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Rabenkrone

von

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Wieder zurück


 

Trusting and warm

Blessed this bond

A child is born

„A Child Is Born“ (Dianne Reeves)

~*~

 

Argwöhnisch musterte der Zwergling die Mauerkrone.

Etwas war anders, das hatte er gleich gesehen; die Steine, alt und grau und rissig, hier und dort bislang notdürftig ausgebessert, waren von seltsamem weißen Stoff überzogen, und er konnte sehen, wie mehr davon vom Himmel fiel, aber er war nicht groß genug, um bis an die Mauerkrone... wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte vielleicht...

Er machte die Probe aufs Exempel und erhaschte mit den Fingerspitzen eine Handvoll; es war eklig kalt und nass an seinen Fingern und hielt nicht besonders lange. Irritiert starrte er auf seine Finger hinab, unsicher, ob er jetzt traurig sein sollte oder nicht.

„Na, wer ist denn da seinem Unterricht entwischt?“, erklang eine vertraute Stimme hinter ihm; der Junge quietschte, als starke Arme ihn hoch hoben und sein Onkel ihn mit einem leisen Ächzen auf der Mauerbrüstung absetzte.

„Du hast ganz schön zugenommen, Knirps“, stellte er fest und strich ihm dabei ein paar verirrte Schneeflocken aus den blonden Haaren; der Junge gluckste und zog den Kopf ein.

„Deine Mutter würde dir jetzt was über warme Kleidung erzählen“, raunte er ihm verschwörerisch ins Ohr, und der Junge verzog das Gesicht.

Er hatte vielleicht noch nie Schnee gesehen, aber er wusste, dass es im Winter kalt wurde im Berg, und dann musste man sich wärmer anziehen und das machte einen steif und unbeweglich und man konnte nicht mehr auf Sachen klettern und so...

Dennoch huschte sein Blick skeptisch auf seinen Onkel hinunter.

„Keine warme Kleidung“, stellte er fest und vergrub die kleinen Hände in blauem Stoff und Leder.

Der Körper des Erwachsenen war angenehm warm gegen das kalte weiße Zeug, zufrieden ließ er seine Hände dort ruhen und spürte die vertraute Wärme seiner Familie, den Herzschlag seines Onkels und irgendwo unter dem Stoff auch die glatte Oberfläche einiger Narben, von denen er wusste, dass sie aus irgendeinem Krieg waren, so viel hatte seine Mutter ihm erzählt, und deshalb waren sie hier hin gekommen und...

„Mmh.“ Erneut fuhr der Ältere ihm durchs Haar und stellte nach einem kurzen, skeptischen Blick fest, dass es sich vermutlich eh nicht lohnte, ihm Zöpfe zu flechten.

„Was hältst du davon, wenn ich dich jetzt zu Balin zurück bringe und wenn du fertig bist, zeig ich dir, wie man Schneebälle auf Eisenbergzwerge schmeißt?“

Der Junge grinste breit. „Okay!“

Bereitwillig ließ er sich hochheben und schmiegte sich dicht an den Älteren.

„Ich schätze, wenn du artig bist, kriegst du auch ein paar nette Geschenke am Yulfest“, murmelte er ihm ins Ohr; das gefiel dem Jungen selbstverständlich noch wesentlich mehr und zufrieden baumelte er mit den stämmigen Beinchen.

„Und wenn nicht?“, fragte er, in seiner Stimme die deutliche Überlegung, wieviele Geschenke potentielle Untaten wohl aufwogen.

Kili grinste auf ihn hinunter.

„Dann holen dich die Orks!“

Tückisch zwickte er den Jungen in den Bauch; dieser krümmte sich demonstrativ, um anschließend wie tot in seinen Armen hängen zu bleiben, die Zunge kunstvoll aus dem Mundwinkel gereckt und die Augen verdreht.

„Ich nehme an, das ist das, was du unter Geschichtsunterricht verstehst.“

Filis Augenbrauen hoben sich in demonstrativ kronprinzlichem Ernst, als er seinen Bruder und dessen Fang musterte, der sich beim Klang seiner Stimme sofort wieder aufrichtete und „Adad!“ krähte. „Weißt du, was Onkel sagen würde, wenn er das hören würde?“

Kili setzte den Jungen ab, der zu seinem Vater hinüber stürmte und zielsicher dessen Hosenbein als nächsten Halt auswählte.

