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Stummer Schrei

von

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Kapitel 1

„Langweilig“, grölte Gilbert aus der letzten Reihe und lachte zusammen mit Antonio und Francis. Die Lehrerin, vorne an der Tafel, blickte völlig aus dem Konzept gebracht zu dem Störenfried. „Sagen sie mal, können sie auch mal irgendwas Interessantes von sich geben?“, breit grinsend, die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte sich Gilbert zurück. Er beobachtete wie das Gesicht seiner Erdkundelehrerin rot vor Wut anlief und konnte selbst aus der letzten Reihe erahnen wie ihre Ader an der Stirn pulsierte. „Wenn es Ihnen nicht passt Herr Beilschmidt wie ich meinen Unterricht mache kann ich ihnen das gerne beim Nachsitzen näher bringen.“ Damit drehte sie sich um und schrieb die letzten Länder Afrikas an die Tafel. Gilbert lachte noch immer leise im hinteren Teil der Klasse. Er gab gerne seine Meinung kund. Es war ihm egal wem er sie sagte und ob es angebracht war. Viel zu oft hatte er die Klappe gehalten, um Konflikten aus dem Weg zu gehen. Gut er mochte sie auch heute nicht, aber er kam mittlerweile ziemlich gut damit klar. „Ey Gil, verziehen wir uns gleich wieder in die Stadt?“, drang Antonios Stimme an sein Ohr und er wandte sich ihm zu. „Na klar, meinst du ich hab Bock auf den Edelstein?“ Mit den Worten schaltete sich auch Francis ein. „Erst in den Imbiss und dann ins Einkaufzentrum.“, bestätigte Gilbert. Er hatte ebenso wenig wie seine Freunde Lust sich das langweilige Geschnatter seines Englischlehrers anzuhören. Genauso wenig würde er zum Nachsitzen erscheinen. Für so was war er viel zu Awesome.
 

Am Ende der Stunde, packte er seinen Rucksack und ging zusammen mit seinen Freunden lachend aus der Klasse. „Ernsthaft? Das hat sie abgekauft?“ „Natürlich, niemand kann meinem Charme widerstehen“ „Schwul mich nicht an Francis!“ Gilbert schon den blonden Franzosen von sich. Ihn interessiert es eigentlich recht wenig, dass Francis mal wieder eine seiner Liebschaften abserviert hatte, deswegen ignorierte er meistens seine beiden Freunde wenn sie mal wieder damit anfingen. Sie kamen auf dem Schulhof an und Gilbert ließ ihm laufen seinen Blick über die Schülermasse gleiten. Zusammen mit Antonio und Francis saß er in der 9. Klasse der Hauptschule. Während sie das Schulgelände verließen konnte er einen Blick auf den Schulhof der Gymnasiasten werfen und erblickte seinen 3 Jahre jüngeren Bruder Ludwig. Dieser saß zusammen mit dem kleinen Italiener Feleciano und dem deutsch geborenen Japaner Kiku auf einer Bank und unterhielt sich mit ihnen. Er war froh, dass sein Bruder sofort Anschluss gefunden hatte.
 

Gilbert wurde aus seinen Gedanken gerissen als Antonio ihm die Zigarettenschachtel gegen die Brust hielt und ihn fragend an sah. Die braunen Augen des Albinos blinzelten mehrmals als er die nicht gehörte Frage verstand und sich eine der spanischen Zigaretten nahm. Etwas durcheinander suchte er in seiner Hosentasche nach seinem Feuerzeug, jedoch vergebens. „Alles ok Gil?“, Antonio lief neben ihm und reichte ihm das Feuerzeug, mit dem er zuvor seine eigene Zigarette angezündet hatte. Gilbert nahm es und machte seine Zigarette an. „Klar, was sollte sein?“ Mit den Worten gab er Antonio das Feuerzeug wieder und grinste ihn breit an. Mit einem gekonnten Griff packte er seinen spanischen Freund und nahm ihn spaßeshalber in den Schwitzkasten. „Ey lass los!“ Antonio war alles andere als begeistert, doch Gilbert lachte nur. Francis beobachtete seine beiden Freunde und verdrehte leicht die Augen als Antonio und Gilbert lachend über den Boden rollten und versuchten zu gewinnen. „Ihr beide seit wie ein altes Ehepaar“, murmelte Francis leise, doch die beiden hörten es. Sie hielten inne und warfen sich einen Blick zu, dann stürzten sie sich auf den Franzosen.
 

Nach 10 min des Herumrangelns saßen die drei lachend auf dem Boden. „Na los, bevor uns die Lehrer zurück pfeifen.“, mit den Worten sprang Antonio auf und wartete bis auch Gilbert und Francis standen. Nach 10 weiteren Minuten des Herumalberns kamen sie an dem Imbiss an. „Na Jungs schon wieder Schule schwänzen?“, begrüßte sie der Imbissbesitzer. Die drei ließen sich auf ihren gewohnten Platz in der Ecke fallen und sahen grinsend zu ihm. „Schwänzen kann man es nicht nennen wir waren schließlich die ersten 4 Stunden anwesend.“, Gilbert lehnte sich gespielt erschöpft zurück. „Mehr kann man von uns nun wirklich nicht erwarten“, setzte er noch theatralisch nach und lachte zusammen mit Francis und Antonio laut los. Auch der Imbissbesitzer lachte und schüttelte nur den Kopf. „Ich nehme an das übliche.“ Es war schon keine Frage mehr, die drei, die auch von anderen nur Bad Touch Trio genannt wurden, kamen jeden Tag her. Ganz egal ob sie eigentlich in der Schule sitzen mussten.

