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Gebunden durch Hass

von

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Hetzjagd

„Halt! Sofort stehenbleiben!“, rief eine Stimme durch die Nacht.

Unbeeindruckt lief der junge Mann weiter, bahnte sich seinen Weg durch den Wald. Immer wieder schaute er zurück. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wie er es geschafft hatte, in diese Lage zu geraten. Und nicht zum ersten Mal fand er keine Antwort. Kurz stolperte er und konnte sich gerade noch an einem Baumstamm festhalten. Fluchend kam er wieder auf die Beine. Seine Verfolger hatten aufgeholt.

„Noch habt ihr mich nicht“, knurrte er und setzte seinen Weg fort. Äste schlugen ihm ins Gesicht, hinterließen leichte Kratzer auf seiner Haut. Doch es störte ihn nicht. Mit Schaudern dachte er daran, was passieren würde, wenn er geschnappt wurde.

Fahles Mondlicht erleichterte ihm etwas die Sicht. Aber er war nicht dumm. Dieser Vorteil betraf nicht nur ihn. Schwer atmend sah er sich wieder nach seinen Verfolgern um. Nichts war zu sehen, der Wald schien wie ausgestorben. Argwöhnisch musterte er die Umgebung eingehender.

„Wo habt ihr euch versteckt?“, murmelte er halblaut. Nur die Geräusche des Waldes antworteten ihm. Erleichtert atmete er auf, drehte sich um – und erstarrte. Direkt vor ihm stand einer der Männer, die ihn nun schon seit Stunden jagten. In den Händen hielt er einen Schlagstock.

„Schön hiergeblieben. Weiter weglaufen bringt gar nichts.“

„Mir schon“, fauchte er und machte sich kampfbereit.

Der Mann begann zu lachen. „In deinem Zustand willst du kämpfen? Wirklich amüsant.“ Trotz seiner Worte wirkte er verunsichert. „Gib endlich auf, Edward Elric. Aus diesem Wald kommst du sowieso nicht heraus.“

„Nein. Ich habe nichts getan, was es rechtfertigt, mich wie ein wildes Tier zu hetzen.“

„Sag das den Kindern im Waisenhaus“, zischte der Mann zurück. Ed spürte, wie er zusammenzuckte.

„Zum hundertsten Mal, ich war es nicht.“

„Du warst der Einzige, der am Tatort war. Wie erklärst du das? Wahrscheinlich hast du deine verfluchte Magie dazu eingesetzt.“ Mühsam riss Ed sich zusammen.

„Auch das habe ich versucht zu erklären. Erstens nennt man es Alchemie, zweitens kann ich sie nicht mehr einsetzen.“

„Das ändert gar nichts. Deinetwegen sind zwölf Kinder gestorben. Im Kerker wartet bereits ein nettes Plätzchen auf dich.“ Der einstige Alchemist verdrehte die Augen, stürmte dann überraschend vor und schlug dem Mann hart in den Magen. Der war von der Attacke so überrascht, dass er nicht einmal mehr schreien konnte. Lautlos fiel er nach hinten und Ed stieg über den bewusstlosen Körper. Er musste schnell ein sicheres Versteck finden, bevor der Wächter wieder zu sich kam und den halben Wald zusammenschrie.

Aber wo konnte er hin? Zurück ins Dorf? Nein. Die Leute dort würden ihn umbringen, bevor er seine Situation erklären konnte. Also blieb nur der Weg nach vorne. Kurz dachte Ed an seinen Bruder und er musste trotz seiner Lage lächeln. Seit über zwei Jahren hatte er ihn nicht mehr gesehen.

„Du würdest mir glauben, nicht wahr?“, flüsterte er, während er weiter durch den Wald lief. „Auch wenn die ganze Welt gegen mich wäre, hätte ich dich an meiner Seite, Al.“ Die Erinnerung an Alphonse beruhigte ihn etwas. Wie es ihm wohl ging? Bestimmt kostete er seine Zeit als Mensch in vollen Zügen aus. Nach all den Jahren, die er als Rüstung hatte verbringen müssen, war das verständlich. Wie gerne wäre Ed jetzt bei ihm. Doch er hatte noch keine Möglichkeit gefunden, dieser fremden, unwirklichen Welt zu entfliehen.

Wäre er nicht ermordet worden, hätte alles anders kommen können. Ein Knacken riss ihn wieder in die Wirklichkeit zurück. Große, braune Augen sahen ihn an, nervös zitterte das Wesen vor ihm, bevor es kehrtmachte und davonrannte.

„Ein Reh…“, lachte Ed erleichtert und schaute dem Tier nach, bevor er sich selbst wieder auf den Weg machte. Das Metall an seinem Körper blitzte im Mondlicht, was ihn etwas aufregte. So konnte er auch gleich ein Leuchtschild an seiner Brust befestigen. Aber seit seiner Begegnung mit dem Wächter war es wieder still geworden. Offenbar hatte er sie abgehängt. Der frühere Alchemist suchte sich ein ruhiges Plätzchen und ließ sich auf den Boden sinken. Seine Lungen brannten wie Feuer, sein Körper schmerzte und nun bemerkte er auch den Muskelkater, den er sich bei seiner waghalsigen Flucht eingefangen hatte.

Stöhnend rieb er sich sein schmerzendes Bein. Lange würde er nicht mehr durchhalten, das wusste er. Leider gab es keine Alternative. Entweder er schaffte es, zu entkommen, oder der Kerker würde ihn erwarten.

Ed hatte Geschichten darüber gehört, die selbst ihm Angst machten. Keiner war jemals dort hinausgekommen – jedenfalls nicht lebend. Dort gab es nichts, bis auf Finsternis, Kälte und Einsamkeit. Er wollte auf keinen Fall dorthin. Er kämpfte sich hoch und überlegte. Bald würde die Sonne aufgehen, was nicht gerade gut für ihn ausgehen konnte. Einmal mehr verfluchte er sich für seine goldblonden Haare. Doch dafür blieb keine Zeit. So bahnte er sich weiter seinen Weg durch das Unterholz, bis er zu einer kleinen Lichtung kam, auf der ein verlassenes Häuschen stand.

„Endlich habe ich mal etwas Glück.“ Eilig schlüpfte er durch die Tür und sah sich um. Im Inneren war es zugig und dunkel, aber als Versteck würde es ausreichen. Der Drang, etwas zu schlafen, kam in ihm hoch. Gerade wollte er nach einer geeigneten Stelle suchen, als er einen scharfen Schmerz am Hals fühlte. Panisch griff er mit den Fingern nach dem Pfeil, der sich in seine Haut gebohrt hatte.

„Was zum…“, setzte er an, als er spürte, wie seine Glieder schwer wie Blei wurden. Zeitgleich ging die Tür auf und der Wächter, den er bereits getroffen hatte, kam hinein und musterte ihn triumphierend.

„Haben wir dich endlich.“ Undeutlich bemerkte Ed, dass der Schlagstock einem Gewehr gewichen war.

„Betäubungspfeile. Einfach und effektiv“, schnarrte der Mann, bevor er auf ihn zukam und ihn so heftig in den Bauch trat, dass ihm die Luft wegblieb. Kurz darauf kamen weitere Personen, zogen ihn auf die Beine und schleiften ihn mit sich. Immer noch benommen, schaffte Ed es nicht, sich zu wehren.

„Wir bringen ihn zurück ins Dorf. Soll der Richter entscheiden, was mit ihm zu tun ist.“

„Nein“, bellte jemand, der wohl der Anführer war.

„Er wird direkt zu den Kerkern gebracht. Für das, was er getan hat, wird er sowieso eingesperrt. Dafür brauchen wir keinen Richter.“

„Sollte er nicht die Möglichkeit bekommen, sich zu rechtfertigen?“, meinte eine junge Stimme verunsichert. Ein lautes Klatschen folgte.

„Widersprich mir nicht“, knurrte der erste. „Du hast wohl vergessen, wer vor dir steht.“

„Nein, Sir.“

Immer mehr verschwamm die Umgebung vor Eds Augen, mühsam hielt er sich aufrecht.

„Der Junge wird bald zusammenklappen. Los, trag ihn“, befahl der Anführer. Kurz herrschte Stille, dann spürte der einstige Alchemist, wie er vorsichtig hochgehoben wurde. Sanfte, blaue Augen erwiderten seinen Blick. Deutlich war die Rötung seines Gesichtes zu erkennen, wo der Anführer den Jungen geschlagen hatte.

„Ich bin unschuldig…“, wisperte Ed schwach.

„Es tut mir so leid“, erwiderte der andere genauso leise.

„Worauf wartest du? Beweg dich endlich“, schrie der Anführer ihn an. Hastig gehorchte der junge Mann, Angst stand nun in seinem Gesicht. Ed dämmerte weg, die Betäubung wirkte nun vollständig. Er bekam nicht mit, wie er aus dem Wald gebracht wurde. Unverständliche Wortfetzen drangen an seine Ohren. Dann wurde er plötzlich auf den Boden gelegt und geschüttelt. Widerwillig öffnete er die Augen und sah sich dem Anführer der Truppe gegenüber, der ihn aus eisigen Augen musterte. „Edward Elric, du wirst hiermit des Mordes angeklagt. Darauf steht lebenslange Gefangenschaft.“ Er grinste und legte gelbe Zähne frei. „Der Kerker wird dir bestimmt gefallen. Ich gebe dir eine Woche, bevor du lieber freiwillig verhungerst, als noch eine Sekunde in diesem Rattenloch zu bleiben.“

„Aber, Sir“, mischte sich der Junge ein. „Sie sind kein Richter. Sie können ihn nicht anklagen.“

Wieder war ein Schlag zu hören. „Was bildest du dir ein?“, brüllte der Anführer den jungen Mann an. „Ich muss dir wohl Manieren beibringen, rotznasiger Bengel!“ Lange war es still.

„Nein, Sir“, erklang endlich die gepresste Stimme des anderen. Blut lief aus seiner aufgeplatzten Lippe. Dann setzte der Trupp seinen Weg fort, bis sie zu einem großen, farblosen Gebäude kamen. Es folgten lange, verschlungene Gänge, bis hin zu einer verschlossenen Tür.

„Wir bringen einen Gefangenen“, schnarrte der Anführer.

„Bringt ihn in die Zelle hinten links, zu dem anderen Fremden“, erwiderte eine gelangweilte Stimme. Ein Schlüssel quietschte, als eine hölzerne Tür aufgeschlossen wurde. Dahinter war es pechschwarz. Ed wurde grob in die Zelle gestoßen und an die Wand gedrückt. Ein Klicken ertönte, als sich eine eiserne Kette um sein gesundes Handgelenk schloss. Dann folgte ein Lachen und die Tür fiel zu. Ed versuchte schwach, die Kette loszuwerden und erschrak, als er menschliches Fleisch berührte.

Das war wohl sein Mitgefangener. Er schien zu schlafen, jedenfalls hörte der frühere Alchemist nichts. Die Schmerzen in seinem Körper meldeten sich wieder. Während er versuchte, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, dachte er wieder an seinen Bruder. Es war das Einzige, was ihm etwas Hoffnung gab. Müde und ausgelaugt schlief er schließlich auch ein.

Leichter Sonnenschein, der durch die Gitterstäbe fiel, weckte ihn schließlich auf. Das und der Aufseher, der ihm das Essen brachte. Jedenfalls schien es Essen zu sein. Der Aufseher war groß, dumm und hässlich, wie geschaffen für diesen Ort. Er stellte den Teller auf den Boden und ging wieder. Ed hatte keinen Hunger, voller Abscheu sah er auf die undefinierbare Pampe hinunter.

