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Satisfy Me! - Ein neues Mitglied für Team Satisfaction!

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Endlich geht es weiter. Ein großes Sorry an alle, die ich mit diesem fiesen Cliffhanger allein gelassen hab. q.q Ich hatte eine üble Schreibkrise, war zeitweilen extrem demotiviert und hatte oft mit mir gekämpft. Aber nun bin ich denke ich endlich über den Berg und kann euch das neue Kapitel präsentieren. Yay ^-^ Ich versuche nun die Kapitel, die noch folgen, in regemäßigeren Abständen rauszuhauen ^-^ Und nun wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen. ^^ Komplett anzeigen

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First Satisfaction: Der Tag, an dem ich dich traf

Seit ich mit zehn Jahren von Zuhause weggelaufen war, bin ich immer allein gewesen.

Habe mich durchgekämpft und durchgebissen, nur um irgendwie zu überleben.

Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, was ich tat. Mir ging es nie um Gerechtigkeit oder dergleichen. Alles was zählte war, dass ich lebte. Wofür, wusste ich jedoch nie.

Ich war ein einsamer Wolf in einer grausamen Welt, in der die Reichen und Mächtigen alles hatten. Sich auf den Dächern in den Tops von Neo Domino City die dicken Bäuche bräunten, während hier unten in Satellite Menschen wie ich, um ihre Existenz kämpften.

Kinder wie ich eines war, ohne Zuhause, ohne Schulbildung, ohne Familie.

Hier auf den rauen Straßen nicht zu sterben, war das Einzige, was zählte.

Dachte ich zumindest.

Bis zu jenem Tag an dem ich ihn traf.

Den Mann, der mein Leben von Grund auf veränderte.

Der Mann, durch den ich das bekam, was ich all die Zeit nie gehabt hatte:

Freunde. Nein, viel mehr noch:

Eine Familie!
 

„Schnappt euch diese Göre! Lasst sie nicht entkommen!“

Ich konnte die Stimme des Anführers der Duel Gang einige Meter hinter mir hören und rannte. Rannte so schnell mich meine Beine trugen.

Ich war klein und zierlich. Bisher war das immer ein Vorteil für mich gewesen, und so dachte ich auch heute, dass meine schnellen Beine und mein schlanker Körper mich irgendwie wieder aus dieser Bredouille herausbringen würden.

Aber ich merkte schnell, dass ich mich irrte.

„Gib die Teile wieder her, du kleine Mistkröte!“, rief einer der Jungs hinter mir, der mich doch ziemlich schnell eingeholt hatte.

Die Metallteile zum Zusammenbauen eines D-Wheels lagen schwer in meinem Beutel, den ich mit mir herumtrug. Scheinbar hatte ich mich heute übernommen, was meine Beute betraf.

Mit Müh' und Not schaffte ich es, einen alten Müllcontainer hinaufzuklettern, nur um dann elegant wie eine Katze über die Mauer zu springen, vor der er stand.

Ich wiegte mich in Sicherheit, doch ich hatte nicht damit gerechnet, dass meine Verfolger mir zahlenmäßig extrem überlegen waren und auf der anderen Seite schon die nächsten Jungs auf mich lauerten. Alle viel größer und älter als ich.

Einer versperrte mir den Weg. Breitbeinig und bereits mit der Duel Disk in der Hand, hatte er sich vor mir aufgebaut. Doch ich ließ mich nicht beirren, nahm Anlauf und schlitterte einfach zwischen seinen Beinen hindurch, stand schnell wieder auf und lief weiter.

Irgendwie würde ich diese Idioten schon losbekommen.

Wenn ich einfach so weiter rennen würde, könnte ich es garantiert schnell in mein sicheres Versteck schaffen.
 

Aber diese Kerle waren wie eine Meute Jagdhunde. Scheinbar mussten diese Teile, die ich gestohlen hatte, extrem wertvoll sein.

Ich lief geradeaus weiter, als zwei Mitglieder der Gang von links und rechts auf mich zukamen.

Einer stürzte sich direkt auf mich, bekam jedoch meinen Ellenbogen im Gesicht zu spüren, als er versuchte, mich zu Boden zu drücken. Dem Anderen wich ich gleich mit einem Hakenschlag aus und verschwand in der nächstbesten Seitengasse.

„Na warte, du kleine Schlampe!“, hörte ich einen von ihnen fluchen.

Ich spürte, wie mir langsam die Puste ausging und lehnte mich für einen Moment an die schmutzige Wand des Gebäudes rechts von mir.

Bald. Nur noch ein bisschen.

Doch viel Zeit zum Verschnaufen blieb mir nicht, als ich erneut das Trampeln von mehreren Füßen vernahm.

So schnell es ging, lief ich weiter.

Ich achtete schon gar nicht mehr darauf, wohin mein Fluchtversuch mich führte.

Erst als ich mich in einer Sackgasse wiederfand, vor mir eine sehr hohe Mauerwand, links und rechts alte, zerfallene Bauten und hinter mir die wütenden Mitglieder der Duel Gang, wurde mir bewusst, dass ich dieses Mal richtig tief in der Scheiße steckte.

Ich drehte mich um und sah die sechs Mitglieder, die mir bis hierher gefolgt waren, vor mir stehen und langsam auf mich zukommen.

Der scheinbare Anführer grinste breit. „So, du kleine Diebin... Jetzt rück' schön brav die Teile raus und dir passiert nichts...“

Ich ging einige Schritte zurück bis ich mit dem Rücken direkt an der Wand stand. Fieberhaft überlegte ich, ob es nicht doch klüger wäre, einfach zu kapitulieren oder ob ich kämpfen sollte.

Ich schloss die Augen. Bereitete mich innerlich auf das Schlimmste vor.

Konnte fühlen, wie einer der Typen mich am Kragen packte und hochhob.

Doch dann wurde ich wieder losgelassen. Ein Geräusch, als wäre etwas zu Boden gefallen ertönte.
 

„Was... Wer zum... Wer bist du denn!?“, hörte ich den Anführer rufen und öffnete meine Augen.

Vor mir stand ein Junge mit kurzen, etwa nackenlangen hellblauen Haaren. Da ich ihn nur von hinten sehen konnte, erkannte ich lediglich, dass er ein violettes Stirnband trug, eine dunkelbraune, kurze Weste, ein rotes T-Shirt und blaue Jeans.

Ich konnte ihn leise lachen hören, bevor er sich kurz zu mir umdrehte. Seine Augen besaßen einen sehr, sehr hellen Grünton, der schon fast ins gelbliche überging. Er zwinkerte mir grinsend zu und wandte sich dann wieder an meine Verfolger.

„Dass ihr euch nicht schämt. Zu sechst auf ein kleine Lady loszugehen. Hat euch denn keiner Manieren beigebracht?“, hörte ich ihn sagen.

„'Kleine Lady'?! … Das Gör ist 'ne kleine Diebin! Und was mischst du dich überhaupt ein, Großmaul. Was denkst du, wer du bist?“

Ich dachte darüber nach, die Gelegenheit, die sich mir nun, da diese Gorillas abgelenkt waren, bot, zu nutzen, um die Flucht zu ergreifen. Allerdings stoppte ich mein Vorhaben wegen diesem seltsamen Kerl.

„Wer ich bin? Kiryuu Kyousuke. Anführer von Team Satisfaction. Zeigt mal, ob ihr mich zufrieden stellen könnt...“

„Was, Team Satisfaction?“, hörte ich einen der Kerle sagen. Aus seiner Stimmlage konnte ich heraushören, dass ihm nicht ganz wohl nun zumute war, jetzt da er wusste, wer da vor ihm stand.

Ich jedoch konnte weder mit dem Namen dieses Jungen etwas anfangen, noch mit der Bezeichnung „Team Satisfaction“.

Wieder überlegte ich, mich einfach davonzuschleichen, doch dann bemerkte ich, wie dieser Kerl seine Duel Disk aktivierte und sich einen meiner Verfolger mit einem Seil schnappte, an dessen Ende eine Art Handschelle befestigt war, sodass dieser nicht entkommen konnte.

Nur widerwillig ließ er sich auf das Duell ein, das der Fremde sehr schnell für sich entscheiden konnte.

Eigentlich war doch nun die Gelegenheit für mich, das Weite zu suchen.

Aber irgendwie konnte ich nicht anders, als dabei zuzusehen, wie mein „Retter“ einen nach dem anderen plattmachte und deren Duel Disks zerstörte.

Als selbst der Anführer schließlich vor ihm zu Boden ging, entschied ich mich dazu, wirklich zu gehen.
 

Gerade wollte ich mich umdrehen, als ich spürte, wie jemand mein rechtes Handgelenk festhielt.

Reflexartig drehte ich mich um und wand mich aus dem Griff.

Mein Retter sah mich an, während ich hinter ihm die Mitglieder der Duel Gang heulend wie Babys, davonrennen sehen konnte.

„Wohin so schnell?“

Mein Blick fokussierte sich wieder auf ihn.

„Bist du in Ordnung?“

Ich nickte knapp. „Denk schon. Ehm... Danke...“

„Dann bin ich froh. Solche Typen sind echt das Letzte. Große Klappe und nichts dahinter. Aber sich an Schwächeren vergreifen, können sie alle gut.“

Ich funkelte ihn an. „Wer sagt, dass ich schwach bin!? Ich hätte mich auch gut allein wehren können!“

Wie ich es leiden konnte, wenn Jungs mich unterschätzten, nur weil ich ein Mädchen und eher zierlich war!

Ich sah zur Seite und steckte meine rechte Hand in die Hosentasche.

„Ich brauch keinen Aufpasser.“

Langsam wandte ich mich zum Gehen.

Den Beutel mit den Metallteilen hatte ich auf den Boden fallen lassen, während ich die Duelle verfolgt hatte, und nun ließ ich ihn einfach dort liegen.

Ich wollte einfach nur noch nach Hause in meinen Unterschlupf.

Mein Magen knurrte und langsam kam auch der Durst wieder hoch.

Seit zwei Tagen hatte ich nichts Richtiges mehr gegessen und seit heute Morgen nichts mehr getrunken.
 

Langsam steckte ich auch meine linke Hand in die Tasche meiner Jeans-Shorts und ging los.

Hinter mir konnte ich ein kurzes metallenes Klirren vernehmen, was mich zu der Annahme brachte, dass der Kerl meinen Beutel aufgehoben hatte.

Doch ich schenkte dem keine Beachtung.

Gemächlich ging ich weiter. Die Sonne war schon dabei unterzugehen und tauchte den Himmel über Satellite in ein warmes Orangerot. Einen Moment lang blieb ich stehen um den Anblick ein wenig zu genießen.

Sonnenuntergänge gehörten zu den wenigen Dingen in meinem Leben, die ein leichtes Lächeln auf mein Gesicht zauberten. Zu sehen, wie die Sonne am Horizont verschwand und dabei ihre letzten Strahlen aussendete, machte mich immer glücklich. Ich konnte die Wärme auf meiner Haut fühlen und vergaß dabei völlig die Zeit.

Erst als die ersten Sterne am Himmel funkelten und das Rot in ein dunkles Blau überging, senkte ich meinen Blick und wollte weitergehen.

Schritte hinter mir, ließen mich jedoch realisieren, dass dieser Typ mich immer noch verfolgte.

Was wollte der eigentlich von mir? Dachte der etwa, nur weil er mich „gerettet“ hatte, könnte er mich jetzt für die Nacht klarmachen?

Auf so etwas konnte ich gut verzichten.
 

Ich drehte mich um und tatsächlich stand er immer noch da, mit dem Beutel in der linken Hand.

„Hör mal. Glaub ja nicht, dass ich mich abschleppen lasse, nur weil du dich als strahlender Retter in der Not aufgespielt hast! Ich bin nicht so Eine!“, fauchte ich ihn ungehalten an.

Er sah mich an. Einen Moment lang herrschte Stille, dann jedoch brach er in schallendes Gelächter aus.

„Für wen hältst du mich eigentlich, Kleine?“, rief er lachend.

Bei dem Wort „Kleine“, funkelte ich ihn erneut an. „Für einen Angeber? Und für einen Idioten?“, gab ich trocken zurück.

Der Kerl lachte wieder leise. „Mag sein, dass ich vielleicht manchmal ein wenig über die Stränge schlage. Aber so einer wie du denkst, bin ich nicht. Ich vergreif mich nicht an kleinen Mädchen.“

Kleines Mädchen?! Ich grummelte leise. Was bildete der sich eigentlich ein?

„Ich bin fast fünfzehn!“

Er grinste. „Fast fünfzehn? Also bist du vierzehn?“

„Und wenn schon! Ich bin trotzdem kein kleines Mädchen mehr! Ich kann gut auf mich selbst aufpassen!“

Ich drehte mich um und wollte weitergehen. Doch der Kerl lief mir weiterhin nach, wie ein treudoofer Hund.

„Hab ich ja gesehen“, war seine freche Antwort.

Ich knurrte innerlich. An was für einen Typen war ich da nur geraten? Er war unverschämt, dreist, aufdringlich und... und... na ja. Er sah ganz gut aus. Genaugenommen war er sogar ziemlich hübsch. Aber das war auch schon alles.

Wieder drehte ich mich zu ihm um. „Was willst du sonst von mir, wenn du mich nicht ins Bett bekommen willst, Blödmann? Soll ich mich irgendwie für meine Rettung revanchieren?!“

Er sah mich an und schüttelte den Kopf. „Nein. Ich hab mich nur gefragt, was du damit vorhattest?“ Er hielt mir den Beutel hoch. „Bastelst du an etwas?“

Ich zuckte kurz mit den Schultern und seufzte leise.

„Warum interessiert dich das? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“ Ich sah zur Seite. „War's das jetzt?“

„Mhh... Nicht gerade zufriedenstellend, deine Antwort.“

Ich verdrehte die Augen. „Wenn dir langweilig ist, such dir'n Hobby, aber hör auf, mir auf die Nerven zu gehen, klar!? Ich brauch keinen Stalker!“

Damit wandte ich mich erneut zum Gehen. Mein Magen hing auf halb acht. Mit etwas Glück fand ich vielleicht noch etwas Brauchbares in irgendeiner Mülltonne in der Nähe meines Unterschlupfs.
 

Als ich diesen erreichte war es schon stockfinster.

Mein „Zuhause“ befand sich auf einem Schrottplatz in einer kleinen Ecke. Mit einigen alten Regentonnen und Metallstangen, so wie einer Plane hatte ich mir eine Art Zelt zusammengeschustert, was aber kaum vor Wind und Wetter schützte.

Ich schob einen Teil der Plane beiseite und wollte gerade reingehen, als ich erneut die Stimme dieses Idioten hinter mir hörte. Der war immer noch da?

„Ist das dein Zuhause?“

Ich sah zu ihm. „Ich hab doch gesagt, ich brauch keinen Stalker! Also verpiss dich endlich!“

Doch er sah mich nur an. „Sieht nicht gerade gemütlich aus.“

„Und wenn schon!“

„Wohnst du hier ganz allein?“

Langsam wurde mir das echt zu viel. Ich aktivierte meine alte Duel Disk, die ich mit mir trug und schnappte mir mein Deck aus meiner dunkelbraunen Decktasche, die ich an meinen rechten Oberschenkel festgeschnallt hatte.

„Wenn ich dich in einem Duell besiege, haust du dann ab!?“, fauchte ich ihn an.

Er grinste. „Je nachdem, wie sehr du mich zufriedenstellen kannst!“

Ich schnaubte, während auch er seine Duel Disk aktivierte. Jedoch ohne das Duell-Seil zu benutzen.

Eigentlich hatte ich überhaupt keine Lust auf ein Duell.

Duellieren war etwas, das ich nur tat, weil ich es zum Überleben hier brauchte und nicht, weil ich Spaß daran hatte.

Widerwillig zog ich fünf Karten und startete meinen ersten Zug mit dem Ziehen der sechsten Karte.

Mein Deck war nichts Besonderes. Ein zusammengewürfelter Haufen von Karten, die ich teils auf der Straße gefunden, und teils geklaut hatte. Aber es hatte mir schon oft aus der Patsche geholfen.

Zuerst sah es sogar so aus, als hätte ich die Oberhand gewonnen, aber nach einer Weile merkte ich, dass mein Stalker sehr schnell das Ruder herumgerissen hatte.

Ich hatte nicht wirklich eine Chance gegen ihn, schlug jedoch immer wieder tapfer zurück.

Etwas, das ihn wohl ein wenig beeindruckte.

Zumindest lächelte er recht zufrieden, als er das Duell für sich entscheiden konnte, und trat auf mich zu.

„Gar nicht mal so übel. Zugegeben, es braucht noch etwas mehr, um mich zu befriedigen, aber das war nicht schlecht. Ehrlich gesagt fände ich es gut, dich dabei zu haben.“

Ich sah ihn verwundert an, während ich leicht niedergeschlagen und erschöpft mein Deck in die Tasche zurück stopfte.

Der Beutel mit den Metallteilen war längst vergessen.

„Wo dabei haben?“

Mein Retter sah mich lange an. „Bei Team Satisfaction. Meiner Gang.“

Ich ließ mich einfach im Schneidersitz auf den Boden fallen und hielt mir den Magen.

„Kein Interesse!“, war meine knappe Antwort.

Er ging vor mir in die Hocke und musterte mich eine ganze Weile. „Macht das denn wirklich Spaß? So alleine auf einem Schrottplatz zu hausen, zu stehlen und dahinzuvegetieren?“

Kurz sah ich zu ihm. Er stützte sein Gesicht auf seine Hände. „Ich stell mir das nicht sonderlich berauschend vor...“

Ich starrte wieder auf den Boden und biss mir auf die Unterlippe.

„Denkst du etwa, ich hätte mir dieses Leben freiwillig ausgesucht!?“ Ich konnte fühlen, wie es nass auf meinen Kopf tropfte.

Zu allem Überfluss musste es natürlich nun auch noch regnen.

Ich zitterte leicht und legte meine Arme um mich. Eigentlich hätte ich unter die Plane gehen können, aber nun war mir eh alles egal.

Ich starrte weiter vor mich hin und neben dem Regen fühlte ich auch, wie meine Tränen meine Wangen benetzten.

Ein Grund mehr am besten einfach nur den Boden anzusehen.
 

Ich zuckte auf, als ich eine Hand auf meiner Schulter fühlte und spürte dann, wie mir etwas umgelegt wurde. Nur zaghaft sah ich auf und bemerkte, dass es die braune Weste von dem Jungen war.

Er saß immer noch da. Scheinbar kümmerte es ihn nicht, dass er nass wurde.

„D-Danke...“, murmelte ich leise und kraftlos und sah ihn an. „Du erkältest dich noch...“

Er sah mich auch an und lächelte leicht. „Das Gleiche könnte ich auch sagen. Und das du am Verhungern bist, so wie dein Magen die ganze Zeit knurrt.“

Ich fühlte mich ertappt und errötete leicht. „Sehr witzig.“

Ich sah nach oben in den Nachthimmel.

„Tut mir Leid wegen eben“, hörte ich seine Stimme vor mir. Sie klang viel leiser und sanfter.

Ich zuckte mit den Schultern.

„Darf ich fragen, wie du heißt?“

Flüchtig sah ich wieder zu ihm, aber genauso schnell auch wieder weg. „Ishida. Ishida Ryoko...Und du? Das war irgendwas mit 'K' oder so...“

Ich hörte ihn leise lachen. „Ryoko-chan also. Und ja. Kiryuu Kyousuke ist mein Name.“

Ungehalten verzog ich meinen Mund. Ich hasste es, verniedlicht zu werden. Aber ich fühlte mich zu schwach, um mich jetzt noch zu beschweren.

„Kiryuu Kyousuke... Mhh ein schöner Name...“, murmelte ich und wickelte seine Weste etwas enger um mich. Als ich seine Hand auf meiner Schulter fühlte, sah ich auf.

„Ryoko klingt aber auch sehr schön“, hörte ich ihn sagen und spürte, wie ich errötete.

Irgendwie war es seltsam, einen Jungen so nahe an mich heranzulassen. Ich hatte so etwas zuvor noch nie gemacht.

„Du solltest wirklich mit mir mitkommen, Ryoko-chan. Ich weiß nichts von dir und so aber... ich sehe dir an, dass du nicht glücklich bist mit dem Leben, das du hier führst. Auch wenn ich die Umstände nicht kenne, aber... ich stelle mir das schrecklich vor, so einsam zu sein und nie wirklich Spaß zu haben...“

Ich schwieg eine Weile. Was sollte ich noch sagen? Ich hatte nie wirklich Spaß gehabt in meinem Leben. Erst recht nicht, seit ich vor fast fünf Jahren von Zuhause weggelaufen war.

Vielleicht war ich als kleines Mädchen einigermaßen glücklich gewesen, doch an diese Zeit erinnerte ich mich nicht mehr.

„Wie ist das so in einer Duel Gang? So in... Team Satisfaction? Was macht ihr da?“

Zögernd sah ich ihn an.

Kyousuke erwiderte meinen Blick und lächelte leicht. „Wir sind zwar bisher nur zu viert, aber es ist ziemlich cool. Ich hab mir damals gedacht, da wir nicht aus Satellite herauskönnen, müssen wir uns eben hier ein wenig Action verschaffen. Und nebenbei wird Satellite auch ein klein wenig sicherer. Zumindest macht es ziemlich viel Spaß und es ist quasi als wären wir eine Familie. Alle halten zusammen, helfen und unterstützen sich gegenseitig...“

Ich betrachtete ihn eine Weile stumm. So wie seine Augen beim Erzählen glänzten, musste das alles wirklich schön sein.

Und etwas, das ich so nie wirklich hatte. Spaß, Zusammenhalt, Freunde, denen man vertrauen konnte. Bestimmt war es wunderbar, all das zu besitzen.

Aber passte ich wirklich in so etwas hinein?

„Komm einfach mit mir. Ich werde dir zeigen, wie toll es ist.“

Ich seufzte erneut. Was, wenn das doch nur ein Versuch war, mich ins Bett zu bekommen oder mir anderweitig Schaden zuzufügen? Ich kannte ihn schließlich kaum.

Aber er hatte mir geholfen und mir sogar seine Weste gegeben. Außerdem wirkten seine Augen so ehrlich... Was hatte ich schon zu verlieren?

Langsam nickte ich und stand auf.

„Dann zeig mir mal dein ach so tolles Team.“

Kyousuke erhob sich ebenfalls, grinste und zwinkerte mir zu.

„Es wird dich mit Sicherheit zufriedenstellen!“

Second Satisfaction: Allein unter Jungs

Der Regen prasselte immer noch auf meinen Kopf, während ich Kyousuke schweigend folgte. Den Schrottplatz hatten wir längst hinter uns gelassen und die Gegend, durch die wir nun liefen, wirkte zwar nicht gerade einladender, aber immerhin ein klein wenig freundlicher.

Die Häuser hier in diesem Viertel schienen alle leer zu stehen und wirkten baufällig. Die Wände waren schmutzig und grau verfärbt und der Boden unter meinen Stiefeln war bedeckt mit Kies und Bauschutt. Von weit her konnte ich das Geräusch einer Sirene vernehmen.

Der Geruch in der Luft war durch den Regen zwar etwas klarer geworden, aber es muffelte immer noch nach Müll und Rauch. Einzig die leichte Meeresbrise vom Hafen aus, machte es ein wenig angenehmer.

Gedankenverloren hob ich meinen Kopf und beobachtete Kyousuke eine Weile.

Er war ziemlich groß. Um die eins-achtzig herum, schätzte ich und sportlich schlank. Noch dazu hatte er so verdammt lange Beine, dass ich für jeden Schritt den er tat, mindestens drei machen musste.

Wenn ich so darüber nachdachte, war es das erste Mal, dass ich mir einen Jungen so genau ansah.

Ich schüttelte den Kopf.

Warum tat ich das überhaupt? Diesem Kerl hinterherlaufen. Mein Leben war bisher völlig in Ordnung gewesen, so wie es war und nun war ich auf dem besten Weg, mich auf etwas einzulassen, was ich ganz sicher im Endeffekt bereuen würde.

Mein knurrender Magen ließ mich aus meinen Gedanken hochschrecken.

„Bald sind wir da. Dann hol ich dir etwas zu Essen.“ Kyousuke hatte sich im Gehen halb zu mir gedreht und lächelte mich an.

Ich nickte nur unsicher.

Irgendwie kam mir alles immer noch so surreal vor. So unwirklich wie ein Traum.

Erneut versank ich in Gedanken, ohne groß auf meine Umgebung zu achten. Einzig der salzige Geruch des Meerwassers wurde immer stärker.

Auch der Boden fühlte sich ein klein wenig anders an und ich schrak auf, als ich mit dem Gesicht in Kyousukes Rücken knallte.

„S-Sorry!“, stammelte ich und rieb mir meine Nase.

Kyousuke war stehen geblieben und hatte sich zu mir umgewandt. „Schon gut. Hast du dir weh getan?“

Ich konnte die Röte in meinem Gesicht fühlen und schüttelte den Kopf. „Ich hab nicht aufgepasst“, gestand ich wahrheitsgemäß.

Kyousuke tippte mir mit dem rechten Zeigefinger gegen die Stirn. „Dann muss ich dir wohl beibringen nicht blind durch die Weltgeschichte zu marschieren.“

Ein freches Grinsen huschte über seine Lippen und ich erwiderte dieses mit einem tödlichen Blick. „Halt die Klappe!“

„Mhh irgendwie erinnerst du mich ja ein klein wenig an Jack...“ Kyousuke zerwuschelte mir meine kurzen violetten Haare und ließ seinen Blick zu dem Gebäude schweifen, vor dem wir standen. „Hier sind wir.“

Schnaubend versuchte ich mein Haupt wieder in Ordnung zu bringen und fragte mich innerlich, wer denn nun bitte dieser „Jack“ war.

Dann blickte ich ebenfalls in Richtung des Gebäudes. Die oberen drei Stockwerke waren teilweise eingestürzt, nur das Unterste schien noch intakt zu sein. Eine Feuerleiter führte bis zum Dach hinauf. Ich vermutete, dass es früher einmal eine Schule gewesen war.

Bei genauerer Betrachtung meiner Umgebung, fiel mir auf, dass wir uns auf einem Hügel befanden. Auch wenn es dunkel war und der Mond von Regenwolken bedeckt, so konnte ich dennoch das Meer von hier aus wahrnehmen, welches schwarz und tiefgründig im Regen umher peitschte.
 

Kyousuke stieg vor mir die Feuerleiter nach oben, bis zum zweiten Stockwerk. Die Tür war aus ihren Scharnieren gerissen und lag auf dem Boden. Ich betrat nach ihm den Raum.

Hier drinnen war es noch dunkler als draußen und irgendwie gespenstisch.

„Ich bin wieder da!“, hörte ich Kyousuke plötzlich vor mir rufen und zuckte zusammen.

Seine Stimme hallte von den Wänden wieder und aus dem Schatten traten drei schemenhafte Gestalten hervor.

Draußen ließ der Regen ein wenig nach und der Mond trat hinter den Wolken hervor und warf sein fahles Licht auf meine Gegenüber.

Es waren drei Jungs. Der Größte von ihnen war sogar noch größer als Kyousuke und hatte hellblonde, nach oben abstehende Haare und recht muskulöse Oberarme.

Seine kalten amethystfarbenen Augen musterten mich scharf.

„Wer ist das, Kiryuu?“, fragte er mit tiefer Stimme.

Instinktiv trat ich einen Schritt hinter Kyousuke.

Der Junge in der Mitte wirkte nicht ganz so respekteinflößend. Eher sogar sehr vertrauenswürdig und freundlich. Seine schwarzen zu beiden Seiten abstehende Haare, waren von blonden Strähnen durchzogen. Seine dunkelblauen Augen, soweit ich diese erkennen konnte, machten ebenso einen netteren Eindruck.

„Ein Mädchen?“, murmelte er.

Der Dritte und Kleinste im Bunde besaß eine orangerote Stachelfrisur, die von einem Stirnband noch zusätzlich nach oben gehalten wurde. Ebenso wie ich, besaß er eine Markierung, direkt auf der Stirn, die wie ein „M“ aussah.

Meine bestand lediglich aus zwei Punkten auf meiner linken Wange, die ich mir eingefangen hatte, als ich einmal auf die glorreiche Idee gekommen war, etwas aus dem Lagerhaus der Sector Security zu stehlen.

Der Rotschopf schien in etwa in meinem Alter zu sein und wirkte ziemlich aufgeweckt und energiegeladen.

„Wo hast du die Kleine denn aufgegabelt?“

Ein Grummeln entwich meinem Mund. „Wen nennst du hier, 'Kleine'!?“

Kyousuke legte beruhigend seine Hand auf meine Schulter, die ich jedoch schnell wegschob.

Musste er mich als antatschen?

„Das ist Ryoko-chan. Ich hab ihr heute geholfen, als sie in der Klemme gesteckt hat.“ Er sah zu mir. „Ryoko-chan, das sind Jack Atlas, Fudou Yuusei und Crow Hogan.“ Dabei zeigte er jeweils erst auf den großen Blonden – das war also dieser Jack von dem er eben geredet hatte?-, dann auf den Jungen mit den schwarzen Haaren und schließlich auf den Rotschopf. Alle Jungs trugen die selbe dunkelbraune Weste, wie die, die Kyousuke trug, bevor er sie mir umgelegt hatte.

„Meine Jungs von Team Satisfaction. Keine Angst, sie beißen nicht. Zumindest dich nicht.“
 

Ich schluckte einen großen Kloß in meinem Hals herunter. Lauter Jungs. Diese Duel Gang bestand nur aus Jungs. Und ich sollte hier mitmachen? Als einziges Mädchen!?

Das Gefühl, geradewegs zum Abschuss freigegeben worden zu sein, breitete sich rasend schnell in mir aus.

Bitte, bitte, nicht!, schoss es mir durch den Kopf.

Alles, nur das nicht. Ich hätte wissen müssen, dass das böse Enden würde.

So schnell wie möglich wollte ich das Weite suchen und wandte mich schon zum Gehen.

Kyousuke jedoch reagierte schneller, als ich erwartet hatte und legte seine Hände auf meine Schultern. „Hey, die sind echt alle harmlos.“

Ich warf ihm einen misstrauischen Blick zu.

„Du bringst sie einfach hier her, ohne ihr etwas über uns zu erzählen?“, fragte der Blonde namens Jack und verschränkte seine Arme. Er grinste amüsiert. „Das ist mal wieder typisch für dich, Kiryuu.“

Kyousuke ließ mich los und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Ich hab jetzt nicht gedacht, dass das so schlimm ist...“

Yuusei trat einen Schritt auf mich zu. „Tut mir Leid, falls wir dich erschreckt haben.“

Crow grinste breit und rammte Jack seinen Ellenbogen in die Seite. „Wenn ich ein Mädchen wäre, würde ich bei deinem Anblick auch die Flucht ergreifen!“

„Was soll das jetzt bitte heißen!?“

Mein Blick glitt zwischen den Beiden hin und her und unwillkürlich entfuhr mir ein leises Kichern.

Es musste das erste Kichern seit... seit einer halben Ewigkeit gewesen sein.

Ich bemerkte, wie mich Kyousuke überrascht ansah und mir einfach wieder durch meine Haare wuschelte. „Du kannst ja lachen!“

Innerlich fluchend bekam ich seinen Arm zu packen. „Jetzt lass das endlich! Noch einmal und ich gehe!“

Meine gefauchte Drohung brachte die Jungs dazu, mich baff anzustarren.

Jack hob eine Augenbraue.

„Die Kleine hat Temperament!“, hörte ich Crow mit einem leisen Pfeifen flüstern. „Einfach so unseren Anführer anzuschnauzen.“

Yuusei lächelte verlegen, als wäre ihm das alles gerade ein wenig unangenehm.

Ich verschränkte die Arme und versuchte, den bösesten Blick aufzusetzen, den ich bieten konnte. Sollten sie ruhig alle sehen, dass ich mich nicht einfach wie ein kleines Kind behandeln ließ und auch nicht wie ein schwaches Mädel, das sich nicht wehren konnte. „Und nun?“

Kyousuke schien zumindest etwas aus der Fassung gebracht. Allem Anschein nach, war er es wohl nicht gewohnt, dass man ihm Paroli bot.

Vor allem nicht von Frauen.

Darauf verwettete ich alles. Ein attraktiver Kerl wie er, hatte gewiss viele Verehrerinnen.

Trotzig blieb ich erst einmal stehen und wartete ab.

Mein Magen rumorte erneut hörbar.

„Jetzt....“, begann Kyousuke und lächelte, als er das Grummeln vernahm. „Setzt du dich am besten erst einmal hin und ich hol dir was zu Essen.“ Damit verschwand er um die nächste Ecke des Raumes.

Jack kam zu mir und führte mich zu einer alten, zerschlissenen Couch, aus deren Polsterung schon hier und da Federn hervorsprangen. Vor dieser stand ein kleiner, alter Metalltisch.

Ich setzte mich ohne Murren und hielt mir den Bauch. Da ich auch immer noch nichts getrunken hatte, wurde mir nun doch etwas schwummrig.

Jack ging wieder zu den anderen beiden und ich lehnte mich nach hinten und schloss meine Augen.

Worauf hatte ich mich nur eingelassen?
 

Ich vernahm Schritte, die auf mich zukamen und blinzelte.

Kyousuke war wieder zurück und hatte eine Dose mitgebracht, deren Inhalt soweit ich es entziffern konnte, Limonade enthielt, so wie ein paar verpackte Melonenbrötchen.

„Hier!“ Er drückte mir beides in die Hand und setzte sich neben mich.

Durstig wie ich war, öffnete ich erst einmal die Dose und trank in großen Zügen.

Es war angenehm, nach so langer Zeit diese süße Flüssigkeit auf meiner Zunge willkommen zu heißen.

Nachdem ich getrunken hatte, versuchte ich die eingeschweißten Brötchen aus der Verpackung zu bekommen. Meine Hände waren jedoch so zittrig, dass das nicht so recht funktionieren wollte.

„Lass mich mal machen.“ Ehe ich mich versah, hatte Kyousuke die Packung an sich genommen und geöffnet. Mit einem freundlichen Lächeln hielt er mir eines der süß-gefüllten Brötchen hin, welches ich zaghaft annahm.

Schneller als gewollt, verputzte ich das Brötchen und Kyousuke hielt mir gleich das Nächste hin.

Ich kam mir wie ein halb verhungertes Kätzchen vor, das er aufgefunden und einfach mit nach Hause genommen hatte.

Und ich war mir sicher, dass er in diesem Moment genauso dachte.

Im Glauben, noch nie etwas besseres als Melonenbrötchen aus einem kleinen, billigen Supermark gegessen zu haben, seufzte ich zufrieden nach diesem Mahl und gab einen nicht gerade gewollten Rülpser von mir.

Verlegen hielt ich mir die Hand vor den Mund, doch Kyousuke lachte nur. „Na, satt?“

„H-Halt die Klappe!“, gab ich stammelnd zurück.

„Nicht gerade damenhaft.“, konnte ich Jacks tiefe Stimme sagen hören. Er stand mit Crow und Yuusei einige Meter weiter und ich streckte ihm einfach die Zunge raus. „Blödmann!“

„Und das ist erst recht nicht damenhaft.“ Ein Grinsen umspielte seine Lippen.

Yuusei gab ein Seufzen von sich. „Jack...“

„Jack, jetzt hör auf damit.“

Der große Blonde sah zu Kyousuke, zuckte mit den Schultern und ging langsam in Richtung des Nebenraumes, wo noch immer der Vollmond durch die kaputten Mauern schien.

Gähnend lehnte ich mich zurück. Ich fühlte mich müde und ausgelaugt, aber zumindest war ich nun satt. Ohne groß noch etwas zu sagen, rollte ich mich auf der Couch zusammen und schloss meine Augen.
 

Auf Zehenspitzen schlich ich den dunklen Flur entlang, bemüht, kein zu lautes Geräusch von mir zu geben. Nur noch ein paar Meter und ich hatte mein sicheres Zimmer erreicht.

Nicht mehr lange und -

Eine Hand riss mich am Kragen meines Shirts zurück.

Das Klirren von Glas direkt neben meinem Ohr und die laute Stimme meines Erzeugers.

„Hast du dich schon wieder herumgetrieben!?“

Er drehte mich zu sich um. Ich wurde am Kragen durchgeschüttelt, doch ich sah ihn nicht am

Hielt die Augen geschlossen. Ganz fest.

Ein scharfer Schmerz breitete sich in meiner rechten Wange aus. Dann in meiner Linken. Immer und immer wieder.

Alles schmerzte. Mein Gesicht, meine Arme und Beine, mein Bauch.

Wie ein Häufchen Elend kauerte ich am Boden.

Ein letzter Schlag direkt gegen meine linke Schläfe ließ mich ohnmächtig werden.
 

Ich riss meine Augen auf. Um mich herum war es stockdunkel.

Einzig das fahle Mondlicht erhellte einen Spalt breit den Raum.

Vorsichtig setzte ich mich auf und fasste mir an meine linke Schläfe. Ich strich ein paar Ponysträhnen zur Seite und fühlte die Kontur der kleinen Narbe.

Danke, Arschloch. Fast fünf Jahre war das her und selbst jetzt noch verfolgte mich mein Erzeuger in meinen Träumen.

Benommen versuchte ich aufzustehen und bemerkte die Decke, die auf mir lag.

Sie war alt und völlig durchlöchert, aber sie hatte mir Wärme gespendet, während ich geschlafen hatte. Ich fragte mich, ob Kyousuke sie mir übergelegt hatte. Vielleicht hatte ich gefroren.

Vorsichtig wollte ich sie von mir herunternehmen, als ich Stimmen hörte.

Mir bekannte Stimmen.

Neugierig stand ich auf, tapste leise durch den Raum und schielte um die Ecke.

Ich erkannte die schattenhaften Gestalten von Kyousuke, Jack, Yuusei und Crow, wie sie um einen kleinen Tisch herumstanden, auf dem etwas lag. Was es war, sah ich jedoch nicht.

„Wir haben jetzt schon diese fünf Viertel durch. Ein bisschen Arbeit liegt also immer noch vor uns, Jungs.“, hörte ich Kyousukes Stimme sagen. „Morgen nehmen wir uns den Block vor. Ich denke, Ryoko-chan könnte uns da gut helfen.“

„Bist du dir da sicher, Kiryuu? Ich meine mit der Kleinen. Sie wirkt nicht gerade wie eine starke Duellantin. Duelliert sie sich überhaupt?“

„Sei nicht immer so pessimistisch, Jack. Ich hab mich mit ihr duelliert. Sie ist wirklich nicht schlecht, auch wenn sie gegen mich verloren hat. Und wohin sollte sie sonst, wenn nicht zu uns?“

Wachsam schlich ich mich noch ein Stück näher.

„Du hast uns immer noch nicht verraten, wo genau du sie getroffen hast?“

„Ich hab doch gesagt, ich hab ihr aus der Klemme geholfen, Crow.“

Ich hörte Kyousuke aufseufzen. „Sie wurde von der Duel Gang verfolgt, um die wir uns morgen kümmern. Hatte wohl irgendwas geklaut oder so. Zumindest sind ein paar von denen immer noch unterwegs. Das dürfte lustig werden....“

„Verstehe. Dann kümmern wir uns also morgen um die Übriggebliebenen. Und Ryoko... sie hat kein Zuhause oder so?“

„Sie lebt auf dem großen Schrottplatz. Hat sich da irgendwie eine Art Zelt zusammengebastelt, aber das ist nichts halbes und nichts ganzes. Ich gehe mal davon aus, dass sie eine Waise ist. Aber keine Ahnung... Ich weiß nur, dass sie ein besseres Leben verdient hat, als auf diesem Schrottplatz zu hausen und zu stehlen, nur um zu überleben. Deswegen habe ich sie mitgenommen. Wir könnten zumindest auf sie aufpassen und uns um sie kümmern. Verstehst du, Yuusei?“
 

Ich musste schlucken.

Langsam drehte ich mich um und sank an der Wand herunter, bis ich auf dem kalten Steinboden hockte.

Ich spürte, wie Tränen meine Wangen hinabliefen und schlang meine Arme um mich.

Warum? Warum tat jemand so etwas für mich?

Wie konnte ein Mensch nur so nett sein? Er kannte mich doch gar nicht. Wusste nichts über mich.

War das wirklich Mitleid?

War ich denn wirklich so bemitleidenswert?

Dabei wollte ich kein Mitleid. Ich brauchte keine Aufpasser.

Aber... Aber...

Mein Kopf war so voll mit Fragen und dieser Angst, die sich in mir ausbreitete.

Und auf der anderen Seite war da diese Wärme. Für einen kurzen Moment glaubte ich, tatsächlich ein Zuhause gefunden zu haben. Einen Ort, wo ich hingehörte.

Ich lächelte leicht und schüttelte den Kopf.

Das war doch absurd.

Ich gehörte nirgendwo hin. Auch wenn Kyousuke nett zu mir war. Oder zumindest versuchte, nett zu mir zu sein.

Aber die Wahrheit sah dennoch anders aus. Keiner der anderen wollte mich hier haben. Warum auch?

Vor allem dieser Jack nicht. Und ich war mir sicher, dass Yuusei und Crow auch nicht wollten, dass ich hier blieb.

Sie zweifelten doch scheinbar alle an mir. Ich glaubte ja nicht einmal selber an mich, geschweige denn, dass ich in irgend eine Gruppe passte, die noch dazu nur aus lauter Jungs bestand.

Jetzt war es schon zu spät in der Nacht und so beschloss ich, morgen früh einfach zu gehen.

Dann würde ich auch nicht nutzlos im Weg herumstehen und keiner wäre enttäuscht darüber, dass ich eben keine Top-Duellantin war.

Kyousuke sollte seine Freundlichkeit und Selbstlosigkeit lieber an Jemanden verschwenden, der es mehr verdient hatte, als ich.

Behutsam stand ich auf, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und wankte zu der Couch zurück, wo ich mich wieder unter die Decke kuschelte.

Vor meinem geistigen Auge sah ich schon Kyousukes trauriges Gesicht, wenn er aufwachte und feststellen würde, das ich fort war. Irgendwie schmerzte mich dieser Gedanke.

Ich wusste nicht einmal, warum.
 

Sonnenstrahlen fielen warm in mein Gesicht.

Ich blinzelte verschlafen und setzte mich auf. Noch völlig müde rieb ich mir den Schlaf aus den Augen und fragte mich für einen kurzen Moment, wo ich hier war.

Das war nicht mein selbstgebauter Unterschlupf, sondern ein Gebäude. Leerstehend, mit teilweise kaputten Fenstern, durch die frischer Wind wehte.

Ich lag auf einer alten, von Motten zerfressenen Couch und als ich aufstehen wollte, traf mich der Schreck meines Lebens, als ich einen Jungen vor mir sah, der sitzend, mit dem Rücken an die Couch gelehnt, seelenruhig noch zu schlafen schien.

Ich erkannte die kurzen, knapp nackenlangen silbrig-hellblauen Haare und das violette Stirnband.

Wie vom Blitz getroffen fiel es mir wieder ein.

Die Gang, die mich verfolgt hatte, weil ich Metallteile geklaut hatte, in der Hoffnung, mir ein D-Wheel bauen zu können. Kiryuu Kyousuke, der Junge vor mir, der mich gerettet und hier her gebracht hatte. Das Gespräch von ihm und den anderen drei Jungs von Team Satisfaction, seiner Duel Gang, der ich beitreten sollte.

Ich erinnerte mich an Kyousukes Frechheiten, aber auch an seine Freundlichkeit. Daran, wie er mir seine Weste gegeben hatte, die ich nach wie vor trug; Leicht schmunzelnd zog ich diese nun aus und legte sie ihm über die Schultern; daran, wie er mir Limonade und Melonenbrötchen gebracht hatte, dass er mich wohl zugedeckt haben musste, als ich schon mal eingeschlafen war.

Und ich erinnerte mich daran, dass ich eigentlich vorgehabt hatte, trotz alledem zu gehen.

Ein Vorhaben, das mir nach wie vor im Kopf schwebte.

Behutsam rutschte ich etwas zur Seite, streckte meine Füße aus und schob mich zum Rand der Couch. Ich wollte ihn beim besten Willen nicht wecken.

Zumindest schien meine Angst, dass er oder die anderen Nachts über mich herfallen könnten, unbegründet. Von den anderen fehlte jede Spur und Kyousuke war sogar so anständig, dass er vorlieb mit dem unbequemen Boden genommen hatte, anstatt sich mit zu mir auf die Couch zu legen.

Noch ein Grund mehr, dass es mir innerlich einen Stich versetzte, einfach zu gehen.

Aber ich konnte nicht hier bleiben.

Sacht stand ich auf und wollte an Kyousuke vorbei schleichen.

Weit kam ich jedoch nicht. Ich fühlte eine Hand an meinem Handgelenk und hörte eine Stimme, die mich verschlafen fragte: „Wo willst du hin?“

Ich drehte mich um.

Kyousuke sah mich aus seinen gelbgrünen Augen fragend an.

„Ich...“ Was sollte ich jetzt sagen?

Er ließ mich los, stand auf und streckte sich kurz, wobei sein rotes T-Shirt hochrutschte und mich einen Blick auf seinen sportlich-muskulösen Bauch erhaschen ließ.

Kurz legte er seine Arme hinter seinen Kopf und bewegte seinen Oberkörper nach links und rechts. Die Weste war ihm schon beim Aufstehen von den Schultern gerutscht.

„Wolltest du abhauen?“

Ich spürte, wie ich rot wurde und schüttelte einfach den Kopf. „Ich ehm... w-wollte mal... für ehm... n-na ja... kleine Mädchen...“, brachte ich nur stammelnd hervor. Ich konnte ihm jetzt unmöglich die Wahrheit sagen. Zumal ich langsam wirklich den Drang verspürte, dass die Limonade von gestern raus musste.

Kyousuke bemerkte seine Weste am Boden, hob diese auf und starrte mich mit einem leicht peinlich berührten Gesichtsausdruck an.

Eine kurze, unangenehme Stille trat ein.

Er kratzte sich am Hinterkopf und war ein wenig rot geworden.

„Ehm... Also....“, begann er nuschelnd. Dann nahm er einfach meine Hand zog mich mit.
 

Mit gesenktem Kopf trottete ich hinter Kyousuke her. Ich war mir sicher, dass ich aussehen musste, wie eine überreife Tomate. Zumindest fühlte sich mein Gesicht glühend heiß an, als wir wieder auf dem Rückweg waren.

Auch Kyousuke sagte keinen Ton.

Es gibt Sachen, über die spricht man einfach nicht. Man lässt sie schweigend im Raum stehen und hofft, dass man sie ganz schnell wieder vergisst.

Das eben, war so eine dieser Sachen.

Meinen Fluchtversuch konnte ich nun zumindest getrost vergessen.

Vielmehr fragte ich mich nun, wo die anderen alle hin waren.

Ich setzte mich wieder auf die Couch, als wir wieder in dem Raum waren.

Kyousuke ging noch einmal raus und kam mit zwei Dosen Limonade wieder von denen er mir eine gab, die ich dankend annahm und öffnete.

„Ich hoffe, die Jungs kommen bald her und bringen was mit. Mein Magen hängt durch.“ Er lachte verlegen.

„Wo sind sie denn gerade?“ Eigentlich stellte ich so gut wie nie Fragen, aber es fühlte sich seltsam an, einfach zu schweigen.

„Schätze, bei Martha.“

„Bei Martha?“

Kyousuke nickte und trank einen Schluck aus seiner Dose. „Ihre Adoptivmutter. So weit ich weiß, kümmert sie sich um verwaiste und heimatlose Kinder hier in Satellite. Hat Yuusei, Jack und Crow bei sich aufgenommen, als die noch klein waren.“

„Verstehe...“, murmelte ich vor mich hin und trank ebenso kurz einen Schluck. „Warum lebst du nicht dort?“

Ich hörte Kyousuke neben mir leise lachen. „Was will ich da? Ich bin kein Kind mehr!“

Ich hob meinen Blick von der Dose in meiner Hand und drehte meinen Kopf leicht zu ihm.

Stimmt. Ein Kind war er definitiv nicht mehr. Zuerst hatte ich ihn auf um die achtzehn geschätzt, aber vermutlich war er sogar schon volljährig. Ich wusste es nicht. Wenn es darum ging, das Alter von jemandem einzuschätzen, war ich schon immer eher schlecht.

Ich fragte mich ja, ob er auch eine Waise war, wie es wohl die anderen waren, aber ich traute mich nicht, ihn zu fragen.

„Zumindest kann diese Martha ziemlich gut kochen. Die Jungs bringen oft selbstgekochtes Essen von ihr hier her.“, hörte ich Kyousuke noch sagen.

Ich lächelte leicht. „Scheinen echt tolle Freunde zu sein, wenn sie immer so an dich denken.“

„Die Besten sogar.“ Er legte seine Hand auf meine Schulter. „Ich hab dir doch gesagt, dass sie alle in Ordnung sind.“

„Uhm... Noch kenne ich sie ja nicht so gut.“, nuschelte ich und schreckte hoch, als ich Schritte vernahm.

Yuusei, Jack und Crow waren wohl wieder da.
 

Und ich hatte recht. Die drei kamen zu uns. Yuusei legte eine Tüte auf den Tisch in dem sich dem Geruch nach zu urteilen, Essen drin befand. Und es roch wirklich lecker.

„Morgen. Hab ein paar Bentô-Boxen mitnehmen können.“, sagte Yuusei und verteilte die Boxen aus der Tüte auf dem kleinen Tisch vor der Couch. „Denke Mal, du und Ryoko habt noch nichts gegessen.

Ich schüttelte den Kopf.

„Nicht wirklich.“, gestand Kyousuke und griff gleich zu.

Jack gesellte sich einfach zu uns auf die Couch und lehnte sich nach hinten.

„Martha hat Fragen gestellt.“

„Wegen dem Essen?“

Ich ließ erst einmal Kyousuke in Ruhe mit Jack reden und schnappte mir ein Sandwich aus einer der Boxen. Irgendwie war ich froh darüber, nicht mehr mit Hunger und Durst kämpfen zu müssen.

Yuusei setzte sich auf den Boden und Crow, der mich kurz zu beobachten schien, hockte sich neben ihn und schnappte sich ebenso eine Box. „Wann gefft's eiffentliff lof?“, fragte er nach einer Weile mit vollem Mund und schluckte schnell runter.

Kyousuke beugte sich etwas vor und schnappte sich wieder seine Dose. „So wie ich Ryoko-chan den Plan erklärt hab und worum es geht.“

Er sah wieder zu mir. „Iss erst einmal auf. Wir reden danach.“

Ich schluckte den letzten Bissen meines Sandwiches herunter und nickte.

Ob ich ihm eigentlich sagen sollte, dass ich in der Nacht gelauscht hatte?

Third Satisfaction: Weil ich ein Mädchen bin

Ich stieß einen zufriedenen Seufzer aus nach dem ich mich satt gegessen hatte und wandte mich zu Kyousuke.

„Was ist nun?“

Auch er blickte zu mir, stand von der Couch auf und streckte sich. „Komm mit, dann zeig ich dir, was nun Sache ist.“, sagte er und lief vor.

Auch ich stand auf und folgte ihm.

Wir gingen in den Nebenraum, wo der andere Tisch stand und nun wo es hell war, erkannte ich auch, was darauf lag. Es war eine Karte von Satellite. Sie zeigte die einzelnen Blocks und Viertel an. Ein paar wenige davon schienen mit einem Edding schwarz markiert worden zu sein.

Crow, Yuusei und Jack folgten uns und gesellten sich zu uns.

„Nun. Es geht darum, Ryoko-chan.“ Er zeigte auf die Karte und auf eine Fläche, die noch weiß war.

Durch das Gespräch, dem ich Nachts gelauscht hatte, wusste ich, dass es das Viertel war, wo ich gestern mein Unwesen getrieben hatte.

„Das hier ist das Viertel in dem ich dich gestern gefunden habe. Die Duel Gang, die dort lebt, hat immer noch ein paar Mitglieder übrig und ich bin mir sicher, dass sie sich mittlerweile einen neuen Anführer gesucht haben, nachdem ich den anderen gestern besiegt habe.“

Ich nickte nur schweigend und tat erst einmal noch so, als wüsste ich von nichts.

„Ich habe beschlossen, dass wir uns die übrig gebliebenen Mitglieder vorknöpfen, die da noch für Unruhe sorgen. Allerdings weiß ich nicht, wie viele es noch wirklich sind und-“

„Und da komme ich dann am Besten ins Spiel, um alle quasi zusammenzutreiben oder? Dann spiele ich eben Lockvogel. Immerhin haben die mich sicher noch nicht so schnell vergessen und sind immer noch sauer.“, fiel ich ihm ins Wort.

Kyousuke wirkte überrascht und auch die anderen starrten mich überrascht an.

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich bin gestern Nacht wach geworden und hab euch reden gehört...“

„R-Ryoko-chan. Du...“ Kyousuke wirkte baff. „Eigentlich dachte ich jetzt nicht daran, dass du...“

„Soll ich jetzt helfen oder nicht!?“

Crow und Yuusei zuckten leicht zusammen.
 

Nachdem ich heute früh noch recht handzahm gewesen war, schien ich nach dem Frühstück nun meine alte Kratzbürstigkeit zurückerlangt zu haben.

„Vor allem solltest du mal ein bisschen mehr Respekt vor Älteren haben und nicht einfach anderen ins Wort fallen, du kleiner Giftzwerg!“, fuhr Jack mich ein wenig unwirsch an.

Ich drehte mich zu ihm herum und ballte eine Faust. „Wen nennst du hier 'Giftzwerg', Blondie!?“

„Na dich, du Giftzwerg.“ Auch er funkelte mich an.

„Ich warne dich, ich hab's schon mit viel größeren Typen aufgenommen!“

„Das reicht jetzt!“

Ich zuckte auf, als ich Kyousukes laute Stimme vernahm, warf auch ihm einen bösen Blick zu und verschränkte meine Arme.

Jack sah ebenfalls auf und verschränkte ebenso die Arme.

Crow lachte leise. „Ich habe das Gefühl, dass das noch echt lustig werden kann...“, hörte ich ihn zu Yuusei sagen, der sich nur verlegen den Hinterkopf kratzte und zu Kyousuke sah, der kurz tief einatmete. „Wann starten wir?“

„So wie alles restlos geklärt ist.“

Vorsichtig trat ich weder näher an den Tisch heran.

„Also Ryoko-chan, dann spielst du den Lockvogel. Aber sei bitte vorsichtig. Am besten jemand bleibt von Anfang an in deiner Nähe. Ich würde sagen, das kann Jack übernehmen.“

Ich hörte, wie Jack nach Luft schnappte. „Warum ich!?“

„Weil ihr zwei mal versuchen solltet, besser miteinander klar zu kommen, deshalb!“

„Na danke auch, Idiot...“, murmelte ich leise. Vielleicht hätte ich doch einfach gehen sollten, als ich die Gelegenheit hatte.

Kyousuke schien meine Worte zumindest nicht gehört zu haben und fuhr fort. „Yuusei, Crow und ich kommen dann nach und dann... kann der Spaß richtig losgehen. Also alles klar soweit?“

Yuusei und Crow nickten, nur Jack schnaubte immer noch und ich spielte die beleidigte Leberwurst.

Mit Jack als Aufpasser im Nacken konnte das ja nur scheiße werden.

„Ich glaube, jetzt hasst sie dich, Kiryuu.“, hörte ich Crow lachend sagen.

Yuusei kam auf mich zu. „Tut mir Leid wegen Jack. Er ist manchmal etwas grob, aber er meint es im Grunde nie so.“

„Mhh. Und ich kann's nicht leiden, wenn man mich anschnauzt und frech zu mir ist.“

Yuusei lächelte leicht. „Ich denke, das mag niemand. Aber wie gesagt, lass dich einfach nicht von ihm ärgern. Er ging an mir vorbei und legte im Vorbeigehen kurz seine Hand auf meine Schulter.

Innerlich seufzend trottete ich zu Kyousuke. Ich war noch nicht einmal ganz vierundzwanzig Stunden hier und schon hatte ich Jemanden gefunden, mit dem ich mich garantiert dauerhaft in die Haare bekommen würde.
 

Kyousuke trat auch auf mich zu. „Tut mir Leid, dass ich jetzt vielleicht-“, begann er, doch ich winkte ab. „Spar's dir einfach. Ich werd's schon überleben.“

Kyousuke lächelte leicht. „Warte eben mal hier. Ich muss dir ja noch was geben.“

Ich nickte nur und blieb erst einmal bei dem Tisch stehen.

Kurze Zeit später kam Kyousuke wieder. In den Händen hielt er eine braune Weste, die genauso aussah wie seine und die der anderen und ein paar gürtelartiger Armbänder, wie Jack, Crow und Yuusei sie an den Oberarmen trugen.

„Für dich. Da du ja nun ein Mitglied von Team Satisfaction bist, solltest du auch unsere Markenzeichen tragen.“

Ich fühlte, wie ich leicht rot wurde. Nur zögerlich nahm ich die Sachen an. Ich war mir immer noch nicht wirklich sicher, ob ich hier bleiben wollte oder nicht.

Aber Kyousukes strahlende Augen in diesem Moment, ließen es nicht zu, dass ich ablehnte.

Vorsichtig schlüpfte ich in die Weste. Sie passte mir sogar unerwartete Weise, auch wenn sie ein wenig zu weit war. Aber immerhin stimmte die Länge.

Dann legte ich mir mit Kyousukes Hilfe die Armschnallen um.

Irgendwie kam ich mir nun doch ein bisschen verwegener vor, als vorher.

Und so langsam schlich sich nun doch die Aufregung durch meinen Körper. Ich konnte das Kribbeln überall in mir spüren.
 

Ich lief neben Jack her. Mit ihm Schritt zu halten war sogar noch schwieriger, als bei Kyousuke.

Schweigend schaute er sich immer wieder um. Wir waren zu dem stillen Einverständnis gekommen, dass am Besten keiner von uns etwas sagte. Andernfalls hätte ich ihm wahrscheinlich schon längst zwischen die Beine getreten, wenn er mir gegenüber wieder seinen Mund zu weit aufgerissen hätte.

Wenn ich eines wusste, dann dass ich mit diesem Kerl niemals warm werden würde. Nicht heute und auch nicht in hundert Jahren. Da konnte Kyousuke so viel versuchen, wie er wollte.

Wir hatten beinahe das Viertel erreicht. Der Gestank von Müll und Rauch wurde wieder stärker und übertünchte den Geruch des Meeres.

Jack rümpfte die Nase. „Hier riecht's schon so nach Ärger...“

„Was hast du erwartet? Rosen und Kirschblüten?“

Jack ging weiter, ohne mich anzusehen. „Sehr witzig.“, murmelte er. „Frag mich ja, warum Kiryuu dich mitgenommen hat. Vorher hat er auch noch nie irgendwen mitgebracht.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Frag mich was leichteres. Ich hab ihn nicht darum gebeten, falls du das denkst. Wenn's nach mir gegangen wäre hätte er mich auch einfach stehen lassen können.“

Neben mir hörte ich Jack schnauben. „Du hättest ja auch einfach wieder gehen können. Niemand zwingt dich, bei uns mitzumachen.“

Ich steckte meine Hände in meine Hosentaschen und kickte einen Stein weg, der vor mir lag. „Hatte ich auch erst vorgehabt, aber...“

„Aber?“
 

Ich wollte gerade antworten, aber Schritte, die näher kamen, ließen mich verstummen.

„Das wird wohl das Empfangskomitee sein.“

Ich nickte nur und tatsächlich traten wenig später die übrig gebliebenen Mitglieder der Duel Gang aus ihren Verstecken.

„Sieh an, Sieh an. Wenn das nicht unsere kleine Mistkröte von gestern ist...“

„Und wie es aussieht hat sie sogar einen Wachhund mitgebracht...“

Ich hörte Jack neben mir grummeln. „Ich glaube, ihr verwechselt da was!“

„Ach ja?“

Ich drehte meinen Kopf in Jacks Richtung und sah dann wieder zu den Mitgliedern der Duel Gang.

„Ich brauche sicher keinen Wachhund. Mit euch Idioten werde ich auch allein fertig!“, rief ich und grinste leicht. „Fangt mich doch, wenn ihr könnt! Oder seid ihr dafür zu lahmarschig!?“

So schnell ich konnte, rannte ich zwischen den Kerlen hindurch, bevor sie etwas anderes tun konnten.

„Ryoko!“, konnte ich Jack nach mir rufen hören, aber das interessierte mich herzlich wenig.

Schließlich wollte ich ja Lockvogel spielen um alle Mitglieder aus ihren Verstecken zu locken.

Ich lief weiter und bemerkte, dass auch nach und nach noch die restlichen Typen ankamen.

Gut so. Genau wie ich es wollte. Sollten sie mir alle brav folgen... direkt in ihren Untergang.

Zwischen den einzelnen Straßen und Gassen führte ich meine Verfolger durch. Manche gaben schon auf halbem Weg auf.

Mein Ziel war eine alte, verlassene Lagerhalle am Ende der Hauptstraße.

Als ich diese erreicht hatte, kletterte ich durch das kaputte Fenster im Erdgeschoss.

Ich keuchte kurz und hielt mir die rechte Bauchseite. Vom Rennen hatte ich Seitenstechen bekommen.

Hinter mir vernahm ich die Schritte meiner Verfolger. Fünf waren noch übrig.

Ich wusste nicht, ob Kyousuke und die anderen schon auf dem Weg waren und vielleicht schon diejenigen besiegt hatten, die ich hatte abhängen können.

„So, du Kröte...“, hörte ich einen sagen, der wohl der neue Anführer sein musste.

Ich schauderte, als er sich über die Lippen leckte. „Jetzt bist du aber so richtig fällig...“

Er sah zu seinen Kumpels. „Schnappt sie euch!“

Zum Kämpfen bereit aktivierte ich meine Duel Disk und wolle das Duell-Seil, dass nun auch an meinem Gürtel befestigt war schon wie ein Lasso schwingen, als ich merkte, dass die Kerle nicht auf ein Duell mit mir aus waren, sondern Handgreiflichkeiten vorzogen.

Scheiße!, schoss es mir durch den Kopf und versuchte wegzulaufen, doch knickte dabei um.

Jetzt war ich echt geliefert.

Zu Viert hielten sie mich fest und drückten mich zu Boden.

„Lasst mich los!“, fauchte ich und versuche es mit treten. Jedoch brachte das genauso wenig, wie um mich schlagen oder beißen. Diese Kerle waren mir körperlich einfach viel überlegener.

Der Anführer kam dreckig grinsend auf mich zu und ich schluckte leicht.

Wenn ich mich nicht aus dieser misslichen Lage befreien konnte, würde es sicher gleich „Leb' wohl, holde Jungfräulichkeit“, heißen.

„Nun. Scheint, als würde kein edler Ritter nun kommen um die Prinzessin retten....“, sagte der Anführer mit einem süffisanten Unterton in der Stimme und knackste mit den Schultern.

Er ging vor mir in die Hocke, grinste erneut und entblößte dabei seine gelben Zähne.

Wie widerlich konnte ein Mensch eigentlich sein?

Ich knurrte leise. „Dein Pech nur, dass ich keine Prinzessin bin und auch keinen Ritter brauche!“, zischte ich und versuchte dabei so bedrohlich wie möglich zu klingen.

Aber der Kerl lachte nur und bekam mein Kinn zu packen.

„Ganz schön frech für so ein kleines Mädchen... Und vor allem für so ein kleines Mädchen in einer so aussichtslosen Lage wie deiner.“

Ich funkelte ihn an und spuckte ihm einfach ins Gesicht.

„Nenn' mich nie wieder kleines Mädchen!“

Wie wild zappelte ich umher um mich zu befreien, doch je mehr ich mich bewegte, umso schraubstockartiger wurden die Griffe der anderen Jungs.

Ihr Anführer wischte sich über das Gesicht. „Du kleine Schlampe!“

Er holte zu einem Schlag aus und ich schloss die Augen.

Ich hätte wissen müssen, dass mir keiner zu Hilfe eilen würde.

„Nehmt eure dreckigen Pfoten von meiner Kleinen!“

Ich zuckte auf, fühlte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg und stieß einen ungewolltes hohes Lachen aus.
 

Der Ritter hatte ja doch den Weg zu seiner Prinzessin gefunden. Welch Ironie.

„Wa- Du!?“, brüllte der Anführer und ließ mich los.

„Und nicht nur ich!“

Kyousuke stand auf dem metallen Steg, zu dem man über eine Treppe gelangte. Neben ihm standen Yuusei, Crow und auch Jack, der mich wohl eingeholt hatte. Kyousuke, Crow und Yuusei trugen schwarze Capes und wirkten wirklich wie dunkle Rächer, die man aus amerikanischen Comics kannte.

„Kiryuu-kun!“, rief ich ungewollt laut und er erwiderte das mit einem leichten Grinsen, schnappte sich einen der Haken, die an Seilen von der Decke baumelten und schwang sich damit über das Geländer des Stegs. Direkt vor meiner Nase sprang er ziemlich behände ab und schnappte sich meinen Arm. Mein Herz machte einen kurzen Aussetzer, als er mich leicht an sich drückte. „Du warst wirklich mutig, Ryoko-chan.“

„Einfach zu Fünft auf ein Mädchen loszugehen ist ziemlich uncool.“, hörte ich Crow sagen, der sich auch herunter geschwungen hatte.

„Ihr solltet euch lieber Gegner in eurer Größe suchen.“ Jack war nun auch unten und ich verzog mein Gesicht zu einer Schmollschnute.

Meine Verfolger, die sich nun offensichtlich nicht mehr so wohl fühlten, suchten eine Fluchtmöglichkeit. Einer versuchte zu dem Ausgang zu laufen, wurde aber von Yuusei und dessen Duell-Seil festgehalten. „So einfach geht es hier nicht raus!“

„Zeit, ein wenig Spaß zu haben!“, sagte Kyousuke und zwinkerte mir zu. „Bist du bereit?“

Ich nickte zaghaft. Noch immer war ich ein klein wenig verstört darüber, ihm SO nahe zu sein.

Er ließ mich los, schnappte sich auch sein Duell-Seil, wie es mittlerweile auch Crow und Jack getan hatten, und hielt einen der Kerle damit am Arm fest.

Ich beobachtete noch, wie er seine Duel Disk aktivierte und richtete dann meinen Blick auf den Anführer. Ich gegen ihn?

Ich warf Kyousuke einen ungläubigen Blick zu, den dieser aber nur mit einem Grinsen kommentierte.

Kurz schluckte ich und versuchte mir Mut zu machen.

„Jetzt kommt die Rache für eben!“, knurrte ich und hielt ihn ebenso mit meinem Duell-Seil fest.

Ich aktivierte meine Duel Disk, holte mein Deck hervor, steckte es in die Deck-Halterung und los konnte es gehen.

„Du wirst so was von untergehen, du kleine Mistkröte!“, grummelte mein Gegner nur.
 

Das Duell lief für mich zuerst wirklich nicht gut. Zugegeben, der neue Anführer hatte echt was drauf.

Aber ein Fehler seinerseits ließ mich Hoffnung schöpfen, als er mich achtlos direkt angriff und dabei meine verdeckte Fallenkarte nicht mit einplante, die sein Monster zerstörte.

Meine Lebenspunkte standen nur noch bei 500 und wenn ich jetzt nichts gescheites zog, war ich verloren.

Ich war wieder dran, sah mir die gezogene Karte an und lächelte leicht.

Mein Gegner hatte keine verdeckten Karten und auch kein Monster, dass ihn beschützen konnte.

„Ich rufe meinen Hellway Patrol im Angriffsmodus und greife damit deine Lebenspunkte direkt an!“

Die Lebenspunkte meines eben noch so siegessicheren Gegners fielen von 4000 auf 2400.

„Du kleines Biest!“, fauchte er.

Ich grinste nur leicht und beendete meinen Zug mit einer verdeckten Karte. Jetzt würde ich den Spieß umdrehen!

Tatsächlich schaffte er es ein Monster mit einem Angriff von 1700 zu beschwören und mein Monster damit zu zerstören. Meine Lebenspunkte fielen auf 400 runter, aber das war genau dass, was ich gewollt hatte.

Als ich dran war, nutzte ich den Zweiteffekt meines Monsters, in dem ich es aus dem Friedhof verbannte, denn dadurch war es mir möglich, ein Unterweltlermonster mit einem Angriff von 2000 oder weniger als Spezialbeschwörung von meiner Hand zu beschwören.

Ich entschied mich für Knight of Dark World – Zure.

Kurz warf ich einen Blick zu Kyousuke, der seinen Gegner schon längst besiegt hatte und mir gespannt zusah, wie ich mich schlug.

Auch die Anderen waren längst fertig und hatten ihre Duelle gewonnen.

Beobachtet zu werden, machte mich nervös, aber ich versuchte diese Nervosität herunterzuschlucken, aktivierte meine Fallenkarte Call of the living dead und holte damit meine Dark Valkyria aus dem Friedhof zurück. Dann aktivierte ich die Zauberkarte Gigantic Transformation und rüstete meine Valkyria damit aus, was ihren Angriff verdoppelte, da ich weniger Lebenspunkte hatte, als mein Gegner.

Dieser schluckte kurz.

Mit Zure zerstörte ich sein Monster, was seine Punkte auf 2300 fallen ließ und dann griff ich mit Valkyria an.

Es gab eine große, holografische Explosion und ich wischte mir zufrieden den Schweiß von der Stirn.

Mein Gegner sank zu Boden und seine Duel Disk rauchte.

Ich löste mein Duell-Seil von dieser und drehte meinen Kopf wieder in Richtung der Jungs.

Irgendwie fühlte ich mich unglaublich erleichtert und auch zum ersten Mal seit langem ungewohnt glücklich und zufrieden.

Ich hatte es geschafft. Ich hatte meine Bestandsprobe gemeistert.

Kyousuke trat auf mich zu und lächelte. Kumpelhaft legte er einen Arm um meine Schulter. „Gut gemacht, meine Kleine.“

Ich konnte erneut die Hitze auf meinem Gesicht fühlen und mein Herz gegen meine Brust schlagen hören.

„L-Lass das!“, rief ich und wand mich aus seiner Umarmung. „I-Idiot!“

Kyousuke lachte nur und auch die anderen lächelten mir zu. Selbst bei Jack war ich mir sicher, ein kurzes Lächeln über seine Lippen huschen zu sehen.

„Ich würde sagen, damit ist nun klar, dass Ryoko-chan ab heute ein vollwertiges Mitglied von Team Satisfaction ist.“, sagte Kyousuke und ich kratzte mir verlegen an meiner rechten Wange.

„Du hast echt was drauf, Ryoko-chan!“, grinste Crow.

„Gar nicht mal sooo schlecht...“, merkte auch Jack an.

„Das war ein gutes Duell.“, sagte Yuusei.

Ich blickte von einem zum anderen und dann wieder zu Kyousuke, während ich mein Deck zurück in meine Tasche steckte.

Mein Gegner hatte sich aufgerafft und kam unerwartet auf mich zu gerannt, um sich erneut auf mich zu stürzen.

Gekonnt wich ich jedoch auf und verpasste dem Kerl einen gezielten Tritt zwischen die Beine, was meine neuen Teamkameraden allesamt aufzucken ließ.

„Autsch.“, kommentierte Kyousuke meine Aktion mit hochgezogener Augenbraue.

„Du kleine Göre... wie.. wieso...?“, fluchte der Anführer der gegnerischen Duel Gang und ich warf ihm einen kühlen Blick zu.

„Weil ich ein Mädchen bin!“
 

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Kartenerklärung:

Hellway Petrol - Stygianische Straßenwache

Knight of Dark World - Zure - Zure, Ritter der finsteren Welt

Call of the living dead - Ruf der Gejagten

Dark Valkyria - Finstere Valkyre

Gigantic Transformation - Megawandler

Fourth Satisfaction: All diese Gefühle...

Ich saß auf der alten Couch. Vor mir stand eine frische Dose Limonade und eine leere Packung Melonenbrötchen, die Kyousuke zur Feier des Tages besorgt hatte.

Gerade redete er mit Crow und Yuusei. Seine Stimme überschlug sich fast vor Begeisterung.

Jack, der links von mir, am anderen Ende der Couch saß, hatte mal wieder die Arme verschränkt und schien vor sich hinzustarren. Keine Ahnung, ob das eine neue Form von Meditation war oder einfach nur reines Desinteresse.

Ich nippte leicht an der grün-weiß gesprenkelten Dose.

Jetzt so im Nachhinein wurde mir übel, wenn ich nur daran dachte, was diese Typen mit mir angestellt hätten, wenn Kyousuke und die Anderen nicht dazwischen gegangen wären.

Ich spürte, wie ein Schauer auf meinem Rücken den Nächsten jagte. Ich hatte so viel Adrenalin im Blut gehabt, dass ich kaum Angst verspürt hatte.

Nun doch. Eigentlich schon.

Aber ich hatte es in diesem Moment kaum registriert.

Jetzt jedoch überkam es mich wieder. Dieses alte, vertraute Gefühl.

Kurz kniff ich die Augen zusammen. Egal was ich tat. Meine Kindheit würde mich immer wieder einholen.

Manchmal realisiert man erst welche Angst man eigentlich hat, wenn alles schon vorbei ist.

Die Freude über meine Rettung, die Freude über meinen Sieg. Für einen kurzen Moment hatte ich alles vergessen.

Aber es würde nicht aufhören. Nie.

„Ryoko-chan? Bist du okay?“

Die sanfte Stimme Kyousukes riss mich aus meinen Gedanken.

Er hatte sich neben mich gesetzt und sah mich mit besorgtem Blick aus seinen gelblich grünen Augen an.

„Du zitterst... Ist dir kalt?“

Ich schüttelte meinen Kopf. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich einen Arm wohl unbewusst um mich gelegt und meine Limonaden-Dose halb zerdrückt hatte. Der Inhalt, der noch fast vollen Dose, sprudelte fröhlich und klebrig über meine Finger. Meine rechte Hand, in der ich sie hielt, zitterte wirklich extrem.

„Alles okay.“, log ich, stellte meine Dose auf den Tisch und stand auf. „Ich brauch ein wenig frische Luft.“
 

Leise verließ ich den Raum und ging durch den kahlen Nebenraum. Nur flüchtig warf ich einen kurzen Blick auf die Karte, die noch auf dem Tisch dort lag. Die Fläche des Viertels, wo wir heute gewesen waren, war nun auch schwarz markiert.

