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FalloutChristie

Kein Fallout bekommt dich klein, denn du bist eine Kämpferin
von

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"Julia, bitte", sage ich. Julia sieht mich genervt an, als sie schweigend an ihrem Eis leckt. Bereits seit Wochen nerve ich sie mit ein und demselben Thema. Bisher schweigt sie sich jedoch aus.
 

"Ich versteh nicht, warum du da unbedingt hin willst", erwidert Julia nun schließlich und holt mit ihrer freien Hand ihr Handy aus der Tasche. Ich schiele herüber und sehe, dass sie ihren Kalender öffnet.
 

"Weil ich so DystopianTom treffen kann", sage ich und bekomme direkt Herzklopfen. Wäre es nicht so albern, würde ich fast schon sagen, dass ich in ihn verliebt bin. Allerdings bin ich ihm noch nie persönlich begegnet.
 

"Und einen anderen Tag machen wir, was ich möchte?" Julia tippt auf ihrem Handy herum. Wie nervig es ist, dass sie mich nicht einmal ansieht. "Wir gehen zu dem Fantreffen, damit du eine von vielen bist."
 

"Du ziehst mich gerade echt runter", sage ich. Jedes Mal, wenn er ein Video auf YouTube hoch lädt, freue ich mich einen Keks und schaue es direkt. Seine Erlebnisse kommen mir so bekannt vor und ich habe das Gefühl, dass wir uns sehr ähnlich sind. Wäre er doch nicht unerreichbar. Nicht nur, dass er gut zwei Millionen weitere Fans hat, von denen die Mehrheit wie ich für ihn schwärmt oder vielleicht noch schlimmer ist. Er lebt auch noch in Brighton, England, während ich in Bremen, Deutschland, feststecke. Alle tun immer so, als stünde einem die Welt offen, wenn man erst einmal mit der Schule fertig ist. Doch ich fühle mich mehr denn je wie eine Gefangene. Ein Grund dafür ist der Mangel an Geld, um irgendwo hinzugehen und nie mehr zurück zu kommen. Aber größtenteils ist mein Problem jedoch, dass ich nicht weiß, was ich mit meinem Leben anfangen soll. In ein paar Wochen beginne ich zu studieren, weil es das ist, was man von mir erwartet und ich sonst keinen Plan habe, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Vorher geht es jedoch mit einpaar Mitschülern für ein paar Tage nach London, um nach dem ganzen Abiturstress das Ende unsere Schulzeit zu feiern.
 

"Kannst du es denn nicht ein bisschen verstehen?" Ich setze meinen Dackelblick auf, um endlich eine Zusage zu bekommen. Wir sind genau dann in London, wenn Tom auch dort ist und ein Treffen mit seinen Fans veranstaltet. Direkt als ich davon hörte, war für mich klar, daran teil zu ­nehmen. Da jedoch eine Menge anderer Leute dort sein wird, schwindet mein Mut, alleine dorthin zu gehen. Die Idee, zwischen lauter Teenies zu warten, dass Tom an mir vorbei läuft und ich vielleicht einen Blick auf ihn erhaschen konnte, macht mir irgendwie Angst. Außerdem werde ich wohl eine der Älteren sein und da brauche ich Verstärkung in meinem Alter. Ich würde ja jemand anderen fragen, allerdings ist da nur Julia. Mit den anderen Schülern unseres Jahrgangs habe ich nicht viel zu tun gehabt außer einem Gruß im Gang, da kann ich jetzt schlecht jemanden fragen, ob er oder sie mit mir auf ein Treffen geht, wo sich tausende kreischende Teenies versammeln. Meine einzige Wahl ist Julia und eigentlich habe ich geglaubt, dass sie direkt zusagen würde. Immerhin fahre ich nur auf die Abschlussfahrt, weil sie mich so lange genervt hat, dass wir zusammen wegfahren könnten, bis ich nachgegeben habe.
 

"Du kennst den doch gar nicht", erwidert Julia wie jedes Mal.
 

"Würdest du nicht zu einem Treffen mit Brendon Urie gehen, wenn du könntest?"
 

Julia hält tatsächlich einen Moment inne und sieht von ihrem Handy auf, um mich anzusehen. Schließlich steckt sie seufzend ihr Handy in ihre Tasche zurück.
 

"Okay", sagt sie. Überglücklich falle ich ihr um den Hals. Ich werde Tom sehen!
 

"Whoa, du machst mir Angst", sagt Julia lachend, als ich mich von ihr löse. Fast hätte ich mich auf ihr Eis geworfen.
 

"Wehe aber, wenn du dich weigerst, mit mir etwas zu unternehmen, weil es dir nicht gefällt", ermahnt Julia und ich weiß, dass sie es ernst meint. Wer weiß, was sie sich einfallen lässt, immerhin schien es eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen zu sein, mich in Situationen zu drängen, die mich überfordern. Etwas kleinlaut versichere ich ihr, dass ich sie nicht enttäuschen werde. Ich kann es kaum glauben, dass ich wirklich Tom treffen werde.

Ein paar Tage später ist es soweit und ich kann es kaum erwarten, endlich aufzubrechen. Unsere Gruppe trifft sich am Flughafen, um gemeinsam einzuchecken. Kleine Gruppen bilden sich, wie sie auch in der Schule da waren. Mir bleibt nur Julia, die sich allerdings hin und wieder mit den anderen unterhält. Endlich sitzen wir nebeneinander im Flugzeug. Es kostet mich die größte Mühe, nicht die ganze Zeit über Tom und das Fantreffen zu sprechen, während Julia durch ein Modemagazin blättert. Jedes Mal wieder, wenn sie so eines kauft, frage ich mich, was sie daran so interessant findet. Wenn man nicht gerade Werbung überblättert, stehen da doch bloß unrealistische Schönheitsideale. Während Seite eins sagt, man solle sich lieben, wie man ist, erteilt Seite siebzehn Tipps, wie man schnell zehn Kilo abnehmen kann, um den perfekten Körper zu bekommen.
 

"Du bist heute so still", sagt Julia, als wir endlich in unserem Hotel sind. Die ganze Zeit über war mir nicht nach reden, weil mir mulmig war auf meinem ersten Flug. Außerdem hatte ich Angst, dass ich nur von Tom anfangen würde. Nun folge ich Julia in unser Hotelzimmer, das größer ist als erwartet.
 

"Ich bin bloß müde", versuche ich mich herauszureden. Immerhin stimmt es auch, denn um den Flug zu bekommen, musste ich viel zu früh aufstehen. "Bist du denn gar nicht müde?"
 

"Ich bin gestern um acht ins Bett gegangen", erwidert Julia, während sie den Schrank inspiziert.
 

"Dass du da schon schlafen kannst", sage ich. Wenn ich vor zwölf in mein Bett komme, grenzt es fast schon an ein Wunder.
 

"Naja, ich schlafe halt schnell ein, wenn ich will."
 

