Zum Inhalt der Seite

Rise of an eagle

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Aufgescheucht wichen die Menschen zur Seite, als sie durch die Menge brach. Wüste Flüche wurden ihr hinterher gerufen. Hastig kamen ihre schmerzenden blanken Fußsohlen auf dem harten Gestein der gepflasterten Straßen auf. Durch die pralle Mittagssonne brannte sich der Boden förmlich in ihre Haut. Sie versuchte den Schmerz weit in ihren Hinterkopf zu vertreiben, während das warnende Poltern ihrer Verfolger in ihren Ohren dröhnte. Sie durfte nicht stoppen. Keinen Fehler begehen.

Keuchend bog sie scharf in eine enge Seitengasse ein. Sie musste die Wachen abhängen, ehe sie ihnen zum Opfer fallen würde. Zwei Finger. Ja, zwei ganze Finger hatte sie bereits eingebüßt. Dieses Mal würden sie sich nicht mit einer solch milden Strafe zufrieden geben. Nein. Dieses Mal wäre sicherlich ihre gesamte Hand an der Reihe. Es war mit beiden Händen schon schwer genug, als Heimatlose in dieser riesenhaften Stadt zu überleben. Und alles nur wegen zwei Äpfeln.

Ihr Atem stieß aus ihrer brennenden Lunge hervor, als sie nach dem nächstbesten Fenstersims griff. Sie krallte sich in das massive Holz, als ihre Füße an der steinernen Mauer den Halt suchten. Mühselig und langsam erklomm sie den steinernen Hauswall, rutschte mehrfach ab und prallte mit ihrem lädierten Körper hart gegen die Wand. Der Schmerz durchzuckte ihren Körper und pochte in ihrem tauben Kopf wieder. Ängstlich biss sie sich auf die Unterlippe, als ihr Blick zurück in die Gasse wanderte. Auch die Wachen hatten sich daran gemacht die Dächer über einen kleinen Umweg zu erreichen. Sie wollten ihr den Weg abschneiden und wenn sie sich nicht beeilte, dann würde dies wohl, oder übel, auch geschehen. Eilig umklammerte sie die kupferne Verkleidung des Dachsimses, als ihr der Schmerz durch die Glieder jagte, doch sie hatte keine Zeit. Mit der letzten Kraft, die ihre Arme noch aufbringen konnten, wuchtete sie sich auf das Ziegeldach. Den stechenden Schmerz an ihrer linken Seite ignorierend begann sie erneut zu sprinten. Sie folgte den geheimen Wegen über die verschlungenen Dächer, erklomm kleinere Aufstiege und hetzte immer weiter voran. Das verräterische Klappern der feindlichen Rüstung bedeutete ihr, dass sie keinen Abstand gewann. Lange würden ihre Füße der Belastung nicht mehr standhalten können. Abrupt hielt sie inne. Ihre Augen zuckten erschrocken auf die Leere vor sich. Ein riesenhafter Platz, bevölkert von vielerlei Menschen erstreckte sich vor ihr. Es gab kein vorankommen mehr. Keinen Ausweg über die Dächer zu fliehen. Erneut biss sie sich auf die Unterlippe.

Sie wagte einen abenteuerlichen Sprung auf ein Vordach, auf dem sie strauchelnd das Gleichgewicht verlor. Verdammt. Ihr Körper war viel zu schwach. Sie würde ihnen niemals entkommen können. Doch noch war sie nicht bereit aufzugeben. Noch klammerte sie sich an einen dünnen Ast Hoffnung, tief in ihrem Herzen.

Sie rappelte sich hoch, in ihrem Augenwinkel sah sie bereits, wie sich die Bogenschützen um sie herum auf den hohen flachen Dächern positionierten. In ihren Erinnerungen zuckten Bilder der Vergangenheit auf. Bilder, die sie nicht mehr berührten. Lachen, das sie nicht mehr fühlen konnte, dann sog sie die Luft tief in ihre Lunge ein, ehe sie an den Rand des Daches trat und ohne zu überlegen einfach sprang. Noch im Flug fühlte sie die brennenden Streifschüsse der Geschosse, die sie mit Leichtigkeit hätten töten können, ehe ein dumpfer Aufprall folgte, der ihr durch Mark und Bein drang, als schon ihr Denken verebbte.

Aus dem Taubenschlag heraus hatte er die dürre flüchtende Gestalt beobachtet, wie sie über die Dächer gehastet war, auf der Flucht vor den Wachen, die ihr so dicht auf den Fersen waren. Strauchelnd war sie auf dem erhöhten Vordach des Herrenhauses gelandet, von dem es kein Entrinnen mehr gab. Sie hatte ihre Augen geschlossen, einen kleinen Augenblick nur. Sie wollte doch nicht? Er zog die Stirn in tiefe Falten. Ein Sprung aus dieser Höhe würde ihr wohl sämtliche Knochen brechen. Ein ziemlicher Trubel, der um das junge ausgezehrte Mädchen gemacht wurde. So hatten sich sogar die Bogenschützen auf den Dächern zusammengefunden, um ihrer Flucht endlich ein Ende zu setzten. Sie schenkte dem Spektakel keine weitere Beachtung mehr, denn sorgsam trat sie an den Rand des Vordaches, von dem sie sich, wie eine Wachspuppe, todesmutig in den Abgrund fallen ließ. Die Bogenschützen ließen einen Pfeilregen auf sie herab, dem sie, wie durch puren Zufall entging, doch selbst das rettete ihr das Leben nicht, als sie kurz darauf dicht neben dem Taubenschlag auf dem Boden aufkam. Er nahm das Zersplittern der Knochen deutlich wahr. Feine Blutspritzer benetzten die graue Steinmauer und drangen durch das Gitter in den Taubenschlag ein. Er verharrte einen Moment in seiner starren Position, bis sich endlich die letzten Wachen dem Schauspiel abwandten und ihrem geregeltem Tageswerk nachgingen. Grausame Bastarde, die ein armes Mädchen dazu brachten sich von einem Dach in den Tod zu stürzen, bedachte er, als er mit leisen Fingern den Taubenschlag öffnete. Die Mausgraue Taube zu seiner Rechten flatterte unruhig mit den Flügeln, während er sich vorsichtig aus der viel zu engen Luke zwängte. Einen Augenblick lang sondierten seine Augen die Umgebung, ehe er die Luke sorgsam schloss und seinen Blick auf den zerschellten Körper des Mädchens legte. Sie musste eine Taschendiebin gewesen sein, denn bereits Ring- und Mittelfinger der linken Hand fehlten ab dem mittleren Glied. Ihre zusammengebundenen Haare waren bis an die unteren Enden verfilzt und die lumpige Kleidung, die sie getragen hatte, war abgenutzt und Dreck besudelt. Dazu gesellte sich das frische Blut, das aus den aufgeplatzten Arealen ihrer Haut drang. Ihre Arme waren so zierlich und dünn, dass es einem Wunder glich, dass die bei diesem Aufprall nicht vollkommen zu Bruch gegangen waren. Alles in Allem machte dieses Mädchen einen grauenhaften Eindruck. Vielleicht hatten ihr die Wachen damit sogar einen Gefallen getan, murrte er in Gedanken, als er durch seine kastanienbraunen Haare strich. Sorgsam trat er an die Gestalt heran und kniete sich mit düsterem Gesichtsausdruck an ihre Seite.

„Requiescat in pace. “, drang es von seinen Lippen, ehe er seine behandschuhte Hand unter ihren dünnen Leib schob. Sachte, kaum wahrzunehmen, fühlte er eine Bewegung an den Fingerspitzen. Er erstarrte einen Moment. Hatte er es sich lediglich eingebildet? Diesen Sturz konnte niemand überleben. Doch da war es erneut. Ein einzelner, aber heftiger Schlag des Herzens.

Eilig suchte er den Weg durch ihre Haare zu ihrem Gesicht. Tiefe Schrammen überzogen die schmutzige Haut und das Blut lief ihr aus dem rechten Mundwinkel. Doch tatsächlich. Flache, unregelmäßige Atemzüge, die den Körper kaum am Leben erhalten konnten, doch ihn auch nicht ins Nichts hinüber gehen lassen würden. Sie lebte.

Sein Gesicht verfinsterte sich noch weiter. Sie war noch sehr jung, doch auch das würde die Verletzungen, die sie davon getragen hatte, nicht daran hindern, sie dahin zu raffen. Ihr starkes überlebenswilliges Herz verzögerte die Erlösung nur. Trotzdem konnte er sie nicht liegen lassen. Alles in seinem Inneren verkrampfte sich, als er daran dachte sie ihrem Schicksal zu überlassen. Gezielt glitten seine Arme unter den Körper des Mädchens, ehe er sie anhob. Er spürte, wie die gebrochenen Knochen knarzten. Eine leichte Gänsehaut zog sich über seinen Nacken, als er einen Anflug von Phantomschmerz erlitt. Schnell schüttelte er das unbehagliche Gefühl ab, ehe er rechts des Taubenschlags in die dunkleren Gassen dieser belebten Stadt einbog. Seine Augen beobachteten, wie der Sauerstoff ihre Lunge erreichte, sie nur notdürftig ausfüllte und in kurzen Abständen wieder hervor drang, während seine Beine selbstständig ihren Weg einschlugen. Hinter dieser zerbrechlichen Fassade steckte wohl ein Wille, der so schnell nicht gebrochen werden konnte. Ein Wille, der sie nach all dem noch immer am Leben erhielt. Ein Anflug von Bewunderung legte sich über sein ernstes Gesicht. So etwas hatte er wohl in seinem langen Sein noch nie erlebt. Viele Menschen waren aus seinem Leben geschieden, einige Tode davon hatte er selbst zu verbuchen, doch trotz all dem. Auf eine subtile Art und Weise faszinierte es ihn, wie sie noch immer am letzten Halm des Lebens klammerte. Nicht aufzugeben wagte. Als hätte sie ihre Aufgabe im Leben noch nicht erfüllt, doch was blieb ihr anderes übrig, als letzten Endes einfach die weiße Fahne zu schwenken und sich dem Unweigerlichen hinzugeben? Tatsache war, dass ihr Körper dem Ende entgegen schritt. Ein bitterlich heiseres Lachen drang aus seiner Kehle, als er sie immer noch nicht aus seinem Blick entließ. Was hielt sie noch hier? Spürte sie nicht, dass es an der Zeit war? Wollte ihr Geist es noch nicht wahr haben? Wann würde die Einsicht kommen, dass dieser Kampf zu Ende war? Letzten Endes würden alle Wege auf dasselbe hinaus laufen. Sie würde gehen. Als unbekannte Heimatlose enden. Niemand würde sie vermissen, niemand um sie trauern. Er legte seine Augen wieder auf seinen Weg. Doch er würde sie nicht auf der Straße liegen lassen. Jedem Toten stand ein ordentliches Begräbnis zu, so auch diesem namenlosen Mädchen.

Vor der kleinen dunkelbraunen Mahagonitüre hielt der Mann inne. In seinen Armen noch immer der erschlaffte Körper des Mädchens, welches sich eisern am Leben festhielt. Er konnte es fast selbst noch nicht glauben, dass sie den gesamten Weg bis zu seinem Anwesen durchgehalten hatte. Doch irgendwann würde doch der letzte Rest Kraft aus ihr weichen müssen. Mit seinem rechten Bein trat er zweimal fest an die Türe. Den letzten Schlag zögerte er eine Weile hinaus, als Erkennungszeichen, dass er es war.

Schwungvoll wurde die Tür aufgemacht, als ihm bereits ein vertrautes rundes Gesicht entgegen leuchtete. Das strahlende Lächeln der Wiedersehensfreude verblasste jedoch abrupt, als ihre nussbraunen Augen auf das Häufchen Elend in seinen Armen fiel.

„Antonio, 'per l'amore di Dio! (Um Gottes Willen!)“, rief sie aufgescheucht aus, als sie bereits einen flüchtenden Schritt zur Seite machte und ihrem Herren somit den Eingang gewährte. Stumm trat er an ihr vorbei und ließ die Tür hinter sich ins Schloss gleiten. Der gewohnte Geruch von Kräutern und altem Holz drang in seine Nase. Ein Gefühl von Heimat breitete sich in ihm aus.

„Antonio?“, hinterfragte die kleine rundliche Dame. Ihr Gesicht war zu einer entsetzten Grimasse verzogen. Sie wedelte verzweifelt mit den Armen, ehe sie sich die Finger an die Lippen legte.

„Sie ist von den Dächern gestürzt.“, gab der großgewachsene Mann rau von sich.

„Wir müssen...“, begann die Frau hektisch. Bereits an ihrem Gesichtsausdruck besah er, dass sie sich in ihrem Kopf sämtliche medizinische Objekte zurecht legte. Deswegen unterbrach er sie geschwind.

„Sie wird sterben. Einen solchen Sturz kann kein Mensch überleben. Ich konnte sie lediglich nicht in der Hintergasse liegen lassen.“ Er war sich der Schwere seiner Worte bewusst, doch ohnehin würde es nicht viel nützen die ganze Geschichte schön zu reden.

„Ma sei matta? (Bist du denn verrückt?) Doch nicht vor dem jungen Ding. Leg sie auf die Liege. Ich werde mich darum kümmern, Antonio.“, herrschte die rundliche Frau. Er schnaubte resigniert, tat jedoch was seine treue Maria von ihm verlangte. Sie hatte ihn noch nie enttäuscht. Er besaß keine Familie. Keine Frau und keine eigenen Kinder. Lediglich Maria war nie von seiner Seite gewichen. All die Jahre, selbst nach dem schrecklichen Schicksal, dass seinen Eltern und Geschwistern widerfahren war, diente sie weiterhin treu seinem Hause. Sie war seine Haushälterin, seine Amme und vielleicht in manchen Zeiten eine Art Ziehmutter, auch wenn er dies in seinen mittleren Jahren nicht mehr gebrauchen konnte.

Ihre angegrauten Haare hatte sie sich streng am Hinterkopf zu einem sorgsam verknoteten Dutt gebunden, während ihre Figur in einem einfachen Kleid steckte. Sie beugte sich sorgsam zu dem Mädchen hinab, welches Antonio auf der Liege im hinteren Bereich des Wohnraumes gelegt hatte. Er selbst zog sich auf einen einfachen Holzsessel zurück und entfachte eine Pfeife, während seine Augen jeder Bewegung seiner Haushälterin folgten.

Sie wandte sich mit tadelndem Blick herum.

„Antonio! Sitz nicht einfach so herum. Bring mir eine Schale Wasser und das Bündel Kräuter aus der Küche.“, befahl sie streng. Da war sie wieder. Die Ziehmutter.

„Si, Maria.“, murrte er. „Balm für die letzte Salbung?“, fügte er beiläufig hinzu.

„Antonio!“, entkam es ihr erschreckt. Er hob abwehrend die rechte Hand und machte sich daran die ihm zugewiesenen Gegenstände zu besorgen. Als er nach dem Bündel Kräuter griff versuchten seine Gedanken zu verstehen, warum sich jeder vor der Erlösung des Todes fürchtete. Es war völlig abwegig, dass dieses Mädchen genesen würde, geschweige denn diese Nacht überlebte. Seufzend fuhr er sich durch den sorgsam drapierten Kinnbart, ergriff das Bündel Grün und schritt in den Wohnraum zurück. Er legte die Porzellanschale auf dem kleinen Tisch neben Maria ab und reichte ihr die verlangten Kräuter, als sie ihm dankend zunickte.

„Jeder ihrer Knochen muss gebrochen sein.“, bemerkte der Mann schlicht. Maria schnaubte, während sie den Leinenlappen ins klare Wasser tauchte.

„Sie ist noch ein Kind.“, gab sie wieder.

„Sie wird diese Nacht nicht überleben.“, widersprach ihr Antonio, als ihn ein Keuchen zusammenzucken ließ. Unwillkürlich ballte sich die linke Hand des Mädchens zur Faust, ehe sie wieder erschlaffte. Wohl nur eine Zuckung, die ihr sterbender Körper von sich gab, versuchte er sich zu beruhigen.

Maria schwieg eisern, als sie sich daran machte den Schmutz und das Blut von der Haut des Mädchens zu tupfen. Sie kümmerte sich mütterlich um jede Stelle und Antonio befiel ein beklemmendes Gefühl beim Anblick dieser Szene. Auch Maria hatte keine Familie. Keine Kinder, um die sie sich kümmern konnte. Wie leer dieses riesenhafte Anwesen war wurde ihm das erste Mal bewusst. Er verzog das Gesicht düster, ehe er sich abwandte.

„Ich hole den Arzt.“, knurrte er. Maria senkte den Blick dankend und fuhr in ihrem Tun fort, als ihr Herr bereits aus der Tür trat. Sie wusste, dass er zur Besinnung kommen würde. Er mochte ein gefürchteter Mann sein, doch niemand ohne Herz. Er konnte das Mädchen nicht sterben lassen, das bedeutete alleine die Tatsache, dass er sie hierher gebracht hatte.

„Antonio Santavenere. Lange Zeit habt ihr euch schon nicht mehr blicken lassen. Was habt ihr denn wieder angestellt?“, drang eine bekannte Stimme vom Fenster des kleinen Eckhauses. Antonio trat einen Schritt von der Haustüre zurück, an die er gerade lautstark gepocht hatte.

„Ich habe keine Zeit für euren Schalk, Rastelli. Ich brauche eure Hilfe.“, knurrte der Störenfried, während er von einem Bein zum Anderen trat. Rastelli zog seine Augenbrauen eng zusammen und musterte das ernste Gesicht seinen Gegenübers, welches wie zumeist keinen Aufschluss auf seine Gedanken gab.

„Gebt mir ein paar Minuten.“, gab er seufzend zurück.

„Wir haben keine Minuten.“, bemerkte Antonio hart. Rastelli winkte jedoch nur ab und trat aus dem Sichtfeld des Hilfesuchenden. Binnen weniger Augenblicke stand er, in seinen schwarzen Arztumhang gekleidet am Absatz seiner Treppenstufen und musterte erneut den Mann gegenüber. Es war nichts Neues, dass Antonio Santavenere plötzlich vor seiner Tür stand. Viele Male hatte der Doktor tiefe Schnitte und andere Verletzungen an Antonios Körper verarztet, doch dieses Mal schien er sich bester Gesundheit zu erfreuen.

„Was ist geschehen?“, wollte Rastelli wissen, doch Antonio hüllte sich weiterhin in eisernem Schweigen. Er bedeutete dem Doktor ihm zu folgen, als er den Weg durch die engen Gassen antrat. Fest umklammert hielt Rastelli seinen prall gefüllten Arztkoffer, den er noch schnell mit allerlei Zeug gefüllt hatte, denn bei einem Santavenere musste man auf alle Eventualitäten gefasst sein. Das wusste der gute Arzt schon seit langer Zeit.

Antonio führte den Arzt durch die verwirrenden engen Seitengassen, ehe er auf dem Piazza della Signora, der das Hauptzentrum dieser Stadt war, scharf rechts in Richtung Kanalschacht abbog. Gerade, als sich Rastelli fragte, wohin ihn der Santavenere bringen wollte, bog er erneut in eine kleine dunkle Seitengasse ab. Sie endete mit einer massiven steinernen Wand, die kein Durchkommen zuließ. Rastelli ließ fragend seinen Blick umher gleiten. An diesem abgeschiedenen Ort von Firenze war der Arzt noch nie gewesen. Die Häuser ringsum schienen schon lange nicht mehr bewohnt zu sein, denn einige Dächer wirkten, als könnte jeden Moment das marode Holz nachgeben und sie in sich zusammenstürzen. Unbeteiligt trat Antonio an eine, kaum wahrzunehmende Nische im hintersten Eck der Seitengasse, worin sich eine massive Holztür verbarg.

Ein dumpfes Pochen hallte aus dem Inneren des versteckten Herrenhauses hervor, als sich eilig ein paar tippelnde Schritte näherten. Überschwänglich wurde die massive Holztüre aufgetan. Rastelli erhaschte einen Blick auf die aschfahle ältere Haushälterin, die ihren Herren schnell herein bat.

„Ich dachte schon du kehrst nicht mehr zurück!“, herrschte die alte Dame zu dem Santavenere, dessen düsterer Gesichtsausdruck sich einen Moment lang versteifte.

„Bella Maria.“, meldete sich der Arzt zu Wort, als er sich bereits höflich vor der Dame verneigte.

