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Doors of my Mind

Der Freund meiner Schwester
von

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Der Freund meiner Schwester

Doors my Mind
 

Kapitel 1 Der Freund meiner Schwester
 

Es ist das Geräusch von sanfter Reibung auf großmaschigen Wollstoff, den ich als erstes vernehme. Dann sehe ich die schlanken langen Finger, die diese kreisenden Bewegungen vollführen. Sanft bewegt er die Hand über ihren schmalen Rücken. Ich bemerke, wie sich dabei die Muskeln in seiner Schulter anspannen und sich die Formen durch das dünne Shirt drücken, welches er trägt. Ich kann nicht verstehen, was sie sich zu flüstern, doch wie gebannt hängen meine Augen an den roséfarbenen Lippen. Sein Lächeln im Profil, doch ich male mir sofort aus, wie es im Ganzen aussieht. Befreiend und ehrlich. Seine Lippen streichen sachte über ihr Ohr, bleiben an ihren aufwendigen Ohrringen stehen. Erneut flüstert er etwas und dumpf höre ich ihr Kichern. Mein Blick wandert von seinen Lippen über sein Profil, betrachtet die leichten Bartstoppeln seines Drei-Tage-Barts und stoppt an den markanten Wangenknochen. Seine etwas zu spitze Nase, die aber nur von der Seite unstimmig wirkt. Noch sind seine Augen geschlossen, doch bald öffnet er sie und zum Vorschein kommen die schönsten grünen Augen, die ich je gesehen habe. Sie harmonisieren mit den dunkelbraunen Haaren, die stylisch geschnitten sind und sein Gesicht perfekt umrahmen. Alles passt zusammen, doch am besten sind diese Augen. Saftig grün, wie das frische Laub eines Baumes am schönsten Frühlingsmorgen.

Nur ganz leicht hat er sie geöffnet und erneut perlt ein Flüstern über seine Lippen. Ihre Augen weiten sich und ich weiß, dass es etwas Unanständiges war. Sein verschmitztes Lächeln und ihre erschrockener Blick bilden einen seltsamen Kontrast, der mich in meiner Ahnung bestätigt. Sie wird nicht darauf reagieren, denn ich sehe die feine Röte, die langsam von ihrem Hals zu ihren Wangen kriecht. Scham, und das obwohl sie kein kleines Mädchen mehr ist. Maya ist siebzehn und Raphael ist ihr erster fester Freund. Er ist 20 Jahre alt und damit ein Jahr älter als ich. Ich kenne ihn seit 4 Jahren und die beiden sich seit 6 Monaten. Sie ist meine Schwester und ich begehre ihren Freund seit der 10. Klasse.
 

Ich lasse mich gezielt gelangweilt in den weichen Sessel im Wohnzimmer nieder. Mitten in ihr direktes Blickfeld. Obwohl meine Mutter sicher jeden Moment schimpft, lümmele ich meine Beine über die Lehne und lasse sie im sanften Takt der klassischen Musik baumeln. Dass damit verursachte nervendes Geräusch nehme ich kalkuliert in Kauf. Als sie mich bemerken, entfernt sich Maya ein kleines Stück von ihrem Freund und schaut verärgert, aber mit geröteten Wangen zu mir. Raphael reagiert nicht. Er wartet weiterhin auf eine eindeutige Reaktion von ihr. Darauf wird er vergeblich warten, dessen bin ich mir sicher.

Der Blick meiner Schwester konzentriert sich vollkommen auf mich, denn ich habe sie gestört und im Nachhinein wird mir bewusst, dass ich den herannahenden Streit besser abgewartet hätte. Es wäre ein Fest geworden. In dem Moment, in dem sie etwas sagen will, komme ich ihr zu vor.

„Mum hat gesagt, dass es gleich Abendbrot gibt.“

„Na dann geh doch den Tisch decken“, zischt sie mir augenblicklich entgegen und nun schaut auch Raphael zu mir. Unsere Blicke treffen sich und ich kann mir ein übertrieben amüsiertes Lächeln nicht verkneifen. Ihr Ärger und seine folgende Verlegenheit verursacht ein freudiges Kribbeln in mir. Ich rühre mich nicht vom Fleck.

„Mark, verschwinde endlich“, keift sie weiter und ich erhebe mich. Ich mache eine salutierende Bewegung in ihre Richtung, stelle beim Hinausgehen die Musik aus und lasse die beiden in völliger Stille zurück, während ich in die Küche verschwinde.
 

Meine Mutter steht vor dem Herd und rührt in einem Topf. Ihre langen blonden Haare hat sie nach oben gesteckt. Dabei kommt ihr langer Hals extrem zur Geltung. Er ist schlank und faltenfrei, aber zu lang. Es wirkt etwas unproportional. Als sie mich bemerkt, wendet sie sich mir zu und deutet sogleich auf die bereitgestellten Teller.

„Kannst du, bitte anfangen?“ Ich nicke, blicke aber lustlos auf den Stapel Teller. „Hast du deiner Schwester und ihrem Freund Bescheid gesagt, dass wir gleich essen?“, fragt sie und erneut bildet sich dieses belustigte Lächeln auf meinen Lippen. Sie bemerkt es nicht.

„Ja“, sage ich knapp. Zu gern, möchte ich wissen, ob Raphael eine Antwort bekommen hat oder ob er es weiter versuchen muss, nun, da sie wieder allein sind. Ich würde diesen wunderbaren Augen niemals widerstehen können. Ich würde mich nackt, nur mit einem Salatblatt garniert auf einem Präsentierteller servieren. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Wann auch immer er es will. Das Zischen vom Herd holt mich in die Realität zurück und widerwillig trage ich die Teller ins Esszimmer, verteile sie brav auf dem Tisch und achte sogar auf die perfekten Abstände, als ich das Besteck dazulege und die Gläser drapiere. Wie im Buch.

Ich höre meine Mutter rufen und als ich in die Küche trete, drückt sie mir eine Schüssel mit Reis in die Hand. Danach den Blumenkohl und das putengulaschartige Zeug in der Pfanne. Es riecht köstlich, aber ich habe kaum Appetit. Nur Hunger, aber auf etwas völlig anderes. Natürlich kommen alle anderen erst, als ich mit Decken fertig bin. Ich beobachte, wie sich meine Schwester und ihre Freund setzen und sehe förmlich die kleinen Gewitterwolken, die sich über ihren Köpfen bilden. Seine grünen Augen schielen hin und wieder zur Seite, doch sie blickt stur auf den leeren Teller vor ihr. Geräuschlos lasse ich mich neben Maya nieder und lehne mich zurück, sodass ich über ihren Rücken hinweg zu Raphael sehen kann. Er schenkt mir einen kurzen Blick und ich meine ein leichtes Augenrollen erkennen zu können.

Unser Vater beginnt eine Flasche Wein zu öffnen und mir fällt auf, dass ich keine Weingläser hingestellt habe. Wäre unschuldig Pfeifen nicht zu auffällig, würde ich es tun. Doch ich sehe nur auf die Speisen und rühre bedächtig um Putengulasch herum.

„Maya kannst du bitte ein paar Weingläser holen? Wer möchte alles Wein?“, fragt mein Vater und zieht energisch am Öffner. Der Korken rührt sich nicht. Ich hebe kurz meine Hand und sehe, wie Maya genervt einen Flunsch zieht und aufsteht. Auch Raphael möchte Wein.

Wir erheben uns beide um meinem Vater mit der Weinflasche zu helfen, doch Raphael ist schneller und mit einer geschickten Bewegung öffnet sich die Flasche mit einem lauten Plopp.

„Danke, Raphael“, sagte er und blickt einmal zwischen ihm und mir hin und her. Maya kommt mit vier Gläsern zurück und stellt sie mürrisch vor uns ab. Meins knallt sie mir förmlich entgegen.
 

Während des Essens sprechen wir kaum. Von jedem gibt es eine kurze Erläuterung über den jeweiligen Tagesablauf und mir wird schlagartig klar, wie langweilig mein Leben zurzeit ist. Ich gehe in die Abschlussklasse, bin ein guter, aber fauler Schüler und habe neben meiner geheimen sexuellen Ausrichtung keine weiteren Probleme. Natürlich ist da noch das Raphael-Paradox, aber das versuche ich bestmöglich zu unterdrücken. Niemand sollte den Freund seiner Schwester begehren. Die Tatsache, dass er die ganze Zeit bei uns im Haus rumläuft, hinreißend aussieht und scheiße freundlich ist, macht das Ganze umso schwerer.

Mein Teller hat sich kaum geleert und ich stochere grübelnd in meinem Rosenkohl rum. Kleine Röschen kullern auf dem Teller umher und bleiben in der hellbraunen Soße des Fleischs kleben. Ich lasse meine Gabel leise auf den Teller fallen und schnappe mir das Weinglas. Es ist ein halbtrockener Weißwein. Ein Riesling, der eine feine fruchtige Note verströmt. So mag ich ihn am liebsten. Ich schmecke eine leichte Säure, die sich von meiner Zungenspitze ausbreitet und langsam an den Seiten meines Halses hinabwandert. Ich spüre, wie sich an meinem Hals Gänsehaut bildet und wie sich der Muskel an meinem Kehlkopf leicht zusammenzieht. Danach erst folgt das fruchtige Aroma an meinen Geschmacksknospen. Ich lass ihn in meinem Glas leicht schwenken und nehme einen weiteren Schluck, schließe dabei die Augen. Als ich sie wieder öffne, sehe ich den Blick der anderen auf mir und zucke mit den Schultern.

„Der ist gut!“, entfährt es mir.

„Du solltest nicht so viel trinken, du hast kaum gegessen“, sagt meine Mutter und deutet auf meinen fast vollen Teller. Auch Raphael sieht mich an und mir läuft es eiskalt den Rücken runter. Mit einem großen Schluck leere ich das komplette Glas und stehe auf. „Kommt schon. Der Alkoholismus liegt doch in der Familie“, sage ich und schiebe ordentlich meinen Stuhl heran, während ich die erschrocken Gesichter meiner Familienmitglieder betrachte.

„Mark, bitte“, stöhnt meine Mutter entsetzt und lässt ihr Glas sofort sinken.

„Onkel Olaf würde mit mir anstoßen.“ Damit verlasse ich den Raum und ignoriere das Geschimpfe.
 

Schnellen Schrittes steige ich die Treppe hinauf und schließe meine Zimmertür. Ich lasse mich dagegen sinken und sehe mich in meinem Zimmer um. Ich müsste aufräumen, doch dann würde sich meine Mutter nicht mehr so schön ärgern. Ich stoße mich von der Tür ab und weiche gekonnt den Klamottenhaufen aus, die meinen Weg zum Bett pflastern. In meiner Bettdecke vergraben, finde ich mein Handy und sehe, dass es blinkt.

Ich werfe mich in eine gemütliche Position und nehme es zur Hand. Doch nach kurzem Grübeln ist mir ist nicht mehr nach Kommunikation und so lege ich es beiseite. Noch einmal lasse ich meinen Tag Revue passieren, denke diesmal auch an die wenigen Dinge, die ich vorhin nicht erzählt habe und bleibe trotzdem in dem Moment hängen, in dem ich Raphael auf der Couch sitzen sah. Seine muskulösen Hände, die über Maya Rücken streichen und ich stelle mir vor, wie sie es bei mir tun. Die Wärme und die Fürsorge. Ich frage mich, wie sich seine Haut auf meiner anfühlen würde und seufze leicht. Ich sollte so etwas nicht denken, doch an Tagen wie diesen geschieht es unbewusst und intensiv. Vielleicht sollte ich mich doch irgendwie ablenken, mit jemanden reden oder mich sportlich betätigen. Überlegend drehe ich mich auf den Bauch und lasse meinen Kopf vom Bett hängen. Ich spitze die Ohren, als auf der Treppe Bewegungen zu hören sind. Es folgt Mayas aufgeregte und nur bedingt leise Stimme. Sie keift und zetert und mit jedem Wort wird ihre Stimme höher und schriller. Kein sehr angenehmer Ton. Ich empfinde Mitleid mit Raphael, der das aushalten muss und dann nicht mal Sex bekommt. Trotz der überragenden Beliebtheit meiner Schwester in der Schule, in der Öffentlichkeit und in der Familie, ist sie ein bedauernswert prüdes Mauerblümchen. Maya gehört zu den typischen Stylingbarbies mit perfekten Make up, Fingernägeln und Haaren. Und trotz meines inneren Widerstands muss ich zugeben, dass sie ohne Kosmetika sogar ganz hübsch anzusehen ist. Ihre blonden Haare sind die unserer Mutter und auch die zierliche Statur und die feinen Glieder hat sie von ihr. Unsere Mutter war, und ist es noch immer eine schöne Frau. Ich bin eine seltsame Mischung zwischen ihr und meinem Vater. Die dunklen Haare und die dunklen Augen habe ich von ihm, doch die schlanke Figur und die ganz unmännlich schmalen Glieder habe ich genauso, wie meine Schwester, von der Mama. Kurz schaue ich mir meine Finger an, streiche über den weichen Fußboden und stelle mir vor, wie sie über einen ganz bestimmten muskulösen Oberkörper streichen und jeden Muskel entlang fahren. Ich bekomme eine Gänsehaut und drehe mich auf den Rücken zurück. Genervt atme ich aus.
 

Noch immer kann ich die beiden streiten hören und erst als die Tür hinter ihnen ins Schloss fällt, wird es wieder leise. Worüber sie wohl streiten? Vielleicht ja wirklich über Raphaels unfassbar unangemessenen Wunsch nach Nähe oder seiner übertrieben ungestümen Aufdringlichkeit? Dank des Sarkasmus´ in meinen Kopf fange ich fast an zu tropfen. Möglicherweise ist es auch nur Mayas Prüderie oder ihr Sturkopf. Oder einfach alles.

Ich taste doch wieder nach meinem Telefon und beginne meine Nachrichten abzurufen. Eine Treffensanfrage von meiner Projektpartnerin, eine Partyeinladung und eine Nachricht von Shari, meiner liebsten Schulfreundin aus der Parallelklasse. Wir haben einige Kurse zusammen und treffen uns vor allem in den Pausen. Sie bittet um Rückruf. Ich überlege hin und her. Das wäre eine Ablenkung, aber durch aus auch eine langwierige Prozedur.

Gerade als ich auf den grünen Hörer tippen möchte, geht meine Tür auf. Ich blicke auf und sehe in die bezaubernd grünen Augen Raphaels. Erschrocken setze ich mich auf und falle dabei vom Bett.

„Autsch.“ Ich reibe mir das Knie und spüre meinen beschleunigten Pulsschlag.

„Deine Schwester macht mich wahnsinnig“, sagte Raphael leise und das sanfte Brummen seiner Stimme verursacht mir noch mehr Gänsehaut

„Das fällt dir erst jetzt auf?“, erfrage ich skeptisch. Ich werfe das Telefon aufs Bett und bleibe hilflos im Raum stehen. Das hat Raphael noch nie getan. Zwar kennen wir uns schon einige Jahre, aber er war einen Jahrgang über mir und wir haben uns nur in den Pausen, auf den Fluren oder beim Essen in der Mensa getroffen. Er blickt mich an und ich hebe abwehrend die Hände in die Luft. Ich weiß nicht, was er von mir hören will.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht überfallen, aber sie hat mich gerade so in Rage gebracht, dass ich etwas Abstand brauche“, erklärt Raphael und lässt sich auf meinen Schreibtischstuhl nieder. Er fährt mit dem Finger über die Kante des Tischs und über meine Tastatur. Und schlagartig bete ich gen Himmel, dass er meinen Bildschirmschoner nicht deaktiviert, denn ich habe ein paar ungünstige Internetseiten offen. Mein Puls fährt eine extra schnelle Runde.

„Du solltest dich dran gewöhnen und langsam beginnen deine Rageschwelle zu trainieren“, witzele ich und schaue nervös zum hoffentlich dunkel bleibenden Bildschirm. Maya ist keine einfache Person und das weiß ich aus erster Hand. Ich trainiere all meine Schwellen schon seit Jahren und trotzdem ist mir immer wieder nach Implosion und Explosionen. Manchmal auch beides gleichzeitig für den größtmöglichen Schaden.

„Du musst es ja wissen“, lacht nun auch Raphael auf und es bildet sich dieses sanfte Lächeln auf seinen Lippen.

„Fahr doch einfach nach Hause“, höre ich mich sagen und sehe mit Erleichterung dabei zu, wie er von der Tastatur ablässt.

„Würde ich, aber Maya und ich wollen morgen früh gleich zu einer Veranstaltung.“ Ich höre das Seufzen, während er wieder aufsteht. Am liebsten würde ich ihm vorschlagen einfach bei mir im Zimmer zu bleiben, doch ich schweige.

„Danke“, sagt er.

„Nichts zu danken“, erwidere ich. An der Tür wendet er sich noch mal kurz zu mir um. Sagt, aber nichts. Ich sehe dabei zu, wie sich der Raum wieder verdunkelt und lasse mich zurück auf mein Bett fallen.

Von Konnichi wa und Sayonara

Kapitel 2 Von Konnichi wa und Sayonara
 

Nachdem ich den Schreck endlich verdaut habe, bin ich schnell bin ich an meinem Rechner und schließe hektisch alle Internetseiten. Der Bildschirm wird wieder dunkel und langsam verstummt das penetrante Brummen des Rechners. Stille. Sie ist beruhigend und aufreibend zu gleich, denn jetzt bahnen sich wieder die verschiedensten Gedanken ihren Weg. Ich lasse meinen Kopf auf die Tischplatte sinken und bilde mir ein den Geruch von Raphael daran wahrzunehmen zu können. Unsinn, aber es hat etwas Berauschendes. Ich komme ihm selten nahe genug um seinen Duft direkt in mich aufzunehmen, aber meiner Schwester riecht oft nach ihm. Auch ihr Zimmer und das Bad, wenn er es am Morgen verlässt und ich direkt nach ihm hineinkomme. Ich weiß, dass er manchmal mein Duschbad benutzt. Meine Augen sind geschlossen, während ich mir vorstelle, wie er unter der Dusche steht und langsam seinen stählernen Körper einreibt. Das Schließen der Internetseiten war definitiv zu voreilig.

Mühsam stehe ich auf und lasse mich erneut aufs Bett fallen, blicke zu meinem Handy und entschließe mich dazu doch bei Shari anzurufen. Es dauert einen Moment, bis sie rangeht.

„Namasté“, flötete es aus meinem Hörer und durch die Begrüßung weiß ich, dass sie mit ihrer Familie zusammen sitzt. Familie Ambani stammt aus Indien und trotz Sharis bewegter Jugend und unerschöpflichen Aufgeschlossenheit versucht sie brav einige der Traditionen zu befolgen, die ihre Eltern ihr diktieren. Sie sind streng und traditionell, aber hin und wieder etwas modern.

„Konnichi wa“, rufe ich zurück und weiß, dass sie die Augen verdreht. Nach den ersten Malen, die sie mich mit Namasté begrüßte, habe ich begonnen ihr auf einer anderen Sprache zu antworten. Noch habe ich nicht alle Sprachen ausgereizt. Im Hintergrund höre ich eine Unterhaltung auf Hindi und Englisch.

„Heißt das nicht Ni hao?“, fragt Shari und ich höre, wie die Stimmen leiser werden.

„Das ist Chinesisch, du Primel.“

„Die gleiche Suppe.“

„Lass das keinen hören, sonst verarbeiten sie dich zu Sushi“, witzele ich gespielt entsetzt und werde dann wieder Ernst, „Was gibt es wichtiges?“ Ich höre sie seufzen und danach das Rascheln ihres Saris beim Gehen. Es dauert einen Moment bis sie mir antwortet.

„Mir wurde Andrew als Projektpartner zugeteilt“, entflieht es ihr, als sich ihre Zimmertür schließt. Andrew. Ein stiller und höflicher Junge. Ziemlich unproblematisch.

„Und?“

„Na, wie erkläre ich meinen Eltern, dass ich die nächsten Wochen ständig einen Kerl mit nach Hause bringen muss.“

„Trefft euch bei ihm.“

„Wie erkläre ich das?“

„Wechselt euch ab.“

„Er ist ein Kerl!“

„Trefft euch unter einem Baum.“

„Ehrlich? Ich dachte, ich bekomme von dir Hilfe.“ Sie wirkt säuerlich. Ich seufze ebenfalls und blicke kurz aus dem Fenster.

„Trefft euch in der Bibliothek. Dort seid ihr nicht allein und es ist ein sehr unverfänglicher Ort“, sage ich schließlich und höre von der anderen Seite ein Aufatmen.

„Oh, das ist hilfreich. Mit dir darf ich schließlich auch in die Bibliothek und du bist nicht mal halb so harmlos wie Andrew“, sagt sie fröhlich und ich bin empört. Was heißt hier nicht harmlos? Wenn sie wüsste. Ich schmolle und schweige.

„Mark? Bist du noch dran. Mark?“

„Ja, ich überlege nur gerade, ob ich jemals wieder hilfreich für dich bin.“

„Musst du, denn du bist einer dieser netten Kerle.“ Sie hatte Recht, doch es wurmt mich.

„Hast du auch die Einladung zu Marikas Feier bekommen?“, fragt sie mich und nur langsam erinnere ich mich an die SMS von vorhin. So genau habe ich sie mir nicht angesehen. Normalerweise meide ich die Partys, die von Schulkonsortium ausgerichtet werden, schließlich findet man dort meist nur bekannte Gesichter. Shari hört mein Murren und sofort versucht sie mich vom Hingehen zu überzeugen. Ich bezweifele, dass sie die Erlaubnis dazu bekommt und teile ihr das auch mit.

„Du darfst nicht mal, mit einem Schulbekannten zusammen an einem Projekt arbeiten, da willst du mich davon überzeugen, dass du auf eine Party darfst? Ich lache mich rund.“

„Lache nur, dann tut es vielleicht nicht so weh, wenn ich dich eine Klippe runterschubse“, erwidert sie mürrisch und fährt gleich fort. „Ich habe seit neusten eine Abmachung mit meinen Eltern. Ich darf einmal im Halbjahr zu einer Veranstaltung.“

„Da wir im letzten Schuljahr sind, hast du keinen guten Schnitt gemacht.“ Ungesehen hebe ich eine Augenbraue und entschuldige mich sofort, da ich weiß, welch Kampf dahinter steckt.

„Du bist heute aber witzig“, sagt sie sarkastisch und schiebt sofort eine Frage hinterher, „Du kommst mit, oder?“

Mein Magen verkrampft sich, doch da ich der nette Kerl bin, sage ich zu. Schließlich muss jemand auf sie aufpassen.

„Super, dann sehen wir uns morgen in Bio. Fir milenge“, flötet sie fröhlich

„Sayonara“ Mein Abschiedsgruss passend zur japanischen Begrüßung.
 

Ich lasse das Telefon auf meine Brust sinken und schließe die Augen. Sharis Worte hallen durch meinen Kopf und sorgen für ein wütendes Reißen in meiner Brust.

…, denn du bist einer dieser guten Kerle. Ich wäre es lieber nicht. Für diese Aussage hasse ich sie einen Moment. Doch sie hat Recht. Ich bin schon immer einer dieser guten Kerle, die sich für alles und jeden zurücknehmen und am Ende die Dummen sind. Deswegen sabbere ich seit Jahren diesem Kerl hinterher und muss nun dabei zusehen, wie der meine Schwester abschlabbert. Ich greife nach meinem Kissen und beiße hinein.

Beim Aufstehen werfe ich es gegen meinen Kleiderschrank. Mit einem leisen Geräusch kommt es auf dem Boden zum Liegen, während sich durch den Ruck die Schranktür öffnet und ein Stapel Kleidung heraus fällt. Ich bin also nicht mal ein guter Hochstapler.

Ich lasse das Chaos wie es ist und gehe noch mal in die Küche. Mittlerweile rächt sich das wenige Abendbrot und hungrig durchforste ich den Kühlschrank. Er ist voll, doch nichts spricht mich wirklich an. Gerade als ich ihn wieder schließe, fällt mir die angebrochene Weinflasche auf, die mein Vater in die Tür gestellt hat. Der Wein war wirklich köstlich gewesen und noch bevor ich mir überlege kann, ob das eine gute Idee ist, ist er in meiner Hand und ich bin wieder auf den Weg nach oben.

Ich setze mich auf den großen Balkon, der sowohl an meinem, als auch an Mayas Zimmer grenzt und blicke mich um. In den Nachbarhäusern sieht man überall noch Licht und auch das Zimmer meiner Schwester ist beleuchtet. Ob sie noch immer streiten? Hier draußen kann ich nichts hören. Ich sehe mich erneut um und erblicke endlich das, was ich suche. Um Streit zu vermeiden und die Zugangsberechtigungen zum Balkon zu regeln, hat unser Vater eine Art Paravent besorgt, der den großen Balkon unterteilt, sodass jedes seiner Kinder mit der jeweiligen Seite machen kann, was es will. Ich bin selten auf dem Balkon, also ist der Teiler nie aufgebaut gewesen.

Er ist sperrig, doch nach einer Weile steht er am richtigen Platz und schirmt mich von den neugieren Blicken der anderen ab. Ich lasse mich auf einen der Gartenstühle nieder und mir ist egal, ob er sauber ist. Mit der Hand ziehe ich den Korken aus der Flasche und rieche das blumige Bouquet des Weines. Der erste Schluck ist kalt und hat kaum Geschmack. Der zweite ist nur sauer, doch der dritte Schluck ist wie beim Abendbrot. Lecker.
 

In den letzten Wochen ist mein Zustand immer schlimmer geworden. Anfangs dachte und hoffte ich, dass die Beziehung zwischen Maya und Raphael nur eine kurze sprudelnde Liebelei sei, doch mit jeder Woche, die verging, wurde es fester und enger und mein Herz immer schwerer. Noch immer frage ich mich, warum es Raphael sein muss. Es gibt so viele nette junge Männer, die meine Schwester anziehend finden, doch sie musste sich ausgerechnet ihn aussuchen.

Zusammen sah ich sie zum ersten Mal in der Schule. Auf dem Sportplatz. Raphael betreut dort neben seinem Studium an der nahegelegenen Universität am Nachmittag einen Leichtathletikkurs. Als er den Kurs übernahm, war ich erfreut, denn das gab mir die Möglichkeit den anderen wiederzusehen. Ihn ansehen zu können. Der Campus ist nicht weit entfernt, aber die Wahrscheinlichkeit ihm einfach so über dem Weg zu laufen dennoch sehr gering. Doch dann sah ich Maya bei ihm. Näher bei ihm, als ich es je sein würde. Ich erinnere mich nicht gern an diesen Moment, denn ein paar Wochen später brachte sie ihn schon mit nach Hause.

Ich nehme einen großen Schluck aus der Flasche und sehe, wie sich der Lichtschein aus Mayas Zimmer verdunkelt. Noch sind keine Sterne zu sehen und ich höre nur das durchdringende Quaken der Frösche am Nachbarteich. Die Luft ist warm, doch es kühlt sich langsam ab. Ich bekomme kalte Füße und kippe einen weiteren Schluck Wein in mich hinein.

Nur Dumpf dringt das leise Klopfen an meiner Zimmertür nach draußen. Ich lausche und schweige. Sicher werden sie glauben, dass ich bereits schlafe, auch wenn das ungewöhnlich wäre. Ein weiteres Klopfen, dann wird es wieder still.
 

Mitten in der Nacht erwache ich, da ich friere. Ich bin auf dem Balkon eingeschlafen und froh, dass es langsam aber sicher Sommer wird, sonst wäre ich sicher erfroren. Mit extrem steifen kalten Fingern stelle ich die leere Flasche zur Seite und schlüpfe in mein Zimmer. Auch hier ist es kühl, doch ist es um einiges besser als draußen.

Kurz entschlossen gehe ich heiß duschen und sehe danach auf die Uhr. Es ist drei Uhr morgens. Ich habe noch ein paar Stunden und rolle mich in meinem Bett zusammen.

Mein Handy klingelt ohne mich zu fragen um halb 8 Uhr. Ich stelle es aus und drehe mich noch mal um. Nur kurz und obwohl ich keiner dieser morgendlichen Miesepeter bin, fällt es mir heute deutlich schwerer aufzustehen. Vielleicht liegt es an den akuten Frostschäden an meinen Knochen und meinem Gehirn. Nie wieder eine Nacht auf dem Balkon. Ich schleppe mich in die Küche, ernte einen fragenden Blick von meiner Mutter und setze mich in den Bus.

Vor dem Schulgelände wartet Shari auf mich. Sie sieht bezaubernd aus, da sie am Freitag immer einen Sari trägt, der ihr Äußeres immer perfekt abrundet. Der Sari ist ein traditionelles indisches Gewand für Frauen und das Tragen gehört zu den Abmachungen, die sie mit ihren Eltern getroffen hat. Ich versuche zu Lächeln, doch mir tut alles weh und mein Schädel dröhnt. Alkohol ist scheiße.

„Guten Morgen, wie schaust du denn aus?“, fragte sie entsetzt und greift in ihre Tasche. Zum Vorschein kommt eine Haarbürste, die sie mir reicht. Ich betrachte das Ding in ihrer Hand argwöhnisch.

„Hast du heute Morgen schon mal in den Spiegel geschaut?“, erfragt sie. Ich brumme zur Antwort.

„Ich hab es vermieden, da ich vor Schreck nicht ohnmächtig werden wollte.“, bringe ich heraus und starre auf die Bürste.

„Haare. Kämmen.“ Shari macht mir die typische Bewegung vor und ich fühle mich verarscht. Es kann nun mal nicht jede so perfekte, schöne schwarze Haare haben, wie sie.

„Ja, ich weiß, wie das geht.“

„Wirklich?“, murmelt sie und ich verstehe es kaum.

„Wie bitte?“

„Nichts“, flötete sie und läuft zum Schuleingang.

„Ach und die Japaner sagen am Telefon sowas wie Moshi Moshi“, sagt sie besserwisserisch und lächelt.

„Ferkel, du.“ Sie betont es falsch und es klingt noch schlimmer, als bei mir. Ich weiß das, doch es klingt so eigenartig, dass ich das nicht zu ihr sagen will.

„Blödmann.“ Ich folge ihr grinsend und kämme dabei meine Haare kurz durch. Bevor wir die Schule betreten, reiche ihr die Bürste zurück und versuche böse zu gucken. Doch ich schaffe es nicht sehr lang, da sie so wunderbar sommerlich in ihrem Sari wirkt und einfach hübsch ist.

„Ich bin auf mein Projektthema gespannt. Ich hoffe, es ist nichts extrem langweiliges.“

„Den Jahrgängen vor uns hat es immer gut gefallen“, murmele ich, „Ich wollt schon immer Mal einen Vulkan bauen.“. Ich schwelge in kindlichen Erinnerungen.

„Das macht man in der Grundschule, Mark.“, kommentiert Shari. Ihr amüsiertes Lächeln nimmt jeglichen Vorwurf aus dem Gesagten.

„Ich werde ja noch träumen dürfen. Bei meinem Glück bekomme ich irgendwas mit Genitalien oder Paarungsverhalten bei Affen.“ Ich schüttele mich und Shari lacht.
 

Unsere ersten beiden Stunden sind Biologie. Unser Lehrer spricht über die einzelnen Projekte und zu unserem Glück sind alle Themen interessant und befassen sich mit der Genetik, Evolution und Phytologie. Meine Projektpartnerin sucht uns ein phytologisches Thema und ich freue mich. Pflanzen sind mit lieber als Menschen und Aminosäuren. Kurz gesagt ist Biologie einfach nicht mein Fall.

Da ich mich am gestrigen Abend nicht bei ihr gemeldet hatte, vereinbaren wir am Ende der Stunde Termine für unsere Zusammenarbeit und ich beschließe in meinen Freistunden bereits am Computer zu recherchieren. Die Bibliothek ist kaum besetzt und nach einer Stunde habe ich einiges an Materialien zusammengesucht. Ich hole mir in der Mensa ein paar belegte Brote und wandere zum Sportplatz. Der obere Teil der Tribüne ist mein Lieblingsplatz. Dort sitzt man abgeschieden und durch ein paar Sonnenwänden gut vor den Blicken anderer versteckt. Von hier kann ich Raphael beobachten, wenn er die armen Schüler um den Sportplatz scheucht. Ich rechne damit, dass niemand da ist, doch ich täusche mich. Mit einem Brot zwischen den Lippen bleibe ich abrupt stehen, als ich den eben Erwähnten mit verschränkten Armen auf der Tartanbahn sehe. Seine Miene ist finster und auf der gegenüberliegenden Strecke kann ich einige seiner Schüler laufen sehen.

Wollten Maya und er nicht auf einer Veranstaltung? Ich denke eine Weile darüber nach und bin mir irgendwann sicher, dass er so etwas gesagt hatte. Vielleicht haben sie sich so arg gestritten, dass sie sich getrennt haben. Reines Wunschdenken und ich schäme mich minimal über die übermäßige Freude, die ich plötzlich empfinde. Vermutlich haben sie nur beschlossen nicht zu der Veranstaltung zu gehen. Dennoch kribbelt die bösartige Freude weiterhin durch meine Nervenbahnen, wie Ecstasy.

Noch immer hängt das Brot aus meinem Mund und ich bin hin und her gerissen, ob ich wirklich zu meinem Versteck gehen sollte oder einfach die Fliege mache. So leise wie möglich versuche ich mich um zudrehen, doch da hat mich Raphael schon entdeckt und winkt mich ran. Mist. Ich atme kurz durch die Nase ein und gehe zögerlich zu ihm. Bei ihm angekommen nehme ich das Brot aus meinem Mund und schaue verwundert drein.

„Hey, ich dachte, du bist mit Maya unterwegs?“, frage ich neugierig.

„Ja, wollte wir.“ Ein kurzes Schweigen folgt und ich traue mich nicht weiter zu fragen.

„Sie ist jetzt mit Nina gefahren“, sagt er knapp hinterher. In seiner Stimme schwingt etwas mit, was ich nicht deuten kann. Resignation? Unmut?

„Natürlich ist sie sauer, weil ich nicht mehr mit wollte. Dabei wollte ich nur vermeiden, dass ich ihr den Tag versaue.“ Er lacht ein seltsames Lachen und Hitze durchfährt mich. Sie bündelt sich in meinem Bauch und wandert immer tiefer. Kurz blickt er mich an. Ich fühle mich erwischt und wende meinen Blick ab.

„Sauer ist bei ihr doch normal. Ich kenne es nicht anders. Kann sie anders?“, frage ich scherzend. Ich zucke hilflos mit den Schultern. Raphael macht für ein paar Sekunden ein belustigtes und befreites Gesicht. Seine schönen grünen Augen funkeln, doch dann werden sie wieder matt.

„Es ist immer das Gleiche worüber wir diskutieren und nervt es mich ein wenig“, sagt er und schaut seinen Jungs beim Rundenlaufen nach. Ich weiß nicht, warum Raphael mir das erzählt, denn ich möchte bei dieser Sache nicht sein Ansprechpartner werden. Im Grunde weiß ich gar nicht, worüber sie sich streiten. Ich kann es mir nur zusammenreimen.

Die Stulle in meiner Hand fällt langsam auseinander und die Hitze in meinem Inneren lässt nicht nach. Kurz blicke ich zu ihm auf. Selbst der ernste Blick steht ihm.

„Ich sollte, dann mal weiter. Ich hab gleich wieder Unterricht.“ Das stimmt nicht. Ich habe massig Zeit, aber noch länger neben ihm zu stehen, würde mich verrückt machen.

„Hey, hast du einen Tipp für mich?“ Das tiefe Grün blickt mir entgegen. Ich schlucke. Jedem Anderen hätte ich geraten einfach rücksichtsvoll zu sein und sich nach den Bedürfnissen des anderen zu richten, sich langsam und sanft voran zu tasten. Sie hat nur Unsicher. Sie ist schließlich erst 17 Jahre alt. Obwohl sie meine Schwester ist, schweige ich. Denn ihm einen solchen Rat zu geben, bricht mir selbst das Herz.

Kein Französisch

Kapitel 3 Kein Französisch
 

Shari treffe ich beim Sport wieder. Nur am Freitag haben unsere beiden Klassen gemeinsam Unterricht, da wir da die Menge an Schüler für verschiedene Wettkämpfe nutzen. Heute werden wir zum Aufwärmen um den Sportplatz gejagt, um uns dann bei einem Volleyballturnier fertigmachen zu lassen. Ich hasse es, auch wenn ich eine relativ gute Ausdauer besitze. Ich habe Shari bereits einmal überrundet und bleibe locker laufend neben ihr.

„Ni hao", begrüße ich sie im Sinne des Einheitsbreis von gestrigen Abend.

„Du machst mich fertig", schnauft sie atemlos.

„Warum? Ich bin nicht schuld, dass wir hier rumgescheucht werden."

„Das stört mich auch nicht, sondern, dass du... DAS... machst." Sie deutet auf meine lustig hüpfenden Beine und ich weiß, dass sie die Leichtigkeit meint, mit der ich ihr folge. Ich wundere mich selbst, schließlich war ich heute Morgen kein sehr blühendes Leben und auch der Rest meines Vormittags hat kaum etwas meine Laune gebessert. Ich denke an Raphael und seinen Blick, als ich ihm eine mehr oder weniger nützliche, mehr ausweichende Antwort zu dem Problem mit meiner Schwester gegeben habe.

„Ist dir schon mal aufgefallen, dass du mittlerweile bei den eigenartigsten Sprachen angekommen bist und noch nicht einmal Französisch genommen hast?"

„Chinesisch gehört also für dich zu den eigenartigen Sprachen?", frage ich retour. Ich brauche nicht lange darüber nachdenken, weshalb ich nicht auf Französisch zurückgreife. Denn ich weiß wieso. Ich mag es nicht.

„Du weißt, was ich meine. Also, wieso?"

„Ich stehe nicht auf Französisch", sage ich und höre neben mir ein kehliges Lachen als Danny an uns vorbeizieht. Er ist einer dieser Sportler-Typen mit derben, dummen Humor. Bewiesenermaßen.

„Da verpasst du aber etwas", kommentiert er daraufhin lachend und ich setze an um ihm nachzujagen, lasse es aber sein. Ich blicke kurz zu Shari und sehe neben der Anstrengungsröte auch eine zusätzliche peinlich berührte auf ihren Wangen.

„Halt deine Schnauze, Danny", rufe ich ihm stattdessen nach und kriege sofort vom Lehrer drei weitere Runden aufgedrückt. Ich laufe noch immer, während die anderen bereits in Gruppen eingeteilt werden um Volleyball zu spielen. Ein kleines Turnier und ich bin froh laufen zu können. Ich habe mir bereits drei Finger beim Volleyball angeknackst und bin nicht sehr scharf auf ein viertes Mal.

Obwohl meine Strafrunden vorbei sind, laufe ich weiter. Es fällt niemanden auf. Der frische Wind, der um meine Nase weht, kühlt mich ab und das gefällt mir. Auf der Geraden schließe ich meine Augen und genieße. Ausgerechnet Danny hängt sich an meine Fersen, als ich am Volleyballfeld vorbeikomme.

„Das ist jetzt deine 5. Strafrunde, willst du nicht mitspielen?", fragt er mich und sein Kopf deutet wackelnd auf das Feld.

„Nein, ich stehe nicht so auf Gips und Volleyball. Zu grazile Finger", sage ich übertrieben und Danny lacht erneut. Er, der großgewachsene, sportliche Typ lacht über grazile Finger. Gut, er ist blond und blauäugig. Der Traum einer jeden Schul-Barbie. Das genaue Gegenteil von mir. Natürlich ist er einer, der besten Sportler und zu meinem Leidwesen auch noch bei Raphael im Leichtathletikteam. Eigentlich ist er ganz nett.

„Du stehst, also nicht auf Volleyball, genauso wie du nicht auf Französisch stehst", sagt er mit einem dieser grässlichen breiten Grinsen und ich verdrehe genervt die Augen. Gedanklich streiche ich meinen Kommentar über sein Nettsein.

„Haha, du bist ja so witzig", kommentiere ich stattdessen sarkastisch und trocken. Um ihm mein Unwillen zu verdeutlichen, ziehe das Tempo an, in der Hoffnung, dass er aussteigt und mich in Ruhe lässt.

„Ach komm, so was ist eine Steilvorlage."

„Nicht angebracht und außerdem meinten wir nur die Sprache." Danny bekommt das Grinsen nicht aus seinem Gesicht. Noch immer läuft er locker neben mir. Nicht sonderlich verwunderlich, denn bei Raphael muss er viel abkönnen.

„Seit wann bist du so prüde, Dima." Ich hasse es, wenn man meinen Nachnamen benutzt.

„In der Umkleide hört man ganz andere Dinge von dir." Er übertreibt. Niemand ist sittsamer, als ich. Purer Sarkasmus.

„Lass das einfach vor Shari, okay?", fordere ich und schubse ihn leicht weg. Er taumelt zwei Bahnen weiter an den Rand. Aber es dauert nicht lange und er ist wieder neben mir.

„Wieso? Sie ist scharf und hört sowas sicher nicht zum ersten Mal", sagt Danny neckisch und ich werde doch langsam sauer. Ich fühle mich dazu berufen sie zu beschützen, vor allem vor solchen Schmierlappen, wie Danny DiMarco.

„Alter, Schnauze."

„Sie ist sicher richtig gut in Französisch. Ich würde sie gern mal rannehmen und..." Wieder dieses dämliche Grinsen und er schafft es nicht den Satz zu Ende zu sprechen. Diesmal stoße ich ihn hart um und er landet auf dem Tartan-Belag. Schnell ist er wieder auf den Beinen. Ich schaffe es ihm einen Kinnhaken zu verpassen, als er auf mich zu stürmt und mich trotzdem auf den Boden stößt und ausholt. Wir verpassen uns einige Blessuren, ändern mehrere Male die Position bis mich jemand am Arm packt und hochzieht. Ich pralle gegen den Körper desjenigen, der mich weggezogen hat, blicke nach oben und direkt in Raphaels ausdrucksstarke Augen. Schlimmer könnte es gar nicht sein. Keuchend wische ich mir über die Nase, spüre Blut, welches von einer offenen Stelle an meiner Lippe über mein Kinn läuft. Danny hat eine ähnliche Spur unter der Nase, wischt sich darüber ehe ihm unser angerannter Sportlehrer aufhilft. Ich reiße mich von Raphael los und bringe es nicht fertig ihm erneut in die Augen zu sehen. Was er wohl denkt?

Mein Atem geht schnell und mein Herz rast. Und das ist nicht nur der Anstrengung geschuldet.

„Was ist los mit euch?" Unser Sportlehrer, Herr Müller, blickt abwechselnd zu mir und dann zu Danny. Wir schweigen. Mittlerweile hat sich auch der Rest der Klassen bei uns versammelt und schaut fragend, verwundert und belustigt in die Runde. Das Getuschel wird immer lauter. Ich lecke mir über die Lippen und sehe zu Danny, der sich mit dem Handrücken über die Verletzung fährt. Ich beiße die Zähne zusammen bis es wehtut.

„Niemand?" Keine richtige Frage, sondern im Grund eine Feststellung.

„Na gut, dann gehen wir zur Rektorin. Los." Er deutet auf mich und dann auf Danny, blickt böse und wartet bis wir zu ihm aufgeschlossen haben. Während des Laufens drehe ich mein Handgelenk. Es knackt und schmerzt.

„Raphael, wären Sie so freundlich das Turnier weiterzuführen, während ich weg bin."

„Natürlich.", sagt Raphael leise und sieht uns nach.
 

Wir schweigen den gesamten Weg über und auch als wir im Büro der Rektorin stehen, gibt keiner von uns beiden ein Wort von sich. Die magere Beschreibung des Vorfalls vom Sportlehrer zeichnet nur ein dünnes Bild. Die Rektorin fordert uns auf zu reden, kurz blicken wir uns an und wissen ganz genau, dass wir uns beiden keinen Gefallen damit tun den anderen zu belasten. Unsere Rektorin reagiert allergisch auf Gewalt und auf sexuelle Anspielungen, mögen sie noch so spielerisch sein.

Wir bekommen beide einen Verweis und Strafarbeiten aufgebrummt. Dazu gehört ein Aufsatz über die Nutzlosigkeit von Gewalt und variable Strafarbeit bei einem Lehrer. Der Sportlehrer wählt mich, sodass ich die nächsten 8 Wochen dafür zuständig bin, dass die Sporthalle ordentlich verlassen wird.

Ich sitze also jeden Tag bis 18 Uhr in der Schule fest. Happy Springtime. Natürlich wird ein Brief an unsere Eltern geschickt und schon jetzt freue ich mich auf das Gespräch, welches auf mich wartet.
 

Noch in die nächste Stunde hinein warten wir still auf die Lehrerin, die für die erste Hilfe zuständig ist. Danny hat sich auf die Krankenliege gelümmelt, während ich an der Wand neben der Tür lehne und aus dem Fenster blicke. Ich bemerke erst, als er den Mund aufmacht, dass er mich die ganze Zeit angesehen hat.

„Hätte ich dir nicht zu getraut", sagt er und zieht geräuschvoll die Nase hoch. Widerlich.

Ich will nicht darauf reagieren, denn ich weiß, dass es eine totale Dummheit war. Danny macht eine Punshing-Bewegung und legt sich wieder zurück.

„Der Haken hat gesessen, aber du solltest mehr trainieren, dann hätten ein paar andere Schläge besser gesessen." Er lacht und ich verdrehe die Augen. So ein Schwachsinn. Ich denke an Raphael und seufze.

„Hey, tut mir leid. Ich wollte Shari nicht beleidigen und danke, dass du vor der Rektorin nicht gesagt hast, was ich da von mir gegeben habe." Nun sehe ich ihn doch an und wundere mich. Eine Entschuldigung? Damit habe ich nicht gerechnet. Ich war mir aber sicher, dass Dannys Strafe härter ausgefallen wäre, wenn unsere Rektorin über den sexuellen Inhalt Bescheid gewusst hätte. Ich habe ihm somit wirklich einen Gefallen getan.

„Gut, dass du nicht gesagt hast, dass ich angefangen habe", sage ich leise und wende mich wieder dem Fenster zu.

Unsere Wunden werden gereinigt und wir werden in unseren Unterricht entlassen. Wir haben beide Kunst. Sofort geht das Getuschel los, als wir den Raum betreten und uns schweigend auf unsere Plätze niederlassen.

Normalerweise ist Kunst eines meiner Lieblingsfächer. Gute Noten dafür zu bekommen, dass man ein Talent hat, ist außerordentlich angenehm. Was will man mehr? Mittlerweile arbeite ich fast nur noch digital, aber hin und wieder male ich für meinen Kunstlehrer auch ein schönes normales Bild. Wenn er das so verlangt. Doch heute kritzele ich lustlos einige Comics auf meinem Block und folge nebenbei den Ausführungen über die malerische Leistung der Romantik-Künstler. Fantastische Naturmalereien mit gewaltigem Stimmungseinfang. Eigentlich mochte ich die Malerei von Hoffmann, von Arnim und co, doch im Moment ist mir nicht danach.

Als ich aus dem Kunstunterricht komme, wartet Shari auf mich. Ihr geschockter Blick spricht Bände, am liebsten würde ich einfach umdrehen und mich im Kunstraum verkrümeln.

„Mark, was ist da vorhin passiert?" Ich ziehe sie aus dem Schulgebäude und gemeinsam setzen wir uns für ein paar Minuten unter einen Baum. Sie ordnet ihren Sari und ich sehe ihr dabei zu, bis sie mich auffordert endlich mit der Sprache herauszurücken.

„Danny hat mich genervt". Ich möchte ihr ungern die Wahrheit sagen. Prompt hebt sie eine ihrer fein geschwungenen Augenbrauen. Sie glaubt mir nicht und ich würde es selbst nicht. Kurz überlege ich mir ein paar glaubwürdige Ausreden und seufze dann. Ich werde sie nicht belügen.

„Er hat unanständiges Zeug über dich gesagt und da hab ich ihm eine reingehauen", sage ich unvermittelt und balle meine Hände zu Fäusten. So gleich bereue ich es, denn meine Hand schmerzt noch immer fürchterlich. Shari stockt und denkt darüber nach, was sie sagen soll. Sie fragt nach keinen weiteren Ausführungen und ich bin dankbar, ihr das nicht wiederkäuen zu müssen.

„Wie unvernünftig von dir... und wie lieb." Sachte legt sie ihre Hand auf meinen Arm und ich sehe sie an.

„Ja, unvernünftig klingt nicht so hart, wie dumm. Also danke dafür." Sie rückt zu mir auf und legt mir ihren Kopf an die Schulter.

„Du hättest von der Schule fliegen können."

„Ach quatsch. Doch nicht wegen einer kleinen Prügelei. Ich habe mir ja noch nie etwas zu Schulden kommen lassen." Ich tue es ab.

„Was für Strafen hast du bekommen?"

„Einen Verweis, aber ohne Schulausschluss, einen Antigewalt-Aufsatz und ich bin für 2 Monate der Aufräum-Nuckel für den Coach." Sie kichert und beteuert mir dann ihr volles Mitleid. Meine Lippe schmerzt und erst jetzt meldet sich mein betrunkenes Gehirn zurück. Mit voller Wucht. Ich helfe Shari hoch und wir gehen gemeinsam in die Mensa. Wir trinken etwas und ich ignoriere die vielen komischen Anspielungen der anderen.

Meine letzte Stunde Mathe bringe ich hinter mich und treffe am Bus noch auf Shari, die von ihrem Vater abgeholt wird. Zum Abschied rufe ich Shari noch ein 'Sayonara' zu, denke 'Au revoir' und setze mich in den Bus.
 

Als ich ankomme, kann ich meine Eltern im Wohnzimmer sitzen sehen. Sorgfältig in einer Reihe stehen die Schuhe der Familie im Flur, auch Raphaels. Ein weiterer Abend mit seiner Anwesenheit und lautlos lasse ich meinen Kopf gegen die Haustür klopfen. Ich stelle meine Schuhe daneben und schleiche in die Küche. Wahrscheinlich versucht er mit Maya zu reden und alle Wogen zu glätten. Ich schlage mir ein paar Eiswürfel in ein Handtuch und bin erfreut, dass es niemand mitbekommen hat als ich lautlos versuche nach oben zu gelangen. Vorsichtig drücke ich mir das Eis an die Lippe und wandere die Treppe nach oben ins Bad. Ich wasche mir die Hände und sehe auf. Es ist das erste Mal, dass ich nach dem Kampf in den Spiegel gucke. Ich hätte es bereits vorher machen sollen. Noch immer klebt etwas Blut an meinem Hals und die aufgeplatzte Stelle an der Unterlippe ist größer, als ich dachte. Auch das dahinter befindliche Zahnfleisch ist aufgeplatzt und blutet. Ich schmecke es nur nicht mehr. Ich sehe eine rote Stelle an der Augenbraue und wenn ich dagegen drücke, spüre ich Schmerz. Prügeln wird nicht zu meiner Hauptbeschäftigung werden. Dennoch muss ich sagen, dass die Verletzungen meinem sonst eher feingliedrigen und wenig kantigem Gesicht etwas Schärfe verleihen. Sehr verwegen. Allerdings werde ich der einzige sein, der es so sieht.

Ich drücke das Eis wieder gegen die lädierten Stellen und schleiche zu meinem Zimmer.

Ungeschickterweise stoße ich gegen die Kommode im Flur und die Lampe rutscht vom Sockel. Von dem Geräusch aufgeschreckt kommt Maya aus ihrem Zimmer und blickt mich verwundert an. Raphael steht hinter ihr.

„Au weia, was ist denn mit dir passiert?" Sie kommt auf mich zu. Ich hebe schweigend die Lampe auf und stelle sie zurück. Als meine Schwester bei mir angekommen ist, reißt sie mir den Eisbeutel aus der Hand und schlägt die Hand vor den Mund.

„Hey!"

„Was ist passiert?", fragt sie erneut.

„Ja, Mark was ist passiert?", kommt es herausfordernd von Raphael und ich funkele ihn an. Durch den Aufruhr im oberen Stockwerk kommen nun auch meine Eltern die Treppe hinauf und sehen uns an.

„Was ist denn hier los?", fragt mein Vater und kommt auf mich zu.

„Herrje, was ist mit deinem Gesicht passiert, Mark?", fragt er weiter, als er nah genug ist, um meine Blessuren zu sehen. Ich blicke zu Raphael und sehe, wie er mit den Schultern zuckt. Nun kommt auch meine Mutter zu mir und dreht mein Gesicht in alle möglichen Richtungen. Ich verziehe es vor Schmerzen und reiße mich los. Meine Mutter sieht meinen Vater lange und bedächtig an. Ich muss kaum erklären, was passiert ist. Ich habe mich geprügelt und die Gründe dafür sind vollkommen nichtig.

„Was ist nur in den Jungen gefahren?", sagt sie leise, aber verzweifelt und ich bin sauer. Als ob ich andauernd Mist baue.

„Lasst mich doch einfach in Frieden, danke" Ich schiebe mich genervt an allen vorbei und schließe schnell meine Zimmertür. Ich lehne mich dagegen und verspüre nicht die geringste Lust etwas zu erklären. Soll ihnen doch Raphael erzählen, was geschehen ist. Ich will einfach nur den Eisbeutel zurück.

Strafe muss sein

Kapitel 4 Strafe muss sein
 

Ich höre, wie sie sich vor meiner Tür angestrengt unterhalten. Sie haben nicht mal den Anstand zu flüstern und so höre ich, wie sie darüber philosophieren, dass ich verrückt geworden sein muss oder zu mindestens langsam in den tiefdunklen Abgrund des antisozialen Jugendwahnsinns rutsche. Ich verdrehe ungesehen die Augen. Dann folgt ein bestimmtes Klopfen.

„Mark mach, bitte auf.“ Es ist mein Vater und bevor ich noch mehr Ärger provoziere, öffne ich die Tür. Nur einen Spalt breit. Er hat nicht definiert, wie weit offen ist.

„Was?“ Ich sehe erstmal nur mein Vater, der mich mit grimmig grüblerischer Miene anblickt.

„Was ist passiert?“, fragt nun meine Mutter und hält mir den Eisbeutel hin, den sie an meinem Vater vorbei in meine Richtung schiebt. Ich öffne die Tür etwas weiter und nehme ihn dankend entgegen.

„Also?“, hakt mein Vater nach und sieht mich fordernd an.

„Glaubt ihr mir, wenn ich sage, ich habe gegen einen Drachen gekämpft?“ Die skeptischen Blicke aller Parteien sind Antwort genug. „Ich hab mich geprügelt.“, gebe ich dann ohne Umschweife zu und sehe in die noch immer ungläubig dreinschauenden Gesichter meiner Eltern. Maya beginnt zu lachen und schaut dann amüsiert und zweifelnd aus der Wäsche. Genauso, wie die anderen. Nur Raphaels Blick ist wissend. Von meinem Vater kommt ein mahnendes ´Maya´.

„Wie bitte? Das ist nicht dein Ernst, oder?“, kommt es von meiner Mutter. Wäre ich doch bei der Drachenversion geblieben. Sie können es nicht fassen. Schließlich habe ich noch nie solche Probleme gemacht. Meine Eltern hatten nie Ärger mit mir. Abgesehen von den typischen Jungen- Wehwehchens, die man so beim Heranwachsen hat. Ich gehöre eigentlich, wie Shari bereits sagte zu der Netter-Kerl-Sorte. Als ich es nicht augenblicklich richtigstelle oder versuche zu erklären, werden die Gesichtsausdrücke meiner Erzeuger durch und durch ungläubig.

„Und warum?“, folgt nun die nicht unwichtige Frage nach dem Grund meiner Dummheit. Während meine Mutter die Hände an die Stirn schlägt und über meinen, ihren und dem gesamten familiären Ruf nachdenkt, sieht mich mein Vater relativ nüchtern an. Sollte ich es ihnen sagen? Immerhin war ich in gewisser Weise ein Ritter im Gymnastikanzug, der die Ehre der Jungfer Shari schützte. Es ändert jedoch nichts daran, dass ich das genauso gut auch verbal hätte tun können.

„Der Drache...“

„Mark!“ Einen Versuch war es wert. „Weil ich ein Idiot bin und es garantiert nie wieder tun werde“, kommentiere ich gelangweilt, aber einsichtig und drücke das Eis an meine kaputte Lippe, die jetzt wieder mehr schmerzt.

„Endlich sieht er es ein“, ruft Maya aus der Entfernung zu uns herüber und ich brülle etwas Unschönes zurück. Ja, ich kann auch verbal. Ich hatte gehofft, dass sie und Raphael nicht mehr im Flur stehen und meiner Hinrichtung beiwohnen. Ich höre, wie Raphael leise auf sie einredet und wie sich daraufhin die Tür zu ihrem Zimmer schließt.

„Ich hab mich bereits entschuldigt und es gab von der Schule einen Verweis und Strafen.“, erzähle ich. Es zu verheimlichen würde nichts bringen, denn der blaue Brief ist sicher schon bei der Post.

„Na, das ist ja auch das Geringste“, bricht es aus meiner Mutter heraus. Ich kann mich gerade noch zügeln um nicht haltlos die Augen zu verdrehen. Ein derartiges Verhalten wäre jetzt mein vollständiges Verderben. Meine Eltern sind sauer. Ich kann es deutlich daran erkennen, dass sie sich eigenartig zurückhalten.

„Oh Mark. Dir ist klar, dass es nicht bei den Strafen der Schule bleiben wird?“ Ich seufze, als mein Vater seine Brille absetzt und sich den Nasenrücken reibt.

„Hausarrest. Und du wirst direkt nach der Schule nach Hause kommen. Bis morgen lassen wir uns noch etwas anderes einfallen“, holt weiter aus und ich nicke verstehend. Strafen wie Fernsehverbot, Handyverbot oder sonstiges bekomme ich nie, denn sie wissen, dass sie mir damit nicht wehtun. Bis auf einige Kleinigkeiten bin ich sehr pflegeleicht.

„Ich hab Strafdienst in der Sporthalle. Ich werde sowieso nie vor 18 Uhr zu Hause sein“, informiere ich die beiden in der Hoffnung, dass sich vielleicht das zusätzliche Ausmaß reduziert. Immerhin bleibt gar nicht genug Zeit. Mein Vater seufzt und setzt die Brille wieder auf.

„Okay, ich drehe dir das Internet ab und der Hausarrest bleibt bestehen, ... aber erst ab Montag.“ Alles nur nicht das Internet, schreit es in mir. Das mit dem Internet trifft mich dann doch. Das mit dem Arrest ab Montag verwirrt mich.

„Hä?“, frage ich reichlich dümmlich.

„Deine Mutter und ich sind übers Wochenende bei Tante Ellie. Wir können daher eh nicht wirklich nachprüfen, ob du tatsächlich hier bist. Doch! Wir könnten alle halbe Stunde hier anrufen, aber...die Strafe soll ja nicht für uns sein.“ Mein Vater der Scherzkeks. Da ich nicht sehr umtriebig bin, denken sie bestimmt, dass ich das Haus sowieso nicht verlasse. Weit gefehlt. Ich denke direkt an Marikas Party und was ich Shari zugesichert habe.

Meine Mutter verschränkt die Arme vor der Brust und schüttelt den Kopf. Ich frage mich, was in ihrem Kopf vorgeht. Sie war seltsam still. Fragt sie sich, was sie bei mir falsch gemacht hat? Warum ich so querlaufe? Das frage ich mich auch. Ich wundere mich auch darüber, dass meine Eltern diese scheinheilige Begründung durchgehen lassen haben. Sie wissen, dass ich kein Idiot bin und mich nicht sinnlos prügele. Insgesamt bin ich ziemlich glimpflich davongekommen. So scheint es jedenfalls. Ich setze meinen schuldvollen Blick auf, nicke den weiteren Rest an elterlichen Vorwürfen und Grummeleien ab und schließe langsam die Tür. Ich will mich hinlegen und schlafen. Es ist einen Moment still, doch dann klopft es erneut.

„Sind euch doch noch mehr Strafen eingefallen?“, rufe ich durch die geschlossene Tür hindurch und bin nicht gewillt sie zu öffnen.

„Ich hätte da noch ein paar kreative Ideen. Lässt du mich kurz rein?“ Zu meiner Überraschung ist es Raphael, der vor meiner Tür steht und sofort beschleunigt sich mein Herzschlag. Mir fällt nur eine Strafe ein, dir er mir auferlegen kann. Der Status quo. Das alles so bleibt, wie es jetzt ist. Die schlimmste Strafe überhaupt. Ich zögere und mache die Tür auf. Wieder nur einen Spalt breit.

„Lass mich rein, oder willst du, dass sie mitbekommen, was ich zusagen habe...“, droht er mir flüsternd.

„Deine Eltern lassen sich vielleicht mit dieser Ausrede abspeisen, aber ich habe dich mit Danny gesehen.“ Da ich nicht gleich reagiere und die Tür weiter für ihn öffne, spricht er weiter. „Ich habe euch zusammen laufen sehen. Ich kenne Danny und bin sicher, dass er irgendwas gesagt haben muss. Also, was war es?“, bohrt er unverblümt nach. Ich starre Raphael unverhohlen an und fühle mich nicht wohl dabei Danny an ihn auszuliefern. Schließlich haben wir eine stille Übereinkunft.

„Was hat er gesagt?“ Noch immer sage ich nichts, sondern öffne die Tür so weit, dass sich Raphael ins Zimmer bewegen kann.

„Hey, wenn du denkst, ich würde Danny deswegen vielleicht beim Training härter rannehmen, verspreche ich dir hiermit, dass es keinerlei Auswirkungen haben wird.“, versichert er mir, so als hätte er meine Gedanken gelesen und macht eine ebensolche vorsorgende Geste mit seinen Armen. In diesem Moment hasse ich Raphael ein wenig, da er so widerstandslos in mich hineinblickt. Ich beobachte, wie er mit den Händen rumwedelt, verdrehe nun doch endlich die Augen und wende mich von ihm ab um nebenbei meinen Rucksack auszupacken.

„Er hat unangebrachte Äußerungen über Shari gemacht und glaube mir, du hättest ihm auch eine reingehauen.“ Bei jedem anderen Mädchen hätte ich wahrscheinlich gelacht oder einen blöden Kommentar abgegeben. Aber das er diese Bemerkung über Shari gemacht hat, hat mich austicken lassen. Im Grunde bin ich nicht besser als Danny und der weiß das. Seine Bemerkung über die Umkleidekabine war eindeutig. Ich bin ein Arsch und alle wissen es. Ich habe dort wirklich schon viel dummes, unrühmliches Zeug von mir gegeben.

„Mark...war es wirklich einen Verweis wert?“, murmelt er verzweifelt. Vorher weiß er das? Ich wende mich zu ihm um und sehe, wie seine schlanken langen Finger durch seine dunklen Haare fahren. „Dass du dich für sie einsetzt ist wirklich toll, aber prügeln ist der falsche Weg.“

„Ach“, sage ich fast abschätzig und ärgere mich nur noch mehr über mich, „Ich kann es nicht mehr ändern.“ Um ihm meinen Standpunkt zu verdeutlichen, greife ich mir den Kühlbeutel und drücke ihn mir ins Gesicht, so dass ich ihn nur noch mit einem Auge ansehen kann.

„Du bist ein guter Freund. Shari kann sich glücklich schätzen“, sagt Raphael, schmunzelt bei meinem Anblick und dreht sich zur Tür.

„Hey, habt ihr...miteinander geredet? Du und...Maya“, frage ich aus eine Laune heraus und bin selbst über mein Interesse erschrocken. Er bleibt vor der Tür stehen und sieht mich an. Ich spüre, wie sich mein Brustkorb zusammenzieht.

„Ganz kurz, aber dann... kamst du“, sagt er grinsend, “Immerhin...ist sie nun auf dich sauer, da sie dank dir auch kein Internet mehr hat.“ Er schmunzelt weiter und ich steige mit ein.

„Tja, dann müsst ihr euch eben anders beschäftigen“, plappere ich. Warum habe ich das gesagt? Nun fühle ich einen regelrechten Krampf und beiße mir auf die Unterlippe. Die lädierte Stelle schmerzt sofort und ich spüre, wie der leichte Schorf wieder aufreißt.

„Ähm, ja...werden wir.“ Raphael mustert mich fragend. Ich schmeiße den Beutel mit Eis auf den Schreibtisch, gehe rüber zum Kleiderschrank und ziehe wahllos ein Kleidungsstück hervor.

„Okay, ich sollte dann mal duschen gehen. Ich hab vorhin noch Blut an Stellen entdeckt, mit denen ich nicht gerechnet habe.“ Ich deute auf den Fleck an meinem Hals, den ich vermutlich gar nicht treffe. Er nickt langsam und schließt hinter sich die Tür.
 

Als ich allein bin, lasse ich das Hemd sinken, welches ich aus dem Kleiderschrank gezogen habe. Wow, wie glaubhaft. Erschöpft lasse ich mich auf das Bett fallen und lege eine Hand auf meinen verkrampften Brustkorb. Wo soll das nur enden? Ich stelle mir vor, wie er bald zu allen Familienfeiern kommt, wie sie heiraten und irgendwann ihre Kinder durch dieses Haus laufen und ich ihnen Weihnachtengeschenke machen muss. Der Schmerz in meiner Brust wird reißend und anscheinend wird das Trauma an den lädierten Stellen auch noch ein Stück heftiger. Allein die Vorstellung, dass ich bald hier wegziehe und mein eigenes Leben beginnen kann, lindert es. Doch wird auch das nichts daran ändern, dass ich ihn so sehr begehre, dass er in meinen Tag- und Nachtträumen die Hauptrolle spielt und dass das Gefühl zu Zergehen mit jedem Aufeinandertreffen wieder und wieder aufflammt. Stärker und heißer. Ätzender.

Ich schließe die Augen und denke an den Tag zurück, an dem ich Raphael das erste Mal gesehen habe. Es war ein kühler Herbstmorgen und mein erster Tag an der neuen Schule. Ich habe es gehasst und stand Minuten lang vor dem offenen Tor. Ich starrte die hinabfallenden Blätter der Bäume an und ignorierte das fröhliche Gelächter der anderen Schüler. Das Laub war wunderschön gewesen. Rot und leuchtend gelb. Sie bildeten ein feines Muster auf den Boden, wie ein bunter Teppich, der in diese höhnende Gruselkammer von Schule führte. Ich merke auch jetzt, wie es sich anfühlte, als mir der Rucksack von der Schulter rutschte, Doch er fiel nicht zu Boden. Jemand fing ihn auf und zog ihn mir zurück auf die Schulter. Als ich mich umwand, sah ich zum ersten Mal diese wunderschönen grünen Augen, die eine sanfte Spitzbüberei ausdrückten und mich sofort in ihren Bann zogen. Ich wusste schon damals um meine Vorliebe, aber genau wie heute war es eine stille Neigung. Raphael hat mir damals auf die Schulter geklopft und mir aufmunternd und hilfsbereit zu gelächelt. Es war eine sanfte und unschuldige Geste. Erst danach bin ich in das Schulgebäude gegangen und habe nach ihm Ausschau gehalten. Und das tat ich dann die ganzen Jahre über. Jahr für Jahr wieder. Ich weiß nicht mal, ob er sich noch daran erinnert. Wahrscheinlich nicht.

Ich setze mich auf und suche mir frische Klamotten zusammen. Der heraus gefallene Stapel von gestern liegt noch immer zwischen Schranktür und Kissen und für einen kurzen Moment überlege ich sie wegzuräumen. Doch mein Mangel an Lust siegt.
 

Im Badezimmer betrachte ich erneut mein normalerweise recht ansehnliches Gesicht und komme nicht umher deprimiert zu seufzen. Meine Chancen auf feuchtfröhliche Bekanntschaften auf der Party am Samstag sind definitiv geschmälert. Ich habe Shari versprochen dort hinzugehen und das werde ich auch tun. Vor allem da es höchstwahrscheinlich meine letzte Ausgehmöglichkeit für die nächsten Wochen sein wird. Meine letzte Chance auf Zerstreuung.

Bevor ich mich richtig dusche, lasse ich mir kaltes Wasser über das Gesicht fließen. Es ist angenehm und wohltuend bis das Wasser auf meinen Bauch tropft und an meinem Körper hinabrinnt. Ich beiße die Zähne zusammen und stelle mich komplett drunter. Schön ist anders, aber dafür kühlt es neben den Blessuren auch mein stetig erhitztes Gemüt.
 

Ich bekomme ein paar geschmierte Brote und esse sie schweigend neben meiner Mutter in der Küche. Sie telefoniert mit ihrer Schwester. Die Schwester, die sie morgen besuchen werden. Die Frage nach dem Wieso stelle ich schon lange nicht mehr. Ich sehe zu, wie sie ein paar Strähnen ihres langen Haares zwischen den Fingern dreht, die Spitzen begutachtet und dann wieder fallen lässt. Sie wiederholt es auf der anderen Seite. Mir wird bewusst, dass auch Maya so etwas macht. Meine Kopfschmerzen haben bisher nicht nachgelassen. Ich schiebe den fast leeren Teller zur Seite und gehe zu meinem Vater ins Wohnzimmer.

Er schaut einen Krimi und schwenkt ein Glas Cognac zwischen seinen Fingern. Gerade als ich mich wieder von ihm abwende, höre ich seine Stimme.

„Telefoniert sie immer noch mit Ellie?“

„Ja, wahrscheinlich hat sie Angst, dass zwei Tage nicht reichen um alles zu besprechen.“ Mein Vater schmunzelt und ich bin schon fast aus dem Zimmer, als mich seine Stimme erneut zurückhält. Jetzt kommt die Moralpredigt.

„Mark, ich will das du weißt, dass wir es nicht gut heißen.“

„Das weiß ich.“ Ich warte auf einen Nachschub, doch er bleibt still. Gewirkt hat es dennoch, denn ich fühle mich schlecht.

In meinem Zimmer setze ich mich an den Schreibtisch und schalte den PC ein. Als mein Hintergrund erscheint, fällt mir wieder ein, dass es kein Internet mehr gibt. Ich lehne mich zurück und starre einen Moment hilflos auf die vielen kleinen Ordnersymbole. Nicht einmal spielen kann ich ohne Internet. Ja, das Internetverbot trifft mich extrem. Ich nehme mein Handy zur Hand und tippe eine Nachricht an Shari.