Julias Talent ist schon beneidenswert. Während ich mich oft in fremden Betten herumwerfe und nicht schlafen kann, braucht sie sich nur hinlegen und schläft.
 

Ich lasse mich auf einem der beiden Betten nieder und versuche, eine Internetverbindung einzurichten. Dann kann ich gucken, ob es irgendwas Neues von Tom gibt und kann auch meinen Eltern schreiben, dass wir heile angekommen sind, ohne mich für eine Nachricht in Unkosten zu stürzen.
 

"Immer hast du dein Handy in der Hand", sagt Julia plötzlich. Habe ich es wirklich so oft in der Hand? Sie holt ihres doch auch oft heraus und dann nicht einmal selten, um mit anderen zu chatten, während ich schweigend neben ihr sitze, auf der Suche nach einer gemeinsamen Beschäftigung oder einem Gesprächsthema. Schnell schreibe ich meinen Eltern, dass alles in Ordnung ist und stecke mein Handy weg, damit Julia und ich etwas unternehmen können, da holt diese ihr kleines Tässchen heraus, in dem sie ihr Make-up aufbewahrt. Direkt macht sie sich daran, ihren Lidstrich nachzuziehen und noch mehr Mascara in ihre Wimpern zu schmieren. Mittlerweile gleichen ihre Wimpern eher Fliegenbeinchen anstatt Wimpern. Durch ihre Beschwerde habe ich gedacht, dass sie raus wollte, um etwas zu unternehmen.
 

"Ich weiß, was ich machen möchte", sagt Julia plötzlich mit dem Blick in ihren kleinen Handspiegel. Warum sie wohl nicht in das Bad geht, wo ein großer Spiegel ist? Plötzlich wird mir ganz flau im Magen. Hoffentlich sagt sie nicht das, was ich glaube. "Ich möchte dir ein Makeover für das Fantreffen verpassen. Du sollst ja schließlich auffallen für diesen Thomas."
 

In mir schreit alles nein, aber ich habe ihr versprochen, alles mitzumachen. Ich versuche mir vorzustellen, wie ich mit Julias Make-up aussehen würde und die Befürchtung in mir wächst, dass ich aussehen werde wie ein Zirkusclown. Aber Julia würde mich doch nicht mit Absicht hässlich machen, oder? Das letzte Mal, dass sie mich schminken wollte, war als sie mich letztes Jahr zum Freimarkt mit einem Freund von sich verkuppeln wollte. In meinem Kopf erscheint ein Bild von meinem Gesicht damals. Viel zu grelle Farben und zu viel Rouge auf den Wangen lassen mich erschaudern. Vielleicht will sie mich ja nur testen. Ich suche nach Anzeichen in ihrem Gesicht dafür, doch kann keine finden, also gebe ich nach. So schlimm kann es ja nicht werden. Doch Julia beweist mir am nächsten Tag das Gegenteil, als sie mir ein knappes Top von sich leiht und es mit meiner Skinny Jeans paart. Zum Glück erlaubt sie mir meine Chucks und lässt meine Haare in Ruhe, auch wenn mein Pony für ihren Geschmack zu lang ist. Zielstrebig und sich davon nicht beirren lassend, pinnt sie meine Haare aus dem Gesicht und betrachtet mich wie ein Künstler eine leere Leinwand ansieht. Tom ist die Strapazen wehrt, sage ich mir wieder und wieder, während Julia anfängt, eine Creme auf mein Gesicht aufzutragen, dann folgt ein Puder, ein anderes Puder, Lidschatten, Eyeliner, Rouge, ... Die Hälfte der Sachen, die sie benutzt, kenne ich nicht mal. Ich schminke mich bisher nur selten und dann meist auch nur ein bisschen Concealer und Mascara, aber bei Julia habe ich das Gefühl, dass sie mir das halbe Drogeriesortiment in mein Gesicht schmiert. Das kann heiter werden. Vielleicht falle ich dann ja doch nicht so auf unter den Teenies, wenn ich aussehe, wie sie. Besser, als einen negativen Eindruck bei Tom zu hinterlassen. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit bis Julia sich endlich aufrecht hinsetzt, um mich ein letztes Mal zu betrachten. Vielleicht hatte sie ja doch noch etwas, dass sie hinzufügen konnte. Als Julia mir bedeutet, mich im Badezimmerspiegel zu betrachten, erkenne ich mich selber zunächst kaum wieder. Ich trage mehr Make-up als ganz Hollywood zusammen.
 

"Was sagst du?" Julia lächelt breit und ich kann nicht sagen, ob sie stolz auf ihr Werk ist oder mich wirklich nur davon überzeugen will, nicht zu dem Fantreffen zu gehen.
 

"Es ist gewöhnungsbedürftig", erwidere ich. Wenn ich etwas Negatives sage, macht sie nachher noch einen Rückzieher. "Wie spät ist es? Ich glaube, wir müssen los."
 

Auf dem Weg schweigen wir. Ich bin viel zu aufgeregt, um überhaupt denken zu können. Schon von weitem kann ich sehen, dass sich viele Leute in dem Park versammelt haben, wo das Treffen stattfinden soll. Meine Beine werden ganz weich. War es wirklich richtig, hier her zu kommen? Es sind mehr Leute da, als erwartet. Überwiegend Mädchen im Teeniealter. Direkt fühle ich mich alt und unwohl. Am liebsten würde ich wieder gehen, aber das würde ich mir von Julia ewig anhören müssen. Außerdem würde ich mir selber Vorwürfe machen, dass ich die vielleicht einzige Chance verpasst habe, auch nur in die Nähe von Tom zu kommen. Keine Ahnung, was schlimmer wäre. Plötzlich kommt Bewegung in die Menge und aus dem konstanten Summen der Stimmen wird Gekreische. Fast glaube ich, das Geschrei zerreißt mein Trommelfell.
 

"Wahnsinn, als wäre es ein Rockkonzert", sagt Julia neben mir. "Willst du nicht weiter nach vorne?"
 

Sie muss fast schreien, damit ich sie verstehe. So sehr ich will, meine Beine rühren sich nicht. Mir ist schlecht und meine Hände sind nass von Schweiß. Ich hätte nicht her kommen sollen. Das ist mir zu viel. Viel zu viel. Ehe ich antworten kann, stecken wir mitten in der Masse und meine Panik wird größer. Ich bekomme kaum noch Luft. Gerade noch rechtzeitig schaffe ich es, Julias Hand zu ergreifen, um sie nicht zu verlieren. Um mich herum dreht sich alles. Ich spüre, wie Julia an meiner Hand zieht und ich will zu ihr, als auf einmal alles still steht. Erst denke ich, ich sehe nicht richtig. Aber dann bin ich mir sicher. Er ist es. Am anderen Ende der Menschenmenge sehe ich Tom auf dem Podest, dass für ihn und die anderen YouTuber aufgebaut wurde, um sie zu schützen. Auch sein Freund und Mitbewohner Joshua ist dabei, der vor ihm läuft. Hinter ihm kann ich Joshuas Freundin Emma sehen und ein paar andere, die ich nur vom Sehen in den Videos von Tom oder Joshua kenne. Sie setzen sich auf eine Reihe von Stühlen und irgendwie hat Julia Recht, es gleicht wirklich einem Rockkonzert.
 