„Wir haben keine Zeit für Höflichkeiten, Signore Rastelli. Es handelt sich um einen Notfall.“, haspelte sie geschwind. Sie verließ als Erste den marmorierten Flur in Richtung Wohnraum, woraufhin ihr Antonio und Rastelli eilig folgten.

Was seine Augen dort erspähten raubte ihm einen Augenblick den Atem. Der ausgezehrte Körper eines jungen Mädchens lag aufgebahrt auf einer Liege. Die Kleidung war durch ein einfaches weißes Laken ersetzt worden. Arme und Beine standen an einigen Stellen unnatürlich vom Körper ab, wobei der Kopf relativ unverletzt schien. Dick aufgeschwollene und blutende Platzwunden zogen sich über die rechte Schulterpartie des jungen Mädchens. Überall lugten bereits heimlich dicke Hämatome unter der leichenblassen Haut hervor.

Eilig überwand der Arzt den Abstand und kniete sich an die Seite der Liege unfähig seine Augen von dem Häufchen Elend zu nehmen, welches allen Anschein noch am Leben zu sein schien.

„Per l'amore di Dio! Was ist hier geschehen, Antonio?“, herrschte Rastelli, der angestrengt versuchte den schwachen Puls des Kindes zu tasten.

„Sie stürzte von einem Dach, wie eine reife Pflaume von einem Baum.“, knurrte Antonio, der sich mittlerweile hinter dem Arzt positioniert hatte. Seine Arme waren auf Brusthöhe verschränkt.

„Antonio? Soll ich Wunder vollbringen? Das Kind liegt im Sterben. Ich kann nicht zaubern.“, begann der Arzt verzweifelt.

„Ich weiß das, doch...“, begann der Santavenere mit belegter Stimme.

„Sie ist doch noch ein Kind. Doktor, sie können sie doch nicht sterben lassen.“, keuchte Maria aufgebracht. Sie nahm auf der anderen Seite der Liege Platz und legte ihre anklagenden Augen auf den Mann vor sich. Rastelli schüttelte benommen den Kopf.

„Ich werde euch unterstützen Doktor. Was muss ich tun?“, ihre Lippen hatten sich zu einer schmalen Linie geformt.

„Wer ist das Mädchen?“, gab der Arzt seine Frage an den Hausherren weiter.

„Ich weiß es nicht. Scheinbar eine Heimatlose.“, bemerkte Antonio nüchtern.

Rastelli fasste sich ein Herz, obgleich der Blick der Haushälterin schwer auf ihm lag, griff er nach seinem Koffer. Er breitete seine Instrumente auf einem sauberen weißen Stofftuch aus, das er zuvor auf den Nachtschrank drapierte.

„Maria bringt mir ein Sandkissen, ein paar Weidenzweige und etwas Leinen.“, befahl der ältere Mann. Seine mittellangen Haare waren fein säuberlich im Nacken zusammengenommen und mit einem schwarzen Band fixiert. Der gezwirbelte Schnauzbart sträubte sich ein wenig, als er das Laken von der jungen Frau nahm. Er lokalisierte bereits mehr als zehn Frakturen, alleine mit seinem bloßen Auge. Die Atemstöße waren schwach und unregelmäßig, während der Körper des Kindes seltsam verkrampft wirkte.

Gerade, als Maria den Raum verließ wandte sich der Arzt erneut an Antonio.

„Ihr wisst, wie es um das Kind steht?“, brachte er ruhig hervor.

„Ja.“, knurrte der Hausherr.

„Es wird eine teure Angelegenheit, die nicht von Erfolg gekrönt ist.“, erklärte sich Rastelli weiter.

„Geld spielt keine Rolle. Ich möchte mir keine Vorwürfe machen lassen, weil wir sie einfach sterben ließen. Tut was in eurer Macht liegt.“, winkte Antonio ab.

Seufzend griff der Arzt nach der Glasspritze und einer Ampulle. Während er die metallische Nadel auf die Spritze schraubte beobachteten Antonios Augen jede seiner Bewegungen.

„Morphium für ein junges Kind?“, hinterfragte der Mann skeptisch.

„Das wird eine unschöne, schmerzhafte Angelegenheit.“, murrte Rastelli, der mit der Nadel sorgsam den Inhalt der Ampulle leerte. Er ließ die Luft aus der Spritze dringen, ohne dabei etwas von der kostbaren Substanz zu verlieren, die bereits gefährlich gelb durch das Glas schimmerte. Danach legte er sich den rechten Arm des Mädchens zurecht und schnürte ein Band um den Oberarm. Mit seinen Fingern begann er die Vene für seine Applikation zu suchen, doch durch das Trauma hatten sich sämtliche Blutgefäße tief ins Innere des Körpers zurück gezogen. Dies würde keine einfache Angelegenheit werden. Er benetzte ein Tuch mit hochprozentigem Alkohol, dessen bissiger Geruch bereits in der Nase brannte und desinfizierte die Stelle, die er mit seiner Nadel punktieren wollte. Er setzte die Spritze mit ruhiger Hand und genau in diesem Moment, in dem die Spitze die Haut durchstach zuckte das Mädchen leicht. Der Arzt zog die Augenbrauen zusammen, ließ sich davon jedoch nicht beirren. Er forschte unter der Haut nach der Vene, die er benötigen würde. Als sich die Spritze endlich mit wenig Blut füllte applizierte er das Morphium. Augenblicklich entspannte sich die Haltung des Mädchens. Ihre Gesichtszüge wurden weich.

Rastelli seufzte erleichtert, als er die Spritze und das Band entfernte. Die Injektionsstelle blutete kaum nach. Das Kind hatte schon zu viel lebenswichtigen Saft verloren.

Hastig kam Maria durch die Türe in den Wohnraum. In ihren Armen hielt sie besagte Gegenstände, die der Arzt angefordert hatte.

„Wie sieht es aus, Doktor?“, hinterfragte die kleine Frau besorgt.

„Mehrere Knochenbrüche, innere Prellungen und Quetschungen. Vermutlich auch innere Verletzungen und Blutungen. Ihr Kopf scheint von Außen unbeschadet, doch man weiß nie, was innerhalb vor sich geht. Üble Brandwunden an den Extremitäten und ein sehr schlechter Ernährungszustand.“, brummte der Arzt, der gerade das Sandkissen unter die rechte Schulter des Mädchens legte.

„Das soll bedeuten?“, hinterfragte die Haushälterin erschreckt.

„Dass sie vermutlich auch ohne diesen Zwischenfall den Winter nicht überstanden hätte.“, gab Rastelli zu verstehen. Antonio senkte wissend den Blick, während sich Maria beide Hände vor die Lippen schlug.

„Bitte Doktor. Tut was ihr könnt. Ich flehe euch an. Ich werde mich um das junge Ding kümmern, als wäre es mein Eigenes.“

Rastelli warf einen leichten Seitenblick zu Antonio, der ihm schlicht zunickte. Dann seufzte er erneut resigniert, ehe er sich aufbäumte.

„Das wird unschön. Falls euch Übelkeit überkommen sollte, dann verlasst bitte sofort den Raum.“, knurrte der Arzt, als er sich bereits an dem ersten Bruch zu schaffen machte.
 

Bittere Schweißperlen bahnten sich einen Weg über sein Gesicht, als er den letzten Leinenverband anlegte. Wie durch ein Wunder war die Prozedur tatsächlich ohne weitere Zwischenfälle über die Bühne gelaufen. Noch immer atmete das Kind schwach. Kopfschüttelnd musste sich der Arzt eingestehen, dass er so etwas noch nie erlebt hatte. Laut seiner Erfahrungen hatte bisher niemand einen Sturz von einem Dach mit solchen Verletzungen mehrere Stunden überlebt. Alle wichtigen Organe schienen noch zu arbeiten, sogar unbeschadet zu sein, andernfalls hätten die inneren Blutungen sie schon lange dahin gerafft. Maria deckte das Mädchen mit mehreren Lagen Stoff zu, ehe sie ihr mütterlich über die Wange strich.

Rastelli betrachtete die Haushälterin eingehend, ehe er sich mit einem vielsagenden Blick zu Antonio herum wandte. Auch dieser schien verwundert, dass das Kind trotz allem noch immer im Leben verweilte.

„Begleitet ihr mich hinaus, Antonio?“, befragte Rastelli geschwind. Sein Gegenüber verstand natürlich den Wink mit dem Zaunpfahl und neigte leicht den Kopf zum Einverständnis.

„Es ist nichts überstanden.“, begann der Arzt, als sie außerhalb der Hörweite Marias waren.

„Ich weiß.“, knurrte Antonio.

„Sie wird diese Nacht, oder die nächsten Tage nicht überstehen. Ihr Allgemeinzustand ist zu schlecht, um solche Verletzungen auskurieren zu können.“, erklärte sich Rastelli dennoch.

„Mein Guter, das ist mir alles durchaus bewusst. Doch als sie über die Dächer jagte, die Wache im Nacken. Als sie auf diesem Vordach stand und sprang. Bei meiner Ehre ich konnte sie doch nicht einfach liegen lassen, wenn sie noch atmete.“, brummte der Hausherr. Rastelli nickte verständlich. „Ihr habt Maria keinen Gefallen getan, indem ihr sie hierher brachtet.“, gab der Arzt zu verstehen.

„Ich dachte sie würde den Weg nicht überstehen.“ Reue schlich sich in seine dunkelbraunen Augen, ehe er den Mund verzog.

„Wird sie Schmerzen haben?“, lenkte er das Thema geschwind um.

„Nein, Antonio. Ich suche dich morgen in aller Bälde auf. Sollte sie noch am Leben sein, dann werde ich ihr noch einmal Morphium verabreichen. Sieh es als Freundschaftsgefallen. Buona notte. (Gute Nacht)“, endete Rastelli, ehe er sich noch einmal vor seinem alten Freund verneigte und hinaus auf die Straße trat.

„Grazie.“, murrte der Hausherr, ehe er die Tür verschloss und sich mit einem seltsamen Gefühl in der Magengegend wieder dem schummrig beleuchteten Flur zuwandte.

„Noch einen Schluck Wein, Monsignore?“, richtete sich Antonio an seinen späten Besuch. Maria brachte derzeit die übrig gebliebenen Speisen zurück in die Küche.

„Bene Grazie, Antonio, aber nein. Andernfalls finde ich den Weg in mein Heim nicht mehr, heute Nacht.“, lachte der Arzt auf. Antonio schenkte ihm ein verschmitztes Lächeln, ehe er seinerseits seinen Krug in die Höhe hielt und stumm einen Schluck daraus nahm.

„Ihr verpasst etwas. Es ist der beste Wein von ganz Florenz.“, bemerkte der Hausherr neckisch.

„Das sagtest du bereits bei den vorherigen beiden Flaschen, mein Guter.“, konterte Rastelli augenzwinkernd. Sein Blick flog durch den Raum und blieb abermals an dem ruhenden Körper des jungen Mädchens hängen. Mit tiefen Atemzügen sog sie den Sauerstoff in ihre geschundene Lunge. Das todgeweihte Mädchen, dessen Wille sich so sehr an ihr Leben klammerte, dass sie nicht aus dieser Welt gehen wollte. Mit einer übermenschlichen Zähigkeit klammerte sie am letzten Halm ihres Seins, seit geschlagenen sechs Wochen. Noch immer war sie nicht erwacht. Rastelli konnte keine Prognose abgeben, denn so schwach sie schien, so schnell regenerierten sich ihre Verletzungen. Erst vor wenigen Tagen hatte sie starkes Wundfieber entwickelt und wieder hing ihr Überleben am seidenen Faden. Mittlerweile war der Doktor regelmäßiger Besuch in diesem förmlichen, leeren Herrenhaus geworden und auf eine eigenartige Art und Weise war ihm seine Patientin ans Herz gewachsen. Er bemühte sich das Kind mit bestem Wissen und Gewissen zu behandeln, denn es schien, als gäbe es noch Hoffnung. Mit jedem Atemzug, den sie von sich gab.

Die Einzige, die dauerhaft an das Überleben des Mädchens geglaubt hatte war Maria. Es verstrich kaum ein Zeitpunkt, an dem sie nicht aufopferungsvoll an der Pritsche des Mädchens saß. Sie wusch den Körper mit heilenden Ölen, salbte die Wunden, erneuerte die Verbände und versuchte Speis und Trank in den geschundenen Leib zu flößen. Des Abends las sie der Schlafenden gerne Geschichten aus den Büchern der hauseigenen Bibliothek vor, ehe sie völlig erschöpft und auch etwas resigniert in ihr Schlafgemach schlich. Rastelli, langzeitiger Freund der Familie Santavenere, kannte Maria seit jeher. Seit sie ihren ersten Schritt auf das riesenhafte Anwesen der Santavenere getan hatte. Damals als Amme der drei jungen Sprösslinge. Ihr Lebenswunsch war es gewesen ein Haus voller Kinder, über Generationen hinweg, zu hüten. Sie wusste längst, dass eigene Kinder niemals eine Option waren. Sie war zeugungsunfähig, seit ihrer schweren Pockenerkrankung als Kind.

Die Santavenere waren eine bedeutende und reiche Geschäftsfamilie gewesen. Das Oberhaupt, Marcello Santavenere, war für seine Raffinesse und sein Fingerspitzengefühl in schwierigen Angelegenheiten bekannt gewesen. Seine beruflichen Kontakte waren sehr umfangreich und somit wurde er schnell zu einem, der bedeutendsten Männer, mitunter auch die rechte Hand des Fürsten Lorenzo de' Medici, dem Herr über Florenz, mit dem er zusätzlich ein sehr enges freundschaftliches Band pflegte. Marcello war ein liebender Ehegatte und Vater, doch er hatte nicht viel Zeit dem nachzukommen, somit holte er sich Maria Vinelli ins Haus. Sie sollte seinen ganzen Stolz hüten, während er, eingeschlossen in seinem Büro, das tägliche Geschäft abwickelte. Die drei Kinder der Santavenere waren Marias ganzer Lebensinhalt. Sie begleitete den ältesten Sohn Taziano bis hin zu seinem Arztstudium in Roma und seine jüngere Schwester Carolina in die glatten Wogen der Verlobung. Der Jüngste hingegen, Antonio, lag ihr besonders am Herzen. Zwar hatte dieser nichts, als Flausen im Kopf und trat von einem Fettnäpfchen ins Nächste, dennoch war er für Maria, wie ihr eigenes Kind.

Jener Tag traf Maria hart. Jener Tag, an dem sie auf dem Weg zu Doktor Rastelli in einen Aufruhr geriet. Sie wollte gerade die Medizin für den, an Sommergrippe, erkrankten Antonio beschaffen, als sie ihre Gastfamilie, umzingelt von vielerlei Schaulustigen, tot in den Seitengassen vorfand. Dabei waren sie erst vor wenigen Minuten zu einem lang ersehnten gemeinschaftlichen Familienausflug aufgebrochen. Maria war eilig zu Rastelli gerannt. Außer Atem versuchte sie in ihrer Verzweiflung seine Hilfe zu erbitten, doch dazu war es bereits zu spät. Der Doktor würde den Ausdruck ihrer Augen im Leben nicht mehr vergessen können, als er sich über die kalten Körper beugte und nur noch den Tod feststellen konnte. Die Täter wurden niemals ausfindig gemacht, demnach auch nie zur Rechenschaft gezogen. Daraufhin war Antonio lange Zeit einfach von der Bildfläche verschwunden. Die leerstehende Villa der Santavenere stand nie zum Verkauf aus, auch wenn Maria nach dem Zwischenfall ausgezogen war. Die Menschen mieden das Anwesen, Gerüchte drangen durch die Straßen, doch von dem letzten Santavenere fehlte jede Spur. Bis vor zwei Jahren, als es mitten in der Nacht an der Tür des Doktors pochte. Vorsichtig hatte er sie einen Spalt weit aufgetan, als ihm ein schwacher Körper nahezu entgegen fiel. Sein Gesicht war unter einer tief geschnittenen, dunklen Kapuze verborgen. Er holte den Fremden herein, bahrte ihn auf seiner Liege auf und begann sich um die tiefen Schnitt- und Stichwunden zu kümmern. Erst viel später kam er hinter das Geheimnis des Fremden. Es war der verloren geglaubte Antonio Santavenere. Seither hielten die beiden Männer sporadischen Kontakt.

Maria betrat erneut den Wohnraum. In ihrer Hand hielt sie eine Wasserschale und einige weiße Leinentücher, mit denen sie zielstrebig auf das junge Mädchen zutrat.

Rastelli erhob sich von seinem Platz am Esstisch und trat an die Seite der kleinen Frau, die sich bereits emsig daran machte die Leinen der Verbände zu lösen. Mit einem prüfenden Griff an die Stirn des Kindes stellte der Arzt zufrieden fest, dass die Temperatur langsam sank.

„Lasst die Zweige und die Leinen weg. Die Knochen sollten mittlerweile restlos zusammengewachsen sein.“, bemerkte Rastelli schlicht. Maria nickte nur und schenkte ihm ein schmales, müdes Lächeln.

„Maria. Sorgt euch nicht so viel. Sie macht unglaubliche Fortschritte dank eurer Pflege.“, fügte er aufmunternd hinzu, während er seine Hand nun tröstend auf die Schulter der Haushälterin legte. Für einen Moment schloss sie dankend die Augen, widmete sich aber sogleich wieder ihrer Arbeit. Hoch konzentriert salbte sie die frischen Narben und entfernte sämtliche Verbände, ehe sie das Mädchen wieder in die Laken wickelte und sie auf der Pritsche zurecht rückte. Einen Moment lang zuckten die Finger der Schlafenden, ehe ihr Körper erneut erschlaffte. Rastelli zog bewundernd seine Augenbrauen in die Höhe, bevor er Atmung und Puls kontrollierte. Es schien ganz so, als kehre das Leben immer mehr in das junge Ding zurück.

Plötzlich und ganz unerwartet schlugen die schweren Augenlider auf. Der nebelgraue Blick des Mädchens haftete einen kurzen Augenblick an der Zimmerdecke, ehe sie ihn über die Gesichter der Umstehenden wandern ließ. Sie zuckte erschrocken zusammen, genauso wie Rastelli und Maria es taten. Mit einem beherzten Griff an den Oberarm der Haushälterin schob der Arzt sie zur Seite. Er trat vor das Mädchen und neigte leicht den Kopf. Ihr Blick wirkte unsicher, doch auch sie zuckte kurz mit dem Kopf.

„Mein Name ist Doktor Rastelli. Ihr habt lange geschlafen, doch seid unbesorgt ihr befindet euch auf dem Weg der Besserung. Falls ihr eure Gliedmaßen noch nicht bewegen könnt, so verzweifelt nicht. Euer Körper ist noch zu schwach.“, richtete sich der Mann sofort an das Mädchen.

Einen Moment lang öffneten sich ihre Lippen zu einer stummen Antwort, doch kein Ton drang daraus hervor. Sie senkte den Blick, nur um ihn erneut fragend durch den Raum wandern zu lassen. Rastelli wandte sich den beiden Anderen zu und bedeutete vorsichtig, dass sie den Raum verlassen sollten. Maria wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzten, als Antonio sich erhob, ihren Arm ergriff und sie aus dem Zimmer begleitete. Rastelli zog sich einen Hocker an die Pritsche heran und ließ sich darauf nieder. Seinen prüfenden Blick hatte er genau auf das ausgezehrte Gesicht des Mädchens gelegt.

„Verratet ihr mir zumindest euren Namen?“, hinterfragte er, ehe er sich die Oliven seines Stethoskops ins Ohr führte und ihren Herzschlag überprüfte. Wieder öffnete sie den Mund, nur um inne zu halten und tiefe Denkfalten auf ihrer Stirn erscheinen zu lassen. Aus dem Augenwinkel nahm Rastelli ihre Regung sofort wahr.

„Eine Amnesie ist nichts Außergewöhnliches bei einem solchen Unfall. Verzweifelt nicht, eure Erinnerungen kehren früh genug zurück.“, versuchte er sie zu beruhigen. Sie schloss müde die Augen, nur um sie im nächsten Moment wieder aufmerksam auf den Arzt zu legen.

„Was ist das Letzte, woran ihr euch erinnern könnt, Signorina?“, hinterfragte er weiter, als er sein Arbeitswerkzeug wieder in den Koffer legte und seine Hände auf dem Schoß verschränkte.

