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Dead Man Walking

Totgeglaubte leben länger
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
An dieser Stelle bedanke ich mich in aller Form und mit allem Gefühl, das ich aufzubringen imstande bin, bei der wunderbaren Alina (ka_oh), die mit ganz viel Ruhe und Zuspruch die Kapitel vor Veröffentlichung noch einmal auf grobe Fehler prüft.
Du bist und bleibst meine bunte Heldin. ♥ Komplett anzeigen

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Ich bin das A und das O.

 

"Ich bin das Alpha und das Omega

der Anfang und das Ende

der Erste und der Letzte."

Offenbarung 22:13

 

Als ich die Augen öffne, bin ich in Dunkelheit gehüllt wie in eine warme Decke. Kein Licht, keine Geräusche, nur die tiefe, undurchdringliche Schwärze einer himmelslosen Nacht. Mein Herz schlägt nur sehr langsam in meiner Brust, scheint einen neuen Takt finden zu müssen, erhöht träge seine Geschwindigkeit. Mein erster Atemzug schmerzt in meiner Brust, in meinem Bauch, meine Rippen wehren sich erbost gegen den plötzlichen Druck. Dünne, nasskalte Haut spannt sich um meinen reglosen Körper und ich kann spüren, wie das Blut in meinen Venen und Arterien zu zirkulieren beginnt. Es ist, als wäre ich aus einem sehr tiefen, traumlosen Schlaf erwacht.

Nach und nach gewinnt mein Innerstes an Wärme, und die Kälte um mich herum wird deutlicher. Ich bin so sehr damit beschäftigt, das Atmen nicht einzustellen, dass ich erst recht spät bemerke, dass ich auf einer harten und unebenen Unterlage liege. Ich spreize meine Finger, die rechts und links neben mir ruhen, und ertaste raues, sprödes Holz. Die Luft, die ich meinen Lungen entlasse, wird von irgendetwas zurück geworfen und fällt schwer auf mein Gesicht.

 

Kaum ein Gedanke schafft es, meinen Kopf zu erobern. Weißes Rauschen erfüllt meine Ohren, ein tiefes, allgegenwärtiges Flüstern und Raunen und Zischen, das aus mir selbst zu kommen scheint. Ich hebe meine linke Hand und drücke sie gegen den Widerstand über mir. Noch mehr Holz, alt und wellig, in Planken aneinander gereiht, und die Stille um mich wird mit einem ersten Geräusch, einem leisen Knacken erfüllt, das nichts Gutes verspricht. Etwas rieselt auf mich hinab und mit meiner zweiten Hand ertaste ich Erde auf meinem Oberkörper. Sie ist nass und klumpt leicht, wenn ich sie zwischen Zeigefinger und Daumen zerreibe.

Ich kann spüren, wie erste Emotionen ihren Weg zu meinem Denkzentrum finden. Dumpfe Angst vergräbt ihre Zähne in meinen Nacken. Meine Augen wandern hektisch umher, können aber auch weiterhin nichts als Schwärze ausmachen. Mit allen Fingern beginne ich nun, die hölzerne dünne Wand über mir sanft abzutasten, instinktiv wissend, das zu viel Druck mein jähes Erwachen schnell wieder beenden kann.

Bin ich erblindet? Wieso liege ich in einer Holzkiste, und wieso befindet die sich auch noch unter der Erde? Ist das hier mein Grab? Aber wenn das hier mein Grab ist, wieso lebe ich dann noch?

... Wer zum Teufel bin ich?

Die plötzliche Flut an Gedanken überschwemmt mich und lässt mich völlig überfordert zurück. Ich habe nicht eine einzige Erinnerung, nichts kommt mir in den Sinn, keine Bilder, keine Namen, keine Zahlen, keine tieferen Bedeutungen. Mit wachsender Verzweiflung beginne ich mein plötzlich auf Hochtouren arbeitendes Hirn zu durchkramen, versuche wenigstens Bruchstücke zu finden, die ich wie ein Puzzle zusammen fügen kann, doch Null plus Null bleibt Null.

Mein Atem wird hektischer, fällt immer wärmer und schneller auf mein Gesicht zurück. Erde rieselt durch kleine Risse im Holz zu mir herein, es raschelt und rauscht über mir, als wäre alles in Bewegung. Aus Angst und Verzweiflung werden pure Panik. Erste Laute entkommen meiner Kehle, ein ersticktes Keuchen, dann ein leises Wimmern.

 

Ich will leben.

Ich balle meine Hände zu Fäusten und donnere sie mit all der Kraft, die ich aufzubringen im Stande bin gegen das Holz, das mich vor dem Erdreich schützt. Die komplette Kiste erzittert, und das, obwohl ich wirklich nicht besonders viele Energien sammeln kann. Mein Brustkorb brennt, meine Lungen krampfen.

"... Hilfe." Meine Stimme klingt unglaublich rau, viel zu leise, als dass mich jemand hören könnte.

Wie tief bin ich begraben? Wenige Zentimeter oder einige Meter? Was, wenn die Wand über mir bricht und ich unter tonnenschwerem Gestein begraben werde?

Nein. Nein, schießt es mir durch den Kopf, das ist nicht logisch. Das Holz ist spröde, nicht brüchig, aber vermutlich alt. Wären über mir wahre Erdmassen, wären diese schon längst auf mich nieder gestürzt. Entweder, ich liege noch nicht besonders lange hier – oder ich habe eine Chance.

So oder so sterbe ich, wenn ich nichts tue. Ob ich nun bei dem Versuch umkomme, mich zu retten, oder dabei, es nicht zu tun, macht keinen besonderen Unterschied. Also kann ich alles auf eine Karte setzen – auch wenn mir das nicht wirklich klug vorkommt, denn ich würde mich in meiner Lage nicht gerade als Glückskind bezeichnen.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir das nur einbilde, aber die Luft in meinem Sarg scheint dünner zu werden, je mehr ich atme. Das trägt nicht gerade dazu bei, dass ich mich beruhige. Meine Muskeln und Sehnen beginnen, alle Kräfte, die tief in mir schlummern, zu mobilisieren. Die Angst davor, zerquetscht zu werden, weicht der Angst, zu ersticken, und Letzteres kommt mir tatsächlich weniger erstrebenswert vor.

Ich hämmere meine Fäuste gegen die Bretter, einmal, zweimal, dreimal. Die Luft, die mir noch bleibt, will ich sinnvoll nutzen.

"Hilfe!" Meine Stimmbänder scheinen ebenfalls aus einem tiefen Schlaf zu erwachen, werden aber zunehmend kraftvoller.

"Hilfe! Bitte!"

Ich kratze mit den Fingernägeln, spüre den ziehenden Schmerz, als sich ein Splitter in meine Haut rammt, habe aber keine Reserven, um ihm weiter Beachtung zu schenken.

Ich hole tief Luft, vielleicht ein letztes Mal, ich weiß es nicht, vielleicht ist das hier nun wirklich mein Ende, vielleicht fügt sich nun alles so, wie es sein sollte, und meine Finger graben sich tief in die Maserung, als ich alle noch übrigen Kräfte in meine Stimme investiere. Wenn das hier mein endgültiger Tod sein sollte, kann ich mir wenigstens nicht vorwerfen, es nicht versucht zu haben. Auch wenn das natürlich rein gar nichts ändert.

 

"HILFE!"

 

Die Antwort darauf ist ein Beben, das die Erde um meine Kiste herum erzittern lässt. Ein Grollen erfüllt die Luft, als würde Donner über mich hinweg rollen, und es wiederholt sich, immer und immer wieder. Zuerst nur sanft und weiter entfernt gewinnt es an Kraft und Lautstärke, scheint sich meiner Position zu nähern. Neue Panik will mich bewegungsunfähig machen, doch plötzlich wird mir klar, das etwas – oder jemand! - über mir ist. Irgendetwas bewegt sich. Vielleicht nur ein Tier. Aber vielleicht auch meine Rettung.

Mein Atem ist mittlerweile nur noch ein schnelles Hecheln und mein Brustkorb fühlt sich an, als wollte er einfach implodieren, doch auch Hoffnung keimt in mir auf.

"Hier! Hier!", jappse ich so laut wie möglich.

"Hier! Hier unten!"

Plötzlich dröhnt es über mir, als wäre nichts als Watte zwischen mir und dem, der die Erde erzittern lässt.

"Hörst du das?!"

Eine Stimme. Eine menschliche Stimme. Tränen treten mir in die Augen. Ich hole laut Luft. Dankenswerterweise ist davon doch noch mehr da, als ich dachte.

"Hier! Hier unten!", wiederhole ich gebetsmühlenartig, nicht fähig in meiner allumfassenden Angst andere Worte zu finden.

Die Schritte über mir brechen ab, und nun kann ich hören, wie die Erde über meinem Körper mit viel Kraft bei Seite gescharrt wird. Ich lege die Finger auf die Kistenwand über mir und starre mit aller Macht dagegen, und plötzlich bricht ein nur sehr matter Lichtstrahl durch eine der Ritzen im Holz und fällt auf meinen Körper. Dann noch einer, und noch einer, bis ich mit Lichtflecken besprenkelt daliege. Unglaubliche Erleichterung sorgt dafür, dass ich völlig unkontrolliert zu lachen beginne. Adrenalin flutet meine Adern.
 

"Ach du scheiße." Die Stimme über mir ist männlich, dunkel und energisch. Durch die kleinen Risse kann ich nun Schatten ausmachen, die sich zu bewegen scheinen. Die plötzliche Helligkeit um mich blendet, doch ich kann mir gerade nichts Wunderbareres vorstellen.

"Ach du scheiße, da ist einer drin."

Ich nicke hektisch, als könnte mich jemand sehen. Frische, kalte Luft zieht zu mir herein. Meine Lungen scheinen vor Freude zu jubeln.

"Bitte.", entkommt es mir matt. All die Stärke, die ich in meine Rettung investiert habe, scheint verbraucht. Auf einmal muss ich mich wieder auf so essentielle Dinge wie atmen und blinzeln konzentrieren.

"Wer bist du?", schallt es nun zu mir herein. "Zu wem gehörst du?"

Die Fragen kommen mir abwegig und ganz nebenbei noch ziemlich unwichtig vor. Kann man mir die nicht stellen, wenn ich endlich im Freien stehe – oder in meinem Zustand eher liege oder knie?

Doch als ich nicht antworte, scheint sich über mir auch nichts weiter zu regen, die Schatten scheinen abzuwarten. Ich keuche leise.

"Ich ... ich weiß es nicht.", wispere ich in der Hoffnung, laut genug zu sein. Vermutlich würde ich gerade jeden Mord und Totschlag zugeben, nur um endlich meinem Gefängnis entkommen zu können.

Erneute Bewegung über mir, leises Gemurmel.

"Er weiß es nicht?!", wispert eine neue Stimme, die der Ersten in keinster Weise ähnelt. Sie ist heller, klarer und deutlich bissiger. "Will der uns verarschen?"