„Ich nehme an, es würde mich ein paar Geschenke kosten“, antwortete er grinsend und rieb sich dabei unauffällig den Oberschenkel - in der Kälte schmerzte der Muskel ab und an.

„Ich nehme eher an, du würdest dazu verpflichtet, Amad mit den restlichen Vorbereitungen zu helfen“, antwortete Fili und erwiderte das Grinsen, „Die erwartet dich übrigens sowieso, und ich kann mich auf kronprinzliche und väterliche Pflichten raus reden...“

Kili verdrehte die Augen. „Weil sie ja mit Bombur und Dori und den ganzen Mädels noch nicht genug Leute hat, die ihr Tabletts tragen helfen...“

„Tabletts voller Kekse und Honigkuchen, also bring mir gefälligst was mit“, antwortete Fili und schob seinen Sohn ungeachtet dessen leiser Proteste zurück ins Studienzimmer, „Übrigens, was die Eisenbergzwerge angeht, könnt ihr auf mich zählen.“

Kurz beobachtete er, wie Kili, mit der Aussicht auf Süßigkeiten nicht mehr ganz so düster dreinblickend, Richtung Hofküche verschwand, bevor er sich davon überzeugte, dass Balin den Jungen im Griff hatte und selbst auf den Balkon hinaustrat.

Selbst der Schnee hatte die Spuren nicht ganz verdecken können, die der Drache hinterlassen hatte - wulstig und grob stachen die heraus gebrochenen Mauerstücke hervor, fast wie Narben auf dem Panzer des Erebors. Für einen Augenblick presste Fili die Lippen zusammen - sie hatten alle Narben davon getragen, richtig? Reflexartig zuckten seine Finger auf seine linke Seite, dort, wo Azogs Streitkolben ihm die Rippen gebrochen und sein Warg ihm die Haut zerfleischt hatte - aber ihm, nicht Thorin und nicht Kili, das war das wichtige daran... sie mussten die Mauern reparieren, aber das ging erst im Frühling, wenn es leichter war, aus den Eisenbergen Handwerker kommen zu lassen und Steine zu meißeln...

„Du grübelst schon wieder.“

Nals Finger glitten ihm sachte durch die blonden Locken, als er sich zu ihr umdrehte, um sie auf den Mund zu küssen.

„Du grübelst eine ganze Menge, das bin ich gar nicht gewohnt“, merkte sie mit einem Schmunzeln an, als sie die Arme um seinen Hals schlang, „Wie soll mir das erst werden, wenn du König bist?“

Fili schmunzelte halb verlegen.

„Ich tu' mein Bestes.“

„Ich weiß.“ Sie schlang die Arme ein wenig mehr um ihn. „Und bevor ich dir jetzt das gleiche sagen muss wie Thor... würde ich vorschlagen, wir lassen die Mauern Mauern sein und gehen rein, und wenn du dann heute Abend genug Schneebälle auf Eisenbergzwerge geworfen hast, kommst du zu mir in die Badewanne und vielleicht bin ich gnädig und du darfst meine Haare waschen.“

Sie grinste und Fili nutzte die rasche Gelegenheit, um sie erneut zu küssen.

„Vielleicht sollte ich das mit den Schneebällen weglassen und wir gehen direkt in die Wanne“, schlug er vor, „Es ist ziemlich kalt hier, und Thor und Kili sind beide beschäftigt, und... wir könnten das quasi vorziehen...“

„Mmh. Aber irgendwer muss unseren Schneeballrekord halten“, merkte Nal an, obwohl er spüren konnte, wie ihre Finger zielsicher unter sein Hemd glitten, „Ich hab mir so viel Mühe gegeben damals...“

„Ich wäre auch damals schon mit dir baden gegangen“, antwortete Fili, vielleicht ein bisschen atemlos, und kam nicht umhin, die Arme ein wenig mehr um ihre Hüfte zu schlingen.

„Ich weiß“, antwortete Nal mit einem weiteren Grinsen und dirigierte ihn zielstrebig zurück ins Innere des Berges.

 

In seinem Leben hat er mehr als eine Schlacht gefochten, aber im Schlaf verschwimmen die Grenzen.

Der Rauch beißt genauso wie die Klingen der Orks, das Feuer wärmt die Kälte in seinem Inneren nicht, im Fackelschein sieht jedes Blut schwarz aus, auch sein eigenes.

Die heiseren Schreie in seinen Ohren könnten Filis sein, oder Frerins, oder seine eigenen.