„Schwärze.“, kam es heiser von ihren Lippen.

Rastelli nickte verstehend. Es war nicht verwunderlich, dass das Mädchen sich nach diesem Sturz an nichts erinnern konnte.

„Seid ihr einverstanden, wenn ich euch zunächst einigen Untersuchungen unterziehe, ehe ich die Herrschaften herein bitte, die eure Fragen beantworten können?“

Sie nickte schwach.
 

„Maria, bella donna. Du weißt es ist viel zu gefährlich sie hier zu behalten.“, knurrte Antonio, während er den Flur auf und ab schritt, wie ein gefangenes Raubtier. Sein Gesicht war düster, während sich tiefe Denkfalten auf seiner Stirn abzeichneten.

„Gefährlich? Willst du sie draußen ihrem Schicksal überlassen? Antonio sei vernünftig. Ich werde mich um sie kümmern, solange du auf Reisen bist.“, brachte Maria hervor. Sie gestikulierte wild mit ihren Armen, um das Gesagte zu unterstützen. Um Nichts in der Welt würde sie zulassen, dass Antonio das Kind wieder auf die Straße setzte.

„Was willst du sagen, wer sie ist? Was willst du den Menschen auf der Straße erzählen? Ihr fehlen zwei Finger.“, fauchte der Hausherr genervt. Die Sturheit seiner Haushälterin machte ihn rasend. Sie wusste nicht in welche Gefahr sie sich bringen könnten. Welche Gefahren der Name Santavenere mit sich brachte. Dies war mit Blut besiegelt. Antonio hatte nicht umsonst seine Identität in eisernes Schweigen gehüllt. Sein Kampfplatz war der Schatten, weit abseits der Gesellschaft. Ohne Aufsehen zu erregen, ohne Menschen unnötig auf ihn aufmerksam zu machen. Er hielt nur wichtige Kontakte sporadisch am Leben. Kontakte, die ihm einen Nutzen versprachen, wie die Bekanntschaft zu Doktor Rastelli. Das Mädchen würde all dies gefährden. All dies und ihr eigenes Leben, sollte sie weiterhin in der Villa Santavenere verweilen.

„Sie ist deine verschollene Nichte aus Venedig. Du hast die Patenschaft übernommen, nachdem du sie gefunden hast.“, konterte Maria schlicht. Antonio hielt inne und rieb sich mit Zeigefinger und Daumen über die Nasenwurzel. Was sollte er tun? Er könnte sich selbst nicht verzeihen würde er das Mädchen wieder auf der Straße ihrem Schicksal überlassen. Er seufzte resigniert und erwiderte den stechenden Blick Marias. Sie hatte ihn bereits durchschaut. Was sollte er ihr auch groß vormachen? Niemand kannte ihn besser, als diese kleine störrische Frau.

„Per conto mio! (Ach von mir aus!) Ich kann dich sowieso nicht von deinem Gedanken abbringen. Behalte das Mädchen im Haus. Halte sie vor neugierigen Blicken verborgen.“, brummte er. Sofort kehrte das muntere Lächeln auf die Züge der älteren Frau zurück.

„Wie soll sie heißen?“, hinterfragte sie siegessicher.

„Merda. (Mist.) Lass dir etwas einfallen.“, gab er kopfschüttelnd zurück, als die Türe zum Wohnraum ihn herumfahren ließ. Rastelli trat zu den Beiden in den Flur und neigte leicht den Kopf.

„Sie ist ein sehr bemerkenswerter Mensch. Ihre Verletzungen brauchen noch etwas Ruhe, dann wird sie vollkommen genesen. Sie hat alles vergessen, was vor dem Aufwachen geschah. Behandel sie mit Vorsicht, Antonio.“ Der Hausherr nickte nur und verschränkte die Arme vor der Brust. Derzeit zwängte sich Maria bereits an dem Doktor vorbei und trat in den Wohnraum ein. Sofort wurde sie von zwei Augen skeptisch gemustert.

„Mein Name ist Maria. Ich bin die Haushälterin und Amme dieses Anwesens. Ich wusste ihr würdet wieder erwachen.“, gab sie an das Kind gewandt zu. Das Mädchen zog die Augenbrauen in die Höhe und begann das erste Mal ihre Umgebung zu mustern. Tatsächlich. Die Decke war hoch geschnitten, hölzerne Muster zogen sich über sie hinweg. Der Boden war aus feinen Marmor ausgelegt. Alles an diesem Ort wirkte teuer und edel, selbst die schlichte Pritsche, auf der sie lag.

„Wer bin ich?“, schwenkte das Mädchen sofort um.

„Ihr seid Adrianna, Nichte unseres Hausherren aus Venedig. Auf euren Weg hierher ist ein schrecklicher Unfall geschehen.“, konterte Maria sofort.

„Adrianna?“, hauchte die Schwarzhaarige. Der Name löste nicht eine einzige Erinnerung in ihr aus. Er klang seltsam fremd. So, als würde er nicht zu ihr gehören.

„Adrianna Santavenere.“, bestätigte Maria. Bei dem Nachnamen zuckte eine ferne Erkenntnis durch die tiefen Gedankengänge des Mädchens. Sie wusste, dass sie ihn schon einmal gehört hatte, doch sie konnte sich an den genauen Zusammenhang nicht erinnern.

„Was ist mit meinen Eltern?“, hinterfragte Adrianna vorsichtig. Gerade in diesem Moment war der Herr des Hauses durch die Tür getreten. In seinem Gang hielt er inne, als Maria ihren Blick hilfesuchend zu ihm herum wandte. Sein Gesicht lag im Schatten und sein Körper wirkte plötzlich seltsam verkrampft. Adriannas Augen zuckten zwischen den Beiden hin und her, ehe sie sich verhalten auf die Unterlippe biss. Hatte sie etwa etwas Falsches gesagt?

„Wir sind die letzten übrig gebliebenen Santavenere.“, knurrte der Mann düster, wandte sich ab und trat wieder aus dem Raum hinaus. Einen Moment lang bildete sich ein schuldiger Kloß im Hals des Mädchens, ehe sie den Blick senkte. Warum konnte sie sich daran nur nicht mehr erinnern? Dies war also ihr Onkel gewesen. Wie war sein Name? Warum konnte sie sich an Nichts erinnern? Innerlich ohrfeigend seufzte sie resigniert. Sie würde sich bei ihm entschuldigen müssen.

„Nehmt ihn nicht so ernst. Er hat einen harten Tag hinter sich. Zumeist ist er sehr umgänglich, aber das werdet ihr noch bemerken.“, haspelte die rundliche Frau freundlich. Adrianna nickte schlicht. Sie fühlte sich unwohl in ihrer Haut, umgeben von Menschen, die sie nicht erkannte, in einem Haus, dass ihr völlig fremd war.

„Ihr müsst hungrig sein. Ich mache euch eine Suppe für den Anfang.“, schwenkte die Haushälterin um, als sie den seltsamen Ausdruck auf Adriannas Gesicht wahrnahm. Rastelli räusperte sich leicht im Hintergrund.

„Ich folge euch in die Küche, Maria.“, gab er von sich, als die rundliche Frau voraus schritt. Gerade, als sich die Türe hinter ihnen schloss, legte der Doktor seine Hand auf die Schulter Marias.

„Überfordert sie nicht. Sie hat keinerlei Erinnerung. Für sie seid ihr fremde Menschen, auch wenn ihr das Gegenteil behauptet. Und noch etwas.“, er holte kurz Luft, während er Maria eindringlich musterte.

„Ihre Erinnerungen mögen im Moment nicht vorhanden sein, aber vielleicht kehren sie zurück, dann wird euer Schmierentheater nicht von langer Dauer sein. Ich hoffe ihr habt euch dies gut überlegt.“

Marias Blick wurde trüb, ehe sie nickte.

„Es ist zu ihrer eigenen Sicherheit.“, gab sie zurück.

„Dann weiß ich nicht, ob Santavenere der passende Name war.“, konterte Rastelli nüchtern.

Ein lautes Poltern, gefolgt von dem Knallen der Haustüre riss das Mädchen aus ihrem unruhigen Schlaf. Wieder glitt ihr Blick durch das kleine Zimmer. Es war noch immer ungewohnt hier zu sein. In einem riesenhaften leeren Haus. Es wirkte so fremd und kalt, dass es sie beinahe zerdrückte. Kurz zuckten ihre Augen zu den fest verschlossenen dicken Vorhängen ihres Fensters, während sie sich gleichzeitig fragte, wie spät es wohl sein mochte. Ein weiteres Poltern ließ Adrianna hochfahren. Vorsichtig rappelte sie sich hoch und kam auf die zittrigen Beine. Ihre Verletzungen waren gut verheilt, aber es würde noch einige Zeit dauern, bis die Kraft wieder in ihre Beine zurück kam. Das hatte ihr Doktor Rastelli viele Male erklärt.

Etwas taumelnd bewegten sich ihre Beine in Richtung der Tür und gerade, als sie ihre zierliche Hand auf die Klinke legte, wurde sie von der anderen Seite gedrückt. Das erschrockene Gesicht der Haushälterin erschien ihr gegenüber.

„Per amor del cielo! (Um Himmels Willen!)“, entkam es ihr. Adrianna setzte ein ertapptes Gesicht auf und schmunzelte entschuldigend.

„Verzeiht, Maria.“

„Jagt einer alten Frau doch nicht so einen Schrecken ein!“, brummte sie. Ihr Blick glitt prüfend über den Körper des Kindes. Das rote Nachthemd hing, wie ein weiter Schleier um ihre Beine. Dabei war es die kleinste Größe, die Maria auf dem Markt finden konnte. Die Arme und Beine wirkten noch immer, wie dünne Äste. Die Wangenpartie Adriannas war eingefallen und ihre Augen umrahmte ein dunkler Rand, während der Rest ihrer Haut noch immer bleich schimmerte. Auch, wenn sie bereits wieder auf den Beinen stand, so verriet ihr Körper, dass die harte Phase noch nicht überstanden war. Die langen schwarzen Haare hatte sich das Mädchen bis zum Kinn gekürzt, da es unmöglich gewesen war, durch die vielen verfilzten Stellen zu kämmen.

Beinahe hätte Maria vergessen, warum sie das Zimmer des Mädchens aufgesucht hatte, als ihr Blick wieder auf des kleine Bündel in ihrer Hand fiel.

„Adrianna. Ich habe euch etwas mitgebracht. Es wird hinreißend an euch aussehen, ganz bestimmt.“, entkam der alten Frau die pure Faszination, als sie ihrer Gegenüber das Päckchen in die Hand drückte. Etwas unsicher betastete Adrianna das gute Stück, ehe sie fragend ihre Augen auf die Haushälterin legte.

„Nun öffnet es schon.“, drängte Maria.

Das Mädchen tat, wie ihr geheißen und löste die verknotete Kordel geschickt. Ein burgunderroter Stoff drang in ihr Sichtfeld. Vorsichtig zog sie ihn hervor und es entfaltete sich ein bodenlanges Kleid. Es war mit aufwendigen schwarzen Stickereien verziert und hatte einen weiblichen, jedoch geschlossenen Ausschnitt. Die Ärmel waren armlang, der Rumpf schmal geschnitten, während der lange Rock weit auseinander fiel.

Adrianna konnte nicht beschreiben, wie sie sich beim Anblick des neuen Kleidungsstückes fühlte. Tausend Regungen drangen durch ihren Körper. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen und ihre grauen Augen begannen das erste Mal zu leuchten.

„Bene Grazie, Maria!“, entkam es ihr atemlos, den Stoff noch immer zwischen den Fingern wendend. Auch die alte Haushälterin setzte ein charmantes Lächeln auf.

„Avanti. Zieht es über und kommt zum Frühstück. Heute kehrt Antonio zurück und wir wollen ihm doch einen würdigen Empfang bereiten.“, forderte sie. Mit einem lauten Krach fiel die Tür wieder ins Schloss und zurück blieb Adrianna, in ihrer Hand das wunderschöne Kleid und in ihrem Magen das flaue Gefühl auf Grund der Nachricht. Ihr Onkel hatte sich die ganze Zeit über sehr merkwürdig in ihrer Gegenwart verhalten, bis zu jenem Tag, an dem er des Nächtens einfach verschwunden war. Das war einige Monate her und heimlich hatte sich das Mädchen immerzu gefragt, was es war, das ihr eigener Onkel sie stets auf Abstand hielt. Was hatte sie ihm nur getan? War in der Vergangenheit etwas vorgefallen? Resigniert senkte sie den Blick. Sie konnte sich einfach nicht erinnern und sobald sie sich dazu zwang befielen sie fürchterliche Kopfschmerzen.

Nach einigen Minuten, in denen Adrianna versucht hatte, sich durch die vielen Stofflagen des Kleides zu kämpfen, die tausend Schnüre zu binden, ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Es war fast so, als habe sie ein solches Kleid in ihrem Leben noch nie getragen. Doch war sie nicht eine Tochter aus großem Hause? Hatte sie Mägde, die ihr die Arbeit abgenommen hatten? Ein zaghaftes Pochen ließ sie aufblicken, als sich die Haushälterin bereits durch den Türrahmen herein zwängte.

„Acciderba! (Ach du Schreck!)“, entfuhr es Maria verwundert, als sie ihren Blick auf das Kind legte.

„Ich fragte mich schon, warum ihr so lange braucht.“, fügte sie schmunzelnd hinzu, ehe sie die kurze Entfernung zwischen den Beiden überbrückte und sich an dem Kleid zu schaffen machte. Mit wenigen geübten Griffen war es an Ort und Stelle. Der Mieder war gebunden und übrig blieb das bezaubernde Gesamterscheinungsbild des jungen Mädchens. Maria strich ihr mütterlich durch die kurzen Haare, ehe sie nickte.

„Perfekt.“, gab sie an.

Adrianna senkte verschämt den Blick zu Boden und zupfte sich den Rock zurecht, als sie die Haushälterin lachend an der Schulter ergriff und in den Wohnraum zog. Adrianna öffnete verwundert den Mund, als sie die vielen Speisen auf dem Tisch aufgebahrt erblickte. Alleine beim bloßen Anblick der vielen Früchte und Leckereien sammelte sich der Speichel in ihren Wangen.

„Ihr wisst welcher Tag heute ist?“, hinterfragte Maria gewitzt. Irritiert schüttelte das Mädchen nur den Kopf.

„Heute ist das alljährliche Sommerfest. Ganz Firenze ist voller Blumen und farbigen Bannern. Die Menschen singen und tanzen durch die Straßen. Ihr werdet begeistert sein.“, schwärmte die alte Dame fröhlich, was Adrianna ein düsteres Gesicht verlieh.

„Mein Onkel wird nicht gestatten, dass ich das Haus verlasse.“, gab sie unweigerlich zurück.

„Vielleicht macht er für diesen Tag eine Ausnahme. Ich werde ihn darum bitten. Er kann einer alten Dame selten einen Wunsch ausschlagen.“, bemerkte Maria schlicht. „Nun setzt euch und greift zu. Es wird noch ein paar Stunden dauern, ehe Antonio unser Zuhause erreicht.“

„Maria?“, hakte Adrianna vorsichtig nach, als sie sich am Tisch direkt gegenüber der Haushälterin niederließ. Ihre braunen treuen Augen waren direkt auf das Gesicht des jungen Mädchens gelegt, als sie stumm aufforderte weiter zu reden.

„Habt ihr nicht auch das Gefühl... ich meine... denkt ihr nicht auch manchmal, dass Onkel Antonio mich nicht leiden kann?“, stotterte sie, als sie sich hektisch einen vorgefertigten Happen in den Mund schob. Sie hatte den Blick strickt auf ihren Teller gelegt, um das Gesicht ihrer Amme nicht sehen zu müssen, doch sie spürte den mitleidigen Blick bis ins Gebein.

„Non dire fesserie! (Red keinen Blödsinn!) Antonio ist kein Mensch für Gefühle, seit … dieses Erlebnis ihn geprägt hat. Einst war er ein aufgeweckter und fröhlicher Junge, doch jener Tag veränderte alles. Er ist kein Monster, Adrianna, ihr müsst einfach lernen hinter die Fassade zu blicken. Vergesst nicht, dass ihr ihm euer Leben zu verdanken habt.“, konterte die Haushälterin kühl.

„Das werde ich ihm nie vergessen.“, gab Adrianna schuldig zurück. Sie war diesem Mann wirklich sehr dankbar. Dass er ihr Leben rettete, nach dem verheerenden Sturz, dessen Ursache ihr nicht einleuchten wollte und natürlich auch, dass er ihr ein Zuhause bot. Doch warum sperrte er sie hier ein? Warum wollte er nicht, dass die Menschen von ihr erfuhren? Und warum hielt er sie nur so auf Abstand? Es musste doch Antworten auf diese Fragen geben, doch auch Maria schwieg dazu eisern, genauso wie zu der Geschichte, die die Beiden so verändert hatte. Adrianna wusste nichts, nichts über ihre Wurzeln oder ihren Ursprung. Sie war einfach von einem Dach gefallen, aufgewacht auf einer Pritsche bei ihrem Onkel Antonio. Es zermürbte sie fast nicht zu wissen, was geschehen war. Dann war da noch die Sache mit den beiden fehlenden Fingern. Hatte sie diese etwa auch bei dem Sturz verloren? Diese Geheimniskrämerei brachte sie regelmäßig an den Rand der Verzweiflung. Warum konnte sich Onkel Antonio ihr nicht öffnen? Er war schließlich der Einzige, den sie noch hatte.

„Zerbrecht euch nicht den Kopf, Adrianna. Antonio war sehr gestresst vor seiner Abreise. Die Arbeit setzt ihm sehr zu.“, versuchte Maria das zusammengesunkene Mädchen zu trösten. Adrianna hingegen seufzte nur resigniert und schob sich die zweite Portion in den Mund. Eigentlich war ihr der Hunger gehörig vergangen, aber sie wollte schnell wieder auf die Beine kommen. Vielleicht konnte sie Antonios Gunst gewinnen, wenn sie sich im Haushalt nützlich machte.

Die Sonne verschwand bereits hinter den Mauern der Stadt, als Adrianna mit angezogenen Beinen auf einem kleinen Sessel lümmelte. Ihre Nase steckte in einem alten Bilderbuch, während Maria sich ihren Haaren zugewendet hatte. Sie flocht wenige Strähnen und zwirbelte eine aufwendige Frisur, die sie am Hinterkopf mit eisernen Nadeln befestigte. Ein Pochen hallte durch den leeren Flur. Erst zweimal, dann eine kurze Pause, dann kam der dritte Schlag. Sofort sprang die Haushälterin von ihrer Position hoch und eilte hinaus. Zwischen ihren Lippen hielt sie noch immer die Haarnadeln fest. Auch Adrianna erhob sich schnell von ihrem Stuhl und strich sich über ihren Rock, ehe sie das Buch kurzerhand auf den kleinen Tisch warf und sich mit erhobenen Schultern und verschränkten Fingern aufstellte. Ihr Herz raste erregt.

„Was habt ihr denn da?“, drang eine bekannte raue Stimme aus dem Flur.

„Oh, Haarnadeln. Ich war gerade dabei die Frisur von Adrianna zu richten.“, kicherte Maria verlegen. Schon trat der Hausherr in das Blickfeld des Mädchens, dicht gefolgt von der Haushälterin, die ihm den Mantel von den Schultern zu fischen versuchte. Er wandte sich leicht schmunzelnd herum und zog seine Augenbraue in die Höhe.

„Lass das, Maria. Ich bin kein vierzehnjähriger Junge, der von seiner Amme umgezogen werden muss.“, gab er zu verstehen. Behände zog er den dunkelgrauen Mantel aus und hing ihn seinerseits selbst an den hölzernen Kleiderständer, gefolgt von einem braunen Bauchgurt, einer Schulterpanzerung und zu Adriannas Verwunderung einen Waffengürtel. Sein weißes Hemd war ausgeblichen, mit schwarzen Erdflecken besudelt und sie dachte dazwischen so etwas, wie geronnenes Blut zu erkennen. Seine schwarze Hose wirkte zerschlissen, als habe er sich seit Wochen nicht aus seiner Kleidung geschält.

„Buona sera, Signore. (Guten Abend der Herr.)“, meldete sich Adrianna zu Wort. Sie hatte den Blick tief gesenkt, den Kopf leicht verneigt, was Maria ein belustigtes Lachen entlockte.