„Etwas Besseres wirst du hier nicht bekommen, also gewöhn dich lieber daran“, erklang eine ihm seltsam vertraute Stimme. Er sah zur Seite und kurz war er sprachlos. Genau erinnerte er sich an diese Person. Violette Augen erwiderten seinen Blick höhnisch.

„Wie kommt jemand wie du hierher, Winzling?“

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht“, knurrte Ed zurück.

„Stur wie immer“, kicherte der andere und lehnte sich gegen den kalten Stein. Er hatte sich verändert, aber nicht sehr. Immer noch hatte er seine Arroganz behalten.

„Warum muss ich ausgerechnet dich wiedersehen, Envy?“

Ausgerechnet Envy

„Ich hätte mir auch jemand anderen gewünscht“, sagte der Homunculus gelassen.

„Eigentlich kann ich mir die Frage sparen, aber was tust du hier?“

„Ach, du kennst mich“, lächelte Envy böse. Ed betrachtete ihn genauer. Die Gefangenschaft hatte ihm nicht gutgetan. Seine Augen waren leer und glanzlos, seine Haare stumpf und er war extrem abgemagert. Auch er war an die Wand gekettet, schien sich aber daran gewöhnt zu haben.

„Einige scheinen mich nicht zu mögen“, unterbrach Envys Stimme ihn.

„Ja, weil du auch so einen liebenswerten Charakter hast“, spottete Ed.

„Immer noch wütend, was? Du bist ganz schön nachtragend, Winzling.“

„Du hast mich umgebracht!“, fuhr der frühere Alchemist ihn an. „Und nenn mich nicht so.“

Envy kicherte wieder, hörte aber auf, als die Tür aufging und der Aufseher eintrat. „Essen fertig?“, grunzte er und betrachtete sie mit seinen kleinen Schweinchenaugen.

„Den Fraß kann niemand essen. Willst du ihn, Fettwanst?“ Ein Zischen ertönte und der Homunculus schloss die Augen, als eine lange Peitsche in direkt auf der Schulter traf.

„Nicht fett“, knurrte der Aufseher erbost.

„Wir sind fertig“, sagte Ed schnell, um ihn zu beruhigen. Der Mann nahm den unberührten Teller mit und knallte die Tür zu. „Was sollte das?“, fragte Ed leise.

„Ts, Haldro ist fett, dumm wie Brot und hässlich wie die Nacht.“

„Das weiß ich, aber du musst es ihm nicht sagen.“

„Man merkt, dass du noch nicht lange hier bist, Winzling“, sagte Envy und rieb sich mit der freien Hand die Schulter. „Haldro ist wegen jeder Kleinigkeit wütend.“

„Dann lass ihn doch in Ruhe.“

„Mir machen die Schläge nichts aus. Und ich brauche etwas Unterhaltung.“

„So was nennst du Unterhaltung?“

„Ja, allerdings. Zu sehen, wie lange es braucht, bis sein dummes Hirn begreift, was ich sage, ist äußerst amüsant.“

Ed seufzte resignierend und lehnte sich ebenfalls an die Wand.

„Wie lange bist du schon hier?“

„Ich weiß es nicht mehr. Die Zeit spielt hier drinnen keine Rolle. Jeder Tag ist wie der andere. Man bekommt drei Mahlzeiten und etwas Wasser, um nicht zu verhungern. Ansonsten passiert hier nicht viel.“ Beide verfielen in Schweigen, bis Haldro wieder auftauchte und ihnen neues Essen brachte.

„Wo hast du das her? Hat deine Mutter das zubereitet? Das würde erklären, warum du so hässlich bist.“

Haldro bebte vor Wut, als er Envy wieder mit der Peitsche schlug. Diesmal waren die Schläge härter und zahlreicher, doch der Homunculus sagte kein Wort. Ed wandte seinen Blick ab, während Haldro Envy hochhob, als würde er nicht mehr wiegen als ein Kind.

„Nicht meine Mutter“, zischte er.

„Warum nicht?“, fauchte der andere. „Ist sie etwa genauso hässlich wie du?“ Die Augen des Aufsehers verengten sich und er schlug den Körper des Homunculus gegen die Wand, wieder und wieder.

„NICHT MEINE MUTTER!“, brüllte er.

„Haldro“, sagte eine ruhige Stimme von der Tür aus. Ein weiterer Mann stand dort. „Beruhige dich.“

Schnaubend ließ Haldro den bewusstlosen Envy los und marschierte aus dem Raum. Der andere untersuchte den Homunculus, schnell und unpersönlich. „Das wird wieder“, murmelte er halblaut, bevor er seine Aufmerksamkeit Ed zuwandte. „Merk dir eines, Fremder: Solange du dich still verhältst, wird dir nichts passieren. Schade, dass der hier seine Zunge nicht im Zaum halten kann.“ Auch er ging und der frühere Alchemist wagte es, zu dem geschundenen Körper neben sich zu schauen. Das Bild erschreckte ihn zutiefst.

Envy hatte einiges abbekommen. Blut sickerte aus zahlreichen Wunden und Haldro schien ihm die Schulter ausgekugelt zu haben. Ed dachte sich, dass er selber Schuld hatte. Der Homunculus hatte immer schon ein loses Mundwerk gehabt, was ihm nun immer wieder Schwierigkeiten brachte. Trotzdem empfand er etwas Mitleid. Da ihm nichts anderes übrigblieb, zwang er sich zu essen, obwohl das Essen wirklich furchtbar war. Endlich signalisierte ihm ein Stöhnen, dass sein alter Widersacher zu sich gekommen war.

„Elender Mistkerl…“, fluchte er und versuchte, sich aufzusetzen, was nur ein weiteres Stöhnen zur Folge hatte.

„Halt still“, befahl Ed und robbte so nahe an ihn heran, wie er konnte. Es war ihm mehr als unangenehm, Envy zu helfen, aber er hatte keine Lust, sich dessen Gejammer anzuhören. Angespannt beobachtete der Homunculus ihn.

Mit einer schnellen Bewegung packte Ed den Arm des anderen und renkte seine Schulter wieder ein. Envy schrie kurz auf, was Ed als Erfolg verbuchte. Er zog sich wieder zurück und reichte den Teller weiter.

„Iss“, sagte er nur und ignorierte den überraschten Blick des Homunculus.

„So kenne ich dich ja gar nicht, Winzling. Hast du endlich deine Eier gefunden?“

„Halt den Mund“, knurrte Ed wütend.

„Wenn du mir verrätst, was du hier tust, vielleicht“, grinste Envy.

„Na schön. Ich werde beschuldigt, ein Feuer in einem Waisenhaus gelegt zu haben.“ Anerkennend pfiff der Homunculus durch die Zähne.

„Das hätte ich dir gar nicht zugetraut, Winzling.“

„Ich bin unschuldig“, brauste Ed auf. „Ich war nur zur falschen Zeit am falschen Ort.“ Seine Stimme wurde leiser. „Bei dem Feuer sind zwölf Kinder gestorben. Ich weiß, wer es war, aber keiner hat mir zugehört.“

„Das tun Menschen nie“, meinte Envy verächtlich.

„Jedenfalls bin ich geflohen. Wie du siehst, hat mir das nicht viel gebracht.“

Er hob den Kopf und sah zu dem vergitterten Fenster hoch, durch das immer noch etwas Licht fiel. Tausende Gedanken strömten ihm durch den Kopf. Er musste versuchen, aus diesem Kerker herauszukommen. Aber wie? Niemand hatte das geschafft. Aber er musste es schaffen, wenn er seinen Bruder jemals wiedersehen wollte. Erneut blieb sein Blick an der Kette hängen. Sie ging von seinem Arm bis zu einem Ring, der an der Wand befestigt war und weiter bis zu Envys Handgelenk, wo sie schließlich endete. Wenn er fliehen wollte, würde er einen guten Plan brauchen und den Homunculus wohl mit… WAS? Betäubt sah der einstige Alchemist zu seinem alten Feind. Er hatte keine andere Wahl. Er würde Envy mitnehmen müssen. Na, das konnte ja heiter werden. Ausgerechnet die Person, die ihn in diese Welt gebracht hatte und die er mehr als jede andere hasste. Haldro, der ihnen ihre Teller wieder wegnahm, unterbrach ihn kurz. Diesmal hielt Envy sich zurück, was ihn offensichtlich ziemliche Anstrengung kostete.

Auch Ed sagte nichts. Er hatte gelernt, Haldro nicht zu reizen oder sonst etwas zu tun, was den Aufseher irgendwie störte. Nachdem die Tür wieder zu war, drehte er sich etwas zur Seite und versuchte, zu schlafen. Doch als er erwachte, fühlte er sich schlimmer als vorher. Auch der Homunculus schlief, wobei er ziemlich angespannt wirkte. Langsam ging die Sonne unter und ließ die beiden Kontrahenten still, verloren und gefangen zurück.

So vergingen die Tage. Irgendwann verlor auch Ed jegliches Zeitgefühl. Immer noch dachte er über eine Flucht nach. Leicht würde es nicht werden. Da war zum einen Haldro, der sie ständig im Auge behielt, zum anderen gab es ja auch noch die verschlungenen Gänge. Und zu allem Überfluss diese arrogante Last an seiner Seite, die an ihn gekettet war. Der Homunculus schien sich recht gut erholt zu haben, denn er reizte den Aufseher bei jeder Gelegenheit. Dass er dafür die Peitsche zu spüren bekam, interessierte ihn überhaupt nicht. Kein einziges Mal schrie er oder ließ sich sonst irgendwie seinen Schmerz anmerken. Haldro war zwar dumm, aber nicht völlig bescheuert. Und er war stark, stärker als es aussah. Mit der Zeit probte auch der ehemalige Alchemist den Widerstand.

Es war ein trüber Tag und er hatte ziemlich miese Laune. Ihm tat alles weh, seine ganze Situation war mehr als ungerecht und er hatte rasende Kopfschmerzen. Als Haldro hereinkam, um die Pampe, die als Mittagessen bezeichnet wurde, einzusammeln, kam er Ed zu nahe. Der trat zu und erwischte den Aufseher am Kinn. Grunzend erhob sich der Aufseher und ließ die Peitsche tanzen. Die Schmerzen waren grausam und obwohl er es versuchte, konnte er sich einen Schrei nicht verkneifen. Zufrieden mit seinem Werk, stapfte Haldro hinaus. Wimmernd saß Ed da und spürte, wie ihm Blut aus den Stellen floss, wo der Kerl ihn getroffen hatte. Envy beobachtete ihn, seine Augen hatten einen seltsamen Ausdruck.

„Du hast ja tatsächlich deine Eier gefunden, Winzling. Leider wird dir das hier drin nichts nützen.“ Ed ignorierte ihn, Tränen liefen ihm übers Gesicht.