Während sie auf ihr Essen warteten, ging das Gespräch um das kommende Wochenende. „Ich hab sturmfrei, dann können wir das Wochenende zocken und was trinken gehen“, schlug Antonio vor und kramte seine Flasche Cola aus der Tasche. „Das ganze Wochenende in der Wohnung hocken ist scheiße, lasst uns lieber was unternehmen“, untergrub Francis Antonios Vorschlag. Seufzend stützt sich Gilbert auf seine Hände. „Ich kann das Wochenende nicht.“ Seine beiden Freunde sahen ihn fragend an, als nichts genaueres kam, fragte Francis nach. „Ach so ne Familiensache“, meinte Gilbert ausweichend. Er sprach nicht gerne über seine Familie. Insbesondere nicht über diesen Tag. Am Samstag war der Tag an dem Gilberts und Ludwigs Mutter gestorben war. Das war zwar schon 5 Jahre her, aber Gilbert, sein Bruder und ihr Vater verbrachten diesen Tag mehr oder weniger zusammen. Wobei ihr Vater sich wahrscheinlich in irgendeiner Kneipe betrinken würde nur um mitten in der Nacht nach Hause zu kommen. Gilbert und Ludwig dagegen zusammen auf den Friedhof gingen und später zusammen saßen um nicht allein zu sein.
 

Er vermisste seine Mutter sehr. Seid sie tot war, hatte sich einiges geändert. Ihr Vater war fast nie zu Hause, entweder arbeitete er bis spät in die Nacht oder saß in irgendeiner Kneipe. Sein Bruder war damals 10 Jahre alt und hatte eine tiefere Beziehung zu ihrer Mutter, deswegen war Gilbert anstatt ihres Vaters für Ludwig dagewesen. Nur Gilbert musste alleine damit klar kommen, als hätte er damals nicht genug Probleme gehabt. Doch sein Bruder war ihm zu wichtig, als ihn einfach allein zu lassen. Seit ihr Vater damals seine Aufgabe, für seine Kinder dazu sein gegen Alkohol, Arbeit und irgendwelche Bettgeschichten eingetauscht hatte, hatte Gilbert sich für Ludwig stark gemacht. Er musste einfach stark sein, für sie beide.
 

Gilbert bekam gar nicht mit wie Antonio und Francis ihn stirnrunzeld betrachteten, auch nicht als der Imbissbesitzer ihr Essen brachte. Er kam erst wieder zu sich als sein Handy in der Tasche vibrierte. Verwirrt öffnete er die Whatsapp-Nachricht:

Wo seid ihr?

-Lizzy

Er schüttelte nur den Kopf und steckte das Handy weg. Er wusste gar nicht was das Elizaveta anging.

Er sah zu seinen beiden Freunden, die sich bereits über die Pommes und Currywürstchen hermachten. „Ey seid nicht so gefräßig. Lass mir was übrig!“ Mit den Worten schnappte er sich die Schale mit den Pommes und zog sie zu sich. „Wenn du in der Gegend rumstarrst und nicht isst ist das nicht unser Problem, Gil“, meinte Antonio und schnappte sich eine Pommes. Gilbert steckte sich eine der Pommes in den Mund und kaute grinsend. Nach einer halben Stunde brachen die drei auf zum Einkaufszentrum, um dort ihre Zeit im Kino, in dem anliegenden Skaterpark oder auf irgendeiner Wiese zu verbringen.
 

Um 18:34 Uhr kam Gilbert endlich nach Hause. Sein Vater war wie so oft noch nicht da und würde vor 11 Uhr auch nicht da sein. Gilbert hängte seine Jacke auf und stellte die Schuhe an die Wand. Das tat er nur, weil sonst Ludwig herumnörgeln würde. Er selbst hatte es nicht so mit Ordnung. Schließlich beherrschte nur das Genie das Chaos, dachte er grinsend als er an sein Zimmer vor Augen hatte.

Ein klirren ließ ihn Richtung Küche gehen, wo er seinen Bruder fand, der grade die Küche aufräumte. „Hey Bro.“ Gilbert ging zu ihm und nahm ihm einen der Töpfe ab. “Hey Gil, ich mach schon.“ Ludwig wollte Gilbert den Topf abnehmen, doch dieser stellte ihn bereits in den Schrank. „Ach was, ich helf dir etwas.“, gegen die Bestimmtheit in Gilberts Stimme sagte Ludwig nichts mehr sondern räumte weiter die Spülmaschine aus. „Du hast wieder die Schule geschwänzt.“, kam es nach einer Minute des Schweigens von Ludwig. Er sah seinen Bruder nicht mal an. Doch Gilbert hörte, dass es mehr resigniert war, als sauer. Denn auch wenn Gilbert der ältere der beiden war, so was Ludwig der Reifere und Verantwortungsbewusstere.
 

„Wir hatten nur keine Lust auf den Edelstein, mehr nicht. Der hats eh auf mich abgesehen….“ Gilbert stellt die Tassen in den Schrank über sich. Ludwig drehte sich zu Gilbert und sah ihn zweifelnd an. „Er hat es auf niemanden abgesehen. Er macht nur seine Arbeit. Nur wenn du dich wie der letzte Depp benimmst und den Unterricht störst, ist es auch deine Schuld.“ Gilbert lehnte sich an die Anrichte und verschränkte seine Arme. Er konnte in den blauen Augen seines Bruders sehen, dass er von dem heutigen Vorfall wusste. „Hat Elizaveta dir davon erzählt?“, fragte er also nur. Und Ludwigs schweigen war Antwort genug für ihn. Er schloss die Maschine und drehte sich zur Tür. „Wenn was ist Lud, ich bin in meinem Zimmer.“ Mit diesen Worten ging Gilbert aus der Küche und ans Ende des Flurs in sein Zimmer. Ludwigs leises: „Ist gut.“ Hörte er gar nicht mehr.
 