Sie haben den Jungen beigebracht, Rücken an Rücken zu kämpfen, und Fili steht immer rechts von seinem Bruder, um die schwache Seite des Linkshänders zu decken, doch jetzt ist Kili allein, und in seinen Augen glimmt etwas, was Drachenfeuer sein könnte. Vielleicht ist irgendein Teil von ihm auch beeindruckt.

Durch den Rauch erkennt er matt im Schlamm den blonden Haarschopf seines Bruders...

Die Zähne von Azogs Warg schienen Thorin erneut den Brustkorb einzudrücken, als er aufwachte. Ihm war übel und er schmeckte bittere Galle auf der Zunge; mit Mühe zwang er sich, tief durchzuatmen, um die Enge zu vertreiben. In der Luft roch es nach Schnee, selbst in den königlichen Quartieren tief im Berg.

Es dauerte seltsam lange Sekunden, bis es ihm gelungen war, seinen Atem zu beruhigen, und noch etwas länger, bis der Schwindel und die Übelkeit abgeebbt waren; andererseits war das nichts, was er nicht schon gewohnt gewesen wäre.

Er richtete sich auf und streifte seine Tunika über - schlafen würde er heute Nacht wohl ohnehin nicht mehr -, um auf den Gang hinauszutreten. Wenig überrascht stellte er fest, dass er offensichtlich nicht der einzige war, der nicht schlafen konnte, als er einen kurzen Blick in das Zimmer von Filis Sohn warf.

Der Siebenjährige schlief tief und fest, alle Viere von sich gestreckt, als gehörte ihm die ganze Welt; das einzige Geräusch im Zimmer war das leise Schaben von Kilis Schnitzerei. Er fuhr hoch und schnitt sich dabei in den Daumen, als sein Blick auf Thorin fiel; mit einem verlegenen Grinsen saugte er an dem kleinen Schnitt und warf Thorin einen fragenden Blick zu, bevor er sein Messer und seine Arbeit (Thorin erkannte den halb fertigen Umriss eines Ponys) in den Taschen seines Umhangs verschwinden ließ und zu ihm herüber kam.

„Ich kann nicht so gut schlafen“, murmelte er mit einem verhaltenen Lächeln, nachdem er die Tür leise hinter sich geschlossen hatte, „Oin meint, das liegt an - äh, dieser Morgulsache...“

Ein wenig fragend sah er Thorin an, beinahe, als erwarte er einen Vortrag über gesunden Nachtschlaf.

Thorin antwortete nicht; für Sekundenbruchteile huschte eine beinahe überraschende Müdigkeit über sein Gesicht.

„Ich weiß, was du meinst“, antwortete er dann leise.

Schweigend folgte Kili ihm den Gang ein Stück hinunter.

„Du hast mir nicht gesagt, dass du auch Alpträume hast“, sagte er schließlich ein wenig zögerlich.

„Könige haben keine Alpträume“, antwortete Thorin und konnte nicht ganz verhindern, dass seine Stimme ein wenig sanfter wurde, „Onkel schon.“

Kili grinste halb verlegen, doch er sagte nichts, griff nur flüchtig nach Thorins Ärmel, bevor er die Hand rasch wieder senkte.

„Ich hab nicht gedacht...“ Er räusperte sich. „Ich meine - ich dachte immer, es wäre - heldenhafter. Schlachten. Einen Drachen töten. Solche Sachen.“ Sterben zum Beispiel, hing unausgesprochen hinter seinen Worten. „Aber es ist alles nur irgendwie schmutzig und ermüdend und...“

Ein wenig fragend sah er Thorin an.

„Dwalin hat so oft angegeben damit, wie viele Orks er umgebracht hat, ich dachte...“

„Ich weiß.“ Thorin blieb stehen und warf einen Blick über die Brüstung des Geländer hinunter zu den Gängen und Treppen, die sich irgendwo tief in der Dunkelheit verloren. „Es ist nie heldenhaft.“

Kili lehnte sich neben ihn an das Geländer. „Macht uns das jetzt eigentlich zu Kriegern?“, fragte er mit einem Grinsen, durch das sein altes Selbst hindurch blitzte, „Du weißt schon, zu Helden, mit einem Kriegsnamen und solche Sachen? Kili Wargschlächter oder so, das macht Eindruck bei den Mädchen...“

Thorin kam nicht umhin, verhalten zu schmunzeln.

„Deine Mutter würde jetzt darauf hinweisen, dass es bei Zwerginnen auf mehr ankommt als auf einen guten Namen.“

Kilis Augenbrauen zuckten.

