden sich, vermutlich wegen des geschwächten Zustandes des Ostlers, in Windeseile mit dem zarten Geflecht der Kräfte, das um ihn lag. Jochawams Leib ruckte hin und her, als würden ihn die Kräftetentakel umherstoßen.
 

Hamarem wußte, daß sein Herr Jochawam zur Hilfe eilen wollte, aber nicht wagte, sich ihm zu nähern. Auch er hatte es nun offenbar gesehen, dieses Unheil, diesen Dämon, denn wie sollte man diese anscheinend planvoll handelnde Ansammlung von Kräften sonst nennen? Und tatsächlich hatte Amemna recht, es steckte die Finsternis des schwarzen Abgrundes in diesen Kräftetentakeln, es steckte der Tod in ihnen.
 

"Was ist passiert?" verlangte nun plötzlich der Mawati Nefut zu wissen, in der einen Hand das blankgezogene Schwert, in der anderen die Schwertscheide, der durchtrainierte, sehr wohlgestaltete Körper unbekleidet. Auch seine Kräfte in auffälligem Gleichklang mit denen seines Birh-Melack. Das vielfache Echo der Lust, das er mit Ramilla im Arm empfangen hatte, flackerte unerwünscht durch Hamarems Erinnerung, er wandte den Blick ab von dem Mann, sah hinunter auf den Knaben Nefut, der nun unbehelligt von der Dämonenkraft war. Hamarem bückte sich, hob ihn in seine Arme. Der kleine Körper wurde noch immer von Schmerz durchdrungen, aber er wies keine Verletzung auf. Als habe er sich eines fremden Schmerzes erinnert, als habe er den Tod eines anderen am eigenen Leibe erlebt. Die Zeit würde diesen Schmerz vergehen lassen, und vielleicht mochte es Amemna sogar gelingen, ihn zu heilen. Doch wie sollten sie Jochawam helfen, der nun von den Kräftetentakeln umschlungen wurde, während der Leib des ehrwürdigen Vaters nun eindeutig der eines Toten war.
 

"Trrag den Jungen in mein Zelt, Nefut", befahl Amemna und winkte Hamarem, den Knaben in Nefuts Arme zu übergeben.
 

"Aber ich kann dir...", wandte Nefut ein und auch Hamarem wollte dagegen protestieren, den Knaben weiterzugeben. Schließlich hatte er dessen Mutter versprochen, sich in ihrer Abwesenheit um ihn zu kümmern.
 

"Hamarrem kann mirr hierr mehrr helfen als du, Nefut", schnitt Amemna jeden Protest ab. "Err verrfügt ebenfalls überr einige unirrdische Krräfte." Er sah hinunter auf Jochawam, "auch wenn sie dirr zum Verrhängnis wurrden",  flüsterte er dann. Jochawam mochte ja tatsächlich über unirdisches Blut verfügen, aber zunächst hatte sich der Dämon dem Knaben Nefut genähert und der hatte kein unirdisches Blut in den Adern.
 

"Woherr willst du das wissen?" fragte Amemna provozierend.
 

Hamarem konnte den Blick nicht von Nefuts muskulösem Hinterteil abwenden, als dieser den Jungen in das Birh-Melack-Zelt trug. Das mußten Amemnas begehrliche Gedanken sein, die ihn anflogen. Hamarem rief sich selbst zur Ordnung und sah seinen Herrn an. Worauf beruhte seine Überzeugung, das der Knabe kein unirdisches Blut hatte? Es war ja durchaus möglich, auch wenn seine Mutter es nicht besaß. Wieso war er sich seiner Sache so sicher? "Seine Kräfte sind zu geordnet, viel zu sehr in sich ruhend", erklärte er dann nachdenklich. "Die Kräfte der Menschen mit unirdischem Blut sind in einer bestimmten, bewußt wirkenden Weise in Bewegung oder kunstvoll miteinander verflochten", erklärte er. Auch wenn Hamarem das bei seiner ersten Begegnung mit dem ehrwürdigen Vater nicht klar geworden war und er so lange Zweifel an Amemnas Natur gehabt hatte, schien die Art der Bewegung doch gerade der Schlüssel zum Verständnis der Manifestation unirdischer Fähigkeiten in den Kräften zu sein. Auf den Orakelpriester in Harna und seine Schüler traf es zu und auch Jochawam paßte in diese Theorie. Und der Dämon mußte demnach über ungeheuerliche, den Unirdischen vergleichbare Fähigkeiten verfügen. Um Amemna waren in diesem Moment die Kräfte wie aufgewirbelt in Bewegung. "Das sieht hübsch aus, Hamarrem", flüsterte Amemna. "Siehst du mich immerr auf diese Weise?"
 

Es war unheimlich zu wissen, daß sich Amemna offenbar soeben durch Hamarems Augen selbst betrachtet hatte. "Das müßt ihr doch längst wissen, Herr", gab er verärgert, nein eher beunruhigt zurück.
 

Amemna schüttelte seinen Kopf, sah wieder zu Jochawam, der sich nun gar nicht mehr rührte, nur die Kräftetentakel waren noch in Bewegung, flochten einen Panzer um ihn. "Solange ich denken kann, nehme ich die Gefühle anderrerr wahrr, mal ist der Urrsprrung mirr ganz klarr, mal sind sie wie meine eigenen und mal wie eine ferrne Errinnerrung, aber das ist sprrunghaft, verwirrrend. Bisweilen hatte ich Angst, mich selbst aufzulösen in derr Wahrrnehmung frremder Empfindungen, die sich zu meinen eigenen machen wollen. Aberr seit ich dich kenne, hörre ich gelegentlich auch die Gedanken anderrerr, kann durch derren Augen sehen und kann frremde Gefühle sicherr als die anderrerr Perrsonen zuorrdnen. Und wenn du in meinerr Nähe bist, oderr err", und Amemnas Blick zu Jochawam war so wehmütig, "hat es mehrr Beständigkeit, deswegen wohl auch..."
 

"...die Erhitzung", ergänzte Hamarem spontan. Die Verbindungen im Traum, die Voraussichten in Bildern, das gab es für Hamarem erst, seit er Amemna begegnet war. Ob ihrer beider unirdischen Fähigkeiten sich durch das Zusammentreffen verstärkt hatten?
 

Amemna nickte, aber dann sah er mit beunruhigender Verzweiflung auf Jochawam hinunter. "Wie können wirr ihn aus derr Finsterrnis rretten, Hamarrem?"
 

Die Kräftetentakel waren nun ganz mit dem Kräftegeflecht um Jochawam verschmolzen, waren zu einem Teil von ihm geworden. Das Unheil und der Schmerz waren noch da, aber beides hatte viel von seiner Bedrohlichkeit verloren. Hamarem wagte, sich neben Jochawams ohnmächtig daliegendem Körper in das Gras zu hocken und den Arm des Ostlers durch den Stoff seines Ärmels zu berühren. Nichts geschah, als Hamarem den Ärmel anhob, die hellhäutige Hand hing wie weicher Teig spannungslos herunter. Hamarem faßte mit seiner anderen Hand die Hand Jochawams direkt an und vernahm ein weit entferntes Echo des Unheils. "Ich glaube, die Gefahr ist gebannt." Hamarem war überrascht. Vielleicht war das, was er gesehen hatte, nicht so etwas wie ein Dämon gewesen, sondern die Auswirkung des Todeskampfes des alten Priesters, der ja selbst über unirdisches Blut verfügt hatte. Vielleicht machten sich die unirdischen Fähigkeiten im Moment des Todes selbständig und suchten einen anderen Körper, um darin Unterschlupf zu finden. "Warten wir ab, bis Jochawam wieder erwacht", empfahl Hamarem seinem Herrn.
 

"Warrten wirr also ab", bestätigte Amemna leise. "Solange sollte Jochawam lieberr ebenfalls in meinem Zelt liegen." Er winkte seinem Zweiten, mit anzufassen, schlang die Arme unter Jochawams Armen um dessen Brustkorb und hob ihn an. Hamarem nahm Jochawams Füße und half, den Bewußtlosen in das Zelt seines Birh-Melack zu bringen, ihn neben dem Knaben Nefut auf den dicken Teppichen zu betten. Amemna breitete fürsorglich eine Decke über seinen Geliebten, und die zärtlichen Gefühle Amemnas, als er Jochawam umsorgte, berührten Hamarems Herz. Nefut dagegen, der inzwischen sein Untergewand übergezogen hatte, wandte den Blick ab, als könne er es nicht ertragen, wie Amemna den Ostler ansah. Aber seine offensichtlich heftigen Empfindungen verschloß er in sich.
 

"Wir müssen uns auch noch um den ehrwürdigen Vater der Orempriesterschaft kümmern", erinnerte Hamarem seinen Herrn. Sie konnten ihn unmöglich direkt neben dem Abort liegen lassen und die Orempriester bitten, den Leichnam ihres Altehrwürdigen dort abzuholen.
 

Amemna seufzte, sah hinunter auf Jochawams sehr blasses, eingefallen wirkendes Gesicht, kniete sich neben ihn, strich sanft die langen roten Locken aus der Stirn. "Kümmerre dich mit Nefut darrum", sagte er nur knapp, ohne aufzusehen.
 

Als sie das Zelt wieder verließen, war es plötzlich sehr klamm, kleine Wassertröpfchen schienen in der Luft zu hängen, fast wie in einem Dampfbad. "Der Regen beginnt", sagte Nefut wie zu sich selbst.
 

Die Lampe neben dem Abtritt war durch die Feuchtigkeit erloschen und Hamarem gelang es nicht, sie wieder zu entzünden. Also tasteten sie im Dunkeln nach dem Körper des ehrwürdigen Vaters. Hamarem stellte erstaunt fest, daß der tote Körper des alten Mannes viel leichter war, als der des ohnmächtigen Jochawam.
 

"Wo bringen wir ihn hin?" fragte Nefut. "Ich finde nicht, daß er unbedingt im Mawati-Zelt liegen sollte und noch weniger bei Amemna." Das Zelt der Prinzessin oder das ihrer Wachen standen selbstverständlich gar nicht zur Debatte. "Bringen wir ihn zu den Orempriestern", schlug Hamarem vor. Immerhin befand sich das Birh-Melack-Zelt nahe am Zentrum des Lagers, und der Weg zu den göttergeweihten Zelten war nicht so weit, wie er im Heerlager der Hannaiim gewesen war.
 

*
 

Das spärliche Licht der Feuerschalen, in denen die dicker werdenden Regentropfen zischten, machte den durch Unebenheiten mühseligen Weg durch das noch unbekannte Lager nicht einfacher, doch endlich erreichten sie ohne zu stürzen die breite Gasse, die zu den Zelten der Götter führte. Der Bereich des Nächtlichen Träumers fiel durch die vergleichsweise helle Beleuchtung auf, da die Lampen, die rund um das Hauptzelt aufgehängt waren, durch dessen überragendes Dach vor dem Regen geschützt waren.
 

"Was ist das?" fragte Nefut plötzlich.
 

Hamarem folgte seinem Blick und sah etwas Helles in der zur Faust geballten Hand des alten Priesters. Das war nicht die Hand, mit der er erst den Knöchel des kleinen Nefut und dann den Jochawams umklammert hatte. "Warte einen Moment", bat Hamarem, ließ die Füße des Alten vorsichtig zu Boden, nahm dann die Hand des ehrwürdigen Vaters und versuchte, die zusammengekrampften Finger von dem Stückchen Papyrus zu lösen, das sie hielten. Endlich gelang es ihm, zwei Finger der Faust mit Gewalt aufzubiegen, und den zum Teil beschriebenen Papyrusfetzen aus der toten Hand zu ziehen. Um zu lesen, was dort stand, reichte die Beleuchtung allerdings nicht aus. Da er nicht wußte, wohin nun mit dem Zettel, umschloss Hamarem ihn mit den äußeren beiden Fingern der eigenen Linken und nahm die Füße und den Mantelsaum des ehrwürdigen Vaters wieder auf. Nach nicht einmal hundert Schritten hatten sie die Zelte der Orempriesterschaft erreicht. Ein Wächter des Orem geweihten Bereiches eilte ihnen erschrocken entgegen, besah sich kurz den Leichnahm, lief dann in das Zentralzelt und kam gleich darauf mit dem jungen Priester zurück, der Hamarem während des Heerzuges angesprochen hatte. Er erfaßte mit einem Blick die Lage. "Ihr habt also unseren ehrwürdigen Vater gefunden", sagte er bedauernd.
 

"Ja", antwortete Hamarem. "Er hatte sich hinter unserem Zelt versteckt. Ein Junge, der zu unserer Wannim gehört, hat ihn entdeckt, doch da lag er schon im Sterben."
 

"Bitte übergebt mir eure Last", sagte der Wächter nun, schulterte den Leichnam des uralten, bärtigen Mannes und trug ihn in eines der kleineren Zelte. Hamarem wußte, daß man ihn dort für seine Reise durch das Schattenreich bereit machen würde, während andere die Nacht hindurch für ihn beteten, damit er für sein Wirken als Orakelpriester in Orems Mantel als Stern verewigt würde.
 

"Hat er euch noch irgendetwas gesagt über seine Pläne und Absichten - oder über das Unheil, das er entdeckt zu haben glaubte?" fragte der Priester.
 

Hamarem und Nefut schüttelten die Köpfe, und Nefut ergänzte: "Wenn ihr erlaubt, kehren wir in unser eigenes Zelt zurück." Sie standen beide nur in ihre inzwischen recht feuchten Untergewänder gekleidet im nächtlichen Heerlager und dem Anschein nach begann Nefut tatsächlich zu frieren.
 

"Orems Segen auf euch", sagte der Priester und legte beiden kurz die Hand auf den nassen Scheitel, dann machten Hamarem und Nefut kehrt und eilten zum Mawati-Zelt zurück.
 

*
 

Erst als sie das Mawatizelt wieder betraten, erinnerte Hamarem sich des Papyrusstückchens, das er noch immer in seiner Faust hatte, so fest umklammert, wie der tote ehrwürdige Vater zuvor. Er ließ den Fetzen auf sein Lager fallen und suchte sich ein trockenes Untergewand aus seiner Tasche, hängte das andere über eine der Leinen, die noch um sein Schlaflager gespannt waren. Außerdem hatte er ein Tuch gefunden, mit dem er nun begann, seine Haare zu trocknen. Erstaunlich, daß bei der ganzen Unruhe weder Derhan noch Oremar bisher erwacht waren.
 

"Weißt du, was das für ein Schreiben ist?" fragte Nefut flüsternd, als er sich Hamarems Lager mit einer brennenden Lampe näherte, sich neben ihn auf die Decken setzte. Der schwindelerregende Duft von Amemnas Lust stieg Hamarem in die Nase, als sein ehemaliger Befehlshaber so dicht neben ihm saß, außerdem die unverkennbaren Gerüche einer erregten Frau und von Sperma. Dabei hatte sich doch auch Nefut ein trockenes Untergewand angezogen, die Ursachen dieser Gerüche hafteten demnach also noch an seinem Körper. Mindestens zu viert mußten sie in Amemnas Zelt die Göttin gefeiert haben. Es wurde Hamarem heiß und kalt bei diesem Gedanken und die Bilder, die vor seinem inneren Augen aufstiegen, machten es nicht besser. Nefut gab Hamarem einen leichten Stoß an den Oberarm. "Hast du eine Idee? Ich kann nur 'Chelems Brut' und 'kontrollieren' lesen." Hamarem versuchte, die aufsteigende Erregung zurückzudrängen. Er hätte auch kaum einen unpassenderen Moment dafür finden können, als mit Nefut auf einem Lager sitzend und bei dem Versuch, den Tod des ehrwürdigen Vaters aufzuklären. Er legte das Tuch beiseite und nahm das Stückchen Papyrus aus Nefuts Hand.
 

Die Schrift ließ auf eine dreißig bis vierzig Jahre alte Schriftrolle aus dem Gebiet um Hannai und Harna schließen, auch die Art des Papyrus sprach dafür, soweit man bei dem kleinen Fetzen von der Unterkante eines Buches etwas dazu sagen konnte. Vorsichtshalber hielt Hamarem das Stückchen gegen das Licht der Lampe und sah hindurch. Es war eindeutig Papyrus aus Berresh, wie er in Hannai und Harna gewöhnlich verwendet wurde, der gleichmäßige Schnitt, die akkurate Ausrichtung der Stengelstücke und die besonders glatte Oberfläche der Schriftseite durch das Nachschleifen mit feinem Sandstein sprachen dafür. "Es ist ein Stück einer Schriftrolle", faßte Hamarem seine Erkenntnisse für Nefut zusammen.
 

"Und kannst du sagen, aus was für einer Schrift das stammt?" fragte Nefut flüsternd, während er sich nun die eigenen Haare mit Hamarems Tuch trocknete. Es war einfach unerträglich, Amemnas Duft so deutlich aus Nefuts Haaren und Bart unter die Nase gerieben zu bekommen. "Warte einen Moment", antwortete Hamarem barsch, rückte ein gutes Stück beiseite, öffnete die Tasche, in der er seit seinem Fortgang aus Harna seine Exemplare der Schriften und Kommentare aufbewahrte. Es gab nur wenige Texte, die sich wissenschaftlich mit den Dämonen beschäftigten. In Harna war zwar gemunkelt worden, die Priester des Ungenannten hätten Zugang zu einer ganzen Bibliothek, die sich ausschließlich mit Chelems Reich beschäftigte, aber das konnten auch Legenden sein.
 

Hamarem griff zielgerichtet nach dem dritten Buch der Kommentare, dessen Anfang die Anmerkungen zu Zefars Beschreibung der Weltordnung enthielt. Zefars Werk ordnete die Vorstellung einer Unter-, Mittel- und Oberwelt, wie sie in den Städten des Nordens verbreitet war, in ein System. Nach einer allgemeinen Einleitung über die Bedeutung des Werkes Zefars hieß es im Kommentar: "In der Unterwelt werden die Dämonen, Chelems Brut angesiedelt, die nach dem Aufstieg in die Mittelwelt die Körper von Toten kontrollieren, um auf diese Weise die Lebenden zu verführen und sich von ihrer Kraft zu nähren", las Hamarem flüsternd. "Zefar behauptet sogar, der Kampf zwischen dem Ungenannten und Chelem, in dem ihre jeweiligen Diener, die Dämonen und die Unirdischen, in Menschengestalt um die Herrschaft über die Menschen kämpfen, werde auf der Mittelwelt ausgetragen. Er schreibt: 'Dafür bedienen sie sich auch geschwächter und dem Tode naher Menschen, um deren Körper als Hülle zu verwenden.' Streit gibt es darum, ob er nur von den Dämonen spricht, die menschliche Körper als Hüllen verwenden oder ob er dieses Verhalten gleichermaßen den Unirdischen unterstellt, da er von der Menschengestalt der Unirdischen nur im Zusammenhang mit ihrem Erscheinen auf der Mittleren Ebene schreibt."
 

Hamarem verglich den Text des abgerissenen Stückes mit dem gerade gelesenen. Ja, das 'ten' vor 'kontrollieren' mochte der Rest von 'Toten' sein, und über 'Brut' war noch die untere Hälfte der Buchstaben 'erwelt' wie in 'Unterwelt' zu erahnen. "Ich bin mir sicher, daß dieses Textfragment aus dem ersten Kapitel des dritten Buchs der Kommentare stammt", erklärte Hamarem. Warum aber hatte der ehrwürdige Vater gerade den Kommentar zu Zefars Beschreibung der Weltordnung gelesen? Hatte er gespürt, daß ein Dämon seinen alten Körper als Hülle ausersehen hatte? Oder hatte er sich nur mit Argumenten für ein Gespräch mit Hamarem wappnen wollen? Er hatte seinen Kollegen gegenüber doch von einem Unheil gesprochen. Hatte er vielleicht einfach seinen nahen Tod vorausgesehen?
 

Das nächste Kapitel beschäftigte sich mit der nach Meinung des Kommentators als abwegig zu betrachtenden, auf Zefars Werk begründeten Theorie, daß Dämonen und Unirdische tatsächlich von der selben Art und der Menschheit grundsätzlich feindlich gesinnt seien. Nur wenigen der bekannten Nachkommen der Unirdischen wurden dieser Theorie nach eine den Menschen freundliche Haltung zugestanden. Aber vielleicht war diese Theorie in den Augen des ehrwürdigen Vaters nicht so abwegig gewesen, ihr Gespräch vor einigen Tagen hatte ja schon darauf hingedeutet. Das dritte Kapitel schließlich war den Wohnorten der Dämonen in der Unterwelt gewidtmet, danach wurde bereits die Mittelwelt, der Bereich der Menschen, behandelt.
 

"Vor allem in Berresh und westlich davon verbreitete Ansichten zur Ordnung der die Menschen beeinflussenden positiven und negativen Mächte", las Nefut langsam. Das war eine der Randnotizen, die Hamarem in seinem Exemplar der Kommentare angebracht hatte. "Bei der Traumdeutung zu berücksichtigende lokale Unterschiede der Nordstädlervorstellungen von Verwandtschaftsverhältnissen der Götter", las Nefut weiter, fing dann Hamarems Blick ein. "Das ist doch deine Handschrift, nicht wahr?" fragte er leise.
 

Hamarem hielt dem prüfenden Blick einen Atemzug lang stand, dann nickte er.
 

Nefut schwieg, senkte den Blick auf die Schriftrolle, vielleicht las er noch weitere der Randbemerkungen und noch immer entströmte ihm Amemnas Duft. Amemna selbst konnte Hamarem nicht stärker beunruhigen, als diese Kombination von Gerüchen ausgerechnet an Nefuts breitschultrigem und kraftvollem männlichen Körper. Hamarem rückte noch ein Stück ab von Nefut, der dadurch aufgeschreckt wieder von der Schriftrolle hochsah.
 

"Du bist ein Priester Orems, nicht wahr?" fragte Nefut dann flüsternd, als wäre es ihm gerade erst in dem Moment klargeworden, als er in Hamarems Notizen das Wort 'Traumdeutung' gelesen hatte. "Daher kanntest du auch den alten Priester."
 

Hamarem lächelte müde. "Bis vor drei Jahren war ich ein Priester Orems. Den ehrwürdigen Vater habe ich erst hier im Heerlager kennengelernt.
 

"Ich wußte nicht, daß man das Amt eines Traumdeuters einfach ablegen kann", gab Nefut noch immer flüsternd zurück.
 

"Das kann man auch nicht", war Hamarems Antwort. Er rollte den nun unbeachteten dritten Band der Kommentare wieder zusammen, zog die Lederhülle darum und steckte ihn zurück in seine Tasche. "Nur durch den Tod kann man die Orakelstätte hinter sich lassen - oder nach einer Reihe von Schweigegelübten und der Versicherung, niemals in sein altes Leben zurückzukehren. In jedem Falle ist es für immer."
 

Nefut starrte Hamarem ungläubig an. "Für das Leben in Ashans Bande hast du dein Priesteramt aufgegeben?"
 

Wieder mußte Hamarem lächeln. "Nein, für den Traum von einer geflügelten Schlange." Er mußte sich endlich Amemna stellen, mußte herausfinden, wer von ihnen die geflügelte Schlange war. Ramilla hatte ihn ja geradezu dazu gedrängt, das Gespräch mit seinem Herrn zu suchen. Vielleicht war sein Birh-Melack ja schon vor Tagesanbruch bereit, mit ihm zu reden, trotz der Aufregung in dieser Nacht. Hamarem entschloß sich, nicht länger zu warten, stand auf. "Entschuldige mich bitte, ich muß noch mit unserem Herrn sprechen", sagte er leise, hielt nicht inne, um sich mit Gürtel und Mantel weiter zu bekleiden, sondern ging wie er war hinaus, durch den Regen und an den verschlossenen Eingang des Birh-Melack-Zeltes.
 

*
 

Hier stand Hamarem nun vor dem Zelteingang, spürte die klatschenden Tropfen an der Kopfhaut, auf den Schultern, merkte, wie sein eben noch trockenes Untergewand immer mehr Nässe aufsog und an seinem Oberkörper zu kleben begann. Aber plötzlich war er so unentschlossen und wagte nicht, Amemna auf sich aufmerksam zu machen. Was, wenn es wieder zu einer Erhitzung kam? Er wollte reden mit seinem Birh-Melack, wollte endlich Klarheit über den Traum, für den er nach seinen neusten Erkenntnissen sogar die Aussicht, Orakelpriester zu werden, ausgeschlagen hatte. Er wollte sich für seine barschen Worte entschuldigen - und doch wußte er nicht, wie er beginnen sollte, ob er Amemna deswegen jetzt wirklich stören konnte. Sein Herr hatte ihn ja erst für den frühen Morgen einbestellt. Nun kümmerte er sich sicher gerade um seinen verletzten Liebsten, den rothaarigen Ostler, den sie zusammen in das Birh-Melack-Zelt getragen hatten. Oder er war eingeschlafen nach der erschöpfenden Liebesnacht, die er mit mindestens drei anderen Personen verbracht hatte.
 

Die Zeltöffnung wurde ein Stück geöffnet, Amemna sah seinem Zweiten erwartungsvoll in die Augen, winkte ihn schließlich mit einer knappen Handbewegung aus dem Regen hinein in das Zelt, als hätte er ihn gerade jetzt erwartet. "Ich habe gespürrt, daß du drraußen standest", erklärte Amemna leise, sah hinunter auf Jochawam, der noch immer bewußtlos dalag, mit eingefallenem, sehr blassem Gesicht, die Tentakel der fremden Kräfte fest um ihn verwoben. Der Knabe Nefut dagegen sah aus, als schliefe er, die Wangen von der Hitze unter mehreren Decken gerötet, die Kräfte in den gewohnten ruhigen Wellen. "Wirr sollten miteinanderr sprrechen", riß der junge Birh-Melack Hamarem aus seinen Betrachtungen, winkte seinen Zweiten weiter, bis zu dem von einer Lampe beleuchteten Lager hinter den aufgehängten Decken. Er wartete, bis Hamarem sich gesetzt hatte, dann schloß er den Sichtschutz, setzte sich ebenfalls und sah Hamarem erwartungsvoll an. "Willst du errst dein Anliegen vorrtrragen, oderr soll ich zuerrst von meinem sprrechen?" fragte er dann, als Hamarem noch immer schwieg.
 

Es bestand kein Zweifel daran, daß er gerade auf dem nächtlichen Liebeslager seines Birh-Melack saß. Es roch stark nach der Kopulation von Männern und Frauen und den verführerischen Ausdünstungen Amemnas. "Verzeiht Herr, aber ich glaube nicht, daß ich mich an diesem Ort darauf konzentrieren kann, mit euch zu sprechen", sagte Hamarem leise. Er spürte die weiche Haut und das schöne Haar der Prinzessin, die muskulösen Arme Nefuts, die Küsse des Ostlers, alles überfiel ihn zugleich aus Amemnas Gedanken. Er schloß die Augen und bemühte sich, ruhig zu atmen, doch mit jedem Atemzug nahm er den Duft dieser Orgie der Lust auf, so daß ihn noch mehr schwindelte, er plötzlich in Erinnerung an seine Träume glaubte, die weichen Lippen Amemnas auf seiner Wange, seinen Lippen zu spüren, Amemnas Hand, die seine Hand sanft durch die nur ein Stück geöffnete Knopfleiste eines Untergewandes führte, bis Hamarems Finger auf einer weiblichen Brust lagen. Hamarem öffnete die Augen, überrascht, Amemnas Gesicht so dicht vor seinem zu sehen.
 

"Darüber scheinst du nicht sehrr errstaunt zu sein", hauchte sein Birh-Melack und wirkte ein wenig enttäuscht. Natürlich meinte er seine Brust, auf der Hamarems Fingerkuppen lagen, diese weiche, warme, nachgiebige Rundung, die sich ihm entgegenzustrecken schien.
 

Hamarems Begierde nach diesem wunderschönen, jungen Körper brachte ihn fast um den Verstand. "Ihr wolltet doch mit mir reden, Herr", wandte er ein, mühsam um Beherrschung bemüht. "Ich wollte zumindest mit euch reden."
 

Amemna lächelte ihn so verführerisch an, streichelte Hamarems bärtiges Kinn. "Späterr ist dafürr noch Zeit." Sein Untergewand war gerade weit genug geöffnet, daß er es sich über seine schlanken Schultern streifen konnte, die Arme aus den Ärmeln zog, so daß es bis unter seinen Bauchnabel rutschte, und sich um sein Gesäß legte. "Laß mich dirr zuerrst zeigen, was ich fürr dich empfinde, Hamarrem." Und er beugte sich vor und küßte Hamarem erneut auf die Lippen.
 

Hamarem genoß diesen zärtlichen Kuß. In Amemnas Duft war die weibliche Erregung nun deutlich zu erkennen und Hamarem beugte sich seinerseits vor, um...
 

Hier in Amemnas Schoß fand Hamarem die geflügelte Schlange, das Geschenk der Göttin, so zumindest sah es Amemna, das war so klar in Hamarems Gedanken, als wären es tatsächlich seine eigenen. Die Erinnerung an eine Kindheit als Mädchen, aufwachsend unter schwarzhäutigen, schwarzhaarigen Mädchen und Frauen des Südens, lesen und schreiben lernend anhand der heiligen Texte ihrer Göttin, so ernsthaft Schriften über die Vereinigung der Geschlechter memorierend, wie die Kinder der Oshey die Schriften der Weisen und Heiligen lernten, sich vorbereitend auf die Zeit, in der sie als Dienerinnen ihrer Göttin in die Welt ziehen würden, als zukünftige Mütter und Ehefrauen, bis diese Kindheit für Amemna ein jähes Ende fand mit der Entdeckung, daß die Göttin sie beschenkt, sie teilweise zu einem Mann gemacht hatte - vor etwa sechs Jahren, als Hamarems Träume von der geflügelten Schlange begannen.
 

Hamarem küßte das wunderschöne Geschenk der Göttin, entlockte Amemna damit einen sehnsüchtigen Seufzer, das Aufflammen der um ihn glühenden Kräfte. Ramilla hatte so auf seine Küsse reagiert, die Amapriesterin ebenso, und doch waren Amemnas Kräfte ganz anders, zogen Hamarem eigene aktiv in ihre Bewegungen ein, ließen ihn fast besinnungslos werden vor Begehren, so stark, daß es nicht für menschliche Leiber gedacht sein konnte. ...
 

Ein Zittern durchlief Amemnas nackten Körper. Doch Hamarem wurde fasziniert durch einen Knoten der Kräfte an einer ungewöhnlichen Stelle, zwischen Amemnas Bauchnabel und seinem hoch aufragendem männlichen Geschlecht, dort, wohin Ramilla an ihrem Leib mit roter Tinte die Segenswünsche an Ama zu schreiben pflegte. Ein leichtes Pulsieren ging von diesem Kräfteknoten aus, als Hamarem ihn erforschte, die weiche Haut darüber mit seinen Händen liebkoste, feste Muskeln darunter spürte, den Bauch eines jungen Mannes unter der Haut einer jungen Frau.
 

... Er schmeckte zugleich das Weib und den Mann Amemna und er erinnerte sich an seine Vision im Olivenhain nahe Tetraos. Wenn er sich seinem Herrn offenbarte, sollte das sein Lohn sein.
 

"Hamarrem", hauchte Amemna mit zittriger Stimme, "ich bitte dich...". Er richtete sich auf, ohne sich Hamarems Mund zu entziehen, strich ihm über das Haar, so daß Hamarem schließlich doch aufblickte, sich aufsetzte. Er genoß die Küsse Amemnas, mit denen er Hamarem geradezu darum anbettelte, ihn zu nehmen, während gleichzeitig das fast ebenso starke Verlangen zu spüren war, selbst Hamarem zu begatten. Hamarem wagte nicht, weiter darüber nachzudenken, fürchtete sich ein wenig vor dem Teil in sich, der bereit dazu war, sich seinem Herrn in dieser Art hinzugeben, und wurde von sehr unerwünschten Erinnerungen an die Straßenjungen in Hannai ereilt, an die Empfindung ihrer Schmerzen, wenn sie damit begannen, sich zu prostituierten, um sich zu ernähren.
 

"Hamarem, nichts wird dir Schmerzen bereiten", flüsterte Amemna mit ungewohntem Klang in der Stimme. Es war seine Lust, die darin mitschwang erkannte Hamarem und alle dunklen Gedanken verflogen, als diese Lust in Hamarem ihr Echo fand. Doch bevor Amemnas männliche Gier, Hamarems Körper zu besitzen, überhand nehmen konnte ... Wie ein wahrer Sturm aus Feuer umflackerten die Kräfte Amemna, dicke Stränge, hell wie die Sonne, so daß Hamarem die Augen schließen mußte, um nicht geblendet zu werden. Hamarem fühlte, daß sie wie glühende Finger nach ihm griffen, ihn in die Flammen zogen, die ihn während des Höhepunktes verzehren wollten.
 

Er ließ zu, daß Amemna sich an seiner Lust nährte, doch er nahm seinerseits die Ekstase seines Herrn in sich auf, Teile davon zumindest, denn alles hätte ihn sicher verbrannt. Und schließlich lagen sie einander keuchend, mit rasenden Herzen in den Armen, ihre Körper noch miteinander verbunden, ebenso wie ihre Kräfte, die nun langsam wieder verblassten. Zitternd atmete Amemna tief ein und ließ den Atem langsam wieder entweichen. "Du hast mirr einen wahrren Kampf kelieferrt", sagte er mit einem so befriedigten Lächeln, daß Hamarem allein der Anblick glücklich machte.
 

Hamarem wollte sich nicht von Amemna lösen, streichelte die wunderbare weiche Haut seines Herrn, senkte ermattet das Kinn an seine Schulter, küßte ihn dort. "Ich begehre dich so sehr, Amemna", flüsterte er dann. "Ich träume schon von dir, seit ich dich kenne. Und nicht einmal die Frau die ich liebe hat meine Gefühle für dich erkalten lassen."
 

"Wieso wußtest du, daß ich von sweifacherr Naturr bin?" fragte Amemna leise.
 

"Ich habe es mir erschlossen, doch erst nach jenem Traum, den du mir aus Tetraos geschickt hattest, war ich mir darin sicher."
 

"Ich hatte so sehrr kehofft, daß du meine Kefühle errwiderrst, du warrst so fürrsorglich su mirr, so frreundlich und hast von Anfang an mit deinerr Stimme mein Herrz berrührt. Auch ich begehrre dich, und ich werrde nicht sufrrieden sein diese Nacht, bevorr ich nicht auch dich besessen habe." Amemnas lüsternes Grinsen zeugte von ungebrochener Energie, während Hamarem sich schon fast zu Tode erschöpft fühlte. Doch die Lust Amemnas weckte aller Erschöpfung zum Trotz auch Hamarems Begierde erneut. Amemna wollte, das er sich ihm ganz hingab, und so ließ Hamarem sich vertrauensvoll auf das Lager sinken. Er hatte nichts Böses von seinem Geliebten zu erwarten.
 

... "Kibst du dich mirr hin?" fragte Amemna sehr leise.
 

"Ja", hauchte Hamarem zurück. Egal was kommen mochte, er würde Amemnas Lust teilen. Er schloß die Augen, um sich ganz der eigenen und Amemnas wachsender Erregung hinzugeben, merkte, wie Amemnas Kräfte, etwas verhaltener, wieder aufflammten, seine Kräfte und ihn gleich dazu mitrissen. Er spürte, wie Amemna die Göttin erkannte, sich zugleich zu ihm herunterbeugte und "Hamarrem" in seinen Atem seufzte. Dann trugen ihn die Kräfte mit sich davon.
 

* * *
 

22. Hinterhalt

Ein Traum hatte Hamarem bewogen, die einem Fürstenrang gleichkommende Position als Orempriester aufzugeben? Und was für eine geflügelte Schlange hatte er in der Wüste gesucht? Die einzige geflügelte Schlange, die Nefut in all den Jahren seit seiner Rückkehr in die Wüste gesehen hatte, war die auf dem Hawatamulett von Merat gewesen und das stammte sicher aus Ma'ouwat oder sonstwie aus dem Süden, ebenso wie die erste geflügelte Schlange, die Nefut in seinem Leben gesehen hatte, das Hawatamulett von Schelschér, auch wenn das eher einem geflügelten Phallos geähnelt hatte. Und wieso hatte Hamarem dem Orempriester gegenüber behauptet, der ehrwürdige Vater sei erst kurz zuvor zwischen ihren Zelten verschieden? Seine rechte Hand war doch schon ganz steif gewesen, Hamarem hatte die Hand mit Gewalt öffnen müssen, um an das Stück Papyrus zu kommen. Nefuts Erfahrung nach erreichten die Leichen der Gefallenen auf Schlachtfeldern diesen Zustand verfestigter Gliedmaßen erst nach etwa einem halben Tag, der Rest des Leichnams war ja noch einigermaßen beweglich gewesen. War hier vielleicht wirklich ein Dämon am Werk gewesen? Wie anders wäre es einem Toten möglich gewesen, Jochawams Knöchel zu umklammern, oder überhaupt zu den Zelten zu gelangen, denn der Priester hatte ja nicht schon vor dem Lagerbau dort gelegen, und die Söldner des Tetraosi-Heeres hatten diesen Lagerplatz ja erst vor wenigen Stunden erreicht. Und merkwürdigerweise hatte der Priester kurz vor seinem Tode zudem ausgerechnet ein Buch über Dämonen in den Händen gehalten, auch wenn es anscheinend für Orempriester nicht ungewöhnlich war, dieses Buch zu besitzen, sonst hätte es Hamarem nicht ebenfalls besessen.
 

Hamarem war plötzlich aufgestanden und lief mit eiligen Schritten zum Ausgang. "Darf ich noch einmal in diese Schriftrolle schauen?" rief Nefut ihm hinterher. Der ehemalige Orempriester verließ gerade das Mawatizelt, seine gerufene Antwort klang wie "Natürlich."
 

Wieso zuckte Derhan nicht mit einer Wimper? Wie hatten er und Oremar bei dem Alarmruf und der ganzen Unruhe weiterschlafen können? Nefut beugte sich hinüber zu Derhans Lager. Der Unruhestifter atmete ruhig. "Derhan?" fragte er leise, doch der Mann rührte sich nicht, als wäre er betäubt. Nefut stieß ihn nicht gerade sanft mit dem Fuß an die Schulter. "Derhan, steh auf", zischte er, aber Derhan grunzte nur im Schlaf und drehte sich auf die andere Seite, als wäre er mit Mohnsaft betäubt oder stünde unter einem Zauber. Wenn Amemna nicht gesagt hätte, daß auch Hamarem über unirdisches Blut verfügte, wäre Nefut sicher gewesen, daß der Zweite der Wannim irgend etwas mit der ganzen Geschichte zu tun hatte. So gab es für sein rätselhaftes Verhalten wohl einen guten Grund, auch wenn der undurchsichtig blieb.
 

Nefut beugte sich über Hamarems Lager, öffnete dessen Tasche, zog die Schriftrolle heraus, auf deren Griff 'Kommentare 3' stand, packte sie aus und zog sie auseinander. An welcher Stelle hatte der alte Priester gelesen, wenn er einen Fetzen der Schriftrolle vom Anfang des Textes in der rechten Hand gehalten hatte? Waren es vielleicht Beschwörungsformeln gewesen?
 

Nefut rollte den rechten Teil mit dem Anfang des Textes und der Passage über die Brut Chelems in der Unterwelt wieder um den Stab, so daß sie an seinen Fingern ruhte, entrollte den Rest so, daß er bequem lesen konnte, jede Hand auf einem Oberschenkel aufgestützt, die Papyrusbahn so straff, daß sie kaum auf seinen untergeschlagenen Unterschenkeln auflag. Die Buchstaben auf dem Papyrusfetzen waren etwa genauso groß wie die von Hamarems Exemplar des Buches, außerdem war er selbst deutlich größer, als der Priester es gewesen war, also war zu erwartet, daß der Priester zu dem Zeitpunkt, zu dem seine Hand sich um die Rolle verkrampfte und ein Stück herausriß, genau das Kapitel gelesen hatte, auf das Nefut jetzt selbst blickte.
 

"Kapitel 2
 

Vertreter der Ansicht, es handele sich bei Dämonen und Unirdischen um dieselbe Art, verweisen darauf, daß es nur eine Art Götterdiener geben könne, und zu den Göttern eben auch der Herr der Unterwelt gehöre. Sie beweisen ihre Theorie damit, daß Unirdische und Dämonen in ähnlicher Weise beschrieben werden, mit sehr heller Haut, weißen Haaren und hellen Augen. Auch hiermit beziehen sich die Vertreter dieser Ansicht wieder auf Zefars Werk, der die Augen der Unirdischen in ihrer menschlichen Form 'strahlend' nennt. Zefar lege sich damit eben nicht auf eine Farbe fest sondern betone eher die Abwesenheit von Farbe, da das Licht jede Farbe überstrahlt, also auch die Augen der Unirdischen weiß oder hellgrau seien, wie die der Dämonen. Daß diese Götterdiener von den Menschen nach ihren jeweiligen Herren und deren Absichten und Taten als gut oder böse angesehen werden, widerspreche dieser grundsätzlichen Gleichheit nicht, die Unirdischen könnten den Menschen ebenso gefährlich werden, wie die Dämonen. Allein die Nachkommen der Unirdischen, in denen genug menschliches Blut vorhanden ist, daß sie dem Menschen ähnlicher als einem dieser Götterdiener sind, seien für Menschen wahrhaft ungefährlich, während jene, denen ihr unirdisches Blut zu großen, göttlich scheinenden Taten verhilft, ebenso unheilvoll für ihre Zeitgenossen seien wie jene, die wir Dämonen nennen.
 

Natürlich ist diese Ansicht leicht zu widerlegen, kann es sich doch bei den Unirdischen nicht um bloße Diener oder Gefolgsleute des Ungenannten handeln. Da sie seinen für niedere Wesen unerträglichen Anblick aushalten, müssen sie selbst über einen Teil des Göttlichen verfügen, sie müssen, wie es auch die gängige Ansicht ist, zwangsläufig Kinder des Ungenannten sein. Die Bewohner der Unterwelt jedoch erscheinen auch bei Zefar als dieses Göttlichen verlustig gegangen, selbst wenn sie einst in der Oberwelt im Angesicht des Ungenannten lebten. Ihre Verfehlungen nahmen ihnen das Göttliche, machten sie zu bloßen Schatten, so daß sie nur durch das Aufnehmen der Kräfte der Sterblichen den Streit gegen die Unirdischen wagen können.
 

Und zuletzt belegen doch gerade die heilbringenden Taten der Nachkommen Unirdischer, von denen die Geschichte so reichhaltig berichtet, wie sehr sie den Menschen wohlgesonnen sind. Allein die Existenz von Menschen mit unirdischem Erbteil spricht dafür."
 

Die nächste Kolumne war nicht mehr zu lesen, da sie in dieser Position um den zweiten Stab gewickelt war. Etwas enttäuscht über den unspektakulären Inhalt verstaute Nefut die Schriftrolle wieder. Hatte der alte Priester ebenfalls dieser Theorie angehangen und befürchtet, bei Amemna handele es sich um eine Art Dämon? Der andere Priester hatte doch davon gesprochen, daß der Alte ein Unheil entdeckt habe. Und was hatte den Alten getötet? Woher kam der Dämon - oder was auch immer es gewesen sein mochte - das seinen längst toten Körper bewegt hatte, so daß er Jochawams Knöchel packen konnte? Vielleicht war der Dämon sogar noch zu dessen Lebzeiten in den Körper des toten Priesters gefahren, um ihn durch das Entziehen seiner Kraft zu töten und selbst Kraft für seinen Kampf gegen den unirdischen Amemna zu haben. Denn wenn ein Dämon den Priester bewegt hatte, wenn ein Dämon verantwortlich war für den bleiernen Schlaf derer, die weder unirdisches Blut in den Adern noch sich in der Gegenwart Amemnas aufgehalten hatten, hatte der Dämon den Leib des Orempriesters wohl gerade Amemnas wegen hierher bewegt, um seinen natürlichen Feind zu bekämpfen.
 

Vielleicht hatte Jochawam zunächst den Kampf gegen den Dämon gewagt, seinen Herrn verteidigend, aber ohne ausreichende unirdische Kraft. Und Amemna hatte dann wohl den Dämon besiegt und vertrieben, denn anscheinend war ja nichts mehr zu befürchten, sonst hätten sicher Amemna oder Hamarem ein Wort darüber verloren. Hamarem, ein ehemaliger Orempriester mit unirdischem Blut, der nach der Lektüre der Kommentare plötzlich hinausgerannt war, wie von einer Tarantel gestochen. Hatte er nicht gesagt, er müsse noch einmal mit Amemna sprechen? Ob sie berieten, wie sie Jochawam wieder ins Bewußtsein zurückholen konnten?
 

Es war so angenehm mit Merat gewesen, ging Nefut plötzlich durch den Sinn. Angenehm, befriedigend und ohne jenes störende Körperteil. Aber sein Herz hing doch an Amemna. Weil Amemna litt machte er sich Sorgen um Jochawams Zustand, auch wenn ihm nicht wohl dabei gewesen war, miterleben zu müssen, wie seine Geliebte und der Ostler sich mehrfach begatteten, in jeder möglichen und unmöglichen Kombination. Und Amemna liebte Nefut doch wohl auch, hatte ihm Merat überlassen für diese Nacht. Warum ging ihm Merat nicht aus dem Kopf? Ob es noch weitere solcher Nächte geben würde? Nefut stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel, ließ den Kopf in die Hände sinken. Er war müde, eigentlich zu müde um noch klar denken zu können, und er sollte längst schlafen, um für den nächsten Tag ausgeruht zu sein. Es war zwar nur ein Aufklärungsritt geplant, aber wenn sich wirklich noch Hannaiim in den Grasbergen verbargen, mochte es zu einem Kampf kommen. Und Nefut merkte, daß noch der Duft Amemnas und Merats an ihm haftete. Er würde ins Badezelt gehen müssen, aber vielleicht reichte es ja schon, sich nackt in den nun recht heftig gewordenen Regen zu stellen, um jene Gerüche abzuwaschen, die seine Gedanken wieder gefangen nahmen. Morgen wollte er Amemna zeigen können, daß sie in ihm keinen Schwächling liebte. Er würde morgen an der Seite seines Birh-Melack sein Bestes geben.
 

Nefut stand auf, warf sein Untergewand im Vorbeigehen auf sein eigenes Lager und ging in die nächtliche Dunkelheit vor das Mawatizelt, in den lauwarmen prasselnden Regen, der ihn innerhalb weniger Augenblicke völlig benetzte. Er wusch seinen Körper, stand dann noch eine Weile da, sah, daß im Zelt seiner Geliebten noch Licht brannte, also redete sie wohl immer noch mit Hamarem. Vielleicht berieten die beiden nicht nur, wie sie Jochawam helfen konnten, sondern auch, wie sie bei einem erneuten Angriff eines Dämons zu verfahren hatten. Wenn Amemna Jochawams Heilung allein hätte gelingen können, wäre der Ostler sicher schon längst aus seiner Bewußtlosigkeit geweckt worden. Zu hören war von dem Gespräch bei dem Regen nichts, aber das hieß doch auch, daß beide in dieser Nacht keinen weiteren Angriff eines Dämons befürchteten. Sonst hätte es sicher Alarm gegeben. In Merats Zelt brannte kein Licht. Als er den Knaben Nefut in das Birh-Melack-Zelt gebracht hatte, war sie fort gewesen, vermutlich um ihr weinendes Kind zu beruhigen. Anscheinend war das ihr oder der Amme gelungen, und sie hatte sich zur Ruhe begeben.
 

Nefut ging wieder zurück in das Mawatizelt, wrang seine Haare aus, versuchte, den größten Teil des Wassers von seinem Körper abzustreifen, zog das Untergewand wieder über und legte sich schlafen.
 

*
 

Als Nefut erwachte, war es zwar später als gewöhnlich, aber das Wecksignal war noch nicht erklungen. Der Regen hatte aufgehört, und die Sonne stieg schon über den Horizont. Hamarem lag nicht auf seinem Lager. Hatte Amemna ihn mit einem Auftrag fortgeschickt? Derhan und Oremar schliefen noch immer tief und fest, aber als Nefut sie aufforderte, an der Morgenübung teilzunehmen, erhoben sie sich verschlafen.
 

Im hellen Sonnenlicht, unter dem wie gewaschen wirkenden blauen Himmel, schienen die Anzeichen dämonischen Wirkens nur noch ferne Alpträume zu sein, und er war sicher, daß seiner unirdischen Geliebten kein Dämon etwas anhaben konnte. Nefut stellte sich vor den verschlossenen Eingang des Mawatizeltes. "Amemna, leistest du mir Gesellschaft?" rief er ganz unzeremoniell, das Holzschwert schon in der Hand. Amemna war rasch am Eingang des Zeltes, trat hindurch und schloß ihn wieder. "Gerrne", antwortete sie. Amemna sah ungedachtet der nächtlichen Aktivitäten und Aufregungen, sowie ihres doch noch lange geführten Gesprächs mit Hamarem erholt und ausgeruht aus und strahlte Nefut an.
 

Sie begannen auf dem trotz des nächtlichen Regens erstaunlich trockenen Gras zwischen den Zelten mit den Übungen und nach kurzer Zeit schlossen sich ihnen auch Oremar und Derhan an, so daß sie wohl ein recht eindrucksvolles Bild abgaben. Jedenfalls stand Merat am Eingang ihres Zeltes und sah ihnen zu, ließ den Blick lange auf Amemna ruhen, dann auf Nefut, auch wenn sie ihren Kopf schamhaft senkte, als Nefut ihren Blick erwiderte. Als die Übungen beendet waren, fragte Amemna: "Werrdet ihrr drrei mich heute auf den Aufklärrungsrritt begleiten? Hamarrem scheint unpäßlich zu sein und Jochawam ist noch immerr bewußtlos."
 

Die Männer nickten gehorsam.
 

"Ich errwarrte euch zu Beginn der zweiten Stunde auf dem Sammelplatz vorr dem Lagerrausgang", befahl sie und zog sich in ihr Zelt zurück, wohl um sich frisch zu machen und zu bewaffnen.
 

Auch Derhan, Oremar und Nefut wuschen sich, frühstückten, legten ihre Gürtel und Schwerter an, die Mäntel um die Schultern, die Ma'ouwati-Tücher um den Kopf. Nefut verließ als letzter das Zelt, den Turban noch nicht ganz gebunden, als plötzlich eine der Frauen von Merat neben ihm stand, ihn kokett anlächelte. "Meine Herrin möchte kurz mit euch sprechen", sagte sie und rauschte wieder davon.
 

Nefut schaute hinüber zum Zelt der Prinzessin, im Schatten des Eingangs konnte man ihre wohlgeformte Gestalt erahnen. Er stand schon vor dem Eingang ihres Zeltes, bevor er auch nur überlegte, ob er sich nicht vielleicht erst einmal vollständig bekleiden sollte, aber Merats schmale Hand zog ihn hinein, tiefer in den Schatten, so daß sie von außen nicht gesehen werden konnten. Sie umarmte und küßte ihn stürmisch im Beisein ihrer Dienerin, also ging er nicht darauf ein und sie ließ von ihm ab, wich offensichtlich enttäuscht einen Schritt von ihm zurück. "Wieso so kalt? Gestern war ich dir noch nicht so gleichgültig, Nefut", flüsterte sie.
 

"Prinzessin, ihr seid die Gemahlin meines Birh-Melack", antwortete Nefut steif, auch wenn sein Herz aufgeregt in der Brust klopfte und er sich einen weiteren Kuß dieser wunderbar weichen Lippen herbeisehnte.
 

"Mein Mann will sich von mir scheiden lassen, Nefut. Und du willst eine wirkliche Frau, gib es doch zu, denn du wünscht dir ein Kind. Das wird dir Amemna nie geben können. Er hat als Mann unsere Tochter gezeugt, und jeder Mensch ist nur eines von beiden, Mann oder Frau, egal wie viel unirdisches Blut er in sich haben mag, egal wie er aussehen mag. Sieh es ein, bei aller Liebe, die du für ihn empfinden magst, wird dir das nicht zu einem Sohn verhelfen. Ich jedoch...", sie sprach nicht weiter, doch es war klar, was sie damit sagen wollte. Sie war bereits Mutter, hatte bewiesen, daß sie fruchtbar war.
 

