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Machina Mundi

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich habe keine Entschuldigung dafür, warum ich hier erst nach neun Jahren weiterschreibe... D: Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Titel-Ursprung: Armand Amar "La Terre vue du ciel" Komplett anzeigen

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1. Satz : Interferenz

7. Dezember, UC 0075
 

Side 3, Guardian Banchi, Zeon Militärakademie
 

Er hatte aufgehört zu rauchen. Was ein erster, winziger Erfolg war. Jetzt musste der Monitor nur wieder ordentlich funktionieren. Ohne dieses nervöse Flackern, das einem im herrschenden Halbdunkel bei zu genauem Hinschauen nach zehn Sekunden in den Augen schmerzte.
 

In der Luft hing noch immer der beißende Geruch nach dem verschmorten Kabel, das die Elektrik des Zakus nahezu völlig zum Erliegen gebracht hatte. Jetzt wusste er zumindest, wie man die Verkleidung des Steuerpults auch ohne angemessenes Werkzeug öffnen konnte – was er als zweiten, wenn auch bitteren Erfolg des Tages verbuchte.
 

Char unterdrückte den Hustenreiz, der sich in seiner Kehle gerade wieder am Aufbauen war. So gut es ging schloss er die schmale verbeulte Platte unter dem Kommandopult und wischte mit der Hand das letzte bisschen Rauch aus der Luft.
 

Heute war wohl sein Glückstag, dachte er zerknirscht. Erst der gelöschte Kabelbrand und dann noch sein Gegenüber, der, wie es aussah, wohl auch noch Schwierigkeiten hatte, seinen Suit in Gang zu bringen. Char musste ihm nur zuvorkommen, dann wäre der Tag wenigstens für etwas zu gebrauchen gewesen.
 

Der Zaku schien zu wissen, dass es jetzt auf ihn ankam, denn er setzte sich endlich wieder in Bewegung. Es knirschte tief im Inneren des metallenen Riesen, als fiele ihm jede einzelne Regung schwer. Als wäre er ein Greis, kam es Char in den Sinn. Was er genaugenommen auch war. Ein alter, ausgemusterter und verrosteter Maschinengreis mit leckenden Schläuchen, aus denen was wusste er was für Flüssigkeiten tropften. Sie hinterließen jedenfalls dort, wo sie auftrafen, Stellen, an denen das Metall Blasen bildete. Und von diesen Stellen gab es bereits einige.
 

Eine winzige Bewegung auf dem Display vor sich, fing Chars Aufmerksamkeit ein.
 

"Zu früh gefreut, Feigling", kommentierte er den Punkt, der sich ihm langsam in einem weiten, vorsichtigen Bogen näherte, bis er nur noch wenige Schritte von Char entfernt war. Nahe genug, damit er ihm zeigen konnte, was man mit Feiglingen tat, die sich anschlichen. Chars Mundwinkel wollten sich gerade zu einem triumphierenden Lächeln heben, als das Display erneut erlosch und bis auf das kleine Fenster in der Mitte, das eine Fehlermeldung anzeigte, von der Char im Leben noch nichts gehört hatte, alles, was zur Steuerung beitrug, ausgeblendet wurde.

Die Hydraulik seufzte erschöpft und der Zaku sank in eine spontan selbstgewählte Ruhestellung.
 

"Verfluchter Dreck!" Chars Faust hämmerte unwirsch auf das Kommandopult. Jetzt erlosch auch die Fehlermeldung und stattdessen erklang ein Warnton, begleitet von einem blassblauen Licht, das einzig den Notausgang schwach beleuchtete.
 

Char stieß einen Fluch zwischen den Zähnen hervor und tastete nahezu orientierungslos mit der Hand nach der verbeulten Platte unter dem Pult. Warum leuchtete dieses verdammte Licht über der verriegelten Tür, statt vor ihm über dem Steuerpult, wo er vielleicht noch etwas ändern konnte? Was wollte man ihm damit etwa zu verstehen geben, dass es außer Flucht keinen Ausweg mehr gab? Char lachte heiser.

Die Verkleidung unter dem Steuerpult gab endlich nach und fiel polternd zu Boden. Beherzt griff er nach dem Kabel, das ihm als erstes zwischen die Finger kam, und hoffte, dass es genügte, wenn er es etwas hin und her bog. Zu mehr reichte das Licht über dem Notausgang nicht aus.

Er und flüchten? Da kannte man ihn aber schlecht.
 

"Na-", warte hatte Char gerade sagen wollen, als auch das Licht über dem Ausgang den Geist aufgab und gleichzeitig der Warnton immer leiser wurde, bis er endgültig verstummte.

Falsches Kabel...
 

Einen Moment lang herrschte atemlose Stille in dem Zaku. Der andere Suit konnte nicht weit weg sein. Wahrscheinlich waren ihm die Probleme, die Char mit seinem Zaku hatte, nicht entgangen und er wartete nur auf den richtigen Moment, um zuzuschlagen. Außer, der andere war ein völliger Idiot – was er, wie Char wusste, nicht war.
 

Ohne etwas sehen oder tun zu können, wartete Char mit angehaltenem Atem auf den ersten Schlag, der seinen stillgelegten Zaku gleich treffen musste. Seine Hände gruben sich so fest es ging in die Armlehnen seines Sitzes und er spürte wie sich die Härchen auf seinen Unterarmen kribbelnd aufrichteten.

 

Ein dumpfes Hämmern, das zuerst weit weg klang, sich aber stetig näherte, erfüllte Chars Zaku. Es pochte immer heftiger, so dass die Erschütterungen schon bald überall zu spüren waren. Der andere Zaku musste rennen. Aber weshalb? So weit war er doch gar nicht entfernt gewesen.

Das hektische Dröhnen pulsierte und vibrierte jetzt unerträglich in seinem Kopf, als wäre dort eine Glocke angeschlagen worden, und Char verstand, woher es kam. Es war sein eigener rasender Herzschlag, der in seinem ganzen Körper tönte.

Char atmete einmal tief aus und dann so bedächtig wie möglich wieder ein. Er merkte, wie sich sein hektischer Puls langsam wieder beruhigte. Im Simulator war das alles einfacher gewesen...

 

Nachdem das Dröhnen seines Herzschlags wieder abgeflaut war, fiel auch die Anspannung von Char ab. Einen Moment lang dachte er darüber nach, den letzten Ratschlag seines Zakus zu befolgen und den Notausgang zu benutzen. Aber noch bevor er diesen Gedanken in die Tat umsetzen konnte, erwachte sein Zaku wieder. Nach und nach kehrte das Leben zurück, angefangen bei dem blassblauen Lämpchen über der Tür, bis hin zu den mechanischen Teilen, die sich ächzend und mit unbeholfen schaukelnden Bewegungen streckten, bis der Zaku endlich stand.
 

Char lachte erleichtert auf. Dieses Duell war noch nicht entschieden!
 

Der Frontmonitor flackerte auf und aus den verzerrten Linien, die darüber krochen, blickte ihn ein einzelnes rotes Licht an. Das rotglühende Auge seines Gegenübers fixierte Char, der innerhalb weniger schockierter Sekundenbruchteile reagierte. Er riss die Steuerung so ruckartig herum, dass der Zaku, der gerade erst wieder mühsam stand, auf dem glatten Untergrund ins Rutschen kam. Die riesige Hand des Zakus griff nach der einzigen Handfeuerwaffe, die er besaß – und griff ins Leere.

Ein heftiger Schlag erschütterte den Zaku, der zur Seite weg kippte.
 

Noch ehe Char den Fluch ausstoßen konnte, der ihm auf der Zunge brannte, wurde er in seinem Sitz nach vorne geschleudert und in die Gurte gepresst. Prompt gab einer der Gurte nach, die ihn eigentlich sicher an seinem Platz halten sollten, und Char rutschte vorwärts aus seinem Sitz.

Die Wucht, mit der sein Oberkörper auf dem Kommandopult auftraf, presste ihm den letzten Rest Luft aus den Lungen. Sein Kopf schlug so fest gegen die Konsole, dass das Visier seines Helmes zwar splitterte, aber nicht völlig zerbrach. Char spürte, wie die Haut auf seiner linken Wange unter dem Druck des Visiers nachgab und aufplatzte.
 

Höhnisches Gelächter drang aus Chars Kopfhörern. Es floss durch seinen Gehörgang in seinen Kopf, wo sich die Benommenheit des erlittenen Schlages augenblicklich in Wut auflöste.
 

Sich mit einer Hand auf dem Kommandopult abstützend setzte sich Char auf. Vorsichtig und ohne in dem schief stehenden Zaku wieder nach vorne zu rutschen, tastete er nach dem gelockerten Gurt und zurrte ihn mit kräftigem Ruck fest, bis er sicher war, nicht noch weiter aus dem Sitz zu rutschen. Blut kitzelte auf seiner Wange auf der Seite, die durch das rissige Visier ohnehin schon beeinträchtigt war.

"Das hast du nicht umsonst getan", murmelte Char, während das Lachen, vermischt mit statischem Rauschen, noch immer aus den Kopfhörern schallte.
 

"Das klären wir draußen!", spie Char giftig in sein Mikrofon.
 

"Schon wieder?", kam die gelangweilte Antwort zurück. "Gib mir fünf Minuten. Ich möchte noch ein bisschen meinen Triumph genießen."
 

"Zabi, du Hundesohn! Ich hole dich persönlich aus deinem Suit raus und dann-"
 

Der Rest von Chars Gezanke ging im Rauschen seines defekten Comms unter. Nur abgehackte Wortfetzen drangen zu Garma durch, der unbehelligt in seinem Suit saß und sich Char bildlich vorstellte, wie er in seinem Zaku tobte.
 

"-tre... ich... dir... in... dei... rsch!"
 

Garma lachte lauthals.
 


 

Leichtfüßig eilte Garma die Metallstufen der Gangway hinunter, die vor der geöffneten Tür des Zakus stand, mit dem er dem unbesiegbaren Char eben jenen Titel weggenommen hatte, wie einem kleinen Kind den Lolli. Jeder seiner Schritte hallte in dem riesigen Hangar wider, wie Applaus, der ihm für dieses Manöver auch zustand, wie er fand.

Die drei letzten Stufen sprang Garma mit einem Satz hinunter und sah dann abwartend zu Char hinauf, der mit bedächtigeren Schritten seine Gangway hinab stieg.
 

Garmas Schlag hatte ihn ganz schön hart getroffen, musste sich Char säuerlich eingestehen. Sein gesamter Brustkorb schmerzte mit jeder Bewegung, als wäre der Zaku auf ihn gefallen. Char lockerte den Kinngurt seines Helmes. Er konnte es gar nicht abwarten, Garmas erste Worte nach seinem kolossalen Erfolg zu hören, und wäre am liebsten gleich in ihre Unterkünfte zurückgegangen.
 

"Du hast mich ja hoffentlich nicht absichtlich gewinnen lassen?", sagte Garma stattdessen.
 

Char biss die Zähne aufeinander. "Hast du das denn nötig?", zischte er.
 