„Und mein Onkel?“

Thorin antwortete nicht, doch Kili hätte schwören können, dass für Sekundenbruchteile ein Grinsen über dessen Gesicht huschte.

Er stützte die Ellbogen auf das Geländer und spähte über die Brüstung in die dunkle Stadt.

„Das mit den Aufbauarbeiten klappt ganz gut, oder? Die Mauer sieht fast wieder aus wie früher - also, äh, ich weiß nicht, wie sie früher - ich meine, es läuft gut“, beendete er seinen Satz rasch so unverfänglich wie möglich, Thorins Blick im Genick spürend.

Flüchtig fuhr er sich mit der Zungenspitze über die Lippen.

 „Äh - wie geht's dir...?“

Thorins Augenbrauen zuckten kaum merklich. „Besser“, antwortete er schließlich ruhig und besaß den Anstand, zumindest etwas wahrheitsgemäßer zu wirken.

Kili grinste ein wenig verlegen.

„Und du… du meinst es ernst, ja?“

Thorins Augenbrauen zuckten leicht.

„Mach dir wegen deinem Bruder keine Sorgen. Ein paar Wochen wird er schon überleben, ich bin ja nicht aus der Welt.“

Kili rieb sich nervös das Kinn.

„Jaah… aber – ich finde, du solltest wenigstens Dwalin mitnehmen, die Eisenbergzwerge…“

Flüchtig streiften Thorins Finger seinen Arm.

„Ich lasse Balin und Dwalin hier, damit jemand deinen Bruder beraten kann, solange ich weg bin. Dain hat sich bisher als vertrauenswürdiger Verbündeter erwiesen“, sagte er sanft, „Mach dir keine Sorgen. Und jetzt geh schlafen.“

Verlust und Gewinn


 

They say the first year after a major loss is the hardest. That’s an understatement; loss is its own brand of insanity and no relief from it. There are no shortcuts and the only way through grief is through it. You just have to get up every day and wait to go to bed every night, then wake up and do it all over again.
 

„Tanz auf Glas“ (Ka Hancock)
 

 
 

~*~
 

 

„Wir bedauern Euren Verlust zutiefst, Thanu men.“

Die Aussage von Dains Herold spiegelte sich nicht unbedingt in seiner Mimik wieder, und Fíli unterdrückte das Bedürfnis, dem Zwerg die Rabenkrone quer in den Rachen zu stopfen. Oder irgendetwas anderes, was er gerade in die Finger bekam.

„Wir danken für die Anteilnahme“, antwortete er stattdessen den Satz, den er in den letzten paar Stunden auswendig gelernt hatte, und schaffte es kaum, die Zähne zum Sprechen auseinander zu bewegen. Nals Finger, die sich in seinen Ärmel gruben, spürte er kaum; das blasse Gesicht seines Bruders nahm er nur am Rande wahr.

Wir danken für die Anteilnahme. Rukhsul menu, wo war die Anteilnahme eurer beschissenen Soldaten, als sie das Leben meines Onkels hätten schützen sollen?!

Aber er hatte die fünf Worte heute so oft wiederholt, gegenüber den Gesandten aus Düsterwald, gegenüber den Gesandten aus Thal und Esgaroth, den Zwergen von den Eisenbergen, Gandalf hatte sein Beileid ein wenig anders formuliert, aber die Botschaft war die gleiche gewesen, und jedes Mal ging die Antwort ihm ein bisschen leichter von den Lippen, bis die Worte in seinem Kopf gar nicht mehr nach Worten klangen, sondern nach einer sinnlosen Abfolge von Silben und Tönen, die viel leichter auszusprechen waren, wenn man nicht an ihren Hintergrund dachte.

„Du hast gesagt, es wären nur ein paar Wochen.“

Seine Stimme klang heiser und erstickt, irgendwo zwischen Tränen und Zorn, als er sich wenig später in das Mausoleum geflüchtet hatte, den einzigen Ort, an dem er ein bisschen Ruhe finden konnte, weil niemand aus seinem Hofstaat so taktlos gewesen wäre, dem König von Erebor ans Grab seines Onkels nachzulaufen.

Du hast mich noch nie angelogen!

Natürlich zeigte das steinerne Abbild seines Onkels, das den Sarkophag tief im Innern des Berges verschloss, keine Regung.

Fíli lehnte die Stirn gegen den kalten Stein und schloss die Augen für einen Moment.