- Hausarrest und Internetverbot -

Ich suche den erbärmlichsten Heul-Smiley heraus, den ich finden kann und sende die Nachricht ab. Ihre Antwort dauert nicht lange.

-Was ist mit der Party???????- Würde es einen Panik-Smiley geben, hätte sie ihn gewählt. Kein bisschen Mitleid. Keine Anteilnahme. Ich bin zwar selber schuld, aber das ist schon fies. Ich fühle mich nicht besser.

-Hausarrest gilt erst ab Montag. Meine Eltern sind übers Wochenende weg- Ich bilde mir ein, sie ausatmen hören zu können. Ich will Mitleid, doch ich bekomme keins. Stattdessen erhalte ich eine weitere Nachricht, in der sie ausdrückt, wie aufgeregt sie ist und lege das Handy zur Seite. Ich klicke planlos ein paar Ordner an und wieder weg, stelle das Gerät aus und werfe mich auf das Bett. Ich schlafe schnell ein.
 

Mehrere Gründe lassen mich am morgen früh erwachen. Meine Eltern, die aufgeregt und wenig leise im Haus herumlaufen und das ätzende Pochen an meiner Unterlippe und der Augenbraue. Ich lecke vorsichtig mit der Zunge über die offene Stelle und spüre die Rauheit des Schorfes. Prügeln ist scheiße. Nie wieder.

Die Zeiger meines Weckers stehen auf halb 8 und ich drücke mir das Kissen auf die Ohren um wenigstens den Lärm meiner Eltern zu unterdrücken. Ich schlafe wieder ein und wache erst drei Stunden später wieder auf.

In der Küche finde ich einen Zettel mit Anweisungen und etlichen Bitten. Blumen gießen, aufräumen und das Haus nicht zerlegen. Dabei habe ich schon eine vollständige Neuordnung der Zimmer geplant. Arbeiten auf dem Klo. Schlafen in der Küche. Still nicke ich es ab und höre Schritte auf der Treppe. Es sind Maya und Raphael. Sie verabschieden sich voneinander, denn er wird in seine Wohnung fahren. Ich verhalte mich still und versuche dem Verabschiedungsritual so wenig Aufmerksamkeit, wie möglich zukommen zu lassen. Ich erwische mich, wie ich zur Tür schiele und genau in diesem Moment ihre Küsse sehe. Ich möchte kotzen und heulen zugleich. Mein Appetit auf Frühstück ist mir vergangen, dennoch bleibe ich so lange die beiden im Flur stehen in der Küche. Danach kommt Maya hinein und sieht mich an.

„Du siehst scheiße aus.“ Wie freundlich.

„Nun, weiß ich, wie du dich jeden Morgen vor dem Spiegel fühlst“, erwiderte ich und gehe an ihr vorbei. Ich sehe das zornige Glitzern in ihren blaugrauen Augen und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.

„Du bist ätzend.“

„Und du lass dir mal was Neues einfallen“, flötet ich zurück.
 

Den Rest des Tages verbringe ich damit mein Zimmer aufzuräumen und zum Nachmittag schaffe ich es etwas zu essen. Pünktlich zum frühen Abend erhalte ich die erste SMS von Shari. Sie weiß nicht, was sie anziehen soll. Ich weiß es auch nicht. Ich rate ihr zu Jeans und Bluse, ernte ein fassungsloses Emojicon. Jedenfalls interpretiere ich es als solches. Wer weiß das schon. Wir verabreden uns vor der Schule um gemeinsam zur Party zu fahren.

Ich gehe duschen, lasse meine Bartstoppeln stehen in der Hoffnung, dass sie die Blutergüsse verdecken und ziehe mir ein paar schwarze Jeans und ein passendes enganliegendes Hemd an. Vor dem Spiegel bleibe ich einen Moment stehen und betrachte mein Abbild. Eigentlich ganz gut. Ich bräuchte ein bisschen mehr Muskeln. Allerdings ist das nichts, was ich in 10 Minuten gelöst bekomme. Also nicke ich mir aufmunternd zu und habe dabei längst abgeschrieben, dass der Abend ein Erfolg für mich parat hat.

Bevor ich losfahre, durchsuche ich mein Portmonee nach Geld und allen anderen wichtigen Dokumenten. Ich schnappe mir die Schlüssel zum Zweitwagen meiner Eltern und öffne die Haustür.

„Wo willst du hin?“, hält mich Mayas Stimme zurück, als ich verschwinden will. Ich drehe mich zu Maya um, die im Türrahmen zum Wohnzimmer steht und mit verschränkten Armen verdeutlich, dass sie mir auf die Nerven gehen will. Eines ihrer vielen Hobbies. Für dieses jedoch verwendet sie besonders viel Herzblut.

„Zum Gottesdienst“, gebe ich genervt wieder.

„Du hast Hausarrest.“ Das klingt fast wie eine Drohung und ich drehe mich erneut zu ihr um.

„Und du wirst dafür sorgen, dass ich es einhalte?“, frage ich herausfordernd und sehe, wie sich ihre feinen Nasenflügel blähen.

„Das gilt, aber erst ab Montag“, hänge ich ran und verlasse endgültig das Haus.

Ein Inder in der Küche

Kapitel 5 Ein Inder in der Küche
 

Die Fahrt zur Schule dauert nur wenige Minuten und doch komme ich erst nach Shari an. Sie steht mit unruhigen Beinen unter einer Eiche und reibt ihre schmalen Finger an der Jacke. Sie lächelt als sie mich sieht.

„Namasté“, ruft sie und kommt geschwind auf mich zu. Ihre locker zusammengebundenen Haare schwingen im Takt ihrer Schritte hin und her.

„Dobrui wetscher“ Das Russisch perlt gut von meinen Lippen und ich genieße den rüden Klang. Im Gegensatz zu dem weich gehauchten ´Namasté´ von Shari klingt es hart und unbarmherzig. Ich mag es.

„Uh, du solltest Bösewichte synchronisieren.“ Scherz oder Wahrheit. Ihr Lächeln hält sich bombenfest und ich kann es wirklich nicht sagen.

„Ich werde lieber zu einem“, sage ich mit tiefer und fast böser Stimme. Sie lacht und nimmt es mir nicht ab. Ich auch nicht.

„Oh, deine Braue hat ja gestern auch etwas abbekommen“, bemerkt sie erstaunt. Sie streckt ihre Hand, zieht sie dann wieder zurück, bevor sie die böse Aua-Stelle berühren kann.

„Ich hab überlegt, ob ich sie mir piercen lasse. So als Kontrast zu dem Regenbogen, der sich da bald bildet.“ Ich scherze, doch sie blickt mich für einen kurzen Augenblick verständnislos an.

„War ein Spaß. Steig endlich ins Auto bevor wir zu spät kommen.“ Shari klatscht in die Hände. Ich verdrehe theatralisch die Augen und schiebe sie zum Auto.
 

Als wir bei Marikas Wohnhaus ankommen, ist schon einiges los. Einige bekannte Gesichter stehen vor dem Eingang, rauchen und trinken. Ich fahre eine Querstraße weiter und stelle in sicherer Entfernung zur Party das Auto ab.

„Wieso bist du eigentlich mit dem Auto? Trinkst du nichts?“, fragt Shari und zerrt an ihrer Kleidung herum. Sie trägt eine beige Stoffhose und ein schöne, nicht zu tief ausgeschnittene Bluse mit kleinen zarten Blümchen. Sie sieht umwerfend aus. Niedlich, aber irgendwie auch ein bisschen sexy. Ich sollte sowas nicht denken. Schon gar nicht nach der Sache mit Danny.

„Nee, sowas wird vollkommen überbewertet. Man muss nicht trinken um Spaß auf einer Party zu haben“, kommentiere ich und klinge erstaunlich glaubwürdig. Ich habe den Abend für mich sowieso schon abgeschrieben. Erneut wirft sie mir diesen seltsamen Blick und ich ignoriere ihn gekonnt.

„Nein, Shari, ich trinke nicht. Ich bin nur hier um dich nachher heil nach Hause zu bringen, mehr nicht.“ Die Antwort gefällt ihr noch weniger.

„Ich will dir aber keine Last und keine Bürde sein.“, erwidert sie und dreht sich verärgert von mir weg. Ich halte sie zurück.

„Entschuldige, so sollte es nicht klingen. Ich mache mir nur Sorgen...“

„Um deine Nerven?“

„Nein...“

„Um deinen Kopf?“, fragt sie unschuldig.

„Was?“

„Na, wenn ihn dir mein Vater abreißt?“ Nun lächelt sie. Mir entgleisen die Gesichtszüge. Ihr Vater. Oh man. Shari zieht mich lachend zur Party, während ich ihr versichere, dass es nicht mal ansatzweise lustig ist.
 

Im Haus ist es stickig. Bereits im Treppenhaus kommen uns rauchende und grölende Gäste entgegen. Sie sind bereits stark angeheitert. Shari begrüßt jeden freudig und beginnt sofort ein angeregtes Gespräch mit einer dunkelhaarigen Mitschülerin, die ich nur vom Sehen kenne.

Ich halte mich im Hintergrund und schaue mich neugierig um. Ich bin schon mehrmals in der großen WG-Wohnung gewesen. Marika war wie Raphael einen Jahrgang über mir und bewohnt mit zwei weiteren Studentinnen eine 4-Zimmerwohnung. Hier steigen oft Partys. Sie haben das Glück in einem reinen Studentenwohnhaus zu leben, so dass es niemanden stört, wenn die halbe Nacht laute Musik gespielt wird. Im Gegenteil. Alle Bewohner feiern einfach mit. Jemand klopft mir auf die Schulter und ich schaue in das Gesicht eines meiner Klassenkameraden.

„Hey, ich hätte ja nicht gedacht, dass du so zuschlagen kannst, Dima.“ Wieder mein Nachname. Ich hasse das, aber es ist unter den sportlichen, männlichen Schüler die beliebteste Anrede.

„Ja, ja“, antworte ich ihm genervt. Es scheint ihn nicht zu stören, denn sein Grinsen wird nur noch etwas breiter und der Schlag gegen meinen Oberarm noch etwas härter. Er drückt mir ein Bier in die Hand und geht weiter. Es ist noch geschlossen und für einen Augenblick überlege ich es zu öffnen. Mit einen Seufzen stelle ich es zur Seite. Ich hab mir festgenommen nicht zu trinken und ich werde es einhalten. Unwillkürlich wandert mein Blick suchend durch die Menge und ich bin erleichtert, als ich im Flur den schwarzen Haarschopf meiner Freundin entdecke, die sich angehalten mit einer Blondine unterhält. Die kenne ich nicht. Die kleine Inderin anscheinend schon.

Die Musik ist abwechslungsreich und die meisten Lieder kenne ich sogar. Ich hindere mich nur mit großer Mühe daran nicht dauernd mitzusingen. In der Küche besorge ich mir etwas Cola und frage auch Shari, ob sie irgendwas möchte. Sie verneint. Ich bitte sie darum nur geschlossene Getränke zu trinken und lasse mich auf der Lehne des Sessels nieder. Shari weiterhin im Blick. Selbst, wenn ich es wollen würde, würde ich mich nicht amüsieren können. Hin und wieder erreichen mich ein paar Bemerkungen über die Prügelei, doch ich ignoriere sie gekonnt. Bis Danny selbst vor mir steht. Sein linker Naseflügel ist geschwollen und auch der Wangenknochen leuchtet rötlich. Im Gegensatz zu mir sieht er damit nicht vollkommen lächerlich aus.

„Ich hab wohl doch mehr Treffer gelandet, als ich dachte“, sagt er und deutet auf meine Augenbraue. Ich winke ab.

„Das ist jetzt voll im Trend, hab ich gehört.“

„Ist das so?“ Danny lacht.

„Wenigstens lag das Überraschungsmoment bei mir“, witzele ich weiter. Danny lacht schallend.

„Was machst du hier? Du warst schon ewig nicht mehr auf unseren Feten“, bemerkt er und nimmt einen großen Schluck aus seinem Glas. Ich kann nicht erkennen, was es ist, was er trinkt, aber es riecht stark alkoholisch. Er entdeckt Shari in einer Gruppe von Mädchen und blickt direkt wieder zu mir.

„Ah, jetzt verstehe ich deine Anwesenheit.“ Ich folge seinem Blick, grinse schief und nicke. Schulterzuckend nippe ich an der Cola Dose.

„Keine Sorge, ich halte mich von ihr fern. Sonst brichst du mir nachher noch die Nase. Seid ihr eigentlich ein Paar?“ Ich verschlucke mich an meinem Getränk und schüttele den Kopf, nachdem ich wieder Luft bekomme.

„Nein. Nein. Nein. Und niemand von uns wird je an ihrem Vater vorbeikommen“, sage ich ohne weitere Erklärung und hoffe damit von weiteren Fragen ablenken zu können. Shari ist meine Freundin, meine beste und wird nie etwas anderes sein. Das ist für mich sehr viel wert. Danny lacht noch immer über den Scherz mit ihrem Vater und zum zweiten Mal an diesem Abend bekomme ich ein Bier in die Hand gedrückt.

„Doch, du bist cool.“ Er klopft mir auf den Rücken mit einer solchen Wucht, dass ich mich noch mal verschlucke. Ich komme nicht dazu noch etwas zu erwidern, denn er geht schon weiter.

„Oh man“, murmele ich leise und fahre mir durch die Haare. Unvermittelt setzt sich Marika neben mich. Ich erkenne sie an ihren leuchtend roten Haaren und lächele.

„Hey Mark, schön dich mal wiederzusehen.“ Kurz umarmt sie mich und schaut sich danach kritisch die Verletzungen in meinem Gesicht an. Sie fragt nicht, sondern schüttelt nur den Kopf. Ich danke ihr schweigend. Wir haben uns vor einem Jahr auf einer ihrer Feiern kennengelernt. Damals waren die Partys noch etwas kleiner und man konnte mit anderen Leuten ins Gespräch kommen.

„Eure Feiern werden immer gigantischer“, bemerke ich. Sie nickt eifrig. Etwas Sinnvolleres fällt mir nicht ein, doch Marika lacht.

„Ja, wir planen schon eine Wohnungs- und Etagenübergreifende Party. Jede Etage mit eigener Musikrichtung. Dann bleibt uns das Kuddelmuddel erspart. Du bist herzlich eingeladen.“ Nun lache auch ich und schüttele, warum auch immer, den Kopf.

„Komm mal mit.“ Sie packt mich an der Hand und zerrt mich durch die halbe Wohnung in eines der Schlafzimmer. Auch hier stehen überall Menschen und die Luft ist schlecht.

Marika bleibt bei einer großen Silhouette stehen, die sich mit einer Gruppe Mädchen unterhält. Marika tippt ihm energisch auf die Schulter und als er sich umdreht, erkenne ich sofort die braunen Augen und das sanfte Lächeln. Jake. Er ist Marikas Cousin und ich habe ihn bei einer der ersten Partys kennengelernt. Er ist ein paar Jahre älter, als Marika und somit auch einiges älter als ich. Wir haben uns gut verstanden, zu gut. Er schaut erst verwundert, dann aber erfreut. Anscheinend erkennt er mich und ich frage mich, wie viel er noch weiß. Marika textet ihn einen Moment lang zu, beugt sich zu ihm und verschwindet dann blitzschnell nach unten. Nun richtet Jake seine ganze Aufmerksamkeit auf mich.

„Mark, es ist schön dich zusehen. Es ist ja schon ewig her.“

„Fast ein Jahr.“ Es ist mir tatsächlich ein wenig unangenehm, jetzt plötzlich mit ihm allein zu sein. Kurz sehe ich mich nach Marika um, auch wenn es ein hilfloses Unterfangen ist. Ich spüre Jakes Blick auf mir und es wird noch einen Zacken peinlicher. Vor allem als mir einfällt, wie ich zurzeit aussehe.

„Ich hab von der Prügelei gehört, aber, dass du der Mark bist, der daran teilgenommen hat, war mir nicht bewusst“, erzählt er und ich schließe nun sogar sichtbar peinlich berührt die Augen.

„Wenn ich für jede Erwähnung heute einen Drink bekommen hätte, dass läge ich jetzt schon im Krankenhaus. Dass darüber so intensiv geredet wird, ist mir langsam echt peinlich.“ Ich bereue es umso mehr, denn das was ich am Wenigsten wollte, war Aufmerksamkeit. Das Gerede und Getratsche nervt mich und auch das Image, welches die Leute damit in Verbindung bringen. Wenigstens weiß niemand, dass es bei dem Streit um Shari ging, denn niemand spricht mich darauf an oder sie. Apropos hübsche kleine Inderin. Ich habe sie nicht mehr im Blick. Unruhig sehe ich mich um. In den Moment, in dem ich mich langsam wieder aus dem Zimmer stehlen will, hält mich Jake zurück. Seine warmen Finger jagen eine bestimmte Erinnerung durch meinen Kopf und ich schlucke. Ein Kuss. Ein wirklich guter.

„Weißt du, ich habe wirklich gehofft, dich auf einer der anderen Feiern wiederzusehen, aber...“, setzt er an und ich unterbreche ihn.

„Ja, entschuldige, ich hab mich rar gemacht. So hält man das Interesse aufrecht“, witzele ich, „Jake, ich muss wieder runter. Ich hab da so eine...kleine naive... Sache...“

„Wie bitte?“, fragt er irritiert und ich bin nicht gewillt es weiter auszuführen.

„Du, sei mir nicht böse, aber ich muss wirklich runter...“, rufe ich noch im Gehen und winde mich geschwind die Treppe hinunter. Unten bahne ich mir einen Weg durch die Massen und sehe Shari noch immer in der Gruppe Mädchen stehen. Erst jetzt fällt mir ein, dass wir nicht darüber gesprochen haben, wann sie zu Hause sein muss. Ich stelle mich hinter sie und versuche ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich murmele mehrmals ihren Namen. Nichts. Irgendwann grolle ich ihn, wie in einem Horrorfilm. Weiterhin nichts.

„Entschuldigt“, werfe ich nun laut in die Runde und fünf Augenpaare sehen mich an. Vier davon sind mir bekannt. Ich ziehe Shari aus der Gruppe und entschuldige mich ein weiteres Mal bei den Mädchen.

„Hey, wie gefällt es dir?“, frage ich ganz neutral.

„Bisher gut. Es ist ziemlich laut und es wird gar nicht getanzt, aber ich finde es gut.“ Sie hält eine Dose Cola in der Hand und ich nicke zufrieden.

„Irgendwann, wenn genug getrunken wurde, wird auch getanzt. Muss man nicht unbedingt miterleben. Wann sollst du zu Hause sein?“, frage ich hinterrücks. Shari schaut auf die Uhr und lächelt.

„Um 12 Uhr. Ein bisschen können wir noch bleiben. Du bist ja mit dem Auto, also geht es schneller.“ Sie nickt bestimmt und ich überlasse sie wieder ihrer Tratschgruppe. Ich hole mir aus der Küche eine weitere Cola und gerate erneut in die Fängen von Marika und einer ihrer Mitbewohnerin. Auch diese kenne ich vom letzten Jahr. Nun bleibt mir eine genauere Beschreibung über die Ursache meiner Blessuren nicht erspart und genervt käue ich den Ablauf wieder. Natürlich lasse ich die unsittlichen Beweggründe weg.
 

Es ist zehn vor 12 Uhr, als ich den Kopf hebe und sehe, wie ein großer, älterer Inder durch die Küchentür spaziert. Sharis Vater sieht sich um und fokussiert fast sofort mich. Er überragt alle und steht mitten in der Küche. Ich schlucke und bahne mir behutsam und zurückhaltend einen Weg zu ihm.

„Namasté, Mister Ambani.“ Ich verneige mich respektvoll, blicke hektisch auf die Uhr und suche nach Shari. Sie hat sich nicht weg bewegt, sondern steht noch immer mit denselben Mädchen im Wohnzimmer.

„Mark.“ Nur ein Brummen. „Wo ist sie?“, fragt er hinterher. Ich deute ihn an mir zu folgen und erreiche Shari bevor er bei ihr ankommt. Schnell flüstere ich ihr zu, dass ihr Vater da ist und sehe den erschrockenen Blick. Ohne weitere Worte schiebt er sie durch die Menge. Ich folge ihnen bis ich wortlos an der Haustür stehengelassen werde. Ich flüstere ein ´Da swidanija´ und hoffe, dass sie keinen Ärger bekommt. Ich bleibe einen Moment an der frischen Luft stehen und ignoriere die fragenden Blicke der Partygäste, die an der Tür vorbeikommen. Ignorieren kann ich gut. Erst Jakes Stimme reißt mich aus den Gedanken.

„Kleine naive Sache, ja?“, fragt er verstehend, „Alles okay?“ Ich sehe ihn nicht an, sondern starre weiter in die Nacht.

„Denke schon...“, murmele ich. Bin mir nur nicht sicher. Jake bleibt neben mir stehen und ich merke, wie er mir sachte an die Schulter stupst.

„Habt ihr sie heimlich aus dem Haus geschmuggelt?“, fragt er und ich kann mir ein leichtes Lachen nicht verkneifen. Was für ein dämliches Klischee.

„Nein, aber es war sozusagen das erste Mal, dass sie auf eine Party durfte und eigentlich war abgemacht, dass ich sie um 12 Uhr zu Hause absetze, aber... wie man unschwer an dem großen Mann erkennen konnte, hat das nicht geklappt.“

„Wohl wahr“, sagt er leise lachend. Ich mache mir Vorwürfe, weil ich nicht früher daran gedacht habe sie wegzubringen. Anscheinend sehe ich dementsprechend angeknackst aus, denn ich spüre seine warme Hand an meiner Schulter. Nahe meines Halses. Nun sehe ich ihn an. Sein Lächeln ist sanft und aufmunternd. Ich merke, wie sich ein warmes Gefühl in mir ausbreitet und augenblicklich die Erinnerungen zurückkommen.

„Mach dir keine Vorwürfe, bei solchen Eltern ist es schwer alles richtig zu machen. Wahrscheinlich saßen sie schon nach ihrem Fortgehen auf heißen Kohlen.“ Jake hat vermutlich Recht, aber mein schlechtes Gefühl bleibt und mischt sich nun mit der eigenartigen Aufregung, die seine Anwesenheit auslöst.

„Hey, tut mir leid, dass ich vorhin so schnell abgerauscht bin“, plappere ich unüberlegt.

„Schon gut...Bleibst du noch ein bisschen?“, fragt er hoffnungsvoll. In meinem Inneren setzt sich etwas in Bewegung. Ein Kribbeln. Es ist voller Aufregung. Ich nicke nach kurzem Überlegen. Jetzt kann im Grunde nichts mehr schiefgehen. Jake lächelt, schiebt mich zurück auf die Party und drückt mir als Dritter ein Bier in die Hand. Diesmal öffne ich es, denn ich kann mein Versprechen nicht mehr einhalten und muss es auch nicht. Der erste Schluck ist bitter und ich wünsche mir den Wein vom vorigen Abend zurück. Marika taucht wieder auf und fragt nach Shari. Auch das käue ich wenig enthusiastisch wieder. Sie nickt verständnisvoll und versichert mir ebenfalls, dass sie hofft, Shari würde keinen Ärger bekommen.

„Hey, da fällt mir gerade ein, was ich dich noch Fragen wollte...“ Die Spannung steigt. „Ist Rapha wirklich mit deiner Schwester zusammen?“ Sie kichert nur bei der Vorstellung. Meine Stimmung schwindet augenblicklich dahin. Auch mein Herz rutscht ins Bodenlose.

„Ich kann es gar nicht glauben“, quasselt sie weiter und merkt gar nicht, dass ich keine Antworten gebe.

„Sie ist ja wirklich ein hübsches Ding, aber erst 17 Jahre, oder? Was will er denn mit so jungem Gemüse?“ Nun blickt sie mich an und ich fühle mich gezwungen zustimmend zu nicken. Ich leere das Bier mit einem letzten langen Zug und nehme mir ein neues, während Marika weiter herum philosophiert, was Raphael an meiner Schwester finden konnte. Jedes ihrer Worte drückt sich schmerzhaft in meinen Brustkorb. Mein Kopf wird schwer. Nur noch halb höre ich ihr zu und bin irgendwann bei meinem vierten Bier in kurzer Zeit angekommen. Ich sehe zu Jake, der sich bisher weitestgehend aus Marikas Monolog herausgehalten hat und nur hin und wieder ein paar Kleinigkeiten von sich gibt. Er hat seine Arme vor der Brust verschränkt und streicht sich mit den Händen immer wieder über die freiliegende Haut seines Oberarms. Mein Blick haftet sich auf die kleinen Härchen, die sich durch mein alkoholisiertes Gehirn sanft auf und ab bewegen. Wie es sich wohl anfühlt? Weich? Kribbelig. Ist weich ein Gefühl?

Ich erinnere mich an den Abend vor einem Jahr zurück. Er hat sich kaum verändert. Seine dunkelbraunen Haare sind etwas kürzer und er trägt einen leichten Bart. Es sind gute Erinnerungen an Jake, die etwas in meiner Brust flattern lassen. Ein Kuss, der intensiv und gut gewesen war. Und dennoch habe ich ihn nicht angerufen oder mich irgendwie anders bei ihm gemeldet. Aber der Kuss. Küssen. Mein Gehirn driftet immer weiter ab bis ich sanfte grüne Augen vor mir sehen. Liebevoll funkelnd. Und seine Lippen. Seine Lippen kann man bestimmt ganz besonders gut küssen.

„Entschuldigt mich“, sage ich abgelenkt und schiebe mich an den beiden vorbei zum Klo. Doch es ist besetzt. Ich lasse mich die Wand hinabgleiten und bleibe davor sitzen. Jedes Mal, wenn ich meine Augen schließe, sehe ich Raphael vor mir. Doch in meinen jetzigen Zustand sehe ich nicht die harmlosen Augenblicke, sondern genau die mit meiner Schwester. Wie sie sich Küssen, sich anfassen, sich etwas zu flüstern und diese Blicke. Sie sind das Schlimmste. Der Alkohol verstärkt die unschönen Gefühle in meiner Magengegend. Die Wut. Die Verzweiflung und doch pocht das Verlangen nach menschlicher Nähe in mir. Vielleicht gerade deswegen. Ich seufze fahrig. Einige Fußpaare tänzeln über meine Beine hinweg, während ich darauf warte, dass sich das Badezimmer leert. Doch es passiert nichts. Langsam ziehe ich mich an der Tür nach oben und klopfe wild dagegen. Ich höre darin ein Geräusch, doch die Tür öffnet sich nicht. Wieder fasst mir jemand sachte an die Schulter und zieht mich zurück, so dass ich nicht mehr an die Tür heranreiche. Es ist Jake. Er deutet mir an, dass ich ihm folgen soll und wir erklimmen über die Treppe die nächste Etage. Er öffnet die Tür und ich folge ihm in die dunkle Wohnung.

Eine Chance zu vergessen

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Fehlende Objektivität

Kapitel 7 Fehlende Objektivität
 

Ich lasse den Blick durch mein chaotisch aufgeräumtes Zimmer wandern. Das Chaos ist bei mir Methode. Danach sehe ich auf mein Handy, das noch immer mit schwarzem Display vor sich hin vegetiert. Ich stöpsele es an den Strom und habe so gleich 5 neue Benachrichtigungen. Davon sind allein 4 von Shari. Von den ganzen verpassten Anrufen will ich gar nicht erst anfangen. Seufzend drücke ich auf das Rückrufsymbol. Es dauert lange bis sie rangeht.

„Hey Mark, warte kurz...“, höre ich sie kurzangebunden sagen. Ich höre sie laufen und dann wie sich eine Tür schließt.

„Kia ora, little Puāwai“, begrüße ich sie auf Maori, nachdem ich mir sicher bin, dass sie mir nun gefahrlos zuhören kann. Ich nenne sie kleine Blume. Meistens auf Japanisch, aber manchmal auch in meiner Tagessprache. Sie hat für mich etwas Unschuldiges und Reines, genauso, wie eine zarte Blume. Meistens kann Shari es erahnen und beginnt dann zart zu kichern. Auch heute. Es erleichtert mich, denn anscheinend haben ihre Eltern sie nicht sofort mit einem One-way-Ticket nach Indien verfrachtet.

„Wie hast du den Abend überstanden?“, frage ich sorgenvoll und habe noch immer ein schlechtes Gewissen, das ich mich nicht bei ihr gemeldet habe. Sie seufzt leicht, aber geräuschvoll.

„Gut.“ Das kommt zu direkt und zu scharf.

„Gut sollte eigentlich besser klingen.“

„Ich bin sauer, dass mich mein Vater fast daraus geschliffen hat“, bellt sie erklärend, „Sie haben gar kein Vertrauen in mich. Habe ich ihnen jemals Grund zur Sorge gegeben? Habe ich jemals Mist gebaut? Nein, ich bin immer hilfsbereit, respektvoll und artig. Immer! Und wir hatten die Zeit im Blick...“, beendet sie ihr Tirade abrupt. Danach schnauft sie und ich stelle mir ihr hübsches Gesicht vor, mit tief gerunzelter Stirn und kleinen Zornesfalten auf ihrer zierlichen Nase. Es wundert mich nicht, dass mich diese Vorstellung eher angezuckert giggeln lässt, als das es mich beunruhigt. Shari rastet wirklich selten aus. Nie ohne Grund. Ich kann sie verstehen. Allerdings sage ich nicht, dass ich mir sicher bin, dass wir es verplant hätten rechtzeitig loszufahren.

„Ich verstehe einfach nicht, warum sie nicht sehen können, dass ich kein kleines dummes Mädchen mehr bin. Oww, es regt mich so auf, Mark“, wettert sie aufgebracht und ich mache es mir in meinem Bett gemütlich, da ich befürchtet, dass es noch eine Weile so weitergehen kann.

„Ich war dir gestern keine Hilfe, tut mir Leid.“, entschuldige ich mich.

„Du hättest nichts ändern können. Nachher hätte dich mein Vater noch aufgefressen.“ War das ein Witz? Ja, es war ein Witz!

„Ich wäre für ihn wahrscheinlich nur ein Appetithäppchen... ein Pausensnack“, gehe ich darauf ein. Ebenso ernsthaft und dennoch amüsiert. Shari kichert. Ich stelle mir unwillkürlich vor, wie ihr Vater meine Knochen ausspuckt, sich genüsslich den Bauch reibt und sich dann fragt, weshalb nicht mehr an mir dran war.

„Mit Sicherheit“, kommentiert sie, „Wie war dein Abend noch und vor allem wo warst du? Ich konnte dich nicht erreichen. Auch heute Morgen nicht. Ich hatte Maya am Telefon und sie war sich sicher, dass du nicht nach Hause gekommen bist. Also, was hast du zu berichten?“ In ihrer Stimme schwimmt pure Neugier.

„Ähm ja. Mein Akku war leer und... Ich bin noch da geblieben und habe dann leider doch was getrunken.“

„Und?“

„Was und?“

„Hast du eine aufgerissen, oder was?“ So etwas habe ich noch nie aus ihrem Mund gehört.

„Shari. Nein, ich habe niemanden aufgerissen.“ Ich hätte vielleicht keine sagen sollen, denn am anderen Ende wird es still. Seltsam lange.

„Weißt du, dass du noch nie mit mir über solche Dinge gesprochen hast?“

„Welche Dinge?“

„Na ja, Sex und Liebe und so. Ich meine bei mir ist ja nicht soviel zu erwarten. Ich werde wahrscheinlich bald Zwangsverheiratet und das war dann mein Abenteuer“, sagt sie sarkastisch und bedrückt zugleich.

„Ach Shari, das machen deine Eltern sicher nicht.“

„Wenn du meinen Vater gestern gesehen hättest, wärst du dir da nicht mehr so sicher. Er war so indisch.“ Ich kann förmlich höre, wie sie ihre braunen Augen verdreht. Eine wahre Leistung.

„Das liegt vielleicht daran, dass er ein großer Inder ist.“

„Das ist dir aufgefallen? Und lenke nicht ab, also, wieso erzählst du mir nie etwas?“

„Ich erzähle nichts, weil es nichts zu erzählen gibt. Mein Liebesleben ist ereignisreich, wie das eines Bärtierchens.“ Ich redete mich raus und hoffte, dass sie Ruhe gibt. Obwohl wir ein wirklich gutes Verhältnis zueinander haben, habe ich es noch nicht geschafft mich ihr anzuvertrauen. Begründen kann ich es nicht. Es ist einfach ein eigenartiges Gefühl, was mich noch immer daran hindert ehrlich zu sein. Ich bin einfach noch nicht bereit. Zu meinem Glück höre ich die laute Stimme ihres Vaters im Hintergrund. Ich atme erleichtert aus.

„Man ey, ich muss los. Wir sehen uns morgen.“ Ich habe das Gefühl, dass ich noch nicht vom Haken bin.

„Gut.“ Ich möchte sie verabschieden, doch mir fällt der Maori-Abschiedsgruss nicht mehr ein. Shari legt nicht auf, sondern scheint zu warten.

„Wo bleibt meine Verabschiedung?“, fragt sie prompt. Ich krame weiterhin in meinem Kopf herum und entdecke nur Leere.

„Ähm,...oh, Mist...voll erwischt. Ich hab es vergessen. Ka… ka kita…“, stammele ich vor mich hin und will mir die Blöße nicht geben. Ich höre Shari am anderen Ende lachen. Dann fällt es mir ein.

„HA, Ka kite anoo…haha, so jetzt aber husch husch. Wir sehen uns morgen.“ Sie lacht noch immer, während sie auflegt.
 

Den Rest des Sonntags verbringe ich damit meinen Anti-Gewalt-Aufsatz zuschreiben und bin schnell damit fertig. Mit dem letzten getippten Worten, lehne ich mich in meinem Schreibtischstuhl zurück und sehe an die Decke. Erst grüble ich darüber nach, ob ich alles in dem Aufsatz angesprochen habe, ob noch etwas Wesentliches fehlt, aber jedes Mal driften meine Gedanken davon. Hin zur vergangenen Nacht. An diese Hitze, die Jakes Körper ausstrahlte, während er sich unentwegt in mir bewegte. Meine untere Körperhälfte beginnt erregt zu kribbeln und es baut sich der typische Druck auf, der mich sehnsüchtig keuchen und zu gleich genervt seufzen lässt. Ich frage mich, was Jake von mir denkt und ob er versuchen wird mich zu erreichen. Immerhin bin ich heute Morgen einfach abgehauen. Im gleichen Moment denke ich, dass ich verdammt eingebildet sein muss, wenn ich glaube, dass er sich unbedingt bei mir melden will. Vielleicht hat er gar kein Interesse daran mich wiederzusehen. Mehr als Sex kann ich ihm schließlich nicht bieten. Vielleicht mache ich mir ganz umsonst Sorgen und er will nichts weiter als Sex. Macht man das als junger Mensch nicht so? Unverbindlich. Unproblematisch. Spaß. Was sollte er auch mehr von mir wollen? Die Vorstellung, dass Jake und ich eine Beziehung führen könnten, ist wahrlich lächerlich. Immerhin ist er so viel reifer, erwachsener als ich. Es ist ein fadenscheiniger Grund, denn im selben Augenblick denke ich diese wunderschönen grünen Augen und spüre ein tiefsitzendes Kribbeln. Rumsitzen bekommt mir ganz und gar nicht. Ich drücke auf meinen Internetbrowser und öffne gähnende Leere. Kein Internet. Meine Strafe habe ich erfolgreich verdrängt. Mist.

Die Gedanken zermürben mich und ich krame mein Grafiktablett heraus. Ich beginne herum zu kritzeln, um mich von den Gedanken über Jake und Raphael abzulenken. Doch im Endeffekt klappt es nicht. Es ist bereits dunkel, als ich das entstandene Portrait von Raphael schließe. Es ist nur eine Skizze, aber seine Gesichtszüge sind ohne weiteres erkennbar. Ich zeichne sie aus dem Kopf, so allumfassend beherrscht er meine Gedanken.

Erst als ich zu Bett gehe und mein Handywecker auf die richtige Zeit stelle, fällt mir die ungelesene Nachricht auf. Sie ist von einer unbekannten Nummer und richte mich im Bett wieder auf. Sie ist von Jake und während mein Herz einen kurzen Hüpfer macht, bildet sich zugleich ein zentnerschwerer Stein in meiner Magengegend. Jake hat die Nummer von Marika. Er ist sich nicht sicher, ob er sie haben darf, aber will mir mitteilen, dass er die Nacht mit mir sehr genossen hat und das er enttäuscht war als ich am Morgen nicht mehr neben ihm lag. Er schafft es seine Worte so zu formulieren, dass es weder anklagend noch sauer klingt und dennoch bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Eine kurze Aussprache wäre wohl besser gewesen. Trotzdem antworte ich ihm nicht. Stattdessen vergrabe ich mein Gesicht tief in das Kissen und halte, so lange ich kann die Luft an.
 

Ich schlafe schlecht und wache am nächsten Morgen schweißgebadet auf. Mir bleibt kaum Zeit zum Duschen, da ich mit einem Bein bereits in der Schule sein müsste, als ich es schaffe das erste Bein aus dem Bett zu schwingen.

In der erste langen Pause instruiert mich Herr Müller, welche Aufgaben in der Sporthalle und dem Sportplatz auf mich zu kommen. Der Sportplatz ist mir neu, doch ich widerspreche nicht, sondern brummele nur leise in mich hinein. Sportplatz bedeutet, dass ich zwangsweise mit Raphael in Kontakt komme, da an drei Tagen der Woche seine Leichtathletikmannschaft dort trainiert. Shari sehe ich nur einmal kurz in der Pause, da ich mich um neue Termine mit meiner Projektpartnerin kümmern muss. Mein Vater steht bereits an der Tür als ich nach Hause komme. Ich lege ihm meine voraussichtlichen Heimkommzeiten vor und er schickt mich in mein Zimmer, wo ich vor Langeweile verfaule. So geht es die nächsten Tage lang von statten. Zu meiner Verwunderung sehe ich Raphael nur in der Schule und nicht bei Maya, was mich sondergleichen erleichtert. Ich greife auch immer wieder zu meinem Handy und lese Jakes Nachricht. Aber ich kann mich nicht dazu durchringen ihm etwas zu antworten. Mir war nicht klar, wie feige ich wirklich bin.
 

Am Donnerstag treffe ich mich nach der letzten Stunde mit meiner Projektpartnerin. Ich setze einen Punkt hinter den letzten Satz und beginne mir den Nacken zu massieren. Seit zwei Stunden sitzen wir in der Bibliothek und tüfteln an einer Gliederung für die gemeinsame Arbeit. Maria, meine Projektpartnerin, streicht sich eine Strähne ihres hellen roten Haares hinter das Ohr und beendet die Aufgabenliste.

„Okay, dann schreibst du schon mal den einleitenden Teil und ich kümmere mich um ein erstes digitales Exemplar“, fasse ich die letzten Minuten unserer Diskussion zusammen. Sie schließt das Buch und räumt ihr Federmäppchen zusammen. Es ist ein altes Ledertäschchen und ich bewundere sie für ihren Ordnungssinn. Meine Schreibgeräte kullern munter in meinem Rucksack umher und meist kann ich sie nicht finden.

„Gut, kannst du mir morgen deine Stichpunkte geben?“

„Ich schicke sie dir.“

„Ich hab kein Internet, also ganz altmodisch per Hand, bitte“, erkläre ich. Sie verkneift sich ein Lachen und nickt. Ich blicke auf die Uhr. Die Leichtathletikgruppe wird noch nicht fertig sein und so beschließe ich einen Abstecher in die Sporthalle zu machen.

Nur das Quietschen meiner Turnschuhe ist zu hören, ansonsten ist sie vollkommen verwaist. Und alles ist ordentlich. Selbst die Bälle liegen brav gestapelt in ihren Aufbewahrungskörben und so trabe ich doch zum Sportplatz.

Ich sehe Danny auf der Bahn. Er legt einen grandiosen Sprint hin und schnauft und ächzt als er sich zu Raphael stellt und nach seinen Zeit fragt. Ich stelle meinen Rucksack auf die unterste Stufe der Tribüne und setze mich. Drei Weitere sprinten, nacheinander los und sie sind alle verdammt schnell.
 

Ich beobachte Raphael, der mit einer Stoppuhr und schrecklich ernster Miene jeden noch so kleinen Fehler erkennt. Gnadenlos lässt er sie wieder und wieder losrennen, bis alle den perfekten Lauf hinlegen. Stetig ertönt das Startsignal durch einen lauten Knall der Hölzer. Mit der Stoppuhr in der Hand verschränkt er die Arme. Ich kann die Muskeln unter dem dünnen Stoffs seiner Sportjacke erkenne und male mir aus, wie es sich anfühlt sie zu berühren, zu spüre, wie sie einen halten und schützen.

Raphael wischt sich Schweiß von der Stirn und ich sehe, wie einige der dunklen Haarsträhnen an seiner Schläfe kleben bleiben. Ein kleiner Schweißtropfen rinnt an seinem Hals hinab. Oh Gott, ich möchte dieser Schweißtropfen sein und seinen ganzen Körper erkunden.

Er brüllt Danny etwas zu und das holt mich in die Realität zurück. Ich kann deutlich das verärgerte Blitzen in seinen Augen erkennen und die Schärfe in seiner Stimme hören. Durch die Sonnenstrahlen wirkt das Grün seiner Augen noch intensiver. Raphael stemmt die Arme in die Seite und langsam trotten die Schüler auf ihn zu.

Es ist das erste Mal, dass ich offen beim Training zusehe. Und obwohl ich froh bin, dass er die Tage nicht bei Maya war, bin ich doch enttäuscht, da ich ihn so nicht so oft gesehen habe, wie sonst. Danny entdeckt mich und winkt mir fröhlich zu. Unsere Prügelei war der Startschuss eines freundlichen und nahezu respektvollen Miteinanders. Nun dreht sich auch Raphael zu mir um und lächelt. Ich schmelze augenblicklich still vor mich hin.

Ich höre nur Bruchstücke von dem, was sie sagen, doch anscheinend steht bald ein Wettkampf an und Raphael ist nicht zufrieden mit der Leistung. Nach offizieller Beendigung des Trainings trotten die schwitzenden Jungs an mir vorbei. Ich merke Dannys nassen Arm an meiner Schulter, als er mich spielerisch anrempelt und ächze gespielt theatralisch. Ich warte darauf, dass auch Raphael an mir vorüberzieht. Doch er ist nicht mehr am Fleck. Ich schaue mich nach ihm um und sehe, wie er im hinteren Teil der Anlage ein paar Geräte einsammelt. Kurz atme ich durch und jogge dann zu ihm.

„Lass ruhig liegen. Dafür hat man mich mittlerweile eingestellt“, kommentiere ich und beuge mich nach unten und hebe die Harke auf, die sie zum Glätten des Sandes der Weitsprunganlage verwendet haben.

„Nein, schon gut. Ich lass meinen Kram nie unachtsam liegen. Nachher verletzt sich noch jemand“, lehnt er ab. Er sieht mich nicht an. Gemeinsam sammeln wir alles ein und gehen zur Tribüne zurück. Raphael bleibt die ganze Zeit über schweigsam, selbst als ich mich gezwungen fühle dummes Zeug zu quatschen. Ich sehe ihm dabei zu, wie er seine Pfeife und auch die Stoppuhr in seiner Jackentaschen verstaut.

„Alles okay?“, frage ich nun doch und sehe wie er aufschaut. Doch er bricht den Blickkontakt schnell wieder ab.

„Ja, alles okay.“

„Wirklich?“ Ich bohre nach und sehe, wie sich etwas in ihm regt. Sofort denke ich, dass es etwas mit meiner Schwester zu tun hat oder dass ihn Marika angeschrieben hat. Ich kriege kurz Panik.

„Ach Mist, nein. Ich hatte dir versprochen, dass ich Danny nicht anders behandle, wenn du mir erzählst, was er gesagt hat und ich hab es nicht hingekriegt“, platzt es aus ihm heraus. Er ballt seine Hände zu Fäusten. Seine Stirn liegt in Falten und seinen Augen sind geschlossen. Ich starre ihn erschrocken an und mir fällt sogleich ein Stein vom Herzen. Ich kann nicht mal verhindern, dass ich erleichtert aufseufze.

„Was hast du gemacht?“, frage ich nach einem Moment.

„Ich hab ihn gegängelt. Ständig neue Wiederholungen, obwohl er es sehr gut gemacht hat und kein einziges Lob...“ Schuldbewusst sieht er mich an und ich kann ein amüsiertes Grinsen nicht unterdrücken. Ich verkneife mir ein bezeichnendes ´Oww`, weil ich sein Schuldbewusstsein wirklich herzerwärmend finde. Echt niedlich. Kein Mann will hören, dass er niedlich ist, also sage ich lieber nichts und beiße mir auf der Unterlippe rum.

„Ich hab ihn gesehen und gedacht, was für ein Arsch er ist und dann hab ich es unbewusst gemacht.“ Er seufzt schuldvoll und lässt sich auf den unteren Sitz der Tribüne nieder.

„Du hast ihn ja nicht aufs Schafott geführt, also... Mach dir keinen Kopf“, versuche ich ihn bisschen zu beruhigen. So wie er da sitzt, würde ich ihn am liebsten in den Arm nehmen. Meine Worte scheinen nicht zu wirken, denn er schaut noch immer nicht auf, sondern nur auf seine unruhigen Hände. Seine Finger verhaken sich ineinander um sich gleich darauf wieder zu entwirren. Wir schweigen und nervös fahre ich mir über die nackten Arme, bis er doch endlich weiterspricht.

„Als angehender Lehrer darf das nicht machen, Mark. Ich muss objektiv bleiben. Gerecht und unparteiisch.“ Jetzt erklärt sich mir sein Problem. Soweit habe ich nicht gedacht, aber ja, er studierte auf Lehramt und irgendwann wird er lauter Kinder oder Jugendliche unterrichten und da darf er keine Partei ergreifen.

Ich setze mich zu ihm. Kurz berühre ich seinen Arm, stupse ihn sachte an, so wie es eben Danny getan hat. Nur vorsichtiger, fast zurückhaltend. Raphael schaut mich an und ich werde augenblicklich nervös.

„Es hat ihm nicht geschadet. Es ist also harmlos und zeigt in keiner Weise auf, wie du dich später als fertiger Lehrer verhalten wirst. Außerdem kann man nur so an sich arbeiten. Mach dir nicht so viele Gedanken.“ Er sieht mich lange an. Diese wunderschönen grünen Irden, die ich stundenlang ergründen könnte und doch nie länger, als nötig betrachte. Sie scheinen mich zu durchdringen, zu erforschen. Sie suchen etwas, doch ich verschließe mich, weil das, was er sehen könnte, nicht gut wäre. Ich richte mich schwungvoll wieder auf, in dem ich mich mit beiden Händen auf den Knien nach oben drücke.

„Gut, ich mach noch mal eine Runde.“ Ich hüpfe schnell die Stufen hinab und warte gar nicht ab, ob Raphael noch etwas erwidern will.

„Mark, soll ich dich mitnehmen?“, ruft er mir nach, „Ich gehe nur kurz duschen und dann fahre ich zu euch.“ Ich laufe rückwärts weiter und denke darüber nach, ob ich es mit ihm in einem Auto aushalte. Ich beschließe, dass ich die 15 Minuten Hitzewallungen überstehen könnte. Vielleicht. Möglicherweise. Wenn nicht gehe ich einfach vorher und er wird es schon merken. Ich nicke trotzdem leicht.

„Ich lasse die Tür zur Umkleidekabine offen.“ Damit schnappt sich Raphael meinen Rucksack und wandert davon. Ich bleibe verstört stehen, sehe meinem Schulzeug und dem Mann meiner unanständigsten Fantasien nach. Jetzt muss ich zu ihm in die Umkleidekabine und kann mich nicht spontan umentscheiden. Ich schlucke schwer.

Der Geruch des Wassers auf seiner Haut

Kapitel 8 Der Geruch des Wassers auf seiner Haut
 

Die Tür zur Umkleidekabine ist grün, rechteckig und hat einen Knauf. Ich starre sie an. Seit etlichen Minuten schon. Raphael hat sie für mich einen Spalt offen gelassen, so dass ich, wie besprochen einfach hindurchschlüpfen und auf ihn warten kann. Obwohl ich mir bei der Inspektion des Sportplatzes Zeit gelassen habe, konnte ich beim Eintreten in die Umkleideräume das Wasserrauschen hören, welches mir impliziert, dass Raphael noch immer unter der Dusche steht. Also bin ich rückwärts wieder raus und stehe nun hilflos vor der Tür. Von den anderen ist mir niemand weiter entgegen gekommen, also nehme ich an, dass sie bereits alle weg sind. Raphael ist also allein da drin. Allein unter der Dusche. Nackt. Ohne Kleidung. Also wirklich nackt. In meinem Magen beginnt es zu pulsieren und das dumpfe Pochen rutscht mit jeder gedanklichen Erwähnung des Nacktseins tiefer.

Als ich das nächste Mal aus meiner Starre erwache, ist die Tür immer noch grün und rechteckig. Ich stupse sie vorsichtig an. Der Spalt wird größer und während sie langsam wieder zufällt, trete ich widerwillig ich ein. Die Umkleideräume sind in verschachtelten Rechtecken angeordnet, die zu den Duschräumen und Toiletten geöffnet sind. Raphaels Klamotten liegen im innersten Rechteck. Dort sehe ich auch meinen Rucksack und kleine Schwaden aus Wasserdampf, die aus der überhitzten Dusche herausquellen. Seit Jahren vermeide ich es in die Gemeinschaftsdusche zu gehen, was auch beim normalen Sportunterricht durchaus funktionabel ist. Wir kommen selten ins Schwitzen und stehen oft nur dumm rum, wenn wir uns nicht prügeln. Einzig die Unterhaltungen im Umkleideraum sind amüsant und erklären meine Anwesenheit. Sie sind spannend und wirklich aufschlussreich. Zu meiner Schande, denke ich wieder an Dannys Aussage und an die Obszönitäten, die er abgesondert hat und dass ich, in der eben beschrieben Konstellation gar nicht anders bin. Auch ich sondere dummen Kram von mir. Übertünchend und versteckend. Denn ich mache im Grunde nichts davon wirklich. Jedenfalls nicht mit den beschrieben Mädchen.

Ich setze mich Raphaels Platz gegenüber und nehme mein Handy zur Hand. Noch einmal rufe ich Jakes Nachricht auf und versuche darüber nachzudenken, was ich antworten kann. Aber ich bin unkonzentriert. Das Rauschen des Wassers und der Bilder, die sich in meinen Kopf bilden, verhindern jeden klaren Gedanken. Fantasie und Wirklichkeit. Fantasie gegen Wirklichkeit. Raphael unter der Dusche. Jake auf dem Bett. Der Geschmack seiner Lippen und das Verlangen Raphaels zu kosten. Ich lehne mich an den Spint, spüre die Kälte des Metalls und schließe die Augen. Noch mehr Bilder strömen auf mich ein. Raphaels muskulöser Oberkörper, der sich unter seinen Shirts abbildet. Seine kräftigen, aber sanft wirkenden Hände, die Halt bieten und dagegen Jakes warme, weiche Hände, die meinen Körper berührten. Das Gefühl seiner weniger definierten Muskeln unter meinen Fingern, die sich trotzdem so gut anfühlten. Und dann dieses angenehme Kribbeln auf meiner Haut und das wohltuende Empfinden von körperlicher Nähe. Ich beiße mir unbewusst auf die Lippen und lasse die Gefühle auf mich einströmen. Es hat gut getan.

Bevor ich durch die plötzliche Stille aufschrecke, sehe ich Raphaels schöne Augen und das sanfte, flirtende Lächeln, welches er meiner Schwester schenkt, vor mir. Was würde ich dafür geben ein einziges Mal von ihm so angesehen zu werden. Raphael steht bereits im Raum, als ich meine Augen öffne und ich versuche meinen Körper wieder unter Kontrolle zu bekommen. Unbeholfen ziehe ich mir meinen Rucksack auf den Schoss und täusche die Suche nach meiner Trinkflasche vor. Noch einmal sehe ich auf, erkenne die kleinen glitzernden Wassertropfen, die seine Haut streicheln. Einige laufen hinab. Sie bilden kleine Rinnsale, die sich zusammenschließen. Und zum wiederholten Mal wünschte ich, ich könnte meine molekulare Struktur auflösen und in den flüssigen Aggregatzustand übergehen. Ich wäre ein guter Wassertropfen. Ich könnte seinen Geruch einschließen und in mich aufnehmen. Seinen Geschmack kosten. Bereits jetzt nehme ich den Duft seines feuchten, sauberen Körpers wahr. Das dezente Duschbad und den Geruch des Wassers auf seiner Haut. Ich wende meinen Blick von seinem nackten, nur mit einem Handtuch bedeckten Körper ab und spüre trotzdem, wie sich dieses Bild in meinen Kopf meißelt. Ich trinke einen Schluck, blicke unruhig hin und her.

„Alles gut?“, fragt Raphael und beginnt sich mit einem kleinen Handtuch, die Haare zu trocknen. Unwillkürlich blicke ich ihn wieder an.

„Ja, ich bin nur eingedöst.“

„Was Gutes geträumt?“, hakt er nach und mustert mich von der Seite. Ich beiße die Zähne zusammen und fühle mich ertappt. Er lächelt und rubbelt noch einmal seine Haare durch. In dem Moment, in dem er sein unteres Handtuch greift, stehe ich auf und verabschiede mich nach draußen. Ich fliehe förmlich und versuche ungerührt und weniger hektisch zu wirken, als ich eigentlich bin. Ich bin mir nicht sicher, ob es funktioniert. Die kühlere Luft trifft mein erhitztes Gesicht wie ein Schlag, doch ich bin dankbar und hätte auch nichts gegen eine kurze Ohnmacht.
 

Es dauert nicht mehr lange und Raphael folgt mir nach draußen. Seine feuchten Haare glänzen in der Sonne und er lächelt.

„Frisch geduscht ist das Leben gleich besser“, flötet er und ich folge ihm zu seinem Auto.

„Ihr habt demnächst einen Wettkampf?“, frage ich, während ich mich auf dem Beifahrersitz niederlasse und mich offen in seinem Auto umsehe. In der Mittelkonsole liegen Taschentücher und Kräuterbonbons. Genauso, wie ein Lippenbalsam, der mit Sicherheit Maya gehört. Unweigerlich richte ich meinen Blick wieder nach vorn.

„Ja, 400m-Staffel und Weitsprung. Wir nehmen nicht an alle Disziplinen teil und das ist auch gut. Die Jungs sind noch nicht vollständig in Form“, sagt er und fährt nach routinierten Blicken und Sicherheitsmaßnahmen los.

„Hast du schon mal an eine 1000-Strecke und Marathon gedacht?“, erkundigt er sich.

„Ich? Ich laufe nicht weiter als von meinem PC zum Bett.“, erkläre ich überrascht. Sein Vorschlag ist amüsant. Ich bin nicht gerade sportlich.

„Warum? Du hast potenzial...“

„Wie kommst du darauf“, kommentiere ich nun doch lachend.

„Ich habe dich schon öfter Laufen sehen und bevor deine Fäuste zu Wort kamen, warst du wirklich gut dabei. Ich könnte dich trainieren. 2 Mal die Woche würden erstmal reichen.“ Nun blicke ich auf. Im Zusammenhang mit Training und Raphael fallen mir viele Dinge ein, nur nicht Laufen. Ich muss mich unwillkürlich schütteln und lehne dann meinen Kopf gegen die Scheibe. Die Vorstellung noch mehr Zeit mit ihm zu verbringen, ist beängstigend und erregend zu gleich. Es wäre keine gute Idee.

„Ich bin kein Läufer, glaube mir. Ich hab keine Kondition.“

„Dafür trainiert man und wir fänden sicher eine Weise, die auch dir zusagt.“ Ganz sicher würden wir die finden. Ich versuche zu lächeln, doch meine Gedanken schweifen ab. Je näher wir meinem zu Hause kommen, umso gedrückter wird meine Stimmung.

Als auch noch Maya als erstes im Flur steht und sie sofort über Raphael herfällt, ist es für mich vorbei. Ich grüße kurz meine Eltern und verschwinde auf mein Zimmer.
 

Ich liege eine Weile auf meinem Bett und setze mich dann an meinen Rechner. Nachdem ich meine Schularbeiten eingetippt und korrigiert habe, beginne ich ein neues Bild. Diesmal ganz bewusst und gewollt. Das Bild, welches sich in meinen Kopf eingebrannt hat. Raphael im Handtuch. Der Elan, den ich empfinde, lässt mich schnell arbeiten und schon bald kann man den stählernen Körper und die definierten Muskeln erkennen. Ich bin so vertieft in die Details, dass ich jegliches Zeitgefühl vergesse. Nicht einmal den Ruf zum Abendbrot nehme ich wahr. Bis es an meine Tür klopft. Es ist meine Mutter.

„Mark, möchtest du gar nichts essen?“ Sie macht die Tür nicht komplett auf, sondern schiebt sich nur halb durch den Spalt. Ihre langen Haare sind offen und sie trägt noch immer Make up. Normalerweise ist es das Erste, was sie entfernt, wenn sie nach Hause kommt. Ihre sonst so aufgeweckten blauen Augen wirken müde.

„Oh. Ähm, doch. Ich hab es nur nicht mitbekommen. Ich hab für die Schule getippt“, antworte ich und klicke schnell das Bild weg.

„Gut, dann komm runter, ich mach dir etwas warm.“ Sie beobachtet mich einen Moment und geht dann schweigend zurück in die Küche. Ich hole, als sie weg ist das Bild wieder hoch und speichere es. Ich denke an das Original zurück und bin zufrieden. Es ist nicht das erste Bild, das ich von Raphael mache. Ich besitze einen ganzen Ordner, der mit einem kryptischen und unverdächtigen Namen versehen ist. Es sind Portraits und anderes ästhetisches Zeug, entstanden aus meiner ausgeprägten Fantasie. Das ist das Erste mit reellem Vorbild. Träge bewege ich mich nach unten zu meiner Mutter in die Küche.
 

Das Essen ist gut und meine Mutter erzählt mir von einigen Problemen auf Arbeit. Das erklärt ihr Make up. Es gibt Unstimmigkeiten und Ärger mit einem Kunden aus Shanghai. Meine Mutter ist Buchhalterin in einer großen und namhaften Kanzlei. Sie macht sich wirklich Sorgen und nun verstehe ich ihre angespannte Reaktion auf mein Fehlverhalten. Ich versuche sie zu beruhigen und wir besprechen ein paar Szenarien. So etwas kann ich gut. Als ich aufstehe, lächelt sie. Mein Internet bekomme ich trotzdem nicht wieder. Ich wünsche ihr eine gute Nacht und gehe zurück in mein Zimmer.

In der offnen Tür bleibe ich stehen. Mein Puls beschleunigt sich und ich blicke auf das leuchtende Display. Normalerweise stellt sich der Rechner auf Standby, wenn ich längere Zeit nicht daran arbeite. Noch immer ist das Bild geöffnet und mein Puls geht nach oben. Jemand war in meinem Zimmer. Ich sehe mich kurz auf dem Schreibtisch um und denke darüber nach, ob vielleicht irgendetwas an die Tastatur gekommen sein könnte. Stifte, Papiere oder sonstiger Kram. Alles liegt an seinem Platz. Mein Schreibtisch ist verhältnismäßig ordentlich. Keine Chance.

Ich betrachte das Portrait und höre meinen Herzschlag förmlich durch mein Zimmer schallen. Die Person auf dem Bild ist nicht unbedingt als Raphael zu erkennen, denn ich hatte ihn mit dem Gesicht abgewandt gezeichnet. Das redete ich mir jedenfalls ein. Mit einem Klick minimiere ich das Fenster und schlucke. Die Person auf dem Bild ist nicht als Raphael erkennbar. Nur für mich. Ich fahre mir durch die Haare. Es ist egal, denn jeder in diesem Haus wird sich fragen, warum ich einen halb nackten Mann zeichne. Ich könnte es als Auftragsarbeit verkaufen oder als Geburtstagsgeschenk für Shari. Ich denke kurz an das Portrait, welches ich gezeichnet habe und stelle ein Passwort ein. Normalerweise benutze ich keine Passwörter, denn für gewöhnlich gibt es nichts Verhängnisvolles auf meinem Pc. Für gewöhnlich kommt niemand einfach in mein Zimmer. Ich sehe zur Tür und nur langsam schaltet sich mein Puls wieder auf Standard. Den restlichen Abend bin eigenartig unruhig.
 

Ich kann nicht einschlafen. Nicht einmal nach einer langen und befriedigenden Dusche will es mir gelingen. Ich ziehe mein Handy unter dem Kopfkissen hervor und rufe erneut die Nachricht von Jake auf. Ich lese sie, wieder und wieder.

Ich spüre Schamesröte, die sich auf meine Wangen legt. Aus einem Reflex heraus, bette ich meinen Arm auf das Gesicht, um mich vor den imaginären Figuren in meinem Zimmer abzuschirmen. Wie ein Teenager.

Jake weiß nicht, was mein Problem ist. Jake weiß nichts von Raphael und meiner Vernarrtheit. Ich bin unsicher, wie es weitergehen soll. Unser letztes Treffen war nicht sehr kommunikativ gewesen. Dafür, aber intensiv. Meine Erinnerungen an das vorige Auftreffen sind von Übereinstimmung, Witz und Gemeinsamkeiten geprägt. Ich habe ihn gemocht und sympathisch gefunden, weshalb am Samstag mein Verlangen und meine Geilheit überhandgenommen haben. Aber es lag nicht nur daran, dass er da war und ich ihn anziehend finde. Es ist einer von vielen Gründen.

Ich schreibe eine Entschuldigung für das verspätete Antworten und lösche sie wieder. Ich tippe einen unverfänglichen Text mit Bestätigung und Erwiderung. Auch das lösche ich. Ich schlage mir die Hände vor das Gesicht und gebe einen Laut der Verzweiflung von mir. Ich kann doch nicht so schwer sein eine SMS zu tippen!

„Verdammt, Mark. Reiß dich zusammen.“, murmele ich zu mir selbst und versuche es erneut.

Will ich ihn wiedersehen? Die Nacht war toll und bis auf mein Totalausfall danach war es sehr gut gewesen.

Ja, ich will ihn wiedersehen. Ich könnte mit Jake viel Spaß haben und Spaß konnte ich gebrauchen. Ich rede mir ein, dass es besser wäre Raphael zu meiden und mich so vom dem Verlangen nach ihm zu kurieren, doch ich weiß, dass das nicht so einfach wird. Ich antworte nichts und schiebe das Handy unter das Kissen. Schlafen kann ich noch immer nicht.
 

Eine Weile bleibe ich unruhig liegen, stehe dann, aber auf und ziehe mir eine Hose über, um auf den Balkon zu gehen. Vielleicht kühlt die frische Luft mein Gemüt. Noch immer steht die leere Flasche Wein neben der Gartenliege und auch der Paravant ist aufgebaut. Ich lehne mich auf das Geländer und lasse meinen Kopf hinabhängen. Das kühle Metall fühlt sich auf meiner nackten Brust unangenehm an, doch ich bleibe trotzdem stehen. Erst als ich wieder hochkomme, bemerke ich eine Bewegung im Augenwinkel und blicke zu Maya Balkonseite. Raphael lehnt sich auf die Brüstung und sieht zu mir rüber. Ich zucke erschrocken zusammen.

„Himmel...“, entfährt es mir.

„Kannst du auch nicht schlafen?“, fragt er leise. Wieder schnellt mein Puls nach oben. Wenn das so weiter geht, erliege ich bald einer Herz-Rhythmusstörung.

„Nein, ich präsentiere mich nur gern den Nachbarn. Ich hoffe nur die alte Müller bekommt keinen Herzinfarkt“, witzele ich und schaue in die Nacht hinaus. Der Freund meiner Schwester lacht. Ich frage mich, ob es Raphael gewesen sein könnte, der vorhin in meinem Zimmer gewesen ist. Was für eine Pein. Doch ich glaube kaum, dass er noch so freundlich reagieren würde, wenn er von meinem heimlichen Hobby wüsste.

„Na hoffentlich nicht“, bemerkt er leise lachend und dreht sich kurz zur Balkontür. Er deutet mir an zu warten und schließt sie vorsichtig. Maya schläft also schon. Obwohl mir mein Vorhaben, ihm aus dem Weg zugehen in den Sinn kommt, bleibe ich stehe und warte bis Raphael wieder zur Brüstung kommt. Ich genieße seine Nähe, auch wenn sie mich wieder und wieder tiefer in den Abgrund treibt. Ich verschränke die Arme vor der Brust und spüre die kühle Luft, die die kleinen Härchen auf meinen Nacken aufrichtet. Es bildet sich eine feine Gänsehaut, doch es stört mich nicht. Nicht einmal die kalten Füße, die ich bekomme.

„Und hast du noch mal über mein Angebot nachgedacht?“, fragt er ruhig und ich schaue ihn unwissend an. Ich muss besonders blöd aus der Wäsche gucken, denn wieder perlt ein heiteres Lachen von seinen Lippen. Ein schönes und wohl klingelndes Geräusch. Er hat eine angenehme tiefe, aber offene Stimme. Oh Gott, ich will darin ertrinken. Auf der Stelle.

„Wegen des Lauftrainings.“ Er schmunzelt mich an und merke eine berauschendes Beben, welches sich schnurstracks durch meine Leib arbeitet. Es ist von der besonders heftigen Sorte.

„Oh, das habe ich schon wieder verdrängt. Nein, ich denke, dass du mir das nicht schmackhaft machen kannst. Allerdings würde ich es mal mit boxen probieren.“ Ich mache die gleiche punshende Bewegung, die auch Danny gemacht hatte und zweifele langsam selbst an meinem Verstand. Vor allem nachdem ich selbst für die comichafte Geräuschuntermalung sorge und mehrfach PowPow mache. Raphael zweifelt ebenso. Auch, wenn er es gut mit einem Nicken zu kaschieren versteht.

„Oh man, du bist echt zum Schießen“, sagt er belustigt und schaut auf meine nackten Füße. „Wir sollten wieder reingehen, sonst erkältest du dich noch. Deine Füße sind schon Eisklumpen, oder?“ Ich bestätige seine Vermutung mit einem Nicken und bleibe dennoch ungerührt auf dem Balkon stehen.

„Hey, noch mal wegen heute...“ Raphaels Stimme lässt mich wieder aufschauen.

„Hm?“, gebe ich verwundert von mir.

„Wegen der Sache mit Danny.“

„Hey, von mir aus kannst du ihn so hart rannehmen, wie du willst“, plappere ich. Doch kaum ist es ausgesprochen, stocke ich. Vielleicht hätte ich über eine bessere Formulierung nachdenken sollen. Auch Raphaels erschrockener Blick bestätigt das.

„Also ich meine, das Scheuchen und Antreiben.“

„Schon klar.“ Raphael grinst peinlich berührt und verschwindet leise zurück in Mayas Zimmer.

„Und der Preis für das dümmste Kommentar geht an…“, flüstere ich mir zu, als sich die Tür schließt und trommele mit den Fingern auf der Brüstung rum. Danach lehne mich noch mal gegen das Geländer, lasse wie am Anfang meinen Kopf nach unten hängen und schmeiße mich wenig später wieder auf das Bett.

Das Für und Wider einer Lüge

Kapitel 9 Das Für und Wider einer Lüge
 

Der Freitag ist unverhältnismäßig unspektakulär. Kurzum zum Gähnen langweilig, was meiner ohnehin schon müden Stimmung nicht zuträglich ist. Nicht mal der Kunstunterricht kann man wachrütteln. Auch nicht Sharis bezaubernder Sari, dessen Farbe mir trotz mehrmaligen Hinsehens nicht mehr einfallen will. Ich gehe ihr auch ein klein wenig aus dem Weg, weil ich befürchte, dass sie mich sonst sofort wieder auf den Partysamstag anspricht. Ich bin so zerstreut, wie schon lange nicht mehr. Ich trabe nach der Strafarbeit, wie gewünscht direkt nach Hause und lege mich auf die Couch. Es dauert länger als sonst bis meine Eltern eintrudeln. Maya kommt zwischendurch, aber sie hat mich nicht mal zur Kenntnis genommen. Heute ist einer diese Tage, an dem es mich tatsächlich ein wenig frustriert. Der Tag bleibt auch am Abend eine vollständige Nullnummer.
 

Am Samstagmorgen klingelt mich mein Telefon wach. Ich habe, wie zuvor schlecht geschlafen und bin dementsprechend mürrisch. Ich spähe kurz auf das Display und lese Sharis Namen. Ich betätige den grünen Hörer und drücke meinen Kopf kurz in das Kissen.

„Kalimera“, murmelte ich schlaftrunken und drehe mich so schwungvoll, wie eine Schildkröte auf den Rücken.

„Du gehst mir aus dem Weg“, kommt es unerwartet von der anderen Seite der Leitung und ich blinzele in die frühen Morgenstunden. Ich kriege nicht mal eine Begrüßung.

„Wenn dem so wäre, würde ich doch nicht ans Telefon gehen. Oder spreche ich gerade mit eine Fata Morgana?“

„Ja, nein. Ich meine auch in der Schule, du Drops“, kommentiert sie mein dummes Gerede und ich setze mich nun doch langsam auf, wische mir mit der freien Hand über die Augen und durch die Haare.

„Nein. Ja. Vielleicht“, gebe ich ebenso verwirrend von mir und bekomme Lust auf griechisches Essen. Gyros in Metaxasoße. Ouzo. Langsam erkenne ich ein Muster.

„Ist es, weil ich dich nach deinem persönlichem Kram gefragt habe?“ Womöglich, aber eigentlich ist es Quatsch. Wenn ich jemanden etwas erzählen kann, dann ist es Shari. Auch wenn ich es ihr nicht so schnell erzählen werde.