"Christie, was ist denn jetzt?", höre ich Julia drängen, doch mein Blick ruht auf Tom. Wenn er mich nur einmal ansehen würde, könnte ich gehen. Tom dreht seinen Kopf in meine Richtung. Hat er meine Gedanken gelesen? Mein Herz rast und dann ist es soweit. Er sieht mich an. Mich. Unter all den Mädchen, seinen Fans, sieht er ausgerechnet mich an und lächelt. Für einen Moment ist es wirklich so, als stünde die Zeit still und es gäbe nur uns zwei. Gerade will ich ebenfalls lächeln, als ich nach hinten gezogen werde und seinen Blick verliere. Eine Mischung aus Wut, Enttäuschung und Glück macht sich in mir breit, als ich mich von Julia durch die Menge ziehen lasse bis wir endlich für eins alleine sind.
 

"Was sollte das?", frage ich, als ich wieder denken kann. "Warum hast du mich weggezogen?"
 

"Wir waren da und du hast deinen Liebsten gesehen. So war der Deal."
 

"Hast du noch alle Tassen im Schrank?"
 

Es dauert einen Moment bis ich begreife, dass Julia das ernst meint. Sie glaubt tatsächlich, dass ich meinte, ich wollte Tom nur von weitem sehen. Dass man ihm aber persönlich begegnen kann, wenn man etwas - oder vielleicht auch etwas länger - wartet, ist ihr vollkommen egal.
 

"Ich glaube es nicht", sage ich und gehe davon. Soll sie doch zusehen, wo sie bleibt. Gerade will ich sie nicht mehr sehen. Tränen steigen mir in die Augen. Julia ist meine beste Freundin. Sie sollte Verständnis dafür haben, wie wichtig mir heute war. In Gedanken irre ich die Straße entlang. Nach einer Weile drehe ich mich herum. Fast bin ich enttäuscht, dass Julia mir nicht gefolgt ist. Wahrscheinlich hat sie sich schon ein paar Typen gesucht, um zu flirten. Ich sehe zur Seite und erkenne im Schaufenster, dass ich bereits weine. Das Make-up, das Julia in mühevoller Kleinstarbeit aufgetragen hat, ist vollkommen verschmiert. Ich gleiche einem Waschbären. Also gehe ich weiter, auf der Suche nach einem Kaufhaus oder etwas ähnlichem, um mir auf der Toilette das Gesicht zu waschen.
 

"Alles in Ordnung?"
 

Erschrocken drehe ich mich herum. Tatjana und Bea stehen hinter mir. Wir haben gemeinsam Deutsch und Mathe gehabt. Beide tragen Tüten mit sich. Es kommt mir so albern und irgendwie auch seltsam vor, ihnen davon zu erzählen, weshalb ich so aufgebracht bin.
 

"Ich habe mich mit Julia gestritten", sage ich daher nur. Bea kramt in ihrer Handtasche herum und reicht mir dann ein Paket Taschentücher. Als nächstes zückt sie einen kleinen Spiegel und eine Wasserflasche.
 

"Wollen wir uns dort vorne hinsetzen und du macht in Ruhe dein Gesicht sauber?", fragt Tatjana und zeigt auf eine Bank an einer Busstation. Dankbar gehe ich mit ihnen herüber.
 

"Nun erzähl, was ist passiert? Vielleicht hilft reden ja."
 

Überrascht sehe ich Bea an. Sie ist immer nett zu jedem. Schade, dass wir in der Schule nicht viel miteinander zu tun hatten. Bea und Tatjana sind wirklich nett. Viel netter als Julia. Also erzähle ich ihr, was passiert ist und sie hören geduldig zu.
 

"Das ist wirklich knifflig", sagt Bea schließlich. Sie sieht zu Tatjana. "Aber vielleicht hat sie es ja nicht so gemeint? Solche Massen von Menschen können echt erschreckend sein."
 

"Kommt ja nicht selten vor, dass bei solchen Mengen eine Panik ausbricht und Menschen verletzt werden", pflichtet Tatjana ihrer Freundin bei.
 

Sie verteidigen Julia. Übertreibe ich etwa? Um meine Gedanken nicht zu verraten, sehe ich in den Spiegel, um zu prüfen, ob mein Gesicht nun vorzeigbar ist. Reste von Mascara hängen mir noch in den Wimpern, aber es sieht fast gewollt aus, sodass ich Bea den Spiegel und die restlichen Taschentücher wiedergebe.
 

"Ich halte euch doch nicht von etwas ab, oder?", frage ich. "Ich sollte nach Julia suchen und mit ihr reden."
 

"Ach was", sagt Bea, als sie aufsteht. "Wieso kommst du nicht mit uns mit und lenkst dich etwas ab? Heute Abend kannst du dann in Ruhe mit Julia sprechen."
 

Heute ist echt seltsam. Gerne möchte ich das Angebot annehmen, allerdings fühle ich mich wie das dritte Rad am Fahrrad. Darum sage ich ihnen, dass es mir nicht gut geht und mache mich auf den Weg ins Hotel. Vielleicht ist Julia ja dort und wir können reden. Immerhin haben wir uns seit Monaten auf diese Fahrt gefreut. Unterwegs sehe ich auf mein Handy, um zu prüfen, ob Julia sich bei mir gemeldet hat und ich es nur nicht mitbekommen habe. Es zeigt keine neue Nachricht an. Ich bin enttäuscht, dass Julia sich nicht bei mir gemeldet hat. Sie ist so ein Sturkopf. Heute ist nur ein weiteres Beispiel dafür, dass sie keine Fehler macht, wenn es nach ihr geht. Hoffentlich streiten wir nachher nicht noch mehr. Mit klopfenden Herzen öffne ich die Tür zu unserem Hotelzimmer. Tatsächlich ist sie bereits hier und blättert mal wieder in einem Modemagazin. Bereits jetzt liegen ihre Sachen im ganzen Zimmer verstreut.
 

"Da bist du ja, ich dachte schon du würdest mir den ganzen Tag versauen", ist Julias Begrüßung. Wie bitte? Es fällt mir schwer, dazu nichts zu sagen. Aber wenn ich darauf eingehe, streiten wir nur direkt. Julia und ich sehen Dinge ziemlich unterschiedlich, wird es mir wieder schmerzlich bewusst. Sofort möchte ich nach Hause. Hier mit ihr festzuhängen im selben Zimmer erscheint mir jetzt schon die pure Qual. Immerhin hat Julia mit den anderen Leuten mehr zu tun gehabt und findet im Gegensatz zu mir überall Anschluss.
 