"Anscheinend ja nicht", witzelte Garma. Seine Augen strahlten wie bei einem Kind, dem sein größter Wunsch erfüllt worden war. "Und was gibt es jetzt noch zu klären?"
 

Die bissige Antwort darauf sparte sich Char. Er nahm den Helm ab und hielt ihn einige Sekunden wie Perseus den abgeschlagenen Kopf der Medusa am ausgestreckten Arm vor sich und ließ ihn dann mit einem Hauch Verachtung auf den Lippen fallen, wo er gerade stand.

Das geschundene und mit Rissen durchzogene Visier zerschellte nun in unzählige Einzelteile, die sich wie ein Sternenschauer um Chars Schuhe herum verteilten. Mit Genugtuung sah Char wie Garma einen Moment irritiert in seinem Freudentaumel innehielt und Chars Gesicht anstarrte.
 

Als er die Wunde auf Chars Wange sah, schwand Garmas Freude über seinen Sieg augenblicklich. Eine etliche Zentimeter lange Platzwunde zog sich über Chars Wangenknochen. Blut quoll aus ihr hervor und floss in einem dünnen Rinnsal sein Gesicht hinab.
 

Kommentarlos ging Char an Garma vorbei und ließ diesen alleine im Hangar zurück.
 

"Tut mir leid", rief Garma betroffen, als er seine Sprache wiedergefunden hatte, doch Char war schon längst durch das große Tor des Hangars nach draußen verschwunden.
 

Garma setzte sich in Bewegung.
 

"Das war keine Absicht", beteuerte Garma. Er hatte zu Char aufgeschlossen, der festen Schrittes durch den knöchelhohen Schnee stapfte, der das gesamte Vorfeld bedeckte. "Ich dachte, das mit dem deaktivierten Zaku wäre nur Taktik gewesen..."
 

Char drehte sich blitzschnell zu Garma um, der hinter ihm ging und abrupt stehen blieb. In Chars Augen, die sein Gegenüber unbeteiligt angesehen hatten – weil er ihm nicht auch noch den Triumph über seine Emotionen gönnte -, loderte nun doch eine wütende Flamme auf.
 

"Was soll das, Zabi?", knurrte Char heiser. Er musste sich zusammenreißen, denn am liebsten hätte er Garma, der mit geröteten Wangen vor ihm stand, angeschrien. "Du entschuldigst dich dafür, dass du gewonnen hast?" Die letzten paar Worte spuckte Char mit größtmöglichem Widerwillen förmlich aus.
 

Garma blinzelte schockiert. Sein Mund wurde zu einer dünnen Linie. Dann wandte er die Blicke ab. "Ich entschuldige mich nur dafür, wie ich gewonnen habe. Freunde tun-"
 

Weiter kam Garma nicht, da traf ihn auch schon Chars Faust mit Wucht im Gesicht und ließ winzige Blitze vor seinen Augen tanzen. Der Schlag war so heftig, dass es Garma von den Beinen riss.
 

"Wir sind also Freunde", hörte er Char noch sagen, während am Himmel über ihm dicke graue Wolken aufzogen. "Du schlägst mich und ich schlage dich. Sind wir dann deiner Auffassung nach jetzt quit?"

Chars Silhouette schob sich zwischen den verdunkelnden Himmel und Garma, der still und etwas orientierungslos vor ihm auf dem Boden im Schnee lag und fassungslos die Stelle seines Mundwinkels befühlte, wo ihn Chars Faust getroffen hatte.

"Bleibst du jetzt etwa liegen und wartest darauf, dass ich mich entschuldige, wie das Freunde scheinbar tun?"
 

Garma schwieg. Er spürte, wie das Fleisch um seinen rechten Mundwinkel herum anschwoll und sich ein taubes Gefühl auszubreiten begann. Vorsichtig tastete seine Zungenspitze nach Blut.
 

"Ich kann dir sagen, was Freunde tun", belehrte Char Garma mit vor Spott triefender Stimme.
 

"Ach, und was?", fragte Garma schließlich brüchig. Jedes Wort ließ die getroffene Stelle schmerzen. "Schlagen Freunde Freunde nicht, oder entschuldigen sie sich nicht bei ihnen, wenn sie es doch getan haben?"
 

Garma klang bitter, wie Char mit Genugtuung bemerkte.
 

"Freunde verstehen es, wenn der andere gewinnt", antwortete Char. Er stand mit in die Seiten gestützten Händen vor Garma und sah gespannt zu, wie jedes seiner Worte traf. "Freunde entschuldigen sich nicht dafür, wenn sie mal stärker, schneller oder schlauer sind. Das nächste Mal bin ich einfach besser", endete Char und er klang so überzeugt, als wäre es eine bereits feststehende Tatsache, dass es so kam.
 

Langsam setzte sich Garma auf. Der Schnee unter ihm drang in seine Kleidung. Ein eisiger Schauer fuhr durch seinen Körper, den er nur mit Mühe unterdrücken konnte.

Char wich keinen Zentimeter. Er sah Garma herausfordernd in die Augen. Anscheinend hatte er noch ein paar seiner ätzenden Lektionen auf Lager, die er unbedingt noch loswerden wollte.

Garma wandte erneut die Blicke ab. Aber nicht nur die Blicke, wie Char fassungslos bemerkte. Wie ein geschlagener Hund drehte Garma seinen Oberkörper halb zur Seite.

 

"Wehe, du flennst jetzt, Zabi", setzte Char gerade zu einer weiteren Standpauke an, als ihn etwas im Gesicht traf.
 

Garma lachte schallend auf, während Char die Reste des Schneeballs, den Garma ihm übergeworfen hatte, auf Schulter und Brust rieselten.
 

Char schwieg überrumpelt. Er hatte Schnee im Mund, der langsam auf seiner Zunge und seinen Lippen schmolz, und er hatte Schnee im Jackenkragen, der eisig seinen Hals hinab kroch.
 

Währenddessen kniete Garma vor ihm und schob weiter hektisch den Schnee zu einem Haufen zusammen, den er, wie Char vermutete, zu noch einem an Char adressierten Schneeball formen wollte. Aber so weit würde er es gar nicht erst kommen lassen. Chars Hände ballten sich zu Fäusten. Er holte mit dem Fuß aus und trat zu.

2. Satz : Marge de manœuvre

 

 

 

Der Schneehaufen, den Garma gerade erst zusammengeschoben hatte, flog in weitem Bogen auseinander, als ihn Chars Fuß traf. Wie ein Meteoritenschauer regnete er auf Garma hinab, der von dem umherfliegenden Schnee unbeeindruckt bereits den nächsten Schneeball fertig hatte und Richtung Char warf. Nur knapp sauste der Schneeball über Chars Kopf hinweg. Char spürte den Luftzug auf seinem Gesicht, den die weiße Kugel im Vorbeiflug erzeugte, so fest warf Garma. Zum Glück war dieser daneben gegangen.

 

"Du legst es heute echt drauf an, was, Zabi?"

 

Und ob er es darauf anlegte! Garma grinste bloß und statt einer Antwort flog kurzerhand der nächste Schneeball. Dieses Mal traf er sogar.

 

Chars Blicke folgten den Schneeballresten, die mitten auf seiner Brust klebten.

 

"Das", Char holte einmal tief Luft und wollte langsam bis Drei zählen, ehe er weiter sprechen konnte. Er kam bis Zwei, als ihn der vierte Schneeball an der linken Schulter traf. "Das tut dir noch leid, Zabi...", presste Char zwischen den Zähnen hervor.

 

"Ich denke nicht", kam die gelassene Antwort. "Du willst ja nicht, dass man sich bei dir entschuldigt."

 

"Du wirst noch betteln, du elender-"

 

"5 : 0!", jubelte Garma und riss die Arme triumphierend in die Höhe, während sich Char die Stelle rieb, an der ihn der aktuellste Schneeball getroffen hatte. Rachepläne schmiedend, wie er Garma jeden einzelnen Schneeball zurückzahlen würde, stürmte Char auf Garma los, der auch schon den nächsten Schneeball fertig hatte. Allerdings zu spät. Im nächsten Moment lag Garma auch schon auf dem Rücken im Schnee. Char hatte ihn mit Leichtigkeit zu Fall gebracht. Jetzt stürzte er sich auf ihn und rieb ihm zwei Hände voll Schnee ins Gesicht.

 

"Los, winsel schon um Gnade, Ratte!" Eine weitere Ladung Schnee stürzte aus Chars Händen auf Garma hinab, der sich abwechselnd hustend und lachend unter Char wand, dessen Knie sich fest in Garmas Brustkorb bohrte und ihm kaum Handlungsspielraum gewährte.

 

"Das ist für die Niederlage mit dem Zaku!" Die Handvoll Schnee traf Garmas Gesicht, der allerdings immer noch nicht bereit war, klein beizugeben, obwohl die Kälte bereits auf seinen Wangen brannte. Seine Hände zerrten an Chars Jackenärmeln, was nicht viel nutzte, außer dass Char nun mit einer Hand Garmas Arme auf Abstand hielt und mit der anderen wahllos so viel Schnee wie möglich zusammen schob, wie es ihm mit seiner einzigen freien Hand möglich war.

 

Garma schloss die Augen, als die Schneeflut über ihm zusammenbrach.

 

"Und das ist dafür, dass du dich entschuldigt hast!"

 

Mit jeder Handvoll Schnee, die ihm Char mit Genugtuung ins Gesicht rieb, lernte Garma dazu. Char war vielleicht in der besseren Position, aber Garma besaß etwas weitaus Effektiveres: den Mut der Verzweifelten. Und Char wurde vor lauter Eifer unvorsichtig. Er ließ Garmas Hände los und schob wieder beidhändig allen Schnee zusammen, den er erreichen konnte.

 

Die dritte Ladung ging schon daneben und noch ehe Char den Grund für die vierte Ladung aussprechen konnte – "Das ist dafür, dass du mich nie ausreden lässt!" - schrie er heiser auf und stand innerhalb weniger Sekundenbruchteilen wieder auf seinen eigenen Füßen.

 

Heilfroh über die zurückgewonnene Freiheit, normal atmen zu können, lachte Garma lauthals über den unfreiwilligen Tanz, den Char gerade vor ihm aufführte.

 

Fluchend schüttelte sich Char den Schnee aus den Kleidern, den ihm Garma unter den Pullover geschoben hatte. Doch die eiskalten Klumpen rutschten nur noch tiefer in seine Kleidung hinein.

"Ich dreh dir deinen dürren Hals um, wenn ich dich kriege!", schrie Char hinter dem flüchtenden Garma her, der ein paar Schritte davongelaufen war und sich dann wieder zu ihm umdrehte, die Hände in die Taille stützte und Char herausfordernd ansah. "Brauchst du dafür erst den Zaku oder schaffst du es ohne?"

 

"Du Aas!", brüllte Char und stürzte sich auf Garma, der ihm geschickt auswich, während er selbst auf einer eisigen Stelle unter dem Schnee den Halt verlor.

 

"Genauso sah das eben auch aus", spielte Garma lachend auf Chars fehlgeschlagenes Manöver mit seinem Zaku an, als der Suit wegrutschte, noch ehe er seinen Gegner treffen konnte.