„Hör auf zu heulen, das ist ja erbärmlich.“

„Lass mich in Ruhe.“

„Was dachtest du denn? Dass Haldro dich in Ruhe lässt, wenn du ihn angreifst? Ich hätte dich für klüger gehalten.“

„Ich will doch nur nach Hause“, schluchzte Ed und vergaß dabei völlig, wer neben ihm saß. „Ich will zurück zu meinem Bruder und zu Pinako und Winry. Ich vermisse sie, sogar den dämlichen Mustang.“ Er verbarg sein Gesicht in seiner Armbeuge und versuchte, sich zu beruhigen. Doch er schaffte es nicht. Ungehindert ließ er seinen Gefühlen freien Lauf, bis er schließlich völlig erschöpft zusammensank. Sein Mitgefangener war ungewöhnlich still geworden, hatte ihn aber nicht aus den Augen gelassen. Wahrscheinlich fand er es ziemlich lustig, den einstigen Alchemisten so zu sehen. Aber Ed hätte auch nichts anderes erwartet. Nicht von Envy. Der Homunculus hatte es immer genossen, seine Opfer leiden zu sehen. Aber er schien sich wohl doch ein wenig gebessert zu haben. Ohne etwas zu sagen, kam er an den anderen heran und legte den Kopf schief.

„Bist du endlich fertig?“

„Sehr lustig“, fauchte Ed.

„Das passiert jedem hier. Erst kommt der Schock, dann das Geheule, dann Wut und irgendwann ist einem alles egal.“ Langsam, fast widerwillig, hob er die Hand und legte sie dem völlig verdatterten Ed auf die Schulter. Ihm war das wohl mehr als peinlich, denn er vermied es, den anderen anzusehen.

„Versuch etwas zu schlafen. Und sorg dafür, dass niemand etwas bemerkt. Alles hier drin hat nur ein Ziel: dich zu brechen und gefügig zu machen. Sobald denen das gelingt, wird es hier drin unerträglich.“ Kurz schien er verlegen, dann zog er sich zurück und lehnte sich an die Wand. Stille legte sich über die beiden, als der Mond durch die Wolken brach und das Gefängnis in sein bleiches Licht tauchte.

Ein gewagter Plan

Seit jener Nacht war viel Zeit vergangen. Ob es Tage, Wochen oder Monate gewesen waren, konnte Ed nicht sagen. Envy hatte Recht behalten. Nachdem er sich weitere Male mit Haldro angelegt und die Strafe dafür bekommen hatte, war er ruhig geworden. Aber nicht etwa, weil er aufgegeben hätte, sondern weil er in seinem Kopf akribisch den Plan durchging, der ihn aus diesem Loch herausbringen würde. Er war alle Möglichkeiten durchgegangen und langsam entwickelte sich ein brauchbarer, aber auch riskanter Plan. Sein größtes Problem war der Homunculus. Alles in Ed sträubte sich dagegen, ihn einzuweihen und auch noch mitzunehmen. Aber es ging wohl nicht anders. Schließlich beschloss er, dem anderen zu vertrauen – jedenfalls vorläufig.

Es war tiefste Nacht und Haldro war an seinem Posten eingenickt. Leise kroch er an Envy heran. Im Schlaf wirkte dieser friedlich, fast schon normal. Kurz musste Ed über diesen Gedanken schmunzeln. Der Homunculus war vieles: psychopatisch, unberechenbar und furchtbar selbstgefällig, aber keinesfalls friedlich oder normal. Unsanft rüttelte er den anderen, bis Envy widerwillig erwachte und ihn verschlafen ansah.

„Was ist, Winzling?“, grummelte er nur.

„Nicht so laut“, beschwor Ed ihn und sein Blick huschte zum Aufseher. Glücklicherweise war der nicht aufgewacht. „Ich muss mit dir reden.“ Sein alter Gegner wurde schlagartig hellwach. „Ich habe eine Idee, wie wir hier rauskommen könnten.“

„Vergiss das mal gleich wieder. Deine Pläne gehen doch sowieso immer schief.“

„Hör mir doch erstmal zu“, erwiderte Ed leicht genervt.

Mit leiser Stimme sprach er weiter. Allmählich wurde der andere interessierter, aber auch zweifelnder.

„Das soll ein Plan sein? Wohl eher ein Selbstmordkommando.“

„Wie gut, dass ich dich kenne, Envy. Sonst würde ich glatt behaupten, du hättest Angst.“

„Angst? Ich? Du vergisst wohl, wer ich bin. Nichts und niemand macht mir Angst.“ Seine Miene wurde wieder misstrauisch. „Warum sagst du mir das?“

„Vielleicht ist es dir entgangen, aber momentan sind wir praktisch unzertrennbar.“ Ed deutete auf die Kette. „Selbst wenn wir es schaffen, den Ring zu zerstören, bleibt immer noch die Kette. Das bedeutet, wir werden zusammenarbeiten müssen.“

„Das ist ein Witz, oder?“ Stumm deutete der ehemalige Alchemist erneut auf die Kette und der Homunculus begann leise zu fluchen.

„Mir gefällt das auch nicht besonders“, unterbrach Ed die Schimpftirade des anderen. „Aber entweder du kommst freiwillig mit, oder ich muss dich hier rausschleifen.“

„Das würde ich gerne sehen. Schließlich bin ich stärker als du. Wenn, dann würde ich dich hinter mir herschleifen.“

„Wie auch immer. Ich muss dir jetzt eine Frage stellen, bei der ich mir eigentlich lieber die Zunge abbeißen würde. Kann ich auf dich zählen?“ Kurz huschte der Anflug eines Lächelns über Envys Gesicht, doch dann wurde er ernst und zuckte die Schultern.

„Ich will genauso hier raus wie du, Winzling.“

„Bist du ganz sicher? Ich habe noch keine Ahnung, wie wir diese Kette loswerden können. Also werde ich mich auf dich verlassen müssen.“ Angestrengt dachte der andere nach.

„Nehmen wir mal an, dein Plan funktioniert, was dann? Wie weit werden zwei geflohene Häftlinge schon kommen? Und wo wollen wir uns verstecken?“

„In der alten Wohnung meines Vaters.“ Sofort verspannte sich der Homunculus und seine Augen bekamen einen hasserfüllten Ausdruck.

„Hohenheim“, knurrte er. „Sollte dieser Bastard in meine Nähe kommen, werde ihm eigenhändig das Fleisch von den Knochen ziehen.“

„Du hast dir zu viel Zeit gelassen, Envy“, entgegnete Ed ruhig. „Mein Vater ist tot, seit fast einem Jahr.“ Es war das erste Mal, dass sein alter Feind ungläubig wirkte.

„Er ist tot? Aber…dann war meine Reise hierher ja völlig sinnlos.“

„Ich habe dich ja gewarnt. Du warst derjenige, der nicht hören wollte.“ Envy hörte ihm nicht zu. Leise murmelte er vor sich hin und starrte dabei ins Leere.

„Dabei wollte ich es sein, der ihn umbringt…diesen Mistkerl, der mich erst erschaffen und dann verstoßen hat.“ Er begann, hysterisch zu lachen. „Gut ausgespielt, Winzling. Nun kann ich nicht mal mehr meinen Vater töten. Das war das einzige, was mich etwas aufgeheitert hat.“

Bei seinen Worten spürte Ed, wie ihm ein eisiger Schauer über den Rücken lief. Genau erinnerte er sich an den Tag, an dem der Homunculus ihm sein wahres Gesicht gezeigt hatte. Das Gesicht, das so sehr dem seines Vaters ähnelte. Trotz der Tatsache, dass Envy nur der Beweis für die Schuld war, die Eds Vater auf sich geladen hatte, war er auf völlig seltsame Art Hohenheims Sohn. Eds Halbbruder. Selbst jetzt wollte der frühere Alchemist es nicht wirklich glauben. Er und Envy waren so verschieden wie Tag und Nacht. Sein Halbbruder war ja nicht einmal menschlich, sondern nur eine menschenähnliche Puppe ohne Herz. Zwar konnte er Gefühle empfinden, aber er hatte sich dafür entschieden, allein seinen Hass auf seinen Vater zuzulassen. Dieser Hass war sein Antrieb gewesen und hatte ihn zum Monster gemacht.

„Warum hast du mir das nicht eher gesagt?“, unterbrach ihn die Stimme des Homunculus in seinen Gedanken.

„Es hätte nichts geändert. Erinnerst du dich an den Tag, an dem du mich aufgespießt hast und wir uns am Tor wiedergesehen haben? Was ich dir damals gesagt habe, als du das Tor geöffnet hast, um in diese Welt zu gelangen?“ Envys Gesicht verzerrte sich vor Zorn, dennoch antwortete er.

„Du solltest das nicht tun. Du weißt nicht, was passieren wird.“

„Und, was hast du getan? Du bist hindurchgegangen, blind vor Rachegelüsten.“

„Übertreib es nicht. Sonst spieße ich dich gleich nochmal auf und sorge dafür, dass dein unnützer Körper den Ratten vorgeworfen wird.“

„Ich glaube nicht, dass du das kannst.“ Ed kehrte an seinen Platz zurück und legte den Kopf in den Nacken. „Du hast deine Verwandlungskünste verloren, nicht wahr? Das Tor ist gefährlich. Man bekommt zwar etwas, doch gleichzeitig wird einem auch etwas genommen. Bei dir war es die Kraft, dich in jeden Menschen zu verwandeln, der du sein wolltest, bei mir war es die Alchemie.“

Kurz streckte er sich, um wieder etwas Gefühl in seine Gliedmaßen zu bekommen, dann fuhr er fort: „Ich habe es mir gleich gedacht, als ich dich gesehen habe. Könntest du dich noch verwandeln, wäre es ein Leichtes für dich gewesen, hier herauszukommen. Schließlich bist du ziemlich klug. Dein Problem ist der ganze Rest.“

„Was verstehst du schon, Winzling?“, fauchte Envy. „Ich habe meinen Vater mehr gehasst als jeden anderen. Sogar mehr als dich oder deinen Bruder. Was er mir angetan hat, ist unverzeihlich.“

„Ich nehme das klug zurück. Denkst du wirklich, mein Vater wäre zu mir anders gewesen? Er hat meine Familie ohne eine Erklärung verlassen. Als meine Mutter starb, hatte er es nicht mal nötig, zur Beerdigung zu kommen. Wäre er geblieben, hätten mein Bruder und ich niemals versucht, unsere Mutter wieder ins Leben zu rufen und uns wäre viel erspart geblieben.“

Sein Blick blieb an Haldro hängen. Der Aufseher war wach und sah sie verwirrt an.

„Ihr gleichen Vater?“, fragte er und wiegte seinen hässlichen Kopf, um den Sinn dahinter zu verstehen.

„Ja, irgendwie“, murmelte Ed geistesabwesend.

„Dann ihr Brüder?“

„Halbbrüder.“ Haldro dachte lange nach, bevor er wieder was sagte.

„Ihr euch nicht mögen?“

„Das wäre untertrieben. Wir hassen uns.“ Envy war inzwischen vor Wut dunkelrot angelaufen.

„Hat dir niemand beigebracht, dass es unhöflich ist, andere zu belauschen?“, zischte er Haldro an, was den Aufseher wütend machte. Während er den Homunculus bestrafte, der ihn aus funkelnden Augen ansah, dachte Ed wieder an den Plan. Wenn er nicht aufpasste oder einen falschen Schritt machte, wäre alles dahin. Dasselbe galt auch für Envy. Ohne ihn ging es nicht, aber dafür musste er sich zusammenreißen, was bei ihm fast unmöglich schien. Genauso gut konnte man versuchen, einer Kuh das Eierlegen beizubringen.