Ich ging weiter, bemerkte einen weiteren kleinen Holztisch, auf dem irgendwelcher technischer Krempel lag. Was genau es war, vermochte ich nicht zu sagen.

Wer konnte sich hier bitte einen solchen Luxus leisten?

Mir kam in den Sinn, dass Jack, Crow und Yuusei ja ein richtiges Zuhause hatten.

Eine Pflegemutter, die sich um sie kümmerte und für sie kochte.

Irgendwie beneidenswert.

Schließlich blieb ich stehen. Direkt vor der offenen Seite dieses Stockwerks von wo aus mir kühler Wind entgegen wehte.

Vor mir erstreckten sich ein paar kleine Häuser in der Ferne. Das Meer wirkte heute ruhig und friedlich und nicht so stürmisch, wie am Abend zuvor.

War das wirklich erst einen Tag her?

Es war so viel passiert. Fast kam es mir vor, als wäre ich jetzt schon ewig hier.

Ich genoss die Ruhe. Die Stille, die nur ab und an von den Rufen der Möwen durchbrochen wurde.

Alles wirkte von hier oben so friedlich, beinahe idyllisch.

Der salzige Geruch des Meeres und der Anblick des Himmels, dessen azurblau immer mehr von einem sanften rotorange durchzogen wurde.

Beides ließ mich mit einem Gefühl der Sehnsucht zurück.

Einfach an nichts zu denken. Nur genießen, auch wenn mein Herz dabei schwer wurde.

Das Orangerot wurde immer kräftiger. Kämpfte sich unermüdlich durch das helle Blau und das Weiß der Wolken, bis alles miteinander verschwamm.

Eine Möwe flog an mir vorbei und ich wünschte mir, ich könnte einfach hinterher fliegen.
 

Eine Hand auf meiner Schulter ließ mich zusammenzucken.

„Du magst Sonnenuntergänge und das Meer wirklich gern oder?“

Ich drehte meinen Kopf zu Kyousuke, der neben mir stand.

Ich zuckte mit den Schultern.

„Und wenn schon.“, gab ich in meiner Ruhe gestört, grummelnd von mir.

Ich hörte ihn leicht lachen. „Schmollst du etwa schon wieder?“

Die Röte kroch mir ins Gesicht. Zumindest fühlte ich, dass ich wohl rot geworden war.

„H-Halt die Klappe, I-Idiot!“

„Uhh..“

Er nahm seine Hand wieder von meiner Schulter und stellte sich vor mich.

Ehe ich reagieren konnte, hatte er mich an meinen Wangen gepackt und zog sanft an ihnen. „Kleine Schmollbacke. Lach doch mal. Soll gesund sein, hab ich gehört.“

„Sch-Schnauffe!“

„Hm... Bist du eigentlich kitzlig?“ Er ließ meine Wangen wieder los und grinste unschuldig.

„Wag' es dich und du bist tot! Ich schwöre, ich-“

Weiter kam ich nicht, als Kyousuke mich einfach schon in einen sanften Schwitzkasten genommen hatte und mir den Bauch kitzelte.

Bah, wie ich ihn hasste! Diesen verdammten...

Ohne es zu wollen, fing ich laut zu lachen an. „L-Lass das! Hör auf!“, prustete ich halb fluchend, halb lachend, bis Kyousuke von mir abließ.

„Na also, geht doch!“, sagte er mit einem triumphierenden Grinsen, während ich mir keuchend den Bauch hielt.

„Mistkerl! Das bekommst du alles zurück!“

Unvorbereitet, wie er war, sprang ich einfach auf seinen Rücken, legte einen Arm um seinen Hals und zerwuschelte ihm mit meiner anderen Hand die Haare. „Ich hasse dich! Ich hasse dich! Ich hasse dich! Du bist doof! Du bist doof! Du bist doof!“

„H-Hey, meine Haare!“, hörte ich ihn halb jammern, halb lachen und grinste zufrieden.

Mit Leichtigkeit sprang ich von seinem Rücken wieder runter und verschränkte die Arme.

Aus den Augenwinkeln sah ich zu ihm und streckte ihm meine Zunge raus.

„Das hast du nun davon!“

Kyousuke richtete sich seine Frisur, bis jedes silbrig glänzende hellblaue Haar wieder an der richtigen Stelle saß. „Ach ja?“

Ich stieß einen ungewollten Schrei aus, als er mich wieder in einen Schwitzkasten nahm und mir die Haare zerwuschelte. „Du bist ein kleiner Teufel, Ryoko-chan!“, rief er dabei lachend.

„L-Lass das! S-Selber Teufel! Mistkerl! IDIOT!“
 

Als unsere Rangelei endete, war es bereits dunkel. Der Mond schien vom Himmel auf uns herab.

Kyousuke und ich saßen auf dem harten Betonboden und lachten immer noch.

Ich konnte mich gar nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal so viel Spaß gehabt hatte.

Es musste ewig her sein.

Nach einer Weile hörte ich auf zu lachen und lächelte zufrieden.

„Du siehst glücklich aus.“, bemerkte Kyousuke.

Ich veränderte meine Sitzposition zu einem Schneidersitz.

„Ach, sei ruhig!“

Er lächelte mich an. „Zumindest wirkst du jetzt nicht mehr traurig, so wie vorhin.“

Ich blinzelte verlegen und rieb mir mit meinem Zeigefinger die rechte Wange.

„Tja... Uhm... Das...“

Ich drehte meinen Kopf zur Seite.

Dann stand ich auf und blieb neben ihm stehen.

Sanft beugte ich mich zu ihm runter und klopfte ihm sacht mit meiner Faust auf den Kopf. Ganz leicht nur, ohne ihm weh zu tun. „Danke fürs Aufmuntern, Kiryuu-kun.“

Kyousuke rieb sich kurz den Kopf und drehte sich zu mir um. „Kein Problem und... wenn du magst, kannst du Kyousuke zu mir sagen.“

Wieder fühlte ich die Hitze in mein Gesicht steigen und mein Herz pochte laut gegen meine Brust.

Ich konnte ihn doch nicht einfach beim Vornamen nennen! Er war immerhin älter als ich und… und keiner hier tat das!

„Aber d-das...“, gab ich stammelnd von mir. Ich musste gerade einmal mehr aussehen, wie eine überreife Tomate. „D-Das g-geht doch... i-ich meine...“

„Ich hätte kein Problem damit.“

Er lächelte mich weiter an.

Völlig durch den Wind drehte ich mich um und hielt mir kurz meine Wangen.

Das Klopfen meines Herzens schien einen neuen Level erreicht zu haben und mein Magen fühlte sich seltsam an. Als würden meine Eingeweide Tango tanzen. Urgh...

Das war ein seltsames Gefühl. Irgendwie total schräg.

„Ich denke... Ich sollte ins Bett gehen.“, nuschelte ich und verschwand wieder nach drinnen.

Ich trottete an Yuusei und den anderen vorbei, die uns wohl die ganze Zeit zugesehen hatten.

„Hat er der Kleinen gerade echt angeboten, ihn beim Vornamen zu nennen?“, konnte ich Crow leise zu Yuusei sagen hören.
 

Ich entschied mich dazu, noch einen Abstecher ins Badezimmer zu machen, welches einen Stockwerk unter diesem lag.

Das Licht funktionierte zwar noch, aber die Lampe flackerte sehr stark. Der geflieste Boden sah alles andere, als schön aus. Die Rillen zwischen den Fliesen waren schmutzig und an den Wänden und der Decke freute sich der Schimmel über seine Existenz.

Wie bei einer typischen Schultoilette, standen nebeneinander auf der von mir aus rechten Seite vier Kabinen. Manche von ihnen waren sogar mit Edding bemalt oder mit Graffiti besprüht.

Ich wusch mir meine Hände. Die Finger an meiner rechten Hand fühlten sich immer noch klebrig von der Limonade an.

Das Wasser wirkte leicht bräunlich von Kalk und Rost. Nicht gerade das, was man gerne zum Reinigen seines Körpers benutzen würde.

Ich warf einen Blick in den Spiegel. Er war an manchen Stellen gesprungen und teilweise beschlagen. Meine Wangen glühten immer noch rosig.

Ich stieß einen kurzen Seufzer aus. Was machte dieser Kerl nur?

Gestern noch hatte ich ihn für einen angeberischen Vollidioten gehalten. Und für einen Stalker, so wie er mir hinterhergelaufen war.

Und nun? Ehrlich gesagt wusste ich nicht, was nun war.

Ich hasste ihn nicht. Ob ich ihn mochte, wusste ich auch nicht. Ich kannte ihn zu wenig und doch beschlich mich das Gefühl, als könnte ich ihm voll und ganz vertrauen. Etwas, das ich sonst nie tat.

Den anderen gegenüber hegte ich noch keinerlei Vertrauen. Nicht einmal zu Yuusei, obwohl dieser sehr nett zu sein schien.

Jacks Art bereitete mir Magenschmerzen und bei Crow wusste ich nicht, was ich von ihm halten sollte.

Einzig bei Kyousuke fühlte ich mich wirklich wohl. Er war irgendwie anders. Vielleicht lag es daran, dass er älter war. Das er eben kein Teenager mehr war, so wie die Anderen und ich.

Er mochte zwar wirklich manchmal ein Angeber sein, aber er konnte auch genauso freundlich sein und hilfsbereit.

Obwohl ich sonst niemandem vertraute, aber er schien einfach ein gutes Herz zu haben und sich wirklich um die Menschen zu Sorgen, die ihm wichtig waren.

Auch wenn ich ihn gerade einmal einen Tag kannte, aber das hatte ich bereits festgestellt.

Ganz anders als ich, die bisher immer egoistisch war und nur an sich selbst gedacht hatte.

Ich besaß absolut keinen Teamgeist. War eine Einzelkämpferin. Deswegen passte ich im Grunde gar nicht hier her.

Fort wollte ich aber auch nicht mehr. Ich wollte hier bleiben. Mich auf dieses Abenteuer einlassen.

Dem Abenteuer „Freundschaft“ entgegentreten.

Das kennenzulernen, was ich nie wirklich gehabt hatte und vor allem... wollte ich Kyousuke besser kennenlernen.
 

Irgendwie konnte ich immer noch nicht glauben, dass er mir dieses Angebot gemacht hatte, ihn beim Vornamen zu nennen. Es war im Grunde ja nichts verwerfliches, aber es trieb mir die Röte ins Gesicht und brachte mich in Verlegenheit. Irgendwie war es mir unangenehm, weil es so... intim war. Aber auf der anderen Seite freute es mich auch.

Ich ertappte mich dabei, wie ich mein Erscheinungsbild im Spiegel genauer betrachtete.

Es musste ewig her sein, dass ich mich in einem Spiegel gesehen hatte.

Ich wischte über die beschlagene Oberfläche.

Blaugrüne Augen blickten mir kritisch dreinschauend entgegen.

Meine lilafarbenen, nackenlangen Haare wirkten recht spröde an den Spitzen und noch zerzaust, durch die Rangelei und den Wind.

Bis auf meine Wangen aktuell, wirkte meine Haut unglaublich blass. Fast wie Porzellan.

Mein Gesicht war eigentlich das Einzige, was ich an mir mochte.

Ich empfand es persönlich zwar nicht als extrem hübsch, aber zumindest musste ich mir auch keine Papiertüte über den Kopf stülpen.

Ich grinste für einen Moment schief, als ich daran dachte, wie mir mal vor einem Jahr ein Junge in meinem Alter gesagt hatte, ich würde hübsch aussehen.

Er hatte aber auch nur meine Durchschnittsvisage gesehen.

Alles andere verbarg ich ja mehr oder weniger unter meinen Klamotten.

Unter meinem schwarzen Shirt. Es mochte bauchfrei sein - nur, weil es mir über die Jahre hinweg zu kurz geworden war -; aber es besaß einen Rollkragen und um meinen Hals trug ich einen roten Schal.

Je länger ich mich im Spiegel betrachtete, umso mehr fragte ich mich, was Kyousuke eigentlich von mir hielt. Was war ich eigentlich für ihn? Er hatte mich einfach mitgenommen. Aber warum?

Jacks Gerede von heute Mittag fiel mir unweigerlich wieder ein.

„Frag mich ja, warum Kiryuu dich mitgenommen hat. Vorher hat er auch noch nie irgendwen mitgebracht.“

Ja, ganz ehrlich. Das fragte ich mich auch. Brauchte er einfach jemand neues im Team? Oder war es Mitleid gewesen?

Aber laut Jack war ich die Erste, die Kyousuke mitgebracht hatte. Die erste Person, die er nach ihnen mit dabei haben wollte.

Für ein paar Sekunden verfiel ich dem Gedanken, er könnte sich auf den ersten Blick in mich verliebt haben.

Aber dieser Gedanke war so lächerlich und unrealistisch, dass ich selber laut darüber lachen musste.

Ja sicher. Bestimmt war ich für ihn nur ein kleines Gör. Zumal er mich genauso wenig kannte, wie ich ihn.

Und wenn er SIE sehen würde, würde er eher das Weite suchen.

Ich schlug mir gegen den Kopf.

Aus, Ishida Ryoko! Das reicht jetzt!

Dass ich überhaupt an so etwas dachte oder mir plötzlich Gedanken um mein Aussehen machte.

Ich streckte mir selber die Zunge raus. „Ich brauch das nicht!“
 

Yuusei, Crow und Jack waren bereits wieder weg, vermutlich auf dem Weg, zurück zu Martha, als ich zurück kam.

Kyousuke brütete über dem Plan von Satellite und hob seinen Kopf, als ich an ihm vorbeikam.

„Wolltest du nicht ins Bett? Dachte schon, du bist ins Klo gefallen.“

„Sehr witzig.“, gab ich trocken zurück. „Hast du schon einen Plan für morgen?“

Kyousuke steckte seine Hände in die Hosentaschen. „Noch nicht wirklich. Das nächste Viertel wo wir hinmüssen, ist etwas weiter weg und ehrlich gesagt hab ich überlegt, morgen mal eine Pause einzulegen. Dann könnte ich dir die Gegend etwas besser zeigen und...“ er grinste kurz verschwörerisch.

Ich hob eine Augenbraue. „Und was?“

„Wir könnten alle zusammen zum Strand gehen.“

Ich schluckte kurz. „Du erwartest jetzt aber nicht von mir, dass ich einen Bikini trage? Denn das-“

„Von Baden war nie die Rede!“

Er kam zu mir, nahm seine rechte Hand aus seiner Hosentasche und schnippte mir gegen die Stirn. „Kleines Dummerchen.“

„Du hast gleich ein großes Aua-chen!“

Kyousuke nahm auch seine andere Hand aus der Hosentasche und hob grinsend beide Hände. „Na immerhin bist du wieder ganz die Alte.“

„Ich geh jetzt schlafen!“, murrte ich.

„Dann tu das, kleiner Teufel.“

„Klappe, Idiot!
 

Luft.

Ich bekam keine Luft.

Meine Luftröhre wurde immer mehr zugeschnürt.

Keuchend rang ich nach Luft während mir schwarz vor Augen wurde.

Dann war alles still.
 

Kerzengerade saß ich auf der alten Couch. Meine Hand wanderte zu meinem roten Schal und ich lockerte diesen ein wenig.

Schon wieder ein Alptraum.

Wie oft würde ich noch von diesen Träumen geweckt werden?

Ich zog meine Beine zu mir und legte meine Arme um diese.

Obwohl ich die Decke um mich gewickelt hatte, fror ich.

Tränen rollten meine Wange hinab und ich spürte, wie sie nasse Spuren hinterließen.

Wie ich es hasste zu weinen. Aber diese Alpträume machten mich fertig. Fast jede Nacht, seit ich fortgelaufen war, verfolgten sie mich.

Neben mir konnte ich ein leises Raunen und sinnloses Gebrabbel vernehmen.

Ich hob den Kopf in die Richtung aus der das Geräusch kam.

Es war Kyousuke, der mal wieder mit dem Rücken an der Couch gelehnt auf dem Boden schlief.

Ich wischte mir meine Tränen von den Wangen und betrachtete ihn eine Weile im fahlen Licht des Mondes.

Sein Kopf kippte zur Seite auf seine linke Schulter.

Ob ihm wohl kalt war?

Es war ehrenhaft von ihm, mich hier auf der Couch mit seiner Decke schlafen zu lassen, aber dennoch. Was war mit ihm?

So im Sitzen zu schlafen, war sicher nicht bequem.

Vorsichtig stand ich von der Couch auf, ohne ihn zu wecken und setzte mich einfach neben ihn.

Ich nahm einen Teil der Decke und legte sie ihm einfach über. Zum Glück schien er einen recht festen Schlaf zu haben.

Eine Weile starrte ich sein schlafendes Gesicht an und musste lächeln.

So wie jetzt, sah er richtig friedlich aus. Als könnte er keiner Fliege etwas zu Leide tun.

Und so von Nahem wirkte er noch hübscher als ohnehin schon. Wie seine Haare ihm ins Gesicht fielen… Diese langen, dichten schwarzen Wimpern.

Was zur Hölle dachte ich mir hier eigentlich!?

Scheißegal, ob er hübsch war. Er war trotzdem ein Idiot!

Und dennoch.

„K-Kyousuke-kun...“, flüsterte ich extrem leise.

Für einen Moment überkam mich das merkwürdige Bedürfnis über seine Wange zu streichen, doch ich stoppte mitten in meiner Bewegung und schüttelte den Kopf.

Erde an Ryoko! Jetzt hör auf mit dem Scheiß!

Ein erneutes Raunen ertönte.

Ich schüttelte den Kopf, drehte mich von Kyousuke weg und versuchte, weiter zu schlafen. Im Sitzen.
 

Das dreiste Gekrächze einer Krähe war es, was mich an diesem Morgen weckte.

Mein Kopf lag sehr weich und mit einem murrenden „Halt die Klappe, Vogel!“, versuchte ich mich zu drehen.

„Bist du endlich wach? Mir sind schon die Beine eingeschlafen.“

Diese sanfte, unverkennbare Stimme

Mit einem Mal war ich hellwach und hob meinen Kopf so schnell, dass ich mit diesem gegen die naheliegende Tischkante knallte.

Ich gab ein gefluchtes „AUA!“, von mir und rieb mir meinen Hinterkopf.

Das würde mit Sicherheit eine Beule geben.

Kyousuke sah mich mit einem Blick an, der einer Mischung aus Schreck und Belustigung gleich kam. Ich glaube, am liebsten hätte er gelacht, aber die Sorge, das ich mir ernsthaft weh getan haben könnte, hielt ihn in jenem Moment davon ab.

„A-Alles in Ordnung?“

Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu, nickte jedoch.

Während ich mir noch den Schädel rieb, realisierte ich erst, was Sache war.

Ich hatte auf dem Boden geschlafen. Kyousukes Worte von eben nagten sich gerade durch jede einzelne meiner grauen Zellen und trieben mir die gefühlte Schamesröte ins Gesicht.

Moment mal... ich... hatte ich etwa mit dem Kopf auf seinem Schoß geschlafen!?

Kyousuke musterte mich und zog mich einfach ungefragt zu sich. „Lass trotzdem mal sehen.“

„H-Hey! W-Warte Mal! Ich hab nichts!“, rief ich und versuchte seine Arme hinter mir zu packen, während er meine Haare am Hinterkopf durchwühlte, um nach einer eventuellen Verletzung zu gucken.

„Das gibt wenn schon nur 'ne Beule, I-Idiot!“

Er ließ mich wieder los und so schnell ich konnte, stand ich auf.

Ich wollte immer noch nicht wahr haben, dass ich wirklich auf dem Schoß eines Mannes geschlafen hatte.

Mit dem Kopf wohlgemerkt.

Mit dem Kopf!

Kyousuke selbst stand ebenso auf und streckte sich.

Dieses Mal verbat ich es mir jedoch einen genaueren Blick auf diesen... nun ja,... diesen Körper zu werfen.

Nicht so wie am Tag davor, als sein T-Shirt ihm beim Strecken hochgerutscht war und...

Ich griff mir gegen die Stirn. Ich musste mir den Kopf wohl echt etwas zu fest angestoßen haben.

„Ich kann ja nachsehen, ob ich Etwas auftreiben kann, um das zu kühlen.“, hörte ich ihn sagen und schüttelte den Kopf. „Lass gut sein. Geht schon.“

Der Tag fing ja jetzt schon blendend an.
 

„Warum hast du eigentlich auf dem Boden geschlafen und nicht mehr auf der Couch?“

Die Frage riss mich aus meinen Gedanken. In seiner Stimme konnte ich einen Hauch von Verlegenheit erkennen.

„Bin von der Couch gefallen!“, gab ich jedoch nur fauchend als Antwort.

„Und dabei hast du zufällig die Decke auch halb auf mich gelegt?“

Ich konnte den Sarkasmus in seiner Stimme triefen hören.

Ich hätte wissen müssen, dass er mir nicht glaubte.

Ich hatte so sehr gehofft, dass das was ich nachts getan hatte, nur ein Traum gewesen war.

Was sollte ich ihm sagen? Dass ich Mitleid mit ihm gehabt hatte, weil ich mir sicher war, dass er frieren musste? Dass ich Mitleid mit ihm gehabt hatte, weil er auf dem kalten, harten Betonboden schlafen musste und ich die Ehre besaß auf der halbwegs bequemen Couch zu schlafen?

Dass ich vielleicht... auch irgendwo nach Trost gesucht hatte, wegen meines Alptraums?

Ich entschied mich dazu, einfach gar nichts zu sagen und alles, was sonst noch gewesen war, blendete ich gekonnt aus.

Das war nie passiert.

Nie!

Nachdem ich nichts mehr sagte, war wohl auch Kyousuke der Meinung, dass es nichts weiter brachte, mich auszuquetschen.

„Ich bin eben duschen. Und dann hol ich uns was zu essen.“, sagte er schließlich und wuschelte mir im Vorbeigehen durch die Haare.

Ich sah ihm nach und nickte nur.

Wo waren hier eigentlich Duschen?

Vorsichtig ließ ich mich auf die Couch fallen und lehnte mich zurück.

Mein Kopf schmerzte immer noch und meine Narbe an der Schläfe juckte ein wenig.

Jetzt, wo Kyousuke gerade nicht da war, spürte ich, dass ich zu frösteln anfing.

Der Wind von draußen war kalt. Aber das war auch normal. Schließlich ging es auf Herbst zu.

Ich wusste nicht genau, welchen Monat wir hatten. Vielleicht war es schon September oder gar schon Oktober?

Sicher konnten es mir die Jungs sagen.

Dann wusste ich wenigstens mal wieder, wann mein Geburtstag war. Die Jahre zuvor hatte ich ihn immer vergessen.

Es gab wichtigeres und wer hätte ihn auch groß mit mir feiern können?

Niemand.

Bis jetzt.
 

Ein Seufzen entfuhr meinen Lippen und ich stand auf.

Nur dumm herumzusitzen, während der werte Herr duschte, war auch langweilig.

Also kam ich zu dem Entschluss, einfach ein wenig auf Erkundungstour zu gehen.

Ich verließ den Raum und ging nach unten, doch die unteren Räumlichkeiten waren noch karger und langweiliger als der Rest. Grau in Grau. Nichts, was wirklich interessant war.

In ein paar wenigen Räumen standen noch ein paar alte Tische und Stühle herum und ich entdeckte sogar eine große Tafel an einer der Wände, die jedoch von Rissen gekennzeichnet war. Scheinbar war dieses Gebäude früher wirklich mal eine Schule gewesen.

Aber mit Sicherheit konnte ich es nicht sagen. Vielleicht war es auch ein verlassenes Bürogebäude.

Auf dem Fußboden waren zumindest Spuren von Kreideresten zu finden.

Ich verließ den Raum, in dem ich mich aktuell befand und ging wieder nach oben zurück.

Keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, aber ich musste mich doch länger aufgehalten haben, als ich dachte.

Kyousuke stand vor mir, als ich gerade die Treppe hochkam.

Seine Haare wirkten immer noch leicht feucht und er musterte mich fragend.

„Wo warst du?“

„Hab mir nur die unteren Stockwerke angesehen!“, gab ich ungehalten von mir.

War er jetzt mein Vater oder was?

„Hey. Ich hab nur nachgefragt.“, antwortete er und kniff mir in die rechte Wange. „Kleiner Teufel.“

„Lass das!“

Er ging voraus und ich folgte ihm.

In unserem „Wohnzimmer“ - ich nenne es jetzt einfach mal so -, lag eine Packung Melonenbrötchen auf dem Tisch. Mir war nicht bewusst, wie viel wir von diesem Zeug hier hatten, aber es war mir auch recht egal. Es war etwas zu Essen. Und es machte süchtig.

Außerdem knurrte mein Magen nun wie verrückt.

Neben der Packung standen zwei frische Dosen Limonade.

Bei dem ganzen Zucker war es ein Wunder, dass ich noch keinen Karies bekommen hatte.

Kyousuke ließ sich auf das Sofa fallen. Ich bevorzugte den Platz auf dem Boden, gegenüber von ihm. Nach allem was am Abend und nachts passiert war, war es besser fürs Erste nicht, in seiner Nähe zu sitzen.
 

„Freust du dich schon auf gleich?“, fragte Kyousuke und ich hob meinen Kopf und schluckte das Stück meines Brötchens herunter, an dem ich noch kaute.

„Wieso?“

Er lachte leise. „Schon wieder vergessen? Hab doch gesagt, ich zeig dir die Gegend.... Und wir wollten ja auch an den Strand. Gestern Abend, als du geschlafen hast, kam Yuusei noch einmal zu mir und hat gesagt, dass wir uns dort treffen können.“

„Ach ja..“

Daran hatte ich echt nicht mehr gedacht.

Ich wusste nicht, ob ich mich freuen sollte. Irgendwie tat ich es ja und solange niemand auf die Idee kam, schwimmen zu gehen, war es okay.

Einen Bikini würde ich niemals tragen. Nicht einmal einen Badeanzug. Zumal ich beides nicht besaß.

Und außerdem konnte ich gar nicht schwimmen.

Fifth Satisfaction: Regen, Schlamm und Höllenwasser

Mit einer Tüte mit Getränken und zwei weiteren Packungen mit leckeren Melonenbrötchen bewaffnet, schlenderte Kyousuke neben mir her.

Ehrlich gesagt fragte ich mich langsam, wo er überhaupt das Geld hernahm.

Ob er vielleicht nebenbei in der Fabrik arbeitete? Ich traute mich nicht zu fragen.

Es war immer noch etwas frisch draußen, aber zumindest war mittlerweile die Sonne hinter den Wolken hervorgekrochen und spendete ein wenig Wärme.

Trotz dass der Himmel so klar wirkte, beschlich mich ein seltsames Gefühl.

Wie eine unangenehme Vorwarnung.

Die Gegend hier in der Nähe sah bei Tag sogar recht schön aus.

Rechts und links standen kleine Häuschen. Sie alle wirkten zwar auch eher schon etwas baufällig, besaßen jedoch einen gewissen Charme. Nicht zu vergleichen mit den Bruchbuden aus dem Viertel, wo ich herkam.

„Und. Gefällt es dir hier?“, hörte ich Kyousuke fragen und sah zu ihm.

„Es ist... ganz nett. Sieht zumindest schöner aus, als da wo ich herkomme.“

Kyousuke lachte. „Das ist auch nicht schwer.“

„Ich vermute mal, da hast du recht.“, gab ich als Antwort und blinzelte erstaunt über mich selbst.

'Was soll das jetzt heißen!?', wäre die für mich typische Antwort gewesen.

Auch Kyousuke zog verwundert eine Augenbraue hoch. „Kommt etwa gar keine Beleidigung?“

Er beugte sich leicht runter und fühlte mir die Stirn. „Bist du krank oder so?“

Ich spürte die Hitze in mein Gesicht steigen und schlug seinen Arm weg.

„K-Klappe, Idiot!“

Ein zufriedenes Grinsen umspielte seine Lippen. „Okay. Hab mich wohl geirrt!“

„Vollidiot!“
 

Ich steckte die Hände in die Taschen meiner Jeansshorts und kickte einen Stein weg.

Wir kamen an einem kleinen Supermarkt vorbei, dessen Fensterscheiben voller Sprünge und Dellen waren. Sicher hatten diese schon einige Fußbälle fliegen sehen.

Gegenüber des Supermarktes stand eine Kneipe, die zu so früher Stunde jedoch noch geschlossen zu haben schien.

Ich verzog den Mund bei dem Gedanken an den Geruch von Bier, Schnaps und betrunkenen Männern.

Er ließ mich erschaudern und für ein paar Sekunden hatte ich das Bedürfnis, in die Kneipe einzubrechen und alles kurz und klein zu schlagen. Aber ich schüttelte diesen Gedanken schnell aus meinem Kopf, als ich Kyousukes verwirrten Blick bemerkte. Vermutlich wunderte er sich, über meinen finsteren Gesichtsausdruck.

„Alles okay?“

„J-Ja.“, log ich schnell, auch wenn ich wusste, dass er mir das nicht abkaufen würde.

Aber er fragte nicht weiter. Besser so.
 

Der Weg zum Strand war weiter als ich gedacht hatte.

Das Meer sah von unserem Unterschlupf so nahe aus, dass ich nicht damit gerechnet hatte, das es so weit weg sein würde.

Es war jetzt nicht so, dass es mir etwas ausmachte, weite Strecken zu laufen. Es hatte mich nur verwundert.

Dennoch war ich froh darüber, als wir den Strand endlich erreicht hatten. Der Strand von Satellite war bei weitem keiner dieser Traumstrände, die man aus dem Fernsehen kannte.

Weißen Sand oder Palmen suchte man hier vergeblich.

Der Sand hier wirkte eher braun und überall lagen kaputte Autoreifen, Glasflaschen, alte, leere Ölkanister und anderweitiger Müll.

Jeder Umweltschützer wäre bei diesem Anblick eher in Tränen ausgebrochen, anstatt sich zu freuen.

Aber ich freute mich zumindest etwas. Natürlich fand ich den Müll auch nicht prickelnd. Vor allem tat es mir Leid um die armen Tiere, die hier lebten, aber es war hier immer noch allemal besser, als auf dem Schrottplatz, wo ich gehaust hatte. So konnte ich wenigstens das Meer mal von Nahem sehen.

Ich atmete die frische Meeresluft ein, sog sie förmlich in mich auf und streckte mich.

Aus den Augenwinkeln heraus konnte ich wahrnehmen, wie Kyousuke die Tüte abstellte.

Dann gab ich einen quietschenden Schrei von mir, als er wie am Abend zuvor mich packte und am Bauch kitzelte.

Dieser... dieser fiese Fiesling!

„WAAAAH... hahahahaha... h-hör auf! Hahahaha... D-Du Idiot!“

Ich hielt mir meinen Bauch als er von mir abließ und funkelte ihn an. „Penner!“

Wütend nahm ich eine Hand voll Sand und warf ihm diesen gegen den Kopf. „Ich hasse dich!“

„Tut mir Leid. Ich konnte es mir gerade nicht verkneifen.“, erwiderte Kyousuke frech und griff sich an den Kopf, als der Sand ihn traf. „H-Hey!“
 

„Na, schon wieder am flirten?“, ertönte die fröhliche Stimme Crows und ich wandte mich zu ihm um. Er grinste über das ganze Gesicht und sah zwischen mir und Kyousuke hin und her.

„F-Flirten!?“

Die Hitze stieg mir ins Gesicht. Vor allem als mir bewusst wurde, dass Kyousuke im selben Moment wie ich, gesprochen hatte.

Crow fing laut zu lachen an.

Wohl, weil Kyousuke in jenem Moment genauso verdattert dreinblickte, wie ich es scheinbar auch tat.

„Ihr solltet euch jetzt mal sehen!“, gluckste er und musste sich den Bauch halten.

„Hab ich gerade einen guten Witz verpasst oder warum lachst du so, Crow?“

Jacks tiefe Stimme löste meine Starre. Ich gab ein genervtes Grummeln von mir und verschränkte meine Arme.

Kyousuke schien auch wieder zu sich selber gefunden zu haben. „Ach. Nein, Nein. Crow hat nur mich und Ryoko-chan ein wenig aufs Korn genommen. Nicht wahr, Crow?“

Er haute ihm kumpelhaft auf den Rücken, was Crow leicht nach vorn wanken ließ.

Seufzend löste ich meine Arme und griff mir gegen die Stirn. „Kerle!“

Oder so.

„Was ist denn hier los?“, konnte ich Yuusei fragen hören und drehte mich in dessen Richtung. Er musterte jeden von uns fragend.

Kyousuke begrüßte ihn und erzählte ihm von Crows Witz und davon, was morgens so los war.

Ich war ihm unausgesprochen dankbar dafür, dass er nichts über mein peinliches Erwachen erzählte.
 

Während die Jungs noch redeten, trat ich etwas näher auf das Meer zu. Der Wellengang hatte eine unglaublich beruhigende Wirkung und je mehr ich auf das Wasser starrte, umso mehr hatte ich das Gefühl, darin zu versinken.

Ein paar winzige, silbrige Fische tummelten sich in dem seichten Nass und bewegten sich mit diesem vor und zurück.

Vor und zurück.

Vor und zurück.

Vor und-

„Ryoko-chan!“

Furchtbar erschrocken zuckte ich zusammen und wandte mich um.

Crow stand vor mir und wedelte mit seiner Duel Disk vor meiner Nase herum.

„Was!?“, zischte ich.

Er blickte mich an und legte seinen Kopf schief. „Brauchst nicht gleich so grantig zu werden. Wollte nur fragen, ob du Lust auf ein Duell hast.“

„Seh ich so aus?“, gab ich trocken zurück. „Wozu überhaupt?“

Crow sah mich an, als hätte ich irgendwas total Hirnrissiges gesagt.

„Wozu?“

„Ja. Wozu? Ich sehe hier nirgends Gegner und-“

„Ich bin dein Gegner. Versuchs mal mit der Option 'Aus Spaß'!“

Genervt verdrehte ich die Augen. „Ich duelliere mich aber nicht aus Spaß!“

Ich wollte mich umdrehen und woanders langgehen, da ertönte schon Kyousukes Stimme. „Was ist hier los?“

„Ich wollte mich nur mal mit Ryoko aus Spaß duellieren aber... scheinbar hat sie keine Lust.“, antwortete Crow schulterzuckend.

Ich schnaubte. „Aus Spaß duellieren...“

Kyousuke legte sanft eine Hand auf meine Schulter und ich sah zu ihm hoch. „Was ist so schlimm daran? Wäre doch sicher lustig. Außerdem könnte ich dann mal sehen, wie du dich gegen Crow so schlägst.“

Dieses seltsame Gefühl machte sich wieder in meinem Magen breit.

Eine Weile blickte ich in seine Augen und seufzte kurz. „Naaaa gut. Wenn du meinst...“

Warum zur Hölle schaffte ich es nicht, 'Nein' zu sagen, wann immer ich in Kyousukes Augen blickte?

Es war ja nicht einmal so, dass er mich jetzt mit einem flehenden Hundeblick ansah.

Ganz und gar nicht. Aber ich konnte einfach nicht anders, als mich zu ergeben.

Kyousuke lächelte sanft und erneut hatte ich das Gefühl, als würden meine Eingeweide sich verknoten. Mein Herz schlug so verdammt schnell gegen meine Brust, dass ich mir sicher war, jeden Moment an einem Herzinfarkt zu krepieren.

Ich bemerkte Crows leicht verwirrten Blick und schaffte es, meinen Fokus komplett von Kyousuke zu lösen.

„Geht doch!“, hörte ich Kyousuke noch sagen, fühlte seine Hand auf meinem Kopf und wie er mir kurz durch die Haare wuschelte. „Lass das!“, knurrte ich wie immer und ignorierte mein beklopptes Herz und meinen gestörten Magen.

Ich kramte mein Deck aus meiner Decktasche am Bein und mischte dieses. Anschließend aktivierte ich meine Duel Disk.

„Ich glaube, ab sofort frag ich Kiryuu immer, ob er dich nicht zum Duellieren überreden kann.“, sagte Crow grinsend, während er es mir gleich tat.

„Tz. Wenn du denkst, ich mache meine Entscheidungen von ihm abhängig, hast du dich schwer getäuscht.“, gab ich trocken als Antwort.

Yuusei und Jack, die wohl neugierig geworden waren, kamen zu uns.
 

„Na dann. Ladys First.“, ließ Crow mich anfangen.

Ich lachte hohl. „Lady...“

„Hmpf. Welche Lady? Ich sehe hier keine Lady.“, warf Jack ein, während ich meine sechste Karte zog.

„Schnauze auf den billigen Plätzen!“, fauchte ich zu ihm rüber und besah mir mein Blatt genauer.

Sah für den Anfang recht vielversprechend aus.

Ich spielte ein Monster mit einer Defensive von 2000 und legte zwei verdeckte Fallen.

Danach beendete ich meinen Zug.

Von weit weg hörte ich ein leises Donnergrollen. Die Luft schien auch wieder kühler geworden zu sein.

Sollte ich etwa mit meiner Vorahnung recht behalten?

Nun war Crow am Zug, spielte eines seiner Black Feather Monster und rief gleich darauf zwei weitere als Spezialbeschwörung. Danach legte er eine verdeckte Karte.

Keines von ihnen konnte zwar mit der Defensive meines Monsters mithalten, aber ich wusste, dass ich mich nicht alleine darauf verlassen konnte.

Crow war verdammt gut, was ich bisher so gesehen hatte.

Immerhin hatte ich ihn und die anderen während meines Duells gegen den Anführer der Duel Gang gestern, ein klein wenig beobachten können.

Seine Monster besaßen allesamt sehr wirksame Effekte und so war es nur eine Frage der Zeit, bis meine Defensive flöten gehen würde und ich nur noch mit meinen Fallen da stand.

Und ich sollte recht behalten.

Eine Zauberkarte seinerseits schickte mein Verteidigungsmonster auf den Friedhof, aber seine Angriffe konnte ich, dank einer meinen beiden Fallen, dennoch abwehren.

Fürs Erste zumindest.

Ich musste mir definitiv etwas Neues einfallen lassen.

Kurz wandte ich meinen Kopf zu Kyousuke, der höchst konzentriert wirkte und meinen Blick mit einem Lächeln erwiderte.

Das seltsame Gefühl wurde wieder stärker und ich versuchte mich auf das Duell zu konzentrieren.

Ein nasser Tropfen auf meiner Nasenspitze ließ mich jedoch kurz aufzucken.

Ich wandte meinen Kopf gen Himmel und noch mehr nasse Tropfen fanden ihren Weg auf meine Haut.

Regen. Ich hatte es befürchtet.

Doch die Jungs schien der Regen nicht zu stören.

„Du bist dran, Ryoko-chan!“, hörte ich Crow sagen und nickte.

Mir machte der Regen im Grunde ja auch nichts aus, aber dennoch. Ich hatte gehofft, das Wetter würde sich halten, bis wir wieder zurück im Unterschlupf sein würden.
 

Ein wenig verdrießlich zog ich meine Karte und starrte mein Blatt an.

Doch bevor ich etwas spielen konnte, ertönten mir unbekannte Stimmen.

Auch Kyousuke, Crow und die Anderen drehten sich in die Richtung aus der die Stimmen kamen.

Eine Gruppe Jugendlicher, drei Jungs und zwei Mädchen, kamen geradewegs auf uns zu.

Alle trugen sie schwarze, lederne Bikerjacken und wirkten nicht gerade besonders freundlich.

Der Älteste von ihnen war ungefähr in Kyousukes Alter, wenn nicht sogar etwas älter, und sogar noch größer als Jack.

Von seiner Statur her, erinnerte er mich stark an einen Gorilla.

Die beiden Mädchen waren um einiges größer als ich und sahen recht dürr aus.

Die Eine hatte einen pinken Irokesen-Schnitt, trug einen Nasenring-Piercing und hatte die Arme von oben bis unten voll tätowiert.

Die Andere wiederum, besaß lange grüne Haare mit einem Sidecut und ebenso viele Piercings.

Die beiden anderen Jungs wirkten im Vergleich zu ihrem scheinbaren Anführer eher schmächtig und harmlos. Einer von ihnen hatte eine Zigarette im Mund und der andere eine Dose in der Hand, die stark nach Bier aussah.

Kyousuke trat vor uns. In seinen Augen konnte ich erkennen, dass er genau das Gleiche dachte, wie ich gerade.

Diese Typen versprachen Ärger. Mächtigen Ärger.

„Was wollt ihr hier?“, fragte er in einem ruhigen Ton, doch ich konnte eine Spur von Anspannung darin vernehmen.

„Genau das Gleiche könnten wir euch fragen. Ihr Milchbubis solltet euch lieber vom Acker machen. Das hier ist nämlich unser Revier.“, kam es von dem Gorilla-Typen, der seine Fingerknöchel knacken ließ. Auch die Mädchen bauten sich wie zwei geifernde Hyänen neben ihm auf.

„Geht lieber woanders spielen, ihr Babys.“

Der Regen war mittlerweile um einiges stärker geworden und verwandelte den eh schon braunen Sand zu einer matschigen Pampe.

„Und was, wenn wir aber keine Lust haben, woanders zu spielen?“, kam es von Crow mit einem kämpferischen Glimmen in den Augen.
 

„Crow.“ Kyousuke hielt ihn mit einem Arm zurück und funkelte den Anführer an.

„Wer sagt, dass das euer Revier ist? Wäre mir zumindest neu.“ Sein Ton wirkte immer noch extrem gelassen, aber so kühl, dass mir ein Schauer den Rücken hinunterlief.

„Tz... du bist ganz schön frech.“, erwiderte der Anführer, ohne groß auf Crow einzugehen, und beugte sich etwas zu Kyousuke herunter. „An deiner Stelle würde ich meinen Mund nicht soweit aufreißen...“

Das pink haarige Mädchen lachte schrill. „Oh ja. Er sollte den Boss nicht sauer machen. Wäre sonst schade um das hübsche Gesicht.“, hörte ich sie zu ihrer grünhaarigen Freundin sagen.

Diese blöden Schlampen!

„Ihr seid es doch, die hier frech kommen, ihr verdammten Wichser!“, fauchte ich ungehalten und lauter, als ich geplant hatte.

„Ryoko!“ Jack und Yuusei starrten mich entgeistert an und auch Kyousuke hatte sich zu mir umgedreht.

„Uhh. Guckt euch mal das kleine Gör an. Weiß deine Mami denn, dass du dich schon mit Jungs herumtreibst?“, grinste die Grünhaarige.

Ich fühlte, wie Wut in mir aufloderte.

„Ryoko, halt dich zurück!“ Kyousuke sah mich mit einem ernsten Gesichtsausdruck an und ich schluckte kurz.

„Ach. Ist die Kleine etwa deine Freundin?“ Der Gorilla-Kerl grinste dreckig. „Wie auch immer. Jetzt verpisst euch von hier. Außer ihr wollt wirklichen Stress!“ er packte Kyousuke am Kragen und schubste ihn grob beiseite.

Ich wusste nicht, was genau mich dazu trieb, aber in diesem Moment sah ich echt einfach nur rot und stürzte mich auf diesen Hünen.

Ich wusste nicht, was ich da tat.

Kratzen, beißen, treten, schlagen. Irgendwie alles auf einmal.

Der Regen hatte sich in der Zwischenzeit zu einem wahren Wolkenbruch gewandelt.

Es blitzte und donnerte.

Das Gewitter war direkt über uns und alles woran ich in diesem Moment aber denken konnte war, dass ich diese Typen vermöbeln wollte.

Zwischen dem Donnergrollen konnte ich die Jungs rufen hören.
 

Irgendwie hatte ich es auf den Rücken dieses Kerls geschafft und mich dort festgekrallt, wie eine Katze.

Mit aller Kraft die ich besaß, biss ich ihm ohne Nachzudenken in den Hals.

Er ließ einen Schrei los und drehte sich so schnell, dass ich von seinem Rücken fiel und unsanft mit meinem Hintern auf dem Boden landete.

Ich konnte Kyousuke meinen Namen rufen hören, doch durch das Donnern klang seine Stimme so unendlich fern.

Ehe ich reagieren konnte, hatte mich der Kerl schon an meinem Schal zu packen bekommen und zog mich hoch.

Ich keuchte, weil der Schal sich um meinen Hals zusammenzog, versuchte aber dennoch, meinem Gegner ins Gesicht zu treten.

„Du kleine missratene Schlampe“, fluchte er und holte zu einem Schlag aus, den ich jedoch mit einem Tritt abwehren konnte.

Ich versuchte mich mit Leibeskraft loszureißen und irgendwie schaffte ich es auch.

Dabei löste sich jedoch mein Schal, den der Kerl nun in der Hand hatte.

Ich schluckte und zog schnell den Kragen meines Oberteils noch höher, bevor irgendwer sehen konnte, was ich unter meinem Schal verbarg.

Natürlich hätte es bei dem Regen wohl eh kaum einer gesehen, zumal alle anderen gerade eh beschäftigt zu sein schienen. Alle eben, bis auf mein Gegner, der direkt vor mir stand und kurz meinen Hals angestarrt hatte.

„Gib mir meinen Schal wieder!“, zischte ich, aber er grinste nur dreckig. „Ist dir wohl wichtig, das alte Teil, was!?“

Noch bevor ich etwas tun konnte, hatte der Kerl meinen Schal losgelassen, der durch den starken Wind auf das offene Meer hinausgeschleudert wurde.

„MEIN SCHAL!“

Wie in Trance starrte ich ihm nach und meine Füße bewegten sich wie von selbst auf das Meer zu.

Ich stürzte mich in die aufgewühlten Fluten und schwamm.

Irgendwie schwamm ich. Ich hatte es nie gelernt, aber in diesem Moment war mein einziger Gedanke, meinen wertvollsten Besitz wieder zu holen. Kostete es, was es wollte.

Von irgendwo konnte ich wieder Kyousuke rufen hören und sogar Jack und Yuusei, die laut nach mir brüllten. Crows Stimme ging in einem Donnern unter.

Mein Schal schwamm in einigen Metern vor mir und ich streckte meine Hand nach ihm aus.

Aber ich erreichte ihn immer noch nicht.

Verzweifelt versuchte ich noch näher zu kommen und schaffte es schließlich, ihn zu fassen zu bekommen.

Eine riesige Welle baute sich in jenem Moment vor mir auf und stürzte auf mich hinab.

Das tosende Geräusch verhieß kein Entkommen für mich.

Für mich, die nie zu schwimmen gelernt hatte.

Ich versank in den Tiefen, schluckte salziges Meerwasser, schnappte nach Luft.

Dann war da nur noch Stille und Dunkelheit.

Dunkelheit, die sich nach und nach in weißes Licht zu verwandeln schien...
 

Eine Stimme rief mich aus der Ferne.

War ich etwa tot?

Sie kam näher und wurde immer lauter.

Fast zu einem Schreien.

„Ryoko! RYOKO!“

Ich schnappte nach Luft und hustete heftig.

Spuckte salziges Meerwasser und schlug meine Augen auf.

Zwei ausgesprochen besorgt dreinschauende, gelblich grüne Augen blickten mir entgegen.

Noch ehe ich reagieren konnte, wurde ich in die Arme der Person gezogen, zu der diese unverkennbaren Augen gehörten.

„Mach nie wieder so einen Scheiß, hörst du!?“

Diese sanfte Stimme...

„Ich dachte... Wir dachten, du wärst tot!“

Ohne erst groß etwas zu sagen, kuschelte ich mich einfach an Kyousuke.

Seine Stimme zitterte fürchterlich.

Ich konnte seine warmen Hände an meinem Rücken fühlen und atmete seinen Geruch ein.

Er roch nach Meer und sein T-Shirt fühlte sich nass an.

„Tu das bitte, bitte nie wieder...“, hörte ich ihn erneut leise sagen.

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich fühlte nur, wie mir Tränen meine Wangen hinab liefen, ohne dass ich es wollte.

„Ki- .. uhm... Kyousuke-kun...“

Ich wusste nicht, wie lange ich in seinen Armen lag.

Zeit hatte aufgehört zu existieren.

„Es... es tut mir Leid...“

Es war nicht mehr, als ein schwaches Nuscheln, aber Kyousuke schien es gehört zu haben.

Langsam löste er die Umarmung und sah mich an. „Du Dummkopf. Warum hast du das nur gemacht?“

Seine Stimme zitterte nicht mehr, aber war immer noch leise. Eine Mischung aus Strenge und Erleichterung.

Ich blickte zur Seite und griff mir an den Hals. „Mein Schal!“, war das Einzige, was ich hervorbrachte.

Kyousuke griff neben sich und hielt mir meinen roten Schal vor die Nase. „Der hier?“

Ich nickte und griff nach ihm. Kyousuke ließ ihn mich wortlos nehmen und sah mir dabei zu, wie ich ihn schnell wieder umband.

„Er scheint dir wohl extrem wichtig zu sein, was?“ Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen.

Ich nickte nur in Erwartung, dass er nachfragen würde. Aber er tat es nicht.
 

„Tz... Wegen einem Schal. Weißt du eigentlich, was für verdammte Sorgen sich alle gemacht haben!?“

Jacks tiefe Stimme jagte mir einen riesigen Schreck ein.

„Du hättest sterben können! Wenn Kiryuu sich nicht selber so todesmutig in die Fluten gestürzt hätte, um dich zu retten, wärst du jetzt irgendwo unten auf dem Grund!“

Deswegen war seine Kleidung so extrem nass...

Kyousuke hatte mir also das Leben gerettet? Er war nur wegen mir auch ins Meer gegangen und hatte sein Leben riskiert um meines zu retten?

Ich ließ meinen Blick zu Boden sinken, während erneute Tränen ihren Weg über meine Wangen suchten. Nur wegen mir...

„Jack. Hör auf damit!“, hörte ich Kyousuke mit einem strengen Ton in der Stimme sagen.

„Lass gut sein, Jack. Bitte schimpf jetzt nicht mit ihr.“ Das war Yuuseis Stimme.

Ich wischte mir übers Gesicht und sah flüchtig zu ihm. Er wirkte ungewohnt blass.

Auch in Jacks Augen, so wütend seine Stimme auch eben geklungen hatte, konnte ich noch ganz deutlich den Schock sehen.

Crow hockte ebenso mit geröteten Augen auf dem Boden. „Ist doch jetzt scheißegal, Leute. Ich bin einfach nur froh, dass alles wieder okay ist...“, gab er schniefend von sich.

Ich glaube, ich hatte mich in meinem ganzen Leben noch nie so gefühlt. Dankbar über meine Rettung, aber dennoch voller Schuld.

Jack hatte recht. Wenn Kyousuke nicht gewesen wäre, wäre ich jetzt tot.

Aber Kyousuke hätte ebenso sterben können. So wild wie das Meer gewesen war... Und dann auch noch das Gewitter. Wenn ein Blitz im Meer eingeschlagen wäre...

Ich schluckte und versuchte die erneut aufkommenden Tränen zu unterdrücken.

Wenn ich doch einfach ruhig geblieben wäre.

Wenn ich doch einfach das getan hätte, was Kyousuke gesagt hatte.

Wenn ich doch nur...

„Ryoko-chan... Es ist alles gut. Du brauchst nicht mehr weinen.“

Ich fühlte Kyousukes Hand, die meinen Kopf tätschelte und die Röte, die mir ins Gesicht kroch.

Noch einmal wischte ich mir mit meinem Arm übers Gesicht und sah Kyousuke an.

Er lächelte wieder sanft.

Erst jetzt bemerkte ich, dass der Sturm vorbei war und die Sonne wieder schien, als wäre nichts gewesen.

Wie lange ich wohl ohnmächtig gewesen war?

„Was... Wo sind eigentlich diese Idioten?“, fragte ich kleinlaut.

„Um die haben wir uns gekümmert.“ Crow war aufgestanden und zeigte auf eine Schramme in seinem Gesicht, die ich erst jetzt bemerkte.

„Wir haben uns mit ihnen duelliert, aber die waren der Meinung nach ihrer Niederlage trotzdem noch frech zu sein.“, sagte Jack und zuckte mit den Schultern. „Die haben bekommen, was sie verdient haben.

Yuusei nickte. „Das war eh mehr heiße Luft als alles andere. Ich denke, so schnell sehen wir die nicht wieder.“
 

„Ihr...“

Kyousuke stand langsam auf und reichte mir seine Hand, die ich dankend annahm.

Meine Beine zitterten noch leicht, als ich aufstand.

„Ich wusste übrigens gar nicht, dass du so gut schwimmen kannst, Ryoko-chan.“, sagte Kyousuke kurz.

Ich legte meinen Kopf schief. „Ich kann überhaupt nicht schwimmen. Hab es nie gelernt.“, gestand ich.

Die Jungs warfen mir verwunderte Blicke zu und ich zuckte mit den Schultern.

„Ich wollte nur meinen Schal retten...“

Kyousuke legte einen Arm um mich. „Ist jetzt auch egal.“ Er blickte in die Runde. „Jetzt... Gehen wir erst einmal alle zurück und feiern einen weiteren Sieg von uns. Von Team Satisfaction!“

Ich konnte nicht anders, als leicht zu Grinsen und nickte.

Zum ersten Mal in meinem Leben, war ich einfach nur froh und glücklich.

Es war ein tolles Gefühl, Freunde zu haben, die sich um einen sorgten und selbst Jack konnte ich gerade nicht böse sein.

Kurz sah ich zu ihm und boxte ihm in die Seite. „Du hast dir also auch Sorgen um mich gemacht?“

Jack schwieg und drehte seinen Kopf zur Seite. „Ich...“

Grinsend kniff ich in seine Wangen und zog an diesen. „Uhh... klein Jacky-Boy hat sich echt Sorgen um mich gemacht und geheult...“, murmelte ich einfach frech und rannte los.

„Duuu! ... Als ob ich wegen einem Giftzwerg wie dir, heulen würde!“, hörte ich ihn mir hinterher rufen und lachte. „Fang mich doch!“

Sixth Satisfaction: Mama

„Ryoko-chan? Ist noch Tee da?“ Kyousukes Stimme klang absolut mitleiderregend, wie sie so kränklich nasal durch den Raum tönte.

Ich gab ein leises Seufzen von mir, trat auf ihn zu und schüttelte kurz die Thermoskanne, die Yuusei, Jack und Crow am frühen Morgen vorbeigebracht hatten.

„Ein bisschen ist noch drin. Reicht vielleicht noch für eine Tasse.“, gab ich als Antwort und sah zu dem Häufchen Elend, welches vor mir auf der Couch unter der Decke lag.

Der stolze und furchtlose Leader von Team Satisfaction, Kiryuu Kyousuke, geschlagen und niedergestreckt durch eine harmlose Erkältung.

Und diese Erkältung war auch noch meine Schuld.

Zwei Tage war meine Rettung mittlerweile her und kaum einen Tag nach dieser, hatte das ganze Drama angefangen.

Ein Niesen nach dem Anderen hatte das bevorstehende Unheil eingeläutet.

Und nachdem hohes Fieber ihn nach einem Duell gegen den Anführer einer weiteren Duel Gang beinahe ausgeknoggt hätte, hatten die anderen Jungs und ich unserem großen Anführer mindestens eine Woche Bettruhe aufgedrückt.

Ein Zustand, der ihm zutiefst widerstrebte, wie ich schnell feststellen musste.

Wenn es etwas gab, was Kyousuke hasste, dann war es, nichts tun zu können.

Das hatte ich mittlerweile auch gelernt. Er brauchte Bewegung und ständige Beschäftigung.

Nur herumzuliegen war für ihn die Hölle und so war es keineswegs verwunderlich, dass er ständig am Jammern war.

Entweder es war zu warm oder zu kalt.

Entweder dies oder Jenes.

Egal was, recht machen konnte man es ihm nicht.

„Mir ist langweilig.“, hörte ich ihn sagen.

Den Satz hatte ich heute schon mindestens fünfzig Mal gehört.

„Wenn du mir nicht hinterher gesprungen wärst, wäre dir jetzt auch nicht langweilig.“, erwiderte ich trocken.

„Wenn ich es nicht getan hätte, wärst du jetzt tot und das wäre noch viel schlimmer.“, entgegnete er mir.

Ich fühlte, wie ich rot wurde und drehte mich weg.

Ich würde mich mein ganzes Leben lang deswegen schuldig fühlen.

„Kyousuke-kun...“

Ich fühlte seine Hand, die mein Handgelenk schwach umklammert hielt.

„Setz dich zu mir.“
 

Ein erneutes Seufzen entfloh meinen Lippen.

Ich drehte mich wieder zu ihm um und gab ihm die Tasse mit dem Tee gegen Erkältung. „Hier.“

Ich setzte mich neben ihn an den Rand der Couch.

Er nahm die Tasse entgegen, setzte sich leicht auf und trank einen Schluck.

Kurz verzog er das Gesicht, so wie er es jedes Mal tat, wenn er von dem Tee trank.

„Widerliches Zeug.“

„Aber wenigstens hilft es, also beschwer' dich nicht. Du solltest den Anderen dankbar sein, dass sie sich überhaupt die Mühe machen und dir die ganze Medizin mitbringen, damit du schnell wieder auf die Beine kommst.“

Er sah mich an und errötete leicht. „Ich weiß. Tut mir Leid. Ich bin ihnen ja auch wirklich dankbar dafür.“

Ich lächelte leicht.

Mit der rechten Hand tätschelte ich ihm über die Haare. „Braver Junge.“

„Bin ich jetzt etwa ein Hund oder was?“ Er lachte kurz, aber das Lachen verwandelte sich binnen Sekunden in einen Hustenanfall.

Tee spritzte dabei aus der Tasse auf die Decke und ich nahm die Tasse erst einmal wieder an mich.

„Du solltest vielleicht aktuell nicht so viel lachen. Tut mir Leid.“, sagte ich mitfühlend.

„Scheint so.“, antwortete er krächzend, nachdem er sich von dem Hustenanfall erholt hatte.

Ich nickte und fühlte mit einer Hand seine Stirn. Sie war warm, aber zum Glück nicht so glühend heiß wie nach seinem Duell am Vortag.

Mein Herz pochte lautstark gegen meine Brust dabei, aber ich versuchte, es zu ignorieren.

„Zum Glück ist das Fieber runtergegangen.“, nuschelte ich und nahm die Hand wieder von seiner Stirn.
 

Ich bemerkte seinen Blick.

Seine Wangen waren immer noch leicht gerötet, aber vermutlich kam das auch vom Fieber.

„Was ist?“

Erst jetzt fiel mir auf, dass sein Fokus meinem Schal galt und nicht meinen Augen.

„Dein Schal... Der Stoff, aus dem er ist, sieht sehr teuer aus..“

Ich schreckte zurück und griff nach meinem Schal.

Nun sah er mir tatsächlich in die Augen. „Bist du wirklich hier geboren?“

Ich schluckte einen Kloß in meinem Hals herunter und nickte wahrheitsgemäß. „Ja, bin ich...“

Immer noch dieser bohrende Blick, der mir eine Gänsehaut bereitete.

„Wie...“

„Ich hole eben mal ein frisches Tuch.“, antwortete ich schnell, stand wieder auf und nahm das kleine Handtuch mit, dass am Ende der Couch lag.
 

So schnell es ging, trugen mich meine Füße zum Bad, wo ich das Handtuch anfeuchtete, damit es wieder kalt und nass war.

Mein Herz hämmerte gegen meine Brust, als gäbe es keinen Morgen mehr.

Warum musste er mich das jetzt fragen?

Warum jetzt?!

Es stimmte ja wirklich, dass ich hier in Satellite geboren war. Das war nie eine Lüge gewesen.

Aber dass der Schal aus teurem Stoff bestand, den sich kein Normalsterblicher, der hier lebte, leisten konnte... Das stimmte ebenso.

Ich legte das Handtuch beiseite, sah in den Spiegel und zog den Schal kurz aus.

Eine Weile betrachtete ich den dunkelroten, fließend weichen Stoff. Mit meinen Tränen kämpfend.

„Mama...“

Ich drückte ihn kurz an mich, vergrub mein Gesicht darin.

Ich hatte das Gefühl, nach all den Jahren immer noch den Duft des Parfüms riechen zu können.

Der Geruch von Rosen und Sommer.

Kopfschüttelnd wickelte ich mir meine kostbarste Erinnerung wieder um meinen Hals, nahm das Handtuch und verließ das Bad.
 

Als ich wieder kam, erstarrte ich mitten im Türrahmen und ließ das Handtuch fallen.

Kyousuke war verschwunden.

Vielleicht war er aufs Klo gegangen?

Ich entschied mich, erst einmal zu warten.

Die Zeit verging. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Zwanzig Minuten.

Ich starrte auf die Anzeige der Digitaluhr, die Yuusei scheinbar mal mitgebracht hatte.

Nach einer halben Stunde konnte ich die Anspannung, die stetig gewachsen war, nicht länger leugnen.

Wo zur Hölle war der Kerl?

Vor meinem inneren Auge sah ich schon die schlimmsten Dinge geschehen und lief durch das Gebäude.

„Kiryuu-kun!? Uhm.. Kyousuke-kun!? Wo bist du!?“

Ich rannte nach unten, nach oben. In jedes verdammte Stockwerk.

Suchte jeden Raum, jedes Zimmer ab.

Nichts.

Selbst oben auf dem Dach war er nicht.

Das flaue Gefühl in meinem Magen machte sich immer breiter und wurde mit jeder verstrichenen Sekunde unangenehmer. Noch dazu fiel mir nun auf, dass seine Duel Disk auch nicht mehr auf dem Tisch lag, wie sie es zuvor getan hatte.

Wo war er nur? Er war doch krank!

So lange war ich doch gar nicht weg gewesen?

Ich überlegte, ob ich versuchen sollte Yuusei, Jack und Crow irgendwie zu erreichen.

Vielleicht war er ja sogar bei ihnen?

Doch dann schüttelte ich den Kopf und lief einfach aus dem Gebäude heraus.

Ich würde ihn schon finden. So schlecht, wie es ihm ging, konnte er gar nicht weit gekommen sind.

So ein sturer Idiot!

Nur weil er die Langeweile nicht hatte ertragen können, war er abgehauen?
 

Für einen kurzen Moment überkam mich der schauderhafte Gedanke, dass er gar nicht abgehauen war, sondern vielleicht entführt wurde.

Aber wer sollte ihn bitte entführen?

Sicher. Es gab mittlerweile bestimmt einige Leute hier in Satellite, denen er ein Dorn im Auge war. Aber ich war mir sicher, dass kaum einer sich wagen würde, sich ihm noch zweites Mal in den Weg zu stellen.

Andererseits war er krank und geschwächt. Das gefundene Fressen für jeden, der nach Rache sann.

Und vor allem auch, ich schluckte erneut, das gefundene Fressen für die Security-Fritzen vom Public Security Maintenance Bureau. Für die waren die Straßenbanden und Duel Gangs hier in Satellite immerhin ein ständiges Ärgernis und es machte sich sicherlich für eine Gehaltserhöhung gut, vor allem die Leader von solchem „Pack“ dingfest zu machen.
 

Meine Schritte hallten in den leeren Straßen wieder. Nachmittags war es eher ruhig. Erst gegen Abend kamen die meisten Unruhestifter aus ihren Verstecken gekrochen.

Ich rannte und rannte. Suchte überall nach ihm.

In diesem Moment kam mir nicht ein einziges Mal in den Sinn, dass unsere Duel Disk gewisse Sender besaßen, sodass wir einander immer finden konnten, wenn wir den Signalen folgten.

Ich war zu verängstigt und besorgt, um auch nur einmal daran zu denken.

„KIRYUU-KUN!?“, brüllte ich durch die Gegend, doch eine Antwort bekam ich nicht.

Stattdessen flog mir nur ein altes Werbeplakat durch den starken Wind ins Gesicht.

„Kiryuu Kyousuke! Ich schwöre, wenn ich dich finde, bring ich dich um!“, schrie ich erneut und schmiss das Werbeplakat zu Boden.

Ich lief weiter, vorbei an eingefallen Hochhäusern, Bruchbuden, schäbigen Lagerhallen. Vorbei an kaputten Laternen, überfüllten Mülltonnen und einer schwarzen Straßenkatze mit fünf kleinen Babykätzchen im Schlepptau, die meinen Weg kreuzte.

Die Sonne ging langsam unter und allmählich verlor ich auch sämtliche Hoffnung.
 

Ich blieb an einer halb zerstörten Wand stehen. Mein Atem ging schnell.

Tränen suchten sich ihren Weg über meine Wange, während ich langsam an der Wand den Boden hinabrutschte.

„Kiryuu-kun... Wo bist du nur?“, wimmerte ich leise.

Plötzlich vernahm ich von nicht allzu weit weg eine Stimme.

Eine mir bekannte Stimme!
 

Ich blickte auf, rappelte mich hoch und rannte los in die Richtung, aus der die Stimme kam.

Jetzt erst erkannte ich die Gegend richtig. Es war das Viertel in dem ich gelebt hatte und die Stimme kam vom Schrottplatz. Meinem alten Zuhause.

So schnell mich meine Beine trugen, lief ich dorthin und blieb letztendlich keuchend stehen.

„Kiryuu-kun!“ Mit Tränen in den Augen sah ich zu ihm.

Er stand dort und duellierte sich mit einem ziemlich fies aussehenden Kerl.
 

Selbst von Weitem nahm ich wahr, dass er schwitzte und leicht wankte.

Er drehte sich zu mir und versuchte ein Grinsen aufzusetzen. „Ich hab doch gesagt, du darfst mich ruhig Kyousuke nennen!“

„Halt die Klappe, du Idiot!“, fauchte ich zurück. „Was hast du dir jetzt bitte hierbei gedacht!? Was machst du hier!?“

Eine Antwort erhielt ich nicht.

Kyousukes Monster wurde gerade angegriffen und es stand allem Anschein nach sehr schlecht um seine Lebenspunkte.

„Pff.. Du solltest aufgeben. Du kannst ja kaum Stehen.“, hörte ich seinen Gegner sagen und entschied mich in Windeseile, etwas zu unternehmen.

Ich lief zu Kyousuke und packte seinen Arm. „Hör auf damit! Überlass mir den Rest des Duells! Du bist krank verdammt nochmal, das ist nicht lustig!“, schimpfte ich. Doch es war mehr ein Flehen, als alles andere.

Kyousuke sah mich an und wankte erneut.

Wieder legte ich meine Hand auf seine Stirn. Sie war genauso heiß, wie gestern.

Mindestens neununddreißig Grad, schätzte ich.

„Das... Das ist aber mein Duell!“, erwiderte er stur und wollte mich wegdrücken, als er wieder schwankte und schließlich in die Knie ging.

„Sturkopf!“, fauchte ich, schnallte meine Duel Disk vom Arm und schnappte mir einfach seine, die ich mir nun umlegte und die Karten in seiner Hand.

„H-Hey!“, protestierte er schwach, aber all sein Gemecker half in jenem Moment nichts.
 

Tatsächlich zeigte seine Duel Disk nur noch 400 Lebenspunkte an und ich schickte innerlich ein Stoßgebet an Fortuna, dass sie mir Glück gab.

Ich warf einen Blick auf die Karten in meiner Hand und überlegte eine Weile.

Es fühlte sich seltsam an, mit dem Deck von jemand anderem zu spielen.

Da mein Zug, beziehungsweise eigentlich Kyousukes Zug war, zog ich eine Karte und lächelte leicht. Fortuna schien mir wohlgesonnen.

Ich schaffte es, den Spieß umzudrehen und besiegte meinen Gegner, dessen Duel Disk durch das Duell-Seil zerstört wurde.

Wütend fluchend verkrümelte er sich auf der Stelle und ich sah zu Kyousuke, der mich baff anstarrte.
 

Ich sackte ebenso auf meine Knie und starrte ihn an.

„Idiot!“, fauchte ich und verpasste ihm einfach eine Ohrfeige, ohne dass ich groß darüber nachdachte.

Er hielt sich die Wange und sah mich nun erst recht völlig entgeistert an.

Vermutlich hatte er noch nie eine Ohrfeige von einem Mädchen bekommen.

„Du dämlicher, sturer Idiot!“, schimpfte ich weiter.

Tränen tropften auf den Boden vor mir, doch dieses Mal war es mir egal ob er mich weinen sah.

Ich hatte echt Angst um ihn gehabt!

„Ryoko-chan...“ seine Stimme klang schwach und ich fühlte eine Hand an meiner Wange, die mich aufschrecken ließ.

„Es tut mir Leid. Ich.. Ich hätte das nicht tun dürfen. Aber ich... Ich wollte nur...“

„Ein bisschen Action? Richtig? Ein Duell, dass dich glücklich macht und deinen ewigen Hunger nach mehr befriedigt?“ Meine Stimme zitterte während ich sprach.

Kyousuke sah zur Seite. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich wollte mir noch einmal diesen Ort hier ansehen. Etwas über dich lernen, weil ich fast gar nichts über dich weiß.“

Meine Augen weiteten sich.

Nur deswegen war er abgehauen? Weil ich ihm nie etwas über mich erzählte? Aber... Immerhin kannten wir uns nun auch noch gar nicht so lange...

„Kyousuke-kun...“

Eine Weile sah ich ihn an. Dann bemerkte ich etwas neben ihm.

Es war ein Bild in einem kaputten Bilderrahmen.

Kyousuke hob es auf und hielt es mir vor.

„Ist das deine Mutter?“
 

Fassungslos nahm ich das Bild entgegen. Meine Hände zitterten und ich biss mir auf meine Unterlippe.

Die Frau auf dem Bild hatte lange, violette, glatte Haare und ebenso grünblaue Augen wie ich. Sie trug den selben roten Schal wie ich und schenkte mir ein engelsgleiches Lächeln.

Ich gab nur ein Nicken von mir.

All die Jahre hatte ich nach diesem Bild gesucht, welches neben dem Schal zu dem Zeitpunkt als ich weggelaufen war, meine einzige Erinnerung an sie gewesen war. Ich hatte das Bild eines Tages hier auf dem Schrottplatz verloren. Es musste mir aus meiner Hosentasche gefallen sein, als ich herumgelaufen war und ich hatte es nie wieder gefunden.

„Mama...“, nuschelte ich unter Tränen. Immer und immer wieder.

Meine Tränen tropften auf das zersprungene Glas und ich drückte das Bild fest an meine Brust.

Ich konnte fühlen, wie Kyousuke mich schwach umarmte.

„Jetzt verstehe ich, warum der Schal dir so wichtig ist...“, flüsterte er leise in mein Ohr.

Ich nickte nur und schmiegte mich dankbar an ihn. „Danke... Ich danke dir so sehr, dass du es gefunden hast! Vielen Dank, Kyousuke-kun...“

„Ach. Hab ich doch gern gemacht...“ Seine Hand strich beruhigend über meinen Rücken. „Sie war eine wunderschöne Frau...“

Ein sanftes Lächeln umspielte meine Lippen. „Das war sie...“
 

Wir gingen zusammen zurück, das Bild mit einer Hand weiterhin an meine Brust gepresst, stützte ich Kyousuke mit der anderen Hand, da er immer noch fiebrig war.

Als wir wieder zurück waren, sorgte ich dafür, dass er sich sofort wieder unter die Decke legte.

Ich machte noch einmal das Handtuch nass und legte es ihm auf die Stirn.

Dann hielt ich ihm eine von den Tabletten, die die anderen mitgebracht hatten, vor die Nase und ließ sie ihn mit Limonade herunterspülen.

Wieder verzog er das Gesicht und ich kicherte leicht.

„Du wirst dich nie dran gewöhnen oder?“

Er schüttelte den Kopf, so gut es ging. „Nicht in hundert Jahren.“ Dann legte er eine Hand auf meine.

Ich merkte, wie ich wieder rot wurde.

„Wie war sie so? Deine Mutter?“
 

Ich wandte mich seinem Gesicht kurz zu und blickte dann zu dem Bild, das nun auf dem Tisch lag.

„Ich weiß es gar nicht mehr so richtig. Ich weiß nur noch,... Dass sie unglaublich liebenswert war und sehr sanftmütig.“ Traurig lächelnd nahm ich das Bild wieder in die Hand und strich darüber.

„Und weiter?“

„Mhh.. Sie kam aus der Stadt.“

„Aus Neo Domino City?“ Ich konnte die Verwunderung in seiner Stimme hören und nickte erneut.

„Ja. Sogar von dem Tops von Neo Domino City. Sie war ein Mädchen aus gutem Hause, dass immer brav und anständig war...“ Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Zumindest bis zu dem Tag, als sie von Zuhause weggelaufen ist. Ihrem goldenen Käfig entfliehen wollte und dann schließlich meinen...“

Kurz pausierte ich. Allein bei dem Gedanken an meinen Erzeuger schnürte sich mir die Kehle zu.

Doch ich schüttelte nur leicht den Kopf und versuchte mir nichts anmerken zu lassen.

„Sie traf auf meinen Erz- ehm meinen Vater. Ein armer Schlucker, der sein bisschen Geld in einem kleinen Nudelsuppen-Restaurant verdient hatte, und verliebte sich sofort in ihn.

Natürlich wäre diese Beziehung meinen Großeltern ein Dorn im Auge gewesen, deswegen sind meine Eltern zusammen durchgebrannt und hier her gezogen.“

Kyousuke schenkte mir ein sanftes Grinsen und pikste mir in die Seite. „Jetzt weiß ich zumindest, von wem du diese rebellische Art hast.“

„L-Lass das! I-Idiot“, gab ich verlegen von mir, musste aber selber lachen.

Kyousuke grinste unbeeindruckt weiter. „Aber die Geschichte klingt echt toll. Fast wie ein Märchen.“

Peinlich berührt kratzte ich mir die Wange. „M-Mein Erzeuger.. ehm mein Vater hat sie mir mal erzählt.“, stammelte ich.

Dann jedoch seufzte ich traurig. „Nur dass dieses Märchen leider kein Happy End hatte...“

Meine Eltern lebten ein paar Jahre recht glücklich zusammen. Aber dann passierte der Zero Reverse.. Danach war alles anders. Sie waren schon vorher alles andere als reich, aber nach dem Zero Reverse und den damit zusammenhängenden Ereignissen wurde es noch schwerer. Mein.. Vater war dazu verdonnert in der Fabrik zu arbeiten, während meine Mutter zu Hause saß, nachdem sie mit mir schwanger geworden war. Nach meiner Geburt, so hat mein Alter es mir zumindest erzählt,... Da haben sie kaum noch etwas zum Leben gehabt. Das, was sie sich haben leisten können, war fast alles nur für mich. Damit zumindest ich eine halbwegs glückliche Kindheit hatte.