"Aber du bist eine Prinzessin", antwortete Nefut leise, "und ich bin ausgestoßen. Du willst doch nicht an der Seite eines Stammeslosen..."
 

"Wer würde das in einer der Städte ahnen? Wir könnten dort so glücklich werden. Ich bin in Ma'ouwat aufgewachsen, die Zelte würden mir nicht fehlen,  und mit dir wäre jeder Ort wie die wahrhaftigen Gärten der Freude." Sie strahlte ihn so herzlich an, daß es Nefut sehr schwer fiel, sich dem zu verschließen. Hatte sie ihm plötzlich den Tod ihrer Mutter verziehen? Oder war sie hinterlistiger, als Nefut sich vorstellen konnte? Wollte sie ihm eine Falle stellen? Sie wirkte jedenfalls sehr ehrlich und was ein Kind von Amemna betraf hatte sie vermutlich sogar recht, mußte Nefut sich schweren Herzens eingestehen. Wider Willen war er näher an sie herangetreten, hatte ihre Hände mit seinen umfaßt. "Merat, ich empfinde so viel mehr für Amemna als für dich. Du bist begehrenswert, meine schöne Prinzessin und dein Anliegen ehrt mich, aber ich glaube nicht, daß meine Gefühle für dich dafür ausreichen."
 

Merat drückte sich eng an ihn, er spürte ihren weichen Leib an seinen Genitalien und das Gefühl der Lust drohte fast, ihn zu überwältigen. "Vielleicht ändert sich das ja noch, mein wunderbarer Nefut, Geliebter", flüsterte sie zurück, streckte sich ihm entgegen, so daß Nefut sie küßte, bevor er merkte, was er tat.
 

"Nefut, wo steckst du?" rief Derhan von draußen.
 

"Ich muß zu den anderen", sagte Nefut schnell, trat weit von Merat zurück und floh aus ihrem Zelt. Doch auch auf dem Weg zum Sammelplatz mußte er an Merat denken. Es war verlockend, sich einfach zu ergeben, sie war so schön, und sie war eine vollkommene Frau, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Aber Amemna liebte sie wohl noch immer, und Nefut liebte Amemna über alles. Vielleicht wäre Merat ja mit einer weiteren Nacht mit Nefut zufrieden zu stellen und ließ dann ab von ihm. Wenn es bis zum Krieg gegen Hannai so weiterging, würde Nefut bald nicht mehr wissen, wie er sich Merats Begierde entziehen sollte. Er mußte in jedem Falle mit Amemna offen über Merats Avancen reden. Er wollte nicht sein wieder lebenswertes Leben dadurch zerstören, daß er einer fremden Ehefrau erneut widerstandslos erlaubte, ihn zu verführen.
 

*
 

Während des Erkundungsritts durch die Grasberge zu dem die drei Mawati ihren Birh-Melack als Leibwache begleiteten, ergab sich für Nefut keine Gelegenheit zu einem privaten Gespräch mit Amemna. Derhan und Oremar musterten Nefut immer wieder einmal kritisch wenn auch nicht direkt feindselig sondern eher, als wunderten sie sich über eine Eigenart in seinem Verhalten, die er in all den Jahren als Ashans Unterführer nicht gezeigt hatte. Derhan hatte ihn aus Merats Zelt kommen sehen, das mochte sein Grund für diesen Blick sein. Aber was war mit Oremar? Hatte Derhan ihm erzählt, was er wußte?
 

Aber es war müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, was in Derhan oder Oremar vor sich ging. Nefut mußte sich darüber klar werden, was er selbst von Merat oder Amemna wollte. Vielleicht mußte er sich sogar zunächst darüber klar werden, was er eigentlich mit seinem durch Amemnas Liebe gewissermaßen wiedergewonnenen Leben anfangen wollte. Die Tetraosi würden die Söldner nach dem Krieg gegen Hannai entlassen, und Nefut merkte, daß es ihn nicht reizte, sich eine neue Anstellung in einem anderen Heer zu suchen. Und er wollte auch nicht mehr erfolglos danach streben, einen Weg zu finden, die Gunst seines Vaters wiederzuerlangen, als könne er dadurch die Liebe, die er von ihm nie erhalten hatte, gewinnen. Murhan Darashy stand zu seinen Entscheidungen, das war schon immer so gewesen. 'Das Wort des gerechten Mannes ist wie ein Fels' war eines der Lieblingszitate Murhans aus den Schriften gewesen. In diesem Sinne hatte er Nefut erzogen, und wie es schien, hatte er das sogar Amemna vermitteln können, obwohl sie ja nicht von Geburt an zu seinem Haushalt gehört hatte. Aber nach ihrer ungewollten Einsetzung als Wanack hatte sie keine Anstalten gemacht, zu fliehen, sondern hatte begonnen, das Amt auszufüllen. Und später hatte sie sich von der Regentin alles gefallen lassen, um die Versorgung der ihr als Birh-Melack unterstehenden Truppen zu sichern. Vielleicht war es diese verwandte Geisteshaltung, die ihn zu Amemna hinzog, auch wenn sie nicht so weiblich war, wie Merat, auch wenn sie vielleicht nie sein Kind empfangen würde.
 

Andererseits war Merat eine traumhaft schöne Frau, die sicherlich von ihm empfangen würde. Doch noch war sie verheiratet und zur Zeit sah es nicht so aus, als ob Amemna auf ihren Scheidungswunsch bestehen würde. Und ohne Amemnas ausdrückliche Einwilligung würde er sich Merat nicht noch einmal nähern. Er wollte nicht noch einmal als Schänder einer fremden Ehefrau verurteilt werden. Er würde sich ausschließlich darum bemühen, Amemnas Wünschen zu folgen, unabhängig davon, was die anderen Mawati davon halten mochten. Doch der Birh-Melack schien diesen Morgen fast unnahbar, lächelte Nefut nur einmal kurz an, während sie in immer weiter werdenden Kreisen das zum Teil schlecht überschaubare hügelige Gebiet zwischen dem Heerlager und Tarib erkundeten, ohne auf irgendjemanden zu stoßen. Aber dieses verheißungsvolle, sogar etwas lüsterne Lächeln, das Amemna ganz allein ihm schenkte, ließ in Nefut den Vorsatz erwachen, in dieser Nacht nicht nur für das Weib in Amemna da zu sein, auch wenn ihm bei dem Gedanken etwas unwohl wurde. Er war doch nicht weniger Mann als dieser falsche Eunuch! Er wußte, was einen Männerkörper entzündete und er ganz allein würde Amemna dazu bringen, zu schreien vor Lust.
 

Endlich befanden sie sich in Sichtweite Taribs. Eine gemischte Abteilung aus Söldnern und Tetraosi zu Fuß war gerade auf dem Weg in die kleine aber wehrhaft aussehende Stadt an der Handelsstraße. Die Befehlshaber grüßten einander kurz, aber während dessen setzten beide Abteilungen ihren Weg, der sie wieder voneinander entfernte, fort. Als die Fußsoldaten und die Türme der Stadt schon außer Sichtweite waren, ertönte plötzlich ein Alarmruf von der Nachhut der Mellim. Amemna bedeutete Nefut, sich darum zu kümmern und er galoppierte zurück, zum Ende der Reitereinheit. Von dort aus, wo die schwarzhäutigen Südländer mit ihren Pferden haltgemacht hatten, konnte man sehen, daß die Tore der Stadt nun offenstanden und fremde Fußsoldaten in Formation einen Angriff auf die sich in Marschordnung nähernden Tetraosi machten. Diese fremden Soldaten waren Ostler, das konnten also nicht Taribs Bürger, sondern es mußten Söldner der Hannaiim sein, die mit langen Speeren und großen, glänzenden Rundschilden den völlig überraschten Tetraosi entgegenstürmten. "Angriff aus Tarib!" rief Nefut in Richtung der nun auch abwartenden Vorhut der Mellim. Und während der Ruf bis an die Spitze weitergegeben wurde, machte sich die Südländerwannim schon auf zum Gegenangriff, um den beiden Mawimin beizustehen, die in aller Eile versuchten, ihre Reihen so weit zu schließen, daß sie dem drohenden Angriff standhalten konnten.
 

Der Schwarze Wanack führte seine Leute und Nefut von der Seite gegen die gepanzerten Ostler, doch bevor sie die Fußsoldaten erreichten, trafen diese mit einem ohrenbetäubenden Dröhnen ihrer metallenen Schilde auf die Reihen ihrer ebenfalls mit Schilden kämpfenden Gegner, drängten die Tetraosi auseinander, zogen ihre blutigen Speerspitzen aus ihren Opfern, bereiteten sich auf einen weiteren Vorstoß vor. Tief in den Nacken reichende Helme und die großen runden Schilde, hinter denen ein Mann leicht Deckung finden konnte, dazu die langen Speere würden es auch für die Reiter schwer machen, einen Angriffspunkt zu finden. Trotzdem preschte der Schwarze Wanack weiter, der Rest der Mellim folgte ihm. Plötzlich galoppierte Amemna an der Formation vorbei weiter nach vorne, hieb mit ihrem Schwert zwei Speere ab, der Schwarze Wanack neben ihr setzte mit seinem breiten Schwert nach und fügte einem der Ostler offenbar eine schwere Verletzung zu, denn die an dieser Seite zunächst geschlossene Formation der Ostler öffnete sich.
 

Die Ostler trugen nur Panzer aus Leinen, den scharfen Osheyschwerter würden sie ebenso wenig gewachsen sein wie denen der Südländer. Und ohne ihre Speere fehlte ihnen mit ihren kurzen Schwertern die Reichweite, einen Reiter ernsthaft zu verletzen. Aber dafür nahmen sie sich die Pferde vor. Vor Nefut brach eines der Tiere der Südländerwannim zusammen, das Blut aus einer tiefen Halswunde spritzend, seinen Reiter ereilte ein schnellerer Tod durch eine weitere Ostlerklinge. Nefut gelang es, ebenfalls ein paar Speere abzuschlagen, er erwischte auch einen Arm mit Schild aus seiner erhöhten Position, wehrte Stiche nach der Brust seines Pferdes erfolgreich ab. Derhan und Oremar kämpften inzwischen neben Amemna, und Nefut versuchte, sich durch die nun völlig aufgelösten Reihen der Gegner einen Weg zu ihr zu bahnen. Die meisten Speere lagen inzwischen unbeachtet auf dem Boden. Sie brachten den Fußsoldaten so dicht bei ihren Gegnern keinen Vorteil mehr. Die Ostler versteckten sich statt dessen auf dem Boden kauernd unter ihren Schilden, um mit ihren Schwertern die Bäuche der Pferde aufzuschlitzen. Die Osheyschwerter boten durch ihre Länge den Vorteil, daß auch ein solcher Stoß abzuwehren war, aber zwei weitere Südländer vor Nefut verloren ihre Pferde, standen dadurch ohne Schutz durch eine erhöhte Position zwischen den gepanzerten Gegnern.
 

Amemnas Pferd schien plötzlich unter ihr einzuknicken, langsam fiel es mit verdrehten Augen zur Seite, doch ein Sprung rettete seine Reiterin davor, unter seinem Leib zu liegen zu kommen. In dem merkwürdigen Licht, das unter den erneut aufziehenden Regenwolken hervor sehr flach auf die Schlacht fiel, wirkte das Muster im Metall ihrer Klinge wie Schlangenschuppen. Ihren Helm hatte sie beim Sturz ihres Pferdes anscheinend verloren und ihr weißer Haarschopf gleißte in der Sonne wie aus sich selbst heraus leuchtend. Mit vor Konzentration angespanntem Gesicht wirbelte sie herum, hielt die Gegner auf Abstand, tötete einen durch einen Stich in die Kehle, wandte das Gesicht ab, um durch das spritzende Blut nicht in ihrer Sicht behindert zu werden, parierte den Angriff eines anderen, doch es waren so viele und sie war nur mit ihrem Dolch und ihrem Schwert bewaffnet. Wo waren die anderen Mawati? Nefut versuchte weiterhin, sich durch die Gegner zu ihr vorzuarbeiten, keiner der Mellim war in der Nähe, Amemna kämpfte dort ganz allein gegen die gepanzerten Ostler. Da sackte Nefuts Pferd in die Knie, weil einer der Ostler Nefuts momentane Unachtsamkeit für seine unmittelbare Umgebung ausgenutzt und seinem Pferd die Kehle aufgeschlitzt hatte.
 

* * *
 

23. Die Erkenntnis

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

23. Die Erkenntnis (jugendfrei)

Als Hamarem wieder zu sich kam, lag er in Amemnas Armen, eine Decke war über ihre nackten Körper gebreitet. Hamarem fühlte sich zu schwach, auch nur die Lider zu heben und genoß einfach die Wärme von Amemnas weichem Busen an seiner Wange, den merkwürdig vertrauten Duft, das Gefühl der Geborgenheit und inniger Zuneigung, das dumpfe Geräusch des fremden Herzschlags in der Brust an der er ruhte. Dann wurde er sich des muskulösen Arms, der um ihn geschlungen war, bewußt, eines der langen schlanken Beine seines Herrn zwischen den seinen.
 

"Was hat dich bewogen, dich mirr endlich su offenbarren?" fragte Amemna leise und seine tiefe Stimme hallte in seinem Brustkorb nach.
 

Hamarem spürte Amemnas Atem in seinem Gesicht, schlug die Augen auf, sah in die durch die schwache Beleuchtung der fast heruntergebrannten Lampe so großen Pupillen seines geliebten Herrn und ließ seine Gedanken zurückwandern vor den Moment, an dem sie einander in die Arme gesunken waren. "Es war dein Duft an Nefut, der mich bewog, und der Ratschlag meiner Liebsten, endlich mit dir zu sprechen."
 

"Deine Liebste hat dirr sukerraten? Sie ist wohl keine Oshey, oderr?" Amemna lächelte so zärtlich, strich Hamarem die langen Haare aus dem Gesicht, küßte ihn ganz sanft auf die Lippen.
 

"Nein, sie ist keine Oshey", Hamarem mußte leise lachen, als er an das um die Frage von Stechapfel oder Oinos zur Betäubung seiner unirdischen Fähigkeiten entsponnene Gespräch mit Ramilla und ihre spätere Bitte dachte. Sie hatte recht gehabt, Amemna war ihm zugeneigt.
 

"Sie möchte, daß ich mit ihrr das Lagerr teile?" fragte Amemna überrascht, als er Hamarems Erinnerungen wahrnahm. "Was meinst denn du dasu?"
 

"Sie ist eine Priesterin der Ama. Wie kann ich ihr verwehren, auch mit anderen der Göttin zu huldigen, sobald sie wieder ihren Dienst an Ama aufnimmt?"
 

Amemna flüsterte etwas in der Südlersprache, von dem Hamarem nur 'Hawat' verstand, lächelte Hamarem wieder an. "Ich meine, sie verbrringt ihre frruchtbarren Tage mit dirr? Sie will also dein Kind empfangen?"
 

Hamarem nickte und dachte an den Knoten der Kräfte an Amemnas Unterleib. "Anscheinend hast du vor einiger Zeit doch ebenfalls die Entscheidung getroffen, deine fruchtbaren Tage mit einem Mann zu verbringen."
 

Amemnas Gesicht schien in dem Moment so weich, so weiblich zu sein, daß Hamarem wider besseres Wissen für einen Moment daran zweifelte, daß er ebenso Mann wie Frau war. "Es ist Nefuts Kind, das in mirr wächst", flüsterte Amemna zärtlich, seine freie Hand ruhte zwischen ihren Körpern auf seinem eigenen Bauch, vermutlich an der Stelle, wo jener Knoten der Kräfte das werdende Leben umgab. "Bis du mirr diese leuchtenden Fäden kezeigt hast wußte ich nicht, daß ich von ihm empfangen habe", hauchte er kaum hörbar, so tonlos, daß seine Stimme fast die einer Frau hätte sein können.
 

Hamarem verlor sich in diesen dunklen Pupillen, die von einem hellgrauen Rand umgeben waren, doch etwas war anders, die Kräfte um Amemna waren verschwunden - nein, nicht ganz, aber sie waren fast unsichtbar. Als Hamarem versuchte, sie wieder mit Feuer zu füllen, stellte er fest, wie erschöpft er war, zu kaum einer Bewegung fähig, erst recht nicht zur Manipulation fremder Kräfte.
 

"Ist dirr das sonst kelungen?" fragte Amemna interessiert. "Warrum hast du davon währrend unserrerr Verreinigung keinen Kebrrauch gemacht?" Hamarem konnte nur schwach den Kopf schütteln, denn er konnte es sich selbst nicht erklären. Und Amemna lächelte wieder so liebevoll, beugte sich über ihn, verschloß ihm mit einem zärtlichen Kuß den Mund.
 

Hamarem bemerkte, wie der Rand seiner Wahrnehmung wieder dunkler wurde, als begänne sein Bewußtsein erneut zu schwinden.
 

*
 

Plötzlich wurde Hamarem klar, daß Amemna seine Kräfte manipuliert hatte. Das sprunghafte Ansteigen der Lust bei ihrer zweiten Vereinigung war ein sicheres Zeichen dafür. Ob Ramilla sich ähnlich fühlte, wenn Hamarem ihre Kräfte in Schwingungen versetzte? Und diese Beeinflussung seiner Kräfte durch Amemna hatte Hamarem vermutlich daran gehindert, umgekehrt Amemnas Kräfte zu beeinflussen. "Amemna...", begann Hamarem flüsternd, aber dann merkte er, daß ihn kein Arm mehr umfing, daß seine Wange an einem warmen Kissen lag, nicht an dem Busen seines Birh-Melack. Er öffnete die Augen und stellte erschrocken fest, daß es bereits Tag war. Er war allein auf Amemnas Lager, und der Sichtschutz zum vorderen Teil des Zeltes war geschlossen.
 

Nach dem mühsamen Aufsetzen zog Hamarem sein Untergewand wieder an und brauchte zwei Versuche, bis es ihm endlich gelang, sich von Amemnas Lager zu erheben. Schwindelig von der Anstrengung wankte er langsam aus dem Zelt und legte den Weg in das Mawati-Zelt glücklicherweise unbeobachtet zurück. Er merkte, daß seine Hände zitterten, als er mehrere Handvoll Wasser trank. Vielleicht würde ein Besuch im Badezelt ihm neue Energie geben, aber da außer ihm von der Wannim anscheinend nur der noch immer bewußtlose Jochawam bei den Zelten geblieben war, lag das Wohl von Amemnas Gattin in seinen Händen. Außerdem mußte die Mutter des Knaben Nefut über den Verbleib ihres Sohnes unterrichtet werden. Das relativ kühle Wasser, mit dem Hamarem sich wusch, erfrischte ihn wenigstens so weit, daß das Schwindelgefühl nachließ. Er zog sich wieder an, gürtete sich, schob sogar das Schwert in den Gürtel und als er sich vollständig bekleidet hatte, suchte er die Gattin seines geliebten Birh-Melack auf.
 

Die Dienerin der Prinzessin saß kurz hinter dem Zelteingang und war gerade dabei, das Frühstück für ihre Herrin zu bereiten. Als sie Hamarems Schatten in das Zelt fallen sah, blickte sie auf, begrüßte Hamarem freundlich. Doch als er eingetreten war, um seine Bitte um ein Gespräch mit der Prinzessin vorzubringen, starrte sie ihn erschrocken an. "Was ist mit euch passiert, Herr? Ihr seht aus, als wäret ihr knapp dem Tode entronnen!"
 

Hamarem fühlte sich noch immer sehr erschöpft, aber er glaubte nicht, daß er anders als ein wenig übernächtigt aussah. Liebesnächte mit Ramilla hatten trotz mehrfacher Vereinigungen in einer Nacht allerdings nie zu einer solch andauernden Schwäche geführt. "Ich habe wenig und unruhig geschlafen in dieser Nacht", erklärte er, beunruhigt durch die offensichtliche Besorgnis der Frau über seinen Gesundheitszustand.
 

"Ich dagegen habe geschlafen wie ein Stein bis meine Herrin mich weckte. Und als ob das nicht peinlich genug wäre, sagte sie mir auch noch, daß die Kleine in der Nacht lange geschrien hätte. Gewöhnlich wache ich dann auf, aber ich habe nichts davon mitbekommen, und Tabit anscheinend auch nicht - die Amme des Prinzesschens", erzählte die Dienerin. Sie füllte eine Schale mit dem Frühstücksbrei, eine andere mit Tee und reichte sie Hamarem. "Esst nur, danach wird es euch wieder besser gehen."
 

"Eigentlich wollte ich mit eurer Herrin sprechen", wandte Hamarem ein, ohne nach den Schalen zu greifen.
 

"Dann leistet mir beim Frühstück Gesellschaft", sagte plötzlich eine andere Frauenstimme. Die Prinzessin trat aus dem hinteren Teil des Zeltes. Nur sie konnte die Frau gewesen sein, deren Duft in der vergangenen Nacht an Nefut gehaftet hatte. Sie sah frisch aus wie der junge Tag, lächelte Hamarem huldvoll an und ließ sich dann ihm gegenüber auf den Teppichen nieder. Sie nahm ihrer Dienerin die Teeschale aus der Hand, reichte sie Hamarem. "Bitte, seid so freundlich und nehmt meine Gastfreundschaft an, Zweiter der Wannim", nötigte sie ihm die Schale auf.
 

Hamarem setzte sich also ebenfalls und nahm den Tee entgegen, nippte daran, verneigte sich vor seiner Gastgeberin. Der leicht bittere Geschmack des Tees, sein herber Duft, schien seine Lebensgeister langsam wieder zu wecken. "Herrin, mein Name ist Hamarem Temhaly. Ich danke für eure Gastfreundschaft."
 

Erstaunt hob die Prinzessin ihre Augenbrauen, trank selbst von ihrem Tee, sah ihn über den Rand der feinen, dünnwandigen Schale an. "Ich war der Meinung, auch ihr würdet zu den Stammeslosen gehören, die meinem Gatten in diesen Krieg gefolgt sind."
 

Und Hamarem wurde sich bewußt, was er gesagt hatte. Auch wenn er nicht von seinem Stamm ausgeschlossen worden war, so hatte er doch sein früheres Leben und seine Familie vor achzehn Jahren rituell hinter sich gelassen, ebenso wie er sich vor drei Jahren von seinem Amt losgesagt hatte, um das Heiligtum verlassen zu können. War er wirklich so müde, daß er nicht mehr Herr seiner Worte war? Er trank ein paar Schluck von dem Tee um sich zu sammeln, dann stellte er die Schale auf den Boden. "Herrin, ich bin einer der Stammeslosen, die eurem Gemahl gefolgt sind. Aber manchmal neige ich dazu, es zu vergessen."
 

"In Momenten, die an ein normales Stammesleben erinnern", schlußfolgerte die Prinzessin scharfsinnig. Hamarem hatte den Eindruck, daß sie seine Worte einfach akzeptierte, auch wenn er ihre Kräfte kaum wahrnahm. Es war, als sähe er die glitzernden Fäden nur durch einen dichten Schleier hindurch.
 

Hamarem nickte stumm und leerte die Teeschale. Und er bemerkte, daß er tatsächlich großen Hunger hatte, also nahm er die Einladung der Prinzessin zum Frühstück an.
 

"Weswegen wolltet ihr mich sprechen, Hamarem?" fragte die Prinzessin, während Hamarem hungrig den Brei in sich hineinschlang.
 

Hamarem schluckte hastig. "Während der Abwesenheit eures Gatten bin ich als sein Zweiter für euch verantwortlich, Herrin. Verschiedene Ereignisse in der vergangenen Nacht machen es aber erforderlich, daß ich den Feldherrn aufsuche. Es könnte bis zur Mittagsruhe dauern, bis ich wieder hier bin." Für eine Nachricht über den Sohn der zukünftigen Gemahlin des Königs von Tetraos würde Hamarem sicher auch die militärischen Nachrichtenwege nutzen können. Aber welche Stationen der Heeresbürokratie er dafür abklappern mußte, konnte er nur mutmaßen. Außerdem wollte er mit Ramilla sprechen.
 

"Ich fühlte mich hier keineswegs ungeschützt. Wie ihr wißt, reise ich mit fünf Wachen des Fürsten der Darashy", antwortete die Prinzessin gedehnt und sah Hamarem mißtrauisch an. "Müßte ich über diese verschiedenen Ereignisse der vergangenen Nacht Bescheid wissen?"
 

Hamarem schüttelte den Kopf. "Nein Herrin, es geht um Heeresangelegenheiten", denn schließlich hatte der verstorbene ehrwürdige Vater zu den offiziell mit dem Heer ziehenden Priestern gehört. "Ich wollte euch nur von meiner Abwesenheit in Kenntnis setzen, sowie über die Tatsache, daß im Zelt eures Gatten zwei Verwundete liegen." Hamarem mußte sich vorsehen, die Prinzessin nicht noch mißtrauischer zu machen und vor allem nicht so neugierig, daß sie sich durch den Besuch bei Jochawam und Nefut möglicherweise in Gefahr begab. "Heute Nacht schlich eine Art Raubtier durch das Lager, Herrin", erklärte er. "Unsere Verwundeten sind versorgt und schlafen zur Zeit, aber falls sie aufwachen, bevor ich zurückkehre, schickt bitte einen eurer Männer mit etwas zu Essen zu ihnen."
 

Die Prinzessin musterte Hamarem mit einem recht skeptischen Blick, nickte dann aber. "Ihr könnt mich unbesorgt hier zurücklassen." Schließlich lächelte sie sogar recht freundlich. "Ich danke euch für eure Fürsorge."
 

"Ihr seid die Gattin meines Birh-Melack. So wie ihm werde ich auch euch in allem dienen, Herrin", beeilte sich Hamarem zu antworten und verneigte sich, so gut das im Sitzen möglich war.
 

Die Prinzessin sah Hamarem lange an, lächelte dann wie in Gedanken. "Ich werde daran denken, Hamarem."
 

Hamarem leerte die zweite Schale Tee, die die Dienerin fürsorglich nachgefüllt hatte, doch dann erhob er sich, verabschiedete sich und verließ das Zelt der Prinzessin. Es war irritierend gewesen, die Linien der Kräfte nicht richtig sehen zu können, aber vielleicht lag das an den Lichtverhältnissen im Zelt der Prinzessin. Bevor er aufbrach, sah Hamarem noch einmal im Birh-Melack-Zelt nach dem Rechten. Jochawam schien noch immer ohnmächtig, aber sein Atem ging ruhig, sein Gesicht wirkte sogar etwas weniger blaß und eingefallen als noch in der Nacht. Aber auch seine Kräfte waren bis auf einen leichten Schatten um Stirn und Hände unsichtbar, nicht einmal den in der Nacht so deutlich sichtbaren Panzer der fremden Kräfte um ihn konnte Hamarem erkennen. Und auch Nefuts Kräfte waren scheinbar verschwunden, doch der Junge schlief friedlich, sah nicht mehr so fiebrig aus. Hamarem kontrollierte beim Hinausgehen, ob das Wassergefäß neben der Zeltöffnung noch gefüllt war, dann verließ er den Lagerplatz seiner Wannim und ging in das Zentrum des Heerlagers, zu den Zelten des Feldherrn.
 

Bei Tag war es einfach, sich im Heerlager der Tetraosi zurecht zu finden, es unterschied sich in seinem Aufbau nur unwesentlich von dem der Hannaiim. Sogar das Badezelt und das Zelt der Ama lagen wieder genau nebeneinander, und nachdem er die Zelte einiger Götter passiert hatte, erreichte Hamarem das Audienzzelt des Feldherrn, das leicht an den beiden Wachhabenden vor dem geöffneten Zelteingang zu erkennen war. "Ich bin der Zweite der Wannim des Birh-Melack Amemna Darashy", stellte er sich diesen Wachhabenden vor. "Ich habe dem Feldherrn der Tetraosi zwei wichtige Meldungen zu machen."
 

Eine klangvolle Stimme aus dem Inneren des Zeltes verlangte: "Schickt ihn herein."
 

Einer der beiden Wachhabenden winkte Hamarem vorbei und im Zelt sah er sich einem schon älteren, fast weißhaarigen aber noch eindrucksvoll aufrechten Mann gegenüber. "Ich bin Parpat Haterim, der Erste Sekretär des Feldherrn", stellte er sich vor. Aber dieser Sekretär mit tiefer Vorleserstimme sah aus, als ob er auch Kämpfen durchaus gewachsen war.
 

"Ich habe zwei beunruhigende Nachrichten über Geschehnisse der vergangenen Nacht", begann Hamarem ohne Umschweife. Der Weg durch das Feldlager war ungewöhnlich lang und anstrengend gewesen und am liebsten hätte Hamarem sich einfach auf den unbedeckten Boden gesetzt, dessen Grasbewuchs heruntergetreten und zum Teil dem blanken Erdboden Platz gemacht hatte. Er wollte die Unterredung so kurz wie möglich halten.
 

Der Sekretär winkte Hamarem zu einem Stuhl neben dem Tisch, auf dem große und kleine Papyrusrollen und ein Stapel einzelner beschriebener Bögen lagen. "Setzt euch. Ihr seht aus, als hättet ihr die Nacht hindurch kämpfen müssen." Dann zog sich der Sekretär einen weiteren Stuhl aus dem Schatten, klappte ihn auf, ließ sich nieder, während Hamarem sich nicht recht mit der ungewohnten Sitzposition anfreunden konnte. "Was ist passiert?" forderte der Sekretär Hamarem zum Sprechen auf.
 

"In der Nacht fanden wir hinter unserem Zelt einen der Priester Orems, der im Sterben lag. Und außerdem hat sich ein Junge in unser Zelt geschlichen, der der Sohn der Braut des Königs von Tetraos ist", berichtete Hamarem knapp.
 

"Der Junge, von dem ihr sprecht, das ist Nefut Hiame, richtig?" fragte der Sekretär wieder. "Dann seid ihr wohl Hamarem Darashy. Die zukünftige Gattin unseres Königs hat bereits anfragen lassen, ob sich ihr Sohn bei Euch befindet. Die Brieftaube traf heute morgen ein."
 

Die Amapriesterin war anscheinend davon ausgegangen, daß Hamarem als im Dienste eines Darashy stehend auch ein Darashy sein mußte. Es war Hamarem unangenehm, sich so unbeabsichtigt einen falschen Stammesnamen erschlichen zu haben.
 

"Geht es dem Jungen gut?" fragte der Sekretär nun wieder.
 

Hamarem dachte an das friedliche Gesicht des schlafenden Jungen, den angesichts der Kräftetentakel, die auch ihn berührt hatten, möglicherweise noch jahrelang das Gefühl eines fremden Todes verfolgen würde, obwohl er keine eigenen unirdischen Fähigkeiten hatte. "Soweit ich es beurteilen kann, geht es dem Jungen körperlich gut", antwortete er. "Allerdings wurde er gestern nacht Zeuge des Todes des ehrwürdigen Vaters. Zur Zeit schläft er im Zelt unseres Birh-Melack."
 

Der Sekretär nickte langsam. "Sorgt gut für den Jungen, ich werde Nachricht an seine Mutter schicken lassen. Kann er denn in euren Zelten bleiben, bis er abgeholt wird?"
 

"Selbstverständlich", antwortete Hamarem. Vielleicht konnte er dem Jungen angesichts seiner eigenen diesbezüglichen Erfahrungen sogar helfen, mit dem fremden Tod zurecht zu kommen.
 

"Gut, gut", murmelte der Sekretär, zog einen Papyrusbogen aus einem der Stapel auf seinem Tisch, überflog den Inhalt des Schreibens. "Was ist mit dem Priester geschehen?" fragte er dann.
 

Hamarem versuchte festzustellen, ob der Sekretär den Verbleib des Leichnams oder die Umstände seines Todes meinte. Diese Ungewißheit über den Gesprächsgegenstand irritierte ihn fast noch mehr, als die Unschärfe in seiner Wahrnehmung der Kräfte, von denen er zur Zeit weniger sah, als nach seinem Stechapfelrausch.
 

"Wie ist der Priester gestorben?" fragte der Sekretär noch einmal nach und musterte Hamarem kritisch, als würde er an dem Verstand oder der Ehrlichkeit seines Gegenüber zweifeln.
 

Hamarem atmete tief durch. "Wir wissen nicht, woran er gestorben ist. Mitten in der Nacht entdeckten wir ihn zwischen unseren Zelten. Zu dem Zeitpunkt lag er in Zuckungen am Boden und war wenig später tot. Wir haben ihn zu seinen Brüdern in die Zelte Orems gebracht."
 

Der Sekretär nickte. "Es handelte sich um den ehrwürdigen Vater Darhan Mehaly, nicht wahr? Darüber haben wir in der Nacht bereits Meldung von der Orempriesterschaft erhalten."
 

Hamarem nickte abwesend. Der ehrwürdige Vater war also wie er selbst ein Oshey gewesen. Ungewöhnlich, daß er seinen Stammesnamen auch als Priester weiter verwendete. Und noch eigentümlicher, daß es vor etwa hundert Jahren einen Orakelpriester in Harna gegeben hatte, der ebenfalls Darhan Mehaly geheißen hatte. Der ehrwürdige Vater konnte ja kaum bereits fast zweihundert Jahre alt gewesen sein.
 

"Die Orempriesterschaft berichtete, daß der ehrwürdige Vater keinerlei Anzeichen aufwies, die auf einen gewaltsamen Tod schließen ließen", sagte der Sekretär langsam, legte den Papyrusbogen wieder aus der Hand. "Deckt sich das mit euren Beobachtungen?"
 

Hamarem nickte. "Ich habe geholfen, seinen Leichnam zu den Zelten der Orempriesterschaft zu tragen. Er erlag wohl gerade seinem Todeskampf, als wir ihn entdeckten, aber er wies keine sichtbaren Verletzungen auf." Es mochte wirklich ohne fremden Einfluß zum Tod des ehrwürdigen Vaters gekommen sein, trotzdem blieb die ganze Sache merkwürdig. Hamarems Verdacht, doch Zeuge eines dämonischen Wirkens geworden zu sein, ließ sich nicht zum Verstummen bringen. Allerdings war der Sekretär des tetraosischen Feldherrn kaum der Richtige, um ihm gegenüber einen solchen Verdacht auszusprechen. Der Meinung waren wohl auch die Orempriester gewesen, die ja immerhin von den Unheilsahnungen des ehrwürdigen Vaters gewußt hatten. Vielleicht sollte er die Priesterschaft des Ungenannten aufsuchen. Denen wurde schließlich nachgesagt, daß sie sich mit dem Wirken der Dämonen auskannten, weil diese die Feinde ihres Gottes waren.
 

"Habt ihr noch eine Bemerkung zu dem Tod des ehrwürdigen Vaters zu machen?" fragte der Sekretär erwartungsvoll.
 

Hatte Hamarem irgend etwas gesagt? Er war sich dessen nicht bewußt. Also schüttelte er eilig den Kopf. "Ich wollte nur meine Meldung machen", sagte er.
 

"Dann will ich euch nicht weiter von euren Pflichten abhalten, Darashy", sagte der Sekretär.
 

Hamarem zuckte bei der Anrede unwillkürlich zusammen, erhob sich dann mühsam von dem Stuhl, verneigte sich und verließ das Zelt des Feldherrn. Er kam sich vor, als sei ein Teil seines Hirns, ein Teil seiner Wahrnehmung gestört, ja regelrecht ausgebrannt worden. Aber das konnte doch nicht an der Begegnung mit dem Dämon, der den ehrwürdigen Vater getötet hatte, gelegen haben. Er hatte doch die Kräfte noch sehen können, als er geholfen hatte, Jochawam ins Birh-Melack-Zelt zu tragen. Er hatte sie noch sehen können, als er mit Nefut den toten Priester zu den Zelten Orems getragen hatte. Und er hatte sie noch sehen können, als er in Amemnas Armen gelegen hatte und endlich wahrhaftig dessen nackten Körper an seinem eigenen hatte spüren dürfen.
 

Er hatte keinen Gebrauch von seinen Fähigkeiten, die Kräfte in Schwingungen zu versetzen, gemacht, weil Amemnas Kräfte sich um ihn geschlungen, sich mit seinen Kräften vereinigt hatten, wie die Kräftetentakel des Dämons mit denen Jochawams. Amemna hatte Hamarems Wahrnehmung, seine Fähigkeiten voll und ganz unter Kontrolle gehabt, und er hatte sich freiwillig, nein bereitwillig Amemnas Willen hingegeben.
 

Der Dämon hatte den Schatten des Todes an sich gehabt, aber wenn es nur die mächtigen unirdischen Fähigkeiten eines uralten sterbenden Orempriesters gewesen waren, die Jochawam umschlungen hatten? Jochawam war erschöpft gewesen, er hatte kaum noch sicher gehen können, als er mit Amemna zu dem Sterbenden getreten war. So erschöpft, so wenig Herr seiner Selbst, ein leichtes Opfer für alle Arten von Manipulation. Kein Wunder, daß die Kräftetentakel nach ihm gegriffen hatten, nachdem sich der Knabe Nefut als zu stark erwiesen hatte.
 

Hamarem fand sich vor dem Amazelt wieder, verweilte einen Moment in Betrachtung der Statue, blumengeschmückt, einige abgeschnittene Locken zu ihren Füßen. "Hamarem", hauchte eine Stimme, Hamarem drehte sich um und erkannte Ramilla, die die Hände vor den Mund hielt und ihn geradezu panisch ansah. "Was ist mit dir passiert, Geliebter?" Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn um das Zelt, zum Hintereingang, zu einem Kochfeuer, neben dem sie ihn auf die Teppiche und einige Kissen drückte. Dann schloß sie seine Finger um einen Becher, der mit einer klaren, wohlriechenden Flüssigkeit gefüllt war. Der Willkommenstrunk? Hamarem mußte lächeln. Nichts lag ihm in diesem Moment ferner, als sich mit Ramilla zu vereinigen.
 

"Trink das, es ist ein Stärkungsmittel, regt an und senkt das Schlafbedürfnis", beharrte Ramilla und drückte Hamarems Hand mit dem Becher sanft in Richtung seines Mundes.
 

Gehorsam nahm Hamarem einen Schluck, der herrlich erfrischend seine Kehle hinabrann, einen zweiten, einen dritten. "Nefut hat sich in der Nacht bei unseren Zelten verborgen", sagte er dann, leerte den Becher.
 

Ramilla schenkte ihm den Becher erneut voll. "Trink das auch noch. Und was war das mit Nefut? Du meinst den Sohn meiner Priesterin?"
 

Hamarem trank und nickte zwischen zwei Schlücken.
 

"Und es geht ihm gut, hoffe ich?" fragte Ramilla drängend.
 

"Nunja, ich denke, es geht ihm gut...", begann Hamarem, trank weiter. Ramilla hatte recht, der Trunk belebte, diesmal ganz ohne ihn zu erregen. Er glaubte sogar zu sehen, wie sich das Glitzern der Kräfte um Ramilla wieder bemerkbar machte. War dies das Allheilmittel? War Ama die wahrhafte Heilerin aller Leiden der Menschen, wie jede Mutter für ihr Kind?
 

"Ist meine Priesterin schon benachrichtigt?" wollte Ramilla aufgeregt wissen.
 

Hamarem nickte erneut. Ramilla schenkte ihm ein weiteres Mal nach. "Ist das nicht zu viel?" fragte Hamarem, doch Ramilla schüttelte entschieden den Kopf, also trank er auch den dritten Becher leer.
 

"Er hat dich so zugerichtet, nicht wahr? Dein Birh-Melack... ein Gefäß der Göttin, ohne ein bißchen Selbstbeherrschung! Oder ist es ihm gleichgültig, was er dir damit antut, wenn er dich seine volle Kraft spüren läßt?" Ramilla schüttelte zornig den Kopf, nahm noch einmal die Kanne mit dem Willkommenstrunk zur Hand, aber stellte sie dann doch wieder beiseite.
 

"Was sagst du da?" verlangte Hamarem aufgebracht zu wissen. Wie konnte Ramilla nur so über seinen geliebten Herrn sprechen? Das mußte doch die Eifersucht sein, die aus ihr sprach. Dieser Zorn, der sich in den Kräften um sie zeigte, war eindeutig auf Amemna gerichtet. "Du hast mir doch zugeredet, ihn aufzusuchen", schimpfte er zurück. "Du hast mir..."
 

"Ich dachte doch, er hält sich zurück! Konnte ich denn ahnen, daß er dir das Leben aus dem Körper zieht? Meinst du, ich habe dir zugeredet, dich von ihm fast töten zu lassen?" unterbrach Ramilla ihn. Die Hände in die Hüften gestemmt stand sie mit zornesrotem Kopf vor ihm, sah mit einem so bösen Blick auf Hamarem hinunter, daß er sie kaum wiedererkannte.
 

Dieser Blick machte Hamarem Angst und zugleich ernüchterte er ihn. Es mußte die Schwächung seines Leibes tatsächlich Amemna verdanken. Wie ein Dämon hatte Amemna sich von Hamarems Kräften genährt, sich an der Ekstase seines Zweiten berauscht, wie der ehrwürdige Vater es vor einigen Tagen beschrieben hatte. Doch was wußte Ramilla von den Kräften der Unirdischen? Sie hatte von Schriften erzählt, die von dem Vermögen, die Gedanken und Gefühle anderer aufzunehmen, berichteten. Gab es im Besitz der Amapriesterinnen auch noch Schriften über weniger unverfängliche Fähigkeiten? "Was meinst du damit, daß er ein Gefäß der Göttin ist?" fragte er, um einen sachlichen Ton bemüht.
 

"Ich spreche von seinen Kräften, die ihm erlaubten, Nefut zu heilen, die ihm aber ebenso ermöglichten, das Leben aus deinem Körper herauszuziehen. Im Süden nennt man sie 'Gefäße der Göttin', die Menschen, die über diese Kräfte verfügen, da sie einen Teil der Macht der Göttin in sich tragen. Er spricht doch wie ein Südländer, er muß doch wissen, daß diese Kräfte sehr gefährlich sind. Hat er denn nicht gelernt, vorsichtig damit umzugehen?" Ramilla klang entrüstet über so viel Verantwortungslosigkeit.
 

Hamarem schüttelte den Kopf. "Nichts hat er gelernt, er ist so jung, daß er die meisten seiner Fähigkeiten anscheinend gerade erst entwickelt. Er hat bestimmt nicht aus bösem Willen gehandelt. Das kann ich mir nicht vorstellen."
 

"Das willst du dir nicht vorstellen, Hamarem." Ramilla lächelte verzeihend, kniete sich vor ihn und strich ihm liebevoll über den Bart. "Mein Geliebter, du solltest dich nicht wieder mit ihm vereinigen, bevor er nicht besser beurteilen kann, wann er dir Leid zufügt, denn du kannst dich offenbar nicht dagegen wehren, trotz deiner eigenen Fertigkeiten."
 

Hatte Amemna auch Jochawam auf diese Weise geschwächt und ihn so dem Dämon ausgeliefert? Saß ein solcher Dämon auch in Amemna, ungebändigt und bereit, jedem die Lebensenergie auszusaugen, der mit ihm der Göttin huldigte? Wieso hatte Nefut nie Anzeichen der Schwäche gezeigt? Wieso hatte die Prinzessin so frisch und munter ausgesehen, wenn Amemna seinen Gefährten die Lebensenergie nahm?
 

* * *
 

24. Das Wiedersehen

Adarach schlug mit der flachen Hand gegen die Mauer neben dem Fenster, um sich von dem wieder stärker werdenden, bohrenden Schmerz abzulenken. Er sah hinunter auf die im Dämmerlicht liegende Straße. Trotz des drohenden Regens war es wohl eine trügerische Hoffnung, schon am nächsten Tag mit dem Eintreffen der tetraosischen Truppen zu rechnen. Fast zwei Tage hatte Adarach mit seiner Hundertschaft jetzt schon hier in Tarib verbracht. Die Hannaiim hatten Adarach und die von ihm befehligten Söldner insgeheim hierher geschickt. Der Rat der Taribim war bestochen und die Söldner dafür bezahlt worden, die Tetraosi durch Überfälle zu dezimieren, wenn sie sich Tarib näherten. Adarach machte das Eingesperrt sein jedoch ausgesprochen nervös. Sie durften sich außerhalb der Stadt nicht sehen lassen, mußten auf die Tetraosi warten, und dabei wollte er doch nur tun, wofür er bezahlt wurde: endlich kämpfen. Es würde schwierig werden, die Männer der Hundertschaft auch nur zwei weitere Tage ruhig zu halten, wenn sie sich ähnlich rastlos fühlten, wie ihr Befehlshaber.
 

Hinter Adarach knarrte die Tür, zögernde Schritte nackter Füße und schwacher Lichtschein näherten sich. "Mawek, ich habe eine Lampe für euch gebracht", sagte Utar, der älteste Sohn des Hausherren, leise aber nicht unterwürfig.
 

Adarach sah weiter hinaus. Über die Straße huschte eine Katze, dann kam bedächtigen Schrittes eine vornehme Frau, begleitet von einem laternetragenden Sklaven. Adarach merkte, daß das rötliche Doppelbild dessen, was er auf der Straße sah, stärker wurde. Seine Leute konnten immerhin am Abend in der Stadthalle gemeinsam essen. Doch er würde sein Quartier heute vorsichtshalber nicht mehr verlassen. "Stell die Lampe auf den Tisch, Utar", sagte Adarach leise. "Sag meinem Stellvertreter, er soll mir meinen Abendtrunk bringen." Dann drehte er sich doch um, sah dem dunkelhäutigen Jüngling zu, wie er die Lampe auf den Tisch stellte. Ein hübsches, bartloses Gesicht, dichte schwarze Locken, das helle, noch zu weite Gewand eines Erwachsenen um die schlanken Schultern, die verführerische Halspartie mit den deutlich hervortretenden Schlüsselbeinen über den Hälften des nachlässig geschlossenen Halsausschnittes. Noch halb ein Kind und schon halb ein Mann.
 

Mit stolzer Haltung und einem zufriedenen, fast herausfordernden Lächeln hielt Utar Adarachs Blick stand. Er war benannt nach dem Stadtgründer von Tarib. Dessen Grab lag im Zentrum der Stadt und eine Stele daneben beschrieb ausführlich Utars Kampf gegen einen gewaltigen Drachen, den der Held erschlagen hatte, um dann am Rande des vom vergossenen Drachenblut fruchtbar gewordenen Bodens diese Stadt zu gründen. Das hübsche Gesicht des Jünglings war seltsam unscharf und fast blutigrot geworden. Adarach rieb sich das Auge und wedelte Utar mit der anderen Hand hinaus, endlich Buhachan Bescheid zu geben.
 

Buhachan hatte wohl schon damit gerechnet, gerufen zu werden, jedenfalls trat Adarachs Stellvertreter einen Augenblick später ein, in den Händen eine große Kanne, gefüllt mit unverdünntem Oinos. Buhachan musterte seinen Befehlshaber kopfschüttelnd. Er war Adarachs Onkel, wenn auch nur ein paar Jahre älter als sein Neffe, aber gelegentlich entsann er sich des Verwandschaftsverhältnisses und meinte, Adarach wie ein Kind behandeln zu müssen. "Trink nicht wieder so viel", mahnte er erwartungsgemäß, "oder nimm wenigstens genug Wasser dazu."
 

Adarach schnaubte verächtlich durch die Nase, füllte sich einen Becher mit dem dunkelroten Oinos, stürzte ihn hinunter, ohne zu schmecken, was er trank. Was mochte der Inhalt dieser Kanne gekostet haben? Fünfzig Tar oder vielleicht auch mehr? Immerhin mußte der Oinos aus dem Osten importiert werden. Das rote Doppelbild verschwand jedoch nicht, Adarach trank noch einen Becher leer.
 

"Hast du noch Anweisungen, Adarach?" fragte Buhachan mit dem ihm in den vergangenen zwei Jahren zur Gewohnheit gewordenden mißbilligenden Blick.
 

"Sorg dafür, daß die Männer morgen früh kampfbereit sind. Es sind Wolken aufgezogen, vielleicht brechen die Tetraosi wegen der Regenzeit früher auf als erwartet", sagte Adarach und sah dabei in die Neige seines Bechers. So wenig wie er dieses kostbare Getränk, daß er einmal geliebt hatte, nun noch genoß, hätte er auch Mohnsaft oder ein anderes Betäubungsmittel gegen seine Schmerzen zu sich nehmen können. Vielleicht hatte Buhachan recht mit seiner Mißbilligung. Aber damit hätte Adarach sich vor seinen Männern eine Blöße gegeben. Einen dem Oinos verfallenen Anführer konnten die Männer akzeptieren, einen von Grom verlassenen Mann an ihrer Spitze sicher nicht. Er trank den Becher leer und sah, daß Buhachan noch immer neben der Tür stand.
 

"Soll ich dir noch etwas bringen?" fragte Buhachan endlich.
 

Adarach wollte schon den Kopf schütteln, doch dann dachte er wieder an Utar. Die Unterbringung mit zwei seiner Offiziere in dem Haus eines Gastfreundes Hannais hatte der Söldnerführer nur einem Erlaß des von den Hannaiim bestochenen Rates zu verdanken, nicht der Fürsorge der Taribim. Dem Gastgeberstolz des Hausherren wiederum verdankte Adarach die Dienste des ältesten Sohnes des Hauses, die sich natürlich nur auf Botengänge und ähnliches erstreckten, aber dieser stolze Jüngling mit dem herausfordernden Blick hatte etwas an sich, das Adarach reizte. "Sorg dafür, daß ich etwas zu essen bekomme", sagte Adarach beiläufig, als wolle er nur ein Abendessen. Buhachan nickte wie resignierend und verließ das Zimmer seines Neffen und Befehlshabers.
 

Den erneut gefüllten Becher in der Hand trat Adarach wieder ans Fenster. Die Straße war in der Dunkelheit kaum mehr zu erkennen, der Himmel war bedeckt, es schien sogar leicht zu regnen. Nichts war zu sehen vom Antlitz der Göttin, der Mond war völlig versteckt hinter den Wolken. Adarach trank und beim Blick zurück zur Oinoskanne bemerkte er, daß mit dem stärker gewordenen Schwindelgefühl das Doppelbild endlich verblaßte, und sich auch die Schmerzen der schon lange verheilten Wunde verringerten. Adarach trank nun doch einen Becher voll Wasser, dann legte sich auf die Liege, die er als zu kurz und zu schmal empfand, und auf der er doch schon eine Nacht wie ein Stein geschlafen hatte, sah hinauf zu der im Schatten liegenden Decke, an die Stelle, an der sie mit der rot und blau bemalten Wand zusammenkam.
 

Weiche, braune Nordstädlerhaut, die sich in der Sonne nicht rötete, sondern selbst in der größten Hitze nur matt glänzte, verführerisch duftete. War es seine Hautfarbe, die Utar so interessant machte? Wenn Adarach das Auge schloß, spürte er die süßen Lippen des Osheyjünglings an seinen, erinnerte sich an den ebenso hingebungsvollen wie lüsternen Blick aus den hellgrauen Augen, die so eigentümlich gewirkt hatten in dem dunkelhäutigen Gesicht. "Amemna Darashy", hauchte Adarach andächtig, als wäre der Name eine Beschwörungsformel, mit der die zwei Jahre, die seit diesem Kuß vergangen waren, ungeschehen gemacht werden konnten.
 

Der Aufstand in Ma'ouwat hatte ihr heimliches Beisammensein gestört und dann war der Goldschmied mit dem Rest seiner Familie geflohen, ohne Adarach auch nur ein Abschiedswort zu ermöglichen. Natürlich hatte er recht damit gehabt seine Kinder in Sicherheit zu bringen, dieser grau gewordene Krieger. Der Aufstand hatte viele der aus dem Norden und Osten stammenden königlichen Söldner und Handwerker das Leben oder zumindest Gliedmaßen gekostet. Adarach hatte Glück gehabt, er hatte nur sein linkes Auge verloren, war genesen, und doch nicht wieder derselbe geworden. Warum sollte er noch kämpfen, wenn das aus seiner Reichweite verschwunden war, was er am meisten ersehnt hatte? Aber er mußte kämpfen, um nicht daran zu denken, was er an jenem Tag außer seinem Auge verloren hatte, nach dem Versprechen dieses Kusses, dem Geschenk eines Augenblickes im Verborgenen. Er mußte kämpfen, um die Schmerzen in seinem Herzen nicht zu spüren, die in Momenten wie diesem stärker waren als die Schmerzen in seiner leeren Augenhöhle. Er mußte kämpfen, um die Parteigänger seines Bruders davon abzuhalten, ihn hinterrücks meucheln zu lassen, denn solange er ein erfolgreicher Söldnerführer war, solange seine eigenen Männer ihm bedingungslos folgten, solange Grom ihm gewogen schien, würde keiner der Garam-Berr es wagen, ihn anzugreifen. Solange er kämpfte, konnte er leben, auch wenn das, was ihm das Leben lebenswert erscheinen ließ, irgendwo in den Zelten der Darashy verborgen war, an einem Ort, an dem ein Söldnertrupp aus dem Osten nichts zu verdienen hatte.
 

