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Der Schwur des Wolfes

von

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Prolog

Als ich sie das erste Mal sah, war es wie ein Deja Vú. Die Augen, das Haar - vielleicht ein paar Nuancen dunkler als früher - ihre Figur, ihr ganzes Wesen. Ich hatte geglaubt, sie nie wieder zu sehen. Nein, ich hatte gewusst, dass es nie wieder so sein würde. Doch da stand sie. Ihr Blick war leer, die Haut blasser als ich sie in Erinnerung hatte und die Finger ineinander geflochten. Gerade so, als ob sie sich selbst die Hand hielt, weil niemand anderes es tat. Sie war allein. Und wäre ich nicht noch immer so verblüfft darüber gewesen, dieses Mädchen hier zu sehen, wäre ich sofort bei ihr gewesen. Doch innerhalb weniger Sekunden wandelte sich ihr ganzes Wesen. Ihr Blick wurde fester, sie sah auf und mir direkt in die Augen. Ich schrak einige Schritte zurück. Es konnte nicht sein. Nein, das war einfach nicht möglich. Sie konnte nicht in der Lage sein, mich zu sehen. Wirklich mich. Nicht das, was ich für Alle vom Äußeren her war. Die Bestie. Das Monster. Sondern das Ich tief in meinem Inneren. Das verkümmerte, elende Ich, das ich vor langem in mir begraben hatte. Das schwache Ich. Nie wieder wollte ich so sein. Nie wieder würde ich so sein. Nein, das war lange vorbei. Sie konnte nicht in der Lage sein, es zu sehen. Das hatte sie damals auch nicht. Ich sah sie an. Doch noch immer haftete dieser starke Blick auf mir. Sie zog ihre Augenbrauen zusammen und blanker Hass sprühte mir entgegen. ‚Ich weiß es‘, schien sie zu sagen. Und noch ehe ich begriff, was geschah, ging ich.

Seitdem folge ich ihr in einiger Entfernung. Egal, wo sie ist, was sie tut oder wer bei ihr ist, ich bin es ebenfalls. Ich weiß, sie ist Mein, weil sie mich gesehen hat. Weil sie weiß, was ich einst gewesen bin. Doch seit dem Tag, als ich sie allein habe stehen sehen, bemerkt sie mich nicht mehr. Ich scheine Luft für sie zu sein oder ich bin es tatsächlich, aber das kann ich nicht zulassen. Sie gehört mir. Sie wird Mein sein. Wie auch damals. Niemand wird sich mir in den Weg stellen. Denn ich bin eine Bestie. Ein Monster.

1. Kapitel - Augen, die ich zu kennen glaubte

05. April

Vielleicht war es doch kein schlechtes Geschenk - dieses Tagebuch. Ich habe so was immer für Kinderkram gehalten, aber man sollte nicht gleich alles verurteilen, wenn man es selbst noch nicht ausprobiert hat. Und außerdem bin ich auch noch ein Kind. Ich habe bisher keine beste Freundin in meinem Leben, sodass ich alles, was mich bedrückt, mich traurig oder sogar hoffnungslos macht, besser einem Buch anvertraue. Ich liebe meine Mutter und meine Großmutter, aber selbst ihnen kann ich nicht alles sagen. Also, lassen wir uns überraschen…

 

Da war es schon wieder, dieses nervtötende Geräusch, das ich jeden Morgen hörte. Ich nahm mein Kissen und warf es diesem unliebsamen Ding namens Wecker entgegen. Er kannte das Spiel schon und bimmelte weiter, obwohl er bereits zu Boden gegangen war. Das Gesicht ins Laken gedrückt, lag ich da und schrie in die Matratze. Wer hatte dieses Ding noch gleich erfunden? Verklagen sollte man den, ehrlich. Es wäre ein Leichtes gewesen, den Wecker zu zertrümmern, aber ich war leider auf den kleinen Quälgeist angewiesen, ansonsten wäre ich niemals rechtzeitig in der Schule gewesen. Die Dielenbretter vor meinem Zimmer knarrten, als mein Vater schon wieder versuchte sich leise an meine Tür anzuschleichen, weil er mich wecken wollte. „Ich bin so gut wie aufgestanden. Danke, Dad!“ Es klang so verschlafen, wie ich mich fühlte, als er antwortete: „Kaffee ist fertig!“ Diese drei Worte waren jeden Morgen gleich beflügelnd für mich. Es gab nämlich eine Sache, die nicht zu leugnen war: Ich bin kaffeesüchtig. Das ist wahr. Ein Tag ohne das koffeinhaltige Heißgetränk und ich war unausstehlich. Ich glaube, in meinem ganzen bisherigen Leben war es erst einmal vorgekommen, dass ich keinen Kaffee getrunken hatte. Und das war der schwarze Tag X meiner Vergangenheit, den niemand mehr erwähnte. Es wurde Stillschweigen darüber gebreitet, wenn Sie verstehen, was ich meine... Langsam erhob ich mich, drückte den Quälgeist aus und stellte ihn auf seinen angestammten Platz auf dem Nachttisch. Ich streckte mich und verschwand dann im Bad, um mich fertig zu machen. Nach einer schnellen Dusche und dem wundervollen Gefühl frisch gewaschener Wäsche auf der Haut, kämmte ich nur noch meine Haare und ging dann meinem Vater Gesellschaft leisten.

Er gähnte herzhaft, als ich zu ihm in die kleine Küche stieß, die in unserem Haus Dreh- und Angelpunkt war. Hier erledigten wir fast alles. Essen, versteht sich ja von selbst, ich machte hier meine Hausaufgaben, mein Vater ging hier die Rechnungen durch und nun ja, die meiste Zeit waren wir eben in der Küche. Es würde zu lange dauern jetzt alles aufzuzählen, was wir tun. Ich denke, Sie haben schon verstanden, was ich damit sagen wollte. Eine Tasse stand an meinem Platz an der Theke. Wir waren seit über fünf Jahren ein eingespieltes Team, denn zu dieser Zeit verstarb meine Mutter. Anfangs machte ich mir mehr Sorgen um meinen Vater als um mich. Er war nicht mehr er selbst, so als wüsste er von dem Zeitpunkt an, als er erfuhr, dass sie gestorben war, nicht mehr, was es hieß zu leben. Tatsächlich war es so, dass er zwei Wochen lang nur so vor sich hin vegetierte. Verstehen Sie mich nicht falsch, er ging seiner Arbeit nach, kochte mir Essen, wenn ich aus der Schule kam und half mir bei den Hausaufgaben, aber es schien lange so zu sein, als würde er das alles nur automatisch tun. Weil er es Jahre lang zuvor so gemacht hatte, ließ sein Körper nicht zu, dass er es vergaß, aber wenn man mit ihm ernsthaft reden wollte, dann war es, als bestehe er nur noch aus einer Hülle. Ich weiß nicht mehr genau, warum er plötzlich wieder ‚normal‘ war, aber ich war froh, dass er wieder mein Vater zu sein schien. „Guten Morgen!“ „Guten Morgen. Wann kommst du heute nach Hause? Denk daran, ich bin heute noch länger mit den anderen Männern im Wald unterwegs…“ „Haltet ihr es für richtig, die armen Tiere einfach so zu erschießen? Ich meine, vielleicht verschwinden die ja von allein wieder, wenn sie merken, dass es in den kleinen Wäldern bei uns nichts zu holen gibt.“ Seit kurzem wurden öfter Wölfe in den Wäldern gesehen und da mein Vater zu den Männern vom Jagdverein gehörte, war es ihre Aufgabe den Überbestand zu reduzieren. Ach so, mein Vater arbeitet übrigens hauptberuflich als Arzt in der kleinen Stadt. Fragen Sie mich bitte nicht, warum ein studierter Mann der Medizin freiwillig in die, so scheint es mir, kleinste Stadt der Welt zieht - Crystal Falls/ Michigan -, um hier seinen Beruf zu praktizieren. Aber mein Vater hatte sich noch nie auf eine große Karriere als Chefarzt in einer großen Klinik - in einer großen Stadt - festlegen wollen. Er war der Meinung, dass er den Leuten hier viel mehr nutzte, als versnobten Leuten und Hypochondern in den Großstädten Amerikas. „Du stellst dir das ziemlich einfach vor, oder? Wölfe mögen schlau sein, aber wenn sie in den Wäldern keine Tiere finden, werden sie sich irgendwann in der Stadt rumtreiben und du kannst mir nicht erzählen, dass du dann Seite an Seite mit diesen Fleischfressern leben willst…“ Ich grübelte noch, als er seine Tasse in einem Zug leerte, in die Spüle stellte und meinte: „Bei mir wird es sicher spät. Warte nicht auf mich und treib dich nicht in der Nähe der Wälder rum.“ „Alles klar. Bis heute Abend und sei vorsichtig!“ „Bin ich doch immer.“ Er zwinkerte mir zu und verschwand aus der Haustür. Sekunden später hörte ich die Autotür zuschlagen und schon fuhr er zur Arbeit. Ich seufzte. Vor zwei Wochen hatte ich meinen Führerschein - ja, auch hier gab es eine Fahrschule, man mag es kaum glauben - gemacht. Mit Bravur bestanden, aber ein Auto konnte ich mir noch nicht leisten. Ich wollte auf keinen Fall, dass mein Vater mir das Geld dafür vorschoss. Es sollte mein Eigentum sein, also wollte ich es auch selber bezahlen. Deshalb, und wirklich nur deshalb, hatte ich vor zwei Jahren einen Job in der Billard-Bar von Henry, dem besten Freund meines Vaters, angenommen. Ebenso gut hätte ich in der Nähstube von Marge, einer kleinen alten Dame Anfang 80, anfangen können, aber wenn ich schon nach der Schule arbeiten ging, wollte ich nicht gleich vor Langeweile sterben. Es war ganz lustig, den verschiedenen Männern dabei zuzusehen, wie sie sich gegenseitig mit ihren Flunkergeschichten übertrumpfen wollten oder beim Billard beschummelten. Viele der Männer kannte ich durch den Verein meines Vaters, aber selbst wenn er dort nicht Mitglied gewesen wäre, hätte ich sie gekannt. Unsere Stadt war wirklich klein - genau 1.585 Seelen, davon rund 560 Schüler der einzigen Schule hier im Ort, der Forest Park School - Sie können sich also denken, wie man durch die Straßen ging. Immer mit erhobener Hand, da man jeden grüßen konnte. Um wieder auf meinen Job zurück zu kommen: Es war eigentlich immer lustig. Mal eins konnte man sich einen dummen Spruch anhören, wenn einer über den Durst getrunken hatte, aber das kam so selten vor, dass ich es noch nie ernst genommen habe. Henry war ein angenehmer Chef. Er zahlte immer pünktlich, gerne auch mal etwas mehr als eigentlich abgemacht, er gestattete mir kleine Pausen, um mit den Männern eine Runde Billard zu spielen und er vertraute mir vollkommen. Nur unpünktlich durfte man niemals sein, dann konnte er recht ungemütlich werden.

Jemand hupte im Auto vor unserem Haus. Ich schnappte mir meine Tasche, steckte die Schlüssel für die Haustür ein und zog diese fest hinter mir zu. Es war meine beste Freundin, Carly Simmons. Sie hatte das Glück, dass ihre Eltern zwei Autos besaßen und beide nun in demselben Büro arbeiteten. Dadurch fuhren sie zusammen zur Arbeit und mussten, sehr zu unserer Freude, ein Auto allein zu Hause stehen lassen. Carly ergriff die Chance und bettelte ihren Vater an, der ihr noch nie einen Wunsch abschlagen konnte. Wir hatten zur selben Zeit die Fahrprüfung bestanden und gelegentlich ließ sie mich fahren, was nicht oft geschah, ich aber vollkommen verstand. Wäre es mein Auto, würde ich auch selber fahren wollen. „Guten Morgen!“ „Hey, Süße. Wow, ich hab dich lange nicht mit offenen Haaren gesehen. Die sind schon wieder ganz schön lang…“ Ich fuhr mir verlegen durchs blonde Haar. „Mein letztes Haarband hat sich heute Morgen verabschiedet. Ich muss mal bei Herman und Holly vorbei sehen, wenn die Schule aus ist.“ Zur Erklärung: Diese beiden Menschen führen die kleine Drogerie neben der Schule, was ein ziemlich lukratives Geschäft ist. Es kam oft vor, dass ein paar Schüler in der Pause hingingen und sich irgendwas besorgten. Dumm waren die beiden nicht, das musste man ihnen lassen. „Ja, ich soll für meine Mutter auch noch ein paar Dinge besorgen. Wir können ja zusammen hin. Sag mal, hast du schon gehört, dass sich eine neue Familie hierher verirrt hat?!“ „Ernsthaft? Die haben uns auf der Karte gefunden?“ „Scheint so, aber die sollen wohl noch ein Kind haben, so in unserem Alter. Mal schauen, wenn es ein Junge ist, muss ich mir den unbedingt mal ansehen…“ Carly war ziemlich Jungs fixiert. So lange es menschliche Züge besaß, männlich und in unserem Alter war, war es ihr hilflos ausgeliefert. Obwohl sie sich auf den dritten Punkt nicht so versteifte. Er durfte auch gerne etwas älter sein als wir. Ich hatte noch keinen Jungen gesehen, der nicht auf ihre Flirtattacken reagiert hatte. Oftmals fragte ich mich, was sie damit bezweckte, jeden Typen anzumachen, aber ich denke, sie hatte das schon immer mehr als Spiel gesehen. Und die Jungs empfanden es wohl als Ritual. Wurdest du nicht von Carly Simmons angeflirtet, bist du kein echter Mann! Na klar… Carly war eine Naturschönheit und alle anderen Mädchen hielten sich gern oder auch ungern in ihrem Schatten auf. Ihr hellbraunes Haar glänzte immer in der Sonne, was, wie sie gern behauptete, an ihrem Honigshampoo lag. Und sie hatte graue Augen mit kleinen grünen Sprenkeln drin. Ich muss natürlich nicht hinzufügen, dass sie gertenschlank war. Sie bog auf den Parkplatz der Schule ein, fand sofort eine kleine Ecke in die sie sich zwängen konnte und schon stiegen wir aus. Es war Mai und die meisten Jungs trugen bereits kurzärmelige Oberteile. Als Carly an ihnen vorbei ging, versuchten sie so unauffällig wie möglich ihre Muskeln vorzuzeigen. Es war immer wieder albern und ich versuchte nicht loszulachen, aber ein Grinsen konnte ich mir nicht verkneifen. Sie hakte sich bei mir ein und besprach mit mir eine Matheaufgabe, die sie, wer hätte es gedacht, nicht mehr geschafft hatte. „Kann ich nicht vielleicht deine ansehen, nur um einen Gedankenanstoß zu bekommen?“ „Du meinst, du willst sie so wie jeden Morgen abschreiben?!“ „Also, was du wieder denkst…“ Ich sah sie mit hochgezogener Augenbraue an. Es dauerte nur Sekunden bis sie nachgab. „Na schön, ich hatte keine Lust und würde sie gern abschreiben, damit Hastings nicht wieder rumschreit.“ Wir hatten noch genug Zeit, also zog ich sie zu einem der freien Tische auf dem Platz vor der Schule und holte meinen Notizblock hervor. „Danke, du bist ein Schatz. Du hast echt was gut bei mir!“ „Warte, lass mich nachzählen…“ Langsam hob ich einen Finger nach dem anderen und sah sie dann wieder an. „…Du bist mir so um die 50 Gefallen schuldig. Ich sollte jetzt mal langsam einen einlösen, was meinst du?“ Sie streckte mir die Zunge raus und setzte sich auf die Bank, um die Lösung abzuschreiben. „Ich habe keine Ahnung, wie du das immer gelöst kriegst. Hastings Aufgaben sind so furchtbar kompliziert.“ „Mathe ist eben mein Fach, so wie deines Biologie ist. Wenn ich nur höre, wir nehmen die Lehren von Händel dran, dann könnte ich schreiend davonlaufen…“ „…und trotzdem hast du in Bio die Eins. Es ist nicht zu leugnen, du bist das Genie der Klasse.“ „Genie ist übertrieben. Also hör auf!“ Ich mochte es einfach nicht, wenn sie über meinen Intelligenzquotienten sprach. Es kam mir dann immer so vor, als wäre ich eine Außerirdische, die man anglotzte wie einen Affen im Zoo. Das Gefühl ließ sich lange nicht abschütteln und selbst als sie das Thema wechselte, kam ich mir merkwürdig vor. Aus irgendeinem Grund beobachtet. Ich strich mir mit einer Hand über den Nacken und erschrak, als ein Dröhnen den frühen Morgen durchbrach. Alle Schüler wandten sich um, um zu sehen, woher es kam und auch Carly reckte ihren Hals in die Höhe. Sie gab mir meine Notizen zurück, ich verstaute sie in der Tasche und machte mich langsam auf den Weg Richtung Schulgebäude. Ich wusste, sie würde mir später alles haarklein erzählen, also machte ich mir keine Gedanken darum. Das Geräusch erstarb und ein Raunen ging durch die Menge. Kurz bevor ich mich gegen die Eingangstür drückte, um sie zu öffnen, durchfuhr mich ein merkwürdiges Gefühl. Und ich war der Meinung, dass mich ein Augenpaar beobachtete. Ich stockte kurz, schüttelte dann jedoch den Kopf, um das Gefühl loszuwerden und verschwand im Gebäude.
 

Die erste Stunde verging einfach nicht. Es war Mathe mit Mr. Hastings, einem hageren kahlköpfigen Mann Mitte 40, der Zahlen und Formeln über alles liebte. Man munkelte, wenn es gehen würde, hätte er eine seiner Zahlen geheiratet. Von diesem Phänomen mal abgesehen, fand ich ihn als Lehrer nicht schlecht. Er schätzte es, wenn man in seinem Unterricht nicht redete und als wir merkten, dass er dann auch keinen von uns dran nahm, herrschte seither einvernehmliche Stille in der Klasse. Dadurch aber war es Carly nicht möglich von dem Geschehen draußen zu erzählen und ich sah, wie sehr sie das los werden wollte. Sie zitterte und rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Es musste also ein besonders gut aussehender Typ sein und ich seufzte leise in meinem Kopf. Wieder ein Typ, der ihr verfallen würde; wieder eine Geschichte, die ich mir würde anhören müssen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe sie wie eine Schwester, aber mit diesen Jungsgeschichten ging sie mir nach so vielen Jahren nun doch auf den Keks. Mit jemandem zu flirten oder rumzumachen war doch nun wirklich nicht alles im Leben. Wie konnte sie mit so etwas also zufrieden sein? Wie konnte ihr so etwas mehr Spaß machen, als eine feste Beziehung oder wenigstens eine ernsthafte kleine und kurze Geschichte mit einem Typen, der ihr wirklich gefiel? Ich akzeptierte sie so wie sie war und versuchte sie auch niemals zu ändern, denn das war eben Carly. Aber bezüglich dieses Themas waren wir wie Tag und Nacht. Ich wandte meinen Kopf zur Seite, um sie nicht länger herumzappeln zu sehen und schaute aus dem Fenster.

Die Sonne ließ sich langsam blicken und ich freute mich auf die Mittagspause, die wir dann endlich wieder draußen verbringen konnten. In den letzten zwei Wochen hatte es durchgehend geregnet, so als hätte der April vergessen, dass er nur vier Wochen besaß und nicht fünf. Es war zum Verzweifeln gewesen und nun endlich war sie da. Mr. Hastings holte mich in seine Klasse zurück, in dem er vor mir stand und fröhlich in die Hände klatschte. Mist, jetzt hatte er mich doch noch erwischt. Sie können sich sicher denken, dass es ihm ebenso wenig gefiel, wenn sich einer seiner Schüler ablenken ließ und nicht seinem ‚wundervollen‘ Unterricht folgte. „Da Sie ja so wunderbar aufgepasst haben, werden Sie uns diese Aufgabe doch sicher lösen können, nicht wahr? Gehen Sie bitte nach vorn und tragen laut Ihren Lösungsweg vor.“ „Ja, Sir.“ Ich schob meinen Stuhl zurück und machte mich auf den Weg nach vorn. Schon als ich auf die Tafel zuging, rechnete ich seine blöde Gleichung durch und als ich dann mit der Kreide zu schreiben begann, tat ich, worum er mich gebeten hatte. Ich sprach laut vor, wie ich zu dem Ergebnis gekommen war, wandte mich zu ihm um und wartete darauf, dass er mich wieder zu meinem Platz zitierte. Sein fröhliches Lächeln war verschwunden und er meinte: „Ich würde Sie gern nach der Stunde noch einmal sprechen. …Ms. Simmons, Sie geben bitte dem Lehrer in Ihrer nächsten Stunde Bescheid, dass Ms. Connor ein klein wenig später zur zweiten Stunde kommt.“ Carly schrak auf und nickte dann, als sie merkte, dass er tatsächlich sie meinte, ruckartig mit dem Kopf. „Sie dürfen sich jetzt wieder setzen.“ „Ja, Sir.“ Hatte ich noch nicht genug gelitten, musste er mich jetzt auch noch da behalten? Mir blieb auch nichts erspart. Ich ließ mich auf meinen Stuhl sinken und tauchte meine Nase in das Mathebuch. Als nach einer Weile dann die Glocke das Stundenende verkündete, hasteten alle aus dem Raum. Carly hauchte eine leises „Viel Glück!“ und folgte den anderen. Ich packte meine Sachen in aller Ruhe in meine Tasche und ging dann auf Hastings Tisch zu. „Ah ja, Ms. Connor!“ Das klang fast so, als hätte er zwischenzeitlich bereits vergessen, dass er mich sprechen wollte. Und als ich mir gerade Gedanken darüber machte, ob ich vielleicht ohne dieses Gespräch hier heraus gekommen wäre, fiel dieses eine Wort, das ich immer versucht hatte, nicht herauf zu beschwören. „Entschuldigen Sie, was sagten Sie eben?“ „Ich schlug eben vor, Sie in den Leistungskurs der Fachrichtung Mathe zu versetzen. Sie sind hier eindeutig unterfordert. So ein Talent wie Sie es besitzen, sollte man fördern und nicht unterbinden.“ Noch immer kam es mir so vor, als würde ich hinter dickem schalldichtem Glas sitzen, während Hastings mit einem riesigen Brett winkte auf dem das Wort ‘Leistungskurs‘ eingeritzt worden war. Ich sah eindeutig, was er meinte und verstand es trotzdem nicht. „Haben Sie mich nicht verstanden, Ms. Connor?“ War der Kerl jetzt auch noch Gedankenleser? „Sir, ich weiß Ihr Angebot sehr zu schätzen, aber ich möchte einfach nicht in den Leistungskurs versetzt werden.“ „Wenn Sie sich Sorgen darüber machen, dass dadurch die Leistungen Ihrer Freundin nachlassen, machen Sie sich keine Sorgen, ich weiß bereits, dass Sie seit Wochen keine Hausaufgabe mehr selbst gelöst hat.“ „Ich möchte es einfach nicht, verstehen Sie?“ „Nun, ich kann Sie gewiss nicht zwingen, aber überlegen Sie es sich gut, ich gebe Ihnen noch ein wenig Bedenkzeit.“ „Na schön, wie Sie meinen. Darf ich gehen?“ Man sah ihm die Enttäuschung an. Er machte eine lockere Handbewegung Richtung Tür und sagte: „Sicher. Aber versprechen Sie mir, darüber nachzudenken!“ „Gut, ich verspreche es. Auf Wiedersehen!“ „Wir sehen uns morgen.“

 

In der zweiten und dritten Stunde hatten wir Sport. Dieser lief zwischen Mädchen und Jungen getrennt. Altmodisch, ich weiß, aber wir hatten eine Lehrerin in diesem Fach, die anscheinend nicht mit Männern klar kam. Wir waren uns nicht ganz sicher, waren aber der Meinung, dass sie nicht verheiratet war, geschweige denn einen Freund besaß. Unsere Lehrerin hieß Ms. Edwards. Wir nannten Sie gern Knochenbrecher, denn sie liebte jede Art von Sportgeräten, an denen man sich ernsthaft verletzen konnte. So war es bereits vor zwei Wochen geschehen, dass Mia Kent dem Stufenbalken zum Opfer gefallen war und nur wenige Tage zuvor Elli Simmons, die Cousine von Carly, dem Pferd. Ich hatte einen Heidenrespekt vor dieser Frau und als ich umgezogen in die Halle kam, hatte sie bereits ihre Foltergeräte aufgestellt. Auf der anderen Seite der Halle waren die Jungs gerade dabei am Reck zu turnen. Carly beobachtete sie und ich gesellte mich zu Mia und Elli, eine mit Gips am Arm und die andere am Bein, die auf den Bänken in einer Ecke saßen. „Hey, da bist du ja. Was wollte Hastings denn noch von dir?“, fragte Mia und versuchte sich unter dem Gips am Arm zu kratzen. „Ach, irgendwas wegen der blöden Matheaufgabe besprechen.“ Ich wollte nicht, dass jemand von den anderen mitbekam, dass er mich in den Leistungskurs versetzen wollte. „Meine Güte, der hat echt nur Zahlen im Kopf… Das war aber schon der Wahnsinn, wie schnell du die Aufgabe gelöst hast, Lilly. Und es war, glaube ich, auch nicht der Lösungsweg, den er uns immer gezeigt hat.“ „Glück, sonst nichts…“

Ach, da fällt mir ein, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Mein Name ist Lillian Connor, aber eigentlich nennen mich alle Lilly, mein Vater Lils. Ich bin 17 Jahre alt und zähle zu den gewöhnlichen Mädchen der Schule. Soll heißen, ich gehöre nicht zu unseren Cheerleadern und habe es bisher mit Bravur geschafft, andere davon zu überzeugen, dass mein IQ zum Durchschnitt gehört. Schließlich möchte ich nicht auf eine Schublade reduziert oder für einen Streber gehalten werden. Obwohl ich gegen Menschen, die sehr viel pauken, um erfolgreich zu sein, wirklich nichts habe. Ich bewundere sie sogar für so viel Fleiß.

„Connor, Sie haben zwar eine Entschuldigung für Ihr spätes Kommen, was Sie jedoch nicht vom Unterricht befreit. Los, Sie sind die Nächste auf dem Balken!“ „Ja, Ms. Edwards.“ Ich richtete meine Shorts und stieg auf das Sportgerät dieser Folterstunde. Es gab eine vorgeschriebene Kür, die man darauf absolvieren sollte. Jedes Jahr war es dieselbe, also kannten alle Mädchen sie bereits auswendig. Am Ende musste ein Rad vom Balken herunter gemacht werden. Ein paar der Jungs, die gerade nicht am Reck dran waren, blickten zu unserer Seite der Halle und sahen dabei zu, wie ich das Rad machte. Ich stand aufrecht hinter dem Balken, streckte die Arme zu beiden Seiten aus und sie begannen zu pfeifen. „Hey, Lilly. Machst du das für uns noch mal? Dann haben die anderen Jungs wenigstens auch was davon!“ Ich reagierte nicht, was Miss Edwards nicht daran hinderte es zu tun. „Coach Turner!“ Man konnte buchstäblich hören, wie der Sportlehrer der Jungs die Augen verdrehte, wandte sich dann jedoch zu ihr um. „Ja?“ „Bitten Sie Ihre Schüler zur Ruhe. Meine Mädels müssen sich hier konzentrieren und da sind Ihre ‘Jungs‘ nicht besonders förderlich.“ „Natürlich.“ Er drehte sich zu der kleinen Gruppe um und sagte - wenig zurechtweisend: „Garrison, McLeod.“ Die beiden wandten uns grinsend den Rücken zu. Wenn Sie mich fragen, würden die beiden, also der Coach und unser Knochenbrecher, ein niedliches Paar abgeben. Sie würden wahrscheinlich vertauschte Rollen haben, aber es wäre niedlich. Ich ging zu Carly, die noch immer die Jungs beobachtete und folgte ihrem Blick. Anscheinend war der Neuankömmling in unserer Stufe. Er fiel zwischen den anderen ziemlich auf, dadurch war ich mir sicher, dass es sich um den Neuen handelte. Zudem war ich bereits meine gesamte Schullaufbahn auf dieser Schule und er war der Einzige, der mir bislang noch nicht über den Weg gelaufen war. Seine Haare waren schwarz und er hatte sehr breite Schultern, war aber trotzdem schlank. Er stand mit dem Rücken zu uns. Seine Haut war braungebrannt. „Er ist dir also aufgefallen?!“ Carly sprach mit mir, blickte aber weiterhin zu ihm. „Nun ja, er ist…“ „…außergewöhnlich? Ich glaube, das trifft es noch nicht einmal annähernd. Es gibt gar keinen Ausdruck dafür…“ Ich hatte sie noch nie so nervös gesehen, wie in diesem Augenblick. Konnte es sein, dass sie ernsthaft an ihm interessiert war? „Was war denn das für ein Geräusch vorhin?“ „Das war er. Er fährt Motorrad. Eine richtig tolle große Maschine, schwarz und silbern.“ „Also steht er auf den großen Auftritt, ja?“ Ein Angeber aus einer Großstadt wahrscheinlich. Na, der würde noch merken, wie schnell man mit so was auf die Nase fallen konnte. „Süße, bis jetzt hast du ihn ja nur von hinten gesehen. Der Typ ist echt der Hammer…“ „Pass bloß auf deine Zunge auf.“ „Lilly…“ Sie griff mich an den Schultern und sah mir tief in die Augen. Als sie weitersprach, senkte sie ihre Stimme: „Er ist so heiß, dass ich mich nicht getraut habe, ihn anzuflirten.“ „Oh!“, war im Moment alles, was ich herausbekam. Wenn sich Carly nicht einmal rangetraut hatte, dann sollte das schon was heißen. Wie ich ja bereits erklärt hatte, grub sie alles an, was nicht bei drei auf den Bäumen war. „Und jetzt halt dich fest… Farrah hat er links liegen lassen. Du weißt ja, sie stellte sich wie immer vor mit ‚Begrüßungskomitee‘ und irgendwas von ‚seine persönliche Kontaktfrau‘ oder so. Mir wäre ja fast das Frühstück hochgekommen…“ Ich blickte mich zu dem Mädchen um, von dem nun die Rede war. Farrah ‚ich bin die Schönste und Größte hier‘ Miller ging in unsere Parallelklasse. Sie war Captain der Cheerleader, beliebt bei allen Sportlerjungs und hatte sich vor kurzem von dem Captain der Football-Mannschaft getrennt. Ich sehe schon, Sie haben bereits gemerkt, dass dieses Mädchen alle Klischees der amerikanischen Highschool-Filme erfüllt. Viele wollten so sein und aussehen wie sie. Langes blondes Haar, grüne Augen, schlank. Unglücklicherweise kam sie mit ihrem Verhalten, obwohl sie doof wie Brot war, überall durch. Lehrer schickten sie nicht zum Nachsitzen, weil sie ja unsere Schule bei jedem Sportevent vertrat und dafür nachmittags trainieren musste. Schüler, die sonst nie beachtet wurden, ließen sich von ihr bereitwillig runtermachen, damit die anderen wenigstens ihren Namen kannten usw. Carly und Farrah waren die größten Konkurrentinnen in dem Kampf um die Gunst der Jungs. Es klingt furchtbar albern, ich weiß, aber die beiden nehmen das ziemlich ernst und ich mache mich niemals über meine beste Freundin lustig. Deshalb… „Sie hat wirklich alles versucht, aber es hat ihn überhaupt nicht interessiert. Er hat sie freundlich von sich geschoben und einige Jungs gefragt, wo er sich wegen eines Stundenplanes melden muss. Und immer wieder hat er auf die Schule geblickt.“ „Nur weil er sie hat links liegen lassen, heißt das doch noch lange nicht, dass er nicht auf dich stehen könnte.“ „Ich weiß, aber irgendwas in seinen Augen hat mich davon abgehalten ihn anzusprechen. Es war, als würde mich etwas zurückdrängen. Als würde er auf jemand Bestimmten warten.“ „Warten? Auf jemand Bestimmten?“ Wie konnte man so etwas an einem Blick erkennen? Ich winkte ab. „Hat er auch einen Namen?“ Sie schluckte, bevor sie sagte: „Taylor Wood!“ Ihre Augen begannen zu leuchten, so als würde sie vom Heiligtum der Welt sprechen. Es machte mir Angst. Und dann wurden wir plötzlich in die Realität zurückgeholt. „Connor, Simmons!“ Wir drehten uns gleichzeitig zu Knochenbrecher um. „Sie können uns ruhig beim Abbauen helfen.“ „Abbauen?“, fragte Carly und sah hoch zur großen Uhr. Wir hatten noch eine volle Unterrichtsstunde vor uns, warum also mussten wir die Geräte wegschaffen? „In der nächsten Stunde spielen wir Volleyball. Also Marsch, wir haben nicht mehr viel Zeit.“ Zur selben Zeit bauten auch die Jungs die Geräte auf ihrer Seite ab. Also hatten sich die beiden Sportlehrer tatsächlich darauf geeinigt, dass die Mädchen gegen die Jungs spielen sollten. Ich blickte Carly mitfühlend an, der man bereits ansah, dass sie Angst vor diesem Spiel hatte. Wie sollte sie sich darauf konzentrieren können zu spielen, wenn in der gegnerischen Mannschaft der Typ war, in den sie sich offensichtlich verguckt hatte? Mein Hirn arbeitete, konnte ich sie davor irgendwie bewahren? Unterleibsschmerzen? Konnte mir irgendetwas zustoßen, damit sie mich in das Krankenzimmer bringen konnte? Und dann war da plötzlich wieder dieses Gefühl. Es zog in meiner Lunge und ich bekam schwer Luft. Meine Schultern wurden irgendwie schwer und ich wurde das Gefühl nicht los, dass mich wieder, so wie auch schon heute Morgen, jemand beobachtete. Jetzt erst bemerkte ich, dass Carly ihre Hand gegen meine Stirn drückte und mich besorgt ansah. „Miss Edwards, ich glaube, Lilly sollte sich einen Moment hinsetzen.“ Die Stimmen drangen nur ganz dumpf an meine Ohren. „Wovon reden Sie, Ms. Simmons!?“ Ich wurde rabiat an meinem Arm herumgerissen und nun wich Carlys Besorgnis der Angst. Sie sah zu, wie Knochenbrecher mir ihre Hand auf die Stirn drückte. „Ach was, sie hat ja nicht einmal leichte Temperatur. Sport wird ihr gut tun.“ „Ich rede nicht davon, dass sie Fieber hat, sondern dass sie ganz plötzlich blass geworden ist und so rasselnd Atem holt.“ Eine Traube von Menschen hatte sich um uns gebildet. Sogar einige der Jungs und der Coach waren herüber gekommen. Wie automatisch hörte ich mich sagen: „Es geht mir gut, danke. Wollen wir dann jetzt spielen?“ Miss Edwards fühlte sich bestätigt und grinste - wenn es das wirklich sein sollte - mich an. „Hab ich doch gesagt. Sport ist gut für den Kreislauf, hab ich schon immer gesagt.“ Sie ließ mich los und langsam löste sich die Menschenmenge wieder auf. Nur Carly stand noch immer neben mir. „Du bist dir ganz sicher?“ „Ja, geht schon.“ Es war gelogen. Aber sollte ich ihr noch mehr Angst machen, wenn ich selbst nicht wusste, was das zu bedeuten hatte? Noch immer hatte ich Probleme mit dem atmen und diese Last auf den Schultern wurde ich irgendwie auch nicht los. Meine Güte, was war denn das nur? Ich zwang mich dazu aufrecht zu einem Platz auf unserer Seite des Feldes zu gehen. Kelly Hunt, eine meiner Klassenkameradinnen und Freundinnen, hatte Aufschlag und pfefferte den Ball mit ordentlich Kraft in das gegnerische Feld. „Punkt, Mädchen!“, gellte es durch die Halle und Kelly freute sich. Sie bekam den Ball zurück und wartete auf den Pfiff. Der folgte und noch mal pfefferte sie den Ball über das Netz, doch dieses Mal kam ihr einer der Jungs in die Quere.

Er kam wie aus dem Nichts, alle in der Halle schienen die Luft anzuhalten und auch ich stockte. Dann hörte ich nur, wie jemand sagte: „Lilly, den kriegst du…“ Ich sah nach oben, begriff, sprang hoch und feuerte den Ball dorthin, wo er hergekommen war. Es war, als hätte er genau damit nicht gerechnet, deswegen knallte der Ball auf den Boden der Halle und Ms. Edwards rief: „Punkt, Mädchen!“ Ich landete wieder auf den Füßen und lächelte. Es war fröhliches Gekicher auf unserer Seite zu hören und dann plötzlich stand er mir gegenüber. Er überragte mich um zirka anderthalb Köpfe und kam mir sogar noch breitschultriger vor, als es vorhin den Anschein hatte. Seine warmen braunen Augen musterten mich von Kopf bis Fuß. Ich fühlte keine Angst oder Unbehagen, ganz im Gegenteil. Es kam mir unnatürlich bekannt vor. Um uns herum lief das Spiel weiter, aber niemand schien auf uns zu achten. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich nicht mehr Luft geholt hatte und holte das auf der Stelle nach. Das Ziehen in meiner Lunge hatte noch immer nicht nachgelassen, aber meine Schultern fühlten sich wieder leichter an. Wir sprachen nicht und langsam kam ich mir irgendwie dumm vor. Noch immer waren seine Augen auf meine gerichtet und jetzt wandte ich mich um. Ich wollte ja wirklich nicht unhöflich sein, aber der Typ war mir ein bisschen unheimlich. Auch wenn ich Carly Recht geben musste, er sah nicht schlecht aus. Ich beteiligte mich wieder am Spiel und kurz vor Ende der Sportstunde verkündete der Coach: „Die Mädchen gewinnen mit 5 Punkten Vorsprung! Jungs, das üben wir aber noch mal!“ Wir fielen uns lachend in die Arme und verschwanden in die Umkleide.

 

Carly zog mich beiseite, als wir zum Schulgebäude zurückgingen und sah mich erstaunt an. Es ging mir wieder viel besser und die frische Luft tat den Rest. Die Sonne breitete ihre Strahlen aus und ich blinzelte kurz. „Sag mal, was war denn da eben los?“ „Ich weiß auch nicht, mir ist kurz schwindelig geworden und dann ging es plötzlich wieder.“ Ich zuckte mit den Schultern, aber Carly schüttelte heftig den Kopf. „Das habe ich nicht gemeint. Du und Taylor!“ „Und was soll da deiner Meinung nach gewesen sein?“ „Eben, das frage ich dich ja. Ihr habt euch beide angesehen, wie Adam und Eva, als sie sich zum ersten Mal über den Weg gelaufen sind.“ Ich glaube, ich wurde ein bisschen rot. „Ich habe ihn nur angesehen, weil er mich angesehen hat. Zudem hast du mich ja wissen lassen, dass ich ihn mir mal ansehen sollte. Doch weil er dann nichts gesagt hat, habe ich mich wieder umgedreht. Wenn ich so aussah, wie du sagst, dann muss ich dich enttäuschen. So habe ich es nicht gemeint.“ „Und dann erst sein Gesicht, als du dich umgedreht hast…“ Wir gingen weiter und ich sagte, wahrscheinlich etwas zu enthusiastisch: „Wie hat er denn ausgesehen?“ Carly bedachte mich mit einem merkwürdigen Ausdruck, kommentierte dies allerdings nicht und meinte: „Er schien irgendwie perplex, so als könne er nicht fassen, dass du dich einfach umdrehst.“ „Na ja, dann scheint er ja sehr von sich überzeugt zu sein.“ „Wenn du mich fragst, hat er auch das Recht dazu. Du hast ihn doch gesehen. Da kann keiner unserer Jungs hier mithalten, das kannst du nicht leugnen.“ Das konnte ich tatsächlich nicht. Er war so völlig anders als alle, die mir bisher begegnet waren. Und seine Augen gingen mir nicht aus dem Kopf. Es war unheimlich gewesen, wie lange er mich angeblickt hatte, aber ich hatte keine Angst verspürt. Ganz im Gegenteil, ich fühlte mich wunderbar aufgehoben und sicher in seiner Nähe. Und dann dieses Gefühl, dass ich diese Augen bereits von irgendwo her kannte. Ich konnte mir einfach keinen Reim darauf machen.

Die nächste Stunde - Kunst - verflog wie immer. Das lag nicht nur an unserer Lehrerin, Mrs. Winters, nein, auch an den Themen, die wir dort hatten. Zurzeit sollte jeder ein Bild malen, das sein Leben widerspiegelte. Da es so kompliziert war, das so einfach auf eine Leinwand zu bekommen, war das die Aufgabe für dieses Halbjahr. Mrs. Winters war eine kleine, junge, runde Dame. Sie hatte für jeden Schüler Zeit und kam mit jedem klar. Man könnte sagen, dass sie die beliebteste Lehrerin war. Ihren Mann hatten wir auch schon kennen gelernt, denn er hatte sie einmal von der Schule abgeholt. Sie gaben ein komisches Bild ab, denn er war groß und schmal, aber so wie die beiden miteinander umgingen, war es kein Wunder, dass Mrs. Winters so gut gelaunt und nett war.
 

Endlich war die große Pause gekommen. Carly und ich besorgten uns ein Tablett, ließen uns etwas vom Salat und Dressing auffüllen, schnappten uns jede ein Wasser und einen Jogurt und verschwanden nach draußen. Wir setzten uns zu unseren Freundinnen, Elli, Mia und Kelly und wie sollte es anders sein, war das Gesprächsthema: TAYLOR WOOD. Ich glaube, es fielen Worte wie heiß, niedlich, Model und so weiter. Noch bis Ende der Pause wurde darüber diskutiert, welchen Typ von Mädchen er wohl bevorzugte. Carly warf mir einen kurzen Blick zu, behauptete dann aber felsenfest, dass er ziemlich dumm wäre, wenn er nicht von ihr begeistert wäre. Ich hielt mich raus und brachte mein Tablett als Erste zurück. Wir hatten erfahren, dass wir eine Freistunde hatten und beschlossen, diese draußen bei Sonne und frischer Luft zu verbringen. Als ich mich umwandte, um zu meinen Freundinnen zurück zu gehen, stieß ich mit jemandem zusammen. Von der Wucht wurde ich leicht zurückgeschleudert und drohte nach hinten zu fallen, doch mein Gegenüber reagierte schnell. Das leere Tablett in der einen Hand und mich im anderen Arm, stand er leicht vornüber gebeugt da. Er verzog keine Miene und ich bekam endlich ein paar Worte heraus: „Entschuldige, ich hätte besser aufpassen sollen. Danke.“ Er zog mich mit sich, sodass ich wieder aufrecht stand. „Schon gut“, war alles, was er dazu sagte. Seine Stimme ließ mich kurz innehalten. Sie war tief und dennoch weich, fast einschmeichelnd. Gott, er hatte sicher tausende Verehrerinnen gehabt in seiner alten Schule. Halt stopp, was dachte ich da? War ich etwa eifersüchtig? Nein, nein, das konnte nicht sein. Taylor stellte sein Tablett weg und erst jetzt bemerkte ich, dass mein Herz raste. Ich war mir nicht sicher, ob es noch an dem Schock lag oder an ihm, wollte es aber nicht genauer erforschen. „Na dann…“, sagte ich und deutete in die Richtung, in die ich gehen wollte. Regungslos stand er vor mir und weil er nicht antwortete, machte ich einen Schritt nach dem anderen auf den Tisch meiner Freundinnen zu. Meine Knie waren ein klein wenig wacklig, doch das schob ich ganz vehement und ohne auf eine andere Erklärung einzugehen auf den Schock, den ich durch den Zusammenprall erlitten hatte bzw. der drohenden Angst vor einem Fall. „Lilly, richtig?“ Ich wandte mich um. „Ja.“ Sein Blick war fest auf mich gerichtet. Ganz kurz nur dachte ich daran, zu ihm zu gehen und ihn näher kennen zu lernen, aber ich rührte mich nicht. Dann wartete ich darauf, dass seine eigentliche Frage folgte, doch die blieb aus. Stattdessen verschwand er im Schulgebäude und diesmal sah ich ihm perplex nach. Was war denn das jetzt gewesen? Ich schüttelte leicht den Kopf und ging dann zu Carly und den anderen. Natürlich wurde ich mit verblüfften Gesichtern empfangen und ausgefragt, sobald ich saß. Doch viel konnte ich nicht sagen, denn ich wusste selbst nicht, was genau er mit seiner Frage nach meinem Namen bezweckt hatte. Aber ich musste gestehen, dass der warme und tiefe Klang seiner Stimme zu ihm passte. Und ich kein Problem damit gehabt hätte, noch eine kleine Weile länger in seinem Arm zu liegen.

 

Nach der sechsten Stunde konnten wir nach Hause gehen. Carly und ich verabschiedeten uns von den anderen, die in ihre Autos stiegen oder sich zu Fuß auf den Nachhauseweg begaben und machten uns dann auf den Weg zu Hermans und Hollys Drogerie. Letztere begrüßte uns, wie immer herzlich und bat darum, dass wir unseren Eltern Grüße ausrichteten. Während Carly sich einen Korb schnappte, bog ich gleich zu der Abteilung mit den Haarbändern und

-reifen ab. Ich wurde fündig und kehrte dann zu Carly zurück, um mit ihr die Liste ihrer Mutter abzuarbeiten. Nachdem wir alles zusammen hatten, gingen wir an die Kasse und hörten der fröhlich plappernden Holly zu, während die die Waren über den Scanner zog. Und dann kam sie zu dem Thema, auf das Carly innerlich wohl gehofft hatte. „Diese neue Familie, Wood, heißen die wohl, scheinen ziemlich zurückgezogen gelebt zu haben, bevor sie hergekommen sind.“ „Wie kommen Sie denn darauf?“ „Ich habe ja gehört, dass sie in der Nähe einer noch kleineren Stadt gewohnt haben, als unserer. Und dort haben sie sich wohl nur einmal alle zwei Wochen sehen lassen, um den Einkauf zu erledigen. Sie haben sich mit keiner der anderen Familien angefreundet und blieben auch den Stadtversammlungen fern.“ In Städten wie unserer ist es Pflicht zu diesen Versammlungen zu gehen. Es ist schon vorgekommen, dass jemand monatelang nicht mehr beachtet wurde, weil er dieser ferngeblieben war. Kindisch, mögen Sie denken, ich finde das auch, aber hier ist es ein ungeschriebenes Gesetz, daran teilzunehmen sobald man alt genug ist, um eine ernste Meinung zu äußern und zu vertreten. In Crystal Falls ist es so, dass alle Kinder ab 15 Jahren dazukommen müssen, ob sie wollen oder nicht. Ich bezahlte und schon zog sie Carlys Einkauf über den Scanner. „Und wie viele Leute umfasst die Familie? Von einem Jungen in unserem Alter wissen wir schon, der heißt Taylor“, meinte nun Carly und tat so, als wolle sie nur höflich sein. Doch wer sie kannte, und dazu zählte ich mich, wusste, dass sie vor Aufregung kaum an sich halten konnte. Innerlich lechzte sie nach den Antworten. „Soweit ich weiß gehören nur drei dazu. Taylor, sein älterer Bruder Sean und ihr Vater. Wie der heißt, habe ich leider noch nicht herausfinden können.“ „Aha.“ „Das macht dann 6,50 $! Danke“, Holly kramte in der Kasse und reichte Carly dann das Wechselgeld. „Ich danke auch. Einen schönen Tag wünsche ich noch!“ „Euch auch, und denkt daran Grüße auszurichten.“ „Machen wir, tschüß“, sagte nun ich und nahm Carly die Tüte ab, solange die ihr Geld einsortierte. Langsam machten wir uns auf den Rückweg zum Auto. „Musst du heute wieder bei Henry arbeiten?“ „Ja, aber erst in anderthalb Stunden!“ „Dann setze ich dich bei dir zu Hause ab, ja?“ „Das wäre nett! Kommst du heute wieder vorbei? Wir könnten eine Runde Billard gegen Murray spielen.“ „Klingt wunderbar, aber mein Vater will mit mir in sein Büro fahren, damit ich mir schon mal alles ansehen kann. Du weißt, das Praktikum in den Ferien.“ Sie verdrehte die Augen und ich legte ihr mitfühlend einen Arm um die Schultern. „Er will doch nur nett sein und dir helfen…“ Wir stiegen ins Auto und sie fuhr los. „Mag ja sein, aber dann kann er mich doch wenigstens mal fragen, ob ich überhaupt später in einem Büro arbeiten will, oder? Er geht felsenfest davon aus, dass ich nach meinem Abschluss bei ihm im Büro anfange. Kann er sich nicht vorstellen, dass ich vielleicht im College anfangen will?“ „Du wolltest doch arbeiten gehen, oder nicht?“ „Ja, schon. Aber fragen hätte er mich trotzdem können. Ich würde viel lieber etwas anderes machen, als er. Vielleicht mehr mit Menschen oder so.“ „Ich verstehe dich vollkommen.“ „Du ahnst nicht, was du für ein Glück mit deinem Vater hast. Aber bei dir stand ja von Anfang an fest, dass du aufs College gehst. Hast du dich schon für eins entschieden?“ „Nein, keine Ahnung…“ Ich hatte noch niemandem gesagt, dass ich bereits überlegte, gar nicht aufs College zu gehen. „Dich nimmt jedes mit Handkuss und wenn nicht, gib mir bescheid, dann geig ich denen die Meinung.“ Ich lachte leise. „Danke.“ Wir waren fast bei mir zu Hause angekommen und ich nahm bereits meine Tasche auf den Schoß. Carly hielt vor unserem Haus und seufzte. „Ich wünschte, mir wäre das alles passiert heute…“ „Was meinst du?“ „Das mit Taylor.“ Sie sah mich an, als sei das ja wohl offensichtlich. Ich sagte nichts weiter dazu und wartete. „Wenn er mich nur einmal angesehen hätte, so wie dich am Volleyballnetz. Und hätte er mich auch so blitzschnell vor dem Fallen bewahrt, dann wäre ich der glücklichste Mensch der Welt.“ „Dieses Mal ist es dir ziemlich ernst, oder?“ „Ich denke schon…“ „Dann solltest du ihn vielleicht einfach mal ansprechen. Er ist schließlich auch nur ein Mensch.“ „Ja, vielleicht sollte ich das.“ Es klang nicht recht überzeugt. „Das Schlimme ist nur, ich habe das Gefühl, dass er mich nur ansehen muss und ich dann kein Wort rauskriege. Und er soll mich ja nicht gleich für bescheuert halten“, fügte sie hinzu und stellte eine merkwürdige Grimasse zur Schau. „Stell dir einfach vor, du würdest mit einem von den anderen Jungs reden, dann wird das schon. Und ich werde in deiner Nähe sein und dich unterstützen, versprochen.“ „Danke, Süße.“ Sie lächelte etwas zufriedener und meinte dann: „Wir sehen uns morgen und mach Murray wieder um ein paar Dollar leichter!“ „Klar. Bis morgen!“ Ich stieg aus und ging langsam zur Haustür, während ich hörte, wie Carly weiterfuhr.

Da wir keine Hausaufgaben aufbekommen hatten, machte ich mir schnell ein Sandwich zum Mittag und bereitete schon das Essen für meinen Vater vor. Ich ging duschen, zog mir Jeans und T-Shirt an und schrieb dann einen Zettel, den ich an die Pinnwand im Flur pappte. Dort hinterließen wir uns immer Nachrichten. Ich las noch einmal, ob ich alles vermerkt hatte: „Hey, Dad. Essen steht im Ofen (Umluft, 180°, maximal 15 Minuten). Bin bei Henry und weiß noch nicht, wann ich wiederkomme. Lass es dir schmecken. Hab dich lieb, Lilly.“ Ich sah auf die Uhr. Es war erst halb drei und um Drei würde ich erst los müssen. Dann hatte ich noch genug Zeit, um den Abwasch zu machen. So stand ich also in der Küche und sah aus dem Fenster, als ich plötzlich wieder dieses Dröhnen von heute Morgen vernahm. Ein Motorrad hielt in unserer Einfahrt. Der Mann darauf nahm den Helm ab und wieder war da dieses beklemmende Gefühl. Mir rutschte die Tasse aus der Hand, die ich gerade abgetrocknet hatte, und fiel zu Boden, wo sie in tausend Stücke zerschellte.

Es klingelte an der Tür, als ich gerade die Scherben zusammenkehren wollte. Ich ging hin und öffnete. Es war nicht Taylor, aber die Familienähnlichkeit sprang einem förmlich ins Gesicht. Schwarze Haare, breite Schultern, aber dunkelgrüne Augen. Der junge Mann lächelte und sagte: „Hey, Sean Wood. Ich habe nur eine kurze Frage.“ „Komm rein, ich muss gleich wieder los und habe noch ein paar Scherben zusammen zu fegen.“ Er folgte mir in die Küche und fragte: „Brauchst du vielleicht Hilfe?“ „Nein geht schon, danke. Du hattest eine Frage?“ „Ja, ich wollte nur wissen ob Dr. Connor zufällig zu Hause ist?!“ Ich schmiss die Scherben in den Mülleimer und ließ das Wasser aus dem Spülbecken. „Nein, tut mir leid.“ Ich warf einen Blick auf die Uhr und fügte hinzu: „In seiner Praxis wird er wohl auch nicht mehr sein. Aber komm morgen so gegen 18 Uhr wieder, dann ist er auf jeden Fall da.“ Während ich mir die Hände abtrocknete und meine Tasche und die Schlüssel nahm, beobachtete er mich. „Ich bin übrigens seine Tochter, Lilly.“ „Freut mich. Du bist ganz schön mutig…“ „Wie bitte?“ „Ich hätte auch andere Absichten haben können. Das mit der Frage wäre ein super Vorwand gewesen.“ „Ich gehe mit deinem Bruder in eine Klassenstufe und mein Vater ist im Jagdverein. Sobald es herausgekommen wäre, dass du etwas mit mir angestellt hättest, hätte er auf dich geschossen.“ „Wenn ich gut im Spuren verwischen bin, wäre es nicht herausgekommen.“ „Unsere Nachbarin hat dich hundertprozentig dabei beobachtet, wie du ins Haus gegangen bist. Sie ist ziemlich, nun ja, sie nennt es aufmerksam, aber jeder weiß, dass sie einfach nur sehr neugierig ist.“ „Na, dann hab ich natürlich keine Chance.“ „So sieht es aus. Ich will nicht unhöflich sein, aber ich muss dich jetzt rauswerfen, denn ich habe noch einen Job vor mir. Und mein Chef mag es gar nicht, wenn man unpünktlich ist.“ „Ich fahr dich gern hin, wenn du keine Angst hast auf ein Motorrad zu steigen.“ „Danke, aber es ist nur die Straße hoch. Aber vielleicht komme ich irgendwann auf das Angebot zurück.“ Was redete ich da eigentlich? Normalerweise war ich nicht so redefreudig, wenn es um Jungs ging. Ich war nicht schüchtern, aber solche Scherze und Flirts, das machte ich eigentlich nicht. „Alles klar. Dann komm ich morgen noch mal vorbei.“ „Ich werde es meinem Vater ausrichten.“ Während ich die Tür abschloss, stieg er auf sein Motorrad und setzte den Helm wieder auf. Er winkte zum Abschied und fuhr so schnell los, wie er gekommen war. Es war seltsam wie unterschiedlich diese Brüder waren. Der Eine still und ernst und der Andere sehr offen und lustig. Ich zuckte mit den Schultern, winkte unserer Nachbarin, Mrs. Dalloway, die, wie ich wusste, hinter ihrer Gardine versteckt war, zu und machte mich dann auf den Weg in die Billardhalle.

Ein ruhiger Tag wie immer. Dieselben Gäste, genauso wie die Bestellungen. Murray bestand gerade auf seine Revanche, als die Tür zur Billardhalle aufging. Henry wollte zur Inventur in den Keller gehen und meinte: „Übernimmst du, meine Liebe?“ „Na, klar.“ Ich stellte mich hinter den Tresen und vertröstete Murray, er solle sich ein paar Minuten gedulden. „Zwei Bier, bitte.“ Ich öffnete die Flaschen und blickte ihn grinsend an. „Du verfolgst mich, oder?“ Erst jetzt sah er mich richtig an und nun lächelte auch er. „Ja, ich dachte, ich mache es nicht so auffällig und komme später her… Du sollst ja nicht gleich wissen, dass ich dir nachstelle.“ Einer der Männer vom Billardtisch kam herüber und stellte sich neben Sean. „Lilly, der junge Mann, macht dir doch keinen Ärger, oder?“ Es war Doug, ebenfalls ein Freund meines Vaters. Für mich hatten die Männer hier alle sofort väterliche Gefühle entwickelt und spielten sich daher immer gleich als meine Beschützer auf. Ich fand es immer schon niedlich und meinte deshalb: „Ist alles in Ordnung, Doug. Aber sobald er mir dumm kommt, bist du der Erste, der informiert wird.“ Er wusste, dass er körperlich - er war etwas dicklich und um einiges kleiner als Sean - und auch vom Alter her (60) nichts entgegen zu setzen hatte, aber er nickte ernst und kehrte zu seinen Freunden zurück. „Ich bekomme 2 $. Noch was zu essen?“ „Meinst du, ich kann mich hier so lange aufhalten ohne, dass mich einer von ihnen angreift?“ „Ich bin ja da, also keine Panik.“ Er reichte mir das Geld passend und wandte sich dann zu seinem Begleiter um, auf den ich bisher noch gar nicht geachtet hatte. „Taylor, willst du noch was essen?“ Ich ließ mir die Überraschung nicht anmerken, obwohl es eigentlich keine war, schließlich waren sie eine Familie, und sah zu seinem Bruder. Taylor saß an einem kleinen Tisch, weit weg von den anderen Männern, die Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt, den Mund hinter den gefalteten Händen verborgen und blickte zu uns hoch. Fast unmerklich zog er eine Augenbraue nach oben, wahrscheinlich eine Reaktion auf die Frage nicht auf mich, und schüttelte dann nur den Kopf. Sean sah wieder mich an und meinte dann: „Wohl nicht.“ „Sag mal, ist er immer so…still?“ Ich machte mir ernsthaft Sorgen. „Wir sind neu hier und er muss sich erst eingewöhnen.“ „Die Leute tun ihm nichts, sag ihm das ruhig. Und die Männer hier kennen mich, seitdem ich ein kleines Baby bin, deshalb spielen sie sich so auf.“ Er nickte, schnappte sich die Flaschen und ging zu seinem Bruder zurück. „Lilly, nun komm schon. Du bist mir noch ein Spiel schuldig.“ „Ich komme!“ Mit einem letzten kurzen Blick zu den Wood-Brüdern, ging ich zu Murray, um ihm mal wieder ein paar Scheinchen abzuluchsen. Es dauerte nicht lang und auch dieses Spiel hatte ich gewonnen. Murray gab mir seinen Einsatz und die Männer zogen sich feixend an den Tresen zurück. Ich folgte ihnen nachdem ich die leeren Flaschen auf den Tischen eingesammelt hatte und verteilte Volle an sie. Indessen kehrte auch Henry zurück und trank ein Bier mit seinen Freunden. „Komm, Lilly, ich geb dir auch ein Bier aus“, meinte Doug und legte einen Dollarschein auf die Theke. „Danke, aber den verwende ich lieber für was Unalkoholisches.“ So also genehmigte ich mir eine Cola und dann stand Sean vor mir. „Ich nehm noch eins.“ Wieder gab ich ihm ein Bier und er zahlte, um gleich darauf zu seinem Bruder zurückzugehen. Taylor saß noch immer, oder aber auch wieder, in der Position, in der er sich bereits vorhin befunden hatte. Er sah blass aus und ich wurde langsam wirklich unruhig. Irgendetwas stimmte nicht und ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie vielleicht darauf warteten, dass mein Vater mich abholen kam. War Taylor vielleicht verletzt? Hatte er Schmerzen? Es war schwer zu erkennen, aber etwas an seinem Gesichtsausdruck hielt mich davon ab, zu ihm zu gehen und ihn zu fragen. So war es also Carly gegangen. Und gleichzeitig fühlte ich mich verantwortlich für seine Blässe, was natürlich unsinnig war. „Lilly, wo ist eigentlich dein Vater? Kommt er heute gar nicht?“ Ohne es zu ahnen, hatte Henry mir geholfen. Ich hüpfte auf den Tresen und ließ die Beine baumeln. „Irgendetwas mit dem Jagdverein. Abholen kann er mich nicht, weil sie wohl so lange unterwegs sein werden.“ Murray und Doug mischten sich nun in das Gespräch mit ein. Letzterer meinte: „Dann knallen die wohl die blöden Viecher ab, was? Ist auch besser so.“ „Sprich nicht so über sie. Wölfe sind wunderbare Geschöpfe und schlaue Tiere“, antwortete ich. „Wenn die Jungs sie aber nicht abschießen, nehmen die hier bei uns Überhand und kommen wahrscheinlich irgendwann in die Stadt“, sagte nun Murray. „Es muss aber eine andere Lösung geben, als sie zu erschießen.“ „Was willst du tun? Sie einzeln einfangen und dann woanders wieder freilassen?“ „Das wäre eine Möglichkeit. Bei uns in den Wäldern gibt es eh nicht viel zu reißen. Sie wären woanders viel besser aufgehoben. Meinetwegen soll man sie dort hinbringen, wo die Wolfpopulation zu niedrig ist. Dann hätten wenigstens alle was davon.“ Ich wurde bei diesem Thema etwas leidenschaftlicher, als ich beabsichtigt hatte und alle in der Billardhalle blickten mich an. „Du bist viel zu tierlieb.“ „Ach was, ihr denkt nur einfach zu brutal…“ Die Männer lachten und nippten weiter an ihren Bieren. Damit war das Thema für sie gegessen. Meine Vermutung, dass die Wood-Brüder versuchsweise auf meinen Vater gewartet hatten, bestätigte sich nicht. Noch immer saßen sie an dem kleinen Tisch. Sean sprach angeregt mit seinem Bruder, doch Taylor machte keine Anstalten etwas zu erwidern. Er warf mir einen kurzen ernsten Blick zu, doch ich versuchte so zu tun, als hätte ich es nicht bemerkt. Mein Nacken kribbelte und ich schloss für einen Moment meine Augen. Wohlige Schauer überzogen meinen Rücken, obwohl es eigentlich kalte hätten sein müssen. Mein Herz schlug schneller und irgendetwas tief in meinem Bauch meldete sich kurz zu Wort. Ein wildes Zerren oder Ziehen auf meiner linken Seite ließ mich jedoch erschreckt Luft holen. Ich hatte einen metallnen Geschmack auf der Zunge und schlang die Arme um meine Mitte. „Alles in Ordnung?“, fragte Doug und ich nickte leicht lächelnd. „Ja, mir geht es gut“, erwiderte ich und dachte: ‚Mir schon.‘ Ich vermied den Blick auf Taylor Wood ganz entschieden, weil ich Angst hatte, mehr zu sehen als mir lieb war. Vielleicht sollte ich mir nicht ständig die schlimmsten Dinge ausmalen, aber das Ziehen und Zerren an meiner linken Seite wurde nicht besser. Und warum, um alles in der Welt, schmeckte ich Blut?

 

Der Abend neigte sich zehn Uhr zu und meine Schicht war damit beendet. Ich wischte noch einmal die Tische und die Theke ab, räumte die leeren Flaschen in die Kästen und verstaute meine Schürze in einem kleinen Schrank im Hinterzimmer der Kneipe. Ich schnappte mir meine Tasche und meine Jacke, die ich vor der Arbeit immer dort ablegte und ging dann wieder nach vorn zu den Männern. „Sag bloß, die Zeit ist schon wieder um“, sagte Henry und sah mir dabei zu, wie ich mir meine Jacke überzog. „Ja, verging heute schnell der Tag. Wir sehen uns dann morgen wieder. Selbe Zeit?!“ „Selber Ort! Gute Nacht, meine Liebe und danke für die Hilfe.“ „Ich danke dir. Nacht, Jungs.“ Sie antworteten, wie jedes Mal, im Chor: „Gute Nacht, Lilly!“ Ich musste am Tisch der Wood-Brüder vorbei und sagte auch dort: „Gute Nacht!“ Nur Sean wünschte mir das ebenfalls, Taylor bedachte mich wieder mit einem ernsten Blick. Ich drückte mich gegen die Tür, um sie zu öffnen und genoss die frische Luft, die in meine Lungen strömte. In einigen Fenstern brannte noch Licht und deshalb hatte ich auch nie Angst im Dunkeln nach Hause zu gehen. Außerdem hatte ich dann die Zeit, mir Gedanken über den Tag zu machen, obwohl es nicht viel gab über das ich das heute konnte. Ich fuhr mir durch die Haare, schritt weiter Richtung Haus und kam gerade an einem leeren Grundstück vorbei, als es im Wald dahinter laut knackte. Das dümmste, was ich jetzt tun konnte, war stehen zu bleiben. Das wissen Sie und das weiß normalerweise auch ich, aber ich tat es. Das Gesicht dem Wald zugewandt, stand ich einfach nur da. Ich war mir nicht ganz sicher, was ich dort zu sehen hoffte bzw. nicht hoffte. Alles, was ich wusste war, dass ich selbst dann keine Angst hatte, als ein zweites lautes Knacken folgte. Es war nicht normal, dass ein Mädchen von 17 Jahren im Dunkeln mitten auf dem Weg stehen blieb, um in einen dunklen Wald zu blicken, aber wahrscheinlich war ich das noch nie - normal. Ich glaubte, ein paar Augen aufblitzen zu sehen, aber da täuschte ich mich wohl. Und als es dann weiterhin ruhig blieb, ging ich weiter. Es war schon spät und ich wollte endlich in mein warmes kuscheliges Bett. Außerdem wollte ich wissen, ob mein Vater tatsächlich einen der Wölfe abgeschossen hatte. Ich hoffte nicht und kam bei uns zu Hause an. Auch hier brannte noch Licht. Den Schlüssel ins Schloss gesteckt, kam ich gar nicht dazu aufzuschließen, denn vorher war mein Vater an der Tür und hatte sie geöffnet. „Schön, dass du da bist. Ich hab mir Sorgen gemacht.“ „Wieso? Ich habe doch einen Zettel da gelassen, hast du den nicht gesehen?“ „Doch, aber eigentlich bist du sonst früher zu Hause. Ist irgendwas passiert, Lils?“ „Nein, ich bin nur ein bisschen später von Henry los.“ Ich entledigte mich meiner Jacke und ging mit ihm in die Küche. Das Essen stand gerade im Ofen, damit es warm wurde. Mit einem kurzen unbemerkten Blick kontrollierte ich die Einstellungen und setzte mich dann zu ihm an die Theke, als ich sicher war, dass er sich an meine Anweisungen gehalten hatte. „Mir ist heute Nachmittag eine Tasse runtergefallen, nicht dass du dich wunderst, dass eine fehlt. Und Sean Wood kommt morgen so gegen 18 Uhr hier vorbei, um mit dir zu reden.“ „Was möchte er denn?“ „Keine Ahnung, das hat er mir nicht gesagt…“ Ich zuckte mit den Schultern und sah ihm dabei zu, wie er den Ofen abstellte und sein Essen herausholte. Dann setzte er sich wieder, mit dem dampfenden Teller vor sich, zu mir und aß einen Happen. „Und?“ „Schmeckt wunderbar, wie immer!“ „Danke, aber das meinte ich nicht.“ „Du meinst wegen der Wölfe, ja?“ Ich nickte nur. „Wir haben kurz ein-zwei gesehen, aber wenn das alle waren, müssen wir wohl keine erschießen. Wir werden das im Auge behalten und sobald noch mehr auftauchen, werden wir es nicht vermeiden können, doch noch unsere Gewehre zu nutzen.“ Trotz dieser Erklärung war ich erleichtert. Vorerst würden sie also keine Wölfe töten, das war doch zumindest eine gute Nachricht. „Ich werde ins Bett gehen. Wir sehen uns dann morgen früh. Nacht, Dad!“ Ich drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und ging dann rauf in mein Zimmer. „Nacht!“, rief er mir nach, nachdem er den Bissen heruntergeschluckt hatte und ich schloss die Tür hinter mir. Als ich die Zähne geputzt hatte und in mein Schlafzeug geschlüpft war, fiel mir auf wie stickig es im Zimmer war. So ging ich zum Fenster und schob es auf. Wir hatten diese altmodischen, die man nach oben hin aufschieben musste. Nicht die schönen mit Fensterflügeln. Als nun die kalte Luft hineinströmte, hörte ich einen Wolf heulen. Auch wenn ich zugeben musste, dass ich mich damit nicht sonderlich gut auskannte, so klang es für mich irgendwie schmerzerfüllt. Unweigerlich musste ich an den Gesichtsausdruck von Taylor denken und setzte mich kurz an das offene Fenster. Mein Blick schweifte über den Wald, der ein ganzes Stück von unserem Haus entfernt war und wieder hörte ich dieses traurige Heulen. Es tat mir im Herzen weh, wenn ich daran dachte, dass eines dieser Tiere vielleicht gerade leiden musste. Aber wenn mein Vater sagte, dass er und die anderen keinen Wolf hatten schießen müssen, dann glaubte ich ihm das auch. Auch wenn dieses Geheul so klang, als wäre genau das Gegenteil geschehen. Und dann ganz plötzlich sah ich es zum ersten Mal. Ein großer dunkler Schatten huschte am Waldrand entlang. Es sah aus, als würde er etwas kleines Wendiges verfolgen. War das vielleicht einer der Wölfe, der einen Hasen oder ähnliches jagte? Das schien genau der Fall zu sein, denn kurz darauf verdeckte der große Schatten den kleinen und lange Zeit konnte ich nichts sehen. Aber dann richtete sich der schwarze Fleck auf, schien sich umzusehen und huschte dann so schnell, wie er aufgetaucht war, wieder in den Wald zurück. Sollte das tatsächlich einer der Wölfe gewesen sein, dann waren diese größer als gewöhnlich. Erst jetzt bemerkte ich, dass mir eine Träne die Wange herunterlief. Ich wischte sie fort, schloss das Fenster wieder und kuschelte mich in mein Bett. Ein Blick auf meinen Wecker verriet mir, dass es bereits halb zwölf war. Höchste Zeit zu schlafen, doch ich konnte nicht. Noch immer machte ich mir Sorgen um Taylor, auch wenn die sicher unbegründet waren, aber dass sein Gesicht so blass war… Es ließ mich einfach nicht los und dann auch noch die Erkenntnis, dass es ziemlich große Wölfe waren, die sich dort in den Wäldern aufhielten. Irgendwann jedoch musste ich eingeschlafen sein, denn es folgte ein merkwürdiger Traum.

Ein Traum von den Wood-Brüdern, die von dem dunklen großen Schatten verschluckt wurden und der sie dann wieder als Wölfe freigab. Ich sah, wie sie vor mir erschienen und eine Stimme in meinem Kopf schrie mich an, dass ich endlich davonlaufen sollte, doch meine Beine gehorchten nicht. Und immer wieder sagte ich mir selbst, dass es doch nur Sean und Taylor waren, die mir niemals etwas antun würden. Mein Vater erschien und legte das Gewehr auf die beiden an. Ich stellte mich dazwischen und flehte ihn an es nicht zu tun; dass man sie noch anders würde retten können. Doch einer der Wölfe hinter mir sprang auf uns zu und ein Schuss gellte durch die Luft. Noch im selben Moment schrak ich auf und blickte mich erschrocken im Zimmer um. Langsam drang die Sonne durch den morgendlichen Nebel und mein Blick wanderte zu dem ungeliebten Wecker. Der zeigte halb sechs Uhr morgens an und ich wischte mir über die kalte Stirn. Da ich wusste, dass ich auf keinen Fall mehr würde einschlafen können, beschloss ich mich für die Schule fertig zu machen und ging ins Bad.

Als ich zurückkam, drückte ich den Wecker aus, damit er nicht unnötigerweise losging und freute mich auf einen Kaffee, der mich hoffentlich diesen wirren Traum vergessen ließ. Ich stellte die Kaffeemaschine an und räumte währenddessen das Wohnzimmer auf. Sortierte Zeitungen aus, packte Kleinkram in die dafür vorgesehene Schublade, richtete die Kissen auf der Couch und faltete die Decke ordentlich zusammen, um sie dann über die Rückenlehne zu packen. Dann ging ich in die Küche zurück und füllte mir eine Tasse Kaffee ein. Während ich mich an die Theke setzte und mich an die heiße Tasse klammerte, ging hinter mir die Sonne auf. Als mein Vater nach der Dusche zu mir in die Küche kam, schrak er zurück. „Wer sind Sie und was haben Sie mit meiner Tochter angestellt?“ „Ich habe wirres Zeug geträumt und konnte nicht mehr einschlafen…“ Ich gähnte und er setzte sich zu mir. „Möchtest du was frühstücken?“, fragte ich ihn und goss ihm seine Tasse voll. „Nein, ich hab keinen Hunger. Möchtest du?“ „Ich nehme mir was mit, glaube ich.“ Verschlafen holte ich Toast, Teller und Messer hervor. Dann kramte ich im Kühlschrank nach Aufstrich und wurde fündig. Während ich mir das Brot bestrich, holte mein Vater Alufolie hervor und riss ein Stück ab. „Danke.“ „Ich geh mich umziehen… Hab heute einen langen Tag vor mir. Wann wollte der Wood-Sohn vorbeikommen?“ „18 Uhr. Meinst du, du schaffst es bis dahin? Ich sag sonst auch seinem Bruder bescheid, damit der ihm eine neue Zeit ausrichtet.“ „Nein, ist okay. Bis dahin schaffe ich es. Wir werden uns wohl nicht mehr sehen heute Nachmittag…“ Er war bereits im Schlafzimmer verschwunden und kam dann umgezogen wieder heraus. Und wie jeden Morgen folgte dasselbe Spiel: Während er den Rest seines Kaffees austrank und die Tasse in die Spüle stellte, räumte ich mein Geschirr weg. Er verabschiedete sich, fuhr zur Arbeit und kurz darauf holte mich auch schon Carly ab. Ich erzählte ihr von den neuen Gästen in Henrys Billard-Halle, verschwieg ihr aber den Schatten und den darauffolgenden Traum. „Na super, einmal in so vielen Wochen komme ich dich nicht auf Arbeit besuchen und schon habe ich meine Chance vertan, ihn allein sprechen zu können. Ist doch wieder typisch.“ „Er wohnt doch jetzt hier mit seiner Familie. Es wird noch einige solcher Chancen geben, vertrau mir. Und, wie war es so bei deinem Vater?“ „Oh Gott, viel langweiliger als ich es mir jemals vorgestellt hatte. Er hat ein hübsches Büro und die Leute sind nett, aber alle tun immer dasselbe. Für mich wäre das wirklich nichts, deshalb habe ich es meinem Vater gestern Abend auch gleich gesagt.“ „Was genau denn?“ Ich war stolz auf sie, sie hatte sich endlich gegen ihn durchgesetzt. Bei diesem Thema war er bisher so unnachgiebig gewesen. „Ich sagte, dass er das für sich als den besten Job gefunden hatte, dies aber nicht meine Wahl gewesen wäre und ich etwas anderes tun wolle. Er war natürlich etwas geknickt, half mir aber herauszufinden, was mein Gefallen finden würde.“ „Super und habt ihr was finden können?“ „Ich habe überlegt, ob ich vielleicht Krankenschwester oder so werden könnte!?“ „Soll ich meinen Vater fragen, ob er für eine Praktikantin Platz hätte?“ „Das hatte ich gehofft, aber sag ihm nicht, dass ich es machen will. Das möchte ich ihn dann selbst fragen.“ „Na klar. Ich fühle nur vor. Oh, ich freu mich so für dich. Carly, das ist wirklich toll.“ „Danke, Süße. Ich hatte echt Bammel vor der Reaktion meines Vaters, bin jetzt aber froh, dass ich es mit ihm besprochen habe. Und für dich finden wir auch noch ein passendes College…“ So zuversichtlich hatte ich sie lange nicht gesehen.

 

Als wir auf dem Parkplatz ankamen, sah ich bereits das funkelnde Motorrad und atmete erleichtert auf. Ihm ging es also gut. Verrückt, dass ich mir so viele Sorgen um ihn machte, obwohl er mir bis jetzt noch nicht freundlich gegenüber getreten war. Geschweige denn, er mit mir auch nur mehr als zwei Worte gewechselt hatte. Als wir ausgestiegen waren und uns Richtung Schulgebäude in Bewegung setzten, hakte sich Carly bei mir ein. „Heute wird ein toller Tag, denkst du nicht auch?“ „Ja“, sagte ich, „da hast du Recht.“ Sie lächelte von einem Ohr zum anderen und flog förmlich über den Weg. Und dann änderte sich alles innerhalb weniger Sekunden. Kelly stürmte auf mich zu und meinte: „Du wirst schon gesucht… Los, komm!“ „Wie? Wer sucht mich denn? Ist was mit meinem Vater?“ Sie zog mich Richtung Matheraum und ich schleifte Carly hinter mir her. Sean stand vor dem Raum und blickte mich erleichtert an. Mich beschlich das seltsame Gefühl, dass es sich um sein Motorrad da draußen handelte und nicht um das von Taylor. „Hey, was ist los?“ Die Schüler drängten sich um uns und auch Carly blickte abwechselnd von ihm zu mir und wieder zurück. „Ich muss dich unter vier Augen sprechen.“ Just in dem Moment klingelte es zum Unterricht und die Schüler wurden von ihren Fachlehrern in die Räume gewiesen. Auch Hastings tat dies und sah mich erwartungsvoll an. „Ich beeil mich, aber bitte geben Sie mir fünf Minuten. Es scheint dringend zu sein.“ „Na schön, aber wirklich nur fünf Minuten.“ Er dachte wohl, wenn er zu mir nett war, würde ich mich eher für seine Begabtenklasse entscheiden, aber das sollte mir jetzt nur recht sein. Als wir endlich alleine waren, schlug mir das Herz bis zum Hals. Alles Mögliche ging mir durch den Kopf, die schlimmsten Szenarien, aber ich musste mich gedulden bis ich es von Sean hörte. „Also, was ist so dringend?“ „Wir brauchen deine Hilfe…“, er war vollkommen ernst. Merkwürdig ihn so zu sehen, obwohl er bisher immer gelächelt hatte. „Wer ist wir?“ Er blickte den Flur hoch und sah dann wieder mich an. Ich sah, dass er zögerte, so als dürfte er weder hier sein noch mit mir darüber reden. „Sean, wer ist wir?“ „Taylor und ich!“ Seine Zähne gruben sich in seine Unterlippe und er trat von einem Bein aufs andere. „Was ist passiert? Oh Gott, dann war er also doch verletzt gestern Abend.“ Sean schrak zusammen und blickte verblüfft auf mich hinunter. „Woher weißt du…?“ „Ich bin nicht blind. Er war gestern Abend total blass. Ich habe mir Sorgen gemacht und mir so meine Gedanken dazu gesponnen. Aber das es wirklich so ist, hätte ich nicht vermutet oder zumindest nicht gehofft. Und inwiefern kann ich euch da helfen?“ „Wir haben gehört, wie du über die Wölfe gesprochen hast und denken, dass du uns besser verstehen wirst, als die anderen Menschen in der Stadt.“ „Was haben denn Wölfe damit zu tun? Wurde er etwa von einem angefallen?“ Ein paar Augenblicke sagte er nichts, so als überlegte er, ob er das als Antwort nehmen konnte. „Ja, so ungefähr.“ „Ungefähr?“ „Es ist doch jetzt egal, was genau passiert ist, aber wenn wir deinen Vater fragen würden, würde der sich doch sofort auf die Wölfe stürzen und das können und wollen wir nicht zulassen. Taylor hat mich gebeten, dir nichts davon zu sagen, aber du bist wahrscheinlich die Einzige, die uns helfen kann. Also, kommst du mit?“ „Ich habe Unterricht! Wie schlimm ist es denn?“ „Na, sagen wir mal, gestern in der Bar hat er noch gesund ausgesehen.“ Ohne zu überlegen, stürzte ich in den Raum und lief auf Mr. Hastings zu. „Sir, ich kann Ihnen jetzt nicht sagen wieso, aber es gibt da einen Notfall zu dem ich dringend muss. Würden Sie mich, bitte, als entschuldigt melden?“ „Na schön, aber ich möchte morgen eine Erklärung bekommen, haben Sie mich verstanden?“ „Ja, Sir. Danke!“ Mein Blick streifte Carly und ich versuchte ihr mit diesem klar zu machen, dass ich sie informieren würde, sobald ich wieder Ruhe hatte. Sie nickte, sie hatte verstanden. Sean und ich liefen die Flure entlang, zu seinem Motorrad. Er reichte mir einen Helm, warf die Maschine an und fuhr rasant aber sicher Richtung Westen.

 

22. Januar

In manchen Träumen höre ich das Knurren eines wilden Tieres, doch nie sehe ich irgendetwas. So als ob es nicht bemerkt werden will! Es ist gruselig, wenn man nur die bedrohliche Schwärze vor sich sieht und nicht weiß, ob man in Gefahr ist und gleich angegriffen wird. Sicher, mir würde nichts geschehen, aber diese Träume sind so unglaublich real, dass ich manchmal fürchte, eines Tages nicht mehr aufzuwachen. Wenn ich mit Mutter und Großmutter darüber rede, werfen sich beide nur bedeutungsvolle Blicke zu. Sie verheimlichen mir in letzter Zeit so viel… Mir schwant Böses, aber ich versuche nicht all zu viel hinein zu interpretieren. Durch dieses unnötige Sorgen machen, habe ich nämlich das Gefühl, dass die Träume nur noch schlimmer werden und häufiger vorkommen. Ich wünschte nur, sie würden sich nicht so offensichtlich davon wissend vor mir verhalten und dann nichts darüber sagen. Das macht es nur unerträglicher ihnen noch irgendetwas zu glauben!

 

Als wir vor dem Haus der Woods ankamen, wurde mir erst bewusst, dass ich drauf und dran war einer Familie zu helfen von der ich fast nichts wusste. Ich nahm den Helm ab und legte ihn neben den Seans. Mein Herz pochte und meine Hände zitterten. Er fasste mich am Arm und zog mich mit sich. Mir war eisig kalt und der Wald um uns herum machte das alles nicht gerade besser. „Kein Wunder, dass Taylor verletzt ist. Die Wölfe sind im Wald unterwegs und ihr wohnt mittendrin…“ Sean reagierte nicht und stieß die Tür auf. Es brannte nicht ein Licht und auch hier drinnen war es eisig kalt. Wir gingen eine Holztreppe hinauf, Sean voran, dann bog er ab und blieb vor einer schwarzen abgewetzten Tür stehen. Mein Atem ging schneller und es bildeten sich kleine Wölkchen vor meinem Mund. Meine Güte, wie viel Grad Celsius waren es denn hier drin? Die Tür knarrte, als er sie öffnete und rasselnder Atem empfing mich. Es klang wie in einem gut gemachten Horrorfilm und mir liefen kleine Schauer über den Rücken. War es nicht immer so, dass das Mädchen starb, das in einen dunklen Raum ging? Warum zur Hölle war ich noch gleich mit hierher gekommen? „Taylor?“ Wieder antwortete das Rasseln. Stimmt, genau deswegen. „Ich bin‘s, Sean. Ich habe Lilly mitgebracht!“ Ich hörte, wie Taylor stöhnte, was nicht gesund klang, aber eindeutig bewies, dass er nicht viel von mir hielt. „Vielen Dank, ich fühle mich sehr willkommen“, wisperte ich. „Sei nicht sauer auf ihn. Er wollte nicht, dass du herkommst.“ Ich war mir nicht ganz sicher, ob das heißen sollte, dass er mir den Wald ersparen wollte oder ob er mich tatsächlich nicht leiden konnte. Aber so wie er klang, brauchte er dringend Hilfe und als Tochter eines Arztes hatte ich die ‚dumme‘ Angewohnheit sofort helfen zu wollen, egal, ob ich erwünscht war oder nicht. „Wo genau liegt er denn?“ „Immer dem Rasseln nach.“ „Ach, wirklich?!“ Sean zuckte entschuldigend mit den Schultern und blieb ein paar Schritte hinter mir. Ich nahm all meinen Mut zusammen und setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Je weiter ich vordrang, umso schlimmer klang sein Atem. Furchtbare Bilder schwirrten durch meinen Kopf und ich ermahnte mich, auf alles gefasst zu sein. Meine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit, wodurch ich in der Lage war, zumindest die Silhouette Taylors auszumachen. Als ich der Meinung war, dicht genug zu sein, um mir die Wunden ansehen zu können, kniete ich mich auf seiner rechten Seite hin. Mir wurde immer kälter, doch dadurch spürte ich viel deutlicher die Körperwärme des vor mir liegenden Taylor. Sean hielt den Atem an, als meine Hand sich zu Taylors Stirn vortastete. Rechnete er etwa damit, dass sein Bruder mich angriff? Erst jetzt kam mir in den Sinn, dass er vielleicht Tollwut von dem Wolfsangriff bekommen hatte. Als meine Handfläche seine Stirn berührte, zuckte er kurz zusammen. „Ich muss nicht mal den Vergleich zu meiner Stirn machen… Er hat über 40° Fieber. Du hättest wirklich eher zu mir kommen können“, sagte ich vorwurfsvoll und wandte mich zu Sean um. „Ich wollte ja…“ Er war kleinlaut geworden, sagte aber dann nichts weiter. Ich roch das Blut schon, es musste also eine ganze Menge sein. „Wo sind die Wunden?“ „Am Bauch etwas seitlich auf der gegenüberliegenden Seite.“ Als ich mich über Taylor beugen und mir die Wunden ansehen wollte, drehte der sich von mir weg. Er zog scharf die Luft ein, weil er wohl gegen die offene Stelle gekommen war, aber das geschah ihm ganz recht. „Meine Güte, ich bin hier um dir zu helfen, nicht um dich zu töten. Verdammt noch mal, halt gefälligst still.“ Ich war laut geworden, aber so einen Patienten hatte ich noch nicht erlebt. Wieder rasselte er nur zur Antwort und ich glaubte ein leichtes Schnauben zu hören. Ohne darauf einzugehen, wandte ich mich an Sean: „Ich brauche etwas zum desinfizieren, Wasser, so viele Handtücher, wie du besorgen kannst und ich wäre sehr dankbar für etwas Licht, denn sonst sehe ich nicht, was ich hier tue.“ Gerade wollte er gehen, als mir noch etwas einfiel: „Und ich brauche eine Druckkompresse und Verbände.“ „Ay, ay, Ms. Connor.“ Zur Krönung schlug er auch noch seine Hacken gegeneinander und machte sich dann auf die Suche nach meinen Wünschen.

Der Geruch von Blut wurde immer intensiver und vernebelte mir die Gedanken. Deshalb stand ich auf und öffnete zumindest eines der Fenster. Ich fragte erst gar nicht, warum davor Bretter genagelt waren. Ein kleines bisschen Luft drang durch sie hindurch. ‚Na ja, das wird schon irgendwie reichen‘, dachte ich mir und kehrte zu Taylor zurück. Ich setzte mich wieder neben ihn und lauschte seinem rasselnden Atem. Das sagte mir wenigstens, dass er noch nicht verblutet war. Während ich darauf wartete, dass Sean zurückkam und mir meine Arbeitsutensilien brachte, versuchte Taylor mir irgendetwas zu sagen: „Hättest nicht…herkommen…sollen!“ „Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte dich verbluten lassen? Oder wolltest du darauf warten, dass mein Vater heute Abend irgendwann kurz reinschaut, um deinen Tod festzustellen?“ Seine braunen Augen musterten mich und er versuchte tief Luft zu holen. Nur sein Mundwinkel zuckte, als es ihm wegen der Verletzung nicht richtig gelang. Ganz kurz durchzuckte mich ein Schmerz in der linken Seite, wo ich auch am gestrigen Abend bereits etwas gespürt hatte. Ich war beeindruckt, wie er die Schmerzen wegsteckte, fühlte aber mit ihm, obwohl ich mir wahrscheinlich nicht einmal annähernd vorstellen konnte, was er gerade durchmachte. Endlich kehrte Sean zurück, er jonglierte mit einer Wasserschale in der einen und Handtüchern und Whiskeyflasche in der anderen Hand. „Reicht das zum desinfizieren?“ „Das wird schon gehen!“, sagte ich und nahm ihm die Sachen nach und nach ab. Er lief noch einmal die Treppe hinunter und kam mit Verbandskasten und Tischleuchte zurück, die er kurz darauf anschaltete. Mein Blick wanderte kurz zur Decke und erst jetzt sah ich, dass hier keine Lampen eingebaut waren, nicht einmal Glühbirnen. Auch dazu verkniff ich mir jeglichen Kommentar, denn ich war nicht gekommen um die Inneneinrichtung der Woods zu kritisieren. Ich krempelte die Ärmel meines Pullovers hoch und band meine Haare zu einem leichten Dutt zusammen. Während ich mich vor die Seite mit den Wunden setzte, nahm Sean auf der anderen Platz. Das erste Handtuch breitete ich vor mir aus, damit ein bisschen Blut aufgesaugt wurde und das, was eventuell noch folgte, ebenfalls darin verschwinden konnte. Dann rieb ich meine Hände mit ein bisschen Whiskey ein und bat Sean darum, seinem Bruder ein wenig davon einzuflößen. Taylor hustete nach dem Schluck und ich sah zu seinem älteren Bruder auf. „Wann hat er das letzte Mal was zu Trinken bekommen?“ „Gestern Abend…“ Er sah betreten zu Boden. „Sag bloß, das Bier war das Letzte.“ „Ja, wieso? Ich dachte, das betäubt den Schmerz auch gleich ein bisschen.“ „Bier hilft da überhaupt nicht“, erklärte ich ihm ruhig. „Hab…ich auch…gemerkt“, mischte sich nun Taylor ein. „Wenn du die Schmerzen betäuben willst, musst du ihm schon ein bisschen härtere Sachen zu trinken geben. Bier ist ziemlich schwach. Man braucht ja auch mehrere, um davon wirklich betrunken zu werden, richtig?“ „Ja.“ „Er darf aber nicht nur Whiskey trinken, also hättest du ihm über Nacht auch gern Wasser geben können, damit sein Hals nicht so austrocknet. Genau deswegen brennt der Alkohol jetzt nämlich besonders stark in seinem Rachen.“ Ich zog das Shirt von Taylor vorsichtig nach oben und versuchte nicht zu dicht an seine Wunde zu kommen. „Wenn ich dich jetzt doch treffen sollte, tut es mir ganz ehrlich furchtbar leid.“ Taylor nickte und biss die Zähne zusammen. Wir hatten es kurz darauf geschafft, ihn ohne Schaden davon zu befreien und ich atmete tief durch, als ich jetzt das ganze Ausmaß der Verletzung sah. Es war kein Biss, so viel stand fest. Dieser Wolf oder was immer es gewesen war, musste seine Klaue direkt in seine Seite gegraben haben. Tiefe Furchen aus denen das Blut quoll, Fetzen der Haut hatten sich gelöst. Es sah furchtbar aus. Aber ich war eine Frau und kam nicht umhin zu bemerken, dass er sehr gut trainiert war. ‚Meine Güte sind das Muskeln‘, dachte ich. „Kriegst du ihn wieder hin?“, fragte Sean atemlos und ich blickte ihn an. „Ich denke schon, aber das kann ‘ne Weile dauern.“ Ich fragte nicht, was geschehen war und ich sagte auch nichts dazu, dass Sean seinen Bruder besser hätte versorgen können. Es war einfacher, ihn jetzt richtig und vollständig zu behandeln, als sich darüber aufzuregen, dass seine Familie es nicht gekonnt oder getan hatte.

Während ich die Wunde reinigte und untersuchte, ob sie sich schon entzündet hatte, tigerte Sean im Raum herum. „Würdest du mir bitte einen Gefallen tun?“, ich sah nicht auf und spülte weiter den Schmutz aus der offenen Stelle. Ein paar Strähnen waren mir bereits aus dem Knoten an meinem Hinterkopf gerutscht und ich pustete sie hin und wieder beiseite. „Ja?“ Endlich war er stehen geblieben und schaute erwartungsvoll. „Wenn es dir keine Umstände macht, wäre es möglich, dass ich einen Kaffee bekommen könnte. Mit ein bisschen Milch, bitte.“ „Ja, natürlich.“ Es kehrte Ruhe ein und ich atmete erleichtert aus. Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Stirn und fuhr mit meiner Arbeit fort. „Nimm‘s…ihm nicht übel.“ „Ach, was“, ich blickte Taylor an und lächelte leicht, „ich verstehe ihn ja. Er macht sich nur Sorgen. Aber mich macht er mit dem Gerenne nur unnötig nervös.“ Ich war mir ganz sicher, dass ich jetzt allen Schmutz herausgewaschen hatte, spülte die Hände ab und drückte ihm die Kompresse auf die Wunde. „Das muss jetzt leider sein.“ „Vorher war es schlimmer!“ Er machte keine langen Pausen mehr zwischen den Worten, das beruhigte mich schon sehr. Wir hatten das Gröbste überstanden und ich war gerade dabei den Verband um seinen Bauch zu wickeln, als Sean mit einer dampfenden Tasse zu uns stieß. Der Geruch des frisch gebrühten Kaffees beflügelte mich wie gewöhnlich und ich sorgte dafür, dass der Verband gut hielt. Endlich war ich fertig und nickte zufrieden. „So, Bruder verarztet und jetzt her mit der Tasse!“ Ich streckte meine Hände, wie ein kleines Kind nach seinem Lieblingsspielzeug aus und genoss die Wärme, die sich in meinen Fingern ausbreitete, als ich die Tasse hielt. Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, wie durchgefroren ich wirklich war. Erst jetzt fiel mir auf, dass meine Zähne ganz leicht aufeinander schlugen. „Danke, vielen Dank, Lilly! Ich bin dir echt was schuldig!“ „Wir“, berichtigte Taylor seinen Bruder und lächelte mich doch tatsächlich ganz leicht an. Ich war mir sicher, dass er ein fantastisches Lächeln haben musste, wenn jetzt schon dieses Leichte mich sprachlos machte. „Hab ich gern gemacht, wirklich!“ Und dann kam mir auch schon eine Idee, wie er sich revanchieren konnte. Auch wenn es mir - merkwürdigerweise - wehtat, ihn darum zu bitten. „Ich wüsste da auch schon was…“ „Alles, was du willst“, sagte Sean sofort, aber ich meinte: „Es betrifft eigentlich mehr Taylor als dich.“ „Und worum geht es?“, fragte dieser. „Wenn du dich wieder fit genug für die Schule fühlst, dann sprich doch dort einfach mal mit meiner Freundin Carly. Sie würde dich gern kennenlernen, weißt du?“ „Du rettest mir das Leben und ich soll einfach nur mit einer deiner Freundinnen reden? Findest du das gerecht?“ „Es würde sie glücklich machen und wenn sie es ist, bin ich es auch. Außerdem ist sie nicht irgendwer, sondern meine beste Freundin seit Kindertagen.“ „Na schön, wie du willst.“ Ich streckte mich, trank den letzten Rest Kaffee aus und sah dann auf meine Armbanduhr. „Na gut, dann werde ich mich mal auf den Rückweg zur Schule machen. Du wirst schlafen, so viel wie du kannst und du sorgst dafür, dass er genug Flüssigkeit zu sich nimmt. Und dieses Mal ist ausschließlich von unalkoholischen Getränken die Rede.“ „Wir werden uns daran halten. Ich fahr dich zur Schule zurück, na komm!“ Ich sah mich noch einmal zu Taylor um. „Dann sehen wir uns irgendwann in der Schule wieder.“ „Ja, und danke.“ Er sah mir ernst in die Augen und mein Herz begann wie wild zu rasen. „Gern geschehen.“ Und genau in diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich überhaupt nicht wollte, dass er mit Carly sprach. Ich wollte nicht, dass er sich in sie verliebte, so wie es bisher allen Jungs unserer Schule passiert war. Doch ich sagte nichts, wandte mich einfach von ihm ab und folgte Sean zu seinem Motorrad.
 

Wie erwartet, brach die Klasse in heilloses Chaos aus, als ich in den Unterricht zurückkehrte. Es tat mir nur furchtbar leid, dass unser Biologielehrer das nun wieder in geregelte Bahnen lenken musste und so seine Schwierigkeiten damit hatte. Zig Augenpaare folgten mir auf dem Weg zu meinem Platz, doch ich ignorierte sie alle. Nur Carly, bei der gelang mir das nicht. Unweigerlich dachte ich daran, was geschehen würde, wenn Taylor tatsächlich mit ihr sprechen würde. Er würde sich in sie verlieben, sie wären das wunderbare Paar der Schule und ich würde daneben stehen und zusehen müssen. „Alles in Ordnung, Süße? War irgendwas mit deinem Vater?“ „Später, wenn wir alleine sind.“ Ich nickte in Richtung der Klasse und sie verstand. „Alles klar, aber du siehst echt fertig aus. Meinst du, du schaffst die Schicht heute Abend bei Henry?“ „Ich weiß noch nicht, mal sehen, wie es mir nachher geht.“ Wir kümmerten uns um unsere Mikroskope und verloren die restlichen zwei Stunden kein weiteres Wort über den Vorfall. Sobald wir jedoch abgeschirmt in ihrem Auto saßen, wandte sie sich zu mir um und blickte mich besorgt an. „Also, was war los?“ Ich schloss die Lider, atmete tief durch und strich mir über die Augen, dann erst sah ich sie an. „Es ging Taylor nicht so gut. Sean hatte versucht meinen Vater zu erreichen, es aber nicht geschafft. Deshalb kam er auf die Idee, mich zu holen, da ich als Tochter des Arztes ja ein wenig Ahnung habe.“ „Und was hatte Taylor?“ „Ne Schnittwunde, keine Ahnung, woher er die hatte. Ich habe ihn aber auch nicht danach gefragt. Jedenfalls hat es eine Weile gedauert, die Blutung zu stillen und deshalb bin ich auch erst so spät gekommen.“ „Wow, innerhalb von zwei Tagen lernst du beide Wood-Brüder kennen und fährst zu ihnen nach Hause. Wie war es da so? Haben Sie ein großes Haus?“ „Groß auf jeden Fall, aber genau umgesehen habe ich mich da nicht. Dafür war ja auch keine Zeit und dann habe ich Sean nur noch darum gebeten, mich zur Schule zurückzubringen. Das war alles.“ Carly drehte den Zündschlüssel im Schloss und manövrierte ihr Auto aus der Parklücke. „Setzt du mich bei Henry ab? Ein paar Stunden versuche ich es.“ „Hältst du das für eine gute Idee?“ „Ich sag ja, ich werde es versuchen. Aber ganz allein, kann ich ihn nicht lassen.“ „Du bist einfach zu nett.“ Sie hatte ja keine Ahnung, wie sehr sie davon in einiger Zeit noch profitieren würde, deshalb widersprach ich ihr auch nicht. Ich zuckte nur mit den Schultern. Als wir bei Henry ankamen, standen dort die altbekannten Autos und ich bemerkte, wie Carlys Blick nach einem Motorrad Ausschau hielt. Sie wurde enttäuscht. „Na, dann bis morgen. Und übernimm dich nicht, Süße.“ „Mach ich nicht, bis morgen!“

 

„Henry? Ich würde gern ein paar Stunden früher gehen, wenn du nichts dagegen hast. Der Tag heute war echt anstrengend. Ich hänge das ein andermal hinten dran, okay?“ Seit fünf Minuten wischte ich schon denselben Tisch ohne es zu merken. „Dass du überhaupt so lange hier ausgehalten hast, wundert mich schon. Na klar, gehst du heute früher.“ „Danke!“ „Na los, geh deine Sachen holen. Einer der Jungs bringt dich.“ „Ach, das kurze Stück schaffe ich doch noch allein.“ Alle waren aufgestanden und boten stillschweigend ihre Hilfe an. „Ich mach das!“ Wir drehten uns zur Tür um, wo Sean im Türrahmen stand und mich angrinste. „Na schön, warte kurz. Ich muss nur meine Jacke holen.“ Nachdem ich mich müde lächelnd von den Männern verabschiedet hatte, antworteten sie wie immer im Chor: „Gute Nacht, Lilly!“ Wir traten zusammen nach draußen und ich ließ mich von der kalten Luft berieseln. Nachdem wir ein paar Schritte gegangen waren, sah er mich wieder an. „Meine Güte, du bist ja wirklich schon fast vollständig weggetreten.“ „Ich werde dir was sagen, Sean. Du könntest mich entführen und ich würde es nicht merken.“ „Soll das ein Angebot sein?“ „Tu, was du nicht lassen kannst.“ Ich gähnte und stellte mir vor, wie er mich zu dem Haus der Woods brachte. Wie es wohl Taylor ging? Hoffentlich gut. „Taylor schläft wie ein Murmeltier“, aus irgendeinem Grund, fand Sean diesen Ausspruch irre komisch und lachte noch ein wenig, bevor er weitersprach: „Hat gar nicht lange gedauert und er ist eingeschlafen. War wohl doch ein bisschen viel für ihn.“ „Wieso erzählst du mir das alles?“ „Weil du eben gefragt hast, wie es ihm geht.“ Er sah mich an, als sei ich verrückt geworden und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich gerade tatsächlich dabei war zu einer Irren zu mutieren. „Ich habe das laut gefragt, ja?“ „Mhm.“ „Ja, es wird wirklich ganz dringend Zeit, dass ich schlafen gehe.“ Er legte einen Arm um meine Schulter, um mich ein wenig zu stützen, aber er war so warm, dass ich es nicht lange aushielt, ohne dass mir die Augen zufielen. „Ich habe übrigens Carly irgendwas erzählen müssen, und habe ihr gesagt, dass ihr versucht habt meinen Vater zu erreichen, es aber nicht geklappt hat. Deshalb hast du mich geholt. Jetzt denkt sie, dass Taylor eine Schnittwunde hat, von der ich aber nicht weiß, woher. Was nicht mal gelogen ist, wenn ich so darüber nachdenke.“ „Und den restlichen 557 Schülern hast du was erzählt?“ „Nichts. Und wenn Carly die Geschichte nicht weiter erzählt, wird das auch so bleiben.“ Ich streckte mich noch ein wenig, während er stillschweigend neben mir her ging. Gerade als ich ihm sagen wollte, dass wir jetzt angekommen waren, bemerkte ich sein verblüfftes Gesicht. „Was ist los?“ „Du hast nicht ein bisschen von der ganzen Sache weiter erzählt?“ „Natürlich nicht. Erstens geht es die anderen nichts an und zweitens weiß ich doch selber nicht viel darüber.“ Ich überlegte, ob es in Ordnung wäre, ihn zum Abschied zu drücken, tat es dann einfach und wünschte ihm eine Gute Nacht. „Schlaf gut und danke noch mal.“ „Ich danke fürs nach Hause bringen.“ Während er sich auf den Rückweg zu seinem Motorrad machte, öffnete ich die Haustür und stolperte schlaftrunken ins Haus. „Lils? Hey, was ist denn mit dir los?“ Mein Vater kam aus dem Wohnzimmer und betrachtete mich argwöhnisch. „War ein langer Tag für mich. Hab Henry gefragt, ob ich früher gehen kann. Er hat mich gehen lassen und ich verschwinde jetzt ins Bett. Gute Nacht!“ „Gute Nacht, Schatz.“ Seine Augen folgten mir, bis ich die Tür zu meinem Zimmer hinter mir ins Schloss fielen ließ. Als ich feststellte, dass ich sogar zu müde war, um mich umzuziehen, ließ ich mich mitsamt den Klamotten ins Bett fallen und schlief auf der Stelle ein.

 

Mitten in der Nacht schrak ich auf. Schon wieder hatte mich ein solch verrückter Traum aus dem Schlaf gerissen. Mein Unterbewusstsein wollte mir weis machen, dass ich Sean und Taylor vor meinem Vater beschützen musste. Und auch Carly und einige andere Schüler hatten sich anklagend vor die Wölfe gestellt. Nur ich stand zwischen ihnen und den Tieren, die einst zu den Bewohnern dieser Stadt gehört hatten und nun erschossen werden sollten. Immer wieder flehte ich die Leute an, genauer hinzusehen, denn man konnte allein an den Augen erkennen, dass es sich um die Wood-Brüder handelte. Carly befahl meinem Vater nun auch die Waffe auf mich zu richten, da ich mich sonst auch in einen Wolf verwandeln würde. Genau in dem Augenblick, in dem mein Vater sich entscheiden wollte, wachte ich auf. Wieso brachte ich die Jungs der Wood-Familie und die Wölfe hier in den Wäldern bloß immer in meinen Träumen in Einklang? Ich wusste doch, dass so etwas nicht möglich war, außer in Romanen. Frische Luft, ja, ich brauchte dringend frische Luft. Ich richtete mich auf und setzte mich, so wie auch schon gestern Nacht an das geöffnete Fenster. Die Bäume des Waldes wiegten sich leicht im Wind und der Mond schien in unseren Garten, als ich es plötzlich dort knacken hörte. Das war sicher nur ein kleiner Hase gewesen, der noch etwas Essbares aufzustöbern versuchte. Ich begann zu zittern, denn das dort unten im Garten, kam immer dichter und würde gleich aus dem Gebüsch auftauchen. Ich lehnte mich auf das Fensterbrett und betrachtete den Wolf, der sich dort seinen Weg durch das Gebüsch geschlagen hatte, in voller Größe. Er ist wunderschön, war das, was mir zu ihm als erstes einfiel. Sein hellbraunes Fell war von einigen dunkelbraunen Linien durchzogen und ließ ihn dadurch bedrohlicher erscheinen. Aber vor allem war er groß. Das war tatsächlich kein einfacher Wolf, vielleicht eine Art davon, aber um einiges größer. Lautlos schnüffelte er in der Gegend umher und schien einem bestimmten Duft gefolgt zu sein. Und während sein Schwanz leicht hin und her wippte, vergaß ich schon wieder einmal zu atmen. Ich befürchtete jedoch, dass er mich Luft holen hören würde und wollte ihn nicht verschrecken. Wieder schnüffelte er umher und dann hob er ruckartig seinen Kopf und blickte direkt zu meinem Fenster hoch. Sein Blick bohrte sich in meinen und ich sah mich dem Augenpaar gegenüber, dass ich unter Tausenden wiedererkennen würde. Ich sah mich den Augen gegenüber bei denen ich das Gefühl hatte, sie bereits seit Jahren zu kennen. Sie waren weise, unergründlich und warm.

 

25. Januar

Ich zittere noch immer am ganzen Körper. Jetzt verfolgt er mich nicht nur in meinen Träumen, sondern auch im wahren Leben.

Mutter und Großmutter haben mir alles erzählt. Gestern Abend. Sie haben zusammen mit Großvater beschlossen von hier wegzuziehen. Weit weit weg, wie sie sagten. Obwohl ich bezweifle, dass es vor Ihm ein Entkommen gibt. Es sei denn, Er würde sterben. Und ich meine dies nicht auf natürliche Art und Weise. Großvater ist oft im Wald unterwegs gewesen in letzter Zeit. Ich fürchte mich davor, dass er Ihm zum Opfer fällt, aber es gibt keinen anderen Ausweg. Am Freitag ist der letzte Schultag, danach werden wir sofort von hier verschwinden. Einige Bundesstaaten entfernt gibt es ein kleines Städtchen, wo mein Großvater früher einmal bei Freunden zu Besuch gewesen war. Dort werden wir hinziehen. Ich will nicht länger an Ihn denken, Ihn nicht mehr in meinen Träumen hören und sehen. Er soll uns in Frieden lassen und für immer verschwinden. Und dennoch würde ich gern bei meiner besten Freundin bleiben. Ich hoffe, dass ich sie eines Tages wiedersehen werde. Ich werde die Schule und die Lehrer vermissen. Die Menschen hier, ja, sogar die blöden Jungs aus meiner Klasse. Niemals werde ich sie Alle vergessen!

 

2. Kapitel - Zwecklos

Ich ließ mich zurücksinken. Saß einfach so da, regungslos mitten in meinem Zimmer und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. So viele Bilder stürmten auf mich ein. Ich glaubte, keine Luft zu bekommen. Wie konnte ich nur so dumm sein? Es war so offensichtlich gewesen und ich hatte nicht daran geglaubt. Ich schloss meine Augen, holte tief Luft und atmete lautstark wieder aus. ‚Lilly, jetzt heißt es Ruhe bewahren.‘ Durchzudrehen half jetzt weder mir noch sonst irgendjemandem. Als ich glaubte, wieder klar denken zu können, lehnte ich mich ein kleines Stück aus dem Fenster. Der Wolf war verschwunden und ich konnte es ihm nicht verübeln. Aber er konnte von mir nicht verlangen, dass ich nicht so reagiere, wenn mir klar wird, was genau los war. Ich schloss mein Fenster und wollte von außen jetzt nichts mehr an mich ranlassen. Erst mal musste ich diese Erkenntnis verarbeiten, dann konnte das Nächste folgen. In meinem Zimmer tigerte ich auf und ab und erinnerte mich dabei an Sean. Mein Blick fiel auf die Uhr. Es war jetzt zwölf Uhr, heute war schon wieder Schule. Was sollte ich bloß tun? Ich konnte nicht weiter machen wie bisher und mir einreden, dass nichts geschehen wäre. Aber freudestrahlend durch die Weltgeschichte laufen und davon wissen, kam für mich auch nicht infrage. Ein Kissen an meine Brust gedrückt saß ich auf dem Bett und zermarterte mir meinen Kopf. Wie nur sollte ich es anstellen?