„Buona sera, Bambina. Wie ist es euch ergangen? Ihr tragt sehr edles Gewand. Habt ihr heute noch etwas vor?“, richtete sich Antonio an das Mädchen. Verwundert über so viel Offenheit schoss ihr Kopf in die Höhe. Vielleicht hatte Maria Recht behalten und er war einfach nur in seine Arbeit vertieft gewesen.

„Also... ich...“, begann Adrianna stotternd, wurde jedoch sogleich von Maria unterbrochen.

„Wir gehen zum Sommerfest, Antonio. Begleitest du uns?“

Er warf ihr einen düsteren Seitenblick zu, ehe er den Kopf schüttelte.

„Kommt nicht in Frage.“, konterte er hart. Adrianna zuckte unter seinen Worten zusammen.

„Antonio. Ich bitte dich. Es ist nur ein Fest. Ganz Firenze wird feiern.“, versuchte Maria es erneut.

„Nein.“, gab er bestimmt von sich. Auf den Fersen machte er kehrt und trat wieder hinaus in den Flur. Adrianna lauschte seinen Schritten, die sich die Treppenstufen hinauf bewegten, ehe eine Tür ins Schloss glitt und alles in ein bedrücktes Schweigen fiel. Das Plätschern des Wassers im Waschraum war das einzige Geräusch, das die Stille in einigen Momenten unterbrach. Unsicher sah Adrianna auf zu Maria, die noch immer in die Richtung blickte, in der Antonio gerade verschwunden war.

„Keine Sorge. Ich werde noch einmal mit ihm reden.“, bemerkte die Haushälterin mit leicht mürrischem Unterton. Adrianna hob beide Hände schlichtend von ihrem Körper ab.

„Nein, lasst es gut sein. Er wird sicherlich seine Gründe haben. Und... und ich möchte ihn nicht verärgern.“, haspelte das Mädchen.

„Unsinn, meine Liebe. Jemandem das Sommerfest zu verbieten kommt gar nicht in Frage. Gründe hin, oder her.“, brummte die alte Frau, ehe sie sich in Bewegung setzte und Antonio ins obere Stockwerk folgte.

Resigniert schritt Adrianna durch den Raum, bis ihre Augen an dem dunkelgrauen Mantel hängen blieben. Er war aufwendig geschnitten, aus dicken Leinen verarbeitet. An seinem hohen Kragen befand sich eine Kapuze, die mit einem zusätzlichen Stoffschirm das halbe Gesicht verdecken konnte. An den Schultern waren seltsame Zeichen angebracht. Mit der rechten Hand fuhr sie vorsichtig den Saum des Mantels entlang und verspürte sofort ein gewisses Ehrgefühl, was sie sich nicht erklären konnte. Das Zeichen an den Schultern weckten tiefe Erinnerungen. Unklar, aber dennoch vorhanden. Wenn sie sich doch nur erinnern könnte.

Ein lautes Pochen ließ Adrianna vom Mantel zurück weichen. Sie hielt sich schützend beide Hände vor die Brust, wobei ihr Blick hinaus auf den dunklen Flur gerichtet war. Von Oben kam keine Regung. Ein erneutes Pochen. Zwei Schläge, eine kurze Verzögerung und der letzte dumpfe Laut. Das war doch das Erkennungszeichen, wie Maria ihr mehrmals genaustens erläutert hatte. Wieso reagierten die Beiden nicht? Konnten sie es etwa nicht hören?

Vorsichtig schlich das Mädchen durch den Flur. Wer mochte das nur sein? Vielleicht Doktor Rastelli? Lange Zeit schon hatte der Arzt sich nicht mehr sehen lassen. Adrianna zuckte verschreckt zusammen, denn der Besuch ließ nicht locker. Wieder das dröhnende Pochen an der Haustür. Sie sog die Luft tief in ihre Lunge ein, ehe sie versuchte durch das geriffelte Glas etwas zu erkennen, doch es ließ keinen Blick hindurch zu. Sicherheitshalber wandte sich ihren Kopf noch einmal über die Schulter. Nichts. Von Antonio und Maria war nichts zu hören.

Zögerlich umschlossen ihre dünnen Finger die metallische Klinke, ehe sie ihrem Mut zusammennahm und die Tür einen Spalt breit öffnete. Sofort wurden zwei dunkle Augen auf ihr Gesicht gelegt. Augenblicklich strich sich der Fremde die Kapuze vom Kopf und sank auf die Knie.

„Di fronte a tanta bellezza c'è da strabiliare. (Vor so viel Schönheit bleibt einem glatt die Luft weg.) Mein Name ist Mario. Ist Antonio zu sprechen? Es wäre äußerst wichtig.“, stellte sich der ältere Mann vor. Er neigte förmlich den Kopf vor dem Mädchen, das bei seinen Worten verlegen den Blick gesenkt hatte.

„Mario! Ti saluto con affetto. (Ich grüße dich herzlich.)“, schrak die Stimme Marias das Mädchen herum. Die Haushälterin ergriff sofort die Tür und hielt sie dem Besuch weit auf. Angesprochener zeigte ein breites Lächeln, ehe er ihre Hand entgegen nahm und ihr einen Luftkuss zuhauchte.

„Bella Donna. Schön, wie eh und je, Maria. Ihr habt euch kaum verändert, seit wir uns das letzte Mal sahen.“, bemerkte Mario charmant, was ein schüchternes Kichern aus der Kehle der Haushälterin entlockte.

„Jetzt übertreibt ihr aber, Senore Mario. Was führt euch hierher?“, hakte sie sofort nach. Das Mädchen zu ihren Füßen war schnell vergessen, als sie gemeinsam in Richtung Wohnraum schritten. Adrianna strich sich etwas verloren über den linken Oberarm, ehe sie ihren Blick auf den Treppenansatz legte. Antonio schritt gemächlich die Stufen herab, während er zeitgleich die Knöpfe seines Hemdärmels verschloss.

„Das nächste Mal...“, begann der Hausherr, als er mit dem Mädchen auf einer Höhe stand.

„Ignoriert ihr das Klopfen und lasst jemanden von uns die Türe öffnen.“

Damit strich er ihr flüchtig über das Deckhaar, ehe auch er in Richtung Wohnraum verschwand. Unsicher biss Adrianna sich auf die Unterlippe. Hoffentlich hatte sie ihn nicht wieder verärgert.

„Steht da nicht so herum. Kommt.“, forderte er sie noch schlicht auf, ehe er durch die Tür verschwand. Wie von der Tarantel gestochen folgte ihm das Mädchen eilig.

„Mario.“, bemerkte Antonio mit einem schiefen Grinsen auf den Lippen. Angesprochener wandte sich kurzerhand herum und breitete die Arme auf beide Seiten aus. Die beiden Männer umschlossen sich in eine kurze Umarmung, ehe Antonio auf den freien Platz am Tisch deutete.

„Was führt dich hierher, alter Freund?“, hakte er sogleich nach, als der Gast seinen Sitz einnahm.

„Giovanni, unser Bruder ist einem Komplott auf der Schliche. Es handelt sich vermutlich um einen Machtwechsel. Eine Verschwörung gegen den Duca di Milano.“, kam der fremde Mann sofort auf den Punkt. Antonio zog seine Stirn in tiefe Denkfalten, als sich Maria erschrocken die Hände vor den Mund schlug. Adrianna verstand natürlich kein Wort und ließ ihre Augen nur verwirrt über die Anwesenden zucken. Antonio legte seinen Blick auf das Mädchen, welches sich sofort versteifte und die Hände vor ihrem Schoß faltete. Ein schmales Lächeln kam ihm über die Lippen, als er Maria zunickte.

„Besucht das Sommerfest, verratet nicht eure Namen und seid bis zum zwölften Glockenschlag wieder zurück. Ich werde hier auf euch warten.“, bemerkte er schlicht. Marias siegessicheres Lächeln kehrte auf ihre Züge zurück. Sie nickte eilig, ehe sie dunkelrote Samthandschuhe vom Tisch pflückte und sie Adrianna über die Hände zog.

„Verratet niemandem euren Familiennamen und verbergt eure Hände, Liebes.“, flüsterte sie sorgsam.

„Weshalb?“, wollte Adrianna sofort wissen. Was hatten sie denn zu verbergen?

„Zu eurem eigenen Wohl.“, konterte die Haushälterin.

Antonio beugte sich zu seiner Nichte hinab und legte ihr einen kleinen schweren Beutel in die rechte Hand.

„Kauft euch etwas Schönes, lasst ein paar Laternen fliegen, aber haltet euch von Reibereien fern.“, bemerkte er sanft, ehe er dem Mädchen erneut über das Deckhaar strich und sich zurück zu seinem Besuch begab.

„Bis später, die Herren.“, schmunzelte Maria.

„Ich wünsche euch viel Spaß. Esst ein paar gebrannte Mandeln für mich.“, gab Mario zurück, während Antonio schlicht nickte.

Staunend waren ihre Augen weit geöffnet, als sie den hell erleuchteten Piazza Della Signora erreichten. An der Loggia Dei Lanzi waren vielerlei sonnige Banner und Fackeln angebracht und auch die Kathedrale Santa Maria Del Fiore erstrahlte in gleißend hellem Licht. Obwohl es schon dunkel war, wirkte dieser öffentliche Platz, wie in goldenes Sonnenlicht getaucht. Die Luft erzitterte vor fröhlichen Klängen. Überall waren hölzerne Stände aufgebaut, die ihre Waren an die Menschen brachten. Spaßbuden und Glücksspiele befanden sich inmitten darunter. Die vorbei eilenden Menschen hatten freudige Gesichter aufgesetzt, während die Musikanten abenteuerliche Lieder zum Besten gaben. Die Stimmung war ausgelassen und unbeschwert. An einigen Stellen tanzten die Leute vergnügt miteinander, unterhielten sich angeregt, oder standen vor einem, der vielen Stände.

Adrianna setzte einen zögerlichen Schritt vor den Nächsten, wobei ihre Augen durch die Umgebung zuckten. An jeder Ecke schien etwas anderes Aufregendes zu lauern, das in ihr den Wunsch entdeckt zu werden, weckte. Sie schenkte Maria einen schnellen Seitenblick, welchen diese lächelnd erwiderte.

„Nun geht schon.“, kicherte die Haushälterin. Sofort nahm Adrianna ihre Beine in die Hand und flüchtete einmal quer über den Platz. Sie huschte zu einem Kleiderstand, wo sie den Stoff mit den Händen befühlte, weiter zu einem Schmuckstand, der mit seinen glitzernden Juwelen ihr direkt entgegen funkelte. Überall begrüßten sie freundliche Gesichter, selbst, wenn sie nichts kaufte. Ihr Herz raste erregt, während sie sich jedes Detail genau einprägen wollte. Sie konnte ihren Tatendrang kaum in Zaun halten.

„Ein Spiel, Signora?“, bemerkte der Mann hinter einer Spielbude. Mit funkelnden Augen kam Adrianna näher und besah die vielen Spielzeuge, die an den Wänden hingen.

„Der erste Wurf ist für euch umsonst.“, gab der Mann von sich und zwinkerte ihr ermutigend zu.

Sie konnte nicht anders, als nur zu nickten. Sie trat an die Theke heran und stellte sich auf die kleine Holzkiste, um besser sehen zu können.

„Ihr müsst nur diesen Ball in den Ring werfen, das ist alles.“, gab der Mann zu verstehen. Adrianna kniff verstehend die Augen zusammen und nahm den Ball entgegen. Sie biss sich konzentriert auf die Unterlippe, als sie die Puffärmel ihres Kleides höher schob. Sie wog das Gewicht des Balles in der Hand, als würde sie nie etwas anderes tun. Ihr rechtes Auge kniff sie fest zusammen. Kurz ruderte sie unentschlossen mit dem linken Arm, dann warf sie.

„Zu Schade.“, kam es von dem großen bärtigen Mann, als er ein mitleidiges Gesicht zog.

„Das war doch geschummelt!“, rief eine jugendliche Stimme hinter Adrianna, als sie von ihrem Podest geschoben wurde und sich ihrerseits ein fremder Junge drauf stellte. Etwas vor den Kopf gestoßen verschränkte Adrianna die Arme vor der Brust. Als ob er es besser könnte, murrte sie in Gedanken.

Er schnappte sich einfach einen der Bälle, bog sich leicht über die Theke und warf. Der Ball blieb tatsächlich direkt im Reifen stecken. Etwas überrascht hoben sich Adriannas Augenbrauen, als sie näher trat.

„Gauner.“, murrte der Junge und streckte dem Budenbesitzer die Zunge raus, während dieser einige Flüche losließ. Behände schnappte sich der Rotzlöffel ein Plüschtier von der Seite und sprang galant von der Kiste. Ehe Adrianna reagieren konnte, packte er sie an der Hand und zog sie mit sich. Inmitten der Menschenmenge hielt er erst inne. Das Mädchen riss sich aus seinem Griff und keuchte angestrengt. Ihr Körper verkraftete die Anstrengung noch nicht.

„Der hätte euch das letzte Geld aus der Tasche gezogen.“, wandte er sich an seine unfreiwillige Begleitung. Diese verschränkte erneut nur die Arme vor der Brust und wandte sich ab.

„Aspetta! (Warte!)“, rief er aus. Ehe sie sich versah stand er schon wieder neben ihr.

„Wie ist euer Name?“, hinterfragte er mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen, als er ihr den Plüschbär in die Hand drückte. Seine mittellangen braunen Haare waren im Nacken zusammengebunden und sein Körper steckte in förmlicher Kleidung. Wohl ein Junge aus höherem Hause. Dementsprechend mangelte es ihm wohl an guter Erziehung.

Adrianna blickte auf das Plüschtier und wieder zurück zu dem Jungen, ehe sie sich schlicht abwandte und weiterging. Sie durfte ihren Namen schließlich nicht verraten. Als er aufzuholen versuchte nahm auch das Mädchen ihre Beine in die Hände. Sie raufte sich den Rock und schnellte zwischen den vielen Menschen hindurch. Vor einem hölzernen Stand bog sie scharf rechts ab und verschwand in einer dunkleren Seitengasse. Wäre doch gelacht, wenn er sie hier noch finden würde.

Ihr Blick fiel wieder auf den Plüschbären, der sie mit einem unschuldigen Gesichtsausdruck musterte.

„Guck nicht so vorwurfsvoll. Ich habe dich immerhin nicht gestohlen.“, brummte sie, ehe sie einen zweiten Weg aus der Gasse hinaus suchte. Sie folgte den Klängen der Geigen und Flöten, als sie ein paar Straßen weiter wieder auf den Piazza Della Signora trat und sofort in einen tanzenden Mob geriet. Jemand packte sie unerwartet am Unterarm und zwang sie sich mit der Musik im Kreis zu drehen. Die kleine Runde, die sich um die tanzenden Paare gebildet hatte klatschte und lachte aufgeregt. Adrianna drehte ihren Kopf, um ihren Tanzpartner zu erkennen und seufzte erleichtert auf, dass es nicht der Junge von eben war. Fröhlich griff der Fremde nach ihrer zweiten Hand und wirbelte sie im Kreis, wobei sie mehrere Male beinahe über ihre Füße gestolpert wäre. Erst, als der letzte fröhliche Klang der Violinen verhallte, entließ sie der Junge aus seinem Griff und verneigte sich mit schelmischen Lächeln. Auf seinem Kopf thronte ein schiefer Hut und auch er war in feinste Kleider gehüllt. Seine kinnlangen Haare trug er offen.

„Mein Name ist Vieri de Pazzi.“, begann er das Gespräch. Adrianna wusste natürlich sofort worauf er hinaus wollte. Sie hob beiläufig den Bär vom Boden auf und klopfte ihm den Staub aus dem Fell.

„Sehr erfreut, Vieri de Pazzi.“, bemerkte sie schlicht, als sie sich schon abwandte.

„Und wer seid ihr?“, rief er ihr nach, doch sie war schon eilig zwischen den Menschen verschwunden. Vielleicht war es an der Zeit Maria zu suchen und nach Hause zurück zu kehren. Sie verharrte inmitten der Menschenmenge und sondierte suchend den Platz mit ihren sturmgrauen Augen. Es konnte doch nicht so schwer sein eine einzelne kleine pummelige Frau inmitten der Menschenmenge zu finden? Resigniert seufzend kämpfte sie sich voran, doch Maria war nirgends zu entdecken. Adrianna legte die Stirn in tiefe Denkfalten. Ohne die Hilfe ihrer Haushälterin würde sie wohl auch den Weg nach Hause nicht wieder finden und sie wollte sich bei bestem Willen nicht ausmalen, wie Antonio auf ihr Verschwinden reagieren würde. Plötzlich, völlig in Gedanken, prallte sie gegen einen harten Gegenstand, der sie hinterrücks von den Beinen riss. Sie schüttelte verwirrt den Kopf, als sie hart auf dem Hosenboden aufkam. Das schelmische Lächeln von Vieri drang sofort in ihr Sichtfeld, als sie die Augen anhob.

„Wo wollt ihr hin? Gleich lassen sie die Laternen steigen.“, meinte er freudig. Sein Blick blieb auffällig lange an ihren Augen hängen.

„Laternen?“, hakte Adrianna verwundert nach, als sie nach seiner ausgestreckten Hand griff und sich auf die Beine ziehen ließ.

„Ja, die Laternen. Man könnte meinen ihr seid zum ersten Mal auf dem Sommerfest. Die Laternen werden kurz vor Mitternacht entzündet und steigen in die Luft.“, erklärte er ihr altklug. Sie nickte verstehend, während Vieri schnell einer vorbeieilenden Frau zwei Laternen aus dem Korb angelte und eine davon an Adrianna weiterreichte.

„Kommt mit. Meine Familie hat den besten Platz auf dem Piazza.“, bemerkte er stolz, als er sie schon um das Handgelenk ergriff und sie hinter sich her zog.

Langsam, aber sicher, fühlte sie sich, wie eine Aufziehpuppe, die von Einem zum Nächsten wanderte. An der gezerrt und gezogen wurde. Dabei wollte sie doch nur Maria ausfindig machen. Ihre Augen zuckten über das Gebilde aus Papier, in dessen Mitte sich eine kleine Vorrichtung befand, die mit Feuer ausgelöst werden musste. Und damit konnte die Laterne in die Luft steigen?

Auf einem kleinen Podest standen die Pazzis. Der Vater, die wunderschöne Mutter und wohl die jüngere Schwester. Adrianna wurde flau im Magen, als sie ihnen immer näher kam. Ihre Ausstrahlung wirkte relativ distanziert und kalt, während sie ihren Blick durch die Menge schweifen ließen.

„Ah, Vieri. Wir haben schon auf dich gewartet. Eine Freundin von dir?“, hinterfragte der Mann mit hochgezogener Augenbraue schlicht.

„Si Padre. (Ja, Vater)“, gab Vieri nur zurück, positionierte Adrianna etwas abseits seiner Familie und trat an den Rand des Plateaus. Er schwoll leicht die Brust, während sein überheblicher Blick durch die Menge schnitt.

„Den besten Platz auf den Piazza, dass ich nicht lache. Psst.“, hörte das Mädchen eine bekannte Stimme rufen, als sie sich verwundert umwandte. Suchend glitten ihre Augen durch die Gassen, doch nirgends war der Sprecher zu sehen, bis ein erneutes Zischen ihre Aufmerksamkeit auf das Dach der Loggia dei Lanzi zog. Ihr klappte der Mund auf, als sie den Jungen von der Spaßbude und einen weiteren, der ihm sehr ähnlich sah, mit baumelnden Beinen am Rand des Daches sitzen sah.

"Wisst ihr, meine Familie ist sehr einflussreich. Sie führt die Geschäfte von zwei Drittel dieser Stadt.", bemerkte Vieri, der noch immer mit dem Rücken zu Adrianna stand. Währendessen machten sich die Jungen auf dem Dach lustig über ihn.

"Willst du wirklich bei diesem Trottel bleiben? Komm hoch. Hier kannst du über ganz Firenze blicken.", rief ihr der Braunhaarige zu. Mit einem letzten entschuldigenden Blick über ihre Schulter, sprang sie vom Podest und blickte die hohe Wand der Loggia empor. Zeitgleich kam der Junge ihr entgegen und nahm ihr Laterne und Plüschtier ab. Unglaublich, wie leichtfüßig er die steile Wand herab geklettert war.