"Keine Ahnung. Vielleicht weiß er es wirklich nicht. Schlag auf den Kopf oder so.", antwortet mein erster Gesprächspartner nun ebenso leise. Ich bekomme ein wenig das Gefühl in Vergessenheit zu geraten und klopfe träge mit einer Hand gegen das Holz.

"Bitte ..." Mehr bringe ich nicht mehr zustande. Alles in mir schreit nach Freiheit.

"Das riecht nach Ärger."

"Wir können den Armen doch jetzt nicht hier in der Kiste liegen lassen, Sanji."

"Und ob wir das können. Denk doch mal mit, Mann! Irgendwer wird ihn hier ja wohl eingebuddelt haben! Und der wird sich sicher nicht freuen, wenn er bemerkt, dass ich-weiß-es-nicht von den Toten wieder auferstanden ist! Wir lassen ihn hier."

Oh Gott. Meine Hoffnung schwindet dahin. Ich habe keine Kraft, um eigenständig aus der Kiste zu kommen, selbst wenn sie nicht verschlossen sein sollte und sich die Planken ohne die drückende Erde leicht lösen lassen. Mein Körper will sich kein Stück mehr regen, und ich fürchte, sollte ich einschlafen, wird es das letzte Mal sein.

Ich versuche mich zu konzentrieren, versuche zu erfassen, was gerade das Problem ist, neben der Tatsache das ich gerade dabei bin, in einer verdammten Holzkiste mein Ende zu finden.

"Bitte.", wiederhole ich und sammle mühselig meine Gedanken. "Ich bin keine Gefahr."

"Dass DU keine Gefahr für uns bist, davon gehen wir aus!", höhnt die hellere Stimme hörbar verärgert. "Verdammt Frankie, denk nicht mal daran, ihn raus zu holen!"

"Halt die Fresse, Sanji. Hab ich was verpennt, bist du jetzt der Boss?"

"Soll das ein Witz sein, du Höhlentroll? Ist das gerade wirklich dein verfickter Ernst?!"

"Du kannst mir jetzt helfen oder weiter beleidigte Leberwurst spielen, ist mir scheißegal, klar? Los, geh zur Seite." Die Schatten bewegen sich noch einmal, einer entfernt sich eilig, dann scheint jemand mit purer Körperkraft an den Holzplanken zu ziehen.

"Mach die Augen zu da drinnen!" Ich tue, wie mir geheißen, und unter lautem Fluchen und Verwünschungen der helleren, klareren Stimme bricht Brett um Brett über meinem Kopf. Späne und Splitter regnen auf mich hinab, und ich wage es erst, blinzelnd aufzusehen, als das Knacken und Brechen endet und ein Windhauch über meinen Körper fegt, der die feinen Härchen auf meinen Armen aufstellt.
 

Zuerst ist da nichts als ein gleißend helles Licht, so grell, das meine Augen sofort zu tränen beginnen und ich sie immer wieder hektisch schließen muss. Unterbrochen wird diese Helligkeit nur von zwei Gestalten, weiterhin nicht mehr als Schatten für mich, die sich über mich beugen. Ihre Staturen hätten wohl nicht unterschiedlicher sein können. Während der Eine riesenhaft groß und breit ist und eine seltsame Kopfform zu haben scheint, ist der Andere eher zierlich und deutlich kleiner.

"Ach du Scheiße.", entkommt es dem Ersten ein drittes Mal. Er klingt ungläubig, geschockt. Ob ich sichtbare Verletzungen habe, die mir noch gar nicht bewusst geworden sind?

"Was zum Teufel ..." Eine gigantische Hand legt sich auf meine Stirn, macht aber den Eindruck als könnte sie meinen ganzen Kopf zwischen die Finger nehmen und einfach zerquetschen, wäre ihr danach.

"Ich hab's gesagt. Ich hab's gesagt, verdammt." Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Lichtverhältnisse. Ich kann spüren, dass meine Sinne schwinden und versuche mit aller Macht, bei Bewusstsein zu bleiben. Die bissige Stimme gehört zu einem hinter einem dicken Schal verborgenen Gesicht. Blonde Haarspitzen stehen unter einer Wollmütze hervor. Ich kann nichts weiter als eisblaue, mich taxierende Augen und eine schmale Nase erkennen. Die mein Gesicht abtastende Hand gehört zu einem Hünen, der ein seltsam schmales Gesicht, dafür aber eine wilde Haartolle hat, die ich vorher fälschlicherweise als abstrakte Kopfform ausgemacht habe. Seine Arme wirken auf mich dick wie zwei Baumstämme. Meine Augen flattern.

"He. He, wach bleiben, okay?" Ich versuche zu nicken, bekomme aber selbst das nicht mehr auf die Reihe. Jetzt, wo ich es aus der Erde heraus geschafft habe, scheint mein Körper der Meinung zu sein, dass ein wenig Ruhe nicht schaden könnte. Kurz umspült mich noch das unbestimmte Gefühl, dass meine Kraft mich normalerweise nicht so im Stich lässt – dann ist es vorbei.

Die Dunkelheit hinter meinen Augenlidern ist fast so mächtig wie die einige Momente zuvor in meinem Grab, und ich höre noch ein leises "Komm schon, bleib bei uns!" -

 

Dann ist es still.

Willkommen in Nowhere.

How fickle my heart and how woozy my eyes

I struggle to find any truth in your lies

And now my heart stumbles on things I don't know

My weakness I feel I must finally show

 

- Mumford & Sons, "Awake My Soul"

 

 

Als ich das zweite Mal erwache, scheint mein Körper neue Kräfte gesammelt zu haben. Schon als ich die Augen aufschlage, kann ich meine Arme und Beine deutlich spüren, kann Stärke und Ausdauer in ihnen ausmachen. Über mir erstreckt sich ein düsterer, grauer Himmel, die Wolken ziehen in einer immensen Geschwindigkeit an meinen Augen vorbei. Ich verliere mich kurz darin, die frische, kalte Luft tief in meine Lungen zu ziehen und dann langsam auszustoßen, dann höre ich nicht weit von mir flüsternde Stimmen. Der Wind rauscht über mich hinweg, erzeugt ein leise sausendes Geräusch in meinen Ohren. Nun bereitet es mir wenig Probleme, mich in eine sitzende Position aufzurichten und mich langsam umzusehen. Ich lebe, und das sogar ziemlich problemlos. In Anbetracht dessen, das ich dachte nicht mehr erwachen zu können, ist das ein wirklich gutes Zeichen.

 

Tatsächlich befinde ich mich auf einem Friedhof. Alte, verrottende Grabsteine ragen wie Pockennarben aus dem Boden, windschief und hier da umgestoßen. Ich entdecke Kreuze und nicht weit entfernt eine Engelsstatue, die weder Arme noch einen Kopf besitzt. Einzig die Flügel strecken sich imposant zu den Seiten. Ich kann keine Blumen, keine Kerzen erkennen. Wer auch immer hier begraben wurde, muss schon verdammt lange tot sein. Die vielen Gräber scheinen sich endlos hinzuziehen, bis sie in einem grauen Dunst einfach enden, als wäre das das Ende der Welt.

Zu meiner rechten Seite, auf einem kleinen, offenen Platz brennt ein Lagerfeuer, knistert und neigt sich gefährlich im Wind. Daneben, auf der nackten Erde sitzen meine beiden Retter, zu einander geneigt und in ein für mich nicht verständliches Gespräch vertieft. Sie scheinen mein Erwachen noch nicht bemerkt zu haben. Ich musterte die beiden ungleichen Gefährten genau, betrachte das erste Mal mit klarem Verstand ihre Körper und Kleider.

Sie sind in nichts weiter als Lumpen gehüllt. Ich weiß nicht, wie viele Schichten sie über einander tragen, aber es sieht aus, als wären sie für eine Polarexpedition gerüstet, wenn auch für eine reichlich amateurhafte. Der Große, der mich ein weiteres Mal mit seiner Statur und seinen dicken, fleischigen Armen in staunen versetzt, die er dank hochgekrempelter Ärmel gut präsentiert, sitzt schräg mit dem Rücken zu mir. Die Jacke, die er trägt wirkt warm, ist aber an etlichen Stellen gerissen und dreckig. Einzig seine hellblauen, leuchtenden Haare, die er in einer abenteuerlichen Tolle in die Luft gestylt hat, sind sauber und gepflegt.

Der Kleinere macht keinen besseren ersten Eindruck. Er hat die Beine zum Schneidersitz über einander geschlagen und beugt sich weit zu seinem Begleiter, der Schal bewegt sich hektisch vor seinem Mund, als würde er schnell sprechen. Die Mütze, die seine Haare verdeckt, war vermutlich einmal von einem leuchtenden Rot, hat jetzt aber eher einen bräunlichen Ton angenommen. Die dicke Armeejacke in Tarnfarben wirkt, als wäre sie schon durch viele, nicht gerade zärtliche Hände gewandert. Zwei verrückte Obdachlose. Aber mein Verstand flüstert mir, das ich damit ebenso Recht habe wie auf dem Holzweg bin. Meine Neugierde ist geweckt.

 

Als die beklemmden, verängstigten Gedanken an meine fragliche Identität wieder aufkommen wollen, schiebe ich sie energisch bei Seite und beginne mich aus meiner Holzkiste zu bewegen, in der ich immer noch liege. Ein Blick an mir hinunter verrät, das ich selbst nicht gerade besser aussehe als die Beiden vor mir. Meine Beine stecken in abgewetzten, dreckigen Jeans, meine Füße in abgelaufenen Boots. Darüber trage ich einen Filzpullover, vermutlich grün, vielleicht aber auch braun – oder etwas ganz Anderes. So genau kann man das wirklich nicht mehr sagen. Er ist nicht löchrig, aber so verblichen, als hätte ich ihn sehr lange viel zu heiß gewaschen.

Da ich nun in den Stand gekommen bin, ziehe ich auf die Aufmerksamkeit auf mich. Die beiden ungleichen Wilden unterbrechen apprupt ihr Gespräch und spähen mit großen, neugierigen, aber auch durchaus vorsichtigen Blicken zu mir auf. Ich bekomme das Gefühl, eine gewisse Ehrfurcht in ihnen auszulösen, kann mir aber absolut nicht erklären, wieso. Fast schon reflexartig taste ich mit einer Hand fahrig durch mein Gesicht, doch außer ein wenig Dreck kann ich nichts erfühlen, was den unterdrückten Schrecken in den Augen der Anderen erklären würde. Eine Nase, zwei Augen, ein Mund. Vermutlich nicht einmal so wahnsinnig hässlich. Wieso also diese Musterung?

Ich beschließe, der neuen Situation so selbstsicher entgegen zu treten, wie ich in meinem Zustand der völligen Ahnungslosigkeit nur kann, und stapfe mit festem Schritt zum Feuer, um mich dicht davor sinken zu lassen und meine Hände wärmesuchend über die Flammen zu halten. Prickelnde Hitze taut meine kaltgefrorene Haut auf.