„Ich bin dir nicht absichtlich aus dem Weg gegangen. Ich musste mich mit Maria wegen dem Bioprojekt treffen und dann bin ich andauernd zwischen der Sporthalle und dem Sportplatz unterwegs. Ach, Hausaufgaben machen und lernen, muss ich auch. Ich esse und ich trinke. Manchmal schaffe ich es sogar zu schlafen und dann höre ich ständig diese Stimmen“, plaudere ich theatralisch los und klinge, wie meine Großmutter.

„Och, du armer Kerl. Tut mir echt leid, dass du so ein kompliziertes Leben hast. Es war mir gar nicht bewusst. Essen und Trinken? Der blanke Horror.“ Sarkasmus. Ich hab es nicht anders verdient. Was will ich also mehr? Ich brumme nur als Antwort.

„Und es liegt wirklich nicht daran?“ fragt sie nochmal kleinlaut und ich seufze, weil meine Hoffnung dahin ist, dass sie nicht mehr darauf eingeht.

„Es stört mich wirklich nicht. Und du weißt ganz genau, dass ich ein kleiner, doofer Giftzwerg bin, der kein Liebesleben hat. Deshalb gibt es, auch nichts zu erzählen, okay?“ Bravourös geschwindelt.

„Okay, dann muss ich dir wohl glauben“, sagt sie leise murrend und ich weiß, dass sie sich damit nicht zu frieden gibt. Ich stelle mir vor, wie sie im Schneidersitz auf ihrem Bett sitzt und ihr Kinn mit der Faust abstützt. Sicher kräuseln sich ihre Lippen und sie überlegt sich eine neue Möglichkeit um mich darauf anzusprechen. Ich brauche ein Ablenkungsmanöver.

„Und hast du schon deinen Verlobten kennengelernt?“, hole ich zum Gegenschlag aus.

„Sehr witzig“, kommentiert sie sarkastisch und ich kann hören, wie mir Shari die Zunge rausstreckt. „Nein, noch nicht. Ich denke, mein Vater hat die Hochzeit wieder abgeblasen und gibt mir noch ein bisschen Luft zum Atmen.“

„Luft zum Atmen wird überbewertet, findest du nicht auch? Es ist, wie mit dem Essen und Trinken.“

„Sicher. Ich konnte ihm immerhin deutlich machen, dass er bei der Party übertrieben hat. Hoffe ich zu mindestens. Ich meine, er hat wirklich extrem übertrieben mit seinem Auftritt dort.“

„Ja, ich war angsteinflößend. Dein Vater ist gigantisch, vor allem wenn er dicht vor einen steht. So wie dieser Elefant, diese Gottheit?“

„Ganesha?“, fragt sie verwirrt, „Und so groß ist er gar nicht, das macht allein der Turban. Hast du meinen Vater gerade mit einem Elefanten verglichen?“

„Elefanten sind toll, aber dein Vater ist zum Fürchten.“ Nun lacht auch Shari etwas.

„Er wirkt nur so. Harte Schale, weicher Kern. Eigentlich ist er ganz lieb.“ Diesen Satz kann ich mit dem Bild, welches ich von ihm habe, nicht vereinbaren.

„Bei Elefanten ist die Haut das Empfindlichste“, werfe ich ein und sie lacht erneut.

„Okay, ich lass dich mal weiterschlafen. Ich würde mich freue, wenn wir es am Montag schaffen zusammen essen zu gehen.“

„Versprochen.“

„Fir milenge“, flötet sie im gewohnten Ton.

„Antio“, sage ich und lasse mich dabei zurück aufs Bett fallen. Prompt denke ich wieder an griechisches Essen. Für einen kurzen Moment schließe ich meine Augen und schüttele lachend den Kopf. Shari. Nun bin ich wach, richtig wach und spüre eine unerwartete gute Laune, die sich durch meinen Körper kitzelt. Ob sie nur von Shari kommt, weiß ich nicht, aber ich genieße es.
 

Als Erstes gehe ich ins Bad und bringe meinen Körper auf Vordermann. Duschen, rasieren und eincremen und schon bald sehe ich wieder aus wie ein glattrasierter Babypopo. Nicht mehr, wie ein fusseliger Tunichtgut. Trotz des wenigen Schlafs wirke ich halbwegs ausgeruht und auch die Wunden an meiner Lippe und an der Braue sind kleiner geworden. Die Lippe merke ich nur, wenn ich Druck ausübe und die Augenbraue erstrahlt in einem wunderschönes Blau- und Gelbton und hebt meine dunkelbraunen Augen hervor. An der Lippe wird wahrscheinlich eine kleine Narbe zurückbleiben, doch das ist mir egal.

Raphael, von dem ich nicht mal wusste, dass er da ist und Maya kommen mir entgegen, als ich die Tür öffne. Sie schauen mir verdattert entgegen, als ich grinsend und fröhlich an ihnen vorbeistiefele.

„Namasté, liebe Freunde“, begrüße ich sie und schließe meine Tür. Ich höre ein gedämpftes, verwundertes Gemurmel und grinse weiter in mich hinein. Nach dem Anziehen einer bequemen Jeans und eines dünnen Pullovers, fühle ich mich für den Tag gewappnet. Ich schlendere in die Küche und entdecke meinem Vater vor der Kaffeemaschine. Er sieht sauer aus.

„Guten Morgen“, pfeife ich munter und ernte nur ein mürrisches Brummen. „Was los? Hat die Kaffeemaschine deine gute Laune gefressen?“ Ich lehne mich zu ihm auf den Küchentresen, schaue zur Maschine und wieder zu ihm.

„Noch nicht, aber gleich. Sie spuckt keinen Kaffee aus“, berichtet er zerknirscht und nimmt zum zweiten Mal den Wassertank heraus.

„Lass mich mal.“ Ich nehme ihm den Tank ab, schüttele einiges an Wasser wieder heraus, reinige den Padhalter mit heißem Wasser und streichele zwei Mal über den Rücken der Maschine. Sie beginnt zu Schnurren. Das Wasser kocht und als ich auf den Knopf für den Durchlauf drücke, kommt frischer, gut riechender Kaffee heraus. Mein Vater macht ein erstauntes Gesicht, nimmt die volle Tasse entgegen und schnuppert. Sofort wird sein Gesichtsausdruck wieder weicher und er lächelte zufrieden.

„Ich will gar nicht wissen, wie du das gemacht hast. Von jetzt an werde ich dich einfach immer wecken, wenn es nicht geht.“ Er nimmt einen Schluck und seufzt begeistert. Ich bin es weniger.

„Ich erinnere mich gerade wieder daran, warum ich in diesem Haushalt nichts mache.“

„Das ist der Grund?“, fragt mein Vater sarkastisch und ich verkneife mir ein schelmisches Grinsen.

„Erläuterst du mir den Grund auch noch mal?“, fragt es hinter uns und wir drehen uns fast gleichzeitig zu meiner Mutter um. Ich winke ab, nehme mir selbst eine Tasse aus dem Schrank und stelle den normalen Wasserkocher an.

„Es wäre besser, wenn du das nicht weißt“, sage ich und blicke mahnend zu meinem Vater, der in seine Kaffeetasse hinein grinst.

„Möchtest du einen Kaffee oder einen Tee?“, fragt er sie und sie entscheidet sich für einen Kaffee.

„Mark, würdest du bitte“, folgt es nun neckisch in meine Richtung und ich bereite meiner Mutter ebenfalls einen Kaffee zu. Ich helfe ihr bei den Vorbereitungen für das Frühstück und beschmiere mir ein Brötchen mit Marmelade. Wir unterhalten uns bis Maya und Raphael zu uns ins Esszimmer stoßen. Maya ist wie immer perfekt gestylt, doch Raphael sieht müde und etwas zerknautscht aus. Oben ist mir das gar nicht aufgefallen.

„Dein Handy hat oben geklingelt, Mark“, sagt Maya und ich horche auf. Ich werfe einen kurzen Blick auf die Uhr. Wahrscheinlich ist es Maria, meine Projektpartnerin. Ich stehe abrupt auf und will mich mit ihr absprechen.

„Würdest du bitte noch sitzenbleiben! Du bist noch nicht mal fertig“, hält mich meine Mutter zurück. Sie deutet auf mein angebissenes Brötchen, doch ich bin zu hibbelig um darauf zu warten, dass meine Schwester und Raphael zu speisen gedenken.

„Ich komme gleich wieder. Ich warte auf einen Anruf von meiner Projektpartnerin. Eventuell wollen wir uns heute noch treffen, da wir es nach der Schule immer nicht schaffen.“ Mama blickt zu meinem Vater. Dieser zuckt nur mit den Schultern und ist keine wirkliche Hilfe. Also nickt sie es ab und ich hetze die Treppe nach oben. Zwei Anrufe von Maria und eine Nachricht von Jake. Ich bin mit einem Mal vollkommen blockiert. Er möchte sich 19 Uhr mit mir treffen. Mein Herz macht einen Satz. Mein Magen dreht sich zweimal um die eigene Achse und mein Gehirn macht einfach nichts. Gar nichts.
 

Als sich die Schockstarre endlich löst, überschlagen sich meine Gedanken. Aus Freude oder Besorgnis? Ich kann es nicht einschätzen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass sich Jake nach meinem beharrlichen Ignorieren noch mal meldet. Aus Übermut oder Wahnsinn schreibe ich eine bestätigende SMS. Jetzt stehe ich nur noch vor dem Problem, dass ich Hausarrest habe und eigentlich gar nicht das Haus verlassen darf. Ich muss irgendwie rauskommen und das plausibel bis zum Abend. In meinem Kopf formt sich ein schemenhafter Schlachtplan.

Danach rufe ich Maria zurück und wir verabreden uns für 16 Uhr bei ihr zu Hause. Ich erkläre ihr, dass ich erst meine Eltern fragen muss, bin mir aber sicher, dass sie zustimmen werden.

Als ich wieder ins Esszimmer komme, unterhalten sich alle über Raphaels Studium. Er spricht über Vorlesungen und Seminare. Maya schweigt und isst still ihr Frühstück. Ich lasse mich ebenso stumm auf meinen Stuhl nieder und esse das angefangene Brötchen zu Ende. Plötzlich sieht mich mein Vater erwartungsvoll an und ich schaue verstört zurück.

„Was sagt deine Projektpartnerin?“ Ich gebe ein unwilliges Geräusch von mir und blicke von Maya zu Raphael. Ich hatte das Ganze in Ruhe allein mit den Beiden besprechen wollen und nicht vor dem Traumpärchen. Der Blick meiner Mutter ist jedoch so auffordernd, dass ich seufzend anfange zu erklären.

„Sie hat erst zum späten Nachmittag Zeit und wir müssten uns bei ihr Treffen. Sie passt auf ihre kleine Schwester auf. Ich hab ihr gesagt, dass ich euch erst fragen muss.“ Flüssig und Glaubhaft. Ich bin nur etwas beunruhigt über die Leichtigkeit, mit der ich meinen Eltern Lügen auftische. Nicht alles ist gelogen. Meine Projektpartnerin hat eine kleine Schwester, auf die sie manchmal aufpasst. Wir haben uns einmal in einer Freistunde, statt über unser Projekt über kleine Schwestern ausgelassen. Es war sehr erheiternd.

Ich beobachte meine Eltern, die sich zum zweiten Mal am heutigen Tag ansehen und still übereinkommen, dass für die Schule eine Ausnahme gemacht werden kann. Als sie dann noch erklären, sie seien sowieso am Abend bei Freunden eingeladen, fällt die Anspannung von mir ab. Für gewöhnlich sind bis in die Nachtstunden unterwegs und so habe ich genügend Zeit für das Treffen mit Jake. Ein mulmiges Gefühl im Bauch habe ich dennoch. Allerdings nicht, wegen des möglichen Entdeckens. Ich denke wieder an Sharis Worte und bin nun eindeutig davon überzeugt, dass ich eigentlich kein netter Kerl bin. Maya und Raphael sehen mich beide an und ich versuche sie zu ignorieren.
 

Nach dem Frühstück setze ich mich an den Computer und mache brav und dem schlechten Gewissen geschuldet, ein paar Recherchen und Texte für die Projektarbeit. Ich bestelle noch ein Buch aus der Bibliothek, welches ich vorher abholen kann und packe meine Aufzeichnungen zusammen. Das schlechte Gewissen ist eine verdammt starke Kraft. Ich verständige mich über SMS mit Maria und bestätige den Termin für Nachmittag. Als ich mit allem fertig bin, arbeite ich noch ein bisschen an dem Bild von Raphael, doch nach einer Weile lehne ich mich zurück und denke an Jake.

Ich schlucke, als mir klar wird, dass ich auch mit den Bildern aufhören muss, wenn ich endlich von Raphael wegkommen möchte. Ich klicke auf speichern und schließe Photoshop. Es ist kurz nach 15 Uhr und ich habe noch etwas Zeit. Dennoch spüre ich, wie langsam aber heftig die Nervosität anklopft. Nicht wegen des Treffens mit Maria, sondern wegen dem mit Jake. Ich rede mir ein, dass es an der Tatsache liegt, dass ich bisher die Männer, mit denen ich im Bett war, kein zweites Mal gesehen habe, doch dem ist nicht so. Es liegt an Jake und an der Begebenheit, dass ich nicht weiß, was der andere sich von diesen Treffen erhofft. Vielleicht will er mir nur mitteilen, wie scheiße ich mich verhalte und ich könnte dem nur zustimmen. Es zermürbt mich, als ich versuche ich mich die paar Minuten abzulenken. Ich kippele soweit mit meinem Stuhl zurück, dass ich fast umfalle und schaue an die Decke. Sie braucht einen Anstrich und ich nehme es mir für die kommenden langweiligen Stunden meines Hausarrests vor.

Ich höre eine Bewegung im Flur und dann ein Klopfen an meiner Tür. Ich kipple wieder zurück. Nur den Kopf steckt mein Vater durch die Tür und blickt sich suchend im Zimmer um. Es ist abgedunkelt und ich habe kein Licht an.

„Mark, brauchst du das Auto?“

„Ja, ich würde es gern nehmen, wenn ich darf.“

„Weißt du, wann du in etwa zu Hause sein wirst?“ Ich schüttele den Kopf und merke erst später, dass mein Vater das nicht sehen kann.

„Oh ähm, nein. Kann ich dir nicht sagen. Vielleicht machen wir das Projekt heute fertig und dann möchte ich nicht auf die Zeit gucken.“ Aalglatt gelogen.

„Okay, reize es nicht zu sehr aus. Das mit dem Hausarrest gilt immer noch.“ Die leise Warnung zwischen den Zeilen leuchtet. Lügen ist so leicht und es richtet soviel Schaden an.

„Ich weiß. Werde ich nicht.“

„Deine Mutter und ich werden gleich losfahren. Wir sind bei den Johnsons. Ihre Telefonnummer steht unten im Buch.“

„Ja, ich weiß. Grüßt Rika von mir.“ Sie ist die 20-jährige Tochter der Johnsons und eine alte Kindheitsfreundin. Sie studiert mittlerweile in einer anderen Stadt und daher sehen wir uns nicht mehr.

„Gut, ich versuche daran zu denken.“ Ich sehe seinen Kopf verschwinden, doch die Tür geht nicht zu.

„Mark?“ Noch einmal lugt er hervor.

„Ja?“

„Ich weiß übrigens, dass du den Wein ausgetrunken hast“, sagte er belustigt warnend und schiebt noch ein gespielt verärgertes Schnaufen hinterher.

„Gut, dass ich keine 15 Jahre mehr bin“, gebe ich sarkastisch zurück und habe die stille Warnung dennoch verstanden. Ich war und bin noch immer etwas anstrengend.

„Ja, wahre Worte. Aber übertreibe es nicht.“

„Niemals“, sage ich noch, doch mein Vater schließt bereits die Tür. Wahrscheinlich schüttelt er draußen mit seinem Kopf und fragt sich, wie meine Mutter vor ein paar Tagen, was mit mir schief gelaufen ist.
 

PS von Autor: Lieben Dank an meine lieben Leserlein und einen besonderen Dank an Sharon, Nana-tan und Yunia-chan für die lieben Kommies :D <3

Der Krawattenstresstest

Kapitel 10 Der Krawattenstresstest
 

Aus dem Wohnzimmer dringen Fernsehgeräusche zu mir durch, als ich in den Flur trete. Vorsichtig kurz schmule ich hinein, sehe Maya und Raphael, die zusammen einen Film guckend auf der Couch sitzen. Irgendein schnulziger Liebesschinken. Sie sind so vertieft, dass sie mich nicht bemerken. Ich greife mir meine Jacke und verschwinde ohne Laut zu geben nach draußen.

Im Auto atme ich tief durch, inspiziere ich mein Portmonee und seufze, als ich nur ein paar lausige Euro und ein Kondom darin entdecke. Nichts davon wird mir nachher weiterhelfen können. Na ja, vielleicht das Kondom im Sinne der Wiedergutmachung. Ich schiebe den Gedanke schnell wieder beiseite und fahre los. Wie geplant, hole das Buch aus der Bibliothek und bin ein paar Minuten später bei Maria.

Wir kommen nicht gut voran, denn ich bin nicht bei der Sache. Maria schenkt mir in der Küche ein Glas Wasser ein und wir gehen noch einmal die einzelnen Stichpunkte durch, die wir während unseres Referats ansprechen wollen. Als ich danach auf die Uhr sehe ist es bereits 18:30 Uhr. Wir vereinbaren ein neues Treffen am Dienstag. Ich entschuldige mich und fahre mit eine mulmigen los.
 

Ich bin vor Jake an unserem Treffpunkt und ich weiß nicht, ob ich das gut oder schlecht finden soll. Es gibt mir die Chance noch einmal durchzuatmen. Allerdings folgt nach dem Luftschnappen ein schlagartiger Gedankeneinbruch. Normalerweise gehe ich solchen Situationen aus dem Weg. Ich weiß nicht einmal, warum ich dem Treffen zugestimmt habe. Kurz blicke ich mich um und lehne mich dann gegen einen Zaun und starre Richtung Himmel. Was er wohl von diesem Treffen erwartet? Vermutlich will er nur dabei zusehen, wie ich mich wie ein Wurm winde. Was ich definitiv tun werde. Ich bin mir nicht mal sicher, was ich von diesem Treffen erwarte. Wie erkläre ich ihm, dass ich ihm nicht geantwortet habe? Unfähigkeit? Unwillen? Ich finde keine verständliche Begründung, außer meiner eigenen Feigheit und Raphael dafür und ich kann nur hoffen, dass er es mir nicht übelnimmt. Ich habe ihm schließlich nichts versprochen. Ich schließe die Augen, als ein warmer Windhauch über mein Gesicht streicht. Es ist wärmer als die Tage zuvor. Ich ziehe mir die Jacke aus, blicke zurück zu diesem entfernten Punkt, den ich mir zum Hinstarren auserkoren habe und bin so in Gedanken versunken, dass ich nicht sofort merke, wie Jake auf mich zu kommt. Erst als er sich zu mir an den Zaun lehnt und sich meine Stütze dadurch bewegt, schaue ich zu ihn. Ich sehe in diese sanften braunen Augen und spüre augenblicklich, wie sich mein Inneres verdreht.

„Hey“, sagt er leise, bleibt ungerührt neben mir stehen und schaut ebenfalls zu einen weitentfernten Punkt in mitten der Nacht.

„Hi“, erwidere ich gelassener als ich dachte. Als er nicht gewillt scheint zu beginnen, lasse es mir nicht nehmen ihn einen Augenblick lang zu betrachten. Er trägt ein dunkelblaues Hemd mit gelockerter Krawatte und sieht müde aus. Richtiggehend erschöpft.

„Du arbeitest an einem Samstag?“, frage ich und wechsele meine Position um ihm gegenüber zu stehen. Noch immer sehen, wir uns nicht an. Doch ich strecke meine Hände nach ihm aus, löse seine Krawatte komplett und ziehe ihm diese vom Hals. Langsam und vorsichtig. Jake beobachtet mich dabei. Sie fühlt sich teuer an und seidenzart. Ich sehe zu ihm auf und sehe den Ansatz eines Lächelns auf seinen Lippen.

„Es gab ein paar technische Probleme und die mussten schnell gelöst werden. Da ist Samstag leider keine Ausrede“, erklärt er ruhig. Mir fällt nicht ein, als was er arbeitet und ich muss mir eingestehen, dass ich das wahrscheinlich noch nie wusste.

„Warum hast du mir nicht zurückgeschrieben?“, fragte er nun gerade heraus und ich schaue beschämt zur Seite. Wie sage ich es ihm, ohne dass ich ihm das Raphael-Problem erläutern muss. Ich weiß es nicht. Unruhig ziehe ich die Krawatte in meiner Hand zwischen meinen Fingern hindurch. Mehrere Male. Er wartet auf meine Antwort und interpretiert mein Schweigen falsch.

„Okay, dann sag mir, warum du jetzt hier bist, obwohl du nicht antworten wolltest?“, hakt er scharf nach. Der Klang seiner Stimme irritiert mich. Er scheint nicht nur verärgert, sondern wirklich enttäuscht. Ich konzentriere mich auf den feinen Stoff des Schlipses in meiner Hand und beginnen sie einzudrehen.

„So ist das nicht.“

„Ach ja? Wie ist es dann?“

„Ich wollte antworten, aber...ich wusste nicht was.“ Jake stößt schnaufend Luft aus.

„Ich hätte einfach nur eine Reaktion gewollt“, sagt er und seine Stimme driftet ins vorwurfsvolle ab. Ich fahre wieder und wieder mit dem Finger über den Stoff der Krawatte. So als könnte sie mich in die richtige Richtung leiten. Ich wickele sie um den Daumen und den kleinen Finger und atme tief ein.

„Ich weiß einfach nicht, was du von mir erwartest...“, gestehe ich ehrlich.

„Was ich erwarte? Mark, ich erwarte gar nichts. Na ja, doch, dass man mich nicht ignoriert.“

Obwohl er aufgebracht ist, sind seine Formulierungen rücksichtsvoll, fast freundlich.

„Tut mir leid. Ich bin nicht sehr gut in so was“, sage ich schließlich und sehe ihn an.

„Was du nicht sagst.“ Ich sehe dabei zu, wie meine sonst gut funktionierende Schlagfertigkeit davon segelt. In Gedanken winke ich ihr hinterher und dabei entsteht eine seltsame Stille zwischen uns.

„Ich fand es einfach schön dich wiederzusehen. Aber, dass du einfach so morgens verschwunden bist, hat mich echt gekränkt. Allerdings kann mich vermutlich glücklich schätzen, dass du nicht sofort danach abgehauen bist“, sagt Jake stichelnd und er hat gar nicht so unrecht. Trotzdem die Art, wie er es sagt, kitzelt den Ärger in mir.

„Ich mache das immer so“, verteidige ich mich scharf.

„Wow, vielen Dank, dass du mich behandelst, wie einen billigen One-Night-Stand“, entgegnet er ebenso abwehrend. Die Krawatte in meiner Hand dient mir nun als Antistressball und so knete ich sie ordentlich durch. Mein Gehirn arbeitet, doch nichts Sinnvolles springt dabei heraus. Sein Vorwurf ist gerechtfertigt. Deshalb ist die Ausrede `Ist halt so` nicht gerade ein Trumpf.

„Du führst solche Gespräche nicht oft, oder?“, fragt er mich leise und streicht sich durch die dunklen Haare. Damit verursacht er ein ziemliches Chaos und ich betrachte ihn einen Moment. Mit den verwüsteten Haaren wirkt etwas jünger. Nicht, dass er viel älter ist, aber der Anzug und die Krawatte lassen ihn so überaus erwachsen erscheinen. Viel erwachsener als ich selbst.

„Nein. Noch nie eigentlich“, gestehe ich in die Nacht ein. Ich lehne mich zurück an den Zaun und verschränke die Arme vor der Brust. Noch immer fühlt es sich warm an und doch streiche ich mir mit den Händen über die Oberarme. Als könnte es das schlechte Gefühl reduzieren.

„Das erklärt einiges. Mark, ich will keinen Stress machen und ich meinte, was ich sagte. Ich erwarte nichts. Na ja, und mit so einer Nacht habe ich wirklich nicht gerechnet.“ Nun breitet sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus und kann mir ein amüsiertes Schnaufen nicht verkneifen. Ich werde sogar etwas rot.

„Hör zu, wenn du mich wiedersehen willst, dann freue ich mich und wenn nicht, dann bin ich alt genug um damit klarzukommen“, sagt Jake und ich weiß, dass ich ihn wiedersehen will, nur weiß ich im Moment nicht, wo genau mir der Kopf steht. Ich nicke und fühle mich nicht fähig genug eine vernünftige und verständliche Antwort zu formulieren. Ich halte ihm die zerknitterte Krawatte hin und lächele entschuldigend.

„Gut, dass ich noch andere besitze“, kommentiert er lachend und ich mag das Geräusch. Er schiebt meine Hand zurück. Ich spüre weiterhin den schicken Stoff und blicke auf die feinen Knitter darauf. Sie ist definitiv hinüber.

„Kann man die bügeln?“

„Bin mir nicht sicher.“ Nun lachen wir beide. Ich fühle mich erleichtert.

„Deine Wunden sehen übrigens schon viel besser aus. Auch wenn ich gestehen muss, dass ich es irgendwie gut fand.“ Mit dem Daumen tippt er mir gegen das Kinn und berührt dabei leicht meine Unterlippe.

„Es macht mich viel männlicher“, kommentiere ich reißerisch. Ich ziehe die defekte Augenbraue nach oben und lasse es lieber gleich wieder sein. Es schmerzt.

„Autsch!“, gebe ich von mir, „Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich das nicht wieder machen werde. Mit den Schmerzen und dem Hausarrest komme ich klar, aber das Internetverbot macht mich ganz kirre.“

„Hausarrest?“, fragt Jake und zieht skeptisch eine Augenbraue nach oben. Entweder hat er nie welchen gehabt oder wundert sich, dass ich in meinem Alter, welchen kriege.

„Tja, das ist wohl das Los, wenn man noch bei seinen Eltern wohnt und Mist baut“, antworte ich ihm ehrlich und bin erneut peinlich berührt.

„Und wie erklärst du deinen Eltern, dass du jetzt nicht in deinem Zimmer sitzt?“, fragt er ernst. Eine berechtigte Frage.

„Oh, dein Name ist Maria und wir arbeiten an einem Biologieprojekt“, sage ich ebenso ernsthaft, wie eben auch Jakes Blick gewesen war. Sein Lächeln wird zu einem Grinsen, breit und fast unanständig.

„Ein Biologieprojekt? Dir ist klar wonach das klingt?“ Er giggelt und ich klopfe ihm empört gegen die Schulter. Natürlich weiß ich, wonach es klingt. Allerdings habe ich erst jetzt wirklich darüber nachgedacht. Er zieht mich lachend zu sich heran, ohne wirklich etwas zu tun. Ich werde schon wieder rot, weiche aber nicht von ihm zurück. Für einen Moment sehen wir uns an und ich fühle, wie mich sein Lächeln erwärmt, aber nicht so intensiv, wie das von Raphael. Unwillkürlich weiche ich seinem Blick aus.
 

„Willst du los?“, fragt er und lässt von mir ab. Ich schaue auf die Uhr. Ich habe noch Zeit, also verneine ich es und wir entschließen uns ein paar Meter zu spazieren. Eine Weile laufen wir still nebeneinander her und ich ziehe die Krawatte in meiner Hand glatt. Doch die Spüren meines Stressanfalls verschwinden nicht. Ich stecke sie verlegen in die Jackentasche.

„Darf ich dich etwas fragen?“, platz es aus mir heraus. Abgesehen von der Grundangst Jake gegenüberzutreten, beschäftigt mich noch etwas anderes.

„Weiß Marika Bescheid?“, frage ich, bevor Jake überhaupt auf meine erste Fragen antworten kann.

„Bescheid? Oh! Ja, sie weiß, dass ich auf Männer stehe. Aber nein, das mit uns beiden weiß sie nicht“, antwortet er und bleibt stehen. Genauso, wie ich.

„Ich kann dir allerdings nicht sagen, was sie sich alles zusammen reimt. Sie ist nicht blöd.“

„Nein, dass ist sie wirklich nicht.“, erwidere ich gedrückt. Damit lasse ich es ruhen, denn alles Weitere wäre pure Panikmache und Jake konnte schließlich nichts dagegen tun. Wir setzen unseren Weg fort und sprechen dabei über die Arbeit, Schule und Familie. Ich erfahre endlich, dass Jake in einer IT-Firma arbeitet und für drei Städte zuständig ist, weshalb er hin und wieder hier ist. Er ist ein Abteilungsleiter. Ich bin echt beeindruckt. Er ist Einzelkind und ich beneide ihn dafür, da er sich mit keiner Schwester rumplagen muss. Ich erzähle ihm Anekdoten meiner Familie und berichte ihm meine Pläne für die Zukunft. Studium und Auszug. Klar und simpel. Ich genieße es mit ihm zusammen zu sein. Es sind wenige Momente, in denen ich Nichts verschweigen muss. Er sieht mich nicht schief an oder fragt mich aus. Es ist ehrlich und angenehm. Wir gehen eine Kleinigkeit essen, als sich Jake Magen zu Wort meldet. Wir einigen uns auf klassisches Junkfood. Pommes und Burger. Bis ich mit Entsetzen feststelle, dass es nach 23 Uhr ist.

„Oh, mist. Ich sollte längst wieder in meinem Zimmer sitzen“, entflieht es mir. Ich schiebe den letzten fleischigen Happen in meinen Mund und wische mir mit der Serviette die Spuren davon. Jake begleitet mich zu meinem Auto.

„Jake“, sage ich und bleibe vor ihm stehen, „Tut mir Leid, dass wir...dass das hier... na ja... es tut mir einfach leid.“ In entschuldigen war ich noch nie sehr gut, aber immerhin versuche ich es. Ich bin es ihm schuldig.

„Ich bin noch eine Woche in der Stadt und du hast meine Nummer“, sagt er statt auf mein Gestottert einzugehen. Ich grinse schief und bin mir immer noch nicht sicher, was ich von all dem halten soll. Jake mustert mich. Als ich nichts antworte, beugt er sich vor.

„Ich freue mich über jedes Wort“, flüstert er mir zu und lächelt. Wieder durchströmt mich dieses wärmende Gefühl und leichte Röte legt sich auf meine Wangen.

„Okay“, erwidere ich. Der Ältere zieht mich in eine Umarmung. Es ist eine liebevolle, aber keine fordernde Geste.

„Hopp Hopp, sonst verlängert sich dein Hausarrest“, scherzt er. Ich öffne die Autotür, drehe mich noch mal zu ihm um und mein Gehirn setzt aus. Schlagartig. Aus der Kurzschlussreaktion heraus, drücke ich ihm einen Kuss auf, löse ihn genauso schnell und fahre sofort los.
 

Erst als ich auf der Auffahrt unseres Hauses ankommen, atme ich wieder aus. Ich lehne meinen Kopf gegen die kühle Autoscheibe und denke darüber nach, was ich zum Schluss getan habe. Ich habe mit Jake geschlafen, ihn dann ignoriert, vor den Kopf gestoßen und zu guter Letzt wieder geküsst. Ja, so schafft man Probleme aus der Welt. Ich sollte Ratgeber verfassen.

Das Haus ist dunkel und ich hoffe, dass Maya und Raphael bereits im Bett sind. Meine Eltern sind noch nicht zu Hause, denn die Garage ist leer. Ich schließe leise die Tür und schleiche im Dunkel durch den Flur. Ich hänge meine Jacke an die Garderobe und sehe Jakes Krawatte aus der Tasche hängen. Vorsichtig ziehe ich sie heraus und lasse sie erneut durch meine Finger gleiten. Ein Lächeln liegt auf meinen Lippen und mit der Krawatte in der Hand schleiche ich zum Bad. Dort kommt mir Raphael entgegen. Schnell verstecke ich den Slips hinter meinem Rücken.

„Du bist aber spät“, sagt er über mein plötzliches Auftauchen erschrocken.

„Hat etwas länger gedauert. Ich hab unterwegs noch was gegessen, aber verrate es meinen Eltern nicht“, sage ich gespielt scherzhaft und schiebe mich an ihm vorbei zum Badezimmer.

„Was soll er nicht verraten?“, ertönt plötzlich die Stimme meiner Schwester aus dem Hintergrund. Ich bleibe abrupt stehen, schaffe es, aber die Krawatte durch die Tür zu werfen.

„Du hast Hausarrest...schau mal auf die Uhr, Mark!“

„Maya“, mahnt Raphael sie an. Doch sie verschränkt die Arme vor der Brust und setzt ihren zickigen Schwesterblick auf.

„Und? Mum und Dad wissen Bescheid.“

„Aber sie wollten sicher nicht, dass du erst jetzt zu Hause bist.“

„Willst du mich deshalb anschwärzen? Mach, wenn es dich befriedigt, bitte!“ Ich benutze das Wort ´befriedigt´ mit purer Absicht. Sie wird puterrot. Nun kommt ein mahnendes ´Mark´ von Raphael, der sich sichtbar gestresst durch die Haar streicht. Er will nicht, dass wir streiten.

„Oh, das wird es, wenn du noch weitere Strafen aufgedrückt bekommst und sich dein Hausarrest verlängert.“ Ich verdrehe die Augen, als sie mir das entgegen giftet.

„Oh, ich zittere“, gebe ich mäßig beeindruckt von mir und weiß, dass es nicht mehr viel gibt, was sie mir verbieten können.

„Du bist so ätzend, weißt du das? Und Mum und Dad interessieren sicher, dass du sie ständig anlügst.“

„Was heißt hier ständig? Bekommt dein Hirn vor lauter Schminke nicht mehr genug Sauerstoff?“, motze ich aufgebracht zurück. Was bildet sie sich ein? Als ob, sie unseren Eltern nie etwas verschweigt. Meine Finger krallten sich in meine Hose und ich wünsche mir Jakes Krawatte zum Kneten zurück.

„Hey, ihr zwei, kommt wieder runter, ja?“, wirft Raphael dazwischen, doch Maya reagiert nicht auf ihn.

„Du bist ein Arsch, Mark. Außerdem weiß ich zufälligerweise, dass Maria um 19 Uhr online gekommen ist, dass heißt du warst nicht mehr bei ihr.“ Nun bin ich doch überrascht. Ich wusste nicht, dass Maya Maria kennt. Und schon gar nicht, dass sie sie in ihrer Onlineliste hat. Mein Lügengebäude beginnt zu bröckeln. Ihr Blick ist siegessicher, doch dann fällt mir das Buch aus der Bibliothek ein, welches ich vor dem Treffen abgeholt habe und hole es aus meiner Tasche heraus.

„Ja, das liegt daran, dass ich danach noch mal in die Bibliothek war.“ Ich zeige ihr das Buch mit dem fetten Bibliotheksstempel. Zerknirscht schaut sie es an. Ich sehe, wie ihre Sicherheit schwindet, während sie nach einer Erwiderung sucht.

„Du kannst ihnen natürlich erzählen, dass ich unerlaubter Weise, noch was gegessen habe. Das interessiert sie sicher über alle Maßen. Aber okay, du warst ja schon immer eine kleine zickige Petze und daran wird sich wohl nichts mehr ändern“, gebe ich ruhig von mir und sehe, wie sich ihr Brustkorb hektisch hebt und senkt. Sie ist sauer. Wahrscheinlich hat sie felsenfest geglaubt, mir eins auswischen zu können.

Ich sehe zu Raphael, der mir einen enttäuschten und schwer definierbaren Blick zu wirft. Ich kann auf ihn keine Rücksicht nehmen. Ich lasse mich von Maya nicht angreifen.

„Kommt noch etwas? Nein? Gut, dann wünsche ich euch eine geruhsame Nacht.“ Damit verschwinde ich ins Badezimmer und schließe die Tür hinter mir. Ich setze mich auf den Wannenrand und seufze leise. Ich bin manchmal wirklich ein verlogener Arsch. Das bestreite ich gar nicht. Ich habe im Grunde auch nicht damit gerechnet, dass meine Ausrede funktioniert. Gerade als ich mich abkühlen will und bereits das Shirt ausziehe, klopft es an der Tür. Ich weiß, dass es nur Raphael sein kann. Nur noch mit einem Arm im T-Shirt öffne ich sie.

„Was? Schickt sie dich zum Krieg ausfechten?“

„Das war nicht nett von dir“, sagt er säuerlich und ich bin keineswegs dazu bereit, mich zu entschuldigen. Ich ziehe mir das Shirt komplett aus und werfe es hinter mich.

„Ich hatte auch nicht nett sein wollen.“

„Ja, das hat man gemerkt.“

„Warum bin ich jetzt der Böse, wenn sie mir eins auswischen will?“

„Du bist der Ältere.“

„Und deshalb, muss ich es mir gefallen lassen? Komm schon, dass du hier bist, heißt sie spielt ihre Du-bist-mein-Freund-Karte aus“, sage ich empört und sehe Raphael verständnislos an. Ich höre ihn seufzen. Er ist ihr Freund und muss sie verteidigen. Doch ich fühle mich verletzt.

„Sie weiß nicht, dass ich mit dir rede.“

„Klar. So blond, ist sie dann doch nicht, Raphael.“ Er seufzt erneut und fährt sich mit der Hand über das Gesicht.

„Ja. Nein, du musst sie nicht noch provozieren.“ Seine Stimme ist leise und seltsam ruhig. Ich atme tief ein und schlucke meinen Ärger für einen Moment runter. Er hat Recht, auch wenn ich es nicht gut finde. Ich provoziere sie und das macht mir Spaß.

„Ich werde mich nicht entschuldigen, aber vielleicht nehme ich beim nächsten Mal etwas Rücksicht“, stelle ich klar und mache knirschend dieses Zugeständnis. Ich will die Tür schließen, doch Raphael hält sie auf. Sein Gesicht kann ich nicht mehr sehen.

„Im Gegensatz zu Maya weiß ich, dass die Bibliothek am Samstag um 18 Uhr schließt.“, sagt er und schließt die Tür. Ich bleibe mit einem blöden Gefühl im Bauch zurück.

Ohne Punkt und Komma

Kapitel 11 Ohne Punkt und Komma
 

Als ich mich ins Bett lege, kann ich sie nebenan diskutieren hören. Ich verstehe kaum ein Wort, aber es ist ein zunächst kontinuierliches Geräusch. Ein gleichmäßiges. Doch es wird unruhiger. Lauter. Wahrscheinlich ist es nur Maya, die ihrem Unmut freien Lauf lässt. Doch auch hin und wieder kann ich die gedämpfte Stimme Raphaels hören. Mein Schuldempfinden wird immer stärker. Ich merke, wie ich mich spürbar anspanne und unruhig auf meinem Laken hin und her rutsche. Sie streiten, weil ich sie dazu getrieben habe.

Fast mit dem ersten Tag ihres Zusammenkommens habe ich damit begonnen die Beziehung der beiden lächerlich zu machen. Aus Selbstschutz, weil es, es leichter macht für mich. Doch mit jeder folgenden Woche, jedem folgenden Monat wurde es schwerer und schmerzhafter. Egal, wie sehr ich es von mir fort stieß. Dennoch habe ich Raphael keinen Ärger machen wollen.

Ich ziehe mir die Decke über den Kopf und schließe die Augen. Mitten in der Nacht kann ich die Türen hören. Meine Eltern sind zurück. Nehme ich jedenfalls an.

Am Sonntag schlafe ich aus, denn ich schlummere seit langem Mal wieder richtig gut. Es ist bereits mittags, als ich aufstehe. Meine Eltern arbeiten im Garten. Meine Mutter hockt in einem Beet, während mein Vater am Rasenmäher rumtüftelt. Ich ziehe mir eine Jacke über und gehe meiner Mutter beim Einsetzen von Pflanzen zur Hand. Sie liebt ihre Gartenarbeit, ihre Blumen und immer wenn sie ihre schmalen Finger in das kühle Erdreich gräbt, hat sie dieses Funkeln in den Augen und wirkt 10 Jahre jünger. Es ist schön mit anzusehen.

Ich blicke kurz nach oben und sehe Maya auf dem Balkon stehen. Ihr Gesicht ist versteinert und mit verschränkten Armen spaziert sie zurück in ihr Zimmer. Ich konnte die dunklen Gewitterwolken sehe, die sich um ihrem Kopf gebildet haben.

„Deine Schwester hat heute schlechte Laune“, bemerkt meine Mum und wischt sich mit den verschmutzten Fingern über die Stirn. Ich habe nicht mal gemerkt, dass sie aufgesehen hat. Vielleicht sind sie sich auch heute Morgen bereits begegnet.

„Ja, wir haben uns gestern Abend gezankt“, gebe ich kleinlaut zu und reiche meiner Mutter eine weitere Staude. Eine hübsche violette mit fransigen Blütenblättern.

„Oh, ich dachte sie hatte eine Auseinandersetzung mit Raphael. Er ist heute Morgen sehr früh aus dem Haus verschwunden“, gibt sie verwundert von sich und drückt sachte die Pflanze an. Es ist eine schöne Blume. Ich habe keine Ahnung, was es für eine ist. Für meine Mutter sind die Streitereien zwischen Maya und Raphael noch kein Grund zur Sorge. Ich habe nicht mitbekommen, dass Raphael so früh verschwunden ist und ich redete mir ein, dass es nicht an dem gestrigen Streit gelegen hat.

„Na ja, er hat viel um die Ohren. Seine Trainingsgruppe hat bald Turniere und das heißt Training. Training. Training“, erkläre ich geistesabwesend, wackele nebenher mit meinem Kopf rum und reiche meiner Mutter eine weitere Pflanze. Diesmal ist sie gelb.

„Wer hat angefangen?“, fragt sie. Ich sehe auf und frage mich gar nicht mehr, wie sie es immer wieder schafft mich einfach so zu durchschauen.

„Du oder Maya?“ Mit Nachdruck.

„Ich, glaube ich.“ Ich habe sie provoziert. Ich kann meiner Mutter schlecht erzählen, dass Maya mich wegen meines Fehlverhaltens anschwärzen wollte und es deshalb unfreundlich zwischen uns geworden ist.

„Hast du dich entschuldigt?“

„Nein, ich bin zu stur.“ Sie schnaubt wissend, da sie genau weiß, wie stur ich bin und ich halte ihr lächelnd eine Blume und die kleine Grabkelle hin. Es bringt sie zum Lachen. Entkommen werde ich dadurch, aber nicht.

„Mach das bitte, Mark“, sagt sie und duldet keine Widerworte. Sie weiß wie unausstehlich Maya mit schlechter Laune ist. Ich murmele eine lausige Erwiderung und bin immer noch zu stur, um mich bei ihr zu entschuldigen.
 

Der Nachmittag des Sonntags verläuft ruhig. Genauso wie der Anfang der folgenden Woche. Ich treffe mich wiederholt mit Shari und wir bekommen langsam wieder ein lockeres Gefühl füreinander. Sie ist nicht mehr sauer und ich bin heilfroh, dass sie mich nicht mehr nach meinem Liebesleben befragt.

Auch mit der Projektarbeit komme ich voran. Am Mittwochnachmittag können wir die Präsentation abschließen. Jetzt stehen nur noch die schriftliche Ausarbeitung an, dann ich bin den ermüdenden Teil des Schuljahres los. Der Rest ist nur Pipikram. Ein paar Tests. Ein paar kleine Diskussionen und Referate. Und die Abschlussarbeiten, pah! Das wird mit links. Ich sollte Motivator werden.

Als ich nach Hause komme, erklären mir meine Eltern, dass sie für den Abend Theaterkarten haben und sich mit Freunden treffen. Ich wünsche ihnen übertrieben theatralisch viel Spaß und tänzele auf mein Zimmer. Von unten kann ich meine Eltern lachen hören. Ich war schon immer der Clown der Familie.

Maya ist bei einer Freundin. Erst später merke ich, dass ich plötzlich allein zu Hause bin. Ich lehne mich zurück und lächele. Endlich allein. Endlich Ruhe. Endlich...verdammt, ich habe kein Internet. Mit dieser Tatsache im Kopf frustriert mich das Alleinsein eher, als das es mich erquickt. Hätte ich doch nur etwas mehr Fantasie.
 

Da meine Selbstbeschäftigung wegfällt, brauche ich etwas anderes. Ich gehe in die Küche. Ich starre eine Weile in den übervollen Kühlschrank und weiß dennoch nicht, was ich eigentlich will. Unentschlossen drehe ich ein paar Joghurts umher und entscheide mich letztendlich für einen herkömmlichen Apfel. Mit feuchten Fingern lehne ich mich gegen den Küchentresen und lausche der Ruhe, die sich in dem leeren Haus ausgebreitet hat. Es kommt selten vor, dass ich vollkommen allein zu Hause bin.

Der Apfel ist saftig und leicht sauer. Ich mag es und greife mir einen Zweiten, den ich mit nach oben neben will. Im Flur schrecke ich auf als die Türklingel die angenehme Stille zerreißt. Ich schaue auf die Uhr und wundere mich, wer um dieser Uhrzeit noch hier klingelt. In der Annahme, dass es ein Nachbar ist, öffne ich die Tür und sehe direkt in Raphaels tiefgrüne, aber total fahrige Augen. Er hält sich mit einer Hand am Mauerwerk fest und steht leicht gebeugt.

„Raphael?“, frage ich verdutzt.

„Ich will mit Maya sprechen“, gibt er lallend von sich und stolpert mehr als das er geht in den Türrahmen. Mir geht ein Licht auf. Die undeutliche Aussprache. Die Änderung seiner Haltung. Der träge Blick. Er ist total betrunken. Ich fange ihn ab und lasse ihn schrittweise reinkommen. Mit seiner Nähe kann ich den Alkohol sogar riechen.

„Maya ist nicht da. Ich dachte, du weißt das“, erkläre ich ihm. Raphael sieht mich irritiert an und scheint nur langsam zu verarbeiten, welche Bedeutung meine Worte für ihn haben. Auch seine Erinnerungen brauchen einen Augenblick.

„Oh, sie ist bei Nina. Hab ich vergessen“, fällt ihm mit einem Mal wieder ein. Ich zucke mit den Schultern. Diese Information ist für mich vollkommen nutzlos. Raphael blickt sich unentschlossen um und seufzt dann, während er langsam zu Boden sinkt. Ich passe auf, dass er sich nicht verletzt, setze ihn ordentlich hin und schließe die Haustür. Oh man. Ein betrunkener Raphael. Ein betrunkener Raphael willig in meinem Bett. Oh, ich würde ihn zum Betteln bringen. Okay, ich habe doch mehr Fantasie als mir in diesem Moment lieb ist. Wäre die Situation nur eine andere. Kurz blicke ich auf die beiden Äpfel in meiner Hand und stelle sie auf die Kommode. Mit in die Hüfte gestemmten Armen bleibe ich vor ihm stehen.

„Ich muss zu ihr. Ich ..Wir müssen reden…“, säuselt er leise vor sich hin und ich weiß nicht, was ich machen soll. Als er versucht wieder aufzustehen und dabei seine Autoschlüssel hervorholt, schreite ich schnellstmöglich ein. Oh. Oh. Ein betrunkener Raphael ist kein vernünftiger Raphael mehr.

„Hey, hey. Das wirst du schön lassen. Es ist schon schlimm genug, dass du in diesem Zustand hergekommen bist.“ Für einen Moment lang, sieht er mich an, wie ein grünäugiges Frettchen. Ich nehme ihm die Schlüssel aus der Hand, was einfacher ist als gedacht, weil seine Reflex wirklich grausam unter dem Alkoholeinfluss zu leiden scheinen und stecke sie mir in die Hosentasche. Raphaels Beschwerde kommt mit Verzögerung und der erste Versuch sie zurückzuholen, scheitert gnadenlos. Leider gibt er nicht auf. Er versucht es weiter und tastet dabei erst über die Rückseite meiner Jeans und dann über die Vorderseite. „Oh, keine gute Idee...lass das! Du kriegst ihn nicht zurück“, mahne ich ihn an und komme schwer gegen den betrunkenen Nebel in seinem Gehirn an. Ich halte seine Hände fest und er stolpert mir regelrecht entgegen.

„Aber ich muss zu Nina fahren...Mark, bitte...“, lallt er munter und schafft es eine Hand aus meinem Griff zu ziehen. Wieder trifft er meine Vorderseite. Diesmal leider etwas zu mittig. Mit einem zischenden Keuchen weiche ich zurück, lasse, aber sein Handgelenk nicht los.

„Hör auf“, fahre ich ihn an. Diesmal laut. Er hält inne. Seine grünen Augen blicken mir betrübt entgegen. Fast ernst. So sehr will er sie also sprechen. Anscheinend war ihr letzter Streit ernster, als ich dachte. Sein Mund öffnet sich leicht, doch kein einziges Wort dringt heraus. Dennoch starre ich auf seine Lippen und kann nur hoffe, dass Raphael morgen früh rein gar nichts mehr von dieser seltsamen Gesamtsituation weiß.

„Komm, ich hole dir ein Glas Wasser, ja?“, sage ich und lasse ihn los. Ich werfe nur einen kurzen Blick zurück und verschwinde in die Küche. Etwas kaltes Wasser wird ihm helfen. Ich nehme ein Glas aus dem Schrank, fülle es mit der kühlen Flüssigkeit und kehre zu dem anderen Mann zurück. Er hat sich kein Stück bewegt. Noch immer steht er mit leicht schiefem Rücken und hängenden Arme vor der Kommode rum. Nur seine Augen sind geschlossen. Okay, okay. Am besten bringe ich ihn in Mayas Zimmer. Dort kann er sich ausschlafen und morgen früh seinem Kater frönen.

„Hier, trink einen Schluck.“ Ich drücke Raphael das Glas in die Hand und sehe mit Zufriedenheit dabei zu, wie er langsam, aber artig ein paar Schlucke nimmt.

„Okay, was hältst du davon, wenn du dich hier erstmal ausschläfst und Morgen sprichst du nüchtern und in Ruhe mit Maya. Ist das ein Plan?“, rede ich fast schon beruhigend auf ihn an. Er sieht mich lange an und ich bin mir nicht sicher, ob er mich wirklich verstanden hat. Nur im Ansatz erkenne ich ein Nicken und nehme das als Anlass mit der Operation `Ins Bett bringen` fortzufahren. Der Titel ist zweideutig, aber ich spreche ihn ja nicht aus.

Ich nehme ihm das Glas ab und drehe ihn langsam zur Treppe. Gehen will er anscheinend nicht von allein. Er macht keine Anstalten. Gut. Neuer Plan. Ich lege mir Raphaels Arm um die Schultern und spiele den Steuermann. Endlich scheint er zu begreifen und setzt seine Gliedmaßen in Gang. Ich merke, wie das Gewicht auf meinen Schultern plötzlich noch etwas heftiger wird. Er ist schwerer als ich dachte. Wir schleppen uns jede einzelne Treppenstufe nach oben und bei der dritten scheint wieder Leben in ihm zu herrschen. Allerdings nur in seinem Sprachapparat.

„Morgen kann ich mit ihr reden...“, säuselt er schwerfällig. Ich bin mir nicht sicher, ob es eine Frage oder eine Feststellung war. „Weißt du, wann sie nach Hause kommt? Hast du Ninas Nummer?“, fährt er ohne eine Antwort zu erhalten fort.

„Sie soll wissen, was ich denke. Verstehst du? Sie versteht es nämlich nicht. Sie sagt immer nur nein und dann ist sie sauer. Und dann... ist vollkommen egal, was ich sage, verstehst du... Sie sagt ´Nein´ und dann muss ich das akzeptieren... Aber vielleicht will ich das gar nicht? Vielleicht will ich nicht dauernd bei allem nein hören. Wieso kann sie nicht einfach mal Jasagen, verstehst du?“ Ehrlich gesagt, verstehe ich es nicht wirklich. Ja, wobei? Sex? Ich will nicht drüber nachdenken. Ich nicke es höflich ab und will am liebsten nichts weiter davon hören. Dennoch lallt er ohne Punkt und Komma weiter. Mittlerweile sind wir in Mayas Zimmer angekommen. Ich sehe mich kurz um und muss feststellen, dass ich schon lange nicht mehr hier darin gewesen bin. Es ist nicht mehr rosa. Meine Verwunderung hält nicht lange, denn Raphaels Gewicht bereitet mir Probleme und ich bin froh, als ich ihm im Bett abladen kann. Er liegt diagonal und nicht richtig drauf, doch das ist mir gerade reichlich egal. Ich habe morgen sicher Muskelkater vom Schleppen und dann können wir gemeinsam in Katzenjammer ausbrechen.

„Woher kommt es, dass du so betrunken bist?“, frage ich, während ich seinen Oberkörper zurückstupse, als er sich erneut aufrichten will. Ich deute ihn mit dem Finger an, dass er das lassen soll und versuche ihm die Schuhe von den Füßen ziehen. Der linke Schuh ist kein Problem. Beim Rechten schaffe ich es nicht so leicht. Ich keuche vor Anstrengung und bin heil froh, als sich der Schuh endlich löst.

„War bei Marika... Sie hat ein paar Ehemalige eingeladen und wir haben über die alten Zeiten gequatscht.“ Herrje, er klingt, als wäre er ein Tattergreis. Ehemalige. Ihr Schulabschluss war letztes Jahr. Genaugenommen vor einem halben. Raphael lächelt ein seliges, fast grunddummes Lächeln und ich versteife mich als ich bei Marikas Erwähnung automatisch an Jake denken muss. Er faselt weiteres zusammenhangloses Zeug, doch ich höre kaum hin. Ich helfe ihm seine Jacke auszuziehen, als mir eine silberne Kette um seinem Hals auffällt. Ich habe sie noch nie an ihm gesehen. Aus Neugier, aber vor allem aus Angst, dass er sich damit erwürgt, nehme ich sie ihm ab. Es ist ein einfacher, länglicher Anhänger, auf dem ein Datum ohne Jahr steht. Wirklich eigenartig. Ich lege sie auf dem Nachttisch ab.

„Sie hat erzählt, dass du dort auf der Party warst. Samstag. Ich war auch eingeladen, aber ich musste lernen“, brabbelt er undeutlich. Seine Augen sind bereits geschlossen, doch seine Füße bewegen sich in einem gleichmäßigen Rhythmus hin und her. Nicht auszudenken, wenn Raphael auch auf der Party gewesen wäre. In meinem Magen beginnt es unwirsch zu kribbeln.

„Wieso hast du nicht erzählt, dass du dort warst?“, fragt er mich leise und ich zucke nur mit den Schultern. Ich beschließe, dass er ruhig mit den restlichen Klamotten schlafen kann und beuge mich über das Bett zum Fenster und öffne es. Erst nach einer Weile merke ich, dass Raphael nichts mehr sagt und ich blicke zu ihm hinab. Stille, nur seine Füße verursachen ein leises raschelndes Geräusch. Er wartet auf meine Antwort, doch ich gebe ihm keine.

„Ich wusste nicht mal, dass du Marika kennst. Woher kennst du sie?“, fährt er fort und ich ziehe ihm die Decke hoch. Ich klopfe ihm kurz die Falten über der Brust platt und hoffe, dass er endlich Ruhe gibt.

„Du solltest jetzt schlafen“, erkläre ich. Ich richte mich auf und werde plötzlich von ihm am Handgelenk gepackt. Ich bin so überrascht, dass ich das Gleichgewicht verliere und mich neben ihm auf dem Bett abstützen muss. Blut schießt mir in die Ohren und ich werde unweigerlich rot. Neben dem Alkohol kann ich Raphaels Duft wahrnehmen. Er ist dezenter als sonst, aber definitiv da. Genauso, wie eine feine Note von Zigarettenrauch. Es ist seltsam, aber ich mag das.

„Mark, ich weiß nicht, was ich falsch mache. Sie ist manchmal so unnahbar...stößt mich ohne Grund von sich. Sie hat gar kein Vertrauen zu mir“, murmelt er und wirkt gar nicht mehr betrunken. Sein Blick ist klar und traurig. Ich fühle mich nicht im Stande, irgendwas zu sagen und versinke stattdessen in diesen wunderschönen Augen. Mein Blick wandert über seine Wangenknochen, über die mit leichten Stoppeln versehenden Wangen. Ich möchte sie berühren. Seine Lippen schmecken. Ich schlucke und schaue auf mein Handgelenk, welches von seiner warmen Hand fest umschlossen ist. Ich versuche mich zu lösen, doch er lässt es nicht zu. Mir fällt kein sinnvoller Kommentar ein, deshalb schweige ich weiter.

„Wieso vertraut sie mir nicht? Ich möchte doch nur glücklich sein. Jemanden nahe sein, der mich versteht und bei dem ich mich wohlfühle. Das, was alle wollen, weiß du?“ Raphaels Stimme ist sanft und ein wenig resigniert. Ich verstehe ihn gut. Es geht mir ähnlich, doch ich werde nicht bekommen, wonach ich mich sehne.
 

Von Raphael geht eine wunderbare Wärme aus und ich spüre, wie sich mein Herzschlag beschleunigt. Ich versuche zu atmen. Ich versuche mich nicht zu verlieren.

„Du willst das auch, nicht wahr? Du würdest jede Minute auskosten und Nähe suchen, oder?“ Ein Flüstern und ich spüre, wie der Wunsch dem anderen näher zu sein mit jeder Sekunde wächst.

„Du solltest wirklich schlafen. Morgen sieht die Welt wieder ganz anders aus. Dann kannst du mit Maya reden und alles klären. Okay?“, sage ich wie automatisch. Ich will nicht noch mehr über seine Probleme mit meiner Schwester hören. Ich ertrage es einfach nicht. Ich will mich von ihm lösen, doch er hält meinen Arm weiterhin fest. Minimal zieht er mich runter und sieht mich eindringlich an.

„Was willst du von mir hören?“, flüstere ich zurück. Doch anstatt etwas darauf zu erwidern, schüttelt er den Kopf. Mein Herz schlägt so schnell, dass ich der Überzeugung bin, dass selbst Raphael es wummern hört. Sein Griff um mein Handgelenk lässt nach und sein Daumen streicht kurz über meinen Handballen. Ich spüre, wie mir die Hitze endgültig ins Gesicht schießt.

„Ich habe das Bild gesehen“, murmelt er und für einen kurzen Moment vergesse ich das Atmen und bekomme Gänsehaut, die sich wellenartig über meinen Körper bereitet. Er hat das Bild gesehen. Er war in meinem Zimmer gewesen. Ich denke an den Abend zurück und an seinen Gesichtsausdruck auf dem Balkon. Sofort rufe ich die verschiedensten Ausreden ab, welche das Bild erklären können. Keine davon ist wirklich glaubwürdig. Wiederholt streicht sein Daumen über meine Hand, doch danach löse ich sie aus seinem Griff und richte mich auf.

Wahrscheinlich müsste ich fragen, welches Bild er meint. Müsste es herunterspielen, als Nichtigkeit. Doch ich habe zu lange gezögert um es ihm glaubhaft zu verkaufen, dass ich nicht weiß, was er meint. Ich suche nach den richtigen Worten, aber es fällt mir schwer.

„Es war nur dieser kurze Moment. Trotzdem ist das Bild so genau und detailliert. Wie machst du das?“ Er muss es sich lange angesehen haben. Ich bin dankbar für die Dunkelheit, denn so kann Raphael nicht sehen, dass ich erröte.

„Ich bin ein guter Beobachter“, kommentiere ich platt und bewege mich nicht vom Fleck.

„Ja, das bist du schon immer gewesen. Auch damals in der Schule. Kannst du dich noch an diesen einen Herbst erinnern? Es war unglaublich warm. Und du hast draußen gestanden und Minutenlang dabei zugesehen, wie die Blätter vom Baum fielen. Alle sind an dir vorbei gelaufen, haben gelacht und geredet. Doch du standest einfach nur da. Du hattest einen so abwesenden Blick, dass ich mich gefragt habe, was in deinen Kopf vorgeht. Frage ich mich heute auch noch oft.“ Er tippt sich gegen die Stirn und schließt die Augen. Seine Worte lassen mich erzittern und ich spüre ein starkes Flattern in meiner Brust. Ich habe mich immer gefragt, wie er das Ganze in Erinnerung hat.

„Sei froh, dass du das nicht weißt“, sage ich leise und sehe, wie Raphael zu lächeln beginnt. Es ist ungewöhnlich und ich kann es nicht interpretieren. Er schließt die Augen und fährt sich mit der Hand durch die Haare.

„Du solltest jetzt wirklich schlafen“, sage ich diesmal mit Nachdruck und kann dennoch meinen Blick nicht von ihm abwenden. Seine dunklen Haare fallen zurück aufs Kissen. Das sanfte Heben seines Oberkörpers ist hypnotisierend. Die Stelle an meiner Hand, die er berührt hat, scheint zu brennen und ich wende mich ab. Ich höre, wie Raphael meinen Namen sagt, doch ich reagiere nicht. Stattdessen wünsche ich ihm flüsternd eine gute Nacht und verschwinde aus dem Zimmer meiner Schwester. Meine Finger umfassen mein Handgelenk und ich habe immer noch das Gefühl seine Berührung zu spüren. Hinter der geschlossenen Tür meines eigenen Zimmers bleibe ich stehen, rutsche langsam an dieser hinab und komme zum Sitzen. Ich schließe die Augen und lausche meinem temporeichen Puls, der in meinen Ohren rauscht und jegliches Geräusch von außen dämpft.

Was hat das nur zu bedeuten?

Ich bleibe eine Weile einfach nur sitzen und lasse das Geschehene Revue passieren. Raphaels Geruch haftet an mir. Ich führe mein Handgelenk zu meiner Nase und zergehen einen Moment, einen verbotenen Moment lang im Rausch. So nah bin ich ihm noch nie gewesen. Ich greife mir an den Hals und spüre ein Kribbeln in meinem Kehlkopf, welches sich langsam über meinen gesamten Körper ausbreitet.

Stille Wasser sind tief… und schmutzig

Kapitel 12 Stille Wasser sind tief… und schmutzig
 

Es dauerte einige Minuten bis ich mich wieder aufrappele. Ich hole die beiden Äpfel aus dem Flur und setze meinen Raubzug durch die Küche fort. Wo mein plötzlicher Hunger herrührt, weiß ich nicht. Neben den Äpfeln besorge ich mir etwas Käse und ein Bier. Eigentlich hätte mir Raphaels Zustand eine Abschreckung sein sollen, doch im Gegenteil es hatte mich so aufgewühlt, dass ich das Bedürfnis verspüre etwas zu trinken. Alkohol ist keine Lösung, doch ein effektives Mittel zum kurzzeitigen Verdrängen.

Ich stelle Raphael eine Wasserflasche vor die Tür und bleibe im Flur stehen um zu lauschen. Es ist Nichts zu hören und ich hoffe, dass Raphael weiterhin in Mayas Bett liegt. Seinen Autoschlüssel habe ich noch immer in der Tasche und behalte sie vorsorglich auch dort.

Ich lasse meine Zimmertür geöffnet um zu hören, wenn sich jemand im Flur bewegt. Doch den Abend bleibt es ruhig. Erst in der Nacht als ich wach in meinem Bett liege, kann ich hören wie Raphael ins Bad geht. Auf dem Rückweg bleibt er vor meiner geöffneten Tür stehen und ich halte den Atem an. Er kommt nicht hinein. Dennoch setze ich mich auf und sehe zur Tür. Ich höre ihn atmen und dann leise fortgehende Schritte.

Noch immer habe ich seinen Geruch in der Nase und meine Gedanken beginnen verrückt zu spielen. Wenn ich diese Situation doch hätte nutzen können. Nur ein bisschen. Für einen Kuss. Dem Gefühl seiner Haut unter meinen Fingern oder nur noch mehr seines Geruchs seiner warmen Haut. Ich denke an seine grünen, vernebelten Augen zurück, die trotz alledem so ausdruckstark und intensiv waren. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und fahre mir mit kühlen Fingern über den Kehlkopf. Seine Haut auf meiner. Wie würde sie sich anfühlen, wenn schon seine Hand an meinem Handgelenk ein solch großes Brennen in mir anrichten kann. Ich lasse mich zurück ins Kissen fallen und lege meine Hand auf meinem Bauch ab. Nach einem Moment beginnen meinen Fingerspitzen unruhig gegen meinen Bauchnabel zu tippen. Ich schließe meine Augen und da ist es wieder dieses herrliche, sanfte Grün. Ich spüre, wie sich mein Herzschlag verdreifacht und wie meine Fingerspitzen zu pulsieren beginnen. Meine Hand gleitet weiter hinab. Über meinen Unterbauch. Meinem Beckenknochen entlang. Tiefer und tiefer bis zu meinen Lenden. Mein Verlangen ist stark und allein der Gedanken an den Mann, der im Nebenzimmer liegt, lässt mich verhalten aufstöhnen. Ich stelle mir vor, wie sich seine Haut unter meinen Fingern anfühlt, wie sie schmeckt und wie sehr ich danach giere. Ich möchte jede noch so kleine Stelle berühren und kosten. Die harten Muskeln an seinem Bauch. Bogen für Bogen möchte ich sie entlang tasten, meine Lippen darüber wandern lassen und dann den schmalen Pfad vom Bauchnabel hinabküssen. Den Geschmack seiner Haut genieße und letztendlich ihn selbst schmecken. Er ist bestimmt perfekt und schmeckt nach mehr.

Ich beginne mich selbst zu streicheln, umfasse meine Härte mit der gesamten Hand und pumpe mich im Takt meines schlagenden Herzens. Heftig. Schnell. Ich versuche mir Raphaels Stimme vorzustellen, wie sie lustvoll keucht und stöhnt. Wie sie meinen Namen sagt. Ob sie dabei noch tiefer und rauer wird? Es jagt mir Schauer durch den Leib und mein Atem wird immer unkontrollierter. Ich setze mich auf, stütze mich mit der linken Hand auf dem Bett ab, während meine Rechte weiter meine Lenden berührt. Das Verlangen nach Raphael brennt heiß in mir. Ich blicke an mir hinab, beobachte meine Bewegungen und lasse mich zum Ende hin wieder aufs Bett sinken. Das angeregte Kribbeln durchfährt jede meiner Körperzellen, während ich mich meinem Orgasmus hingebe. Mein Handgelenk knackt und ich brauche eine Weile um zu Atem zu kommen.
 

Am nächsten Morgen lege ich Raphael die Autoschlüssel und meinen Hausschlüssel auf den Küchentisch. Genauso wie ein paar Kopfschmerztabletten. Ich lasse den Abend Revue passieren und seufze. Mit einem handgeschriebenen Zettel wünsche ich ihm einen schmerzlosen Tag und bitte ihn die Tür abzuschließen und meinen Schlüssel nachher mit zur Sporthalle zu bringen.

Die Stunden vergehen schnell und in den Pausen treffe ich mich mit Maria, damit wir unser Projekt noch einmal durchgehen können. Der Vortrag zu unserem Teil ist am nächsten Tag.

Als ich am Nachmittag am Sportplatz ankommen, kann ich die Athletikjungs laufen sehen. Doch von Raphael fehlt jede Spur. Verwundert lasse ich mich auf die Tribüne nieder und sehe zu, wie sie weitere Runden drehen bis Danny auf mich zu gehopst kommt. Er keucht und stützt sich auf die Knie, während er mich angrinst.

„Hey, ich soll dir von Raphael eine Entschuldigung ausrichten. Er musste früher los. Wir denken er hat Ärger im Paradies.“ Danny zwinkert und lacht. Ich ziehe eine Augenbraue nach oben und lasse es unkommentiert. Der Sportler lässt sich neben mir nieder und streicht sich durch die verschwitzten Haare.

„Ist er nicht mit deiner Schwester liiert?“, fragt er neugierig und mir zieht sich der Magen zusammen. Ich möchte nicht mit ihm darüber reden und schweige. Danny scheint es nicht zu stören, denn er plaudert munter weiter.

„Ach, ich habe deinen Schlüssel in meinem Spint.“ Danny richtet sich wieder auf, deutet auf die Umkleidekabinen und ich folge ihm nickend. Im Gegensatz zu meinem letzten Besuch ist es diesmal sehr laut. Ich höre das Rauschen der Duschen und wild durcheinander brüllende Männerstimmen. Der Geruch von Schweiß und getragenen Schuhen liegt in der Luft. Ich rümpfe die Nase. Danny labert mir ein Ohr ab, doch ich reagiere nicht. Mein Blick wandert über die Körper der anderen Männer. Sportler konnte man schon immer gut ansehen. Erst als mir Danny den Schlüssel vor die Nase hält, reagiere ich.

„Wann habt ihr euer Turnier?“, frage ich ihn und er beginnt schief zu Lächeln.

„Nächste Woche und Raphael macht uns die Hölle heiß.“ Danny zieht sich während er spricht das Shirt aus und im gleichen Atemzug die Hose. Keine Ahnung, wie das geschafft hat, aber jetzt steht er nur noch in Short vor mir.

„Das macht er sicher nicht ohne Grund“, führe ich das Gespräch fort.

„Doch, der ist im Moment so arg angespannt. Steht unter Druck. Wahrscheinlich lässt seine Freundin ihn nicht ran.“ Er macht mit seiner Hüfte eine vorstoßende Bewegung und grinst.

„Alter Danny, du sprichst über meine Schwester“, motze ich gespielt wütend und merke, dass ich nicht so aufgebracht bin, wie bei der Bemerkung über Shari. Eigentlich stört mich nur, dass in der Vorstellung Raphael auftaucht. Okay, Heldentum ist wahrlich anders.

„Entschuldige bitte“, sagt er eigenartig aufrichtig, „Meine Nase ist noch ziemlich empfindlich. Ich sollte lieber vorsichtig mit meinen Äußerungen sein.“ Er hebt abwehrend die Hände und fasst sich an seinen etwas schiefen Zinken. Sein Grinsen ist breit und irgendwie schmutzig.

„Besser ist es. Ich will solch widerliches Zeug nicht hören. Das gehört sich nicht“, kommentiere ich gespielt empört.

„Oh, du spielst den Unschuldigen und Braven echt überzeugend.“ Ertappt.

„Ich muss nichts spielen. Ich bin sittsam und tugendhaft. Und jetzt sei still, ich will nicht mehr darüber reden“, entfährt es mir total überzeugend und Danny lacht.