Adarach haßte sich für sein Selbstmitleid, setzte sich auf, trank noch einen Becher Oinos, hatte schließlich fast die Kanne geleert, als Utar endlich zu ihm kam, mit einem Tablett voll Schüsseln. Utar stellte das Abendessen auf dem Tisch ab und gähnte unverholen bevor er fragte: "Wünscht ihr noch etwas, Mawek?" Der herausfordernde Blick des Jünglings war müde, aber nicht weniger selbstbewußt als gewöhnlich.
 

Adarach erhob sich von der Liege, näherte sich Utar. Der Jüngling war gut einen Kopf kleiner als er selbst, zarter Bartflaum zeigte sich über seinen Lippen und an seinen dunklen Wangen. Und auch die Haut seines Halses, der Kehle, des Stückes seiner Schulter, das durch den zu großen Halsausschnitt seines Gewandes verlockend entblößt war, hatte diese dunkle Farbe, die die Bewohner der maribischen Ebene nicht der brennenden Sonne sondern ihren Ahnen aus der Wüste verdankten. Wie alt mochte Utar sein? So alt wie Amemna, als er mit seinem Onkel Ma'ouwat verließ? Adarach griff nach Utars Kinn, hob es leicht an und senkte seinen eigenen Kopf, um seine Lippen auf die des Jünglings zu drücken.
 

Utar wich mit aufgerissenen Augen zurück, stieß dabei an Adarachs Schild. Der Schild fiel scheppernd zu Boden, Utar wich weiter zurück, bis er die Wand erreichte. Adarach umfaßte mit einer Hand die beiden schlanken Handgelenke hinter Utars Rücken, mit der anderen griff er wieder das Kinn des Jünglings, preßte Utars Kopf gegen die Wand, drückte erneut seine Lippen auf die bebenden vollen Lippen des Jünglings, der vergeblich versuchte, seinen Kopf wegzudrehen, Adarach seine Hände zu entziehen. Utars Kampfeswille stachelte Adarach an, mit seinen Fingern die zusammengebissenen Kiefer des Jünglings auseinander zu drücken, mit seiner Zunge die Zunge Utars zu suchen, der nun ein gurgelndes Geräusch machte. Wollte er etwas sagen? Adarach drückte seinen Körper an den jungen, schlanken Leib, genoß die Hitze, die er durch die Gewänder hindurch spürte, ließ Utar dann endlich nach Luft schnappen. Der Jüngling keuchte, rief aufgeregt irgendwas, seine Augen funkelten.
 

Adarach zog Utar an den Hüften zu sich empor, um sich nicht bücken zu müssen, hielt ihn mit seinem Leib in dieser Position an die Wand gepreßt, hinderte Utar daran, den Kopf wegzudrehen, küßte erneut diese wunderschönen vollen Lippen, deren Farbe und Form ihn an die Amemnas erinnerten. Mit der anderen Hand griff er unter das lose Gewand des Jünglings, so daß seine Finger schließlich an dessen nacktem Hinterteil lagen.
 

Jemand riß Adarach fort von Utar. Zornig drehte er sich zu dem Störenfried um, erkannte im Halbdunkel nur einen Schemen, so groß wie er selbst, aber dunkelhaarig - Buhachan. "Laß mich!" rief er, stieß Buhachan zur Seite, aber der hielt Adarachs Arm geschickt umklammert, drückte ihn hinunter auf den Boden, rief Utar zu, er solle verschwinden.
 

Utar wagte nicht, diesen Befehl zu mißachten und lief aus dem Zimmer, während Buhachan auf Adarachs Brust kniete. "Geh ins Bett, Adarach!" befahl er seinem Neffen.
 

Adarach versuchte, sich aufzurichten. "Wie kannst du es wagen?" schrie er zornig.
 

Buhachan stieß ihn wieder zu Boden, so daß Adarachs Hinterkopf auf den Holzfußboden krachte. Dann stand er ohne ein Wort auf, ging hinaus und schloß die Tür.
 

Adarach meinte, das ganze Zimmer kreise um ihn, als er erneut versuchte, den Kopf zu heben, sich aus der liegenden Position zu erheben, dann sackte er wieder zurück auf den Fußboden.
 

*
 

Eine Hand rüttelte an Adarachs Schulter. "Steh auf, die Tetraosi haben in der Nacht ein Heerlager nahe Tarib errichtet", verkündete Buhachan unanständig fröhlich.
 

Die Sonne drang bereits durch das Fenster, und Adarach stellte fest, daß er wohl die ganze Nacht auf dem Fußboden geschlafen hatte. Ächzend erhob er sich, versuchte, seine schmerzenden Glieder einzurenken. "Du hast mich gestern niedergeschlagen", warf er Buhachan vor.
 

"Und du hättest gestern beinahe den Sohn unseres Gastgebers vergewaltigt", gab Buhachan nicht weniger vorwurfsvoll zurück. "Ich mußte mit einhundert Tar sein Schweigen erkaufen."
 

"Es wird nicht wieder vorkommen", versicherte Adarach mürrisch und schob Buhachan von der Tür weg, um zur Latrine hinunter zu gehen und sich zu erleichtern.
 

Als Adarach das Zimmer wieder betrat, war Buhachan fort, dafür stand eine Waschschüssel voll Wasser auf dem Tisch neben dem noch immer unberührten Tablett mit dem Abendessen, eine große Kanne mit frischen Trinkwasser und neben dem Tisch Utar, der sich an die Wand drückte und panisch zu Adarach hinübersah, da dieser ihm den Weg durch die Tür versperrte.
 

"Hilf mir noch beim Anlegen der Rüstung", befahl Adarach, ohne einen zweiten Blick auf den Jüngling, trank einen Becher Wasser, erfrischte sich mit dem kühlen Waschwasser, bekleidete sich wieder und wickelte seine langen Haare am Hinterkopf zu einem Polster, um den Druck des Helmes zu mindern. Nebenbei gelang es ihm sogar, einen weiteren Becher Wasser zu trinken und ein paar Happen von dem kalten Abendessen in den Mund zu stecken. Endlich ließ er sich den Leinenpanzer geben, legte ihn jedoch allein an und prüfte gründlich seinen Sitz, trotz des brummenden Schädels wenn er den Kopf senkte. Dann setzte er sich auf seine Liege und verlangte die Beinschienen.
 

Utar reichte ihm eine der Beinschienen, und nachdem Adarach sie angelegt hatte, die zweite. Der Jüngling zitterte ein wenig, als Adarach die zweite Beinschiene nicht sofort aus seiner Hand entgegen nahm, atmete erleichtert auf, als er sie endlich ergriff. Doch bevor Utar sich zurückziehen konnte, griff Adarach mit der anderen Hand nach dem schmalen, dunkelhäutigen Handgelenk des Jünglings, auf dem sich einige blaue Flecken abzeichneten. Nun zitterten auch Utar Lippen. Er hatte eindeutig Angst.
 

Adarach mußte sich eingestehen, daß der Jüngling vermutlich Grund zur Angst hatte. Er selbst hatte sich am vergangenen Abend anscheinend nicht genügend unter Kontrolle gehabt und war im Rausch vielleicht zu brutal mit dem schlanken Jüngling umgegangen. Adarach erinnerte sich nur noch undeutlich und die dem Oinos zu verdankenden Kopfschmerzen machten ihn unwillig, sich die halbvergessenen Ereignisse ins Gedächtnis zurückzurufen. Immerhin war keines von Utars Gliedern gebrochen, kein Zahn ausgeschlagen und die blauen Flecken an Handgelenken und Kiefer würden vergehen, auf der dunklen Haut waren sie ohnehin fast nicht zu sehen. Und was das stramme Hinterteil des Jünglings unter seiner wadenlangen Tunika betraf... Adarach zog Utar zu sich heran, ließ seine Hand zu der wohlgeformten Rundung wandern.
 

Die Augen des Jünglings weiteten sich vor Schreck - die schwarzen Augen eines Häschens, bar jeden Kampfeswillens. Schließlich rannen sogar Tränen über die bartlosen Wangen. Adarach ließ von ihm ab. "Verschwinde", sagte er, und Utar rannte schluchzend aus dem Zimmer. Adarach schloß die zweite Beinschiene um seine Wade, hängte sich sein Schwert um, nahm Helm und Schild, griff sich noch eine Handvoll von den Teigtaschen und verließ das Zimmer.
 

Buhachan empfing ihn gleichfalls gerüstet in der offenen Halle des Hauses und berichtete, daß der ebenfalls bei Utars Vater einquartierte Kommandant der Veteranen schon am Stadttor auf sie warten würde, also brachen sie zügig auf. Noch ahnten die Tetraosi wohl nicht, daß die eigentlich befreundete Stadt von feindlichen Truppen besetzt war, und sie durften auch nie erfahren, daß es nur eine Hundertschaft war. Aber vielleicht ergab sich schon in den Morgenstunden die Gelegenheit für einen Überraschungsangriff nahe der Stadt. Als Adarach und Buhachan den Platz hinter dem Stadttor von Tarib erreicht hatten, war die Hundertschaft kampfbereit versammelt. Das Opfer an Grom war schon vollzogen worden und die Männer waren dabei, sich mit klirrenden Speeren und klingenden Schilden in die Kampfformation einzureihen. Dröhnend hallten die metallischen Geräusche in Adarachs Schädel wider, aber er hatte inzwischen Übung darin, sich nichts anmerken zu lassen. Immerhin verschwanden die stechenden Schmerzen seiner Verwundung unter dem Einfluß des göttlichen Getränkes tatsächlich, auch wenn seine reichliche Verwendung andere Unannehmlichkeiten mit sich brachte.
 

Kaharach, der Kommandant der Veteranen, stand neben einem Wächter der Taribim auf dem Laufgang des Stadttores und rief herab, daß sich Fußsoldaten der Tetraosi näherten. Adarach eilte die Treppe hinauf, um durch die Schießscharten selbst einen Blick auf den Gegner zu werfen. Kaharach nahm zwar kampfbereit seinen Schild auf, blieb aber an der Seite seines Befehlshabers. Die Tetraosi hielten die Stadt wohl tatsächlich für befreundet, denn die Helme hatten sie, soweit sie denn welche besaßen, weit in den Nacken geschoben, und die Formation war wenig geeignet, einem Angriff standzuhalten. Adarach zählte die Reihen, gut einhundertfünfzig Mann, zum Teil ungepanzert. Ein Trupp wie von den Göttern gesandt.
 

"Die sind leichte Beute, Mawek", bemerkte Kaharach.
 

Adarach nickte, und dann entdeckten sie beide die Reitereinheit, die sich vermutlich auf einem Erkundungsritt befand und den Weg der Fußsoldaten gerade in Sichtweite des Stadttores von Tarib schneiden würde. "Wir müssen noch warten", sagte Adarach.
 

"Mawek, ihr wißt, daß wir sie nicht zu dicht an die Stadt herankommen lassen dürfen. Einen Kampf um die Stadttore können wir nicht riskieren", wandte Kaharach ein.
 

Adarach nickte. "Aber wir sollten ebenfalls nicht riskieren, auch noch gegen die Reiter kämpfen zu müssen." Fünfzig, nein sechzig Reiter waren da unten. Das konnte das Kriegsglück leicht wenden.
 

"Das sind Leichtbewaffnete, keine Gegner für uns, Mawek", wandte Kaharach wegwerfend ein, grinste wölfisch. "Wißt ihr noch, wie wir in Ma'ouwat die Bürgerwehr erledigt haben? Damals..."
 

"Damals hatten wir es mit Söhnen aus reichen Häusern zu tun, die das zweite mal in ihrem Leben in Waffen auf ihren Pferden saßen", fiel Adarach dem Kommandanten seiner Veteranen ins Wort, auch wenn er den Männern, die den Söldnern des Königs einen harten Kampf geliefert hatte, damit wohl unrecht tat. Aber da unten waren zwischen den Reitern auch eine Handvoll Männer in schwarzen Mänteln. Selbst wenn nicht alle die typischen schwarzen Kopftücher trugen waren das doch eindeutig Oshey. "Das dort sind Söldner", erklärte Adarach. "Es sind aller Wahrscheinlichkeit nach diejenigen, die auf Seiten der Hannaiim den Kampf vor Tetraos überlebt haben, denn die Tetraosi werden kaum aus anderer Quelle Oshey beschäftigen."
 

"Also warten wir, bis sie außer Sicht sind und hoffen, daß die Fußtruppen bis dahin noch nicht zu nah gekommen sind", folgerte Kaharach, während er die Begrüßungen der beiden Trupps, dann ihre langsame Entfernung voneinander kritisch betrachtete. "Wir dürfen nicht zu lange warten, Mawek, auch auf die Gefahr hin, die Reiter auf uns aufmerksam zu machen", mahnte er. "Sonst haben wir womöglich Tetraosi in der Stadt."
 

Adarach nickte. "Das wäre unser Untergang. Hier gibt es zu viele die mit den Tetraosi sympathisieren. Sorg' mit Buhachan dafür, daß die Männer sich bereit machen." Kaharach verschwand im Laufschritt die Treppe hinunter, bellte einige Befehle.
 

Adarachs Platz war am rechten Rand der Phalanx, in der ersten Reihe. "Gib das Signal zum Öffnen der Tore, wenn die Fußsoldaten den Hügel mit den zwei Bäumen passiert haben", befahl er dem Wächter und betete zur Göttin, daß er zu denen gehörte, die die Anweisungen des Rates der Taribim getreulich umsetzten. Dann lief auch er hinunter und erflehte vor den Kriegern Groms Segen für den bevorstehenden Kampf, dann reihte er sich ein zwischen seinen Männern. Nur Augenblicke später wurden die Seilwinden zum Öffnen der Tore in Gang gesetzt. Einige von Adarachs Männern aus den hinteren Reihen der Phalanx drehten zusammen mit den Wächtern der Taribim die beiden Räder, und die riesigen Torflügel schwangen langsam nach innen auf. "Sturmangriff!" befahl Kaharach auf Adarachs Wink, dann liefen sie schreiend los, die Speere auf die Gegner gerichtet.
 

Anerkennend registrierte Adarach, daß die Fußsoldaten der Tetraosi offenbar gut gedrillt waren. Anstatt furchtsam auseinander zu laufen, machten sie sich in aller Eile kampfbereit, die Schwerbewaffneten schlossen ihre Reihen und stemmten sich dem Angriff von Adarachs Hundertschaft entgegen, da trafen sie schon aufeinander. Adarachs Schild knallte gegen den eines der Nordler, doch deren Reihen hielten zunächst stand, bis die von den Speeren getroffenen Männer in die Knie sanken. Die Garam-Berr zerrten ihre Speere frei, wichen zwei Schritte zurück, und setzten noch einmal nach, die erste und zweite Reihe der Tetraosi war vernichtet.
 

Doch da entstand Unruhe am linken Rand, die schon fast außer Sicht gewesenen Reiter waren anscheinend aufmerksam geworden, griffen von der Seite an, tollkühn oder leichtsinnig wagten sie sich mit ihren ungepanzerten Tieren in die Nähe der langen Speere der Phalanx.
 

Ein Schwerthieb gegen seine vom Schild ungeschützte rechte Schulter, der einen Teil der Verschnürung des Leinenpanzers löste, rief Adarach zur Aufmerksamkeit, und er wandte sich wieder seinen unmittelbaren Feinden zu. Aber er konnte die Pferde schon riechen, so nah waren sie, und die Reihen der Phalanx lösten sich zunehmend auf. Er mußte zurückweichen vor dem Angriff eines Tetraosi, stand plötzlich allein zwischen den Feinden. Adarach riß den Schild hoch, um seine verwundbare linke Seite zu schützen, da erzitterte dieser auch schon unter dem kräftigen Hieb eines Gegners. Adarach stach mit dem Speer nach ihm, so daß er in die Kehle getroffen zusammenbrach. Dann ließ er den Speer fahren, riß statt dessen das Schwert aus der Scheide und parierte den Vorstoß eines anderen Tetraosi.
 

"Mawek!" rief Buhachan über den Kampfeslärm.
 

Adarach sah die vielen Verwundeten, einige sterbend im Staub der Straße liegen. Der Kampf konzentrierte sich nun um einen Osheyreiter am linken Rand, alle Reihen aufgelöst. Einer der Veteranen erwischte das Pferd des Mannes, doch der sprang aus dem Sattel, verlor dabei seinen von einem bunten Tuch umwickelten Helm. Weißes Haar glänzte in der Sonne. Konnte das wirklich Amemna sein? Eine gewisse Ähnlichkeit war vorhanden, kein Zweifel, und wie viele Oshey gab es mit weißen Haaren? Das Haar war viel kürzer, aber er hatte noch immer ein jünglingshaftes, bartloses Gesicht, verzerrt vor Konzentration, das lange Osheyschwert herumwirbelnd. Niemandem schien es zu gelingen, auch nur auf zwei Armeslängen an ihn heranzukommen. Hatte ihm sein Onkel das beigebracht? Kein Wunder, daß Murhan Darashy in manchen Kreisen noch immer als legendärer Kämpfer gerühmt wurde, wenn sogar einer seiner Schüler in wenigen Jahren solche Fähigkeiten entwickeln konnte.
 

"Mawek!" schrie Buhachan drängender, und er hatte recht, denn Grom verhüllte offensichtlich sein Gesicht.
 

"Rückzug!" rief Adarach als Erwiderung, obwohl er selbst sich kaum von dem Anblick des jungen, weißhaarigen Kämpfers lösen konnte, der gegen drei seiner Veteranen standhielt.
 

Die Männer griffen nach den am Boden liegenden Speeren, halfen verwundeten Kameraden, stützten sie bei ihrem Weg zu den nun wieder halb geschlossenen Stadttoren. Die Veteranen und Adarach deckten den Rückzug, bis auch sie zurückwichen. Die Tetraosi verfolgten sie nicht.
 

* * *
 

25. Der Mantel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

25. Der Mantel (jugendfrei)

Merat hörte die Schreie einiger Männer, aber was sie aufschrecken ließ, waren die Schreie Amatis. Wachte denn Tabit nicht auf, ihren Schützling zu trösten? Merat bekleidete sich so rasch es in der Dunkelheit möglich war und rannte hinaus zu ihrer Tochter. Sie hatte mit dem Schlimmsten gerechnet, einem Angriff oder einem Unfall, aber als sie in das düstere Zelt trat, mit rastlosen Händen endlich eine der Lampen entzündete, um sicher den Weg in den hinteren Zeltraum zu finden, lag dort Amati schreiend und mit Armen und Beinen wild strampelnd in ihrer Wiege, während Tabit daneben auf ihrem Lager ungerührt schlief. Kurz entschlossen nahm Merat ihre Tochter in die Arme, drückte sie fest an sich, wiegte sie hin und her, sprach beruhigend auf sie ein, doch Amati schrie weiter. "Tabit, die Kleine hat Hunger", ermahnte Merat die Amme, auch wenn das Geschrei eigentlich zu schrill für gewöhnlichen Hunger klang. Amati schien Schmerzen zu haben, aber die Amme reagierte nur mit einem Schnarcher, wachte nicht auf. Merat drückte ihre Tochter noch enger an sich. Sie konnte sie nicht stillen. Nachdem sie vor einem knappen halben Jahr die Amme für Amati in ihr Zelt geholt hatte, war ihre eigene Milch ausgeblieben. Und wo war Losat? Wie konnte sie bei dem Lärm, den Amati machte, weiterschlafen?
 

Merat ging in den vorderen Zeltraum, in dem Losat ihr Lager hatte, doch auch ihre Dienerin schlief tief und fest. Resignierend zog Merat sich mit dem inzwischen vor Erschöpfung leiser gewordenen Säugling auf ihr eigenes Lager zurück, drückte Amati weiterhin an ihren Busen, und plötzlich kuschelte Amati sich mit dem Gesicht in Merats Halsbeuge, legte Nase und Mund an den bloßen Hals ihrer Mutter, dorthin wo Amemna sie nach ihrer Vereinigung so innig geküßt hatte, beruhigte sich schlagartig. Nach einer kurzen Weile schien sie sogar eingeschlafen zu sein, machte Nuckelgeräusche, als träume sie davon, gestillt zu werden. Vorsichtig stand Merat auf und legte ihre Tochter zurück in die Wiege. Sich nun ihrer eigenen Müdigkeit bewußt werdend, legte sie ihr Übergewand ab, setzte sich wieder auf ihr Lager.
 

Wie hatte sie sich dem Leibwächter ihres Mannes nur so unbedenklich hingeben können? Wieso hatte Amemna ihn gewähren lassen? Wieso hatte Nefut sich nicht zurückgehalten? Sie waren alle wie einem fremden Willen unterworfen gewesen. Ob der Ostler einen Bann über ihren Gatten und am Abend dann über sie alle geworfen hatte, um ihnen seinen perversen Willen aufzuzwingen? Er war schon sehr mysteriös, dieser rothaarige Mann, allein wie durchdringend und wissend er sie angesehen hatte, als höre er Merats Gedanken über ihren Gatten. Vielleicht war er ein Zauberer oder Dämonenbeschwörer. Doch dann schüttelte Merat über ihre wirren Gedanken den Kopf. Soetwas gab es doch nur in Märchen. Aber sie mußte wissen, wieso Amemna zunächst die Scheidung gewollt, Merat dann aber trotzdem zu seinem Lager gerufen und zudem mit Nefut zusammengebracht hatte. Sie konnte mit diesen Fragen unmöglich bis zum nächsten Morgen warten, dann würde sie kein Auge schließen können. Leise stand Merat auf, legte wieder das Übergewand über die Schultern, den Schleier über die Haare und schlich aus dem Zelt. Es regnete und Merat legte den Weg zu Amemnas Zelt im Laufschritt zurück. Dort brannte nun wieder Licht, also war ihr Gatte noch wach. Sie betrat das Zelt, das Licht kam von Amemnas verdecktem Lager, und ihr Mann sprach leise mit jemandem, also hielt Merat inne. War Nefut auf Amemnas Lager zurückgekehrt? Im vorderen Teil des Zeltes lagen zwei schlafende Gestalten, eines war zweifelsfrei der rothaarige Ostler, die zweite war zu klein für einen Mann, aber es mochte der Knabe sein, den Merat am Vormittag kennengelernt hatte. Merat näherte sich lautlos den Decken um Amemnas Lager und hörte ihren Gatten sagen: "Was hat dich bewogen, dich mirr endlich su offenbarren?"
 

Aber es war nicht Nefut, der ihm antwortete, sondern der Zweite der Wannim, auch wenn er etwas undeutlich sprach und seine Stimme rauher als am Tage klang, war sie doch unverkennbar. "Es war dein Duft an Nefut, der mich bewog, und der Ratschlag meiner Liebsten, endlich mit dir zu sprechen."
 

Amemnas Duft, der auch Amati beruhigt hatte. Vielleicht war das die unirdische Zaubermacht Amemnas, die in Merat wider Willen so unbändige Lust geweckt hatte, als sie sein Treiben mit Nefut entdeckte, die sie alle wie im Rausch hatte handeln lassen. Sprachen die Geschichten der Alten nicht von dem unwiderstehlichen Duft der Unirdischen? Ein leises, sehr melodisches Lachen riß Merat aus ihren Gedanken, ein Lachen wie ein Lied. Der Zweite mußte der Sänger sein, Hamarem.
 

"Sie möchte, daß ich mit ihrr das Lagerr teile?" fragte Amemna überrascht, aber offensichtlich geschmeichelt. Anscheinend war Merat ein Teil des Gespräches entgangen. "Was meinst denn du dasu?"
 

"Sie ist eine Priesterin der Ama", erklärte Hamarem dann. "Wie kann ich ihr verwehren, auch mit anderen der Göttin zu huldigen, sobald sie wieder ihren Dienst an Ama aufnimmt?" An Amemna war außer seiner halben Wannim also auch noch eine Priesterin interessiert. Und vielleicht war es ja sogar die ganze Wannim, wenn es Eifersucht gewesen war, die aus Derhans Worten über das Beziehungsgeflecht gesprochen hatte. Natürlich, denn Amemnas Duft mußte auf alle wirken, die ihm nahe kamen. Aber wie hatte Hamarem nur so unangemessen entspannt klingen können? Wieso benutzte er die Bezeichung 'Liebste', obwohl er diese Priesterin der Ama wohl kaum für sich allein beanspruchen konnte? War er sich ihrer Zuneigung oder seiner eigenen ihr gegenüber jenseits aller anderen Gelüste so sicher?
 

"Also erfleht sie in ihrer fruchtbaren Zeit von Hawat dein Kind", flüsterte Amemna in der Südländersprache, übersetzte dann die Worte für seinen Zweiten.
 

"Anscheinend hast du vor einiger Zeit doch ebenfalls die Entscheidung getroffen, deine fruchtbaren Tage mit einem Mann zu verbringen", antwortete Hamarem leise.
 

"Es ist Nefuts Kind, das in mirr wächst", stellte Amemna mit einem eigentümlichen Klang in der Stimme fest.
 

Merat unterdrückte einen Aufschrei, erstarrte mit der Hand vor dem Mund. Ihr Gatte erwartete ein Kind von Nefut? Das konnte doch nicht sein! Merat schlich sich hinaus, lief rasch durch den Regen zurück zu ihrem eigenen Lager, legte sich zwischen die Decken. Sie umfaßte das Hawatamulett: "Hawat, gib mir Nefut", flüsterte sie. Noch immer fühlte sie seine so zärtlichen Berührungen. Wenn er erfuhr, daß Amemna seinen sehnlichsten Wunsch wahr machte, würde er Merat vielleicht nie wieder beiwohnen. Damit konnte sie nicht leben. Nefut war doch geradezu ein Bild von einem Mann. Amemna war zu schmal, zu bartlos, viel zu jünglingshaft, um wirklich ein Mann zu sein - und ganz offensichtlich viel zu sehr an Männern interessiert. Zugegeben, sie hatte vor etwa drei Jahren genauso unbedingt Amemna gewollt, hatte ihren Vater nach der Flucht aus Ma'ouwat mit Hilfe der Göttin schließlich erfolgreich dazu bewegen können, sie mit ihrem Ziehbruder zu verheiraten, aber genau genommen hatte sie angesichts fehlender Erfahrungen damals doch keine vernünftige Entscheidung treffen können. Ihr Vater hatte ihrer südländischen Ziehmutter nur gestattet, Merat nach dem Reifen zur Frau in die Pflege des Körpers und die Schaffung günstiger Umstände für eine Empfängnis einzuweisen, alle anderen der Fünfhundert Künste oder gar der Besuch des Hawattempels für eine regelrechte Ausbildung waren barbarischer Unfug und das Verderben junger Osheyfrauen für Murhan gewesen.
 

Es mußte schon damals Amemnas Duft gewesen sein, der in Merat diese Gelüste nach Amemna geweckt hatte, doch nun wußte sie, wie ein erfahrener Mann den Liebesakt vollzog. Nefut war mit Sicherheit der Mann, der sie glücklich machen konnte, denn mit einem wahrhaften Oshey würde sie auch nicht allenthalben über die Grenzen diskutieren müssen, die die Gebote der Weisen und Heiligen zogen. Sie hätte niemals diesen Barbaren von den Westlichen Inseln heiraten dürfen, egal wie viel unirdisches Blut er in sich haben mochte.
 

*
 

Erst als sie erwachte, merkte Merat, daß sie trotz ihrer Aufgewühltheit eingeschlafen war. Ihre ersten Gedanken galten Amati, denn über das verhaltene Schnarchen Tabits war nichts von dem Säugling zu hören. Doch, ein leises Atemgeräusch, die Kleine schlief offenbar ruhig und fest. Dann schwelgte Merat wieder in der Erinnerung an die Vereinigung mit Nefut in der vergangenen Nacht, noch immer schien sie ihn in sich zu spüren und sie merkte, daß ihr ganzer Körper noch nach ihrer und der Männer Lust roch. Also rief sie Losat, ihr Waschwasser zu bringen.
 

Losat kam nicht. Es war doch schon hell! Schlief sie etwa immer noch? Merat stand auf und ging in den vorderen Teil des Zeltes, berührte ihre schlafende Dienerin an der Schulter, rüttelte sie. Mit offensichtlichen Schwierigkeiten kämpfte Losat sich aus dem tiefen Schlaf. "Ich entschuldige mich", beeilte sie sich nach einem Moment der Desorientierung zu versichern, erhob sich von ihrem Lager. "Was wünscht ihr, Herrin?"
 

"Hast du in der Nacht nichts davon gehört, wie Amati geschrien hat?" fragte Merat. Der vergangene Tag war doch für ihre Frauen nicht anstrengender gewesen, als die Tage der Reise von den Zelten der Darashy bis nach Tetraos.
 

Losat schüttelte den Kopf. "Nein Herrin, ich habe nichts gehört." Dabei war Losat gewöhnlich als Erste wach, hatte schon das Frühstück vorbereitet, bevor sie ihre Herrin und Tabit weckte.
 

"Bring mir Waschwasser, Losat", befahl Merat und kehrte zurück zu ihrem Lager. Sie mußte an ihren Verdacht den Ostler betreffend denken. Hatte er vielleicht am Vorabend einen Schlafzauber auf ihre Frauen gewirkt, oder vielleicht eher heimlich ein Schlafmittel verabreicht, damit sie nichts von dem nächtlichen Treiben mitbekamen? Vorsichtshalber würde sie in Zukunft einen Bogen um ihn machen.
 

Als Losat ihrer Herrin die Waschschüssel mit Wasser füllte, erzählte sie: "Die Männer üben schon vor den Zelten."
 

Merats Herz machte einen Sprung. "Alle?" fragte sie und versuchte, ihre Stimme beiläufig klingen zu lassen, während sie damit begann, sich zu reinigen.
 

"Nein, aber euer Gemahl und der große Mann, außerdem Derhan und sein Vertrauter... Oremar ist sein Name, glaube ich", gab Losat zur Antwort, während sie ihrer Herrin frische Kleidungsstücke zurechtlegte, außerdem ihren Schmuck.
 

Merat beeilte sich, sich anzukleiden. "Weck Tabit auf und bereite dann das Frühstück. Ich will meinem Mann zusehen", sagte sie und ging in den Eingangsbereich des Zeltes.
 

Zwischen den Zelten, auf dem grasbewachsenen Boden, machten Nefut und Amemna die Schwertübungen, die Merat von ihrem Vater bekannt waren. Auch Derhan und Oremar machten mit, aber ihre Bewegungen sahen weniger geläufig aus, als hätten sie diese Übungen noch nicht verinnerlicht. Nefut dagegen, mit entblößtem Oberkörper, so daß das Spiel seiner Muskeln unter der schweißglänzenden Haut zu sehen war, bot trotz der Narben auf seinem Rücken einen wahrhaft bezaubernden Anblick. Merat mußte sich zwingen, den Blick von ihm auf ihren Gatten zu richten, wenn sie hörte, daß Losat in ihrer Nähe wirtschaftete. Schließlich bemerkte Nefut ihren Blick, erwiderte ihn, jedoch ohne die Wärme, auf die Merat nach der vergangenen Nacht gehofft hatte, und sie senkte beschämt die Augen. Vielleicht mußte sie ihm einfach sagen, wie sie für ihn fühlte, denn ihre Reaktion auf die Entdeckung seiner Identität mochte er falsch aufgenommen haben. Wie hatte sie nur jemals auf den Gedanken kommen können, ihn töten lassen zu wollen? Ihre Mutter mochte sich ihm wirklich freiwillig hingegeben haben, wenn Nefut in seiner Jugend auch nur halb so verführerisch gewesen war.
 

Schließlich kündigte Amemna einen Aufklärungsritt an und die Männer verschwanden in ihrem Zelt, um sich bereit zu machen. Merat wies ihre Dienerin an, Nefut für eine kurze Unterredung zu ihr zu bitten, dann ging sie,um ihren Schmuck anzulegen.
 

*
 

Als sie nach den goldenen Ohrgehängen griff, die Amemna ihr zur Geburt Amatis gefertigt hatte, hielt sie einen Moment inne und betrachtete die filigranen Schmuckstücke, je drei ineinander verflochtene Granatapfelblüten, die nach der Lehre der Schriften männliches Begehren, weibliches Verlangen und die Zuneigung zum eigenen Kind symbolisierten. Sie waren beide mit der geflügelten Schlange gekennzeichnet, die Amemnas Schmiedesymbol war. Er hatte gesagt, er würde sie über alles lieben und hatte ihr doch nicht einmal ein halbes Jahr nach der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter einen Scheidebrief geschickt. Amemna war unirdischen Ursprungs, sein Aussehen ließ keinen anderen Schluß zu. Es war äußerst schmeichelhaft gewesen, Amemnas Interesse wecken zu können, aber Merat wußte nun, daß sie mit einem Menschen, einem wahrhaften Mann ihr Leben teilen wollte. Und Nefut ging es offensichtlich ähnlich. Er mußte doch einsehen, daß Merat wie geschaffen für ihn war, insbesondere da sie doch angeblich ihrer Mutter so ähnlich sah, für deren Gunst Nefut sogar die Verbannung aus dem Stamm auf sich genommen hatte. Und als Kindern verschiedener Frauen stand ihrer Verbindung auch nach den Geboten der Weisen und Heiligen nichts im Weg. Aber nun wollte Amemna Nefut an sich binden, indem er in seinem widernatürlichen Körper ein Kind von Merats Halbbruder wachsen ließ.
 

Merat ging wieder in den vorderen Bereich des Zeltes und sah noch, daß Losat mit Nefut sprach, dann kam die Dienerin wieder zu Merats Zelt, während Nefut zunächst nur hinüberschaute, den Tarra'kt noch in der Hand. Losat wollte ihrer Herrin einen Brief überreichen doch Merat winkte ab. "Leg ihn auf mein Lager", befahl sie, um weiter Nefut zu beobachten. Nefut legte das bunte Tuch über die Schulter und kam zum Zelt, hielt vor dem Eingang noch einmal inne, betrat es dann aber, so daß Merat sich an seine Brust schmiegen, ihn küssen konnte. Aber Nefut versuchte, Distanz zu halten. Wollte er ihr überaus beglückendes Beisammensein am Vorabend nicht mehr wahrhaben? Merat wies darauf hin, daß sie so gut wie geschieden war, aber das änderte seine ablehnende Haltung nicht.
 

"Du willst eine wirkliche Frau. Gib es doch zu, denn du wünscht dir ein Kind", erinnerte sie Nefut also. Wenn sie eine Chance bei ihm haben wollte, durfte er niemals erfahren, daß er auf dem besten Wege war, diesen Wunsch von Amemna erfüllt zu bekommen. "Das wird dir Amemna nie geben können", behauptete sie also wider besseres Wissen. "Er hat als Mann unsere Tochter gezeugt, und jeder Mensch ist nur eines von beiden, Mann oder Frau, egal wie viel unirdisches Blut er in sich haben mag, egal wie er aussehen mag." Merat sah an Nefuts Miene, daß er insgeheim wohl dieselben Gedanken hegte, also setzte sie nach: "Sieh es ein: bei aller Liebe, die du für ihn empfinden magst, wird dir das nicht zu einem Sohn verhelfen. Ich jedoch...", aber sie mußte gar nicht weitersprechen, denn Amati machte gerade mit einigen Lauten auf sich aufmerksam.
 

Trotzdem blieb Nefut auf Distanz, brachte seine Verbannung zur Sprache. Natürlich konnten sie nicht in die Wüste, und schon gar nicht in die Zelte der Darashy zurückkehren, aber das mußten sie doch gar nicht, wenn sie einander hatten. "Mit dir wäre jeder Ort wie die wahrhaftigen Gärten der Freude", versicherte Merat ihm. Tatsächlich schien sie sein Herz langsam zu erweichen. Zärtlich nahm Nefut ihre Hände, sah ihr so tief in die Augen, daß es Merat vor Begierde erschaudern ließ. "Merat, ich empfinde so viel mehr für Amemna als für dich. Du bist begehrenswert, meine schöne Prinzessin und dein Anliegen ehrt mich, aber ich glaube nicht, daß meine Gefühle für dich dafür ausreichen." Dabei hatte Merat das Gefühl, daß er nun nach Argumenten suchte, sich selbst die Zuneigung - oder zumindest das Begehren - seiner Halbschwester gegenüber zu gestatten. Merat schmiegte sich an ihn, ließ ihren Körper für sich sprechen. Und er beugte sich zu ihr herunter, um sie lange und verheißungsvoll zu küssen. Dann rief Derhan ihn von draußen und Nefut ging, aber es lag Bedauern in seinem Abschiedsblick.
 

Merat sah ihm mit schmerzendem Herzen nach, dann ging sie zu ihrem Lager und schaute sich den Brief an, den Losat für sie entgegen genommen hatte. Das Schreiben war an Merat Darashy adressiert, und als sie das Wachssiegel erbrach, standen dort nur wenige Zeilen in einer sauberen, geradezu vornehm wirkenden Handschrift.
 

"Geehrte Prinzessin, ich habe die Person, die ihr suchtet, ausfindig machen können. Ich werde jeden Brief oder andere Botschaft, die ihr mir für diese Person anvertrauen wollt, getreulich befördern. Stets zu euren Diensten, Derhan."
 

Also wußte Derhan nun ebenfalls, daß Nefut ihr Bruder war, und damit ein Verwandter des Fürsten der Darashy. Aber wußte er auch, daß Merat es inzwischen ebenfalls bekannt war? Und ahnte Amemna überhaupt etwas davon? Jetzt, da sie es selber wußte, war die Ähnlichkeit Nefuts mit ihrem gemeinsamen Vater für Merat augenfällig, aber bis dahin hatte sie es nur für das typische Aussehen eines Osheykriegers gehalten. Warum sollte Amemna es in dieser Hinsicht anders gehen? Merat betete, daß es ihr gelingen sollte, Abstand zwischen ihrem Gatten und Nefut zu schaffen. Noch wußte Nefut offensichtlich nichts von der Schwangerschaft und während des Erkundungsrittes würde Amemna es sicher nicht erwähnen. Danach mußte Merat nur Amemna oder Nefut mit Beschlag belegen um ein ungestörtes Gespräch der beiden zu verhindern. Und außerdem würde sie Derhan mit einem vorgeblich von Murhan Darashy stammenden Brief zu Nefut schicken, in dem er alles vergab und seinen Erstgeborenen in die Zelte zurückrief. Der Weg zu den Zelten der Darashy war lang und wenn sie erst einmal Amemna und seinen verführerischen Duft hinter sich ließen, der Nefut anscheinend die Sinne ebenso vernebelte wie Merat, würde es ihr leichter fallen, Nefut zu überzeugen.
 

Natürlich würde es nicht leicht werden, Nefut Amemna vergessen zu lassen, nicht einmal, wenn Amemna nicht mehr als ein gewöhnlicher Mensch gewesen wäre. Denn im Gegensatz zu Merat war er zumindest theoretisch in den Fünfhundert Künsten ausgebildet worden, in seiner Jugend auf Trittstein der Himmelskönigin, als er noch ein Mädchen gewesen war. Und zumindest in Ma'ouwat hieß es, die Beherrschung der Fünfhundert Künste sorge für die Gunst der Göttin und bewahre eine Frau davor, ihren Mann an eine andere Frau zu verlieren. Amemna hatte seine Frau einige der Künste gelehrt, aber vieles davon hatte dem durch die Gebote der Weisen und Heiligen klar abgesteckten Wahren Weg so deutlich widersprochen, daß Merat ihm schließlich Einhalt geboten hatte. Dabei hatten viele Töchter der für den König von Ma'ouwat arbeitenden Nordländer anstelle einer Mitgift eine Ausbildung im Tempel der Hawat erhalten. Doch wie für ihren Vater standen die Gebote der Weisen und Heiligen für Merat doch an erster Stelle und nur bei sehr wenigen Gelegenheiten hatte sie bewußt gegen sie gehandelt, und dann nie ganz ohne Gewissensbisse. Täuschung und Lüge, das Fälschen eines Briefes waren natürlich Dinge, die sämtlich nicht im Einklang mit dem Wahren Weg standen, aber ihr Ziel, Nefuts Rettung aus den Armen des ungläubigen Barbaren, heiligte ohne Frage Merats Mittel. Insbesondere da offensichtlich mindestens ein Unirdischer nicht so tugendhaft war, wie es in den Schriften hieß. Und Amemna würde auch ohne Nefut genügend Männer für sein Vergnügen finden, da ihm ja offenbar auch sein Zweiter völlig verfallen war.
 

*
 

"Herrin, einer der Priester des Ungenannten möchte euch sprechen", sagte Losat aus dem vorderen Teil des Zeltes.
 

Merat hatte endlich passende Formulierungen für einen vorgeblich von ihrem Vater stammenden Brief an Nefut gefunden und war gerade dabei, sie auf einem Stück Papyrus niederzulegen, aber es wäre wohl außerordentlich unhöflich gewesen, einen Priester warten zu lassen. Also erhob sie sich, legte den Schleier auf ihren Scheitel, kontrollierte die Lage des Tuches und ging nach vorne ins Zelt, wo Losat neben dem Herdfeuer mit den Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt war, während Tabit Amati stillte. Und neben Tabit saß auch der Junge, der zur Wannim gehörte. Hatte Hamarem nicht etwas von Verwundeten, Opfern eines Raubtieres erzählt, die im Birh-Melack-Zelt untergebracht waren? Den Jungen hatte sie doch in der Nacht dort schlafen gesehen, aber er wirkte gesund und munter, abgesehen von einer gewissen Besorgnis im Blick, als er Merat ansah. Er schien sogar viel gesünder als der Zweite, der am Vormittag nach seiner Liebesnacht mit Amemna völlig übermüdet und mit dunklen Augenringen in Merats Zelt getrottet war, um sich pflichtbewußt für die Abwesenheit während einiger Besorgungen zu entschuldigen. Wie hatte Amemna nur diesen für einen Stammeslosen so unerhört anständig wirkenden Oshey um den Finger wickeln können?
 

Vor dem Eingang des Zeltes standen drei Männer, einer im weißen Priestergewand und zwei andere, bei denen es sich anscheinend um einfache Soldaten handelte. Sie trugen ein großes, in weißen Stoff eingewickeltes Paket zwischen sich. Dahinter näherte sich Patris mit zwei seiner Männer. Die Wachen des Fürsten der Darashy stellten sich gut sichtbar neben den Eingang des Zeltes ihrer Herrin, die Hände locker auf den Heften ihrer Schwerter ruhend. Merat hatte also nichts zu befürchten. Mit einer Handbewegung lud sie den Priester und seine Begleitung in ihr Zelt ein.
 

Der Priester verneigte sich. "Herrin, die Priesterschaft des Ungenannten hat ein Geschenk für euren Gemahl. Es ist unser symbolischer Dank für sein Eingreifen zum Schutz unserer Leben und unserer Heiligtümer vor einigen Tagen. Zugleich soll es aber auch ein Zeichen unserer Ehrfurcht ihm und seinen unirdischen Ahnen gegenüber sein." Dann fiel sein Blick auf Tabit und die neugierig zu ihm schauende Amati. Eine Reflexion des durch die Zeltöffnung scheinenden Sonnenlichts ließ Amatis goldgesprenkelten Augen besonders auffällig strahlen. Der Priester warf sich vor Tabit und dem Säugling auf die Teppiche, drückte die Stirn auf den Boden. "Meine Verehrung, Kind des unirdischen Birh-Melack! Mögest du uns dereinst den Wahren Weg erleuchten wie dein Vater es tut." Vorsichtig nahm er unter Tabits mißtrauischen Blicken einen von Amatis kleinen, aufgeregt wippenden Füßchen in die Hand und drückte sanft einen Kuß auf ihre Zehen. Nach einer weiteren respektvollen Verbeugung erhob der Priester sich wieder von seinem Kniefall, verneigte sich noch einmal vor Merat. "Eure Dienerin sagte, auch der Zweite der Wannim sei abwesend, daher erlaubt mir, euch das Geschenk für euren Gemahl zu überreichen, Herrin." Auf einen Wink des Priesters legten die beiden Soldaten das Paket auf den Boden und schlugen die oberen Lagen des hellen Stoffs beiseite. Darunter sah man einen aus Gold- und Silberfäden gestickten Flügel. Dann nahmen die beiden Soldaten den bestickten Stoff hoch und er entpuppte sich als ein Kleidungsstück, das im Schnitt den Osheymänteln ähnlich war, aber aus weißem Stoff, bestickt mit zwei Unirdischen, die ihre Falkenflügel ausgebreitet hatten und so den Mantel oder später seinen Träger damit zu umfangen schienen.
 

"Tyrima hilf", entfuhr es Losat bei dem Anblick, was ihr einen strafenden Blick von Merat einbrachte. Aber Losat hatte recht. Der Prunkmantel, den die beiden Männer hielten, schien das Kleidungsstück eines Gottes zu sein. Kein Fürst würde wagen, einen solchen Mantel zu tragen, ja, nicht einmal ein Hohepriester des Ungenannten. Die Priesterschaft mußte wirklich der Überzeugung sein, daß Amemna ein Unirdischer war, nicht nur ein junger Mann mit unirdischem Blut. Und wer diesen Mantel trug, mußte angesichts der eingestickten Metallfäden nicht nur übermenschliche Kräfte haben, sondern würde in allen rechtgläubigen Menschen auch ehrfurchtsvolle Verehrung auslösen. Aber warum hatten der Priester den Mantel gerade jetzt gebracht, da allgemein bekannt war, daß die von Amemna kommandierte Reiterei das Lager verlassen hatte? Befürchteten sie, Amemna würde das kostbare Geschenk ablehnen, diese greifbare Heiligsprechung seiner Person?
 

Und Merat erlebte angesichts der von ihren schimmernden Flügeln halb verdeckten dunklen Gesichter der gestickten Unirdischen auf dem Mantel, die so weiße Haare und weiße Brauen hatten wie Amemna, wenn auch nicht die nach Osheyart schwarz geschminkten Augenlider, eine Offenbarung. Wenn Amemna durch diesen Mantel den gewöhnlichen Sterblichen quasi entrückt wurde, würde es Nefuts Ehrfurcht vor dem Göttlichen, seine doch wohl ebenso starke Verwurzelung in der Lehre des Wahren Weges, wie Murhan sie seiner Tochter vermittelt hatte, nicht mehr zulassen, daß er sich Amemna um seines Leibes willen näherte. Dieser Mantel würde schon vor ihrer Abreise hier im Heerlager die Distanz zwischen Amemna und Nefut schaffen, die es Merat ermöglichte, Nefut von ihren Qualitäten und ihrer aufrichtigen Zuneigung zu überzeugen. Merat versuchte, ihr triumphierendes Lächeln durch ihre tiefe Verbeugung vor dem Priester zu kaschieren. "Ich nehme dieses überaus kostbare Geschenk im Namen meines Gemahls dankend an, Herr", sagte sie ehrerbietig. Amemna konnte nun nicht mehr wagen, den Mantel an die Priesterschaft des Ungenannten zurückzuschicken, und Merat würde ihn bereden, den Mantel auch zu tragen. Stark genug dafür würde er wohl sein.
 

* * *
 

26. Handlungsbedarf

Bevor Nefut Amemna erreichen konnte, zogen sich die Ostler plötzlich in die nahe Stadt zurück, und die Tore wurden wieder verschlossen. Wie viele feindliche Truppen mochten in Tarib lagern? Es würde ja wohl kaum nur diese eine Hundertschaft schwer bewaffneter Söldner zu Fuß sein. Vielleicht lag sogar ein ganzes Heerlager der Hannaiim irgendwo zwischen den Hügeln verborgen. Auf dem Schlachtfeld waren nur die Tetraosi und ihre Söldner zurückgeblieben, die Ostler hatten außer ihren Verwundeten und Gefallenen sogar ihre zu Boden gefallenen Waffen mit sich nach Tarib geschafft. Nicht einmal ein Helm oder ein Schild der Gegner für ein Siegeszeichen war im heruntergetretenen Gras zu sehen.
 

Amemna atmete etwas schwerer, als sie ihr Schwert reinigte und wieder in die Scheide schob, aber ansonsten gab es an ihr kein Zeichen von Erschöpfung. "Bist du ebenfalls unverrletzt?" fragte sie Nefut, als er endlich neben ihr stand.
 

Nefut musterte sie allerdings nur sprachlos. Amemna hatte bei ihrem Kampf gegen diese Elitesoldaten nicht einen Kratzer abbekommen, kein Schnitt war in ihrer Kleidung zu entdecken, sie hatte nur einige Blutspritzer an den Ärmeln, die von anderen stammten. "Wie hast du das gemacht?" fragte er schließlich. "Das waren nicht einfach irgendwelche Ostler, das waren kampferprobte Männer, angesichts ihrer rot bemalten Schilde vermutlich eine Eliteeinheit. Ihre Effizienz, ihr Zusammenspiel war beeindruckend... und du hast ihnen so mühelos standgehalten."
 

"Anscheinend bist du unverrletzt", entgegnete Amemna darauf nur, als habe sie ihm gar nicht richtig zugehört, bückte sich nun, um ihren Helm aufzuheben. Der schmutziggelbe Federbusch war völlig zerdrückt. "Ich werrde neue Federrn brrauchen", murmelte sie, entfernte die ruinierten Federn und richtete sorgfältig das Ma'ouwati-Tuch um den Helm. Mit plötzlicher Entschlossenheit setzte sie ihn wieder auf, hockte sich neben ihre erschlagene Stute und legte die Hand auf die Stirn des Tieres. Nach kurzem Verweilen stand sie auf und schlenderte weiter zu einem bewegungslos auf dem Boden liegenden Mann. "Ich kümmerre mich um unserre Verrwundeten", sagte sie im Weggehen.
 

Amemnas Reittier sah Nefut vorwurfsvoll an, schnaubte dann kurz durch die Nüstern und rappelte sich aus seiner liegenden Position auf. Automatisch ergriff Nefut die Zügel der Stute und führte sie Amemna langsam hinterher. Die Stimmen der Reiter und Fußsoldaten verstummten langsam, während Amemna schwerverletzte Männer und Tiere heilte, oder sie wieder zum Leben erweckte, indem sie von einem zum nächsten ging, sich zu Liegenden hinunterbeugte, um sie zu berühren, Sitzenden die Hand auf die Schulter legte, als spende sie Trost, ebenso die gefallenen Pferde an Hals oder Brust berührte, doch sich während ihres Weges über das Schlachtfeld nicht einmal umsah, als interessiere sie nicht, welche Wirkung ihre scheinbar flüchtigen Berührungen hatten. Und hinter ihr erhoben sich die Pferde, als hätten sie nur geschlafen, Männer standen auf, überrascht über ihre plötzliche Heilung, wünschten ehrfürchtig flüsternd den Segen der Götter auf Amemna, versprachen, das wieder gewonnene Leben auf ewig in ihren Dienst zu stellen oder verneigten sich nur schweigend. Und da Amemna die Dankesworte nicht zur Kenntnis zu nehmen schien, wurden sie noch einmal an Nefut gerichtet, damit er sie dem Birh-Melack weitergab. Einige faßten auch nach Nefuts Händen um sie zu küssen und baten ihn, ihren Dank zu überbringen, als wagten sie nicht, sich Amemna in dieser Weise zu nähern. Nach dem zehnten unverdient erhaltenen Dank zog Nefut sich zurück, führte Amemnas Stute zu Derhan und Oremar, die mit ihren Pferden am Rand der Straße warteten.
 