Es kehrt eine äußerst seltsame Stille ein. Ich versuche den Anschein absoluter Normalität aufrecht zu erhalten und meine Nebenmänner glotzen, als wäre ich ein seltenes Tier, das gerade aus seinem Zoogehege ausgebrochen ist; als wüssten sie nicht, ob man mich besser einfangen oder doch lieber direkt erschießen sollte. Nach ein paar Minuten wird mir diese Hampelei aber zu blöd.

Mit festem Blick drehe ich den Kopf, der vorher stur zum Lagerfeuer hingerichtet gewesen war, und fixiere erst den Großen, dann den Kleinen. Beide scheinen unmerklich nach hinten zu weichen.

"Danke." Meine Stimme klingt ruhig, allerdings eine ganze Spur zu ernst.

"Ich weiß, ihr hättet mich nicht befreien müssen." Bei diesen Worten wende ich mich ganz bewusst an den Blonden, dessen Blick kurz eine spur trotzig wird, bevor er gen Boden zu blicken beginnt.

"Also – ich danke euch. Vermutlich habt ihr viele Fragen, aber ihr könnt mir glauben – ich habe noch viel mehr." Dennoch mache ich mit der Hand eine einladende Bewegung, ein Zeichen, das ich bereit bin, meinen Rettern den Vortritt zu lassen. Der Blauhaarige räusperte sich unbehaglich.

"Gut. Ja. Richtig." Er ringt die Hände, als würde er nach Worten tasten, bis er scheinbar den Faden gefunden hat.

 

"Du sagtest, du wüsstest nicht, zu wem du gehörst."

"Richtig."

"Ist es dir mittlerweile eventuell wieder eingefallen?"

"Nein."

"Wie heißt du?"

"Ich weiß es nicht."

"Du ... du weißt nicht, wie du heißt?"

"Nein."

"Weißt du überhaupt irgendwas?"

"Nein."

Mein letztes Wort scheint meinen Gesprächspartner nun entgültig zu verblüffen. Er neigt sich ein Stück nach hinten und sieht mich mit weit nach oben gezogenen Augenbrauen an, was ihn fast jugendlich wirken lässt, wäre er nich so unmenschlich groß.

"Krass." Ich nicke verkniffen. Krass ist all das auf jeden Fall.

Nun meldet sich der Blonde zu Wort. Seine Stimme ist wie kaltes Eisen.

"Du willst uns also weis machen, du kannst dich nicht daran erinnern wer du bist, wo du hingehörst noch wer dich in diese Kiste gesteckt hat?"

"Korrekt." Ich ernte ein ärgerliches Schnauben, was den Schal vor dem fremden Mund amüsant ausbeult.

"Aber du weißt schon, wo du bist, ja?"

"Keinen Schimmer."

"Du musst doch zumindest wissen, auf welchem Teil des Kontinents du dich befindest!"

"Ich weiß, es wird langweilig, aber – nein."

Offenbar mache ich einen aufrichtigen Eindruck. Der Blick des Kleineren verwandelt sich, seine Augen werden groß. Nun entkommt ihm ein leises "krass".

"Ihr glaubt mir?"

Die Beiden schauen sich einen Moment an, als würden sie stumm über diese Worte beraten, dann zuckt der Hüne mit den Schultern.

"Wir haben noch nie von dir gehört. Solange wir keine anderen Informationen haben ... glauben wir dir."

"Aber denk bloß nicht, damit bist du aus dem Schneider!", warnt der Kleinere mich augenblicklich, wieder so spitzzüngig und taxierend wir zuvor. "Das wir zur Zeit nicht wissen, wer du bist, heißt nicht, das wir das nicht verdammt schnell herausbekommen können."

Mein Gesicht hellt sich auf. Diese Drohung ist die erste wirklich gute Nachricht, seit ich wieder an der frischen Luft bin.

"Meint ihr das ernst? Ihr könnt herausbekommen, wer ich bin?"

Meine Freude scheint eher auf Überraschung zu stoßen.

"Nun ... ja. Können wir."

Ich will schon in überschäumendes Gejubel ausbrechen, da geht mir auf, das mir neben meiner eigenen Identität noch andere, sehr wichtige Informationen fehlen. Und die können wir gleich jetzt bereinigen. Mein Blick wird wieder ernst.

"Gut. Jetzt bin ich dran mit den Fragen."
 

Ich wende mich um, sitze nun direkt im Kreis meiner neuen Begleiter und betrachte aufmerksam ihre unsicheren, abwartenden Blicke.

"Wo bin ich hier?"

"In Nowhere." Mein Blick verfinstert sich.

"Wollt ihr mich verarschen?" Mein sichtbarer Ärger lässt den Riesen zu meiner linken seltsam zusammen sinken, als hätte er ernsthaft Sorge, ich könnte ihn für seine Lüge bestrafen.

"Du bist in Nowhere, Alter. Ohne Scheiß."

"In Nowhere. Na klar." Die lauernde Stimme des Blonden reißt mich kurz aus meiner Wut.

"Was glaubst du denn, wo du bist, hm?" Man scheint mir eine Falle stellen zu wollen, aber ich habe nicht vor, auf dieses Spiel einzugehen. Stattdessen sehe ich mich prüfend um, mustere das Moos auf den Grabsteinen und den langsam aufwallenden Nebel. Die Kreuze, die hier und da hinaufragen, kommen mir entfernt keltisch vor.

"Keine Ahnung. Vielleicht in England?" Kurz erfasst mich eine grenzenlose Erleichterung, als ich feststelle, das offenbar nur die Informationen über meine eigene Identiät abhanden gekommen sind und ich so essentielle Dinge wie grundlegende Geographie noch durchaus beherrsche, dann bemerke ich, wie ungläublich ich angestiert werde.

"Lieg ich so weit daneben?" Ich zucke seufzend mit den Schultern. "Hört mal, das hier ist ein Friedhof, und scheinbar ist er verdammt groß. Noch dazu scheint es weiter entfernt ziemlich neblig zu sein. Was weiß ich, wo ich bin."

Weiterhin Unglauben. Ich runzle die Stirn.

"Was denn, verdammt?"

"... Eng... Eng-wie?" Die wollen mich doch komplett auf den Arm nehmen!

"England!", platzt es nun wirklich verärgert aus mir heraus. "Seit ihr unter einem scheiß Stein aufgewachsen oder was?! England! Die verteufelt große Insel im atlantischen Ozean? Das britische Empire? Lammfleisch mit Minzsoße? Teatime? Klingelts langsam?"

Die Stimmung zwischen uns kippt spürbar – man hält mich für verrückt. Das sehe ich in ihren Augen, spüre es bei jeder unruhigen Bewegung. Wieder tauschen sie diese Blicke aus.

"Alter ... es tut mir wirklich Leid, aber ...", beginnt der Blauhaarige sichtlich nervös. "... wir haben keine Ahnung, was du da redest."

"Vielleicht kommt er von weit her.", mutmaßt der Blonde nun, als wäre ich gar nicht anwesend.

"Vielleicht kommt er ja von hinter dem Wasser."

"Laber keinen Scheiß, Sanji. Hinter dem Wasser?! Da ist nichts! Das weiß doch jeder!"

"Und was, wenn doch?"

"Hallo!", rufe ich und klopfe mit einer Hand kräftig auf den Boden. Ich habe keinen langen Geduldsfaden, und er ist schon vor ein paar Minuten gerissen.

"Ich bin auch noch hier!" Beide zucken zusammen, als hätte ich ihnen Schläge angedroht. Was stimmt mit diesen beiden exotischen Vögeln nicht?

"Ich will sofort wissen, wo ich hier bin, zum Teufel! Und lasst diesen Schwachsinn mit 'Nowhere', klar? Ich will die Wahrheit!"

Schweigen. Na großartig. Ich verdrehe stöhnend die Augen.

"Okay. Na gut. Meinetwegen. Dann sind wir hier also in ... Nowhere. Schön. Einfach großartig. Wer seit dann ihr? Und was treibt ihr hier? Gehört Grabschändung neuerdings zum guten Ton?"

"Hey!", lässt der Blonde, der offenbar Sanji heißt nun erbost zischend verlauten, doch sein großer Freund beruhigt ihn mit einer herrischen Geste.

"Mein Name ist Franky, Kumpel.", bemüht er sich um einen versöhnlichen Ton. "Und die blonde Zicke neben mir heißt Sanji."

"HEY!" Wieder eine klare, abschneidende Handbewegung.

"Wir gehören zur Strohhutbande. Wir sind keine Plünderer, falls du das denken solltest. Wir sind auf der Suche nach einem unserer Mitglieder. Sein Name ist Brook. Schon mal gehört?"

"Ich weiß ja nicht mal meinen eigenen Namen."

"Gutes Argument."

Franky entkommt ein lautes, erschöpft klingendes Seufzen.

"Strohhutbande.", wiederhole ich langsam. "Komischer Name für ne Straßengang."

"Wir sind keine Gang, Idiot!", faucht Sanji, sichtlich froh, das er endlich seinen Dampf ablassen kann. Mit einem Ruck reißt er sich den Schal vom Mund weg und entblößt zwei schmale, ernste Lippen. "Wir sind eine Gemeinschaft, verstanden? Ein Zusammenschluss der Besten und Stärksten!" Das klingt wie direkt aus einem Jugendroman gemoppst. Ich hebe eine Augenbraue.

"Dein Ernst?"

"Mein voller Ernst! Wag es nicht, dich über uns lustig zu machen! Bisher hat uns noch niemand den Gar ausgemacht, und du wirst ganz bestimmt nicht der Erste sein!"

Das scheint dem Blondschopf ja wirklich verdammt ernst zu sein. Bevor das hier noch in eine handfeste Auseinandersetzung ausartet, hebe ich beschwichtigend meine Hände, auch wenn ich gern selbst ein wenig getobt hätte.

"Also gut. Wir sind in Nowhere und ihr zwei seit Mitglieder der berühmt-berüchtigten Strohhutbande." So ganz kann ich die Ironie dann doch nicht aus meinen Worten vertreiben. Sanji starrt mich an, als hätte ich es gewagt, seine Freundin vor seinen Augen zu küssen. Franky dagegen nickt bekräftigend.

"Ganz genau."

"Kommt schon, Jungs. So langsam ist es echt genug. Der Spaß hat ein Ende, okay? Ich bin in einer echt beschissenen Situation und ich finde es gerade echt nicht lustig, was ihr hier mit mir abzieht."

Da man mir wieder keine Antwort geben will, lasse ich nochmal den Blick schweifen. Denen muss ich offenbar alles aus der Nase ziehen.

"Na gut. Versuchen wir es mal anders. Wie weit ist es bis zur nächsten Stadt?"

Franky scheint ernsthaft über diese Frage zu grübeln, bis er mit den Schultern zuckt.

"Keine Ahnung. Verdammt weit, würde ich meinen."