Ich bin nie zur Schule gegangen, weil meine Eltern sich die Kosten nicht haben leisten können. Meine Mutter hat versucht, mir einiges beizubringen, aber...“

Ich konnte erneute Tränen in meinen Augen fühlen, während ich das Gesicht meiner Mutter auf dem Bild wieder ansah.

„Aber?“

„Sie.. Sie ist gestorben, als ich sechs Jahre alt war. An meinem sechsten Geburtstag. … Ist sie.. Sie... ist an dem Morgen einfach nicht mehr aufgewacht!“

Erst jetzt merkte ich, dass ich richtig weinte. So wie schon lange nicht mehr.

Kyousuke hatte sich aufgerichtet und nahm mich in den Arm.

„Shht.. R-Ryoko-chan... Das.. Das..“ er wirkte extrem hilflos und sprachlos.

„M-Mama war krank. Sie war schon immer eher kränklich g-gewesen und.. Und sie hat eine Lungenentzündung bekommen. U-und wir hatten kein Geld um die Arztkosten z-zu bezahlen... Sie.. Sie hat immer gekämpft und gelächelt wie auf dem Bild u-und dann war sie... sie...“

Ich zitterte am ganzen Körper, während immer wieder neue Tränen sich ihren Weg bahnten und ihre Spuren hinterließen.

Kyousuke hielt mich so fest, dass ich mich kaum bewegen konnte.

Seine Hand strich durch meine Haare. „Shhht... Ryoko-chan... Es... Es tut mir Leid, was dir passiert ist...“ seine Stimme klang fast so weich, wie bei meiner Rettung und ich heulte mich einfach an seiner Brust aus.

Es war das erste Mal seit Mamas Tod, dass ich so ungehemmt weinte.

Vielleicht war es auch das, was ich all die Jahre gebraucht hatte. Einfach all den Schmerz mal herauszulassen, um vielleicht endlich mal ein wenig loslassen zu können.
 

„Mama hat mir kurz vor ihrem Tod den Schal geschenkt. Es war das einzige, was sie noch von ihrem Leben in Neo Domino City behalten hatte.“, erzählte ich schließlich noch, nachdem ich mich ausgeweint hatte.

Kyousuke reagierte jedoch nicht.

Ich hörte ihn verschnupft, aber leise atmen.

Er war eingeschlafen. Sein Kopf lag auf meiner Schulter und für einen Moment genoss ich die Ruhe und seinen angenehmen Geruch.

Vorsichtig löste ich die Umarmung jedoch wieder und drückte seinen Oberkörper sanft auf das Kissen.

Er nuschelte irgendetwas Unverständliches und ich musste unwillkürlich lächeln.

Ich deckte ihn wieder richtig zu. Warf noch einen Blick auf das Bild meiner Mutter.

Nahm das Handtuch, dass ihm wieder von der Stirn gefallen war.

Mit einer Hand strich ich ihm einige Ponysträhnen aus dem Gesicht.

Mein Herz schlug schnell und mein Magen verknotete sich, während ich mich langsam zu ihm herunterbeugte.

„Danke, Kyousuke-kun... Vielen Dank für alles.“, flüsterte ich und küsste seine Stirn.
 

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Erklärungen:

Zero Reverse - Null-Umkehr

Seventh Satisfaction: Jungs sind Idioten!

Ich vernahm eine Stimme.

Sie zuzuordnen, fiel mir schwer.

Das Gesicht zu der sie gehörte, war nicht zu erkennen.

„Hast du dir weh getan?“

Alles verschwamm vor meinen Augen.

„Was machst du hier so allein? Das ist kein Ort für ein kleines Mädchen. Hier treiben sich böse Leute herum.“

Wo war ich hier noch einmal?

Wie weit war ich von Zuhause weg?

Eine Hand. Ich nahm sie zaghaft.

Mir wurde hoch geholfen.

Ein Lächeln, das mir geschenkt wurde.

„Ryoko! Was treibst du dich da herum!? Deine Mutter macht sich Sorgen! Komm sofort her!“

Das Lächeln verschwand. Meine Hand wurde losgelassen.

Ich wollte nicht gehen. Ich wollte da bleiben und spielen!
 

Meine Augenlider zuckten. Nur schwer, konnte ich sie öffnen.

Es war morgens. Die Herbstsonne ließ ihre Strahlen schwach durch das zerbrochene Fenster scheinen und kündigte einen schönen Tag an.

Noch ein wenig benommen griff ich mir an den Kopf und fasste mir an meine Schläfe.

Was war das für ein Traum?

Wie eine Erinnerung an etwas längst Vergangenes, das ich verdrängt hatte.

Ich versuchte mich an das Gesicht zu erinnern, aber es gelang mir nicht.

Dafür klang die Stimme meines Erzeugers immer noch in meinem Ohr.

Wie viel Zeit mochte vergangen sein? Bestimmt waren es jetzt schon gut zwei Wochen, seit dem Vorfall am Strand und der Sache mit dem Bild meiner Mutter.

Kyousuke war wieder fit.

Eine echte Erleichterung für mich. So musste ich mir zumindest sein ständiges Gejammer nicht länger anhören.

Kranke Jungs waren echt anstrengend.
 

Kyousuke war nicht da.

In der Zeit, wo er krank gewesen war, hatten wir die Nächte zusammen auf der Couch verbracht. Er auf der einen Seite, ich auf der Anderen.

Eine merkwürdige, neue Nähe.

Ein Seufzen entfuhr meiner Kehle. Kopfschüttelnd wollte ich gerade aufstehen, als Kyousuke wieder kam. Mit zwei Tüten bewaffnet.

„Guten Morgen, Ryoko-chan! Ich hoffe, ich hab dich nicht geweckt!“, rief er fröhlich.

Beinahe ein bisschen zu fröhlich.

Ich schüttelte erneut den Kopf und fragte mich, was wohl in den Tüten war.

Die Frage beantwortete sich jedoch recht schnell von selbst: Limonade und Melonenbrötchen.

Kyousuke setzte sich zu mir, nahm sich eine Dose und drückte auch mir eine in die Hand. „Lass es dir schmecken. Wir haben heute viel vor.“

Sein Elan schien heute besonders groß zu sein.

„D-Danke...“, erwiderte ich mit einem immer noch leicht verwirrten Gesichtsausdruck.

„Was steht denn an?“

Kyousuke trank einen großen Schluck. „Na was wohl? Schon vergessen? Heute geht’s zum nächsten Sektor.“

Er wuschelte mir durch die Haare und grinste breit.

„Ach ja. Stimmt.“ Ich fühlte, wie ich errötete, aber sagte mal ausnahmsweise nichts.
 

„Ich geh nun erst einmal duschen. Sagst du den Anderen Bescheid, falls sie schon eher da sein sollten?“, fragte mich Kyousuke schließlich, nachdem er fertig gegessen hatte.

Ich nickte verlegen. „Klar.“

Wieder wuschelte er mir durch die Haare. „Danke.“

Sein Lächeln ließ mein Herz schneller schlagen und das Bauchkribbeln, dass ich schon seit dem Aufstehen verspürte, verstärkte sich.

Ich sah ihm hinterher und aß den Rest meines süßen Gebäcks, in der Hoffnung, dieses vermaledeite Kribbeln würde endlich mal ein Ende finden.

Doch darauf konnte ich lange hoffen.

Ich trank einen Schluck von meiner Limonade und blickte zu dem Bild meiner Mutter.

Es stand nun immer auf dem Tisch.

Kyousuke war so nett gewesen, die Jungs darauf hinzuweisen, mich nicht auf das Bild anzusprechen. Crows Neugierde war manchmal unerträglich.

Allgemein hatte ich das Gefühl, als hätte uns die Sache mit dem Bild näher zusammen gebracht.

Die Distanz, die zwischen uns immer noch geherrscht hatte, war geringer.

Zwar gab es immer noch genug Barrieren, aber die Ersten waren nach all der Zeit und den Ereignissen schon eingestürzt.

Ob das gut oder schlecht für mich war, vermochte ich nicht zu sagen.

Irgendwie war einfach alles plötzlich anders. Chaotisch.

Ich hatte mich noch nie so gefühlt, wie jetzt.

Jedes Lächeln von ihm, gab mir das Gefühl, als würde eine ganze Spinnenarmee in meinem Bauch Party feiern.

Der Klang seiner Stimme ließ mein Herz schneller schlagen und seine Berührungen bereiteten mir eine Gänsehaut. Eine Gänsehaut, die sich jedoch keineswegs unangenehm anfühlte.

Mir gingen so viele Dinge durch den Kopf, dass ich gar nicht mehr wusste, wo mir dieser stand.

Ich kannte Kyousuke doch gerade einmal ein paar Wochen!

Ich wollte nicht, dass das passierte, was gerade passierte.

Dennoch. Sich dagegen zu wehren fiel mir immer schwerer.

Aber eingestehen würde ich es mir nie! Niemals!
 

Während ich mit leicht glasigem Blick meine Getränkedose in der Hand anstarrte, ertappte ich mich sogar bei dem Gedanken, ihn mir unter der Dusche vorzustellen.

Halt! Stop! Nein!

Über meine eigenen Gedanken schockiert, haute ich meinen Kopf gegen die Couchlehne.

Raus aus meinem Kopf!

Wie lange willst du es noch leugnen?, hörte ich das sprichwörtliche imaginäre Teufelchen zu mir sagen und schubste es gedanklich von meiner linken Schulter.

„Für immer am besten.“, sagte ich zu mir selbst.

„Was 'Für immer am besten?'“, hörte ich Kyousukes Stimme und sah auf.

Sofort stieg mir die Hitze ins Gesicht.

Kyousuke stand mit freiem Oberkörper vor mir, als wäre es das Normalste auf der Welt. Mit einem Handtuch rubbelte er sich die immer noch nassen Haare trocken. Wenigstens seine Jeans hatte er schon an. Zum Glück.

„Wusste gar nicht, dass du Selbstgespräche führst.“, sagte er grinsend, ohne groß auf meinen verdatterten Gesichtsausdruck zu achten. „Ach ja. Was ich fragen wollte... Hast du mein T-Shirt gesehen?“

„Eh.. Du... Du kannst hier doch nicht halbnackt vor meiner Nase herumlaufen!“, platzte es aus mir heraus.

Ich musste gerade aussehen, wie eine überreife Tomate.

Kyousuke sah mich schief an und lachte leicht.

„Was denn? Sag bloß, du hast noch nie einen Mann oben ohne gesehen?“

Er kniff mir kurz in meine rechte Wange und zog daran. „Ist mein Anblick etwa so schrecklich?“

Nein. Ganz im Gegenteil. Das war ja das Problem!

Ich schnappte nach Luft und schlug seine Hand weg. „H-Halt die Klappe!“

Dieser Anblick war wie ein Unfall. Ich wollte nicht hinsehen, aber ich konnte nicht anders, als zu gaffen.

„Also, hast du mein T-Shirt gesehen?“, fragte er mich erneut, doch ich antwortete nicht gleich.

Ich war viel zu hypnotisiert um noch irgendetwas Vernünftiges hervorzubringen.

Ich hörte Kyousuke seufzen. „Vergiss es.“

Es dauerte eine ganze Weile bis ich mich endlich traute, erneut zu sprechen.

„Oh d-dein T-Shirt.... Eh... hast du es nicht angehabt, als du duschen bist?“

Kyousuke, der mittlerweile auf dem Boden krabbelte und unter der Couch suchte, sah zu mir hoch. „Ich rede von meinem Ersatz-T-Shirt. Brauch ja auch mal was Frisches.“

„Ehm...“ Ich überlegte, damit er nicht noch ewig auf allen Vieren auf dem Boden herumsuchen musste. Und vor allem damit ich endlich aufhören konnte, ihn anzustarren.
 

„Ah, da ist es doch!“

Seine Stimme riss mich aus meiner gedanklichen Suche.

Er war aufgestanden und hielt mir sein anderes rotes Shirt vor die Nase.

Ein Grinsen huschte erneut über seine Lippen.

„Du bist ja immer noch so rot im Gesicht.“

Die Hitze in meinem Gesicht verstärkte sich. „Halt die Klappe und z-zieh dir e-“

„Oh, stören wir gerade?“, wurde ich von Jacks teils verwunderter, teils belustigter Stimme in meiner Antwort unterbrochen.

„Schnauze! D-Das ist n-nicht so w-wie du-“

„Ah, Jack. Gut dass du hier bist. Crow, Yuusei.“

Ich gab ein Schnauben von mir und beobachtete nur noch, wie Kyousuke sich sein Shirt überzog, dann drehte ich mich mit verschränkten Armen weg.

„Hmpf. Idioten...“

„Dachte schon, wir kommen ungelegen.“, hörte ich Jack sagen.

„Ach, nein nein. Ich hab nur mein T-Shirt gesucht. War duschen.“

„Mit Ryoko-chan?“, konnte ich nun auch Crows belustigte Stimme vernehmen, drehte mich mit einem tödlichen Blick zu ihm um und warf ihm das alte, blaue Kissen ins Gesicht, welches neben mir lag.

Kyousuke, der wohl gerade hatte antworten wollen, blinzelte verdutzt, als das Kissen an ihm vorbeiflog, und musste lachen. „Du solltest sie nicht sauer machen, Crow.“

Ich gab ein Grummeln von mir, schnappte mir das Bild meiner Mutter und stand von der Couch auf.

„Jungs sind solche Idioten!“, gab ich fluchend von mir, während ich an Yuusei vorbeiging.

Mein Weg führte mich nach unten, aus dem Unterschlupf hinaus.
 

Wütend kickte ich eine alte Plastikflasche vor mich her, während ich mit den Händen in den Hosentaschen losmarschierte.

Ich wusste nicht wohin ich lief und ehrlich gesagt war es mir in diesem Moment auch egal.

Jungs konnten so blöd sein!

Zähneknirschend überlegte ich, ob es nicht doch besser war, einfach wieder zurück zum Schrottplatz zu gehen und wieder in meinem selbstgebauten Zelt zu hausen.

Diese Kerle würden mich doch eh nie für voll nehmen.

Ständig musste ich mir die Sticheleien von Jack anhören oder Crows Witze.

Yuusei war zwar immer nett zu mir, aber hielt sich meistens raus. Außer, es ging um etwas wirklich Wichtiges.

Und Kyousuke... Allein bei dem Gedanken an ihn, zog sich mein Magen erneut zusammen und ich schüttelte den Kopf.

Für ihn war ich im Grunde doch nur ein armes, kleines Mädchen, dass seinen Beschützerinstinkt geweckt hatte.

Das eben, hatte es doch nur zu deutlich gezeigt.

Er würde mich doch auch nie wirklich für voll nehmen. In mir nie das sehen, was ich war.

Aber... was war ich eigentlich?

Ich griff mir gegen die Stirn.

Ein kleines, vierzehnjähriges Mädchen, sagte die leise Stimme in meinem Kopf. Du bist ein kleines Mädchen.

Ich musste an die Angst und die Besorgnis in seinen Augen denken, nachdem er mich aus den Fluten gerettet hatte. Diesen Blick würde ich nie wieder vergessen.

Der sonst so mutige und furchtlose Kiryuu Kyousuke, der Angst gehabt hatte, dass ich tot wäre.

Ich!
 

Er hatte sich Sorgen um MICH gemacht. Sein Leben für mich riskiert und war deswegen danach sogar noch fast eine Woche lang krank gewesen.

Du bildest dir zu viel ein. Das hätte er für jeden anderen auch gemacht, sagte die Stimme erneut und ich gab ein lautes Seufzen von mir.

Ja. Er hätte es für jedes Mitglied von Team Satisfaction gemacht.

Ich brauchte mir auf meine Rettung nichts einzubilden.

Genauso wenig darauf, dass er das Bild meiner Mutter für mich gefunden hatte.

Das war eh nur durch Zufall passiert.

Es war einfach Kyousukes Art, sich den Arsch für all die Leute aufzureißen, die ihm wichtig waren.

Aber das würde dennoch heißen, dass ich ihm wichtig war, oder?

Ja. So wie Yuusei, Crow und Jack ihm auch wichtig waren. Immerhin waren wir ein Team.

Ich lächelte schief. Ein Team. Irgendwie hörte sich das immer noch merkwürdig an.

Ich trat die Flasche gegen einen umgeknickten Laternenmast.

Warum zur Hölle dachte ich eigentlich die ganze Zeit so bescheuerte Sachen?!

Es konnte mir doch egal sein, was Kyousuke über mich dachte, wie wichtig oder unwichtig ich für ihn war! Es konnte mir egal sein. Alles konnte mir egal sein. Alles KÖNNTE mir egal sein, wenn...

Erst jetzt realisierte ich, dass ich mal wieder weinte und mit meiner rechten Faust immer wieder gegen die metallene Wand eines alten Müllcontainers schlug, der am Straßenrand stand.

„Idiot! Idiot! Idiot!“
 

„Willst du dir die Hand brechen?“

Diese Stimme...

Ich traute mich nicht, mich umzudrehen.

Seine Hand hielt mein rechtes Handgelenk umklammert, so dass ich nicht weiter zuschlagen konnte.

„Wolltest du schon wieder weglaufen?“

Ich gab keine Antwort.

Kyousuke ließ mein Handgelenk los und dann fühlte ich seine Arme, die sich um mich legten und mich zu ihm zogen.

Mein Herz schlug schnell.

„Dummerchen. Es tut mir Leid, wegen eben. Ich wollte dich nicht ärgern und dir auch nicht ins Wort fallen.“

Seine sanfte Stimme erklang direkt neben meinem Ohr und ich versuchte, das blöde Herzklopfen zu ignorieren.

Trotzig biss ich mir auf die Unterlippe. „Daran hättest du vorher denken sollen...“, gab ich schließlich nuschelnd zur Antwort.

„Es tut mir wirklich Leid...“

Zaghaft löste ich mich aus seiner Umarmung und drehte mich zu ihm um.

Eigentlich wollte ich nicht in seine Augen sehen, aber ich tat es trotzdem.

Da war er wieder. Dieser Blick. Der Blick, der mein Herz schwer werden ließ und mich sämtlicher Worte beraubte.

„Kyousuke-kun...“

Für Sekunden blieb mein Fokus an seinen Lippen hängen, aber ich drehte mich instinktiv wieder weg.

Versuchte, diese Gefühle, die in mir aufkamen, mit einem Kopfschütteln zu verdrängen.

„Ryoko-chan. Kommst du wieder mit zurück?“

„Du würdest mir doch eh keine andere Option lassen, oder?“, gab ich zurück und versuchte, dabei so grantig wie immer zu klingen.

Doch irgendwie gelang mir das nicht so recht.

Ich hörte ihn leise lachen. „In der Tat. Also komm. Lass uns zurückgehen.“

Ein Nicken meinerseits war die Antwort und ich folgte ihm zurück.

Ich hätte eh nicht ‚Nein‘ sagen können. Nicht bei ihm.
 

„Zu welchem Sektor geht es eigentlich?“, fragte ich nach einer Weile.

„Ich dachte an Sektor T. Immerhin hab ich ja mal gesagt, dass wir uns erst einmal um die ganzen äußeren Bezirke kümmern und uns dann nach innen vorarbeiten.“, bekam ich als Antwort.

Kyousukes Stimme wirkte wieder fröhlicher und er verschränkte seine Arme hinter dem Kopf, während er vor mir herlief.

Manchmal fragte ich mich ja, was für ein tieferer Sinn hinter all dem stecken sollte.

Zumindest erkannte ich nicht wirklich etwas Weltbewegendes dahinter, durch ganz Satellite zu laufen und alle anderen Duel Gangs zu zerschlagen. Na klar. Irgendwo brachte es vielleicht auch etwas Sicherheit mit sich. Immerhin gab es auch viele Kleinkriminelle unter einigen Duel Gangs, aber so richtig ersichtlich war es für mich dennoch nicht, warum wir das taten.

Immerhin gab es für dieses Problem ja eigentlich die Security.

Ich hatte Kyousuke schon mal gefragt, was es denn für einen Sinn hatte, aber eine richtige Antwort bekam ich nicht. Nur dieses unergründliche Lächeln.

„Wir können nicht von hier weg. Also müssen wir eben zusehen, dass wir einen anderen Weg finden, der uns erfüllt. Wir alle brauchen doch Ziele und Träume. Deswegen ist es unser Ziel, eines Tages über jedes einzelne Viertel von Satellite zu herrschen.“

Das war alles, was er mir immer zu sagen pflegte.

Irgendwie klang es ja fast ein wenig übertrieben. Aber im Grunde hatte Kyousuke ja auch recht.

Wir lebten hier in Satellite. Abgeschnitten von der großen Stadt, für deren Einwohner wir nicht mehr waren, als Abschaum oder Müll.

Für uns gab es keine großartigen Optionen.

Entweder, man fristete sein Leben hier auf der Straße, hungernd und vor sich hin vegetierend, so wie ich es getan hatte, arbeitete sich in der Fabrik, beim Recyceln des Mülls aus der Stadt die Finger wund oder aber, man nahm sich etwas so hochtrabendes vor, wie Kyousuke und hatte zumindest eine Perspektive.

Ich hatte Jack jetzt schon oft sagen hören, dass Kyousuke für sie alle wie ein Retter in der Not gewesen war. Er hatte allen Hoffnung gegeben und einen Lebenssinn.

Und zum ersten Mal wurde auch mir schlagartig bewusst, dass ich, seit ich ihm begegnet war, endlich einen Sinn in meinem Dasein gefunden hatte.

Kyousuke hatte auch mir Hoffnung gegeben.
 

Jack, Crow und Yuusei saßen noch auf der Couch, als wir zurückkamen.

„Ah, du hast sie wieder eingefangen.“, sagte Jack und fixierte mich kurz mit seinen amethystfarbenen Augen.

Ich erwiderte seinen Blick mit einem Schnauben.

„Ich bin nur wieder mit, weil ihr Jungs ohne mich doch scheinbar vollkommen aufgeschmissen wärt.“, behauptete ich einfach, obwohl das so sicher gar nicht stimmte.

Aber ich würde mir sicher nicht die Blöße geben, die Wahrheit zu sagen.

„Wer's glaubt, wird selig.“, antwortete Jack trocken und verschränkte seine Arme.

Ich streckte ihm einfach die Zunge raus.

Crow trat auf mich zu und entschuldigte sich bei mir für den blöden Witz.

„Ach. Schon gut.“, antwortete ich und sah zu Yuusei, den ich vorhin nicht einmal begrüßt hatte.

Das holte ich nun zumindest mit einer Entschuldigung meinerseits nach und warf mich dann einfach mit auf die Couch.

Kyousuke grinste mir zu und blieb stehen.

„So gefällt mir das schon besser.“ Er streckte sich kurz. „Also. Wenn alle soweit bereit sind, können wir ja gleich schon losgehen. Ich denke, ein Überraschungsangriff wäre dieses Mal von Vorteil.“

Ich nickte zusammen mit den Anderen.

Nach und nach standen wir wieder auf.

Ich trank noch den letzten Schluck Limonade aus meiner Dose und überprüfte noch einmal, ob mein Deck vollständig war.
 

Sektor T war ein sehr unangenehmer Ort und es war bereits später Nachmittag, als wir ihn erreicht hatten. Die Gegend hier wirkte noch verfallener und maroder, als der Sektor in dem ich zuletzt gehaust hatte.

Es roch überall furchtbar vergammelt und die Häuser, die hier standen, waren zum Teil so eingestürzt, dass sie nicht einmal mehr begehbar waren.

Es war nur schwer vorzustellen, dass hier überhaupt noch irgendwelche Menschen lebten.

Kyousuke lief voraus und führte uns in eine Seitengasse.

Durch die kleine Passage hindurch ging es weiter.

Der vermoderte Geruch wurde zunehmend stärker.

Jack hatte mal wieder angewidert das Gesicht verzogen und selbst Crow hielt sich die Hand vor den Mund. „Wo führst du uns hin, Kiryuu? Hier riecht es, wie in einem alten Leichenkeller.“

Kyousuke sagte jedoch nichts.

Yuusei, der neben mir lief, schwieg auch lieber. Aber das war nichts Neues bei ihm. Er war nicht allzu gesprächig, wie ich schnell festgestellt hatte.

Als wir unser Ziel jedoch letztendlich erreicht hatten, wusste ich auch, woher der Geruch kam.

Es war ein alter Friedhof, der vor uns lag.

Schon seit Jahren unbenutzt und total verwildert.

Das eiserne Tor war rostig und verbogen. Das Schloss lag am Boden, so dass man ungehindert hinein konnte.

Da Herbst war, war es mittlerweile schon ziemlich dunkel, sodass der Anblick noch ein wenig schauriger wirkte. Wie in einem Horrorfilm.

„Ein Friedhof?“, meldete sich Yuusei endlich mal zu Wort.

Kyousuke drehte sich zu ihm um und nickte. „Hier treibt sich Team Zombie herum. Unsere nächsten Gegner.“

Ich schluckte. Zombie. Das klang ja mehr als vielversprechend.

„Und wie sieht der Plan aus?“, fragte Jack.

„Wir teilen uns auf. Der Friedhof hat neben diesem noch drei weitere Eingänge. Ryoko-chan und du nehmt euch den West-Eingang vor. Crow, du kommst durch den Ost-Eingang, Yuusei durch den Nord-Eingang und ich... werde gleich hier durchgehen. Laut meinen Informationen trifft sich Team Zombie immer in der Mitte bei einem kleinen Teich.“

Links neben mir, verdrehte Jack wieder die Augen. „Warum schon wieder mit der Kleinen?“

Auch ich gab ein genervtes Seufzen von mir, funkelte Jack an und wandte mich dann an Kyousuke. „Echt mal! Warum immer mit diesem Idioten!? Kann ich nicht mit dir gehen?“

Kyousuke drehte sich zu mir. Eine Weile sah er mich an, als überlegte er tatsächlich, mich mit sich zu nehmen. Doch dann schüttelte er den Kopf. „Ihr zwei müsst immer noch lernen, etwas besser miteinander auszukommen. Immerhin sind wir ein Team.“

Ich verschränkte meine Arme. Wirklich Lust darauf hatte ich nicht.

Kyousukes Hände auf meinen Schultern brachten mich dazu, aufzusehen.

„Beim nächsten Mal kommst du mit mir mit.“, sagte er und lächelte mich aufmunternd an.

Ein Blick in seine Augen. Hitze, die langsam wieder in meine Wangen kroch. Mein dummes Herz.

Ich ergab mich nickend. „Okay.“

Kyousuke klopfte mir sanft auf die Schulter. „Geht doch.“
 

Es hatte nicht lange gebraucht, bis Jack und ich den West Eingang gefunden hatten.

Das Tor war zwar von Schimmel und Moos bewachsen, aber es war zum Glück dennoch gut erkennbar.

Jack lief vor mir her.

Wie schon damals, schienen wir uns stillschweigend darauf geeinigt zu haben, dass wir nicht miteinander redeten, wenn es nicht gerade sein musste.

Während er sich wachsam umsah, kickte ich kleine Kieselsteine vor mich her.

Trotz, dass ich es nicht nach außen hin zeigte, fühlte ich mich angespannt.

Jedes Knacken oder Rascheln ließ mich innerlich zusammenfahren.

Warum mussten sich unsere Gegner auch so einen gruseligen Ort für ihre Treffen aussuchen?

Ein Rascheln direkt neben mir, brachte mich dazu, stehen zu bleiben.

Ich starrte den Busch an, aus dem plötzlich Etwas huschte.

„Uaaaaaaah!“

Jack hatte sich zu mir umgedreht. „Ryoko?“

Für ein paar Sekunden musterte er mich besorgt, aber musste dann lachen, als er sah, vor was ich mich erschrocken hatte.

Es war nur eine harmlose Ratte gewesen.

Ich sah dem grauen Nagetier hinterher und funkelte Jack wütend an. „Das ist nicht komisch!“

„Wusste gar nicht, dass du Angst vor Ratten hast.“

„Halt die Schnauze und lauf weiter!“

Das war so beschämend.

Und Jacks Sticheleien machten es nicht besser.

Ja. Ich tat oft so, als wäre ich taff und als würde mich alles kalt lassen.

Aber ausgerechnet vor Jack musste ich hier so deutlich offenbaren, dass ich auch ein kleiner Angsthase war.

Zumindest wenn es darum ging, im Dunkeln auf einem Friedhof herumzulaufen.

Noch dazu war heute Neumond, weswegen es noch viel dunkler war.

Die Laternen, die hier und da aufgebaut waren, mussten schon seit Jahren defekt sein.
 

Seufzend fragte ich mich, wie es Kyousuke wohl gerade ging.

Sicherlich spazierte er total cool die verschlungenen Wege entlang und wartete nur darauf, einem unserer Gegner zu begegnen.

Zumindest wirkte er auf mich immer so, als hätte er vor nichts Angst.

Außer eben wohl davor, dass seinen Freunden etwas passierte. Aber ansonsten erschien er mir beinahe furchtlos.

Irgendwie bewundernswert.

Aber was wusste ich schon. Er wusste mittlerweile mehr über mich, als ich über ihn.

Aber im Gegensatz zu ihm, traute ich mich nicht, ihn wegen seiner Vergangenheit auszufragen.

Ich wollte ihm nicht zu nahe treten. Sicherlich würde er schon von selber kommen, wenn er das Bedürfnis hatte, mir mehr über sich zu erzählen.

Irgendwie wäre es ja schön, auch mehr über ihn zu erfahren. Wo er herkam, warum er auf der Straße lebte. Was er vor Team Satisfaction getan hatte.

Irgendwie erlag ich der Versuchung, Jack zu fragen, ob er da vielleicht etwas schlauer war als ich.

Ich hatte bisher noch nicht einmal gefragt, wie lange Kyousuke die anderen Jungs schon kannte.

„Jack?“

Der große Blonde drehte sich zu mir um. „Was ist?“

„Wie lange kennt ihr und Kyou- ehm ich meine Kiryuu-kun euch schon?“

Jack musterte mich eine Weile, als versuchte er, mich mit seinem stechenden Blick zu röntgen.

„Keine Ahnung.“, sagte er schließlich. „Drei Monate vielleicht? Ein halbes Jahr? Ich weiß es nicht. Man verliert hier irgendwann das Zeitgefühl. Warum?“

Ich spürte, dass ich rot wurde und blickte zur Seite.

„Nur so!“, antwortete ich schnell.

Er zog eine Augenbraue hoch. „Niemand von uns weiß, wo er herkommt, aber er stand eines Tages plötzlich einfach vor uns und hat uns angesprochen. Uns von seiner Idee erzählt.“

Ein Schmunzeln glitt über Jacks Lippen. „Er hat geredet wie ein Wasserfall. Ohne Punkt und Komma und mit so viel Begeisterung und Elan, dass wir uns alle haben einfach mitreißen lassen.“

Nun musste auch ich leicht Lächeln.

„Scheinbar... Ist das sein besonderes Talent. Einfach irgendwo aufzutauchen und das Leben von jedem, der ihm begegnet, zu verändern...“
 

Wir alle hier, hatten diesem Kerl wirklich verdammt viel zu verdanken.

Vor allem hatte ich ihm verdammt viel zu verdanken.

Ich fühlte, wie Jack mich noch eine Weile beobachtete, aber das war mir gerade egal.

Ich ignorierte einfach seine Verwunderung über meine Frage.

Gerade jetzt, fühlte ich mich weniger ängstlich, als noch ein paar Minuten zuvor.

Die Dunkelheit schien ein wenig heller geworden zu sein.

Erst als Jack stehen blieb und ich mit dem Kopf in seinen Rücken knallte,

kehrte alles wieder zurück.

„Hey, pass doch auf, verdammt!“, rief ich.

Jack reagierte jedoch nicht.

Als ich vor mich sah, erkannte ich auch den Grund.

Vor uns stand ein ziemlich düster gekleideter Kerl. Die schwarzen Klamotten waren ausgefranst und an den Ärmeln zerfetzt.

Auf seiner rechten Wange trug er eine Markierung.

Er grinste uns hämisch entgegen.

Jack wirkte im Gegensatz zu mir eher unbeeindruckt und aktivierte ohne zu zögern seine Duel Disk.

Hinter mir vernahm ich Schritte und drehte mich um.

Auf mich kam ein Mädchen zu, welches ebenso zerfetzt wirkende Kleidung trug.

Es schien in meinem Alter zu sein.

„Ihr habt euch den falschen Ort für euer Date ausgesucht.“

Ich schluckte und aktivierte meine Duel Disk.

„Schnauze, Zombie-Schlampe! Zeig lieber, was du drauf hast!“

Eighth Satisfaction: Ein Freund in der Not

Ich fühlte Jacks Rücken an meinem, als die Duelle ihren Anfang nahmen.

Meine Gegnerin grinste breit und hämisch. Sie besaß außergewöhnlich spitze Eckzähne, die sie fast wie eine Vampirin wirken ließen.

Sie machte ihren Zug und spielte auch schon gleich die Karte Vampire Lady.

Wenn das mal nicht wie die Faust aufs Auge passte.

Mit einer verdeckten Karte beendete sie ihren Zug.

„Jetzt zeig du mal, was du so zu bieten hast, Babyface!“

Ich gab ein Grummeln von mir. „Besser Babyface als in dem Alter schon auszusehen, wie eine halbtote Schabracke!“, erwiderte ich fauchend und zog meine sechste Karte.

Meine Hand sah tatsächlich nicht gerade vielversprechend aus, aber immerhin konnte ich mich mit einem Monster verteidigen und hatte eine nette Falle, die ich setzte.

„Das war es schon? Mehr hast du nicht drauf?“, spottete meine Gegnerin nur und opferte in ihrem Zug ihr Monster um ein noch stärkeres zu rufen.

Das ging ja gut los.

Ich warf einen Blick über meine Schulter zu Jack, der kaum Probleme zu haben schien. Sein Gegner hatte schon jetzt kaum noch Lebenspunkte.

„Alles klar bei dir da drüben?“, fragte er mich und ich bemerkte wie er aus den Augenwinkeln auch kurz zu mir sah.

Machte er sich etwa Sorgen?

„Ich hab alles im Griff!“, antwortete ich schnell und sah wieder zu meiner Gegnerin, die mein Monster angriff. Aber zum Glück hatte ich ja noch meine Falle.

Reactive Armor zerstörte ihr angreifendes Monster. Pech für sie und gut für mich.

Nachdem sie ihren Zug beendet hatte, zog ich meine Karte und grinste kurz.

Ich opferte mein Monster, welches einen Angriff von 1400 besaß, um Great Demon Beast Garzett zu rufen, dessen Angriff dank seinem Effekt nun 2800 betrug.

Allerdings wurde mein Angriff durch ihre Falle verhindert.

Das Duell entwickelte sich sehr schnell zu einem kurzen hin und her.

Der Schlagabtausch hielt aber nicht lange und am Ende schaffte ich es es doch schneller als gedacht, meine Gegnerin zu besiegen.

Sie stolperte ein paar Schritte rückwärts, als ihre Duel Disk zerstört wurde und landete auf dem Hosenboden.

„Nicht übel, Kleine.“, konnte ich Jack sagen hören. Er klopfte mir leicht auf die Schulter und ich konnte mir ein triumphierendes Grinsen nicht nehmen lassen.

„Dumm gelaufen, was?“

Meine Gegnerin starrte mich mit einem vernichtenden Blick an. „Das wird dir noch Leid tun! Euch beiden!“, fauchte sie und rappelte sich auf.
 

„Ach ja?“, gab ich trocken zurück, doch in dem Moment vernahm ich ein Geräusch, als würde etwas Schweres durch die Luft fliegen.

Ich drehte mich um, riss meinen Mund auf und wollte gerade „Jack, Vorsicht!“, rufen, aber da war es schon zu spät.

Die schwere Duel Disk, die da angeflogen kam, traf ihn am Hinterkopf und ließ ihn zu Boden gehen.

Völlig erstarrt und nicht fähig zu reagieren, bemerkte ich zu spät, wie mich zwei Leute an den Armen packten.

Ich war noch völlig baff über diesen urplötzlichen Angriff.

Was war da gerade...? Was ging hier vor? Was war mit Jack?

Ich realisierte langsam dass ich festgehalten wurde und fing an, mich nach Leibeskräften zu wehren.

„Lasst mich los, ihr Penner!“, fauchte ich und versuchte einem erfolglos zwischen die Beine zu treten.

„Ich schwöre euch! Unser Anführer bringt euch um, wenn ihr mir weh tut!“, fauchte ich weiter und schaffte es zumindest, einem meiner Entführer gegen das Schienbein zu treten.

„Arrgh, du Miststück!“, keuchte dieser, ließ mich los und ich nutzte die Gelegenheit, auch meinem anderen Angreifer zu entkommen und rannte los.

„KYOUSUKE-KUN! YUUSEI! CROW!“, brüllte ich durch die Nacht, in der Hoffnung, die Jungs wären irgendwo in der Nähe.

Meine Verfolger waren zu viele, um es allein mit ihnen aufzunehmen und was mit Jack war, wusste ich nicht.

Ich lief und lief, aber sehr weit kam ich nicht.

Die Jungs und das Mädchen von Team Zombie hatten mich schnell eingeholt und schafften es, mich erneut festzuhalten.

Dieses Mal hatte ich wirklich keine Chance. Einer packte mich an den Beinen und ein anderer an den Armen, so dass ich mich kaum wehren konnte, egal wie sehr ich versuchte, zu strampeln.

In was für eine Scheiße hatte ich mich nur wieder hineingeritten?

„LASST MICH LOS!“

Mein Schreien brachte herzlich wenig. Ich sah zum Himmel hinauf. Zu den Sternen, die dort oben leuchteten und fragte mich, was diese Idioten nur mit mir vor hatten.

Vielleicht hatten sie auch die Anderen? Ich wollte gar nicht daran denken.
 

Der Wunsch danach, dass Kyousuke mich retten kam, verpuffte auch immer mehr. Dieses Mal würde er nicht einfach wie aus dem Nichts erscheinen und jeden dieser Kerle fertig machen, wie an dem Tag, als wir uns begegnet waren.

Ich schloss meine Augen und überlegte, wie ich mich am besten befreien konnte. Irgendwann mussten sie mich ja auch mal loslassen.

Vielleicht konnte ich dann die Gelegenheit zur Flucht ergreifen oder einfach gleich versuchen, es jedem sofort heimzuzahlen.

Ich achtete schon gar nicht mehr auf meine Umgebung.

Von irgendwo konnte ich das unheimliche Rufen einer Eule vernehmen.

Meine Entführer blieben schließlich stehen.

„So. Da wären wir. Der perfekte Ort, für das kleine Gör, um sich schlafen zu legen.“, hörte ich einen sagen.

„Das sollte diesen Typen von Team Satisfaction eine Lehre sein, sich mit Team Zombie angelegt zu haben!“

Ich verstand nicht ganz, worauf die Kerle hinaus wollten.

„Was... Was habt ihr vor!?“, keifte ich und versuchte mich halb zu drehen, um zu erkennen, was dort war.

Meine Augen weiteten sich und meine Kehle schnürte sich zu.

Ein ausgehobenes Grab. Schon fertig und bereit, um einen Sarg hinabzulassen.

Ich musste hier weg! Sofort!

Wie wild begann ich zu zappeln, wand mich hin und her, aber nichts half.

Ich wollte nicht in diesem Erdloch landen!

„Egal wie sehr du dich wehrst, Kleine. Du kannst nicht entkommen!“, meinte einer von den Jungs, die mich festhielten. Er grinste schief.

„Halt's Maul und lass mich los! Ich schwöre euch, ich bring euch alle um!“

Ich hörte das Mädchen von irgendwo kichern. „Jetzt werft sie schon rein, damit wir Ruhe haben!“

Ich konnte nichts tun, als die Jungs mich auch schon mit einem leichten Schwung in das Erdloch fallen ließen.

Ich schaffte es zwar noch, mich mit einer Hand am Rand irgendwie festzuhalten, doch gerade als ich mich hochziehen wollte, rutschte die Erde weg und ich fiel sehr tief. Mindestens drei Meter. Vielleicht mehr.

Ich kam zumindest unten sehr unglücklich mit meinem rechten Fuß auf.

Ein stechender Schmerz breitete sich in meinem rechten Fußgelenk aus und ich sah nach oben.

Wie sollte ich hier je wieder rauskommen?

Ich konnte die Mitglieder von Team Zombie lachen hören und irgendeiner spuckte sogar zu mir runter, verfehlte mich aber zum Glück.

Diese verdammten Bastarde!

Ich versuchte mich aufzurappeln, aber der Schmerz in meinem Fußgelenk ließ mich wieder zu Boden sinken.

Vermutlich war es verstaucht, wenn nicht sogar gebrochen.
 

Was sollte ich nur machen? Kurz überlegte ich, ob es vielleicht möglich war, mich mithilfe meines Duell-Seils aus dieser misslichen Lage zu befreien. Aber wie sollte ich das anstellen? Oben gab es nichts, woran es sich festhaken könnte.

Höchstens einen der Typen, aber ich würde ihn eher mit hinunter ziehen, als mich hoch hangeln zu können.

Ich musste mir eingestehen, dass ich es wieder einmal geschafft hatte, mich in eine wirklich missliche Situation zu bringen.

Dabei war es das Letzte, was ich wollte. Ich wollte nicht das kleine Mädchen sein, dass ständig gerettet werden musste! Ich hatte es all die Jahre auch ohne die Jungs und vor allem ohne Kyousuke geschafft!

Ich schüttelte den Kopf und raffte mich erneut auf.

Wankend hielt ich mich an der erdigen Wand meines „Grabs“ fest.

Die Schmerzen waren stark, aber ich ignorierte sie.

Irgendwo musste es doch etwas geben. Eine Baumwurzel oder so, die aus einer der Wände hervorlugte.

Vorsichtig tastete ich mich voran.

Jeder Schritt tat weh und zu allem Überfluss merkte ich nun auch, wie die Kerle angefangen hatten, Erde von oben auf mich runter zu schmeißen.

Wollten die mich nun auch noch lebendig begraben?!

Ich wich der fallenden Erde aus. Der modrige Geruch war kaum zum aushalten.

Plötzlich spürte ich tatsächlich eine etwas dickere Baumwurzel, die sich etwas über meiner linken Schulter befand. Immerhin schon mal ein Anfang.

Ich versuchte diese zu packen und schaffte es auch.

Der Sprung gegen die Wand ließ mich vor Schmerzen aufschreien, aber ich biss die Zähne zusammen und versuchte mich hochzuziehen.

Irgendwie... Würde ich das schon schaffen!

„Gib auf! Du kommst da niemals raus!“, hörte ich das Mädchen lachen und knurrte innerlich.

Wenn ich hier erst einmal draußen war, durfte sie gern mal hier landen!

„Ihr solltet lieber diejenigen sein, die aufgeben!“

Ich schrak auf, als ich diese Stimme vernahm.

Nicht nur, weil ich sie kannte, sondern vor allem auch, weil sie zu jemandem gehörte, mit dem ich jetzt am wenigsten gerechnet hatte!

Tief und mit diesem Hauch von Selbstgefälligkeit und Sarkasmus.

„Jack!“

„Ryoko!“

Zum ersten Mal in meinem Leben, war ich dankbar den hochgewachsenen Blondschopf zu sehen, als er kurz zu mir hinabsah.

„Ich kümmer mich hier um die Typen! Dann hol ich dich da raus!“

Mir klappte der Mund auf, aber ich wartete brav.

Konnte hören, wie Jack einen nach dem Anderen ordentlich vermöbelte.

Von irgendwo hörte ich noch weitere Leute ankommen.

Duel Disks wurden aktiviert und ich hörte die Geräusche der visualisierten Monster.

Dann sah ich wieder Jack, der mir sein Duell-Seil zuwarf.

Ohne zu zögern schnappte ich es mir und ließ mich hochziehen.
 

Jack keuchte leicht und ließ sich erst einmal auf den Hintern fallen, nachdem er mich komplett hochgezogen hatte.

Auch ich saß keuchend auf dem Boden.

„Bist du in Ordnung?“, fragte er mich.

„I-Ich denke... soweit schon.“, antwortete ich und versuchte, den pochenden Schmerz in meinem Fuß, der langsam zurückkehrte, zu ignorieren.

Vor lauter Schreck hatte ich ihn für einen kurzen Moment vergessen gehabt.

„Sicher?“

Ich hob meinen Kopf und sah zu ihm.

Er wirkte besorgt. Ein Ausdruck, wie ich ihn bisher kaum an ihm gesehen hatte.

„Ich... Uhm.. Danke...“, nuschelte ich und sah schnell wieder weg. Irgendwie tat es mir nun Leid, dass ich immer so fies zu ihm gewesen war.

Eigentlich war er ja ganz in Ordnung.

„Wie geht’s deinem Kopf?“, fragte ich. Meine Stimme klang ziemlich erschöpft und kleinlaut.

„Der wird schon wieder. Ich hab einen Dickschädel.“

Ich hörte ihn leicht lachen und konnte mich auch zu einem Lächeln durchringen.

„Einen verdammt großen sogar.“

„Tut mir Leid, wegen eben.“

Ich zuckte auf und sah wieder zu ihm.

Er blickte jedoch zur Seite. Trotz, dass kein Mond schien, hatte ich das Gefühl, dass er rot geworden war.

„Ach... Schon okay.. Mir tut es auch Leid, dass ich ständig... Ich sag oft Sachen, die ich gar nicht so meine.“

Ein leichtes Lächeln huschte über seine Lippen. „Tun wir das nicht alle? Weißt du Ryoko, ich-“

Weiter kam er jedoch nicht.
 

„Ryoko-chan! Bist du okay! Jack! Seid ihr in Ordnung?“

„Kyousuke-kun!“ So schnell ich konnte, versuchte ich aufzustehen und zu ihm zu laufen.

Doch es gelang mir nicht.

Die Schmerzen in meinem Fuß waren zu stark und ich taumelte auf den Boden zurück.

Kyousuke rannte zu mir.

Im Schlepptau hatte er Yuusei und Crow.

„Ryoko-chan!“

Besorgt kniete er sich zu mir hinunter. „Bist du verletzt?“

Ich brachte keinen Ton hervor, sondern fiel ihm einfach nur zitternd in die Arme.

Erst jetzt spürte ich neben all dem Schmerz so richtig die Angst, die ich die ganze Zeit gehabt hatte.

Ich war so froh, dass Kyousuke endlich da war.

Scheinbar völlig perplex legte er seine Arme um mich.

Mein Herz klopfte wild gegen meine Brust, aber dieses Mal ignorierte ich es nicht.

„Kyousuke-kun...“

„Jetzt bin ich ja da, Ryoko-chan. Tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat.“

Seine sanfte Stimme beruhigte mich ungemein.

Seine Nähe, seine Wärme, sein Geruch. Alles war so beruhigend.

Neben mir konnte ich Crow und Yuusei hören, wie sie Jack fragten, wie es ihm ging.

„Passt schon.“, hörte ich ihn trocken murmeln.

Ich bin mir sicher, dass er in jenem Moment zu mir gesehen hatte.

„Wir sollten zurückgehen.“, sagte Kyousuke und löste sich aus der Umarmung.

Eigentlich hätte ich so für immer gerade bleiben können.

Kyousuke streckte mir seine Hand entgegen, um mir aufzuhelfen.

Ich nahm diese, versuchte aufzustehen, doch der stechende Schmerz ließ mich zusammenfahren.

Kyousuke starrte mich besorgt an. „Ryoko-chan... Du bist verletzt!“

Ich schüttelte schnell den Kopf und versuchte weiterhin meine Tränen zurückzuhalten und meine Zähne zusammenzubeißen.

Ich wollte Kyousuke nicht schon wieder Sorgen bereiten.

„Jetzt tu nicht so. Ich merk das doch, dass dir irgendwas weh tut!“, sagte er streng und besorgt zugleich. „Lass mal sehen!“

Wieder kniete er sich zu mir runter und bemerkte wohl, dass mein rechtes Bein zitterte.

Vorsichtig tastete er es ab und zog mir dann meinen Stiefel aus.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Die Schamesröte brannte heiß in meinem Gesicht. Es war mir peinlich und unangenehm, aber gleichzeitig rührte mich seine Fürsorge schon wieder zu Tränen.

Als er mein Fußgelenk berührte, zuckte ich vor Schmerzen zusammen.

Es war gerötet und geschwollen.

„Aua...“, wimmerte ich.

„Kyousuke sah mich an.

„Sieht aus, als wäre es verstaucht. Keine Ahnung. Ich kenne mich damit nicht aus, aber... Aber das muss sofort behandelt werden.“

Ich sah zu ihm. Dieser besorgte Blick brachte meinen Magen dazu, sich zusammenzuziehen.

„Wie genau ist das passiert?“, fragte er mich, während er mir meinen Stiefel vorsichtig wieder anzog.

Ich wollte etwas sagen, aber ich wusste nicht wie.
 

„Diese kranken Spinner haben sie in dieses ausgehobene Grab herunter geschmissen.

Dachten wohl, sie könnten uns so loswerden oder abschrecken. Ich hab sie herausgezogen, nachdem ich mich um ein paar von ihnen gekümmert hab.“

Das war Jack.

Kyousuke wandte sich ihm zu und warf dann den paar Mitgliedern von Team Zombie, die nicht abgehauen waren, sondern noch immer bewusstlos auf dem Boden lagen, einen vernichtenden Blick zu.

„Widerwärtiges Pack!“

Ich hatte Kyousuke bisher noch nie wirklich wütend erlebt, aber gerade jetzt strahlte alles in seinem Gesicht diesen Zorn aus.

„Ich hoffe, denen ist nun klar, dass sie sich nie wieder mit uns anlegen sollten. Ich werde unter keinen Umständen zulassen, dass so etwas noch einmal passiert!“

Mir fehlte eh die Kraft zum reden.

Jack nickte nur und Kyousuke sah wieder zu ihm.

„Danke, dass du sie gerettet hast, Jack.“

Jack wirkte ein wenig verlegen und drehte seinen Kopf lieber wieder weg. „War doch selbstverständlich. Immerhin... Sind wir doch ein Team oder etwa nicht?“

Kyousuke lächelte minimal. „Das sind wir. Das Beste überhaupt!“

Dann wandte er sich wieder mir zu. „Am besten, wir sehen zu, dass wir dich irgendwo behandeln können. Komm, ich trag dich.“

Er drehte sich mit dem Rücken zu mir.

Peinlich berührt kletterte ich auf seinen Rücken und ließ mich Huckepack tragen, nachdem er mit mir aufgestanden war.

Yuusei, der das ganze mitbekommen hatte sah zu uns. „Am besten, wir bringen sie zu Martha.“

Ich drehte meinen Kopf zu ihm.

„Zu Martha?“

Yuusei nickte. „Sie wird dir helfen können, Ryoko. Mach dir keine Sorgen.“

„A-Aber....“

Jetzt würde ich auch noch der Pflegemutter von Yuusei, Crow und Jack zur Last fallen.

Ich kuschelte mich einfach an Kyousukes Nacken.

„Keine Sorge. Martha ist wirklich in Ordnung.“, hörte ich Crow sagen.

Er hatte gut reden. Dieser immer fröhliche Kerl.

Ich wusste ja, dass Martha eine sehr nette Frau sein musste. Aber ich konnte doch nicht einfach...

In diesem Moment hasste ich mich wieder einmal selbst.
 

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Erklärungen:

Vampire Lady - Vampirlady

Reactive Armor - Sakuretsu-Rüstung

Great Demon Beast Garzett - Großer Maju Garzett

Ninth Satisfaction: Geständnisse

Schweigend schloss ich meine Augen.

Lauschte dem schnellen Schlagen meines Herzens und genoss die Wärme, die von Kyousuke ausging.

Neben meiner Wut auf mich selber, spürte ich nun auch wieder die Erschöpfung und Müdigkeit.

Ich wäre am liebsten einfach auf Kyousukes Rücken eingeschlafen.

Die Minuten zogen sich hin.

Vereinzelt konnte ich Gesprächsfetzen von den Jungs vernehmen, aber ich hörte kaum zu.

Es interessierte mich nicht.

Ich war mir sicher, dass der Eine oder andere versuchte, mich anzusprechen, aber ich ignorierte es.

Ich wollte einfach nur diese Wärme spüren und Kyousukes Geruch einatmen.

Einfach nur...

„Wir sind da.“

Yuuseis deutliche Stimme ließ mich aufsehen.

Kyousuke war stehen geblieben und sah halb über seine Schulter zu mir. „Bist du noch da, Ryoko-chan?“

Benommen blinzelnd nickte ich. „Uhm. Ja...“

Das alte Haus vor mir war groß und erinnerte vom Grundriss her ein wenig an ein kleines Kloster.

Auch wenn die Außenwände ebenso wirkten, als hätten sie schon einmal bessere Tage erlebt, versprühte das Gebäude eine Art von Wärme und Frieden.

Kyousuke sah zu Jack. „Uhm. Kannst du sie nehmen, Jack?“

„Eh was?“ Perplex zuckte ich zusammen.

Auch Jack sah verwirrt aus. „A-Aber Kiryuu?“ Er sah zu mir. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, als wäre er wieder verlegen.

Ohne, dass ich groß etwas sagen konnte, hatte mich Jack einfach schon Kyousuke abgenommen und ich lag in seinen Armen.

Mit hochrotem Kopf.

Was zur Hölle war das jetzt bitte wieder für eine Aktion!?

Yuusei trat vor und klopfte an die hölzerne Tür. „Martha? Martha, wir sind es!“

Crow ging zu ihm. Kyousuke hielt sich im Hintergrund.

Fast, als wäre es ihm unangenehm.

Die Tür ging nach einer Weile auf und heraus trat eine kleine, rundliche Frau mit schwarzen, schulterlangen Haaren und einem freundlichen Gesicht. In ihrer Hand hielt sie einen kleinen Untersatz mit einer Kerze.

„Da seid ihr ja endlich! Ich habe mir schon Sorgen um euch Jungs gemacht!“, sagte sie etwas streng, aber die Besorgnis war genauso gut herauszuhören.

„E-Es tut uns Leid, Martha.“, hörte ich Crow stammeln.

Jack trat mit mir nervös nach vorne. „Es gab ein paar Schwierigkeiten und nun ja...“

Martha sah zu ihm und bemerkte dann mich. „Jack, wer ist das Mädchen?“

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Mein Blick glitt hinüber zu Kyousuke, der wiederum aussah, als wüsste er nicht, was er tun sollte.

Er sah zu mir zurück und versuchte zu lächeln.

Was ihm wohl gerade durch den Kopf ging?

Vielleicht dachte er, Martha würde ihm die Schuld daran geben, für das, was passiert war.

Ich drehte meinen Kopf wieder in ihre Richtung.

„Das ist...“, begann Jack, gerade als Yuusei und Crow gleichzeitig den Mund aufmachten.

„Ishida Ryoko.“, warf ich nuschelnd ein. „Bitte verzeihen Sie die späte Störung.“
 

„Ryoko-chan, also?“ Sie bedachte mich mit einem gutmütigen Lächeln. „Schon gut, mein Kind. Ich habe ja sowieso auf meine Jungs gewartet. Dann bist du eine Freundin von ihnen?“

Ich nickte nur. Das Ganze war mir unendlich peinlich.

„Was ist passiert?“, fragte sie schließlich.

„Das erklären wir dir drinnen, Martha.“, warf Crow ein. Er sah zu Kyousuke. „Willst du da draußen Wurzeln schlagen, Kiryuu?“

Kyousuke winkte ab. „Ist schon… okay...“

Hatte der Kerl echt vor, draußen zu bleiben?

Herrgott. Martha würde ihn sicher nicht auffressen!

„Kyousuke-kun...“

„Na gut. Dann kommt erst einmal herein.“, sagte Martha.

Yuusei, der auch noch kurz zu Kyousuke gesehen hatte, ging vor. Crow folgte ihm schulterzuckend und auch Jack trat mit mir ein.

„Und du, junger Mann? Du musst dieser ominöse Freund sein, mit dem sich meine Jungs immer treffen. Komm doch herein. Es ist kalt draußen.“, hörte ich Martha sagen.

Jack war mit mir stehen geblieben und beobachtete das Ganze.

„Ich... Uhm, ja. Aber ich... Ich möchte wirklich nicht stören. Ich wollte nur sichergehen, dass Ryoko hier gut ankommt...“

„Das Mädchen? Seid ihr verwandt?“ Martha schüttelte den Kopf. „Das erfahre ich sicherlich gleich. Komm schon rein. Du holst dir sonst noch den Tod da draußen, bei den Temperaturen. Außerdem wurde für die Nacht noch ein Unwetter angekündigt. Oder hast du einen warmen Platz zum schlafen?“

Kyousuke sah sie an. Er wirkte verlegen und kratzte sich den Hinterkopf. „Ich..“

Aber weiter kam er nicht, weil Martha ihn mit sanfter Gewalt einfach am Arm nahm und hereinzog.

Ein leichtes Schmunzeln umspielte meine Lippen.

Kyousuke so verlegen zu sehen. So schüchtern. Irgendwie war das süß.

„Du bleibst heute Nacht besser hier, junger Mann. Darf ich fragen, wie du heißt?“

Kyousuke wirkte immer noch, als bereitete ihm seine eigene Anwesenheit Unbehagen. „Kiryuu Kyousuke. Aber die Meisten nennen mich nur Kiryuu...“

„Kiryuu-kun... Verstehe. Es freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin Martha. Aber das weißt du sicherlich schon.“

Kyousuke nickte nur wieder.

Er sah wieder zu mir, aber Jack drehte sich in dem Moment um und lief weiter.

„Ich bring sie in das Krankenzimmer, Martha.“

Er ging mit mir durch einen langen Flur, während Martha und Kyousuke uns scheinbar folgten. Zumindest konnte ich das schwache Licht der Kerze hinter Jacks Rücken ausmachen.

Jack öffnete eine Tür und betrat das Zimmer.

Licht flackerte schwach auf, nachdem er einen Lichtschalter betätigt hatte und er setzte mich auf dem Bett ab.

Das Zimmer wirkte schlicht und alt, aber es gab mir ein Gefühl von Sicherheit.

Crow und Yuusei kamen auch wieder zu uns. Sie hatten Decken und Kissen dabei.
 

Martha begutachtete mich eine Weile.

Ich hielt mir mein rechtes Fußgelenk, während ich versuchte, mich einigermaßen bequem hin zusetzen.

„Du hast dich am Fuß verletzt. Deswegen musste Jack dich tragen, nicht wahr?“, sagte Martha liebevoll. „Lass mich mal sehen.“

Ich hob meinen Kopf. Schüchtern zog ich meine Stiefel aus. Der Schmerz dabei ließ mich die Augen zusammenkneifen.

Mein Gelenk sah im schwachen Licht der Deckenlampe noch schlimmer aus. Noch geschwollener und es hatte sich ein Bluterguss gebildet.

Martha tastete es vorsichtig ab.

„Das sieht sehr nach einer Verstauchung aus.“, sagte sie. Sie drehte ihren Kopf in Yuuseis Richtung. „Das Gelenk muss sofort gekühlt werden. Yuusei, wärst du so nett, mir ein paar nasse Handtücher zu bringen?“

Yuusei nickte, legte die Bettdecke neben mir ab und verschwand erst einmal aus dem Zimmer.

Martha wandte sich wieder mir zu. „Ich werde dem Arzt morgen Bescheid sagen, dass er sich das ansehen soll. Eine Verstauchung ist nicht gerade ungefährlich.“

Ich nickte nur.

Ich wusste ja nicht, wie schlimm so etwas sein oder werden konnte. Außerdem war es mir immer noch unangenehm.

„So und nun würde ich gerne wissen, was alles passiert ist!“

Sie stemmte ihre Hände in die Hüften und blickte zu Crow, Jack und Kyousuke, der zu Boden sah.

Jack räusperte sich und wollte gerade zu erzählen beginnen, aber Kyousuke mischte sich ein.

„Das ist meine Schuld...“, nuschelte er. „Ich habe einen Fehler gemacht...“

Jack drehte sich zu ihm um. „Jetzt red keinen Unsinn, Kiryuu! Du konntest nicht wissen, dass es so viele waren und vor allem nicht, dass es solche kranken Bastarde sind!“

Kyousuke sah weiterhin zu Boden. Ich konnte sehen, dass er sich auf die Unterlippe biss.

„Wenn, dann ist es eher meine Schuld, weil ich nicht vorsichtig genug war...“

„Jack..“ Crow wandte sich dem Blonden zu, aber Jack drehte seinen Kopf weg.

Yuusei kam derweil mit nassen Handtüchern im Arm wieder und gab diese Martha. „Bitte.“

Er blickte zwischen uns allen hin und her.

„Das war meine Schuld! Weil ich... Weil ich zu schwach bin. Weil ich mich nicht wehren konnte! Ich... Ich bin eben doch nur ein kleines dummes Mädchen... Wenn ich nicht wäre, hättet ihr Jungs nicht alle diese Probleme gehabt. Wenn ich nicht wäre, wäre Jack nicht verletzt worden und Ki.. Kyousuke-kun müsste sich jetzt nicht diese Vorwürfe machen. Wenn ich nicht wäre, müsste sich jetzt keiner schlecht fühlen. Wenn ich nicht wäre, würden nicht ständig solche Sachen passieren!“

Irgendwie platzte gerade einfach alles aus mir heraus.

Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten.

Ich hasste mich so sehr.

„Wenn es mich nicht gäbe, würde nie so etwas passieren. Ich bin schuld. Ich bin die einzige, die Schuld trägt. Wegen mir musste Mama sterben... Und wegen mir müsst ihr Jungs gerade alle...“

Meine Tränen tropften auf das weiße Bettlaken und ich krallte mich mit einer Hand in die Decke neben mir.
 

Nur flüchtig bemerkte ich Kyousukes Blick. Wie er mich ansah, so hilflos. Ein wenig verstört.

Auch die anderen standen mit offenen Mündern da.

Vermutlich gaben sie mir innerlich recht.

Ich zuckte auf, als ich fühlte, wie mich Jemand in seine Arme zog.

Es war Martha.

Sie hatte sich neben mich gesetzt und mich einfach umarmt.

Wärme durchflutete meinen Körper.

Ein Gefühl, wie ich es seit fast neun Jahren nicht mehr gespürt hatte, breitete sich in mir aus.

„Ich weiß zwar immer noch nicht, was passiert ist, aber was es auch war, es ist nicht deine Schuld, Ryoko-chan. Niemand von euch hier trägt schuld, also hört alle auf damit.“

Schweigen.

Ich ließ Marthas Umarmung zu. Versuchte, mich zu beruhigen. Es war alles gerade so viel. So viele Gefühle, die ich nicht fassen, nicht begreifen konnte. Schuld, Geborgenheit, Selbsthass, Liebe. Ich wusste nicht wo mir der Kopf stand.

„Ich frage erst einmal nicht weiter nach.“, hörte ich Martha sagen. „Morgen ist ja auch noch ein Tag.“ Sie wandte sich mir zu. „Ryoko-chan? Du solltest dich erst einmal ausruhen. Ein so junges Mädchen wie du, braucht viel Schlaf und Erholung. Vor allem wenn etwas scheinbar so Schlimmes vorgefallen ist.“

Ihre mütterliche Fürsorge ließ eine weitere Träne meine Wange hinab laufen. Ich nickte nur schweigend.

Martha tätschelte mir den Kopf und legte die Decke über mich.

Dann wickelte sie die kühlen nassen Handtücher um mein Fußgelenk und lagerte meinen Fuß auf ein kleines Kissen. Scheinbar sollte das helfen.

„Ihr verschwindet jetzt erst einmal besser.“, sagte sie an Yuusei, Crow und Jack gewandt.

Die drei nickten nur und verließen das Zimmer.

Kyousuke wollte ihnen nach, aber Martha hielt ihn am Arm fest. „Du, junger Mann, bleibst besser hier. Immerhin scheint dir das Mädchen wichtig zu sein. Oder etwa nicht?“

Kyousuke sah nur flüchtig zu ihr. Dann drehte er seinen Kopf in meine Richtung. Unsere Blicke trafen sich.

Da war er wieder. Dieser Blick. Dieser Blick mit dem er mich immer ansah, wenn etwas passiert war. Dieser Blick, der mir das Herz zerriss.

Er senkte seinen Kopf wieder und nickte nur. Schlurfend steuerte er auf einen Stuhl neben meinem Bett zu und ließ sich darauf nieder.

„Ich hole eben noch eine Matratze mit Kissen und Decke.“, sagte Martha. Dann war sie auch schon aus der Tür verschwunden.

Wieder herrschte Stille. Sekunden wurden zu Minuten. Zu langen Minuten, in denen keiner etwas sagte. Quälend lange Minuten.

Kyousuke knetete nervös seine Finger. Ich hatte ihn noch nie so erlebt wie jetzt.

Scheinbar gab er sich echt die Schuld an dem Dilemma.

Meine bloße Nähe war ihm wohl gerade unangenehm.

Nach gefühlten Stunden kam Martha wieder.

Sie legte eine weiße Matratze auf den Boden, so wie eine Decke und ein Kissen.

Alles nur, damit Kyousuke die Nacht über bei mir sein konnte.

Ob er das auch wollte, war eine andere Frage, die ich mir stellte.

Persönlich war ich zumindest froh, ihn bei mir zu haben.

Ich wusste nicht, ob ich überhaupt noch ohne seine Nähe schlafen konnte. Ich hatte mich schon zu sehr daran gewöhnt, ihn rund um die Uhr bei mir zu haben. Ohne ihn fehlte einfach etwas. Ich brauchte ihn. Ich brauchte ihn so sehr. Und ich wollte nicht, dass er sich hasste! Immerhin war es nicht seine Schuld!
 

„Danke.“, nuschelte er in Marthas Richtung.

„Schon gut. Jetzt ruht euch erst einmal aus.“, antworte sie und verließ wieder das Zimmer.

Kyousuke machte keine Anstalten, von dem Stuhl aufzustehen.

Ich konnte seinen deprimierten Anblick kaum eine Minute länger ertragen.

Ich rutschte etwas zur Seite, richtete mich wieder mit dem Oberkörper auf und griff nach seinem Arm.

„Kyousuke-kun!“

Er fuhr zusammen und starrte mich entgeistert an. Kurz öffnete er seinen Mund, als wollte er etwas sagen, aber es kam kein Ton heraus.

„Das... Das ist nicht deine Schuld! Bitte hör auf, dir die Schuld zu geben. Ich will dich nicht traurig sehen!“

Ich wusste selber nicht, wie ich in jenem Augenblick nur den Mut gefunden hatte, das alles zu sagen.

„R-Ryoko-chan... Ich...“

„Bitte... Du hast nur das getan, was du immer tust. Deinem... Nein, unserem Ziel ein Stück näher zu kommen. Daran ist nichts verkehrt! Ich mag das nicht sehen, wenn du traurig bist oder dir die Schuld gibst. Dass ich verletzt bin, liegt an meiner eigenen Dummheit! Aber es hat nichts mit dir zu tun oder dass es falsch war, Team Zombie in den Arsch zu treten! Du brauchst das! Du willst doch völlige Befriedigung erlangen, in dem wir quasi Satellite übernehmen. So lange kämpfen, bis keine andere Duel Gang mehr übrig ist, außer uns... Also... hör auf SO zu gucken! Ich mag das nicht! Du bist doch immerhin... Immerhin unser... Unser Leader und ich....“

Ich bemerkte erst jetzt, dass ich zitterte. Ich hatte mich so sehr in Kyousukes Arm geklammert, dass ich ihm vermutlich, halb die Blutzufuhr abgedrückt hatte.

Erneute Tränen liefen meine Wangen hinab und ich fühlte die Hitze in meinem Gesicht.

Es war viel mehr als nur das. Viel mehr als nur, dass ich ihn nicht traurig sehen wollte, weil er unser Leader war.

Kyousuke starrte mich immer noch völlig baff an. Minutenlang. Dann, schließlich, zog er mich einfach in seine Arme. Er legte seinen Kopf auf meine Schulter.

„Ryoko-chan... Es tut mir... so furchtbar leid.“

Ich vernahm seine Stimme direkt neben meinem Ohr. Es war nicht mehr, als ein Flüstern.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals.

Ich legte meine Arme zaghaft um ihn und tätschelte seinen Rücken.

„Du blöder Idiot...“, nuschelte ich leise und lächelte dabei.

Ich wollte ihn nicht traurig sehen, weil ich mich in ihn verliebt hatte.

Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich mich verliebt.

Vor mir selber, brauchte ich das nun wirklich nicht mehr länger zu leugnen.
 

Minuten vergingen, in denen ich in seinen Armen lag. Keiner sagte mehr etwas, bis Kyousuke die Umarmung von sich aus löste.

„Ryoko-chan...“ Er stand langsam von dem Stuhl auf.

Ehe ich mich versah, hatte er sich neben mich gesetzt.

„Ich werde nie wieder zulassen, dass so etwas noch einmal passiert!“, sagte er. Seine Stimme zitterte nicht mehr, klang aber dennoch matt. „Bitte leg dich wieder hin. Martha hat gesagt, du sollst dich schonen.“

Ich nickte und tat wie geheißen.

Er legte sich neben mich auf die Seite und sah mir in die Augen.

„Ab sofort gehst du immer mit mir mit. Ich werde keine Sekunde von deiner Seite mehr weichen. Nie mehr.“

Für eine Sekunde dachte ich, mein Herz würde aus meiner Brust springen.

„K-Kyousuke-kun...“

Zaghaft nahm ich meine Decke und legte sie einfach über ihn. „Ich werde überall dahin gehen, wo auch du hingehst. Egal, wohin auch immer du gehst.“, nuschelte ich leise.

Ich glaubte zu sehen, dass Kyousuke leicht rot geworden war. Aber vermutlich bildete ich es mir nur ein.

„Ich hab furchtbare Angst gehabt heute.“, gestand ich ehrlich.

„Ich weiß. Und das tut mir leid. Es war dumm von mir, dich mit Jack mitgehen zu lassen.“

„Du konntest nicht wissen, dass die Typen solche kranken Freaks sind.“

„Nein. Das konnte ich nicht. Aber, mal ehrlich. Wer Tag ein, Tag aus auf einem verlassenen Friedhof herumgammelt, der kann ja nur bekloppt im Kopf sein.“

Er schmunzelte leicht, was auch mich zum Lächeln brachte. „Wohl wahr.“

Ich kuschelte mich einfach zaghaft an ihn.

Meine Augen waren vor Müdigkeit so schwer und seine Wärme und Nähe taten langsam ihr übriges.
 

„Du solltest wirklich nicht hier spielen, Kleine.“

Das war sie wieder. Diese Stimme.

Das Gesicht, dass ich nicht erkennen konnte.

„Warum nicht?“

„Weil die Gegend gefährlich ist. Ich sollte auch nicht hier sein.“

„Wieso?“

„Man nennt diese Zone hier B.A.D. Die Leute sagen, es sei die gefährlichste Zone in ganz Satellite. Deswegen sollte ein kleines Mädchen wie du, nicht hier sein.“

„B.A.D.? Warum bist du hier?“

„Ich? Ich war nur neugierig.“

„Hm... Wer bist du?“
 

Blinzelnd öffnete ich die Augen.

Schon wieder so ein merkwürdiger Traum.

Ein Echo aus einer Zeit, die weit zurück zu liegen schien.

B.A.D.

War ich dort wirklich mal gewesen? An diesem scheußlichen Ort, den selbst die Security mied?

Ein Schaudern jagte über meinen Rücken.

Ich drehte mich etwas und bemerkte, dass ich mit dem Kopf auf Kyousukes Brust lag.

Verlegen richtete ich mich auf. Das gute, alte Bauchkribbeln war wieder da und auch mein Herzklopfen ließ nicht lange auf sich warten.

Guten Morgen, ihr ollen Frühlingsgefühle.

Kyousuke schlief noch tief und fest.

An der Wand hing eine alte Uhr. Ich hatte nie wirklich Uhrlesen gelernt, konnte aber zumindest volle Stunden entziffern und zum Glück war es gerade eine volle Stunde, die die Uhr anzeigte.

Sieben Uhr morgens.

Wie viele Stunden hatte ich geschlafen?

Ich wollte aufstehen, aber auch meine Schmerzen im Fuß begrüßten mich.

Immer noch eingebettet auf dem kleinen Kissen lag er da und sah grüner und blauer aus, denn je.

Die feuchten Handtücher ließen mich davon ausgehen, dass Martha oder wer anderes vor kurzem, noch mal hier gewesen sein musste.
 

Mein Magen rumorte. Aber das war auch kein Wunder. Ich hatte zuletzt am Vortag etwas gegessen. Vormittags.

Außerdem drückte meine Blase.

Auch wenn ich mich schonen sollte, aber ich konnte jetzt nicht einfach hier liegen bleiben.

Vorsichtig nahm ich meinen rechten Fuß von dem Kissen runter und entfernte das feuchte Handtuch.

Ich rutschte zum Bettrand und deckte Kyousuke wieder richtig zu.

Lächelnd betrachtete ich ihn eine Weile. Ich erinnerte mich an das Gespräch mit ihm, bevor ich eingeschlafen war und fühlte die Hitze in meinem Gesicht.

Ich war ihm näher gewesen, als je zuvor. Und vor allem war ich mir endlich über meine Gefühle für ihn klar geworden.

Aber was war ich für ihn?

Ob er dasselbe für mich empfand?

Ich hatte Angst genauer darüber nachzudenken. Angst davor, dass mein Unterbewusstsein mir mal wieder sagen würde, dass das alles nur Einbildung war.

Das Beste war, einfach zu schweigen. Ich würde mich eh nie trauen, ihm meine Gefühle zu gestehen.

Wankend, stand ich vom Bett auf und humpelte zur Tür. Meine Stiefel standen neben dem Bett, aber ich traute mich nicht, sie jetzt anzuziehen.

Der Boden unter meinen Füßen fühlte sich kalt an, aber das interessierte mich gerade eher weniger.

Vorsichtig öffnete ich die Tür. Ich wollte Kyousuke beim besten Willen nicht wecken.

Meinen Kopf nach links und rechts drehend, schlich ich den Flur entlang. Möglichst darauf bedacht, mit meinem rechten Fuß nicht aufzutreten.

Es erschien alles ruhig. Vermutlich war ich neben Martha die Erste, die bereits wach war.

Doch ich irrte mich.

Ich kam an einem Zimmer vorbei, dessen Tür offen stand und schielte um die Ecke.

Bei dem Raum schien es sich um die Küche zu handeln.

Martha stand an der Theke und schälte gerade einen Apfel.

An dem Tisch neben der Theke saß jemand mit dem Rücken der Tür zugewandt.

Die blonden, nach oben abstehenden Haare ließen mich leicht erraten, um wen es sich handelte: Jack.