"Bist du nun auch der Meinung, daß er keinen Leibwächter braucht?" begrüßte Derhan ihn, aber Nefut ging nicht darauf ein, sondern beobachtete weiter seinen Birh-Melack. Noch immer bewegte Amemna sich langsam zwischen den Verwundeten und Gefallenen hin und her, die hinter ihr aufstanden, als habe sie sie emporgezogen. Der Anblick, den Amemnas leichter Schritt über das trotz der etwa zweihundert Männer inzwischen sehr leise gewordene Schlachtfeld bot, ließ Nefut an eine Gärtnerin bei einem Spaziergang durch einen Blumengarten denken, die beiläufig die Pflanzen begutachtete, welke Blätter abzupfte und hier und dort Wasser spendete.
 

"Unser Birh-Melack erweckt die Toten", hauchte nun Oremar und selbstvergessen nickte Derhan zu diesen Worten, aus denen ausschließlich Bewunderung klang, nicht die Furcht vor Dämonen. Anscheinend hatte Oremar sich endlich an den Gedanken gewöhnt, daß Amemna ein Unirdischer war. Nefut allerdings fiel es zunehmend schwerer, die Auswirkungen ihrer unirdischen Natur zu akzeptieren. Die Verehrung, die Zuneigung, die aus den Gesichtern der Geretteten sprach, war für Nefut geradezu unerträglich. Mußte er seine Geliebte in Zukunft mit der ganzen Birh-Mellim teilen?
 

Nach kurzer Zeit kam Amemna mit Nefuts Pferd am Zügel zu ihnen, sah nun doch ein wenig erschöpft aus, aber lächelte Nefut sehr zärtlich an. "Wirr müssen unserrem Feldherrrn berrichten, daß Tarrib besetzt ist", sagte sie, nahm die Zügel ihres Pferdes, reichte die des anderen Tieres an Nefut. Nefut nahm die Zügel mit einem ehrerbietigen Nicken entgegen, wich aber Amemnas Blick aus.
 

Sie hob mit den Fingerspitzen sein Kinn. "Was ist los, Nefut? Du weißt, welche Fähigkeiten ich habe. Soll ich sie den Männerrn verrweigern, die sie brrauchen?" Langsam, Nefuts Bart dabei liebkosend, zog sie die Finger wieder fort.
 

"Es ist nur so...", Nefut überlegte, wie er das in ihm erwachte Unbehagen, das sich doch deutlich von Eifersucht unterschied, in Worte fassen konnte.
 

"...beängstigend?" ergänzte Amemna den Satz für ihn. Sie sah plötzlich sehr ernst aus. "Die anderren empfinden es so. Sie halten Abstand von mirr, auch wenn sie sich fürr meine Hilfe arrtig bedankt haben." Amemna seufzte tief. "Verrmutlich hätte ich es nicht tun dürrfen. Die fünfundzwanzig Mann und sieben Pferrde würrden wohl in derr Schlacht kegen die Hannaiim keinen Unterrschied machen", sagte sie leise. Ohne auf eine Reaktion von Nefut zu warten, schwang sie sich auf ihr Pferd, brachte ein paar Schritte Abstand zwischen sich und ihre Männer und rief die Mellim zusammen.
 

"Er ist schamlos wie ein Ostler", brummte Derhan kopfschüttelnd, während er sich in seinen Sattel hiefte, und ritt zu seinem Birh-Melack. Die beiden anderen Mawati folgten ihm schweigend.
 

*
 

Die Reiter beschützten den Marsch der unter den aufziehenden Regenwolken kräftig ausschreitenden Fußtruppen auf ihrem Weg in das Heerlager der Tetraosi, und in so manchem Gewand klafften blutige Löcher, Arme und Beine waren blutverkrustet. Amemna hatte dafür gesorgt, daß sich Leichen vom Schlachtfeld erhoben. Der Mawar der Tetraosi befahl, ein Loblied auf Upar zu singen, ihren Stadtgott, da er ihnen den Birh-Melack gesandt habe. Und sogar einige der Söldner fielen nach einer Weile in die sich ständig wiederholenden Lobpreisungen ein.
 

Der Schwarze Wanack winkte Nefut neben sich und ließ sich dann hinter seine Einheit zurückfallen. "Auf ein Worrt, Nefut von Bussirr."
 

"Natürlich, Prinz", gab Nefut zurück. "Wie komme ich zu der Ehre?" Adí W'schad mußte doch wissen, daß Nefut nicht mehr der Zweite von Amemnas Wannim war, sondern nur noch ein einfacher Mawati.
 

Der Prinz lenkte sein Pferd näher an Nefut und sagte in vertraulichem Ton: "Man hörrt seltsame Dinge von unserrem Birrh-Melack."
 

"Seltsamere als seine Heilungskräfte, Prinz W'schad?" fragte Nefut zurück. Hatte sich herumgesprochen, daß die Regentin von Tetraos Amemna jede Nacht in ihr Bett bestellt hatte? Oder hatte man dem Prinzen hinterbracht, daß Amemna und Nefut sich in der Öffentlichkeit lange und begehrlich geküßt hatten?
 

"Nun, err sei eine Wiederrkeburrt derr Hawat errsählte derr Mawarr derr Ostmännerr", gab Adí W'schad zurück.
 

Nefut sah ihn nur verständnislos an. Was sollte das bedeuten, eine Wiedergeburt der Hawat?
 

"Err nannte unserren Birrh-Melack einen 'Köttlichen Switterr', err sei sweikeschlechtlich wie Hawat, habe einen weiblichen Schoß und ein männliches Klied", sagte Adí W'schad langsam, beobachtete Nefut während seiner Worte aufmerksam.
 

Nefut klappte unwillkürlich der Mund auf. Wie kam der Mawar der Ostler dazu, soetwas - "Jochawam!" entfuhr es Nefut.
 

"Ist es also wahrr?"
 

Was sollte Nefut dazu sagen? Wenn er sich dazu äußerte, gab er sich damit als Amemnas Liebhaber zu erkennen. Andererseits hatte er sich geschworen, sich öffentlich zu seiner Liebe zu bekennen, nicht nur den Mawati gegenüber. Nach Nefuts Kenntnis waren Liebesverhältnisse zwischen Männern bei den Südländern zwar nicht üblich, aber sie sahen darin doch anders als Oshey keine Verletztung göttlicher Gebote. Und konnte ein Südländer in einer Wiedergeburt der Hawat, der Göttin, die in jedem Gruß der Südländer um ihren Segen angefleht wurde, etwas Schlechtes sehen? Der Prinz wartete geduldig auf eine Antwort. Langsam nickte Nefut also. "Ja, bei Tyrimas Licht, Amemna Darashy ist zweigeschlechtlich", bekannte er leise. Aber wieso war Adí W'schad zu ihm gekommen, um das Gerücht bestätigen zu lassen. Der Schwarze Wanack stand doch auf freundschaftlichem Fuße mit Amemna. "Warum habt ihr nicht den Birh-Melack selbst danach gefragt?"
 

Adí W'schad machte ein südländertypisches Zeichen der Ehrfurcht vor den Göttern, das Nefut auch von Schelschér kannte. "Das hätte ich vielleicht vorr derr Schlacht kewagt, aberr nach dem, was eben keschah, scheint es wahrr su sein, und wenn ich mich ihm nicht mit derr nötigen Ehrrerrbietung näherre, könnte die Köttin mich strrafen", erklärte er mit einem schiefen Lächeln. "Ka'awat", flüsterte er dann ehrfürchtig.
 

'Darin ist die Göttin' mußte das heißen, wenn Nefut sich richtig an die Formen erinnerte. Und er mußte dem Prinzen Recht geben. Es erklärte alles, wenn Amemna von der Göttin selbst erfüllt war. Wie Nefut von Schelschér wußte, war Hawat nicht nur zweigeschlechtlich, sondern hatte auch zwei Gesichter, war zugleich die Schaffende und die Vernichtende. Und angesichts ihres Wirkens während und nach der Schlacht schien Amemna neben ihrer Zweigeschlechtlichkeit doch ebenfalls diese beiden Eigenschaften in sich zu vereinen. Wie war Nefut nur auf die Idee gekommen, bei ihr menschliche Maßstäbe anzulegen? Niemand konnte mit gutem Gewissen eifersüchtig auf andere sein, die ebenfalls der Göttin nahe sein wollten. Und die Göttin wiederum würde allen uneingeschränkt ihre Liebe schenken, weil ihr Herz nicht durch die den Sterblichen eigenen kleinlichen Gedanken von Ausschließlichkeit gefesselt war. Vielleicht erleichterte es Nefuts Herz, Amemna so zu sehen, also nickte er. "Ka'awat", bestätigte er. So wie Amemna für die Ostler ein Göttlicher Zwitter und die Südländer die Wiedergeburt der Hawat war, hatte sie für den Oshey Nefut durch ihr unirdisches Erbe doch ebenfalls Anteil am Göttlichen.
 

*
 

Endlich erreichten sie wieder das Heerlager der Tetraosi. Amemna eilte zu den Zelten des Feldherrn, während die Männer der Mellim und die Fußsoldaten ihren Unterkünften zustrebten. Nefut übernahm die Versorgung der Pferde der Mawati. Nachdem er zwei Mal kontrolliert hatte, ob alle Tiere frisches Stroh, genügend Futter und Wasser hatten, und ihn weiterhin bei jedem Gedanken an Amemna das unangenehme, am ehesten der Furcht verwandte Gefühl heimsuchte, setzte er sich neben den Unterstand und begann, sein Schwert zu reinigen und zu schleifen, um seine Hände zu beschäftigen während er nachdachte.
 

Amemnas unirdische Fähigkeiten waren fraglos beunruhigend. Hatte sie nicht schon mehrfach auf bloße Gedanken Nefuts geantwortet, als habe er sie ausgesprochen? Hatte sie nicht gerade gegen einige gepanzerte Ostler gekämpft, als wisse sie im voraus, wohin deren Schläge zielten? Und hatte sie heute nicht zum wiederholten Male gezeigt, daß sie über Leben und Tod gebot, wie es kein sterbliches Wesen vermochte? Sie war begehrenswert, machtvoll, aber auch gefährlich. War an der in Hamarems Buch ausgeführten Theorie doch mehr dran, als die Gelehrten glauben wollten? Wie viele von den Kritikern dieser Theorie hatten in ihrem Leben schon einmal leibhaftig dem Kind eines Unirdischen gegenüber gestanden? Dämonen und Unirdische hatten wohl tatsächlich vergleichbare Kräfte - und es war wahrscheinlich, daß sie auch eine vergleichbare Gefahr für die Menschen darstellten. Die Dämonen nährten sich dem allgemeinen Glauben nach von der Kraft der Menschen. Doch die Unirdischen schienen es nicht viel anders zu halten, so erschöpft wie Jochawam nach seiner Verbindung mit Amemna offensichtlich gewesen war, als hätte ihn seine Geliebte all seiner Kraft beraubt. Mit Nefut hatte Amemna soetwas nie gemacht, aber vielleicht lag das nur daran, daß er sich entgegen ihren Wünschen ihrer männlichen Natur enthielt. Oder hatte es etwas damit zu tun, daß Jochawam wie Amemna über unirdische Kräfte verfügte, aber weniger machtvoll war? In der Nacht hatte Amemna doch selbst gesagt, daß sein unirdisches Erbteil Jochawams Verhängnis gewesen sei. Mußten bei den Unirdischen vielleicht die Schwächeren den Stärkeren ihre Kraft überlassen, so wie die Bienen den Honig sammelten für ihren Fürsten? War es zu weit hergeholt, dem Dämon ein ähnliches Verhalten zu unterstellen, der den Körper des alten Priesters in Bewegung gesetzt hatte? Wollte er nun Amemnas Kraft aussaugen, nachdem er die des alten Priesters in sich aufgenommen hatte? Wußte überhaupt ein Mensch etwas darüber zu sagen, wie Dämonen und Unirdische gegeneinander kämpften? Warum bedienten sie sich bei ihren Fähigkeiten dazu menschlicher Gestalt?
 

Und warum hatte keiner mehr ein Wort über diesen Dämon verloren, der nun doch wohl in Jochawams Körper ruhte? Wäre es Hamarem und Amemna in der Nacht gelungen, ihn zu bannen, hätte Amemna es Nefut doch sicher wissen lassen. Hatte der Dämon mehr Macht über die Gedanken der Sterblichen, als sie in Zauberschlaf zu versetzen? Amemna gelang es ja anscheinend, Einblick in fremde Gedanken zu nehmen, doch er hatte nicht die volle Kraft eines Unirdischen. Hatte der Dämon vielleich die Macht zu verhindern, daß irgend jemand sich über ihn Gedanken machte, über die Möglichkeiten, ihn zu bekämpfen und zu vertreiben, daß es jetzt so auffällig still um ihn war? Konnte er die Gedanken der halben Wannim manipulieren? Ein dunkler Mantelsaum erschien in Nefuts Gesichtsfeld - Derhan. "Was ist los?" fragte Nefut barsch. Warum tauchte der Unruhestifter nur gerade in dem Moment auf, in dem Nefut das Gefühl hatte, einer wichtigen Angelegenheit auf die Spur zu kommen?
 

"Du liebst unseren Birh-Melack, nicht wahr?" fragte Derhan herausfordernd.
 

"Ja", blaffte Nefut zurück, hielt den Blick auf seine glänzende Klinge gerichtet, in der sich schon die hell- und dunkelgrauen Wolken spiegelten, polierte sie aber weiter.
 

"Und unser Birh-Melack holt sich bekanntermaßen noch andere Männer auf sein Lager", fuhr Derhan erbarmungslos fort, ließ sich sogar in Nefuts Reichweite in die Hocke nieder, "von Frauen neben seiner Gattin ganz zu schweigen."
 

Nefuts rechte Hand umklammerte den Polierstein, die Finger der anderen verkrampften sich um das Heft der Klinge. "Laß es gut sein, Derhan", warnte Nefut den anderen, ohne ihn anzusehen. Diesmal hatte er ein Schwert dabei.
 

"Dann sag ihm, er soll diskreter sein. Er ist eine Schande für eine Oshey-Wannim, und er macht seinem Namen Schande. Auch der Abkömmling eines Unirdischen sollte sich benehmen, insbesondere wenn seine Gattin in der Nähe ist."
 

Derhans Anstandserwägungen überraschten Nefut. "Sag das Hamarem", antwortete er dann. "Ich bin nicht mehr der Zweite der Wannim."
 

"Ich habe es gestern versucht, aber er warnte mich nur, nicht ungebührlich von unserem Birh-Melack zu reden. Du bist übrigends auch nicht sehr diskret... aber das willst du nicht hören", stichelte Derhan weiter.
 

Nefut sah ihn nun doch an. "Was will ich nicht hören? Daß ich mich zu offensichtlich zu meiner Liebe bekenne?" fragte er herausfordernd. Derhan würde sagen, was er sagen wollte, egal was Nefut einwandt. Aber wenn Nefut sich zurückhielt, wenn er schwieg, war Derhan hoffentlich schneller fertig und Nefut konnte vielleicht mit Amemna darüber beraten, ob es diese manipulatorischen Kräfte des Dämons tatsächlich gab und was man ihnen entgegen setzen konnten. Dafür mußten sie sich allerdings außerhalb des Wirkungskreises des Dämons befinden.
 

"Du willst nicht hören, daß dein Interesse für die Frau des Birh-Melack viel zu offensichtlich ist. Du hast wohl seit jenem Ereignis nicht viel dazu gelernt."
 

Derhan hatte doch geschworen, niemals wieder davon zu sprechen! Seine Hand bewegte sich wie von selbst und die Spitze der Klinge berührte schon fast Derhans Knie, bevor Nefut sich zwang, innezuhalten, das Schwert nachdrücklich in die Scheide schob. "Du redest über Dinge, die dich nichts angehen, Derhan", preßte Nefut zwischen den Zähnen hervor. "Ich bin nicht mehr der Zweite und folglich auch nicht der Sittenwächter der Wannim, aber du ebensowenig. Sprich mit Hamarem oder schweige davon."
 

Derhan atmete tief durch. "Ich will dich nicht herausfordern, Nefut. Aber ich appelliere an deine Vernunft. Denkst du, die Gemahlin unseres unirdischen Birh-Melack hegt dir gegenüber freundliche Gefühle? Sie führt etwas im Schilde, glaub mir. Sie hatte mich bereits eine Stunde nach ihrer Ankunft im Söldnerlager vor Tetraos beauftragt, nach Nefut Darashy zu suchen. Und ich glaube nicht, daß sie dir wirklich ein Versöhnungsangebot eures Vaters überbringen will." Ein Versöhnungsangebot Murhan Darashys? Das klang so unglaublich wie Schnee in der Schädeloase. Also plante Merat tatsächlich so etwas wie Rache für die Hinrichtung ihrer Mutter? Nefut löste seine noch immer um das Schwertheft geklammerten Finger, verstaute mechanisch die Schleif- und Poliersteine. "Ich teile Deine Vermutung", sagte er langsam. Anscheinend war Derhan ihm doch nicht ausschließlich feindlich gesonnen. "Und inzwischen weiß auch sie, daß ich einst Nefut Darashy war."
 

Derhan nickte. "Dann erinnere dich deiner prinzlichen Erziehung und zügle deine Gelüste. Eine intime Begegnung mit ihr ist vermutlich dein Tod."
 

Wenn Nefut es ohne Amemnas Zustimmung wagte, hatte Derhan damit wohl recht. Und in einem Stamm hätte Merat Nefut in jedem Fall vor dem Fürsten als Vergewaltiger anklagen können, da wäre es egal gewesen, wie Amemna zu den Intimitäten zwischen Nefut und Merat stand. Amemna würde Nefut auspeitschen müssen oder andernfalls - wenn sie ihn wirklich so sehr liebte, wie sie sagte - selbst gezüchtigt und verbannt werden, weil sie nicht für die Sicherheit ihrer Gattin gesorgt hatte. Und vermutlich war sie sich dessen noch nicht einmal bewußt, weil sie die Gesetze der Oshey nicht so gut kannte, wie ihre Pflichten als Birh-Melack. Richtig, Amemna mußte noch beim Feldherrn sein, bis dorthin würde der Einfluß des Dämons doch sicher nicht reichen. Er mußte sofort mit ihr sprechen. Nefut sprang auf und ließ den über den plötzlichen Aufbruch überraschten Derhan zurück.
 

*
 

Nefut rannte durch die Lagergassen, bis er das Zentrum mit den Zelten der Tetraosi-Befehlshaber erreichte. Vor einem der Zelte standen zwei Männer Wache, dort würde er zumindest Auskunft darüber erhalten, ob Amemna sich noch in einer Unterredung mit dem Feldherrn befand oder inzwischen zu den Mawati zurückgekehrt war. Er grüßte die beiden Soldaten kurz nach Sitte der Oshey und sagte: "Ich suche meinen Herrn, den Birh-Melack Amemna Darashy."
 

"Wie ist dein Name, Oshey?" fragte einer der Männer zurück.
 

"Ich heiße Nefut von Bussir, ich gehöre zur Wannim des Birh-Melack."
 

"Laßt ihn eintreten", erklang eine auffällig tiefe und volltönende Stimme aus dem Zelt, und der zweite Wächter hielt Nefut zuvorkommend den Zelteingang auf.
 

In dem Städterzelt stand ein von Schriftstücken bedeckter Tisch und ein Klappstuhl. Und von diesem Klappstuhl erhob sich bei Nefuts Eintreten ein schlanker, ergrauter Mann in Städtertracht, der mit seiner aufrechten Haltung fast so groß wie Nefut war. "Ich bin Parpat Haterim, der Erste Sekretär des Feldherrn", sagte er und verneigte sich kurz. "Führt euch eine dringende Angelegenheit hierher? Euer Birh-Melack befindet sich noch in der Beratung mit dem Feldherrn und den Befehlshabern der Verbündeten."
 

Nefut konnte sich nicht erinnern, diesen 'Ersten Sekretär' bei einer der Beratungen des Kriegsrates gesehen zu haben. Die eindrucksvolle Gestalt, die eher an einen im Kampf ergrauten Krieger, denn an einen Schreiber oder Sekretär denken ließ, wäre Nefut sicher auch in dem Gewimmel in Tetraos aufgefallen.
 

"Es betrifft Geschehnisse der vergangenen Nacht", erklärte Nefut kurz.
 

"Also handelt es sich nicht um eine dringliche Angelegenheit", schloß der Erste Sekretär mit einem prüfenden Blick auf Nefuts Gesicht.
 

Nefut wollte protestieren, hielt dann aber inne. "Nein, es handelt sich nicht um eine dringliche Angelegenheit, aber ich würde meinen Herrn gerne vor seiner Rückkehr in unsere Zelte sprechen."
 

"Hat es etwas mit dem Sohn unserer zukünftigen Königin zu tun, oder mit dem Toten der vergangenen Nacht?" fragte der Sekretär nun wieder.
 

Natürlich hatte Hamarem die Tetraosi inzwischen getreulich über die Geschehnisse der Nacht unterrichtet. "Es geht um den toten Orem-Priester", sagte Nefut also.
 

"Ach", der Sekretär zog in gespielt wirkender Überraschung die Augenbrauen hoch. "Ist euch doch noch etwas zum Tode des Priesters eingefallen, das der Zweite eurer Wannim zu berichten vergaß?" Wieso lächelte der Mann plötzlich so versonnen?
 

"Ich weiß nicht, was der Zweite berichtet hat", erklärte Nefut ungeduldig. "Ich will nur mit meinem Birh-Melack sprechen, wenn er von Eurem Herrn entlassen worden ist."
 

"Wieso drängt es euch so zu dieser Unterredung, Oshey? Habt ihr Angst, etwas könnte unter Tyrimas Licht zur Unzeit offenbar werden?" fragte der Sekretär lauernd.
 

"Ich will mit meinem Birh-Melack sprechen", beharrte Nefut. "Er wird euch über die Geschehnisse der vergangenen Nacht sicher besser Rede und Antwort stehen können, als ich." Er bemerkte plötzlich, daß sich die Finger seiner Linken um das Heft seines Schwertes gekrampft hatten und löste sie mühsam wieder.
 

Der Sekretär schnipste mit den Fingern und die beiden Wächter traten in das Zelt. "Dieser Mann kommt in Arrest", verkündete Parpat Haterim mit ehern tönender Stimme und deutete mit zwei Fingern seiner Rechten auf Nefut.
 

Die Wächter packten seine Arme und einer zog zugleich das Schwert mitsamt Scheide aus Nefuts Gürtel.
 

"Was soll das?" rief Nefut aufgebracht, wagte aber nicht, sich mit aller Kraft gegen die Festnahme zu wehren. Sicher würde sich doch dieses Mißverständnis sogleich aufklären.
 

"Euch wird die Beteiligung an der Ermordung des ehrwürdigen Vaters Darhan Mehaly vorgeworfen", sagte der Sekretär mit ausdruckslosem Gesicht. Dann befahl er den Wächtern mit einem kurzen Wink seiner Rechten, das Zelt mit dem Gefangenen zu verlassen.
 

* * *
 

27. Fremde Erinnerungen

Während Hamarem sich weiter ausruhte und seiner Liebsten bei Zubereitung des Essens für die Dienerinnen der Göttin zusah und die sich entfaltenden, ungewöhnlichen Düfte genoß, hörte er plötzlich rhythmische Trommelschläge, und eine leise Frauenstimme sang dazu: "Ma'a'wat, Ma'wat, ra'a har wot, ra'at schar bot, fr'han ne'sker. Ma'a'wat, Ma'wat, ra'a har wot..."
 

"Ich dachte, du beherrscht die Südländersprache nicht", staunte Ramilla. "Und jetzt singst du Hawats Lob?"
 

Hamarem bemerkte überrascht, daß er tatsächlich mitgesungen hatte, daß ihm der abgehackte Singsang unerwartet geläufig von der Zunge kam, als hätte er schon als kleines Kind täglich diese Lobpreisung gehört, später selbst mitgesungen, sie als erste Schreibübung mit den heiligen Zeichen der Hawatpriesterinnen niedergeschrieben: 'Große Göttin, Große Mutter, du bringst uns Leben und Tod, du nimmst dir Lust und Leid, wir sind in deiner Hand.' Und er sah eine offene Halle vor sich, saß mit jungen, schwarzhäutigen Mädchen im Kreis, hielt mit einer Hand die kleine Handtrommel, mit der anderen schlug er im Gleichklang mit den anderen auf das Trommelfell und sang: "...ra'at schar bot, fr'han ne'sker. Ma'a'wat, Ma'wat..." Und für einen kurzen Augenblick sah er statt der Halle einen prächtigen Tempel in Flammen, dicke, fast schwarze Rauchwolken, die sich in den dunkelblauen Himmel erhoben, schwarzhäutige Kinder, Frauen und Greise, die sich verängstigt vor Bewaffneten in Säulengänge duckten, von Hawat Rettung erhofften und flehend mit tränenerstickten Stimmen sangen: "...ra'a har wot, ra'at schar bot, fr'han ne'sker." Das waren nicht seine eigenen, sondern Amemnas Erinnerungen. Er hatte sie Hamarem in der vergangenen Nacht geschenkt. Und Hamarem erkannte, daß sein Birh-Melack in Hawat die Quelle des Lebens und zugleich die Ursache jeden Todes sah. Für Amemna war die Göttin liebende Mutter, aber ebenso eine furchtbare Mörderin. Nie durfte man sie erzürnen, denn sonst wütete sie schrecklich mit Seuchen, Krieg und Naturgewalten und forderte die Leben zurück, die sie gegeben hatte. Es war, als sähe er Ama und den Ungenannten, oder die Große Mutter des Ostens und den Herrn des Todes als eine Wesenheit, als gäbe es nichts neben Hawat, als seien alle anderen Götter bloße Namen für einen Aspekt der Göttin. Flüsternd bekannte Hamarem: "Ich kann die Südländersprache wirklich nicht, aber mir kam gerade eine Kindheitserinnerung meines Birh-Melack in den Sinn."
 

Ramilla sah ihn mit offenem Mund an. Alarmiert flammten die Kräfte so stark um sie auf, daß Hamarem sie trotz seiner Schwächung so klar wie stets erkannte. "Wie kann das sein? Ist er hier irgendwo in der Nähe?" brach es aus ihr heraus, als sie sich gefaßt hatte. "Dem werd ich was erzählen... ohne eine klare Vorstellung von seinen Kräften einfach so damit herumzuspielen, dich in Gefahr zu bringen!" Aufgebracht rührte Ramilla in dem Kochtopf, so daß ein Teil des Gemüsesuds zischend in die Flammen des Herdfeuers spritzte.
 

Überrascht von der erneuten heftigen Reaktion auf Amemnas sicher unwillentlich erfolgte Schwächung seines Zweiten, brauchte Hamarem einen Moment, sich Worte der Beruhigung für Ramilla zurecht zu legen. Er hörte fast ihre zornigen Gedanken über die ungebändigten, verantwortungslos genutzten Fähigkeiten seines geliebten Herrn. "Sie... er war ein Kind, als er das Kloster verließ, in dem er aufwuchs, bar jeder unirdischen Fähigkeit. Er nahm nur die Gefühle der anderen wahr. Ist es wirklich Allgemeingut, dein Wissen über die Gefäße der Göttin, das schon die Kinder gelehrt wird?"
 

Ramilla beruhigte sich etwas, hielt schließlich inne im Umrühren, nahm den langen Holzlöffel aus dem Topf und leckte ihn gedankenverloren ab. "Während meiner Zeit in Ma'ouwat habe ich in der großen Bibliothek davon gelesen. Aber es waren keine den Priesterinnen vorbehaltene Bücher. Die Geschichten erzählten von den Helden aus alter Zeit. Ich hielt sie für Märchen, bis ich von der Heilung Nefuts erfuhr. Und sie glichen den Erzählungen, die ich als kleines Kind von meiner Mutter gehört habe, nur nannte sie diese Wesen, in denen sich die Göttin zeigt, Göttliche Zwitter, da sie ebenso wie die Große Mutter zugleich Mann und Frau sind, zugleich zeugen und empfangen, über große Macht verfügen, über Heilkräfte und unendliche Potenz."
 

"Und die Gefäße der Göttin waren ebenso?" fragte Hamarem, als Ramilla verstummte und ihren Erinnerungen nachhing.
 

Ramillas in zeitliche Ferne abgeschweiften dunkelblauen Augen fixierten wieder Hamarem. "Mein Geliebter, für die Südländer hat die Göttin nicht nur zwei Geschlechter, sondern auch zwei Gesichter, sie ist Schöpferin und Vernichterin zugleich. Die Fünfhundert Künste betreffen alle Lebensäußerung des Menschen von der Geburt bis zum Tode, und die Gefäße der Göttin setzten den Geschichten nach Hawats Willen unter den Menschen um, schufen und vernichteten nach ihrem Gebot, waren fürchterlich in ihrem Zorn." Sie sah nachdenklich in den Kochtopf, dann wieder zu Hamarem. "Aber es kann nicht in Hawats Sinne sein, einen so guten Liebhaber wie dich zu vernichten!" fügte sie voller Überzeugung hinzu.
 

"Erzählen die Geschichten der Südländer denn, woher die Gefäße der Göttin ihre Ausbildung zum richtigen Umgang mit den göttlichen Gewalten erhielten?" fragte Hamarem neugierig nach.
 

Ramilla schwieg, legte die Stirn in nachdenkliche Falten, Ratlosigkeit begann, sich auf ihrem Gesicht abzuzeichnen.
 

"Hast du auf meine Frage keine Antwort, Geliebte?" fragte Hamarem leise nach.
 

Zorn flammte wieder in den Kräften um Ramilla auf. "Nein", antwortete sie trotzig. "Vor vielen hundert Jahren wandelten die Gefäße der Göttin unter den Menschen. Nur von ihren Taten wurde einiges überliefert, doch nichts über die Zeit ihrer Ausbildung."
 

Hamarem griff sanft nach Ramillas Hand, zog seine Geliebte zu sich hinunter auf den Teppich, legte die andere Hand auf ihre Schulter, streichelte mit seinen Fingern zärtlich den weichen Stoff ihres Kleides und ihre noch viel weichere Haut. "Könnte es vielleicht sein, daß sie ihre Ausbildung von älteren und erfahreneren Gefäßen der Göttin erhielten, vielleicht sogar erst nach dem Erwachen ihrer Fähigkeiten?"
 

Mißmutig brummte Ramilla eine Art halbherziger Zustimmung, lehnte sich gegen Hamarems Oberkörper und ließ sich umarmen.
 

"Und wenn dem so ist, woher soll mein Birh-Melack in seiner Zeit bei den Darashy diese Ausbildung erhalten haben, zudem es viele hundert Jahre her ist, daß die Gefäße der Göttin unter den Menschen wandelten?"
 

"In den Geschichten heißt es, daß sie unsterblich sind und ewig leben, wenn die Göttin sie nicht als ihre Dienerinnen an ihre Seite ruft", nuschelte Ramilla in Hamarems Haar, streichelte ihn nun ihrerseits. "Ich habe doch einfach nur Angst um dich. Ich könnte nicht ertragen, dich auf diese Weise zu verlieren."
 

"Mir geht es wieder gut, wirklich", versicherte Hamarem. Die Schwäche seiner Glieder hatte merklich nachgelassen und er sah auch die Kräfte wieder fast in ihrer gewohnten Deutlichkeit. "Ich war nur erschöpft, und der Willkommenstrunk hat mir meine Kraft wiedergegeben." Ob auch Jochawam von dem Willkommenstrunk profitieren würde? Der Ostler war wohl nicht nur durch die Vereinigung mit Amemna, sondern darüber hinaus durch die Begegnung mit dem Dämon geschwächt. Als Hamarem vor seinem Weggang noch einmal nach ihm und Nefut gesehen hatte, hatten beide noch geschlafen. "Kannst du versuchen, mit dem Willkommenstrunk unseren Ostländer wieder auf die Beine zu bringen?"
 

"Dann hat dein Birh-Melack sich bei ihm also auch nicht zurückgehalten", stellte Ramilla tadelnd fest und löste sich aus Hamarems Armen. "Ich muß ihm wohl einmal ernsthaft ins Gewissen reden."
 

Aber Amemna hatte nicht nur mit Jochawam und Hamarem das Lager geteilt. Wieso hatte dann außer Hamarem nur der Ostler unter Amemnas zerstörerischen Fähigkeiten gelitten? Wieso hatte er nicht auch die Prinzessin oder Nefut geschwächt? Was war der Unterschied zwischen... das unirdische Blut! Die Ekstase war die Lebensenergie für einen Abkömmling Unirdischer, vielleicht waren bei ihnen Ekstase und Lebensenergie tatsächlich so untrennbar miteinander verbunden, daß es nicht möglich war, bei der Aufnahme der Ekstase eines Menschen mit unirdischem Blut die Lebensenergie unberührt zu lassen. "Hast du dich jemals über das gewöhnliche Maß geschwächt gefühlt, wenn wir gemeinsam der Göttin gehuldigt haben?" fragte Hamarem flüsternd.
 

Ramilla stand schon wieder neben dem Kochfeuer, nahm den Topf von den Flammen. "Nein, das habe ich nicht", antwortete sie nach einem Moment des Nachdenkens.
 

Hamarem wollte Ramilla nicht durch die Erwähnung eines Dämons beunruhigen, aber vermutlich war noch etwas von ihm an Jochawam vorhanden. Zumindest war schon kurz nach dem Tod des alten Priesters die Bedrohlichkeit der Kräfte vergangen, das ließ immerhin hoffen, daß keine ernstliche Gefahr bestand. Vorsichtig erklärte er also: "Nach seiner Erschöpfung haben sich irgendwelche fremden Kräfte um Jochawam gelegt, die auch nach Nefut, dem Sohn deiner Priesterin gegriffen hatten."
 

"Und ich soll mit einem großen Krug voll Willkommenstrunk nach ihnen sehen, richtig?" Ramilla lächelte zärtlich. "Du isst jetzt noch etwas, dann komme ich mit zu den Mawati."
 

Ergeben nickte Hamarem, nahm die sehr heiße Schüssel entgegen und aß das scharf gewürzte Gemüse, das fremdartig aber überraschend gut schmeckte.
 

*
 

Da Ramilla noch einige Dinge im Amazelt zu ordnen hatte, erreichte Hamarem die Zelte seiner Wannim allein. Die Männer waren bereits zurückgekehrt und dabei, sich zur Mittagsruhe ins Mawatizelt zu begeben, der Birh-Melack allerdings war noch in einer Besprechung mit den Befehlshabern des Heeres, und auch der Mawati Nefut war nicht zu sehen, obwohl er nach Oremars Auskunft von dem Erkundungsritt zurückgekehrt war. Hamarem nahm an, daß er sich im Badezelt aufhielt. Zwischen den Zelten der Wannim wusch Derhan noch einige Kleidungsstücke und überraschender Weise half ihm der Junge dabei, die nassen Sachen über die zwischen den Zeltstreben gespannten Leinen zu hängen. Nefut sah gesund und munter aus, als habe er durch den langen Schlaf alles Ungemach der vergangenen Nacht vergessen, auch wenn die Kräfte um ihn noch ein wenig in Unordnung waren.
 

Der Knabe begrüßte Hamarem mit einem etwas schuldbewußten Lächeln, senkte die Augen, als Hamarems prüfender Blick ein wenig länger auf ihm ruhte. "Laß uns ein paar Worte reden", bat Hamarem und bemühte sich um einen freundlichen Ton. Nefut warf Derhan einen fragenden Blick zu und der nickte, erst dann folgte der Junge Hamarem die paar Schritte vor das Zelt des Birh-Melack. Hamarem stellte überrascht fest, daß diese Infragestellung seiner Position ihm einen Stich versetzte. Wann war Derhan so wichtig für Nefut geworden? "Wieso bist du gestern Nacht um unsere Zelte geschlichen?" fragte er jedoch.
 

Schuldbewußt senkte Nefut den Blick zu Boden, grub mit seinen nackten Zehen zwischen den Grashalmen in der dunklen Erde. "Ich hatte Hunger und hab mir etwas von euren Vorräten nehmen wollen."
 

Hamarem fühlte Nefuts Nervosität, den aufgeregten Herzschlag. Natürlich wußte der Junge, daß Hamarems Frage auf etwas anderes abgezielt hatte. "Ich meine, warum bist du hier im Heerlager anstatt in Tetraos bei deiner Mutter?"
 

Nefut sah wieder auf und versuchte, Hamarems strengem Blick standzuhalten. Er räusperte sich, holte tief Luft und sagte mit einem kaum merklichen Zittern in der Stimme: "Ich wollte unbedingt im Heerlager bleiben." Aber warum hatte der Junge nicht Ramilla aufgesucht, wenn er nur im Heerlager bleiben wollte? Hatte er befürchtet, daß sie ihn sofort nach Tetraos zurückschickt? "Warum bist du gerade zu den Mawati gekommen?" fragte Hamarem also.
 

Nefuts Ohren wurden rot, dann die Wangen, sein Herz schlug so schnell, daß es ihm beinahe den Hals zuschnürte und die Kräfte flackerten aufgeregt um ihn, aber er musterte intensiv Hamarems Brust. "Weil... ich glaube, daß Derhan mein Vater ist."
 

Hamarem erinnerte sich gehört zu haben, daß Derhan bereits einige Zeit zu den Banditen gehört hatte, bevor der verstoßene Darashyprinz Nefut vor etwa acht Jahren zu Ashans Bande gekommen war. Wenn der Knabe tatsächlich rund zehn Jahre alt war, war es zumindest nicht unmöglich, daß Derhan sein Vater war. Aber es schien trotzdem recht unwahrscheinlich. "Wie kommst du auf diese Idee?" fragte Hamarem vorsichtig.
 

"Meine Mutter hat mir erzählt, daß mein Vater ein Reiter ist, ein großer Oshey-Krieger, der schon viele Feinde getötet hat. Und sie erzählte mir auch, daß er eines Tages das Heer, mit dem meine Mutter zog, verlassen mußte, weil er sonst Gefahr gelaufen wäre, zu Unrecht verhaftet zu werden. Sie hat mir seinen Namen nie genannt, aber mein Herz sagt mir, daß Derhan mein Vater ist, denn er behandelt mich wie einen Sohn."
 

Die Kräfte um Nefut schwangen in völligem Einklang, er glaubte wahrhaftig, was er da sagte. Dann ließ Hamarem seinen Blick zu Derhan schweifen, der sich scheinbar konzentriert um die Wäsche kümmerte, aber plötzlich sah er auf und sein Blick begegnete dem Hamarems. Schnell senkte er den Kopf wieder über den Bottich, arbeitete eifrig weiter. An den Kräften um ihn war nichts abzulesen. "Du hast Derhan bisher nicht gefragt, ob er wahrhaftig dein Vater ist, nicht wahr?" wollte Hamarem mit leiser Stimme wissen. Nefut antwortete nicht, schaute nur geradezu sehnsüchtig zu Derhan hinüber. Ob Derhan tatsächlich sein Vater war, war ganz offensichtlich völlig gleichgültig. Nefut wollte ihn einfach als Vater haben.
 

Hamarem seufzte und strich dem Knaben durch die Locken. "Sei doch glücklich, daß du deine Mutter hast, Junge", sagte er, aber eher zu sich selbst als zu Nefut. An viel mehr als das wohlige Gefühl der Geborgenheit, die weichen Arme, die ihn umfangen hielten, erinnerte Hamarem sich von seiner Mutter nicht... und diesen so vertrauten Geruch, der ihm der Inbegriff der Seligkeit gewesen war, und den er jenseits alles verführerischen Unirdischenzaubers seltsamerweise in Amemnas Armen wiedergefunden hatte.
 

"Aber ich will auch einen Vater haben", beharrte Nefut mit ebenso leiser Stimme.
 

Hamarem versuchte, diese Sturheit zu ignorieren. "Ich habe veranlaßt, daß deine Mutter über deinen Verbleib informiert wird. Wenn ich mich nicht sehr täusche, kann sie oder ein Beauftragter bereits heute abend hier sein. Und wenn deine Mutter den König geheiratet hat, wirst du doch einen Ziehvater haben."
 

Nefut schnaubte verächtlich durch die Nase. "Der König ist doch noch ein Junge! Wie soll mir der denn ein Vater sein? Ich werde das Lager nicht ohne Derhan verlassen!" rief er schrill und lief zu Derhan, der sofort aufstand, als Nefut sich näherte und ihn in die Arme schloß.
 

Derhan sah zu Hamarem hinüber und schüttelte den Kopf um Hamarem klarzumachen, daß er das Thema ruhen lassen sollte. "Er hatte eine unruhige Nacht, nach dem, was mir berichtet wurde", sagte er mit einer ungewohnten Weichheit in der Stimme, drückte den Jungen an sich, schien ihm sogar Tränen wegzutrocknen. Derhan fühlte sich ganz offensichtlich zu dem kleinen Nefut hingezogen, vielleicht sah er in ihm den Sohn, den er zurücklassen mußte, als er aus seinem Stamm ausgeschlossen wurde, oder vielleicht war er sogar tatsächlich Nefuts Vater. Aber vielleicht gefiel ihm auch einfach nur Nefuts aufgeweckte Art, mit der dieser auch Hamarem schon für sich begeistert hatte.
 

Hamarem kam näher, sah, daß der Waschbottich inzwischen bis auf das Waschwasser leer war. "Was hat er von der Nacht denn erzählt?" Erinnerte Nefut sich vielleicht an etwas, was die Natur dieses Dämons näher beleuchtete?
 

Nefut schluchzte nur, Derhan hielt ihn tröstend umfangen und antwortete: "Als ich wieder zu den Zelten kam, war er bereits aufgewacht und in der Obhut der Frauen der Prinzessin. Eine von ihnen erzählte mir, daß er am späten Vormittag schreiend aus dem Zelt des Birh-Melack gelaufen sei, und davon gestammelt habe, der Birh-Melack hätte ihm im Traum den Kopf abgeschlagen."
 

Erinnerte Nefut sich jetzt also endlich daran, was vor vier Tagen passiert war, als Amemna ihn dem Ungenannten opferte und wieder heilte? Bisher konnte der Junge dafür nur auf die Erzählungen anderer zurückgreifen, da die Drogen, die man ihm verabreicht hatte, seine Wahrnehmung gestört hatten. Und offensichtlich hatten Derhans Worte ausgereicht, Nefut an seinen offenbar sehr lebhaften Traum zu erinnern. Die Kräfte um ihn bewegten sich wie in Panik, und Hamarem fühlte plötzlich kaum erträgliche Schmerzen in der Brust, wußte, daß sein Körper durch eine tödliche Halswunde ausblutete, seine Finger und Arme wurden taub... Mühsam konzentrierte er sich auf den Erdboden unter seinen Füßen, den Geruch der feuchten Wäsche. "Du bist jetzt hier", erinnerte er Nefut. Wenn er sich an die Opferung erinnerte, würde vielleicht auch irgendwann die Erkenntnis darüber einsetzen, daß er sie ja offensichtlich überlebt hatte.
 

"Das Schwert", hauchte Nefut kaum verständlich, weil er das Gesicht gegen Derhans Oberkörper preßte. Derhan musterte Hamarem finster.
 

"Du meinst das Messer", widersprach Hamarem, da blitzte plötzlich ein langes, gerades Schwert in seinen Gedanken auf, die Klinge näherte sich, durchtrennte mit einem kraftvollen Schlag seinen Hals. Hamarem versuchte, die aufsteigende Panik einzudämmen. Es war eine Traumerinnerung Nefuts, die er gerade sah, eine bloße Vision. Er atmete tief durch, versuchte die innere Ruhe zu finden, für die er gewöhnlich Traumkraut und die Versenkung brauchte, und es gelang ihm erstaunlicherweise, auch ohne seine gewohnten Hilfsmittel die Szene aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Das Schwert wurde von einer überaus hellen Hand geführt, bleiche Haut, straff gespannt über einer schmalen, langgliedrigen Hand. Diese Hand erinnerte, abgesehen von der Hautfarbe, tatsächlich an die Hände Amemnas. Das schmale Handgelenk verschwand in einem hellen, weiten Ärmel fremdartiger Machart, ein anscheinend leichter, weich fließender Stoff. Der lange Arm in dem Gewand führte zu einer Schulter, über der brustlange, weiße Haare lagen, so fein wie die Haare des Birh-Melack. Doch das Gesicht, das diese Haare umgaben, war vor Zorn oder Irrsinn verzerrt, zusammengekniffene Augen, geblähte Nasenflügel, ein grimmiges Grinsen auf den Lippen. Und dennoch, die hellen Augen, der langgliedrige Knochenbau, das kantige aber bartlose Kinn, das alles erinnerte sehr an Amemna. Und doch war alles wieder ganz anders, die Lippen zu dünn, die Nase zu schmal, als wäre diese Traumgestalt eine Karikatur des unirdischen Birh-Melack. Und dazu bauschte sich das weite Gewand der Traumgestalt wie hellgelbe Flügel hinter seinem Rücken. Hamarem hörte einen Entsetzensschrei, dann verlor er die Kontrolle über seinen Körper.
 

*
 

"Was hast du mit ihm gemacht", fauchte Ramilla, als Hamarem sich langsam wieder seines Körpers bewußt wurde. Seine Kiefergelenke schmerzten, und vor dem mit grauweißen Wolken verhangenen Himmel, der ihn an Amemnas Augen denken ließ, flatterten einige Untergewänder im leichten Wind. Er lag anscheinend rücklings auf der Erde, fühlte Gras an den Händen. Ramilla kniete neben ihm, sah aber zu einer anderen Person, die sich außerhalb von Hamarems Gesichtsfeld befand.
 

"Frag ihn, was er mit dem Jungen gemacht hat", kam es ebenso aufgebracht von Derhan. Das war also anscheinend die Person, mit der Ramilla stritt.
 

Hamarem versuchte, sich aufzurichten, gleich umfaßte Ramilla seinen Oberkörper, half ihm, sich zu erheben. "Mein armer Schatz", flüsterte sie. "Tut es sehr weh?" Sie strich mit ihren Fingern zärtlich sein Kinn entlang. Weiterer Schmerz zuckte auf, als die sanften Finger die rechte Seite von Hamarems Kinn erreichten. Jemand hatte ihn geschlagen - Derhan hatte ihn niedergeschlagen! Und nun hockte Derhan im Gras, die Arme um den heftig schluchzenden Nefut geschlungen, flüsterte dem Jungen beruhigend zu und hob immer wieder einmal vorwurfsvoll den Blick zu Hamarem. "Warum hast du mich geschlagen?" fragte Hamarem verwundert, machte vorsichtige Kaubewegungen, um seinen Kiefer wieder einzurenken. Seit wann handelte Derhan so impulsiv, noch dazu gegenüber einem Ranghöheren?
 

"Weil du irgendwas mit Nefut angestellt hast. Und du hast ihm fast die Schlüsselbeine gebrochen mit deinem harten Griff", antwortete er grimmig.
 

Hamarem konnte sich nicht erinnern, Hand an Nefut gelegt zu haben, aber Ramilla nickte. "Ich habe gesehen, daß deine Hände auf Nefuts Schultern ruhten. Derhan versuchte, sie wegzuziehen, und dann hat er dich niedergeschlagen."
 

Erschrocken beeilte sich Hamarem zu versichern: "Es tut mir leid, Nefut. Ich habe nicht gemerkt, was ich während der Traumsicht tat. Ich wollte dir nicht wehtun", aber der Junge drehte sich nicht zu ihm um. Das Gesehene hatte sich allerdings nicht nach einem Traum von dem Opfer an den Ungenannten angefühlt. "Wann hattest du deinen Traum von dem Schwert, Nefut?" fragte Hamarem also sanft.
 

"Als der alte Mann mich anfaßte", nuschelte Nefut tränenerstickt in Derhans Mantel. "Aber das Bild ist endlich weg. Hast du es weggemacht?" Und jetzt drehte er sich doch und riskierte einen Blick über Derhans Arm zu Hamarem.
 

Hatte Hamarem das Bild aus Nefuts Gedanken getilgt, indem er es zur näheren Untersuchung in seine Bestandteile zerpflückt hatte? Was hatte es mit dem Mann und dem Schwert auf sich? Wessen Erinnerung war diese Vision? Die des Ehrwürdigen Vaters konnte es kaum sein, schließlich hatte der auch nach seinem Tode den Kopf noch fest auf den Schultern gehabt. War es eine Erinnerung der Kräftetentakel? Waren diese Kräftetentakel also der Überrest eines anderen Menschen mit unirdischen Fähigkeiten? Ein körperloser Geist, der einen neuen Körper suchte - ein Dämon aus dem Totenreich? Hamarem mußte feststellen, ob die Kräftetentakel noch immer um Jochawam gesponnen waren, jetzt konnte er sie ja wieder wahrnehmen. "Laß uns nach Jochawam sehen", forderte er Ramilla auf.
 

"Der schläft noch immer", ließ Derhan sich vernehmen. "Ich würde sagen, er ist in einem sehr geschwächten Zustand und ohnmächtig." Dabei streichelte er beruhigend Nefuts lockigen Schopf und quittierte Ramillas undeutbaren Blick mit einem Achselzucken. Ob Ramilla wußte, wer Nefuts Vater war? Eine Frage war es immerhin wert, ging Hamarem durch den Kopf. Aber jetzt mußten sie erst einmal versuchen, Jochawam zu helfen, oder zumindest feststellen, was genau mit ihm in der Nacht geschehen war. "Hast du denn irgendetwas, mit dem wir Jochawam wieder ins Bewußtsein zurückrufen können?" wollte Hamarem wissen.
 

"Hamarem, kann ich euch einen Moment sprechen?" fragte da plötzlich der Anführer der Wachen der Prinzessin. Wieso ignorierte denn dieser Mann die Mittagsruhe? Die Schwingungen der Kräfte um ihn zeigten jedenfalls eine deutliche Unruhe, irgend ein Unrecht schien es zu sein, das ihn umtrieb.
 

Hamarem mußte einen Moment überlegen, bevor ihm der Name des Mannes wieder einfiel. "Patris, ich bin in einem Moment für euch zu sprechen. Zuvor muß ich noch einmal nach unserem Verwundeten im Birh-Melack-Zelt sehen."
 

Patris Darashy nickte und zog sich in einen respektvollen Abstand zurück, jedoch nicht bis in das Zelt der Darashy-Wachen und Hamarem registrierte erstaunt, daß er anscheinend darauf achtete, so zu stehen, daß er vom Zelt der Prinzessin aus nicht gesehen werden konnte. Seine für Hamarems Wahrnehmung zu diffusen Gedanken kreisten jedoch die ganze Zeit um die Darashy-Prinzessin.
 

Derhan brachte Nefut zur Mittagsruhe ins Mawatizelt und begleitete dann Hamarem zum Birh-Melack-Zelt. Ramilla nahm die große Metallkanne, die sie mitgebracht und während des Zwischenfalles anscheinend in den Eingang des Mawatizeltes gestellt hatte, und folgte den beiden Männern durch die nur einen Spalt geöffnete Zeltklappe ins Dämmerlicht.
 

Derhan betrachtete den wie schlafend daliegenden Ostler. "Ich habe einige stark riechende Essenzen mitgebracht", erklärte er dann, kniete sich neben das Lager, öffnete eine kleine Phiole und hielt sie Jochawam unter die Nase. Ein zarter Essiggeruch schien ihr zu entströmen, aber Hamarem nahm vor allem noch den Geruch der unirdischen Lust Amemnas in der Luft wahr. Er versuchte, sich auf Jochawam zu konzentrieren, der in dem düsteren Zelt durch die große Menge um ihn versammelter Kräfte auffällig genug war. Der Panzer aus Kräften war also noch immer vorhanden, aber eine Bedrohung ging von ihm nicht aus. Es schien fast, als ruhten die Kräfte sich aus.
 

"Ist er am Kopf verletzt worden?" fragte Derhan, und entkorkte eine weitere Phiole. "Nefut konnte mir nicht sagen, was Jochawam in diesen Zustand versetzt hat."
 

"Er hat gestern Nacht versucht, Nefut und unseren Birh-Melack zu schützen", erklärte Hamarem knapp. Er hockte sich neben den wie schlafend daliegenden Ostler und faßte nach seiner Hand. Sie war so warm wie es bei einem unter Decken schlafenden Mann zu erwarten war, seine Atemzüge waren tief und ruhig und auch sonst wirkte bis auf die um ihn verflochtenen Kräfte nichts ungewöhnlich. Und nicht einmal dieser Kräftekokon hätte Hamarems Aufmerksamkeit erregt, wenn er nicht in der Nacht erlebt hätte, wie die Kräftetentakel ihn um Jochawam gewoben hatten.
 