 

Char spürte, wie die Wut und Scham über den widerspenstigen Zaku und seine missglückte Taktik wieder in seinem Bauch zu rumoren begannen, doch dieses Mal fing er sich schneller.

"Schön, du hast gewonnen, Zabi."

 

Garma lächelte matt und erweiterte vorsorglich den Abstand zwischen ihnen beiden, um ein paar Schritte. "Als ob ich darauf reinfallen würde."

 

"Du doch nicht..." Chars breites Grinsen entblößte seine Zähne. Vorsichtig wie eine Katze setzte er sich in Bewegung und schlenderte möglichst gelassen auf Garma zu, in dem die Zweifel an Chars geänderter Strategie nagten.

'Wenn man dir nicht immer alles im Gesicht ablesen könnte, wärst du der perfekte Soldat', dachte Char an Garma adressiert, dessen Blicke zwischen Chars Händen, die er vor Garmas Blicken hinter seinem Rücken verborgen hielt, und dessen nun mildem Lächeln hin und her huschten.

Seine Hände waren leer und wenn Garma mal ein paar Sekunden nachdachte, wüsste er, dass Char überhaupt keine Zeit oder die Gelegenheit gehabt hatte, Schnee für einen Schneeball zu sammeln. Aber so war es natürlich unterhaltsamer. Für Char.

 

 

"Gehen wir zurück?" Chars Frage klang zittrig. Es war mittlerweile dunkel geworden und sie standen unter einer der Lampen, die den Vorplatz des Hangars mit ihren sterilen grellweißen Lichtern überfluteten.

"Ist das ein Friedensangebot?" Lachend strich sich Garma die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Seine Wangen waren eiskalt und kribbelten taub, aber das war ihm der Spaß gerade wert gewesen.

"Allerhöchstens Waffenruhe", knurrte Char heiser.

"Ist mir auch recht." Garma bückte sich und zog einen seiner steifgefrorenen Handschuhe aus dem Schnee, den er während ihres kleinen, völlig undisziplinierten Gefechts verloren hatte. Er klopfte den Schnee ab und blickte sich auf dem Vorplatz um.

Hoffentlich schneite es heute Nacht wieder. Wenn nicht, würde man sich morgen früh sicher über die ganzen Spuren im Schnee um den Hangar herum wundern. Garma grinste, als er an das Schlachtfeld dachte, das sie beide hier hinterließen. Ein Schlachtfeld aus Fußspuren, die sich in großen und kleinen sich kreuzenden Zirkeln durch den Schnee zogen, als wäre eine ganze Armee verwirrt im Kreis umher gewandert, ohne zu wissen, wohin sie mussten.

"Komm schon, Zabi, schlaf nicht ein." Ein Schlag gegen seine Schulter riss Garma aus den Gedanken.

 

Garma schlang beide Arme um seine Brust und rieb sich den unterkühlten Körper unter seiner völlig durchnässten Kleidung. Langsam, als würden sie gerade erst aus dem Tiefschlaf erwachen, wich die Kälte aus seinen Armen und ein unangenehmes Kribbeln trat an deren Stelle.

Müde trottete er neben Char in Richtung Haupthaus her.

 

Char hatte Schneeklumpen in den hellblonden Haaren, die in der Kälte zu eisigen Brocken gefroren waren. Seine Ohren waren nahezu nicht mehr existent. Jedenfalls spürte er sie nicht mehr. Dafür war die Wunde auf seiner Wange wieder aufgerissen und blutete, wie er an dem sachten Kitzeln merkte, das seine Wange hinab tänzelte. Ohne eine Miene zu verziehen, wischte er mit dem Handrücken den störenden Blutstropfen weg.

 

Garma zwang sich dazu, den Blick geradeaus zu halten. Er hatte sehr wohl Chars Handbewegung aus dem Augenwinkel heraus bemerkt, mit der er sich über die verletzte Wange gestrichen hatte, aber ein zweites Mal würde er nicht den Fehler machen, sich dafür zu entschuldigen, auch wenn es ihm fast den Hals zuschnürte.

 

 

Die langen tristen Flure des Wohnheims lagen wie ausgestorben vor ihnen. Die meisten Schüler der Zeon-Militärakademie waren bereits für die nahenden Feiertage zu ihren Familien aufgebrochen und würden vor Silvester auch nicht mehr hierher zurückkehren. Auf ihrer Etage waren Char und Garma der klägliche Rest übriggebliebener Schüler. Die drei anderen waren heute morgen abgereist.

 

Ihre nassen Schuhe quietschten auf dem auf Hochglanz polierten Linoleum. Die letzten Schneeklumpen lösten sich von ihren Sohlen und hinterließen bestens sichtbar zwei Spuren, die, wenn man ihnen folgte, direkt zu ihrer Unterkunft führen würden. Wäre noch jemand vom Lehrpersonal oder einer der älteren Schüler auf ihrem Stock, hätten sie dafür schon längst eine Rüge kassiert. Inklusive Wischmopp, um den Schmutz auf der Stelle zu entfernen.

"Hallo!"

Char zuckte kurz zusammen, als Garma neben ihm so plötzlich in die Todesstille rief. "Spinnst du?", zischte er seinen grinsenden Nebenmann an, der nun die Hände wie einen Trichter um seinen Mund legte.

"Wir sind viel zu spät zurück!" Garmas amüsierte Stimme wurde dumpf von den schmucklosen Wänden zurückgeworfen. "Und der Flur könnte auch mal wieder gewischt werden!"

Spätestens jetzt hätten sich während des Normalbetriebs bereits zehn Türen geöffnet und aus mindestens acht hätte man ihnen irgendwelche Disziplinarmaßnahmen angedroht. Doch alles blieb wie ausgestorben.

Char schüttelte den Kopf und schwieg. Garma tat es ihm gleich, aber er wirkte nur äußerlich so still, was Char mit jedem Meter, den sie nun wieder schweigend nebeneinander zurücklegten, nervöser machte. Garma machte den Eindruck, als ob er ihm etwas sagen wollte. Ständig sah er heimlich unter den langen Strähnen seiner Haare zu Char hinüber, öffnete kurz den Mund und überlegte es sich dann doch wieder anders. So ging das, bis sich die Tür ihrer Unterkunft mit einem Zischen öffnete und hinter ihnen schloss. Es ließ erst nach, als Char in ihrem winzigen Badezimmer verschwand.

 

 

Die kaltweiße Lampe über dem Waschbecken ließ Chars Konturen seltsam verwischt und überblendet aussehen. Er sah aus wie er sich heute fühlte: wie ein Geist. Alles war bleich an ihm, angefangen bei den Haaren, seiner Haut, bis hin zu den blauen Augen, die ausdruckslos sein Spiegelbild anstarrten.

Bis auf die dünne, dunkle Linie auf seiner Wange, die wie eine in der Kälte zu Eis erstarrte Tränenspur wirkte und das gespenstisch bleiche Gesamtbild durchbrach.

Char reckte den Hals, um zu sehen, wohin das getrocknete Rinnsal führte. Er zupfte am Kragen seines Pullovers, der dort, wo das Blut hineingelaufen war, steif von dem verkrusteten Blut war.

Das kalte Wasser, das sich Char mit beiden Händen ins Gesicht schöpfte, löste das Blut auf und nach ein paar Sekunden war nichts mehr davon übrig. Das erste Mal sah er die nun gesäuberte Wunde, die darunter zum Vorschein kam. Dünn zog sie sich über seinen Wangenknochen. Eine hellrot glänzende Schlucht inmitten seines blassen Gesichts.

Die hatte er verdient, dachte Char unbeeindruckt. Wer so unvorbereitet in einen Kampf ging und denkt unverwundbar zu sein, nur weil der zur Übung zugeteilte Gegner jemand war, mit dem man sich gut verstand, hatte es einfach nicht anders verdient, als so sichtbar geschlagen zu werden.

Eine ungehaltene Falte bildete sich nun wie ein Graben zwischen seinen Augenbrauen. Ein Graben, der mit jedem Wiederholen des Geschehenen immer tiefer wurde. Und Char wusste, was am Grunde dieses Grabens im Dunkeln lauerte: Garma. Garma und dessen Auffassung von Freundschaft, die so verwirrend altruistisch war und nichts von dieser militärisch taktischen Loyalität besaß, die man ihnen hier einzutrichtern bemüht war und die Char wegen ihrer kühlen, aber gut zu berechnenden Distanz so schätzte.

Char wandte die Blicke von seinem eigenen Spiegelbild ab. Hoffentlich schlief Garma schon, wenn er ins Bett ging.

 

 

Garma lag bäuchlings auf seinem Bett. Die Arme unter seinem Kopfkissen ruhend, sah er still zu, wie Chars schwarze Silhouette nahezu lautlos aus dem Bad kam und zu seinem Bett hinüber schwebte.

Die Matratze seufzte leise, als sich Char auf ihr niederließ. Ohne auch nur einen einzigen Blick in Richtung Garma zu werfen, drehte er diesem direkt den Rücken zu und zog sich die Decke bis zu den Schultern hoch.

 

Garma schloss die Augen. Es war so einfach, alles auszublenden. Mit geschlossenen Augen sah man wenigstens nicht mehr diese furchtbar kahle Umgebung, die auf das Nötigste beschränkt war, wie man es an einem Ort, an dem Disziplin gelehrt wurde, auch erwarten sollte.

Am Anfang war ihm die Eingewöhnung hier richtig schwer gefallen. Alles stand im krassen Gegensatz zu seinem bis dahin gewohnten Umfeld. Hier hatte er sich alles, was er haben oder sein wollte, erkämpfen und verdienen müssen. Die Begegnung mit Char war damals das beste, was ihm passieren konnte. Char war wie eine Konstante in dieser neuen Umgebung. Und er war ehrgeizig und stur und vor allem schlau genug, sich an jede Situation blitzschnell anzupassen, wenn sie ihm sinnvoll erschien.

Und er selbst schaffte es nicht einmal, eine simple Frage zu stellen.

Garma vergrub das Gesicht in seinem Kissen und seufzte in dessen dichtes Gewebe.

 

Char, der kurz davor gewesen war, endlich einzuschlafen, öffnete wieder seine Augen und horchte in die Stille ihres Zimmers, die kurz davor von Garmas kaum hörbarer Frage durchbrochen worden war.

"Ob ich was kann?", hakte Char verwirrt nach.

"Meine Familie gibt zu Weihnachten einen Empfang."

"Deine Familie feiert Weihnachten?", spottete Char, bei dem nun alle Müdigkeit verflogen war. Er musste zugeben, ehrlich überrascht zu sein.

Bemüht, seiner Stimme einen einigermaßen festen Klang zu geben, stellte Garma auch den Rest seiner Bitte. "Kommst- also kommst du? Ich kann die echt nicht alleine ertragen."

Char ließ die Frage unbeantwortet. Er lag auf seiner verletzten Seite, einen Arm unter seinem Kopf und sah aus dem Fenster. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Unhörbar von hier drinnen, rieselten draußen die Schneeflocken zu Boden und bedeckten ihre Fußspuren vor dem Hangar. Außer ihnen beiden würde nie jemand anderes von diesem kurzen Moment von so etwas wie unbekümmerter Freiheit erfahren.