Als Haldro die Zelle wieder verließ, schien sich Envy etwas beruhigt zu haben. Langsam, aber sicher wurde Ed müde. Es war viel passiert heute und er hatte seit seiner Inhaftierung nie lange geschlafen. Er schloss die Augen und das Bild von Al erschien vor ihm. Sein Bruder lachte und strahlte ihn mit seinen goldenen Augen an. Er sagte etwas, doch Ed verstand nichts, als wäre er weit entfernt. Obwohl es guttat, ihn zu sehen, die Erinnerung an seinen Bruder löste wieder das Heimweh aus. Envy war es, der ihn weckte.

„Winzling, lebst du noch?“

„Wasn los?“, nuschelte er undeutlich.

„Ich dachte, du wärst draufgegangen. Wie kann man nur ganze drei Tage schlafen?“

„Drei Tage?“, wiederholte der frühere Alchemist verwirrt.

„Ja. Dieser Pfuscher, der sich als Arzt bezeichnet, meinte nur, du wärst vollkommen in Ordnung. Aber der erzählt sowieso nur Mist.“

„Hast du dir etwa Sorgen um mich gemacht?“, stichelte Ed und begutachtete grinsend, wie der Homunculus ihn ansah.

„Bild dir ja nichts ein, Winzling. Der einzige Grund, warum ich nach dir gesehen habe, ist diese dumme Kette“, schnaubte Envy endlich verächtlich. „Wenn du jetzt stirbst, komme ich nicht hier raus. Und wenn du stirbst, während wir unterwegs sind, muss ich dich wirklich hinter mir herschleifen.“ Er bemerkte Eds Blick und winkte ab. „Haldro pennt, wie üblich. Wenn der schläft, könnte neben ihm eine Bombe hochgehen und er würde nichts bemerken.“ Bei diesen Worten wurde der einstige Alchemist hellhörig.

„Er hat einen tiefen Schlaf?“

„Kann es sein, dass du gerade etwas schwer von Begriff bist oder warum muss ich mich ständig wiederholen?“

„Halt mal kurz den Rand, ich muss überlegen.“

Envy war von diesen Worten so überrumpelt, dass er gehorchte. Nur seine Miene verriet, dass er dem anderen am liebsten an die Gurgel springen würde. Fieberhaft dachte Ed nach. Wenn es stimmte, was sein Halbbruder sagte, konnte er das für seine Zwecke ausnutzen. Doch seine Idee machte den Plan gleich sehr viel schwieriger. Vor allem – und das war mit Abstand das Schlimmste – er war dem Homunculus damit vollkommen ausgeliefert.

„Ich werde den Ring aus der Mauer brechen“, sagte er dann halblaut, was Envy ein spöttisches Lachen entlockte.

„Wie willst du das bitte anstellen?“ Böse lächelnd hob Ed den freien Arm.

„Man nennt mich nicht umsonst Fullmetal Alchemist. Lass mich nur machen, ich habe da noch einen zweiten Plan…“

Die Flucht

So begannen sie mit der Umsetzung des Plans. Diesmal war es von Vorteil, dass Eds rechte Hand aus Metall war. Immer, wenn Haldro schlief, schlug er auf den Ring ein. Lange würde das verrostete Eisen nicht standhalten. Envy bewachte die Tür und stieß den einstigen Alchemisten an, wenn der Aufseher erwachte. Immer grinste er dabei, als würde es ihm einen Riesenspaß machen. Ed nahm sich vor, sich später dafür zu rächen. Trotz ihrer überraschend guten Zusammenarbeit dauerte es lange, bis ihre Bemühungen endlich Erfolg zeigten.

Wieder war es Nacht. Aufgeregt hämmerte Ed auf das Eisen ein. Deutlich sah man die Spuren, die er bereits hinterlassen hatte. „Ich glaube, ich hab es gleich.“ flüsterte er und schlug noch einmal zu. Der Ring knirschte laut, als er zersprang und ein Scheppern tönte durch den Raum. „Du hast es geschafft, Winzling.“ hauchte der Homunculus und zusammen standen sie auf, das erste Mal, seit sie hier gefangen waren. „Wie geht es jetzt weiter?“ Ed antwortete nicht gleich, sondern streckte sich erstmal ausgiebig. Er hatte sich noch nie so über Muskelkater gefreut wie heute. „Jetzt heißt es abwarten. Sobald Haldro aufwacht, müssen wir so tun, als wäre alles in Ordnung. Dann sagst du ihm, was du so von ihm hältst. Wenn er reinkommt, um dir eins mit der Peitsche überzuziehen, beginnt der schwierige Teil des Plans.“ Leicht murrend setzte Envy sich wieder hin und schlang die Kette so durch den gebrochenen Ring, dass nichts mehr von der Bruchstelle zu sehen war.

Als es draußen heller wurde, hörten sie ein Gähnen. Es war soweit. Haldro erwachte, stand auf, kratzte sich am Hintern und verschwand kurz, nur um wenig später mit dem Essen wiederzukommen. Ed warf seinem Halbbruder einen vielsagenden Blick zu, der nickte und wartete ab, bis der Aufseher in der Tür stand. „Weißt du, Haldro, in letzter Zeit habe ich mir immer eine Frage gestellt.“ Haldro sah ihn an, einen ratlosen Ausdruck im Gesicht. „Wenn jemand so hässlich ist wie du, hat der dann eine Freundin?“ „Ich verheiratet.“ fauchte Haldro. „Ist deine Frau zufällig blind und taubstumm? Anders könnte ich mir das nicht erklären.“ Dann geschah alles gleichzeitig. Der Aufseher kam auf den Homunculus zu, die beiden Gefangenen sprangen auf und schnürten ihm mit der Kette die Luftröhre ab. „Keinen Ton, Fettwanst, oder es war dein letzter.“ drohte Envy und Haldro erstarrte. „Los, raus mit dir. Du darfst uns zum Ausgang führen.“ zischte Ed eisig, während sein Halbbruder die Peitsche an sich nahm.

Wortlos setzte sich der Trupp in Bewegung. In den Gängen war es kühl und still. „Wo ist der Rest der Wache?“ Haldro antwortete nicht und bekam dafür die Peitsche zu spüren. „Antworte.“ „Ist beim Essen.“ wimmerte der Aufseher panisch. „Wo müssen wir lang?“ „Nach links.“ Unzählige verschlossene Türen erwarteten sie auf ihrem Weg, doch sie hielten nicht an. Endlich sahen sie das Eingangstor. Sie stoppten kurz, Envy zog einen Dolch aus der Tasche des Aufsehers und drückte ihn gerade so stark an Haldros Rücken, dass dieser die Spitze spüren konnte. „Du wirst jetzt die Wächter ausschalten.“ erklärte Ed ihm.

Eilig nickte der. „Und denk daran: keine falsche Bewegung.“ Wieder ein Nicken. Mit einer Geschwindigkeit, die ihm keiner der beiden zugetraut hätte, schlug er die Wächter zu Boden. Sie gingen weiter, bis sie den Wald erreichten, in dem Ed vor so langer Zeit gefasst worden war. Auf der Lichtung mit dem Häuschen hielten sie an und stießen den Aufseher hart von sich. „Viel Spaß noch, Fettwanst. Und danke für die Waffen.“ meinte Envy, doch seine Miene wurde ernst, als sie leise Rufe hörten, die immer näher kamen. Ihre Flucht war bemerkt worden. „Wir sollten machen, dass wir hier wegkommen.“ schlug Ed angespannt vor und sie ließen Haldro auf der Lichtung zurück. Die Kette, die die beiden verband, klirrte laut, während sie durch den Wald liefen. „So werden wir gleich wieder geschnappt.“ fluchte Ed und sie blieben kurz stehen

„Gib mir deine Hand.“ „Was?“ „Frag nicht, tu es einfach.“ Der Homunculus schien überhaupt nicht glücklich, streckte aber dennoch die Hand aus. Sein Halbbruder nahm die Kette und wickelte sie fest um ihre Handgelenke. Dann, bevor Envy protestieren konnte, packte Ed ihn und zerrte ihn mit sich. Sein Körper schmerzte, weil er sich so lange nicht richtig bewegt hatte. Trotzdem zwang er sich, weiterzugehen. „Wir müssen am Dorf vorbeischleichen. Niemand darf mich sehen.“ „Toll. Wie kommen wir jetzt aus diesem Gestrüpp raus?“ „Ihr könntet fragen.“ sagte eine Stimme und sie wirbelten herum. „Ich kenne dich.“ sagte Ed überrascht. „Du warst doch bei dieser Truppe, die mich verfolgt hat.“ „Ich bin Nico.“ Sein Blick fiel auf die verschränkten Hände der beiden. „Ihr scheint euch länger zu kennen.“ „Ja, wir können uns gar nicht mehr voneinander lösen.“ fauchte Envy und drehte den Arm, damit Nico die Kette sehen konnte. Der wirkte erst verdutzt, dann begann er zu lachen. Er lachte so heftig, dass ihm Tränen aus den Augen liefen. „Da habt ihr euch ja was eingebrockt.“ brachte er schließlich heraus.

„Du hast gesagt, du könntest uns helfen. Wie?“ „Es gibt ganz in der Nähe einen Schleichweg. Zwar müsst ihr dafür durch ziemlich fiesen Modder, aber so wie ihr ausseht, ist das wohl euer kleinstes Problem.“ Er wurde ernst und sah sie an. „Ich werde versuchen, eure Verfolger in die Irre zu führen. Viel Glück.“ „Danke für deine Hilfe.“ sagte Ed und Nico wurde etwas verlegen. „Ich hatte mir gleich gedacht, dass du nichts gemacht hast. Dafür bist du einfach nicht der Typ. Ganz im Gegensatz zu deinem Begleiter.“ Envy zischte ihn an, was Nico wieder zum Lachen brachte. „Hoffentlich sehen wir uns bald wieder. Ihr seid wirklich ein unterhaltsames Paar.“ „Paar?“ wütete der Homunculus und wollte sich auf den Jungen stürzen. Lässig zog sein Halbbruder ihn zurück. „Krieg dich mal wieder ein. So hat er das nicht gemeint.“ Er verabschiedete sich von Nico und zog Envy wieder hinter sich her.

Der Weg, den der junge Mann ihnen genannt hatte, führte sie wirklich sicher am Dorf vorbei und aus dem Wald hinaus. Eine geteerte Straße führte in die Ferne. Nico hatte ihnen gesagt, sie müssten nach rechts, um möglichst weit vom Gefängnis wegzukommen, also hielten sie sich daran. Stunden waren sie unterwegs, als sie einen Motor hörten und sich hinter einem nahen Strauch versteckten. Ein Traktor ruckelte vorbei und Ed atmete erleichtert aus. „Ich weiß, wie wir schneller vorankommen.“ flüsterte Envy und der frühere Alchemist ließ zu, dass er mitgezogen wurde. Sein Halbbruder sprang unbemerkt hinter das Fahrhäuschen und half ihm hoch. Ed musste lächeln, als er sich neben dem Homunculus setzte und sie durch die Landschaft fuhren.