„Ja, klar. Stille Wasser sind tief, oder?“, giggelt er. Und schmutzig, hänge ich in Gedanken ran und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ich denke an die vergangene Nacht zurück. Sehr schmutzig.

„Sie sollte ihn trotzdem schnellstens ranlassen“, urteilt Danny. Ich bin anderer Meinung.

„Raphael meinte, dass ihr in einigen Dingen noch nicht fit genug seid?“, lenke ich ab. Ich stecke meinen Schlüssel in die Tasche und versuche auf ein anderes Thema zukommen. Danny schließt seinen Spint und steht plötzlich komplett nackt vor mir.

„Ich finde, wir sind topfit“, kommentiert Danny und stemmt triumphierend seine Hände in die Seite. Die Meute lacht. Ein kurzer Schreck durchfährt mich, doch ich kann mir eine schlichte und normale Reaktion herauskitzeln.

„Anscheinend! Gut, danke für den Schlüssel. Habt noch viel Spaß, Jungs.“ Die Runde hebt die Hände zum Gruß. Ich ebenso. Als ich die Umkleide verlasse, atme ich erst einmal durch. Zu viel Testosteron ist auch für mich nicht gut.

Ich sehe auf die Uhr und denke an Raphael. Wahrscheinlich hat er Maya abgeholt und sie versuchen ihre Problemchen in den Griff zu bekommen. In meinem Kopf klingt es abschätzig und ich ärgere mich darüber, dass es mir nicht egal ist. Ich möchte nicht Raphaels Ansprechpartner sein, das wollte ich nie. Doch kann ich ihn auch nicht wegschicken. Wenn schon kein Partner, dann vielleicht ein Freund? Es klingt nicht richtig. Es klingt sogar absurd.
 

Die Vibration in meiner Tasche ist leise und kaum zu merken. Dennoch horche ich auf. Ich ziehe das Handy heraus und blicke auf das Display. Eine Nachricht von Jake. Er möchte mich noch mal sehen, bevor er zurückfährt. Heute wäre die letzte Möglichkeit, denn er muss früher zu seinem Job zurück. Ich hadere mit einer Antwort, denn ich sehe im Augenblick keine Chance einfach so aus dem Haus heraus zu kommen. Während ich ihm meine Zwickmühle mitteile, wandere ich zum Bus. Bevor ich an der Haltestelle ankomme, höre ich Sharis Stimme und sehe, wie sie von der Bibliothek zu mir gelaufen kommt. Sie trägt wieder einen dieser wunderschönen Saris. Diesmal einen grün-blauen mit mäandrischem Muster. Ihr langes schwarzes Haar schwingt mit der Bewegung mit. Sie wirkt wie eine zauberhafte Elfe, deren Flügel im Wind tanzen.

„Namasté“, sage ich als Erster und sie sieht mich verblüfft an.

„Sind dir die anderen Sprachen schon ausgegangen?“

„Nein, nur dein indischer Zauber hat mich gerade eingefangen“, kommentiere ich und stecke ihr die Zunge raus. Sie kichert und macht einen feinen Knicks.

„Wieso trägst du einen Sari, heute ist gar nicht Freitag?“

„Ich muss gleich noch zu meiner Cousine. Sie hat Geburtstag und es gibt ein riesiges Festmahl.“ Sie fasst sich an den nicht vorhandenen Bauch und seufzt. Shari erzählt oft von den Völlereien, die regelmäßig zu solchen Veranstaltungen stattfinden. Im Moment empfinde ich Neid, denn ich habe vor allem Hunger.

„Und was machst du in der Bibliothek? Oh, dein Projekt mit Andrew?“, beantworte ich mir die Frage selbst. Ich hebe eine Augenbraue und meine Mundwinkel zucken auffällig nach oben.

„Ja, wir sind fast fertig. Andrew ist wirklich toll und sehr zuvorkommend.“ Ein zarter rosafarbener Hauch legt sich auf ihre Wangen.

„Oha, das klingt ja interessant“, sage ich frech und ernte einen Schlag gegen den Arm.

„Hör auf. Ich finde ihn wirklich nett und bin schon fast etwas traurig, dass das Projekt morgen vorbei ist.“ Sie sieht verlegen nach unten und ich lächele wissend.

„Frag ihm nach einem Date“, schlage ich ihr vor, doch sie schüttelt energisch den Kopf. Ich warte auf die typischen Verneinungen und die Unmöglichkeiten ihre Eltern zu überzeugen. Doch sie schweigt und ich sehe, dass sie es sich insgeheim wünscht.

„Ganz zwanglos in der Mensa und nimm mich als Alibi. Oder eine gemeinsame Pause. So zum Anfang“, biete ich ihr an und sehe aus dem Augenwinkel, wie das Auto ihres Vaters angebraust kommt. Er steigt nicht aus, aber hupt. Erst einmal. Dann ein weiteres Mal. Als wir nicht reagieren, kommt nur noch ein durchgehender Ton und Shari schnauft genervt auf.

„Ich weiß nicht, ob er das möchte“, sagt sie leise und sieht zu ihrem Vater, der daraufhin den Terror einstellt.

„Einfach fragen, chiisai Hana“, sage ich ihr auf klapprigen Japanisch und sie lächelt, obwohl sie nicht versteht, was ich sage.

„Vielleicht.“ Ein Flüstern, welches ihre Wangen in ein zartes Rot färbt. Sie wird einen Weg finden. Das schafft sie immer.

„Bis morgen.“ Wir fassen uns kurz an die Hände und sie steigt in das Auto ihres Vaters.
 

Zu Hause angekommen, bin ich allein. Ich mache mir eine Kleinigkeit zu Essen und höre die Anrufbeantworter ab. Meine Eltern kommen später. Sie sind beide auf Arbeit stark eingebunden. Wo Maya ist, weiß ich nicht. Ich denke an Raphael und sehe auf mein Handy.

Jake hat noch nicht geantwortet. Dass er schon wieder wegfährt, enttäuscht mich irgendwie. Allerdings habe ich noch immer keine wirklichen Antworten für ihn. Eine Beziehung mit ihm liegt immerhin im Bereich des Möglichen. Mit ihm hätte ich eine Zukunft. Er ist liebevoll und witzig. Er ist ein toller Kerl.

Ich setze mich grübelnd vor den Fernseher und vertilge mein Essen. Nach und nach trudeln meine Eltern ein. Sie wirken gestresst und wenig mitteilsam. Wir sitzen schweigend im Wohnzimmer bis mein Handy klingelt. Es ist Jake. Ich gehe nicht sofort ran, sondern verlasse erst das Zimmer.

„Hey, tut mir Leid, aber mein Hausarrest ist Schlupfwinkelfrei.“ Ich bleibe im Flur stehen, sehe zu meinen Eltern ins Wohnzimmer und spreche leise.

„Hi. Habe ich mir schon fast gedacht.“ Ich kann hören, wie er schmunzelt. „Darfst du wenigstens kurz rauskommen?“, will Jake wissen und ich stocke. Verwundert gehe ich zum Fenster und schiebe die Gardine zur Seite.

„Raus? Stehst du vor dem Haus?“, frage ich fast dümmlich und versuche ihn draußen zu finden. Jake lacht.

„In der Seitenstraße“, gesteht er, “Ich wollte gern mit dir reden und das nicht übers Telefon.“ Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich schaue ins Wohnzimmer, doch meine Eltern sind schwer damit beschäftigt sich gestresst anzuschweigen.

„Warte kurz.“, sage ich nach kurzem Grübeln, lege auf und schnappe mir den Hausmüll und meine Jacke. Ich rufe ihnen zu, dass ich den Müll rausbringe und verschwinde nach draußen. Auf der Straße muss ich mich umsehen und entdecke Jake an seinem Auto lehnend an der Kreuzung zur Nebenstraße. Ich fahre mir nervös durch die Haare und bleibe bei ihm stehen.

"Na, bist du in einer Ninja-Aktion vom Baum vor deinem Zimmerfenster hinuntergeklettert, weil dein alter Herr misstrauisch vor der Haustür steht?“, witzelt mir Jake entgegen und grinst.

„Das hättest du gern gesehen, oder?“, kommentiere ich wissend. „Also, wann fährst du morgen?“ Ich lehne mich zu ihm ans Auto und fühle mich an unser erstes dieser Gespräche zurückversetzt. Nur ist es diesmal kein Zaun.

„Gleich früh. Ich habe ein wichtiges Meeting im Hauptfirmensitz“, sagt er übertrieben und verdreht dabei die Augen. Er weiß vermutlich, wie eigenartig es klingt. Meeting. Hauptfirmensitzt. Alles nicht meine Welt. Wieder habe ich das Gefühl, dass uns unendliche Erwachsenenwelten trennen.

„Hör zu, ich weiß ja, dass ich beim letzten Treffen gesagt habe, dass ich damit klarkomme, aber…“ Er stockt und ich spüre, wie sich mein Puls beschleunigt. Jake redete nicht lange um den heißen Brei herum und das finde ich gut und grausig. Wir werden uns wahrscheinlich nie wieder sehen und das wird der Abschied. Warum sollte er sich die geringste Minute mit einem unentschlossenen Typen ärgern, der sich halbherzig annähert und ihn letztendlich doch wieder von sich wegstößt. Enttäuschung macht sich in mir breit und ich blicke auf den Bürgersteig. Einige Autos fahren an uns vorbei.

„Aber ich weiß nicht, ob ich das wirklich kann“, fährt er fort. Es ist ein Flüstern. Nun blicke ich auf und sehe in die warmen braunen Augen, die so viel Mitgefühl und Sanftheit ausdrücken. Schon wieder weiß ich nicht, was ich sagen soll. Ein selten vorkommendes Phänomen. Jake wendet sich mir zu, bleibt vor mir stehen und legt sanft seine Hand an meine Wange. Ich spüre, wie sein Daumen über meine Haut streicht und schließe meine Augen. Ich lasse es geschehen, genieße das warme Kribbeln und fühle dennoch eine gewisse Distanz zwischen uns. Meine Gefühle für ihn sind ein heilloses Durcheinander und so gern ich die Gefühle für Raphael abschütteln will, schaffe ich es nicht. Sie sind zu stark und zu schwer.

Als hätte er meine Gedanken gehört, entlässt er mich aus der Berührung und ich öffne die Augen. Jake lächelt und ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, wieso.

„Ich hab unsere Nacht sehr genossen. Wollte ich nur noch mal erwähnen“, sagt er mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht und streicht mir ein paar Haare hinter das Ohr. Ich schnaube übertrieben und grinse ebenfalls.

„Vielleicht bist du ja irgendwann bereit für...mehr...“

„Vielleicht“, flüstere ich und weiß, dass ich bis dahin möglicherweise noch ein paar anderen Menschen wehtun werde, so wie Jake und mir selbst. Wir schweigen einen Moment und er sieht auf die Uhr. Es ist bereits nach 10 Uhr und es wird Zeit, dass er losfährt.

„Mark, ich freue mich trotzdem über jede Nachricht von dir, das weißt du?“

„Ich weiß.“, erwidere ich zögerlich. Als sich Jake zu seinem Auto dreht und den Schlüssel aus seiner Tasche zieht, halte ich ihn zurück.

„Melde dich, wenn du mal wieder hier bist, okay.“ Ich klinge fast bittend und lasse sein Handgelenk nicht los. Jake mustert mich und dann macht er etwas womit nicht rechne. Er zieht mich an sich heran, legt ohne zu zögern seine Lippen auf meine. Es ist nur ein kurzer Ruck der Überraschung, doch dann genieße ich es. Für diesen Moment blende ich alles aus. Jedes Geräusch. Jede Bewegung. Jeden anderen Gedanken. Ich erfreue einfach nur an dem Kuss, an den warmen, weichen Lippen und an dem verführerisch herbsüßen Geschmack. Nicht einmal die vorbeifahrenden Autos bemerke ich. Es ist ein schönes Gefühl, ein gutes. Es kann nicht so falsch sein, wie ich ständig denke. Ich genieße die Intensität und mein Gefühl schreit mir deutlich entgegen, dass ich das Versteckspiel langsam leid bin.

Jake lächelt, während er sich von mir löst. Ich höre ihn leise seufzen und wie er sich sachte über die Lippen leckt. Noch einmal streichen seine Finger durch meine Haare. Danach er steigt ohne ein weiteres Wort in sein Auto.

Ich sehe ihm nach und schleiche zurück zum Haus. Raphaels Auto steht mittlerweile in der Auffahrt und als ich die Haustür schließe und meine Jacke ausziehe, sehe ich ihn auf der Treppe stehen. Er beobachtet mich still und wirkt für einen Moment als würde er etwas sagen wollen, doch dann hebt er seine Hand nur zu einem kurzen Gruß. Danach verschwindet er im dunklen Flur.

Maya und er könnten an mir und Jake vorbeigefahren sein, wird mir schlagartig klar. Ob sie etwas gesehen haben? Mir wird heiß und kalt. Ich starre noch eine Weile in die Dunkelheit hinein. Mein Herz rammt sich heiß und hart gegen meine Brust. Mein Kopf ist leer. Ich kann nicht klardenken. Ich kann nicht atmen und ohne Sauerstoff funktioniert auch mein Gehirn nicht. Eine schlechte Kombi.
 

„Mark?“, höre ich meinen Vater rufen und löse mich aus meiner Starre. Im Wohnzimmer kann ich noch immer den Fernseher hören, doch nur noch mein Vater sitzt davor.

„Ja?“, frage ich abgelenkt.

„Wo warst du?“

„Müll rausbringen. Die alte Frau Mayer hat mich vollgequatscht...“, gebe ich ohne zu überlegen von mir. Mein Vater nickt wissen, denn auch ihn erwischt unsere alte Nachbarin jedes Mal wieder. Es scheint ihm zu reichen.

„Alles okay mit Mama?“, frage ich ihn und setze mich auf die Lehne der Couch. Mein Vater seufzt leise und nimmt einen Schluck aus seinem Cognacglas.

„Der Ärger auf Arbeit macht ihr zu schaffen. Du weißt ja, dass das mit dem Stress nicht so ihr Fall ist.“ Er lächelt und nimmt den letzten Schluck von seinem Cognac.

„Stress gefällt niemanden, außer vielleicht Soziopathen“, sage ich witzelnd und stehe wieder auf. Ich habe immer noch das Gefühl keine Luft zu bekommen. Meine Finger sind unruhig.

„Außerdem ist noch immer nicht ganz sicher, was wir zu ihrem Geburtstag machen werden.“, sagt er weiter. Doch ich höre gar nicht mehr richtig zu.

„Hm?“

„Na ja, feiern oder einfach nur Essen gehen. Sie weiß nicht, was sie will.“ Der Geburtstag meiner Mama. Ich hatte ihn fast vergessen. Es ist jedes Jahr das gleiche Drama.

Wir wünschen uns gegenseitig eine gute Nacht und ich gehe auf mein Zimmer. Als erstes öffne ich ein Fenster, atme tief ein und versuche meinen Puls wieder in vernünftige Bahnen zu lenken. Es klappt nur langsam. Ich ziehe meinen Ordner mit dem Referat für mein Bioprojekt hervor und beginne meine Karteikarten durchzugehen. Doch meine Gedanken schweifen ab. Zu Jake. Zu Raphael und wieder zurück. Irgendwann schlafe ich auf dem Bett ein.

Unglück kompakt

Kapitel 13 Unglück kompakt
 

Es gibt Tage, an denen man erwacht und weiß, dass der Tag keinen guten Verlauf nehmen wird. Genau das fühle ich, als ich am Morgen aufschrecke, mein Nacken schmerzt und ich auf die Uhr blicke. 09:04 Uhr. Vier große rote Zahlen. Normalerweise beginnt jetzt die zweite Stunde.

„Scheiße.“ Ich stehe sofort gerade, reiße ein paar Klamotten aus meinem Schrank und renne ins Bad. Noch mit Zahnpasta auf den Lippen stürze ich, die die Treppe runter. Kein Frühstück und kein Essen zum Mitnehmen. Ich entscheide spontan das Auto zunehmen und schwinge mich auf den Sitz. Für gewöhnlich ist mir das nicht gestattet, doch in diesem Fall werden auch meine Eltern nichts sagen.

Maria wird mich umbringen. Ausgerechnet an unseren Referatstag komme ich zu spät. Die erste Stunde ist schon vorbei und ich hoffe inständig, dass Maria es geschafft hat unser Referat auf die zweite Stunde zu verlegen.

Als ich die Tür zum Biologieraum aufreiße, wird es augenblicklich still. Automatisch wandert mein Blick zu unserer Bank. Sie ist leer und dann sehe ich nach vorn, wo Maria mit verkrampften Fingern ihre Karteikarten hält. Es beginnt das Getuschel. Ich vernehme die raue Stimme des Lehrers, aber höre nicht zu. Ich hänge einzig allein an dem enttäuschten Blick Marias fest.

„Herr Dima, wie erfreulich, dass Sie uns mit ihrer Anwesenheit beehren. Greifen Sie doch ihrer Projektpartnerin für den Rest unter die Arme.“ Er deutet nach vorn zu Maria. Ich lege meinen Rucksack zu Seite, angele meine Karteikarten heraus und stelle mich neben sie. Sie schaut nicht auf, sondern spricht nahtlos weiter. Ich habe keinen großen Anteil mehr, doch das was ich noch beitrage ist souverän und gut. Wir setzen uns schweigend und lauschen den restlichen Vorträgen. Als es klingelt, rutscht mein Herz letztendlich doch in tiefere Regionen ab. Jetzt kommt der Anpfiff. Der Lehrer verabschiedet sich von allen anderen und winkt mich und Maria zu sich heran.

„Nun. Ich höre“, richtet er direkt an mich und sieht mich eindringlich an. Ich weiß sofort, dass es keine sinnvolle Möglichkeit gibt sich heraus zureden oder irgendetwas zu rechtfertigen. Unbewusst zucke ich mit den Schultern. Maria gibt ein knurrendes Geräusch von sich und auch mein Lehrer schüttelt mit dem Kopf. Meine Reaktion kommt nicht gut an.

„Ich hab den Wecker nicht gestellt und somit hat er auch nicht geklingelt.“ Ich entschuldige mich nicht und stelle nur klar was geschehen ist.

„Sehr schade, Herr Dima. Ihre Partnerin hat mit guten Argumenten ihr Referat auf die zweite Stunde verschieben können. Doch irgendwann konnten wir keine Rücksicht mehr nehmen.“ Ich sehe beschämt zu meiner Projektpartnerin, die starr nach vorne blickt.

„Da die Arbeit inhaltlich und faktisch einwandfrei ist, wird es hier keine Abzüge geben. Jedoch werden vor allem sie mit erheblichen Abzügen in der mündlichen Leistung rechnen müssen. Da ich, aber auch die Vollständigkeit des Vortrag betrachten muss, die hier nicht geben ist, werde ich insgesamt Abzüge machen müssen. Für beide“, setzt mein Lehrer fort. Ich schlucke und blicke zu Maria. Dass nun auch sie deswegen eine schlechtere Note bekommt, erschreckt mich.

„Hören Sie, doch! Es tut mir wirklich leid. Bitte, nehmen sie meine Leistung unabhängig von Marias. Auch ohne meinen Teil ist das Referat inhaltlich zusammenhängend und verständlich. Es fehlen nur konkrete Beispiele und minimaler wissenschaftlicher Fortschritt. Bestrafen Sie nicht Maria für mein Fehlverhalten. Bitte“, sage ich nun doch mit Nachdruck. Ich rede meinen Anteil des Referats klein und bedeutungslos, doch es hilft nicht. Ich versuche ihn mit allem zu überzeugen, was mir einfällt. Doch unser Lehrer schüttelt den Kopf. Die Konsequenz einiger Lehrer ist mir an vielen Stellen ein Rätsel.

„Es ist eine Gruppenleistung und als solche muss ich sie auch bewerten. Es tut mir leid, aber Sie haben es definitiv verbockt. Da Sie volljährig sind, wird es keine Mitteilung an ihr Eltern geben. Seien Sie froh darüber.“ Ich sehe aus den Augenwinkeln heraus, wie Maria ihre Sachen zusammenpackt und ohne ein weiteres Wort den Raum verlässt. Ich rede noch ein paar Minuten auf meinen Lehrer ein, doch er bleibt hart wie Stein. Ich sehe Enttäuschung in seinem Blick, denn auch er ist so etwas von mir nicht gewöhnt. Meine einzige Hoffnung ist, dass die schriftliche Ausarbeitung einiges herausreißt.
 

Im Flur sehe ich mich nach Maria um und finde sie letztendlich in der Mensa.

„Maria! Es tut mir wirklich leid. Ich hab es versaut.“ Sie blickt mich starr an. Auch hier sehe ich Enttäuschung pur. Aber auch Wut. Ich lasse mich neben ihr auf den Stuhl nieder und seufze. Fahrig streiche ich mir durch die komplett zerzausten Haare.

„Was ist mit dir los? Du bist sonst so zuverlässig.“ Ich bin ein dummer hormongesteuerte Vollidiot? Ich bin ein Blödmann erster Klasse? Ich bin ein unzuverlässiger Hornochse. Ich weiß keine gute Antwort.

„Es tut mir Leid.“ Mehr bekomme ich nicht heraus. Sie schnaubt und lehnt sich zurück. Ihr Blick ist durchdringend und würde mich in Handumdrehen fünfteilen, wenn es möglich wäre.

„Was ist los, Mark?“, fragt sie erneut und erwartet diesmal eine echte Antwort.

„Ich kann es dir nicht sagen. Ich war gestern nicht bei der Sache. Ich hab noch gelernt und meine Karteikarten durchgeschaut und dann bin ich eingeschlafen. Ich bin morgens einfach nicht aufgewacht“, plappere ich verzweifelt los. Es klingt, wie aneinander gereihten Müll. Ich denke an den Abend zurück und spüre, wie sich mein Puls erhöht. Jake hat Schuld, weil er aufgetaucht ist und so unglaublich verständnisvoll und süß ist. Raphael ist schuld, weil er einfach nicht aus meinen Gedanken verschwindet und weil er mit meiner Schwester zusammen ist. Ich seufze, weil ich weiß, dass nur ich Schuld habe. Seit Tagen bin ich nicht mehr bei der Sache. Maria steht auf und sammelt ihre Sache zusammen. Ich sehe zu ihr auf, doch sie blickt mich nicht an.

„Es ging nur um den einen Tag. Es ging nicht nur um dich, sondern auch um mich“, wettert sie mir entgegen. Ihr Vorwurf brennt sich in meine Brust. Ich bin der Letzte, der andere mit seinem Verhalten schaden will.

„Du wirst die besten Texte deines bisherigen Schullebens verfassen. Verstanden? Also bete darum, dass er wenigstens unsere Ausarbeitung ordentlich bewertet.“ Damit geht sie und ich bleibe einen Moment lang betrübt sitzen. Um mich herum wird getuschelt, denn wirklich jeder hat gerade diese Ansage mitbekommen. Mein Kopf kippt auf den Esstisch und ich trete unter dem Tisch gegen meinen Rucksack.
 

Im Sportunterricht treffe ich auf Shari. Sie kommt mir entgegen gelaufen und ich lasse meinen Kopf hängen, sobald sie neben mir zum Stehen kommt. Ihr Gesicht spricht Bände und ich möchte mir keine weitere Strafrede antun müssen. Nicht einmal unsere typische Begrüßungsformel verwenden wir.

„Was war denn los? Du kommst nie zu spät!“

„Ja, ich weiß.“

„Und warum ausgerechnet heute? Maria ist fuchsteufelswild und ich kann es vollkommen verstehen.“

„Ja, ich weiß.“

„Das Projekt macht die Hälfte unserer Note aus.“

„Ja, ich weiß“, gebe ich eintönig von mir und habe keine Lust mein Fehlverhalten noch weiter rechtfertigen zu müssen. Zumal ich keine Rechtfertigung habe. Ich kann es mir nicht erklären, wie sollte ich es vor jemand anderen können? Die klägliche Entschuldigung für Maria war Zeugnis genug für meine Unfähigkeit.

„Und? Wie willst du das wieder geradebiegen?“

„Keine Ahnung.“

„Was hat der Lehrer gesagt? Das, was Maria vorgetragen hat, war ziemlich gut gewesen“, stellt Shari fest und macht es damit unabsichtlich nur noch schlimmer.

„Hm.“, brumme ich und laufe Richtung Gerätebereich.

„Du hast echt Mist gebaut, Mark.“ Ich bleibe stehe und blicke Shari sauer an.

„Ja, ich weiß. Könntest du damit aufhören, mich auch noch runtermachen? Glaubst du nicht, dass das andere nicht schon genug getan haben? Ich hab es verbockt, dass weiß ich selbst. Aber danke, dass du und alle anderen es noch mal so richtig deutlich sagen“, keife ich sie an. Shari sieht mich erschrocken an. Ich werde selten laut und meistens kann ich mich gut beherrschen, aber dieses Mal möchte ich einfach laut brüllen. Leider bekommt es Shari nun ab.

„Hey, entschuldige, ich wollte dich nicht verärgern“, sagt sie und versucht meine Laune zu beschwichtigen.

„Zu spät. Sonst noch was?“, fahre ich sie weiter an. Sie sagt nichts mehr und dreht sich von mir weg. Nun, habe ich es auch noch geschafft Shari unrecht zu tun. Ich fahre mir sauer durch die Haare, sehe zum Himmel und sehe grau. Ich bekomme vom Sportlehrer ein paar Geräte in die Hand gedrückt und trage sie mit einigen anderen nach draußen auf den Sportplatz. Thema Leichtathletik. Weitsprung, Sprint und Kugelstoßen. Am Ende der zwei Stunden habe ich mir beim Versuch weit zu springen den Knöchel angeknackst und mein ohnehin noch angeschlagenes Handgelenk schmerzt, nachdem mir eine der Kugelstoßkugel beim Stoßen nach hinten weggerollt ist. Die anderen haben ihren Spaß. Ein lauter Knall und alle fahren zusammen. Tim, einer der Sportidioten hat eine der Kugel auf den Gerätecontainer befördert und lacht sich kaputt. Als ich auf den Rückweg an ihm vorbeigehe, schubse ich ihn um und sehe zu, wie er ins Gras taumelt, aber leider nicht fällt. Ich mache mir gedanklich eine Notiz, dass ich die Kugel bei meiner Aufräumrunde irgendwie vom Container runter bekommen muss und ignoriere Tims Beschwerderufe.
 

Vorsichtig ziehe ich beim Umziehe meine Schuhe aus. Ich drehe meinen Knöchel im Kreis, höre es knacken und einrasten, dann spüre ich Schmerz. Großartig. Danny kommt auf mich zu, als ich im Umkleideraum meine lädierten Gelenke untersuche.

„Heute ist nicht dein Tag, oder?“, fragt er grinsend und sieht meinen lädierten Knöchel besorgt an.

„Ach, ist dir das aufgefallen?“, sage ich sarkastisch. Danny ist sowohl bei mir in der Bioklasse, als auch in der Mensa zugegen gewesen. Vermutlich hat er auch das Theater mit Shari mitbekommen. Ich bin froh, dass mir Danny die Anmache von eben nicht übelnimmt. Ich behalte recht damit, denn er wirft mir eine schmerzstillende Salbe entgegen.

„Du solltest, das untersuchen lassen. Geh zum Müller, der kann dir den Knöchel mit einer Binde stabilisieren.“

„Danke, aber schon okay. So schlimm ist es nicht“, lehne ich dankbar ab. Dennoch nehme ich die Salbe entgegen und verteile großzügig das Zeug auf meinem Fuß. Auch da, wo es gar nicht wehtut. Sicher ist sicher. Ein beißender Geruch strömt mir entgegen und dann spüre ich ein Kribbeln. Das Gleiche mache ich am Handgelenk. Danny sieht mir dabei zu und schüttelt den Kopf.

„Daran merkt man, dass du kein Sportler bist. Du bist unvorsichtig.“

„Ich denke, dass man auch sieht, dass ich kein Sportler bin. Von daher ist das kein Problem für mich.“ Danny grinst und schlägt mir gegen die Schulter, jedoch sanfter, als er es sonst macht. Ich bleibe bis zum Schluss in der Umkleide sitzen und schließe als es langsam ruhiger wird meine Augen.
 

Beim Mittagessen suche ich Shari zu und will mich entschuldigen. Doch bevor ich sie erwische, wird sie von zwei ihrer Freundinnen fortgezogen. Also greife ich zu einem anderen Mittel. Ich bombardiere sie in den folgenden Pausen mit SMS. Doch sie antwortet mir nicht. Wahrscheinlich aus Trotz. Vielleicht auch aus Unwissenheit. Ersteres kann ich verstehen. Ich hätte ihr auch nicht geantwortet. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass Shari sich mir gegenüber so verhält relativ gering. Die kalte Tischplatte an meiner Stirn ist wohltuend, aber umso mehr spüre ich das Pochen in meinen Gliedern. Heute ist definitiv nicht mein Tag.

Im Kunstunterricht schreiben wir einen Überraschungstest und ich habe nicht das Gefühl auch nur eine Frage korrekt zu beantworten. War Monet einer der Impressionisten oder gar Manet. Oder beide? Ich komme vollkommen durcheinander. Außerdem beginnt es auch noch zu regnen. Auch mein Handgelenk lässt mich beim letzten Rest der Stunde im Stich. Es schmerzt derartig, dass ich nichts Zustande bekomme und das obwohl wir nur die Grundskizze zu einer typischen impressionistischen Landschaft beginnen sollen.

Auch in Mathe schreiben wir einen Test und ich verbringe die meiste Zeit der Stunde an der Tafel. Ich versage auf ganzer Linie. Ich kapituliere vor der Integralrechnung und alle bekommen es mit. Als ich mich wieder setzen darf, lasse ich meinen Kopf auf die Tischplatte fallen und bekomme ihn den Rest der Stunden nicht mehr nach oben. Ich ignoriere das Klingeln, welches das Ende meiner Schulstunden einläutet und bleibe mich selbst verfluchend sitzen. Wie ein schlechter Scherz laufen die letzten vergangene Stunde, seit dem gestrigen Treffen mit Jake, vor meinem geistigen Auge ab. Alles samt Zeitlupenfrequenzen und Rückspulen. Langsam und eiskalt rieselt die Tatsache auf mich ein, dass Raphael und Maya mich und Jake gesehen haben konnten. Seltsamer Weise ist es vor allem die Tatsache, dass Maya etwas über mich wissen könnte, die mich kalt erwischt. Ich hoffe inständig, dass sie nichts gesehen hat.

Shari antwortet mir noch immer nicht. Selbst nach meiner zehnten Nachricht mit einer fettgedruckten Entschuldigung bleibt mein Handy stumm. Ich sehe aus dem Fenster. Weiterhin regnet es in Strömen. Vermutlich wird es sich in der nächsten Stunde auch nicht abschwächen. Mir fällt die Kugel auf dem Dach des Gerätecontainers wieder ein und mir entflieht ein lautes, deprimiertes Seufzen. Heute ist unwiderruflich nicht mein Tag.

„So ein Scheißtag“, murmele ich mir voller Selbstmitleid zu und stehe schwerfällig auf. Es bringt ja nichts. Aufschieben hilft nicht und drücken kann ich mich nicht.
 

Natürlich habe ich keine Regenkleidung dabei. Meine Jacke hat nicht mal eine ordentliche Kapuze. Ich kontrolliere zuerst die Sporthalle. Noch trainieren Raphaels Jungs darin und ich versuche keine unschönen Wasserflecke zu verursachen, in dem ich unnötig mit meinen nassen Schuhen durch die Halle renne. Von der Tür aus sehe ich ihnen eine Weile beim Laufen zu. Runde für Runde. Sie tun mir irgendwie leid. Ich grüße Raphael als er zu mir sieht. Danach stelle meinen Rucksack neben der Tür ab und verschwinde zum Sportplatz.

Nach nur wenigen Metern bin ich klitschnass. Es regnet wie verrückt und langsam weicht sogar der Rasen an den Ränder der Tartanfläche auf. Der Container steht einen halben Meter von der Tartanbahn entfernt, doch drum herum hat sich bereits ein halber See gebildet. Ich sehe das Metallungetüm an und überlege, wie ich die Kugel am besten dort runterbekomme. Meine Sicht verschwimmt, doch ich starre das Ding weiter an. Leider bewegt es sich nicht von allein.

„Okay. Ich kriege das hin“, spreche ich mir leise Mut zu und springe am Container hoch, kann mich kurz halten, aber falle wieder ab. Ich versuche es erneut. Diesmal mit Anlauf. Meine Hose klebt an meinen Beinen und von meinem Knöchel will ich gar nicht anfangen.

Ich spüre, wie mir der Regen den Nacken hinabläuft und sich langsam meine Wirbelsäule hinunterarbeitet. Es fühlt sich widerlich an, vor allem, da es gerade Wegs in meine Hose läuft. Ich sehe am Container hoch und stemme die Arme in die Hüfte.

Ich ziehe mir die Jacke aus, da ich sowieso schon komplett durchgeweicht bin. Ich sehe mich nach einer Möglichkeit zum Hinaufsteigen um. Ich entdecke einen alten Plastikeimer und versuche es mit diesem. Leider bringt es nur ein paar Zentimeter, aber ich kann an die Kante gelangen. Die Feuchtigkeit macht das Metall des Containers rutschig und unbezwingbar. Ich versuche erneut mich daran hochzuziehen und mache mir direkt im Kopf die Notiz zu Hause Klimmzüge zu trainieren. Ich schaffe es mich etwas hochzuziehen und einen Arm nach oben zu befördern. Über die Kante hinweg kann ich die Kugel sehen. Ich bekomme den anderen Arm ebenfalls nach oben und ziehe mich Stück für Stück höher. Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Meine Arme zittern. Nicht nur vor Anstrengung, sondern auch vor Kälte. Es ist arschkalt.

Meine schlecht besohlten Schuhe rutschen von dem Metall, sodass meine Füße keine Hilfe sind. Ich strecke meine Hand nach der Kugel aus und kann sie mit den Fingerspitzen sogar erreichen. Durch das enorme Gewicht bekomme ich sie keinen Millimeter an mich herangerollt. Ich versuche es noch einmal und spüre, wie die Metallkante meine Rippen entlang scheuert. Mittlerweile hänge ich komplett in den Luft und versuche mit meinen Füßen zwischen den senkrechten Lamellen Halt zu finden. Doch es klappt nicht. Ich keuche vor Anstrengung und versuche noch einmal die Kugel zu erreichen. Es reicht nicht und langsam drückt sich die scharfe Kante schmerzhaft in meinem Brustkorb. Ich höre, wie mein Name gerufen wird und sehe über den Container hinweg, wie Raphael langsam vom anderen Ende des Sportplatzes auf mich zu gelaufen kommt. Ich hole tief Luft und stemme mich nach oben, greife nach der Metallkugel und spüre, wie mein Fuß abermals von der Wand wegrutscht. Ich verliere den Halt, pralle mit dem Oberkörper auf die Dachkante und falle runter. Ein heftiger Schmerz durchfährt meinen Brustkorb und ich schlage rücklings mit dem Kopf auf dem matschigen Boden auf. Sofort wird mir schummrig und dann wird es kurz dunkel.

Der Geschmack des Wassers auf seiner Haut

Kapitel 14 Der Geschmack des Wassers auf seiner Haut
 

Der Regen fällt auf mein Gesicht und ich spüre, wie die Tropfen an mir hinabrinnen. Einige laufen mir ins Ohr und verursachen ein unangenehmes Kitzeln. Ich blinzele. Doch immer mehr Regentropfen fallen mir auf das Gesicht. Ich drehe meinen Kopf zur Seite, spüre einen hämmernden Schmerz und ein unterschwelliges Rauschen in meinen Ohren. Langsam setze ich mich auf und merke einen Schwall Wasser der Pfütze, welches mir direkt in die Hose läuft. Ich rutsche benommen auf die Tartanbahn um nicht länger im Schlamm zu sitzen und streiche mir die Feuchtigkeit von der Haut.

Wieder höre ich meinen Namen, drehe meinen Kopf und sehe verschwommen, wie Raphael auf mich zugelaufen kommt. Mir wird etwas schwindelig und ich lege meinen Kopf auf die Knie, die ich fest an mich heranziehe. Raphael wirkt aufgeregt als er bei mir eintrifft. Er lässt sich neben mich auf die Bahn nieder.

„Mark, alles okay? Bist du verletzt?“ Ich spüre seine Hände an meinem Kopf und schließe die Augen. Atme ausgiebig ein und langsam wieder aus. Antworten kann ich ihm nicht sofort.

„Mark?“ Ich sehe einfach nur auf. Raphaels Haare sind feucht und kleine Wassertropfen bahnen sich einen Weg über sein ernstes Gesicht. Seine schönen grünen Augen sind voller Sorge. Ich bin gebannt von ihrem Glanz und der Tatsache, dass er immer wieder etwas verschwimmt.

„Hey, hörst du mich?“, wiederholt er, „Hast du dich verletzt?“ Seine Hände tasten meinen Kopf ab, doch das was auch immer er sucht, findet er nicht. Ich hab keine blutenden Verletzungen, nur einen blutenden Stolz. Ich schließe meine Augen, während der sorgfältigen Behandlung und neige meinen Kopf zur Seite. Vorsichtig dreht er mein Gesicht zu sich und sieht mich eindringlich an.

„Nichts passiert“, sage ich leise, bevor er erneut fragen kann und blicke zum Container.

„Was hast du da oben gewollt?“, erkundigt sich Raphael irritiert und folgt meinem Blick.

„Tim, der Idiot, hat im Unterricht eine Kugel hochgestoßen. Ich wollte sie runterholen.“ Während ich das sage, halte ich mich an ihm fest und er hilft mir auf.

„Du bist ein Idiot, wenn du bei diesem Wetter wirklich versucht hast da hochzukommen.“, sagt Raphael und ich komme nicht umher beleidigt zu lächeln. Als wir stehen, blickt er mir tief in die Augen. Wahrscheinlich denkt er, dass ich eine Gehirnerschütterung habe. Vielleicht hat er Recht. Wie fühlt sich das an? Gerade spüre ich nichts weiter als Kälte. Sogar meine Hände und meine Unterlippe beginnen zu zittern.

„Tut dir etwas weh? Ist dir schwindelig oder hast du das Gefühl dich übergeb...“

„Es ist okay. Wirklich! Mein Schädel pocht etwas, aber ansonsten geht es mir gut. Keine Übelkeit, klare Sicht. Höre auf so zu gucken als würde ich gleich krepieren“, beteuere ich ihm und versuche es munter und witzig klingen zu lassen. Er nickt zögerlich. Mit mir zu diskutieren, wäre gerade vergebliche Mühe. Raphael führt mich über den Sportplatz zur Umkleidekabine. Der Regen scheint noch schlimmer und heftiger zu werden. Ich beginne heftiger zu zittern, als wir in die Umkleidekabine kommen. Obwohl das Prasseln des Regens nur dumpf durch das Dach dringt, habe ich das Gefühl kaum etwas zu hören. Das stetige Surren in meinem Ohr wird lauter und unangenehmer.
 

„Du bist total durchgeweicht.“ Seine Worte sind für mich nicht mehr als ein Flüstern. Jedenfalls nehme ich sie so wahr. Ich bin nass bis auf die Knochen und fühle mich leider doch ein wenig benebelt. Raphael führt mich bis in den Duschraum, in dem er sogleich eine Dusche mit warmem Wasser anstellt. Ich bin erst ein paar Mal hier drin gewesen. Meist allein. Untätig blicke ich mich um. Das Zittern meines Körpers scheint meinen Kopf zusätzlich zu lähmen. Das Rauschen mischt sich mit dem leisen Surren in meinen Ohren. Ich spüre Raphaels Hand an meinem Arm und blicke auf.

„Wir müssen dich wieder etwas aufwärmen“, erklärt er ruhig. Ich starre auf seine Lippen und spüre, wie er mein nasses Shirt nach oben zieht. Ich habe Gänsehaut am gesamten Körper Gänsehaut. Raphael deutet mir an, ebenfalls dafür sorgen, dass ich die nasse Sache loswerde und ich versuche meine Hose zu öffnen. Doch meine Finger sind so kalt, dass ich kaum etwas spüre. Raphael übernimmt es für mich, sachte schiebt er mich danach unter den warmen Wasserstrahl und ich sehe, wie meine Hose über den gekachelten Boden rutscht.

Das Wasser brennt auf meiner Haut und ich schließe die Augen. Das Zittern lässt nicht nach, trotz der angenehmen Wärme. Wieder spüre ich Raphaels Hand an meinem Arm. Seine Finger auf meiner Haut sind heißer als das Wasser, welches mich zu Gänze umgibt. Bibbernd lege ich meine andere Hand auf seinen Arm. Er zieht den Arm zurück und ich keuche enttäuscht auf. Ich schlinge mir meine Arme um den Bauch und reibe meine Seite entlang. Ich habe das Gefühl es funktioniert nicht.

Auf einmal finde ich mich in seinen Armen wieder. Er zieht mich sachte an sich heran. Er hat sein T-Shirt ausgezogen und drückt mich an seinen nackten, warmen Oberkörper. Ich kann seinen Herzschlag hören und bald auf meiner Haut spüren. Das dumpfe Pochen unter den Muskeln seiner Brust. Es wird schneller und hektischer. Vorsichtig, aber deutlich beginnt er seine Hände und Arme über meinen Körper reiben zu lassen. Eine seltsame Situation und ich weiß, dass er es nur macht damit meine Körpertemperatur schneller steigt. Ich befürchte, dass sie bald zu stark gestiegen sein wird. Mir ist egal, dass es nur diesem einen Zweck dient. Ich genieße es, lausche seinem Herzschlag, dessen ich noch nie näher war und spüre, das angenehme Prickeln seine Haut auf meiner.

Ich atme ein. Ich atme aus. Langsam und beständig. Mir wird warm und ich habe schon vor einer Weile aufgehört zu zittern. Die stetige Reibung seiner Arme hört auf und er hält mich einfach nur fest.

Feine Wassertropfen treffen auf unsere Körper. Ich beobachte, wie sie über seine Brust laufen. Wie sie auf den Rand seines Gürtels treffen und in dem Stoff seiner Unterhose eingezogen werden. Ich betrachte den schmalen Pfad von Haaren unter seinem Bauchnabel. Die angespannten Muskeln, die sich perfekt unter seiner Haut abbilden. Wohlgeformte Wellen, die danach schreien sie zu berühren. Ich widerstehe dem Bedürfnis meine Finger darüber streichen zu lassen und lausche stattdessen weiterhin dem Geräusch seines dumpfen Herzschlags. Er ist noch immer schnell. Es hört sich wunderschön an.

Ich spüre Erregung und beginne mich von ihm zu lösen. Ich lehne meine Stirn gegen seine Brust, fahre kurz mit dem Mund über seine Haut. Bevor ich den Kopf hebe, lecke ich mir die aufgenommen Wassertropfen von meinen Lippen. Der Geschmack des Wassers auf seiner Haut. Der Geschmack seines Körpers. Das Gefühl seiner Haut auf meinen Lippen. Ich sauge es tief in mich hinein. Bewahre es. Das Kribbeln, welches durch meinen Körper jagt ist atemberaubend.

Raphaels Hände betten sich auf meine Schultern und ich weiß, dass er mich ansieht. Meine Augen halte ich geschlossen, während ich einen Schritt zurück trete und sich dabei auch seine Hände wieder entfernen. Ich verschränke die Arme vor der Brust und mache mich etwas krumm. Ich bin froh meine Unterhose an zu haben, doch im nassen Zustand kann diese nicht sehr viel verdecken.

„Geht es dir besser?“, fragt er mich fast liebevoll. Ich nicke und drehe mich von ihm weg.

„Denke schon.“

„Okay, ich gehe uns ein paar trockene Sachen organisieren.“

„Gut.“ Als er aus der Dusche verschwunden ist, drehe ich mich wieder um und schließe die Augen. Ich bleibe unter dem warmen Wasserstrahl stehen und fahre mir über die geschundenen Stellen meines Körpers. Bereits jetzt ist eine rote Prellung an meinem Brustkorb zu sehen, die in den nächsten Tagen sicher ein paar Schmerzen verursachen wird. Dennoch bin ich erstaunlich schmerzfrei. Ich streiche mir über den Bauch und konzentriere mich darauf meine Erregung los zu werden, bevor Raphael zurückkommt.
 

Das Pochen in meinem Kopf nimmt zu, dafür hört das Surren endlich auf und ich kann wieder mehr hören. Sofort nehme ich die Tür wahr, die sich schließt. Raphael steht wenig später mit einem Handtuch im Raum. Seine eigenes hat er sich um die Schultern gelegt, doch sein Oberkörper ist noch immer nackt. Wieder verschränke ich die Arme vor der Brust. Es muss aussehen, als würde ich mich schämen und das tue ich auch. Ungewöhnlich für mich.

Ich gehe ihm entgegen, nehme das Handtuch aus seiner Hand und versuche zu lächeln. Es gelingt mir nur mäßig.

„Danke“, sage ich, während ich mich in das Handtuch wickele und mit ihm zum Umkleidebereich zurückkehre.

„Ich habe nur ein paar Trainingssachen gefunden. Alte Trikots und Hosen.“ Bitte lass es keine diese kurzen Shorts sein. Er hebt sie hoch und legt mir ein paar der Sachen zur Seite. Ich nicke und mir ist egal was es ist. Hauptsache es ist trocken. Auch er ist komplett nass und hat keine normaler Klamotten mehr übrig, da sie draußen und beim Duschen für mich drauf gegangen sind. Wieso ist er eigentlich draußen gewesen? Ich schiele zu ihm rüber und sehe, wie er sich die feuchte Hose von den Beinen zieht. Seine schlanken Beine glitzern feucht.

„Wieso warst du beim Sportplatz?“, frage ich leise und ziehe mir eines der Trikots über. Es ist zu groß und fällt mir von der rechten Schulter.

„Ich hab deinen Rucksack neben der Tür gesehen und mich gewundert, warum du nicht wieder kommst. Ich dachte, dass du bei dem Regen draußen nicht so viel zu tun haben kannst.“ Noch immer stehe ich mit dem Rücken zu ihm. Der Rucksack. Nun steht er neben mir auf der Bank.

„Ja, ich habe auch nicht damit gerechnet, dass es so lange dauert und…“

„Und endet?“, unterbricht er mich scharf, „Du hättest dich ernsthaft verletzen können.“

„Es ist doch nichts passiert“, wiegele ich ab, doch es hilft nicht.

„Du warst bewusstlos. Du hättest dir den Kopf blutig schlagen können oder alles Mögliche andere. Was wenn du längere Zeit bewusstlos gewesen wärst?“

„War ich aber nicht.“ Ich wende mich genervt zu ihm um. Er ist noch immer halb nackt und nass. Ein Wassertropfen perlt von einer Haarsträhne ab und läuft über seinen Nasenrücken. Ich beobachte, wie er über seine Haut gleitet und dann von seiner Nasenspitze tropft. Sein Blick ist ernst. Das Grün funkelt wild, wütend. Lebendig. So unfassbar schön. Ich schlucke leicht.

„Es hätte Schlimmeres passieren können. Was, wenn du eine Gehirnerschütterung hast?“, fährt er fort. Er streicht sich die nassen Haare zurück und hindert so weitere Tropfen daran seine Haut zu kosten.

„Mir geht es gut“, sage ich. Raphael seufzt laut und klingt unzufrieden.

„Denkst du irgendwann mal über deine dummen Aktionen nach?“

„Hey, du tust als würde ich ständig Scheiße bauen“, pariere ich leicht genervt.

„Du verstehst nicht, dass sich andere Sorgen um dich machen, oder?“ Als er das sagt, ist meine Wut kurz verflogen und ich schaue beschämt zur Seite. Ich mache mir nie darüber Gedanken, ob sich jemand um mich sorgen könnte. Doch meine Eltern tun es sicher und auch Shari würde es. Ich fahre mir den Fingern über den rauen Stoff des Handtuchs und wende mich ab.

„Ja, und?“, flüstere ich stur und möchte mir nicht eingestehen, dass er Recht haben kann. Ich bin davon überzeugt, dass sich Raphael nur für mich verantwortlich fühlt, weil ich der Bruder seiner Freundin bin. Mehr nicht und das verletzt mich. Ich höre, wie Raphael gegen den Spint schlägt und drehe mich erschrocken zu ihm um. Seine Hand ist zu einer Faust geballt und er lehnt mit dem Kopf gegen die Aufschlagstelle.

„Die Sturheit liegt bei euch in der Familie.“ Er neigt seinen Kopf zu mir und es bildet sich ein seltsamer Ausdruck auf seinem Gesicht. Der Vergleich mit meiner Schwester behagt mir nicht. Ich antworte nicht, drehe mich wieder zu meiner Bank und ziehe mir die Hose heran. Ich trage noch immer meine nasse Unterwäsche und weiß nicht, wie ich sie ausziehen soll, ohne dass sich das Handtuch von meinen Hüften löst. Ich hätte nicht gedacht, dass mir so eine Situation einmal peinlich sein wird. Ich brauche mich nicht zu schämen, aber vor Raphael tue ich es.
 

Noch während ich darüber nachdenken, was die beste Methode sein könnte einen fliegenden Handtuch-Hosen-Wechsel vorzunehmen, höre ich Schritte, aber ich wähne sie nicht in meiner Nähe. Erst als mich Raphaels Gewicht gegen den Schrank drückt, bemerke ich, dass er nicht von mir weggegangen ist. Es ist ruppig und ein aufgeregtes Kribbeln durchfährt meinen Leib. Für einen kurzen Moment setzt mein Herz aus, um gleich darauf noch heftiger gegen meinen Brustkorb zu prallen. Er stützt sich mit beiden Armen an meinen Seiten entlang am Schrank ab. Ich sehe auf seine schönen, kräftigen Hände. Sein Gesicht neigt sich zu meiner Halsbeuge. Ich spüre seinen warmen Atmen, der sachte über meine Haut streicht. Sofort ist die Gänsehaut zurück, die sich hart durch den dünnen Stoff des Sporttrikots drückt. Ein minimaler Abstand ist zwischen uns und doch habe ich das Gefühl jeden Muskel spüren zu können. So dicht spüre ich seinen Körper hinter mir. Seine Lende an meiner Hüfte. Hart und unnachgiebig. Ich versuche meinen Atem unter Kontrolle zu halten und warte ab. Hauchzart streichen seine Lippen über meinen rechten Trapezmuskel und ich halte die Luft an.

„Es gibt Menschen, die sich Sorgen um dich machen. Mehr als du denkst.“ Nicht mehr, als ein Flüstern, welches meinen Hals entlang fährt. Warm und kribbelnd. Ich blicke auf seine Hände, die mit flacher Hand an den Schranktüren liegen. Sie ballen sich leicht zusammen und für einen kurzen Moment spüre ich ein Zucken, welches durch seinen Körper geht. Ich bin erregt und zu gleich erschrocken, da ich nicht verstehe, was diese Situation zu bedeuten hat. Auch Raphael hält inne und rückt so schnell von mir ab, wie er gekommen ist.

„Tut mir leid“, sagt er leise und schnell hat er sich die Sportklamotten angezogen. Während er die nasse Klamotten zusammensammelt, ziehe auch ich mich an und blicke ihm schweigend dabei zu, wie er seinen Schrank schließt. Er weicht meinem Blick aus und steht für einen kurzen Moment unschlüssig im Raum. Wahrscheinlich begreift er selbst nicht, was gerade passiert ist. So wie ich.

„Ich warte draußen.“ Es klingt fast gestottert. Damit verschwindet er aus dem Umkleideraum.
 

Die Fahrt verbringen wir schweigend. Verstohlen blicke ich ihn von der Seite an. Er sieht nicht einmal zu mir. Seine Hände wandern nervös über die Schaltknüppel, streichen zappelig über das Leder des Lenkrads. Derweil reiben meine kalten Finger unaufhörlich aneinander. Bei meinem Elternhaus angekommen ist Raphael schnell ausgestiegen. Bei der geöffneten Haustür bleibt er jedoch stehen. Er sieht dabei zu, wie ich meinen Rucksack vom Rücksitz nehme und auf ihn zukomme. Er will mir die Tür aufhalten, doch ich schiebe mich schnell durch den schmalen Spalt an ihm vorbei. Für diesen kurzen Moment komme ich ihm noch einmal nah, rieche den muffigen Duft der alten Sportklamotten und Raphaels Duschbad. Unsere Blicke treffen sich für eine Sekunde, doch ich sehe in seinen Augen nur ein völliges Durcheinander.

Maya kommt zur Treppe und bleibt auf der Hälfte stehen. Sie blickt zu mir und dann zu Raphael, der noch immer im Türrahmen steht. Ihr fragender Blick gilt vor allem ihm. Ich denke an den gestrigen Abend und frage mich wiederholt, wie viel sie beide gesehen haben könnten.

„Ihr seid spät“, sagt sie und nimmt die letzten Stufen. Ihr Blick wandert über unsere Körper und sie wundert sich über die komischen Klamotten. Bevor Raphael antworten kann, tue ich es.

„Ich bin beim Aufräumen baden gegangen und Raphael war so freundlich mir zu helfen.“ Sie deutet auf die Trikots.

„Der neuste Trend. Die 90iger. Fesch oder?“ Ich schnappe mir meinen Rucksack und schleiche an Maya vorbei, die Treppe nach oben. Ich trete in mein Zimmer und seufze laut, als sich die Tür hinter mir schließt. Den Rucksack lasse ich einfach neben dem Bett fallen. Mich werfe ich ermattet auf das Schlafmöbel.

Mir tut alles weh. Meine Brust schmerzt und mein Kopf scheint zu explodieren. Doch ich denke unaufhörlich an dieses Situation. Sein warmer Körper unter der Dusche. Der warme erregte Körper, der mich gegen das kalte Metall der Schränke drückt. Mir wird wieder heiß und gleich darauf kalt.

Was ist da passiert? Ich ziehe meinen Rucksack heran und angele mein Handy aus der vorderen Tasche. Ich hab eine Nachricht von Shari.

- :P -

Sie ist noch immer sauer, aber sie verzeiht mir. Ich lächele. Wenigstens das.

Die molekulare Struktur von Ketchup

Kapitel 15 Die molekulare Struktur von Ketchup
 

Als ich aufwache, ist es bereits dunkel draußen. Ich habe geträumt, dass sich Sharis Vater in den indischen Gott Ganesha verwandelt hat. Mit Turban und dem bösen Blick, den er mir immer zu wirft. Dann hat er mich verspeist und genauso fühle ich mich. Zerkaut und wieder ausgespuckt. Langsam setze ich mich auf und schaue einen Moment aus dem Fenster und lausche in meine Umgebung hinein. Es ist still im Haus.

Ich weiß nicht, was Raphael meinen Eltern erzählt hat, aber sie sind kein einziges Mal in mein Zimmer gekommen um mich mit Vorwürfen zu nerven oder mit anderen elterntypischen Dingen. Nicht einmal nach dem Auto haben sie gefragt und das, obwohl es noch immer an der Schule steht. Die Schmerzen in meinem Kopf haben nachgelassen und ich bewege ihn probeweise langsam im Kreis, so dass mein Nacken leise knackt.

Ich ziehe mir eigene Klamotten an und gehe runter in die Küche. Richtigen Hunger habe ich keinen, aber ich weiß, dass ich eine Kleinigkeit zu mir nehmen sollte.

Ich belege mir ein Brot mit Wurst, Käse, Gurken und haue mir eine Ladung Ketchup drauf. Mein Hamburger für Arme. Gut, man kann auch Sandwich sagen. Nach einem langen Kampf mit der Zähflüssigkeit der roten Soße in der Flasche, lehne ich mich zufrieden an die Arbeitsfläche. Beim Abbeißen läuft mit der Ketchup ungehindert über die Finger und ich lecke sie genüsslich ab. Ich tropfe Ketchup auf den Boden, doch das ist mit im Moment reichlich egal. Nun habe ich doch Hunger und vor allem Appetit.

Ich schnappe mir einen Teller, belege eine weitere Scheibe mit allem und nehme Alles mit ins Wohnzimmer, wo ich den Fernseher anschalte und mich eine Weile berieseln lasse. Es läuft bereits das Nachtprogramm und während im Hintergrund die Nummern verschiedener Erotik-Hotlines durchlaufen, denke ich an den kuriosen Moment in der Umkleidekabine zurück. Noch immer spüre ich das Kribbeln. Die Aufregung und die Ungewissheit. Raphaels warmer Körper, der sich dicht an meinen presste. Sein heißer Atmen in meinem Nacken und ich hätte schwören können, dass ich mehr gespürt habe, als ich hätte spüren dürfen. Habe ich es mir nur eingebildet? In Gedanken versunken, bemerke ich nicht, wie mir pausenlos Ketchup über die Finger und in die Hand läuft.

Warum ist er mir so nah gekommen? Es war sicher nur die Reaktion auf den Schreck, dass er mich stürzen sah. Natürlich hatte Raphael mit allem Recht. Es war unverantwortlich und dämlich. Allein der Verlauf des bisherigen Tages hätte mir eine Warnung sein sollen, aber ich habe gar nicht nachgedacht. Es hätte Schlimmeres passieren können. Dann würde ich jetzt nicht auf der Couch, sondern auf der Intensivstation sitzen und sabbern wie ein Hund. Nichts weiter als Galgenhumor. Ich versuche damit zu überdecken, dass auch ich mich erschrocken habe und dankbar bin, dass nicht mehr passiert ist. Ich lasse den Teller mit dem Rest meines zweiten Sandwichs auf meinem Bauch stehen und lehne mich zurück.

All das erklärt dennoch Raphaels Reaktion nicht. Seine übertrieben Sorge. Seine Worte. Weder die Situation in der Dusche, noch die andere in der Umkleide erklärt sich mir dadurch. Mit meinem inneren Wahnsinn könnte ich das als Anmache deklarieren. In meinem Magen beginnt es zu Kribbeln. Allerdings hat Raphael eine Freundin und ist definitiv nicht schwul.

„Anmache", murmele ich. Allein der Gedanke daran lässt mich ungläubig Lachen. Ich fahre mir mit der Hand durch die Haare und schmiere mir unabsichtlich den Ketchup hinein.

„Mist." Angewidert sehe ich auf meine eingesauten Hände. Ich lecke mir etwas des Tomatenbreis von den Fingern und komme nicht umher weiter zu kichern.

„Anmache", wiederhole ich und wische mir den Handballen entlang. Ich weiß nicht, was ich daran eigentlich witzig finde. Wahrscheinlich die Absurdität, doch da ist der Wunsch, dass ich es mir nicht eingebildet habe. Und er ist stark.

„Findest du es normal allein im Wohnzimmer zu sitzen und zu lachen?" Erschrocken wende ich mich zu Maya um, die im Nachthemd im Türrahmen steht. In ihrer Hand hält sie ein Glas Wasser und ihr Blick spricht Bände. Sie zweifelt an meinem Verstand, doch da ist noch etwas anderes. Ich kann es nicht definieren.

„Solltest du mal probieren, vielleicht wirst du dann lockerer", antworte ich und schiebe den Teller zurück auf den Tisch, nachdem ich den Rest Ketchup an meiner Hand darauf abgestrichen habe. Sie sieht bereits jetzt beleidigt aus, dabei habe ich noch nichts Gemeines gesagt. Ich erinnere mich an Raphaels Bitte und an die Verpflichtung mich bei ihr zu entschuldigen. Ich weigere mich eine Entschuldigung auszusprechen. Aber die weiteren Provokationen, die mich auf der Zunge kitzelt, schlucke ich runter. Ich frage mich, wie lange sie schon dort steht.

„Du hältst dich für sehr witzig, oder?", sagt sie und nimmt einen Schluck aus dem Glas. Im Fernseher läuft eine Ankündigung für eine Kochsendung. Meine linke Augenbraue zuckt nach oben und meinen Kopf neigt sich abwiegend zur Seite. Doch, ich finde mich witzig und was andere denken, ist mir oft egal.

„Ich bin der Jamie Oliver unter den Komikern. Finde dich damit ab." Ich schalte eine Erotikwerbung weg und stecke mir den letzten Bissen meines Brotes in den Mund.

„Eher ein Ralf Zachl", sagt Maya und verdreht die Augen. Nun ist auch sie mal witzig. Ich muss grinsen.

„Rapha hat mir erzählt, das du gestürzt bist. Geht es dir gut?" Ich blicke sie verwundert an und verfluche Raphael, weil er den Mund doch nicht halten konnte. Wenn sie es weiß, dann wissen es meine Eltern auch. Wenn nicht bereits, dann bald. Trotzdem schwingt in ihrer Stimme Fürsorge, die mich seltsam überrascht.

„Ich bin hart im Nehmen. Allerdings sitze ich allein im Wohnzimmer und lache. Ich bin mir noch nicht sicher, ob wirklich alles okay ist", sage ich scherzhaft.

„Mark! Kannst du einmal ernst sein?", sagt sie scharf. Ich zucke abwehrend mit den Schultern.

„Es ist alles okay. Gib das auch an Raphael weiter, damit er mich nicht auch noch nervt. Schlimm genug, dass er es dir erzählt hat."

„Du bist echt ein Idiot." Ich weiß.

„Hat er es Mama und Papa erzählt?", frage ich nun doch.

„Nicht, dass ich wüsste." Ich nicke erleichtert. Sie schüttelt den Kopf und geht zurück in die Küche. Ich mache den Fernseher aus und folge ihr nach oben. Sie bleibt an ihrer Zimmertür stehen und sieht mich an. Sie möchte etwas sagen. Sie ringt mit sich. Ich sehe, wie es in ihr arbeitet Doch dann wendet sie den Blick ab. Ich sehe ihren Fuß, der in der Tür verschwindet, gehe noch einmal ins Bad und wasche mir den Ketchup von den Händen und dem Großteil meiner Haare. Danach gehe ich schlafen. Diesmal traumlos.
 

Die Traumlosigkeit hält bis zum Morgen an, jedenfalls kann ich mich an keine weitere Szenerie mit monströsen indischen Gottheiten erinnern. Sobald ich die Augen aufschlage, spüre ich das leichte Pochen in meinem Kopf und ein dumpfes Ziehen in meinem Oberkörper, wenn ich mich bewege. Ich fahre mir über das Gesicht und über die Brust, ziehe mein T-Shirt nach oben und begutachte die rote Stelle. Ich erkenne kleine Blutergüsse und die Haut ist an den markierten Stellen empfindlich. Seufzend drehe ich mich auf die Seite und rolle mich, wie ein Bisquitkuchen in die Decke ein, so dass nur noch mein Kopf rausguckt.

Ich angele mein Handy unter dem Kissen hervor und rufe bei Shari an. Es klingelt lange und für einen kurzen Moment befürchte ich, dass sie nicht rangeht. Doch dann höre ich ein verschlafenes Hallo. Eigentlich dringt nur noch das Lo zu mir durch.

„Guete Tog", krächze ich ihr in schweizerischer Manier entgegen und hoffe, dass sie es lustig findet. Ich höre ein undefinierbares Geräusch und fahre fort. Ich nutze ihre Müdigkeit sofort aus und lasse sie gar nicht weiter zu Wort kommen.

„Hey, tut mir leid, dass ich dich gestern vollgelappt habe. Ich war nur selbst so wütend auf mich und enttäuscht. Aber ich hätte es nicht an dir auslassen dürfen. Das war falsch. Es tut mir echt Leid."

„Schon gut. Mir tut es leid, dass ich auch noch auf dir rumgehackt habe. Das war etwas unsensibel von mir", murmelt sie und gähnt. Ich nicke und nehme ihre Entschuldigung still an.

„Außerdem habe ich geträumt, dass dich mein Vater auffrisst und das fand ich so belustigend, dass ich nicht mehr sauer bin." Sie kichert und ich setze mich aufrecht hin. Nicht ihr ernst? Hat sie wirklich das gleiche geträumt, wie ich? Kann das sein? Ich kann es gerade kaum fassen. Ich atme tief ein und versuche mich zu sammeln.

„Das erklärt meinen Albtraum und die Bissspuren auf meinem Arm", kommentiere ich trocken. Ihr Kichern wird zu einem Lachen. Ich lächele. Ich mag es, wenn sie lacht.

„Komiker." Sie nimmt die Anspielung natürlich nicht ernst und ich kläre sie nicht über meinen gleichartigen Traum auf.

„Das sollte dir eine Lehre sein, mich noch mal zu ärgern."

„Ich bin, aber gut darin zu ärgern."

„Dann verabschiede dich von deinen Gliedmaßen." Nun lache auch ich. Schnell werde ich wieder ernst.

„Gestern war ein Scheißtag", flüstere ich und schließe die Augen.

„Erzähl mir davon."

„Eigentlich war das gestern der perfekte Freitag der 13. Ich hab so viele Menschen enttäuscht, Shari", gebe ich fast schon deprimiert von mir und drehe mich auf den Rücken. Ich werfe einen kurzen Blick an meine marode Decke und schließe die Augen. Eine schlechte Idee, denn sofort sehe ich wieder Raphaels wasserbenetzten Körper. Mein Seufzen wird noch ein Stück lauter.

„Ach Mark, mach dich nicht so fertig.", versucht mich meine Freundin zu beruhigen.

„Ich habe nicht nur Maria enttäuscht, sondern auch Herr Ralf und dich. Dazu kamen noch Tests in Kunst und Mathe. Beide habe ich total versaut. In Mathe musste ich die halbe Stunde an die Tafel stehen und ich hatte keinen Plan. Und du warst den ganzen Tag auf mich sauer. Wirklich grausam. Und dann...", setze ich an und stoppe jedoch. Ich denke darüber nach, ob ich Shari von dem Sturz erzählen sollte. Ich entscheide mich dafür.

„Dann bin ich beim Aufräumen des Sportplatzes von dem blöden Container gefallen, weil ich versucht habe die Stoßkugel, die Tim dort raufgestoßen hat, wieder runterzuholen."

„Oh, hast du dich verletzt?", kommt es sofort besorgt von Shari.

„Nein, nur ein bisschen Kopfweh. Ansonsten ist alles gut. Das war eindeutig nicht mein Tag." Die Situation mit Raphael in der Umkleidekabine lasse ich aus. Auch Raphael habe ich in gewisser Weise enttäuscht.

„So einen Tag hat, doch jeder Mal. Na ja, außer das mit dem Container. Das mit den Tests ist sicher nicht so schlimm, denn du hast ja sonst gute Noten und die gleichen das aus und ich bin auch nicht mehr sauer." Ganz pragmatisch. Sie hat Recht.

„Ja, aber mit Maria habe ich es versaut und auch die Bionote wird lange nicht so gut werden, wie sie hätte sein können", seufze ich ins Telefon.

„Das werden wir sehen. Ein schlechter Tag macht nicht, dass du durchfällst." Ihren Pragmatismus in allen Ehren, aber ich habe es trotzdem vollversaut. Ich seufze theatralisch und will gar nicht, dass mich Shari beruhigt oder mir Zuspruch gibt. Ich habe Mist gebaut und egal was sie sagt, es würde nichts daran ändern.

„So fühlt es sich im Moment, aber an."

„Quatsch! Du musst dich nur die letzten Wochen mehr zusammenreißen." Manchmal frage ich mich, ob mich Shari wirklich kennt. Ich und mich zusammenreißen? Ich bin einfach zu faul.

„Jetzt klingst du, wie meine Mutter. Gruselig!", sage ich missmutig und Shari beginnt zu lachen.

„Was ist eigentlich los?", fragt sie und ich weiß, dass sie nicht nur gestern meint. Doch ich weiß nicht, wie ich ihr alles erklären soll.

„Ich habe verschlafen und bin nicht rechtzeitig wach geworden. Mehr nicht. Na ja, das hat schon gereicht um es zu verbocken."

„Mark, das habe ich nicht gemeint." Shari seufzt.

„Ich weiß", murmele ich und zu meinem Glück hakt sie nicht nach.

„Das Schuljahr ist noch nicht vorbei und du kannst es noch rausreißen. Und Maria wird sich wieder beruhigen. Ganz bestimmt." Ich höre, wie sich bei ihr die Tür öffnet. Dann höre ich etwas in Hindi. Shari antwortet und ich nehme Empörung in ihrer Stimme wahr. Ich höre, wie die andere Stimme meinen Namen sagt, dann spricht Shari wieder zu mir.

„Ich muss aufhören. Meine Mutter möchte, dass ich mit ihr einkaufen komme. Als ob wir die Woche noch nicht genug gegessen haben. Ich passe bald nicht mehr in meine Saris." Ich erinnere mich an das Festmahl von dem sie gesprochen hatte. Anscheinend plagt sie sich noch immer mit den Nachwirkungen umher.

„Ich verspreche dir, dass ich dich jeder Zeit zur Schule rolle." Ich höre erneute Empörung und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.

„Mein Zorn war gerade verflogen! Jetzt ist er wieder da", gibt sie mahnend aber belustigt von sich. Ich stelle mir vor, wie sie ihre langen, schönen schwarzen Haare schüttelt.

„Okay, soweit wird es nie kommen. Ich muss mich jetzt fertig machen, sonst ziehen wir den Zorn meiner Eltern auf uns."

„Wieso wir?", frage ich erschrocken.

„Mein Papa glaubt, dass du daran schuld bist, dass ich so vorlaut geworden bin", erklärt sie. Ich höre sie beim Sprechen grinsen.

„Oha, ich bin mir keiner Schuld bewusst. Husch, husch! Sonst verarbeiten mich deine Eltern beim nächsten Treffen zu Chicken Tikka und mir steht Curry nicht besonders." Ich schüttele mich bei dem Gedanken, denn sofort habe ich die Bilder meines Albtraums im Kopf. Darin hat ihr Vater sogar auf Gewürze verzichtet.

„Das sollte dringend überprüft werden." Shari lacht. „Okay, wir sehen uns Montag in der Schule. Fir milenge"

„Uf Wiederluege", verabschiede ich sie und lasse mich noch einmal ins Kissen fallen. Ich schließe die Augen und nehme das unterschwellige Pochen in meinem Kopf wahr. Es ist unangenehm, aber auszuhalten.
 