Ramilla sank neben Hamarem auf die Knie. "Du wirst ihn stützen müssen, wenn ich ihm etwas von dem Willkommenstrunk einflößen soll."
 

"Willkommenstrunk?" fragte Derhan überrascht, dann lächelte er plötzlich. "Gar keine dumme Idee. Aber wir sollten ihm den Trunk tröpfchenweise verabreichen." Er stand auf, suchte neben dem Wasserbehälter ein sauberes Handtuch und tunkte eine Ecke davon in Ramillas Kanne. Dann wrang er den Stoff über Jochawams Mund aus. Die Tropfen benetzten die zwischen den dunklen Bartstoppeln sehr bleich wirkenden Lippen des Mannes, einige trafen sogar seine geschlossenen Augenlider, aber Jochawam zuckte nicht einmal.
 

"Was genau ist mit ihm passiert?" fragte Derhan, jetzt mit einem überaus ernsthaften Ton in der Stimme.
 

Hamarem sah auf das ebenmäßige, etwas eingefallene Gesicht des Ostlers herunter, nahm überrascht die filigrane Kunstfertigkeit des regelmäßigen Kräftegeflechts um ihn wahr. In der Nacht waren sie ihm wie bloße Tentakel erschienen, nun schienen sie wie aus Goldfäden gesponnen, so kunstvoll, wie es nicht einmal der Orakelpriester vermocht hatte. "Ich vermute", sagte er langsam, "daß Jochawam mit einem... einem Dämon in Kontakt kam." Nun war es also heraus.
 

Derhan hob eine Augenbraue. "So ein Dämon, wie der, von dem Oremar nach der Schlacht pausenlos sprach? Einer, der jetzt in Jochawams Körper geschlüpft ist?" fragte er, grinste nach Hamarems Nicken dann spöttisch. "Und warum läuft der Dämon dann jetzt nicht mit Jochawams Körper herum?"
 

Hamarem sah zu Ramilla, die bisher nichts zu seiner Eröffnung gesagt hatte. Sie war fast so bleich wie Jochawam und sah Hamarem mit aufgerissenen Augen an. "Dann stimmt es also", flüsterte sie fast unhörbar. Hamarem war hin und hergerissen, zunächst Ramilla danach zu fragen, was sie anscheinend wußte, oder erst Derhan zu erklären, was es seiner Meinung nach mit Jochawams Ohnmacht auf sich hatte.
 

"Wie ist das passiert?" fragte Derhan noch einmal nach.
 

Das half Hamarem, sich zu entscheiden. "Heute Nacht starb ein alter Priester zwischen unseren Zelten, der wohl den Dämon beherbergte. Zunächst berührte er den Jungen, dann Jochawam. Anscheinend haben der alte Priester und Nefut dem Dämon einen so heftigen Kampf geliefert, daß er nun selbst erschöpft ist, und aus Jochawams ausgelaugtem Körper konnte er auch keine Kräfte schöpfen, also liegt er jetzt hier."
 

"War das der alte Orempriester, der heute vormittag verbrannt wurde?" fragte Ramilla leise. "Der ehrwürdige Vater Darhan Mehaly?" Hamarem nickte nur stumm. "Bei der Verbrennung habe ich gehört, wie einer der Orempriester mit dem Vorsteher der Priesterschaft des Ungenannten über ein feindliches Wesen sprach. Der Priester des Ungenannten sicherte ihm zu, irgendeinen Banngegenstand vor dem Mittag fertigstellen zu lassen, damit das feindliche Wesen nicht das ganze Heerlager zugrunde richtet, sondern selbst vernichtet wird. Das kann doch kein Zufall sein! Sie sprachen vermutlich von diesem Dämon hier." Ramilla rutschte auf den Knien von Jochawams Lager weg und sah unbehaglich zu ihrem Landsmann hinüber.
 

"Einen Versuch noch", sagte Derhan plötzlich und kniete sich nun auch neben Jochawam, hielt mit einer Hand Jochawams Handgelenk fest und rammte ihm plötzlich mit der anderen Hand eine lange Nadel in die linke Handfläche.
 

Jochawam schrie vor Schmerz, bäumte sich auf gegen Derhans eisernen Griff, der blitzschnell nach Jochawams zweitem Handgelenk faßte und es nun ebenfalls am Boden hielt. Voller Panik sah der Ostler sich um, durch den Kräftekokon um Jochawam ging eine Welle, aber er löste sich nicht auf. Schließlich ließ Jochawam seinen unruhig umherzuckenden Blick auf Ramilla ruhen. "Wo bin ich?" fragte er heiser.
 

"Jochawam, erkennst du mich?" fragte Derhan und schob seinen Kopf vor Jochawams Gesicht.
 

"Ja, du bist... einer von den Männern meines... neuen Herrn... Dar... Derhan, nicht wahr?" Anscheinend saß ihnen wirklich Jochawam gegenüber, auch wenn der Dämon noch mit ihm verbunden war.
 

Derhan nickte. "Ja, der bin ich." Dann drehte er sich zu Hamarem um. "Seht zu, daß der Mann etwas von dem Willkommenstrunk zu sich nimmt. Ich geh jetzt, denn für Dämonen fühle ich mich nicht zuständig." Er zog die Nadel aus Jochawams Hand, stand auf und verließ schnellen Schrittes das Zelt des Birh-Melack.
 

"Ist er Nefuts Vater?" wollte Hamarem von Ramilla flüsternd wissen, als die Zeltklappe hinter Derhan wieder zugefallen war.
 

Ramilla maß ihn mit einem fassungslosen Blick, dann verdrehte sie die Augen. "Frag Nefuts Mutter, wenn du auf diese Frage eine Antwort haben willst." Sie sah sich suchend um, griff dann nach einer Teeschale und füllte sie aus ihrer Kanne, reichte sie Hamarem. "Du hast doch gehört, was Derhan sagte: sorg dafür, daß der Mann das trinkt." Nach zwei Schalen voll Willkommenstrunk sah Jochawam weniger blaß und auch ansonsten deutlich wohler aus. Der Kräftekokon wurde davon aber anscheinend nicht beeinflußt. Ramilla reichte dem Ostler noch eine Schale mit getrockneten Datteln, die sie auf dem kleinen Tisch neben Amemnas bevorzugtem Sitzplatz gefunden hatte.
 

Jochawam aß schweigend ein paar der Früchte, hielt die Steine in seiner unverletzten Hand und sah mehrfach von Ramilla zu Hamarem und wieder zu Ramilla, ohne daß Hamarem sich darüber klar werden konnte, was in dem Mann vorging. Es war, als schirme der Kokon alle Emotionen und alle Bewegungen der Kräfte um den Ostler vor Hamarems Wahrnehmung ab.
 

"Was ist das für eine Geschichte von einem Dämon?" fragte Jochawam schließlich.
 

"Erinnerst du dich noch an die Geschehnisse der vergangenen Nacht?" fragte Hamarem zurück.
 

Jochawam zuckte zusammen, faßte mit der etwas blutenden, verletzten Hand nach seinem Hals. "Ich habe gesehen, daß mich jemand köpft", antwortete er flüsternd. "Ich habe wahrhaftig gespürt, wie mir jemand den Kopf abschlägt, jemand mit einem langen, schmalen Schwert und weißen Haaren, wie sie mein... unser Birh-Melack hat." Er kaute nachdenklich eine weitere Frucht, nahm den Dattelstein aus dem Mund und ergänzte dann: "Und mir war, als würde ich den Mann mit dem Schwert kennen."
 

"Ich fand nicht, daß er wie ein Ostländer aussah", entfuhr Hamarem, "eher wie einer der unirdischen Verwandten unseres Birh-Melack."
 

"Das ist gar nicht so falsch", entgegnete Jochawam darauf mit einem eigenartigen Lächeln und durch den Kokon ging plötzlich erneut eine wellenförmige Bewegung, die aber ebenso abrupt aufhörte. Hamarem hatte das Gefühl, daß sich der Dämon zu Wort gemeldet hatte. Vielleicht hätten sie Jochawam einfach schlafen lassen sollen. Nun sollte Hamarem als Zweiter der Wannim zumindest umgehend einen Boten zu den Priestern des Ungenannten schicken, um sie zu bitten, ihnen den Banngegenstand, von dem Ramilla gesprochen hatte, zur Verfügung zu stellen.
 

Die Kräfte um Ramilla zeigten ihre Unruhe. "Ich bereite mich auf das Gespräch mit Deinem Herrn vor", sagte sie plötzlich. "Ich schicke eine Botin, wenn ich euch beide empfangen kann. Und die Kanne bringst du mir zurück, wenn du sie nicht mehr brauchst." Sie erhob sich rasch, dann hauchte sie Hamarem noch einen Kuß auf die Stirn und verließ geradezu fluchtartig das Birh-Melack-Zelt.
 

So war nun Hamarem mit Jochawam und dem Dämon in ihm allein. Verbarg der Kräftekokon möglicherweise die von dem Dämon ausgehenden Gefahren vor Hamarem? Verstohlen griff er in seine Manteltasche und holte zwei Blätter des Traumkrautes heraus, steckte sie in den Mund, als Jochawam nach einer weiteren Dattel griff. Hamarem kaute die Blätter und überlegte, was an diesem Ort zur Versenkung geeignet sein könnte. Die Zeltklappe bewegte sich leicht im Wind, vielleicht reichte das.
 

Nach einer Weile schmeckte Hamarem endlich Salz auf der Zunge, er schien es sogar mit der Luft aufzunehmen, aber er sah nichts außer nächtlicher Dunkelheit. Er nahm ein diffuses Gefühl der Gefahr oder eher des Unbehagens wahr, aber eine Quelle, oder ein spezielles Ziel konnte er nicht ausmachen.
 

"Kannst du so die Zukunft sehen?" fragte Jochawam oder der Dämon.
 

"Ja."
 

"Kannst du auch sehen, ob mich dieses Etwas wieder verläßt?" Diese Frage kam wohl von Jochawam. Wo sollten sie ihn jetzt unterbringen? Wenn Derhan den anderen Mawati erzählte, daß in Jochawam tatsächlich ein Dämon steckte, war es unmöglich, ihn im Mannschaftszelt schlafen zu lassen. Aber er konnte doch auch nicht in Amemnas Zelt bleiben. Falls der Kokon tatsächlich verhinderte, die wahrhafte Gefahr zu sehen, mochte es für den jungen Mann mit unirdischem Blut gefährlich werden, sich in Jochawams Nähe aufzuhalten, denn die Kräfte des Dämons, vor allem aber seine Virtuosität damit übertrafen Amemnas Fähigkeiten bei weitem.
 

"Hamarem, da ist ein Bote vom Zweiten des Birh-Melack, der euch dringend sprechen will", erklang die Stimme des Darashywächters vor der verschlossenen Zeltöffnung.
 

"Kannst du mir helfen, diesen... Dämon wieder loszuwerden?" fragte Jochawam flehend.
 

"Wir sprechen gleich weiter", vertröstete Hamarem ihn. Die Stimme von Patris Darashy hatte etwas Drängendes gehabt, also eilte Hamarem zum Zelteingang und lief damit Patris und einem anderen Mann praktisch in die Arme.
 

Der Bote von Wanack Perdinim war Adí W'schad. Wenn der Zweite der Birh-Mellim einen Wanack schickte, war es wohl keine beliebige Botschaft, die er übermitteln wollte. "Können wirr irrgendwo unkestörrt sprrechen?" fragte der Südländerprinz, ohne sich mit Begrüßungsformeln aufzuhalten.
 

Hamarem winkte ihn in Amemnas Zelt. Jochawam saß noch auf seinem Lager, die halbgeleerte Schüssel mit den Datteln auf dem Schoß, sah Hamarem und dem schwarzhäutigen Mann erstaunt entgegen. "Kann ich frrei sprrechen?" fragte Adí W'schad und Hamarem nickte. Vor dem Dämon würden sie nichts verbergen können, also konnte er auch im selben Zelt sitzen.
 

"Derr Feldherrr hat eurren ehemaligen Sweiten, den Krriegerr Nefut, verrhaften lassen", eröffnete Adí W'schad mit ernster Miene. "Err wirrft ihm den Morrd an einem Prriesterr mit Hilfe okkulterr Künste vorr."
 

* * *
 

28. Sorgen

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

28. Sorgen (jugendfrei)

Als die Hundertschaft die rettenden Mauern von Tarib erreicht hatte, sorgte Adarach dafür, daß die Tore nicht nur von den Taribim bewacht wurden, sondern auch von seinen Männern. Auf dem Laufgang standen einige der taribischen Wächter, schauten durch die Schießscharten hinüber zu den siegreichen Tetraosi und flüsterten miteinander. Das Flüstern wurde zunehmend lauter und Adarach sah, daß einige der Männer sogar ihre Amulette küßten, aber keinen Blick von dem Schlachtfeld nahe der Handelsstraße wandten. "Kümmer dich darum, daß die Verwundeten versorgt werden", befahl er Buhachan, dann stürmte er die Treppe zum Laufgang hinauf, um selbst einen Blick darauf zu werfen, was es da zu sehen gab. Außer Atem stützte er sich gegen die Zinnen, sah hinunter zu den Tetraosi. Einer der Osheysöldner mit einem bunten Tarra'kt auf dem Kopf ging zwischen den überraschend wenigen Verwundeten der Tetraosi hin und her, half ihnen, sich aufzurichten, zog scheinbar mühelos die gestürzten Pferde am Zügel zum Stehen.
 

"Er hat sie alle geheilt", flüsterte einer der Taribim in Adarachs Nähe ehrfurchtsvoll, gefolgt von frommem Gemurmel seiner Mitbürger.
 

"Er muß ein Unirdischer sein", kam es von der anderen Seite. "Habt ihr nicht gesehen, wie hell sein Haar ist?" Der Mann mußte von Amemna sprechen.
 

"Die Götter sind mit den Tetraosi", flüsterte ein junger Mann neben Adarach, verschloß dann seinen Mund erschrocken mit der Hand, warf Adarach einen mißtrauischen Blick zu.
 

Adarach erwiderte den Blick mit unbewegter Miene, und sah dann hinunter auf seine Hundertschaft. Aus Mänteln und jeweils zwei Speeren, improvisierten einige Männer Tragen, auf denen sie die vier Schwerverletzten wegbringen wollten. Eine Handvoll Verwundeter humpelte aus eigener Kraft zu ihren Unterkünften nahe der Stadthalle, fünfzehn brauchten dazu die Hilfe ihrer Kameraden. Zwei der Veteranen waren schon auf dem Schlachtfeld an den Verletzungen durch Amemnas Schwerthiebe gestorben.
 

Der Gegensatz konnte kaum größer sein, die stöhnenden, blutverschmierten Verlierer des Scharmützels auf dieser Seite der Stadtmauern, auf der anderen Seite die sich nun in ordentlichen Reihen zum Abmarsch sammelnden Sieger, die, entgegen dem Augenschein während des Kampfes, offensichtlich weder Verluste noch Verwundete zu beklagen hatten. Immerhin hatten die Garam-Berr keine ihrer Waffen auf dem Feld zurückgelassen, so daß die Tetraosi kein Siegeszeichen errichten konnten. Die Tetraosi waren nur durch das Eingreifen der Reiter und Amemnas Schwertkünste wegen, mit denen er Adarachs besten Männern hart zugesetzt hatte, siegreich gewesen. Dabei waren die Reiter doch schon fast außer Sicht gewesen, als Adarach hatte angreifen lassen. Waren die Götter tatsächlich auf der Seite der Tetraosi? War dieser Oshey mit dem Fischerturban da unten wirklich Amemna gewesen, und hatte er die Verwundeten der Tetraosi tatsächlich wie im Märchen durch einfaches Handauflegen geheilt? Oder spielten ihnen die Gegner etwas vor, um die ehemals mit Tetraos verbündeten Taribim dazu zu bringen, reumütig das gebrochene Bündnis zu erneuern? Die Regentin der Steinernen Stadt galt als äußerst listenreich, nach dem was Adarach in Hannai über sie gehört hatte. Aber egal was er glaubte, viel wichtiger war, was die Taribim glaubten. Wenn sie überzeugt waren, Zeugen eines göttlichen Wunders geworden zu sein, hatte sich die Situation seiner Hundertschaft gerade dramatisch verschlechtert, unabhängig von den Verwundungen eines Fünftel der Männer. Die Stadt hatte die von Hannai geschickte Besatzungstruppe ja ohnehin nur aufgrund der von den bestochenen Ratsherren dargelegten überlegenen Stärke der Hannaiim über die Tetraosi aufgenommen. Doch nach dieser Niederlage sahen die Taribim das vermutlich ganz anders.
 

Adarach konnte nur hoffen, daß die Hannaiim ihre Zusicherung eingehalten und die Spione Hannais tatsächlich beim Aufbruch des Heeres aus Tetraos Nachricht an ihre Heimatstadt gegeben hatten, damit diese ihren Söldnern mit ihrer Streitkraft zur Hilfe kommen konnte. Wenn die Nachricht zur gestrigen Mittagszeit Tetraos verlassen hatte, war sie am Abend in Hannai gewesen, somit konnte das Heer an diesen Morgen aus Nemis aufgebrochen sein und würde wohl am Nachmittag Tarib erreichen. Im Idealfall mußten sie die aufsässigen Taribim nur wenige Stunden niederhalten, bis diese angesichts des Heeres der Hannaiim keinen Widerstand mehr wagen würden. Aber er hatte schon vor dem Scharmützel nicht genügend Männer für einen Kampf gegen die Taribim gehabt. Wieso hatte er sich nur auf dieses unwägbare Abenteuer eingelassen?
 

Adarach wandte den Blick wieder ab von den entschwindenden gegnerischen Reitern und Fußtruppen und sah hinunter auf den Platz vor dem Stadttor. Die Veteranen hatten ihre Toten nebeneinander auf den Boden gelegt, nun waren es schon drei. Anscheinend war einer der Schwerverletzten gestorben, bevor sie ihn zu den Quartieren hatten bringen können. Einige Männer standen mit ihrem Kommandanten neben den Leichen, sprachen Gebete zu Grom. Adarach ging die Treppe hinunter, wartete mit gehörigem Abstand, bis die rauhen Männerstimmen verstummten. "Kaharach!" rief er dann.
 

Der Kommandant der Veteranen drehte sich sofort zu seinem Befehlshaber um, kam zu ihm. Er hatte selbst einen Schnitt am Oberarm erlitten, aus dem wieder etwas Blut perlte, als er seinen Mawek noch im Gehen zackig begrüßte: "Zu Befehl!"
 

"Achte auf die Taribim hier am Tor, Kaharach. Ich bin in der Ratshalle, wenn du mich suchst."
 

"Jawohl, Mawek", bestätigte Kaharach, daß er verstanden hatte. Diesen Übereifer legte er nur an den Tag, wenn es eine Scharte auszuwetzen galt, eine solche wie diese Niederlage gegen die Tetraosi.
 

"Es war ein gefährliches Spiel, die Einmischung der Reiter zu riskieren", sagte Adarach leise, als Kaharach direkt vor ihm stand. "Das war uns beiden klar, und wir haben es in der Hoffnung auf Groms Segen gewagt. Vielleicht haben die Taribim recht und die Götter waren heute wirklich auf der Seite der Tetraosi. Morgen werden sie es jedoch nicht mehr sein."
 

Und Kaharach grinste wieder, zeigte seine auffällig großen Eckzähne. "Nein, morgen werden die Tetraosi zugrunde gehen. Unsere drei Brüder werden Grom auf unsere Seite ziehen."
 

Adarach nickte stumm, salutierte vor Kaharach. Er würde aus seinen eigenen Mitteln eine angemessene Totenfeier für die Gefallenen ausrichten. Nun jedoch mußte er den Rat der Stadt noch einmal darauf hinweisen, wem seine Loyalität gebührte, und mit zwei der Veteranen als Leibwache verließ Adarach den Platz.
 

*
 

Auf dem Weg zur Ratshalle bemerkte Adarach, daß die Verschnürung seines Leinenpanzers noch immer locker war. Im Gehen knotete er die beiden Enden des durchgeschnittenen Bandes behelfsmäßig zusammen, denn um mit möglicherweise substanzlosen Drohungen Eindruck zu machen, war es besser, als Krieger aufzutreten anstatt als parfümierter Stutzer. Und frisch vom Feld, mit Blutspritzern auf den Panzern und an den Armen, dem Blut-Staub-Gemisch an den Beinen, waren er und seine Leibwache für die Ratsherren gerade richtig geschmückt. In der Ratshalle fand Adarach allerdings nur ein paar Schreiber und Diener vor, die Ratsherren hatten es anscheinend vorgezogen, sich anderswohin zu begeben. Er griff sich einen der kaum dem Knabenalter entwachsenen Jünglinge. "Weißt du, wo der Erste Ratsherr wohnt?" Zitternd nickte der Junge, so daß seine fast schulterlangen schwarzen Locken aufreizend wippten. Adarach drückte seine Finger etwas fester als nötig um den bloßen Oberarm des Jungen, fühlte durch die noch so weiche Haut, wie die Muskeln des Jungens sich spannten, als er versuchte, Adarach den Arm zu entziehen, aber dann erinnerte er sich an das Versprechen, das Buhachan ihm abgenommen hatte, nahm den schwer gewordenen Helm vom Kopf und drückte ihn dem Jüngling in die Hände. "Trag mir den bis zum Haus des Ratsherrn", befahl er und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, vorzugehen.
 

Das nur knapp knielange Gewand des schlanken Jünglings, die langen, dunkelhäutigen Beine, sein elastischer Gang machten es für die Stimme der Vernunft allerdings sehr schwer, weiterhin Gehör zu erhalten. Aber zu dieser Vormittagsstunde waren viele Bürger auf den Straßen, selbst ein schmales Gässchen, das sie durchquerten, war nicht gänzlich verlassen, so daß sich Adarach bei allem Verlangen, das die verführerische Rückenansicht des Jungen in ihm erweckte, doch zurückhielt. Selbst mit den von frisch erwachter Lust vernebelten Sinnen war ihm klar, daß es kaum zu einer wohlwollenderen Haltung gegenüber den Söldnern der Hannaiim führte, wenn sich herumsprach, daß der Befehlshaber der Söldner einem Ratsdiener handgreifliche Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Also verschränkte Adarach seine Hände hinter dem Rücken, um sich daran zu erinnern, daß er der Versuchung nicht nachgeben wollte.
 

Schweigend erreichten sie nach dem Weg durch die halbe Stadt das Adelsviertel und nahe dem Hain der Ama ein großes Haus. Der breite Durchgang führte in einen offenen Hof, in dem sich zahlreiche Diener und Sklaven tummelten, mit Diensten für ihren Herrn beschäftigt. Als der Ratsdiener gerade vor dem Torbogen stehen blieb und Adarachs Helm von seinem rechten in den linken Arm wechselte, fragte Adarach: "Wie heißt du, Junge?"
 

"Rasail Venartim", antwortete der Jüngling, der also offenbar ein junger Adeliger war.
 

Wie gut, daß Adarach auf die Stimme der Vernunft gehört hatte! Er mußte den Taribim in der jetzigen Situation nicht noch mehr Gründe geben, die Söldner der Hannaiim zu hassen. "Richte bitte deinem Vater meine besten Komplimente für seinen wohlerzogenen Sohn aus, Rasail", entgegnete Adarach mit einer höflichen Verbeugung, dann nahm er dem Jungen seinen Helm wieder ab.
 

Rasail verneigte sich ebenfalls, dann ging er durch den wenige Schritt langen tunnelartigen Durchgang voran und winkte einen der Bediensteten heran. "Der Befehlshaber der Söldner wünscht den Ersten Ratsherrn zu sprechen."
 

Ein hörbares Raunen ging durch die anscheinend mit Festvorbereitungen beschäftigte Gruppe. Der angesprochene Diener, der eine halb gerupfte Gans in den Armen hielt, duckte sich verschüchtert. "Bitte Herr, sprecht mit dem Wirtschafter", flüsterte er und versuchte, sich Schritt für Schritt aus Adarachs Gegenwart zu entfernen.
 

Die Angelegenheit mochte unschön werden, erkannte Adarach. "Kehr zurück zu deinen Pflichten in der Ratshalle", befahl er also dem Jungen, der sich offensichtlich erleichtert zurückzog. Dann erhob Adarach seine Stimme: "Wirtschafter, ich wünsche deinen Herrn zu sprechen!" rief er so laut, daß man es sicher bis in die inneren Räume dieses Palastes hören konnte. Die Stimmen der Sklaven und Diener verstummten einen Moment, man hörte nur das leise Schnattern der noch nicht geschlachteten Gänse - und irgendwo im Haus eine keifende Frauenstimme. Als jedoch nichts weiter geschah, nahmen die Bediensteten ihre Gespräche langsam wieder auf. Adarach gab seinen Leibwächtern das Zeichen, die Schilde kampfbereit auf die Arme zu nehmen und setze sich selbst demonstrativ seinen Helm auf, auch wenn er ihn nicht über das Gesicht zog. "Ich wünsche sofort den Ersten Ratsherrn zu sprechen", rief er noch einmal.
 

Hastige Schritte waren aus dem Gebäude zu hören, näherten sich der großen Eingangstreppe. Möglicherweise war dieser untersetzte Mann tatsächlich der Wirtschafter. "Mein Herr läßt euch sagen, daß er unpäßlich ist", erklärte er mit einem entschuldigenden Lächeln.
 

"Ich erwarte von ihm nicht, daß er zu mir kommt. Ich nehme jeden Weg auf mich, der mich zu ihm führt", erwiderte Adarach darauf und verzog seine Lippen zu einem Lächeln, das den Wirtschafter sichtlich nervös machte. Ohne auf eine Antwort zu warten, legte Adarach die wenigen Schritte bis zur Eingangstreppe zurück, ging einige Stufen hinauf. Der Wirtschafter wurde bleich und wich ein wenig zurück. "Führ mich zu deinem Herrn", verlangte Adarach und bedeutete einem seiner Leibwächter, ihn die Treppe hinauf zu begleiten. Der andere blieb in Habacht-Stellung im Hof stehen, den ungedeckten Rücken an der Wand, die parallel zur Treppe stand, so daß er Treppe und Eingangsbereich zugleich im Blick behalten konnte.
 

Als Adarach den Kopf der Treppe erreicht hatte, suchte der Wirtschafter anscheinend noch immer nach einer Lösung für das unangenehme Problem, das Adarachs Gegenwart darstellte. "Dann, äh, folgt mir, äh, bitte, Herr", stotterte er, erwiderte jedoch nicht Adarachs Blick sondern ließ seine Augen unruhig über die im Hof versammelten Bediensteten schweifen, als überlege er, wer von den mageren Gestalten mit Küchengeräten den drei Bewaffneten gewachsen sein mochte.
 

Adarach schob den Mann an seinen teigigen Oberarmen zügig vor sich her in ein prachtvoll geschmückte Speisezimmer. "Zeig mir den Weg", forderte er den Wirtschafter mit gespielter Freundlichkeit auf.
 

Zwei geschlossene Türen gab es in diesem Raum, und als der Wirtschafter versuchte, den Eindringling zu der linken zu dirigieren, ging Adarach raschen Schrittes zur rechten. Die Kammer eines Dieners befand sich dahinter, in einer Ecke stand jedoch zitternd der Erste des Rates von Tarib.
 

"Es tut mir leid, euch bei eurer Mittagsruhe zu stören", begann Adarach spöttisch, stellte sich mitten in den kleinen Raum neben die einfache Liege, nur zwei Armlängen von dem Mann im purpurgesäumten Ratsherrengewand. Und sein Leibwächter stellte sich genau in die schmale Tür und verwehrte so dem Wirtschafter den Zutritt. "Ich möchte euch davon in Kenntnis setzen, daß meine - und übrigens auch eure - Geldgeber mich heute morgen wissen ließen, daß um die Mittagsstunde mit dem Eintreffen des Heeres der Hannaiim zu rechnen ist. Ich dachte, ihr solltet das wissen, um die Männer, die Taribs Unterstützung erkauften, in angemessener Form zu begrüßen."
 

"Mir", kiekste der Ratsherr und räusperte sich, "mir wurde berichtet, die Schlacht gegen die Tetraosi sei vernichtend für euch verlaufen."
 

"Wenn ihr das kleine Geplänkel vor den Toren der Stadt meint, von dem ich gerade komme, ja, die Tetraosi wußten ihre Überzahl auszunutzen. Allerdings war das Ergebnis nicht so deutlich, wie es bei umgekehrten Mengenverhältnissen sicher gewesen wäre." Beiläufig befingerte Adarach das blutverkrustete Heft seines Schwertes.
 

Der Ratsherr schluckte. "Ohne Zweifel", brachte er heraus, fixierte nun Adarachs blutigen Leinenpanzer.
 

"Seid froh, daß euch jetzt nicht ein Tetraosi gegenüber steht, denn binnen kurzem würde das Heer der Hannaiim die Eroberer und mit ihnen eure hübsche Stadt überrennen." Aber der Ratsherr sah gar nicht froh aus. "Ich bin hier um euch zu raten, bis zur Ankunft des Heeres der Hannaiim die Loyalitäten des Rates zu klären. Ihr wißt doch, daß ich die von euch unterzeichnete Quittung für die zehntausend Tar nach Hannai geschickt hatte, nicht wahr?" vergewisserte Adarach sich mit vorgeblicher Besorgnis. Natürlich wußte der Ratsherr es. Er wurde blaß, aber er nickte. "Und da ihr ein kluger Mann seid, hattet ihr hier sicher nicht ein Freudenfest anläßlich der Vernichtung meiner Hundertschaft sondern doch sicher eher ein stärkendes Festmahl für meine Männer geplant, nicht wahr?"
 

"Äh, selbstverständlich", versicherte der Ratsherr, als habe er nach einem überraschenden Angriff soeben die rettenden Verbündeten entdeckt.
 

"Hast du gehört, Patach, der Erste Ratsherr richtet uns aus seinen Mitteln ein Festmahl aus", erklärte Adarach seinem Leibwächter ernsthaft.
 

"Ich freue mich schon darauf, Mawek", antwortete Patach mit einem tatsächlich hungrig zu nennenden Grinsen. "Wartet damit nur nicht zu lange, Ratsherr, damit wir es nicht mit unseren Brüdern teilen müssen, die sich jetzt auf dem Wege nach Tarib befinden", setzte er hinzu. Adarach betete stumm zur Göttin, daß die Hannaiim tatsächlich unterwegs waren.
 

"Ihr müßt ja auch den Rat einbestellen, damit der Feldherr der Hannaiim hier alles so vorfindet, wie er es zu Recht erwartet. Aber vielleicht leisten uns ja eure hübschen Söhne Gesellschaft, wenn es noch dauert, bis das Festmahl bereitet ist", fiel Adarach dann noch ein.
 

Adarach konnte die Gedanken hinter der in Sorgenfalten gezogenen Stirn des Nordstädlers praktisch arbeiten sehen. Die Jünglinge zu der wilden Hundertschaft in die Stadthalle zu schicken, während die Söldner der Hannaiim nach dem Kampf womöglich auch noch ihre barbarischen Götter feierten, dem Oinos zusprachen und in unsittlicher Weise zudringlich wurden - das riskierte der Ratsherr lieber nicht. "Ich werde unverzüglich den Rat einberufen, um unsere Beamten an ihre Pflichten zu erinnern", versicherte der Erste Ratsherr ernst. "Mein Wirtschafter wird unterdessen dafür sorgen, daß euch und euren Männern noch zu dieser Stunde ein prachtvolles Mahl in der Stadthalle bereitet wird."
 

Adarach entschied, daß ihm diese Zusicherung für das erste reichte. Immerhin würden die Ersten Männer der Stadt damit für eine Weile beschäftigt sein, und selbst wenn die Taribim eine Vernichtung der Hundertschaft planten, würden sie es nicht während des Gastmahles wagen sondern erst danach, wenn die Männer aus dem Osten betrunken waren. Außerdem sollten die Truppen Hannais bis zum Abend eigentlich eingetroffen sein, ansonsten hatte Adarach ein wirklich großes Problem. Höflich verabschiedete er sich von dem Ersten Ratsherrn, sammelte Patach und dessen Kameraden auf dem Weg hinaus wieder ein und atmete unwillkürlich erleichtert auf, als er den Torweg, der auf die Straße führte, endlich hinter sich gelassen hatte.
 

*
 

Seine Leute waren nahe der Stadthalle in zwei Gebäuden untergebracht, die Veteranen in einem kaum gefüllten Lager für Baustoffe, die anderen in einer für die Söldner geräumten Markthalle, in der Adarach auch Buhachan fand. Sein Onkel saß mit zwei Gehilfen im lichtdurchfluteten Mittelteil der Halle und war gerade dabei, mit den wenigen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die Verwundeten zu versorgen.
 

Adarach erklärte knapp, daß er am kommenden Tag eine angemessene Totenfeier für die gefallenen Veteranen ausrichten wolle, dann suchte er sich eine Waschgelegenheit, reinigte sich oberflächlich und pflegte danach sein Schwert. Dann gesellte er sich wieder zu Buhachan und sah schweigend zu, wie sein Onkel die Haut über dem Stumpf einer Hand zusammennähte und diese und andere Verletzungen mit in Streifen gerissenen Untergewändern verband.
 

Buhachan hatte immerhin in seiner Jugend einem Wundarzt assistiert und war somit der einzige Mann in der Hundertschaft, der wenigstens ungefähr wußte, wie man die von Schwerthieben und Speerstichen verursachten Wunden versorgen mußte. Die eigentlichen Heilkundigen der Garam-Berr waren die Priesterinnen und Priester der Großen Mutter, vereinzelt gab es in der Heimat sogar einige im Ma'ouwat und Berresh ausgebildete Ärzte. Hier in Tarib mußte es ebenfalls Ärzte geben, aber von den Taribim konnten sie keine Hilfe für die Verwundeten erwarten, da gab Adarach sich keinen Illusionen hin.
 

War der bartlose Oshey, der zwischen den Tetraosi umhergegangen war, ihnen Mut zugesprochen und anscheinend eine Medizin verabreicht hatte, wirklich Amemna gewesen? Groß war er in den zwei Jahren geworden, und ein überragender Kämpfer. Außer seiner Schönheit und den außergewöhnlich hellen Haaren war in Ma'ouwat nichts besonders bemerkenswert an dem Lehrling des alten Oshey gewesen. Nunja, vielleicht noch seine so weichen Lippen, hungrig nach der Erwiderung des Kusses. Für einen Moment schien es Adarach, als könne er sie noch immer auf seinen Lippen spüren. Und im Stillen verfluchte er die Schönheit des jungen Utar, seine nur eingebildete Ähnlichkeit mit Amemna.
 

Amemna und er selbst würden sich am kommenden Tag als Gegner gegenüber stehen – wenn die Taribim Adarach und seinen Männern nicht zuvor im Schlaf die Kehlen durchschnitten. Aber wenn alles verloren war, wenn die Hannaiim wieder einmal ihre Söldner im Stich ließen, konnte Adarach versuchen, mit seinen Männern im Schutze des in den Abendstunden zu erwartenden Regenschauers heimlich die Stadt verlassen. Um die Wachen am Stadttor zu überwältigen reichten seine Männer, und ein Ochsenkarren für den Transport der Verwundeten sollte sich finden lassen.
 

Buhachan reichte dem nächsten Patienten einen Becher voll Oinos, der dem Geruch nach mit Mohnsaft versetzt war. "Hast du doch einen Arzt gefunden, der uns hilft?" fragte Adarach hoffnungsvoll und blickte suchend in die dunkleren Seitenteile der Halle, in denen sich die bereits verbundenen und die auf ihre Versorgung wartenden Verwundeten aufhielten. Die Priester des Ungenannten aus Hannai machten keinen Unterschied bei der Versorgung von Verletzten und Verstümmelten, verlangten nicht einmal Geld für die Behandlung. Vielleicht gab es hier in Tarib eine Gottheit, deren Priesterschaft ähnliche Prinzipien hatte und Buhachan den Mohnsaft zur Verfügung gestellt hatte.
 

Buhachan schüttelte den Kopf. "Der Mohnsaft stammt von einem Kräuterhändler, der ihn mir zu einem völlig übertriebenen Preis verkauft hat." Mit einer Handbewegung wies er seine Gehilfen an, den Mann mit der Verletzung am Oberarm an den Schultern festzuhalten, während er dem vor ihm Sitzenden Stich für Stich die Haut über der tiefen Wunde vernähte.
 

Wie hatte Adarach sich nur auf den selbstmörderischen Plan einlassen können, Tarib allein mit seiner Hundertschaft zu halten? "Bei Einbruch der Dunkelheit verlassen wir die Stadt", entschied er leise, so daß es wohl nur sein Onkel und der von dem Mohnsaft schon schläfrig aussehende Mann hören konnte.
 

Buhachan sah seinen Neffen einen Moment fragend an, dann senkte er den Blick wieder auf seine blutigen Hände, verknotete den zweiten Faden, schnitt den Rest mit einem Messer ab, stach ein weiteres Mal in die bleiche Haut des blonden Mannes, der vor ihm saß. "Du planst für den Fall, daß wir auch heute abend noch nichts von den Hannaiim gehört haben?" vergewisserte er sich und schnitt den nächsten Faden ab.
 

Adarach nickte, fügte dann ein "Ja" hinzu, als ihm klar wurde, daß Buhachan das Nicken wohl nicht hatte sehen können. "Für die Verletzten brauchen wir einen Ochsenkarren, aber ansonsten..."
 

"Der Steinmetz, der neben unserem Gastgeber wohnt, hat einen großen Karren, der wohl passen würde", erklärte Buhachan. "Vielleicht vermietet er ihn."
 

"Wenn nicht, haben wir sicher keine Probleme, ihn auch auf andere Weise zu bekommen", entschied Adarach grimmig.
 

"Und du stehst mir jetzt weiterhin im Licht, oder willst du mir endlich zur Hand gehen, Adarach?" fragte Buhachan, nachdem er den letzten Stich gesetzt und den Rest des Fadens abgeschnitten hatte. Er streckte die Hand aus, anscheinend damit Adarach ihm einen Leinenstreifen zum Verbinden gab.
 

Adarach merkte plötzlich, daß die bohrenden Schmerzen seiner alten Verletzung wieder erwachten. Das Stöhnen der Verwundeten verursachte ihm Beklemmungen und die Sorge um die Zukunft seiner Männer beförderte die Übelkeit noch. Mit den Wunden würden Buhachan und seine Gehilfen allein fertig werden müssen. "Der Erste Ratsherr soll in der Stadthalle ein Festmahl für uns ausrichten. Ich muß mich darum kümmern", antwortete Adarach also, erwiderte Buhachans prüfenden Blick ungerührt.
 

Buhachan dachte sich sicher seinen Teil, aber er sagte in der Gegenwart der anderen Garam-Berr nichts. Nur ein "Jawohl, Mawek", quetschte er zwischen den Zähnen hervor, wandte seinem Neffen wieder den Rücken zu, um die frisch genähte Verletzung zu verbinden.
 

Adarach ließ Helm und Schild in der Markthalle, ging hinaus auf den großen Platz. Auf der gegenüberliegenden Seite lag die Stadthalle. Vielleicht fand sich dort vom gestrigen Nachtessen oder schon vom heutigen Festmahl eine Kanne Oinos, damit er seine langsam stärker werdenden Schmerzen vertreiben konnte. Er versprach seinen Leibwächtern, sie rechtzeitig zum Festmahl zu rufen und schickte sie zu den anderen Veteranen am Stadttor. Dann ging er nachdenklich an den Ständen mit Vieh, Gemüse und Sklaven vorbei, einer großen Menge junger Sklaven. Aber obwohl die meisten von ihnen Nordstädler waren, war keiner so hübsch wie Utar oder der Ratsdiener. Immerhin würde er Amemna nicht im Kampf gegenüberstehen, wenn die Hannaiim nicht kamen. Vielleicht konnte er seine Hundertschaft sogar den Tetraosi anbieten. Entgegen der früheren Politik, keine oder nur einzelne Söldner anzustellen, hatte die Regentin vor kurzem ja schon einen ehemaligen Söldnertrupp der Hannaiim in ihren Dienst genommen. Ob Amemna noch immer so knabenhaft weiche Gesichtshaut hatte? Nach den zwei Jahren war das eigentlich nicht zu erwarten. Wie er wohl sein Leben bei den Stämmen verbracht hatte? Adarach war damals in Ma'ouwat sicher gewesen, daß der Junge sein Interesse erwiderte. Gegen den ausdrücklichen Willen seines Onkels hatte er sogar heimlich Adarachs Nähe gesucht, auch wenn sie nicht mehr als einen Kuß und einige flüchtige Berührungen geteilt hatten. Und vielleicht saß er schon in wenigen Stunden mit Amemna an einem Feuer und sie berichteten einander, was sie in den vergangenen Jahren erlebt hatten.
 

Der Schmerz hatte nachgelassen, als hätten die Erinnerungen an den hübschen Osheyknaben das bewirkt. Aber Amemna war kein Knabe mehr, auch wenn er keinen Bart trug. Er mußte jetzt etwa siebzehn Jahre alt sein und auch seine Körpergröße machte deutlich, daß er ein Mann geworden war. Außerdem hatte er das Kämpfen - das Töten - gelernt, schnell und effizient, wenn auch nicht weniger blutig als am Tage des Aufstands in Ma'ouwat, als er dem Schänder seiner Tante mit einem Holzstock den Schädel zertrümmert hatte. Wie gerne hätte er Amemna damals in den Arm genommen, ihn getröstet, die Tränen von seinen weichen Wangen getrocknet, die er über den Tod seiner Tante und die Erschütterung, einem anderen Menschen das Leben genommen zu haben, vergossen hatte. Aber Amemna hatte seine Base trösten müssen, die stolze Merat Darashy, die herabsah auf Männer, die ihren Reizen widerstanden und Knaben bevorzugten. Kühl hatte sie Adarach für die Rettung ihrer Ehre und ihres Lebens gedankt und sich besitzergreifend Amemna in die Arme geworfen, der schon damals so groß gewesen war, daß sie den Kopf bequem an seiner Schulter hatte legen können. Und bis zum heutigen Tag war das der letzte Blick auf den Jungen gewesen, der Adarachs Herz in die Zelte der Darashy verschleppt hatte, der mit seinen wunderbaren Lippen das Reich der Großen Mutter auf Erden versprochen hatte, mit jenem einen Kuß, den sie im Geheimen geteilt hatten.
 

Adarach wurde sich bewußt, daß er vor dem Eingang der Stadthalle stand. Wenn sie in der Nacht fliehen wollten, durften die Männer dem Oinos nicht so reichlich zusprechen, wie es ansonsten üblich war, und eine kleine Einheit der Veteranen sollte weiterhin am Stadttor Wache halten. Notfalls mußte man die Wachhabenden austauschen, damit alle in den Genuß des Festmahls kamen. Irgendjemand mußte heimlich das Gepäck von Utars Vater abholen, und ein Trupp mußte sich um den Ochsenkarren kümmern. Als der Rückzugsplan konkret genug war, daß Adarach an seine Ausführbarkeit glaubte, betrat er die Säulenhalle und nach einigen Schritten den inneren Bereich, in dem seit zwei Tagen die Tische für die Verköstigung seiner Männer aufgebaut waren und nun tatsächlich festlich eingedeckt wurden. Am hinteren Ende, neben dem Zugang zu den Wirtschaftsräumen, stand auch wirklich der Wirtschafter des Ersten Ratsherrn und dirigierte einige Sklaven hierhin und dorthin.
 

Müßig schlenderte Adarach zu den niedrigen Tischen hinüber, auf denen schon kalte Speisen standen, griff nach einer der Kannen, die Oinos enthielt und füllte sich einen Becher zur Hälfte. Als er den Becher zum Mund hob, sah er aus dem Augenwinkel eine Bewegung am Tischrand. Huschten hier Mäuse zwischen den Speisen umher? Ohne getrunken zu haben senkte er den Becher wieder ein Stück und wagte kaum zu atmen, um still halten zu können. Gespannt beobachtete er die entfernte Tischkante. Da! Eine dunkelhäutige Hand tastete flink über die Tischkante, wurde dann wieder unter den Tisch gezogen. Ein Stück Brot war verschwunden, und eine der Messingschalen, in denen Früchte serviert worden waren. Wer konnte sich so klein machen, daß er noch unter dem gerade einmal kniehohen Tischchen Platz fand? Adarach wartete darauf, daß die Hand wieder auftauchte. Die Bediensteten der Stadthalle und des Ersten Ratsherren waren hinter einem Wald von Säulen am anderen Ende des Speiseraumes beschäftigt, wahrscheinlich hatte sich der Dieb deswegen gerade diesen Tisch ausgesucht. Als die Hand erneut auftauchte, sprang Adarach näher an den Tisch, griff fest um das dunkelhäutige Handgelenk und zog seinen Besitzer mit einem heftigen Ruck an den Sitzkissen vorbei unter dem Tisch hervor.
 

"Laß mich", kreischte eine Jungenstimme und dem wirbelnden, sich zu entwinden suchenden Bündel entfiel klingelnd die Messingschale, einige Oliven kullerten über den Boden. Aber alle Anstrengung war vergebens. Adarach stellte den Becher weg und griff auch mit der zweiten Hand zu, hielt den in bloße Lumpen gekleideten Burschen auf Armeslänge von sich. Der verstrubbelte schwarze Haarschopf wurde gehoben und so zeigten sich zwei zornig verengte Augen, in denen jedoch plötzlich die Erkenntnis darüber dämmerte, wer ihn gefangen hatte.
 

Adarach konnte sich vorstellen, in welchem Dilemma der Junge sich nun befand. Einer derjenigen, für den diese Speisen gedacht waren, hatte ihn beim Stehlen entdeckt, einer der ketzerischen Ostler. Und die einzigen anderen Personen im Raum waren Diener der Stadtoberen, die einen Dieb sicher sofort hinter Schloß und Riegel stecken würden. Der Junge sah sich um.
 

"Nein, noch habe nur ich dich entdeckt", sagte Adarach leise. Der halb erwachsene Junge erinnerte ihn an ein wildes Tier, jeder Gedanke auf Flucht gerichtet und dabei stark und schön, trotz der Gefangennahme. Trotzig erwiderte der Junge Adarachs Blick aus eigenartig goldgesprenkelten Augen, ungezähmt, von der eigenen Kraft überzeugt. Amemna hatte ihn vor zwei Jahren ähnlich angesehen. Die Augenbrauen des Jungen zogen sich nachdenklich zusammen, glättete sich in plötzlicher Erkenntnis wieder. "Was muß ich tun, damit du mich gehen läßt?" fragte er nun mit leiser, fast einschmeichelnder Stimme.
 

Der kleine Dieb brachte damit Adarachs Blut in Wallungen, so daß dieser unwillkührlich die Arme sinken ließ, auch wenn er seinen Griff nicht lockerte. Die Füße des Jungen waren nun wieder auf festem Boden, aber er blieb ruhig stehen, eine Armlänge vor Adarach, mit einem siegessicheren Lächeln auf den Lippen. Adarach löste seine Rechte vom Handgelenk des Jünglings, strich mit dem Daumen über dessen verführerisch volle Lippen. Ja, der Junge konnte sich seines Sieges sicher sein. Adarach zog den schwarzbeschopften Kopf an dem noch zarten Nacken zu sich heran, drückte seine eigenen Lippen auf die fremden, kostete das süße Fleisch, berauschte sich am Duft des weichen Haars, träumte für einen Moment, Amemna mit seinen Armen zu umfangen. Um Atem zu holen löste er sich schließlich, vergaß für einen Moment, wen er da geküßt hatte und lockerte den Griff um das schmale Handgelenk, doch der Jüngling blieb stehen, schnappte selbst nach Luft.
 

"Gib mir Geld, wenn du mehr willst", sagte er dann ganz geschäftsmäßig. Adarach erflehte für einen Moment, er wäre betrunken, dann hätte er sich einbilden können, der Bursche würde sein Verlangen teilen, während es wohl nur dessen Körper war, der rein mechanisch auf die Stimulation antwortete. Er zuckte immerhin nicht zurück, als Adarach ihm das Gewand raffte und seine Hände besitzergreifend auf das jugendlich glatte Gesäß legte. Es war fest und nachgiebig zugleich, drückte es sich nicht sogar Adarachs vordringenden Fingern entgegen? Auch wenn die Götter der Nordstädler angeblich diejenigen Männer verdammten, die sich anderen Männern hingaben, dieser Junge hatte damit offenbar Erfahrung. Adarach ließ den Jüngling seine Erregung fühlen, zog den schlanken Körper in eine enge Umarmung, verwünschte seinen Panzer, durch den er nichts von dem warmen Leib des anderen fühlte. Adarach schmeckte noch einmal die Lippen, sogar die Zunge des Jünglings, hörte ein kleines Keuchen, spürte ein Erzittern. So hatte Amemna in seinen Armen gezittert. Er hatte Amemna so sehr gewollt in jenem Moment, so sehr, wie er ihn jetzt wollte. Das Verlangen nach dem jungen Oshey war so überwältigend, daß Adarach einen Moment meinte, das Herz müsse ihm in der Brust zerspringen. Er versuchte, den Schmerz in seiner Brust zu ignorieren, schloß das Auge, um sich einzubilden, die feinen Haare an seiner Wange seien weiß, die schwarz-gelb gesprengelten Augen grau und die Wand an seinem Rücken nicht die der Stadthalle von Tarib sondern die des Säulengangs um den Palast des Schatzmeisters von Ma'ouwat. Das Blut rauschte in seinen Ohren und ...
 

"Gib mir zwanzig Tar und ich ... ahh...", stöhnte der Junge leise.
 

Das Geräusch langer Schritte in genagelten Sandalen auf dem Steinboden der Stadthalle, begleitet vom leisen Klingeln eines auf dem Rücken getragenen Schildes, dessen Rand gegen einen nietenbeschlagenen Schwertriemen stieß, ließen Adarach innehalten und das Auge öffnen.
 

Kaharach salutierte wenige Schritte vor ihm, sah sehr offensichtlich über den zerzausten, abgerissenen Streuner in den Armen seines Mawek hinweg. "Das Heer der Hannaiim ist in Sicht", verkündete er. "Die Vorhut hat Tarib jetzt wohl schon erreicht."
 

Adarach ließ erschüttert ab von dem Jungen. Er würde Amemna im Kampf gegenüber stehen. Sie würden versuchen müssen, sich gegenseitig umzubringen.
 

* * *
 

29. Die Aussprache

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

29. Die Aussprache (jugendfrei)

Merat sah ratlos auf den Papyrus vor sich. "Nefut, ich...", las sie in den etwas eckigen Schriftzeichen, die sie der Handschrift ihres Vaters nachempfunden hatte, versuchte sich wieder an die vor dem Besuch des Priesters gefundene Formulierung zu erinnern.
 

"Herrin, soll ich Amatis Füße waschen, nachdem der fremde Mann sie dort... berührt hat?" fragte die Amme vom vorderen Teil des Zeltes. Tabit mußte wohl den ehrfürchtigen Kuß des Priesters des Ungenannten meinen. Die Amme war eben doch nur ein ungebildeter Trampel, der nie aus den Zelten herausgekommen war, herzensgut zu ihrem Schützling, aber unfähig, sich in einer anderen Welt als der ihr bekannten zurecht zu finden.
 

Merat stand also wieder auf, kam nach vorne, streichelte ihrer Tochter sanft über die wunderbar weichen Löckchen. "Tabit, das war ein Priester, ein heiliger Mann, so wie die Priester Orems."
 

"Aber er sah gar nicht so aus", protestierte Tabit.
 

Merat sah, daß Losat ein freches Grinsen dadurch zu verstecken suchte, daß sie den Kopf beiseite drehte und vorgab, sich um das Kochfeuer zu kümmern. "Tabit", versuchte Merat es geduldig, "das war kein Priester des Nächtlichen Träumers, das war ein Priester des Ungenannten, ein Priester der Städter. Die tragen eben weiße statt schwarze Gewänder. Er hat Amati gesegnet, weil sie durch meinen Mann Anteil am Blut der Unirdischen hat."
 