„Woher soll ich wissen, was ich tun soll?“, flüsterte er.

Selbstverständlich kannte er die Antwort, die sein Onkel ihm gegeben hätte.

Weil ich es dir beigebracht habe.

Er hatte es ihm beigebracht, sein ganzes Leben lang.

Fíli hatte kaum laufen und sprechen können, da hatte Thorin angefangen, ihn überall hin mitzunehmen.

Er hatte ihn dabei zusehen lassen, wie er mit Pächtern und Gutsbesitzern sprach, wie er Streitigkeiten schlichtete und Urteile fällte, hatte ihm beigebracht, wie man was in welchem Pergament notierte, wie man mit Bittstellern umging und Schmeichler enttarnte, wie man Abgesandten Gehör schenkte und  auf welche Ratgeber man vertrauen konnte.

Er hatte ihn Reiten und den Schwertkampf gelehrt, wie man Spuren las oder Schlingen auslegte, wie man Metall bearbeitete, ob für Waffen oder für Schmuck.

Er hatte ihn Stammbäume und Wandtafeln voller Daten auswendig lassen, bis dem Jungen der Kopf geschwirrt hatte und er kaum noch die Augen hatte aufhalten können, bis er die Namen der sieben Königshäuser durcheinander geworfen und auf dem Schoß seines Onkels eingeschlafen war, nur, damit das Spielchen am nächsten Tag wieder von neuem losging.

Er hatte ihm beigebracht, wie man souverän blieb und Selbstsicherheit ausstrahlte, obwohl einem vor Angst die Knie zitterten, wie man das richtige Maß zwischen Strenge und Mitgefühl fand, wie man für sein Volk sorgte und gleichzeitig sicherstellte, dass dieses Respekt vor seinem König hatte.

Respekt vor seinem König…

„Ich bin kein König!“

Natürlich bist du das. Ich habe dir beigebracht, einer zu sein.

Aber doch nicht jetzt, nicht so früh, nicht so bald nach ihrem Sieg, sie hatten doch gerade erst ihre Heimat zurückerobert, sie hatten gerade eben erst wieder unter dem Berg Fuß gefasst, und dann hatte Thorin beschlossen, die Nachricht ihren Verbliebenen in den Ered Luin selbst zu überbringen, und Fíli hätte darauf bestehen müssen, ihn zu begleiten, anstatt ihn bloß ein paar von Dains Wachen mitnehmen zu lassen, es war seine Schuld, [style type=“italic“]es war alles seine Schuld[/style], das war ja das Schlimme daran.

Es war seine Schuld.

Er hatte Thorin im Stich gelassen, und jetzt war alles, was sie von ihm gefunden hatten, seine verbrannte Leiche, die kohlschwarzen Finger noch um Orcrist geschlungen.

Überall hin hatten sie ihn begleitet, vorbei an Trollen, Goblins und Wargen, an dem Drachen selbst, durch die Schlacht, in der sie alle drei ihren Anteil an Verletzungen davongetragen hatten, und dann, im entscheidenden Moment, waren sie nicht da gewesen

Fíli zog die Knie an die Brust und legte die Stirn darauf, den Rücken gegen den Sarkophag seines Onkels gelehnt.

Seine Augen brannten und mit einem leisen, verärgerten Laut presste er die Lider zusammen.

Er musste sie nicht wieder öffnen, um zu wissen, wer es war, als jemand nahezu lautlos hereinschlich und sich ohne ein Wort neben ihn setzte, doch schließlich sah er doch auf.

„Ich bin König, nadadith“, sagte er leise.

Kílis Augen waren gerötet und sein Gesicht war blass; er trug den verletzten Arm noch immer in einer Schlinge, dabei war die Schlacht schon länger als ein halbes Jahr her.

Bolgs Streithammer, den er abgefangen hatte, war für Thorin bestimmt gewesen, und sie hatte ihm die Schulter und das Schlüsselbein zerschmettert. Balin, Oin und Gandalf hatten sich darum gekümmert, und Fíli wusste, dass Gandalf seinen Bruder immer noch Übungen machen ließ, damit er den Arm wieder vollständig bewegen können würde, doch bisher hatte er noch keinen Bogen lange genug halten können, um wieder ernsthaft damit zu schießen.

Auf die Bemerkung seines Bruders hin nickte der junge Zwerg zögerlich und griff behutsam mit der gesunden Hand nach Fílis.

„Du wirst ein guter König sein“, sagte er leise.