Ich hatte beschlossen zur Schule zu gehen und zu versuchen den Tag so gut wie möglich zu bestehen. Nachdem ich gefrühstückt und eine Tasse Kaffee getrunken hatte, schrieb ich Carly eine SMS, dass sie mich nicht abholen müsse, da ich ein wenig Zeit für mich brauchte und zu Fuß zur Schule gehen würde. Sie solle nicht böse sein und wir würden uns dann dort sehen. Ihre Antwort kam prompt. Sie meinte, sie würde es verstehen und auf dem Platz vor der Schule auf mich warten. Bevor mein Vater das Haus verließ, fiel mir ein, worum Carly mich gebeten hatte. „Ach, Dad, meinst du, du könntest dir vorstellen im Sommer eine Praktikantin aufzunehmen?“ „Wieso? Möchtest du bei uns anfangen?“ Er schien hellauf begeistert. „Nein, eine Freundin von mir würde gern. Ich sollte nur vorfühlen, aber fragen würde sie dich gern selbst.“ „So eine kleine Hilfe im Sommer wäre bestimmt nicht schlecht. Ich denke, das geht in Ordnung.“ „Super, ich richte es ihr aus. Danke. Schönen Tag!“ „Dir auch, hab dich lieb.“ Sagt‘s und verschwand. Ich stellte meine Tasse in die Spüle und machte mich auf den Weg zur Schule. Die Sonne schien mir ins Gesicht und ich war heilfroh darüber zu Fuß zu gehen. Ich hätte Carly niemals folgen können, wenn sie im Auto mit mir gesprochen hätte. Während ich meinen MP3-Player anschaltete und mir die Kopfhörer in die Ohren schob, machte ich mir so meine Gedanken über all das, was gestern geschehen war. Ich war mir noch immer nicht sicher, wie ich mich von jetzt an verhalten sollte. Nichts mehr war so wie zuvor und ich hatte Angst, dass es alles noch viel schlimmer zwischen uns werden würde. Mir war klar, dass er es mir niemals erzählt hätte, aber er hätte es dann wenigstens klüger anstellen und von unserem Haus fernbleiben können. Wie stellte er sich das jetzt vor? Was würde ich wohl tun, wenn er mich darauf ansprach? Obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass er mir etwas antun würde. Aber ich kannte ihn nicht gut genug, vielleicht war er ganz anders, als es auf den ersten Blick schien. Vielleicht war er sehr aggressiv und hatte es bisher nur gut vor allen verborgen?! Schwarze Wolken schoben sich vor die Sonne und ich begann zu frieren. Mit einem Mal wünschte ich mir, ganz tief im Innern, dass er hier wäre. Und dann, innerhalb nur weniger Sekunden, brach ein solcher Schauer los, wie es lange nicht vorgekommen war. Ich war sofort klitschnass, aber ich rannte nicht zur Schule, denn dadurch würde ich auch nicht wieder trocken werden. Mit gesenktem Kopf ging ich weiter und hatte plötzlich das Gefühl, dass mich der Regen nicht mehr traf. Ich sah neben mich und da ging Sean und grinste mich an. Er hielt einen Schirm über uns beide und ich konnte nichts anderes tun, als ihn anzusehen. Nachdem ich die Kopfhörer herausgenommen und den MP3-Player in der Tasche verstaut hatte, schluckte ich vorsichtig und meinte: „Sag mal, arbeitest du überhaupt nicht?“ „Noch nicht.“ „Suchst du?“ „Ja, wenn ich dich nicht gerade aus der Schule reiße oder dich dorthin begleite…“ Er lachte leise, aber verstummte kurz darauf, weil ich es ihm nicht gleichtat. „Was willst du, Sean? Außer mir den Schirm zu halten.“ Mir lief es eiskalt den Rücken herunter, als er mich ernst mit seinen dunkelgrünen Augen musterte. Am liebsten wäre ich vor ihm davongerannt, aber ich hielt seinem Blick stand und wartete auf seine Antwort. „Du bist vollkommen anders als alle, denen wir zuvor begegnet sind.“ Was wollte er denn damit sagen? Ich meine, wenn er mich darauf hinweisen wollte, dass ich verrückt war, dann würde ich ihn enttäuschen müssen, das wusste ich schon. „Du hast meine Frage damit nicht beantwortet. Was willst du?“ „Ich schätze, ich muss dir einiges erklären.“ „Ich wüsste nicht was.“ Ich hatte mich also unbewusst für Verleugnung entschieden, na schön. Das würde ich durchziehen. So konnte ich mich wahrscheinlich am besten davor schützen. Aber wovor denn? Es gab nichts, wovor ich mich schützen müsste. Ich wurde weder von ihm angegriffen noch getötet. Er machte mir nicht ein bisschen Angst. „Okay, du willst es also leugnen! Wenn das deine Entscheidung ist…“ Abrupt blieb ich stehen. „Hör zu, das was da gestern Nacht in unserem Garten gewesen ist…meine Güte, das geht über den normalen Menschenverstand hinaus. Du kannst nicht von mir verlangen, so etwas für normal zu halten, es einfach hinzunehmen. Ich will nicht durchdrehen, ganz gewiss nicht und deswegen ist es wahrscheinlich besser, wenn wir uns darüber einig sind, dass ich dort gestern nicht…“ Ich schluckte, sollte ich es tatsächlich aussprechen? „…deinen Bruder gesehen habe. Mal abgesehen davon, dass er gestern gar nicht mehr hätte aufstehen sollen. Soweit ich mich erinnern kann, hatte ich ihm gesagt, dass er schlafen sollte, so viel er kann.“ Ich warf ihm einen Seitenblick zu und sah, wie kurz ein Lächeln über sein Gesicht huschte. Wir gingen weiter und für eine Weile herrschte Stille zwischen uns. „Nun, dann sind wir uns einig“, erklärte er vorsichtig. „Danke.“ Die Schule tauchte vor uns auf und ich verabschiedete mich von ihm: „Man sieht sich.“ „Ja, da bin ich mir sicher.“

Carly wartete, wie verabredet, auf dem Schulhof und ich umarmte sie erleichtert. Es würde alles seinen gewohnten Gang gehen, alles würde normal weiterlaufen. Zumindest so normal, wie es in einer Stadt wie unserer laufen konnte. Und dann fiel mir ein, dass ich Mr. Hastings heute eine Entschuldigung für mein Fehlen beziehungsweise mein schnelles Verschwinden liefern musste. So viel zum Thema ‚normal weiterlaufen‘. „Was sag ich denn Hastings?“ Carly sah mich erschrocken an. „Nun ja, vielleicht die Wahrheit?!“ „Dann fragt er doch bei Taylors Vater nach und ich glaube, der weiß nichts davon. Dann wird er meinen Vater hinschicken und dem hab ich auch nichts gesagt…“ „Und einfach nur sagen, dass du einem Freund helfen musstest, wird ihm nicht reichen.“ Wir liefen jetzt ins Schulgebäude, denn langsam wurde es doch etwas unangenehm im Regen. Als wir im Flur standen, schüttelte ich meine Haare etwas durch und strich mir ein paar Strähnen aus der Stirn. „Ich habe nur leider keine Zeit mehr, mir noch etwas anderes zu überlegen. Wir haben jetzt mit ihm.“ „Meistens kommen einem die besten Ideen, wenn man es spontan auf sich zukommen lässt.“ Sie lächelte entschuldigend. „Mir wird auch gar nichts anderes übrig bleiben.“ Es war zum Verzweifeln. Gerade, als ich dachte, dass sich das schlimmste Thema soeben erledigt hatte, tauchte auch schon ein Neues auf. Wir traten in den Klassenraum. „Ms. Connor?! Ich höre…“ So war er schon immer. Präzise, auf den Punkt. Aber musste es vor der ganzen Klasse sein? Ich begann meinen Mund zu öffnen, aber ich schloss ihn wieder. Was nur sollte ich tun? Die Tür zum Klassenraum öffnete sich erneut und Mr. Hastings wurde kurz abgelenkt. „Mr. Wood! Beehren Sie uns also auch noch?!“ In diesem Moment wusste ich nicht, was größer war. Der Schock, die Verwirrung oder die Überraschung. Das konnte nicht sein. Sicher sprach er jetzt gerade mit Sean, der mir nicht gesagt hatte, dass er als Dozent an unsere Schule kam. Eine andere Erklärung wäre gar nicht möglich gewesen, denn Taylor lag zu Hause. Ja, zu Hause, um seine Wunde nicht wieder aufzureißen. Um sich zu schonen und zu erholen. „Entschuldigen Sie, der Regen hat mich auf dem Motorrad überrascht.“ „Setzen Sie sich. …Also, Ms. Connor, ich warte!“ Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, dass Taylor völlig normal ging. Keine Schmerzen, er krümmte seinen Rücken nicht einmal ein bisschen. Was war los? Sollte das alles ein makaberer Scherz sein? Mein Blick huschte kurz zu Carly, genau darauf bedacht nicht zu dem Jungen zu sehen, der mich mit seiner Anwesenheit fast in den Wahnsinn trieb. Sie war genauso fassungslos wie ich. Ich blickte zu Hastings hoch, öffnete den Mund und konnte selbst kaum glauben, dass ich es aussprach: „Steht Ihr Angebot von vorgestern noch?“ Heute kann ich nicht mehr sagen, wer von uns beiden überraschter war. Aber der Mann mit dem schütteren Haar sah mich an, als wäre ich ein Engel. Er riss die Augen auf und…ich konnte es selbst kaum glauben…er lächelte. Fröhlich, nicht so wie sonst schadenfroh. „Sie nehmen also an?“ ‚Du kannst jetzt noch zurück und dir eine andere Geschichte einfallen lassen‘, schrie es in mir. ‚Sei nicht dumm, denk dir was anderes aus.‘ „Ähm…ja?“ „Oh, ich wusste, Sie würden es sich noch anders überlegen. Setzen Sie sich Ms. Connor. Bis morgen werde ich Ihnen die neuen Bücher besorgt haben. Ich kläre alles ab, keine Sorge.“ Wie betäubt ging ich zu meinem Platz. ‚Wie kann man nur so dumm sein‘, brüllte ich mich innerlich an. ‚Das hast du nun davon.‘ Ich sah niemanden in der Klasse an. Erst als ich saß, wandte ich meinen Kopf zur Seite, um Carly anzublicken. Sie verstand die Welt nicht mehr und runzelte die Stirn. „Was ist passiert?“ „Ich habe soeben eingewilligt, in den Leistungskurs Mathe zu wechseln.“ Sie starrte mich mit offenem Mund an und nahm dann einfach nur meine Hand, um mich zu trösten.

Es sprach sich wie ein Lauffeuer in meinem Freundeskreis herum. Bald darauf wusste es die ganze Schule. Ständig wurde ich mit Fragen bombardiert, wie ich zu so etwas auch noch Ja sagen konnte. Wie lange ich diese Idee schon hatte, was ich mir davon versprach? Ich hörte keinem von ihnen zu. Warum die gleich annahmen, dass es von Anfang an meine Idee gewesen war, in diesen Kurs zu gehen, war mir im Nachhinein ein Rätsel, aber ich konnte mich darum jetzt nicht kümmern. Mir bereitete es viel mehr Kopfzerbrechen, warum zum Teufel, Taylor Wood in der Schule war. Den ganzen Tag verhielt er sich völlig normal, so als wäre er nie verletzt gewesen. Selbst als ihn Farrah bedrängte und ich kurz davor war, sie von ihm weg zu schubsen, weil sie sich immer wieder an die Seite lehnte, die verletzt war, verzog er nicht mal das Gesicht. Da konnte doch irgendetwas nicht stimmen. Und ich hatte mir das gewiss nicht eingebildet. Ich sah noch immer die Verletzung vor mir, wenn ich die Augen schloss oder war das am Ende doch ein total makaberer Scherz der Wood-Brüder? Aber wer bitte ist so grausam zu Menschen, die sich zuvor noch Sorgen um jemanden gemacht haben? Und den Blutgeruch hatte ich mir doch auch nicht eingebildet. Hier lief etwas ganz furchtbar falsch.

 

Kurz vor Ende der Mittagspause hatte ich die Mädels in der Cafeteria sitzen lassen und war zu meinem Schließfach gegangen, um meine Bücher zu holen. Meine Haare waren noch immer nass und hatten ein Eigenleben entwickelt. Ich ordnete sie, machte mir einen provisorischen Knoten ins Haar, schnappte mir die Bücher und klappte die Tür des Schließfaches zu. Mir entfuhr ein leiser Aufschrei. Mit der einen Hand umklammerte ich die Bücher und die andere lag über meiner Brust, um mein Herz zu beruhigen. „Meine Güte, hast du mich erschreckt.“ „Entschuldige“, sagte er, aber seine Miene verriet nicht, ob er es ehrlich meinte. „Kann ich dir irgendwie behilflich sein, Taylor?“ Ich umfasste jetzt mit den Armen die Wälzer und drückte sie fest an mich. Ein geringer Schutz, wenn ich daran dachte, was er für Kräfte haben musste. ‚Oh, Lilly, du wolltest es doch leugnen.‘ Innerlich schlug ich mir selbst gegen den Hinterkopf und blickte zu ihm auf. Er lehnte lässig an der Wand mit den Schließfächern und ich hörte ihn leise atmen. Sein Blick huschte für einen kleinen Moment über die Bücher und meine Hände und ganz kurz entstand eine Falte zwischen seinen Augenbrauen, die ich mir nicht erklären konnte. Dann sah er mir wieder ernst in die Augen. „Ich hab gehört, du hast mit Sean gesprochen heute Morgen…“ „Du nicht auch noch, bitte!“ Ich seufzte leise. „Und was willst du mir zu diesem Thema noch sagen, was dein Bruder nicht schon gesagt hat?“ „Eigentlich wollte ich nur wissen, ob es dir gut geht?!“ Ich biss mir leicht auf die Unterlippe und sagte dann verlegen: „Ich zweifle noch ein bisschen an meinem Geisteszustand, aber ansonsten ist alles okay.“ Damit hatte ich nicht gerechnet. War das wirklich Taylor, der da vor mir stand? Der, der mich so finster angeblickt hatte, als wir uns beim Volleyball gegenüber standen? Der, der mich gestern anfangs nicht an seine Wunden lassen wollte? Der, dessen Augen mich gerade in seinen Bann zogen? „An deinem Geisteszustand, wieso?“ Ich war zurück in der Wirklichkeit. Er klang nicht belustigt, nahm mich also ernst. „Warum bist du heute schon wieder in der Schule? Deine Wunde war…das war furchtbar. Versteh mich nicht falsch, es ist natürlich toll, dass du keine Schmerzen mehr hast und so, aber…“ Er beugte sich ein kleines Stück zu mir hinunter und wisperte: „Du hast dich fürs Leugnen entschieden!“ Mehr nicht. Der Duft seines Aftershaves umhüllte mich leicht und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich mich immer mehr zu ihm beugte. So als wolle ich den Duft für mich ganz allein. Als wolle ich ihn tief in mich aufsaugen, um ihn für den Rest meines Lebens tief in mir zu bewahren. „Ich verstehe.“ Er schien die Enttäuschung, die in meiner Stimme schwang, herauszuhören. Sein rechter Mundwinkel zuckte, aber es ging so schnell, dass ich mir nicht sicher war. Taylor legte seinen Kopf schief und blickte kurz den Flur runter. „Danke“, flüsterte er und ich lächelte kurz. „Das sagtest du doch gestern schon.“ „Ich weiß, aber ich war…anfangs nicht sehr nett zu dir. Und das hätte nicht jeder getan.“ „Du warst verletzt und ich hab gern geholfen. Es freut mich jedenfalls, dass es dir jetzt wieder besser geht.“ ‚Auf wundersame Weise‘, dachte ich und versuchte eine Antwort in seinen Augen zu finden, aber da war einfach nichts. ‚Du wolltest es abstreiten. Willst du es wieder zurücknehmen, nur um zu erfahren, warum er heute schon wieder lässig durch den Flur wandert?‘ ‚Ja‘, schrie es in mir, doch ich ignorierte die Stimme, die mich zu ihm drängte. Die mich aufforderte, ihn näher kennen zu lernen. Die mich anflehte, ihn nie wieder fortzulassen. Ich strich mir über den Kopf und sagte dann leise: „Ich werde dann mal zum Klassenraum gehen. Klingelt bestimmt gleich.“ „Ja, ich muss auch wieder.“ Er stieß sich mit der Schulter von der Wand ab und nickte zum Abschied. Ich sah ihm nach, bis er hinter einer Ecke verschwand. Als er weg war und es zum Ende der Mittagspause klingelte, merkte ich erst wie butterweich meine Knie sich anfühlten. Die ersten paar Schritte waren merkwürdig, aber ich atmete tief durch und ging dann mit den Mädels zur nächsten Stunde. Ich erzählte keiner von ihnen, auch nicht Carly, was eben passiert war. Und das war, wie ich feststellen musste, noch nie geschehen.

 

Endlich hatten wir das Wochenende erreicht. Ich war noch nie so froh gewesen. Mein Vater hatte sich mit ein paar Freunden in die Natur begeben und war fischen. Ich hatte also das ganze Haus für mich. Kurz nachdem ich aufgestanden war und kontrolliert hatte, ob mein Vater bereits gefahren war, wusste ich jedoch nichts mit mir anzufangen. Carly und ihre Eltern waren mit Kelly zu Verwandten gefahren. Mia und Elli waren wegen des Gipses auch nicht in der Lage etwas zu unternehmen und auf die anderen Mädels hatte ich keine Lust. Die waren immer so begeistert vom Shoppen und anderem ‚Mädchenkram‘. Nicht, dass ich mir nicht gern neue Klamotten kaufte oder einfach einen Wellness-Tag veranstaltete, aber dieses Wochenende musste doch noch etwas anderes für mich bereit halten. Mein Vater hatte gesagt, dass ich nicht zu nah an die Wälder im Osten der Stadt gehen sollte, da dort die Wölfe herumschlichen. Sie hatten sich wohl dort einquartiert. Was merkwürdig war, denn das Haus der Woods befand sich auf der westlichen Seite des kleinen Städtchens. Es hatten sich also noch mehr Wölfe hierher begeben. Ich wusste, dass ich so etwas gar nicht denken durfte, denn ich wollte ja nicht zugeben, was ich vor ein paar Tagen in unserem Garten gesehen hatte, aber ich machte mir immer wieder solche Gedanken und irgendwie ließ es mich nicht los. Taylor hatte die letzten Tage vor dem Wochenende noch nicht mit Carly gesprochen. Jedes Mal hatte ich darauf gewartet, dass sie nach einer Stunde, die wir nicht gemeinsam hatten, auf mich zulief und es mir in jeder Einzelheit erzählte. Doch es geschah nicht. Eine leise Hoffnung keimte in mir auf, aber ich verbannte den Gedanken jeden Tag aufs Neue. Eigentlich hatte ich mir geschworen am Wochenende nicht an ihn zu denken, aber ich tat es. Und ich hatte das Gefühl, dass es mir gefiel. Ja, und wie. Immer wenn ich ihn mir vorstellte, war da dieses rasende Herzklopfen und die stoßweise Atmung. Ich bekam weiche Knie, tat vor den anderen Mädels aber immer so, als würde es mich nicht interessieren, wenn sie wieder darüber rätselten, wie muskulös er war. Schließlich kannte ich ja seine Bauchmuskeln.

Nachdem ich gefrühstückt hatte, erledigte ich den Abwasch, schnappte mir meine Tasche, den vorbereiteten Einkaufszettel und schritt die blühende Allee hinunter zum Supermarkt. Die Sonnenstrahlen taten mir gut und ich hielt mein Gesicht in dieses wunderbare Licht. Es war mir egal, wie viel Zeit ich dadurch vertrödelte, schließlich hetzte mich ja keiner beziehungsweise wartete niemand. Es war nicht voll bei Mr. Darren und ich hatte schnell alles, was ich wollte. „Einen wunderschönen Tag wünsche ich noch…“ „Ebenso, meine Liebe“, antwortete er mir, als ich den Laden verließ und sah mir erstaunt nach. Das konnte ich spüren, aber es war so wundervoll in die Sonne zu kommen, dass ich mir nichts anmerken ließ. Ein paar Meter vor unserem Haus jedoch erstarrte ich. Ich dachte nicht, dass ich das je wieder spüren würde, aber da war es. Dieses beklemmende Gefühl in der Lunge und diese Last auf den Schultern. Ich glaubte, dass mich Jemand oder Etwas beobachtete und konnte mir geradezu vorstellen, wie schwarze böse Augen mich anstarrten. Es war so albern von mir gleich an etwas Böses zu denken, aber nur das konnte es bedeuten, dass ich fast ohnmächtig wurde, weil mir die Luft aus der Lunge entwich. So als hätte ich vergessen, wie man einatmete. Wie durch einen dicken wabernden Nebel drang das Geräusch eines Motorrades an meine Ohren und ich hoffte inständig, dass mir irgendjemand half. Wie durch ein Wunder hielt die Maschine direkt neben dem Bordstein an meiner linken Seite und eine Hand fasste mich an der Schulter und drehte mich zu sich. Urplötzlich schnappte ich nach Luft und das brachte meinen Brustkorb fast zum Bersten. „Lilly, ist alles in Ordnung? Geht es dir gut? Was ist denn passiert?“ Es war Taylor und noch nie in meinem Leben war ich ihm dankbarer gewesen. Ganz sachte nickte ich, konnte ihn aber dennoch nicht ansehen. Meine Lippen waren leicht geöffnet und mein Brustkorb hob und senkte sich heftig bei jedem weiteren befreienden Atemzug. Endlich blickte ich zu ihm auf, doch er beobachtete das kleine Waldstück hinter mir. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich vor einigen Tagen selbst genau hier stehen geblieben war, um dem Knacken zu lauschen. Anscheinend war er zum gleichen Ergebnis wie ich damals gekommen, dass es wohl nichts gewesen zu sein schien. Jetzt sah er mich forschend an. Ich hatte mich langsam wieder unter Kontrolle und richtete mich auf. Unbewusst war ich in mir zusammen gesunken. „Geht es wieder?“ Ich nickte zaghaft und fragte: „Was zur Hölle war das?“ Noch immer lag seine Hand auf meiner Schulter und ich glaubte, dass mir gleich auch noch die Knie wegknicken würden. Sein Unterkiefer spannte sich an und er antwortete ernst: „Ich habe keine Ahnung, aber ich wünschte, ich wüsste es.“ Er bemerkte meinen fragenden Ausdruck und tat so, als könnte es auch gar nichts Gefährliches sein. Doch ich wusste tief in mir, dass es doch so etwas in der Art sein musste. Und ich wusste auch, dass er es mir selbst dann nicht erzählen würde, wenn ich ihn direkt danach fragte. „Hattest du hier in der Gegend was zu tun?“ Ich umfasste den Einkaufsbeutel fester und wandte mich zu unserem Haus um. Taylor ahnte, was ich vorhatte, hob sein Motorrad auf - das er nicht einmal aufgebockt hatte - und schritt neben mir her. „Ich wollte einfach mal die Straßen abfahren. Ich hab noch nicht viel von der Stadt gesehen und da mein Vater jetzt hier ist, wollte ich kurz aus dem Haus kommen.“ Mein Gefühl sagte mir, dass das nicht der einzige Grund war, aber er wollte mir nicht mehr erzählen und ich fragte nicht weiter. „Ihr habt die Woche noch ohne euren Vater hier gewohnt?“ „Er musste sich noch um die letzten Formalitäten in unserem alten Haus kümmern. Deshalb waren auch noch nicht viele Möbel drin als du am Dienstag da warst.“ „Ich habe mich nicht umgesehen damals, ist mir nicht aufgefallen.“ „Aha.“ Aus den Augenwinkeln sah ich, dass er kurz lächelte. In unserer Auffahrt bockte er sein Motorrad dann auf und nahm mir den Einkaufsbeutel ohne ein weiteres Wort ab. Ich war ihm dankbar, denn als ich die wenigen Stufen zur Veranda hinauf ging, um die Tür zu öffnen, tat meine Lunge noch ein wenig weh. Er schob mich sanft in die Haustür, ehe ich ihm die Sachen abnehmen konnte und folgte mir langsam in die Küche. Erst dort stellte er die Tüte auf der Theke ab. „Danke, nicht nur für das Reintragen.“ „Keine Ursache.“ Während ich mich daran machte, den Einkauf in die vorgesehenen Schränke zu packen, ließ er sich auf einen der Stühle sinken. „Ein wirklich chices Haus…“ „Meine Mutter hat es damals ausfindig gemacht und sich sofort darin verliebt. Ich verstehe sie noch immer.“ „Ist sie das?“ Sein Finger deutete auf ein Bild an der Wand im Flur. Es zeigte eine blonde wunderschöne Frau, mit kristallklaren blauen Augen und einem Mund, der einem kleinen Schmetterling ähnelte. Die Augen hatte ich von ihr. Mein Haar ähnelte ihrem, aber die Farbe ihres war ein paar Nuancen heller. Ich nickte nur und allein mein Blick schien zu verraten, was geschehen war. „Tut mir leid, ich wollte nicht…“ „Nein, ist schon in Ordnung. Es ist über fünf Jahre her, aber sie fehlt mir wahnsinnig.“ Ich seufzte kurz, ließ mich auf den anderen Stuhl sinken und betrachtete meine Finger. „Sie war Krankenschwester. Eine Wundervolle, sollte ich dazu sagen. Als sie damals mit dem Auto, aus mir noch heute unerklärlichen Gründen, von der Straße abkam, war sie gerade auf dem Rückweg von der Arbeit. Sie hat in dem großen Krankenhaus, hinten an der 69ten gearbeitet und eigentlich gibt es da keine sonderlich schwierigen Kurven, aber…“ Ich schüttelte leicht den Kopf und fuhr fort: „Mein Vater wurde gerufen, um als Erster am Unfallort Hilfe zu leisten. Es war ein Schock für ihn, als er feststellte, dass sie es war und er ihr nicht mehr helfen konnte. Für uns beide war es nicht einfach, aber“, ich wandte meinen Blick zum Foto, „wir sind ein eingespieltes Team und ich bin für jeden Tag mit ihm dankbar.“ Taylor blickte mich an und ich schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln. „So, genug Trübsal geblasen!“ Während ich die leere Tüte wegpackte, richtete er sich auf. „Ich werde mal wieder, schließlich hab ich dich lange genug aufgehalten.“ „Hast du ganz und gar nicht. Wirklich nicht. Wärst du nicht vorbei gekommen, wüsste ich jetzt immer noch nichts mit mir anzufangen.“ „Ach komm, so schlimm kann es doch nicht sein?!“ Ich zog meine Schultern wortlos nach oben, während ich ihn zur Tür begleitete. „Mein Vater kommt irgendwann heute Nacht vom Angeln zurück, Carly ist das Wochenende über bei Verwandten und die anderen Mädels, na ja…Zwei sind in Gips und die anderen tun Dinge, die ich nicht so wirklich amüsant finde. Ich werde also das Haus auf Vordermann bringen…“ „Ich werde Möbel schleppen müssen, ist auch nicht gerade lustig, aber es muss gemacht werden. Wir sind ja nur zu dritt.“ „Ja, klingt für uns doch nach einem spaßigen Wochenende.“ „Tut es! Wir sehen uns dann am Montag.“ Er hob kurz die Hand und wandte sich zu seinem Motorrad um. „Bis Montag und danke noch mal…für vorhin!“ „Ich sagte doch, keine Ursache.“ Taylor startete seine Maschine und fuhr dann die Straße wieder runter, Richtung des Wood-Hauses.

Nachdem die Waschmaschine befüllt und angestellt war, ging ich hoch in mein Zimmer und stellte Musik an. Dann krempelte ich die Ärmel hoch und reinigte einmal das obere Stockwerk gründlich durch. Ich war so gegen halb Drei damit fertig und hatte gerade die Wäsche zum Trocknen aufgehängt, als mir wieder das furchtbare Gefühl in den Sinn kam, dass ich vorhin auf dem Nachhauseweg gespürt hatte. Dieses Beobachtet werden und die Schmerzen in der Lunge waren einfach zu oft vorgefallen, als das es mir jetzt noch wie ein Zufall vorkam. Ich konnte das nicht länger ignorieren… Wie von Sinnen schnappte ich mir die Hausschlüssel und zog mir festere Schuhe an. Dann trat ich aus der Hintertür in den Garten und machte mich weiter auf den Weg in den angrenzenden Wald. Was immer es gewesen war, ich würde es herausfinden. Egal, was auch auf mich zukommen würde.

 

Ich war jetzt bereits eine Stunde unterwegs und achtete darauf, die Richtung nicht zu östlich einzuschlagen. Schön und gut, dass ich herausfinden wollte, was es gewesen war, aber ich musste nicht direkt den Wölfen in die Arme laufen. ‚Lächerlich‘, dachte ich, ‚du hattest schon Wölfe im Haus und lebst noch.‘ Mit jedem weiteren Schritt wurde mir klar, dass ich es gar nicht mehr leugnen wollte. Oh ja, ich wusste es. Taylor auf jeden Fall und wahrscheinlich sein Vater und Bruder ebenso, waren Wölfe. So, jetzt war es raus. Mein Mitschüler war ein großes Raubtier. Ein wunderschönes aber gefährliches Raubtier, das mich mit einem Hieb töten könnte, wenn es nur Lust dazu hätte. Ich hoffte inständig, dass es niemals dazu kam.

 

Dann plötzlich stand ich auf einer der schönsten Lichtungen, die ich je gesehen hatte. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass es so etwas Wundervolles hier in der Nähe gab. Weiches, grünes Moos überwucherte den Boden und die Baumstämme. Eichen, Kiefern, Tannen und Buchen wuchsen dicht an dicht nebeneinander. Warme zarte Sonnenstrahlen brachen durch die Blätter und ich wandte meinen Blick gen Himmel. Die weißen Wolken zogen kaum merklich darüber hinfort und die Vögel zwitscherten vergnüglich vor sich hin. Irgendetwas hatte mich hierher gezogen. Es war erstaunlich, mit welcher Klarheit ich das plötzlich wusste. Nicht ein Windhauch war zu spüren, als es plötzlich zwischen den Bäumen vor mir knackte. Ich wandte mein Gesicht der Stelle zu, von der ich das Geräusch vermutete und kniff die Augen ein Stück zusammen. Eine ganze Weile war weder etwas zu hören noch zu sehen, aber dann war da dieses merkwürdige Knurren. Innerlich betete ich zum Himmel, dass es sich nur um einen Hund aus der Stadt handelte, der aus einem der Gärten ausgebüchst war, aber ich erkannte schnell, dass es das nicht war. Eine schwarze riesige Pfote erschien im Sonnenlicht und es folgte eine noch dunklere Schnauze mit gefletschten Zähnen. Mich trennten nur fünf Meter von diesem monströsen Wolf und seinen scharfen Klauen, aber ich wagte nicht mich zu bewegen. Ich wusste, dass es sowieso keinen Sinn hatte, denn er würde sowohl schneller als auch stärker sein und ich hatte nicht die geringste Chance zum sicheren Haus zu flüchten. Seine schwarzen Augen beobachteten mich und ein Schrei blieb in meiner Kehle stecken. Wer sollte mich auch hören? Ich war zu weit entfernt von den Wanderwegen und selbst wenn, hätte ich niemand anderen da hinein ziehen wollen. Es würde reichen, wenn ich einem Wolf zum Opfer fiel. Langsam kam er auf mich zu und ich spürte, wie die Angst meine Beine zum Zittern brachte und ich heftig zu atmen begann. Erst jetzt hörte ich diese vollkommene Stille, in der wir uns befanden. Es war als ständen wir im Auge eines Sturms. Die Vögel waren verschwunden. Er verringerte den Abstand zwischen uns auf drei Meter und blieb dann stehen. Ich war mir nicht sicher, ob er überlegte, wie er mich am ehesten fressen wollte oder ob er darauf wartete, dass ich vor ihm floh, um ihm noch mehr Appetit zu machen. Aber ich wusste irgendwie, dass ich mich nicht rühren sollte. Abgesehen davon, hätte ich es sowieso nicht gekonnt. Er schien das zu ahnen und schlich langsam weiter. Es waren jetzt nur noch zwei Meter und er zog den Kopf tief zwischen seine Schultern. Obwohl ich panische Angst vor ihm hatte, bewunderte ich seine Beschaffenheit. Er war fast so schön wie Taylor, als der nachts in unserem Garten aufgetaucht war. Das schwarze Fell glänzte in der Sonne und die Ohren zuckten zu den Seiten, um jedes störende Geräusch sofort orten zu können. Seine Augen behielten mich fest im Blick und der Schwanz wippte leicht hin und her. Der schwarze Wolf knickte seine Vorderbeine ein Stück ein, um zum Sprung anzusetzen und ich zog scharf die Luft ein, als wir beide das Knurren hinter mir hörten. Es klang noch beängstigender als das des Wolfes vor mir. Jetzt würden sich also gleich Zwei um ihre Mahlzeit streiten…

 

Ich wagte es nicht, meinen Blick von dem Tier vor mir zu nehmen. Wenn ich eben von hinten zuerst angegriffen werden würde, war das nicht zu ändern. Und um ehrlich zu sein, machte mir das Knurren hinter mir nur halb so viel Angst. Es klang gefährlich, keine Frage und dennoch beruhigte es mich auf eine Art und Weise, die mir unvorstellbar erschien. So als würde es sagen wollen: Wenn du dich bewegst, kann ich dich nicht vor ihm beschützen. Bleib, bitte, ruhig! Ich traute mich nicht zu hoffen, dass es sich um den Jungen handelte, der mich schon einmal beschützt hatte. Die Enttäuschung wäre zu schmerzhaft gewesen und doch schlug mir das Herz bis zum Hals. Wenn er es nun doch war…? Das schwarze wilde Tier vor mir starrte nun das an, welches sich hinter mir befand. In seinen Augen war zu erkennen, dass er wankte. Vielleicht überlegte er gerade, wie viel Zeit ihm blieb, mich tödlich zu verletzen, um nicht ohne Fressen vertrieben zu werden. Oder aber, er fürchtete seinen Gegner mehr, als mir lieb war. Möglicherweise täuschte ich mich doch und es war ein Wolf, der ebenso plante mich zu verspeisen, wie der vor mir. Der Hunger schien größer zu sein, als die Angst und das schwarze Tier duckte sich zum Sprung. Langsam schloss ich die Augen und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Es tat mir so leid, dass ich meinem Vater keine Nachricht hinterlassen hatte, wo ich hingegangen war. Ich hatte mich heute Morgen noch nicht einmal von ihm verabschiedet. Aber ich war mit niemandem im Streit auseinander gegangen und ich wusste, dass mein Vater nach ein wenig Trauerzeit seinen Weg gehen würde. Er war stark und hatte genug Freunde, die ihm beistehen würden. Ja, ich war bereit. ‚Ich bereue nichts, dass ich in meinem Leben getan habe, wenn er mich jetzt wirklich töten will‘, dachte ich und sah ihm fest in die Augen. Seine Pupillen waren stark erweitert. Nur ein schmaler Rand der schwarzen Iris war noch erkennbar. Der Wolf schüttelte seinen Kopf, so als könne er irgendetwas nicht ganz glauben, legte ihn dann schief. Und dann schob sich ein breitschultriger junger Mann an mir vorbei und versperrte dem Tier die Sicht auf mich. Er spannte Muskeln und Sehnen an und ein Angst einflößendes Knurren entsprang seiner Kehle.

 

„Verschwinde, du hast hier nichts zu suchen“, wisperte er bedrohlich, „Das hier ist unser Gebiet, also gehört sie uns.“ Ich zuckte kaum merklich zusammen und hoffte sehr, dass er das nur sagte, um den Anderen zu vertreiben. Der Wolf fletschte die Zähne weiter und fauchte wild. Instinktiv drückte ich mich an Taylors Rücken und spürte, sogar durch sein schwarzes T-Shirt hindurch, die beruhigende Wärme, die von ihm ausging. Erst dadurch fiel mir wieder ein, wie warm Sean an dem Abend gewesen war, als er mich von Henrys Billardhalle nach Hause brachte. Damals hatte ich gedacht, es läge daran, wie erschöpft ich war, dass mir alle Anderen viel wärmer vorkamen, aber das schien bei Wölfen so üblich zu sein. ‚Dann hatte Taylor also auch kein Fieber gehabt, als ich ihn behandelte‘, dachte ich. Ich kam mir so dumm vor. Alles war so offensichtlich gewesen und ich hatte nichts begriffen. Erneut fauchte und knurrte der Wolf, doch Taylor zuckte nicht einmal mit der Wimper und wisperte: „Ich werde nicht vor dir zurückweichen. Such dir gefälligst so wie die anderen dein Fressen. Es gibt genug kleine Tiere in den Wäldern!“ Sie starrten einander an und das Raubtier fletschte wieder die Zähne. „Ich sagte, sie gehört UNS!“ Das Brüllen hallte von den Bäumen wider und als es verebbte, warf der Wolf ihm einen Blick zu, der sagte: ‚Ich werde sie mir holen, früher oder später!‘ Erschöpft und ängstlich lehnte ich meine Stirn an Taylors Rücken und schloss die Augen. Ich wusste genau, dass er es wahr machen würde. In diesem Blick lag so viel Zuversicht, so viel Zorn, dass es unmöglich war, etwas anderes anzunehmen. Dann plötzlich spürte ich eine warme Hand auf meinem Rücken. Taylor hatte einen Arm nach hinten geschlungen und drückte mich seitwärts, um mich noch ein wenig mehr abzuschirmen. Doch fürs Erste wandte sein Gegenüber sich von uns ab und verschwand im Schatten der Bäume. Einige Momente lang verharrte Taylor in seiner Position und lauschte auf die Geräusche rings um uns. Mir war bis jetzt gar nicht aufgefallen, dass ich wie Espenlaub zitterte. Erst als sich Taylor zu mir umdrehte und mich in seine Arme zog, spürte ich all die Angst, die sich in mir aufgestaut hatte. „Es ist alles in Ordnung, er ist weg…“ Sein Griff wurde fester und ich konnte gar nicht glauben, wie sehr ich es genoss. Ganz leise schluchzte ich ein Mal und blickte dann zu ihm auf. „Leugnen ist wohl zwecklos“, wisperte ich und drückte mich wieder an ihn. „Lass uns von hier verschwinden…“

 

Zuerst dachte ich, er würde mich nach Hause bringen, doch er hatte wohl gespürt, dass ich jetzt nicht alleine bleiben wollte bzw. konnte. Kurzerhand hatte er mich auf seine Maschine gesetzt, mir den zweiten Helm übergestülpt und war mit mir zu sich heim gefahren. Während der Fahrt musste ich mich an ihm festhalten und war geschockt, wie sehr es mir gefiel, die sich anspannenden Muskeln an seinem Bauch zu fühlen. Ein gewaltiger Umzugswagen stand vor dem Haus der Woods und Sean und sein Vater schleppten gerade einen Schrank hinein. Als beide wieder herauskamen, sah ich die Ähnlichkeit der Wood-Männer. Alle drei waren sie groß und braungebrannt. Sie schienen aus einer Gegend zu kommen, wo die Sonne häufig schien. Beneidenswert, dachte ich und ging schüchtern zu Taylors Vater, der sich, nach einem kurzen fragenden Blick zu seinem jüngsten Sohn, lächelnd vorstellte. „Kenneth Wood. Freut mich, dich kennen zu lernen, …“ „Lillian Connor, aber Lilly reicht vollkommen. Mich freut es ebenso, Sir. Hallo, Sean.“ Der nickte mir lächelnd zu und nahm dann einen kräftigen Schluck aus einer Wasserflasche. Mr. Wood hatte dunkelgrüne Augen, dunkler noch als Sean und braunes Haar. Also hatten seine Söhne die schwarzen Haare von ihrer Mutter geerbt. „Was führt dich in unser bescheidenes Heim?“, fragte Kenneth und ich blickte ihm in die Augen. Es war Taylor, der mir zu Hilfe kam. „Sie ist allein zu Hause und ehe ihr die Decke auf den Kopf fällt, dachte ich, bringe ich sie mit.“ Die beiden mussten in seinem Blick eine Menge gelesen haben und schauten mich erstaunt an. „Wenn Sie also Hilfe benötigen, ich stehe gern zur Verfügung.“ Ich war Taylor wahnsinnig dankbar, dass er nichts von dem Vorfall erwähnt hatte und schob bereits die Ärmel hoch. Kenneth lächelte leicht und meinte dann: „Das freut mich aufrichtig, aber denk nicht, du bist nur dann gern gesehen, wenn es um den Einzug geht…“ „Danke. Wirklich nett von Ihnen.“ Alle drei vermittelten mir das Gefühl, dass ich hier willkommen war und ich lenkte mich sofort von den Vorkommnissen im Wald ab, indem ich mir eine Kiste schnappte. Sie war beschriftet und so fand ich leicht ihren Bestimmungsort.

 

Es war ein beeindruckendes Haus, von innen wie außen. Obwohl es sich mitten im Wald befand, versprühte es einen Charme, der mich sofort ruhiger werden ließ. Und mal ehrlich, zwischen mindestens zwei Wölfen, musste ich mich vor dem einen Schwarzen dort draußen doch nicht fürchten. Von außen glich es einem alten Bauernhaus, an dessen Fassade sich wilder Wein und Hopfen heraufrankten. Innen waren dazu passende alte Bauernmöbel zu finden, aber auch neueres Mobiliar, wie zum Beispiel die Wohnzimmereinrichtung und die Küchenschränke. Vor den Fenstern waren die Bretter abgemacht worden, was mich sehr beruhigte und dennoch vermied ich es, das Zimmer zu betreten, wo ich Taylor blutüberströmt vorgefunden hatte. Der Abend neigte sich Neun Uhr zu und wir hatten alle Möbel und Kisten ins Haus geschafft. Sie würden noch eine Weile brauchen, bis sie sie geleert hatten, aber das Gröbste war erledigt. Gerade als sie sich auf die Couch gesetzt hatten, um eine Trinkpause zu machen, verschwand ich kurz ins Bad. Ich wusch mir das Gesicht und die Hände. Überprüfte die Frisur und entschloss mich dann, die Haare offen zu lassen. Da sich nur ein kleiner Flur zwischen dem Wohnzimmer und dem Gäste-WC befand, konnte ich, obwohl ich es wirklich nicht darauf anlegte, hören, worüber die Drei sprachen. „Dad, er kommt immer weiter in unser Gebiet. Ich weiß nicht, wie lange er sich von uns noch vertreiben lässt“, das war Taylor. „Was genau hat er gesagt?“, fragte ihn sein Vater und ich war überrascht diese Frage zu hören. Es war ein Wolf gewesen, wie hatte der etwas sagen können? Gefaucht und geknurrt hatte er, aber gesagt? „Er meinte, dass es nicht länger in unserer Hand liegen würde und er…“ Taylor unterbrach seinen Satz, um laut die Luft in seiner Lunge auszustoßen. „Er will SIE, Dad. Und ich konnte in seinen Augen erkennen, dass er es wahr machen wird. Wir können sie nicht ständig beschützen, aber ich lasse nicht zu, dass er sie sich holt.“ Jetzt wandte sich Sean an seinen Vater: „Er wird nicht der Einzige in der Gegend bleiben. Es werden mehr kommen und…du hast es doch auch gespürt. Sie alle werden merken, was für eine…, ich weiß nicht, ob ich es so nennen kann,…Kraft von ihr ausgeht.“ „Ja, da ist mehr als wir ahnen. Mehr als sie wahrscheinlich selbst ahnt“, wisperte Kenneth, während ich mein Gesicht fragend im Spiegel betrachtete. Dann fragte er: „Weiß sie über uns bescheid?“ Es klang, als wollte Sean gerade beginnen zu reden, doch Taylor schien ihn zu unterbrechen und ich konnte hören, wie er kurz schnaubte. Sollte wahrscheinlich ein kurzes Lachen sein. „Sie sagte vorhin, Leugnen ist wohl zwecklos.“ Sean brach in haltloses Gelächter aus und ich spürte, wie ich rot anlief. „Sie hat sich so vehement vor mir dagegen gewehrt, aber ich wusste, dass sie es nicht ewig abstreiten wird“, meinte er noch immer unter Lachen. „Sie weiß es also?!“ „Sagen wir mal, sie hat eine kleine Ahnung. Ich war etwas unvorsichtig an einem Abend…“ Es schien ihm peinlich zu sein, das ausgerechnet vor seinem Vater zugeben zu müssen. „Dann werden wir sie einweihen. Wenn sie es will!“ Ich versuchte so laut wie eben möglich, die Tür zum Bad aufzuschließen und trat gefasst über den Flur ins Wohnzimmer zurück. Sean grinste noch immer, nur Taylor und sein Vater schauten sich ernst über den Couchtisch hinweg an. „Ich möchte nicht unhöflich sein, aber wäre es vielleicht möglich, dass mich jemand nach Hause bringt? Es ist schon ziemlich spät und mein Vater wird bald vom Angeln kommen. Er weiß nicht, wo ich bin und ich will ihm keinen Herzinfarkt verpassen, wenn ich es vermeiden kann.“ Taylor stand schneller auf, als ich es erwartet hätte und auch Sean schien verblüfft über das Verhalten seines Bruders. Die beiden brachten uns zur Tür und ich drückte Sean zum Abschied und reichte Kenneth die Hand. „Du warst uns wirklich eine sehr große Hilfe, vielen Dank. Wenn du morgen wieder Lust hast vorbei zu schauen, dann ruf doch an und einer von uns holt dich ab.“ Er reichte mir einen Zettel mit der Telefonnummer des Hausanschlusses und lächelte auf mich hinunter. Meine Güte, die waren wirklich groß. „Ich habe gern geholfen und vielleicht komm ich auf das Angebot zurück, danke!“ Dann folgte ich Taylor die Treppe hinunter und er lotste mich zu einem schwarzen Ford, ehe ich zu seinem Motorrad abbog. „Um diese Uhrzeit wollen wir doch die Nachbarn nicht ärgern, oder?“ „Stimmt. Mrs. Dalloway würde wahrscheinlich sofort die Polizei rufen…“ Er blickte belustigt zu mir hinunter, als er mir - ganz der Gentleman - die Tür öffnete und ich einstieg. Als er neben mir am Steuer Platz nahm, sagte ich: „Das war kein Witz, Taylor. Die macht das wirklich. Sie hat mal die Polizei benachrichtigt, als ein paar Scheinwerfer eines Autos zu lange an waren. Die hätten wohl direkt in ihr Haus geleuchtet und sie konnte nicht schlafen.“ Sein Lächeln erstarb und er fuhr Richtung Straße. Ich winkte seiner Familie zum Abschied und er fragte: „Wie ist die Geschichte ausgegangen?“ „Leider kann man sie nicht ignorieren, deshalb ist die Polizei wirklich zu uns raus gefahren. Als sie eintrafen war Scott längst weg und mir war das Ganze natürlich ultrapeinlich, gerade weil mein Vater nicht gewusst hatte, dass ich an dem Abend weg war. So konnte ich es ihm und den netten Herrn von der Polizei, natürlich Freunde meines Vaters, erklären. Dabei war Scott nicht mal fünf Minuten in der Auffahrt stehen geblieben. Und mit diesem Tag war auch meine böse Zeit der Jugend vorbei, obwohl sie, wenn ich es recht bedenke, nie richtig begonnen hat. Ich war nie der Typ fürs heimlich wegschleichen und mit Jungs wild in einer dunklen Ecke rumknutschen.“ „Und wie lange ist deine kurze böse Phase jetzt vorbei?“ Er versuchte, nicht allzu interessiert zu klingen, das spürte ich, aber ich ließ es mir nicht anmerken. „Drei Jahre. Scott war damals 17 und hatte den Führerschein gleich mit 16 gemacht, um Mädchen aufzureißen. Heute lebt er mit seiner festen Freundin in einer kleinen Wohnung im Süden der Stadt. Sie ist schwanger und die beiden werden wohl demnächst heiraten.“ Ich blickte nach draußen in die Dunkelheit und sagte dann nach einer kurzen Pause: „Mich hat in den letzten drei Jahren nicht ein Junge an der Schule ernsthaft interessiert. Die meisten verfallen sowieso eher Farrah oder Carly.“ Weil ich ihn nicht ansah, konnte ich nur aus tiefstem Herzen hoffen, dass er herausgehört hatte, was ich damit eigentlich meinte. Er sagte nichts dazu, aber ich konnte sehen, dass er ganz leicht lächelte, als ich mich soweit unter Kontrolle hatte, um mich zu ihm umzudrehen. „Von wo seid ihr eigentlich hergezogen?“ ‚Ganz schlaue Frage, Lilly. Ehrlich. Willst du nicht noch mit ihm übers Wetter reden?‘ „Wundert mich, dass du das noch gar nicht von jemand anderem in der Stadt gehört hast…“ Erst da fiel mir wieder ein, was Holly aus der Drogerie erzählt hatte. „Es soll eine kleinere Stadt gewesen sein als unsere. Wenn du mich fragst unmöglich, aber ich lass mich da gern eines besseren belehren.“ „Wusste ich doch, dass über uns schon getratscht wird… Sagt dir die Stadt Kentwood in Louisiana was?“ „Nein, im Moment nichts.“ „Liegt ziemlich weit im Süden, deshalb war ich auch etwas geschockt, als mein Vater verkündete, dass wir in eine kleine Stadt im Norden ziehen, wo es öfter Regen als Sonne gibt.“ „Kulturschock, ja?“ „Nah dran zumindest. Trotzdem bin ich froh, dass wir von da weg sind. Irgendwann merkst du einfach, wenn die Leute dich nicht mehr da haben wollen. Sie waren von Anfang an ziemlich merkwürdig, aber nach dem Tod meiner Mutter vor acht Jahren, haben sie sich völlig von uns abgewandt. Sie war wohl das Einzige, was uns je mit ihnen verbunden hat.“ Ich sah ihn von der Seite an und wagte nicht zu fragen, was passiert war. Allein das traurige Glitzern in seinen Augen zu bemerken, war schlimm genug. Jetzt wandte er seinen Kopf zu mir um und sagte nur das eine Wort: „Raubtiere!“ Ganz kurz nur hoben sich seine Fingerknöchel weiß vom Lenkrad hervor und ich wisperte: „Oh, Taylor, das tut mir so wahnsinnig leid.“ „Das ist doch nicht deine Schuld. …Wir haben es gemacht wie du und dein Vater. Zusammengehalten und die Tage miteinander noch mehr geschätzt.“ Ich wollte ihm so gern sein Lächeln zurückbringen, aber da bemerkte ich schon, dass er in meine Straße fuhr und kurz darauf hielten wir vor dem Haus. Das Auto meines Vaters stand noch nicht in der Einfahrt und innerlich hüpfte mein Herz auf und ab. Gerade als ich mich abschnallte und mich von ihm verabschieden wollte, sah er mich an und meinte: „Ich bring dich noch zur Tür, wenn du erlaubst.“ „Okay.“ Wir stiegen gemeinsam aus und gingen wortlos nebeneinander den Weg zur Haustür. Während ich meinen Schlüssel hervorkramte - ich ließ mir dabei mehr Zeit als sonst -, schob er die Hände in die Taschen seiner Jeans. Ich schloss auf und stellte mich in den Hausflur. „Tja,…“, entwich es ihm und ich konnte ihm nur beipflichten. „Ja,…“ „Vielleicht kommst du ja morgen vorbei?“ „Ja, vielleicht. Wenn mein Vater nichts weiter vorhat. Er ist da ziemlich spontan.“ „Die Nummer hast du ja. Die Zeit ist uns eigentlich auch immer egal.“ „Ist gut.“ „Dann…werde ich mal wieder fahren.“ Taylor wandte sich um und ich berührte ihn an der Schulter. Nur ganz kurz sah ich dieses wundervolle Glänzen in seinen Augen, aber das reichte mir, um genug Mut zu fassen. Ich küsste ihn ganz sanft auf die Wange und flüsterte nahe seines Gesichtes: „Danke, für Alles!“ Dann trat ich in den Flur zurück und er verzog einen Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. Es sah zum Niederknien aus. „Hab ich sehr gern gemacht.“ ‚Gleich ist es soweit und ich werde ohnmächtig‘, dachte ich und umfasste mit einer Hand den Türgriff von innen, um mich abzustützen. „Schlaf gut!“ „Du auch, Lilly.“ Er wandte sich jetzt endgültig um und ich schloss die Tür hinter ihm. Mein Herz raste wie wild und ich glaubte, dass es im ganzen Haus zu hören sein musste. Wieder waren meine Knie butterweich und ich wusste, wo ich am nächsten Tag sein würde. Der Motor des Wagens wurde gestartet und ich lief überglücklich die Treppe hinauf. Am liebsten hätte ich vor Glück geschrien, aber ich wollte Mrs. Dalloway keinen Grund zur Benachrichtigung der Polizei geben.
 

Es war seit langem die erste Nacht, die ich ohne furchtbar beängstigende Träume verbrachte. Mitten in der Nacht kam mein Vater noch mal in mein Zimmer, aber ich war zu müde vom Kisten schleppen, und reagierte nicht auf ihn. Er schloss die Tür wieder und ich ließ mich endgültig in den Schlaf fallen.
 

Am nächsten Morgen stand ich mit meinem Vater um Acht Uhr auf. Während ich mich duschte und nur mit einem, fest um meinen Körper geschlungenen, Handtuch vor meinem Kleiderschrank stand, deckte er den Tisch. Egal, was er plante, ich würde wieder zu den Woods fahren. Nichts und niemand würde mich davon abhalten können. Ich zog mir ein weißes Tanktop und eine schwarze Röhrenjeans an und schlüpfte in meine lilafarbene Lieblingsfleecejacke. Im Wetterbericht hatten sie wieder Regen und heftigen Wind angekündigt und ich wollte auf alles gefasst sein. Als ich die Treppe hinunterstieg, schüttelte ich das noch leicht nasse Haar durch. Ein Hauch von meinem Lavendelshampoo umfing mich und mein Vater schnupperte mit seiner Nase in meine Richtung. „Du riechst wie deine Mutter.“ „Tatsächlich?“ Er lächelte fröhlich und traurig zugleich. „Ja, himmlisch. Komm, Frühstück ist fertig.“ Wir begannen zunächst still zu essen und tranken unseren Kaffee, dann setzte er an: „Und irgendwas vor heute?“ „Eventuell. Hast du denn was für uns geplant?“ „Nein, um ehrlich zu sein, kommen Steve, Murray und Doug vorbei, um mit mir das Spiel anzusehen.“ Ich hatte vergessen, dass wieder Baseball-Zeit war. „Da klink ich mich dann wohl eher aus.“ „Das habe ich mir gedacht. Aber, wenn du was mit mir machen willst. Ich weiß, dass Carly nicht da ist und…“ „Wer bin ich denn, dass ich dir das Spiel verbiete?! Wenn du nichts dagegen hast, leih ich mir dein Auto aus und fahr zu Freunden.“ „Zu welchen Freunden?“ Mein Blick musste mich verraten haben. So ein Mist, ich war für ihn schon immer ein offenes Buch gewesen. Er schien aber auch aufmerksamer als sonst, wenn ich mir sein Auto auslieh. „Fährst du zu einem Jungen?“ „Nun ja, es sind drei. Eher ein Mann und seine zwei Söhne. Kenneth Wood hat mich eingeladen.“ „Aha…“ Noch immer hielt ich seinem Blick stand. „Zum Essen eingeladen?“ „Nein, sie haben gestern die Möbel bekommen und ich habe meine Hilfe angeboten. Sie werden sicher noch nicht fertig sein und er meinte, dass ich herzlich willkommen bin. Natürlich nicht nur als Hilfe beim Einzug.“ „Natürlich nicht… Ist nicht einer von seinen Söhnen in deinem Alter?!“ „Ja, Taylor.“ Ich trank einen Schluck und erst dann fiel mir auf, was er damit meinte. „Oh, Dad. Ich fahre da nicht hin, um mich verkuppeln zu lassen und das hat Mr. Wood auch gewiss nicht vor.“ „Da fällt mir ein, wollte nicht einer von denen am Dienstag lang kommen?“ „Ja, aber das Thema hatte sich dann schon wieder erledigt.“ Er grummelte so etwas wie: „Na, die sind ja zuverlässig!“ Aber ich reagierte nicht. Er würde sie früh genug kennen lernen und merken, wie toll und nett sie alle waren. Wir frühstückten zu Ende und er schnitt das Thema nicht mehr an. Als wir das Geschirr weggestellt und den Tisch abgeräumt hatten, sagte er: „Denk an die Versammlung heute Abend.“ „Ja, Acht Uhr, wie immer.“ „Mhm!“ Ich ging nach oben, um meine Zähne zu putzen und meine Haare trocken zu föhnen. Als ich sie dann zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte und die Treppe hinunter gegangen war, schnappte ich mir den Hörer und wählte die Nummer der Woods. Es klingelte zwei Mal, dann hob jemand den Hörer ab. „Wood!? Sean am Apparat. …Mann, Taylor, verschwinde.“ Es klang, als würde sich jemand prügeln. Ich wusste nicht, was los war und brauchte ein paar Sekunden, um zu reagieren. „Ähm…hier ist Lilly. Hey.“ „Lilly…“, er zog meinen Namen so merkwürdig in die Länge und sagte dann: „Was kann ich für dich tun, Teuerste?“ „Ich wollte nur fragen, ob es okay ist, wenn ich jetzt von zu Hause los fahre und zu euch komme. Es geht aber auch später, wenn es jetzt nicht passt.“ Innerlich betete ich, dass er zusagte und kreuzte die Finger meiner freien Hand. „Du willst alleine fahren?“ Am anderen Ende wurde es still und er war plötzlich so ernst. „Ja, wieso nicht? Ich kriege das Auto von meinem Vater oder denkst du, ich habe noch keinen Führerschein? Ich kann dich beruhigen, mit Bravur bestanden.“ „Das glaube ich dir gern, aber es wäre uns schon lieber, wenn einer von uns dich abholt.“ „Wieso?“ „Kennst du den Weg gut genug?“ „Natürlich, ich war ja jetzt…“ Fast hätte ich gesagt, schon zwei Mal da, aber ich spürte die Blicke meines Vaters auf meinem Rücken und verstummte. „Meinetwegen… Würde mich dann, bitte, jemand abholen, sobald ihr Zeit habt?“ „Wie ich höre, ist mein lieber kleiner Bruder gerade eben leichtfüßig in sein Auto gesprungen. Er müsste in ein paar Minuten bei dir sein, so wie der fährt.“ „Ich höre doch nicht etwa Neid in deiner Stimme?“ Mein Herz wollte sich gerade selbst aus meiner Brust katapultieren und am liebsten wäre ich Taylor auf halbem Weg entgegengelaufen. Aber ich riss mich zusammen und krallte meine Hände um den Hörer. „Niemals… Schließlich bin ich älter ergo weiser als er. Und wir wissen beide, Lilly, das Weisheit viel anziehender ist, als Schnelligkeit.“ „In Kombination wäre es natürlich die perfekte Mischung.“ „Dann gefällt dir also unser Vater?“ „Oh nein, jetzt habe ich mich doch verraten. Wie konnte ich nur?“ Er lachte und es erinnerte mich an den gestrigen Abend, als er von Taylor erfahren hatte, dass ich nicht länger leugnen wollte, was sie waren. „Keine Angst, dein Geheimnis ist bei mir sicher.“ „Da bin ich aber erleichtert.“ „Ich denke, mein teurer kleiner Bruder wird jetzt gerade vor eurer Auffahrt halten, also bis gleich.“ Ich spähte kurz aus dem Küchenfenster und schluckte. Sean hatte vollkommen recht. Gerade fuhr der schwarze Ford vor und mein Vater erschien umgezogen hinter mir und folgte meinem Blick. „Bis gleich, Sean.“ Ehe mein Vater begriff, was geschah, legte ich den Hörer weg und schlüpfte an ihm vorbei zur Eingangstür. Es war beeindruckend, wie schnell Taylor hierher gekommen war. Eigentlich war das eine Autofahrt von einer Viertelstunde. Er musste tatsächlich gerast sein. Mit klopfendem Herzen öffnete ich die Tür und begrüßte ihn lächelnd. Während er die Treppen hinaufschritt, ließ ich ihn nicht aus den Augen. Er trug eine dunkelgraue verwaschene Jeans, einen schwarzen Pullover und darüber ein olive-weiß kariertes kurzärmeliges Hemd. Seine schwarzen Sneaker passten perfekt dazu. Auch er grinste jetzt, verringerte aber die Intensität als mein Vater sich dicht hinter mich stellte. Man konnte regelrecht spüren, wie viel er davon hielt, mich mit einem Jungen weggehen zu lassen. Alles in ihm sträubte sich dagegen und er brachte sich in eine abwehrende Position. Die Arme vor der Brust verschränkt und sich leicht schräg vor mich stellend, blickte er zu dem Jungen, der es wagte, mich aus seinem Haus zu holen. „Dr. Connor?!“ „Einer der Wood-Jungs, nehme ich an“, antwortete er nur. ‚Oh, als würdest du das nicht wissen‘, dachte ich und stieß ihm meinen Ellenbogen leicht in die Rippen. „Ja, Taylor Wood. Freut mich, Sie kennen zu lernen.“ Er ließ sich davon nicht nervös machen und streckte meinem Vater die Hand entgegen. Der nahm sie nach kurzem Zögern entgegen und nickte nur kurz. Es war einfach nur peinlich, dass er sich wie ein kleiner trotziger Junge anstellte. Drei Jahre hatte er Ruhe gehabt, ohne mich zu einem Date gehen zu sehen und da veranstaltete er jetzt so einen Zirkus, weil es gleich ein so beeindruckender junger Mann war. Ich würde ihn mir heute Abend wohl noch zur Brust nehmen müssen. „Was habt ihr denn so vor?“, fragte mein Vater und ich seufzte. „Dad, das hab ich dir vorhin gesagt. Ich helfe beim Einzug.“ „Und mein Vater lässt ausrichten, dass Sie sich keine Sorgen machen sollen. Lilly bekommt natürlich ein wunderbares Mittagessen und, wenn sie länger bleiben sollte…“ Er warf mir einen kurzen Blick zu, vielleicht um zu sehen, ob ich zustimmend nickte. ‚Worauf du dich verlassen kannst‘, dachte ich. „…dann werden wir ihr selbstverständlich auch Kaffee machen. Oder, was immer sie möchte.“ Meinem Vater war anzusehen, wie sehr ihm diese Freundlichkeit und Ehrlichkeit missfiel. Es würde immer schwerer für ihn werden, sie nicht zu mögen. Ich zog mir meine Turnschuhe an. „Schatz, denk bitte unbedingt an die Versammlung. Es gibt ein paar wichtige Themen dieses Mal, sei also pünktlich.“ „War ich irgendwann mal nicht rechtzeitig da?“ Wir wussten beide, dass es stimmte. Ich hatte noch nicht eine verpasst. „Das mit dem Mittag machen kriegst du alleine hin?“, fragte ich nun und suchte meine Schlüssel aus der Schale auf der Kommode im Flur. „Erstens kann ich sehr wohl kochen und zweitens werde ich Pizza bestellen, wenn die Männer da sind. Wir haben ja nicht wirklich Zeit auf den Herd zu achten, wenn das Spiel läuft, nicht wahr? Mögen Sie Baseball, Taylor?“ ‚Ach ja, der spezielle Test. Bitte, lass das bald vorbei sein.‘ „Ich sehe mir die Spiele mal eins an, aber wenn dann spiele ich lieber selbst, als das ich anderen dabei zusehe. Mein Bruder, Sean, und ich sind ziemlich sportbegeistert.“ „Aha.“ Test bestanden. Ich wusste, dass er perfekt war. Und dem Gesichtsausdruck meines Vaters nach zu urteilen, hatte der das soeben auch festgestellt. „Wir sehen uns dann spätestens bei der Versammlung, Dad. Viel Spaß und grüß die Männer von mir.“ Ich umfasste Taylors Handgelenk und zog ihn mit mir die Treppe hinunter. „Wiedersehen, Dr. Connor. Hat mich gefreut.“ „Mhm. Bis heute Abend, Lils, und pass auf dich auf.“ Das war der geheime Code für: Lass dir nicht zu nahe kommen, ich würde es ja doch merken! „Ja, ist gut.“ Wir stiegen ins Auto und Taylor startete den Motor, um dann ganz vorbildlich den Wagen aus der Ausfahrt zu rangieren und zum Wood-Haus zu fahren. In vernünftigem Tempo.

 

„Oh Gott, es tut mir so wahnsinnig leid. Ich hatte befürchtet, dass er peinlich werden würde, aber so…?!“ Ich verbarg mein Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf hin und her. „Ach was. Er macht sich doch nur Sorgen. Das ist bei Vätern eben so.“ Der Blick, dem ich ihm zuwarf, brachte all meine Gefühle zum Ausdruck, die ich über dieses Thema hatte. „Na schön, es sind nicht alle so, aber die meisten. Vor allen Dingen die, die nur eine Tochter haben.“ „Ach so?!“ Irgendetwas stach mir ganz tief ins Herz. Ich hatte überhaupt nicht daran gedacht, dass er vor mir bereits mit anderen Mädchen in diesem Auto gesessen hatte, aber natürlich hatte er das. Er war einfach wundervoll. Gut aussehend, klug, witzig und er war ein wahrer Beschützer. Welches Mädchen hätte sich ihm denn entziehen können? Ich wandte meinen Blick aus dem Fenster und versuchte, mich wieder unter Kontrolle zu bringen. Warum ich jetzt kurz davor stand in Tränen auszubrechen, konnte ich mir selbst nicht erklären. Es war einfach lächerlich und dennoch rang ich um Fassung. „Lilly, ich meinte nicht, dass…“ Ich holte tief Luft und sah ihn dann wieder an. Mir ein Lächeln abzuringen, erforderte eine Menge Kraft, doch ich schaffte es, irgendwie. „Ich benehme mich so furchtbar albern, entschuldige. Ich bin wie mein Vater.“ Er blickte mich kurz an und sagte dann: „Nein, das tust du nicht. Ich meine, so benimmst du dich nicht.“ „Danke, dass du dich von ihm nicht hast nervös machen lassen. Das hätten nicht viele geschafft.“ „Ich sagte doch, er macht sich nur Sorgen. Er liebt dich, da ist das doch normal.“ Als wir am Haus ankamen, saßen Sean und sein Vater gerade auf der Holzveranda und machten eine kleine Trinkpause. Vielleicht hatten sie aber auch nur gewartet, weil sie sich um die Fahrweise Taylors Sorgen machten. Auf ihren Gesichtern jedenfalls konnte man nichts ablesen. Stattdessen lächelten beide freudig, als ich zu ihnen die Treppen hochkam. Sean riss mich gleich besitzergreifend an sich und warf dabei Taylor einen herausfordernden Blick zu. Der jedoch schien noch etwas,…nun ja, ich wusste nicht, ob man es so nennen konnte, angeschlagen von unserem Gespräch zu sein. Mr. Wood stand ebenfalls auf und drückte mich seitlich an sich, um mich dann ins Haus zu führen. „Lilly, es freut mich, dir verkünden zu können, dass wir nur noch einen kleinen Raum voller Kartons vor uns haben. Wir haben mehr geschafft, als ich dachte.“ „Wir sind ja auch zeitig genug dafür aufgestanden“, kommentierte dies Sean und gähnte kurz. „Ach, hör bloß auf rumzuquengeln. Wärst du gestern Nacht deinem Bruder nicht so lange auf die Nerven gegangen, hättest du auch lange genug geschlafen.“ Ich warf Taylor einen fragenden Blick zu, doch der blickte sich kurz zum Wald um. Mich beschlich die leise Vorahnung, dass er kontrollierte, ob sich ein bestimmter schwarzer Wolf in der Nähe befand. Wir traten gerade durch die Tür, als mich wieder diese wundervolle Wärme umfing. Ich wusste, dass ich hier vollkommen sicher war und staunend blickte ich ins Wohnzimmer. Sie hatten wirklich eine Menge geschafft. Alle Möbel standen an Ort und Stelle. Es lagen Teppiche auf den Böden, Bilder und Lampen waren angebracht worden. „Wenn du möchtest, kannst du Sean helfen, die Bücher in die Regale zu sortieren. Taylor, würdest du bitte mit mir nach oben kommen und das Bett fürs Gästezimmer aufbauen helfen?“ „Na klar.“ Dann wandte er sich zu mir um. „Wenn Sean dir blöde kommt, dann ruf mich.“ „Mit dem werde ich fertig, aber ich werde dran denken, wenn er zu aufdringlich wird.“ Er berührte kurz meinen Arm und folgte dann seinem Vater. Meine Haut an dieser Stelle war ganz plötzlich heiß und prickelte. Als ich zu Sean blickte, grinste der breit. „Ja, ja. Liebe ist doch schön, nicht wahr?“ „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst?!“ Mir schoss das Blut in meine Wangen und ich tauchte meine Hand in einen der Kartons, in dem sich die Bücher befanden. Eine ganze Wand voller Regale war zu füllen und ich ahnte, dass der kleine Raum mit Kartons, nur mit Büchern gefüllte Kisten waren. „Meine Güte, wer von euch liest denn so viel, dass er eine ganze Wand voll bekommt?“ „Mein Vater hat damit angefangen und Taylor führt sie mit ihm fort. Die beiden sind ziemliche Leseratten, daher hat Taylor auch seinen bemerkenswerten Wissensschatz ebenso wie Dad.“ „Und du?“ „Ich finde es besser, etwas zu tun, als nur darüber zu lesen. Obwohl ich sie gerne um Rat frage, wenn ich mal nicht weiter weiß. Da ich aber stärker bin als Taylor, hat er nicht die geringste Chance gegen mich.“ Er lächelte rebellisch. „Du bist also der Bad-Boy?“ „Hey, ich lass mich ungern auf ein Klischee reduzieren…“ Während er mich in die Seite piekste, konnte er sich jedoch ein Lachen nicht verkneifen. „Nein, jetzt mal im Ernst. Ich bin kein Prügelknabe, ich kann auch mit Worten umgehen, aber…“ „Du tust eben lieber etwas.“ „Richtig!“ Ich holte weitere Bücher aus den Kartons. Es war beeindruckend, was für Literatur sie hatten. Sie reichte von Fachbüchern bis hin zu Belletristik. Und es schien als hätten sie jede Art von Nachschlagewerk, das man sich vorstellen konnte. Wir hatten noch nicht einmal das zweite deckenhohe Regal voll und die Kartons hier unten waren leer. „Komm, wir holen uns Nachschub.“ Ich folgte Sean in eines der Nebenzimmer. Es war wohl als Arbeitszimmer gedacht, jetzt aber waren der Computer und die anderen technischen Geräte noch nicht angeschlossen, sodass die Kisten bedenkenlos hier hereingestellt worden waren. „Wie viele Zimmer umfasst denn das Haus?“ „Warte mal,…drei Badezimmer, Wohnzimmer, drei Schlaf…nein, mit Gästezimmer vier Schlafzimmer, eine Küche, zwei Arbeitszimmer und hinten ist noch eine Art Wintergarten.“ „Also 12 Zimmer!? Meine Güte, das gleicht ja einem Schloss.“ „Ach was!“ „Stimmt, wäre es ein Schloss, gäbe es ein Badezimmer mehr“, meinte ich sarkastisch und wieder lachte Sean. „Ich wusste, du würdest in unsere Familie passen. Und eines sage ich dir, wenn Taylor dich nicht als Freundin nimmt, dann tu ich es.“ Wieder lief ich rot an, doch ich ging vor ihm und er sah es nicht.

 

Nach zwei Stunden kamen Kenneth und Taylor wieder runter und wir hatten gerade den letzten Karton geleert. „Ihr wollt mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass ihr für ein Bett so lange gebraucht habt…?“, begann Sean und ich zog meine Fleecejacke aus. Taylor blickte mich länger und intensiver an, als er es sonst getan hatte, wandte sich dann jedoch an seinen Bruder, als er meinen Blick bemerkte. „Und du tu bloß nicht so, als hätte es dich gestört, dass wir so lange oben waren.“ „Tja, da muss ich dir wirklich Recht geben, das hat es nicht.“ Er legte mir einen Arm um die Schulter und mir wurde noch wärmer. Kenneth schien diese ewigen Streitereien bereits in- und auswendig zu kennen und meinte: „So, ich habe jetzt Hunger. Wenn ihr also derselben Meinung seid, dann werde ich mich mal an den Herd stellen.“ „Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?“, fragte ich und löste mich gekonnt aus Seans Griff. „Sicher, wenn du möchtest.“

Die Küche war in rot und schwarz gehalten und hatte glänzende Oberflächen. Mitten im Raum gab es eine Kochinsel und die Wand am Ende bestand nur aus Fenstern, vor denen ein großer Esstisch stand. Daran befanden sich sechs Stühle und ich hing meine Jacke über eine der Lehnen. „Irgendeinen besonderen Wunsch, Lilly?“ „Nein, kochen Sie, was Sie möchten. Ich bin nicht so wählerisch mit dem Essen.“ „Das freut mich zu hören. Was hältst du von Klößen, Rotkohl und Ente?“ „Sie machen sich hoffentlich keine Umstände…wegen mir.“ „Um ehrlich zu sein, die Ente hatte ich schon vorbereitet.“ Er grinste breit und erinnerte mich dabei an Sean. „Da bin ich aber beruhigt. …Aber dann hätten Sie mich doch gar nicht nach meinen Wünschen fragen müssen.“ „Nun, ich habe aber eine gute Kinderstube genossen, also…“ Ich kicherte. Während er die letzten Handgriffe an der Ente tat und wir Klöße und Rotkohl fertig machten, unterhielten wir uns über die beachtliche Sammlung an Büchern, über die Schule und über die Arbeit meines Vaters. Er sagte mir, wo sich die Teller und das Besteck befanden und ich wandte mich zum Tisch. „Irgendeine besondere Sitzordnung, die ich einhalten muss?“ „Sean und ich sitzen mit dem Rücken zum Fenster, Taylor blickt gern hinaus. Wenn du willst, kannst du neben ihm sitzen, dann haben wir ein gewisses Gleichgewicht am Tisch.“ Ich nickte nur und zeigte nicht, dass ich es auch so angeordnet hätte. Er füllte Klöße, Rotkohl und die abgeschöpfte Sauce in Schalen, die ich auf dem Tisch arrangierte. Dann drapierte er die golden-braungebrannte Ente auf einer Platte und schnitt sie in Stücke. „Sieht wunderbar aus, Mr. Wood.“ „Danke, Liebes. Sagst du den Jungs bescheid?“ „Sicher.“ Ich ging ins Wohnzimmer zurück und löste meinen Zopf, um ihn noch einmal neu zu machen. Mit offenen Haaren stand ich vor Taylor und Sean, die auf der Couch saßen und gleichzeitig zu mir aufblickten. Während ich die Haare einmal kurz aufschüttelte und dann einen neuen Pferdeschwanz band, sagte ich: „Essen ist fertig!“ Beide blickten mich noch immer an und sagten nichts. „Wenn ihr nicht wollt…umso mehr bleibt für mich und euren Vater.“ Ich zuckte mit den Schultern und wollte gerade zurückgehen, als Sean aufsprang und sich an mir vorbeidrängelte. „Ich und nichts essen? Ha!“ Aus diesem Jungen wurde ich einfach nicht schlau, obwohl er leichter zu durchschauen schien als sein Bruder. Ich blickte zu Taylor, der noch immer auf der Couch saß. „Willst du nichts?“ „Hat er sich vorhin daneben benommen?“ Das überraschte mich. Machte er sich etwa deswegen Sorgen? „Nein, aber…“ Er blickte mich erschrocken an. Sollte ich es ihm wirklich sagen? „Aber?“ Ich räusperte mich kurz, legte meine Hände auf die Armlehne und hockte mich neben die Couch. „Nur einen Spaß mit mir gemacht. Er meinte, wenn nicht du mich zur Freundin nimmst, tut er es.“ Ich hatte geflüstert und ihn dabei nicht angeblickt. Jetzt sah ich, wie er eine Hand über meine legte. „Und was hast du geantwortet?“, fragte er ebenso leise. „Nichts, ich bin nur rot geworden.“ Unsere Blicke trafen sich und ich erkannte, dass er innerlich einen Kampf mit sich führte. Ich konnte mir nicht erklären warum, denn eigentlich musste er doch nur Ja oder Nein zu mir sagen. So schwer konnte das doch nicht sein. „Lilly, Taylor. Kommt schon, sonst isst Sean alles alleine auf.“ Wir beide zuckten zusammen und er erhob sich langsam. „Komm, gehen wir essen.“ „Mhm.“ Er ging vor mir und ich war wieder einmal den Tränen nah. In meinem ganzen Leben, war ich nicht so emotional gewesen, wie an diesem Tag. Beim Essen waren wir beide in uns gekehrt und ich versuchte mich auf die anderen beiden zu konzentrieren, doch es gelang mir nicht richtig. Seine Anwesenheit so nah bei mir, war schlimmer als je zuvor. Eigentlich hatte ich mich gefreut beim Essen neben ihm zu sitzen, aber jetzt so im Unklaren darüber zu sein, was er über den Satz von Sean dachte, war schrecklich. Ich spürte, dass er noch immer einen Kampf mit sich führte. War denn der Gedanke daran, mit mir zusammen zu sein, eine Beziehung mit mir zu führen, so furchtbar? „Entschuldigt mich kurz…“, meinte er plötzlich und stand auf, um schnurstracks aus der Küche zu gehen. Wir drei hörten nur noch eine Tür, die zugeschlagen wurde und Sean sagte: „Er ist durch die Hintertür verschwunden. Will er in den Wald?“ Ich bekam Angst und machte mir Sorgen. Was wollte er denn da? Nicht, dass er dem Wolf in die Arme lief und sich mit dem anlegte. Denn der war es wohl auch gewesen, der ihn letztes Mal so schwer verwundet hatte. Gerade als ich ihm folgen wollte, berührte mich Mr. Wood am Handgelenk. „Gib ihm ein bisschen Zeit. Er beruhigt sich wieder und kommt zurück.“ „Sind Sie sich da sicher?“ Er nickte nur und ich blickte ihn traurig an. „Ich fühl mich nur so schuldig. Wegen mir ist er jetzt rausgelaufen und macht, was weiß ich für Dummheiten.“ „Taylor ist nicht der Typ dafür, glaub mir. Das ist eher Seans Bereich.“ „Hey, ich kann dich hören.“ Ein kleines Lächeln huschte über mein Gesicht. Kenneth erhob sich und räumte den Tisch ab. „Geht ihr beiden doch ins Wohnzimmer. Lilly, möchtest du vielleicht einen Kaffee oder Tee?“ „Ein Kaffee mit Milch wäre nett, danke!“ Sean zog meinen Stuhl zurück und begleitete mich ins Wohnzimmer. Im Gehen zog ich meine Fleecejacke wieder an, die ich von der Lehne genommen hatte. Mir war plötzlich so furchtbar kalt. Während Sean sich auf die Couch sinken ließ, kuschelte ich mich in einen der zwei Sessel. Er musste gesehen haben, dass ich fror, denn ohne ein weiteres Wort zu sagen, stand er auf und wickelte mich in eine Wolldecke. „Danke.“ „Gerne doch!“ Dann setzte er sich wieder auf das Ledersofa und blickte mich an. „Was hast du denn zu ihm gesagt, dass er so aus dem Haus gestürmt ist?“ „Gar nichts!“ „Ach, gar nichts…“ „Nur das, was du vorhin gesagt hast.“ „Oje. Was davon genau? Ich rede so viel.“ „Na ja, dass…dass, wenn er mich nicht als Freundin nimmt, du es tust.“ „Dann musst du dir gewiss keine Sorgen machen. Ehe er das zulässt, friert die Hölle ein.“ „So schien er aber nicht darüber zu denken.“ „Hör zu, mein Bruder ist seit Jahren alleine und er… Es ist besser, wenn er dir das erklärt. Ich misch mich zwar gerne ein, aber bei dem Thema musst du mit ihm sprechen.“ Ich nickte einsichtig und Kenneth kam mit drei Tassen Kaffee herein. „Hier, nimm. Der wird dich ein bisschen wärmen.“ „Danke.“ Die Wärme der Tasse erklomm meine Fingerspitzen und das Gefühl in den Fingern beruhigte mich ein wenig. Wir sprachen die nächste Stunde nicht viel, immer darauf bedacht, die Geräusche zu verfolgen, die uns neu erschienen. Dann endlich hörten wir Schritte auf der Treppe und Taylor stand in der Tür. Ich hörte, wie heftig er atmete, sah ihn jedoch nicht an. Wenn er mit mir reden wollte, dann würde er es tun. Er schloss die Tür leise hinter sich und kam dann zu uns. Sean und Kenneth sagten nichts und schnappten sich die Tassen, um sie gemeinsam in die Küche zu bringen. Taylor hockte sich neben dem Sessel hin und betrachtete mich. Erst jetzt wandte ich ihm mein Gesicht zu. Er hatte seinen Atem wieder unter Kontrolle und auch der Kampf in seinem Innern schien vorüber zu sein. Ich konnte nur nicht erkennen, welche Entscheidung er getroffen hatte. „Geht es dir wieder gut?“ „Ja!“ „Schön“, meinte ich und schlug ihm leicht gegen die Stirn. „Ich habe mir furchtbare Sorgen gemacht. Tu das, verdammt noch mal, nie wieder!“ „Entschuldige“, murmelte er zurück, sah mich aber ganz kurz belustigt an. Dann wurde er wieder ernst. „Es war nicht leicht für mich, mir zu überlegen, was ich tun soll.“ „Ich habe vorhin nicht gemeint, dass du dich gleich entscheiden sollst. Ich setze dir doch keine Pistole auf die Brust.“ „Und doch wäre es interessant für dich gewesen, wie ich darüber denke, oder nicht?“ „Natürlich.“ „Na, siehst du.“ „Wo warst du überhaupt?“ „Ich bin ein bisschen durch die Gegend gelaufen. Willst du jetzt wissen, was ich sage?“ Durch die Gegend, ha. Durch den Wald, meinte er wohl. Nahe dieses schwarzen Wolfes womöglich noch. Dieser Blödmann. Sich in solche Gefahr zu bringen, ließ mich auch nicht gerade ruhiger werden. Dann zögerte ich kurz. „Warte!“, sagte ich, als er beginnen wollte. „Erst möchte ich die ganze Geschichte hören.“ „Was für eine Geschichte?“ Er schien ernsthaft verwirrt. „Die ganze Wahrheit über dich und deine Familie…bitte.“
 

18. März

Mir sind in meinen Leben bisher viele Menschen begegnet und es ist nicht immer leicht zu entscheiden, ob sie Gutes im Sinn haben oder nur auf ihren Vorteil aus sind. Manche ahnen wohl, was mit mir los ist. Andere haben nicht den geringsten Verdacht oder sie wollen es nicht sehen. Manchmal wünschte ich, ich könnte die Zeit zurückdrehen und es verhindern. Ich weiß nicht einmal, warum es das in meiner Familie gibt. Vielleicht sind wir so eine Art Medium oder es dient unserem Schutz und dem unserer Liebsten. Aber oft wäre unser Leben leichter, wenn wir es nicht besäßen. Ich wünsche mir sehr, dass dies meinen Kindern, die ich hoffentlich irgendwann haben werde, erspart bleibt. Auch wenn es gewisse Vorteile birgt.

Heute habe ich zum ersten Mal mit dem süßen Jungen aus meiner Parallelklasse gesprochen. Er scheint sehr nett und ich glaube, ich möchte ihn näher kennen lernen. Und im ersten Moment hatte ich sogar das Gefühl ihn von irgendwoher zu kennen. Ob ich ihn schon einmal im Traum gesehen habe? Ich werde es auf mich zukommen lassen müssen…

3. Kapitel - Der Wolf und das Mädchen

Ich kam mir vor wie eine Strafrichterin. Die drei Woods saßen vor mir, wie auf einer Anklagebank. Sie hatten sich alle auf die Couch gesetzt und sahen mich einer nach dem anderen an. Ich indessen saß, die Beine angewinkelt und unter der wärmenden Decke eingewickelt, auf meinem Sessel und lehnte mich abwartend zurück. „Seht mich doch, bitte, nicht so an. Ich bin nicht hier um irgendjemanden zu verurteilen. Ich möchte einfach nur wissen, was los ist.“ „Worauf du dich einlässt, wenn das was wird, mit Taylor und dir“, murmelte Sean und bekam von seinem Bruder einen Hieb in die Rippen. „Das spielt im Moment überhaupt keine Rolle“, antwortete ich ruhig und fing Taylors Blick auf. Er lächelte und da war wieder dieses Glitzern in seinen Augen, das mich gestern veranlasst hatte, ihn auf die Wange zu küssen. Schnell räusperte ich mich, ehe die Pferde wieder mit mir durchgingen. „Also, wer wäre so nett und erzählt es mir?“ „Gut, dann fange ich an“, sagte Kenneth und blickte mich freundlich an. „Ich finde, du hast ein Recht alles zu erfahren. Unsere Geschichte reicht weit zurück und ich bin mir nicht ganz sicher, in welcher Generation es begonnen hat, aber ich weiß, dass bereits mein Ur-Ur-Urgroßvater väterlicherseits ein Wolf war. Bei allen männlichen Familienmitgliedern bricht es mit 10 Jahren aus. Es ist nicht möglich, es aufzuhalten oder wie einen Fluch von uns zu nehmen. Dieses…nennen wir es…Gen ist in uns, weil wir einen sehr ausgeprägten Beschützerinstinkt besitzen. Schon mein Ur-Urgroßvater war sich seiner Kräfte bewusst und beschützte Adelige als eine Art Wachhund, da sie damals nicht wussten, was er wirklich war. Diese Kräfte verhindern auch, dass wir zu schnell altern.“ „Wie bitte?“ Ich war etwas verwirrt. „Wir werden jedes Jahr ganz normal ein Jahr älter, aber man sieht es uns nicht so schnell an“, fügte Sean hinzu. „Wenn du so willst, später Falten als andere“, meinte nun Kenneth und ich wandte mich ihm zu. „Aha.“ Mehr fiel mir dazu nicht ein. ‚Wie unfair‘, dachte ich jedoch. Taylor würde also mit Ende 50 noch knackig aussehen und ich meinem Alter entsprechend. „Jedenfalls sind wir Wölfe und die meisten Vorurteile, die man so in den Fachbüchern und Romanen liest, stimmen nicht.“ „Also nicht nur verwandeln bei Vollmond? Nicht nur getötet werden von Silberkugeln?“ „Richtig“, pflichtete Taylor mir bei und fügte hinzu: „Genauso wenig töten wir Menschen oder können andere mit einem Biss damit ‚infizieren‘!“ „Aber, wenn Sie sagen, dass es ausbricht…wie darf ich das verstehen? Wie eine Art Fieber?“ Wobei ich natürlich an die Hitze dachte, die von Taylor ausging und auch von Sean. „Es ist schon mehr als das…und auch schmerzhafter.“ „Schmerzhaft?“ Unweigerlich blickte ich zu Taylor, der anscheinend an seine erste Verwandlung dachte und blass geworden war. Bei ihm war es noch nicht so lange her, wie bei dem Rest seiner Familie. Jetzt begann er leise davon zu erzählen: „Es fängt an deinem 10. Geburtstag genau zu der Uhrzeit an, an der du geboren wurdest. Erst bekommst du Fieber und deine Körpertemperatur steigt auf 40° an. Dann breitet sich ein unbeschreibliches Zittern von deinem Bauch in alle anderen Glieder aus. Deine Knochen knacken und du hast das Gefühl, als würden sie brechen, nachwachsen und dann wieder von Neuem brechen. Und wenn du denkst, dass das hoffentlich alles war, kommt der Schmerz, urplötzlich und so gewaltig, dass es dich von den Füßen reißt. Als würdest du von innen heraus schmelzen und dann explodieren.“ Er starrte in die Leere und ich konnte nicht verhindern, dass ein paar Tränen über meine Wangen liefen. Wenn ich daran dachte, wie er als kleiner 10-jähriger so etwas erleben musste, dann wurde mir ganz anders. Am liebsten hätte ich ihn jetzt an mich gezogen, aber er kehrte ins Hier und Jetzt zurück und sah mich wieder an. Ich strich mir die letzten Tränen fort und atmete tief durch, ehe ich fragte: „Wie lange dauert es?“ „Ein bis zwei Stunden und dann endet es ganz abrupt, so als wäre nie etwas gewesen, und du stehst als Wolf mitten im Zimmer.“ „Es ist doch aber hoffentlich nicht immer mit Schmerzen verbunden, wenn ihr euch verwandelt, oder?“ „Nein, das ist nur beim ersten Mal so, keine Sorge!“, versuchte mich nun Kenneth zu beruhigen. „Und…ihr denkt nur daran, und schon seid ihr…?“ „Es ist schwer das zu erklären“, sagte Sean, „man denkt nicht wirklich daran, aber irgendwie schon. Wir verwandeln uns einfach, wenn wir es wollen.“ „Eigentlich muss ich das ja nicht wirklich verstehen…“ „Obwohl es besser ist, dass du jetzt bescheid weißt. Gut, es ist natürlich auch meine Schuld, dass du es erfahren hast, aber…“ „Ja, du hättest dich wirklich etwas klüger anstellen können, mein lieber Bruder.“ Sean wuschelte in Taylors Haar umher und ich lächelte leicht. Kenneth blickte mich jedoch ernst an und ich sah ebenso zu ihm. „Ich hoffe, du weißt mit was für einer Verantwortung du jetzt belastet bist.“ Ich nickte und antwortete dann: „Ich werde es niemandem erzählen, das verspreche ich. Aber wenn Sie wollen, dass keiner aus der Stadt Verdacht schöpft, müssen Sie sich, wenn Sie verwandelt sind, etwas weiter von den Häusern fernhalten. Und es wäre ratsam sich an die Regeln der Stadt zu halten.“ „Was für Regeln?“, fragte Kenneth und die beiden Jungs blickten mich an. „Keine richtigen Regeln, eher ungeschriebene Gesetze. Wenn man in der Stadt ist und Einkäufe erledigt, sollte man die Leute grüßen, auch wenn man sie noch nicht kennt. Und so leid es mir tut, euch das antun zu müssen, aber ihr solltet zu den wöchentlichen Versammlungen gehen. Wenn man da nicht erscheint, wird man monatelang als Aussätziger behandelt.“ „Gut zu wissen. Sonst noch etwas, das wir beachten können?“ „Es wäre in dieser Situation vielleicht nicht schlecht, sich mit dem Jagdverein gut zu stellen.“ „Jagdverein?“ „Ja, mein Vater ist zwar Mitglied und ich kann euch ein paar Informationen zuspielen, wo sie sich demnächst im Wald treffen oder ähnliches, aber…“ „Es wäre schon besser, wenn wir uns ein bisschen bei den Männern integrieren?!“ Ich nickte. „Irgendjemand vor dem wir uns in Acht nehmen müssen?“ „Außer Mrs. Dalloway“, scherzte Taylor und ich lachte. „Nein, eigentlich sind alle Leute hier ziemlich nett. Ehe man hier jemanden richtig gegen sich aufbringt, muss schon was sehr Schlimmes passieren.“ „Meine Güte, haben wir ein Glück, dich hier zu haben“, sagte Sean und zwinkerte mir zu. „Ich komme mir bloß vor, wie eine Spionin zwischen zwei feindlichen Fronten.“ „Es wird nicht lange bei dem feindlich bleiben“, sagte Kenneth. „Das freut mich zu hören!“ Es entstand eine kurze Pause und ich sah zu Taylor. Von mir aus konnte er jetzt sagen, was er vorhin sagen wollte. Obwohl, wahrscheinlich nicht vor seiner Familie. Kenneth holte mich in die Gegenwart zurück: „Taylor, willst du Lilly nicht das obere Stockwerk zeigen? Wir haben es jetzt vollständig eingerichtet.“ „Wenn sie möchte?!“, er sah mich dabei an. „Ja, gern.“ Sein Vater war einfach Klasse. Meiner hätte das niemals so schnell begriffen und wenn, dann hätte er wahrscheinlich alles daran gesetzt, zu verhindern, dass wir alleine sind. Ich schlüpfte aus der Decke und folgte Taylor die Treppen hinauf. Nicht ohne vorher seinem Vater einen dankenden Blick zuzuwerfen.
 

Als wir oben auf dem Flur standen, wandte ich meinen Blick wieder zu der Tür um, hinter der ich Taylor verarztet hatte. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter und dann fiel mir die Frage ein, die ich vorhin nicht gestellt hatte. Ich hatte nicht gewusst, ob Kenneth von dem Vorfall wusste. „Wieso war deine Verletzung eigentlich so schnell verheilt?“ „Ich habe mich schon gefragt, wann du dich danach erkundigen würdest.“ „Also?“ „Bei uns ist es so, dass Wunden viel schneller verheilen, als bei Menschen. Wenn sie aber schmutzig sind oder eben nicht richtig behandelt wurden, kann es durchaus passieren, dass wir daran sterben.“ Ich holte erschrocken Luft. „Das heißt, ich hätte dich…“ „Du hättest mich nicht umgebracht.“ „Nein, ich hätte dich vielleicht verloren, wenn mich Sean später geholt hätte.“ „Hast du aber nicht!“ „Stimmt, hab ich nicht“, wiederholte ich leise und sah zu ihm auf. „Wollen wir uns jetzt die Zimmer ansehen?“ „Mhm.“ Zuerst sahen wir uns das Schlafzimmer seines Vaters an, das in grau und braun gehalten war. Daran grenzte ein Badezimmer, ebenfalls in braun. Dann zeigte er mir Seans Zimmer, welches rot und schwarz war. Die nächste Tür war das blaue Bad, zu dem jeweils eine Tür von Seans und Taylors Zimmer führte. Es waren eine Dusche und zwei Waschbecken darin untergebracht. Nun kamen wir zu Taylors Zimmer. Ehe er die Tür öffnete, blickte er mich ganz seltsam an. „Was ist? Traust du dich nicht?“ „Doch schon, aber…“ „Wir müssen nicht reingehen, wenn es dir zu persönlich ist!“ Er wollte etwas sagen, schloss jedoch wieder den Mund und stieß die Luft hart aus seiner Lunge. „Stimmt irgendetwas nicht?“ Ich machte mir ernsthaft Sorgen. Als noch immer keine Reaktion von ihm kam, wurde ich unruhig. „Taylor, was ist denn los?“ „Es ist nicht peinlich oder so, aber lauf, bitte, nicht schreiend davon, ja?“ „Was? Wieso sollte ich…?“ „Versprich es mir einfach!“ „Ja, okay, ich verspreche es dir.“ Er öffnete langsam die Tür und blieb hinter mir stehen, während ich eintrat und mir sein Zimmer ansah. Es war ein heller schöner Raum, ganz in Sandtönen gehalten. Ich fand, es passte wunderbar zu ihm. Durch das große Fenster hatte man einen schönen Ausblick auf den riesigen Garten. Das schwarze große Bett mit der dunkelbraunen Bettwäsche stand daneben. Auf der gegenüberliegenden Seite standen ein Schreibtisch, ein kleines Regal mit einem Flachbildfernseher und ein Kleiderschrank. Direkt neben der Tür befanden sich ein Regal voller Bücher und die Anlage mit einem Haufen CDs. Ich wusste überhaupt nicht, was er meinte. Wovor bitte sollte ich denn schreiend davon laufen? Es war ein schickes Zimmer, das ihn wunderbar widerspiegelte. Gerade als ich ihm das sagen wollte und meinen Kopf zu ihm umwandte, fiel mein Blick auf einen Bilderrahmen, direkt neben seinem Bett auf dem Nachttisch. „Oh“, war alles, was mir im Moment dazu einfiel. Er trat aus dem Türrahmen und es schien als wolle er mir Platz machen, damit ich herauslaufen konnte. Ich ließ mir nicht anmerken, dass ich das gesehen hatte und fragte: „Seit wann hast du das?“ „Das war am ersten Schultag“, murmelte er und ich blickte ihn an. „Und dann fällt es dir so schwer zu entscheiden, ob…?!“ „Das ist irgendwie kompliziert...“ Ich blickte wieder auf das Bild. Es zeigte mich! Und zwar nur mich, wie ich mit ein paar Büchern im Arm an einer Wand lehnte. Ich hatte offene Haare, die mir über die rechte Schulter fielen und ich schien völlig in Gedanken versunken. „Ich schwöre, es ist das einzige, dass ich jemals gemacht habe. Nicht, dass du denkst, ich sei ein Stalker oder so.“ „Ich hab überhaupt nicht mitbekommen, dass du mich fotografiert hast.“ „Ist ja wohl auch besser so, sonst wärst du doch an dem Tag auf mich losgegangen oder hättest mich angezeigt…“ „Wahrscheinlich,…ja sehr wahrscheinlich sogar.“ „Und? Was denkst du jetzt?“ „Ich denke, dass du ein sehr schönes Zimmer hast“, begann ich und sah zu ihm, „und ich bin etwas überrascht so ein Foto zu sehen. Aber ich denke, damit kann ich durchaus leben.“ Man sah ihm an, was für ein Stein ihm vom Herzen fiel. „Danke!“ „Was hast du denn gedacht, was ich mit dir anstelle?“ Wir gingen jetzt wieder auf den Flur und blieben vor der danebenliegenden Tür stehen. „Ich dachte, du würdest sofort gehen und mich eine Weile nicht sehen wollen.“ „So schnell wird man mich nicht los.“ ‚Und du schon gar nicht‘, dachte ich. Er öffnete die Tür und wir kamen ins Gästezimmer. „Das ist ja wundervoll!“

 

Der Raum war gelb und weiß gestrichen worden. Das Bett hatte ein weißes Gestell und beige Bettwäsche befand sich darauf. Passend zu den hellgelben Wänden gab es einen Schreibtisch und einen kleinen Kleiderschrank aus Buchenholz. Es war alles sehr harmonisch und ich fühlte mich wohl. Der Ausblick war ähnlich, wie der aus Taylors Zimmer. „Ihr habt euch wirklich große Mühe gegeben.“ „Ja, Dad hat ein echtes Händchen für so was.“ Wir gingen zurück auf den Flur und ich bekam Angst, was sich hinter der furchtbaren Tür befand, die jetzt noch auf dieser Etage lag. „Komm, das war der ganze Rundgang!“ „Da ist kein Zimmer mehr?“ Ich deutete auf die Tür hinter mir. „Nein, das nutzen wir als Rumpelkammer. Und da wolltest du doch auch gar nicht rein!“ „So offensichtlich, ja?“ „Nun ja, jedes Mal, wenn du die Tür ansiehst, beginnst du zu zittern. Ich würde also schon sagen, dass es leicht zu erkennen ist, ja.“ „Würdest du es mir jetzt erzählen?“ „Was?“ „Wie du…wie du dich entschieden hast!?“ Er lächelte und streckte den Arm nach mir aus. Zuerst sah ich nur auf seine Hand, die er mir reichte, dann blickte ich ihn an. Und als er mir aufmunternd zunickte, ergriff ich sie und er zog mich mit sich in die untere Etage. „Wohin gehen wir?“ „In den Wintergarten!“ „Und was wollen wir da?“ „Uns unterhalten!“ „Können wir es nicht einfach hinter uns bringen und du sagst Ja oder Nein?“ „Können wir nicht.“
 

Als wir in den Wintergarten kamen, standen dort nur eine Bank mit Auflage und ein kleiner Beistelltisch. Der Ausblick war fantastisch und ich konnte die Sonne sehen, die langsam rot wurde. Sie würde bald untergehen. Der Garten war voll mit grünem Gras und einem einzelnen stark gewachsenen Eichenbaum, der ganz rechts am Ende des Grundstücks stand. Taylor drückte mich sanft auf die Bank und fragte: „Was zu trinken?“ „Nein.“ „Was zu essen?“ „Nein! Und wenn du mich jetzt fragst, ob ich vielleicht noch ein Kissen will, dann lautet auch hier die Antwort Nein. Bitte, Taylor, ich möchte nur wissen, ob es Sinn macht hier zu sitzen.“ „Wann würde es denn keinen Sinn machen?“ „Taylor Wood!“ Er lachte leise. „Es ist einfach herrlich zu sehen, wie du wütend wirst. Du bekommst dann dieses wundervolle Funkeln in den Augen.“ Ich strich mir verlegen über die Schläfe, doch ehe ich etwas erwidern konnte, setzte er sich neben mich, nahm meine Hand in seine und sagte: „Bevor ich dir sage, wie meine Entscheidung ausgefallen ist, solltest du wissen, warum ich Bedenken habe.“ „Du meinst, warum du diesen innerlichen Kampf mit dir führen musstest?“ Er nickte und sah in die rote Sonne vor uns. „Seit acht Jahren lebe ich jetzt als Wolf, zumindest teilweise und ich habe immer etwas gesucht. Ich wusste, dass mir etwas fehlte und ich es nicht in Kentwood finden würde, wenn ich es bisher nicht getan hatte. Als mein Vater verkündete, dass wir hierher ziehen würden, war ich zwar überrascht, wie ich dir gestern schon sagte, aber ich hegte die leise Hoffnung, das zu finden, was das Loch füllen würde. Und als Sean und ich dann ankamen, da spürte ich diese Kraft, die Anwesenheit von etwas, dass ich so noch nie erlebt hatte.“ Ich zuckte kaum merklich bei dem Wort, das auch Sean schon benutzt hatte, zusammen. Kraft? ‚was für eine…Kraft von ihr ausgeht‘, hatte er gestern gesagt. „An dem Abend verfolgte ich das noch nicht, weil ich dachte, ich hätte es mir vielleicht eingebildet. Weil ich es so sehr gehofft hatte. Aber als ich dann am nächsten Morgen in der Schule ankam, da war es wieder da, dieses Gefühl. Du musst wissen, wir Wölfe haben eine bestimmte Anziehungskraft in unserer menschlichen Gestalt, und so wie es immer gewesen war, stürmten die Schüler auf mich zu. Nur diese eine Person, die schien immun dagegen zu sein.“ Er sah auf mich hinunter und ich lächelte verlegen. „Und ich dachte, dass wir jetzt noch so einen Aufreißer an die Schule bekommen, der auf den großen Auftritt steht. So etwas wollte ich mir nicht antun und ich wusste, Carly würde mir alles darüber erzählen.“ Er sah wieder der Sonne entgegen und fuhr fort: „Es war so merkwürdig, dich weggehen zu sehen. Ich hatte das Bedürfnis dir nachzugehen und herauszufinden, warum es dir gelungen war. An dem Tag probierte ich aus, wie weit ich mit meiner Fähigkeit gehen konnte.“ Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. „Beim Volleyball! Carly meinte, du hättest völlig perplex ausgesehen, als ich mich einfach umgedreht habe.“ Er nickte. „Ja, es war furchtbar frustrierend nicht zu wissen, warum du widerstehen konntest. Und dann versuchte ich es in der Mittagspause noch mal. Ich dachte, wenn ich es jetzt nicht schaffe, dann… Also kam ich dir extra in den Weg und legte alle Kraft, die ich aufbringen konnte, in den Blick. Zuerst schien es so, als hätte es geklappt, aber…du sagtest einfach nur ‚na dann‘ und wolltest gehen. Also fragte ich irgendetwas, um ein letztes Mal deinen Blick zu fangen. Du hast mich wahrscheinlich für völlig verrückt gehalten.“ „Wenn du wüsstest, wie schwer es mir gefallen ist, dich…ich will nicht sagen, zu ignorieren, aber ich denke das trifft es am ehesten. Wenn du am Volleyballfeld mit mir gesprochen hättest, wäre ich mir nicht so dumm vorgekommen und hätte mich nicht gleich umgedreht. Und in der Mittagspause war es dasselbe.“ „So etwas musste ich zuvor nie und deshalb kam ich auch gar nicht auf die Idee. Jedenfalls war es ein frustrierender Tag für mich und du gabst mir Rätsel auf. Ich wollte unbedingt herausfinden, wer du bist, warum es dir gelang, dich mir zu entziehen. Du wurdest für mich sehr interessant. Nicht, wie ein Forschungsobjekt oder so. Du schienst in meinen Augen mysteriös zu sein… Aber am nächsten Tag sollte ich erst einmal nicht dazu kommen.“ Wir beide schwiegen kurz. Der Wolfsangriff. Ich erinnerte mich, wie viel Angst ich um ihn hatte als Sean im Schulflur stand und mir klar wurde, dass es nicht Taylors Motorrad gewesen war, das auf dem Parkplatz gestanden hatte. Vorsichtig umschlang ich seinen Arm und lehnte mich an ihn. „Ich wollte nicht, dass du mich so sehen musst und ich wollte nicht, dass du durch den Wald musst, wo dieser Wolf lauert. Aber Sean hatte Recht, du warst die Einzige, die meine Wunden richtig behandeln konnte. Und als du dann neben mir gesessen hast und ich erkennen konnte, wie groß deine Angst um mich war, da war es mir plötzlich völlig egal, ob du immun gegen meine Fähigkeit bist oder nicht. Ganz im Gegenteil. Es war so ein gutes Gefühl, dass du dich nicht nur deswegen um mich kümmern wolltest, weil ich diese Anziehungskraft auf dich ausübte. Du wolltest mir helfen, egal, wie ich zu dir gewesen war. Ich fühlte mich zum allerersten Mal nicht wie ein Lügner. Denn sonst sind alle diese Menschen nur für uns da, weil sie unserer Fähigkeit verfallen. Ich hatte immer das Gefühl, mich auf diese Weise durchs Leben zu schummeln. Und dann hast du mich wieder einmal überrascht. Alles hättest du verlangen können und du batst mich darum, mit einer deiner Freundinnen zu reden.“ „Was du bis heute noch nicht getan hast!“ „Doch, natürlich habe ich das. Am Donnerstag, kurz nach der Mittagspause, sie hat es dir nur nicht erzählt.“ „Aber wieso nicht? Sie erzählt mir alles!“ „Sie meinte, sie würde es noch ein bisschen für sich behalten wollen, weil es da etwas gäbe, was sie überprüfen wolle.“ „Oh, Carly…“ Es hätte mir gleich klar sein sollen, dass sie bemerkt hatte, wie ich mich seit einer Woche verhielt. Ich hatte eine solche Freundin überhaupt nicht verdient. „Warum bist du abends bei uns im Garten gewesen?“, fragte ich ihn jetzt. Er lächelte leicht. „Zuerst wollte ich nur einen klaren Kopf kriegen, bin im Wald umhergelaufen, um zu kontrollieren, ob alles in Ordnung war und dann…habe ich dich gewittert. Ich denke, in dem Moment musst du dein Fenster geöffnet haben. Jedenfalls konnte ich dann nicht anders und folgte dem Duft, den ich überall wiedererkannt hätte. Vielleicht fühle ich mich auch auf eine andere Art und Weise angezogen als andere Menschen. Ich sah zu deinem Fenster hinauf und blickte dir genau in die Augen. Eigentlich hätte ich sofort verschwinden sollen, aber ich konnte nicht oder ich wollte nicht, ich weiß nicht genau. Aber ich sah, dass du erkanntest, wer ich war. Obwohl ich die Gestalt eines Wolfes angenommen hatte, hast du es sofort gewusst. Woher?“ „Deine Augen!“ „Was?“ „Es waren deine Augen. So wie du meinen Duft wiedererkannt hast, ging es mir mit deinen Augen.“ „Das war es also.“ Taylor blickte ins Leere und meinte dann traurig: „Kurz darauf jedoch hätte ich mich am liebsten selbst verprügelt. Es war so dumm von mir gewesen, mich als Wolf vor dir zu zeigen. Überhaupt so nah an eines der Häuser in der Stadt zu gehen. Ich brachte dich, wegen eines dummen Gefühls, einfach so in Gefahr. Es ist unverzeihlich und auch jetzt noch völlig egoistisch von mir, dich hier zu haben.“ „Ich verstehe nicht.“ Ich löste mich von seinem Arm und blickte ihn traurig an. „Du hättest niemals erfahren dürfen, was ich bin…was wir sind. Damit habe ich es für Ihn noch interessanter gemacht. Der Wolf, der mich verletzt hat und der Schwarze, der dir auf der Lichtung begegnet ist, sind ein und derselbe. Er lebt wohl seit Jahren nur in der Wolfsgestalt, Er hat keine menschlichen Empfindungen oder Züge mehr. Ein vollkommenes Raubtier. Ein Jäger, der Menschen nach Lust und Laune tötet. Dadurch, dass wir jetzt hier leben, ist es zwar unser Territorium, aber Er sieht es als Spiel an. Und Er wird alles daran setzen, einen Menschen hier in unserem Gebiet zu töten, um uns zu beweisen wie mächtig Er ist. Er hat gesehen, wie ich dich verteidigt habe und es wird Ihm ein besonderes Vergnügen sein, dich als Erste zu jagen.“ „Deshalb willst du nicht, dass wir…! Du möchtest mich vor Ihm beschützen, in dem du dich nicht so oft mit mir zeigst.“ Er nickte leicht. „Hinzu kommt noch, dass ich nicht weiß, was ich tue, wenn ich mit dir zusammen bin. Du bist so zerbrechlich, so… Ich könnte dir jederzeit wehtun. Ich würde es nicht ertragen, wenn ich selbst dich verletze.“ Er war aufgestanden und stand mit dem Rücken zu mir. „Niemals“, begann ich und Taylor wandte sich zu mir um, „Du würdest mir niemals etwas antun. Das weiß ich. Und der Wolf? Lieber lasse ich mich von Ihm zu Tode jagen, als dich zu verlieren. Ich weiß, dass ich dich erst seit einer Woche kenne, aber dennoch habe ich das Gefühl, dass du schon mein Leben lang bei mir warst. Ich habe mich…“ Es war peinlich das vor ihm zu sagen, aber er musste es erfahren. Ich wollte, dass er es wusste, ganz gleich wie seine Entscheidung am Ende lautete. „Ich habe mich mein Leben lang nach dir gesehnt. Immer wenn ich in deine Augen sehe, überkommt mich diese Wärme, ich fühle mich geborgen in deiner Nähe. Nach all diesen Jahren scheint es, als hätte ich meinen Platz im Leben gefunden. Es war schon immer so, dass ich mich nie vollständig mit all diesen Menschen hier verbunden fühlte. Ich liebe meine Eltern und meine Freunde, versteh mich nicht falsch, und ich könnte es nicht ertragen, wenn ich auch noch meinen Vater verlieren würde, aber erst seit Montag bin ich… So lange habe ich auf diesen Tag gewartet. Ich bin es, die es nicht verkraften könnte, dich zu verlieren.“ Ich begann zu weinen und wollte es eigentlich nicht. Es war so albern, denn eigentlich hatte er mir gerade gesagt, dass ich ihm etwas bedeutete. So viel, dass er mich lieber von sich stieß, als mich in Gefahr zu bringen. Ich sollte glücklich sein und fühlte dennoch diese Kälte in meinen Händen, die langsam meine Arme empor kroch und in mein Herz eindringen wollte. Taylor kniete sich vor mich, griff nach meinen Händen und blickte mir ernst in die Augen. „Du setzt das alles einfach so für mich aufs Spiel? Deine Sicherheit, dein Leben, für mich?“ Ein leiser Schluchzer entfuhr meinen Lippen. Er schien in meinen Augen zu erkennen, wie ernst es mir war und dass ich mir, obwohl ich weinte wie ein kleines Mädchen, über die Konsequenzen vollkommen im Klaren war. Jetzt war er es, der seufzte. „Na schön, aber wir werden eine Abmachung treffen.“ „Eine Abmachung? Inwiefern?“ Er wischte mir vorsichtig ein paar der Tränen von der Wange und mein Herz begann zu rasen. Ich war ihm noch nie so nah gewesen wie jetzt und konnte nur schwer an mich halten, um ihn nicht an mich zu ziehen und auf der Stelle zu küssen. Hätte ich nicht bereits auf der Bank gesessen, wäre ich spätestens bei seinem Blick in die Knie gesunken und hätte darauf Platz nehmen müssen. „Hör mir aufmerksam zu, Lilly. Solltest du irgendwann zu viel Angst,…nein, du lässt mich jetzt, bitte, ausreden“, brachte er mich zum Schweigen, weil ich gerade Luft holen wollte, um etwas zu entgegnen. „Solltest du irgendwann zu viel Angst bekommen oder es dir einfach zu gefährlich bei uns, insbesondere bei mir, werden, dann gehst du. Meinetwegen auch ohne ein Wort. Du denkst dabei weder an mich, noch an meine Familie. Einzig und allein dein Leben ist dann wichtig, haben wir uns verstanden? Du wirst dich nicht unnötig in Gefahr bringen, obwohl du das ja eigentlich in diesem Moment schon tust. Im Gegenzug schwöre ich dir, bei allem was mir heilig ist, dass ich dich mit meinem Leben schützen werde. Ich lasse nicht zu, dass dir irgendjemand etwas antut und ich werde mit allen Mitteln verhindern, dass dieser Wolf dich jagt oder schlimmer noch…dich…“ „Mich tötet“, beendete ich den Satz leise für ihn und er nickte langsam. Er holte tief Luft und fragte: „Abgemacht?“ „Abgemacht!“ Ich war mir sicher, dass ich ihn niemals verlassen würde, außer er würde mich fortjagen. Ein wundervoller Sonnenuntergang war hinter ihm zu sehen, doch ich konnte meinen Blick nicht von ihm nehmen. Er wischte mir mit seinem Daumen die letzte Träne von der Wange und küsste mich dann auf die Stirn. „Du musst verrückt sein, freiwillig bei einem Wolf und seiner Familie zu bleiben!“ Ich überlegte kurz. „Ja, das bin ich wohl. Wirst du damit leben können?“ „Ich schätze, ich werde mich damit schon irgendwie arrangieren. Außerdem muss ich selbst ja auch ein wenig verrückt sein. Dich hier zu behalten, nur mit deinem Wort, dass du gehen wirst, solltest du zu viel Angst bekommen. Ich habe nur die Befürchtung, dass du das nicht tun wirst.“ Ich bestätigte ihm diese Vermutung nicht, widersprach allerdings auch nicht. Sollte er denken, was er wollte, ich wusste, dass ich jetzt in diesem Moment nirgendwo anders lieber sein wollte. „Der Wolf und das Mädchen!“ „Beide verrückt.“ „Beide verliebt“, wisperte er und beugte sich ein kleines Stück vor. Es war das erste Mal, dass er es aussprach und wieder katapultierte sich mein Herz fast aus meiner Brust. Sein Atem war so nah, dass ich ihn auf meinem Gesicht spüren konnte. Ich lauschte ihm einen Augenblick und dann küsste er mich. So wundervoll, dass es kaum in Worte zu fassen war. Ganz leicht nur berührten seine Lippen die meinen und ich glaubte unter ihm hinwegzuschmelzen. Es war so leicht, so befreiend, so berauschend. All das zusammen und noch viel mehr. Ich schlang meine Arme um seinen Nacken und wollte ihn nicht mehr loslassen. Währenddessen legte er seine Arme um meine Taille, denn er hockte noch immer vor mir und zog mich fester an sich. Ich fühlte mich so sicher und geborgen. So war es, wenn ich in seine Augen sah oder wenn ich dieses Haus betrat. Und mit jeder weiteren Sekunde wurde mir bewusst, wie sehr er mir dieses Gefühl selbst geben wollte. Er würde niemals zulassen, dass etwas zwischen uns kam. Würde niemals billigen, dass mich dieser Wolf in seine Pranken bekam. Als sich unsere Lippen voneinander lösten, atmeten wir beide schneller. Langsam öffnete ich meine Augen. „Ich hatte ganz vergessen, dass ich Luft zum atmen brauche“, sagte ich und er lachte. Es klang völlig frei und ich wusste, dass er sich endlich im Klaren darüber war, wie viel er mir bedeutete. Und das ich es ernst meinte, wenn ich sagte, ich würde ihn niemals verlieren wollen. „Ich habe gefunden, was ich suchte“, flüsterte er und ich sah ihn einfach nur an. Darauf konnte man nichts erwidern, denn damit erklärte er mir, wie wichtig ich ihm war. Was er für mich empfand. Jetzt erst registrierte ich richtig, dass bereits die Sonne untergegangen war. „Oh mein Gott, wie spät ist es?“ „Was? Ähm,…kurz nach halb Acht. Warum?“ „Wir müssen los. Die Versammlung beginnt um Acht.“ „Mir würde Besseres einfallen, dass man jetzt machen könnte.“ „Sicher, mir auch. Aber willst du nun in dieser Stadt akzeptiert werden, oder nicht?“ Er rollte kurz mit den Augen und seufzte. „Na, siehst du?! Los, lass uns gehen. Wo sind Sean und dein Vater? Es müssen alle anwesend sein.“ „Alle?“ „Ja, doch!“
 

Nach ungefähr fünf Minuten hatten wir sie in der Küche ausfindig gemacht, ihnen schnell bescheid gegeben, dass alle anwesend sein mussten und nun saßen wir im Auto und fuhren auch schon Richtung Stadt. „Um was für Themen geht es denn bei so einer Versammlung?“, fragte mich Sean, der auf dem Beifahrersitz lümmelte. Kenneth fuhr den Wagen, während Taylor und ich uns auf dem Rücksitz niedergelassen hatten. „Meistens wird über bevorstehende Feierlichkeiten oder Ereignisse, wie Bauarbeiten auf den Straßen oder an Gebäuden, gesprochen. Oder es werden Sicherheitshinweise aufgefrischt. Mein Vater meinte aber, dass dieses Mal ein paar wichtige Themen besprochen werden, also wird das wohl alles nicht vorkommen.“ „Und wie lange dauern die?“ „Oftmals nur eine halbe Stunde, kann manchmal aber auch eine Stunde werden. Ich finde es auch albern, aber wie gesagt, man wird mit Ignoranz gestraft, wenn man nicht erscheint. Und glaub mir, das ist wirklich nicht lustig.“ „Hast du das schon durch, oder woher weißt du das?“ „Nein, aber ich kenne jemanden, der hat es erlebt. Irgendwann fühlte er sich einfach nur noch isoliert von allen anderen und seither kommt er nicht mehr zu spät.“ Zehn Minuten vor Acht Uhr kamen wir auf dem Parkplatz der Stadthalle an, obwohl man sie wohl eher nicht so bezeichnen sollte. In Wirklichkeit war es eine ausgebaute Scheune, in der gerade so alle Bewohner der Stadt Platz fanden. Wir stiegen aus und schon begrüßte mich ein Mann nach dem anderen. „Meine Güte, du bist beliebt!“, sagte Sean und zwickte mich in die Seite, ehe Taylor neben mir erschien und nach meiner Hand griff. „Nein, ich wurde nur genau dort drin geboren, wo alle dabei waren. Und ich arbeite bei Henry in der Billardhalle.“ „Bei einer der Versammlungen geboren?“, fragte Taylor mitfühlend und ich sah zu ihm auf. „Mhm, und es wird niemals jemand vergessen, das kannst du mir glauben.“ Ein paar unserer Mitschüler blickten verstohlen auf unsere verschlungenen Hände und ich hoffte inständig, dass ich es meinem Vater vorher selbst erzählen konnte, ehe er es von einem anderen erfuhr. „Er ist da vorn!“ Verblüfft sah ich zu ihm hoch. „Kannst du Gedanken lesen?“ „Nein, obwohl ich manchmal wünschte, ich könnte es bei dir. Aber ich kann mir denken, dass du es ihm selbst erzählen möchtest.“ Ich folgte seinem Fingerzeig und zog ihn mit mir. „Ich werde das nicht allein machen, das sag ich dir.“ Taylors Daumen fuhr beruhigend über meinen Handrücken und ich atmete einmal tief ein, ehe ich meinen Vater begrüßte. „Hey, Dad. Wie lief das Spiel?“ „Oh, Lils. Pünktlich wie immer. Unser Team hat natürlich gewonnen.“ Jetzt erst erkannte er Taylor und nahm wieder diese trotzige Kleinjungenhaltung ein. Oh Dad, dachte ich und schüttelte den Kopf. Was war nur in diesen Mann gefahren? „Dr. Connor.“ „Taylor Wood.“ „Du brauchst nicht seinen ganzen Namen zu nennen. Es gibt nur einen Taylor in der Stadt.“ „Sicher. Was gibt es also, Taylor?“ Der wiederum blickte mich an und ich hätte am liebsten aufgeschrieen. „Dad, ich wollte nur… Ich wollte dir nur sagen, bevor du es von irgendjemandem hörst… Taylor und ich sind zusammen.“ „Ja, zusammen hier, das sehe ich auch, Schatz. Ich bin ja nicht blind.“ „Nein, nein. Fest zusammen, meine ich. Ein Paar.“ Ich glaubte, obwohl es in diesem schummrigen Licht schwer zu erkennen war, dass er purpurfarben anlief. Er brachte kein Wort heraus und sah keinen von uns beiden an. „Dad?“ Ich fasste sein Handgelenk an und fühlte den Puls. Er raste, aber er war da, das war mir wichtig. „Dad? Sprich mit mir!“ Sein Gesicht wandte sich zu Taylor um, der meine Hand fester hielt. Bereit zu rennen, wenn er wie ein Wahnsinniger gejagt werden würde. „Nun…“, begann mein Vater mit einer Stimme, die klang als würde er an seiner eigenen Zunge ersticken, „dann willkommen. Und gib ja auf sie Acht.“ Taylor blickte ihm feierlich ins Gesicht und nickte. Ich wusste, dass er dabei an seinen eigenen Schwur dachte. „Ja, Sir. Das werde ich! Vielen Dank.“ Dann verabschiedete sich mein Vater, mit einem Händedruck für Taylor und mit einem Kuss auf die Stirn für mich, von uns und ging schnurstracks in die Stadthalle. „Nun, das lief besser als ich erwartet hatte. Ich gebe zu, ich hatte Angst, er würde einen Herzinfarkt erleiden, aber…er hat sich wacker geschlagen.“ „Was wäre denn das Schlimmste gewesen, was er mit mir angestellt hätte?“ „Bist du dir sicher, dass du das wirklich wissen willst?“ Er blickte skeptisch, nickte dann jedoch. „Er hätte nach Hause laufen und seine Waffe holen können. Und nach ein paar Runden ums Gebäude, hätte er eventuell klein bei gegeben. Aber auch wirklich nur eventuell.“ „Du bist gefährlicher, als ich angenommen habe“, flüsterte er und beugte sich zu mir hinunter. Er hauchte mir einen Kuss auf die Lippen und ich sagte: „Willst du einen Rückzieher machen?!“ „Nein. Ich denke, mit deinem Vater komme ich klar.“ „Ich bin ja ein wahrer Glückspilz!“ „Mhm. Du solltest dich geehrt fühlen.“ Dann wurde ich mit einem Mal fast von den Füßen gerissen, als ich mich plötzlich in den Armen meiner besten Freundin wiederfand. Ihr hellbraunes Haar schlug mir ins Gesicht und ich hörte sie leise schluchzen. „Carly, was ist denn?“ Sie schüttelte heftig den Kopf. „Ist alles in Ordnung?“ „Alles bestens. Ich freue mich nur einfach für dich, Süße“, wisperte sie so leise in mein Ohr, dass es niemand sonst hören konnte. Doch Taylor lächelte, also hatte er auch als Mensch ein gutes Gehör. Wie viele Dinge gab es wohl noch, die er mir noch nicht erzählt hatte? Ich umschlang sie enger und hauchte zurück: „Danke! Auch dafür, dass du es mir nicht gesagt hast.“ „Dafür sind Freundinnen doch da!“ Sie blickte mich freudestrahlend an und wischte sich die Tränen aus dem Augenwinkel. „Ihr seht so süß zusammen aus…“ Und sie drückte Taylor zur Begrüßung kurz an sich. „Morgen, ja?“, fragte sie mich. „Morgen!“ Ich nickte und schon schwebte sie davon. „Und da haben wir die Befürchtung, wir seien verrückt“, murmelte er vergnügt und ging mit mir in die Stadthalle.