Irgendwann begann Ed, sich an die Umgebung zu erinnern. Sie waren ganz in der Nähe der Stadt, in der sich die alte Wohnung seines Vaters befand. Schnell sprang er vom Traktor und lief die Straße entlang, bis er sein Ziel erreicht hatte. Der Schlüssel zu der Wohnung war unter der Fußmatte verborgen, was ein ziemlicher Glücksfall war. Er schloss die Tür auf und betrat die Wohnung, seinen Halbbruder im Schlepptau. „Endlich wieder zuhause.“ sagte er freudestrahlend. „Was für ein rührender Moment. Wenn du damit fertig bist, die Möbel anzustarren, könnten wir sehen, ob wir etwas Essbares finden.“ „Ich glaube nicht, dass wir etwas finden. Das Meiste dürfte verschimmelt sein.“ Sie gingen in die Küche, wo tatsächlich verdorbene Lebensmittel herumstanden. Zielstrebig ging Ed auf einen Schrank zu und holte etwas heraus. „Was ist das?“ erkundigte sich Envy misstrauisch. „Nudeln. Nichts Besonderes, aber besser als nichts.“ Während sie das Essen vorbereiteten, wurde es langsamer dunkler. Die Nudeln waren pappig, bitter und das Beste, was Ed je gegessen hatte. Im Vergleich zu dem Gefängnisessen war ihm alles Recht.

Als sie fertig waren, stand Envy auf und sah an sich hinunter. „Gibt es hier auch eine Dusche?“ „Ja, wieso?“ „Weil ich dich darin ertränken wollte, Winzling. Was glaubst du wohl?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, machte er sich auf den Weg und Ed blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Im Badezimmer angekommen, drehte der Homunculus das Wasser auf und sein Halbbruder drehte ihm peinlich berührt den Rücken zu. Schließlich wollte er den anderen nicht nackt sehen. „Du stellst dich ja schlimmer an als ein kleines Mädchen.“ kicherte sein alter Widersacher. „Unheimlich lustig. Aber den Anblick erspare ich mir lieber, sonst bekomme ich noch einen Brechreiz.“ gab der ehemalige Alchemist zurück. „Als ob ich mich vor dir ausziehen würde. Ich will mir nur den Schmutz und das Blut abwaschen.“ Ein wohliger Seufzer war zu hören, als Envy sich unter das heiße Wasser stellte. Ed wartete geduldig, bis sein Halbbruder fertig war und reichte ihm dann ein Handtuch. Während sein alter Gegner sich abtrocknete, nutzte Ed die Gelegenheit, um ebenfalls zu duschen.

Interessiert beobachtete Envy ihn. Anscheinend war ihm klar, dass auch der einstige Alchemist sich nicht vor ihm entkleiden würde. Das heiße Wasser war herrlich. Es lockerte Eds verkrampfte Muskeln, entspannte ihn und ließ ihn warm und schläfrig zurück. Gähnend streckte er sich und trocknete sich ab, bevor er seinen Halbbruder ins Schlafzimmer führte. Dort stand ein Bett, gerade groß genug, dass beide hineinpassten. Envys Blick wanderte von der Kette, die ihn mit Ed verband, zum Bett und Entsetzten trat in sein Gesicht. „Oh nein. Ich werde auf gar keinen Fall mit dir im selben Bett schlafen, Winzling.“ „Ist dir der Boden lieber?“ konterte Ed gelassen und ließ sich auf die weiche Matratze fallen. Was für ein Unterschied zum harten, kalten Gefängnisboden. Breit grinsend stand er auf, um seinen Halbbruder vorbeizulassen, der zwar knurrte und fluchte, aber die Gesellschaft seines alten Gegners dem Boden vorzog. Als auch Ed sich wieder hinlegte, wich Envy so weit von ihm zurück, wie er konnte. „Ach, wie schade.“ stichelte der frühere Alchemist und schaffte es nur mit Mühe, nicht zu lachen. „Ich dachte, wir kuscheln noch ein wenig.“ Sein Halbbruder starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren, was ihm den Rest gab. Er begann haltlos zu lachen, bis seine Seiten schmerzten. Als er sich wieder beruhigt hatte, vergrub er, noch immer kichernd, das Gesicht in den Kissen und schlief ein.

Krankenpflege mit Hindernissen

Das Licht, das durch die Fenster fiel, ließ Ed schließlich aufwachen. Er gähnte und spürte einen warmen Körper neben sich. Im Schlaf war sein Halbbruder sehr nahe an ihn herangekommen. Kurz musste Ed lächeln, als er die entspannte Miene des anderen sah, die sich nur Zentimeter von ihm entfernt befand. Ohne etwas zu sagen, wartete er ab, bis auch Envy die Augen aufschlug. „Guten Morgen, Liebling.“ säuselte er und warf ihm einen verführerischen Blick zu. Der Homunculus wich so schnell vor ihm zurück, dass er aus dem Bett fiel. Obwohl er Ed dabei mit sich zog, schaffte es der ehemalige Alchemist, nicht auch zu stürzen. „Du elender…“ begann Envy und ließ eine seiner berühmten Schimpftiraden los, was Ed nur mit einem Grinsen quittierte. Auf dem Bauch liegend, robbte er an den anderen heran, sah zu ihm hinunter und winkelte die Beine an. „Willst du wirklich schon gehen? Es wurde doch gerade so gemütlich.“

Der Homunculus schien sich nur mit äußerster Anstrengung einen Kommentar verkneifen zu können. Bebend vor Wut und Scham, stand er mühsam auf und warf seinem Halbbruder einen zutiefst bissigen Blick zu. „Das wirst du mir büßen, Winzling.“ knurrte er. Schwer atmend sah der einstige Alchemist den anderen an. Wieder fühlte er sich müde, was ihm irgendwie seltsam vorkam. Er hatte doch genug geschlafen… Kühle Finger, die sich auf seine Stirn legten, ließen ihn erschauern. „Du glühst vor Fieber. Hast du dir etwa irgendwas eingefangen?“ „Scheint wohl so…“ „Auch das noch. Jetzt muss ich zu allem Überfluss noch deine Krankenschwester spielen.“ Envy setzte sich zu ihm und tastete nach seinem Hals, um seinen Puls zu fühlen, bevor ihn gründlich untersuchte. Ohne sich zu wehren ließ Ed die Prozedur über sich ergehen. Er fühlte sich schlecht und seine Kleidung klebte an seinem Körper.

„Scheint so, als wäre es nichts Bedrohliches. Aber es wird dauern, bis du wieder aus dem Bett kannst.“ Ed wollte protestieren, aber sein Halbbruder drückte ihn entschlossen in die Kissen. „Du brauchst Ruhe.“ „Was machen wir jetzt?“ fragte der frühere Alchemist und ließ die Kette leise klirren. „Ich werde dich wohl wieder aufpäppeln müssen, Winzling.“ antwortete sein alter Gegner und verdrehte die Augen. „Aber da wir uns so nahe stehen…“ Kurz warf er einen wütenden Blick auf die Eisen. „…wird das nicht einfach.“ Er erhob sich. „Komm mit.“ Tapsend stolperte Ed hinterher. Nach einiger Suche fand Envy einige Packungen mit Tütensuppe, einen Wasserkocher, mehrere Flaschen mit Wasser und eine Tasse. Dann ging er ins Bad, wo er sich ein Handtuch und eine Schüssel schnappte, bevor er wieder ins Schlafzimmer zurückkehrte und den anderen fest in die Decken wickelte.

Dort füllte er das Wasser aus einer Flasche in den Wasserkocher und wartete ab. Als das Wasser heiß war, füllte er etwas in die Schüssel und den Rest in die Tasse. Als er es geschafft hatte, die Suppe fertigzumachen, reichte er die Tasse an Ed weiter. „Trink.“ befahl er kurz angebunden. Der tat, was ihm gesagt wurde. Obwohl die Suppe nicht gerade schmackhaft war, ging es ihm etwas besser. Das Gefühl des feuchten Tuchs auf seiner Stirn war herrlich. Er dämmerte weg, gejagt von wirren Träumen. Sein Bruder, der mit einem Hasen Fangen spielte, Pinako, die an einer übergroßen Wasserpfeife zog und zusah und Mustang, der neben ihr saß und dem Treiben vor sich kaum Aufmerksamkeit schenkte. Er schreckte hoch und da war Envy, starrte ihn an, als wäre er ein seltsames Insekt.

„Envy…“ flüsterte er schwach und sein Halbbruder nahm etwas in die Hand, öffnete es und hielt es ihm hin. „Du musst was trinken.“ sagte er nur und Ed trank, genoss das Gefühl des Wassers in seinem Mund. Kurz darauf schlief er wieder ein. Winry saß an seinem Bett und Mitgefühl lag in ihren Augen. „Armer Ed.“ hauchte sie. „Du musst vorsichtiger sein. Mit Fieber herumlaufen ist nicht gerade eine gute Idee. Sieh nur, wie du aussiehst.“ Er spürte ihre Hand, die auf seiner Stirn lag. Dann beugte sie sich vor und schüttelte seine Kissen auf. Doch als sie sich zurückzog, lächelte sie spöttisch. „Deine Temperatur ist gestiegen, Winzling. Das ist wirklich ungünstig.“ Ed starrte sie an, bevor er sich selbst sah, wie er auf Envy saß und ihm hart ins Gesicht schlug. „Zeig mir dein wahres Gesicht.“ schrie er den Homunculus an. Vor ihm tauchte das Bild seines Vaters auf, dann war da nur noch Schmerz und Dunkelheit. Schreiend und um sich schlagend fuhr er hoch, bevor ihn jemand an den Handgelenken packte und unsanft in das Bett stieß.

„Beruhige dich, Winzling. Du bist ja wirklich schlimmer als ein kleines Mädchen.“ Keuchend sah Ed Envy an und entspannte sich etwas. „Mir ist so heiß…“ „Das geht vorbei. Kann ich dich loslassen oder drehst du dann wieder durch?“ Ed wurde knallrot, als ihm klar wurde, dass der andere ihn immer noch an den Handgelenken festhielt und zurückdrückte. Er war dem früheren Alchemisten viel zu nahe, seine langen, struppig wirkenden Haare strichen ihm über den Hals. „Es geht schon wieder.“ murmelte er verlegen und sein Halbbruder ließ ihn los. „Du hast im Schlaf gesprochen. Irgendetwas über Hasen. Was hast du für einen Blödsinn geträumt?“ „Ich erinnere mich nicht.“ log Ed rasch und schälte sich aus den Decken. „Was machst du denn da, Winzling? Du musst im Bett bleiben.“ „Dann nimm wenigstens die Decke weg. Unter dem Ding ist es heißer als in der Hölle.“ Sein Halbbruder seufzte schwer, tat aber, worum er gebeten wurde.

„Du kannst ja wirklich nett sein, Envy.“ Wieder wurde der Homunculus rot und wandte dem anderen den Rücken zu. „Wie gesagt, das ist nur wegen der Kette. Normalerweise würde ich keinen Finger rühren, um ausgerechnet dir zu helfen, aber es geht nicht anders.“ Er spürte eine Hand, die ihm vorsichtig über den Rücken strich. „Was ist mit dir passiert, dass du so geworden bist?“ Envy erstarrte. Vor dieser Frage hatte er sich immer gefürchtet. Er war nicht bereit, dem ehemaligen Alchemisten so weit zu vertrauen. Noch immer spürte er seinen Hass auf den Halbbruder, der hilflos und fiebrig neben ihm lag. „Das ist unwichtig.“ murmelte er. Mit überraschender Stärke richtete Ed sich auf, packte ihn an den Schultern und drehte ihn zu sich. „Du warst nicht immer so… sagen wir mal schwierig. Irgendetwas hat dich verändert. War es wirklich nur der Hass auf meinen Vater?“ „Wie gesagt, es ist unwichtig. Leg dich wieder hin, ich werde dir was zum Essen machen.“ Damit wollte er aufstehen, doch leider hatte er die Rechnung ohne seinen Halbbruder gemacht, der ihn unverwandt ansah.