"Wie heißt sie? Und in welche Richtung muss ich?"

"Die nächstgelegene Stadt heißt Hundsfeuer.", antwortet mir nun Sanji. "In deinem Zustand brauchst du mit Sicherheit fünf Spannen, wenn nicht sogar mehr."

"Hundsfeuer? Bist du sicher?" Der Hüne runzelt ungläubig die Stirn. "Liegt Seestadt nicht viel näher?"

"Quatsch, Hohlbirne. Seestadt liegt hinter den großen Zehen. Als Vogel würdest du vielleicht zwei Spannen brauchen, aber er müsste durchs Gebirge, oder er muss drum herum. Da braucht er viel länger."

Hundsfeuer? Große Zehen? Seestadt? Spannen? Wo zum Henker bin ich eigentlich gelandet?

"Erleichternd, das es in meiner und in eurer Welt Vögel zu geben scheint.", entkommt es mir leise.

"Bin ich vielleicht beim lesen eingeschlafen und träume von einem verdrehten Tad-Williams-Roman?"

"Du kannst lesen?!" Frankys Gesicht ziert wahre Ehrfurcht, als ich ihn verblüfft ansehe.

"Tja. Ich bin mir nicht sicher.", antworte ich langsam, denn mit Bestimmtheit kann ich das tatsächlich nicht sagen. Ich schließe kurz die Augen, stelle mit Buchstaben und Worte vor.

"Ich denke schon. Du nicht?"

"Keiner von uns.", ist die leise, ehrlich faszinierte Antwort. Dann wendet sich der Blauhaarige aufgeregt zu seinem Gefährten, der noch immer ziemlich unzufrieden aus der Wäsche guckt.

"Alter, wir müssen ihn zu Robin bringen!"

"Ah ja? Müssen wir?"

"Man, sie würde uns köpfen, würde sie erfahren das wir jemanden getroffen haben, der lesen kann, und ihn nicht mitgebracht haben!"

"Sie muss es ja nicht erfahren."

"Sanji! Verdammt nochmal!"

"Was denn?! Sieh ihn dir an, Franky! Er wird uns langsamer machen und unsere Vorräte aufbrauchen! Außerdem haben wir eine Mission, schon vergessen? Erinnerst du dich noch an Brook, hm?"

Genau in diesem Moment ist es mir entgültig genug. Ich habe nicht vor, meine Zeit mit diesen Wahnsinnigen zu verschwenden und dieser Sanji sieht das offenbar nicht anders. In der nächsten Stadt, wie auch immer sie heißen könnte, kann man mir genauso gut mit meinen verlorenen Erinnerungen helfen. Mit einem Ruck erhebe ich mich und starre entschlossen auf die beiden hinab, die irritiert zu mir aufblicken.

"Hört zu, sagt mir nur, in welche Richtung ich muss, okay? Den Rest bekomme ich schon alleine hin." Kurz herrscht wieder dieses unangenehme Schweigen zwischen uns, dann räuspert sich Franky unbehaglich.

"Du wirst es nicht über die großen Zehen schaffen, Alter, und nach Hundsfeuer kommst du nicht ohne eine Empfehlung. Sie werden dich am Tor einfach wieder fortschicken. Du bist schlecht ausgerüstet, hast nichts womit du dich verteidigen könntest und du hast keine Magnetnadel, mit der du dich im Nebel orientieren könntest. Du wirst einfach irgendwo verdursten oder verhungern, oder du rennst den Raiders in die Arme, dann ist es sowieso vorbei."

Ich hebe den Kopf und betrachte aufmerksam den dicken, wabernden Nebel, der sich am Horizont erstreckt und durch den straffen Wind herumgewirbelt wird, als hätte er ein Eigenleben.

Auch, wenn ich weiterhin nicht daran glaube, das es eine Stadt mit dem Namen Hundsfeuer gibt oder ein Gebirge, das sich 'große Zehen' schimpft, hat Franky in einem Punkt Recht – in diesem erschreckend lebendigen Nebel werde ich nichts finden außer meinen vermutlich recht bald eintretenden Tod.Und dem bin ich doch gerade erst entkommen, das kann also nicht das Ziel sein.

"Und ihr könnt euch im Nebel orientieren?"

"Wir haben eine Magnetnadel, ja."

"Einen Kompass meinst du."

"Keine Ahnung, was das ist wovon du sprichst, aber wir haben das hier."

Der Hüne zieht aus seiner riesigen Manteltasche eine kleine metallerne Platte, auf die mit Draht eine Nadel angebracht ist, die bei jeder Bewegung leicht in eine Richtung zuckt. Ich nicke.

"Ziemlich primitiv, aber ja, das sieht nach einem Kompass aus."

"Nenn es, wie du willst. Er bringt uns zurück nach Hause."

"Nein, er bringt euch nach Norden."

"Bullshit.", knurrt Sanji, hörbar wütend darüber, das sich das Blatt gerade gegen ihn wendet.

"Er bringt uns immer zurück nach Hause."

"Dann hat er eine Peilvorrichtung?"

"Nein, er bringt uns einfach nur immer nach Hause!", jault der Blonde und ich zucke schnaufend mit den Schultern.

"Okay, okay, schon gut. Er bringt euch nach Hause. Und wo ist das? Auch in Nowhere?"

"Alles hier ist Nowhere, Alter. Also – ja. Aber wir sind noch nicht lange unterwegs. In einer Spanne sollten wir da sein."

"Und wie lang ist eine Spanne in eurer Welt genau?"

"Wie?"

"Wie viele Stunden hat eine Spanne?"

"Stunden? Eine Spanne ist eine Spanne.", antwortete Franky verständnislos, während der resignierende Sanji mit einer Hand herumwedelt, als wollte er eine Fliege vertreiben.

"Eine Spanne dauert von Lichtbeginn bis Lichtbeginn."

"Also von Sonnenaufgang bis zum nächsten Sonnenaufgang. Ein Tag. 24 Stunden."

"Keine Ahnung, man! Es ist einfach eine Spanne und das hier ist einfach eine Magnetnadel und die bringt uns einfach nach Hause, und da gehen wir ja offenbar hin, denn ein dahergelaufener Irrer ist wichtiger als unser Kumpel Brook!"

"Sanji, es reicht." Frankys Stimme ist seltsam dunkel und ernst, eine Regung die man ihm gar nicht so richtig zutraut. Er sieht seinem Begleiter mit festem Blick direkt ins Gesicht, was diesen zu einer verzweifelten Geste hinreißt, bevor er schnaufend die Arme sinken lässt und nickt.

"Ja. Ja, ich gebe auf. Ist gut. Wir gehen zurück. War eben alles umsonst."

Und damit scheint das Thema für den Größeren beendet. Er erhebt sich und schenkt mir plötzlich ein breites Lächeln.

"Gut, dann wäre das also beschlossen. Wir sollten gleich aufbrechen. Du hast ja bestimmt genug geschlafen, was?" Er zwinkert mir schelmisch zu und ich kann nicht anders, als schmal über diesen Witz zu grinsen.

"Allerdings."

 

"Wir sollten dir einen Namen geben, bis er dir wieder einfällt."

Es ist einige Zeit vergangen, seitdem wir aufgebrochen sind, doch da wir nun seit Verlassen des Friedhofs durch wabernde Nebelschwaden stapfen, einzig orientiert dank der sogenannten `Magnetnadel`, die Franky wie eine Reliquie vor sich hält, könnte ich nicht mit Sicherheit sagen, wie viel Zeit genau. Allerdings haben wir seitdem auch nicht mehr mit einander gesprochen. Jeder scheint seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Ich für meinen Teil werfe nur mehr und mehr Fragen in meinem Kopf auf, wage es aber nicht, sie zu stellen. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher, ob die beiden verrückt sind oder doch eher ich, und je mehr seltsame Ortsnamen oder Zeitangaben mir meine Begleiter machen könnten, desto unwirklicher kommen mir meine eigenen Erinnerungen vor. Überhaupt erscheint mir all das nicht wirklich real. Dieser dicke, undurchdringliche Nebel, der endlos große Friedhof, meine neuen Gefährten – nichts von dem passt zu meiner Welt. Es ist nicht wie im Traum, ich bin mir zwar ziemlich sicher das ich wach und geistig anwesend bin, aber so ganz der Realität entspricht es eben auch nicht.

Während Sanji mit energischen Schritten hinter uns her marschiert sodass man ihn nur als dunkeln Schatten ausmachen kann, hat sich Franky an meine Seite gesellt und sieht mich mit seinen dunklen, ruhigen Augen aufmerksam an. Ein freundliches Schmunzeln liegt auf seinen Zügen. Er scheint sich wirklich mit mir gut stellen zu wollen, aber ich erkenne keine Falschheit in seiner Art. Vielmehr wirkt er einfach von Natur aus gutmütig. Ganz im Gegensatz zu seinem Freund.

"Einen Namen?", echoe ich nachdenklich. "Keine schlechte Idee. Irgendwie müsst ihr mich ja rufen, sollte ich die Spur verlieren."

"Genau." Einen Augenblick grübeln wir beide, dann streckt Franky den Zeigefinger seiner freien Hand in die Luft und macht ein triumphierendes Geräusch.

"Egonar."

"... Das ist doch kein Name."

"Natürlich ist er das. Ist sogar ziemlich verbreitet ... hier bei uns."

"Mhm. Gefällt mir nicht." Der Riese lässt die Schultern hängen.

"Na schön. Welche Namen sind denn verbreitet, da wo du herkommst?" Da muss ich nicht allzu lange überlegen.

"John. Jack. Jacob. Noah. David. Nur, um ein paar zu nennen."

"Klingt exotisch."

"In meinen Ohren klingt 'Sanji' exotisch." Ich höre den Angesprochenen hinter mir laut schnauben.

"Ja, Sanji ist auch hier bei uns nicht sehr häufig. Es setzt sich aus 'San' zusammen, das bedeutet so viel wie 'Scharfsinn', und 'ji', das steht im Kern für 'Leichtigkeit'.", erklärt Franky bereitwillig.

Ich drehe mit gehässigem Blick den Kopf und musterte die Gestalt des Blonden, der näher gekommen ist, um uns zuhören zu können, mich aber ansieht, als würde er mich viel lieber unangespitzt in den Bodenr rammen.

"Leichtigkeit, hm?"

"Ach, halt die Schnauze, Milchgesicht."

"Milchgesicht?!"

"Sobald wir zu Hause sind, bekommst du einen Spiegel von mir. Dann siehst du, was ich meine."

"Davon hast du mit Sicherheit eine ganze Menge, was?"

Sanji will gerade zornesfunkelnd zu einer gepfefferten Antwort ansetzen, da unterbricht der Blauhaarige uns mit einem lauten, bellenden Lachen, bei dem er sich sogar mit seiner freien Hand den Bauch hält.