"Es sah aber ganz anders aus als eine Segnung durch unsere Priester", widersprach Tabit.
 

Im Stillen verfluchte Merat die Hartnäckigkeit ihrer Bediensteten. "Es war nichts Anstößiges an seiner Berührung, sei dessen versichert", beharrte sie nun ihrerseits. Schließlich war sie hier die Herrin. Und anscheinend hatte ihre Stimme doch einiges ihrer Verärgerung transportiert, denn Tabit schwieg betreten.
 

"Er hat sich der Kleinen unterworfen, Tabit", sagte plötzlich eine Jungenstimme. Merat hatte den Knaben ganz vergessen.
 

"Wo gehörst du eigentlich hin?" fragte sie nun etwas schärfer, als die Höflichkeit gegenüber einem Gast es gebot. "Bist du der Sohn von einem der Mawati, oder dienst du einem der Männer hier?" Der Junge sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. "Ein Kind in deinem Alter trägt doch noch keine Waffen. Kinder gehören überhaupt nicht in ein Heerlager", rechtfertigte Merat sich. Wenn ihr nur wieder die Formulierung einfallen würde. Sie war sich vor dem Eintreffen des Priesters so sicher gewesen, daß es genau die Worte waren, die ihr Vater in dieser Situation auch gebraucht hätte.
 

"Es gibt viele Kinder hier im Heerlager", widersprach der Junge ihr. "Die meisten sind die Söhne und Töchter der Söldner."
 

Dieser vorlaute Junge fehlte ihr gerade noch. "Aber du bist nicht mein Sohn. Warum bist du in meinem Zelt? Ist mein Gatte für dich verantwortlich?"
 

Der Junge sah sie nur ratlos an, aber Losat strich ihm über die Schulter, sah Merat herausfordernd an. "Er brauchte jemanden, der ihn tröstet und er gehört zur Wannim eures Gatten, Herrin. Braucht ihr noch mehr Gründe, um ihn in eurem Zelt willkommen zu heißen?"
 

Merat biß die Zähne zusammen, um nicht ihre Meinung zu dem Thema herauszuschreien. Sie sah, wie Amati sich unruhig auf Tabits Schoß bewegte, als merke sie, wie aufgebracht ihre Mutter war. Merat atmete einmal, zweimal tief ein und aus. "Dein Vater gehört also zur Wannim meines Gatten, Junge?" schloß sie aus dem Gehörten.
 

"Der Junge heißt Nefut, Herrin", warf nun Tabit ein, wiegte Amati auf ihrem Schoß, während Losat den Jungen an ihren Busen drückte und ihm über das Haar strich.
 

"Wenn die Wannim wieder im Lager ist, gehst du zu deinem Vater", entschied Merat mitleidslos. "Bis dahin werden sich meine Frauen um dich kümmern. Aber du kannst nicht länger als bis zur Rückkehr deines Vaters hier bleiben, dafür bist du zu alt." Wieder ein solch vorwurfsvoller Blick von Losat. Natürlich, der Knabe war noch lange nicht alt genug, als daß ihm die Stirnlocke geschoren worden wäre, wenn er denn eine gehabt hätte. Bei jedem Stamm hätte er als Kind gegolten. Aber wie kam sie dazu, irgendwelche Bastarde der Männer aus Amemnas Wannim aufzunehmen, als wären es ihre eigenen Kinder? Der Junge war nicht einmal ein Oshey. Dann drehte sie sich um und ging wieder nach hinten zu dem widerspenstigen Brief, den sie an einen anderen Nefut schreiben wollte.
 

*
 

Auch wenn es Merat nicht gelang, die treffende Formulierung zu rekonstruieren, die sie früher am Tag gefunden hatte, war es nun doch ein halbwegs passabler Brief geworden, in einer Handschrift, die täuschend der von Murhan Darashy glich. Mit dem Daumen konnte sie den Brief natürlich nicht siegeln, ihre Finger waren viel kleiner als die ihres Vaters, aber sie konnte ihre große Zehe auf das heiße Wachs drücken, das würde zumindest auf den ersten Blick den Anschein erwecken, daß tatsächlich ein Mann diesen Brief verschlossen hatte. Und welchen Grund hatte Nefut, ihr zu mißtrauen, wenn sie ihm sagte, daß dieser Brief von Murhan stammte? War das Siegel erst einmal erbrochen, konnte man nicht mehr feststellen, wie es genau ausgesehen hatte, und niemand würde sie als Fälscherin verdächtigen. Merat freute sich über ihren nach allen Seiten abgesicherten Plan, las das Schreiben noch einmal durch:
 

"Nefut, ich bedaure inzwischen meine Entscheidung, dich verstoßen zu haben. Im Laufe der Jahre sehnte ich mich immer mehr danach, mich mit meinem Erstgeborenen auszusöhnen, insbesondere nachdem ich erfahren hatte, wie viel Schuld auch meine dahingegangene Gattin an dem Geschehenen trug. Leider bekam ich erst vor kurzem Nachricht, daß ein Mann, dessen Beschreibung auf Dich paßt, sich bei den Hannaiim als Söldner verpflichtet habe, so daß ich meine letzte noch lebende Tochter Merat damit beauftragen werde, bei dem Besuch ihres Mannes auch nach Dir zu suchen und Dir diesen Brief auszuhändigen, wenn sie davon überzeugt ist, tatsächlich ihrem Bruder gegenüber zu stehen.
 

Nefut, ich bitte Dich, willige ein, Dich mit mir zu treffen und den Zwist zu begraben, damit ich Dich wieder in die Familie aufnehmen kann. Ich schlage dafür die Nahusa-Oase zur Zeit der Sonnenwende vor, da unsere Zelte zu diesem Zeitpunkt in ihrer Nähe stehen werden. Solltest Du verhindert sein, schicke mir bitte durch Merat einen Brief.
 

Dein Vater Murhan."
 

Es war damit alles gesagt, es paßte zu Merats bisheriger Geschichte und klang auch glaubwürdig genug, denn ein alter, vom Leben und den Schicksalschlägen gebeutelter Mann mochte sich tatsächlich danach sehnen, seinen verstoßenen Erstgeborenen wieder als seinen Sohn und Erben in die Arme zu schließen. Daß der Weg der Darashy zu dem genannten Zeitpunkt nahe der Nahusa-Oase vorbeiführte, konnte auch Amemna bestätigen, wenn sich Nefut nicht noch selber daran erinnerte. Zufrieden faltete sie den beschriebenen Papyrus, verschloß ihn mit etwas Wachs und drückte den großen Zeh ihres rechten Fußes darauf. Wirklich sah das Ergebnis wie der Abdruck eines großen, männlichen Daumens aus. So konnte es Merat gelingen, Nefut aus Amemnas Zugriff zu befreien: sie würde den Scheidebrief annehmen, Nefut den Brief aushändigen und ihm sagen, wie sehr Murhan in den vergangenen Jahren mit der Verstoßung seines einzigen leiblichen Sohnes gehadert habe. Dann würde Nefut nicht anders können, als bei der nächsten Gelegenheit in die Nahusa-Oase zu reisen, um sich endlich mit seinem Vater auszusöhnen. Und den gleichen Weg konnten Bruder und Schwester ja auch gemeinsam zurücklegen.
 

Merat war noch dabei, ihre Schreibutensilien wegzuräumen, als von außen ungewohnte Geräusche und unbekannte Männerstimmen an ihr Ohr drangen. Natürlich, die Wannim war von dem Aufklärungsritt zurückgekehrt und nun würde der Knabe Nefut sie endlich wieder verlassen. Merat ging in den vorderen Teil des Zeltes, registrierte, daß Nefut gleich aufsprang, als sie näherkam. "Dein Vater ist wieder da", sagte sie, deutete auf die Gruppe von vier Männern, die vor dem Mannschaftszelt stand. Allerdings war nur ein und noch dazu recht junger Mann in Osheymantel und mit Fischerturban darunter.
 

"Da ist nur Oremar", sagte Nefut, "das ist doch nicht mein Vater." Die anderen drei Männer verabschiedeten sich, gingen die Zeltgasse weiter und Oremar verschwand im Mannschaftszelt.
 

Jetzt würde der artig dastehende und erwartungsvoll aus der Zeltöffnung schauende Knabe also noch länger hier bleiben! Wer von den Mawati war denn nun der Vater des Knaben? Etwa ihr Bruder Nefut? Amemna konnte sie immerhin ausschließen. Angesichts der Tatsache, daß ihr Mann nicht einmal den Anstand hatte, seine Männer gemeinsam zurück zu den Zelten zu schicken, verflüchtigte sich Merats Hochgefühl über den erfolgreich gefälschten Brief zunehmend. Eine weitere Gruppe von Männern ging die Zeltgasse entlang, keiner der 'Mawati' war dabei, noch einmal zwei Männer, schwarzhäutige Südländer, in ein angeregtes Gespräch vertieft. Was machte sie mit dem Jungen, wenn gerade der Mann am längsten ausblieb, der Nefuts Vater war? Dann mußte sie wohl oder übel dulden, daß er die Mittagsruhe in ihrem Zelt verbrachte, wollte sie nicht vor ihren eigenen Dienerinnen herzlos erscheinen. Aber der Junge hatte hier nichts zu suchen, er gehörte einfach nicht zur Familie! Allein die vage Aussicht, möglicherweise gegen ihre eigenen Wünschen handeln zu müssen, ließ ihre Laune noch schlechter werden. Natürlich war es nicht ungehörig, den Jungen in ihrem Zelt zu beherbergen, er war schließlich noch ein Kind, aber wem würde er es hinterbringen, in welcher Form sie Amemna erklärte, daß sie nun die Scheidung anzunehmen gedächte? Wem würde er erzählen, wenn sie ihren Bruder Nefut in ihr Zelt bat?
 

Tabit erhob sich schon und trug die schlafende Amati in den hinteren Zeltraum, legte sich vermutlich selbst auf ihren Schlafplatz neben der Wiege. Aber der Junge konnte nicht einfach am Kochfeuer seine Mittagsruhe halten. Anscheinend gingen Losat ähnliche Gedanken durch den Kopf. "Herrin, wenn ich mich neben Tabit bette, kann der Junge auf meinem Lager im vorderen Teil des Zeltes schlafen."
 

"Ich hoffe, es wird nicht nötig sein", antwortete Merat abwesend. Da näherte sich doch einer der Mawati. Das war Derhan.
 

"Da ist er ja", rief der Junge in dem Moment freudig, umarmte Losat zum Abschied und rannte aus dem Zelt, um Derhan zu begrüßen.
 

"Geh hin und erkläre ihm, warum Nefut bei uns war", wies Merat ihre Dienerin an. Wo war eigentlich Hamarem, der Zweite der Wannim, geblieben? Er wollte doch zur Mittagsstunde wieder bei den Zelten sein. Und wann kamen Nefut und Amemna? Sie durften doch keine Gelegenheit haben, über das Kind, das in Amemnas Bauch wuchs, zu sprechen. Das würde Merats ganzen schönen Plan hinfällig machen.
 

Losat kehrte nach einem kurzen Gespräch mit Derhan und einem Abschiedskuß für den Knaben wieder zurück. "Warum begebt ihr euch nicht zur Ruhe, Herrin?" fragte sie.
 

Merat überlegte, was sie darauf sagen konnte. "Ich bin unruhig, wie es meinem Gatten ergangen ist", antwortete sie nach einigen Augenblicken.
 

"Ich nehme an, er hat noch Verpflichtungen. Wäre er gefallen, hättet ihr sicher schon Nachricht erhalten, Herrin", sagte Losat, und es sollte wohl beruhigend klingen. Welcher Art mochten Amemnas Verpflichtungen sein? Hatte er wieder ein Stelldichein mit einem seiner vielen Liebhaber? Oh, natürlich, der Ostler lag krank im Zelt seines Herrn darnieder, aber was war mit Hamarem, mit dem Amemna sich in der Nacht ja schon vergnügt und auch so intim unterhalten hatte? Und dann gab es noch Nefut, der Amemna so hingebungsvoll und offensichtlich schon seit einiger Zeit begattete.
 

"Herrin, eure Besorgnis hilft euch doch auch nicht weiter", sagte Losat mit freundlichem Mitgefühl. Glücklicherweise hatte sie also Merats Miene falsch interpretiert. "Wartet einfach ab oder laßt mich für euch Ausschau halten, Herrin. Ich verspreche, daß ich euren Mann gleich zu euch bringe, wenn er sich bei den Zelten blicken läßt. Legt euch doch schlafen."
 

"Ich glaube nicht, daß ich schlafen kann", gab Merat überzeugt zurück.
 

*
 

Merat gab schließlich nach, legte sich auf ihr Lager und versuchte, in den Lebensgeschichten der Weisen und Heiligen zu lesen, mit denen sie sich einen Gutteil der Langeweile auf der Reise vertrieben hatte. Aber sie war zu aufgewühlt, und es widerstrebte ihr, sich gerade jetzt in die Beschreibung von Narzims asketischem Streben nach wahrer Erleuchtung, sein Ablegen aller weltlichen Güter und seine strikte Ehelosigkeit zu vertiefen. Sie legte die Schriftrolle weg, ließ ihre Gedanken zu Nefut schweifen, ihrem Bruder, dem Sohn ihres Vaters, aber nicht ihrer Mutter. Nichts sprach in den Geboten der Weisen und Heiligen dagegen, ihn zum Mann zu nehmen - außer der Tatsache, daß er aus dem Stamm verstoßen worden war. Um Murhans Segen zu bekommen, mußte sie ihn davon überzeugen, daß Nefut durch die vergangenen siebzehn Jahre geläutert worden war und sich danach sehnte, sich mit seinem Vater zu versöhnen. Das würde aber ein gutes Stück mehr Arbeit kosten, als einen Brief zu fälschen, denn Murhan hatte die unangenehme Fähigkeit, seine Tochter sehr schnell zu durchschauen, wenn Merat versuchte, ihm etwas zu verheimlichen oder vorzumachen.
 

"Herrin, euer Gatte ist da. Ich habe ihm schon den prachtvollen Mantel gezeigt, den der Priester des Ungenannten ihm gebracht hat", sagte Losat da plötzlich.
 

Merat schreckte auf. War sie doch eingenickt oder hatte es bis zum Eintreffen Amemnas wirklich gar nicht allzu lange gedauert? Merat sprang auf, warf sich das Übergewand über die Schultern, hastete in den vorderen Bereich des Zeltes. Wenn er mit Nefut hier aufgetaucht war... aber er war allein, hielt den schweren Prachtmantel ohne sichtbare Anstrengung, aber mit skeptischem Gesichtsausdruck auf Armlänge vor sich.
 

"Das ist mirr unheimlich", sagte er leise, zu dem Mantel oder zu Merat, fixierte dabei das Gesicht eines der gestickten Unirdischen.
 

"Paßt er dir denn?" fragte Merat betont beiläufig.
 

Amemna sah sie überrascht an, als habe er ihren geräuschvollen Auftritt gar nicht mitbekommen. "Diesen Mantel kann ich doch nicht trragen. Ich kann ihn eigentlich nicht einmal annehmen, aberr das ist nun ja wohl su spät, nicht wahrr?"
 

Merat nickte und versuchte, sich ihren Triumpf nicht anmerken zu lassen. "Bitte, leg ihn an", bettelte sie dann.
 

Wieder ein zweifelnder Blick auf den Mantel, dann auf Merat, die sich bemühte, besonders bittend, besonders liebevoll zu schauen. Wieso wollte Amemna ihr nun wieder den Plan verderben und den Mantel verweigern? "Also kut", ließ Amemna sich erweichen. Er legte den Prachtmantel vorsichtig wieder auf die Tücher, in die er verpackt gewesen war, zog den schon etwas schäbigen schwarzen Mantel aus, nahm dann den Prachtmantel wieder auf, legte ihn wirklich um die Schultern, rückte ihn zurecht.
 

Merat bekam einen Schreck, als ihr Mann plötzlich wie von innen heraus zu leuchten schien, als wäre er wahrhaftig ein Unirdischer reinen Blutes, von denen auch in den Lebensgeschichten der Weisen und Heiligen an vielen Stellen berichtet wurde. Ob das nur der Glanz der Gold- und Silberfäden war?
 

Überrascht sah Amemna an sich herab. "Err paßt errstaunlich kut", sagte er, strich mit der Hand über die Stickereien der Flügel, die tatsächlich wirken, als wüchsen sie ihm aus dem Rücken, als lege er sie schützend um sich. Für einen Moment ergriff Merat die Ehrfurcht vor dem Göttlichen, das sich in Amemnas weißen Haaren so unzweifelhaft zeigte, und der Anflug der Erkenntnis, daß dieses Göttliche der Menschheit zugedacht war und nicht einem Menschen allein, flimmerte durch ihr Bewußtsein.
 

Dann legte Amemna den Mantel wieder ab, so rasch, als habe er sich daran verbrannt, und das prachtvolle Kleidungsstück stackte zu Boden. Doch er bückte sich, hob den Mantel auf, legte ihn zusammen und verpackte ihn wieder. "Ich brrauche ein krräftigerres Pferrd, wenn ich diesen Mantel im Kampf trragen soll", sagte er, schüttelte den Kopf. "Ich bin doch kein Panzerrreiterr."
 

Dann griff er nach einer Kanne, die neben den Vorräten gestanden hatte, Merat aber unbekannt vorkam. Amemna mußte sie mitgebracht haben, und sie enthielt anscheinend eine Flüssigkeit. "Laß uns su deinem Lagerr kehen, diesen Oinos trrinken und..."
 

"Laß uns reden", warf Merat mit kaum unterdrücktem Ärger ein. Wieso brachte Amemna dieses Rauschgetränk der Ostler mit in ihr Zelt? War es nicht schlimm genug, daß er offenbar schon einiges davon getrunken hatte? Daß er sich von einem Ostler nach Ostlerart begatten ließ? Nie zuvor war sie so sehr davon überzeugt gewesen, daß sie die abgelehnte Scheidung nun doch annehmen mußte. Amemna war kein Oshey, auch wenn er sich wie einer kleidete, sich bemühte, wie einer zu reden. Er war und blieb ein Barbar von den Westlichen Inseln, das Leben einzig auf den Lustgewinn ausgerichtet.
 

Amemna ließ sich nicht berirren, winkte Losat, ihm zwei Becher zu reichen und ging dann voran in den hinteren Zeltbereich. Tabit schnarchte leise auf ihrem Lager, Amati lag ruhig in ihrer Wiege und Amemna sah so wehmütig auf das völlig entspannt daliegende Kind, das im Schlaf aber dennoch sanft lächelte, daß Merat sich das erste Mal seiner weiblichen Natur tatsächlich bewußt wurde. Aber dann umrundete er die letzte der drei Zeltbahnen, die Merats Lager vor zufälligen Einblicken schützten, legte Schwert und Gürtel ab und ließ sich auf den Decken und Kissen nieder. Wie schmuddelig sein Untergewand war, mit braunen Flecken am Saum, großen Schatten auf den Ärmeln, als habe er Verschmutzungen nur oberflächlich ausgewaschen. Wenn er als ihr Gatte zu ihr kam, konnte sie doch die Höflichkeit erwarten, daß er sich zuvor für sie zurecht machte.
 

Finster sah sie auf ihn herab, wie er in Südländerart auf ihrem Lager saß, einen Becher mit dem Oinos füllte, ihn zu Merat hinaufreichte. Das war doch eine städtische Mode, gemeinsam Oinos zu trinken bevor man das Lager teilte. "Ich bin eine Oshey!" fauchte Merat ihren Mann an, spürte, wie der angestaute Zorn, die Enttäuschungen der vergangenen eineinhalb Jahre ihrer Ehe plötzlich begannen, aufzuwallen, übermächtig anzuwachsen und nun dringend ein Ventil brauchten. "Ich dachte, ich hätte einen Oshey geheiratet, nicht einen Ostler. Du versuchst ja nicht einmal, dich angemessen zu benehmen!"
 

Amemna schüttelte den Kopf, sah sie an. "Merat, du weißt, ich wuchs auf den Westlichen Inseln auf", sagte er ruhig in der Südländersprache, trank einen Schluck von dem starkriechenden Oinos aus dem Merat zugedachten Becher. "Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht."
 

"Aber mir ist es unerträglich, wie du dich plötzlich benimmst", beschwerte Merat sich, fiel nun ebenfalls in die Südländersprache, mit der sie dank ihrer Ziehmutter aufgewachsen war. "Und ich meine nicht den Oinos, wenn ich sage, du benimmst dich wie ein Ostler. Ich meine deinen Bettgenossen. Hast du denn gar keinen Anstand mehr? Was soll aus mir und Amati werden, wenn dir so wenig an einem sittsamen Betragen gelegen ist?"
 

"Sie erdrücken mich, eure Osheysitten, die Reglementierung jeder Lebensäußerung", gab Amemna aufgebracht zurück. "Ich ertrage es nicht mehr, nur noch Mann sein zu dürfen, wenn ich in den Zelten lebe, egal ob ich unter Menschen bin oder allein mit dir in unserem Zelt. Ich bin von der Göttin beschenkt. Ich bin nicht nur ein Mann, und ich bin nicht nur eine Frau! Ich liebe dich und ich liebe Amati, aber hast du eine Ahnung, was ich fühle, wenn mir bei den Darashy ein ansehnlicher Mann begegnet? Ich muß ständig ebenso auf meine Blicke und meine Hände achten, wie auf meine Worte. Ich fühle mich wie ein Gefangener deiner Osheysitten, ich fühle mich, als sei ich dein Gefangener.
 

Und damit nicht genug, denn nicht einmal heimlich könnte ich mich einem dieser Männer nähern, denn Naeïs Oshey, euer frommer Lebensweg, läßt das nicht zu. Daß es auch auf dieser Seite der Wüste Männer gibt, die einem anderen Mann einen verliebten Blick schenken, habe ich erst auf meiner Reise nach Hannai gelernt. Aber ich wollte dir nicht wehtun, ich wollte verhindern, daß du des Verhaltens deines Mannes wegen in der Achtung der Darashy sinkst, also habe ich dir einen Scheidebrief geschickt, als sich plötzlich eine anständige, dem Naeïs Oshey entsprechende Gelegenheit ergab. Ich wollte dich und Amati schützen vor der Schande, Verwandte eines Mannes zu sein, der bei anderen Männern liegt. Und anstatt mir diesen Ausweg zu lassen, der doch ganz sittsam gewesen wäre, reist du mir nach, kommst hierher in das Heerlager, noch dazu mit Amati, so daß ich euch erneut aus meinem Herzen reißen muß. Ich kann nicht mehr lügen! Ich werde nicht wieder zurückkehren zu dem Leben eines Oshey. Denn das bin ich wahrhaftig nicht." Dann trank er hastig den Becher leer, füllte ihn noch einmal aus der Kanne und stürzte auch diesen Oinos mit großen Schlucken herunter.
 

Merat hatte mehrfach etwas einwerfen wollen, aber Amemna hatte so schnell gesprochen, ganz anders, als wenn er sich der Nordländersprache bediente, daß sie keine Gelegenheit gefunden hatte, Gehör zu erhalten. Und das hatte ihren Zorn, der sich bei einigen der Worte Amemnas in Mitleid zu wandeln begonnen hatte, erneut entfacht. "Aus Liebe zu mir hast du dich scheiden lassen?" fragte sie nun also höhnisch, als Amemna endlich verstummt war, auch wenn sie wenige Augenblicke zuvor noch versucht gewesen war, ihren Mann tröstend in die Arme zu schließen. "Aus Liebe hast du mich zu deinem Ostler und deinem anderen Liebhaber auf das Lager gebeten? Aus Liebe bespringst du mich wie ein Hengst seine Stute, anstatt mir liebevolle Berührungen zu schenken, anstatt einfühlsam meine Lust zu steigern und zu befriedigen? Aus Liebe entzündest du in mir bei jeder unserer Vereinigungen einen Feuerbrand, so daß nach wenigen Augenblicken nichts anderes bleibt als Asche?"
 

Amemna sah sie bestürzt an. "Ich tat es, weil ich dachte du wolltest es so. Warum hast du nie etwas gesagt?"
 

"Weil ich es nicht anders kannte!" rief Merat frustiert. Ihr war egal, ob Tabit oder sogar Losat aufwachten, sie würden sie ohnehin nicht verstehen. "Ich habe nicht die Fünfhundert Künste studiert, und ich habe nicht andere Männer besucht, bevor ich auf dein Lager kam, so wie du damals in Ma'ouwat mit den Dienerinnen der Hawat verkehrtest. Gestern nacht erfuhr ich das erste Mal, wie es ist, eine wahrhaft befriedigende Vereinigung zu erleben, eine Vereinigung, nach der man nicht innerhalb von Augenblicken völlig ausgebrannt ist, bar jeder Lust, sondern andauerndes Begehren empfindet. Ja, ich habe am Anfang genossen, daß du mir kaum Zeit zum atmen gabst, doch es ist nichts, was ich mein Leben lang ertragen kann. Ich wünschte wirklich, du hättest mich einmal so genommen, wie es Nefut gestern Nacht tat." Erschrocken senkte Merat ihren Blick nach diesem unfreiwilligen Bekenntnis.
 

"Nefut ist ein wahrhafter Oshey", stimmte Amemna ihr zu, "und er ist ein wirklich passabler Liebhaber. Du willst also, daß ich dir gebe, was Nefut dir gegeben hat - oder willst du eher Nefut?"
 

Unwillkürlich sah Merat wieder auf, doch Amemnas Blick war so durchdringend, daß sie ihm nur kurz standhalten konnte und die Augen wieder zu Boden senkte. Amemna trug ein Kind von Nefut. Und sie fühlte sich plötzlich, als wolle sie einer anderen Frau ihren Gatten wegnehmen, denn natürlich wollte sie Nefut. Ihr Schweigen reichte Amemna anscheinend als Antwort, denn er sagte nichts mehr.
 

Dann erhob er sich plötzlich von den Kissen, sank vor ihr auf die Knie, verneigte sich demütig, drückte seine Stirn auf die Teppiche, so dicht vor Merat, daß sein feines Haar ihre Zehen berührte. "Ich bitte dich dafür um Verzeihung, daß ich dir ein so schlechter Ehemann und Liebhaber war. Vielleicht wärst du bei Letzterem weniger unzufrieden mit mir, wenn ich mehr wie Nefut wäre, aber ich bin nicht Nefut, ich bin ich. Bitte nimm meinen Scheidebrief an, so wäre uns beiden geholfen."
 

Diese einfühlsame Entschuldigung erweckte in Merat plötzlich die tiefe Zuneigung zu Amemna, die sie ansonsten in mancher einsamen Stunde angesichts ihrer gemeinsamen Tochter ergriffen hatte. Sie erinnerte sich der Geborgenheit, die sie in seinen Armen so oft gefühlt hatte, ihren aus Verzweiflung geborenen Zorn über den Scheidebrief und erkannte plötzlich, daß sie sich nicht von Amemna lösen konnte, ohne den größten Teil ihrer selbst aufzugeben. Sie kniete sich vor ihn, hob mit beiden Händen sein Gesicht zu sich, strich ihm über das weiße Haar, das fast so weich war wie die Locken von Amati, über sein knabenhaft glattes Kinn, die zarte Haut seines Halses. Allein dieses Gefühl an ihren Händen wollte sie niemals missen müssen. "Ich würde die Scheidung so gerne einfach akzeptieren, aber du hältst mein Herz gefangen", sagte sie unter Tränen. "Ich wollte dir sagen, daß ich nun die Scheidung will, aber ich liebe dich zu sehr dafür, auch wenn es mich krank macht, dich in der Nähe dieses Ostlers zu sehen."
 

Amemna trocknete ihr zärtlich die Tränen aus dem Gesicht. "Also darf ich Nefut weiter küssen?" fragte er mit einem schalkhaften Blick.
 

Merat wollte ihn zugleich schlagen und umarmen, und sie entschied sich für die Umarmung. "Es ist eine so ausweglose Situation", flüsterte sie an seiner Kehle. "Du paßt wahrhaftig nicht in die Zelte, aber ich will dich nicht verlieren. Und ich will dich nicht teilen. Andererseits weiß ich nicht, ob ich eifersüchtig auf Nefut bin oder auf dich."
 

Nach einem Moment des Schweigens legten sie sich auf das Lager und Amemna umfing sie mit seinen starken Armen, tröstete sie allein durch seine Berührung. "Auch ich will dich nicht verlieren, meine Geliebte. Es gibt keine andere Frau die ich so liebe wie dich." Er streichelte über ihr Haar, küßte sie auf die Stirn. "Und ich wüßte nicht, ob ich dich Nefut oder Nefut dir vorziehen würde, wenn ich mich für einen von euch beiden entscheiden müßte. Warum können wir uns denn dem Willen der Göttin nicht einfach ergeben? Er kann ohnehin nicht zurückkehren zu den Stämmen, warum lassen wir drei uns also nicht in einer der Städte nieder, wenn dieser Krieg vorbei ist?"
 

"Und wenn ihr ihn nicht beide überlebt?" fragte Merat erschocken, auch wenn sie sich eigentlich fragte, was wohl Nefut zu einem solchen Plan sagen würde.
 

Amemna küßte sein Weib auf die Wange. "Natürlich werden wir ihn überleben", sagte er so selbstverständlich, daß auch Merat nicht daran zweifelte. Dann fiel ihr sein Blick auf Amati wieder ein. "Ich weiß, daß du ein Kind von Nefut erwartest", flüsterte sie.
 

"Du warst gestern Nacht noch einmal in meinem Zelt", stellte Amemna wenig überrascht fest. Hatte er sie gehört oder gar gesehen?
 

"Was wird Nefut dazu sagen, daß er uns beide bekommen soll?" sprach Merat dann endlich den Gedanken, der ihr noch immer so hartnäckig im Kopf herumging, laut aus.
 

Amemna lachte leise. "Er wird es genießen, oder er wird uns hassen."
 

Und wie würde sie selbst damit leben können? Es war im höchsten Maße unmoralisch und Murhan würde nie seinen Segen dazu geben, selbst wenn Nefut kein Stammesloser wäre. Es stand in völligem Widerspruch zum Wahren Weg, es war unanständig und maßlos, wie das Verhalten dekadenter Städter, aber Merat würde ihr Gewissen nicht mit dem Gebrauch des gefälschten Briefes belasten müssen, die Verbindung mit Nefut nicht auf einer Lüge aufbauen. Murhan mußte ja nicht erfahren, daß sie sich nicht allein mit ihrem Gatten in Hannai niederließ und so würde sie ihrem Vater weitere Seelenpein ersparen, ja vielleicht schenkte es Murhan sogar Befriedigung zu wissen, daß es seiner Tochter gelungen war, ihren Mann davon zu überzeugen, von seinem Scheidungswunsch abzulassen. Und sie müßte weder Amemna noch Nefut manipulieren, um die beiden voneinander zu trennen, wenn sie beide haben konnte. Vielleicht war sie selbst durch ihr Leben in Ma'ouwat verdorben, denn es war so unsagbar schön gewesen, von beiden zugleich berührt zu werden, sich von beiden begehrt zu fühlen. Merat war, als hätte sich mit dem Akzeptieren dieser Lösung der Knoten in ihrem Leib, den sie seit dem Erhalt des Scheidebriefes zu spüren geglaubt hatte, plötzlich aufgelöst. Amemna liebte sie wohl wahrhaftig, wenn er seinen Geliebten mit ihr teilen wollte. Sie suchte die Lippen ihres Gatten und küßte sie zärtlich, schmeckte überrascht den süßen Oinos. Amemna erwiderte den Kuß sanft, gar nicht in seiner sonstigen stürmischen Art, und Merat kuschelte sich in seine Umarmung, so daß sie schließlich mit dem Rücken zu ihm lag, den Kopf auf seinem Oberarm, die Wange nahe an einer Ader, in der sie sein Blut durch das Untergewand pulsieren spürte. Und auch an einer anderen Stelle pochte anscheinend sein Blut, aber er hielt seine Hände ruhig um sie gelegt, als schlafe er.
 

Amemnas offensichtliches Begehren, sein vertrauter Geruch, weckte die Lust in Merat, und sie drückte ihr Gesäß an ihn, führte eine seiner Hände durch die Öffnung ihres Untergewandes. Sanft streichelte Amemna die Rundung ihrer Brust, küßte höchst erregend ihren Hals, schob dann langsam mit der freien Hand den Stoff von Über- und Untergewand von ihrer Schulter, bedeckte diese mit einer Spur aus Küssen, die Merat dahinschmelzen ließ. ... So sanft berührte er sie, daß Merat sich durch einen Blick vergewissern mußte, daß es tatsächlich ihr Gatte war, der hinter ihr lag, ihre erwartungsvollen Lippen küßte, auf den von ihr begonnenen Kampf ihrer Zungen einging, während er sie liebkoste. Allein den Duft des Oinos aus Amemnas Mund einzuatmen, schien Merat zu berauschen. Ströme des Wohlgefühls gingen von seinen Berührungen aus und erhitzten Merat aufs Höchste, so daß sie begann, sich eine Vereinigung herbeizusehnen. "Ich bin bereit für dich", keuchte sie, als Amemnas Mund erneut zu ihrem Hals wanderte.
 

"Und ich bin bereit für dich", hauchte er in ihr Ohr, ... Ich habe dir so Unrecht getan, dachte Merat, wand ihren Kopf erneut zu ihm um, erhaschte hinter dem Schleier aus feinem Haar einen verträumten Blick aus seinen hellen Augen. Wie schön er war, seine weißen Haare im Kontrast zu seiner makellosen, dunklen Haut.
 

...
 

"Süße Hawat", flüsterte sie und dankte der Göttin für dieses Geschenk, als die Anspannung nachgelassen hatte. Sie drehte sich zu ihrem Gatten. ... "Ich danke dir", flüsterte sie.
 

Lächelnd sah Amemna sie an. "Ich stehe dir zur Verfügung, wann immer du es wünscht", versprach er, strich ihr ein paar Haare aus dem Gesicht.
 

"Wir sind noch immer im Heerlager der Tetraosi", erinnerte Merat ihn, strich wieder über sein weiches Haar, zog die Konturen seines so wunderschönen Gesichtes nach. Wie hatte sie nur jemals die Liebe, die sie für ihn empfand, vergessen können? Ja, sie begehrte auch Nefut, aber würde sie wirklich ertragen können, Amemna mit ihm zu teilen? Mußte sie möglicherweise auch dulden, den Zweiten oder gar den Ostler in Amemnas Armen zu sehen?
 

"Woran denkst du?" fragte Amemna plötzlich, sah sie neugierig an.
 

"Ich denke an die Zukunft von Murhans Kindern", gab Merat zurück. Hannai war doch eine schöne Stadt. Wenn sie sich von Amemnas Lohn für seine Dienste als Birh-Melack dort ein Haus kauften, konnten sie sicher sehr glücklich werden, vorausgesetzt die Eifersucht zermürbte sie nicht. Sie mußte einfach versuchen, sich immer diesen Moment des Glücks in Amemnas Armen in Erinnerung zu rufen, wenn sie begann, an ihm zu zweifeln. Sicher würden ihn weitere Liebhaber nicht erschöpfen, also konnte sie sich zumindest seiner Zuwendung sicher sein, und Hawat würde auf sie herablächeln.
 

*
 

"Herr, Herrin, der Zweite der Wannim will euch sprechen, Herr", erklang plötzlich Losats Stimme von jenseits der Zeltbahn um Merats Lager.
 

Amemna sprang sofort auf, glättete sein schmuddeliges Untergewand, legte den Gürtel um und griff nach dem Schwert, das Murhan ihm geschenkt hatte. "Bleib liegen, Keliebte", sagte er in der Nordländersprache, verschwand in den vorderen Teil des Zeltes.
 

"Was heißt, err wurrde verrhaftet?" erhob nach einigen Augenblicken Amemna plötzlich die Stimme. "Err hat doch nurr den Toten mit dirr ketrragen. Werr hat Nefut denn ankeseigt? Wenn es die Orremprriesterrschaft warr, warrum wurrdest du dann nicht ebenso verrhaftet?" Amemna klang sehr aufgebracht. Nefut war verhaftet worden? Hatte Merat das eben richtig gehört? Das konnte doch nicht wahr sein!
 

"Ich weiß nur, daß ihm von den Tetraosi angeblich okkulte Künste vorgeworfen werden. Es gehen aber Gerüchte, diese Anklage sei nur ein Vorwand, um ihn einer anderen Sache wegen in Haft zu halten", erklärte der Zweite mit seiner melodischen Stimme. Ob Amemna sich von diesen Mann als Geliebtem lossagen würde, wenn sie nach Hannai zogen? Er hatte am Morgen zwar einen recht müden, aber wie auch schon am Vortag einen sehr sympatischen, wohlerzogenen Eindruck gemacht.
 

"Wegen einerr anderren Strraftat oderr weswegen?" wollte Amemna wissen.
 

"Sicher nicht wegen einer Straftat", antwortete Hamarem auffällig gelassen, anscheinend in dem Bemühen, seinen Birh-Melack zu beruhigen. "Dann hätten sie doch keinen Vorwand für die Verhaftung gebraucht. Außerdem kann ich mir das bei Nefut nicht vorstellen. Laß uns abwarten, wie die Prozessanklage lautet." Wie konnten es die Tetraosi überhaupt wagen, den Geliebten des Birh-Melack ihrer Söldner zu verhaften? Dagegen mußte sich unter den Söldnern doch auch Widerstand regen!
 

"Ich mirr auch nicht", entgegnete Amemna nun wieder etwas leiser. "Aberr natürrlich hast du rrecht, wirr müssen erfahren, welcherr Krrund offiziell kenannt wirrd. Und werr bittet mich, sie su besuchen?"
 

"Meine... die Amapriesterin. Sie bittet um eine Unterredung", erklärte Hamarem.
 

"Dann laß uns kehen." Die beiden verließen Merats Zelt.
 

Merat, die sich nach Amemnas ersten lauten Worten auf ihrem Lager aufgesetzt hatte, stützte schwer den Kopf in die Hände. Irgendetwas mußte doch unternommen werden, um Nefut aus der Gefangenschaft zu befreien. Amemna konnte doch jetzt nicht zu einem Stelldichein im Amazelt davongehen und Nefut in Ketten leiden lassen!
 

* * *
 

30. Fürsorge

Hamarems Blick ruhte noch einen Moment auf der sanft schwingenden Zeltklappe, durch die Adí W'schad gerade eilig verschwunden war. Er mußte sofort Amemna Bescheid geben, aber was geschah so lange mit Jochawam und dem Dämon?
 

"Du hast gesagt, du würdest mir helfen", erinnerte Jochawam ihn.
 

"Das habe ich nicht gesagt", widersprach Hamarem. Die Priester des Ungenannten mit ihrem Banngegenstand mochten wirkungsvoll gegen den Dämon helfen können, Hamarem dagegen sicher nicht. "Aber ich werde jemanden finden, der dir helfen kann", versprach er.
 

"Hamarem?" erklang da erneut die Stimme der fürstlichen Wache der Darashy.
 

"Bleib hier, ruh dich aus, ich schicke dir etwas zu essen", vertröstete Hamarem den Ostler. Es mißhagte ihm, daß Jochawam so völlig undurchschaubar war, nicht nur durch den Kräftepanzer, der alle Regungen der Kräfte verbarg, sondern auch durch seine ausdruckslose Miene. Nur sein Kiefer bewegte sich, als er eine weitere Dattel aß.
 

Jochawam spuckte den Stein in die Hand. "Jawohl, Zweiter", antwortete er, nahm sich eine weitere Frucht.
 

Nicht gerade glücklich mit der Lösung ging Hamarem vor das Zelt, wo Patris geduldig auf ihn gewartet hatte. Eigentlich mußte Hamarem jetzt sofort Amemna suchen, andererseits mußte er auch irgend jemanden damit beauftragen, Jochawams Verbleib im Birh-Melack-Zelt zu beaufsichtigen und ihm richtiges Essen zu bringen, etwas gesüßten Tee, damit er seinen noch immer erschöpft wirkenden Körper stärken konnte. Vielleicht konnte Hamarem ja Patris damit beauftragen, wenn der Mann keine Mittagsruhe halten wollte.
 

Doch bevor Hamarem ihm den Auftrag schmackhaft machen konnte, sagte Patris: "Ich möchte mit euch über eine Gewissensangelegenheit sprechen."
 

"Wieso kommt ihr deswegen zu mir?" fragte Hamarem überrascht. Das erklärte aber zumindest die Unruhe der Kräfte um den jungen Mann.
 

"Weil mir euer Mann Oremar dazu geraten hatte", antwortete Patris. "Kann ich irgendwo ungestört mit euch sprechen?"
 

Der Wächter war wohl etwa so alt wie der gut zwanzigjährige Oremar, und Oremar erinnerte sich natürlich an Hamarems Funktion als Ratgeber in Fragen des Wahren Weges, die ihm in Ashans Banditenbande zuteil geworden war. Aber ein vertrauliches Gespräch war in den Zelten der Wannim während der Mittagsruhe sicher nicht möglich. "Wir könnten uns hinter das Mawati-Zelt setzen, da sieht und hört uns wohl niemand, der es nicht darauf anlegt", schlug Hamarem vor. "Bequemer hätten wir es jedoch, wenn ihr bis nach..."
 

Aber der Mann ließ Hamarem gar nicht ausreden. "Es hat keine Zeit mehr! Bitte laßt uns jetzt sofort sprechen."
 

Hamarem konnte nur hoffen, daß das Gespräch nicht allzu lange dauerte. Amemna mußte Bescheid wissen über den Verbleib seines ehemaligen Zweiten und Liebhabers. Ob es für Hamarem selbst wirklich zu gefährlich war, noch einmal eine Liebesnacht mit Amemna zu verbringen? Er konnte doch einfach eine Kanne Willkommenstrunk an sein Lager stellen und das Getränk nach ihrer berauschenden Vereinigung als Kräftigung zu sich nehmen. Bleibenden Schaden hatte er doch offensichtlich nicht erlitten, und das Erlebnis ihrer Vereinigung war so überwältigend gewesen, daß Hamarem es gerne noch einmal wiederholt hätte - allen Warnungen Ramillas zum Trotz.
 

Patris wartete hinter dem Zelt, bis Hamarem sich ins Gras gesetzt hatte, ließ sich dann ebenfalls nieder. "Was ist euer Anliegen, Patris?" fragte Hamarem höflich.
 

"Ich bin besorgt wegen der Prinzessin", eröffnete Patris ihm. Sehr überrascht über das angeschnittene Gesprächsthema forderte Hamarem den Wächter der Prinzessin auf, weiterzusprechen.
 

"Mein Fürst hat mich damit beauftragt, für die Sicherheit seiner Großnichte zu sorgen. Da jedoch die Klärung ihrer Scheidung der Grund war, aus dem sie ursprünglich die Zelte der Darashy verließ, bekam ich von ihm auch den Auftrag, dafür zu sorgen, daß die Prinzessin ehrbar bleibt, falls sie den Scheidebrief annimmt. Ich hätte mich nie dazu bereit gefunden, sie im Scheidungsfalle zu ehelichen, würde ich mich nicht schon geraume Zeit durch ihre Gestalt und ihre Art angesprochen fühlen. Und auf der Reise gelang es ihr durch ihre Fürsorge für ihre Tochter und ihre Freundlichkeit ihren Begleitern gegenüber, mein Herz vollends einzunehmen. Obwohl sie in der Fremde aufwuchs, ist sie eine wahrhafte Prinzessin und ehrt den Wahren Weg."
 

Hamarem nickte dazu etwas abwesend. Wenn der Wächter jetzt zunächst das Loblied auf seine Angebetete sang, wie lange mochten sie dann hier sitzen, bis sie zum eigentlichen Kern des Problems vordrangen? Nefuts Gefangennahme durch den Feldherrn der Tetraosi war nichts, was sie einfach ignorieren konnten, aber ebensowenig durfte sich diese Nachricht unkontrolliert in der Birh-Mellim verbreiten, denn das mochte zu Unruhe unter den Söldnern führen. Also mußte Hamarem seinem Herrn persönlich, ohne Zwischenträger, berichten.
 

"Schon als wir bei eurer Wannim eintrafen, war es für uns alle offensichtlich, daß der Birh-Melack kein Interesse mehr an seiner Frau hat, da er sie gestern weder begrüßte, noch ihr Lager besuchte. Ich vermutete, er weicht ihr einfach aus, weil es keine ehrbare Möglichkeit für ihn gibt, die Scheidung zu erzwingen. Darüber nun wuchs in mir natürlich die Hoffnung, daß die Prinzessin sich angesichts dieser sträflichen Vernachlässigung dazu entschließen würde, den Scheidebrief doch anzunehmen. Denn er macht ihr auch Schande durch seine verschiedenen Geliebten, von denen ich hier im Heerlager gerüchteweise vernahm, es soll sogar ein Mann darunter sein. Ich wollte euch um Rat zu fragen, ob ich es wagen kann, der Prinzessin von diesen Gerüchten zu berichten und ihr zuzuraten, die Scheidung anzunehmen, um nicht weiter zu leiden, weil ich in diesem Falle ja alles andere als unparteiisch bin."
 

Die Prinzessin mußte doch in der Nacht gemeinsam mit Nefut - und Jochawam - bei Amemna gewesen sein. Von den Geliebten wußte sie also schon, auch wenn Patris davon noch nichts ahnte. Aber warum hatte es nun solche Eile, daß der Mann lieber im Freien nahe dem Abort mit ihm sprach, als nach der Mittagsruhe bei einer Tasse Tee im Zelt? "Und warum hat diese Angelegenheit plötzlich keine Zeit mehr?" fragte Hamarem also.
 

"Ihr, als Zweiter der Wannim, müßt den Birh-Melack in seine Schranken gegenüber seiner Ehefrau weisen. Während ihr mit der Ostlerin und eurem Mann den Kranken im Birh-Melack-Zelt versorgtet, ging der Birh-Melack, noch dreckig von dem morgendlichen Ausritt und anscheinend von Oinos betrunken, in das Zelt der Prinzessin, und wenig später gab es einen heftigen Streit zwischen den beiden. Ich verstehe nicht viel von der Südländersprache, aber die von ihm gebrauchten Worte, die ich verstanden habe, waren sehr unschön. So sollte keine Frau behandelt werden!" Das klang gar nicht nach Amemna. Und wieso sollte er sich betrunken haben? Der Oinos würde doch seine unirdischen Kräfte, seine Empfänglichkeit für die Gedanken und Gefühle anderer betäuben. "Der Birh-Melack ist noch im Zelt der Prinzessin?" vergewisserte Hamarem sich.
 

Patris seufzte und nickte unglücklich. "Nach dem Streit habe ich nichts mehr gehört. Ich hoffe, er wurde nicht auch noch handgreiflich gegen seine Gattin."
 

Und was dachte dieser Mann, was nun ausgerechnet Hamarem dagegen unternehmen sollte, falls das doch der Fall gewesen war? Schließlich hatte er nur halb die Statur von Amemna, Patris war selbst größer und sicher kräftiger als Hamarem. "Es ist doch ruhig. Die Dienerinnen hätten sicher Alarm gegeben, wäre ihrer Herrin etwas passiert", versuchte Hamarem den Wächter ohne Erfolg zu beruhigen. Die Unruhe, die eine tätliche Auseinandersetzung in den Kräften verursachte, hätte er außerdem mit Sicherheit wahrgenommen. Aber irgend jemand war da zwischen den Zelten, halb fremd und halb vertraut, darum sollte Hamarem sich kümmern. Außerdem mußte er ohnehin schnellstens mit Amemna sprechen. Also erhob Hamarem sich. "Kommt, wir verlangen eine Aufklärung", sagte er im Aufstehen, "schließlich habt ihr allen Grund, euch um das Befinden der Prinzessin zu sorgen, da ihr Großonkel sie eurer Obhut unterstellte." Erleichtert nickte Patris und folgte Hamarem um das Mawatizelt herum zum Zelt der Prinzessin.
 

Tatsächlich stand eine Fremde zwischen den Zelten, eine junge Frau mit einfachem Schleier, die sich suchend umschaute. Vielleicht erinnerte Hamarem sich aus dem Zelt der Ama an sie oder er nahm zarten Weihrauchduft wahr, jedenfalls wußte er plötzlich, daß es Ramillas Botin war. "Sucht ihr mich? Ich bin der Zweite der Mawati", begrüßte er sie.
 

"Meine Priesterin erwartet euren Herrn und euch zu einem Gespräch in ihrem Schlafzelt", sagte sie erwartungsgemäß. Welcher Art waren Ramillas Vorbereitungen für das Gespräch mit dem Birh-Melack gewesen, daß es damit so schnell gegangen war? "Und wo ist das Schlafzelt der Priesterin in diesem Lager?" fragte Hamarem jedoch.
 

"Es steht gleich hinter dem Zelt der Ama", erklärte die Frau. "Meine Herrin sagte, ihr kennt das Zelt schon." Ramilla hatte also wohl das Zelt der vorherigen Priesterin übernommen. Er versprach, so bald wie möglich mit Amemna bei der Priesterin zu erscheinen. Aber irgendwie mußten sie auch noch schnell das Problem lösen, das Nefuts Gefangennahme darstellte. Hoffentlich fiel Amemna dazu etwas ein.
 

Die Frau verabschiedete sich kurz, dann lief sie raschen Schrittes durch die Zeltgasse davon. Patris stand schon vor dem Zelt der Prinzessin, und Hamarem eilte zu ihm. Die Dienerin der Prinzessin war wach und im vorderen Teil des Zeltes am Herdfeuer beschäftigt. Sie hob erstaunt den Kopf, als sie die beiden Männer am Zelteingang bemerkte. "Schön, daß ihr euch inzwischen so gut erholt habt", sagte sie mit einem freundlichen Lächeln zu Hamarem. "Was wünscht ihr, Herr?" Sie winkte Hamarem und dann auch Patris in das Zelt. Bis auf das Knistern des Feuers und ein leises Schnarchen aus dem hinter der quergespannten Zeltbahn verborgenen Teil des Zeltes war alles ganz ruhig. "Meine Herrin schläft noch, aber wenn ich euch zu Diensten sein kann..."
 

"Losat, ist der Birh-Melack noch hier?" fragte Patris unumwunden.
 

"Auch mein Herr schläft noch", gab Losat etwas steif zur Antwort, sah hilfesuchend zu Hamarem hinüber.
 

"Ich habe drei wichtige Nachrichten für den Birh-Melack", gab Hamarem zur Antwort, sah die immer stärker werdende Unruhe um Patris und ergänzte, bevor der junge Mann noch aufgeregt in den hinteren Teil des Zeltes stürmte: "Außerdem sorgt sich der Wächter der Prinzessin um das Wohl eurer Herrin."
 

"Wegen des Streits?" mutmaßte die Dienerin und schüttelte dann mit einem unanständigen Grinsen den Kopf. "Die beiden haben sich recht schnell wieder versöhnt. Ich hole euch den Birh-Melack, Herr." Dann eilte sie auch schon hinter die quergespannte Stoffbahn.
 

Patris indes seufzte unglücklich. "Ich nehme an, ihr habt jetzt kiegswichtige Dinge mit ihm zu besprechen, nicht wahr?" Hamarem nickte. Dem jungen Mann wäre es offensichtlich lieber gewesen, wenn er als Zweiter jetzt Amemna ins Gewissen geredet hätte, sich gegenüber seiner Gattin anständig, dem Wahren Weg entsprechend zu benehmen. Aber sollte ausgerechnet er Amemna verbieten, sich anderen, insbesondere auch Männern, begehrlich zu nähern? Doch Patris seufzte nur erneut. "Ich werde später, wenn meine Herrin wieder erwacht ist, mit ihr über die Gerüchte sprechen. Wenn das der Grund für den Streit war, werde ich kein Unheil anrichten, weiß sie davon bisher nichts, wird es ihr die Augen öffnen." Hamarem nahm aus dem Augenwinkel eine Art Wabern der Kräfte wahr und nickte daher nur abwesend zu Patris Worten. Dort lag ein Paket, vielleicht Decken oder Gewänder, eingeschlagen in einfache Tücher. Versteckte sich dahinter ein Mensch? "Haltet ihr das also für das richtige Vorgehen?" fragte Patris noch einmal drängend. Was hatte der junge Mann gesagt? Er wollte mit der Prinzessin sprechen? Das konnte nicht verkehrt sein, der Mann war anständig und ehrlich besorgt über die Beeinträchtigung ihres Gefühlslebens. "Ja, sprecht mit ihr", sagte Hamarem. "Und seid so gut und bringt dem Mann im Birh-Melack-Zelt etwas zu essen, vielleicht auch Honigtee. Ihr findet alles im Mawatizelt. Und erinnert ihn daran, daß er das Zelt nicht verlassen sollte." Patris nickte bestätigend und verließ mit einem halbwegs zufriedenen Lächeln auf den Lippen das Zelt.
 