"Na los.", schmunzelte er auffordernd.

Sie schritt das massive Mauerwerk entlang, ehe sie den ersten Vorsprung ergriff und sich daran empor zog. Irgendetwas in ihrem Inneren regte sich. Es schien ihr, als kenne sie dieses Gefühl. Wie geübt fanden ihre Finger die schmalen Spalten der Mauerwerke und binnen Sekunden ergriff sie die Hand des Älteren, der sie über den Rand auf das flache Dach zog. Ein stolzes Lächeln wanderte über ihre Züge, als sie hinter sich über den Rand hinab blickte und sich eingestand, dass es wirklich leichter war, als sie zunächst angenommen hatte.

"Sehr beeindruckend, Signora.", befand der Ältere, als er ihre Hand zu seinen Lippen führte und einen flüchtigen Kuss hauchte. Seine Augen musterten das ausgezerrte Gesicht seiner Gegenüber und kurz blieben sie an dem Sturmgrau hängen, ehe er ein schiefes Grinsen aufsetzte. Auch seine Kleidung war sehr förmlich gehalten. Sein ganzes Auftreten sprach dafür, dass er ein unbeschwerliches Leben führte.

Direkt neben ihm kam auch der Jüngere aufs Dach zurück, wo er sich behände auf den Rücken drehte und schmunzelnd mit dem Gesicht zu den Sternen gewandt einfach liegen blieb.

"Verratet ihr uns nun euren Namen?", hinterfragte er schelmisch. Sie warf ihm einen schlichten Seitenblick zu, ehe sich ihre staunenden Augen auf Firenze legten. Langsam, aber sicher begannen die ersten scheinenden Laternen in die Luft zu steigen. Erst nach und nach. Zögerlich kämpften sie sich empor, ehe viele Weitere ihrem Beispiel folgten. Adrianna trat näher an den Rand des Daches und legte sich ihre rechte Hand an die Lippen, wobei sie beinahe vergaß zu atmen. Tausende Lichter überfluteten ganz Firenze, aus den einzelnen Stimmen hatte sich ein einheitlicher Gesang gebildet, der von den Musikanten begleitet wurde. Ihr Herz schlug aufgeregt gegen ihre Brust. Beide Brüder traten rechts und links neben sie, wobei der jüngere ihr die entzündete Laterne in die Hand drückte.

"Wünscht euch was.", belächelte er. Adrianna grübelte einen kurzen Augenblick, ehe sie die Laterne entgegen nahm und die Augen schloss. Sie wünschte sich im Moment nichts sehnlicher, als dass ihr Onkel Antonio und sie eine richtige Familie werden würden. Mit diesem Gedanken gab sie der Laterne einen Schubs und entließ sie dem nächtlichen Firmament. Die beiden Brüder taten es ihr gleich. Ihre Augen folgten den funkelnden Lichtern, ehe sie nicht mehr unter den Anderen herauszukennen waren. Ganz Firenze war ein Lichtermeer. Alles funkelte und erstrahlte. Sie fühlte sich befreit von jeglichen düsteren Gedanken und Zweifeln, die sich in ihrem Hinterkopf befanden. Ein letztes Mal zog sie die frische Nachtluft tief in ihre Lunge ein.

"Adrianna.", flüsterte sie, noch immer mit dem Blick zum Himmel gerichtet.

"Ein schöner Name.", lachte er auf. "Mein Name ist Ezio Auditore und das ist mein Bruder Frederico."

Adrianna nickte leicht mit dem Kopf, als ihr Blick auf die Turmuhr der Kathedrale fiel. Einen Augenblick lang blieb ihr beinahe das Herz stehen. Wenige Minuten vor dem zwölften Glockenschlag, stellte sie erschrocken fest. Suchend glitten ihre Augen durch die Menschenmenge, als sie die aufgescheuchte Maria ausmachte. Sie zwängte sich an Ezio vorbei, balancierte das Dach entlang bis zu einer geeigneten Stelle, an der ein Stoffhandel sein Restelager aufgeschlagen hatte. Sie überlegte nicht lange und obgleich ihr bei dieser Höhe etwas mulmig war, stieß sie sich vom Rand ab und sauste durch die Luft. Das Gefühl der Schwerelosigkeit durchdrang ihren gesamten Körper, ehe sie in die Leinen plumpste. Aufgescheucht sprang der Verkäufer zur Seite, als sich das Mädchen herauskämpfte und eilig das Weite suchte. Völlig außer Atem kam sie bei der Haushälterin an, die sie mit einem besorgten Blick musterte.

"Adrianna! Um Himmels Willen. Ich habe euch überall gesucht!", herrschte die alte Dame. Schuldig senkte das Mädchen den Blick.

"Verzeiht mir.", brachte sie hervor. Maria rieb sich kurz über die Stirn, dann erschien schon wieder das typische Lächeln auf ihren Zügen.

"Schon gut. Es ist soweit, wir müssen nach Hause. Hattet ihr Spaß?.", hinterfragte sie fürsorglich, als sie das Mädchen mit einer führenden Hand am Rücken durch die Menge manövrierte.

"Ja, ich hatte Spaß.", gab sie fein zurück. Auf ihren Lippen war ein feines Lächeln. Dies würde ein Tag werden, den sie in ihrem Leben so schnell nicht wieder vergessen würde. Das Sommerfest in Firenze, die Begegnung mit Ezio und Frederico Auditore, wobei ihr beim Gedanken an die Pazzifamilie etwas mulmig wurde. Nichts desto trotz hatte sich dieser Ausflug gelohnt.

"Antonio? Wir sind wieder zurück.", rief Maria in den dunklen Raum. Das Rücken der schweren Holzstühle über den massiven Boden war die Antwort, als Angesprochener schon seinen Kopf durch den Türspalt schob. Die Haushälterin schenkte ihm ein freudiges Lächeln, während sie Adrianna in den Wohnraum schob.

"Wie war es?", befragte Mario die beiden Frauen sogleich. Maria legte ihren Blick auf das junge Mädchen, welches begeistert die Hände vor der Brust zusammenschlug.

"Es war so atemberaubend. Die ganzen Lichter und die Musik. Die Menschen waren so freundlich.", haspelte sie aufgeregt. Mario lachte laut auf und auch Antonio schmunzelte leicht.

"Gehen wir das nächste Mal zusammen?", hinterfragte Adrianna an ihren Onkel gewandt.

"Sicher.", gab er nur zurück. "Maria? Es ist wieder soweit.", wandte er sich nun an die Haushälterin, die geknickt den Blick auf den Boden legte.

"Wie lange dieses Mal, Antonio?", flüsterte sie.

"Eine Weile nur. Giovanni braucht unsere Hilfe. Ich reise nur nach Venedig. Wenn alles läuft, wie geplant, bin ich in ein paar Monaten wieder zurück.", gestand der Onkel schlicht.

"Ihr verlasst uns wieder? Aber ihr seid heute erst zurück gekommen?", rief Adrianna dazwischen.

Mario kniete sich neben das Mädchen auf den Boden und reichte ihr eine weiße Blume aus der Vase des Esstisches.

"Verzeiht mir, Signora. Ich bringe euch euren Onkel so schnell es mir möglich ist wieder zurück."

Sie senkte den Blick und nickte langsam. Sie konnte sowieso nichts dagegen unternehmen.

"Maria?", hinterfragte Antonio schnell. Angesprochene trat an den Kleiderständer und nahm den Mantel vom Haken. Sie half dem Hausherren in die Gewandung zu schlüpfen und zurrte die leichte Lederpanzerung am Rücken fest. Am Ende überreichte sie ihm den Waffengürtel, den er sich selbst um die Hüfte band, ehe er in die metallischen Armschienen schlüpfte. Testweise bog er seine Hände nach oben, wobei fast zeitgleich dünne silbrige Klingen hervor schossen. Adrianna beobachtete die Verwandlung ihres Onkels mit trüben Augen. Sie wusste nicht, was all das zu bedeuten hatte, aber sie fühlte, dass Antonio sich wohl in Gefahr begeben würde.

"Was auch die nächste Zeit geschieht. Öffnet niemandem die Tür, verlasst das Haus nur im Notfall und achtet auf euch.", wandte sich Antonio das letzte Mal an die beiden Frauen, ehe er Adrianna fein über das Deckhaar strich, seine Kapuze tief ins Gesicht zog und zusammen mit Mario das Haus verließ. Stille trat ein. Und wieder wirkte dieses riesenhafte Haus seltsam bedrohlich und leer.
 

"Maria?", hinterfragte Adrianna schmal, als sie sich an den gedeckten Frühstückstisch begab. Seit Antonio fort war, war auch die Haushälterin bedächtig stiller geworden, was dem jungen Mädchen sehr unangenehm war.

"Ja, Liebes?", gab sie zurück, als sie von ihrer Zeitung aufsah.

"Wohin musste Onkel Antonio gehen?", wollte das Mädchen wissen. Sie fühlte, wie sich innerhalb von Sekunden nach ihrer Frage die Raumtemperatur herunter kühlte. Die Augen der Haushälterin zogen sich für einen Moment zusammen, ehe sie den Kopf schüttelte.

"Euer Onkel ist ein sehr viel beschäftigter Geschäftsmann. Seine Reisen führen ihn durch ganz Italia.", gab sie nur zu verstehen.

"Dieser Mann, Mario war sein Name..."

"Ist ein Geschäftspartner und Freund der Familie. Nichts weiter, Adrianna.", brummte Maria.

"Er sprach von einer Verschwörung...", begann das Kind wieder.

"Macht euch deswegen keine Gedanken. Ihr seid noch sehr jung, ihr solltet euch nicht mit geschäftlichen Dingen auseinander setzen. Wieso lest ihr nicht ein Buch, um euch die Zeit zu vertreiben? Das bringt euch auf andere Gedanken.", gab die ältere Dame von sich.

"Lesen? Ich glaube ich kann nicht lesen.", entkam es Adrianna verschämt. Egal, wie oft sie die Buchstaben betrachtet hatte, es wollte sich kein Bild vor ihren Augen fügen. Wieso hatte sie nie lesen gelernt?

"Ihr könnt nicht lesen? Dann... fangen wir am Besten gleich damit an, dass ihr es lernt." Sofort sprang die Haushälterin von ihrem Stuhl auf und eilte zu einem nahe stehenden Bücherregal, wo sie sich grübelnd über die Literatur beugte und nach einem passenden Objekt Ausschau hielt.

"Wieso habe ich es nie gelernt?", wollte Adrianna wissen.

"Ihr seid noch sehr jung Liebes. Ihr lernt es jetzt. Ich werde euch unterrichten. Lesen, schreiben und Geschichte.", murmelte Maria, als sie ein in Leder gebundenes Buch hervor holte. Der Umschlag war mit einer goldenen Schrift verziert, die Adrianna natürlich nicht entziffern konnte.

"Wir beginnen ganz einfach, mit dem Alphabet."
 

Wenige Wochen später pochte es unerwartet an der Tür. Voller Vorfreude rannte Adrianna die Treppenstufen hinab und positionierte sich im Flur, um ihren Onkel zu empfangen, doch als Maria die Tür einen Spalt breit öffnete gab sie nur die Sicht auf einen unbekannten Fremden frei, der ein abgetragenes Stück Papier in der Hand hielt.

Zögerlich entwand es die Haushälterin aus seinem Griff, als er ihr wenige Worte entgegen flüsterte, was sie nicken ließ. Adrianna verzog das Gesicht, während Maria sich leicht vor dem Fremden verneigte. Auch sein Gesicht war unter einer weißen Kapuze verborgen. Was hatte es nur mit diesen seltsamen Roben auf sich?

Der Fremde hob den Blick und legte ihn auf das zierliche kleine Mädchen, das noch immer etwas verloren im langen Flur stand. Ein feines Lächeln schmückte seine Züge, als er seine rechte Hand zu seinen Lippen führte, einen Kuss hauchte und mit der Hand zum Abschied winkte. Adrianna biss sich verwundert auf die Unterlippe, konterte die Geste aber mit einem schlichten Nicken. Ehe sie sich versah, war der Fremde vor der Tür verschwunden. Maria, deren Augen sich nicht von dem Schriftstück lösen konnten, verschloss den Eingang und schritt bedächtig langsam durch den Flur in den Wohnraum. Dort ließ sie sich auf den ledernen Sessel neben dem Fenster sinken.

Ihr Gesichtsausdruck sprach bände, auch wenn Adrianna nicht wusste, was das alles zu bedeuten hatte, so konnte sie genau erahnen, dass es sich um schlechte Neuigkeiten handeln musste.

„Was ist geschehen? Geht es Onkel Antonio nicht gut?“, wollte das Mädchen sofort wissen, als sie sich gegenüber der Haushälterin auf den Boden kniete. Mitfühlend legte sie ihre rechte Hand auf die Hand Marias.

„Macht euch keine Sorgen, Adrianna. Lest etwas.“, forderte sie monoton. Das Mädchen seufzte auf. Wieso ließ sie jeder in dieser Ungewissheit? Sie erhob sich artig vom Boden und griff nach ihrem Buch, das sie nach den Wochen immerhin schon bis Seite vier gelesen hatte.

„Laut.“, gab Maria noch von sich.

Wieder seufzte Adrianna schwerfällig. Sie hatte gerade wirklich nicht die Konzentration sich dem Lesen zu widmen, doch Maria war, genau wie Onkel Antonio ein Buch mit sieben Siegel.

„Ei... eines, eines Taa.. Tages flo, flok...“, begann das Mädchen unsicher.

„Flog.“, verbesserte Maria sofort.

„Flog ein, eine Taube duuu... duuuurch das Fen... Fenster auuuf den Blatz...“

„Platz.“, murrte Maria. Sie war gerade dabei den Brief zu entfalten und ihre Augen rasant schnell über die Zeilen gleiten zu lassen. Ihr Gesicht wirkte dabei sehr beunruhigt.

„Maria?“, forschte Adrianna, als sie von ihrem Buch erneut aufsah und es dann sorgsam schloss.

„Was ist los, Liebes?“, wollte die Haushälterin wissen. Das gespielte Lächeln brach Adrianna fast das Herz.

„Kommt Antonio nicht mehr zurück?“, flüsterte das Kind, sich der Schwere dieser Frage bewusst, aber sie musste es wissen.

„Unsinn, mio bene. Natürlich kehrt Antonio wieder zurück. Er kehrte immer wieder zurück.“, herrschte die alte Dame, während sie zeitgleich rastlos von ihrem Platz aufsprang und unruhig den Raum zu durchwandern begann.

„Scusa, Maria.“, entkam es Adrianna. Sie senkte den Blick betroffen auf den Titel ihres Buches.

Wenige Wochen zuvor in Venice:
 

„Bueno sera.“, raunte eine Stimme. Kurz wanderte Antonios Blick in die finstere Seitengasse zu seiner Rechten, in deren sicherem Schatten sich eine vermummte Gestalt verborgen hielt. Alleine an der Stimme hatte Antonio ihn erkannt, weswegen er beiläufig die Arme vor der Brust kreuzte und ein schiefes Lächeln aufsetzte.

„Bueno sera. Wir hörten du hast Schwierigkeiten einen Brief zu beschaffen.“, gab der Santavenere schlicht zurück, nicht ohne einen Hauch Schalk in seinen Worten mitklingen zu lassen.

„Kommt mit. Die Wände haben Ohren.“, gab der Mann aus der Gasse zu verstehen, ehe er leichtfüßig auf den harten Steinplatten in der Dunkelheit verschwand. Auch Mario, der direkt neben Antonio gestanden hatte ließ ein schelmisches Lächeln durchblicken, ehe er seinerseits die Verfolgung aufnahm. Schneller, als gedacht hatten sie die stillgelegte Kanalanlage Venices erreicht, wo sich ein unauffälliger Abstieg in Form eines Brunnens befand. Mit seinem geübten Auge trat Antonio an die Front und löste den Schalter aus, der die Vorrichtung dazu brachte den Weg in die Tiefen des Untergrundes freizulegen. Ohne einen weiteren Blick zurück begann der Santavenere den Abstieg. Die wenigen Fackeln, die den langen Tunnel mit ihrem schummrigen Licht ausleuchten sollten, waren schon bis auf die Grundstöcke heruntergebrannt, so blieb den drei Gefährten nichts anderes übrig, als sich durch das undurchdringliche Dunkel immer weiter voran zu kämpfen. Antonio genoss einen weiteren Vorteil, denn er kannte die Wege des Untergrundes, sowohl in Firenze, als auch in Venice, wie das Innerste seiner Hemdtasche.

„Rechts.“, brummte der Santavenere nur, als er der Abzweigung folgte und sogleich in einen helleren Seitenraum einbog. Der Wandstruktur nach befanden sie sich im Zentrum Venices unter der Parkanlage, die ebenfalls einen Abstieg für Assassinen beinhaltete.

„Nun?“, wollte Mario wissen, als auch der Nachzügler den Raum betrat. Mürrisch schritt er den kleinen Raum auf und ab, als er bereits mit den Armen versuchte seiner Stimmung Ausdruck zu verleihen. „Giovanni? Was ist los?“, hakte nun auch Antonio hinterher, der das Schauspiel nur mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtet hatte.

„Die Gerüchte um die Verschwörung sind wahr. Der Duca di Milano Sforza soll beim heiligen Christfest zum Gedenken an Sankt Stefano beim zwölften Glockenschlag, wenn der Chornachhall am lautesten ist, durch einen Dolch sterben.“, begann Giovanni sich zu erklären.

„Die Informationen scheinen sehr präzise. Woher hast du sie?“, wollte Mario sofort wissen. Giovanni schüttelte betäubt den Kopf.

„Ich habe einen Informationsmann aufgegriffen. Lorenzo de Medici hat die Neuigkeiten aus ihm heraus gefoltert. Ich bin mir sicher, dass es stimmt.“, bekräftigte der Auditore, während sein Bruder verständlich nickte.

„Warum hast du nach uns gerufen, Giovanni?“, hakte Antonio nach. Er kannte Giovanni bereits lang genug, um zu wissen, dass er nur selten Hilfe beanspruchte.

„Die Verschwörung ist weit größer, als wir uns ausgemalt haben, Antonio. Ich hätte euch nicht gerufen, wenn es sich nur um den Anschlag auf Sforza gehandelt hätte. Während wir uns hier unterhalten ist Rodrigo Borgia, ein Spanier und das Oberhaupt der Templer, auf den Weg hierher. Sein Ziel ist nicht nur die Eroberung Venices, sondern auch die Firenzes. Ein Brief soll Aufschluss auf die Pläne der Templer geben. Er trägt Babarigos Siegel.“, gab Giovanni zu verstehen.

„Während du dich um den Anschlag auf Sforza kümmerst, sucht Mario nach dem Brief und stellt ihn sicher. Ich klemme mich an die Fersen von Rodrigo Borgia, sobald er in Venice ankommt. Wir treffen uns nach dem heiligen Christfest wieder hier. Dies ist der Raum unterhalb der venezianischen Parkanlage. Ihr findet den Zugang hinter dem Brunnen in einem eingelassenen Sockel.“, beschloss Antonio, während er die Riemen seiner verstecken Klingen enger um die Handgelenke zurrte.

„Va bene. (Jawohl.)“, stimmte Mario zu. Er war der Erste, der sich seine Kapuze tiefer ins Gesicht zog und ein siegessicheres Lächeln aufsetzte.

„Mario, halte dich an Babarigo. Sein Haus befindet sich direkt in der Innenstadt. Du kannst es nicht verfehlen. Es ist schwer bewacht. Achte auf deinen Kopf.“, folgerte Giovanni, der die Lage in Venice noch am Besten einschätzen konnte. Seine Informationsbeschaffung war schon immer ein großer Vorteil für die Bruderschaft gewesen. Der jüngere Auditore war für sein Adlerauge und seine genaue Arbeit hoch geschätzt. Antonio nickte schlicht, als sich Giovanni ihm zuwandte.