Fíli lachte und selbst in seinen eigenen Ohren klang es höhnisch; Kíli zuckte kaum merklich zusammen.

„Ich will überhaupt kein König sein“, antwortete er trotzig wie ein Kind, „Noch nicht…“

„Onkel war viel jünger, als er König geworden ist“, merkte Kíli an. Seine Stimme zitterte kaum merklich dabei, doch ihm war anzumerken, dass er nicht darauf angesprochen werden wollte. „Und Onkel wollte, dass du König bist. Sonst hätte er dich nicht zu seinem Erben gemacht.“

Fíli schloss die Augen wieder und presste die Lippen zusammen, ließ den Kopf jedoch an die Schulter seines Bruders sinken.

„Ich kann das nicht, Ki“, flüsterte er und griff dabei auf die Spitznamen zurück, die sie schon als Kinder füreinander gehabt hatten, „Jeder sieht mich an. Auf den Gängen, im Thronsaal, im Hof, in Thal. Alle Blicke sind auf mich gerichtet, ich kann das nicht.“

Kíli legte ihm den gesunden Arm um die Schultern, spielte sachte mit einem geflochtenen blonden Zopf.

„Onkel hätt’s dir nicht beigebracht, wenn er nicht gewusst hätte, dass du’s irgendwann können wirst“, sagte er schließlich, „Ich meine, er w-war vieles, aber kein Dummkopf.“ Sachte zupfte er an der blonden Strähne zwischen seinen Fingern. „Außerdem bin ich ja auch noch da“, fuhr er fort, „Ich kümmere mich mit um alles, wie Mutter das bei Onkel gemacht hat. Ich helf‘ dir auch dabei, Dains Abgesandte oder die Elfen zu verprügeln, wenn sie frech werden. Und Nal wird das gleiche tun…“

Fíli gab ein Geräusch von sich, das irgendwo zwischen einem Lachen und einem Schnauben lag – es war schwerer zu verstehen, weil er das Gesicht immer noch an Kílis Schulter vergraben hatte. Er vermied es dennoch, seinen Bruder darauf hinzuweisen, dass er leider mit ihm niemanden würde verprügeln können. Das gehörte sich vermutlich nicht, genauso wenig wie es sich für den König von Erebor gehörte, Trinkspiele mit seinem Bruder zu veranstalten oder die Wälder unsicher zu machen oder den Wachsoldaten Streiche zu spielen oder…

 

Nal wartete bereits auf sie, gemeinsam mit Dís, in den königlichen Gemächern. Beide Frauen hatten sich als Zeichen der Trauer die Haare geschnitten und statt mit Schmuck mit schwarzen Bändern geflochten; der Anblick war nach wie vor so unwirklich, dass Fili ein paar Mal blinzeln musste. Sie nahm wie selbstverständlich wieder den Platz zu seiner Linken ein, kaum dass er eingetreten war, und griff nach seiner Hand.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie leise und im selben Augenblick konnte Fili spüren, wie ihr Griff unweigerlich ein bisschen fester wurde, als ihr wohl selbst auffiel, dass die Wortwahl eher ungünstig war.

„Nein“, antwortete er müde.

Kurz huschte sein Blick zu dem Zwergling hinüber, der sich auf Dís’ Schoß zusammengerollt hatte und selig schlief. Selbstverständlich hatte es gar keine Frage gegeben, was das betraf, und er hatte seinen Sohn nach dem Mann benannt, der ihn großgezogen hatte; jetzt im Nachhinein schien es fast ein schlechtes Omen zu sein.

Trotzdem hatte der Junge die Trauerzeremonie tapfer durchgehalten, auch, wenn er wohl nicht wirklich verstanden hatte, worum es dabei gegangen war, und warum er die Haare jetzt in der Kronprinzentracht tragen musste…

Unweigerlich fragte sich Dís, ob sie sich jemals an den Anblick ihres Ältesten würde gewöhnen können.

Die Zöpfe vor und hinter seinen Ohren, die bis vor wenigen Wochen noch seinen Status als Kronprinzen von Erebor gezeigt hatten, waren gelöst worden; er trug die Haare jetzt seinem Stand angemessen, und sie fielen ihm in blonden Wellen auf die Schultern. Die lederne Weste mit dem Pelzbesatz war verschwunden und einem neuen, leuchtend dunkelblauen Mantel gewichen, die Schnalle seines breiten Gürtels trug sein Wappen, seine neue Rüstung war mit Mithril und Silber verziert.