Die Wunde auf Chars Wange pochte in einem Rhythmus, der ihn davon abhielt, Garma zu ignorieren und einfach einzuschlafen, und auch seine malträtierten Rippen meldeten sich, dass er sich doch bitte auf die andere, die unverletzte Körperseite legen möge - doch dann musste er Garma anschauen, dessen verzweifelte Blicke er ohnehin schon in seinem Rücken spüren konnte.

Er konnte Garmas Familie auch nicht ertragen...

 

Still sah Garma auf den bewegungslosen Schemen seines Freundes. War Char eingeschlafen?

"Es ist nichts offizielles", setzte Garma entschuldigend an. "Sie feiern nur sich selbst und erwarten, dass ich das mitspiele." Es sollte heiterer klingen, als es das in Wirklichkeit tat. "Wenn du kommst, falle ich weniger auf."

Der Schemen im Nachbarbett bebte, als würde Char lachen.

Garma verbuchte das als Erfolg. Zumindest war es keine Niederlage. "Außerdem könntest du dann meinem Vater gleich selbst sagen, dass du ihn als Hund und mich als seinen Hundesohn bezeichnest."

Es sollte wie ein Witz klingen, doch Char verstand sofort und er war froh, dass sie sich dabei nicht bei Tageslicht gegenüber standen. Das war das ehrlichste, was Garma seit langem von sich gegeben hatte. Er hatte es geschafft, Char zu überrumpeln. Ganz ohne Zaku.

 

Garmas leises Lachen kroch wie ein Raubtier aus dem Schatten auf Char zu, dem noch immer schockiert der Atem stockte.

Char drehte sich auf seine unverletzte Körperseite, was sich augenblicklich angenehmer anfühlte. Selbst im Dunkeln konnte er Garmas triumphierendes Grinsen erkennen. "Hörst du endlich auf zu quatschen, wenn ich Ja sage?"

"Klar", kam die prompte Antwort.

"Schön", murmelte Char ausdruckslos. Er drehte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Er legte sicher keinen Wert auf das nahende Weihnachten oder die Zabis. Und die sicher nicht auf ihn. Alle anderen Gedanken über seine Beweggründe verbat er sich. Erst recht den, es vielleicht doch für Garma zu tun. Vielleicht, um den Nachhall der heutigen Schneeballschlacht noch ein bisschen länger am Leben zu halten.

Den Zaku absichtlich deaktivieren, um seinen Gegner in falscher Sicherheit zu wiegen? Char konnte nicht anders, als Garmas, wenn auch falsche Vermutung eine gewisse Anerkennung zukommen zu lassen. Auf die Idee hätte er wirklich selbst kommen können.

 

 

3. Satz : Serpens Cauda

 

 

15. Dezember, UC 0075

 

Erde, Anwesen der Familie Zabi

 

 

Zum sicher hundertsten Mal an diesem Tag schob Garma den Vorhang vor einem der riesigen Fenster beiseite, welche die Tür der Eingangshalle säumten.

Auch wenn Char auf jede von Garmas Erinnerungen an diesen Abend geantwortet hatte, er käme garantiert, war sich Garma letztendlich doch nicht sicher, ob er ihn nicht einfach nur hatte abwimmeln wollen, bis Garma abgereist war. Und er konnte Char noch nicht mal böse sein. Er hatte ja selbst keine große Lust auf diesen Abend mit seiner Familie und hatte es seit seiner Ankunft heute morgen erfolgreiche geschafft, jedem von ihnen aus dem Weg zu gehen.

Garma zupfte noch einmal den schweren Stoff der Gardine zur Seite und ließ seine Blicke über die menschenleere Auffahrt gleiten. Er seufzte und wollte den Stoff gerade wieder sinken lassen, als eine Bewegung etwas abseits von der untersten Treppenstufe seine Aufmerksamkeit anzog.

Garma grinste.

 

 

"Na endlich!"

Char sah ertappt hoch, als Garmas Stimme ihn aus seinen Gedanken riss. Er stieß sich von dem Steinpfosten ab, gegen den er sich gelehnt und nachgedacht hatte, was er zur Hölle hier eigentlich tat. Unbeholfen vermied es Char, Garma direkt anzusehen, dessen fröhliche Blicke er sehr wohl bemerkt hatte, und die nun an Char hinab zu dessen Schuhen und den zertretenen Vogelbeeren gingen, die vor ihm auf dem Boden lagen.

"Spar' dir das, Zabi", brummelte Char unwirsch.

"Was denn?" Garmas betont unschuldiges Lächeln wurde breiter. Immerhin war er nicht der einzige, der sich vor dem Zabi-Clan drückte.

"Alles", zischte Char und warf die restlichen Vogelbeeren, die er in der Hand gehalten hatte, ins Gebüsch, wo sie sich prasselnd auf der gefrorenen Erde verteilten. Hoffentlich waren die dämlichen Beeren nicht giftig, auch wenn es perfekt zu dieser Schlangengrube hier passen würde.

"Wir haben noch Zeit", lenkte Garma beschwichtigend ein. "Außer du möchtest sie unbedingt jetzt schon alle treffen." Er stand auf der untersten Treppenstufe und wartete, ob Char ihm folgte. Was er nicht tat.

"Ich finde die Luft hier draußen gesünder." Chars Mundwinkel bogen sich zu einem schmerzlich wirkenden Lächeln.

"Du weißt ja nicht, was du verpasst", witzelte Garma, kam aber die Stufe wieder hinab und bedeutete Char, ihm um das Haus herum zu folgen. "Dir zuliebe nehmen wir auch den extra langen Weg nach oben."

"Wie gnädig von dir." Char schloss zu Garma auf, der ihm ein paar Schritte vorausgeeilt war. Die Luft war schneidend kalt und trotzdem trug Garma keine Jacke. "Sollen wir nicht lieber den wärmeren Weg nehmen?"

"Mir ist nicht kalt, keine Sorge." Garmas erheiterte Blicke streiften Char, der ungewohnt besorgt klingen konnte, sobald man ihn in einem der seltenen Momente erwischte, wo seine Schutzschilde nur zu 80% arbeiteten. "Bis jetzt bin ich der einzige anwesende Warmblüter hier."

 

 

Garma führte Char zu einem etwas abgelegeneren Seiteneingang und ließ ihn als erstes durch die ächzende Tür reingehen. Es war stockdunkel und roch so muffig wie in einer Gruft. Irgendetwas raschelte vor ihm auf dem Boden, doch Char erkannte nicht mal Schemen in der Schwärze, die sich wie eine undurchdringliche Wand vor ihm aufbaute.

Nur langsam gewöhnten sich Chars Augen an die herrschende Dunkelheit des Kellers, die im starken Kontrast zur grellweißen Winterlandschaft draußen stand. Er war versucht, Garma, der an ihm vorüber ging und dabei an der Schulter streifte, am Arm festzuhalten, aber bevor er sich diese Blöße gab, würde er lieber blind hier unten umherirren.

Und genau das tat Char.

 

Garmas Stimme zur Orientierung nutzend ging Char Schritt für Schritt weiter in das Gewölbe hinein - immer abwechselnd horchend und tastend, sämtliche Sinne auf einen helleren Fleck vor sich fokussiert.

Sobald Garmas Stimme einen fragenden Unterton annahm, murmelte Char eine kaum verständliche Antwort, von der er einfach hoffte, dass sie Garma reichte, und nach einer Ewigkeit hatte er endlich den hellen Flecken, der sich als riesiger, offener Vorratsraum entpuppte, erreicht.

 

"Garma?" Chars Stimme verhallte in der Stille. Mit angehaltenem Atem wartete er auf eine Antwort, die nicht kam.

Er musste irgendwo falsch abgebogen sein und stand nun vollkommen alleine in einem fremden Keller. Immerhin hatten sich seine Augen an die Umgebung angepasst und er erkannte deckenhohe Regale an den Wänden, die mit allerlei Vorräten gefüllt waren. Angefangen bei prallgefüllten Säcken mit Mehl bis hin zu Kisten mit Kerzen in allen möglichen Formen und Farben.

Wie groß konnte so ein Keller schon sein, dachte Char zuversichtlich. Sicher nicht unendlich und das hieß, dass irgendwo Garma auf ihn wartete. Kurzerhand durchquerte er den Raum zu einem offenen Durchgang hin - und stand gleich darauf im nächsten Vorratsraum, der anstatt mit Regalen mit langen Kühltruhen und -schränken ausgestattet war, die leise vor sich hin summten.

 

Char seufzte und machte sich daran, den nächsten Durchgang zu erreichen, der garantiert auch in einem Vorratsraum enden würde. Oder was auch immer die Zabis hier unten so lagerten.

Dieser Ort hier war die Hölle. Nur nicht so warm.

Etwas streifte Chars Stirn und er blieb stehen. Ein winziger Schatten fiel von oben auf Chars Brust und reflexartig strich er mit der Hand darüber.

Das hatte in diesem Verlies hier noch gefehlt: irgendeine modrige Flüssigkeit, die von der Decke tropfte und ihn mit irgendwelchen Bakterien oder sonst einem Dreck kontaminierte.

Char sah auf den dunklen feuchten Fleck in seiner Hand.

Ja klasse, und rostig war das Zeug auch.

Ein dritter Tropfen fiel auf seine ausgestreckte Hand und zersprang in mehrere kleine dickflüssige rubinrote Tröpfchen, und im gleichen Moment realisierte Char, was es war.

 

"Blut." Char unterdrückte die aufkommende Panik, die das von der Decke tröpfelnde Blut in ihm auszulösen versuchte. Er legte den Kopf in den Nacken und folgte mit seinen Blicken dem Ursprung der Tropfen. Im Halbdunkel über ihm schwebten helle, länglich geformte Dinge, die er nicht gleich einordnen konnte. Sie waren rosig blass und glänzten irgendwie feucht.

"Schau sie dir nicht so genau an, sonst hast du nachher keinen Appetit mehr." Wie aus dem Nichts war Garma plötzlich neben Char aufgetaucht und lächelte ihn nun treuherzig an, als wäre es das normalste auf der Welt, dass es bei ihnen Blut von der Decke regnete.

"Appetit?"

"Ja, auf die Hasen."

Char zwang sich, seine schockierten Blicke von Garma abzuwenden und entgegen dessen Rat erneut nach oben zu schauen. Die Neugierde war einfach zu groß.

Wie Perlen an einer Schnur hingen über ihnen abgezogene und ausgeweidete Hasen an der Decke. Ihre Körper waren klaffende Hohlräume, denen sämtliche Innereien entnommen worden waren, und so hingen sie zum Ausbluten an Haken, die man ihnen durch die Hinterläufe gebohrt hatte.

 

"Die gibt es jedes Jahr bei uns", erklärte Garma nun ohne große Umschweife. "Wir züchten die selbst und zu Weihnachten werden sie geschlachtet. Willst du dir die lebenden Exemplare anschauen?"

"Nein-danke." Char schwankte zwischen Faszination und Entsetzen. Er sah angewidert auf das nun klebrig trocknende Blut in seiner Hand.