„Antonio, laut meiner Informationen wird Borgia heute Nacht mit der dritten Kutsche direkt aus Roma hier anreisen. Ich weiß nicht, was er vorhat, noch warum er hier auftaucht, aber mein Gefühl sagt mir, dass er alles daran setzten wird, dass wir ihm nicht in die Quere kommen. Er hat sicherlich einige Wachen und kleinere Templer an der Seite. Du musst vorsichtig sein.“, bekräftigte der Auditore. Wieder nickte Antonio schlicht. Rodrigo Borgia war für den Santavenere kein unbeschriebenes Blatt. Schon vor einigen Jahren, als er in seiner Rache nach Roma aufgebrochen war, hatte er das Vergnügen einer kurzweiligen Begegnung mit dem Templer gehabt und zu seiner Schande hätte er diese beinahe mit dem Leben bezahlt. So ein Fauxpas würde dem Meisterassassinen sicher nicht noch einmal unterlaufen. Dieses Mal war er vorbereitet und sollte sich die Gelegenheit dazu ergeben, dann würde er die Templer ihres Anführers berauben.
 

Hoch über den Mauerwerken saß Antonio, lauernd, wie eine Raubkatze, auf seine Beute, während der eiskalte Regen auf ihn herab fiel. Schon vor wenigen Stunden war er bis auf die Knochen durchnässt gewesen. Zwar eine sehr unangenehme Lage, aber nichts, was ihn zu einem Abbruch seiner Aufgabe führte. Noch immer war in der dunklen Umgebung Venices keine weitere Kutsche zu erkennen. Die ersten Beiden waren schon längst angekommen. Antonio seufzte angestrengt, als er sich über das müde Gesicht fuhr und während seine Augen weiterhin den Horizont sondierten wanderten seine Gedanken nach Hause. Einerseits zu seiner treuen Haushälterin, die dank seiner vorschnellen und unüberlegten Aktion in jugendlichen Jahren ein Leben in Einsamkeit und Verschwiegenheit fristen musste. Nicht, dass sie sich jemals darüber beschwert hätte, doch Antonio wusste, was sie damals für ihn aufgegeben hatte. Vielleicht wäre sie heutzutage Haushälterin einer großen Familie mit vielen Kindern und Enkel, denen sie getrost einige ihrer Weisheiten weitergeben konnte. Glücklich. Andererseits wanderten seine Gedanken zu dem Mädchen, das vom Dach fiel. Eine heimatlose, namenlose Unbekannte, deren tödliches Schicksal einfach von ihr abgelassen hatte. Seine Gedanken wollten immer noch nicht verstehen, wie sie diesen Sturz und all die Verletzungen überhaupt überleben konnte. Ob sie nun ein besseres Leben führen würde? In Einsamkeit und Gefangenschaft in seinem Unterschlupf? Ausgegeben, als eine Person, die sie nicht war. Wie lange könnte er die Geschichte aufrecht erhalten? Vermutlich nicht einmal lange genug, bis ihre Erinnerungen zurückkehren würden. Aber würde sie ihm verzeihen, dass er sich nur um ihre Gesundheit besorgt gefühlt hatte? Sie nicht einfach wieder dem Schicksal der Straße und deren Gefahren aussetzen wollte? Er konnte es sich nicht erklären, auch wenn er bedacht darauf war keine enge Bindung zu dem Mädchen aufzubauen, so musste er sich eingestehen, dass sie bereits jetzt eine deutlich wichtige Rolle in seinen Gedankengängen spielte. Resigniert stellte er fest, dass sein Herz einfach zu gutmütig war. Dieses Mädchen war eine Gefahr. Für ihn und die gesamte Bruderschaft, dennoch sagte ihm sein Instinkt, dass er sie beschützen musste. Vielleicht ein Überbleibsel seines Familienwunsches, der sich niemals erfüllen würde. Eine Ersatztochter der richtigen Tochter, die er niemals haben würde. Egal, wie gefährlich es sein könnte, Adrianna war nun ein Teil der letzten Santavenere und vielleicht könnte er ihr zu einem Leben verhelfen, dass sie auf der Straße niemals gehabt hätte. Jedenfalls war für ihn klar, dass er die Bruderschaft so lange, wie es ihm möglich war, aus ihrem Leben heraus halten würde. Seine Gedankengänge brachen jäh ab, als heftiges Hufgetrappel die Ankunft der letzten Kutsche verkündete.

„Willkommen in Venice, Rodrigo Borgia.“, knurrte Antonio, bevor er sich auf einen kleinen Dachvorsprung fallen ließ, sich kurz fing und eine lange Mauer entlang, bis kurz vor den venezianischen Stallungen, folgte. Dort verharrte er und ließ seinen Blick durch den Menschenauflauf gleiten, der sich binnen Sekunden entwickelt hatte.

„Was soll das heißen, Idiota? Gibt es einen Beweis, dass sie tot ist? Solange ich nicht mit eigenen Augen gesehen habe, dass ihr eure Aufgabe erledigt habt, solange werdet ihr auch kein Gold bekommen. Ihr wisst, welche Wichtigkeit es besitzt.“, fauchte der großgewachsene Mann im dunklen Umhang. Sein Gesicht war vor neugierigen Blicken geschützt, indem er sich die Kapuze übers Haupt gezogen hatte. Aber Antonio brauchte den Anblick seiner Visage nicht, um ihn zu erkennen. Seine Stimme alleine reichte vollkommen aus. Giovanni hatte mit seinen Informationen nicht geirrt, der Templer war soeben tatsächlich in Venice eingetroffen. Der Hauptmann der Wache verneigte sich leicht vor seinem Kommandanten, ehe er sich abwandte und resigniert davon stapfte. Welchen Tod musste er beweisen? Hatte die Bruderschaft einen etwa einen weiteren Schlag zu verbuchen? Wären solche Neuigkeiten nicht sofort zu Antonio weitergeleitet worden? Zumindest schien es sich dabei um eine Angelegenheit zu handeln, die dem Templer die Sorgenfalten ins Gesicht trieb. Jeder Schlag, den sie gegen ihn verbuchen konnten, bedeutete einen kleinen Sieg für die Bruderschaft, also beschloss Antonio kurzerhand die Aufmerksamkeit auf den Hauptmann der Wache zu legen und ihm heimlich über die Dächer Venices zu folgen. Mühselig schleppte er sich immer weiter durch die dunklen Gassen, völlig ahnungslos, dass er bereits über einige Stunden verfolgt wurde. Welches Ziel er wohl verfolgte? Antonio wollte nicht unüberlegt vorgehen. Ein falscher Schritt bedeutete nicht nur das Aus für seine Aufgabe, sondern könnte auch seine beiden Gefährten verraten. Deswegen folgte er seinem Ziel in geringem Abstand weiter durch die Nacht, bis dieser kurzerhand in eine Gaststätte einkehrte und sich am Fensterplatz niederließ. Ihm gegenüber saß eine weitere Wache, die stumm den Krug in die Luft hielt. Antonio ließ zunächst ein paar Minuten verstreichen, ehe er den Abstieg wagte und eilig über die Straße huschte. Er musste in ihre Nähe gelangen, um das Gespräch belauschen zu können. Er runzelte die Stirn, legte aber bereits seine Hand auf den Türknauf. Vorsichtig öffnete er die Tür der Spelunke und durchschritt zielstrebig den Schankraum, ehe er sich am Tresen niederließ und einen Krug Wein orderte. Die beiden Wachen saßen am Ecktisch schräg hinter ihm. Als der Wirt ihm geordertes Getränk vor die Nase stellte, senkte er den Kopf, legte ein paar Florin auf das polierte Holz und symbolisierte dem Mann, dass er verschwinden sollte. Mit versteinerter Miene nahm der Wirt das Bestechungsgeld und entfernte sich sofort von dem Assassinen. Antonio umklammerte den Krug mit beiden Händen, während er aufmerksam versuchte den Gesprächsfetzen der Wachen zu lauschen.

„... kein Gold solange wir keinen Beweis bringen...“, knurrte der Hauptmann genervt.

„Einen Beweis? Sollen wir den toten Korpus suchen und ihm vor die Füße legen? Wie stellt er sich das vor? Einen solchen Sturz überlebt kein Mensch.“, fauchte der Zweite aufgebracht.

„Merda. Ich weiß selbst, dass es unmöglich ist den Korpus wiederzufinden. Tötet doch ein anderes Kind. Seht zu, dass die Leiche entstellt genug ist, dass man sie nicht mehr erkennt.“, kläffte der Hauptmann gereizt, jedoch mit gedämpfter Stimme.

„Darauf wird er nicht reinfallen. Ein Mädchen zu finden, das ihr ähnlich sieht wird noch viel schwieriger, als die Besorgung des Korpus. Mit viel Glück sollten die Überreste noch irgendwo Außerhalb Firenzes auf einem Haufen liegen, ehe sie verscharrt werden.“, gab die Wache wieder.

„Es ist mir völlig egal, wie ihr es anstellt. Bringt mir einen Korpus. Von mir aus ohne Kopf und Glieder. Hauptsache wir bekommen die versprochenen zehntausend Florin. Wir haben das Gör nicht umsonst durch ganz Firenze gejagt.“ Antonios Gesicht verfinsterte sich augenblicklich, als sein Kopf die Fragmente des Gesprächen zusammensetzte. Ungläubig rieb er sich über die Stirn, ehe er sich erhob und eilig aus dem Schankraum schritt. Tausend Bilder zuckten durch seine Gedankengänge. Der Sturz des Mädchens, die vielen Wachen, die sich auf den Dächern ringsum gescharrt hatten. Er hatte all dem keine Bedeutung geschenkt. Hatte es abgetan als Hetzjagd eines einfachen Diebes, der Firenze schon lange terrorisiert hatte. Einen geplanten Mord hätte er dahinter niemals vermutet. Doch warum war Rodrigo Borgia, dem Oberhaupt der Temper, dem gefürchtetsten Mann in Roma, der Tod eines einfachen Mädchens, einer heimatlosen Diebin so wichtig? Was versteckte sich hinter der Identität eines unscheinbaren Mädchens, dass die Templer sie tot sehen wollten? Eilig erklomm Antonio die Mauerwerke eines einfachen Wohnhauses, nur um sich am Dachrand niederzulassen und weiter über die seltsame Wendung zu grübeln. Es ergab keinen Sinn in seinen Augen. Noch nicht.

„Senore, wir haben die Leichenfelder abgesucht. Es war nirgends auch nur die Spur eines Kinderkorpus. Selbst in den faulenden Bergen.“, keuchte eine Wache, der das Elend noch ins Gesicht geschrieben stand. Natürlich konnten sie keinen Korpus finden, immerhin erfreute sich das Objekt ihrer Begierde bester Gesundheit in Antonios Unterschlupf. Der Assassine wandte sich von der Szene ab. Die Wachen würden ihm keinen weiteren Aufschluss mehr bringen, außer die Verhärtung seiner Annahme, dass es sich bei dem gesuchten Kind eindeutig um Adrianna handelte. So sehr es Antonio widerstrebte, er musste die fehlende Information anderweitig beschaffen. Vielleicht durch einen nahestehenden Freund Borgias. Also führte Antonios Weg zurück zu seinem Ursprung. Das Haus von Marco Babarigo.

„Antonio?“, wisperte eine Stimme hinter dem Meisterassassinen, der lediglich den Blick über die Schulter wandte.

„Was machst du hier?“, wollte Mario wissen, als er aus dem Schutz eines Spähturmes trat und seinen Gefährten musterte. „Ich brauche deine Hilfe, Mario. Beschaffe mir Zugang zu Babarigos Haus.“, forderte der Santavenere schlicht, was seinem Gegenüber nachdenkliche Falten ins Gesicht trieb. „Was hast du vor?“, wollte er sofort wissen.

„Ich bin auf der Spur eines Geheimnisses Borgias. Wenn ich die Beweise finde, die meine Vermutungen bestätigen, haben wir vielleicht bald die Macht seinen Aufstieg zum Amt des Papstes zu verhindern.“, erklärte sich Antonio kurz. Mario nickte nur und trat an Antonios Seite, wo er mit dem Finger auf das Haus gegenüber deutete.

„Dies ist das Büro Babarigos. Er hat das Fenster nicht sonderlich gesichert. Darunter und darüber patrouillieren Wachen zu jeder Tages und Nachtzeit. Sie sichern den Ausgang und das Dach. Gerade ist ein junger Templer ins Haus getreten. Ich bin mir fast sicher, dass er den Brief mit sich nehmen wird, auf den wir es abgesehen haben. Wenn ich jetzt eine Ablenkung starte...“, bemerkte der Auditore verunsichert.

„Dann gehen uns die Verschwörungspläne durch die Lappen.“, schloss Antonio nachdenklich. Er war so besessen von dem Geheimnis gewesen, das seine vermeintliche Nichte umrankte, dass er beinahe die wichtigen Aufgaben aus den Augen verloren hätte.

„Was hast du herausgefunden, Antonio?“, wollte Mario nun wissen.

„Es geht um Adrianna.“, bemerkte der Santavenere grummelnd.

„Adrianna? Deiner Nichte?“, hinterfragte Mario verwundert.

„Borgia macht Jagd auf ein Mädchen in Flirenze. Er bot den Wachen zehntausend Florin für ihren Tod. Sie sprachen von einem Sturz, den niemand überleben kann und davon, dass der Leichnam unauffindbar wäre. Mario, Adrianna ist eine Heimatlose, die mir in die Arme fiel, als sie von den Wachen gejagt vom Dach sprang.“, klärte Antonio seinen Freund auf, der verwundert die Augenbrauen hob und ein erstauntes Gesicht an den Tag legte.

„Damit hätten wir ein Druckmittel gegen die Templer.“, gab der Auditore von sich.

„Das werde ich nicht zulassen. Wenn die Informationen stimmen, dann hat das Kind schon genug durchgemacht. Ich werde sie nicht ausliefern. Ich möchte nur wissen, wen ich in meinem Haus beherberge.“, konterte der Meisterassassine hart. Mario nickte verständlich.

„Die Bruderschaft wird früher, oder später auf sie aufmerksam werden. Wenn sie wirklich eine solche Bedeutung für Borgia hat ist sie unser Schlüssel zum Sieg.“, bemerkte Mario vorsichtig. Antonio seufzte, sich seines inneren Konflikts bewusst machend, dass er keine andere Wahl hatte, als dem Orden von dem Mädchen zu erzählen. Mario hatte vollkommen Recht. Wenn Adrianna die war, für die er sie hielt, dann konnten sie die Machtergreifung der Templer sofort unterbinden. Auch wenn es bedeutete, dass er somit das Kind an den Pranger stellen musste.

Genau in diesem Moment des Schweigens trat ein junger, bewaffneter Recke aus der Tür des Babarigo Anwesens. Eilig flüchtete er die steinige Straße entlang und verschwand sofort in der ersten Seitengasse.

„Ich weiß, wie sehr du dir eine Familie wünscht, Antonio, aber dieses Mädchen kann kein Teil einer heilen Welt sein, die du dir erschaffst. Sei vorsichtig und mach keine unüberlegten Dinge. Buona fortuna. (Viel Glück.)“, gab Mario noch von sich, ehe er Antonio mitfühlend auf die Schulter klopfte, seine Kapuze richtete und sich sogleich an die Verfolgung des Boten machte. Antonio schnaubte geknickt. Einerseits war die Bruderschaft alles, was er noch besaß. Es war seine Familie, Freunde, Menschen denen er ohne Bedenken vertrauen konnte, doch andererseits gab es nun, durch eine seltsame Fügung des Schicksals einen zweiten Teil der Familie. Und zwar seine Eigene zu der er auch das Mädchen zählte. Er schob die Gedanken behände zur Seite. Er würde sich mit dem Problem auseinandersetzten, wenn es gegenwärtig war. Nun musste er erst einmal seinen Verdacht bestätigen und das konnte er nur, wenn er Informationen aus Babarigos Büro erhielt. Mit wenigen Blicken hatte er seine Situation analysiert. Das Betreten des Büros würde sich schwieriger gestalten, als es anschließend zu verlassen. Wachsame Bogenschützen, vier an der Zahl, hielten in gleichmäßigem Abstand Wache auf dem flachen Dach. Einen unbeobachteten Moment gab es kaum, in dem er einfach unter ihren Blickwinkeln hindurch schlüpfen hätte können. Am Boden befanden sich noch zwei weitere, schwer bewaffnete, Männer, die gemeinschaftlich die Eingangstüre sicherten. Scheinbar hatte Babarigo mehr Feinde, als ihm gut tat. Immerhin war er auch Angehöriger einer reichen Adelsfamilie, die nicht nur in Venice hohes Ansehen genoss. Nichts desto trotz musste Antonio es irgendwie schaffen sich Zugang zum Büro zu verschaffen, denn er hoffte inniglich, dass sich dort vielleicht Hinweise auf das Mädchen befanden. Zur Not würde er versuchen müssen die Informationen aus Marco Babarigo selbst heraus zu bekommen. Und dazu war ihm jedes Mittel recht.
 

Im Schutze der Nacht erklomm er das gegenüberliegende Hausdach, darauf bedacht nicht in die Reichweite der Bogenschützen zu gelangen. Sie würden ihn, wie eine Taube aus der Luft holen. Vor seinen Augen lag der Weg, den er sich für seinen Einbruch bereits zurecht gelegt hatte. In keiner Minute würden die Wachen wechseln. Genug Zeit, um über die Balkonbüste direkt an das Fenster des Büros zu gelangen. Antonio hoffte nur, dass sich zu dieser Zeit niemand in dem Raum befand. Dann war es soweit. Die Aufmerksamkeit der Wachen war auf ihre Ablöse gerichtet. Einen Augenblick lang nahmen sie ihre Umgebung nicht wahr, genau diesen Moment nutzte der Assassine für einen gewagten Sprung. Seine Finger erreichten das Fensterbrett und klammerten sich daran fest, während das Gewicht seines Körpers an ihnen Riss. Dabei schnitt ihm das Blech tief ins Fleisch. Den Schmerz ignorierend zog er sich mühselig hoch und wagte einen Blick in den dunklen Raum. Niemand zu sehen. Er wagte sich einen Schritt weiter. Indem er den Rahmen mit einem flachen Eisen bearbeitete, sodass das Schloss aufsprang und er somit hinein gelangte. Seine Augen hefteten sich sofort an den riesenhaften Schreibtisch, der nur durch das schwache Licht des Fensters erleuchtet wurde. Sorgsam öffnete der Assassine jede Schublade und jedes Fach auf der Suche nach Unterlagen, die seine These endlich belegen würden. Er ging unzählige Akten durch, Verträge, Angebote und Briefe, aber nirgends war auch nur die Andeutung eines Kindes, das Borgia töten wollte. Antonio knurrte innerlich, als er dem Schreibtisch den Rücken kehrte und sich am langen Mantel des Hausherren zu schaffen machte, der belanglos über dem ledernen Stuhl hing. In den Taschen fand er einige Beutel gefüllt mit Florin und einen zusammengeknüllten kleinen Brief. Die Schrift konnte er im Dunkeln kaum entziffern, also steckte er ihn ein und ließ auch von diesem Gegenstand ab. Das Durchsuchen des Büros dauerte länger, als er geplant hatte. Seine Sinne waren bis aufs Äußerste geschärft, denn jederzeit könnte sich jemand nähern und den Assassinen auf frischer Tat ertappen. Kurz hielt er inne, als er leise Schritte auf dem Flur vernahm, doch sie entfernten sich schnell wieder, woraufhin Antonio an den Aktenschrank heran trat. Seine Augen flogen über die unzähligen Papiere, deren genaueres Durchsuchen einige Wochen gedauert hätte, bis er auf einen weiteren Siegelbrief stieß. „Tod von Florentina. Zwanzigtausend Florin.“, murmelte Antonio, wie in Trance. Anbei lag ein kleines Portrait, das eine junge Kurtisane abbildete. Damit hatte sich Antonios Verdacht bestätigt, auch wenn er noch keine konkreten Beweise in der Hand hielt, so fügte sich allmählich das Puzzle in seinem Kopf zu einem Bild. Eilig schob er auch den Brief und das Portrait in seine Tasche, ehe er sich dem Fenster zuwandte. Gerade, als er sich auf den Fenstersims hockte und versuchte den richtigen Zeitpunkt seiner Flucht abzupassen näherten sich schwere Schritte der Bürotür. Er wandte den Blick erschrocken über die Schulter in den dunklen Raum, auf der Suche nach einem vorübergehenden Versteck, denn er wollte nicht Gefahr laufen sämtliche Wachen am Haus auf ihn aufmerksam zu machen. Mit einem Satz war er wieder im Büro und rollte sich geschickt unter den Schreibtisch in Deckung. Schon öffnete sich die Tür. Antonio hielt einen Augenblick lang die Luft an, als sich zwei Gestalten einen Weg zum Schreibtisch bahnten. Sie waren ungewöhnlich stumm.