Ich mache mich auf den Weg ins Badezimmer, öffne gedankenversunken die Tür und stehe plötzlich vor Raphael.

„Oh, entschuldige.", entflieht mir erschrocken, bleibe, aber stehen. Er mustert mich.

„Morgen", murmelt er und streckt seine Hand nach meinen Haaren aus. Er zieht mir, mit gerunzelter Stirn etwas eingetrockneten Ketchup heraus und betrachtet mich kritisch. Wahrscheinlich denkt er an Blut.

„Ketchup. Es formt die Haare so natürlich", kommentiere ich. Ich sehe sein beruhigtes Lächeln. Meine Fingerkuppen beginnen zu kribbeln und weiß, dass ich mit ihm über den Vorfall reden muss. Ich möchte wissen warum. Unbedingt.

„Haargel liegt im Trend. Vielleicht probierst du das mal", sagt er und zerreibt die getrocknete Tomate zwischen seinen Fingern.

„Wie geht es deinem Kopf?", fast sanft tippt er mir gegen die Stirn. Ich sehe echte Sorge in seinem Blick. Ein ausweichender Spruch liegt mir auf den Lippen, doch ich entscheide mich für die Wahrheit.

„Hm, na ja, einen Marathon schaffe ich damit nicht, aber es ist okay." Ich bestärke mein 'Okay' mit einem Lächeln und auch Raphaels Mundwinkel ziehen sich leicht nach oben.

Seine Hand ist noch immer ausgestreckt und er lässt seinen Blick über meine Haare wandern. Mein Puls geht unwillkürlich nach oben. Maya kommt aus ihrem Zimmer und Raphael zieht seine Hand zurück. Etwas in seinem Blick verändert sich. Plötzlich sehe ich Unsicherheit und denselben Ausdruck, den er auch gestern im Auto hatte. Sein Lächeln erstirbt. Er schiebt sich an mir vorbei und geht zusammen mit meiner Schwester nach unten. Zum Glück hat Maya mein Gesicht nicht gesehen. Ich blicke ihnen nach und habe mit einem Mal seinen Geschmack auf meinen Lippen. Ich lechze danach, spüre wie mein Körper regelrecht danach giert. Ich will ihn noch mal schmecken. Ich will ihn noch mehr schmecken. Alles an ihm.

Ich stelle mich unter die Dusche und lasse eine Weile das warmen Wasser über meinen Körper fließen. Genauso wie gestern. Ich wünsche mir Raphaels warmen, trainierten Körper an meine Seite und spüre Enttäuschung als ich mir eingestehe, dass das womöglich nicht wieder passieren wird.
 

Beim Frühstück bittet mich meine Mutter sie in die Stadt zu begleiten. Ich zögere, horche nach meinen Kopfschmerzen und stimme zu, als sie keine konkreten Aussagen machen. Sie möchte ein paar Einkäufe erledigen und meint damit eine komplett neue Garderobe. Hingegen jeglicher Meinung bin ich sehr geduldig und meine Mutter schätzt meine ehrliche Meinung. Selbst Shari hat meine Einkaufsbegleitqualitäten bereits entdeckt und zieht mich des Öfteren durch das Einkaufscenter. Mama denkt, es ist eine weitere Bestrafung für meine Sünden, doch ich bin froh aus dem Haus herauszukommen. Normalerweise enden solche Unternehmungen immer in einem Kaufrausch. Dem ist auch heute so. Nach einer endlosen Menge an Kostümen fällt eine Entscheidung. Eine Erste von vielen. Irgendwann schleppe ich einen Haufen Tüten hinter meiner Mama her und ergattere selbst das ein oder andere neue Outfit. Als wir nach Hause kommen ist es längst Abend. Mir fallen langsam die Arme ab und zufrieden lasse ich im Flur die Tüten fallen.

„Viele Dank, mein Sohn", sagt meine Mutter ebenfalls geschafft seufzend und drückt mich glücklich an sich. Sie lächelt und ich bin mir sicher, dass sie heute mal die Probleme bei der Arbeit vergessen konnte.

„Gern, aber jetzt brauche ich meine Ruhe. Familienüberschuss", gebe ich gespielt angeekelt von mir und lächele. Zuviel Familie ist nicht gut für mich, aber sie schadet auch nicht.

„Deine Ehrlichkeit ist erschütternd", kommentiert sie weniger entsetzt, als sie es eigentlich müsste. Sie drückt mir die Tüten mit meinen neuen Klamotten in die Hand und schüttelt den Kopf. Ich bin oben, bevor mein Vater aus dem Wohnzimmer kommt. Er gibt einen verzweifeltes Geräusch von sich gibt als er die ganzen Tüten sieht und weiß zum Glück nicht, dass ich auch was bekommen habe. Ich werfe die Tüten zum Kleiderschrank und falle ermattet aufs Bett. Einkaufen ist anstrengend und jetzt melden sich meine Kopfschmerzen zurück. Ich denke daran eine Tablette zu nehmen, doch entscheide mich dagegen. Medikamente habe ich noch nie gemocht.

Ich setze mich vor den Computer und starre eine Weile auf die Offline-angezeigten Internetseiten. Klicke eine nach der anderen an, doch das Bild ändert sich nicht. Meine Eltern ziehen das wirklich durch. Ich bin schockiert und deprimiert. Ich mache mich daran die Tüten auszupacken und nehme mir dann ein Buch zur Hand. Nach 200 Seiten und einem kleinen Nickerchen sind meine Kopfschmerzen verschwunden und ich habe das dringende Bedürfnis zu duschen. Ich öffne dir Tür und gehe noch einmal zurück um mir frische Unterwäsche zu holen. Seit Raphael in diesem Haus ein- und ausgeht, vermeide ich es nur mit Handtuch durch das Haus zu laufen. An der Tür stocke ich.
 

Sie kommen gemeinsam aus dem Badezimmer. Maya trägt nur ihr Nachthemd und Raphael eine lange Schlafhose. Er greift beim Laufen nach ihrer Hand und bevor sie bei ihrem Zimmer ankommen, drückt er sie sachte gegen die Wand. Ich schlucke und bin drauf und dran die Tür zu schließen um das Ganze nicht mit ansehen zu müssen. Ich schaffe es nicht und linse weiter durch den Spalt. Sie küssen sich und Maya erwidert es. Er leidenschaftlich und fordernd. Sie zurückhaltend und wenig begeistert. Sie zu beobachten spaltet mich. In meinem Herzen wird es schwer. Es ist wie ein Schlag, der meine Glieder lähmt. Ich starre atemlos. Erst als Raphael mit der Hand über ihren Oberschenkel fährt, beginnt sie sich richtig zu zieren. Sie zieht seine Hand weg, doch er versucht es weiter. Seine Hand legt sich an ihrer Hüfte. Sie wandert zärtlich streichelnd nach oben. Maya drückt ihn energisch weg.

„Hör auf. Ich möchte jetzt nicht", zickt sie ihn an. Sie drückt sich an ihm vorbei und ich sehe, wie Raphael mit der Stirn gegen die Wand kippt. Er schlägt seinen Kopf kurz dagegen und seufzt. Ich kann seine Frustration und seine Enttäuschung deutlich sehen. Meine Schwester ist eine blöde Kuh. Sie lässt nicht mal diese harmlosen Berührungen zu. Ich habe keine Ahnung, wie energisch Raphael wirklich ist, wie sehr er sie versucht zu verführen. Aber so oder so, ich würde Raphael nicht mehr aus meinem Bett lassen, wenn ich die Chance dazu hätte. Ich würde ihm jeden Wunsch erfüllen und ihn in den Himmel der Ekstase treiben. Oh, wie ich das würde. Tag und Nacht. Unwillkürlich schüttele ich den Kopf und komme nicht umher selbst frustriert grinsen. Ich gebe ein deutliches Schnauben von mir und schlage mir so gleich die Hand vor den Mund. Raphael dreht sich um und ich ziehe erschrocken die Tür ran. Wenig unauffällig. Er hat es sicher mitbekommen.

„Verdammt", flüstere ich. Steif bleibe ich hinter meiner Tür stehen und traue mich nicht erneut raus. Wie peinlich. Gut, er weiß nicht wie viel ich wirklich gesehen habe, aber trotz alledem wird es nicht besser.

Ich, der Bruder seiner Freundin

Kapitel 16 Ich, der Bruder seiner Freundin
 

Obwohl Raphael das gesamte Wochenende bei uns verbringt, wechseln wir kein weiteres Wort miteinander. Maya ist zu jeder Sekunde bei ihm und auch sonst scheint er mir aus dem Weg zu gehen. Ich kann es ihm nicht verübeln. Auch für mich ist es noch immer seltsam, vor allem wenn meine nicht erwähnenswerte Fantasie einsetzt und ich sabbernd die Situation weiterspinne. Oft ziemlich stupide, aber, was soll ich sagen? Allein der Gedanke daran, wie er nackt vor mir steht und seinen gestählten Körper an mir reibt, lenkt meinen Geist immer nur in eine Richtung. Ich, wild keuchend unter ihm. Wahlweise über ihm. Hauptsache mit ihm.

Genau diese Bild zeichnet sich in meinem Kopf, als ich am Dienstag in der Mensa auf Shari warte. Ich lümmele mich auf einen der unbequemen Plastikstühle und lasse meinen Kopf nach hinten hängen, während ich mir vorstelle, wie Raphael mir die Leviten liest. Ich schließe die Augen, sehe sofort Raphaels trainierten Körper, der sich unnachgiebig an meinen drückt. Sein warmer Atem, wie er auf meine Haut trifft. Ich lechze nach dem Geschmack seiner Lippen. Ich habe eine Kostprobe bekommen und jetzt ist es noch schlimmer als vorher. Ich atme kontrolliert ein und wieder aus. Als ich die Augen öffne, blicke ich in Sharis verkehrtherum stehendes Gesicht.

„Salam aleikum", piepse ich ihr entgegen und sehe, wie sich eine ihrer feinen Augenbrauen hebt.

„Wa aleikum al salam", antwortet sie mir perfekt und ohne zu zögern. Sie lächelt, ihr schönes Shari Lächeln.

„Was tust du da?" Sie beugt sich noch immer zu mir herab und verschränkt die Arme vor der Brust. Ein paar ihrer schwarzen Haare kitzeln meine Wange und ich puste sie davon.

„Ich träume."

„Wovon?" Die Frage lautet wohl eher von wem, aber das sage ich natürlich nicht.

„Von einem riesigen Gummibärchen mit Waldmeistergeschmack", flachse ich träumerisch. Sie richtet sich auf, verzieht das Gesicht skeptisch und lässt sich auf dem Stuhl neben mir nieder. Sie weiß, dass ich nur rumspinne. Ich lehne mich nach vorn und sehe einigen Mitschülern dabei zu, wie sie ihre Tabletts mit Essen hin und her tragen.

„Ich befürchte langsam, dass bei deinem Sturz am Freitag doch mehr kaputt gegangen ist, als gedacht."

„Ich bin schon immer so gaga. Ich habe es nur besser versteckt."

„Das heißt, ich muss jetzt ständig mit solchen kuriosen Kommentaren rechnen?", stellt sie fest und macht dabei ein furchterfülltes Gesicht.

„Zu jeder Tag- und Nachtzeit", kommentiere ich verschwörerisch und schiebe den Stuhl zurück. Shari schüttelt den Kopf, beginnt aber zu kichern. Nun fragt auch sie sich, was bei mir schief gegangen ist. So, wie alle anderen auch.

„Ich besorge uns jetzt Mittagessen. Hast du einen Wunsch?", bestimmt stehe ich auf. So viele Möglichkeiten haben wir in unserer rumpligen Kantine sowieso nicht. Für einen Moment überlegt sie, streicht sich grübelnd über das Kinn, dann hellen sich ihre schönen Augen deutlich auf.

„Spaghetti! Mit ganz viel Käsesoße!" Ich lache, nicke und verschwinde zur Essensausgabe. Ich hole uns zwei Teller der Nudeln mit Käsesoße, eine Cola und schlendere zu unserem Tisch zurück. Schon von weitem sehe ich Andrew neben ihr stehen. Shari lächelt und blickt ab und an verlegen zur Seite. Ich verlangsame meinen Schritt und versuche den Beiden so viel Zeit wie möglich zu geben. Also nehme ich einen Umweg, gehe einmal um die Tische herum und nehme dann den Weg schlängelnd durch die Reihen. Bald ist unser Essen kalt. Als Andrew aufschaut und mich sieht, muss ich mein normales Tempo fortsetzen.

„Mark", sagt Andrew und ich stelle das Tablett mit unserem Essen auf den Tisch ab.

„Andrew. Wie geht's dir?", frage ich höflich.

„Könnte besser sein, aber ich arbeite daran." Er lächelt und schielt zu Shari. Ich belasse das Besteck in meiner Hand und lasse es hinter meinem Rücken in der Hosentasche verschwinden.

„Dann wünsche ich dir viel Erfolg. Oh, ich hab das Besteck vergessen. Ich komme gleich wieder." Ich blicke lächelnd zu Shari und sehe, wie sich eine feine Röte auf ihre Wangen legt. Ich winke ihr zu, hole beim Umdrehen das Besteck hinter meinem Rücken hervor und stiefele zurück zur Essensausgabe. Ich lasse mir Zeit, sehe mich in der Mensa um und gehe dann zurück. Shari ist wieder allein und hat bereits die Teller verteilt. Ich schiebe ihr Gabel und Löffel zu und grinse breit.

„Was soll dieses Gesicht?", erfragt sie nach einer umfassenden Musterung meiner selbst.

„Aber das ist doch mein normales Gesicht", sage ich entsetzt und grinse einfach weiter. Ich fahre mir mit beiden Händen über die Wangen und bekomme es einfach nicht weg.

„Und?", hake ich nach, nachdem sie keine Antwort gibt. Sie zuckt mit den Schultern, presst ihre Lippen aufeinander.

„Ich habe ihm vorgeschlagen, dass wir ja Mal zusammen Mittagessen können." Sie flüstert und wieder erscheint diese sanfte Röte.

„Braves Mädchen", entgegne ich begeistert. Nun steckt sie mir dir Zunge raus. Das Essen ist gut. Cremig. Käsig. Nach der Pause trennen sich unsere Wege.
 

In der Sporthalle angekommen, falle ich fast aus allem Wolken. Entsetzt starre ich in die Halle hinein. Diesmal ist sie komplett zu gebaut. Überall liegen Gymnastikmatten und Geräte und ich verfluche die Mädchen, weil sie alle so schwach sind, dass sie die Matte nach ihrem Training nicht ordentlich zurückräumen können. Sie allein zu stapeln wird eine Qual. Ich hebe mir bei jeder Matte fast einen Bruch und lasse mich, als ich fertig bin, geschafft auf dem Stapel Matten fallen. Ich höre die Jungs von Raphaels Trainingstrupp in die Umkleideräume gehen. Sie lachen und ich folge ihnen träge.

Ich schmule durch die Tür und frage laut, wie der Sportplatz aussieht. Plötzlich werde ich von hinten in den Raum geschoben und blicke in Danny belustigtes Gesicht.

„Mark, der Eroberer."

„Das war Alexander."

„Ist doch Wurst." Er grinst.

„Zum Sportplatz brauchst du nicht. Wir waren brav und ordentlich."

„Irgendwas müsst ihr ja können", sage ich neckend und ernte empörtes Schnauben aus der gesamten Truppe. Ich setze mich auf eine Bank vor einem Spind, der nicht in Benutzung ist. Danny wirft mir ein Handtuch ins Gesicht. Ich ächze angewidert. Wenigstens ist es sauber. Ich werfe es ihm prompt zurück.

„Mach du uns nicht auch noch fertig", beschwert er sich murmelnd.

„Was meinst du?"

„Raphael hält uns auch schon für unfähig", sagte er fast bemitleidenswert und ich grinse.

„Im Moment ist es echt haarig. Raphael scheucht uns, wie ein Verrückter. Das ist nicht mehr normal. Er sollte sich selbst mal richtig auspowern, damit er uns nicht mehr so auf die Nerven geht", fährt Danny fort, während er sich langsam auszieht.

„Immer noch wegen des Turniers?" Ich erinnerte mich, dass es an irgendeinem Freitag ist.

„Das ist nur Vorwand, aber ehrlich, der muss so unter Strom stehen, dass er nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Er hat uns 100 Wiederholungen machen lassen und dann noch mal 50. Alter, wir sind fix und alle." Ich sehe dabei zu, wie Danny seinen Kopf schüttelt.

„Na, wenn euch 150 mickrige Wiederholungen schon zu viel sind, solltet ihr besser keine Sportler werden", gebe ich trocken von mir. Ich weiß, dass ich nicht gerade hilfreich bin.

„Haha, du bist heute wieder ein Scherzkeks. Ich will dich mal sehen. Du brichst doch bei 20 Push-ups zusammen."

„Nach 25 Stück und ich schimpfe mich nicht Sportler", gebe ich wahrheitsgemäß zurück und Danny beginnt zu lachen. Das kehlige, laute Geräusch erfüllt den gesamten Raum. Ich lehne mich zurück und lasse meinen Blick wandern.

„Raphael hat doch eine Freundin. Die sollte er besser zu nutzen wissen, oder?", kommt es von einem anderen. Weitere dämliche Sprüche folgen. Ich versuche die Kommentare zu ignorieren. Doch plötzlich schlagen sie von allen Seiten auf mich ein. Ein hormongeladener Schlagabtausch über die möglichen Qualitäten von Frauen, wie meiner Schwester eine ist. Blond. Blauäugig. Willig. Raphael als ihre Beute. Zu ihrer Verteidigung muss ich sagen, dass die Meisten nicht wissen, dass Raphaels Freundin meine Schwester ist.

„Leute...", tadelt Danny und stoppt das dumme Gerede. Ich sehe ihn dankend an.

„Aber ehrlich...", setzt nun Danny leise an, „Mit allen erdenklichen Respekt vor deiner Schwester, aber sie sollte ihn öfter ranlassen." Bei der Thematik Raphael und Sex mit meiner Schwester, sträubten sich mir die Haare und ich spüre, stets diesen Stich im Herzen. Es zwingt mich zurück zum Galgenhumor.

„Wahrscheinlich kommt er nicht an ihrem Keuschheitsgürtel vorbei. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie den Schlüssel für Lebzeiten verschluckt hat." Ich mache vor, wie ich den Schlüssel verschlucke und grinse. Danny lacht. Ich denke an den gestrigen Abend. An Raphaels Blick und seine Reaktion. Ich stehe nicht zu dem, was ich sage, doch ich muss den Schein wahren. Der Gedanke an Raphael und meine Schwester schmerzt.

„Tja, ist scheiße sich so abzurackern und nicht zum Schuss zu kommen", kommentiere ich weiter und höre Danny kehliges Gelächter lauter werden. Auch die anderen setzen ein und ich wende meinen Blick ab. Ich fühle mich schlecht. Ich sehe zur Tür und schaue direkt in Raphaels grüne Augen. Das erst wütende Funkeln wandelt sich in pure Enttäuschung. Ich schlucke. Ich spüre, wie mir Danny gegen die Schulter schlägt und sehe zu, wie Raphael durch die Tür verschwindet. Ich stehe auf und folge ihm unvermittelt. Seine Schritte sind schnell, doch ich hole ihn ein.
 

„Raphael", rufe ich ihm nach. Er bleibt vor seinem Auto stehen, dreht sich aber nicht zu mir um. Mit wenigen Schritten habe ich zu ihm aufgeschlossen. Seine Hand ballt sich zu einer Faust. Er ist sauer.

„Können wir bitte reden."

„Worüber, dass es dir Spaß macht über meine Probleme herzuziehen und dich darüber lustig zu machen?" Ich weiß nicht, was ich sagen soll, denn genauso ist. Abgesehen davon, dass es mir keinen Spaß macht.

„Ich weiß, dass du uns das letzte Mal beobachtest hast", fährt er fort. Während er spricht, dreht er sich zu mir um. Seine Augen funkeln wieder. Natürlich bekomme ich vieles mit, schließlich lebe ich im gleichen Haus. Direkt in dem Zimmer daneben. Ich schlucke den Kommentar runter, denn er ist nicht hilfreich.

„Ich erzähle dir von diesen wirklich privaten Problemen und ... Ich dachte, ich kann dir vertrauen." Ich habe von den Problemen nie etwas hören wollen.

„Raphael, ich..." Ich weiß nicht, wie ich ihm erklären kann, dass ich, das nur gesagt habe um irgendwie mit der Tatsache klar zukommen, dass ich in den Freund meiner Schwester verliebt bin. In ihn. Wie ich es ihm erklären kann, ohne all das preisgeben zu müssen. Auch die seltsamen Begegnungen mit Raphael in der Umkleidekabine, in Mayas Zimmer und dem ständigen Aufeinandertreffen bei mir zu Hause zwingen mich dazu auf eine andere Art und Weise damit umzugehen. Ich mache es lächerlich, denn das ist für mich das Einfachste.

„Wieso machst du das? Abgesehen davon, dass du mich vor meinen Schülern lächerlich machst, verletzt du mich damit. Ich dachte, du wärst feinfühliger und keiner dieser dummen Idioten." Raphael deutete auf die Umkleidekabine, wo die gerade angesprochenen Schüler herauskommen, lachen und gehen. Doch, ich bin anscheinend einer dieser dummen Idioten. Ich kämpfe mit entschuldigenden Worten, doch nichts kommt über meine Lippen.

„Mark Dima ist sprachlos? Was für ein Wunder und schon eigenartig. Du hast doch sonst für alles einen schlagfertigen und dummen Kommentar", legt er zu Recht verärgert nach. Ich fühle mich noch schlechter und atme tief ein.

„Es tut mir Leid, okay? Ich habe nicht nachgedacht und ich wollte dich nicht diffamieren." Mit jedem Wort wird meine Stimme leiser. Meine eigenen Worte überzeugen mich nicht.

„Ja, nicht nachgedacht, genau!" Ich sehe dabei zu, wie er seinen Schlüssel aus der Tasche nimmt und dann wieder zurück zur Umkleidekabine geht. Er trägt noch immer seine Trainingssachen. Unentschlossen und hadernd folge ich ihm. Ich möchte das nicht so stehenlassen.

Raphael steht vor seinem Spint als ich eintrete und zieht sich das Shirt über den Kopf. Ich erstarre und zwinge mich dann dazu mich wegzudrehen.

„Es tut mir wirklich leid. Wirklich. Ja, ich bin ein Idiot und ich hätte darüber nicht sprechen dürfen, aber du musst mir glauben, dass dich verletzen das Letzte ist, was ich will." Er hält in seiner Bewegung inne und sieht mich an. Etwas in seinem Blick ist verändert.

„Spar es dir", sagt er enttäuscht und ich spüre ein Stechen, welches durch meinen Brustkorb fährt. Mit Wut kann ich umgehen, aber Enttäuschung tötete mich. Langsam und qualvoll.

„Ich weiß einfach nicht, wie ich damit umgehen soll", bekenne ich ehrlich.

„Womit umgehen?", fragt er und ich höre Verwunderung.

„Das ausgerechnet du, der Freund meiner Schwester bist.", gestehe ich flüsternd. Raphael schließt leise seinen Spint und sieht mich an. Ich weiß nicht, wie er meine Aussage versteht, doch in diesem Moment ist es mir egal. Ich fühle mich schlecht und habe Angst, dass Raphael nie wieder ein Wort mit mir spricht und ausgerechnet jetzt schweigt er. Minuten lang. So fühlt es sich jedenfalls an.

„Mir war nicht klar, dass es dich so sehr stört", sagt er nach einer Weile und ich verdrehe die Augen. Natürlich versteht er es falsch. Raphael hat es nicht verstanden und ich bin mir nicht sicher, ob ich erleichtert oder verstört bin. Ich fasse mir an dir Stirn und ein seltsames knurrendes Geräusch perlt von meinen Lippen.

„Stören ist eindeutig das falsche Wort." Frustrieren trifft eher, aber das sage ich nicht. Dieses Gespräch führt zu nichts. Ich streiche mir ermattet durch die Haare.

„Was dann?", drängt er mich. Ich fahre mir über das Kinn, spüre Stoppeln und meinen zusammengebissenen Kiefer und zucke abwehrend mit den Schultern.

„Egal, vergiss es einfach", knurre ich ernüchtert. Ich drehe mich zum Ausgang. Gehen ist gerade die beste Option für mich, sonst würde ich vor Frustration explodieren.

„Ich habe dich mit Marikas Cousin gesehen." Unvermittelt. Ich bleibe abrupt stehen und spüre, wie sich mein Puls beschleunigt. Ich denke an Jake und an den Moment zurück. Unseren Kuss. Sofort frage ich mich, wie viel Raphael wirklich gesehen hat. Ich versuche meine Aufregung runterzuschlucken, doch es klappt nur geringfügig. Wie soll ich reagieren? Ich weiß es nicht. Konfrontation? Abstreiten? Runterspielen? Ich entscheide mich für Runterspielen.

„Und? Wir haben uns auf Marikas Partys getroffen und verstehen uns ganz gut", sage ich desinteressiert und höre das Rauschen meines pulsierenden Blutes im Ohr. Raphael hat wahrscheinlich gar nichts gesehen. Wir haben uns schließlich die meiste Zeit nur unterhalten. Nur geredet.

„Du hast ihn geküsst. Einen Mann", sagt er leise. Das kleine bisschen Hoffnung geht flöten. Noch immer stehe ich mit dem Rücken zu ihm und kann somit seinen Gesichtsausdruck nicht sehen. Was nun? Konfrontation? Rückzug? Ich bin unsicher. Ich habe keine sinnreiche Erklärung für den Kuss. Außer dem, was war. Wie begründet man den Kuss mit einem anderen Mann ohne das Offensichtliche? Ich versuche ruhig zu bleiben und wende mich ihm zu. Erschrocken weiche ich zurück, als er plötzlich vor mir steht.

„Und?", presse ich hervor und versuche aus seinem Gesicht herauszulesen, was er denken könnte. Doch ich schaffe es nicht. Mein Blick wandert über sein Gesicht und weiter hinab. Seinem Körper entlang, denn er steht mit nacktem Oberkörper vor mir.

Er merkt nicht einmal, was er mit dieser einfachen Tatsache in mir anrichtet. Ich schlucke und meine Gedanken gleiten zu dem Tag in der Dusche zurück. Ich war ihm so nah gewesen, habe seine Haut auf meiner gespürt. Noch jetzt durchfährt mich ein impulsives Kribbeln. Er folgt meinem Blick und weiß ganz genau, was ich mir gerade angesehen habe. Ich stocke, als mir klar wird, dass Raphael an dem Tag schon von Jake gewusst haben muss.

„Warum hast du ihn geküsst?", fragt er weiter. Ich sehe wieder auf. Warum? Was ist das für eine Frage? Er kommt noch weiter auf mich zu. Unwillkürlich mache ich einen Schritt zurück und ich stoße gegen einen der Schränke. Raphael stoppt direkt vor mir. Sein Blick ist undefinierbar und ich vergesse zu atmen. Er lehnt sich nach vorn und stützt seine Arme genauso ab, wie beim letzten Mal. Frontal. Direkt neben meinem Körper. Kein Entkommen. Doch diesmal sehe ich ihn herausfordernd an.

„Warum nicht?", flüstere ich ihm entgegen. Er weiß es, was also soll noch passieren? Seine Nähe elektrisiert mich. Hitze sammelt sich in meine Körper. Raphael zögert, doch egal was er auch vorhat, ich komme ihm zuvor. Ich überbrücke die letzten Zentimeter und küsse ihn. Es ist fast nur ein Hauch. So schnell ziehe ich mich wieder zurück. Doch etwas in mir beginnt zu pulsieren. Heftig und unnachgiebig. Eine Kurzschlussreaktion, aber das Gefühl seine weichen und warmen Lippen zu spüren, ist alles Folgende wert. Egal, was es ist.

Raphael stockt, aber weicht nicht zurück. Ich sehe, wie die Ader an seinem Hals pulsiert, sehe seinen überrumpelten Blick, aber keine Abscheu, keinen Ekel.

„Nun habe ich auch dich geküsst, und?", sage ich keck und höre meine Stimme selbst leicht zittern. Ich sehe ihn an. Mein Blick ist weiterhin provozierend. Ich rechne mit allem, aber nicht damit, dass er sich zu einem weiteren Kuss nach unten beugt. Mein Herz setzt aus. Seine Lippen legen sich auf meine. Vorsichtig, überprüfend und fast scheu. Ich bekomme Gänsehaut bis zu den Zehen. Wellenartig durchfährt es mich und ich schließe instinktiv meine Augen. Ich möchte mehr davon spüren. Wie tausende kleine Stromstöße jagt es durch mein Leib. Ich öffne die Augen wieder. Er sieht mich dabei an, während seine Lippen wieder und wieder auf meine treffen und ich blicke zurück. Seine wunderschönen Augen dringen tief in mich ein. Ich warte darauf, dass er sich wieder von mir entfernt, doch er schließt seine Augen und intensiviert den Kuss. Er umschmeichelt meine Unterlippe, neckt die obere und ich spüre die Stoppeln seines Barts an meinem Kinn, wie ein angenehmes Kitzeln. Seine rechte Hand wandert vom Schrank zu meinem Rücken und er drückt mich dichter an sich. Seine warmen, süßen Lippen. Sie schmecken fantastisch. Ich lasse mich hineinfallen und genieße es.

Es fühlt sich zu gut an, um richtig zu sein. Ich spüre den Ruck, der durch seinen Körper geht. Raphael versteift sich, beendet den Kuss und drückt sich von mir weg.

„Verdammt. Nein." Er wendet sich von mir ab und fährt sich unsicher durch die Haare.

„Scheiße, du bist der Bruder meiner Freundin und ich bin nicht...das ist falsch." Er spricht es nicht aus. Ich presse meine Lippen aufeinander, schmecke die hinterlassene Süße und sehe ihn direkt an. Der Schrank in meinem Rücken ist die Stütze, die ich gerade benötige.

"Schwul. So wie ich", vollende ich den abgebrochenen Teil seines Satzes. Nichts davon ist falsch. Nichts. Meine Hand umgreift die Ecke des Schranks, bietet weiteren Halt.

"Es ist also falsch?", frage ich leise, fasse mir mit der freien Hand an den Bauch und spüre, wie das erregende Kribbeln weniger wird. Bis es komplett verschwunden ist und ich vollständig in der Realität ankomme. Raphael schweigt. Ich bin noch immer überwältigt von dem Moment und verunsichert. Was hat das zu bedeuten? Raphael dreht sich zu seinem Spint, stemmt die Arme in die Seite und läuft ein paar Schritte von mir weg. Er dreht sich zu mir um und dann genauso schnell wieder weg. Seine Hand schnellt nach vorn und er schlägt mit der flachen Hand gegen den Schrank. Das Geräusch scheppert laut durch den Umkleideraum und ich zucke heftig zusammen. Mein Herz rast. Ich kann es, aber nicht ruhen lassen.

„Was bitte ist daran fa...?"

„Mark, halt den Mund, bitte!", fleht er mich an und ich schlucke den Rest meiner Frage runter. Er stopft seine Sachen in die Tasche, zieht sich ein Shirt über und rauscht an mir vorbei. Mein Magen verkrampft sich und der stechende Schmerz in meiner Brust wird mit jeder Minute stärker. Ich sehe dabei zu, wie die Tür ins Schloss fällt. Ich kann es noch immer nicht glauben. Der Geschmack seiner Lippen und das wundervolle Gefühl, welches in mir schwelt, kollidiert mit der Realität und der Leere, die sich in mir ausbreitet. Es macht alles nur noch schlimmer. Ich, der Bruder seiner Freundin. So hat er es gesagt. Ich schließe meine Augen, spüre die Ernüchterung und den beißenden Schmerz.
 

Was habe ich erwartet?
 

Ps vom Autor. Einen dicken lieben Dank an meine Leserchen :) Ich bin euch ganz doll dankbar <3

Die Konfrontation mit dem Sein

Kapitel 17 Die Konfrontation mit dem Sein
 

Die Frage stelle ich mir den gesamten Weg über. Immer und immer wieder. Ich finde keine Antwort. Der Bus ist weg und der nächste kommt erst in einer halbe Stunden. Ich beschließe zu laufen, was meinem Gehirn die Möglichkeit gibt weiter und immer weiter darüber nachzudenken. Als ich mit einem Mal vor der Haustür stehe, wundere ich mich einen Moment lang, wie schnell ich hierhergekommen bin.

Drinnen sehe ich die ordentlich aufgereihten Schuhe meiner Eltern, sowie Mayas und Raphaels. Ich starre sie an. Seine Schuhe wirken neben Maya kleinen zierlichen fast schon riesig. Doch an ihm sieht es einfach passend aus. Alles an ihm. Die muskulösen Beine, der knackige, perfekte Hintern. Zum Glück holt mich ein Klirren aus der Küche wieder ins Hier und Jetzt. Jetzt vernehme ich auch die gedämpften Stimmen. Als ich mir die Jacke von den Schultern streife, erfasst mich ein kühler Schauer und ich komme nicht umher mich etwas zu schütteln. Mit klammen Fingern streichen mir über die Arme und ich gehe in die Küche um mir einen Tee zu machen.

„...es passt mir nicht, dass ich genau jetzt wegfahren muss. Ich fühle mich einfach nicht..." Meine Mutter steht am Herd. Maya steht bei ihr und bricht ihre Erzählung ab als ich hineinkomme. Sie sieht mich genervt an. Was für eine herzliche Begrüßung.

„Uh, Frauengespräche! Lasst euch nicht stören." Ich verziehe belustigt mein Gesicht und fülle Wasser in den Kocher. Gespannt lehne ich mich gegen den Küchentresen und schaue die beiden Frau herausfordernd an.

„Möchtest du dein enormes Wissen über Frauenthemen mit uns teilen, mein Sohn?", fragt meine Mutter trotzig zurück und meine Provokation verpufft ohne, dass ich eine von mir geben konnte.

„Welches Wissen, der weiß doch nicht mal, wie man 'Frau' schreibt", zischt mir Maya zufrieden entgegen. Für einen kurzen Moment bin ich erschrocken. Sie weiß es! Wie viel weiß sie? Raphael hat mich und Jake gesehen, sie auch? Ein eisiger Schauer läuft mir über den Rücken. Dennoch ich kann einen solchen Kommentar nicht auf mir sitzen lassen. Ich spiele mit dem Feuer und bin mir dessen bewusst.

„Ich hab im Biologieunterricht stets aufgepasst", versichere ich und nehme eine Tasse aus dem Schrank. „Und ich lebe seit 17 Jahren mit dir in einem Haus und seit 5 Jahren ist das kein Zuckerschlecken mehr." Ich schieße mir mit pistolengeformten Fingern in den Kopf und Maya macht sofort ein verärgertes Gesicht. Sie blickt unsere Mutter an und hofft auf Unterstützung.

„Mark! Ein anderes Niveau, bitte!", kommt es mahnend von ihr.

„Sie hat kein anderes Niveau verdient", pariere ich und bereue es sofort. Ich habe es schon wieder gemacht. Grundlos reizen. Was ist nur mit mir los? Mein Wasser kocht und ich gieße den Teebeutel auf, den ich mir aus unserer teeeigenen Schublade nehme. Fenchel-Anis-Kümmel. Leckerschmecker.

Bevor meine Mutter noch irgendetwas sagen kann, wird sie von den zischenden Töpfen abgelenkt. Maya murrt, doch so schnell fällt ihr selbst nichts ein. Ich nutze die Gelegenheit und schiebe mich an den beiden vorbei ins Wohnzimmer. Im Türrahmen bleibe ich stehen. Der Fernseher läuft, doch niemand sitzt auf der Couch. Die Stimmen kommen aus dem Essbereich und dort steht der Freund meiner Schwester neben meinem Vater. Direkt vor dem Kamin. In den Händen halten sie ein Glas Cognac. Raphael lacht und schwenkt das Glas. Er mimt den perfekten Schwiegersohn und ich könnte kotzen. Provokativ stelle ich mich dazu, ignoriere Raphael und nippe an meine aromatisierten Wasser.

„Mark, du bist spät", stellt mein Vater mit einem Blick auf die Uhr fest und setzt seinen tadelnden Blick auf.

„Die Aufräumarbeiten in der Sporthalle haben etwas länger gedauert. Die kleinen Mädchen heutzutage lernen nur noch, wie man etwas flachlegt und nicht mehr wie man hochstapelt." Mein Vater schaut verdutzt. Raphael versteht es, weil er die Situation in der Sporthalle gesehen hat.

„Gymnastikunterricht. Die ganze Sporthalle lag voller Matten. Ich durfte sie allein aufeinander stapeln, was übrigens nicht so einfach ist. Aber es ist ein ganz gutes Training." Ich schiele zu Raphael, der das Glas in seine Hand plötzlich ziemlich verkrampft hält. Ich kann sehen, wie unbehaglich ihm meine Nähe ist. Nun lehne ich mich provokativ direkt neben ihn an den Sessel und wackele mit meinem Knie, welches dadurch immer wieder sachte gegen sein Bein tippt.

„Wie lange bist du dafür noch verantwortlich?", erkundigt sich mein Vater.

„Nächsten Monat noch und dann kann ich wieder Unsinn machen."

„Na, ich hoffe doch, dass du daraus gelernt hast?"

„Ja, ich habe gelernt, dass ich das nächste Mal warten sollte bis ich allein mit meinem Opfer bin", sage ich bitter ernst und blicke in das schockierte Gesicht meines Erzeugers.

„Das war ein Spaß. Gewalt ist scheiße und ich habe noch immer Probleme beim Schlucken. Ich werde mich nie wieder Prügeln. Obwohl, wenn man es genau nimmt, haben wir uns gar nicht richtig geprügelt. Nur etwas gerauft", flapse ich zum Leidwesen meines Vaters rum. Ich sehe, wie er mit dem Kopf schüttelt. Raphael schweigt und zuckt doch immer leicht zusammen, sobald unsere Gliedmaßen aneinander stoßen. Ich vermeide es ihn anzusehen.

„Na ja, ich weiß ja, dass du normalerweise ganz vernünftig bist, aber deine Mutter und ich würden uns freuen, wenn du den Rest des Schuljahres ohne Verweise auskommst."
 

„Ach, erst nach dem Zweiten wird es kritisch. Ich habe also noch einen Puffer." Ich winke mit der freien Hand ab und höre, wie Maya klappernd mit Tellern und Besteck reinkommt. Raphael eilt zu ihr und nimmt ihr die Teller ab. Gemeinsam decken sie den Tisch, während ich mit meinem Vater zu Couch gehe. Er sieht mich an und ich habe das ungute Gefühl, dass wir gleich ein ernstes Gespräch führen.

„Mark, was ist los mit dir?" Bekäme ich rückwirkend für jedes Mal, wenn man mir diese Frage gestellt hat einen Euro, dann könnte ich mich jetzt von der Geldwelle wegtragen lassen.

„Nichts."

„Wir machen uns Sorgen. Deine Leistungen lassen nach. Du prügelst dich und du nimmst nichts mehr ernst."

„Das ist gar nicht wahr. Es war nur das eine Mal und ich hatte einen guten Grund", verteidige ich mich.

„Welcher Grund rechtfertigt Gewalt?" Schachmatt. Ich lehne mich zurück und verschränke die Arme vor der Brust.

„Keiner. Ich sagte ja schon, es wird nicht wieder vorkommen."

„Das möchte ich hoffen. Hör zu. Auch deine Mutter und ich waren mal jung und..." Ich unterbreche ihn gestisch.

„Dad, wirklich? Ich möchte gar nicht hören, welche Probleme ihr in euren jungen Jahren hattet. Es ist nicht das Gleiche." Mein Vater wuchs als Ältester unter 4 Brüdern auf. Er hatte immer das Sagen und sie hörten auf ihn. Noch heute. Meine Mutter hat nur eine ältere Schwester, mit der sie sich schon immer wunderbar verstand. Meine Eltern haben sich mit Anfang zwanzig kennengelernt und mit Mitte zwanzig geheiratet. Nein, es gibt keinerlei Vergleichsmöglichkeiten.

„Du glaubst gar nicht, wie anstrengend es heutzutage ist jung zu sein", erläutere ich meinen Ausbruch weiter und ernte ein weiteres Kopfschütteln.

„Ich sage ja auch nicht, dass es für den einen oder anderen schwerer gewesen ist." Ich muss schmunzeln. Er gibt sich wirklich Mühe.

„Ich möchte dir auch nur sagen, dass du mit mir und deiner Mutter reden kannst. Egal, was es ist oder was dich bedrückt."

„Papa, ich weiß das." Er lächelt.

„Kommt ihr zu Tisch?", ruft meine Mutter aus dem Essbereich und mein Vater nickt. Kurz sieht er mich eindringlich an. Ich setze mich bereits in Bewegung.
 

Während des Essens beobachte ich Maya und Raphael. Sie wirken abwesend und zueinander abweisend. Vor allem Raphael, der sonst den Kontakt sucht, vermeidet ihn diesmal. Ich habe keinen Appetit und schiebe das Essen nur von der einen zur anderen Seite. Maya sieht zu mir. Ich kann ihren Blick nicht deuten. Wahrscheinlich ist sie noch immer über den Spruch mit ihren Tagen verärgert oder sie überlegt, wie sie am besten meine Verfehlung für sich nutzen kann. Mir wird flau bei der Vorstellung das Maya etwas wissen könnte. Es sind Maya und Raphael, die als erstes das Esszimmer verlassen und ich bin der Letzte, der von seinem Platz aufsteht. Ich räume meinen halb vollen Teller in die Küche. Meine Mutter nimmt ihn mir aus der Hand und für einen kurzen Moment glaube ich, dass auch sie noch einmal mit mir reden will. Aber es passiert nichts. Ich habe das dringende Bedürfnis mich zu entschuldigen. Das schafft auch nur sie.

„Tut mir Leid, dass ich vorhin so etwas Blödes gesagt habe", ringe mir diese Entschuldigung ab und sie stoppt in ihrer Tätigkeit.

„Du musst dich nicht bei mir entschuldigen, sondern bei deiner Schwester."

„Ich habe gehofft, dass eine Entschuldigung an eine Frau dieser Welt reicht." Sie stellt einen weiteren Teller in die Maschine.

„Ich weiß, dass ihr nicht unterschiedlicher sein könnt und du auf jeden Fall der Schlagfertige bist, aber das rechtfertigt dein Verhalten nicht. Genauso weiß ich, dass Maya nicht immer so überempfindlich sein sollte, aber du machst es ihr nicht leicht."

„Ich weiß. Ich bin ein schlechter Bruder." Ich mag es sie zu ärgern. Ich provoziere sie in jedem noch so kleinen Gespräch. Ich bin verliebt in ihren Freund und missgönne ihr in dieser Form einfach alles. Ein noch schlechterer Bruder kann ich gar nicht mehr werden.

„Nein, das ist nicht wahr. Aber du bist der Ältere und solltest es besser wissen." Das hat Raphael auch gesagt. Ich schnaube leicht und verdrehe die Augen.

„Ich weiß, das möchtest du nicht hören, aber dem ist so. Es wird in deinem Leben immer Situationen geben, in denen du eventuelle gegen deinen eigenen Willen handeln musst. Damit andere nicht verletzt werden oder Situation nicht eskalieren." Ihre Stimme ist ruhig, bestimmt und doch weiß ich, dass sie sauer ist. Meine Mutter brüllt nicht, sie tobt nicht. Sie attackiert mit Vernunft und stiller, bohrender Enttäuschung. Die schlimmsten Mittel in einer familiären Auseinandersetzung.

Sie deutet auf eine Schüssel und ich gebe sie ihr. Ich lasse Wasser in die Spüle laufen und beginne die Töpfe abzuwaschen. Wir arbeiten schweigend nebeneinander und als wir fertig sind, umarmt sie mich. Ich rieche ihr dezentes Parfüm und fühle mich in meine Kindheit zurückversetzt. Wir saßen oft gemeinsam auf der Couch und sie las uns vor. Maya auf ihrem Schoss. Ich dicht an sie gekuschelt daneben. Ich höre ihre sanfte, warme Stimme, die besonders ulkig klang, wenn sie versuchte Bösewichte zu sprechen. Ihre langen Haare kitzelten mein Gesicht und meine knubbeligen, kleinen Finger schoben die Seiten der Bücher weiter. Es ist der Duft von süßen Blüten.
 

Sie küsst meine Stirn und wünscht mir eine gute Nacht. Ich nehme mir ein Glas Wasser und setze mich vor den Fernseher. Ich schalte ein paar Mal die Kanäle durch. Doch es kommt nichts Aufregendes. Also schalte ich es wieder ab. Im Bad spritze ich mir kühles Wasser ins Gesicht und begutachte die Überbleibsel meiner Prügelei. Es ist kaum was übriggeblieben. Um meinem Auge ist ein leichter Schatten zu erkennen. Der Schorf an meiner Lippe ist weg und es ist ein kleiner roter Streifen zusehen. Ich ziehe mein Hemd hoch und erschrecke vor dem roten Striemen, der quer über meiner Brust läuft. An einigen Stellen wird er bereits violett. Gut, dass ich bei dieser Stelle für niemanden eine Erklärung finden muss. Als ich in meinem Zimmer bin, beschließe ich ins Bett zu gehen. Ich knöpfe das Hemd und meine Jeans auf. Plötzlich steht er in der Tür. Raphael. Ich ziehe mir erschrocken die Hose wieder hoch und sehe ihn verstört an.

„Wir müssen reden", sagt er ohne Umschweife, schlicht fordernd. Er schließt die Tür und kommt auf mich zu. Ich weiche nicht zurück, als er vor mir stehen bleibt. Sein Blick haftet sich auf den roten Striemen auf meiner Brust und er schluckt.

„Worüber? Hat Maya mein Aftershave an dir gerochen?", sage ich spitz und ohne ihn aus den Augen zu lassen. Er beißt die Zähne zusammen. Die Bilder unserer Küsse tauchen in meinem Kopf auf und ich spüre erneut das wunderbare Kribbeln in meinem Leib. Ich warte darauf, dass er etwas sagt. Immerhin will er reden. Raphael schweigt, was meine innere Wut steigert.

„Musstest du an mich denken, als du sie geküsst hast?", reize ich frech weiter. Ich muss lernen den Mund zu halten, aber diese eigenartige Situation provoziert es gerade zu. Was will er von mir? Wieder taucht dieses Funkeln in seinen Augen auf. Wut, aber ich erkenne auch noch etwas anderes. Unsicherheit.

Ich verschränke die Arme vor der Brust und nehme unbewusst eine abwehrende Haltung ein. Ich muss mich selbst schützen, denn meine Gefühle spielen verrückt. Er wird mir unwissentlich immer weiter wehtun, denn für Raphael ist das Ganze nur ein Ausrutscher, eine kurzzeitige Verirrung. Mehr nicht. Raphael ist nicht schwul und wird es nie sein. Ich seufze, als er noch immer keinen Ton von sich gibt.

„Okay, ich erspare dir weitere Grübeleien. Ich werde dir keine Probleme machen, wenn es das ist, was du mit mir bereden willst. Es liegt nicht in meinem Interesse das dieses Haus etwas davon erfährt", erkläre ich wende mich unschlüssig ab. Das Raphael nichts sagt, verunsichert mich. Ich weiß nicht, was er von mir hören will.

„Okay, langsam wird es albern. Ich werde schweigen, wirklich!", sage ich bestimmt und wende mich ab. Ich ziehe mein Schlafoberteil unter der Bettdecke hervor. Als ich es mir überziehen will, packt mich seine Hand am Arm und dreht mich zu ihm um.

„Wir schweigen beide", flüstert er mir zu, zieht mich zu sich heran und legt seine Lippen auf meine. Diesmal ist keine Spur von Zurückhaltung, kein Zögern zu merken. Nur intensives Verlangen. Seine warmen Hände legen sich an meine Wange, an meinen Hals. Ich denke nicht an die Möglichkeit, dass er sich jeden Moment wieder von mir entfernen könnte. Ich weiß nicht, was er beabsichtigt, doch ich will nicht, das er aufhört. Ich schmecke das Aroma von Zahnpasta auf seinen Lippen. Ich stehe darauf, wie es sich mit Raphaels eigenen Geschmack mischt. Meine Finger gleiten in seine weichen Haare. Ich genieße das Kitzeln, welches sie auf meiner Haut hinterlassen. Es fühlt sich an, wie kleine hüpfende Schmetterlinge. Sie dringen bis in mein Inneres. Sein Daumen streicht über mein Kinn. Es fühlt sich so gut an. Ich lege ihm meine Arme um seine Hüfte und drücke sein Becken dichter an meins. Er löst seine Lippen und ein feines Keuchen erfüllt den Raum.

Ich lasse meine Hände seinen Rücken hinauf wandern und spüre die harten Muskeln unter dem dünnen Stoff. Sie gleiten wieder hinab, streifen den Rand seiner Jeans und treffen auf die weiche Haut seines Beckens. Ich drücke mein eigenes gegen seines und spüre eindeutig die harte Wölbung. Ich ziehe ihn in einen weiteren Kuss, koste seine Unterlippe und spüre das feine Beben, welches seinen Körper durchfährt. Er tut es mir gleich umschließt mit seinen Lippen meine untere. Ein zarter Biss, der in meinem Inneren eine wohlige Explosion auslöst. Ich genieße das Kribbeln in meinen Lenden und merke den Nebel in meinen Kopf, der nur noch dem fokussierten Verlangen Platz lässt. Meine Hand streicht über seinen Nacken und ich möchte ihn noch intensiver schmecken. Von ihm geht kein Widerstand aus als sich unsere Zungen treffen. Unser Kuss ist lange und leidenschaftlich. Bewusst drücke ich erneut meine Lenden gegen seine, keuche bei der Berührung und der leichten Reibung. Ein erregtes Zucken durchfährt seinen Körper und er löst den Kuss schweratmend. Ich möchte es ausreizen. Meine Hände wandern nach vorn, öffnen Raphaels Gürtel, während ich seine Reaktion genau beobachte. Sein Brustkorb hebt und senkt sich heftig, auch wenn er versucht es unter Kontrolle zu halten. Ich öffne seine Hose. Er hält den Atem an und ich ziehe langsam den Reißverschluss nach unten, treffe auf Hitze. Ich kann sie deutlich auf meine Haut spüren. Sie drängt gegen meine Finger und ich streiche über den Rand seiner Unterhose. Tiefer unter den Gummi.

„Ich kann nicht...", entflieht ihm panisch. Er bricht ab. Raphael verliert den Mut oder das bisschen Irrsinn, welches in ihn mein Zimmer getrieben hat. Er macht einen Schritt zurück. Ich sehe dabei zu, wie er seine Hose mit hektischen Bewegungen schließt und ohne ein weiteres Wort fluchtartig mein Zimmer verlässt. Das Klacken, der ins Schloss fallenden Tür holt mich aus meiner eigenen Starre und ich lasse mich auf den Boden vor dem Bett nieder. Mein Kopf fällt nach hinten aufs Bett und ich starre an die Decke. Mein Atem geht schnell und ich spüre ein Zerren in meiner Lendengegend. Ich habe noch immer das Gefühl ihn spüren zu können. Meine Fingerspitzen kribbeln. Meine Körpermitte schreit. Hart und heiß. Das Rauschen meines eigenen Blutes ist so heftig, dass ich befürchte jeden Moment ohnmächtig zu werden. Es hat sich so gut angefühlt. Wieder zu gut um richtig zu sein.

Ich fahre mir mit den Händen über das Gesicht, lasse sie über meinen Augen liegen und seufze schwer. Was mache ich hier? Warum tut er das? Was passiert hier? Meine Lenden brennen, doch plötzlich sehe ich das Gesicht meiner Schwester vor mir.

Ich habe mich geirrt. Ich kann ein noch schlechterer Bruder sein.

Frittiert oder gegrillt?

Kapitel 18 Frittiert oder gegrillt?
 

Ich schlage die Augen auf bevor der Wecker klingt. Obwohl ich von allein wach geworden bin, habe ich das Gefühl die halbe Nacht nicht geschlafen zu haben. Zu dem bemerke ich deutliche Rückenschmerzen, die sich wellenartig meinen Rücken hinab arbeiten und weiß nicht woher sie kommen. Wahrscheinlich von dem unruhigen Schlaf der letzten Nacht. Ich habe mich hin und her gewälzt. Ständig hat sich Raphael in meine Gedanken geschlichen und lag schwer und schwelend auf mir, wie ein tonnenschwerer, aber fantastisch aussehender Stein. Das Gefühl den anderen Mann nahe zu sein, ihn berühren zu wollen, ist so stark, dass sich die Muskelfasern meines Körpers heftig zusammenziehen. Ob er an mich denken musste, als er sich letzte Nacht neben meine Schwester legte? Als sie sich schlafend an ihn schmiegte, hat er sich da vielleicht gewünscht, dass ich es wäre? Meine Gedanken kreisen um den Funken Hoffnung und versetzen mich gleichzeitig in eine Stimmung der Verzweiflung. Warum sollte er? Raphael hat keinen Grund so etwas zu denken. Oder?

Raphael. Raphael. Mantraartig wiederholt sich sein Name in meinem Kopf. Warum nur, Raphael? Die Stimme in meinem Kopf wird melodramatisch. Was passiert hier nur? Am Abend noch wähnte ich es in einem ersten Moment als Einbildung, doch ich schmeckte klar und deutlich seinem Aroma auf meinen Lippen. Süß und süchtigmachend. Wir haben uns geküsst. Lange und leidenschaftlich. Es war keine unbedachte Berührung, kein Versehen. Er hat es ebenso gewollt, wie ich. Die Erinnerung an berauschende Gefühl daran, lässt mich erregt keuchen. Ich spüre diese bestimme Regung in meinem Unterleib und eine weitere, die einen Schmerz durch meinen steifen Rücken schickt. Schwermütig drehe ich mich auf den Bauch und drücke mein Gesicht in das Kissen. Ich brülle hinein und bin der Überzeugung, dass man das Geräusch außerhalb meines Zimmers gehört haben muss. Ich stemme mich hoch und hocke mich auf allen Vieren aufs Bett um einen Katzenbuckeln zu machen. Es muss seltsam aussehen. Doch das ist mir reichlich egal. Jedenfalls so lange bis es an der Tür klopft und sie direkt geöffnet wird. Mein Vater schiebt seinen Kopf durch den Spalt und sieht verwundert auf meine Körperhaltung.

„Machst du Yoga?", fragt er belustigt.

„Trocken-Sex", kommentiere ich. Sein Blick ist herrlich.

„Ich habe dir gestern gesagt, dass die Jugend heutzutage anders ist", erläutere ich grinsend und sehe in das noch immer verdutzte Gesicht meines Erzeugers.

„Interessant."

„Ich habe einen steifen Rücken", erkläre ich nun doch, bevor er sich weitere unpassende Gedanken machen kann. Ich setze mich auf die Knie und mache meinen noch einmal Rücken rund. Es knackt. Mein Vater tritt vollständig in mein Zimmer, als ich mich wieder aufrichte und ihn erwartungsvoll ansehe.

„Es geht um den Geburtstag deiner Mutter", rückt er sofort mit dem Grund seiner Anwesenheit heraus, "Wir wollten eigentlich schon gestern Abend mit dir darüber sprechen, aber die Stimmung war nicht die Richtige." Ich gestehe mir ein, dass ich den Grund dafür kenne und nicht ganz unschuldig war. Ich schaue auf den Kalender, der über meinem Schreibtisch hängt und seufze erleichtert auf als ich sehe, dass der Geburtstag erst am Wochenende ist. Ich habe noch ein paar Tage Zeit um mein Geschenk zu vollenden oder kurz gesagt, zu beginnen.

„Wir haben uns jetzt doch dazu entschlossen größer zu feiern und womöglich werden wir Übernachtungsgäste habe. Wir brauchen also dein Zimmer."

„Ihr quartiert mich aus?", frage ich ungläubig und starre in das schuldbewusste Gesicht meines Vaters. Er nickt.

„Ja, sozusagen. Elli kommt mit der ganzen Familie. Thomas und Harry auch samt Anhang" Es klingt nach einem regelrechten Familientreffen. Ich stehe vom Bett auf und greife nach meiner Jeans. Ich bin wenig begeistert von dieser wahnwitzigen Idee. Feiern ja, aber was spricht gegen ein Hotel? Ich sehe, wie Maya und Raphael in den Flur treten und an meinem Zimmer vorbeikommen. Maya bleibt stehen und sieht durch die offene Tür zu uns.

„Es gibt zwei Möglichkeiten", setzt mein Vater seine Überlegungen fort. Ich bin gespannt und schon jetzt eher abgeneigt. „Entweder, wir besorgen dir noch ein Gästebett oder du kommst irgendwo anders unter." Ich habe das Gefühl, dass das eigentlich eine Frage gewesen sein könnte. Eine anweisende Frage vielleicht? Ich sehe meinen Erzeuger mit hochgezogener Augenbraue an.

„Diese Optionen treffen ebenso auf Thomas und seine Familie zu. Ich mag mein Bett und ich habe niemanden, bei dem ich unterkommen kann." Es stimmt nur im Ansatz, aber ich werde nicht leichtfertig meinen vertrauten Schlafplatz aufgeben.

„Mark, wir bitten dich. Ich weiß, dass es spät kommt, aber du musst für Thomas und Familie dein Zimmer zur Verfügung stellen. Hast du doch schon mal." Nun also ist die Wahlmöglichkeit verpufft. Ich muss. Maya beginnt im Hintergrund zu kichern. Nun sehe ich auch Raphael, der zurückgekommen ist. Mein Vater wünscht den beiden einen 'Guten Morgen'. Er überlegt und starrt Raphael dabei ungewöhnlich lange an. Das ist nicht gut.

„Raphael, kann Mark nicht bei dir unterkommen? Du hast doch eine Couch in deinem Wohnzimmer, oder?", fragt er freudig und an seinen begeisterten Tonfall kann ich erkennen, dass er es für die beste Idee des Jahrhunderts hält. Die Freude im Gesicht meines Vaters ist unübersehbar und Raphael guckt genauso erschrocken, wie ich mich fühle. Mir läuft ein eiskalter Schauer den Rücken runter, während ich den Freund meiner Schwester aufmerksam beobachte. Die Vorstellung bei ihm zu übernachten, erregt und beängstigt mich zu gleich. Vor allem nach der gestrigen Nacht. Bevor Raphael antworten kann, komme ich ihm zuvor.

„Äh, nein. Nein und nein danke. Ich habe keine Lust allein mit den beiden in einer Wohnung zu sitzen." Mit dem Zeigefinge deute ich zwischen den beiden angesprochenen hin und her. Ich vermeide es Raphael noch länger anzusehen und höre das abfällige Schnaufen meiner Schwester.

„Papa, nein! Er wird garantiert nicht bei Raphael übernachten", zischt sie uns beschlossen entgegen und ich komme nicht umher empört dreinzuschauen. Ihre Reaktion ist heftig und obwohl ich es selbst nicht will, erschreckt mich ihre kategorische Ablehnung. Raphael greift ihr sachte an den Arm und stoppt damit eine weitere ablehnende Tirade. Maya wendet sich ihm mit funkelnden Augen zu.

„Nein, er kann nicht bei dir pennen", presst sie zickig hervor, sieht erst Raphael und dann meinen Vater an.

„Maya, ich bitte dich, was soll das?", schreitet nun auch unser Vater ein und schaut zu mir, so als müsste ich wissen, was bei ihr gerade schief läuft. „Du bist Samstagabend bei Nina und danach auf Klassenfahrt. Ihr werdet gar nicht gemeinsam in Raphaels Wohnung sein und du musst deinen Bruder also gar nicht sehen", erläuterte er. Maya ist nicht da? Ich wäre mit Raphael allein? Ich habe nicht mitbekommen, dass Maya nächste Woche auf Klassenfahrt ist. Ob das wohl das Thema war, welches Maya gestern mit unserer Mutter besprochen hat. Maya sieht Raphael eindringlich an, doch dieser zuckt nur mit den Schultern und versucht tunlichst nicht mit mir in Blickkontakt zu geraten. Aber ich sehe ihn an bis sich unsere Blicke treffen. Die Emotionen, die ich darin sehe, sind schwer zu lesen. Er hält sie unter Verschluss. Wir haben eindeutig Gesprächsbedarf, vor allem nach seinem gestrigen Rückzug und der verfahrenen Situation. Raphael wendet sich unruhig ab, in dem er vorschlägt erst einmal etwas zu essen, doch Maya verschränkt zeternd ihre Arme vor der Brust. Bevor es zu weiteren Diskussionen kommt, schreite ich ein.

„Erst einmal, sollte allein Raphael bestimmen, ob ihr seine Wohnung verplanen dürft oder nicht und zweitens, ich finde sicher eine andere Möglichkeit. Guten Tag", gebe ich altmodisch von mir, salutiere, schiebe meinen Vater aus meinem Zimmer heraus und schließe hinter ihm die Tür. Ich lehne mich von innen dagegen und seufze fahrig.

Noch immer dringen von draußen leise die Stimmen der anderen zu mir. Auch Raphaels.

„Dürfen wie dein Zimmer nun verplanen?", fragt mein Vater laut durch die geschlossene Tür hindurch. Ich seufze ein weiteres Mal. Eben hieß es noch, dass ich es muss. Ich kriege Kopfschmerzen.

„Ja", brülle ich.

„Danke", ruft mein Vater zurück. Gedämpft höre ich Schritte auf der Treppe und ziehe mir kopfschüttelnd den Rest meiner Klamotten an.
 

Als ich nach unten komme, frühstücken Maya und Raphael und meine Mutter trinkt den letzten Schluck ihres Kaffees, während sie sich die Schuhe anzieht. Sie sieht mich kommen und drückt mir einen Kuss auf die Wange.

„Danke, dass wir dein Zimmer besetzen dürfen." Sie lächelt freudig und ich weiß, wie gern sie große Familienfeiern ausrichtet. Außerdem habe ich kaum eine andere Wahl.

„Mach ich doch gern.", sage ich mit zusammengebissenen Zähnen. Meine Mutter entgeht der spottende Ton nicht, aber sie ignoriert ihn gekonnt. Sie drückt meinen einen dicken Schmatzer auf und lächelt. Ich reiche ihr demütig die Handtasche und sehe zu, wie sie zu meinem Vater ins Auto eilt. Ich werfe einen kurzer Blick auf die Uhr und einer zu den Beiden am Küchentisch. Mayas Blick ist tötend und sie zischt Raphael etwas entgegen, was ich nicht verstehe. Die Reaktion des anderen Mannes ist resigniert und er verdreht auffällig die schönen grünen Augen. Ich schnappe mir einen Apfel aus der Obstschale und verschwinde stillschweigend aus dem Haus.
 

Stillschweigend ist das prägende Adjektiv für den Rest der Woche. Abgesehen von meinen Eltern spricht niemand im Haus mit mir und ich habe bereits am Donnerstag mein komplettes Zimmer auf Vordermann gebracht. Alles Verdächtige ist verstaut und weggeschlossen. Thomas, der jüngere Bruder meines Vaters und mein Lieblingsonkel kommt samt Frau und zwei kleinen Kindern, die gern alles aus den Schränken reißen und mehr finden, als sie sollten. Beim letzten Mal fanden sie Kondome und hielten sie für Luftballons. Im Nachhinein war ich außerdem sehr froh über die undefinierbaren, schwarzen Cover meiner wenigen Erwachsenen-DVDs, die man sich leichtsinnig im jungen Alter anschafft und dann heimlich unter dem Bett aufbewahrt. Ich bin manchmal ein totales Klischee. Allerdings würde ich sie heute nicht mehr ansehen, da die Protagonisten mein Verlangen nicht mehr stillen.

Das Geschrei beim Entdecken war gigantisch, doch bei mir und meinem Onkel überwog die Belustigung. Jeder mag Ballontiere.

Raphael bleibt die Woche über dem Haus fern und nach dem Training macht er sich sofort rar. Die Begründung ist noch mehr Training und die Vorbereitung auf das Turnier.

Die Nachmittage verbringe ich mit der Anfertigung eines Familienportraits, welche ich meiner Mutter zum Geburtstag schenken werde.

Am Freitag habe ich noch immer keine Lösung für mein Übernachtungsproblem. Ich denke an Shari, aber da konnte ich mich auch gleich mit Curry abpudern und in Marinade einlegen. Während ich in der Mensa warte, kommt mir der Traum über meine Notschlachtung in den Sinn und ich lege meinen Kopf auf die Tischplatte ab. Vielleicht Marika? Oder... Die Stelle, an die ich einen Namen setzen müsste, bleibt unbesetzt. Mir fällt niemand anderes ein. Es ist hoffnungslos.

Ich spüre Sharis Hand auf meiner Schulter und schaue seitlich zu ihr auf.

„Müde?", fragt sie lächelnd.

„Verzweifelt."

„Warum das?"

„Meine Mama feiert am Wochenende Geburtstag. Wir haben allerhand Verwandte da und ich muss für meinem Onkel und seiner Familie mein Zimmer räumen."

„Und?" Ist das ihr Ernst?

„Ich weiß nicht, wo ich hin soll! Meine Eltern gehen einfach davon aus, dass ich schon irgendwo jemanden haben, bei dem ich unterkommen kann."

„Ich hätte auch gedacht, dass du keine Probleme damit hast", sagt sie verwundert. Es ist ihr ernst. Ich stecke ihr in Ermangelung weiterer Argumente die Zunge raus.

„Ich bin ein bedauernswerter Kerl, der keine Freunde hat. Ach doch, dich, aber du bist so indisch, das ich wahrscheinlich nicht mal einen Zeh in dein Zimmer setzen könnte ohne sofort zu einem saftigen Hühnchenspieß verarbeitet zu werden. Ich glaube, dein Vater arbeitet schon ein Rezeptbuch. 'Hundertundeine Zubereitung für den nervigen Freund meiner braven, indischen Tochter'. Und also Fortsetzung ‚Tausendundein Desserttraum für Anfänger' für den guten Abgang", gebe ich bemitleidenswert von mir und wieder streicht mir Shari sachte, aber energisch kichernd über den Rücken.

„Oh, du armer Wicht", presst sie hervor und wischt sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. Ich bin beleidigt.

„Aber ich bin wirklich keine Option. Entweder du outest dich vor ihnen als schwul oder mein Vater verarbeitet dich wirklich zu Bhatura", setzt sei fort und ich zögere einen Moment lange, ehe ich etwas erwidere.

„Bhatura. Dann wäre ich lecker und lustig aufgebläht." Bhatura ist ein frittiertes Ballonbrot und die perfekte Grundlage für einen trinkfreudigen Abend.

„Möglicherweise ist kurz frittiert besser, als aufgespießt und langsam gegrillt." Das mit dem schwul verdränge ich, obwohl ich noch nie darüber nachgedacht habe, dass diese Tatsache das Verhältnis zu ihren Eltern vereinfachen könnte. Shari kichert leicht und setzt sich mir gegenüber. Ihre warmen Hände liegen auf meinem Arm und ich sehe zu ihr auf. Sanfte, sonnige Augen sehen mit entgegen. Ihr Kopf ist leicht geneigt und ein paar Strähnen ihres langen Haares fallen über ihre Schultern. Sie lächelt wissend, doch ich bin mir nicht sicher, was genau sie wissen könnte.

„Apropos lecker. Ich habe Hunger", sagt sie geschwind und verhindert, dass ich weiter darüber nachdenken kann. Ich nicke. Gemeinsam besorgen wir uns etwas zu Essen und kommen zu unserem Tisch zurück. Die Kantine ist mittlerweile leer.
 

„Was ist mit Marikas WG? Sie nehmen doch jeden Hilfsbedürftigen auf", schlägt sie vor, als wir wieder sitzen.

„Das klingt ja, als wäre ich obdachlos", murre ich beleidigt und seufze leicht. Marika kommt nicht in Frage, da ich noch immer nicht weiß, was sie sich alles über mich und Jake zusammengereimt hat. Ich denke an Jake und spüre ein seltsam beklemmendes Gefühl in der Brust. Wenn er in der Stadt wäre, wüsste ich, wo ich hingehen könnte. Vielleicht würde ich bei ihm zu Ruhe kommen. Vielleicht. Ich seufze auf, als mir immer klarer wird, dass auch Jake nichts an dem Dilemma mit Raphael ändern wird. Im Gegenteil. Vielleicht fällt mir niemand ein, weil ich mit Raphael allein sein will. Raphael hat es im Grunde nicht abgelehnt, dass ich bei ihm schlafe. Er wollte Maya sogar beruhigen. Vielleicht wäre das die Gelegenheit in Ruhe zu reden.

„So meinte ich es nicht. Was ist mit..." Sie überlegt eine Weile, tippt dabei mit ihrem schlanken Finger über ihr Kinn und ihre Lippen. Dann blickt sie mich an.

„Du hast Recht. Du bist echt arm dran, was Freunde angeht."

„Nähnähnäh. Du bist keine Hilfe." Ich rümpfe meine Nase und stecke ihr dann noch einmal die Zunge raus. Bisher hatte ich keine Probleme damit so wenige Menschen in meiner unmittelbaren Umgebung zu haben. Es vereinfacht vieles.

„Kommst du nachher mit zum Sportplatz?", fragt Shari mich und schiebt sich eine Gabel voll Mittag in den Mund.

„Das ist heute?", frage ich.

„Äh, ja!", sagt sie und deutet auf eines der vielen Plakate, die überall in der Schule aushängen. Ich habe es gekonnt verdrängt, damit ich nicht so viel an Raphael denken muss. Ich frage mich, ob meine Aufräumarbeit auch dafür gilt, denn dann würde ich das komplette Turnier abwarten müssen. Ich rühre appetitlos und geistesabwesend in meinem Mittagessen rum. Als ich aufsehe, schaue ich in Sharis fragendes Gesicht.

„Was?"

„Das Turnier?"