Seufzend schloss er seine Zimmertür und schaltete das Licht an. Im gehen zog er sein T-Shirt aus und warf es auf den Haufen mit dreckiger Wäsche vor dem Bettende. Die Jeans folgte wenig später. Nur in Boxershorts ging Gilbert zu seinem kleinen Bad. Vor dem Spiegel hielt er und betrachtete sein Gesicht. Die braunen Augen passten einfach nicht zu ihm. Das weiße Haar spiegelte sein geliebtes Chaos wieder und ließ seine blasse Haut noch heller wirken. Mit geübten Fingern nahm er die farbigen Kontaktlinsen heraus und verstaute sie in den dafür vorgesehenen Behälter und stellt ihn auf die Ablage. Grinsend betrachtete er seine roten Augen. Ja das passte doch viel besser zu ihm. Doch das Grinsen verschwand schnell wieder, als er sich so ansah. Schnell wandte er sich vom Spiegel ab und ging zurück in sein Zimmer. Dort ließ er sich auf sein Bett fallen und kramte sein Tagebuch aus seinem Nachttisch hervor. Fast liebevoll strich er über den Samteinband und öffnete es schließlich. Tagebuch schreiben war für ihn nie etwas Weibisches. Schon lange hielt er so seine Gedanken in so einem Buch fest, es half ihm sich selbst bewusster zu werden.
 

Bedächtig schlug er eine leere Seite auf und begann in seiner geschwungenen Handschrift seine Gedanken und Gefühle niederzuschreiben. 8 Solcher Bücher hatte er bereits mit seinen Erlebnissen, Gefühlen und Gedanken gefüllt und dieses würde nicht das letzte bleiben. Er wollte für sich festhalten, dass es nicht immer leicht war in seinem Leben, aber das er so Awesome wie er ist, es immer wieder geschafft hatte weiter zu machen. Er war zwar erst 17 Jahre alt, doch er hatte schon genug erlebt.

Kapitel 2

Gilbert sah seine Freunde schon aus der Entfernung auf ihn warten. Außer Atem kam er bei ihnen an. „Mensch Gil was hast du so lange gebraucht?“, begrüßte Antonio ihn. „Hab verschlafen“, brachte der Albino keuchend heraus. Er war den ganzen Weg her gerannt. Eigentlich hätte er sich nie so beeilt, aber sie hatten in der ersten Stunde den stellvertretenen Direktor in Mathe. Man tat also gut daran Donnerstagmorgens pünktlich zu sein. „Komm schon ich brauch nicht noch ne Mahnung, meine Eltern nehmen mir das Handy weg“, drängte Francis seine beiden Freunde. Der Franzose kam nicht ohne sein Handy aus, naja käme er schon, wenn er damit nicht Kontakt zu seinen Liebschaften halten müsste. „Wir haben noch 7 Minuten, also bleib ruhig“, Gilbert holte seine Zigaretten raus und steckte sich eine an. Er war zwar auch nicht scharf darauf ne Mahnung zu bekommen, aber die Zigarette musste sein.
 

5 Minuten später betrachten die drei das Klassenzimmer und setzten sich auf ihre Plätze im hinteren Teil der Klasse. „Siehst du, sind doch pünktlich.“ Gilbert kippte seinen Stuhl nach hinten und lehnte sich mit der Lehne gegen einen Schrank. „Beilschmidt Hören sie auf zu Kippeln, Bonnefoy Handy weg oder sie können es am Ende des Tages in meinem Büro abholen und würde bitte jemand Karpusi wecken. Den anderen einen Guten Morgen“, mit diesen Worten stellte der Stellvertretende Direktor seine Tasche auf dem Pult ab und sah streng in die Runde. Fast sofort wurde das Gesagte getan, nur Gilbert forderte sein Glück etwas heraus in dem er sich nur langsam richtig hinsetzte. Er hasste Mathe und er hasste diesen Lehrer. Gäbe es diese dämliche Schulpflicht nicht wäre er gar nicht hier, aber seine Meinung war dem Schulamt ja egal. Mehr oder in dem Fall weniger verfolgte er den Unterricht und starrte die meiste Zeit aus dem Fenster.
 

In der Pause liefen die drei in die Stadt um sich was beim Bäcker zu holen. Mit jeweils einem belegten Brötchen setzten sie sich an den Brunnen und Gilbert zog seine Zigaretten raus. „Gib mir mal eine Gil. Ich muss erst welche holen“, Francis nahm sich, ohne auf eine Antwort zu warten, die Schachtel aus Gilberts Hand. Der Franzose nahm sich eine heraus und steckte sie sich an. „Elendiger Schnorrer“, grinste Gilbert und holte sich seine Schachtel wieder. „Das war das erste Mal heute!“, verteidigte sich Francis und hob abwehrend die Hände. „Klar das erste Mal seit gestern.“ Antonio lachte und holte seine eigene Schachtel raus. „Gehen wir heut Abend in den Club?“ Antonio sah fragend zu Francis. Da Gilbert schon gesagt hatte er hätte keine Zeit. Der „Club“ war eine Jugenddisco nahe dem Einkaufzentrum. Das Bad Touch Trio gingen schon, seit sie sich seit 4 Jahren kannten, fast jedes Wochenende dort hin. Es war zu ihrem Treffpunkt geworden für die vielen Wochenenden.
 

Gilbert aß sein Brötchen eher lustlos. Ihm war der Appetit bei dem Gedanken ans Wochenende vergangen. Es war immerhin kein Tag um zu feiern. Doch so gerne wie er seine Traurigkeit in Alkohol ertränken wollte, so wusste Gilbert auch, er musste für Ludwig da sein. Er wollte nicht wie sein Vater enden. Wollte seinen Bruder nicht verlieren. Dieser das letzte war was er noch an Familie hatte. Ludwig war immer für ihn da gewesen. Noch vor dem Umzug und dem Schulwechsle war Gilbert zu seinem Bruder geflüchtet, hatte Angst allein zu schlafen. Angst vor den Alpträumen die ihn im Schlaf überfielen, wie ausgehungerte Wölfe. Seufzend schmiss er sein halbes Brötchen weg und die ausgegangene Zigarette fiel zu Boden. Seine Freunde waren in einem Gespräch vertieft und bemerkten Gilberts Stimmungsumschwung gar nicht.
 