„Der Duca di Milano wird morgen sein Ende finden. Venice liegt so gut, wie in unserer Hand. Der Brief wurde gesandt. Mehr können wir für den Augenblick nicht tun.“, kratzte eine Stimme erfreut, als sich jemand mit Schwung auf die Tischplatte setzte.

„Es ist sehr unerfreulich, dass ihr das Fenster geöffnet haltet, wenn ihr solche Töne spukt.“, knurrte eine weitere Stimme, die Antonio unter Tausenden wiedererkannt hätte. Rodrigo Borgia.

„Ich habe das Fenster nicht offen gelassen. Ich lasse meine Fenster nie offen.“, behaarte die kratzige Stimme von Marco Babarigo, als er kurzerhand in das Sichtfeld Antonios trat und sich aus dem Fenster hinaus beugte.

„Sieht aus, als hätten wir unerfreulichen Besuch.“, scharrte Borgia, was Babarigo nervös herum zucken ließ. Genau in diesem Moment rollte sich Antonio aus seinem Versteck hervor und versuchte das Fenster zu erreichen, dabei stieß er Babarigo unsanft zur Seite, woraufhin dieser das Gleichgewicht verlor und mit dem Kopf hart gegen den Aktenschrank prallte. Borgia hechtete dem Assassinen sofort hinterher, schaffte es aber im letzten Moment nicht mehr in zu ergreifen, ehe er den Sprung aus dem Fenster unternahm.

„Fasst diesen elenden Einbrecher.“, grölte seine Stimme in der nächtlichen Stille. Hart kam Antonio auf dem Boden auf, wo er sich sogleich abrollte, damit seine Beine nicht brachen. Die Wachen vor der Haustür stürzten sich auf den Assassinen, der Mühe hatte im Gerangel die Übersicht zu behalten. Ihm blieb nicht einmal genug Zeit sein Schwert zu ziehen. Gleichzeitig wurde er von Oben herab unter Beschuss genommen. Ein Pfeil zischte nur haarscharf an seinem Kopf vorbei, als er sich unter dem Speerschlag hindurch schlängelte und den Bauch seines Gegners mit den versteckten Klingen attackierte. Im Augenwinkel sah er die Streitaxt der zweiten Wache auf seine Schulter zukommen, doch ehe sie ihn erreichte, war er ihr bereits ausgewichen. Die beiden Wachen hielten ihn weiter in Schach, während Borgia bereits aus der Haustür brach und sich mit seinem Schwert bewaffnet ebenfalls in den Kampf einmischte. Der Meisterassassine sah keine andere Möglichkeit, als die Flucht. Jedoch ehe es dazu kam, traf ihn ein Pfeil am Oberschenkel und ließ ihn zu Boden sinken. Sofort hatte er sämtliche Klingen auf sich gerichtet und wusste, dass dies das Ende war.

Firenze sechs Monate später:
 

„Adrianna?“, herrschte die weibliche Stimme aus dem unteren Stockwerk, als sich das Mädchen erschrocken zur Zimmertür wandte. Eilig legte sie das angefangene Buch aus der Hand und sprintete die Treppen hinab direkt vor die Füße Marias.

„Si, Maria?“, wollte sie neugierig wissen. Die Haushälterin hielt sich ein Tuch vor Mund und Nase, als sie heftig schniefte. Eine bittere Erkältung hatte sie letzte Nacht heim gesucht und so sehr sie sich dagegen gewehrt hatte, so hielt es sie doch die meiste Zeit des Tages ans Bett gefesselt. Die alte Frau musste sich eingestehen, dass ihr Körper schon lange nicht mehr fit und fidel war.

„Adrianna, tut mir einen Gefallen und besucht Doktor Rastelli. Lasst euch Medizin gegen diese Erkältung geben und kehrt sofort zurück.“, begann die Haushälterin schwach. Fast hätte das Mädchen einen Freudensprung veranstaltet, besann sich jedoch und nickte artig. Ihr Magen zog sich erregt zusammen, als sie realisierte, dass sie das erste Mal seit einigen Monaten das Haus verlassen durfte. Zudem noch ganz alleine. Die freudig funkelnden Augen ihrer Ziehtochter konterte Maria mit einem warnenden Blick.

„Keine Umwege und nichts wodurch ihr die Aufmerksamkeit auf euch ziehen könntet. Verlasst die große Straße nicht. Rastellis Haus befindet sich hinter dem Piazza della Signora auf der Handelsstraße rechts.“, brummte Maria. Wieder nickte Adrianna schlicht, wobei sie es kaum erwarten konnte das Haus zu verlassen. Auch wenn es für Maria nicht sonderlich erfreulich war, so hätte Adrianna nichts Besseres geschehen können, als diese Erkältung. Sie schnappte sich eilig die ledernen Handschuhe von der Garderobe und zog sie sich über, ehe sie den schlichten braunen Mantel überwarf und ihre Linke bereits an den Türknauf legte.

„Adrianna...“, begann Maria erneut besorgt.

„Keine Umwege, keine Auffälligkeiten. Die große Handelsstraße entlang bis hinter den Piazza della Signora rechts.“, flötete das Mädchen schlicht, als die Tür schon hinter ihr ins Schloss fiel. Kurz hielt sie inne und sog die frische Luft in ihre Lunge. Sie schloss bedächtig die Augen und ließ die kühle Sonne auf ihre Haut treffen, ehe sie freudig im Kreis sprang. Leichtfüßig folgte die der Seitengasse auf die große Handelsstraße, die sie mit großen Augen entlang schritt. Bedächtig hielt sie bei jedem auffälligen Gebilde inne und betrachtete die Architektur. Sie versuchte sich so viel, wie ihr nur möglich war, einzuprägen, denn wer wusste schon, wann sie das nächste Mal das Haus verlassen würde. Belanglos eilten die Menschen an ihr vorbei, ohne das Mädchen auch nur eines Blickes zu würdigen, doch das war ihr nur Recht, denn immerhin sollte sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Während sie über die gepflasterte Straße schritt, genoss sie jedes Geräusch, die Stimmen der vielen Menschen, die Sonne, die Umgebung, bis sie unerwartet gegen jemanden prallte. Ein harter Gegenstand klopfte ihr gegen den Kopf, ehe sie sich besann und schmerzlich die Stirn kräuselte.

„Scusa!“, rief ihr eine jugendliche Stimme entgegen. Ihr Gegenüber hatte eine beachtliche Summe an Leinwänden in der Hand, sodass man ihn dahinter kaum erkennen konnte, genauso wenig konnte er erkennen, wohin er gerade lief. Neugierig umrundete Adrianna den fremden Jungen und erhaschte einen flüchtigen Blick auf ein Gemälde, welches noch auf seine Fertigstellung wartete.

„Boun giorno.“, gab das Mädchen verwundert von sich. Daraufhin fielen die Leinwände polternd zu Boden. Der Junge setzte ein breites, wenn auch schüchternes Lächeln auf, während er sich den rötlichen Hut auf seinen zerzausten blonden Haaren richtete. Die Ärmel seines weißen Hemdes waren mit Farbe bekleckert, während seine Beine in einer sauberen schwarzen Hose steckten.

„Buon giorno, Seniorina.“, entkam es ihm freundlich. Zwischenzeitlich hatte sich das Mädchen bereits auf den Boden gekniet und hob die kleineren Leinwände auf, wobei sie es sich nicht nehmen ließ, jedes Einzelne genaustens zu betrachten. Es wirkte fast, als habe man die Natur auf das Bild gezogen, so unglaublich echt schien diese Malerei.

„Das sind wirklich wunderschöne Gemälde.“, gab sie hauchfein von sich. Das Staunen war ihr aus den sturmgrauen Augen abzulesen.

„Bene grazie. Ein paar Anfängerbilder. Senore Andrea del Verrocchio hat mich in seine Malerwerkstatt aufgenommen und wird mich lehren noch viel besser zu malen.“, bemerkte der Junge schlicht. Sein skeptischer Blick betrachtete das Bild, welches Adriannas Aufmerksamkeit erlangt hatte. Es handelte sich um ein Stillleben. Ein ruhiger See, umgeben von herbstlichen Bäumen, eine einzelne Bank und ein wunderschön festgehaltener Sonnenuntergang, der sich an der Wasseroberfläche spiegelte.

„Anfängerbilder? Ich wäre froh, würde ich so etwas je zustande bringen.“, gab Adrianna von sich.

„Ich möchte mehr, als diese einfachen Landschaftsbilder. Ich möchte Menschen malen, bei denen man das Gefühl bekommt, sie würden einen aus dem Bild heraus anblicken. Menschen sind sehr interessante Geschöpfe, findet ihr nicht?“, sinnierte der Junge mit einem träumerischen Lächeln auf den Lippen, während er sich zu dem Stillleben hinab beugte und es vom Boden aufhob.

„Hier nehmt es.“, fügte er beiläufig hinzu, als er es Adrianna in die Hand drückte. Diese zog nur ein verwundertes Gesicht und schüttelte vehement den Kopf.

„Das... das kann ich nicht annehmen und ich habe kein Geld, um es euch zu bezahlen.“, haspelte sie.

„Unsinn. Ich benötige es nicht mehr, aber ihr könnt mir dafür gerne einen Gefallen tun. Mein Name ist übrigens Leonardo Da Vinci.“, schmunzelte er. Er war vielleicht gerade mal wenige Jahre älter, als Adrianna. Nichts desto trotz hatte das Mädchen schon jetzt das Gefühl, dass sein Intellekt den einiger Erwachsener bei Weitem überstieg. Zumindest schien er sehr ehrgeizig zu sein und große Pläne für seine Zukunft zu schmieden.

„Welcher Gefallen?“, wollte sie vorsichtig wissen.

„Ihr könntet mir Model für ein Gemälde stehen. Es wäre mein erstes Mal, dass ich mich an einem Menschen versuche, aber ihr habt auffällig graue Augen, vielleicht würde man euch darauf erkennen.“, feixte er.

„Ich bin sicher, dass ihr eine hervorragende Arbeit machen würdet, aber ich kann nicht. Scusa.“, gab Adrianna sofort von sich, während Marias Warnung in ihrem Kopf widerhallte.

„Man könnte beinahe meinen ihr habt Etwas zu verbergen.“, belächelte er nur.

„Wie... wie kommt ihr darauf?“, versuchte sie beiläufig zu klingen.

„Ihr nennt euren Namen nicht, ihr wollt nicht Model stehen für ein einfaches Portrait. Jede andere Frau in Firenze wäre meinem Vorschlag sofort nachgekommen. Vielleicht seid ihr auch einfach jemand der vernünftigen Sorte.“, gab er schlicht zurück. Adrianna versuchte ihren ertappten Gesichtsausdruck mit einem feinen Lächeln zu überspielen, was er mit einem Zwinkern konterte.

„Falls ihr eure Meinung ändern sollte, dann besucht mich doch in der Malerwerkstatt. Ihr werdet sie leicht finden. Folgt einfach den Flüchen des alten Mannes. Mein Lehrmeister ist bei Zeiten sehr ungehalten, aber eigentlich ein feiner Kerl.“, bemerkte er, als er sich daran machte die Leinwände wieder auf seinen Armen zu stapeln.

„Ich wünsche euch einen schönen Tag und bene grazie für das Gemälde, Leonardo.“, lächelte Adrianna, die es, wie ein Schmuckstück fest umklammert an den Bauch gepresst hielt.

„Prego. Arrivederci Senorina.“, erwiderte er freudig, ehe er sich daran machte seinen Weg erneut aufzunehmen. Sie blickte ihm noch einige Zeit lang hinterher, während sie innerlich mit sich kämpfte seiner Einladung nicht zu folgen. Auch, wenn sie es sich nicht gerne selbst gestand, so war sie seit der Abreise ihres Onkels seltsam einsam. Auch wenn sich Maria aufopfernd um das junge Mädchen sorgte, so fehlte ihr einfach ein Ansprechpartner. Ein Mensch, mit dem sie einfach ungezwungen sprechen konnte, außerhalb der Familie. Ein Freund. Adriannas Blick glitt erneut über das Gemälde Leonardos, ehe sie sich abwandte und der Handelsstraße weiter folgte. In wenigen Minuten würde sie auch das Anwesen des Doktors erreichen und konnte die Medizin für ihre kranke Haushälterin besorgen.

„Da seid ihr ja endlich, Adrianna.“, murmelte Maria, als sie die massiven Außentüre des Herrenhauses öffnete und ihrer Ziehtochter Einlass gewährte.

„Doktor Rastelli hat mich noch einmal untersucht. Er sagt, dass mein Körper sich langsam erholt. Außerdem bestand Signora Rastelli darauf, dass ich euch eine Schüssel voll Suppe bringen soll.“, erklärte sich das Mädchen, während sie einhändig die Besorgungen jonglierte und mit der anderen Hand versuchte aus ihren Schuhen zu schlüpfen.

„Das ist sehr freundlich. Wenn ich wieder gesund bin, dann werde ich mich bei ihr bedanken.“ Ein feines, wenn auch nicht aufrichtiges Lächeln, zierte ihre Lippen, als sie Adrianna die Gegenstände aus der Hand nahm.

„Doktor Rastelli meinte es sei sehr wichtig, dass ihr genug esst und trinkt. Die Medizin sollt ihr zu jeder Mahlzeit einnehmen.“, bemerkte Adrianna noch.

„Dieses Gemälde. Woher habt ihr es?“, umging die Haushälterin die Anweisung und legte ihre rehbraunen Augen skeptisch auf die kleine Leinwand.

„Ich hatte einen Zusammenstoß mit einem jungen Maler. Er schenkte es mir, weil er es nicht mehr brauchte.“, gestand das Mädchen vorsichtig.

„Habt ihr ihm euren Namen genannt?“, wollte Maria sofort wissen.

„No. Ich sagte nur, dass mir das Bild sehr gefällt.“, verteidigte sie sich.

„Si. Prego, Adrianna. Ihr solltet noch etwas Lesen und Schreiben bevor wir zu Abend essen.“, gab Maria von sich. Sie wirkte immer noch etwas skeptisch, gab dem Mädchen das Gemälde jedoch wieder. Sie tat fast so, als sei Adrianna ein gemeiner Dieb, der das Gemälde von einem Stand gestohlen hatte. Ob sie ihr so etwas zutrauen würde?
 

Wenige Monate später, gerade als Adrianna das Haus für ein paar Besorgungen für ihre erneut erkrankte Haushälterin erledigen wollte, hielt sie am Türrahmen inne. Sie ließ ihren Blick über die Schulter wandern und sah, wie Maria durch den Wohnraum schritt. In ihren Augen lag ein fiebriger trauriger Glanz, der von Tag zu Tag mehr wurde, je länger kein Lebenszeichen von Onkel Antonio zu hören war. Sie konnte es kaum mehr verbergen. Sie war krank vor Angst und Sorge und das raffte nach und nach ihren Körper dahin. Es schien fast so, als sei die gute alte Dame in dem knappen Jahr um viele Jahrhunderte gealtert. Adrianna seufzte stumm, ehe sie sich von der Szene abwandte und den weißen Weidenkorb fest in die Hand nahm. Maria war sehr stumm und nachdenklich geworden, seit letzter Nacht. Das Mädchen hatte fremde Stimmen im Wohnraum vernommen, war aber nicht hinab geschlichen, um etwas zu erfahren. Sie hatte wohl darauf vertraut, dass Maria sie aufklären würde. Doch ihre Lippen blieben versiegelt. Irgendetwas war geschehen, das konnte sie nicht mehr verbergen. Adrianna zermürbte es fast nicht zu wissen, was hinter ihren Augen verborgen lag. Völlig in Gedanken schritt sie die lange Handelsstraße entlang, auf dem Weg zum Markt auf dem Piazza della Signora. Dieser Weg war in letzter Zeit ihre einzige Ausflucht gewesen, um dem Trübsal und der Stille zu entgehen. Und sogar jetzt fühlte sie sich sofort etwas leichter ums Herz, da die vielen aufgeregten Menschenstimmen an ihr Ohr drangen. Gerade, als sie um die letzte Ecke biegen wollte, deren Abzweigung sie am Gemüseladen auf den Piazza bringen würde, wurde sie hart gegen die Mauer gerempelt. Etwas verwirrt und gleichzeitig erschrocken keuchte Adrianna auf, als merkte, wie geschickte Finger ihr den Florinbeutel vom Gürtel lösten, ehe der Fremde die Flucht ergriff.

„Aspetta!“, entkam es ihr, als sie sich den Rock raffte und ihrem Hab und Gut nachhetzte. Sie schlängelten sich in wilder Verfolgungsjagd durch die Menschenmassen am Piazza. Adrianna konnte Schritt halten und erspähte den Flüchtigen immer wieder im letzten Moment zwischen den Einkaufenden, ehe er erneut einen Haken schlug und in eine dunkle Seitengasse einbog. Ohne recht zu überlegen sprintete das Mädchen hinterher. Ein ohrenbetäubender dumpfer Schlag ließ sie jedoch in ihrer Bewegung festfrieren, als sie mit überrascht weit geöffneten Augen versuchte die Situation zu analysieren. Vor ihr stand Leonardo, mit einer breiten Holzlatte, die wohl einst ein Teil seiner Staffelei gewesen war, während neben ihm auf dem Boden der Dieb kauerte und schmerzlich raunte. Beiläufig kniete sich der Maler neben sein Opfer und entwand ihm den gestohlenen Beutel Florin, den er Adrianna mit siegessicherem Lächeln entgegen hielt.

„Als ich eure Hetzjagd verfolgt habe, dachte ich mir bereits, dass ihr beklaut wurdet.“, gab er zu verstehen. Noch immer war Adrianna viel zu verwirrt, um auf seine Geste zu reagieren, weswegen er sich vom Boden erhob, ihren Arm bei sich unterhakte und wieder aus der Seitengasse schritt.

„Ihr solltet bei Zeiten vielleicht in Begleitung durch Firenze spazieren. Einzelne Frauen laufen immer schnell Gefahr von dem Lumpenpack ausgeraubt zu werden. Und dieser war noch harmlos.“, bemerkte Leonardo schlicht, als er seine Begleitung auf die Mitte des Markes führte.

„Man könnte allerdings eine Vorrichtung an den Florinbeutel befestigen, der vor Diebstahl schützt. Mit einer hervorspringenden Klinge, beispielsweise.“, sinnierte er weiter.

„Einer Klinge? Ist das nicht ein wenig übertrieben?“, wollte Adrianna wissen, die sich gerade wieder fing.

„Übertrieben vielleicht, aber auch äußerst effizient.“, schmunzelte Leonardo.

„Ich habe in der Aufregung meinen Korb fallen lassen.“, bemerkte sie mürrisch, als sie bereits suchend ihren Blick umher wandte.

„Ich helfe euch tragen bis wir den Korb wiederfinden. Einen leeren Korb wird ja wohl wahrlich keiner stehlen. Buon giorno im Übrigen, Senorina.“, bemerkte Leonardo verschmitzt.

„Buon giorno, Leonardo. Ich bin wirklich froh euch getroffen zu haben und bene grazie für eure schnelle Hilfe.“, entkam es Adrianna, auf deren Züge endlich ein feines Lächeln abzulesen war. Sie war wirklich froh, dass Leonardo in die Situation eingegriffen hatte. Vielleicht hätte sie den Dieb sogar selbst aufgreifen können, doch was dann? Alleine mit einem Lump in einer dunklen Seitengasse nur wegen einem Beutel Florin schien nicht die beste Idee gewesen zu sein, die ihr durch den Kopf geschossen war.

„Prego, Bella Donna. Oh, da ich euch gerade treffe! Ich wollte euch etwas zeigen.“, entkam es ihm gehetzt, als er schon seinen Leinensack von der Schulter hievte und ihn unsanft auf dem Boden aufkommen ließ. Der Inhalt klimperte dabei gefährlich. Neugierig trat Adrianna näher an ihn heran, ohne die Öffnung dabei aus den Augen zu lassen, als der Künstler einen riesenhaften Zeichenblock hervor zog. Auf der ersten Seite schien es, als habe er eine Bauanleitung für ein seltsames Objekt aufgemalt. Schnell blätterte er um und durchsuchte den Inhalt, bis er fündig wurde.