"Ich bin durch die Gegend geirrt und habe dabei zufällig Bea und Tatjana getroffen, die mir halfen, mein Gesicht sauber zu machen, nachdem alles verschmiert war", sage ich. Erst bei den Namen unserer Mitschüler sieht sie von ihrem Magazin zu mir.
 

"Dann hast du ja doch noch einen schönen Nachmittag gehabt", sagt Julia.
 

"Ich wollte zu dem Treffen", entgegne ich.
 

"Na, warst du doch auch", sagt Julia. "Du verhältst dich wie eine verrückte Stalkerin."
 

"Tue ich nicht. Die Treffen werden dafür organisiert, damit Fans ihre Idole treffen können. Ich bin ein Fan und Tom mein Idol, darum wollte ich da hin. Es ist ja nicht so, dass ich mir direkt ein englisches Telefonbuch suche, um seine Adresse zu erfahren."
 

"Nicht?"
 

Fassungslos sehe ich Julia an. Ist das wirklich ihr ernst? Gerne möchte ich sie anschreien, aber das bringt auch nichts. Es verlangt mir alles ab, ruhig zu bleiben.
 

"Was ist dein Problem?", frage ich.
 

"Wow, es geht wirklich endlich mal auch um mich und nicht nur um dich", ruft Julia theatralisch aus, als sie ihr Magazin schließt. "Den ganzen Tag redest du nur von YouTube und den Leuten dort. Vermutlich sagst du mir als nächstes, dass du dich selber auch online zum Deppen machst."
 

Meine Augen brennen.
 

"Du sprichst doch auch nur von Typen", erwidere ich leise. "Inwiefern ist das besser, wenn du auch nur über dasselbe redest?"
 

"Die Typen existieren aber", sagt sie und hebt einen Finger, um meine Widerworte zu verhindern. "Sie sind greifbar und nicht auf irgendwelchen Luftschlössern wie dein komischer Thomas aufgebaut. Du weißt doch gar nichts über ihn."
 

"Du kennst doch seine Videos gar nicht", sage ich. Tränen laufen über mein Gesicht. Mit jedem weiteren Wort fällt mir das Sprechen schwerer. "Die Videos zu gucken, heitert mich auf. Ich kann mich darin wiederfinden. Sie geben mir mehr Verständnis, als du jemals getan hast oder würdest, wenn ich Probleme habe."
 

"Du bist doch bekloppt", sind Julias letzten Worte. Verzweifelt suche ich nach Worten, doch Julia erklärt das Gespräch für beendet, indem sie sich wieder ihrer Zeitschrift zuwendet. Ohne ein weiteres Wort drehe ich mich wieder um und verlasse das Zimmer. Versteht Julia denn überhaupt nicht, was mir heute bedeutet hat? Immer macht sie runter, was mir gefällt.
 

Mein Weg führt mich in die Lobby des kleinen Hotels, wo ich mich in einer Ecke verkrieche und hoffe, dass mich keiner meiner Mitschüler sieht. Ich hole mein Handy hervor. Für eine Weile bleibe ich sitzen und sehe mir ein paar Seiten im Internet an, ohne wirklich wahrzunehmen, was los ist. Als ich kurz darauf mein Twitter Feed aktualisiere, muss ich zweimal lesen, was Tom geschrieben hat:
 

Beim Fantreffen heute hatte ich Augenkontakt mit einer Brünetten. Dein Lächeln war echt süß. Wäre schön, es aus der Nähe zu sehen.
 

Meint er etwa mich? Unsinn, es waren zu viele Mädchen bei dem Treffen, die wie ich braune Haare haben. Direkt sehe ich, dass schon tausende von anderen Leuten auf den Tweet geantwortet haben. Viele schreiben, dass sie gemeint seien. Ich bin nur eine von vielen, die sich für einen Moment für etwas Besonderes hielt. Ich schließe seufzend die App und packe mein Handy ein. Vielleicht bringt mich ja ein Spaziergang auf andere Gedanken.
 

Die nächsten Tage verbringe ich mit Bea und Tatjana, die mich netterweise überall mit hinnehmen. Seit unserem Streit haben Julia und ich nur das Nötigste miteinander gesprochen, was sich darauf beschränkt, die andere zu fragen, ob man das Bad nutzen kann. Wenn ich morgens aufwache, ist Julia schon weg, während ich erst wieder in das Hotelzimmer komme, wenn sie bereits dabei ist, sich für das Bett fertig zu machen. Den Rest der Abende verbringe ich dann damit, mit so wenig Licht wie möglich zu lesen, damit Julia nicht aufwacht. Ich habe mir unsere kleine Reise wirklich anders vorgestellt. Julia vermutlich auch. Was sie wohl den ganzen Tag über treibt? Tatjana und Bea haben sich neulich darüber unterhalten, dass Julia sich an Sven ran machen würde und mit ihm und seinen Freunden ihre Tage verbringt. Ich sehe zu ihr. Sie sitzt mit dem Rücken zu mir zwischen ihrem Bett und dem Schrank und packt ihren Koffer. Weil ich unterwegs aus dem Koffer lebe, bin ich damit bereits fertig. Nun bin ich dabei, Der Wolkenatlas zu Ende zu lesen. Für den Flug brauch ich noch etwas Neues. Wie absurd, dass ich jetzt gerade daran denke. Aber bei dem Gedanken, morgen auf dem Rückflug schweigend neben Julia zu warten, dass wir wieder landen, dreht sich mir der Magen um.
 

"Julia?", sage ich leise. Zunächst denke ich, sie hat mich nicht gehört, doch dann sehe ich, wie sie ihren Kopf ein wenig dreht und beim Packen inne hält. "Wollen wir uns nicht wieder vertragen? Es ist doch doof, wie das jetzt gelaufen ist."
 

"Siehst du also ein, dass du unfair warst?"
 

Das darf doch nicht wahr sein.
 

"Wir haben uns eben missverstanden", sage ich. Ich werde die Schuld nicht auf mich nehmen. Nicht komplett. Das habe ich die letzten Tage innerlich schon genug getan. "Ich hätte mehr Verständnis dafür haben sollen, dass dich YouTube nicht interessiert. In Zukunft werde ich mich bemühen, nicht mehr so viel davon zu reden."
 

Endlich dreht Julia sich zu mir um.
 

"Weißt du", sagt sie lächelnd. "Als ich gestern mit Sven und den anderen unterwegs war, habe ich erfahren, dass Manuel auf dich steht. Er sieht sogar fast aus wie dieser Thomas Typ, findest du nicht?"
 

Mit aller Macht zwinge ich mich zu einem Lächeln. Keine Ahnung, wie dieser Manuel aussieht.
 

"Herrscht also wieder Frieden?", frage ich.
 