Er sagte nichts, musterte den Homunculus nur mit seinen goldenen Augen. Dann, bevor dieser etwas sagen konnte, zog der andere ihn an sich und hielt ihn fest. Noch nie zuvor war Envy von irgendjemandem umarmt worden. Eds Körper war warm und löste etwas in ihm aus, dass er sich nicht erklären konnte. Er hasste sich für die Tränen, die ihm in die Augen traten. Es war, als würde irgendetwas ihn ihm seinen Stolz und seine Arroganz fortspülen. Die Fassade, die er so lange aufrecht gehalten hatte, fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

„Nein…lass mich…“ flüsterte er schwach, was nur dafür sorgte, dass Ed ihn noch fester hielt. Alles verschwamm vor Envys Augen, als er spürte, wie seine Trauer sich ihren Weg bahnte. Unfähig, seinen bebenden Körper unter Kontrolle zu bringen, gab er schließlich auf. „Ich wollte nur eine Familie.“ brach es aus ihm hervor. „Als ich damals aufwachte, war ich ganz alleine. Niemand hat sich dafür interessiert, was mit mir los war. Ich konnte mit keinem reden. Als Homunculus habe ich keine Mutter und mein Vater hat mich verstoßen, als wäre ich etwas Abartiges. Ich begann, ihn zu hassen, doch noch mehr hasste ich mich selbst. Wäre ich normal, hätte alles anders sein können. So hatte ich nur den Hass, der mich begleitet hat. Als ich dir zum ersten Mal begegnet bin, wurde es unerträglich. Du hattest mehr, als ich jemals bekommen würde. Zwar hat dein Vater dich auch im Stich gelassen, aber er hat dich akzeptiert und geliebt. Für mich war in seiner ach so heilen Welt kein Platz. Früh lernte ich, ihm den Tod zu wünschen, genauso wie dir und deinem Bruder. Auch die Menschen allgemein habe ich verabscheut, wollte sie meinen Schmerz und meine Einsamkeit spüren lassen. Ich…ich…“ Er konnte nicht weitersprechen, völlig aufgelöst vergrub er sein Gesicht an der Schulter seines Halbbruders.

Ed hatte während Envys Gefühlsausbruch kein Wort gesagt. Doch schmerzlich wurde ihm begreiflich, wie sehr der Homunculus all die Zeit gelitten hatte. Im Stillen dachte er sich, dass das Leben ziemlich ironisch und grausam sein konnte. Manchmal musste man nur eine Kleinigkeit anders machen, um es zu ändern. Das galt für Envy wie für ihn. Immer noch schweigend, hielt er den anderen im Arm. Obwohl er seinem alten Widersacher so nahe war, spürte er keinen Herzschlag. Wie es wohl war, nur eine menschenähnliche Puppe zu sein? Darüber wollte er lieber nicht nachdenken. Außerdem hatte er Alphonse, der immer für ihn da sein würde. Envy hatte niemanden. Kein Wunder, dass er so geworden war. Er hatte nur jemanden gesucht, der ihm sagte, dass seine Existenz mehr war als der Beweis für einen schweren Fehler.

Sanft löste sich Ed von seinem Halbbruder. Immer noch liefen dem Homunculus die Tränen über die Wangen, sein sonst so blasses Gesicht war gerötet. In seiner Trauer wirkte er menschlicher als je zuvor. „Ich kann verstehen, wie es dir gegangen ist. Niemanden zu haben, ist schlimmer als jede Folter. Damals, als mein Bruder und ich das größte Tabu gebrochen haben, habe ich alles getan, um ihn nicht vollständig zu verlieren. Ich wollte nicht alleine sein. Durch die Fixierung seiner Seele habe ich ihn behalten, auch wenn es mich meinen rechten Arm gekostet hat. Aber das war mir egal. Ich hätte für ihn alles geopfert. Er ist für mich das Wichtigste auf der Welt und ich habe ihn gebraucht.“ Wieder beugte er sich vor und berührte mit seinen Lippen Envys Stirn, spürte, wie der andere sich verkrampfte. Als er den Homunculus ansah, erwiderte der seinen Blick mit seltsam leeren Augen. „Ich habe dich gehasst. Dafür, dass du mich hierhergebracht hast und dafür, dass du mich von meinem Bruder getrennt hast.“ Er nahm den anderen wieder in die Arme und fuhr fort: „Der Envy, den ich kennengelernt habe, war nur ein herzloses Monster. Aber der Envy, dem ich nun gegenübersitze, ist eine verletzte, einsame Person. Jemand, der einen Freund braucht. Lass mich dieser Freund sein.“ „Warum tust du das für mich?“ wisperte sein alter Gegner. „Weil ich für dich da sein will.“ Wieder begann Envys Körper zu beben, Ed hielt ihn fest und langsam ging die Sonne auf.

Der Weg nach Hause

Es dauerte fast eine Woche, bis Ed wieder vollkommen genesen war und Envy ihm erlaubte, das Bett zu verlassen. Nach seinem Ausbruch war er zu einer anderen Person geworden. Zwar würde die Dunkelheit in ihm nie vollständig verschwinden, doch er gab sich die größte Mühe, die zerbrechliche Freundschaft, die sich zwischen ihm und seinem Halbbruder entwickelt hatte, zu erhalten. Es war schon fast unwirklich, wie die beiden sich ganz normal unterhielten, lachten und scherzten. Die Kette, die sie verband, schien zu einem Symbol geworden zu sein. Fast hätten sie sie vergessen. Jedenfalls, bis die beiden unerwarteten Besuch bekamen.

Sie hatten in einer Schublade etwas Geld gefunden und davon Essen und Getränke gekauft. Die Blicke, die sie verfolgten, hatten sie gekonnt ignoriert und waren schnell wieder in die Sicherheit der Wohnung zurückgekehrt, wo sie gemeinsam gekocht und gegessen hatten. „Hast du den Blick der Verkäuferin gesehen, Winzling?“ lachte Envy gerade. „Als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Einkaufen so unterhaltsam sein kann.“ Ed grinste nur und warf dem Homunculus einen Blick zu. Sein Zustand hatte sich merklich verbessert. Nur die Striemen, die sich an seinen Armen und Schultern abzeichneten, erinnerten noch an die Gefangenschaft. Ein Klopfen ließ sie aufspringen.

„Jemand muss uns verfolgt haben.“ flüsterte Ed angespannt, während sein Halbbruder nach der Peitsche griff. Das Klopfen ertönte wieder, diesmal lauter. „Was jetzt, Winzling?“ murmelte der Homunculus, ohne seinen Blick von der Tür zu lösen. „Wir sind im dritten Stock. Fliehen bringt uns also nichts. Vielleicht ist es Nico.“ „Vielleicht ist es auch der halbe Polizeistaat, um uns wieder einzubunkern.“ Langsam trat Ed an die Tür. „Wer ist da?“ „Nun mach schon die Tür auf.“ erwiderte eine Stimme und Ed erstarrte, bevor er die Tür aufriss und seinem Bruder in die Arme fiel. „Al…“ „Ich freue mich auch, dich wiederzusehen, Bruder.“ „Aber wie kommst du hierher?“ „Eine lange Geschichte. Das Wichtigste ist, dass ich dich gefunden habe.“ Schnell schlüpfte er in den Raum und Ed schloss die Tür. „Envy, ist das ein Traum?“ Sein Halbbruder schlug ihm auf den Arm und sah den einstigen Alchemisten amüsiert an. „Sag du es mir, Winzling.“ Wieder fielen sich die Brüder in die Arme.

Nach über zwei Jahren sahen sie sich endlich wieder. Alphonse war größer geworden, ernster und seine Haare waren etwas länger, aber sonst sah er noch genauso aus, wie Ed ihn in Erinnerung hatte. „Es ist so schön, dich zu sehen.“ „Bruder, du erdrückst mich.“ Alphonses Blick fiel auf Envy. „Du kommst mir bekannt vor. Haben wir uns schon mal irgendwo gesehen?“ „Du hast deine Erinnerung verloren.“ stellte der Homunculus ruhig fest. „Ja, das stimmt. Aber in meinen Träumen tauchen immer wieder seltsame Dinge auf und mir unbekannte Personen. Du bist auch darunter.“ Seine Augen verengten sich. „Es sind keine guten Träume.“ „Das tut mir wirklich leid.“ spottete Envy. „Er ist unser Halbbruder.“ erklärte Ed. „Du wirst dich bestimmt irgendwann an alles erinnern.“ „Nicht, dass ich dieses erweichende Bild trüben will, aber was willst du eigentlich hier?“ „Ich will meinen Bruder zurück nach Hause bringen.“ Ein Lächeln huschte über seine Lippen. „So wie es aussieht, werde ich dich auch mitnehmen müssen.“

Er wandte sich wieder an Ed. „Du bist gewachsen. Hat ja auch lange genug gedauert.“ Envy begann zu lachen, was ihm einen giftigen Blick von Ed einbrachte. „Der und gewachsen?“ brachte er schließlich heraus. „Wie unheimlich lustig.“ knurrte der frühere Alchemist beleidigt. „Also, hast du einen Plan, wie wir wieder in unsere Welt zurückkönnen?“ „Schon, aber dafür bräuchten wir einen Stein der Weisen.“ Lange war es still. Ed und sein Bruder hatten lange nach diesem Stein gesucht. Diese verfluchten Dinger hatten ihnen viel Ärger gemacht, auch weil es so schwer war, einen richtigen, unverfälschten Stein zu erschaffen. „Dann schaffen wir es nicht.“ meinte Ed schließlich entmutigt. „Hier gibt es keinen Stein der Weisen.“ „Doch, gibt es.“ mischte sich Envy ein. Ohne eine Miene zu verziehen, berührte er seine Brust. „Ich trage einen in mir. Er erhält mich statt eines Herzens am Leben.“

„Das bedeutet, wir können ihn nicht benutzen.“ Der Homunculus senkte den Blick. „Tut es. Gebraucht den Stein, um zurück nach Hause zu kommen.“ „Das kannst du doch nicht ernst meinen.“ keuchte Ed entgeistert. Endlich sah sein Halbbruder auf und blickte den anderen eisig an. „Willst du nicht zurück? Für mich ist es zu spät. Meine Fehler kann ich nicht wieder gutmachen. Alles, was mir bleibt, ist, wenigstens euch zu helfen.“ „Aber…wenn du dabei stirbst…“ „Dann ist es so. Der Tod macht mir keine Angst.“ Etwas leiser sprach er weiter. „Deine Freundschaft war mir sehr wichtig, Winzling. Dafür bin ich dankbar. Bitte, lass mich das tun. Ich habe nur eine Bitte. Falls ich sterben sollte, nehmt meinen Körper mit in die andere Welt. Ich will nicht für alle Ewigkeit vor dem Tor verfaulen.“ „Envy…“ Sprachlos nahm Ed ihn in die Arme. „Ich verspreche es.“ flüsterte er mit erstickter Stimme. Er ließ seinen Halbbruder los und drehte sich zu Al, der das Gespräch still verfolgt hatte.