"Ihr zwei seid ja niedlich.", entkommt es ihm, und während Sanji das nur zu einem neuen Schnauben verleitet, bringt es mich zum grinsen. Es kehrt kurz Stille ein, bevor ich beschließe, mich ein wenig weiter in die Materie vorzuwagen.

"Also .. gibt es eine zweite Sprache hier bei euch. Eine, die nicht dieselbe ist wie die, die wir sprechen."

"Ja. Also, ursprünglich gab es viele Sprachen, das behauptet zumindest Robin. Aber die Meisten sind in Vergessenheit geraten und es kamen Neue hinzu. Die Worte, aus denen sich Sanjis Name zusammen setzt, kommen aus dem kordalischen. Das ist eine neue Sprache, die weiter oben im Norden gesprochen wird."

"Und du hast sie gelernt?"

"Ich komme ursprünglich aus dem Norden, aber meine Eltern haben mir das 'Alturische', wie wir die Sprache nennen, mit der wir uns auch mit anderen Gruppierungen austauschen, als Kind beigebracht. Sie wollten, das ich unser Dorf verlasse und in einer der Städte im Süden mein Glück finde. Hat nicht so ganz geklappt, aber hey, man kann ja nicht alles haben, richtig?"

Schon jetzt schwirrt mir nach all diesen abenteuerlichen Bezeichnungen der Kopf, aber meine Neugierde ist viel zu groß, als das ich es dabei belassen könnte, jetzt, wo ich Blut geleckt habe.

"Und dort, wo du herkommst – ist das auch Nowhere?"

"Ich sagte doch, alles hier ist Nowhere."

"Wie groß ist euer Nowhere denn?"

"Oh Himmel, keine Ahnung. He, Sanji! Was meinst du, wie groß ist Nowhere?"

"Beschissen groß." Franky nickt überzeugt.

"Beschissen groß.", wiederholt er und grinst erheitert.

"Und ... wenn ihr sagt, alles hier ist Nowhere .. gibt es auch irgendwo Orte, wo NICHT Nowhere ist?" Ich komme mir vor, als würde ich mit Kleinkindern sprechen und sie nach ihrer Fantasiewelt ausfragen.

"Klar, Alter. Hinter der nördlichen Grenze findest du das große Weiß. Eine Eislandschaft, nicht mehr und nicht weniger. In alten Erzählungen wird von Stämmen berichtet, die dort leben und sich von Tieren ernähren, die unter dem Eis leben .. aber ich halte das für Ammenmärchen. Niemand kann dort leben. Es ist einfach nur verflucht kalt dort." Franky ist offenbar voll in seinem Element und führt die Geschichts- und Geographiestunde fleißig fort.

"Im Westen gibt es die Ebenen. Ziemlich flaches Land, wenn man den Berichten Glauben schenken darf. Hinter den Ebenen beginnt das Wasser. Weit im Süden beginnt die Wüste, und im Osten ... im Osten ist der Krater. Was hinter der Wüste oder dem Krater liegt, weiß niemand so genau."

"Und hinter dem großen Weiß?"

"Ebenfalls. Niemand ist bisher so weit gewandert. Die Ebenen sind fruchtbar, man findet viel Nahrung und Wasser, es gibt Dörfer und vereinzelte Städte. Aber die anderen Gebiete sind nicht passierbar."

Ich versuche mir ein Land, einen Kontinent vorzustellen, der nach Frankys Erzählungen aufgebaut ist, und scheitere kläglich.

"Was möchtest du noch wissen?"

"Nichts mehr. Danke."

"Bist du sicher?"

"Ja. Tut mir Leid, aber .. das ist, als würdest du mir eine Abenteuergeschichte erzählen."

"Dir kommt also nichts davon bekannt vor?"

"Nein."
 

Plötzlich meldet sich Sanji hinter uns zu Wort, der während Frankys Erzählung überraschend still geblieben ist.

"Zoro.", entkommt es ihm. Während ich nur die Stirn runzle, hellt sich Frankys Gesicht auf.

"Ja! Der ist gut!"

"... Zoro?"

"Dein neuer Name. Er passt perfekt."

"Was bedeutet er?"

"'Zo' steht in der Sprache meiner Heimat für Leben. 'Ro' dagegen für den Tod. Zoro. Ein passenderer Name wird uns auf die Schnelle nicht einfallen, denke ich."

Zoro. Ich lasse mir die Buchstaben durch den Kopf gehen, erinnere mich an eine alte Geschichte – Zorro, der Rächer der Entrechteten – und fühle mich auf seltsame Weise mit meiner Wahrheit, mit meinen Erinnerungen verbunden. Ich nicke.

"Ja. Der gefällt mir."

"Sehr gut, Zoro. Komm, wenn wir uns beeilen, machen wir ein wenig Boden gut und schaffen es vielleicht vor Lichtende nach Hause. Das wäre ein Grund zum feiern, was meint ihr?"

Ich nicke, und als Franky sich frohen Mutes wieder an die Spitze gesetzt hat, drehe ich mich halb um und werfe Sanji einen prüfenden Blick zu.

Sein Gesicht bleibt regungslos, als er mir ins Gesicht starrt, doch als ich mich wieder umwenden will, kann ich den Hauch eines Lächelns auf seinen Zügen erkennen.

Den Rest des Weges bleibt das mulmige Gefühl, das diese Regung hinterlassen hat.

Zurück in die Zukunft.

"I don't want to wait anymore

I'm tired of looking for answers

Take me some place

where there's music and there's laughter"

 

First Aid Kit, "My Silver Lining"

 

 

"Wir sind fast da."

Ich hebe den Kopf, aus meinen abschweifenden, verwirrenden Gedanken gerissen und betrachte mit gerunzelter Stirn Frankys selbstsicheres Gesicht. Kurz frage ich mich, woher er das wissen will, denn wir laufen nun seit einigen Stunden durch diesen dicken Nebel, ohne auch nur mehr als ein paar Grashalme und ebene Erde gesehen zu haben, doch ich zweifle seine Aussage nicht an. Wir haben den Rest unserer Reise in einvernehmlichem Schweigen verbracht und ich hatte eindeutig zu viel Zeit, um nachzudenken. Jede Antwort, die ich mir geben kann, wirft mindestens zwei neue Fragen auf, und das ist kein wirklich angenehmes Gefühl. Mein Verstand will sich gegen die neuen Eindrücke und gegen instinktive Wahrnehmungen wehren, will nicht glauben und nicht begreifen, dass ich nicht nur 'nicht zu Hause' bin, sondern verteufelt weit entfernt davon zu sein scheine. Örtlich, zeitlich, dimensional – einfach in jeder Hinsicht. Das hier ist nicht nur nicht meine Welt, es ist auch nicht meine Epoche. Das spüre ich, ohne es aus dem Mund von jemandem gehört haben zu müssen. Es fühlt sich einfach falsch an, als wäre ich ein Störkörper im großen Gefüge.

Vielleicht bilde ich mir das hier alles nur ein? Vielleicht träume ich tatsächlich und kann einfach nicht erwachen? Ich kann zwar ganz deutlich den Wind auf meiner Haut und die Kälte unter meinen Kleidern spüren, aber ist das wirklich ein Indikator für Realität oder nur für einen ziemlich lebhaften Verstand?

 

Ich höre eilige Schritte hinter mir, Sanji schließt zu mir auf, das erste Mal seit unserer gemeinsamen Reise, und betrachtet mich interessiert aus den Augenwinkeln. Ich fühle mich unwohl unter seinen forschenden Augen, gestatte es mir aber nicht, das nach außen zu tragen.

"Erzähl mir von diesem Ort."

Ich blinzle verwirrt. "Welchen Ort meinst du?"

"Dieses ... dieses Eng-land, von dem du gesprochen hast."

"Oh." Die Betonung in Sanjis Stimme bringt mich kurz zum Schmunzeln, bevor ich überlege, wie ich einem völlig Unwissenden ein ganzes Land näherbringen kann, ohne mich in Einzelheiten zu verlieren.

"Also. England ist ... erst einmal eine Insel. Eine ziemlich große Insel. Also, eigentlich ist England nur ein Teil einer großen Insel. Sie ... sie liegt im atlantischen Ozean und ..."

"Ozean?"

"Vielleicht würdet ihr das als 'großes Wasser' bezeichnen."

"Ah."

"Ich bin mir nicht ganz sicher, was du von mir hören willst. Man sagt, dass es dort sehr viel regnet, und die Menschen seien schlecht gelaunt und hätten einen seltsamen Geschmack."

"Gibt es Städte dort?"

"Klar. Eine ganze Menge. London zum Beispiel, die Hauptstadt."

"London ... ist das groß?"

"Mhm. Oh, es gibt eine Königin dort. Eine königliche Familie, besser gesagt. Es gab eine Zeit, da hatte sie das Sagen über England und alle Kolonien ... aber das ist lange vorbei. Mittlerweile herrscht dort die Demokratie, wie fast überall in ... in ... also, in der neuen Welt."

Ich habe wirklich keine große Lust, Sanji erklären zu müssen, was ich mit 'Europa' meine.

"Demokratie?"

Oh verdammt. Nicht nur ich scheine gerade eine völlig neue Welt zu entdecken und seltsame Worte zu hören. Sanji sieht mich an wie den Stein der Weisen.

"Äh, ja. Das bedeutet, dass das Volk entscheidet, was passiert. Indirekt. Man ... man wählt quasi ein Oberhaupt, okay? Man stimmt ab, und der mit den meisten Stimmen gewinnt. So ungefähr. Und der entscheidet dann, was gemacht werden soll."

Sanji runzelt die Stirn und legt den Kopf auf die Seite, was ihn wie einen nachdenklichen Schuljungen wirken lässt.

"Klingt irgendwie ziemlich gefährlich.", murmelt er schließlich. "Ich meine ... woher weiß man, dass der, den man wählt, auch das Richtige tut?"

Die Frage finde ich so klug, dass ich den Blonden verblüfft mustere und schließlich grinsen muss.

"Tja, das weiß man eigentlich nicht so genau. Das ist ja das Problem an der Sache."

"Hm." Damit scheine ich ihm genug zum Nachdenken gegeben zu haben. Sanji wendet den Blick ab, starrt zu Boden und wirkt tief in Gedanken versunken – aber das ist mir nur Recht. Ich hätte vielleicht noch gern gefragt, wie hier in Nowhere geregelt wird, wer das Sagen hat, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich dann in neue Informationen eingeweiht werde, die mich komplett überfordern würden. Außerdem tut es gut, an dem festzuhalten, was ich weiß. Es ist tröstlich.

 

Ich wende mich gerade vom grüblerischen Gesicht meines Nebenmannes ab und betrachte wieder Frankys Rücken, als dieser einen zufriedenen Laut von sich gibt und die Magnetnadel, die er während all der Zeit nicht losgelassen hat, in seinem Mantel verschwinden lässt.

"Home sweet home. Willkommen in unserem Unterschlupf, Zoro."