Sie hatte beobachtet, wie ihm beides von Balin angelegt worden war, vor erst drei Wochen, als die Trauerzeit um gewesen und er zum König unter dem Berg gekrönt worden war. Hunderte hatten sich auf den Brücken in und um den Thronsaal versammelt, Gesandte aus verbündeten und anderen, nahestehenden Reichen von den Eisenbergen bis hin zu den Elben aus Düsterwald – selbst Thranduil war erschienen, in Begleitung seines Sohnes. Alle hatten gesehen, wie aus dem Kronprinzen, der vor dem Thron seiner Vorfahren kniete, und den vermutlich nicht wenige der Zwerge, die aus den Ered Luin angereist waren, hatten aufwachsen sehen, die Rabenkrone aufgesetzt worden war.

Was sie nicht gesehen hatten – was wohl nur eine Mutter sehen konnte – war, wie seine Schultern kaum merklich herabgesunken waren, als Balin ihm den Mantel angelegt hatte, als sei das Gewicht zu schwer für ihn. Wie er, obwohl er sein bestes getan hatte, um einen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten, sich auf die Wange gebissen und wie seine Hände gezittert hatten, als er seine Zöpfe gelöst hatte. Wie er beinahe über die eigenen Füße stolperte, als er die wenigen Stufen zum Thron hinaufgestiegen war, wie sein Blick nur für Sekundenbruchteile aber beinahe flehentlich zu seinem Bruder gehuscht war, als dieser, in die dunkelblaue Tunika eines Prinzen gekleidet, seinen Platz zur Rechten des Königs eingenommen hatte. Wie Kili das Gesicht verzogen hatte angesichts der Zöpfe, mit denen er seine Haare nun bändigen musste – er hatte es immer gehasst, sich die Haare flechten zu müssen, schon als er kaum hatte laufen können war er ihr oft genug entwischt, als sie es versucht hatte, und irgendwann hatte sie es aufgegeben…

Das alles hatte niemand gesehen, ebenso wenig wie die Tränen, die Dís selbst in die Augen gestiegen waren, als sie an einen anderen jungen Prinzen hatte denken müssen, damals gut zwanzig Jahre jünger als ihr Ältester jetzt war, doch mit derselben Angst in den Augen, obwohl er sonst immer gut darin gewesen war, zu verbergen, was er dachte. Ihr Bruder war so jung gewesen, als er König geworden war, viel zu jung, und sie hatte nicht den Eindruck, dass ihre Söhne auch nur ansatzweise alt genug gewesen wären.

Immerhin schien Nal Fili dabei recht gut unter die Arme zu greifen, obwohl sie anfangs auch an deren Alter gezweifelt hatte. Andererseits kannte sie die junge Zwergin, seit die in den Blauen Bergen als die Tochter von Thorins Hofschmied aufgewachsen war; innerlich rief sie sich in Erinnerung, dass es schlimmere Schwiegertöchter hätte geben können (Dain hatte immerhin schon eine politische Heirat mit den Eisenbergen angeregt – erst in Bezug auf Fili, dann in Bezug auf dessen Sohn, und nicht ohne Grund hatten sie ihn zum Teufel gejagt). Sie beobachtete, wie Nal Fili einen Becher Met einschüttete und anschließend den kleinen Thorin seiner Amme übergab, die ihn ins Bett brachte, bevor sie sich neben ihren Mann setzte und wieder nach Filis Hand griff. Sie lehnte sich zu ihm herüber und murmelte ihm etwas ins Ohr; tatsächlich zeigte sich ein schwaches Schmunzeln auf Filis Gesicht, das jedoch schlagartig wieder erstarb, als Dwalin ohne weitere Ankündigung ins Zimmer polterte.

„Junge – du musst mit jemandem reden.“

Nals Augenbrauen zuckten ein wenig irritiert bei dieser Anrede, doch Fili richtete sich mit einem leisen Seufzen wieder auf.

„Was gibt’s denn…?“

Erst jetzt fiel Dís auf, dass Dwalin nicht allein war; er war in Begleitung einer Zwergin erschienen, die ungefähr in ihrem Alter sein musste. Sie hatte halblange, dunkelbrauen Haare, die sie ebenfalls mit einem schwarzen Stoffband im Nacken zu einem schlichten Knoten geflochten hatte, und moosgrüne, tief liegende Augen, die mit einer Mischung aus Nervosität und Entschlossenheit blickten. Es dauerte eine Weile, bis Dís sich daran erinnerte, woher sie sie kannte – war sie nicht die Schwester eines der Zwergenveteranen aus Bree, die Thorin gelegentlich besuchte?