Er trug einen leichten Verband um den Kopf herum.

„Was treibt ihr Kinder euch auch auf verlassenen Friedhöfen herum? Aber ich bin wirklich froh, dass nichts weiter Schlimmes passiert ist.“, hörte ich Martha sagen.

Jack schien gerade zu trinken. Zumindest setzte er seine Tasse ab. Ob es Tee oder Kaffee war, konnte ich von hier aus nicht erkennen.

„Das, was passiert ist, ist schlimm genug. Wir haben unsere Gegner unterschätzt und ich hab zugelassen, dass Ryoko-chan verletzt wurde, obwohl Kiryuu sich darauf verlassen hat, dass ich auf sie aufpasse!“

Lauschen war zwar nicht gerade meine Art, aber ich war hellhörig geworden.

Allem Anschein nach, hatte Jack Martha von der Friedhofs-Geschichte erzählt.

Martha drehte sich zu ihm um und stellte ihm den Teller mit dem geschnittenen Apfel hin.

„Du magst das Mädchen, nicht wahr?“

Jack schien nach Luft zu schnappen. „So ein Quatsch! Sie ist nur eine Team-Kameradin, mehr nicht!“

Ich hörte Martha vergnügt lachen. „Jack. Wie viele Jahre lebst du nun schon unter meinem Dach? Ich kenne dich mittlerweile und ich sehe dir an der Nasenspitze an, dass du das Mädchen gern hast.“

Jack schwieg und trank wieder aus seiner Tasse.

Kopfschüttelnd humpelte ich lieber weiter.

Ich wollte mir darum keine Gedanken machen, ob Jack mich mochte oder nicht.

Heute bin ich mir sicher, dass auch Jack es so gesehen hatte, weil er zu jenem Zeitpunkt garantiert schon wusste, dass ich mein Herz bereits lange an Kyousuke verschenkt hatte.

Zumindest hatte er mir gegenüber nie ein Wort über seine wahren Gefühle verloren und ich hatte seine Blicke weitestgehend ignoriert.
 

Als ich von der Toilette wieder kam, stand Martha vor mir.

Ich schluckte leicht. „Kind, du sollst doch im Bett bleiben und nicht herumlaufen!“, sagte sie mit einem leicht strengen Unterton in der Stimme.

„Du darfst den Fuß nicht belasten, sonst wird die Verstauchung nur schlimmer!“

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte.

Verlegen kratzte ich mir den Hinterkopf und ließ mich von Martha auf das Zimmer zurückbegleiten. Sie stützte mich dabei.

Kyousuke saß aufrecht auf dem Bett, als wir hereinkamen und wirkte auch für ein paar Sekunden so, als würde er mich darüber belehren wollen, dass ich mich zu schonen hatte. Aber er tat es nicht.

Vermutlich aus dem Grund heraus, dass er sich selber wohl auch kaum geschont hätte, wenn er in meiner Situation gewesen wäre.

Dass er nicht gerade sorgsam mit sich umging, hatte ich ja schon bei seiner Erkältung festgestellt.

Er war eben ein typischer Draufgänger, aber gerade das mochte ich im Grunde ja an ihm.

Martha begleitete mich zum Bett und ich setzte mich wieder.

„Ich geh jetzt gleich den Arzt rufen, dass er sich deinen Fuß mal ansieht, Ryoko-chan. Kiryuu-kun, würdest du darauf Acht geben, dass sie nicht wieder durch das Haus streunt?“

Kyousuke zog mich leicht zu sich und zuckte auf.

„Eh j-ja Ma'am!“

Er hatte wohl nicht damit gerechnet, angesprochen zu werden, was mich kichern ließ.

Martha verließ das Zimmer und Kyousuke sah zu mir.

Er kniff mir sanft in die Wange und zog daran. „Einfach mit dem Fuß durch das Haus zu laufen. Ich hatte schon Angst, du bist abgehauen, du kleiner Teufel!“

„Eh... laff daff!“, rief ich mit wahrscheinlich hochrotem Kopf. „I-Idiot!“

Kyousuke lachte nur. Zumindest hatte er seine gute Laune zurück.

Tenth Satisfaction: Versteckspiele

Die Untersuchung von dem Arzt war entgegen meinen Erwartungen relativ schnell über die Bühne gegangen.

Kühlen, ruhig stellen und Hochlagern. Dass war das, was er gesagt hatte. Dann hatte er mich noch darüber belehrt, dass ich aufpassen musste und selbst nach einer Abheilung nicht gleich zu viel herum springen sollte, da im Nachhinein wohl noch chronische Schäden entstehen konnten. So richtig hatte ich das nicht verstanden.

Auch Kyousuke, der die ganze Zeit neben mir gesessen hatte, hatte als nur genickt.

Ich fragte mich ja, woher Martha den Arzt kannte. Vermutlich war er ein Bekannter von ihr, der wohl öfters aushalf.

Seufzend lag ich hier nun auf dem Bett. Der Arzt hatte meinem Fußgelenk einen Verband verpasst, der wohl helfen sollte, meinen Fuß zu stabilisieren. Außerdem hatte er ein paar Beutel mit einer Flüssigkeit dagelassen, die beim Kühlen halfen.

Mehrere Wochen Bettruhe waren für mich vorgesehen und allein der Gedanke daran, ließ mich aufstöhnen.

Ich würde mich zu Tode langweilen!

„Jetzt weißt du zumindest, wie ich mich während meiner Erkältung gefühlt habe, Ryoko-chan.“

Kyousuke hatte recht. Das wusste ich nun. Dennoch...

„Nur, dass deine Erkältung nicht lange ging. Ich darf jetzt hier... keine Ahnung, wie viele Wochen dumm herum liegen, du Schlaumeier.“

Kyousuke stupste mir mit seinem rechten Zeigefinger auf die Nase, was mich blinzeln ließ.

„Das überstehst du schon. Die anderen und ich halten dich schon davon ab, vor lauter Langeweile zu sterben.“ er lachte kurz und mir stieg die Hitze ins Gesicht.

„M-Mit was denn, bitte?“, antwortete ich und versuchte dabei gewohnt grantig zu klingen. Ich drehte meinen Kopf zur Seite.
 

Martha, die das Zimmer verlassen hatte, kam mit einem großen Teller wieder, auf dem Sandwiches lagen.

Endlich etwas zu essen!

„Hier. Bedient euch, ihr zwei.“, sagte sie freundlich.

„Danke.“, kam es von mir und Kyousuke mal wieder Synchron, was Martha zum Lachen brachte.

Sie verließ das Zimmer wieder und ich griff nach einem der Sandwiches.

Im selben Moment, wie Kyousuke es auch tat, so dass sich unsere Hände berührten.

Ich sah ihn an, so wie er mich ansah.

Minutenlang. Ich konnte wahrnehmen, wie er schluckte. Beinahe in Zeitlupe und auch ich schluckte.

„Nimm du es!“

Wieder Synchron.

„Nein, du!“

Ich musste fast lachen. Das war ja schon beinahe wie in einem dieser Schnulzfilme.

Wieder sahen wir uns an.

Auch Kyousuke grinste verlegen.

Vorsichtig legte er eine Hand an meine Wange und ich schluckte erneut.

Mein Herz klopfte laut gegen meine Brust.

„K-Kyou-“ Weiter kam ich jedoch nicht, weil Kyousuke mir das Sandwich in den Mund gesteckt hatte. „Hier, iss.“

Etwas perplex biss ich ab und hielt den Rest von dem belegten Brot in meiner Hand.

„I-Idiot!“

„Was denn? Wenn du es nicht freiwillig nimmst, muss ich dich eben füttern.“

Ich schnaubte nur, nahm ein anderes Sandwich und stopfte es ihm ebenso in den Mund.

„Jetzt hältst du wenigstens mal die Backen!“
 

„Stören wir gerade?“

Crow hatte die Tür geöffnet und schielte durch den Türspalt. Hinter ihm konnte ich Jack und Yuusei erkennen.

Ich schüttelte den Kopf. „Nö. Kommt ruhig rein.“

Die romantische Stimmung sah sich nun eh die Radieschen von unten an.

Crow öffnete die Tür richtig und trat mit den anderen herein.

Jack sah zu uns, während er im Stehen aus einer Packung Cup-Ramen futterte und glückseliger wirkte, als ich ihn je gesehen hatte. Dass er überhaupt mitgekommen war, lag wohl nur daran, dass er gerade im siebten Himmel zu schweben schien. Ich war mir nicht einmal sicher ob er uns überhaupt wirklich ansah. Vermutlich hatte Crow ihn einfach mitgezogen.

„Wie verlief die Untersuchung? Ist es arg schlimm?“, fragte Yuusei neutral.

Kyousuke, der gerade heruntergeschluckt hatte, sah zu ihm. „Es ist zum Glück keine allzu schwere Verstauchung, aber die Bänder wurden schon etwas überdehnt, keine Ahnung.“

„Ich kann selbst reden!“, gab ich schmollend von mir.

Yuusei sah von Kyousuke zu mir. Er konnte sich selber wohl ein Lächeln nicht verkneifen und auch Crow grinste. „Zumindest scheint die große Klappe zurück zu sein. Haben uns schon Sorgen gemacht, nach dem, was gestern passiert ist.“

Er wandte sich an Jack. „Nicht wahr?“

Jack jedoch reagierte nicht.

„Vergiss es, Crow. Der ist gerade mit der Liebe seines Lebens vereint.“, sagte Kyousuke.

„Halt die Klappe, Crow.“, hatte ich noch entgegnet, musste dann aber lachen. „Der Liebe seines Lebens?“

„Ja. Wir sind uns schon alle sicher, dass Jack irgendwann mal eine Packung Cup-Ramen heiratet.“

Crow grinste und stieß dabei Jack seinen Ellenbogen in die Rippen, wodurch ein Teil der Suppe über den Packungsrand schwappte und diese Jack beinahe aus den Händen fiel.

Jacks Blick veränderte sich von einer Sekunde zur nächsten von verträumt zu tödlich.

„Crow...“

Das Funkeln in seinen Augen war eindeutig und Crow trat lieber einige Schritte weit weg aus Jacks Nähe. Yuusei griff sich kurz an den Kopf. „Leute, können wir das jetzt vielleicht sein lassen?“
 

Jack funkelte Crow noch eine Weile an, aber aß dann friedlich den Rest, der noch übrig geblieben war, während Crow sich langsam wieder etwas näher traute.

Yuusei sah zu Kyousuke. „Ich wollte nur wissen, was wir jetzt machen, so lange Ryoko ausfällt. Sollen wir erst einmal warten?“

„Redet nicht immer von mir, als wäre ich nicht da.“, murmelte ich mit halb vollem Mund und schluckte den Rest von meinem Sandwich herunter. Seufzend starrte ich zur Zimmerdecke. „Von mir aus könnt ihr ruhig ohne mich weiter machen. An mir soll's nicht scheitern ... Immerhin habt ihr vorher ja auch alles ohne mich gemacht, bevor ich dazugestoßen bin...“

„Vergiss es!“ Kyousukes eindeutige Stimme ließ mich zusammenfahren. „Ohne dich machen wir gar nichts! Immerhin sind wir ein Team! Und du bist auch Mitglied dieses Teams, Ryoko-chan!“

Er hatte seine Hände an meine Schultern gelegt.

„Aber... Aber wer weiß, wie lange ich noch nutzlos bin? In der Zeit könntet ihr schon zehn weitere Duel Gangs platt machen.“, entgegnete ich stur.

Kyousuke sah mir ernst in die Augen. „Sag nie wieder, dass du nutzlos bist. Wir machen weiter, wenn du wieder gesund bist. Ende der Diskussion!“

Geschlagen von der Endgültigkeit in seiner Stimme, nickte ich nur.

Jetzt fühlte ich mich schon wieder schlecht.

„Du bist wirklich nicht nutzlos für uns, Ryoko.“, hörte ich Yuusei sagen. „Tut mir Leid, wenn es eben so rüber kam, als wärst du ein Klotz am Bein. Das bist du nicht. Wenn Kiryuu sagt, wir warten, dann tun wir das auch. Ich wollte nur seine Meinung hören.“

Ich drehte meinen Kopf in Yuuseis Richtung und versuchte zu lächeln. „Danke, Yuusei-kun...“

„Yuusei hat recht und Kiryuu auch. Wir machen nichts ohne dich. Also guck jetzt nicht so. Du brauchst dich wirklich nicht schlecht zu fühlen.“, hörte ich auch Crow sagen.

Jack blickte nur flüchtig zu mir. „Ich hab auch kein Problem damit, zu warten.“

„Gut. Dann ist ja alles klar...“, sagte Kyousuke und legte kumpelhaft einen Arm um mich, was mich gefühlt wieder erröten ließ. „Ich lass doch keinen meiner Freunde einfach zurück. Merk dir das mal, Ryoko-chan.“
 

Zeit konnte oft schneller vergehen, als man glaubt. Trotz, dass ich Anfangs echt vermutet hatte, ich würde mich zu Tode langweilen, so tat ich es am Ende doch nicht.

Kyousuke wich kaum eine Sekunde von meiner Seite und tat wirklich alles, damit es mir nicht zu öde wurde.

Jack schielte auffällig oft in mein Zimmer, wenn er nicht gerade von Crow mit herein geschleift, meist noch in Begleitung von Yuusei.

Martha sah jeden Tag nach mir und brachte mir und Kyousuke etwas zu Essen und nach ein paar Wochen durfte ich auch vorsichtig wieder versuchen, zu laufen.

Auch mit den anderen Kindern, die hier noch lebten, freundete ich mich nach und nach an. Viele waren noch sehr jung. Großteils sogar jünger als ich.

Zum ersten Mal seit etlichen Jahren, hatte ich das Gefühl, wieder eine Familie zu haben. Ein Zuhause. Ich verschwendete keinen Gedanken daran, dass dieses idyllische Leben eines Tages ein Ende haben würde.
 

Ich spielte gerade Verstecken mit ein paar der jüngeren Kinder.

Mit dem Gesicht zur Wand stehend, zählte ich langsam von zehn hinunter.

Meinem Fuß ging es schon viel besser, aber ich musste immer noch darauf achten, nicht zu fest aufzutreten.

„Drei, Zwei, Eins... Bereit oder nicht, ich komme euch jetzt holen!“, rief ich durch den leeren Flur und drehte mich um.

Vorsichtig sah mich um. Noch konnte ich nirgends eine auffällige Haarspritze oder etwas anderes verräterisches finden.

Ich lauschte, in der Hoffnung vielleicht ein unterdrücktes Kichern wahrzunehmen, aber nichts. Die kleinen Racker waren wirklich clever.

Ich lief weiter, sah hinter jeder Kommode nach, in jedem Schrank.

Das erste Kind, ein kleines Mädchen, fand ich schließlich hinter der Treppe im Keller versteckt.

Die Kleine schmollte kurz. „Och, menno! Mein Versteck war gut!“

„Aber nicht gut genug.“, gab ich leicht grinsend zurück und wuschelte der Kleinen durch ihre blonden Haare.

Ich ging mit ihr weiter nach oben, wo ich einen, der kleinen Jungs laut nörgeln hören konnte und folgte dem Gemecker.

Es führte mich in das Wohnzimmer und schnell erkannte ich den Grund.

„Mou! Onii-chan, du bist voll gemein!“

Kyousuke stand da und hatte sich den Kleinen geschnappt. Unschuldig grinsend sah er zu mir. „Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mitspiele, oder?“

Ich sah zu dem Jungen und dann wieder zu Kyousuke. „Du hättest ja auch vorher mal fragen können, anstatt dich einfach einzumischen.“, erwiderte ich mit hochgezogener Augenbraue.

Der Kleine rannte sofort zu mir. „Onee-chan! Kiryuu-Onii-chan ist unfair!“

Ich wuschelte ihm über den Kopf. „Der ist nicht unfair. Der ist einfach nur blöd.“, antwortete ich trocken.

Kyousuke kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Sorry. Dachte, es wäre okay, wenn ich einfach mitmache. Hab gerade nichts zu tun und du weißt ja: Ich hasse Langeweile. Also darf ich? Bitte.“

Ein Seufzen entfuhr meinen Lippen. Ich sollte nicht in diese Augen sehen. Wirklich nicht. Und gerade schaffte er es tatsächlich einen solchen Welpenblick aufzusetzen, dass ich nicht nein sagen konnte. Konnte ich so oder so nicht, aber SO erst recht nicht.

„Von mir aus. Wenn die Kids nichts dagegen haben. Aber hör auf mich SO anzusehen!“, antwortete ich verlegen. Bestimmt sah ich wieder aus, wie eine Tomate.

Mein Herz machte gerade wieder einen Salto Mortale nach dem anderen und die Schmetterlinge in meinem Bauch schienen als neues Hobby Bungee-Jumping zu haben.
 

Kyousuke strahlte. Sein Lächeln ließ mein Herz erst recht schneller schlagen.

Gemeinsam mit ihm führte ich meine Suche fort.

Die drei anderen Kinder hatten sich weniger gute Verstecke gesucht, wie wir schnell feststellten.

Hinter der Küchentür zu stehen, war nicht unbedingt optimal und Kyousuke durfte das arme Mädchen trösten, dass nun eine Beule an der Stirn hatte und ihm die Ohren voll heulte.

Beim nächsten Mal würde es sich sicher ein anderes, sicheres Versteck suchen.

Ein anderes Kind hatte sich unter meinem Bett im Krankenzimmer versteckt und das Letzte hatte eine ganz besondere Versteckstrategie, die mich und Kyousuke zum Lachen brachte.

Der kleine Junge lief die ganze Zeit hinter Jack her. Zugegeben, bei Jacks Größe konnte man sich wirklich sehr gut hinter ihm verstecken. Bemerkenswert war aber auch, dass Jack seinen kleinen Verfolger die ganze Zeit nicht bemerkt hatte.

Erst dann, als wir uns den Kleinen schnappte,

„Kiryuu, Ryoko, was treibt ihr hier eigentlich?“, fragte er und sah mit hochgezogener Augenbraue erst zu mir, dann zu Kyousuke und dann zu dem kleinen Jungen.

„Verstecken spielen. Hast du Lust, mit zu machen?“

Jack bedachte Kyousuke mit einem Blick, als wäre dieser verrückt geworden.

„Seh' ich so aus? Ich bin keine keine Zehn mehr.“

„Och. Dabei macht das Spaß. Ist mal was anderes, als sich immer nur zu duellieren.“, sagte ich.

Jack wandte sich mir zu. Er schien ernsthaft zu überlegen.

„Ich bin schlecht im verstecken.“, sagte er schließlich, was Kyousuke grinsen ließ. „DAS glaub ich dir aufs Wort.“

Ich sah kurz zu dem kleinen Jungen, der sich meine Hand geschnappt hatte und drehte dann meinen Kopf wieder in Jacks Richtung.

Ein leichtes Grinsen umspielte meine Lippen und ich boxte ihm sanft gegen seinen Arm. „Na dann... darfst du eben mal der sein, der sucht.“

Für einen Moment wirkte Jacks Gesichtsfarbe leicht rosa und ehe er reagieren konnte, hatte ich mir schon Kyousuke geschnappt. „Nicht vergessen, Jack! Mit dem Kopf zur Wand und bis zehn laaangsam runterzählen!“, rief ich noch.

„Das weiß ich! Ich bin doch nicht blöd!“, hörte ich seine Stimme noch hinter uns und ging einen Gang entlang, wo ich Kyousukes Arm losließ.

Kyousuke grinste wieder. „Seit wann seid du und Jack plötzlich so dicke?“

„Sind wir doch gar nicht.“, gab ich trocken zurück.

„Stehst du etwa plötzlich auf ihn?“ Kyousuke knuffte mich in die Seite und ich starrte ihn an. „A-Aber sonst geht’s dir noch gut!?“

Ich steh nicht auf Jack! Ich steh auf dich, du Vollhonk!

Zumindest hätte ich das am liebsten gesagt. Aber ich tat es nicht. Ich traute mich einfach nicht, es Kyousuke zu sagen.

Für einen Moment hatte ich das Gefühl, eine Spur von Eifersucht in Kyousukes Gesicht entdeckt zu haben, aber vermutlich irrte ich mich.

„Ich bin dann eben mal weg. Verstecken und so.“, antwortete ich schnell und ließ Kyousuke mit dem Kind zurück.

Vorsichtig schlich ich mich weiter und betrat die Küche. Allerdings versteckte ich mich nicht hinter der Tür, sondern fand mein Versteck in einem der unteren Schränke von der Theke. Direkt unter der Spüle. Neben meinem Kopf war das Abflussrohr, das leise gluckerte, links von mir ein Beutel Kartoffeln.
 

Ich vernahm Schritte draußen und grinste in mich hinein. Jack würde mich sicher nie finden.

Zumindest war ich mir relativ sicher, dass er erst einmal nach offensichtlicheren Verstecken suchen würde.

Ich kauerte mich etwas mehr zusammen und lehnte mich gegen die Wand. Klein zu sein hatte durchaus wirklich viele Vorteile.

Ein plötzliches Geräusch ließ mich jedoch aufzucken.

Es waren keine Schritte von außerhalb der Küche, sondern kam direkt aus der Küche und klang wie splitterndes Glas.

Was war hier los? Hatte eines der Kinder, die draußen spielten, es fertig gebracht, einen Fußball durch das Küchenfenster zu schießen?

Ein weiteres Geräusch ertönte. Dieses Mal ein eher dumpfes, als wäre jemand von etwas heruntergesprungen.

Ich hörte eine Stimme leise fluchen. Vorsichtig öffnete ich einen Spalt von der Schranktür und erstarrte. Es war das Mädchen von Team Zombie!

Diese kleine Mistkröte war einfach eingebrochen?!

Mir schwante nichts gutes. Ich beobachtete die Kleine und entschied mich, ihr unauffällig zu folgen. Ein Angriff aus dem Hinterhalt wäre bei dieser Rotzgöre das Beste.

Natürlich blieb dieses kleine Ekelpaket nicht lange unbemerkt und meine inneren Alarmglocken schlugen an, als ich Marthas Stimme vernahm.

„Wer bist du denn? Was machst du hier?“, hörte ich sie fragen, gerade als ich aus der Küche heraus geschlichen war.

„Ich wollte nur ein paar Freunde meines großen Bruders besuchen, die hier leben.“, hörte ich das kleine Biest mit zuckersüßer Unschuldsstimme sagen. Ich schielte um die Ecke und schluckte. Diese kleine Göre hielt doch tatsächlich ein Butterfly-Messer hinter ihrem Rücken versteckt.

Verdammt! Ich musste Martha irgendwie warnen.

„Freunde von deinem großen Bruder?“

„Ja, so ein Kerl mit schwarzen Haaren, ein großer blonder, dann so ein etwas kleinerer mit orangenen Haaren und dann..“, begann das kleine Miststück.

„Ach, du meinst Yuusei, Jack und Crow. Ich kann dich ja zu ihnen bringen. Wer hat dich eigentlich herein gelassen?“

„Uhm, eines der Kinder hier. Verzeihen Sie, dass ich so unangemeldet hier bin. Ich weiß, das macht man eigentlich nicht, aber es ist echt wichtig.“

„Wichtig?“

Martha drehte sich um. „Nun ja. Ich bring dich erst einmal zu Ihnen.“

Ich entschied mich zu handeln und sprang mehr oder weniger aus meiner Ecke hervor. „Martha-san, passen Sie auf!“

Martha zuckte zusammen und sah zu mir. „R-Ryoko-chan?“

Das Mädchen zuckte auch auf und fuhr mit dem Messer in der Hand zu mir herum.

„Du!“

Martha bemerkte nun auch das Messer, aber ich stürzte mich schon einfach auf das Mädchen und versuchte ihr die Waffe aus der Hand zu reichen.

„Ryoko-chan, was tust du da!“, stammelte Martha und fiel beinahe auf ihren Hintern vor lauter Schreck.

Der Lärm hatte auch die anderen hellhörig gemacht und Yuusei, so wie Crow kamen angelaufen.

„Was ist hier los?“

Yuusei rannte sofort zu Martha. „Martha, alles in Ordnung?“ Er sah zu mir. „Ryoko!“

Ich rollte immer noch mit meiner Gegnerin auf dem Boden herum und hatte es geschafft, ihre Handgelenke zu greifen.
 

Das hielt sie jedoch nicht davon ab, zu versuchen, mir mit dem Messer ernsthafte Verletzungen zuzufügen.

Auch Jack, der Kyousuke im Schlepptau hatte, kam schließlich an. „Was zum...“

„Ryoko-chan!“ Kyousuke wollte uns natürlich gleich auseinander bringen, was aber unmöglich war.

„Bleibt wo ihr seid!“, fauchte ich. Aktuell lag ich unten. Das Mädchen war stark, keine Frage. Immer wieder stach sie zu, aber ich rollte mich halb weg und trat meiner Gegnerin mit meinem rechten Knie in den Unterleib, was diese aufkeuchen ließ. Ich stürzte mich erneut auf sie und versuchte das Messer zu greifen.

Ein scharfer Schmerz breitete sich in meiner rechten Wange aus, als sie mich damit erwischte. Blut tropfte auf den Boden, aber ich gab nicht auf.

Ich zog an ihren zerzausten, schwarzen Haaren, was sie aufschreien ließ und sie zog auch an meinen Haaren.

„Ich mach dich fertig, du Schlampe! Dich und deine Freunde! Dafür, was ihr meinem großen Bruder und unserer Gang angetan habt!“, fauchte sie.

„Ach ja!? Ihr wart es doch, die mich wie irre Freaks lebendig begraben wolltet!“

Das Messer verfehlte nur knapp meinen Hals und ich ließ ihre Haare los und verpasste ihr einen Schlag mitten ins Gesicht, als ich die Gelegenheit dazu ergreifen konnte. Und dann noch einen.

„Niemand bedroht meine Freunde!“

Meine Gegnerin keuchte und ließ das Messer vor Schreck aus der Hand fallen, deren Gelenk ich wieder umklammert hatte.

Immer wieder schlug ich zu, während ich auf ihr hockte, bis sie schon aus Mund und Nase blutete.

„Niemand! Niemand! Niemand!“, fauchte ich dabei immer wieder, bis jemand meinen Arm festhielt.

Ich zuckte auf. Es war Kyousuke. „Das reicht jetzt!“ Er sah mir in die Augen und zog mich zu sich. „Du hast gewonnen... Jetzt lass sie. Das wird ihr eine Lehre gewesen sein.“

„K-Kyousuke-kun...“

Ich fühlte mein Herzklopfen und langsam wurde mir bewusst, was ich getan hatte. Ich starrte über Kyousukes Schulter zu Martha, die ihre Hände vor ihrem Mund hielt, zu Yuusei, Jack und Crow, die alle einen Gesichtsausdruck zwischen baff und verstört zuzuweisen hatten und ein paar kleineren Kindern, die laut zu weinen begonnen hatte.

Dann sah ich zu dem Mädchen, welches immer noch bewusstlos am Boden lag.

Doch ich spürte in diesem Moment keinerlei Mitleid. Dieses Biest hatte vorgehabt, Kyousuke weh zu tun! Und all meinen anderen Freunden! Und sie hätte auch Martha weh getan.

Allerdings bereute ich mein Verhalten vor den Anderen. Zumindest, dass ich gerade eine Seite von mir gezeigt hatte, die ich an mir selber eigentlich verabscheute. Denn diese Seite war genau das, was ich auch meinem Erzeuger hasste.

Kyousuke ließ mich langsam los und legte seine Hände an meine Schultern. „Das war wirklich mutig, dass du Martha helfen wolltest.“, sagte er, aber sein Blick wirkte ausgesprochen ernst. Er stand auf. Ich bemerkte das Messer neben mir, klappte es unauffällig zusammen und verstaute es unbemerkt in meiner Hosentasche.

Martha trat zögerlich zu mir. „D-Danke, dass du mir geholfen hast, Ryoko-chan.“, sagte sie und versuchte freundlich, wie immer, zu lächeln. Aber ihre Stimme zitterte. Sie sah zu dem Mädchen, ging zu ihm und hob es auf. „Ich bring das Mädchen ins Krankenzimmer.“, sagte sie und lief los.
 

„Jetzt verstehe ich langsam, warum es immer heißt, nichts ist schlimmer, als eine wütende Frau.“, hörte ich Crow scherzend sagen.

Yuusei hatte Martha nachgesehen und sah wieder zu mir. Ich wusste nicht, was er gerade dachte und wollte es auch gar nicht wissen. Ich wollte von Niemandem gerade wissen, was derjenige dachte. Vorsichtig stand ich auf.

Kyousuke hielt mich jedoch fest. „Du bist verletzt.“, sagte er und fuhr mit seinem Daumen über meine rechte Wange, die noch immer blutete.

„Ist nur ein Kratzer.“, antwortete ich kraftlos und monoton.

Dennoch fühlte ich, wie ich errötete.

„Lass mich das mal ansehen.“ Er ging mit mir ins Wohnzimmer und setzte sich mit mir dort auf eine Couch.

Kurz sah er zu Jack. „Habt ihr hier irgendwo Watte und Desinfiziermittel?“

„K-Kann sein.“, antwortete dieser, als hätte er nicht damit gerechnet, angesprochen zu werden und verschwand aus dem Wohnzimmer.

Kyousuke sah mich weiter an.

„Bist du ... Bist du jetzt böse auf mich?“, fragte ich nuschelnd.

Mein schlechtes Gewissen meldete sich nun doch immer stärker.

Kyousuke schüttelte den Kopf. „Nein. Wie könnte ich auch? Du hast nur versucht Martha und auch uns zu beschützen. Wer weiß, was passiert wäre, wenn du nicht bemerkt hättest, dass dieses verrückte Weib hier irgendwie reingekommen ist, um sich zu rächen.“

„Schon.. Aber ich... ich... was ich getan hab, war auch nicht in Ordnung.“

Ich konnte Kyousuke nur schwer in die Augen sehen.

Er umarmte mich einfach sanft. Verlegen kuschelte ich meinen Kopf an seine Brust und fühlte, wie er mir durch die Haare strich.

„Ich will nicht, dass irgendjemand dir weh tut...“, murmelte ich halblaut. Ob er es gehört hatte, wusste ich nicht. Ich bemerkte nur aus den Augenwinkeln heraus, dass Jack wieder da war und wohl schon eine ganze Weile im Türrahmen stand. Er zuckte auf, als er sah, dass ich ihn bemerkt hatte und lief zu Kyousuke und mir.

Kyousuke drückte er schnell die gewünschten Sachen in die Hand und verschwand wieder wortlos.

Kyousuke sah ihm ein wenig baff nach und dann zu mir.

Ich richtete mich wieder etwas auf, während Kyousuke etwas von dem Mittel auf eines der Wattebällchen tropfen ließ und dieses mit einer Pinzette nutze, um meine Wange zu betupfen.

Mit vermutlich hochrotem Gesicht, ließ ich ihn machen.

Autsch. Der Schmerz, durch das Desinfiziermittel war ganz schön widerlich. Es brannte und stank so fürchterlich nach Schnaps, dass mir fast schlecht wurde.

Aber ich nahm das in Kauf. Von Kyousuke so behandelt zu werden, war total süß.
 

Verlegen blinzelte ich, als er mir noch ein Pflaster auf meine Wange drückte.

„So.“ Er lächelte minimal was auch mich lächeln ließ.

„Und nun?“

Kyousuke antwortete nicht gleich. Sein Blick war auf den Kalender fixiert, der an der Wand hing.

Ich folgte seinem Blick.

Der 31. Oktober war mit einem dieser roten Plastikdinger versehen, die zeigten, welchen Tag man hatte.

„Heute ist der 31. Oktober, und?“, murmelte ich mit fragender Stimme.

Kyousuke sah wieder zu mir und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Ich hab morgen Geburtstag.“

Mir klappte die Kinnlade auf. „Eh... Morgen? Am 1. November?“

Ich hatte nie gefragt, wann Kyousuke Geburtstag hatte. Ich wünschte mir in jenem Moment, ich hätte es mal getan. Schon am nächsten Tag hatte der Kerl Geburtstag und ich hatte nicht einmal ein Geschenk für ihn.

Das hieß, ich musste mir schnell etwas einfallen lassen.

Kyousuke streckte sich leicht. „Ja. Morgen. Oh, tut mir Leid... Ich.. Ich hab dir das noch nie gesagt oder? Wann hast du eigentlich Geburtstag, Ryoko-chan?“

Immer noch etwas geschockt nickte ich. „J-Ja...“ Ich fühlte, wie ich wieder rot wurde. „Uhm. Am 10. November.“

Kyousuke grinste und zerwuschelte meine Haare. „Cool. Nur neun Tage nach mir.“

Ich lächelte nur verlegen. Irgendwie hatte mir diese plötzliche Information die Sprache verschlagen.

Eleventh Satisfaction: Das, was ich ihm bereits geschenkt habe und das, was ich ihm nie schenken kann

Da stand ich nun, vor der größten Herausforderung meines bisherigen Lebens. Es war kein Duell, was ich austragen musste.

Nein, wenn ich ehrlich war, würde ich lieber hunderte von Duellen hintereinander austragen, anstelle eines solchen mentalen Kampfes.

Was zur Hölle sollte ich Kyousuke zum Geburtstag schenken?

WAS!?

Was schenkte man einem Jungen? Oder eher gesagt einem jungen Mann?

Geld, um etwas zu kaufen, hatte ich eh nicht.

Karten? Natürlich könnte ich ihm eine meiner Karten schenken, aber das war so gefühlt mit das Unkreativste, was ich an Ideen hatte.

Mir rauchte schon jetzt beim Gedanken daran der Kopf.

Die einzig vernünftige Lösung erschien mir darin, die anderen Jungs zu fragen, was sie so für Ideen hatten.

Nach dem gemeinsamen Mittagessen am großen Tisch, wollte ich meinen Plan in die Tat umsetzen.

Martha schien immer noch ein wenig unter Schock zu stehen, was mir Leid tat.

Ich fühlte mich ihr gegenüber ja auch immer noch schlecht, aufgrund meines aggressiven Verhaltens.

Aber sie schien es mir nicht weiter übel zu nehmen.
 

Nach dem Mittagessen und nachdem sich alle wieder irgendwo in Marthas Haus verteilt hatten, lief ich erst einmal zu Crow. Der hatte bekanntermaßen ja immer irgendwelche Einfälle. Ob die auch gut waren, war dann aber wiederum eine andere Seite der Medaille.

Nach kurzem suchen, fand ich ihn schließlich draußen vor dem Haus vor, wo er ein paar Kindern Kartentricks mit Poker-Karten zeigte.

„Hey, Crow! Hast du kurz Zeit?“

Crow wandte sich mir zu. „Klar. Immer doch. Was gibt’s?“

Ich stellte mich vor ihn.

Irgendwie wusste ich nicht was ich sagen sollte.

Obwohl, nein. Vielmehr wusste ich nicht, WIE ich es sagen sollte.

Das war wieder eine dieser Situationen, in denen ich mir wünschte, ich hätte etwas mehr Selbstbewusstsein in Situationen, in denen es angebracht war.

„Ich uhm... A-Also...“

„Ja?“ Er sah mich mit gehobener Augenbraue an.

„Also... Uhm... Weißt du zufällig... was Kyo-... ähm Kiryuu-kun so mag? Also... ehm... außer duellieren halt.“

Gott, ich kam mir so doof vor!

Ich traute mich nicht einmal, Crow anzusehen, so peinlich war mir das Ganze.

Bestimmt war ich bei dieser Frage auch noch rot angelaufen.

„Hö? Wieso fragst du das?“

Nur flüchtig hob ich meinen Kopf. Wusste Crow etwa auch nichts davon?

„Frag ihn doch selber?“

Schnell schüttelte ich meinen Kopf. „Ich kann nicht!“

„Wieso denn nicht?“

„Darum! Er... Er hat doch morgen Geburtstag und da... da..“

Wieder hob ich meinen Kopf.

Crow wirkte genauso baff, wie ich einige Stunden zuvor.

„Er hat Geburtstag? Morgen schon? Na, herrlich und uns hat er nichts gesagt. Das ist ja mal wieder typisch! Bei anderen ist er neugierig, aber von sich selber erzählt er so gut wie nie.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Er wird schon seine Gründe haben. Aber was ist jetzt? Weißt du zufällig irgendetwas, was er mag, neben dem Duellieren?“

Crow musterte mich eine Weile und grinste dann. „Hm... Ich glaub, er mag dich. Schenk ihm doch dich!“
 

Grummelnd und mit hochrotem Kopf ließ ich einen Crow Hogan mit blauem Auge hinter mir.

Was erlaubte der sich eigentlich!?

„Idiot!“

Ich hätte wissen müssen, dass von ihm so etwas kommt.

Als nächstes beschloss ich, mein Glück bei Jack zu versuchen. Von ihm wusste ich wenigstens, dass er nicht mit so einem Spruch ankommen würde.

Jack saß allein in der Küche und trank Kaffee.

Er bemerkte zunächst nicht einmal, dass ich die Küche überhaupt betreten hatte.

„Jack? Uhm... Kann ich dich was fragen?“

Dafür, dass er mich nicht gesehen hatte, reagierte er nun extrem schnell. „Eh? Was denn?“

Er sah mich eine Weile an, aber genauso schnell hatte er seinen Blick wieder auf die Kaffeetasse vor sich gerichtet.

Ich schluckte kurz den Kloß in meinem Hals herunter, der sich wieder gebildet hatte und erklärte ihm mein Dilemma.

„Kiryuu hat morgen Geburtstag!?“

Ein eifriges Nicken meinerseits. „Und ich will ihm was schenken. Ihr ja sicher auch! Aber ich... ich weiß nicht was!“

Ich hielt es für besser, nun auch wegzusehen. Irgendwie fühlte sich mein Gesicht schon wieder an, als hätte man einen Heizkasten drüber rutschen lassen.

„Ich wusste das gar nicht. Morgen also...“, hörte ich Jack nuscheln und sah wieder zu ihm.

Er starrte geistesabwesend in seine mittlerweile leere Kaffeetasse, als versuchte er, etwas in dem Kaffeesatz zu lesen.

Vielleicht las er darin ja, dass ich ihm gleich mit einer Pfanne eine überbraten würde, wenn er mir keine vernünftige Antwort gab. Zumindest räusperte er sich nach einer Weile.

„Schenk ihm doch Karten? Was weiß ich!“

Ich hatte das Gefühl, eine Spur Eifersucht in seiner Stimme heraus zuhören und verdrehte die Augen. „Wow. Wie einfallsreich.“, gab ich trocken zurück.

„Dann frag ihn doch selbst, ob es was gibt, was er gebrauchen könnte!“

Jetzt wirkte Jacks Stimme tatsächlich angefressen.

„Dann weiß er ja schon, was er von mir bekommt, Idiot!“, gab ich nicht minder grantig zurück und verließ die Küche wieder.

Jack konnte ich also auch abhaken.
 

Yuusei erschien mir als letzte Hoffnung. Er würde zumindest weder einen blöden Spruch bringen, noch mich anschnauzen. Dem war ich mir sicher.

Da ich ihn sonst nirgendwo anders finden konnte, klopfte ich etwas zögerlich an seiner Zimmertür.

„Ist offen.“, konnte ich von drinnen hören und betrat das Zimmer, welches er sich, soweit ich mittlerweile wusste, mit Crow teilte.

Er saß an einem Schreibtisch, auf vermutlich seiner Seite des Zimmers und schien mal wieder an Etwas zu schrauben. Was genau es war, konnte ich nicht sagen.

„Yuusei-kun? Ich hoffe.. Ich störe gerade nicht.“, fing ich langsam an.

Er drehte sich zu mir um. „Nein. Was gibt es denn?“

Er sah mich freundlich an. Ehrlich gesagt kam ich mir bei Yuusei auch weniger doof vor, als bei Crow oder Jack.

„Na ja. Ich hab da eine Bitte. Oder eher gesagt, eine Frage...“

„Eine Frage?“

Nickend erklärte ich ihm die Sache.

Im Gegensatz zu den Anderen, wirkte er weniger schockiert darüber, dass Kyousuke ihnen nicht gesagt hatte, dass er morgen Geburtstag hatte. Aber auch ihm konnte ich zumindest ein wenig ansehen, dass er es nicht gewusst hatte. Er überlegte eine Weile.

Hoffentlich kam er jetzt nicht auch mit der Karten-Idee.

„Setz dich ruhig.“, sagte er nach einer Weile und verwies dabei auf sein Bett.

Verlegen nickend hockte ich mich an den Bettrand. Es war ungewohnt, auf dem Bett im Zimmer eines Jungen zu sitzen.

Yuusei drehte sich mit seinem Stuhl komplett zu mir und war wieder in sein typisches Schweigen verfallen.

Das Gesicht auf den Händen stützend, schien er echt darüber nachzudenken, was man tun könnte.

Schließlich sagte er: „Glaubst du, Kiryuu möchte denn überhaupt etwas geschenkt haben?“

Ein wenig verwundert kratzte ich mir mit meinem rechten Zeigefinger die Wange. „Ehm. Weiß nicht.“

„Ich denke, dass, was Kiryuu sich am meisten wünscht, kann ihm leider keiner von uns jemals schenken.“
 

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich wusste zu jenem Zeitpunkt ja nicht einmal, was Yuusei damit meinte, obwohl es eigentlich das Offensichtlichste überhaupt war.

Schweigend starrte ich meine Füße an.

Das, was Kyousuke sich am meisten wünschte?

War das nicht, Satellite zu übernehmen? Absolute Befriedigung zu erlangen?

Aber auf dieses Ziel steuerten wir doch hin oder etwa nicht?

„Was glaubst du, wird passieren, wenn wir alle Duel-Gangs in Satellite besiegt haben?“

Diese Worte rissen mich aus meinen Gedanken.

Yuusei war aufgestanden und sah aus dem Fenster.

Ich folgte seinem Blick nach draußen.

Was dann wäre? Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht. Zumindest nicht wirklich.

Aber Yuusei hatte recht. Was würde passieren, wenn wir Team Satisfactions großes Ziel erreicht hätten?

Yuusei sah wieder zu mir und lächelte leicht. „Tut mir Leid. Vergiss das wieder. Vor uns liegt eh noch viel Arbeit.“

Zaghaft nickend stand ich auf. Auf einmal war mein Kopf voller Fragen.

Ich wandte mich zum Gehen, aber Yuusei hielt mich auf. „Was gedenkst du, Kiryuu nun zu schenken?“

Wieder zuckte ich mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“

„Ich denke, das einzig wahre, was du ihm schenken kannst, hast du bereits getan. Wir alle haben es bereits getan.“

Verwirrt sah ich Yuusei eine Weile an.

Ich hatte ihm schon etwas geschenkt? Was sollte das sein?

Um ein Lächeln bemüht, verließ ich das Zimmer.

Statt um einen Rat klüger, war ich nun noch verwirrter.
 

Ich schlenderte den Flur entlang, warf dabei einen kurzen Blick in das Krankenzimmer, wo das Mädchen von Team Zombie noch immer, eingewickelt in lauter Verbänden, bewusstlos im Bett lag.

Doch großartiges Mitleid verspürte ich immer noch nicht.

Ich hatte so gehofft, Yuusei würde mir helfen können, aber nun...

Ich fand einfach keine Antwort auf sein rätselhaftes Gefasel.

„Etwas, das ich ihm schon gegeben habe... und etwas, das ich ihm niemals geben kann...“

„Was murmelst du denn da vor dich hin, Ryoko-chan?“

Ich zuckte zusammen und sah auf.

Martha stand vor mir und bedachte mich mit einem fragenden Blick.

In dem Moment kam ich zumindest zu einer Idee.

„Uhm... Martha-san, können Sie mir vielleicht helfen?“

Martha wirkte weiterhin fragend, aber dann breite sich ein Lächeln in ihrem Gesicht aus.

„Kann ich jetzt noch nicht sagen, aber... Wenn du mir sagst bei was, dann kann ich es versuchen.“
 

Schnell hatte ich auch Martha von meinen Problem erzählt und auch davon, dass mir Crow, Jack und Yuusei nicht wirklich hatten helfen können.

„Mhhh. Natürlich ist es schwierig, Jemandem etwas zu schenken, von dem man nicht wirklich viel weiß. Und manche Leute wollen auch nicht einmal ein Geschenk. Aber weißt du, was wir zusammen da machen können?“

Ich schüttelte meinen Kopf.

„Wir backen einfach für morgen zusammen einen Kuchen, und dann könnt ihr ja im kleinen Kreis zusammen essen und ein wenig feiern. Weißt du denn zumindest, wie alt der junge Mann wird?“

Meine Augen wurden groß. „A-Aber Martha-san.. I-Ich kann überhaupt nicht backen! Und uhm... k-keine Ahnung. Neunzehn? Zwanzig? Ich hab ihn nie gefragt... a-aber er ist zumindest älter, als die Anderen...“, stammelte ich verlegen, doch sie lachte nur und nahm meine Hand.

Sanft zog sie mich in die Küche, die mittlerweile wieder leer war. „Keine Sorge, ich zeige dir, wie man einen Kuchen backt.“

In recht kurzer Zeit hatte Martha alles Mögliche aus ihren Schränken herausgeholt, was man scheinbar zum Backen brauchte. Schüsseln, einen Rührbesen, eine alte Waage, sowie die ganzen Zutaten. Ich war höchst erstaunt darüber, dass es im Endeffekt gar nicht so viel brauchte, um einen Kuchen zu backen.

Sie wog die einzelnen Zutaten ab und zeigte mir, wie ich diese unterheben und miteinander verrühren sollte. Nebenbei erklärte sie mir den Unterschied zwischen Teigen und Massen, was viele Menschen gerne mal verwechselten.

Aufmerksam hörte ich ihr zu, obwohl ich mir sicher war, so schnell nicht wieder zu backen, als dass ich mir diesen Fluss an Informationen merken konnte.

Sie zeigte mir, wie ich mit dem Schneebesen umgehen musste, was sich nach einiger Zeit aber als immer schwieriger gestaltete.
 

„Was soll das überhaupt für ein Kuchen werden?“, fragte ich nach einer Weile.

„Das liegt bei dir. Wir könnten Kakaopulver dazu tun, dann hätten wir einen Schokoladenkuchen.“

Sofort nickte ich zustimmend. Schokoladenkuchen klang toll. Zumindest war ich mir sicher, dass Kyousuke so etwas essen würde. Schokolade mochte doch eigentlich jeder.

Als der Kuchen endlich im Ofen war, wischte ich mir über die Stirn.

Irgendwie war ich ja schon stolz auf mich, heute so viel gelernt zu haben.

Dinge, die ich bisher noch nicht gekannt hatte und noch nie zuvor gemacht hatte.

Ich hockte mich vor den alten Ofen und sah zu, wie der Kuchen in seiner Form langsam hoch ging.

Ob Mama mir das auch alles beigebracht hätte, wenn sie noch am Leben wäre?

Ich griff nach meinem Schal.

„Woran denkst du gerade, Ryoko-chan?“, hörte ich Martha fragen.

Ich hob meinen Kopf. „An meine Mama...“, gestand ich ehrlich und stand langsam wieder auf.

Martha sah zu mir und reichte mir ein Geschirrspültuch. Schließlich hatte ich auch gesagt, dass ich beim Aufräumen helfen würde. „Deine Mutter? Mhh.. Du hattest an dem Abend, als die Jungs dich hier her gebracht haben, von ihr gesprochen. Du sagtest, es sei deine Schuld, dass sie gestorben ist...“, antwortete Martha und reichte mir eine der Schüsseln zum abtrocknen.

Ich nickte verlegen. Der Abend lag mir immer noch peinlich genau vor Augen.

„War es auch... Wenn es mich nie gegeben hätte, hätte mein Erzeuger... ehm... ich meine, mein Vater... vielleicht Geld genug gehabt, um Mamas Krankheit behandeln zu lassen...“

Ich stellte die Schüssel zur Seite und nahm die nächste entgegen, ohne groß zu Martha zu sehen.

„Sie war krank?“

„Ja....“ Ein leises Seufzen entfuhr meinen Lippen und ich erzählte Martha von Mama und ihrer Geschichte. Als ich geendet hatte, fühlte ich, wie Martha mich in den Arm nahm und kurz drückte. „Du hattest eine wirklich wunderbare Mutter, Ryoko-chan. Und du solltest dir nicht die Schuld daran geben, dass sie gestorben ist. Sie würde sicher nicht wollen, dass du das tust. Für eine Mutter, die ihr Kind liebt, ist es nur normal, dass sie selbst ihr Leben für dieses geben würde und selber auf vieles verzichtet, nur damit es glücklich ist.“

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich fühlte, wie mir wieder Tränen hochkamen, aber dieses Mal schaffte ich es, mich zusammenzureißen. Ich wollte nicht mehr weinen.

Martha ließ mich wieder los und lächelte plötzlich. Sanft stieß sie mir mit dem Ellenbogen in die Seite. „Sag mal. Du magst diesen Kiryuu, hab ich recht?“

Völlig erschrocken über diesen so plötzlichen Themenwechsel, klappte mir der Mund auf und ich fühlte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. „Eh.. G-Gar nicht!“, empörte ich mich gleich, aber das brachte Martha nur noch mehr zum Grinsen.

„Und wie du ihn magst! Du bist ja ganz rot im Gesicht.“

Ich drehte mich schnell um und hielt meine Wangen fest. „So ein Quatsch!“, stammelte ich erneut.

„Deswegen ist es dir auch so wichtig, ihm etwas zu schenken.“, hörte ich sie fortfahren und entschied mich dazu, besser erst einmal das Weite zu suchen.

„I-Ich muss auf die Toilette!“, log ich schnell, legte mein Handtuch auf der Theke ab und verließ so schnell wie ich konnte, die Küche. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.

Musste sie jetzt DAMIT ankommen?
 

Ich wollte auf mein Zimmer gehen, aber dann fiel mir wieder ein, dass das Krankenzimmer, was all die Zeit auch gleichzeitig meines und Kyousukes Gästezimmer gewesen war, nun ja erst einmal belegt war. Wo würden wir die Nacht denn nun verbringen?

Ich fragte mich ja, wo der Kerl überhaupt steckte. Ich hatte ihn seit dem Mittagessen nicht mehr gesehen.

Schweigend ging ich durch das Haus und fand ihn schließlich zu meiner Verwunderung im Keller vor, wo er auf der Treppe saß. Vor sich hatte er die Karte von Satellite ausgebreitet, die er damals mitgenommen hatte.

„Kyousuke-kun?“

Er sah auf, als er meine Stimme vernahm. „Wo warst du die ganze Zeit?“

Ich setzte mich neben ihn. „Ach. Mal hier, mal da. Überlegst du etwa schon, wem wir als nächstes in den Arsch treten?“

Kyousuke legte kumpelhaft einen Arm um mich und zog mich zu sich, was mein Herz lautstark zum klopfen brachte. Vermutlich knallrot im Gesicht, lehnte ich mich an ihn.

„So gesehen, ja. Dir geht es ja immerhin schon wieder gut, da dachte ich, wir könnten bald weiter machen.“

Ich warf einen Blick auf die Karte.

Yuuseis Worte gingen mir wieder durch den Kopf.

„Was glaubst du, wird passieren, wenn wir alle Duell-Gangs in Satellite besiegt haben?“

Für einen Moment überlegte ich, ob ich dass Kyousuke nicht fragen sollte, aber ich entschied mich dazu, es zu lassen. Ich wollte einfach nicht genauer darüber nachdenken, was dann war.

Ich wollte nicht einmal, dass es jemals endete. Es sollte ewig so weitergehen, wie bisher. Für immer.

Jetzt, wo ich endlich das hatte, was mir all die Jahre in Einsamkeit fehlte.
 

„Ich kann es kaum abwarten, mich endlich wieder zu duellieren. Zusammen mit dir... mit euch.“

Ich hörte ihn leise lachen.

„Das freut mich wirklich zu hören, Ryoko-chan. Scheint, als würde dir das Duellieren mittlerweile Spaß machen.“

Ich drehte meinen Kopf etwas zu seinem Gesicht und bemerkte, dass er mich ansah.

„Weiß nicht... Aber... solange ich bei dir sein kann.. Bei dir und den Anderen... macht es mir schon Spaß.“

Kyousuke wuschelte mir lächelnd durch die Haare. „Weißt du... Ich bin froh darüber, dass du Team Satisfaction beigetreten bist. Dass du geblieben bist, obwohl du erst gehen wolltest.“

Mein Herz pochte lautstark in meiner Brust und ich blickte in seine Augen.

„K-Kyousuke-kun...“

Auch er blickte mir in die Augen und für einen Moment herrschte Stille. Dann drehte ich meinen Kopf wieder weg.

„Ich hatte tatsächlich in der ersten Nacht vorgehabt, zu gehen...“, gestand ich schließlich. „Aber ich hab es nicht fertig gebracht. Ich wollte am nächsten Morgen gehen, aber auch da habe ich es nicht übers Herz gebracht. Ich habe immer und immer wieder daran gedacht, zu gehen, aber ich kann es einfach nicht. Ich will keine Streunerin mehr sein, die vor allem davon läuft. Seit ich dich getroffen habe, hat sich mein Leben verändert. Ich bin kein heimatloses Kätzchen mehr. Ich... Ich habe endlich ein Zuhause gefunden.“

Zaghaft drehte ich meinen Kopf wieder zu ihm, blickte erneut in seine Augen.

Sein Gesichtsausdruck wirkte beinahe ein wenig sprachlos. Er hatte seinen Mund geöffnet, als wollte er etwas sagen, aber es kam nichts. Er sah mich einfach nur an.

„K-Kyousuke-kun?“

Ich hatte das Gefühl, als wäre er mir mit seinem Gesicht näher gekommen.

Ich fühlte mein Herz unaufhörlich gegen meine Rippen hämmern. Mein Mund war ganz trocken und ich versuchte, den Kloß in meinem Hals herunter zu schlucken.

Mein Atem ging schneller.

„Kiryuu! Ryoko-chan, hier seid ihr ja! Martha hat gesagt, es gibt Abendessen.“

Crows Stimme ließ uns beide zusammenfahren.

„Crow!“ Kyousuke stand auf, rollte die Karte von Satellite zusammen und stopfte sie in seine linke Hosentasche.

Auch ich war schnell aufgestanden und funkelte Crow an.

„Ich hoffe, ich hab euch jetzt nicht gestört...“

Nein, Crow. Du hast nur gerade die ganze romantische Stimmung vernichtet und mich eventuell um meinen ersten Kuss gebracht!, ging es mir durch den Kopf.

Am liebsten hätte ich ihn in diesem Moment erschlagen.

„Nein, nein. Ich hab mit Ryoko nur ein paar Sachen besprochen, bezüglich der Weiterführung unseres Zieles.“, antwortete Kyousuke einfach und sah zu mir. „Kommst du?“

Nickend folgte ich ihm die Treppe nach oben und tötete Crow in jenem Moment gefühlte tausendmal mit meinem Blick.
 

Das Abendessen verlief ziemlich ruhig. Es wurde nicht viel geredet. Nur die Kleinsten am Tisch waren am Quasseln.

Ich dachte immer noch über das nach, was Yuusei zu mir gesagt hatte. Außerdem war ich dennoch etwas enttäuscht, außer einem Kuchen nichts zu haben.

Zumindest hatte ich mir überlegt, dass ich Kyousuke um Mitternacht gratulieren wollte.

Ich hoffte nur, dass ich so lange aushalten würde und auch, dass Kyousuke nicht schon vorher schlafen ging.

Nach dem Abendessen brachte Martha erst einmal die jüngeren Kinder ins Bett und wandte sich dann an mich und Kyousuke.

„Ryoko-chan? Kiryuu-kun? Würdet ihr mir eben folgen?“

Ich nickte und auch Kyousuke, der gerade neben mir stand, nickte und gemeinsam folgten wir Martha durch den Flur und die Treppe nach oben, in den ersten Stock.

Vor einer Tür blieb sie stehen und öffnete diese. „Da das Krankenzimmer belegt ist, könnt ihr hier in dem Zimmer übernachten. Das ist noch frei.“, sagte sie.

„Wenn das für Sie in Ordnung ist, Martha-san.“, sagte Kyousuke neben mir und Martha nickte.

„Natürlich, Kiryuu-kun. Sonst hätte ich euch kaum hier her gebracht.“

Sie sah kurz zu mir und zwinkerte mir zu, weswegen ich wieder merkte, dass ich rot wurde.

Was sollte das jetzt bitte?

Langsam ging sie wieder und Kyousuke betrat mit mir das Zimmer. Es war nicht gerade groß, aber dafür stand hier ein Doppelbett. So ein richtiges Ehebett und ich spürte, wie ich noch röter wurde.

In einer Ecke stand ein großer, alter Kleiderschrank aus dunklem Holz und auf einem der Nachttische war tatsächlich eine Digitaluhr vorzufinden, von der ich mir sicher war, dass Yuusei sie gebaut hatte. Das technische Knowhow dafür, hatte er ja.
 

„Sieht ganz nett aus.“, hörte ich Kyousuke sagen und drehte mich zu ihm. „Ja, schon.“

Er ging zu dem Bett und warf sich einfach darauf. „Ganz schön groß, aber ziemlich gemütlich.“

„Ist halt nichts im Vergleich zu deiner alten Couch, wo überall schon die Federn herausspringen.“, antwortete ich lachend und warf mich ebenso auf das Bett.

Kyousuke lachte wieder. „Das ist wahr! Man könnte sich glatt an das Leben hier gewöhnen!“

Ich drehte meinen Kopf zu ihm. „Warum bleibst du dann nicht hier?“

Er wandte sich von der Zimmerdecke ab, die er angesehen hatte und drehte sich zu mir. Sein Lachen war wieder verschwunden.

„Ich gehöre hier nicht her...“, sagte er mit ernster Stimme. „Das hier ist kein Ort für mich. Martha-san ist zwar wirklich lieb und wie eine gute Mutter, aber... Ich kann hier einfach nicht auf ewig bleiben. Ich wollte ja nicht einmal so lange hier bleiben.“

Ich setzte mich aufrecht hin, zog meine Beine an und hörte ihm zu.

„Du hattest eigentlich tatsächlich vor, in jener Nacht, draußen zu bleiben, nicht wahr?“

Er antwortete nicht gleich, aber nickte. „Ich wollte eigentlich zurückgehen. Aber ich wollte dich auf der anderen Seite auch nicht alleine lassen. Als ich durch die Tür dieses Hauses bin, hatte ich das Gefühl, einen Ort zu betreten, an dem ich eigentlich gar nicht sein dürfte. Ich fühle mich hier nicht wohl. Trotz dass Martha so nett ist und die Kinder hier wirklich herzallerliebst, aber dennoch... Ein Streuner wie ich... gehört nicht an einen solchen Ort.“

Fragend sah ich ihn weiterhin an. Er sah sich also auch als Streuner, wie ich es tat?

Ihm erging es also wie mir damals?

Wie mir, als ich zu Team Satisfaction kam. Ich hatte auch erst das Gefühl gehabt, falsch am Platz zu sein.

Aber andererseits konnte man das kaum vergleichen.

Je länger ich Kyousuke kannte, umso mehr wurde mir bewusst, dass wir uns vielleicht ähnlicher waren, als ich erst vermutet hatte. Aber wirklich wissen tat ich es nicht.

Denn ich wusste immer noch kaum etwas über ihn.

Ich hatte ihm von meiner Mutter erzählt, von ihrem Tod. Er wusste wo ich herkam, wie alt ich war, dass ich kitzlig war, nicht schwimmen konnte. Wusste, dass ich schnell weinte, dass ich sensibel bin. Er wusste so vieles über mich.

Ich dagegen wusste nicht einmal, wie alt er war.

Ich kannte bisher nur seinen vollständigen Namen und seinen Geburtstag.

Er gab nie irgendetwas von sich preis. Da hatten die Anderen schon recht.

Wenn es um sich selbst ging, hüllte er sich in Schweigen. So sehr ich auch glaubte, ihn mittlerweile zu kennen, umso mysteriöser war er für mich.

Vielleicht war es aber auch genau das, was mich an ihm faszinierte und mich magisch anzog.

Yuusei, Crow, Jack... Sie alle vertrauten ihm blind, ohne dass auch sie viel über ihn wussten. Und auch ich hatte ihm schnell vertraut und tat es immer noch.

Kyousuke hatte einfach so eine Ausstrahlung. Es lässt sich bis heute nicht mit Worten beschreiben.
 

Vielleicht, so dachte ich bei mir, erzählte er auch einfach nichts über sich, weil keiner ihn fragte.

Andererseits, wenn Gespräche zu tief gingen, hatte ich auch schon bemerkt, dass er dazu neigte, schnell das Thema zu wechseln. Fast, wie ich es am Anfang getan hatte.

Ich traute mich auch selber kaum, ihn auszufragen. Aus Angst, ich könnte vielleicht Erinnerungen in ihm wecken, die er eventuell verdrängt hatte und aus Angst, ihn zu verärgern.

Dennoch wollte ich zumindest eine Sache von ihm wissen, um aus der Stille auszubrechen, die sich wieder über uns gelegt hatte.

„Wie alt wirst du eigentlich?“

Kyousuke zuckte zusammen und sah wieder zu mir.

Er schien ernsthaft zu überlegen.

„Uff. Glaub zwanzig, wenn ich mich nicht irre.“

Er wirkte ein wenig irritiert. Offenbar hatte er echt nicht mit so einer Frage gerechnet und kratzte sich verlegen mit dem Zeigefinger an der Wange. „Ich bin ein alter Sack.“

Auf diese Antwort hin musste er lachen und ich selber lachte und kniff in seine Wange. „Zwanzig? Oh ja, du bist voll der alte Opa. Hast schon graue Haare und lauter Falten im Gesicht!“, gab ich sarkastisch zurück.

„H-Hey!“ Zumindest wirkte Kyousuke wieder fröhlicher und kniff auch mir in die Wangen.

Wir alberten noch eine ganze Weile herum, bis ein Blick auf die Uhr mir verriet, wie viele Stunden mittlerweile vergangen waren.

Das Display zeigte 23:59 an. In einer Minute war es soweit.

Langsam zählte ich die Sekunden hinab, während ich Kyousuke neben mir lautstark gähnen hörte. „Wir sollten langsam mal schlafen gehen und-“, fing er an, doch in jenem Moment drehte ich mich zu ihm um, als die Uhr genau auf Mitternacht geschaltet hatte.

„Alles gute zum Geburtstag!“, rief ich laut und fiel ihm einfach um den Hals.

Kyousuke war so perplex, dass es ihn nach hinten umgehauen hatte und er nun wieder lag. Und ich auf ihm drauf.

„Eh.. R-Ryoko...?“

In dem Moment wurde die Tür schwungvoll aufgerissen und ich hörte Crow in einem extrem schiefen Ton 'Happy Birthday' singen. Zumindest solange, bis er scheinbar mich und Kyousuke bemerkt hatte, und die extrem prekär aussehende Position, in der wir uns befanden.

Auch Jack und Yuusei standen im Zimmer, beziehungsweise, als ich mein knallrot gefärbtes Gesicht zu ihnen drehte, sah ich, wie sie nacheinander in Crows Rücken liefen.

„Oh. Also... Wenn ihr allein sein wollt, dann stören wir nicht weiter...“, sagte Crow, der selber verlegen wirkte.

Jack sah aus, als hatte er das Bedürfnis, auf dem Absatz kehrt zu machen und Yuusei blinzelte nur.

„D-Das ist nicht das, wonach es aussieht!“, brüllten Kyousuke und ich beinahe im Chor.

„Du hast dir also doch meinen Vorschlag zu Herzen genommen, Ryoko-chan?“, feixte Crow, der unsere Beschwerde wohl überhört hatte.

„SCHNAUZE!“, fauchte ich. Ich musste aussehen, wie eine überreife Tomate.

„Ich sollte besser gehen!“, kam es wiederum von Jack, während Kyousuke mich sanft von sich runter drückte und selber knallrot im Gesicht war.

„Das... Das war nur eine Umarmung, mehr nicht!“, stammelte er. „Ryoko-chan wollte mir nur zum Geburtstag gratulieren!“

„Du hattest auch schon einmal bessere Ausreden auf Lager, Kiryuu.“, antwortete Crow grinsend und ich verfluchte mich, dass ich keinen Hausschuh hatte, den ich nach ihm werfen konnte.

Jack hatte sich wirklich zum Gehen gewandt, wurde aber von Yuusei festgehalten, der versuchte, die Situation wieder auf einen Normalzustand zurechtzubiegen. Typisch Yuusei eben.
 

„Alles gute zum Geburtstag erst einmal, Kiryuu.“, sagte er und versuchte zu lächeln.

Kyousuke saß wieder aufrecht und nickte nur baff.

Er warf einen Blick zu mir. „Hast du etwa allen erzählt, dass ich heute Geburtstag habe?“

Peinlich berührt kratzte ich mich an der Wange und nickte. „T-Tut mir Leid. Ich... Ich also...“

„Sie wollte dir etwas schenken, aber wusste nicht, was.“, klärte Yuusei auf.

Ich verzog mein Gesicht zu einem Schmollen und fühlte Kyousukes Ellenbogen sanft in meinen Rippen. „Du wolltest mir etwas schenken?“

Mit meinem Schmollgesicht drehte ich mich wieder zu ihm um und nickte erneut.

Er piekte mir mit beiden Zeigefingern in meine aufgeplusterten Wangen und ich ließ die Luft entweichen. „Dabei wäre das nicht nötig. Ich brauch doch gar keine Geschenke.“

Blinzelnd sah ich ihn an.

Ein Lächeln umspielte seine Lippen und er ließ seinen Blick schweifen. Von mir zu Yuusei, zu Crow und zu Jack und dann wieder zu mir. „Ich hab doch bereits ein super tolles Geschenk. Und mehr als das, kann ich eh nicht haben.“

Meine Augen wurden groß. Langsam begriff ich, was Yuusei gemeint hatte.

„Ein schöneres Geschenk als dich und die Anderen kann ich gar nicht mehr bekommen. Team Satisfaction ist das beste Geschenk überhaupt für mich!“

„K-Kyousuke-kun...“

Er zerwuschelte mir mal wieder die Haare. „Du bist echt süß, Ryoko-chan.“

„K-Klappe!“, antwortete ich verlegen und hörte Crow lachen.

„Du machst uns auch ganz verlegen, Kiryuu.“

Ich warf einen Blick zu Yuusei, der mir zunickte, während ich mir noch meine Haare richtete.

Jack kam nun auch näher und klopfte Kyousuke auf die Schulter. „Alles Gute und So.“, sagte er flüchtig, aber mit einem leichten Lächeln. Ich war mir zumindest recht sicher, dass er lächelte.

„Na dann können wir ja nun ein wenig Party machen!“ Crow lief noch einmal Richtung Tür und brachte eine Kiste voll mit Lemon-Soda in das Zimmer.

Er schnappte sich ein paar der Dosen und warf jedem von uns eine zu.

Kyousuke, Yuusei und ich fingen unsere geschickt auf. Jack bekam seine gegen den Kopf.

Er funkelte Crow an, hob seine Dose auf und öffnete diese, wobei ihm die Hälfte der Limonade ins Gesichts spritzte, aufgrund der Erschütterung am Boden.

Eine Szene, die alle zum Lachen brachte. Alle, außer Jack. Dieser verschwand erst einmal mit einem grummeligen „Ich hasse euch!“, aus dem Zimmer. Vermutlich, um sich die Limonade aus dem Gesicht zu waschen.

Wenig später war er wieder da.

Crow und Yuusei hatten sich zu uns aufs Bett gesetzt, nur Jack bevorzugte es, an der Wand gelehnt zu stehen.

Crow hob seine Dose hoch. „Na dann, wo nun alle wieder da sind: Trinken wir auf unseren Leader und auf Team Satisfaction!“

Ich hob ebenso meine Dose und nickte gleich. „Auf unseren großartigen Leader und auf Team Satisfaction!“

Auch Yuusei und Jack taten es gleich und ich konnte Kyousuke verlegen, aber unglaublich glücklich lächeln sehen.

„Auf uns, auf Team Satisfaction, meine Freunde!“
 

Wir feierten noch ziemlich lange zusammen. Ich glaube, so viel Lemon-Soda wie an jenem Abend, hatte ich danach nie wieder getrunken.

Es war ein Wunder, dass ich keine Bauchschmerzen davon bekam.

Crow erzählte Haufenweise Geschichten aus seiner Kindheit und wie er Yuusei und Jack kennengelernt hatte.

Genauso wie ich, hatte er das Lesen und Schreiben vor allem durch Duel Monsters gelernt.

Jack, der sich die meiste Zeit raus hielt, klinkte sich irgendwann aber auch noch mit ein und gab die Geschichte zum Besten, wie er seine Liebe zu Cup-Ramen entdeckt hatte. Dabei wurde er richtig emotional. So sehr, dass Kyousuke ihm ein Taschentuch reichen musste.

Selbst Yuusei, der sonst nie mehr, als gefühlte zwei Sätze am Tag sprach, erzählte hier und da etwas von früher.

Es musste bereits Vier Uhr morgens gewesen sein, als Yuusei sich dazu entschied, dass sie langsam mal ins Bett gehen sollten. Crow war schon eingeschlafen, wurde aber von Jack ziemlich unsanft geweckt und zusammen verschwanden die Drei aus dem Gästezimmer, nachdem Yuusei noch die leeren Dosen alle zurück in die Kiste getan hatte.

Gähnend ließ ich mich nach hinten auf das Kissen fallen.

Kyousuke stand noch am Fenster und sah nach draußen.

„Gibt's noch was besonderes zu sehen?“, fragte ich und setzte mich dabei wieder auf.

„Ich glaube, wir haben heute Vollmond.“, kam es von Kyousuke zurück und ich stand neugierig vom Bett auf und stellte mich neben ihn.

„Waaah... Sieht richtig schön aus.“, flüsterte ich beim Anblick des hellen Mondes, der tatsächlich groß und rund am Himmel stand.

„Nicht wahr?“, fragte mich Kyousuke. Trotz, dass er lächelte, konnte ich Wehmut in seinem Gesicht sehen.

Dadurch fiel mir aber wieder etwas ein.

„Du sag mal... Was ist eigentlich dein größter Wunsch?“

Er wandte seinen Blick vom Mond ab und sah zu mir. „Mein größter...? Das weißt du doch. Mit euch zusammen die ganzen anderen Duel-Gangs platt machen und Satellite übernehmen.“

„Ich weiß, aber... Na ja...“ Ich richtete meinen Kopf gen Boden. „Ich hab Yuusei ja gefragt, was ich dir schenken könnte. Da meinte er zu mir, dass dein größter Wunsch etwas sei, was dir keiner von uns je geben könnte...“

Nachdem ich das gesagt hatte, herrschte eine lange Zeit Stille.

„Ist das nicht offensichtlich?“, kam es von Kyousuke schließlich.

Ich drehte meinen Kopf wieder zu ihm, aber er sah mich nicht an. Erneut bevorzugte er es, aus dem Fenster zu starren. „Yuusei hat recht, mit dem was er sagt. Das, was ich mir am meisten wünsche, kann keiner von euch mir geben oder schenken. Yuusei nicht, Jack nicht, Crow nicht, nicht einmal du. Und auch sonst Niemand. Ich könnte versuchen, es selber zu erreichen, aber die Chance dafür, es auch zu bekommen, ist verschwindend gering...“

Ich war immer noch verwirrt. „Wieso denn?“

„Weil das, was ich mir am meisten wünsche, Freiheit ist...“

Twelfth Satisfaction: Was ist nur mit Kiryuu los?

Langsam öffnete ich meine Augen.

Ich lag nicht gerade weich mit dem Kopf, aber dafür auf etwas sehr Warmen.

Als ich mich erhob, fühlte ich wieder, wie ich errötete.

Schon wieder hatte ich mit dem Kopf auf Kyousukes Brust geschlafen.

Als ich weiter mich umsah, merkte ich, dass ich noch zu allem Überfluss mit meinem rechten Bein halb auf ihm lag.

Kyousuke schien noch zu schlafen, doch als ich ganz aufstehen wollte, fühlte ich seine Hand an meinem linken Handgelenk.

„N-Nicht... Nicht weggehen...“, hörte ich ihn verschlafen nuscheln und mir stieg noch mehr die Hitze ins Gesicht.

Vorsichtig legte ich mich wieder neben ihn, ohne ein Wort zu sagen.

Er wirkte immer noch, als würde er schlafen und als hätte er nur im Schlaf gesprochen.

Aber seine Augen blinzelten müde und langsam öffnete er diese, während er sich zur Seite drehte und mich dann ansah.

„Morgen...“

„Morgen, Kyousuke-kun.“

Er ließ mein Handgelenk los und setzte sich auf.

Seine Haare waren wie immer morgens total zerzaust und fielen ihm ins Gesicht, während er herzhaft gähnte.

Ein Anblick der mich schmunzeln ließ.

„Gut geschlafen?“, fragte ich lächelnd.

Kyousuke drehte seinen Kopf wieder zu mir und nickte. „Einigermaßen, ja.“

Ich beobachtete ihn, wie er sich seine Haare richtete und sich sein lilafarbenes Bandana umband, das auf „seinem“ Nachttisch gelegen hatte. Er zog es immer nur zum Schlafen aus.

Nun gut. Zum Duschen vermutlich auch.

Mir fiel auf, dass er irgendwie ernst wirkte. So, als hätte er eher noch stundenlang gegrübelt, als zu Schlafen, während ich schon längst ins Land der Träume entflohen war.

Nachdenklich starrte er vor sich hin. „Schon zehn Jahre nun....“, hörte ich ihn leise murmeln und fragte mich, was er damit wohl meinte.

Scheinbar hatte er meinen fragenden Blick bemerkt und setzte sofort einfach sein typisches Lächeln auf. Mit einer Hand wuschelte er mir wie immer durch meine Haare.

„Lass uns mal aufstehen!“ Er sah zu der Digitaluhr. „Wir haben schon fast 13 Uhr.“

Er lachte verlegen, aber irgendwie klang sein Lachen heute nicht so wie sonst.

„Wir waren ja auch ziemlich lange wach.“, sagte ich und knuffte ihm mit einem aufmunternden Lächeln in die Seite. Dann stand ich auf und schlüpfte in die Hausschuhe, die Martha mir gegeben hatte.
 

Auf unserem Weg durch Marthas Haus trafen wir auch die Anderen, mit denen wir uns kurz unterhielten.

Natürlich hatten die Anderen schon gefrühstückt und so machte uns Martha einfach wieder ein paar Sandwiches, als wir sie in der Küche antrafen.