„Fangen wir an.“ sagte dieser und begann, mit Kreide seltsame Zeichen auf den Boden zu malen. Als er mit seiner Arbeit fertig war, trat er zurück und näherte sich dem Homunculus. „Wie können wir den Stein benutzen?“ „Sobald ich im Sterben liege, wird er freigegeben und löst sich auf. Das bedeutet, ihr müsst schnell sein.“ „Also müssen wir dich töten?“ „Ja.“ Envy zog den Dolch hervor, den er Haldro abgenommen hatte und reichte ihn Ed. „Ich kann das nicht tun…“ „Das ist die einzige Chance. Entweder du nutzt sie, oder wir bleiben hier gefangen.“ Zitternd hielt der einstige Alchemist die Waffe in den Händen, schloss die Augen und fiel dem anderen ein letztes Mal in die Arme. „Und, war das jetzt so schwer?“ hauchte Envy ihm ins Ohr. „Damit sind wir wohl quitt.“ Er brach zusammen und sein Körper begann rot zu leuchten. Hastig schlug Al in die Hände und berührte dann den Boden, der ebenfalls zu glühen begann. Ed warf sich den Körper seines Halbbruders über die Schulter und zusammen mit Al trat er in den Kreis, der sie wieder nach Hause bringen würde.

Er schien zu fliegen, stürzte immer weiter, bis er schließlich vor dem Tor landete. Eine seltsame, farblose Gestalt saß davor. Sie hatte kein Gesicht, aber einen Mund, der breit grinste. „Edward Elric. So sieht man sich wieder.“ hallte eine Stimme in seinem Kopf. „Lass uns zurück in unsere Welt.“ „Was bekomme ich dafür?“ „Die Seelen hunderter Menschen.“ Verlockend, verlockend.“ flötete die Stimme. „Bitte. Mein Halbbruder hat sich dafür geopfert.“ „Ja, das hat er. Armes, kleines Ding. Nun, ich bin gnädig. Ihr dürft passieren.“ „Ich danke dir.“ erwiderte Ed.

„Seelen für ein Herz.“ wisperte die Stimme und hunderte winzige Arme packten Envy, hoben ihn hoch und griffen nach seinem Brustkorb. Verwirrt und fasziniert beobachteten die Brüder das seltsame Schauspiel. Genauso schnell, wie alles begonnen hatte, hörte es auf. Der Homunculus fiel zu Boden, was die Kette zum Klirren brachte und das Tor öffnete sich. „Auf bald, Edward und Alphonse Elric.“ Sie antworteten nicht, sondern traten durch das Tor. Knallend fiel es hinter ihnen zu. Wieder fielen sie, bis sie mit einem schmerzerfüllten Keuchen auf einer Wiese landeten. „Hat es funktioniert?“ fragte Ed und setzte sich auf. „Ja.“ antwortete sein Bruder. Dann wurden seine Augen groß.

„Bruder, sieh nur.“ Er deutete auf Envy, der neben den beiden lag. Die Wunde, die Ed verursacht hatte, war verschwunden, langsam hob und senkte sich seine Brust. „Er lebt? Aber wie ist das möglich?“ Vorsichtig kroch der frühere Alchemist an den Homunculus heran und berührte seinen Hals. Deutlich spürte er den gleichmäßigen Herzschlag des anderen. „Ich kann seinen Puls fühlen.“ „Aber…er hat doch gesagt, er hat kein Herz.“ Endlich begriff Ed. „Seelen für ein Herz.“ wiederholte er die Worte des Wesens. „Dieses Ding vor dem Tor scheint es ihm geschenkt zu haben.“ Flatternd öffneten sich Envys Augen und er sah seinen Halbbruder verwirrt an. „Ich lebe ja noch. Warum lebe ich noch? Hat es nicht geklappt?“ Wut legte sich über seine Züge. „Sagt jetzt nicht, ihr habt es versaut, ihr Zwerge.“ „Nein, alles ist wunderbar glatt gelaufen.“ grinste Ed, nahm Envys Hand und legte sie auf dessen Brust. Erst wirkte sein Halbbruder verwirrt, dann verzog er das Gesicht. „Ich spüre etwas. Außerdem tut mir alles weh.“ „Natürlich spürst du etwas. So was soll aber normal sein, wenn man ein Herz hat.“

„Wovon redest du eigentlich, Winzling? Ich bin ein Homunculus. Ich habe kein…“ Er unterbrach sich, als ihm klar wurde, was der andere meinte. „Ich bin ein Mensch?“ raunte er dann und sah an sich herunter. „War es nicht dein Wunsch, normal zu sein? Nun, er wurde erfüllt.“ „Ich bin ein Mensch…“ wiederholte Envy immer wieder, als könnte er es nicht glauben. Dann fiel er Ed so heftig in die Arme, dass der nach hinten fiel. „Ich bin ein Mensch! Ich bin normal!“ rief er und wirkte, als würde er im nächsten Moment entweder losheulen oder anfangen zu lachen. Er entschied sich für Letzteres, während Ed sich von ihm freikämpfte und mit Al einen amüsierten Blick tauschte. Envy sprang auf, packte den völlig verdutzten Al unter den Armen und drehte ihn im Kreis. Da immer noch die Kette war, musste der ehemalige Alchemist um die beiden herumlaufen, was diesen seltsamen Anblick noch verstärkte. „Ich bin ein Mensch.“ sagte er wieder. „Ja, das habe ich verstanden. Du kannst mich wieder runterlassen.“ erwiderte Al lachend.

Kurz wirkte Envy unsicher. „Aber… ich habe keine Ahnung, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.“ „Das kommt noch. Erstmal werden wir jetzt die Kette los.“ meinte Ed und sah die beiden an. „Al, ich glaube, es wird mal wieder Zeit, Pinako zu besuchen.“ „Du weißt schon, dass sie dir den Hals umdrehen wird, Bruder?“ „Und wenn schon. Das kenne ich ja von ihr.“ gab Ed zurück. „Aber vorher soll sie mich wenigstens befreien.“ Und so machte sich das seltsame Gespann auf den Weg nach Hause.

Vergebung

Es war früher Abend, als sie endlich ihr Ziel erreichten. Ed war mehr als nervös. Was würden Pinako und Winry wohl sagen, wenn sie ihn wiedersahen? Al bemerkte seine angespannte Haltung und legte ihm beruhigend den Arm auf die Schulter. „Du schaffst das schon, Bruder.“ Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als die Tür aufging und Pinako auf die Terrasse trat. „Sieh mal einer an. Lässt du dich auch mal wieder hier blicken, Zwerg?“ Ed schrumpfte bei ihren Worten zusammen, während die Frau auf sie zukam und ihn mit strahlenden Augen ansah. Sie war älter geworden, doch sonst hatte sie sich nicht verändert. „Wo warst du so lange?“ schimpfte sie los. „Einfach in eine andere Welt abhauen, ohne was zu sagen. Sieh dir nur deine Automail an. Die ist ja völlig ruiniert.“ „Tut mir leid.“ murmelte Ed verlegen, während Al und Envy mühsam ihr Lachen unterdrückten. „Und warum bist du festgekettet? Du sollst dich doch nicht in Schwierigkeiten bringen.“

„Aber…ich wollte doch gar nicht…“ stammelte der ehemalige Alchemist, doch sie ließ ihn nicht weiterreden, sondern nahm ihn in die Arme. „Willkommen zurück, Zwerg.“ „Schön, dich zu sehen, alte Hexe.“ Envy konnte sich nicht mehr beherrschen und kicherte los – jedenfalls, bis Pinako sich vor ihm aufbaute. „Jetzt zu dir. Was fällt dir ein, bei dieser Kälte so herumzulaufen? Da kannst du ja gleich nackt gehen. Verletzt bist du auch noch. Nur weil die beiden es schaffen, mich ständig wahnsinnig zu machen, bedeutet das noch lange nicht, dass du es auch versuchen sollst, du dürres Gerippe.“ „Wird nicht wieder vorkommen.“ antwortete Envy kleinlaut und Ed bewunderte wieder einmal das Talent der Frau, jedem unverblümt die Meinung zu sagen. Ihr Blick wurde etwas sanfter. „Ihr wollt bestimmt dieses Ding loswerden. Kommt rein, ich werde sehen, was ich tun kann.“ Sie betraten die Wohnung und Pinako sah sich um.

„Wo ist denn Winry? Immer verschwindet dieses Mädchen. Winry! Komm her, wir haben Kundschaft!“ „Schon wieder? Wer ist es denn diesmal?“ Schnelle Schritte waren zu hören, als jemand die Treppen hinuntergerannt kam. An der Tür blieb Winry stehen und starrte Ed an. „Hallo, Winry. Ich fürchte, ich brauche eine neue Automail.“ Tränen stiegen dem Mädchen in die Augen und rannen ihre Wangen hinunter. „Warum kommst du damit erst jetzt, du Idiot?“ sagte sie endlich und umarmte ihn stürmisch. „Ed. Endlich bist du zurück. Wir waren ganz krank vor Sorge.“ Er strich ihr beruhigend über ihre langen Haare. „Dummkopf. Warum weinst du?“ Sie sah zu ihm auf und lächelte. „Du bist immer noch der Alte. Aber seit wann bist du so groß?“ „Irgendwann musste ich ja mal wachsen.“

Winrys Blick fiel auf die Kette und sie seufzte schwer. „Was hast du angestellt? Musst du in jedes Fettnäpfchen treten, das sich anbietet? Wie soll ich euch beide denn davon loskriegen?“ Sie musterte Envy und ihre Augen verengten sich. „Du bist ein Homunculus. Wrath hat von dir gesprochen, als wir ihn mit seiner Automail ausgestattet haben. Er hat behauptet, er hätte gesehen, wie du Ed ermordet hast.“ „Das ist über zwei Jahre her.“ maulte dieser beleidigt und sie haute ihm mit einem großen Schraubenschlüssel auf die Stirn. „Das hat wehgetan.“ fauchte Envy und bekam dafür gleich noch einen Schlag ab. „Hör auf, mich mit einem Schraubenschlüssel zu verprügeln, verrücktes Ding!“ „Ich kann auch gerne einen Hammer nehmen, wenn dir das lieber ist.“ zischte sie zurück.

Schnell trat Ed zwischen die beiden. „Wenn du schon auf meinen Halbbruder einschlagen musst, dann tu das, wenn wir getrennt sind.“ „Dein Halbbruder?“ wiederholte sie ungläubig. „Ich erkläre es dir später. Außerdem hat er sich geändert. Er hat sich für mich und Al geopfert, damit wir zurück in diese Welt können.“ „Na, wenigstens etwas. Aber warum lebt er dann noch?“ Der frühere Alchemist zuckte die Achseln. „Er hat eine zweite Chance bekommen. Das und ein Herz. Er ist kein Homunculus mehr, sondern ein Mensch. Also sei nicht allzu grob mit ihm.“ Misstrauisch sah Winry Envy an, bevor sie den Schraubenschlüssel sinken ließ und sich ein gemeines Lächeln über ihre Lippen legte. „Schön, ich befreie euch beide. Danach kann ich dir immer noch zeigen, was ich von dir halte.“ „Wie überaus feinfühlig.“ Sie folgten ihr in den Raum, wo Ed vor langer Zeit seine erste Automail erhalten hatte.