"Komm, ich zeig dir das Badezimmer." Garma packte Chars Arm, der noch so schockiert von dem Anblick gerade war, dass er es Garma kommentarlos durchgehen ließ, der ihn nun durch den Keller lotste.

 

 

Wie ein Schlafwandler folgte Char Garma aus dem Gewölbe hinaus in ein Treppenhaus, und war einfach nur froh, diesem furchtbaren Ort entkommen zu sein.

Sie gingen über einen langen Flur, der auf beiden Seiten von massiven Türen gesäumt war, die alle gleich aussahen. Eine der Türen stand offen und im Vorübergehen erkannte Char die stämmige Silhouette, die wie ein Fels am Fenster stand und ihnen den Rücken zugewandt hatte.

Char hielt inne.

Pfeifenrauch kräuselte sich über dem alten Mann in die Luft und löste sich knapp über seinem kahlen Kopf in Nichts auf. Er sah aus wie ein Menschgewordener Vulkan, dachte Char schaudernd.

Degwin wirkte völlig gelassen. Die Hände auf dem massiven Rücken verschränkt, hatte er die Blicke aus dem Fenster gerichtet und schien weder seinen Sohn, noch dessen Begleitung zu bemerken, die nur wenige Meter hinter ihm den Flur entlang huschten. Aber vielleicht tat er auch nur so, als würde er sie nicht bemerken.

Das getrocknete Blut spannte seine Haut, als Char seine Hand unbewusst zu einer Faust ballte. Was hatte er sich dabei gedacht, hierher zu kommen? Wirkte das hier tatsächlich wie ein festlicher Empfang zu Weihnachten? Was hatte sich Garma dabei gedacht, ihn einzuladen?

"Geh doch rein zu ihm und bedank dich artig für die Einladung." Garma lachte leise über Chars nun entsetztes Gesicht. Er drehte sich um und ließ Char einfach stehen, dem nur äußerst langsam die Farbe ins Gesicht zurückkehrte. Mit flinken Schritten war er bald wieder neben Garma.

 

"Hübsches Häuschen", zwang sich Char mit gepresster Stimme irgendeine wahllose Kommunikation zu beginnen.

"Ja, und so familiär", entgegnete Garma belustigt, wobei er das 'familiär' extra betonte. Er war vor einer der Türen stehengeblieben, die er nun öffnete. Bevor Char auch nur den Mund öffnen konnte, um zu protestieren, hatte ihn Garma bei der blutbeschmierten Hand gepackt und hinter sich her ins Zimmer gezogen.

 

Überrumpelt stolperte Char hinter Garma in den Raum. Es war tatsächlich das Badezimmer.

Garma wusch sich bereits die Hände am Waschbecken, während Char noch immer mit dessen Art zu kämpfen hatte, die ihn für seinen Geschmack viel oft in Situationen brachte, die Char ein flaues Gefühl im Magen bescherten. Vor allem, wenn er ihm so nahe kam, seine private Zone so selbstverständlich betrat und wieder verließ, als durchquere er einfach einen Raum von einer Seite zur anderen. Und Garma machte sich wohl auch keine großartigen Gedanken darüber, während es Char jedes Mal die Luft abschnürte.

Garma mochte jemanden oder nicht. Die ganzen Facetten dazwischen schienen ihm unbekannt zu sein. Oder unwichtig. Und genau so gab er sich den Personen gegenüber auch.

 

Char wartete, bis Garma fertig war und auf dem Rand der Badewanne Platz genommen hatte. Er machte nicht den Eindruck, das Zimmer verlassen zu wollen, was Char wirklich lieber gewesen wäre.

Er drehte den Wasserhahn auf und hielt seine blutige Hand darunter. Das eiskalte Wasser löste das getrocknete Blut auf und ließ es wirbelnd im Abfluss verschwinden.

Mit aufeinander gepressten Lippen sah Char dem hellroten Strom zu. Das war innerhalb von etwas mehr als einer Woche bereits das zweite Mal, dass er sich Blut abwaschen musste. Und - Char unterdrückte das aufkommende Lachen, bis es in seiner verkrampften Kehle schmerzte - beide Male war Garma daran beteiligt gewesen, der ihn auch jetzt die ganze Zeit nicht aus den Augen ließ, als erwarte er irgendetwas spannendes.

 

Vermutlich war das Garmas Rache für das gewonnene Duell, das ihm Char danach madig gemacht hatte.

Und hier ist Ihr Preis: ein Abend mit den Zabis! Applaus, Applaus!

Und das dürfte erst der Anfang sein, dachte Char bitter und vermied es, in den Spiegel zu schauen. Er wusste, wessen Blicken er darin begegnen würde. Nicht mehr allzu lange und er trug die Uniform dieser Familie und das hieß, er würde sich garantiert noch so einiges an Blut von den Händen waschen müssen.

Die Fasern des schrecklich weichen Handtuchs schnitten wie Klingen in Chars Hände.

Irgendetwas störte ihn hier. Etwas passte nicht ins Bild. Und es lag ausnahmsweise nicht an den blutigen Hasen oder Garma speziell. Der war wie immer. Aber wie er die Zabis einschätzte, wäre der sowieso derjenige, der am längsten von allen Unannehmlichkeiten verschont bleiben würde. Dennoch ließ ihn dieses Gefühl von etwas, das im Dunkeln lauerte, nicht los.

"Was steht als nächstes im Protokoll?" Char hasste es, wenn seine Stimme nicht so unbeeindruckt klang, wie er es beabsichtigt hatte. Er räusperte sich, um noch etwas mit festerer Stimme hinzuzufügen, doch Garma war bereits von seinem Sitzplatz aufgestanden.

"Wenn sich in den letzten fünfhundert Jahren nichts geändert hat, dann treffen wir uns alle vor dem Essen im Kaminzimmer."

"Klingt spannend", murmelte Char kaum hörbar und wich - dieses Mal sogar erfolgreich - Garmas Griff nach seinem Arm aus, der bereits auf dem Weg Richtung Flur war. Langsam entwickelte sich sein Aufenthalt hier zum Hindernislauf.

 

 

Wie von Garma prophezeit trafen sie im Kaminzimmer einen Teil von dessen Familie. Wobei der Einzige, der wirklich Notiz von den beiden Neuankömmlingen nahm, Dozle war.

"Garma hat also doch nicht gelogen."

Der kameradschaftliche Schlag von dem Hühnen brachte Char kurzzeitig aus dem Gleichgewicht.

Unauffällig rieb sich Char die Schulter. "Gelogen? Weswegen?"

"Dass er dich eingeladen hat." Dozle lachte, was ihm prompt einen missbilligenden Blick seiner Schwester einhandelte. Er beugte sich etwas zu Char herab, ohne dass das bei seiner Größe einen besonderen Effekt hatte. "Er hat alle damit wahnsinnig gemacht. Besonders du-weiß-schon-wen..." Bedeutungsschwanger rollte Dozle mit den Augen Richtung Kycilia, die ihre Aufmerksamkeit schon längst wieder den Erwachsenen der Gesellschaft widmete.

Char ließ seine Blicke über die Zabis gleiten, die vor dem brennenden Kamin in Sesseln und Stühlen saßen und sich mit einem Mann unterhielten, den Char heute das erste Mal sah. Ein Zeonic-Ingenieur, wie Char nach wenigen Sekunden aus den Gesprächen herausfiltern konnte. Vielleicht wurde der Abend ja doch noch interessant, dachte er und nahm den angebotenen Sitzplatz an.

 

Erst als Garma ihn leicht an der Schulter rüttelte, sah Char wieder auf. Auch der Rest der Gruppe verstummte im gleichen Augenblick und blickte an Char vorbei zu einem Punkt, der hinter ihm lag.

Die für Degwin Zabi charakteristische Wolke aus Pfeifenduft traf Chars Nase noch lange bevor dieser tatsächlich zur Gruppe stieß.

Char tat es allen anderen gleich und erhob sich von seinem Platz. Gebannt sah er dem alten Mann entgegen, der, auf einen Stock gestützt, schwerfällig, aber mit erhobenem Haupt zu ihnen hinüber kam.

Den Mund mit der in den Winkel geklemmten Pfeife, zu einem kaum wahrnehmbaren Lächeln gebogen, begrüßte der Alte die Versammelten der Reihe nach mit einem langsamen Nicken, ehe er sich mit einem tiefen Seufzen in dem Sessel niederließ, den jemand für ihn freigehalten hatte.

 

Bedächtig nahm das Familienoberhaupt der Zabis die Pfeife aus dem Mund und klopfte den Rest des glimmenden Tabaks auf ein Schälchen, das neben ihm auf einem Beistelltisch stand. Ohne auch nur ein einziges Wort gesagt oder einen weiteren Blick mit jemandem aus der noch ehrfürchtig schweigenden Gruppe gewechselt zu haben, begann er nun, die Pfeife mit frischem Tabak zu stopfen. Das Streichholz in seiner Hand flammte zischend auf und ließ in seinem lodernden Licht die Konturen seines Gesichts tanzen.

Kurz darauf kräuselte sich der würzige Rauch aus Degwins Pfeife in die Luft.

 

Er war nichts als ein alter Mann, dachte Char und konnte nicht anders, als die Zabis dafür noch mehr zu verachten, dass sie ihr gesamtes Wohlergehen einem kranken Greis überließen, der es gerade so schaffte, sich auf den wackeligen Beinen zu halten. Ein alter verrosteter Greis, der bei der geringsten Erschütterung zusammenbrach - genau wie ihre ausgemusterten Zakus...

Degwins Blicke trafen Chars, der für einen Moment ertappt nachdenken musste, ob er seine Gedanken nicht doch laut ausgesprochen hatte. Doch die Augen des Alten hingen an der dünnen roten Narbe auf Chars Wangenknochen fest.

Char spürte, wie die verheilte Wunde unter den forschenden Blicken des alten Mannes förmlich zu pochen begann und senkte etwas den Kopf, damit sie, wie er hoffte, nicht mehr ganz so präsent erschien.

"Wie ist das passiert?" Degwins Stimme grollte wie ein aufziehendes Unwetter und Char spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich. Die versammelte Gesellschaft sah ihn abwartend an und alles was er tat, war einen ratlosen Blick mit Garma zu wechseln, der blitzschnell schaltete.

"Wir haben ein paar Manöver geübt", kam Garma seinem Nebenmann zu Hilfe. "Mit den alten Zakus, die der Akademie gespendet wurden."

Degwin nickte kaum merklich, ohne weiter auf die erklärenden Worte seines Jüngsten einzugehen. Seine Blicke fixierten weiterhin Char, der immer nervöser wurde.

Chars Herz raste. Sein Kopf pochte und er fühlte, wie es ihm die Luft abzuschnüren begann. Er musste hier raus. Jetzt!

 

4. Satz : La Terre vue du ciel

 

 

Chars Hände umklammerten verkrampft die Armlehnen seines Stuhls. Die Nerven in seinen Beinen zuckten, bereit, zu flüchten, nur seine eiskalten Finger wollten noch nicht gehorchen und weigerten sich beharrlich, die antike Stuhllehne loszulassen.