„Ach so, ja. Ich weiß nicht, ob ich nicht sowieso danach mit Aufräumen muss. Ich muss noch mal mit Herr Müller quatschen. Vermutlich bin ich da." Mein Problem mit der Übernachtung ist noch immer nicht gelöst. Ich könnte zu Raphael gehen. Ich will zu ihm gehen, aber würde er das überhaupt wollen? Zu der Schnapsidee meines Vaters hat er bisher noch keinen Kommentar abgegeben, jedenfalls mir gegenüber nicht. Wie auch. Er schweigt mich an und geht mir aus dem Weg. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass er mich in seiner Wohnung haben will. Nicht nach den verwirrenden Kussereignissen der letzten Woche. Allerdings bin ich noch nie in seiner Wohnung gewesen und es würde mich sehr interessieren, was man dort so alles entdecken könnte.

„Mark?"
 

„Hm?"

„Gut, dann sehen wir uns dort. Die Mädels und ich haben uns zum Anfeuern verabredet." Sie leert ihr Teller und schaut auf die Uhr. Die Pause ist gleich vorbei.

„Okay, dann findet ihr mich am anderen Ende der Tribüne. Mindestens fünfzig Meter von euch entfernt." Shari lacht und fährt mir beim Vorbeigehen durch die Haare. Ich sehe ihr nach.
 

Vor dem Turnier fahre ich noch in die Stadt, lasse das Portrait meiner Familie drucken und rahmen. Ich kaufe meiner Mutter noch ein paar schöne Pflegeprodukte. Während das Bild druckt, schreibe ich meinem Vater eine Nachricht, dass ich, wegen des Turniers später nach Hause komme und genehmige mir noch einen Döner als Abendbrot. Als ich beim Sportplatz ankomme, sind schon etliche Leute auf ihren Plätzen. Ich sehe mich nach Shari um, doch noch sehe ich nirgendwo einen kreischenden Mädchenpulk. Dafür sehe ich Raphael, der in der Mitte des Spielfeldes steht und das Aufwärmen organisiert. Sein Blick und seine Haltung sind angespannt. Mit wachsamen Augen beobachtet er jede noch so kleine Bewegung seiner Schüler. Seine Arme sind vor der Brust verschränkt und ich sehe, wie sich die Muskeln unter dem leichten Stoff seines Shirts bewegen. Er spannt sie an, lässt sie wieder locker. Das Selbe mit seinen Oberschenkeln. Mein Atem beschleunigt sich, als ich mir das Gefühl seines Körpers ins Gedächtnis rufe. Die Hitze seines festen Fleisches. Ich lehne mich an die Abgrenzung und kann meinen Blick nicht von dem anderen Mann abwenden. Raphael setzt sich in Bewegung, folgt seinen Schülern anspornend am Rand des Rasens um bei ihnen die letzten Reserven hervor zu kitzeln. Volle Leistung. Absolute Power. Drei weitere Male laufen sie die Entfernung auf und ab. Danach stoppen sie. Schnaufend und Keuchend. Danny lässt sich zu Boden fallen und spricht dabei mir Raphael. Seine Hände streichen über seinen Oberschenkel und er wirkt eigenartig zerknirscht. Raphael kniet sich zu ihm, nickt und greift nach seinem Bein. Er zieht es nach oben, zwingt Danny damit in eine liegende Position und beginnt ihm die Muskeln zu strecken. Es ist ein seltsames Bild und meine Gedanken sind nicht mehr beim Sport. Die gleichmäßige und rhythmische Bewegung, die er macht, wenn er das Bein nach vorn lehnt.. Raphaels Armmuskeln spannen sich an und der Stoff seines Shirts strafft sich. Mein Blick wandert über den perfekten, athletischen Körper, den ich schon so lange begehre. Ich habe das Gefühl, dass mein Bedürfnis ihn zu berühren seit den Vorkommnissen noch intensiver geworden ist, weil ich weiß, dass es so gut ist, wie ich es ersehne. Die Reaktionen meines Körpers sind noch heftiger. Ich starre ihn an und sehe plötzlich in die tiefen grünen Augen. Er schaut mich direkt an und hört nicht mit der Streckung auf. Was er wohl gerade denkt? Ich kann ihn nicht lesen. Ich denke an seinen plötzlichen Abgang und an den Ausdruck seiner Augen. Scham, Reue und Unsicherheit. Er war überfordert. Er war selbst vollkommen überrumpelt.

Ich spüre meinen Puls, der nach oben schnellt und mit einem Mal werde ich von verschiedenen Gefühlen überrollt. Aufregung, Erregung und Angst. Was, wenn er nie wieder ein Wort mit mir spricht? Haben wir eine Grenze überschritten? Ein weiteres Gefühl folgt. Panik.

Vielleicht ist es besser so.

Ernüchterung.

Er hat meine Küsse erwidert und auch meine Berührungen zugelassen. Vielleicht weiß er selbst nicht, was es ist, was er fühlt? Ich kenne das verwirrende Gefühl, plötzlich Empfindungen für einen anderen Mann zu haben, nur allzu gut. Es kann verstörend sein. Ob er Gefühle für mich hat? Hoffnung.

Es ist, aber nicht logisch. Er ist nicht schwul.

Trauer.

Meine Gefühle überschlagen sich und der Knoten in meiner Magengegend wird gigantisch.

Raphaels Blick ist ungebrochen. Wie viel von all diesen Gefühlen hat er gerade bei mir sehen können?

Erst als mich Sharis schmaler Arm an der Hüfte packt, bricht unser Augenkontakt ab.

„Hier bist du!" Ich sehe noch, wie er Dannys anderes Bein hochzieht und wende mich meiner Freundin zu.

„Olá, Señorita." Etwas Sinnvolleres fällt mir gerade nicht ein. Ihre strahlenden Augen werden weich, dann forschend, danach schielt sie zu Raphael auf das Spielfeld. Er sieht zu uns und sie winkt ihm fröhlich zu. Ich ziehe sie weg.

„Alles okay bei dir?", fragt sie, als wir zur Tribüne gehen.

„Ja, was soll sein?"

„Sag du es mir. Du hast gerade, wie ein getretenes Hundebaby ausgesehen."

„Wie sieht denn ein getretenes Hundebaby aus?", frage ich ungläubig und sie zeigt auf mich.

„Okay, jetzt siehst du wie ein tollwütiges Hundebaby aus."

Ich schnaube und ziehe sie zu ihren Freundinnen auf die Tribüne. Vier Augenpaare blicken uns entgegen. Lisa, Antonietta, Jessi und Marnie. Sie gehen in Sharis Klasse und ich habe wenig mit ihnen zu tun, was mich umso mehr erstaunen lässt, dass ich ihre Namen noch weiß.

„Hey Mark!", sagt Marnie aufgeregt und die anderen Drei winken.

„Hey", erwidere ich gelassen. Ich nehme neben Shari Platz. Mittlerweile sind auch die Teilnehmer der anderen Schulen angekommen und der Sportplatz ist über und über mit sich aufwärmenden Sportlern belegt. Ich lehne mich zurück, lasse meinen Blick über die Menschenmassen wandern. Mittendrin entdecke ich Raphael. Ein Seufzen und dann spüre ich Sharis Hand auf meinen Arm. Sie sieht mich nur an und fragt nicht nach. Zum Glück für mich. Ich hätte keine sinnvolle Erklärung für meine übertriebene Schwermut.

Das Turnier verläuft für unsere Schule sehr erfolgreich. Neben dem 100-Meter-Sprint, der 4x400-Meter Staffellauf und dem Weitsprung räumen Raphaels Jungs auch bei der Spaßstaffel ab. Eine kleine Tradition der umliegenden Schulen, bei der der 4x100-Meter Staffellauf mit jeweilig unterschiedlichen Gangarten absolviert werden muss. Ich mag den Doggystil. Ein großer Erfolg. Jubel und Gekreische. Die Mädels setzen ihren Plan, die Jungs anzufeuern, zur vollsten Zufriedenheit um. Garantiert sind einige von ihnen morgen heiser. Eine Stunde nach der Beendigung haben einige Übriggebliebenen alles weggeschafft und den Sportplatz wieder hergerichtet. Auch Shari und Marnie sind noch anwesend, die anderen drei sind gegangen. Nur noch die Staffelhölzer liegen neben der Tartanbahn im Gras.

„Klasse. Das ist das erste Mal seit 3 Jahren, dass wir die drei Disziplinen gewonnen haben", gibt Marnie begeistert von sich und lässt sich geschafft auf die untere Bank der Tribüne nieder. Ich reiche beiden einen Becher Wasser und setze mich zu ihr.

„Raphael hat sie dieses Jahr gut vorbereitet. Gut, wenn es nach Danny geht, hat er sie gequält." Ich denke an das Gespräch zurück und kann mir ein verhaltenes Grinsen nicht verkneifen.

„Ja, er macht das wirklich gut. Steffen ist meistens begeistert. Er ist wohl streng und fordernd, aber seine Anweisungen sind prima und gut umsetzbar." Marnies Bruder ist ebenfalls im Trainingsteam. Streng und fordernd. Das passte zu Raphael. Ich bekomme Gänsehaut.

„Das kannst du ihm ja ausrichten. Das hört er sicher gern", wirft Shari ein, lächelt und ich nicke abwesend.

„Okay, Marnie nimmt mich mit dem Auto mit." Ich blicke auf, sehe wie Marnie aus ihre Tasche einen Autoschlüssel mit kitschigem Plüschanhänger holt und sehe zu Shari. Sie beugt sich zur mir runter und drückt mir einen Kuss auf die Wange.

„Adiós", murmele ich den beiden zu und lächele.

„Du meldest dich, wenn du reden möchtest, ja?", flüstert sie mir zu und ich nicke.

„Bye, Mark" Marnie lächelt verlegen und hebt ihr Hand zum Gruß. Danach verschwinden sie lachend zum Parkplatz. Ich bleibe noch einen Moment sitzen.
 

Ich greife mir die Staffelhölzer, verräume sie sorgsam in der Sporthalle und verschwinde zum Bus. Als ich am Parkplatz vorbeikomme, kann ich Maya an Raphaels Auto stehen sehen. Ich habe sie nicht an der Tribüne gesehen. Sie hat sich das Turnier nicht angesehen. Ein kurzer Blick, doch dann ignoriert sie mich. Kein Gruß Keine Bewegung. Nur ein sonderbarer Blick. Eine Mischung aus Verachtung und Wut. Nichts, was ich nicht schon von ihr kenne. Doch diesmal ist es etwas anders. Ich höre die Tür der Umkleidekabine und biege um die Ecke. Sie weiß es. Mir wird eiskalt als darüber nachdenken, dass es sehr wahrscheinlich ist.
 

Meine Mutter steht in der Küche und verstaut die Einkäufe, als ich durch die Haustür trete. Ich hänge meine Jacke auf und stelle meine Schuhe ordentlich zur Seite. Diesmal sogar in die gleiche Richtung, wie die anderen. Raphael und Maya sind noch nicht hier.

„Mark, Schatz, hilfst du mir eben?", ruft mir meine Mutter aus der Küche zu. Ich lasse meinen Rucksack stehen und gehe zu ihr. Es sieht aus wie auf einem Schlachtfeld. Überall stehen Tüten und Kisten mit Essen.

„Kannst du, bitte diese Kiste dort drüber in den Keller bringen und die Flaschen im Flur auch."

„Aye Aye Ma'am." Ich greife mir die benannten Sachen und stiefele in den Keller. Mehrere Mal, weil meine Mutter stets noch weitere Sachen einfallen, die sie nicht oben haben will. Als ich damit fertig bin, bin ich fix und alle. Schnappe mir ein Glas Wasser und stehe schnaufend am Küchentresen. Noch immer stehen massig Tüten auf den Ablagen und ich sehe bereits, dass es Morgen in einer Küchenschlacht enden wird. Schnippeln, Drapieren und Anrichten. Meine Mutter liebt es und spannt einfach alle dafür ein.

„Wie verlief das Turnier?"

„Alles gewonnen, wofür sie angetreten sind."

„Sehr gut. Hast du noch mal mit Raphael gesprochen, wegen der Übernachtung?" Ich zucke leicht zusammen, als sie mich danach fragt.

„Nein, schließlich hat er es mir auch nicht angeboten, sondern Papa hatte die kuriose Idee. Außerdem habe ich ihn nicht weitergesehen."

„Okay, aber wir haben ihn noch mal gefragt und er hat zu gestimmt. Natürlich nur, wenn du damit einverstanden bist." Natürlich. Als hätte er etwas anderes, als ja sagen können. Ich zucke mit den Schultern.

„Ich möchte nicht, dass du zu jemanden gehst, den wir nicht kennen. Dem stimmte auch Raphael zu", sagt sie mütterlich. Hat er das?

„Ich würde mich auch im Keller verkriechen. Der Heizungskeller soll kuschelig warm sein", gebe ich in bekannte Manier flapsig von mir. Dabei flattert mein Herz so heftig, dass ich es kaum zu überdecken vermag. Ich schlafe bei Raphael.

„Ach Mark." Sie wirft mir ein Küchentuch entgegen. Ich fange es, lege es zur Seite und durchkrame neugierig ein paar der Tüten. Es wird lecker. Ich klaue mir ein paar Weintrauben und habe ansonsten keine Lust ihr weiter zu helfen. Morgen wird sicher aufregend und anstrengend genug für die nächsten Monate.

„Ich bringe dein Geburtstagsgeschenk hoch." Sie schaut mich neugierig an und ich grinse breit. Als ich die Treppe hochgehe, sehe ich Maya und Raphael hineinkommen. Maya verschwindet gleich in der Küche. Ich höre sie laut mit unserer Mutter quatschen. Raphael steht im Flur. Er blickt zu mir hoch und für einen kurzen Moment, scheint er etwas sagen zu wollen. Sein Blick, so intensiv und eindringend. Wenn er so schaut, fühle ich mich fast nackt. Jede Faser meines Körpers verzerrt sich nach ihm und nach den unerwarteten Berührungen, mehr als je zuvor.

Mit jeder Faser meines Körpers

Kapitel 19 Mit jeder Faser meines Körpers
 

Bereits am Samstagvormittag trudeln die ersten Gäste ein und das Haus ist schnell voll. Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen. Nichten und Neffen. Ich helfe meiner Mutter und ihrer Schwester in der Küche und entgehe so den größten Teil der systematischen Erstbefragung sowie dem Kindergebrüll. Am Abend sind fast 20 Leute und 7 Kinder im Haus. Es wird gelacht, geredet und unglaublich viel getrunken. Es herrscht eine angenehme Stimmung, doch ich werde nicht richtig locker. Ich mache es mir zu Aufgabe möglichst wenig an einem Ort zu sein und dafür zur Sorgen, dass alle mit Getränken abgelenkt sind. Onkel Thomas entdeckt mich im Keller. Unschlüssig stehe ich vor den Getränkebergen. Ich sehe zu den harten Spirituosen und weiß nicht, was ich noch alles mit nach oben nehmen soll.

„Da ist ja mein Lieblingsneffe", ruft er und nimmt mich in den Arm. „Ich hoffe, du hast die Kondome diesmal besser versteckt. Anne ist noch immer traumatisiert."

„Keine Sorge, diesmal kommt es zu keinen Tretminen. Es sei denn, ihr sucht explizit nach Spaß, dann rate ich dir unter meinem Bett nach zuschauen und zeige dir gern, wie man die Webcam anstellt." Ich reiche ihm ein Bier und höre das kehlige Lachen, welches mir solche Sprüche nicht übelnimmt. Sie haben bereits zwei Kinder, planen keine weiteren und sie sind keineswegs sehr experimentierfreudig. Noch einmal drückt er mich lachend an sich.

„Frech, wie eh und je. So kenne ich dich. Kann ich dir helfen oder bin ich in dein Versteck geplatzt?" Er legt mir einen Arm um die Schulter und drückt auch mir ein Bier in die Hand.

„Verdammt, erwischt und dabei dachte ich, dass mich im Vorratsraum niemand findet. Nein, ich hole nur Nachschub, aber ihr trinkt alle so schnell, dass ich nicht weiß, was ich zuerst hochbringen soll", sage ich wahrheitsgemäß und Tom klopft mir auf die Schulter.

„Nun gut, dann helfe ich dir. Am besten, wir nehmen den kompletten Kasten mit und legen dort noch ein paar einzelne Weinflaschen drauf." Gesagt, getan. Nach ein paar Minuten stehen wir im Flur und trinken den ersten Schluck unseres Bieres.

„So, nun sag schon, was macht dein kompliziertes, junges Leben?" Ich wusste bereits im Keller, dass mir diese Fragerunde nicht erspart bleiben wird.

„Es verursacht mir Kopf- und Rückenschmerzen.", antworte ich.
 

„Oh, und du bist erst 19 Jahre alt. Warte ab, bis du auf die 40 Jahre zugehst." Er lacht und fasst sich theatralisch an den Rücken.

„Bist du hergekommen um mir Angst zu machen?", schauspielere ich entsetzt und grinse.

„Nein, im Ernst. Deine Schwester hat jetzt ihren ersten Freund und wie sieht es bei dir aus?"

„Ich habe keinen Freund, wenn du das wissen willst", kommentiere ich trocken. Tom lacht und nimmt die Anspielung, natürlich nicht Ernst. Ich suche unbewusst nach Raphael und entdecke ihn im hinteren Bereich des Wohnzimmers. Die augenblickliche Frustration lässt mich einen großen Schluck aus der Bierflasche nehmen.

„Du bist dieses Jahr mit der Schule fertig. Wie sehen deine Pläne?"

„Noch immer Universität, denke ich. Vielleicht mache etwas in Richtung Grafikdesign oder Mediendesign."

„Oh, dass kannst du, aber nicht hier an der Uni studieren", gibt er überrascht von sich und ich nicke. Die Uni unserer Stadt ist seine Alma Mata. Er und mein Vater haben beide hier studiert. Auch Raphael hat hier sein Studium begonnen.

„Ich weiß", murmele ich und nehme einen weiteren Schluck aus der Flasche.

„Was ist aus Produktdesign geworden?", hakt er nach. Diesen Studiengang gibt es an unserer Uni und es ist auch der, von dem ich ihm beim letzten Mal erzählt habe. Ich druckse herum und kann ihm keine richtige Antwort geben. Raphael ist an der Uni und ich würde das nicht überleben. Ich schaffe es schon jetzt kaum. Aussprechen, kann ich es natürlich nicht. Maya läuft an uns vorbei und Thomas hält sie auf. Er legt einen Arm um ihre schmalen Schultern und ihr ist es sichtlich unangenehm. Ich weiß nicht, ob es wegen ihm oder wegen mir ist.

„Maya, liebes Nichtchen, wie sehen deine Zukunftspläne aus? Mark hat gerade davon gesprochen, dass er komplett aus der Stadt verschwinden will und das macht mich schon etwas traurig." Mein Onkel lächelt, doch Maya sieht mich komisch an.

„Ja, besser ist es auch, denn er nervt mich ganz schön", gibt sie von sich. Ich setze augenrollend die Flasche an und trinke, sehe sie dabei an und trinke weiter. Schluck für Schluck. Sie macht mir das Augenrollen nach.

„Das müssen große Brüder, Maya! Genauso, wie kleine Schwester zicken dürfen." Thomas scherzt, denn er weiß nicht, wie heftig wir beide uns zurzeit bekriegen. Maya ist sofort verstimmt. Doch sie sagt nichts zu seinem Ausspruch, sondern verschränkt nur die Arme vor der Brust.

„Ich werde auf jeden Fall hier zur Uni gehen. Hier, wo auch mein Freund ist."

„Ja, das kann ich nachvollziehen. Guter Plan", sagt mein Onkel und wackelt abwiegend mit dem Kopf umher. Maya löst sich aus Thomas' Umarmung und schiebt sich an mir vorbei. Ich gehe ihr extra nicht aus dem Weg. Hart stößt sie gegen meine Schulter. Sicher tut es ihr mehr weh als mir. Onkel Thomas klopft mir gegen den Rücken und ich weiß, dass er genauso ein Problem mit ihrer zickigen Art hat, wie ich.

Mein erstes Bier leere ich mit Thomas.
 

Das Zweite beginne ich mit dem Vater von Rika, der mich lieb von meiner einstigen Kindheitsfreundin grüßt und dann von ihr erzählt. Ihr Studium läuft gut. Sie ist glücklich. Doch sie ist zu selten zu Hause. Vermutlich ist der letzte Teil eher von ihm. Ich trinke aus als er von seiner Frau weggeschleppt wird.

Es sind Thomas und Harry, der andere Bruder meines Vaters, die mir das dritte Bier in die Hand drücken und mich dann zusammen mit den Kids durch das Haus jagen. Mit dem Alkohol ist meine Stimmung besser und gelöster. Ich klemme mir Andi, den jüngsten Sohn Thomas' unter den Arm und wir terrorisieren unsere Mutter in der Küche. Sie versuchen die Desserts zu dekorieren und den Rest des Essens herzurichten. Meine Mutter scheucht uns mehrfach erfolglos aus der Küche. Ich genieße Andis kindliches Gelächter, die vielen Späße und den Schabernack. Irgendwann ist in jeder Sahnehaube ein Fingerpiekser von Andi zu sehen und in einigen Gläsern fehlt das Schokoladendekor. Die Beute teilen wir brav mit seiner Schwester. Die mahnenden Worte der Mamas ignorieren wir. Die Kinder haben ihre Freude und ich komme meinem Spaßvogelimage nach. Einige aufgeschürfte Knie, blaue Flecke und viele für mich ungünstige Fotografie später, gibt es endlich Abendbrot.

Meine Mutter hat es geschafft eine gigantische Tafel aufzubauen, die quer durch das Esszimmer reicht. Ich kriege das vierte und fünfte Bier vor die Nase gestellt und bin heilfroh, als sich mein Magen endlich mit etwas anderem als Alkohol füllt. Nur hilft es mir nicht mehr. Ich atme tief ein, spüre den näher kommenden Schwindel und das luftige Gefühl, welches sich in meinem Kopf ausbreitet. Mein Blick wandert fahrig über die vielen Verwandten und bekannten Gesichter. Doch ich bleibe bei ihm hängen. Immer bei ihm. Raphael sitzt an der gegenüberliegenden Seite und etwa vier Stühle links von mir. Er ist in ein Gespräch mit meiner Tante vertieft. Seine schönen, wohlgefühlversprechenden Lippen bewegen sich. Ich verstehe nicht, was er sagt und dennoch fixiere ich seinen Mund. Ein Lächeln. Wunderbar. Das kleine Kräuseln auf seiner Nase entsteht dabei und an seinen Augenwinkeln bilden sich für einen kurzen Moment Lachfalten. Mir wird heiß. Ich versuche mich zum Wegsehen zu zwingen, doch es fällt mir schwer. Erst als Raphaels Augen zu mir wandern, sehe ich zurück auf meinen Teller. Er sieht mich direkt an. Ich spüre, wie sein Blick tief in mich eindringt. Es ist ein direkter Blick. Mein Herz schlägt schnell.
 

Mitternacht stoßen wir mit Sekt und Wein an. Nach der Geschenkeübergabe, etlichen Umarmungen und Glückwünschen lasse ich mich komplett benebelt auf der ersten Zwischenplattform der Treppe nieder. Aus der Küche habe ich mir etwas Brot stibitz und schiebe mir nach und nach ein paar abgerissene Stücke des weichen Inneren in den Mund um wieder nüchtern zu werden. Ich sitze im Dunkeln und mein Kopf fällt nach hinten gegen die Wand. Mein Gehirn ist vollkommen lahmgelegt. Jedenfalls die Funktionen, auf die ich hätte Einfluss nehmen können. Also schwelgen meine Gedanken ungehindert.

Für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl Raphaels Parfüm zu riechen. Ich bilde es mir sicher nur ein. Hin und wieder habe ich seinen Blick auf mir gespürt. Doch er ist mir aus dem Weg gegangen. Den ganzen Abend lang. Ich höre Schritte und leise Stimmen. Kurz schiele ich durch das Treppengeländer und sehe ihn dort mit Maya. Sie fährt jetzt zu Nina und ist dann eine komplette Woche fort. Eine Woche von Raphael getrennt. Ihre normalen Verabschiedungszeremonien sind auch so schon eine Qual für mich. Ich will wegesehen, doch mein Gehirn reagiert nicht. Geflüsterte Worte. Blicke. Es folgt eine Umarmung und ich schließe nun endlich die Augen. Auch den Atem halte ich an. Ich höre, wie sich die Tür schließt. Keine dieser langen, endlosen Verabschiedung der Beiden. Sie war dieses Mal eher verhalten. Stille, dann fällt mir Raphael fast über die Füße, als er die Treppe nach oben kommt.

„Scheiße, Mark, was machst du hier?", entfährt es ihm erschrocken und er fasst sich kurz an den Bauch.

„Ich esse!", kommentiere ich fahrig. Ich halte ihm wackelnd mein Brot vor die Nase und öffne erst jetzt die Augen, die ich zusammengekniffen habe um die beiden nicht zu sehen. Mein T-Shirt ist voller Krümel und ich brauche einen Augenblick um Raphael richtig zu fixieren.

„Außerdem habe ich es nicht höher geschafft", lalle ich undeutlich und schließe noch einmal kurz die Augen um den plötzlichen Schwindel zu vertreiben. Es wird nicht wirklich besser.

„Du bist betrunken." Raphael ist ein Schnellmerker.

„Quatsch, ich bin einfach nur gut drauf", pariere ich erstaunlich schnell. Jedenfalls in meinem Kopf. Er hockt sich zu mir. Ich rieche das dezente Aftershave, welches sich mit dem süßen Parfüm von Maya mischt. Mein Blick wandert über sein Gesicht, über seinen Hals zu seiner Brust. Er trägt die Kette mit dem gravierten Anhänger um dem Hals. Die silbernen Glieder bewegen sich durch die pochende Vene, die sich deutlich durch seine Haut abzeichnet. Sein Puls ist nach oben geschnellt. Wahrscheinlich durch den Schreck. Ich sehe ihn an und denke sofort an seine wohlschmeckenden Lippen. Es hat sich gut so angefühlt. Unwillkürlich hebe ich meine Hand und lasse sie, bevor sie seine Brust berührt, sinken. Das Verlangen sein schlagendes Herz zu spüren, brennt heiß in mir. Wie gut, dass es dunkel ist.

„Du bist nicht ansatzweise so lustig, wie du immer glaubst", murmelt er mir entgegen.

„Das sehen meine Neffen und Nichten anders", gebe ich zu bedenken und lächele betrunken vor mich hin.

„Sie sind Kinder. Sie lachen über alles, vor allem wenn man sich zum Volllappen macht." Er hat sicherlich den ganzen Abend mitbekommen, dass ich ein guter Volllappen bin. Ein Grinsen umspielt seine Lippen. Ich möchte sie küssen und schmecken. Einfach nur berühren und das samtige Gefühl genießen.

„Soll ich dir ins Bad helfen?" In diesem Moment hasse ich seine Freundlichkeit. Ich rümpfe meine Nase.

„Nein, mir geht es gut." Ich halte ihm erneut mein Allheilmittel vor die Nase und er kann sich ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen. Es ist so schön, wenn er lächelt. Oh, ich hasse es wirklich. Meine Mutter kommt aus der Küche und bleibt im Türrahmen stehen. Sie sieht uns an, kommt auf uns zu und sofort füllen sich ihre Augen mit Sorge.

„Alles in Ordnung, bei euch?" Sie stoppt, als sich Raphael aufrichtet. Ich komme ihm zu vor.

„Alles gut, Mama. Ich hab zu viel gegessen." Und getrunken, hänge ich in Gedanken noch ran und bin erstaunt, wie überzeugend meine Stimme klingt. Raphael ist es auch, denn er blickt zu mir runter. Ich lege meinen Zeigefinger auf meine Lippen und ich weise ihn an, zu meinem Zustand zu schweigen.

„Ja, alles gut. Wir fahren, aber gleich zu mir."

„Ist Maya schon los?", fragt sie Raphael und dieser nickt.

„Ja, sie wurde gerade von Tinas Mutter abgeholt", antwortet er und sieht kurz zu mir. Ich zucke gelangweilt mit den Schultern, schiebe mir ein Stück Brot in den Mund und kaue. Aller Versicherung zum Trotz sieht meine Mama weiterhin skeptisch aus.

„Na gut, sagt Bescheid bevor ihr fahrt und seid vorsichtig."

„Natürlich", versichert Raphael und ich bin mit meinen Gedanken bereits woanders.

„Zu dir, ja?", sage ich spielerisch provozierend, als meine Mutter wieder zu ihren Gästen gegangen ist.

„Noch kannst du im Keller schlafen", knurrt er mir leise entgegen und ich hebe eine Braue.

„Oh, hast du Angst davor, dass ich heute Nacht so mit dir reden will, wie du es letztens getan hast?" Die Erinnerung an den Geschmack seiner Lippen auf meinen durchfährt mich unweigerlich. Ich bekomme Gänsehaut, die sich über meinen gesamten Körper zieht und erst in meinen Zehenspitzen verebbt. Ein leichter Schimmer funkelt in seinem Blick. Seine Erinnerungen sind ebenso geweckt. Trotz des eisernen Schweigens.

„Ach warte, wir schweigen ja beide. Anschweigen und Aussitzen ist deine Devise, oder?", provoziere ich ihn weiter. In meinem berauschten Zustand befällt mich die Wut über das ewige Hin und Her. Raphael packt mich am Kragen und zieht mich auf die Knie. Es ist nicht grob, aber es erschreckt mich.

„Halt einfach mal deinen Mund, kriegst du das hin?"

„Stopfe ihn mir doch!", stachele ich ihn auf als mein Blick direkt auf seine Körpermitte fällt. Ich habe gerade die perfekte Position. Als sehe ich auf und erkenne Wut und Scham in seinen Augen. Er lässt mich abrupt los und schwingt sich die Treppe nach oben. Ich sacke in mich zusammen, falle auf meinen Hintern zurück und ärgere mich über mein verdammtes Mundwerk. Dennoch genieße ich das aufgeregt Kitzeln in meinen Fingern, welches meine Glieder durchwandert und mich prickelnd erregt. Es dauert nicht lange und Raphael kommt mit seiner Jacke und seinem Rucksack zurück.

„Nimmst du irgendwas mit?", fragt er mürrisch und geht direkt an mir vorbei. Ich zucke mit den Schultern.

„Komm jetzt oder ich überlege es mir anders", fährt er mich säuerlich an und ich deute auf den Rucksack, der bereits in der Garderobe steht und versuche mich aufzurichten. Doch meine Beine geben nach. Mir ist schwindelig. Ich spüre, wie mich Raphael erneut am Arm packt. Dieses Mal sanfter, weil er mich hält. Jeder Muskel in meinem Körper spannt sich an.

„Das hast du von deinem großen Mundwerk!", knurrt er sanfter, als beabsichtigt und ich sehe ihn an. Verärgerung und Wut mischt sich mit Sorge. Es ist ein seltsamer Anblick und erneut durchfährt mich ein intensives Kribbeln. Vor allem in der Lendengegend.

Nur eine kurze Verabschiedung in großer Runde und ich wanke zu Raphaels Auto. So viel zu meinem Plan mit ihm in Ruhe zu reden. Noch immer braucht mein Kopf Ewigkeiten um einen vollständigen Satz zu denken. Zu dem sendet mein betrunkenes Gehirn viele unterschiedliche Signale, die hin und wieder extrem unpassend sind. Ich spüre Unsicherheit Raphael gegenüber, aber zu gleich das absolute Verlangen nach ihm.

Nach dem Gespräch auf der Treppe ist mir mulmig. Raphael wartet bis ich angeschnallt bin und fährt los. Der Geruch seines Körpers erfüllt das Auto und mein alkoholisiertes Gehirn lässt jede Faser meines Körpers intensiv darauf reagieren. Raphael fährt die Scheibe auf meiner Seite runter, so dass kühler Fahrtwind auf meine Haut trifft. Es ist gut. Es ist angenehm. Ich spüre, wie es meine Haare durcheinander wirbelt, doch es ist mir egal. Die gesamte Fahrt über spüre ich meinen Puls, der rast und pocht. Verstohlen sehe ich zum Fahrer. Sein Profil im Licht des Mondes. Ich bekomme schon wieder Gänsehaut.
 

Raphael lebt in einer kleinen 1 1/2-Zimmer-Wohnung, die für die typischen Studentenzwecke eingerichtet ist. Schreibtisch, Bett und eine kleine Couch mit Fernseher im Hauptzimmer. Das halbe Zimmer besteht im Grunde nur aus seinem Bett. Ich stehe unschlüssig im Flur, sehe dabei zu, wie er ein paar Dinge hin und her räumt und mir dann meine Jacke abnimmt. Während der Fahrt hat sich mein Zustand wieder etwas gebessert. Mein Kopf ist klarer und ich bereue die Aussprüche, die ich vorhin auf der Treppe von mir gegeben habe. Es ist nicht nur für mich eine seltsame Situation. Ständig frage ich mich nach dem Warum. Ich denke an seine Reaktionen, als ich ihn damals betrunken in Mayas Bett gelegt habe, erinnere mich an den Moment, in dem er über unser erstes Zusammentreffen sprach und welche glücklichen Gefühle ich dabei empfunden habe. Ich bin ihm nicht egal, doch was sieht er in mir? Einen alten Schulfreund, einen Kumpel oder bin ich einfach nur der Bruder seiner Freundin. Wieso lässt er dann meine Berührungen zu? Er hat meine Nähe gesucht, mehr als einmal. Ich bilde es mir nicht ein, dessen bin ich mir sicher.

Ich sehe mich in seinem Wohnzimmer um, blicke auf die bereits ausgezogene Couch und schlucke. Sogar eine Decke und ein Kissen liegen bereit. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, dass er sich wirklich so sicher war, dass ich hier her kommen würde. Hat er es vielleicht gewollt? Vielleicht sogar gehofft? Meine Unternehmungen einen anderen Schlafplatz zu finden, waren dürftig, aber ich hatte mich umgehört.

Er spüre etwas kühles Feuchtes an meinen Arm und drehe mich erschrocken um. Raphael hält mir eine kalte Wasserflasche hin und ich nehme sie dankend entgegen.

„Das eben tut mir Leid", sage ich. Er sieht mich an. Ich sehe wieder das Zögern. „Können wir reden?"

„Worüber, dass du manchmal unausstehlich bist?", entgegnet er bissig.

„Nun klingst du wie Maya", wettere ich zurück. Aber es bedrückt mich. Raphael sieht auf die Flasche in seiner eigenen Hand. Ich sehe dabei zu, wie sich sein Brustkorb auffällig unruhig hebt und senkt. Er hadert.

„Bitte, lass uns darüber reden", bitte ich noch einmal leise und ruhig, doch er atmet nur tief ein.

„Ich... ich kann dazu nichts sagen", sagt er leise und verlässt den Raum. Wenig später höre ich das leise Rauschen der Dusche und lasse mich auf die gemachte Couch nieder. Will er das Geschehene wirklich totschweigen? Welche Lösung soll das sein? Es frustriert mich und ich verspüre das Bedürfnis laut zu schreien. Doch ich bleibe still.
 

Unschlüssig stehe ich ihm Wohnzimmer und lassen meinen Blick umher wandern. Auf seinem Schreibtisch stehen etliche Bücher, Blöcke und Notizhefte. An der Wand kleben Tabellen, Diagramme und Fotos. Ich stehe auf und betrachte die Fotos etwas genauer. Ich sehe Marika und einige andere, die ich ebenfalls durch die Partys kenne. Ehemalige Schulfreunde. Raphael neben einem älteren Paar. Wahrscheinlich seine Eltern. Ein Bild von Maya in perfekter Mädchenpose mit zuckersüßem Augenaufschlag. Maya und er. Auf einem halten sie Händchen. Ein anderes zeigt sie bei irgendeiner Veranstaltung. Es sind nicht sehr viele. Maya hat eindeutig mehr von diesen Pärchenbildern in ihrem Zimmer hängen. Einige Bilder fehlen, denn nur noch das kleine Loch der Reißzwecke ist in der Wand zu sehen.

Die Geräusche in der Dusche verstummen. Ich sehe mich weiter um, schaue mir die Bilder und Aufzeichnungen an. An einem der Fotos vom Schulgelände hängt das getrocknete Blatt eines Ahornbaums. Eines von denen, die vor unserer Schule stehen. Ich lasse meine Finger über die getrockneten Zähne der Ränder streichen und erinnere mich wie wunderschön die Blätter im Herbst sind. Auch dieses ist rot und scheint fast zu leuchten.

„Das Bad ist frei. Ein Handtuch habe ich dir hingelegt." Meine Hand zuckt zurück. Langsam drehe ich mich zu Raphael um. Er steht mit Shorts und T-Shirt in der Tür. Seine feuchten Haare hinterlassen kleine Wasserflecken auf dem Shirt.

„Okay, danke." Er geht nicht, sondern sieht mich nur an. Es ist das zweite Mal an diesem Abend, dass er mich mit diesem Blick bedenkt. Wieder formulieren sich die Fragen in meinem Kopf, deren Antworten endlich ein klares Bild zeichnen würden.

„Schlaf gut", flüstert er leise.

„Raphael, bitte, lass uns darüber reden", wage ich einen weiteren Versuch. Ich mache einen Schritt auf ihn zu. Doch er wendet sich ab und ich höre daraufhin, wie sich die Tür zu seinem Schlafzimmer schließt. Wie erwachsen. Seine ausweichende Reaktion macht mich wütend. Ich presse die Flasche in meinen Händen zusammen. Wasser läuft über meine Finger und ich schmeiße die Flasche, nachdem ich sie geschlossen habe, auf die Couch. Danach gehe ich ins Bad.

Eine bittere Süße

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Sharis Saris

Kapitel 21 Sharis Saris
 

Ermattet und von den Gefühlen übermannt, die meinen Körper durchströmten, lehne ich mich gegen den Schreibtisch. Das Handtuch habe ich mir wieder um die Hüfte gebunden. Meine klebrige Hand streiche ich daran ab. Dann verschränke ich unsicher die Arme vor der Brust. Ich höre das Rascheln seiner Kleidung und beobachte, wie sich Raphael schweigend die Shorts und das Shirt überzieht. Er streicht sich durch die Haare und bringt sie dadurch nur noch mehr durcheinander. Meinem Blick weicht er aus.

„Wir sollten endlich etwas schlafen“, sagt Raphael leise und ruhig. Als er an mir vorbeigeht, halte ich ihn zurück. Seine erhitzte Haut unter meinen Fingern, lässt sie kribbeln.

„Wir sollten endlich reden“, gebe ich retour und sehe, wie er schluckt. Er weiß ganz genau, dass wir das tun müssen und mir ist schleierhaft, wieso er es immer weiter hinauszögert. In seinen Augen erkenne ich Überforderung, Scham, aber vor allem Unsicherheit. Er zögert, aber seine Körperhaltung sagt mir deutlich, dass er jetzt lieber das Zimmer verlassen würde.

„Bitte, geh jetzt nicht einfach weg“, flüstere ich leise, streichele ihm eine verirrte Strähne hinters Ohr und er schließt die Augen. Raphael lässt die Beruhigung zu, zieht sie in sich ein und atmet schwer aus. Ich sehe, wie sich seine Bedenken und die Verwirrung in seinem Inneren festigen. Ich lasse meine Hand sinken.

„Rede mit mir“, bitte ich und klinge eigenartig bestimmend. Ich möchte nicht, dass wir schon wieder schweigend auseinandergehen. Raphaels Schultern straffen sich. Er fühlt sich nicht wohl. Ich kann es deutlich sehen.

„Verdammt, wir hätten das nicht tun dürfen, okay? Das ist nicht richtig“, sagt er nun. Ich zucke zurück. Nicht richtig, wiederholt sich in meinem Kopf. Ich verstehe es nicht.

„Warum?“

„Du weißt ganz genau, warum.“ Erneut fährt er sich durch die Haaren, rauft sie sich regelrecht und seufzt schwerfällig. Auch ich denke in diesem kurzen Augenblick an meine Schwester.

„Aber du magst mich“, stelle ich leise fest und beobachte seine Reaktion. Ein Schimmer in seinen traumhaften, grünen Augen.

„Du bist ein netter Kerl. Manchmal jedenfalls“, antwortet er ausweichend. Ich komme nicht umher darüber zu schmunzeln.

„Du weißt, wie ich es eigentlich meine.“

„Was willst du von mir hören?“

„Ein Ja wäre schön“, gestehe ich. Mein ganzer Körper kribbelt. Ich sehe dabei zu, wie sich seine Augen schließen. Das Ja bekomme ich nicht.

„Mark.“ Ich mag es, wenn er meinen Namen sagt, aber nicht so. „Wir hätte das nicht tun sollen. Ich sollte das nicht tun“, fährt er fort und macht einen Schritt auf die Tür zu.

„Ich finde, dass man Dinge, die einen gefallen, tun sollte“, kommentiere ich lapidar.

„Es dürfe mir, aber nicht gefallen“, gibt er bestimmt und deutlich von sich und ich weiche unwillkürlich zurück. Die Schärfe dieser Worte lässt mich erschaudern. Raphael öffnet die Tür. Ich greife erneut verzweifelt nach seiner Hand, doch er zieht sie weg.

„Was ist so schlimm daran, wenn es dir gefällt?“, gebe ich ihm zu verstehen, denn ich gehe mit seiner Reaktion nicht konform. Raphael antwortet nicht. Ich wiederhole meine Bitte, doch er bleibt nur kurz an der Tür stehen.

„Bitte, nicht. Mark, ich... ich kann einfach nicht…Ich bin nicht…Ich weiß einfach nicht…Ich muss nachdenken...“, stammelt er. Ihm fehlen anscheinend die richtigen Worte um das Chaos in seinem Inneren zu beschreiben. Offenbar fällt es ihm des Öfteren schwer Gefühl in Worte zu verpacken. Ich bin frustriert. Seine Finger greifen in den Türrahmen, verkrampfen sich und er geht. Ich sehe ihm nach und starre eine Weile auf die Dunkelheit im Flur. Ich empfinde pure Ernüchterung und Enttäuschung und möchte sie am liebsten hinausbrüllen. Ich lasse es.
 

Leise schleiche ich ins Badezimmer und steige noch einmal unter den Wasserstrahl um mich zu säubern. Doch diesmal ist das Wasser bewusst kalt. Genauso, wie das schwere Gefühl, welches sich in mir ausbreitet. Nur noch mehr Fragen und wieder keine Antworten.

Er hat es gewollt und doch nagt an mir das Gefühl, dass er mit alledem völlig überfordert ist. Schämt er sich, wegen dem, was wir getan haben und stört es ihn, dass er es mit einem Mann getan hat? Habe ich ihn dazu gedrängt? Vielleicht nicht gedrängt, aber verführt. Ich lehne mich gegen die kühlen Kacheln der Dusche und rutsche daran runter. Habe ich seine Verzweiflung ausgenutzt? Sein angestautes Verlangen? War es wirklich falsch? Ich weiß es nicht. Bei einem ´Nein´ hätte ich sofort aufgehört, doch er hat es genauso gewollt, wie. Ich vielleicht etwas mehr. Es ist nicht falsch, aber war höchstwahrscheinlich, wie er sagt, nicht richtig. Es ist unfair gegenüber meiner Schwester und ich bin nicht Arsch genug, um darüber hinwegzulächeln. Es ist mir nicht egal. Mir entfährt ein unbestimmtes Geräusch. Okay, ja gegenüber Maya war es nicht richtig. Aber das wir es zusammen getan haben, war es. Eine Weile prasselt das Wasser auf mich ein und ich hänge meinen Gedanken nach.

Als ich das Bad verlasse, stehe ich eine Weile vor seiner Schlafzimmertür. Ich traue mich nicht hinein. Statt weiter darüber nachzudenken, gehe ich resigniert zurück ins Wohnzimmer, breite mein provisorisches Bett aus und lasse mich fallen. Doch schlafen kann ich nicht. Ich nehme mein Handy zur Hand und entdecke eine Nachricht von Shari. Sie hofft, dass ich den Abend gut überstanden habe und wünscht mir einen erholsamen Sonntag. Es ist zu spät um ihr zu antworten. Ich lese ein paar ältere SMS und komme irgendwann zu den Nachrichten von Jake.

Ein seltsames Gefühl bildet sich in meiner Brust. Ich denke an seine warmen, fürsorglichen Augen und an das einnehmende Lächeln. Sein Blick, als er neben mir im Bett lag und lächelte. Es war ein gutes Gefühl und nicht so ein Durcheinander, wie mit Raphael. Jake ist sich seiner Gesinnung sicher und Raphael ist alles, nur nicht sicher.

Ich weiß, wie schwierig es ist mit dem Gedanken zu Recht zu kommen. Ich habe mich längst damit abgefunden, dass ich nicht das schön finde, was angeblich „normale“ Jungs schön finden. Dass ich nicht das erregend finde, was ansonsten „normale“ Jungs aufgeilt. Was ist schon normal? Es ist ein hässliches Wort.

Ich möchte wissen, was Raphael wirklich will? Warum kommt er plötzlich auf mich zu, wenn es ihm doch nicht behagt? Vielleicht ist es die reine Neugier, die ihn treibt? Was haben die Fotos zu bedeuten? Seine Eifersucht? Will er wirklich die Beziehung zu meiner Schwester, obwohl sie ihn unglücklich macht? Er ist definitiv nicht glücklich, dass konnte ich aus seiner alkoholisierten Tirade klar heraushören. Also, was will er?

Er mag mich, das habe ich nicht nur für mich ausgesprochen, sondern weil ich es wirklich glaube. Seine Reaktion drauf war nicht die erhoffte, aber er hat es auch nicht verneint. Warum muss es so kompliziert sein?

Die halbe Nacht liege ich wach, bis ich bei Sonnenaufgang einnicke.
 

Ich blinzele der Helligkeit entgegen und spüre die Schwere in meinen Kopf, die sich Dank des Alkohols immer weiter ausbreitet. Ich habe nur wenige Stunden geschlafen und fühle mich dementsprechend matt. Auch die Schmerzen in meinen Rücken melden sich zurück. Ich setze mich auf und spüre, wie einige Wirbel blockieren. Erst nach ein paar Bewegungen und dem Strecken meiner Glieder fühle ich mich besser. Ich ziehe mir eine Hose und mein knittriges T-Shirt über und sehe erst jetzt, dass die Tür des Wohnzimmers zu ist. Ich erinnere mich nicht daran sie selbst geschlossen zu haben.

Beim Öffnen rufe ich Raphaels Namen, doch ich bekomme keine Antwort. Es ist mittlerweile nach 12 Uhr und ich gehe davon aus, dass auch er wach sein müsste. Sein Schlafzimmer ist verwaist. Das Bad ebenso. Viel mehr Zimmer hat seine Wohnung nicht. Erst als ich in der Küche stehe, sehe ich den handgeschrieben Zettel, auf dem er mich bittet, abzuschließen und die Schlüssel im Briefkasten zu deponieren. Ich lese den Zettel mehrmals und mit jedem Mal wächst meine Enttäuschung.

Das blöde Gefühl in meinem Bauch wird zentnerschwer als ich begreife, wie sich Jake gefühlt haben muss als er allein gelassen in seinem Bett erwacht ist. Er hat mir diese Unart als verletzend erklärt und er hat Recht. Es ist ein grausiges Gefühl.
 

Ich greife mir den Schlüssel und verschwinde für eine Katzenwäsche ins Bad, bevor ich die Wohnung verlasse. Der Gedanke, an die ganzen Verwandten zu Hause schreckt mich ab und ich sehe mich hilfesuchend nach einem anderen Ort zum Verweilen um. Ich bin in der Nähe der Uni und laufe einfach drauf los. Hier und da kommen mir jungen, geschäftige Leute entgegen. Sie tragen auch am Sonntag ihr Bücher spazieren oder halten übergroße Kaffeebecher in ihren Händen. Mir fallen die Worte meines Onkels wieder und ich seufze. Seit Maya Raphael mit nach Hause gebracht hat, bin ich gegen eine Immatrikulation an unserer heimeligen Uni. Nicht, weil eine andere Uni mir bessere Qualifikationen bieten würde oder möglicherweise mehr Spaß. Nein, ich rede mir ein es nicht ertragen zu können, wenn ich dem anderen auf dem Campus begegnen würde. Doch das stimmte nicht. Auch ich suche seine Nähe und das hat letztendlich zu dem ganzen Schlamassel geführt, in dem wir jetzt stecken. Was muss ich ihn auch noch reizen? Aber, was soll ich tun? Ich komme kaum gegen meine Gefühl an und jedes Mal, wenn er in meiner Nähe ist, werde ich zum Grün-Augen-Fanatiker ohne Verstand.

Ich lasse mich ermattet auf einer Bank nieder und mein Kopf klappt direkt nach hinten weg. Klarer, blauer Himmel. Nur hin und wieder zieht eine watteartige Wolke vorbei. Vereinzelte kleine Cumuli, oder auch Schönwetterwolken. Die Sonne scheint mir ins Gesicht und ich schließe die Augen. Meine Gedanken drehen sich um Raphael. Wie immer.
 

Ich spüre eine Bewegung neben mir und sehe mit zusammengekniffenen zur Seite. Es dauert einen Moment bis ich klar sehe. Ein junger Mann mit schwarzgerahmter Brille und wuscheligen blonden Haaren hat sich neben mich niedergelassen. Er packt einen Laptop aus und sieht mich an.

„Hab ich dich geweckt? Tut mir leid.“ Er grinst, schlägt die Beine übereinander und stellt den Laptop darauf ab.

„Da will man einfach nur in Ruhe auf einer öffentlichen Parkbank ausnüchtern und nicht einmal das kann man mehr!“, gebe ich theatralisch und übertrieben von mir. Natürlich auch scherzhaft und ernte ein weiteres verschmitztes Grinsen.

„Ich hätte mich auch lieber neben die zwei scharfen Mädels dort drüber gesetzt, aber man kann nicht alles haben.“ Er deutet während des Sprechens auf die Nachbarparkbank und auf zwei Mädchen, die mich extrem an Maya erinnern. Perfekt gestylt und oberflächlich. Ich ziehe eine Braue nach oben und schüttele den Kopf.

„Glaub mir, im Gegensatz zu den beiden bin ich die angenehmere Gesellschaft. Die fressen dich mit Haut und Haaren, wahrscheinlich mit all deinen Knochen. Ich hingegen quatsche nur dummes Zeug.“ Ich richte mich richtig auf und beuge mich nach vorn. Mein Gesicht bette ich in meine Hände und lausche meinen Kopfschmerzen. Sie übertönen alles. Ich bemerke, wie eine fremde Hand mein Blickfeld kreuzt und schaue hoch.

„Hi, ich bin Paul.“

„Mark. Studierst du hier?“ Ich reiche ihm meine und er schüttelt sie kräftig.

„Ja, Jura im zweitem Semester.“

„Ui“, gebe ich von mir und Paul beginnt zu lachen, „Warum machen alle dieses Geräusch, wenn ich das erzähle?“

„Die drei E´s“, sage ich kryptisch und Paul zieht eine Augenbraue nach oben.

„Energieeffizient, Energieeinsparend und voller Erneuerbaren Energien?“, fragt Paul und nun ist es an mir dämlich zu gucken.

„Ehrfurcht, Erstaunen und Entsetzen. Aber wenn du dich eher als ökologisch wertvolle Solaranlage siehst, bitte!“, antworte ich und Paul lacht weiter.

„Und du?“, fragt er mich und ich frage mich, ob es so klug ist ihm zu erzählen, dass ich nur ein armseliger, verkaterter Schüler bin. Er schiebt seine Brille nach oben und ich bin mir sehr sicher, dass er sie eigentlich gar nicht braucht. Sie ist bestimmt nur ein Accessoire.

„Ich studiere noch nicht. Ich überlege mich hier zu bewerben, aber ich bin noch nicht sicher.“ Ich sehe zu den Mädchen. Die eine blickt zu uns rüber. Ihr stark geschminktes Gesicht wirkt wie eine Maske und macht sie um etliche Jahre älter, als sie wahrscheinlich ist.

„Oh, ich kann sie nur empfehlen. Wirklich gute Dozenten und Professoren. Auch die Bürokratie funktioniert, manchmal jedenfalls. Aber vor allem die Partys. Der Hammer.“ Ich sehe zu ihm und schmunzele.

„Ja, ich weiß. Ich kenne ein paar Leute, die hier studiert.“ Genaugenommen 2. Genaugenommen ist es ein Paar.

„Für was interessierst du dich denn? Vielleicht kenne ich jemanden, den du mal ansprechen kannst.“ Nun setze ich mich interessiert auf.

„Produktdesign und Mediengestaltung“, kommt es sofort über meine Lippen und ich habe sogleich ein komisches Gefühl im Bauch. Eigentlich habe ich mich an den Gedanken gewöhnen wollen, es nicht mehr zu studieren.

„Du hast Glück. Ich kenne wirklich jemanden. Lina. Sie ist schon im 4. Semester. Sie kann dir also einiges erzählen.“ Er hebt seinen Zeigefinger in die Höhe und beginnt in seiner Tasche herumzukramen. „Hier, ich schreibe dir mal ihre Mail-Adresse auf. Sag ihr, du kommst von Paul, dann verzichtet sie auf den genervten Shitstorm, weil du sie einfach anschreibst.“ Er kramt jetzt in seiner Tasche nach einem Zettel und nach einem Stift, während ich über den Kommentar nachdenke. Irgendwann findet er einen Stift und reicht mir den beschrieben Zettel. Ich kann seine krakelige Schrift kaum lesen und als ich das Papier umdrehe, sehe ich die Reste einiger Paragraphen darauf. Ich stecke ihn in meine Jackentasche und bedanke mich. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass es bereits drei Uhr ist und es wird Zeit nach Hause zu gehen.

„Gut, ich mache mich wieder auf den Weg. Hat mich gefreut.“ Ich reiche ihm meine Hand, kriege wieder einen kräftigen Shake und sehe kurz zu der Nachbarbank.

„Ach und die Blonde scheint ein Auge auf dich geworfen zu haben.“

„Verdammt, ich stehe mehr auf die Schwarzhaarige“, entflieht ihm übertrieben und ich schüttele lachend den Kopf.

„Man kann nicht alles haben.“, kommentiere ich und grinse. Ich verabschiede mich ein weiteres Mal und suche an der Bushaltestelle nach einem geeigneten Weg nach Hause. Kein leichtes Unterfangen. Es gibt Busse in alle Richtungen, aber alle Biegen vor meinem Wohnviertel ab und lassen mir einen 30-minütigen Laufweg übrig. Okay, wenn ich hier studiere, brauche ich definitiv eine Wohnung in der Nähe. Die Fahrerei würde mich wahnsinnig machen.
 

Ich brauche fast eine Stunde bis ich endlich vor unserer Haustür stehe. Als ich sie öffne, kann ich noch immer allerhand Schuhe im Flur sehen. Ich höre Stimmen in der Küche und im Wohnzimmer. Meine Mutter und ihre Schwester sitzen am Küchentisch und blätternd schnatternd in Zeitschriften. Die zwei kleinen Kinder meines Onkel Thomas wuseln um ihre Beine herum und quietschen, als sie mich durch die Tür lugen sehen.

„Da bist du, ja endlich. Wir haben dich schon vermisst“, kommentiert meine Mutter und schaut dabei immer wieder auf den Artikel, den sie liest. Vermutlich ist gar nicht aufgefallen, dass ich fehle. Ihre Aussage macht es wenig glaubwürdig und so schaue ich sie auch an. Sie winkt mich heran, als sie meinen Blick bemerkt. Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange und lasse mich von Tante Ellie drücken.

„Wo warst du so lange?“, hakt sie nach. Ich nehme mir eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und klaube mir ein paar Weintrauben aus der Obstschale.

„Ich habe lange gepennt. Deine Feier war anstrengend und man kommt von Raphaels Wohnung ohne Auto schlecht hier her.“

„Hast du ihn gar nicht mitgebracht?“, fragt meine Mutter verwundert und sieht einige Essensreste durch sein Fehlen verderben.

„Nein. Er war weg als ich wach wurde und ich habe keine Ahnung, wo er hin ist“, sage ich und klinge seltsam beleidigt. Zum Glück kriegt sie es nicht mit.

„Dann ist er sicher bei seinen Eltern“, sagt sie, als wäre es klar, wie Kloßbrühe.

„Bei seinen Eltern?“

„Ja, er meinte, dass er noch einige Unterlagen benötigt, die noch bei ihnen liegen.“ Da sie nicht ausführlicher wird, nicke ich es nur ab. Mein Neffe zieht an meinem Hosenbein und ich sehe ihn an. Er reicht mir einen Bauklotz und deutet auf ein instabiles Gebilde im Essbereich zum Wohnzimmer. Ich lasse meine Hände knacken und sammele mein Wissen über Architektur zusammen. Gemeinsam bauen wir einen Wolkenkratzer, der dann unter viel Gebrüll niedergerissen wird. Oh ja, ich bin ein vortrefflicher King Kong und vor allem einer, der weiß, wie man Bananen-Pistolen benutzt. Abgesehen davon, stabilisiert die Krummfrucht meinen Blutzuckerspiegel.
 

Erst am Abend sind alle verschwunden und ich kann in Ruhe in mein Zimmer zurück. Ich lasse mich ohne Umwege aufs Bett fallen, knödle meine Decke zusammen und umklammere sie, wie ein Äffchen. Dann schließe ich die Augen. Ich bin schrecklich müde und ausgepowert. Es klopft an meine Tür. Ich murre kaum hörbar und sehe, wie meine Mutter ihren Kopf hinein steckt.

„Hey, geht es dir gut?“, fragt sie sanft und ich drehe mich wieder etwas auf die Seite, jedoch ohne meine Decke loszulassen. Sie kommt herein und setzt sich auf die Bettkante. Ich blinzele sie an und nicke.

„Wirklich?“, hakt sie nach. Sie kennt mich zu gut.

„Ja, wirklich. Ich habe nur ein wenig Kopfschmerzen. Thomas hat mich gestern abgefüllt.“ Nun, da mein Onkel nicht mehr da ist, kann ich es zugeben.

„Oh, na dem werde ich beim nächsten Treffen die Hölle heiß machen“, sagt sie energisch und ich muss lachen.

„Nein, nein. Er kann nichts dafür. Ich habe nicht ´Nein´ gesagt. Es ist meine eigene Schuld. Ich hab auch zu viel rumgetobt“ Sie lächelt wissend und sanft. Zärtlich streicht sie mir eine verirrte Strähne von der Stirn. Danach greift sie in ihre Hosentasche und zaubert eine Kopfschmerztablette hervor. Ich sehen sie dankend an.

„Vielen Dank, dass du gestern so schön geholfen hast und wir dein Zimmer benutzen konnten. Ich liebe das Bild.“, bedankt sie sich, nimmt mich in den Arm und lächelt.

„Gern, aber einmal groß feiern im Jahr reicht vollkommen!“ Wieder perlt ein Lachen über ihre Lippen. Ich mag es, wenn sie lacht. Sie hat lauter kleine Lachfalten um die Augen und wirkt dabei trotzdem, wie ein Teenager. Sie haucht mir einen Kuss auf die Stirn und lässt mich allein.
 

Ich schlafe früh ein und lange durch. Ich träume von Raphael und erwache am nächsten Morgen mit einem seltsamen Gefühl in der Brust. Wir müssen unbedingt miteinander reden. Wir müssen das klären. Ich muss es klären, sonst lässt es mir keine Ruhe mehr. Meine Eltern sind bereits weg als ich nach unten komme und erst jetzt fällt mir wieder ein, dass Maya die ganze Woche auf Klassenfahrt ist. Ich werde Raphael nur in der Schule beim Training sehen.

Ich treffe Shari direkt am Bus. Sie wartet auf mich und lächelt bezaubernd.

„Olá, welche Zauberfee hat dich denn heute Morgen wach geküsst?“

„Namasté und es war keine Fee, sondern der verzauberte Frosch, der immer vor meinem Bett sitzt.“, kommentiert sie prompt. Ich hebe fragend eine Braue, doch Shari hängt sich nur an meinen Arm und zieht mich summend zur Schule. Wenigstens sie scheint ein erhellendes Wochenende gehabt zu haben, denn sie strahlt mit der Sonne um die Wette. Obwohl ich sie mehrfach von der Seite anstarre, regt sie sich nicht. Jetzt will ich es erst Recht wissen.

„Okay, Grinsekatze, kläre mich auf, sonst kriegst du nachher kein Mittagessen.“ Ich halte sie zurück und statt bei meiner Drohung zu erzittern, wird ihr Grinsen nur noch bereiter.

„Andrew hat sich meine Nummer besorgt und wir haben uns das ganze Wochenende geschrieben“, platzt es aus ihr heraus und würde ich sie nicht am Arm festhalten, würde sie vermutlich abheben. Ich bin davon ausgegangen, dass Andrew ihre Nummer schon wegen des Bioprojekts hatte. Anscheinend war dem nicht so. Ihre strahlenden Augen sind ein Hingucker und ihre Freude und Zuversicht wegen ein paar geschriebener Worte kitzelt meinen Beschützerinstinkt. Ich versuche ihn zu verdrängen und mehr Informationen aus ihr herauszubekommen.

„Schreibt er dir versaute Sachen?“, frage ich frech und kriege eine geboxt. Direkt gegen die lädierte Stelle an meiner Brust. Ich zucke leicht zusammen und ächze.

„Natürlich nicht. Er hat mir geschrieben, wie schön er mich im Sari findet und er findet es gut, dass ich meine Traditionen ehre“, klärt sie mich auf.

„Ich freue mich schon darauf, wenn du ihn deinen Vater vorstellst. Mal sehen, wie toll er die Traditionen dann findet.“ Sie boxt mich erneut. Diesmal tut es richtig weh.

„Aua“, keuche ich theatralisch, bekomme aber kein Mitleid.

„Du! Doof!“

„Entschuldige. Ich freue mich, dass er dir so nette Sachen schreibt. Ich bin nur beleidigt, weil du dich nie so freust, wenn ich dir sage, wie hübsch du in deinen Saris aussiehst.“ Und ich sage ihr das oft. Sie blickt zu mir auf und nimmt mich in den Arm. Sie schlingt ihre Arme um meinen Bauch und drückt sich an meine lädierte Brust. Ich kneife die Augen zusammen,

„Natürlich freue ich mich, wenn du das sagst.“ Sie lächelt, drückt mich noch fester und ich gebe ihr gespielt beleidigt zu erkennen, dass ich noch immer eingeschnappt bin. Shari lässt es kichern.

„Ich trage sie eigentlich auch nur, weil ich dann von euch immer so schöne Komplimente bekomme.“

„Perfide.“ Ich setze meinen überraschten Blick auf.

„Ich manipuliere mit meinen Saris eure Stimmung. Noch nicht gemerkt?“ Ich sehe sie verwundert an.

„Rot soll eure Leidenschaft wecken, Violett euer Unterbewusstsein kitzeln, das Rosa eure romantische Seite hervorholen und weiß meine Unschuld hervorheben. Nur ein paar Beispiele meiner ausgebufften Manipulation!“, fährt sie fort. In ihrer Stimme schwingt etwas mit, das ich noch nie gehört habe. Das feine Lächeln auf ihren Lippen ist fast mystisch und erst ihr herzhaftes Lachen transportiert mir die Scherzhaftigkeit, die sie ausdrucken will. Ich bin perplex.

„So, so die Saris sind nicht nur hübsch, sondern dein Mittel zur Manipulation. Ich wiederhole mich, aber: Perfide.“

„Sozusagen. Sie sind, aber nicht mal unbedingt bequem, Mark. Ich muss ständig schauen, dass nicht irgendwo etwas rausguckt oder verrutscht.“ Sie setzt ihr heiteres Glucksen fort und ich genieße die gelockerte Stimmung. Shari zaubert stets ein Lächeln auf meine Lippen.

„Wie war die Geburtstagsfeier? Hast du einen Schlafplatz gefunden oder hast du dich wirklich im Heizungskeller versteckt?“, fragt sie mich und wir setzen unseren Weg fort.

„Gut. Viele Menschen. Viel getrunken und ich habe mit den Nichten und Neffen rumgealbert. Endlich wieder Unsinn machen und Kind sein“, schwärme ich.

„Als ob, du dafür deine Nichten und Neffen brauchst“, kontert sie und zieht eine ihrer fein gezupften Augenbrauen nach oben, während ich ihr die Zunge herausstrecke.

„Ich bin erwachsener als du glaubst.“

„Natürlich!“, erwidert sie überzeugend und lächelt. Ich glaube ihr kein Wort.

„Und das Schlafproblem?“ Ich zögere als sie mich danach fragt und weiß nicht wieso. Sie würde sich nichts dabei denken können und doch ist es mir unangenehm darüber zu sprechen. Die Bilder des Abends tauchen vor meinen inneren Augen auf. Sein nackter bebender Körper. Der verklärte Blick und nur der Gedanken an die Geräusche, die er gemacht hat, verursachen mir eine wohltuende Gänsehaut. Sie zieht sich über meinen kompletten Hals bis zu den Zehen. Es kribbelt. Shari beobachtet mich.

„Mark?“

„Hm?“ Ich bin in Gedanken versunken. Sie piekt mir gegen den Hals. Ich werde etwas rot, reibe mir über die Stelle und versuche mich zu sammeln.

„Wo warst du gewesen?“, fragt sie erneut.

„Bei Raphael. Er hat eine eigene Wohnung und Maya blieb bei einer Freundin.“

„Oh, das ist doch gut. Ihr versteht euch doch und er ist wirklich total lieb“ Und wie wir uns verstehen. Shari hat mit allem Recht, doch das macht es wesentlich schlimmer.

„Ja, aber er ist der Freund meiner Schwester“, sage ich fast deprimiert und mit einem bedrückten Unterton. Shari horcht auf.

„Warum sagst du, dass so seltsam?“, fragt sie mich und ich stocke. Bevor ich etwas antworten muss, klingelt es zum Unterricht. Ich halte den Atem an. Für einen kurzen Moment schaut sie forschend. Ihr Blick scheint mich zu durchdringen, doch dann verabschiedet sich Shari zu ihrer Stunde.

„Hasta la vista, baby“, rufe ich ihr nach und mache den Terminator. Ich atme erst richtig aus, als sie weg ist und trotte dann in meinen Unterricht

In den Pausen mache ich mich rar und sitze bis zum Ende in meinem Versteck auf der Tribüne. Ich denke an das Foto zurück und seufze. Ich stehe kurz auf und setze mich dann gleich wieder hin. Drei Anläufe brauche ich um wirklich nach Hause zu gehen.

Finnisch für Anfänger

Kapitel 22 Finnisch für Anfänger
 

Die komplette Woche rauscht davon, ohne dass ich Raphael ein einziges Mal zu Gesicht bekomme. Es findet kein Training statt und er hat auch keinen Grund bei uns zuhause aufzutauchen. In einer Pause läuft mir Danny über den Weg und ich frage ihn nach dem Training. Er erklärt mir, dass Raphael als Dank für die guten Leistungen beim Turnier allen eine komplette Woche Ruhe gönnt. Für die Sportler wohl verdient, doch ich habe nicht damit gerechnet. Raphael hat nichts dergleichen erzählt. Für ihn passt das natürlich perfekt und wahrscheinlich hat er mir auch deshalb nichts gesagt. So kann er mir herrlich aus dem Weg gehen. Ich fühle mich als hätte man mir neben dem Internet nun auch die gute Laune abgedreht. Einmal bin ich kurz davor meine Mutter nach seiner Telefonnummer zu fragen. Nur die Tatsache, dass sie mir ein Eis in die Hand drückt, verhindert es.

Allerdings bin ich am selben Abend kurz davor mir die Autoschlüssel zu greifen und wie ein Gewitter vor seiner Wohnung aufzutauchen. Mehrmals schleiche ich unten rum und lege sie schweren Herzens wieder in die Kommode zurück. Ich bin keiner dieser Verrückten und bedrängen ist keine Lösung. Auch wenn mir diese unerbittliche Ungewissheit schier Löcher in den Leib frisst.
 

Am späten Freitagnachmittag kommt meine Schwester zurück von ihrer Klassenfahrt in Wien. Es gibt Kaffee und Kuchen. Ich lausche nur mit halbem Ohr den Ausführungen über die schöne Stadt und den Kleinmädchenproblemen. Mayas plüschige Schöngeschichten interessierten mich wenig. Während meiner Klassenfahrten haben wir ständig nur getrunken und Knutschereien zur olympischen Disziplin erklärt. Ich revidiere den Gedanken, denn ich habe lediglich getrunken und niemanden das Gesicht abgeschleckt. Trotzdem war alles aufregender, als das, was Maya hier zum Besten gibt.

„Wien ist eine wirklich zauberhafte Stadt. Es war so toll“, schwärmt sie und ich pieke gelangweilt ein Stück vom Kuchen ab. Nusskuchen mit Frischkäsecreme. Sehr lecker, aber mir fehlt jeglicher Appetit. Es klingelt und ich fahre erschrocken zusammen, während Maya freudig quietscht. Raphael. Auch ich sehe ihn das erste Mal wieder nach unseren gemeinsamen Abend. Maya rennt zur Tür und fällt ihm sofort um den Hals, drückt ihn fest, während es mir den Hals zu schnürt.

Raphael meidet meinen Blick. Doch ich starre ihn herausfordernd an. Nach guter Schwiegersohnmanier grüßt er meine Eltern, lehnt freundlich ein Stück Kuchen ab und wird von Maya die Treppe nach oben gezogen. Ich schließe die Augen und seufze leise in mich hinein.

„Sie haben sich sicher viel zu erzählen“, sagt meine Mutter und sieht den beiden nach.

„Uhuhuu...“, kommentiere ich unaufgeregt.

„Mark!“, mahnt sie.

„Warum? Raphael war schon mal in Wien und er weiß, wie alte Gebäude aussehen und wie seltsam die österreichische Sprache klingt.“ Alle Klassen unserer Schule fahren nach Wien. Alle sind in der selben Unterkunft untergebracht und alle sehen sich die selben Sachen an.

„Du verhältst dich unfair und ich meine etwas anderes.“

„Ach und was? Meinst du, Raphael wird auch sooo uuunfassbar entsetzt sein, dass sie ein ganzes Stück Sachertorte allein gegessen hat. Uuhuhuh...“, ahme ich Mayas Erzählung nach und verdrehe die Augen. Nun schreitet auch mein Vater ein.

„Herrje, Mark muss das sein?“ Ja!