Dabei nahm sie mich zur Seite. „Und? Hast du es ihm gesagt?“, fragte sie mich flüsternd, woraufhin ich wieder die Röte in meinem Gesicht fühlte und heftig den Kopf schüttelte. „Es gibt nichts zu sagen!“, log ich leise und setzte mich wieder an den Tisch.

Kyousuke schien kaum Appetit zu haben. Etwas, was auch eher ungewöhnlich war. Normalerweise war er ein recht guter Esser, wie ich oft schon festgestellt hatte.

Doch heute war es anders. Auch wenn er noch so sehr versuchte, auf fröhlich zu tun, man sah ihm einfach an, dass irgendwas nicht stimmte. Zumindest sah ich es ihm an.

Crow schien Kyousuke die fröhliche Masche abzukaufen und bei Jack wusste ich es nicht.

Auch Yuusei schien bemerkt zu haben, dass da was anders war als sonst. Er sagte jedoch nichts.

Insgeheim hoffte ich ja, dass der Kuchen, den Martha und ich gebacken hatten, ihm vielleicht gut tun würde. Martha hatte mir leise versprochen, den würde es nachmittags geben.
 

Nach dem wir gefrühstückt hatten, hatte Kyousuke Yuusei, Crow und Jack zusammen mit mir erneut aufgesucht und zu fünft saßen wir nun wieder in meinem und Kyousukes Gästezimmer.

Kyousuke hatte die Karte von Satellite auf dem Boden ausgebreitet und wir saßen im Kreis drum herum.

„Also Folgendes: Ich habe gestern, beziehungsweise heute früh vor dem Schlafengehen, mit Ryoko-chan ausgemacht, dass wir noch bis zum zehnten November hier bleiben werden, weil sie gerne noch ihren Geburtstag hier feiern würde. Da sie nun aber wieder gesund und einsatzfähig ist, haben wir uns gedacht, dass wir jetzt schon weiter machen werden mit unserem Plan. Da wir Zone T durch haben, würde ich vorschlagen, wir nehmen Zone W als nächstes in Angriff. Die liegt direkt darunter und ist daher am günstigsten.“, erklärte unser großer Leader.

Ich nickte mit jedem Wort, dass er sagte, aber seufzte innerlich. Der Elan in seiner Stimme war zwar da, aber dennoch fehlte die Begeisterung, mit der er sonst sprach.

„Und wann machen wir das?“, meldete sich Jack.

„Heute.“, gab Kyousuke unvermittelt als Antwort, was selbst mich dazu brachte, aufzuzucken.

„Heute? So ganz ohne Vorbereitung?“ Crow blinzelte baff.

„Du hast nicht gesagt, dass wir heute schon-“, begann ich, aber Kyousuke sah nur zu Crow und schnitt mir dann das Wort ab.

„Je eher, umso besser! Wir können schließlich nicht ewig herumsitzen und chillen, als wäre die Welt in Ordnung! Wir sind immerhin Team Satisfaction und je länger wir warten, umso mehr werden unsere Gegner denken, sie hätten wieder freie Bahn und wir hätten aufgegeben. Heute Nachmittag gegen siebzehn Uhr geht es los. Der Plan ist wie folgt, Ryoko-chan geht mit mir, Crow spielt den Lockvogel … Yuusei und Jack, ihr zwei folgt Crow im guten Abstand. Wir treffen uns dann, wenn wir alle Mitglieder der Gang dort zusammen haben! Verstanden? Irgendwelche Fragen?“

Crow hob seine Hand. „Kiryuu, ist alles okay bei dir? Du klingst, als hättest du ein Militär-Regelbuch verschluckt.“

Kyousuke starrte ihn an. Ich konnte sehen, dass er minimal seufzte. „Natürlich geht’s mir gut!“, antwortete er und rügte Crow mit einem Blick der soviel sagte wie: „Was soll die dumme Frage?“

„Warum nehmen wir uns nicht eigentlich Bezirk M vor?“, fragte Jack daraufhin, um das Thema zu wechseln. Scheinbar ahnte er, genauso wie ich, dass Crow sonst nur weiter gebohrt hätte und es unweigerlich zu einer unschönen Diskussion ausgeartet wäre. Ich wollte Kyousuke so schnell nicht wieder so wütend erlebend, wie bei der Team Zombie-Geschichte.

Doch anhand von Kyousukes Blick konnte ich daraus schließen, dass Jacks Frage genauso dämlich war, wie die von Crow.

Kyousuke sah zu Jack und blickte dann eine Weile auf die Karte. Es herrschte Stille. Vielleicht nur eine Minute lang, aber es kam mir länger vor.

„Den nehmen wir uns als letztes vor, Jack. Gerade weil es auch der größte ist, haben wir dort... Die meiste Arbeit. Außerdem ist die Duel Gang dort...“ Er machte eine Pause. „Wenn keine weiteren Fragen mehr sind, dann treffen wir uns um siebzehn Uhr vor dem Haus.“
 

Ich hockte mich aufs Bett, nachdem ich wieder mit Kyousuke alleine war. Kyousuke rollte die Karte von Satellite zusammen und stopfte sie sich in seine hintere Hosentasche.

Langsam trat er zur Tür.

„Wo willst du hin?“, fragte ich verwirrt.

Er blieb stehen, ohne zu mir zu schauen. „Nur ein wenig an die frische Luft. Ich glaub, ich hab ein bisschen Kopfschmerzen. Ist nichts schlimmes, keine Sorge...“ Er versuchte zu lächeln, so viel konnte ich von meinem Platz aus erkennen, aber es gelang ihm nicht wirklich.

Als er das Zimmer verlassen hatte, fühlte sich alles in mir komisch an.

Ich zog meine Beine so dicht wie möglich an meinen Körper und legte meinen Kopf auf meine Knie.

Was war nur los mit ihm?

Am Tag zuvor hatte er sich noch nicht so merkwürdig benommen.

Zumindest hatte ich davon nichts mitbekommen.

Es machte den Eindruck, als wäre er irgendwie ständig mit den Gedanken woanders.

Am liebsten wollte ich ihn fragen, aber ich traute mich nicht.

Er stritt ja schon vor den Anderen ab, dass es ihm nicht gut ging, obwohl mittlerweile selbst Crow gemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte.

Ich hatte Angst vor nachher. So, wie Kyousuke heute drauf war, hatte ich meine Bedenken, ob das heute so eine gute Idee war, sich wieder zu duellieren.

Ein Klopfen an der Tür ließ mich zusammenfahren.

„Ja?“

Es war zu meiner Überraschung Yuusei, der hereinkam.

„Yuusei-kun?“

„Ist Kiryuu...?“, begann er, blickte sich um aber schüttelte den Kopf, als er merkte, dass Kyousuke nicht hier war.

Er drehte seinen Kopf zu mir und ging zu mir. „Du hast es auch gemerkt oder?“, fragte er mich.

„Was gemerkt?“, gab ich als Antwort, obwohl ich ahnte, worauf Yuusei hinaus wollte.

„Kiryuu. Er verhält sich heute merkwürdig.“

Zögerlich nickte ich. „Ich weiß. Schon seit dem Aufstehen. Ich weiß nicht, was los mit ihm ist. Er kommt mir vor, als wäre er gedanklich irgendwo ganz anders...“

Yuusei setzte sich zu mir. „Das ist mir auch aufgefallen. Sonst ist er immer mit Begeisterung bei der Sache, aber heute... Ich dachte, du wüsstest vielleicht, was los ist. Ob er gestern vielleicht noch etwas gesagt hat.“

Kopfschüttelnd zuckte ich mit den Schultern. „Ich weiß jetzt, was sein größter Wunsch ist. Eigentlich war es offensichtlich, aber... Ich denke nicht, dass sein Verhalten heute etwas damit zu tun hat...“

Ich fragte mich auch, warum er bei Jacks Frage so komisch reagiert hatte.

Yuusei schien kurz zu lächeln. „Du hast es herausgefunden?“

„Ich hab ihn gefragt.“ Seufzend drehte ich meinen Kopf Richtung Fenster. „Manchmal wüsste ich nur zu gern, was in seinem Kopf vor sich geht...“
 

„Hast du Kiryuu-kun gesehen?“ Marthas Stimme ließ mich herumfahren, als ich aus dem Bad kam.

Es musste gegen 15:30 herum gewesen sein.

„Äh nein.“, antwortete ich ehrlich.

„Ich wollte den Kuchen nun aufschneiden, den wir gemacht haben. Ist irgendwas nicht in Ordnung mit ihm? Ihr seid doch sonst immer zusammen.“

Schulterzuckend blickte ich angespannt geradeaus. „Keine Ahnung. Ich wollte ihn eh gerade suchen gehen.“, antwortete ich knapp.

Ich ging weiter, ohne mich auch noch einmal umzudrehen.

Marthas Haus, dass trotz der Baufälligkeit so freundlich und charmant gewirkt hatte, ließ mich heute nichts weiter, als Kälte fühlen.

Meine innere Unruhe wurde immer intensiver. Wenn ich an Kyousuke dachte, hatte ich nicht wie sonst Schmetterlinge im Bauch, sondern eher Ameisen.

So ließ sich dieses Kribbeln beschreiben.

Der Verdacht, dass heute noch irgendwas schlimmes passieren würde, breitete sich in mir aus wie eine quälend langsame Krankheit.

Ich suchte das ganze Haus nach Kyousuke ab, aber fand ihn nirgends.

Mein ungutes Gefühl schien sich zu bestätigen.

Eigentlich sollte ich in so einer Situation mit den Anderen sprechen, aber ich tat es nicht.

Ich wusste nicht einmal, ob es richtig war, nach ihm zu suchen.

Deswegen wartete ich.

Es wurde immer später. Martha hatte es aufgegeben, den Kuchen servieren zu wollen und nachdem mich Crow schon zum gefühlten hundertsten Mal gefragt hatte, ob ich wusste, wo Kyousuke steckte, hatte ich ihn so angeschriehen, dass ihm vermutlich jetzt noch die Ohren klingelten.

„Wir haben gleich Siebzehn Uhr.“, sagte Jack, als wir zusammen im Wohnzimmer saßen.

Er starrte schon seit Minuten stoisch die Wand mit der Uhr an.

„Dann sollten wir rausgehen.“, hörte ich Yuusei murmeln.

„Und wenn er nicht auftaucht?“, fragte Crow in den Raum.

Allgemeines Schulterzucken.

Ich hatte wieder die Angst in mir, dass etwas passiert war. Vielleicht hatte er sich auf eigene Faust mit einer Duel Gang angelegt? Aber andererseits traute ich ihm eine so große Dummheit nicht zu.

Er war mutig, ohne Frage. Manchmal auch extrem stürmisch und unberechenbar. Aber er war keineswegs so dumm, sich alleine mit einer ganzen Duel Gang anzulegen. Das würde er nicht tun.

Punkt siebzehn Uhr standen wir draußen. Es regnete in Strömen.

Der Regen hatte die Erde matschig und rutschig werden lassen.

Große Schlammpfützen hatten sich gebildet.

Von Kyousuke jedoch fehlte aktuell noch jede Spur.

Bis...
 

„Da seid ihr ja! Dann kann's ja losgehen.“

Kyousukes Stimme ließ nicht nur mich, sondern auch die anderen herumfahren.

Er stand vor uns. Weiß der Teufel, von wo er herkam.

Seine Hose war voller Schlammspritzer und seine Haare klebten ihm nass im Gesicht.

Ein Blitz erhellte den bereits dunklen Himmel.

„Wo warst du!?“ Jacks Frage klang eher wie ein Befehl.

„Ich hab die Gegend ausgekundschaftet. Können wir jetzt gehen?“

Er grinste zwar breit, aber man merkte deutlich, dass ihm im Grunde gar nicht nach Grinsen zumute war.

Keiner fragte weiter nach. Ich denke, es war Niemandem danach, sich mit Kyousuke anzulegen.

Also gab es nur ein stilles Nicken.

Kyousuke nahm mich zur Seite, als wir losliefen.

„Du bleibst bei mir, Ryoko-chan. Ich hab ja gesagt, ab sofort bleibst du immer in meiner Nähe. Keine Einzelaktionen oder so, verstanden!?“

Schluckend nickte ich. „V-Verstanden.“

Am liebsten hätte ich ihn angeschnauzt, weil er mit mir sprach, als wäre ich ein kleines Kind.

Kyousuke nahm mein Gesicht in seine Hände.

Sofort ging mir wieder die Pumpe. Gefühlt schneller als ein Rennwagen. Trotz dem Anflug von Wut in mir.

„Ich will nicht, dass dir noch einmal etwas zustößt...“

Da war wieder dieser Blick. Seine weiche Stimme ließ meine Kehle trocken werden.

Die Umarmung die daraufhin folgte, brachte mich dazu, zu erstarren.

Nach einer gefühlten Ewigkeit ließ er mich wieder los und wir gingen weiter.

Als wir Sektor W betraten, lief Crow auch gleich schon los um seine Mission als Lockvogel zu erfüllen.

Yuusei und Jack folgten ihm im Anschluss.

Ich bildete mit Kyousuke das Schlusslicht.

Wir gingen die Hauptstraße entlang, die groß und breit durch diese Gegend führte.

Der kalte Wind peitschte mir unangenehm ins Gesicht und der Regen schien noch stärker zu werden. Verschlechterte die Sicht nach vorn.

Ich wollte Kyousuke die ganze Zeit fragen, was in ihm vorging, aber ich bekam kein Wort heraus.

Er sah immer wieder zu mir, als fürchtete er, ich würde die Flucht ergreifen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit reagierte das Signal von Crows Duel Disk auf die unseren.

„Jetzt geht’s los!“, hörte ich Kyousuke nur sagen und schon war er vorgeprescht.

Ich rannte ihm nach, hatte aber Mühe, mit ihm mitzuhalten.

„Kyousuke-kun!“

Unser Ziel war ein altes, leerstehendes Parkhaus.

Die Treppen waren nur mangelhaft begehbar, weshalb wir die Auffahrten hoch rannten. Die oberen Stockwerke waren eingestürzt.
 

Oben, im letzten Stockwerk, das wir so noch erreichen konnten, blieb Kyousuke stehen.

Er ging langsam ins Innere und ich folgte ihm.

Drinnen war keine Spur von den Anderen. Weder von Yuusei und Jack, noch von Crow.

Das einzige, was wir vorfanden, war Crows zerstörte Duel Disk. Ich ging davon aus, dass es seine war.

Kyousuke blieb vor ihr stehen und hob sie auf.

„Was... was ist hier passiert?“, hörte ich ihn nuscheln. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber ich konnte ihn mit den Zähnen knirschen hören.

Ich fragte mich selber, wo die Anderen waren. Ob Crow etwas passiert war?

Ehe ich etwas sagen konnte, war Kyousuke auch schon losgelaufen.

Das Parkdeck war riesig und dunkel.

So wie Kyousuke heute drauf war, so unvorsichtig, das war doch sonst nicht seine Art!

Er lief zwischen einigen kaputten Autos hindurch, die noch hier und da standen.

„KYOUSUKE-KUN!“

Das flaue Gefühl in meinem Magen, nahm neue Dimensionen an, als ich merkte, dass ich ihn aus den Augen verloren hatte.

Gehetzt rannte ich durch die Parkflure. Bis mich eine Stimme innehalten ließ. „Ryoko-chan?“

„Crow!?“

Crow kam aus einer Ecke heraus. Er hatte einige blaue Flecken und Schrammen vorzuweisen, schien aber sonst unverletzt.

„Wo ist Kiryuu?“, fragte er mich aufgewühlt.

„I-ich weiß es nicht! Er muss hier irgendwo sein! Was ist hier los, Crow?“

Crow schluckte. „Sie... Sie haben mir meine Duel Disk abgenommen, nachdem ich freiwillig verloren hatte, um euch herzulocken. Dann wurde ich verfolgt und musste mich verstecken. Die kämpfen mit ganz unfairen Mitteln!“

Nun musste auch ich schlucken. „Wir.. Wir haben deine Duel Disk gefunden.. sie lag ziemlich am Eingang.. Kiryuu-kun hat sie aufgehoben und ist einfach los und ich.. ich hab ihn aus den Augen verloren!

Crow stampfte auf. „Das ist 'ne Falle! Hundert-pro! Wir sollten ihn suchen!“

„W-Was ist mit Yuusei und Jack?“

„Keine Ahnung! Die sollten auch irgendwo hier sein, aber scheinbar werden sie aufgehalten.“

„Dreck!“ Fluchend rannte ich wieder los. Ich musste Kyousuke unbedingt finden!

Ich suchte das ganze Parkdeck ab, aber nirgends eine Spur... bis mir etwas auffiel, als ich nach oben sah.

Über mir klaffte in der Decke ein riesiges Loch, wo man hoch kam, in das eingestürzte Stockwerk.

Vielleicht war Kyousuke ja dort. Ich brauchte auch nicht lange zu überlegen, wie er da hochgekommen war. Direkt vor mir stand ein alter Minibus.

Mit etwas Anlauf sprang ich auf die Motorhaube von diesem und kletterte auf das Dach. Crow, rief mir etwas nach, aber ich überhörte ihn.

Vom Dach aus sprang ich nach oben, hielt mich am Rand fest und versuchte mich hochzuziehen.

Für Kyousuke war das alles sicherlich wesentlich einfacher gewesen. Mit seinen über eins-achtzig Metern. Ich dagegen mit meinen zierlichen eins-zweiundfünfzig hatte ziemlich zu kämpfen.

Keuchend hatte ich es schließlich aber dennoch geschafft, mich hochzuziehen.
 

Das eingestürzte Parkdeck war staubig, marode und jeder Schritt, den ich vorsichtig tat, hallte noch lauter wider. Schutt und Kies knarzte unter den Sohlen meiner Stiefel. Einzeln fielen schwache Sonnenstrahlen durch die kaputte Decke. Viel war von diesem Teil des Parkhauses nicht mehr begehbar.

Ich zuckte zusammen, als ich Stimmen vernahm und versteckte mich hinter einer der Säulen.

Vorsichtig lugte ich um die Ecke. Da standen sie. Fünf Kerle. Alle in Etwa in Kyousukes Alter. Aber sehr viel muskulöser als er.

Kyousuke war auch da, aber zu meinem Entsetzen in alles andere, als einer guten Verfassung.

Zwei der Kerle hielten ihn fest, während ein anderer ihm gerade in den Magen trat.

Ein weiterer hatte sich Kyousukes Deck aus seiner Duel Disk genommen und sah sich dieses seelenruhig durch. Crows Duel Disk lag auch bei ihnen.

„Mhh sind ja schon ein paar nette Karten dabei...“

„Scheint, als würden deine Freunde nicht kommen, um dir zu helfen. Team Satisfaction ist wohl doch nicht so toll, wie man munkelt.“

Ich fühlte, wie die blanke Wut in mir hochstieg.

Diese verdammten...

Ich zog das Butterfly-Messer, dass ich dem Mädchen von Team Zombie abgeluchst hatte, aus meinem Stiefel und trat aus dem Schatten der Säule hervor.

„Sagt wer!?“, fauchte ich.

Die fünf Typen zuckten zusammen und auch Kyousuke hob angeschlagen, aber verblüfft seinen Kopf. „R-Ryoko....!?“

Einer der Typen fing bei meinem Anblick lauthals zu lachen an.

„Ich werd' nicht mehr! Ein kleines putziges Mädchen!“ Er drehte sich zu Kyousuke um und trat gegen sein Schienbein, was meine Wut nur noch mehr entfachte. „Mehr hat dein Team nicht zu bieten? Ein kleines, schwaches Mädchen?! Mir scheint, als wären die ganzen Geschichten über das unschlagbare Team Satisfaction nichts weiter als Grütze!“ Der Typ spuckte neben Kyousuke auf den Boden.

Kyousuke jedoch antwortete ihm nicht sondern sah zu mir. „Ryoko, lauf! Das war eine Falle! Ich... Ich komm allein zu recht, versuch, Jack und Yuusei zu kontaktieren!“

Ich schüttelte jedoch nur den Kopf. „Jack und Yuusei kommen sicher nicht so schnell. Und ich hab keinen Bock zu wegzulaufen!“, rief ich zurück und stürmte dann einfach auf die Typen zu.

„Was willst du denn schon-“, begann einer der Typen.

Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass ich angreifen würde.

Ich stürzte mich auf einen der Beiden, die Kyousuke festgehalten hatten und rammte ihm einfach das Butterfly-Messer in den Arm.

Blut spritzte und ein lauter Aufschrei war zu hören.

„Sie... Das kleine Biest ist bewaffnet!“

„Kyousuke-kun, lauf!“

Kyousuke konnte sich losreißen, starrte mich für ein paar Sekunden an und schlug dem Anderen, der ihn festgehalten hatte mit voller Wucht in den Magen, dass dieser in die Knie ging. „Beleidige nie wieder meine Freunde!“

Ich zog mein Messer wieder aus dem Arm meines Gegners, wich flink einem seiner Schläge aus und griff dann den Kerl an, der sich Kyousukes Deck geklaut hatte.

Mein Messer landete in seiner Kniekehle und er fiel auf den Hintern.

Kyousukes Karten flogen durch die Luft.

Von Weitem hörte ich die Stimme von Crow und nicht nur seine, auch die von Yuusei und Jack, die zu uns kamen.

Ich weiß gar nicht mehr, wie wir es damals geschafft hatten, unsere Gegner so fertig zu machen.

Alles woran ich mich noch erinnere ist, dass sie schließlich alle auf einem Haufen in der Ecke lagen. Übersät mit blauen Flecken, Schnittwunden, der einen oder anderen gebrochenen Nase und Schrammen. Der Anführer hatte sich eine schöne Bisswunde am Arm von mir eingefangen, nachdem er versucht hatte, mich zu schnappen. Crow hatte Kyousukes Karten aufgesammelt und ihm diese zurückgegeben. Genauso wie seine Duel Disk.
 

Kyousuke wankte etwas und musste von Yuusei gestützt werden und auch ich schnaufte.

„Was war DAS bitte für eine saudämliche Aktion, Kiryuu!?“, fauchte Jack schließlich wütend. „Du bist doch sonst nie so unvorsichtig!“

Kyousuke rieb sich das Blut vom Gesicht, was an seinem Mundwinkel hing. „Ich... es.. Es tut mir Leid, Leute...“, nuschelte er kleinlaut. „Ich weiß... Ich weiß selber nicht, was heute los ist...“

„Wenn was ist, kannst du doch mit uns reden, Mensch. Ich dachte, wir sind ein Team!“, beklagte sich nun auch Crow.

Kyousukes Blick war nur schwer zu deuten, als er uns alle ansah. Er wirkte wie ein getretener Hund. In seinen Augen konnte ich zumindest erkennen, wie fertig er war.

„Tut mir echt Leid, Leute. Ich... Dürfte ich kurz, allein sein?“

Yuusei ließ ihn los. „Kiryuu...“

Kyousuke trottete los in Richtung des Ausgangs zur Auffahrt auf dieses Dach, welche mit Schutt und Geröll übersät war, wie ich von Außen bereits gesehen hatte.

In diesem Moment fasste ich einen weiteren Entschluss. Ich würde endlich mutig sein und ihn fragen!

So lief ich ihm einfach nach einer Weile nach.
 

Kyousuke hatte sich auf einem der Bruchstücke, der runter gekrachten Mauer nieder gelassen, als ich ihn erreicht hatte. Das Gesicht in den Händen gestürzt, stierte er vor sich hin.

Zaghaft setzt ich mich neben ihn.

„Wenn du es schon nicht den Anderen sagst, dann rede wenigstens mit mir... Ich hab schon heute Morgen gemerkt, dass etwas nicht okay ist.“

Kyousuke sah auf und blickte flüchtig zu mir. „R-Ryoko-chan....“

„Ich... Ich hab gehört, wie du etwas von „Schon zehn Jahre“ oder so, vor dich hingemurmelt hast...“

„Das hast du...?“ Er schüttelte den Kopf. „Nicht so wichtig.“

„Nicht so wichtig?! Weißt du, das kotzt mich echt an! Du weißt mittlerweile voll viel über mich! Aber ich weiß kaum etwas über dich! Findest du das nicht unfair!?“, fauchte ich.

Ich wusste kaum was hier passierte, was ich hier tat. Plötzlich hatte ich ihn umarmt und mir liefen wieder die Tränen hinab.

„Du Idiot! Denkst du etwa, es geht dir besser, wenn du nie über deine Probleme redest!? Du bist immer noch wie ein Fremder für mich und ich will nicht, dass du mir fremd bist, weil ich.. w-weil ich mein ganzes Vertrauen in dich gesteckt habe! Ich vertraue dir, also ist es doch wohl nicht zu viel verlangt, wenn du auch....“

Ich fühlte, wie meine Tränen in sein T-Shirt sickerten, fühlte wie ich zitterte.

Kyousuke rührte sich kaum und als ich meinen Kopf hob, bemerkte ich, wie völlig baff und erstaunt er mich ansah. War es denn so seltsam für ihn, dass es einen Menschen gab, der sich wirklich für IHN interessierte?

„R-Ryoko-chan...“

Sprachlos drückte er mich an sich und ich fühlte, wie mein Herzschlag sich beschleunigte. „Ich... Es tut mir Leid...“, murmelte er wieder und seufzte leise. „Vor zehn Jahren... ist mir etwas ziemlich Schlimmes passiert...“, begann er plötzlich. Er holte tief Luft. Scheinbar fiel es ihm schwer, darüber zu sprechen.

Ich zuckte auf. Immerhin hatte ich geglaubt, wieder nichts zu erfahren.

Erstaunt und mit geröteten Augen sah ich ihn an.

„Am Besten, ich erzähl dir soweit die Sachen, die ich noch weiß. Du... Du bist echt die Erste, die Etwas über mich wissen will...“

„Ich...“ Ich nickte nur. Irgendwie war ich nun doch perplex.

Kyousuke stand langsam auf, ließ mich los und blickte in die Ferne. „Meine Eltern starben durch den Zero Reverse. Da war ich... Keine Ahnung, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wie ich diese Naturkatastrophe überlebt habe...“

Schweigend hörte ich ihm zu. Er war also echt eine Waise...

Und genauso wie ich zum damaligen Zeitpunkt, hatte er noch geglaubt, dass der Zero Reverse eine Naturkatastrophe gewesen war. So wie es uns Menschen von Satellite eben damals erzählt worden war.
 

„Ich glaub, ich bin einige Wochen alleine herumgeirrt. Hab geklaut, so wie du. Vor allem Essen. Bis mich ein Mann gefunden hat und bei sich aufgenommen hat. Er war wie ein Vater für mich. Und auch so etwas, wie mein Mentor. Er hat mir Lesen und Schreiben und auch Duel Monsters beigebracht. Hat mir gezeigt, wie ich auf der Straße überlebe. Er hat sich... Immer gewünscht, dass Satellite eines Tages ein Ort wird, wo man sich sicher und wohl fühlt. Wenn man hier aus diesem Drecksloch schon nicht rauskommt, dann sollte man sich hier wenigstens wohl fühlen können. Ein bisschen zumindest....“

„Dein Mentor? Er...“ Zaghaft stand ich ebenfalls auf und legte eine Hand auf seine Schulter.

Kyousuke drehte seinen Kopf zu mir und nickte. Dann sah er jedoch wieder Richtung dunkler Horizont. Der Regen hatte aufgehört und mittlerweile glitzerten wieder Sterne am Firmament.

„Er starb vor zehn Jahren. Heute vor zehn Jahren, um genau zu sein. Ich war unterwegs gewesen und als ich wieder kam, in unser Versteck, da lag er am Boden. Im sterben. Eine ziemlich brutale Duel Gang war aufgekreuzt und.. Und hatte unser Versteck überfallen...“

Ich schluckte schwer. Langsam verstand ich immer mehr den Grund, warum Kyousuke so verbissen gegen die anderen Duel Gangs kämpfte. Warum er heute so seltsam drauf war.

Er hatte einen wichtigen Menschen verloren. Genauso wie ich auch.

Mitfühlend umarmte ich ihn einfach. Auch wenn mein Herz beinahe zerbarst, so schnell wie es schlug. Aber ich konnte nicht anders.

„Ich war damals erst zehn oder elf. Zu jung, um etwas tun zu können. Aber ich hab mir geschworen, den Wunsch meines Mentors zu erfüllen. Eines Tages, wenn ich älter bin und erfahrener. Als ich Yuusei und die anderen vor etwa einem halben Jahr oder so kennenlernte, wusste ich gleich, dass sie die Richtigen sein würden. Dass sie diejenigen sein würden, die mir helfen können und ich war so froh, dass sie sich auf Team Satisfaction eingelassen haben. Dass ich auch ihnen irgendwo helfen konnte, so wie sie mir helfen. Und ich war froh, als ich dich getroffen hab... Irgendwo... Weißt du... Irgendwo hast du mich an mich selber erinnert. Vielleicht war das im allerersten Moment der Grund, warum ich dich dabei haben wollte. Weil du auch ein Streuner warst, wie ich...“

Meinen Kopf zögerlich an seine Schulter gelehnt, lauschte ich meinem eigenen Herzschlag.

Ich erinnerte ihn also an ihn selbst...

Thirteenth Satisfaction: Narben

Wir lebten in einer Welt, in der „Freiheit“ nur den Menschen zustand, die drüben lebten.

Drüben, in der großen Stadt.

Sie hatten Alles.

Alles, bis auf eine Sache: Träume.

Ganz anders, als wir Menschen, die in Satellite lebten.

Wir träumten von der Freiheit, die die Menschen drüben besaßen.

Doch während manche ihre Träume bereits lange aufgegeben hatten, gab es auch immer noch die Menschen, die für ihre Träume kämpften.

Die Menschen, die ihr selbstauferlegtes Ziel erreichen wollten.

Sie kämpften tagtäglich um ihr Leben, für den Frieden und für die Freiheit, die doch so unerreichbar schien.

Einer der Menschen, der besonders hartnäckig und voller Mut dafür kämpfte, war Kiryuu Kyousuke.

Der Anführer von Team Satisfaction.

Unser Leader.

Mein Lebensretter.

Der Mann, der mir eine Zukunft und einen Grund zu leben gegeben hatte.

Der Mann, dem ich mein Herz geschenkt hatte.

Mit zehn Jahren war ich von Zuhause weggelaufen.

Weg von meinem Vater, meinem Erzeuger, wie ich ihn nannte.

Raus aus der Hölle, die ich mein „Zuhause“ genannt hatte.

Ich war eine Streunerin.

Fast fünf Jahre lang lebte ich vom Stehlen und anderweitig kriminellen Aktionen.

Bis zu dem Tag, an dem ich Kiryuu Kyousuke getroffen hatte und ein Mitglied von Team Satisfaction geworden war.

Seitdem... Hatte sich mein Leben verändert.

Mein Name ist Ishida Ryoko.

Und heute war der zehnte November.

Der Tag, an dem ich fünfzehn Jahre alt wurde.

Mein Geburtstag.
 

„Ryoko! Ryoko! Hey, Ryoko-chan! Ist alles okay!?“

Die laute Stimme drang an mein Ohr und völlig aus Reflex schoss meine Faust nach oben.

„AUA!“

Erschrocken schlug ich meine Augen auf und saß plötzlich kerzengerade im Bett.

Kyousuke saß neben mir und rieb sich die Nase. „W-Wolltest du mir die Nase brechen?“, fragte er mich halb genuschelt.

„I-Ich … T-Tut mir Leid.“, antwortete ich stammelnd. „Warum weckst du mich auch so, du Depp!?“

„Ich... Ich hab mir Sorgen um dich gemacht. Du hast dich die ganze Zeit im Schlaf hin und her gewälzt und dabei irgendwas vor dich hin gebrabbelt.“

„Ich hab...“

Kyousuke sah wirklich beunruhigt aus. Er musterte mich mit besorgtem Blick. „Hattest du einen Alptraum?“

Jetzt, wo meine Lebensgeister langsam erwachten, fühlte ich, dass meine Augen brannten. So, als hätte ich im Schlaf sogar geweint. Meine Stirn fühlte sich kalt und verschwitzt an und erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich recht hektisch atmete. Ich griff panisch an meinen Schal, den ich nicht einmal zum Schlafen auszog. Er hatte sich verrutscht angefühlt, aber saß noch an der Stelle, wo er sitzen sollte.

Kyousuke hatte Recht. Ich hatte schlecht geträumt.

Wieder von ihm.

Meinem Erzeuger.

Und dieses Mal war es die schlimmste Erinnerung, die ich an diesen Mann besaß.

Die Szene, die sich in mein Gedächtnis gebrannt hatte, als wäre es erst gestern gewesen.

Widerwärtiger Atem, der nach Schnaps stank. Ich fühlte ihn direkt auf meiner Haut.

Seine Stimme in meinem Ohr. Sein Körper direkt über mir als ich zu mir kam.

Mein Hals schmerzte. Blutete.

Ich musste mich wehren. Ich wollte nicht noch einmal das Bewusstsein verlieren.

Da war sie. Die Schnapsflasche. Ich musste an sie herankommen und... und...
 

Ich fühlte eine Hand an meiner Schulter. Hörte eine Stimme und einen Aufschrei.

„FASS MICH NICHT AN!“

Dann zuckte ich auf.

Ich saß mit dem Hintern auf dem Boden, während meine Beine noch auf dem Bett lagen.

Meine rechte Hand war noch erhoben und zitterte wie Espenlaub.

Kyousuke saß wie in Schockstarre auf dem Bett und rieb sich die rechte Wange.

„R-Ryoko-chan? Ich... Warum soll ich dich nicht anfassen? Du... Ich wollte nur...“

Erst jetzt realisierte ich, was da gerade passiert war.

Ich hatte mich so sehr in die Erinnerungen hineingesteigert, dass ich Kyousuke eine gescheuert haben musste, obwohl er mich sicher nur hatte umarmen wollen.

Ich war noch keine zehn Minuten wach und hatte ihm schon zum zweiten Mal für heute unbewusst wehgetan.

Beschämt ließ ich mir von ihm zurück auf das Bett helfen.

„Ist alles okay bei dir? Du hast eben gezittert, als hättest du einen Anfall... “

Ich konnte Kyousuke kaum in die Augen sehen.

„Es tut mir Leid. Ich... Ich war irgendwie... weggetreten oder so..“ antwortete ich verlegen.

Der Anblick der Bettdecke erschien mir gerade angenehmer.

„Ist mir aufgefallen.“, hörte ich Kyousuke sagen. Ein Seufzen entfuhr ihm. „Darf ich dich nun umarmen und dir zum Geburtstag gratulieren oder schlägst du mich dann wieder?“, fragte er und versuchte dabei scherzhaft zu klingen, was mich zumindest wieder ein wenig zum Lächeln brachte.

Noch immer beschämt und vermutlich knallrot im Gesicht, nickte ich.

Kyousuke legte seine Arme kumpelhaft um mich und pattete mir den Rücken.

„Alles Gute zum Geburtstag, Ryoko-chan.“

Verlegen und mit gefühlten fünftausend Herzschlägen pro Sekunde umarmte ich auch ihn.

Jedoch nur kurz. „Danke.“

Kyousuke ließ mich wieder los und grinste. „Jetzt ist mein großes Mädchen schon ganze fünfzehn Jahre alt. Wie doch die Zeit vergeht!“, sagte er beinahe theatralisch.

„Eh? Sehr witzig, du Depp!“, schmollte ich kurz, aber musste dennoch lachen.

Manchmal konnte Kyousuke schon ein wenig bekloppt sein. So hin und wieder zumindest. Oder was heißt bekloppt? Ich glaube, es waren einfach Versuche, mich zum Lachen zu bringen, da ich ja eher dafür bekannt war, eine Fresse zu ziehen und böse drein zu schauen.

Nur dass ich es hasste, wie ein Kind behandelt zu werden. Meisten eigentlich. Dennoch konnte ich Kyousuke mittlerweile kaum noch böse sein. Eben weil ich wusste, dass es in neunzig Prozent der Fälle einfach Scherzhaft gemeint war.

„Schade, dass du so früh schon eingeschlafen bist, wo wir doch auch reinfeiern wollten.“, hörte ich ihn sagen.

„Ich war hundemüde! Weißt du, du hast uns die letzten Tage durch sämtliche Bezirke hier in der Nähe gehetzt. Da brauchst du dich nicht zu wundern, dass ich schon abends um neun total groggy bin und weg penne.“

Nun war es an Kyousuke, verlegen zu wirken. „Ja. Tut mir Leid. Ich... Ich wollte mit unserem Plan vorankommen...“

Vorsichtig stand ich auf. „Langsam glaube ich, du bist ein Workaholic.“

„Ich brauch eben einfach diese Befriedigung!“

Ich warf Kyousuke einen Blick zu und grinste schief. „Wenn du Befriedigung brauchst, dann such dir 'ne Gummipuppe. Im Müll findest du bestimmt eine.“

Mit diesen Worten lief ich aus dem Zimmer und ließ einen mit Sicherheit verdutzten Kiryuu Kyousuke zurück.
 

Ich tappelte ins Bad und warf einen schnellen Blick in den Spiegel. Dabei wurde mir bewusst, dass ich heute dringend duschen sollte. Die letzten zwei Tage war ich nicht dazu gekommen. Eben aufgrund von Oberst Kiryuus Hetzerei.

Ich fühlte mich wie ein Müllsack. Dennoch entschied ich mich, erst gegen Abend zu duschen. Abends hatte ich eher meine Ruhe, als morgens.

Also erledigte ich einfach nur meine morgendliche Katzenwäsche von vielleicht zehn Minuten und trat wieder aus dem Bad heraus.

Vor mich hin lächelnd musste ich an Kyousukes Geburtstag denken. An das Durchfeiern und an unsern Kampf gegen die Duel Gang. Daran, wie Kyousuke mir von seiner Vergangenheit erzählt hatte und an den darauffolgenden Tag, wo wir endlich dazu gekommen waren, den Kuchen zu essen.

Ich fühlte, wie mir wieder die Röte ins Gesicht stieg, wenn ich daran dachte, wie Kyousuke zu mir gesagt hatte, dass es der beste Kuchen war, den er je gegessen hätte.

Auf dem Weg zum Frühstückstisch begegnete ich Jack.

Er musterte mich kurz.

„Was ist?“, fragte ich mit hochgezogener Augenbraue.

„Ich überlege nur.“, hörte ich ihn murmeln. „Hast du heute nicht Geburtstag?“

„Nee, der ist am 31. Februar, weißt du.“, gab ich sarkastisch zurück. Gestern noch, hatte Kyousuke noch einmal alle daran erinnern müssen, dass heute mein Geburtstag war. Nicht, dass es nötig gewesen wäre. Aber Jack hatte scheinbar manchmal ein Hirn wie ein Sieb. Oder er konnte sich einfach keine Geburtstage merken.

„Ach so? Erst am 31. Februar?“

Am liebsten hätte ich meinen Kopf durch die Wand neben mir geschlagen. Aber stattdessen beließ ich es bei einem mega fetten Facepalm.

So unglaublich auf der Leitung stehen, das brachte auch nur Jack fertig. Manchmal fragte ich mich ernsthaft, was der Mann eigentlich im Kopf hatte.

„Eh, warte Mal. Es gibt doch gar keinen 31. Februar!“, rief er plötzlich, als wäre ihm die Erleuchtung gekommen.

Frech streckte ich ihm die Zunge raus. „Blitzmerker.“

Ich lief weiter und konnte Jack hinter mir beleidigt grummeln hören. „Verarsch' mich nicht, blöde Zicke!“
 

Der Frühstückstisch war so voll wie immer, als ich eintrat. Martha huschte noch zwischen diesem und der Küche hin und her. Sie sah zu mir, als ich herein kam. „Guten Morgen, Ryoko-chan.“, rief sie fröhlich. „Du hast doch heute Geburtstag, nicht wahr? Alles Gute!“ Sie nahm sich die Zeit, mich zu umarmen. „Ich hab für heute ein paar Muffins gebacken und Melonenbrötchen besorgt. Mir wurde zugeflüstert, dass du die scheinbar gerne isst.“

Dabei zwinkerte sie mir zu.

Ich schluckte und fühlte, wie ich wieder rot wurde. Hatte Kyousuke etwa bei Martha geplaudert?

Am Ende hatte er sich auch genauso einen Kopf gemacht, wie ich an seinem Geburtstag.

Zögerlich setzte ich mich an den Tisch, wo die Kinder alle gleich lautstark auf mich einredeten und mir zum Teil auch gratulierten.

Es war wirklich süß, wie sie an mir klebten. Ich hatte, bevor ich zu Martha gekommen war, gar nicht gewusst, dass ich scheinbar genauso beliebt bei Kindern war, wie Crow.

Eigentlich hatte ich eher immer geglaubt, ein Kinderschreck zu sein.

Wenn ich mir die Kleinen so ansah, stellte ich mir für einen Moment sogar vor, dass es bestimmt schön wäre, eines Tages selber Kinder zu haben.

Vor meinem geistigen Auge sah ich mich schon mit einem kleinen Mädchen und einem kleinen Jungen. Das Mädchen in meinem Arm und der kleine Junge auf den Schultern von Kyousuke..

Ich klatschte meine Hand gegen meine Stirn.

Halt! Stop! Aus! Das wird nie passieren!

„Onee-chan? Warum bist du so rot im Gesicht?“, hörte ich die Stimme von Mariko, einem der etwas älteren Kinder die hier lebten. Ein junges Mädchen von zehn Jahren, mit kastanienbraunen Haaren.

„Eh.. I-Ich... A-Ach nichts!“, log ich schnell, schnappte mir die Kanne mit Kakao und hielt diese Mariko vor die Nase. „Willst du?“

Das war so peinlich gerade. Ich sollte wirklich aufhören, mich in irgendwelche Fantastereien hineinzusteigern. Derartige Träume würden eh nie real werden!

Nach einer Weile betrat auch Jack das Zimmer.

Er wirkte immer noch ein wenig eingeschnappt, aber gratulierte mir dennoch zum Geburtstag. Dabei fiel mir wieder auf, dass seine Wangen einen leicht rötlichen Ton annahmen. Das jedoch, ignorierte ich schnell.

Auch Crow ließ nicht lange auf sich warten. Er und Yuusei, den er im Schlepptau hatte, sahen beide aus, als hätten sie zusammen an irgendwas geschraubt.

Ich konnte hier und da zumindest Ölflecken oder was auch immer, auf ihren Klamotten erkennen.

Ein Anblick, der Martha den Kopf schütteln ließ. „Vielleicht solltet ihr zwei euch erst einmal frische Sachen anziehen, bevor ihr euch an den Tisch setzt!“

Die Zwei entschuldigten sich verlegen und gingen sich wirklich schnell umziehen.

Nach einer Weile kamen sie zurück.

In der Zwischenzeit war auch Kyousuke hereingekommen. Mir war es immer noch peinlich, ihn anzusehen.

Er setzte sich neben mich, warf einen Blick über den Tisch, als überlegte er, was er essen könnte. Viel Auswahl gab es logischerweise nicht.

Insgeheim fragte ich mich ja, ob er wegen meinem Satz von vorhin jetzt sauer auf mich war. Immerhin war es ja nur ein Scherz gewesen.
 

„Hier, du kleiner Teufel, reichst du mir eben mal den Kakao?“, hörte ich ihn schließlich fragen. Er grinste. Scheinbar war er mir nicht böse und darüber war ich auch froh. Er hatte verstanden, dass es nur Spaß gewesen war.

Nickend drückte ich ihm die Kanne in die Hand und schnappte mir ein Schälchen mit Reis. Eine seltsame Kombination so früh am Morgen, aber ich hatte noch nie Probleme damit gehabt, völlig durcheinander zu essen.

Nachdem das Frühstück beendet war, wurde ich von Crow und Yuusei aufgehalten, die mir ebenso zum Geburtstag gratulieren.

Der Alptraum in der Nacht und das peinliche Erwachen erschienen mir ewig zurückzuliegen. Aktuell freute ich mich einfach nur wahnsinnig und war unglaublich glücklich darüber, hier bei Martha zu sein und mit den Jungs meinen Geburtstag genießen zu können.

„Ach ja, hast du es schon mitbekommen, Ryoko?“, fragte mich Crow nach einer Weile.

„Nein. Was denn?“

„Na ja. Das Mädel, was du zusammengeschlagen hast, ist heute Nacht scheinbar abgehauen.“

Ich zuckte mit den Schultern. Irgendwie war das ja zu erwarten gewesen. „Und? Soll sie doch. Wenn sie nochmal ankommt, polier' ich ihr wieder die Fresse. Falls sie nichts dazu gelernt hat.“

Crow grinste und klopfte mir lachend auf den Rücken. „Du bist voll die krasse Schlägerbraut.“

„Und du bist voll der Vogel.“

Irgendwie nahm Crow das auch noch als Kompliment.

Kyousuke zumindest lachte. „Ryoko-chan ist keine Schlägerbraut. Sie ist unser kleiner Teufel.“

Ich warf ihm einen Blick zu und wollte gerade etwas sagen, als Martha zu uns kam. „Ryoko-chan? Du und Kiryuu-kun, könntet ihr mir einen Gefallen tun?“

Kyousuke und ich sahen uns an und sahen dann wieder zu Martha.

„Uhm. Denk schon.“

„Würdet ihr für mich ein paar Sachen in dem kleinen Supermarkt hier in der Nähe besorgen?“

Kyousuke und ich nickten. Martha wirkte erleichtert und drückte uns eine recht kurze Einkaufsliste in die Hand und ein ganz klein wenig Kleingeld.
 

Der Supermarkt zu dem wir mussten, war nicht weit. Im Grunde war es nicht einmal ein richtiger Supermarkt. Es war ein schäbiger kleiner Laden, der vor allem Konserven verkaufte. Die hielten sich einfach am längsten. Obst fand man hier überhaupt nicht und Gemüse gab es auch nur in Dosen. Ansonsten fand man in den wenigen Regalen noch anderweitige Trockenware vor und Sachen auf Pulverbasis. Ein Regal war bis oben hin voll mit Cup-Ramen.

„Das sollten wir abmontieren und Jack bringen. Der wäre glücklich bis ans Ende seiner Tage, meinst du nicht?“, murmelte Kyousuke leise, als wir an diesem vorbeigingen.

Ich nickte lachend. „Oh ja. Aber denkst du, ein Regal würde bei ihm reichen?“

„Nein, stimmt. Das müssten schon Tausende von Regalen voller Cup-Ramen sein.“

„Eben.“

Als wir alles hatten, was Martha brauchte, gingen wir zur Kasse. An der Kasse saß eine ältere Frau, die mir irgendwie bekannt vorkam. So richtig zuordnen konnte ich sie jedoch nicht.

Wir bezahlten eilig und wollten schnell wieder aus dem Laden raus.

Doch..

„Du, junges Fräulein?“

Ich hielt inne und sah zu der alten Dame. „Ich hab nichts geklaut!“, rief ich gleich aus Reflex.

Die Dame schüttelte jedoch ihren Kopf. „Das meinte ich nicht. Aber... Du kommst mir bekannt vor. Wie heißt du, wenn ich fragen darf.“

Kyousuke sah irritiert zwischen mir und der Kassiererin hin und her.

Etwas baff sah ich auch ihn an und dann wieder die Frau. „Ishida. Ishida Ryoko, wieso?“

Die Frau schlug unerwartet eine Hand vor ihren Mund. „Ryoko-chan! Ich hab es doch gewusst. Die kleine Ryoko. Mensch, was bist du groß geworden, Kind!“

Die Fragezeichen über meinem und vor allem über Kyousukes Kopf wurden immer größer.

„Kennst du die Lady?“, fragte er mich verblüfft.

Ich zuckte mit den Schultern. „K-Keine Ahnung. Irgendwie kam sie mir schon bekannt vor, aber… “

Die Kassiererin stand von ihrem Platz auf, trat hinter der kleinen Theke hervor und lief auf mich zu. „Du erinnerst dich sicher nicht mehr. Immerhin warst du erst neun oder zehn, als wir uns zuletzt gesehen haben. Ich hab in der Nachbarschaft gewohnt, bin aber vor ein paar Jahren hier her in die Gegend gezogen, da eine von diesen furchtbaren Jugendgangs das Viertel unsicher gemacht hat und die Zahl an Überfällen rapide angestiegen ist.“

Mir klappte der Mund auf. Diese Frau war eine alte Nachbarin meiner Eltern? Ich sollte ihr wohl besser nicht sagen, dass ich nun auch in so einer „furchtbaren Jugendgang“ Mitglied war. Obwohl mein Team ja ganz und gar nicht wie diese Vollspackos war, die sich sonst hier so tummelten.

Kyousuke wirkte auch eher unsicher. Vermutlich dachte er gerade das Gleiche wie ich.

Sie sah mich lange an. „Du bist damals einfach spurlos verschwunden. Ich habe deinen Vater gesehen, wie er Tage und wochenlang noch nach dir gesucht hat. Er dachte, dir wäre etwas Schlimmes zugestoßen.“
 

Eigentlich hatte ich glaubt, der Tag würde sich noch zum Guten wenden. Bis auf heute früh war es so lustig gewesen, doch nun fühlte ich, wie mir die Galle hochkam und mein ganzer Körper sich verkrampfte.

Auch Kyousuke schien es zu bemerken. Ich fühlte, wie er meine Hand nahm.

„Bist du ihr Freund, junger Mann?“, hörte ich die Frau fragen.

Ich sah zu Kyousuke, der wirkte, als wäre er leicht rot geworden.

„Ich... Ehm... N-Nein! Ich bin nur-“

„Sein Name ist Kiryuu Kyousuke und er ist der Anführer von Team Satisfaction! Dem Team, dass aus Satellite eines Tages einen sicheren Ort machen wird, wenn wir alle anderen Duel Gangs besiegt haben!“

Es platzte einfach aus mir heraus.

Kyousuke klappte der Mund auf. „R-Ryoko!“

Auch der Frau stand nun der Mund offen. „Du bist. Du bist auch in so einer...“

„Wir sind nicht so, wie diese kriminellen Idioten!“, fauchte ich. „Wenn Sie uns nun entschuldigen würden!“ Ich zog Kyousuke an der Hand einfach hinter mir her. Obwohl mein Herz abartig gegen meine Brust klopfte. „Und falls mein Vater immer noch nach mir sucht, sagen Sie ihm, dass er mich nie wieder zu Gesicht bekommen wird!“

Krampfhaft versuchte ich, nicht zu sehr auszurasten.

Hinter uns war es für einen Moment still geworden. Doch dann...

„Dein Vater ist tot, Ryoko... Kurz bevor ich umgezogen bin, hat man seine Leiche gefunden. Hat sich zu Tode getrunken, scheinbar...“

Ein paar Sekunden blieb ich stehen. Mein Alter war also tot? Ohne mich umzudrehen, ging ich einfach weiter und ließ Kyousukes Hand los. Vor dem Laden blieb ich wieder stehen.

Ich fühlte Kyousukes Hand auf meiner Schulter. „Das.. Das tut mir Leid, dass dein Vater...“, begann er unsicher, stoppte aber, als er mich leise lachen hörte.

„Ryoko?“

Ich konnte nichts dagegen tun. Ich musste einfach lachen. So laut wie schon lange nicht mehr. Es war mir egal, dass mich die Menschen ansahen, während sie an mir vorbeiliefen. Es war mir egal, dass Kyousuke mich gerade anstarrte, als wäre ich verrückt geworden. Vielleicht war ich das auch.

Mein Erzeuger war tot. Und es machte mir nichts aus. Im Gegenteil. Ich fühlte mich glücklich. Er hatte bekommen, was er verdient hatte. Für all das, was er mir angetan hatte!

Ich lachte so sehr, dass ich im ersten Moment nicht einmal realisierte, dass mir dennoch Tränen meine Wangen hinabliefen.

Ob es Tränen der Freude waren, konnte ich nicht sagen. Jedes andere Kind, das erfuhr, das es plötzlich eine Vollwaise war, wäre sicher nie so froh gewesen, wie ich.

Als ich aufsah, bemerkte ich, wie Kyousuke mir ein wenig verstört ein altes Taschentuch vor die Nase hielt. Er sah aus, als wollte er etwas sagen, aber nicht die richtigen Worte dafür finden.

Ich nahm es zaghaft und schniefte hinein. „D-Danke...“, antwortete ich nach einer Weile und wollte es ihm wieder geben.

„Behalt es ruhig.“, sagte Kyousuke langsam. In seinen Augen konnte ich etwas erkennen. War es Mitleid? Angst? Ich wusste es nicht.

Ich wollte einfach nur noch zurück, zu Marthas Haus und dann ab unter die Dusche.
 

Ich machte die Tür hinter mir zu, während das Wasser in dem alten Boiler langsam warm wurde. Seit ich hier bei Martha lebte, war ich sehr in den Genuss von warmen Wasser gekommen. Davor hatte ich mich jahrelang ja wenn überhaupt, nur kalt duschen können. Mit gesammeltem Regenwasser aus Regentonnen oder dergleichen.

Vorsichtig zog ich erst meine Handschuhe aus. Beachtete nur kurz die verblasste Narbe an meinem rechten Handgelenk.

Danach folgte meine lange Jeans, die ich aktuell trug. Nun, wo es kälter war, hatte Martha mir diese gegeben, damit ich nicht zu sehr fror, wenn ich draußen unterwegs war.

Wenn ich von hier weggehen würde, würde ich ihr diese jedoch wieder geben. Für andere Kinder. Mir machte die Kälte nichts aus. Ich hatte Jahrelang in meinen eher sommerlichen Sachen gelebt, ohne mir ein einziges Mal eine richtige Erkältung einzufangen. Vielleicht ein wenig Schnupfen, aber das war es dann auch.

Das Leben auf der Straße härtete einen ab. In vielerlei Hinsicht.

Ich bevorzugte es immer, mich von unten nach oben auszuziehen, wenn ich mich umzog oder duschte. Selbst vor mir selber, schämte ich mich.

Meine Finger zitterten, als ich meinen Schal auszog und anschließend mein Oberteil.

Der Anblick, der sich mir bot, verstörte mich immer noch. Obwohl ich sie nun schon so oft gesehen hatte.

Doch sie ließ mich immer wieder daran zurückdenken, was mein Erzeuger mir angetan hatte.

Welche Qualen ich dank ihm hatte erleiden müssen.

Die Narbe an meinem Hals. Wie ein halber Ring zierte sie meine vordere Halsseite.

Während meine anderen Narben weiß und teilweise verblasst waren, stach sie immer noch dick und geschwollen hervor. Die Linie war auch jetzt, fünf Jahre später, noch deutlich zu erkennen. Selbst meine Striemen am Rücken waren nicht so ausgeprägt, wie dieses fleischliche „Halsband“.

Ich wandte meinen Blick von dem Spiegel ab, legte zitternd meine Arme um mich.

Er würde mich nie wieder anfassen. Nie wieder. Zum Glück.

Kopfschütteln ging ich zum Boiler, prüfte, ob das Wasser nun warm genug war und stellte mich unter die kleine Dusche. Zum Sitzen reichte der Platz nicht.

Das Wasser war angenehm. Nicht zu heiß und nicht zu kalt.

Ich genoss jeden Tropfen davon auf meiner geschundenen Haut.

Versuchte, dabei einfach auszuschalten und nicht weiter an früher zu denken. Nicht daran zu denken, was wäre, wenn...

Ich wollte das gar nicht wissen.
 

Als ich fertig war mit Haare waschen und allem, schnappte ich mir ein Handtuch.

Ich hielt es vor mir fest und wollte es mir gerade umwickeln.

„Jetzt erst einmal schön duschen und-“, ertönte plötzlich eine mir sehr bekannte, sanfte Stimme und ich drehte mich mit Schrecken in den Augen halb um.

Kyousuke stand vor mir und starrte mich an. Ihm klappte der Mund auf und zwischen all dem Dampf bemerkte ich, wie er knallrot anlief.

Mein Herz raste. Ich wusste nicht was ich denken sollte. Für ein paar Sekunden hatte einfach alles ausgesetzt.

Nulllinie.

Dann griff ich nach der Seife, die in der Ablage lag und warf sie Kyousuke gegen den Kopf. „PERVERSLING! PERVERSER IDIOT! HAU AB! GAFF MICH NICHT AN!“

Ich warf alles, was in meiner nächsten Umgebung war auf und gegen ihn und Kyousuke verschwand so überstürzt und plötzlich aus dem Bad, wie er hereingeplatzt war.

Ich war mir sicher, dass er sogar Nasenbluten hatte.

Eine Weile stand ich noch zitternd da. Wickelte das Handtuch um mich und sank dann auf die Knie.

Er hatte mich gesehen. Nackt! Er hatte mich so gesehen, wie mich nie je ein Mensch hätte sehen sollen. Erst jetzt wurde mir klar, dass er auch sicher sie gesehen hatte. Alle meine Narben...

Tränen liefen heiß meine Wangen hinab und ich zitterte noch mehr.

„R-Ryoko-chan... Ich.. E-Es tut mir Leid. Ich wusste nicht... d-dass du da drin bist.“, hörte ich Kyousuke von draußen sagen.

Seine Stimme klang zittrig. Aber ich versuchte ihn zu ignorieren.

Ich würde ihm nie wieder in die Augen sehen können.

Ich würde nie wieder in seiner Nähe sein können.

Bestimmt war er eh angewidert von meinem Anblick. Von diesem zerstörten Körper.

Ich wusste nicht, wie lange ich weinend in der Dusche saß. Ein paar Mal hatte ich Kyousuke noch draußen zu mir reden gehört. Zumindest hatte er es versucht, aber ich ignorierte alles. Es war still geworden, als ich mich endlich dazu aufraffen konnte, aus der Dusche zu steigen und mich wieder umzuziehen.

Mittlerweile waren meine Haare sogar schon getrocknet und wirkten zerzauster denn je.

Ich zitterte immer noch. Mein gesamter Körper bebte.

Das hätte nie passieren dürfen. Kyousuke hätte mich nie SO sehen dürfen.

Sicher hatte er schon den anderen erzählt, was er gesehen hatte.

Männern konnte man einfach nicht trauen. Wieder kniff ich die Augen zusammen und verließ fertig umgezogen das Bad.

Martha kam mir entgegen, doch ich ignorierte ihre Frage.

Ich wollte weg. Einfach nur von hier weg!

Am Eingang schnappte ich mir meine Stiefel und verschwand nach draußen.
 

Warum war ich auch so blöd gewesen und hatte vergessen, die Tür abzuschließen? Vielleicht hätte ich auch sagen sollen, dass ich duschen gehe.

Eigentlich war ich selber daran schuld, dass das gerade passiert war.

Ich ging in Richtung des verlassenen Parks, in der Nähe und ließ mich auf einer Bank nieder.

Es war stürmisch draußen und ich zog meine Beine nah an meinen Körper.

Verkrampft krallte ich die Finger meiner linken Hand in meinen Schal.

Toller Geburtstag. So hatte ich mir ihn echt nicht vorgestellt.

Dass dieser Tag genauso madig enden würde, wie er angefangen hatte...

Ich konnte zumindest heute niemandem mehr in die Augen sehen. Vielleicht war es sogar das Beste, ganz zu verschwinden.

Ich hatte wenig Lust darauf, gemobbt zu werden.

Und das würde mit Sicherheit passieren!

Ich fühlte, wie mir immer kälter wurde. Heulen musste ich auch schon wieder. Es war ein einziges Elend.

Ich hatte mich jetzt schon ewig nicht mehr so erbärmlich gefühlt, wie heute.

Es war bereits dunkel draußen, als ich für einen Moment meiner Starre entfloh und mich umsah.

Sterne sah man nicht. Dazu war es zu bewölkt. Na ja. Das Wetter passte zumindest zu meiner Stimmung.

Die Kälte kroch mir durch Mark und Bein, als ich mich zu sehr bewegte. Schnell kugelte ich mich wieder halb ein.
 

„Hier steckst du!“ Die Stimme ließ mich zusammenfahren. Als ich meinen Kopf hob, blendete mich das Licht einer Taschenlampe.

„Hau ab!“, fauchte ich schwach, schreckte aber auf, als ich fühlte, wie mir eine Decke über die Schultern gelegt wurde. „Ich... Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht.“

Kyousukes Stimme klang sanft wie immer. Er setzte sich neben mich und hielt mir eine Tasse vor die Nase mit heißem oder eher gesagt, mittlerweile lauwarmem Kakao.

„Hier.“

Ich drehte meinen Kopf in seine Richtung. Doch nur flüchtig. „D-Danke...“

„Tut mir Leid, wegen dem, was passiert ist. Ich wusste echt nicht, dass du da drin bist.“ seine Stimme wirkte ruhig, aber immer noch verlegen.

„Das war meine Schuld. Ich... Ich hab vergessen, Bescheid zu sagen und nicht abgeschlossen. Du konntest gar nicht wissen, dass ich im Bad bin.“, nuschelte ich leise.

Eine Weile herrschte betretenes Schweigen.

„Du hast sie gesehen oder?“, fragte ich schließlich unvermittelt. Ich fühlte, wie Kyousuke neben mir aufschreckte. „W-Was meinst du?“, stammelte er fragend.

Hatte er sie etwa doch nicht gesehen?“

„Schon gut.“, antworte ich schnell und wickelte die Decke enger um mich. Nur zögerlich trank ich einen Schluck von dem Kakao.

„Diese Narbe an deinem Hals... Und die an deinem Rücken...“, fing er schließlich an.

Er hatte sie also doch gesehen.

„Hast es sicher schon den Anderen erzählt, wie ekelhaft ich nackt aussehe...“, antwortete ich monoton.

„Eh was!? Nein! So etwas würde ich nie machen! Für wen hältst du mich!?“ Kyousukes Stimme wirkte wirklich entsetzt.

Ich sah wieder zum ihm. Wahrscheinlich wirkten meine Augen so ziemlich leer und noch dazu rot, vom vielen weinen.

„Außerdem finde ich dich nicht ekelhaft! Du.. Du bist ein süßes, hübsches Mädel. Was soll bitte ekelhaft sein?“

Er war wieder rot geworden. Und auch ich fühlte, wie ich rot wurde. Er fand mich süß? Und.. Und hübsch? Aber wahrscheinlich sagte er das nur so...

Ich fühlte, wie er einen Arm um mich legte. „Es gibt keine hässlichen oder ekelhaften Menschen. Nur Menschen, mit hässlichem und ekelhaftem Charakter. Außerdem sind Narben nichts ekliges. Sie zeigen nur, dass man gekämpft hat, um zu überleben.“

Ich starrte ihn weiter an und fühlte, wie mein Herz wieder gegen meine Rippen schlug.

Dann sah ich jedoch wieder Richtung Boden. „Wenn ich gekämpft hätte, dann hätte ich diese Narben doch gar nicht erst.... Ich hätte schon viel früher weglaufen sollen und nicht erst.. erst...“

Meine Finger verkrampften sich um die Tasse.
 

„Dein Vater hat dir das angetan, nicht wahr?“

Ich fühlte, wie Kyousuke mich in seine Arme zog. Ich wehrte mich nicht einmal dagegen.

Seine Wärme tat mir irgendwie gut.

Ich fühlte erneute Tränen, aber verkniff sie mir.

„J-Ja...“

„Magst du, darüber reden oder so?“, fragte Kyousuke mich sanft. Seine Stimme war so beruhigend.

„Mein... Mein… Er... Mein Vater...“

„Nenn ihn ruhig Erzeuger, wenn dir das lieber ist.“

Ich lehnte meinen Kopf an Kyousukes Schulter und lächelte kurz minimal. „Danke.“

Ich wusste gar nicht, wie und wo ich anfangen sollte. Es fiel mir schwer, darüber zu reden, aber ich versuchte es dennoch. Wenn auch, mit sehr gebrochener Stimme.

„Nach dem Tod meiner Mutter, ist mein Erzeuger alkoholabhängig geworden. Er war schon früher ein sehr impulsiver Mensch, aber nachdem meine Mutter gestorben ist, wurde es schrecklich mit ihm... Er hat...“ Ich schluckte kurz. „Er hat immer mehr getrunken. Von Tag zu Tag mehr und ist immer gewalttätiger geworden... Erst hat er mich immer nur angeschriehen, wenn er zu viel intus hatte. Mich beleidigt. Mir die Schuld an Mamas Tod gegeben... Irgendwann hat er angefangen zuzuschlagen, seine Flaschen nach mir zu werfen... Ich...“

Erneut musste ich schlucken und kniff meine Augen zusammen. „Ich hab jahrelang in Angst gelebt. Bin immer wieder weggelaufen, hab mich herumgetrieben, um möglichst nicht in seiner Nähe zu sein! Aber damit hab ich es nur schlimmer gemacht. Er hat mich verprügelt. Je älter ich wurde, umso schlimmer wurde es. Manchmal hat er mich mit seinem Gürtel verdrescht. Daher die Narben an meinem Rücken...“

Kyousuke sagte nichts dazu. Stattdessen drückte er mich nur noch fester an sich. Ich sah ihn nicht an, hatte aber das Gefühl, dass er wirklich aufrichtig mit mir mitfühlte.

„Die Krönung war schließlich... die Narbe an meinem Hals. Ich wollte wieder abhauen, aber er hat mich erwischt. Ich weiß nicht, wo er das Teil herhatte, aber hatte dieses Drahtseil mit dem er... angefangen hat mich von hinten zu würgen, als er hinter mir stand. Hat es mir von vorne brutal gegen meinen Hals gedrückt, dass ich... kaum Luft bekommen hab. Ich hab geblutet und gedacht, ich müsste sterben. Ich hab echt gedacht, dieser Wichser bringt mich um!“

Meine Hände zitterten so sehr, dass ich beinahe den halben Kakao verschüttete.

Kyousuke nahm mir die Tasse ab, stellte sie neben sich und nahm mich nun erst recht in den Arm.

„Wie krank kann ein Mensch eigentlich nur sein, seiner eigenen Tochter so etwas anzutun?“, hörte ich seine flüsternde Stimme an meinem Ohr und fühlte regelrecht, wie sie vor Wut zitterte.

„D-Das war ja noch nicht alles. Als ich aufgewacht bin, lag er... l-lag er über mir. Ich hab seinen widerlichen Atem gerochen. Er war wieder sturzbetrunken und w-wollte mich... mich...“

Auch meine Stimme zitterte immer mehr und ich hatte mich meinen Tränen ergeben. Ich konnte eh nichts dagegen tun.

Kyousuke wirkte noch mehr erschüttert.

„Neben mir lag seine leere Schnapsflasche auf dem Boden.. Ich hab versucht sie zu erreichen und als ich das geschafft hab, hab ich sie ihm einfach auf den Kopf gehauen, damit er ohnmächtig wird... D-Danach.. hab ich ein paar Sachen mitgehen lassen und bin abgehauen...“
 

Nachdem ich geendet hatte, herrschte erneut Stille. Ich weinte mich in Kyousukes T-Shirt aus und fühlte seine Hand, die immer wieder beruhigend über meinen Rücken strich.

Er sagte nichts. Keinen Ton. Aber er war für mich da.

Hielt mich fest und spendete mir mit seiner bloßen Anwesenheit Trost.

Vielleicht wusste er auch einfach nicht, was er sagen sollte. Zumindest war ich mir sicher, dass er nun verstanden hatte, warum mich die Nachricht über den Tod meines Vaters eher glücklich gemacht, anstatt schockiert hatte.

„Ich werde nie wieder zulassen, dass dir noch einmal so etwas passiert, Ryoko. Du brauchst nie mehr Angst zu haben. Ich beschütze dich.“, sagte er schließlich.

Mein Herz flatterte und ich sah ihn verheult an. „Kyousuke-kun?“

Er kramte in der Tasche seiner Jeans und fischte etwas heraus, das wie eine Kette aussah.

„Hier. Die schenk ich dir zum Geburtstag. Ist nichts Besonderes. Hab sie mal auf der Straße gefunden und fand sie ganz hübsch. Aber ist nichts für mich. Magst du sie haben?“

Er lächelte ungewohnt schüchtern.

Zaghaft und mit großen Augen nahm ich die Kette. Es war eine alte, silberne Kreuzkette. Sie wirkte an manchen Stellen gerissen, sah aber wirklich schön aus. „D-Danke..“, stammelte ich verlegen und nickte. „Die ist... Wirklich schön.“

Kyousuke grinste leicht und strich mir durch die Haare. „Steht dir sicher, Kleines.“

Dann klopfte er mir sanft auf die Schulter. „Meinst du nicht, wir sollten Mal zurück? Nicht, dass Martha noch nach uns suchen lässt.“

Fourteenth Satisfaction: Wo das Herz sich zuhause fühlt

Der Tag war gekommen. Heute war der Tag, an dem Kyousuke vorhatte, Marthas Haus zu verlassen. Und ich würde mit ihm gehen. Obwohl ich sicher auch hätte bleiben können. Aber ich hatte mich entschieden und es ihm immerhin auch geschworen.

Ich wollte nie mehr von Kyousukes Seite weichen.

Doch mir war an jenem Morgen, als ich aufwachte, noch nicht bewusst, wie traurig Abschiede sein konnten.

Selbst, wenn man weiß, dass die Personen, von denen man sich verabschieden muss, ja nicht aus der Welt sind.

Ich wusste, ich konnte Martha und die Kinder ja zu jederzeit wieder sehen. Yuusei, Crow und Jack trafen wir ja eh fast täglich und so empfand ich es an diesem Morgen nicht einmal als Abschied.

Dass ich mich im Grunde schon an das Leben hier gewöhnt hatte, war mir gar nicht wirklich klar.

Kyousuke und ich gehörten aber nicht hier her.

So schön es hier auch war. Mit Martha, die sich wie eine liebende Mutter um uns gekümmert hatte. Mit den Kindern, für die wir der große Bruder und die große Schwester gewesen waren.

All die Erinnerung.

Kaum zu glauben, dass wir ursprünglich nur aufgrund der Behandlung meiner Verletzung hier geblieben waren.
 

Es war der 11. November. Direkt ein Tag nach meinem Geburtstag.

Es war kalt geworden und draußen hatte es über Nacht geschneit.

Das erste Mal, dass ich wirklich schönen Schnee sah.

In der Gegend wo ich gehaust hatte, war der Schnee innerhalb weniger Stunden schon so matschig, dass man gar nichts damit anfangen konnte.

Aber hier, in dieser eher ruhigeren Gegend, wo Marthas Haus stand, sah er so weiß aus, wie man ihn von Postkarten kannte.

Zumindest jetzt noch.

Das Frühstück verlief wie immer ohne große Hektik.

Crow bespaßte die Kinder mit irgendwelchen dämlichen Grimassen.

Yuusei aß schweigend seine Schale mit Reiß, während Jack auch sehr schweigend seinen Kaffee trank und nur hin und wieder die Augen verdrehte, wenn Crow mal wieder zu laut war.

Alles wie immer eben.

Kyousuke, der wie immer neben mir saß, erzählte dem kleinem Jungen, mit dem wir Verstecken gespielt hatten von dem großen Plan von Team Satisfaction und wirkte dabei ausgesprochen ausgelassen.

Der Kleine war begeistert und seine Augen leuchteten regelrecht.

„Dann werden du und die Anderen irgendwann die Helden von Satellite!“

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als Kyousuke dem Jungen schon fast väterlich durch die Haare wuschelte. Er genoss diese Aufmerksamkeit schon sehr irgendwo. Die Bewunderung und dass er, für die Kleinen ein Held war. Genauso wie Yuusei, Crow und Jack auch.

Für mich war er auch ein Held, auch wenn ich es nicht zugab.
 

Nachdem ich Martha, nach dem Frühstück, beim Abräumen des Tisches geholfen hatte, entschied ich mich, den Schnee draußen ein wenig zu genießen. So lange dieser noch da lag.

Martha hatte mir eine dicke Jacke geliehen, Handschuhe und sogar eine Mütze und so trottete ich nach draußen, wo auch schon viele Kinder im Schnee spielten.

Einige lieferten sich Schneeballschlachten oder warfen sich einfach so in die weiße Pracht.

„Onee-chan? Baust du mit mir einen Schneemann?“, hörte ich die Stimme von Mariko neben mir.

Ich drehte mich zu ihr um und lächelte. „Uhm! Klar. Warum nicht?“

Mariko lächelte schüchtern zurück, nahm mich an der Hand und führte mich zu einem Platz, etwas weiter weg von den anderen Kindern.

Mariko war nicht nur sehr schüchtern, sondern auch recht scheu.

Martha hatte mir erzählt, dass Marikos Eltern bei einer Schießerei getötet worden waren und dass Mariko lange Zeit gar nicht gesprochen hatte. Ich mochte Mariko. Sie erinnerte mich ein wenig an mich selber, als Kind.

„Der Schnee hält nicht.“, sagte sie und sah mit ihren rehbraunen Augen zu mir.

„Du musst ihn fester zusammendrücken, sonst fällt er wieder auseinander.“, antwortete ich sanft und formte selber einen Schneeball.

Mariko sah mir dabei zu. Ich drückte ihr diesen in die Hand. „Jetzt einfach solange auf dem Boden rollen, bis er immer größer wird.“

Sie nickte schüchtern und tat, was ich ihr sagte.

Ich musste die ganze Zeit lächeln. Ich wusste nicht einmal warum genau.

Nachdem wir den ersten großen Schneeball hatten, formte ich den Zweiten.

Noch vor über einem Monat hätte ich nie gedacht, dass ich mal einen Schneemann bauen würde. Das ich allgemein so viel Spaß und Freude an etwas haben würde, was eigentlich nur Kinder taten.

Vielleicht lag es daran, dass ich nach dem Tod meiner Mutter keine wirkliche Kindheit mehr gehabt hatte?
 

Während ich mit dem Kopf unseres kleinen Schneekunstwerks angefangen hatte, suchte Mariko nach ein paar Zweigen für die Arme und kam mit diesen wieder.

„Ach, hier steckst du!“ Kyousukes Stimme ließ mich aufzucken. „Kyousuke-kun!“

„Was macht ihr denn da?“ Er besah sich unseren noch unfertigen Schneemann.

„Sieht man doch. Das wird ein Schneemann.“, antwortete ich trocken.

Kyousuke grinste. „Wirkt noch etwas kopflos, der Gute.“

„Ist ja auch noch nicht fertig!“, gab ich zurück und setzte unserem Werk den Kopf dabei auf. „Jetzt hat er einen Kopf.“

Mariko sah zwischen mir und Kyousuke neugierig hin und her. „Fehlt aber noch ein Hut oder so.... Irgendwie so etwas...“

„Ich kann ihm ja meine Mütze geben.“, sagte ich lächelnd.