Nicht daran denken, ermahnte sich Gilbert. Das hast du hinter die gelassen!, er sagte es sich immer wieder in Gedanken. Er zuckte bei einem dumpfen Schmerz zusammen. Erst jetzt bemerkte er dass er seine Finger in den linken Arm bohrte. Tief ausatmend löste er seine Finger. „Die Gedanken einfach wieder verdrängen dann passt das schon“, murmelte er leise zu sich, ohne das Antonio oder Francis es mitbekamen. Doch so leicht es war sich zu sagen, so wollten die Gedanken nicht verschwinden. „Ich geh schon mal“, murmelte Gilbert leise und ging los. Die fragenden Blicke seiner Freunde ignorierend. Den Blick zum Boden gerichtet, ging Gilbert durch die Stadt. Ihm war die Lust auf eine Zigarette vergangen. Er schob die Hände in die Taschen seiner Jacke und hob den Blick. So schwer es ihm auch viel, er durfte sich das nicht anmerken lassen. Er musste stark sein, für Ludwig. Doch er wollte nicht mehr stark sein. Die Kirchuhr, zeigte 9:30 Uhr. Eigentlich müsste er zurück in die Schule, doch Gilbert ging in die andere Richtung.
 

20 Minuten lief er ohne auf den Weg zu achten und kam schließlich auf dem stillgelegten Fabrikgelände an. Seine Beine trugen ihn weiter eine Treppe hinauf und durch verlassene Hallen. An seinem ersten Tag in der Stadt hatte er dieses Gelände gefunden, der Ort wo er allein sein konnte. Wo er sein konnte wie er innerlich wirklich war. Nicht diese aufgesetzte Fassade, die er allen zeigte. Er war nicht der starke große Bruder, den Ludwig in ihm sah. Im Grunde war er ein kleiner Junge, der sich einsam fühlte und nicht wusste was er tun sollte. Im oberen Geschoss angekommen setzte er sich auf den Boden, lehnte sich an die Wand und zog die Beine an. Sein Kopf legte sich auf seine Arme, die auf seinen Knien ruhten und er ließ alles raus. Sein Körper erbebte unter den ersten Schluchzern, die aus ihm brachen. Die Tränen folgten wenige Sekunden darauf. Salziges Wasser fand seinen weg auf seine Arme, hinterließen eine nasse Spur auf seinen Wangen und immer mehr Schluchzer fanden ihren Weg aus ihm heraus. Nach Luft ringend saß er da, vergoss immer mehr Tränen. „Warum?“, stieß er leise hervor, krallte seine Finger in die Arme, verkrampfte seine Muskeln und zog die Beine näher an sich. Er wusste nicht woher es plötzlich wieder kam, aber er konnte und wollte es nicht mehr in sich behalten.
 

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis das Beben seines Oberkörpers aufhörte, bis die Tränen versiegten und seine Atmung ruhiger wurde. Gilbert lockerte seine verkrampften Finger, ließ die Arme locker auf seinen Beinen liegen. Langsam hob er seinen Kopf und lehnte ihn hinter sich an die Wand. Die verweinten Augen schlossen sich und er konzentrierte sich auf seine Atmung. Das drücken in seinem Inneren ließ nach und seine Lippen verzogen sich zu seinem grinsen. Freudlos lachend wischte er die feuchten Spuren aus seinem Gesicht. Warum war er nur so schwach? Er ließ den Kopf etwas nach vorn fallen, nur um ihn dann mit kraft gegen die Wand hinter sich zu schlagen. Er war wütend. Wütend auf sich, dass er so schwach war.

Kapitel 3

Gilberts Kopf pochte. Er hatte seinen Kopf noch zwei weitere Male gegen die Wand geschlagen. Nun saß er, die Augen geschlossen ruhig atmend da und schien zu schlafen. Doch anders als wenn er schlief jagten ihm die ganzen Gedanken durch den Kopf. Erinnerungen an seine alte Schule. An seine Mutter. An seine bis dahin noch heile Welt.
 

Die Sonne schien und Gilbert saß neben seiner Mutter im Auto. „Bitte Mum, ich will da nicht rein.“, hörte man seine noch recht helle klingende Stimme, die erst im Alter von 15 Jahren tiefer werden würde. Er spürte die Hand seiner Mutter auf dem Haar, eine beruhigende Geste, die sie immer tat wenn er Angst hatte. „Sieh mich an“, forderte sie ihn liebevoll auf und Gilbert kam ihrer bitte nach. Das liebevolle Lächeln seiner Mutter traf ihn. Ihre blonden Haare lagen über ihren Schultern und ihre braunen Augen hatten so etwas fürsorgliches das er tief in sich spürte wie er ruhiger wurde. „Du schaffst, dass schon mein kleines Häschen. “ Ihre Hand strich über seine weißen Haare. „Du bist doch schon ein großer Junge.“ Gilbert konnte nicht anders er begann zu grinsen und nickte überzeugt. „Na also.“, ihr Lächeln wurde breiter, stolzer. „Du bist einzigartig mein kleines Häschen. Sie werden dich mögen wie du bist, sei einfach du selbst.“ Sie küsste seine Stirn. Schon gestern Abend hatte sie ihn beruhigt. Er war so nervös gewesen, dass er nicht hatte schlafen können, also durfte er bei seiner Mutter und seinem Vater schlafen. Bis vor ein paar Monaten hatte er noch Privatunterricht, durch die lange Zeit in der er Krank war. Es war heute das erste Mal seit 2 Jahren, dass er wieder in eine normale Schule gehen würde. Die Frage ob die anderen ihn mögen würden, beschäftigte ihn schon lange. „Und nun komm du willst doch deine neuen Klassenkameraden kennenlernen“, mit den Worten lächelte sie ihn nochmal an und stieg dann aus. Gilbert tat es ihr gleich und klammerte sich bei seiner Mutter an die Hand, als sie auf das riesige Gebäude zu gingen. Mit seinen 12 Jahren war Gilbert ein ganzes Stück kleiner als seine Mutter. Und auch wenn er durch seine weißen Haare und den roten Augen ihr kein bisschen ähnelte, so sah man doch gleich das sie Mutter und Sohn waren.
 