Als er auf das Bett sah, das immer noch mitten im Raum stand, kamen all die schmerzlichen Erinnerungen wieder in ihm hoch. Er schüttelte sich kurz und Winry wies sie an, sich hinzusetzten. Dann kramte sie nach ihrem Werkzeug und machte sich an die Arbeit. Das Schloss war ziemlich kompliziert, weshalb es zwei Stunden dauerte, bis sie fertig war. Mit lautem Klirren fiel die Kette zwischen den beiden zu Boden. „Du hast es ja wirklich geschafft, verrücktes Ding.“ „Mein Name ist Winry.“ erwiderte sie kühl. „Und natürlich habe ich es geschafft.“ „Mach dir nichts draus, Envy. Sie ist eigentlich sehr nett, aber teilweise gibt sie furchtbar an.“ sagte Ed grinsend und sein Halbbruder schüttelte resignierend den Kopf. Winry warf dem ehemaligen Alchemisten einen tödlichen Blick zu. „Sei mal nicht so vorlaut. Du hast seit über zwei Jahren keine neue Automail mehr bekommen. Das heißt, es wird ganz schön wehtun.“

„Ich halte es schon aus.“ „Envy, du musst ihn festhalten. Sonst bringt er mir alles durcheinander.“ Verdutzt sah der sie an, gehorchte aber. Es war keine angenehme Prozedur. Nach all der Zeit hatten sich seine Nerven an die alte Automail gewöhnt und reagierten dementsprechend heftig auf die neue Ausstattung. Ed biss die Zähne zusammen und bäumte sich auf, doch der Griff seines Halbbruders war wie ein Schraubstock. Als alles vorbei war, sank er erschöpft in sich zusammen, dumpf hämmerte es in seinem Körper. Mit widerwilliger Anerkennung sah Winry den früheren Homunculus an. „Nicht schlecht fürs erste Mal.“ Envy verneigte sich galant und erwiderte ihren Blick leicht spöttisch. Ein Klopfen unterbrach sie. Es war Al, der nach ihnen sehen wollte. „Seid ihr fertig?“ „Gerade fertig geworden.“ Vorsichtig stand Ed auf und streckte sich, um sich an die neue Automail zu gewöhnen. Dann ging er auf Al zu. „Was hältst du von einem Kampf?“ „Gerne, Bruder.“ Sie kämpften bis zum Morgengrauen, bevor sie aufgaben und sich auf Unentschieden einigten.

Gemeinsam kehrten sie zurück zu den anderen. Pinako und Winry hatten gekocht und ein herrlicher Duft durchzog den Raum. Ed wusste nicht mehr, wann er das letzte Mal so gut gegessen hatte. Erst nach einigen Minuten fiel sein Blick auf Envy, der in der Ecke des Raumes stand und seltsam verloren wirkte. „Was ist? Willst du nichts essen?“ „Ich verdiene es nicht, bei euch zu sitzen. Es war alles meine Schuld.“ murmelte der andere halblaut und ohne einen von ihnen anzusehen. Ed ging auf ihn zu, legte seine Hand um sein Kinn und zwang seinen Halbbruder, ihn anzusehen. „Was macht das jetzt noch für einen Unterschied?“ fragte er leicht verärgert.

„Ja, du hast Fehler gemacht. Wahrscheinlich mehr, als ich zählen kann. Aber du hast dich geändert und dein Leben für mich und Al riskiert. Ohne dich würde ich immer noch im Gefängnis verrotten. Also beweg dich und iss.“ Envy wandte sich demonstrativ von ihm ab, was ihn noch mehr aufregte. „Willst du es auf die sanfte oder die harte Tour?“ „Was ist denn die harte Tour, Winzling? Dass du mich zwingst?“ „Oh nein, das ist die sanfte Tour. Die harte Tour wäre, wenn ich dir Pinako und Winry auf den Hals hetzte und sie dich zwingen.“ Wie auf Kommando standen die beiden Frauen auf und warfen dem früheren Homunculus einen Blick zu, der mehr als eindeutig war.

„Schon gut.“ sagte der hastig und setzte sich zu ihnen. Nach dem Essen unterhielten sich alle etwas. Doch auch diesmal hielt Envy sich zurück. „Was wirst du jetzt tun?“ fragte ihn Ed überraschend. „Ich weiß es nicht. Ich habe keinen Platz, an den ich zurückkehren kann.“ „Vielleicht kann die alte Hexe dir helfen.“ Der einstige Alchemist wandte sich an Pinako. „Ich weiß von Al, dass ihr jemanden braucht, der euch hier zur Hand geht. Kannst du dir vorstellen, ihm eine Chance zu geben?“ Zweifelnd sah die Envy an. „Dem dürren Gerippe? Hast du überhaupt Ahnung von so was?“ „Ich habe geholfen, die Automail von dem Winzling zu erneuern.“ „Gib mal nicht so an.“ mischte sich Winry ein. „Du hast ihn nur festgehalten.“ „Und, wie hat er sich angestellt?“ wollte Pinako wissen. „Er hätte sich schlimmer anstellen können.“ antwortete Winry.

Lange dachte Pinako nach. Angespannt beobachten sie die Frau. „Ach, ich bin einfach zu weichherzig.“ seufzte sie und ihr Blick wurde streng, als sie sich an Envy wandte. „Du wirst dich an meine Regeln halten müssen, verstanden?“ Missmutig nickte er. „Zuerst wirst du diese Fetzen los, die du als Kleidung bezeichnest.“ „Ich habe nur diese Sachen.“ protestierte er. Pinako würdigte das keiner Antwort, sondern ging zu einem großen Schrank und begann etwas zu suchen. Als sie zurückkam, trug sie einige Shirts und Hosen auf dem Arm. „Die waren eigentlich für Ed gedacht, aber du kannst dir etwas leihen.“ Leise vor sich hin schimpfend verschwand Envy im Bad. „Er scheint ein ziemliches Temperament haben.“ stellte Pinako fest. „Wenn er so arbeiten kann, wie er fluchen kann, habe ich Verwendung für ihn.“ Sie sah zu Winry. Du wirst dich darum kümmern, ihm seine Aufgaben zu zeigen.“ „WAS? Warum ich?“ „Weil du dich nun Mal damit auskennst. Wenn er aufmüpfig wird, darfst du ihm gerne deinen Werkzeugkasten um die Ohren hauen.“

„Darf ich dazu vielleicht auch was sagen?“ erklang die Stimme des früheren Homunculus. Envy war kaum wiederzuerkennen. Das kurze Oberteil, das gerade mal seine Brust bedeckt hatte, war einem schwarzen Shirt gewichen. Statt des Lendenschurzes, der eher wie ein Rock wirkte, trug er nun eine dunkle Stoffhose und dazu passende Schuhe. Nur sein Stirnband und die Handschuhe erinnerten an den alten Envy. „Nein, darfst du nicht. Und jetzt ab mit dir zum Holzhacken.“ „Sklaventreiberin.“ murmelte er halblaut und ging nach draußen. „Ed…hältst du das wirklich für eine gute Idee?“ fragte Winry zweifelnd, während sie sich ebenfalls erhoben. Er antwortete nicht, sondern zog sie an sich und schloss seine Lippen über ihre. Kurz stand sie einfach nur da, dann erwiderte sie den Kuss und schmiegte sich an ihn. Als er sich schließlich von ihr löste, sah er sie an, verlor sich in ihren Augen. „Bitte, gib ihm eine Chance.“ „Okay…“ stammelte sie verwirrt, bevor sie ihn erneut umarmte.

Epilog: Familienbande

Fast zwei Monate waren seither vergangen. Ed und Al hatten beschlossen, sich aufzumachen, um mehr über die Alchemie zu lernen. Zwar war ihnen der Abschied schwer gefallen, doch es war ja nicht für immer. Envy war bei Pinako und Winry geblieben. Zwar hatte er immer noch ein loses Mundwerk, doch seit er zum Menschen geworden war, schien er glücklicher als je zuvor. Pinako hatte ihm erlaubt, bei ihr einzuziehen und Winry sorgte dafür, dass er seine Aufgaben auch richtig machte. Sie schien ihm die Fehler, die er gemacht hatte, langsam zu verzeihen. Trotzdem war sie eine strenge Lehrerin, wie Ed aus den Briefen seines Halbbruders erfuhr. Auch an diesem verregneten Herbsttag hatte man ihm einen Brief ausgehändigt, der Envys Handschrift trug. Während Al ihn interessiert beobachtete, begann Ed immer breiter zu grinsen. „Was schreibt er, Bruder?“ fragte er schließlich. „Er kann einfach nicht aus seiner Haut.“ lachte der frühere Alchemist und begann laut vorzulesen:

„Hallo, ihr Zwerge. Ich bin endlich mal wieder dazu gekommen, euch zu schreiben. Es gefällt mir sehr gut, für die alte Hexe zu arbeiten. Das Geschrei und Geheule, wenn jemand seine Automail erneuern lassen muss, ist wie Musik in meinen Ohren. Trotz der Tatsache, dass ich jetzt ein Herz habe, scheine ich etwas von meinem alten Selbst behalten zu haben. Deine Freundin, dieses verrückte Ding, schafft es dauernd, mich in den Wahnsinn zu treiben, Winzling. Ich hätte nie gedacht, dass ich dafür mal dankbar sein würde. Auch dafür, dass du mir diese Chance gegeben hast. Pinako versucht immer noch, mir etwas Benehmen beizubringen, was ich bisher erfolgreich ignoriert habe. Ich bin wohl noch nicht soweit. Vielleicht wird es so bleiben. Aber für mich ist das etwas Gutes. Ich darf nicht vergessen, wie ich früher war, um meine Zukunft neu zu gestalten. Alles kommt mir vor wie ein Traum und ich fürchte mich etwas davor, dass ich im nächsten Moment aufwache und es vorbei ist. Dass ich immer noch der hasserfüllte Homunculus bin, den niemand will und niemand braucht. Ich habe mir so sehr eine Familie gewünscht und ihr habt mir diesen Wunsch erfüllt. Das werde ich euch Zwergen nie vergessen. Bevor ich jetzt zu rührselig werde, verabschiede ich mich lieber. Schreibt mir mal zurück und viele Grüße, auch von Winry und Pinako. Envy“

„Ob er sich wohl je ändern wird?“ seufzte Al und schüttelte den Kopf. „Das wird sich zeigen. Aber er macht Fortschritte.“ antwortete Ed. Nachdenklich sah er in den grauen Himmel und spürte den Regen auf seiner Haut. Dann lächelte er wieder. „Verwandtschaft ist schon seltsam, nicht wahr?“ „Bruder?“ Der ehemalige Alchemist zerzauste dem Jüngeren die Haare. „Auch wenn wir keine Eltern mehr haben, trotzdem haben wir eine Familie. Die beste, die man sich wünschen kann.“ „Da hast du Recht, Bruder.“ sagte Al und gemeinsam machten sie sich wieder auf den Weg.
 

Ende
 

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So, das war meine zweite FF.

Ich hoffe, ihr hattet Spaß beim Lesen. ^___^

LG,

BloodyRubin



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  Alice-Gladius
2013-04-01T22:10:15+00:00 02.04.2013 00:10
Hey Robin-san^^
ich beobachte diese Story schon seid du sie Online gestellt hast und ich Frage mich ernsthaft weshalb sie noch kein Kommentar bekommen hat. Die Story ist Gut, die Charaktere sind Gut übernommen und Envy ist dabei, also ist sie doch spitze oder nicht? Das Ende ist überraschend(und etwas wie soll ich sagen.....unerwartet ausergewöhnlich), und das ist es was eine Geschichte brauch. Ich hoffe du schreibst weiter(wenn ja hier hast du deine Standartleserin) und noch einmal großes Lop für dein FF, Alice (Al) Gladius


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