„Es sind bis jetzt nur eure Augen und der Umriss des Gesichtes, aber man erkennt es vielleicht.“, begann er zu erklären, als er es Adrianna so nah vor die Nase hielt, dass sie kaum etwas erkennen konnte. Sie nahm ihm kurzerhand sein Heiligtum aus den Fingern und betrachtete es in nötigem Abstand. Tatsächlich kam das Bildnis ihr selbst schon recht nahe und sie bewunderte die Genauigkeit, die Leonardo an den Tag gelegt hatte, dabei waren sie sich nur einmal flüchtig auf der Straße begegnet.

„Wartet nur, bis es fertig ist. Das kann allerdings noch einige Zeit dauern. Ich habe so viel zu tun, dass ich gar nicht dazu komme meine Bilder fertig zu stellen. Ganz zu dem Leidwesen meines Lehrers.“, belächelte er entschuldigend.

„Lasst euch die Zeit, die ihr braucht, Leonardo. Das Bild ist schon jetzt wunderschön.“, lobte das Mädchen die Arbeit seines Gegenübers. Verlegen strich er seinen Hut wieder in die richtige Position, als er den Notizblock wieder an sich nahm.

„Allerdings braucht jedes Portrait einen Namen. Ich würde es nur ungern 'Bella Donna Firenze' nennen.“, merkte er an, als er seine Linien noch einmal studierte. Kurzerhand griff er erneut in seinen Sack und fischte nach einer Feder und einem kleinen Tintenfass, das mit einem Korken versiegelt war.

„Gebt ihm selbst einen Namen.“, forderte er. Adrianna stand etwas hilflos vor dem unfertigen Bildnis, die Feder hatte sie in die Hand gedrückt bekommen und ein unwohles Gefühl durchzog ihre Magengegend. Zwar konnte sie mittlerweile Schreiben und Lesen, aber das mehr schlecht, als Recht. Das Einzige, was sie sich bis zum Umfallen eingeprägt hatte, war ihr eigener Name. Sie biss sich unentschlossen auf die Unterlippe, ehe sie die Feder in das Fass tauchte und die Spitze auf dem Blatt Papier ansetzte.

„La ombra principessa.“, las der Maler vor und zeigte ein breites Lächeln.

„Sehr kreativ, Schattenprinzessin. Ihr lest wohl gerade das alte Märchenbuch der Schattenprinzessin?“, wollte er wissen, was Adrianna mit einem Nicken bestätigte.

„Ihr habt eine sehr saubere und feine Handschrift. Sicherlich könntet ihr auch gut mit einem Pinsel umgehen. Falls ihr mal Zeit habt, dann versuche ich euch etwas beizubringen.“, gab er noch von sich, ehe seine Aufmerksamkeit auf einen Stand fiel, der Antipasti an die Menschen verkaufte. Eilig durchquerte er die Ansammlung an Menschen und neigte sich über den Stand, nur um dem Verkäufer zu bedeuten, welche Leckereien er soeben erspäht hatte. Nachdem er gezahlt hatte und hingegen seine Ware in den Händen hielt schloss er wieder zu Adrianna auf. Beiläufig legte er ihr eines seiner Errungenschaften in die Hand, zeitgleich ergriff er ihren Oberarm und zog sie mit sich.

„Seht euch nur diese Grazie der Kathedrale Santa Maria del Fiore an. Wie sie über uns allen steht und mit ihrem arroganten Blick auf uns herab blickt. Ich mag diese Art der Architektur.“, schwärmte er. Adrianna schmunzelte leicht, als sie ihn von unten herauf ansah. In seinen Augen sah man stets neue Ideen aufkeimen und das Feuer der Leidenschaft lodern. Auch wenn sie ihn noch nicht lange kannte, so bewunderte sie diesen jungen Mann sehr. Vielleicht würde es nicht schaden, wenn sie sich von ihm etwas beibringen ließe.

„Leonardo?“, holte sie ihn aus seinem Tagtraum, als er seine Aufmerksamkeit wieder auf sich richtete. „Ich muss noch eine Einkäufe erledigen und dann nach Hause.“, gab sie zu. Er nickte verständlich und bedeutete mit der Hand, dass sie vorgehen soll.
 

„Seht ihr. Ich sagte euch bereits, dass niemand einen leeren Weidenkorb stehlen würde.“, bemerkte Leonardo selbstsicher, als er auf das gute Stück zuschritt und kurzerhand seine voll beladenen Arme von der Last befreite, indem er die gesamten Einkäufe in den Korb fallen ließ. Adrianna schmunzelte freudig, als sie es ihm nach tat und daraufhin ihren Korb an sich nahm.

„Sagt mal, interessiert ihr euch für Sterne?“, wollte er unverhofft wissen. Seinen Blick hatte er zum hellblauen Nachmittagshimmel gewandt, während er grübelnd die Stirn verzog.

„Sterne?“, hinterfragte das Mädchen verwirrt, die seinem Gedankengang nicht ganz folgen konnte. Gerade eben hatte der junge Mann noch von menschlichen Strukturen und Anatomie geredet. Davor war es die Mechanik, die das Leben der Menschen um ein vielfaches erleichtern konnte. Er schien tatsächlich ein umfangreiches Wissen über die Welt zu haben. Je mehr er von seinen Interessen und Wünschen erzählte, je mehr er von seinen Plänen und seinen Zukunftsträumen preis gab, desto gespannter hing ihm Adrianna an den Lippen. Sie wollte auch die Möglichkeit haben all das zu lernen. Sie interessierte sich sehr für Musik und Malerei, wusste jedoch, dass sie erst den langen Weg des Lesens und Schreibens gehen musste. Jedoch hatte sie sich heimlich ihren vermeintlichen Lehrmeister bereits gewählt.

„Die Sterne, si. Kennt ihr die Bedeutung, die man den Sternenbildern zuschreibt?“, wollte er wissen.

„Ich kenne sie nicht, nein.“, gab Adrianna zu. Sie hatte sehr schnell gemerkt, dass sie mit seinem Wissen nicht mithalten konnte, aber sie akzeptierte es.

„Bei Zeiten müsst ihr sie nachlesen. Astrologie ist ein sehr interessantes Thema. Es würde euch sicherlich gefallen.“, gab er mit einem Lächeln zu verstehen. Adrianna nickte artig, ehe ihr Blick auf die Turmuhr fiel. Zwei Stunden lang waren die Beiden über den Markt flaniert, hatten sich über tausend Dinge unterhalten. Sicherlich würde sich Maria bereits wieder Sorgen um das Mädchen machen, weswegen sie beschloss nun endgültig den Heimweg anzutreten.

„Vielen Dank für eure Hilfe, Leonardo. Ich muss nach Hause.“, sagte sie mit leicht wehmütigem Unterton in der Stimme.

„Achtet auf Halunken, die euren Weg kreuzen und denkt über meine Diebsicherung nach. Einen schönen Abend, Senorina.“, schmunzelte er, während er bereits die rechte Hand zum letzten Gruß erhob und sich in gegen gesetzte Richtung davon machte.

Zeitgleich in Venice:
 

Tag. Nacht. Sommer. Winter. Nichts hatte mehr eine Bedeutung. Nichts drang zu ihm hindurch, nur der unerbittliche Schmerz, der durch seine Glieder jagte, ihn nicht einen Moment zur Ruhe kommen ließ. Wie lange er schon der Folter widerstand konnte er nicht sagen, jedoch spürte er, wie es ihn langsam zerfraß. Seine Gedanken waren stumm, wie noch nie zuvor. Alles war in weite Ferne gerückt. Das Einzige, was ihn noch am Leben hielt war die Treue zur Bruderschaft. Die vielen Freunde und bekannten Gesichter, die er über die Jahre hinweg kennen lernen durfte. Maria, sein guter Engel und Adrianna, auf deren Spuren er gewandelt war, bis sie ihn ins Verderben gelockt hatten. Kälte schmiegte sich um seinen Leib, als wollte sie ihn verführen, doch er gab nicht nach. Seine steifen Glieder würden zittern, wären ihnen nicht jegliche Bewegung durch dicke Eisenketten, die seinen Körper an den Holztisch hielten, verwehrt. Seine geschundenen Lider würden träge zusammenklappen, wären sie nicht von den vielen Schlägen ohnehin schon angeschwollen. Morgen, so hatte er aus einem Gespräch der stationierten Wachen erfahren, war der Tag seiner Hinrichtung. Wie lange ihm noch blieb, konnte er nicht bestimmen. In einem unterirdischen Kerkerloch fristete er sein Dasein, bis ihn der Tod endlich erlösen würde. Sie hatten ungewohnt lange versuchte ihm wichtige Informationen zu entlocken, umso erwarteter kam seine Hinrichtung.

Er hörte das scharrende Geräusch von nähernden Schritten, ehe die massive Kerkertür aufgeschlagen wurde. Zwei Personen traten an den Foltertisch heran, an dem er noch immer, wie ein angekettetes Tier verharrte, unfähig sich zu befreien.

„Bastardo. Heute bekommst du, was du verdienst, elende Ratte.“, knurrte der Erste spitz, als sich bereits die Enge um seine Knochen löste. Ein schmerzliches Keuchen entwich seinen Lippen, als er unsanft auf den Boden gerollt wurde und hart auf dem unebenen Steinboden aufkam. Seine Atme gehorchten ihm nicht einmal genug, um den Sturz abfedern zu können. Sämtliche Kraft war aus ihm gewichen.

„Steh gefälligst auf.“, fauchte der Zweite und trat dem am Boden Liegenden noch einmal in die Rippen. Stöhnend rollte Antonio auf den Rücken und wandte sich unter der Pein.

„Nun spukst du nicht mehr so große Töne, was? Ist dir das Großmaul im Hals stecken geblieben?“, höhnte der Erste, der Antonio kurzerhand am Kragen auf die Beine zog. Der Santavenere spürte, wie seine Knie nachgaben und ehe er sich versah lag er wieder zusammengesunken auf dem Boden.

„Sag mir nicht, wir müssen diesen Abschaum hinaus tragen, damit er ordentlich am Strick baumeln kann?“, beschwerte sich der Zweite.

„Ich habe da eine viel bessere Idee.“, bemerkte Erster wieder. Antonio spürte, wie ihm eine enge Schlaufe um die Beine gewickelt wurde, ehe man daran zog und ihn quer über den Boden hinterher schleifte. Jeder Stein, jede Erhebung bohrte sich in sein Rückenfleisch, das durch die Reibung bereits offen lag. Die Luft entwich hektisch seiner geschändeten Lunge, nicht dazu in der Lage sich zu einem Schrei zu formen.

Er vernahm die Stimmen verschiedenster Menschen, als kalte Luft ihm entgegen schlug. Es wirkte, als kämen sie von weiter Ferne, doch er wusste, dass er soeben an dem Schauplatz seiner Hinrichtung angekommen war. Die letzten Meter wurde er, wie ein Stück Fleisch auf dem Verkaufsstand geworfen, als er die raue Struktur von Holz unter sich wahrnahm. Schemenhaft konnte er eine Gestalt erkennen, die sich neben ihm zu voller Größe aufplusterte. Er brauchte lange, bis sein Kopf ihm signalisierte, dass es sich dabei vermutlich um den Richter handeln musste, der für ihn das letzte Gericht sprach. Antonio schloss die Augen und sog die frische Luft in seine Lunge. Er blendete die Stimmen komplett aus. Sie hatten nichts, als Lügen zu erzählen. Sie kannten ihn nicht. Sie kannten seine Motive und seine Einstellung nicht. Woher auch? Er war in ihren Augen ein einfacher Mörder und Dieb. Das sollte ihm nur Recht sein, solange niemanden, den er liebte dabei zu Schaden kam. Der Schmerz durchzuckte ihn erneut, als er unsanft unter den Armen hochgehoben wurde und sich das feste Material des Hanfstrickes um seinen Hals schloss. Er hatte nicht einmal die Kraft sich auf dem Podest zu halten, das ihm noch wenige Sekunden leben schenkten, stattdessen raubte es ihm bereits jetzt den Sauerstoff. Sein Körper versuchte hechelnd sich gegen das Unvermeidliche zu wehren, doch sein Kopf hatte sich bereits damit abgefunden. Dies war der Tag an dem er sterben würde. Für die Bruderschaft, für die Freiheit der Menschen und für seine Familie.

Ein heftiger Ruck riss ihn rücklings von der Tribüne, als sich zeitgleich seine Lunge wieder mit ausreichend Luft füllte und ihn schmerzlich husten ließ.

„Stai tranquillo, frate. (Sei unbesorgt, Bruder)“, drang eine Stimme zu ihm hervor. Noch immer konnte er sich nicht bemerkbar machen, außer durch ein paar unkontrollierte Zuckungen.

„Ich versprach deiner Nichte, dass ich dich zurück nach Hause bringen werde.“, fügte der Retter hinzu. Das Bildnis des kleinen Mädchens erschien vor Antonios innerem Augen. Wie sie ihm mit wachsamen Blick musterte, als er seine Assassinenkluft anlegte. So, als wisse sie, dass er sich in Gefahr begeben würde. Die Illusion verblasste jedoch, als er hochgehoben und mit Schwung auf einen warmen Gegenstand gelegt wurde. Anhand der Schaukelbewegungen erschloss der Assassine, dass es dich dabei um ein Pferd handeln musste. Er nahm noch ein paar Klingengeräusche wahr, das aufgeregte Hufgetrappel des Pferdes, ehe sein Verstand in ein tiefes schwarzes Loch fiel.
 

„...mein Weg führt mich nach Roma. Der Brief kann dort vielleicht entschlüsselt werden.“, drang eine Stimme an Antonios Ohren. Er kannte sie, konnte es jedoch nicht zuordnen. Sein Körper war in weichen Laken gebettet, ein enger Verband schmiegte sich, wie eine zweite Haut an seinen Leib, als er vorsichtig die Augen öffnete und an die blanke weiße Zimmerdecke blickte. Er brauchte einen Moment, ehe er sich die vergangenen Geschehnisse wieder ins Gedächtnis rufen konnte.

„Grazie, Madonna mio, io potere oggi esistere. (Danke Madonna, dass ich heute noch leben darf.)“, kam es kratzig von seinen aufgesprungenen Lippen. Damit weckte er die Aufmerksamkeit der beiden Personen, die mit ihm im gleichen Raum waren.

„Antonio!“, rief sofort die Erste. Das vertraute Gesicht des älteren Auditore Mario kam in sein Sichtfeld, als er sich ein schwaches Lächeln abrang.

„Buon mattino. (Guten Morgen.)“, ließ der Santavenere verlauten, was ihm einen sorgenvollen und gleichzeitig skeptischen Blick einbrachte.

„Hätten wir gewusst, dass deine Hinrichtung so lange auf sich warten lässt, dann hätten wir viel früher versucht dich aus dem Loch zu befreien.“, versuchte Mario sich zu entschuldigen, was der Santavenere mit leichtem Kopfschütteln unterbrach.

„Das Gefängnis war gut bewacht. Es gab kein Hineinkommen, ohne dabei Gefahr zu laufen von den Wachen gesehen zu werden.“, mischte sich nun auch die zweite Person in die Unterredung mit ein. Es war kein Geringerer, als Giovanni Auditore. Antonio streifte das Laken von seinem Körper und versuchte sich angestrengt aufzurichten, was ihm aber erst gelang, als Giovanni ihm helfend die Hand reichte.

„Was ist geschehen?“, wollte der Santavenere wissen.

„Du solltest dich besser noch etwas ausruhen.“, mahnte Mario.

„Unsinn. Ich habe lange genug untätig herum gelegen.“, knurrte Antonio, wie eh und je.

„Uberto Alberti konnte den Brief nicht entschlüsseln. Der Duca Di Milano ist der Verschwörung zum Opfer gefallen. Ich bin auf dem Weg nach Roma, um den Brief zu überliefern und so vielleicht etwas über die Pläne der Templer herauszufinden.“, gestand Giovanni schlicht. Daraufhin erhob sich Antonio aus seinem Schlafplatz und versuchte die Schultern zu straffen. Noch immer zuckte der Schmerz durch seine Glieder, doch er ließ sich davon nichts anmerken. Früh hatte er in der Assassinenlehre beigebracht bekommen, Herr über seinen Körper zu sein, Leid zu ertragen und Schmerzen zu verdrängen. Mario öffnete gerade den Mund zum Protest, als ihm der Santavenere zuvor kam.

„Ich begleite Giovanni nach Roma. Es ist sicherer, wenn jemand die Übergabe überwacht, außerdem habe ich einige private Angelegenheiten zu erledigen.“

„So blass, wie du gerade um die Nase bist, bezweifle ich, dass du den Ritt nach Roma überstehst.“, gestand Giovanni murrend.

„Außerdem sind deine Verletzungen noch lange nicht verheilt.“, bekräftigte Mario.

„Wir verlieren wichtige Zeit. Wenn ihr mich aufhalten wollt, dann tut es jetzt. Mein Entschluss steht fest.“, knurrte Antonio, als er behände nach seiner lädierten Robe griff und sie sich überstreifte. Derzeit tauschten die Brüder sorgenvolle Blicke untereinander aus, aber sie wussten, wenn Antonio sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann war er auch nicht davon abzuhalten.

„Eines Tages schaufelst du dir damit dein eigenes Grab.“, beschwerte sich Mario.

„Ich stand bereits mehrfach mit einem Fuß in selbigem.“, bemerkte Antonio trocken.

„Lass mir zumindest eine Nachricht für deine Familie hier. Maria macht sich schreckliche Sorgen.“, forderte der ältere Auditore.

„Wie geht es ihr? Und Adrianna?“, wollte Antonio sofort wissen.

„Adrianna kümmert sich um den Haushalt und die Einkäufe, während Maria mit einer Erkältung zu kämpfen hat. Ich besuchte sie vor wenigen Tagen, um ihr von deiner Gefangenschaft zu erzählen.“, erklärte sich Mario. Daraufhin seufzte Antonio gequält, ehe er das Blatt Papier und die Feder, die ihm Giovanni bereits erwartend entgegen streckte, entgegen nahm und sich am Tisch auf einen Stuhl sinken ließ.

Maria, mio bene.

Als ich sie fand, brachte ich wieder Leben in das trostlose Haus. Mit diesem Leben brachte ich jedoch auch ein Geheimnis mit mir, welches vielleicht besser verborgen geblieben wäre.

Maria, mein Geist ist rastlos. Ich jagte den Hinweisen hinterher, wie ein räudiger Hund und das war mein Verderben.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, was ihr erleiden musstet, seit ich fort bin, aber versteht, dass ich nicht früher ruhen kann, bis ich die Wahrheit gefunden habe.

Meine Gefangenschaft hat ein Ende. Mein Weg führt mich nach Roma. Dort werde ich vielleicht verstehen.

Mia Maria,

dein A. S.

Er legte die Feder beiseite und begann den Brief ordentlich in der Mitte zu falten, als Mario bereits an seine Seite trat.

„Ich werde ihn persönlich überbringen.“, meinte er schlicht. Antonio nickte verstehend und überreichte das Papier an seinen Freund, ehe er sich vom Tisch erhob und abwartend seinen Blick zu Giovanni gleiten ließ.

„Dann lass uns aufbrechen. Wir sollten die Nacht nutzen, um unbemerkt voran zu kommen.“, gab dieser von sich.

„Boun furtuna. (Viel Glück)“, rief ihnen Mario hinterher.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Mewphisto
2014-08-28T23:04:30+00:00 29.08.2014 01:04
Mir gefällt dein Schreibstil :)
Antwort von:  LynethNightmare
29.08.2014 01:16
Vielen Dank :)
Von:  FalonDin
2014-08-23T21:28:24+00:00 23.08.2014 23:28
Ich hab es gelesen.
Für einen Prolog echt toll geworden. Schön kurz und vor allem schwammig gehalten. Man erfährt nichts und doch so viel, dass man einfach nur weiterlesen will.
Mach ganz schnell weiter. Meie Interesse ist geweckt :)
Antwort von:  LynethNightmare
24.08.2014 00:16
Vielen Dank für deine positive Review.
Freut mich sehr, dass dir meine Einleitung zusagt :)
Das nächste Kapitel ist bereits up, wartet nur noch auf Freischaltung.

LG Lyn


Zurück