„Oder ihr gebt ihm das hier. Dann ist es ein Schnee-Kiryuu.“ Kyousuke wedelte mit seinem Bandana vor meiner Nase.

Ich fühlte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. „D-Das hättest du wohl gern!“

Kyousuke grinste nur unschuldig, band sich das Bandana wieder um und wuschelte mir durch die Haare. „Was denn?“ Dann streckte er sich kurz. „Falls du mich suchst, ich bin bei den Anderen. Ein paar Sachen besprechen. Kannst ja zu uns kommen, wenn ihr hier fertig seid.“

„Ja, Ja.“ Schmollend sah ich ihm nach.

„Du weißt, was 'Ja, Ja', heißt“, antwortete er noch.

„Idiot!“

Neben mir hörte ich Mariko kichern und drehte mich wieder zu ihr. „Was ist?“

Mariko steckte dem Schneemann einen Zweig in die Seite und ich bemerkte, dass sie ein wenig grinste.

„Du bist in ihn verliebt oder?“, fragte sie mich plötzlich unvermittelt.

Mir klappte der Mund auf und ich drehte mein Gesicht schnell weg. „G-Gar nicht!“, stammelte ich verlegen.

„Du wirst immer rot, wenn du ihn siehst oder er dich anspricht. Und du stammelst manchmal.“

Ich zog meinen Schal etwas nach oben, um meine Röte zu verbergen. Warum zur Hölle, mussten Kinder so direkt sein?

„Mir kannst du es ruhig sagen. Ich verrate nichts. Außerdem erzähl ich dir auch mein Geheimnis. Okay?“

Ich drehte mich wieder zu ihr. Nur zaghaft nickte ich. „Ich mag ihn. Ja.. A-Aber.. I-Ich glaub nicht, dass er mich so mag, wie ich ihn mag... Immerhin bin ich... fünf Jahre jünger als er... U-Und er... N-Na ja... Wahrscheinlich... Bin ich...“

Mariko hörte mir zu. „Also... Ich denke, er mag dich auch. Mhh.. Ich verrate dir auch, wen ich mag, nun wo du es mir gesagt hast. Aber du darfst auch nicht plaudern, versprochen?“

Sie hielt mir ihren kleinen Finger hin und mit einem Nicken hakte ich meinen kleinen Finger ein. „Versprochen.“

Mariko trat etwas näher zu mir und flüsterte mir etwas ins Ohr.

Ein Grinsen huschte über meine Lippe. „Wirklich?“

Sie wurde rot im Gesicht und nickte schüchtern.

Ich tätschelte ihr die Schulter. „Wer weiß. Vielleicht mag er dich ja auch. Du solltest zumindest am Ball bleiben.“
 

Nachdem wir mit unserem Werk komplett fertig waren, betrachteten wir es noch eine Weile.

„Sieht doch ganz gut aus.“, sagte ich und drehte meinen Kopf in Marikos Richtung. Sie nickte leicht. „Ja. Auch wenn ich finde, dass immer noch was fehlt. Vielleicht hätten wir ja doch das Bandana von Kiryuu-san nehmen sollen.“ Sie lachte leicht, was auch mich zum lachen brachte.

„Na herrlich! Mhh oder wir klauen eine Tasse aus der Küche und statten ihn damit aus. Dann fehlt nur noch das Grummel-Gesicht und wir haben einen Schnee-Jack!“

Mariko sah mich ein wenig entsetzt an und wurde rot. „B-Bitte nicht!“

Ich wuschelte über ihren Kopf. „War eh nur ein Witz.“

„Solltest du nicht zu den Anderen? Wenn die was besprechen, ist das sicher wichtig, Onee-chan.“

Ein leichtes Seufzen entfuhr mir. Irgendwie war es einfach so schön gewesen, mit Mariko zu spielen, dass ich kaum Lust verspürte, zu den Anderen zu gehen. Aber die Pflicht rief ja wirklich. Auch wenn ich mir sicher war, dass Kyousuke mir eh alles noch einmal unter vier Augen erklären würde, wenn wir wieder unter uns waren.
 

Dennoch nickte ich. Mariko noch einmal knuffend lief ich zu den Jungs, die sich einige Meter weiter breit gemacht hatten. Irgendwer von ihnen – ich tippte auf Crow – hatte einen Stapel alter Zeitungen und abgebrochener Äste angezündet und so ein Lagerfeuer gemacht, um das sie nun drum herum saßen.

Kyousuke winkte mir zu, als er mich erblickte. „Da bist du ja! Gerade rechtzeitig, um das Wichtigste nicht zu verpassen.“

Ich setzte mich neben ihn. „Ach. Ich dachte, ich hätte das Wichtigste bereits verpasst.“, gab ich trocken zurück.

„Nicht wirklich. Kiryuu hielt es für besser, erst einmal über belangloses Zeug zu faseln, solange du noch dem Kinderkram nachgehst.“

„Das war kein Kinderkram! Ich hab Mariko-chan geholfen, einen Schneemann zu bauen!“, fuhr ich Jack an, der dieses unqualifizierte Kommentar natürlich von sich gegeben hatte. Wer auch sonst?

Jack zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. „Sag ich doch. Kinderkram.“

Ich streckte ihm meine Zunge entgegen, aber bevor Jack wieder etwas sagen konnte, war Yuusei eingeschritten. „Also, was wolltest du sagen, Kiryuu?“

Kyousuke, der die ganze Zeit zwischen Jack und mir hin und her gesehen hatte, brauchte eine Weile, räusperte sich dann aber. „Ehm. Na ja. Ich wollte sagen, wie wir weiter vorgehen...“

Er rollte die Karte von Satellite auf dem Schneebedeckten Boden aus. „Bezirk M kommt wie gesagt als letztes dran. Wir haben noch ein paar kleinere Bezirke und ein paar größere. Ich dachte, wir nehmen uns erst die Kleineren vor, bevor wir uns an die Größeren wagen. Was meint ihr dazu?“

„Also, wenn du das sagst, machen wir's doch einfach so.“, murmelte ich bei dem Blick auf die Karte.

„Ryoko-chan hat recht. Du bist der Boss. Du solltest entscheiden, wo es als nächstes hingeht.“, sagte Crow.
 

Kyousuke sah zu mir und dann zu ihm. Er kratzte sich an der Wange. „Ich wollte einfach mal eure Meinung hören... Was ihr denkt, was besser ist.“

„Ich denke, dass das schon eine gute Idee ist, erst die kleineren Bezirke abzugrasen. Da gibt’s weniger zu tun und wir kommen schneller durch.“, mischte sich nun auch Jack ein.

„Allerdings, wenn wir uns die größeren Bezirke zuerst vornehmen, hätten wir die schon hinter uns und dann weniger Arbeit. Wäre das nicht taktisch klüger?“, warf Yuusei ein wenig bedenklich ein.

Kyousuke überlegte. „Es hätte beides seine Vorteile. Vielleicht sollten wir abstimmen.“

Allgemeines Schulterzucken.

Kyousuke seufzte leise. „Also. Wer wäre für die kleineren Bezirke zuerst?“

Jack und Crow meldeten sich.

„Und wer für die Größeren?“ Yuusei hob etwas unschlüssig die Hand, zog diese aber auch schnell wieder weg.

Ich entschied mich dazu, mich zu enthalten.

Kyousuke rollte kurz mit den Augen. „Was denn nun? War das jetzt ein 'Ja', Yuusei, oder ist es dir auch egal?“

„Nehmen wir einfach die Kleineren zuerst und gut ist!“, grummelte Jack einfach, bevor Yuusei antworten konnte.

Auch ich seufzte genervt. „Ich sag, die Größeren. Dann steht es zwei zu zwei oder?“

Yuusei sah zu mir und nickte dann doch.

„Na herrlich. Dann muss ich also doch wieder entscheiden.“, sagte Kyousuke seufzend. „Nehmen wir die Größeren zuerst. Punkt. Bevor hier noch ewig herum diskutiert wird.“

„Und wofür haben wir nun abgestimmt?“, fragte Crow in die Runde.

„Demokratie ist doch eh für'n Arsch.“, sagte ich schulterzuckend und brachte zumindest so Crow und Kyousuke zum Lachen.

„Sag mal, Kiryuu. Willst du wirklich heute gehen?“ Die Frage von Crow kam völlig unvermittelt. Kyousuke sah deswegen von der Karte zu ihm.

„Uhm. Ja. Wieso?“

Ich beobachtete Crow und auch die anderen. Crow seufzte kurz. „Du könntest doch auch mit Ryoko-chan hier bleiben. Ist doch viel besser, als in der verlassenen Oberschule.“

Kyousuke rollte die Karte langsam zusammen, ganz so, als wolle er sich mit dem Antworten Zeit lassen. Erst, als er sie in seine hintere Hosentasche zurück verfrachtet hatte, wandte er sich wieder an Crow. „Sorry. Das Leben hier ist echt nichts für mich. Ich bin da wo ich her komm, besser aufgehoben als hier. Außerdem wäre ich nur eine zusätzliche Last für Martha-san.“

„Mhh Wenn du das sagst...“

Kyousuke sah von Crow zu mir und ich fing seinen Blick auf. Mittlerweile wusste ich ja längst, warum Kyousuke seine Couch in der verlassenen Oberschule einem festen Wohnsitz, wie diesem hier, vorzog. Seiner Freiheit willen. Auch wenn es nicht die Freiheit war, die er sich wünschte.
 

Die Sonne war bereits am Untergehen, als Kyousuke und ich langsam unser Gästezimmer verließen. Ich hatte die Sachen, die Martha mir für heute gegeben hatte, auf das Bett gelegt.

Allerdings hatte sie darauf bestanden, dass ich die langen Hosen und auch die Jacke behalten sollte, solang es doch noch so kalt war.

Ich hätte ihr noch hundert Mal sagen können, dass ich an Kälte und frieren gewöhnt war.

Irgendwie war es aber süß, dass sie so sehr darauf aus war, dass ich den Winter gut überstand.

Als wir die Haustür erreicht hatten ertönte Marthas Stimme hinter uns.

„Wollt ihr zwei denn nicht einmal wenigstens euch richtig verabschieden?“, sagte sie in einem strengen, aber dennoch liebevollen Ton.

„Echt Mal. Ohne was zu sagen abhauen, geht gar nicht.“

Das war Crow.

Auch Yuusei und Jack, so wie alle anderen Kinder, die hier lebten, waren da.

Kyousuke wirkte verlegen. „Tut mir Leid, ich...“ Er schien nicht recht zu wissen, was er sagen sollte.

„Gehst du wirklich, Kiryuu-Onii-chan?“ Der kleine Junge vom Frühstück war zu ihm gelaufen und klammerte sich an sein Bein.

Kyousuke kniete sich zu dem kleinen Kerl runter und tätschelte ihm den Kopf. „Geht nicht anders. Meine Pflicht als Held ruft.“, sagte er grinsend. „Aber ich besuch' euch bestimmt noch mal!“

Der Anblick war wirklich süß. Die Kinder hatten uns wirklich ins Herz geschlossen und als ich Mariko zwischen all den Anderen erblickte, wurde auch mir schwer ums Herz. Ich lächelte ihr zu und hob kurz meinen kleinen Finger, um sie an unseren Schwur zu erinnern, was sie mir gleich tat.

„Kommst du uns auch besuchen mal, Onee-chan?“, sagte sie schüchtern.

„Natürlich!“, antwortete ich und versuchte zu lächeln, was mir jedoch schwer fiel. Obwohl wir hier nur ein paar Wochen gelebt hatten, spürte ich deutlich, dass ich mich hier, im Gegensatz zu Kyousuke, doch sehr zuhause gefühlt hatte.

Kyousuke schien meinen Blick zu bemerken und kam deswegen zu mir.

Er sah mir in die Augen, sein Blick ließ sich schwer deuten. „Ryoko-chan, wenn du möchtest, kannst du auch hier bei Martha und den Anderen bleiben... Du... Du musst nicht mit mir mitkommen...“

Seine Stimme klang fast ein wenig niedergeschlagen.

Hatte er das gerade wirklich gesagt?

„Ich sehe ja, dass du dich hier wohl fühlst und... Hier... Hier hast du immer ein Dach über den Kopf, musst nicht hungern. Es ist warm und du kannst in einem Bett schlafen...“

„K-Kyousuke-kun...“

Ich blinzelte immer noch ungläubig. Das klang fast danach, als wollte er mir sagen: „Hier hast du alles, was ich dir nicht bieten kann.“

Im Grunde hatte ich hier wirklich mehr. Aber ich hatte mich entschieden. Und diese Entscheidung würde ich keinesfalls zurückziehen! Mir mochte es bei Martha vielleicht kaum an etwas fehlen, aber das was mir fehlen würde, wenn ich hier bleiben würde, war auch das, was ich am meisten brauchte: Ihn!

Heftig schüttelte ich meinen Kopf. Mir war egal, dass Martha vor uns stand, die Kinder, Yuusei, Jack und auch Crow.

„Ich komme mit dir! Ich hab doch gesagt, ich bleib bei dir, du Idiot! Es mag sein, dass ich es hier gut hab. Das stimmt. Martha und die Kinder sind wirklich toll. Aber ich zieh die alte, ranzige Couch in deinem Versteck den Betten hier echt vor. Schließlich... sind wir beide doch Streuner, die ihre Freiheit brauchen...“
 

Kyousuke sah mich mit offenem Mund an. „R-Ryoko-chan...“

Ich lächelte ihn sanft an. „Also? Worauf warten wir noch? Unsere Couch vermisst uns bestimmt schon!“

Kyousuke wirkte immer noch baff, aber nickte dann. „Stimmt! Dann... Dann sollten wir sie nicht länger warten lassen.“

Martha kam zu uns und drückte mich kurz an sich. Auch Kyousuke umarmte sie zum Abschied, was diesem jedoch reichlich unangenehm war.

„Passt gut auf euch auf, ihr Zwei.“, sagte sie und lächelte.

Dann beugte sie sich noch einmal zu mir und flüsterte in mein Ohr. „Schnapp ihn dir endlich mal, bevor er dir noch weg läuft!“

Ich fühlte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. „M-Martha!“, rief ich ungewollt laut und erntete daraufhin verwirrte Blicke.

Jack kam zu uns und klopfte Kyousuke auf die Schulter. „Wir sehen uns ja spätestens morgen wieder, Kiryuu.“

„Genau. Passt gut auf, auf dem Heimweg. Wisst schon, nicht mit Fremden mitgehen, die euch Lollis anbieten.“, witzelte Crow und fing sich meinen Ellenbogen in den Rippen ein. „Sehr witzig!“

„Machts gut, Ihr zwei. Wir sehen uns.“ Yuusei verabschiedete sich von mir und Kyousuke mit einem kumpelhaften Handschlag.

Nachdem wir auch noch von den Kindern uns richtig verabschiedeten hatten, lief Kyousuke vor und ich folgte ihm.

Im Laufen drehte ich mich noch einmal um und sah zu Martha und den anderen, die uns noch vor das Haus gefolgt waren und uns winkten.

Ich winkte auch noch einmal und wandte meinen Blick dann wieder nach vorn zu Kyousuke.

Auch wenn ich leichte Tränen in den Augen hatte. Auch wenn ich sie vermissen würde.

Eines wusste ich:

Der Platz, wo ich hingehörte, war kein Ort, an dem ich gut leben konnte. Der Platz, wo ich hingehörte war der Platz, an dem sich mein Herz zuhause fühlte.

Fifteenth Satisfaction: Zartbitter wie Schokolade

Drei Monate waren vergangen, seit Kyousuke und ich Martha verlassen hatten.

Drei Monate, in den viel passiert war.

Direkt nachdem wir wieder in Kyousukes Versteck angekommen waren, hatten wir uns mit einer mehr als dreisten Straßenbande anlegen müssen, die der Meinung gewesen war, den Unterschlupf für sich zu beanspruchen. Allerdings waren diese Jungs nur ein Haufen von dreizehn bis vierzehnjährigen Halbstarken, die nicht einmal als Duellanten sonderlich viel hermachten.

Ich nahm es ihnen im Grunde auch nur wenig übel. Sicher hatten sie nach einem Unterschlupf gesucht, nachdem es angefangen hatte, kälter zu werden. Und die Oberschule war halt leer.

Was ich ihnen jedoch nicht verzeihen konnte, war der ganze Müll, den sie nach ihrer Flucht vor uns noch hinterlassen hatten und dass die arme Couch noch abgenutzter und missbrauchter aussah, als ohnehin schon.

Nach diesem Vorfall baute Kyousuke zumindest mit Yuusei die darauffolgenden Wochen einige Fallen, damit so schnell niemand mehr in unser Versteck kam, wenn wir mal länger abwesend waren.

Mittlerweile hatten wir auch einige, weitere Duel-Gangs besiegt und in ihre Schranken verwiesen.

Viele Bezirke blieben nicht mehr übrig. Kyousuke wirkte mit jedem Mal, dass er einen weiteren Bezirk markieren konnte, zufriedener und Team Satisfaction war mittlerweile, so konnte man es ausdrücken, berühmt. Eine Tatsache, die auch mir ein Lächeln aufs Gesicht zauberte.

Ich erinnerte mich gern an unsere kleine Weihnachtsfeier zurück. Es war keine große Party, aber dennoch erfüllte mich die Erinnerung daran mit Freude. In das neue Jahr war ich eher mit gemischten Gefühlen gegangen.

Kyousuke und ich hatten auf dem Dach eines alten – und eigentlich einsturzgefährdeten Hochhauses, nach drüben gesehen. Zur Stadt. Hier, von Satellite aus, konnte man nur die Tops richtig sehen. Die Hochhäuser, die bis in den Himmel zu ragen schienen.

Sie ließen die Sehnsucht nach Freiheit nur noch größer erscheinen. Ein Gefühl, dass ein Stechen in meiner Brust hervorrief. Auf der anderen Seite wollte ich aber auch nicht so sein, wie die Leute in der Stadt. Mit all ihren Vorurteilen.

Zumindest hatte ich mir für dieses Jahr etwas vorgenommen: Ich wollte endlich den Mut finden, Kyousuke noch in diesem Jahr meine Liebe zu gestehen.

Auch wenn ich mich davor fürchtete. Auch wenn ich allein bei dem Gedanken daran, zu zittern anfing. Das schlimmste war nicht einmal, die drei berühmten Worte auszusprechen. Nein. Das schlimmste war die Reaktion, die darauf folgen würde. Sie bereitete mir am meisten Angst.

Ich hatte Angst davor, von ihm angelehnt zu werden. Angst davor, dass er in mir nur eine gute Freundin sah. Angst davor, unsere Freundschaft zu zerstören, die mir mittlerweile so viel bedeutete.

Aber wenn ich nie meinen Mund auf bekam, wie sollte ich sonst glücklich werden?

Martha hatte mir immerhin gesagt, ich sollte es ihm sagen.

Am Ende würde tatsächlich noch ein anderes Mädchen daherkommen, in das er sich verlieben könnte. Nein! Der Gedanke daran machte mich irre und wütend. Ich wollte es nicht soweit kommen lassen! Kyousuke durfte sich in kein anderes Mädchen verlieben.

Aber bisher war ich immer noch zu feige gewesen, es ihm zu sagen.

Manchmal schlief ich heimlich mit Tränen in den Augen ein, weil ich mir vorstellte, wie Kyousuke mit einem anderen Mädchen herumlief, mit diesem Mädchen lachte und glücklich war.

Diese Vorstellung schnürte mir den Magen zu, nahm mir meine Luft.

Dann fühlte ich Kyousuke, der mich umarmte und mich immer fragte, was los war. Jedes Mal, wenn er meine Tränen dennoch bemerkte. Aber sagen konnte ich es ihm nicht.

Heute jedoch, würde ich versuchen, den Mut zu finden. Wenn nich heute, wann dann?

Heute war der perfekte Tag um es ihm zu sagen.

Der 14. Februar. Valentinstag.
 

Ich hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan und stundenlang überlegt, was ich tun konnte.

Schließlich war ich zu dem Entschluss gekommen, dass zu tun, was man als Mädchen an Valentinstag eben tat: Dem Angebeteten Schokolade schenken.

Das Problem an der ganzen Sache war nur, dass ich nicht wusste, wie.

Die wenigen Supermärkte hier verkauften keine Schokolade. Erst recht keine Pralinen.

Höchsten in aller billigster Pulverform konnte man gerade so noch Kakao erwerben.

Natürlich hätte ich auch versuchen können, Kyousuke etwas anderes zu kaufen, aber ich hatte mich in den Gedanken verrannt, ihm unbedingt Schokolade zu schenken.

Warum machst du sie dir nicht selbst?, hatte ich mich in Gedanken gefragt.

Aber zum einen wusste ich nicht, wie und zum anderen konnte ich auch gar nicht wirklich kochen.

Doch, als ich an diesem Morgen meine Augen öffnete, fiel es mir wie Schuppen von eben diesen.

Martha! Ich musste zu Martha und sie um Rat fragen!

Es war noch sehr früh. Zumindest war es draußen noch dunkel. Nur am Horizont konnte man einen hellen Streifen erahnen, der das Aufgehen der Sonne ankündigte.

Kyousuke schlief noch seelenruhig. Wie immer murmelte er ab und zu im Schlaf ein paar unverständliche Dinge vor sich hin.

Ohne ihn zu wecken stand ich vorsichtig von der Couch auf und schlüpfte in meine Stiefel, die davor standen.

Hastig schnappte ich mir einen Zettel vom Tisch und kritzelte eilig drauf, wo ich war.

Ich wollte nicht, dass er sich Sorgen machte, wenn er aufwachen würde.

Ich rechnete immerhin auch damit, dass er den Zettel bemerken und lesen würde.

Nachdem ich das getan hatte, verließ ich ohne Umschweife den Unterschlupf. Vorsichtig, um nicht selber eine der Fallen auszulösen.

Draußen atmete ich die kühle Morgenluft ein. Abgesehen von dem üblichen Rauchgestank, war es angenehm.

Den Weg zu Martha hatte ich noch recht gut in Erinnerung. Kyousuke und ich hatten sie letzten Monat erst, genauer gesagt am 11. Januar, aufgrund von Jacks Geburtstag, besucht. Dieser hatte uns eingeladen, bei Martha zu feiern.
 

Als ich bei Martha ankam, war es schon heller geworden. Das Nachtblau des Himmels hatte sich in ein graublau verwandelt. Dichter Nebel hatte sich gebildet und verwehrte einen genauen Blick nach vorn.

Martha wirkte erstaunt, als ich an ihre Tür klopfte, aber freute sich natürlich, mich zu sehen.

„Ryoko-chan! So eine Überraschung!“, waren ihre Worte und sie umarmte mich freundlich.

„Guten Morgen, Martha-san!“

„Was führt dich her, mein Kind?“, fragte sie mich, nachdem sich mich hereingebeten hatte.

Ich fühlte, wie mir gleich etwas wärmer im Gesicht wurde. „Ich... Nun ja. Ich hab da... So ein kleines Anliegen.“

Diese Worte kamen sehr gestammelt aus meinem Mund, sodass Martha schon gleich zu wissen schien, worauf ich hinaus wollte.

„Weil heute Valentinstag ist, nicht wahr? Willst du es ihm endlich sagen?“

Ein schüchternes Nicken meinerseits. „Ich versuch's zumindest.“

Martha klopfte mir auf den Rücken. „Heute ist der perfekte Tag dafür!“

Wieder nickte ich schüchtern und erklärte Martha, auf dem Weg durch den Flur, was ich vorhatte.

„Du würdest gerne Schokolade selber machen?“ Noch während sie das sagte, zog sie mich in die Küche. „Kein Problem. Ich zeig dir, wie das geht! Darüber freut er sich bestimmt.“

Wieder kam ich nicht zu mehr, als nur zu einem Nicken.

Martha kramte einige Utensilien aus ihren Schränken und einige Zutaten, von denen ich mich fragte, wo diese Frau das alles nur herbekam.

Zucker, okay. Den bekam man tatsächlich. Vanillezucker? Schwer aufzutreiben, aber machbar, wenn man wusste, wo. Von dem billigen Kakaopulver hatte ich ja bereits erzählt. Woher sie allerdings die Kakaobutter hatte, war mir schleierhaft.

Ich hatte das Zeug vorher noch nie gesehen.
 

Martha zeigte mir in einzelnen Schritten, was ich zu tun hatte. Von einem Wasserbad hörte ich das erste Mal. Ganz ehrlich, ohne Marthas Hilfe hätte ich die Schokolade nicht hinbekommen.

Ich stellte mich stellenweise auch ziemlich dämlich an, aber Martha war geduldig.

Am Ende stand das fertige Ergebnis im Kühlschrank, um fest zu werden. Eigentlich hatte ich mir gewünscht, die Schokolade in Herzchenform hinzubekommen, aber Martha hatte keine solche Form da. Also musste ich mich mit der schlichten, quadratischen Variante begnügen.

Im Grunde war das auch gut so. Wenn ich darüber nachdachte, würde eine Herzform zu viel verraten. Außerdem war das so kitschig und albern, dass es mir am Ende nur peinlich gewesen wäre und ich die Schokolade aus Scham vermutlich selbst gegessen hätte.

Während die Schokolade in dem alten Kühlschrank fest wurde, hatte ich zumindest noch etwas Zeit.
 

Diese Zeit wollte ich dafür nutzen, Mariko mal wieder 'Hallo' zu sagen. Ich hoffte nur, dass die Kleine schon wach war und nicht noch schlief.

Ein Blick zum Fenster verriet mir, dass es draußen mittlerweile komplett hell geworden war.

Ich ging leise durch den Flur. Jack und Crow schliefen bestimmt noch. Vielleicht konnte ich auch mal bei Yuusei klopfen, der sicher schon wach war, aber andererseits hatte ich keine Lust, den Jungs gerade über den Weg zu laufen. Das würde sonst nur in peinlichen Fragen enden.

Was ich zu so früher Uhrzeit hier machte? Was ich überhaupt hier machte?

Und wenn ich dann antworten müsste, würde jeder wissen, was Sache war.

Ein reichlich unangenehmer Gedanke.

Vor Marikos Zimmer blieb ich stehen und wollte gerade klopfen, als die Tür aufging und Mariko schon vor mir stand. Sie hatte noch ihren Pyjama an und rieb sich verschlafen ein Auge, bis sie mich richtig wahrnahm.

„Onee-chan! Was machst du hier?“, fragte sie mich baff.

Ich legte meinen Zeigefinger an meinen Mund. „Shht.! Nicht so laut. Ich will nicht, dass Crow und die Anderen wissen, dass ich hier bin. Die stellen sonst nur komische Fragen. Kann ich rein kommen?“

Mariko sah mich verwirrt an, nickte dann aber stumm.

Sie öffnete die Tür etwas mehr und ließ mich eintreten. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kindern hier, hatte sie ein Einzelzimmer. Martha hatte mir gesagt, Mariko wachte oft Nachts auf, schreiend und weinend, weil sie Alpträume hatte.

Damit sie nicht allein war Nachts, hatte Mariko sehr viele Plüschtiere auf dem Bett, mit denen sie kuscheln konnte. Die meisten waren alt, kaputt und sahen nicht mehr sonderlich schön aus. Aber Mariko waren sie ein Trost. Ich hatte mir oft gewünscht, auch einen Teddy zu haben, der mich nachts tröstete wenn ich aus meinen Alpträumen erwachte. Mittlerweile brauchte ich so etwas aber nicht mehr.

Wenn ich Nachts aufwachte, weil ich, trotz dass ich wusste, dass er tot war, von meinem Erzeuger träumte, konnte ich mich an Kyousuke kuscheln. Konnte dem Schlagen seines Herzens zuhören, seinem leisen Atmen und beruhigte mich dabei.

Marikos Zimmer war ein recht typisches Mädchenzimmer. An einer Wand waren einige Herzchen zu sehen, die wirkten, als wären sie mit rotem Edding mal einfach drauf gemalt worden. Es gab einige rosafarbene Sachen hier. In einer Ecke entdeckte ich eine alte Puppe, der ein Auge fehlte.

Sie machte einen gruseligen Eindruck auf mich.

Mariko setzte sich auf ihr Bett, das ein Holzgestell besaß und beobachtete, wie ich mich umsah.

Die Tür hatte sie natürlich gleich hinter sich zugemacht.

„Was genau machst du jetzt hier?“, fragte sie mich erneut neugierig.

Nachdem ich noch eine Weile aus dem Fenster gestarrt hatte, drehte ich mich zu ihr um und setzte mich neben sie auf das Bett.

„Na ja... Heute ist Valentinstag und-“

Weiter kam ich nicht, weil Mariko mich mit ihrem Aufschrei unterbrach.

„Valentinstag!?“

Nickend bestätigte ich es noch einmal. „Ja.“

Mariko wurde rot im Gesicht. „Da schenken Mädchen doch dem Jungen, den sie gern haben, Schokolade, oder?“, fragte sie mich verlegen.

Wieder nickte ich. „Willst du ihm etwa auch eine schenken? Ich hab mit Martha welche gemacht. Vielleicht kann sie mit dir ja auch welche machen.“

Nun schüttelte Mariko heftig ihren Kopf. So heftig, dass ihre kastanienbraunen Haare wild umherflogen. „N-Nein!“

Grinsend klopfte ich ihr auf die Schulter. „Kannst ihm ja auch etwas anderes schenken. Irgendwas Persönliches von dir.“

„I-Ich hab nichts! N-Nur Sachen, die er sicher albern finden w-würde...“, erwiderte sie nuschelnd und starrte auf ihre Füße. „Außerdem ist er sechs Jahre älter als ich...“

Ich legte einen Arm um sie. „Wirst du nicht bald elf?“, fragte ich sanft.

Innerlich seufzte ich jedoch. Ich fühlte mit Mariko. Zwischen mir und Kyousuke gab es ja auch diesen Altersunterschied von fünf Jahren.

„Uhm ja. Am 1. März.“, hörte ich Mariko antworten. „Wenn du mit Martha Schokolade gemacht hast, dann willst du es Kiryuu-san heute sagen, nicht wahr?“

„Ich hab's zumindest vor. Aber...“ Mein Magen fühlte sich seltsam flau an. „Ich hab Angst davor, es ihm zu sagen. Angst davor, wie er reagieren wird. Ich will unsere Freundschaft nicht kaputt machen.“
 

Mariko ließ ihre Beine hin und her baumeln. „Kann so was denn passieren? Das Freundschaften kaputt gehen, weil du sagst, dass du ihn gern hast?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Es wäre dann ja nichts mehr wie vorher, wenn er es wüsste. Das verstehst du vermutlich noch nicht, Mariko-chan.“ Langsam ließ ich meinen Blick zur Zimmerdecke schweifen. „Ich versteh selber noch nicht viel davon. Es ist das erste Mal, dass ich solche Gefühle habe. Das erste Mal, dass ich mich für einen Typen interessiere. Jungs haben mich all die Jahre nicht interessiert. Ich hatte eher Angst vor ihnen, weil sie größer sind und weil ich wusste, dass sie böse Dinge mit Mädchen tun können. Sie waren mir nie geheuer. Ich hab ihnen misstraut. Kyousuke war der erste Junge, dem ich vertraut habe. Der Erste, dem ich mich geöffnet habe. Ich hab selber gemerkt, wie ich mich in den letzten Monaten verändert habe, seit ich ihn kenne. Ich hab angefangen mir über Sachen Gedanken zu machen, über die ich früher nie nachgedacht habe. Ich hab mich selber als Mädchen noch viel mehr wahrgenommen. Früher hat es mich nie interessiert wie ich auf andere Menschen wirke, wie ich aussehe oder sonst etwas. Aber seit ich ihn kenne, kamen da plötzlich all diese Dinge. Ich hab mich gefragt, wie ich auf ihn wirke. Ob er mich hübsch findet und ob er mich wirklich gern hat. Manchmal hab ich das Gefühl, er würde mich auch so mögen, wie ich ihn mag. Auf der anderen Seite behandelt er mich auch oft so, als wäre ich eine kleine Schwester für ihn. Ich weiß nicht, was er denkt oder fühlt. Und das macht mir Angst. So große Angst, dass ich...“ Ich hielt inne und sah zu Mariko.

Sie blickte mit großen Augen zurück. Ich war mir sicher, dass sie nicht viel von dem verstanden hatte, was ich gesagt hatte. Obwohl sie schon sehr reif für ihr Alter war, war sie dennoch ein zehnjähriges Mädchen, das von Liebe erst recht noch nicht wirklich Ahnung hatte.

Dennoch war ich perplex, als sie mich sanft umarmte. „Ich versteh nicht so viel davon... Aber ich bin auf deiner Seite, Onee-chan!“

„Mariko-chan...“ Ich konnte nicht anders, als sie zu knuddeln. Dieses kleine Mädchen war wirklich süß! Wenn ich eine kleine Schwester gehabt hätte, hätte ich mir gewünscht, sie wäre so wie Mariko. So unschuldig, freundlich und niedlich. Ich war der Kleinen wirklich dankbar dafür, dass sie versuchte, mich anzuspornen und mich aufzuheitern.
 

Langsam ließ Mariko mich wieder los und ich sie. „Weißt du was? Wir können ja trotzdem nach Etwas gucken, was du ihm schenken könntest. Vielleicht finden wir ja etwas, dass nicht ganz so kitschig ist.“, sagte ich schließlich und wuschelte Mariko durchs Haar. Gerade, als ich aufstehen wollte, ertönte lautes Rufen. Ich vernahm das Trampeln mehrerer Füße auf dem Boden.

„Was ist da draußen los?“, fragte Mariko verwirrt aber auch ich zuckte nur mit den Schultern.

Für einen Moment hatte ich das Bild vor Augen, wie einige der Mädchen hier, zu Jack oder Yuusei oder zu Beiden gerannt waren, um sie mit Schokolade zu überhäufen. Wie in diesen typischen Mädchen-Mangas, wo alle Mädels ja auch immer zum Schulprinzen rannten.

Natürlich war das nur eine dumme Vorstellung.

Als ich mit Mariko aus der Tür ihres Zimmers ging, lief gerade Martha an uns vorbei.

Allerdings bemerkte sie uns und lief noch einmal zu mir zurück.

„Ryoko-chan!“ Sie wirkte extrem hektisch und nervös. „Gut, dass du noch hier bist. Du musst mir helfen!“ Auch ihre Stimme machte einen etwas dünnen Eindruck.

„Was ist los?“

„Ein paar der Kinder haben ein verletztes Mädchen nicht allzu weit von hier gefunden. Du musst mir helfen, dass Mädchen hier her zu bringen!“

„Ein verletztes Mädchen?“ Ich schluckte kurz. Hoffentlich war das nicht schon wieder diese kleine Schlampe von Team Zombie. Nur zaghaft nickte ich und sah zu Mariko. „Wir verschieben das auf später okay?“

Mariko nickte langsam. „Schon okay. Wenn Jemand verletzt wurde, ist das wichtiger. Also geh ruhig, Onee-chan!“

Noch einmal wuschelte ich ihr durch die Haare und folgte dann Martha aus ihrem Haus nach draußen.

Es dauerte auch wirklich nicht lange, bis wir das Mädchen gefunden hatten.

Ein paar Kinder standen oder hockten noch bei ihm.

Das bewusstlose Mädchen hatte lange rosafarbene Haare und wirkte sehr zierlich. Fast sogar noch zierlicher als ich. Vom Alter her schätzte ich es auf ungefähr mein Alter, vielleicht aber auch ein bis zwei Jahre jünger. So richtig konnte ich es nicht sagen.

Die Klamotten des Mädchens waren zerschlissen und wirkten durchnässt, als wäre das Mädchen in Wasser gefallen und hatte sich mit Mühe und Not wieder an Land gezogen. Anhand der Verletzungen und der Schrammen sah es so aus, als wäre das Mädchen verprügelt worden. Vielleicht war es Opfer einer Gang geworden. Ein leichtes Schaudern durchfuhr mich, allein bei diesem Gedanken.
 

„Armes Ding. Der Kleinen scheint übel mitgespielt worden zu sein.“, hörte ich Martha sagen. Mehr, als ein stummes Nicken brachte ich gerade nicht fertig. „Ryoko-chan, kannst du ihre Beine nehmen?“, fragte mich Martha. Erneut nickte ich und hob die Beine des Mädchens an, während Martha den Oberkörper des Mädchens hochhob. So brachten wir das Mädchen zu Marthas Haus, während die anderen Kinder uns folgten.

Im Haus angekommen, legten wir das Mädchen auf das Bett im Krankenzimmer ab.

Martha drehte sich zu mir. „Danke.“ Sie lächelte sanft.

„Ach. Gern Geschehen.“ Auch ich versuchte zu lächeln, aber fühlte mich erschöpft. So hatte ich mir den Tag nicht vorgestellt.

„Ich möchte dich wirklich nicht um zu viel bitten, Ryoko-chan, aber... würdest du mir helfen, die Kleine noch zu verarzten?“

Marthas Blick wirkte auf mich so flehend, dass ich gar nicht nein sagen konnte. „N-Natürlich.“

Es dauerte im Grunde wahrscheinlich gar nicht so lange, wie wir da standen: Martha, die die Wunden des Mädchens desinfizierte und reinigte und ich, die mit Verbänden und Pflastern hin und her rannte, bis wirklich alle Verletzungen des Mädchens versorgt waren. Dennoch kam es mir wie eine Ewigkeit vor.

Ich ließ mich auf den Stuhl neben dem Krankenbett sinken. Kaum zu glauben, dass ich hier vor ein paar Monaten noch mit meinem verletzten Fuß gelegen hatte.

Martha, die kurz aus dem Zimmer gegangen war, kehrte mit zwei Tassen heißem Kakao zurück. „Hier. Trink. Nach dem ganzen Schreck eben, tut das gut. Deine Schokolade ist übrigens schon fest, also kannst du sie dir jederzeit nehmen.“

Mit ihrer Tasse in der Hand, schnappte sie sich einen anderen Hocker und setzte sich neben mich.

Ich bemerkte, dass sie mich musterte. „Irgendwie... Hast du dich verändert.“, sagte sie schließlich, was mich aufschrecken ließ.

„Eh?“ Ich wusste erst nicht, was sie damit meinte. „Hab ich?“

„Als du damals mit Kiryuu-kun und den anderen Jungs herkamst, warst du noch viel verschlossener und irgendwie zurückhaltender. Aber mittlerweile scheinst du viel mehr aus dir herauszukommen.“

Ich fühlte, wie ich errötete. Irgendwie war es mir peinlich. Natürlich hatte ich mich verändert. Ich hatte ja auch mit Mariko darüber gesprochen. Mir war nur nicht aufgefallen, dass ich mich nicht nur im Bezug darauf verändert hatte, sondern auch tatsächlich im Bezug auf meine einstige Verschlossenheit.

Früher war ich so abweisend gewesen, hatte alles von mir gestoßen. Gerade jetzt erinnerte ich mich an meine erste Begegnung mit Kyousuke. Sie war eigentlich noch gar nicht so viele Monate her, aber es kam mir vor, als würde Erinnerung ewig weit zurückliegen. Wie er mich vor der Gang gerettet hatte, wie er mich regelrecht verfolgt hatte und nicht eher nachgegeben hatte, bis ich mit ihm mitgegangen war. Die Erinnerung daran trieb mir ein Lächeln auf die Lippen.

Ich war damals echt eine sture Zicke gewesen. Wie oft hatte ich ihn beleidigt oder versucht, vor ihm davon zu laufen? Jetzt so im Nachhinein war ich wirklich kindisch gewesen. Kyousuke hatte es von Anfang an nur gut mit mir gemeint. Aber selbst heute rutschte mir immer noch ein „Idiot“ heraus, wenn er mal wieder etwas sagte, was mir peinlich war oder einfach dämlich. Dennoch wusste ich, dass ich es Kyousuke zu verdanken hatte, dass ich offener geworden war und auch von selber auf andere Menschen zugehen konnte, ohne mich selbst unwohl zu fühlen. Dass es nicht wehtat, auch mal die Hilfe von anderen in Anspruch zu nehmen.
 

Ich redete noch eine ganze Weile mit Martha. Erzählte ihr die Geschichte, wie ich Kyousuke kennengelernt hatte. Davon, wie er mich den einen Tag aus dem Meer gefischt hatte, als ich meinem Schal hinterher gesprungen war, obwohl ich nicht schwimmen konnte. Ich erzählte ihr von all den Momenten, in denen Kyousuke mir geholfen hatte. Von dem Tag, an dem er losgezogen war und das Bild meiner Mutter gefunden hatte, obwohl er krank war und Fieber hatte. Es fiel mir ausgesprochen leicht darüber zu reden und mir fiel auf, dass Martha lächelte.

Als ich fertig mit erzählen war, wuschelte Martha mir durch die Haare. „Du solltest mal sehen, wie deine Augen als gestrahlt haben.“, sagte sie, was mich wieder in Verlegenheit brachte.

„Das... Ich...“

Ich kratzte mir den Hinterkopf und warf einen Blick zu der Uhr. Auch wenn ich sie nicht lesen konnte, so vermittelte sie mir dennoch das Gefühl, dass ich schon viel zu lange nun hier war.

Sicher waren Jack, Yuusei und Crow schon unterwegs zu Kyousuke!

Ich trank den letzten Schluck meines Kakaos und stand auf.

„Ich sollte langsam los. Die Anderen warten garantiert schon auf mich.“, sagte ich und Martha nickte.

„Dann holen wir schnell deine Schokolade.“

Nickend folgte ich Martha, als auch sie aufstand und mit mir in die Küche ging, wo ich meine Tasse abstellte.

Martha holte die feste Schokolade aus dem Kühlschrank und packte sie noch für mich schön ein. „Hier.“

Mit einem freundlichen Lächeln drückte sie mir mein Geschenk in die Hand.

„Danke.“ Ich wollte gerade in Richtung Tür gehen, als mir noch etwas einfiel.

„Ach ja, Martha-san? Könnten Sie mir noch einen Gefallen tun?“

Martha sah mich erstaunt an, nickte dann aber. „Natürlich.“

Schnell erzählte ich Martha, dass sie doch vielleicht versuchen könnte, ein Geschenk für Mariko zu finden. „...Sagen Sie ihr einfach, es ist für unseren Plan, ja?“

Martha wirkte zwar verwirrt aber schien einverstanden. „Mache ich.“

Dankend verließ ich die Küche, während Martha mir folgte und mich zur Tür begleitete.

„Und wenn das Mädchen aufwacht, können Sie mir ja auch Bescheid sagen.“, sagte ich, als an der Tür stand.

„Das werde ich. Keine Sorge. Vielleicht kommt die Kleine ja sogar selber zu euch, wenn ich ihr erzähle, dass du ihr geholfen hast.“

Ich lachte verlegen. „Wer weiß. Zumindest... Danke noch mal für alles.“

Ihr winkend verließ ich ihr Haus. Mittlerweile musste es Mittagszeit sein. Vielleicht sogar schon nachmittags.
 

Je näher ich unserem Unterschlupf kam, umso nervöser wurde ich. Irgendwie konnte ich immer noch nicht so recht glauben, dass ich das tatsächlich tun würde. Dass ich Kyousuke tatsächlich meine Liebe gestehen würde.

Ich fühlte, wie mir mein Herz bis zum Hals schlug, als ich die Stufen der Feuertreppe hinaufstieg.

Meine Hände waren zittrig und kalt und ich hatte ständig Angst, mein Geschenk fallen zu lassen.

Selbst meine Beine schienen die Konsistenz von Gummi angenommen zu haben.

Ich öffnete die Tür und trat ein. Zu meiner Verwunderung war es still. Ich hatte erwartet, schon von weitem Jack zu hören – Er war ja nicht gerade leise – oder Crow, wenn dieser mal wieder zu seiner Höchstform aufdrehte. Doch nichts. Absolute Stille.

Trafen wir uns heute etwa nicht?

Ich ging weiter durch die maroden Räumlichkeiten und betrat schließlich das Zimmer mit der Couch.

Kyousuke war nicht dort.

Wo war er hin? Sofort überkam mich wieder ein mulmiges Gefühl. Ich tapste zur Couch und sah mich um. Vielleicht hatte Kyousuke mir einen Hinweis dagelassen.

Auf dem Tisch entdeckte ich einen kleinen Zettel, der zwischen ein paar Limodosen lag und hob ihn auf.

Zu meiner Enttäuschung stellte ich fest, dass es der Zettel war, den ich morgens hinterlassen hatte, damit Kyousuke Bescheid wusste.

„Ryoko-chan?“

Diese Stimme ließ mich herumfahren. „K-Kyousuke-kun?“

Kyousuke stand vor mir. Er wirkte gehetzt und verschwitzt, als wäre er stundenlang unterwegs gewesen. Und außerdem total verzweifelt und fertig mit den Nerven.

Ehe ich reagieren konnte, lag ich auch schon in seinen Armen und spürte, wie er mich an sich drückte.

„Wo warst du nur die ganze Zeit!? Ich hab überall nach dir gesucht!“, brach es aus ihm heraus.

Ich wusste kaum, wie ich reagieren sollte. Vorsichtig kuschelte ich mich an ihn. Er hatte die ganze Zeit nach mir gesucht? War er deswegen so fertig? Er hatte sich Sorgen um mich gemacht? Dabei...

„I-Ich war doch nur bei Martha...“, nuschelte ich und tätschelte zaghaft seinen Rücken.

„Bei Martha? Warum hast du nichts gesagt? Ich dachte, du wärst entführt worden! Ich dachte, dir sei etwas passiert. Tu das nie wieder! Ich verbiete dir, wegzugehen, ohne mir Bescheid zu sagen. Ich-“

Mir fiel auf, dass er ziemlich zu zittern schien. Seine Worte, seine Sorgen um mich. Ich wusste gar nicht, wohin mit all den Gefühlen, die sich wieder in mir ausbreiteten.

„I-Ich hab doch... I-Ich hab dir einen Zettel geschrieben, weil ich dich nicht wecken wollte.“

Selber nun zitternd hielt ich ihm mit einer Hand den Zettel hin, den ich noch festgehalten hatte.

„D-Du hast....“ Kyousuke sah auf und las den Zettel mit solch einer schockierten Verwunderung, dass ich schnell begriff, dass er ihn wohl übersehen und nicht gelesen hatte.

Nachdem er gelesen hatte, lockerte er ein wenig seine Umarmung und sah mich an. „E-es tut mir Leid... Ich war... zu vorschnell. Ich hab nur gesehen, dass du nicht da bist, als ich aufgewacht bin und bin dann auch gleich schon losgelaufen, um dich zu suchen...“

„Das nächste Mal solltest du dich vorher besser umsehen, Idiot.“, gab ich zurück und tippte ihm sanft gegen die Stirn. „Als ob ich einfach gehen und dich im Stich lassen würde.“

Kyousuke wirkte verlegen. Wahrscheinlich kam er sich gerade wirklich wie ein Idiot vor.

„Sorry. Ich war zu hektisch...“, nuschelte er und ging mit mir langsam zur Couch zurück, wo er sich fallen ließ. So, wie sein Magen in dem Moment knurrte, hatte er echt nicht einmal etwas gegessen.

„Was hast du bei Martha gemacht?“

Ich fühlte, wie ich schon jetzt innerlich verkrampfte. Jetzt war sie wohl gekommen: Die Stunde der Wahrheit. Nervös knetete ich meine Finger in meinem Schoß, während ich mich neben ihn setzte. Ich sah flüchtig zu der Packung mit der Schokolade, die ich auf den Tisch abgelegt hatte.

Mein Herz raste und ich ich wollte etwas sagen, aber meine Zähne schienen mit Sekundenkleber zusammengeklebt zu sein.

„Was ist das?“, hörte ich ihn fragen und bemerkte, dass er die Schachtel mit der Schokolade genommen hatte.

„D-das ist.... Das ist... Nichts!“, stammelte ich. Mein Gesicht fühlte sich furchtbar heiß an.

Verdammt! Ich hatte sagen wollen, dass es für ihn war und nicht, dass es nichts ist!

Kyousuke hatte die Packung aber bereits geöffnet. „Das... ist das Schokolade?“

Ich traute mich nicht, ihn direkt anzusehen und nickte nur stumm.

„K-Kannst du... e-essen. Hast ja eh Hunger... U-und....“

Was tat ich hier bloß? War ich total bekloppt!?

Wieder knurrte Kyousukes Magen und ich hörte ihn verlegen lachen. „F-für mich? Hast du die selbst gemacht etwa?“

Ausgerechnet die Frage. „Was soll die Frage! I-Iss sie doch einfach, Idiot! I-Ist ja nicht so, als würde ich sowas f-für...“, stammelte ich und sah weiter weg.

Ich war mir sicher, dass Kyousuke mich musterte.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte er.

„N-Natürlich!“

„Du benimmst dich so seltsam gerade.“

Ich wollte etwas sagen. Ich wollte SIE sagen. Die drei berühmten Worte. Aber stattdessen bekam ich wieder meinen Mund nicht auf.

Ich vernahm ein leises knacken. Wahrscheinlich hatte Kyousuke ein Stück abgebrochen.

Warum konnte ich es ihm nicht sagen? Warum beleidigte ich ihn weiter als Idiot? Ich wollte das gar nicht! Aber diese Angst in mir vor der Abweisung überrannte mich. Ließ mich nicht los.

„Hier, Probier' mal!“

Ich schreckte auf. Kyousuke hatte mir ein Stück von der Schokolade vorgehalten. Nur zaghaft sah ich zu ihm. Er lächelte mich an. Ein Lächeln, das mich gerade halb sterben ließ. „Sie schmeckt wirklich gut.“

Oh Gott, mein Herz!

Mein Gesicht musste aussehen, wie in einen roten Farbtopf getunkt.

Vorsichtig nahm ich das Stück aus seiner Hand und stopfte es mir in den Mund. Da ich selber noch nichts gegessen hatte, merkte ich, wie auch mir der Hunger langsam zu schaffen machte.

Kyousuke hatte recht. Die Schokolade schmeckte echt gut. Ich fühlte mich erleichtert. Dass sie ihm schmeckte, machte mich glücklich. Verdammt glücklich. So glücklich, dass ich vor Freude am liebsten geheult hätte.

Wir aßen zusammen die Schokolade und für einen Moment hatte ich meine Angst vergessen.
 

Nachdem wir gegessen hatten, legte sich Kyousuke richtig hin. Er schien extrem erschöpft zu sein. Das war mir ja bereits aufgefallen. Nach all der Hetzerei und Sucherei war das ja auch kein Wunder.

„Du hast die Schokolade doch extra für mich gemacht oder?“, hörte ich ihn leise nuschelnd fragen, während ich die Packung beiseite legte, damit wieder Platz auf dem Tisch war.

Wieder zog sich alles in mir zusammen. „I-ich.... ich hab... das... also...“, begann ich stammelnd und sah wieder weg. „Ich N-Na ja, h-heute ist doch Valentinstag u-und da... da schenkt man d-doch demjenigen, d-den man... den man mag Schokolade u-und ich... ich...“

Mir ging die Pumpe bis zum Hals. Komm schon, Ryoko, jetzt oder nie!

Ich tat alles um meine zusammengekleisterten Zähne auseinander zu bekommen.

„I-ich wollte dir... Schokolade m-machen, w-weil ich.... w-weil ich dich mag! Ich mag dich, K-Kiryuu Kyousuke. M-Mehr als alle anderen m-mag ich dich! I-Ich l-l-l-iebe d-dich u-und i-ich w-würde g-gerne m-mit dir.... z-zusammen... s-sein!“ Ich kniff meine Augen zusammen.

Ich hatte es gesagt. Ich hatte es tatsächlich gesagt!

Immer noch am ganzen Körper zitternd mit einem Herz, das beinahe meinen Brustkorb zersprengte, so schnell wie es schlug, wartete ich auf eine Reaktion. Doch es kam nichts.

Hatte ihn das jetzt so sehr schockiert? War er sauer auf mich? Hasste er mich nun?

Ich vernahm leises, regelmäßiges Atmen, öffnete meine Augen und drehte mich wie in Zeitlupe zu ihm um.

Er war eingeschlafen. Dieser Idiot war doch tatsächlich eingeschlafen und hatte es nicht gehört!

Da hatte ich mich endlich dazu aufgerafft, ihm zu sagen, was ich empfand, und er pennte weg.

Ich sah ihn eine Weile an. Mein Magen fühlte sich seltsam an.

„Bleib immer bei mir, Ryoko-chan. Ich... bin so froh, dass ich dich getroffen hab...“ , hörte ich ihn leise im Schlaf murmeln. Es war das erste Mal, dass ich verstand, was er im Schlaf sagte.

Obwohl mir zum heulen zumute war, wischte ich die aufkommenden Tränen aus meinem Gesicht und musste lächeln. Eine Spur von Erleichterung machte sich in mir breit.

Ich wusste nun, dass mich zumindest kein anderes Mädchen so schnell ersetzen konnte. Und wirklich böse darauf, dass er eingeschlafen war, konnte ich auch nicht sein.

Sanft legte ich die Decke über ihn und strich lächelnd einige seiner Ponysträhnen aus seinem Gesicht.

„Ich bin auch froh, dir begegnet zu sein und ich bleibe auch immer bei dir, du Depp.“

Bonuskapitel: Zartbitter wie Schokolade (Alternatives Ende)

ANMERKUNG: Dies ist nur ein Alternatives Ende zu dem vorherigen Kapitel und fällt nicht in den Verlauf der eigentlichen Handlung. Es ist einfach nur ein kleiner Leserbonus und hat nichts mit der Originalstory zu tun. Dieses Kapitel soll nur zeigen, was gewesen wäre, wenn Kiryuu NICHT bei Ryokos Geständnis eingeschlafen wäre. Und wenn der Bursche es sich nicht selber so schwer machen würde, wie er es leider tut. (Was ich damit meine, wird in der Hauptstory noch erläutert!)

Ich wünsche viel Spaß, beim Lesen, dieses kleinen „Was wäre, wenn“- Moments.
 

Wir aßen zusammen die Schokolade und für einen Moment hatte ich meine Angst vergessen.

Nachdem wir gegessen hatten, legte sich Kyousuke richtig hin. Er schien extrem erschöpft zu sein. Das war mir ja bereits aufgefallen. Nach all der Hetzerei und Sucherei war das ja auch kein Wunder.

„Du hast die Schokolade doch extra für mich gemacht oder?“, hörte ich ihn leise nuschelnd fragen, während ich die Packung beiseite legte, damit wieder Platz auf dem Tisch war.

Wieder zog sich alles in mir zusammen. „I-ich.... ich hab... das... also...“, begann ich stammelnd und sah wieder weg. „Ich N-Na ja, h-heute ist doch Valentinstag u-und da... da schenkt man d-doch demjenigen, d-den man... den man mag Schokolade u-und ich... ich...“

Mir ging die Pumpe bis zum Hals. Komm schon, Ryoko, jetzt oder nie!

Ich tat alles um meine zusammengekleisterten Zähne auseinander zu bekommen.

„I-ich wollte dir... Schokolade m-machen, w-weil ich.... w-weil ich dich mag! Ich mag dich, K-Kiryuu Kyousuke. M-Mehr als alle anderen m-mag ich dich! I-Ich l-l-l-iebe d-dich u-und i-ich w-würde g-gerne m-mit dir.... z-zusammen... s-sein!“ Ich kniff meine Augen zusammen.

Ich hatte es gesagt. Ich hatte es tatsächlich gesagt!

Immer noch am ganzen Körper zitternd mit einem Herz, das beinahe meinen Brustkorb zersprengte, so schnell wie es schlug, wartete ich auf eine Reaktion.
 

Erst kam nichts und ich erwartete das Schlimmste.

Dann fühlte ich eine Hand an meiner Wange, spürte, wie mein Kopf sanft in seine Richtung gedreht wurde. Noch ehe ich wirklich realisieren konnte, was da gerade passierte, fühlte ich seine Lippen auf meinen.

Ich war völlig perplex. Unfähig mich zu bewegen. Tränen ließen mich nur schwer blinzeln. Doch es waren keine Tränen der Trauer. Ein Schauer jagte den Anderen meinen Rücken hinab, während mein Herz so schnell gegen meine Brust hämmerte, dass ich das Gefühl hatte, es würde jeden Moment meinen Brustkorb durchstoßen.

Seine Lippen fühlten sich warm und weich an und diese Wärme durchströmte meinen kompletten Körper.

War das wirklich real? Wenn es doch nur ein Traum war, so wollte ich daraus nie wieder aufwachen. Ich konnte einfach kaum glauben, dass Kyousuke mich küsste. Dass das hier wirklich passierte!

Nur langsam löste er diesen Kuss und immer noch verdattert berührte ich meine Lippen.

„K-Kyousuke...-kun?“

Kyousuke sah mir in die Augen, wischte meine Freudentränen mit seinen Daumen von meinen Wangen. „Ich liebe dich auch, Ryoko-chan.“

Seine Stimme klang verlegen, aber ich fühlte, dass seine Worte ehrlich waren.

„Ich hab mich in dich verliebt. Auch wenn ich es erst nicht wahr haben wollte, aber ich habe mich in dich verliebt.“

Diese Worte brachten mich erneut dazu, vor Freude zu weinen. „Kyousuke-kun! Ich...“

Ich fühlte mich geplättet und glücklich zugleich.

„I-ich hab mir die ganze Zeit gewünscht, du würdest dasselbe für mich empfinden, wie ich für dich. Aber... Ich dachte immer, dass du in mir nur... Keine Ahnung, deine beste Freundin oder eine Art kleine Schwester siehst. Dass ich einfach nur den Beschützerinstinkt in dir geweckt hab, weil ich... weil ich so viel jünger bin und so!“ Das alles platzte in diesem Moment aus mir heraus.

Ich fühlte, wie Kyousuke mich eng zu sich zog und über meinen Rücken strich.

„Ryoko-chan. Du bist so süß, weißt du das?“ Seine sanfte Stimme erklang direkt neben meinem Ohr. „Aber... Ich hatte auch Angst. Weil ich nicht wusste, was du von mir hältst. Wie du über mich denkst. Ich habe auch gedacht, dass du in mir vielleicht nur einen großen Bruder siehst und Anfangs wollte ich meine Gefühle einfach nicht wahr haben, weil ich Angst hatte. Ich habe so dumme Dinge gedacht und ich war unsicher.“

Langsam sah ich zu ihm hoch und blickte in seine Augen. Er wirkte immer noch verlegen, aber lächelte erleichtert und glücklich.

Auch ich musste lächeln. „Du hast dumme Dinge gedacht?“

Kyousuke nickte. „Verdammt dumme sogar. Aber ist jetzt unwichtig. Das einzige, was wichtig ist, ist dass wir keine Angst mehr haben müssen nun.“

Ich hätte zwar gerne gewusst, was das für Dinge waren, aber ich fragte nicht nach, sondern nickte nur. „Fühlst du dich nun befriedigt?“, fragte ich grinsend und knuffte ihm leicht die Schulter, woraufhin Kyousuke lachen musste. „Könnte man so sagen!“

Auch ich musste leicht lachen. „Ich hab dich Anfangs für 'nen ziemlichen Idioten gehalten.“, gestand ich ehrlich.

Ein erneutes Grinsen huschte über sein Gesicht. „Hab ich mir gedacht. Vielleicht bin ich das ja auch manchmal. Ich hab dich ja auch ziemlich genervt damals.“

„Ich hab gedacht, dass du ein verrückter Stalker bist. Nein, ehrlich, ich hatte irgendwo schon ein wenig Angst, als du mir bis zu meinem Unterschlupf gefolgt bist.“

Irgendwie fühlte ich mich plötzlich so, als wäre ich von einer großen Last befreit worden. Es fiel mir plötzlich so viel leichter, mit Kyousuke zu reden und ihm alles zu sagen.

„Du hast mich einfach gleich neugierig gemacht.“, sagte er.

„Hab ich?“ , fragte ich und kuschelte mich etwas mehr an ihn. Er fühlte sich so viel wärmer an, als sonst.

„Irgendwie... Du hast mich an etwas erinnert. Ich weiß selber nicht genau. Aber ich wollte dich einfach näher kennenlernen. Außerdem hat mir deine Schlagfertigkeit imponiert und dass du versucht hast, in einer so brenzligen Situation einen kühlen Kopf zu bewahren.“

Ich fühlte, wie ich rot wurde. „H-hör auf! D-das macht mich verlegen!“, gab ich stammelnd von mir. „Ich war gar nicht so kühl im Kopf. Ich hab nur versucht, meine Haut vor diesen Gorillas zu retten!“
 

Kyousuke strich mir ein paar Ponysträhnen aus meinem Gesicht, so wie ich es oft bei ihm tat, wenn er schlief. „Ich fand dich dennoch echt tapfer und mutig. Ich glaube kaum, dass es andere Mädchen gibt, die sich wagen würden, eine solche Schläger-Gang zu bestehlen.“

„Das war mehr Dummheit, als Mut.“, antwortete ich. Noch immer war mir ganz heiß.

„Da fällt mir ein, ich weiß immer noch nicht, was da in dem Beutel war.“

Ich fühlte, wie ich noch etwas mehr errötete und musste kichern. „Ach das! Das waren Metallteile. Ich hab mir damals die bekloppte Idee in den Kopf gesetzt, ein D-Wheel bauen zu wollen, nachdem ich in einer Zeitschrift mal eines gesehen hab. Aber na ja. Den Wunsch kann ich eh abhaken.“

Kyousuke grinste. „Echt? Du könntest Yuusei fragen, ob er dir dabei hilft. Der kennt sich ja mit so was aus.“

„M-Meinst du?“

Kyousuke nickte wieder. Dann herrschte erst einmal Stille.

Ich wusste auch gar nicht mehr, was ich noch sagen konnte. Ich war einfach nur so verdammt glücklich. Glücklich, dass er meine Gefühle tatsächlich erwiderte. Glücklich, dass ich meine eigenen Gefühle akzeptiert hatte.

Ich war mir sicher, dass wir nun erst recht zusammen unsere Ziele erreichen konnten. Vielleicht konnte ich Kyousuke zumindest ein Stück Freiheit geben. Auch wenn ich noch nicht wusste, wie.

„Was machen wir nun?“, fragte er mich nach einer Weile und küsste mir sanft meine Stirn.

„Weiß nicht. Aber zumindest sollte das hier erst einmal unser kleines Geheimnis bleiben. Ich glaube, Jack wird nicht so begeistert sein.“, antwortete ich.

Kyousuke nickte. „Wo er dich scheinbar auch mag.“ Seine Stimme zeigte deutliche Spuren von Eifersucht, was mich zum Lächeln brachte.

„Hat er aber Pech gehabt. Ich mag ihn zwar mittlerweile auch, aber er ist nur ein guter Freund.“

Kyousuke musste lachen. „Autsch. Friendzone.“
 

Wir lachten und kuschelten noch eine ganze Weile. So lange, bis die Anderen kommen würden.

So glücklich, wie in diesem Moment, hatte ich mich mein ganzes Leben lang noch nie gefühlt. Und ich war mir sicher, dass Kyousuke dies genauso empfand.

Auch wenn ich Anfangs oft mit meinen Gefühlen gehadert hatte, so war ich nun doch froh, sie ausgesprochen zu haben. Zu Wissen, dass alle meine Ängste unbegründet waren und dass Kyousuke mich genauso liebte, wie ich ihn.

All das ließ mich frei fühlen und machte mich einfach nur glücklich.
 

So. Das war das alternative Ende. Ich hoffe, ihr hattet Spaß daran, es zu lesen. Irgendwie ist es wirklich schade, dass es nicht das richtige Ende des Kapitels ist, nicht? Aber hey. So einfach mache ich es weder euch, noch Ryoko und Kiryuu. Aber vielleicht kommt ihr zumindest noch öfter in den Geschmack solch alternativer Enden. Wer weiß ;)

Sixteenth Satisfaction: Helfersyndrom

Heute war der 15. Februar. Ein Tag nach Valentinstag.

In der Nacht zuvor hatten wir noch eine kleinere Duel-Gang in der Nähe platt gemacht, nachdem Kyousuke abends wieder aufgewacht war.

Ich war immer noch enttäuscht darüber, dass mein Liebesgeständnis so schief gelaufen war. Andererseits konnte ich es ihm wirklich nicht übel nehmen, dass er eingeschlafen war.

Ich hatte, nachdem wir irgendwann gegen Mitternacht herum wiedergekommen waren, noch zu viel Zeit darüber nachzudenken. Schlussendlich hatte ich zumindest die Hoffnung, nächsten Monat ja vielleicht ein Geständnis von ihm zu erhalten oder zumindest ein Geschenk zurückzubekommen.

Aber bis zum White Day hieß es noch warten.

Zumindest hatte ich den Mut, es ihm selbst zu sagen, verloren.

An diesem Morgen tat ich mich wirklich schwer mit dem Aufstehen. Meine Augenlider fühlten sich wie Blei an und ich brauchte ewig, bis ich sie öffnen konnte.

Mit vor Müdigkeit noch verschwommener Sicht, drehte ich meinen Kopf in alle Richtungen.

Kyousuke war nicht da. Vielleicht war er im Bad oder war losgezogen, um etwas zu Essen und zu Trinken zu besorgen.

Ich setzte mich schwerfällig auf, rieb mir mit meiner rechten Hand übers Gesicht und versucht mit meinen Fingern meine Schlafzotteln und die Knoten, die sich nachts gebildet hatten, aus meinen Haaren zu entfernen.

Sie waren in den letzten Monaten ziemlich gewachsen und reichten mir mittlerweile bis über die Schultern. Das bemerkte ich heute erst so richtig, als ich in den kaputten Spiegel im Bad sah.

Mir war das vorher nicht aufgefallen. Ich hatte einfach zu viel um die Ohren.

Ich überlegte, ob ich mir nicht einfach die rostige Schere nehmen sollte, die auf der kleinen Kommode lag, die Jack eines Tages mal mitgebracht hatte, und mir meine Haare einfach selber wieder kurz schneiden sollte. Aber ich ließ es bleiben. Früher hatte ich lange Haare immer als lästig empfunden und vor allem als unpraktisch. Gerade bei meinen kleinen Diebeszügen wäre es schlecht für mich gewesen, wenn ich mir meine Haare irgendwo eingeklemmt hätte.

Ich wusste selber nicht, warum ich sie nun doch einfach wie Kraut und Rüben wachsen ließ.

Im Nachhinein war es sicher unbewusst deswegen gewesen, weil ich dachte, ich könnte Kyousuke noch eher für mich gewinnen, wenn ich femininer wirkte.

Auf der anderen Seite könnte es aber auch daran gelegen haben, dass ich mich immer mehr und mehr von einem Wildfang zu einer jungen Frau entwickelte. So richtig klar war mir das damals noch nicht gewesen.
 

Als ich vom Bad zurückkam ins Zimmer, saß Kyousuke auf der Couch. Er gähnte herzhaft und bemerkte dann auch mich. „Da bist du ja!“ Er hatte schon wieder dieses Besorgte in seinem Blick.

„Ich war nur im Bad gewesen.“, gestand ich ehrlich. „Du bist doch auch einfach weg.“

Er kratzte sich verlegen an seiner rechten Wange. „Ich war nur schnell was zu Trinken und was zu Essen besorgen. Hab nicht gedacht, dass du schon wach bist, wenn ich wieder komme. Du warst gestern so müde, weshalb ich hab damit gerechnet habe, dass du bis Mittags durchschläfst.“

Ich zuckte mit den Schultern. „So müde war ich dann wohl doch nicht.“, gab ich trocken zurück. Dass ich mir auch wieder Gedanken um ihn gemacht hatte, sagte ich besser nicht.

Irgendwie fühlte es sich seltsam an, nun mit ihm zu reden. Auch wenn er mein Geständnis nicht gehört hatte, aber ich hatte das Gefühl, als hätte sich eine unsichtbare Mauer gebildet. Ich verkrampfte innerlich in seiner Gegenwart.

Kyousuke antwortete darauf nicht. Stattdessen schnappte er sich eine Limodose und hielt mir eine entgegen. „Hier.“

Ich nahm sie schnell. Irgendwie war es mir nun sogar unangenehm seine Finger zu berühren und so setzte ich mich schweigend neben ihn.

Kyousuke legte die Packung mit Melonenbrötchen vor mich. Ich hatte das Gefühl, als würde auch er distanzierter wirken. Hatte er am Ende etwa doch was, von meinem Geständnis gehört?

„Wir nehmen uns heute die nächsten Bezirke vor.“, erklärte er ohne Umschweife.

„Bezirke? Du meinst mehrere?“ Ich starrte ihn etwas verwundert an. Normalerweise nahmen wir uns die Bezirke einzeln vor. Aber vielleicht waren das nur recht kleine Duel-Gangs, die sich schnell erledigten.

„Ja. Nun ja. Zwei wären es. Ich erklär' das aber noch mal genauer, wenn Yuusei und die Anderen da sind.“ Er biss in sein Melonenbrötchen. „Es würde sich nicht lohnen, diese zwei Bezirke nach und nach zu machen, weil der Weg dort hin ziemlich weit ist, weswegen wir auch früh los müssen.“

„Aha...“ Ich nickte nur langsam und trank einen Schluck meiner Limonade.

Dabei beobachtete ich Kyousuke, wie er die Wand anstarrte. Fast so, als würde er auf eine unsichtbare Uhr sehen. „Sie müssten jeden Moment eintreffen. Wenn Crow nicht mal wieder verschlafen hat.“
 

Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis Yuusei als zuerst aufkreuzte. „Hier sind wir.“

Hinter ihm schlurfte ein noch sehr müde aussehender Crow, der sich sein linkes Auge rieb und lautstark gähnte. Auch Jack, der als letztes unser Zimmer betrat, wirkte, als wäre noch nicht allzu lange wach.

„Warum wolltest du, dass wir heute schon so früh kommen?“, fragte Crow unter einem weiteren Gähnen.

Kyousuke sah kurz zu mir und dann zu ihm. „Weil die Bezirke, zu denen wir gehen, recht weit weg sind.“ Er fischte die Karte von Satellite aus seiner hinteren Hosentasche und breitete sie auf dem Tisch aus, während Yuusei, Jack und Crow näher traten.

„Du redest von mehreren?“, fragte Yuusei, jedoch ohne große Verwunderung in der Stimme. Er sah sich ruhig die Karte an, als schien er schon zu wissen, wohin es geht.

„Zweimal dort hin zu laufen, wäre den Aufwand doch nicht wert. Wenn wir es innerhalb des Tages nicht schaffen, dann können wir vielleicht in einem der Unterschlüpfe übernachten. Je nachdem eben, wie fit ihr euch fühlt.“

„Welche zwei Bezirke wären das?“, fragte nun auch Jack und Kyousuke zeigte auf die Karte. Ganz nach unten. Es war der südlichste Teil von Satellite und auch der, der von allen Bezirken ein wenig abgesondert war. „Die Bezirke X und Y.“

„Stimmt. Da würde es sich wirklich nicht lohnen, zweimal hintereinander hinzurennen.“, bestätigte Crow und setzte sich auf die Couch. Ohne groß zu Fragen, schnappte er sich eines der noch verbliebenen Melonenbrötchen. „Ist doch okay, wenn ich's nehme. Yuusei hat uns so früh geweckt, dass wir noch nicht gefrühstückt haben.“, erklärte er auf die Schnelle.

„Eigentlich wollte ich das noch essen.“, grummelte ich leicht und zuckte dann aber mit den Schultern. „Bedien‘ dich halt!“

Ich trank meine Limonade weiter, während Crow sich auf das Gebäckstück stürzte.

„Weißt du denn irgendwas über die Gangs dort?“, fragte ich Kyousuke.

Er zuckte mit den Schultern. „Nicht wirklich. Deswegen sollten wir uns auch auf alles gefasst machen.“

„Das heißt, es gibt noch keinen wirklichen Plan, Kiryuu?“, fragte nun auch Yuusei.

„Ich denke, nicht wirklich, oder eben wie immer. Wir teilen uns auf, kundschaften die Gegend mal eben schnell aus, bis wir das Versteck gefunden haben und dann schnappen wir sie uns.“

Zumindest lag nun wieder dieses typische Leuchten in seinen Augen.

Jack nahm sich eine Limodose und nickte.

„Wenn also alle bereit für den heutigen Tag sind, dann können wir los!“

Der Elan in Kyousukes Stimme brachte mich jedenfalls wieder einmal zum Schmunzeln. So kannte ich ihn. Immer mit voller Begeisterung bei der Sache.
 

Wir redeten noch eine ganze Weile, bis alle fertig mit trinken und mit essen waren.

Kyousuke war gerade von der Couch aufgestanden und hatte nach seiner Duel Disk greifen wollen, als er aufsah und sein Kopf sich Richtung Tür wandte.

Im Türrahmen stand ein Mädchen mit langen, rosafarbenen Haaren und hellgrünen Augen.

Wie das Mädel unbemerkt an den ganzen aufgestellten Fallen vorbeigekommen war, war mir ein Rätsel.

Ich brauchte eine Zeit lang, bis ich realisiert hatte, dass es das Mädchen vom Vortag war.

„Uhm... Also... Verzeihung wenn ich störe, aber... Lebt hier eine Ishida Ryoko?“

Martha hatte dem Mädel also tatsächlich erzählt, wo ich wohnte, damit sie sich bedanken konnte.

Ich bemerkte, wie die Rosahaarige einen flüchtigen Blick in Yuuseis Richtung warf und dabei rot um die Nasenspitze wurde.

„Kennst du die Kleine?“, fragte mich Kyousuke verwirrt. Ich hatte ihm ja noch nicht von der Rettungsaktion erzählt.

Langsam stand auch ich auf und schüttelte meinen Kopf. „Ich hab Martha gestern geholfen, sie zu verarzten, nachdem wir sie bewusstlos einige Meter vor Marthas Haus gefunden haben.“, erklärte ich schnell und wandte mich dann wieder an das Mädchen. „Ja. Ich bin Ishida Ryoko. Und du bist...?“

„Du bist das also...? Uhm, ich... ich bin Shirayuki Ichigo... I-Ich wollte mich bedanken. M-Martha-san hat mir erzählt, dass ihr mich gestern quasi gerettet habt und ich...“

„Du hast mir noch gar nichts davon erzählt.“, hörte ich Kyousuke sagen.

Verlegen kratzte ich meine Wange. Jack, Crow und Yuusei sahen das Mädchen namens Ichigo auch an. Ob sie sie schon bei Martha gesehen hatten, konnte ich nicht sagen. Andererseits war ich mir sicher, dass Martha ihnen von ihrer jungen Patientin erzählt hatte.