„Jeder findet eben andere Dinge erwähnenswert und ich meinte seine Entscheidung über das Stipendium für die Universität in Kalifornien.“ Stipendium? Uni? Kalifornien? Wie bitte? Ich habe gerade das Gefühl, dass mir die Gesichtszüge eingleisen.

„Ein Stipendium für eine Uni in Kalifornien?“, wiederhole ich ungläubig.

„Ja. Eine tolle Chance, wenn du mich fragst. Ein ganzes Semester lang. Eine Unterkunft kriegt er gestellt. Er kann an vielen Kursen und Seminaren teilnehmen, die ihm auch hier angerechnet werden und Trainer Müller hat ihm die Möglichkeit verschafft, bei einem der dortigen Trainer als Trainee auszuhelfen“, berichtet sie munter, lächelt und steckt sich den letzten Rest ihres Kuchenstücks in den Mund. Ich bin seltsam sprachlos und vollkommen überrumpelt.

„Maya ist natürlich sehr aufgebracht und sieht ihre Beziehung in Gefahr. Er wäre immerhin eine ganze Weile weg. Bist du fertig, Mark?“ Sie deutet auf meinen halbvollen Teller. Die Gabel habe ich noch in der Hand, aber mir ist jeglicher Hunger restlos abhandengekommen. Mein Herz schlägt nicht mehr. Da ich noch atme, wird es nicht stimmen, aber so fühlt es sich gerade an. Meine Mutter wiederholt ihre letzte Frage, nickend reiche ich ihr den Teller.

„Ach was, heutzutage gibt es so viele Kommunikationsmöglichkeiten und sie kann ihn in den Ferien besuchen. Unser Okay hat sie dafür“, gibt mein Vater von sich. Ich starre weiterhin auf den Fleck, an dem eben noch mein Teller stand. Mein Vater hat Recht. Es gibt unzählige Möglichkeiten der Kommunikation, aber Raphael scheint keine davon mir gegenüber auch nur in Betracht zu ziehen. Ich fühle mich elendig. Mein Inneres brennt.

„Noch hat er sich nicht entschieden und er hat auch noch etwas Zeit. Mark, wusstest du gar nichts davon?“, erkundigt sich meine Mutter, während sie in der Küche verschwindet. Ich sehe auf.

„Nein. Warum sollte er mir sowas auch erzählen“, sage ich leise. Ich bin ja nur der Bruder seiner Freundin. Ich verspüre das dringende Bedürfnis mich in meinem Zimmer einzuschließen und in mein Kissen zu heulen. Allerdings habe ich mir vor gut 5 Jahren geschworen, nie wieder wegen sowas zu weinen.

Wenn ich so darüber nachdenke, ergibt vieles nun Sinn. Die ständigen Streitereien der beiden. Die Diskussionen. Raphaels kryptisches Gerede, als er mir betrunken durch die Tür fiel. Ich erinnere mich an den Brief in seiner Schublade.

Mein Vater sagt etwas, doch ich höre nicht zu. Ich stehe einfach auf und verlasse in Gedanken versunken den Raum.
 

Nach einem lethargischen Moment des Rumstehens setze ich mich an den Schreibtisch und fahre meinen Pc hoch. Mein Blick wandert über den Kalender und mein Hirn beginnt zu rechnen. Ein Semester. Also ein halbes Jahr. In ein, zwei Monaten ist die Schule vorbei und ich werde mich für eine Uni entscheiden müssen. Ich werde ihn vielleicht nicht so schnell wiedersehen, wenn ich wirklich an eine entfernte Universität gehe. Ich wäre nur noch selten zu Hause. Ich denke an die Familienfeste und wie schon des Öfteren kommen mir die Bilder von Mayas und Raphaels Hochzeit, ihren Kindern und den verkrampften Weihnachtsfesten in den Sinn. Ich lasse mich in die Lehne zurückfallen und starre auf den Desktop. Ich weiß, dass der Gedanke übertrieben ist, doch sind das seit jeher die schlimmsten Szenarien für mich.

Das Brennen in meiner Brust wird schlimmer und droht mir den Atem zu rauben. Das Schicksal einer unerfüllten Liebe. Warum muss es ausgerechnet mich treffen? Aber ist es wirklich so? Es hat es erwidert. Alles. Meine Berührung. Meine Küsse. Selbst meine Erregung fand eine Antwort. Insgeheim habe ich Blut geleckt.
 

Ich bleibe in meinem Zimmer und lasse mich auch nicht zum Abendbrot blicken. Hunger habe ich sowieso keinen. Als es dunkel wird, setze ich mich mit einem Bier auf den Balkon und beobachte die Sterne. Kondensiertes, kaltes Wasser läuft über meine Finger und ich streiche ein paar Tropfen davon. Es ist kühl, doch es stört mich nicht.

Ich höre, wie sich die Balkontür zu Mayas Zimmer öffnet und richte mich auf. Ich nehme einen Schluck aus der Flasche und mache mich bemerkbar. Ich höre ein tiefes Seufzen und weiß, dass es Raphael ist. Meine Gelegenheit. Ich lehne mich an die Brüstung und schaue auf deren Balkonseite. Raphael steht im Türrahmen und scheint sich nicht entscheiden zu können, ob er gehen oder bleiben soll. Die Flasche schlägt mit einem klirrenden Geräusch gegen die Metallbrüstung und mein gewollter Gesprächspartner dreht sich ganz zu mir.

„Du weißt, dass Alkohol keine Lösung ist“, kommentiert er in gewohnter Manier mit einem Blick auf die halbleere Glasflasche.

„Schweigen ist auch keine“, pariere ich bissig. Ich nehme einen weiteren Schluck und sehe zu ihm. Raphael beißt sich auf die Unterlippe. Mein Spruch hat gesessen. Ich fühle keine Genugtuung.

„Kalifornien. Ernsthaft?“, frage ich dann das, was mir wirklich auf der Seele brennt. Sein Blick ist verwundert. Er fragt sich, woher ich das weiß. Ich frage mich nur, warum ich der Einzige bin, dem er es nicht erzählt hat.

„Woher weißt du davon?“

„Wieso dachtest du, dass ich es nicht erfahre, wenn es alle umher mich herum wissen?“, belle ich leise. Raphael seufzt und macht die Andeutung wieder reingehen zu wollen.

„Wie kam es dazu?“, frage ich hinterher, weil ich verhindern will, dass er geht.

„Kontakte“, sagt er knapp und ich atme ungeduldig ein. Er versteht das Geräusch und meine Reaktion.

„Trainer Müllers Schwiegersohn kommt aus Amerika und dessen Vater ist Coach an dem Collage in Kalifornien. Sie bauen ein Leichtathletik-Team auf und ich könnte viel lernen.“ Er lehnt sich an die Brüstung und sieht in die Nacht.

„Also Trainer und nicht mehr Lehrer?“

„Beides. Die Lehramtsseminare kann ich problemlos nachholen.“

„Wie lange weißt du es schon?“

„Eine Weile.“

„Klingt nach einer guten Chance“, sage ich ehrlich gemeint und sehe ihn von der Seite an. Seine Haare bewegen sich im Wind, streichen über seine Stirn und legen seine Ohren frei. Ich fahre mit meinen Blicken sein Profil ab. Über die spitze Nase, hinab zu seinem Lippen und dem Kinn. Er ist komplett rasiert. Maya mag es so lieber.

Ich spüre das Kribbeln in meiner Fingerkuppen, den Wunsch ihn zu berühren. Doch wende seufzend meinen Blick ab.

„Wann geht es los?“

„Ich bin noch nicht sicher, ob ich es annehme“, gesteht er, „Ich habe auch hier ein wirklich gutes Leichtathletik-Team, eine gute Uni und auch Chancen.“

„Ja, und eine Freundin.“ Es kommt spitzer und böser, als gewollt.

„Genau auch eine Freundin, wie es normal ist.“ Er sieht mich verärgert an. Normal. Da ist es wieder dieses Wort.

„Dein Scheißernst? Spielst du jetzt wirklich die homophobe Karte aus? Nicht wirklich, oder?“ Ich funkele ihn wütend an. Es ist lächerlich und das weiß er.

„Was willst du von mir hören, Mark?“, fragt er stoisch.

„Ich will nur, dass wir darüber reden. Das letzte Mal habe ich dich ziehen lassen, aber diesmal…“

„Was? Ich weiß nicht, was es da zu bereden gibt.“

„Ach, wir ignorieren einfach, was in deiner Wohnung passiert ist? Das kann ich nicht und ich will es auch gar nicht.“ Raphael greift mir an den Arm und zischt mich an. Ich rede zu laut. Auch mein Blick geht kurz zu angelehnten Balkontür rüber.

„Es ist überhaupt nichts passiert“, zischt er mir leise zu und lässt mein Handgelenk wieder los. Nichts. Er hat wirklich Nichts gesagt.

„Sei nicht albern. Nichts fühlt sich definitiv anders an und vor allem ist Nichts nicht so gut. Das weißt du“, flüstere ich ihm entgegen und bin nicht gewillt alles einfach zu vergessen. Das schaffe ich einfach nicht. Seinen schönen grünen Augen blitzen auf als die Erinnerungen durch seine Gehirnwindungen jagen. Er hat es als genauso gut empfunden und will es sich nur nicht eingestehen. Ich kämpfe mit der Enttäuschung und schlucke sie Stückchenweise hinunter. Raphaels Reaktion ist unfair, verletzend und feige.

„Wow, mir war nicht klar, dass du jemand bist, der einen fickt und dann links liegen lässt.“ Meine Wortwahl ist etwas drastisch, aber ich will ihn zu einer Reaktion zwingen.

„Was? Mark, verdammt...wir haben nicht ge…“ Er spricht es nicht aus, sondern schluckt den unausgesprochenen Teil einfach nur runter. „Was willst du denn, wir reden doch“, gibt Raphael nach einen Moment von sich und ich würde ihn am liebsten erwürgen.

„Das nennst du reden? Dir wäre es doch am liebsten, dass ich schön meinen Mund halte und du dein pseudoglückliches Leben weiterführen kannst. Du hast mich zuerst... Hast du dir jemals darüber Gedanken gemacht, was ich dabei empfinde?“, fauche ich ihm zu. Alles schön leise und sehe ihn eindringlich an. Ich kann sehen, wie er schluckt, aber ich gebe ihm keine Möglichkeit etwas zu erwidern. Ich bin noch nicht fertig.

„Dein Körper sprach Bände, also sage mir nicht ständig, dass du nichts empfunden hast. Für dich hat es sich ebenso gut angefühlt, wie für mich. Hör auf, das zu leugnen. Also, wie gehen wir damit um?“ frage ich ihn säuerlich und stoße ihm dabei meinen Finger gegen die Schulter. Er packt ihn. Ich spüre die Wärme, die von seiner Hand ausgeht. Ich erkenne eine weitere Erinnerung, die kurz in seinen Augen aufblitzt und dann sein Kopfschütteln. Er wehrt sich dagegen und mit einmal fühlt es sich an, als hätte ich einen zentnerschweren Stein im Magen.

„Ich hab eine Freundin“, spult er ab.

„Du hast ein dummes 17-jähriges Mädchen und lässt dich von ihrem Bruder befriedigen“, knurre ich verletzt. Raphael seufzt verbissen und lässt meinen Finger los.

„Verdammt, Mark. Du machst mich ganz kirre! Hör auf.“ Raphael fährt sich übers Gesicht und über die glattrasierten Wangen.

„Das sind mehr Gefühlsregungen, als du je gegenüber Maya zeigst…Was findest du an ihr? Sie ist zickig, blond, dumm und lässt dich sexuell verhungern?“, frage ich ihn direkt und bin immer noch ungläubig.

„Mark, sie ist deine Schwester...“

„Vielen Dank, das ist DIE Information für mich“, gebe ich sarkastisch von mir, „Also, was ist es?“

„Mag sein, aber mit ihr kann ich eine stinknormale Beziehung führen.“

„Normal? Was, bitte soll das bedeuten?“, frage ich ihn verwirrt, doch eigentlich verstehe ich es.

„Das mit uns wird nie…“ Raphael bricht ab, als Maya auf den Balkon tritt. Ich verfluche sie und ihre ganze Existenz.

„Raphael, kommst du ins Bett?“ Ihre langen blonden Haare liegen über ihren nackten Schultern. Ihr Gesicht liegt im Schatten, so dass ich ihr Gesicht nicht lesen kann. Brauche ich auch nicht, denn ich weiß, was ich sehe würde. Meine Schwester bleibt stur stehen und wartet. Mir dreht sich der Magen um.

„Ja. ich komme. Gute Nacht!“, sagt er nur noch und lässt mich allein auf dem Balkon stehen. Ich denke über den angefangen Teil seines Satzes nach und schlucke. Er hat mit Sicherheit sagen wollen, dass es keine Bedeutung oder Chance haben wird. Doch das glaube ich nicht. Mir bedeutet es etwas. Doch eine realistische Chance sehe ich auch immer mehr verblassen. Was habe ich erwartet? Dass er sich mir nichts, dir nichts für mich entscheidet. Enttäuscht über seine Ablehnung setze ich mich zurück auf den Balkonstuhl.

Ich will es nicht ignorieren und schon gar nicht einfach vergessen. Es war nicht nur eine

zweimalige Verirrung. Raphael wird es mir erklären müssen, denn ich bin mir sicher, dass er etwas dabei gefühlt hat. Warum sonst hätte er es zulassen sollen? Warum sonst hat er mich nicht einfach von sich gestoßen und mich beschimpft? Für gewöhnlich waren das die normalen Reaktionen, wenn Heteromänner von anderen Männern angemacht wurden. Ich werde ihn zum Reden bringen. Irgendwie. Von meinen Gedanken überzeugt, werfe ich mich aufs Bett und habe trotzdem meine Probleme einzuschlafen. Er hat ´uns´ gesagt, geht mir durch den Kopf, kurz bevor ich einschlafe.
 

Das Wochenende verläuft wie erwartet. Raphael geht mir aus dem Weg. Er sorgt sogar dafür, dass Maya und er am Samstag woanders Essen und den gesamten Sonntag spontan unterwegs sind. Ich vegetierte gelangweilt in meinem Zimmer rum, helfe meiner Mutter bei ein paar Gartenarbeiten und fülle mein Gehirn mit sinnlosen Fernsehersendungen. Ein hoch vergeudetest Wochenende. Am Montag bin ich froh Sharis lächelndes Gesicht zu sehen. Ich umarme sie spontan und seufze theatralisch. Ich hänge mich quasi an die schöne Inderin und komme mir selbst reichlich verdrießlich vor.

„Hyvää päivää“, begrüße ich sie auf bröckeligem Finnisch und ernte sofort ein herzhaftes Lachen.

„Oh weh, das mit dem Finnisch musst du aber noch üben, mein Lieber.“ Shari hat eine finnische Freundin, mit der sie sich Briefe schreibt und telefoniert. Sie hat großes Interesse an dem großen kühlen Norden. Ich stehe mehr auf Irland. Reichlich Grün und massig Schafe. Ich schwärme innerlich. Äußerlich wirklich ich wie ein Schluck Wasser.

„Da du schon Mal Finnisch gesprochen hast, weißt du wie schrecklich kompliziert es ist. Finnisch hat mehr Äs, als andere Sprachen“, sage ich beleidigt, löse mich von ihr und nehme ihr die Tasche ab.

„Es ist, wie mit den Üs im Türkischen“, vergleicht sie und grinst.

„Als ob ich türkisch kann“, sage ich salopp und sehe sie etwas plemplem an.

„Komm wir sprechen es zusammen. Es ist ganz leicht“, schlägt sie vor. Sie spricht es mir vor. Ich wiederhole es, doch es klingt weiterhin grausig. Ich gebe mir keine Mühe. Sie wiederholt es erneut. Ich hebe eine Augenbraue und fühle mich in die erste Klasse zurückversetzt.

„Na komm, Hyv_ää päi_vää“, sagte sie überdeutlich und macht dabei an den passenden Betonungen eine lustige Handbewegung.

„Du bist eine Streberin!“, kommentiere ich kindisch.

„Na und? Neea übt immer fleißig mit mir.“ Sie streicht sich ein paar schwarze Strähnen hinters Ohr und sieht mich aufmerksam an. Hätte ich auch eine finnische Freundin würde ich es wahrscheinlich auch besser lernen wollen. Ich schultere ihren Rucksack und gehe Richtung Schuleingang. Shari folgt mir.

„Alles okay bei dir?“, fragt sie mich und ich schaue sie verwundert an.

„Ja, wieso?“

„Du wirkst komisch und so überschwänglich begrüßt du mich selten. Es ist schön, aber seltsam.“ Ich schmunzele über ihre Feinfühligkeit und lächele verlegen.

„Ja, alles spitze. Ich hatte nur ein schrecklich langweiliges Wochenende und zurzeit ist die Stimmung zu Hause etwas kriselnd.“

„Maya oder deine Eltern?“, fragt sie besorgt und folgt mir die Treppen hoch.

„Maya und Raphael. Er hat ein Stipendium angeboten bekommen für ein Austauchsemester an einer Universität in Kalifornien.“ Ich versuche, nicht allzu deprimiert und vorwurfsvoll zu klingen.

„Er weiß noch gar nicht, ob er zusagt, aber Maya ist schon jetzt komplett Etepetete. Du weißt ja, meine Schwester mit schlechter Laune ist, wie ein Supergau.“ Ich verdrehe wenig elegant meine Augen. Shari nickt und lässt mich weiterreden.

„6 Monate wäre er weg“, ergänze ich und schweige dann. Die Vorstellung verursacht mir Magenschmerzen. Raphaels ständige Anwesenheit in unserem Haus hat mich anscheinend verweichlicht. Ich bin so sehr an seine stille Nähe gewöhnt, dass mir der Gedanken seiner Abwesenheit nicht behagt. Auch, wenn mich seine Nähe gleichwohl peinigt.

„Das ist wirklich sehr lange“, sagt sie seufzend, „Ich wäre auch geknickt, wenn mein Freund so lange weg ist. Aber wieso klingst du, als würde man dir ein Spielzeug wegnehmen?“ Ich spüre einen Ruck, der durch meinen Körper geht und verfluche Shari, weil sie so empathisch ist und mich so gut kennt. Ich brauche eine überzeugende Ausrede. Irgendwas. Mein Gehirn verweigert mir den Dienst. Mayas Launen. Ihre Launen gehen immer.

„Maya wird einfach alle im Hause nerven. Wie sehr sie ihn vermisst, wie wenig sie nun angeben kann. Bla bla bla.“ Ich klinge überzeugend und vermeide einen prüfenden Blick zur Seite. Erst als Shari nichts weiter sagt, sehe ich zur ihr rüber. Ihr Blick ist forschend und ich befürchte, dass sie nicht vollständig überzeugt ist. Gerade als ich noch eine weitere Erläuterung abspulen will, beginnt sie zu sprechen.

„Du jammerst immer wegen deiner Schwester. Ich will dich mal mit so vielen Geschwistern sehen, wie ich mich rumplagen muss. Meine Brüder gehen mir oft derartig auf die Nerven, das ich sie am liebsten eigenhändig zu Hackfleisch verarbeiten möchte.“, erläutert sie und ich empfinde definitiv Mitleid. Ich schimpfe viel über meine Schwester und denke wenig daran, dass Shari drei kleine Brüder und zwei Ältere hat. Sie ist mit ihrer Mutter allein unter 6 Männern. Ich weiß nicht, ob es mir mit Brüdern besser ergehen würde, aber immerhin habe ich nur ein weiteres Geschwisterkind. Allerdings, wäre die Wahrscheinlichkeit weitaus geringer, dass sich mein Bruder Raphael als Freund nehmen würde.

„Tut mir leid. Ich weiß, dass du es auch nicht einfach hast mit deinen Brüderchens“, sage ich und tätschele ihr sanft das Haupt. Sie schubst meine Hand weg.

„Pah, dein gespieltes Mitleid kannst du dir sparen. Pass lieber auf, dass ich nicht irgendwann Devdan und Kiran bei dir absetze und du dich mal ein paar Tage um sie kümmern musst.“ Devdan und Kiran sind die beiden jüngsten Brüder und zwei ausgenommene Frechdachse. Sharis Erzählungen sind stets sehr belustigend. Natürlich nur für diejenigen, die nicht daran beteiligt sind. Allerdings kann ich gut mit Kindern.

„Oh, böse Drohung. Böse Drohung. Ich werde wieder brav und lieb sein.“

„Nein. Nein. Dann könnte ich nämlich mit Andrew ausgehen und habe meine Ruhe.“ Bei der Erwähnung von Andrew horche ich kurz auf.

„Er will ein Date?“

„Ja, und ich weiß nicht, wie ich ihm erklären soll, dass das aussichtslos ist.“

„Ist es das denn?“, frage ich und sie stupst mir empört gegen die Brust.

„Weißt du doch. Er ist wirklich süß, weißt du?“ Ihr Blick wird schwärmerisches.

„Ich kann mich nur wiederholen, benutze mich als Tarnung. Dein Dad skalpiert mich sowieso irgendwann, da kannst du dir vorher ruhig etwas Spaß gönnen.“ Sie beginnt zu lachen und schüttelt mit dem Kopf.

„Was du gegen meinen Dad hast, ist mir ein Rätsel.“

„Du hast ihn schon lange nicht mehr richtig angeschaut oder?“ Ich strecke meine Hände in die Höhe und danach in die Breite, sehe sie dabei erschrocken an.

„Du willst mich heute echt ärgern, oder?“, fragt sie mich und ihre Stirn kräuselt sich. Ich mache eine Schnute und rudere zurück.

„Nein. Nein. Niemals! Ich stehe nur zu ihren Diensten, MyLady“ Ich verneige mich tief und spüre den starken Zug in meinem Rücken. Ich brauche mehr Training. Ihr Blick ist kurz misstrauisch, doch dann hält sie mir ihre Hand hin und ich greife danach.

„Nun entschuldigt euch, Knecht.“, spielt sie meisterlich mit. Ich hauche ihr einen Kuss auf die Knöchel und Shari kichert.

„So, ist es richtig und nun gebet mir meine Tasche, Knecht.“ Ich kann sehen, wie Danny mit einem dicken Grinsen an uns vorbeikommt. Ich richte mich auf. Er bleibt neben uns stehen und klopft mir auf die Schulter.

„Nun hat sich euer eigentliches Verhältnis aufgeklärt. Hast du es drauf, Shari!“ Danny lacht, deutet ihr eine High-Five an und auch Shari macht lachend mit. Ich sehe empört zu Danny.

„Ich bin schon immer der Überzeugung gewesen, dass sie die Einzige ist, die dich bändigen kann.“ Shari sieht aus, als würde sie vor Lachen fast platzen. Meine Augenbraue wandert nach und ich ziehe übertrieben die Nase hoch. Beide beginnen zu lachen.

„Deine Nase sieht gut aus, Danny!“, gebe ich ruhig, aber leicht verbissen von mir, betone jedes Wort einzeln und ausführlich, ernte einen skeptischen Blick. Doch dann lache auch ich. Danny legt seinen Arm um meine Schultern und drückt mich lachend an sich. So wie es auch mein Onkel immer macht. Seine Hand bleibt auf der anderen Schulter liegen.

„Du bist echt eine Marke, Dima.“ Ein Klopfen. Ein Griff an meine Schulter und dann zieht er lachend davon. Ich blicke ihm schief grinsend nach und schaue zu Shari. Sie presst ihre Lippen zusammen, ihre Nase wackelt verräterisch und ihr folgendes Lachen ist erhellend.

„Kommt, Miss Shari, ich begleite Euch zu eurem Platz“, sage ich respektvoll, verneige mich erneut und ich schiebe sie sanft, in gebückter Haltung in den Klassenraum.

„Miss Shari. Das mag ich.“ Sie lässt sich auf ihren Platz nieder. Ihr Blick wird ernst.

„Aus Danny werde ich nicht schlau. Mal ist er unausstehlich und dann eigentlich wieder ganz nett“, sagt sie, als ich ihr die Tasche reiche und auf die Uhr sehe. Ein paar Minuten haben wir noch, dann muss ich zu Geschichte.

„Ja, das muss man nicht verstehen“, kommentiere ich und schüttele den Kopf. Ich weiß, was Danny meistens denkt und bin froh, dass Shari das nicht interpretieren kann. Obwohl ich mir eingestehen muss, dass ich Dannys Verhalten selbst manchmal nicht verstehe. Seit unserer Prügelei hat sich unser Verhältnis geändert. Allerdings zum Positiven.

„Bei dir möchte ich auch gern öfter wissen, was du denkst.“ Ich schüttele energisch den Kopf.

„Oh glaub mir, das möchtest du garantiert nicht.“ Ich schultere meinen Rucksack und sehe, wie Sharis Kopf zur Seite kippt. Sie sieht mich skeptisch an.

„Ich denke nur Müll“, sage ich und sehe noch einmal zur Uhr. Shari sieht nicht zufrieden aus.

„Sehen wir uns in der Pause?“, fragt sie. Ich nicke und laufe winkend zum Ausgang.

„Näkemiin“, sagt sie schnell und nimmt meinen finnischen Abschiedsgruß vorweg. Es klingt perfekt und da mir so schnell kein Konter einfällt, rufe ich ihr nur ein ´Sayonara´ zu

„Das üben wir noch!“ Sie hat das letzte Wort. Ich grinse und verschwinde in meinen eigenen Kurs.

Die Flucht nach vorn

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Die Last einer Entscheidung

Kapitel 24 Die Last einer Entscheidung
 

Erst als ich höre, wie sich die Tür erneut öffnet und schließt, stehe ich auf. Ich sammele meine nassen Sachen zusammen, wringe sie aus und beginne zu fluchen. Laut und brüllend. Es dauert eine Weile bis ich mich wieder beruhige. Wie komme ich mit den nassen Klamotten nach Hause? Selbst meine Schuhe sind nass. Ich fluche und schleudere frustriert mein klammes Shirt gegen die Wand.

Keine Antworten. Nur noch mehr Fragen. Es ist alles nur noch schlimmer geworden. Es ist zum verrückt werden. Noch immer hallt mir Raphaels ´Schatz´ im Kopf umher und bohrt sich schmerzhaft in meine Glieder. Ich hebe das Shirt erneut auf und wringe es aus.

Wütend betrete ich den Umkleideraum und sehe zu Raphaels Schrank. Ein klein wenig meines Ärgers verpufft. Vor dem Spind liegt ein Stapel mit einem kleinen Handtuch, einer Stoffhose und einem Hemd. Trotzdem spüre ich, wie die negativen Gefühle in mir überhand nehmen. Keine Erregung mehr. Kein Zufriedenheitsgefühl. Kein Glück. Nur noch beißende Ernüchterung. Was ich mit ihm mache, hat er mich gefragt. Was mache ich denn? Ich weiß es nicht. Ich will doch nur Nähe, Geborgenheit und Glück. So wie alle anderen auch. Zwinge ich ihn deswegen zu Reaktionen, denen er nicht gewachsen ist? Ich fühle Hoffnungslosigkeit und spüre, wie sehr ich zweifele.
 

Genervt und mit einen Chaos an Gefühlen mache ich mich auf den Weg nach Hause. Meine feuchten Schuhe fühlen sich bei jedem Schritt mehr als widerlich an. Sie schlürfen und schmatzen. Außerdem ist mir langsam kalt.

Im Haus angekommen suche ich mir als erstes eine der Heizungen im Flur und drehe sie auf. Sie hustet. Sie gluckert und dann wird es langsam warm. Ich stelle meine Turnschuhe darauf ab und stecke meinen Kopf in die Küche. Dort finde ich meine Eltern am Tisch sitzend vor. Sie trinken Kaffee und wirken ungewöhnlich entspannt. Meine Mutter streckt ihre Hand nach der meines Vaters aus und er lacht.

„Hallo, bin da.“, gebe ich kurz laut und möchte gleich nach oben gehen. Ich muss unbedingt die Klamotten loswerden. Ich kann nicht riskieren, dass Maya sie erkennt. Wenigstens sind meine Haare mittlerweile trocken.

„Mark, komm bitte her“, ruft meine Mutter und mir schwant nichts Gutes. Ein gemeinsames Gespräch mit beiden Eltern. Ich habe nichts getan. Jedenfalls nichts, was mir gerade einfällt. So oder so, es ist der scheinbar ungünstigste Zeitpunkt. Meine Eltern haben es voll drauf immer den unmöglichsten Moment zutreffen. Eine Treppenstufe habe ich geschafft und mein Fuß berührte bereits die zweite.

„Warum?“, frage ich vorsichtig. Abgesehen von der Tatsache, dass ich Mayas Freund verführe und mich nicht an den Hausarrest halte, fühle ich mich durch und durch unschuldig. Meine Mutter beginnt zu lachen, als sie meinen misstrauischen Tonfall hört. Als keine Antwort kommt, schmule ich erneut um die Ecke und sehe meine Eltern lächeln. Positive Gesichter sind ein gutes Zeichen. Meistens jedenfalls.

„Möchtest du uns irgendwas beichten?“, fragt mein Vater belustigt und schiebt mir einen Stuhl zu.

„Nein?“ Argwöhnisch und in die Länge gezogen. Dass ich es als Frage formuliere, lässt meine Mutter erneut lachen.

„Ich rate dir nicht ganz so schuldig zu klingen und zu gucken“, kommentiert sie kichernd.

„Okay.“ Ebenso lang gezogen. Ich setze mich auf den dargebotenen Stuhl und meine Mutter stricht mit sanft über den Arm. Sie mustert meine Kleidung, fragt aber nicht. Ich könnte ihr nicht erklären, wieso ich entgegen meiner üblichen Abneigung mitten in der Woche ein Hemd trage. Und eine Stoffhose. Ich besitze keine. Außer klassische Joggingteile und das ist keines.

„So, nun mach dir keine Sorgen, wir wollen nur über die Schule mit dir sprechen“, sagt sie und lächelt.

„´Keine Sorgen machen´ und ´Wir reden über Schule´ sind für mich nicht kompatibel. Muss das jetzt sein?“

„Ja, es ist wichtig.“

„Das beruhigt mich immer noch nicht“, kommentiere ich und stehe noch einmal auf um mir einen warmen Tee zu machen.

„Im Grunde wollen wir uns erkundigen, was du bisher zum Thema Abschluss und Uni zusagen hast. Und ob du bereits zu einer Entscheidung tendierst, wohin und für was du dich bewerben möchtest.“

„Wir haben ja schon vor einer Weile mal darüber gesprochen und wir würden das Internetverbot lockern, so fern du es für die Recherche und die Entscheidungsfindung für die Universitäten verwendest“, führt mein Vater fort und meine Mutter nickt zustimmend. Wieder Zugang zum Internet zu haben, wäre eine erfreuliche Abwechslung.

„Um das mal klarzustellen, ich würde das Internet nie für etwas anderes nutzen, als für die Wissensanreicherung und dem Ausbau meiner Zukunft“, blödele ich rum. Ich lasse den Witzbold heraushängen und weiß, dass meine Eltern damit rechnen.

„Natürlich nicht“, sagt mein Vater verschwörerisch und wirft mir einen wissenden Blick zu. Ich hebe eine Braue und tue so, als würde ich nicht verstehen, was er andeutet.

„Mein Browserverlauf ist durchweg pädagogischer Natur“, sage ich trocken und kann nicht verhindern, dass es ein Stück weit ironisch klingt. Auch Sextechniken muss man schließlich irgendwie lernen.

„Nun gut, Mark. Sind Medienstudiengänge noch aktuell? Produktdesign, hier an der Uni?“, fragt meine Mutter, die die Blicke meines Vaters und meine wissentlich ignoriert. Ich halte kurz die Luft an und stoße sie geräuschvoll aus.

„Ja, schon...“

„Aber?“

„Aber ich favorisiere im Moment eher Grafikdesign oder Mediendesign“, sage ich leise und schaue in die überraschten Gesichter meiner Eltern. Für sie ist neu, Sie wissen vor allem, dass diese Studiengänge nur an anderen Unis angeboten werden.

„Ich habe drei gute Unis gefunden. Die eine ist spezialisiert auf Designstudiengänge und bietet hervorragende Möglichkeiten hinsichtlich der Vermittlung von Praktikas und anderen praktischen Erfahrungen. An der anderen beiden wird für diese beiden Fächer kein NC verlangt, das heißt ich kann mich einfach einschreiben und muss gar nicht darauf warten, angenommen zu werden und mir bleibt das Anfertigen einer Mappe erspart.“ Ich versuche ihnen eine besonders gute Erklärung zuliefern, Ich bin immerhin vorbereitet. Im Prinzip behagt mir einfach nicht auf die gleiche Universität zugehen, wie Raphael. Doch das kann ich meinen Eltern schlecht auf die Nase binden. Ich schüttele die Gedanken von mir ab und sehe, wie sich meine Eltern anblicken. Sie sind verständlicher Weise verwundert.

„Nun ja, eine aussagekräftige Mappe sollte nicht dein Problem sein, oder?“, hakte meine Mutter nach. Ich schüttele nur meine Schultern. Problem nicht, aber es wäre anstrengend.

„Wie kommt es dazu?“, fragt meine Mutter weiter.

„Na ja, ich denke, ich sollte mich nicht nur auf eine Sache festlegen, sondern verschiedenes in Betracht ziehen.“ Ich sehe meinen Vater zustimmend nicken.

„Als planst du dich trotzdem für Produktdesign hier an der Uni zu bewerben?“

„Möglich...“

„Mark,...“, entflieht ihr seufzend.

„Ich weiß, dass eine andere Uni bedeutet, dass ich ausziehen muss. Ich würde mir einen Platz im Studentenwohnheim suchen oder in einer WG. Ich besorge mir einen Nebenjob, sodass ich keine große finanzielle Last bin.“

„Um die Finanzen geht es nicht, Mark!“, sagt meine Mutter forsch. Ich sehe, dass ihr der Gedanke nicht behagt, dass ich so weit weg bin. Sie schluckt ihre Gefühle herunter, als mein Vater nach ihrer Hand greift.

„Noch habe ich mich, ja nicht entschieden. Zu dem, weiß ich nicht, wie meine Noten aussehen und ob ich überall eine Chance habe. Ich dachte euch wäre das Recht, dass ich mich so breit, wie möglich aufstelle“, rechtfertige ich und meine Mutter prustet.

„Na, ich will doch hoffen, dass du dich jetzt in den letzten Monaten zusammenreißen wirst und die Prüfungen mit Bravour bestehst“, sagt sie energisch und ich schlucke.

„Natürlich werde ich das, aber du kennst doch die Lehrer. Die machen einfach, was sie wollen.“

„Mark, nimm es, bitte ernst“, beklagt sich auch mein Vater.

„Das tue ich. Wirklich!“ Mein Vater sieht mich an und dann wieder zu seiner Frau. Mir fiele es auch schwer, mir zu glauben.

„Nun gut, wir werden auf jeden Fall das Internet für zwei Stunden am Abend wieder einschalten. Wir möchten, dass du es dafür nutzt dich zu entscheiden, Informationen zu sammeln und dich vorzubereiten. Verstanden?“

„Sicher.“ Natürlich habe ich das verstanden. Ich kann nicht verhindern, dass ich wie ein kleines beleidigtes Kind klinge und verschränke die Arme vor der Brust. Ich würde niemals mit dem Internet Schindluder treiben! Nur schwer verkneife ich mir das Grinsen. Meine Mutter schüttelt ihren Kopf und ein paar blonden Strähnen lösen sich aus der Haarklammer. Ich stehe auf, doch meine Mutter hält mich zurück.

„Wir unterstützen deine Entscheidungen, egal ob du die Universität hier wählst, oder eine andere“, sagt sie und lächelt aufmunternd, doch ich weiß, dass es ihr schwer fällt. Sie ist schließlich meine Mutter.

„Das weiß ich.“ Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange und verschwinde endlich in mein Zimmer. In meiner Schreibtischschublade krame ich nach den Infobroschüren, die ich von der hiesigen Universität habe und blättere sie durch. Produktdesign. Ich habe diese Broschüre schon seit zwei Jahren. Der Studiengang war lange Zeit der einzig Wahre für mich, doch nun hadere ich mit mir. Die gleiche Universität würde bedeuten, dass die Möglichkeit besteht häufiger auf Raphael zu treffen. Im Moment weiß ich nicht, ob das so eine gute Idee ist. Das Hin und Her mit Raphael kostet viel Kraft. Ich fühle mich ermattet. Doch jedes Mal, wenn ich an diese wunderbaren, ausdruckstarken Augen denke, flattert mein Herz. Der Ausdruck, den er in seiner Wohnung und auch in der Umkleidekabine hatte, sprach von Wohlgefallen und Leidenschaft. Er will es. Vielleicht ist er nur noch nicht bereit. Vielleicht ist es noch nicht ausgeträumt. Ich lehne mich zurück. Vielleicht. Wahrscheinlich. Eventuell. Möglicherweise. Adverbien sind scheiße. Ein Hin und Her, wie in einem Teenagerdrama. So lächerlich.
 

Am Donnerstag unternehme ich einen neuen Versuch mit Raphael zu reden. Sein neues Hobby mir aus dem Weg zu gehen, beherrscht er mittlerweile meisterlich. Ich habe das Gefühl innerlich zu zerreißen. Seine Beziehung zu Maya ist für mich nur noch sein verzweifelter Versuch seinen eigenem Gefühlschaos zu entfliehen. Ist es vielleicht doch nur die Neugier?

Ich setze mich in mein Versteck auf der Tribüne und warte auf die fleißigen Läuferchen. Wie oft ich hier oben gesessen habe, um Raphael zu beobachten. Ich weiß es nicht mehr. Ich denke an die Bilder zurück und frage mich, wie oft er davon gewusst hat. Als das Training beginnt, setze mich ganz offensichtlich in eine der mittleren Reihen. Hürdenlauf steht heute auf dem Programm. Nicht mein Favorit, denn ich finde, dass die Sportler eigenartig aussehen, wenn sie mit hochgerissenen Beine über die Hürden stelzen. Trotzdem sehe ich zu. Es wird kühler und geht auf den Abend zu. Raphael dreht sich nicht ein einziges Mal zu mir um und dennoch weiß ich, dass er mich sehr wohl bemerkt hat. Als sie fertig sind, trabe ich leise nach unten. Ich denke an Raphaels Aussagen mit dem Stalker und muss mir eingestehen, dass er ein wenig Recht hat. Ich wirke wirklich so.

Ich beobachte, wie Raphael die Hürden zur Seite schiebt und dann vom Boden seine Pfeife aufsammelt. Das gesamte Training über wirkte er nachdenklich. Es gibt so viele Dinge, die ich nicht verstehe und die er mir erklären muss. Ich habe nicht mehr als vage Vermutungen. Die Bilder in seinem Schreibtisch, sein stilles Näherkommen und vor allem seine Reaktionen auf meine Annäherungen. Ich bin mir sicher, dass mehr passiert wäre, wenn Maya uns in der Umkleidekabine nicht überrascht hätte. Noch immer spüre ich seine Hände auf meiner Haut. Im Moment scheinen sie sich unangenehm in mich hinein zu brennen. Ich fühle sein Unwohlsein so deutlich, wie den lauen Wind auf meiner Haut.
 

„Nicht schon wieder, Mark!“ Er kommt auf mich zu und sieht mich entgeistert an. Er schiebt mich zur Seite, doch ich greife nach seinem Handgelenk und halte ihn fest. Ich habe damit gerechnet, dass es ihn nicht freuen wird mich zu sehen, aber trotzdem verletzt es mich.

„Lass mich raten, du willst reden?“

„Ja, reden.“

„So, wie beim letzten Mal?“, spottet er.

„Ja, wenn du es drauf anlegst“, kontere ich spitz und spüre selbst Verdruss. Kurz beiße ich die Zähne zusammen. Eine Eskalation möchte ich vermeiden. Ich schlucke jeden weiteren Konter runter und löse meine Finger von seinem Handgelenk. Raphael bleibt stehen, obwohl ich ihn nicht mehr festhalte. Mein gegenüberstreicht sich durch die dunklen Haare und schließt kurz die Augen.

„Ich habe für sowas keine Zeit“, würgt er mich schon wieder ab und will an mir vorbeigehen. Ich verstehe nicht, warum er ständig davonläuft. Was verspricht er sich davon?

„Verdammt, Raphael, ich löse mich nicht einfach in Luft auf. Also sag mir, wann hast du Zeit für so was? Möglicherweise, wenn du auf einem anderen Kontinent sitzt. Dann vielleicht?“ Raphael bleibt stehen und schnaubt.

„Du klingst schon wieder, wie ein verrückter Ex.“

„Und du klingst die ganze Zeit, wie ein verdammter Lügner!“, knalle ich ihn an den Kopf und ich sehe, wie er seinen Blick getroffen abwendet.

„Ich bin es leid dir nach zu laufen“, sage ich ihm.

„Dann lass es doch!“, bellt er laut. Seine ablehnende Haltung trifft mich hart und ich zucke verletzt zurück, aber auch Raphael hat sich über seine eigene Reaktion erschrocken.

„Okay, dann lass uns bitte nur ein einziges Mal darüber reden, wie zwei erwachsene Menschen“, sage ich ruhig, aber bestimmt.

„Weil du dich ja immer so erwachsen verhältst und niemals ernsthafte, persönliche Gespräche ins Lächerliche ziehst“, gibt Raphael spöttisch von sich und spielt damit auf meinen niveaulosen Ausrutscher gegenüber den Jungs in der Umkleidekabine an. Ich fühle mich deshalb schon schlecht genug.

„Im ernst? Ich habe mich dafür entschuldigt“, wehre ich mich. Ein einziges Mal. Eine Verfehlung, doch er spielt diese Karte aus. Mehr als mich entschuldigen kann ich mich nicht. Mein Hals fühlt sich trocken an. Ich spüre, wie mir meine Schlagfertigkeit langsam, aber sicher davongleitet. Meine Gefühle für Raphael sind zu stark um solche Aussagen einfach abzunicken.

„Falls du es noch nicht gemerkt hast, aber ich versuche auch nur mit der Situation zurecht zu kommen, Raphael.“

„Ja, eine feine Art damit zurecht zu kommen.“ Abermals ein feines Spötteln. Ich will ihn gerade einfach nur schütteln oder wahlweise und verprügeln. Allerdings hat die Technik beim letzten Mal nicht so gefruchtet, wie geplant.

„Arrghn, ich habe mich bereits entschuldigt, mehrmals. Außerdem ist das, was du tust, nicht besser.“

„Wie bitte? Ich mache nichts dergleichen!“ Er sieht bei sich keine Schuld.

„Nein, du bist mir gegenüber nur unehrlich und ausweichend. Und falls es dir noch nicht aufgefallen ist, wir hintergehen Maya. Du, im gleichen Maß, wie ich. Darüber sollten wir endlich reden oder willst du deine glücklose Beziehung einfach weiterführen.“

„Verdammt, ja, das ist mir sehr wohl bewusst und wir können von glücksagen, dass sie nichts mitbekommen hat. Das wird auch so bleiben. Wir halten beide unseren Mund.“ Während Raphael spricht, fährt er sich durch die Haare. Ich kann deutlich sehe, wie er die Zähne zusammenbeißt.

„Schweigen ist ja deine Stärke. Bist du ein wahrer Meister drin“, antworte ich ihm verärgert.

„Wie ich damit umgehe ist ja wohl meine Sache.“

„Mag sein, dass das deine Sache ist, aber die Tatsache, dass du dich gierig von mir befriedigen lässt und auf meinen Gefühlen rumtrampelst, geht mich etwas an. Also, was soll das?“ Meine konkreten Formulierungen beschämen ihn. Ich sehe, wie er schluckt und die Vene an seinem Hals zu pulsieren beginnt. Außerdem legt sich eine zarte Röte um seine Nase erkennen und er weicht meinem Blick noch konsequenter aus als vorher.

„Hör zu, ich möchte nur verstehen, was es bedeutet“, setze ich fort.

„Nichts. Es hat nichts zu bedeuten. Es war nur eine Verirrung. Ein spontaner Fehler“, sagt er knapp.

„Spontaner Fehler. Mehrmals? Wow, du scheinst also aus Fehlern wirklich nicht zu lernen. Damit hat es sich für dich geklärt? Das sind Ausreden, alles Ausreden. Ich bin vielleicht nicht der Richtige um das so zu sagen, aber normal ist das nicht.“ Ich sehe ihn zweifelnd und verletzt an. Meine Hand fährt unruhig über meinen Arm und mich erfasst eine intensive Gänsehaut.

„Es hat nichts zu bedeuten, Mark. Es war einfach nur ein Fehler. Schluss. Aus. Wir müssen damit aufhören und es am besten vergessen.“ Die direkten Worte bohren sich, wie Nägel in meinen Körper. Langsam und schmerzhaft. Ich schließe die Augen.

„Vergessen? Du machst es dir immer schön leicht, nicht wahr? Ich will es nicht vergessen. Ich möchte verstehen, warum du plötzlich einen anderen Mann küsst. Ich will verstehen, wieso du Bilder von mir hast, die vor der Zeit von Maya sind. Ich will die Wahrheit.“ Ich konfrontiere ihn wild mit den Fakten, die ich kenne.

„Ich war in der Foto-AG der Schule. Es ist nur Zufall“, weicht er aus und ich weiß, dass es an der Haaren herbeigezogen ist. Eine weitere fadenscheinige Ausrede. Es ist nahezu lächerlich. Ich mache weiter.

„Du erinnerst dich an unsere erste Begegnung, warum?“

„Es war einfach ein verrückter Moment. Das merkt man sich. Mehr nicht.“ Wieder nur heruntergespielt. Ich spüre die Verzweiflung und wie sie sich in jede kleine Zelle meines Körpers ausbreitet.

„Was ist mit Jake? Das ich etwas mit ihm hatte, sollte dir eigentlich egal sein, aber das war es nicht. Da war eifersüchtig. Erkläre es mir?“ Ich höre, wie er bei der Erwähnung des anderen Mannes leise schnaubt. Ganz unwillkürlich. Doch er setzt zu keiner Ausrede an. Ich denke an den Ausdruck seiner Augen zurück, an das Gefühl, welches ich empfunden habe, als ich es mir als Eifersucht erklärte. Etwas von diesem Ausdruck spiegelt sich auch jetzt in dem tiefen Grün.

„Der Gedanke. Es hat dich gestört“, flüstere ich. Raphael ballt seine Hände zu Fäusten und schüttelt energisch seinen Kopf.

„Das alles zwischen uns, das hast du genossen. Es hat dir gefallen. Leugne es nicht. Du hast es gewollt.“

„Mark, nicht...hör auf.“

„Es war mehr als Neugier oder blindes Verlangen nach körperlicher Nähe. Du weißt, dass wir weiter gemacht hätten, wenn Maya nicht gekommen wäre“, setze ich in völliger Überzeugung fort und gehe einen Schritt auf ihn zu. Wieder flackert diese Unsicherheit in seinen Augen.

„Nein“, haucht er. Ein weiterer Schritt auf ihn zu. Ich sehe, wie er schwer schluckt aber nicht vor mir zurückweicht. Ich strecke meine Hand nach ihm aus, spüre seine Finger und seine umfangen meine. Im ersten Moment befürchtete ich erschlägt sie fort, doch er hält sie fest. Da ist etwas. Dort sind Gefühle.

„Was fühlst du für mich?“

„Das spielt keine Rolle“ Er versucht das Geschehene herunterzuspielen, doch in seinen Augen lese ich die Bedrängnis, in die er sich manövriert fühlt.

„Doch“, antworte ich noch immer mit Hoffnung. Für mich spielt es eine große Rolle. Seine grünen, wunderschönen Augen glänzen und spiegeln seine innere Zerrissenheit wieder. Wir sind uns wieder so nah. Ich spüre seinen hektischen Herzschlag an meiner Hand. Sein warmer Atem streift meine Haut. Ich greife seine Hand fester, sehe auf und in diesem Moment beugt er sich zu einem Kuss runter. Eine Berührung voller Kümmernis. Ein Moment purer Verzweiflung und so schnell, wie es geschehen ist, ist es wieder vorbei.

„Verdammt...verdammt! Ich kann dir einfach nicht geben, was du willst. Denn ich...ich ... ich will eine normale Beziehung mit Maya. Ich bin nun mal der Freund deiner Schwester.“ Nun sagt er genau das, was ich auf keinen Fall hören will. Und obwohl ich das Zögern, den Hader höre als er es versucht zu formulieren, trifft mich nur der Schmerz. Es zerdrückt mich innerlich, aber genauso sehr erfüllt es mich mit Wut. Ich kann es nicht mehr hören.

„Ja, verdammt. Ja, das weiß ich seit dem verdammten Tag, an dem meine Schwester den Mann als ihren Freund vorstellte, in den ich seit 4 verfickten Jahren verliebt bin. Also Danke, ich weiß, dass du der verfluchte Freund meiner Schwester bist.“ Mit jedem Wort wird meine Stimme lauter bis ich ihn anschreie. Es ist das erste Mal, dass ich ihm so deutlich meine Gefühle offenbare. Ich balle meine Hand zu einer Faust und schlage sie gegen seine Brust. Raphael fängt sie ab und zuckt zusammen. Ich bemerke eine Veränderung in seinem Blick, doch ich ignoriere sie.

„Seit einem halben Jahr bekomme ich eure heuchlerische Beziehung brühwarm fast jeden Morgen und Abend aufs Brot geschmiert. Ich weiß ja nicht, ob es dich interessiert, aber ich finde es nicht berauschend“, knalle ich ihm als nächstes an den Kopf. Raphael senkt seinen Blick und meine Wut weicht kurz Trauer und Schmerz. Ich schlucke die Gefühle runter, spüre wie der plötzlich verfliegende Geschmack seiner Lippen förmlich verbrennt und nichts weiter als eine Erinnerung zurück bleibt, die rein gar nichts mehr bedeutet.

„Und weil es nicht schlimm genug ist, stehst du vor mir, kommst in mein Zimmer, küsst mich. Du wirst wegen der Sache mit Jake eifersüchtig, suchst andauernd meine Nähe und dann ist es Nichts? Eine Verirrung? Ein Fehler“, wiederhole ich die Wort seiner verletzenden Antworten. Raphael schweigt. Seine Hand um meinem Handgelenk ist verkrampft.

„Dass ich nie den Mund aufgemacht habe, ist meine Schuld. Dass ich meine Neigung für mich behalten, ist meine eigene Schuld, aber dass du so mit mir umgehst, habe ich nicht verdient“, sage ich leise. Ich versuche tief einzuatmen und meine Wut herunterzufahren, doch es gelingt mir nicht.

„Wenn doch alles nichts zu bedeuten hat, dann verstehe ich deine Reaktionen nicht. Wenn dein Wissen um meine Homosexualität dafür gesorgt hätte, dass du dich von mir entfernst, dann wäre ich damit zu Recht gekommen, aber du hast genau das Gegenteil getan. Du hast meine Gefühle für dich ausgenutzt. Du hast mich benutzt.“ Ich beobachte sein angespanntes Gesicht.

„Ich weiß,...“, flüstert er, „aber ich bin nicht schwul.“ Raphael kommt einen Schritt auf mich zu. Widersprüchlich, alles ist so widersprüchlich. Seine Stimme ist nicht so fest, wie sie mit diesen Worten sein muss und dennoch verursachen sie mir weiteren Schmerz. Ich schließe meine Augen und spüre, wie meine Wut tief rumort.

“Scheiße, das weiß ich auch! Du erzählst mir nichts, was ich nicht schon seit Jahren weiß. Das sind alles keine Antworten, Raphael. Nur verdammte Ausflüchte“, brülle ich ihn an und stoße ihn zurück. Ich bin so extrem wütend, verletzt und enttäuscht. Mit jedem seiner Worte wird es schlimmer. Ich habe das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Es ist, wie eine Schlinge, die sich um meinen Hals legt und sich langsam zu zieht.

Seine Augen beginnen zu schimmern. Es ist Schmerz und Wahrheit, die sich darin spiegeln, doch das hilft mir nicht. Ich verstehe es nicht, wenn er es nicht ausspricht. Also werde ich es nie verstehen können.

„Verdammt, warum tust du mir das an? Warum konntest du mich nicht mein bescheidenes, trostloses Leben weiterleben lassen? Warum konntest du mich nicht einfach ignorieren? Warum?“ Raphael schließt seine Augen und fährt sich mit der Hand über den Mund.

„Mark, es tut mir leid, aber... Was willst du denn hören? Egal, was ich sage, es ändert nichts an der Situation. Ich kann dir nicht geben, was du willst. Ich kann es nicht, Mark“, sagt er. Und ich fahre mir unwirsch durch die Haare. Er kann mir nicht geben, was ich will, wiederhole ich in Gedanken und spüre den Schmerz über die Tatsache, dass ich das schon eine ganze Weile weiß.

„Du bist zu mir gekommen“, sage ich laut und direkt. Raphael zuckt heftig zusammen.

„Es tut mir leid“, murmelt er schwach.

„Ja, scheiß auf die Gefühle des dummen schwulen Jungen. Scheiß auf…“Ich schlucke die Worte resignierend runter und streiche mir mit kalten, klammen Fingern über meine bebenden Lippen.

„Ich... Maya ist meine Freundin. Was anderes kann ich einfach nicht. Ich weiß nicht, wie…Mark, versteh das doch bitte.“

„Nein, ich versteh es nicht. Ich verstehe nicht, warum du dir einredest, dass du es nicht kannst, wenn du es im Grunde einfach nur nicht willst und nicht den Mumm hast. Du konntest schließlich auch Gefälligkeiten von mir entgegen nehmen und trotz alledem den perfekten Freund für sie weiterspielen.“

„So ist das nicht.“ Ein Flüstern mit einem Tonfall, den ich nicht zu bestimmen mag.

„Hör auf.“ Ich will nichts mehr hören.

„Mark...“ Er hadert, doch dann senkt sich sein Blick erneut. Seine linke Hand ballt sich zu einer Faust und er sieht zur Seite. Für mich ist seine Entscheidung gefallen. Er kann nicht und er will nicht. Maya ist der einfachere Weg. Welche Gefühle auch immer für mich hat, sie sind nicht stark genug. Er ist nicht mutig genug. Im Moment habe ich einfach nicht die Kraft um weiter darüber nachzudenken. Der letzte Funken Hoffnung in mir erstirbt. Vielleicht hätte ich ihn von vornherein ersticken sollen. Ich kann meine Tränen kaum noch unterdrücken. Raphael steht einfach nur da und schweigt. Das kann er gut, doch ich bin es einfach nur Leid von ihm angeschwiegen zu werden. Ich möchte nur noch weg und wende ich mich um. Ich höre, wie er wiederholt meinen Namen flüstert.

„Nein, spar es dir“, erwidere ich und gehe. Raphael hält mich nicht zurück, doch ich höre, wie er hart gegen die Stufe der Tribüne tritt.

Ein ehrliches Hindiwort befreit

Kapitel 25 Ein ehrliches Hindiwort befreit
 

Raphaels Worte hallen in meinem Kopf nach. Vor allem das leise Flüstern meines Namens. Es brennt. Doch auch der Rest folgt. Echot und hallt. Seine Worte treffen mich wieder und wieder, wie stechende Nadeln. Mit jedem Atemzug bohren sie sich tiefer. Verzweifelt halte ich die Luft an, doch es wird nicht besser. Unaufhörlich dringen sie tiefer. Ich bleibe auf dem Parkplatz der Schule stehen und sehe mich um. Hilflos. Verletzt. Ich verzweifele mit Raphaels Feigheit. Nicht, dass ich mich je zu der mutigen Sorte gezählt habe, aber die gnadenlose Gewissheit zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Ich brauche Halt. Jemanden, der mich mit seiner bloßen Anwesenheit beruhigt und liebevoll wiegt.

Shari.

Ich denke nicht weiter darüber nach, steige in den Bus und stehe wenige Minuten später vor ihrem Haus. Es dämmert bereits. In jedem Fenster brennt Licht. Ich kann ihre Mutter durch das Fenster hindurch in der Küche stehen sehen. Ihre langen, schwarzen Haare sind lässig zusammengebunden und der rote Punkt auf ihrer Stirn leuchtet in ihrem freundlichen und gemütlichen Gesicht. Ihr lächelnder Mund ist der Inbegriff von Mütterlichkeit und mich durchströmt selbst hier draußen noch Wärme.
 

Wieder verspüre ich ein heftiges Stechen in meiner Brust als Raphaels Worte durch meinen Kopf hallen. Trotz des lähmenden Schmerzes atme ich tief ein und ziehe mit klammen Fingern mein Handy hervor. Ich lasse es klingeln und nach schier unendlichen Minuten geht Shari endlich ran.

„Namasté, mein Bester", kommt es wie gewohnt fröhlich. Für einen Augenblick zucken meine Mundwinkel. Doch ich kriege kein Wort heraus nur den Hauch eines Heys. Normalerweise erwidere ich mit meinen sonderbaren Begrüßungen, höre dann ihr Lachen oder ein fragendes Geräusch, doch diesmal ist mein Hals wie zugeschnürt.

„Mark? Alles okay?", fragt sie irritiert und fürsorglich, als ich nicht antworte. Ich atme ein und streiche mir mit zitternden Fingern über die Lippen.

„Ja. Nein, eigentlich nicht", gebe ich leise von mir und schließe die Augen.

„Ist etwas passiert?" Ihre weiche Stimme ist liebevoll und unendlich besorgt. Ich schweige, weil ich nur schwer meine Tränen zurückhalten kann. Dumpf dringt die Stimme ihres Vaters durchs Telefon, trotzdem scheint sie zu hallen. Shari antwortet etwas auf Hindi.

„Mark, du stehst vor dem Haus?", fragt sie verdutzt und ich höre ein Rascheln. Wahrscheinlich ist sie von ihrem Bett aufgestanden und im nächsten Moment geht auch schon die Haustür auf.

Ihr Vater wirkt noch größer als ich in meiner Erinnerung. Meine schleichende Angst formt ihn in meiner Fantasie noch monströser und furchteinflößender, als er wirklich ist. Sein Gesicht, ein Füllhorn an grimmiger Mimik und entsetzlicher Blicke. Mein Puls geht nach oben, als er seine Arme vor der gigantischen Brust verschränkt. Bilder aus meinen Träumen scheinen mit einmal unglaublich real und sehe mich schon im currygewürzten Sud meiner Eingeweide schmoren bis ich gar bin. Ich atme tief ein und mache einen Schritt auf ihn zu.
 

„Guten Abend, Mister Ambani." Meine Stimme zittert ungewöhnlich.
 

„Was willst du hier?" Sein Tonfall ist neutral, doch das leise Brummen im Untergrund wirkt irgendwie bedrohlich. Vielleicht auch nur, weil mein Nervenkleid gerade nicht das Stärkste ist. Mir fällt keine Erwiderung ein und bevor ich etwas antworte, steht Shari hinter ihm, zieht ihn zurück. Sie sagt etwas auf Hindi und es entbrennt eine hitzige Diskussion, bei der auch hin und wieder Worte fallen, die ich verstehe. Unruhestifter. Ärgerbringer. Mann. Ihr Vater ist wirklich kreativ. Mit einen lauten, tiefe Seufzen drückt sie an ihn vorbei und kommt auf mich zu. Ich sehe dabei zu, wie ihre langen schwarzen Haare hin und her wiegen. Ihre Lippen tragen ein sorgenvolles Lächeln.

„Mark, was ist los?" In ihren klaren, braunen Augen glitzert Besorgnis. Sie greift nach meiner Hand. Sie trägt keine Spur von Make up und sie ist wunderschön.

„Shari, komm wieder rein!"

„Gleich!", patzt sie zurück. Oje, ich bin tatsächlich Störer des Friedens.

„Ich dulde keinen fremden, männlichen Besuch in unserem Haus", sagt ihr Vater ernst und mit unmissverständlicher Präsenz.

„Er ist dir nicht fremd, Papa. Er ist mein bester Freund und ich werde mit ihm reden." Bestimmend und ebenso konsequent. Shari mustert mich, doch ich sehe weiterhin zu ihrem Vater, hinter welchem mit einem Mal Sharis Mutter auftaucht. Sie legt ihre schmale Hand auf seiner Schulter ab. Sie ist eine kleine, rundliche Frau mit sehr hübschen, sehr weichen Gesichtszügen. Geflüsterte Worte und ein Lächeln. Augenblicklich geht etwas seiner furchtvollen Statur verloren. Nun weiß ich, von wem Shari das bezaubernde Lächeln hat. Ich sehe meiner Freundin in die braunen Augen.

„Mister Ambani, ich versichere Ihnen, das sich keinen Ärger machen will. Shari ist meine beste Freundin und ich würde ihr niemals etwas Böses wollen. Außerdem...", unterbreche ich mich um tief einzuatmen.

„.. habe ich kein Interesse an Frauen." Ich habe das Gefühl auch aus den entferntesten Regionen meines Körpers meinen Mut ziehen zu müssen. Doch irgendwie ist es mir gerade auch egal, wer es erfährt. Ihr Vater versteht es nicht, doch ich sehe, wie Sharis Mutter nickt. Sie sagt etwas auf Hindi, von dem ich sicher bin, dass es meine Neigung erklärt und zieht ihren zeternden Mann zurück ins Haus. Erst als sich die Tür schließt, sehe ich zu Shari. Sie lächelt und ihr Blick ist weniger erstaunt, als ich vermutetet habe. Ich spüre den kalten Wind, der mich frösteln lässt und blicke an Shari hinab. Sie trägt nur eine dünne Bluse und eine schlichte graue Stoffhose. Trotzdem scheint sie von einer Aura der Innigkeit umgeben, die mich mit wohliger Wärme umfängt. Ihre warmen Finger umfassen meine Hände.

„Meinst du, sie lassen mich kurz rein? Ich will nicht, dass du hier draußen erfrierst." Shari blickt zum Haus und zieht mich nickend hinter sich her. Ohne zu zögern, geht es die Treppe hinauf, vorbei an den Kinderzimmern ihrer Brüder bis wir in ihrem kleinen Zimmer zum Stehen. Es ist bunt und fröhlich. Warme erdige Farben. Ein kleiner Hauch Orient findet sich überall und ich beginne unweigerlich zu lächeln. So habe ich es mir immer vorgestellt. Ich wende mich ihr zu, als sie die Tür nicht schließt, aber anlehnt. Schon jetzt spüre ich die herzenswarme Hand, die sich wie Balsam über meine geschundene Seele legt. Shari greift nach meinen Händen und sieht mich auffordernd an. In meinem Kopf beginnt es zu arbeiten.

„Was ist passiert?"

„Raphael."

„Raphael?"

„Ich hatte Streit mit Raphael." Meine Stimme ist leise. Normalerweise ist Streit zu haben, nichts besonders für mich und das weiß Shari auch.

„Worüber habt ihr gestritten?", erkundigt sie sich einfühlsam und versteht wahrscheinlich nicht, worüber ich mit Raphael streiten könnte. Ich konzentriere mich darauf, tief ein und wieder auszuatmen. Ich versuche die Gedanken in meinen Kopf zu ordnen, doch es gelingt mir nicht. Ich weiß einfach nicht, wo ich anfangen soll. Es ist als würden die Jahre des einsamen Schweigens auf mich einstürzen.

„Darüber, dass ich so dumm wahr zu glauben, dass ich ihm was bedeute." In ihren Augen spiegeln sich all die Fragen, die nun in ihrem Kopf aufploppen.

„Ich bin seit der 10. Klasse in ihn verliebt und... und er ist mit meiner Schwester zusammen."

„Oh Mark, das tut mir so leid", haucht sie bitter.

„ Es tut weh und ich hasse Maya dafür. Aber weißt du, er hat mich geküsst und wir streiten andauernd, weil er so feige ist. Ich ertrage es nicht, sie zusammen zu sehen. Er kann sich nicht entscheiden und jetzt wird er vielleicht nach Kalifornien gehen", brabbele ich drauf los. Tränen, sie verschleiern meinen Blick und das was ich sage, ist wenig logisch. Doch in diesem Augenblicke bekomme ich es nicht besser hin. Sharis warme Hände greifen meine fester und in ihren braunen Augen bildet sich langsam der Moment der Erkenntnis.

Ihre Hände legen sich meinen Wangen und sie streicht mir mit dem Daumen ein paar Tränen weg. Danach drückt sie mich an sich und legt ihre schmalen Arme um meinen Körper. Eine sanfte, beruhigende Geste, die meinen Tränenfluss nicht bricht, sondern für einen Moment verstärkt. Ihre Finger berühren meinen Nacken, fahren durch den Ansatz meiner Haare und irgendwann über meinen Rücken. Die sanften Berührungen einer wärmenden Freundschaft. Als ich mich wieder beruhige und mich ein wenige sammle, lässt sie mich los und sieht mich an.

„Okay, jetzt noch mal von vorn", sagt sie schmunzelnd. Ich gebe ein tränenersticktes Lachen von mir und verstehe, dass ich eben viel unverständliches Zeug von mir gegeben habe. Wir setzen uns auf ihr Bett und sie reicht mir eine Packung Taschentücher. Es ist eine sonderbare Szene. Ich dachte immer, dass irgendwann Shari so vor mir sitzen würde und nicht ich vor ihr.

„Von Anfang?", hake ich nach. Wenn ich jetzt vier Jahre wiedergeben muss, sitzen wir bis morgen früh hier. Je mehr ich darüber nachdenke, umso chaotischer werden meine Gedanken. Es ist alles so unwirklich. Ich schließe die Augen und habe das Gefühl, dass die letzten, ereignisvollen Wochen, wie ein Film vor mir ablaufen. Aufregend, aber unendlich schmerzhaft.

„Das ist schlechtes Karma, oder?"

„Was meinst du?"

„Das sich der Kerl, in den ich verliebt bin, ausgerechnet meine Schwester aussucht."

„Eher ein fieser Zufall, würde ich sagen", kommentiert sie genauso bitter, wie ich mich fühle.

„So lange schon. Wieso hast du mir nie etwas gesagt?", fragt sie berechtigter Weise und sieht mich an. Ich weiche ihrem Blick aus und versuche mir, eine plausible Erklärung zurecht zulegen, doch ich habe keine.

„Ich habe mit niemanden darüber geredet. Ich war so dumm zu glauben, dass es sich von allein löst." Ich schniefe und wische mir über die Nase.

„Ich meine gar nicht Maya und Raphael. Wieso hast du nie mit mir darüber geredet, dass du schwul bist." Ich ziehe mein linkes Knie nach oben und wende mich ihr so direkt zu. Meine Hände zerdrücken das Taschentuch und beginnen es langsam zu zerrupfen. Meine Schultern zucken nach oben und ich kann Shari keine wirkliche Antwort geben. Ich weiß nicht, wieso ich nie den Mut hatte, es ihr einfach zu sagen.

„Weiß denn überhaupt jemand, dass du auf Männer stehst?", hakt sie nach und nimmt mir das zerfledderte Taschentuch aus der Hand, um mir ein neues zugeben.

„Nein. Na ja. Vereinzelte."

„Du hättest mit mir reden können oder hattest du den Eindruck, dass ich das nicht verstehe?", fragt Shari und ich habe das Gefühl, dass sie enttäuscht ist.

„Ehrlich, du bist die Einzige, der ich es immer erzählen wollte, aber ich wollte dich nicht belasten."

„Belasten? Du Idiot, dafür sind Freund doch da. Sie nehmen dir etwas von der Last, weil sie einem hören und Halt geben. Und sie geben dir doofe, aber wahre Ratschläge und manchmal auch mehr oder weniger hilfreiche Kommentare." Das mit den Kommentaren ist eigentlich mein Metier. Sie seufzt, aber ihr Blick ist liebevoll. Sie ist nicht sauer und ich schäme mich. Ich beobachte meine Finger, wie sie sich ineinander verschränken und wieder lösen.

„Entschuldige", flüstere ich. Sie legt ihre schlanken Finger auf meine unruhigen Hände.

„Gut, dann kommen wir jetzt zu dem Teil mit den mehr oder weniger hilfreiche Kommentare und Ratschlägen." Sie setzt sich aufrecht hin. „Raphael und Maya. Deswegen deine komischen Reaktionen in der letzten Zeit." Shari streicht sich eine Strähne hinters Ohr und ich nicke nur. Kommentare und Ratschläge. Ratschläge wären vielleicht gar nicht schlecht.
 

„Seit die beiden zusammen sind, ist es so viel schwieriger geworden, damit zu Recht zu kommen. Vor allem, weil er ständig da ist", beginne ich," Er ist zu mir gekommen und wollte über Maya reden. Und dann..." Ich atme tief ein und schließe kurz meine Augen.

„Er hat mich an einem Abend mit Jake gesehen", flüstere ich.

„Marikas Bruder?" Verwundert. Ich schüttele den Kopf und sie wirft mir einen fragenden Blick zu.

„Cousin."

„Der von der Party?" Ich nicke. „Was genau hat er denn gesehen?", fragt sie beiläufig, aber für einen kurzen Augenblick glänzen ihre Augen mehr als neugierig.

„Einen Kuss und eine kleine Umarmung. Ganz harmlos, aber seither ist Raphael anders zu mir", erkläre ich und sehe, dass mich Shari aufmerksam mustert. „Weißt du, ich dachte, er würde mich meiden, wenn er es erfährt, aber stattdessen sind wir uns näher gekommen. Er hat meine Nähe gesucht." Der letzte Satz ist nur ein Flüstern. Ich sehe auf das Taschentuch in meinen Händen und beginne erneut es zu zerreißen, da mir bereits die Gedanken an Raphael einen Kloß in den Hals treiben. Shari atmet hörbar ein, doch sie drängelt nicht und lässt mich in meinem Tempo erzählen.

„Als hätte er ...als hätte sich etwas geändert, als er es erfuhr. Wir haben uns geküsst, weißt du. Mehr als einmal." Ich blicke zu ihr auf. Ich belasse es bei den Küssen und erzähle nicht von den anderen Dingen. In ihrem Blick schwimmt für einen kurzen Moment die Anklage des Betrugs. Sie denkt an Maya und sie hat Recht.