Hamarem ging näher an das Paket heran. Die Kräfte waren merkwürdig, fast zu ebenmäßig für ein Lebewesen, und hinter dem Paket war auch niemand versteckt. Die Quelle der Kräfte schien in die Tücher eingepackt zu sein. Hamarem wollte gerade eine Ecke der Verpackung anheben um hineinzusehen, als Amemna plötzlich neben ihm stand, gegürtet, bewaffnet, und sich nach dem Mantel bückte, der in der Nähe des Paketes auf einigen Sitzkissen lag. Wieso hatte Hamarem nicht bemerkt, daß sein Birh-Melack sich genähert hatte? Und wieso wirkten dessen Kräfte nun wieder so undeutlich? Patris hatte recht gehabt, Amemna entströmte wirklich der Geruch nach Oinos. Hamarem entfernte sich wieder von dem Paket, begrüßte seinen Herrn und dankte Orem im stillen, daß der Oinosgeruch so stark war, daß er nur einen Hauch des Duftes der Vereinigung von Mann und Frau an seinem Herrn wahrnahm.
 

"Was willst du, Hamarrem?" fragte Amemna, nachdem er sich leicht schwankend wieder aufgerichtet hatte. Schwindelgefühl erfaßte Hamarem und er merkte, daß es der Widerhall der Gefühle Amemnas war. Ramilla und der Dämon, das waren die beiden Dinge, die Amemna erfahren mußte, und... gab es nicht noch einen dritten Grund, aus dem er Amemna dringend sprechen wollte? Hamarem konnte sich nicht erinnern, merkte, daß seine Beine sich merkwürdig wackelig anfühlten, außerdem verspürte er plötzlich einen unbändigen Harndrang. War das etwa Amemnas Rausch? Als er sich dessen bewußt geworden war, gelang es Hamarem erstaunlicherweise schnell, sich Amemnas Empfindungen zu verschließen. Tatsächlich war es nicht schwieriger, als sich der düsteren Gedanken des Knaben Nefut zu entledigen. Die Kräfte um Amemna schienen im Moment nicht anders, als die eines gewöhnlichen Mannes. Zeigte sich auf diese Weise nicht die Wirkung des Oinos? Ramilla hatte in ihrer Geschichte von dem Held Buhachan und dem Dämonenfürst doch etwas in dieser Art erzählt. Und endlich ordnete Hamarem auch seine eigenen Gedanken wieder. "Herr, Ramilla möchte dich sprechen, Wanack Perdinim sandte Nachricht, daß die Tetraosi Nefut wegen des toten Priesters verhaftet haben, und..."
 

"Was heißt, err wurrde verrhaftet?" rief Amemna aufgebracht. "Err hat doch nurr den Toten mit dirr ketrragen. Werr hat Nefut denn ankeseigt?" Amemna ließ sich auf das mysteriöse Paket plumpsen, legte seinen Mantel ungeschickt um die Schultern. "Wenn es die Orremprriesterrschaft warr, warrum wurrdest du dann nicht ebenso verrhaftet?"
 

Einen Moment überlegte Hamarem, ob er seinem Herrn zur Hand gehen sollte, wagte es jedoch nicht, denn eine Berührung hätte sicher seine gerade erst gewonnene Beherrschung, nichts von Amemnas Empfindungen zuzulassen, ins Wanken gebracht. Statt dessen versuchte er, sich an die Worte Adí W'schads zu erinnern, an dessen Aufzählung von Gerüchten und Theorien, die im Beraterstab des Zweiten der Birh-Mellim geäußert worden waren, von der Furcht der Tetraosi vor Amemnas magisch anmutenden Kräften und der Suche nach einem wirksamen Druckmittel bis zu der Vermutung, daß Nefut einfach mit einem anderen, straffällig gewordenen Oshey verwechselt worden war. "Ich weiß nur, daß ihm von den Tetraosi angeblich okkulte Künste vorgeworfen werden. Es gehen aber Gerüchte, diese Anklage sei nur ein Vorwand, um ihn einer anderen Sache wegen in Haft zu halten."
 

"Wegen einerr anderren Strraftat oderr weswegen?" fragte Amemna ungläubig.
 

"Sicher nicht wegen einer Straftat. Dann hätten sie doch keinen Vorwand für die Verhaftung gebraucht. Außerdem kann ich mir das bei Nefut nicht vorstellen." Immerhin folgte Nefut trotz seiner Liebe zu einem scheinbaren Mann weiterhin dem Wahren Weg und hatte sicher weder im Heer noch während der Tage in Tetraos ein Unrecht verübt. "Laß uns abwarten, wie die Prozessanklage lautet." Ob die Tetraosi es wagen würden, einer der persönlichen Wachen des Birh-Melack widerrechtlich etwas anzutun?
 

"Ich kann es mirr auch nicht vorstellen. Aberr natürrlich hast du rrecht, wirr müssen erfahren, welcherr Krrund offiziell kenannt wirrd", stimmte Amemna seinem Zweiten zu, senkte den Blick auf den Teppich zu seinen Füßen. "Und das am besten soforrt", sagte er leise, seine Kräfte und Gedanken in fast panisch wirkender Unordnung. "Vielleicht hat auch Narrif Perrdinim schon irrgendetwas keplant. Das müssen wirr...", dann sah er auf. "Und werr bittet mich, sie su besuchen?"
 

"Meine...", begann Hamarem gedankenlos und verbesserte sich dann rasch: "Die Amapriesterin bittet uns zu einer Unterredung."
 

Amemna machte mit den Fingern eine Bewegung vor seiner Brust. Plötzlich erkannte Hamarem, daß sein Herr mit den Fingern kurz hintereinander die drei Schriftzeichen der Hawatpriesterinnen für 'Ehrfurcht' geformt hatte. Amemna wirkte regelrecht ernüchtert, seine Kräfte strafften sich, er stand hastig auf und zog seinen Mantel zurecht, griff nach seinem stoffumwickelten Helm, der anscheinend am Vormittag seine auffälligen gelben Federn verloren hatte. "Dann laß uns kehen", forderte er Hamarem auf, und sie verließen das Zelt der Prinzessin.
 

"Und was ist mit Wanack Perdinim?", fragte Hamarem, während sein Herr sich am Abort erleichterte.
 

"Wirr können doch nicht die Prriesterrin warrten lassen. Narrif weiß, was err tut, err wirrd keinen unserrer Männerr ans Messerr lieferrn." Natürlich, Ama war für den Birh-Melack Hawat, die Göttin die sein Denken und Handeln von klein auf bestimmte, der zu gefallen wichtiger war als Essen oder Schlafen, deretwegen er sich einem Fremden gegenüber erniedrigt hatte, um die Schriftrolle, sein Opfer an die Göttin, zurückzuerhalten. Sogar sein Geliebter Nefut hatte hinter der Göttin und ihren Beauftragten zurückzustehen.
 

Amemna wandte sich zum Gehen, blieb aber plötzlich wieder stehen. "So kann ich die Prriesterrin nicht besuchen", seufzte er und zeigte auf den blutgefleckten Saum des Untergewandes. Hamarem sah verschwommen die Erinnerung an eine bewaffnete Auseinandersetzung während des Erkundungsrittes am Morgen. Noch immer wiesen Amemnas Kräfte nicht die gewohnte unirdische Dynamik auf und sein Herr schwankte etwas, als er den Blick von seinem Saum wieder hob. Wann mochte endlich die Wirkung des Oinos nachlassen? "Dann zieh dich um, Herr", schlug Hamarem vor und zog ein sauberes, bereits fast trockenes Untergewand seines Herrn von der Leine. Amemna nickte und wandte sich zum Birh-Melack-Zelt. Auch wenn Hamarem nicht wohl dabei war, Amemna gerade in der Nähe des Dämons zu wissen, war das Birh-Melack-Zelt für Amemna wohl tatsächlich der einzig richtige Ort, um das Untergewand zu wechseln, ohne Aufsehen zu erregen.
 

Jochawam sah überrascht auf, als er bei seinem Mahl aus Früchten und Brot gestört wurde. "Die Priesterin der Ama hat uns zu sich gerufen", erklärte Hamarem und versuchte dann, den Ostler einfach zu ignorieren. "Jochawam, Keliebterr, schön, daß du wiederr errwacht bist!" rief Amemna in diesem Moment überschwenglich aus, ließ sich vor dem Ostler auf die Knie fallen, schloß ihn herzlich in die Arme. Ging da nicht eine Welle durch den Kräftekokon?
 

Hamarem sprang dazu und zog Amemna mit aller Kraft hoch. "Die Priesterin der Ama erwartet uns", mahnte er. Darauf reagierte Amemna, rappelte sich, schwer auf Hamarem gestützt, auf. "Hamarrem hat rrecht", sagte er leise zu Jochawam. "Aberr ich werrde so schnell wie möglich wiederr hierrherr kommen." Obwohl er schon wieder einen Anflug der Rauschauswirkungen spürte, half Hamarem seinem Herrn aus dem Mantel, legte das Schwert beiseite, löste den Gürtel und öffnete das Untergewand ein Stück. "Zieh es aus, Herr", sagte er, nahm das frische Untergewand in die Hände, um es seinem Herrn zu reichen.
 

Als Amemna sich seines verschmutzten Untergewandes entledigte, erhob sich eine Duftwolke der Lust. Hamarem konnte nicht anders, als den schönen, nackten Körper begierig anzustarren, die wohlgeformten Brüste, das ebenso wohlgeformte Glied. Zuletzt war er Amemna in der vergangenen Nacht so nahe gewesen, dann hatte seinen wunderbaren Körper gekostet, sich mit ihn vereinigt. Um nicht noch mehr erregt zu werden, sah er schnell weg. "Ihr solltet euch auch waschen", riet er seinem Herrn, den Blick auf den Boden gerichtet. Und nach einer Weile stellte er fest, daß sein Blick auf der von Ramilla vergessenen Kanne mit Willkommenstrunk ruhte. Dieses Getränk war doch ein Allheilmittel, vielleicht milderte es auch die Wirkung des Oinos auf seinen Herrn. Für das Gespräch mit Ramilla war es doch sicher besser, wenn er einen klaren Kopf hatte. Er nahm eine Schale von dem kleinen Tischchen neben Jochawam, der das Brot noch immer ungegessen in der Hand hielt und den Birh-Melack anstarrte. Den Geräuschen nach wusch Amemna sich noch. Jochawam flüsterte: "Epargat", nach der alten Sprache der Ostler klang das aber nicht. War es etwa der Dämon, der aus Jochawams Augen das zweigeschlechtliche Kind eines Unirdischen musterte?
 

Beunruhigt drehte Hamarem sich zu Amemna um, der schon das Untergewand übergezogen hatte und sich nun umständlich selbst gürtete. Hamarem reichte ihm hastig die Schale mit dem Willkommenstrunk. Sein Herr nahm sie entgegen, nippte daran. "Bist du sicherr, daß der Uscherr'ta Hawat das rrichtige fürr mich ist, wenn die Prriesterrin nur mit mirr sprrechen will?" fragte er dann skeptisch.
 

"Ich hoffe, daß er die Wirkung des Oinos mindert", gab Hamarem zurück, griff nach dem verschmutztenUntergewand, dem Amemnas so überaus verführerischer Duft entströhmte, warf es durch die Zeltklappe nach draußen.
 

"Vielleicht hast du rrecht", sagte Amemna und trank dann die Schale leer. Bewegten sich die Kräfte um ihn nicht bereits wieder in der früheren Art? "Bis späterr, Jochawam", verabschiedete Amemna sich, griff nach Mantel und Helm und winkte Hamarem mit sich hinaus.
 

* * *
 

31. Aufrichtigkeit

Nefut pulte den Schorf von seinen Knöcheln, bis die immerhin kleiner gewordenen Verletzungen stellenweise wieder bluteten und er abließ von seiner unvernünftigen Tätigkeit. Aber was sollte er sonst machen, außer darauf zu hoffen, daß Amemna irgendwie von seiner Verhaftung erfuhr und die Angelegenheit beschleunigte? Vorsorglich habe man ihn in Haft genommen, man wolle den Vorwurf gegen ihn gründlich prüfen, aber ein Ende dieser Prüfung sei erst am späten Abend oder am kommenden Morgen zu erwarten, hatte der Erste Sekretär gesagt, als Nefut von den Wachen mit festem Griff gehalten wurde. Seine Beteuerungen, mit dem Tod des Priesters nichts zu tun zu haben, waren mit dem wiederkehrenden Hinweis auf die Prüfung der Fakten und die noch ausstehende Befragung der Zeugen abgeschmettert worden. Darauf hinzuweisen, daß der Ehrwürdige Vater wohl schon tot gewesen war, als er zwischen die Zelte der Mawati gelangte, hatte Nefut sich daraufhin versagt. Es hätte seine Position wohl kaum verbessert, wenn er begonnen hätte, von einem Dämon zu reden, denn der Erste Sekretär hatte nicht den Eindruck eines gottesfürchtigen Menschen gemacht.
 

Alles in allem war er anständig behandelt worden, als Mordverdächtigen hatte man ihn allerdings in Ketten gelegt und in einen fahrbaren Eisenkäfig gesteckt. Ein graues Tuch war von außen über die Oberseite dieses Käfigs gespannt, aber durch die aufgezogenen grauen Regenwolken war zur Zeit gar keine Sonne zu sehen, vor der er in diesem Käfig hätte geschützt werden müssen. Wasserdicht sah der Stoff dagegen nicht aus. Vom Standort seines Käfigs aus, hinter den Zelten des Feldherrn und des Ersten Sekretärs, konnte Nefut nichts von dem nur wenige Schritt entfernt liegenden Hauptplatz des Lagers sehen, aber er hörte das beständige Rauschen entfernter Stimmen. Die Tetraosi hielten heute den Markt ab, wenn er sich nicht sehr täuschte.
 

Die beiden Wachen rechts und links neben dem Käfig sahen gelangweilt, aber recht wehrhaft aus. Ob es die beiden Männer waren, die ihn in Haft genommen hatten, konnte Nefut gar nicht sagen, und die Tatsache, daß er sich nicht mehr an die Gesichter der beiden Wachen erinnerte, die ihm sein Schwert abgenommen hatten, erschreckte ihn. Wieso hatte er sich nicht gewehrt? Wie betäubt hatte er alles mit sich machen lassen, denn der Erste Sekretär des Feldherrn der Tetraosi war der Befehlshaber seines Befehlshabers und Nefut war ein anständiger Söldner. Dabei hätte er ohne Probleme die beiden Wachen und den alten Sekretär ausschalten können - selbst ohne die Klinge blank zu ziehen. Er hätte fliehen können, hätte Amemna berichten können, daß der Dämon die Mawati beeinflußte, sie in Sicherheit wiegte, ihr Gefahrenbewußtsein einschläferte wie in der Nacht alle Männer, die nicht durch eigenes oder nahe neben ihnen liegendes unirdisches Blut dagegen geschützt gewesen waren. Vielleicht war der Dämon jetzt noch stärker geworden, da er in Jochawams Leib steckte, vielleicht dehnte er seine Beeinflussung sogar schon auf das ganze Heerlager aus, hatte den Tetraosi eingegeben, ihn wegen des Mordes an dem Priester zu verhaften, um Amemna ihres Vertrauten zu berauben. Wie konnte der Erste Sekretär der Tetraosi sonst annehmen, ein Oshey würde einen Priester Orems töten, noch dazu einen Ehrwürdigen Vater?
 

Erstaunt bemerkte Nefut plötzlich, daß nahe dem Eingang des Empfangszeltes ein Mawati stand - Derhan, wie es auf diese Entfernung schien. Der Mann schlenderte näher, betrachtete den im Käfig hockenden Nefut, musterte kurz auch die beiden Wachen. "Offenbar bist du richtig gut darin, dir Feinde zu machen", sagte Derhan dann in einem so breiten Mehaly-Dialekt, daß Nefut Probleme hatte, ihn zu verstehen.
 

Die Wachen sahen kurz Derhan und dann einander an, und ihr herablassender Blick machte klar, daß sie Derhan für einen ungebildeten Kamelhirten hielten, der nicht einmal die Handelssprache des Nordens richtig beherrschte. Derhan mußte diesen Gesichtsausdruck auch wahrgenommen haben, denn er grinste frech. Anscheinend wollte er nur von Nefut verstanden werden.
 

"Weswegen bist du hier?" fragte Nefut, bemühte sich, den Dialekt nachzuahmen. Für die Wachen der Tetraosi zumindest schien es überzeugend genug.
 

"Ich möchte herausfinden, wieso dir jemand den Mord an dem alten Priester anhängen will."
 

In gespielter Überraschung zog Nefut die Augenbrauen hoch. "Meinst du etwa, ich wäre nicht fähig dazu, einen alten Mann zu töten?"
 

"Ich meine, du würdest keinen alten Priester töten, außer vielleicht wenn es dazu dient, deinen Geliebten zu schützen", stellte Derhan klar.
 

"Unseren Herrn", verbesserte Nefut ihn.
 

"Ja, unseren unirdischen Herrn, der mir das Leben gerettet hat. Daher habe ich ihm gegenüber auch eine Schuld zu begleichen. Sei dir darüber bewußt, daß ich nur für unseren Wanack mithelfe, deine Haut zu retten." Derhan sah ihn finster an, ließ den Blick dann zu der Kette um Nefuts Fußgelenk schweifen. Als der Schmied mit dem glühenden Metallstift die Kette mit dem Fußeisen vernietete, hatte der Funkenflug Nefuts Bein erreicht, die Haare zum Teil weggeschmort, kleine Verbrennungen hinterlassen. "Soll ich dir eine Heilsalbe bringen?" fragte er erstaunlich mitfühlend.
 

Nefut schüttelte den Kopf, die leicht geröteten Stellen waren kaum unangenehmer als Insektenstiche. "Es hat dich also jemand geschickt, die Angelegenheit aufzuklären", denn wieso sollte Derhan von sich aus Interesse an der Aufklärung dieses Vorfalls haben? Und Amemna wäre doch sicher selbst gekommen.
 

"Deine Schwester bat mich herauszufinden, was genau dir vorgeworfen wird, damit wir etwas unternehmen können." Vor der Mittagsruhe hatte er doch gerade erst finstere Andeutungen über Merats Pläne mit ihrem Bruder gemacht und nun stand er in ihren Diensten? "Und um diese Aufgabe zu erfüllen, halte ich es für wichtig, auch herauszufinden, wer denn den Mord tatsächlich begangen hat", fügte Derhan mit völlig unverdächtiger Miene hinzu. "Kannst du mir dabei helfen?"
 

"Vorhin hast du mich noch vor Merats Ränken gewarnt. Woher soll ich wissen, daß du nun nicht für sie versuchst, mich ins Unglück zu stoßen?" sprach Nefut seinen Verdacht aus.
 

"Noch weiter?" fragte Derhan und grinste freudlos. "Nein, ich bin inzwischen der Ansicht, daß sie nicht vorhat, dir zu schaden."
 

"Und plötzlich glaubst du auch an die Macht der ewigen Liebe und göttliche Strafe für lästerliches Verhalten", warf Nefut gehässig ein. "Derhan, du bist einer der gottlosesten Männer die ich kenne und hast mit Sicherheit das kälteste Herz. Wieso meinst du, du würdest Merats Absichten jetzt richtiger deuten als vor der Mittagsruhe?" War Merat noch gerissener, als ihrer Herkunft nach zu vermuten war? Hatte sie nun sogar Derhan eingewickelt?
 

Derhans Blick verdüsterte sich. "Menschen können sich ändern, durch andere Menschen oder durch Ereignisse", sagte er leise.
 

Nefut dachte an das Sterben seines eigenen Herzens beim Tode seiner Mutter und dessen Wiedergeburt in Amemnas Armen, dann nickte er langsam. "Und was hat deinen Sinn gewandelt?"
 

"Die aufrichtige Zuneigung eines Kindes hat meinen Sinn gewandelt, mir im eigentlichen Sinne die Augen geöffnet. Ich habe gemerkt, daß deine Schwester voller Zuneigung und echter Besorgnis über deine Verhaftung sprach. Was immer sie gegen dich im Schilde geführt haben mag, nun ist sie anscheinend nicht mehr daran interessiert."
 

"Und da bist du dir sicher?" setzte Nefut noch einmal skeptisch nach. Aber um wenigstens eine kleine Chance auf Hilfe zu haben, mußte er Derhan wohl einfach vertrauen.
 

Derhan ignorierte Nefuts Bemerkung. "Wie sah denn der Priester aus, den ihr zwischen den Zelten gefunden habt?"
 

"Der Ehrwürdige Vater war schon sehr alt, hatte einen langen weißen Bart, ein runzliges Gesicht, war recht klein und dünn und trug die schwarze Kleidung, die bei den Orempriestern üblich ist."
 

"Ich denke, ich habe ihn sogar schon einmal bei den Zelten der Götter gesehen", entgegnete Derhan wie in Gedanken. "Stützte er sich nicht beim Gehen auf einen Stock?"
 

Nefut zuckte mit den Schultern. "Er hatte zumindest keinen Stock dabei, als er zwischen unseren Zelten lag. Lebend habe ich ihn nie gesehen."
 

"Aber er soll doch zwischen unseren Zelten gestorben sein, das jedenfalls sagte einer der Wachen des Ersten Sekretärs."
 

"Er war mit Sicherheit schon einige Stunden tot, als er zwischen unseren Zelten lag", gab Nefut zurück. "Seine Finger waren schon ganz steif, Hamarem mußte sie ihm fast brechen, um dieses Stück Papyrus aus seiner Hand zu lösen."
 

Derhan wirkte nun regelrecht alarmiert. "Kein Stock, dafür ein Stück Papyrus in den Händen? Das spricht doch dafür, daß er irgendwo saß und geschrieben..."
 

"Gelesen hat er als er starb", berichtigte Nefut Derhans Spekulationen. "Das Papyrusstück stammte aus dem dritten Buch der Kommentare zu...", und Nefut versuchte, sich an den Titel der Schrift zu erinnern.
 

Derhan wartete jedoch nicht ab, sondern warf seinen Schluß ein: "...und dafür setzt man sich eigentlich nicht im Dunkeln zwischen irgendwelche Zelte." Dann begann er, mit nachdenklicher Miene vor dem Gitter von Nefuts Käfig auf und ab zu gehen, unter skeptischer Beobachtung durch die beiden Wachen.
 

"Er war wohl in seinem eigenen Zelt. Zumindest scheint dieses Buch, das er las, für einen Orempriester gewöhnliche Lektüre zu sein", ließ Nefut den anderen an seinen Erkenntnissen teilhaben.
 

"Wovon handelt das Buch?" fragte Derhan neugierig.
 

"Von Dämonen und ihrer den Unirdischen vergleichbaren Natur", antwortete Nefut. "Nunja, diese Theorie wird dargelegt und dann widerlegt."
 

"Nach meinen bisherigen Erfahrungen stehe ich dem Inhalt der Schriften und den sterblichen Dienern der Götter zwar skeptisch gegenüber, aber ich weiß doch, daß ein solches Thema eher nach Priestern des Ungenannten als nach denen Orems klingt", widersprach Derhan.
 

"Denk was du willst. Wir werden hier im Lager kaum das Buch, an dem dieses Stückchen Papyrus fehlt, finden können", seufzte Nefut resigierend.
 

"Wieso nicht? Einige Stunden war er tot, sagst du. Wann, glaubst du, ist er gestorben?"
 

"Ich denke, etwa gegen Mittag, also als das Heerlager noch vor Tetraos stand", gab Nefut seine Vermutung preis.
 

Derhans Augen weiteten sich wie in plötzlicher Erkenntnis. "Oh", sagte er aber nur leise.
 

Nefut wäre ihm am liebsten an die Kehle gesprungen, um die Informationen aus ihm herauszuschütteln, aber leider reichte die Länge seiner Kette nicht, um mit den Händen auch nur bis an das Gitter zu kommen. "Was weißt du?" stieß er statt dessen zwischen den Zähnen hervor, die Fäuste so fest geballt, daß seine Finger schmerzten.
 

"Ich glaube, ich weiß, wo der Ehrwürdige Vater gesessen und gelesen hat, als er starb. Und ich vermute, daß man sogar seinen Stab noch finden kann. Wenn wir Glück haben, kriege ich raus, wie der alte Priester gestorben ist - was dich vermutlich entlasten würde."
 

"Und dann müßten die Tetraosi mich freilassen." Wenn bewiesen war, daß jemand anderes den Mord begangen hatte, gab es ja keinen Grund mehr, ihn gefangen zu halten.
 

"Sie müßten zumindest bekennen, weswegen sie dich wirklich festhalten. Nach dem, was deine Schwester sagte, ist der Vorwurf des Mordes an dem Priester nur ein Vorwand gewesen, deiner habhaft zu werden."
 

"Aber wieso?" schrie Nefut unbeherrscht. Warum hatte er nur gedacht, der Erste Sekretär hätte die Wahrheit gesagt und handele ehrenhaft, so daß er sich selbst zu ehrenhaftem Handeln verpflichtet gesehen hatte. "Ich habe kein Unrecht begangen, ich bin nur ein einfacher Söldner, ich sollte den Tetraosi völlig unwichtig sein."
 

"Du bist der Leibwächter unseres Herrn, sein Geliebter. Meinst du, die Tetraosi haben das nicht auch mitbekommen? Indem sie dich in ihrer Hand haben, haben sie auch ihren Söldnerführer in der Hand. Der rote Fürst weiß sich zu helfen, wenn der weiße Fürst aus seiner Reichweite zu verschwinden droht", spielte Derhan auf ihre verschwörerische Bohnenspielpartie an.
 

"Aber er würde keinen seiner Männer im Stich lassen. Meint die Regentin wirklich, sie bräuchte außer dem Daumen auf den Lebensmitteln noch ein zusätzliches Druckmittel?"
 

"Nach der Massenheilung vor Tarib vielleicht schon", gab Derhan zurück. "Du sitzt ja hier etwas abseits in deinem Käfig, aber das ganze Lager summt vor Gesprächen darüber, was unser unirdischer Herr vermag. Sie haben vor ein paar Tagen alle gesehen, was er mit dem Sohn der Priesterin gemacht hat, aber das war nur irgend ein Junge für sie. Nun berichten Männer von ihrer eigenen Heilung, und das ist ein beeindruckenes Erlebnis, das kannst du mir glauben. Sogar ich bin da ein wenig schwankend geworden in meiner skeptischen Haltung. Und wer weiß, was die Pferde einander erzählen." Derhan grinste breit.
 

Nefut war es unheimlich, Derhan in so guter Laune zu sehen. Hatte er wirklich eine Vorstellung davon, wo der Ehrwürdige Vater verstorben war? Wieso kümmerte Amemna sich nicht um diese Sache? Sie brauchte doch nur in die Gedanken des in seiner Durchtriebenheit alle Vorurteile gegen Städter bestätigenden Ersten Sekretärs zu schauen, schon wußte sie, warum die Tetraosi ihn festhielten. Ebenso leicht konnte sie herausfinden, wer den Ehrwürdigen Vater auf dem Gewissen hatte. Wieso besuchte Derhan ihn, nicht aber Amemna? Wußte sie am Ende noch gar nichts von seiner Verhaftung? "Weiß Amemna, daß ich verhaftet wurde?" fragte Nefut, obwohl er es gleich darauf bereute. Wenn sie es wußte, was hielt sie dann davon ab, zu ihm zu kommen?
 

"Unser Wanack", betonte Derhan, "hat Nachricht von deiner Verhaftung erhalten. Aber er hat zur Zeit andere Verpflichtungen."
 

Welche Verpflichtungen waren für Amemna drängender, als die Verhaftung ihres, nein, eines ihrer Geliebten? Nefut haßte sich dafür, daß er schon wieder an Amemnas aufrichtiger Liebe zweifelte. Sie war der Birh-Melack, sie mußte für alle Söldner sorgen - und eigentlich mußte sie sich auch um den Dämon in dem Ostler kümmern. Aber was konnte sie wegen des Dämons überhaupt unternehmen, was sie nicht schon in der vergangenen Nacht mit Hamarem hätte versuchen können? "Wenn Amemna den Ehrwürdigen Vater doch nur wiedererweckt hätte", entfuhr Nefut mit einem Seufzer. "So leicht wie es ihr vor Tarib fiel, sollte man doch denken, daß es ihr auch in der Nacht gelungen wäre." Wieso sah Derhan ihn so sonderbar an - dann wurde Nefut klar, daß er beim Sprechen über Amemna die weiblichen Formen verwendet hatte. Das hatte der Unruhestifter also noch nicht gewußt.
 

Aber Derhan sagte zunächst nichts, sah Nefut nur weiter an, nickte dann gedankenvoll. "Also stimmen die Gerüchte wohl, oder du drehst dir die Wahrheit so zurecht, daß du dir weiterhin einbilden kannst, ein frommer Mann zu sein."
 

"Seit ich ein Mann bin habe ich mir nur zwei Verfehlungen gegen den Wahren Weg geleistet", entgegnete Nefut steif. Die erste davon war allerdings dummerweise die eine Verfehlung gewesen, die Nefut aus der Gunst seines Vaters in die Hölle der Stammeslosigkeit hatte stürzen lassen. Und die zweite war der Widerstreit der Pflichten gewesen, der ihn hierher geführt hatte, da er sich für seine Pflichten den Göttern gegenüber und gegen Ashan entschieden hatte. Vielleicht war ja auch der Dämon eigentlich ein gehorsamer Unirdischer gewesen, der nur einmal fehlgetreten war.
 

* * *
 

32. Spurensuche

Als Amemna und Hamarem die breite und sehr belebte Gasse erreichten, die ins Zentrum des Lagers zu den Zelten des Feldherrn führte und sie erst an den Zelten Orems und dann an denen des Ungenannten vorbeikamen, begrüßten viele Männer - Söldner und städische Soldaten der Tetraosi gleichermaßen - den Birh-Melack mit ehrfuchtsvollen Verbeugungen, erbaten seinen Segen und einer fiel sogar vor ihm auf die Knie und küßte den schon etwas ausgefransten Saum seines Mantels. Hamarem hörte, wie sie für die Heilung von Verwandten und Freunden dankten. Es mußte bei dem Erkundungsritt, zu dem Amemna mit einem Teil der Wannim am Morgen aufgebrochen war, dazu gekommen sein. "Was ist heute vormittag passiert?" fragte Hamarem seinen Herrn flüsternd.
 

"Tarrib ist von den Hannaiim besetzt, wirr hatten einen Kampf", erklärte Amemna knapp. Dann ergänzte er plötzlich: "Und die Prriesterrschaft des Ungenannten hat mirr schon am Vorrmittag einen Mantel geschickt, den sie wohl aus dem grroßen Wandbehang in ihrrem Verrsammlungsrraum gemacht haben. Errinnerrst du dich an das gewebte Bild mit den Geflügelten, die alle um ein Licht herrumstehen?" Sein Herr meinte wohl die Darstellung der Unirdischen, die die Sterblichen mit ihren Flügeln vor dem vernichtenden Feuer des Ungenannten abschirmten, und Hamarem nickte. Wie sollte er jemals die Treueschwüre der Wunakim und Mawarim gegenüber ihrem neuen Birh-Melack in diesem Versammlungsraum vergessen? Er hatte doch Amemna zu der Tat gedrängt, der dieser seine Akklamation zum Birh-Melack verdankte. "Ich habe ihn angezogen, aber err ist irrgendwie seltsam. Auf meinen Schulterrn ist err schwerrerr, als in meinen Händen und eigentlich müßte es doch umgekehrrt sein. Und dann diese Beklemmung, als wärre ich gefesselt, wenn ich ihn trrage..." Nachdenklich verstummte Amemna, schüttelte den Kopf.
 

Dieser Mantel war in dem merkwürdigen Paket, wurde Hamarem da klar. War der Mantel der Gegenstand, von dem Kräfte ausgingen? Ein Gegenstand, der in der Lage war, Kräfte zu beeinflussen? Das würde allerdings erklären, warum Hamarems Wahrnehmung gestört gewesen war, solange er in unmittelbarer Nähe des Paketes gestanden hatte. Was führten die Priester des Ungenannten im Schilde, wenn sie dem Birh-Melack der Söldnertruppe, zu der sie doch selbst gehörten, ein solches Geschenk machten? Amemna und er sollten gemeinsam den Mantel untersuchen, um festzustellen, wie es gelingen konnte, mit einem Gegenstand Kräfte zu binden. Vielleicht sollten sie auch die Priester des Ungenannten zur Rede stellen, dann konnten sie sie bei dieser Gelegenheit auch gleich fragen, was wegen des Dämons unternommen werden sollte. Richtig, der Dämon! Von seinen heutigen Erkenntnissen hatte Hamarem seinem Herrn noch nichts erzählt und nun standen sie vor dem stark frequentierten Badezelt. Hier durfte er nichts erzählen, was weitergetragen zu einer Panik im Heerlager führen mochte. Aber jetzt mußten sie ohnehin erst einmal zu Ramilla.
 

Hamarem führte seinen Birh-Melack zu dem prächtig geschmückten Schlafzelt seiner Geliebten, das ein Stück von der Zeltgasse entfernt hinter dem Amazelt stand. "Herrin, ihr habt uns rufen lassen", rief er vor dem Zelt, dann hörte er das Klingeln ihres Schmucks und Ramilla trat hinter der quergespannten Zeltbahn hervor. Sie begrüßte Hamarem mit einem liebevollen Lächeln, betrachtete Amemna jedoch skeptisch. Schützend umgaben sie die Kräfte, als fürchte sie einen Angriff von dem jungen Birh-Melack. "Ich habe euch erwartet, Herr", begrüßte sie Amemna schließlich förmlich, neigte steif den Kopf.
 

"Entschuldigt, daß wirr euch haben warten lassen, Herrrin", erwiderte Amemna daraufhin mit einer tiefen Verbeugung.
 

Ramilla drehte sich brüsk um, winkte, ihr zu folgen und ging raschen Schrittes wieder um die Zeltbahn zurück, hinter der sich bei Hamarems letztem Besuch die Lager Ramillas, der vorherigen Priesterin und des Knaben Nefut befunden hatten. Nun wurde der Platz von einem einzelnen, recht großen Lager eingenommen, auf dem statt Kissen jedoch etwa ein Dutzend zum Teil geöffneter Schriftrollen lagen. Unentschlossen blieb Hamarem in der Öffnung zum hinteren Bereich des Zeltes stehen. Ramillas Dienerin hatte gesagt, auch er wäre einbestellt, doch die Unterredung zwischen Amemna und der Priesterin der Ama ging ihn doch wohl kaum etwas an.
 

"Setzt euch, Herr", forderte Ramilla den Birh-Melack knapp auf und winkte Hamarem dann ungeduldig. "Worauf wartest du?" Ihre zusammengezogenen Augenbrauen und die Kräfte um sie zeigten ihre Konzentration. Natürlich, sie wollte dem unirdischen Birh-Melack ins Gewissen reden, da mußte sie alle ihre Sinne beisammenhalten. Aber wozu brauchte sie da ihn? Sollte er ihr den Rücken stärken? Sie wirkte, als sähe sie sich gerade einer der unangenehmeren Pflichten ihres Priesterinneamtes gegenüber, aber keineswegs hilflos.
 

Amemna nahm seinen Helm ab und ließ sich auf einem Teppich gegenüber des Lagers nieder, strich sich die Haare hinter die wohlgestalteten Ohren und lächelte die Priesterin erwartungsvoll an. "Wieso soll ich dabei sein?" fragte Hamarem leise, aber Ramilla antwortete nicht, setzte sich auf das Lager, faßte nach Hamarems Hand und zog ihn zu sich herunter, knapp neben eine dicke Schriftrolle, deren Bänder gelöst waren. Neugierig versuchte Hamarem, einen Blick auf ihren Inhalt zu erhaschen, aber er konnte sie nicht lesen, sie war mit den Schriftzeichen der Hawatpriesterinnen gefüllt. Dann entdeckte er auch eine Rolle mit Ostlerschriftzeichen, ein Werk über Dämonen. Was genau hatte Ramilla vor?
 

Das sanfte Glühen der um den Birh-Melack flackernden Kräfte, der unirdische Duft von Amemna und auch Ramillas beginnende Erregung, deren Duft ihm nun in die Nase stieg, ließen Hamarem schwindelig werden, und Ramilla wurde plötzlich feuerrot im Gesicht, faßte hastig nach Hamarems Hand, drückte sie so fest, daß es schmerzte. Hamarem mußte sich mit Macht davon zurückhalten, sie zu küssen oder darüber nachzudenken, was Ramilla wohl sagen würde, wenn er Amemna küßte. Also begann er, zur Ablenkung stumm die einhundert Lehrsätze zu memorieren. "Ich kann dich nun verstehen, mein Geliebter", sagte Ramilla leise, "dein Birh-Melack ist wahrhaft unwiderstehlich. Aber ich hoffe, der Segen der Großen Mutter gibt mir genügend Kraft, ihm zu widerstehen, bis wir geklärt haben, was geklärt werden sollte." Die Kräfte um sie zeigten jetzt deutlich ihre Erregung, umschlungen von Amemnas Kräften, die mehr als gewöhnlich in Bewegung schienen und den ganzen Zeltraum einnahmen, ebenso wie sein Duft. Dabei schien Amemna selbst nicht einmal erregt zu sein. Hamarem sprach stumm weiter die Lehrsätze vor sich hin, um jede Erinnerung an die intimen Begegnungen mit Ramilla und Amemna aus seinen Gedanken zu verdrängen. "Was wärre denn zu klärren?" fragte Amemna mit so einschmeichelnder Stimme, daß es Hamarem allerdings doch erregende Schauder verursachte.
 

"Ich glaube nicht, daß es eine gute Idee war, mich dazu zu bitten, Ramilla. Gerade die Anziehungskraft meines Birh-Melack...", warf Hamarem angesichts des in ihm aufsteigenden Gefühls ein, unterbrach sich aber hastig, als er merkte, daß er so verhinderte, daß Ramilla seinem Herrn antworten konnte.
 

"Du hättest mirr nichts von dem Uscherr'ta Hawat geben sollen, Hamarrem. Ich hatte einen guten Grrund, so viel Oinos zu trrinken. Tatsächlich erfrrischt der Willkommenstrrunk den Körperr und öffnet den Geist, wie es in den Brra arr'am, den Fünfhunderrt Künsten, heißt. Die dämpfende Wirkung des Oinos ist dadurch weitgehend verrflogen, und ich spürre deine Lust, Prriesterrin", sagte er dann mit einem schelmischen Lächeln. "Es ist sehrr verrlockend, darrauf zu antworrten." Diese Offenheit, die Amemna nun an den Tag legte, war verstörend. Nie zuvor hatte Hamarem von seinem Birh-Melack so stark die Überzeugung empfangen, einfach auszusprechen, was ihm durch den Kopf ging. Ob das noch auf den Oinos zurückzuführen war?
 

Ramillas Hand krampfte sich um Hamarems Finger. "Habt ihr jemals von den Ka'awatan gehört, Herr?"
 

"Das warren die unsterrblichen Boten Hawats in alterr Zeit, nicht wahrr Herrrin? Sie brrachten werrtvolle Geschenke oder schrrecklichen Schmerrz, töteten oder errweckten zum Leben", sagte Amemna nachdenklich, als erinnere er sich an vergangene Lehrstunden.
 

"Kommt euch das nicht bekannt vor, Herr? Die Erweckung Toter zum Leben etwa, oder die Tatsache, daß die Gesandten der Göttin in der Vorstellung der östlichen Stämme zweigeschlechtlich sind wie die Göttin selbst?" fragte Ramilla nun, griff mit ihrer freien Hand nach einer offenen Schriftrolle, die mit den Zeichen der Ostler gefüllt war.
 

Hamarem versuchte, etwas davon zu lesen, 'Rawam Tahachu', entzifferte er über Kopf die einleitende, mit blauen und roten Ranken verzierte Zeile, 'Von dem, was die Göttin betrifft'. Das war die alte Sprache des Ostens, die heutzutage außer den Schriftgelehrten nur noch wenige Menschen beherrschten. Als er ihr so nahe kam, schmiegte Ramilla für einen Moment ihren Kopf an seine Wange und Hamarem genoß die Wärme, ihr nach Weihrauch duftendes Haar, hauchte seiner Geliebten einen Kuß auf die Wange, bevor ihm bewußt wurde, daß sein Birh-Melack alles mit aufmerksamen Blicken verfolgte. Schnell ließ er von Ramilla ab.
 

"Was wollt ihrr damit sagen, Prriesterrin derr Ama?" fragte Amemna provozierend. "Wollt ihrr sagen, ich sei ein... ein Gesandterr derr Göttin derr Ostlerr?"
 

Ramilla sah ihn einen Moment an, als überlege sie, wie sie ihre für Hamarems Wahrnehmung viel zu komplexen Gedanken in Worte fassen sollte. "Jochawam um-Buhachu verbreitete, ihr wäret zweigeschlechtlich, Herr. Muß ich Zweifel an seinem Urteil haben?" fragte sie mit ehrfurchtsgebietender Strenge in ihrer Stimme.
 

Amemna schüttelte den Kopf. "Ihrr müßt keinen Zweifel an seinem Urrteil haben. Außerrdem kann es euch Hamarrem ebenso bestätigen. Ich bin auch gerrne berreit, es euch hierr und jetzt zu zeigen, Herrrin." Und er zog den Mantel von seinen Schultern, begann, die Knöpfe seines Untergewandes zu öffnen.
 

"Wartet damit", warf Ramilla mit einer Kälte in der Stimme ein, die sogar Amemna innehalten ließ. "Ich habe mich heute Vormittag lange mit eurem Zweiten über eure Natur unterhalten, Herr, und in meiner Erinnerung an die Geschichten des Ostens aus meiner Kindheit, an meine Ausbildung im Süden und an das, was meine aus dem Norden stammende Herrin mir vermittelte, bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß die Ka'awatan, die Gefäße der Göttin, genau das sind, was auch die Göttlichen Zwitter und die Unirdischen sind. Ich habe noch einmal in den mir zur Verfügung stehenden Büchern nachgesehen, weil ich befürchtete, meine Erinnerung an den genauen Inhalt der Schriften könne mich trügen, aber alles bestätigt meine Vermutung. Ich werde es euch darlegen." Anscheinend verschafften ihr diese Worte Amemnas volle Aufmerksamkeit, denn seine Kräfte ordneten sich sichtlich. Es war, als dürste es ihn wahrhaft nach dem Wissen, das Ramilla vor ihm ausbreiteten wollte.
 

Ramilla löste ihre Hand von Hamarem, legte die Schriftrolle, die sie noch hielt, neben sich und griff nach einer anderen. "Im Süden heißt es", und sie entrollte das Buch in der Schrift der Hawatpriesterinnen ein Stück weiter, legte Amemna die entsprechende Stelle vor, "die Gefäße der Göttin lehrten die Sterblichen die Kunst der körperlichen Liebe, und während des Geschlechtsaktes brächten sie mit ihren magischen Fähigkeiten neue Kraft oder entzögen sie ihren Partnern, ganz nach dem Willen der Göttin. Zudem heilen und töten sie mit bloßen Berühungen oder sogar durch die Kraft ihrer Gedanken." Amemna sah hinunter auf den Text, zog einen Finger unter den Zeilen entlang und formte mit den Lippen stumm die gelesenen Silben.
 

"Man findet in den Schriften des Südens nichts Eindeutiges über das Geschlecht der Ka'awatan, nur daß sie sowohl mit Männern als auch mit Frauen verkehrten, aber im Osten heißt es", und Ramilla legte die Schriftrolle, die in der alten Sprache der Ostler verfaßt war, neben die erste, "die Gesandten der Göttin seien zweigestaltig wie die Göttin selbst, sie hätten die unerschöpfliche Energie der Göttin, begatteten die Sterblichen und könnten Verletzungen heilen." Amemnas Blick folgte zwar der Bewegung von Ramillas Finger die Textzeilen entlang, aber offensichtlich konnte er mit der alten Ostlersprache nichts anfangen. Dann nahm Ramilla die zweite in Ostlerschriftzeichen, aber in der schon seit Jahrhunderten auch im Osten verbreiteten Sprache des Nordens verfaßte Rolle zur Hand. "Allerdings berichten die Geschichten des Ostens auch von gefährlichen Dämonen, die mit bloßen Berührungen oder durch Gedankenkraft Schmerzen verursachen und zerstören, wenn die betroffenen Sterblichen der Gunst der Götter verlustig gegangen sind. Das spiegelt sich auch in den Geschichten von Unirdischen und Dämonen aus den Städten des Nordens wieder." Und eine weitere Schriftrolle, Hamarem glaubte, das Buch von der Entstehung der Welt zu erkennen, wurde ausgebreitet. Ramilla stach geradezu mit ihrem Finger auf eine mit geflügelten Wesen geschmückte Textpassage, bei der es sich, soweit Hamarem kopfüber erkennen konnte, um den zweiten Gesang von den Boten der Götter handelte. "Die Unirdischen, die Boten der Götter, haben Falkengestalt, außer wenn sie kommen, um Sterbliche im Traum zu begatten. Sie sprechen in Gedanken zu anderen, sie lassen Tote auferstehen, sie schützen die Sterblichen vor den Dämonen. Die Dämonen wiederum schlüpfen in die Körper von Toten, sie schwächen die Sterblichen durch bloße Berührungen und sorgen für Tod und Zerstörung. Aus den Chroniken der Amapriesterinnen und aus meinem Kontakt zu Hamarem weiß ich, daß Menschen mit unirdischem Blut die Gedanken und Gefühle anderer Menschen wahrnehmen, sie sogar in gewissem Grade manipulieren können. Offensichtlich werden also Dämonen und Unirdischen ähnliche Kräfte zugeordnet. Hier und im Osten sind sie Antagonisten, die Menschen des Südens dagegen sehen in ihnen zwei untrennbar verbundene Seiten einer unsterblichen Natur. Ich gehe davon aus, und die Göttin möge mir gnädig sein, wenn ich falsche Schlüsse gezogen habe, daß ihr, Birh-Melack, eines der Wesen seid, die anderswo Gefäße der Göttin oder Göttliche Zwitter heißen und hierzulande als Unirdische und Dämonen bezeichnet werden."
 

"Herrrin, nach Ansicht der Oshey dienen die Unirrdischen aber doch Orrem", warf Amemna nun ein. "Und die Ka'awatan sind von Hawat gesandt worrden."
 

"Und Hawat beherrscht Mond und Sonne, den Himmel und die Erde, alle Wasser und die Luft, alles was darüber, darauf und darinnen ist", sagte Ramilla, als zitiere sie eine fromme Weisheit. "Und die Große Mutter der Ostler zeigt ihr Antlitz im Mond. Hierzulande wird der Mond Orems Lampe genannt - und Orem gilt als der Gatte Amas. All diese Boten der Götter, die sich in Menschengestalt mit den Sterblichen vereinigen, die auf die eine oder andere Weise mit der unter verschiedenen Namen bekannten Göttin verbunden sind, müssen von der selben Art sein", beharrte Ramilla.
 

Hamarems eigene Erkenntnisse über die Kräfte der Unirdischen und das Wesen der Dämonen fügte sich so nahtlos in Ramillas Erklärung, daß ihn ihr Schluß vollkommen überzeugte. Und er ergänzte ungefragt: "Angesichts der Geschehnisse um Jochawam gestern Nacht möchte ich behaupten, daß es sich bei den Dämonen wohl um entkörperte Unirdische handelt, um bloße Geister, die einen neue Körper suchen, der ebenfalls über unirdisches Blut verfügt. Auch entkörpert bleiben anscheinend die Kräfte der unsterblichen Götterboten erhalten, und mit ihnen das Bewußtsein um ihre Aufgabe, so daß sie nun rücksichtslos einen neuen Körper besetzen, um ihren Dienst an der Göttin wieder aufzunehmen." Der Schluß daraus erzeugte Hamarem selbst eine Gänsehaut: "Daher kämpfen die Dämonen in der Tat gegen die Unirdischen oder diejenigen mit unirdischem Blut."
 

"Ist es nicht unwahrscheinlich, daß ausgerechnet Unirdische in einen entkörperten Zustand geraten?" fragte Ramilla zurück.
 

"Rredet ihrr beide von derr Dunkelheit, die kesterrn Nacht nach Jochawam kekrriffen hat?" warf Amemna ein, dessen Kräfte sich nun plötzlich in Aufruhr befanden. "Und wieso scherrt ihrr mich mit einem dieserr dunklen Wesen überr einen Kamm, Prriesterrin? Ich habe inzwischen einige Männerr keheilt oderr dem Tode entrrissen, aberr..."
 

"Die Ka'awatan müssen ihre Kräfte auch im Moment der Ekstase beherrschen, damit sie sie nach dem Willen der Göttin einsetzen können. Die Schriften des Südens warnen davor, diese verstörende Macht aus Unerfahrenheit falsch einzusetzen. Und ihr habt Hamarem bei eurer Vereinigung fast die ganze Lebensenergie entzogen", fuhr Ramilla plötzlich auf. "Vielleicht hattet ihr nur deswegen genügend Kraft, heute Vormittag die anderen Männer zu heilen. Und was ist mit Jochawam, den ihr so schwächtet, daß er diesem Dämon zum Opfer fallen konnte?" fragte sie provozierend.
 

Hilfesuchend sah Amemna Hamarem an, war spürbar erschüttert über diese Eröffnung. "Ist das wirrklich wahrr?" fragte er, aber auch er sah in Ramillas Erinnerung, wie erschöpft Hamarem tatsächlich gewesen war, wie schlecht Jochawams Zustand gewesen war, als sie ihn mit Derhans Hilfe aufgeweckt hatten. "Ich wollte doch nurr etwas von deinerr Lust spürren, wollte nurr..." Immer flacher wurden die Bewegungen seiner Kräfte, dann flossen die Tränen über, rollten seine zarten Wangen hinunter. Amemnas letzten, leise gewordenen Worte erstarben in Schluchzern.
 

Hamarem konnte nicht an sich halten, rutschte eilig zu Amemna hinüber, nahm den jungen Mann, den jungen Zwitter, fest in die Arme, strich ihm zärtlich über das Haar, redete ihm beruhigend zu. "Ich lebe noch, Herr. Ramilla hat mir mit dem Willkommenstrunk geholfen. Und auch Jochawam lebt, und sicherlich wird bald alles wieder gut werden", flüsterte er. Sanft küßte Hamarem die salzige Flüssigkeit von Amemnas Wangen, verlor sich in den tränenerfüllten, hellgrauen Augen, spürte die unausgesprochene, flehende Bitte um Verzeihung so schmerzhaft, daß es ihm das Herz zu zerreißen drohte. "Du konntest es nicht wissen", hauchte Hamarem, küßte zärtlich Amemnas Lippen, um ihn zu trösten.
 

Aber Amemna reagierte gar nicht darauf, war ganz in seiner Bestürzung über die eigene Tat gefangen, erinnerte sich plötzlich undeutlich verschiedener Gelegenheiten, wo er anscheinend seine Kräfte mehr oder weniger unbewußt dazu eingesetzt hatte, seinen Gegenüber zu einem Liebesakt zu bewegen, bis die Schuldgefühle zunehmend schmerzhafter Hoffnungslosigkeit wichen.
 

"Wo lerntet ihr das Ma'a'wat ne'sker, Birh-Melack?" fragte Ramilla plötzlich mit so scharfer Stimme, daß Hamarem davon in seiner Besorgnis um Amemna aufschrak.
 