Ich will gerade fragen, wo er denn bitte sein angepriesenes zu Hause sieht, ich sehe nichts weiter als graue Schwaden, da lichtet sich der Nebel so plötzlich, als hätte ein starker Windhauch ihn einfach bei Seite gepustet. Und was ich zu Gesicht bekomme, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren.

Vor uns, sich weit erstreckend und in einiger Entfernung wieder im Nebel verschwindend, liegen Ruinen. Ruinen, die schon so unfassbar alt und zerfallen sind, dass man sie fast nur noch als Unebenheiten im Erdboden ausmachen kann. Hier und da ragen noch Mauerteile in die Luft und wenn man genau hinsieht, kann man grobe Umrisse von ehemaligen Bauten erkennen, doch es ist verdammt schwer, überhaupt etwas in diesem Gewirr aus Erde, Stein und altem Holz auszumachen. Knochige, blätterlose Bäume stehen auf der Fläche verteilt, doch Gras und etwas, das ich entfernt als Efeu bezeichnen möchte, ranken und wuchern auf allem, was einmal von Menschenhand erbaut worden sein könnte.

Ich bleibe wie angewurzelt stehen und sehe mich mit großen, ungläubigen Augen um. Während Franky fröhlich plappernd weiter marschiert, bleibt Sanji neben mir stehen und sieht zu mir auf.

"So hattest du es dir nicht vorgestellt, oder?"

"Nein, ich ... ich hatte mir gar nichts vorgestellt.", murmle ich langsam. "Das ist es nicht. Was ... was war das hier mal?"

"Keine Ahnung. Eine Stadt vielleicht?"

"Es war schon so, als ihr hier ankamt?"

"Es ist schon immer so gewesen. Wir wissen nichts von diesem Ort, zumindest nichts von seiner Vergangenheit. Diese Ruinen gibt es überall in Nowhere. Man stolpert förmlich darüber, egal wo man hingeht. Aber sollte es Aufzeichnungen geben, können wir sie nicht lesen, und sollte es einmal Geschichten gegeben haben, sind sie lange vergessen. Diese Ruinen sind älter als jedes Gute-Nacht-Märchen, das hier kursieren könnte."

Ich nicke langsam. Die Beschaffenheit und die Rückeroberung durch Natur und Wetterumstände lassen darauf schließen, dass Sanji durchaus Recht haben könnte. Dieser Ort ist uralt, älter als jede menschliche Lebensspanne.

"Komm." Ich spüre die Finger des Blonden, die sich auf eine seltsam sanfte Weise um mein Handgelenk schließen, bevor er nach vorne deutet und mich wieder loslässt.

"Wir sind noch nicht ganz da."

Wie durch ein unsichtbares Band verbunden folge ich dem Kleineren, vorbei an Steinresten und über Platten hinweg, die ganz entfernt an ein Straßenpflaster erinnern könnten, wären sie nicht aufgeplatzt und uneben. Eiskalte Schauer jagen mein Rückgrat hinab. Es kommt mir vor, als würde ich in meinen eigenen, zerbrochenen Erinnerungen stehen, als würde mich jeder künstlich geformte Stein leise auslachen, meinen Verstand verhöhnen.
 

Franky hat gar nicht gemerkt, dass wir uns entfernt haben. Er erzählt gerade freudestrahlend von einem köstlichen Abendessen, das er sich einverleiben möchte, als wir ihn wieder aufholen. Bei unseren schnellen Schritten dreht er sich stirnrunzelnd um, blickt uns kurz in die Gesichter, dann zuckt er nur mit den Achseln und deutet auf etwas, das für mich nach einem Loch im Boden aussieht.

"Da ist es."

Je näher wir kommen, desto deutlicher kann man erkennen, dass das vermeidliche Loch vielmehr ein Eingang ist. Steinerne Treppen unbestimmbaren Alters führen hinab in eine Dunkelheit, die mich unwillkürlich an mein Grab erinnert, dem ich vor nicht all zu langer Zeit entstiegen bin. Kurz sträubt sich mein Innerstes, auch nur einen Fuß dort hinein zu setzen, doch mein Verstand siegt. Franky beginnt schon mit dem Abstieg, als ich den Treppenabsatz erreiche.

"Wohin führt dieser Tunnel?", frage ich an Sanji gerichtet. Der wirft mir einen Blick zu, als wäre ich dümmer, als er gedacht hätte.

"Zu unserem Versteck, du Schnelldenker. Denkst du, wir campen hier oben zwischen den Ruinen? Da müssten wir uns ja nur Äpfel zwischen die Zähne schieben, um vollends wie auf dem Präsentierteller zu wirken." Er macht eine ungeduldige Bewegung hinab.

"Na los. Keine Angst, ich bin direkt hinter dir.", feixt er grinsend, als ich die Stufen hinab nehme. Mein vernichtender Blick sorgt nur dafür, dass sich sein gehässiger Ausdruck vertieft.

Ich weiß absolut nicht, was ich über diesen Kerl denken soll. Es ist seltsam, denn so schnell wie ich Franky durchschauen konnte, umso schlechter kann ich es bei dem Blonden. Er ist ein Buch mit sieben Siegeln, und je wütender mich seine Aussagen machen, desto interessierter bin ich daran, zu erfahren, was er wirklich ist.

 

Tatsächlich ist der Tunnel gar nicht so dunkel, wie ich gedacht habe, denn er endet recht schnell in einem matt erleuchteten Raum. Kleine Öllampen dienen dazu als Lichtquelle, hängen an den steinernen Wänden. Ich lege eine Hand auf eine der Gemäuer und ertaste Kälte und Nässe. Moosiger Pilz wächst in den Ecken, vermutlich Schimmel oder etwas Ähnliches. Die Luft ist abgestanden, es riecht nach feuchtem Holz und muffigem Keller. Ein steinerner Bogen, der wohl einmal der Rahmen einer Tür gewesen ist, führt ins nächste Gewölbe.

Während das erste Zimmer noch recht klein und vollkommen leer gewesen ist, trifft mich im zweiten fast der Schlag. Er ist nicht nur deutlich größer, er ist gigantisch. Dicke, schwere Metallverstrebungen reichen vom Boden bis zur Decke, halten das Gewicht des Gemäuers und schützen vor einem Einsturz der steinernen Decke. Bis zum anderen Ende sind es mindestens 50 Schritte, und an jeder Stütze hängt eine kleine Öllampe, die alles erhellt. Die Decke ist nicht besonders hoch, Franky kann mit seiner hünenhaften Gestalt mit ausgestreckten Armen hinaufreichen, aber das sorgt für keinen Abbruch der unfassbaren Atmosphäre.

Der eigentliche Hammer aber ist, dass an jeder Wand und zwischen vielen Verstrebungen, groß und schwer und in ein geisterhaftes Licht getaucht, Regale stehen. Sie bestehen aus dunklem Holz, wirken massiv, fast schon wie für die Ewigkeit. Viele sind völlig leer, werfen riesige Schatten zwischen die Öllampen und haben augenscheinlich keinen wirklichen Sinn mehr. Aber in einigen finden sich, fein säuberlich aufgereiht und teilweise sogar nach Größe oder Farbe sortiert, Bücher. Ich habe auf viele Teile des Raumes keinen Einblick, da die vorderen Regale den Blick versperren, doch je weiter ich in das Gewölbe eintauche, desto klarer wird das Bild.

Das hier war einmal eine Bibliothek. Vielleicht nur der Keller davon, aber hier wurden Schriftstücke aufbewahrt. Bei näherer Betrachtung erkenne ich, dass das Holz der Möbel stark angegriffen ist. Die Nässe, die im Vorraum herrscht, setzt sich hier fort und frisst sich in die Substanz. Vermutlich würden die meisten Bretter nicht einmal mehr leichtem Druck standhalten. Doch gerade die, die weiter mittig stehen, an denen ich vorbeigehe, als ich Franky und Sanji weiter nach hinten folge, sind recht gut erhalten und gefüllt. Mein hektischer Blick tastet eilig die Buchrücken ab, die ich erkennen kann, doch viele sind verblichen und lassen kaum eine Ahnung darauf zu, was sie beinhalten.

 

Im hinteren Teil des Raumes, der deutlich länger ist als er in die Breite geht, stehen nur noch Regale an den Wänden entlang, das Innere wurde freigeräumt oder war vielleicht auch nie möbliert. Auf dieser Fläche, auf dem kalten Boden sitzend, umzingelt von noch mehr dieser seltsamen Öllampen, hocken einige Gestalten, die aufmerksam den Blick heben, als Franky und Sanji vor mir die Szene betreten.

Zuerst bleibt es völlig still, und ich halte gespannt den Atem an, während viele fremde Augenpaare auf uns ruhen. Ich zähle drei Männer und im hinteren Teil der Fläche, an einem komplett aus Metallschrott zusammen gezimmerten Ofen stehend, in dem ein kleines Feuer flackert, zwei Frauen. Rostige, alte Rohre führen von der Wärmequelle ausgehend an der Wand hinauf und verschwinden im Gemäuer. Die Temperatur hier ist deutlich angenehmer als oben, und ich kann spüren, wie meine Haut kribbelt, als würde das Leben in jede Zelle zurückkehren.

Es vergehen vielleicht 3, vielleicht 4 Sekunden, dann erhebt sich ein schwarzhaariger Junge mit einer gut erkennbaren Narbe unter seinem linken Auge, während die Anderen ihre Blicke nun auf ihn richten, als wäre seine nächsten Schritte ausschlaggebend für die ganze Gruppe. Kaum einen Augenblick später bin ich mir sicher, dass dem auch so ist. Er tritt an Franky heran, verzieht den sowieso schon breiten Mund zu einem noch viel breiteren Grinsen und schließt seinen Kameraden fest in die Arme. Er wirkt unfassbar kindlich auf mich – er hat die unbedarften und offenen Bewegungen eines Heranwachsenden, der noch nicht so viel von der Welt gesehen hat, um darauf zu achten, wie es seine Füße setzt. Sein Lächeln hat diesen unvergleichlich unverwüstlichen Charakter, als wäre die Welt ein einziger Spielplatz, doch seine Augen leuchten wissend. Wer auch immer er ist und was er hier für eine Stellung hat, sie wird hoch angesehen sein. Er weiß, wer er ist, und er weiß, worauf er sich verlassen kann. Und das macht ihn verdammt stark. Vermutlich stärker als jeden einzelnen hier von uns.

"Franky. Sanji." Nun wird auch der Blonde einmal umarmt, der das sichtlich trotzig über sich ergehen lässt, als wäre die körperliche Nähe wie eine Stelle, an der man sich nicht kratzen kann. Es stört, aber man kann es eben nicht ändern.

 

Dann legen sich die aufmerksamen Augen des Jungen unverblümt auf mich und er mustert meine Statur einmal von oben bis unten.