 

Wir setzten uns neben Sean und seinen Vater. Carly hatte mit ihren Eltern hinter uns Platz genommen. Meinen Vater machte ich irgendwo in den vorderen Reihen aus. Er blickte sich nicht um, wahrscheinlich war er zu geschockt und hatte es noch nicht verdaut. Unser Bürgermeister, Mr. Cooper, klopfte mit einem kleinen Hammer auf das Pult. Die allwöchentliche Zeremonie, um die Versammlung zu eröffnen. „Liebe Freunde, es freut mich, dass wieder alle so zahlreich erschienen sind. Und ich darf auch, wie ich vorhin sehen konnte, drei neue Gesichter unter uns begrüßen.“ Er machte eine ausschweifende Handbewegung in die Richtung der drei Woods. Alle Versammelten wandten sich um und sahen sich die ‚neuen Gesichter‘ an. Manche sahen fröhlich aus, andere tuschelten mit ihrem Nachbarn, wieder andere, eigentlich nur Farrah, schienen nicht allzu begeistert, dass ich daneben saß. Ihre Augen funkelten mich rot vor Zorn an und es lief mir eiskalt den Rücken herunter. Bisher hatte ich alles Menschenmögliche getan, um ihre Wut nicht auf mich zu lenken, aber jetzt traf sie mich mit voller Wucht und ich schluckte schwer. Oh ja, morgen wird ein ganz wundervoller Tag werden, dachte ich und blickte zu Mr. Cooper. Sein runder Bauch wackelte, als er lachte und noch einmal den Hammer auf das Pult schlug. Wie dressierte Hunde drehten sich alle Anwesenden zu ihm um. Ich hörte, wie Sean kurz schnaubte, wahrscheinlich verkniff er sich das Lachen. Dann erstickte sein Vater dies mit einem Hieb in seine Rippen. Die waren in der Familie alle so ‚liebevoll‘ miteinander. Ich hoffte, dass mir so was nicht blühte, wenn ich eine freche Bemerkung machte. „Nun, um die Versammlung nicht all zu lang zu halten, werde ich gleich auf die Gesichtspunkte zu sprechen kommen. Sicher werden sich alle daran erinnern, dass das alljährliche Pfingstfest bald ansteht. Wer sich über die genauen Stände informieren möchte, meldet sich bitte bei Holly. Beiträge für die Wettbewerbe werden, bitte, bei mir angemeldet oder bei meiner Frau. Gut, was haben wir noch?“ Er studierte seine Liste und schob irgendetwas vor sich her. So als wolle er dieses Thema überhaupt nicht besprechen. Jetzt war es mein Vater, der sich erhob und unter Beifall seiner Freunde aus dem Jagdverein hinter das Pult stellte. Mr. Cooper schien ihm dankbar und tupfte sich seine schweißnasse Stirn ab. Und dann, als ich das alles zusammen wahrnahm, wurde mir klar, welches Thema behandelt werden sollte. Ich griff verängstigt nach Taylors Hand, der kurz fragend sein Gesicht zu mir umwandte, doch ich schüttelte nur, die Augen fest geschlossen, den Kopf. Er blickte wieder nach vorn, aber ich hatte die kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen förmlich fühlen können. Mein Vater erhob seine Stimme und ich war ein wenig erleichtert, eine gesunde Gesichtsfarbe bei ihm zu erkennen. Doch mir graute vor dem, was er da gleich verkünden würde. „Meine Freunde, sicher werden alle schon davon gehört haben, dass ein paar Wölfe in den Wäldern um unsere Stadt herumschleichen. Bisher haben wir noch nicht viele gesehen, doch es ist wichtig euch eindringlich auf die Gefahren hinzuweisen, die von ihnen ausgehen.“ Taylor erwiderte meinen Griff und ich konnte die Veränderung in ihm wahrnehmen. Sie war fast spürbar und ich wusste nicht, wie lange ich mir das anhören können würde. Jetzt würde all das aufgezählt werden, wovor er mich vorhin hatte warnen wollen. Ich drängte die Tränen zurück, versuchte auch das Keuchen zu unterdrücken, aber das Hämmern meines Herzens gegen die Rippen blieb. „Wir machen regelmäßige Kontrollgänge durch die Wälder, aber wir warnen inständig davor, allein hindurch zu gehen oder auch nur in die Nähe. Sollte euch etwas an den Schafherden oder Rinderherden oben an den Weiden komisch vorkommen oder vermindert sich die Anzahl, informiert eines der Jagdvereinsmitglieder. Morgen kann sich jeder bei der Polizeistation und auch bei Doug zu Hause eine Warnhupe und ein Pfefferspray abholen. Sie sind kein Spielzeug, also gebt sie nicht unbedingt den Kleinen mit. Wir hoffen, dass sich die Wölfe weiter in den Wäldern aufhalten, aber es ist natürlich nicht auszuschließen, dass sie irgendwann in die Stadt vordringen. Bleibt also bei Anbruch der Dunkelheit in den Häusern und haltet die Fenster der unteren Etagen nicht länger als nötig und auch nicht unbeobachtet offen. Für Fragen stehen euch meine Kameraden aus dem Jagdverein und ich gern zur Verfügung. Danke!“ Mr. Cooper bedankte sich bei meinem Vater und klopfte auf das Pult, damit war die Versammlung beendet. „Ich muss hier raus…“, keuchte ich und lief an all den anderen vorbei an die frische Luft. Sie sprachen über „diese furchtbaren Bestien“, alle hatten sie unglaubliche Angst und das Getuschel, was eigentlich keiner hören sollte, dröhnte in meinen Ohren. Ich hörte, wie Taylor mich rief, doch ich konnte nicht länger hier drin bleiben.

Unter einem der Bäume vor der Stadthalle sank ich zusammen. Es war so furchtbar zu hören, was die Leute von ihnen dachten, zu ahnen, was sie mit ihnen tun würden, sollten sie von einem der Anwohner gesehen werden. So schlimm sich vorzustellen, dass sie sie jagen würden wie wilde Tiere. Die Menschen strömten lachend und sich unterhaltend aus dem Gebäude und ich fühlte mich erbärmlich. Sie alle hatten keine Ahnung, dass sich bereits Wölfe unter ihnen befunden hatten. Und sie hatten es doch überlebt, oder etwa nicht? Tränen rannen ungehindert mein Gesicht herab. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie unangenehm es für die Woods sein musste zu hören, was man vorhatte. Das Schlimmste allerdings war noch, dass ich sie dazu getrieben hatte, her zu kommen. Es war meine Schuld, dass sie sich zu ihnen gesetzt hatten. Die kühle Luft half mir, mich zu beruhigen und dann stand Taylor neben mir. „Hey.“ „Hey“, schluchzte ich. Schon wieder sah er mich heulen. Das wie vielte Mal war das jetzt? Mindestens das Dritte. „Geht‘s wieder?“ Ich nickte nur, dann reichte er mir seine Hände und zog mich auf die Füße. „Es tut mir leid.“ „Wofür entschuldigst du dich? Dafür, dass du Gefühle besitzt? Das musst du nicht. Aber du solltest das nächste Mal nicht alle Sicherheitshinweise in den Wind schlagen und im Dunkeln allein nach draußen rennen. Sie wurden doch eben erst erklärt, so schnell kannst du die nicht vergessen haben.“ Ich wusste nicht wie, aber er schaffte es immer wieder, mir die Tränen zu nehmen ohne mich dafür böse angucken zu müssen. Er zog mich an sich und ich kuschelte mich bereitwillig an ihn. „War es nicht furchtbar das zu hören?“, fragte ich. „Das ist noch gar nichts, glaub mir.“ „So schlimm, ja?“ „Nun ja, dein Vater hat ja nicht genau gesagt, was sie mit den Wölfen tun, wenn sie sie haben. In gewisser Weise hat er es also sehr beschönigt.“ Ich zitterte einmal kurz und heftig, dann blickte ich zu ihm auf. Er sah so ruhig und friedlich aus, so als hätte er das da drinnen überhaupt nicht wahrgenommen. „Du lässt es an dir abprallen!?“ Es war mehr Feststellung als Frage und Taylor nickte. „Wenn du es nicht weit genug an dich ranlässt, lebst du besser damit. Das habe ich in all den Jahren in Kentwood gelernt. Ich will nicht sagen, dass es mir völlig egal ist. Aber was ändert es, wenn ich mich darüber aufrege?“ „Nichts, nehme ich an.“ „Und außerdem gibt es ja auch noch den schwarzen Wolf dort draußen. In gewisser Weise ist es also gut, dass sie belehrt wurden.“ Es war so beneidenswert, wie er mit dieser Situation umging und ich war in diesem Moment einfach nur froh, dass er bei mir war. Froh, dass er sich für mich entschieden hatte und nicht gegen mich. Mein Vater stand ein Stück von uns weg und räusperte sich. Ich blickte mich langsam zu ihm um. „Komm, Lils. Wir fahren jetzt nach Hause.“ „Ist gut.“ Er wandte sich zu seinem Auto um und ließ uns Zeit, uns zu verabschieden. „Wir sehen uns dann morgen in der Schule“, sagte ich und er lächelte leicht auf mich hinunter. „Ich werde da sein.“ „Keine gefährlichen Spaziergänge im Wald! Versprich es mir.“ „Alles, was du willst, Lilly.“ Wir küssten uns kurz und wieder wäre ich fast dahingeschmolzen. Mit weichen Knien ging ich meinem Vater nach und winkte Sean, Kenneth und dann Carly auf der anderen Seite der Straße zum Abschied. Sie formte das Wort „morgen“ mit ihrem Mund und ich nickte lächelnd. Morgen würde ich ihr von dem wundervollen Tag erzählen, aber im Moment genoss ich ihn innerlich selbst. Ich stieg ins Auto und kuschelte mich in meine Fleecejacke. Erst dann fiel mir auf, dass er nicht gesagt hatte, dass er es versprach.

 

Als mich Carly am nächsten Morgen mit ihrem Auto abholte, lächelte ich noch immer. Selbst mein Vater hatte mir die Laune nicht verderben können, als er mich strafend angeblickt hatte. Ich war früh aufgestanden, hatte ihm Kaffee gekocht und mich, so kam es mir zumindest vor, leicht schwebend durchs Haus bewegt. Jetzt saß ich im Auto und Carly lachte. „Meine Güte, als wäre dir ein Engel ins Gesicht gesprungen.“ „Das Leben ist wunderbar, ER ist wunderbar. Es ist einfach alles…“ „Wunderbar?“ „Ja.“ Ich erkannte mich selbst nicht wieder und für Carly musste ich aussehen, als käme ich von einem anderen Stern. Ganz meiner Gefühlslage an diesem Morgen entsprechend hatte ich mich angezogen. Ich trug einen weißen Pullover mit zwei fliederfarbenen Schmetterlingen auf der unteren rechten Seite, eine helle Jeans und meine Ballerinas, ebenfalls weiß. Wie sollte ich heute einen schlechten Tag haben? Alles war ganz anders und doch so wundervoll. „So…und jetzt erzähl, wie ist es passiert? Wie seid ihr zusammengekommen?“ Ich erzählte ihr, wie wir uns auf meinem Nachhauseweg begegnet waren und er mich, ganz der Gentleman, nach Hause gebracht hatte. Die Stelle mit dem Wolf ließ ich aus und erklärte, dass ich dann irgendwie bei den Woods gelandet war und beim Einzug half. Von der Verabschiedung erzählte ich ihr in allen Einzelheiten. Wie ich mich gefühlt, warum ich den Mut gefasst hatte, ihn auf die Wange zu küssen. Während ich aus dem Auto stieg, kontrollierte ich, ob das Motorrad da war. Es glänzte in der Sonne und strahlte mich an. Als wir an der Schule ankamen, war ich gerade dabei vom Sonntagsessen zu erzählen, als sich uns Farrah in den Weg stellte. Sie warf ihr Haar zurück und hatte ihre beiden dressierten Affen, Cara und Celine, dabei. Das waren eineiige Zwillinge, die alles nachplapperten, was Farrah ihnen vorbrabbelte. Sie sahen ihrer ‚Anführerin‘ ziemlich ähnlich, was wohl daran lag, dass sie ihr nacheiferten, denn eigentlich hatten beide braunes Haar und braune Augen. Aber mit Haarfärbemittel und Kontaktlinsen bekam man ja alles hin. „Was gibt es, Farrah?“, fragte Carly, doch die Cheerleaderin reagierte nicht und starrte mich weiter an. „Wie kannst du es wagen?“, zischte sie und ich war verwirrt. „Was, dir in den Weg zu treten? Soweit ich weiß, warst du das, nicht ich!“ „Du weißt ganz genau, was ich meine. Wood gehört mir und da tauchst du einfach bei der Versammlung mit ihm auf.“ „Wie ich gehört habe, sogar in seinem Auto“, plapperte Cara dazwischen und Farrah brachte sie mit einer raschen Handbewegung zum Schweigen. „Er ist ein Mensch und kein Gegenstand, den man besitzen kann“, widersprach ich. ‚Zumindest öfter ein Mensch als ein Wolf‘, dachte ich bei mir. „Das wird dir leid tun, glaub mir. Niemand drängt sich zwischen mich und einen Mann.“ „Ich habe mich gewiss nicht dazwischengedrängt. Er war ja nicht mal an dir interessiert, also lass mich in Ruhe.“ Ich griff nach Carlys Hand und zog sie mit mir. „Connor!“, rief Farrah und ich wandte mich um. „Was ist denn noch?“ Meine Güte, konnte ich schnippisch sein. „Mach dich auf was gefasst!“ Sie schmiss ihr Haar nach hinten, Cara und Celine taten es ihr gleich und zusammen zogen sie mit klappernden Absätzen von dannen. „War das gerade eine Kampfansage?“, fragte Kelly, die hinter uns aufgetaucht war. „Ich schätze schon“, meinte Carly und drehte mich zu sich herum, „Herzlichen Glückwunsch, Süße. Du bist jetzt ganz offiziell eine ihre Konkurrentinnen.“ „Oje, kann man davon noch irgendwie zurücktreten?“ „Nein, dieses Amt wirst du besetzen müssen. Außer du machst mit Taylor Schluss.“ „Niemals!“ „Dann solltest du dir schleunigst überlegen, wie du sie von ihm fernhältst.“ Ich verabschiedete mich auf dem Flur, denn ich musste jetzt in den neuen Mathekurs. „Wir machen nachher Pläne, ja?“ „Ja, natürlich, Süße. Wir überlegen uns schon den Anfang eines Schlachtplanes.“ „Carly, ich führe keinen Krieg.“ „Noch nicht, Lilly, noch nicht!“ Sie und Kelly bogen in den anderen Flur ab. Ich hatte ganz vergessen, wie ernst sie solche Kampfansagen immer nahm. Aber bisher hatten die mir persönlich ja noch nicht gegolten. Es war wahrscheinlich ganz gut, wenn ich sie, als ‚erfahrene Kämpferin‘, an meiner Seite hatte. Farrah würde nur mit Cara und Celine Vorlieb nehmen müssen. ‚Und dem Rest der Cheerleader‘, dachte ich und wartete mit den anderen Schülern vor dem Klassenraum. Als ich mich umsah, erkannte ich kein einziges bekanntes Gesicht. Fünfundvierzig Minuten ohne eine Freundin, ohne Taylor. Es war frustrierend. Jetzt waren wir zusammen und sahen uns noch weniger. Er hockte gerade mit Carly und Kelly in einem Raum auf der anderen Seite des Gebäudes und ich saß hier fest, nichts ahnend, was auf mich zukommen würde. Und dann führte nicht einmal Hastings den Unterricht, nein, einer seiner wundervollen Mathematikerfreunde, die er immer so gern erwähnte, würde das übernehmen. Dr. Kensington. Klingt nach einem älteren Herrn aus dem guten alten England, wenn Sie mich fragen. Doch ich wurde kurz darauf eines besseren belehrt.

Eine kleine schmächtige Frau mit freundlichem Gesicht und einer dünnen Brille auf der langen, spitzen Nase kam forschen Schrittes auf uns zu. „Entschuldigen Sie, meine Lieben. Ich wurde von einem der Kollegen aufgehalten und wenn der einmal ins Plaudern gerät, ist er einfach nicht zu stoppen. So, dann mal rein mit den Herrschaften.“ Ich suchte mir einen freien Platz und ergatterte ganz leicht einen in der Mitte. Die Klasse schien sehr übersichtlich. Entweder gab es nicht viele Schüler, die Hastings für diese Klasse empfahl oder aber, die meisten waren schlau genug, sich nicht dabei erwischen zu lassen, wie sie die schwereren Matheaufgaben lösten. „Wie Mr. Hastings mir mitteilte, haben wir ab heute einen Neuzugang. Wer ist denn das?“ Ich hob meine Hand und die Dame schaute mich freudestrahlend an. „Na, endlich mal wieder eine junge Dame in unseren Reihen. Dann ist es ja wieder ausgeglichener, nicht wahr? Schön, schön. Und ihr Name ist?“ „Lilly Connor, Ma‘m.“ „Oh, die Tochter des Doktors, ja? Na, dann herzlich willkommen, Ms. Connor. Sollten Sie Fragen haben, wenden Sie sich ruhig vertrauensvoll an mich oder Ihre neuen Mitschüler.“ „Danke.“ „Na, dann werden wir gleich mal starten, nicht wahr? Ich habe heute zwei wunderbare Aufgaben herausgesucht. Mal sehen, wer sie als Erstes lösen kann…“ Ich war überrascht, wie schnell die Zeit verging und wie viel Spaß ich hatte. Diese Frau gefiel mir und ich war zum ersten Mal richtig froh über meine Entscheidung, Mr. Hastings zugesagt zu haben. Sie ließ uns fünf Minuten früher gehen, weil wir alle so wunderbar mitgearbeitet hatten und ich konnte gemächlich zur Turnhalle gehen. Ich wartete nur zwei Minuten allein dort und schon waren auch Carly, Kelly, Mia und Elli da. Und auch Taylor.

Er umarmte mich seitlich und ich verlor ein wenig das Gleichgewicht. „Ich hatte völlig vergessen, dass du jetzt in eine andere Matheklasse gehst. Ehe mir Carly erzählt hat, wo du bist, hab ich mir Sorgen gemacht.“ „Entschuldige.“ „Und wie war es so?“, fragte nun Kelly und blickte mich erwartungsvoll an. „Ich habe nicht geahnt, wie viel Spaß Mathe machen kann, wenn man es mit dem richtigen Lehrer hat. Ehrlich. Sie ist eine alte nette Dame, die alles wunderbar und schön findet, dass ihre Schüler tun. Wir haben zwei Aufgaben zu lösen bekommen und mit der einen hatte ich echt meine Probleme, aber es war toll. Und sie gibt fast nie Hausaufgaben auf, obwohl sie viel von Selbststudium hält.“ Ich zeigte ihnen meinen Block und Carly schaute verzweifelt auf die vielen Zeichen, Formeln und Zahlen. „Willst du mir ernsthaft weis machen, dass du weißt, was du da rechnest?“ „Sicher, soll ich es dir erklären?“ „Bloß nicht, mir dreht sich jetzt schon der Kopf.“ Ich lachte mit den anderen und sie gab mir den Block zurück. Farrah und ihre Schoßhündchen kamen, wie immer für den großen Auftritt, etwas später, als alle anderen. Sie gingen nah an unserer Gruppe vorbei und Carly war bereit zurückzuschlagen, sollte Farrah einen Kommentar über uns fallen lassen. „Hallo, Taylor“, flötete sie und Cara und Celine winkten ihm zu. Er drückte mich instinktiv näher an sich und ich sah förmlich die roten Funken in ihren Augen sprühen. „Sollte ich wissen, wer das ist?“, fragte er und ich lachte kurz. „Meine Güte, Taylor. Es gibt ja nicht nur Lilly hier auf unserer Erde“, belehrte ihn Carly, wobei Elli und Mia hinter ihr standen und dasselbe Gesicht aufsetzten, wie Cara und Celine. Es war eine sehr gekonnte Parodie auf das Cheerleader-Trio und sogar einige der Jungs lachten. In diesem Moment wusste ich, dass ich die besten Freunde hatte, die man sich nur wünschen konnte. Wenn ich die und Taylor an meiner Seite hatte, warum sollte ich mich da vor Farrah fürchten?

Knochenbrecher und Coach Turner erschienen endlich und schlossen uns die Umkleiden auf. Dieses Mal folgte kein Volleyballspiel mit den Jungs und so hatten Carly und ich Zeit, während die anderen an den Folterinstrumenten trainierten, weiter über mein Wochenende zu reden. Ich schilderte ihr den Kuss und sie fieberte mit mir und seufzte laut auf, als ich sagte, wie es sich angefühlt hatte. „Oh, wie wunderbar!“ „Sag ich doch!“ Wir beide lachten, dann stießen Kelly und die beiden Gipsleidenden zu uns. Endlich bekam ich den Schlachtplan zu hören. Sie hatten sich mehr überlegt, als mir lieb war, deshalb beruhigte ich erst einmal alle, als sie sich langsam in Rage redeten. „Mädels, das ist ja wirklich ein sehr ausgereifter Plan, aber ehe der ausgeführt wird, warten wir bitte ab, was Farrah plant. Ich will nicht wild drauf los schlagen, wenn sie mich nachher als Böse hinstellen kann.“ „Meinst du, sie ist so schlau? Dich machen und dann ins offene Messer laufen lassen?“, fragte Kelly und alle anderen blickten mich an. „Schlau vielleicht nicht, aber hinterhältig. Wenn es um Jungs geht, traue ich ihr fast alles zu.“ „Recht hat sie, mit der ist nicht zu spaßen!“, pflichtete mir Mia bei und Carly nickte. „Und genau deswegen, ist es gut dich als Komponente im Plan zu haben, Süße. Du behältst einen ruhigen Kopf und wir haben somit einstimmig beschlossen, abzuwarten. Sind alle dabei?“ Die Mädels nickten verschwörerisch und ich fühlte die Stärke, die von jeder ausging. „Ihr seid die Besten!“, rief ich aus und wollte am liebsten gleich alle auf einmal umarmen. „Jetzt werde ja nicht gefühlsduselig. Meine Schminke ist heute nicht wasserfest“, antwortete Carly und ich lachte. „Ob ich die Damen, dann zum Sport bitten dürfte?!“ Wir zuckten alle zusammen. „Sicher, Ms. Edwards. Wir fliegen bereits!“ Mia und Elli gingen zurück zu den Bänken und Kelly, Carly und ich machten uns zum heutigen Folterinstrument auf.
 

Im Kunstunterricht angekommen, saß ich einfach nur vor meinem Bild. Mir schien jetzt alles falsch zu sein. Es stimmte gar nichts mehr daran und ich überlegte gerade, ob ich von vorn beginnen sollte, als Mrs. Winters hinter mir erschien. „Lilly, heute keine Inspiration?“ „Doch schon, aber irgendwie scheint mir das alles falsch zu sein.“ „Was, dein Leben?“ „Zumindest das Gemalte. In einer Woche hat sich so viel geändert und ich…ich überlege, ob ich neu anfange.“ „Nichts in deinem Leben sollte einfach so weggelassen werden. Ich schlage vor, du holst dir einfach einen größeren Rahmen, überträgst das, was du schon hast und malst das Neue dazu.“ „Meinen Sie, das geht in Ordnung?“ „Sicher, ich habe euch doch keine Grenzen gesetzt. Weder in der Größe noch in der Weite eures Lebens. Wir haben hier so viel Platz, geh ruhig. Nebenan sind die Rahmen.“ „Danke, Mrs. Winters.“ „Keine Ursache, meine Liebe. Dafür bin ich doch da.“ Und schon schwebte sie gut gelaunt zum nächsten Schüler. Ich suchte mir einen neuen Rahmen, stellte ihn ganz hinten im Raum auf, um die anderen nicht zu stören und begann damit das ‚Alte‘ zu übertragen. Es fühlte sich richtig an und ich konnte es sogar noch verbessern.
 

In der Mittagspause gesellte sich Taylor mit ein paar Jungs zu unserer Mädchentruppe. Er nahm mir gegenüber Platz und ich beobachtete ihn verträumt. Als er von seinem Tablett aufsah, bemerkte er, dass ich noch nichts gegessen hatte. „Geht es dir gut?“ „Sicher!“ „Dann iss was, du sollst mir ja nicht umfallen heute Nachmittag.“ „Sicher!“ „Bei dir ist wirklich alles in Ordnung?“ „Sicher!“ „Ach herrje, jetzt hau ihr doch mal bitte einer den verträumten Blick aus dem Kopf“, seufzte Carly und fügte hinzu: „Den hat sie seit Kunst.“ Sie stand auf und winkte wie wild vor meinen Augen herum. Ich blinzelte kurz und sah sie dann erschrocken an. „Carly! …Ich hab es wieder getan, ja?“ „Mhm.“ „Danke“, flüsterte ich und sah betreten auf meine im Schoß gefalteten Hände. „Darf man fragen, was los ist?“, erkundigte sich Taylor und gerade, als ich ihn ansehen wollte, um es ihm zu erklären, fuhr mich Carly scharf an. „Ah! Erst isst du ein paar Happen, dann kannst du ihn gerne wieder ansehen.“ Wie ein kleines gehorsames Kind, biss ich ein paar Mal von meinem Sandwich ab und leerte meinen Jogurt. Dann sah ich zu ihm auf. „Seid Kunst bin ich irgendwie nicht ganz ich selbst. Keine Ahnung, woran es liegt.“ „Zu viele von den verschiedenen Farbdämpfen wahrscheinlich“, meinte einer der Jungs. „Ich male mit Acryl, da gibt es keine Dämpfe!“ „Ach na dann, wirst du wohl einfach verrückt sein!“ Taylor und ich grinsten uns beide gleichzeitig an und wussten, woran wir dachten. Der Moment vor dem Kuss. Insbesondere das Gespräch davor. Wir hatten uns beide eingestanden, dass wir verrückt waren. „Nun bringt es schon hinter euch“, seufzte ein anderer Junge und ich beugte mich zu Taylor. Er küsste mich und ein wohliges Kribbeln breitete sich in meinem Innern aus. Als ich meine Augen wieder öffnete, bemerkte ich, dass jemand hinter ihm stand. Farrah starrte mich an, ich glaubte zu sehen, wie sie grün anlief. Dann stolzierte sie erhobenen Hauptes von dannen. „Ich glaube, jetzt hab ich es geschafft, oder?“ Die Mädels nickten langsam. „Was denn?“, fragte Taylor und ich blickte ihn traurig an. „Ich denke, wir könnten jetzt ein kleines Problem kriegen. Eines…das man nicht mit Körperkraft lösen kann, fürchte ich.“ „Wir werden abwarten müssen. Etwas anderes können wir nicht tun!“, sagte Carly und die Mädels nickten wieder.
 

Als der Unterricht endlich vorbei war, standen Taylor und ich noch eine Weile mit den Mädchen auf dem Platz vor der Schule. Carly und Kelly hatten beschlossen, mich heute Nachmittag bei meiner Schicht in Henrys Billardhalle zu besuchen. Mia und Elli warteten auf die Eltern der Letzteren und würden endlich ihren Gips loswerden. Dann schnappte sich mein Freund sein Motorrad und schob es neben mir her, als wir uns auf den Weg zu meinem Haus machten. Es war einfach zu toll diese Worte zu sagen. Mein Freund. Wir kamen bei Henry vorbei, wo er es abstellte, um dann für eine halbe Stunde mit zu mir zu kommen. „Ist Farrah wirklich so intrigant?“, fragte er und blickte gelegentlich zum Wald. „Sie hat es faustdick hinter den Ohren. Carly und sie sind Rivalinnen seit der vierten Klasse. Seither stehen alle Jungs auf die beiden und es ist ein ziemlich ausgewachsener Krieg zwischen ihnen ausgebrochen.“ „Fast alle“, berichtigte er mich. „Ja, fast alle. Entschuldige vielmals.“ Ich lächelte. „Was für Fähigkeiten hast du mir noch verschwiegen?“ Wenn ihn diese Frage überrascht hatte, schien er es gut verbergen zu können. Ich wollte nicht mehr über die Cheerleaderin reden und hatte den erstbesten Gedanken ausgesprochen, der mir eingefallen war. „Was soll ich denn noch können?“ „Nun ja, du hörst besser als andere, du wirkst anziehender auf uns. Und du kannst meinen Duft verfolgen… Sonst noch was?“ „Ich bin schneller, als andere.“ „Deshalb deine rasante Fahrweise?“ „Woher…?“ Er blickte mich von der Seite her an. „Sean hat es am Telefon erwähnt und du warst innerhalb von zirka fünf Minuten an unserem Haus. Obwohl der Fahrtweg eine Viertelstunde von euch aus beträgt.“ „Sollte ich im Sport nicht aufpassen, kann es auch passieren, dass ich einen neuen Rekord aufstelle. Außerdem sind Sean, mein Vater und ich auch stärker als andere.“ „Ja, gut, das hatte ich mir fast gedacht.“ „Das war es auch schon. Genug, wie ich finde.“ „Durchaus.“ Ich schloss die Haustür auf und erstarrte im Türrahmen. „Was ist los?“, fragte er leise und legte mir seine Hände auf die Schultern. „Ich dachte nur eben, mich hätte jemand gerufen.“ „Ich habe nichts gehört.“ „Dann wird es wohl Einbildung gewesen sein.“ Ich machte eine Handbewegung, die den Gedanken verscheuchen sollte, aber irgendwo in meinem Unterbewusstsein drängte sich da eine Idee auf. Es war unmöglich es in Worte zu fassen, aber da waberte eine Frage tief in meinem Kopf. Vielleicht würde es mir später einfallen. „Möchtest du was trinken? Ich habe gestern Abend noch Eistee gemacht.“ „So spät noch?“ „Ich hatte viel überschüssige Energie, die ich irgendwo loswerden musste. Normalerweise koche ich dann irgendwas, aber das schien mir halb zehn am Abend doch etwas übertrieben.“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich nehme ein Glas. Danke!“ Während ich zwei Gläser aus dem Schrank holte, ließ er sich auf den Stuhl sinken, auf dem er auch am Sonnabend gesessen hatte. Als ich den Krug aus dem Kühlschrank holte, bemerkte ich aus dem Augenwinkel, wie er sich umsah. „Du kannst dir das Haus gern ansehen. Eures kenne ich ja schließlich auch schon“, erklärte ich und er sah mich an. ‚Wie ein kleiner Junge, der beim Kekse naschen erwischt wurde‘, dachte ich. „Ist das wirklich okay für dich?“ „Sicher, ich habe keine Geheimnisse vor dir. Obwohl du vielleicht das Schlafzimmer meines Vaters auslassen solltest. Der hat das nicht so gern, wenn er nicht da ist.“ Ich deutete in die Richtung, wo sich das Zimmer befand. Er nickte verständnisvoll und trank einen Schluck Eistee. „Komm, ich führ dich rum.“ Taylor schien erleichtert, dass ich ihn nicht alleine herumlaufen ließ. Zuerst sahen wir ins Wohnzimmer, wo man unweigerlich dran vorbeikam, wenn man vom Flur in die Küche wollte. Es war mit dunklem Holz verkleidet und hatte grüne Stuckleisten. „Das hast du sicher schon gesehen!“ Er nickte und bemerkte die vielen Geweihe, die über dem Kamin hingen, den wir schon lange nicht mehr benutzt hatten. „Ich habe ihm bei jedem einzelnen dieser Dinger gesagt, dass ich sie grässlich finde, aber es ist sein Hobby. Schwer es ihm auszureden.“ Ich zuckte die Achseln. „Hat er die alle selbst geschossen?“ „Viele. Manche sind aber von allein gestorben und er fand die Geweihe schön. Vielleicht verbindet er auch Erinnerungen mit den Tieren, ich bin mir nicht sicher.“ Ich blickte auf die grüne alte durchgesessene Couch und die passenden zwei Sessel. Nach all den Jahren liebte ich diese Stücke noch immer am meisten an diesem Zimmer. Ebenso wie das Klavier, an dem meine Mutter immer gespielt und es mir halbwegs beigebracht hatte. Nun ja, zumindest hatte sie es versucht. Dann zog ich ihn mit mir in das Badezimmer, das sich hinter dem Schlafzimmer meines Vaters befand. Es war aus grünen Kacheln und eine alte Badewanne war passgenau in die Ecke eingelassen worden. „Das war das meiner Eltern.“ Mehr konnte ich nicht sagen. Ich war so lange nicht mehr hier drinnen gewesen und jetzt spürte ich die Anwesenheit meiner Mutter. Früher hatten wir hier beide sonntags immer zusammen gebadet. „Wollen wir weiter?“ Taylor nickte und sah mich mit sanften Augen an. Für ihn schien ich ein offenes Buch zu sein. Wir stiegen die Treppen hinauf und ich führte ihn rechts entlang, zum Arbeitszimmer. Hier war alles steril in weiß gehalten mit dunklen Kirschholzmöbeln. Ein riesiger Schreibtisch, drei Regale voll medizinischer Lektüre, eine alte Brauttruhe und eine gigantische Standuhr. „So stelle ich mir das Arztzimmer deines Vaters vor“, sagte Taylor und schien die Bücher gleich selbst lesen zu wollen. „Es sieht fast so aus. Die Truhe und die Uhr hat er dort nicht.“ Ich schloss die Tür und führte ihn in mein Badezimmer, gleich links neben diesem Zimmer. Es war lila, aber kein dunkles, sondern zart fliederfarben. Eine Dusche stand hinter der Tür. „Zwei Waschbecken? Brauchst du so viel Platz?“ Ich schluckte schwer und schüttelte leicht den Kopf. „Das Arbeitszimmer war eigentlich als zweites Kinderzimmer gedacht. …Meine Mutter war schwanger, als sie den Unfall hatte.“ „Oh, Lilly, ich wollte nicht…“ „Du hast es doch nicht gewusst. Du brauchst dich nicht schuldig zu fühlen.“ Langsam schloss ich die Tür und sagte: „Sie war im zweiten Monat. Ich rede mir immer ein, dass das kleine Ding nicht viel gespürt hat, weil es ja noch so winzig war, aber…es war ein Leben, nicht wahr?“ Er legte von hinten seine Arme um mich und ich drückte mich mit geschlossenen Augen an ihn. Seine Lippen berührten ganz sachte meinen Hals. Ich konnte nicht mehr weinen. Zu lange hatte ich um mein kleines Geschwisterchen und meine Mutter getrauert. Noch immer fand ich es grausam, dass sie beide so früh gehen mussten. Diese wundervolle Frau, die noch so viel geplant hatte. So viel Liebe und Wärme zu geben hatte. Und genau aus diesem Grund glaubte ich auch nie an einen Unfall. Es musste etwas passiert sein. Meine Mutter war keine draufgängerische Fahrerin gewesen und schon gar nicht, da sie ein Kind erwartete. Ich holte einmal tief Luft und verwahrte all diese Gedanken, wieder in dem kleinen imaginären Kästchen in meinem Herzen. „So…jetzt kommen wir zu meinem Heiligtum.“ Taylor spürte die Veränderung in mir, ließ aber noch immer seine Hände auf meinen Schultern. Er wollte, dass ich wusste, dass er da war. Und ich war ihm dankbar. Es bedurfte keiner Worte. Seine Nähe zu spüren, ihn zu fühlen, war genug. Ich öffnete die Tür und trat mit ihm ein. Das weiße Bett stand an der Wand gleich gegenüber der Tür. Es ragte ein Stück weit in den Raum. Der Nachttisch mit dem ungeliebten Wecker befand sich daneben. Hinter der Tür folgte der große weiße Kleiderschrank, dann die Tür, die zum Badezimmer führte. Gegenüber dem Bett, links neben der Eingangstür, stand der Schreibtisch mit meinem Laptop. Darüber war ein Wandbild angebracht in Form eines Schmetterlings, der die ganze Wand einnahm. Seine Silhouette war in roter Farbe angemalt worden. Ein paar Sitzkissen lagen vor dem Fenster. Die Wände, woran das Bett stand und sich das Fenster befand, waren rot gestrichen, die anderen beiden in einem Creméton. „Was denkst du?“, fragte ich vorsichtig und sah ihm ins Gesicht. Seine Augen tauchten tief in meine und er sagte: „Es spiegelt ganz und gar dich wider.“ „So hat das noch niemand gesagt. Danke!“ „Hast du es selbst eingerichtet?“ „Ich habe meinen Eltern gesagt, welche Möbel ich haben möchte und die Wände dann mit meiner Mutter gestrichen. Sie fand meine Ideen immer ganz toll und hat vieles so umgesetzt, wie ich es vorgeschlagen habe.“ „Deshalb verstehst du dich auch so gut mit meinem Vater…“, schloss er. „Hauptsächlich liegt es daran, dass ich ihn sehr gern hab. Und vielleicht ein bisschen daran, dass wir uns mit Farben gut auskennen.“ Auf seinem Gesicht zeichnete sich wieder dieses schiefe Lächeln ab und wir gingen gemeinsam runter in die Küche. „Ich war übrigens ziemlich beeindruckt, wie gut du dich mit meiner Familie verstehst“, verkündete er, nachdem er einen Schluck Eistee getrunken hatte. In seinen Augen funkelte so ein seltsames Glitzern, ich glaubte, es erkannt zu haben und schüttelte leicht den Kopf. „Du machst dir Sorgen wegen Sean, stimmt‘s?“ Er senkte den Blick und ich ging um die Theke herum, um mich an ihn zu kuscheln. „Sean ist…“, begann ich und rollte mit den Augen, „Er ist eben Sean. Und du bist Taylor…mein Taylor. Nicht mein Eigentum, gewiss nicht, aber ich gehöre zu dir. Zu niemandem sonst. Keiner weckt in mir solche Gefühle, wie du. Bei dir…fühl ich mich sicher,…geliebt.“ Seine Arme schlangen sich um mich und er zog mich fest an seine Brust. So verharrten wir ein paar Minuten, bis ich mich von ihm lösen musste. „Tut mir leid, aber meine Schicht bei Henry fängt bald an. Er hasst es, wenn man unpünktlich ist.“ „Warum arbeitest du noch mal da?“ „Ich spare auf ein Auto. Nicht mehr lange, dann kann ich kürzer treten.“ „Nicht ganz aufhören?“ „…Irgendwie sind die Jungs dort, Teil meines Lebens geworden. Ich glaube, ich höre erst ganz auf, wenn ich mit der Schule fertig bin.“ Wir leerten die Gläser, ich stellte sie in die Spüle, schnappte mir Tasche und Schlüssel und wir verließen das Haus. Und dann, als wir an dem kleinen Waldstück vorbeikamen, an dem wir schon so viel erlebt hatten, drängte sich endlich die Frage nach vorn in meinen Kopf. „Klingt vielleicht irgendwie merkwürdig, aber als du auf der Lichtung dazu kamst, hast du mir oder dem Wolf irgendetwas mitteilen wollen?“ „Was meinst du mit ‚mitteilen‘?“ „Du hast geknurrt, tief und bedrohlich. Hast du irgendwas damit sagen wollen?“ Einige Momente lang beobachtete mich Taylor nur, dann erinnerte er sich daran, dass ich wahrscheinlich eine Antwort hören wollte. „Ich habe dich beschützen wollen.“ „Ja, das ist mir schon klar. Und dafür bin ich dir auch sehr dankbar. Aber hast du einen bestimmten Satz in diesem Knurren benutzt?“ „Wie kommst du auf so eine Frage?“ Er schien ernsthaft daran zu zweifeln, ob ich selber wusste, was ich da redete. „Okay. Versprich mir, dass du nicht lachst oder mich für noch verrückter hältst als vorher.“ Taylor lachte kurz auf. „Wieso sollte ich…?“ „Versprich es mir!“ „Ja,…ja, ich verspreche es dir.“ „Als ich dich nicht sehen konnte und nur das Knurren hörte, war ich der Meinung, dass du mit mir gesprochen hast. Anfangs klang es beängstigend, aber ich fühlte keine Angst. Und ich hörte etwas. Ich bin mir jetzt nicht mehr sicher, ob es in meinem Kopf oder mehr in meinem Herzen war, aber ich hatte bereits die Ahnung, dass du es warst, der mir zu Hilfe kam.“ „Und was glaubst du, gehört zu haben?“ Er war ernst, zu ernst. Konnte ich Recht haben? Machte er sich jetzt Gedanken darüber, ob er bei mir bleiben sollte oder nicht? Ich wollte es nicht in seinen Augen lesen und so sah ich auf den Asphalt vor mir. „Es klang wie ‚Wenn du dich bewegst, kann ich dich nicht vor ihm beschützen. Bleib, bitte, ruhig!‘“ Taylor blieb so abrupt stehen, dass ich zurückgerissen wurde, weil er noch immer meine Hand hielt. „Was ist?“, fragte ich ihn und er sah mir in die Augen. Sie waren nicht vor Schreck oder Entsetzen aufgerissen, sondern vor Erstaunen. „Du hast Recht. Ich habe dich warnen wollen.“ „Dann war es Zufall, dass ich genau das angenommen habe.“ „Lilly, das war wortwörtlich das, was ich gesagt habe.“ Langsam ging er weiter und war mit den Gedanken plötzlich ganz woanders. ‚Vielleicht hätte ich es ein andern Mal erwähnen sollen‘, dachte ich und sah bereits die Billardhalle vor uns auftauchen. „Weißt du, bevor wir uns verwandeln, befinden wir uns in einem Stadium, wo sich das menschliche mit dem Wolf vermischt. Es ist uns möglich zu knurren, wie wir es als Wolf tun würden. Nachdem ich dir das gesagt hatte, dachte ich selbst, wie albern es von mir war, dir etwas mitteilen zu wollen, dass du sowieso nicht hörst. Aber du hast es verstanden. Ich glaube nicht, dass das schon mal vorgekommen ist.“ „Natürlich nicht, schließlich passiert dir so was vor anderen ja nicht. Die sind nämlich der Meinung, du seiest ein vollwertiger Mensch.“ „Stimmt. Aber es wäre interessant zu erfahren, ob du meine Familie auch verstehst.“ „Nun, das müssen wir auf ein andern Mal verschieben. Ich muss jetzt arbeiten. Wir sehen uns morgen in der Schule, ja?“ „Ja“, er sah mich an und war endlich wieder vollkommen bei mir. „Pass gut auf dich auf.“ „Du auch. Holt dich heute Abend jemand ab?“ „Carly schläft wahrscheinlich bei mir. Sie kommt mit dem Auto her, dann fahren wir zu mir.“ „Gut.“ Er schwang sich auf seine Maschine und drehte sich dann zu mir. „Ich lass dich ungern alleine hier“, meinte er und ich bekam weiche Knie bei dem Blick, den er mir zuwarf. Mein Beschützer! ‚Dann bleib doch einfach hier‘, dachte ich und verwarf die Idee sofort. Ich konnte ihn nicht gänzlich von seiner Familie trennen. Nur weil wir jetzt zusammen waren, hieß das nicht, dass er kein eigenes Leben mehr führen durfte. „Ist doch nicht für lange. Dann kommen Kelly und Carly her. Und die Männer sind ja auch noch da. Ich werde mich schon irgendwie beschäftigen.“ „Na schön. Komm her“, wisperte er. Er griff nach meiner Hand, zog mich zu sich und küsste mich innig. „Wir sehen uns morgen“, erklärte ich noch mal und hatte schwer damit zu tun, wieder Luft zu atmen. „Bis morgen“, sagte auch er und setzte den Helm auf. Mit einem Kick startete er die Maschine und ich trat in die Halle. „Hey, Jungs. Wer möchte was trinken?“ „Ich möchte eine Revanche“, verkündete Murray, „dann können wir immer noch auf meinen Sieg anstoßen!“

Kurz nach Zehn Uhr machten Carly und ich uns auf den Weg nach draußen. Wir hatten beide gegen Murray gewonnen und ihm dafür jeweils ein Bier ausgegeben. Er war dadurch etwas gnädiger gestimmt und nicht mehr allzu verdrießlich. Als wir vor der Halle standen, befand sich dort kein Auto. „Bist du zu Fuß hier?“ „Ich hab den Wagen gleich bei euch abgestellt. Der Weg ist doch nicht so weit, dachte ich, den können wir auch zu Fuß gehen.“ „Sicher, aber kein Wort davon zu Taylor.“ „Wieso?“ „Er ist da etwas… Er mag es nicht, wenn ich im Dunkeln alleine auf der Straße unterwegs bin. Gut, ich bin heute nicht allein. Aber zwei Mädchen im Dunklen, wird für ihn auch nicht wirklich spannend klingen. Also, das bleibt unter uns, ja?“ „Okay.“ Wir gingen ein paar Schritte und sie fügte hinzu: „Ist ja echt süß von ihm. Wie dein eigener Beschützer!“ „Ja, so kommt er mir auch vor“, bestätigte ich und dachte an seinen geschmeidigen Körper in Wolfsgestalt, den ich im Mondlicht gesehen hatte. „Wie alt ist eigentlich Sean?“, fragte sie nun und ich sah sie wissend an. „Ich glaube 20. Aber sicher bin ich mir nicht. Obwohl dich das gar nicht wirklich interessiert, oder?“ Sie lachte leise und hakte sich bei mir ein. „Nun ja, er ist süß und es besteht ja diese gewisse Familienähnlichkeit, wenn du verstehst.“ „Du magst Taylor wirklich sehr, richtig?“ „Ich gönn dir dieses Glück von Herzen, Süße. Aber es hat mir schon einen kleinen Dämpfer versetzt, als ich deinen Blick gesehen hab, immer wenn du ihm begegnet bist. Alle anderen haben das nicht mitgekriegt, aber ich bin seit dem Kindergarten deine beste Freundin. Und wie schäbig wäre es da von mir, dein Glück aufs Spiel zu setzen, um dann nach einiger Zeit zu bemerken, dass ich ihn und dich verliere, weil mir die Lust an ihm vergeht.“ „Meinst du, es wäre wirklich so ausgegangen?“ „Wir wissen beide, dass ich es nie lange bei einem Jungen aushalte, egal wie süß er auch ist.“ Ich sagte nichts dazu und sie kuschelte sich näher an meinen Arm. Es wurde plötzlich sehr kalt und mich beschlich das Gefühl, das man uns verfolgte. Wenn auch nur mit Blicken. Es knurrte von der rechten Seite her und wir beide erstarrten gleichzeitig. „Was war das?“, wisperte Carly und blickte abwechselnd von mir zu dem kleinen Waldstück hinter dem leeren Grundstück. Das konnte einfach kein Zufall mehr sein. Hier lauerte Er mir jedes Mal auf. „Carly, du wirst jetzt langsam vorgehen. Sag meinem Vater, dass er mit der Waffe herkommen soll. Los, geh jetzt!“ Sie wollte etwas erwidern, aber da hörte sie schon wieder das Knurren und lief los. Es war mir lieber, wenn mein Vater verstärkt mit der Waffe im Wald herumlief, als dass dieses Tier noch länger in der Nähe meiner Freunde auftauchte. Taylor und seine Familie würde ich warnen können, die verwandelten sich ja nicht allzu oft.

Meine Augen hatten sich an die Schwärze im Wald gewöhnt und nun konnte ich das riesige Tier zwischen den Bäumen erkennen. Seine Augen waren auf mich gerichtet und zwei Reihen blitzender weißer Zähne kamen zum Vorschein. Er knurrte und ich hörte ihn ganz klar. „Oh, kleine Lilly, ganz allein? Hast du keine Angst vor dem bösen schwarzen Wolf?“ Ich straffte meine Schultern und trat auf das leere Grundstück, damit niemand erkennen konnte, dass ich in den Wald sprach. „Nein!“ „Da bist du dir sicher? Ich könnte dir sagen, wie ich deinen kleinen Schoßhund niedergestreckt habe.“ „Er ist kein Schoßhund und lass Taylor gefälligst zufrieden. Er hat damit nichts zu tun!“ „Taylor heißt er also, ja? Nun, ich denke, er spielt schon eine Rolle. Keine sehr wichtige, aber er ist nicht ganz unbeteiligt. Er steht zwischen uns, kleine Lilly. Und das tut niemand ungestraft.“ Ich erwiderte nichts. Sollte er nur reden, dann würde er nicht gleich flüchten und mein Vater könnte ihn erschießen. Sonst hielt ich von dieser Idee nicht viel, aber er war das Einzige, worüber ich mir noch Sorgen machte. „Er weiß dich überhaupt nicht zu schätzen, meine Schöne.“ „Was?“ „Du leuchtest förmlich vor seiner Nase und er sieht es nicht. Er hat keinen blassen Schimmer davon, wie viel wirklich in dir steckt. Wie viel Macht du besitzt.“ „Und du tust das?“ „Sicher. Weißt du, ich könnte dich zu einer von uns machen. Es ist ganz leicht und wenn der Schmerz erst abgeklungen ist, wirst du dich ganz wundervoll fühlen.“ „Das ist überhaupt nicht möglich!“, widersprach ich. „Haben dir das deine kleinen Freunde erzählt, ja? Sie sind viel unwissender, als ich dachte.“ Seine Ohren fuhren herum. Anscheinend hatte er ein Geräusch gehört, das mir entgangen war. „Nun, kleine Lilly. Wir werden uns wiedersehen. Überleg dir mein Angebot. Das mache ich nicht jedem, weißt du?“ Er trat mit zwei Schritten zurück in den Wald und ich hörte, wie mein Vater das Gewehr anlegte. Ein Schuss gellte durch die Nacht und ein paar Leute schoben ihre Köpfe aus den Fenstern. „Dan, was ist denn da los?“, riefen ihn die Menschen, doch er riss mich zu sich herum. „Lilly, alles in Ordnung? Was war denn das?“ Ich schüttelte leicht den Kopf und sah ihm dann sicher in die Augen. „Ein Hund. Muss sich irgendwo losgerissen haben. Ich bin näher ran, um ihn anzulocken, aber er hat Angst bekommen. Hoffentlich fressen ihn die Wölfe nicht.“ „Ein Hund?“ Er schien mir nicht recht zu glauben. „Ja. Ich dachte bei dem Knurren auch erst, es wäre ein Wolf, deshalb hab ich Carly zu dir geschickt. Aber wir haben uns wohl geirrt. Danke trotzdem.“ „Aha!“ Wir gingen gemeinsam zum Haus. Carly schloss mich erleichtert in ihre Arme und wir verschwanden in mein Zimmer. Als ich die Fenster fest verschlossen hatte und mir sicher war, dass mein Vater nichts hörte, zog ich sie zu mir auf mein Bett. „Versprich mir, dass du kein einziges Wort an jemanden, vor allen Dingen nicht Taylor, über das verlierst, was heute Abend geschehen ist.“ „Ich verstehe nicht. Du sagtest, es war nur ein Hund…“ „Ja, aber er wird sich da reinsteigern und bei den Leuten lösen wir nur eine unnötige Massenhysterie aus. Versprich mir, dass du nichts sagen wirst.“ „Lilly, ich…“ „Bitte. Dann erlass ich dir die Hälfte der Gefallen, die du mir durch Mathe noch schuldig bist.“ „Also, ich weiß nicht,…“ „Carly, bitte!“ „Na schön, ich schwöre.“ „Danke!“

 

Am nächsten Morgen waren wir alle Drei sehr schweigsam am Frühstückstisch. Mein Vater glaubte mir noch immer nicht ganz. Carly hielt mich wahrscheinlich für übergeschnappt, weil ich ihr so ein Versprechen abgenommen hatte. Und ich. Ich dachte über die Worte des Wolfes nach. Hatte er tatsächlich die Möglichkeit, Menschen in Wölfe zu verwandeln? Wieso hatten die Woods dann aber etwas ganz anderes erzählt. Oder wussten sie es tatsächlich nicht? Egal, was der Grund war. Es war für alle in der Stadt jetzt noch gefährlicher, im Dunkeln herum zu laufen, wenn er aus ihnen eine ganze Armee von Wölfen machen konnte, sollte er die Wahrheit gesagt haben. Ich würde mit Kenneth darüber reden müssen, ohne dass Taylor etwas davon mitbekam. Mein Vater verabschiedete sich von uns und fuhr zur Arbeit. Carly und ich verschwanden kurz darauf auch zur Schule und ich versuchte sie, von ihren Gedanken abzulenken. „Sean, also, ja?“ Sie lächelte. Erleichtert und verlegen, wie es mir vorkam. „Das hast du also nicht vergessen?“ „Nein, ich höre dir ja zu.“ „Ich sagte ja gestern schon, er ist süß.“ „Das leugne ich auch nicht, aber ich sollte dich vorwarnen, er ist ein ziemlicher Kindskopf.“ „Tatsächlich? Mmh, ich hab ihn ganz anders eingeschätzt. Sonst noch etwas, dass ich über ihn wissen sollte?“ „Nun, er sagt selber über sich, dass er nicht so gerne liest, wie der Rest seiner Familie. Er tut lieber etwas, obwohl er mit Worten auch gut umgehen kann.“ „Aha. Ich glaube, du musst uns einander vorstellen.“ „Ich werde sehen, was ich tun kann.“ „Das genügt mir schon“, flötete sie und parkte das Auto auf dem Schulgelände. Unsere Blicke fielen gleichzeitig auf den riesigen Menschenauflauf vor dem Gebäude. „Was ist denn da los?“ „Keine Ahnung, lass uns nachsehen“, antwortete Carly, wir stiegen aus und machten uns auf den Weg. Kelly stieß zu uns und sah mich mitleidig an. „Was ist los, Kelly?“ „Ich schätze, Farrah musste irgendwann mit ihrem Plan beginnen…“ Natürlich, Farrah. Die hatte ich bei der ganzen Aufregung vom gestrigen Abend völlig vergessen. Doch jetzt drängte sie sich brutal wieder in mein Gedächtnis. „Und was tut sie, dass alle so begierig um sie herum zu stehen scheinen?“ „Sie tut gar nichts. Cara und Celine sind es, die die Drecksarbeit machen.“ Ein Junge schritt, vertieft in eine Zeitung, an uns vorbei und Carly riss ihm diese aus der Hand. Als er sich umwandte, um denjenigen anzufahren, klimperte sie ihm mit den Wimpern zu und er verschwand geistesabwesend. „Wollen wir doch mal sehen…“, begann sie und faltete die Zeitung auseinander, als sei nichts gewesen. „Ach, das scheint es zu sein.“ Ich wollte nicht darauf warten, dass sie es mir vorlas und so blickte ich ihr über die Schulter und bemerkte sofort die riesige Überschrift: VERRÜCKT, LEHRERS LIEBLING UND MITLÄUFERIN: DIE GESCHICHTE DER LILLIAN CONNOR - Teil 1‘ „Um Gottes Willen, das ist ihr Plan?“, fragte ich und lachte auf. Carly und Kelly blickten mich überrascht an. „Leute, das sagen die meisten Schüler hier doch sowieso über mich. Und was die denken, ist mir völlig egal.“ „Aber das ist erst Teil 1. Wer weiß, was da noch kommt?“, warf nun Kelly ein. „Glaubt ihr denn das, was sie über mich verbreiten wird?“ Wie aus einem Munde, sagten sie: „Nein!“ „Seht ihr. Mia, Elli und Taylor werden darauf auch nichts geben. Also ist es mir doch völlig schnuppe, was da noch kommen wird und der Rest der Schüler über mich denkt. Meine Freunde tun es nicht und das ist mir wichtig.“ Carly griff sich an die Brust und verzog ihr Gesicht zu einer wehleidigen Miene. „Ich bin wahnsinnig stolz auf dich, Süße!“ „Danke“, begann ich und ließ mich bereitwillig von ihr knuddeln, „Lasst uns gehen!“ Zu dritt machten wir uns auf den Weg und trafen dabei auf Elli und Mia. Die gaben ebenfalls nichts auf das Gerede und zeigten stolz, dass sie den Gips losgeworden waren. „Herrliches Gefühl, sich wieder frei bewegen zu können“, begann Mia und Elli nickte. Fügte jedoch hinzu: „Es ist nur etwas eigenartig zu gehen. Wochenlang hatte ich einen schweren Fuß und jetzt ist es, als würde der ein Eigenleben führen.“ Wir lachten alle und Taylor passte mich ab, ehe ich in den anderen Flur abbog. „Guten Morgen“, sagte er und hauchte mir einen Kuss auf die Stirn. Die Mädels zogen lächelnd und winkend weiter und ließen uns die paar Minuten noch allein. „Guten Morgen, gut geschlafen?“ „Wie ein Stein, und du?“ „Wirre Träume, aber sonst ist alles super.“ Ich war mir nicht ganz sicher, ob er die Zeitung nur noch nicht gesehen hatte oder er sie nicht erwähnte, weil er wusste, dass es mich nicht interessierte, was andere darüber dachten. Aber ich war froh, egal, was der Grund war. Er verstand mich so wunderbar, dass es fast schmerzte, ihm nichts über den gestrigen Vorfall zu erzählen. Obwohl er eigentlich der Erste hätte sein müssen, der davon erfuhr. Doch ich wusste auch, dass er dann sofort losstürmen und sich den Wolf vornehmen wollen würde. Und das konnte ich nicht zulassen. Er sollte nicht noch einmal verletzt werden oder gar Schlimmeres noch. „Wirre Träume, du Ärmste. Worum ging es denn?“ „Um alles und irgendwie nichts. Ist schwer zu erklären. Kann ich heute mit zu dir kommen?“ Er schien überrascht. „Keine Arbeit heute?“ „Ich habe mit Henry abgesprochen, dass ich nur noch alle zwei Tage aushelfe. Und wenn du heute nichts gegen Gesellschaft hast, begleite ich dich gern.“ „Gegen deine Anwesenheit habe ich nicht das Geringste einzuwenden. Niemals, das solltest du dir merken. Und wenn du bei uns bist, weiß ich wenigstens, wo du dich rumtreibst.“ „Ich treibe mich nirgendwo rum. Was denkst du denn von mir?“ Ich stupste ihn an und in seinen Augen funkelte wieder dieser Glanz. „Schwer vorstellbar, dass ich mich dir mal einfach so entziehen konnte“, wisperte ich und er lachte. „Dafür bist du meinem Charme ja jetzt vollkommen erlegen. Das gleicht es doch ein bisschen aus…“ „Das ist wahr.“ Ich küsste ihn sanft auf die Lippen und er entließ mich sprachlos in meinen Unterricht. Kurz bevor es klingelte und ich in den Raum ging, blickte ich mich noch einmal zu ihm um. Sein Blick sah schuldbewusst aus und ich war drauf und dran zu ihm zurück zu gehen, doch Dr. Kensington schob mich ins Klassenzimmer und ich musste mich bis zur Pause gedulden. Es war erstaunlich, wie viel Kraft diese kleine Person besaß.

 

In den kleinen Pausen zwischen den Stunden, erwischte ich ihn nicht. So also musste ich noch länger warten, bis zur Mittagspause. Da endlich fing ich ihn vor der Essensausgabe ab. „Taylor, sag mal, was ist los?“ „Was meinst du?“ „Ich habe deinen Blick gesehen, den vor der ersten Stunde. Irgendwas stimmt doch nicht, also…?“ Er sah an mir vorbei, immer darauf konzentriert nicht wieder so wie vorhin dreinzublicken. „Es ist nur…“, er holte tief Luft und sah mich an, „Bist du dir sicher, dass ich es bin, bei dem du sein willst?“ Ich war wie vor den Kopf geschlagen. „Wie bitte?“ Mein Herz hämmerte gegen meine Rippen und ich spürte, wie jegliche Farbe aus meinem Gesicht wich. Meine Beine wollten mir gerade den Dienst verweigern, als mich Taylor zu einem leeren Tisch führte und mich sanft auf eine der Bänke drückte. „Entschuldige bitte den Ausdruck, aber… Wie, zum Teufel noch mal, kommst du auf die hirnrissige Idee, dass es nicht so sein sollte?“ „Du hast es selbst gesagt.“ „Was habe ich?“ „Vorhin. Du hast zugestimmt, als ich sagte, dass du meinem Charme völlig erlegen seiest. Und das… es brachte mich auf die Idee, dass es vielleicht nur an der Fähigkeit liegt, dass du bei mir sein willst…“ Diese Aussage musste ich erst einmal sacken lassen. Wie sollte ich ihm nur verdeutlichen, was für ein Blödsinn das war? Allein die Frage, war für mich so völlig abwegig gewesen, dass es mich erschreckte, wie sehr ihm das zu schaffen machte. Wir hatten doch nur herumgealbert. Wie konnte er sich das so zu Herzen nehmen? „Oh, Taylor…“, begann ich, doch meine Stimme versagte, als er mich endlich wieder anblickte. „Du weißt auch, dass ich es schon geschafft habe, mich dir zu entziehen. Zwei Mal sogar.“ „Ja, aber…“ Ich legte ihm einen Finger auf seine Lippen und schüttelte leicht den Kopf. „Nichts aber. Ich weiß nicht, wie ich dir verdeutlichen kann, was du mir bedeutest. Es liegt nicht an deiner Anziehungskraft, dass ich bei dir sein will. Nur weil die anderen Mädchen diese Kraft anzieht, gilt das für mich doch nicht auch gleich. Ich will nicht leugnen, dass es vielleicht auch ein bisschen daran liegt, okay? Aber…Taylor, ich will bei dir sein, weil du…du bist.“ „Ich?“ „Ja, du verstellst dich nicht. Du bist klug, witzig, du passt auf mich auf und bist für mich da, egal, was auch passiert. Ich wiederhole mich vielleicht, aber ich fühle mich bei dir sicher und aufgehoben. Verstehst du?“ Er nickte leicht, doch seine Augen verrieten ihn. Ich schüttelte wieder den Kopf. Meine Hände wurden kalt. Es gab diese eine Erklärung, die ihm vielleicht endgültig klar machen könnte, dass er alles war, was ich brauchte. Aber konnte ich nach einer Woche so etwas tun? Wir kannten uns noch nicht lange, aber ich hatte ihm bereits gesagt, dass ich das Gefühl hätte ihn seit Jahren zu kennen. Vielleicht war ich mir deshalb meiner Gefühle zu ihm so sicher. Aber würde er dasselbe fühlen? Ich war mir nicht sicher und wollte ihn nicht vollkommen vertreiben. Doch als ich seine Augen sah, da wurde mir klar, dass er es erfahren musste. Jetzt und hier, in der Schulcafeteria. Also erzählen durfte ich das später niemandem, wie unromantisch. Aber wir waren ja auch kein normales Pärchen, oder? Der Wolf und das Mädchen, wie er am Sonntag sagte. Erst vor zwei Tagen und mir kam es schon viel länger vor. „Sieh mich an, Taylor.“ Er reagierte nicht. „Bitte, Taylor, sieh mich an.“ Jetzt hob er den Kopf und ich atmete tief durch. „Weißt du, es gibt noch einen Grund, weswegen ich bei dir sein will.“ „Und der wäre?“ Ich spürte viele Blicke der Schülerschaft auf uns. Also würde ich es doch nicht hier sagen. Es ging die anderen schließlich nichts an. „Komm mit!“ Während ich seine Hand nahm und ihn mit mir in den Flur zog, schien er die Kälte in meiner Hand zu spüren. Sein Griff wurde fester und da bekam ich den Eindruck, dass er sich wieder einmal um mich sorgte. Wir blieben vor meinem Schließfach stehen und ich sah ihm in die Augen, während ich meine Hände auf seine Brust legte. Es konnte schließlich das letzte Mal sein, dass ich ihm so nahe kommen würde. Wenn er mich abwies, nachdem ich es ihm sagte, würde ich das sehr vermissen, das war mir klar. Ich spürte die Wärme, die von ihm ausging und wieder überkam mich dieses Gefühl zu Hause zu sein. „Der Grund ist… Ach, verdammt! Bitte verstoß mich dafür nicht, okay? Ich… Ich liebe dich! Mehr als alles andere auf dieser Welt. Mehr noch als mein eigenes Leben. Und deshalb finde ich es so furchtbar, dass du denkst, ich wäre nicht gern bei dir. Oder, dass es nur an deiner Anziehungskraft liegt.“ „Du…?“ „Ja.“ Er hatte seine Gefühle und vor allen Dingen seine Kraft immer unter Kontrolle, doch jetzt brach all das aus ihm heraus. Ich hatte noch nie erlebt, dass er so öffentlich zeigte, was er fühlte. Und ich war sehr froh, dass ich ihn in den Schulflur gezogen hatte. Denn er küsste mich mit einer Intensität, dass es mich traf wie ein Blitz. Er drückte mich mit dem Rücken gegen die Schließfächer und presste mich gleichzeitig fester an sich. Unvorstellbar, wie er das machte, aber es war so, ich schwöre. Seine Lippen und die Zunge jedoch waren dabei so sanft, dass all die Hitze, die ich vorhin verloren hatte, mit einem Mal wieder zurückkam. Ich brannte förmlich und schlang meine Arme um seinen Hals. Während ich bereits das Gefühl hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren, küsste er mich noch immer. Und dann hörten wir beide das leise Knacken und mich durchfuhr keine Hitze mehr, sondern ein stechender Schmerz in der rechten Seite. „Oh Gott…“, stieß er hervor und ich unterdrückte ein schmerzerfülltes Stöhnen, um es ihm nicht noch schwerer zu machen. Er wich sofort ein paar Schritte zurück und mir tat es leid, dass ich nicht stärker war. Nur ein einfacher Mensch. Ich bewegte mich nicht, weil ich nicht wusste, wie viel schlimmer es dadurch werden würde. Aber es musste eine der Rippen gewesen sein, das ahnte ich bereits. „Lilly, es…“ „Wenn du jetzt die Worte aussprichst, die ich denke, dass du sie sagen willst, vergiss es. Höre ich auch nur etwas von dir, dass annähernd so klingt, dann kannst du dich auf was gefasst machen. Wärst du jetzt, bitte, so nett und bringst mich zur Schulschwester?“ Meine Lippen fühlten sich heiß an und ich bedauerte es sehr, dass eine meiner Rippen unter seiner Umarmung nachgegeben hatte. Wir hätten sonst wahrscheinlich noch immer dort gestanden und uns geküsst. Taylor näherte sich ganz vorsichtig und begann dann wieder: „Lilly, ich…“ Ich hob nur einen Zeigefinger und warf ihm den strengsten Blick zu, den ich in dieser Situation zustande bekam. Er griff nach meiner Hand und langsam machten wir uns auf den Weg ins Krankenzimmer. Nach einigen Schritten sagte ich: „Du hast nicht geantwortet!“ „Oh, habe ich nicht?“ Er sprach ganz leise und unterdrückte ein Lachen. „Nein.“ „Nun, obwohl der Gefühlsausbruch dir wahrscheinlich klar gemacht haben wird, was ich denke… Ich liebe dich auch.“ „Es ist noch viel schöner es zu hören, als nur…“ Fast hätte ich fühlen gesagt, aber das würde er wohl falsch verstehen und so meinte ich rasch: „Als es mit Küssen gezeigt zu bekommen.“ „Haarscharf die Kurve genommen, was?“ Ich wusste es. Er kannte mich einfach zu gut, wie ein offenes Buch. Taylor klopfte leise an die Tür und Mrs. Porter, eine nette Frau Mitte 30, öffnete. Sie hatte hellbraunes Haar, das sie sich immer hochsteckte und eine frauliche Figur. Ihre grauen Augen musterten mein angestrengtes Gesicht und dann Taylor, der mich nur an der Hand hielt. „Was hast du denn angestellt, Lilly?“ „Ich habe mich hinreißen lassen.“ Sie schob ihre Augenbrauen dicht zueinander und ich versuchte zu lächeln. Ich würde gewiss nicht erzählen, was wir angestellt hatten. Das wäre das erste, was hier im Schulgebäude dann die Runde machen würde. Mrs. Porter war keine Klatschtante, aber wenn ich ehrlich war, war das doch eine urkomische Geschichte. „Na dann, kommt mal rein. Ich werde mir mal ansehen, wozu du dich hast hinreißen lassen.“

 

Ich brauchte ein paar Anläufe, um mich auf die Liege zu setzen und ich erkannte an ihrem Blick, dass sie bereits wusste, was mir fehlte. Taylor hatte vor der Tür bereits meine Hand losgelassen und hielt sich jetzt dezent im Hintergrund. Ihm schien das ganze noch immer sehr leid zu tun, aber ich war ja auch verantwortlich. Und ich war gewiss nicht so dumm, ihm dafür die Schuld zu geben. Er hatte mich doch nur etwas stürmischer umarmt und geküsst und ein paar Sekunden nicht aufgepasst. Wir würden aus diesem Fehler lernen und es nicht wiederholen. Obwohl mir das gar nicht gefiel, es nicht noch mal zu tun, meine ich. Es war schließlich ein Wahnsinnsgefühl gewesen. „Meinst du, du kriegst dein Shirt ein bisschen gehoben? Ich würde gern das ganze Ausmaß sehen…“ „Sicher, ich versuche es.“ Zusammen gelang es uns und ich sah, dass Taylor vermied mich anzusehen. Er betrachtete die Bilder und Plakate an den Wänden. Es wäre mir nicht peinlich gewesen, wenn er zugesehen hätte, aber er war eben ein Gentleman. „Oh je…“ Jetzt blickte er aufmerksam zu mir und betrachtete ängstlich mein Gesicht. „Du hast dir eine Rippe angebrochen und da“, Mrs. Porter strich sanft über eine große Stelle an meiner rechten Seite, „wirst du einen ordentlich blauen Fleck bekommen.“ „Dann bekomme ich eine Sportbefreiung, ja?“ „Hast du es darauf etwa angelegt?“ „Nein, aber das ist ein sehr angenehmer Nebeneffekt.“ Mrs. Porter lachte leise und melodisch. Jeder wusste, dass Knochenbrecher die Lehrerin für Sport bei den Mädchen war. „Ich werde dir eine Salbe mitgeben, damit schmierst du die Stelle schön ein. Leider kann ich dir sonst nicht helfen. Eine Stütze oder so, wird da nicht viel bringen. Mit einem Verband würdest du dich nur sehr schlecht bewegen können. Du musst einfach vorsichtig sein. Keine ruckartigen Bewegungen oder Sprünge, klar? Bis es verheilt ist. Aber lass deinen Vater heute Abend noch mal drüber sehen.“ „Wie lange kann das dauern?“, fragte nun Taylor mit belegter Stimme. „Ein bis zwei Wochen. Die Salbe nur nutzen, wenn es wirklich wehtut und am besten abends vor dem zu Bett gehen.“ „Ist gut.“ Ich zog den Pullover wieder herunter und Taylor half mir vorsichtig, ohne mich so oft wie nötig zu berühren, von der Liege. Die Schulschwester reichte mir die kleine Packung mit der Salbe und die zweiwöchige Sportbefreiung. „Sollte es nach zwei Wochen immer noch wehtun, kommst du noch mal her. Dann einen schönen Tag euch beiden und sei bitte vorsichtig, Lilly.“ „Na klar, ebenso einen schönen Tag.“ Taylor nickte ihr nur zu und als die Tür wieder ins Schloss klickte, blickte er mich besorgt an. „Dann wirst du wohl nicht mit zu mir kommen?“ „Ach, du bist ja mit dem Motorrad hier. Das habe ich vergessen.“ „Nein, bin ich nicht. Ich bin mit Auto gefahren, aber du sollst doch vorsichtig sein.“ „Keine ruckartigen Bewegungen“, berichtigte ich ihn. „Und das hatte ich auch nicht vor. Bei euch werde ich mich ganz still auf einen der Sessel hocken und…ein Buch lesen. Davon habt ihr doch genug.“ Er verdrehte die Augen, lächelte dabei jedoch. „Du bist einfach unbelehrbar.“ „Ja, und das macht mich so unwiderstehlich, nicht wahr?“ Ich reckte ihm mein Kinn entgegen und er hauchte mir einen Kuss auf die Lippen. „Wir sollten das nächste Mal jedoch vorsichtiger sein. Es muss ja nicht immer gleich mit an- beziehungsweise vollständig gebrochenen Knochen enden.“ „Ach, so schlimm ist das gar nicht. Übung macht den Meister. Vielleicht wiederholen wir es doch noch mal und machen dabei alles richtig. Wir wissen ja jetzt, worauf wir achten müssen.“ Gemeinsam gingen wir zum Biologieunterricht, wo ich unser Fehlen mit meiner Tollpatschigkeit und dem Beweis der Krankenschwester entschuldigte. Dann standen wir vor den letzten zwei freien Plätzen und ich sah schon die nächste Schwierigkeit auf mich zukommen, doch Taylor reagierte sofort. Ganz vorsichtig griff er mit beiden Händen an meine Hüfte und hob mich, ohne die Miene zu verziehen, auf meinen Platz. Die Tische und Stühle waren höher als gewöhnlich, da hier auch die Experimente in Bio und Chemie durchgeführt wurden. Ich blickte ihm überrascht ins Gesicht. „Danke!“ „Keine Ursache.“ Es war herrlich mit ihm eine ganze Stunde zu verbringen. Sonst saßen wir immer mit anderen Mitschülern zusammen oder hatten getrennt Unterricht, so wie in Mathe. Aber ihm so nah zu sein und nichts tun zu können, was ich wahrscheinlich getan hätte, wären wir bei ihm oder mir allein gewesen, war auch echte Folter. Ich spürte seine Wärme und lauschte gelegentlich seinem Atem. „In der nächsten Stunde werden wir uns ein Video zum heutigen Unterrichtsthema ansehen. Sie brauchen also Ihre Schulbücher nicht mitzubringen“, verkündete der Lehrer und riss mich so aus meinen angenehmen Gedanken. Die Klasse war begeistert und ich lächelte still in mich hinein. ‚Das wird eine wunderbare Woche‘, dachte ich und ließ mir nichts anmerken als Taylor mich kurz ansah.

 

Zu viert gingen wir nach der Stunde Richtung Sporthalle. Ms. Edwards und Coach Turner hatten mit einem anderen Lehrer die Stunden getauscht, damit sie am Donnerstag zu einer Weiterbildung fahren konnten. Carly und Kelly hatte ich nicht die wahre Geschichte erzählt, wie ich zu der angebrochenen Rippe kam. Sie hätten mir sowieso nicht geglaubt, dass Taylor so stark war, dass er das einfach so mit mir machen konnte. Stattdessen behauptete ich, dass ich unglücklich auf dem Flur ausgerutscht und gegen mein Schließfach geprallt war, ehe ich sicheren Halt finden konnte. Sie wussten, dass ich gelegentlich zur Tollpatschigkeit neigte, doch ganz kurz hatte ich das Gefühl, als würden sie mir die Geschichte nicht ganz abkaufen. Ein sehr seltsames Lächeln auf ihren Gesichtern veranlasste mich kurz dazu die Augenbrauen zusammen zu ziehen, doch Taylor nahm meine Hand und ich vergaß es schnell. Erst jetzt, wo ich auf den Flur achtete, fiel mir das ganze Getuschel auf, das uns folgte. Ein paar der Schüler hielten die Zeitungen von heute Morgen noch in der Hand und mir wurde klar, worüber sie sich die Münder zerrissen. Das sich manche Dinge immer dann in den Vordergrund drängten, wenn man sie überhaupt nicht gebrauchen konnte… „Was ist denn hier los?“, fragte Taylor leise, sah erst mich und dann Carly und Kelly an. Die beiden waren sich nicht sicher, ob ich wollte, dass er es weiß und drucksten herum. Ich hätte wissen müssen, dass er nichts davon mitbekommen hatte. Schon heute Morgen, denn sonst wäre er vielleicht etwas zerknirschter gewesen. Er machte sich immer solche Sorgen um mich, dass es mir gleich hätte auffallen müssen. „Farrah hat ihren ersten Artikel in der Schülerzeitung veröffentlicht“, seufzte ich und vermied es ihn direkt anzusehen. „Und was hat das mit dem Getuschel zu tun…?“ Er schien selbst bemerkt zu haben, dass er sich die Frage allein beantworten konnte. „Was genau steht drin?“ Sein Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig und er klang kühl. „Ich habe ihn nicht gelesen. Die Überschrift kenne ich, aber ich gebe nicht viel darauf, was die anderen Schüler über mich denken. Meine Freunde wissen, dass es nicht die Wahrheit ist, das reicht vollkommen.“ So als hätte er mir überhaupt nicht zugehört, fragte er: „Die Überschrift lautet wie?“ Jetzt war es Carly, die ihm antwortete. Sie schien Angst vor ihm zu bekommen. „Verrückt, Lehrers Liebling und Mitläuferin: Die Geschichte der Lillian Connor - Teil 1. Aber frag mich nicht, wie viele Teile da noch kommen sollen.“ „Wieso hast du mir nichts gesagt heute Morgen?“, fragte er mich und sein Griff um meine Hand verstärkte sich leicht. „Weil es egal ist, was sie schreibt. Wenn sie meint, dass sie so einen Kindergarten veranstalten muss, soll sie es tun. Was kümmert es mich? In einem Jahr bin ich sowieso von hier weg, ergo auch von ihr.“ „Das heißt, du würdest noch ein Jahr lang zulassen, dass sie solche erdachten Geschichten veröffentlicht?“ „Irgendwann verliert sie das Interesse daran, mich zu nerven.“ „Und was ist, wenn es nicht aufhört sondern schlimmer wird? Willst du das auch dulden?“ „Sie hält doch das schon für schlimm. Und mal ehrlich, eine fiktive Geschichte über mich in der Schülerzeitung, ist doch völlig hirnlos. Die meisten Schüler denken das sowieso über mich.“ Wir waren jetzt auf dem Schulgelände und Taylor atmete tief ein. Ich hatte das Gefühl, dass er zitterte und sich stark konzentrieren musste. Waren das die Anzeichen dafür, dass er sich gleich verwandeln würde? Carly und Kelly gingen ein paar Schritte vor uns und bekamen nichts davon mit. „Taylor, alles okay?“, wisperte ich leise und stoppte ihn. Ich streichelte sanft seine Wange. Wir hatten noch genug Zeit, bis die nächste Stunde anfangen würde. Er blickte über mich hinweg und holte einmal kräftig Luft. Dann erst sah er mich an. „Ja, es geht schon. Es bringt mich nur etwas in Rage, wenn ich höre, wie dir jemand schaden will. Das ist alles!“ Wenn er bei Farrah schon so reagierte, wie erst würde er sich verhalten, wenn er von dem Angebot des Wolfes erfuhr? Ich bereute meine Entscheidung nicht, ihm nichts davon gesagt zu haben, dessen wurde ich mir schlagartig bewusst. „Taylor, Farrah ist mir völlig egal. Nichts was sie tut oder sagt verletzt mich. Also beruhig dich, ja? Das ist es nicht wert. Ein Artikel, na und? Selbst wenn noch zwei oder drei Weitere folgen sollten, ist mir auch das vollkommen schnuppe.“ „Sie tut das doch aber nur, weil wir…“ „Soll ich mich deswegen von dir trennen?“ „Du kennst unsere Abmachung.“ „Ich bin aber nicht in Gefahr. Sie ist ein Mensch, der versucht durch Intrigen das zu bekommen, was er will. Sie geht nicht mit dem Messer auf mich los, nur weil es nicht klappt.“ „Da bist du dir sicher?“ Ich sah ihm tief in die Augen und blieb ganz ruhig, als ich nur diese eine Frage stellte: „Willst du denn, dass ich gehe?“ Ganz kurz nur weiteten sich seine Augen, doch er bemerkte, dass ich es völlig ernst meinte. „Um deinetwegen sollte ich es. Aber nein… …Nein, ich Egoist, will es nicht!“ „Dann vertrau mir und vergiss sie. Sie kann mir nicht schaden, okay?“ Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen und ich wusste, dass ich gleich wieder schwach werden würde. Nur ein paar Sekunden länger und ich würde den seichten Schmerz an meinen Rippen vergessen und ihn an mich ziehen. „Ich vertrau dir!“ „Gut, dann lass uns jetzt gehen. Ehe Coach Turner dich extra Runden laufen lässt.“ Das war seine Art seine Schüler leiden zu lassen, wenn sie zu spät zum Unterricht kamen. „Laufen ist befreiend für mich. Es wäre keine Strafe!“ Ganz sachte legte er seinen rechten Arm um meine Schulter und wir gingen zur Sporthalle. Taylor kam noch rechtzeitig zum Sport und ich übergab Knochenbrecher mit ein klein wenig Genugtuung meine Sportbefreiung. Ich setzte mich langsam auf eine der Bänke, von der aus man eine gute Aussicht auf die Seite der Jungs und die der Mädchen hatte. Endlich verstand ich auch, warum Carly so oft an der Mittellinie stehen blieb, um die Jungs zu beobachten.

Es war der Wahnsinn, was die alles für ihre Zensuren leisten mussten, aber erst jetzt fiel mir der durchtrainierte Körper meines Freundes auf. Ich wusste natürlich um seine Bauchmuskeln und die breiten Schultern, aber erst heute hatte ich die Zeit ihn mir ganz genau anzusehen. Er trug ein ärmelloses schwarzes Shirt, dunkelgraue knielange Hosen und schwarze Turnschuhe. Während er eine ganze Menge an verschiedenen Sportgeräten, darunter Doppelbock und Reck, turnte, staunte ich nicht schlecht. Immer wenn er sich mit den Armen irgendwo abstützte oder hochzog, traten die Sehnen hervor und der Bizeps stellte sich auf. Die anderen Jungs sahen dagegen, wie kleine Fähnchen im Wind aus. Kein Wunder, dass ich mich bei ihm so sicher fühlte. Bei den Klimmzügen verzog er nicht einmal die Miene, als er beim Fünfzigsten angekommen war. Seine Mitschüler schnappten schon nach Luft, da sah er immer noch aus, wie das pure Leben. Er musste eine Menge Energie in sich haben und da wunderte es mich auch nicht mehr, wenn er sagte, dass Laufen für ihn befreiend sei. Ich stellte mir vor, wie er als schmiegsamer Wolf durch den Wald huschte. Über die größten Hürden ohne Mühe sprang und dann leichtfüßig auf der anderen Seite ankam. Es musste ein Wahnsinnsgefühl sein, schnell wie der Wind durch das Gehölz zu laufen und auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen zu müssen. Ehe diese Gedanken mich zu einem ganz bestimmten Angebot zurück brachten, schüttelte ich leicht den Kopf. Ein Pfiff gellte durch die Halle und Coach Turner unterhielt sich freudestrahlend - ich hatte ihn zuvor noch nie lächeln sehen - mit Taylor. Der nickte nur verständnisvoll und erklärte dem Trainer etwas. Er schien etwas geknickt über die Antwort, doch er verstand es wohl. Die Geräte wurden ab- und ein Volleyballfeld aufgebaut. Coach Turner wollte also seine Revanche.

4. Kapitel - Träume

Am Ende der zweiten Sportstunde stand es unentschieden. Damit schien Coach Turner zufriedener zu sein als mit der Niederlage von letzter Woche. Langsam machte sich unsere kleine Truppe (Carly, Kelly, Mia und Elli, Taylor, Jaime - ein lieber Mitschüler von uns, der, so glaubten wir, auf Mia stand - und ich) auf zum Parkplatz. Ich sah den schwarzen Ford Fiesta und staunte als Farrah daran lehnte. Sie war dreister als ich gedacht hatte. Die Mädels und ich wechselten einen Blick, doch dann schüttelte ich leicht den Kopf und verabschiedete mich vorsichtig mit jeweils einer Umarmung von ihnen. Während Taylor bereits auf sein Auto zuging. ‚Ich hätte es wissen müssen‘, dachte ich und versuchte so schnell, wie es mir mit der pochenden Rippe möglich war, hinter ihm her zu gehen. Ein paar Schritte vor ihr blieb er stehen und meinte dann, weil sie an der Fahrertür lehnte: „Würdest du, bitte, von meinem Auto weggehen?“ Sie warf gekonnt ihr Haar zurück und wanderte mit ihren grünen Augen über sein Gesicht. Ich spürte ein klein wenig Galle in mir aufsteigen, überspielte es jedoch gekonnt. Überraschenderweise, denn ich war die Letzte, die von sich selber dachte, dass sie gut schauspielern konnte. „Können wir zuerst bei mir ran fahren? Ich muss Dad noch eine Nachricht schreiben und würde mich gern vorher umziehen.“ Taylor verstand. „Sicher. Wir haben doch alle Zeit der Welt. Sean und mein Vater sind sicher noch nicht zu Hause.“ Darauf musste ich einfach reagieren. Ich wollte nur einmal sehen, wie Farrah Miller das Gesicht verrutschte. „Wir haben das Haus also eine Weile für uns?“ Meine Augen funkelten, hoffentlich so, wie ich es gern wollte. Als ich einen Blick zu Taylor warf, schaute der mich an, wie ich es noch nie bei ihm gesehen hatte. Doch ich konnte es nicht deuten und wollte noch schnell Farrahs Gesicht betrachten. Sie war endlich von der Autotür weggegangen und war leicht grün. Aber es war kein Zorn oder Neid. Es schien, als wäre ihr tatsächlich schlecht, weil sie sich ausmalte, was wir beide in einem leeren Haus alles veranstalten konnten. Und dann wurde ihr klar, dass nicht sie es war, die das mit Taylor tun würde. Wir stiegen ins Auto, ich eher vorsichtig als galant, und ließen sie wortlos auf dem Parkplatz zurück.
 

Als wir vom Schulgelände runter gefahren waren, brach ich in haltloses Gelächter aus. Meine ganze rechte Seite schmerzte dadurch höllisch, aber das tat meiner Schadenfreude keinen Abbruch. „Ach, das war herrlich, das müssen wir irgendwann mal wiederholen.“ Erst jetzt fiel mir auf, dass Taylor ganz still geworden war. „Alles in Ordnung bei dir?“, fragte ich und berührte kurz seine Schulter. „Sicher, ich war nur sehr überrascht über das Funkeln in deinen Augen. Das habe ich noch nie bei dir gesehen.“ Er vermied es mich anzusehen. Ich wusste natürlich, dass er sich auf die Straße konzentrieren musste, doch sonst warf er mir wenigstens einen kurzen Blick zu. „Ich wollte eben, dass sie sich etwas mehr hineinsteigert, als sie es sonst getan hätte, wenn ich dir nur zugelächelt hätte. War es so schlimm, ja?“ „Nein, nicht schlimm…“ Er wollte den Satz nicht beenden und so schwebten seine Worte noch irgendwo im Auto, doch ich erriet sie nicht. Während er den Wagen rückwärts in unsere Auffahrt fuhr, schnallte ich mich bereits ab. Wir stiegen gemeinsam aus und ich schloss die Tür auf, nachdem wir die Treppe langsamer als sonst hochgegangen waren. Ich hörte die tiefe Stimme ganz klar. Sie sagte nur meinen Namen, doch dieses Mal war ich darauf gefasst und reagierte nicht. Er wollte anscheinend, dass ich wusste, dass er immer in der Nähe war. Ich hoffte nur, dass Taylor ihn nicht bemerkte. Weder mit seinem guten Geruchssinn noch mit seinen guten Ohren. Als ich die Tür ins Schloss klicken hörte und noch immer den warmen Körper hinter mir spürte, atmete ich erleichtert auf. „Mach es dir gemütlich. Ich versuche mich so schnell, wie es geht, umzuziehen.“ „Ich sagte doch, wir haben alle Zeit der Welt… Hetz also nicht und lass dir ruhig Zeit.“ Er bedachte meine Rippe mit einem kurzen Blick, denn er wusste, dass ich von ihm nichts darüber hören wollte. „Alles klar…“, meinte ich nur und verschwand nach oben in mein Zimmer. Dort angekommen lehnte ich mich mit dem Rücken gegen die verschlossene Zimmertür und hielt eine Hand gegen meine rechte Seite. Es war keine gute Idee gewesen so loszulachen. Meine Schadenfreude rächte sich und strafte mich dafür, kurze Zeit ein ebenso furchtbarer Mensch gewesen zu sein wie Farrah. Erst jetzt fiel mir ein, dass ich die Salbe unten in meiner Tasche vergessen hatte. Ich musste sie dann wohl oder übel bei den Woods auftragen. Aber nur dann, wenn Taylor es nicht mitbekam. Tief durchatmen, dachte ich und stellte mich vor meinen Kleiderschrank. Was war wohl das beste Outfit für eine waldige Gegend? Irgendwo musste ich noch…ah, da war es ja.

Nachdem ich mich umgezogen und meine Haare wieder auf Vordermann gebracht hatte, kehrte ich langsam zu Taylor zurück. Ich blieb auf der letzten Stufe zum Wohnzimmer stehen und blickte kopfschüttelnd zu ihm. Er hatte sich kein Stück bewegt. Es sich weder gemütlich gemacht, noch sich irgendwo hingesetzt. „Du brauchst doch nicht die ganze Zeit zu stehen. Es gibt genug Sessel und Stühle hier, Taylor.“ Doch er antwortete nicht und kam auf mich zu. „Du siehst wundervoll aus“, wisperte er und ich spürte, wie sich ein leichter Rotton auf meinen Wangen ausbreitete. Ich trug eine graue Röhrenjeans und mein Lieblingsoberteil, das einst meiner Mutter gehört hatte. Es war ein weißer eng anliegender Kaschmirpullover, der ein Stück unter den Schultern endete und sie so besonders betonte. Darunter trug ich ein schwarzes Tanktop, von dem man nur die Träger durchblitzen sah. Ich hatte mir die Haare mit einer großen Spange hochgesteckt und lächelte leicht. „Danke“, flüsterte ich ebenso leise wie er. „Aber darf ich eine klitzekleine Sache ändern?“, fragte er jetzt und hielt eine meiner Hände. „Ähm…ja…sicher!“ Seine freie Hand glitt ganz nah an meinem Gesicht vorbei und verschwand hinter meinem Kopf. Er löste die Spange und mein Haar floss über meine Schultern. Es war wirklich lang geworden, da hatte Carly definitiv recht gehabt. Nun reichte es mir bereits bis zur Mitte der Oberarme, doch ich konnte Taylor einfach nur ansehen. „Dir steht offenes Haar so viel besser. Versteck es also nicht, bitte!“ Ich nickte nur und sah wie eine meiner Hände über seine Wange strich. Da ich noch immer auf der Stufe stand, waren wir einmal fast gleich groß und ich versank fast in dem warmen Braun seiner Augen. Früher war mir seine Haut immer so heiß vorgekommen, doch jetzt konnte ich mir diese Temperatur kaum mehr wegdenken. Die Wärme gehörte zu ihm, so wie auch ich. Meine Augen wanderten über jedes feine Merkmal seines Gesichtes. Ich wollte mir jede noch so kleine Eigenschaft genau einprägen. Eine kleine schmale Narbe verlief genau über seiner rechten Augenbraue. Langsam zeichnete ich sie mit meinem Finger nach, um dann die Züge seines Gesichtes nachzufahren. Die Wangenknochen, den Kiefer und das Kinn, die weichen Lippen, die sich ganz leicht unter meiner Berührung öffneten. Und dann legte ich beide Hände an seine Wangen und blickte ihm in die Augen. Ich bin zu Hause angekommen, dachte ich. Hier, an seiner Seite, war mein Platz. Dies war genau der Ort, wo ich sein musste, sein wollte. Ich biss mir leicht auf die Unterlippe und strich dann mit meinen Lippen liebevoll über die seinen. Doch ich küsste ihn nicht. Taylor begann ganz leicht zu zittern und ich legte meinen Kopf schief. Noch immer waren meine Augen auf seine gerichtet. Ich hörte, wie meine Spange zu Boden fiel, als es ihm nicht mehr länger gelang sie festzuhalten. Doch ich blinzelte nicht einmal, genauso wenig wie er. Seine Arme umschlossen meine Hüfte, aber er zog mich nicht näher zu sich, und eine meiner Hände wanderte weiter an seinen Hinterkopf. Wo ich sie in seinen Haaren vergrub. Es war so wundervoll ihn nur zu spüren, sonst nichts. Wir mussten nicht ständig reden oder uns küssen. Zu fühlen, dass er da war, reichte mir vollkommen. Auch wenn ich gestehen musste, dass seine Lippen nie verführerischer ausgesehen hatten. Ganz leicht geöffnet und genauso abwartend wie meine. Seine Augen glühten und ich bemerkte, dass er noch immer zitterte. „Du weißt, dass du mich gerade quälst, oder?“, hauchte er so leise, dass ich es fast nicht hörte. Ich senkte den Blick, denn allein der Gedanke daran, dass ich ihm so etwas antat, war furchtbar. „Entschuldige, ich…“, doch meine Stimme versagte. Bilder eines lang vergessenen Traums drängten sich zurück in mein Gedächtnis. Eine seiner Hände berührte mein Kinn und zog es sanft nach oben, sodass ich ihn ansah. Sein Blick war fragend und wieder war da das kleine Fältchen zwischen seinen Augenbrauen. Was wolltest du sagen, las ich in seinem Gesicht. „Ich habe nur gerade bemerkt, wie glücklich ich bin. Endlich ist alles wieder… Du machst mich einfach glücklich.“ Erstaunen wandelte sein Gesicht und das Fältchen verschwand. „Ich liebe dich“, antwortete er und beugte sich vor, um mich zu küssen. Als die Tür aufsprang stoben wir auseinander, weil wir uns so erschreckt hatten. Irgendetwas in meinem Körper alarmierte mich und ich trat von der Treppe herunter, um mich ganz automatisch leicht vor Taylor zu stellen. Ich erwartete fast einen schwarzen knurrenden Wolf, aber ich irrte mich. Zumindest das, was die Farbe und das Tier anging. Mein Vater stand im Flur, erblickte uns und begann leise zu knurren, obwohl es mehr einem Grummeln glich. „Ich komme nicht in die Auffahrt. Wärst du so nett, dein Auto raus zu fahren?“ Er sah Taylor nicht an und ich sagte: „Dir auch einen schönen Tag, Dad!“ „Was? Ach ja, hallo.“ „Keine Sorge, wir wollten gerade losfahren. Warte nicht auf mich, ich komme erst abends wieder. Ich fahre zu den Woods. Hab dich lieb!“ Ehe er noch etwas erwidern konnte, insbesondere dagegen sagen konnte, zog ich Taylor mit mir hinaus. Im vorbei gehen, schnappte ich mir meine Jeansjacke und meine Tasche mit den Schlüsseln und der Salbe. „Wiedersehen, Dr. Connor. Ich bringe Lilly heute Abend rechtzeitig zurück“, rief mein Freund ihm zu und wir stiegen ins Auto ein, um dann zum Haus der Woods zu fahren.

 

Wir waren jetzt schon seit zwei Stunden hier und ich saß im Wintergarten, eingewickelt in eine Wolldecke, und blickte in den Garten hinaus. Auf dem Beistelltisch stand meine dampfende Tasse Kaffee und daneben lag das Buch, das ich begonnen hatte. Es handelte von den alten Mythen der Wölfe und Kenneth hatte gesagt, dass es mehr die satirische Seite der Lektüre über sie war. Doch nach einer Weile hatten mich die beiden Wood-Jungs so abgelenkt, dass ich einfach nicht mehr lesen konnte. Sie standen draußen im Garten und spielten Football. Aber nicht so, wie es üblich war. Obwohl das mit zwei Spielern auch schlecht gegangen wäre. Sie standen jeweils auf der gegenüberliegenden Seite des Gartens und warfen sich Pässe über die ganze Breite des Grundstückes zu. Dabei versuchten sie dem jeweils anderen einen solchen Pass zuzuwerfen, den er niemals fangen können würde. Sie sprangen meterhoch, schnellten zu jeder Seite und lachten lauthals, wenn sich einer von ihnen ins Gras warf. Bisher war es ihnen immer gelungen den Football noch irgendwie zu fangen. Es war beeindruckend, wie sportlich sie waren und wie viel Spaß es ihnen zu machen schien. Kenneth hatte sich währenddessen in sein Arbeitszimmer zurück gezogen. Ich hatte herausgefunden, dass er früher als Journalist gearbeitet hatte und auch jetzt noch gern schrieb. Vielleicht würde er hier irgendwo in der Nähe eine Stelle finden. Ich hoffte es. Dann sah ich wieder den Jungs zu und dachte daran zurück, wie wir hier angekommen waren…

Sean hatte mich wie immer, fest und besitzergreifend, an sich ziehen wollen, doch Taylor kam ihm dazwischen und knurrte Worte, die ich ihn noch nie laut aussprechen gehört hatte. Es schockte mich und ich gab ihm einen Klaps auf den Arm. Mehr liebevoll als wütend, aber ich hätte ihm selbst dann niemals ernsthaft schaden können, wäre ich wie eine Furie auf ihn losgegangen. „Sprich nicht so mit deinem Bruder. Er hat es doch nicht gewusst!“ Unbewusst hatte ich sein Knurren als eine normale Aussage wahrgenommen und ihn dementsprechend zu Recht gewiesen. Gleichzeitig wandten Kenneth und Sean mir ihre Gesichter zu und sahen genauso erstaunt aus, wie Taylor als ich ihm gesagt hatte, dass ich ihn auf der Lichtung verstanden hatte. „Entschuldige“, wisperte er und fügte dann an seine Familie gewandt hinzu: „Das wollte ich euch noch erzählen. Aber jetzt habt ihr es ja selbst gesehen!“ „Wie hast du das gemacht?“, fragte mich sein Vater und ich zuckte vorsichtig mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich verstehe es einfach. Es ist,…als hörte ich seine Stimme ganz klar in meinem Herzen.“ Ich war mir ganz sicher, dass es dort war und nicht in meinem Kopf. Das hatte ich in dem Moment gespürt, als er seinen Bruder anfuhr. „Beeindruckend, oder?“, erkundigte sich nun Taylor bei ihm, während er sanft seinen Arm um meine Schulter legte und sein Vater nickte leicht. „So etwas habe ich von keinem unserer Bekannten jemals gehört. Ein Mensch hört aus dem Knurren heraus, was der Wolf sagt. Erstaunlich, wirklich erstaunlich.“ Sean blickte mich herausfordernd an und ich ahnte, was gleich folgen würde. Er knurrte kurz und es klang mehr wie das Schnurren eines Tigers oder Löwen. Nicht lockend, aber auch nicht gefährlich. Ich fühlte, wie mein Kopf hochrot anlief und senkte meinen Blick. „Lilly? Lilly, was hat er denn gesagt?“ Taylor legte seine Hände leicht auf meine Schultern und versuchte meinen Blick einzufangen, doch ich schüttelte nur den Kopf. Das würde ich gewiss nicht wiederholen. „Sean, verdammt, was hast du zu ihr gesagt?“ Er klang wütend und wieder so kühl. „Was geht es dich an? Schließlich habe ich nur mit deiner Freundin geredet und nicht mit dir“, meinte Sean spöttisch und ging ins Haus. Ehe Taylor ihm folgen konnte, umfasste ich seine Hand und hinderte ihn daran. Ich hatte mich wieder unter Kontrolle und fragte: „Ich dachte, du verstehst es, wenn ein anderer Wolf etwas knurrt. Stimmt das nicht?“ Kurz huschte sein Blick hinter seinem Bruder her, doch dann schenkte er mir seine ungeteilte Aufmerksamkeit. „Nur, wenn ich mich ebenfalls in einen Wolf verwandelt habe oder mich in dem Stadium kurz vorher befinde.“ „Das Stadium in dem du knurren kannst wie ein Wolf, obwohl du noch in deiner menschlichen Gestalt steckst“, schloss ich und er nickte. Jetzt wurde mir so Einiges klar. Deshalb hörte er den Wolf nicht, wenn der mit mir sprach. ‚Vielleicht war das auch ganz gut so‘, dachte ich und ging mit ihm ins Haus…

Langsam wurde mir ganz heiß unter der Decke und das wiederum machte mich schläfrig. Ich gähnte kurz und kuschelte mich tiefer hinein. Eigentlich hätte ich lieber aufstehen und mich ein bisschen bewegen sollen, doch ich fühlte diesen Frieden und die Geborgenheit. ‚Nur ein paar Minuten‘, dachte ich, ‚dann wird es sicher wieder gehen.‘

Ich stand auf der Lichtung, auf der ich dem schwarzen Wolf zum ersten Mal begegnet war. Die Lichtung, auf der mich Taylor zum ersten Mal fest und sicher an sich gezogen hatte. Hier hatte ich begonnen nicht mehr zu leugnen. Es war ein wundervoller Sommertag und die Vögel zwitscherten. Die Sonne fühlte sich herrlich an auf meinem Gesicht und ich ging in den Wald, obwohl ich von diesem Ort eigentlich gar nicht weg wollte. Es verbanden mich so viele Erinnerungen mit ihm. Gut, nicht nur angenehme, aber das machte ihn doch zu etwas Besonderem. Meine Beine trugen mich fort, immer weiter in westliche Richtung. Also wollte ich zu Taylor. Ja, natürlich, wohin auch sonst? Ich lächelte über das ganze Gesicht und beschleunigte die Schritte. Nach einer Weile dann sah ich den grünen Garten, die große Eiche am Rande des Grundstückes. Der Saum meines weißen Kleides schlug mir gegen die Schienbeine, als ich leichtfüßig über herab gefallene Äste sprang. Ich trug ein Kleid? Seltsam, doch ich zuckte nur kurz mit den Schultern. Es war eigentlich egal, wie ich ihm begegnete, wenn ich es nur tat. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich überhaupt nicht fror, obwohl es nur ein sehr dünnes Sommerkleid mit Spagettiträgern war. Hier unter dem dichten Blätterdach wehte ein kühler Wind, doch ich zitterte nicht einmal. Im Wintergarten machte ich die drei braungebrannten Männer aus und lächelte wieder. Alle anderen Gedanken konnten warten, denn jetzt war Taylor in meiner Nähe. Eine der Gestalten wandte sich um, sagte etwas zu den anderen beiden und lief dann auf mich zu. Er wollte mich ebenso sehr in seine Arme ziehen, wie ich mich hinein kuscheln wollte. Ein Lächeln breitete sich über mein Gesicht aus. Doch dann spürte ich etwas kaltes Metallisches in meiner Hand. Mein Kopf ließ sich nicht drehen, um es mir anzusehen. Etwas stimmte nicht. Irgendetwas lief hier entsetzlich falsch und ich befahl meinen Füßen stehen zu bleiben, doch auch sie hörten nicht auf mich. Meine Fingerkuppen betasteten den Gegenstand in meiner Hand und ich fühlte nun ein bisschen Holz weiter hinten. Was, zum Teufel, war das? Taylor kam noch immer auf mich zu. Er sah so stark und galant aus und mein Herz schmolz dahin. So wunderbar war es ihn zu sehen und doch so furchtbar, denn ich spürte, wie blankes Entsetzen meinen Arm herauf kroch. Es erklomm meine Schultern und dann mein Herz, als mir endlich klar wurde, was ich in den Händen hielt. Ich stoppte. Endlich gehorchten meine Füße und mein Gesicht verzog sich vor Angst und Schmerz. Das konnte nicht sein. Nein, das war einfach nicht möglich. Taylor sah meinen Blick, doch er kam noch immer auf mich zu. „Bleib weg“, schrie ich verzweifelt, „lauf fort. Schnell!“ Entweder er verstand mich nicht oder er wollte nicht auf mich hören. Hatte er denn nicht gesehen, was ich hier in den Händen hielt? Mein Arm hob sich langsam und ich weinte leise. „Taylor, verschwinde. Bitte, ich flehe dich an, lauf weg von mir. Rette dich!“ Statt zu fliehen, beschleunigte er die Schritte noch. Entsetzt blickte ich auf meine Arme, sie legten die Waffe an. Es war eine der großen Flinten, wie sie im Jagdverein benutzt wurden. Ich befahl meinen Armen und Füßen mir zu gehorchen, sofort aufzuhören und weg zu gehen. Zu verschwinden, ehe ich ihn verletzen würde, doch sie hörten nicht. Tränen verschleierten meinen Blick und immer wieder flehte ich Taylor an, davon zu laufen. Mein Zeigefinger legte sich um den Abzug und wartete auf den richtigen Moment. Die Mündung der Waffe war jetzt nur noch zwei Meter von Taylor entfernt. Es war also unmöglich, dass ich ihn nicht traf. ‚Nein‘, schrie ich in meinem Kopf, ‚nein, ich will das nicht.‘ Mein Schrei mischte sich mit dem Geräusch des gezogenen Abzugs. Als der Schuss ertönte, brüllte ich: „NEIN!“ Ich konnte sogar den Rückstoß der Waffe spüren. „Lilly, oh mein Gott, wach auf. Du hast schlecht geträumt“, rief mir jemand zu, doch ich hörte ihn nur dumpf. „Lilly, du musst aufwachen. Sieh mich an!“ „Ihre Lippen sind schon leicht blau…“, antwortete jemand anderes. Der Geruch des Blutes, seines Blutes, stieg mir in die Nase und ich weinte bitterlich. Warum hatte ich das getan? Ich hatte auf die Liebe meines Lebens geschossen, wieso? Sein Körper fiel leblos und dumpf auf den Rasen zu meinen Füßen. Das Blut quoll aus seiner Brust hervor und sickerte in den leicht feuchten Boden. Endlich war ich in der Lage die Waffe von mir fort zu werfen. Ich schmiss mich neben ihn auf den Boden und wünschte mir nichts sehnlicher, als es ungeschehen machen zu können. Das austretende Blut tränkte mein Kleid, als ich ihn auf meinen Schoß zog und seine kalte Wange streichelte. Er war so blass und seine Augen geschlossen. Ich wisperte, dass es mir leid täte und hoffte so sehr, dass er es hörte. „Ich flehe dich an, mach die Augen auf. LILLY!“

 

Mein Brustkorb explodierte förmlich, als ich endlich nach Atem rang und meine Augenlider aufflogen. Ich zitterte, doch mein Blick galt allein ihm. Er war da, stand vor mir. Genauso zitternd wie ich, aber er lebte. Die Schmerzen meiner Rippe waren mir vollkommen egal und ich warf mich an seine Brust. Ich spürte die Wärme und seine Arme, die mich umschlangen. Erst zaghaft, dann fester. Er sank mit mir auf den Boden und wiegte mich sanft hin und her. Kenneth und Sean standen neben uns und ich bemerkte ihre fahlen Gesichter. Tränen rannen ungehindert über meine Wangen und noch immer zitterte ich wie Espenlaub. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich vor mir seinen leblosen Körper sehen. ‚Niemals wieder werde ich schlafen‘, dachte ich und schluchzte entsetzlich. „Es ist alles gut. Du bist wach, du bist wieder hier. Keiner kann dir mehr etwas antun“, wisperte er, während er mich noch immer in seinen Armen hielt. „Mir hat keiner etwas getan“, antwortete ich von Schluchzern geschüttelt und presste mich noch näher an ihn, um ganz sicher zu gehen, dass er keine Schmerzen hatte. Dass kein Blut aus seiner Brust drang. „Was meinst du?“ Ich hörte die Verwirrung und schauderte vor den Bildern, die sich wieder in mein Gedächtnis drängen wollten. „Ich war es… Ich… Ich habe dich…getötet. Mit einer Waffe aus dem Jagdverein. Ich hab es nicht gewollt, aber meine Arme gehorchten mir nicht. Ich habe mit einer Flinte direkt in dein…in dein Herz getroffen. Du bist auf eurem Rasen leblos zusammengebrochen. Es tut mir so leid, Taylor!“ „Es war nur ein Traum, Lilly. Du würdest mir niemals etwas antun. Das weißt du doch. Es war einfach nur ein schlechter Traum.“ Ich schüttelte den Kopf. „Es schien so real. Ich habe sogar dein Blut gerochen.“ „Es ist nichts geschehen. Nur ein Albtraum, beruhig dich!“ „Und wieso träume ich so etwas?“ Ich fror trotz seiner Wärme, Taylor schob mir einen Arm unter die Kniekehlen und stützte mit seinem anderen Arm meinen Rücken. So trug er mich, fest an sich gedrückt, ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Noch immer hielt er mich im Arm und ich kuschelte mich an ihn. Er wusste immer, was mir gut tat. Meine Rippe pochte und der Schmerz breitete sich auf meinen ganzen Oberkörper aus, doch ich wollte jetzt nicht daran denken. Wieso träumte ich, dass ich ihn tötete? Er war das Beste, das mir seit langem widerfahren war. Warum dann diese schrecklichen Bilder und der reale Geruch seines Blutes? Seine Hand strich über meinen Kopf und er blickte abwechselnd mich und seinen Vater an. „Dad, was hat das zu bedeuten?“ „Ich wünschte wirklich, ich wüsste es. Aber ich kann es mir einfach nicht erklären. Vielleicht will ihr, ihr Unterbewusstsein einen Streich spielen…“ Ratlos zuckte er mit den Schultern. Urplötzlich begann mein Magen zu rebellieren und ich hatte das ungute Gefühl, dass ich mich gleich übergeben würde. Ich sprang auf und lief ins Badezimmer. Ohne Rücksicht auf die Ohren der Hausbewohner, knallte ich die Tür hinter mir zu und schaffte es gerade so, den Deckel der Toilette zu öffnen. Nachdem ich mir den Mund ausgewaschen hatte, betrachtete ich mein Gesicht im Spiegel. Ich war erschreckend blass und sah aus, als hätte ich seit Wochen nicht geschlafen. Meine Augen waren von den vielen Tränen leicht geschwollen und blutunterlaufen. Vor dem Bad unterhielten sich die drei Woods, doch ich hörte nicht hin. Es war mir nicht egal, was sie von der ganzen Sache hielten, aber ich wollte es einfach nicht hören. Ich wusch mir das Gesicht und hatte glücklicherweise die Salbe vorhin in meine Hosentasche gesteckt. Ganz vorsichtig zog ich den Pullover hoch und dann das Tanktop. Erschrocken begutachtete ich den Fleck, der vorhin im Zimmer von Mrs. Porter nur ganz leicht zu sehen gewesen war, sich jetzt aber dunkellila von meiner hellen Haut abzeichnete. Zaghaft cremte ich ihn ein und zuckte bei jeder Berührung zusammen. Natürlich hatte ich mich ruckartig bewegt, nach diesem Albtraum und das rächte sich jetzt. Ich würde meinen Vater heute Abend bitten müssen, sich das noch einmal anzusehen. Hoffentlich kaufte wenigstens er mir die Geschichte mit der Tollpatschigkeit ab. Ich verstaute die Salbe wieder in meiner Hosentasche, richtete meine Sachen und nickte mir selbst im Spiegel zu. ‚Es geht dir gut‘, dachte ich, ‚du hast heute Nacht in deinem Bett noch genug Zeit, um dir zu überlegen, wie es weitergeht.‘ Die drei Woods erwarteten mich bereits vor dem Badezimmer. „Alles in Ordnung?“, fragte Taylor und versuchte etwas in meinem Gesicht zu lesen. „Ja, mir hat der Traum nur etwas auf den Magen geschlagen. Es geht wieder, danke.“ „Ich halte es für angebracht, wenn Taylor dich jetzt nach Hause fährt, damit du dich etwas ausruhen kannst. Ich werde mich derweil etwas in meinen Büchern schlau machen. Wenn ich etwas Näheres herausfinde, dann melde ich mich gern bei dir, wenn du das möchtest.“ In seiner Stimme lag ein Ton, der keine Widerrede dulden würde. Und ich hatte auch gar nicht vor zu widersprechen. In meinem Zimmer würde ich am besten über alles nachdenken können, wenn mein Gesicht nicht analysiert werden würde. „Ja, das wäre nett. Aber ich würde am Donnerstag gern wieder herkommen, wenn Sie nichts dagegen haben.“ „Das würde mich freuen, Lilly. Wir sehen uns dann.“ Mit diesen Worten drückte er kurz meine Hand und verschwand dann in sein Arbeitszimmer neben dem Wohnzimmer. Sean blickte mir bedauernd in die Augen. „Schade, dass du nicht länger bleibst. Aber ich komme dich gern mal wieder vor der Schule besuchen…“ „Tu, was du nicht lassen kannst. Aber vielleicht solltest du dir langsam einen Job suchen, dir wird sonst irgendwann sterbenslangweilig hier“, antwortete ich und ließ mich kurz von ihm umarmen. „Ach was, hier drin und dort draußen gibt es genug Zerstreuung für mich.“ Er zwinkerte mir zu, doch ich blieb ernst. „Sei bitte vorsichtig, Sean. Du weißt, dass Er nicht zu unterschätzen ist.“ Wir alle wussten, wen ich meinte und vor allen Dingen, an welche Situation ich dachte. „Lilly, meine Teure. Das hatte ich nicht gemeint.“ „Gut, ich wollte es auch nur gesagt haben.“ Dann ging ich mit Taylor zu seinem Auto und er fuhr mich nach Hause.