Tränen liefen wieder über seine Wangen, als er an diesen Tag dachte. Stumm, ohne ein Schluchzen liefen sie über seine Wangen. Als seine Mutter an diesem Tag los fuhr, ahnte er nicht dass er sie nicht mehr wiedersehen würde. Er biss sich auf die Lippe und spürte diesen Schmerz über seinem Herzen. Es tat weh an seine Mutter zu denken. Er vermisste sie so schrecklich. Sie war immer so stolz auf ihn, selbst als die Krankheit ausbrach. Mit zittrigen Händen wischte er seine Tränen weg. Er spürte die braunen Kontaktlinsen in seinen Augen. Was seine Mutter wohl dazu sagen würde? Wäre sie enttäuscht von ihm, weil er sich selbst veränderte damit die anderen ihn akzeptierten?
 

Niemand außer seinem Bruder und seinem Vater wusste von seiner Krankheit. Als sie vor 4 Jahren umzogen hatte er angefangen Kontaktlinsen zu tragen, um seine roten Augen zu verstecken. Er hätte auch Tabletten nehmen können, um die Symptome zu schwächen, doch dazu hatte er sich nicht getraut. Seine Mutter hätte es nicht gut geheißen, wenn er sich veränderte nur um anderen zu gefallen. Sie hatte ihn schließlich so erzogen, dass er eigentlich stolz sein sollte, auf das was er ist. Wie er ist. Wer er ist. Doch seine Mutter bekam nicht mehr mit, wie schlecht es ihm ging. Wie sehr er geärgert wurde, beleidigt, ausgestoßen von allen.
 

1 Jahr lang musste Gilbert es aushalten, hatte sich zurück gezogen. Sich nur um seinen Bruder 9 Jahre alten Bruder gekümmert. Er wollte für ihn stark sein, so wie er es seiner Mutter immer versprochen hatte, wenn er mit seinem Bruder rausging zum spielen. Ihr Vater hatte sich in die Arbeit gestürzt und nach einem Jahr um eine Versetzung gebeten, er hielt es nicht mehr in ihrer Alten Wohnung aus. Doch Gilbert wollte nicht weg von dort. Dort spürte er noch seine Mutter, so nah bei sich das er glaubte sie käme jeden Moment in sein Zimmer um ihm gute Nacht zu sagen. Aber sein Vater hatte ihn und Ludwig geschnappt und war fort gezogen, nun hatte Gilbert nur noch die Erinnerungen an damals. Nicht mehr das Gefühl seine Mutter wäre noch bei ihnen.
 

Er fischte seine Zigarettenschachtel hervor und holte sich eine raus. Seine Mutter wäre enttäuscht von ihm, aber trotzdem rauchte er und trank gelegentlich Alkohol. Anders hielt es zwischen durch nicht aus. Ludwig wusste davon nichts und er sollte es auch nicht erfahren. Man merkte noch immer dass es Ludwig schlecht ging, dass er ihre Mutter vermisste. Besonders abends wenn er stumm weinte und sich an seinen großen Bruder drückte, den Halt suchte, den Gilbert ihm gab, aber eigentlich selbst brauchte und darauf verzichtete um für Ludwig dazu sein. Wenigstens das wollte er tun damit seine Mutter stolz auf ihn sein konnte.
 

Der giftige Rauch fand seinen Weg in seine Lunge und einige Sekunden später in die Luft. Er betrachtete den glühenden Stängel zwischen seinen Fingern und drehte ihn hin und her. Eine letzte Träne lief über seine Wange, dann war es vorbei. Seine Hände zitterten noch eine Weile weiter, doch sein Herz und seine Atmung hatten wieder ihren Takt gefunden. Kurz vor ihrem Todestag, kam es häufiger vor, dass es ihn so überfiel. Dann war der Schmerz am deutlichsten, ebenso wie die Trauer. Er zog sich dann meistens irgendwohin zurück wo ihn niemand fand. Er wollte einfach nicht, dass man ihn so schwach sah, dass Ludwig ihn so schwach sah.
 

Als auch die letzten Anzeichen für seinen Zusammenbruch verfolgen waren, holte er sein Handy heraus. 2 Anrufe und 7 Nachrichten. Die Anrufe waren von Antonio und Francis. Ebenso 5 der 7 Nachrichten, die anderen beiden waren von Ludwig. Offenbar hatten Antonio und Francis bei ihm nach Gilbert gefragt. Er schrieb seinem Bruder schnell zurück, dass es ihm gut ging und sah dann, dass es bereits 17 Uhr war. „Super….“, murmelte er leise und machte sich auf den Weg nach Hause.
 

Gilbert brauchte noch eine weitere Stunde bis er wieder zu Hause war. Er war noch eine Weile in der Stadt herumgelaufen. Die Zeit hatte er genutzt um sicher zu gehen, dass er die nächsten Tage nicht mehr zusammenbrechen würde. So wie auch die letzten Jahre hatte er alles verdrängt. So war es leichter für ihn. Er betrat die Wohnung leise und zog Jacke und Schuhe aus. Wenige Sekunden dauerte es dann stand Ludwig in der Wohnzimmertür. „Wo warst du? Ich hab mir Sorgen gemacht“, tadelte er Gilbert. Auch wenn man es dem Blonden nicht ansah, Gilbert konnte es in seinen Augen sehen, dass er mehr als nur besorgt gewesen war. Wie gewohnt setzte Gilbert ein grinsen auf. „Ach West, dein Awesome großer Bruder passt auf sich auf. Ich hatte nur keinen Bock mehr auf den langweiligen Unterricht.“ Gilbert ging in die Küche und nahm sich eine Flasche Cola auf dem Kühlschrank.
 