„Sorry. Ich... Ich hatte noch keine Zeit, es dir zu sagen.“, sagte ich an Kyousuke gerichtet und ging langsam auf das Mädchen zu. „Ichigo-chan also. Es freut mich, dich kennenzulernen. Ich hoffe, du hast dich gut erholt.“

Ichigo nickte. „Martha-san hat sich gut um mich gekümmert. Ich bin zwar erst heute früh aufgewacht und mein Kopf tut noch weh, aber sonst...“

„Was genau ist eigentlich passiert?“, fragte nun Yuusei. Seine Frage kam so plötzlich und unerwartet dass wir alle zu ihm sahen. Er redete ja wirklich nie sonderlich viel.

Ichigo schien wieder aufzuschrecken und rot zu werden. Sie sah zu Boden und wirkte verlegen.

„Ich wurde von ein paar ziemlich fies aussehenden Kerlen zu einem Duell herausgefordert u-und hab verloren. S-Sie wollten, dass ich ihnen meine wertvollste Karte gebe a-aber ich hab mich geweigert. Also haben sie... mich verprügelt und mir die Karte gestohlen...“

„Verstehe...“ Yuusei ging langsam auf Ichigo zu und legte ihr freundschaftlich eine Hand auf ihre Schulter. „Wir werden diese Typen finden und dir deine Karte zurückholen.“

Ich bemerkte, wie Kyousuke neben mir der Mund aufklappte. „Yuusei, wollten wir nicht...“, fing er an aber nickte langsam. „Dann werden wir dem Mädchen helfen. Wer weiß, vielleicht kommen die ja eh von da, wo wir hinwollten.“

Ichigo schien noch roter zu werden, als ohnehin schon. „I-Ihr müsst das nicht tun! Ich.. Ich will euch nicht von euren Plänen abhalten...“, stammelte sie, aber Crow war auch schon aufgestanden und rieb sich kurz die Nase. „Hey. Einer Lady in Not sollte man immer helfen.“

„Ich denke, es ist absolut kein Problem, wenn wir dir erst einmal helfen. Das ist wichtiger.“ Ich warf wieder einen Blick zu Kyousuke. „Selbst wenn die Gang nicht zufällig in den Bezirken X oder Y lebt.“

Kyousuke nickte langsam. Ich war mir sicher, er wollte auch helfen, aber auf der anderen Seite wusste ich auch, dass es ihn wurmte, wenn etwas, dass er geplant hatte, nicht so lief wie er es sich vorgestellt hatte.

Auch Jack war mittlerweile aufgestanden. „Ist das in der Nähe von Marthas Haus passiert?“

Ichigo sah ein wenig ängstlich zu Jack und schüttelte den Kopf. „Nein. Ich weiß nicht mehr genau. Das könnte in Hafennähe passiert sein. Ich weiß nur noch, dass ich in Wasser geschubst wurde und mich hab irgendwie wieder an Land ziehen können. Dann bin ich herumgeirrt und schließlich scheinbar zusammengebrochen. Der Rest ist verschwommen.“

„Weißt du noch, was sie dir für eine Karte gestohlen haben?“, fragte Yuusei und Ichigo schien wieder rot zu werden.

„Psycho Witch of Silence “, murmelte sie.

Wir sahen uns alle eine Weile an, bis Kyousuke sich an Ichigo wandte.

„Du bleibst am besten hier und wartest auf uns. Wir schnappen uns in der Zeit diese Typen.“

Ichigo nickte nur stumm und ging zur Couch, auf die sie sich schüchtern setzte. „D-Danke...“
 

Es brauchte nicht lange, da waren wir alle Startklar. Yuusei hatte noch ein paar schnelle Worte mit Ichigo geredet und wohl versucht, ihr noch ein wenig Mut zu machen.

Dann brachen wir auf.

Es war ein seltsames Gefühl, die buchstäbliche Nadel im Heuhaufen zu suchen.

Wir hatten ja keinen wirklichen Plan, wo genau sich diese Duel-Gang aufhielt. Auch wenn Ichigo gesagt hatte, es müsste Hafennähe sein, aber sicher war sie auch nicht gewesen.

„Das war eine dämliche Idee, Yuusei! Wir finden diese Typen doch nie im Leben. Die könnten keine Ahnung von wo hergekommen sein!“, beschwerte sich Jack nach knapp einer Stunde lautstark.

Insgeheim gab ich ihm mittlerweile Recht. Wir irrten hier umher, ohne auch nur einen wirklich festen Anhaltspunkt.

„Wir finden sie noch. So viele aktive Duel-Gangs gibt es schließlich nicht mehr.“, war Yuuseis ruhige Antwort.

„Wer weiß, ob das überhaupt eine richtige Duel-Gang war. Es könnten auch einfach nur ein paar Rowdys gewesen sein, die auf Krawall gebürstet sind.“, sagte Kyousuke mit Skepsis in der Stimme.

Ich gab ihm stillschweigend Recht. Ichigo hatte immerhin nicht wirklich von einer Duel-Gang gesprochen, andererseits hatte sie sich mit ihnen duelliert. Das musste zwar nichts heißen, aber...
 

Die kühle, salzige Meeresbrise, die mir entgegen kam, war sehr angenehm.

Mittlerweile liefen wir einen Weg, direkt in Meernähe entlang, der zu den Docks führte.

„Hier ist echt weit und breit keine Spur.“, hörte ich Crow sich beschweren.

Jack stimmte ihm zu und auch ich seufzte. Einzig Kyousuke und Yuusei schienen noch den Elan zum Suchen zu besitzen. Vor allem Yuusei.

Ich selber hatte meine Hoffnungen längst vergraben und außerdem schmerzten meine Füße.

„Sieh mal an. Wen haben wir denn da?“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter uns und ließ uns herumfahren.

Vor uns standen fünf Leute. Der Größte von ihnen kam mir irgendwie bekannt vor, aber ich konnte nicht genau sagen, woher.

„So trifft man sich wieder. Team Satisfaction.“

Scheinbar waren wir diesen komischen Punks schon einmal begegnet.

„Wieder? Sollten wir uns etwa schon einmal begegnet sein?“ fragte Kyousuke, woraufhin der Größte von ihnen laut lachte. „Tz, da tauscht man zwei wertlose Mitglieder aus und schon vergesst ihr uns. Aber ich erinnere mich noch zu gut. Ihr mögt euch einen Namen seit damals gemacht haben, aber wir sind auch nicht mehr so harmlos, wie damals!“

„Ihr seid diese Punker, die damals am Strand Ärger gemacht haben, oder?“, kam es nun von Crow.

Nun, wo Crow es sagte, fiel es mir auch auf. Es waren diese Punks von damals. Allerdings fehlten die zwei Mädchen, die zuvor noch Mitglieder gewesen waren und stattdessen hatten an deren Stelle zwei bullige Typen den Platz eingenommen, die aber mindestens genauso dumm wirkten.

Kyousuke sah kurz zu Crow und dann wieder zu den Punks. „Wir haben euch schon damals fertig gemacht! Also was wollt ihr jetzt!?“ Leicht knurrend machte er sich schon bereit und aktivierte seine Duel Disk.

Die Punks lachten erneut. „Als ob wir deswegen aufhören würden, weiter zu machen! Du solltest lieber aufpassen! Nicht, dass deine kleine Freundin wieder baden geht, so wie damals!“

Laut grummelnd aktivierte ich meine Duel Disk und wollte gerade etwas sagen, da hatte Kyousuke dem Anführer schon in die Fresse gehauen. Schneller als der überhaupt reagieren konnte.

„Das ist für damals!“, zischte er wütend, während sein viel größerer Gegner nach hinten taumelte und ihm dabei eine Karte aus einer, seiner offenen Jackentaschen viel.

Schnell wie ich konnte, rannte ich zu der Karte und hob sie auf. Es war tatsächlich Ichigos Karte!

Einer der Punks stürmte auf mich zu, aber ich konnte mich wegducken und verpasste dem Kerl einen Tritt in den Allerwertesten, dass dieser hinfiel.

„Dieses Mal läuft es wirklich anders ab, als damals!“, fauchte ich, während ich hinter mir hörte, wie auch Jack dem Anführer noch einmal ordentlich eine auf’s Maul gab, dass dieser richtig auf den Boden krachte.

Yuusei und Crow aktivierten ebenso ihre Duel Disks und auch die Gegner von Jack, Kyousuke und mir entschieden sich nun dazu, es dieses Mal in einem Duell zu klären.
 

Zugegeben. Als Duellanten waren diese Typen auch nicht komplett ohne, aber dennoch keine wirklichen Gegner. Sie waren im Grunde nur so gefährlich, weil sie eine Gruppe waren und lieber Jagd auf einzelne Personen machten. Im Gegensatz zu Ichigo, die scheinbar allein gewesen war, waren wir eben auch zu fünft.

Yuusei und Jack hatten ihre Gegner am schnellsten erledigt. Jeweils in ihrem zweiten Zug.

Auch Crow machte relativ kurzen Prozess mit seinem Gegner – einem der beiden bulligen Neulinge, der mit seinen roten Haaren wie ein Orang-Utan auf Steroiden aussah.

Kyousukes Gegner, der Anführer persönlich, mochte von allen in seiner Gang noch der Beste sein. Aber Kyousuke führte ihn so ziemlich an der Nase herum und ließ ihn erst einmal im Glauben, im Vorteil zu sein, bevor er ihn so richtig fertig machte.

Mein Gegner schien der große Bruder von einer der beiden jungen Damen von damals zu sein und war im Grunde sehr schlecht. Allerdings hatte ich in den ersten Runden keine wirklich guten Karten auf der Hand und musste erst einmal auf Verteidigung spielen.

Bis mir Fortuna dann doch mal mein Glück gönnte und ich mein stärkstes Monster per Spezialbeschwörung rufen konnte und diesem Typen den Garaus machte.

Mit rauchenden, zerstörten Duel Disk machten sie sich so schnell wie möglich auf und davon, wobei der Anführer noch ein paar weitere, vermutlich ebenso geklaute Karten, fallen ließ.

Ich sammelte auch diese auf und ging damit zu Kyousuke, der seine Duel Disk gerade deaktivierte.

„Hier. Die gehören sicher anderen Duellanten, die diese Kerle ausgeraubt haben.“

Kyousuke besah sich die Karten. „Denk' ich auch. Vielleicht sollten wir uns in der Gegend umhören, wem sonst noch Karten geklaut wurden.“

„Das kann ich ja die Tage machen.“, sagte Crow, woraufhin Kyousuke nickte und Crow die Karten in die Hand drückte. „Dann nimm du sie und wir bringen dem Mädchen ihre Karte.“

Alles nickte und wir machten uns auf dem Rückweg, auf diesem ich Yuusei die Karte von Ichigo in die Hand drückte. „Hier. Gib du sie ihr, immerhin scheint sie dich zu mögen.“, sagte ich und konnte mir ein Grinsen dabei nicht verkneifen, was Yuusei etwas verwirrt dreinblicken ließ.
 

So kamen wir wieder zurück in unser Versteck, wo Ichigo tatsächlich noch brav auf der Couch saß. Sicher hatte sie sich ziemlich gelangweilt, während wir weg gewesen waren. Kaum, dass wir den Raum betreten hatten, stand sie auf und lief als erstes auf Yuusei zu. „H-Habt ihr?“, fragte sie schüchtern und Yuusei nickte nur.

„Ja. Wir haben sie. Das ist doch deine, oder?“

Ich beobachtete, wie er die Karte aus seiner Hosentasche fischte und sie Ichigo vorhielt.

Ichigo nickte gleich strahlend und mit Freudentränen in den Augen. „Das... Ja! Das ist meine Psycho Witch of Silence!“, rief sie und nahm die Karte an sich, die sie kurz an ihre Brust drückte. „V-Vielen Dank, Y-Yuusei-kun...“ Sie errötete wieder kurz und sah schnell zu uns. „U-Und auch euch allen, habt Dank...“

„Hey, ist doch Ehrensache, einem süßem Mädel zu helfen.“, antwortete Crow grinsend und Kyousuke legte Ichigo kurz eine Hand auf die Schulter, was mich für einen Moment eifersüchtig drein schauen ließ. „Wir haben gern geholfen.“

„Für uns war es selbstverständlich, zu helfen“ antwortete Yuusei freundlich und auch Jack nickte, ohne aber groß etwas zu sagen. Für nette Worte war er ja nicht so der Typ.

„Ich denke, die Kerle werden keinen Ärger mehr machen.“ sagte auch ich aufmunternd.

Wir redeten noch eine Weile mit Ichigo, bis diese sich verabschiedete.

„Und nun?“ fragte Jack in die Runde, als wir alle wieder auf unserer geliebten modrigen Couch saßen.

„Nun? Nun ruhen wir uns erst einmal aus und planen dann noch etwas für Morgen.“

„Für Morgen? Also machen wir die Bezirke X und Y nicht mehr heute?“, fragte Crow.

Kyousuke nickte. „Da haben wir so viel zu tun, das erledigt sich besser morgen. Aber wenn ihr wollt... Wir haben da noch diesen ganz kleinen Bezirk in der Nähe, wo wir noch gar nicht waren. Da könnten wir heute Abend hin.“

Seventeenth Satisfaction: Der Anfang vom Ende

Da standen wir nun. Kyousuke, Jack, Yuusei, Crow und ich.

Wir fünf, die wir solange für unser Ziel gekämpft hatten. Die wir alles daran gesetzt hatten, dass sich unser Traum erfüllte. Wir hatten so viele Duelle bestritten, so viele Dinge erlebt, die uns alle zusammengeschweißt hatten. Und nun standen wir hier, auf dem Dach dieses baufälligen Gebäudes und auf dem Boden vor uns die Karte von Satellite. Fast vollständig schwarz gefärbt, bis auf den letzten Bezirk. Bezirk M. Ein seltsames Gefühl, wie ich es noch nie gespürt hatte, durchflutete mich in jenem Moment, als ich auf die Karte hinab sah. Nur noch dieser Bezirk und wir hatten unser Ziel erreicht. Der Gedanke daran, dass wir nach diesem Bezirk das geschafft hatten, wofür wir so gekämpft hatten, ließ mich mit einem Gefühl im Magen zurück, was ich weder als gut, noch als Schlecht erachten konnte. Es war seltsam. Ich erinnerte mich daran zurück, wie Kyousuke mich damals aufgegabelt hatte. An unser Duell und wie ich mich erst gewehrt und geweigert hatte. Wenn ich so nun darüber nachdachte, konnte ich nicht mehr verstehen, warum ich das eigentlich getan hatte. Ich hatte wohl einfach Angst gehabt. Ihm misstraut, obwohl er mir doch geholfen hatte. Er hatte mir seine helfende Hand gereicht, obwohl er rein gar nichts über mich zu jenem Zeitpunkt gewusst hatte. Er hatte mich nie groß dazu gedrängt, privates von mir preiszugeben und war für mich da. In all der Zeit war er mir so wichtig geworden, dass mir sogar klar geworden war, dass ich mich in ihn verliebt hatte. Auch wenn mein Liebesgeständnis fehlgeschlagen war, so hatte es nichts daran geändert, was ich für ihn empfand und wie sehr ich ihn brauchte. Wie sehr ich meinen Retter liebte, der mir all das gegeben hatte, was ich nun besaß. Eine Familie. Freunde. Denn auch Jack, Yuusei und Crow waren mir wichtig geworden. Sie waren wie große Brüder für mich geworden, die ich nicht mehr missen wollte. Crow, der mit seinen Witzen mich so oft ärgerte, aber manchmal trotzdem zum Lachen brachte. Yuusei, der mir trotz seiner Schweigsamkeit so oft schon Ratschläge gegeben oder es zumindest versucht hatte. Er hatte mir sogar versprochen, mir zu helfen, ein D-Wheel zu bauen, da er selber davon träumte, eines Tages eines zu haben und ich ihm erzählt hatte, dass ich gerne eines hätte. Und dann war da Jack, mit dem ich mich am Anfang ständig gestritten hatte. Jack, der immer so kühl und arrogant wirkte, aber eigentlich ein wundervoller Freund war, der das Herz am rechten Fleck hatte. Ich hatte sie alle als Kumpel gern. Meine Brüder und vor allem natürlich Kyousuke. Kyousuke, der mein Held war. Der etwas andere Prinz, der eben kein weißes Pferd brauchte, um ein Mädchen in Not zu retten. All die Monate und Wochen mit ihnen zusammen hatten mich verändert und mich glücklich gemacht.

Sie hatten mich mit ihnen fest zusammengeschweißt und ich wollte keinen Gedanken daran verschwenden. Ich wollte nicht, dass das vorbei ging. Es hätte noch ewig lange so weiter gehen können, wie bisher.
 

Aber nun stand ich hier mit ihnen und Kyousukes Worte ließen keinen Zweifel mehr daran, dass sich bald alles ändern würde.

„Es ist soweit. Wir, Team Satisfaction, sind kurz davor, Satellite zu übernehmen. Nur noch Bezirk M und Satellite gehört uns.“, sagte er entschlossen. Dennoch konnte ich auch noch etwas anderes in seinem Blick sehen. Ich wusste nicht, was genau es war. Bezirk M schien von Anfang ja eh eine besondere Bedeutung für ihn zu haben. Das war mir schon bewusst geworden, als er damals an seinem Geburtstag sich so merkwürdig benommen hatte, aufgrund des Todestags seines Mentors.

Überhaupt war er in den letzten Tagen etwas unruhig geworden und was mir auch aufgefallen war, war dass er seinen Gegnern mit noch mehr Überheblichkeit entgegen getreten war. Ein extrem ausgeprägtes Selbstbewusstsein hatte er ja schon immer gehabt und auch diese leichte Überheblichkeit seinen Gegnern gegenüber war mir nicht neu. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass es in den letzten Wochen extremer geworden war. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich allerdings noch nicht ahnen, dass sich meine Befürchtungen, ihm würde alles zu Kopf steigen, noch bewahrheiten würden. Zu jenem Zeitpunkt machte ich mir nur Gedanken darum, was nach Bezirk M wohl auf uns zukommen würde und natürlich immer noch, was er eigentlich für mich empfand. Meine Hoffnungen hatte ich ja trotz allem noch nicht begraben.

„Also, dann wollen wir mal los!“, sagte er schließlich und riss mich so aus meinen Gedanken. Ich nickte mit den anderen und Kyousuke nahm die Karte von Satellite, rollte sie wieder zusammen und gemeinsam machten wir uns auf den Weg.
 

Der Himmel über Satellite war grau und stark bewölkt an diesem Tag.

Bezirk M wirkte wie ein großes, verfallenes Industriegebiet. Die Luft war stickig und stank nach verbrannten Reifen. Es gab viele Lagerhallen und Hochhäuser, die aber großteils so extrem eingestürzt waren, dass man sie kaum begehen konnte.

Ich trabte neben Kyousuke her, mit dem unangenehmen Gefühl, dass wir schon die ganze Zeit beobachtet wurden.

Auch Yuusei schien bereits gemerkt zu haben, dass unsere Anwesenheit bereits bekannt war und blieb nach einer Weile stehen.

Kyousuke blieb auch stehen. Obwohl er vorher noch etwas angespannt gewirkt hatte, ließ er sich davon nun nichts anmerken und grinste. „Kommt raus! Wir wissen, dass ihr hier seid!“, rief er.

Jack und Crow schienen auch schon auf den Angriff gefasst.

Nach und nach zeigten sich unsere Gegner. Und es waren verdammt viele. Ich zählte an die vierzehn Mann, aber vermutlich waren es noch mehr. Das war schon keine Gang mehr, viel mehr eine riesige Bande. Sie alle hatten braune Westen an und trugen recht altmodisch aussehende Motorradhelme. Oder waren das Fliegerhelme? Ich wusste es nicht. Ich rückte nur etwas näher zu Kyousuke, während diese Kerle uns einkreisten wie die Hyänen.

„Hey, so viele auf einmal, das ist unfair. Was ist mit den vier gegen vier oder fünf gegen fünf Kämpfen?“, rief Crow.

Wann waren die Duelle je fair gewesen, fragte ich mich in diesem Moment und schreckte auf, als Kyousuke überheblich lachte. „Ich seh' darin kein Problem. Einer weniger und ich wäre schon unbefriedigt!“

Irgendwie war das schon gruselig, wie seine Stimmung aus dem Nichts wieder gewechselt war.

Ihm schien das riesig Spaß zu bereiten, mehr Gegner als üblich zu haben.

„Duell!“, rief er gut gelaunt und wir teilten uns auf. Crow nahm sich gleich vier Gegner auf einmal vor. Jack war schon vor gerannt und hatte ebenso vier Gegner im Schlepptau mit denen er sich wohl nach und nach herumschlagen würde.

Ich selber rannte Kyousuke hinter her, der sich in ein Fabrikgebäude reingemacht hatte, wo zuvor schon Yuusei hereingelaufen war. Dort jagte er die Treppen hoch, während ich ihm Rückendeckung gab und die nachkommenden Gegner nach und nach besiegte.

Kyousuke besiegte die Gegner, die ihm entgegen kamen scheinbar extrem schnell. Zumindest kamen mir immer wieder Mitglieder mit zerstörten Duel Disk entgegen, die allem Anschein nach nur noch die Flucht ergreifen konnten.
 

Kyousuke war schon viel weiter oben, als ich, da ich mich gerade noch mit ein paar der Idioten herumschlug.

„Ihr habt doch eh keine Chance! Wir sind zu viele für euch!“

„Wenn wir deine Freunde vernichtet haben, kannst du uns ja beitreten, Kleine. Wir werden bestimmt immer nett zu dir sein.“

Gerade duellierte ich mich noch mit zwei besonders dreisten Exemplaren dieser Mistkerle, als ich von Oben plötzlich laute Stimmen hörte. Ein Schrei, der eindeutig nach Yuusei klang ertönte und ließ mich in einem Moment der Schockstarre stehen.

So schnell, wie es ging, besiegte ich meine Gegner und rannte weiter zum Dach.

Ich erreichte die Tür, die zum Dach führte, doch der Anblick, der sich mir bot, war noch schrecklicher, als ich gedacht hatte. Kyousuke hing halb über dem Geländer und zog mit aller Kraft an seinem Duellseil, mit dem er Etwas oder Jemanden festhielt. Wer es war, war schnell zu erraten.

„Kiryuu!“ Es war die Stimme von Yuusei.

Noch völlig starr vor Schreck stand ich da, als plötzlich schon das morsche Gelände nachgab und Kyousuke nun selber zu fallen drohte. „KYOUSUKE-KUN!“ Ich nahm selber kaum wahr, das ich so schrie vor lauter Angst.

„Kiryuu, hör auf! Lass mich los! Wenn du mich nicht los lässt, wirst du mit mir fallen!“

„Sei kein Idiot! Ich würde dich niemals im Stich lassen! Du bist mein Freund!“

Ich rannte so schnell wie ich konnte und packte Kyousukes Arm um ihm zu helfen und zu verhindern, das er auch runter fiel.

„Ryoko!“, keuchte Kyousuke unter den Anstrengungen, Yuusei festzuhalten, damit er nicht fiel.

„Ich lass nicht zu, dass ihr beide runter fallt!“, rief ich aufgewühlt, obwohl ich wusste, dass ich kaum die Kraft hatte, zwei Jungs alleine festzuhalten. Mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, versuchte ich mitzuziehen, während Yuusei mich wohl nun auch bemerkt hatte. „Ryoko du … ihr...“

„Ich kann nicht zulassen, dass meinen Freunden und Kollegen etwas passiert!“

Ich fühlte, wie mir die Kraft wieder entwich, aber genau in dem Moment fühlte ich eine weitere helfende Hand.

Es war Crow, der zum Glück auch her geeilt war. „Crow!
 

Irgendwie schafften wir es zu dritt, Yuusei wieder hochzuziehen.

Keuchend saßen wir auf dem Dach.

„Vielen Dank.“, schnaufte Yuusei und grinste dabei und auch Kyousuke grinste völlig außer Atem, während mir noch Tränen hinab liefen, die aber nun eher Tränen der Erleichterung waren. „Tut mir einen Gefallen und jagt mir nie wieder so einen Schreck ein!“

Kyousuke zog mich zu sich und wuschelte durch meine Haare. „Sorry. Aber ist doch noch einmal gut gegangen.“

„I-Idiot“, schluchzte ich aber musste dann selber grinsen. „Ihr seid doch alle verrückt!“

Ich wischte mir über die Augen und sah zu Crow, der zum Dach des Nebengebäudes starrte, wohin sich der scheinbare Anführer der Gang geflüchtet hatte. Derjenige hatte das Szenario beobachtet und war auch wohl verantwortlich für Yuuseis bei nahen Sturz in die Tiefe.

Nun, wo er gemerkt hatte, dass er keine Chance hatte, rannte er zu der Tür um nach unten zu flüchten, doch kaum hatte er diese erreicht, wurde diese von Jack so aufgetreten, dass der Anführer auf seinen Rücken knallte und liegen blieb.

Jack grinste und sah zu uns.

Mittlerweile hatten wir uns alle wieder aufgerappelt und sahen zu ihm.
 

Einige Zeit später standen wir alle auf dem Dach unseres Quartiers. Unseren Sieg besiegelten wir mit einem gemeinsamen Faustschlag und alles wartete nur noch auf diesen denkwürdigen Moment, der nun folgen würde.

Kyousuke atmete noch einmal tief ein. Fast so, als würde ihm etwas von der Seele fallen, was schon so ewig lange in ihm brannte.

Er nahm die Karte zur Hand, legte sie auf den kleinen Holztisch, um den wir uns versammelt hatten, und strich nun auch den letzten Bezirk Satellites schwarz an.

„Nun haben wir endlich Satellite eingenommen.“, sagte er strahlend.

„Wir haben's geschafft!“, rief Crow nicht minder strahlend und begeistert und selbst Yuusei grinste. „Ja!“

„Natürlich!“, grinste Jack leicht angeberisch.

Obwohl mich für einen Moment wieder meine übliche Nachdenklichkeit eingeholt hatte, ließ ich mich nun doch von der Stimmung mitreißen.

„Wir sind einfach die Besten!“

Ich konnte einfach nicht anders, als in jenem Moment mit den Anderen zusammen in schallendes Gelächter auszubrechen. Mich so unendlich frei zu fühlen, wie noch nie zuvor.

Das wir es tatsächlich geschafft hatten. Das ich wirklich gerade hier mit den Jungs stand, mit denen ich das zusammen erreicht hatte. Das ich Mitglied in diesem tollen Team war. All das ließ mich einfach gerade alle meine Sorgen vergessen und mich wirklich einmal frei wie die Vögel am Himmel zu fühlen, die ich immer bewundert hatte.

„Team Satisfaction ist einfach das beste Team!“, rief Kyousuke überschwänglich und warf die Karte von Satellite in die Luft, wo der Wind sie auffing und mit sich trug.

In diesem Moment dachten weder ich, noch die Anderen daran, dass das Schlimmste uns noch bevor stand. Dass die wahre Zerreißprobe für Team Satisfaction gerade erst ihren Anfang nahm.

Nicht einmal in meinen schlimmsten Alpträumen hätte ich mir ausmalen können, was die Zukunft für uns bereit hielt und was für katastrophale Folgen ein einziges Missverständnis mit sich ziehen würde. In diesem Moment war ich einfach nur glücklich.
 

Wir lachten und feierten noch lange, lange Zeit.

Yuusei und Crow waren sogar losgegangen und hatten noch einmal Essen und Getränke besorgt.

Es gab einfach nichts, was die ausgelassene, gute Stimmung gerade trügen konnte, während wir da am Tisch saßen.

Crow stieß Jack seinen Ellenbogen nicht gerade sanft in die Seite, gerade als dieser etwas von seiner Limonade trinken wollte. „Ach ja. Wolltest du Ryoko-chan nicht noch etwas geben oder sagen oder so?“

Ich blinzelte verdutzt und bemerkte, wie Jack knallrot anlief. „Das bildest du dir ein! Ich hab nie etwas davon gesagt!“, fauchte er.

Crow lachte unschuldig. „Ich dachte, ich hätte da heute morgen etwas gehört, als du im Bad Selbstgespräche geführt hast.“

Jack drehte sich zu Crow und packte ihn am Kragen. „Du hast was!? H-Hör auf an der Badezimmertür zu lauschen!“

Crow grinste nur weiter breit. „Weil heute doch glaub White Day ist... Obwohl sie DIR ja nichts geschenkt hat, an Valentinstag.“

Eine Augenbraue angehoben beobachtete ich das Geschehen, während ich meine Ramen aß.

Auch Yuusei beäugte die Streiterei zwischen Jack und Crow oder viel mehr, Jacks Wutanfälle gegen Crow, der nicht aufhören konnte, ihn gerade zu Triezen.

Neben mir vernahm ich Kyousuke, der seine Schlürfgeräusche beim Ramen-Essen plötzlich eingestellt hatte. Ein Blick zu ihm, ließ mich feststellen, dass blass geworden war, so als hätte er etwas wichtiges vergessen. Ohne ein Wort war er vom Tisch aufgestanden und lief in Richtung der Feuerleiter.

„Kyousuke-kun?“ Es dauerte selber etwas, bis ich realisierte, was Crow da gerade eigentlich gesagt hatte und nun klingelte es. White Day. Heute war der White Day! Der 14. März!

Mit einem Mal kehrte die Nervosität in mir zurück. Ich hatte die letzten Wochen kaum mehr einen Gedanken daran verschwendet. Allgemein war ich durch die ständigen Duelle nicht mehr wirklich dazu gekommen, über irgendetwas nachzudenken. Und nun saß ich hier völlig von der Rolle.

Crow fragte mich etwas, aber wirklich zuhören konnte ich gerade nicht. Ich starrte immer noch wie hypnotisiert auf die Feuerleiter.

Wo war Kyousuke jetzt so schnell hin? Hatte er etwa etwas für mich, was er mir schenken wollte? Oder war er weggegangen weil er nichts hatte und er selber nicht daran gedacht hatte?

Ich vermutete sogar eher letzteres.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam Kyousuke jedoch zurück. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nur schwer deuten, aber seine Haare wirkten etwas zerzaust.

„Sorry, war kurz im Bad.“, sagte er und grinste dabei. Das er schwindelte merkte ich auch so.

Er setzte sich wieder neben mich und wuschelte mir dabei erneut durch die Haare. Dann wandte er sich aber erst einmal wieder an die Anderen.
 

Es war schon ziemlich spät, als unsere Feier langsam ihr Ende fand und Yuusei, Crow und Jack aufgestanden waren. „Es ist wirklich ein gutes Gefühl, endlich unser Ziel erreicht zu haben.“, sagte Crow breit grinsend.

„Ich bin gespannt, was nun alles auf uns zu kommt, so als Herrscher über Satellite.“, kam es von Jack und Yuusei nickte. „Ich bin auch schon sehr gespannt, was sich nun ändern wird.

Für einen kurzen Moment wirkte Kyousuke ein wenig, als hätte man ihm den Wind aus den Segeln genommen. Allerdings wirklich nur für ein paar Sekunden. Dann lächelte er wieder. „Wir haben immer noch genug vor! Verlasst euch drauf!“

Die Anderen nickten. „Alles klar. Wir sehen uns dann morgen, Kiryuu, Ryoko.“, sagte Yuusei und verabschiedete sich mit einem Handschlag von uns. Jack und Crow machten es ihm gleich und so gingen die Drei und ließen uns zurück.

„Bis morgen dann!“, rief ich auch noch hinterher.

Doch kaum waren sie die Feuerleiter hinab verschwunden, überkam mich wieder dieses Gefühl, was ich schon am morgen verspürt hatte. Das Gefühl, dass Team Satisfactions Weg hier und heute bereits unbewusst sein Ende gefunden hatte.

Langsam drehte ich mich um und ging zum Geländer des Dachs, wo ich meine Hände auf das kalte, rostige Metall legte. Ich sah eine Weile in den schwarzen Nachthimmel, während der Wind mir ins Gesicht und durch meine Haare wehte.

„Sie sind länger geworden, kann das sein?“ Kyousukes Stimme neben mir ließ mich aufsehen und mich zu ihm wenden. „Huh?“

„Deine Haare. Sie sind länger geworden.“ Seine Stimme wirkte sanfter als sonst. Er hatte sich ebenso am Geländer abgestützt und sah nun auch in den Himmel, während der Wind auch seine Haare durchwehte.

Dieser ganze Moment hatte etwas von diesen typischen Szenen, wie man sie aus so manchen Shoujo-Manga kannte. So sprachlos, wie ich für ein paar Minuten da stand. Mit vermutlich roten Wangen und mit offenem Mund.

Es hätte gerne einer dieser Szenen werden können, wo der männliche Protagonist sich umdreht und die Heldin küsst oder ihr zumindest sagt, dass er sie liebt.

Aber so etwas passierte nie in echt und vor allem nicht bei uns.

„Das dir das auffällt.“ antwortete ich neckend, nachdem ich meine Sprache wiedergefunden hatte.

Kyousuke grinste verlegen. „Ehrlich gesagt ist es mir auch erst heute so richtig aufgefallen. Aber es steht dir. Lange Haare würden sicher süß an dir aussehen.“

Ich fühlte wie mein Herz wieder einen Hüpfer machte. „F-Findest du? Ich find lange Haare unpraktisch. I-Ich kam nur noch nicht dazu, sie zu schneiden.“ stammelte ich und versuchte, so wie immer zu klingen. Obwohl dieses Kompliment es mir extrem schwer machte.

„So? Mh, stimmt. Unpraktisch sind sie vielleicht schon. Aber sie stehen dir wirklich.“ sagte er noch einmal und drehte sich dabei kurz zu mir, ehe er wieder zum Horizont blickte.

Ich strich mir eine längere Strähne aus dem Gesicht. Eher unbewusst und schaute wieder in den Himmel, nachdem ich meinen Blick von ihm lösen konnte. Er fand also wirklich, dass mir lange Haare gut standen? Irgendwie wusste ich gerade nicht, was ich sagen sollte. Mehr als ein genuscheltes „Danke“, von dem ich nicht einmal wusste, ob er es gehört hatte, brachte ich nicht hervor. Mein Herz schlug einfach viel zu schnell.
 

Stille trat ein. Für eine ganze Weile sagte weder Kyousuke etwas, noch ich. Der Mond schien hell durch ein paar Wolken hindurch.

„Schon seltsam, irgendwie...“, murmelte ich nach einer Weile.

„Seltsam? Was ist seltsam?“, hörte ich Kyousuke fragen und drehte mich zu ihm.

„Dass das alles jetzt vorbei ist. Das wir unser Ziel erreicht haben. Irgendwie... kann ich das immer noch nicht glauben.“

Kyousuke sah in meine Augen. „Ich weiß. Ich kann es selber immer noch kaum fassen, aber ich bin so wahnsinnig stolz und glücklich, was wir zusammen geleistet haben! Wir haben Satellite zu einem Ort gemacht, an dem man nun zumindest etwas besser leben kann.“

Ich blinzelte und blickte ihm auch lange in seine Augen. „Ich bin auch froh und stolz. Ich hätte nie gedacht, dass ich je so glücklich werden könnte, wie ich es heute bin. Nicht nur, weil wir das geschafft haben. Auch, weil ich dich habe. Dich, Jack, Yuusei und Crow. Das ich Freunde wie euch gefunden habe. Ich bin so wahnsinnig froh, dass ich dir begegnet bin, Kyousuke-kun. So froh, dass ich damals mit dir gegangen bin. Ich-“

Ich konnte kaum weiter reden, als er mich auch schon in seine Arme gezogen hatte und mich einfach an sich drückte.

„Ich bin auch froh, dir begegnet zu sein, Ryoko-chan. Ich will dich nie mehr vermissen müssen, weil du mir in all der Zeit auch so sehr ans Herz gewachsen bist. Ich brauche dich auch an meiner Seite. So wie jetzt und auch in der Zukunft. Versprich mir, niemals von meiner Seite zu weichen.“

Mein Herz hämmerte nun erst recht und ich schmiegte mich zaghaft an seine Brust. „Das hab ich doch sch-schon längst... Ich hab schon damals gesagt, dass ich nie von deiner Seite weichen werde.“

„Ich... Ich weiß. Ich wollte nur noch einmal sicher sein.“ hörte ich seine Stimme an meinem Ohr. Irgendwie klang sie so ungewohnt. Langsam löste er sich von mir. Für einen Moment war da wieder dieser Ausdruck in seinem Gesicht, der mich jedes Mal aufs neue schlucken ließ. Dieser Ausdruck, von dem ich einfach nicht wusste, was er bedeutete. Als würde ihn etwas schmerzen. Als würde er gerne etwas sagen wollen, konnte es aber nicht. So sah er auch immer nur mich an.

„Wie genau soll es nun eigentlich weiter gehen?“, fragte ich, um nicht noch länger diesen Anblick ertragen zu müssen, diesen Blick, der mich so mitnahm.

Kyousuke zuckte auf. Fast so, als wäre er in Gedanken gewesen. „Weiter? Na ja. Wir haben jetzt die Aufgabe, das zu beschützen, was wir erreicht haben. Ich will auf keinen Fall zulassen, dass unser hart erarbeitetes Ziel wieder über den Haufen geworfen wird. Dafür müssen wir kämpfen!“

Ich nickte nur. Auch wenn sich mir die innerlich die Frage stellte, gegen wen noch. Wir hatten alle Duel-Gangs geschlagen. Es gab doch eigentlich niemanden mehr, der Team Satisfaction noch versuchen würde, die Stirn zu bieten. Oder etwa doch?
 

Nach einer weiteren Weile des Schweigens, ergriff Kyousuke wieder das Wort. „Ach ja. Ich wollte dir ja noch etwas geben. Es ist nicht viel, aber...“, begann er und kramte in seiner linken Hosentasche. Er nahm meine rechte Hand und legte mir das, was er hervor gekramt hatte, in diese.

Meine Augen weiteten sich. Es war ein Schlüsselanhänger in Form eines kleinen, schwarzen D-Wheels. Er wirkte zwar schon etwas zerkratzt, aber sah trotzdem noch richtig schön aus. Er mochte nur aus einem billigen Automaten stammen, aber für mich war es ein wundervollen Geschenk.

Ich sah Kyousuke an, der verlegen zur Seite blickte. „Ich hab ihn im Schrottmüll gefunden und musste gleich an dich denken. Weil du ja gerne eines hättest, wie Yuusei mir erzählt hat. Sollten wir es je irgendwann aus Satellite herausschaffen, egal wie, dann würde ich dir auch ein echtes besorgen und-“

Weiter kam er nicht, weil ich ihn einfach umarmte. „Danke! Vielen Dank!“ Ich kuschelte mich eng an ihn. „Das ist eines der besten Geschenke, die ich je bekommen habe! Ich brauche ja nicht mal so unbedingt ein echtes. Auch wenn es vielleicht schön wäre, aber das hier... Das reicht mir vollkommen, weil es von dir ist und weil ich es immer bei mir tragen werde!“, sagte ich und musste mir die Tränen vor Rührung verkneifen. Ich hob meinen Kopf. „Du b-bist echt süß, weißt du das?“ platzte es ungewollt aus mir heraus.

„Ryoko... es. Ich wollte dir auch was zum White Day schenken und..“, begann er und ich schluckte, als er eine Hand an meine Wange legte.

Das Hämmern in meiner Brust wurde wieder stärker und Kyousuke sah mir tief in die Augen.

Mein Mund fühlte sich total trocken an, während ich das Gefühl hatte, als würde er mir mit seinem Gesicht langsam näher kommen. „Ryoko-chan, ich-“

In diesem Moment durchschnitt jedoch das laute Geräusch einer Sirene die sonstige Stille.

Das Geräusch, was mich später noch bis in meine Alpträume verfolgen würde.

„Die Security! Wir sollten rein gehen.“, sagte Kyousuke nur, nahm meine Hand und lief mit mir die Feuerleiter nach unten. Auch wenn wir oben auf dem Dach sicher nicht so leicht entdeckt worden wären, aber drinnen war es sicherer. Nun, wo wir Satellite übernommen hatten, waren wir nicht nur die stärkste Duel-Gang überhaupt sondern standen auch ganz oben auf der Abschussliste der Security. Auch wenn ich mir dessen in jenem Moment noch nicht wirklich bewusst war.

Drinnen angekommen gingen wir zu einem der kaputten Fenster und beobachteten, was auf den Straßen vor sich ging. Einige Männer der Security liefen herum, trieben hier und da ein paar Mitglieder von Schlägerbanden aus ihren Verstecken.

Ich merkte, wie Kyousuke neben mir sich verkrampfte. Er starrte nach unten, mit einer Hand zu einer Faust geballt und etwas in seinem Blick, das ich nicht deuten konnte, was mir aber Angst machte. Es war das erste Mal, dass ich diesen paranoiden Wahn in seinen Augen sah. Auch wenn es nur für ein paar Sekunden war. Aber heute bin ich mir sicher, dass es genau dieser Moment war, in dem sich bei Kyousuke der Schalter bereits innerlich umgelegt hatte.

Er wandte sich nach einiger Zeit wieder zu mir, als sein Blick schon lange wieder normal wirkte. „Lass uns ins Bett gehen. Wir haben morgen viel zu tun.“

Ich nickte nur und folgte ihm mit einem unguten Gefühl im Magen zur Couch.

Der Anfang vom Ende hatte begonnen.

Eighteenth Satisfaction: Dunkle Vorahnung

In der Schwärze der Dunkelheit wirkt es oft so, als würden Schatten an den Wänden und an der Decke tanzen. Dunkle, schemenhafte Gestalten, die um einen herumzuschleichen scheinen. Der Stoff, aus dem die Alpträume eines jeden Menschen geschaffen werden.

Ich lag wach und beobachtete diese Schatten, wie sie ihre Kreise zu ziehen schienen. Es war mir unmöglich einzuschlafen. Wann immer ich versuchte, meine Augen zu schließen, hatte ich die Bilder des Tages im Kopf. Yuusei, wie er an Kyousukes Duellseil hing. Die hämischen Fratzen unserer Gegner. Doch das, was mir immer noch am meisten Angst machte, war Kyousukes Blick, als er die Security gesehen hatte. Ich hatte eine üble Vorahnung. Allein der Gedanke daran, jagte mir einen Schauer über den Rücken und ich hoffte inständig, dass Kyousuke nie das tun würde, was mir immer wieder durch den Kopf ging. Er war stur und hatte seinen eigenen Kopf. Und er war hartnäckig, seine Ziele zu erreichen. Aber er war kein solcher Narr. Oder etwa doch?

„Kannst du auch nicht schlafen?“

Kyousukes Stimme ließ mich aufschrecken. Ich blinzelte, bis ich ihn in der Dunkelheit besser wahrnehmen konnte.

„Nicht wirklich.“, gestand ich unsicher und setzte mich etwas auf. Auch Kyousuke hatte sich aufgerichtet. „An was denkst du gerade?“, fragte er mich. Seine Stimme klang ungewohnt ernst, aber vielleicht war er auch einfach nur müde.

Ich schwieg erst. Ich traute mich nicht, ihm zu sagen, an was ich gedacht hatte. Es war mir unangenehm. Vielleicht hatte ich auch einfach nur Angst, vor der Wahrheit.

„Warum wolltest du Bezirk M eigentlich als Letztes einnehmen? War das so nach dem Motto 'Das Beste kommt zum Schluss' oder so?“, stellte ich einfach als Gegenfrage.

„Eh?“ Scheinbar hatte er eine andere Antwort erwartet. „Das? Nun ja. So ungefähr.“, war seine knappe Antwort. Scheinbar steckte mehr dahinter. Zumindest lenkte mich meine Neugier von meinen trüben Gedanken ab. „So ungefähr?“

Ich fühlte Kyousukes Arm, der sich um meine Schultern legte. „Ich hatte eine Rechnung mit den Kerlen offen.“, gestand er schließlich. „Diese Typen waren es, die meinen Mentor auf dem Gewissen hatten. Sie waren diese brutale Duel-Gang von der ich damals erzählt hatte. Du hast ja gesehen, zu was für Methoden die greifen. Der Anführer, der Yuusei heute beinahe umgebracht hätte... Ich bin mir sicher, dass er auch meinen Mentor so brutal zusammengeschlagen hat, dass dieser gestorben ist...“

Ich sah zwar kaum etwas, aber spürte, wie seine Hand auf meiner Schulter sich merklich verkrampfte.

„Kyousuke-kun...“ Ich kuschelte mich an ihn und legte einfach auch zögerlich einen Arm um ihn. „Also wolltest du... mit deiner Rache bis zum Schluss warten? Als krönenden Abschluss quasi?“

„Ja. Am liebsten hätte ich den Kerl kalt gemacht... Aber die Schmach seine Herrschaft über Bezirk M verloren zu haben und die gebrochene Nase, die er nun hoffentlich hat, sollen auch reichen. Immerhin ist jemanden aus Rachsucht umzubringen ja auch keine Lösung. Damit wäre ich keinen Deut besser, als diese Kerle und so will ich nicht sein.“

„Das stimmt. Rache sollte eigentlich nie eine Option sein...“, antwortete ich.
 

Wenn ich heute an dieses Gespräch zurückdenke, triefte es nur so vor der sogenannten 'Ironie des Schicksals', wenn man bedenkt, was Jahre später passierte. Wahrscheinlich hätte Kyousuke zu jenem Zeitpunkt selber noch nicht geglaubt, dass er eines Tages eben doch aus Rachsucht jemanden umbringen wollen würde. Ich hätte es damals immerhin auch nicht geglaubt.
 

Wir redeten noch eine Weile. Kyousuke erzählte mir ein wenig aus seiner Zeit mit seinem Mentor, der ja gleichzeitig wie ein Vater für ihn gewesen war. Es waren viele lustige Geschichten dabei, aber auch weniger lustige. Es machte mir Spaß, mir Kyousuke als zehnjährigen Jungen vorzustellen, mit dem Kopf voller Flausen, mit dem er seinen Mentor sicher oft zur Verzweiflung getrieben hatte. Aber es passte zu ihm. Er war ja heute noch manchmal wie ein kleiner Junge und konnte frech und dreist sein. Den Wunsch seines Mentors, Satellite zu einem friedlichen Ort zu machen, schienen wir ja, zumindest augenscheinlich, erfüllt zu haben. Aber dennoch. Kyousuke schien noch lange nicht befriedigt zu sein.

Irgendwann hatten wir uns jedenfalls müde geredet und konnten auch endlich einschlafen. Dass wir am nächsten Morgen viel vor hatten, hatte Kyousuke ja bereits angekündigt.
 

Am nächsten Tag trafen wir uns nicht wie sonst in unserem Unterschlupf mit Yuusei, Jack und Crow, sondern draußen. Der Treffpunkt war früher mal ein Stadtpark gewesen, aber von diesem war kaum etwas übrig. Hier und da standen zwar noch ein paar Bänke herum, aber die Bäume und Wiesen, die sich hier mal befunden haben mussten, waren alle abgestorben. Der große Springbrunnen, der noch in der Mitte des Parks stand, war schon seit Ewigkeiten stillgelegt und total verrostet und zerfallen. Die Vorstellung, dass hier früher mal Menschen mit ihren Hunden spazieren gegangen waren, machte mich irgendwie traurig. Jetzt lungerten hier nur noch seltsame Gestalten herum. Kleinere Gauner mit Markierungen im Gesicht, Junkies und zu meinem Leidwesen auch viel zu viele scheinbare Alkoholiker. Das Gefühl von Unwohlsein, was dies alles in mir auslöste, hätte nicht größer sein können.

Jack hatte sich auf eine der Banken gesetzt, während Yuusei, Crow und ich, es bevorzugten, zu stehen. Auch Kyousuke stand vor uns. „Ich hab mir überlegt, dass wir uns heute ein wenig aufteilen und erst einmal so die Bezirke abchecken. Wenn irgendwer von euch in irgend einem Sektor noch feindliche Duellanten antrifft, soll er mit seiner Duel Disk ein Signal an die Anderen von uns senden und dann knöpfen wir sie uns gemeinsam vor.“

„Und was machen wir, wenn jeder von uns noch Gegner findet?“, fragte Crow.

Yuusei schwieg. Wie immer eigentlich. Er hielt sich ja eh meistens raus und warf immer nur dann etwas ein, wenn er größere Bedenken hatte.

Auch Jack schwieg, nickte aber. Ich bemerkte, dass er mir einen Blick zuwarf, fast so, als würde er hoffen, dass Kyousuke mich wieder mit ihm mitgehen ließ.

Dass ich alleine herumlaufen würde, war ja ausgeschlossen. Es war ja nicht so, als hätte ich davor fast fünf Jahre lang allein auf der Straße gelebt.

„Dann nehmen wir uns einen nach dem Anderen vor. Ist doch klar.“ Kyousuke sah zu mir. „Ryoko, du kommst mit mir.“

Das hatte ich gewusst. Natürlich freute ich mich, dass er mich mit sich nahm und nicht zu Jack steckte, aber dennoch hätte ich auch gern allein mal eine der Gegenden ausgekundschaftet. Alle größeren Duel-Gangs waren besiegt und ich hatte mein Klappmesser bei mir, wenn ich doch mal angegriffen werden sollte. Eigentlich wollte ich Kyousuke gerne mal beweisen, dass ich auch alleine etwas schaffen konnte. Ich wollte ein Lob von ihm hören, Bestätigung und ja, auch die drei berühmten Worte. Es versetzte mir immer noch einen Stich im Herzen, wenn ich daran dachte, dass gestern wieder nichts gekommen war. Andererseits musste ich an den Moment denken, bevor die Security auf den Plan getreten war. Hatte er mich wirklich küssen wollen? Er war mir so nah gekommen und wie er mir in die Augen gesehen hatte und meinen Namen gesagt hatte. Er hatte mir etwas sagen wollen, oder? Er wollte mir etwas sagen, aber die Security hatte diesen Moment zerstört. Es machte mich wütend, wenn ich daran dachte, dass die blöden Bullen uns diesen Moment versaut hatten.
 

Nachdem wir uns getrennt und aufgeteilt hatten, ging ich mit Kyousuke durch den Park, der zu einem der Bezirke führte, die Kyousuke noch einmal prüfen wollte.

Bis auf die paar Säufer war allerdings nicht viel auszumachen. Eigentlich war das ja ein gutes Zeichnen.

Kyousuke sah sich um und ich beobachtete ihn dabei. Je mehr ich ihn beobachtete umso angespannter wirkte er auf mich. Außerdem schien er eher andere Dinge im Kopf zu haben. Das beunruhigende Gefühl von Nachts beschlich mich wieder und ließ mich unbewusst erschaudern. Ich fühlte, wie sich die feinen Härchen auf meinen Armen für ein paar Sekunden aufstellten, als dieser Schauer durch mich hindurch jagte.

„Bisher scheint hier alles sicher zu sein.“ Kyousukes Stimme ließ mich aufschrecken und ich nickte. „Sch-Scheint so.“, antwortete ich stammelnd.

Kyousuke drehte sich zu mir und musterte mich. „Hast du etwa Angst? Geht's dir nicht gut? Du wirkst irgendwie blass.“ Er legte seine rechte Hand an meine Stirn. „Fieber hast du scheinbar nicht.“, murmelte er und ich hörte mein Herz lauter schlagen.

„Nein. Mir geht’s gut.“, antwortete ich. Er machte sich Sorgen. Wenn ich nicht so nervös wäre, hätte ich mich darüber gefreut.
 

Wir liefen weiter. Nach einer Weile hatten wir den Park durch, ohne auf eine Duel-Gang gestoßen zu sein. Auch bei den Anderen schien nichts großartiges vorgefallen zu sein. Es gab kein Signal, dass darauf schließen ließ, dass Gegner unterwegs waren.

Vom Ausgang des Parks aus, gelangte man zu einer Art Kreuzung, an der wir nach rechts abbogen. Das Viertel, in das wir kamen, war mir absolut zuwider. Es gab ein paar alte Kellerbars und ein paar spezielle Geschäfte, die aber schon lange leer standen. An einem dieser Läden hing noch ein altes Schild wo einzelne Lettern noch rosa blinkten. Es war mir ehrlich ein Rätsel, dass dort noch genug Strom vorhanden war, für die elektronische Anzeige. Die meisten Fenster waren eingeschlagen und der Geruch, der sich hier durch die Gassen zog war einfach nur abartig. Eine Mischung aus Schnaps, Bier, Zigarettenrauch und Schweiß.

„Was ist das für eine Gegend?“, fragte ich Kyousuke. Ich hatte meinen Schal über meine Nase gezogen, um nicht ständig diesen Gestank einatmen zu müssen.

„Keine Ahnung. Ich war hier selber noch nicht. Aber vielleicht lungern hier noch irgendwelche Duellanten herum, die wir übersehen haben.“, antwortete er.

„Na, habt ihr euch verlaufen?“, ertönte plötzlich eine weibliche Stimme, die Kyousuke und mich herumfahren ließ.
 

Eine Frau kam auf uns zu. Sie hatte leicht welliges, dunkelbraunes Haar, was ihr bis zur Brust fiel und trug ziemlich knappe, aber auch sehr abgewetzt und zerrissen wirkende Kleidung. Um ihre knochigen Schultern hing ein alter, schmutziger und sehr dünner Schal und im Mund hatte sie eine Zigarette. Sie warf einen sehr überheblichen Blick zu mir. „Das ist kein Ort, für ein kleines Mädchen.“, sagte sie. Ihr arroganter Ton ging mir jetzt schon auf die Nerven und ich beobachtete, wie sie um Kyousuke herum schlich.

„Eigentlich kommen hier nur ab und an Leute von der Security vorbei. Die zahlen auch ganz gut.“

Ich fühlte, wie sich mir der Magen umdrehte. Jetzt wusste ich, zu welcher Sorte Mensch dieses Weib gehörte und es gefiel mir nicht. Ich packte Kyousuke am Arm. „Lass uns von hier verschwinden. HIER gibt’s sicher keine Duellanten!“, zischte ich ihm zu, aber erstarrte, als diese Frau einfach eine Hand an sein Kinn gelegt hatte. „Aber so hübsche, junge Kerle wie du kommen selten hier her. Dir würde ich es sogar umsonst machen. Du gefällst mir.“

Das reichte! Was zu viel war, war zu viel.

Kyousuke schlug die Hand der Frau unwirsch weg. „Kein Interesse! We-“, fing er an, aber in mir hatte bereits alles wieder ausgesetzt, so das ich nur noch auf dieses Weib zu trat und ihr mit aller Kraft, die ich besaß ins Gesicht schlug, so dass sie nach hinten taumelte und auf den Boden fiel.

„FINGER WEG, VON MEINEM FREUND!“, zischte ich aufgebracht ohne überhaupt zuerst zu realisieren, was ich da überhaupt tat.

Der Frau hatte es die Zigarette aus dem Mund gehauen und sie rappelte sich auf, während Kyousuke noch völlig baff da stand. „R-Ryoko!?“

Ich schnappte mir mein Klappmesser aus meinem Stiefel, öffnete es und stellte mich damit einfach mit dem Rücken ihm zugewandt vor ihn.

Die Frau sah mich wütend an. „Was erlaubst du dir eigentlich, du kleines Biest!?“, zischte sie und rieb sich über ihre Wange. „Pack das Messer weg oder ich-“

„Was ist hier los, Reiko?“ Ein Mann war dazu gekommen, der eine Hand auf die Schulter der Frau legte.

Das Weib namens Reiko zeigte mit dem Finger auf mich. „Diese kleine Schlampe da hat mich geschlagen!“, fauchte sie. „Und sie bedroht mich mit einem Messer!“

Dass mit dem Typ nicht gut Kirschen essen war, bemerkte ich gleich. „Kyousuke-kun, lass uns besser gehen!“, sagte ich, doch Kyousuke war stehen geblieben. Erst jetzt viel mir auf, dass der Kerl eine Duel Disk arm Arm trug.

„So? Tz. Das ist doch nur ein kleines Mädchen. Und mit dem Buttermesser kann die Kleine auch nichts groß anrichten.“, grinste der Kerl.

Kyousuke schob mich beiseite. „Pass auf, wie du über Ryoko-chan redest!“, sagte er und funkelte den Typen an. „Du bist ein Duellant oder? Wenn du Ärger willst, regeln wir das auf meine Art!“

Der Kerl grinste dreckig. „Du hast 'ne ganz schön große Klappe, Bursche. Wer auch immer du bist, es wird dir und deiner kleinen Freundin noch Leid tun, meine Geschäfte gestört zu haben!“
 

Das Duell ging los. Ein wenig verloren stand ich nun da und beobachtete Kyousuke, wie er schnell die Oberhand in diesem Duell übernahm. Sein Gegner war jetzt auch nicht gerade das, was man als ernstzunehmend bezeichnen konnte. Im Endeffekt war seine Drohung und sein Gehabe viel Bla-Bla um nichts.

„Du! Mädchen!“, die Stimme der Frau ließ mich aufsehen. Ich wusste nicht wie, aber das Weib hatte es geschafft, sich von irgendwo eine Duel Disk und ein Deck zu schnappen. Die Vermutung lag natürlich nahe, dass sie sich beides aus dem Laden geholt hatte, der dem Typen gehören musste. Ich war ja auf Kyousukes Duell konzentriert gewesen. „Duelliere dich mit mir, du Gör!“, rief das Weib. Eigentlich hatte ich nicht wirklich Lust dazu. Ich hatte ja nicht einmal Lust, überhaupt in so einer ekelhaften Gegend zu sein. Aber wenn Kyousuke sich schon duellierte, konnte ich es ihm gleich tun. Ich war mir relativ sicher, dass die Frau genauso wenig etwas drauf hatte.

Zudem war ich immer noch angepisst, wegen vorhin. „Wenn du es so unbedingt drauf anlegst.“, gab ich tonlos zurück und aktivierte meine Duel Disk.

Dass meine Gegnerin keine wirkliche Ahnung von Duel Monsters hatte, war irgendwie zu erwarten.

Schon von Anfang an spielte sie mehr schlecht als recht.

Kyousuke war bereits fertig mit seinem Duell und sein Gegner wollte gerade fluchend den Rückzug antreten, als plötzlich ein lautes Geräusch ertönte. Es war wieder das Geräusch der Sirenen, der Streifenwagen der Security!

Ich blickte zu Kyousuke, der für einen Moment erstarrte. Da war er wieder. Dieser Blick, den ich schon am Abend zuvor bemerkt hatte. Er löste sich aus seiner Starre, als die Sirenen immer näher kamen und sah zu mir. „Gehen wir fürs erste!“, sagte er und ich nickte etwas zittrig. Erst jetzt fiel mir auf, dass meine Gegnerin einfach ihre Duel Disk abgeschnallt hatte und fortgelaufen war. Ihre Duel Disk hing nämlich noch an meinem Duellseil. Ich nahm dieses schnell ab und rannte mit Kyousuke los. Wir flüchteten uns in eine Seitengasse, von der aus wir noch beobachten konnten, wie die Security den Mann und die Frau verhafteten, die wohl doch nicht schnell genug gewesen waren.

Ich beobachtete Kyousuke, der an der Wand gelehnt stand und um die Ecke schielte.

Ich fragte mich, was ihm wohl gerade durch den Kopf ging. Aber im Grunde konnte ich froh sein, dass ich es nicht wusste. Es konnte nichts gutes sein.
 

Nachdem die Security abgezogen war, hatten wir uns auf dem Heimweg gemacht.

Stillschweigend lief ich neben Kyousuke her, während langsam die Sonne unterging. Noch vor ein paar Monaten hätte ich in den Himmel geschaut und den Sonnenuntergang beobachtet. Er hatte immer so etwas Tröstendes an sich gehabt. Aber nun beachtete ich den sich färbenden Himmel nicht mehr. „Scheint, als hätten Yuusei und die Anderen keine weiteren Duel-Gangs mehr entdeckt.“, hörte ich Kyousuke sagen. „Scheint so.“, gab ich schulterzuckend von mir. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Am liebsten wollte ich ihn fragen, an was er dachte, aber ich traute mich nicht.

Wir hatten unseren Unterschlupf fast erreicht, als Kyousuke sich zu mir umdrehte. „Ich kann doch auf dich zählen oder?“

Aufgeschreckt von der Frage blinzelte ich ihn verwirrt an. „B-Bei was?“

„Bei allem. Du wirst mich immer unterstützen oder? Ich kann mich auf dich verlassen, nicht wahr?“

Ich wusste damals nicht, worauf er genau hinauswollte und hatte nur genickt.

„Natürlich! Immerhin... sind wir doch Freunde oder etwa nicht?“

Kyousuke nickte ebenfalls. „Ja. Das sind wir...“

Wir gingen die Feuerleiter nach oben und durch die Tür.

Yuusei, Jack und Crow saßen auf der Couch, als wir eintraten.

„Wo wart ihr so lange?“, wollte Crow wissen.

„In einem Viertel, wo wir noch nicht waren.“, antwortete Kyousuke recht wahrheitsgemäß.

„Ich dachte, wir waren schon in allen Vierteln.“, sagte Jack.

„Es war auch genau genommen nur ein Teil eines Viertels.“

„Haben uns im Rotlichtviertel verlaufen.“, sagte ich einfach, woraufhin mich Kyousuke baff ansah und Crow in schallendes Gelächter ausbrach.

„Was habt ihr denn da gesucht?“, fragte er lachend. „Kiryuu, wolltest du für Ryoko Reizunterwäsche kaufen?“

Kyousuke lief knallrot an und auch ich fühlte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss, während Jack nur dumm aus der Wäsche sah und Yuusei Crow einen irritierten Blick zuwarf.

„Laber keinen Scheiß, Crow!“, empörte sich Kyousuke und auch ich funkelte Crow an. „H-Halt die Klappe, du Idiot!“

Crow bekam sich erst wieder ein, nachdem ich ihm eine leere Limonaden-Dose gegen den Kopf geworfen hatte.

Kyousuke und ich quetschten uns noch irgendwie mit auf die Couch und Kyousuke erzählte soweit alles, was vorgefallen war. Dass er angemacht wurde, ließ er allerdings aus.

„Die Security hat euch also noch dazwischen gefunkt?“, fragte Jack.

Wir nickten, wobei Kyousukes Blick dem Boden galt. „Ja...“

Schnell sah er jedoch wieder auf. „Wie war es bei euch. Keine Duel-Gangs mehr gefunden?“

„Na ja. Nicht wirklich. Nein.“, sagte Crow, der Kyousuke mit gehobener Braue musterte.

„Nur ein paar vereinzelte Grüppchen, aber nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste.“, sagte auch Jack.

„Die Duellanten, die noch in Gruppen herumlaufen, scheinen harmlos zu sein.“, bestätigte Yuusei.

Alle sahen recht ruhig aus, aber Kyousuke war in diesem Moment aufgestanden. „Noch mögen es nur kleine, harmlose Gruppen sein, aber was, wenn sie wieder mehr Mitglieder bekommen? Wir dürfen nicht zulassen, dass unser Ziel, für das wir so hart gearbeitet haben, wieder in sich zusammenfällt! Jeder, der noch im Besitz einer Duel Disk muss bekämpft werden! Alles klar, Leute? Wir werden morgen und auch die kommenden Tage weiter raus gehen und uns diese kleinen Gruppen nach und nach vorknöpfen!“

Yuusei, Jack und Crow nickten nur langsam. Ich merkte, dass auch sie sich Gedanken zu machen schienen. Aber da Kyousuke auch ihr Freund war, sagten sie nichts weiter. Immerhin war es ja kein Verbrechen, noch ein paar kleinere Gruppen zu besiegen. Aber... lohnte sich das auch?.

War das wirklich der richtige Weg?

War das eigentliche Ziel von Team Satisfaction nicht das gewesen, aus Satellite einen sichereren Ort zu machen?

Warum nur hatte ich immer mehr das Gefühl, als hatte Kyousuke vor, aus uns nicht nur die vorherrschende Duel-Gang zu machen, sondern ganz Satellite zu kontrollieren?

Aber das war absolut unmöglich. Selbst, wenn es keine Gegner mehr gab, so gab es immer noch die Security, die die Kontrolle über Satellite und uns Einwohner hatte.

Die Security, die uns daran hinderte, aus Satellite zu fliehen.

In jenem Moment, als mir dies bewusst wurde, wurde mir auch zum ersten Mal klar, was die ganze Zeit in Kyousukes Kopf vorgehen musste. Das meine dunklen Vorahnungen sich vielleicht doch bewahrheiteten. Und dieser Gedanke daran ließ mich wie Espenlaub zittern.

Hatte er wirklich vor, eines Tages die Security anzugreifen?

Nineteenth Satisfaction: Zerbrochene Träume

Es gibt einfach gewisse Dinge im Leben, von denen wünscht man sich, sie würden nie vergehen. So sehr, dass man Angst bekommt. Und dann versucht man, diese Angst mit allen Mitteln zu bekämpfen. Das Problem ist dabei oft nur, dass man dadurch alles nur schlimmer macht.

Ich bin mir sicher, Kyousuke hatte Angst davor, seine Freunde zu verlieren. Jetzt, wo wir doch eigentlich alle Duel-Gangs besiegt hatten, hätten wir das Leben genießen können. Soweit, wie man es an einem Ort wie Satellite eben genießen konnte. Aber Kyousuke wollte nicht aufhören. Immer weiter machen und mit jeder Sekunde, die nun verstrich, hatte ich das Gefühl, er würde sich damit sein eigenes Grab schaufeln. Wir hatten doch eigentlich alles erreicht, aber dennoch gab er sich nicht zufrieden. Und der Gedanke, dass er sich immer mehr in eine schier irre Idee verrannte, machte mir Angst. Er hatte Ziele gehabt, Träume, Hoffnungen, mit denen er Yuusei, Jack, Crow und mich, angesteckt hatte. Aber mittlerweile befürchtete ich, dass Kyousuke langsam Größenwahnsinnig wurde.

Ich wollte nicht über solche Dinge nachdenken. Versuchte, sie aus meinem Kopf zu verbannen. Diese Gedanken einfach wegzusperren. Vielleicht würde dann alles so bleiben, wie es bisher immer gewesen war.
 

Wir trafen uns am nächsten Tag, wie besprochen, um noch die übrig gebliebenen und eigentlich völlig harmlosen Gangs zu besiegen. Yuusei, Jack und Crow konnte man ansehen, dass sie nicht wirklich Lust hatten, aber sie beschwerten sich auch nicht, als wir loszogen.

Ich sah darin auch keinen Sinn, aber Kyousuke war nun mal unser Freund. Außerdem hätte ich ihm selber auch nichts abschlagen können.

Wir begannen damit, die Bezirke systematisch abzuklappern.

Kyousuke sah sich immer wieder um, während wir durch den ersten Bezirk liefen.

Es wirkte ruhig, während wir durch die schmale Gasse, des Hochhäuserblocks liefen.

„Du bist dir sicher, hier waren noch welche?“, hörte ich Kyousuke Yuusei fragen, der daraufhin nur nickte.

Es wirkte hier wirklich so gespenstig ruhig, dass man tatsächlich meinen könnte, keine Menschenseele würde hier noch leben.

Aber Yuusei hatte Recht.

Nachdem wir das Ende der Gasse fast erreicht hatten, ertönte ein lautes Scheppern und ein Junge, in etwa in unserem Alter, sprang hinter zwei großen Müllcontainern hervor und rannte, was das Zeug hielt.

Auch über unseren Köpfen schien plötzlich die Hölle ausgebrochen zu sein, als wir nach oben zu einem der Hochhäuser sahen. Zwei weitere Jungs liefen dort das Treppengeländer entlang. Der eine nach unten, der andere noch oben in Richtung Dach. Und noch zwei weitere kamen gerade aus einem alten, leerstehenden Fahrradladen, direkt vor uns.

Ich sah zu Kyousuke, der grinste und leise lachte. „Sehr gut! Dann machen wir uns an die Arbeit, Leute!“, rief er und rannte los in die Richtung des Fahrradladens.

Jack und Yuusei liefen zu dem Hochhaus, um ihre Gegner dort zu stellen und Crow war dem Jungen nachgerannt, der sich hinter den Müllcontainern versteckt hatte. Ich blieb ein paar Sekunden unschlüssig stehen, aber rannte dann Kyousuke hinterher. Warum taten wir das nur? Diese Kerle hatten doch mehr Angst vor uns, als wir vor ihnen hätten haben müssen.

Ich sah wirklich keinen Sinn darin, aber dennoch schnitt ich meinem Gegner den Weg ab.

Der Junge war vom Fahrradladen aus in eine Gasse gelaufen, zu der ich über eine Abkürzung kam.

Mein Weg hatte mich über eine Mauer geführt, auf die ich mithilfe eines andern Müllcontainers klettern konnte und von dort sprang ich nach unten und meinem Opfer direkt entgegen.

Mein Gegner war ein recht klein geratener, schwarzhaariger Junge mit Sommersprossen. In etwa in meinem Alter.

Er hatte keine große Chance, als ich schon mein Duell-Seil geschwungen hatte, welches sich an seinem linken Handgelenk verhakt hatte.

Zum Duell gezwungen, blieb er stehen.

Es war auch kein sonderlich langes Duell. Er war nicht wirklich gut.

Nach ein paar wenigen Zügen hatte ich ihn schon erledigt und er landete vor Schreck mit rauchender Duel Disk am Arm auf seinem Hosenboden.

„B-Bitte... t-tu mir nichts!“, stammelte er und ich musste leicht schlucken.

Ich hatte noch nie wirklich Mitleid mit meinen Gegnern gehabt, aber dieser Kerl vor mir, wie er völlig verängstigt dort saß, löste es dennoch unwillkürlich in mir aus. War das wirklich noch richtig? Ich wusste es nicht. „Tut mir Leid...“, flüsterte ich und lief an ihm vorbei, nachdem ich meine Duel Disk deaktiviert hatte.

Ich fühlte mich nicht mehr wirklich gut, aber verdrängte dieses Gefühl. Es war nicht okay, Mitleid mit dem Feind zu haben.
 

Auf meinem Rückweg traf ich Crow und Yuusei, die bereits auch fertig waren.

Crow wirkte etwas angenervt, während Yuusei wie immer schwieg. Aus seinem Gesicht konnte ich nicht viel lesen.

„Wie lief's bei euch?“, fragte ich, während wir zu dritt Ausschau nach Jack und Kyousuke hielten.

„Eigentlich ist das voll schwachsinnig.“, murmelte Crow und verschränkte seine Arme hinter dem Kopf. „Die Typen sind total harmlos. Das sind keine starken Duellanten. Vor denen muss man sich nicht fürchten. Kiryuu übertreibt langsam ein wenig. Seit wir Bezirk M eingenommen haben, ist er eh etwas seltsam geworden...“

Ich gab ein hörbares Seufzen von mir. „Ich mache mir etwas Sorgen um ihn... Ich hab irgendwie so ein komisches Gefühl, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.“

„Mir geht es nicht anders. Ich hoffe, er hat nicht vor, etwas Dummes zu tun.“, antwortete Crow.

„Ich sorge mich auch ein wenig. Aber Kiryuu ist unser Freund. Wir sollten ihm vertrauen. Er wird schon wissen, was er tut.“, sagte Yuusei.

Er vertraute Kyousuke wirklich blind und ich schämte mich fast dafür, dass ich immer noch so misstrauisch war. Oder vielleicht wieder? Eventuell war es auch gar kein Misstrauen, sondern einfach Angst. Angst, ihn zu verlieren. Ich wollte Kyousuke immerhin vertrauen!

Nach einer Weile kam uns auch Jack entgegen, der ebenso relativ genervt wirkte, aber sich nicht großartig äußerte. Weder Crow, Yuusei, noch ich, fragten groß nach.

Und ehrlich gesagt: Auf einen zickigen Jack konnte ich gut verzichten.

So liefen wir weiter durch die Straßen, bis wir Kyousuke auf uns zukommen sahen. Er grinste und wirkte immer noch mehr, als nur übermotiviert.

„So. Die haben wir abgehakt. Welche Bezirke stehen noch aus?“, fragte er voller Elan.

Da Jack und Crow schwiegen, erzählte Yuusei Kyousuke davon, in welchen Bezirken sie noch Gegner gestern hatten ausmachen können.
 

Kyousuke scheuchte uns in den darauffolgenden Stunden durch alle möglichen Bezirke.

Jeder Gegner stellte kaum eine Bedrohung dar, aber Kyousuke schien das Egal zu sein. Er betonte immer wieder, dass uns jede noch so kleine Gang einen Strich durch die Rechnung machen könnte, obwohl es so offensichtlich war, dass das nicht stimmte. Es war schwachsinnig. Aber wir ergaben uns dennoch weiterhin brav seinen Anweisungen. Wie Yuusei es ja auch gesagt hatte. Wir waren seine Freunde. Und wir vertrauten ihm. Vor allem ich. Trotz all meiner Angst.

Die Sonne war bereits am Untergehen, als wir uns wieder vor der alten Schule trafen.

Kyousuke wirkte recht zufrieden und ich fragte mich, ob es das vielleicht gewesen war. Hatten wir nun alle Duel-Gangs zerschlagen?

„Ich denke, das reicht für heute nun erst einmal.“, verkündete er und sah erst zu mir, dann zu Yuusei, Jack und Crow. „Morgen werden wir wieder ausziehen. Ich checke nochmal alles soweit ab und wir treffen uns wie heute hier vor meinem Unterschlupf.“

Die Anderen nickten langsam, wenn auch merklich schwermütiger als sonst.

„Bis morgen dann.“, sagte Crow und lief schon langsam vor.

„Wir sehen uns dann, Kiryuu.“ Auch Yuusei wandte sich zum gehen und Jack winkte nur zum Abschied ohne viele Worte. Dabei fiel mir auf, wie er noch einmal zu mir sah, ehe er Yuusei und Crow nachlief. Ich winkte ihnen auch noch nach, aber sah dann zu Kyousuke. „Und nun?“, fragte ich.

Kyousuke, der unseren Freunden noch nachgesehen hatte, wandte sich mir zu. „Lass uns hereingehen.“, sagte er und ging mit mir zur Feuerleiter.

In unserem Stockwerk angekommen traten wir ein. Ich fühlte mich müde, nahezu ausgelaugt und trottete zur Couch, auf die ich mich einfach fallen ließ.

Kyousuke legte seine Duel Disk ab und setzte sich neben mich.

Eine Weile beobachtete ich ihn, wie er einfach nur vor sich hinstarrte und an seinem rechten Daumennagel kaute. Mit seinem linken Fuß tappte er immer wieder auf den Boden. Ein Verhalten, dass für mich Unruhe, Nervosität und Angespanntheit ausstrahlte.

„Wir hätten noch weiter machen können... Vielleicht...“, hörte ich ihn murmeln, doch dann schüttelte er seinen Kopf und drehte diesen in Richtung Fenster.