 

Eine ganze Weile schon war ich wieder zu Hause, hatte meinen Vater gebeten, sich die Rippe anzusehen und der hatte mir die Geschichte tatsächlich geglaubt. Er hatte mir die Angst genommen, dass Schlimmeres eingetreten war und einen festen Verband um meine Rippen gewickelt. Jetzt konnte ich mich zwar kaum bewegen ohne das Gefühl zu haben, ich sei ein Roboter, aber es ging mir um einiges besser. Nur schlafen konnte und wollte ich nicht. Mein Vater hatte bei Henry erfahren, dass die Woods mitten im Wald wohnten und mir das Verbot erteilt, dorthin zu fahren - auch nicht in Begleitung Taylors oder einem der anderen Woods - solange sich noch Wölfe in den Wäldern herum trieben. Bei dieser Meinung blieb er standfest und ich musste einsehen, dass es keinen Sinn hatte, ihn umstimmen zu wollen. Je mehr ich auf ihn eingeredet hatte, umso uneinsichtiger wurde er. Langsam wurde es dunkel draußen und ich saß vor meinem geschlossenen Fenster im unbeleuchteten Zimmer und betrachtete den Mond. Schweren Herzens nahm ich mein Handy zur Hand und drückte auf die Kurzwahltaste Zwei, Taylors Nummer. Es tutete nur ein Mal und schon war er dran. „Hey, ist was passiert? Geht es dir gut?“ „Ja, alles in Ordnung. Ich wollte nur eine schlechte Mitteilung machen.“ Am anderen Ende hörte ich, wie eine Tür zugeschlagen wurde und ihm jemand etwas nachrief. „Ist bei dir alles okay?“, fragte ich nun und vergaß kurz, weswegen ich eigentlich anrief. „Natürlich. Was sollte sein?“ Es raschelte merkwürdig in der Leitung, doch ich schüttelte den Kopf. „Du sagtest, du müsstest eine schlechte Mitteilung machen?!“, erinnerte er mich. „Oh ja, mein Vater hat mir das Verbot erteilt zu euch zu fahren, solange noch Wölfe im Wald sind.“ „Also kommst du nie wieder her?“ Taylor meinte es nicht ernst und lachte leise. „Sieht so aus. Aber vielleicht kannst du mich ja gelegentlich besuchen kommen. Wenn du mal ein bisschen deiner Zeit entbehren kannst…“ „Ja, ich werde dich sicher irgendwo dazwischen schieben können. Ich suche einen freien Termin raus und geb dir dann morgen in der Schule bescheid, ja?“ Wir lachten beide. „Tu das.“ Wieder raschelte es und dann folgte ein lautes Knacken. „Sag mal, was tust du denn da?“ „Ich? Gar nichts. Nichts, was ich sonst nicht auch tue, ehrlich.“ Das glaubte ich ihm aufs Wort und mich beschlich das leise Gefühl, dass er im Wald herumlief und einen Kontrollgang unternahm. Mein Vater war bereits zu Bett gegangen und hatte mir kurz vorher Gute Nacht gesagt. Er schlief unten friedlich in seinem Bett und hatte mich gebeten, nicht mehr allzu lange aufzubleiben. Doch ich würde heute nicht mehr schlafen. Nicht, wenn ich wieder so einen Traum erleben würde müssen. Ich wollte nicht noch einmal Taylor töten, auch wenn es ‚nur‘ ein Traum wäre. Es war furchtbar und so schrecklich real gewesen. Allein die Vorstellung ließ mich erschaudern. „Sag mal, solltest du nicht langsam mal ins Bett gehen?“, fragte nun Taylor am anderen Ende. „Ja, bald. Ich kann nur noch nicht. Und ich wollte deine Stimme noch mal hören.“ „Lilly, mag sein, dass das bei deinem Vater klappt, aber ich kauf dir das nicht ganz ab. Du wirst heute nicht mehr schlafen, oder?“ Ich hätte es wissen müssen, er kannte mich einfach zu gut. „Also das mit deiner Stimme war ernst gemeint, aber du hast Recht. Ich werde nicht schlafen, insbesondere nicht träumen.“ „Siehst du, und weil ich mir das gedacht habe, habe ich eine Bitte an dich.“ „Eine Bitte? Inwiefern?“ „Machst du, bitte, das Fenster auf?“ „Wie, Fenster? Was…?“ Mein Blick fiel auf den schwarzen Schopf unten in unserem Garten und zwei warme braune Augen blickten mich an. „Dein Fenster. Ich bin mir nämlich nicht ganz sicher, ob wir unbeschadet an deinem Vater vorbei kommen würden, wenn du mir die Tür öffnest…“ „Oh ja, das würde wohl schwierig werden.“ Ich drückte auf die Auflegen-Taste meines Handys und schob das Fenster nach oben. „Geh einen Schritt zurück. Am besten setzt du dich auf dein Bett.“ „Gut“, antwortete ich und tat brav, was er mir aufgetragen hatte. Nur einen Augenaufschlag später, stand er vor mir. Ich wusste nicht, wie er es so schnell geschafft hatte, ohne Stütze oder jegliches Hilfsmittel in den zweiten Stock zu gelangen, aber ich war froh ihn zu sehen. Er schloss das Fenster hinter sich und nahm mich dann in die Arme. „Ich wollte nur bemerken, dass ich das zuvor noch nie getan habe…“ „Was? Zu einem Mädchen ins Haus steigen oder überhaupt durch ein Fenster in der zweiten Etage zu klettern?“ „Beides.“ „Da bin ich aber erleichtert. Wo ich doch gedacht hatte, dass du das jeden zweiten Tag tust.“ Ich stieß ihn leicht an und genoss die Wärme und den Duft, die von ihm ausgingen. Er roch nach Aftershave, Kiefer und…irgendetwas, dass ich zuvor noch nicht gerochen hatte, aber sofort mit ihm verband. Seltsam, wie bekannt er mir nach so kurzer Zeit schon war. „Und wie soll mir deine Anwesenheit helfen, nichts Schlechtes zu träumen?“, fragte ich flüsternd. Ich bezweifelte, dass es mir überhaupt gelingen würde einzuschlafen, wenn ich wusste, dass er hier sein würde. Zumindest bis ich einschlief. „Du unterschätzt mich gehörig, mein Schatz.“ „Denkst du?“ „Sicher. Und jetzt ziehst du dir dein Schlafzeug an. Ich warte hier. Na los, geh schon. Hopp, hopp.“ Ich zog eine Augenbraue hoch, schnappte mir jedoch meine Sachen und verschwand im Badezimmer. Nachdem ich die Haare gewaschen und leicht mit einem Handtuch trocken gerubbelt hatte, kämmte ich sie grob durch. Dann putzte ich die Zähne und schlüpfte in meine blau-weiß karierte Schlafhose und ein altes graues Tanktop. Ich schüttelte mein Haar einmal auf und kehrte dann zu Taylor zurück. Er saß artig auf dem Rand des Bettes und blickte auf, als ich die Tür zu meinem Bad hinter mir schloss. „Um auf die Frage von vorhin zurück zu kommen, wie hilft mir deine Anwesenheit noch gleich?“ Er antwortete nicht, stand stattdessen auf und schlug die Bettdecke zurück, damit ich drunter schlüpfen konnte. Ich tat es und er deckte mich zu. Dann legte er sich neben mich und stützte seinen Kopf mit einer Hand ab. Sein Blick war wieder einmal zum dahinschmelzen und mein Herz begann laut in meiner Brust zu schlagen. Ich rollte mich auf die Seite und blickte starr auf seinen Oberkörper. „Ich werde nicht schlafen.“ „Doch wirst du. Lilly, ich bin hier. Solange wie es nötig ist. Sollte ich sehen, dass du in einen schlechten Traum gleitest, werde ich dich sofort wecken. Es wird nichts passieren, okay?“ „Dann bekommst du aber keinen Schlaf.“ „Brauche ich auch nicht. Ich habe mich vorhin zwei Stunden hingelegt und habe genug Energie aufgetankt, um morgen die Schule zu bewältigen, ohne vorher zu schlafen.“ „Das hast du vorhin schon geplant?“ Ich blickte zu ihm auf, er nickte nur. Er kannte mich wirklich in- und auswendig. „Und du meinst, das klappt?“ „Ja“, meinte er feierlich, doch ich wusste, dass er sich selbst nicht ganz sicher war. Wie sollte man sich bei so was auch sicher sein? „Hör endlich auf zu grübeln und mach die Augen zu…“, wisperte er und legte den Arm, mit dem er vorher seinen Kopf gestützt hatte, unter meinen Kopf. Sein anderer Arm schlang sich um meine Hüfte und zog mich vorsichtig näher zu ihm heran. „Versuchen wir es…“, seufzte ich und schloss die Augen. Noch immer schlug mein Herz heftig in meinem Brustkorb, doch seine Wärme und tatsächlich auch seine Anwesenheit ließen mich ruhiger werden. Langsam wurde ich schläfrig und fiel dann in einen neuen Traum…

Als ich meinen Kopf hob, saß ich einem riesigen Spiegel gegenüber. Ich war ganz leicht geschminkt und schien bereits ein paar Jahre älter zu sein. Mein blondes Haar war offen und reichte mir in großen Wellen bis ungefähr zu den Ellenbogen. Den Raum um mich herum nahm ich nicht mehr wahr, weil mein Blick auf das Kleid fiel, dass ich trug. Ein weißes wunderschönes Kleid, das etwas abgeändert worden war, ich aber immer noch als das ehemalige Hochzeitskleid meiner Mutter erkannte. Es hatte keine Träger mehr und hielt, weil es wie angegossen passte, über meiner Brust. Ein schmaler Streifen glitzernder kleiner Perlen reichte um den ganzen Bund und als ich diesen berühren wollte, bemerkte ich erst, was ich an den Händen trug. Eine Art Handschuh, die aber nur mit einem unsichtbaren Gummi am Mittelfinger hielten und sonst meine Finger nicht bedeckten. Sie reichten mir bis zum Ellenbogen und waren aus strahlend weißem Satin. So wie auch das Kleid. Es mündete in einen leicht breiten Rock, war aber bis zu meiner Taille eng anliegend und betonte meine Rundungen. Wie automatisch nahm ich die Ohrringe von dem Schminktisch vor mir und legte sie an. Dazu die passende Kette und strich mir dann eine Strähne aus der Stirn. Neben mir erschien Carly in einem bodenlangen hellgrünen Satinkleid, das ihr ausgezeichnet stand und sich ebenfalls eng an ihren Körper schmiegte. „So, Süße. Jetzt nur noch den Schleier. Bist du so nett und hältst die Haarnadeln kurz?“ „Sicher“, meinte ich und meine Stimme klang erwachsener. Der lange Schleier rundete das Ganze wunderbar ab und ich fühlte mich wundervoll. Während Carly ihn gut feststeckte und mir dann den dünnen Stoff vor dem Gesicht richtete, konnte ich es noch immer nicht fassen. Ich heiratete. Jetzt. Hier in diesem Traum würde ich mich für immer an Taylor binden. Keine Frage, dass es Taylor sein würde, der am Altar auf mich wartete. Jemand klopfte an die Tür und ich hörte die Stimme meines Vaters: „Die Gäste sitzen alle. Seid ihr beiden soweit, dann würden wir nämlich gern starten…?!“ „Ja, keine fünf Minuten mehr, versprochen“, antwortete Carly und reichte mir ein Paar weißer Schuhe mit 8cm Absätzen. Ohne Widerworte zog ich sie an und zurrte die Riemchen fest. „Gut. Lass uns gehen. Den Strauß habe ich schon Sean dagelassen. Irgendwas muss er ja auch tun.“ Als sie seinen Namen erwähnte, begannen ihre Augen zu leuchten. Ich hatte so gehofft, dass sie ebenfalls glücklich sein würde in der Zukunft. „Carly, ich… Danke, dass du mir immer eine so wundervolle beste Freundin warst. In all der Zeit habe ich dir das nicht oft genug gesagt und ich… Ich habe dich einfach wahnsinnig lieb und oft bin ich der Meinung, ich hätte dich nicht verdient.“ „Oh, Süße. Wir haben wahrlich genug miteinander durchgestanden und du warst auch für mich da in all der Zeit. Ich habe dich auch sehr, sehr lieb, glaub mir. Du bist für mich wie eine Schwester.“ Wir drückten einander, vorsichtig, um unsere Kleider nicht zu zerknittern. „Nun…dann gehen wir“, begann sie und wandte sich zur Tür, „er wartet doch schon!“ „Ja“, hauchte ich und folgte ihr lächelnd. Ich kannte diese Kirche. Es war die Kapelle in Crystal Falls in der früher auch meine Eltern geheiratet hatten. Als wir auf dem Flur vor der großen Flügeltür ankamen, durch die man zum Altar schreiten musste, erwarteten uns bereits ein paar Leute. Mein Vater stand dort, ebenso wie Sean an dessen Hand ein kleines Mädchen mit braunen Locken zappelte. Die Kleine, ich schätzte sie auf 4 Jahre, lächelte, als Carly auf sie zukam und Sean den Strauß abnahm. „Mama, wann geht es denn endlich los?“ „Schätzchen, ein kleines bisschen Geduld noch. Tante Lilly ist gleich fertig.“ Tränen bahnten sich ihren Weg, doch ich drängte sie zurück. Ich wollte die Schminke nicht ruinieren und das Ganze nicht noch länger verzögern, weil ich einen Weinkrampf bekam. „Das Blaue hast du?“ „Ja, wo es hingehört“, wisperte ich zurück, weil Sean bereits grinsend die Ohren spitzte. Sie reichte mir den kleinen Strauß weißer und roter Rosen, kontrollierte noch einmal den Schleier und verkündete dann feierlich, dass es losgehen konnte. Sean nickte mir zu und reichte seiner Tochter dann einen kleinen Korb mit Rosenblüten, sie war also das Blumenmädchen. Irgendjemand hatte drinnen bescheid gesagt, dass die Zeremonie starten konnte, und Musik erklang. Das kleine süße Ding mit den braunen Locken und den grauen Augen schlüpfte durch einen kleinen Spalt in den Flügeltüren und schritt den Gang herunter. Leider stand ich nicht nah genug, um mir den Kirchenraum ansehen zu können. „Schatz, du siehst wundervoll aus. Deine Mutter hätte sich sehr darüber gefreut, dass du ihr Kleid anhast“, wisperte mein Vater und auch er hatte Tränen in den Augen. „Danke! Und danke, dass du hier bist. An diesem Tag.“ „Wo sollte ich sonst sein? Ich gebe zu, es ist nicht leicht dich gehen zu lassen, aber du bist bei ihm sehr gut aufgehoben. Er hat mir bewiesen, dass er auf dich Acht gibt und dich liebt.“ Ich war mir nicht ganz sicher, aber es klang, als wüsste er über Alles bescheid. Sean und Carly schritten Arm in Arm den Gang hinunter. Mein Vater und ich würden die Nächsten sein und wir stellten uns vor der Tür auf. Wir sprachen nicht weiter, als ich mich bei ihm einhakte. Es war für uns beide nur wichtig, die Gegenwart des Anderen zu fühlen. Dann wechselte die Musik, wir hörten wie alle Gäste aufstanden und sich umwandten. Jemand räusperte sich und dann wurden die Flügeltüren geöffnet und ich sah den ganzen Raum und ihn. Hätte mich jemand gefragt, dann hätte ich ohne zu zögern gesagt, dass es die perfekte Hochzeit werden würde. Überall standen Kerzen und Rosenbouquets, jeder im Raum lächelte und ich hatte das Gefühl, dass ausnahmslos jeder Gast die Luft anhielt, als sich die Tür geöffnet hatte. Langsam setzten wir uns in Bewegung und mit jedem Schritt auf dem roten Teppich, der bis zum Altar reichte, näherte ich mich Taylor, der so wundervoll aussah in seinem Anzug. Es war ein schwarzer, mit einer Nadelstreifen-Weste und einem schwarzen Schlips. In der Brusttasche steckte ein weißes Tuch und in einem Knopfloch eine weiße Rose. Er lächelte und nur der Druck an meinem Arm hielt mich davon ab, schneller zu ihm zu gehen. Wir kamen vor dem Altar zum Stehen und erst jetzt bemerkte ich, dass da noch jemand bei ihm stand. Nicht nur Sean, der ein schiefes Grinsen aufgesetzt hatte, sondern ein kleiner zirka dreijähriger Junge. Er drückte sich an Taylors Bein und hielt das Samtkissen, auf dem die Ringe festgebunden waren. Anscheinend hatte man ihn nicht allein über den ganzen Gang schicken wollen und so stand er gleich hier vorn. Er war so süß und ich freute mich für Carly, dass sie gleich zwei Kinder hatte. Auch wenn ich einen kleinen Stich in meinem Herzen spürte, Neid wahrscheinlich. Doch dann blickte er mich lächelnd an und es waren eindeutig meine Augen, die mir da entgegensahen. Schwarzes Haar und kristallblaue Augen. Es war nicht Carlys und Seans Sohn, sondern Taylors und meiner. Ich schluckte und blickte dann zu meinem Vater, der den Schleier von meinem Gesicht nahm und mir dann einen Kuss auf die Stirn hauchte. Nun reichte er mich an Taylor weiter und ich fühlte, wie ich zu Hause ankam. Als ich seinen Blick bemerkte, fühlte ich mich so wunderschön wie nie zuvor. Seine Augen leuchteten und er zitterte ganz leicht. Ich gab Carly den Strauß und verschränkte meine Finger mit seinen. Immer wieder huschte mein Blick ganz kurz zu unserem Sohn. Die ganze Zeremonie war herzergreifend, doch ich weinte leise, weil ich eine vollständige Familie hatte. Einen Mann, einen Sohn und den Rückhalt der ganzen Stadt. Insbesondere meines Vaters, meiner besten Freundin und ihrer Familie. Es war so wundervoll, dass alles zu sehen, zu erleben wie wir miteinander verbunden wurden. Dann war es der Reverend, der mich zurückholte: „Kraft des mir verliehenen Amtes, erkläre ich Sie hiermit zu Mann und Frau. Sie dürfen die Braut jetzt küssen.“ Ich erinnerte mich nicht daran, ja ich will gesagt oder einander die Ringe aufgesteckt zu haben, aber auch das war wohl völlig automatisch geschehen. Schließlich gehörte ich zu ihm. Zu wem auch sonst? Taylor beugte sich zu mir herunter, umfasste meine Taille mit einem Arm und führte mit der anderen Hand mein Kinn zu seinem Gesicht. Er küsste mich sanft. Es war berauschend, wie bei unserem ersten Kuss während des Sonnenuntergangs im Wintergarten. Meine Arme schlangen sich um seinen Nacken und ich drückte mich fester an ihn. Als wir uns voneinander lösten, drang erst das Klatschen der anwesenden Menschen an meine Ohren und ich lächelte. „Meine Damen und Herren, Mr. und Mrs. Taylor Wood.“ Es ausgesprochen zu hören, war sogar noch ergreifender und wieder stiegen Tränen in mir auf. „Mommy…“, wimmerte jemand und zog sachte an meinem Kleid. Mein Blick huschte sofort nach unten. Ich wollte nicht, dass dieser kleine Fratz weinte. Niemals würde ich zulassen, dass er litt oder ihm jemand etwas antun würde. Meine Hände griffen sofort nach ihm und ich hob ihn blitzschnell auf meine Arme. „Was ist denn, mein Spatz?“ Seine blauen Augen analysierten mein Gesicht, so wie es sein Vater immer tat. „Heißt du jetzt Wood?“ Ich drückte ihn sanft an meine Schulter und wisperte: „Ja, mein kleiner Liebling.“ Mein Blick galt Taylor, der unserem Sohn über den Kopf streichelte und hinzufügte: „Und das wird sich auch niemals ändern.“
 

Ein Sonnenstrahl traf meine Augen und ich kniff sie zusammen. ‚Nein‘, dachte ich, ‚noch nicht. Ich will noch ein paar Minuten in diesem Traum bleiben.‘ Doch es hatte keinen Sinn, ich war zurück in der Gegenwart. Der Wecker hatte zwar noch nicht geklingelt, aber ich wollte auch nicht wissen, wie spät es war. Noch immer hielt ich meine Augen geschlossen und hoffte noch ein paar kurze Bilder zu sehen, doch da war gar nichts mehr. Die Matratze wackelte leicht und ich öffnete vorsichtig die Lider. „Du hast es bemerkt?“, hauchte Taylor und blickte mich entschuldigend an. „Was bemerkt?“ Ich kuschelte mich an ihn und roch den Duft frisch gewaschener Wäsche. „Du warst weg, dich umziehen…“ „Ja, und ich habe gehofft, dass du  nicht aufwachst, ehe ich zurück bin. Du kannst die Augen noch für eine Stunde zumachen, noch musst du nicht aufstehen.“ „Ich komme sowieso nicht in den Traum zurück“, seufzte ich und er schloss mich in seine Arme. „War also wirklich ein schöner Traum, ja? Du hast die ganze Nacht gelächelt.“ „Es war wundervoll…“ Es störte mich nicht im Geringsten, dass er mich beobachtet hatte. Irgendwie fand ich es sogar schön das zu hören. Und es war mir auch egal, wie ich im Moment aussehen musste. Taylor lächelte mich immer an, als wäre ich die schönste Frau der Welt. Egal, ob ich gerade aus dem Schlaf erwachte oder zurecht gemacht war. „Erzählst du es mir?“ „Es ist ein richtiger Mädchentraum. Bist du dir sicher, dass du es wirklich wissen willst?“ „Etwa ein Tag im Shoppingcenter und du musstest am Ende für nichts bezahlen?“ „Nein, um Gottes Willen, so was will ich auch nicht träumen.“ Er lachte leise und streichelte mir übers Haar. „Dann schieß los. Es interessiert mich brennend!“ „Ich habe von uns geträumt. Wir waren ungefähr Mitte Zwanzig“, begann ich und dachte an unseren Sohn zurück. Innerlich hoffte ich, dass ich bereits gesehen hatte, was in unserer Zukunft auf uns wartete, doch das war unmöglich. „Es war der Tag unserer Hochzeit.“ „Tatsächlich?“ Ich schaute zu ihm auf, doch er hatte die Augen geschlossen. Es war mir wichtig zu wissen, was er darüber dachte. Ob er mich für verrückt hielt, weil ich nach nicht einmal fünf Tagen Beziehung bereits davon träumte, ihn zu heiraten. Oder, ob er sich gerade vorstellte, wie wir beide ausgesehen hatten. „Willst du nicht mehr erzählen? Das kann unmöglich schon alles gewesen sein!“, meinte er und sah jetzt mich an. Unsere Blicke verschmolzen miteinander und ich konnte einfach nicht anders, ich küsste ihn. Erst zaghaft, dann leidenschaftlicher. Die Welt hätte in diesem Moment untergehen können, ich hätte es nicht bemerkt. Doch dann löste er sich von mir und schnappte nach Atem. In seinen Augen erkannte ich, dass er es widerwillig getan hatte, doch er schien fest entschlossen das nicht noch einmal zuzulassen. „Lilly, du weißt, ich liebe dich, aber wir können nicht…“ „Du hast Angst, dass wieder was passiert?!“ Es war eine Feststellung und ich hätte nicht einmal eine Antwort von ihm gebraucht. Ich konnte es in seinen Augen lesen. „Deine erste Verletzung ist noch nicht mal verheilt und wenn du mich so küsst, kann ich wirklich für nichts mehr garantieren. Lass uns einfach vorsichtiger sein, ja? Tu mir den Gefallen!“ „Ist gut. Ich halte mich zurück.“ „Danke“, flüsterte er und lachte dann leise. „Ich hätte nie gedacht, dass du für mich so gefährlich werden könntest. Wenn du in der Nähe bist, werfe ich all meine Vorsätze über Bord.“ „Was für Vorsätze?“ „Ich hab mir geschworen, einem Menschen niemals meine zweite ‚Identität‘ zu offenbaren. Bei dir fehlgeschlagen. Ich hatte mir geschworen, meine Fähigkeiten niemals fahrlässig bei einem anderen Menschen anzuwenden. Bei dir fehlgeschlagen. Außerdem hatte ich mir geschworen, niemals die Kontrolle zu verlieren, um einen Menschen nicht zu verletzen. Bei dir fehlgeschlagen.“ „Ich möchte nicht, dass du denkst, ich sei für dich gefährlich. Wenn du dich unwohl dabei fühlst, deine Vorsätze zu brechen, dann…“ „Was dann? Willst du mich verlassen?“ Seine Augen blickten flehend. Er wollte nicht, dass ich gehe und doch wusste er, dass es für mich das Beste sein würde. Schließlich hielt er sich selbst für die größte Gefahr, die auf mich lauerte. „Ich bin ein ebensolcher Egoist wie du, Taylor. Ich könnte niemals verkraften, dich zu verlieren.“ Er lächelte leicht, doch sein Blick blieb traurig. Während ich über seine Wange strich, erzählte ich weiter: „Sean und Carly waren in meinem Traum zusammen, vielleicht auch schon verheiratet. Sie hatten eine kleine Tochter. Ein süßer Engel mit braunen Locken.“ „Wirklich? Die beiden?“ Anscheinend stellte er sie sich gerade zusammen vor und grinste. „Ich finde, sie passen gut zusammen. …Du hast gut ausgesehen in deinem schwarzen Anzug und ich hatte das abgeänderte Hochzeitskleid meiner Mutter an. Als mein Vater mich an dich weitergereicht hat, vor dem Altar, und du meine Hand genommen hast, da fühlte ich, dass ich zu Hause war. Genau da gehörte ich hin und genau da wollte ich sein. An deiner Seite. Und wir…“, doch ich stockte. ‚Bei allen männlichen Familienmitgliedern bricht es mit 10 Jahren aus. Es ist nicht möglich, es aufzuhalten…‘, hallten die Worte Kenneth‘ in meinen Ohren wider. Ich musste an Taylors Gesichtsausdruck denken, als er mir von der Verwandlung an seinem 10. Geburtstag erzählt hatte. Er würde es nicht sehr gut aufnehmen, wenn ich jetzt von dem Kleinen berichtete. „Was, und wir?“ „Du wirst es nicht gern hören!“ „Versuch es trotzdem“, bestärkte er mich und drückte mich kurz an sich, dann blickte er mir wieder in die Augen. „Wir hatten einen Sohn.“ „Oh…“ „Er war ungefähr drei Jahre alt. Er hatte deine schwarzen Haare und meine blauen Augen. Er war so süß und so klein. Ich habe merkwürdigerweise sofort Muttergefühle für ihn entwickelt, obwohl es nur ein Traum war, aber…er war dein Ebenbild.“ „Lilly…“ Ich legte ihm einen Finger auf die Lippen, er sollte es nicht aussprechen. „Ich weiß. Es war doch auch nur ein Traum.“ Es war unmöglich, dass er die Tränen in meinen Augen nicht gesehen hatte, doch er sagte nichts weiter dazu. Wir schraken beide zusammen, als mein Wecker klingelte. Ich streckte mich über Taylor, was gar nicht so einfach war, und schaltete ihn aus. Meine Rippe schmerzte nicht und ich ließ mich in die Kissen zurücksinken. „Sag Carly bescheid, dass sie dich nicht abholen braucht. Ich mach mich auf den Weg und hol mein Auto. Wir fahren zusammen zur Schule, ja?“ „Okay.“ Während ich nach meinem Handy tastete, stand Taylor auf und öffnete das Fenster leise. Gerade tippte ich die Kurznachricht ein, als er sich über mich beugte und sich mit beiden Händen neben mir abstützte. „Wir heiraten trotzdem… Schließlich will ich dich mal in dem Kleid sehen“, flüsterte er, küsste mich und schwang sich dann aus dem Fenster. Völlig sprachlos lag ich auf dem Rücken und konnte dann die Tränen nicht länger zurückhalten. Einerseits waren es Freudentränen und andererseits Tränen der Trauer, um den kleinen Sohn, den ich nie haben würde. Das Wissen, dass ein gemeinsames Kind so wundervoll aussehen und sein würde, machte das alles so grausam. Taylor würde niemals wollen, dass sein Sohn eine solche Verwandlung durchmachen müsste und so hatte er auch beschlossen, dass er keine Kinder haben würde. Er wollte nicht das Risiko eingehen, dass es ein Sohn wird und genau das hatte er auch vorhin sagen wollen. Ich hörte die tiefe Stimme, die meinen Namen rief und schlug das Fenster zu. Ihn konnte ich nun gar nicht gebrauchen. Dann schickte ich die Nachricht an Carly ab und verschwand im Bad.

 

08. April

Träume sind schon merkwürdig. Mal machen sie einem furchtbare Angst. Sie handeln von Schmerz und Verlust, von Grausamkeiten und Abschied. Und dann wieder sprühen sie voller Leben. Sie zeigen einem Liebe und Glück, Hoffnung und unsagbare Freude.

Gestern Nacht habe ich eine wundervolle Hochzeit gesehen, ich weinte als ich die Augen aufschlug. Das komische daran war, es war nicht einmal meine Eigene. Sie zeigte mir ein wunderschönes junges Mädchen und ihren zukünftigen Ehemann. Die beiden hatten viele Freunde und ihre Familien waren ebenfalls glücklich. Nur ganz kurz, sah ich das Lächeln der jungen Frau und ich glaubte, mich selbst in ihr wieder zu erkennen. Doch ich kannte sie nicht, nicht direkt jedenfalls. Vielleicht hatte ich die Hochzeit einer Freundin aus der Zukunft gesehen oder, so hoffe ich zumindest, es war das Erlebnis meiner Tochter. Sie sah so strahlend schön und unglaublich glücklich aus. Ich wünsche ihr nur das Beste. Ihr Mann schien sie sehr zu lieben und ich hoffe, dass er sie für den Rest ihres Lebens glücklich machen wird. Sie werden sicher ganz viele niedliche Kinder bekommen. Aber das werde ich ja dann selbst erleben… Seltsam, ich bin erst 15 und mache mir bereits Gedanken über meine Enkelkinder. Aber wie ich am Anfang schon schrieb: Träume sind schon merkwürdig.

 

Die nächsten Wochen rasten dahin und jede Nacht blieb Taylor bei mir, um die bösen Träume von mir fernzuhalten. Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, auch wenn er mir erklärte, dass ich das nicht haben müsse. Er täte es gern und fände es schön, mir helfen zu können, meinte er. Doch jeden Morgen, wenn ich aufwachte, sah ich ihm ins Gesicht und wurde traurig. Seine Augen glitzerten zwar immer, aber er sah so unglaublich müde aus. ‚Ich bin ein furchtbarer Mensch‘, dachte ich. ‚Wie kann ich nur so egoistisch sein und ihn um seinen wohlverdienten Schlaf bringen?‘ Jede Nacht träumte ich noch mal ein Stück unserer Hochzeit. Kenneth hatte ich nicht gesehen seit dem Tag meines bösen Traumes und er hatte Taylors Worten zufolge, auch nichts weiter herausfinden können. Sean besuchte mich nachmittags bei Henry in der Billardhalle und verstand sich prächtig mit Carly. Aber er war in dieser Hinsicht, wie sein Bruder. Er erzählte ihr niemals zu viel und versuchte sich so weit wie möglich von ihr fernzuhalten, um sie nicht näher an sich zu binden. Ein Blinder mit Krückstock konnte erkennen, dass er sie für wunderschön, klug und lustig hielt, aber er bestritt das vehement, wenn man ihn danach fragte. Wer nur sollte aus diesen Jungs schlau werden? Ich sollte vielleicht hinzufügen, dass Carly seit dem ersten Gespräch mit Sean keinen anderen Jungen mehr angebaggert hatte… Vielsagend. Der schwarze Wolf hatte sich lange nicht blicken lassen bzw. nach mir gerufen. Aber ich versuchte auch nicht darauf zu achten und mich weitestgehend von Waldstücken und sonstigen dunklen Orten fernzuhalten. Ich war niemals allein unterwegs und konzentrierte mich wieder mehr auf die Schule. Für mich wurde es langsam Zeit ein College auszusuchen und so saß ich an einem Samstagabend mitten in meinem Zimmer zwischen all den Unterlagen. Mein Blick huschte kurz auf meinen Wecker, 22 Uhr. Taylor würde gleich kommen. Wir hatten uns auf eine Zeit geeinigt, zu der mein Vater nicht mehr in mein Zimmer kam, ich aber noch lange nicht müde war. Das letzte Mal war schließlich knapp genug gewesen. Da hatte Taylor allein in meinem Zimmer gewartet, dass ich aus dem Bad kam. Glücklicherweise waren seine Ohren zehnmal besser, als die eines Menschen und so hatte er meinen Vater früh genug vor der Tür gehört, um sich ein gutes Versteck zu suchen. Und zwar im Badezimmer. Ich hatte gerade ein Badetuch um meinen Körper geschlungen, als er mit hochrotem Kopf vor mir stand und mir leise erklärte, was passieren würde. Ich war in mein Zimmer gegangen, wo mein Vater bereits kurz vor der Badtür stand und gerade den Kopf hereinstecken wollte. Mit einem Gute Nacht und einem Kuss auf seine Wange, war ich ihn schließlich losgeworden, aber Taylor war seither vorsichtiger. Ich befreite mich von all den Unterlagen und öffnete leise das Fenster, als ich ihn bereits aus der Hecke kommen sah. Es war immer noch verrückt, wie wild mein Herz schlug, wenn ich ihn sah. Immer noch katapultierte es sich förmlich aus meiner Brust und ich begann zu zittern, als seine Augen in meine tauchten. Wieso hatte er sich noch gleich in mich verliebt? Ich war mir immer noch nicht sicher, ob ich das nicht alles nur träumte. So ein toller Mann konnte sich nicht nur an mich, eine einfache Schülerin, binden. Vielleicht lag da eine Verwechslung vor. Ich nahm wieder zwischen all dem Papier Platz und hörte, wie er leise durch das Fenster schlüpfte. „Hey, Schatz“, sagte er und sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an. Ich wusste, dass er es nicht leiden konnte, wenn ich meine Haare hochsteckte, aber die hätten mich nur gestört. „Hey, hast du gut geschlafen?“ „Wie ein Stein. Aber du hättest mich heute Morgen ruhig wecken können.“ „Niemals, meinetwegen fehlt dir der Schlaf ja. Da werde ich einen Teufel tun und dich morgens aus dem Bett klingeln.“ Wir hatten die Abmachung getroffen, dass er am Wochenende, zumindest wenn wir es lange genug ohne einander aushielten, ausschlief und wir uns erst abends sehen würden. Daher rief ich ihn nur morgens an, um wenigstens kurz seine Stimme zu hören, aber heute hatte ich ihm die Ruhe gelassen. Er sah erholt aus und ich hatte kein so schlechtes Gewissen, wie sonst. Schließlich blieb er über Nacht für mich wach, um beim ersten Sonnenstrahl zu sich nach Hause schlafen zu gehen. „Was tust du da?“ „Colleges aussuchen. Ich habe schon ein paar Rückmeldungen, aber ich weiß nicht…“ „Was? Welches du nehmen sollst?“, begann er und hob ein paar Zettel auf, um zu lesen, welche Colleges in Frage kamen. „Meine Güte, wie viele stehen denn zur Auswahl?“ „Ich habe nicht gezählt, aber die Liste, die du da hast, hat sich schon positiv gemeldet und die hier“, ich wedelte mit einem weiteren Blatt, „haben noch nicht geantwortet.“ „Und was bitte meintest du dann mit, ich weiß nicht?“ „Mit jeder weiteren Minute frage ich mich, ob ich das wirklich will.“ Er blickte mich stumm an. „Ich meine, es ist der Wahnsinn, dass ich freie Auswahl habe, wo andere darum beten, eine positive Nachricht zu kriegen, aber… Ich habe nie über eine andere Option nachgedacht, verstehst du? Für mich hieß es immer, ich gehe aufs College. Punkt, aus. Es hat mir keiner aus der Familie vorgeschrieben, dass ich studieren soll, aber ich habe nie daran gedacht, etwas anderes zu tun. Zu arbeiten oder ein Jahr blau zu machen…so wie es andere tun.“ Ich seufzte und legte das Blatt weg. „Es ist frustrierend!“, fügte ich hinzu, löste die Spange aus meinem Haar und ließ mich rücklings auf den Boden sinken. Taylor schob einige Papiere vorsichtig fort und setzte sich im Schneidersitz neben mich. „Die Entscheidung kann ich dir nicht abnehmen…“, meinte er und ich strich mir über die Augen. „Ich weiß und das würde ich auch niemals von dir verlangen.“ Wir blickten uns lange an und wäre da nicht das Versprechen gewesen, dass ich ihm nach dem ersten Traum mit unserer Hochzeit gegeben hatte, hätte ich mich jetzt auf ihn gestürzt. Wie konnte ein einzelner Typ auch nur so gut aussehen?! Ich musste mich ablenken, an irgendetwas anderes denken. „Was ist mit dir?“, fragte ich und hoffte, dass ich nicht so sehnsüchtig klang, wie ich mich fühlte. „Was soll mit mir sein?“ „Was planst du nach dem Abschluss hier in Crystal Falls?“ „So weit denke ich nie voraus…“, er klang völlig emotionslos und ich setzte mich auf. „Aber du musst dir doch Gedanken darüber gemacht haben, was du später mal tun willst, oder etwa nicht?“ Taylor nahm eine meiner Haarsträhnen zwischen seine Finger und beobachtete, wie sich das Deckenlicht darin brach. Erst nach einigen Minuten blickte er mir wieder in die Augen. „Wenn man ein Wolf ist, plant man unwichtige Dinge in der Zukunft nicht.“ „Du willst mir im Ernst erklären, dass du deine berufliche Zukunft für unwichtig hältst?“ „Ja.“ „Wieso?“ Seine Antwort traf mich wie ein Schlag ins Gesicht oder in den Magen: „Weil ich nie weiß, wann es vorbei ist.“ Ich war nicht schockiert, obwohl ich das wohl hätte sein sollen, aber es machte mich unglaublich traurig, ihn so reden zu hören. „Ich plane jeden Moment, den ich mit dir verbringe, weil ich jeden Augenblick mit dir genieße. Ich genieße es, dich lieben zu können, mich dabei nicht verstellen zu müssen, wie es bei anderen der Fall ist. Und ich plane auch alles, was mit meiner Familie zusammenhängt, weil auch sie mich verstehen. So sind wie ich. Aber ich denke nicht darüber nach, was ich in einem Jahr tun werde, weil ich mir niemals sicher sein kann, ob ich diesen Zeitpunkt noch erlebe.“ Ich wollte nicht hören, dass er irgendwann starb, aber wir wussten beide, dass er Recht hatte. Allein dieser Wolf hätte es fast geschafft, ihn aus dieser Welt zu reißen. Ihn aus meiner Welt zu reißen. Meine Hände wurden wieder kalt und ich fror entsetzlich bei dem Gedanken daran, dass ich die letzten Wochen mit ihm fast nicht erlebt hätte. Noch gestern war ich wahnsinnig stolz auf mich gewesen, dass ich so lange nicht geweint hatte, doch jetzt liefen mir zwei kleine Tränen über die Wangen. „Oh, Lilly, ich wollte nicht, dass du weinst“, beschwichtigte er mich und wischte die salzige Nässe fort. „Das willst du nie und ich tue es trotzdem… Mach dir keine Gedanken, ich bin eben ein sensibler Mensch.“ Ich rang mir ein kleines Lächeln ab und wollte mich gerade daran machen, die Papiere wegzupacken, als er mein Kinn berührte und mich zwang in seine Augen zu sehen. „Du hast noch etwas auf dem Herzen, oder? Was ist los, Lilly?“, wisperte er und seine Lippen waren nur Millimeter von meinen entfernt. Ich öffnete meinen Mund ganz leicht, doch ich brachte keinen Ton heraus. Es war die Gelegenheit, ihm von dem Angebot des schwarzen Wolfes zu erzählen. Ihm zu sagen, dass er mich oft schon versucht hatte, zu rufen und es gerade in diesem Moment wieder tat, doch ich sagte es nicht. Ich wusste, dass er sofort aus dem Fenster springen und ihn sich schnappen würde. Doch das konnte ich nicht zulassen, denn genau das war es, was der Wolf wollte. Er wollte uns trennen, Taylor loswerden, da er der Meinung war, dass der zwischen uns stand. „Lilly,…“, flehte er mich an und seine Augen verdunkelten sich. Er machte sich Sorgen. „Manchmal…“, begann ich und wandte meinen Blick von ihm ab, „frage ich mich, ob es nicht ein Irrtum ist.“ Da war sie wieder, die kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen. Auch die hatte ich seit Tagen nicht gesehen und ich wollte auch nicht, dass sie länger blieb. „Ich frage mich, ob du dich nicht irrst, in Bezug auf mich.“ „Wie bitte?“ Seine Antwort kam heftig und ließ zwar die Falte verschwinden, aber die machte nur etwas anderem Platz. Da waren so viele Gefühle in seinem Gesicht, dass ich sie nicht alle deuten konnte. Angst, Trauer, Verwirrung und dann spürte ich nur noch seine Hände auf meinen Wangen. „Hast du denn keine Ahnung, wie du auf mich wirkst? Was du mir bedeutest?“ „Ich weiß, dass du mich liebst und das glaube ich dir auch, aber… Es gibt all diese Farrahs und Carlys auf der Welt und du…du bist hier bei mir.“ „Oh, Lilly…mein Schatz.“ Er zog mich auf die Füße und umschlang meine Taille. „Du bist Alles für mich. Das Licht, der Himmel, die Erde. Wenn du so willst, meine eigene ganz spezielle Luft. Du bist für mich lebensnotwendig geworden. Jeden Morgen wache ich auf, mit den Gedanken bei dir und genauso schlafe ich auch ein. Du bist mir so vertraut, dass ich dich selbst dann sehe, wenn ich meine Augen schließe. Ich liebe jede Einzelheit an dir. Wenn du nervös bist oder Angst hast, bekommst du kalte Hände. Wenn du mich siehst, schlägt dein Herz genauso stark, wie in dem Moment, als wir uns das erste Mal geküsst haben.“ „Oh Gott…“, seufzte ich und versuchte die Hände vors Gesicht zu schlagen. „Nein, das muss dir nicht peinlich sein. Jedes Mal aufs Neue zeigt mir das, wie wichtig ich dir bin. …Ich liebe es, wie deine Haut schimmert, wenn du rot wirst. Ich liebe es, wie dein Haar in der Sonne glänzt und du einfach nur die Augen schließt, um einen einzelnen Strahl davon aufzufangen. Ich liebe deine Eigenheit, dir auf die Unterlippe zu beißen, wenn du nicht genau weißt, was du im Moment fühlen sollst. Wenn du meinem Bruder etwas entgegensetzt, dann umschließt dich diese leuchtende Aura. Du bist rein, natürlich, intelligent, witzig und du…du bist wunderschön. Und du gehörst zu mir. Du liebst mich, obwohl du weißt, was ich bin und du“, er lachte leise, „lässt niemals zu, dass ich mir Selbstvorwürfe mache. Geschweige denn, mich bei dir entschuldige, wenn ich etwas angestellt habe.“ Sein Blick huschte kurz zu meiner Rippe, die bereits vollständig verheilt war. „Das alles denkst du…über mich?“ „Und das war noch lange nicht alles. Ich könnte stundenlang über die Dinge sprechen, die ich so sehr an dir liebe. Also denk nie wieder, dass ich mich irre. Denn ich war mir nie zuvor so sicher über meine Gefühle und den Menschen, den sie betreffen. Verstanden?“ Er lächelte und seine Augen funkelten vor Begeisterung. Vielleicht war er ganz froh, mir das alles Mal gesagt zu haben. „Okay.“ Und dann zog er mich eng an sich und küsste mich, wie er es lange nicht getan hatte. Um ehrlich zu sein, hatte er mich erst einmal so geküsst und das war an den Schließfächern gewesen. Aber hier, in diesem Moment, hatte er seine Kraft völlig unter Kontrolle, nur seine Lippen…da war es anders. Meine Beine würden mich nicht länger tragen, das wusste ich und war so froh, als ich spürte, dass es ihm ebenso ging. Er sank mit mir zu Boden und ich fühlte, wie sein Herz gegen die Rippen schlug. Es pochte ebenso wie meines und kurz darauf waren sie im Einklang. Während ich meine Arme um seinen Nacken schlang, presste er mich, mit den Händen an meinem Rücken, näher an sich. Und wieder hätte die Welt untergehen können, ohne dass es mich auch nur im Geringsten interessiert hätte. Es tat mir schrecklich leid, aber ich musste kurz Luft holen und löste meine Lippen von den seinen. „Wir sollten aufhören“, wisperte er und ich wusste, warum ich es eigentlich nicht hatte tun wollen. Sein Gewissen meldete sich wieder, doch ich hauchte nur: „Ja, sollten wir“, und zog ihn zu mir hinunter. Er wehrte sich nicht und ich hatte die leise Ahnung, dass er froh war, dass ich sein Gewissen in diesem Punkt nicht teilte. Ein paar Augenblicke später zog er seinen Kopf nur millimeterweit zurück. „Du weißt doch, wie gefährlich das für dich werden kann.“ „Es ist doch nichts passiert. Du hast deine Kraft völlig unter Kontrolle“, seufzte ich und fühlte, wie heiß meine Lippen waren. Er grinste schief. Es war eine Mischung aus Belustigung und Wehmut. „Und ich habe dir gesagt, dass ich bei dir für nichts mehr garantieren kann.“ „Willst du denn wirklich aufhören?“, fragte ich so unschuldig, wie es mir in diesem Moment möglich war und biss mir auf die Unterlippe. Er stieß einen leisen Fluch aus und senkte sich zu mir herunter. „Du scheinst echt masochistisch veranlagt zu sein, weißt du das?“, wisperte er, bevor er mich küsste und ich lachte lautlos. „Nein, ich weiß nur, was gut für mich ist.“ Seine Lippen legten sich wieder über meine und ich schmolz in seinen Armen dahin. Es war so herrlich nicht denken zu müssen, einfach nur zu fühlen, zu genießen. Mir seiner Nähe, seiner Liebe bewusst zu sein, war ein so berauschendes Gefühl, dass es fast schon wieder schmerzte. Vielleicht hatte er recht und ich war eine Masochistin. Unsere Hände verflochten sich ineinander und ich fühlte sein wild schlagendes Herz, als er sich dichter und dichter an mich presste. „Es reicht…“, keuchte er und ich spürte, wie er zitterte. „Ist gut“, antwortete ich und versuchte die Sehnsucht in mir zu unterdrücken, um es ihm nicht noch schwerer zu machen. Er setzte sich auf und ich blieb ein paar Sekunden auf dem Boden liegen, weil ich wusste, dass ich noch nicht ganz die Kontrolle über meinen Körper zurückerlangt hatte. „Ich staune, dass es dieses Mal so einfach war, dich umzustimmen“, meinte er, noch immer außer Atem. Sein Brustkorb hob und senkte sich unnatürlich schnell. „Was hätte ich tun sollen? Mich schreiend und heulend auf dem Boden herum wälzen?“ „Nein, aber… Sag mal, geht es dir gut?“ „Sicher, ich glaub, ich kann nur noch nicht aufrecht sitzen, ohne gleich wieder nach hinten abzukippen. Gib mir ein paar Sekunden. Könntest du solange das Fenster zumachen?“ „Na klar.“ Er stand auf, ein dumpfes Geräusch folgte und endlich war die tiefe Stimme fort. Ich hätte nicht beschreien sollen, dass er sich solange nicht hatte blicken lassen, dachte ich und atmete tief ein. Endlich kehrte das Gefühl in Arme und Beine zurück und ich wagte den Versuch mich aufzusetzen. Es klappte und ich fuhr mit meinen Fingern durch die Haare, um sie glatt zu kämmen. Ich musste völlig wirr aussehen, doch Taylor lächelte nur glücklich vor sich hin. Dann machte ich mich daran, die Papiere und Formulare zusammen zu sammeln und packte sie in eine Schublade meines Schreibtisches zurück. Die Entscheidung würde bis später warten müssen. „Wir fahren morgen weg“, sagte er leise und etwas in seinem Tonfall deutete darauf hin, dass er nicht sich und mich meinte.  „Wohin müsst ihr?“ „Runter nach Kentwood. Übermorgen ist der Neunte Todestag meiner Mutter.“ Ich öffnete kurz den Mund, um etwas Tröstendes zu sagen, doch was konnte da schon helfen? Ein »tut mir leid« wäre längst nicht genug, stattdessen setzte ich mich neben ihn aufs Bett und lehnte meinen Kopf an seine Schulter. „Wann wollt ihr losfahren? Bestimmt ganz früh, oder?“, wisperte ich und mir graute davor zu fragen, wann er wiederkommen würde. „Ja, sechs Uhr.“ „Und dann bist du hier bei mir? Du solltest schlafen gehen.“ Er achtete nicht auf meine Einwände und sagte: „Ich möchte nicht fahren und dann wieder schon. Nur kann und will ich dich nicht allein lassen…“ „Und ich möchte, dass du fährst. Ich lasse nicht zu, dass du an so einem wichtigen Tag nicht mit deiner Familie reist.“ Bei diesem Thema würde ich stark bleiben. Sonst hätte ich nicht weiter mit ihm diskutiert, aber ich wusste wie wichtig das für ihn sein würde. Zum Grab seiner Mutter zu fahren und auf seine Weise im Rahmen der Familie um sie zu trauern. Es war wichtig für ihn und so zog ich ihn hoch und öffnete das Fenster. „Los, geh!“ „Aber…“, begann er, doch ich legte einen Finger über seine Lippen. „Nein. Du gehst jetzt nach Hause, schläfst noch ein paar Stunden und rufst mich an, sobald ihr da seid. Damit ich weiß, dass alles in Ordnung ist. Wann kommt ihr wieder zurück?“ Er lächelte ganz leicht, doch seine Augen blickten traurig zu mir hinunter. „Am Mittwoch bin ich wieder da. Du willst wirklich, dass ich jetzt…?“ „Ja. Ich möchte, dass du jetzt gehst und denk daran, dich zu melden.“ Eine dunkle Stimme rief mich zu sich, doch Taylors Hände an meinen Hüften hielten mich fest und seine Lippen schmiegten sich sanft an meine. Mein Herz begann schneller zu schlagen und verdrängte den fordernden Wolf. „Sei bitte vorsichtig und halt dich vom Wald fern. Und nicht alleine unterwegs sein!“ „Du hast mein Wort. Aber, pass du bitte auch auf dich auf, ja?“ „Natürlich, ich melde mich morgen bei dir. Schlaf gut!“ „Du auch, obwohl ich dabei ja keine Bedenken habe.“ Er lachte lautlos und drückte mich kurz an sich, ehe er aus dem Fenster schlüpfte und mit einem letzten sehnsüchtigen Blick, hoch zu meinem Zimmer, in der Dunkelheit verschwand.

 

Als der Sonntagmorgen anbrach, war ich wie gerädert. Ich hatte lange kein Auge zugemacht, weil ich Angst vor den Träumen hatte. Doch ich war verschont geblieben. Mein Blick fiel auf den Wecker. Es war Sieben Uhr, sie waren also bereits aus Crystal Falls raus und auf dem Weg nach Kentwood. Ich seufzte und drehte mich noch einmal im Bett um, als ich plötzlich den kleinen Zettel sah. Mein Gehirn realisierte dieses kleine Detail erst etwas später und dann setzte ich mich auf und öffnete das Kärtchen. Ich erkannte die Schrift Taylors und lächelte leicht.

 

             Der Wald ist tabu, vergiss das nicht. Vermiss dich jetzt schon. Ich liebe dich.

                                                         Taylor

 

Darunter war später etwas hinzugefügt worden. Es hatte kaum noch Platz, wahrscheinlich ein spontaner Einfall.

 

                            Du siehst wundervoll aus, wenn du schläfst.

 

Ich war kurz davor nach meinem Handy zu greifen, doch ich überlegte es mir anders. Während ich kurz tief einatmete und meine Beine aus dem Bett hing, während ich mich an die Kante setzte, hörte ich, wie unten das Wasser angestellt wurde. Mein Vater war ebenfalls wach. Der Sonnenaufgang war wunderschön und die Strahlen fielen durch mein Fenster genau in mein Gesicht. Ich würde es schaffen. Mittwoch hatte er gesagt, würde er wieder da sein, das würde ich doch wohl durchhalten. Ich schlang meine Arme um meinen Körper und ging dann ins Badezimmer, um mich fertig zu machen. Carly und ich könnten mal wieder etwas unternehmen und Kelly würden wir auch mitnehmen. Ein Mädels-Tag würde mir gut tun. Nachdem mein Dad und ich gefrühstückt hatten, hatte er mir verkündet mit Henry angeln zu fahren. Während ich mit Carly besprach, was wir tun könnten, packte er sein Zeug zusammen und drückte mir dann einen Kuss auf den Kopf. „Viel Spaß, Dad. Bis heute Abend.“ „Wenn sie nicht beißen, komme ich früher zurück. Liebe Grüße an Carly.“ Er schien sehr zufrieden. Was wohl hauptsächlich daran lag, dass ich nichts mit Taylor unternahm. Die Tür fiel ins Schloss und ich widmete meine Aufmerksamkeit wieder meiner besten Freundin. „Rufst du Kelly an? Ich warte dann auf euch vor dem Haus. Bis gleich.“ „Bis gleich, Süße.“

Wir hatten uns auf das kleine Café geeinigt, das von Rosie, einer niedlichen Dame Ende Dreißig, betrieben wurde. Es befand sich nahe der Billardhalle Henrys und war an sonnigen Tagen, wie diesem, ein beliebtes Ziel der Bewohner Crystal Falls‘. Von innen war es in hellem Rot und Orange gestrichen und Rosie verkaufte dort alles Mögliche. Natürlich Kaffee, sowohl heiß als auch als Eiskaffee. Allerlei anderer Getränke. Kuchen, Kekse, selbstgemachtes Brot und ihre berühmte Marmelade. Eigentlich war es mehr Bäckerei, als Café, aber sie bestand darauf es so zu nennen und alle hier hatten es auch so übernommen. Vor dem kleinen Gebäude standen dunkelbraune Tische und Stühle aus Rattan. Ich liebte den Geruch, der aus dem Ofen im hinteren Teil stieg und wir wählten einen Tisch, der ohne Sonnenschutz aufgestellt worden war. Als Rosie unsere Bestellung aufnahm, lächelte sie fröhlich in die Runde. „Ihr seht bezaubernd aus, meine Damen. Habt ihr euch abgesprochen?“ Wir alle trugen einen weißen knielangen Rock, Ballerinas und Tops mit Spagettiträgern. Carlys war orange, Kellys gelb und meines rot. „Das ist tatsächlich nur Zufall“, antwortete Kelly und Rosie schwebte davon. Sie war eine hübsche Frau, schlank, hatte schwarzes Haar und grüne Augen. Ihr Mann war vor einigen Jahren unerwartet an einem Herzinfarkt gestorben, doch sie hatte sich niemals unterkriegen lassen und dieses Café eröffnet, das jetzt seinen Namen trug: George. Während wir auf unsere Getränke warteten, brachte ich mich in die perfekte Position, um jeden noch so kleinen Strahl Sonne aufzufangen. Ich wandte der Wärme direkt mein Gesicht zu und streckte auch die Beine aus. „Ich war ja ziemlich überrascht, dass du dich an einem Sonntag mal wieder mit uns triffst“, meinte Carly und setzte ihre Sonnenbrille auf. „Wie bitte?“ „Nun ja, wir haben dich an den Wochenenden lange nicht zu Gesicht bekommen, wenn du verstehst…“ Und ob ich verstand. „Tut mir leid, aber ich bin mit Taylor einfach so glücklich und möchte eben jede Minute mit ihm nutzen. Ich mache das wieder gut. Was haltet ihr von Kino nächsten Freitag? Ich lade euch ein.“ „Lilly, wir verstehen dich doch. Carly wollte dich nur ein bisschen aufziehen. Aber Kino klingt super, ich bin dabei“, verkündete Kelly und nahm Rosie, die eben strahlend mit einem vollen Tablett neben uns aufgetaucht war, ihren Eiskaffee und den Apfelkuchen ab. „Sie hat Recht. …Und gegen Kino habe ich auch nichts einzuwenden, ich werde mich mal über die Filme erkundigen. Danke, Rosie.“ Carly nippte an ihrem Latte Macchiato und ich stellte meinen Cappuccino mit extra Schaum vor mir auf den Tisch. Mein Handy, dass sich ebenfalls darauf befand, leuchtete auf und vibrierte kurz. Ich hatte es auf lautlos gestellt, damit sich die anderen Gäste und vor allen Dingen meine Freundinnen nicht belästigt fühlten. „Lass mich raten, Taylor?“ Ich öffnete die Textnachricht und nickte. »Autofahren ist langweilig, wenn man nicht selbst am Steuer sitzt. Sean geht mir jetzt schon auf die Nerven. Unternimmst du wenigstens was Gutes?« „Er langweilt sich…“ „Dann schreib ihm, er soll herkommen. Er kann auch Sean mitbringen“, Carly versuchte dieses Detail beiläufig einfließen zu lassen, doch ich spürte, wie sehr sie ihn vermisste. „Das geht nicht. Sie sind auf dem Weg nach Kentwood. Morgen ist der Todestag ihrer Mutter.“ „Oh.“ Kelly sah mich traurig an, als ich die Nachricht abschickte, in der ich ihm mitteilte, was ich tat und mit wem. „Das wusste ich gar nicht“, murmelte Carly und ich blickte sie leicht lächelnd an. „Damit gehen die beiden ja auch nicht hausieren. Taylor hat es mir auch erst gestern Abend erzählt. Sie kommen Mittwoch wieder zurück.“ „Na, das wird ja merkwürdig. Eine Lilly ohne ihren Taylor.“ Ich streckte ihr die Zunge raus und blickte dann auf die neue Nachricht. »Dad meinte, wir kommen heute Abend irgendwann an. Mal sehen, was die Leute davon halten uns wieder zu sehen. Ziehen sie dich auch damit auf, dass du alleine bist?« Ich lachte leise auf und schaute dann Kelly und Carly nacheinander an. »Und ob sie das tun. Wir scheinen wirklich oft beieinander zu sein. Sie erkennen uns schon nicht mehr ohne den anderen.« „Ach herrje. Heute Abend ist ja wieder Versammlung“, seufzte Kelly, nachdem sie den Bürgermeister über die Straße gehen sah. „Steht bald wieder ein Fest an? Das wäre dann ja das einzige Thema, das besprochen werden müsste“, fragte ich und die beiden zuckten mit den Schultern. „Wenn keines ist, dann sucht er sich ein anderes langweiliges Ereignis. Du kennst ihn doch. In der ganzen Zeit Crystal Falls‘ ist noch nie eine Versammlung ausgefallen, ich hab es nachgeschlagen.“ „Aber es wurde mal eine kurzzeitig unterbrochen“, fügte Kelly hinzu und bedachte dabei mich mit einem Lächeln. „Nachdem aber meine Eltern mit mir ins Krankenhaus gefahren worden waren, wurde sie fortgeführt, soweit ich weiß. Der lässt sich nicht mal durch eine Geburt davon abhalten.“ „Ja, so ist er, unser Mr. Cooper.“ »Steigen jetzt ins Flugzeug. Melde mich, wenn wir angekommen sind. Ich liebe dich.« „Hey, Süße. Was ist denn los?“ Eine Träne rann meine Wange hinunter, ich wischte sie fort und schickte die Nachricht ab. »Ich liebe dich auch!« „Ich weiß auch nicht…“ Es war merkwürdig, aber während ich die letzten drei Worte seiner Nachricht noch einmal las, hatte ich das Gefühl, ihn mehr denn je zu brauchen.

 

Die Versammlung war nach einer Viertelstunde beendet. Es wurde nur darüber gesprochen, was in den Schulferien für Aktivitäten angeboten werden würden. Kenneth hatte die drei Woods vorher von der Versammlung abgemeldet, was auch als sehr positiv von Mr. Cooper gewertet und verkündet wurde. Ich war sehr stolz auf Taylors Vater, daran hatte er von ganz allein gedacht und es zeigte, dass er sich ernsthaft in diese Stadt integrieren wollte. Mein Vater und ich fuhren allein nach Hause und ich bereitete seine gefangenen Fische vor. Morgen würde ich sie dann zum Abendessen braten. Es waren nicht so viele wie sonst, aber wir waren ja auch nur zu zweit. Während er in einem der Sessel saß und die Nachrichten sah, lümmelte ich auf der Couch und blickte immer wieder auf mein Handy, dass ich mir gegen die Brust presste. „Ich gehe nach oben und lerne noch ein bisschen. Gute Nacht!“ „Gute Nacht, mein Schatz.“ Er blickte mit einer hochgezogenen Augenbraue auf das Handy in meiner Hand. Lernen würde ich nicht, das war ihm klar.
 

Nachdem ich mir Schlafzeug angezogen und das Bett vorbereitet hatte, legte ich mich hinein und mein Handy auf meine Brust. Ich wusste, dass es ihnen gut ging, aber trotzdem beschlich mich ein wenig Angst. Was, wenn die Menschen sie dort nicht haben wollten und sie genau das spüren ließen? Dann plötzlich leuchtete das Display auf und das Handy vibrierte kurz. »Tut mir wahnsinnig leid. Hatte nicht eine ruhige Minute, seitdem wir hier sind. Konnte mich endlich davon schleichen. Bist du böse?« »Nein, bin ich nicht. Sind die Leute denn nett oder zumindest netter?« Ich zog mir die Decke über die Beine, die langsam kalt wurden und rückte das Kissen ein wenig zurecht. »Haben wohl gemerkt, dass wir wirklich an unserer Mutter hingen. Keine freudigen Umarmungen, aber sie reden mit uns.« »Das ist doch schon ein Fortschritt… Wo seid ihr untergekommen?« Kurz nachdem ich das Licht auf dem Nachttisch ausgeknipst hatte, vibrierte mein Handy länger. Er rief mich an. „Hey…“ „Gott, ist das schön.“ „Was?“ „Deine Stimme zu hören. Ich hätte nicht gedacht, dass mir allein dieses kleine Detail schon so sehr fehlen würde.“ Ich antwortete nicht und unterdrückte den aufsteigenden Kloß in meinem Hals, der die Tränen mit sich bringen würde. „Lilly, bist du noch dran?“ „Ja…“ „Ist irgendwas passiert? Geht es dir nicht gut?“ „Alles okay. Du…du fehlst mir einfach wahnsinnig.“ Ich vermied es ihm direkt zu sagen, dass ich mir nichts sehnlicher wünschte, als das er bei mir war. Denn wie ich ihn kannte, würde er dann sofort zurückkommen oder sich zumindest unglaubliche Vorwürfe machen. „Du mir auch.“ „Also, wo seid ihr untergekommen?“ „In einem kleinen Motel nahe dem Friedhof. Ist ziemlich traurig hier drin, aber für drei Übernachtungen reicht es wohl.“ „Kam denn deine Mutter gebürtig aus Kentwood?“ „Ja. Mein Vater hat sozusagen in Kentwood reingeheiratet und viele Leute hier hatten das Gefühl, dass er das Böse mit sich bringen würde. Als ihre geliebte Jill dann auch noch in dem Haus starb, dass er für sie gebaut hatte… Ich denke, sie werden nie wirklich darüber hinweg kommen.“ „Sie hieß Jill?“ „Habe ich das nie erwähnt?“ „Nein, aber du redest ja auch nicht viel über sie. Was ich damit in keiner Weise kritisieren möchte, wirklich nicht.“ Nachdem ich es ausgesprochen hatte, fühlte ich mich furchtbar. Wie konnte ich nur so taktlos sein? „Ist doch okay, Lilly. Ich weiß, wie du es gemeint hast.“ „Ich hätte es anders ausdrücken können.“ Es entstand eine kurze Pause am anderen Ende der Leitung und ich hörte, wie er eine Tür ins Schloss fallen ließ. Anscheinend hatte er das Zimmer oder sogar das Motel verlassen. „Sie war wundervoll. Die schwarzen Haare haben Sean und ich von ihr. Ihre waren ein bisschen länger als deine und sie hatte große braune Augen. Ich erinnere mich noch, dass sie immer nach Vanille geduftet hat. Soweit ich weiß hat sie mal Lehramt studiert und einige Zeit in einer Grundschule unterrichtet, aber nachdem sie Dad geheiratet hat, aufgehört zu arbeiten. Und dann kamen wir zur Welt und sie hatte alle Hände voll zu tun“, er lachte leise. Er schien sich an ein paar Momente mit ihr zu erinnern und ich ließ ihm Zeit. Ich stand auf und sah aus dem Fenster. Der Mond war hell und stand hoch über dem Wald. Es sah traumhaft aus und doch hatte man das Gefühl, dass er die Einsamkeit des Waldes noch mehr betonte. „Was für ein wundervoller Mond…“, meinte Taylor und ich lächelte kurz. Es war beruhigend zu wissen, dass wir dasselbe sahen. Wenigstens das hatten wir in dieser Nacht gemeinsam. „Ja, er ist wunderschön!“ „…Sie hätte dich sehr gemocht und ich bin mir sicher, dass ihr euch gut verstanden hättet.“ „Ich hätte sie auch sehr gern kennen gelernt. Sie scheint eine tolle Frau gewesen zu sein. Richtest du ihr morgen ganz liebe Grüße von mir aus?“ „Das mach ich. …Danke.“ „Wofür?“ „Das du bist, wer und wie du bist.“

5. Kapitel - Das Spiel beginnt...

Der Montag schlich nur zäh dahin. So als ob er gar nicht vergehen wollte. Mal abgesehen von diesem Gefühl, ging es mir blendend. Ich hatte weder etwas Schlechtes noch etwas außerordentlich Gutes geträumt. Es war eine Erinnerung an einen Tag mit meinem Vater gewesen, als ich vierzehn war. Wir waren gemeinsam bei Rosie gewesen und ich hatte einen riesigen Eisbecher für mich ganz allein gehabt. Er hatte mich die ganze Zeit glücklich dabei beobachtet, wie ich mit den Eiskugeln kämpfte. Am Ende hatte ich es bis zum letzten Rest ausgelöffelt. Während ich nun mit meinen Freundinnen die Mittagspause draußen verbrachte, spürte ich, wie ich beobachtet wurde. Es waren nicht die bösen Augen, wie schon einmal früher, sondern irgendjemand anderes. Ich wollte mich nicht nach demjenigen umsehen und vermied es in mir zusammen zu sinken. Doch das Unbehagen blieb noch die restlichen Stunden.
 

Nach der achten Stunde ging ich mit Carly gemächlich zu ihrem Auto. Wir hatten es beide nicht sehr eilig und überlegten gerade, ob wir wieder zu Rosie gingen. Henry hatte Urlaub mit seiner Familie geplant und die Billardhalle für die nächsten zwei Wochen geschlossen, sodass ich nicht arbeiten gehen musste. Und Carlys Eltern schoben ein paar Überstunden, weil im Moment viel im Büro los war. Als sie mich dann jedoch anstupste und wisperte, dass uns ein Typ anstarrte, bewahrheiteten sich all meine Befürchtungen. „Den kenn ich gar nicht“, sagte sie, nachdem wir eingestiegen waren und sie den Motor startete. „Vielleicht ein neuer Schüler“, meinte ich und ließ meinen Blick kurz und unauffällig zu ihm wandern, während ich nach dem Sicherheitsgurt griff. Es war ein blasser, aber durchtrainierter Junge mit dunkelbraunem Haar und tiefschwarzen Augen. Ich erschauderte kurz, als er ein schiefes spöttisches Lächeln aufsetzte und sich dann abwandte. Er wirkte kalt und völlig emotionslos auf mich, obwohl ich nicht ein Wort mit ihm gewechselt hatte. Aus irgendeinem Grund kam er mir dennoch bekannt vor. So als hätte ich ihn schon einmal irgendwo gesehen. Doch es fiel mir nicht ein und Carly fuhr vom Parkplatz herunter, Richtung Stadt. Sie zuckte mit den Schultern. „Ja, vielleicht. Wenn du mich fragst, kriegen wir in letzter Zeit sehr viele neue Leute hier in die Stadt. Warum verirren die sich alle hierher?“ „Wir werden zu einer Touristenattraktion… Wahrscheinlich merken sie jetzt alle, dass wir ein sehr schönes kleines Städtchen sind.“ „Na klar.“ Wir beide lachten gleichzeitig. Nicht, weil wir Crystal Falls nicht für schön hielten, sondern weil wir eine Touristenattraktion werden könnten. Es war einfach unmöglich so etwas anzunehmen. Als sie eine kleine Parklücke genau gegenüber des George fand, stiegen wir, noch immer lachend, aus und suchten uns einen Tisch in der Sonne. Wir bestellten beide einen Eiskaffee und ich half ihr bei ihren Mathehausaufgaben. „Hastings ist der einzige Lehrer, der so kurz vor den Ferien noch Hausaufgaben aufgibt. Er ist furchtbar grausam, das sage ich dir. Jetzt nimmt er mich öfter dran, als je zuvor. So als würde er mir reindrücken wollen, dass du nicht mehr da bist um mir zu helfen.“ „Meinst du, dass er das tatsächlich mit Absicht tut?“ „Natürlich.“ „Tut mir leid.“ „Wieso entschuldigst du dich?“ „Weil ich freiwillig in den Leistungskurs gewechselt habe. Und du musst jetzt leiden.“ „Na, davon sterben tue ich nicht, aber er freut sich immer so doll, wenn ich eine Aufgabe mal wieder nicht lösen kann.“ Irgendwann rauchte Carly so sehr der Kopf, dass sie das Buch wütend zuschlug und wieder in der Tasche verstaute. Wie ein kleines bockiges Kind, dem man nicht erlaubte mit seinen Freunden spielen zu gehen, schob sie sich die Sonnenbrille auf die Nase und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich lächelte sie an und lehnte mich dann in meinem Stuhl zurück. „Hast du Kontakt zu Sean?“, fragte ich sie dann und glaubte zu sehen, wie sie leicht rot wurde. „Wir haben gestern Abend nach der Versammlung miteinander geschrieben.“ „Erzählst du mir auch worüber?“ „Ach, dieses und jenes. Nur belangloses Zeug. Er sagte auch, dass es ihm leidtäte, dass er mir nicht bescheid gegeben hätte, dass sie bis Mittwoch nicht da sind.“ „Es ist anders, als sonst mit den Jungs, oder?“ Ich fragte sie absichtlich nicht, ob sie sich in ihn verliebt hatte. Carly war da etwas eigen und konzentrierte sich sehr darauf, ihren Ruf zu wahren. Sie schob ihr hellbraunes Haar nach hinten über die Schulter und blickte mich über die Sonnenbrille hinweg an. „Ich denke, er ist nicht nur ein Flirtkandidat.“ Für sie war das schon ein sehr großer Fortschritt. Es glich einem Geständnis, etwas, das sie mir zuvor noch nie gemacht hatte. „Ich würde mich sehr für dich freuen, wenn es klappt…“, seufzte ich und schloss die Augen, während ich mein Gesicht der Sonne zuwandte.
 

Ein paar Stunden später setzte sie mich bei mir zu Hause ab und ich ging duschen. Während das lauwarme Wasser über meinen Körper floss, hielt ich mein Gesicht direkt unter den Strahl. Ich strich meine Haare mit den Händen zurück und ließ die Handflächen über meinen Ohren ruhen. Trotz des Wassers war mir eisig kalt und ich fühlte mich allein. Ich vermisste Taylor so schmerzlich, dass meine Knie zu zittern begannen und ich mich auf den Duschenboden setzen musste. Niemals hätte ich gedacht, dass ich so abhängig von ihm geworden war. Noch zwei Tage, dachte ich, das wirst du doch wohl schaffen. Zwei Nächte noch, hallte es in meinem Innern wider und Tränen vermischten sich mit dem Wasser, das unablässig auf mich niederprasselte. Ich wünschte mir nichts mehr, als mich in seine Arme zu kuscheln, seinen Duft einzuatmen und sein Herz nah bei mir schlagen zu hören. Wir waren durch mehrere Bundesstaaten voneinander getrennt und mir kam es sogar so vor, als wären es Kontinenten. Ich liebte ihn, brauchte ihn so sehr, wie keinen anderen Menschen zuvor. „Schatz? Lils, wo steckst du?“ Ich stand vorsichtig auf und stellte das Wasser kurz ab. „Ich bin im Badezimmer, duschen“, rief ich meinem Vater zu. „Ich bin früher nach Hause gekommen. Möchtest du was essen, dann fange ich schon an die Fische zu braten…“ „Ja, ich bin gleich soweit und komm dir helfen.“ „Keine Eile, ich schaff das schon!“ Während ich meine Haare wusch, roch ich schon ein wenig von dem Gebratenen und mein Magen begann zu knurren. Ich werde es schaffen, dachte ich, ich bin doch kein kleines Kind mehr. „Zwei Tage und Nächte“, betete ich mir vor. Vorher hatte ich schließlich auch ohne ihn überlebt und ein Ende war in Sicht. Ein Handtuch um den Körper geschlungen, ging ich in mein Zimmer und zog mir bequeme Sachen an. Dann sammelte ich die Wäsche zusammen, die ich waschen wollte und brachte sie in die Waschkammer, wo die Waschmaschine stand. Packte noch Sachen von meinem Vater dazu und stellte sie an. Nach dem Abendessen sah mein Vater eine Sportsendung, während ich die Wäsche aufhing. Wir sahen uns später zusammen einen alten Streifen im Fernsehen an und gingen dann ins Bett. Schweren Herzens schrieb ich Taylor eine SMS, dass er nicht anrufen sollte, weil ich schrecklich müde war und wahrscheinlich auf der Stelle einschlief. Ich wusste, dass ich kein Wort zustande bringen würde, wenn nicht sogar in Tränen ausbrach. Und das wollte ich ihn nicht hören lassen. Er musste ja nicht unbedingt merken, dass ich mit mir allein nichts anzufangen wusste. Beziehungsweise mit mir nichts anzufangen war, wenn er nicht hier war. Seine Antwort kam prompt und ich fühlte mich sogar noch schlechter als vorher. »Ist okay. Ich erzähl dir dann morgen Abend am Telefon, was hier so los war. Schlaf gut und träum was Schönes. Fühl dich umarmt, ich liebe dich auch!« Als ich meine Augen schloss, stellte ich mir vor, wie er seine Arme um mich schlang und mich leicht lächelnd anblickte. Es riss mein Herz fast entzwei, dass ich mich nicht mehr so genau an seinen Duft erinnern konnte. Irgendwann jedoch glitt ich in einen traumlosen Schlaf.
 

Der Dienstag begann neblig und bereits im Radio sprachen sie von starken Regenfällen, die jedoch bis zur Mittagspause noch nicht einsetzten. Carly erzählte Kelly und mir gerade, welche Filme sie bereits herausgesucht hatte, als mich Mia anstieß und sagte: „Mich hat jemand nach dir gefragt.“ „Nach mir? Wer?“ „So ein blasser Junge. Ich glaube, er ist neu hier. Jedenfalls kam er mir nicht bekannt vor.“ Carly wechselte mit mir einen verschwörerischen Blick und fragte dann: „Was wollte er wissen?“ „Ob sie einen Freund hat. Ich hab natürlich gleich Ja gesagt und dann wollte er wissen, wo der denn wäre. Und warum er sie alleine ließ, wenn sie ihn doch so sehr bräuchte.“ Ein eisiger Schauer ließ mich erzittern, doch ich sah mich nicht nach dem Typen um und blickte stattdessen auf meine ineinander gefalteten Hände. „Was hast du ihm gesagt?“ Ich spürte die Blicke meiner Freundinnen auf mir ruhen und es dauerte eine Weile, ehe Mia wieder zu sprechen begann. „Ich sagte, dass er bald wieder da wäre, ihn der Rest aber nichts angehen würde. Dann bin ich gegangen.“ Ein kleines Lächeln huschte über meine Lippen, als ich sie ansah und wisperte: „Danke, Mia.“ „Dafür nicht.“ Sie hatte wunderbar reagiert, doch es ließ mich nicht los, woher der Kerl wusste, dass ich Taylor so sehr vermisste und brauchte. Sah man mir das denn so stark an? Wieder tauschte ich einen Blick mit Carly, die in meinen Augen zu lesen schien, welche Frage ich mir stellte und sie schüttelte leicht den Kopf. „Nur die, die dich sehr gut kennen.“ Sie nahm meine Hände in ihre und ich nickte ihr dankbar zu. Oder hatte er diese Frage etwa anders gemeint? Wollte er damit sagen, dass Taylor mich nicht in dieser Gefahr allein hier zurücklassen sollte? Wir widmeten uns wieder unserer Planung für den Freitag, woraufhin Mia und Elli fragten, ob sie mitkommen könnten. Selbstverständlich hatten wir nichts dagegen und beschlossen einen Mädels-Abend zu veranstalten. Also würden wir eine Schnulze angucken und dann bei einer von uns übernachten so wie wir es früher, als wir noch kleiner waren, öfter getan hatten.

Im Biologieunterricht sahen wir wieder einen Lehrfilm. Heute kann ich nicht mehr sagen worüber, aber ich glaube, so wichtig war er auch nicht. Ich ließ mich mit Carly auf unsere Plätze sinken, der Stuhl neben mir blieb frei. Dort hatte Taylor in den letzten Wochen immer gesessen. Mein Blick streifte ihn kurz, dann sah ich unserem Lehrer dabei zu, wie er die Jalousien zuzog. Plötzlich setzte sich jemand neben mich und ich glaubte zu hören, wie Elli, Mia und Kelly, die am Tisch hinter uns saßen, die Luft anhielten. Jeder im Raum wusste, wessen Platz das sonst war, doch ich konnte schließlich niemandem verbieten sich dorthin zu setzen, wenn der Stuhl zurzeit leer war. Eine schreckliche Kälte erfasste meine ganze rechte Seite und ich blickte denjenigen an, der sich zur selben Zeit zu mir umwandte. Es war der blasse Junge, dessen Zähne im Halbdunkeln aufblitzten, als er mir ein kaltes Lächeln schenkte. Seine schwarzen Augen ruhten auf meinen Lippen und ich fühlte mich, als würde er mich mit dem Rücken an eine Wand drängen. Ein Eisklumpen breitete sich in meinem Magen aus, doch ich blickte ihn noch immer an. Ich wollte es nicht, aber irgendetwas hielt mich gefangen, da war etwas, dass mir bekannt vorkam und mich zwang seinem Blick stand zu halten. Um uns herum herrschten angeregte Gespräche, niemand achtete auf uns und dann klatschte unser Lehrer in die Hände und meinte: „Meine Damen und Herren, wenn Sie sich dann jetzt bitte auf den Film konzentrieren könnten. Augen nach vorn und Mund zu. Mr. McLeod, schalten Sie bitte das Licht aus.“ Ich war ihm so dankbar, denn durch das Klatschen wandte sich der Junge kurz zu ihm um und ich fühlte mich freier. Einer meiner Mitschüler in der ersten Reihe stand auf und knipste den Schalter um. Mein Blick blieb starr auf den Bildschirm vor uns gerichtet, doch er drehte sich wieder zu mir um und beobachtete mich. Seine Augen wanderten über mein Gesicht, so als wolle er etwas Unausgesprochenes daraus lesen. Aus dem Augenwinkel sah ich das kalte Lächeln, das furchterregende Funkeln, das mir entgegenblitzte. Er tat nichts außer mich anzusehen, doch das führte dazu, dass sich blanke Panik in meinem ganzen Körper ausbreitete und es in meinen Fingerkuppen zu kribbeln begann. Ich ließ meine Hände unter dem Tisch verschwinden und betete zu Gott, dass diese Stunde bald vorbei wäre. Meine Lippen presste ich aufeinander, um nicht laut aufzuschreien. Eine kalte Hand schloss sich um mein Herz und ich konnte mich nicht rühren. Was, zur Hölle, war hier los? Und dann kam mir die rettende Idee. Taylor, wisperte ich innerlich. Er hatte mich schon immer beschützt und jetzt würde er es wieder tun. Ich schloss meine Augen und versuchte ruhig weiter zu atmen. In Gedanken formte ich sein Gesicht vor mir. Den schwarzen Schopf, seine Stirn und die kleine Narbe über seiner Augenbraue. Dann folgten seine braunen unergründlichen Augen, die mich freudig glitzernd betrachteten, seine Nase und die Wangen, die weichen Lippen, die ich so oft schon geküsst hatte und beinahe schmecken konnte. Das Kinn und ein Stück seines Halses. Ich hätte weitermachen und ihn mir vollkommen vorstellen können, doch sein Gesicht vertrieb die kalte Faust und den Klumpen in meinem Magen. Trieb alles Böse zurück, das mich in die Ecke drängte und dann spürte ich bitteren Zorn. Er schlug mir entgegen und kämpfte gegen den Taylor in meinen Gedanken an, versuchte die Vorstellung von ihm zu vernichten und mich zu sich zu ziehen. Doch ich öffnete meine Augen und hörte das beschützende Knurren in meinem Herzen, das die unbändige Wut vertrieb und mich warm und sicher umschloss. Der Junge wandte sich von mir ab, die Mundwinkel leicht verzogen und sah sich den Rest des Filmes an. Niemand, der um uns Sitzenden hatte mitbekommen, was passiert war, beziehungsweise überhaupt etwas geschehen war. Ich begann leicht zu lächeln und lauschte dem leisen Schnurren in meinem Herzen. Er war immer bei mir, das hatte ich die letzten zwei Tage vergessen, doch das würde mir nicht noch einmal passieren. Als der Film dann später zu Ende war und die Schulklingel ertönte, war der Junge neben mir der Erste, der sich erhob und aus dem Raum schoss. Zwei Schulstunden waren vergangen ohne das ich auch nur eine Minute des Filmes wahrgenommen hatte. Doch es bedeutete auch, dass die Schule aus war und das Wiedersehen mit Taylor näher rückte. Morgen würde ich ihn wieder haben und ihn in meine Arme schließen können. „Süße, kommst du dann?“ Carly stand bereits im Türrahmen und blickte mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Oh, ja. Bin sofort da!“ Ich schnappte mir meine Tasche und folgte ihr zufrieden lächelnd. „Sag mal, ist bei dir alles in Ordnung? Du bist so anders…“ „Ja, mir geht es gut.“ Kurz hinter dem Schulausgang fiel Carly ein, dass sie noch ein Buch in ihrem Schließfach vergessen hatte, das sie zum Lernen brauchte. Ich wartete unter dem Vordach, weil es langsam zu regnen begann und verschränkte die Arme vor der Brust, um mich warm zu halten. Dummerweise trug ich, obwohl ich den Wetterbericht gehört hatte, nur ein T-Shirt und allmählich wurde es doch etwas kalt darin. Ich blickte durch die Scheibe der Tür, um nach Carly Ausschau zu halten, als ich hörte, wie sich jemand vor mich stellte. „Lilly, nicht wahr?“, meinte eine schneidende Stimme, die mich veranlasste mich umzudrehen. Es war der blasse Junge, der seine Gefühle gekonnt hinter seinem kalten Lächeln verbarg. Anscheinend hatte er sich wieder beruhigt und versuchte nun erneut mich zu beeinflussen. „Ich habe mich vorhin gar nicht vorgestellt.“ „Das musst du auch nicht.“ „Ach, du kennst meinen Namen schon?“ „Nein, ich möchte ihn nicht wissen. Und ich würde es sehr nett finden, wenn du mich nicht unbedingt in ein Gespräch verwickeln würdest.“ Ich blieb freundlich, obwohl ich mich an den kalten Zorn erinnerte und ihn am liebsten von mir gestoßen hätte. Aber wenn ich mal von der Größe und dem Körper ausging, würde mir das wohl kaum gelingen. Er war ein Stück kleiner als Taylor, aber genauso durchtrainiert. Sein braunes Haar war wild durcheinander gebracht, so als hätte er sich gerade gerauft. Wieder blickte ich in das Schulgebäude und rief still nach Carly, damit wir endlich von hier wegkamen. Aber ihr Schließfach war ein ganzes Stück vom Eingang entfernt und sie brauchte für den Weg länger als fünf Minuten. Außerdem hatten wir es nicht eilig und darum würde sie auch nicht durch die Gänge laufen. „Das ist wirklich schade. Wir würden uns sicher gut verstehen.“ „Da bin ich mir nicht so sicher.“ Um nicht in seine Augen blicken zu müssen, neigte ich mich an ihm vorbei und sah eine Gestalt im Regen stehen, nahe des sich langsam leerenden Parkplatzes. Ich kniff meine Augen zusammen und erkannte endlich, wer es war. „Das gibt es doch nicht…“, wisperte ich und begann zu lächeln. „Entschuldige mich“, meinte ich beiläufig und begann zu rennen. Je näher ich der Gestalt kam, umso schneller und lauter schlug mein Herz. Er musste es hören, da war ich mir ganz sicher, doch das brachte mich nur noch mehr zum Strahlen. Denn er war jetzt schließlich in der Lage es zu hören. Seine Maschine stand neben ihm und glitzerte unter all den Regentropfen. Das Gesicht hatte er mir nicht zugewandt und so konnte ich ihn vielleicht doch noch überraschen, was natürlich eine törichte Vorstellung war. Er trug eine blaue Jeans und ein schwarzes, an den Armen eng anliegendes, T-Shirt, das dadurch seine Muskeln noch besser betonte. Das schwarze Haar war völlig durchnässt, so wie auch seine Kleidung, doch das störte ihn nicht. Keine Ahnung, wie lange er schon so da stand und auf mich wartete. Die Arme hielt er locker vor der Brust verschränkt und sein Gesicht blickte ernst, doch dann wandte er seinen Kopf in meine Richtung und begann erleichtert zu lächeln. Meine Tasche rutschte von meinem Arm und ich ließ sie achtlos auf dem Gehsteig zurück. In dem Moment, in dem er gerade etwas sagen wollte, landete ich bereits in seinen offenen Armen und schmiegte mich an ihn. Wie hatte ich die Wärme vermisst, den Duft, der mich jetzt umfing, die Lippen, die mich küssten? Erst die Stirn, dann die Augenlider, die Wangen und endlich meine Lippen. Es war, als wäre es unser erster Kuss. Fordernd, sehnsüchtig, zärtlich, leidenschaftlich und dann seufzte er leise und presste seinen Mund an meinen Hals. Taylor schnupperte an meinem Haar, das nach Lavendel und frisch gefallenem Regen roch und hob mich, ohne Anstrengung, ein Stück höher, die Arme sicher und doch vorsichtig um meinen Oberkörper geschlungen. Wir konnten beide nicht reden und ich schob meine Hände in sein Haar, den Blick fest auf sein Gesicht gerichtet. Seine Augen glühten und ich glaubte eine Mischung aus Faszination und Erregung zu sehen. Ich hatte damals nicht gewusst, wie sehr ich ihn aus der Fassung brachte und wie stark er sich in diesem Moment konzentrieren musste, um nicht den Ärger der Öffentlichkeit herbei zu führen. Und selbst wenn ich das hätte, wäre es mir wohl egal gewesen. Sollten alle Anderen doch sagen und denken, was sie wollten. Ich liebte ihn, hatte ihn vermisst als wären es Jahre gewesen, die wir uns nicht gesehen hatten. Noch immer hielt er mich ein ganzes Stück über dem Boden und ich ließ meine Lippen mit seinen verschmelzen. Ganz sanft und behutsam, um ihm nicht noch mehr zuzusetzen. Doch es schien bereits jetzt mehr zu sein, als er ertragen konnte. Langsam ließ er mich zu Boden sinken und erst als meine Schuhsohlen den Asphalt unter mir berührten, spürte ich die weichen Knie und das Zittern meines Körpers. „Wieso hast du nichts gesagt? Ich meine, dass du heute schon…?!“ Es gelang mir nur zu flüstern. „Ich hab es nicht länger ohne dich ausgehalten und bin früher zurück“, wisperte er und strich mein nasses Haar zurück. „Du bist ohne deinen Vater und Sean hier?“ Er nickte nur und legte seine Handflächen auf meine Wangen. „Sie kommen morgen Abend auch an. Musst du heute arbeiten?“ Sehnsucht. Ich sah sie in seinen Augen und hörte sie in seiner Stimme. „Nein, Henry ist für zwei Wochen mit seiner Familie verreist. Außer diesem Freitag kann ich jeden Tag mit dir verbringen, wenn ich dir nicht lästig werde.“ Taylor schüttelte stetig den Kopf und seufzte: „Niemals würdest du mir lästig werden. Sag so was nie wieder.“ Ich lächelte ihn an und legte meine Hände auf seine Brust, um das Schlagen seines Herzens zu spüren. Es schlug schneller als gewöhnlich und ich hatte die leise Vermutung, dass er sogar noch viel mehr gelitten hatte, als ich. Und ich hielt das eigentlich kaum für möglich. „Ach Leute, nehmt euch bloß ein Zimmer“, kicherte Carly hinter uns und ich wandte mich leicht zu ihr um, ohne meine Hände von Taylor zu nehmen. Sie stand grinsend unter ihrem Schirm und klemmte sich das Buch, weswegen sie ins Gebäude gegangen war, fest unter ihren Arm. „Hey, Carly“, begrüßte er sie und lächelte, verlegen und freundlich. Eine zauberhafte Mischung, die sie seufzend die Augen verdrehen ließ. „Gehe ich recht in der Annahme, dass du mit ihm fahren wirst und ich dich dann morgen in der Schule sehe?“, fragte sie nun mich und ich biss mir entschuldigend auf die Unterlippe, während ich Taylor mit meinen Armen umschloss. „Das werte ich als Ja. Bis morgen, ihr beiden“, flötete sie und zog winkend von dannen. „Hast du Hunger?“ Er blinzelte mich verwirrt an, so als hätte er diese Frage nicht erwartet. „Ja,…ja, ein bisschen.“ „Dann mach ich dir was bei uns. Mein Vater war am Sonntag angeln und wir haben gestern nicht alles gegessen.“ „Fisch? Hatte ich lange nicht. Wenn es in Ordnung ist, dass ich sie esse…“ „Na klar, die reichen für uns beide. Und mein Vater sagte, ich solle sie aufessen.“ „Dann los.“ Er zog einen zweiten Helm aus dem Fach unter dem Sitz, setzte ihn mir auf und stülpte dann seinen über. Während er aufstieg und das Motorrad in eine aufrechte Position stellte - nicht ohne vorher noch einmal den Regen von meinem Sitz zu wischen -, holte ich meine Tasche, die noch immer auf dem Gehsteig lag. Als ich mich dann zu ihm setzte und mich nah an ihn presste, um einen besseren Halt zu haben, spürte ich, ganz kurz nur, wilden Zorn hinter mir auflodern. Ich ahnte, von wem er ausging und drehte mich deshalb nicht um.
 

Für meinen Geschmack waren wir mit dem Motorrad viel zu schnell bei mir zu Hause. Ich hätte ewig so mit ihm auf der Maschine sitzen können, doch langsam wurde der Regen etwas penetrant und ich wollte nur noch in trockene Klamotten schlüpfen. „Du bist ein bisschen braun geworden“, bemerkte Taylor als ich in frischem T-Shirt und Jeans in der Küche stand und meine feuchten Haare hochsteckte, damit sie mir nicht im Gesicht klebten. „Wirklich?“ Ich freute mich riesig, dann wirkte ich nämlich endlich nicht mehr so käsig neben ihm. Er nickte nur. „Möchtest du vielleicht auch andere Sachen? Dann schmeiß ich deine schnell in den Trockner…“ „Ach was, so nass bin ich nicht.“ Ich verschwand kurz im Badezimmer meines Vaters und kehrte mit einem großen Badetuch zurück. Dann rubbelte ich seinen Kopf trocken, sowie die Arme und seinen Hals. „Ich möchte nur nicht, dass du dich erkältest.“ „Meine Körpertemperatur beträgt immer 40°. Gib mir noch ein paar Minuten und meine Klamotten sind von allein getrocknet.“ „Dann eben nicht“, meinte ich und warf ihm das Badetuch gegen die Brust. Er lachte leise, denn er wusste, dass ich nicht ernsthaft böse war. Ich kramte eine Pfanne hervor. „Was meinst du, wie viele schaffst du?“ „Ich hab noch nicht viel gegessen heute. Mach mal, ich esse, was man mir auf den Tisch stellt.“ „Gut. Bist du so lieb und füllst zwei Gläser mit Eistee? Der steht gleich rechts im Kühlschrank.“ Statt zu antworten, stand er auf, holte zwei Gläser aus dem Schrank und füllte sie mit dem kalten Getränk. Nachdem wir gegessen hatten - ich überließ ihm freiwillig mehr Fische - machten wir es uns auf der Couch gemütlich. Im Hintergrund dudelte leise irgendein Film, doch ich hatte nur Augen für Taylor. Mit angewinkelten Beinen saß ich da und beobachtete ihn. „Was ist?“, fragte er, nachdem er meinen Blick bemerkte. „Gar nichts. Ich bin nur froh, dass du hier bist.“ Er lächelte glücklich und verschränkte seine Finger mit meinen. Dann tauchten seine Augen tief in mein Innerstes und er sagte: „Ich auch.“ Mein Herz spielte wieder einmal verrückt und sein Lächeln wurde noch breiter. „Ach so“, wisperte er und wurde leicht rot. Etwas, dass ich bei ihm noch nie gesehen hatte. Er griff in seine Hosentasche und zog ein Tuch hervor. Es kam mir bekannt vor, doch ganz sicher war ich mir nicht. „Das habe ich mir geborgt, tut mir leid.“ Also war es tatsächlich meines. Ich nahm es ihm ab und blickte ihn fragend an. „Weswegen geborgt?“ „Ich habe etwas mit deinem Duft gebraucht. Und hab es mitgenommen, als ich dir die Karte da ließ.“ Mein Blick wurde weich, doch ich weinte nicht. Ich hatte in letzter Zeit schon viel zu oft geheult und nahm mir vor, ihn nicht mehr allzu oft daran teil haben zu lassen. „Ich wünschte, ich wäre so schlau gewesen, etwas von dir hier zu behalten…“ Taylor schien erleichtert und zog mich näher zu sich. „Jetzt bin ich ja wieder hier und gehe auch nicht so schnell wieder weg.“ „Das möchte ich dir auch geraten haben“, wisperte ich und küsste seinen Hals. Wir sahen den Film noch zu Ende, dann schalteten wir den Fernseher aus und ich bat ihn mir zu erzählen, wie es in Kentwood gewesen war. Er sprach von den Leuten, die sie langsam zu akzeptieren begannen, von dem Motel, das wirklich winzig und trostlos gewesen zu sein schien und von dem gestrigen Vormittag, den sie am Grab ihrer Mutter beziehungsweise Frau verbracht hatten. Taylor berichtete, wie er sich gefühlt hatte und, dass ihm das jedes Jahr wieder passierte, obwohl es nun schon neun Jahre her war. „Sie ist nicht einsam, weil sie bei ihren Eltern begraben wurde, aber der Ort allein schon ist so…so kalt und düster. Es gibt viele Friedhöfe bei denen man dieses Gefühl nicht hat, aber sie liegt dort und… Ich habe das Gefühl, dass sie dort nicht hingehört, auch wenn sie da beerdigt werden wollte.“ „Du meinst, ein anderer Ort würde besser zu ihr passen…“, half ich ihm und er nickte. „Sie gehört dorthin, wo viel Licht scheint, wo das Gras dunkelgrün ist und man auch mal die Vögel singen hört. Es gab keinen Tag, an dem sie nicht gelächelt oder gesungen hat.“ Ich konnte seine Gefühle nachvollziehen, auch wenn meine Mutter an einem besseren Ort beerdigt worden war, als seine. „Sie hat es so gewollt…“, wisperte ich und er blickte mich an. „Ja, das sage ich mir auch immer wieder und deshalb gehe ich auch jedes Jahr da hin und lächele für sie.“ Ich streichelte seine Wange und nickte kaum merklich. Er hauchte mir einen Kuss auf die Stirn und sagte dann: „Jetzt bist du dran. Was ist so passiert in den letzten zwei Tagen?“ „Nicht viel. Die Versammlung war kurz und Mr. Cooper hat nur von den Aktivitäten gesprochen, die in den Schulferien so angeboten werden. Der Montag war ruhig. Aber wir haben einen neuen Schüler.“ Taylor wurde aufmerksam. „Jemand Neues?“ „Mhm. Ein blasser Junge mit dunkelbraunen Haaren. Keine Ahnung, wie er heißt.“ „Sonst spricht doch die ganze Stadt von Neuankömmlingen“, begann er und grinste, weil er an zurückliegende Wochen dachte, „und da hast du nichts weiter von ihm gehört?“ „Da muss ich dich enttäuschen, ich war an keinen Orten, wo getratscht wird.“ Ich überlegte kurz, ob ich ihm vom Biologieunterricht erzählen sollte, doch eigentlich wollte ich nicht, dass er der Sache näher auf den Grund ging. Er war wieder hier und ich würde mich einfach von dem Typen fernhalten. „Und die Nächte?“ „Keine Albträume. Gestern Nacht habe ich nichts geträumt und vorgestern von irgendetwas, dass ich mit meinem Vater erlebt hatte, als ich vierzehn war.“ „Das klingt doch sehr vielversprechend.“ „Ja, sicher…“ Sein rechter Mundwinkel zuckte nach oben, weil er sich ein Lächeln verkniff. Er ahnte, was ich noch sagen wollte und weil ich es gesehen hatte, zog ich jetzt ihn auf. „Du kannst ja dann immer zu Hause bleiben… Möchtest du noch was trinken?“ Ich stand auf, schnappte mir die Gläser und verschwand in der Küche. Wie vom Blitz getroffen, zog sich Taylor an der Rückenlehne der Couch hoch und blickte mir nach. „Du meinst, ich soll nicht mehr…?“ „Wozu? Ich hab doch keine Albträume mehr. Und du könntest dir den Weg durch den dunklen Wald sparen. Davon haben wir also alle beide was.“ Er öffnete kurz den Mund, um mich umzustimmen, doch er schloss ihn wieder. Ihm schien nichts einzufallen und ich kehrte mit zwei vollen Gläsern zu ihm zurück. „Was ist?“, fragte ich und er blickte mich mit traurigen Augen an. „Ist das dein Ernst?“ Einen kleinen Moment lang ließ ich ihn noch zappeln, dann griff ich nach seinen Händen und verflocht meine Finger mit seinen. „Natürlich nicht. Das erste, was ich abends tun würde, wäre dich anzurufen, um dich zu bitten zu mir zu kommen.“ „Dann darf ich also heute Nacht bleiben?“ „Ich bestehe darauf.“ „Nun, ich kann dich unmöglich enttäuschen, nicht wahr?“ Sein Gesicht näherte sich meinem. „Das wäre schrecklich gemein von dir.“ Ich spürte bereits seinen Atem auf der Haut und die feinen Härchen in meinem Nacken stellten sich auf. „Dann ist es ja gut, dass ich ein guter Junge bin.“ „Durchaus“, wisperte ich und konnte nicht länger warten. Seine Lippen waren so wunderbar weich und sie schmeckten nach ihm. Wäre es möglich gewesen, ich hätte mich allein von seinen Küssen ernährt. Er war vorsichtig, so wie immer, damit er mir nicht wehtat, doch mit mir hatte er nicht gerechnet. Ich drückte ihn rücklings auf die Couch, schlang meine Arme um seinen Nacken und legte mich auf ihn. Es war so wundervoll, dass er wieder hier war, zurück bei mir. Mir fiel ein, dass ich ihn hierdurch vielleicht quälen würde, doch ich konnte nicht von ihm ablassen. Taylor schlang einen Arm um meine Taille, während er mit der anderen Hand die Spange aus meinem Haar löste und mit seinen Fingern hindurch fuhr. Ich spürte sein Herz, das heftig in seinem Brustkorb schlug und spürte auch meines, das ihm im selben Rhythmus antwortete. Meine Hände ruhten auf seinen Wangen und ich löste mich nur widerwillig von ihm, aber ich musste auf die Uhr blicken. Ich stützte mich mit den Händen auf der Couch ab, streckte meine Arme durch und sah auf zur Wand mit den Geweihen. Mitten drin hing eine Uhr, die bereits kurz vor halb Sechs anzeigte. „Mein Vater kommt gleich und ich denke nicht, dass er uns so sehen will.“ Unsere Atmung kam stoßweise und ich blickte zu Taylor hinunter. Seine Augen glänzten und er lächelte selig. Mein Haar hing über meiner linken Schulter und da ihn die Rückenlehne der Couch von der rechten Seite her ins Dunkel tauchte, war er unter mir völlig abgeschirmt. Sein Lächeln war entwaffnend und ich seufzte sehnsüchtig. Noch nie im Leben hatte ich mir mehr gewünscht, dass mein Vater länger arbeiten müsste. „Gib mir noch ein paar Sekunden“, flüsterte er und ich lachte. Jetzt war er es also, der jegliche Kontrolle über Arme und Beine verloren hatte. Eigenartigerweise fühlte ich mich dadurch etwas mächtiger als sonst. Schließlich bedeutete das, dass ich ihn genauso schwach machen konnte, wie er mich. Ich stemmte mich hoch, fuhr mir mit den Fingern behelfsmäßig durchs Haar und kuschelte mich dann wieder mit angewinkelten Beinen in die andere Ecke der Couch. Der Regen prasselte hart gegen die Fensterscheiben, doch Taylor setzte sich auf und meinte ernst: „Er ist da!“ Ich war schon wieder erstaunt, wie gut sein Gehör war. Durch den Krach hindurch hatte er den Motor des Autos und die zuschlagende Tür gehört. Er trank einen Schluck Eistee und ich stand auf, um meinem Vater die Tür zu öffnen, damit er nicht im Regen nach seinen Schlüsseln kramen musste. Als ich ihn zur Begrüßung anlächelte, sah ich seinen Blick, der dem Motorrad vor dem Grundstück galt und konnte förmlich spüren, wie seine Stimmung sich änderte. Es war einfach nicht zu glauben. Spürte er denn nicht, wie gut mir Taylor tat? Wie lieb und beschützend er mir gegenüber immer war? Doch dann dachte ich an den Traum mit unserer Hochzeit und atmete tief ein. Eines Tages würde er mich an Taylor weiterreichen und zufrieden mit meiner Wahl sein. Dann würde er wissen, dass ich bei einem Mann war, der mich mehr liebte als sein eigenes Leben. So musste es einfach sein. „Hallo, Schatz. Du hast Besuch?“ „Ja, Taylor ist früher zurückgekommen. Aber jetzt komm erst mal rein und zieh dir trockene Sachen an, sonst holst du dir noch eine Lungenentzündung.“ Er säuberte die Schuhe, die ein wenig mit Schlamm bedeckt waren, am Fußabtreter und schlüpfte dann durch die Tür. „Guten Tag, Dr. Connor“, sagte Taylor und stand zwischen Wohnzimmer und Küche. „Hallo“, antwortete mein Vater ihm, nickte kurz und wandte sich dann an mich. „Ich muss gleich noch einmal los. Weißt du, wo ich meine dicke Regenjacke habe?“ „Die ist oben in der Truhe in deinem Arbeitszimmer, ich hol sie dir. Wo willst du denn bei dem Wetter noch hin?“ „Murray hat einen riesigen Wolf im Wald gesehen und wir wollen jetzt noch mal unsere Strecke abgehen und gucken, ob noch mehr hinzu gekommen sind.“ „Haltet ihr das bei dem Regen für eine so gute Idee?“ Um meinen Worten noch mehr Ausdruck zu verleihen, peitschte eine mächtige Windböe gegen die Scheiben und ließ sie in den Rahmen klirren. Das würde sich noch zu einem heftigen Sturm entwickeln, da war ich mir sicher. Es gab viele morsche Bäume in den Wäldern rund um Crystal Falls und bei dem Wind war es nicht unwahrscheinlich, dass sie nachgaben und umstürzen würden. „Wir bleiben nicht lange…“, beruhigte er mich, doch ich machte mir trotzdem Sorgen. „Soll ich vielleicht mitkommen?“, fragte plötzlich Taylor und ich wandte mich mit ängstlich aufgerissenen Augen zu ihm um. „Das ist wirklich sehr nett von dir, aber mir wäre es lieber, wenn du auf meine Tochter Acht gibst“, meinte mein Vater, ehe ich ihm zuvorkommen konnte. Er schien es nur sehr ungern zu sagen, doch er meinte es ernst, das hörte ich. „Ja, Sir.“ „Holst du mir dann bitte die Regenjacke, Lils? Dann zieh ich solange trockene Sachen an.“ Mein Vater wartete auf keine Antwort und war bereits auf dem Weg in sein Schlafzimmer. Ich ging nach oben und spürte plötzlich einen heftigen Luftzug, der mir unter meiner Tür entgegen blies. Was hatte denn das zu bedeuten? Ehe ich ins Arbeitszimmer meines Vaters ging, öffnete ich die Tür zum Schlafzimmer und erstarrte. Hatte ich das Fenster vorhin vergessen zu schließen? Es musste so gewesen sein, denn es stand sperrangelweit offen, Regen und Wind vermischten sich zu eisiger Nässe und ich kämpfte mich voran. Als ich es endlich schaffte es zu verriegeln, blickte ich nach draußen und glaubte einen schwarzen Schatten in der Hecke verschwinden zu sehen. „Schatz? Ist sie nicht dort?“, rief mein Vater zu mir hinauf und ich erschrak. „Doch, ich bin gleich da!“ Ich schüttelte den Kopf, es musste Einbildung gewesen sein, und ging dann die Regenjacke holen. Als ich sie ihm reichte und er sich bereit machte wieder nach draußen zu gehen, umarmte ich ihn kurz und meinte: „Sei vorsichtig, Dad!“ „Natürlich. Wir sind nicht lange weg.“ Er drückte mir einen Kuss auf die Stirn und nickte Taylor zu, der nah hinter mir stand und mich mit seiner Körperwärme beruhigen wollte. Doch aus irgendeinem Grund half es mir dieses Mal nicht.

 

Regen und Wind ließen endlich wieder nach, doch ich tigerte noch immer von Fenster zu Fenster, um nach meinem Vater Ausschau zu halten. Es war bereits Neun Uhr, doch noch immer keine Spur von ihm. Wir hatten die Nachrichten ganz leise angestellt, um von umgestürzten Bäumen und verletzten Menschen sofort benachrichtigt werden zu können. Taylor beobachtete mich, doch ich sah, wenn ich ihm gelegentlich einen Blick zuwarf, dass er sich konzentrierte, um jedes noch so kleine Geräusch von draußen wahrzunehmen. „Er kommt bestimmt gleich…“, sagte er leise und ich schrak zusammen. Solange hatten wir kein Wort miteinander gewechselt, dass es jetzt umso merkwürdiger war, seine Stimme zu hören. „Ich weiß… Aber er war bei solchem Wetter noch nie solange weg. Wenn ihnen nun doch…“ „Scht“, beruhigte er mich und schlang seine Arme von hinten um meinen Bauch. „Und wenn ich mir dann auch noch vorstelle, dass du beinahe mitgegangen wärst…“ Ich begann zu zittern und presste meinen Rücken fester an ihn. „Um mich musst du nun wahrlich keine Angst haben. Ich kann schneller reagieren, als ein Mensch.“ „Dieser schwarze Wolf ist aber da draußen…mit meinem Vater. Und er hat dich schon mal verletzt, das habe ich nicht vergessen.“ Er antwortete nicht, stattdessen umarmte er mich fester und küsste mich aufs Haar. Schon öfter hatte ich das Gefühl, dass er mir absichtlich nicht sagte, was genau und vor allen Dingen wie und wo es geschehen war. Mir war klar, dass er kein draufgängerischer Kämpfer war und nicht unüberlegt gehandelt hatte. Schließlich war er damals auf der Lichtung auch völlig ruhig geblieben. Doch es musste etwas passiert sein, wovon er nicht gern sprach. Etwas, dass er vor mir lieber geheim hielt. Ich schloss langsam die Augen und flüsterte: „Du wirst es mir nicht erzählen, oder?“ Taylor wusste sofort, wovon ich sprach. „Zumindest nicht heute“, antwortete er ebenso leise und ich spürte, wie er sich langsam aufrichtete. „Okay.“ Als ich meine Augen wieder öffnete, konnte ich ein paar Scheinwerfer auf unser Haus zukommen sehen. Ich beugte mich leicht vor und stütze mich mit beiden Händen an der Spüle ab. Mein Herz sprang wild auf und ab vor Freude, als das Auto in die Auffahrt fuhr und mein Vater, die Kapuze seines Regenmantels tief ins Gesicht gezogen, auf unser Haus zulief. „Gott sei Dank“, seufzte ich und lief zur Tür, um sie ihm wieder zu öffnen. Erst ein paar Sekunden später realisierte ich, dass Taylor mir nicht folgte und wie gebannt aus dem Küchenfenster starrte. „Meine Güte, ist das ein Mistwetter“, fluchte mein Vater und schüttelte sich kräftig, ehe er den Flur betrat. „Ist auch wirklich keinem etwas passiert?“, fragte ich und untersuchte sein Gesicht, um jede noch so kleine Lüge gleich zu enttarnen. „Nein, alles bestens. Wir sind ein paar Mal im Schlamm weggerutscht, aber wir haben keine Wölfe mehr gesehen.“ Ich atmete erleichtert auf und half ihm aus der Jacke. Taylor tauchte hinter uns auf und beugte sich zu seinen Schuhen herunter. „Ich mache mich jetzt auf den Weg. Der Regen ist ja nicht mehr so schlimm…“ „Soll ich dich vielleicht fahren, Junge? Dein Motorrad kriegen wir locker auf die Ladefläche“, meinte mein Vater und ich lächelte in mich hinein. Anscheinend fand er sich endlich damit ab, dass Taylor so gut wie zur Familie gehörte. „Danke für das Angebot, aber so lang ist der Weg ja nicht. Und ich denke, Sie sollten lieber bei Lilly bleiben.“ Er bedachte mich mit einem Zwinkern, aber ich kam mir vor wie ein kleines Kind, das man nicht alleine lassen konnte. „Na gut, wie du möchtest.“ „Ruf an, wenn du zu Hause bist, ja?“, fragte ich und er lächelte mich warm an. „Natürlich! Wir sehen uns dann“, flüsterte er und hauchte mir einen Kuss auf die Stirn. Wir beide wussten, dass er damit nicht erst morgen meinte. „Guten Abend, Sir.“ „Fahr vorsichtig, Taylor, die Wege im Wald sind nicht zu unterschätzen.“ Sie reichten einander die Hand zum Abschied und dann sahen mein Vater und ich ihm nach, bis er mit dem Motorrad aus unserer Sicht verschwunden war. „Guter Junge“, meinte mein Vater und drückte mir einen Gute-Nacht-Kuss auf die Wange. „Dad?“ Er wandte sich zu mir um, als ich die Tür geschlossen hatte. „Ja?“ „Danke!“ „Ich habe nie an deiner Wahl gezweifelt, Schatz.“ Und ich sah, dass es die reine Wahrheit war.