„Siehst du, deshalb das schlechte Karma. Ich bin ein furchtbarer Mensch und der Preis für den schlechtesten Bruder der Welt ist schon lange für mich reserviert. Aber es ist ja nicht so, dass Maya das nicht schon seit ihrer Geburt weiß. Ich meine, wir mögen uns einfach nicht und das ist schon immer so. Und verdammt noch mal es ist Raphael...Raphael.", rechtfertige ich mich plappernd. Die letzten Worte sind nur geflüstert. Als würde die Erwähnung seines Namens irgendetwas erklären. Für mich tut es das, denn für mich ist er seit Jahren derartig präsent, dass allein sein Name etwas in mir auslöst.

„Wenn ich in seiner Nähe bin, schaltet sich mein Kopf ab. Wirklich, einfach Klick und er ist runtergefahren", versuche ich zu erklären und spüre, wie sich das ewig schlechte Gewissen in mir ausbreitet. Ich verüble niemand eine negative Meinung zu dem Thema. Es ist nicht richtig und das weiß ich. Wir betrügen Maya. Oder eher, wir haben es. Denn es ist vorbei. Wieder schnürt sich mir der Hals zu. Ihre Hand greift nach meiner und drückt sie leicht. Verständnisvoll beruhigend. Ich sehe auf. Sharis Gesichtsausdruck ist weich und warmherzig.

„Und euer Streit?", erkundigt sie sich nun.

„Ich habe ihn zur Rede gestellt und wollte Klarheit. Die habe ich jetzt. Na ja, mehr oder weniger Er hat sich für sie entschieden. Eine Verirrung und einen Fehler hat er alles genannt und das er es nicht kann. Ich meine, was heißt das bitte? Er kann nicht", fahre ich fort. Der Gedanken an die Szene tobt, wie ein zerstörendes Gewitter aus Erinnerungen durch meinen Kopf. Es hinterlässt nichts weiter als Verwüstung und Leid. Meine Augen beginnen zu brennen und ein feiner Tränenschleier verwischt meinen Blick.

„Was kann er nicht? Ehrlichsein? Seinen Mann stehen? Was? Ein Fehler mehr bin ich nicht für ihn." Meine Stimme klingt hochgradig verzweifelt.

„Oh, Mark. Das tut mir leid. Und er hat gar nichts erklärt? Wieso er dich geküsst hat und warum er...?"

„Nein, keine Begründung. Nichts. Er hat nur ständig gesagt, dass er nicht kann und nicht weiß", äffe ich ihn nach und ringe mir ein unglaubhaftes, schräges Lächeln ab. Sharis warme Hand streicht über meinen Arm. Ich bekomme eine feine Gänsehaut, sehe einen Moment dabei zu, wie sich die Härchen auf meiner Haut aufrichten und sanft im Hauch der elektrisierenden Reibung zucken.

„Warum musste sie gerade ihn als Freund mit nach Hause bringen? Es gibt so viele oberflächliche Jungs in der Schule oder auf den Campus. Warum gerade er?", fragte ich rhetorisch in den Raum hinein, weil ich weiß, dass es dafür keine plausible Erklärung gibt. Mein ganzer Körper brennt.

„Ich wusste ja, dass es hoffnungslos ist. Ich meine, es hat mir gereicht, ihn aus der Ferne zu betrachten. Das habe ich Jahre lang so gemacht. Es hat niemand gestört. Niemand verletzt. Doch jetzt. Seine ständige Nähe und Anwesenheit machen mich verrückt. Zu wissen, dass er vielleicht..." Ich breche den Satz ab, als ich eine Bewegung an der Tür höre und sehe, wie Sharis Mutter im Türrahmen auftaucht. Der Türspalt öffnet sich. Sie trägt ein Tablett mit Tee und Gebäck vor sich her und lächelt. Sie sagt nichts. Shari steht auf und nimmt dankend das Tablett entgegen. Sie sehen sich unglaublich ähnlich. Ihr Teint gleicht dem zarten Karamell eines Schokoriegels. Doch vor allem ist es das sanfte, warme Lächeln, welches sie verbindet. Volle sinnliche Lippen, die an der Oberlippe perfekt geschwungene Rundungen ausbilden. Shari ist der Traum einer jeden Männerfantasie und sie weiß es noch nicht.
 

Shari reicht mit einen Becher Tee und erst jetzt merke ich, wie kalt meine Finger sind. Der Duft des Tees ist lieblich und frisch. Ich rieche Jasmin und eine andere fruchtige Note. Bestimmen, kann ich es nicht. Ich nehme einen Schluck und lasse die Wärme durch meinen Körper strömen. Draußen beginnt es zu nieseln. Ich höre das sachte, stetige Klopfen auf dem Fensterbrett. Es folgt ein Donnern. Das Gewitter ist noch weiter entfernt, aber ich sehe trotzdem auf die Uhr. Ich sollte längst zu Hause sein.
 

„Glaubst du, er hat Gefühle für dich?" Ich sehe von der klaren Flüssigkeit auf und in ihre schönen, braunen Augen.

„Ich weiß es nicht, aber normalerweise lassen sich brave heterosexuelle Jungs nicht einfach so von anderen Jungs küssen..." Oder oral befriedigen. Schon wieder eine sinnlose Veralberung. Aber sie helfen mir einfach.

„Doch, ich bin mir sicher, dass er Gefühle für mich hat und es sich nur nicht eingestehen will. Verschweigen und verdrängen ist wohl einfacher und es ist auch egal, denn er hat sich für Maya entschieden. So ist es einfacher Für mich sicher auch", ergänze ich ermattet. Es stimmt nicht. Eine weitere Lüge, die mich selbst schützen soll. Ich hoffe, dass ich sie irgendwann glaube. Doch bis dahin schwelen die Enttäuschung und der Schmerz in mir.

Shari setzt sich wieder aufs Bett und ich lasse meinen Blick über die Wände ihres Zimmers wandern. Auch sie hat einige Fotos, auf denen wir beide zu sehen sind. Gruppenbilder mit ihren Mädels und ihrer großen Familie.

Sie streicht mir eine Strähne von der Stirn und wir schweigen einen Moment. In meinem Kopf herrscht noch immer heilloses Durcheinander. Ich schließe erschöpft meine Lider.

„Ich glaube, ab jetzt darfst du öfter vorbeikommen." Ihre Stimme durchbricht die angenehme Stille. Ich öffne ein Auge, hebe eine Braue und verstehe, was sie meint. Shari lächelt und ich grinse schief.

„Wieso hat es dich nicht mehr überrascht?", frage ich sie. Als hätte sie es gewusst. Ich frage mich, ob ich jemals irgendetwas Verräterisches von mir gegeben habe? Im Grunde gehöre ich eher zu der weniger auffälligen Sorte. Ich sehe dabei zu, wie sie ihre schmalen Schultern hochzieht.

„Tja, ich habe mich immer gefragt, warum du keine Freundin hast, denn ich kenne genügend, die sich sofort an dich ran werfen würden. Außerdem warst du eigenartig schweigsam, was diese ganzen Liebesdinge angeht und wenn ich die anderen Kerle so betrachte, dann ist das eher ungewöhnlich. Deshalb habe ich dich letztens auch gefragt und jetzt weiß ich, dass du an dem Abend anscheinend doch mit jemanden zusammen warst." Jake. Sie bohrt mir ihren spitzen Finger in die Seite. Ich bin ihr damals ausgewichen und habe ihr Jake verheimlicht. Ich verkneife mir das dümmliche Grinsen nicht.

„Und du bist einfühlsamer als andere, aber das weiß nur ich. Den letzten klaren Hinweis lieferte dann mein Kommentar, dass du dich outen müsstest um meinen Vater zu besänftigen und du nicht sauer geworden bist."

„Das war also ein Test?", eruiere ich amüsiert.

„Nun ja, ...ja." Sie zieht eine niedliche Schnute.

„Ich hätte das auch als Finte machen können", gebe ich ihr zu bedenken und sie schüttelt schnell den Kopf.

„Nein, mein Vater kann Lügen riechen und dann hätte er dich garantiert gefressen." Sie lacht.

„Ah, lieber nicht. Ich träume schon oft genug, dass er mir das Fleisch von den Knochen nagt."

„Wirklich? Oh je." Sie kichert und tätschelt meinen Kopf.

„Ich habe es einfach irgendwie geahnt.", sagt sie ergänzend und ich nicke. Seltsam, aber mir geht es besser, nachdem sie es endlich weiß.

„Ich frage mich, aber warum dich deine Eltern noch nie gefragt haben, warum du keine Freundin mit nach Hause bringst?" Sie hebt eine ihrer feingeschwungenen Augenbrauen und ich denke einen Moment darüber nach. Sie habe mich tatsächlich noch nie nach einer Freundin gefragt. Nur Onkel Thomas bringt das in regelmäßigen Abständen fertig und ihn habe ich stets eine glaubhaften Ausreden parat. Er ist erstaunlich leicht abzuwimmeln.

„Ich bin sehr eigenbrötlerisch. Wahrscheinlich sind sie sehr dankbar, dass ich keine nervigen Gestalten mitbringe. Außerdem hält es mit mir eh niemand lange aus."

„Doch, ich!" Shari kichert mädchenhaft und fällt mir um den Hals.

„Du bist masochistisch veranlagt, ganz sicher", kommentiere ich überzeugt und ich schließe meine Arme fest um sie.

„Nur abgehärtet", kontert sie und drückt noch einmal fest. Danach lehnt sie sich wieder zurück.

„Sag, wer steht auf mich?", frage ich interessiert. Ich habe nichts dergleichen mitbekommen und bin nun wirklich neugierig. Shari schüttelt energisch ihren Kopf und presst ihre Lippen aufeinander. Ich stupse ihr mit dem Ellenbogen gegen die Seite. Shari sträubt sich dagegen, etwas zu sagen.

„Nein, das kann ich dir nicht erzählen. Das habe ich geschworen." Damit weiß ich, dass es jemand aus ihrer Clique sein muss. Shari lächelt verschmitzt und ich frage nicht weiter. Ich schließe kurz die Augen und genieße die angenehme Ruhe, die sich langsam in mir ausbreitet und meine Laune auf bedrückte bis erträgliche Stimmung hebt. Dank Shari. Das Gespräch und die Ehrlichkeit gegenüber Shari sind wie Balsam, der die Qualen für einen Moment lindert.

„Was wirst du jetzt tun?", fragt sie in die Stille hinein.

„Nichts. Er ist mit meiner Schwester zusammen und er wird es bleiben. Warum auch immer. Er ist nicht schwul, das hat er betont. Ich werde damit leben müssen und am Ende des Schuljahres einfach die Stadt verlassen", sage ich resigniert, mache eine davonfliegende Bewegung mit den Händen und sehe plötzlich Traurigkeit in Sharis Blick. Mir wird klar, dass meine Aussage gerade nicht sehr feinfühlig war. Auch sie will sich an der ansässigen Uni bewerben und nach unserem eigentlichen Plan, wären wir dann zusammen geblieben. Daran habe ich nicht mehr gedacht. Nun tut es mir leid. Ich greife nach ihrer Hand und drücke sie. Sie lächelt verständnisvoll und doch schwingt Kummer mit. Ich denke, dass sie es versteht. Ich trinke meinen Becher Tee aus und stehe auf.

„Ich muss nach Hause. Meine Eltern wundern sich bestimmt schon, wo ich wieder stecke", sage ich leise und würde am liebsten hier bleiben, aber ich möchte Familie Ambanis Geduld nicht überstrapazieren.

„Danke, Shari." Als sie ebenfalls auf steht, nehme ich sie liebevoll und dankend in den Arm. Es ist eine warme und schöne Umarmung.

„Wofür?", fragt sie leise in die Umarmung hinein. Ich rieche ihr sanftes, blumiges Parfüm und bin einfach unendlich dankbar, sie zu haben.

„Dafür, dass du einfach du bist, meine kleine Blume." Sie drückt mich fester.

„Melde dich, wenn du reden möchtest. Ich bin für dich da." Shari lächelt.

„Ich weiß. Danke."

Sie bringt mich zur Tür. Im Wohnzimmer sehe ich ihren Vater sitzen, der trotz allem einen warnenden Blick aufgesetzt hat. Ich verneige mich in seinem Blickfeld und er schaut weg. Shari kichert leicht und schiebt mich zur Tür.

„Lauf, Forest, lauf. Eher er den Kochlöffel rausholt", kichert sie und ich hebe schockiert meine Augenbraue. „Er wird sich schon beruhigen.", hängt sie noch beschwichtigend mit ran.

„Haha!", mache ich unlustig, „Ich hoffe, du bekommst keinen Ärger."

„Ich habe Mama auf meiner Seite. Das wird schon!" Ich gehe aus der Tür und drehe mich noch einmal um. Unsere sowieso schon enge Beziehung ist nun noch tiefer geworden. Ich lächele. Es tröpfelt etwas und ich höre ein erneutes Donnern.

„Shari? Dhanyavaad!" Danke ich, ihr auf Hindi.

„Vel kam", sagt sie zurück und ich verschwinde zum Bus. Nun hat auch Shari einiges zu verdauen. Ich habe sie mit vielen, neuen Informationen überschüttet und habe Trost und Zuspruch gefunden, aber der bohrende Schmerz in meiner Brust hält dennoch an.

Wenn sich eine Tür schließt…

Kapitel 26 Wenn sich eine Tür schließt…
 

Ich schaffe es vor dem eigentlichen Regensturz ins Haus zu kommen. Nur ein paar Tropfen erwischen mich. Ich bleibe einen Moment an dem Tür gelehnt stehen bis ich die Regentropfen höre, die dumpf gegen das Plastik und das Glas der Außentür prallen. Ein Donnern und ein Blitzen folgen. Ich zucke zusammen als zwischen beiden Naturphänomenen plötzlich Maya im Türrahmen zur Küche auftaucht. Sie trägt bequeme Shorts und ein schlabberiges Oberteil. So sieht man sie selten. Im Dunkeln kann ich ihr Gesicht nicht sehen, doch die Schlabberklamotten sagen mir, dass sie keinen guten Tag hat. Sie ist die Letzte, auf die ich jetzt treffen wollte. Ich spüre, wie sich mein Innerstes verkrampft. Ich weiß, dass es nicht richtig ist, aber ich gebe auch ihr die Schuld daran, dass es kein und nie ein Uns zwischen mir und Raphael geben wird. Es ist albern, denn sie kann nichts dafür. Tatsächlich ist es der Umstand, dass sie mit Raphael zusammen sein kann und ich nicht. Das er mit ihr zusammen sein will und mit mir nicht.

„Du bist spät.“ Ihre helle Stimme durchschneidet die Stille. Bitte nicht schon wieder eine Moralpredig. Ich stelle meine Schuhe sorgsam in die Reihe ab und streife mir die Jacke von den Schultern.

„Mama und Papa sind noch mit Kollegen essen. Wir sollen uns etwas bestellen oder irgendwas kochen“, fährt sie fort.

„Ich habe keinen Hunger“, gebe ich leise von mir und wende mich der Treppe zu. Mayas Stimme hält mich zurück.

„Falls es dich interessiert, Raphael hat das Stipendium angenommen. Er wird ein halbes Jahr in den Staaten sein.“ Trauer und Wehmut schwimmen in diesen Worten mit. Mein Herz wird schwer und mein Körper erstarrt.

„Er hat vorhin angerufen und gesagt er würde gehen. Es wäre das Beste für seine Zukunft und ich weiß nicht, warum er sich so plötzlich dafür entschieden hat.“ Mays Stimme ist brüchig. Sie weint jeden Moment, doch ich wende mich nicht um. Wäre unsere Mutter zu Hause, würde sie es nicht mir erzählen, sondern ihr. Ich bin ein schlechter Bruder, denn ich bekomme kein einziges tröstendes Wort heraus.

„Wusstest du es? Hat er es dir erzählt, dass er gehen will“, versucht sie es weiter. Die Tatsache, dass er nun doch nach Kalifornien geht, erwischt mich ebenso eiskalt, wie sie. Doch insgeheim verstehe ich, warum er geht und wenn ich so darüber nachdenke, ist es die logische Konsequenz. Raphael läuft so weit, wie möglich weg.

„Aber ihr redet doch miteinander! Hat er dir gesagt, dass es wegen mir ist? Ist er unzufrieden? Ist er unglücklich.“ Ich schließe meine Augen und versuche keine verräterischen Geräusche von mir zu geben.

„Er ist so weit weg und dann auch noch so lange. Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll und was ist, wenn er...“, zetert sie weiter. Ihre Stimme erstickt in Tränen. Ich weiß, was sie empfindet. Ich weiß von der Sehnsucht, von dem Verlangen und von dem Schmerz. Ich trage diese Empfindungen seit 4 Jahren mit mir umher. Das Gefühl des Vermissens und die tiefsitzende Eifersucht auf allen und jeden, der ihm näher ist, als ich selbst. Ich bin eindeutig der falsche Ansprechpartner dafür.

Ein erneutes Schniefen. Ich werfe ihr die Packung Taschentücher zu, die ich im Rucksack habe und gehe die Treppe weiterhinauf.

„Mark, hast du damit zu tun?“ Ich gehe einfach weiter. „Du hast damit zu tun, oder?“, sagt sie energisch und ich bleibe auf dem Absatz stehen.

„Habe ich Recht?“ Sie ist an den unteren Rand der Treppe gekommen und sieht mich mit ihren großen, blauen Augen an. Mein Herz setzt kurz aus, um dann heftig gegen meinen Brustkorb zu prallen. Ich frage mich, ob sie Verdacht schöpft, doch eigentlich ist es unmöglich. Sie kann uns nicht zusammen gesehen haben. Nicht in der Dusche oder zu sonst einer sonderbaren Gelegenheit.

„Ich bin doch nur der Bruder seiner Freundin. Warum sollte ich etwas damit zu tun haben?“, frage ich sie.

„Hast du ihm dazu geraten?“ Das habe ich mit Sicherheit nicht. Ich will alles andere, nur nicht dass er wieder wegläuft.

„Maya, warum sollte ich?“

„Weil du immer deine Klappe aufreißt und unverschämt bist. Und mir nichts gönnst…“, patzt sie mir entgegen. Ich beiße die Zähne zusammen. Ich reagiere allergisch auf ihre Stimme, wenn sie so mit mir spricht.

„Wirklich? Sei nicht albern, Maya“, schnaube ich und setze meinen Weg nach oben fort.

„Ich weiß, dass du nicht ganz normal bist und vielleicht hast du ihn...“, schwafelt sie drauf los. Ich bleibe doch wieder stehen. Ihre Formulierungen sind grausig und ich sofort verspüre ich Verärgerung, die ich nur schwer herunterschlucke. Nicht normal laufe?

„Wir haben dich gesehen mit diesem Kerl. Wir sind mit dem Auto an euch vorbei gefahren und seitdem ist Raphael so komisch. Er meinte, ich dürfe dich nicht drauf ansprechen. Er hat mich darum gebeten und ich musste es ihm versprechen. Es ginge mich nichts an“, äfft sie übertrieben. Das erklärt, warum sie nichts gesagt hat, obwohl sie es schon eine Weile weiß. Meine Hände ballen sich kurz zu Fäusten und ich stoße merklich die Luft aus meinen Lungen.

„Ich wusste ja schon immer, dass du nicht normal bist. Raphael sagt auch, dass du total spinnst...“

„Das hat er mit Sicherheit nicht...“, fahre ich ihr direkt in die Parade. Sie starr mich an. Ich fahre mir über das Kinn und bin zum einen gekränkt und zum anderen etwas beruhigt. Sie schöpft keinen Verdacht, sondern schiebt seine Reaktion auf die Ablehnung meiner Homosexualität. Mir ist leichter und schwerer zu gleich. Anscheinend traut nicht einmal sie mir so einen Verrat zu. Wie sehr sie sich täuscht.

„Und er hat Recht. Es geht dich nichts an“, sage ich mit zusammengebissenen Zähnen.

„Findest du? Mama und Papa interessiert es sicher sehr, dass ihr ´ toller Sohn´ eine…“, zischt sie mich an und ich fahre ihr erneut über den Mund.

„Eine was, Maya? Ich bin ein Mensch! Nichts anderes“, sage ich betont lässig. Aber es brodelt in mir. Sie blickt mich entgeistert an und ich fahre fort. „Nichts anderes bin ich. Aber wenn du meinst, dass du dir dadurch einen Vorteil verschaffst, bitte! Sag es ihnen. Erkläre ihnen, was ich deiner Meinung nach bin.“ Ich meide jede Beleidigung und sehe sie eindringlich an. Ich pokere. Natürlich kann sie es unseren Eltern erzählen und ich kann wenig dagegen unternehmen. Dennoch merke ich, wie die Angst vor einer drohenden Ablehnung meine Atemwege zu schnürt. Wenn es meine Eltern betrifft, fühle ich mich meistens, wie ein kleiner Junge, der sie nicht enttäuschen will. Ich hoffe inständig, dass Maya schweigt und versuche ihr momentanes Überlegenheitsgefühl durch Desinteresse zu dämpfen. Es funktioniert für diesen Augenblick, denn sie schaut beschämt zur Seite.

Ich denke oft darüber nach, wie meine Eltern reagieren würden. Würden sie es verstehen? Würden sie es ablehnen? Es macht mir furchtbare Angst, dass es etwas lostrete, was alles verändern könnte. Ich bin der Überzeugung, dass es Vieles noch komplizierter machen würde. Jedenfalls in diesem Moment. Ich werde es meinen Eltern sagen, doch zu einem anderen und besseren Zeitpunkt. Mayas Blick ist immer noch auf mich gerichtet und ich sehe, dass es in ihr arbeitet.

Sie weiß nichts von mir und Raphael. Ob sie etwas ahnt? Ich weiß es nicht. Genauso wenig weiß ich, ob ich zufrieden oder traurig darüber sein soll. Ich bin hin- und hergerissen.

„Hat deine... komische Neigung was mit seiner Entscheidung zu tun? Hast du ihn angemacht und hast du ihn belästigt? Geht er deshalb?“, fragt sie plötzlich und ungewöhnlich scharf. Ich beiße mir mittlerweile die Lippe blutig, um ihr nicht irgendwas Gemeines, Eskalierendes an den Kopf zu werfen.

„Wie jetzt? Seid ihr doch nicht das perfekte Paar, was sich alles erzählt? Das über jede noch so kleine Kleinigkeit miteinander redet? Frag ihn gefälligst selbst, warum er der Meinung ist, eine gute Chance nutzen zu müssen“, bringe ich knirschend hervor und wende mich wieder um. Die Ironie in meinen Worten versteht sie nicht, dennoch hält sie mich zurück.

„Mark, hast du…“

„Nein, habe ich nicht; Maya. Egal, was du denkst, sehe endlich ein, dass es ganz allein seine Entscheidung ist. Es ist seine Chance. Er macht es für eine bessere Ausbildung und für gute Möglichkeiten in der Zukunft und wenn du ihn wirklich liebst, stehst du ihm nicht im Weg. Manchmal müssen Entscheidungen getroffen werden, die nicht allen gefallen. Also werde endlich erwachsen, Schwester. Es dreht sich nicht immer alles um dich“, knalle ich ihr laut und unbarmherzig gegen den Kopf. Ich habe es satt, dass sie immer denkt, dass sich die Welt nur um sie und ihre dummen, kleinen Probleme dreht. Wieder läuft ihr eine Träne über die Wange. Doch dieses Mal ist sie der Wut geschuldet. ich weiß genauso wenig mit Raphaels Entscheidung umzugehen, wie sie. Und in mir nagt andauernd das Gefühl, dass ich vielleicht doch schuld daran sein könnte. Habe ich ihn verjagt? Hab ich ihn darin bestärkt zu gehen?

Maya schnieft verständnislos und krallt ihre manikürten Finger in den Handlauf der Treppe. Sie weiß nicht, was sie noch sagen soll. Sie ist das arme, kleine Mädchen, was man nicht an brüllen darf. Früher fing sie sofort an zu weinen und dann war das Geschrei doppelt so groß und kam von allen Seiten. Ein enormes Theater. Bühnenreifes Drama. Das kann sie gut. Maya unterdruckt ein weiteres Schniefen und sieht zur Seite. Sie versteht einfach nicht, warum man bestimmte Entscheidungen trifft. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass sie zu jung oder zu dumm ist. Missmutig lenke ich ein.

„Maya, er ist nicht aus der Welt. Nur in einer anderem Land. Nur ein paar Monate lang und dann kommt er zurück. Du kannst ihn anrufen. Du kannst mit ihm schreiben und reden. Raphael ist anständig und nicht darauf aus dir weh zu tun. Also beruhige dich“, sage ich ruhig, aber steif und es scheint mir, wie die Wiederholung eines Gespräches, welches wir schon einmal geführt haben. Ihr wird er nicht weiter wehtun, denn das hatte bereits bei mir erledigt. Ich oder sie. Ich war die leichtere Wahl. Ich fahre mir mitgenommen durch die feuchten Haare und gehe die Treppe weiter hinauf. Maya bleibt am Treppenabsatz stehen und sieht mir nach.

„Wie kannst du dir so sicher sein?“, ruft sie mir hinterher.

„Ich bin es einfach.“ Ich spüre ihren Blick auf mir und gehe in mein Zimmer. Ich lasse mich ermattet auf das Bett fallen, rutsche dann, aber auf den Boden. Meine Augen schließen sich und mit einem Mal spüre ich wieder, wie der Schmerz und die Unsicherheit brennen. Sie lähmen meine Glieder und fressen sich stetig durch mein betäubtes Fleisch.

Sie weiß es. Sie weiß, dass ich schwul bin. In mir breitet sich Eiseskälte aus. Im Grunde wusste ich längst, dass sie es weiß, aber die Tatsache, dass sie es nicht angesprochen hat, hat in mir ein Verdrängungsprozess losgetreten, der nun endgültig gestoppt wurde.

Nun hat sie mich in der Hand. Ich schelle mich innerlich für meine Unbedachtheit. Wieso habe ich Jake auf offener Straße küsst? Alles ein stiller Ausdruck für den Wunsch nach Normalität. Sehr wahrscheinlich. Ich seufze und meine Gedanken wandern zu Jake. Normalität. Mit ihm hätte ich sie. und sofort denke ich an seine warmen, braunen Augen voller Leidenschaft und Zuneigung. Ein leises Seufzen perlt von meinen Lippen, welches sowohl Sehnsucht, als auch Verunsicherung ausdrückt.

Ich würde meinen Kopf gern ausschalten. An nichts mehr denken. Nur noch geruhsame Stille. Stattdessen wandern meinen Gedanken von Raphael zu Jake, zu Raphael, zu Maya und wieder zu Jake. Das Wort ´Lückenbüßer´ hallt durch meinen Kopf und wieder beginnt das schlechte Gewissen seinen nagenden Prozess. Mit Jake wäre vieles einfacher. Da ist es wieder das Wort. Einfach. Ist es nicht auch das, was Raphael will? Einfach. Normal. Kann ich es ihm verdenken? Mit mir wäre ein Einfach auch möglich. Mein Herz stolpert. Ich bin ein schlechter Mensch. Ich ziehe mich aufs Bett fallen, lasse meine Beine außerhalb hängen und schlafe erschöpft ein.
 

Den Freitag bringe ich unkonzentriert, aber schnell hinter mich. Shari versucht mich in den gemeinsamen Stunden abzulenken, doch es klappt nur bedingt. Ihre Clowneinlagen sind trotzdem der Brüller. Allerdings nur für die anderen und nicht unbedingt für mich. Sie hilft mir nach der Schule sogar den Sportplatz und die Sporthalle zu säubern. Es ist der letzte Tag meine Strafe. Aber es ist unnötig, denn es findet kein Training statt.

Raphael ist trotz Mayas Einwände, ihrem Gezeter und hemmungslosen Jammern, zu dem Schluss gekommen, dass er bereits früher in die Staaten abreisen möchte. Das Semester ist so gut, wie beendet und scheinbar hat er keine Klausuren zur schreiben, sondern nur Hausarbeiten abzugeben. Angeblich hat es der neue Coach vorgeschlagen. Eingewöhnungszeit und so weiter. Niemand hat es hinterfragt. Ich war sowieso nur Zaungast bei der Mitteilung. Nun trifft Raphael alle Vorbereitungen. Meine Gedanken sind auch unfair, denn Kalifornien bietet ihm eine wirklich gute Chance. Wer weiß, wenn es gut läuft, bleibt er vielleicht dort und wird Trainer von namhaften Sportlern, die Weltmeisterschaften und Olympiaden gewinnen. Es hat einen bitteren Geschmack für mich.

Ich bin Shari dankbar für ihre Mühen. Eine Weile sitzen wir unter unseren Baum. Mein Kopf liegt auf ihrem Schoss und hin und wieder spüre ich ihre sanften Finger, die kleine Täler in meine Haare streichen. Sie summt irgendwelche Lieder, deren Melodien mir nur selten bekannt vorkommen. Doch es stört mich nicht. Es beruhigt mich. Ich denke an die Bilder in Raphaels Wohnung zurück und daran, dass er meinte, dass wir sehr vertraut miteinander wirken. Mittlerweile sehe und merke ich es auch. Und es hilft mir.

Ich erzähle Shari von seiner Entscheidung nach Kalifornien zu gehen. Sie hat gemischte Gefühle. Sie denkt, dass es besser sei, wenn er für mich nicht mehr präsent ist. Doch wird das reichen? Ich glaube nicht daran. Er wird für mich immer präsent sein. Er ist es schließlich seit 4 Jahren. Und so lange er in einer Beziehung mit meiner Schwester ist, wird er auch immer um mich herum sein. Durch Mayas Erzählungen. Durch die Erwähnungen meiner Eltern. Bilder. Zeichnungen. Er ist immer da. Darauf weiß Shari keine Erwiderung.
 

Als ich nach Hause komme ist niemand da und ich versuche mich mit Lernen abzulenken. Bald stehen die Abschlussprüfungen an und zurzeit fühle ich mich nicht in der Lage, auch nur eine davon zu bestehen. Ich versuche den versäumten Lernstoff nachzuholen, den ich ganz offensichtlich, während meiner abgelenkten Phase verträumt habe. Aber es fällt mir nicht leicht, weil ich noch immer ständig abgelenkt bin.

Am Abend bleibe ich mit gesenktem Kopf, Stirn auf Holz, am Schreibtisch sitzen. Ich konzentriere mich darauf ein- und auszuatmen. Nichts anderes. Nur atmen.

Tausende Gedanken. Alles durcheinander. Ich hasse diese Gefühle. In einer Sekunde ist mir nach Heulen, in der nächsten nach sarkastischem Lachen zumute. Zwischendurch möchte ich schreien oder irgendwas kaputt machen. Das Alles durchlebe ich nur in meinem Kopf, den mein Körper hängt, wie ein Schluck Wasser und völlig apathisch am Schreibtisch.

Meine Zimmertür ist nur angelehnt und das Klingeln an der Haustür lässt mich aufschrecken. Mayas Schritte sind laut auf der Treppe zuhören, als sie eilig zur Tür rennt um Raphael in Empfang nehmen. Er hat einen Flug für Dienstag gebucht und hofft, dort schnell alle Erledigungen für sein Stipendium machen zu können. Alles spontan. Alles kurzfristig. Alles fluchtartig. Doch das sehe nur ich. Er wird die Familie des Trainers kennenlernen und den Campus besichtigen. Er wird auf das Team treffen. Das Alles sind logische Begründungen für seine Abreise und doch Maya dreht schon jetzt vollkommen frei. Sie werden sich eine Weile nicht sehen, sondern nur telefonieren, schreiben und chatten. Mehr als mir vergönnt ist. Ich habe noch immer so viele Fragen, die unbeantwortet bleiben.

Raphael wird Maya am Abend ausführen. Er macht alles um seiner Freundin, die bestmögliche Behandlung zukommen zu lassen. Schadensbegrenzung und eine funktionierende Vermeidungsstrategie. Mir ist hundeelend. Maya hat den gesamten Nachmittag damit verbracht, sich aufzubrezeln und jeden mit Trauer, Freude und albernen Mädchenkram genervt. Auch mich. Maya darf das gesamte Wochenende bei ihm verbringen und ich möchte gar nicht darüber nachdenken.
 

Mein Vater ruft nach mir, doch ich reagiere nicht darauf. Ich will Raphael nicht sehen. Mein Blick wandert über die Unibroschüre. Ich ziehe sie zu mir heran und streiche mit dem Finger über die glatte Oberfläche. Der Studiengang für Produktdesign ist aufgeschlagen. Ich habe nichts anderes gewollt, doch langsam wurde mir bewusst, dass man nicht immer das haben kann, was man will. Ich muss mich umorientieren und das nicht nur im Sinne meines Studiums. Ich greife nach meinem Handy und tippe eine SMS an Jake. Ich sende sie ab, ohne weiter darüber nach zudenken.

Vielleicht ist er meine Chance damit abzuschließen. Mein Vater ruft erneut nach mir. Ich ignoriere es und schiebe mir meine Kopfhörer auf die Ohren, ohne Musik anzumachen. Das Rufen höre ich nur noch dumpf und dann hört es auf. Wenig später öffnet sich meine Tür.

Ich starre weiter auf die Prospekte der Uni. Die Hand meiner Mutter legt sich auf meine Schulter und ich sehe träge auf.

„Hey, wolltest du dich gar nicht von Raphael verabschieden?“, fragt meine Mutter und schiebt mir vorher eine Seite der Kopfhörer vom Ohr.

„Habe ich schon…“, lüge ich entkräftet und denke an das Gespräch zurück. Im Prinzip keine richtige Lüge.

„Wirklich?“, hakt sie nach.

„Ja“, antworte ich leise und spüre die Vibration meines Handys in der Hand. Jake. Noch immer sehe ich nicht zu meiner Mutter. Ihr Zögern verdeutlicht mir, dass sie mit meiner Reaktionen nicht einverstanden ist und, dass sie etwas stört, doch sie sagt nichts, sondern verlässt einfach nur mein Zimmer. Ich öffne die Nachricht.
 

Am Montag endet ein unendliches Wochenende für mich. Obwohl ich es nicht wollte, habe ich immer wieder daran denken müssen, dass Maya mit Raphael allein ist. Ein Albtraum Trauer, Wut, Enttäuschung und das wiederholte Einreden, dass alles besser werden wird. Wird es das? Ich weiß es nicht. Ich verkrieche mich in meinem Zimmer und erfreue mich das erste Mal seit Wochen wieder am Internet.

Ein weiteres Mal sucht meine Mutter das Gespräch mit mir, doch ich blocke es ab. Mich ihr nicht öffnen zu können, belastet mich zum ersten Mal sehr. Zu dem verstärkt dieses melancholische Gefühl, den wieder und wieder aufblitzenden Gedanken an Raphael.

Jake antwortet mir noch am selben Abend. Seine Worte sind Balsam, doch muntern sie mich nicht so sehr auf, wie ich gehofft habe. In der letzten Nachricht schreibt er mir, dass er in zwei Wochen wieder in der Stadt sein wird. Ich lege mir das Telefon auf die Brust und horche in mich hinein. Jakes Gesicht. Es wird schleichend zu Raphaels. Ich stehe verstört auf und laufe ein wenig in meinem Zimmer umher. Die gemischten Gefühle, die ich empfinde, wenn ich an Jake denke, irritieren mich. Ich setze mich aufs Bett und blicke auf das Display. Erneut lese ich seine Nachrichten. Hin und wieder schleicht sich ein Lächeln auf meine Lippen. Er ist mein Ausweg. Ich will ihn wiedersehen und ein wenig Hoffnung schöpfen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es wirklich will, aber ich bin der Überzeugung, dass ich es wollen muss.

Die Tatsache und der Glaube, dass Raphael Gefühle für mich hat, lassen mich nicht los. Sie rumoren und jagen durch mein Inneres. Sie reißen alles nieder und zerstören jeden erbärmlichen Rest meines Verstandes. Ich will eine letzte verzweifelte Konfrontation, bevor sich die Tür vollständig schließt. Ein endgültige Versuch etwas Unmögliches zu vollbringen, der unweigerlich einem Sprung von einer hundert Meter hohen Brücke gleicht ohne Sicherungsseil. Aussichtslos, aber es kitzelt so sehr in mir. Ich will Antworten auf meine Fragen. Wahrscheinlich werde ich sie nicht bekommen, aber da wir doch ab und an miteinander auskommen müssen, sollten wir wenigstens unseren Status klären. Ich fühle mich hin- und hergerissen und schleppe diese Rastlosigkeit bis zum Abend mit mir rum.
 

Das Abendessen riecht gut, aber ich habe keinen Appetit. Maya plappert. Sogar mein Vater berichtet von einem ungewöhnlichen Ereignis auf seiner Arbeit. Fischstäbchen im Vanillepudding. Mein mäßig erheitertes Lächeln und meine lethargische Körperhaltung bleiben leider nicht unbemerkt.

„Schmeckt es dir nicht?“, fragt meine Mutter und sieht mich besorgt an. Ich brauche einen Moment bis ich merke, dass sie mit mir redet. Ein kurzer Blick auf die Teller der anderen zeigt mir, dass selbst Mayas Teller leerer ist als meiner.

„Oh, ähm. Doch, doch. Ich habe nur viel zum Mittagessen gehabt.“ Eine Lüge. Eine von so vielen. Ich schiebe ein paar Kartoffeln hin und her. Auch Maya sieht zu mir. Ich frage mich, wie viel sie sich zusammen reimen kann. Auch die Blicke meiner Erzeuger sind mehr als skeptisch.

„Hey, ich würde gern nach dem Essen noch einmal kurz in die Bibliothek fahren. Ist das okay?“, frage ich und durchbreche die seltsamen Blicke meiner Familie. Sie sehen mich verwundert an, nicken aber. Wir führen das Essen zu Ende und ich ignoriere Mayas anhaltenden, fragenden Blick. Er scheint mich zu durchdringen, aber sie wird mich niemals lesen können.
 

Ich steige in den Wagen und halte ein paar Minuten später vor Raphaels Wohnhaus. Mein Puls schnellt nach oben, als ich meinen Blick zu der bekannten Haustür wandern lasse. Ich umgreife mit kalten Fingern das Lenkrad bis meine Knöchel weiß hervortreten. Ich brauche einen richtigen Abschluss von der ganzen Sache. Mehr will ich nicht. Doch als ich durch einen Zufall durch die Haustür komme und direkt vor seiner Wohnungstür stehe, zögere ich. Ich war fest entschlossen, mit ihm zu reden. Nur kann ich gerade nicht mehr atmen. Jegliche Entschlossenheit ist verpufft. Ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll. Ich habe ihm meine Gefühle gestanden und er hat sie abgeschmettert. Ich habe ihm alles offen dargelegt, doch er will sich nicht eingestehen, dass er Gefühle für mich hat. Welcher Natur auch immer. Er wählt den einfachen Weg. Ein „normales“ Leben mit einer Frau. Mit meiner Schwester.

Ich sollte es akzeptieren, dass er sich dafür entschieden hat, aber warum hat er nun doch das Angebot mit dem Stipendium angenommen? Bringt diese Entscheidung nicht auch seine Beziehung mit Maya zum Wanken?

Während ich vor der Tür stehe, führe ich meine Hand hunderte Male zur Klingel und ziehe sie wieder weg. Was will ich noch mal hier? Etwas kribbelt durch meinen Körper und ich habe das dringende Bedürfnis ihn anzubrüllen. Ich will ihm meine Meinung geigen, doch vor allem will ich ihn noch mal sehen.

Ich weiche zurück, als plötzlich die Tür auf geht und der Mann meiner schlaflosen Nächte vor mir steht. Mein Atem stockt.

„Mark?“ Raphaels Blick ist erschrocken, aber nicht negativ. „Was machst du hier?“

„Ja, Stalking, ich weiß...“, witzele ich halbherzig. Eher aus einem Reflex heraus. Doch mein angefangenes Lächeln erstirbt schnell. „Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht genau.“, gestehe ich leise. Was will ich wirklich hier? Ich will Raphael. Ich habe nie jemanden anderen gewollt. Doch er ist der Freund meiner Schwester und wird es bleiben. Die Wahrheit erfasst mich kalt

„Tut mir leid, es war ein Fehler herzukommen. Du musst sicher noch packen, trainieren oder Maya belustigen“, fasele ich. Ich bin so irritiert, dass ich mich zum Gehen umwende. Raphael hält mich zurück. Seine Finger fassen um meinen Oberarm. Der Griff ist sanft, aber bestimmend. und ich versuche mich seiner Hand zu entziehen. Sein Griff rutscht von meinem Arm zu meinem Handgelenk. Was ich will, spielt keine Rolle. Es wird nichts ändern. Raphael wird nie dasselbe für mich empfinden, wie ich für ihn. Sein Blick ist unsicher, doch seine Hand umgreift weiterhin meine Hand. Ich sehe ihn an. Das sonst so strahlende Grün ist matt. Ich erinnere mich an seine Worte und spüre den Schmerz, der sich heiß in meinem Leib ausbreitet. Ich will nicht noch mehr dieser Worte hören, keine weiteren schmerzhaften Diskussionen führen und doch wiegen die unbeantworteten Fragen unendlich schwer.

„Geh nicht.“ Eine einfache Bitte und langsam lässt er meinen Arm los.

„Warum nicht? Wir haben uns eigentlich nichts mehr zu sagen.“

„Das ist nicht wahr“; flüstert er mir entgegen und für einen kurzen Moment bildet sich ein Ausdruck in seinem Augen, den ich nicht deuten kann.

„Okay, dann sag mir warum? Dachtest du, dass ich mir einen Spaß daraus mache, dich zu verführen?“, bricht es aus mir heraus und ich sehe dabei zu, wie Raphael mit jedem Wort leicht zusammenfährt.

„Nein, das habe ich nicht. Ich…“ Ich lasse ihm keine Möglichkeit zur Verteidigung.

„Hast du gedacht, wenn Maya nicht will, dann suchst du dir jemand anderen dummen?“

„Das war nicht meine Absicht.“

„Was dann?“

„Ich ahnte nichts von deinen Gefühlen. Wirklich, ich…Wenn ich es gewusst hätte, dann…“

„Was dann? Hättest du es dann nicht getan? Dachtest du, mir sei das Alles egal und hast deshalb weiter gemacht?“

„Nein.“ Nur noch ein Flüstern.

„Ich habe wirklich geglaubt, dass du mich mögen könntest. Dass da etwas zwischen uns ist. Weißt du, ich bin nicht so stark, wie du denkst“, gebe ich ehrlich preis und fühle mich noch verwundbarer. In seinem Blick spiegelt sich purer Scham. Raphael senkt seinen Kopf. Seine Finger greifen an seinen Hals, an seine Brust. Er berührt das schmale Silberkettchen um seinen Hals. Nur minimal. Im Hintergrund kann ich hören, wie sein Handy klingelt. Ein Lied, welches ich viele Male bei Maya gehört habe. Raphael ignoriert es und sieht mich einfach nur an.

„Ich wollte dich nicht verletzen, Mark. Ich will es auch jetzt nicht.“ Ich gebe einen ungläubigen Laut von mir und fahre mir mit der Hand über das Gesicht. Natürlich wollte und will er das nicht. Wer will das schon? Doch er macht es, unbewusst seit dem Tag, an dem ich ihn mit Maya auf dem Sportplatz sah.

„Das ist alles nicht einfach für mich, das musst du mir glauben. Ich habe selber nicht geglaubt, dass es jemals so weit kommen wird“, fährt er fort.

„Du machst es dir sehr einfach.“

„Das siehst du falsch.“

„Wirklich? Warum fliehst du dann doch nach Kalifornien?“ Sein Blick wendet sich von mir ab und er sieht zu Boden. Ein leichtes Kopfschütteln. Mehr das Vertreiben eines unschönen Gedankens, als eine Verneinung.

„Im Moment ist das das Beste.“ Nur ein Flüstern.

„Für wen?“, frage ich kritisch.

„Für uns alle.“

„Nein, für nur dich. Es ist der einfachste Weg für dich“, sage ich fast anklagend und habe gehofft, dass er eine vernünftige Ausrede hat. Die Möglichkeit kommt ihm sehr gelegen. Raphael geht und lässt mich und Maya mit unseren Gefühlen zurück. Ich atme tief ein.

„Vielleicht ist es der einfache Weg, aber ich weiß einfach nicht mehr weiter. Ich habe doch niemals damit gerechnet, dass das so passiert. Was soll ich denn deiner Meinung nach tun?“ Seine Hände erheben sich zu einer fragenden Geste. Der verzweifelte Ausdruck seines Gesichts verstört mich. Ich spüre ein schmerzerfülltes Kribbeln in meiner Brust. Ich versuche es zu unterdrücken.

„Lauf nicht weg. Sei ehrlich, denn meiner Meinung nach lügst du allen etwas vor. Maya, mir und vor allem dir selbst. Ich weiß, wovon ich spreche. Hör damit auf. Das Alles hat einen Grund und der löst sich nicht auf, wenn du abhaust. Vor allem nicht, wenn du wiederkommst und da weitermachst, wo du aufhörst.“ Meine letzte Bemerkung trifft ihn, das sehe ich. Doch es ist wahr. Maya und er trennen sich nicht. Sie machen einfach weiter.

„Ich weiß, aber kann das nicht, Mark. Das ist nicht so einfach. Ich kann es nicht“, sagt er. Das Gleiche wie beim letzten Mal. Ich kann es nicht mehr hören. Nun schüttele ich mit dem Kopf. Raphael wird nicht dazu stehen. Er wird mir nicht ehrlich sagen, was es mit dem Fotos und seinen Reaktionen auf sich hat. Er wird es verdrängen und ich bleibe allein mit meinem zusammengereimten Antworten zurück. Egal, wie wahr oder falsch sie sind.

„Ich verstehe es nicht. Weder das mit mir, noch das mit meiner Schwester. Was willst du denn von Maya?“ Ich spare mir die Begründungen, warum ich glaube, dass Maya die völlig falsche Wahl für ihn ist. Genauso spare ich mir den Kommentar darüber, dass ihr Beziehungsende alles noch simpler machen würde. Für wirklich alle.

Ich sehe seinen unsicheren Blick, warte auf eine Erklärung, die nicht kommt. Mir wird immer klarer, dass es nicht gesund für mich ist, weiterhin darauf zu hoffen, dass er eines Tages mit sich ins Reine kommt. Vielleicht wird er es nie. Ich werde mich von ihm lösen. Endgültig. Seine wunderschönen grünen Augen vergessen und die Wärme, die ich empfinde, wenn er mir nahe ist. Ich wende meinen Blick ab. Ich muss. Ich will. Ich werde darauf hoffen, dass auch die Beziehung mit Maya bald scheitert und er aus meinem Leben entschwindet. Es ist das Beste für mich und auch für Maya. Ich schlucke schwer und sehe auf.
 

Doch egal wie überzeugt ich mich fühle, nur sein Anblick reicht und die Fassade meiner Sicherheit bröckelt. Raphaels Augen zieren einen feinen Tränenschleier. Es scheint mir wie das Abbild seiner inneren Schlacht. Sein sonst aufrechter Körper hat eine verkrampfte Haltung, als würden tausende Kilo Gewicht auf seinen Schultern liegen. Es fällt ihm wirklich nicht leicht.

Wie soll ich den Mann, den ich schon so lange begehre, einfach vergessen? Die erträumte und gekostete Süße verdrängen? Mein Herz stolpert nicht nur. Es fällt.

„Mark, bitte, mach es nicht noch schwerer.“

„Nein, werde ich nicht. Im Gegenteil ich mache es dir noch einfacher.“

„Wie meinst du das?“

„Ich werde dir fern bleiben und wenn du von deinem Stipendium zurückkommst, werde ich an einer anderen Uni sein. Ich war noch nie der heimelige Typ, also… Du hast nichts mehr zu befürchten.“ Ich sehe dabei zu, wie sich seine Stirn runzelt. Sein schwerer Atem und ein erschrockenes Blitzen in seinem Blick, als er wirklich versteht.

Ich schüttele jeglichen sehnsüchtigen Gedanken von mir, greife nach Raphaels Hand und drücke sie. Sie ist kühl und trocken. Für einen kurzen Moment streicht sein Daumen über meinen Handrücken. Sein Blick haftet auf unseren Händen.

„Mach es gut.“ Damit lasse ich ihn los und gehe, ignoriere das stechende Gefühl in meiner Brust, welches mir den Boden unter den Füßen wegzureißen scheint.

Ich bleibe vor der Haustür stehen und schaue in die sternenklare Nacht. Ich kenne nicht einen Stern mit Namen, doch in diesem Moment wünsche ich mich dort hin. Weit weg. Die Haustür fällt hinter mir ins Schloss und auch in meinem Inneren schließt sich eine Tür zu einem einst gehüteten Teil meiner Gedankenwelt.

Epilog

Epilog
 

Es ist mitten in der Nacht als ich nach Hause komme. Meine Mutter steht in ihrem Nachthemd im Flur. Ihre Füße sind nackt und sicher eiskalt. Sie schimpft, doch ich höre es nicht, bekomme es kaum mit. Ich fühle mich unendlich leer. Ich murmele mehrere Entschuldigungen auf dem Weg die Treppe nach oben und betrete mein Zimmer. Die Dunkelheit darin erdrückt mich, zerrt an mir und lässt mich zittern. Nach einer Weile kann ich aus dem Nebenzimmer leise Musik hören. Es ist nicht meine Musik, aber sie bindet mich an die Realität. Ich möchte einfach nur schlafen und das tue ich. Traumlos. Gefühllos.
 

Es wird langsam hell als ich das leise Klopfen an der Tür vernehme. Ich schweige, doch sie öffnet sich. Ich kann nicht sehen, wer es ist, denn ich liege mit dem Rücken zur Tür und starre an die Wand.

„Mark, Schatz, geht es dir gut?“, fragt meine Mutter besorgt und ich höre ihre Schritte, die näher kommen. Sie setzt sich zu mir auf das Bett und ihre warme Hand legt sich an meine Schulter. Es ist eine beruhigende Wärme und ich schließe die Augen, da sich eine stille Träne einen Weg über meine Wange bahnt. Eine Welle ihres frisch aufgetragenen Parfüms erreicht mich. Ein dezenter und wohltuender Duft, der das geborgene Gefühl meiner Kindheit herauf beschwört.

„Ja“, antworte ich leise und kraftlos.

„Bist du dir sicher?“, erkundigt sie sich noch immer sorgenvoll, als würde sie meinen Kummer spüren. Doch ich bin nicht gewillt, mit ihr darüber zu reden. Ein Kind, welches sich wegen Raphael bei ihr ausweint, ist eindeutig genug. Sie streichelt meinen Arm und ohne es zusehen, weiß ich, dass sie mich ausführlich mustert.

„Tut mir Leid, dass ich gestern Abend erst so spät wieder gekommen bin“, flüstere ich.

„Schon, okay.“ Ich höre, wie sie mir etwas neben das Kopfkissen legt und dann aufsteht.

„Das hat Raphael heute Morgen für dich hier abgegeben. Er ist extra vor seinem Flug noch mal hergekommen.“ Kurz streicheln ihre schmalen, langen Finger durch mein Haar, dann geht sie zu Tür. Noch einmal bleibt sie stehen.

„Er meinte es ist wichtig, dass du es bekommst und das du verstehst.“ Sie schließt die Tür und ich setze mich auf. Neben meinem Kissen liegt ein weißer, leicht zerknitterter Umschlag.

Ich greife danach. Als ich ihn öffne, lugt die Spitze eines Ahornblatts heraus. Es ist eines der Blätter, welche ich an seinem Schreibtisch zwischen den Fotos gesehen habe. Ein Blatt von jenen Bäumen, welche vor unserem Schulgebäude stehen. Ich ziehe es hervor, drehe den Stiel zwischen Daumen und Zeigefinger, so dass es sich langsam dreht. Danach lege ich es zur Seite. Ich neige den Umschlag und mir fällt die Kette mit dem gravierten Anhänger in den Schoss. Mein Herz stolpert. Ich nehme sie in die Hand, fühle das kühle Metall auf meine Haut und streiche über die glatte Oberfläche des silbernen Plättchens. Neben dem Tag und dem Monat steht nun auch ein Jahr.

Vier Jahre zuvor.

Es war ein besonders warmer Herbsttag. Ich schließe die Augen und sehe, wie die rotleuchtenden Blätter zu Boden segeln. Ich spüre seine Hand, die über meinen nackten Arm streicht, als er den Rucksack zurück auf meine Schultern zog. Sein warmes, aber freches Lächeln. Das wunderschöne Grün seine Augen, das so viel Wärme und Leben ausstrahlt.

Mein Herz schlägt mir heiß und wild gegen die Brust, genauso wie damals.
 


 

Kommentar vom Autor:
 

Als Erstes möchte ich ein riesiges und dickes Dankeschön an meine lieben, treuen Reviewschreiber und Leser aussprechen. Ihr habt mir sehr geholfen und stets sehr erfreut. Danke Danke Danke <3

Ein besonders Danke für:
 

Morphia, Kari06, Onlyknow3, Sharon, Nana-tan, Yunia-chan, Ellenorberlin, Shigo, Ashiitaka, Denni, DasIch, Mirakolli und -Ray-
 

Ihr habt mir mit euren Kommies immer wieder den Tag versüßt <3
 

So, jetzt ein dickes Entschuldigung an Alle die, die sich für das Ende etwas anderes gewünscht haben…. Tja, Pech gehabt!
 

Nein, Scherz beiseite. Ich habe beim Schreiben und bei der Entwicklung der Geschichte gemerkt, dass Mark und Raphael in diesem Teil nicht den richtigen Grad ihrer Beziehung entwickeln können und somit meine ganzen Fantasien noch keinen anständigen Platz finden. ;)

Ich bekam viele meiner Idee nicht eingearbeitet, ohne den Rahmen der Story zu sprengen oder die Geschichte ad absurdum zuführen. Ich bitte, also noch einmal vielmals um Entschuldigung.
 

Als Letztes möchte ich nur noch sagen, dass es noch nicht vorbei ist!!!!

Das M-R-M-Karussell dreht sich weiter! @___@

Erwartet meine Fortsetzung, beim ersten Licht des fünften Tages. Bei Sonnenaufgang, schaut nach Doors my Mind 2.0- Ihr Freund, mein Geheimnis.

(Toller Spruch, Gandalf, aber falsches Genre. Was solls xD)
 

Ich danke euch!

Lieben Gruß,

Eure del



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Kommentare zu dieser Fanfic (88)
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Von:  Ayla80
2019-10-09T10:16:22+00:00 09.10.2019 12:16
Hey,

ich hab deine Geschichte in den letzten Tagen dank einer guten Freundin quasi entdeckt, verschlungen und sitze hier immer noch mit Tränen in
den Augen.
Ich habe mitgelacht, mitgefiebert, mitgelitten, oft hatte ich ein fettes Grinsen, oder war geschockt wie ein naiver Teenager. Meine Gefühle sind Achterbahn gefahren. Ich bin einfach nur Hin und weg.

Alle Protagonisten sind unglaublich gut geschrieben und ausgearbeitet. Authentisch, wie wirklich aus dem Leben gegriffen. Nicht schnulzig oder tuntig, oh nein. Kein Wort zuviel.

Mir hat besonders der coole, unnahbare und souveräne Mark vom Anfang gefallen. Immerhin ist Raphael zu ihm gekommen. Okay, nachdem er von Jake wusste. Jaaa, Fragen über Fragen. Auch wenn ich natürlich Marks Beweggründe nachvollziehen kann, das Gefühl zu haben, nicht genug zu sein. Die Lüge zu sein. Dass Raphael nicht zu seinen Gefühlen steht.
Ihn kann ich auch sehr gut verstehen. Er ist noch nicht soweit. Fantasien zu haben ist eine Seite, sie auszuleben eine ganz andere. Nur dass er Mark fast um den Verstand bringt, ihn auffrisst und dann wieder ausspuckt. Soweit hat er nicht gedacht. Und Mark auch nicht, der ja selbst erst anfängt, sich zu leben.

Die Entscheidung war richtig, das Angebot in Kalifornien anzunehmen. Er und die anderen müssen sich noch weiterentwickeln und Erfahrungen sammeln, auch wenn es mir sehr weh tut:) Aber wer weiß?

Die Annäherungen der beiden sind verdammt heiß, intim, zum Dahinschmelzen. Vor allem haben mir die langen und intensiven Blicke und wie sich jedes Mal der Herzschlag unkontrolliert erhöht, gefallen. Mein Puls ging immer mit, ganz ehrlich.

Mark und Shari finde ich sehr niedlich miteinander. Sie sind füreinander da und wichtig. Die Begrüßungsformeln verleihen ihnen etwas Besonderes, was nur ihnen alleine gehört. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie nach außen wie ein Liebespaar wirken. Sie sind und wirken sehr vertraut. Ich musste jedes Mal lächeln und lachen, wenn ich von ihr oder ihrem Vater gelesen habe.

Bei Danny dachte ich wirklich, dass er auch an Mark interessiert sei. Könnte ein guter Kumpel sein.

Mmmh und bei Jake, jaaa, er wäre höchstwahrscheinlich der Richtige. Vielleicht, wenn er vor Raphael gewesen wär. Würde alles soviel einfacher machen, eine neutrale, außenstehende Person, die weiß, was sie will. Aber wollen wir das? Also ich nicht:)
Gott, so ein bisschen masochistisch veranlagt bin ich wohl auch.

Ich habe alle Charaktere in mein Herz geschlossen, auch Maya, naja, zumindest kann sie nichts dafür, dass ihr Bruder ihren Freund liebt. Dass sie verklemmt ist, vielleicht schon.

Jetzt bin ich einfach nur froh, dass es noch nicht vorbei ist:)
Vielleicht lese ich noch von deinen vielen Ideen, die du hier nicht unterbringen konntest. Ich hoffe es. Doch denke ich auch, hier einen Cut zu machen und *gottseidank* an anderer Stelle weiterzuschreiben war gut.

LG



Antwort von:  Karo_del_Green
09.10.2019 14:32
Hallo Ayla80,

als ich gesehen habe, dass das Kommie zu Doors of my Mind ist, bin ich vor Aufregung fast geplatzt. Meine erste und damit auch älteste Geschichte und ich merke immernoch, wie glücklich und hibbelig es mich macht, wenn sie von jemanden entdeckt wird. *__* also vielen vielen Dank, dass du sie gelesen und dann auch noch kommentiert hast. Es freut mich wirklich sehr! <3 Vielen Dank auch an deine Freundin *__*

Es ist ja immer meine große Hoffnung, dass ich es schaffe meine Geschichten so zu gestalten, dass man allerhand Gefühlsregungen empfinden. Einfach mitfühlt, lacht und raunt. In die Tastatur beißt oder am liebsten etwas zerknüllen will. Mir geht es beim Schreiben oft so XD, weil ich meine Charaktere wirklich sehr liebe. Jeden einzelnen. Dass du sie als authentisch empfindet, freut mich daher umso mehr :)

Ich hoffe, dass dir der zweite Teil und meine damalige Lösung ebenfalls zusagt. Ich plane schon seit langem eine Überarbeitung von beiden Teilen und bin daher für alle Anmerkungen und Hinweise dankbar. Gerne auch Wünsche und Ideen. Endlich mal alle Logikfehler und sprachlichen Inkompetenzen korrigieren XD. Allerdings beschäftigen mich meine ganzen offenen Stories noch und deswegen wird es weiterhin nur nebenbei laufen ^^
So, genug vollgequatscht!

Ich danke dir für deine Worte und für das Lächeln, welches du mir heute auf die Lippen gezaubert hast. <3

Liebe Grüße,
das del
Von:  -Chiba-
2018-06-25T11:12:45+00:00 25.06.2018 13:12
Sooo...zurück aus dem Urlaub und gleich die nächste Geschichte verschlungen XD

Schön, wieder ein paar "bekannte Gesichter" wiederzusehen *gg*
Es war nett mehr über Shari zu erfahren. Und Paul kam mir auch irgendwie bekannt vor....bin mir aber nicht so ganz sicher....ich habs nicht so mit Namen >_<

Ich bin schon gespannt wie es weiter geht und ich habe auch schon den zweiten Teil angefangen. Zum Glück hast du weiter geschrieben...so bekomme ich vielleicht doch noch mein Happy End. Konnte es bei den letzten Kapiteln kaum glauben...ich war sogar den Tränen nahe. Ich hab so mit Mark mitgelitten.
Wenn ich mein Happy End nicht bekomme, dann musst du mir die Adresse von Raphael geben, damit ich zu ihm fahren und ihm in den Arsch treten kann òó
Von:  Satsuky
2015-11-19T22:04:18+00:00 19.11.2015 23:04
Hallo,

super geschriebene Story :)
Wollte Sie mir eigentlich auf ein paar Tage aufteilen, aber irgendwie konnte ich mich nicht losreißen bis ich beim Epilog angekommen bin.
Freue mich schon darauf die Fortsetzung zu lesen.

Eine Kleinigkeit ist mir aufgefallen in Kapitel 20 (Eine bittere Süße), steht auf dem silbernen Anhänger der 03.10. im Epilog ist es dann der 07.10.(2010)

Gruß
Satsuky
Antwort von:  Karo_del_Green
20.11.2015 10:58
Lieben lieben Dank für dein Kommie!
Ich freue mich immer sehr, wenn sich noch jemand meine älteren Geschichten zur Gemüte führt :)
Und es dann auch noch so gut gefällt, dass man es in einem Rutsch liest ^////^

Danke auch für den Hinweis! Ich habs übersehen ^^ Ich hatte es zwischendurch geändert, als mir klar wurde, dass der 03.10 ja ein Feiertag ist und somit niemand zur Schule geht XD

Nochmal ein von Herzen kommendes danke. Ich hoffe, dir gefällt der zweiten Teil auch ^^

Lieben Gruß,
Del
Von:  Touki
2014-12-05T20:49:07+00:00 05.12.2014 21:49
Hallo :3

ich muss sagen das deine Fanfic wirklich ganz große Klasse ist. Ich wollte jetzt nicht nochmal jedes Kapitel einzeln kommentieren aber ich finde das diese Geschichte einen Kommi verdient.

Sie ist wirklich toll durchdacht und ich habe in den einzelnen Passagen richtig mitgefiebert. Vor allem mit Marc der mir so unendlich Leid tat das er so leiden musste. In manchen Kapiteln konnte ich mich richtig in ihn hineinversetzen aber ich kann auch Raphael verstehen. Ich denke vor allem in der Sportbranche ist es sehr schwer als schwuler Fuß zu fassen. Er will zwar kein Fussballer werden oder dergleichen aber selbst als Trainer wäre es mehr als schwierig. Du musst nur einen dabei haben der etwas dagegen hat das ihn jemand trainiert der auf Männer steht und schon ist man raus.
So was wird nicht zwingend öffentlich gemacht aber viele Sportler outen sich erst nach ihrer Karriere, wenn sie damit nicht mehr so viel zu tun haben usw..
Ob Raphael schwul ist konnte ich nicht so einschätzen aber bi ist auf alle Fälle denn kein Hetero Mann würde sich jemals küssen lassen oder mehr. Ich denke eher das er große Angst hat vor den Reaktionen anders und das er selbst nicht damit umgehen kann. Vielleicht hat er auch mal schlechte Erfahrungen gemacht. Aber ich denke das es dann im zweiten Teil heraus kommt. Ich bin jedenfalls froh das du weiter schreibst und auch das es in dieser Geschichte kein Happy End gibt.
Es war zwar traurig aber es hätte nicht gepasst und dann hättest du mindestens noch 10 weitere Kapitel schreiben müssen :)

Jedenfalls ein riesen Lob an dich und deine Story und nun bin ich schon gespannt wie es weiter geht <3

Lg Erwin
Von:  DasIch
2014-10-16T11:54:17+00:00 16.10.2014 13:54
Super schlußwort! Würde gern Bescheid wissen wenn es eine Fortsetzung gibt! Da das lange nach ostenstarren meine Nachbarn aufregt ;-)
GLG
DasIch
Antwort von:  Karo_del_Green
19.10.2014 00:28
Uuuh *HdR-Fähnchen schwenk* Hihi ^^

Danke! :) Vielen lieben Dank für deinen Kommie und natürlich gebe ich dir bescheid, wenn es weiter geht!
Wird auch nicht mehr so lange dauern! ^^

Lieben Dank und Gruß,
del
Von:  Morphia
2014-10-14T20:43:34+00:00 14.10.2014 22:43
Ich hab es gewusst! Das Datum auf der Kette bezog sich auf Mark. Es ist schön, dass Raphael die Kette hinterlassen hat. Das zeigt, dass Mark ihm immer etwas bedeutet hat. 😍
Ich hoffe, dass Raphael nach der Zeit im Ausland, sich über alles klar wird und in der Fortsetzung alles klarstellt.
Vielen Dank für die bisherigen Kapitel. Ich habe selten von einen so interessanten Charakter wie dem von Mark gelesen.
Ich freue mich schon auf die Fortsetzung. 😄

Antwort von:  Karo_del_Green
15.10.2014 14:07
Du bist ein Detektiv! :D hihi. Super!

Vielen lieben Dank für deine zauberhaften Kommentare^__^ Sie haben mich immer sehr motiviert!
Ich freue mich sehr, wenn meine Charaktere gut bei den Lesern an kommen. Sie liegen mir immer sehr am Herzen und umso mehr freut man sich, wenn andere sie auch mögen :)

Ich hoffe, dass dir die Fortsetzung genauso zusagen wird und ja, es wird auch ein paar mehr Erklärungen geben :)

Lieben Dank und Gruß,
del
Von:  Ashytaka
2014-10-13T21:39:22+00:00 13.10.2014 23:39
ich finds gut das du die geschichte logisch zuende geführt hast und nicht noch irgendwelche wirren sinneswandeln hast aufkommen lassen, nur damit hier alle glücklich gewesen wären xD sowas zerstört dann meist das ganze - auch wenn dieses ende natürlich wahnsinnig unbefriedigend ist 8D
ich scheine hier aber auch die einzige zu sein die es nicht ganz versteht was er damit nun ausdrücken will, naja xD umso gespannter bin ich wie es weiter gehen wird - hoffentlich bald :3

viel liebe an dich, du schreibst wunderbar und deine chars sind ein traum ♥ bloß weiter so!
Antwort von:  Karo_del_Green
14.10.2014 15:48
^///////^ Danke schön!

Vielen lieben Dank für deinen lieben, aufmunternden Kommies :D
Ich bin sehr erleichtert, dass du mein Ende für logisch, realistisch und nachvollziehbar hältst. Das ist mir sehr wichtig, denn ich mag es auch nicht, wenn durch plötzlich und seltsame Gemütsänderungen, der eine Charakter an kompletter Substanz verliert O.o
Ich habe auch noch so viel Mitteilungsbedürfnis und Ideen, die unbedingt umgesetzt werden müssen. ;)
und freue mich, dass du dich auch auf die Fortsetzungen freust!!!

Vielen herzlichen Dank! <3
Lieben Gruß,
del
Von:  -Ray-
2014-10-13T17:42:42+00:00 13.10.2014 19:42
Hey du schön das du weiter schreibst! Freue mich schon darauf und tröste mich so lang mit deinen anderen Storys ;) und danke für dein Danke <3 :)
Antwort von:  Karo_del_Green
14.10.2014 15:37
Wem sollte ich sonst danken, wenn nicht meinen lieben, tollen Kommieschreibern und Leserlis *__*
Ihr seid schließlich toll! <3
Ich danke dir ganz herzlich für deine lieben Kommies und ich freue mich sehr, dass dir meine kleine Geschichte gefällt :D
Ich hoffe, dass dir meine anderen Geschichten genügend Ablenkung bieten und kann dir, aber schon sagen, dass du nicht mehr so lange auf die Forsetzung warten musst ;) Aber lies ruhig die anderen Geschichten trotzdem :D

Vielen herzlichen Dank an dich!
Lieben Gruß,
del
Von:  Onlyknow3
2014-10-13T07:02:53+00:00 13.10.2014 09:02
Wie geil ist das denn super ich freue mich schon auf die Fortsetzung man das gefällt mir. Auch das Raph nun doch seine wahren Gefühle für mark offenbart hat wenn auch erst zum schluß geben sie Mark doch die Hoffnung auf mehr als er bisher geglaubt hat oder glauben durfte nach dem wie Raphael ihn behandelt hat. Ob es Mark dadurch leichter wird sich auf den Unterricht und die Abschlussprüfung zu konzentrieren. Was wird wohl Shari sagen wenn Mark ihr das erzählt.
Auch wenn es kurz ist, der Epilog sagt alles was man wissen muss. Weiter so.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  Karo_del_Green
14.10.2014 15:31
Ich danke dir für deine vielen tollen Kommentare ^///^
Sie haben mich immer sehr motiviert und mir auch gezeigt, wie die geschrieben Inhalte bei meinen Lesern ankommen. Das finde ich sehr wichtig :)
Ich finde auch toll, dass du dir so intensive Gedanken machst und dir selbst überlegst, was als nächstes passieren kann. Das finde ich sehr spannend!
Das jetzt auch noch einmal, was von Rapha kommen musste, war obligatorisch, denn ich denke man hat eindeutig gemerkt, dass ihm Mark nicht vollkommen egal ist ^///^ na ja, lass dich überraschen, was noch passiert und auch was Shari von der ganzen Geschichte hält ^^

Also noch einmal vielen, herzlichen Dank und ich hoffe, dass dir die Forsetzungen ebenso zusagt :D

Lieben Dank und Gruß,
del
Von:  cisba
2014-10-13T00:16:58+00:00 13.10.2014 02:16
oh man da weint man ja fast mit, so traurig und hart aber he wer hat sowas nicht selber durchgemacht nur etwas anders. freu mich schon aufs zweite.
lg cisi
Antwort von:  Karo_del_Green
14.10.2014 15:27
Heyhey ^^

vielen lieben Dank für dein Kommie.
Du hast vollkommen recht. Ich denke, auch das jeder so etwas in ähnlicher Art und Weise schon Mal erleben musste und deshalb ist es für mich wichtig, dass meine Charaktere es auch realistisch und verständlich transportieren. Wenn ich das schaffe, geht es mir gut :D
Ich freue mich, dass dir meine kleine Geschichte gefällt!

Lieben Dank und Gruß,
del


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