Ich richtete mich etwas auf. Erst unschlüssig und nicht wissend, was ich tun oder sagen sollte.

Dann jedoch, umarmte ich ihn einfach leicht und kuschelte mich an ihn. Ich spürte, wie er unter dieser Geste verwirrt zusammenzuckte. „Ryoko-chan?“

„Bitte übertreib es nicht okay?“, platzte es aus mir heraus. „Ich vertraue dir, Kyousuke-kun. Du bist mein Freund und deswegen... Bitte mach keine Dummheiten.“

Kyousuke rührte sich kaum. Ich konnte nur seine Hand an meinem Rücken spüren und wie er mich näher zu sich zog. So nah, dass ich für einen Moment seinen Herzschlag hören konnte. Ich atmete seinen vertrauten Geruch ein und für wenige Minuten in denen wir so da saßen, schien die Welt wieder in Ordnung. „Mir passiert schon nichts, Ryoko-chan.“, sagte er nach einer Weile schlicht, aber mit seiner typischen, sanften Stimme.

Ob er überhaupt wusste, wie ich das gemeint hatte? Mir kam es fast so vor, als war er sich nicht im Klaren, worüber ich überhaupt sprach. Er sagte auch nichts weiter und ich ließ es dabei.

Die Erschöpfung des Tages ließ meine Augen immer schwerer werden.
 

Verschwommene Bilder flimmerten an meinen Augen vorbei.

Verzerrte Stimmen und ein Kinderlachen.

Eine Schattenhafte Gestalt, die vor mir stand.

„Guck Mal. Das ist ganz einfach. Hier hast du die Angriffspunkte und da die Verteidigungspunkte.“

„Uh.. Und die Sterne da?“

„Öhm.. Die zeigen an, ob für das Monster ein anderes Monster vom Feld gehen muss.“

Hatte ich so angefangen Duel Monsters zu lernen? Wer hatte es mir eigentlich genau beigebracht?

„Ich kann den Text da nicht lesen... Was steht da?“

„Moment, ich lese es dir vor.“

Ich versuchte mich zu erinnern, aber stattdessen wurden die Bilder nur verschwommener, verzerrter.

„Ryoko! Ryoko! Komm sofort mit mir nach Hause!“

Eine Hand, die grob nach mir griff und mich mit sich zog. Karten, die aus meiner Hand fielen.

„Ich will aber nicht gehen!“ Tränen, die meine Wangen benetzten. Ich rief etwas. Einen Namen? Nach Hilfe? Meine Worte verließen nur stumm meinen Mund und alles wurde schwarz. Kalt. Und Einsam.

„Ryoko? Ryoko... Versprich mir etwas, ja? Versprich mir, dass du niemals aufgibst, egal was auch immer passieren mag.“

Diese sanfte Stimme... Mama?
 

„Mama?“ Ruckartig schlug ich meine Augen auf und griff an meine Stirn. Mein Kopf schmerzte und meine Schläfen pulsierten, während ich mich langsam aufsetzte. Ein Traum?

Es war schon einige Monate her, seit ich das letzte Mal von meiner Kindheit geträumt hatte. Ich versuchte mich an die Stimme genau zu erinnern und an das Gesicht der Person, die versucht hatte, mir Duel Monsters beizubringen. Aber Nichts. Stattdessen schmerzte mein Kopf umso mehr. Wer war das gewesen? Ein Freund oder eine Freundin, die ich verdrängt hatte? Und das ich von meiner Mutter geträumt hatte...

Kopfschüttelnd sah ich mich um. Das fahle Licht des Mondes strahlte durch das Fenster. Von Kyousuke war weit und breit keine Spur. Mein Magen zog sich auf eine widerwärtige Art zusammen. Wo steckte er bloß? War er allein losgezogen? War er etwa zur...

Ich legte meine Arme um mich und versuchte diesen Gedanken zu verscheuchen. Vielleicht war er nur auf dem Klo oder auf dem Dach oder...

Mich zu beruhigen versuchend, kramte ich das Bild meiner Mutter heraus, was ich immer noch mit mir herumtrug. Ich strich über den gesprungenen Rahmen und über das Gesicht der Frau, die mich zur Welt gebracht hatte. Gerade jetzt wünschte ich mir, sie würde neben mir sitzen, mich in den Arm nehmen und mir einen Rat geben. Mich irgendwie beruhigen und mir sagen, dass ich mir keine Sorgen machen brauchte. Aber Mama war nicht da. Sie war weg. Tot. Und das schon seit Jahren. Ich versuchte meine Tränen zurückzuhalten. Sie hatte mir im Traum gesagt, dass ich nicht aufgeben durfte, egal was auch passierte. Ob sie das auch wirklich einmal zu mir gesagt hatte, konnte ich nicht mehr sagen. Zu lange lag die Zeit zurück.

Für einen Moment überkam mich die Idee, einfach zu Martha zu gehen und mir Trost bei ihr und einen guten Rat zu suchen. Aber diesen Gedanken verwarf ich sofort wieder. Ich wollte Martha nicht mit meinen Sorgen und Ängsten belasten. Sie hatte genug zu tun mit Jack, Yuusei, Crow und auch den anderen Kindern.

So steckte ich das Bild meiner Mutter zurück in meine Hosentasche und stand auf. Vor dem Fenster blieb ich stehen und sah nach unten. Es regnete leicht, wie es für diese Jahreszeit üblich war und ich gab ein Seufzen von mir.

„Kyousuke-kun... wo bist du nur?“

Ich versuchte, meine Nervosität zu unterdrücken. Es war ruhig auf den Straßen. Eigentlich ein gutes Zeichen, wenn ich so darüber nachdachte. Keine Sirenen, keine Motorgeräusche von den Wagen, der Security. Nichts. Nur das Prasseln des Regens und der Wind, der ab und an um die zerfallenen Häuser heulte. Langsam sank ich auf die Knie und lehnte mich an die Wand unter dem Fenster.

Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren und meine Augen fühlten sich schwer an...
 

„Ryoko-chan? Wach auf!“

Nur langsam öffnete ich meine Augen und blinzelte ein paar Mal kurz.

„Huh?“ Verschlafen rieb ich mir meine müden Lider und bemerkte Kyousuke, der vor mir stand. In der Hand hatte er eine Dose mit Lemon-Soda und ein noch verpacktes Melonenbrötchen.

Etwas schwerfällig setzte ich mich auf und nahm die Sachen entgegen. „Danke...“, nuschelte ich und öffnete die Dose. Mit dem ersten Schluck kamen auch langsam meine Erinnerungen zurück. Das ich Nachts aufgewacht war. Das Kyousuke verschwunden gewesen war.

„Du warst Nachts wach.“, sagte Kyousuke eher beiläufig und ich nickte langsam. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich wieder auf der Couch lag. Vermutlich hatte Kyousuke mich am Boden schlafend vorgefunden und wieder auf die Couch gehievt. Der Gedanke daran ließ mich erröten.

„Ich hab geträumt und bin davon aufgewacht. Wo warst du eigentlich?“, sagte und fragte ich, während ich die Packung meines Melonenbrötchens aufriss.

Kyousuke verschränkte seine Arme hinter seinem Kopf und lehnte sich zurück. „Ich hab was nachgesehen. Tut mir Leid, wenn du dir Sorgen gemacht hast.“, sagte er und blickte dabei zu mir.

„Ich hatte schon Angst, du wärst... irgendwo hingegangen und…“, begann ich aber verstummte schnell wieder.

Kyousuke hob eine Augenbraue und legte seinen Kopf schief. „Wo hingegangen? Ich bin kurz wohin gegangen und hab etwas geprüft, ja, aber wovon genau redest du gerade?“, fragte er. Ich winkte schnell ab. „Ach. Ist egal jetzt.“, log ich schnell. Ich konnte unmöglich sagen, dass ich überlegt hatte, ob er zum Security-Hauptquartier gegangen war. Das ging einfach nicht. Aber wenn er etwas „geprüft“ hatte... vielleicht war er wirklich dort gewesen?

Er bedachte mich noch eine Weile mit einem leicht verwirrten Blick, aber sprang schließlich auf, als ich fertig mit Essen und Trinken war.

„Wenn du soweit bist, können wir ja nun runter und auf Yuusei, Jack und Crow warten!“, sagte er voller Elan.

„Ähm, klar.“, antwortete ich nur.

Kyousuke schnappte sich seine Duel Disk und legte sie an. Ich tat es ihm gleich und gemeinsam verließen wir das Zimmer und gingen nach unten.

Vor der Haupteingangstür warteten wir. Es dauerte auch nicht lange bis Jack und Crow auftauchten. Zu meiner Verwunderung, wo sonst Yuusei meistens der Erste vor Ort war.

Viel geredet wurde nicht. Ich merkte nur, dass Crow immer wieder mal kurz zu Kyousuke sah und dann leicht den Kopf schüttelte. Kyousuke jedoch schien das gar nicht zu registrieren. Er blickte geradeaus die Gasse entlang, bis Yuusei endlich eintraf.

Kaum war Yuusei anwesend, plapperte er auch schon los. „Heute kümmern wir uns um die letzten verbliebenen Mitglieder von Team Insect aus Bezirk F!“, sagte Er voller Elan und aktivierte schon seine Duel Disk. „Wir sind immer noch nicht fertig mit der Eroberung von Satellite. Jeder mit einer Duel Disk ist unser Feind!“ Er hob kurz eine Faust und grinste dabei. Crow seufzte schwer und auch ich hatte das Bedürfnis es ihm gleich zu tun. Kyousukes Verhalten hatte langsam schon etwas von einem Diktator und ich hatte wieder das Gefühl, als würde heute etwas Schlimmes passieren.
 

Ich warf einen kurzen Blick in den Himmel. Er war grau und trist, voll mit den Rauchwolken der Fabrik, so wie fast immer eigentlich. Aber heute wirkte er besonders grau und unangenehm.

Zumindest glaubte ich nun zu wissen, wo Kyousuke in der Nacht hin verschwunden war und was er geprüft hatte. Er war allem Anschein nach noch einmal alleine nachsehen, wo sich noch Gegner befanden und hatte dabei wohl festgestellt, dass es immer noch ein paar Mitglieder von Team Insect gab. Auf dem Weg zu Zone F blickte ich immer wieder zu Kyousuke, neben dem ich lief. Er sah nur flüchtig zu mir und lächelte leicht. „Ist etwas?“

Ich zuckte leicht zusammen und schüttelte den Kopf. „Nein, nein, schon gut.“, sagte ich schnell.

„Mach dir keine Sorgen. Irgendwann gehört Satellite komplett uns!“, sagte er und ich zuckte mit den Schultern. Gerade deswegen machte ich mir ja Sorgen.

Wir erreichten Bezirk F gegen Nachmittag. Es fing langsam schon an, wieder zu dämmern und Kyousuke sah sich nach den Mitgliedern von Team Insect um. Diese hatten sich recht gut versteckt und es brauchte eine Weile, bis wir die ersten ausfindig gemacht hatten.

„Teilt euch auf und schnappt sie euch!“, rief Kyousuke und wir folgten seinem Befehl.

Ich folgte Kyousuke in die Richtung die er einschlug, bis ich ihn aus den Augen verlor. Dann hatte ich auch schon meinen ersten Gegner im Visier.
 

Ich weiß nicht mehr, wie viele Duelle ich an jenem Tag bestritt. Meine Gegner waren alle nicht sonderlich stark und teils jünger als ich. Es war bereits dunkel geworden, als ich einen lauten Schrei vernahm, der mich aufzucken ließ. Ich rannte aus der Ecke in der ich mich gerade befand und das was ich sah ließ mir den Atem stocken. Kyousuke stand dort vor einem der Mitglieder von Team Insect. Ein kleiner Junge, vielleicht zwölf oder dreizehn, der auf dem Boden lag. Seine Duel Disk qualmte und Kyousuke ging auf den Jungen zu. Ich konnte mich kaum bewegen. Fühlte nur, wie meine Beine zitterten, als Kyousuke einfach die Duel Disk des Jungen kaputt trat und dabei lachte. Es war dieses Lachen, was mich Jahre später noch in meinen Träumen verfolgen würde und mir einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. Unfähig mich zu rühren oder gar etwas zu sagen, sah ich dabei zu, wie er seinen Fuß langsam hob und auf den Jungen eintreten wollte. „Und genau deswegen sollte man sich nie halbherzig duellieren!“, rief er mit einer Aggressivität in seiner Stimme, die ich so nie gekannt hatte. Kyousuke-kun, hör auf!“, wollte ich sagen, aber meine Lippen zitterten zu sehr und ich kniff meine Augen zusammen. Dann hörte ich einen erneuten Schrei und riss meine Augen auf. Crow hatte sich auf Kyousuke gestürzt und diesen zu Boden geworfen.

„Beeil dich und lauf weg!“, rief er dem Jungen zu, während auch langsam Yuusei angelaufen kam.

Kyousuke richtete sich wieder auf, nachdem Crow ihn losgelassen hatte. „Was zur Hölle... Warum hast du das getan, Crow!?“, brüllte Kyousuke und verpasste Crow einen Schlag in den Magen.

Ich fühlte, wie Tränen meine Wangen hinabliefen und kniff meine Augen erneut zusammen.

Das durfte doch nicht wahr sein. Gestern war alles noch okay gewesen und nun? Warum passierte das nur? „Bitte hört auf!“, platzte es aus mir heraus, aber es half nichts.

„Jetzt beeil dich und verschwinde von hier!, hörte ich Yuusei zu dem Jungen sagen und dann wandte er sich ebenso an Crow und Kyousuke. „Crow, Kiryuu, das reicht!“

Aber Kyousuke dachte nicht daran aufzuhören. „Warum hast du...“. Er holte zu einem erneuten Schlag gegen Crow aus, wurde jedoch im nächsten Moment von Jack am Arm festgehalten, der nun auch dazugekommen war.

Yuusei hatte sich Crow geschnappt, um diesen festzuhalten.

„Lass mich los, Yuusei! Ich ertrag das nicht mehr länger!“, fauchte Crow und Yuusei ließ ihn los. Crow schnaufte kurz. „Duelle sollten Spaß machen und jeder sollte sich duellieren dürfen, egal wer er ist oder wo er herkommt!“, sagte er. „Und Niemand hat das Recht dazu, darüber zu urteilen– weder einer von euch noch ich!“

Ich verstand was Crow sagte. Es stimmte ja auch. Duelle sollten Spaß machen. Selbst ich, die sich jahrelang nie aus Spaß, sondern nur, um zu überleben, duelliert hatte, hatte verstanden, dass Duelle etwas waren, was eigentlich Spaß machen sollte. Ein Hobby und kein Zwang. Natürlich war es irgendwo ehrenhaft, sich für etwas zu duellieren, was einem wichtig war. Aber so? Dennoch konnte ich nichts sagen. Ich konnte mich einfach nicht gegen Kyousuke wenden. Wollte nicht glauben, was hier passierte, dass Kyousuke langsam wirklich...

„Was?“, knurrte Kyousuke, den Jack nun auch losgelassen hatte.

Crows nächste Worte und das, was dann geschah, brannte sich tief in mein Gedächtnis ein. Eine der vielen Erinnerungen, die mir Alpträume bescherten. Ich stand immer noch zitternd da. Fühlte, wie meine Beine nachgaben.

„Ich bin raus.“, sagte Crow, drehte sich um und ging einfach.

Hatte er das wirklich gesagt? War er wirklich gerade...?

„Crow...“ Selbst Yuusei wirkte fassungslos. Bestimmt dachte er, Crow würde noch einmal umdrehen und zurückkommen.

„Sind wir etwa kein Team!?“, rief Kyousuke ihm nach. „Hey Crow! Sind wir etwa keine Freunde!?“ Er schien nicht begreifen zu wollen, warum Crow gegangen war. Und all sein Rufen brachte nichts. Crow ging wirklich. Ohne sich auch nur noch einmal umzudrehen.

Und dann ging auch Jack. Er sagte keinen einzigen Ton und verließ das Szenario in eine andere Richtung als Crow.

"Jack, warte!" Dieser verzweifelte Ruf, war das einzige, zu dem ich mich noch durchringen konnte. Ich hoffte, dass wenigstens Jack noch umdrehen würde, wenn er meine Stimme hörte, doch nichts. Er war aus meinem Blickfeld verschwunden. Vielleicht hatte er sogar noch kurz zu mir gesehen. Ich weiß es nicht mehr.

Kyousuke brüllte ihnen immer noch nach und ich sank auf meine Knie. Ich konnte nicht mehr länger. Warum passierte das nur? Warum? Wieso?

Ich fühlte, wie noch mehr Tränen meine Wangen hinabliefen, während ich hörte, wie Kyousuke sich an Yuusei wendete. „Wir sind doch ein Team nicht wahr!? Wir sind doch Freunde oder etwa nicht!?

Yuusei sagte nichts, aber ich war mir sicher, ihn kurz nicken zu sehen. Zwischen all meinen Tränen erkannte ich kaum etwas.
 

Ich konnte einfach nicht glauben, was da gerade abgelaufen war. Ich wollte es nicht glauben. Ich wollte, dass alles nur ein böser Traum war. Das Jack und Crow einfach nur sauer waren, aber wieder kommen würden, wenn sie sich abreagiert hatten. Wir waren doch ein Team! Wir waren Freunde! Und sie alle... waren... meine Familie. Das durfte nicht passieren. Das war ein Traum. Ein Alptraum. Morgen wäre sicher wieder alles in Ordnung.

Ich fühlte, wie mir Jemand hoch half und mich in den Arm nahm.

„Du bleibst auch bei mir, nicht wahr?“ Es war Kyousukes Stimme. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Schmiegte mich nur zaghaft an ihn. Zu groß saß der Schock und zu tief die Angst.

Ich wollte einfach nur, dass das alles wieder werden würde. Aber tief in meinem Inneren war mir bereits klar, dass dieses Ereignis hier und heute, gleichzeitig auch das Ende von Team Satisfaction einläuten würde...

Twentieth Satisfaction: Kartenhaus

Stille. Aber es war keine beruhigende Stille. Sie wirkte erdrückend, gerade zu einengend.

Ich saß auf der guten, alten Couch, eingewickelt in meine modrige Decke und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Alles wirkte wie immer, aber nichts war mehr wie vorher. Ich hörte Kyousuke mit Yuusei im Nebenzimmer reden, aber eigentlich hörte ich gar nicht wirklich zu.

Die letzten Stunden kamen mir immer noch wie ein Alptraum vor. Das alles, was passiert war, war für mich kaum zu greifen. Kyousukes plötzlicher Sinneswandel. Das Crow und Jack einfach gegangen waren. Warum war das passiert? Ich fühlte mich schuldig. Wenn ich nur den Mut gehabt hätte, einzugreifen, wäre das doch sicher nicht passiert... oder etwa doch? Ich hätte Kyousuke nicht aus den Augen lassen sollen. Nicht zulassen dürfen, dass er...

Du bist eben einfach nutzlos und schwach, das weißt du selber, sagte mir meine innere Stimme und ich gab ihr recht. Ich kann einfach nichts. Ich hab total versagt. Ich hätte mit Kyousuke reden sollen. Ihm ins Gewissen reden sollen, aber ich hab nichts unternommen und nun...

Ich war nie darum verlegen gewesen, wenn es darum ging, meine wahren Gefühle vor ihm geheim zu halten, aber ich war zu feige gewesen, mit ihm über das zu Reden, was wirklich von Bedeutung gewesen wäre: Die Zukunft von Team Satisfaction. Aber hätte er mir auch zugehört?

Irgendwo hatte ich ja immer noch die Hoffnung, Crow und Jack würden zurückkommen.

Aber ich hatte Crow noch nie so wütend erlebt, wie heute. Und Jack? Jack, der sonst immer so laut war, war so still wie noch nie gewesen. Ich hatte erwartet, er würde Kyousuke anschreien, ihm ebenso eine reinhauen, wie Crow es getan hatte, aber nichts. Mir fiel ein, dass Jack immer sehr bewundernd von Kyousuke gesprochen hatte und in ihm wohl auch eine Art Vorbild gesehen hatte. Mir wurde bewusst, wie enttäuscht er von Kyousuke sein musste. Eigentlich hätte ich auch enttäuscht sein müssen. Wir alle hatten an seine Ziele geglaubt und seine Ideale als gut und richtig empfunden. Aber stattdessen fühlte ich nur Schuld, Selbsthass, abgrundtiefe Verzweiflung und Traurigkeit. Angst war auch dabei. Es waren so viele Gefühle auf einmal und ich kam darauf nicht klar.

Nach dem Tod meiner Mutter war mein Leben in Dunkelheit gehüllt gewesen und einen wirklichen Funken Licht hatte ich nicht. Nur meinen Erzeuger, an dem ich erst noch hing, der aber nach und nach zu dem Monster mutierte, welches mich in meinen Alpträumen heimsuchte.

Das Monster, das mich anbrüllte, mit klirrenden Flaschen in der Hand durch den Hausflur streifte und nach mir schlug, bis ich vor ihm davon lief.

Ich hatte versucht, stark zu sein, mir eingeredet, es würde mir an nichts fehlen, aber die Wahrheit war, dass viel zu viel fehlte. Ich war zu schwach, um wirklich aufzustehen, aber auch immer zu stark um einfach liegen zu bleiben. Und dann war da Kyousuke, der so unvermittelt, so plötzlich vor mir gestanden hatte und mir seine Hand gereicht hatte. Der mich aus dieser Trostlosigkeit gezogen und meinem Leben einen Sinn gegeben hatte. Ohne, dass ich es gemerkt hatte, hatte ich begonnen, mein Leben auf ihm und auf Team Satisfaction aufzubauen. Team Satisfaction und vor allem Kyousuke waren mein Zuhause geworden. Der Platz, an dem mein Herz sich Zuhause fühlte. Doch dieses Zuhause war von Anfang an so instabil, wie ein Kartenhaus gewesen und nun fühlte es sich an, als hätte jemand die unterste Karte einfach herausgezogen.

Das Kartenhaus war im Begriff, einzustürzen. Es fiel direkt über mir immer mehr in sich zusammen und begrub mich. Und plötzlich waren alle meine längst verdrängten Ängste und Sorgen wieder da.
 

Dennoch, obwohl ich so viel Angst hatte, klammerte ich mich weiterhin an Kyousuke. Ich liebte ihn zu sehr, als dass ich ihn einfach verlassen konnte. Er war der Strohhalm, an dem ich mich verzweifelt festhielt und ich hoffte so sehr, er würde zur Vernunft kommen, sich vielleicht bei Crow und Jack entschuldigen.

Ich hörte, wie er sich von Yuusei verabschiedete. Es war ein kurzer Abschied. Kalt und irgendwie steif. Einfach nicht so wie sonst.

Kyousuke kam zu mir und ließ sich neben mich auf die Couch fallen. Ich drehte meinen Kopf zu ihm, aber konnte nicht wirklich Emotionen in seinem Gesicht lesen.

Wusste nicht, ob er wütend oder traurig war. Vielleicht wollte er selber auch noch nicht wahr haben, dass Crow und Jack tatsächlich das Team verlassen hatten.

„Morgen Abend...“, hörte ich ihn murmeln.

„Morgen Abend?“, fragte ich nur sehr leise. Ich konnte ihn kaum ansehen.

„Treffen wir uns wieder.“

Ich wusste nicht, was ich daraufhin sagen sollte. Er wollte immer noch weiter machen? Aber es gab doch nun wirklich keinen mehr... Außerdem waren Jack und Crow... Mein Magen fühlte sich erneut seltsam an. Es war fast, als würde mein Körper bereits spüren, was da auf mich zukommen würde. Und langsam konnte ich die Frage oder eher gesagt, die Angst, die mich schon so lange zurückhielt, nicht mehr länger zurückhalten.

„Was wollen wir machen? Wir haben doch schon alle Bezirke-“

„Eine Sache liegt immer noch vor uns! Der letzte Kampf von Team Satisfaction ist immer noch nicht ausgetragen! Solange die Security immer noch die Straßen Satellites durchstreift, werden wir NIE die ultimative Befriedigung erlangen! NIE Frei sein können!“, unterbrach er mich.

Meine Kehle war trocken geworden. Eine Gänsehaut jagte über meinen Körper und ich zitterte.

„Das ist verrückt...“, flüsterte ich. „Absoluter Irrsinn. Die Security ist-“

Weiter kam ich nicht. Kyousukes Gesicht war direkt vor meinem. Wieder hatte er diesen irren Blick, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ und meinen Atem zum Stocken brachte. Er hatte mich grob an den Schultern gepackt.

„Du wirst mir doch helfen oder etwa nicht!? Du bist auf meiner Seite, hab ich recht? Wir machen das Zusammen! Zusammen können wir sie schlagen!“

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Nickte nur zitternd. Zum ersten Mal hatte ich Angst davor, dass Kyousuke mir weh tun würde, wenn ich widersprach. Dass er mich auch schlagen würde, wie er Crow geschlagen hatte. Oder wie mein Erzeuger es immer getan hatte.

Aber er ließ von mir ab und ich sackte auf der Couch zusammen.
 

Es war bereits Vormittags, als ich an jenem Tag aufwachte. Ich schlug meine Augen auf und stand auf. Für einen Moment glaubte ich wirklich, es wäre alles nur ein böser Alptraum gewesen. Ich sah mich um, hielt aber Inne, als Kyousuke das Zimmer betrat.

Auf den ersten Blick, wirkte er wie immer. Stellte mir eine Dose mit Lemon-Soda hin und begrüßte mich mit einem relativ engagierten „Guten Morgen“.

Nachdem er mir auch ein Melonenbrötchen gegeben hatte, setzte er sich zu mir.

„Heute Nachmittag treffen wir uns mit Yuusei.“, sagte er dabei.

Ich biss einen kleinen Bissen von meinem Melonenbrötchen ab und merkte, dass ich keinen Appetit mehr hatte, als mir langsam bewusst wurde, dass alles, was am Tag zuvor passiert war, doch kein Traum gewesen war. „Und die Anderen?“ Es war keine wirkliche Frage. Eher eine Hoffnung, die ich mir im Grunde eh in meinen Allerwertesten schieben konnte.

Kyousuke blickte plötzlich relativ starr gerade aus und zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“

Mir viel seine Aggressivität vom gestrigen Tage ein und mein Körper erschauderte. Gerade jetzt wirkte er jedoch sehr ruhig und ich wagte mich nicht, ihn noch einmal auf das Thema vom Vortag anzusprechen. Zu viel Angst hatte ich davor, dass er mich wieder an den Schultern packen und mich so anfahren würde.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte er mich und nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Getränkedose.

Aufgeschreckt blickte ich zu ihm. „J-Ja... Alles okay...“

Ich wusste, dass meine Stimme zitterte und ich nicht sehr überzeugend rüber kam.

Er legte unvermittelt einen Arm um mich und zog mich zu sich. „Tut mir Leid...“, flüsterte er mit einem Unterton in der Stimme, der fast nach Reue klang.

Ich frage mich heute noch oft, ob er in diesem kurzen Augenblick sich über dessen, was er angerichtet hatte, klar war. Ein kurzer, klarer Moment. Doch ich war zu jung gewesen, um zu verstehen, dass Kyousuke krank gewesen war. Das man ihm vielleicht nicht einmal die Schuld hätte geben können, für all das, was er getan hatte und noch tun würde, weil er absolut unzurechnungsfähig war. Diese Paranoia war schleichend vorangeschritten und im Begriff, immer schlimmer zu werden.

Ich kuschelte mich an ihn und es war gut. Obwohl ich immer noch Angst hatte. Obwohl mein Körper innerlich bebte. Es war gut. So konnte es gerade bleiben.

Ich spürte, wie Kyousuke mir durch meine Haare strich. Es schien mir, als hätte er diese Geste ewig nicht mehr benutzt. Schluckend dachte ich an die Tage zurück, in denen er es so oft getan hatte. Auch wenn ich es Anfangs immer gehasst hatte und mir vorgekommen war, wie ein kleines Kind. Aber irgendwann hatte ich es gemocht. Es hatte mich beruhigt, so wie jede seiner Berührungen mich beruhigt und eine wohltuende Wärme in mir ausgelöst hatte. Doch nun...
 

Nach dem Frühstück verschwand ich erst einmal im Bad und wusch mein Gesicht mit dem rostigen Wasser. Als ich in den Spiegel sah, bemerkte ich zum ersten Mal, wie erschöpft ich eigentlich wirklich aussah. Meine Haare wirkten noch viel strubbeliger und kaputter, als sonst und müde aussehende grünblaue Augen blickten mir entgegen. Meine Haut war noch blasser, als ohnehin schon. Außerdem hatte ich in den letzten Wochen merklich abgenommen. Schlank war ich schon immer gewesen, aber nun hatte ich mit ziemlicher Sicherheit leichtes Untergewicht.

Um es mit einem Wort zu beschreiben: Fertig. Ich sah ziemlich fertig aus.

Du könntest glatt Team Zombie beitreten, ging es mir durch den Kopf und ich grinste schief. Ich sah wirklich wie ein Zombie aus.

Als ich aus dem Bad zurückkam, sah ich Kyousuke am Fenster stehen.

Ich überlegte, ob ich zu ihm sollte, aber entschied mich dazu, kurz nach unten zu gehen. Nur ein wenig die Beine vertreten.
 

Es war relativ frisch und ich zog den Kragen meiner Weste mehr nach oben und den Schal etwas enger. Plötzlich ertönte eine Stimme.

„Onee-chan!“

Baff wandte ich mich um. Vor mir stand Mariko und neben ihr ein kleines Mädchen, welches meines Wissens nach, zu den Kindern gehörte, um die sich Crow kümmerte. Scheinbar war es mit Mariko befreundet.

„M-Mariko-chan... Was machst DU denn hier?“, fragte ich erstaunt.

„Miyu-chan hat mir erzählt, dass irgendwas wohl gestern Abend vorgefallen ist. Aber Crow und Jack wollen nicht darüber reden.“, sagte sie und ihre Augen wurden traurig. „Habt ihr euch nicht mehr gern?“

Das Mädchen, namens Miyu, nickte: „Crow hat uns nur gesagt, dass er ab sofort noch mehr Zeit mit uns verbringen wird, weil er weniger „zu tun“ hat.“

Ich wandte meinen Kopf gen Boden und seufzte tief. Zaghaft klopfte ich Miyu auf die Schulter und tätschelte Mariko den Kopf. „Wir... haben uns böse gestritten...“, begann ich langsam und zwang mich zu einem Lächeln. „Aber es wird sicher alles wieder gut! Immerhin ist es normal, dass man sich mal streitet oder nicht? Und am Ende verträgt man sich und hat sich wieder gern.“

Ich versuchte, meine Tränen zu unterdrücken und war gewillt, meinen eigenen Worten glauben zu schenken.

Mariko und Miyu nickten nur langsam.

„Ich kann zu Crow-Onii-chan ja sagen, dass er sich wieder mit euch vertragen soll.“, sagte Miyu dann. „Auf mich hört er bestimmt!“

Ich bewunderte den Enthusiasmus dieses kleinen Mädchens. Tief in meinem Inneren hoffte ich ja, dass es das schaffen würde. Aber ich kannte Crow nun schon lange genug und wusste, wie stur er war. Dasselbe traf auch auf Jack zu. Eigentlich bestand Team Satisfaction aus lauter Starrköpfen und Dickschädeln und Yuusei war der Einzige, den man als flexibel bezeichnen konnte. Selbst ich rannte ja gerne mit dem Kopf vor weg, gegen jede Wand.

„Ich... uhm … k-kann ja versuchen, mit Jack zu reden...“, sagte Mariko und lief dabei wieder puterrot an. Das brachte mich zumindest etwas zum Schmunzeln.

„Traust du dich das denn?“, fragte ich und versuchte, so gut, wie es mit meiner Gefühlslage nun mal ging, neckend zu klingen.

Mariko wurde noch röter und blickte lieber den Boden an. „I-Ich versuche es!“, sagte sie fast trotzig. „Ich will dir helfen, Onee-chan, dass ihr euch wieder vertragt... Außerdem... Mag er dich glaub...“ Sie wirkte ziemlich geknickt. Innerlich seufzend nahm ich sie in den Arm. „Das ist Quatsch. Ich glaub nicht, dass er mich mag. Wir streiten uns doch ständig!“, sagte ich einfach und versuchte zu lachen. Mariko sah zu mir hoch. „Okay?“ Sie schien ein wenig zufriedener, aber immer noch nicht wirklich glücklich.

„Warum magst du Jack eigentlich?“, fragte Miyu. „Crow-Onii-chan sagt immer, dass Jack ein Idiot ist.“ Mariko verzog ihr Gesicht zu einem Schmollen. „Jack ist kein Idiot! Er-“

doch weiter kam sie nicht.

„Ryoko! Hier steckst du!“ Kyousukes Stimme ließ mich und auch die beiden Mädchen aufschrecken.

Kyousuke sah zu den Kindern. „Was macht ihr hier? Seht lieber zu, dass ihr von hier verschwindet, bevor die Security euch noch schnappt!“, sagte er ziemlich bestimmt.

Mariko und Miyu waren so verschreckt, dass sie lieber das Weite suchten.

Ich schluckte, sah ihnen nach und dann zu Kyousuke. „Das hättest du auch etwas freundlicher sagen können!“, platzte es aus mir raus. Kyousuke wandte sich zu mir und ging auf mich zu. Ich trat einige Schritte rückwärts und wusste, dass ich nicht in diesem Ton hätte mit ihm reden dürfen. Er packte mich grob am Arm. „Wenn diese Typen dich hier erwischen, hast du bald noch einen Marker mehr und kommst ins Gefängnis!“, fauchte er und zog mich hinter sich her.

Ich wagte mich nicht, zu widersprechen und folgte ihm schweigend. Mein Herz hämmerte gegen meine Brust. Aber dieses Mal nicht vor Verliebtheit, sondern vor Angst.

Ich sagte den Rest des Mittags fast keinen einzigen Ton mehr und bearbeitete nur schweigsam neben Kyousuke mein Deck. Er hatte mir ein paar Karten gegeben, die er selber nicht brauchen konnte, die aber für mich recht nützlich waren. Mehr als ein „Danke.“, hatte ich aber nicht über die Lippen gebracht. Ich wollte ihn nicht noch mehr reizen.
 

Als der Nachmittag anbrach war es auch soweit und wir trafen uns mit Yuusei auf dem Dach von einem, der vielen leerstehenden Häuser. Von dort aus beobachteten wir das Geschehen auf den Straßen. Die Geräusche der Sirenen schallten bis nach oben und ich schluckte leicht, bei dem Anblick, der sich mir bot. Scheinbar hatte man bei der Security gut aufgestockt und den Beamten D-Wheels gegeben, um noch besser Jagd auf uns Duel-Gangs zu machen. Das bemerkte auch Yuusei sofort, der jedoch recht ruhig zu sein schien.

Kyousuke dagegen verzog seinen Mund nur zu einem breiten Grinsen.

In mir machte sich aber langsam die Panik breit. Kyousuke schien zu allem bereit zu sein und ich hatte Angst vor dem, was uns wohl bevorstand. Sein Grinsen machte dieses Gefühl nicht wirklich besser. „Wie sollen wir je gegen die ankommen, wenn die D-Wheels haben?“, murmelte ich kraftlos. Kyousuke haute mir sanft auf den Rücken. „Mach dir darum keinen Kopf. Wir sind viel stärker als die! Selbst wenn sie sich uns in den Weg stellen, haben sie keine Chance!“

Ich gab ein leises Seufzen von mir und blickte beinahe flehentlich zu Yuusei, der meinen Gesichtsausdruck wohl bemerkt hatte. Ich wollte ihm am liebsten sagen, wovor ich mich fürchtete. Immerhin hatte Kyousuke mir ja schon quasi seinen Plan gesteckt, aber ich traute mich nicht. Vor allem nicht, da Kyousuke direkt neben uns stand und es sicher gehört hätte.

Ich wollte ihn nicht verpetzten, aber im Nachhinein war mir klar geworden, dass es dumm gewesen war, nichts zu tun.
 

So verstrich die Zeit und die Sonne war langsam am Untergehen. Wir waren wieder in unserem Unterschlupf. Die roten Strahlen warfen ihr Licht in den Raum, wo die Wände weggerissen waren und auch großteils die Decke.

Wir saßen an einem der alten Holztische. Yuusei, Kyousuke und ich. Wie es zu erwarten war, hatten sich Jack und Crow wirklich nicht mehr blicken lassen. Es war eigentlich ein wirklich schöner Abend und der Sonnenuntergang war so wundervoll, dass ich ihn sicher genossen hätte. Aber ich konnte es nicht. Nicht bei dieser Angespanntheit.

Kyousuke saß da und hatte die Hände unter seinem Kinn ineinander gelegt. Sein Blick verhieß überhaupt nichts Gutes und irgendwie wartete ich nur noch darauf, dass er die Bombe endlich platzen ließ.

„Ich weiß, was noch zu tun ist!“, sagte er ziemlich überzeugt. Meine Finger verkrampften sich und meine Fingernägel gruben sich in das morsche Holz. Ich biss auf meine Unterlippe und schloss meine Augen. „Wir werden die Security aus Satellite vertreiben. Ich werde nicht eher befriedigt sein, bis diese Typen unsere Heimat verlassen haben und das für immer! Wir werden sie vernichten und dann... erst dann, wird Satellite endlich uns gehören!“

Kyousukes Worte hallten in meinen Ohren und ich bekam mit, wie Yuusei neben mir ruckartig von seinem Stuhl aufgestanden war. „Was? Du willst die Security vernichten!?“, fragte er ungläubig und empört. Ich konnte in etwa nachvollziehen, was ihm gerade durch den Kopf ging. Aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich fühlte mich so schlecht und starrte nur auf den Boden, nachdem ich meine Augen wieder geöffnet hatte. Ich hatte das Bedürfnis, mich zu übergeben, so schlecht ging es mir. Mein Magen schmerzte und ich war wütend auf mich selbst. Wütend auf meine Feigheit, wütend auf meine Inkonsequenz und wütend auf meine dummen, dummen Gefühle, die ich für Kyousuke hegte.

„Ja.“, hörte ich Kyousuke bestätigend sagen. „Ich habe Team Satisfactions letzten Gegner gefunden.“ Seine Stimme hatte etwas beängstigendes in ihrem Tonfall. Ruhig und bedrohlich zugleich. Yuusei wollte immer noch nicht glauben, was Kyousuke da von sich gab. „Unseren letzten Gegner?“

„Nur, wenn wir sie besiegen, haben wir unser wahres Ziel erreicht und können die Übernahme von Satellite abschließen. Yuusei, bring Jack und Crow für mich her. Ryoko, du hilfst mir hier beim Vorbereiten. Wir vernichten sie alle zusammen. So, wie es sich für ein Team gehört.“
 

Ich zitterte und schreckte so fürchterlich zusammen, dass ich beinahe von meinem Stuhl fiel, als Yuusei mit beiden Händen auf den Tisch haute. Ich hatte ihn noch nie so wütend erlebt.

„Verstehst du das nicht, Kiryuu?! Du weißt, dass das glatter Selbstmord ist!“, rief er und ich spürte, wie langsam Tränen meine Wangen runterrannen. Ich wollte aufstehen. Weglaufen. Aber ich konnte mich nicht rühren. Das Gefühl, jeden Augenblick brechen zu müssen, wurde immer unerträglicher.

„Du willst doch jetzt nicht etwa kneifen, Yuusei?“, sagte Kyousuke immer noch in diesem bedrohlichen Tonfall.

Yuusei packte ihn am Kragen und ich wimmerte leicht. „Aufhören... HÖRT SOFORT AUF!“

Ich realisierte nur langsam, dass ich geschrien hatte. Unbewusst, war ich wohl auch noch aufgestanden. Mit wackeligen Beinen hielt ich mich am Tisch fest. Kyousuke und Yuusei starrten mich beide an. Ich konnte es nicht sehen, weil ich den Kopf immer noch gesenkt hatte, aber ich ahnte es. Als ich langsam aufsah, ließ Yuusei Kyousuke los. Nun blickte er zu Boden. „Kiryuu, ich kann nicht mehr länger bei dir bleiben. Du musst das alleine tun oder mit Ryoko zusammen, aber ohne mich. Ich verlasse das Team und dich.“

„Yuusei!“ Kyousuke rief ihm nach, aber Yuusei ging.

Ich hatte nie gedacht, dass Yuusei auch einfach gehen würde. Nie gedacht, dass er einen Freund im Stich lassen würde. Aber irgendwo verstand ich ihn.
 

Für einen Moment war ich versucht, ihm nachzulaufen. Auch einfach zu verschwinden.

Aber ich konnte es nicht. Ich konnte Kyousuke nicht auch noch im Stich lassen. Obwohl er mir so viel Angst machte, konnte ich ihn nicht einfach allein lassen.

Ich fühlte, wie Kyousuke mich an der Schulter packte und zu sich drehte. Allerdings nicht grob.

„Was ist mit dir, Ryoko? Willst du mich auch noch verlassen?!“, fragte er und ich schüttelte nur stumm den Kopf.

„Du bleibst bei mir, nicht wahr? Du hältst zu mir, oder?“ Er lachte leicht. Es war aber kein erleichtertes Lachen, sondern ein völlig abgedrehtes. Das Lachen, eines Verrückten.

Ich traute mich kaum, meinen Mund aufzumachen und nickte nur verängstigt.

In diesem Moment, fühlte ich, wie Kyousuke mich in seine Arme zog. Mich so eng an sich presste, wie noch nie zuvor. „Bitte verlass du mich nicht auch noch!“, hörte ich ihn sagen und meine Augen weiteten sich, als ich seiner Stimme Verzweiflung entnehmen konnte. „Bitte bleib bei mir! Du darfst mich nicht verlassen, Ryoko-chan... Ich brauche dich!“

Mir stockte der Atem. Mein Herz pochte so laut, dass ich es kaum ertrug. „K-Kyousuke-kun...?“

„Ich will dich nicht verlieren... Ich brauche dich. Du bist alles, was ich noch habe...“

Ich fühlte, wie sich seine Finger in meinen Rücken krallten. „Du bist mir so wichtig geworden in all der Zeit. Ich will nicht mehr ohne dich sein! Ryoko-chan, ich...“

Für ein paar Sekunden schien die Welt völlig still zu stehen. Wollte er mir etwa sagen, dass er...? Würde er mir die Worte sagen, die ich mir schon so lange von ihm zu hören wünschte?

„Du bist wie eine kleine Schwester für mich!“

Twenty-first Satisfaction: Ein wahr gewordener Alptraum

„Du bist wie eine kleine Schwester für mich.“

Dieser Satz hallte in meinen Ohren. In meinem Kopf. Immer und immer wieder. Eine Endlosschleife, aus der es kein Entkommen gab. Solange nicht, bis ich wirklich realisiert hatte, was er da gesagt hatte. 'Wie eine kleine Schwester' Ich spürte, wie sich etwas in mir zusammenzog. 'Wie eine kleine kleine Schwester.' Der Schmerz in meiner Brust vergrößerte sich von Sekunde zu Sekunde, je länger mir der Satz im Kopf herumschwirrte. Die gemeine Stimme, die hämisch in meinem Kopf kicherte und mich für meine Naivität auslachte, auch nur eine Sekunde daran geglaubt zu haben, Kyousuke würde das selbe für mich empfinden, wie ich für ihn. Ich realisierte kaum, was ich tat. Irgendwie musste ich ihn weggestoßen haben und rannte los, während unzählige Tränen sich ihren Weg über meine Wangen bahnten und mir die Sicht verschleierten.

Kyousukes Stimme erschien weit entfernt, während er nach mir rief, doch dann fühlte ich eine Hand, die meinen Arm festhielt.

„Ryoko, bleib bei mir! Verlass mich nicht auch noch!“

Er drehte mich zu sich um und für einen Moment starrte ich ihn an. Starrte in dieses helle Grün, das mir so viel Hoffnung gegeben hatte. Doch da war nichts mehr. Keine Hoffnung, kein Licht, nicht mal mehr der Hauch von dem Gefühl, beschützt zu werden. Mein Herz zersplitterte in diesem Moment in tausende Scherben. „LASS MICH LOS! ICH HASSE DICH!“

Mir war in jenen Sekunden nicht bewusst, was ich da eigentlich sagte oder tat. Ich musste ihm eine Ohrfeige verpasst haben und mich dann wieder losgerissen haben.
 

Ich rannte weiter, nach unten. Immer und immer weiter, während ich bis auf die Tränen nichts mehr von meiner Umgebung wahrnahm. Es war vorbei. Endgültig vorbei.

Irgendwo fiel ich auf die Knie und übergab mich. Meine Brust schmerzte und die Übelkeit wurde auch vom Brechen nicht besser. Irgendwann saß ich einfach nur noch da, spuckend und hustend. Ein zitterndes Häufchen Elend. Ich konnte mich gerade so dazu bewegen, aufzustehen. Hatte völlig die Zeit vergessen oder wo genau ich war. Nur sehr langsam nahm ich meine Umgebung wieder wahr und stellte fest, dass mich meine Füße wohl instinktiv zum Schrottplatz getragen hatten. Ich stand vor dem Zaun, der diesen umgab und dackelte immer noch wankend und hundeelend durch den Eingang. Verloren schlenderte ich durch die Berge von Müll. Es war der vertraute Geruch von modrigem Holz, verbranntem Gummi und rostigem Metall. Als ich bei der Stelle ankam, wo früher mein Versteck gestanden hatte, stellte ich fest, dass es völlig in sich zusammengefallen war. Die Plane lag auf dem Boden und auch die Metallstangen lagen verstreut. Lediglich die Regentonnen standen noch da.

Mein altes Zuhause war zerstört. Genauso zerstört, wie mein Herz. Ich ließ mich auf die Plane fallen und kauerte mich zusammen. Meine Arme eng um mich geschlungen, vergrub ich meinen Kopf zwischen meinen Knien. Genau hier hatte es angefangen. An diesem Ort hatte Kyousuke mich damals gefragt, ob ich Team Satisfaction beitreten wollte. Und auch wenn ich erst hatte ablehnen wollen, so war es im Endeffekt die beste Entscheidung meines Lebens gewesen. Doch nun fühlte es sich an, als hätte ich ihn besser nie kennengelernt. Als wäre es das Beste gewesen, wenn ich ihm nie begegnet wäre.
 

Als ich meinen Kopf von meinen Knien hob, war es bereits dunkel geworden. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich geweint hatte, aber irgendwann hatte ich einfach keine Tränen mehr übrig gehabt. Stattdessen überkam mich nun ein Gefühl, dass meinen Herzschmerz nur noch schlimmer machte: Schuld. Ich hatte Kyousuke – es viel mir schwer seinen Namen auch nur gedanklich auszusprechen – alleine gelassen. Ich hatte mein Versprechen ihm gegenüber gebrochen, schlimmer noch, ich hatte ihn angeschrien und behauptet, ich würde ihn hassen, ich hatte ihn geschlagen und war vor ihm davon gelaufen.

Letztendlich war ich ihm in den Rücken gefallen, so wie Yuusei, Jack und Crow es getan hatten. Aber eigentlich hatten sie alle gute Gründe gehabt und ich war mir sicher, dass keiner von ihnen sich so schuldig fühlte, wie ich es tat. Und diese Schuld lastete noch schwerer auf mir, als all mein Herzschmerz. Sie stach noch tiefer in meine Brust und erdrückte mich innerlich. Ich musste zu ihm zurück. Auch wenn es vielleicht bereits zu spät war und ich mich kaum traute, ihm nach allem, was ich gesagt und getan hatte, kaum mehr unter die Augen treten konnte, aber meine Schuldgefühle trieben mich zu ihm zurück. Es war dumm und Angst vor ihm hatte ich nach wie vor. Wahrscheinlich hatte ich mit meinem Verhalten erst recht das Fass zum überlaufen und den Stein ins Rollen gebracht. Wenn ich damals doch nur geahnt hätte, dass ich zum Teil wirklich mitverantwortlich für das gewesen war, was passierte.

Ich fühlte mich immer noch wackelig auf den Beinen, als ich aufstand und loslief. Mir war schwindlig von all der Kotzerei und außerdem war mir kalt, doch das interessierte mich nicht. Ich wollte einfach nur zu ihm zurück und es irgendwie wieder gut machen. Auch wenn er meine Gefühle nicht erwiderte, so war er dennoch immer noch mein Freund, mein Teamkamerad und mein Leader. Er war alles was ich noch hatte. Meine einzige, wirkliche Bezugsperson! Irgendwo aus der Ferne vernahm ich ein Geräusch, dass dem einer Explosion gleich kam und ein ungutes Gefühl machte sich in meinem Magen breit. Ich ahnte das Schlimmste und das Schlimmste daran war, dass meine Ahnung sich sogar bestätigen sollte. Dass er es wirklich getan hatte. Je näher ich unserem Hauptviertel kam, umso klarer wurde es mir.

Bald hörte ich sie von überall: die Geräusche der Sirenen von den Autos und D-Wheels der Security. Ich tat gut daran, mich nicht von ihnen erwischen zu lassen und rannte weiter, bis ich ihn sah.

Es war eine Straße mit mehreren, aneinander gereihten, mehrstöckigen Wohnhäusern mit äußerem Treppengeländer.

Kyousuke rannte in ein Gebäude. Einige Meter hinter ihm hörte man schon die Security ankommen und ich lief los, so schnell ich konnte.

Ein Security-Kerl kam mit seinem D-Wheel um die Ecke und wollte mir indirekt den Weg versperren, doch ich sprang recht behände über die Motorhaube des Fahrzeugs und rannte in das verlassene Etagenhaus. Ich stieß jede Tür auf, überquerte jedes Hindernis und sah in jeden Raum, bis ich ihn schließlich fand.

Kyousuke saß links von einem der Fenster, wo immer wieder das Licht der Scheinwerfer durchfiel.

Kyousuke schwieg und sah immer wieder zu dem Fenster. Von unten hörte man deutlich die Stimmen, der Security Männer, die zu wissen schienen, dass Kyousuke sich hier drin versteckte.

Ich lief zu ihm. „Kyousuke!“

Mein Herz zog sich auf eine ekelhafte Art zu zusammen, als ich ihn ansah.

Er starrte mich an. Im ersten Moment wirkte er überrascht und ich schluckte leicht, weil ich damit rechnete, er würde sich für das alles eben an mir rächen wollen, doch er tat nichts. Stattdessen sah er mich nur an und für einen Moment hatte er wieder diesen gequälten Gesichtsausdruck. Eine Mischung aus Erleichterung aber auch, als würde er sich schuldig fühlen. Als würde mein Anblick gerade ihm genauso wehtun, wie sein Anblick mir wehtat. Das war der Moment, in dem mir noch einmal wirklich bewusst wurde, dass es nie wieder werden würde, wie früher.

„Was hast du getan!?“, rief ich, obwohl ich die Antwort schon kannte.

Kyousuke stand auf, packte mich am Arm und hielt mir mit der anderen Hand den Mund zu.

„Nicht so laut!“, zischte er leise und zog mich in seine Ecke, wo er mich mehr oder weniger dazu nötigte, mich hinzusetzen.

Dann nahm er seine Hand von meinem Mund. Ich hustete kurz und hörte mein Herz lauter schlagen. Es schmerzte, aber dennoch hämmerte es wie wild gegen meine Brust. Ob es wegen Kyousuke oder vor Angst war, wusste ich nicht. Vermutlich von jedem etwas.

„Du bist also zu mir zurückgekehrt?“, hörte ich ihn sagen. „Du willst doch bei mir bleiben?“

Ich wusste kaum, was ich darauf antworten sollte. Nur schwer bekam ich meine Zähne auseinander. „Ich... Es tut mir Leid... Dass ich dich geschlagen habe und gesagt habe, ich würde dich hassen...“

Ich musste mich arg beherrschen, nicht wieder zu weinen.

Kyousuke drückte mich einfach an sich. „Schon okay... Es tut mir auch Leid... Ich...“

Er wollte etwas sagen. Das spürte ich. Doch es kam nichts. Stattdessen drückte er mich nur an sich. „Ryoko-chan.“ Das war alles, was er von sich gab.

Kurz saßen wir noch da. Ich hatte meinen Kopf leicht an ihn gelehnt und für einen Moment meine Augen geschlossen. Bis ich hörte, wie Kyousuke seine Duel Disk aktivierte. Ich öffnete meine Augen wieder und vernahm Schritte.
 

Innerlich zog sich alles in mir zusammen. Hatte die Security einen Weg nach oben gefunden?

Doch dann klappte mir der Mund auf. Die Tür des Raumes, die ich kurz nach meinem Betreten wieder hinter mir zugemacht hatte, wurde aufgerissen und Jack und Crow standen plötzlich vor uns.

„J-Jack? Crow?“, platzte es aus mir heraus. Und als ob das nicht reichte, klirrte es plötzlich laut, als Yuusei durch das kaputte Fenster gesprungen kam.

Kyousuke fing an zu lachen, was wieder einen Schauer über meinen Rücken jagte.

„Ich wusste es!“, rief er plötzlich strahlend und förmlich wie ausgewechselt. „Ihr seid echte Freunde! Einfach Team Satisfaction!“ Langsam stand Kyousuke auf und auch ich erhob mich.

Ich bemerkte, wie Jack mich kurz anstarrte. Sein Blick war bohrend, ganz so, als wollte er mich mit seinen Blicken dafür bestrafen, dass ich bei Kyousuke geblieben war. Dass ich damals nicht ihm hinterhergerannt war, wie er es sich vielleicht erhofft hatte. Doch er sagte nichts zu mir, sondern wandte sich nur an Kyousuke, den er nun fixierte. „Kiryuu, was hat dieser ganze Mist hier zu bedeuten?“, sagte er langsam.

Auch Crow, der ebenso kurz zu mir gesehen hatte, sah nun zu Kyousuke und begann zu sprechen. „Wir sind hier, weil-“, doch weiter kam er nicht, weil Kyousuke lachend auf ihn, Jack und Yuusei zulief und jeweils eine Hand auf Jacks und aufs Yuuseis Schulter legte, der sich an Crows linke Seite gestellt hatte.

„Die ganze Gang ist wieder zusammen!“

Er lachte, während ich immer noch beinahe wie angewurzelt da stand. Sein Blick hatte sich wieder verändert. „Ist das nicht großartig, Ryoko-chan!? Team Satisfaction ist wieder vereint!“, wandte er sich an mich und packte auch mich kurz an den Schultern. „Das hast du dir doch auch gewünscht, nicht wahr?“

Er lachte erneut, dass ich eine Gänsehaut bekam und sein Gesichtsausdruck war wieder der, eines irren Psychopathen.

Er ließ von mir ab und ging zum Fenster, aus diesem er nach unten sah. „Das ist definitiv das letzte Duell von Team Satisfaction!“, rief er in Richtung der Security, die immer noch unten stand.

Er lachte und lachte und ich kniff meine Augen zusammen und hielt mir die Ohren zu, weil ich dieses irre Gelächter kaum mehr ertragen konnte. Mein Körper zitterte schon wieder und ich hatte schon wieder das Bedürfnis, mich übergeben zu müssen. Wann hörte dieser Alptraum nur endlich auf? Wann würde ich endlich daraus aufwachen und feststellen, dass es nicht echt war, was sich hier gerade abspielte.

Dass dieser irre Kerl dort, nicht der echte Kiryuu Kyousuke war.

Ich fühlte eine Hand auf meiner Schulter und ahnte, dass es Jack war, der trotz allem wohl einen kläglichen Versuch startete, mich trösten zu wollen.

Aber in einer Situation wie dieser brachte mir das auch nichts.
 

Kurz öffnete ich meine Augen wieder. Kyousukes hysterisches Lachen war ein wenig leiser geworden und Jack hatte meine Schulter los gelassen und war stattdessen mit Yuusei und Crow zu dem einzigen Tisch gegangen, der noch in dem Raum stand. Alle drei legten sie ihre Duel Disk ab und ich wusste, dass sie Kyousuke damit klar machen wollten, dass sie keine Lust auf dieses „letzte Duell“ hatten.

Jack sah kurz noch einmal zu mir, als hoffte er, ich würde es ihnen gleich tun, doch ich rührte mich nicht.

Kyousuke war im selben Moment verstummt und sah die anderen Jungs ungläubig an. Sofort lief er zu dem Tisch. „Hey, was macht ihr da!? Ich dachte, wir kämpfen zusammen!?“

„K-Kyousuke...“ Ich würgte es fast hervor, doch er beachtete mich nicht einmal wirklich in diesem Moment. „Kämpfen wir nicht unser letztes Duell!?“, redete er weiter auf die Anderen ein. Seine Stimme wurde wieder aggressiver.

„KYOUSUKE!“ Ich hatte alle meine Kraft zusammen genommen, um mir Gehör zu verschaffen. Kyousuke starrte mich an. „Was!? Willst du auch einfach aufgeben!?“, fauchte er mich regelrecht an, sodass ich einige Meter zurück stolperte und mich nicht traute, noch mehr zu sagen.

„Kiryuu, jetzt mach doch mal die Augen auf!“, sagte Jack streng.

„Du hast verdammt nochmal keine Chance, wenn du dich mit der Security anlegst.“, sagte nun auch Crow in einem ernsten Tonfall.

Doch Kyousuke schien immer noch nicht verstehen zu wollen. „Leute-“, fing er an, aber Yuusei unterbrach ihn in einem ruhigen Ton.

„Kiryuu. Hau mit Ryoko von hier ab.“

Aber Kyousuke sah ihn nur an und lachte wieder. „Das würde mich garantiert nicht befriedigen!“

Ich sagte nichts mehr. Es hatte keinen Sinn. Selbst Yuusei redete bei ihm gegen eine Wand und ich ertrug es kaum noch. Hatte damit zu kämpfen, dass mir schon wieder die Galle hochkam.

Warum wollte er nicht vernünftig werden? Warum!?

„Stellt euch doch mal vor, wir besiegen die Security und regieren Satellite zum ersten Mal wirklich!“, redete er weiter.

Ich griff mit meiner rechten Hand nach meinem linken Arm und starrte zu Boden. Erneute Tränen, von denen ich geglaubt hatte, sie alle längst weg geweint zu haben, bahnten sich ihren Weg über meine Wangen.

Kyousuke war verrückt geworden. Das war mir nun wirklich klar. Er hatte eindeutig den Verstand verloren und ich war mit daran schuld! Da war ich mir sicher. Nur weil ich all diese Dinge gesagt und getan hatte, war er vollkommen verrückt und absolut Irre geworden. Ich hörte seinem irren Gerede kaum mehr zu. Hörte nicht einmal mehr, was die Anderen gerade sagten. Es war mir auch egal geworden. Mein Kopf sagte mir, dass ich von hier weg musste, aber mein Herz hielt mich an Ort und Stelle. Dieser dumme, naive Teil, der einfach nicht loslassen konnte. Der einfach nicht glauben konnte, dass es vorbei war.
 

Erst, als ein erneuter explosionsartiger Knall ertönte, sah ich wieder auf. Kyousuke schien wieder in Richtung Fenster gegangen zu sein.

„Die Security fängt an, anzugreifen!“, sagte Yuusei. Und das war der Startschuss für den eigentlichen Alptraum.

Binnen weniger Minuten kamen unzählige Security-Männer an und uns allen blieb nur die Flucht aus dem Fenster des zweiten Stocks, in dem wir uns gerade befanden. Wir konnten nichts anderes als rennen.

Draußen regnete es mittlerweile in Strömen.

Mit den Sucurity-Fritzen auf den Fersen rannte ich, was das Zeug hielt und flitzte durch die Straßen. Die Anderen hatte ich längst aus den Augen verloren und selbst, Kyousuke, dem ich nachgelaufen war, war aktuell außerhalb meiner Sichtweite. Der Regen tat dazu sein Übriges. Ich lief weiter, bis ich ein lautes Krachen in einer der Gassen vernahm und dort hin rannte.

Das Bild, das sich vor meinen Augen abspielte, hatte etwas von einem Horrorfilm. Auf dem Boden lag einer der Männer der Security, scheinbar bewusstlos und Blut sickerte unter seinem Helm hervor. Das D-Wheel schien in die Wand eines Gebäudes gefahren worden zu sein und ich ging davon aus, dass Kyousuke und der Mann dabei von dem D-Wheel geschleudert worden waren, aber dass Kyousuke glimpflicher davon gekommen war, als der Mann. Und Kyousuke stand über dem bewusstlosen Mann. In den Händen eine Art Holzbrett oder was es auch immer war. „Ich muss die Security vernichten...“, hörte ich ihn sagen und wollte zu ihm. „KYOUSUKE, NI-“, fing ich an, aber in diesem Moment kam schon Yuusei an und stürzte sich auf ihn. Kyousuke ließ das Brett fallen und beide rollten auf dem vom Regen völlig nassen Boden herum, bis sie zum Stehen blieben und Kyousuke unter Yuusei lag, der ihn festhielt.

„Lass mich los, Yuusei! Ich muss die Security vernichten!“, fauchte Kyousuke immer wieder.

„Kyousuke, es ist vorbei! Bitte! Jetzt hör doch bitte auf!“, rief ich wieder verzweifelt. Aber meine Worte gingen mehr oder weniger im Prasseln des Regens unter, als auch schon Jack und Crow dazu kamen.

Yuusei ging von Kyousuke runter, der daraufhin von Jack und Crow geschnappt wurde und ins Innere von einem der umstehenden Gebäude verfrachtet wurde, damit die Security ihn und auch uns nicht entdeckte.

Mittlerweile hatte ich wieder aufgehört zu weinen, aber die Übelkeit war immer noch da und mein Herz fühlte sich schwer an, wann immer ich zu Kyousuke sah, der brüllte und schnaufte und einfach nicht begreifen wollte, dass er keine Chance hatte.

Yuusei, der etwas weiter vorne neben einem kaputten Fenster stand, sah heimlich nach draußen, wo die Autos der Security weiterhin mit lauten Sirenen durch die Straßen fuhren.

„Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bevor sie uns finden werden.“, sagte Jack.

Yuusei sah ihn an und dann zu uns. „Passt auf Kiryuu auf.“, sagte er schließlich und verließ das Gebäude.

Ich sah ihm nach und fragte mich in diesem Moment, ob wir Yuusei je wieder sehen würden.

Ich konnte von hier aus hören, wie er mit den Security-Männern sprach, konnte aber nicht wirklich genau heraushören, was er sagte. Aber ich war mir sicher, dass er versuchen wollte uns zu helfen. Doch die Hilfe kam längst zu spät.
 

Plötzlich wurde auch dieses Gebäude von Securitys gestürmt. Sie zwangen Jack und Crow Kyousuke loszulassen. Ein paar andere packten Kyousuke daraufhin.

Es fühlte sich nun wirklich wie in einem Alptraum an. „Lasst ihn los! Lasst Kyousuke gehen! LASST IHN!“, brüllte ich und wollte auf die Männer zustürmen. Aber ein starker Arm hielt mich fest. „LASS MICH LOS! JACK! LASS MICH! KYOUSUKEEEEEE!!!“

Ich wehrte mich vehement, aber Jack zog mich nach draußen, zusammen mit Crow und einigen anderen Securitys, die darauf aufpassten, dass keiner von uns abhaute.

Draußen schlug ich gegen Jacks Brust. Immer und immer wieder. „LASS MIIIICH! LASS MICH GEHEN!“

Tränen liefen über meine Wangen und ich brüllte mir die Seele aus dem Leib. Konnte nur zusehen, wie die zwei Männer Kyousuke aus dem Gebäude schleiften.

Yuusei schien irgendwie zu versuchen, auf einen der wohl höher gestellten Security-Mitglieder einzureden, aber ich hörte nicht wirklich zu. Ich wollte nur, dass diese Kerle meinen Kyousuke losließen. Das sie meinen Freund gehen ließen.

„JACK, LASS MICH LOS!“ Ich zappelte nur noch mehr, so dass Jack mich erst recht festhalten musste.

Der verletzte Beamte wurde gerade auf einem Wagen vermutlich zum nächstbesten Krankenhaus gefahren oder so und das einzige, was ich hören konnte war, wie der Haupt-Security-Fritze davon redete, dass wir Kyousuke nie wieder sehen würden.

Ich schaltete völlig ab. „LASS MICH!“, fauchte ich erneut und schaffte es, Jack meinen Ellenbogen in den Magen zu rammen und mich loszureißen. „NIEMAND SPERRT KYOUSUKE EIN!“ Ich wollte losrennen, aber nun hatte Crow mich in die Mangel genommen. „Ryoko-chan, hör auf!“

Ich konnte sehen, wie sie Kyousuke zu ihrem Transportwagen für Sträflinge führten und wehrte mich erst recht, als ich sah, wie Kyousuke sich umdrehte. „KYOUSUKEEE!“

Doch sein Blick galt nicht mir. Er war starr auf Yuusei gerichtet, der immer noch neben diesem Typen stand. Der Security-Chef klopfte Yuusei auf die Schulter. Es war genau dieses Bild, dieser Anblick, der zu diesem elendigen Missverständnis führen würde.
 

„YUUSEI!“ Kyousuke schaffte es, noch bevor die Türen hinter ihm zugemacht werden konnten, noch einmal sich komplett umzudrehen und wollte auf Yuusei loszugehen. „Du hast mich verraten!? Du hast mich an die Security verkauft!?“, fauchte er, aber die beiden Securitys packten ihn erneut, bevor Yuusei auch nur eine Chance hatte, irgendwas zu erklären. So viel bekam ich in der Schockstarre mit, die mich nun gepackt hatte, nachdem meine Stimme komplett versagt hatte.

Sie warfen Kyousuke einfach in das Innere des Transportwagens und knallten die Türen zu.

Dann fuhren sie davon. Ich konnte Kyousukes Schreie noch ewig lange hören, so kam es mir vor. Ich zappelte wieder, krächzte mit dem letzten Rest Stimme, dass ich noch besaß immer wieder Kyousukes Namen.

Mittlerweile hatte Jack mich wieder gepackt, weil es für Crow wohl unmöglich geworden war, mich weiter festzuhalten.

Langsam aber ließ er mich los, nachdem auch die letzten Wagen der Security abgezogen waren.

Yuusei schrie Kyousuke auch nach, aber es interessierte mich nicht mehr.

Ich sah ihn nicht einmal mehr an. Ich stand nur da. Einfach nur da. Bis Jack wieder meine Schulter berührte. „Ryoko...“ Ich drehte mich zu ihm um und verpasste ihm einen, meiner Meinung nach, extrem kräftigen rechten Haken.

„ICH HASSE EUCH ALLE!!! ICH HASSE EUCH!“ Das war das Letzte, was ich noch fauchte, bevor ich einfach losrannte.

Mir war es egal, wohin ich lief, mir war es egal, was mit den anderen war. Mir war egal, was Yuusei getan hatte oder versucht hatte zu tun, mir war egal, ob Jack und Crow es nur gut gemeint hatten. Meinetwegen konnte jeder von ihnen in diesem Moment einfach nur verrecken! Ich würde Kyousuke nie wieder sehen. Ich würde nie wieder bei ihm sein können. Ich würde nie wieder seine Stimme hören können, nie wieder in seine Augen gucken können, nie wieder seine Umarmungen spüren können, nie wieder hören können, wie er mich „kleiner Teufel“ nannte. Nie wieder. Ich würde ihn nie wieder sehen!

Ich lief noch eine ganze Weile, bis ich vor der verlassenen Oberschule zusammenbrach und mich erneut übergab.

Ich zitterte, hyperventilierte so stark, dass ich zu ersticken glaubte. Meine Brust tat höllisch weh. Mein Magen schmerzte. Und ich heulte und heulte und heulte. Es wurde nicht besser.

Nichts würde je mehr besser werden.
 

Ich saß lange da. Hatte mein Leben nun überhaupt noch einen Sinn?

Wie von Geisterhand griff ich in meinen Stiefel zu dem Klappmesser und starrte es an. Es wäre so einfach, meinem Leben ein Ende zu setzen. Viel zu verlieren hatte ich nicht.

Doch ich konnte es nicht. Kyousukes Gesicht tauchte vor meinem geistigen Auge auf. Seine Stimme. Wie er mir immer Mut gemacht hatte. Es brachte mich zwar nur noch mehr zum Weinen, aber es hielt mich auch davon ab, etwas Dummes zu tun.

„Aber das ist alles meine Schuld, du Idiot!“, rief ich heulend in die Nacht. „Wenn ich nicht.... Dabei... liebe ich dich doch so sehr...“

Ich grub meine Finger in den matschigen Boden und verharrte noch eine Weile. Nur langsam konnte ich aufstehen, nahm das Klappmesser und stopfte es in meinen Stiefel zurück.

Ich sah hoch, zu dem Gebäude und schlurfte darauf zu.

Stieg die Treppen des Außengeländers hoch und nach oben in das Stockwerk, wo die modrige Couch stand. Sie stand da, wie immer. Doch sie wirkte nicht mehr einladend.

Vollkommen erschöpft und ausgelaugt ließ ich mich auf sie fallen und zog die durchlöcherte Decke über mich.

Sie erinnerte mich an meine erste Nacht hier. Damals. Als Kyousuke mich mitgenommen hatte.

Damals. Dieses Wort fühlte sich noch viel grausamer an.

Ich kramte das Bild meiner Mutter hervor und strich darüber. Doch nicht einmal das Gesicht meiner Mutter konnte den Schmerz vergehen lassen. Es erinnerte mich nur an den Tag, an dem Kyousuke, trotz seiner Krankheit, losgezogen war und es gefunden hatte.

Alles hier erinnerte mich an Kyousuke. Seine Präsenz, seine Anwesenheit, schienen immer noch diesen Ort zu erfüllen.

Und ich weinte mich in den Schlaf und hoffte inständig, dass wenn ich aufwachte, alles nur ein Alptraum gewesen war. Dass Kyousuke noch da war und mich wie immer mit einer Dose Lemon-Soda und Melonenbrötchen wecken würde... So, wie immer...


Nachwort zu diesem Kapitel:
Vielleicht lehne ich mich hier ein wenig zu weit aus dem Fenster, vielleicht auch nicht. Da nichts über Kiryuus Vergangenheit vor Team Satisfaction bekannt ist, bzw. allgemein nichts über seine Vergangenheit, betreffend dem Anime (Der Manga hat ja eine ganz eigene Geschichte!) bekannt ist, habe ich wirklich lange überlegt, ob ich in die Richtung etwas schreiben soll. Ich hoffe die Idee ist nicht zu unrealistisch oder unglaubwürdig. Mir war es persönlich sehr wichtig, ihm auch eine Vergangenheit zu geben, die noch ein wenig mehr erklärt warum er das alles macht und warum er so sehr den Wunsch hegt, aus Satellite einen "besseren" Ort zu machen. Ich hoffe, ich konnte mit meiner Idee eine "befriedigende" (*lach*) Lösung dafür finden. Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (60)
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Von: ShioChan
2016-01-30T16:46:27+00:00 30.01.2016 17:46
Aw ich hab so lange drauf gewartet. T^T endlich!
Das Kapitel war echt toll und traurig. T___T Arme Ryoko. Du hast sie aber auch wirklich super passend in diese Szene eingebaut. Großer Respekt.
Hoffentlich geht's bald weiter. T___T bin schon total gespannt, aber lass dich nicht hetzen. XD
Von:  fahnm
2016-01-29T21:51:01+00:00 29.01.2016 22:51
Arme Ryoko.
Ich bin sehr gespannt wie es weiter gehen wird.
Von:  iryo
2016-01-28T18:52:44+00:00 28.01.2016 19:52
Nawwwwwww qwq
Diese Szene habe ich im Anime gehasst XC
Ich hoffe doch dass alles gut wird qwq
Deswegen musst du schnell weiterschreiben ja?? qwq
Antwort von:  Mitsuki_Insanity
28.01.2016 20:35
nicht nur du. Ich hab da auch geflennt q__q
Aber ich bemühe mich, schneller nun wieder voran zu kommen beim Schreiben und bedanke mich sehr für das Kommi x3

Es wird ja nach Satisfy Me! - Ein neues Mitglied für Team Satisfaction noch zwei weitere Satisfy Me! - Teile geben :3
Antwort von:  iryo
29.01.2016 12:05
Echt??? O.o die muss ich lesen *^*
Von:  ShinoYuta
2015-10-07T14:11:20+00:00 07.10.2015 16:11
Waaaas ó____ò
Kann dem mal bitte irgendwer aufhalten?? TToTT
Mir tut ryoko grad so leid. Ich wüsste gar nicht was ich an ihrer stelle tun sollte. Ja gut, sie ja auch nicht so recht. Abe kiryu macht einem da wirklich angst >___< awww ich will wissen wie es weiter geht. Das ist ein richtig gemeiner cliffhanger *schreiend im kreis renn*
Von:  ShinoYuta
2015-10-07T13:41:30+00:00 07.10.2015 15:41
Omg ich hab so eine gänsehaut >___<
Das ist soo mega traurig aber auch ultra spannend. Da fiebert man wirklich richtig mit.
Von:  iryo
2015-09-14T13:44:33+00:00 14.09.2015 15:44
O.o...... hat der gerade?....... ne oder??...... arme Ryoko...... ich würde ihn an ihrer Stelle von sich weg drücken und ihm ins Gesicht sagen, das ich ihn Liebe und diese Sache totaler misst ist, dann würde ich gehen....... aber ich bin nicht Ryoko und deswegen freue ich mich aufs Nächste Kapi X3
Von:  fahnm
2015-09-13T23:44:41+00:00 14.09.2015 01:44
Super Kapitel
Arme Ryoko.
Der merkt nicht mal das sie was für ihn empfindet.
Von: ShioChan
2015-09-13T19:51:23+00:00 13.09.2015 21:51
Au! Das schmerzt! >.ò arme Ryoko.
Wirklich ein tolles Kapitel. >____< will wissen wie es weiter geht. *____*
Ryoko tut mir aber total leid, weil sie ja irgendwie zwischen zwei Stühlen sitzt. Ich kann ihre Angst verstehen.
Antwort von:  Mitsuki_Insanity
13.09.2015 22:26
das ist ein böser Cliffhanger, ich weiß q.q
aber danke fürs Lob >///<
Mir tut Ryoko ja auch immer Leid. Vor allem in der Situation. Es ist mies so zwischen den Fronten quasi zu stehen.
Von: ShioChan
2015-08-26T19:56:25+00:00 26.08.2015 21:56
Das Kapitel war super toll. Und traurig. T___T
Freu mich schon aufs nächste.
Von:  fahnm
2015-08-25T07:59:05+00:00 25.08.2015 09:59
Hammer Kapitel.



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