Nicht mal eine halbe Stunde später, hielt ich Taylor bereits wieder in den Armen, während mein Vater seelenruhig unten in seinem Bett schlief. Mein Kopf ruhte auf seiner Brust und ich schlang einen Arm um seinen Bauch. Taylor indessen streichelte meinen Oberarm und blickte an die Zimmerdecke. „Er meinte vorhin, dass er nie an meiner Wahl gezweifelt hätte“, sagte ich und lauschte seinem Herzschlag. „Tatsächlich?“ Normalerweise hätte er sich darüber wie verrückt gefreut, doch jetzt schien er mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Überall, nur nicht hier. „Ist vorhin irgendwas passiert?“ „Ich bin mir nicht ganz sicher.“ „Was meinst du damit?“ „Ich glaube, ich hab vorhin was gesehen, aber…“ „Du bist dir nicht sicher“, beendete ich seinen Satz, „und was hast du gesehen?“ „Einen Jungen. Er stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite.“ Ich setzte mich im Bett auf und mein Blick huschte zum Fenster hinüber. Was ich dort zu sehen beziehungsweise nicht zu sehen hoffte, weiß ich heute nicht mehr, aber mein Herz krampfte sich zusammen. „War er blass und hatte dunkelbraune, wirre Haare?“, fragte ich leise und spürte Taylors Körperwärme näher kommen, als er sich ebenfalls aufsetzte. „Ja. Wer ist das?“ „Der Neue.“ Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Alles war so offensichtlich gewesen und je mehr ich darüber nachdachte, umso klarer wurde es. „Oh Gott, ich bin so blöd“, ich schlug meine Hände vors Gesicht. „Lilly, was ist denn?“ Er schlang einen Arm um meine Schulter und ich wandte meinen Kopf zu ihm um. Unsere Augen waren nur Millimeter voneinander entfernt. „Er ist der schwarze Wolf.“ Diese fünf Worte kamen nur hauchzart über meine Lippen, doch Taylor hatte es gehört, als hätte ich es herausgeschrien. „Bist du dir sicher?“ „Überleg doch mal. Niemand weiß etwas über ihn, weil er nicht so hergekommen ist, wie ihr. Er war einfach da, wie aus dem Nichts. Und er taucht genau dann in der Schule auf, als ihr nicht in Crystal Falls seid. Und dann der Zorn während des Unterrichts, natürlich…“ „Was für Zorn? Lilly?“ Es war zu spät, um es ihm jetzt zu verheimlichen. Ich wusste, dass er nicht eher Ruhe geben würde, ehe ich ihm alles erzählt hatte. Und so setzte ich mich im Schneidersitz vor ihn und atmete tief durch. „Es ist was passiert…heute.“ „Was hat er getan?“ Taylor klang kühl und ich sah die unbändige Wut in seinen Augen, die er dem Wolf gern höchstpersönlich um die Ohren geschlagen hätte. „Er hat mir nicht wehgetan, er hat mich nicht mal berührt…“ „Aber?“ „Wir haben im Biologieunterricht wieder einen Film gesehen. Der Stuhl neben mir war frei und…ich meine, ich kann niemandem verbieten sich dorthin zu setzen,…er hat da Platz genommen. Er hat mich einfach nur angesehen, mich beobachtet mit diesen schwarzen Augen und ich...ich konnte einfach nicht wegsehen. Irgendetwas hat mich angezogen.“ Es war furchtbar ihm das zu gestehen, wo er doch der Einzige für mich war, der mich magisch anzog. Taylor unterbrach mich nicht, doch ich sah noch immer die Raserei in seinen Augen. Die traurige Wahrheit umfing mich: Sobald ich zu Ende erzählt hatte, würde er aus dem Fenster springen und den Wolf aufsuchen. „Ich fühlte mich kalt, leblos. Da war ein riesiger Eisklumpen in meinem Magen und eine Hand griff nach meinem Herzen. Und dann fiel mir ein, dass du mich schon so oft beschützt hattest, dass ich mir sicher war, dass es auch dieses Mal so sein würde. Ich schloss meine Augen und stellte dich mir vor. Und mit jedem weiteren Detail deines Gesichtes, wurde mir wärmer und ich vertrieb ihn. Das machte ihn wütend und er versuchte mit seinem Zorn, dein Gesicht aus meinen Gedanken zu vertreiben. Es gelang ihm nicht. Dann wandte er sich einfach von mir ab und verschwand als Erster aus dem Raum, als es zum Stundenende klingelte.“ Er sah mich an und senkte dann seinen Blick, so als könne er die Vorstellung nicht ertragen, dass mir so etwas passiert war. „Ich hätte hier bleiben müssen.“ „Sei nicht albern.“ „Ich hätte dich beschützen müssen.“ „Das hast du doch. Und du weißt genauso gut wie ich, dass du es dir niemals verziehen hättest, wenn du nicht zu deiner Mutter gegangen wärst.“ Ich hörte, wie er mit den Zähnen knirschte, dann sprang er auf und wandte sich dem Fenster zu. „Taylor“, begann ich und streckte einen Arm nach ihm aus, doch er war bereits zu weit entfernt, um seine Hand zu berühren. Aber er verharrte in seiner Bewegung und wartete. „Bitte, bleib hier.“ „Ich muss ihn suchen…“ „Und dann? Was willst du tun?“ „Keine Ahnung, aber mir wird schon was einfallen. Ich lasse nicht zu, dass er dich so angreift und dann ungeschoren davon kommt.“ „Und was ist, wenn er es genau darauf anlegt? Was, wenn er dich von hier weglocken will, um dann…?“ Ich konnte es nicht aussprechen, doch er ahnte, worauf ich hinaus wollte. Er presste Handflächen und Stirn gegen die Scheibe, schloss seine Augen und versuchte seine Atmung unter Kontrolle zu kriegen. Meine Gewissensbisse nagten erbarmungslos an mir. Jede Nacht war er hier geblieben, um mich zu beschützen, hatte auf seinen Schlaf verzichtet, damit ich nichts Böses träumte. Und jetzt nutzte ich seine Schwäche für mich aus, um ihn bei mir zu behalten. Aber ich tat es ja nicht nur für mich. Ich wollte nicht, dass er noch einmal verletzt wurde, wollte nicht, dass seine Familie ihn verlor, weil er so wütend war und deshalb vielleicht eine Dummheit beging. Dennoch musste ich mir eingestehen, dass ich es hauptsächlich aus egoistischen Gründen tat. Oh ja, ich wollte nicht, dass er ging, weil ich ihn sonst verlor. Mir war klar, dass er stark war und den schwarzen Wolf vielleicht auch erledigen konnte, doch was, wenn es nicht so endete? Was, wenn er starb? Mein Arm sank auf das Laken und ich versuchte die Tränen zurückzudrängen, die sich ihren Weg ins Freie bahnten. Er sollte nicht bleiben, weil er mich daran hindern wollte, zu weinen. Sondern, weil ihm klar wurde, dass ihn eine unüberlegte Handlung das Leben kosten konnte. Es vergingen fünf Minuten, die mir wie eine Ewigkeit erschienen. Er hatte seine Position nicht verändert und ich sprach nicht auf ihn ein. Es musste seine Entscheidung bleiben. Eine Entscheidung, die ich ihm nicht abnehmen durfte, so gern ich es auch wollte. Taylor stieß sich langsam vom Fenster ab, drehte sich um und lehnte sich an den Rahmen. Ruhig und konzentriert blickten seine Augen mich durch das Zimmer hinweg an. Ich wollte die Frage nicht stellen, aus Angst eine Antwort zu erhalten, die mir weh tun würde, auch wenn er es nicht mit Absicht tat. „Du hast Recht“, sagte er und ich hielt die Luft an. „Hab ich das?“ „Es ist klüger, wenn ich das morgen mit meinem Vater und Sean bespreche. Wir machen einen Plan und haben gemeinsam eine größere Chance ihn zu überlisten.“ Ich versuchte in seinem Gesicht zu erkennen, ob das wirklich das war, was er darüber dachte. Doch ich fand nichts, was auf eine Lüge schloss. „Dein Vater ist also einverstanden mit mir, ja?“ Für ihn war das Thema damit beendet. Ein kleines Lächeln umspielte meine Lippen. „Er sagte, du wärst ein guter Junge.“ „Oh… Dann kennt er mich wirklich noch nicht gut genug.“ Während ich meine Finger betrachtete, trat er näher zu mir ans Bett, legte seine Hände an meine Wangen und zog mein Gesicht zu seinem hinauf. Ich stand auf meinen Knien und war einer Ohnmacht nahe, als er mich küsste. Anders als sonst. Er war natürlich vorsichtig wie immer, doch da lagen Gefühle in seinem Kuss, die ich so noch nicht kannte. Eine solch tiefe Zuneigung, die weit über Liebe hinausreichte, Zärtlichkeit und Verlangen… Und dann begrub er mich unter sich und ich spürte, wie er jeden einzelnen Vorsatz verfluchte und weit hinter sich ließ. Seine Arme umschlossen mich, pressten mich an sich und ließen mich nicht mehr gehen. „Ich nehme an“, begann ich und schnappte kräftig nach Luft, „das bedeutet, dass du hier bleibst.“ „Wo sollte ich sonst auch hin?“ „Wie reizend von dir. Weil du nicht weißt, wo du sonst hin kannst, bist du also hier?!“ Er lachte lautlos und brachte mich mit einem weiteren Kuss zum Schweigen. „Wer sind Sie und was haben Sie mit Taylor Wood gemacht?“, wisperte ich und hielt sein Gesicht mit meinen Händen umschlossen, um ihn ein paar Sekunden von meinen Lippen fernzuhalten. Ich brauchte ein paar Momente, um zu Atem zu kommen. Und dann erkannte ich, was geschehen war. Er hatte durch den Zorn so viel überschüssige Energie in sich aufgestaut, dass er sie schließlich irgendwo loswerden musste. Mir kam ein leiser Verdacht, worauf das hinauslaufen würde, doch ich war mir nicht sicher, ob ich dafür schon bereit war. Und ob ich es ihm auch so sagen können würde. Doch er blickte mir tief in die Augen und sah, was mir durch den Kopf ging. „Wir haben alle Zeit der Welt“, hauchte er und küsste meine Nasenspitze. „Da bist du ja wieder…“ Meine Arme schlangen sich um seinen Nacken und ich betete zu Gott, dass dieser Moment nie verging.

 

Ein Sonnenstrahl traf meine Augen und an jedem anderen Morgen hätte ich mich noch einmal umgedreht und genüsslich weiter geschlafen, doch nicht so heute. Eine tiefe Zufriedenheit durchfuhr meinen Körper, vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen. Nichts hätte diesen Moment zerstören können, da war ich mir sicher. Ich öffnete die Augen einen Spalt breit und blickte zu Taylor hinauf. Er schlief noch, einen Arm über den Augen, damit ihn die Sonne nicht weckte, den anderen unter meinem Nacken. Ein kleiner Wirbel hatte sich auf der linken Seite seines Kopfes gebildet und die Lippen waren ganz leicht geöffnet. Seinen Teil der Decke hatte er weggetreten, doch wen wunderte das? 40° Körpertemperatur und ich würde auch nicht angezogen unter einer Bettdecke liegen wollen. Ich beobachtete eine Weile seinen Brustkorb, wie er sich langsam hob und senkte und blickte ihm dann wieder ins Gesicht. Ein Mundwinkel zuckte kurz nach oben, dann schloss er die Lippen, schluckte und öffnete sie wieder leicht. Alles in allem ein Bild für die Götter. Mein Wecker zeigte erst kurz nach Vier Uhr morgens an. Noch genug Zeit, ihn zu betrachten und seine Nähe zu genießen. Manchmal glaubte ich, dass das einfach nur ein Traum sein konnte. Er war zu perfekt. Klug, witzig, gut aussehend, ein wahrer Gentleman und wir hatten uns noch nie gestritten. Allein die kleinen Momente mit Taylor reichten mir vollkommen, um glücklich zu sein. Ich liebte ihn abgöttisch und hätte ihn für nichts in der Welt eintauschen wollen. Er streckte sich leicht, nahm seinen Arm von den Augen und legte ihn über meine Taille, während er sich gleichzeitig zu mir drehte. Noch immer schlief er tief und fest. Hätte er jetzt die Lider geöffnet, hätten wir uns direkt in die Augen gesehen. Ich kuschelte mich näher an ihn und atmete seinen Duft tief ein. Es war eine Mischung aus Wald, ein wenig Lavendel, den er von mir übernommen hatte und etwas…es war schwer zu beschreiben, aber es roch animalisch. Nicht wie ein Hund riecht oder überhaupt ein Tier, eben einfach wild. Typisch Taylor. Und es kam noch ein Hauch Aftershave hinzu. Ich schloss meine Augen, doch an Schlaf war nicht mehr zu denken. Um ehrlich zu sein brauchte ich, seitdem er bei mir war auch nur noch halb so viel davon. Früher, vor ihm, hätte ich einen ganzen Tag durchschlafen können, ohne auch nur einmal meine Augen zu öffnen. Meine Stirn lehnte an seiner und ich lauschte seinem leisen Atem. Nächste Woche begannen endlich die lang ersehnten Sommerferien. Dann konnte ich den ganzen Tag mit ihm verbringen. Vielleicht würde ich auch bald meinen Vater überreden können, dass ich wieder zu den Woods fahren durfte. Meinetwegen sollte er mich fahren oder einer der drei Männer mich abholen. Es war mir egal, solange ich nur mal wieder zu Besuch durfte. Ich vermisste die Blödeleien mit Sean, die wunderbaren Gespräche mit Kenneth, das Gefühl in einem anderen Haus noch sicherer zu sein, als in diesem hier. Taylor seufzte leise und ich kontrollierte, ob er einen schlechten Traum hatte. Er lächelte leicht und ich sank erleichtert noch etwas tiefer ins Kissen. Das stete Ticken der Uhr, sein Atem auf meiner Haut und das Gefühl seines Körpers an meinem war einfach so beruhigend, dass ich doch noch kurz eindöste.

Erst als seine Lippen ganz sachte meine berührten, wachte ich wieder auf. Es war kurz nach halb Sechs. „Guten Morgen!“ „Hey“, antwortete er und lächelte mich an, „ich bin einfach eingeschlafen…“ „Ich weiß. Und wie war es?“ „Dein Bett ist herrlich bequem.“ „Vielen Dank“, lachte ich. Er wickelte sich eine meiner Haarsträhnen um den Finger und ließ sie dann wieder locker davon herunter fallen. „Ich liebe dein Haar“, murmelte er und vergrub sein Gesicht darin. „Das ist es also, was dich bei mir hält…“ „Ja, nur das. Was hast du denn gedacht?“ Er küsste meinen Hals, dann das Schlüsselbein, verschränkte seine Finger mit den meinen und senkte dann seine Lippen auf den Handrücken. „Ich bin furchtbar, nicht?“, fragte er, doch ich konnte nicht gleich antworten. Einige Augenblicke später forschte ich nach: „Inwiefern?“ „Weil ich den ganzen Tag hier mit dir liegen und dich alle paar Sekunden küssen könnte.“ „Und in welcher Hinsicht sollte das noch gleich furchtbar sein?“ Taylor lachte lautlos und widmete sich wieder meinem Hals. Als er an meinem Kinn angelangt war und ganz langsam weiter bis zu meinen  Lippen wanderte, stockte mir der Atem. Kurz bevor er sie berührte, hauchte er: „Ich liebe dich!“

 

17. Juli

„Ich liebe dich!“ Diese drei Worte hat heute der tollste und großartigste Junge der Welt zu mir gesagt. Ich habe nicht geglaubt, jemals so viel für einen anderen Menschen empfinden zu können. Deshalb war es nur verständlich, dass ich ihm sagte, dass ich ihn auch liebe. Im Traum sehe ich ihn ganz oft. Wir werden eine glückliche Ehe führen, ein Kind bekommen, ein Haus kaufen und uns jeden Tag mehr lieben. Jedes Mädchen wünscht sich so ein Leben und ich werde ein solches führen. Ich hoffe wirklich, ich bekomme eine Tochter - wie ich schon mal im Traum sah. Ich werde sie verwöhnen, mit ihr all den Mädchenkram machen, den meine Freundinnen für albern hielten als wir kleiner waren. Ich werde sie unglaublich lieben und mit ihr tolle Gespräche führen. Wir werden wie Freundinnen sein. Und ich glaube, wir werden ganz tolle Eltern sein. Da bin ich mir sogar sehr sicher. Wir werden ein unschlagbares Team abgeben. Ich freue mich schon jetzt auf jeden Moment, den ich mit ihm teilen werde.

‚Ich liebe dich und ich werde es bis an mein Lebensende tun. Wenn nicht sogar darüber hinaus. Danke, dass du an meiner Seite bist und mich bei jeder meiner verrückten Ideen unterstützt und nicht auslachst. Es ist nicht immer leicht mit mir, das weiß ich. Umso dankbarer bin ich dafür, dass du in mein Leben getreten bist und es so viel bunter machst.‘

 

Der Freitag kam schneller, als ich zunächst erwartet hatte. Ich war, wie ich jetzt wusste, durchaus in der Lage einen Abend ohne Taylor zu verbringen, aber es würde merkwürdig werden abends ohne ihn im Bett zu liegen. In einem anderen Haus. Wir, also meine Freundinnen und ich, hatten uns auf den Film ‚Sieben Leben‘ mit Will Smith geeinigt, den sie in einem alten Kino wiederholten. Da Crystal Falls nur ein kleines, das Crystal - ich weiß, sehr einfallsreich -, besaß, fuhren wir direkt nach der Schule nach Iron River. Vorher aßen wir in einem kleinen Restaurant zu Mittag und machten dann einen Stadtbummel. Während die Mädels von einem Geschäft zum Nächsten hetzten, dachte ich über die letzten Tage nach. Nachdem Taylor und ich nämlich am Mittwoch zusammen zur Schule gefahren waren, tauchte der Neue nicht mehr auf. Was mich in meiner Theorie nur noch mehr bestärkte. Er hatte wahrscheinlich nicht vor mich zu bedrängen, wenn Taylor in der Nähe war. Und es war ihm natürlich nicht entgangen, dass ich diesen am Dienstag stürmisch begrüßt hatte. Sean und Kenneth hatten Taylor ebenfalls gesagt, dass er nicht überstürzt handeln solle, weil er so wütend auf ihn war. Obwohl ihm sein Bruder noch so einige Dinge genannt hatte, die man mit dem Kerl hätte anstellen können. Er war ebenfalls wenig begeistert darüber, wie nah er Carly und mir gekommen war. Die beiden texteten übrigens zurzeit mehr als oft. Ich hoffte so sehr, dass sie eines Tages das süße Pärchen aus meinem Traum werden würden und wartete täglich darauf, dass mir Carly die gute Nachricht verkündete, doch in dieser Woche war es noch nicht geschehen. Taylor gab es nicht zu, doch er war wachsamer als je zuvor. Wenn ich ihm irgendwo allein im Flur begegnete, sah er sich erst beunruhigt um, ob mir der Wolf nicht doch in Menschengestalt gefolgt war, ehe er mich an sich zog und mich küsste. Die Lehrer hatten genauso wenig Lust gehabt in der Schule zu sitzen wie wir, schließlich war herrliches Wetter und die Sommerferien greifbar nah gewesen. Viele hatten ihren Unterricht nach draußen verlegt oder Schüler Filme mitbringen lassen. Alle, außer Hastings, der seine Schüler bis zur letzten Sekunde gequält hatte. Nun, aber wir hatten es alle überlebt und Farrahs Artikel waren nicht weiter als bis zur Folge 1 gekommen. Anscheinend hatte es am Ende niemand mehr ernst genommen, oder sie fürchteten sich mehr vor der Rache Taylors, da war ich mir nicht so sicher. Es ging jedoch das Gerücht um, dass die Lehrer ihr Verhalten und diesen Artikel mehr als gerügt hatten. Jedenfalls ließ sie sowohl Carly, als auch Taylor und mich zufrieden und das ließ die Sommerferien noch wundervoller beginnen. „Da müssen wir rein“, jauchzte Mia und stieß mich leicht in die Seite. Erst jetzt bemerkte ich, dass wir stehen geblieben waren und Carly mir einen merkwürdigen Gesichtsausdruck offenbarte. Sie sah belustigt und gequält zur selben Zeit aus. Ich wandte mich dem Schaufenster zu und erstarrte. Es war ein Brautmodengeschäft und die Kleider darin waren natürlich wunderschön, aber in meiner Kehle bildete sich ein dicker Kloß. Während ich noch überlegte, ob es mir gelang einfach weiterzugehen und die Mädels damit dazu zu bringen mir zu folgen, waren bereits Mia und Elli Arm in Arm im Geschäft verschwunden. Kelly schien unschlüssig und Carly stellte sich neben mich. „Wollen wir?“ Sie legte es nicht darauf an einen Fuß hinein zu setzen, aber ich sah in ihren Augen, dass sie mir folgen würde, würde ich es tun. „Ich weiß nicht…“ „Gerade du, solltest es doch wissen. Oder nicht?“ Es war nicht böse gemeint, das wusste ich. „Man soll sein Glück bekanntlich nicht herausfordern…“, murmelte ich, erntete zwei erstickte Laute und dann sahen mich die beiden verbliebenen Freundinnen mit leicht hochgezogenen Augenbrauen an. „Wie bitte?“, japste Carly und Kelly fügte hinzu: „Habt ihr schon beschlossen zu…?“ „Um Gottes Willen, seht mich nicht so an. Einen Antrag hat er mir nicht gemacht, aber wir haben darüber geredet. Obwohl das so auch nicht direkt stimmt.“ „Was denn nun, Süße?“ Ich seufzte lautstark. „Ich hatte einen Traum in dem wir geheiratet haben und hab ihm davon erzählt. Er hat nicht panisch reagiert und meinte, dass wir heiraten würden.“ „Uuhh…“, quietschte Kelly und griff nach meinen Händen, „den Jungen musst du dir warm halten. …Lillian Wood,…

klingt gut.“ Ich lächelte zaghaft und sagte nicht, wie oft ich mir schon vorgestellt hatte, eines Tages so genannt zu werden. „Dann sollten wir uns doch schon mal umsehen, hm?“ Beide sahen mich an, doch ich zögerte. „Wisst ihr, das mit Taylor und mir ist viel zu perfekt. Manchmal hab ich Angst, dass das Ganze einfach platzt wie eine Seifenblase und ich… Was, wenn ich reingehe und mich reinsteigere und dann…alles vorbei ist? Wenn er mir morgen sagt, dass er gemerkt hat, dass es mit uns beiden nicht mehr funktioniert?!“ Allein der Gedanke daran war furchtbar, doch Carly schlug mir leicht gegen den Arm und blickte mich dann belehrend an. „Hast du überhaupt eine Ahnung, wie er dich immer ansieht? Er verschlingt dich mit Blicken. Manchmal habe ich das Gefühl, er beginnt erst dann wahrhaft zu leben, wenn du auftauchst. In Mathe mit Hastings ist er kaum zu gebrauchen und er ist der Erste, der aus dem Raum stürmt, um dich wieder zu sehen. Und zu guter Letzt seid ihr in den Pausen kaum voneinander loszukriegen. Du solltest die Letzte sein, die sich darüber Gedanken macht, dass sie nicht heiraten wird, Süße.“ Ich hatte mir niemals zuvor vorgestellt, wie wir für die anderen aussehen mussten. Mein Herz schlug kräftig und das Blut rauschte durch meine Adern. „Wir haben noch drei Stunden, ehe der Film anfängt…“, hauchte Kelly, wir drei grinsten uns an und verschwanden dann ebenfalls im Laden.

 

Am Ende wusste ich nicht mehr, wie viele Kleider wir alle anprobiert hatten, aber keine von uns hatte auch nur ernsthaft in Erwägung gezogen eines zu kaufen. Die zwei weiblichen Angestellten waren etwas enttäuscht, aber sie ließen es sich nicht all zu sehr anmerken. Während wir das Kino verließen, jede noch einen Rest Popcorn in der Tüte, sprachen wir über den tollen Film. Und ich merkte, dass sie mir alle wahnsinnig gefehlt hatten. So ein Abend nur mit den Mädels war Entspannung pur und ich nahm mir vor, das zu wiederholen. Wir setzten uns in Carlys Wagen und fuhren zu Kelly nach Hause, wo wir uns gemütlich in unsere Schlafanzüge kuscheln und den ganzen Abend weiterquatschen wollten. Es war schon ziemlich dunkel, als wir an dem alten Haus am Rande Crystal Falls‘ ankamen und erst jetzt fiel mir auf, wie still es geworden war. Man hörte weder Grillen noch eine Eule. Merkwürdig in einer Gegend, die von Wäldern umringt war. Kurz vor der Tür fiel mir ein, dass ich meine Tasche auf dem Beifahrersitz liegen gelassen hatte. Ich war so darauf konzentriert gewesen, meine Sachen aus dem Kofferraum nicht zu vergessen, dass ich die dabei außer Acht gelassen hatte. „Carly, ich brauche noch mal die Schlüssel. Meine Tasche liegt noch drin…“, rief ich und fing die Autoschlüssel, die sie mir vom anderen Ende des Flures zuwarf. „Du Schussel“, schallt sie mich lächelnd und Kelly sagte, dass sie Kaffee aufsetzen würde und ich mich beeilen solle. Das musste sie mir nicht zwei Mal sagen.

Ich lief vorsichtig, denn es wurde langsam feucht auf dem Rasen, zum Auto zurück und öffnete die Beifahrertür, als ich plötzlich die Eiseskälte spürte. Und ich wusste, dass das nicht die normalen Temperaturen waren, die die Nacht mit sich brachte. Das Knurren, das dann folgte, brachte meine Knie zum Zittern und ließ mir die Härchen im Nacken zu Berge stehen. ‚Nicht jetzt, nicht hier…‘, flehte ich still und umfasste meine Tasche fester, um wenn nötig damit um mich zu schlagen. So als wolle er mir klar machen, dass das wohl kaum funktionieren würde, knurrte er noch einmal, tiefer und bedrohlicher. Wieder hörte ich ihn klar, so wie auch schon damals, als ich das erste Mal mit ihm gesprochen hatte. „Du bist schon wieder allein und schon wieder ist es dunkel, kleine Lilly. Das sollte nicht zur Gewohnheit werden, was würde sonst dein Schoßhündchen dazu sagen?“ „Halt den Mund!“, zischte ich. „Na, na. Wer wird denn gleich so zickig sein? Ich will mich doch nur ein wenig mit dir unterhalten…“ „Das habe ich schon mit dir in Menschengestalt nicht gewollt, warum also sollte ich das jetzt tun?“ Ich wollte, dass er es zugab. Das er mir gestand, dass er der blasse Junge in unserer Schule war. Wollte kurz den Moment der Überraschung in seinen Augen sehen, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass ich es wusste. Doch da war nichts zu sehen. „Ich? Menschengestalt?“, fragte er verachtend. „Was, zur Hölle, sollte mich dazu bewegen, eine so niedere Kreatur zu werden? …Ich bin mächtig genug, um dich zu zwingen, mit mir zu gehen. Und ich müsste dafür nicht mal meine Fähigkeiten einsetzen. Ich mache dir als Wolf bereits Angst genug…“ Ich antwortete nicht und für ihn schien das auch nicht nötig. „Hast du es dir endlich überlegt?“ „Was?“ „Mein Angebot ist immer noch gültig. Du würdest die Königin unter den Wölfen sein. Nur ein kleiner Biss und du wärst frei.“ Vor meinen Augen sah ich Bilder aufflackern. Ein weißer geschmeidiger Wolf streifte durch die Wälder. Sprang mühelos über umgestürzte Bäume. „Niemals!“ Die Bilder erstarben und der Schwarze vor mir fletschte bedrohlich die Zähne. „Ein vergeudetes Talent, nichts weiter bist du. Und dein, ach so geliebter Winsler verleugnet dein Leuchten. Du könntest so groß sein und er…?“ Mir war schleierhaft, worüber er da sprach, aber er beleidigte Taylor und das ging mir gehörig gegen den Strich. „Hör zu, Taylor, ist wundervoll. Und nennst du ihn noch einmal so, dann…“ „Was dann? Willst du mich mit deinem kleinen Täschchen windelweich prügeln?“ Er lachte heiser. Wir beide wussten, dass es nur einen Hieb seiner Pranke benötigte, um mich auf der Stelle zu töten. „Dachte ich es mir doch… Du solltest dein Mundwerk zügeln, meine Liebe. Sonst kommt es dich eines Tages teuer zu stehen. Stell dich mit mir gut und du wirst länger leben als dein kleiner Freund…“ Das war zu viel. Ich machte zwei Schritte auf ihn zu, konnte bereits seinen heißen Atem durch meine Kleidung hindurch spüren und wich trotzdem nicht zurück. Ehe ich wusste, was ich tat, hatte ich ihm bereits meine Tasche über das Maul gehauen und er winselte kurz auf, weil ich die empfindliche Nase getroffen hatte. „Das hättest du nicht tun sollen…“, zischte er und riss sein Maul weit auf. Dann spürte ich nur noch, wie ich von den Füßen gerissen wurde, als er seine Zähne in mein Hosenbein wetzte und mich ein Stück mit sich Richtung Wald zog. Ich schrie vor Schreck auf und bemerkte dann, dass er nicht in mein Fleisch gebissen hatte. Er zog mich lediglich an der Jeans quer über den Rasen. Dann endlich konnte ich reagieren. Ich trat mit dem anderen Bein nach ihm und verfehlte ihn, weil ich keine freie Sicht hatte. Noch einmal versuchte ich seine Nase zu treffen, denn die schien am anfälligsten zu sein. Wir waren bereits am Waldrand angelangt, als ich hörte wie die Tür zum Haus aufgezogen wurde und die Mädchen nach mir riefen. Ich bekam einen dicken abgebrochenen Ast zu fassen und warf ihn nach ihm. Wieder hörte ich, wie er heiser lachte, doch so einfach gab ich mich nicht geschlagen. Als er mich an einem Baum vorbeischleifte, umfasste ich mit beiden Händen den Stamm. Krallte mich daran fest und hinderte ihn so daran, mich tiefer in den Wald zu ziehen. Ein Plan musste her. Würde ich jetzt schreien, würden die Mädchen zwar auf mich aufmerksam werden, doch so einer Gefahr konnte ich sie nicht aussetzen. Meine Augen suchten den Waldboden um mich herum ab, hielten nach etwas Brauchbarem Ausschau. Doch in der Dunkelheit war nichts zu erkennen, was weiter als eine handbreit von mir entfernt lag. „Du hattest die Wahl“, sagte er und funkelte mich zornig an. „Aber ich werde deinem Hündchen bescheid geben, wo dein Körper liegt, versprochen.“
 

Und dann brach ein dunkler Schatten zwischen den Bäumen hervor und stieß sich mit aller Kraft gegen die Flanke des schwarzen Wolfes. Als der zurückgeschleudert wurde, waren seine Zähne noch immer in der Jeans verhakt und er zog mich fast mit sich. Dann folgte das Geräusch reißenden Stoffes und ich fühlte, wie mein Bein wieder frei bewegbar war. „Lauf zurück! Schnell!“, hörte ich Taylor klar in meinem Herzen. Meine Hüfte schmerzte, doch ich rappelte mich auf. Hinter mir waren Kampfgeräusche, dann ein lautes Jaulen zu hören. Doch ich sah mich nicht um, ich durfte es nicht. Ich war fast aus dem Wald heraus, als ich von hinten niedergedrückt wurde und wieder die tiefe Stimme hörte: „Es wird ganz schnell gehen!“ Die scharfen Krallen pressten mich noch weiter in den leicht feuchten Waldboden und der heiße Atem kam näher, ich fühlte ihn bereits im Nacken. Es war ein Reflex und töricht von mir zu glauben, dass es etwas half, doch ich stemmte mich hoch. Meine Finger gruben sich in die Erde und ich sammelte alle möglichen Kräfte in mir zusammen. „Ich habe Nein gesagt“, meinte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen und fühlte plötzlich die Anwesenheit des anderen Wolfes. Das Gesicht halb in der Erde versunken, blickte ich ihn an. Das hellbraune Fell war mit Moos und kleinen Stöckchen übersät, er atmete schwer und lag, ebenso wie ich, tief ins Erdreich gedrückt, da. Seine Augen beobachteten mich und ich erkannte, wie sehr er sich wünschte, mir zu helfen, doch er konnte sich nicht rühren. Ich wusste nicht, was ihm fehlte, konnte meinen Kopf nicht weit genug drehen, doch alles schrie in mir auf. Er durfte nicht verletzt sein. Der heiße Atem war so nah an meiner Haut, dass ich bereits ein paar Tropfen Speichel darauf fühlen konnte. Ekel und Grauen ließen mich erbeben. Sollte es so etwa enden? Konnte das schon alles gewesen sein? Mein stilles Flehen zu Gott, man solle Taylor verschonen und Sean und Kenneth schicken, blieb ungehört. Tief im Innern hatte ich gewusst, dass sie nicht kommen würden. Taylor hatte wahrscheinlich seine gewöhnliche Runde gemacht, meinen Schrei gehört und die beiden nicht benachrichtigen können. Es wäre schließlich eine Vorwarnung für den schwarzen Wolf gewesen. Seine Augen begannen zu glitzern und ich wusste, dass er sich schwere Vorwürfe machte. Er fühlte sich verantwortlich für das, was gleich geschehen würde und gab sich selbst die Schuld daran, was ich alles hatte durchmachen müssen. Und dann erinnerte ich mich an unsere Abmachung. Ich wusste nicht, ob es ihm helfen würde, doch das war die einzige Chance, die mir noch blieb. Wieder stemmte ich mich mit aller Kraft hoch und sagte: „Ich habe keine Angst!“ Es war nur ein Flüstern, obwohl ich es laut hatte sagen wollen, doch er hatte es dennoch gehört. Und er wusste, wie ernst es mir war. Während ich sah, wie er verstand und die Augen erschrocken aufriss, hörte ich den Wolf über mir knurren: „Was?“ Irgendetwas geschah mit Taylor. Seine Muskeln und Sehnen spannten sich an, er bäumte sich zu voller Größe auf und stieß die Luft hart aus seiner Lunge. Dann heulte er laut auf und ich hörte den Ruf von allen Bäumen widerhallen. „Unsere Familie ist in Gefahr“, rief er seinen Bruder und seinen Vater und ein behagliches Gefühl ergriff mein Herz. Der schwarze Wolf über mir fuhr mit seinen Krallen über meinen Rücken und ein gedämpftes Stöhnen entrang sich meiner Kehle. Er zerriss so den Pullover und hinterließ auch kleine rote Kratzer auf meiner Haut. Sie waren nicht tief, doch er wusste, dass das Taylor wütend machen würde und lachte triumphierend, als dieser mit seinen Pfoten im Waldboden scharte, bereit zum Sprung. Zwei weitere Wölfe erschienen hinter ihm und der Mond brach durch das Blätterdach der Bäume.

Zum ersten Mal sah ich die ganze Familie Wood in Wolfsgestalt. Seans Fell, ich konnte sie ganz einfach an ihren Augen unterscheiden, war ein dunkles Braun mit ebensolch schwarzen Linien durchzogen wie Taylors. Kenneth hingegen war ein stattlicher grauer Wolf mit einem strahlend weißen Brustlatz. Sie bedurften keiner Absprachen, Kommandos oder Zeichen. Alle drei wussten, was zu tun war. Während sich Sean und Kenneth auf den Wolf über mir stürzten und ihm nachjagten als er floh, weil er sich sicher war, dass er sich gegen alle drei nicht behaupten können würde, verwandelte sich Taylor in seine Menschengestalt zurück. Er half mir, mich aufzusetzen und besah sich dann meinen Rücken und mein Bein. Wir sprachen nicht ein Wort und ich wusste auch nicht, was ich hätte sagen sollen. In seinen Augen erkannte ich schließlich, was er dachte. Er war nicht weiter verletzt, das hatte ich überprüft, also was sollte es? „Geh schon“, wisperte ich und legte eine Hand auf seine Schulter. Seine Hände zuckten kurz, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. „Was meinst du?“ „Du willst ihm nach. Also, los!“ Sein Kopf neigte sich leicht zur Seite und ich seufzte. „Meine Güte, Sean und Kenneth sind auch da. Du wirst nicht alleine kämpfen, das weiß ich, also lauf schon.“ „Nein“, antwortete er sanft aber bestimmt und hob mich auf seine Arme, „ich bringe dich jetzt zu den Mädchen.“ Erst jetzt fiel mir auf, dass sie noch immer nach mir riefen. Dann hörten wir die entfernten Sirenen und ein paar Autotüren wurden auf- und zugeschlagen. Ich lehnte meinen Kopf an seine Brust, denn ich konnte ihm nicht länger in die Augen sehen. Noch immer machte er sich Vorwürfe und es brach mir fast das Herz. Morgen, dachte ich, werde ich ihnen Dreien alles erzählen. Es würde das Beste sein, sie mit den Dingen zu konfrontieren, die er mir erzählt hatte. Das Angebot; was er über mich sagte. Taylor würde wahrscheinlich wütend sein, aber das war mir lieber, als diese Selbstzerfleischung. Als er mit mir aus dem Wald trat, brach das Chaos erst so richtig los. Die Mädchen weinten vor Erleichterung und Angst. Mein Vater und seine Freunde des Jagdvereins hechteten, nachdem Taylor erzählt hatte, dass es ein schwarzer Wolf gewesen war, in den Wald. Bewaffnet mit Gewehren, Netzen und anderen Dingen. Es war ihnen egal, ob sie ihn lebend oder tot fingen. Ein paar Polizisten folgten ihnen. Nachbarn umringten uns, doch ich war plötzlich einfach nur müde und hatte nicht die Kraft meine Augen noch länger aufzuhalten. Ich bemerkte nicht, wie ich noch in Taylors Armen ins Land der Träume glitt und fast den ganzen Samstag verschlief.

Als ich schließlich die Augen öffnete, erkannte ich mein Zimmer. Man hatte mich also gleich noch am gestrigen Abend hergebracht. Oder war es schon länger her? Der Wecker auf meinem Nachttisch zeigte 16 Uhr an und ich rieb mir die Augen. Ich versuchte mich aufzusetzen, was beim ersten Versuch noch scheiterte. Meine Hüfte tat weh an der Seite, wo der Wolf an meinem Bein gezogen hatte. Es war, als hätte ich einen schlimmen Muskelkater. Die roten Spuren auf meinem Rücken waren immer noch zu sehen und brannten leicht unter der Kleidung. Nachdem ich geduscht und mich umgezogen hatte, ging ich langsam und vorsichtig die Treppen ins Wohnzimmer hinunter. Bei uns sah es aus, wie in einer Polizeischaltzentrale. Einige Männer aus dem Jagdverein liefen zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her, Walkie-Talkies knisterten und gelegentlich ertönten Stimmen leise daraus hervor. Mein Vater saß auf der alten Couch, reinigte seine Waffe und unterhielt sich mit jemandem, der im Sessel neben ihm Platz genommen hatte. Ich hatte Hunger, brauchte dringend einen Kaffee und wollte mit Taylor sprechen. Niemand schien mich zu bemerken und so humpelte ich in Richtung Küche davon. Jemand hatte glücklicherweise frischen Kaffee aufgebrüht und im Kühlschrank fand ich noch einen Rest Gurkensalat. Während ich mir eine Tasse füllte und eine Gabel aus dem Besteckkasten fischte, drang wieder eine Stimme aus einem der Walkie-Talkies. Ich ließ mich auf einen der Stühle am Tresen sinken und blickte aus dem Fenster. Der Himmel war herrlich blau, ein paar Wolken waren zu sehen, doch die ganze Stadt schien auf den Beinen zu sein. Ich sah Mrs. Dalloway mit ihrem kleinen dicken Mann aufgeregt im Vorgarten herumrennen. Sie schienen sich über irgendetwas tierisch aufzuregen, dann schickte ein Polizist sie ins Haus. Mir verging der Appetit und ich klammerte mich an meine heiße Tasse, nachdem ich den Salat von mir geschoben hatte. „Sie ist nicht oben“, sagte plötzlich jemand und ich blickte auf. „Was soll das heißen? Wo sollte sie sonst sein?“, fragte mein Vater und legte seine Waffe beiseite. „In der Küche“, rief ich und beide Männer wandten sich gleichzeitig zu mir um. Mein Herz schlug schneller als ich sah, dass es sich auch um Taylor handelte. Als er es hörte, lächelte er ganz kurz. „Wie bist du…?“ „Dad, man nennt es Treppe. Die kann man rauf und runter gehen. Solltest du auch mal ausprobieren, ist ganz lustig!“ Er verdrehte die Augen, schien jedoch erleichtert, dass ich nicht spurlos verschwunden war. Taylor kam auf mich zu und küsste meine Stirn. „Wieso hast du nicht gesagt, dass du wach bist?“ „Es sahen alle so beschäftigt aus und ehe ich keinen Kaffee hatte, wollte ich niemanden begrüßen. Aber dich habe ich nicht gesehen, sonst hätte ich es mir vielleicht anders überlegt.“ Er schob mir den Teller mit Gurkensalat wieder hin und nickte in meine Richtung. Iss was, hieß es, doch ich schüttelte den Kopf. „Was ist hier überhaupt los?“, fragte ich jetzt und blickte meinen Vater an. „Wir suchen den Wolf!“ „Habt ihr ihn nicht…?“ Mein Blick huschte zu Taylor, doch der schaute aus dem Fenster, absichtlich wie mir schien. „Gestern Nacht haben wir ihn nicht mehr gekriegt. Wir sind zwar in verschiedenen Gruppen Streife gegangen, aber keine Spur von ihm. Aber wir kriegen ihn schon, verlass dich drauf.“ Ich nippte an meinem Kaffee und mein Vater wandte sich zu dem knisternden Walkie-Talkie um. Er würde nicht eher ruhen, ehe sie ihn hatten, das war mir klar. Mein Vater würde ihn nicht ungeschoren davon kommen lassen für das, was er getan hatte. Im Moment war mir das allerdings egal. Ich stupste Taylor in die Seite, sagte jedoch nichts. Dann blickte er mich an. Bekümmert, schuldig und irgendetwas war da noch, doch ich erkannte es einfach nicht. „Hör auf damit“, wisperte ich. „Womit?“ „Dir diese Schuldgefühle einzureden. Wäre ich nicht so dumm gewesen, im Dunkeln allein zum Auto zurückzugehen, um meine Tasche zu holen, wäre auch nichts passiert.“ Er schüttelte leicht den Kopf hin und her, blickte dann wieder nach draußen. „Hätte er es gestern nicht getan, hätte er einen anderen Zeitpunkt dafür gefunden.“ „Selbst wenn, bist du daran nicht schuld.“ „Ich habe dich da mit reingezogen.“ Ich war es leid und stöhnte auf. „Ich hasse es, wenn du das tust… Du sagst immer, dass du mich ‚da mit reingezogen‘ hast, aber vielleicht überlegst du dir mal das Warum. Ich liebe dich, Taylor, und damit das nicht passiert wäre, was nun mal gestern geschehen ist, hätten wir uns nicht begegnen dürfen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das willst. Außer natürlich, du hast es dir anders überlegt.“ Taylor sah mich erschrocken an, ich rutschte vom Stuhl herunter und humpelte zur Treppe. Es brauchte nur ein paar Schritte und er holte mich ein. „Du weißt, dass ich das nicht bereue.“ „Dann hör, verdammt noch mal, auf dich für alles schuldig zu fühlen, was mir passiert. Du kannst nicht immer da sein, das ist unmöglich. Und ich…ich habe es gestern ein wenig herausgefordert.“ Er zog eine Augenbraue hoch. Niemand achtete auf uns, hörte uns geschweige denn zu. Dann winkte ich ab und meinte: „Vergiss es. Meinst du, wir könnten uns irgendwo mit Sean und deinem Vater treffen?“ „Ja, bestimmt. Aber wieso?“ „Nun, ich denke, ich sollte endlich mal mit meiner Geschichte herausrücken.“

 

Mein Vater hatte zunächst protestiert, doch nach einigen sehr guten Argumenten und einem Versprechen von Taylor, dass wir uns immer im gut verriegelten Haus aufhalten würden, ließ er uns zu den Woods fahren. Ich freute mich wahnsinnig auf die beiden, da ich sie lange, mal abgesehen vom gestrigen Abend, nicht gesehen hatte. Und ich freute mich auf das Haus. Zuerst wollten Taylor und ich uns mit ihnen in der Stadt treffen, aber dort hätten wir uns niemals völlig frei und ungezwungen unterhalten können. Und gleich würde es um spezielle Details gehen, die ich nicht länger verschweigen durfte. Wir saßen in seinem schwarzen Ford und seine rechte Hand lag sanft auf meinem Knie. „Gibst du mir einen Tipp?“ „Lieber nicht“, antwortete ich traurig lächelnd und schob meine Hand über seine. „So schlimm, ja?“ „Ich weiß nicht, es ist schwer einzuschätzen wie ihr, vor allem aber du, darauf reagiert.“ „Oje…“ Er bog vorsichtig in den Waldweg ein und ich hörte, wie die Verriegelung herunterklickte. „Wir wollen doch kein Risiko eingehen…“, murmelte er, sah mich jedoch nicht an. Kurz darauf hielten wir vor dem Haus, das Garagentor öffnete sich automatisch und er fuhr hinein. Erst nachdem das Tor wieder fest geschlossen war, hob er die Sicherung auf und wir stiegen aus dem Auto. Während ich langsam die kleine kurze Treppe in die Wohnräume hinaufhumpelte, stütze er mich ganz sachte von hinten und nahm mir dann die dünne Jacke ab. Sean und Kenneth lächelten mich freundlich an und dennoch… Ich hatte das Gefühl, dass sie distanzierter waren, als sonst. Mich umfing die behagliche Wärme und ich schob diesen Gedanken beiseite. Taylor führte mich zur Couch, wo bereits Tassen mit dampfendem Kaffee standen und setzte sich neben mich, während die beiden anderen auf den Sesseln Platz nahmen. „Taylor meinte, dass du uns etwas erzählen möchtest?“, begann Kenneth ruhig und seine dunkelgrünen Augen tasteten mein Gesicht ab. Das hatte sich mein Freund also bei ihm abgeschaut, jetzt wurde mir einiges klar. „Nun, ich denke, wir sollten es beichten nennen.“ Ich hörte, wie der Junge neben mir seufzte und sich in die Kissen zurücksinken ließ. Sein Bruder tat ihm Letzteres gleich. „Du hast unsere volle Aufmerksamkeit“, meinte er und in dem Moment war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich die auch wollte. Vielleicht hätte ich es doch nur Kenneth unter vier Augen erzählen sollen. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr, ich musste es endlich loswerden. „Ich weiß nicht genau, wo ich anfangen soll…“ „Wie wäre es mit dem Anfang?“ Das belustigte Lächeln Seans erstarb, als sein Vater ihn kurz ansah. Ich wandte mein Gesicht halb zu Taylor um und fragte: „Was hast du mitbekommen, als du gestern dazu kamst?“ Zunächst schien er die Frage nicht ganz zu verstehen, doch dann nickte er, als hätte er es die ganze Zeit geahnt und würde nun seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet sehen. „Als ich ankam hatte er dich…bereits zum Waldrand gezerrt und dann meinte er, dass du die Wahl gehabt hättest.“ Er verschwieg den Rest, doch den musste er auch nicht erzählen. Direkt und gerade heraus schien mir die beste Lösung. Ständig herum zu drucksen würde keinem von uns helfen. „Diese Wahl bestand darin, mich zwischen einem Leben als Mensch oder einem als Wolf zu entscheiden.“ „Was?“ Alle drei blickten mich gleichzeitig überrascht und verwirrt an. „Wie nannte er es? Ein Biss und ich wäre frei. Er ist der Meinung, dass er mich in einen Wolf verwandeln könnte. Zuerst würde es wehtun, aber dann würde ich mich wundervoll fühlen.“ „Ich dachte, so etwas würde nicht gehen, Dad!“ „Das dachte ich auch, Taylor. Ich habe alle möglichen Bücher gelesen, jede Nachforschung betrieben, die möglich ist. Es kann nicht…“ „Vielleicht gibt es verschiedene Arten zu einem Wolf zu werden. Bei euch ist es erblich bedingt und er ist eventuell durch einen Biss dazu geworden.“ „Ich habe nichts Vergleichbares gesehen oder gehört… Aber es ist natürlich nicht auszuschließen.“ „Wieso sollten wir ihm das glauben?“, warf nun Taylor ein, „Er ist wahrlich keine zuverlässige Quelle, oder?“ „Sicher, aber wir sollten uns auch fragen, warum er sich das ausdenken sollte.“ „Um Lilly Angst zu machen?“ „Ich hoffe genauso wenig wie du, dass es durch einen Biss möglich ist, mein Sohn, und ich hatte ebensolche Angst um Lilly, aber wir dürfen das nicht außer Acht lassen. Nur weil er sonst nicht der gute Wolf ist, heißt das nicht, dass er auch jetzt lügt.“ Sean beugte sich leicht nach vorn und blickte mir direkt in die Augen. „Wie oft hat er dir dieses Angebot schon gemacht?“ Die Luft wurde gefährlich dünn und ich spürte alle ihre Blicke auf mir ruhen. Weil ich nicht gleich antwortete, berührte Taylor meine Schulter. „Ich bin ihm jetzt insgesamt drei Mal begegnet. Die Lichtung mitgezählt.“ Seine Hand sank herunter und ich fühlte mich fürchterlich. „Außerdem hat er…“ „Oh Mann…“ „…er hat mich immer mal wieder gerufen.“ „Wann war das zweite Mal?“, fragte Sean unbeeindruckt und sah mich noch immer an. „An dem Abend, als Carly und Kelly mich in der Billardhalle besucht haben und Carly bei mir übernachtet hat. Sie wusste ja nicht, was im Wald war und hat das Auto bei uns stehen gelassen. Wir sind zu Fuß nach Hause und bei diesem leeren Grundstück hat er angefangen zu knurren. Ich hab Carly vorgeschickt, um meinen Vater mit seiner Waffe zu holen. Während ich ihn hingehalten habe, hat er mir das Angebot gemacht und…“ „Und was?“ Taylor war jetzt wieder ruhiger und drehte mich zu sich herum. „Er sagte, dass ich direkt vor deiner Nase leuchten würde und du keine Ahnung davon hättest, wie viel wirklich in mir steckt. Er meinte, dass ich Macht besitzen würde. Ich habe nie verstanden, was das sollte…“ „Ich habe von Anfang an gesagt, dass es andere anlocken würde“, fluchte er und erhob sich rasend schnell von der Couch. Er tigerte im Wohnzimmer auf und ab. Sein Vater blickte ihm nach und seufzte. „Ich habe dir gesagt, dass wir es ihr erzählen werden, wenn sie es will. Vielleicht ist jetzt der beste Augenblick dafür.“ „Denkst du, ja?“ Es schien ihm nicht wirklich zu gefallen. „Ihr wisst schon, dass ich noch hier sitze und alles hören kann?“ „Du weißt, dass wir nicht einfach…“ „Sicher, weiß ich das. Aber wie ich bereits sagte, sie hat ein Recht darauf.“ Sie ignorierten mich völlig. Ich hätte mit Dingen um mich schmeißen, mit Plakaten und Neonschildern winken können, sie hätten mich trotzdem nicht angesehen. Während ich mich zurücklehnen wollte, bahnte sich plötzlich ein stechender Schmerz durch meinen Körper und ich zog scharf die Luft ein. Mein Blut rauschte und ich hatte das Gefühl, dass es noch in meinen Adern zu kochen begann. Doch ich schwitzte nicht, sondern fror. Meine Hände waren wieder eiskalt und mein angeschlagenes Bein pochte wie verrückt. Und dann rief er mich. So laut und klar, wie ich es nie zuvor wahrgenommen hatte: „Du weißt, dass du es willst. Komm schon, kleine Lilly. Ich zeige dir eine Welt von der du schon immer geträumt hast.“ Es klang, als stünde er bereits direkt neben mir. Ich wusste, dass es falsch war. Wusste, dass ich im sicheren Haus, bei Taylor bleiben sollte und dennoch erhob ich mich und ging auf die Tür zu, hinter der sich der Wintergarten befand. Die Woods stritten sich noch immer. Meine Hand legte sich fast über den Türgriff, als ich endlich einen klaren Gedanken fassen konnte und sie wieder zurück zog. Ich hob beide Arme an, sodass ich dastand als wolle ich mich vor der Tür ergeben und wisperte: „Kann mich bitte jemand festhalten? Bitte!“ Taylor tauchte neben mir auf und schlang beide Arme um meine Taille. „Was ist passiert?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete ich und lehnte mich an ihn, die Augen auf den Wald gerichtet, der einige Meter hinter den Scheiben lag. Er küsste kurz mein Haar und führte mich zurück zur Couch. „Ich glaube, er spielt mit mir. Hat er so viel Macht? Ich meine, dass er mich rufen kann ohne, dass ihr es alle mitbekommt? Ohne, dass ihr ihn hört, seht oder riecht?“ Taylor distanzierte sich wieder von mir. Was hieß wieder? Seit dem gestrigen Abend hatte ich das Gefühl als stünde schon immer eine eiserne meterhohe Wand zwischen uns. Er war lieb, sanft und beschützerisch, doch es stimmte etwas an seinem ganzen Verhalten nicht. Da schien etwas in ihm zu sein, dass ihn mehr und mehr von mir wegtrieb und ich wünschte so sehr, dass ich das hätte ändern können. Denn gerade jetzt brauchte ich ihn mehr denn je. Ich fühlte die Kälte in meinem Herzen und wollte sie bekämpfen, doch… Taylor blickte mich an und meine Schuldgefühle verschlimmerten sich nur noch mehr. „Kann mich bitte jemand nach Hause fahren?“ Ich hatte mich bereits erhoben und griff nach meiner Jacke am Garderobenhaken, als Sean mich am Handgelenk festhielt. „Warte!“ Sie alle lauschten Geräuschen, die ich als Normal-Mensch nicht wahrnahm. Mir stockte der Atem, als wieder mein Blut zu kochen begann und mein Bein schmerzte. Und dieses Mal war es zehnmal schlimmer, als zuvor. Wo hatte dieser eine Wolf nur diese ganze Macht her? Oder war es gar nicht nur noch Einer? Vor meinen Augen flackerten wieder Bilder auf. Ein weißer Wolf mit einem kleinen Braunen. Sie streiften durch die Wälder und dann sah ich durch die Augen des größeren Tieres. Ich erkannte das Haus und das Auto, das davor stand. Bemerkte den Mann, der ganz allein am Küchenfenster stand und in die Nacht hinaus sah. Fühlte den bohrenden Schmerz, der das Herz des weißen Wolfes durchdrang. Unsagbare Trauer, Verlust, Angst, Schuld. Sie alle trafen sich direkt in der Mitte und ließen mich in die Knie sinken. Der kleine braune Begleiter sprang fröhlich auf das Haus zu, keine Spur von Zurückhaltung oder ähnlichen Gefühlen, die das Herz des Weißen erschüttert hatten. Ich beneidete den Kleinen und weinte leise. Er kannte so etwas wie Verlust und Schmerz nicht. Zumindest nicht so gut, dass er sich darüber Sorgen zu machen schien. Aus irgendeinem Grund hielt ich nach einem weiteren braunen Wolf Ausschau, dessen Fell mit schwarzen Linien durchzogen war. Doch mein Herz setzte für ein paar Schläge aus und mir war sofort bewusst, dass ich ihn vergeblich suchen würde. Und dann fühlte ich die warmen schützenden Hände, die mich an den Schultern packten und zurückzogen. Zurück in die Welt, in der noch alles richtig und gut erschien. „Was hast du gesehen?“, fragte Kenneth und die Frage erschreckte mich. Mehr noch als die Tatsache, wie wütend sie aussahen. Sie alle blickten mich an, doch niemand fragte, ob alles in Ordnung sei. Ob ich okay war und was geschehen wäre. In ihren Augen erkannte ich es - sie wussten was los war. Das schien das große Geheimnis zu sein, um das es vorhin gegangen war. „Nichts“, wisperte ich und blickte sie trotzig an, „Ich habe gar nichts gesehen.“ „Das ist doch nicht dein Ernst… Du solltest mal dein Gesicht sehen“, widersprach Sean und ich schüttelte den Kopf. „Es war gar nichts. Ich möchte jetzt nach Hause. Mein Dad wird sich schon Sorgen machen. Ich hatte ihm versprochen nicht allzu lange weg zu bleiben.“ Es sah aus, als seien sie gekränkt, zumindest Sean und Kenneth. Taylor war…ich wusste nicht, wie ich es beschreiben sollte. Nicht verängstigt oder enttäuscht, nicht verletzt oder besorgt. Da war nicht eine einzige Emotion. Ich blickte seinen Bruder an und fragte: „Wärst du so lieb?“ Sean sah mich direkt an, dann Taylor. Der nickte langsam und blickte kühl aus dem Fenster. „Komm, wir gehen durch die Garage.“

 

Mein Handy klingelte bereits das zehnte Mal an diesem Abend, doch ich saß noch immer regungslos am Fenster und blickte auf den Mond, der mein Zimmer in silbernes Licht tauchte. Zwischendurch erklang auch der Ton für eine eingehende SMS. Es mussten bereits 7 neue sein. Ich wollte ja schon irgendwie rangehen, ihm sagen, dass es mir gut ging, aber ich war wütend und vielleicht war auch mein Stolz etwas angekratzt. Alles war immer so wunderbar zwischen uns gewesen und jetzt entfernte er sich immer mehr von mir. Und ich konnte ihn durch nichts daran hindern. Wahrscheinlich war das auch das Problem. Es war alles zu perfekt gewesen und ich hatte mich, obwohl ich mir geschworen hatte es nicht zu tun, viel zu sehr hinein gesteigert. Hatte alles kaputt gemacht, weil ich ihn so sehr liebte, ihn so sehr brauchte. Die Mauern, die er um sich herum errichtet hatte, waren am Ende doch stärker als ich. Ich hatte sie einreißen, ihn hervorlocken wollen. Und hatte ihn stattdessen nur noch mehr in seine eigene Welt gedrängt. Alles rächt sich eines Tages und dies war nun meine Strafe dafür, dass ich ihn hatte ändern wollen. Obwohl das so eigentlich auch nicht stimmte. Ich stand auf und schaltete das Handy ganz aus. Die Stille, die mich umfing, erinnerte mich an den gestrigen Abend. Fast konnte ich wieder den Atem hören, die Zähne fast spüren, wie sie sich in mein Hosenbein wetzten. Ich drehte mich erschrocken um, als es am Fenster polterte und ich eine dunkle Gestalt auf dem Sims sitzen sah. Traurige dunkelbraune Augen funkelten im Mondlicht, als die silberne Sichel wieder hinter einer schwarzen Wolke auftauchte. Mit vor der Brust verschränkten Armen stellte ich mich an das geschlossene Fenster und blickte ihn an. „Bitte, lass mich rein. Wir müssen dringend reden.“ „Ich wüsste nicht worüber.“ Ich biss mir leicht auf die Unterlippe, weil ich es kaum noch aushielt ihn so nah bei mir zu haben und ihn dennoch nicht berühren zu können. Dann fiel mir ein, dass er wusste, was diese Geste bedeutete und presste die Lippen aufeinander. „Ich kann auch gern durch die Haustür rein. Glaub mir, ich habe kein Problem damit unten zu klingeln.“ Es war noch nicht allzu spät und von unten hörte ich die Geräusche der Sportsendung, die mein Vater noch schaute. In seinen glühenden Augen erkannte ich, dass er keine Scherze machte. Aber ich war noch immer etwas angeschlagen von all den Vorkommnissen und legte es auf einen Streit mit Taylor an. „Tu das! Mal sehen, was mein Vater davon hält. Wir sehen uns dann ja gleich“, antwortete ich trotzig und zog die Vorhänge mit einem Ruck zu. Dann war kein Geräusch mehr zu hören und ich setzte mich auf mein Bett, den Blick auf die Zimmertür gerichtet. Es verging kaum eine Minute, dann ertönte die Klingel der Haustür und mein Vater polterte grummelnd über den Flur. „Verdammt, wer ist denn das noch?“, hörte ich ihn brummen und schon riss er knarrend die Tür auf. Die Männer hatten ihre Suchaktion auf Eis legen müssen, weil der Wolf spurlos verschwunden war. Sie hatten vor, ab morgen vermehrt Kontrollgänge durch die Wälder zu machen. „Taylor? Was treibst du denn jetzt hier? Seid ihr verabredet? Ich denke nicht, dass sie mit ihrem Bein noch irgendwo hin sollte.“ Taylor antwortete ihm so leise und ruhig, dass ich nicht verstand, was er sagte. Dann rief mich mein Vater runter. Allein schon aus Trotz humpelte ich die Stufen ganz langsam herunter und blieb dann auf der Letzten stehen, den Blick fest auf meinen Vater gerichtet. „Taylor würde gern mit dir reden…“ „Tatsächlich? Will er das?“ „Lilly, bitte!“, flehte Taylor. Mein Vater blickte zwischen uns hin und her und las aus unseren Gesichtern wohl mehr, als unsere Worte verrieten. Obwohl bereits diese Bände sprachen. „Kein Spaziergang Richtung Wald, bleibt am besten auf der Veranda, wo ich euch im Blick habe. Und nicht mehr so lange, Lils“, meinte er nur und knipste das Außenlicht über der Haustür an. Dann, ohne ein weiteres Wort zu verschwenden, schlurfte er ins Wohnzimmer und machte es sich wieder auf dem Sofa bequem.

Ich schlüpfte in meine Sneakers und nahm die Fleecejacke vom Haken, denn es war ziemlich kühl geworden. Und ich hatte so eine Ahnung, dass mich Taylor heute nicht wärmen würde. Wir nahmen nebeneinander auf der kleinen Hollywood-Schaukel Platz, die sich auf der Veranda befand. Diese wiederum reichte über die ganze Frontseite des Hauses und war von einem hölzernen Zaun eingerahmt, den meine Eltern damals nach unserem Einzug gemeinsam neu gezimmert und gestrichen hatten. Ich erinnerte mich daran, dass ich währenddessen mit Kreide unsere Einfahrt verschönert hatte. Ich war damals sechs und verstand noch nicht viel von zusammen passenden Farben, aber ich war stolz auf das Ergebnis gewesen. Wir schwiegen eine ganze Weile und ich verschränkte die Arme vor der Brust, um mich noch mehr zu wärmen. „Es tut mir leid“, wisperte er und ich blickte traurig zu ihm auf. „Was tut dir leid?“ „Einfach Alles. Ich habe den Fehler begangen meine Gefühle über die Sicherheit deines Lebens zu stellen. Das ist unentschuldbar, aber ich wollte, dass du weißt, dass es mir leid tut. Wenn ich könnte, würde ich den gestrigen Abend ungeschehen machen, aber…“ „Du hast überhaupt nichts von dem begriffen, was ich dir heute gesagt habe.“ Ich war nicht wütend, sondern einfach nur fassungslos. Denn ich ahnte, nein, ich wusste genau, was er mir gerade sagen wollte. „Und ob. Lilly“, begann er, doch ich schüttelte seine Hand von meinem Arm ab und sprang auf, als stünde ich in Brand. Ich achtete nicht auf die Schmerzen in meinem Bein. „Taylor, ich will das alles nicht hören. Verstehst du denn nicht, dass ich nur nicht möchte, dass du dich für alles verantwortlich fühlst, was mir passiert? Du kannst nicht immer da sein. Das ist nun mal unmöglich. Und für die letzten Ereignisse bin hauptsächlich ich verantwortlich.“ „Und unmöglich sollte es nicht sein. Ich habe es dir geschworen und gleich beim ersten Mal versagt. Du verdienst etwas Besseres, ein normales Leben mit einem Ehemann, Kindern und Enkelkindern. Das ist etwas, dass du mit mir nicht haben kannst. Lilly, es ist nicht so, dass ich dich nicht liebe, denn das tue ich, wahnsinnig. Und ich bereue nicht einen Moment mit dir, aber eine Zukunft mit mir würde dir nur schaden.“ „Waren meine Träume wahr?“ „Die Albträume hat dir wahrscheinlich der schwarze Wolf geschickt, aber alle anderen…“ Er nickte nur. „Dann weiß ich genau, welche Zukunft mich mit dir erwarten würde und exakt diese möchte ich. Ich möchte dich an meiner Seite haben, wenn ich vor den Traualtar schreite, wenn ich diesen süßen Fratz in meinen Armen halte, wenn unser Sohn heiratet oder Kinder bekommt. Ich möchte mit dir alt und faltig auf einer Veranda sitzen und gemeinsam unsere letzten Tage genießen. Du bist das Beste, das mir je passiert ist, also…“ Taylor stand auf und sah mich emotionslos an. „Unser beider Abmachung ist für dich hinfällig. Wir werden dafür sorgen, dass Er verschwindet und dann…“ „…dann zieht ihr weg?“ „Vielleicht, ich bin mir nicht sicher. Obwohl ich das meinem Vater nicht antun möchte. Dieser Umzug war für ihn schwer genug. Wahrscheinlich werde ich alleine gehen, es ist besser so. Leb wohl, Lilly.“ Er stand nah vor mir und berührte ein letztes Mal mein Haar, ließ eine Strähne zwischen seinen Fingern hindurch fließen. Kurz bevor er mir einen Kuss auf die Stirn hauchen konnte, wich ich zurück. Die Fassungslosigkeit war dem unbändigen Zorn und der Angst gewichen. „Schön, dann hat Er ja jetzt, was Er wollte“, begann ich und öffnete die Tür. Ich wandte mich zu dem erschrocken dreinblickenden Taylor um und starrte ihn wutentbrannt an. „Er sagte, du seiest das Einzige, das noch zwischen uns steht. Dann sagen wir es ihm wohl besser: FREIE FAHRT FÜR DICH.“ Ich war so wütend, dass mir die abstrusesten Dinge durch den Kopf gingen. Und die geschriene Aufforderung an den schwarzen Wolf schien mir die schlimmste Folter für Taylor zu sein. Zunächst hatte ich überlegt, in mein Auto zu steigen und direkt in den Wald zu fahren, aber so lebensmüde war ich nicht und so verletzend ebenfalls nicht. So schlug ich die Tür mit voller Wucht zu und lief, in Tränen aufgelöst, nach oben in mein Zimmer. Die Vorhänge waren noch immer zugezogen und nun schloss ich mich ein. Gleich drei Männer riefen nach mir, doch ich wollte nicht einem der Rufe folgen und schrie nur laut auf, um all den Schmerz los zu werden.

Ich verkroch mich zwei Tage lang in meinem Zimmer. Weder aß ich etwas noch schlief ich. Ich lag wach unter der Decke, hatte mich dort zusammengerollt und hoffte, dass das alles nur ein furchtbarer Albtraum war, den mir der schwarze Wolf wieder vorgaukelte. Doch auch jetzt, am Dienstagmorgen, lag noch immer kein Taylor neben mir und wachte über mich. Er war einfach so gegangen und hatte mich mir selbst überlassen. Die Sonnenstrahlen brachen durch die Vorhänge, ich stöhnte auf, es würde ein wundervoller Tag werden. Meine Stimmung war miserabel, aber ich dachte an meine Freundinnen, denen ich mich so gerne anvertraut hätte. Sie würden doch sicher für mich da sein, ebenso wie es andersherum wäre, oder? Also erhob ich mich langsam, ging ausgiebig duschen und betrachtete dann mein Gesicht im leicht beschlagenen Spiegel. Die Augen waren blutrot, die Pupillen trübe und überhaupt sah mich da ein aschfahles Mädchen an, das ich so gar nicht kannte. Reiß dich zusammen, schalt ich mich selbst und dachte daran, dass ich vorher auch ohne ihn gelebt hatte. Dann würde ich es auch jetzt können… Wenn ich ihn nur nicht so sehr vermissen würde. Ich sehnte mich so sehr nach ihm, konnte fast sein After Shave riechen, seine Arme um meinem Oberkörper spüren. Doch als ich die Augen öffnete, war er nicht da. Mit jeder weiteren Sekunde wurde mir klar, dass ich niemals ohne ihn würde leben können. Mein Leben war so viel wunderbarer gewesen, als er bei mir war. Wieso sollte ich mich jetzt mit weniger zufrieden geben? Ich zog mich an, ging in die Küche hinunter und brühte Kaffee auf. Als mein Vater zu mir stieß, blickte er mich erst besorgt an und als ich abwinkte, dass wir das Thema nicht besprechen müssten, nickte er verständnisvoll. Ich hatte ihm Brötchen aufgebacken, den Tisch gedeckt und zwei Tassen mit Kaffee gefüllt. „Willst du gar nichts essen?“ Ich schüttelte nur den Kopf und blickte dann wieder aus dem Küchenfenster, die Tasse fest in den Händen, an die Theke gelehnt, weil ich nicht bei ihm sitzen konnte. Ich wollte seine Blicke nicht, ich hätte sie nicht ertragen. „Soll ich Carly anrufen, damit sie vorbeikommt? Wir könnten mal wieder grillen…“ Er erhielt ein Schulterzucken zur Antwort. „Dann gehe ich einkaufen, du ruhst dich noch ein bisschen aus und ich rufe schnell Carly an. Vielleicht auch Kelly, Elli und Mia?“ Ich zuckte wieder mit den Schultern. „Na ja, wir fangen langsam an. Du hast Recht.“ Er verschwand im Flur und nur wenige Augenblicke später hörte ich ihn bereits mit Carlys Vater plaudern. Der schien gegen einen Barbecue-Abend auch nichts einzuwenden zu haben und so beschlossen sie, dass die Eltern und die beiden Töchter gemeinsam bei uns zu Hause grillen würden. Carly würde er gleich losschicken, damit ‚die Mädels Zeit zum quatschen hätten‘. Ihr Vater hatte sich schon immer für einen Teenager-Versteher gehalten. Früher hatten wir uns darüber immer köstlich amüsiert, aber jetzt war mir auch die Lust dazu vergangen. Alles schien irgendwie trister zu sein als vorher. Ich würde eine gute Goth abgeben. Um ehrlich zu sein, erschien mir die Farbe Schwarz immer sympathischer. Es war niemand gestorben, das wusste ich, doch ich wollte nichts Buntes tragen. Und ich hätte auch gern meinen Vater zu einem anderen Hemd überredet, aber der musste ja nicht unter meiner Trennung mit Taylor leiden. So ließ ich ihn also mit dem rot-blau karierten Hemd und den blauen Jeans von dannen ziehen. Nachdem ich den Tisch abgeräumt hatte, klingelte es an der Haustür und ich schlurfte langsam hin. Meine beste Freundin stand mit verwundertem Gesicht vor mir. „Hey, Süße. Ich hab mir schon Sorgen gemacht, als ich zwei Tage lang nichts von dir gehört habe. Was ist denn passiert?“ Als ich meine Stimme endlich wieder benutzte, fühlte es sich fremd und falsch an, doch sie musste es erfahren. „Er hat die Seifenblase platzen lassen“, antwortete ich und fand mich nach der letzten Silbe bereits in ihren Armen wieder. Ich hatte die letzten zwei Tage nichts anderes getan, als zu weinen, aber jetzt brach es wieder aus mir hervor und sie wiegte mich sanft. „Lass uns reingehen. Mrs. Dalloway macht schon wieder lange Ohren. Komm, Süße! Und dann erzählst du mir, was der Dummkopf angestellt hat.“

Wir saßen alle zusammen beim Abendbrot, um genau zu sein im Garten beim Grill. Ich hatte Carly nicht viel erzählt, denn dafür hätte sie die ganze Wahrheit erfahren müssen. Und auch wenn ich verletzt war, so war ich es doch noch immer Kenneth schuldig dies für mich zu behalten. Egal, ob sein Sohn sich von mir getrennt hatte oder nicht. Mein Vater war hellauf begeistert, dass er mal wieder ein paar andere Gäste als seine Kumpels da hatte. Und ich denke auch, dass es ihn freute, dass Taylor nicht mehr auftauchen würde. Obwohl es schien, als hätte er sich am Ende doch gut mit ihm verstanden. Meine Gedanken waren bei der geträumten Hochzeit, unserem kleinen Sohn, dem Glück, das ich verspürt hatte als er vor dem Altar meine Hände in seine genommen hatte. Ich stocherte eine Weile in meinem Essen herum, dann schob ich den Teller weit von mir. Mir war der Appetit vergangen. Eines Tages, hatte mein Vater gesagt, würde der Schmerz vergehen, doch da war ich mir nicht so sicher. Wenn ich in dieser Hinsicht mehr nach ihm schlug, würde ich das einige Jahre nicht mehr vergessen. Aber das wollte ich ja auch nicht. Zumindest nicht die wundervollen Momente, Gespräche und Tage mit ihm. Wie er mich beschützt, mich angesehen hatte, wie er so tat meine Haarsträhnen ordnen zu wollen, nur um sie berühren zu können. Ich spielte mit dem Gedanken ihn anzurufen, nur um einen Augenblick lang seine Stimme zu hören. Mit unterdrückter Nummer anrufen und nur zuhören. Er müsste nie erfahren, dass ich es war. Während ich meinen Plan näher durchdachte, klingelte plötzlich Carlys Handy. „Oh, entschuldigt bitte“, erklärte sie schnell und verschwand im Haus, das Mobiltelefon am Ohr. Es dauerte nicht lang, da kam sie leicht lächelnd wieder zu uns heraus. „Wer war denn das, Schatz?“, fragte ihr Vater und lugte über seine Brille. „Kelly. Sie hat gefragt, ob Lilly und ich morgen nicht Lust haben an den Strand zu fahren. Vielleicht machen wir dort auch ein Lagerfeuer und campen in der Nähe.“ „Das klingt gut, Lils“, ermunterte mich mein Vater und fuchtelte fröhlich mit der Grillzange umher. „Du musst ein bisschen rauskommen. Ein Tag mit deinen Freunden wird dir gut tun.“ Alles, was mir fehlte oder gut tun würde, ist Taylor, dachte ich, doch ich widersprach nicht und nickte stattdessen nur. Gute Miene machen zum bösen Spiel. „Dann ist das beschlossene Sache. Ich hol dich morgen gegen Fünf hier ab, dann fahren wir gemeinsam hin, ja Süße?“ Wieder nickte ich nur. Wieso noch die Stimme benutzen, wenn sie sowieso am Ende taten, was sie für mich für richtig hielten? Und wenn ich Carlys Augen sah, wäre Widerstand sowieso zwecklos gewesen. Sie hatte etwas vor, das spürte ich, doch ich ahnte nicht im Geringsten, das jetzt erst alles begann…

6. Kapitel - Nur ein kleiner Sonnenstrahl wäre genug

Ich hatte genauso viel Lust auf einen Ausflug zum Strand, wie ein Eisbär auf die Sahara. Und trotzdem stand ich pünktlich im Vorgarten und stieg anstandslos zu meiner besten Freundin ins Auto, als diese am Nachmittag vor dem Haus hielt. Mein Vater war bereits arbeiten gefahren, hatte mir aber viel Spaß gewünscht. Ihm konnte mein zweifelndes Gesicht unmöglich entgangen sein, doch er kommentierte es nicht. Ich hatte es aufgegeben über diesen Tag selbst zu bestimmen, wenn es doch vielleicht besser war, es einmal andere Menschen tun zu lassen. Als wir auf der von Wald gesäumten Straße Richtung Strand unterwegs waren, glaubte ich kurz einen Wolf neben uns herlaufen zu sehen, aber ich sank enttäuscht im Sitz zurück, als ich feststellte, dass ich mich geirrt hatte. Ich musste mir endlich selbst eingestehen, dass er seine Meinung nicht ändern würde. Wieso sollte er auch? Er war auch schon damals fest davon überzeugt gewesen und Taylor war jemand, der nur schwer von seiner Meinung abrückte, geschweige denn sich umstimmen ließ. Auch eine der Eigenschaften, die ich an ihm so gemocht hatte. Mein Gott, selbst wenn ich ihn vergessen wollte, konnte ich es nicht. Er war ständig in meinen Gedanken, auch die wirren Träume handelten nur von ihm. So zum Beispiel sah ich ihn immer in anderen Gestalten hinter mir im Wald herschleichen, mal als Hirsch, dann als Falke. Oder aber ich träumte davon, wie ich ihn in meinen Armen hielt und dann aufschrie, wenn er sich in den schwarzen Wolf verwandelte. Einmal sogar, war ich in einem solchen Traum gestorben. Der Schwarze hatte mich zerfleischt, als ich ihn von mir stoßen und nach Taylor suchen wollte. „Kelly hat noch ein paar Leute eingeladen. Sie war richtig wild auf die Party“, plapperte Carly fröhlich. Mich beschlich der Gedanke, dass es meine beste Freundin gewesen war, die die Party geplant hatte und nun versuchte es anderen in die Schuhe zu schieben, um bei mir keine Minuspunkte zu sammeln. Seit gestern Nachmittag hatten wir beide seinen Namen nicht mehr erwähnt und sie versuchte mich so gut wie möglich von allem, was ihn betraf, abzulenken. Ich war ihr wahnsinnig dankbar dafür, doch es klappte nicht im Geringsten. Doch das sagte ich ihr nicht. „Wen denn?“ „Keine Ahnung, einige unserer Freunde aus der Schule. Bestimmt die Jungs der Parallelklasse. Und sie hat wohl noch ein paar kennen gelernt, als sie mit ihren Eltern in Iron City war. Lassen wir uns also überraschen, mh?“ „Ja.“ Mussten wir wohl. Ich zog die Beine auf den Sitz und umschlang meine Knie, während ich wieder aus dem Fenster sah. Immer in der Hoffnung, doch noch einen Wolf zu sehen.

 

Es war ein riesiges Feuer, viele Menschen waren da; viele, die ich nicht kannte. Das mussten dann wohl die aus Iron City sein, die anscheinend auch noch Freunde mitgebracht hatten. Kelly war mittendrin, tanzte und amüsierte sich köstlich mit ein paar Jungs. Mia hatte sich mit Jamie ans Feuer gesetzt und Ellie hatten wir auch kurz vorbei tanzen sehen. Alles in allem hatte jeder gute Stimmung mitgebracht und ein paar Leute Alkohol. „Süße, ich besorg uns was zu trinken. Setz dich doch ans Feuer und ich bin gleich wieder bei dir.“ Ich nickte und zog die Kapuze meines weiten schwarzen Sweatshirts über meinen Kopf. Ich tat brav, wie mir geheißen worden war und sah Kelly dabei zu, wie sie einen Typen nach dem anderen mit ihrem Lächeln um den Finger wickelte. Ein Seufzen entstieg meiner Kehle und ich verfluchte mich, dass ich mich zu diesem Ausflug hatte überreden lassen. Es war ein Trauerspiel mit ansehen zu müssen, wie sich jeder um mich herum amüsierte. Ablenkung, das ich nicht lache. Um ehrlich zu sein ähnelte es mehr einem ›mit der Nase draufstoßen‹. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich war meinen Freundinnen nicht böse, ich wusste ja, dass sie es nur gut meinten. Und ich gönnte jeder von ihnen ihr Glück. Aber zwischen all den fröhlichen Leuten und Freunden zu sitzen, während man selbst am liebsten zu Hause in seinem Bett gelegen und geheult hätte, war grausam. Nur konnte ich das auch schon nicht mehr, weinen meine ich. Carly reichte mir einen Becher aus dem mir bereits eine Fahne zuwinkte. Das war ein Alkoholgemisch, das es in sich haben würde, doch ich zuckte mit den Schultern und genehmigte mir einen großen Schluck. Die verschiedensten Schnäpse rannen meinen Rachen herunter und brannten wie Feuer in der Kehle, doch ich nahm es kaum wahr. Sonst floh ich nicht in den Alkohol, aber vielleicht half es mir in dieser Nacht durchzuschlafen ohne an Ihn zu denken. Mia lächelte mir kurz aufmunternd zu, dann lachte sie über einen Witz, den Jamie gemacht hatte und wandte sich wieder ihm zu. Ich verübelte es ihr keineswegs und freute mich wahnsinnig, dass die beiden sich anscheinend gefunden hatten. „Kommt Sean gar nicht?“, fragte ich Carly, die kurz zusammenzuckte. Vielleicht, weil sie nicht mit einem Gespräch gerechnet hatte oder aber, weil sie die Frage überraschte. Ich war mir da nicht ganz sicher. „Doch, er wollte auch kurz vorbei schauen. Aber er kann wohl nicht lange bleiben. Du kennst ihn ja…“ „Ja, so schnell wie er auftaucht, ist er auch schon wieder weg. …Wie läuft es so zwischen euch?“ Sie warf mir einen zweifelnden Blick zu, doch ich nickte aufmunternd. „Es geht mir gut, ich würde nur gern wissen, ob ihr zusammen seid.“ „Irgendwie nicht. Ich bin mir da auch nicht ganz sicher, es könnte vielleicht irgendwann etwas Festes werden. Doch manchmal glaube ich, dass es da etwas gibt, dass ihn davon abhält. Er öffnet sich nie vollständig, weißt du? …Ach, es klingt albern, aber…“ „Nein, klingt es nicht. …Carly, ich möchte nur, dass du weißt, dass es nichts gegen dich persönlich ist. Sie sind alle Drei so verschlossen. Du musst dich nicht ausgeschlossen fühlen, sie sind eben einfach so. Okay?“ „Danke“, sie drückte sich kurz an mich und begann dann zu lachen. „Meine Güte, da schlepp ich dich hierher und will dich ablenken und dann tröstest am Ende du mich.“ Wir kicherten beide und ich spürte, dass der Mix in dem Becher seine Wirkung entfaltete. Ich war noch nicht betrunken, aber es löste meine miese Stimmung etwas. Da sah ich plötzlich Sean auf uns zukommen. Gott, ich hatte ganz vergessen, wie ähnlich sich die Brüder sahen. Mein Herz verkrampfte sich und ich drängte die Tränen zurück. „Ich hol mir noch was zu trinken.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, erhob ich mich und schritt schnurstracks durch die wild tanzende Menge. Nachdem mein Becher wieder gefüllt und dann geleert war, beschloss ich einen Spaziergang am Strand zu machen.

Der Sonnenuntergang war wunderschön und ich setzte mich auf einen der großen Findlinge, die hier überall am Strand verteilt waren. Meine Zehen gruben sich in den Sand und ich beobachtete die Wellen, die sich sanft am Ufer brachen. Der Pier, ein langer Holzsteg mit kleinen Geschäften und Buden, befand sich einige hundert Meter weit weg und leerte sich langsam. Jeder wollte jetzt nach Hause und ich beneidete die Leute, die in einem der Strandhäuser lebten und jeden Abend einen solchen Sonnenuntergang betrachten konnten. Wieder seufzte ich und zeichnete mit meinen Füßen Kreise in den Sand. „So weit weg von all den Anderen? Man könnte fast glauben, du hast gar keine Lust zu feiern…“ Ich sah zu dem lachenden Mann auf und zuckte kurz mit den Mundwinkeln, um ein Lächeln anzudeuten. Sean ließ sich neben mir auf dem Stein nieder und blickte aufs Wasser. „Wahnsinnig schön hier, nicht? Ich wünschte, die Menschen würden sich mehr Zeit nehmen und einfach mal innehalten. Man verpasst so viel, wenn man immer hektisch seinem Leben nachrennt.“ „So poetisch heute?“, fragte ich und stimmte ihm dennoch zu. „Ich habe schon ein bisschen was getrunken, verzeih.“ „Hast du nicht.“ Wir sahen uns gleichzeitig an und er zeigte mir eine perfekte Reihe weißer Zähne. „Stimmt, hab ich nicht. Noch nicht, sollte ich hinzufügen. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich nicht noch jemanden irgendwo hinfahren muss beziehungsweise soll.“ Er zwinkerte kurz, doch ich reagierte nicht darauf. „Wieso bist du nicht bei Carly? Sie hat sich so auf dich gefreut…“ „Ich wollte nach dir sehen. Sie sagte, du wolltest nur kurz was zu Trinken holen und bist dann nicht wieder aufgetaucht. Du solltest ihr sagen, wo du noch hingehst. Sie macht sich sonst mehr Sorgen als nötig.“ „Das war eine spontane Entscheidung. Aber beim nächsten Mal geb ich bescheid.“ Sean nickte, machte allerdings keine Anstalten zu der Party zurückzugehen. Wir schwiegen eine ganze Weile, erst als die Sonne nur noch ein hauchdünner orange-roter Streifen am Horizont war, sprach er wieder. „Wie geht es dir? Ganz ehrlich.“ Ich sah ihn nicht an, antwortete jedoch wahrheitsgemäß: „Bescheiden.“ „Das dachte ich mir schon.“ Wieder Stille. „Du weißt, dass er…“ „Was weiß ich? Dass er es nicht persönlich meinte? Dass er es für das Beste hielt?“ Ich sprang auf und machte ein paar Schritte auf das Wasser zu, wirbelte dann zu ihm herum. „Das hat er mir bereits selbst gesagt. Aber sieht es denn so aus, als wäre das hier das Beste für mich? Ich denke nicht, denn ich erkenne mich selbst kaum wieder. Er fehlt mir, ich bin alleine. Ja, ich mag meine Freundinnen haben, meinen Vater, aber ohne ihn bin ich einfach allein. Ich fühle dieses tiefe Loch, in das ich mich selbst immer weiter reinrangiere. Er wäre der Einzige, der mich hinauf ziehen könnte, aber er wird es nicht. Ich weiß, dass er es nicht wird. Weil er ein Sturschädel ist; weil er glaubt, diese Entscheidung für mich treffen zu müssen; weil er ein blöder Idiot ist, der mir so unglaublich viel bedeutet. Was dieses Loch nur noch tiefer, schwärzer und größer macht.“ Seans Schultern sanken ein kleines Stück tiefer und ich setzte mich wieder neben ihn. „Entschuldige,…du kannst ja nichts dafür. Es ist nur…jeder denkt, er müsse mich ablenken. Niemand spricht völlig offen mit mir darüber. Mein Vater ist heilfroh, dass er sich jetzt darüber keine Sorgen mehr machen muss, was ich so mit Ihm treibe und… Und ich bräuchte jetzt eine Mutter mit der ich über all das reden könnte. Doch sie ist nicht mehr da.“ „Ich verstehe dich, aber du solltest sie nicht alle zurückweisen. Carly und deine anderen Freundinnen, sie möchten nur kein Salz in die Wunde streuen und dein Vater…nun, ich denke, er leidet tatsächlich irgendwie mit dir. Möchte aber vor dir keine Schwäche zeigen. Stoß sie nicht weg, wenn sie alle nur dein Bestes wollen…“ Ich sah Sean an, der in diesem Moment so unglaublich viel Ähnlichkeit mit Taylor hatte und dann brach alles in sich zusammen. Die Schutzwand, die ich feinsäuberlich errichtete hatte, um den vollständigen Schmerz abzublocken fiel und Sturzbäche von Tränen rannen über meine Wangen. „Wieso reiche ich Ihm nicht?“ Er zog mich in seine Arme und reichte mir ein Taschentuch. Es dauerte wohl so um die zehn Minuten bis ich mich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, dann sah ich ihn an und nickte dankend. Ich hatte nicht geahnt, was für ein wunderbarer Freund er mir in den letzten Wochen geworden war. „Er fehlt mir so wahnsinnig…“ „Glaub mir, du fehlst ihm ebenso sehr. Er ist nur…er ist eben Taylor Wood. Und er weiß auch, dass du ihn liebst.“ „Nur scheint ihm genau das einfach nicht genug zu sein.“ Ich erhob mich und brachte ein gekünsteltes Lächeln zustande. „Darum geht es bei der ganzen Sache doch nicht. Es ist eine völlig andere Situation, die ihn dazu gedrängt hat…“ „Sag Carly, bitte, dass ich zu schätzen weiß, was sie für mich getan hat. Aber ich werde jetzt nach Hause fahren. Ich ruf mir am Pier ein Taxi.“ „Ich kann dich…“ „Nein, Sean, das ist lieb gemeint, aber ich muss jetzt... Ich brauche Zeit… Danke, noch mal. …Und, bitte, kein Wort davon zu Taylor.“ Ich drehte mich nicht noch einmal zu ihm um, schnappte mir nur meine Schuhe und legte die Strecke zum Pier zu Fuß zurück. Als ich im Taxi saß und das Fenster einen Spalt breit öffnete, hörte ich es. Das Heulen eines Wolfes und es ließ mein Herz in tausend Stücke zersplittern.

 

15. August

Heute hat das hübsche, junge Mädchen bitterlich geweint. Mein Herz riss fast entzwei, als ich sie im Traum am Strand habe sitzen sehen. Irgendetwas oder irgendjemand muss sie ganz furchtbar verletzt haben. Als die Tränen über ihr Gesicht liefen, wollte ich sie fest in die Arme nehmen, wollte sie trösten und ihr Halt geben. Sie sagte jemandem, dass sie im Moment eine Mutter bräuchte, die aber nicht mehr da wäre. Es muss grausam sein, in solchen Momenten allein zu sein. Ohne mütterlichen Rat, ohne den Trost, den man so dringend bräuchte. Ich hätte ihr, wenn sie meine Tochter wäre, diesen Rat gegeben: „Niemand kann dir versprechen, dass er dich nicht irgendwann verletzen, enttäuschen oder traurig machen wird. Doch auf jeden Schmerz, auf jede Träne folgt ein glücklicher Moment. Es ist hart von den Menschen enttäuscht zu werden, die man liebt, doch auch sie sind nur Menschen. Jeder macht Fehler, jeder trifft eine Entscheidung, die einem anderen nicht gefallen wird. Man kann es niemals allen recht machen. Aber man sollte sich von so etwas auch niemals unterkriegen lassen. Jede Enttäuschung macht uns stärker, lässt uns über uns selbst hinaus wachsen. Im ersten Moment ist es schmerzhaft und man darf auch darüber weinen, aber man darf nicht vergessen, dass man nur ein Leben hat. Und jeder, der uns verletzt, hat auch die Chance es wieder gutzumachen, wenn ihm klar wird, dass er einen Fehler begangen hat. Also vergiss nicht, dass dein Leben kostbar ist und du es nicht all zu lange mit Trauer verbringen solltest.“ Ich hätte ihr gern geholfen. Vielleicht wird alles wieder gut. Ich wünsche es ihr so sehr.

 

„Dad, kannst du mich heute bei der Autohandlung absetzen?“ Mein Vater sah erstaunt von seiner Zeitung auf, die er neuerdings zum Frühstück zu lesen pflegte. Es war Samstagmorgen und es war erst einige Tage her, dass ich mit Sean am Strand gesessen hatte. Ich hatte seither nicht viele Worte mit meinem Vater gewechselt, doch es war an der Zeit nach vorn zu sehen. Taylor würde nicht zu mir zurückkommen und ich musste endlich etwas für meine Selbstständigkeit tun. Und so hatte ich beschlossen diesen Neuanfang mit einem Gebrauchtwagen zu beginnen. Ich hatte zwar noch nicht ganz so viel Geld zusammen, wie ich brauchte, aber vielleicht konnte ich etwas feilschen oder eine Ratenzahlung vereinbaren. Schließlich war der Besitzer der Autohandlung mal ein Verehrer meiner Mutter gewesen und auch heute noch ein Freund meines Vaters. Für irgendwas musste das ja auch mal gut sein, oder? „Sicher, soll ich dir vielleicht bei der Auswahl helfen? Ich meine, wegen dem Technikkram, wie du es immer so gern bezeichnest.“ Wirklich viel Ahnung hatte ich davon tatsächlich nicht. „Ja, gut, aber ansonsten hältst du dich doch raus, ja?“ „Versprochen.“ „Schön, wollen wir so gegen Zehn los?“ „Ist gut, Lils.“ „Danke, Dad“, sagte ich und drückte ihm einen Kuss auf die Wange, um mir dann noch eine Tasse Kaffee zu holen.
 

Bereits drei Stunden später verließ ich als glückliche Besitzerin eines nachtblauen Skoda Fabia, mit meinem fahrbaren Untersatz den Platz der Autohandlung. Ich hatte einen guten Preis herausgeschlagen und mein Vater hatte die Technik auch für 1a befunden. Da ich sogar noch etwas Geld übrig hatte, beschloss ich zu Carly zu fahren und sie ins George einzuladen. Als Dankeschön und natürlich zum Feiern. Mein Vater blieb noch etwas bei seinem Freund, unterhielt sich mit ihm und winkte mir zufrieden lächelnd nach. So etwas nannte ich mal einen guten Neuanfang. Strahlend blauer Himmel, ein schicker Gebrauchtwagen, der erst zwei Jahre alt war, und die Aussicht auf einen schönen Tag mit meiner Freundin. Was konnte diesen Tag noch kaputt machen?
 

Ich konnte gerade noch reagieren, als direkt vor mir ein schwarzes Ungetüm auf die leere Straße sprang. Meine Bremsen quietschten und ich kam leicht schräg auf der Fahrbahn zum Stehen. Seine Augen brannten sich in mein Gehirn. Die Zähne waren gebleckt, was sein Gesicht zu einer schaurigen Fratze werden ließ; die Krallen ausgefahren, bereit zu töten; die Beine leicht angewinkelt, bereit zum Sprung. Es trennte uns nur eine Armlänge und ich begann stoßweise zu atmen. Meine Hände, noch immer ums Lenkrad gekrallt, zitterten und dann blinzelte ich und er war weg. Was zur Hölle, hatte das zu bedeuten? Eben noch sah er aus, als würde er gleich durch die Frontscheibe springen wollen und dann verschwand er so blitzschnell wie er gekommen war? Meine rechte Hand tastete sich zum Beifahrersitz, wühlte in der Tasche und zog dann mein Handy hervor. Ich drückte auf die Kurzwahltaste und wagte es nicht meine Augen von der Straße zu nehmen. Es tutete nur einmal, dann hörte ich die vertraute Stimme und sank erschöpft in meinem Sitz zusammen. „Lilly?“, fragte er und ich wollte am liebsten durch den Hörer steigen, um mich von ihm einhüllen und festhalten zu lassen. „Tut mir leid, ich wusste nicht, wen ich sonst anrufen sollte…“ Schweigen am anderen Ende, er wartete. Meine Stimme zitterte leicht, als ich weitersprach: „Er war hier. Kannst du herkommen, bitte?“ „Wo bist du?“ Ich seufzte erleichtert. Was hatte ich denn erwartet? Dass er mir eine Szene machte, mich abwimmelte, einfach auflegte? „Auf der Hauptstraße, ungefähr ein oder zwei Kilometer hinter der Autohandlung von Mr. Kennedy.“ „Ich weiß schon, bleib wo du bist. Ich beeil mich.“ Dann knackte es kurz in der Leitung und es tutete schnell hintereinander. Er hatte aufgelegt und wieder überkam mich das Gefühl der Einsamkeit. Das war es also mit dem Neuanfang. Alles war wieder wie vorher und ich saß klein und ängstlich in meinem Auto und wartete darauf, dass mich wieder einmal jemand anderes rettete. Es war vollkommen still um mich herum, bis ich von innen die Zentralverriegelung betätigte. Ein geringer Schutz, aber es half mir ruhiger zu werden. Jetzt bloß nicht hysterisch werden, dachte ich und schloss für ein paar Sekunden die Augen. Kurz bevor ich sie wieder öffnete, betete ich dafür, dass der schwarze Wolf nicht wieder vor mir auf der Straße auftauchte. Er machte aus mir ein Nervenbündel erster Klasse, kam es mir in den Sinn und mit einem Mal verflog die Angst und machte der unbändigen Wut Platz. Furchtbar, wie sehr Er mich in der Hand hatte. Ich war eine Marionette an hauchdünnen Fäden in Seinem Spiel.
 

Die Reifen eines herannahenden Autos quietschten und dann fuhr er rasant um die Kurve, um kurz vor meinem Wagen zu halten. Ich löste die Verriegelung und stieg mit wackligen Knien aus. Das Geräusch seiner zuschlagenden Autotür war noch nicht einmal verklungen, da stand er auch schon vor mir. Mein Herz hüpfte wild auf und ab, doch ich versuchte es zu beruhigen. Schließlich war er nur gekommen, um kurz zu helfen, nicht um mich zurückzunehmen. Er war da, um sein Versprechen zu halten. Nichts weiter. Nachdem ich mir das dreimal vorgebetet hatte, hörte auch mein Herz auf mich. Es verstummte wieder und wurde zu dem harten Klumpen, der es seit dem Abend auf der Veranda war. Aber ich kam nicht umhin zu bemerken, wie sehr mir allein das Glitzern seiner Augen gefehlt hatte, die kleine steile Falte zwischen seinen Augenbrauen, die Art, wie er seine Hände immer wieder kurz zu Fäusten ballte, wenn er nicht genau wusste, was los war. „Ist alles in Ordnung bei dir?“ „Ja“, meinte ich und ging dann auf die Stelle zu, wo der schwarze Wolf noch vor wenigen Minuten gestanden hatte. Ich musste von ihm weg, durfte ihn nicht ansehen, weil sonst mein Herz wieder ein paar Töne von sich gegeben hätte. „Er war hier, direkt vor mir auf der Straße. Zumindest glaube ich, dass Er es war. Er war so schnell wieder weg, dass ich mir nicht ganz sicher bin. Und…“ Ich wagte nicht, ihm direkt in die Augen zu sehen und begnügte mich mit seiner Brust. „Tut mir leid, dass ich dich angerufen habe, aber es war wohl eine eher unbewusste Entscheidung. Weil ich…na ja,…denkst du Er war hier?“ Nicht mit einem Wort erklärte er, ob es ihn störte, dass ich mich gemeldet hatte. Aber sagen, dass es ihn freute, tat er ebenso wenig. Na fein, dachte ich, jetzt fühle ich mich sogar noch beschissener. Stattdessen meinte er: „Ich kann nichts riechen, dass auf Ihn schließen würde, aber das heißt ja nichts.“ „Um ehrlich zu sein schon.“ Ich spürte, wie er mich ansah und betete insgeheim, dass es sich noch ein wenig so hinziehen würde. Er trug eine schwarze Jeans und ein olivefarbenes T-Shirt, zusammen mit seinen geliebten Sneakers. Wie immer sah er gut aus. Mein Blick streifte kurz den seinen und ich sah verlegen zu meinem Wagen. Der Schmerz, der mein Herz schon seit Tagen quälte wurde übermächtig, aber ich genoss es. Denn schließlich war er hier. Allein seine Stimme war so wundervoll anzuhören. Er hatte damals also doch Recht: Ich war masochistisch veranlagt. Wäre es mir möglich gewesen, ich hätte mich in seine Stimme gehüllt, und mich auf ewig nach seinen Worten verzehrt. „Es bedeutet, dass jetzt auch die letzte Sicherung bei mir durchgeknallt ist“, wisperte ich und kehrte zu meinem Auto zurück. „Nochmals, tut mir leid, dass du herkommen musstest. Ich hab nicht viel nachgedacht. Danke.“ Ich stieg ein und schlug die Tür fest hinter mir zu. Als ich den Schlüssel herumdrehte und der Motor ansprang, wartete ich noch wenige Atemzüge. Vielleicht würde er mir doch noch etwas sagen wollen. Ein »schon gut« oder »macht doch nichts«. Selbst ein »Okay« wäre für mich ausreichend gewesen. Aber ich wartete vergeblich und fuhr dann los. Die Tränen drängte ich wie immer zurück. Es war bereits zu einer Art Reflex geworden. Der feste Klumpen, der sich anstelle eines Herzens in meiner Brust befand, wollte sich kurz regen, weil ich an Taylors wundervolles Gesicht dachte, an das behütete Gefühl, wenn ich in seinen starken, warmen Armen lag. Doch ich ermahnte ihn und er trollte sich in seine dunkle Ecke zurück. Noch mehr würde ich einfach nicht ertragen können und ich wollte es auch nicht. Ich fuhr an Carlys Haus vorbei, als ich die silberne Maschine in der Auffahrt stehen sah. Ein erfreuliches Bild, dann fuhr ich weiter und entschied mich für den Strand. Vielleicht, dachte ich, als ich barfuss das Ufer entlangschritt, ist das auch besser so. Ich bereute nicht einen Moment mit Taylor, nicht eine einzige Sekunde. Doch was war, wenn er uns damit nur noch mehr Schmerz und Leid erspart hatte? Was, wenn er mit dieser Trennung unser beider Leben gerettet hatte? Ich war ihm deswegen nie ernsthaft böse gewesen, nur eben verletzt, weil er diese Entscheidung allein gefällt und mich dann damit konfrontiert hatte, ohne einen Einwand gelten zu lassen.

 

Als ich nach anderthalb Stunden zu meinem Wagen zurückkehrte, klingelte dort bereits mein Handy. Ich sah auf das Display und ging ran. „Hey, Sean, was gibt‘s?“ Er klang atemlos. „Gott sei Dank… Sag mal, ist Taylor bei dir?“ „Nein, wieso? Ist was passiert?“ „Ich hoffe nicht, es ist nur… Sein Auto steht hier verlassen auf der Straße, sein Handy liegt auf dem Beifahrersitz und die Letzte, die ihn angerufen hat…“ „War ich. Ja, aber ich bin wieder gefahren. Hab mich aber nicht danach umgesehen, ob er ebenfalls gefahren ist. Was er ja nicht zu sein scheint. Wo bist du jetzt? Noch bei seinem Auto?“ Ich startete bereits den Motor und legte den Rückwärtsgang ein. „Ja, aber ich wollte jetzt weiter fahren und nach ihm suchen.“ „Ich würde gern helfen. Kannst du bei mir zu Hause vorbei kommen, dann fahren wir zusammen. Vier Augen sehen mehr als Zwei.“ „Und es wäre vielleicht auch ganz hilfreich, dass du ihn verstehst, wenn er als Wolf eine Nachricht schickt. Ich müsste mich erst verwandeln. Ist gut, wir treffen uns bei dir!“ Schon hatte er aufgelegt und ich trat das Gaspedal kräftig durch. Wenn Taylor etwas zugestoßen war, dann wäre das allein meine Schuld. Ich hatte ihn angerufen, ihn zu dieser Stelle gebeten und ihn einfach so stehen lassen. Der schwarze Wolf, schoss es mir durch den Kopf. Er war also doch da gewesen und ich, dumme Kuh, hatte ihm Taylor auf dem Silbertablett serviert. „Das wirst Du mir büßen“, schrie ich, „Wenn Du ihn auch nur angefasst hast, dann…“ Ich bog in unsere Straße ein, parkte in der Auffahrt und lief in die Garage. Irgendwo musste mein Vater noch ein Stilett haben. Und wenn ich diesem Wolf schon begegnen musste, dann nicht ohne Waffe. Nur wenige Augenblicke nachdem ich den Dolch in meiner Tasche verstaut hatte, hielt ein silberner Skoda vor unserem Haus. Ich wartete nicht lange, stieg zu Sean und schon fuhr er weiter.
 

„Hast du eine Ahnung, wo er sein könnte?“, fragte er mich und ich erzählte, was vorhin vorgefallen war. „Ich bin an allem Schuld, Sean, es tut mir leid. Wenn ich ihn nicht…“ „Ihr seid euch viel ähnlicher, als ihr denkt, echt. Hör auf, dir selbst Schuldgefühle einzureden. Du hattest doch keine Ahnung, dass Der so etwas vorhatte. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass Taylor auf eigene Faust gehandelt hat und Ihm hinterher gehechtet ist. Wie ich ihn kenne, hat er dich beruhigen wollen, gesagt der Wolf sei nicht da und sobald du außer Gefahr warst, die Fährte aufgenommen.“ Sein Handy klingelte, er sah aufs Display und drückte auf die Auflegen-Taste. Wir schwiegen und ich hatte das Fenster der Beifahrerseite heruntergelassen, um jeden Fetzen eines Heulens oder Hilferufs Taylors aufzuschnappen. Sean fuhr ebenso rasant, wie ich es vorhin war. Ich mochte gar nicht daran denken, wenn wir zu spät kamen. Wieder klingelte sein Handy, bereits zum fünften Mal. „Du solltest rangehen“, wisperte ich. „Dafür hab ich jetzt keine Zeit und ich muss die Leitung freihalten, falls mein Vater sich meldet.“ „Carly?“ Er blickte mit leicht zusammengekniffenen Augen aus der Frontscheibe und antwortete nicht. „Du solltest rangehen. Sean, glaub mir, wenn du sie immer wieder wegdrückst, wird sie sich nur noch mehr Sorgen machen. Sag ihr, du rufst zurück, sobald du Zeit hast. Es ist nicht leicht für sie, wenn du sie ausschließt…“ Er seufzte, warf mir einen kurzen Blick zu und ging dann ran, als es das nächste Mal klingelte. „Hey.“ Carly sprach und er hörte aufmerksam zu. „Ja, ich… Tut mir leid, aber mein Bruder ist verschwunden. Lilly und ich suchen ihn gerade. Ich muss die Leitung freihalten, falls sich mein Vater mit Neuigkeiten meldet. Das darfst du nicht persönlich nehmen, okay?“ Sie antwortete und ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. „Danke.“ Wieder sie. „Ist gut, das mach ich. Bis später.“ Er legte auf und fuhr dann rasant Richtung Wälder. Ich lauschte gespannt, doch da war gar nichts zu hören. Weder ein Wolf noch Vogelgezwitscher oder andere Tiere. Als wären wir in vollkommener Stille gefangen. Wie im Auge eines Sturms. „Du hattest Recht, danke“, meinte Sean dann leise und ich blickte erstaunt zu ihm. „Gern geschehen. Aber ich weiß ja, wie es auf der anderen Seite ist. …Du solltest ihr irgendwann die ganze Geschichte erzählen.“ „Nichts gegen dich, aber ich will nicht, dass sie da so reingezogen wird, wie du.“ „Erstens, mein Lieber, würde sie das nicht und zweitens ist es um einiges schlimmer, wenn man von gar nichts weiß. Sie spürt, dass es da etwas gibt, dass du ihr nicht erzählst und sie hat Angst, dass sie dich dadurch verliert. Carly ist eine starke Persönlichkeit, sie verkraftet die Wahrheit. Oder willst du, dass sie es eines Tages selbst herausfindet?“ „Was, so wie du?“ Er lachte leise. „Na ja, passieren kann es doch. So vorsichtig, wie ihr immer denkt, seid ihr gar nicht.“ Sean sah mich mit Schmollmund an und ich musste mir das erste ehrliche Lachen seit Tagen verkneifen. Gerade wollte er etwas entgegnen, als… „Halt an!“ Er trat fest auf die Bremse und die Räder des Wagens hinterließen tiefe Spuren auf dem Waldboden. Ich stieg aus und blickte in die Richtung aus der ich die Geräusche vermutete. „Ist er da?“ „Ich bin mir nicht sicher, ich…“ Sean stellte sich neben mich und versuchte auf seine Weise nach seinem Bruder zu suchen. „Das ist nicht Taylor…“ „Er wird das Auto gehört haben und verhält sich jetzt ruhig“, flüsterte ich und Sean nickte. Ich wusste einfach, dass es so war. Mein Gefühl sagte es mir, doch das steigerte auch die Angst um Taylors Zustand. „Wir sollten deinen Vater anrufen.“ „Nein, Lilly, das dauert zu lange. Bleib du hier, ich gehe näher ran und versuche was rauszukriegen.“ „Du denkst doch nicht ernsthaft, dass ich hier in aller Ruhe stehen bleibe, während Taylor vielleicht gerade getötet wird?“ „Einen Versuch war es ja wert. …Na dann, komm!“

Wir hatten uns einige Meter herangeschlichen. Albern, wenn man bedachte, dass es sich um einen Wolf handelte, der das Jagen und Töten blind beherrschte. Er hatte uns hundertpro bereits gewittert. Ich sollte Recht behalten. Das schwarze Monster saß auf einem Baumstumpf und blickte uns direkt ins Gesicht, als wir nah genug dran waren. „Ich dachte, ihr wärt schneller. Du enttäuscht mich wirklich, Lilly. Gerade von dir, hatte ich mehr erwartet“, knurrte er und ich spürte, wie Sean mir einen Seitenblick zuwarf. „Er hat auf uns gewartet“, erklärte ich ihm und ließ unser Gegenüber nicht aus den Augen. Ich blinzelte, da hatte sich Sean bereits in den wunderschönen dunkelbraunen Wolf verwandelt. Anscheinend wollte er sich nicht ständig übersetzen lassen, was der Wolf sagte. „Wo ist Taylor?“, fragte ich und erntete damit nur eine ekelhaft verzogene Fratze, als er kurz die Zähne bleckte. „Sag schon. Wo ist mein Bruder?“, wiederholte Sean. „Tja, wer weiß das schon. Hier oder dort. Er könnte überall sein. Lebendig oder tot.“ Wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, hätte er wahrscheinlich noch ahnungslos die Schultern gehoben. Es war widerlich und ich wollte ihm am liebsten eigenhändig sein blödes Grinsen aus dem Gesicht prügeln. Ihm irgendetwas gegen seinen Schädel schlagen oder werfen. „Vielleicht jedoch könntet ihr ihn noch retten…“ Sean schabte mit seinen Pfoten über den feuchten Waldboden und zog seinen Kopf zwischen die Schulterblätter, bereit zum Sprung. Ich legte beruhigend eine Hand in seinen Nacken, der sich ein Stück höher als mein Kopf befand. „Ich könnte es euch sagen, aber was bekomme ich dafür?“, meinte der Schwarze und blickte mir direkt in die Augen. Natürlich, zwei Fliegen mit einer Klappe, dachte ich. Uns blieben wahrscheinlich nur noch wenige Minuten, ehe Taylors Kraftreserven aufgebraucht waren. Wir mussten handeln. „Was willst du?“, fragte ich und hörte Sean aufgeregt knurren. Er wollte es nicht, aber was blieb uns schon anderes übrig? Wir wussten schließlich nicht, was Er mit Taylor gemacht hatte. In welcher Verfassung sich dieser befand. Der schwarze Wolf erhob sich und schlich bedrohlich auf uns zu. „Wenn du schon fragst“, begann er und ich verdrehte die Augen, „dann werde ich dir meine spontane Idee präsentieren.“ Spontan? Dass ich nicht lache. Es war von Anfang an alles so geplant gewesen und wir waren natürlich direkt in Sein Spiel hineingetappt. „Ich werde deinem kleinen Begleiter sagen, wo sich sein süßer Bruder befindet und dafür bekomme ich zehn Minuten allein mit dir. Nur wir zwei, was sagst du?“ Es war meine Schuld, dass das alles passiert war, also würde ich alles tun, um die Familie Wood zusammen zu halten. „Unter einer Bedingung!“ Sean knurrte und stieß mich sachte mit seinem Kopf zurück, doch ich achtete nicht auf ihn. „Du wirst mich nicht verwandeln.“ „Na ja, da du irgendwann sowieso von ganz allein auf mich zukommen wirst, kann ich mit diesem Handel durchaus leben. Abgemacht!“ „Abgemacht! Also, wo ist er?“ Es war mucksmäuschenstill um uns herum und ich fühlte, wie sich die feinen Härchen in meinem Nacken aufstellten, als Er endlich damit herausrückte. „Fünf Kilometer von hier entfernt befindet sich eine kleine Lichtung, rechts davon wird er einen Baumstumpf vorfinden. Ein kleines Stückchen dahinter befindet sich ein trockener Graben, in diesem Graben ist ein Loch, groß genug für einen Wolf.“ Du Scheusal, dachte ich und Tränen stiegen in mir auf. „In diesem Loch liegt dein, ach so geliebtes, kleines Schoßhündchen. Es ist natürlich zugeschüttet, aber…“, er wandte sich zu Sean, „du wirst ihn da schon irgendwie rausgebuddelt kriegen. Und wenn du uns nun entschuldigst, aber ich habe ja nur zehn Minuten mit Lilly.“ Sean blickte mich aus traurigen dunkelgrünen Augen an, hin- und hergerissen, was er nun tun sollte. Er wollte seinen Bruder retten, mich jedoch nicht hier allein zurücklassen. Ich kraulte die Stelle zwischen seinen Ohren und flüsterte: „Keine Sorge. Er mag kein guter Wolf sein, aber ich denke, er hält sein Wort. Und Taylors Leben ist jetzt soviel wichtiger. Wenn er nicht da ist, gib mir bescheid. Und nun lauf schon, wir haben nicht viel Zeit!“ Ein paar Atemzüge lang blieb er bewegungslos vor mir stehen, dann nickte er resignierend, sprang über den schwarzen Wolf hinweg und verschwand in den dunklen Wäldern. „So, so. Du vertraust also meinem Wort, kleine Lilly?“ „Nein, aber er wäre nicht gegangen, wenn ich ihm das gesagt hätte. Und Sean und sein Vater haben genug durchgemacht, sie müssen nicht auch noch Taylor verlieren.“ „Du opferst dich, obwohl er dich verlassen hat?“ Er kreiste wie ein hungriger Löwe um mich herum. „Wenn ihm das das Leben rettet…“ „Aber ich habe deinen Zorn gespürt. Du warst so wütend und verletzt. Er hat es gar nicht verdient, dass du ihm hilfst.“ „Du hast Recht, ich war es. Aber so sind Menschen nun mal, das verstehst du nicht.“ Er blieb abrupt vor mir stehen, beobachtete mich aus seinen schwarzen kalten Augen. „Ich war auch mal ein Mensch, aber das ist Ewigkeiten her. Niedere Kreaturen, die ein Leben lang Träumen nachjagen. Aber als Wolf ist man frei. Es gibt keine Regeln, außer man stellt sich selbst welche auf. Und du bist niemandem Rechenschaft schuldig.“ Bilder tanzten vor meinen Augen: Freiheit, Laufen und Springen, wie, wann und wo man wollte, Wälder, Flüsse, Berge, Graslandschaften von Horizont zu Horizont. „Und trotzdem gibst du dich mit mir ab… Mit einer niederen Kreatur.“ Er entblößte eine Seite seiner Zähne. „Nun, du… Du bist eine besondere Ausnahme. Allein die Kraft, die du ausstrahltest, als ich mich in der Nähe eurer kleinen Stadt befand, war enorm. Und jetzt, wo du so nah vor mir stehst, kann ich sie fast schmecken. Wirklich beachtlich, dass ein einfacher Mensch so viel Stärke besitzt. Hätte ich es nicht selbst gespürt und gesehen, ich würde es nicht glauben.“ Ich lauschte nebenbei auf die Geräusche des Waldes. Doch noch immer kein Zeichen von Sean. Was nur war da los? Müsste er nicht längst dort angekommen sein? Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. „Wie tief ist das Loch?“, fragte ich und begann zu zittern. „Na ja, es musste natürlich tief genug sein, um ihn vollständig da unterzubringen. Fünf…sechs Meter. Oder war es tiefer? Ich weiß nicht mehr so genau…“ „Du Mistkerl“, schrie ich und schlug mit meinen Fäusten auf seine Flanke ein. Es störte ihn nicht. Stattdessen lachte Er sogar. „Ach ja, das ist immer wieder erheiternd. Wenn Menschen denken, sie könnten etwas gegen einen Wolf ausrichten. Mit ihren kleinen Händen und Füßen. Ach, Lilly…“ Er stieß mich mit dem Kopf zu Boden und drückte meine Arme in die Erde, indem er seine Pranken draufstellte. Seine Hinterläufe blockierten gleichzeitig meine Beine, damit ich nicht nach Ihm treten konnte. „Wir haben doch nur noch fünf Minuten miteinander und du machst es uns so schwer.“ „Wenn Taylor stirbt, dann…“ „Was dann? Willst du ihn rächen?“ „Du wirst dir wünschen, niemals hergekommen zu sein.“ „Oh, mir schlottern schon die Knie. Bringen wir es also hinter uns. Wie hättest du es gern? Nacken, Hals, dein Bein? Was letztes Mal übrigens sehr gut ausgesehen hat.“ Angewidert wandte ich mich von seiner Zunge ab, die langsam über sein Maul fuhr. Ich versuchte mich aus Seinem festen Griff zu befreien, stemmte mich mit aller Kraft, die mein Körper aufbringen konnte, entgegen. Doch es rührte sich nichts. Meine Tasche mit dem Stilett lag ein ganzes Stück von mir entfernt. Sie war heruntergefallen, als Er mich zu Boden gestoßen hatte. Selbst wenn ich mich hätte befreien können, so würde ich niemals bis dorthin kommen, um es ihm in den Körper zu rammen. Denk nach, Lilly, denk nach. Wie könnte ich ihn ablenken? Nur ein paar Sekunden. Wieder entblößte Er seine Zähne und kam mit seinem Maul bedrohlich nahe. Merkwürdigerweise fühlte ich nicht mal Angst, da war gar nichts. Ich hoffte nur, dass Sean Taylor würde retten können. Sonst nichts. Wenn Kenneth noch ein Familienmitglied verlieren würde,…das könnte ich nicht ertragen. „Nun sag schon“, drängte der Wolf über mir. Ich blickte zu ihm auf und schluckte. Es gab nur diese eine Chance. Wenn ich die vertue, dann ist es aus, dachte ich. „Ich bevorzuge den Nacken.“ „Wirklich hochinteressant. Diese Stelle nehmen nur wenige. Aber du überrascht mich ja immer wieder, kleine Lilly.“ Er erlöste mich endlich von seinem Gewicht und das war der Augenblick, den ich brauchte. Ich schlüpfte unter seinem Bauch hindurch, warf mich auf meine Tasche und zückte den Dolch. Gerade wollte ich mich umdrehen, weil ich bereits seinen heißen Atem durch meine Kleidung spürte, bereit ihm die Waffe in jedes beliebige Körperteil zu stoßen, als er laut aufjaulte. Ein weiterer Wolf war zu uns gestoßen und hatte sich mit voller Wucht mit dem Kopf gegen ihn geworfen, sodass Er gegen einen Baum geprallt war. Der schwarze Wolf krümmte sich auf dem Waldboden, wimmerte vor Schmerz und ich sah das stolze Tier vor mir. Dessen Flanken hoben und senkten sich mit seinem rasselnden Atem, sein Fell war voll dunkler Erde und Blut, doch er fixierte seinen Gegner, den Kopf leicht geduckt. Mein Herz raste vor Erleichterung und erst jetzt spürte ich die kalte feuchte Schnauze Seans, die sich unter meinen Arm schob und mir aufhalf. Noch immer umklammerte ich den Dolch und ging dann vorsichtig zu Taylor. Sean wollte mich zurückhalten, biss ganz vorsichtig in den Bund meines Pullovers, doch ich schüttelte leicht den Kopf. Streichelte die Stelle zwischen seinen Augen und er ließ mich gehen.