"Okay", ist Julias Antwort, woraufhin sie sich wieder ihrem Koffer widmet. Das werde ich wohl noch oft vorgeworfen bekommen.

Nach einem dennoch recht eisigen letzten Abend und Rückflug bin ich mehr als froh am nächsten Tag in mein eigenes Bett zu fallen. Eine Woche lang jemanden aus dem Weg zu gehen, macht einen echt fertig, wenn man sich ein Zimmer teilt. Ich nehme mir mein Laptop und beschließe, den Tag nichts anderes zu tun, als die verpassten Videos der letzten Tage von Tom, Emma und Joshua zu gucken. Es gibt ein paar Videos über das Treffen, mit denen ich anfange. Noch immer bin ich von der Menge der Menschen überwältigt, die dort waren. Auf dem Bildschirm sieht es sogar noch nach viel mehr aus. Nachdem ich alle Videos durch habe, öffne ich Facebook. Direkt als erstes fällt mein Blick auf den Beitrag ganz oben von Julia, die mich darin sogar markiert hat. London mit den Besten. Trotz einem schlechten Start hatte ich dennoch viel Spaß ist die Überschrift ihres Fotoalbums. Eigentlich sagt es nicht wirklich etwas aus, aber es kränkt mich. Für mich ist es ihre Art mir zu zeigen, dass ich ihr fast die Reise verdorben hätte. Ich muss mit den Tränen kämpfen. So viel zum Vertragen. Emma hatte ein neues Video angekündigt, dass jeden Moment online kommen müsste. Gespannt aktualisiere ich meine Abonnements auf YouTube. Okay, heute bin ich wohl wirklich etwas seltsam. Sonst warte ich nicht wie gebannt vor dem Bildschirm, dass die Verlinkung auftaucht.
 

"Tipps für neue YouTuber", lese ich, als ich auf den Link klicke. Direkt tönt Emmas fröhlicher Ton durch die Lautsprecher meines Laptops. Ihre Laune ist immer ansteckend und hilft gegen fast jede schlechte Laune. Für einen Moment kann ich Julia und ihr Theater ausblenden. Als das Video zu Ende ist, bin ich entschlossener denn je. Ich möchte meinen eigenen Kanal machen. Schon seit Jahren folge ich diversen Kanälen und spiele mit dem Gedanken, selber Videos hochzuladen. Doch bisher habe ich mich nicht getraut. Nur warum nicht? Vermutlich sagst du mir als nächstes, dass du dich selber auch online zum Deppen machst. Ich versuche, die Gedanken an Julia zu verdrängen und suche mein Handy. Die Videoqualität reicht hoffentlich für den Anfang. Jeder hat mal klein angefangen. Tom hat sein erstes Video mit einer Webcam gefilmt, sodass er nur sehr unscharf ist, da bin ich mit meinem Handy schon besser dabei. Nur worüber soll ich das Video machen? Mich verlässt der Mut wieder. Vielleicht will mich ja auch niemand sehen. Wenn ich es nicht versuche, finde ich es nie heraus. Manch einer ist damit bekannt geworden, dass er zeigt, was in seiner Tasche ist oder was auf seinem Schreibtisch liegt. So etwas bekomme ich ja wohl auch noch hin. Und Julia muss ich davon ja nichts sagen, sollten wir noch miteinander reden. Sie interessiert sich ja eh nicht für YouTube. Dann wohl auch nicht für meine zukünftigen Videos. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich mir darüber morgen immer noch Gedanken machen kann. Sofern ich dann immer noch denke, dass ich Videos machen möchte. Und tatsächlich ist mein erster Gedanke, dass ich ein generelles Video machen könnte, um mich vorzustellen, in dem ich sage, was ich mit meinem Kanal vorhabe. Aber was habe ich mit meinem Kanal vor?
 

Von unten dringen Geräusche, die mir verraten, dass meine Eltern bereits wach sind. Widerwillig steige ich aus meinem Bett. Würde meine Blase nicht nach Erleichterung schreien, würde ich den Tag ebenfalls im Bett verbringen. Der Gedanke meinen Kanal zu planen, macht meine Laune jedoch etwas besser. Unten empfängt mich meine Mutter bereits fröhlich, als ich aus dem Bad komme.
 

"Du hast gar nicht erzählt, wie London war", sagt sie. "Ist etwas passiert?"
 

Normalerweise erzähle ich meinen Eltern, wenn ich mich mit jemandem gestritten habe oder mich etwas besonders beschäftigt. Gerade habe ich jedoch das Gefühl, dass dies nicht angebracht ist. Vor allem, weil ich fürchte, dass sie sich auf Julias Seite schlagen könnten, wenn es um YouTube geht. Wann immer ich meiner Mutter bisher von Tom erzählt habe und wie interessant ich es finde, dass Leute mit Videos im Internet sogar so viel Geld machen können, um damit ihr Leben zu bestreiten. Dann höre ich von ihr immer nur, dass es illusorisch ist und diese Leute gar nichts gelernt haben. In ein paar Jahren spätestens würden sie auf die Nase fallen damit. Immer muss es hier darum gehen, was in zwanzig Jahren ist und nicht in einem. Das ist echt deprimierend. Und wenn ich dann meinem Vater davon ausnahmsweise mal etwas erzähle, bekomme ich immer das Gefühl, dass er direkt an Pornos denkt.
 

Ich hole mir eine Schüssel aus dem Küchenschrank und überlege, was ich Mama erzählen soll, während ich mir Cornflakes hineinkippe.
 

"Du musst neue Milch aufmachen", sagt meine Mutter mir, als ich nach einer offenen Tüte im Kühlschrank suche. Also hole ich eine volle Tüte aus dem Schrank und hoffe, beim Öffnen nicht schon den halben Inhalt zu verschütten. "Nun erzähl schon, du bist doch sonst nicht so ruhig."
 

"Es war ganz interessant, die Stadt mal genauer zu sehen", sage ich. Keine Ahnung, wie ich das Thema Julia umgehen soll, also erzähle ich meiner Mutter eine kurze Version davon. Meine Mutter sieht mich schweigend an. Als ich fertig bin, beginne ich meine Cornflakes zu essen. Sie sollten nun immerhin schön weich sein. Eigentlich will ich von Mama gar nichts zu dem Theater hören.
 

"Also war der ganze Trip raus geschmissenes Geld?", fragt sie schließlich. Ja, irgendwie schon.
 

"Nein, London ist eine wirklich schöne Stadt", sage ich. "Irgendwann möchte ich wieder hin."
 

"Wie wäre denn ein Auslandssemester in England, wenn du studierst?", schlägt meine Mutter vor.
 

"Mal sehen", erwidere ich. Auch auf das Thema habe ich gerade keine Lust.
 