"Und ihr habt einen Gast mitgebracht.", entkommt es ihm unbekümmert. Auch mir schenkt er dieses Lächeln, das ich zögerlich erwidere. Die Stimmung im Raum kann man förmlich schneiden, so dick ist sie. Anspannung knistert in der Luft, stellt die kleinen Härchen auf meinen Armen auf. Ich fühle mich unter all den Blicken immer unwohler, versuche es aber so gut wie möglich zu verbergen. Ich weiß immer noch nicht, wo ich hier hinein geraten bin, und offen Schwäche zu zeigen ist vielleicht nicht direkt der beste Weg, um einen Haufen sichtbar bewaffneter Obdachloser zu begegnen. Ich straffe die Schultern und will zu einer Antwort ansetzen, da erhebt Franky die Stimme. Im krassen Gegensatz zur erschreckend guten Laune des Schwarzhaarigen klingt er unruhig und kleinlaut.

"Das ist ... also, das ist Zoro. Wir haben ihn auf dem Friedhof gefunden, eine Spanne von hier entfernt. Er lag vergraben in einer Kiste, er ... wir, also ich ... habe ihn befreit. Er sagt, er kann sich nicht daran erinnern, wer er ist und wo er herkommt. Den Namen haben wir ihm gegeben."

Im Hintergrund beugt sich ein gebräunter Kerl mit breiten Lippen und einer unfassbar langen Nase zu dem Jungen, der neben ihm sitzt, und flüstert ihm hektisch etwas ins Ohr. Der Zuhörer, klein wie ein Zwölfjähriger, aber mit wilden hellbraunen Haaren und einem ungepflegten Bart, der im verrückten Gegensatz zu seinem sonst so jugendlichen Aussehen steht, nickt hektisch. Am Ofen regt sich eine der Frauen, eine Rothaarige, tritt einen Schritt vor und fixiert mich mit ärgerlich verzogenem Gesicht.

"Ah ja. Und da dachtet ihr, ihr bringt ihn einfach mal mit, ja?" Ihre Stimme ist schneidend, fast schon herrisch, und sie verschränkt die Arme vor ihren ziemlich großen Brüsten. Franky sinkt in sich zusammen, was bei seiner Größe noch viel mehr auffällt. Hinter mir murmelt Sanji ein leises

"Meine Rede ..."

"Also, ich dachte, dass-"

"Ach, du hast also GEDACHT. Ist ja wirklich erstaunlich. Hast du dir sehr weh getan dabei?"

"Hör zu Nami, er-"

"Er ist vor allem eins – eine Gefahr. Ihr wisst nichts über ihn und schleift ihn einfach her, präsentiert ihm unser Versteck?! Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?! Er könnte ein Späher der Raider sein! Ein Informant des Commonwealth! Ein Plünderer!"

"Wir haben ihn durchsucht, er hat nichts bei sich, und-"

"Ach, und deswegen ist er jetzt harmlos? Habt ihr euch diesen Kerl mal angesehen? Der steht verdammt gut im Futter dafür, dass ihr ihn in einer ... einer Kiste vergraben gefunden habt! Und verletzt scheint er auch nicht zu sein! Da frage ich mich doch – wie ist der in die Kiste gekommen? Und wieso hat er verdammt nochmal grüne Haare?!"

Das nächste Wort, ein verdutztes "Was?", entkommt nun mir, als ich mir in meine eigene Mähne packe. Sanji, der neben mich getreten ist, sieht verwirrt zu mir auf.

"Das weißt du nicht?", fragt er mich leise.

"Woher denn?!", zische ich ihn wütend an, dann zupfe ich mir eines meiner Haare vom Kopf und halte es zweifelnd vor mich.

Tatsache. Dunkelgrün. Also das wird ja wirklich immer verrückter hier.

"Nami, jetzt hör mir doch erst einmal zu, er-", versucht es Franky erneut, doch die Rothaarige unterbricht ihn wieder mit einer abschneidenden Handbewegung.

"Ich werde dir sicher nicht zuhören! Ihr bringt uns hier alle in Gefahr! Wir werden umziehen müssen, und ihr wisst genau, wie schwer es war, diesen Ort zu finden! All das nur, weil ihr gehirnamputierten Vollpfosten GEDACHT habt -"

"Er kann lesen!"

 

Erneut kehrt diese mächtige, knisternde Stille ein, und nun scheine nicht nur ich, sondern alle Anwesenden die Luft anzuhalten. Einzig der Schwarzhaarige, der sich während des ganzen Streits nicht bewegt hat und mich weiterhin so unverhohlen ansieht, lässt sich nichts anmerken. Er fasst sich kurz in den Nacken, als müsste er einen Moment nachdenken, dann überbrückt er den Abstand zwischen uns und stellt sich direkt vor mich. Seine Augen liegen fest und furchtlos in meinen und ich kann nicht anders, als eine große Portion Respekt für ihn zu empfinden. Während die Anderen, ausgenommen Franky und vielleicht Sanji, mich für eine reale Bedrohung halten, scheint er einen völlig anderen Blick auf mich und die Welt zu haben. Und das imponiert mir sofort.

Er hüllt sich noch einen Moment in undurchschaubares Schweigen, dann lächelt er plötzlich.

"Hallo.", entkommt es ihm, als wären nur er und ich hier im Raum. Ich straffe erneut meine Schultern und nicke knapp. Wenn ich hier jemanden wirklich überzeugen muss, dann ihn. Soviel ist sicher.

"Hallo.", antworte ich so klar und ruhig, wie es mir möglich ist.

"Du kannst dich an nichts erinnern?"

"Nein."

"Nicht mal an deinen Namen?"

"Richtig."

"Aber du kannst lesen."

"Ich denke schon. Nicht jede Sprache, aber ... ich kann lesen."

"Beweise es."
 

Diese zwei Worte reichen aus, um die zweite Frau im Raum, eine Dunkelhaarige mit rabenhaften Augen und einer zierlichen Gestalt, von ihrem Platz zu lösen. Mit schnellen Schritten durchquert sie den freien Platz, tritt an eines der gefüllten Regale heran und zieht ein schwarz gebundenes Buch heraus, ziemlich groß, was mich zuerst auf ein Sachbuch schließen lässt.

Sie tritt an mich heran, starrt mir erst in die Augen, spricht eine wortlose Drohung aus, die ich nicht ganz verstehe, dann legt sie den Einband in meine ausgestreckten Hände. Bevor ich hinunter sehe, atme ich einmal tief durch.

Das hier ist meine Feuerprobe. Sollte ich nicht lesen können, was auf diesen Seiten geschrieben steht, darf ich vermutlich gleich wieder gehen – oder Schlimmeres. Im Endeffekt würde es wohl so oder so meinen Tod bedeuten. Ich kenne diese fremde Welt nicht, in die ich hinein gestolpert bin, aber unbewaffnet und allein ist es selbst in vielen Teilen meiner eigenen Realität ziemlich gefährlich. Wie das hier aussieht, möchte ich mir gar nicht so genau ausmalen. Den vielen seltsamen Worten der Rothaarigen nach zu urteilen gibt es hier ja mehr als genug Gefahren, die auf einen lauern könnten.

Ich sehe also hinab, muss aber gleich feststellen, dass auf den Einband nichts gedruckt wurde. Einfach nur schwarze, verstärkte Pappe, wirklich erstaunlich gut erhalten für die Zustände hier unten. Ich klappe das Buch auf, betrachte die erste Seite – und lese.
 

"Der Mann in Schwarz floh durch die Wüste, und der Revolvermann folgte ihm."

 

Worte. Buchstaben. Arabische Schrift. Mein Herz beginnt vor lauter Aufregung und Überforderung gegen meine Rippen zu donnern, während ich mit bebender Stimme fortfahre. Gedanken schießen wie Blitze durch meinen Schädel, doch jeder einzelne Satz nimmt mich auf einmal gefangen.

"Die Wüste war der Inbegriff aller Wüsten; sie war riesig und schien sich in alle Richtungen Parseks bis zum Himmel zu erstrecken. Weiß, grell, konturlos, abgesehen vom schwachen, dunstigen Schimmer der Berge -"

Plötzlich umfassen die langen Finger der Dunkelhaarigen die Seiten und sie entreißt mir das Buch so heftig, als wäre ich im Inbegriff gewesen, es ihr zu stehlen. Ihre Augen sind schmal, unsicher, suchend.

"Du lügst.", zischt sie, und ihre Stimme trieft nur so vor Wut.

"Du lügst!"

Neue Bewegung kommt in die Gruppe. Franky und Sanji starren erst mich, dann mein Gegenüber mit überraschtem Blick an, die Rothaarige wirft stöhnend die Hände in die Luft und die beiden am Boden sitzenden jungen Männer rücken unmerklich nach hinten.

Ich dagegen starre immer noch auf meine Hände hinab und kann nicht glauben, was gerade passiert ist. Natürlich habe ich gehofft, lesen zu können. Aber dass ich hier, an diesem Ort, in den Ruinen einer alten Bücherei mitten im Nirgendwo, irgendwo in einer verdrehten Dimension meiner eigenen, gerade dieses Buch finde, das kommt mir nicht wie ein Zufall, sondern wie Schicksal vor.

"Er lügt?", fragt Franky nun vorsichtig nach. "Was meinst du damit, Robin?"

"Das kann nicht sein!", faucht die Angesprochene nun lauter und drückt den Einband an ihre Brust, als müsse sie ihn schützen. "Das ist eine lang verlorene Sprache! Niemand kann sie lesen!"

"Ich ... ich kenne das Buch."

Meine Worte durchschneiden den neu aufkommenden Konflikt wie mit einem Messer. Sofort drehen sich alle Köpfe wieder zu mir. Nur sehr langsam kann ich den Blick von meinen leicht zitternden Fingern lösen. Vorbei ist es damit, keine Schwäche zeigen zu wollen. Ich bin komplett überfordert. Aber Tatsache bleibt Tatsache.

"Es ... es heißt 'Schwarz'. Ein Mann namens Stephen King hat es geschrieben. Es geht um ... um Roland von ... Roland von Gilead. Einem Revolvermann, der den Traum verfolgt, irgendwann einmal den-"

Die Ohrfeige, die mich völlig unvorbereitet trifft, hallt laut an den Wänden wieder und klingt so, als wäre eine ganze Kaskade von Schlägen auf mich nieder geprasselt. Die fremden Adleraugen vor mir schwimmen in Tränen, dann dreht sich die Frau mit einem Ruck von mir weg und eilt davon, vorbei an den Regalen und verschwindet im Vorraum. Mit geöffnetem Mund packe ich mir an die pochende Wange. Ich verstehe nicht, womit ich sie so unfassbar verletzen konnte. Ich kann lesen, ja. Aber während Franky das noch in faszinierte Plapperstimmung versetzt hat, scheine ich hier eine echt große Ader getroffen zu haben. Und ich weiß nicht einmal, wieso.
 

Ich kämpfe noch mit Überraschung, Verwirrung und dem Gefühl, hier und jetzt einfach ohnmächtig zu Boden fallen zu müssen, damit ich die Frage wo, wann und wie ich hier eigentlich bin nicht mehr beantworten brauche, da schiebt sich wieder der Junge mit der Narbe unter dem Auge vor mich und betrachtet meine immer noch leicht schmerzende Wange, die ich mir weiterhin halte, mit bedauerndem Blick.