Ich berührte sachte das Fell an Taylors Rücken, strich weiter, während ich mich neben ihn stellte und dann meine Hand hinter seinem linken Ohr ruhen ließ. Er wurde ruhiger und wandte seinen Kopf leicht zu mir um, sodass er aus dem Augenwinkel aber noch immer den Schwarzen unter Kontrolle hatte. Auch in seinen Mundwinkeln klebte Blut. „Bist du schwer verletzt?“, fragte ich zaghaft, meine Stimme klang brüchig. In seinem braunen glänzenden Auge konnte ich mein Spiegelbild sehen, er knurrte leise. „Nein, und du?“ Ich ahnte schon, dass er log, denn das Blut bewies mir eindeutig das Gegenteil. Es verklebte einige Stellen seines Felles und am liebsten hätte ich ihn hier auf der Stelle untersucht. „Du hast mich doch gerettet. Es geht mir bestens…jetzt.“ „Ist das nicht niedlich?“, keuchte der Wolf vor uns und ich zog meine Augenbrauen zusammen. „Endlich wiedervereint. Das sollten wir feiern, findet ihr nicht?“ Mühsam erhob er sich. Seine rechte Vorderpfote schien verletzt zu sein, da er diese nicht auf dem Boden aufsetzte. Taylor schob bereits seinen Körper vor mich, er würde sich auf ihn stürzen und genau das musste ich verhindern. In diesem Zustand würde er verlieren, das wussten wir alle. Ich kraulte ihn sanft hinter dem Ohr und meinte entschlossen: „Deine zehn Minuten sind vorüber. Verschwinde!“ Er fletschte seine Zähne und blickte mich direkt an. „Denk an meine Worte, kleine Lilly. Wir wissen beide, dass du eines Tages freiwillig zu mir kommen wirst. Du wirst eine Wölfin, so oder so.“ Mit diesen Worten wandte er sich von uns ab und lief, so schnell er es mit drei Beinen konnte, tiefer in den Wald. Wir drei sahen ihm nach, bis er nicht mehr zu erkennen war. Dann jaulte Taylor leise auf und brach zusammen. Seine Beine knickten einfach unter ihm weg und er ließ sich bereitwillig fallen. Es musste schlimmer sein, als ich vermutet hatte. „Bringen wir ihn nach Hause“, wisperte ich Sean zu und streichelte Taylor beruhigend über seine Flanke.

 

Ihm war schrecklich kalt. Aber wie sollte es auch anders sein, wenn die Sonne verschwand? Normalerweise hätte ihm seine Körpertemperatur ausgereicht bis sie endlich wiederkehrte, doch heute… Es war alles anders. Er lag einfach da, spürte nichts als Kälte und war sogar zu schwach, um seine Augen zu öffnen. Aber selbst wenn er die Kraft dazu gehabt hätte, hätte er es nicht getan. Wozu auch? Die Sonne war weg. So wie es ihm vorkam schon eine Ewigkeit, aber zeitlich gesehen konnten es maximal zwei Stunden sein, die sie jetzt fort war. In letzter Zeit war sie immer in seiner Nähe gewesen und selbst dann sehnte er sich nach ihrer Wärme. Vielleicht war es mehr eine…Sucht. Ja, das erklärte es wohl besser. Doch jetzt fehlte ihm seine Droge. Ihre Strahlen waren zwar stark, doch so weit reichten sie einfach nicht. Eine Stimme drang an sein Ohr. Gemurmel, sollte man es wohl eher nennen. Es war tief, vielleicht sein Vater. Jemand berührte seine Stirn, hob seinen Kopf, um das Kissen zu richten. Doch wo war es? Das Licht, das ihm die Kraft geben würde aufzustehen. Dann hörte er ein weiteres Gemurmel, ebenfalls tief, doch höher als das Erste. Sean. Sie unterhielten sich leise, doch in seinen Ohren klang es so, als würden sie sich anbrüllen. Er verstand keine einzelnen Worte, doch das stete Brummen war nervenaufreibend. Seid doch still, wollte er sagen, doch auch sein Mund war wie eingefroren. Die beiden verschwanden endlich und ließen ihn in der Kälte allein zurück. Er brauchte die Sonne, dringender als die Luft zum Atmen. Ihn überfiel ein solch heftiges Zittern, als läge er in Eiswasser. Nur ein Strahl, ein einfacher Strahl und er wäre erlöst. Wieder verging eine Ewigkeit. Die Minuten krochen zäh dahin und noch immer keine Wärme. Er wollte so gern nach ihr rufen, sie anflehen, sie möge doch zurückkehren. Ihn befreien aus dem Eiskäfig. Doch er blieb stumm. Das Zittern erreichte seinen Höhepunkt, wahrscheinlich waren seine Lippen bereits blau angelaufen. Und dann endlich öffnete sich die Tür und das Licht erfüllte jeden noch so dunklen Winkel des Zimmers. Ihre Strahlen durchdrangen seine Haut, fluteten sein Herz. Sie war so schön. Selbst wenn er die Augen geschlossen hatte, konnte er sie vor sich sehen. Jede Faser seines Körpers streckte sich ihr entgegen, als sie seine Hand berührte. Ihre weiche Haut, die sonst kälter war als die seine, fühlte sich plötzlich so unglaublich heiß an. Er genoss ihre Nähe und versuchte jeden Strahl in sich aufzunehmen, um endlich genug Kraft zu sammeln. „Es tut mir so leid“, wisperte sie und ihre Stimme klang wie Musik in seinen Ohren. „Wenn ich gewusst hätte, was Er vorhat… Ich schwöre, ich hätte dich doch niemals angerufen.“ Wieso fühlte sie sich schuldig? Er war der Dummkopf gewesen, der sie fortgeschickt hatte. Die Tage ohne sie waren unerträglich gewesen. In seinem Zimmer hatte er sich verkrochen bis zu dem Tag, als auf dem Display des Handys ihr Name erschienen war. Nie hatte sein Herz kräftiger geschlagen als in diesem Moment. Und als er später aus dem Auto ausgestiegen war und sie vor ihm stand, da wollte er sie anflehen ihm zu verzeihen. Ihn zurückzunehmen, weil er ohne sie nicht er selbst war. Doch dann hatte er ihr Herz gehört. Erst hüpfte es vor Freude und dann erstarrte es beinahe. Er hatte sie zutiefst verletzt und sie hatte allen Grund auf ihn wütend zu sein. Und jetzt fühlte sie sich schuldig? Das durfte nicht sein, das war nicht richtig! Sie entzog ihm langsam ihre Hand. Die Strahlen wurden schwächer. Nein, schrie er innerlich, verlass mich nicht. Sein Griff wurde fester, er hielt sie auf, wollte sie an sich ziehen, doch mehr als leicht ihre Finger zu drücken, funktionierte einfach noch nicht. Geh nicht, flehte er immer wieder in seinem Kopf. Er war so viel abhängiger von ihr, als sie ahnte. Mehr als sie von ihm, das wusste er. Es wurde wärmer, als sie sich neben ihn legte und ihre Finger mit den seinen verschränkte. Ihr langes Haar bedeckte seinen Arm. Floss warm und weich über ihn hinweg. Der Duft, der von ihr ausging, war einfach atemberaubend. Lavendel, ihr Parfum und ihr ganz eigener süßer Körpergeruch. Eine Mischung, die ihm schon so oft den Verstand geraubt hatte. So muss der Himmel sein, dachte er. Sie war alles, was er je brauchte. Es konnte kein Zufall sein, dass sie ausgerechnet hier in Crystal Falls gelandet waren. Nach all den Jahren der Suche, war er endlich dort angekommen, wo er hingehörte. Sie hatte einmal gesagt, dass sie sich geborgen bei ihm fühlte. Und endlich verstand er es, denn auch sie war sein Zuhause. Er roch die salzige Nässe, lange bevor sie ihre eigene Haut berührte. Tränen, auch die hatte er vermisst. Endlich atmete er freier. „Wach, bitte, bald auf, okay? Wir machen uns alle große Sorgen um dich. Mein Vater macht schon Druck, er will, dass ich endlich nach Hause komme. Und ich…ich würde so gern dabei sein, wenn du deine Augen wieder aufmachst. Ich möchte doch nur wissen, ob es dir gut geht… Wir vermissen dich.“ Nicht weinen, Lilly, dachte er und versuchte die Augen zu öffnen. Es fehlte nicht mehr viel, nur noch ein bisschen ihrer Wärme. Die Tür öffnete sich erneut und sie hob ihren Kopf. Ihr Haar strich sanft über seine Haut. Das Zittern, das ihn jetzt erfasste, war anders. Es war um einiges angenehmer. Wieder Gemurmel seines Vaters. „Wieso jetzt?“, fragte sie, „Kannst du ihn nicht…? Nur noch eine halbe Stunde, bitte!“ Er antwortete, es klang nüchtern. Erstaunlich, dass er sie klar und deutlich hörte, seinen Bruder und Vater aber nicht im Geringsten. „Bitte, versuch es doch. Ich spüre einfach, dass es nicht mehr lange dauert. Er…er wird bald aufwachen, ich weiß es einfach.“ Sie schluchzte leise und hob seine Hand an ihre Wange. Sein Vater hatte es noch nie ertragen können ein Mädchen oder eine Frau weinen zu sehen. Leises Murmeln, dann wurde die Tür geschlossen und sie lehnte sich wieder in die Kissen zurück. Eine einzelne Träne rann über seinen Handrücken und hinterließ eine brennende Spur der Sehnsucht auf seiner Haut und in seinem Herzen. „Ich hab die Geduld meines Vaters schon sehr überstrapaziert, Taylor. Ich möchte dich wirklich nicht drängen, aber… Ich kann nicht noch länger bleiben. Deine Familie erträgt mich bestimmt auch nicht mehr. Sie brauchen beide Ruhe.“ Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und setzte sich auf. „Lass deinen Vater nicht mehr warten. Er will dich nicht verlieren. Keiner will das.“ Die Strahlen entfernten sich und er flehte alles an, was ihn in diesem Zustand hören konnte. Sie hauchte: „Auch ich will es nicht!“ Ich will nicht in die Dunkelheit zurück, nicht in die Kälte, dachte er. Sie ist mein Leben, mein Licht. Bitte, lass mich zu ihr, bat er und versuchte nochmals die Augen zu öffnen.

 

„Lilly.“ Ein fast unhörbares Flüstern hielt mich zurück. Ich hatte bereits den Türgriff heruntergedrückt, wollte hinunter gehen und mit meinem Vater nach Hause fahren. Dann ging alles ganz schnell: ich setzte mich neben ihn aufs Bett, umrahmte mit beiden Händen sein Gesicht, hielt seine Wangen und brach wieder mal in Tränen aus. „Du bist wieder da!“ Und als er dann auch noch dieses schiefe Lächeln aufsetzte, konnte ich nicht anders und küsste ihn. Selbst, wenn er mich danach wieder von sich stieß, mir sagte, dass es bei der Trennung blieb, das war es mir wert. Doch stattdessen umschlangen seine Arme meine Taille, er zog mich an sich und erwiderte den Kuss. Meine Hände fuhren durch sein Haar, streichelten seine Wangen, verharrten auf seiner Brust und auf seiner Wange. Während er mich auf den Rücken rollte, mit seinem Körper den meinen bedeckte und mich schützend an sich zog. Ich hatte ganz vergessen, wie weich seine Lippen waren, wie zärtlich seine Zunge, wie wunderbar sein Geruch. Er presste mich fest an sich und dann spürte ich eine vereinzelte Träne von ihm, die an meinem Finger haften blieb. Auch er hatte gelitten. Wären eine Etage tiefer nicht ein paar Leute gewesen, die darauf warteten, dass Taylor aufwachte, ich hätte ihn niemals mehr losgelassen. Er wischte mir die Tränen vom Gesicht, blickte mich mit glänzenden Augen an und hielt mich einfach nur in seinen Armen. „Ich gebe den anderen bescheid…“ „Nein“, seufzte er. „Aber sie müssen doch erfahren…“ „Mein Vater und mein Bruder haben sicher deinen heftigen Herzschlag gehört. Ich bin mir sicher, dass sie ahnen warum. Bitte, geh nicht weg.“ Er sah mich an wie ein Ertrinkender das sichere Festland. Was nur war mit ihm während seiner Bewusstlosigkeit passiert? „Bitte, verzeih mir, Lilly. Ich habe dich beschützen wollen, in dem ich mich von dir trenne und hab es dadurch nur noch schlimmer gemacht. Du warst mit ihm allein, weil du mich retten wolltest. Ich…“ „Scht…“ Ich legte ihm einen Finger über die Lippen und schmiegte meinen Kopf an seine Brust. „Was hältst du davon? Wir vergessen das und starten einen Neuanfang. Du und ich…als Paar?! Keine Entschuldigungen mehr für das, was war. Es ist nun mal passiert und wir können es nicht rückgängig machen.“ „Danke“, wisperte er und umschloss mich nur noch fester. Ich sah zu ihm auf und war verliebter in ihn als je zuvor. Er erwiderte meinen Blick und sagte: „Weißt du, ich hatte viel Zeit zum Nachdenken und ich weiß endlich, was du mit Zuhause meinst. Ich dachte immer, ich habe meinen Vater und Sean und das ist alles, was zählt, aber…dann traf ich dich. Du hast meine Welt komplett gemacht und du gibst mir das Gefühl, genau da zu sein, wo ich hingehöre…“ „Zu Hause“, wisperte ich. „Zu Hause“, bestätigte Taylor und küsste mich auf die Stirn. Wir lagen noch ein oder zwei Minuten einfach so da, als er plötzlich flüsternd fragte: „Willst du meine Frau werden?“ Ich schluckte und kniete mich neben ihn. „Ähm…was?“ Unter leichtem Ächzen richtete er sich auf, blickte mir tief in die Augen und wiederholte: „Willst du meine Frau werden?“ „Wir sind Teenager, Taylor.“ „Es bedeutet doch nicht, dass ich dich gleich morgen zum Altar schleppe. Wenn du es wolltest, ich würde es tun, aber… Wir wären eben verlobt.“ „Geht es dir wirklich gut?“ Er seufzte. „Mir ging es nie besser… Hör zu, Lilly, ich liebe dich so sehr… Und ich möchte dich nicht verlieren. Ich möchte, dass jeder weiß, dass wir zusammengehören. …Als du mir von dem Traum erzählt hast, schienst du nicht so abgeneigt, wie jetzt… Liegt es an deinem Vater?“ „Nein…und ich bin auch jetzt nicht »abgeneigt«… Aber…ich bin siebzehn, Taylor!“ „Soll ich dich an deinem 18. Geburtstag noch mal fragen?“ Ich lachte kurz auf und schlug mir die Hände vors Gesicht. „Willst du mich nicht?“, fragte er vorsichtig und nahm meine Hände in die seinen. „Stell mir nie wieder eine so dumme Frage. Ich liebe dich doch auch und ich will dich für nichts auf der Welt verlieren.“ „Wenn es dir so wichtig ist, dann verraten wir es eben keinem.“ „Eine heimliche Verlobung?“ Taylor zuckte mit den Schultern. „Ich möchte aber nicht, dass du glaubst, dass ich dich verleugnen will“, erklärte ich und strich sanft über seine Wange. „Das denke ich nicht.“ Ich sah ihn eine ganze Weile einfach nur an. Wie konnte ich nur einen Mann wie ihn finden? Aber wenn ich ehrlich war, hatte er mich gefunden. Und deshalb, und weil ich wusste, wie es war ohne ihn zu sein, durfte ich ihn nicht verlieren. Wollte es nicht. Ich biss mir verlegen auf die Unterlippe. „Fragst du noch mal?“ Er setzte sein schiefes Lächeln auf, zog mich fest an sich und fragte leise: „Lillian Connor, willst du meine Frau werden?“ „Ja,…ja, das will ich.“ Er küsste mich ganz sanft. „Ich hätte ja gern einen Ring für dich gehabt, aber das war eine ziemlich spontane Idee und ich war ne ganze Weile ohne Bewusstsein, also…“ Wir lachten beide. „Ich denke, ich werde es überleben. Wichtig ist, dass du endlich wach bist.“ „Wie lange musstest du denn warten?“ Ich drückte ihn in die Kissen zurück und fuhr mit einer Hand durch sein Haar. „Vier Tage, du hast uns echt einen Schrecken eingejagt. Sogar Kenneth hat langsam Angst bekommen.“ „Du duzt ihn?“ Ich nickte langsam und klemmte mir eine meiner Haarsträhnen hinter das Ohr. „Er meinte, da ich sowieso schon so oft bei euch zu Besuch bin und eh fast zur Familie gehöre, könne man das auch so besiegeln. Bei meinem Vater wirst du es allerdings nicht so einfach haben, das kannst du mir glauben.“ „Oje…“ „Er hat täglich angerufen und gefragt, ob er mich endlich nach Hause holen dürfe. Wir konnten ihn immer irgendwie beruhigen, aber heute ist er einfach hier aufgetaucht. Ich habe entweder bei dir geschlafen oder im Gästezimmer übernachtet, aber das hat ihm wohl nicht so gefallen. Er ist dir böse, weil du dich von mir getrennt hast und mich in…“ Ich räusperte mich und fuhr dann fort: „Na ja, sagen wir einfach, er hatte es nicht einfach mit mir in den letzten Tagen. Aber ich denke, er wird sich schon wieder einkriegen. Das hat er am Ende immer, gib ihm ein bisschen Zeit.“ „Dein Auto gefällt mir übrigens sehr.“ „Ja, nicht? Er ist erst zwei Jahre alt und super in Schuss. Die Technik hat mein Vater für 1a befunden und ich habe sogar noch einiges an Geld gespart. Mr. Kennedy wollte gar nicht so viel dafür, wie ich anfangs dachte.“ Er hörte mir aufmerksam zu, streichelte oder küsste mich gelegentlich. Es war, als wären wir nie getrennt gewesen. „Ich sollte jetzt wirklich bescheid geben. Und ich werde mit meinem Vater fahren, okay?“ „Na, schön. Kommst du morgen wieder vorbei?“ „Natürlich. Vielleicht komme ich mit Carly, die wird sich auch freuen, dass du wieder unter uns weilst.“ „Carly?“ „Ja, dein Bruder hat jetzt auch eine Freundin. Und sie weiß über euch bescheid.“ „Tatsächlich?“ „Mhm. Sie hat es sehr gut aufgenommen und ich habe beide, seitdem ich sie kenne, noch nicht glücklicher gesehen.“ „Meine Güte, ich hab ja eine Menge verpasst.“ „Keine Sorge, mein Schatz, das holen wir alles bald wieder auf.“ Ich küsste ihn und fügte hinzu: „Jetzt ruh dich noch ein bisschen aus, ehe die Meute hochkommt. Bis morgen!“ Er lächelte mich an und kuschelte sich in sein Kissen. „Bis morgen!“

„Er ist wieder da“, verkündete ich und wurde stürmisch von Sean umarmt, der kurz darauf mit seinem Vater nach oben verschwand. Mein Vater indessen saß regungslos auf der Couch, blickte zu mir hoch und meinte: „Können wir dann?“ Ich nickte und zog mir meine Schuhe an. „Willst du dich nicht verabschieden?“ „Ach ja… Wiedersehen, Kenneth, Sean und Taylor!“ „Bis morgen und danke!“, riefen sie im Chor zurück und ich öffnete die Haustür. „Na komm, schon. Wir haben doch nicht ewig Zeit, Dad.“ „Haha.“ Mir ging es nie besser. Zum einen war Taylor wieder wach und zum anderen waren wir zusammen, sogar verlobt. Mein Leben verlief wieder in geregelten Bahnen und das mit dem schwarzen Wolf würden wir auch noch hinkriegen. Carly war ebenso in das Geheimnis eingeweiht und ich hatte endlich eine Verbündete, die mit mir durch dick und dünn ging, und mir bei diesem Männerhaushalt beistand.

 

Ich hatte bei Henry gekündigt. Es tat mir leid und die Männer schienen alle ein wenig geknickt zu sein, doch ich wollte mich jetzt wieder meinen Freunden und meiner Familie widmen. Die letzten Tage hatten mich sehr mitgenommen und der Gedanke einen Teil meines Lebens zu verlieren war furchtbar erschreckend gewesen. Mein Vater ließ mich noch weniger aus den Augen, seitdem er wusste, dass Taylor und ich wieder zusammen waren. Er achtete darauf, dass ich nicht zu spät nach Hause kam und nicht allein zu den Woods fuhr. Was in Anbetracht der Tatsache, dass ich ein eigenes Auto hatte, nicht sehr einfach für ihn war. Außerdem arbeitete er ja auch noch in der Praxis und war im Jagdverein. Ich hoffte sehr, dass er sich nicht übernahm. Schließlich war er auch nicht mehr der Jüngste und ich erinnerte mich noch lebhaft an den Abend, als ich ihm davon erzählt hatte, dass Taylor und ich ein Paar waren. Er war purpurrot angelaufen, für mich eine gefährliche Farbe. Doch immer wieder schaffte ich es zu meinem Verlobten, wie war das merkwürdig das zu sagen. Zum Schein war Taylor noch nicht außer Haus unterwegs. Normale Menschen erholten sich schließlich von solchen Wunden nicht so schnell. So verbrachten wir viel Zeit in seinem Zimmer oder mit Sean und Carly, gelegentlich auch Kenneth, draußen. Die Jungs spielten Football und wir Mädels unterhielten uns über sie. Wir waren uns natürlich im Klaren darüber, dass sie es mit ihren guten Ohren hören würden, aber es waren ja keine Geheimnisse. „Habt ihr euch schon überlegt, wie ihr es deinem Vater sagt?“, fragte Carly, nippte an ihrem heißen Kaffee und bedachte meinen Ring mit einem kurzen Nicken. Vor einigen Tagen hatte Taylor ihn mir angesteckt, an der falschen Hand, damit niemand gleich Verdacht schöpfen würde, aber zu Hause nahm ich ihn meistens ab. Sonst trug ich keine Ringe und ich dachte, dass es mein Vater sofort bemerken würde. Er war ja nicht dumm! Es war ein silberner schmaler Ring mit drei kleinen eingefassten weißen Zirkoniasteinen. Wunderschön, einfach und elegant. „Keine Ahnung. Wie sagt man als Highschool-Schülerin seinem Vater, dass man verlobt ist?“ Sie lächelte Sean zu, der ihr kurz zugezwinkert hatte und blickte dann wieder ernst zu mir. „Ich wüsste es auch nicht. Aber so lange solltet ihr es nicht mehr aufschieben. Je länger es dauert, umso schlimmer wird es schließlich.“ „Ich weiß ja, aber… Es ist ja nicht so, dass ich zu ihm gehen und sagen kann: Hey, Dad. Nur das du es weißt, ich bin verlobt mit dem Jungen, den du seit einer Weile nicht mehr leiden kannst. Vielleicht solltest du dich langsam mit ihm arrangieren, denn von ihm bekommst du deine Enkelkinder?! Zumindest eines.“ „Ehrlich und direkt, ich finde das gut“, meinte nun Taylor und ließ sich vor mir auf dem Boden nieder. Sein Bruder warf ihm eine Wasserflasche zu und ich gab ihm einen Klaps gegen die Stirn. „Willst du gleich erschossen werden? Dann nur zu, erzähl es ihm genau so.“ „Apropos, wo wir gerade beim Planen sind…“, eröffnete Carly und blickte mich mit strahlenden Augen an. Ich kannte diesen Blick, der war es, der mich schon viele schlaflose Nächte gekostet hatte. Obwohl ich in letzter Zeit sowieso nicht viel schlief, und es mir deshalb wohl diesmal nichts ausmachen würde. Taylor missfiel dies natürlich - das mit dem nicht schlafen -, aber ich hatte eine Menge aufzuholen und beschlagnahmte ihn jede Nacht. Wir redeten auch, aber die meiste Zeit verbrachte ich damit ihn zu küssen. Weiter traute er sich nicht, weil er Angst hatte, dass er mich, wenn er nur zwei Sekunden nicht aufpasste, ernsthaft verletzen würde. Ich ging da etwas unbedenklicher ran. Schließlich war das Schlimmste eine angebrochene Rippe gewesen und die hatte ich auch verkraftet. Ich hatte es mit allen mir erdenklichen Tricks versucht, aber bisher war er standhaft geblieben. Doch zurück zu Carlys Frage: Ich stellte mich blöd. „Was willst du planen? Die Enkelkinder meines Vaters?“ „Ach, Dummchen. In drei Wochen…? Du erinnerst dich?“ „Dunkel.“ Ich räusperte mich und senkte den Blick. Eine Sache, die ich gern verdrängt hätte und sich wohl dennoch nicht vermeiden ließ. „Was, bitte, meint sie?“, fragte Taylor und stupste mich leicht an. „Du hast es nicht mal ihm erzählt?“ Sie klatschte aufgeregt in die Hände. Für sie war das eine Art Freudenfest, solche Dinge Unwissenden preiszugeben. Aber für mich… Sagen wir mal, ich war nicht unbedingt ein Fan von dieser Art von Feiern. Und schon gar nicht zu dieser Zeit. „Deine Liebste wird 18 in drei Wochen. Etwas, das unbedingt gefeiert werden muss. Also, schieß los, Süße. Ideen? Vorschläge? Wo willst du feiern?“ „Ähm, ich denke…gar nicht?“ „Kommt nicht in die Tüte. Ich durfte schon deinen 16. und 17. Geburtstag nicht so zelebrieren, wie ich es gern getan hätte. Und auch die davor nicht. Mit dem 18. kommst du mir nicht so einfach davon.“ Taylor blickte mich verdutzt an. Ich sah förmlich die Frage in seinem Blick: Wieso erzählst du mir so was nicht? Genau wegen dem, was danach folgte: „Wir könnten hier feiern… Oder am Strand! Da kann man sich doch bestimmt ein Strandhaus mieten. Falls es regnet auch drinnen machbar und Schlafplätze genug für alle, ohne das wir wild campen müssten.“ Wieder klatschender Jubel neben mir. „Ach, wie wunderbar. Endlich mal ein Mann mit konkreten Visionen. Schatz, hast du nicht auch ein paar Vorschläge?“ Sean sah etwas verzweifelt aus. „Weißt du, ich halt mich da zurück. Ich hasse es auch Geburtstage zu feiern. Den meines Vater und meines Bruders okay, aber meinen eigenen oder den von Freunden, nichts für ungut, Lilly, nicht mein Ding…“ Ich stand auf und umarmte ihn. „Du wirst mir immer sympathischer, Sean. Wollen wir uns nicht zusammentun? Wir wären ein schönes Paar.“ „Na, also“, sagte er und zog mich auf seinen Schoß, „das habe ich dir doch von Anfang an gesagt. Endlich kommst du zur Besinnung.“ Er zwinkerte und dann hörten wir beide das tiefe bedrohliche Knurren hinter mir. Wie vom Blitz getroffen drehte ich mich um und hob drohend meinen Zeigefinger. „Sprichst du dieses letzte Wort vollständig in meiner Gegenwart aus, dann kannst du heute Nacht in deinem Bett schlafen. Und die nächste Nacht vielleicht auch.“ Er gab es ja niemals laut zu, doch auch er genoss unsere Nächte. Auch wenn ich ihn mit meinen Experimenten und Tricks wahrscheinlich fast in den Wahnsinn trieb. Na ja, wohl nicht nur fast. Aber ich wusste, dass er eines Tages gar nicht anders können würde. Taylor sank ein Stück in sich zusammen und stieß wütend die Luft aus seiner Lunge. Dann ging ich zu ihm, schlang meine Arme um seinen Nacken und küsste ihn leidenschaftlich. Carly saß verblüfft auf der Bank und blickte Sean überrascht an. „Sie versteht das tatsächlich, ja? Wahnsinn!“ Ich achtete nicht darauf und wisperte Taylor zu: „Du solltest dir doch wohl darüber im Klaren sein, dass du für mich der Einzige sein und für immer bleiben wirst. Und ich muss es wissen, ich hab es bereits gesehen.“ Und wie ich es gesehen hatte. Öfter schon die Hochzeit, unseren Sohn, unser Haus von innen hier in Crystal Falls, ihn und immer wieder ihn. Natürlich erzählte ich ihm von jedem Traum, doch nicht jede Einzelheit - ein paar Überraschungen sollte er ja wohl auch noch erleben dürfen. Sollte nicht nur, er musste. Es gab so wundervolle Dinge in unserer Zukunft… Doch manchmal wünschte ich, ich hätte es noch nicht gesehen. Schließlich fehlte mir dann der Nervenkitzel etwas Neues mit ihm zu erleben. Aber ich freute mich auf seine Reaktionen, sein Gesicht, wenn er das erste Mal seinen Sohn in den Armen hielt, wenn wir unser Haus betraten, wenn mein Vater ihm meine Hand zum Ehebund reichte. Es gab so vieles, dass noch vor uns lag. Und ich konnte es kaum erwarten, auch wenn mir natürlich jeder Moment in der Gegenwart lieb und teuer war. Doch mir war schon aufgefallen, dass sich einige Träume in mancherlei Hinsicht bereits geändert hatten. Wahrscheinlich mit jeder kleinen Entscheidung, die wir trafen oder auch manchmal nur ein einzelner von uns. Vielleicht würde ich dann also doch überrascht werden. Schließlich hatten wir noch einige Jahre vor uns. Die Woods hatten mir erklärt, dass ich keine Art von Hellseherin war, aber dennoch Visionen von der Zukunft erhielt. Sie würden nicht alle so passieren, aber ich bekam einen kleinen Vorgeschmack davon, was noch so auf meine Freunde, meine Familie und mich zukam. „Wie sagen wir es ihm, Taylor? Ich will ihn einfach nicht mehr anlügen. Auch wenn ich weiß, dass er wahrscheinlich tot umfallen wird“, wisperte ich und sah ihm direkt in seine braunen Augen. „Wahrscheinlich ist gerade heraus das Einfachste und auch Beste. Und wir machen es auf jeden Fall gemeinsam, okay? Ich lass dich nicht allein.“ Ich nickte. „Wann?“ „Schlag du was vor!“ „Was hältst du davon, wenn du am Samstag zum Abendessen kommst und wir es ihm danach sagen?! Ich mache sein Lieblingsessen, dann ist er etwas gnädiger gestimmt, hoffe ich.“ „Einverstanden.“ Gut, blieben mir also noch fünf Tage.

 

Jeden Tag wurde ich nervöser. Niemand schaffte es, mich davon abzulenken. Auch Taylor in der Nacht nicht. Es war furchtbar und jedes Mal, wenn mein Vater mich ansah, bekam ich fürchterliche Angst und Gewissensbisse. Ich liebte Taylor und ich wollte mit ihm zusammen sein, ihn heiraten, aber das meinem Vater zu erklären, der ihn nicht mehr so sehr mochte… Freitagabend saß ich auf der Couch und schrieb an einem Aufsatz, den wir nach den Ferien abgeben mussten, als mein Vater endlich nach Hause kam. „Hallo, Schatz.“ „Hey, Dad. Wo hast du solange gesteckt?“ „Ach, ich war bei Henry. Hab vorher noch ne Menge Papierkram erledigt. Tut mir leid, ich hätte anrufen sollen.“ „Wäre ganz nett gewesen, ja.“ Ich packte den Block und den Stift auf den Couchtisch und stand auf. „Hast du Hunger? Ich hab noch nichts gegessen und wie ich dich kenne, du auch nicht.“ Er küsste mich auf die Stirn. „Klingt super.“ „Was darf es sein?“ „Ich darf mir was wünschen?“ „Ja, was du willst.“ „Dann wünsche ich mir, dass dieser Junge morgen nicht kommt und wir uns einen ruhigen Abend daheim machen.“ „Dad!“ „Du hast gesagt, was ich will.“ „Du weißt genau, was ich meinte.“ „Ja, ja. Wir haben noch eine Pizza im Gefrierfach.“ „Gut, geh dich umziehen, ich schieb sie in den Ofen. Ein Bier?“ „Ja“, antwortete er und trottete in sein Schlafzimmer. „Wieso kommt er morgen noch gleich?“, rief er daraus hervor. „Jetzt sei doch nicht so. Er ist mein Freund und ich möchte, dass du das endlich zur Kenntnis nimmst. Du hast ihn doch mal gemocht. Du hast gesagt, er sei ein guter Junge…“ „Das war bevor er dich so schäbig behandelt hat. Er hat dich in diesen furchtbaren Zustand versetzt, Lils. Wie kannst du ihm das nur so einfach verzeihen?“ Er stemmte seine Fäuste in die Hüften und blickte mich fragend an. „Weil ich ihn liebe, Dad. Taylor hat sich entschuldigt. Er hat gemerkt, dass er einen Fehler begangen hat. Und er hat gelitten, genau wie ich. Du hast mir doch immer gepredigt, dass man Menschen, die einen Fehler gemacht haben, eine zweite Chance geben sollte, wenn sie selbst dazu bereit sind. Jetzt halt dich doch auch daran.“ Mein Vater ließ sich seufzend auf den Sessel sinken und schaltete auf die Nachrichten um. „Fein… Ich werde nett sein, morgen. Außerdem habe ich das von deiner Mutter übernommen. Das mit der zweiten Chance. Aber noch so eine Sache von ihm und er kann sich warm anziehen…“ Die Kühlschranktür fiel mit einem leichten Klicken zu und ich schluckte schwer. „Dad…tust du mir den Gefallen und hältst dich morgen von den Waffen fern? Ich habe ein bisschen Angst um Taylor, wenn du jetzt schon so redest.“ „Wenn er sich benimmt, hat er doch nichts zu befürchten.“ Ich stellte das Bier auf einen Untersetzer vor ihm und in dem Moment, als er dahin sah, fiel mir auf, dass ich den Ring noch nicht abgenommen hatte. Er schluckte schwer und ich zog hart die Luft ein. „Möchtest du mir vielleicht etwas sagen, Lils?“ Er stellte den Fernseher aus und sah mich durchdringend an. Ich öffnete den Mund, ließ mich auf die Couch sinken und bekam keinen Ton heraus. „Sag mir, bitte, dass dieser Ring nicht an die andere Hand gehört!“ Mein Blick senkte sich. „Das kann ich nicht.“ „Lillian Connor…“ Wie ein Wilder ging er vor mir auf und ab. Ich hatte Angst, dass er ein Loch in den Teppich laufen würde. „Dad, bitte.“ „Bist du schwanger? Ist es deswegen?“ „Nein! Ich schwöre. Und so etwas… Wir haben nicht…, okay?“ Ganz und gar nicht, zu meiner Enttäuschung, dachte ich. Er nickte. Dann schüttelte er den Kopf und setzte sich wieder in den Sessel. „Du bist 17. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir.“ „Nur weil wir verlobt sind und planen irgendwann zu heiraten, heißt das noch lange nicht, dass jetzt mein Leben zu Ende ist, Dad. Und ich möchte es mit ihm verbringen, mein Leben. Er ist wundervoll, er beschützt mich und liebt mich, genau so wie ich bin. Und ist es nicht das, was du dir für mich wünschst?“ „Aber du bist doch noch so jung… Willst du jetzt all deine Pläne über den Haufen werfen, wegen ihm?“ „Welche Pläne?“ „Du wolltest aufs College,…oder nicht?“ „Schon bevor Taylor hier in Crystal Falls auftauchte, hatte ich so meine Zweifel, ob es wirklich das ist, was ich tun möchte. Ich bin mir noch nicht sicher, vielleicht gehe ich aufs College, vielleicht gehe ich aber auch arbeiten oder setze ein Jahr aus. Ich weiß nicht, aber diese Ungewissheit hat nichts mit Taylor zu tun.“ „Warum? Warum hast du dich verlobt?“ Tränen bildeten sich in meinen Augenwinkeln und ich blickte meinen Vater an. „Weil ich ihn liebe. Ich möchte mit ihm zusammen sein, jede Minute meines Lebens. Ich vermisse ihn, wenn er nicht bei mir ist und ich möchte ihn nicht verlieren. Ich bekomme ohne ihn kaum Luft. Manchmal fürchte ich völlig den Boden unter den Füßen zu verlieren. Es ist verrückt, Dad, das weiß ich. Aber hast du für Mom nicht genau dasselbe empfunden?“ Er lächelte leicht und senkte den Blick. „Ich habe nie verstanden, wie sich diese Frau in mich verlieben konnte. Aber ich hätte mein Leben für sie hergegeben, wenn ich nur die Möglichkeit dazu gehabt hätte.“ „Du verstehst mich also?“ Er seufzte schwer und schloss kurz die Augen, dann streckte er die Arme nach mir aus und zog mich an sich. „Ich verstehe es. Und ich sollte wahrscheinlich froh darüber sein, dass es sich dabei um Taylor Wood handelt und nicht um so einen Dummkopf, wie es viele Jungs sonst in diesem Alter sind. Habt ihr schon einen Termin gemacht?“ „Dad, nein. Ich sagte doch, irgendwann. Wir überstürzen nichts.“ Er lachte trocken. Ich kniff kurz die Augen zusammen und meinte: „Entschuldige. Schlechte Wortwahl.“ Wir aßen dann in Ruhe die Pizza, sahen noch ein bisschen Fern und dann ging ich nach oben. Taylor würde bald kommen und ich wollte vorher noch duschen.

 

„Hallo, meine Schöne“, begrüßte er mich, als ich aus dem Badezimmer kam. „Hey, ich hab dich vermisst.“ Ich richtete mein Shirt, fuhr mir mit den Fingern durchs Haar und krabbelte dann zu ihm ins Bett. Er war so herrlich warm und ich fühlte mich bereits geborgen, bevor er überhaupt einen Arm um mich legen konnte. Meine linke Hand ruhte auf seiner Brust und er sah mich leicht verwirrt an. „Ist irgendwas?“ „Er weiß es.“ „Oh, Lilly.“ Taylor drückte mich kurz und blickte mich dann entschuldigend an. „Ich weiß, wir wollten es ihm gemeinsam sagen, aber er hat den Ring gesehen und… Ich wollte ihn nicht anlügen.“ „Und?“ „Er versteht es und er ist, denke ich, damit einverstanden, dass du es bist.“ „War er sehr wütend?“ „Nein. Ziemlich gefasst, er lief auch nicht purpurrot an. Zumindest hätte es schlimmer sein können.“ Er nahm meine linke Hand und drückte die Innenfläche gegen seine Lippen, dann fiel es ihm auf. „Du trägst ihn an der richtigen Hand?!“ „Ja. Weißt du, mir ist klar geworden, dass es falsch wäre, so etwas geheim zu halten. Ich liebe dich und das darf gern jeder wissen. Ich werde nicht verstecken, was ich für dich empfinde. Es war dumm von mir, das zuerst zu tun und das tut mir leid. Aber ich möchte den Rest meines Lebens mit dir verbringen und damit beginnt es nun.“ Er antwortete nicht, stattdessen drückte er mich küssend in die Kissen zurück und verflocht seine Finger mit den meinen. Sein warmer Körper schmiegte sich an mich und ich wusste nicht, wie mir geschah, als ich plötzlich ein paar Bilder vor mir aufblitzen sah. Ein kleiner Junge mit ein paar kleinen weißen Zähnchen grinste mich an. Derselbe Junge auf den Schultern Taylors, der mit mir an der Promenade spazieren ging. Und dann war ich wieder im Hier und Jetzt und seufzte unter Taylors Kuss. „Was ist?“, wisperte dieser und blickte mich mit glänzenden Augen im Dunkeln an. „Gar nichts“, lächelte ich, „ich bin nur gerade sehr glücklich.“ „Dann bist du dir wirklich ganz sicher?“ Er schluckte schwer, hielt aber noch immer meine Hände mit den seinen verschränkt. „Ich habe keine Angst, Taylor! Und du musst auch keine haben. Ich vertraue dir.“ Seine Lippen senkten sich ganz kurz und hauchzart auf meine, dann richtete er sich auf und zog sein T-Shirt aus. Ich zog ihn wieder zu mir hinunter, schlang meine Arme sanft um seinen Nacken und fühlte das heftige Klopfen seines Herzens. Die warme Haut, die sich fest an mich schmiegte. „Ich liebe dich“, flüsterte ich und er antwortete ebenso leise: „Ich dich auch.“

 

Meine Augen öffneten sich, lange bevor der erste Sonnenstrahl zu sehen war. Das Glücksgefühl von letzter Nacht war noch immer nicht verebbt. Ganz im Gegenteil. Nie zuvor hatte ich mich besser gefühlt, obwohl ich gestehen musste, dass ich etwas Muskelkater hatte. Ich blickte vorsichtig unter die Decke, überprüfte meinen Körper. Alles war in Ordnung. Taylor lag neben mir, eine meiner Hände war mit seiner verschlungen und mit der anderen zog ich die Decke etwas weiter über meine Brust. Er schlief noch tief und fest, ich wollte ihn auch nicht wecken. Es muss ihn eine Menge Kraft und Konzentration gekostet haben, damit er mir nicht wehtat. Aber es war nichts geschehen. Mir ging es blendend und er war so sanft und vorsichtig gewesen. Am liebsten hätte ich die ganze Welt umarmt, begnügte mich aber dann damit ihn anzusehen. Er träumte und ich verfolgte die wechselnden Emotionen, die sich auf seinem Gesicht abzeichneten. Verwirrung, Freude, Ärgernis und dann schlug er seine Lider auf und blickte mich direkt an. Taylor musste noch nicht einmal etwas sagen, ich konnte die Frage ganz genau in seinen glänzenden Pupillen ablesen. Ehe er die Antwort darauf nicht bekam, würde er den ganzen Tag nicht weiter mit mir reden. „Es geht mir wunderbar“, hauchte ich und senkte verlegen meinen Blick. Das, was gestern Nacht geschehen war, war mir nicht im Geringsten peinlich, aber ich wollte sein Gesicht nicht sehen, wenn er durch meine Antwort unweigerlich daran dachte. „Wirklich nichts? Blaue Flecken, Blutergüsse oder irgendwas anderes?!“ „Nein. …Und wie geht es dir?“ „Mächtig Muskelkater, aber das gibt sich bald wieder. …Und wirklich null Verletzungen? Auch keine…blutigen Kratzer?“ Der Widerwille war kräftig heraus zu hören. „Glaub es mir, gar nichts. Oder möchtest du nachsehen?“ Ich zog sein Kinn ganz nah zu mir und fühlte seinen Atem auf meinem Gesicht. „So unwiderstehlich das auch klingt“, begann er und ich lehnte meine Stirn lachend gegen seine, „aber ich muss zum Haus zurück. Sonst werde ich noch beim Frühstück vermisst.“ „Was freue ich mich auf den Tag, an dem wir uns gemeinsam an unseren Frühstückstisch setzen… Es bedeutet nämlich, dass du morgens nicht von mir weghetzen musst.“ Er lächelte zärtlich. „Ich kann es kaum erwarten,…aber noch ist es leider nicht soweit. Wirst du es überleben?“ Ich seufzte theatralisch und schlang meine Arme um seinen Oberkörper, meine Lippen verharrten kurz an seinem Hals. „Ach, ich bin mir nicht ganz sicher.“ „Gibt es eine Möglichkeit dich zu überzeugen?“ „Probier was aus…“ Er zeichnete mit seinem rechten Zeigefinger meine Wange nach, meinen Hals und kehrte dann um zum Kinn. Wir sahen uns direkt in die Augen und für einen Moment huschte sein Blick zu meinen Lippen. „Oh Mann…“, stöhnte er und wandte sich dann zur anderen Seite um. Ich beobachtete ihn dabei, wie er seine Sachen zusammensammelte und sich anzog. Während ich die Decke an meinen Körper presste und mich im Bett aufsetzte, warf Taylor mir immer wieder einen kurzen Blick zu, bis er sich vollständig angekleidet hatte. Wahrscheinlich verriet mich mein trauriges Gesicht, denn ich begriff einfach nicht, warum er sich so schnell von mir abgewandt hatte. Jedenfalls hockte sich Taylor zu mir ans Bett und griff nach meiner linken Hand. Er küsste die Innenfläche, belächelte den Ring und meinte dann: „Du forderst dein Glück ganz schön heraus, das weißt du, oder? Ich möchte nur einfach, dass du unversehrt bleibst und deshalb beeile ich mich lieber. …Ich bin so gegen Sechs wieder hier, ja?“ „Ist gut. Und, Taylor, ich verstehe es. …Wenn du nämlich nicht bald gehst, kann ich auch für nichts mehr garantieren…“ Ich streckte ihm die Zunge ein Stück heraus und hörte ihn lautstark ausatmen. Seine Lippen bewegten sich lautlos und ich hatte das dumme Gefühl, dass er seine Vorsätze immer wieder aufs Neue herunterbetete. Erst in diesem Moment begriff ich tatsächlich, wie sehr ich ihn körperlich anzog. Sicher, dass hatte er mir schon oft gesagt, aber wirklich bewusst wurde es mir dann erst an diesem Morgen. Dann hatte ich ihn sogar mehr gequält in letzter Zeit, als mir überhaupt klar war. Er schob das Fenster auf, sah sich noch einmal zu mir um, lächelte kopfschüttelnd und huschte dann in den Wald. Ich wickelte die Decke um meinen Körper, schloss das Fenster und strahlte wieder über das ganze Gesicht. Welt, dachte ich, fühle dich umarmt.

 

Während ich in der Küche die letzten Vorbereitungen für das gemeinsame Abendessen traf, schlich mein Vater von einem Zimmer zum Nächsten. Er machte mich wahnsinnig, aber ich sagte nichts. Ich glaubte, dass ihn das nur noch mehr in Rage bringen würde und so konzentrierte ich mich auf die brutzelnden Schnitzel in der Pfanne und summte ein Lied nach dem anderen vor mich hin. Mein Vater, wie Sie ja sicher bis hierher bemerkt haben, mag es überhaupt nicht im Haus eingesperrt zu werden. Darum fuhr er auch immer mit seinen Freunden angeln oder machte irgendwelche anderen Ausflüge außer Haus, wenn das Wochenende kam. Aber heute hatte er darauf bestanden bei mir zu bleiben. „Wer weiß, wie lange ich solche Zweisamkeit mit dir noch habe“, hatte er gesagt und war dann am Morgen wieder hinter seiner Zeitung verschwunden. Umso mieser gelaunt war er jetzt und ich hatte die leise Vermutung, dass er es auch genau darauf angelegt hatte. Nur eine falsche Bewegung oder Bemerkung Taylors und er würde wie eine Rakete in die Luft gehen. Zuerst wollte ich Taylor per SMS vorwarnen, aber dann dachte ich, dass der dadurch nur nervös werden würde und unterließ es. Auch so war es für ihn ein merkwürdiger Tag und das musste durch so eine Nachricht ja nicht noch schlimmer werden. „Dad, drehst du bitte die Schnitzel immer mal wieder um? Ich will mir nur schnell etwas anderes anziehen…“ Es grummelte mir aus dem Wohnzimmer entgegen und ich flog förmlich die Treppe hinauf. Mein Blick fiel auf mein Bett und ich lächelte unwillkürlich. So würde es mir von nun an wohl immer gehen, wenn ich mein Zimmer betrat. Es war kurz vor sechs Uhr, als ich wieder runter ging und schon klingelte es an der Tür. „Ich mach auf“, rief mein Vater, stürmte zur Tür und ich ging gelassen in die Küche zurück, um das Essen anzurichten. „Guten Abend, Dr. Connor“, begrüßte Taylor ihn freundlich und mein Vater ließ sich einen Augenblick Zeit. Ich stellte mir vor, wie er ihn mit Blicken einzuschüchtern versuchte und schüttelte seufzend den Kopf. „Dad, bitte“, rief ich und konnte förmlich fühlen, wie er die Wut herunterschluckte. „Abend! Komm rein.“ „Danke, Sir. Oh, es riecht wirklich wunderbar.“ „Ja, meine Tochter ist ja auch ein wahres Genie in der Küche.“ Ein leichter Anflug von Stolz schwang in seiner Stimme, aber dann wurde er wieder grimmig und fügte hinzu: „Aber das ist nicht alles, wofür sie da ist. Nicht wahr?“ „Natürlich nicht“, stimmte Taylor ihm zu, „Lilly ist wahnsinnig klug. Sie hat eine großartige Zukunft vor sich.“ Dann erschien er vor mir und grinste. „Hallo…“, sagte ich. Er hielt einen Strauß orangefarbener Gerberas in den Händen. „Hallo. Ich dachte, die könnten dir gefallen.“ Ich hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen und wandte mich dann wieder den Kartoffeln zu. „Sie sind wunderschön, danke. Dad, wärst du so lieb und holst eine Vase aus dem untersten Schrank?“ „Ja, ja!“ Er stellte die Flasche Wein, wohl ein weiteres Mitbringsel Taylors, auf die Theke und schlurfte davon. „Stimmt irgendwas nicht?“, fragte mein Verlobter als mein Vater ein Stück entfernt war und wir glaubten, dass er uns nicht hören würde. „Ach was, ich glaube, er merkt nur gerade, dass ich erwachsen werde und er irgendwann mal allein in diesem Haus leben wird.“ Taylor zog kurz die Augenbrauen hoch, dann lächelte er wieder als mein Vater zurückkam. „Setz dich doch, das Essen ist gleich fertig“, trällerte ich. „Gern.“ Wir hatten im Wohnzimmer einen höheren Tisch aufgestellt und ihn eingedeckt mit dem hübschen Geschirr, das meine Eltern zu ihrer Verlobung bekommen hatten. Darunter hatte ich eine weiße Tischdecke gelegt und cremefarbene Servietten verteilt. Den Strauß stellte ich, nachdem ich ihn ins Wasser gestellt hatte, ans Ende des Tisches. Dann holte ich die Schalen und die Platte mit den Schnitzeln. Am Kopfende nahm mein Vater Platz, auf der rechten Seite Taylor und ich auf der Linken. „Dann einen Guten Appetit“, meinte ich und jeder füllte sich etwas auf. In der nächsten halben Stunde sprach niemand über ein bestimmtes Thema. Taylor sagte, dass sie schlechtes Wetter angesagt hätten, doch bisher schien die Sonne. Mein Vater lobte das Essen und ich erkundigte mich nach Henry und den Jungs in der Billardhalle, wo mein Vater gelegentlich noch abends vorbeischaute. Manchmal vermisste ich sie wahnsinnig, aber ich bereute meine Entscheidung nicht. Dann räumte ich den Tisch ab und brühte frischen Kaffee auf. Ich hatte mich gerade wieder hingesetzt und genoss den wohlriechenden Dampf, der mir in die Nase stieg, als sich Taylor räusperte und meinen Vater ansah. „Dr. Connor, ich weiß, dass ich es falsch angefangen habe und ich möchte nur, dass Sie wissen…“ „Falsch angefangen?“ Nun ging es los. Ding-Ding. Ich hörte förmlich eine Glocke ertönen, wie es bei Boxkämpfen üblich war. „Ja, ich hätte zuerst…“ „Falsch angefangen, ist gar kein Ausdruck. Sie ist 17 Jahre alt, Junge. Und kurz bevor du sie bittest deine Frau zu werden, hast du sie einfach fallen gelassen.“ „Dad!“ „Nein, Schatz, wenn du nicht darüber reden willst, ist das deine Sache, aber ich möchte, dass er weiß, was er dir angetan hat. Ich habe nicht vergessen, was du durchmachen musstest.“ „Sir, ich weiß, dass es sehr dumm war und…“ „Dumm? Dumm ist es, wenn man vergisst jemandem Bescheid zu geben, dass man nicht rechtzeitig zum vereinbarten Treffpunkt kommt. Das, was du getan hast, war schrecklich, widerlich und verantwortungslos.“ Ich verpasste meinem Vater einen leichten Stoß gegen das Schienbein und als er mich anblickte, schüttelte ich verzweifelt den Kopf. Er würde es ihm in jeder Einzelheit sagen. Ihm vor Augen führen, in welchem Zustand er mich zurückgelassen hatte und gerade das, so hatten es Taylor und ich abgemacht, sollte niemals zur Sprache kommen. Wir hatten beide das Gleiche durchgemacht und er hatte sich entschuldigt. Für mich war das ausreichend, aber mein Vater sah das anders. Er wandte sich wieder Taylor zu und funkelte ihn an. „Zwei Tage lang hat sie geweint und sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Sie aß nichts, redete nicht und diese beiden Tatsachen änderten sich auch in den Tagen danach nicht. Wo hast du gesteckt, als wir, ihre Freunde und ich, versuchten sie wieder aufzurichten? Du jedenfalls hast dich nicht blicken lassen. Und obwohl du ihr Herz brachst und sie zutiefst gekränkt hast, kümmerte sie sich um dich als du verletzt warst. Ich weiß nicht, woher sie die Kraft nahm, ich hätte sie nicht gehabt. Und an ihrer Stelle hätte ich sie auch nicht haben wollen.“ „Dr. Connor, ich weiß, dass ich Ihre Tochter nicht verdient habe. Sie ist ein wahrer Engel und ich…ich bin ein Monster. Damals dachte ich, ich könnte sie schützen, indem ich mich von ihr trenne, aber das war ein Fehler. Eine Entscheidung, die ich sehr lange noch bereuen werde. Lilly hat mir verziehen und ich habe mir geschworen niemals wieder zuzulassen, dass ihr etwas geschieht. Da ich weiß wie es ist, ihr wehzutun, werde ich alles daran setzen, damit das nicht noch ein Mal passiert. Weder durch mich noch durch jemand anderen. Ich hätte Sie zuerst fragen müssen, ob Sie mit einer Verlobung einverstanden sind, aber ich liebe Ihre Tochter und sie macht mich zu einem besseren Menschen. Und dieses Gefühl werde ich ihr den Rest meines Lebens zurückgeben.“ Er blickte meinem Vater aufrichtig ins Gesicht, doch ich sah, obwohl sich schon wieder Tränen in meine Augenwinkel stahlen, dass er den Kiefer anspannte. Angst. Und dann blickte ich zu meinem Vater und erkannte den aufkeimenden Funken Respekt. Im Hintergrund tickte die Uhr. Zähflüssig vergingen die Sekunden und Minuten. Hätte ich nicht die offenen Augen und sich hebenden und senkenden Brustkörbe gesehen, man hätte denken können, dass sie gar nicht mehr lebten. Dann neigte mein Vater kurz seinen Kopf und sah Taylor wieder an. „Gut, Junge, beweis mir, dass du auf sie Acht geben kannst. …Ich bin einverstanden. Obwohl wir beide wissen, dass ich selbst dann nichts gegen sie hätte ausrichten können, wenn ich dagegen gewesen wäre.“ Er grinste und warf einen kurzen Blick auf mich. Erst danach begriff ich, was er da eben gesagt hatte, sprang dann aber vom Stuhl auf und umarmte ihn stürmisch. „Danke, Daddy“, wisperte ich und drückte mein Gesicht gegen seinen Hals. „Er macht dich glücklich, Lils, und das ist es, was für mich zählt.“ Taylor reichte ihm die Hand und meinte: „Danke, Sir. Ich werde Sie nicht enttäuschen.“ „Nenn mich Daniel, schließlich gehören wir ja bald zu einer Familie.“

 

„Ich dachte wirklich, er springt dir gleich an die Gurgel“, wisperte ich, fest an Taylor gekuschelt, als wir draußen auf der Veranda saßen und den Sternenhimmel betrachteten. „Frag mich mal. So viel Angst hatte ich lange nicht…“ Ich kicherte und spürte, wie Taylor seine Jacke öffnete und mich darunter an seinen Oberkörper zog. Es war sehr kalt geworden, ungewöhnlich für den Sommer in Michigan. Gut, hier herrschten natürlich nie solche Temperaturen wie in L.A., aber ein wenig wärmer war es normalerweise schon. „Würdest du mir einen Gefallen tun?“, fragte er leise und ich sah zu ihm auf. Mein Gesicht war nur Millimeter von seinem entfernt und ich genoss den leichten Hauch seines Aftershaves, der mich umgab. „Wenn es machbar ist, sicher!“ „Lass uns deinen Geburtstag feiern. Wir haben in letzter Zeit nicht oft die Möglichkeit gehabt, etwas Fröhliches zu erleben. Das wäre doch die Gelegenheit.“ Ich seufzte und Taylor sah mich mit einer solch umwerfenden Liebenswürdigkeit an, dass ich mich nur schwer beherrschen konnte, nicht über ihn herzufallen. „Na schön, aber anstatt, dass ich Geschenke kriege, steuert einfach jeder irgendwas zu der Party bei. Was weiß ich, Getränke, Salat oder Grillzeug. Dann können wir auch am Strand feiern.“ Er zog mich noch näher an sich, küsste mich auf die Wange und sagte: „Danke, danke, danke!“ „Du bist meinetwegen in die Höhle des Löwen gegangen, dann ist es nur fair, wenn ich dir auch einen Gefallen tue.“ „Also dann ist das aber ungerecht…“ „Du meinst, dein Erlebnis war viel furchterregender?“ „Das möchte ich doch wohl meinen.“ „Du hast wirklich keine Ahnung davon, wie furchtbar ich es finde, meinen Geburtstag zu feiern, nicht?“ „Nein. Aber warum?“ Ich senkte meinen Blick und spürte, wie Taylor mich instinktiv fester an sich zog, als er das salzige Wasser roch, das in mir aufstieg. „Weil an meinem Geburtstag einer der wunderbarsten Menschen meines Lebens starb. Ihr sechster Todestag, fällt auf meinen 18. Geburtstag.“ „Oh, Lilly… Hätte ich das gewusst, würde ich niemals darauf bestehen, dass…“ „Das weiß ich doch. Aber Carly hat Recht, ich sollte endlich feiern und nicht mehr weinen. Sie hätte das auch nicht gewollt und nur weil ich diesen Tag mit Freunden verbringe, heißt das noch lange nicht, dass ich sie vergesse, nicht wahr? Am Morgen werde ich, wie jedes Jahr, mit meinem Vater zu ihrem Grab gehen. Weißt du,…sie hätte dich sehr gemocht. Und sie würde dir wahrscheinlich jetzt tausend Mal dafür danken, dass du mich so glücklich machst, wenn sie könnte. Ihr hättet euch beide wunderbar verstanden!“ Taylor setzte zwar sein schiefes Lächeln auf, das ich so sehr mochte, aber seine Augen blickten traurig. „Oh je, ich wollte dich nicht auch noch mit runter ziehen. Entschuldige!“ „Mach dir darüber keine Gedanken. Es ist nur, dass mir gerade auffiel, dass ich über meine Mutter und dich dasselbe sagen könnte.“ Ich kletterte auf seinen Schoß und schlang meine Arme um seinen Körper. „Na, wir sind schon Zwei. Ein so wundervoller Abend und wir reden über unsere Mütter. Obwohl wir doch feiern sollten, dass mein Vater uns seinen Segen gibt.“ „Das machen wir ja auch noch. Wir haben doch noch genug Zeit miteinander!“ Solche Worte aus seinem Mund zu hören, war wirklich das Schönste am ganzen Tag. Er dachte an die Zukunft, die noch vor uns lag. Etwas, dass er sich früher nie eingestanden hätte. Damals dachte er nie weiter als an den nächsten Tag und jetzt plante er weiter - ein herrliches Gefühl.

 

18. August

Das Mädchen ist wieder glücklich und ich habe wieder einmal im Traum geweint. Als ich die Augen aufschlug, quoll mein Herz fast über vor Freude. Ich bin mir jetzt ganz sicher, dass es meine Tochter ist. Aber das bedeutet auch, dass ich nicht lange an ihrer Seite sein werde. Sie wird ohne mich erwachsen werden, heiraten und ihre eigene Familie gründen.

Die Ähnlichkeit zwischen uns ist frappierend. Es hätte mir gleich auffallen müssen, aber das Naheliegendste sieht man ja bekanntlich oft nicht. Sie ist ein kluges, schönes und unglaublich liebes Mädchen, dass sich für ihre Freunde aufopfert. Daniel schien anfangs nicht allzu begeistert darüber zu sein, dass sie den gut aussehenden jungen Mann heiraten möchte. Ich hoffe, er hat es ihr nicht zu schwer gemacht in ihrem Leben. Ich jedenfalls finde, dass sie eine wirklich sehr gute Wahl getroffen hat. Er wird sie glücklich machen und das ist doch das, was zählt. Auch wenn sie sich noch nicht lange kennen, aber ich schätze meine Tochter so ein, dass sie so etwas nicht nur aus Spaß an der Freude tut, sei es ihnen vergönnt. Sie haben sich wohl beide vom ersten Moment an geliebt. So wie es auch bei Daniel und mir war und noch immer ist.

Und dennoch… Ich habe unglaubliche Angst. Wenn ich sie nicht auf ihrem Weg begleiten kann und mein Leben nicht mit Daniel verbringe, was bleibt mir dann? Sicher, wir werden einige Jahre zusammen sein, aber ich scheine genau dann gehen zu müssen, wenn sie mich am meisten brauchen. Ist das fair? Es ist wahrlich ein Fluch, bereits zu sehen, dass man stirbt und so vieles verpasst. Ich möchte nicht, dass man um mich trauern muss, dass sie mich gehen lassen müssen, dass ich sie alleine lasse. Ob man das noch verhindern kann? Wie sagte meine Großmutter immer? Schicksal gibt es nicht, denn jeder bestimmt selbst über seine Zukunft. Ich werde nichts unversucht lassen, um bei ihnen bleiben zu können. Dafür liebe ich sie beide zu sehr. Ich werde selbst über mein Leben bestimmen!

7. Kapitel - Eine Party, die nie vergessen wird...

Der Tag der Party rückte näher. Carly war völlig aus dem Häuschen, weil sie es kaum glauben konnte, dass sie meinen Geburtstag tatsächlich feiern durfte. Und sie war Taylor dankbar, dass er mich dazu gebracht hatte. Sie konnte damit leben mir nichts zu schenken, also spendierte sie die Musik. Was bei ihr hieß, einen sehr guten DJ zu engagieren und ihren Vater damit ein wenig ärmer zu machen. Taylor hatte sich darum gekümmert, dass wir ein Haus am Strand bekamen - ein Freund eines Freundes hatte einen Bekannten… - und er und sein Bruder halfen tatkräftig beim Ein- und Umräumen, Dekorieren und sonstigen Aufgaben. Ihre Muskelkraft war einfach unerschütterlich, was auch von anderen Mitschülern sehr schnell zur Kenntnis genommen wurde und viele Mädchen dazu veranlasste, neidisch auf Carly und mich zu sein. Ja, wir schwebten beide zurzeit im 7. Himmel. Ich hatte mir eine kleine Flasche Wasser geöffnet, mich gegen einen der runden Tische gelehnt und beobachtete, wie Taylor und Sean gerade ein paar Schränke und anderes Mobiliar anhoben, um es umzuarrangieren. Beide waren schon den ganzen Vormittag fleißig bei der Arbeit. Wir hatten beiden schon zig Mal etwas zu trinken angeboten oder sie zu einer Pause bewegen wollen, aber immer verneinten sie und sagten, es ginge ihnen blendend. Mir allerdings drückte die Hitze ganz schön aufs Gemüt. Ich hatte schon öfter kurze Pausen eingelegt und auch das Wasser, das ich jetzt in der Hand hielt, war bereits meine dritte Flasche. „Süße, ich staune wirklich, wie schnell wir das alles organisiert bekommen haben. Wobei ich natürlich deinen Schatz besonders hervorheben sollte. Taylor ist wirklich fabelhaft.“ „Ich werde mich hüten, da zu widersprechen“, antwortete ich und lächelte erschöpft. Es war Mittag und die Sonne erhitzte das Haus um noch ein paar Grad mehr. Ich ging eines der großen Terrassenfenster öffnen und ließ mir ein bisschen Salzluft ins Gesicht wehen. Dann kehrte ich zu meiner Freundin zurück und krempelte meine Hosenbeine höher, sodass sich meine Caprihose zu einer Kurzen wandelte. „Jungs, jetzt macht aber wirklich mal ein bisschen Pause. Wir liegen wunderbar im Zeitplan. Los, kommt her!“, forderte Carly und hob theatralisch die Faust. Endlich trollten sich die beiden und Sean meinte, nachdem er sie kurz auf die Stirn geküsst hatte: „Na, ehe wir Schläge kriegen, setzen wir uns lieber ein paar Minuten. Ich möchte nicht, dass du mich verletzt!“ „Dein Glück. Das hätte wirklich blutig enden können.“ Sie beide lachten und Taylor umfasste mein Handgelenk. „Ist alles okay?“ „Ja, mir ist nur furchtbar warm. Das legt sich bald wieder, keine Sorge!“ „Dein Puls rast. Ist dir auch schwindelig?“ „Ein bisschen. Aber ich trinke fleißig mein Wasser, dann normalisiert er sich bald wieder.“ Er erhob sich und öffnete noch ein paar der kleinen Fenster, damit die Luft kräftig durchs Haus zog. Dann zog er einen Stuhl heran und drückte mich sanft hinunter. „Das kommt, weil du so wenig schläfst. Dein Körper leistet Höchstarbeit und macht dich darauf aufmerksam, dass du dich ausruhen musst.“ „Ich weiß, aber für diese wirren Träume kann ich nun mal nichts.“ Es war tatsächlich jeden Abend so, dass ich verrückte Dinge träumte und dann einfach nicht mehr einschlafen konnte. Taylor selbst hatte dann immer wieder versucht, mich zum Einschlafen zu kriegen, aber so sehr er sich auch anstrengte, es gelang ihm nicht. Uns beiden nicht. In den Träumen war im ersten Moment alles wunderbar, ich sah Szenen, die ich aus Vorherigen bereits kannte, aber dann wandelte es sich und wurde wirr und unverständlich. Kenneth und ich unterhielten uns oft darüber, aber auch er konnte sich nicht erklären, was es zu bedeuten hatte, dass die Bilder, die sonst so eindeutig erschienen, nun so undurchschaubar waren. Meine Erklärung, dass ich vielleicht diese Fähigkeit verlor, tat er mit einer abweisenden Handbewegung ab. Er meinte, dass man so etwas nicht einfach verlernte oder verlor. Schon gar nicht von einem Tag zum Anderen. Aber in seinen Augen hatte ich gesehen, dass er bereits selbst daran gedacht hatte. Und ich war der festen Überzeugung, dass er in seinen Büchern bereits nach ähnlichen Vorfällen suchte. „Willst du dich vielleicht ein bisschen hinlegen? Oben gibt es ein paar Schlafzimmer…“ Ich schüttelte den Kopf und blickte ihm fest in die Augen. „Ich bleibe noch ein bisschen hier sitzen und trinke das Wasser aus. Du wirst sehen, es geht gleich wieder. Aber danke!“ „Na schön“, gab er sich nur ungern geschlagen, erhob sich jedoch und ging seinem Bruder helfen, der bereits wieder Möbel verschob. Carly verabschiedete sich in die Küche, um den Bowleansatz vorzubereiten. Ich währenddessen blickte auf das rauschende Meer hinaus, hörte wie sich die Wellen am Pier brachen, der sich ganz in der Nähe befand. Die Hitze war einfach unerträglich und ich erinnerte mich nicht, je zuvor so unter der Wärme der Sonne gelitten zu haben. Egal, wie heiß die Sommer zuvor gewesen waren. Ich beschloss mich auf die Terrasse zu setzen, wo der Wind am stärksten war. Doch als ich aufstand und mich ein paar Schritte auf die große Tür zu bewegte, wurde mir plötzlich schwarz vor Augen.

 

Ich stand in einem wunderschönen Haus im Landhausstil. Nach einigen Augenblicken erkannte ich es aus anderen Träumen wieder. Es war unser zukünftiges Heim, das von Taylor und mir. Das Wetter draußen war herrlich, doch ich konnte nicht raus, weil ich dringend die Wäsche aufhängen musste. Er durfte nicht sehen, dass ich herumlief, wo er doch immer so besorgt war in letzter Zeit. Ich schüttelte das letzte Hemd auf und hing es über die Leine im Wirtschaftsraum. Der Garten war gerade im Umbau, sodass ich die Wäsche nicht wie üblich bei diesem Wetter draußen aufhängen konnte. Wir hatten die Wäschespinne abgebaut, um für etwas Anderes, etwas Großes Platz zu machen. Sie würden wir woanders wieder einbetonieren. Ich ging in die Küche und nahm mir den kleinen Topf Eiscreme aus dem Gefrierschrank. Dann kramte ich einen großen Löffel aus der Schublade hervor und ließ mich in den hübschen dunkelgrünen Ohrensessel am Kamin fallen. Sonst war das sein Platz, aber wenn er unterwegs war, genoss ich den Geruch, der von ihm noch daran haftete. Ich fühlte mich dann mit ihm verbunden. Nachdem ich den Rest Eis aufgegessen hatte, hörte ich das Auto in die Auffahrt einbiegen und blickte voller Vorfreude auf die Eingangstür. Einen Atemzug später stand er im Türrahmen, bepackt mit zwei großen Einkaufstüten und blickte mich leicht lächelnd an. „Ich wusste genau, dass du nicht im Bett bleiben würdest.“ „Und ich sagte, dass du nicht so ängstlich sein sollst“, antwortete ich und folgte ihm in die Küche. „Mir geht es blendend und ich wünschte, du würdest mir das endlich glauben.“ Mit einem Schwung verfrachtete ich den leeren Becher in den Müll. „Trotzdem müssen wir es nicht wieder herausfordern, oder?“ Hinter seinem Rücken rollte ich leicht mit den Augen und warf einen Blick auf den Einkauf. „Suchst du das?“, fragte er und hielt mir einen neuen Becher Eis vor die Nase. Ich klatschte aufgeregt in die Hände. „Oh, du bist einfach der Beste.“ „Ich weiß“, hauchte er, küsste mich auf die Nasenspitze und brachte dann ein paar Dosen in den Wirtschaftsraum. „Du kannst es einfach nicht lassen, oder?“ Ich tat, als wüsste ich nicht, was er meinte. „Was ist denn?“ „Die Ärztin hat gesagt, dass du dich nicht überanstrengen sollst.“ Er stand vor mir, deutete jedoch auf die offene Tür hinter ihm, wo die Wäsche auf der Leine hing. Ich stellte den Becher beiseite, schlang meine Arme um seinen Nacken und führte ihn zur Couch im Wohnzimmer. „Wäsche zu waschen und aufzuhängen ist ja auch keine Arbeit, bei der man sich einen Bruch oder Ähnliches heben kann. Schatz, ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du dich sorgst, aber… Ich bin schwanger, nicht todkrank.“ Taylor strich mir sanft übers Haar und seufzte. „Ich möchte euch nur nicht verlieren.“ Ich lehnte mich an seine Schulter und war überrascht, wie schwach mich der Duft seines Aftershaves immer noch machte. „Ich weiß, dass ich vor langer Zeit die Signale meines Körpers missachtet habe, aber ich bin jetzt für Zwei verantwortlich und das passiert mir nie wieder. Ich setze unser Baby nicht einfach so aufs Spiel, das verspreche ich dir.“ „Na schön… Ich hol dir dein Eis, ja?“ „Ach, du weißt einfach immer, was ich möchte, Schatz.“ „Ja, das ist wohl meine Gabe!“ Ich lachte herzhaft und sank glücklich auf die Couch zurück, während Taylor mir grinsend die Zunge herausstreckte.

 

Ich kniff die Augen zu und öffnete langsam meine Lider. Taylor stand im Türrahmen, anscheinend war er gerade erst hereingekommen. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich erschöpft und erholt zugleich. „Was ist passiert? Wo bin ich hier?“ Das Zimmer war mir völlig unbekannt und gerade als ich mich aufrichten wollte, griff Taylor nach meiner Hand und drückte mich sanft aber bestimmt ins Kissen zurück. Draußen wurde es langsam dunkel, aber ich hörte das Meeresrauschen. Wir waren also noch immer im Strandhaus. „Du bist einfach umgekippt. Die Hitze und der wenige Schlaf haben dir ordentlich zugesetzt. Du hast einige Stunden durchgeschlafen. Hier, trink ein bisschen was.“ Er stütze mich und ich trank ein paar Schlucke aus der Wasserflasche. „Wo sind die Anderen?“, fragte ich und legte mich wieder hin. „Die sind schon nach Hause. Ich hielt es für besser, dich richtig ausschlafen zu lassen und dich dann erst nach Hause zu bringen. Deinen Vater habe ich bereits informiert. Aber da sie vor einer Stunde eine Sturmwarnung rausgegeben haben, hat er gemeint, dass wir hier bleiben und erst morgen zurückfahren sollen.“ „Sturmwarnung?“ „Ja, der Wind hat vor ein paar Minuten heftig zugenommen. Es werden keine Häuser umgerissen, aber mit dem Auto herumzufahren, wäre im Moment keine gute Idee, wegen herabstürzender Äste. Essen und Trinken haben wir ja hier. Fließend Wasser und Strom gibt es auch. Eine Nacht dürfte also nicht all zu schwierig werden.“ Es war bereits so dunkel draußen, dass er die Lampe auf dem Nachttisch anknipsen musste. Dann sah er mich leicht lächelnd an. „Es tut mir leid, Taylor!“ „Wofür entschuldigst du dich?“ „Ich hätte auf dich und auf meinen Körper hören sollen. Du hattest vollkommen Recht, mich ins Bett zu schicken. Aber ich bin ein Sturkopf in solchen Dingen, entschuldige.“ „Als hätte ich nicht gewusst, worauf ich mich einlasse, wenn ich mit dir zusammen bin. Auch wenn ich der Meinung bin, dass du dich nicht bei mir entschuldigen musst, nehme ich sie dennoch an. Es kommt nicht oft vor, dass du im Unrecht bist, das muss ich nutzen.“ „Überspann den Bogen nicht, Schatz.“ „Na gut. Ich hol dir was zu Essen, warte hier.“ „Nein“, rief ich ihm nach. Er wandte sich zu mir um, überrascht, wie mir schien. „Ich hab wirklich keinen Hunger, ich schwöre. Bitte, bleib hier.“ Langsam kam er zurück und hockte sich neben das Bett, eine meiner Hände in seinen verborgen. „Ist alles okay?“ „Ja, aber wir haben endlich mal eine Nacht für uns ganz allein. Das Haus ist leer und ich möchte einfach nicht alleine sein.“ „Hattest du einen schlechten Traum?“, fragte er, während er sich neben mich legte und sanft an seine Brust zog. „Ganz im Gegenteil. Er war sehr schön und endete nicht wirr. Ich glaube, mein Körper hat mir in den anderen Träumen Signale geben wollen und ich werde jetzt mehr darauf vertrauen, was er mir sagt.“ „Klingt vernünftig, finde ich.“ „Das dachte ich mir schon. Sag mal,…?“ „Ja?!“ „Habe ich dich damals sehr in den Wahnsinn getrieben, als ich jeden Abend versucht habe, dich zu verführen?“ Er sah mir fest in die Augen und strich mir eine Strähne aus der Stirn. „Ich gebe zu, einfach war es nicht, standhaft zu bleiben. Aber ich bereue es auch nicht mit dir... Das denkst du doch nicht etwa, oder?“ „Nein. Aber der Traum hat mir klar gemacht, wie viel Sorgen ich dir manchmal bereite. Ich mache das nicht absichtlich, aber für dich ist es eben nicht einfach. Sei nicht böse, ich werde dir von diesem Traum nicht erzählen. Ich werde es nicht dazu kommen lassen, dass es so passiert,…dass du dir Sorgen machen musst.“ Ich bemerkte Taylors Blick und fügte hinzu: „Mir ist nichts passiert, wirklich nicht. Es war alles gut, aber du hast dir wieder Sorgen gemacht und das möchte ich nicht mehr.“ Der Wind heulte um das Haus und drückte gegen die Fenster, die im Rahmen klirrten. Wir hörten, wie das Wasser aufgepeitscht wurde, aber ich fühlte mich sicher und geborgen in Taylors Nähe. Er schob die Schuhe von seinen Füßen und ließ sie zu Boden fallen, dann knipste er das Licht aus. Ich lauschte eine Weile seinem Atem, spürte unter meinen Handflächen seinen kräftigen Herzschlag und schloss langsam die Augen, um mich ganz auf ihn konzentrieren zu können. Der Sturm wurde heftiger. Die Geräusche des prasselnden Regens mischten sich mit denen von Blitz und Donner. Und dann senkte Taylor seine Lippen ganz zaghaft auf meine, seine Hände glitten unter mein T-Shirt, streichelten Rücken und Hüfte. Erst als meine Lippen ihm antworteten, legte er sich auf mich, presste seinen Körper an meinen und fuhr dann mit seinen Fingern durch mein Haar. Er strahlte so viel Vertrauen, Kraft und Wärme aus, dass ich einfach mitgerissen wurde. Mein Körper antwortete, ohne dass ich viel darüber nachdachte, was ich tat. Die Hände berührten seine Wangen, seinen Nacken und seine Oberarme, während meine Beine sich leicht um seine schlangen. Taylor half mir aus dem Shirt, dann zog er seines aus und ich konnte ihn kurz, weil ein Blitz das Zimmer erleuchtete, glücklich lächeln sehen. Ich glaubte, mein Herz müsste vor lauter Zufriedenheit und Liebe zerspringen, aber es hämmerte nur kräftig gegen meine Rippen und blieb ganz. Sein warmer Körper schmiegte sich an meinen und dann waren da einfach nur noch wir.

 

20. August

Er ist hier. Ich weiß nicht, wie und warum, aber er hat mich gefunden. Wieso? Was habe ich ihm getan? Mein Leuchten sei es, sagt er. Ich hasse ihn. Für alles, was er getan hat. Für alles, was er tun wird. Er ist hier und ich habe Angst, dass alles von vorn beginnt.

 

Der nächste Tag war einfach viel zu schnell gekommen. Eine ganze Weile hatten wir noch im Bett gelegen und versucht zu verdrängen, dass wir bald losfahren mussten. Mir war es zum ersten Mal wie unser erstes gemeinsames Heim vorgekommen. Doch dann hatte mein Vater auf meinem Handy angerufen und gefragt, ob alles in Ordnung sei. Da blieb uns natürlich nichts anderes übrig, als schnell zu frühstücken und dann ins Auto zu steigen. Wir sprachen nicht viel auf der Rückfahrt, aber das mussten wir auch nicht. Ehrlich gesagt, war ich wegen letzter Nacht sogar sehr sprachlos. Ich hatte nie für möglich gehalten, dass Taylor von sich aus die Initiative ergreifen würde, aber was er mir damit hatte sagen wollen, war…wow. Er war der wundervollste Mensch, der mir je begegnet war und er machte mich stark, glücklich und…sprachlos. Es war grandios ihn lieben zu dürfen, an seinem Leben teilzuhaben. Ich seufzte leise und er legte seine rechte Hand auf mein Knie. Wir lächelten einander nur an.

 

Jedes Mal, wenn dieses Wesen ihn anlächelte, war es als würde er sie das erste Mal wahrhaftig sehen. Nun waren sie schon bald vier Monate zusammen, die kurze Zeit der Trennung mal außer Acht gelassen, und sie schaffte es immer noch ihn so zu bezaubern. Ein Augenaufschlag, ein kleines Lächeln, die einfache Berührung ihrer schmalen zarten Finger auf seiner Haut. Aus dem Augenwinkel sah er, dass sie die Fensterscheibe herunterfuhr. Dann schloss sie die Augen und genoss den warmen Wind, der ihr Gesicht traf. Ihr Haar wurde leicht nach hinten geweht und trug ihren Duft zu ihm. Lavendel. Egal, wo er war, dieser Duft war mit keiner anderen Erinnerung, an keinen seiner Lieben vergleichbar. Allein der leichte Hauch war atemberaubend. Er freute sich auf jeden weiteren Tag mit ihr. Jede Sekunde, die er in ihrer Nähe war, war so kostbar und so faszinierend. Ihre linke Hand strich sanft über seinen Nacken und sein ganzer Körper begann zu kribbeln. Jede Faser in ihm reckte sich ihr entgegen. Immer, wenn sie ihm von einem Moment in ihrer Zukunft erzählte, stellte er es sich in seinem Inneren vor. Wie sie beide in der Kirche stehen, wie sie das Baby aus der Wiege hebt, um es ihm zu reichen, wie sie gemeinsam auf ihrer Veranda sitzen und zusammen alt werden. Kinder, Enkelkinder, vielleicht Urenkel. Früher war ihm so etwas egal gewesen. Nicht mehr, seitdem er Lilly kannte. Auch seine Familie hatte ihm bereits gesagt, dass er sich durch sie geöffnet hätte. Sie freuten sich, dass er an die Zukunft dachte, sie bewusst plante. Er hatte sich bereits an einigen Colleges beworben, selbst Lilly wusste das noch nicht. Es waren natürlich alles die, wo sie eine Zusage erhalten hatte. Sie würden zusammen auf eines davon gehen können, so Gott wollte und ihm ebenfalls eine einzige Bestätigung gesandt wurde. „Wann meinst du, sollte man am besten heiraten?“ „Wie?“ Sie hatte ihn aus seinem Tagtraum geholt und er blickte wieder ganz genau auf die Straße. „Ich weiß nicht. Von was genau sprechen wir? Der Jahreszeit?“ „Die ist natürlich auch wichtig, aber… Nein, ich meine, in welchem Alter?“ „Meine Mutter sagte, sie hätte es gespürt. Ich selbst, weiß es nicht. Ich war bisher noch nicht verlobt, geschweige denn hatte die passende Frau dafür.“ Sie schenkte ihm ein schiefes Lächeln. „Da hast du aber gerade so noch mal die Kurve genommen, mh? …Spüren soll man so etwas also…na ja.“ „Wieso fragst du?“ „Ach, ich weiß auch nicht. Morgen werde ich 18 und…“ „Willst du morgen etwa vor den Altar treten?“ „Aber nein. Doch ich denke jetzt vermehrt über mein späteres Leben, entschuldige, unser späteres Leben nach und dann diese ganzen Träume, Visionen oder was auch immer es ist. Ich war darin immer Mitte 20, aber in manchen Momenten…wenn du mich anlächelst, in Nächten wie gestern oder mir leise zuflüsterst, dass du mich liebst, dann…“ Sie schüttelte leicht den Kopf und seufzte. „…dann möchte ich dich sofort schnappen, vor einen Geistlichen treten und »Ja, ich will« in die Welt hinaus rufen.“ „Nur ein Wort von dir, Lilly…“ „Wir sollten wohl doch ein bisschen Zeit für die Planung einberechnen, meinst du nicht? Aber ich danke dir, vielmals.“ „Dafür nicht.“ Und er meinte es ernst. Sie musste ihm für gar nichts dankbar sein. Ganz im Gegenteil. Schon so oft hatte sie bewiesen, wie viel ihr an ihm lag. Sie zeigte nie Angst, wenn er sich in einen Wolf verwandelte und selbst dann nicht, wenn er ihr vor Augen führte, wie gefährlich er sein konnte. Er wollte sie natürlich nicht verscheuchen, aber manchmal glaubte er, sie unterschätzte seine Kräfte. Nur eine falsche Bewegung und sie würde durch seine eigene Hand sterben. Jedes Mal, wenn sie nachts allein waren, hatte er Angst, etwas falsch zu machen, sie zu verletzen. Das würde er sich niemals verzeihen können. Aber seine Gefühle für sie waren ebenso unerschütterlich. Es war für ihn nicht möglich, sich fern- oder zurückzuhalten. Er hatte ihr und auch ihrem Vater ein Versprechen gegeben. Und die würde er halten. Egal, was auch passierte. „Schatz, ist alles in Ordnung?“ Er wandte sein Gesicht kurz zu ihr um und lächelte sie an. „Aber ja, ich war nur ein wenig in Gedanken. …Wir sind gleich da, das ging ja schnell.“ „Du bist zwischendurch auch etwas schneller gefahren als sonst.“ Das war ihm gar nicht aufgefallen. Und es bedeutete, dass er sie eine Weile nicht sehen würde, was ihn wiederum traurig stimmte. „Du willst wirklich nicht zum Mittagessen bleiben?“, fragte sie leise und fuhr mit ihrer Hand durch die Luft, außerhalb des Autos. „Mein Vater hat mich um einen Gefallen gebeten, tut mir leid. Außerdem sollte ich mich mal wieder öfter bei ihnen blicken lassen. Und ich hole dich morgen doch zu der Party ab.“ „Es bleibt dabei, dass wir ein bisschen früher hinfahren, um ein paar letzte Handgriffe zu machen, ja?“ „Na klar. Sean weiß auch schon bescheid und der wird Carly abholen, oder?“ „Davon gehe ich aus. Die beiden sind ja ebenfalls unzertrennlich.“ Er hielt vor dem hübschen Haus und stellte den Motor ab. Dann stiegen beide gemeinsam aus und er begleitete sie bis zur Haustür. „Ruh dich noch ein bisschen aus, ich ruf dich heute Abend noch kurz an, ja?“ „Gut.“ Ihre Hände berührten seine Brust und sein Herz begann schneller zu schlagen. Das passierte nach all der Zeit noch immer. „Du fehlst mir jetzt schon“, hauchte sie und richtete den Kragen seines Hemdes, um sich zu beschäftigen und ihm nicht in die Augen blicken zu müssen. Er lächelte warm auf sie hinunter und umarmte sie fest. Sie wirkte so klein und zerbrechlich und dann fiel ihm ein, dass sie wahrscheinlich an den nächsten Morgen dachte. Der Besuch am Grab ihrer Mutter stand ihr vor der Feier noch bevor. „Du mir auch. Du kannst mich morgen Vormittag gern anrufen, wenn du möchtest.“ Lilly nickte und ihre Augen tauchten in die seinen. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. „Bis dann“, wisperte sie und strich ihm über die Wange. „Bis dann“, antwortete er ebenso leise und ließ sie ganz langsam los. Er trat die Treppen hinunter und spürte, wie sie ihm nachsah. „Ach, Taylor?“ „Ja?“ „Keine Dummheiten, bitte!“ „Ist gut“, grinste er zurück und stieg dann ins Auto. Während sie ins Haus ging, startete er den Motor und blickte auf die geschlossene Tür. ‚Sie war so anders‘, dachte er und lenkte seinen Wagen auf die Straße. ‚Es wird am morgigen Tag liegen, das ist sicher alles.‘

 

28. August  (Bitte, verzeih mir, Liebling.)

Zurückblickend betrachtet erscheint mir von diesem Tag an Einiges klarer. Es ist nicht die Tatsache, dass ich nun die Wahrheit weiß, sondern, dass ich endlich die Gewissheit habe, dass ich mich all die Zeit nicht geirrt habe. Dieser eine Augenblick, der unser Leben für immer verändern würde, war nun völlig einleuchtend. Immer noch grausam, aber ich werde endlich in der Lage sein freier zu atmen. Einzig und allein darum geht es, glaube ich. Mich endlich von allem zu lösen, was mich gefangen hält in der Vergangenheit, nicht in der Lage auf die Zukunft zu sehen. Vielleicht ist es genau deshalb so einfach zu gehen… Auch wenn ich gebrochene Herzen und ein wundervolles Leben zurücklasse.

Ich hoffe, dass du mir eines Tages vergeben kannst. Auch wenn du es jetzt noch nicht verstehst, aber sei stark. Es wird der Tag kommen, wenn er auch noch in weiter Ferne liegt, an dem dir alles erklärt wird. Ich wünschte, ich könnte an deiner Seite sein. Ich wünschte wirklich, ich würde den Rest meines Lebens mit dir gemeinsam verbringen. Aber wir alle haben unsere Aufgaben. Und meine wird mich heute an einen anderen Ort führen. Verzeih mir. Doch, bitte, vergiss niemals, dass ich dich mehr liebe, als je einen Menschen zuvor.

 

Nachdem er die Erledigungen für seinen Vater gemacht hatte, parkte er das Auto vor dem Haus und nahm die Tüten vom Beifahrersitz. Noch ehe die Tür zuschlug, roch er den schwarzen Wolf in der Nähe des Hauses. Er drehte sich um, doch im Wald war nichts zu sehen, alles war ruhig. Und er schien sich auch nicht näher auf das Grundstück zu zubewegen. Ganz im Gegenteil. ‚Keine Dummheiten, ich hatte es versprochen.‘ Die Tüten in einem Arm und den Autoschlüssel in der anderen Hand, erklomm er die Stufen zum Hauseingang. Hinter diesem waren bereits die Schritte seines Bruders zu hören. „Wir haben uns schon gewundert, wo du solange bleibst. Warst du in einem anderen Bundesstaat einkaufen, oder was?“ „Halt die Klappe. Du hättest auch fahren können. Mal sehen, wie lange du gebraucht hättest, wenn all die älteren Damen dich bitten, sie vorzulassen und dann einen Einkauf für drei Monate aufs Band legen.“ „Wie viele waren es denn?“, fragte nun sein Vater und blickte ihn aus merkwürdigen Augen an. „Vier. Ich habe schließlich deine Erziehung genossen.“ Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Geruch Lillys in der Luft lag. „Guter Junge. Hast du alles bekommen?“ Sein Bruder rieb ihm über den Kopf. „Ja. Würde mir mal jemand erklären, warum ich Lilly hier rieche?“ „Weil sie oft in deinem Auto sitzt und der Duft nicht mehr aus deiner Nase geht?!“ Beide wandten sich von ihm ab. „Hey!“, rief er und sie stoppten, weil sie den Zorn spüren konnten, „Ich hätte gern eine ehrliche Antwort.“ „Sie war vorhin hier und ist vor ein paar Minuten wieder weg“, meinte sein Vater und blickte ihn ernst an. All seine Sinne suchten den Wald um das Haus herum ab, doch er spürte sie nicht. „Sie ist allein gefahren?“ „Ja.“ „Warum…warum war sie hier?“ Beide starrten einander emotionslos an und dann war es Taylor, der nach einer Weile wieder die Stimme nutzte. „Das hast du nicht getan!“ „Doch. Und du wusstest, dass ich es tun würde, wenn sie mich darum bittet. Ich wollte standhaft bleiben, aber sie flehte mich an. Von Anfang an habe ich keinen Hehl daraus gemacht, dass es ihr zusteht. Auch dir habe ich das gesagt.“ „Dann hättest du es mich tun lassen sollen.“ „Wenn du es bis heute nicht geschafft hast, hättest du es auch jetzt nicht gekonnt. Das wissen wir alle.“ „Und dann habt ihr sie einfach alleine fahren lassen?“ „Wir mussten es ihr hoch und heilig versprechen.“ „Und du weißt, wie sie einem so ein Versprechen abverlangen kann?!“ Die Faust Taylors schnellte in Richtung Sean und der wurde prompt an der Wange getroffen und in die Küche geschleudert. Noch ehe sie ihn aufhalten konnten, verschwand er nach draußen.

„Du hättest ihn auch anders provozieren können…“ „Damit er sich auf den Wolf stürzt? Ich bin doch nicht bescheuert. Jetzt denkt er nur noch an Lilly und ist seine Wut los. Und das ist alles, was wir noch tun konnten.“ „Ja, ich hoffe, er findet sie früher als Der.“ Sean wischte sich das Blut von der Lippe und sammelte das Obst vom Boden auf. „Taylor macht das schon.“ „Ich weiß, aber dein Bruder ist… Er wird sich an seinen Schwur halten.“ „Ja, verdammt. In dieser Hinsicht sind wir endlich mal einer Meinung. Würde es dabei um Carly und mich gehen, würde ich ebenso handeln. Dieser Dreckskerl hätte bestimmt nichts zu lachen. Und am liebsten wäre ich jetzt dabei… Die kleine Lilly ist mir ebenso sehr ans Herz gewachsen wie dir. Sie hat vom ersten Tag an zu uns gehört. Und versuch nicht, mich anzulügen. Du hast es doch ebenso gespürt, wie ich. In dem Moment, als er sie hierher brachte und sie dir vorstellte, passierte es. Lilly war sofort mit uns verbunden. Sie ist mit ihm verbunden für den Rest ihres Lebens und wird auf ewig ein Teil unserer Familie sein.“ „Ja, ich habe es natürlich gespürt. Und ich kenne dieses Gefühl. Es war wie bei eurer Mutter.“

 

In seinem ganzen Leben war er als Wolf noch nie so schnell unterwegs gewesen. Er hetzte durch den Wald, die Nase immer in der Luft, um Lillys Duft sofort aufzufangen. Und innerlich rang er mit sich, ob er dafür bereit war auch ihr Blut riechen zu können. ‚Um Himmels Willen, hier irgendwo muss sie doch sein.‘ Da tauchte das schwarze Tier vor ihm auf. „Der Schoßhund. Lange nicht gesehen. Suchst du jemand Bestimmten?“ „Wo ist sie? Was hast du mit ihr gemacht?“ „Mit wem?“ „Tu nicht so blöd. Lilly, wo ist sie?“ „Ach, ist ihr endlich klar geworden, wie erbärmlich du bist und ist dir davon gerannt?! Bravo, der erste Schritt in die richtige Richtung!“ „Verdammt, lass deine Spielchen.“ „So amüsant es mit dir auch ist, aber sie war nicht hier. Ich habe sie seit der letzten blutigen Begegnung mit dir, nicht gesehen. Sollte sie denn etwas von mir wollen?“ „Außer dich zu töten?“ „Oh, nun werde mal nicht gleich unverschämt. Die Kleine könnte mir niemals etwas antun…“ „Du meinst, weil sie bisher nicht wusste, was du vor ein paar Jahren angestellt hast?“ Der Schwarze bleckte die Zähne. „Also habt ihr, ihr endlich mal die ganze Geschichte erzählt? Schön, dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann sie zu mir kommt. Ich werde nett zu ihr sein, versprochen.“ „Du…“ Von irgendwo hörte er ein hohes Klingeln. Endlich begriff er und verwandelte sich in seine menschliche Gestalt zurück, damit er an sein Handy gehen konnte. „Wo bist du?“ Am anderen Ende war es still, dann endlich sprach sie: „Alles in Ordnung bei dir? Ich bin zu Hause, warum?“ Ein Seufzer entrang sich seiner Kehle. „Meine Güte, ich hatte Angst, weil mein Vater… Weißt du was, das können wir auch später bereden. Was gibt es?“ „Ich wollte eigentlich nur sicher gehen, dass du nicht dort bist, wo du eben mich vermutet hast!“ „Dann würde ich vorschlagen, dass wir in einer Viertelstunde noch mal telefonieren. Bis später!“ „Taylor…“ Er legte auf. „Furchtbar, wie man sein Leben freiwillig in so einem Körper verbringen wollen kann. Menschen sind niedere Kreaturen, die keinen Sinn für Freiheit und Leben haben. Widerlich sich dem anzupassen.“ Zwei Wölfe starrten einander wieder an. „Sagt ausgerechnet einer, der sich seinen niederen Instinkten hingibt und alles vernichtet, was ihm in den Weg kommt.“ „Da irrst du dich. Schließlich lebt deine kleine Freundin noch.“ „Ja, dein Glück.“ „Mir schlottern die Knie… Wollen wir es endlich beenden?“ „Danke, aber ich werde jetzt nach Hause gehen. Aber davon verstehst du nichts.“ Es fauchte hinter ihm, doch er wusste, dass er ihn nicht verfolgen würde. Und so rannte er zum Haus zurück und atmete erleichtert auf, als sein Handy kurz darauf wieder klingelte und er sich seine Standpauke anhörte.

„Wieso legst du einfach auf? Damit hast du es nicht gerade besser gemacht. Warte ab, wenn ich dich morgen in die Finger kriege, kannst du was erleben. Verdammt, Taylor, vielleicht rufst du mich vorher an und fragst mal wo ich bin, ehe du auf eigene Faust in den Wald rennst und Ihm begegnest.“ „Hey, das klingt, als würdest du mir einen Sieg gar nicht zutrauen“, meinte er leise und sie stieß einen erstickten Laut aus. „Darum geht es überhaupt nicht und das habe ich auch nicht gedacht, aber…ach, verdammt, was rege ich mich eigentlich noch auf? Du wirst beim nächsten Mal genauso handeln, also spar ich mir meinen Atem lieber.“ „Du schreist mich also noch schlimmer an, wenn ich es wieder tue?“ „Du bist echt ein hoffnungsloser Fall, Taylor Wood…“ „Kommt da noch ein positiver Kommentar?“ „Wozu? Wäre doch Verschwendung. Wenn du unbedingt umgebracht werden willst, los, nur zu. Aber denk das nächste Mal einfach an meine Gefühle.“ „Genau darum bin ich ja in den Wald. Weil ich nur an dich gedacht habe. Wenn ich dich verloren hätte…“ Er ließ sich auf den Stufen der Veranda nieder und strich sich über Stirn und Haar. „Wieso hast du es mir nicht erzählt?“, fragte sie zaghaft und er hörte, wie sie am anderen Ende das Fenster öffnete. Wahrscheinlich setzte sie sich gerade davor und sah hinaus auf den Sonnenuntergang. Den, den er selbst nur verschwommen durch die Bäume betrachten konnte.
 

Lange hörte ich nichts von ihm, nur das leise ruhige Atmen. „Ich könnte sagen, weil ich nicht die richtigen Worte gefunden hätte. Oder, weil ich dich nicht kränken wollte, weil ich dich dann daran erinnert hätte. Aber…“ Er stockte und ich ließ ihm alle Zeit, die er brauchte. „…wenn ich ganz ehrlich sein soll, dann…hatte ich einfach Angst.“ „Wovor?“ „Dich zu verlieren. Ich dachte, du würdest das tun, was ich eben von dir erwartet habe. Ich meine, du hättest das Recht dazu, wirklich. Aber, wenn ich dich verliere, dann wäre meine Welt völlig... Allein der Gedanke, dass du dich freiwillig zu diesem Monster begibst und er dich…ich hätte es einfach nicht ertragen. Meine Angst war zu groß, darum habe ich dir nichts gesagt.“ Ich konnte einfach nicht sprechen. Ein Kloß schnürte mir die Kehle zu und ich versuchte die Tränen und das Schluchzen herunter zu schlucken. Ich hatte immer gedacht, dass er so etwas nicht fühlte. Angst. Für mich war er der Felsen in der tosenden See, der jedem Sturm trotzte und sich niemals beirren ließ. Aber es ging ihm so wie mir. Er hatte ebensolche Angst die Dinge zu verlieren, die ihm am wichtigsten waren, wie jeder andere auch. Ich wollte jetzt bei ihm sein, ich wollte ihn in den Arm nehmen, um ihn wieder lächeln zu sehen. Um ihm zu sagen, dass ich ihn liebte und ihn niemals freiwillig verlassen würde. Stattdessen saß ich noch immer am Boden meines Zimmers und umklammerte mit meiner freien Hand meine Brust. Mein Herz schmerzte so unglaublich, dass ich glaubte, es würde zerspringen. Ich hörte ihn so laut und klar, wie nie zuvor. Er rief mich zu sich, lockte mich mit stillen grauenvollen Versprechungen, in dem er mir Bilder sandte. Taylor, sprich mit mir, lenk mich ab, dachte ich und konnte es nicht aussprechen. Noch immer war meine Kehle wie zugeschnürt. Mein Blut rauschte durch meinen Körper, versetzte mir Adrenalinschübe. Seine Stimme wurde lauter, so als käme er selbst näher. Mit letzter Kraft richtete ich mich auf, hielt mich am Rahmen fest und zog das Fenster mit einem Rumms herunter. Und blieb am Boden liegen. Ich zitterte am ganzen Leib. Ich wusste, dass ihn das bisschen Glas und Holz nicht abhalten würde. Wusste, dass er es sich in den Kopf gesetzt hatte und durchführen würde. Er hatte so lange gewartet und war es endgültig leid. Mein Brustkorb stand kurz davor zu Bersten. Ich konnte immer stärker fühlen, wie er mich zu sich zog. Seine Stimme drang leise und stetig durch die Hauswand. „Lilly, du hast allen Grund wütend auch mich zu sein“, drang es durch den Hörer. Ich bin nicht wütend, wirklich nicht. Stumme Tränen rannen über meine Wangen, verfingen sich in meinem Haar, das ausgebreitet auf dem Boden lag. „Und ich verstehe, wenn du dich eine Weile zurückziehen willst.“ Nein, nicht. Leg nicht auf! Mein Blick wurde trüb und mir blieb die Luft weg. „Aber ich hol dich morgen ab und wir reden ganz in Ruhe darüber. Bitte!“ Hilf mir, ich bin hilflos ohne dich! Ich war es schon immer. Ich habe so unglaubliche Angst vor ihm. Ich bin nicht so stark, wie ich immer tue. „Ich liebe dich, Lilly. …Bitte, sag was!“ Meine Lippen öffneten sich leicht, doch es kam kein Laut aus meinem Mund. Ich blickte auf das Display, las immer wieder seinen Namen. Flehte alles an, was mich in diesem Zustand noch hören konnte. „Bitte…“, hauchte er in den Hörer. Ich konnte sein flehendes Gesicht vor mir sehen. Dachte daran, wie sehr es ihn jetzt verletzte und dann… Ein ohrenbetäubender Knall erlöste mich, ich bäumte mich auf und ein heller lauter Schrei entfuhr meiner Kehle. Das Fenster barst und tausende Scherben prasselten auf mich nieder.

 

Einen so markerschütternden Schrei hatte er noch nie gehört. Selbst seine Mutter in ihrem Todeskampf hatte nicht solchen Schmerz aus ihrem Leib geschrien. Er spürte die Anwesenheit seines Vaters und seines Bruders hinter sich. „Was war das? Taylor, war das…?“ Er konnte nicht sprechen. Das Handy glitt aus seiner Hand und fiel schellend zu Boden. Und eine Antwort war ebenso wenig nötig. Sie alle konnten es auch über die Entfernung riechen. Da mischten sich die Gerüche von Schießpulver und frischem Blut. Das warme sonst so lebensbejahende Blut von Lillian Connor. Er konnte nicht mehr klar denken und lief. Lief so schnell er konnte, während sich seine Krallen in den leicht feuchten Waldboden senkten. Nur diesem einen Gedanken folgend, als er über morsche umgestürzte Bäume flog. Sie muss einfach noch leben! Und dann erklang in der Ferne ein weiterer Schuss.

 

Krankenwagen und Polizei waren bereits vor Ort und dabei hatte er gedacht, er würde schneller sein als sie. Er folgte ihrem Duft und verbannte jeden Gedanken, dass sie irgendwo hingegangen war, wohin er ihr nicht folgen konnte. Viele Menschen standen um die Absperrungen herum, reckten ihre Hälse und versuchten einen Blick auf Verletzte zu erhaschen. Es widerte ihn an und er schlich sich etwas am Rande unter dem gelben Band hindurch. Er musste sie sehen. Musste sich vergewissern, dass es ihr gut ging. Er konnte ihren Vater riechen, der im Wohnzimmer auf der Couch saß und den Blick gesenkt hielt. Sein Gewehr lag vor ihm auf dem kleinen Holztisch. Noch immer haftete der Geruch von Schießpulver und Angst an dem Mann. Taylor konnte die kalte Luft spüren, die von oben über die Treppe zu ihm herunter wehte. Ein Polizist drängelte sich an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Dann ein Sanitäter, der die Stufen herunterkam und den Kopf schüttelte. Er hatte das Gefühl sich übergeben und gleichzeitig schreien zu müssen. Wieso sprach niemand? Und erst jetzt bemerkte er die vollkommene Stille um sich herum. So als schwebe ein einziges Wort über allem und wartete darauf, dass es ausgesprochen werden würde. Aber er wollte es nicht einmal denken, aus Angst, es würde dann Wirklichkeit werden. Er konnte sich nicht rühren und doch wollte er hinaufgehen und in ihr Zimmer sehen. Wollte sicher gehen, dass er sich irrte. Sie alle sich irrten. Noch immer umhüllte ihn der süße Duft ihres Blutes. Taylor senkte den Blick und schloss kurz die Augen. Konzentriert darauf, sich nicht vorzustellen, was ihr zugestoßen war. Ihr Vater holte zitternd Luft und nickte als ein Polizist etwas fragte. Der Sanitäter, der vorhin den Kopf geschüttelt hatte, hockte sich vor ihn und untersuchte, ob er einen Schock erlitten hatte. Ein Mann, fast vollkommen in schwarz gekleidet, stand plötzlich im Türrahmen. Nur sein reines weißes Hemd leuchtete unter dem Licht der Lampe des Wohnzimmers auf. Er richtete seine Krawatte und blickte den nächstbesten Officer an. „Wo ist sie?“, fragte er leise mit kurzem Blick auf Dr. Connor und folgte dann dem Fingerzeig des Mannes vor sich. „Wie schlimm ist es?“ „Das sollten Sie besser selbst entscheiden.“ Taylor stockte das Herz. Und auch sein Magen versuchte noch einmal zu rebellieren. Stell es dir nicht vor, tu es nicht. Der Mann in Schwarz setzte sich sehr langsam in Bewegung. Es reizte ihn wohl auch nicht all zu sehr, das ganze Ausmaß zu sehen. Mit einem letzten Blick auf Dr. Connors blasses Gesicht, schritt auch Taylor die Stufen hinauf. Es war ein Leichtes an all den Leuten vorbei zu kommen. Innerlich wappnete er sich für alles, was da kommen möge. Je näher er ihrer Zimmertür kam, umso nervöser wurde er. Er öffnete vorsichtig und atemlos die Tür, den Knauf fest umschlossen.

Es war, als hätte ihm jemand mit einem schnellen Schnitt die Synapsen seines Gehirnes gekappt. Das Fenster war völlig hinüber und überall auf dem Boden lagen Scherben, wie kleine glitzernde Kristalle verteilt. Dazwischen hatten sich weiße Federn, besprenkelt mit Blutstropfen, einen Platz gesucht. Unter der Fensterbank sah er die zerfetzten Reste der kleinen Kissen, auf denen Lilly schon so oft gesessen und auf ihn gewartet hatte. Zwei Polizisten, ein Sanitäter und der Mann in Schwarz standen mit ihm im Raum, doch es kümmerte sich keiner um ihn. Sie waren alle zu sehr mit der Person auf dem Bett beschäftigt, die sich angestrengt die Augen rieb. „Hören Sie mir doch zu. Es geht mir gut. Ich möchte doch einfach nur kurz telefonieren, bitte.“ „Ms. Connor, Sie haben einen Schock erlitten…“, versuchte der Mann in Schwarz sie zu beschwichtigen, doch sie schüttelte vehement den Kopf. „Aber genau das versuche ich Ihnen und all den anderen Leuten doch klar zu machen. Ich stehe nicht unter Schock. Sonst würde ich wohl kaum mit Ihnen reden, Dr. Benning. Bitte, lassen Sie mich telefonieren und danach können Sie sich gern mit meiner Psyche beschäftigen.“ Der Typ war also ein Psychiater. Ja, er hatte davon gehört, dass in gewissen Fällen solche Doktoren zu den Tatorten gerufen wurden, um Beteiligten und Angehörigen Halt zu vermitteln und ihnen ein wenig die Angst zu nehmen. Und gegebenenfalls auch um einem Trauma entgegen zu wirken. Sein Blick haftete auf ihrem Gesicht. Feine schmale Kratzer und Schnitte bedeckten ihre Wangen, Hände, Arme und Schultern. Ihr Top war auf einer Seite blutgetränkt und Tränen hafteten in ihren Wimpern. „Ms. Connor, beruhigen Sie sich doch!“ „Ich bin vollkommen ruhig!“ Er wusste, dass das nicht stimmte, weil er ihren Herzschlag förmlich durch den Boden fühlen konnte. „Lassen Sie mich… Ich muss nur… Mein Verlobter, er weiß doch nicht…“ Und dann streifte ihr Blick den seinen, sie schlug die Hand vor den Mund und richtete sich auf. Es brauchte nur zwei Schritte, um bei ihr zu sein, sie zu stützen und sie fest in die Arme zu schließen, während sie beide zu Boden sanken. Er fühlte ihre heißen Tränen auf seiner Haut und empfand es als das befreiendste Gefühl, das jemals seinen Körper durchdrungen hatte. „Es ist gut, alles ist in Ordnung. Du bist hier, alles ist gut!“ Er wiederholte es immer wieder, betete es wie eine geheime Formel vor sich her. Und beide wussten sie, dass er es mehr zu sich selbst sagte. Ihr von Schluchzern bebender Körper war so zerbrechlich, so klein in seinen Armen. Seine Hand strich immer wieder liebevoll über ihr Haar, seine Lippen flüsterten ihr leise beruhigende Worte ins Ohr und dann fühlte er ihre Hände selbst durch sein T-Shirt. Sie musste furchtbare Angst gehabt haben. Ihre eiskalten Finger legten sich auf seine Brust, doch er zuckte nicht vor der Kälte zurück. Während er die Augen kurz schloss und ihren Scheitel küsste, hörte er die leisen Schritte der Männer, die sich aus dem Zimmer entfernten. Sein Herz schlug ruhig unter ihren Händen weiter, weil er wusste, dass es das war, was sie jetzt brauchte. Kein einziges Wort hätte ihr zu sagen vermocht, was sein Herz konnte. Jede Faser seines Körpers war auf sie gerichtet. Er lauschte und hörte ihren leisen, gleichmäßigen Atem, als sie in seinen Armen eingeschlafen war. Dann trug er sie auf den Armen nach unten und mit einem aufmunterndem Blick zu ihrem Vater, bog er in dessen Schlafzimmer ab. Als er sie losließ, um sich einen Stuhl heranzuziehen, seufzte sie auf. „Geh nicht weg, Taylor. Lass mich nicht allein“, flehte sie und griff nach seiner Hand. Sie begann wieder zu weinen. „Halt mich fest, ganz fest, bitte.“ Er schob sie vorsichtig ein Stück zurück, um sich neben sie zu legen und sie dann wieder an sich zu ziehen. Lilly vergrub ihr Gesicht an seinem Hals und zitterte entsetzlich. Und dann wisperte sie genau das, nah an seinem Ohr, was er bis vor wenigen Augenblicken selbst noch geglaubt hatte: „Ich dachte, ich sehe dich nie wieder!“ Lavendel, schrie es in ihm. Er brauchte jetzt ihren Duft, der ihm die Sinne vernebeln sollte, ihn vergessen machen sollte. Doch so fest er sie auch an sich presste, so sehr er sich bemühte, es brachte das Beben, tief in seinem Innern nicht zum Ersterben. Sie zuckte unter seinem Griff zusammen, hielt sich mit einer Hand die blutbefleckte Seite ihres Tops. Und ließ dennoch nicht zu, dass er seine Arme um sie lockerte. „Was ist…?“ „Ein leichter Streifschuss.“ Taylor zog scharf die Luft ein, so als hätte man ihm geradewegs in die Magenkuhle geschlagen. „Es war keine Absicht. …Der Wolf hatte mich als Schutzschild benutzt.“ Was es in seinen Augen auch nicht besser machte. Obwohl er ihrem Vater auch niemals Absicht unterstellt hätte. „Der erste Schuss traf ihn noch im Sprung, der Zweite sollte ihn töten, aber er reagierte schnell und schubste mich vor sich, als mein Vater abdrückte.“ Taylor wollte mehr erfahren, aber sie schüttelte den Kopf, als sie das erkannte und legte ihren Kopf in seine Armbeuge. Wieder blickte er auf die zierliche Gestalt neben sich und strich ihr über die Wange, woraufhin sie die Augen schloss. Es war immer nur Fassade gewesen. All ihre Bekundungen, sie habe keine Angst und sei stark. Alles Lüge, nur um ihm keine Sorgen zu bereiten. Und jetzt lag sie da, verwundbar, tränenüberströmt und so unglaublich unschuldig. Ihre Lippen waren leicht geöffnet und nun fielen auch all seine Schutzmauern.