"Mal sehen?", mischt mein Vater sich ein und hat nicht einmal eine Begrüßung über, als er das Esszimmer betritt. Geradewegs setzt er sich an den Esstisch, wo er sich die Zeitung greift und eine Zigarette anzündet. Immerhin habe ich so einen Grund mehr, mich mit dem Essen zu beeilen und wieder in mein Zimmer zu gehen. Wie gerne würde ich ausziehen. Vor einer Weile haben Julia und ich noch überlegt, ob wir eine Wohngemeinschaft machen wollen. Das ist ja wohl jetzt auch Geschichte. Nun scheitert es nicht nur am fehlenden Geld. In meinem Zimmer seufze ich laut, als ich die Tür hinter mir geschlossen habe. Erst mal Ideen für meinen YouTube Kanal sammeln, sage ich mir. Das wird mich ablenken. Nur wo soll ich bloß anfangen? Das Design muss stimmen, aber auch der Inhalt. Es dauert nicht lange, da habe ich ein paar Blätter Papier vor mir liegen und sammle Ideen zu den verschiedenen Bereichen. Zwar sammele ich gerade alle Arten von Videos, die mir einfallen, aber immerhin kann ich hinterher immer noch überlegen, was ich machen möchte und was nicht. Ich kann ja auch ein bisschen rumprobieren. Mit jedem neuen Punkt auf meiner Liste bessert sich meine Laune. Die Idee, einen Kanal aufzubauen, gefällt mir immer mehr. Zunächst fallen mir nur die gängigen Tags ein oder Beautyvideos, aber eigentlich sind diese nicht so mein Ding. Tags sind ganz lustig anzusehen, aber meist eher, wenn zwei Leute im Video sind. Und Beautygedöns ist nicht so meins. Mein Blick wandert unwillkürlich zu dem kleinen Schminkspiegel auf meinem Schreibtisch. Die dunklen Augenringe lassen mich aussehen, als wäre ich mehr tot als lebendig. Wäre vielleicht doch nicht so verkehrt, mal ein bisschen Make-up zu benutzen. Es muss ja nicht direkt so viel sein, wie Julia mir ins Gesicht geschmiert hat. Gegen ein Glätteisen habe ich mich mit meinen dicken Pferdehaaren auch lange gewehrt, bis ich seinen Wert zu schätzen gelernt habe. So oft, wie ich mir irgendwelche Make-up Tutoriale ansehe, sollte jawohl auch das eine oder andere hängen geblieben sein. Es müssen ja nicht gleich eigene Videos darüber sein, aber vorzeigbar sollte ich von meinem ersten Video an sein, wenn ich nicht will, dass Leute mich für einen Zombie halten. Andererseits wäre ein vloggender Zombie doch mal etwas ausgefallenes.
 

Ich beginne eine neue Liste, die ich damit bezeichne, was ich noch vorbereiten oder besorgen muss, bevor ich mit dem filmen anfange und schreibe ganz oben Make-up kaufen auf. Gut, dass ich direkt verschiedene Listen gemacht habe, sonst hätte ich vermutlich bereits den Überblick verloren. Es fällt mir immer schwerer, mich darauf zu konzentrieren, weil es mir in den Fingern juckt, direkt los zu filmen. Aber dafür muss ich erst einmal eine wichtige Entscheidung treffen: deutsche oder englische Videos? Ich gucke selber nur englischsprachige YouTuber und fühle mich immer seltsam, wenn ich deutsch höre. Nach all dem Englischunterricht in der Schule, führe ich sogar auf Englisch Selbstgespräche. Die Wahrscheinlichkeit, jemanden zu finden, der meine Videos mag, wäre damit wohl auch größer, weil ein Großteil der Welt englisch spricht. Aber deutsch wäre einfacher, weil mir oft die Vokabeln für manche Dinge fehlen. Wieso ist das alles so schwierig?
 

Weil ich also noch nicht genug Listen habe, beginne ich zusätzlich eine mit den verschiedenen Gründen, die für die Sprachen sprechen. Der wichtigste Punkt und zugleich das größte Hirngespinst ist, dass Tom meine Videos verstehen würde, wenn er sie je sehen würde. Aber wie albern war es, so zu denken? Die Wahrscheinlichkeit bei all den Videos, dass er gerade auf meine stößt, falls er selber überhaupt andere YouTuber sieht als seine Freunde, ist verschwindend gering. Es ist absurd, darüber überhaupt nachzudenken. Es gibt nicht einmal eine Garantie, dass überhaupt irgendwer meine Videos gucken wird.
 

"Oh man", seufze ich und lehne mich in meinem Stuhl zurück. Es ist Zeit für eine Pause, sagt mein Hirn und meine Hände strecken sich nach meinem Laptop aus. Ich rufe Twitter auf und schreibe kurz und knapp, dass ich überlege, Videos zu machen. Zwar habe ich nicht viele Follower, aber irgendwo muss ich es loswerden. Dann gehe ich, obwohl ich weiß, dass ich es besser nicht tun sollte, auf Facebook. Noch immer ist Julias Post ganz oben. Ein paar ehemalige Mitschüler haben es kommentiert und fragen, was passiert sei. Andere stimmen zu, dass sie ebenfalls viel Spaß hatten. Noch hat Julia nicht geantwortet, aber das hat nichts zu heißen. Vielleicht sollte ich die Seite erst mal meiden. Meiner Laune tut sie sowieso nicht gut. Also suche ich stattdessen auf YouTube nach Videos darüber, wie man einen Kanal am besten aufbaut und wie man gut startet. Für die Schule lernen fand ich nur lästig, aber jetzt macht es Spaß. Immerhin weiß ich, wofür ich es tue.

Es brauchte eine Weile, bis ich mich daran gewöhnt habe, vor der Kamera zu sprechen und man mich zudem auch versteht. Es sieht immer so einfach aus, aber schließlich sieht man ja auch nur das fertige Produkt. Vielleicht ist es daher ganz gut, dass meine Videos nicht so oft angesehen werden, sage ich mir. Auch wenn es gleichzeitig ziemlich niederschlagend ist, so viel Arbeit hineinzustecken, damit kaum einer es sieht. Erfolg kommt ja aber immerhin nicht über Nacht. Es fällt mir schwer, Zeit zum filmen zu finden und regelmäßig Videos hochzuladen, weil ich nicht will, dass meine Eltern es mitbekommen und das Studium mehr Zeit in Anspruch nimmt, als mir lieb ist. Außerdem muss der Inhalt jedes Mal wieder interessant sein. Wahrscheinlich stresse ich mich selber mehr als nötig, aber zu Neujahr, als ich mein Halbjähriges feiern kann, habe ich es immerhin geschafft, eine kleine Gruppe von Abonnenten zu gewinnen. Und ich freue mich über jeden einzelnen. Mit jeder Woche, die ich ein Video hoch lade, sitzt mir jedoch auch der Druck im Nacken, mir endlich weiter Gedanken darüber zu machen, was ich beruflich machen will, um Geld zu verdienen. Wirklich glücklich machen mich mein Studium und die Zukunftsaussichten nicht. Selbst wenn ich es mal schaffe, nicht darüber nachzudenken, erinnern mich meine Eltern, wie wichtig es ist, rechtzeitig Pläne zu haben, um mich entsprechend auf Klausuren vorzubereiten oder Praktika für Praxiserfahrungen zu suchen. Sogar Julia hat sich bei mir gemeldet und tut so, als wäre London nicht gewesen. Wir reden nicht darüber und auch wenn das nicht der beste Weg ist, ist es der einfachste. Ich habe gedacht, dass mein Leben einfacher wird nach der Schule, aber stattdessen wird es nur immer komplizierter.
 