„Hab‘ sie erwischt, als sie in die Halle der Ahnen schleichen wollte“, knurrte Dwalin und nickte zu dem winzigen Bündel, das die Zwergin in den Arme hielt, „Sie hat gesagt-“

„Mein Name ist Delren“, unterbrach ihn die Zwergin, „Tochter des Algrim. Und alles, was ich wollte, war, dass mein Sohn die Gelegenheit bekommt, einen Blick auf seinen Vater zu werfen, und sei es nur das steinerne Abbild auf dessen Sarkophag.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von:  kleines-sama
2014-03-05T20:23:24+00:00 05.03.2014 21:23
Oh Mann, das zweite Kapitel gefällt mir fast noch besser als das erste :)
Wieder muss ich deinen super tollen Schreibstil lesen! Man kommt sehr leicht durch den Text; es ist wirklich sehr angenehm zu lesen. Und das ist, finde ich jedenfalls, gerade bei Fanfics keine Selbstverständlichkeit!!
In diesem Kapitel habe ich vor allem Fili ins Herz geschlossen. Der Arme, er tut mir wirklich leid. Ich habe mir Fili immer als jmd vorgestellt, der vor seinen Pflichten nicht wegläuft, doch es ist sicher alles andere als angenehm, so schnell und plötzlich damit konfrontiert zu werden. Und dazu kommt natürlich auch noch die Trauer um Thorin. Der Arme! :(
Das Ende des Kapitels ist natürlich hundsgemein!!! >.< Thorin hat also eine geheime Tochter oder so etwas??? Ich kann es kaum erwarten, dass du das nächste Kapitel hochlädst und ich mehr Infos erhalte!!! Ich will unbedingt wissen, was es mit dieser Frau und ihrem Sohn auf sich hat. Und auch, wie genau Thorin gestorben ist. Bitte schreib schnell weiter!!!!! :D

bye
sb
Von:  kleines-sama
2014-02-25T20:52:22+00:00 25.02.2014 21:52
Ein wirklich schönes und spannendes erstes Kapitel! :)
Mir gefällt vor allen Dingen dein Schreibstil, der ist wunderschön. Ich hatte das Gefühl, dass ich das Kapitel gerade erst angefangen habe zu lesen, da war es auch schon wieder zu Ende, so flüssig kommt man durch den Text. :)
Außerdem finde ich es richtig herzerwärmend, wie du die Charaktere darstellst. Man spürt den familiären Zusammenhalt der Zwerge sehr deutlich. Und das kleine Zwergenkind ist herzallerliebst <3
Ich freue mich schon auf die weiteren Kapitel. Eins hast du ja bereits hochgeladen, wie ich gesehen habe.
Und ich habe eine kleine Bitte (falls sich das irgendwie einrichten lässt): Zu Anfang fand ich es ein bisschen schwierig, einzuordnen, wer nun wer ist und zu wem gehört. Es scheinen ja auch noch mehrere Personen dazuzukommen, wenn man der "Charaktere"-Sektion glauben kann. Ich habe auch erst recht spät begriffen, in welcher Zeit die Story spielt und dass das Zwergenkind ein OC ist. Kannst du in den Steckbriefen vielleicht kurz beschreiben, wer nun wer ist und was mit wem zu tun hat? Das würde mir als Leser sehr weiterhelfen, denke ich! Verliere nämlich leicht den Überblick^^
Aber das ist natürlich nur eine Kleinigkeit. Ansonsten gefällt mir die Fanfic bisher wirklich super gut! Lade bitte schnell neue Kapitel hoch! :)

bye
sb

Antwort von:  BluejayPrime
25.02.2014 22:37
Mach ich, keine Sorge; ich wollte bloß nicht direkt am Anfang so viel spoilern :3 Aber dann verpack ich es ein bisschen ê_e Freut mich, dass es dir so gefällt <3 Ich bin auch schon am nächsten Kapitel; nächste Woche ist meine letzte Klausur, dann wird's hoffentlich fertig xD
Antwort von:  kleines-sama
26.02.2014 15:22
Das wäre wirklich toll :) Musst ja nicht zu viel verraten, nur eine kleine Info, wer was mit wem zu tun hat (Bruder, Neffe, Sohn, Frau etc.), wäre hilfreich.^^ Ich freue mich schon auf weitere Kappis

bye
sb


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