Das hier war ein Alptraum. Nur dass hier kein blasses Licht den Notausgang markierte.

Char lachte innerlich auf. Genau! Das hier war nichts anderes als ein Manöver. Es war das gleiche, wie damals, als er in seinem deaktivierten Suit gesessen hatte, ohne zu wissen, was außen vor sich ging. Und da hatte er noch weniger gesehen, als jetzt, wo er seine Gegner alle gut sichtbar vor sich hatte.

Char spürte, wie sich seine Kehle entspannte und der Luftstrom seine Lungen mit frischem, wohltuenden Sauerstoff füllte.

 

"Ja, das stimmt", bestätigte Char Garmas Erklärung zu dem fehlgeschlagenen Übungsmanöver. Er sah Degwin fest in die Augen. "Und Garma hat gewonnen."

Das erste Mal blinzelte der Alte. Er wandte sich seinem jüngsten Sohn zu, ein leichtes, zufriedenes Lächeln auf den Lippen.

"Tatsächlich?"

Garma spürte, wie das Blut in seine Wangen schoss. Er sah Chars amüsierten Gesichtsausdruck, der froh war, die Aufmerksamkeit von sich abgelenkt zu haben. Dafür hatte Garma jetzt alle gespannten Blicke auf sich gerichtet. Er nickte.

"Die Verletzungen hätten wir nicht, wenn die Zakus nicht schon schrottreif wären." Das war nur die halbe Wahrheit und sie beide, er und Char, wussten das.

Der Einzige, der wenn überhaupt irgendwelche Wunden davon getragen hätte, wäre Garma gewesen. Er hatte Chars Griff gesehen, als der versucht hatte, das Maschinengewehr des Zakus zu ziehen.

Garma sah zu Char, der ihm schräg gegenüber saß und innerhalb weniger Sekundenbruchteilen die, wenn auch winzige Veränderung in der Mimik des jüngsten Zabis bemerkte. Im Gegensatz zu den anderen, die darauf warteten, dass er die Anekdote weiter ausführte.

Das knisternde Feuer des Kamins hauchte Chars heller Haut ein bisschen Leben ein, auch wenn er sich alles andere als lebendig fühlte, und das hatte er Garma zu verdanken. Garmas seltsam abwesend wirkenden Blicken, die ihn kurz streiften und gleich weiter wanderten.

Char setzte sich etwas auf.

 

Ein kalter Schauer lief Garmas Rücken hinab, als er in das milde dreinschauende Gesicht seines Vaters blickte.

Wären die Zakus tatsächlich mit Waffen voll ausgerüstet gewesen, wären nach ihrem Übungsmanöver von ihm nur noch blutige Fetzen übrig geblieben. Garmas Magen zog sich schmerzhaft eng zusammen, als sich diese Erkenntnis in ihm manifestierte.

Es wäre nichts weiter als verbranntes Fleisch und ein paar blutige Knochensplitter von ihm mehr übrig, die irgendein armes Schwein hätte einsammeln und an seine Familie schicken müssen.

Und sie würden hier heute auch keinen Empfang zum anstehenden Weihnachtsfest feiern - Nein! Das hier wäre beinahe seine Beerdigung geworden. Eigentlich war er ein Toter, der unter Lebenden saß - und Char wäre dafür verantwortlich gewesen.

Ein gequälter Laut entwich Garmas Kehle. Wäre sein Körper nicht so verkrampft, hätte er laut gelacht. Die Geräusche um ihn herum vermischten sich zu einem alles übertönenden statischen Rauschen, das unangenehm in seinen Ohren zu schmerzen begann.

Degwin, der nichts von dem ahnte, was im Kopf seines Jüngsten vor sich ging, nickte nun zu ihrem Gast hin, der sich bis jetzt höflich im Hintergrund gehalten hatte.

"Elliot kann das sicher gut verstehen", erklärte das Oberhaupt der Zabis. Seine Hand schwenkte zu dem Zeonic-Ingenieur hin, der bestätigend nickte.

Alle bis auf Char lauschten nun Elliot Rem, der über seine eigenen, ganz und gar nicht eleganten Testmanöver mit den ersten Zakus berichtete, was die Runde mehr als einmal erheiterte.

 

Char sah zu Garma, der ihn noch immer reglos anstarrte, ohne wirklich auf etwas fokussiert zu sein. Ganz so, als würde er durch ihn hindurchschauen - oder in ihn hinein, was ihm langsam unangenehm wurde.

"Habt ihr irgendwelche Verbesserungsvorschläge?"

Char brauchte kurz, bis er verstand, dass Elliot Rem ihn und Garma direkt angesprochen hatte.

"Die Gurte", sprach Char das erste an, was ihm in den Sinn kam. "Die Gurte könnte man vielleicht noch mal überarbeiten. Die sind wohl eine Schwachstelle." Wäre er nicht aus dem Sitz gerutscht und gegen die Konsole geknallt, wer wusste, wie das Duell dann ausgegangen wäre...

"Ist notiert", erwiderte Elliot Rem zur Belustigung aller - oder fast aller.

"Seid dankbar, dass ihr überhaupt die Möglichkeit habt, in einigermaßen funktionierenden Suits zu üben; wenn auch nur am Boden." Kycilias spitze Bemerkung riss Garma endlich aus seiner Trance. Seine Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, wie Char fast schon erleichtert bemerkte, wenn dieses Lächeln nicht gerade wie das gefletschte Gebiss eines Raubtiers gewirkt hätte.

"Sind wir doch", entgegnete Garma in einem so spöttischen Tonfall, bei dem Kycilias Lippen immer schmäler wurden. "Wirklich entschieden wurde das Manöver ja sowieso am Boden. Mit Schneebällen."

Char lachte ungewollt auf und bemühte sich gleich, es wie ein Husten klingen zu lassen, bis ihm die Tränen in die Augen stiegen und er sich von Garmas breitem Lächeln abwenden musste.

Kycilia verdrehte die Augen und beschloss, ab sofort ihren kleinen Bruder zu ignorieren.

 

Die Unterhaltung wurde zunehmend politischer und bald darauf entbrannte eine Diskussion, die schließlich von jemandem mit den Worten unterbrochen wurde, dass dafür auch noch nach dem Essen Zeit wäre.

 

 

Mit Entsetzen sah Char auf die Servierplatte, die man vor ihm auf dem übertrieben pompös gedeckten Tisch abstellte.

In kauernder Stellung lag dort ein goldbraun gerösteter Hase mitsamt Kopf in einem Bett aus frischem Salat. Er wirkte, als würde er im nächsten Moment aufspringen und davonrennen. Der verdammte Hase hatte sogar eine Karotte im Maul und man konnte die kleinen scharfen Zähne erkennen, die das orangefarbene Wurzelgemüse hielten. Mit leerem Blick starrte der arme Hase Char aus seinen eingesackten Augenhöhlen an.

Char fielen die von der Decke hängenden Artgenossen des Hasen ein und ihm verging wie von Garma prophezeit der Appetit.

 

Einer der Bediensteten, der Chars Blicke zu dem Hasen wohl fälschlicherweise so deutete, dass er davon essen wollte, machte sich daran, ihm eine Keule abzutrennen. Widerstandslos glitt das Messer durch das feuchte Fleisch. Hellroter Bratensaft floss aus dem dampfenden rosa Fleisch und versickerte zwischen den Salatblättern.

Char drehte es den Magen um, als er mit Horror daran dachte, dass er sich gleich eine Gabel von dem Fleisch in den Mund schieben sollte und so tun musste, als ob es ihm schmeckte.

Vielleicht fiel es nicht auf, wenn er sich immer nur wenige Millimeter davon abtrennte und zusammen mit so viel Beilage wie möglich aß? Vielleicht könnte er die Keule auch aus Versehen vom Teller rutschen lassen? Hatten die Zabis Hunde? Katzen? Irgendwas?

Char seufzte.

Die Keule schwebte bereits von einer silbernen Zange gehalten über seinem Teller und ihm blieben noch exakt zwei Sekunden, bis sie auf seinem Teller landen würde. Erneut kam ihm Garma zu Hilfe, der flink seinen eigenen Teller über den von Char hielt, so dass die Hasenkeule darauf fiel.

"Hast du kein Benehmen?", wurde der jüngste Zabi prompt von seiner Schwester gerügt. "Warte gefälligst, bis du an der Reihe bist!"

"Tut mir leid, ich werde es mir merken", murmelte Garma gespielt reumütig. "Ich denke, er nimmt lieber etwas von dem Fisch", wies er den Bediensteten an, der sich entschuldigend daran machte, den Auftrag auszuführen.

 

Während sich alle nach dem Essen erneut auf den Weg ins Kaminzimmer machten, schlenderten Garma und Char lustlos hinter den Erwachsenen her.

"Komm mit."

Unbemerkt von seiner Familie schob Garma Char am Kaminzimmer vorbei.

 

Nachdenklich folgt Char Garma durch den langen dunklen Flur, dessen einziger Schmuck die holzvertäfelten Wände waren, die alles wie das Innere eines Sargs wirken ließen.

Der Teppich schluckte ihre Schritte als existierten sie überhaupt nicht in dieser Welt und auf einmal fiel Char ein, was ihn die ganze Zeit schon an dem Haus störte. Es gab keinen Weihnachtsschmuck, wie man erwarten sollte. Alles war kühl und ablehnend, sowohl seinen Bewohnern, aber vor allem seinen Gästen gegenüber. Nichts deutete auf das kommende Weihnachtsfest hin. Keine frischen Tannenzweige in den hohen Vasen, keine von den unzähligen Kerzen, die im Keller gehortet wurden.

Die Zabis feierten wohl tatsächlich nur sich selbst, genau wie Garma gesagt hatte. Das einzig festlich rote hier waren die blutigen Hasen im Keller.

 

Am Ende einer Treppe, die wohl nach oben in die privaten Räume führte, hielt Garma kurz an.

"Ich bin gespannt, wie dir dein Zimmer gefällt."

"Warte." Char hatte nach Garmas Hand gegriffen, der schon auf der untersten Stufe stand und sich nun zu ihm umwandte.

Abwartend sah er zu Char herab, der am Fuße der Treppe stehengeblieben war und seinen Blicken auswich. Er hatte es schon geahnt, dass Char mit dem Theater, das seine Familie ständig um sich selbst veranstaltete, überfordert war.

"Willst du schon gehen?", durchbrach Garma die angespannte Stille.

Ohne aufzublicken schüttelte Char den Kopf. "Nur nach draußen."

Garma lächelte erleichtert.

 

 

 

"Viel besser", erklärte Char fröhlich, als sie durch den verschneiten Garten des Anwesens gingen. Er nahm einen tiefen Atemzug der winterlich kalten Luft und stieß ihn gleich darauf wieder aus.

"Wie hältst du das hier nur aus so lebendig begraben in dieser elenden Gruft?", neckte er Garma, der wusste, dass Char nicht unbedingt das Haus alleine meinte.

"Ich kenne es nicht anders."