 

Heißes Nass traf meine Wange und ich blickte müde zu Taylor auf. In seinem Augenwinkel hing eine Träne und er flüsterte: „Verzeih mir. Es tut mir so unsagbar leid, Lilly.“ „Aber…“ „Ich habe dir einen Schwur geleistet, aber er ist mir immer einen Schritt voraus. Sobald ich glaube, er würde sich zurückziehen, stößt er wieder hervor und verletzt dich erneut. Ich will das nicht mehr! Ich will einfach nicht mehr so schwach sein, dass ich das Wichtigste in meinem Leben nicht schützen kann. Wir werden heiraten, so schnell wie möglich, damit ich Tag und Nacht an deiner Seite sein kann.“ „Es geht ihm nicht nur um mich, Taylor. Solange es einen Weg gibt, dich zu verletzen, auch ohne sich körperlich mit dir zu messen, wird er diesen gehen. Solange es mich…“ „Hör auf! Sag es nicht!“ Sein Arm, der eben noch beruhigend meinen Körper umschlungen hatte, legte sich über seine Augen, während er sich auf den Rücken rollte. So lag er eine ganze Weile da, sein Brustkorb hob und senkte sich heftig mit jedem tiefen Atemzug. Ich wollte die Traurigkeit und die Hilflosigkeit von seinem Gesicht wischen, aber ich fand einfach keine tröstenden Worte, die das hätten tun können. Mein Herz stach und brannte noch immer und mein Körper verspürte noch immer das leise Verlangen Ihm in die Wälder zu folgen, Ihm zu gehorchen. Ich war wütend auf mich selbst, weil ich das Gefühl hatte, Ihm widerstehen zu können, wenn ich es nur richtig versuchte und es trotzdem nicht tat. „Mein Zimmer war in den letzten Jahren immer ein sicherer Hafen für mich gewesen. Ein Zufluchtsort, um mich vor den Dingen, die draußen geschahen und die ich nicht beeinflussen konnte, zu schützen… Er hat mir das kaputt gemacht. Er hat das mit Füßen getreten.“ „Dann komm mit zu mir! Bleib heute Nacht bei mir.“ Ich sah zu ihm, er hatte seine Position nicht verändert, aber unter dem Schatten seines Armes, bemerkte ich, dass er die Augen geöffnet hatte und mich fixierte. „Deinen Vater lassen wir natürlich nicht alleine hier. Er kann auch mitkommen. Die Couch im Wohnzimmer ist ausklappbar.“ Er hatte diesen entschlossenen Gesichtsausdruck und irgendwas sagte mir, dass er keine Widerrede dulden würde. Ich nickte langsam.

 

Nachdem Polizei, Psychiater und Sanitäter endlich aus dem Haus verschwunden und das gelbe Absperrband mitgenommen hatten, war es endlich wieder ruhig. Auch die ‚widerwärtigen Gaffer‘, wie Taylor sie nannte, waren fort. Mein Vater sah immer noch schlecht aus. Er konnte es einfach nicht verkraften, dass er mich verletzt hatte, obwohl ich ihm schon tausend Mal beteuert hatte, dass ich ihm nicht im Geringsten böse war. Ohne ihn wäre ich wahrscheinlich tot. Den Vorschlag, nicht in unserem Haus die Nacht zu verbringen und bei anderen unterzukommen, nahm er mit Freuden an. Er schien sich nach alledem auch nicht mehr sehr sicher zu fühlen. Doch zu den Woods wollte er nicht. Nicht, weil er sie nicht mochte, sondern weil er sich bei Billard und Bier beruhigen und dann bei Murray unterkommen wollte. Zuerst schien er jedoch skeptisch, mich mit den Woods im Wald zu lassen, wo doch der Wolf dort unterwegs war. Dann nach vielem Wenn und Aber ließ er sich endlich überreden. Ich war so unglaublich müde, dass mir sogar auf der Fahrt zu den Woods die Augen zufielen. Sean, Kenneth und auch Carly, die von Taylor informiert worden waren, warteten bereits auf der Veranda. Jeder drückte mich einmal fest an sich und versuchte mich anzulächeln, doch es fiel ihnen sichtlich schwer. Später, als es bereits dunkel war und sich der Mond in seiner schönsten Pracht über dem Nachthimmel zeigte, lag ich noch immer wach. Ich hatte das Gästezimmer bekommen, doch obwohl ich noch immer müde war, konnte ich nicht einschlafen. (Carly war von Sean nach Hause gebracht worden, obwohl sie zuerst mit mir in einem Zimmer schlafen wollte. Aber ihre Eltern hielten das, wegen des Waldes ergo Wolfes, nicht für so gut und zitierten sie zurück.) Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere und fand keine richtige Position. Dann seufzte ich resignierend und klemmte mir das Kissen unter den Arm. Er sah einfach göttlich aus, wenn er schlief. Der Mond erhellte sein Zimmer und ich sah jedes Detail seines Gesichtes. „Was ist los?“, fragte er, doch seine Augen öffnete er nicht. „Ich schwöre dir, ich habe es wirklich versucht…“ Er drehte seinen Kopf zu mir und sah mich an. „…aber ohne dich neben mir, kann ich einfach nicht einschlafen.“ Taylor verzog keine Miene und sagte auch nichts, aber er schlug seine Bettdecke zurück und hieß mich in seiner wundervollen warmen Welt willkommen. Erst jetzt bemerkte ich, wie entsetzlich ich gefroren hatte.
 

Es war einfach unglaublich. Er wusste nicht, wie lange er schon so dalag, aber an Schlaf war nicht zu denken. Nur diese eine Wand, das war einfach grotesk. Er konnte ihren Herzschlag hindurch spüren, konnte hören wie sie sich im Bett umherwälzte, konnte ihre Sehnsucht förmlich riechen. So etwas Lächerliches. Dass sie überhaupt eingewilligt hatte im Gästezimmer zu schlafen und nicht gleich herübergekommen war, hatte ihn schon ein wenig erschreckt. Obwohl es in diesem Haus, mit diesen Mitbewohnern, wohl doch sehr schlau war. Er würde sich und sein Herz nicht unter Kontrolle haben, wenn sie bei ihm wäre und das würden natürlich auch die beiden Anderen mitbekommen. Sein Vater ließ ihm viele Freiheiten, aber ausreizen sollte er es wohl doch nicht. Und dennoch… Er hörte ihre federleichten Schritte und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Zunächst ließ er sich nichts anmerken, aber dann, nachdem er sie angeblickt hatte, rutschte ihm das Herz doch in die Hose. Sie sah einfach wie ein kleiner verlorener Engel aus. Die Lider halb geschlossen, die Wangen leicht gerötet, sich verlegen auf die Unterlippe beißend. Und dann machte er die Silhouette ihres perfekten Körpers unter dem, im Mondschein sehr durchscheinenden langen T-Shirt aus. Es trieb ihn in den Wahnsinn, als sie dann auch noch völlig unschuldig meinte: „…aber ohne dich neben mir, kann ich einfach nicht einschlafen.“ Sie ist einfach zuckersüß, wenn sie für etwas um Erlaubnis bittet, dass sie auch so von mir bekommen würde, dachte er und schlug gespielt teilnahmslos die Bettdecke zurück. Eine Weile lagen sie schon nebeneinander und endlich war sie wieder warm. „Bist du böse auf mich?“, wisperte sie leise und hatte insgeheim wohl damit gerechnet, dass er bereits schlief. „Nein, wieso?“ „Du bist seit vorhin so anders und da dachte ich, du wärst böse mit mir?!“ Er konnte spüren, wie alles in ihm dahin schmolz, als sie ihn schuldbewusst anblickte. Sein Blick wurde weich und er zog sie sanft an sich. „Bin ich wirklich nicht. Aber ich dachte, du würdest ein wenig Abstand brauchen…“ Er war immer leiser geworden und sie hatte sich näher an ihn kuscheln müssen, um es zu verstehen. „Von dir? Niemals!“ Ihre Hände umrahmten sein Gesicht und sie zog ihn zu sich, um ihn dann hauchzart und nur ganz kurz auf die Lippen zu küssen. Und wie, um es ihm noch besser zu beweisen, drückte sie sich nah an ihn. Der Duft ihres Körpers umhüllte ihn wie eine weiche Wolke. „Ich möchte niemals von dir getrennt werden.“ In ihren Worten las er so viel mehr und es zerriss ihm fast das Herz, dass er in all der Zeit nicht bemerkt hatte, wie verletzlich sie doch war. „Und ich möchte für dich sein, was du brauchst. Nicht nur dein Freund oder Beschützer. Ganz gleich, was es ist.“ Tränen benetzten das Kissen unter ihr und sie krallte ihre Finger in sein Hemd. „Dann sei mein Zuhause. Sei der Ort, an den ich fliehen kann und lass nicht zu, dass er mir wieder geraubt wird.“ Taylor verschränkte seine Finger mit den ihren und drückte sie rücklings ganz sanft in die Kissen zurück. Er beugte sich über sie und küsste jede ihrer Schnittwunden, jeden blauen Fleck, der sich bisher durch den Angriff gebildet hatte. Als letztes strich er sanft über den Verband an ihrem Bauch und sie ließ ihre Hände in seinem Nacken ruhen. Sie blickten einander einfach nur an und dann war es Lilly, die die Stille mit hauchzarter Stimme durchbrach: „Liebe mich.“ Er war überrascht, dass sie das einfach so aussprach, aber sie beide hatten sich an diesem Tag verändert.

 

Früh morgens schlich ich mich ins Gästezimmer zurück. Natürlich wusste ich, dass die anderen Beiden mitbekommen hatten, wie ich zu Taylor gegangen war. Aber es war der Tag, den ich so lange schon vermieden hatte, in meine Gedanken zu lassen. Ein Tag des Abschieds, der ebenso Tag der Freude werden sollte. Mein Vater hatte versprochen mich früh abzuholen und ich wollte ihn nicht warten lassen. Ich hinterließ Taylor eine Nachricht und schlüpfte noch vor dem Frühstück aus dem Haus.
 

Der Gang zum Grab war anders als zuvor. Wahrscheinlich, weil ich nun die Wahrheit kannte. Wir beide waren schnell zum Haus gefahren, um uns umzuziehen, ich hatte einen Strauß Wildblumen gepflückt und jetzt standen wir da. Mein Vater zündete ein Grablicht an und seufzte schwer. Nach all den Jahren war es für ihn noch immer so schwer und ich ahnte, dass es mir jetzt, wo ich Taylor kannte, ebenso ergangen wäre. „Dad, gibst du mir ein paar Minuten mit ihr allein?“ Er blickte mich leicht lächelnd an. „Sicher, darum wollte ich dich auch bitten. Aber mach du zuerst und lass dir ruhig Zeit.“ „Danke.“ Dann zog er sich leise zurück und besuchte ein paar andere Gräber. Freunde, Verwandte. „Hey, Mom. Ich denke, du wirst schon darüber im Bilde sein“, ich wandte meinen Kopf kurz gen Himmel, „aber ich wollte es dir trotzdem noch einmal selbst sagen. Ich liebe und ich lebe. Weißt du, ich habe mich jahrelang fehl am Platz und einsam gefühlt. Selbst Dad oder Carly wissen das nicht, ich wollte sie nicht traurig machen. Aber seitdem Taylor mich gefunden hat - das ist, wie du sicher weißt, der Mann, den ich heiraten werde - bin ich…hier. Er ist der Grund, warum ich wieder meinen Geburtstag feiern kann. Er ist es, der mir gezeigt hat, was es heißt zu lieben, wirklich zu wissen, was Liebe ist. Aber vor allem ist er das fehlende Puzzlestück zu meinem Herzen, damit es wieder schlägt.“ Ich tupfte mir die Tränen fort und holte zitternd Luft. „Ich kenne jetzt die Wahrheit über den…‘Unfall‘. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit gehabt miteinander zu reden. In der letzten Zeit ist mir das schmerzlich bewusst geworden. Aber ich weiß, dass du über uns wachst. Es muss so sein, denn sonst hätte ich schon viel öfter irgendwelche Verletzungen gehabt und du weißt, dass ich Recht habe.“ Ein hohles kurzes Lachen entfuhr meiner trockenen Kehle. „Du fehlst mir einfach wahnsinnig, Mom. Ihr beide fehlt mir und ich wünschte…ich wünschte wirklich, ich wüsste, was du gedacht hast, als es passiert ist. Tut mir leid, wenn du das für grausam hältst. Aber in meinen schwachen Momenten denke ich, dass ich es hätte verhindern können, wenn ich schon damals… Ich weiß, was du jetzt sagen wirst: Man darf sich nicht in das Schicksal einmischen. Aber es wäre doch für euch gewesen. Und für Dad. Er ist so ein wunderbarer Vater und er hat so viel mit mir durchmachen müssen in den letzten Monaten. Ich möchte mich irgendwie bei ihm revanchieren. Ich möchte, dass er wieder so lachen kann, wie wenn du mit ihm gestritten hast. Dass er einfach aufrecht stehen und von ganzem Herzen sagen kann, dass er glücklich ist. Apropos ich sollte ihn jetzt auch mal reden lassen, oder? Eines Tages werde ich dich auch einmal so besuchen kommen, aber noch tut es zu weh. Ich hoffe, du verstehst das.“ Ich erhob mich langsam und strich die Erde von meinem schwarzen Mantel. „Ach, und ehe ich es vergesse: Du bist selbstverständlich recht herzlich zu meiner Hochzeit eingeladen. Ich habe dich wahnsinnig lieb, Mom.“

 

„Ist sie gleich so früh aus dem Haus?“, fragte Sean und betrachtete sein Gesicht. „Siehst du sie hier irgendwo?“ „Na, nun sei mal nicht gleich so grantig.“ „Ich bin nicht grantig.“ „Klar, bist du das und da sollte man meinen eine Nacht mit der Freundin, Verzeihung, Verlobten sollte so was ändern.“ Es war klar, dass Sean dieses Thema anschneiden würde. Sein Vater hatte schließlich den Anstand so etwas nicht so öffentlich am Frühstückstisch zu diskutieren. Er erntete ein Räuspern von der anderen Seite des Tisches und krallte sich noch fester an ihre Nachricht.

 

Das schönste Geschenk meines Lebens bist du. Sei nicht böse, dass ich dich nicht geweckt habe. Und wie immer: Keine Dummheiten!         Lilly

 

„Wisst ihr, Jungs, ich habe über meine Erziehung nachgedacht.“ „Ach was, Paps. Du hast doch gute Manieren. Daran musst du nichts ändern.“ Ein leichter Klaps gegen Seans Hinterkopf folgte und wieder sprach sein Vater. „Ich möchte, dass ihr gute Männer werdet. Und vielleicht habe ich da bei gewissen Punkten ein bisschen…nun ja, ich hätte es anders machen sollen.“ „Dad, das mit den Blumen und den Bienen hatten wir schon und selbst wenn nicht, kommst du ein wenig zu spät“, sagte er, nicht ohne seine Schienbeine in Sicherheit zu bringen. „Bei uns beiden!“ Sean wechselte auf den Platz neben seinen Bruder und trank einen Schluck Kaffee. „Jungs, jetzt mal im Ernst. Ihr habt beide eine Freundin und seid in einem Alter, wo das ernsthafte Beziehungen sind und kein: Ach, heute geh ich mal mit der, und morgen ist dann die dran! Nehmt es ernst und verliert sie nicht, denn sie sind beide wirklich großartige junge Frauen. …Und, Sean, deinem Bruder solltest du ein bisschen was abgucken. Der verhütet nämlich.“ „Dad!“, riefen sie beide im Chor und horchten auf als sie die, sich miteinander unterhaltenden, Mädchen hörten. Als sie das Wohnzimmer betraten, sahen sie noch wie Dr. Connor wegfuhr und die beiden sich der Jacken entledigten. Lilly stand etwas unbeholfen vor ihnen und er wischte ihr vorsichtig den letzten Rest verwischten Mascara von ihrer Wange. Sie schmiegte sich an seine Hand und lächelte leicht. „Alles Gute zum Geburtstag, mein Engel.“ „Danke,…für alles und jeden Moment“, antwortete sie. Sean drängte sich vorbei und hob sie, die Hände unter ihren Armen, ein ganzes Stück hoch. „Happy Birthday! Wie ist es so mit 18?“ „Ich muss sagen“, begann sie und blickte kurz herunter, „es ist ein erhebendes Gefühl, danke.“ Sie alle lachten und Lilly bekam wieder etwas Farbe im Gesicht. Nachdem Sean sie heruntergelassen hatte, umarmte der Carly, die ebenfalls ein Tränchen im Auge hatte. Und dann war sein Vater an der Reihe. Es war das erste Mal, dass sie Kenneth verlegen sah, wie ihm schien. Dann aber umarmte er sie herzlich und wisperte: „Bleib einfach so wunderbar, wie du bist. Alles Gute!“ „Ich werde mein Bestes geben, versprochen. Und danke für diesen Sohn.“ Sie nickte kurz in seine Richtung.

 

Eine Weile später dann gingen sie gemeinsam auf sein Zimmer, wo Lilly zielstrebig das Foto neben seinem Bett ansteuerte. „Was hast du vor?“ „Das bin ich nicht mehr“, meinte sie und zog das Foto heraus, um dann ein anderes hineinzutun. Er war verwirrt. „Ich bin nicht mehr allein, siehst du?“ Sie drehte den Bilderrahmen zu ihm um und er sah ein Foto in das sie sich, ihren Worten zufolge, sofort verliebt hatte. Es war einer der wunderschönsten Sonnenuntergänge gewesen, den er je gesehen hatte, als sie gemeinsam am Strand spazieren gegangen waren. Er stand hinter ihr, die rot-orangene Sonne im Rücken, die Arme um sie geschlungen, das Kinn auf ihrer Schulter. Beide strahlten sie die gleiche Zufriedenheit aus. Jetzt lächelte er sein schiefes Lächeln, wie sie es gern bezeichnete. Sie stellte den Rahmen zurück auf seinen Platz und schlang ihre Arme um ihn. Wieder roch er sie, ohne sie sehen zu müssen - die Tränen. „Du hättest in der Nachricht auch das schreiben können, was du wirklich sagen wolltest. ‚Sei bitte da, wenn ich zurückkomme, denn ich werde dich brauchen.‘“ Er hob sie auf seine Arme und setzte sich mit ihr auf das Bett, sie sicher auf seinem Schoß, von seinen Armen fest umschlungen. „Genau deswegen habe ich es nicht getan. Ich wusste, wenn ich zurückkomme und dich sehe, fange ich an wie ein Baby zu heulen. Und dabei wollte ich es nicht. Ich habe mir deshalb alles von der Seele geredet, was ich ihr immer schon sagen wollte. Und trotzdem sitze ich hier und weine.“ Lilly vergrub ihr Gesicht in dem Kragen seines Hemdes und krallte sich auch mit den Händen an diesem fest. „Ich habe doch gesagt, ich bin, was du brauchst. Und jetzt bin ich dein Freund, der zuhört. Tränen beweisen doch nur, dass du Gefühle hast und kein alter Backfisch bist.“ Sie lachte kurz und küsste seinen Hals. Es war, als hätte sich ein kleiner Schmetterling kurz auf seine Haut gesetzt, um dann gleich wieder weiter zu fliegen. „Mach das noch mal!“ Gerade wollte sie seine Wangen berühren, doch er sagte: „Nein, nein. Am Hals!“ Sie tat es und blickte ihn perplex an. Da war er wieder, der kleine Falter. „Du hast den kleinen Schmetterling geerbt.“ Erst waren ihre blauen Augen groß wie Tellerminen, nur um dann in ein herzerweichendes Lächeln zu tauchen und in ihm das Blut zum Brodeln zu bringen. „Du bist einfach grandios, Taylor.“ „Ich weiß!“ „Und arrogant… Wieso bin ich noch gleich mit dir verlobt?“ „Das liegt doch wohl klar auf der Hand. Du bist Masochistin und meinem unbändigen Charme vollkommen erlegen!“ Sie ignorierte ihn. „Ah, mir ist der Grund wieder eingefallen!“ „Tatsächlich? Lass hören.“ Er ließ sie sachte nach hinten plumpsen, um sich dann über sie zu legen und ihren Duft in sich aufzusaugen. „Weil ich“, es folgte ein Kuss auf seine Stirn, „einfach“, einer auf das rechte Auge, „alles“, einer aufs Linke, „an dir liebe!“ Ihr Mund war so wunderbar weich, ihre Zunge so unglaublich warm und dann knabberte sie an seiner Unterlippe und sagte: „So, ich muss mich jetzt fertig machen.“ Sie entwand sich seinem Griff und schnappte ihre Tasche. „Hey, also so kommst du mir gewiss nicht davon.“ Er zog sie zurück aufs Bett und brachte sie zum Lachen, als er versuchte den Pullover aufzuknöpfen und an den kleinen Knöpfen scheiterte. „Da wirst du dich wohl bis heute Nacht gedulden müssen. Ich verspreche, den werde ich dann auch nicht mehr anhaben!“ „Hoch und heilig?“ Er ließ seinen Kopf auf ihre Brust sinken und lauschte ihrem Herzschlag. „Indianerinnen-Ehrenwort.“ Stille, dann: „Ich vergöttere dich, Lilly.“ Ihr Herz raste und schlug kräftig gegen die Rippen. Taylor sah zu ihr auf und hob die Augenbrauen. Sie sprach in einem liebevollen Ton und streichelte ihm sanft über den Kopf. „Ja, das machst du immer noch mit mir! Und jetzt lass mich gehen, sonst verpasse ich noch meine eigene Party.“

 

„MÄDELS!“, rief Sean hinauf und tippte nervös mit dem Schuh auf dem Laminat auf. Beide standen sie unten im Eingangsbereich. Schwarze Hosen, weiße Hemden und einen schwarzen Schlips. Das war die Kleiderordnung für die Jungs. „Du bist die Ungeduld in Person. Mädchen brauchen immer länger“, erklärte ihm Taylor fachmännisch. „Seit wann bist du denn der Experte? …Wenn wir rechtzeitig vor den anderen da sein wollen, müsstet ihr euch jetzt mal zu uns herunter bequemen.“ „Ruhe da unten!“, brüllte Carly zurück und lugte nur mit dem Kopf zu ihnen herunter. „Sollen wir nun die Schönsten da sein oder nicht? Außerdem startet so eine Party ohne Geburtstagskind nicht, also reg dich wieder ab.“ Seans Schultern ragten über seine Ohren, so tief war er gesunken, um ihrem bösen Blick zu entgehen. „Ist ja gut“, nuschelte er zurück und sie kam zu mir, die Hände in die Hüften gestützt. „So, wo waren wir? Ah ja. Ich wollte noch schnell den Saum richten.“ „Carly, das ist wirklich wundervoll. Vielen Dank, noch mal.“ „Nun hör endlich auf, die ersten hundert Male waren schon zu viel. Endlich darf ich mit dir deinen Geburtstag feiern, Süße, das ist mir Lohn und Dank genug. …Dreh dich mal, ich will sehen, ob überall die Länge stimmt.“ Ich drehte mich langsam und sie prüfte mit kritischem Blick, ob alles saß, wo es hin musste. Sie hatte mir tatsächlich ein Kleid zum Geburtstag geschneidert. Eine unglaubliche Frau war das, mit verborgenen Talenten. „Supi, ich hatte ja gewusst, welche Maße du hast, aber das es so perfekt passt?! Ich bin einfach genial!“ „Da widerspreche ich nicht.“ Mit zufriedenem Nicken erlöste sie mich und ich versuchte einen Blick auf mich selbst zu erhaschen. Unglücklicherweise war sie so schlau gewesen und hatte den Spiegel in Kenneth‘ Bad, welches wir in Beschlag nehmen durften, abgedeckt. Sie sagte, sie wolle mein erstauntes Gesicht sehen und zwar als Erste. „Okay, bereit?“ Ich war nervös, wie ein Schulkind am 1. Tag. Dann nickte ich ihr zu und sie nahm den Stoff vom Spiegel. Ein paar Sekunden stockte ich. „Gibt es noch eine Steigerung zu genial?“, fragte ich und sie tippte sich mit dem Zeigefinger ans Kinn. „Weiß nicht.“ „Wenn es eine gibt, das bist dann du!“ Sie lächelte verschmitzt und machte dann einen Hofknicks. „So, du großer Maulheld“, rief sie und ich hörte, wie Sean die Hacken aneinander schlug. „Wir sind soweit. Gentleman, ich stelle Ihnen hiermit das Geburtstagskind vor!“ Ich war so aufgeregt, dass meine Knie unter mir nachzugeben drohten, doch Carly streckte eine Hand nach mir aus und ich nahm sie dankbar entgegen. Am meisten war ich natürlich auf Taylors Gesicht gespannt und trat auf den Flur im oberen Stockwerk hinaus.

 

Er und Sean hielten gleichzeitig die Luft an. Erst trat Carly hervor. Ihr Haar, vom Friseur frisch in kastanienbraun gefärbt und ein Stück kürzer geschnitten, leuchtete unter der Deckenbeleuchtung und er stupste Sean in die Seite, weil der seinen Mund nicht mehr zubekam. Sie trug ein dunkelgrünes Satinkleid, das ihr bis zu den Knien reichte und lächelte seinen Bruder atemberaubend an. „Na, warten lohnt sich wohl doch, hm?“ Alle wussten, dass sie einen Kommentar dazu geben würde und er hörte seinen Vater amüsiert losprusten. Ihr Arm würde gleich enden und dann sah er die helle Haut, die ihre leicht sonnengebräunte ablöste. Als Lilly aus dem Schatten trat, waren ihre Wangen einen Hauch gerötet und ihr Blick huschte sofort zu ihm. So als ob nur er zählte. Sein Brustkorb hob sich ganz leicht vor Stolz und er lächelte sie strahlend an, als sie oben an der Treppe zum Stehen kam. Das azurblaue Kleid umschmeichelte ihre nackten Schultern, weil die Träger so gesetzt worden waren, dass sie in der Mitte ihrer Oberarme hielten. Es endete ein Stück unter den Knien und wurde, wenn sie einen Schritt tat, immer wieder etwas hoch geweht. In ihrem Ausschnitt traf sich der geraffte Stoff mit einer silbernen Spange und brachte ihr Dekollete perfekt zur Geltung. Der Verlobungsring strahlte ihn an, als sie das Kleid ein Stück zu sich heraufzog, um die Stufen besser zu sehen. Ihr Deckhaar hatte Carly ihr kunstvoll hochgesteckt, doch den Rest hatte sie in weichen Wellen über den schmalen Rücken fallen lassen. Sie trugen den Duft von Lavendel und den süßlichen Geruch Lillys zu ihm. Am Treppenabsatz holte er sie ab. Wie ein Ritter eine Edeldame, küsste er ihren Handrücken und verneigte sich tief vor ihr. „Du bist atemberaubend schön, Lilly. Ich bin einfach sprachlos.“ Ja, das schien sie auch bemerkt zu haben, denn noch immer hielt er ihre Hand und machte keine Anstalten sie loszulassen. Verlegen senkte sie den Blick und dann sagte er: „Aber da fehlt was!“ Mit der freien Hand betastete sie ihre Ohren. „Nein, die kleinen Kreolen trage ich doch. Das ist so, wie es sein soll!“ „Nein“, begann er und ging zum kleinen Tisch im Flur zurück, wo er bis eben noch gestanden hatte. Er nahm das Samtkästchen und ging zu ihr, um es dann aufzuklappen und ihr den Inhalt zu präsentieren. „Die hier fehlt!“ „Ich habe gesagt, keine Geschenke.“ „Das ist auch kein Geschenk. Dafür gibt es bei unserem Haus keinen extravaganten Briefkasten. Ein einfacher wird reichen müssen.“ Sie sah ihn resignierend an und ließ sich die silberne Kette mit dem azurblauen Stein umlegen. „Das war also abgesprochen, hm?“ Carly starrte Löcher in die Luft und er setzte seinen liebenswürdigsten und gleichzeitig entwaffnendsten Blick auf. Sie hatte keine Chance. „Danke, ihr seid großartig. Und zwar alle.“

Dann endlich machten wir uns auf den Weg zum Strandhaus. Die Sonne begann langsam unterzugehen und ein Hauch Melancholie hing über uns. Es war das Ende des Sommers, was bedeutete, dass die freien Tage so gut wie gezählt waren. Taylors Hand ruhte auf meinem Knie, während er den Wagen langsam über den Asphalt lenkte. Carly und Sean sahen still aus dem Fenster und hielten einander bei der Hand. „Fühlst du dich wohl?“ Er bedachte mit prüfendem Blick meinen Bauch. „Ja, alles bestens. Dad hat mir auch grünes Licht gegeben. Die Wundheilung verläuft so, wie sie soll.“ „Schön.“ Wir verfielen in ein angenehmes Schweigen und ich genoss das Gefühl seiner Hand auf meiner Haut. Ganz leicht nur hatte er mein Kleid ein Stück hochgeschoben, um mich direkt zu berühren. Er ahnte nicht, wie viel Kraft mir das gab. Oder er tat es, gerade weil er es wusste. Bei Taylor war alles möglich.

 

Das Strandhaus füllte sich schnell. Alle, die ich dabei haben wollte, waren auch gekommen. Mia und Jamie, kaum auseinander zu kriegen, Kelly und Elli. Klassenkameraden, ein paar Schüler der Parallelklassen und ein-zwei Leute aus Iron City. Sie benahmen sich alle anständig und ich hatte Spaß. Es kam mir meiner Mutter gegenüber auch nicht mehr unfair vor. Ich hatte das Gefühl, dass sie zusah und genauso viel Spaß daran hatte, mich lachen zu sehen, wie es mich freute meine Freunde um mich zu haben. Mein Leben war endlich so, wie es sich für eine 18-jährige gehörte. Mal abgesehen von dem Störenfried im Wald, aber den blendete ich heute aus. Er sollte nicht ständig meine Gedanken beherrschen, dafür hatte er schon zu viel kaputt gemacht. Ich hatte gerade ein bisschen Müll weggeräumt und wollte zu Carly zurück, als mich eine warme Hand am Handgelenk in eines der leeren Zimmer zog. Er drückte mich gegen die Tür und stütze sich links und rechts neben meinem Kopf mit den Händen ab. Sein Blick bohrte sich in meinen, so als wolle er mich beschwören. „Wie lange müssen wir noch hier bleiben?“, seufzte er und lehnte seinen Kopf gegen meine nackte Schulter. „Wieso, geht es dir nicht gut?“ „Doch, aber ich halte es einfach nicht mehr aus. Ich hab dich noch nie so lange mit anderen teilen müssen. Ich bin das einfach nicht gewohnt.“ Ich lachte lautlos und küsste seine mir zugewandte Wange. „Nun, da ich Gastgeberin bin, werden wir wohl bis zum bitteren Ende ausharren müssen. Tut mir leid.“ Er stöhnte wehleidig und ich konnte seinen warmen Atem auf meiner Haut spüren. Er schwieg eine Weile. „Bleibst du noch ein paar Minuten?“ „Ja“, antwortete ich. Hinter mir dröhnte die Musik zu uns herein, doch ich fühlte nur Taylor. Seinen Atem, seine Haut, seinen Geruch. Eine seiner Hände legte sich auf meine Hüfte und ich war kaum in der Lage Luft zu holen, als seine Lippen meinen Hals erkundeten. „Wieso hast du keine Angst mehr, so wie früher?“, fragte ich, um nicht den Verstand zu verlieren und ihn wie wild an mich zu ziehen. „Angst?“, raunte er und knabberte an meinem Ohrläppchen. „Du bist nicht mehr so vorsichtig wie früher. Wenn wir uns so nah waren, hast du mich immer auf Distanz gehalten und dich selbst immer wieder ermahnen müssen. Warum bist du nicht…?“ „Bin ich dir zu forsch?“ Er sah mich erschrocken an, doch ich schüttelte nur den Kopf und er fuhr sorgsam mit einem Daumen über meine Lippen. „Ich habe das Gefühl es ist wie…wie Fahrrad fahren.“ „Halt, stopp. Ich bin für dich ein Fahrrad?“ Ich lachte selbst über die Vorstellung. Auch er schmunzelte. „Nein, so hab ich das nicht gemeint. Es ist…je öfter ich dir so nahe bin, je mehr ich über deinen Körper und unsere Reaktionen weiß, umso leichter ist es, mich einfach bei dir fallen zu lassen. Und so ist es doch auch beim Fahrrad. Man kann es nicht sofort fahren, aber je öfter man es probiert, umso leichter fällt es einem doch. Umso mehr traust du dir selbst irgendwann zu.“ Es machte Sinn und ich nickte, was wohl auch daran lag, dass ich nicht in der Lage war zu reden. Taylor war mir so unglaublich nah. Seine Lippen berührten fast die meinen, seine Augen sahen nur mich und ich wünschte mir so sehr, dass wir den Rest des Abends gemeinsam hier verbringen würden. Er mir Mond, Sonne und Sterne versprach, doch stattdessen senkte ich meinen Blick und umarmte ihn fest. „Meinst du, man kann jemand anderen auch zu sehr lieben?“ „Was?“ Seine Hand an meinem Kopf hielt inne. „Weißt du, ich bin so erfüllt von Liebe, aber es passt einfach nichts mehr hinein. Ich verliebe mich jeden Tag mehr in dich, aber ich kann einfach nichts mehr halten. Sonst würde mein Körper wohl irgendwann vor lauter Liebe platzen.“ Ich blickte auf. Wieder strich er mit seinem Daumen über meine Lippen. „Ich würde dir so gern zeigen, was du mir bedeutest, aber manchmal kann ich das einfach nicht. Ich habe Angst, es würde dir nicht gerecht werden. Ich habe Angst, es wäre nicht genug. Ich wäre nicht genug.“ „Scht, Lilly. Sag so was nicht. Du bist doch hier. Hier an meiner Seite und was soll ich da mehr wollen?“ Er führte mein Kinn zu seinem Gesicht und küsste mich. Erst unschuldig, dann fordernder. Er ist mir so nah, so unglaublich nah, dachte ich und schloss die Augen. „Lilly“, rief er, umschlang mit einem Arm meine Taille und stützte sich mit der anderen Hand an der Tür ab, damit er mich fest genug halten konnte, um mich nicht zu Boden fallen zu lassen. „Was ist passiert? Geht es dir gut?“ „Ja“, antwortete ich matt lächelnd. Mir war immer noch schwummrig. Er zog mich mühelos zu sich hinauf und ließ mich noch immer nicht los. „Siehst du, was du mit mir machst? Du küsst mich ohnmächtig!“ „Geht es wieder?“ Ich kniff die Augen fest zusammen, nur um sie dann zu öffnen und ihm fest in die Augen zu sehen. „Du bist ja echt gemeingefährlich. …Ist hier irgendwas, wo man sich setzen kann?“ Wir versuchten etwas im Dunkeln zu erkennen, denn wir hatten nur in den großen Räumen den Strom angestellt, um nicht zu viel draufzahlen zu müssen. Der Boden war staubig, aber dann stießen wir auf ein paar stabile leere Flaschenkisten, die wir umdrehten. Mir drehte sich immer noch alles und am liebsten hätte ich mich irgendwo schlafen gelegt, aber ich biss die Zähne zusammen. Taylors warme sanfte Hand betastete mein Handgelenk und überprüfte den Puls. Dann führte er sie zu meiner Stirn. „Das hast du doch nicht öfter, oder?“ „Nein“, ich wusste woran er dachte. Das war schließlich auch das Erste, was mir durch den Kopf geschossen war, aber das war eigentlich nicht möglich. „Ich besorg dir ein Glas Wasser, warte hier“, beschwichtigte er mich, doch ich hielt ihn zurück. „Geh nicht.“

Wenn sie tatsächlich nicht schwanger war, dann hatte sie sich einfach zu viel zugemutet. Die Wunde war ja auch erst von gestern. Er hätte besser aufpassen sollen, was er ihr antat. Aber wenn er ihre Lippen nur ansah, musste er sie sofort küssen. Sie waren so weich, so sanft, so leicht in Beschlag zu nehmen. Wenn er sie küsste, war das immer der erste Schritt, der ihn näher zu ihrer Verschmelzung brachte. Aber er sollte so nicht weiter machen, wenn sie dadurch sogar schon ohnmächtig wurde. Sie umklammerte noch immer seine Hand und jetzt setzte er sich wieder auf die Flaschenkiste und zog sie auf seinen Schoß. „Du bist mir schon Eine“, seufzte er und sie schmiegte sich an ihn. Dann legte er eine Hand auf ihren Kopf und küsste ihre Schulter. „Wenn du Zeit mit mir verbringen willst, musst du doch nicht gleich ohnmächtig werden. Sag mir einfach, was los ist“, scherzte er und sie lachte lautlos. „Oh nein, du hast meinen Trick durchschaut.“ Vor der Tür hörte er, wie sich zwei Jungs unterhielten. „Schon cool, dass sie endlich wieder ihren Geburtstag feiert… Gerade weil sie im Sommer hat, dann macht es doch viel mehr Spaß.“ „Meine Mutter hat erzählt, sie hätte Lilly und ihren Vater heute auf dem Friedhof gesehen…“ Sie schmiegte sich noch fester an ihn, die Augen geschlossen, die Stirn gegen seinen Hals gelehnt. „Echt? Wieso waren sie denn da?“ „Mann, das Grab ihrer Mutter besuchen. Soweit ich weiß, war es ein Unfall mit dem Auto.“ „Hab ich gehört, glaube ich.“ „Mein Vater arbeitet doch bei der Polizei. Der hat mir dann erzählt, dass es wohl echt merkwürdig war. Trockene Straße und kein Wild unterwegs. Jedenfalls muss das ein furchtbarer Anblick gewesen sein, meinen Vater hat es heute noch geschüttelt. Kaum was zu erkennen. Aber umso beeindruckender finde ich es, dass sie feiert.“ „He?“ Er konnte förmlich fühlen, wie der andere die Augen verdrehte. „John, wenn sie heute da war…überleg mal. Heute ist der Todestag.“ „Wow, deshalb hat sie die Jahre zuvor nicht mehr gefeiert. Ich glaube nicht, dass ich das gekonnt hätte. Wahnsinn.“ „Ja, unsere Lilly ist ein taffes Mädchen.“ Es näherten sich Absätze. „Hey, ihr. Habt ihr das Geburtstagskind gesehen?“, fragte Carly und klapperte ungeduldig mit irgendetwas. „Nee“, meinten beide im Chor und dann kam auch noch Sean dazu. „Wo ist denn mein Bruderherz abgeblieben? Ich brauche ihn beim Tragen.“ „Na, dann ist mir alles klar“, seufzte Carly und er verkniff sich ein Lachen, „Geben wir den beiden noch ein paar Minuten. Ich will sie in keiner prekären Lage erwischen und mir dann wochenlang anhören müssen, dass ich ihre Privatsphäre mehr achten soll.“ Sie trennten sich alle und stoben in verschiedene Richtungen. Auch Lilly lachte und schüttelte sachte ihren Kopf. „Die ist doch unglaublich“, flüsterte sie und küsste ihn. „Lass uns gehen, sonst werden noch verrücktere Gerüchte über uns in Umlauf gebracht.“ „Du meinst, dass wir durchgebrannt sind?“ „Verrückt, sagte ich. Das klingt sehr nach dem Möglichen.“ Er grinste.

 

Gegen zwei Uhr morgens gingen die letzten Gäste. Beziehungsweise stolperten. Sie konnten kaum die Augen offen halten und ich beneidete diejenigen, die sich bereits in ihr Bett gekuschelt hatten. Wir sammelten den Müll zusammen und beschlossen den Rest am Nachmittag zu machen. Das Haus durften wir schließlich bis abends nutzen. Auf der Rückfahrt, lag ich auf dem Rücksitz, den Kopf auf Carlys Schoß, während sie sanft mein Haar streichelte. Sean saß auf dem Beifahrersitz und gab seinem Bruder Anweisungen. „Ich kenne den Weg, danke!“ „Süße, du kannst gleich schlafen, aber wenn du hier drin wegtrittst, wird es schwer dich aus dem Auto zu bekommen.“ „Ich schlafe nicht, ich ruhe nur meine Augen aus“, belehrte ich sie und sie gab mir einen Stupser gegen die Stirn. „Wo ward ihr vorhin überhaupt“, fragte Sean und Taylor sagte nichts. Deshalb meinte ich trocken: „Wir haben es ganz wild miteinander getrieben. In jedem Zimmer der oberen Etage einmal, was denkst du denn?“ Das Auto scherte kurz aus und Sean erlitt einen Lachanfall. Er bekam sich gar nicht mehr ein. „Schatz“, keuchte mein Freund. „Was denn? Er hat es doch wissen wollen.“ Ich blickte zu Carly auf, die ihre Augenbrauen hochzog. Als ich mit dem Kopf schüttelte, nickte sie erleichtert. Jetzt war ich wach und setzte mich auf. „Toll, jetzt will ich einen Kaffee!“ „Au ja. Den will ich auch!“, stimmte meine beste Freundin mit ein und schob ihren Kopf zwischen die vorderen Sitze. „Wir sind gleich zu Hause, dann schmeiß ich die Maschine gerne für euch an. …Wobei ich, glaube ich, auch noch ein Stück Kuchen essen könnte“, besänftigte uns Sean. „Kein Problem, den Rest haben wir doch im Kofferraum.“ „Du hast doch echt eine Meise“, knurrte Taylor und ich strich mit den Fingern über seinen Nacken. „Ganz ruhig. …Möchtest du auch noch irgendwas? Oder bist du schon müde?“ Sein Blick traf meinen nur ganz kurz im Rückspiegel und ich lächelte.
 

Das Haus von den Woods war hell erleuchtet. „Hat er auf uns gewartet?“ „Weiß nicht. Aber merkwürdig ist das. Er wusste doch, dass es lange dauern wird.“ Ich hielt nach anderen Autos Ausschau, aber da stand nur Seans silberner Skoda. Wir stiegen alle gleichzeitig aus und ich bemerkte, wie die beiden Brüder lautlos in die Luft schnüffelten. Ich griff rasch nach Taylors Hand, doch der schüttelte den Kopf: „Gar nichts!“ Mein Herz raste vor Ungewissheit. Doch es klärte sich alles auf, als wir die Tür öffneten und ins Wohnzimmer gingen. Mein Vater und Kenneth saßen auf der Couch, schauten fern und amüsierten sich köstlich. Ein wenig später tranken wir Kaffee und teilten mit den beiden Männern den Kuchen. Mein Vater bestand darauf, dass wir Mädels das Gästezimmer nahmen, er würde auf der Couch im Wohnzimmer schlafen. Nachdem wir uns vergewissert hatten, dass er fest schlief, standen wir beide auf und schlichen auf den Flur. „Bis später“, flüsterten wir gleichzeitig und öffneten jeweils die Tür unseres Freundes. Wir wurden beide bereits sehnsüchtig erwartet.

8. Kapitel - Was Nachrichten so mit sich bringen

Schule. Was hatte ich sie überhaupt nicht vermisst. Und ich schien auch nicht die Einzige zu sein. Alle, die mir begegneten, zogen Gesichter, wie sieben Tage Regenwetter. „Morgen, ihr beiden“, begrüßte uns Carly, als Taylor und ich vom Parkplatz kamen. Sie hatte auf einer der Bänke gesessen und strich sich gekonnt die Haare aus dem Gesicht. Ein paar der umstehenden Jungs beobachteten sie mit offenem Mund. Vergeben, also vergesst es, sagte ihr Blick und schaute zu mir, dann schien es ihr aufzufallen. „Sagt bloß, ihr seid mit zwei Autos da?“ „Ja, wieso auch nicht?“ „Ich dachte, du wärst so gut wie bei den Woods eingezogen?!“ „Na ja, da Dad das Fenster hat reparieren lassen, hat er gesagt, gäbe es keinen Grund für mich länger dort zu bleiben. Und meine Ausrede mit der Angst hat er zwar anfangs noch erschrocken zur Kenntnis genommen, aber irgendwann, so sagte er, müsse ich sowieso wieder da rein. Ich solle es als meine ganz eigene Schocktherapie sehen.“ „Übersetzt heißt das, er hat einfach Sorge, dass du Dinge mit Taylor treibst, die er nicht unter Kontrolle hat.“ „Bingo“, meinten wir beide gleichzeitig. „Wobei ich sagen muss, dass er es bisher auch nicht mitbekommen hat, wenn Taylor bei mir übernachtet hat. Also konnte man es bislang wohl herzlich wenig Kontrolle nennen.“ Er legte seinen Arm locker über meine Schulter und grinste. Wir gingen gemeinsam ins Verwaltungsgebäude und trafen dort auf ein paar andere Schüler, darunter auch Elli und Mia. „Hey, ihr!“ „Hallo. Die Pläne kriegen wir gleich. Sie hat noch nicht alle ausgedruckt.“ „Eigentlich will ich meinen auch gar nicht“, verkündete Taylor und legte seine Arme von hinten um mich. Ich wusste, woran er dachte. Wenn sie uns in mehreren Kursen in verschiedene Klassen setzen würden, würde das ein furchtbares letztes Jahr werden. Ein paar Minuten später bekam ich meinen und Taylor gab mir auch seinen Plan. „Schau du, ich kann das nicht.“ „Bio, Literatur, Chemie, Geo, Englisch, Kunst, Sozi, Philo, Sport,…außer Mathe alles gemeinsam!“ Er hob mich auf seine Arme. „Wunderbar, was haben wir als Erstes?“ „Lass mich, bitte, runter, ich muss noch mit Carly vergleichen.“ Wir steckten die Köpfe zusammen und sie wimmerte auf. „Buhu, Literatur, Englisch und Sozi ohne dich. Das ist doch wirklich unfair. Zuerst nehmen die mir dich in Mathe und jetzt das!“ Am Ende stellte sich raus, dass Mia und Jamie in jedem Kurs mit Taylor und mir (außer Mathe) waren, Kelly in jedem mit Carly und Elli nur gemeinsam in Sport und Chemie mit uns war. Sport hatten wir noch immer alle gemeinsam. „Die reißen uns Stück für Stück auseinander. Da steckt Methode dahinter, da bin ich mir sicher“, vermutete Carly und hielt sich an Kelly fest, als wir im Flur ankamen, der uns zu unseren jeweiligen Räumen führen würde. „Du meinst eine große Verschwörung?!“, fragte ich. „Natürlich. Aber mich können die nicht täuschen.“ Sie deutete mit der Faust zu einem der Lautsprecher, aus der sich monoton die Schulverwaltung meldete und allen Absolventen ein erfolgreiches letztes Jahr wünschte. Wir lachten alle und trennten uns, nachdem die Glocke zur ersten Stunde geklingelt hatte. Der Unterricht am Vormittag verging wie im Flug und Taylor und ich wurden kaum ermahnt, weil wir den Lehrern nicht ganz so genau folgten.

Die Mittagspause verbrachten wir in großer Runde auf der Rasenfläche im Innenhof. Taylor hatte sich an einen Baum gelehnt, zog mich an sich und so lauschten wir den anderen, als die von ihren Lehrern und Erlebnissen sprachen. „Wirklich unglaublich. Als hätten es alle auf mich abgesehen. Einer nach dem anderen nimmt mich dran und freut sich, wenn ich nichts weiß“, jammerte Jamie und Mia küsste ihn auf die Wange, er lächelte warm auf sie hinunter. „Ich sage ja, eine Verschwörung, aber ihr wolltet mir nicht glauben…“, seufzte Carly theatralisch und hielt sich die Hand an die Brust. Kelly und Elli verbeugten sich, wie Menschen in einer Moschee, vor ihr und sangen im Chor: „Oh, bitte, verzeiht uns, Königin des Wissens.“ „Euch sei verziehen. Aber beim nächsten Mal vertraut eurer Königin.“ Sie machte eine abweisende Handbewegung und wir alle lachten herzlich. „Ich hol mir noch ein Wasser, will noch jemand was?“, fragte Taylor und ich beugte mich vor, um ihn vorbei zu lassen. „Danke, wir haben alles“, erwiderte Mia und auch die anderen schüttelten den Kopf. „Warte, ich komm mit. Ich muss noch mein Tablett wegbringen“, rief Jamie und legte den Arm um seine Schulter. Die beiden entfernten sich scherzend. „Und“, wollte nun Kelly wissen und auch die anderen Mädels beugten sich verschwörerisch vor, „habt ihr euch beide schon auf ein Datum geeinigt?“ Alle bedachten den Ring an meinem Finger mit ihrem Blick und ich zog ganz automatisch glücklich die Hand an mich, um den Ring zu betasten. „Wir haben darüber geredet… Vielleicht im Sommer…“ „Nächstes Jahr schon?“ „Vielleicht, wir wissen noch nicht genau. Aber Taylor meinte, er möchte so schnell wie möglich heiraten.“ „Er drängelt?“, fragte Elli und hob überrascht die Augenbrauen. Ich wusste, was sie dachte: Für einen Jungen ungewöhnlich. „Nein, das nicht. Er sagt nur, er möchte mich jeden Tag in seiner Nähe haben, um mich besser beschützen zu können.“ Sie sahen mich alle lächelnd an. Sie freuten sich für mich, so wie ich es mich für sie auch würde. „Ja, der Schuss war schon echt heftig“, wisperte nun Kelly. „Das Schlimmste ist, dass sich mein Vater noch immer Vorwürfe macht“, bestätigte ich. „Wieso? Er hat dich doch gerettet. Wer weiß, was geschehen wäre, hätte er die Waffe nicht genutzt.“ „Wir alle wissen das, aber er will sich nicht davon abbringen lassen. Ich hasse es, wenn er sich selbst so zerfleischt.“ „Du hast es aber echt mit den Wölfen“, meinte plötzlich Mia. Carly und ich sahen sie erschrocken an. „Na ja, ich meine, das war ja nicht der erste Angriff auf dich, oder?“ Beide atmeten wir hörbar aus. „Stimmt.“ Die beiden Jungs kehrten zu uns zurück, als die Glocke zum nächsten Unterricht schellte. Taylor reichte mir seine Hand und zog mich auf die Füße. „Komm, wir wollen doch nicht zu spät kommen…“ Er hatte genauso wenig Lust, wie ich.

In der letzten Stunde hatten wir Mathe, getrennt. Taylor war bereits zu Mr. Hastings‘ Klasse gegangen, während ich noch mein Buch aus dem Schließfach holte. Da hörte ich plötzlich ein paar Typen in der Nähe sprechen und dann ein Mädchen. „Hört auf“, wisperte sie. „Hast du gehört, Alter? Wir sollen irgendwas tun…“, verkündete ein großgewachsener schwarzhaariger Typ. Ich glaubte ihn schon mal irgendwo gesehen zu haben. Vielleicht war er mit uns in Sport, aber sicher war ich mir nicht. „He? Ich hab nichts gehört“, antwortete ihm sein Freund, der so dämlich aussah, wie er wohl auch war. Das Mädchen war mir auch schon mal auf dem Flur begegnet und sie schien eigentlich immer ganz nett zu sein. Sie war ein Jahr jünger als ich, wenn mich nicht alles täuschte, war schlank und ziemlich hübsch. Ihr kurzes blondes Haar umrahmte ihr zartes Puppengesicht. Ihr gehetzter Blick schaute sich hilfesuchend um, ihre klaren blauen Augen streiften meine. Die Typen bemerkten es nicht. „Mann, nun hab dich doch nicht so. Wir werden uns schon irgendwie amüsieren, Baby.“ Es war kein Lehrer in Sicht, aber mir stieg bereits die Galle hoch. Ich schnappte mir einen Flyer, der an einem benachbarten Spind haftete und ging den Flur hinunter. „Hey, Baby, willst du nicht den Knopf da ein bisschen öffnen? Wir sehen ja gar nichts! Ist doch auch ziemlich warm hier drin.“ Sein dämlicher Freund lachte feixend. „Entschuldigung?“, fragte ich mit honigsüßer Stimme. Die beiden drehten sich zu mir um. Der großgewachsene Typ starrte mich aus schwarzen Augen an. „Was?“, schnauzte er. „Ich müsste da mal ran. Ich möchte nur was anpinnen.“ Er machte keine Anstalten sich von dem schwarzen Brett zu entfernen, das sich hinter ihnen befand. Stattdessen ließ er seinen Blick schweifen, von Kopf bis Fuß bewertete er mich und zuckte dann mit den Schultern. „Sly, ich glaube, heute kriegt jeder Eine.“ Wieder lachte der andere. „Danke“, antwortete ich ruhig, obwohl ich ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst hätte, „ich bin bereits vergeben. Ich werde auch nicht lange stören. Also?“ Er ließ endlich den Kragen des Mädchens los und wandte sich dann ganz zu mir um. „Ach, bist du nicht die Kleine von Wood? Dem Überflieger.“ In seiner Stimme schwang ein angewiderter Unterton mit. „Taylor.“ Ich schob mich so an ihm vorbei, dass auch sein Kumpel das Mädchen losließ und warf ihr dann einen kurzen Blick zu. Hoffentlich deutete sie ihn richtig, doch dann nickte sie unmerklich und ich drehte mich zu dem Schwarzhaarigen um. „Vielen Dank. …Solltet ihr nicht auch in den Unterricht gehen?“ Die beiden grinsten breit und der vor mir lachte dann lautlos. Er roch nach Leder und Autopolitur. „Hör mal, Süße. Wenn wir so auf den Unterricht stehen würden, wären wir wohl nicht mehr auf dem Flur unterwegs, oder?“ Ich hatte mir schon gedacht, dass diese Antwort kommen würde. Sly rückte näher an mich heran, er roch nach Zwiebeln. Vielleicht duschte er nicht oft genug oder er hatte vor kurzem Sport gehabt. Das Mädchen nutzte ihre Chance, zog sich ein Stück zurück und verschwand mit einem letzten dankbaren Blick hinter der nächsten Ecke. „Wir sollten sie mitnehmen, Mo. Die ist hübsch“, raunte Sly. „Na ja, wenn Wood dich sogar heiraten will, musst du ja echt gut sein. Und wenn man ihm damit eins auswischen kann, wird es doppelt lustig.“ Ich dachte an die paar Tricks, die mein Vater mir mal erklärt hatte. Es war ein Jahr nach dem Tod meiner Mutter gewesen, damals war in einer näher gelegenen Stadt ein Mädchen in ein Gebüsch gezerrt und fast vergewaltigt worden. Man kann nie vorsichtig genug sein, hatte er gesagt und mir dann die empfindlichsten Stellen eines Mannes erklärt. Vor kurzem hatte er mir von einem Selbstverteidigungskurs erzählt und ich ärgerte mich, dass ich den nicht belegt hatte. Mo nahm eine meiner Haarsträhnen zwischen seine Finger und ich hasste ihn dafür. Das durfte nur Taylor machen. Es war eine Intimität, die ich mit diesem Kerl nicht haben wollte. „Danke, aber ich verzichte. Außerdem habe ich Besseres vor als mit euch irgendwo hinzugehen.“ „Wer hat denn gesagt, dass das eine Bitte war? Komm schon!“ Sly fasste mich an meiner linken Schulter. Ich spürte seine große schwitzige Hand noch durch den Stoff meines T-Shirts. Mo indessen lächelte mich finster an und zog mein Gesicht, indem er fest an der Strähne zerrte, näher zu seinem. Sie hörten die Schritte im selben Augenblick wie ich. „Schnell, Mo. Was machen wir?“ Der Typ vor mir überlegte, doch er war nicht schnell genug und Dr. Kensington, Mr. Hastings und ein paar seiner Schüler kamen um die Ecke. Beide ließen mich gleichzeitig los und ich erkannte sofort Taylor und das Mädchen von vorhin unter den Schülern. Ich ging zu meiner Lehrerin. „Mr. Smith, Mr. Collins. Was treiben Sie hier auf dem Flur?“, fragte sie. Sly blickte betreten zu  Boden, doch Mo verengte seine schwarzen Augen zu Schlitzen und stierte zu uns herüber. „Melden Sie sich beide im Büro des Direktors! Sofort! Und wagen Sie es nicht, sich wieder fortzustehlen. Ich werde nachfragen.“ Die beiden trotteten davon, doch Mo schaute mich hasserfüllt an. Wir sehen uns noch, schien er mir sagen zu wollen. Eigenartigerweise hatte ich nicht die geringste Angst vor ihm. Dann spürte ich eine beruhigende Hand an meinem Rücken. Taylors Gesicht erschien neben mir, ich küsste ihn auf die Wange und sagte: „Es ist alles okay. Mir ist nichts passiert!“ Das Mädchen neben mir beobachtete mich. „Vielen Dank für deine Hilfe. Ich wusste nicht, wie ich…“ Sie zitterte wie Espenlaub. „Ist das schon öfter passiert?“ Sie nickte nur. Dr. Kensington und Mr. Hastings unterhielten sich noch, darum mussten wir nicht gleich in die Klassen zurück. „Hör mal, sei in der nächsten Zeit besser nie allein auf dem Flur unterwegs. Wenn du von Freunden getrennt Unterricht hast, kannst du gern bei uns mitgehen, wenn es in der Nähe liegt.“ Wieder nickte sie und ich legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Wie heißt du?“ „Maggie Clearman.“ „Okay, Maggie. Wenn du mal Hilfe brauchst, sag mir bescheid ja?! Wir lassen uns dann was einfallen.“ Sie strahlte über das ganze Gesicht. „Vielen, vielen Dank.“ „Gar kein Problem, außerdem hast du mir ja auch geholfen“, meinte ich und nickte in Taylors Richtung, wo auch die Lehrer standen. „Ich bin einfach in den nächsten Raum gestürmt, der offen war. War leider ein ganzes Stück weit weg, sonst wären wir vielleicht früher da gewesen.“ „Dr. Kensington war ein paar Minuten vorher reingekommen, um nach dir zu fragen. Sie dachte, du hättest vielleicht vergessen, dass du in ihrem Mathekurs bist. Dann kam Maggie und sie sind losgegangen. Bei dir ist wirklich alles in Ordnung?“, fügte nun Taylor hinzu und ich nickte ihm zu. „Ja, die beiden haben nichts Schlimmes gemacht. Die sind auch nicht sonderlich schlau vorgegangen.“ „Mit dir macht man aber auch Sachen durch“, tadelte er mich scherzhaft. „Ach, sei still. Du liebst es doch, mich zu retten!“ „Ja, aber du könntest es wenigstens am ersten Schultag mal etwas ruhiger angehen lassen.“ „Ich wollte dich nur testen.“ „Hab ich bestanden?“ „Knapp!“ Maggie lachte hinter mir. „Ihr seid mir schon ein süßes Pärchen. Ich muss jetzt in den Unterricht. Danke, noch mal.“ „Kein Problem und komm ruhig zu uns, wenn was ist.“ „Na klar“, rief sie und winkte, ehe sie in die andere Richtung verschwand. „Na schön, Ms. Connor. Dann lassen Sie uns mal in den Raum zurück. Wir haben nicht mehr viel Zeit, das heißt ich muss Ihnen eine Hausaufgabe geben.“ „Das macht doch nichts.“ Ich winkte Taylor. „Ihnen ist nichts passiert, oder?“ „Nein, alles okay. Machen die beiden das häufiger?“ Dr. Kensington nickte traurig. „Ich weiß auch nicht, was mit ihnen los ist. Früher waren sie ziemlich fleißige und auch gute Schüler, aber seit Kurzem… Der Direktor hat sie fast jeden Tag im Büro, wenn sie sich nicht vorher wegstehlen. Es ist einfach traurig, wenn man das beobachten muss.“ „Gibt es keine Möglichkeit sie irgendwie davon abzubringen, Mädchen auf dem Flur aufzulauern?“ „Ich fürchte, nein.“ Sie hielt mir die Tür zum Raum auf und das Thema war für sie erledigt.

Am Nachmittag fuhr Taylor hinter mir her, um mich dann gleich mit zu sich zu nehmen. Wir hatten uns mit seiner Familie zum Abendessen verabredet. Mein Vater sollte nach der Arbeit nachkommen. Die beiden Herren verstanden sich auf Anhieb gut und seit dem Abend nach meiner Geburtstagsparty schien es sogar noch besser zwischen den beiden zu laufen. Sie fanden immer ein Thema und Kenneth schaffte es irgendwie ein paar Zwischenfragen über den Verein, die Wölfe oder den Wald einfließen zu lassen. Er wollte natürlich auf dem Laufenden bleiben und ich bewunderte die Art und Weise, wie er meinem Vater die Antworten entlockte. Aber was sollte man von einem Journalisten auch anderes erwarten? Geschicktes Fragen war schließlich sein Beruf. Nach dem Essen - es gab Klöße, Rouladen und eine selbstgemachte Rotweinsauce, einfach zum Niederknien - schubste mich mein Vater förmlich zum Auto. Er dachte wohl, wenn er früh genug fuhr, würde ich gar nicht erst auf die Idee kommen, ihm vorzuschlagen, hier zu übernachten. Na ja. Ich gab mich schnell geschlagen, da ich auch ziemlich müde geworden war und verabschiedete mich von allen herzlich. Taylor sah mich traurig an, aber ich küsste ihn lange und wünschte ihm eine gute Nacht.

Wir fuhren schon eine Weile ohne ein Wort zu sagen. Es war angenehm im Auto und ich kuschelte mich in meine warme Jacke. Irgendwie musste ich eingedöst sein, jedenfalls flackerten ein paar Bilder vor meinen Augen auf und nach kurzer Zeit wandelten sie sich in eine Art Kurzfilm. Es war grauenvoll und ich schrak auf. „Dad, fahr rechts ran!“ „Was? Wir sind gleich zu Hause. Warte einen Moment, dann kannst du da…“ „Darum geht es nicht. Fahr rechts ran, sonst greif ich ins Lenkrad!“, schrie ich und er lenkte das Auto in eine Nische, die die Jäger und Forstarbeiter für ihre Autos nutzten. Ich sprang aus dem Wagen und beugte mich hinter einen Baum, um meinen Magen zu erleichtern. „Schatz? Ist alles okay?“ „Sieht es so aus?“, fragte ich und beugte mich wieder nach vorn. Ich holte ein Taschentuch aus der Jacke und hielt es mir vor den Mund. Nach ein paar Minuten war ich mir sicher, dass nichts mehr kommen würde und kehrte zum Auto zurück. Mein Vater reichte mir ein Pfefferminz. „Danke“, keuchte ich und ließ mich auf den Sitz plumpsen. „Ich hoffe für dich, dass du bloß das Essen nicht vertragen hast…“, meinte er und ich sah seine Augen funkeln, als er das kleine Licht im Auto anknipste. „Ich denke, das wird es sein. Was anderes kommt auch gar nicht in Frage“, brummte ich und konnte die Bilder noch immer nicht abschütteln. „Nun, wenn wir uns da einig sind, dann fahre ich jetzt nach Hause.“ „Mhm.“ Ich war mit meinen Gedanken bereits ganz woanders. In seiner Angst, ich könnte schwanger sein, wollte ich ihn weder bestärken noch entkräften. Und es war mir jetzt auch egal. Ich fragte mich, warum es ausgerechnet eben passiert war, dass ich das gesehen hatte.
 

Es war bereits spät in der Nacht und ich tigerte, immer noch das Handy in der Hand, in meinem Zimmer umher. Schon seit einer geschlagenen Stunde starrte ich auf die geschriebene SMS und traute mich dennoch nicht, sie abzuschicken. Aber bis zum nächsten Morgen konnte ich einfach nicht warten. Dann drückte ich auf den Senden-Knopf. Er war der Einzige, den ich jetzt in meiner Nähe haben wollte und dennoch war ich besorgt, ob er vielleicht bereits geschlafen hatte und ich ihn dadurch weckte. Es war auch so schon schwer genug mit mir, jetzt würde ich ihn wieder um seinen Schlaf bringen. Ich blickte auf das Handy und wartete auf eine Antwort, als es plötzlich gegen mein Fenster klopfte. Er saß auf dem Fenstersims und deutete mir, dass ich das Fenster öffnen sollte. Ich tat es und schon schlang er seine Arme um mich.

Er lag immer noch wach und bedauerte es, sie nicht irgendwie gefragt zu haben, ob er mal wieder bei ihr schlafen könne. Es war so schön gewesen, sie hier zu haben und auch er war es einfach nicht mehr gewohnt, allein zu schlafen. Noch ein Grund, sie nächsten Sommer zu heiraten. Dann würden sie ganz einfach jeden Abend in einem Bett schlafen dürfen ohne, dass sie es verheimlichen müssten. Taylors Blick fiel auf das gerahmte Foto auf seinem Nachttisch. Es war verrückt, wie viel er für sie empfand und doch schien es ihm völlig natürlich, sie so sehr zu lieben. Früher hatte er nie daran geglaubt - Liebe auf den ersten Blick. Aber seinen Eltern war das auch passiert und seine Mutter hatte ihm immer gesagt, dass sie sich das für ihre Söhne auch wünschen würde. Es sei das Größte jemanden so sehr zu lieben und auch so geliebt zu werden. Und endlich verstand er sie. Auch das hatte er ihr an ihrem Grab erzählt und er wusste, dass sie sich darüber gefreut hatte. Das Display seines Handys leuchtete auf. Der Name, der darauf erschien, ließ ihn aufschrecken. War ihr etwas passiert? »Hoffe, ich wecke dich nicht, aber ich würde gern etwas bereden. Und du bist der Einzige, der es verstehen würde. Ansonsten warte ich auch bis morgen…« So ein Dummerchen, dachte er und schlug die Bettdecke zurück. Er schlüpfte in Jeans und Sweatshirt und verschwand leise aus dem Fenster.

„Was ist denn los?“, fragte er mich und ich kuschelte mich noch fester in seine Arme. „Lilly?“ „Ich war heute dabei“, wisperte ich. Mehr bekam ich einfach noch nicht raus. „Wobei? Ich verstehe nicht…“ Er schloss das Fenster und lenkte mich zu meinem Bett zurück. Wir setzten uns im Schneidersitz gegenüber dem anderen hin und er wartete bis ich soweit war. „Ich…“, seufzte ich und rieb mir die Augen. Ich bekam die Bilder noch immer nicht aus dem Kopf. „Im Auto…ich muss irgendwie eingedöst sein und hab geträumt.“ Das war nichts Neues und so wartete er ab. „Zuerst waren es kurze Fetzen, Bilder und dann eine Art Film oder so. Ich war dabei als… Ich hab…“ Taylor nahm meine Hand zwischen seine und rieb sie warm. Er musste mich nicht einmal ansehen, um zu wissen, wie es mir ging. Das fand ich noch immer erstaunlich, obwohl ich es schon lange wusste. „Lass dir Zeit! Ganz ruhig…“, hauchte er und hielt meinen Handrücken an seine Lippen. „Es war, als würde ich im Auto daneben sitzen, während meine Mutter…“ „Du meinst, du hast gesehen, wie…?“ Ich nickte und keuchte dann: „Ich war bei ihrer letzten Autofahrt dabei.“ Taylor zögerte nicht und zog mich auf seinen Schoß, seine Hand strich beruhigend über meinen Kopf, während mir ein paar Tränen über die Wangen liefen. „Sie war so schön, wie immer, und dann veränderte sich ihr Blick… Ich glaube, sie hat es gewusst. …Sie muss es gewusst haben. Als sie der Kurve näher kam, hat sie ihren Bauch berührt und…und mit uns geredet. An jeden Einzelnen hat sie etwas gerichtet… Dad, sollte ihr nicht böse sein. …Ich sollte keine Angst vor dem haben, was ich sehen würde und mir keine Vorwürfe machen. Und sie entschuldigte sich bei meinem kleinen Bruder, dass er nicht die Chance haben würde…dass er nicht die Chance haben würde, seine Familie kennen zu lernen. …Dann tauchte der schwarze Wolf auf und sie hat das Lenkrad einfach nach rechts gedreht….“ Taylor umschlang mich fester. „Sie hat nicht mal die Bremse betätigt, Taylor. Das Auto ist einfach so… Sie hat auch nicht geschrien,…sondern einfach die Arme vor dem Bauch verschränkt und die Augen geschlossen. Als die Stoßstange den Baum berührte, bin ich endlich aus diesem Traum aufgewacht. Ich schrie meinen Vater an, er solle rechts ranfahren, dann bin ich rausgesprungen und musste… Wieso hat sie nicht…?“ „Vielleicht wusste sie, dass sie es nicht ändern kann“, flüsterte er zärtlich und presste mich noch immer an sich. „Aber wie kann man so etwas einfach hinnehmen? Ich verstehe das nicht.“ „So hart es auch klingt, aber wer, wenn nicht du, weiß besser als alle anderen, dass man etwas nicht ändern kann, wenn sich derjenige entschlossen hat? Du hast die Fähigkeiten von ihr übernommen. Und wenn der Wolf beschlossen hat, sie zu…dann konnte deine Mutter auch nichts anderes tun, als es zu akzeptieren. Oder?“ Ich wusste, dass er Recht hatte, aber jetzt so genau zu sehen, was passiert war, war einfach unvorstellbar. Noch vor ein paar Tagen hatte ich mir gewünscht, es zu wissen, aber das bereute ich bereits. „Wieso hat sie nicht dem Verein meines Vaters…?“ Ich beantwortete mir die Frage selbst: „Sie wollte nicht, dass jemand verletzt wird. Er ist schließlich stärker, als andere wilde Tiere.“ „Du schlägst sehr nach ihr, zumindest, was eure Empfindungen angehen“, meinte Taylor und küsste mich auf die Stirn. Ihm graute davor, wenn ich eine solche Entscheidung treffen müsste bzw. würde, das spürte ich. Und ich hoffte so sehr, dass uns das beiden erspart blieb. „Mein kleiner Bruder wäre bald in die Schule gekommen. Das ist doch einfach gemein, dass es ihn nicht geben sollte… So ein mieses Arschloch.“ „Lilly?!“ „Mir würden bei Weitem noch schlimmere Worte für den einfallen…“ „Wir werden ihn aufhalten, Schatz. Ich weiß noch nicht wie, aber ich kriege das hin. Das schwöre ich dir.“ „Eigentlich will ich nicht, dass du dich in Gefahr begibst, aber ich wäre nicht unbedingt traurig, wenn…“ „Ich sage ja, ihr seid euch wahnsinnig ähnlich.“ Ich schlang meine Arme um ihn und zog mich ein Stück hoch, um ihn sanft auf die Lippen zu küssen. „Vielen Dank, dass du gleich gekommen bist.“ „Dafür will ich nun wirklich keinen Dank. Um ehrlich zu sein, hatte ich sowieso gehofft, ich könnte heute bei dir übernachten.“ „Ja, das bräuchte ich jetzt auch.“ Wir kuschelten uns unter die Decke und schliefen, einander in den Armen liegend, nur wenige Minuten später ein.

 

„Wann wirst du es ihm sagen?“, fragte mich Carly und ich sah von meiner dampfenden Kakaotasse zu ihr auf. Wir beide saßen, in Fleecejacken gehüllt, auf der Veranda meines zukünftigen Zuhauses. Ich blickte langsam über die leicht verschneite Wohngegend und nickte dem älteren Ehepaar zu, das gerade seinen alltäglichen Spaziergang absolvierte. „Niemals?“, fragte ich und zuckte mit den Schultern. „Süße, in Anbetracht deines langsam fortschreitenden Bauches, wird es allmählich Zeit.“ „Es ist nur… Wir haben so viel geplant, Carly… Und sobald ich es ausspreche…wird es wahr.“ „…und das möchtest du natürlich nicht.“ „Genau“, nickte ich und nippte an der Tasse. „Das verstehe ich ja, aber es ist sein gutes Recht. Er muss es wissen. Ihr müsst so viel bedenken…“ „Ich weiß ja. Wirklich.“ In mir sträubte sich alles. Dieses nagende Gefühl, Taylor etwas zu verheimlichen, was ihn fürchterlich aufregen, kränken oder verzweifeln lassen würde, war unerträglich. „Was ist, wenn ich mich irre?“ Carly blickte mich ernst an. Ich wusste, dass ihr die verzweifelte Hoffnung aufgefallen war, die da aus mir sprach. „Du weißt, ich wünsche mir sehr, dass es ein Irrtum ist. Nur, Süße, du sagtest selbst, dass du es bereits öfter gesehen hast.“ „Wieso passiert uns das dauernd? Warum fangen wir all die furchtbaren Schicksalsschläge ab? Es ist so unfair.“ Tränen rannen meine Wangen hinab und Carly sprang auf, um mich fest zu umarmen. Sie setzte sich auf die Lehne meines Stuhles und presste mich sicher an sich. Taylor fuhr mit dem Auto vor. Noch ehe jemand es sah, trocknete ich mein Gesicht und setzte das künstliche Lächeln auf, welches ich ihm seit Wochen vorspielte. „Hallo, meine Hübschen“, rief Sean, der auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, und hob das kleine Mädchen vom Rücksitz auf seine Arme. „Mommy“, rief sie und Carly streckte die Arme nach ihrer Tochter aus. Innerlich schrie ich auf vor Schmerz und mein Herz wurde mehreren festen Stichen ausgesetzt, doch äußerlich bemerkte man nichts. „Habt ihr alles bekommen?“, fragte ich und streckte Taylor mein Gesicht entgegen. Seine Lippen bedeckten kurz die meinen und er grinste. „Ja, und noch Einiges mehr.“ „War mein lieber Mann schon wieder im Kaufrausch?!“ Sean hob entschuldigend die Schultern und grinste Carly an. Die verdrehte die Augen und schlang eine Wolldecke um den braunhaarigen Engel in ihren Armen. „Wo hat dein Papa das nur her? Sein Vater ist doch auch nicht so.“ Die Kleine zog eine fragende Schnute und wir alle lachten. Mein Körper schmerzte und ich stand auf, um unsere Tassen in die Küche zu bringen. Die Drei unterhielten sich draußen weiter und ich stemmte mich gegen die Theke. Es brach mit einem Mal los. Mein Magen krümmte sich zusammen, ich hatte das Gefühl er würde wie in ein schwarzes Loch gesogen. Ich schnappte nach Luft, weil es in meinem Unterleib heftig zog. Meine rechte Hand versuchte das kleine Etwas in meinem Bauch zu schützen und legte sich darüber, doch da spürte ich schon die Wärme in meinem Schoß. Kurz darauf roch es stark nach Eisen und ich fühlte, wie das Blut an meinen Beinen hinunter rann. Ich brach vor Schmerzen zusammen, riss dabei eine der Tassen hinunter, die neben mir zerschellte. „Lilly?“, hörte ich sie rufen, doch ich konnte unter all den Tränen nicht antworten. Immer wieder betasteten meine Hände den Bauch, der leicht gewölbt war, versuchten zu halten, was längst verloren war. Und dann spürte ich die starken Arme meines Mannes, der mich schützend hielt und Anweisungen brüllte. Hörte die hastigen Schritte Seans, der zum Telefon lief. Die beruhigende Stimme Carlys, die ihre Tochter dazu bringen wollte mit dem Weinen aufzuhören, das durch Taylors Gebrüll eingesetzt hatte. Gleichzeitig wollte sie auch mir beistehen und hielt meine Hand. Das Blut floss, so als wolle es vollkommen aus meinem Körper entweichen und nie wieder zurückkehren. Und mit ihm verschwand das kleine Leben. Taylor beugte sich schützend über mich, sagte etwas, doch ich verstand es nicht. Alles, was ich tun konnte, war immer und immer wieder zu sagen: „Es ist zu früh. Viel zu früh!“

 

Ich spürte die vielen Tränen auf meinem Gesicht, als ich aufwachte. Mir war so unglaublich kalt und ich befühlte meinen Bauch. Flach, natürlich. Irgendwo in mir hatte ich auf eine leichte Wölbung gehofft, doch da war keine. Ich hob meinen Blick. Taylor sah mich fragend an. „Was ist los? Alles in Ordnung?“ Ich schüttelte den Kopf und wisperte: „Ich habe unser Baby verloren. Es ist einfach weg!“ Seine Hände zogen die meinen vom Bauch und er versuchte mich zu beruhigen. „Es war ein Traum. Es ist nichts geschehen. Lilly.“ „Aber es wird passieren. Ich werde unser Baby verlieren…“ „Nein, das wirst du nicht!“ „ALLES, was ich träume, passiert. Es ist ein Fluch, Taylor. Ein grauenvoller Fluch und ich will das nicht mehr. Ich habe die Schnauze voll. Es soll aufhören. Mach, dass es aufhört. Bitte!“ Er zog mich an sich, doch ich stieß ihn weg. Ich wollte keinen Trost und sprang aus dem Bett, um mich im Bad einzuschließen. „Lilly“, wisperte er und ich konnte seine Anwesenheit hinter der Tür fühlen, an der ich mit dem Rücken lehnte. „Geh, bitte!“ „Aber…“ „Danke, dass du gekommen bist. Wir sehen uns morgen“, meinte ich mit Nachdruck. „Ich kann doch jetzt nicht einfach…“ „Geh!“ Es war still auf der anderen Seite, doch ich wusste, er war noch da. „Geh, verdammt!“ „Na, schön. Bis morgen. …Ich liebe dich!“ Ich konnte nicht antworten, wurde von meinen Tränen fast erstickt und hasste mich selbst dafür, Taylor so leiden zu lassen. Er schob das Fenster auf und sprang hinaus. Wieso nur stieß ich ihn fort? Er wollte nur für mich da sein und mir helfen und ich, dumme Kuh, sperrte ihn aus. Und gerade dieses Thema betraf doch uns beide. Wieder betasteten meine Hände den Bauch. Ich fühlte unsagbare Leere und wünschte mir nichts sehnlicher, als das dieser Albtraum nicht eintreffen würde. Der Gedanke daran, ein kleines Leben zu verlieren, das unser beider Gene in sich trug, war unerträglich. Und genau deswegen, weil ich solche Dinge sehen musste, wollte ich diese ‚Gabe‘ nicht mehr! Eine ganze Weile war es schön gewesen, aber nun reichte es mir. Gab es denn keinen Weg, es loszuwerden? Wie hatte meine Mutter das nur so lange ausgehalten?! „Mom…“, wisperte ich und wünschte, mit ihr darüber reden zu können. Sie hätte mir Tipps geben, mich beruhigen können. Mir womöglich auch eine Standpauke gehalten, weil ich Taylor von mir stieß. Ich wusste, dass es dumm war. Dass er nichts dafür konnte. Aber an irgendjemandem musste ich meinen Frust, meine Wut, meine Traurigkeit auslassen. Und er war leider der Einzige, der in der Nähe gewesen war.

Am nächsten Tag in der Schule tauchte Taylor nicht auf. Ich war mir nicht ganz sicher, ob er sauer oder enttäuscht war, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er wegen gestern Nacht nicht erschien. Zumindest hoffte ich sehr, dass ihm nichts geschehen war, dass ihn daran hinderte zu kommen. Aber dann hätte uns Sean wohl längst informiert. „Süße, kommst du? Es hat zur Stunde geklingelt?!“ Ich blickte sie traurig an. „Könntest du Sean fragen, was mit Taylor ist?“ „Bei euch alles gut?“ Mein Blick heftete sich auf die Tür des Schulgebäudes, der wir gemeinsam entgegen gingen. „Na ja, ich hab ihn gestern… Ich war nicht sehr nett zu ihm gestern Abend.“ Sie tippte bereits fleißig an einer SMS. Ich lächelte ihr zu, als sie sich wieder mir zuwandte und fragte: „Das kriegt ihr doch wieder hin, oder?“ „Ich denke schon. Eigentlich müsste ich mich nur entschuldigen, aber…“ „Was heißt hier aber? Das wirst du schön tun. Wenn das Alles ist, dann gibt es, meiner Meinung nach, kein Problem.“ „Ich weiß aber nicht, ob es für ihn mit einer Entschuldigung getan ist…“ „Klär mich doch bitte auf!“ Schweren Herzens erzählte ich ihr die Sache und sie betrachtete mich bestürzt. Wir flüsterten, da wir bereits im Unterricht saßen und uns eigentlich still mit einem Arbeitsblatt beschäftigen mussten. „Süße, ich verstehe wirklich, dass das nicht so einfach zu verdauen ist, aber du solltest ihn nicht…“ „Ich weiß. Und ich fühle mich furchtbar schäbig, weil er so großartig und beruhigend in solchen Situationen mit mir umgehen kann. Und ich weiß, dass ich ihn jetzt bräuchte, wirklich… Nur, ich…ich weiß genau, dass ich mich nicht entschuldigen kann, wenn ich ihm gegenüber stehe. Er hätte es verdient, ja, aber ich…ich bin einfach grauenvoll!“ Sie zog ihr Handy hervor, als das Vibrieren eine eingehende SMS verriet. „Taylor wollte zu Hause bleiben. Keine weitere Erklärung, warum. Tut mir leid! Sean fragt, was passiert ist. Sein Bruder will nicht darüber reden.“ Carly schaute mich kurz an. „Ich sage ihm nichts, versprochen. Aber denk noch einmal darüber nach, was du jetzt machst, ja? Ich fände es einfach traurig, wenn das mit euch an einer Entschuldigung zerbrechen würde.“ Wir wandten uns den Arbeitsblättern zu, doch ich konnte mich nicht darauf konzentrieren und gab es am Stundenende nur halb ausgefüllt ab.

Von der Schule aus fuhr ich direkt in Richtung der Woods. Ich hatte wirklich vor, mit ihm darüber zu reden, doch als ich dann vor dem Sandweg zum Wald ankam, stoppte ich den Wagen. Was war bloß los mit mir? Ich hatte doch sonst keine Probleme damit, ihn um Verzeihung zu bitten. Gerade weil er doch auch gar keine Schuld an allem trug. Ganz im Gegenteil. Ich startete das Auto und fuhr ganz langsam den Weg hinein. Am Haus angekommen, parkte ich den Wagen und blieb hinter dem Steuer sitzen, die Stirn gegen das Lenkrad gelehnt. Was war ich nur für ein furchtbarer Mensch? Es tut mir leid, mehr nicht. Das konnte doch nicht so schwer sein, das war es bisher doch auch nie. Ich stieg aus, verriegelte das Auto und trat auf die Eingangstür zu. Mein Finger ruhte auf der Klingel. Drück den verdammten Knopf, sagte ich mir immer wieder selbst, aber ich tat es nicht. Plötzlich öffnete jemand die Tür und Sean sah mich an. „Ich wusste doch, dass da Jemand vor der Tür steht. Möchtest du mit…? Hey, was ist los?“ Hilflos schüttelte ich den Kopf und ließ den Tränen freien Lauf. Mein Gott, ich war ein völliges Nervenwrack. „Sag ihm nichts, bitte!“, presste ich hervor und lief zum Auto zurück. So schnell, wie an diesem Tag, war ich noch nie zuvor gefahren. Ich wollte einfach nur weg. Niemanden sehen, von niemandem gesehen werden. Ich heulte noch immer und sah die Straße nur noch schemenhaft. Dann fuhr ich rechts ran und schlug wie von Sinnen schreiend auf das Lenkrad ein. Abwechselnd weinte, schluchzte und schrie ich. Das, was im Moment mit mir geschah, war doch einfach nicht normal. Es war nur eine einfache Entschuldigung an den Mann zu richten, den ich mehr liebte, als irgendjemand sonst auf dieser Welt und ich lief heulend davon. Ich vergrub mein Gesicht in den Händen und lehnte mich im Sitz zurück. „Verdammt…“, schluchzte ich.

Dann klopfte jemand gegen die Scheibe und ich blickte erschrocken auf. Er war völlig außer Puste und stützte sich mit beiden Händen am Wagendach ab. War er etwa gelaufen? Ich blickte mich fassungslos um. Nein, da stand sein Auto hinter meinem. „Wolltest du mit mir reden?“, fragte er atemlos und ich blickte ihn noch immer erschrocken an. Unfähig etwas zu entgegnen. Es schien ihm zu lange zu dauern und so öffnete er meine Tür, schnallte mich ab und zog mich heraus. „Wenn du mir nicht sagen willst, was los ist, fein. Damit kann ich leben, aber stoß mich nicht weg, wenn du mich eigentlich dringend brauchst. Dieses Thema betrifft uns beide und ich werde nicht zusehen, wie du versuchst es alleine mit dir auszumachen. Herrgott noch mal, wir heiraten irgendwann und wenn das später auch so sein soll… So führt man keine Ehe und so will ich sie auch nicht führen. Ich bin für dich da, egal, was auch ist! Ich werde dich nicht so einfach gehen lassen. Du bist jetzt mein Leben und wenn du nur im Entferntesten glaubst, dass du mich so einfach los wirst, hast du dich mächtig geschnitten. Ich werde für immer an deiner Seite sein. Ist das klar?“ Ich schniefte kurz und nickte. Er hatte mich noch nie so zurechtgewiesen, das war eine völlig neue Seite, aber sie machte ihn noch wundervoller. Ließ mich im Gegenzug allerdings noch schäbiger dastehen. Ich hatte ihn mehr verletzt, als ich dachte. „Taylor, ich…“ Gott, nun sag es doch endlich. Vier einfache Worte, mehr nicht. Er stand dicht vor mir, blickte mir traurig ins Gesicht, seufzte und wischte meine Tränen fort. „Erzähl mir davon“, sagte er sanft und zog mich in seine Arme. Ich berichtete ihm jede Kleinigkeit des Traumes und am Ende war ich einfach nur erleichtert und gleichzeitig unsagbar traurig. „Kein Wunder, dass du so von der Rolle warst. Aber, dass du damit alleine klar kommen wolltest… Ich verstehe dich nicht. Was ist los?“ „Ich weiß es doch auch nicht. Als ich da im Bad saß und dich fortgeschickt hab, hab ich mich sofort grauenhaft gefühlt. Ich wollte es nicht und irgendwie doch. Es ist furchtbar von mir und ich weiß, dass du das nicht verdient hast. Taylor, du warst in jeder Situation so toll und vor allen Dingen bist du immer für mich da, aber ich dachte, dass es meine Schuld ist.“ Und da war es endlich raus. „Deine Schuld? Du meinst, es sei deine Schuld, dass du das Kind verlierst?“ Ich nickte und lehnte meine Stirn gegen seine Brust. „Ja. Ich habe bestimmt irgendetwas falsch gemacht. Zu viel Stress oder nicht aufgepasst, was ich meinem Körper antue. Du kennst mich, das mache ich doch immer. Es ist also meine Schuld!“ „Das ist es also. Das war es, was du gedacht hast… Hör mir zu, Schatz! Erinnerst du dich, was du in der stürmischen Nacht im Strandhaus zu mir gesagt hast? Du meintest, dass du von nun an besser auf die Signale deines Körpers achten würdest. Und ich bin mir sicher, dass du deine eigenen Worte nicht missachten würdest. Dafür kenne ich dich zu gut. Du bist nicht schuld, wenn du auf solche Art dein Kind verlierst. Hörst du? Es ist die Natur, die das tut. Ich weiß, dass es grauenvoll ist. Das kann ich mir wirklich vorstellen, aber du trägst keine Schuld, verstehst du?“ „Nicht?“ „Nein, und da bin ich mir absolut sicher.“ Er nickte mir zuversichtlich zu. „Taylor, es tut mir so furchtbar leid. Ich hab das gestern Abend nicht gewollt.“ „Ich weiß! Es ist in Ordnung. Jetzt ist alles gut! Wir kriegen das hin!“ „Und es tut mir leid, dass du so enttäuscht von mir warst.“ „Enttäuscht? Wieso sollte ich?“ „Du warst nicht in der Schule… Ich dachte,…“ „Nein, nein. Das hatte verschiedene Gründe. Ich wollte dich nicht unter Druck setzen. Du meintest, dass ich gehen sollte. Du hast dich so vor mir versperrt, dass ich dachte, es wäre für dich noch schlimmer, wenn wir in der Schule ständig nebeneinander sitzen würden. Und ich wollte dir keine Vorwürfe machen, falls wir aneinander geraten sollten. Aus Wut sagt man viele Dinge, die man nicht so meint. Es sollte nicht eskalieren.“ „Wieso kennst du mich so gut? Du weißt immer, wie ich reagiere…“ „Nein, nicht immer. Manchmal wünschte ich, ich wüsste es. Aber du gibst mir oft genug Rätsel auf.“ Er lächelte schelmisch.

 

In den nächsten Tagen war wieder alles wie vorher. Es wurde abends ein wenig kühler, der Herbst würde bald beginnen. Ich hatte mich langsam mit dem Gedanken auseinander gesetzt, dass uns ein solches Ereignis noch bevor stand. Aber ich war vor allem froh, dass Taylor bei mir sein würde, egal, was geschah. „Kommst du heute Abend vorbei? Wir könnten mit meinem Vater bei Henry essen und ein bisschen Billard spielen?! Ich habe keinen Bock zu kochen und muss nachher noch zum Arzt.“ Er wurde hellhörig. „Arzt?“ „Nur eine einfache alljährliche Kontrolle.“ Er lehnte sich wieder an die Schließfächer und atmete erleichtert aus. „Mein Gott, musst du mich immer so erschrecken? Ich dachte schon, du seiest krank…“ „Entschuldige. Also, wie sieht es mit heute Nachmittag aus?“ „Ja, klar. Informier nur Daniel rechtzeitig, sonst regt er sich wieder auf, dass du ihm auch hättest früher schreiben können.“ „Aye, aye, Sir!“ Taylor rollte mit den Augen und schlang dann seinen Arm um meine Schulter, um mich in die Cafeteria zu führen. Wir waren vor den anderen da und suchten uns einen freien Tisch, nachdem wir das Essen gewählt hatten. „Bist du auf einem Gesundheitstrip?“, fragte er mich und ich zog eine Augenbraue hoch, den Blick auf mein Tablett gerichtet. Ich hatte mir Salat mit Feta und Dressing, Wasser und einen Apfel ausgesucht. Dann sah ich auf seines. „Und willst du deinen Cholesterinspiegel erhöhen?“ Sein Mittag bestand aus Burger und Fritten, Cola und Pudding. „Coach Turner meint, ich soll mehr Muskelmasse aufbauen und dafür muss ich nun mal mehr essen.“ „Und was hat der Coach mit dir am Hut?“ „Er hat mich klein gekriegt.“ „Inwiefern?“ „Hey, Wood“, rief einer der Jungs aus unserer Parallelklasse, den ich schon öfter beim Training mit dem Coach gesehen hatte, „super, dass du endlich fürs Team zugesagt hast!“ Taylor nickte ihm nur kurz zu und versuchte mich dann mit Blicken zu beschwichtigen. „Hast du mir nicht erzählt, dass Football nichts für dich wäre, da du dich der Schnelligkeit wegen am Riemen reißen müsstest?“, fragte ich sachlich und schob mir die Gabel mit ein bisschen Salat in den Mund. „Ich brauche aber noch irgendeinen Ausgleich. Wenn ich im Wald schon nicht dem nachgehen darf, was ich normalerweise tun würde, wollte ich Sport ausprobieren. Für spätere Situationen bestimmt nicht von Nachteil, oder?“ „Du brauchst dich vor mir nicht zu verteidigen. Mach ruhig! Ist mir lieber, als dich im Wald zu wissen, aber sei bitte vorsichtig.“ Taylor sah verletzt aus. „Die anderen werden mir schon nicht wehtun.“ „Ich meinte, dass du den Anderen nichts tun sollst. Die stehen nämlich nicht wieder so einfach auf wie du“, kommentierte ich und er grinste über die ganze Breite seines Gesichtes. „Sehe ich dich dann trotzdem noch nachmittags oder wann ist Training?“ „Jeden Dienstag und Donnerstag, zwei Stunden nach der Schule. Am Wochenende sind Auswärtsspiele und Freitagabends dann hier auf unserem Platz. Immer abwechselnd, versteht sich, und auch nicht jede Woche.“ „Na ja, dann muss ich nach der Schule eben mehr mit den Mädels unternehmen.“ „Na, vielen Dank. Man wird von einer seiner Freundinnen natürlich gern als Lückenfüller benutzt“, brummte Kelly und auch die anderen setzten sich zu uns. „Es tut mir leid, ehrlich. Das habe ich schlecht ausgedrückt. Entschuldige!“ „Ich weiß, wie du das gemeint hast. Keine Sorge.“ Sie spielte immer noch die beleidigte Leberwurst. „Schön, dass du endlich mal wieder an uns denkst. Elli und ich fühlen uns schon irgendwie im Stich gelassen. Ihr drei habt alle einen Freund und nicht mehr all zu viel Zeit, wisst ihr?“ Das war ehrlich gemeint und ich drückte sie seitlich an mich. „Oh, Kelly. Wir machen das nicht mit Absicht. Aber wir genießen eben die Zeit mit unserem Freund. Und da kommt ihr leider etwas kurz, entschuldigt.“ Den Rest der Pause verbrachten wir damit, Pläne für einige Mädelsabende oder -nachmittage zu schmieden. Danach schienen die beiden Singles wieder etwas fröhlicher gestimmt zu sein.

 

Nach der Schule fuhr ich zum Northstar Health, in dem früher meine Mutter gearbeitet hatte. Viele der Krankenschwestern und Ärzte kannten mich bereits seit meiner Geburt und grüßten mich fröhlich. Einige blieben stehen, um mit mir zu plaudern. „Ach, du siehst deiner Mom immer ähnlicher. Herrlich!“ „Danke, das ist wirklich nett von Ihnen, Schwester Susan.“ „Was führt dich eigentlich her? Ein Termin oder hattest du Sehnsucht nach uns?“ „Ein bisschen von beidem, würde ich sagen. Ich muss zu Dr. Beckett.“ „Schätzchen, zur Kontrolle oder wegen etwas Bestimmtem?“ „Wir werden sehen…“ „Aha.“ „Kein Wort, versprechen Sie es mir?“ „Natürlich. Ich bin mir nur nicht sicher, wie ich mich jetzt verhalten soll!“ „Seien Sie wie immer. Es kann ja auch ganz was Anderes sein.“ „Na ja.“

 

Am Freitag - tags darauf - hatten Taylor und ich uns zu einem Date am Pier entschlossen. Wir wollten dort etwas entlang bummeln, in der schönen Buchhandlung stöbern und vielleicht Essen gehen. Er saß brav auf meinem Bett und wartete bis ich mit den letzten Vorbereitungen fertig war. „Du siehst immer hübsch aus, Schatz. Musst du dich noch hübscher machen, damit dich all die anderen Männer am Pier anstarren?“ „Du bist so ein Charmeur, Taylor. Hör bloß nicht damit auf!“ Er lachte. „Oh, ich hab noch was vergessen. Ich bin gleich wieder da…“ Gerade, als ich aus dem Zimmer wollte, klingelte mein Handy. „Gehst du kurz ran? Vielleicht ist es Carly. Sag, ich ruf zurück.“ Ich ging runter ins Wohnzimmer. Taylor nahm den Anruf entgegen. „Ich denke, wir können los. War es was Wichtiges?“, fragte ich und legte meine Kette an, die er mir zum Geburtstag geschenkt hatte. Er saß reglos auf dem Bett und blickte auf das Handy in seiner Hand. „Das Krankenhaus, Dr. Beckett, um genau zu sein. Du sollst sie zurückrufen.“ „Ach.“ „Ist das alles, was du mir dazu sagen möchtest?“ „Ich kann dir erst mehr sagen, wenn ich mit ihr telefoniert habe. Gibst du mir jetzt das Handy?“ Widerwillig ließ er zu, dass ich es ihm aus der Hand nahm. Ich spürte, dass er mich beobachtete als ich mit der Ärztin sprach. Er achtete auf meine Reaktion, als sie mir meinen Befund präsentierte. „Ja, na klar. Nein, das krieg ich hin. Sagen Sie mir, wann ich vorbeikommen soll!“ Sie sprach. Ich war überrascht, wie ruhig ich bei alledem blieb. „Geht auch am Nachmittag, ich hab Schule vorher. Mhm. Okay. Ja, Donnerstag ist gut. Sicher, ich frage ihn sowieso. Vielen Dank, dass Sie so schnell bescheid gegeben haben. Schönen Abend noch. Danke. Bis dann!“ Taylor stand ganz nah hinter mir. So nah, dass ich seinen Atem in meinem Nacken fühlen konnte. Ich wandte mich zu ihm um. Sein Blick war fragend, ängstlich und besorgt. „Hast du Donnerstag nach der Schule Zeit?“ „Was ist los? Das war nicht nur eine Zahnärztin, nehme ich an?“ „Nein, war sie nicht. Hast du nun Zeit? Ich hätte gern, dass du dabei bist.“ „Ist bei dir alles in Ordnung? Fehlt dir irgendwas?“ „Es ist alles gut. Zumindest finde ich das.“ „Und deine Ärztin nicht?“ „Doch, ich weiß nur nicht, was ein gewisser Jemand davon hält.“ „Wenn du mich aufklären würdest, könnte ich es dir gerne sagen.“ Ich führte ihn zum Bett und ließ ihn darauf Platz nehmen. „Damit machst du mir nun nicht gerade Hoffnungen…“, stöhnte er und ich versiegelte seine Lippen mit einem Kuss. „Würdest du, bitte, den Mund halten und zuhören?“ Er antwortete nicht und ich lächelte leicht, als ich mich auf seinen Schoß setzte. „Ich habe dich angelogen, was den einfachen Kontrolltermin beim Arzt anging. Ich war bei Dr. Beckett im Krankenhaus. Und die war so nett, meine Testergebnisse ganz schnell zu bearbeiten und mir gleich mitzuteilen.“ „Und die wären?“ Er war so wahnsinnig nervös, dass sein ganzer Körper zitterte. Seine Befürchtung war wohl, dass ich ihm von einer tödlichen Krankheit berichtete. Aber das passte nicht mit meiner Aussage zusammen, dass es mir, meines Erachtens nach, gut ging. Sein Gehirn arbeitete mächtig. Und ehe er sich die fürchterlichsten Horrorvisionen ausmalte, sagte ich einfach nur: „Wir bekommen ein Baby.“ Ich hörte förmlich wie die riesigen Steinklumpen von seinem Herzen abfielen. „Du…?“ „Wir“, berichtigte ich ihn und stand dann auf. „Kommst du nun mit am Donnerstag? Sie möchte ein erstes Ultraschallbild machen und da sollte der Vater des Kindes doch dabei sein.“ Er lachte erleichtert auf und hob mich auf seine Arme. „Mein Gott, hatte ich Angst. …Oh, entschuldige!“ Taylor setzte mich wieder vorsichtig auf dem Boden ab und nahm mein Gesicht in beide Hände. „Wir kriegen wirklich ein Baby?“ „Da Dr. Beckett schon sehr lange als Frauenärztin arbeitet… Und auch bessere Methoden hat, als eine Apotheke, die bloß einen einfachen Schwangerschaftstest führt, würde ich doch mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit Ja sagen.“ „Du bist so vollkommen ruhig und ich würde am liebsten… Ich weiß nicht, was ich als Erstes tun soll.“ „Um ehrlich zu sein, habe ich es wohl ganz tief im Innern schon geahnt. Ich meine, ich war ein ziemliches Nervenwrack in letzter Zeit. Ich war öfter müde und dann die verrückten Träume über eine Schwangerschaft. Aber, glaub mir, ich freue mich wahnsinnig und ich bin unglaublich erleichtert, dass du es ebenfalls tust.“ „Wieso auch nicht?“ „Na ja. Bei dem ersten Traum unserer Hochzeit und als ich dir sagte, dass wir einen Sohn gehabt hätten, warst du nicht sonderlich…“ „Stimmt,…ja. Aber es ist so viel passiert in letzter Zeit und ich würde sagen, das macht unsere gemeinsame Zukunft komplett.“ Ich küsste ihn voller Glücksgefühl. „Du bist wirklich mein Traummann, Taylor Wood!“ Seine starken Arme umschlossen mich sicher und warm. Er hielt mich einfach nur fest und küsste mich, langsam und innig. „Wollen wir wirklich ausgehen?“, seufzte er und blickte auf meine leicht geöffneten Lippen. Ich wusste nicht wieso, aber ich wurde rot im Gesicht und hatte ein unglaubliches Verlangen nach ihm. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken und schlug meine Hände vors Gesicht.

 

„Alles okay, Schatz?“ „Das ist mir total peinlich.“ „Was denn?“ Er war sich nicht ganz sicher, was er davon halten sollte. War es ihr peinlich, wie er sie angesehen hatte. Was er gesagt hatte? Oder gar etwas völlig anderes? Sie sah zu ihm auf, küsste ihn zaghaft auf Mund und Wange und flüsterte ihm dann ins Ohr: „Ich möchte jetzt unglaublich gerne mit dir... Du weißt schon.“ Er konnte nicht anders und lachte schallend los. Sie zog eine missmutige Schnute und er meinte: „Es tut mir leid. Ich lache dich nicht aus. Ich finde nur die Vorstellung sehr amüsant, dass es der Frau, die mich vor einiger Zeit ständig versucht hat, zu verführen und die nun unser gemeinsames Baby erwartet, peinlich ist, mir so etwas laut ins Gesicht zu sagen.“ Er begann wieder zu lachen. Lilly sah nicht mehr ganz so bedrückt aus, aber mitlachen konnte sie anscheinend auch nicht. „Ich bin völlig durcheinander. Wenn das die ganzen neun Monate hindurch so furchtbar ist mit meinen Gefühlen und Überreaktionen, na dann Gute Nacht.“ „Deine Hormone spielen eben verrückt, na und? Wir haben doch nun wirklich schon schlimmere Sachen durchgemacht.“ Sie würde zugeben müssen, dass er Recht hatte. Er beugte sich tief zu ihr hinunter und wisperte, seine Stirn an ihre gelehnt: „Außerdem habe ich dich deswegen ja auch gefragt, ob wir wirklich ausgehen wollen.“ „Dir geht es auch so?“ „Na ja, ich fand es schon wahnsinnig sexy, als du gesagt hast, dass wir ein Baby kriegen. …Oh mein Gott.“ „Was ist?“ „Dein Vater bringt mich um.“ Jetzt war sie es, die schallend loslachte. „Darüber machst du dir Sorgen, ja? Aber, dass wir noch auf die Highschool gehen, bei unseren Eltern wohnen und ein Baby kriegen, das ist in Ordnung!?“ „Dein Vater ist furchteinflößend. Du hast ihn doch erlebt als er mir das letzte Mal den Kopf gewaschen hat.“ Lilly lachte noch immer und ließ sich auf ihr Bett plumpsen. „Entschuldige… Ich kann einfach nicht aufhören.“ „Du begibst dich da auf sehr dünnes Eis, Lillian Connor.“ „Na fein, wenn du dich über mich amüsierst, ist das okay. Aber ich darf das natürlich nicht.“ „Nein“, meinte er und legte sich über sie. „Taylor, nicht. Hör auf, ich krieg vor Lachen schon keine Luft mehr.“ Er kitzelte sie und blickte in ihr gerötetes Gesicht. „Taylor!“ „Sag es!“ „Ist ja gut, es tut mir leid. Ich reiße mich zusammen, aber, bitte, hör auf damit.“ Dann ließ er zufrieden von ihr ab. Sie atmete heftig und er beobachtete, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte. Ihre Hände lagen erhoben neben ihrem Gesicht und ihr Haar floss weich über das Kissen unter ihrem Kopf. Er legte sich neben sie und platzierte seine Hand auf ihrem Bauch, der noch flach war und nichts von der Existenz des Babys verriet. „Fühlst du das auch? Angst und überwältigende Freude?“, fragte sie leise und ihr Atem verlangsamte sich allmählich. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu. „Mhm.“ „Weißt du, die Vorstellung, dass da etwas in mir wächst, das von uns beiden gemeinsam ist, das macht mich unvorstellbar glücklich. Aber ich habe Angst vor dem, was auf uns zukommt. Wir sind doch gar nicht richtig darauf vorbereitet.“ „Zusammen kriegen wir alles hin, das weiß ich.“ „Ja, weil ihr beide alles seid, was ich je gewollt habe.“ Er lächelte sie an, streichelte ihre Wange und küsste sie innig. Unten ging die Haustür auf und ihr Vater rief herauf: „Lils? Taylor? Seid ihr noch da?“ „Ja“, antwortete sie ihm, „Wir gehen wohl nicht mehr weg.“ „Ich habe Pizza dabei. Wenn ihr wollt, teile ich mit euch beiden!“ „Wir kommen“, antwortete er und blickte Lilly an, die sich aus dem Oberteil schälte und ein bequemeres T-Shirt anzog. „Was ist?“, fragte sie, als sie es bemerkte. „Dein Vater hat ein ganz furchtbares Timing.“ Ganz kurz nur funkelten ihre Augen und sie wurde noch einmal rot im Gesicht. „Spinner! Komm, ich hab Hunger auf ein Brötchen mit ganz dick Schokolade oder Marmelade drauf.“

Die drei saßen beim Essen, als Lilly ihren Vater anblickte und meinte: „Meine Vorahnung war übrigens richtig!“ „Ach so? Na ja, da kann man dann wohl nichts machen!“ „Jetzt sei kein Spielverderber und freu dich.“ „Tu ich doch, sieht man das nicht?“ „Oh ja, kaum zu übersehen. Die Freude springt einem förmlich ins Gesicht.“ „Er hat es gewusst?“, fragte er sie. „Ich hab ihn sicherheitshalber darauf vorbereitet. Deswegen war es ja so köstlich, wie du dich oben verhalten hast.“ „Na, vielen Dank.“ „Wieso?“, fragte Daniel und blickte sie beide abwechselnd an. „Er hatte Bammel vor deiner Reaktion. Du hast bei der letzten Standpauke mächtig Eindruck bei ihm hinterlassen.“ „Na, dann hat wenigstens einer von euch noch Respekt vor mir.“ Nach einer kurzen Pause dann: „…Herzlichen Glückwunsch, ihr beiden!“ Er meinte es ernst und Lilly lächelte ihren Vater an. „Danke, Dad.“ „Ich nehme mal an, dass ihr mit der Hochzeit dann auch nicht mehr allzu lange warten werdet, oder?“ „Ich weiß nicht. Daran habe ich noch gar nicht gedacht.“ Sie sah ihn fragend an. „So weit war ich mit meinen Gedanken auch noch nicht. Erst mal war die Nachricht über ein Baby um einiges wichtiger“, erklärte er ihr. „Hat Dr. Beckett schon gesagt, wie weit du bist?“ „Sie geht von der siebten oder achten Woche aus, aber wir haben am Donnerstag schon einen Termin wegen des ersten Ultraschalls. Dann kann sie uns mehr sagen. …Vielleicht sollten wir uns auch schon Gedanken machen, wegen einer Wohnung. Hochschwanger will ich nicht unbedingt umziehen. Und da wir nächsten Sommer dann Prüfungen und das Baby haben, wird es nicht unbedingt einfacher.“ Daniel stimmte ihr nickend zu. „Ich frag mal bei Steve nach. Der hat bestimmt ein paar gute Angebote für euch.“ „Danke, echt nett von dir“, meinte er. „Das ist ja wohl meine Pflicht als Opa. Apropos, fahrt ihr heute noch zu Kenneth und Sean? Die werden das doch von euch beiden erfahren, oder?“ „Auf jeden Fall! Ich geh mich wieder umziehen…“ „Geh langsam, Lils. Du bist jetzt nicht mehr nur für dich verantwortlich.“ Sie biss sich auf die Unterlippe und lächelte beide freudestrahlend an. Ihre Wangen wurden wieder leicht rot und sie meinte: „Ja, ich weiß. Ab jetzt für Zwei!“ Er musste schwer schlucken und fand sie wahnsinnig schön. Ihr Vater hatte wirklich ein miserables Timing!

Auf der Autofahrt war ich ganz kribbelig. Ich war mir sicher, dass sie sich für uns freuen würden - Kenneth wohl etwas verhaltener -, aber Angst hatte ich trotzdem. Man berichtete seinem zukünftigen Schwiegervater, wenn man erst 18 Jahre alt war, ja schließlich nicht jeden Tag, dass er Opa werden würde. „Du bist so still?! Alles okay?“ Ich wandte mein Gesicht zu Taylor um. „Ja. Nur etwas nervös.“ „Sie werden sich für uns freuen.“ „Ja, nicht wahr?“ Er war immer mein Fels in der Brandung! Ich liebte ihn so sehr, dass ich mich manchmal selbst nicht wieder erkannte. Es war verrückt wie wahnsinnig ich mich nach ihm sehnte, wenn er nur ein paar Minuten von mir getrennt war. Wie sehr ich ihn begehrte, wenn er mich, so wie auch in diesem Moment, ansah. Wie heftig mein Herz schlug, wenn er meine Haut berührte. Wie stark das Blut in meinen Adern brodelte, wenn er mich küsste. Und noch immer verliebte ich mich von Tag zu Tag mehr in ihn. Ich fragte mich oft, ob das jemals ein Ende finden würde. Mein Körper, mein Herz, würden irgendwann nichts mehr halten können. Aber allein, dass er bei mir war, machte mich so unbeschreiblich glücklich, dass ich es tatsächlich für einen Traum hielt. Er war wundervoll: lieb, selbstlos, ein Gentleman und Charmeur, gut aussehend, klug, witzig, aufrichtig, stark und mutig. Und wieder fragte ich mich, wieso er ausgerechnet mich gefunden hatte! Manchmal überkam es mich. Ich bekam Komplexe ihm gegenüber. Er war einfach zu gut. Alles war zu schön, um wahr zu sein. Ich dachte an den Schmerz, der sich in meiner Brust ausgebreitet hatte, als er mich verließ, um mich zu schützen. Er hatte gesagt, er würde mich immer noch lieben, aber für mich war das einfach nur das Ende. Es hatte sich damit alles bestätigt, was ich immer geahnt hatte. Ich passte nicht zu ihm! Taylor war ohne mich besser dran. Das hatte ich ihm nie erzählt. Nicht ohne Grund hatte ich ihm, nachdem er aus seiner viertägigen Ohnmacht aufgewacht war, vorgeschlagen alles Vorherige zu vergessen und als Paar neu anzufangen. Ich hatte geglaubt, ich könnte neu beginnen und dieses quälende Gefühl los werden, ihm nicht gerecht zu werden. Doch ich würde mein Leben lang, in einer kleinen Ecke meines Herzens, dieses Gefühl aufbewahren und davor schützen von ihm entdeckt zu werden. Taylor würde sich nur selbst die Schuld daran geben, weil er es lange Zeit nicht bemerkt hatte. Und er konnte nun wahrlich nichts dafür. Das war etwas, dass ich wirklich mit mir allein ausmachen musste.
 

Als sie vor der Haustür der Woods standen und er gerade aufschließen wollte, riss sein Bruder bereits die Tür von innen auf. „Lilly, komm doch rein! Carly ist auch da.“ Sie warfen einander fragende Blicke zu. Wusste er etwa bereits bescheid? Nein, woher auch?! „Nun, komm schon. Wir heizen nicht für draußen. …Ach, Taylor, du bist ja auch da.“ Nein, er wusste es sicher nicht! „Vielen Dank für die nette Begrüßung. Ich frage mich immer noch, ob du wirklich mein Bruder bist“, antwortete er und Sean nahm ihn in den Schwitzkasten. „So viel Liebe, wie ich sie für dich empfinde, kann nur bedeuten, dass ich dein Bruder bin!“ Er rieb mit seiner Faust fest über seinen Kopf, sodass es leicht zu schmerzen begann. Sein Vater hatte bereits Lilly in den Armen, um sie vor dem Gerangel in Sicherheit zu bringen. Er fand es immer wieder erstaunlich, wie sehr sich sein Vater veränderte, wenn Lilly den Raum betrat. Vielleicht lag es daran, dass sie in einigen Eigenschaften seiner Mutter, also Kenneth‘ verstorbener Frau, ähnelte. Oder aber, weil er sie einfach sehr ins Herz geschlossen hatte. Er hielt beides für möglich. „Was verschafft uns die Ehre eures Besuches? Mein Sohn war lange nicht mehr zu dieser Uhrzeit im Haus. Möchtet ihr einen Tee oder Kaffee? Was zu essen?“ „Nur keine Umstände. Aber zu einem Glas Wasser würde ich nicht Nein sagen.“ „Für dich auch etwas, Taylor?“ „Nein, alles bestens. Hey, Carly!“ Diese lächelte und ließ sich umarmen, nachdem sie sich von ihrer besten Freundin gelöst hatte. Kenneth kam aus der Küche zurück. „Wir haben hoffentlich nicht gestört?!“ „Aber, nein, Liebes. Wir sind gerade mit dem Abendessen fertig. Also, ihr seid doch nicht ohne Grund hier. Was gibt es?“ Er setzte sich neben Lilly und hielt ihre Hand. Als er sie von der Seite beobachtete, bemerkte er ihr nervöses Lächeln, doch ihre Haut schien vor Freude zu strahlen. „Es ist schön, dass ihr alle da seid. Es ist mir,…obwohl, nein, ich denke uns beiden sehr wichtig, dass ihr Drei es gemeinsam hört.“ Carly grinste bereits breit, doch sie verkniff sich jeglichen Kommentar und wechselte mit ihrem schelmischen Blick zwischen Lilly und ihm hin und her. Die umschloss seine Hand fester und blickte zu ihm auf. Die Frage in ihren Augen lautete: Soll ich? Er nickte ihr zuversichtlich zu. „Taylor und ich,…wir beide…na ja… Wir bekommen ein Baby.“ Es war vollkommen still im Wohnzimmer. Carly riss sich stark zusammen. Man sah ihr an, dass sie aufhüpfen und beide drücken wollte. Doch sie schielte zu Kenneth hinüber und wartete ab. Sean verkniff sich ebenfalls ein Grinsen. „Wie bitte?“, fragte sein Vater. „Du wirst Opa, Sean Onkel und ich nehme an Carly Tante“, meinte er ruhig und Lilly umklammerte seinen Arm, um sich dann näher an ihn zu drücken. „Großvater?“ Er spürte wie seine Verlobte zaghaft nickte. Am liebsten hätte er sie beruhigend angesehen, denn er fühlte den Herzschlag seines Vaters. Und der war überhaupt nicht verärgert oder nervös. „Ich werde Opa!“ Kenneth sank in die Kissen zurück, dann sprang er auf und sagte: „Um Gottes Willen, entschuldigt. Herzlichen Glückwunsch! Lilly, schau nicht so ängstlich. Ich freue mich, wirklich!“ „Ja?“, fragte sie zaghaft. Sie dachte an die Reaktion ihres Vaters, da war er sich sicher. Es war ihr nicht geheuer, dass sich ein Vater auch so freuen konnte. Sie ließ sich in die Arme nehmen und begann endlich zu lachen. „Herrje, ich war viel nervöser wegen deiner Reaktion, als wegen der meines Vaters. Oh je, sag ihm das aber nicht!“ „Ist gut. …Komm, Sohn, lass dich drücken!“ Alle drei waren aufrichtig begeistert, freuten sich und drückten sie mehrere Male. Carly und Lilly plauderten bereits über die zukünftigen Pläne, als Sean ihn beiseite zog und in den Wintergarten führte.