Sein Bruder folgte ihm. „Warum hast du nicht früher geschrieben? Antonio und Francis wussten auch nicht wo du warst.“ Gilbert drehte sich zu ihm. Nahm einen Schluck von der Cola. „Und nimm dir ein Glas Gil“, meckerte Ludwig. Gilbert verdrehte die Augen. „Ich war beschäftigt, nur weil ich mich nicht melde, muss nicht was passiert sein“, beschwichtigte Gilbert ihn und nahm sich ein Glas aus dem Schrank. Nahm Flasche und Glas und ging an Ludwig vorbei. „Ich hab mir doch nur Sorgen gemacht“, murmelte Ludwig leise, Gilbert hört es. Schuldgefühle fielen über ihn her und fraßen sich in sein Gewissen. Er wollte nicht, dass Ludwig sich solche Sorgen machen musste. Er stellte das Glas und die Flasche auf den Wohnzimmertisch und traute sich nicht zu Ludwig zu sehen, der sich in den Sessel gesetzt hatte. „Wann wollen wir morgen los?“, fragte Ludwig nach einer Weile des Schweigens.
 

Es riss Gilbert aus seinen Gedanken und blickte zu Ludwig. „Der Zug fährt um 12 dann sind wir um 4 da“, erklärte er und schüttete sich ein Glas Cola ein. „Gehst du heute Abend weg?“, Ludwigs Stimme klang gepresst und nicht halb so fest wie sonst. Gilbert schüttelte den Kopf: „Nein ich bin Heute Abend zu Hause.“ Ihr Vater würde das ganze Wochenende nicht da sein, würde sich lieber in die Arbeit stürzen, anstatt mit seinen Söhnen zum Grab ihrer Mutter zu fahren. „Schauen wir später einen Film?“, es war eine rhetorische Frage und eigentlich hätte Gilbert sie nicht stellen müssen. Ludwig nickte betrübt und wendete den Blick zum Fenster. Sie sahen jedes Jahr denselben Film. Den Lieblingsfilm ihrer Mutter. Es war zu einer Tradition geworden, denn sie taten es seit ihrem Tod. Gilbert saß auf der Couch und starrte auf seine Hände. Ludwig starrte noch immer aus dem Fenster. Die Stille lag ruhig über ihnen. Es war nichts bedrückendes, nein, es war eine angenehme Stille, sodass sie allein in ihren Gedanken sein konnten, ohne doch allein zu sein.

Kapitel 4

Um 20:00 Uhr saßen die beiden Brüder im Wohnzimmer. Gilbert hatte vor wenigen Sekunden den Film eingesehen und nun lief der Vorspann der DVD. Ludwig saß neben Gilbert auf der Couch und es herrschte Stille zwischen ihnen. Das Film-Menü erschien und Gilbert drückte auf Play. Der Film startete und Gilbert lehnte sich zurück. Wie oft saßen sie schon früher mit ihrer Mutter zusammen und haben den Film zusammen gesehen. Gilbert legte sich quer auf die Couch und bettet seinen Kopf auf Ludwigs Schoß. Ludwigs Hände fanden ihren Weg zu seinem Haar. Es war so vertraut zwischen den Beiden, dass sie niemand stören konnte. Ludwigs Finger fuhren durch sein weißes Haar, spielten mit einzelnen Strähnen. Stille sahen die Brüder den Film und als Gilbert zwischendrin hoch sah, erblickte er die Tränen in Ludwigs Augen. Der ernste Ausdruck war einem traurigen gewichen und Gilbert hatte den Eindruck, dass Ludwig ganz in seinen Gedanken versunken war.
 

Gilbert widerstand dem Drang, Ludwigs Tränen fort zu wischen. Er wollte ihn nicht aus seinen Gedanken reißen. Ludwigs Finger ruhten in seinem Haar und Gilbert drehte den Kopf wieder zum Fernseher. Die Finger krallten sich in sein Haar und er hörte ein leises schniefen. Die Filmmusik schallte durch die Wohnung, doch niemand war da den es stören konnte. Plötzlich stand Ludwig auf, und Gilbert zuckte zusammen als dieser aus dem Raum ging. Gilbert stoppte den Film und sah seinem kleinen Bruder nach. Erst dachte er Ludwig war zur Toilette gegangen, doch als er nach 10min immer noch fort war, stand er auf um nach ihm zusehen.
 

Er fand Ludwig in seinem Zimmer auf dem Bett sitzend. Die Tränen die ihm über die Wange liefen waren nicht zu übersehen. Gilbert klopfte leise und trat dann zu seinem Bruder. Die leicht geröteten Augen Ludwigs blickten zu ihm und ein gequältes Lächeln trat auf seine Lippen. „Es tut mir Leid… Ich..“, Ludwigs Stimme brach. Gilbert setzte sich neben ihn und zog ihn in eine Umarmung. „Schon gut Lud“, murmelte er leise, strich ihm beruhigend über den Rücken. „Ich vermisse sie.“ „Schh schon Okay“, hauchte Gilbert an sein Haar, „Das tue ich auch.“ So saßen sie eine Weile, Gilbert die Arme um Ludwig geschlungen, beruhigend über seinen Rücken streichend. Ludwig barg sein Gesicht an Gilberts Brust und stumm fielen seine Tränen auf dessen T-Shirt.
 

Es tat Gilbert jedes Mal weh, seinen sonst ruhigen und disziplinierten kleinen Bruder so aus der hilflos und verletzt zu sehen. Doch Ludwig setzte noch etwas ganz anderes zu. Die Distanz die ihr Vater seit dem Tod ihrer Mutter zwischen seinen Söhnen und sich aufgebaut hatte. Ludwig hatte schon immer mehr Bezug zu ihrem Vater gehab, als Gilbert. Und das dieser kaum zu Hause war, nicht mit ihnen zusammen trauerte, verletzte Ludwig noch zusätzlich. Während Gilbert in der Schule schlechter wurde, wurde Ludwig immer besser, hing sich in alles was er tat voll rein. Gilbert wusste, er versuchte so die Aufmerksamkeit ihres Vaters zu bekommen, doch dieser war kaum da, um es zu bemerken. Deshalb versuchte Gilbert alles damit es seinem Bruder besser ging, denn er war der letzte den Gilbert noch hatte. Für ihn war sein Vater mit ihrer Mutter in dem Auto gestorben.
 