Char legte den Kopf in den Nacken. Über ihnen war der Himmel klar und blau. Wenn er ehrlich war, liebte er die Erde, ihre Atmosphäre. Und auch wenn die Kolonien ihr immer ähnlicher wurden, sie blieben Imitationen von etwas, was die Natur von ganz alleine in vollkommener Perfektion erschaffen hatte. Nichts konnte die Faszination nachahmen, die er fühlte, wenn sie sich im Landeanflug auf diesen wunderschönen Planeten befanden, wenn sie die Wolkendecke durchbrachen und ein Kontinent sich unter ihnen ausbreitete, ohne dass man Spuren von Menschen sehen konnte, oder den Dingen, die sie sich gegenseitig antaten.

Und er mochte ihre Gravitation. Ihm gefiel die Vorstellung dieser Anziehung als tatsächlich spürbar. Als würde die Erde einen bei den Händen nehmen und an sich heranziehen, wie man gute Freunde begrüßte.

Char schloss die Augen und ließ einfach nur die Umgebung auf sich wirken, der leichte Wind, der über sein Gesicht strich und der schläfrige Abendgesang der Vögel. Das erste Mal an diesem Tag fühlte er sich wirklich befreit.

 

"Ich habe noch was für dich."

Char hielt die Augen weiter geschlossen und versuchte Garma auszublenden. "Was?"

"Ein Weihnachtsgeschenk, was sonst."

Er hörte es neben sich rascheln und dann drückte ihm Garma etwas in die Hand.

Char atmete entnervt aus und öffnete gezwungenermaßen die Augen. "Du erwartest jetzt hoffentlich nicht-" Der Rest des Satzes blieb ihm im Hals stecken, als er sah, was ihm Garma tatsächlich in die Hand gelegt hatte.

Lachend wich Garma der Karotte aus, die er dem geschmorten Hasen aus dem Maul genommen, eingesteckt und Char als Geschenk überreicht hatte, und die nun von Chars Flüchen begleitet neben ihm im Schnee versank.

"Ich bring dich um!", schrie Char und seine Stimme hallte im Duett mit Garmas lautem Lachen durch die kalte Winterluft.

 

 

 

5. Satz : Machina Mundi

 

 

Je weiter sie sich von dem erdrückenden kryptaähnlichen Anwesen der Zabis entfernten, um so befreiter fühlte sich Char. Als das verschneite Dach nicht mehr von der übrigen Winterlandschaft zu unterscheiden war und die Umgebung aus streng geordneten und eingezäunten Bereichen wieder natürlicher und ursprünglicher wurde, fiel auch endlich der Drang von ihm ab, wegrennen zu müssen.

Die unsichtbaren Mechanismen, mit denen diese Familie untereinander verbunden war, hatten ihn mit ihrem selbstzentrierten Weltbild schon viel zu sehr aufgerieben. Und er war hier nur zu Besuch. Garma musste diesen Irrsinn ständig aushalten.

 

Im Haus hatte sich Garma auch völlig anders gegeben, als spiele er eine Rolle, die ihm wohl bei seiner Geburt einfach zugeteilt worden war und von der man erwartete, dass er sie bis ins kleinste Detail beherrschte. Man hatte ihn an einen Platz gesetzt und dort musste er seinen Zweck erfüllen, egal ob es langfristig gesehen eine Tortur für ihn war.

Und wenn er sich dagegen wehrte, sah man ja, was passierte. Dann wurde sogar eine relativ harmlose Schneeballschlacht zum Desaster.

 

Dabei war es so einfach die Perspektiven umzukehren, das ewige Pendulum, das diese Familie antrieb, anzuhalten und zu schauen, was passiert. Er hatte nur dieses kleine Rädchen aus seinem verrosteten unübersichtlichen Familien-Uhrwerk entfernen müssen und schon hatte es seinen eigenen Takt.

Und Garmas eigener Takt bestand darin, dass er sich nicht über jedes bisschen Gedanken machen wollte, dass Handeln und Konsequenz nicht so eng miteinander verwoben waren und dass es Leute um ihn herum gab, die das auch so empfanden und es keine Illusion war, wie man ihm einzureden versuchte. Er gab sich auf einmal wie alle anderen auch - anders als es im Kreis dieser ausgestopften Museums-Präparate möglich war, die Menschen imitierten, die eine Familie imitierten.

 

"Schau mal!" Garma war mitten auf dem gewundenen Waldweg stehengeblieben, den sie ziellos entlang geschlendert waren.

Char folgte seinen Blicken hin zu einem zugefrorenen See, der wie ein Spiegel aus schwarzem Glas inmitten der weißen Landschaft lag.

"Den kenne ich gar nicht", stieß Garma fast ehrfürchtig aus, was Char ein müdes Lächeln abrang. Er hatte mit seiner Annahme wohl Recht gehabt, dass Garma nie wirklich den Grenzen seiner Familie entkam - erst recht nicht den nicht-physischen. Und wenn er sich doch mal außerhalb davon befand, sorgte garantiert jemand dafür, dass alles schön ordentlich eingezäunt blieb.

 

Das wenige noch vorhandene und nun mit einem winterlichen Eispelz überzogene Schilfgras stach wie stumpfe silberne Klingen im Ufer. Der See war bis zum Land zugefroren und so riesig, dass sie von ihrer Position aus das gegenüberliegende Ufer nur deshalb erahnen konnten, weil dort ein Wald aus hohen schmalen Nadelbäumen wuchs.

Dort, wo der Wind den dünnen Schneefilm auf dem zugefrorenen See fächerartig weggeweht hatte, sah man das Eis darunter in der tiefstehenden Abendsonne golden schimmern.

"Ob es hält?", sprach Garma laut aus was auch Char dachte.

"Sehen wir ja gleich!", verkündete Char eifrig und setzte vorsichtig einen Fuß auf das bis dahin unberührte Eis. Es knirschte und knackte, als würde darunter eine rostiger Apparat in Gang gesetzt und als nichts weiter geschah, setzte Char auch seinen zweiten Fuß darauf. Bedächtig verlagerte er sein Gewicht von einem aufs andere Bein, doch das Knirschen blieb aus und das Eis stabil.

"Lass es lieber", versuchte Garma Char von seinem Vorhaben abzuhalten, der dafür nur ein mildes Lächeln übrig hatte.

"Du könntest einbrechen-"

"Und was dann?" Amüsiert wehrte Char Garmas Versuche ab, ihn zurückzuziehen. "Hast du jemals von einem See gehört, der direkt am Ufer zwanzig Meter tief abfällt?" Char machte noch ein paar Schritte auf dem Eis, wie um seine Worte zu untermauern. "Siehst du? Selbst wenn ich einbreche, bekomme ich höchstens nasse Knie."

Die Arme ablehnend vor der Brust verschränkt blieb Garma eisern am sicheren Ufer stehen und wartete atemlos darauf, dass Char einbrach und er ihn dann wahrscheinlich rausziehen musste. Vielleicht war das hier ja der einzige See, der tatsächlich direkt am Ufer in unbekannte Untiefen abfiel. Char hatte wohl keine Ahnung davon, wie lange es dauern würde, bis er Hilfe geholt hatte. Bis dahin-

"Himmelnochmal, Zabi, bist du eingeschlafen?"

Garma sog erschrocken die Luft ein. Char stand schon gute zwanzig Meter weit auf dem See, während er selbst sich hier eine Horrorvorstellung nach der anderen herbei phantasiert hatte.

"Was ist?", rief Char nun herausfordernd Garma zu, der reglos am Ufer stand. Sein Gesicht leuchtete bleich wie der Schnee, der ihn umgab. "Wie weit soll ich noch gehen, bis du mir glaubst?"

 

 

"War das jetzt so schlimm?", begrüßte Char Garma gutgelaunt, als der endlich neben ihm auf dem zugefrorenen See stand. Wie eine Katze war er darüber geschlichen, ohne Char aus den Augen zu lassen und erst als er unbeschadet bei diesem angekommen war, hatte er das erste Mal richtig durchatmen können.

Stumm lächelnd schüttelte Garma den Kopf. Er war noch zu überwältigt von seinem eigenen Mut, als dass er auch nur ein einziges Wort über die Lippen brachte.

Char hatte die Hände in die Jackentaschen gesteckt. Grinsend sah er Garma an. "Jetzt, wo du es endlich geschafft hast, kann ich dir ja auch dein Weihnachtsgeschenk geben."

Garmas Augen verengten sich fragend. "Hast du eben nicht gesagt-"

"Ist es wichtig, was ich irgendwann mal gesagt habe?"

"Was ist es denn?", wollte Garma nun doch neugierig wissen. Gebannt wartete er darauf, dass Char seine Hände aus den Taschen nahm und es ihm präsentierte. Doch der stand weiter reglos da, nur sein Grinsen wurde breiter.

"Ein guter Rat", erlöste Char Garma schließlich großzügig aus dessen erwartungsvoller Anspannung. Garmas prompte ratlose Mimik war das Beste was er an diesem Tag erlebt hatte.

"Ja danke, und wo ist das echte Geschenk?" Garma versuchte, eine von Chars Händen aus dessen Jacke zu ziehen, doch der drehte sich mit der Leichtigkeit eines Toreros von seinem Gegner weg.

"Gib dir mal ein bisschen Mühe", lachte Char Garmas fruchtlose Versuche aus, ihn zu fassen zu bekommen. "Im Gegensatz zu dir lerne ich wenigstens dazu."

Garma biss sich auf die Unterlippe. Flink preschte er vor, doch auch diesen Angriff parierte Char mühelos.

 

"Das ist ja echt traurig, was du hier lieferst, Zabi."

Chars unverhohlener Spott fraß sich in Garmas Brust, wo es nun heiß loderte. Seine hektisch geröteten Wangen stachelten Char nur noch mehr an, ihn weiter aufzuziehen und zu schauen, wie weit er kam.

"Mann gegen Mann ist nicht dein Spezialgebiet. Ohne die Maschinen deiner Familie kommst du wohl nicht weit, was?" Er hatte ins Schwarze getroffen. Char sah es sofort an Garmas sich verändernder Körperhaltung, die nun vorsichtiger, berechnender wurde und nicht mehr so stürmisch.

Garma spürte, wie die Scham auf seinen Wangen brannte. Seine Lippen waren zwei dünne Striche, dafür blitzten seine Augen wütend auf.

"Schau mal an, Zabi, du bist ja doch ein Mensch."

Garma startete einen letzten verzweifelten Versuch. Er machte einen Satz nach vorne und blieb mit der Schuhspitze an einem Riss im Eis hängen, wo es aufgebrochen und sich nach oben verschoben haben musste, ehe es wieder zufrieren konnte.

Garma stolpert und Char sah ihm reglos zu. Er machte nicht die geringsten Anstalten, die Hände aus der Jacke zu nehmen und seinen Begleiter vor dem Sturz zu bewahren, obwohl er nicht mal einen halben Meter von diesem entfernt war. Unbeeindruckt sah er zu, wie Garma vor ihm auf die Knie fiel.

 

Ohne Char nun eines Blickes zu würdigen, rappelte sich Garma auf. Seine Knie schmerzten. Aber noch mehr schmerzte die Erkenntnis, dass er trotz Chars Anwesenheit so gut wie alleine war. Unter ihm knackte das Eis lauter als zuvor.