"Tut mir Leid, Zoro. Robin kann ziemlich temperamentvoll werden."

Anstatt etwas zu erwidern, nicke ich nur blinzelnd. Zu mehr bin ich gerade nicht in der Lage.

"Aber offenbar hast du nicht gelogen. Du kannst lesen." Einen kurzen Augenblick fragt sich ein noch einigermaßen aktiver Teil meines Hirns, wie Robins Wutanfall diese These denn nun untermauert hat – schließlich hat sie mich der Lüge bezichtigt – aber auch das kann ich gerade nicht klären. Noch einen Moment mustert mich der Schwarzhaarige, dann grinst er zufrieden und macht eine einladende Handbewegung hinter sich.

"Willkommen bei der Strohhutbande, Kumpel."
 

Es ist schon dunkel, als ich aus dem schmalen Tunnel hinaus an die frische Luft trete.

Ruffy, so stellte sich der Anführer der Gruppierung schließlich vor, hatte gleich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um mich als neues Mitglied der Bande nahtlos einzugliedern. Ich bekam einen Schlafsack, der ein wenig nach Schweiß roch, aber seinen Dienst tat, einen Platz an dem ich ihn ausbreiten konnte zwischen Franky und Sanji und einen alten Metallbecher. Dieser wurde kurz darauf von der Langnase, der mir mit zitternder Stimme verriet, dass er Lysob heiße, mit einem auf dem Ofen erwärmten Getränk gefüllt, das schmeckte wie mehrfach ausgekotzt, aber so viel Alkohol enthielt, dass ich ein wenig aus meiner Schockstarre erwachte. Robin kehrte erst deutlich später zurück zur Gruppe, sah mich aber weder an noch kam sie mir zu nahe. Sie verschwand nachdem sie ihren Becher gefüllt hatte, in eine der Regalreihen und tauchte nicht wieder auf. Ich wagte es nicht, sie anzusprechen, und niemand schien mir den Vorfall erklären zu wollen.

Es bildete sich ein Kreis um mich, selbst Nami wurde nach einiger Zeit zutraulicher, auch wenn sie weiterhin misstrauisch blieb, und man versuchte mich zum Reden zu bringen, doch recht schnell merkten alle, dass da nicht besonders viel zu holen war. Meine Sätze blieben knapp und ungenau. Ich war einfach noch zu sehr gezeichnet von dem, was mir langsam klar wurde, als dass ich mich jetzt auf eine fröhliche Geschichte über mich und meine Welt einlassen konnte.

Schließlich entschuldigte ich mich mit dem Wunsch nach frischer Luft – und diese ziehe ich nun dankbar tief in meine Lungen.

Ob ich all das hier träume? Liege ich vielleicht im Koma, gefangen in meinem eigenen Kopf? Oder ist das hier wirklich alles real? Ich weiß es nicht. Ich weiß im Grunde gar nichts mehr. Ich weiß nur, dass ich ein Buch von Stephen King im Keller einer verfallenen Bibliothek gefunden habe. Sicherlich kann das einiges bedeuten und muss nicht darauf hinaus laufen, was mir gerade im Kopf schwebt, aber mit meinem zugegebenermaßen sehr beschränkten Vorstellungsvermögen kann ich einfach nicht daran glauben, dass es eine Parallelwelt gibt, direkt neben der meinen, in der es ebenfalls einen Mr. King gibt, der Geschichten über Roland und den dunklen Turm schreibt.

Die Ruinen. Die Bücher. Die Worte. Vielleicht liege ich wirklich grandios daneben, aber so langsam kommt mir der Verdacht, das ich irgendwie ... in die Zukunft gereist bin. Schade nur, dass mir kein Marty McFly mit seinem Professorkumpel zur Seite steht, der mir mal eben die Lage erklärt.

Ich lasse mich mit einem lauten Seufzen auf den Hosenboden sinken, drehe meine mitgebrachte Tasse zwischen den Fingern und sehe hinauf zum nun klaren Himmel. Sterne blitzen mir entgegen und ich betrachte einen Moment mit leerem Kopf diese zeitlose Schönheit, als ich Schritte höre.

Ich brauche einen Moment, bis ich die Gestalt, die aus dem Tunnel in die Dunkelheit tritt, als Sanji erkenne. Der Blondschopf hebt eine mitgebrachte Lampe zu seinem Gesicht, lächelt kurz, dann sinkt er neben mir in den Schneidersitz.

"Schmeckt's dir?"

"Hm?"

"Der Stoff." Er tippt mit einem Finger gegen meinen Becher.

"Oh. Hm. Nein. Aber es tut seinen Dienst."

"Wohl wahr." Wir schweigen einen Moment, und es ist nicht schneidend, nicht drückend oder angespannt, sondern ruhig und einvernehmlich. Nach einiger Zeit räuspere ich mich leise.

"Wieso hat sie mich geohrfeigt?"

"Robin? Tja, wie erkläre ich dir das ... Du hast gerade mit ein paar Sätzen ihren Traum zerstört."

"... Wie bitte?" Sanji seufzt zischend.

"Sie kommt aus Hundsfeuer. Hat dort jahrelang die verlorenen Sprachen erforscht. Schon als Kind hatte sie den Wunsch, irgendwann einmal das Geheimnis der Worte zu entschlüsseln. Als wir diesen Ort fanden, glaubte sie, endlich ihrem Ziel näher gekommen zu sein. Tag und Nacht versucht sie, den Büchern ihren Sinn zu entlocken. Aber ich sagte ja bereits – keiner von uns kann lesen. Ich weiß nicht einmal, ob es noch jemanden auf der Welt gibt, der es überhaupt kann. Jedenfalls kann es wohl niemand hier in Nowhere. Sie wollte die Erste sein. Sie wollte der Menschheit das Wissen wiederbringen, das so lange verloren war. Und dann kommst du durch die Tür, ein völlig Fremder, und liest ihr einfach mal ein paar Zeilen vor. Das muss ziemlich heftig für sie gewesen sein."

"Oh." Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ein diffuses Mitleid erfüllt mich.

"Ja. Aber du hast es ja nicht mit Absicht getan."

"Nein, bestimmt nicht."

Wir sehen wieder gemeinsam hinauf in die Sterne, die Stille um uns legt sich sanft auf alles nieder, und es dauert lange, bis Sanji erneut das Wort ergreift.

"Du kennst das Buch also?"

"Ja."

"Schwarz. Klingt ziemlich düster. Worum geht es?"

"Um einen Revolvermann. Roland von Gilead. Sein ganzes Leben lang versucht er, den sagenumwobenen dunklen Turm zu finden. Die komplette Geschichte dreht sich darum, aber sie ist verdammt lang. Eigentlich sind es 6 Bücher, nicht eines. Ich habe sie gelesen ... glaube ich. Jedenfalls konnte ich mich gleich daran erinnern, als ich den ersten Satz las."

"Das ist doch gut. Dass du dich erinnerst, meine ich."

"Ja. Ich denke schon."

"Wie endet die Geschichte denn?"

Ich werfe meinem Nebenmann einen belustigten Blick zu und ziehe eine Augenbraue in die Höhe.

"Gute Geschichten werden nur schlechter, wenn man das Ende erzählt, bevor man überhaupt angefangen hat."

"Ach, glaubst du, ich könnte vorhaben, sie noch zu lesen?", antwortet Sanji feixend und wir sehen uns einen Moment in die Augen, bevor ich ob dieser wunderbaren Selbstironie auflachen muss.

"Nein. Trotzdem kommt es mir falsch vor."

"Du könntest mir die ganze Geschichte erzählen."

"Jetzt? Aus dem Kopf?" Sanji verdreht gekonnt die Augen.

"Nein. Aber wir haben dieses eine Buch. Vielleicht finden wir ja noch die weiteren, die dazu gehören. Du ... du könntest sie mir vorlesen. Ich meine ... wenn du magst."

Für einen Moment weicht das Mitleid, das ich immer noch für Robin empfinde, einem sehr warmen, mein Innerstes erfüllenden Gefühl, bevor ich es mehr erschrocken als wirklich beschämt bei Seite schiebe.

"Äh, tja. Klar, das kann ich machen."

"Echt?"

"Mhm. Wieso nicht."

"Cool."

Es dauert ein wenig, bis Sanji mich wieder ansieht – und mir das erste Mal ein ehrliches, breites Lächeln schenkt.

 

"Danke. Vielleicht bist du doch nicht so ein großer Idiot, wie ich dachte."
 

Und das ist ja wirklich fast schon sowas wie ein Kompliment.



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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Lucy18
2016-03-17T15:04:20+00:00 17.03.2016 16:04
Hallo erstmal ich wollte dir sagen das ich deine Geschichte einfach nur genial finde! Dein schreibst gefällt mir auch sehr gut und mir War keine einzigste Sekunde beim lesen langweilig! Ich hoffe es geht bald weiter !!! 😍
Von:  Hawke
2016-02-05T02:40:45+00:00 05.02.2016 03:40
Ich bin normalerweise super misstrauisch was AUs anbelangt, noch mehr was Fanfics allgemein betrifft –
Aber das hier ist unglaublich vielversprechend. Die wenigen Kapitel haben mich total neugierig gemacht, die Welt, die du uns vorstellst ist interessant und neu, die Charaktere bekannt und doch der Story angepasst und du hast einen wunderschönen Schreibstil, der fesselt und beschreibt ohne zu schmückend und kitschig zu wirken.
Das letzte Kapitel ist nun schon ein paar Wochen alt, von daher hoffe ich, dass du auf jeden Fall weiterschreiben wirst und nicht bereits aufgegeben hast. ;)
Denn einen Fan hast du!
Weiter so!
Von:  Lucy18
2015-12-18T21:28:40+00:00 18.12.2015 22:28
Bitte schreib ganz schnell weite! Deine Geschichte ist einfach nur wow! Und das liegt nicht nur an de ganzen Idee! Ich hoffe es kommt bald wieder was! Dein Schreibstil ist ebenso schön und brilliant wie die Geschichte bisher!
Von:  Yoa-chan
2015-11-19T22:07:11+00:00 19.11.2015 23:07
Oh mein Gott, ich meine, WOW!

Auf so eine Geschichte habe ich gewartet!!

Im Ernst, allein die Idee ist schon unglaublich gut, aber dann auch noch dieser tolle Schreibstil... Wahnsinn!!
Ich liebe diese Story jetzt schon, es ist schrecklich lange her, dass es eine Geschichte geschafft hat, mich nach erst zwei Kapiteln so zu fesseln! Wirklich, ich kann gar nicht ausdrücken, wie cool ich deine Fanfiction finde, ich hoffe, ich muss nicht allzu lange auf ein neues Kapitel warten... ;-)

Ganz liebe Grüße!!


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