Nach einer Weile löste sich Ludwig von Gilbert. Seine Tränen waren versiegt und ein dankbares Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Schon okay Lud“, sagte Gilbert ehe sein Bruder ansetzen konnte. „Wollen wir weiter gucken, oder es für heute sein lassen?“ Ludwig schüttelte langsam den Kopf. „Nein, schon okay. Lass ihn uns zu Ende sehen.“ Gilbert stand auf und hielt seinem Bruder die Hand hin. Es war als wären sie wieder klein, unschuldige 4 und 7 Jahre und Gilbert zeigte seinem Bruder, dass da kein Monster im Schrank war.
 

Als der Film endete machte Gilbert den Fernseher aus und die Stille legte sich über sie. Einen Moment sagte niemand etwas. „Lass uns Schlafen gehen“, murmelte Ludwig leise und erhob sich um in sein Zimmer zu gehen. Gilbert ging ebenfalls in sein Zimmer um sich umzuziehen. Er zog seine Jogginghose und ein T-Shirt an. Nahm im Bad die Kontaktlinsen heraus und ging dann zu Ludwig. Dieser lag schon in seinem Bett und wartete auf Gilbert. Er rückte stumm bis zur Wand und hob die Decke an. Gilbert legte sich zu ihm und sah zu Decke. „Gute Nacht Gil“, hörte er Ludwig murmeln. Gilbert wandte sich ihm zu. „Nacht Lud“, hauchte er und beobachtete wie Ludwig die Augen schloss. Er beobachtete seinen Bruder noch eine ganze Weile, lauschte seinem immer ruhiger werdenden Atem. Gilbert hatte es seiner Mutter versprochen, er würde auf Ludwig aufpassen. Auch wenn es das letzte war, was er tun sollte. Mit dem Gedanken schloss auch Gilbert die Augen und schlief wenig später ein.
 

Gilbert erwachte am nächsten Morgen, als Ludwig sich neben ihm bewegte. Verschlafen öffnete er die Augen und sah zu seinem Bruder. Dieser hatte sich in der Nacht an ihn gekuschelt und hatte die Augen noch friedlich geschlossen, während er die Hand in das T-Shirt seine Bruders krallte. Gilbert blieb ruhig liegen, wollte seinen Bruder nicht wecken. Seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig und er schloss für einen Moment noch mal die Augen. Lauschte Ludwigs Atem, spürte dessen Herzschlag an seiner Seite. Es war so friedlich. Sein Blick viel zu Ludwigs Wecker. Kurz vor 7, in wenigen Minuten würde der Wecker klingeln und sie auffordern aufzustehen. Sie mussten heute nicht zur Schule, Gilbert hatte das geklärt. Er wollte es Ludwig nicht zumuten, nicht an diesem Tag.
 

Der Freitagmorgen war ruhig. Es könnte so friedlich und harmonisch sein, doch Gilbert spürte die gedrückte Stimmung, als er zusammen mit seinem Bruder frühstückte. Sie sprachen nur das nötigste. In wenigen Stunden mussten sie los, um ihren Zug zubekommen. „Hast du schon ein paar Sachen zusammen gepackt?“, fragte Gilbert, nachdem Ludwig die Küche aufgeräumt hatte. Dieser schüttelte leicht den Kopf. „Das wollte ich jetzt machen“, erklärte er leise. Gilbert nickte. Er selbst hatte auch noch nichts zusammen gesucht. Sie würde eh nur bis morgen bleiben und dann zurück fahren. Nach 5 Minuten in denen niemand etwas gesagt hatte, stand Gilbert auf und ging in sein Zimmer.
 

Dort packte er ein paar frische Sachen in seinen Rucksack und stellte ihn neben seine Tür. Er sah zu seinem Wecker. 9:37 Uhr. Er hatte noch knapp eineinhalb Stunden Zeit bis sie los mussten. Den Gedanken nochmal zu Ludwig zu gehen, verwarf er wieder. Sein Bruder sollte sich nicht bedrängt fühlen, sie würden gleich 4 Stunden im Zug sitzen. Nicht wissend was sie erzählen sollten. Seufzend legte Gilbert sich auf sein Bett und sah zur Decke. Ein drückendes Gefühl machte sich in seinem Magen breit. Er wusste nicht woher es kam, doch es war irgendwie vertraut. Das flaue Gefühl nahm nicht ab, es blieb und breitete sich in seinem Körper aus. Seine Hände legten sich auf seinen Bauch und er drehte sich auf die Seite. Die Beine zog er an sich und seine Haltung ähnelte einem Embryo.

Kapitel 5

„Hast du alles?“, Gilbert sah fragend zu seinem Bruder. Das flaue Gefühl in seinem Magen hatte sich noch immer nicht gelegt, aber er hatte es soweit ausgeblendet. Ludwig schloss die Tür sorgfältig ab und steckte den Schlüssel ein. Die Rucksäcke auf dem Rücken gingen sie los. Sie schwiegen den Weg zum Bahnhof. Es war nicht weit, vielleicht 10 Minuten gingen sie zusammen durch die Straßen. Das Ticket für sie beide hatte Gilbert im Internet gekauft und dieses steckte nun in seinem Rucksack.

Um Punkt 16 Uhr kamen sie an ihrem Ziel an und gingen zu der Pension, in der sie die kommende Nachte verbringen würden. Dort stellten sie nur ihre Rucksäcke ab und gingen hinaus. Gilbert spürte wie er ruhiger wurde. Die gewohnte Umgebung, ließ ihn nach Hause kommen. Zumindest fühlte es sich so an. Am Blumenladen an der Ecke, holten sie den bestellten Blumenkranz ab.
 

Noch immer hatten sie nicht viel gesprochen. Aber so war es nun mal. Seit dem Tod ihrer Mutter hatten sie sich voneinander entfernt. Doch für Gilbert änderte das nicht viel, er liebte seinen kleinen Bruder. Er war das letzte was von seiner Familie übriggeblieben war. Zusammen machten sie sich auf den Weg zum Friedhof.
 