Ich versuche, mich auf mein Video zu konzentrieren und habe bereits das Intro gefilmt, als es an meiner Tür klopft. Mir bleibt fast das Herz stehen. Hastig stecke ich die Kamera weg und sage herein. Niemand, der nicht meinem Twitter folgt oder zufällig aufmeinen Kanal auf YouTube stolpert, weiß von meinen Videos und bisher bin ich eigentlich ganz froh darüber. Wider meiner Erwartungen überrascht mich Julia.
 

"Hey, deine Mutter hat mich rein gelassen", sagt sie. Sie kam nie spontan vorbei, weil sie die Gegend, in der ich wohne, nicht mag. Für Julia ist sie zu dreckig.
 

"Mit wem hast du gesprochen?"
 

Sie hat mich also gehört. Soll ich sie anlügen?
 

"Ich habe mit niemandem geredet", sage ich und genau genommen ist es ja die Wahrheit. Julia schließt die Tür hinter sich und setzt sich mir gegenüber auf mein Bett.
 

"Ich habe dich doch aber gerade reden gehört", hakt sie nach. Vielleicht ist es das Beste, ihr die Wahrheit zu erzählen. Ich klappe meinen Laptop auf und bedeute ihr, zu gucken.
 

"Du weißt doch, dass ich viele YouTube Videos gucke", beginne ich. Ihr Stöhnen verrät mir bereits, dass ich mich auf dünnem Eis bewege. "Ich habe angefangen, eigene Videos zu machen. Eben habe ich eines gefilmt, weshalb du mich hast sprechen hören."
 

"Du spinnst doch", sagt Julia, als sie auf mein Profil guckt. "Was bringt dir der Kinderkram?"
 

Sie gibt sich nicht einmal Mühe, mich zu verstehen.
 

"Es macht mir Spaß", erwidere ich. "Sieh mal, ich habe sogar schon ein paar Hundert Abonnenten in den letzten Monaten gewonnen."
 

"Monaten? Wie lange machst du das denn schon?"
 

Ich habe das ungute Gefühl, dass gleich etwas passiert.
 

"Seit etwa einem halben Jahr",sage ich. "Kurz nachdem wir aus London wieder gekommen sind, habe ich beschlossen, endlich auch Videos zu machen und es macht großen-"
 

"Ein halbes Jahr?", ruft Julia entsetzt. "Was bist du denn für eine Freundin, dass du mir das verheimlichst. Willst du überhaupt noch mit mir befreundet sein? Nichts erzählst du mehr und verschließt dich mehr und mehr."
 

Na super.
 

"Du sagtest, man mache sich als YouTuber zum Deppen und dass es dich nerve, wenn ich davon spreche, also habe ich es nicht erwähnt", versuche ich mich zu erklären. Julia sieht mich an. Ich kann ihren Blick nicht entziffern. Alles, was sicher ist, ist, dass es nun wieder um Julia geht und wie ich ihr schaden würde.
 

"Immer, wenn ich sagte, ich weiß nicht, was ich mit meinem Leben machen solle, sagtest du nur, ich solle mir etwas neues überlegen", sage ich. Mir fehlen die Worte. Ich verstehe Julia einfach nicht. "Und YouTube und Karrierepläne sind das Einzige, das in meinem Leben abgehen."
 

"Gibt es nicht einmal einen Typen?"
 

Gerne hätte ich selber beobachtet, wie mir mein Gesicht entgleist. Hört Julia mir überhaupt zu?
 

"Es gab nur Christian, aber der ist für mich Geschichte, seit du etwas mit ihm hattest", sage ich.
 

"Jetzt bin ich auch noch Schuld, dass dein Liebesleben nicht existiert?" Julia springt auf. "Du hast doch einen Knall."
 

"Das sage ich nicht", sage ich wütend. Es fällt mir schwer, leise zu bleiben. Es fehlt mir noch, dass meine Eltern uns hören. "Es ist nur so, dass Christian der einzige Typ hier war, der mich je wirklich interessierte seit ich zwölf war und das wusstest du. Trotzdem hast du gleich die erste Gelegenheit genutzt, mit ihm ins Bett zu gehen."
 

"Okay, zwei Dinge", sagt Julia, während sie die eine Hand in die Hüfte stemmt. Dann hält sie mir ihren Zeigefinger unter die Nase, als wolle sie mir drohen. "Zunächst einmal hast du damals gesagt, aus euch beiden würde sowieso nie etwas Festes. Und du brauchst nicht beleidigend werden."
 

"Was hab ich denn jetzt wiedergesagt, dass dich beleidigt hat?", frage ich. "Du wusstest aber ganz genau, dass ich Gefühle für ihn habe. Dass ich nichts mit ihm angefangen habe, heißt noch lange nicht, dass er Freiwild für dich ist."
 

"Du nennst mich Schlampe wegen eines Typen, den du nicht wolltest!"
 

"Ich habe dich nie Schlampe genannt und ich wollte Christian immer. Ist dir schon mal aufgefallen, wie du mich anfährst, wenn ich nur annähernd etwas sage, dass darauf hindeuten könnte, dass ich einen Jungen mag, den du auch nur ansatzweise interessant findest?"
 

"Jetzt dreh mir nicht die Worte im Mund herum", sagt Julia und weicht einen Schritt zurück. Ihre Augen glitzern, während ihre Stimme schwächer wird.
 

"Das will ich doch gar nicht", sage ich. "Aber kannst du mich denn gar nicht verstehen? Du nanntest YouTube dämlich und Christian ist nun mal jemand, den ich sehr mag, aber mit dem nichts Langfristiges drin ist."
 

"Dann ist es doch egal, dass ich was mit ihm hatte", erwidert Julia. "Ich habe genug davon. Immer nehme ich Rücksicht auf dich und versuche, dir zu helfen, dass du mal nette Typen triffst und etwas aus dir machst. Und du dankst mir das, indem du dich immer mehr abkapselst und mich anlügst."
 

"Du wolltest mich immer mit irgendwelchen Typen verkuppeln, an denen ich kein Interesse habe",entgegne ich lauter als geplant. "Schon mal überlegt, dass nicht jeder unbedingt immer einen Mann an der Seite braucht?"
 