Amemna sah sie an, als habe er sich gerade selbst aufgegeben, und trotz des Durcheinander in den Gedanken seines jungen Herrn erkannte Hamarem, daß Amemna das Gefühl hatte, einen langen, schweren Kampf nun schließlich doch verloren zu haben. Andauernd hatte er versucht, den Menschen um sich zu beweisen, daß er nach besten Wissen und Gewissen ehrenvoll handelte, wahrhaft liebte und sich um seine Leute sorgte. Nun hatte er durch eine einzige unbedachte, egoistische Tat bewiesen, daß er wohl doch der manipulative Dämon war, als den ihn andere sahen. Und er mußte sich dieser Erkenntnis stellen. Hamarem hörte die Vorwürfe die er selbst Amemna gemacht hatte, Vorwürfe der Prinzessin, Vorwürfe des Knaben Nefut, Vorwürfe von dessen Mutter, der vorherigen Priesterin, sogar Vorwürfe seines Geliebten Nefut, die meisten laut geäußert, einige jedoch auch nur durch Gedanken in Amemnas Gegenwart, allesamt sein unirdisches oder dämonisches Erbe, also seine von den Göttern geschenkte unveränderliche Natur betreffend. Wie ein in Treibsand Versinkender hielt Amemna Hamarem weiter mit seinen Armen umfangen, als er Ramilla nach einem kurzen Schniefen mit leiser Stimme antwortete: "Ich lebte als Findelkind auf Trrittstein derr Himmelskönigin und wuchs in dem Klosterr dorrt auf, bis ich von derr Köttin beschenkt wurrde."
 

"Da ihr mit einem männlichen Glied beschenkt wurdet, mußtet ihr das Kloster verlassen?" fragte Ramilla. Amemna nickte nur. "Wie alt wart ihr zu diesem Zeitpunkt?" wollte Ramilla mit strengem Blick wissen.
 

"Etwa elf oderr swölf Jahrre, denke ich. Ich wurrde von einerr Schwesterr meinerr Prriesterrin aufkenommen, die in Ma'ouwat lebte." Neue Tränen liefen Amemna lautlos über die Wangen, aber es war alter Kummer, über eine schwarzhäutige Frau, die in ihrem Blut lag, mit zerrissenen Kleidern, vergewaltigt, im Todeskampf. Das war Amemnas Ziehmutter in Ma'ouwat gewesen, deren Tod durch die aufständischen Ma'ouwati er damals nicht verhindern, sondern nur hatte rächen können.
 

"Hat euch eure Priesterin nicht gesagt, was ihr als Ka'awata mit euren Fähigkeiten bei einer Vereinigung anrichten könnt?" wollte Ramilla erbarmungslos wissen.
 

Amemna raffte die beängstigend träge gewordenen Kräfte um sich, räusperte sich, wischte sich fahrig die Tränen aus dem Gesicht. "Sie hat mirr nurr kesagt, daß ich als Junge leben müsse und keinem sagen dürrfe, daß ich sweikeschlechtlich bin wie die Köttin selbst. Bis eben hat mirr auch niemand kesagt, daß die Ka'awatan sweikeschlechtlich sind."
 

"Und sie sagte nichts zu euren Fähigkeiten?" fragte Ramilla ungläubig.
 

"Ne'ne Ka'a'wata", schrie Amemna in der Südlersprache, zitterte vor Verzweiflung in Hamarems Armen, preßte sich dann wieder hilfesuchend an ihn. Und Hamarem stellte plötzlich fest, daß er selbst es trotz der Umstände genoß, nun tatsächlich Beschützer seines Birh-Melack zu sein.
 

"Wenn ihr es da noch nicht wart, wann erwachten dann eure Fähigkeiten?" Hatte Ramilla denn gar kein Mitleid mit Amemna? Wie gnadenlos sie ihn anstarrte! Es verursachte Hamarem eine Gänsehaut, sie so zu sehen, auch wenn die Kräfte verrieten, welche Anstrengung diese Schonungslosigkeit ihr abverlangte. Und plötzlich wußte er, daß sie ihn als Trost für Amemna miteinbestellt hatte.
 

Amemna drehte den Kopf weg, barg sein Gesicht an Hamarems Schulter. "Meint ihrr die Wahrrnehmung frremderr Kefühle?" fragte er leise.
 

"Ihr wißt was ich meine, Birh-Melack", erwiderte sie streng.
 

"Die Fähigkeiten derr Ka'awata errwachten, als ich Nefut und Hamarrem kennenlerrnte, also vorr etwa einem Mond." Seine Kräfte waren nun so matt, und seine Stimme klang so resignierend, daß Hamarem Angst um ihn hatte.
 

"Laß ihn, Ramilla. Er ist noch jung, er wuchs ohne leibliche Eltern in der Fremde auf, er hatte niemanden, der ihn unterrichtete oder anleitete, mit den Fähigkeiten der Unirdischen umzugehen - und nun soll er verantwortlich sein für alles Übel in der Welt?"
 

Ramilla sah nachdenklich auf Amemnas Rücken, dann rollte sie die ausgebreiteten Schriftrollen wieder zusammen, verstaute sie in ihren reich bestickten und ganz schlichten Hüllen. Nachdem die Pause sich unbehaglich ausgedehnt hatte, sagte sie schließlich: "Nein, wahrscheinlich nicht für den Dämon, der nun in Jochawam steckt und von dem auch die Priester des Ungenannten gesprochen haben - aber dafür, daß Jochawam ihm ausgeliefert war."
 

"Wenn die Priester nicht Amemna für den eigentlichen Dämon halten", ging Hamarem da auf. "Sie haben ihm am Vormittag einen Mantel geschickt, der seine Kräfte fesselt. Vielleicht war das der Banngegenstand von dem sie bei der Verbrennung des Ehrwürdigen Vaters gesprochen haben."
 

Ramilla hob erstaunt die Augenbrauen. "Und wie kommen sie dazu?"
 

"Vielleicht wissen die Priester des Ungenannten schon längst, daß die Unirdischen und die Dämonen die selbe Art sind", gab Hamarem zurück. "Aber man kann das Volk nicht in Furcht vor den Dämonen halten und ihnen zugleich die Segnungen der Himmlischen Gärten und der dort wohnenden Unirdischen versprechen, wenn es allgemein bekannt wäre."
 

"Vielleicht sollte man die Priester des Ungenannten einmal zur Rede stellen", entgegnete Ramilla kampfeslustig. "Ich bin nicht der Meinung, daß diese alten Männer sich in die Angelegenheiten der Göttin einzumischen haben. Und ihr, Birh-Melack, solltet schleunigst lernen, wie ihr die Segnungen Hawats ohne ihren Fluch verbreitet."
 

"Er entzieht die Lebensenergie nur denjenigen, die selbst über unirdisches Blut verfügen", warf Hamarem ein, hielt den von den letzten Vorwürfen und Verdächtigungen nun wie betäubt wirkenden Amemna schützend umfangen. Seine Kräfte lagen jetzt wie ein Panzer um ihn, und von seinen Gedanken und Gefühlen war nicht mehr als ein unheilvoller Schatten wahrzunehmen.
 

"Und macht es das etwa besser, wenn vorrangig du und eine Handvoll anderer Menschen mit unirdischem Blut gefährdet sind?" fragte Ramilla finster.
 

"Derr Oinos wirrd verhinderrn, daß ich Hamarrem oderr Jochawam noch einmal Leid zufüge", sagte Amemna plötzlich mit beherrschter Stimme, straffte sich, löste sich halb aus Hamarems Umarmung. Er wischte sich mit dem Ärmel die noch immer tränenfeuchten Wangen trocken und bemühte sich sogar, den durch die Aufregung stärker gewordenen Südlerakzent wieder abzulegen. "Ich habe es in Hamarems Erinnerungen gesehen und schon in Tetrraos die Errfahrrung gemacht, daß dieses Getrränk die unirrdischen Fähigkeiten tatsächlich abschwächt." Seiner Gattin wegen, ihr zu Gefallen hatte er am heutigen Tage diesem Getränk reichlich zugesprochen, erkannte Hamarem aus Amemnas zuvor empfangenen wirren Gedanken plötzlich, so daß er auf dem Lager der Prinzessin kaum mehr gewesen sein konnte, als ein gewöhnlicher Mann.
 

"Natürlich, denn der Oinos ist das Getränk der Göttin um sie beim Rauschfest zu feiern, Herr", erklärte Ramilla. "Vielleicht diente er ursprünglich dazu, bei einer Vereinigung die Gefahr der Schwächung durch die Gesandten der Göttin und ihre Nachkommen für die gewöhnlichen Sterblichen zu mindern." Aber sein Birh-Melack war doch kein gewöhnlicher Mann! Er durfte doch nicht seine Natur verleugnen! Und nun hatte er sich in seine Kräfte eingesponnen, daß es ganz ähnlich wirkte wie der dämonische Kräftepanzer um Jochawam.
 

"Herr", meldete Hamarem sich zögernd zu Wort, "das kann doch nicht das einzige Mittel sein, damit umzugehen. Vielleicht kann ich..." "Du wolltest deine unirdischen Kräfte sogar mit Stechapfel betäuben", erinnerte Ramilla ihren Geliebten und Hamarem verstummte. Sie hatte recht. Doch Amemna mußte sich nach diesem Gespräch doch selbst für einen Dämon halten. "Herr, bitte, mach nichts Unbedachtes", flüsterte er dem jungen Zwitter zu und streifte dabei mit den Lippen leicht seine Ohrmuschel.
 

Amemna rückte noch ein Stück von Hamarem fort, raffte seinen Mantel zusammen und erhob sich, bückte sich nach seinem Helm. "Ich werrde mich des Umgangs mit Hamarrem und Jochawam enthalten, bis ich die Krräfte derr Ka'awata beherrrsche, Prriesterrin", versprach er steif. "Ist unserr Gesprräch damit beendet?" Und Ramilla nickte stumm. "Wenn du mich suchst, ich bin bei Wanack Perrdinim um mich mit ihm zu beraten, Zweiterr, und du solltest zu den Zelten zurückkehren", erklärte Amemna dann, verließ den hinteren Zeltraum des Schlafzeltes und war verschwunden.
 

Eine Leere erfüllte Hamarem, die beängstigend war, schmerzhaft, als wäre sein Herz in einen Kräftekokon eingesponnen und zu keinem Gefühl mehr fähig. Wenn er seinem Herrn doch nur irgendwie helfen konnte! War das die geflügelte Schlange, die ungezügelten, unverstandenen Kräfte, die Amemna bei der Vereinigung entfesselte? Schließlich merkte Hamarem, daß schlanke Arme ihn umfingen, Ramilla ihn sanft auf die Wange küßte. "Du hast Deinen Herrn gehört, mein Liebster. Und mich rufen meine Pflichten im Amazelt. Laß uns heute abend das Lager teilen." Noch immer wie betäubt nickte Hamarem nur und begab sich zurück zu den Zelten.
 

*
 

Amemna hatte Recht gehabt, die Mittagsruhe war schon lange vorbei, er mußte bei den Zelten Präsenz zeigen. Was das Schicksal des gefangenen Nefut betraf, würden Amemna und der Zweite der Birh-Mellim sicher alles, was in ihrer Macht stand, unternehmen. Hamarem mußte sich endlich um den Dämon und vor allem um den rätselhaften Mantel kümmern. Wenn es sich dabei wirklich um einen Banngegenstand handelte, konnte man Jochawam mit Hilfe des Mantels vielleicht sogar von dem Dämon befreien. Doch bevor Hamarem das Zelt der Prinzessin betreten konnte, um die Erlaubnis einzuholen, den Mantel zu betrachten, kam Derhan ihm aus eben diesem Zelt entgegen.
 

"Die Gattin unseres Wanack hat mir befohlen, meinen Sohn aus dem Lager zu schaffen", sagte er, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten, und wenig passend blitzte dazu das blutig geschlagene Gesicht eines Mannes in Derhans Gedanken auf. Wieso gelang es ihm plötzlich, Derhans Erinnerungen zu sehen? Hatte sich irgendwo schon wieder ein Aufruhr entzündet, während Hamarem noch bei Ramilla gewesen war? War die Gefangennahme Nefuts durch die Tetraosi inzwischen etwa doch allgemein bekannt geworden? Das Bild des Hamarem unbekannten Nordstädlers war eindringlich genug gewesen, daß er es auch nach dem Verschwinden aus Derhans Gedanken noch vor sich sah, ein breiter Strom Blut, der aus einer Platzwunde über dem linken Auge an der Wange in ein Gewand floß, den weißen Stoff rot färbte, ein weißer Ärmel, der das Blut unter der schief geschlagenen Nase fortwischte. Der Zusammengeschlagene schien ein Priester des Ungenannten zu sein! Hatten die Priester des Ungenannten jetzt ihre wahren Absichten gegenüber den Söldnern enthüllt? Warum war dann noch nicht das ganze Lager in Aufruhr? "Was ist passiert?" wollte Hamarem wissen, aufs Höchste beunruhigt durch diese Vision.
 

Derhan sah Hamarem überrascht an. "Hast du noch nichts davon gehört, daß das Heer der Hannaiim vor Tarib sein Lager errichtet hat? Es wird morgen eine Schlacht geben, also ist das hier kein Ort für einen Jungen. Es würde mich sehr wundern, wenn gerade du da anderer Meinung sein solltest."
 

"Aber...", der zusammengeschlagene Priester. Wenn Derhan ihn nicht erwähnte, war es vielleicht einfach eine alte Erinnerung. Was wußte Hamarem schon über Derhans Vergangenheit, außer daß er sich mit Heilkräutern ebenso gut auskannte, wie mit Giftpflanzen, sowohl Wunden versorgen konnte, als auch rücksichtslos kämpfte und darüber hinaus in der Lage gewesen war, während ihrer Zeit in Ashans Bande mit seinem sehr belesenen Anführer Farhan Dispute zu führen? "Aber... aber...", stotterte er, "was ist mit deiner Lebensschuld gegenüber unserem Herrn? Willst du wirklich gerade vor einer Schlacht..."
 

"Diese Schuld ist abgegolten", sagte Derhan so überzeugt, als sei es allgemein bekannt. Vielleicht war es während der Tage in Tetraos dazu gekommen. Und die Kräfte um ihn waren so ruhig wie stets.
 

"Nefut ist also tatsächlich dein Sohn", provozierte Hamarem ihn. Für einen Moment schloß Derhan überraschend die Augen, seufzte, als überwältige ihn eine Erinnerung und die Kräfte um Derhan stoben in fast beängstigender Weise auf, bis sie sich fast genauso plötzlich wieder beruhigten. Neugierig versuchte Hamarem, auch etwas von dieser Erinnerung zu erhaschen, er sah einen glücklich lachenden Osheyjungen in Nefuts Alter, der Derhan so ähnlich sah, daß niemand auf die Idee gekommen wäre, Derhans Vaterschaft in Frage zu stellen, doch plötzlich war dieser Junge nurmehr eine kleine, halb in einen Kindermantel eingenähte Leiche. Dieser Anblick des toten Kindes war so grausig, daß Hamarem sich erschüttert von allen weiteren Gedanken und Empfindungen Derhans abwandte, die sich anscheinend um die Umstände des Todes seines Sohnes drehten. Sicher wollte Derhan Nefut vor einem ähnlichen Schicksal bewahren, und er mochte tatsächlich der richtige Mann dafür sein, den Jungen wohlbehalten zu seiner Mutter nach Tetraos zu bringen, wenn sie sich nicht sogar auf dem Weg begegneten.
 

"Nefut ist..." begann Derhan mit belegter Stimme.
 

Aber Hamarem fiel ihm ins Wort, um zu verhindert, daß Derhan eine Lüge aussprechen, oder er selbst gegenüber dem Zweiten der Birh-Mellim wissentlich Falsches behaupten mußte: "Derhan, ich beurlaube dich ab sofort aus der Wannim, damit du den Knaben zu seiner Mutter nach Tetraos bringen kannst."
 

Derhans wirkte erleichtert und lächelte er Hamarem in seiner gewohnten, frechen Weise an. "Ich garantiere aber nicht, daß ich vor Ende der Schlacht gegen die Hannaiim zurückkehren werde. Vielleicht gibt es die Wannim gar nicht mehr, wenn wir uns wiedersehen."
 

Hamarem nickte. "Das ist durchaus möglich. Die Tetraosi entlassen ihre Söldner nach der Schlacht, unabhängig davon wie sie ausgeht. Ich werde deinen Sold für dich aufheben... und du sorg gut für den Jungen", bat er Derhan dann noch. Doch das würde er sicher tun.
 

"Ich möchte so schnell wie möglich aufbrechen, dann schaffen der Junge und ich es vielleicht sogar vor Einbruch der Dunkelheit nach Tetraos. Entschuldigst du mich bei unserem Herrn, oder ist in Kürze mit seiner Anwesenheit bei unseren Zelten zu rechnen?"
 

Hamarem schüttelte den Kopf. "Er sagte, er wolle sich mit dem Zweiten der Birh-Mellim beraten, sicher wegen der Verhaftung Nefuts."
 

Derhan brummte zustimmend. "Achte gut auf dich und deine Priesterin", dann eilte er davon in das Mawati-Zelt.
 

"Und Orem behüte dich und den Jungen", sagte Hamarem zu Derhans sich rasch entfernendem Rücken, aber der Mann legte nach eigenem Bekunden ja wenig Wert auf den Segen der Götter.
 

* * *
 

33. Auflösung

Merat sog den Duft Amemnas aus dem Kissen ein, streichelte über den weichen Stoff, der doch lange nicht so weich war, wie die Haut ihres Gatten. War sie zu sorglos gewesen bei ihrem Gespräch mit Derhan? Nach der Aussöhnung mit Amemna, nach der so dekadenten aber wundervollen Vereinigung mit ihm zur Mittagsstunde, was wiederum die Erinnerung an die Vereinigung mit Nefut in der Nacht zuvor weckte, war sie einfach nicht in der Lage gewesen, kühle Distanz aufzubringen, als sie Derhan gegenüber von Nefuts Gefangennahme sprach. Derhan war wenig überrascht gewesen, als sie von Nefut als ihrem Bruder sprach, aber er hatte ihr ja schon mitgeteilt, daß er ihren Bruder ausfindig gemacht hatte, ohne mehr als das mitzuteilen. Und wie wissend er sie angesehen hatte, als sie ihm ihr Problem schilderte. Waren ihre wenig schwesterlichen Gefühle für Nefut zu offensichtlich gewesen? Sie konnte nur hoffen, daß Derhan auch ihre Geheimnisse nicht mehr als andeutete, wenn er anderen gegenüber davon sprach.
 

Immerhin hatte sie ihren Unmut über Amemnas Prioritäten, sich zuerst mit der Amapriesterin zu treffen, anstatt sich gleich um das Wohl Nefuts zu kümmern, für sich behalten können. Sie hatte nur erwähnt, Amemna sei von seinem Zweiten fortgerufen worden, sich um eine andere dringende Angelegenheit zu kümmern. Derhan hatte versprochen, für sie über Nefuts Verhaftung herauszubekommen, was zu erfahren war. Und Merat war zurückgeblieben, besorgt über Nefuts Schicksal, verstört über Amemnas Entscheidung, aber nun ohne den geringsten Zweifel daran, Amemna tatsächlich zu lieben, auch wenn sie ihn manchmal einfach nicht verstand. Obwohl er einige Jahre von Murhan erzogen worden war, würde er wohl nie ein Oshey werden, und vielleicht liebte sie an ihm auch gerade, daß er die unsichtbaren Grenzen, die die Schriften setzten, manchmal auf schockierende Weise ignorierte. Und egal was in den Schriften behauptet wurde, es konnte doch nicht sein, daß die Götter gegen die Verwirklichung ihres Traumes von einer harmonischer Zukunft mit Amemna und Nefut waren! Was konnte Hawat Anstößiges daran finden, mehr als einen Mann zu lieben? Mußten die Götter der Oshey nicht auch befürworten, daß sie von ihrem Plan der Täuschung und des Betrugs abgelassen hatte? Merat hörte, daß Losat den Anführer der Wachen des Fürsten fortschickte, weil ihre Herrin noch ruhte und sie dankte ihr stumm. Sie konnte sich jetzt nicht dazu überwinden, dem sympatischen aber etwas steif wirkenden Patris Gehör zu schenken.
 

Als wenig später Amati von ihrer Mittagsruhe erwacht war, und Merat ihre fröhlich lachende Tochter in den Armen hielt, kam Losat jedoch nach hinten und wisperte: "Der kahlköpfige Mawati bittet um ein weiteres Gespräch, Herrin." Beunruhigt darüber, was dieser Schnelligkeit zugrunde liegen konnte, vor allem, da er ihr doch keine großen Hoffnungen gemacht hatte, vor dem späten Nachmittag mit Informationen zurückzukehren, überreichte Merat ihre Tochter hastig der Amme und eilte in den vorderen Teil des Zeltes. "Ist etwas passiert, daß ihr so schnell zurückkehrt?" fragte sie, zusätzlich alarmiert durch anscheinend frische Blutspuren an seinen hellbraunen Ärmeln.
 

Derhan nahm sein Kopftuch ab und strich sich über seinen rasierten Schädel. "Herrin, ich habe mit eurem Bruder gesprochen", begann er mit gedämpfter Stimme. "Auch er hat keinen Hinweis darauf, wer ihm übel will. Die offizielle Anklage lautet 'Mord an einem Priester', aber außer dem Wort des Ersten Sekretärs liegen anscheinend weder Beschuldigungen noch irgendwelche Beweise gegen ihn vor. Ich habe allerdings herausgefunden, daß der Ehrwürdige Vater entgegen der allgemeinen Vermutung nicht hier, sondern bereits vor Tetraos starb – und ohne es zu diesem Zeitpunkt zu ahnen, habe ich selbst sogar gesehen, wie sein lebloser Körper aus dem Zelt der Priester des Ungenannten in einen ihrer Transportwagen getragen wurde, kurz bevor ich mit euch auf jenem Hügel auf den Heerzug wartete. Ich hatte damals vermutet, er sei nur geschwächt durch das überaus schwüle Klima der beginnenden Regenzeit, vor allem, da ihm sein Stock nachgetragen wurde."
 

Merat war schockiert über diese Eröffnung. "Heißt das, der Erste Sekretär hat einfach willkürlich die Anklage ausgesprochen, weil die Priester des Ungenannten den Leichnam des Ehrwürdigen Vaters nun gerade zwischen die Zelte der Mawati gelegt haben?"
 

"Ich vermute es. Daher versuchte ich auch, durch die Befragung eines der Priester des Ungenannten zu erfahren, warum sie den Toten gerade zu unseren Zelten brachten. Der Priester erzählte, daß der Tote im Laufe der gestrigen Nacht aus dem Transportwagen verschwand und zumindest er wußte nichts darüber, wer den Leichnam hierher gebracht hat. Tatsächlich befürchtete die Priesterschaft des Ungenannten durch das Auftauchen des Leichnams gerade zwischen unseren Zelten anscheinend sogar die Störung ihrer Pläne – und dieser Pläne wegen bin ich so schnell zurückgekehrt, denn sie bedrohen ernstlich das Leben eurer Tochter und eures Gatten." Und in diesem Moment brachte Losat die Teekanne und Trinkschalen.
 

Merat hatte das Gefühl, ihr Herz hätte bei Derhans Worten einen Schlag ausgesetzt. Schnell schickte sie Losat wieder fort, auch wenn ihre eigenen Hände etwas zitterten, als sie die Schalen mit der heißen Flüssigkeit füllte. Sie atmete tief durch, versuchte ruhig zu bleiben. Sie glaubte, auf Derhans Ehrlichkeit vertrauen zu können. Auch wenn er ein Stammesloser war, macht er einen sehr anständigen, gebildeten Eindruck. Außerdem hatte er ihren Auftrag, etwas über die Verhaftung Nefuts herauszufinden, anscheinend getreulich zu erfüllen versucht, und war nur deswegen zurückgekehrt, weil er auf eine Gefahr für seinen Herrn gestoßen war. Er mochte ein Skeptiker sein, aber er hatte seinen eigenen Ehrenkodex, der nicht sehr vom Wahren Weg abzuweichen schien. "Von was für einer Gefahr sprecht ihr?" fragte Merat endlich mühsam beherrscht.
 

"Anscheinend leben die Priester des Ungenannten in Furcht vor den unirdischen Fähigkeiten eures Gatten, seitdem er dem Knaben Nefut Hiame auf spektakuläre Weise das Leben wiedergab", erzählte Derhan leise. "Dem Priester des Ungenannten nach, den ich befragte und an dessen Aussage zu zweifeln ich keinen Grund habe, hatte der Ehrwürdige Vater diese Ansicht geteilt, besuchte die Priesterschaft des Ungenannten am Abend vor dem Aufbruch des Heeres nach Tarib und diskutierte mit ihnen die halbe Nacht Schriften. Dann habe man ihm schließlich anvertraut, daß die Priesterschaft des Ungenannten über einen alten Banngegenstand gegen Dämonen verfügt, einen aus Gold und Silber geschmiedeten Armreifen, den ein Bote kurz nach der Heilung des Knaben aus einem Kloster nahe Hannai geholt hatte, denn angeblich sei er auch gegen Unirdische fast reinen Blutes wirksam. Gerade in der Nacht vor dem Aufbruch des Heeres nach Tarib war in den Zelten des Ungenannten daraus ein schmales Band gehämmert worden, das in den Kragen eines Mantels für den Birh-Melack eingenäht werden sollte, um damit seine unirdischen Kräfte zu fesseln und ihn später gefahrlos überwältigen und töten zu können.
 

Zur Mitte der Nacht habe sich der Ehrwürdige Vater plötzlich unwohl gefühlt und die heilkundigen Priester des Ungenannten waren davon überzeugt, es mit einem bloßen Schwächeanfall des alten Mannes zu tun zu haben. Sie erlaubten ihm, in ihren Zelten zu übernachten und stellten erst beim Aufbruch aus Tetraos am nächsten Tag fest, daß der Ehrwürdige Vater verschieden war. Um nicht vor der Zeit den Birh-Melack auf den Banngegenstand aufmerksam zu machen, hielten sie den Tod des Ehrwürdigen Vaters geheim und gaben auch den anderen Orempriestern erst Bescheid, als alles zur Schwächung eures Gatten vorbereitet war. Den Mantel brachten sie mit Vorbedacht zu einem Zeitpunkt zu euch, als euer Gatte mit Sicherheit abwesend war, und als sie bei der Übergabe feststellten, daß auch eure Tochter anscheinend einen hohen Anteil am Blut der Unirdischen hat, führte diese Erkenntnis zu neuer Unruhe unter den Priestern, so daß ich das Äußerste für sie fürchte. Ihr solltet mit ihr schnellstens das Heerlager verlassen."
 

Merat hatte sich Derhans Bericht mit wachsendem Unbehagen angehört, mit zunehmender Anspannung dazu geschwiegen. Sie hatte den Mantel auch noch angenommen, in der Meinung, sie würde damit ihre eigenen Pläne verwirklichen. Statt dessen hatte sie damit möglicherweise Amemnas und Amatis Tod Vorschub geleistet. Erschüttert zeigte sie auf das Paket, in dem der Mantel lag. "Amemna wollte den Mantel eigentlich nicht einmal anprobieren, vermutlich merkte er, daß irgend etwas daran nicht gut für ihn ist", flüsterte sie - und sie hatte ihn dazu überredet. Dieser Mantel mußte vernichtet werden... aber vielleicht reichte es ja schon, das Metallband aus dem Kragen herauszulösen und zu vernichten, denn einen neuen Mantel brauchte ihr Gatte zweifellos – und einen prächtigeren, für einen Birh-Melack unirdischen Blutes angemesseneren, würde man nirgends finden. Das Kind aber mußte, selbst wenn keine unmittelbare Gefahr mehr bestand, in der Tat schnell fortgebracht werden aus diesem Heerlager. Und dann fiel Merat ein, daß der Knabe Nefut ja auch zur Wannim ihres Mannes gehörte. "Ihr solltet auch euren Sohn in Sicherheit bringen", ermahnte sie Derhan. "Ich glaube nicht, daß er in einem Heerlager gut aufgehoben ist, in dem die Priesterschaft eines Gottes versucht, den Anführer der Söldner zu töten, noch dazu wo er zu Amemnas Wannim gehört. Falls mein Gatte oder der Zweite euch nicht entlassen wollen, verweist auf mich."
 

"Aber bisher habe ich noch nichts unternehmen können, um eurem Bruder zu helfen. Ich bezweifle, daß die Priesterschaft des Ungenannten vor den Tetraosi freiwillig ihren Plan zur Beseitigung unseres Birh-Melack bekennt, also..."
 

"Durch eure Informationen habt ihr meinem Gatten und unserer Tochter sicherlich das Leben gerettet! Und ich befehle euch hiermit, den Knaben in Sicherheit zu bringen", unterbrach Merat Derhan aufgebracht. "Falls er hier während eines Aufruhrs umkommt, würde sein Blut an meinen Händen kleben, jetzt, da ich weiß, wie es in diesem Lager steht." Wenn die Kinder in Sicherheit waren, konnte sie sich mit Hilfe der restlichen Mawati darum kümmern, weitere Zeugen zur Entlastung Nefuts zu finden.
 

Derhan nickte ergeben. "Ihr habt natürlich recht", gab er leise zurück, trank endlich den ersten Schluck Tee. "Dann werde ich jetzt gehen, und meine Habseligkeiten zusammenpacken."
 

"Ich wünsche euch und eurem Sohn alles Gute", sagte Merat und entließ ihn, hörte, wie er sich vor dem Zelt mit dem Zweiten der Wannim unterhielt. Und lungerte dort draußen zwischen den Zelten nicht auch Patris herum? Irgendwann mußte sie wohl mit dem Anführer der fürstlichen Wachen sprechen, aber nicht gerade jetzt, während sie überlegte, wie sie Amati in Sicherheit bringen konnte, ohne Nefut aller Hilfe zu berauben. Dann trat der Zweite ihres Gatten in den Zelteingang, verneigte sich vor Merat, bat Losat, für ihn bei ihrer Herrin um ein Gespräch nachzusuchen.
 

"Kommt herein, Hamarem", begrüßte sie ihn, bevor Losat auf seine Bitte irgend etwas erwidern konnte. Vor dem Zelt hatte er Derhan doch gesagt, Amemna bespreche sich mit Wanack Perdinim. Wenn er sie sprechen wollte, hatte er vielleicht schon Nachricht von Amemna, wie Nefut aus der Gefangenschaft zu befreien war.
 

Hamarem kam zu ihr, ließ sich elegant auf einem Kissen nieder, nahm von Merat die frisch gefüllte Teeschale in Empfang, nippte an der heißen Flüssigkeit und sah sie erwartungsvoll an. Natürlich, sie war als Gattin seines Herrn die Ranghöhere. Aber je länger sie sich jetzt mit Höflichkeiten aufhielten, desto gefährlicher wurde es möglicherweise für Amati, denn inzwischen wußte sicher die ganze Priesterschaft des Ungenannten, daß die Mawati von ihren Plänen erfahren hatten. "Was führt euch zu mir, Hamarem?" fragte sie also ungeduldig, auch wenn sie sich um einen höflichen Ton bemühte.
 

Hamarem sah sie überrascht an. "Es geht um den Mantel, den die Priesterschaft des Ungenannten eurem Gatten schenkte, Herrin", sagte er. "Aber anscheinend wißt ihr schon, daß es sich dabei um eine Waffe gegen ihn handelt."
 

Merat schüttelte unwillig den Kopf. "Nicht der Mantel ist die Waffe – es ist ein Metallband in den Kragen eingenäht, mit dem man ihm seine unirdischen Fähigkeiten nehmen will. Ich denke, man muß es nur heraustrennen, um den Mantel wieder zu einem gewöhnlichen, nunja, einem außergewöhnlich auffälligen Kleidungsstück zu machen."
 

Hamarem stellte behutsam die Teeschale aus der Hand, erhob sich geschmeidig und näherte sich zögernd dem Paket, in dem der Mantel lag, schlug den Stoff, in den er verpackt war, Lage um Lage beiseite, bis man die aus Gold- und Silberfäden gestickten Flügel der Unirdischen sah. Vorsichtig legte er die Hand auf die Stickerei und zog sie sofort wieder zurück, als habe er sich verbrannt. "Es sind die Metallfäden der Stickerei, die die Kräfte fesseln", flüsterte er.
 

Merat erinnerte sich an ihre Kinderzeit, in der sie sich oft in der Schmiede ihres Vaters aufgehalten hatte, durch kleine Verbrennungen an ihren Fingern schnell gelernt hatte, wie gut Gold und Silber leiten. "Vielleicht sind die Fäden einfach nur mit dem Metallband verbunden worden." Und dann wurde ihr klar, daß auch der Zweite ihres Gatten über unirdische Fähigkeiten verfügen mußte, wenn er durch eine bloße Berührung der Stickerei eine solche Aussage machen konnte. Waren es die durch die Mischung aus grau und braun so goldgefleckten Augen, wie auch Amati sie hatte, die Rückschlüsse auf das Erbteil zuließen? Amati mußte schnellstens aus dem Lager gebracht werden! Merat sprang auf. "Losat, pack mit Tabit alles zusammen", befahl sie. "Wir verlassen noch zu dieser Stunde das Heerlager. Und sag auch Patris Bescheid, daß die Wachen sich bereit machen sollen." Losat nickte und lief aus dem Zelt.
 

"Das ist eine kluge Entscheidung, Herrin", ließ Hamarem sich vernehmen. "Das Heer der Hannaiim steht vor Tarib, morgen wird es sicher zu einer Schlacht kommen, und währenddessen seid ihr hier im Lager ungeschützt."
 

Merat nickte abwesend. Sie selbst hatte nicht vor, das Lager zu verlassen, bevor nicht Nefut gerettet war. Sie näherte sich dem Paket und stand nun so dicht neben Hamarem, daß sie an seinem langen Haar einen halb vertrauten Duft wahrnehmen konnte. Natürlich, Amemna und er waren gemeinsam zu der Amapriesterin gegangen. Keine Frage, was sie dort getrieben hatten. Allein der Gedanke ließ Merats Schoß vor Verlangen pochen. War es sein unirdisches Blut, das Amemna an Hamarem anzog, oder sein gutes Aussehen, seine geschmeidigen Bewegungen, die wunderbare Stimme? Doch das war nichts, worüber sie sich jetzt Gedanken machen durfte. "Ich muß vor allem Amati in Sicherheit bringen, damit die Priester des Ungenannten sich nicht an ihr vergreifen", sagte Merat also nachdrücklich. Mit Mühe unterdrückte sie die Bilder dessen, was die aufständischen Ma'ouwati mit kleinen Kindern gemacht hatten. Die Priester hatten vermutlich ähnliche Pläne mit dem kleinen, wehrlosen Säugling.
 

Hamarems Gesicht wurde bleich. "Wir können nicht zulassen, daß sie eurer Tochter oder eurem Gatten etwas antun, Herrin. Habt ihr eine Nähnadel hier? Sonst hole ich eine aus meinem Gepäck." Dann atmete er tief durch, als müsse er Kraft schöpfen und hob den Mantel aus seiner Verpackung, breitete ihn sorgfältig auf dem Boden aus, rieb dann seine Hände, als hafte etwas Unangenehmes an ihnen und wendete schließlich mit spitzen Fingern prüfend den Kragen des Mantels, dessen Schnitt mehr Ähnlichkeit mit einem städtischen Kleidungsstücke hatte, als mit einem Osheymantel.
 

Merat erinnerte sich an seine Frage nach der Nadel, als Hamarem sich neben den Mantel kniete und fragend zu ihr hochsah, dann seinen Dolch zückte und mit der Spitze sehr vorsichtig einen der Fäden durchtrennte, mit denen der Kragen außen am Rückenteil festgenäht war. Sie ging rasch zu Losats Tasche, fand gleich das Nähzeug und reichte es Hamarem, der offensichtlich jede Berührung des Stoffes als unangenehm empfand. "Laßt mich doch diese Naht auftrennen, Zweiter."
 

"Nein Herrin, das ist keine Arbeit für eine Prinzessin", widersprach Hamarem entschieden, zog mit der Nadel Stück für Stück den Faden heraus, legte so tatsächlich ein eingenähtes, glitzerndes Metallband frei.
 

"Das ist Unsinn, was ihr redet, Zweiter", sagte Merat schließlich, als sie sich von dem fast hypnotischen Anblick seiner flinken Finger lösen konnte. "Ich bin die Tochter eines Goldschmiedes." Sie kniete sich neben ihn und griff nach der Nadel. Für einen Moment berührten sich ihre Finger und das erschreckend erregende Gefühl ließ sie bestürzt den Blick abwenden.
 

Hamarem rückte ein gutes Stück weg von ihr, als habe er das gleiche empfunden und Merat erinnerte sich an seine Worte am Morgen, daß er ihr in gleicher Weise zu Diensten sein wolle, wie ihrem Gatten, den er in der Nacht zuvor doch wohl bestiegen hatte. Ob er ein ebenso guter Liebhaber wie Nefut war?
 

Mit klopfendem Herzen gelang es Merat, diesen Gedankengang nicht weiter zu verfolgen, suchte die Naht, die Hamarem schon einen Finger lang aufgetrennt hatte, zog die nächste Schlaufe des Fadens heraus, noch eine und noch eine, versuchte dann, das vielleicht zwei Spannen lange und einen halben Finger breite, sehr biegsame Blech aus dem Kragen herauszuziehen. Es gelang ohne Mühe. Das Blech fühle sich an wie ein gewöhnliches Stück Metall, kühl in ihrer Hand, aber sich rasch erwärmend, als sie es länger hielt. Man erkannte unter der laienhaften Streckung noch ein verschlungenes Muster aus in Silber eingelegtem Golddraht. Merat stand auf und trug das Metallstück in eine entfernte Zeltecke. "Sind der Mantel oder die Stickerei jetzt noch immer gefährlich?" fragte sie den Zweiten ihres Gatten.
 

Hamarem näherte seine Hände wieder der Stickerei aus Metallfäden, berührte sie zögernd, dann lächelte er entspannt. "Ihr hattet recht, es war nur das Metallband, das hier auf den Metallfäden lag", denn einige der Spitzen der Flügel reichten bis in die Innenseite des Kragens hinein. Hamarem fädelte den ausgelösten Faden in die von Merat beiseitegelegte Nadel und begann, die aufgetrennte Naht wieder zuzunähen. Den offenbleibenden Rest der Kragennaht schloß er mit einem hellen Faden aus dem Nähzeug, so daß der Mantel schließlich genau so aussah, wie zuvor.
 

"Meint ihr, wir können diesen Banngegenstand vernichten?" fragte Merat und deutete mit dem Kinn auf das im Schatten sehr stumpf wirkende Metallband.
 

Hamarem sah nachdenklich in die Ecke, in der es lag. "Verbunden mit der Stickerei wirkte das Muster seiner Kräfte so gleichmäßig, aber nun scheint es, als wäre es schon schwer beschädigt durch das Platthämmern... wir könnten versuchen, damit...", doch dann schüttelte er den Kopf. "Ich kann es nicht dort hinbringen", murmelte er. "Vielleicht hilft mir Ramilla oder..."
 

"Ich kann euch helfen", warf Merat ein. Da der Zweite einen Frauennamen genannt hatte, war es ja wohl nichts, zu dem eine Frau nicht in der Lage war.
 

"Prinzessin, ihr solltet euch darum kümmern, eure Tochter in Sicherheit zu bringen. Ich werde mich um den... um Jochawam kümmern."
 

Das war doch der unheimliche Ostler, mit dem Amemna sich in der vergangenen Nacht vergnügt hatte, der jetzt verletzt in seinem Birh-Melack-Zelt lag. War er nicht auch einer derjenigen gewesen, die in der Nacht geschrien hatten? "Was ist denn mit Nefut?" fiel Merat dann wieder ein. "Solltet ihr euch als Zweiter der Wannim nicht um alle Gefolgsleute meines Gatten kümmern?" Hamarem mußte die Männer in den umliegenden Zelten befragen, ob sie in der vergangenen Nacht irgend etwas gehört oder gesehen hatten – doch da zog eine Bewegung am Zelteingang Merats Aufmerksamkeit auf sich. Es war Losat, die wieder das Zelt betrat.
 

"Bring diesen Metallstreifen wohin der Zweite ihn haben will", befahl Merat ihrer Dienerin, zeigte darauf. "Ich beginne mit Tabit schon einmal damit, zusammenzupacken."
 

"Ja, Herrin", bestätigte Losat, kramte einen Lappen hervor, der wohl Teil eines zerlumpten Gewandes war und wickelte den Stoff um das Blech. "Wohin soll ich das bringen?" fragte sie dann und Hamarem ging ihr voran, hinaus aus dem Zelt.
 

Tabit hatte im hinteren Bereich des Zeltes schon einiges zusammengepackt, Amati lag gestättigt und zufrieden brabbelnd in ihrer Wiege. "Kehren wir wegen des bösen Priesters zurück zu den Zelten?" fragte die Amme, während sie die Decken von Merats Lager zusammenrollte.
 

Merat nickte. "Ja, deswegen kehren wir zurück zu den Zelten", bestätigte sie, auch wenn sie gar nicht mitkommen würde. "Du hattest Recht, dem Priester des Ungenannten zu mißtrauen." Die Amme würde während der Reise gut für die Kleine sorgen, aber Merat konnte nur Losat bitten, Patris bis zu ihrer ersten Übernachtung über den Verbleib ihrer Herrin zu täuschen, indem sie vorgab, ihr Speisen oder Getränke in die Kamelsänfte zu reichen.
 

Tabit nickte befriedigt zu den Worten ihrer Herrin, dann trug sie einen fertigen Packen hinaus vor das Zelt, von wo schon das Blöken eines Kamels zu hören war.
 

Merat nahm Amati auf den Arm, damit die Wiege auseinandergenommen und verstaut werden konnte und ging zum Zelteingang, um nach Hamarem zu schauen, der ihr vielleicht einen Männermantel und ein Kopftuch besorgte, damit niemand Fremdes erkannte, daß noch eine Frau bei den Mawati war. Aber sie entdeckte nur Losat, die gerade aus dem Birh-Melack-Zelt trat.
 

Und Patris entdeckte seine Herrin, denn wie aus dem Boden geschossen stand er plötzlich vor ihr. "Prinzessin, es ist eine gute Entscheidung, jetzt aufzubrechen. Ich wollte euch deswegen schon vorhin sprechen, aber nun habt ihr ja offenbar auch auf anderem Wege erfahren, daß das Heer der Hannaiim vor Tarib steht und für morgen die Schlacht zu erwarten ist."
 

Merat war über sein plötzliches Auftauchen vor Schreck zusammengefahren, fing sich aber wieder so weit, daß sie zu seinen Worten nickte und der wegen irgend etwas aufgeregt zappelnden Amati beruhigend über das Haar strich. "Meint ihr, wir können über Hannai reisen, oder sollten wir besser einen anderen Weg nehmen?"
 

Patris hatte sich offenbar schon Gedanken über die Reiseroute gemacht. "Wir werden von hier direkt nach Süden ziehen. Die Nacht können wir dann schon in einer Karawanserei in Menrish verbringen."
 

"Dann wünsche ich euch eine gute Rreise", sagte plötzlich Merats Gatte neben ihr, umfing sie mit einer für den öffentlichen Ort unziemlichen Zärtlichkeit, küßte Amati auf den Scheitel, und das Kind strahlte ihn an, begann fröhlich zu plappern.
 

Patris hob etwas betreten den Blick zu Amemna. "Herr, die Reisevorbereitungen erfordern meine Anwesenheit. Bitte entschuldigt mich."
 

Amemna entließ den fürstlichen Wächter mit einem knappen Nicken, während Merat der Kopf schwirrte vor Fragen und wichtigen Nachrichten für ihren Gatten. Wußte er schon, daß der Erste Sekretär Nefut anscheinend willkührlich als Sündenbock für den Tod des Priesters ausgewählt hatte? Hatte er selbst inzwischen mit dem Zweiten der Birh-Mellim einen Plan zu Nefuts Rettung entworfen? Würde Amemna den Mantel nun, da er entzaubert war, tragen? Was war mit seinen vielen Liebhabern neben Nefut, von denen er ja mindestens Hamarem seit ihrer Aussöhnung beigewohnt hatte - wollte Amemna an allen festhalten?
 

"Laß uns hineingehen, frr'tschan", sagte Amemna, führte seine Gattin in das Zelt, bis in den inzwischen leergeräumten hinteren Teil, streichelte zärtlich Amatis Wange, dann die Merats, ihren Hals, so daß sie ihm sehnsüchtig ihren Mund darbot und glaubte, durch seinen Kuß hinwegfließen zu müssen, als sei sie in seinen Armen plötzlich zu Wasser geworden.
 

Aber Amati griff in ihr Haar und zog daran, so daß Merat wieder zu sich kam. "Geliebter, ich schicke nur Amati fort", sagte sie leise in der Südländersprache.
 

Amemna schaffte etwas Abstand zwischen ihren Gesichtern, sah sie aufmerksam an. "Ich soll dich in meiner Wannim verbergen, Geliebte?" Dann lächelte er plötzlich. "Amati wird bei Tabit in guten Händen sein. Bleib also an meiner Seite. Und auch mit Nefut wird alles gut. Ich habe gerade erfahren, daß die Regentin hierher unterwegs ist und sich der Sache noch heute abend selbst annehmen will." Dann lachte er sogar, wirkte fast wieder wie der liebenswerte Junge, als den Merat ihn vor etwa fünf Jahren kennengelernt hatte. "Es wird ein Leichtes sein, sie dazu zu überreden, mir meinen Mann herauszugeben. Sollen wir Nefut gleich gemeinsam die gute Nachricht bringen?"
 

Merat war so erleichtert, daß es offenbar keinen Grund mehr gab, um Nefuts Leben zu bangen, daß sie an Amemnas Brust sank, gemeinsam mit ihrer Tochter den Kopf an ihn schmiegte. Wie sehr sie hoffte, daß weder ihm noch Nefut etwas in der bevorstehenden Schlacht passierte!
 

"Herr, hier ist ein Bote des Feldherrn", sagte plötzlich Losat im vorderen Teil des Zeltes. "Ihr sollt sofort zu einer Versammlung der Befehlshaber kommen."
 

"Hat err kesagt, wieso?" fragte Amemna, ohne Merat loszulassen.
 

"Weil ein Bote mit einem Waffenstillstandsangebot der Hannaiim eingetroffen ist", antwortete daraufhin eine fremde Männerstimme.
 

* * *
 



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Kommentare zu dieser Fanfic (8)

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Von:  Salix
2012-03-31T15:21:06+00:00 31.03.2012 17:21
Oh je noch eine neue Erzählperspektive...

Mehr als vier Erzähler finde ich eigentlich schon schwierig. Wieviele sind es jetzt? Nefut, Amemana, Barida, Jowacham, Hamarem, Merat und nun noch eine? Wirklich schwierig da nicht durcheinander zu kommen.

LG
Von:  Salix
2012-03-31T15:18:43+00:00 31.03.2012 17:18
Autsch, da muss Amemna wohl Beherrschung lernen, wenn er Hamarem nicht umbringen will und ich gehe davon aus, dass er das nicht will.
Bin gespannt, ob das klappt und wer ihn das wohl lehrt.

LG
Von:  Salix
2012-03-29T20:18:52+00:00 29.03.2012 22:18
Oh je, fieser Cliffhanger!
Jetzt wird es richtig spannend, nicht nur der Hinterhalt, sondern auch die Frage, was es mit dem Dämon denn nun auf sich hat.

LG
Von:  Salix
2012-03-29T12:58:33+00:00 29.03.2012 14:58
Juhu, es geht weiter!

Na, Aussprache war das zwar keine, aber ein paar Dinge sind mir nun klarer geworden.

LG
Von:  Salix
2012-03-28T13:38:53+00:00 28.03.2012 15:38
Seufz, bis auf die letzten zwei Seiten, ist es wieder das Gleiche...
Ich mag diese Szene nicht mehr lesen.
Stattdessen frage ich mich schon seit den vorhergehenden Kapitel, was den Aufruhr eigentlich verursacht, um welche Gefahr es sich handelt und wie das Gespräch zwischen Amemna und Hamarem verläuft?

LG
Von:  Salix
2012-03-28T13:31:32+00:00 28.03.2012 15:31
Hm,

nun kommt mal Kritik. Also mir ist beim Lesen durch den Kopf gegangen: "Das ist ja schon wieder die gleiche Szene!"
Sicher es ist spannend verschiedene Sichten zu haben, aber nicht zu ein und derselben Szene...(zumindest für mich ist es uninteressant.)
Mir ist bewusst, dass die Hamerem-Szene davor nicht ganz die gleiche Szene war, aber sie spielt sich zeitgleich ab und, dass das Gespräch zwischen Merat und Nefut wichtig ist, aber das vorletzte Kapitel und dieses Kapitel sind eigentlich ziemlich gleich bis auf die Erzählperspektive.
Ich als Leser möchte aber wissen, wie es weitergeht mit Hamarem und Amemna und mit der Wannim allgemein.
Hinzu kommt, dass ich so langsam mit den verschiedenen Erzählperspektiven von Nefut, Amemna, Hamarem, Merat, Jowacham und der Herrscherin durcheinanderkomme. Das hier eine Szene, mehrfach aus verschiedenen Sichten beschrieben wird und man zeitlich dadurch mehrfach zurückspringt führt zu weiterer Verwirrung im Zeitverlauf.

Viele verschiedene Erzählperspektiven sind immer schon schwierig für einen Leser, wenn noch der Zeitstrang der Geschichte, mehrfach zurückgedreht wird, ist es zu verwirrend. Ich brauche bei verschiedenen Erzählperspektiven zumindest etwas kontinuierliches an dem ich mich orientieren kann, wann und wo die Szene spielt, wenn wechselt aus wessen Sicht geschrieben wird.
Deswegen wäre ich hier dafür die Szene mit Amemna, Nefut, Jowacham und Merat nicht zweimal zu erzählen, sondern nur einmal und das Nefut und Merat Gespräch an diese Szene anzuhängen, statt sie einmal aus Merats Sicht und einmal aus Nefuts Sicht zu schreiben.
Die zeitgleich spielende Hamarem Szene kann meiner Meinung nach so bleiben, weil andere Handlungen beschrieben werden.
Nur als Leser ist mir der Spannungsbogen und das die Geschichte fortschreitet wichtiger, als eine Szene aus verschiedenen Perspektiven zu lesen, weil ich dabei zwar ein bisschen mehr Infos bekommen, aber mein Interesse daran, wie die Geschichte weitergeht nicht gestillt wird.

LG
Von:  Salix
2012-03-22T16:10:29+00:00 22.03.2012 17:10
Irgendwie mag ich Merat nicht. Sie ist mir zu intrigant, zu sehr auf ihre Rache fixiert und klammert an Amemna. Na ja, was soll's. In den meisten Geschichten tauchen Charaktere auf, die einem nicht so ganz sympathisch sind. Es bedeutet übrigens nicht, dass Merat als Charakter der Geschichte unpassend oder schlecht geschrieben ist. Ihr Handeln und ihr Innenleben kommen in den Beschreibungen deutlich durch. Sie ist mir nur nicht ympatisch, aber es braucht auch solche Charas für gute Geschichten.

Ansonsten:
"Welche Postion habt Ihr inne?"
"Die des Skeptikers!" XD
Das war klasse!!! Ich habe ganz breit gegrinst!

LG
Von:  Salix
2012-03-19T16:44:58+00:00 19.03.2012 17:44
Bis jetzt hat mir die Geschichte dut gefallen, so wie sie geschrieben ist.
Es hat mich nr gewundert,dass es nun in diesem zweiten Teil weiter geht. Das Ende von Teil 1 ist ziemlich abrupt und ist für mich eher ein Cliffhänger der Interesse weckt wie es weiter geht.

Ich bin sehr froh, dass Amemna heil davon gekommen ist und nicht zwangsverheiratet wird, obwohl er schon verheiratet ist.
Ich bin gespannt, wie es nun weiter geht, wo seine Frau im Heerlager aufgetaucht ist. Besonders gut gefallen hat mir, dass du herausgestellt hast, dass Amemnas Frau den Scheidebrief nicht anzunehmen braucht und somit beide Ehepartner zusammen entscheiden müssen, wie und ob die Ehe endet.

LG


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