"Halt bloß Abstand." Chars Blicke hingen an Garma als wolle er diesen mit purer Willenskraft davon abhalten, sich ihm weiter zu nähern. "Wenn du weiter so tollpatschig bist, brechen wir beide hier noch ein."

Chars belustigter Tonfall wurde kurz ernster, als Garma einen Schritt auf ihn zu machte und ihm das warnende Knirschen unter seinen Füßen folgte. Sie standen sich nun so nah, dass sich ihr kondensierender Atem zwischen ihnen in der Luft vermischte.

"Du kannst dein Geschenk behalten", zischte Garma heiser und ging an Char vorbei, der für wenige Sekundenbruchteile beeindruckt schwieg.

 

"Das will ich aber nicht", entgegnete Char mit gespielter Milde.

"Ja klar", murmelte Garma mehr zu sich selbst und ließ Char einfach stehen.

"Es ist ein wirklich, wirklich guter Rat!", rief Char hinter ihm her.

Garma stieß den Atem durch die Nase aus. "So gut wie Freunde verstehen es, wenn sie von Freunden geschlagen werden?"

"Besser!", betonte Char mit belustigtem Nachdruck. "Und absolut ehrlich gemeint, versprochen."

Garma hielt inne. Langsam wandte er sich wieder zu Char um, der noch am gleichen Platz stand, wo er vor ihm hingefallen war.

Mit einem triumphierenden Grinsen auf den Lippen, setzte Char dazu an, Garma endlich sein Weihnachtsgeschenk zu präsentieren, doch der kam ihm zuvor.

"Ich habe es dir bis jetzt nicht gesagt, weil es mir zu peinlich war, aber wenn wir schon dabei sind, ehrlich zu sein, kannst du es gerne wissen", begann Garma und eine ungewohnt lauernde Sanftheit lag in seinen Worten, die selbst Char nicht entging, der den Mund wieder schloss und auf Garmas Offenbarung wartete.

 

"Ich habe das Übungsmanöver nur gewonnen, weil mein Zaku aus Versehen gegen deinen stieß und nicht weil ich die bessere Taktik hatte." Garma musste sich das aufkommende Grinsen verkneifen.

Die überlegene Heiterkeit wich augenblicklich aus Chars Gesicht. In Gedanken ging er die Möglichkeiten durch, inwiefern Garmas Behauptung zutreffen konnte.

"Eigentlich wollte ich abbrechen, weil ich gesehen habe, dass sich dein Zaku deaktiviert hatte, aber dann ist mir leider dieses Missgeschick passiert", fügte Garma fast schon wieder entschuldigend hinzu.

Chars atemloses Schweigen ließ eine bedrohliche Wolke über ihnen aufziehen.

"Du wolltest - abbrechen? Konntest du das nicht für dich behalten?", knurrte Char schließlich, als er seine Sprache wiedergefunden hatte. "Denkst du, ich habe es nötig, von dir verschont zu werden? Lieber verliere ich, als dass ich dein Mitleid brauche."

Irgendetwas an diesen Worten legte einen Schalter um und Garma fühlte, wie aus dem kurzen Willen, dieses zwischen ihnen schwebende Damoklesschwert endgültig zu klären, schäumende Wut wurde.

"Und was ist mit dir?", brach es schließlich zornig aus Garma heraus. "Hätte der Zaku seine Waffen gehabt, hättest du doch selbst keine Sekunde gezögert, mich-mich-", sein Hals schnürte sich wieder zu, wie in dem Moment, der ihm seitdem sie sich mit den ausgemusterten Zakus gegenüber gestanden hatten, nicht mehr aus dem Kopf ging. "Du hättest mich ohne Zögern erschossen!"

Wie um ihn noch weiter zu verhöhnen warf das Echo Garmas letztes Wort mehrstimmig zu ihnen zurück.

"Das ist in einem Kampf nun mal so!" Chars Erklärung verhallte über dem wieder still daliegenden See. Garma war weitergegangen. Das Eis knackte und knirschte.

"Du Kindskopf", murmelte Char und versuchte den gekränkten Gesichtsausdruck zu verdrängen, mit dem Garma ihn zuletzt bedacht hatte.

 

 

Die Wut tat irgendwie gut. Sie hatte etwas in seiner Brust gelöst, das dort die ganze Zeit gewachsen war und mit seinem Gewicht alles andere erdrückt hatte. Dafür war an ihre Stelle nun etwas anderes getreten. Traurigkeit. Darüber, sich in der Person getäuscht zu haben, der er zu vertrauen begonnen hatte.

Und wie er ihn zu Staub fabriziert hätte. Ohne mit der Wimper zu zucken.

Der feine Schneefilm wurde weniger, je weiter sich Garma der Mitte des Sees näherte. Dicke Risse durchzogen wie weiße Adern das Eis unter ihm. Wasser gluckerte unter der schwarzen Eisdecke. Ein paar Luftblasen stiegen wie schimmernde Perlen aus der undurchdringlichen Tiefe auf und platzten an der eisigen Barriere zwischen Wasseroberfläche und seinen Schuhsohlen.

Hoffentlich waren das alte Risse, die sich wieder geschlossen hatten, sonst - Garma lachte lautlos auf. Was konnte schon passieren? Ob er hier starb oder sonst wo, was machte das für einen Unterschied?

Sollte das Eis einbrechen und die Strömung ihn unter das wie Glas wirkende Element ziehen. Jedes Grab war letztendlich kalt.

"Bleib stehen!", hörte er Chars ernste Stimme hinter sich.

"Danke für diesen äußerst wichtigen Rat!" Wenn Garma sich umdrehte, würde er immer noch an der Stelle stehen, wo er ihn zurückgelassen hatte - jede Wette.

 

Eigentlich wäre er jetzt tot, verdammt noch mal, und am liebsten hätte er es Char so lange ins Gesicht geschrien, bis der endlich kapierte, was er beinahe angerichtet hätte. Nicht Garma war derjenige, der sich für irgendwas entschuldigen musste...

Das Eis krachte wieder dumpf unter der Belastung. Er konnte es unter seinen Schuhsohlen spüren, wie sich die Spannung entlud und alles vibrierte.

Er ging weiter.

Die Eisdecke klang wie ein riesiges Tier, das aus einem tiefen Schlaf erwachte und sich grummelnd reckte und auf die andere Seite wälzte.

Eine Spiegelung huschte zwischen seinen Füßen über das Eis. Ein Fisch, dachte Garma, aber da war der Schatten schon wieder weg.

"Lauf doch nicht vor mir weg." Zwei Arme legten sich von hinten um seine Taille und Garma stoppte.

Chars Hände tasteten nach Garmas, die kühl wie Eiszapfen waren.

Erst jetzt merkte Garma, wie kalt er tatsächlich hatte. Chars Hände, die er die ganze Zeit in seinen Jackentaschen gehabt hatten, schlossen sich um seine unterkühlten Finger und ließen ihre Wärme in seine übergehen, bis er ein Kribbeln darin spürte.

Auch das Eis beruhigte sich langsam wieder.

"Das war doch noch gar nicht mein Rat", beteuerte Char sanft.

"Und wie ist er?" Garma unterdrückte das Zittern, das ihn durchlief.

Char zog ihn fester zu sich. "Habe ich vergessen."

Char log. Er machte sich nicht mal die Mühe, es wie die Wahrheit klingen zu lassen, was auf eine seltsame Art und Weise wiederum ehrlich war.

 

Es war nun so still, dass man die sachte vom Himmel rieselnden Flocken knistern hören konnte, wie sie sich auf die hauchdünne Schneedecke legten und sie bald Schicht um Schicht vergrößert haben würden.

Die dicke Wolkendecke schob sich weiter über ihre Köpfe Richtung Wald. Nicht mehr lange und es würde stockdunkel sein.

Char spürte wie sich Garmas angespannter Körper lockerte und er sich vorsichtig an ihn lehnte. Er ließ ihn. Garmas Wutausbruch hatte ihn mehr irritiert, als er gedacht hatte.

"Nur Freunde gehen mit einem über einen zugefrorenen See, ohne zu wissen, ob das Eis stabil genug ist, oder?"

Garma spürte Chars Kopf an seinem. Sein Mund war so nahe an Garmas Ohr, das er auf seiner Haut den warmen Atem fühlen konnte, der in hellen Wölkchen in die eiskalte Luft aufstieg.

"Du bist zuerst aufs Eis gegangen", wandte Garma ein. Er fühlte Chars Lachen in seinem Rücken.

"Ja, okay, aber du bist trotzdem mitgegangen, richtig?"

Garma zuckte leicht mit den Schultern.

"Du hättest mich alleine weitergehen lassen und abwarten können, was passiert", fuhr Char fort und er klang, als würde er es ehrlich meinen. "Ich wäre eingebrochen und du wärst schreiend weg gerannt-"

"Wäre ich nicht!", widersprach Garma lachend.

"Doch, wärst du", neckte Char Garma weiter. "Dann hätte deine Familie ein Kreuz am See aufgestellt - R.I.P. Riesenidiot Char - und alle wären glücklich gewesen."

Garmas Körper bebte vor Lachen.

 

Char schwieg nun zufrieden. Er musste sich eingestehen, dass es ihm schon einen kleinen Stich versetzt hatte, dass nicht er selbst sich als dieser Freund entpuppt hatte, sondern Garma, doch das war noch lange nicht das Ende der Geschichte.

"Auch zweit-beste Freunde lassen den anderen nicht so weit gehen, dass er einbricht", fügte Garma versöhnlich hinzu und es klang wie eine Frage.

Die Atemwölkchen aus Chars Mund legten eine kurze Pause ein.

"Ich habe noch nie auf einem zugefrorenen See gestanden. Das hier ist der erste", gestand Char nachdenklich. Seine Hände verstärkten ihren Griff und Garma erwiderte die Geste. Er sah ihre Fußspuren, die sich über den See zogen. Gerader und nicht so ziellos und ausgelassen, wie vor über einer Woche vor dem Hangar. Die Leichtigkeit dieses Moments war weg.

Die Wut darüber, dass Garma ihm gestanden hatte, nur gewonnen zu haben, weil er mit seinem Scheiß Suit umgekippt war, war verflogen. Sie war einem unterschwelligen Unbehagen gewichen, vor Menschen wie Garma und den Situationen, die sie mit sich brachten. Er durfte sich nie wieder so überrumpeln lassen. Weder von einem Suit, noch von jemandem, den er vielleicht verletzt hatte.

Sein Griff nach dem Maschinengewehr war nur logisch gewesen. Ein Reflex, der ihm und allen in seiner Situation das Leben gerettet hätte.

Im Kampf gab es keine Zufälle, keine Rücksicht, weil nicht jedes Individuum an sich wichtig war. Wenn man sich auf dem richtigen Schlachtfeld mit gezogenen Waffen gegenüber stand, und es nur noch darum ging, wer als erstes abfeuerte, wer traf und wer danach noch lebte, zählte Garmas Art von Freundschaft nicht.

Das wäre sein Rat an Garma gewesen. Sein Weihnachtsgeschenk. Doch Char schwieg.

 

 

* E N D E *



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