Der Himmel war verhangen und es sah nach Regen aus. Der Kies knirschte unter ihren Schuhen, als sie den Weg entlang gingen. Die Gräber standen jeder für sich einsam da. Gilberts Blick wanderte zu der Stelle wo ihre Mutter lag und fand den kunstvollen Grabstein sofort. Der Krank in seiner Hand wog plötzlich viel mehr und tiefe Trauer viel über ihn her. Ein kurzer Blick zu Ludwig zeigte ihm, wie angespannt der Jüngere war. Als sie vor dem Grab stehen blieben, stand dort schon eine Kerze, zusammen mit einem Blumenstrauß. Das Grab war gepflegt, wofür ihr Vater jemanden bezahlte. Er hatte seit der Beerdigung keinen Fuß mehr auf diesen Friedhof gesetzt.
 

Schweigend standen sie einen Augenblick davor, dann nahm Ludwig seinem Bruder den Kranz ab und legte ihn an den Grabstein gelehnt ab. Er trat zurück neben seinen Bruder, der ihn die ganze Zeit beobachtet hatte. Gilbert schluckte die Tränen herunter, die in ihm aufstiegen und ein dicker Kloß saß in seinem Hals. Die Hände hatte er vor sich gefaltet und er sah zu dem Bild, das in dem Grabstein eingelassen war. Das Lächeln ihrer Mutter strahlte sie an. Ein trauriges Lächeln schlich sich auch auf Gilberts Lippen. „Hey Mama“, durchbrach die leise Stimme Ludwigs die Stille. Der Wind wehte und ließ die Bäume rascheln. „Du fehlst uns. Hast du es gut da oben?“ Ludwigs Stimme zitterte und Gilbert vermutete, dass er weinte. Den Blick hatte er gesenkt, während er sprach. Gilbert trat näher zu ihm und legte die Arme um seinen Bruder. Sanft drückte er ihn an sich. Er spürte wie Ludwigs kopf sich an seine Schulter drückten. „Sie hat es gut da wo sie jetzt ist.“ Er machte eine Pause. „Da bin ich mir sicher Lud.“ Gilbert schloss die Augen. Eine Träne fand ihren Weg über seine Wange, während er Ludwig fester an sich drückt. Sein Herz schmerzte und er ahnte, dass es Ludwig nicht anders ging.
 

Sie standen so noch eine Weile vor dem Grab, hielten sich in den Armen, weinten stumm und waren gemeinsam einsam. Als es dunkel wurde, gingen sie zur Pension zurück. Wieder schwiegen sie den Weg über. Jeder in seiner Trauer gefangen. Holten sich eine Kleinigkeit zu essen und gingen weiter.

Abends im Bett lag Ludwig wie die Nacht davor an Gilbert gekuschelt im Bett und schlief bereits. Gilbert jedoch lag wach, seine Gedanken kreisten um die Zukunft. Er würde bald fertig sein mit der Schule, doch was kam danach? Er musste doch weiter auf seinen Bruder aufpassen. Grade so würde er seinen Abschluss schaffen, da konnte er nicht an eine Ausbildung denken. Dann hätte er noch weniger Zeit um für Ludwig dazu sein. Und er hatte doch seiner Mutter versprochen, dass er auf ihn aufpassen würde.
 

Die Stunden vergingen, aber Gilbert fand keinen Schlaf. Und ehe er es ahnte, war auch schon der nächste Tag angebrochen. Unter seinen Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab, die auf seiner fast schneeweißen Haut stark hervorstachen. Die Lider drohten ihm zu zufallen, doch er durfte jetzt nicht mehr schlafen. In ein paar Stunden würden sie zurück fahren. Also legte Gilbert Ludwigs Arm zur Seite und stand vorsichtig auf, um ihn nicht zu wecken. Sein Weg führte ihn in das kleine Bad, wo er sich auszog und unter die Dusche stieg. Warmes Wasser floss über seinen müden Körper und er schloss die Augen. Er nahm sein Duschzeug und fing an sich zu waschen. 10min später steig er tropfend aus der Dusche, band sein ein Handtuch um die Hüfte und ging zum Spiegel. Wischte den Dunst weg und betrachtete sein Gesicht. Seine roten Augen blickten ihn träge an und er fuhr mit den Fingern über die Augenringe. Kurzentschlossen stellte er das kalte Wasser an und wusch sich damit das Gesicht. Vielleicht würde es so besser werden, so hoffte er zumindest. Das Ergebnis war jedoch unverändert. Missmutig stellte er den Hahn ab und ging zurück ins Zimmer.
 

Ludwig saß auf dem Bett und blickte zu ihm. „Morgen Lud“, begrüßte Gilbert ihn versucht fröhlich, doch das gelang ihm nicht so ganz. Stumm betrachtete Ludwig seinen Bruder, musterte die Augenringe unter dessen Augen, sagte aber nichts. Kurz schwiegen sie sich an, bis Ludwig auf stand und an Gilbert vorbei ins Bad ging. Gilbert sah ihm kurz nach und zog sich dann an. Mit dem Handtuch trocknete er seine Haare. Als Ludwig wenig später angezogen aus dem Bad kam, die Haare ordentlich nach hinten gekämmt, gingen sie zum Frühstück.
 

Am Abend waren sie wieder zu Hause, in Gilberts Kopf schwirrten noch immer die Gedanken der Nacht. Und wieder lag er unruhig im Bett und dachte nach. Jedoch siegte nach einer Stunde der Schlafmange, letzten Nacht und ihm vielen die Augen zu. Der nächste Morgen kam jedoch seiner Meinung nach zu früh. Er hatte zwar an dem Sonntag nichts zu tun, aber das war das Problem. Die Zeit zog sich wie Kaugummi und auch mit seinem Bruder bekam er kein Gespräch zustande. Gegen Mittag hatte er sich dann vor den Fernseher gesetzt und schaute eine Filmwiederholung des letzten Tages. Von dem Film bekam er aber nicht viel mit. Immer wieder waren seine Gedanken abgeschweift.



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