Meine Hände zittern. Mir fällt auf, wie sehr auch meine Knie zittern. Es ist mir gar nicht aufgefallen, dass ich auch aufgestanden bin. Mit aller Macht versuche ich, mich zu beruhigen.
 

"Du bist echt egoistisch, Christie", sagt Julia schließlich. "Wenn du dir nicht helfen lassen willst, schön, aber hör auf, mir die Schuld an deinen Problemen zu geben."
 

Tränen mischen sich mit ihrem Maskara und hinterlassen Spuren auf ihren Wangen. Mein einziges Problem gerade ist sie und ihre Art, alles auf sich zu beziehen und gegen mich zu wenden. Was soll ich dazu noch sagen. Für mich macht das gerade alles keinen Sinn mehr.
 

"Ich habe dir gesagt, was mich beschäftigt", sage ich so ruhig ich kann. Meine Stimme bricht."Und ich habe dir auch gesagt, warum ich Dinge für mich behalten habe. Aber ich habe dich nie angelogen."
 

"Du tust mir echt weh, mir reicht es", ist Julias Antwort. "Ich muss jetzt an mich denken. Das war es. Widme dich deinen Hirngespinsten, wenn du meinst, dass alles so verdreht abgelaufen ist. Für mich ist das erledigt."
 

Julia dreht sich herum und verlässt mein Zimmer, ohne sich wirklich zu verabschieden. Der Auftritt hätte direkt aus einer Telenovela sein können. Das Gemeinste daran ist jedoch, dass Julia mich weinend zurücklässt und mir das Gefühl gibt, etwas falsch gemacht zu haben. Immer habe ich versucht, es ihr recht zu machen, aber ich glaube, das ist gar nicht möglich. Sobald etwas anders läuft, als es Julia passt, ist die ganze Welt gegen sie und ich bin mir eigentlich ziemlich sicher, dass ich nichts falsch gemacht habe. Und doch spüre ich in mir eine große Enttäuschung, dass ich es nicht geschafft habe, es ihr recht zu machen.
 

Die nächsten Tage verbringe ich, wenn ich nicht in der Uni bin, in meinem Bett. Nichts macht Sinn. Nicht einmal mein Video filme ich zu Ende. Immer wieder überlege ich, ob ich Julia schreiben soll, ob wir noch einmal darüber reden wollen. Aber nachdem meine Gedanken sich nur darum drehen, den Streit und so ziemlich unsere ganze Freundschaft zu analysieren, verwerfe ich diese Idee ziemlich schnell wieder. Wenn meine einzige Freundin so drauf ist wie Julia, dann habe ich lieber gar keine Freunde. Vielleicht sollte ich die Gelegenheit am Schopf packen und tatsächlich ein Auslandssemester machen. Ständig liegen mir meine Eltern damit in den Ohren. Es sei so wichtig, einen vollen Lebenslauf und viele verschiedene Erfahrungen vorzuweisen. Wahrscheinlich meinen sie es nur gut mit mir und es ist eines dieser Ich hatte nie die Möglichkeit,aber du-Geschichten. Ich muss hier weg. Ganz dringend. Also stehe ich auf und hole mir meinen Laptop in mein Bett, um nach Möglichkeiten für mich zu suchen. Schade, dass ich noch kein Geld mit meinen Videos verdiene, geschweige denn davonleben kann.

"Es beschäftigt mich, was ich mit meinem Leben anfangen soll", sage ich.
 

"Hast du schon mal mit Julia darüber gesprochen? Was macht sie denn?"
 

"Wir haben uns gestritten", sage ich. "Sie studiert Mathe und Physik auf Lehramt nach ihrem FSJ."
 

"Igitt, wie krank ist die Kombination denn?", sagt meine Mutter daraufhin und bringt mich damit kurz zum Lächeln. "Ihr habt euch gestritten?"
 

"Ist egal", sage ich und zwinge mich, ein paar Nudeln zu essen. Mit vollem Mund muss ich immerhin nicht reden.
 

"Du studierst doch jetzt erst mal", ruft mein Vater aus dem Wohnzimmer. "Lehramt wäre doch sonst auch noch etwas."
 

Wenn er mitreden will, soll er gefälligst mit uns im Esszimmer am Tisch essen.
 

"Nicht Mathe oder Physik", antwortet meine Mutter amüsiert. Aber ich finde das gar nicht so witzig.
 

"Am liebsten würde ich auch einfach mit Videos mein Geld verdienen" sage ich. Ich muss ja nicht direkt sagen, dass ich bereits Videos mache.
 

"Fängst du damit schon wieder an", höre ich meinen Vater und beschließe, ihn zu ignorieren.
 

"Was ist denn mit deinem Studium jetzt?", schlägt meine Mutter vor. "Ist Betriebswirtschaftslehre nichts für dich? Damit kannst du später sicher eine Menge anfangen."
 

Eigentlich will ich dazu gar nichts sagen. Ich will nur wieder in mein Bett und Videos gucken. Tom hat vor kurzem sein Studium geschmissen, weil es ihm nicht gefallen hat. Aber er kann es sich mit seinem Erfolg auf YouTube auch erlauben. Emma hingegen studiert, wenn ich mich richtig erinnere Anglistik und Germanistik. Irgendwo hieß es mal, dass sie Lehrerin werden wollte. Aber ob sie das noch immer will? Wenn man nach meinen Eltern ging, würde sie mit ihren Videos über Serienmörder und ihrem starken Make-up mit der schwarzen Kleidung nie als Lehrerin eingestellt werden. Ihr Freund Joshua scherzte in einem Video mal, dass er, Tom und Emma alle durch eine Emo oder Gothik Phase gegangen sind. Während Tom seine Frisur behalten hat, sei alles andere irgendwie auf Emma übergangen.
 

"Du lächelst ja", bemerkt meine Mutter. "Also ist BWL eine Option für dich?"
 

Ich nicke nur, damit das Thema abgehakt ist. Schnell beende ich mein Essen und gehe in mein Zimmer. Ich muss hier wirklich weg. Eine andere Stadt wäre toll. Mein Blick fällt auf das Poster von Tom. Oder nach England. Direkt setze ich mich an meinen Laptop, um nachzusehen, ob ich die nötigen Anforderungen erfülle und was für Universitäten in Frage kommen, sollte ich dem Vorschlag meiner Mutter folgen und ein Auslandssemester machen. Schnell wird klar, dass es sogar in Brighton, wo Tom wohnt, eine Universität gibt, die ein gutes Programm hat. Mein einziges Hindernis ist ein Nachweis meiner Englischkenntnisse. Der sollte jedoch schnell gemacht sein. Englisch ist für mich kein Problem. Endlich scheint es, als habe ich ein erstes Ziel vor Augen, mit dem ich mich beschäftigen kann und neben meiner Videos auch muss, sodass Julia schnell aus meinen Gedanken verschwindet. In den nächsten Monaten dreht sich alles darum, wie ich in England studieren kann, wo und wie ich es finanziere.



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