„Herzlichen Glückwunsch, Mann.“ „Danke!“ Es freute ihn wirklich sehr, dass sein Bruder sich so vor ihm verhielt. Sean war normalerweise anders. Er zog vieles ins Lächerliche, aber in den ernsten Dingen des Lebens wusste er, dass er sich auf seinen Bruder verlassen konnte. „Hör zu, ich will dir diesen Tag nicht kaputt machen, aber ich denke, dass du es wissen solltest.“ „Was ist los?“ „Er war ganz nah dran. Ich bin mir nicht sicher, was er getan hätte, aber…“ „Bestimmt nichts Gutes.“ „Nein, wohl nicht. Taylor, du solltest sie warnen. Das ist schon lange kein Spiel mehr. Du weißt genau, was er bereits angerichtet hat…“ Er ließ sich auf die Bank sinken und blickte in den Garten hinaus. „Es ihr sagen? Sean, sie ist schwanger. Wenn die Ärztin Recht hat, in der siebten oder achten Woche. Ich tu ihr das nicht an und setze das Leben dieses Kindes aufs Spiel. Und das ihre. Das würde sie völlig vernichten. Lilly ist nicht so stark, wie sie immer tut. Äußerlich erkennt man nichts, aber innerlich ist sie so wahnsinnig zerbrechlich. Das kann ich nicht machen.“ „Und was hast du dann vor?“ Er rieb sich mit den Händen über Stirn und Kopf. Warf dann einen Blick ins Wohnzimmer, wo Lilly gerade lachte und schützend eine Hand über ihren Bauch legte. „Ich bringe ihn irgendwie zur Strecke. Das hätte ich von Anfang an tun sollen. Er wird nicht einfach verschwinden, weil er die Lust daran verliert. Darauf kann ich lange warten. Also muss ich ihn töten.“ „Tun wir es gemeinsam. Ich lass dich nicht noch einmal alleine in seine Nähe. Und Dad wird uns auch helfen wollen!“ Sean reichte ihm die Hand, er schlug ein und ließ sich auf die Füße ziehen. „Danke!“ „Es sieht manchmal nicht danach aus, aber…ich liebe dich. Und du bist mein einziger Bruder. Ich würde an deiner Stelle ebenso handeln und weiß, dass du in so einer Situation genauso an meiner Seite stehen würdest.“ „Wir sind tatsächlich Brüder, hm?“ „Ja, nicht zu leugnen.“ Sie gingen gemeinsam zurück ins Wohnzimmer. Dort küsste er Lilly auf die Stirn. „Wofür war denn der?“, fragte sie und strich sich eine Strähne hinters Ohr. „Für das Baby.“ „Ach so“, wisperte sie und er küsste sie auf den Mund. „Und der war für dich!“ Sie lächelte und ließ sich an seine Brust sinken. „Danke!“

9. Kapitel - Zuhause

„Ein Baby?“ Wir blickten beide in ungläubige Gesichter, als wir es dem Rest unserer Freunde am Sonntag vor der wöchentlichen Versammlung erzählten. Da standen sie nun und wussten nicht recht, wie sie reagieren sollten. Fröhlich, erstaunt, nervös, kritisch? Taylor und ich hatten ihnen extra mitgeteilt früher zu kommen, damit niemand Anderes es mitbekam. Es musste ja nicht gleich in der ganzen Stadt die Runde machen, aber ich war mir schon ziemlich sicher, dass mein Vater es seinen Kumpels erzählen würde. Und darunter befanden sich ein paar kleine Tratschtanten. „Ja“, ließ Taylor verläuten und ich musste mir ein Lachen verkneifen. Es war, als würde er darauf warten, dass sie endlich bemerkten, dass man sich über so eine Nachricht freuen müsste und man den zukünftigen Eltern um den Hals fallen sollte. Dann ergriff Carly das Wort, während Sean ihre Hand hielt, um sie etwas zu zügeln. „Mein Gott, jetzt schaut doch nicht so! Die beiden gehen noch auf die High School, wollen bald heiraten und bekommen ein Baby. Ja, und? Sie sind glücklich und freuen sich darüber. Und sie wollten, dass ihr es erfahrt. Fühlt euch geehrt, beglückwünscht sie und dann können wir uns benehmen wie immer!“ Also wenn sich Carly einmal in Rage redete, war sie wirklich unschlagbar. Die Vier erwachten aus einer Art Trance und begannen dann zu jubeln. Jeder beglückwünschte uns und schon waren wir bei dem Wort ‚Babyparty‘. „Leute, Leute. Wirklich süß von euch an so etwas zu denken, aber ich bin erst im zweiten Monat. Also, lasst es einfach langsam angehen, ja?“ „Papperlapapp. Man kann mit Planung nie früh genug anfangen, alles klar?“ „Carly! Langsam, bitte.“ „Fein, aber wir machen eine.“ „Meinetwegen, aber noch keine nähere Planung, klar?“ „Ja, ja.“ „Ich weiß genau, was das in deinem Wortschatz bedeutet. Lauf jetzt gefälligst nicht vor mir weg!“ „Lilly?“ Ein schlanker Herr in Karohemd und abgewetzten Arbeiterjeans tauchte hinter uns auf. Ich musste Carly wohl oder übel entkommen lassen, aber das würde ich heute nicht so auf mir beruhen lassen. „Steve, hey!“ Ich drückte ihn kurz und stellte ihm dann Taylor vor. „Dein Dad sagte mir, dass ihr eine Wohnung sucht. Er hat sich auch etwas verplappert, also… Herzlichen Glückwunsch!“ „Danke.“ „Na ja. Ich wollte euch eigentlich nur ein paar Unterlagen geben. Guckt die Angebote durch und wenn euch eine zusagt, können wir sie mal besichtigen gehen. Nächste Woche oder so.“ „Super. Vielen Dank. Ich hab gar nicht so schnell mit möglichen Wohnungen gerechnet.“ „So viele sind es auch nicht. Häuser wären ein paar Schönere dabei, aber das wird wohl erst einmal zu teuer sein.“ Ich nickte und er ging zu seiner Frau zurück, die am Eingang der Halle wartete und uns zuwinkte. Ich verstaute die Unterlagen in meiner Tasche und ging dann mit Taylor ebenfalls hinein. Es wurde überall getuschelt und da hätte es mir schon klar sein müssen. Natürlich wusste es bereits ganz Crystal Falls.

Er beobachtete sie und hörte, wie sie leise seufzte. „Was ist?“ „Hörst du gar nicht hin, wenn sie alle so flüstern?“ „Nein, ich schalte so etwas aus Gewohnheit bei größeren Menschenansammlungen aus, weißt du doch. Warum?“ „Du solltest da etwas über meinen Vater erfahren.“ Sie wandte sich zu ihm um und seufzte noch einmal. „Er erzählt Neuigkeiten mindestens einem seiner Freunde. Er tut immer so, als sei es ihm »aus Versehen« herausgerutscht, aber das ist es nicht. Und der eingeweihte Freund hat es einem anderen zufällig erzählt und der wiederum… Na ja, du kannst dir den Rest sicher denken.“ „Und da heißt es immer Frauen wären solche Klatschbasen…“ „Ja, in Crystal Falls ist das alles etwas anders. Und manchmal habe ich das Gefühl, mein Vater ist der Gipfel dieses Eisbergs.“ Er lachte leise und setzte sich dann mit ihr auf die nächstgelegenen zwei freien Stühle. Von allen Seiten wurden sie angesehen, verhalten gegrüßt oder angelächelt. „Die jagen mich nicht gleich aus der Stadt, weil ich dich geschwängert habe, oder?“, fragte er flüsternd. „Ich stelle mich schützend dazwischen, versprochen.“ „Vielen Dank, ich fühl mich gleich viel sicherer.“ „Ich weiß!“ Er hob ihre Hand an seinen Mund und küsste diese. Die Versammlung begann und es wurde über Kleinigkeiten, wie die nächsten Baustellen und den geplanten Anbau an die Schule gesprochen. Sie waren ziemlich schnell damit durch und dann meinte der Bürgermeister: „Nun, wenn keiner mehr Fragen hat, würde ich…“ Eine Hand schnellte in die Luft und er spürte, wie Lilly ihn erschrocken anblickte. „Ja, Mr. Wood?“ „Ich habe keine Frage, aber ich würde gern etwas sagen.“ „Nun, sicher. Stehen Sie ruhig auf und… Sie haben das Wort.“ „Vielen Dank. …Ich möchte Sie alle gar nicht lange aufhalten, aber da ich mir sicher bin, dass noch niemand es weiß, dem wir es noch nicht persönlich gesagt haben…“ Carly und Sean verkniffen es sich, laut aufzulachen und Lilly rutschte auf ihrem Stuhl nervös hin und her. Er umschloss ihre Hand fester und sie blickte resignierend zu ihm auf. „Vor einer Weile habe ich bei Dr. Connor um die Hand seiner Tochter angehalten. Er hat uns seinen Segen gegeben und ich bin mir sicher, dass Sie sich auch für uns freuen. Außerdem hat mir Lilly vor Kurzem gesagt, dass wir ein Baby erwarten. Ich wollte, dass Sie alle es erfahren, weil wir doch zu einer Stadt gehören und ich auf diese Nachrichten auch sehr stolz bin. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.“ Er setzte sich wieder und man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Dann stellte sich Mr. Cooper wieder an sein Pult und…begann zu klatschen. Einer nach dem Anderen stimmte mit ein und von allen Seiten wurden Glückwünsche gerufen. „Du bist wirklich einzigartig, Taylor. Danke“, flüsterte sie und er wischte die eine kleine Träne von ihrer Wange fort. „Das ist dein Verdienst.“

 

Am Donnerstagnachmittag - er hatte sich beim Training entschuldigt gemeldet - saßen sie im Krankenhaus. Er zeigte es ihr nicht, aber er war wahnsinnig nervös. Sie würden heute zum ersten Mal ein Ultraschallbild ihres Babys machen lassen. Zur Nervosität gesellte sich Stolz und Ehrfurcht. Ein Leben, das sie gemeinsam geschaffen hatten, wuchs in dem Bauch seiner Verlobten. „Da lebt etwas in dir…“, stellte er fest und sie blickte von ihrer Zeitschrift mit hinaufgezogenen Augenbrauen zu ihm auf. Zwei weitere schwangere Frauen lächelten belustigt, da sie es ebenfalls gehört hatten. „Ist dir das jetzt erst aufgefallen?“, fragte Lilly. „Sagen wir so, es kommt jetzt langsam richtig bei mir an. Das ist so verrückt.“ „Ja.“ Sie lächelte und lehnte sich an seine Schulter. „Du bist auch nervös, oder?“ Jetzt war er es, der sie ansah. „Du…?“ „Ich hab wohl endlich ein Gespür dafür entwickelt. Du bist etwas schwerer zu durchschauen, aber ich merke es, wenn ich mich anlehne. Stärker, als wenn ich dich ansehe.“ „Du hast Recht. Ich habe nicht gewollt, dass du es merkst.“ „Wieso nicht? Ich finde das ziemlich süß und es ist vollkommen okay. Warum sollte man auch nicht nervös sein? Heute sehen wir unser Kind zum ersten Mal. Es wird alles noch nicht allzu ausgeprägt sein, aber…“ „Du sagst gar nicht ‚Er‘. Hast du was Neues gesehen?“, fragte er flüsternd. „Nein. Nur in meinen früheren Träumen waren wir älter, als wir ihn bekamen. Daher bin ich mir nicht mehr sicher, ob es Junge oder Mädchen sein wird.“ „Lillian Connor?“, rief eine junge Schwester und beide erhoben sich. „Folgen Sie mir, bitte.“ Sie wurden in einen Raum geführt, dort gab man Lilly Anweisungen, dass sie sich auf die Liege legen und den Bauch frei machen sollte. „Dr. Beckett ist gleich bei Ihnen. Ich nehme an, Sie sind der Vater?“ „Ja“, sagte er stolz. „Nehmen Sie sich ruhig den Stuhl von da hinten. Sitzen ist in solchen Situationen für die meisten Männer angenehmer.“ Sie zwinkerte ihm scherzend zu. „Danke.“ Die Schwester verließ den Raum und kurze Zeit später kam die Ärztin herein. Er hatte sie sich irgendwie anders vorgestellt. Aber es war eine nette Frau mit rotbraunem Haar, einem schmalen Gesicht und weisen grauen Augen. „Hallo, Lilly. Wie geht es uns?“ „Super. Das ist Taylor, mein Verlobter.“ „Ah, der Papa höchstpersönlich. Schön, dass Sie mitkommen konnten.“ „Das lasse ich mir doch nicht entgehen.“ „Gut, dann sehen wir uns den kleinen Embryo mal an, hm? Das wird kurz kalt.“ Lilly zuckte kurz zusammen. „Wird aber gleich besser. So…“ Sie schaltete den kleinen Monitor an und drehte ihn so, dass sie alle Drei gut sehen konnten. Dann hob sie das Abtastgerät, das mit der Maschine verbunden war, an und fuhr damit über Lillys Bauch. Gespannt blickten sie auf den Bildschirm, während Lilly nach seiner Hand tastete und sie festhielt. „Also hier haben wir die Gebärmutterwand, die sieht sehr gut aus. Keine Ablagerungen oder Ähnliches. Das ist wichtig. Und da…haben wir das Baby.“ Ein wummernder Ton erklang. Zunächst fragte er sich, was das sein sollte, doch dann wurde es ihm schlagartig klar. Der Herzschlag ihres Kindes. Man konnte bereits erkennen, wo der Kopf war, die Ansätze von Armen und Beinen wuchsen, sogar die Nasenspitze war erkennbar. „Oh mein Gott,…das ist einfach unglaublich“, hauchte Lilly und schlug ihre freie Hand vor den Mund. Er war sprachlos. Das Baby zu sehen war einfach ein Wunder. Es zu hören. So klein war es und trotzdem konnte man schon ein paar Gliedmaßen erkennen. Er küsste sie auf die Stirn. „Vielen Dank!“ „Wieso dankst du mir? Wir sind beide dran beteiligt.“ Sie lachte und wandte sich dann wieder dem Bild zu. „Wenn Sie möchten mache ich ein Standbild und drucke es Ihnen aus. Dann können Sie den Großeltern auch das zukünftige Enkelkind zeigen.“ „Ja, bitte.“ „Gut“, meinte Dr. Beckett, drückte einen Knopf auf der Tastatur und reinigte dann das Abtastgerät. Dann reichte sie Lilly ebenfalls ein paar Tücher, damit die sich das Gel abwischen konnte. „Einen Moment, dann bin ich wieder bei Ihnen.“ Er nickte ihr zu und blickte mit seiner Freundin wieder auf den Monitor, wo noch immer das Standbild flackerte. „Das ist so… Ich weiß überhaupt nicht, was ich dazu sagen soll.“ „Es ist unser Baby. Unser erstes gemeinsames Baby, Taylor. …Ich will es nicht verlieren!“ „Das wirst du auch nicht. In deinem Traum damals warst du doch älter, oder?“ „Ich weiß nicht mehr so genau. Ich glaube schon,…keine Ahnung.“ „Du verlierst dieses Baby nicht! Es ist so Einiges anders, als du bereits geträumt hast. Mit jeder unserer Entscheidungen, das weißt du doch. Wir lassen das nicht zu, verstanden?“ Sie nickte und atmete tief ein. Dann kam Dr. Beckett wieder herein und bat sie zu ihrem großen Tisch. „Hier einmal das Bild für Sie und dann sprechen wir gleich den nächsten Termin ab, wenn Sie einverstanden sind.“ „Gern.“ „Möchten Sie eigentlich das Geschlecht des Babys erfahren, oder wollen Sie sich beide überraschen lassen?“ „Konnte man das denn schon sehen?“, fragte er und schielte auf das Foto. „Nein, erst im dritten oder vierten Schwangerschaftsmonat sind die Organe vollständig ausgebildet. Die Lebenswichtigen bereits jetzt. Man bezeichnet es dann als Fötus. Dann erst kann ich Ihnen sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird. Sie sind in der achten Woche, also nächstes Mal könnte man eventuell schon Näheres sagen.“ „Eventuell?“ „Nun, es ist immer möglich, dass sich das Baby wegdreht oder ein Beinchen davor ist. So etwas kann ich nicht ausschließen.“ „Ach so.“ Sie entschieden sich, es beim nächsten Termin darauf ankommen zu lassen.

„Wenn wir nichts sehen, ist das ein Zeichen dafür, dass wir uns überraschen lassen sollen“, meinte Lilly, als sie wieder im Auto saßen und auf dem Rückweg nach Crystal Falls waren. „Wir schieben also jetzt schon die Entscheidung auf unser Kind. Wie erwachsen!“ „Du bist so ein Spinner. Du hättest ja sagen können, dass du es nächstes Mal wissen möchtest.“ „Hey, pass auf was du sagst. Außerdem bin ich selbst ganz hin- und hergerissen. Interessieren würde es mich natürlich schon, aber einen Namen für zwei mögliche Geschlechter auszuwählen, klingt auch lustig.“ „Einen Namen. Daran hab ich noch gar nicht gedacht. Hast du schon Ideen?“ „Es sollte zu Wood passen. Ich würde dich nämlich gern vor der Geburt heiraten.“ „Wie?“ Sie sah vom Foto auf und ihr Herzschlag verstärkte sich. „Na, was hast du denn gedacht?“ „Du hast immer vom nächsten Sommer gesprochen. Also hab ich mich darauf eingestellt, dass wir nach der Geburt…“ „Das wird ein eheliches Kind. Das ist doch wohl klar. Stellt sich nur die Frage, willst du hochschwanger vor den Altar oder soll das Kleid noch nicht ganz so sehr vom Bauch abstehen?“ „Fährst du bitte rechts ran?“ „Ist dir schlecht?“ „Nein. Alles gut.“ Er hielt und noch ehe er sie fragen konnte, was los sei, schnallte sie sich ab und kletterte zu ihm auf den Sitz. Sie nahm sein Gesicht zwischen beide Hände und küsste ihn dann innig. „Es ist mir gleich, wie fett ich aussehen würde. Ich möchte unbedingt deine Frau werden. Du bist so viel mehr, als ich je geglaubt habe vom Leben zu bekommen. Ich liebe dich von ganzem Herzen und ich will endlich Lillian Wood heißen.“ „Lillian Wood… Mir ist gar nicht aufgefallen, wie harmonisch das klingt.“ Sie lachte und lehnte sich an ihn, den Blick aus dem Beifahrerfenster gerichtet. „Das gibt es nicht…“, wisperte sie und kletterte unbeholfen aus dem Wagen. „Was ist denn?“ Lilly antwortete nicht und ging auf das Grundstück zu, vor dem sie gehalten hatten. „Hey, was hast du denn?“ „Es ist… Taylor, das ist unser Haus!“ „Wie bitte?“ Er sah auf und war zum zweiten Mal sprachlos an diesem Tag. Während Lilly gerade die Stufen hinaufstieg und mit ihrer Hand vorsichtig über das Geländer strich, stand er wie versteinert da. Es war ein wunderschönes altes Fachwerkhaus, das vom bisherigen Besitzer wundervoll erhalten worden war. Cremefarbene Wände, die Holz aus Nussbaum umschlossen. Aus demselben Holz waren die Fenster-, die Türrahmen und die Geländer von Treppe und Veranda. Lilly lehnte sich an eine der zwei Säulen, die am Treppenabsatz standen und er hatte das Gefühl, dass sie schon immer hierher gehört hatte. „Der Vorgarten ist noch nicht ganz so…, aber die Fassade erkenne ich aus meinen Träumen. Das ist unser Zuhause.“ Das ‚Zu Verkaufen‘-Schild ließ sein Herz schneller schlagen. Es war gar nicht nötig, weiter nur davon zu träumen. Das Innere musste er gar nicht erst sehen. Er schmiedete bereits Pläne, wie man die Umzüge am Besten plante, als sie ihn anblickte und traurig lächelte. „Der neue Besitzer wird total glücklich hier sein.“ „Was?“ „Eine wirklich schöne Gegend hier. …Na los, lass uns fahren. Ich möchte den anderen das Bild zeigen.“ Schweren Herzens riss sie sich von dem Anblick los und trat auf ihn zu. Sie nahm seine Hand und zog ihn mit sich. „Wieso?“ „Es ist viel zu groß und viel zu teuer. Das können wir uns noch nicht kaufen. In ein paar Jahren wird es auch noch hier sein.“ So ein Schmuckstück? Garantiert nicht! In einem unbeobachteten Moment speicherte er die Nummer vom Schild in seinem Handy und stieg dann ohne ein weiteres Wort in den Wagen. Es gab nicht viel, dass sie sich je von ihm wünschte. Und immer trat sie selbst zurück, um anderen etwas zu erfüllen. Nun war sie dran und er würde alles dafür tun, dieses Haus zu bekommen. Koste es, was es wolle.

 

Mein Herz war immer noch bei dem Haus. Auch wenn es schon lange Zeit her war, ich konnte das Gefühl nicht vergessen, das ich empfunden hatte, als ich das Holz berührt hatte. Die Wohngegend war wirklich toll. Nicht viele Autos auf der Straße und die anderen Vorgärten sahen so aus, als würden dort einige Familien mit Kindern leben. So wäre also auch für Spielkameraden gesorgt. Immer, wenn ich kleine Besorgungen machte, fuhr ich extra einen Umweg, um an dem Haus vorbei zu kommen.

Der November war bald vorbei und mein Bauch wölbte sich leicht. Taylor und ich hatten bereits einige der Wohnungen besichtigt, die Steve uns herausgesucht hatte. Ich fand immer etwas, dass mir nicht gefiel und Taylor sagte nie etwas dazu. Manchmal sah ich, wie kurz ein Lächeln über sein Gesicht huschte, wenn ich die Aussicht oder die undichten Fenster bemängelte. Aber er ertrug alles und machte nie auch nur eine Bemerkung zu den Wohnungen. Daher wusste ich nie, ob sie ihm gefiel oder nicht. In der Schule hatten sich langsam alle wieder eingekriegt. Der Direktor war zunächst nicht begeistert gewesen, dass eine seiner Schülerinnen so früh schon ein Kind bekam, aber ich versprach ihm, dass meine schulischen Leistungen nicht darunter leiden würden. Bat ihn allerdings darum, mich vom Sport auszuschließen und nicht mehr bewerten zu lassen. Ich wollte jegliche Anstrengungen vermeiden, die dazu führen konnten, das Baby zu verlieren. Und Knochenbrecher war nicht gerade für ihre feinfühlige Art bekannt. Er willigte ein und ich saß nun immer neben den verletzten Mädchen oder in der Mitte der Turnhalle, wo ich Taylor beim Sport beobachtete. Manchmal gesellten sich auch Kelly, Mia, Elli oder Carly zu mir, wenn sie gerade nicht an einem Foltergerät turnten. Manchmal sogar Jamie. Das Footballtraining powerte Taylor immer mächtig aus, aber er beschwerte sich nicht. Denn schließlich hielt es ihn fit und lenkte ihn vom Wald ab. Es machte ihm sogar mehr Spaß, als er zuvor für möglich gehalten hatte. Jamie war bereits zuvor im Team gewesen und beide machten auf dem Spielfeld eine gute Figur. Die Mannschaft hatte bisher keines der Spiele verloren und der Coach war vollkommen aus dem Häuschen, weil das lange nicht vorgekommen war. Die Eagles waren auch vorher gut gewesen, aber eben noch nie ungeschlagen. „Morgen soll wunderbares Wetter werden. Was haltet ihr davon, wenn wir alle gemeinsam einen Ausflug nach Iron River machen und dort irgendwas unternehmen?“, fragte uns Carly am Freitag in der Mittagspause und tippte fleißig an einer SMS. Ich war mir sicher, dass sie bereits Sean bearbeitete. Der hatte sich auch sehr verändert. Er tat immer so, als würde er sich mit ihr streiten wollen; ein wenig dagegen halten, wenn sie wieder einmal ihren Kopf durchsetzen wollte. Aber insgeheim war uns allen wohl klar, dass er das nur zum Schein tat. Eigentlich las er ihr nämlich jeden Wunsch von den Augen ab und tat nur zu gern, was sie von ihm verlangte. Er tat ihr gut und sie ihm. Es war herrlich zu sehen, wie ernst sie die ganze Sache mit ihm nahm. Sie hatte lange keinen der anderen Jungs an der Schule auch nur eines Blickes gewürdigt. Und es verging keine Minute, in der sie nicht mit ihm textete oder telefonierte, wenn sie voneinander getrennt waren. „Alle acht?“, fragte Kelly und hatte schon die drei Jungs mitgezählt. „Ja, und in der nächsten Zeit sollten wir auch unbedingt wieder einen Mädelstag machen“, verkündete ich und schlug Taylor auf die Hand, der gerade meinen Nachtisch klauen wollte. „Au!“ „Hol dir selbst einen. Das Baby hat Hunger auf Schokoladenpudding. Und genau den werden wir auch essen.“ „Ist sie immer so?“, fragte Jamie ihn leise und ich blickte kurz zu ihnen herüber. „Soll das ein Scherz sein? Seitdem er für das Footballteam trainiert, isst er mehr als ich. Und ich brauche eine Menge Energie, also…“ Die Mädels lachten. „Und die Wohnungssuche?“, fragte Elli. „Na ja, es könnte besser laufen.“ „Keine Schönen dabei?“ Taylor lächelte verschmitzt und ich zuckte mit den Schultern. Ich wollte nicht davon erzählen, um mir dann sagen lassen zu müssen, dass ich meine Ansprüche etwas herunterschrauben sollte. „Einen Ausflug? Also, ich weiß nicht“, meinte dann Kelly und rettete mir unwissentlich die Haut. „Hey, jetzt hab dich nicht so. Das wird lustig. Und wer weiß schon, wann wir das das nächste Mal machen können“, verkündete Carly und umarmte sie von der Seite. „Wieso?“ Ich schob mir gerade den Löffel mit Pudding in den Mund, als sie mit dem Finger auf mich deutete. „Unser kleines Fass wird nicht mehr lange reisen können…“ In mir stiegen die Tränen auf, ich setzte den Becher ab und kuschelte mich in Taylors Arme. Meine beste Freundin interessierte das nicht. „…und außerdem wissen wir ja auch nicht, wo wir am Ende alle landen werden. Unsere Runde wird es eventuell nur noch dieses letzte Schuljahr geben. Zumindest in dieser Konstellation.“ Mit dieser Aussage hatte sie uns alle mehr getroffen, als ihr selbst wahrscheinlich lieb war. Das dumme an der Sache war nur, sie hatte Recht. Es würde sich so Einiges ändern in nächster Zeit. Und wer konnte schon sagen, wann wir uns alle gemeinsam mal wieder sehen würden. „Überredet.“ „Wusste ich es doch! Und die anderen? Ihr seid doch auch dabei, oder?“ Die anderen stimmten ihr zu, nur ich hielt mich zurück. „Was hat sie? Hey, Süße!“ „Ich würde sagen, du hast ihr wehgetan. Entschuldige dich, dann wird das schon“, erläuterte ihr Taylor und streichelte sanft meinen Rücken. „Oh nein! Mit einer Entschuldigung ist es nicht so einfach getan. Vergiss es!“ Ich schnappte mir Tasche und Tablett und brachte dieses zurück. Dann wandte ich mich zum Ausgang. Taylor holte mich schnell ein und lächelte amüsiert auf mich hinunter. „Lach nicht! So einfach kommt sie mir damit nicht davon. Diesmal nicht!“ „Okay.“ „Was ist?“ „Ich weiß ja, dass deine Hormone dabei auch `ne große Rolle spielen, aber… Dir ist schon klar, dass sie Recht hat, oder? Ich meine den Ausflug.“ „Natürlich. Aber beleidigen muss sie mich ja trotzdem nicht deswegen. Im Moment bin ich gefühlstechnisch angeknickt wie nie.“ „Oh je…“ „Hör auf mit deinen Scherzen…“ Wir waren auf dem fast leeren Schulflur unterwegs, als ein paar seiner Footballkollegen an uns vorüber gingen. „Hey, hey. Die kleine Lilly! Der Quarterback in dir wächst und gedeiht, was?“, fragte Collin, ein netter groß gewachsener Junge mit klaren grünen Augen und einem hundert Watt Lächeln. Er strich sich durch sein braunes Haar und grinste schief. Die anderen gesellten sich ebenfalls zu uns. „Quarterback?“, fragte ich und erntete verhaltenes Kichern. „Na, bei den Wood-Genen nehme ich mal an, dass es ein Junge wird.“ „Keine Ahnung, das Baby weigert sich uns das zu verraten“, erklärte Taylor und wieder lachten sie. Ich war es gewohnt, dass alle auf meinen Bauch sahen, je mehr er anwuchs. Und es war mir auch gar nicht mehr so unangenehm. Ich meine, schließlich wussten dadurch alle, dass wir miteinander Sex hatten. Es ist das Natürlichste auf der Welt, das weiß ich ja. Aber man erzählte so was ja normalerweise auch nicht in aller Öffentlichkeit, aber den Bauch verstecken wollte ich auch nicht. Dafür war ich zu stolz darauf. So also trug ich meine normale Kleidung, die den neuen Bauchumfang allerdings nicht kannte und daher natürlich so langsam zu spannen begann. Auch meine Hosen ließen sich nicht mehr so leicht zuknöpfen. Die Jungs machten ihre Späße und unterhielten sich über das nächste Training, als sich mir plötzlich der Magen drehte. Es ging also los… Ich ließ meine Tasche achtlos zu Boden fallen und riss die Tür zur Mädchentoilette auf, die glücklicherweise direkt hinter uns lag. In letzter Sekunde schaffte ich es in eine der Kabinen und entledigte mich innerhalb weniger Momente des guten Mittagessens der Schulcaféteria. Zur Sicherheit blieb ich noch ein paar Minuten neben dem Klo sitzen und war froh, dass ich mir heute einen Pferdeschwanz gebunden hatte. Schon als ich noch klein war, hatte ich krank sein gehasst. Magen-Darm-Infekte oder sogar eine Magen-Darm-Grippe waren für mich schon immer ein Graus gewesen. Ich mochte es einfach nicht. Dieses Gefühl, wenn der Mageninhalt in einem aufstieg und man spürte, dass man sich übergeben würde. Ich trat an eines der Waschbecken und spülte meinen Mund aus. Seitdem diese Übelkeit öfter auftrat, trug ich immer eine Packung Kaugummis oder Minzbonbons in meiner Hosentasche. Daher schob ich mir von Letzterem eines in den Mund und trocknete meine Hände. „Süße?“ „Mhm“, brummte ich und blickte stur auf die Wassertropfen, die durch die heiße Luft von meinen Händen gedrängt wurden. „Taylor sagt, du wärst einfach aufs Klo gestürmt. Bei dir alles gut?“ „Mhm.“ „Alles okay. Es geht ihr gut“, rief sie aus der Tür und ich hörte, wie mehrere Leute erleichtert aufatmeten. Dann umarmte sie mich von hinten. „Es tut mir leid. Ich wollte nicht so unsensibel sein!“ Ich seufzte auf. „Das weiß ich doch. Ich hab auch überreagiert…“ „Nein, meine Süße. Ich weiß, dass du nicht wie andere Mädchen bist, die penibel auf ihre Figur achten und das musst du ja auch nicht. Egal, was du isst, du nimmst nicht zu. Aber jetzt wo du schwanger bist und deine Gefühle ständig schwanken…ich hätte das nicht sagen dürfen. Verzeih mir, bitte!“ „Natürlich“, meinte ich und wandte mich zu ihr um, um sie auf die Wange zu küssen, „außerdem kann ich dir doch gar nicht lange böse sein.“ „Du bist ein wirklich wundervoller Mensch und ich hoffe, dass sich das nie ändern wird.“ „Wenn wir für den Rest unseres Lebens beste Freundinnen bleiben, kannst du ja darauf achten, dass ich auf dem Boden der Tatsachen bleibe. Was sagst du?“ „Dass ich nie ein besseres Angebot bekommen habe!“ Wir traten beide aus der Toilettentür und ich sah die große Meute, die nur auf uns wartete. Unglaublich, dass all diese Menschen meine Freunde waren. Kelly, Elli, Mia und Jamie, Taylor, sogar die Jungs aus der Footballmannschaft waren noch da. Taylor hatte mir erzählt, dass sie in mir eine Art kleine Schwester sahen, auch wenn wir gleichaltrig waren. Ich mochte sie alle so wahnsinnig gern und sagte: „Ich bin morgen auf jeden Fall dabei!“

 

„Das ist aber nicht der Weg zu dir nach Hause, das weißt du schon, oder?“ „Ich habe nie behauptet, dass wir zu mir fahren würden.“ „Du sagtest, wir würden es uns gemütlich machen und da mein Vater noch zu Hause ist, würde das wohl kaum funktionieren… Also bleibt nur euer Haus!“ „Langsam glaube ich wirklich, du stehst auf meinen Vater“, verkündete er und verstärkte den Griff ums Lenkrad. „Was hat mich verraten?“, fragte sie und er blickte sie geschockt an. Zur selben Zeit streckte sie ihm die Zunge heraus. „Meine Güte, ich habe ihn ja wirklich sehr gern, aber er ist so alt wie mein Vater. Ich bitte dich, so merkwürdig bin ich ja nun doch nicht.“ „Wieso? Glaubst du, du bist jetzt merkwürdig?“ Die Antwort kam nicht so schnell, wie er gedacht hatte. „Nein.“ Den Verdacht hatte er schon öfter gehabt. Schon damals hatte sie ihm gesagt, dass sie nicht glaubte, zu ihm zu passen. Doch nach seiner Rede, was er an ihr liebte, sah sie so glücklich aus. Aber nun wuchs wohl doch noch ein kleiner Zweifel in ihr, den sie sonst so sorgfältig vor ihm verborgen hielt. Sie nahm sich selbst nicht so wahr, wie er und andere es taten. Wie oft schon lief er rasend eifersüchtig neben ihr her, während er das Getuschel der Jungs über sie hörte? Mit seinen guten Ohren konnte er natürlich alles verstehen und daher stellte er das normalerweise bei größeren Menschenansammlungen aus, aber in der Schule musste er wachsam sein. Viele ihrer Mitschüler hielten sie für hübsch, intelligent, unglaublich nett, großzügig, hilfsbereit und stark, weil sie sich von nichts und niemandem unterkriegen ließ. Nur er und auch Carly, schätzte er, kannten ihre unglaublich verletzliche Seite. Ihre zerbrechliche Seele, die er um alles in der Welt schützen wollte. Doch seit sie beide von der Schwangerschaft wussten, strahlte sie eine solche Kraft und Schönheit aus, dass es ihn selbst immer noch überwältigte, wenn er sie ansah. Lilly machte ihn komplett und im Dezember würde sie zu seiner Familie gehören. Nein, sie würde seine eigene Familie werden. Kurz vor Heiligabend hatten sie einen Termin in der Kapelle, hier in Crystal Falls. Die engsten Freunde und Verwandten waren bereits informiert und nun, also heute Abend, würde er ihr ein Geschenk machen. Es stand für alles, was sie in dem letzten halben Jahr für ihn getan hatte und was sie für den Rest seines Lebens für ihn noch auf sich nehmen würde. Sie war das unglaublichste Mädchen, das ihm je begegnet war. „Warte mal, die Straße hier…?!“ Er wurde langsamer und hielt schließlich vor dem Grundstück, dass sie, da war er sich ganz sicher, bereits in- und auswendig kannte. In der Dunkelheit, die jetzt immer früher einsetzte, war nicht viel zu erkennen und das war der Plan gewesen, aber sie erkannte es natürlich trotzdem. Er stieg aus und öffnete die Tür auf der Beifahrerseite, um ihr aus dem Wagen zu helfen. „Taylor, was tun wir hier?“ „Wir machen es uns gemütlich…“ Sie blickte zu ihm auf und überlegte gerade, ob er für sie da einbrechen würde. Da holte er die Schlüssel aus der Jackentasche und hielt sie ihr vors Gesicht. „…und zwar zu Hause!“ „Nein“, keuchte sie und schlug eine behandschuhte Hand vor den Mund. „Es gehört jetzt uns. Zumindest fast.“ „Ich sagte doch, dass es zu groß ist und auch zu teuer…“ „Und dennoch hast du dir nichts mehr gewünscht, als darin leben zu können. Meinst du, mir ist nicht aufgefallen, dass du nach dem Einkaufen oder ähnlichem einen Umweg gefahren bist, um es dir anzusehen? Lilly, jedes verdammte Mal, trittst du zurück, um jemand anderen glücklich zu machen, ihm einen Wunsch zu erfüllen. Aber jetzt bist du mal dran. Es war das erste Mal, dass ich dir angesehen habe, dass du dir etwas von ganzem Herzen wünscht. Ich habe dich die Wohnungen ansehen lassen, damit du merkst, dass dieses Haus perfekt für uns ist. Aber von Anfang an habe ich Pläne geschmiedet und alle Hebel in Bewegung gesetzt, um dieses Haus zu kaufen. Ich habe nicht eingesehen, warum wir es uns nicht gleich schnappen sollten, wenn es schon zum Verkauf…“ Doch weiter kam er nicht mehr, denn da hatte sie bereits ihre Handschuhe ausgezogen, ihre Hände auf seine Wangen gelegt und sein Gesicht zu sich herunter gezogen, um ihn zu küssen. Er spürte ihre heißen Tränen, die auch seine Haut benetzten. Ihre Lippen waren so unsagbar weich und schmeckten süß. Lavendelduft umgab ihn und machte ihn mit jeder Sekunde schwächer, ihre Zunge tat das übrige. Das Gefühl, das ihn durchfuhr, war nicht von dieser Welt und endlich verstand er. Auch sein Herz würde bald platzen. Ihre Hände strichen über seine Wangen, berührten sanft seinen Hals, um dann in seinem Nacken zu verharren. Er konnte einfach nicht länger warten. Also hob er sie auf seine Arme und trug sie die Stufen hinauf, schaffte es irgendwie aufzuschließen, trat die Tür hinter sich zu und setzte sie auf einer Couch ab, die von einem Laken verdeckt war. Einige Möbel hatten die Vorbesitzer hier gelassen, die sie ebenfalls mit dem Hauskauf erstanden hatten und er war ihnen überaus dankbar für diese Sitzgelegenheit. Während er ganz langsam ihre Jacke öffnete und mit seinen Fingern unter ihre Kleidung fuhr, um ihre heiße Haut zu fühlen, küsste sie ihn noch immer. Er musste sie jetzt einfach ansehen und öffnete seine Augen. Ihre dichten Wimpern waren mit kleinen, glitzernden Perlen ihrer Tränen besetzt, ihre Haut sah so unglaublich schön aus. „Danke“, wisperte sie, als sie sich einen kurzen Augenblick von ihm löste, um Luft zu holen. „Ich bin froh, dass ich das nicht auf sich habe beruhen lassen.“ Gerade wollte sie ihn wieder küssen, als er sie stoppte, indem er sagte: „Einen Moment! Du musst kurz aufstehen. Mal sehen, ob die Couch… Ah ja.“ Mit ein paar Handgriffen, ließ sie sich zu einer Schlafcouch ausklappen. Dann feuerte er den Kamin an, den er bereits gestern vorbereitet hatte. „Eigentlich wollte ich ja ein Indoor-Picknick machen…“ „Taylor, halt den Mund, bitte, und küss mich.“ Er ließ sich neben sie sinken und tat, wie ihm geheißen worden war. Lilly zog die Jacke aus und er löste das Gummiband aus ihrem Haar. Im Schein des Kamins flammte das Gold leicht rot auf, sodass es kupferfarben wirkte. Er verschränkte seine Hände mit ihren, ihre Finger verflochten sich ineinander und ehe sie wieder ihre Lippen auf die seinen legte, hauchte sie: „Tausend Dank.“

Eine Weile später lagen sie, Taylor einen Arm von hinten um sie geschlungen, verdeckt unter dem Laken und blickten auf das knisternde Feuer im Kamin. Er küsste sanft ihren Hals, fuhr mit seinen Fingern über ihren Nacken und knabberte dann an ihrem Ohrläppchen, was sie leicht zum Lachen brachte. „Wie hast du es gemacht?“, erkundigte sie sich und drehte sich zu ihm herum. Ihr Gesicht drückte sie fest an seine warme Brust. „Ich hatte Einiges gespart und unsere Väter haben einen Teil dazu bezahlt. Sie sagten, dies sei ihr Hochzeitsgeschenk. Und den Rest können wir in monatlichen Raten abzahlen.“ „Dad und Kenneth? Sie können doch solche Sachen sonst nicht so gut für sich behalten?! Mein Vater wird kurz vorm Platzen sein.“ Wieder kicherte sie. „Vielen Dank, Taylor. Ich hätte nie…“ „…auch nur ein Wort darüber verloren, dass du gern hier leben willst, ich weiß. Aber es wird Zeit, dass wir uns auch ein paar Träume erfüllen, findest du nicht?“ „Was ist dein Traum?“ „Der ist schon erfüllt worden, keine Angst.“ „Hattest du nur den Einen?“ „Im Moment bin ich wunschlos glücklich. Vielleicht kommt später ein neuer hinzu, wir werden sehen.“ Sie schloss für ein paar Augenblicke ihre Augen und atmete tief ein. „Bist du müde?“, fragte er leise, weil er dachte, dass sie gleich einschlafen würde. „Nein. Mir war nur kurz schlecht. Keine Ahnung, warum es Morgenübelkeit heißt, wenn man es den ganzen Tag hat… Ich bete nur dafür, dass ich mich in keinem völlig unpassenden Augenblick übergebe. Das ist meine größte Angst.“ „Du meinst, mitten im Unterricht?“ „Auch, aber viel schlimmer wäre es vor deinen Augen“, antwortete sie kleinlaut und wich seinem Blick aus. „Worüber du dir immer Gedanken machst. Wenn es dir schlecht geht, möchte ich dir helfen. Es muss dir nicht peinlich sein. Außerdem gehört das zu einer Schwangerschaft dazu.“ Sie tastete neben der Couch nach ihrer Kleidung und hob dann sein kariertes Hemd auf. „Ich leih mir das mal eben. Das Baby drückt auf die Blase.“ „Möchtest du etwas essen?“ „Au ja. Was hast du denn?“ „Lass dich überraschen. Husch, gib mir ein paar Minuten.“ Er schlüpfte in seine Boxershorts und die Jeans, dann umfasste sie seinen Nacken und küsste ihn leidenschaftlich auf den Mund. Er sah ihr nach, als sie wie selbstverständlich die Tür zum Badezimmer nahm, so als würde sie schon seit Jahren hier leben. Sie sah einfach göttlich aus, nur mit seinem Hemd bekleidet. Der Saum endete in einem sehr anziehenden Bereich ihrer Oberschenkel und bedeckte nicht allzu viel ihrer wunderschönen samtweichen Haut. Er schluckte schwer und wandte sich dann der Küche zu, wo er das Essen aufbewahrt hatte. Vor dem Kamin breitete er eine Decke, die er von seinem Vater mitgebracht hatte, aus und drapierte Baguette, kleine Käsewürfel, Erdbeeren, Salat, Kuchen, verschiedene Säfte und einiges mehr darauf. Gerade holte er Gläser aus dem Korb in der Küche, als sie ihre Arme von hinten um ihn schlang. „Gott, hast du mich erschreckt. Du bist schnell und leise!“ „Ja, ich hab mir ein bisschen was abgeguckt. Und barfuss zu gehen, trägt auch etwas dazu bei.“ „Haha.“ Der Mond schien durch die Fenster und ließ sie noch hellhäutiger erscheinen. Erst da fiel ihm auf, dass sie gar nicht alle Knöpfe geschlossen hatte und er einen gar nicht so schlechten Ausblick auf ihr Dekollete hatte. „Später, ich hab Hunger“, meinte sie nur und grinste. „Du bist blass, ist alles okay?“ „Na ja, mir ist immer noch schlecht…“ Sie machte plötzlich einen etwas gequälten Ausdruck, hielt sich die Hand vor den Mund und ahnte wohl, dass sie es nicht mehr bis ins Badezimmer schaffen würde. So blieb ihr nur die Flucht nach vorn und sie beugte sich über die Spüle. Er strich ihr rasch die Haare zurück und hielt sie wie einen Pferdeschwanz nach oben. „Uah, haben wir nicht gerade darüber geredet?“ Sie spülte schnell alles den Abfluss hinunter. „Nun, man soll sich ja seinen Ängsten stellen, heißt es doch“, scherzte er, doch sie lachte nicht. Lilly wusch ihren Mund mit Wasser aus und wandte sich dann um, um ihre Hose zu suchen. Gerade noch sah er, dass sie sich ein Pfefferminz in den Mund schob. Ja, das war seine Verlobte, wie sie leibt und lebt. Immer auf alles vorbereitet. Niemand sollte merken, dass etwas passiert war. Er schüttelte den Kopf und lächelte leicht. „Dann ist ja jetzt wieder Platz in deinem Magen. Los, komm essen.“ „Ich sagte dir schon in der Schule, übertreib es nicht mit deinen Scherzen…“ „Entschuldige. Das war das letzte Mal.“ „Für heute oder für den Rest der Schwangerschaft?“ „Danach darf ich wieder?“ „Von mir aus!“ „Ach je, das ist jetzt doof. Ich hatte noch so viel in petto.“ Sie lachte und kuschelte sich an ihn. „Wahnsinn, wie du das immer machst. Ehrlich.“ „Was?“ „Mich aufheitern. Ich meine, ich war eben nicht traurig oder so, aber du schaffst es immer wieder, mich in eine noch bessere Stimmung zu versetzen als zuvor.“ „Das ist eines der Talente, die ich von meiner Mutter habe…“ Er strich ihr sanft über den Kopf und seufzte. „Erzählst du mir von ihr? …Beim Essen, ich hab total Kohldampf.“ „Gern. Was willst du wissen?“ „Alles, was du mir erzählen möchtest.“ So verbrachten sie den ganzen Abend damit über seine Mutter zu reden und machten in den frühen Morgenstunden Pläne für den Umzug und die Hochzeit.

 

„Der Ausflug wird super!“, gellte Carly uns entgegen, als wir auf den Parkplatz kamen, auf dem wir uns verabredet hatten. „Dir auch einen Guten Morgen“, gähnte Mia und kuschelte sich unter Jamies Jacke. Es war noch sehr kalt so früh am Morgen und man merkte, dass der Winter nicht mehr lange auf sich warten ließ. „Wo hast du meinen Bruder gelassen?“, fragte jetzt Taylor und ich sah mich suchend um. „Ich hatte für den Kaffee-Schock zu sorgen“, verkündete dieser, als er aus dem George kam, mit Kaffee-Bechern beladen. „Hatte sie schon auf?“ „Nein, aber sie meinte, sie würde gerne für die Reiseverpflegung sorgen“, erklärte Carly. Ich sah hinüber und winkte zurück, als Rosie uns freudestrahlend grüßte. Sean reichte mir einen Becher Kakao, da ich leider meinen Koffeinkonsum zurückschrauben musste, und meinte: „Du siehst müde aus, habt ihr denn gar nicht geschlafen?“ „Doch, aber nicht viel. Wir haben Pläne wegen des Umzuges und der Hochzeit gemacht.“ „Umzug? Wann und wo? Ich dachte, ihr hättet noch nichts Geeignetes gefunden!“, schaltete sich nun Elli ein. „Taylor hat mich gestern überrascht. Wir wohnen in dem hübschen Haus in der Harbour Lane. Nächste Woche geht es los!“ „Das hübsche Fachwerkhaus?! Das ist eine wundervolle Wohngegend dort. Nur Familien mit Kindern oder Rentner. Freunde meines Vaters wohnen dort, daher sind wir schon öfter daran vorbeigefahren. Taylor, du hast echt Geschmack.“ „Wir haben es schon vor einer Weile gesehen, aber da sich Lilly immer nicht durchringen konnte zu sagen, dass sie es haben will…“ „Richtig so. Der Mann gefällt mir. Endlich mal Einer, der dir etwas gibt von dem er weiß, dass du es dir wünscht. Geschenke mag sie ja sonst nicht so. Du weißt, ihr Geburtstag“, pflichtete Carly bei. „Ja, ich erinnere mich dunkel.“ „Dann melde ich mich schon mal als Packesel an!“, jubelte Jamie und Mia nickte eifrig. „Ja. Das wird lustig“, meinte nun auch Sean. „Danke, Leute. Damit würdet ihr uns wirklich helfen.“ „Wer sind Sie und was haben Sie mit Lillian Connor gemacht?!“

Taylor sah sie fragend an und Carly wisperte ihm zu: „Lilly hackt sich lieber ein Bein ab, als Hilfe anzunehmen. Sie redet es uns normalerweise aus und spielt runter, wobei wir ihr helfen wollen. Du tust ihr wirklich gut, Taylor. Und… Ich wollte dir schon seit Langem etwas sagen: Danke, dass du sie so glücklich machst. Sie hat sich sehr verändert, seit du an ihrer Seite bist.“ Er blickte auf das Mädchen, das lachend neben seinem Bruder stand, sich das Haar nach hinten strich und an dem noch heißen Kakao nippte. „Früher war sie die stille, kluge Lilly, die jedem half, wo sie konnte und nie etwas im Gegenzug verlangte oder annahm. Jetzt sagt sie bereits gelegentlich, was ihr nicht passt oder nimmt tatsächlich Hilfe an. Du hast sie wirklich zu sich selbst finden lassen, danke vielmals.“ „Für mich hat sie dasselbe getan! Du brauchst mir nicht zu danken. …Pass du gut auf meinen Bruder auf, ja?“ „Es wird mir eine Ehre sein!“ Er lächelte sie an. Sie war wirklich eine tolle junge Frau. Es wunderte ihn nicht, dass Lilly und sie beste Freundinnen waren. Und auch für ihn war sie, seit sie das Geheimnis seiner Familie kannte, eine echte Verbündete geworden. Beide stießen mit ihren Bechern an. Sie klatschte in die Hände und meinte: „Na los, lasst uns fahren. Wir haben doch nur den einen Tag…“ „Oh je. Ich ahne Furchtbares. Was genau hast du denn geplant?“, fragte Mia und stieg hinten in Seans Auto ein. „Lasst euch überraschen.“ Sie verteilten sich alle auf zwei Autos, Seans und Taylors. Elli und Kelly fuhren bei Letzterem mit und allein die Fahrt wurde wahnsinnig lustig.

„Können wir noch einmal anhalten? Das Baby drückt schon wieder auf die Blase“, sagte ich und Taylor blinkte bereits, um Sean hinter uns das Zeichen für einen Zwischenstopp zu geben. Als wir hielten, erntete ich natürlich ein paar Kommentare. „Ich wusste, dass es eine gute Idee war, so früh zu fahren… Lilly, das wie vielte Mal ist das jetzt?“ „Ich werde dich daran erinnern, wenn du ein Baby mit dir rumschleppst, das sich ständig auf deine Blase zu bewegt…“ Die Jungs lachten und Carly meinte: „Ich kriege keins, so einfach ist das!“ „Glaub mir, du bekommst auch mindestens eins! Du bist einfach der Typ dafür.“ „Tss.“ Nach dem Halt bekamen wir alle langsam Hunger und Sean schlug vor, die Pakete von Rosie zu vertilgen. „Ich stimme dafür. Es ist sowieso Zeit fürs Frühstück“, meinte Taylor und wir fuhren zum nächstgelegenen Rastplatz. Als wir dann endlich in Iron River ankamen - nicht ohne zwei weitere Pausen -, öffneten langsam die kleinen Geschäfte und ein Jahrmarkt. „Nun sag schon, was du für uns geplant hast?!“, forderte Mia und Jamie legte seinen Arm um ihre Schulter als wir die Hauptstraße entlang gingen. Carly hielt vor uns, breitete feierlich ihre Arme aus und meinte: „Zuerst machen wir einen Gang über den Markt, später dann Kino und danach Essen gehen. Na, was meint ihr?“ „Klingt nett. Und ich hatte schon die Befürchtung, du planst etwas Ausgeflipptes!“ „Um ehrlich zu sein, habe ich für dich auch noch ne extra Sache“, antwortete sie mir und ich sah sie mit hochgezogener Augenbraue an. „Erinnerst du dich an den kleinen Laden, den wir Mädels das letzte Mal hier besucht haben?“ „Du meinst doch nicht den, in dem wir alle nichts gekauft haben?!“ „Genau den. Dieses Mal müssen wir etwas kaufen, das weißt du.“ „Müssen wir nicht. Wozu?“ „Weil Das deiner Mutter nicht passen wird.“ „Natürlich, denn ich kann es umnähen.“ „Sei nicht albern. Du brauchst ein Eigenes! Auch, wenn ich weiß, wie sehr du es anziehen willst, glaub mir. Du würdest dich später dafür hassen, dass du es umgenäht hast.“ Sie hatte Recht und das Furchtbare daran war, dass sie das genau wusste. „Fein. Aber wann wollen wir das noch machen?“ „Die Jungs können sich ja ein bisschen die Zeit auf dem Jahrmarkt vertreiben, während wir die Besorgungen machen…“ Sean verstand den Wink. „Auf geht es, Jungs. Wir werden im Moment nicht gebraucht.“ Jamie folgte bereits, während Taylor sich kurz zu mir beugte. Sein Mund war nah an meinem Ohr, als er wisperte: „Mein Handy ist an. Wenn ich dich erretten soll, schreib mir oder ruf an.“ „Danke, mein Held.“ Er küsste meine Stirn, strich mir übers Haar und wurde dann von Sean fortgezogen. Während Carly mich den kurzen Weg zum Brautmodengeschäft zerrte. Ich verfluchte leise den Tag, an dem ich Carly Simmons in mein Leben gelassen hatte.

Zwei Stunden später verließen wir kichernd und, ich musste es gestehen, total happy den Laden. Carly Simmons war doch ein Schatz. Ich war immer noch der Meinung, dass sich die Verkäuferinnen an uns erinnerten und damit gerechnet hatten, dass wir wieder nichts kauften. Aber ich hatte das perfekte Kleid gefunden. Ein oder zwei Tage vor der Trauung würde ich noch einmal mit Carly herfahren und die letzten Änderungen vornehmen lassen. Schließlich würde mein Bauchumfang bis dahin noch etwas zunehmen. Aber es war wirklich ein traumhaftes Hochzeitskleid. Nachdem wir den Kleidersack im Auto verstaut hatten, suchten wir auf dem Jahrmarkt nach den Jungs und wurden an einer Schießbude fündig. Jamie und Sean lieferten sich gerade einen erbitterten Kampf, während Taylor, die Hände in den Taschen, daneben stand und ihnen lachend zusah. „Hast du keine Lust?“, fragte ihn Mia und feuerte Jamie an. „Ich habe schon. Und dann forderte Jamie Sean heraus, der zuerst gar nicht wollte.“ „Ja, wenn sein Kampfgeist erst mal erwacht, ist er kaum noch zu bremsen“, seufzte Carly und wandelte sich zum feurigen Cheerleader. Ich zog mir die Kapuze über den Kopf, weil meine Ohren entsetzlich froren und durchsuchte dann meine Tasche nach den Handschuhen. Taylor nahm meine linke Hand und schob sie gemeinsam in seine Jackentasche. „Nachher wechseln wir die Seiten…“, sagte er und ich lehnte mich seitlich an ihn. „Kuschelig warm, wie herrlich.“ Kelly und Elli durchstöberten den Nachbarstand nach Schmuck. Die anderen Vier waren noch immer in ihren Wettkampf vertieft und ich fühlte mich total geborgen zwischen all diesen tollen Menschen. Mir war nie aufgefallen, was für eine eingeschworene Truppe wir in der kurzen Zeit schon geworden waren. „Hast du denn vorhin etwas gewonnen?“, fragte ich und sah ihn unter meiner Kapuze heraus an. „Ja, aber der Hauptgewinn war es nicht.“ „Das hatte ich auch nicht gemeint… Zeig mal!“ Er zog seine linke Hand hervor und präsentierte mir auf seiner Handfläche eine kleine Blechdose mit Tannenbäumchen und Schneeflocken darauf. „Wofür soll die sein?“ „Ich glaube dieser Jahrmarkt ist mehr für Familien mit kleinen Kindern. Der Budenbesitzer meinte, es wäre eine »Geheimdose«.“ „Ja, wo du so was unbedingt brauchst.“ Taylor grinste. „Fand ich auch sehr komisch. Aber mal im Ernst. Zuerst habe ich sie tauschen wollen, doch dann fiel mir ein, dass wir sie als Milchzahndose nehmen könnten. Ein bisschen Watte rein und vóila fertig ist sie. So was hat unsere Mutter auch für uns gehabt.“ „Darüber machst du dir jetzt schon Gedanken? Ich bin erst in zwei Wochen im fünften Monat.“ „Was wir haben, das haben wir. Oder nicht?“ „Ja, da hast du Recht und sie ist echt niedlich.“ Plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter. „Maggie! Hallo, was machst du denn hier?“ Das niedliche Mädchen sah mich lächelnd an. Sie sah schick aus in ihrem beigen Kortrock und dem dunkelbraunen Mantel. Auf dem Kopf trug sie eine beige Pudelmütze. „Noch ein paar Besorgungen für Weihnachten und ihr?“ „Einen Ausflug mit Freunden. Bist du ganz alleine unterwegs?“ „Nein, eine Cousine von mir ist noch mitgekommen. Wir haben uns gerade nur irgendwie aus den Augen verloren…“ Sie sah sich kurz um und zuckte dann mit den Schultern. Taylor hielt sich zurück. Er kam mir irgendwie merkwürdig vor, aber ich dachte, er hätte nur langsam keine Lust mehr auf den Kampf zwischen Sean und Jamie. „Wir haben uns in der Schule gar nicht gesehen, alles okay im Moment?“ „Ja, ich denke, das letzte Mal hat die beiden abgeschreckt. Vielen Dank noch mal!“ „Gar kein Problem. Sollen wir vielleicht beim Suchen helfen?“ „Suchen? Was?“ „Deine Cousine!“ „Oh, nein. Wir haben verabredet uns an ihrem Auto zu treffen, wenn wir uns nicht auf dem Markt finden sollten. Wir kommen schon seit ein paar Jahren immer wieder für letzte Einkäufe her. Iron River ist wie ein zweites Zuhause für mich.“ „Dann ist ja gut.“ „Na ja, ich wollte auch nur kurz Hallo sagen. Ich mache mich dann mal wieder auf den Weg. Sie wird sicher schon warten. Wir sehen uns dann in der Schule. Bis Montag!“ „Ja, bis dann!“ Kurz darauf war sie aus unserem Sichtfeld verschwunden. Taylor hielt meine Hand fester als gewöhnlich und langsam schmerzten meine Finger. „Wir können jetzt gern die Hand wechseln…“ Er reagierte nicht und ich sah, wie seine Nasenflügel zuckten, er blickte in die Richtung, in die Maggie verschwunden war. „Taylor, du drückst etwas fest. Taylor!“ Jetzt sah er mich an. „Wie?“ „Ich sagte, du drückst meine Hand etwas fest. Wir können jetzt gern die Seiten wechseln, meine linke Hand ist warm genug.“ „Oh, entschuldige!“ Während er mich freigab, sah er wieder in die Ferne. „Ist alles in Ordnung? Hast du etwas gerochen?“, fragte ich leise und er schob seine Linke mit meiner rechten Hand in die Tasche. „Ich dachte, aber…“ „Hast du irgendwas? Du bist so komisch.“ „Nein, alles gut. Nur, tu mir den Gefallen und sei nicht allzu oft mit ihr allein, ja?“ „Mit Maggie? Wieso?“ „Irgendwas gefällt mir da nicht. Ich weiß nicht genau, was, aber bitte sei so nett und halt dich von ihr fern, wenn du allein bist.“ „Ich glaube zwar nicht, dass sie mir was tun würde, aber wenn du mich schon darum bittest, in Ordnung.“ Er lächelte erleichtert und wir wandten uns dem Gespräch, nun eher der Diskussion, der anderen zu, die sich über den Film, den sie im Kino sehen wollten, nicht einig wurden. Ich ertappte Taylor noch einmal dabei, wie er sich aufmerksam umschaute und in die Luft schnüffelte. Irgendwas verschwieg er mir, aber ich konnte mir nicht erklären, was und warum.

 

15. November

So viele Visionen, so viele Gelegenheiten, Tage und Ereignisse, die ich niemals mit dir zusammen erleben kann. Es ist irgendwie merkwürdig dich zu sehen, wenn du älter bist und deinen ersten Freund hast. Deinen ersten Kuss erlebst oder vor dem Altar stehst, mit dem Mann, den du für den Rest deines Lebens lieben willst. Ich bewundere dich und habe gleichzeitig so große Angst um dich, weil ich weiß, wie es für dich sein wird, wenn du die ganze Wahrheit erfährst. Es warten viele Schicksalsschläge auf dich. Tränen und Schmerz werden auch dich manchmal verzweifeln lassen, und ich wünschte, dass ich dich in diesen Momenten in die Arme schließen und trösten könnte, aber ich werde nicht da sein. Ich verspreche auf dich aufzupassen, so wie ich es immer getan habe, aber auch ich kann nicht alle schlimmen Dinge von dir fernhalten. So gern ich es auch möchte.

Ich wünschte, ich hätte dir damals mehr über die Visionen erzählen können. Aber du warst noch zu klein und hättest nicht verstanden, was ich dir sagen will. Es muss ein großer Schock für dich gewesen sein. Ich hoffe sehr, dass das erste Mal keine schlechte Erfahrung war. Mit etwas Schönem zu beginnen, ist viel besser. Aber man kann sich auch das leider nicht aussuchen. Auf den nächsten Seiten werde ich versuchen, dir zu erklären, wie man damit klarkommt. Ich kann dir nicht versprechen, dass du sie eines Tages los sein wirst, aber glaub mir, auch wenn schlimme, traurige und angsteinflößende Visionen auf dich warten, umso mehr werden dich die Schöneren begeistern. Lass dich nicht von ihnen einschüchtern oder zu sehr beeinflussen, denn kein Leben ist vorherbestimmt. Jeder von uns hat die Wahl sein Leben so zu leben und gestalten, wie er es will. Darum verlass dich niemals zu 100% auf die Visionen. Sie sind mehr eine Art Leitfaden, die dir zeigen, dass du ein paar Dinge überdenken solltest, um zu den guten Seiten zu gelangen. Bitte verzeih mir und vergiss niemals, dass ich dich sehr liebe und immer bei dir bin.

 

Schon zwei Freitage danach, direkt nach der Schule sollte der Umzug in unser eigenes Heim starten. Die Ferien würden am nächsten Tag beginnen. Und nur wenige Tage danach, würden wir uns das Ja-Wort geben. Mein Vater hatte versprochen pünktlich Feierabend zu machen, um mir beim Leerräumen meines Zimmers zu helfen und einige der Möbel mit seinem großen Wagen zu transportieren. In der Woche hatten Taylor und ich bereits einen Kaffeetisch, vier Esszimmerstühle, Badmöbel aus Bambus und ein paar Kinderzimmermöbel gekauft und ins Haus gebracht. Unsere Freunde würden bei seinem Zimmer und beim Aufbau der neuen Möbel helfen. Es war so aufregend! Obwohl ich gestehen musste, dass ich wohl nicht viel tun können würde. Mein Bauch ließ Vieles schon nicht mehr zu und ich würde schnell müde werden. „Lils, wo soll der Karton hier hin?“ „Oh, der kommt ins Schlafzimmer. Oben, zweite Tür rechts.“ Ich war gerade dabei die Küchenschränke von innen zu säubern und saß auf dem Boden, weil knien nicht ausreichte um in die hintersten Winkel zu gelangen, da hörte ich den lauten Wagen Jamies. Kurze Zeit später stieß jemand die Tür auf, um zwei Kartons ins Haus zu jonglieren. „Schatz, warte! Nein, nicht da. Ja, geradeaus, noch ein Stück. Gut, hinstellen!“ Mia hatte ihm Anweisungen gegeben und klopfte ihm auf den Rücken, nachdem sie eine Kiste voller Stoffe neben ihm abgestellt hatte. „Lilly? Wir sind jetzt da!“ „Ich sehe es!“ Beide erschraken und wandten sich zu mir um. „Wärt ihr so lieb, mir aufzuhelfen?“ Jeder reichte mir eine Hand und sie zogen mich auf die Füße. „Danke, das hätte sonst länger gedauert.“ Jamie grinste und machte dann Carly, Sean und Taylor, die ein langes Brett schleppten, und Kenneth, der die Matratze trug, Platz. Letzterer begrüßte mich freudig. „Wie geht es meiner Schwiegertochter und meinem Enkelkind?“ Er ließ die Matratze einfach achtlos zu Boden plumpsen und trat lächelnd zu mir. Ich sah noch aus dem Augenwinkel, wie seine Söhne fassungslos lächelnd die Köpfe schüttelten, ehe sie ins obere Stockwerk verschwanden. „Wir sind beide mächtig aufgeregt und das Enkelkind ärgert seine Mami gerade“, meinte ich und stemmte eine Hand in die Seite. „Darf ich?“ Ich nickte nur und ließ ihn seine Hand auf den Bauch legen. Gerade in dem Moment trat es heftig zu. „Ist wohl richtig was los da drin. Ist irgendwas?“ „Eigentlich nicht.“ Taylor kam mit meinem Vater wieder runter, beide fachsimpelten über den organisatorischen Ablauf. „Rein logisch betrachtet würde ich mit dem Schlafzimmer anfangen und dann im Bad weiter machen, aber ich habe noch nicht alles ganz genau inspiziert, sodass es sein kann, dass mehrere kleine Baustellen in der Küche sind. Ausbauarbeiten und ein paar Schönheitsfehler bereinigen, weißt du?“ „Ja. Aber da kann ich den Mädels unter die Arme greifen. Sean kann doch das Bad übernehmen und Jamie mit Ken das Schlafzimmer. Wir sind doch alle ganz gut im Schrauben und Hämmern.“ „Gut, dann machen wir erst die Autos leer. Von Lilly habt ihr alles hier?“ „Ein paar kleine Kisten sind noch zu Hause, aber die Möbel ja.“ Ich stand schweigend daneben und wartete auf Anweisungen. Genau wie Carly. „Alles gehört, ihr beiden?“, fragte Taylor und ich salutierte vor ihm. „Schön, dann richten wir mal unser Zuhause ein, oder?“ Sein breites Grinsen ließ mich kurz aufseufzen.

Kelly und Elli hupten, als sie zu uns stießen. Sie hatten beide noch einen Termin gehabt, waren aber früher da, als eigentlich erwartet. Wie bereits vermutet, konnte ich nicht viel tun. Hauptsächlich beschäftigte ich mich mit dem Einräumen der Schränke, dem Zureichen von Gegenständen und Werkzeug und kümmerte mich nun um das leibliche Wohl. Es war Zeit für das Abendbrot und ich hatte das Chili fast fertig. Kenneth hatte uns einen alten Esstisch überlassen, den Taylor gestern Abend abgeschliffen, neu gebeizt und lasiert hatte und der jetzt perfekt in die braun-dunkelgrüne Küche passte. Carly half mir ein paar mehr Sitzgelegenheiten zusammen zu sammeln. Stühle hatten wir nicht genug für so viele Helfer. „Verfluchte Scheiße!“, brüllte Taylor plötzlich von oben und alle blickten von ihren Arbeiten auf. Er hatte sich als Verantwortlicher für das Kinderzimmer erklärt und war die ganze Zeit eher ruhig bei der Arbeit gewesen. „Alles in Ordnung, Schatz?“ Zuerst nichts, doch dann kam er, die linke Hand bzw. die untere Hälfte seines Daumens im Mund, nach unten. „Was ist passiert?“ „Der Schraubenzieher hat den Kampf gewonnen“, presste er hervor, den Finger noch immer zwischen den Lippen. Ich zog ihn ans Spülbecken und besah mir die ganze Geschichte. Er musste ordentlich abgerutscht sein. Ein langer tiefer Riss zog sich von der Daumenmitte bis fast zum Handgelenk hinunter. „Der Verbandskasten ist im Wirtschaftsraum, komm! Und ihr fangt doch alle schon zu essen an. Haut ordentlich rein!“ Die Meute stürzte sich auf das Chili, als ich hinter uns die Tür schloss und das Licht anknipste, weil es jetzt dunkel draußen wurde und das Licht, das durch die Fenster fiel, nicht mehr ausreichte, um den Raum genug zu beleuchten. „Wieso bist du denn abgerutscht?“ „Da sind so winzige Schrauben beim Kinderbett bei… Das hätte ich nie für möglich gehalten, dass so ein kleines Bett so viel Arbeit macht. Der Schrank und der Wickeltisch waren viel einfacher!“ Ich sah prüfend zu ihm und seiner Hand. „Halt die Hand noch ein bisschen unters Wasser“, wies ich ihn an und kramte die Mullbinden und eine Kompresse hervor. „Wieso hast du nicht einen von den Männern um Hilfe gerufen?“ „Haben doch alle genug zu tun.“ „Was nicht heißt, dass sie dir nicht helfen würden… Fragen kostet doch nichts. Sie hätten dir schon gesagt, wenn es nicht ginge.“ Ich setzte mich vor ihn, bedeckte meinen Schoß mit einem alten Handtuch und legte dann seine Hand darauf. Das Bluten hatte nachgelassen und ich säuberte die Wunde. „Und wie geht es dir?“ „Ich würde gerne etwas hilfreicher sein, aber ich bin brav und begnüge mich mit dem, was im Rahmen des Möglichen liegt. Beweg mal den Daumen, geht das?“ „Ja. …Ich bin froh, dass du brav bist.“ „Das war mir klar.“ Ich widmete mich wieder der Wunde und meinte: „Wir schlafen heute Nacht doch schon hier, oder?“ „Das war eigentlich der Plan, ja. Soweit ich weiß, ist das Schlafzimmer auch gleich fertig. Die Nachttische fehlen nur noch und die Klamotten müssen wir noch in die Schränke einräumen, aber das Bett steht.“ „Schön. Mir ist aufgefallen, dass wir unbedingt ein oder zwei Bücherregale mehr brauchen. Zusammen haben wir eine ganz beachtliche Sammlung. Aber das kann auch bis nächste Woche oder bis Januar warten. Einmal die Hand hoch. Gut. Drehen… Geht es so? Oder ist es zu fest?“ „Nein, super.“ „Okay. Fertig.“ Ich packte das übrige Verbandszeug weg und wandte mich dann zu Taylor. Wir grinsten uns gleichzeitig an. „Geht es dir auch so unbeschreiblich gut? Ich könnte die ganze Zeit Freudensprünge machen, weil das hier wirklich unser Zuhause ist. Wir werden ab sofort allein hier wohnen. Das ist so toll!“ „Gott sei Dank. Ich dachte schon, nur ich hätte so ein Gefühl. Aber mit jedem weiteren Möbelstück das steht, werde ich aufgeregter. Wir haben schon eine Nacht hier verbracht, das weiß ich, aber die heute wird viel besser werden. Da bin ich mir sicher!“ Ich drückte mich kurz an ihn und wir standen einfach nur da. „Danke noch mal. Ich bin wirklich froh, dass du wegen des Hauses alles so in die Wege geleitet hast. Ich hätte es mir nie verziehen, wenn wir nicht hier eingezogen wären.“ „Gern geschehen.“ Er zog mein Kinn zu sich nach oben und küsste mich sanft. „Du musst am Verhungern sein, Schatz. Komm, ehe die Anderen alles weg essen!“ Taylor stemmte sich gegen die Tür. Er stand nah hinter mir, eine Hand am Holz, die andere berührte meine Hand. Ein leises Klicken verriet, dass er das Licht ausgeschaltet hatte. Ich blickte auf das dunkle Grün vor mir, betrachtete die Maserung und atmete ruhig weiter. Er hauchte mir ins Ohr: „Ist mir egal. Sollen die ruhig futtern. Ich möchte noch ein paar Minuten mit dir hier verbringen.“ Er strich mir die Haare aus dem Nacken und küsste ihn. „Wieso?“, japste ich und drückte seine Hand fester. „Wieso nicht?“ „Weil wir ab sofort doch jeden Abend nur für uns haben werden.“ „Stimmt schon, aber du willst auch noch nicht weg, hab ich nicht Recht?“ Seine andere Hand berührte sanft meinen Bauch und er kannte meine Antwort bereits, sodass ich mir gar nicht erst die Mühe machte, meine Stimme wieder zu finden. Tat es dann aber doch: „Du bist unmöglich!“ Ich konnte förmlich fühlen, wie er mit den Schultern zuckte.

 

Drei Stunden später verabschiedeten sich unsere Freunde und nur Sean, Carly, Kenneth und mein Vater blieben mit uns zurück. Die beiden Letzteren verstauten ihr Werkzeug in den Autos, während Sean und Taylor kurz nach oben verschwunden waren und Carly mir beim Abtrocknen half. „Es ist wirklich ein wunderschönes Haus.“ „Ich bin auch mächtig froh, dass Taylor alles arrangiert und nicht auf mich gehört hat.“ „Glaub ich gern. Aber für deinen Vater wird es von nun an schon komisch sein, so allein im Haus…“ „Ja, oder? Ich hoffe, er gibt mir nicht all zu sehr die Schuld daran.“ „Ach was, er kann doch genauso froh darüber sein, dass ihr hierher zieht. Es hätte ja auch weiter weg sein können, aber in derselben Stadt… Das wird er schon überleben. Und außerdem bist du alt genug, schwanger und wirst bald heiraten. Ewig wärst du doch nicht bei ihm wohnen geblieben.“ „Mag sein, aber ich werde ihn echt vermissen. Es hatte etwas Beruhigendes zu wissen, dass mein Vater im unteren Stockwerk war. Aber Taylor gibt mir dieses Gefühl sogar noch einige Male mehr.“ „Sean und ich haben auch schon ein wenig über die Zukunft gesprochen…“ „Tatsächlich?“ „Ja. Ich liebe ihn sehr und jeder Tag mit ihm bedeutet mir so unglaublich viel. Aber wem erzähl ich das?“ Ich legte das Geschirrtuch beiseite, nahm ihre Hände und meinte: „Carly Simmons, ich bin mir ganz sicher, dass du ein wundervolles Leben vor dir hast. Und ich bin wahnsinnig froh, dass ich ein Teil davon sein darf.“ „Ein großer Teil. Danke, Süße!“ „So, ich mach mich dann mal auf den Heimweg. Wenn morgen noch was sein sollte, die Nummer kennst du ja“, sagte mein Vater und blickte mich aus traurigen Augen an. „Vielen lieben Dank, dass du noch nach der Arbeit geholfen hast.“ „Kein Thema!“ „Du weißt, dass du mir sehr fehlen wirst, oder? Ich hab dich unglaublich doll lieb, Dad. Und ich, nein wir, werden dich oft besuchen kommen.“ „Ich hab euch auch lieb, Schatz. Aber du bist nicht aus der Welt und irgendwann zieht jedes Kind von zuhause aus. Ich kriege das hin!“ Sean kam ebenfalls hinunter und fuhr dann mit Carly zu dieser nach Hause. Kenneth packte noch ein paar leere Kartons in sein Auto und machte sich dann auch auf den Weg. Als ich hinter ihm die Tür schloss und den Schlüssel herumdrehte, herrschte eine ganz andere Stimmung im Haus. „Taylor, wo steckst du?“ „Im Kinderzimmer.“ Langsam stieg ich die Treppe hinauf, ließ meine Finger sachte über das Geländer streichen und begann zu lächeln. Es war wie in so vielen Träumen von mir. Dasselbe Gefühl. Als ich dann die Tür öffnete, die zum Kinderzimmer führte, stockte ich ihm Türrahmen. „Schatz…“ Es verschlug mir die Sprache und ich legte eine Hand über den Mund. „Ich wollte dich unbedingt überraschen…“ Er hatte tatsächlich das ganze Kinderzimmer fertig. Vor einer Weile hatten wir uns auf ein hübsches Grün geeinigt, weil das für Mädchen und Junge passte, das er jetzt an die Wände gebracht hatte. Das Gitterbettchen, die Kommode und der Wickeltisch waren in dunklem Wallnussholz und passten wunderbar zur Wandfarbe. Er hatte die weißen Vorhänge an die zwei Fenster angebracht, einen hellen kuschelweichen Teppich verlegt, Regalbretter angebaut und einen cremefarbenen weichen Sessel mit kleinen grünen Punkten hineingestellt. Und dann fiel mein Blick auf ein offenes hohes Regal, wo all unsere Kinderbücher aufgereiht worden waren. Das Brett, das bisher in meinem Zimmer gewesen war, auf dem wir den monatlichen Umriss meines wachsenden Bauches festgehalten hatten, hatte er neben der Tür angebracht. „Es ist wundervoll geworden, Taylor. Noch viel besser als das, worüber wir gesprochen hatten.“ „Schön, dass es dir gefällt.“ „Gefallen? Ich liebe es. Hier wird sich unser Kind sehr wohl fühlen.“ Er legte einen Arm um mich und ich lehnte mich an ihn. Und nun war mir auch klar, warum er unbedingt dieses Zimmer übernehmen wollte und ich ihm dabei nicht helfen sollte. „Was hältst du davon, wenn wir jetzt schlafen gehen?! Du siehst müde aus und ich bin auch echt geschafft.“ „Ja.“ Taylor hatte Recht, mir fielen fast die Augen zu, obwohl ich selbst gar nicht viel getan hatte. Was eine Schwangerschaft alles so änderte, wurde mir erst nach und nach bewusst. Als wir uns bettfertig gemacht hatten, standen wir beide vor dem großen Bett und grinsten einander an. „Auf Drei?“, fragte ich und er nickte. „Eins, zwei…“ „Und drei!“ Wir schlugen die Bettdecke zurück und krochen darunter. Ich kuschelte mich ganz nah an ihn und Taylor streichelte meinen Arm. „Daran gewöhn ich mich bestimmt schnell“, wisperte er und ich schloss die Augen, um sein Aftershave besser riechen zu können. „Ich liebe dich!“ „Danke…“, murmelte ich und war kurz davor einzuschlafen, sodass ich seine Worte schon gar nicht mehr richtig mitbekam. „So müde bist du?“, fragte er amüsiert. „Und dabei habe ich gar nicht viel getan.“ „Na ja, den ganzen Tag einen kleinen Menschen mit sich herumzutragen, raubt einem bestimmt viel Energie…“ „Mhm.“ „Schlaf gut, mein Schatz.“ Noch ehe ich dazu kam, ihm zu antworten, war ich bereits ins Land der Träume gefallen.

 

Es klopfte und er ging, die Toaststulle im Mund, die Tür öffnen. „Daniel, guten Morgen. Was führt dich her?“ „Ich habe gestern noch mein Arbeitszimmer durchgesehen und einige Sachen von Lils gefunden. Ich wollte es gleich vorbei bringen. Ich hoffe, ich störe nicht. Die restlichen Kartons sind auch im Wagen.“ „Aber nein.“ Er hielt die Tür weit auf und sein zukünftiger Schwiegervater trat ein. „Ist sie gar nicht da?“, fragte Dan, als er sah, dass sich Lilly nicht im unteren Stockwerk befand. „Sie schläft noch. Neuerdings braucht sie immer ein wenig mehr Zeit, um in die Gänge zu kommen.“ „Ich komm dann später noch mal…“ „Sei nicht albern. Willst du einen Kaffee?“ „Gern.“ Das liebte er so an Daniel Connor. Er war ein ziemlich zurückhaltender Mensch, der sich niemandem aufdrängen wollte. Aber wenn er jemanden mochte, ließ er sich nicht lange bitten. Taylor gefiel es, sich einfach mit ihm hinzusetzen und über Gott und die Welt zu sprechen. Manchmal saßen sie auch nur stundenlang nebeneinander, in stillschweigender Einkunft. Wenn Lilly von ihrer Mutter erzählte, dann war ihm klar, warum die beiden Eheleute ein so tolles Team gewesen waren. Die beiden hatten sich perfekt ergänzt. Ihre Mutter war wohl ein lebhafter, optimistischer Mensch. Ihr Vater hingegen der schweigsame Realist, der sie am Boden gehalten hatte, wenn das Temperament mit ihr durchgegangen war. Was Lillys Erzählungen nach oft der Fall gewesen sein sollte. Er wünschte, er hätte sie kennen lernen können, als sie noch lebte. „Du hast tatsächlich eine große Sammlung an Büchern“, erkannte Dan an und erhob sich, um sich die Buchrücken anzusehen. „Von Lilly sind doch auf welche dabei.“ „Schon, aber solche Fachliteratur hat sie nicht besessen. Interessiert dich Genetik?“ „Ja, ich finde es echt spannend. Was wir alles so von Generation zu Generation weiter tragen, nur weil ein paar Zellen diese Dinge speichern.“ „Ich habe dich noch gar nicht gefragt, was du später vorhast?!“ „Mh?“ „Nach der High School. Ich schätze, Lils wird erstmal wegen dem Baby aussetzen und später aufs College gehen, aber du könntest doch studieren. Soweit ich weiß, sind deine Noten doch auch klasse.“ „Ich habe keine Ahnung. Sicher, so mit Biologie und Naturwissenschaften könnte ich mir schon was vorstellen. Aber ich hab es da nicht so eilig.“ Er verschwieg absichtlich, dass er bereits ein paar College-Zusagen hatte. Solange er das nicht genau mit Lilly abgesprochen hatte, würde er das keinem erzählen. Daniel schien ein wenig enttäuscht. „Leg nicht alles auf Eis, versprich mir das. Die Möglichkeit besteht, also lass dir das nicht nehmen. Ich weiß, dass du sie liebst und das finde ich toll, wirklich. Ich wünsche euch nur das Beste, aber verbau dir nicht die Chance auf einen Collegeabschluss, okay?“ „Versprochen!“ Dan nickte. Am liebsten hätte er ihm jetzt dankbar die Hand gereicht, aber er hörte, wie oben eine Tür ins Schloss klickte und spürte dann den Herzschlag Lillys, der langsam auf Trab kam. Sie hatte in letzter Zeit richtig Probleme aus dem Bett zu kommen und war abends die Erste, die beim Fernsehen oder ins zu Bett gehen, einschlief. „Guten Morgen, Dad. Hattest du schon Sehnsucht?“ „Na klar. Und ich hab noch ein paar Dinge in meinem Arbeitszimmer gefunden, die ich dir bringen wollte.“ „Nett von dir, danke.“ Sie schnüffelte ganz vorsichtig in die Luft und erinnerte ihn dabei an sich selbst, wenn er draußen im Wald umherstreifte und nach Anzeichen von neuen Wölfen suchte. „Kaffee?“, fragte sie leise und man sah, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. „Ja.“ Daniel sah den beiden zu und runzelte die Stirn. Er konnte sich nicht erklären, warum seine Tochter so eine Frage stellte und nicht einfach auf die Maschine zustürzte, wie sie es sonst tat. Lilly richtete ihr Shirt, dass sich leicht über die süße Kugel an ihrem Bauch spannte und seufzte resignierend. „Ich mach dir einen Tee, ja?“, fragte er sicherheitshalber und sie blickte ihn traurig an. „Okay.“ Während sie zum Kühlschrank schlurfte und den Aufschnitt hervorkramte, setzte er den Wasserkessel auf. „Gut, ich verstehe gar nichts mehr.“ Und genauso sah Daniel auch aus. „Dr. Bennet meinte, dass ich durchaus ein oder zwei Tassen Kaffee trinken dürfte, aber ich sollte meine sonstige Tagesration nicht beibehalten. Daher muss ich mir jetzt immer genau überlegen, wann ich eine Tasse davon trinke. Meist mach ich das zur Kaffeezeit und dann noch abends nach dem Abendbrot. Aber es kostet mich immer totale Überwindung. Ganz furchtbar ist es, wenn Taylor einen getrunken hat und ich ihn dann küsse. Dann schmecke ich den noch.“ Sie ließ sich auf den Stuhl am Küchentisch plumpsen und bestrich ihren Toast mit Butter. Ihr Vater setzte sich zu ihr und zog langsam ein kleines dickes Buch hervor, dass in einen lilafarbenen Lederbezug eingebunden war. „Was ist das?“, fragte sie und legte das Messer beiseite. „Ich würde dir gerne die Geschichte erzählen, wie ich deine Mutter zum ersten Mal kennen lernte.“

10. Kapitel - Der schönste Tag im Leben

„Was soll das heißen? Die Geschichte, wie ihr euch zum ersten Mal kennen lerntet? Ihr seit zusammen in der Schule gewesen, das weiß ich doch alles.“ „Deine Mutter hat mich vor einigen Jahren gebeten, ein paar Dinge dabei auszulassen. Sie hat mir nie erklärt, warum, aber ich habe sie geliebt und keine Fragen gestellt. Du kanntest sie ja auch sehr gut, du weißt, was ich meine.“ Lilly nickte langsam und er spürte ihren Herzschlag, der immer schneller wurde und sich dann, als er ihre Hand nahm, wieder ein wenig beruhigte. „Es tut mir leid, dass ich das ausgerechnet jetzt mache, wo du schwanger bist und deine Emotionen etwas außer Kontrolle geraten können. Doch Grace meinte, dass du alles erfahren sollst, sobald du mit deinem Mann in eurem Zuhause angekommen bist. Ihr seid zwar noch nicht verheiratet, aber…“ „Schon gut, Dad. Es ist alles okay.“ Taylor begriff nicht, warum sie diese Worte wählte, aber dann blickte er zu Dan und bemerkte diese eigenartige Schwärze in den Augen des Mannes. Er musste seine Frau unglaublich geliebt haben, dass er nach über sechs Jahren noch immer solch tiefen Schmerz über ihren Verlust empfand. Während sie ihre Hand an seine Wange legte, atmete er einmal tief ein und begann dann zu erzählen:

 

Crystal Falls war schon immer eine kleine beschauliche Stadt. Regentage überwiegten die mit Sonnenschein. Jeder kannte Jeden. Und Neuigkeiten verbreiteten sich schneller als ein Lauffeuer. In den nächsten Tagen würden ein paar neue Leute in die Stadt ziehen. Alte Bekannte von Marge, die die kleine Nähstube im Herzen der Stadt führte. Mr. Cooper senior hatte sich bei der letzten Versammlung verquatscht und nun wurde gerätselt, wie diese Leute wohl sein würden. Doch Bekannte von Marge konnten nur im Rentneralter sein, sodass sich Daniel Connor nicht wirklich darum scherte. Ihm ging es sogar total auf den Senkel, dass seine Freunde dieses Thema noch immer nicht beigelegt hatten. So spannend war das ja nun auch nicht. Nach der Schule seilte er sich von seinen Kumpels ab und durchforstete die Wälder, die an die schönen Eigenheime am Rande der Stadt reichten. Die Lichtung, die er beim letzten Mal gefunden hatte, war ihm besonders ans Herz gewachsen. Dort hatte man das Gefühl, es gäbe nur die Natur. Keine Menschen, keine Industrie, keinen Verkehr. Hier war alles so unberührt, die Vögel zwitscherten, Gras und Moos bewuchsen die alten Bäume, die es schon seit hunderten von Jahren gab. Daniel ließ sich ins Gras fallen, streckte sich genüsslich und ließ die wärmenden Sonnenstrahlen auf sein Gesicht scheinen. Er döste eine Weile vor sich hin, schnappte sich dann das Buch, das er aus dem Regal seines Vaters hatte mitgehen lassen und vertiefte sich in die spannende Lektüre. Sein Vater war ein kluger, angesehener Mann, der zu Hause allerdings schnell jähzornig werden konnte. Er mochte es nicht, wenn Daniel seine Bücher las und so stahl der sie aus dem Regal, verschlang sie innerhalb kürzester Zeit und stellte sie dann unbemerkt wieder zurück, um sich gleich das Nächste mitzunehmen. Seine Mutter hatte seit frühester Kindheit ein schwaches Immunsystem. Sie war oft krank und kam tagelang nicht aus dem Bett. Aber er liebte sie sehr, weil sie eine warmherzige liebevolle Mutter war. Geschwister hatte er keine, weil seine Geburt seine Mutter bereits bis an ihre Grenzen gebracht hatte. Aber er sehnte sich auch nicht sonderlich nach einem Bruder oder einer Schwester. Plötzlich knackte es hinter einem der dicken Eichenbäume. Das kam schon öfter vor, aber er hörte deutlich heraus, dass das nicht an der Wärme lag, die die Äste knacken ließ. Nein, hier war jemand. Er verfluchte die Person, die es gewagt hatte, diesen Platz aufzuspüren und in sein Gebiet einzudringen. Gerade als er sich aufrichten wollte, um den Eindringling zu verscheuchen, trat ein schmales blondes Mädchen aus dem Schatten hervor. Sie trug ein weißes langes Sommerkleid und war barfuss. Die Arme ausgebreitet, hielt sie ihr Gesicht der Sonne entgegen, drehte sich immer wieder um die eigene Achse und kicherte dann leise, so als hätte ihr gerade jemand einen Witz erzählt, von dem aber niemand wissen sollte. Sie schien ihn einfach nicht zu bemerken, besah sich den Boden und fing dann an ein paar Sprünge zu machen. Er kannte die Figuren von einem Ballettstück, zu dem seine Mutter ihn einmal mitgeschleppt hatte. Das blonde Haar flog und glich Engelshaar, als es von den Strahlen der Sonne getroffen wurde. So sehr er es auch wollte, er konnte sich einfach nicht rühren. Und dann machte sie einen weiten Sprung und prallte plötzlich mit ihm zusammen. Von der Wucht hart getroffen, fiel er, mit dem Rücken voran, zu Boden. Das Mädchen versuchte sich irgendwo abzustützen, fand aber keinen Halt und landete auf ihm. Ganz kurz blieb ihm die Luft weg, doch dann roch er diesen blumigen Duft, der von ihr auszugehen schien und war überhaupt nicht mehr wütend, dass sie hier auf dieser Lichtung eingedrungen war. Ein paar Augenblicke lang rührte sie sich nicht und er dachte bereits, sie wäre ohnmächtig, doch dann hob sie ruckartig ihren Kopf, schaute ihn aus großen kristallblauen Augen an und holte erschrocken Luft. Sie sagte nichts und es schienen Minuten zu vergehen, in denen sie einander einfach nur anblickten. „Oh mein Gott, es tut mir leid. Ich habe dich nicht gesehen. Verzeihung. Ich sollte sowieso nicht hier sein. Ich gehe lieber. Verzeih mir bitte. Dir geht es gut, oder? Du scheinst aber nicht verletzt zu sein. Entschuldige vielmals.“ Dieser Schwall an Worten überraschte ihn. Solch ein Temperament hatte er nicht erwartet und so nickte er nur und blickte ihr nach, als sie aufsprang und denselben Weg zurücklief, den sie gekommen war.

Am nächsten Tag suchte er sie auf dem Schulhof. Sie musste zu den Leuten gehören, die in die Stadt ziehen würden. Oder aber sie war einfach nur bei Verwandten zu Besuch gewesen. Mit jedem vergeblichen Blick, schwand auch die Hoffnung sie wiederzusehen. Am Nachmittag dann war seine Laune völlig im Keller. Auch auf der Lichtung wartete er vergebens. Zwei weitere Tage vergingen und ihm ging es schlechter als je zuvor. Seine Freunde hielten Sicherheitsabstand zu ihm, sie wussten, dass er jeden Moment explodieren könnte. Als er zur nächsten Stunde wollte und um die Ecke bog, prallte er mit jemandem zusammen. Er hörte, wie die Bücher zu Boden fielen, sah kurz das blonde Haar, griff geistesgegenwärtig nach dem schmalen Handgelenk und zog das Mädchen sicher an sich, ehe sie ihren Büchern Gesellschaft leisten konnte. Wieder blickten ihn diese kristallblauen Augen an, doch diesmal ließ er sie nicht so einfach fort. „Es gab überhaupt keinen Grund sich zu entschuldigen“, flüsterte er und nachdem sie realisiert hatte, was er da gesagt hatte, lachte sie leise. „Grace, ist alles in Ordnung?“, fragte eines der Mädchen aus seiner Parallelklasse. „Aber ja. Ich wurde schließlich beschützt“, antwortete sie und wandte ihre Augen nicht von ihm ab. „Ich bin übrigens Daniel.“ „Hi.“ „Hi.“ „Ich gehe seit heute auf diese Schule. Und ich finde, wir sollten es nicht zur Gewohnheit werden lassen, ständig gegeneinander zu stoßen.“ „So schlimm finde ich das nicht.“ In den nächsten Tagen verbrachten sie jede Pause miteinander und irgendwann küsste er sie dann einfach. Zuerst schien sie überrascht, aber dann fiel sie ihm um den Hals und er plumpste mit ihr zu Boden. „So haben wir uns kennen gelernt, wieso sollte es also jetzt anders sein?“, scherzte er und Grace schlang ihre Arme noch fester um seinen Hals.

 

„Wir waren seit der 8. Klasse ein Paar. Ich habe nie eine Frau mehr geliebt als deine Mutter. Keine hat mich so aus der Fassung gebracht wie sie oder mich so glücklich gemacht. Wir haben geheiratet, dann kamst du auf die Welt und sie hat das tolle Haus gefunden. Sie hat mir Mut gemacht, wenn ich das Studium am liebsten hingeschmissen hätte. Und sie hätte alles für dich und mich geopfert, wenn sie es hätte tun müssen.“ „Wieso wollte sie nicht, dass ich von dem ersten Zusammenstoß erfahre?“ „Ich weiß es nicht.“ „Und was ist mit dem Buch da?“ „Grace hat in jeder freien Minute geschrieben. Sie hat über fast alles Buch geführt. Und das hier sollte ich dir geben, wenn du deine eigene Familie gründest. Aber frag mich nicht, was das ist. Ich habe es nie gelesen.“ Lilly berührte sanft den Einband und umarmte dann ihren Vater. „Ich weiß, dass sie immer bei uns ist und auf uns aufpasst. Wie ein Engel.“ „Und ich bin mir ganz sicher, dass sie genauso stolz auf dich ist, wie ich es bin.“ Taylor hatte still neben den beiden gesessen und der Geschichte gelauscht. Er hatte immer gedacht, dass Lillys Mutter schon immer hier in Crystal Falls gelebt hatte. Dann war sie also ebenso hierher gezogen, wie seine Familie und er. Die Geschichte wiederholte sich also, bloß entgegengesetzt. Nicht das Mädchen war in die Stadt gekommen, sondern diesmal der Junge.

 

„Sie hatte solche Träume seit sie eine Jugendliche war“, meinte ich und Taylor streckte seinen Kopf ins Schlafzimmer, die Zahnbürste noch im Mund. „Bei mir hat es genauso angefangen. Ich glaubte immer, dass es gruselige oder schöne Träume wären und fand sie unglaublich realistisch und in Wirklichkeit waren das die ersten Anzeichen dafür, dass ich diese Gabe übernommen habe.“ Ich blätterte die nächste Seite um und stemmte eine Hand in die Seite, als das Baby wieder gegen die Bauchwand trat. Taylor stieg zu mir ins Bett und legte beruhigend eine seiner Hände auf die Kugel, die er seit einiger Zeit für total süß hielt. „Ist das denn so eine Art Tagebuch von deiner Mutter?“, fragte er und die Tritte in meinem Innern wurden weniger. „Ja. Anfangs schreibt sie noch von ihren Träumen und dann später scheint ihr bewusst zu werden, dass sie mich darin sieht. Sie weiß von dir, von unserem ersten Kuss, von unserer Hochzeit und sie schreibt, dass sie stolz auf mich ist und uns nur das Beste wünscht. Außerdem hat sie mich gesehen, als ich nach unserer kurzen Trennung mit Sean am Strand gesprochen habe und ich bin mir sicher, dass sie auch von ihrem Enkelkind wusste.“ „Irgendwie finde ich das ja gruselig“, meinte er und streichelte ganz sanft über meinen Bauch. „Was?“ „Na ja, deine Mutter hat vor Jahren bereits das gesehen, was uns vor kurzem passiert ist und noch passieren wird.“ „Das tue ich doch auch. Vor einiger Zeit hatte ich einen Traum, wo unser Kind bereits um die zehn Jahre alt war. Ich weiß längst, wie es später aussehen wird.“ „Als jemand, der es nicht so sieht wie ihr, sondern nur davon hört, ist es nun mal gruselig.“ „Ja, mag sein. …verlass dich niemals zu 100% auf die Visionen. Sie sind mehr eine Art Leitfaden, die dir zeigen, dass du ein paar Dinge überdenken solltest, um zu den guten Seiten zu gelangen.“ „Ein Leitfaden?“ „Zumindest schreibt sie das.“ „Na ja, das stimmt schon. Manches hast du geträumt, und dadurch haben wir einiges überdacht und es ist nicht eingetreten. Und du meintest auch, dass du manchmal ein Mädchen und ein andermal einen Jungen hier im Garten spielen siehst.“ „Richtig… …Es ist, als würde sie gerade mit mir reden.“ Taylor blickte mir ins Gesicht und strich mit seinem Finger über meine Wange. „Ich denke, deshalb wollte sie auch, dass du es bekommst. Damit du dich nicht allein fühlst.“ Ich schob ein Lesezeichen zwischen die Seiten und legte das Buch beiseite. „Ich fühle mich ganz und gar nicht alleine. Ich habe schließlich dich und das Baby. Und in ein paar Tagen sind wir dann auch noch verheiratet.“ „Mrs. Lillian Wood. Mir gefällt das!“ Er knipste die Nachttischleuchte aus und ich lachte leise, als er meinen Hals küsste.

 

„Guten Morgen, Süße. Willkommen in deiner heutigen Bleibe“, verkündete Carly freudestrahlend, als ich aus dem Wagen stieg und eine Reisetasche aus dem Kofferraum holte. Ihre Eltern standen hinter ihr und lächelten verhalten. Mir war klar, dass sie immer daran dachten, dass ihre Tochter ebenfalls ‚so unvorsichtig‘ sein könnte wie ihre beste Freundin, wenn sie mich sahen. Manch ein Erwachsener konnte eben schlecht damit umgehen, dass ich schwanger und im Begriff war zu heiraten. Daran hatte ich mich längst gewöhnt. „Guten Morgen, Carly. Ihnen auch Mr. und Mrs. Simmons.“ „Komm, ich nehm dir die Tasche ab. Hast du schon gefrühstückt?“, fragte der Hausherr und ich nickte. „Taylor hat darauf bestanden, dass wir wenigstens das noch gemeinsam tun, wenn er sich meinem Willen für den Rest des Tages beugen muss.“ Carly lachte und hakte sich bei mir ein, als ich endlich die wenigen Stufen zum Haus erklommen hatte. Früher hatte ich hier viele Nachmittage verbracht. Manchmal hatten wir versucht zu backen, was natürlich immer in die Hose gegangen war, weil wir wichtige Zutaten nicht benutzt hatten. Die Schminkpartys, einkaufen und dann Modenschau. Oder die Video- und DVD-Abende. Alles hier war passend zueinander eingerichtet. Mrs. Simmons war immer schon sehr akkurat gewesen. Oft hatte Carly ziemlichen Ärger bekommen, wenn wir die Küche nach dem Keksreinfall nicht rechtzeitig sauber gemacht hatten. Mr. Simmons hatte dann nur abends über alles geschmunzelt und sich manches Mal sogar an die missglückten Backwaren getraut. Aber je älter wir wurden, umso seltener sind wir in den Häusern geblieben. Jetzt, wo mich Carly mit zu sich ins Zimmer zog, vermisste ich das irgendwie. „Jetzt schau doch nicht so bedröppelt. In 24 Stunden siehst du ihn doch wieder“, meinte Carly und ließ die Tasche, die sie ihrem Vater vor der Zimmertür abgenommen hatte, auf das Bett plumpsen. Notgedrungen hatte Taylor eingewilligt, diesen alten Brauch ebenfalls durchzuführen. Er hielt normalerweise nichts davon, mich und das Baby 24 Stunden aus den Augen zu lassen, aber ich hatte ihm geschworen, dass ich mich dem Wald nicht nähern und ständig in einer Gruppe unterwegs sein würde. Sean würde abends nach uns sehen und Jamie wurde sicherlich auch bereits von ihm um einen Anstandsbesuch gebeten. Heute Morgen dann war er extra früh aufgestanden, hatte ein riesiges Frühstück gemacht und wollte mich dann gar nicht aus der Haustür lassen. „24 Küsse“, hatte er dann gesagt und ich lachte, weil ich das für einen Scherz gehalten hatte. Er blickte mich todernst an. „Für jede Stunde, die wir uns nicht sehen Einen. Und ich rede hier von Richtigen. Keine kurzen Schmatzer auf den Mund.“ Carly rieb ich nicht unter die Nase, dass mich Taylor für die auf uns zukommende Zeit genug entschädigt hatte, ließ mich stattdessen langsam neben ihr nieder und sagte: „Ich musste eben an früher denken und bin ein wenig sentimental geworden.“ „Du meinst das Backen und all die anderen lustigen Momente?“ „Mhm.“ „Ich gebe zu, das war großartig. Aber das, was wir heute und morgen erleben werden, wird noch viel bedeutsamer sein. Und ich verspreche dir, ich werde es nicht übertreiben.“ „Taylor hat dich darum gebeten kürzer zu treten, oder?“ Sie seufzte theatralisch. „Ja, und, Mann, hat der ein Durchsetzungsvermögen, wenn es um euch beide geht!“ Ihre Hand legte sich leicht auf meinen Bauch und wir lächelten uns an. „Okay, also was steht alles an? Erzähl mir von deinem brillanten Plan.“ Ich klatschte in die Hände. Ihre Augen begannen zu glitzern, sie sprang auf und erst jetzt bemerkte ich die Tafel, die normalerweise in Büros bei Konferenzen benutzt wurden. Mit einem gekonnten Schwung drehte sie die Platte um und erläuterte mir die einzelnen Punkte. „09:00 Uhr Ankunft der Mama und Braut in spe. Check. 09:30 Uhr Anruf der Brautjungfer beim Papa und Bräutigam in spe, weil der darauf bestanden hat. Mach ich gleich“, sagt‘s und machte ein Häkchen. „10:00 Uhr Rest der Mädels trifft ein, damit Abfahrt nach Iron River erfolgen kann. 11:30 Uhr Ankunft in Iron River und letzte Anprobe des Kleides. 12:30 Uhr oder 13:00 Uhr Mittagessen. 14:00 Uhr Abfahrt nach Crystal Falls. 15:30 Uhr Ankunft im Haus der Brautjungfer und nochmaliger Anruf beim Bräutigam und Papa in spe. 16:00 Uhr Spaß beginnt und Jungesellinnenparty im ruhigen Kreise startet - Pyjamaparty. Ende des heutigen Abends noch nicht festgelegt.“ „Nicht allzu spät, hoffe ich. Ich möchte morgen nicht völlig verschlafen aussehen. Meinen Hochzeitstag würde ich gern wach erleben.“ „Anmerkung zur Kenntnis genommen und berücksichtigt.“ „Dann ruf jetzt besser den Papa an. Sonst kommt er vorbei und betreibt Sturmklingeln oder aber tritt gleich die Tür ein. Oder er klettert durchs Fenster, deines ist schließlich auch gut erreichbar. Ich gehe solange auf die Toilette.“ Sie schnappte sich das Handy und suchte die Nummer im Speicher. Als ich wiederkam, hörte ich gerade noch wie sie ihn beschwichtigte und dann von einer schlechten Verbindung sprach und das Handy zuklappte. „Soll ich das nächste Mal mit einer raschelnden Tüte Chips zu Hilfe eilen?“, fragte ich und sie streckte mir die Zunge entgegen. „Ich freu mich ja wirklich für dich, dass du einen so tollen fürsorglichen Ehemann abbekommst, aber ein wenig übertreiben tut er es schon, oder?“ „Sei ihm nicht böse. Wir sind seit dem Einzug ständig beieinander“, begann ich, legte eine Hand über meinen Bauch und tastete mit der anderen nach dem sicheren bequemen Bett, um mich darauf zu setzen, „Es ist seit langem das erste Mal, dass er in der Nacht nicht bei mir ist. Für mich wird das auch komisch werden.“ „Weißt du, wenn ich so an den ersten Tag denke, an dem wir ihm begegnet sind und dich jetzt so vor mir sehe, hätte es mir eigentlich sofort klar sein müssen…“ Sie ließ sich neben mir aufs Bett plumpsen und blickte ernst in mein Gesicht. „Was meinst du?“ „Du warst seit dem ersten Moment, in dem du ihm in die Augen gesehen hast, in ihn verliebt. Er hat dich verändert. Nicht, dass er dich zu einem anderen Menschen hat werden lassen, aber ich denke, du hast durch ihn zu dir selbst gefunden. Bei ihm hatte kein anderes Mädchen je eine Chance und keines wird je eine haben.“ Tränen liefen über meine Wangen und Carly begann ebenfalls ihre Augenwinkel zu betupfen. „Ich habe dich lieb und ich…wollte einfach Danke sagen. Dafür, dass du mich zur Brautjungfer gemacht hast und dafür, dass du mich so sein lässt, wie ich bin. Egal, wie verrückt das auch sein mag. Du bist wie eine Schwester.“ „Das hättest du morgen als Rede benutzen sollen“, antwortete ich und wir beide lachten.

Nachdem wir in Iron River angekommen waren und ich mit Mrs. Menning, die tolle Schneiderin des Brautmodengeschäfts, in der Umkleidekabine stand und sie mir ins Kleid half, wurde ich hibbelig. Endlich gelangte die ganze Tragweite dieses Moments, dieses Tages, in mein Bewusstsein. Ab morgen Vormittag, 10:30 Uhr würde ich Mrs. Wood sein. Ich würde den wundervollsten Menschen heiraten, der mir je begegnet war. Der mich bedingungslos liebte, ganz egal wie merkwürdig ich mich verhielt. Der mich zu seiner Frau nahm und mit dem ich in wenigen Monaten ein Kind haben würde. Mrs. Menning legte gerade ihre Finger ans Kinn und besah sich die Rückansicht des Kleides, als sie zum Spiegel aufsah und mein Gesicht bemerkte. „Ist alles in Ordnung, Ms. Connor?“ „Oh, ja. Es ist alles wundervoll. Dieses Kleid ist atemberaubend.“ „Ja, es steht Ihnen wirklich ausgezeichnet. Ich muss zugeben, ich hatte zunächst wegen Ihres Bauches kleine Bedenken. Na ja, normalerweise schneidern wir nicht für Schwangere, aber die Herausforderung war es wert. Es sitzt wirklich alles sehr schön.“ Ich mochte ihre Ehrlichkeit, deshalb war ich auch froh, dass sie heute die letzten Handgriffe vornahm. „Wollen wir?“ Ich nickte und hob den Saum des Kleides an. Die Mädels saßen in einem Halbkreis auf den Stühlen vor dem Podest, auf dass ich mich stellen musste, damit ich mich in dem mehrteiligen Spiegel sehen konnte. Eben noch schnatterten sie aufgeregt miteinander, dann öffnete Mrs. Menning den Vorhang und sie verstummten. Erst als ich oben auf dem Podium stand, wagte ich einen Blick zu ihnen. Sie alle hielten sich die Hände vor den Mund, niemand traute sich zu sprechen und Mia weinte sogar. „Wollen Sie noch einen Schleier?“, fragte die ältere Dame, die solche Gefühlsausbrüche schon gewohnt zu sein schien und ich nickte. „Ja, aber nichts zu Auffälliges. Einen einfachen, den ich in Höhe der Ohren im offenen Haar feststecken kann. Und auch nicht bodenlang, vielleicht bis zum Kreuz.“ „So einen hätte ich auch gewählt. Der wird gut dazu passen, ich habe da noch was Schönes.“ Meine Freundinnen sprachen immer noch nicht, sodass ich mir sicher sein konnte, dass es wirklich mein Kleid war. Wir alle erschraken gleichzeitig, als mein Handy kurz aufpiepte. Carly reichte es mir aus der Tasche und ich hatte irgendwie im Gefühl, wer das war. Während ich die Nachricht öffnete, sahen auch die anderen auf ihre Mobiltelefone. »Willst du nicht herkommen und dann lassen wir die 24 Stunden noch einmal von vorn beginnen? Inklusive Entschädigung natürlich.« Mein Herz setzte kurz aus und schlug dann so kräftig in meiner Brust, dass ich glaubte ein Erdbeben auslösen zu können. Ich liebte diesen Mann so sehr.

 

Kurze Zeit später meldete sein Handy gleich mehrere eingehende Nachrichten. Entweder war ihr immer wieder eine schlagfertige Antwort eingefallen oder aber sie hatte ihn mehrere Male angefleht, zu ihr zu kommen. Er hoffte auf Letzteres. Es stellte sich allerdings heraus, dass ihm ihre vier Freundinnen und Lilly selbst geschrieben hatten. Sean beugte sich herüber und Jamie, der sich mit ein paar anderen Jungs des Footballteams im Wohnzimmer ausgebreitet hatte, sah zu ihm. „Was ist?“ „Ich lade euch hiermit alle wieder von meiner Hochzeit aus. Tut mir leid.“ Collin lachte lauthals. „Steht denn so was Gutes in der Nachricht?“ Er blickte wieder auf das Display und überflog nochmals die vier ersten Nachrichten: »Lilly sieht wunderschön aus. Schluchz.« - Mia; »Ein Engel, der hier auf dieser Erde wandelt, steht vor mir.« - Elli; »Wäre ich ein Mann, würde ich Lilly jetzt sofort entführen und nie wieder hergeben.« - Kelly; »Es wäre besser, du würdest morgen keinen deiner Kumpels in die Kirche lassen. Sean werde ich auch eine Augenbinde umlegen. Ausladen geht für ihn ja nicht, er ist Trauzeuge. Aber die Footballer wären eine schlechte Gastwahl. Lilly ist unglaublich schön. Und kaum hatte sie deine Nachricht erhalten, wirkte sie noch hübscher.“ - Carly

Er las die Nachrichten nicht laut vor, sagte den anderen aber: „Meine Frau wird wunderschön aussehen und keiner von euch wird sie dann zu Gesicht bekommen. Dieses Privileg gebührt einzig und allein mir. Also, ihr braucht morgen nicht zu kommen.“ Die Jungs lachten und widmeten sich dann wieder dem Spiel im Fernsehen. Er indessen ging nach draußen auf die Veranda und öffnete endlich die Nachricht Lillys. »Deine Nachricht kam genau dann, als ich in dem Brautkleid vor den vier Mädels stand. Erst eben ist mir bewusst geworden, dass wir ab morgen wirklich ein Ehepaar sein werden. Ich liebe dich jeden Tag mehr und kann mir ein Leben ohne dich einfach nicht mehr vorstellen. Allein die Worte deiner SMS zu lesen, hat mein Herz so stark zum Klopfen gebracht... Ich kann nur immer wieder sagen: Ich liebe dich!« Gerade wollte er antworten, als noch eine Nachricht von ihr einging: »Vielleicht war es doch eine dumme Idee, diesem alten Brauch zu folgen. Willst du nicht doch heute Nacht zu Carlys Haus kommen und mich holen? 24 Küsse wären mir nämlich nicht genug.«

Ein paar Nachbarn gingen dick angezogen an ihrem Haus vorbei, er grüßte sie und sie taten es ihm gleich. Alle bibberten vor Kälte, denn es war der 22. Dezember, aber Taylor war unglaublich warm. Nicht nur, weil er immer eine hohe Körpertemperatur besaß, sondern auch, weil er dieses Mädchen einfach unglaublich liebte. Sie hatte ihn im Sturm erobert. Keine andere Frau würde es schaffen, sein Herz nur durch einen Augenaufschlag oder eine einfache Berührung seiner Wange so zum Rasen zu bringen, wie sie es tat. Er würde ihr so gern mehr Wünsche erfüllen, aber sie sagte nie etwas. Schon Kleinigkeiten machten sie glücklich. Er stand kurz davor loszulaufen und sie zu sehen, doch wenigstens die ganz normalen Bräuche vor der Hochzeit sollte er ihr gönnen. Wenn schon sonst nicht alles in geregelten Bahnen lief, sollte zumindest das funktionieren. Und so blieb er, wo er war und tauschte mit seiner zukünftigen Frau anzügliche Nachrichten aus. Am Ende schien das sogar eine richtig gute Idee gewesen zu sein.

 

„Wollen wir dann endlich Mittag essen gehen? Ich sterbe fast vor Hunger…“, meinte nun Mia und auch ich spürte, dass mein Magen durchaus etwas Herzhaftes vertragen konnte. Auch die anderen stimmten sofort zu. Mrs. Menning half mir aus dem Kleid, packte es vorsichtig mit dem Schleier ein, ich bezahlte alles und wir verließen zufrieden den Laden. Nachdem wir den Kleidersack vorsichtig ins Auto verfrachtet hatten, debattierten wir darüber, wo wir essen würden. Jeder wollte etwas Anderes, aber schlussendlich einigten wir uns auf eine kleine Gaststätte, wo es viele verschiedene Gerichte gab und für jeden von uns das Passende dabei sein würde.

Wir kamen tatsächlich halb Vier wieder bei Carlys Haus bzw. das ihrer Eltern an. Carly erledigte dann gleich den Anruf und dieses Mal schien es nicht so ein großes Problem zu sein. Ich ertappte mich dabei, wie ich mich zu ihr hinüber lehnte, nur um seine Stimme zu hören. Gott, ich vermisste diesen Mann so sehr. „Gut, dann kommt doch später sicher Sean und danach auch Jamie vorbei, oder? So einfach werden dich die Anrufe meinerseits ja sicher nicht beruhigen.“ Er antwortete, doch sie lachte. „Dachte ich mir. Kein Problem. Wir sind prima angekommen und auch die Braut ist happy. Das Kleid passt und wir mussten nur wenige Pausen einlegen. Nicht so wie beim letzten Mal…“ Ich stupste ihr wütend in die Seite und sie warf mir einen kurzen Blick zu. „Okay, Taylor. Eine Minute gebe ich dir…“ Sie wartete nicht auf seine Antwort und reichte mir den Hörer. Ich spürte sofort, wie mein ganzes Gesicht von einem Lächeln erhellt wurde. „Hey“, seufzte ich. „Wow, hey. Alles okay bei dir?“ „Ja, die Nachrichten haben doch ein wenig geholfen.“ Er lachte leise: „Das freut mich.“ „Was tust du gerade? Sind die Jungs schon weg?“ „Ja, wir haben nur ein Spiel gesehen. Sie haben tatsächlich nicht auf mich gehört, als ich sie von der Hochzeit auslud. Sie werden dich also doch zu Gesicht bekommen.“ „Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nur dich sehen werde. Ist mir also vollkommen egal, wer da noch so rum sitzt.“ „Kriege ich das schriftlich?“ „Jederzeit. Haben sie viel Unordnung gemacht?“ „Lilly, das sind keine kleinen Kinder. Wir haben alles ordentlich hinterlassen.“ „Manchmal habe ich trotzdem das Gefühl, sie verhalten sich so.“ Wieder lachte er. „Was macht ihr jetzt?“ „Ich bin mir nicht ganz sicher, aber es riecht sehr lecker nach Kakao mit Marshmallows. Und wir werden sicher eine alte Schnulze sehen. Es soll ja eine Art Pyjamaparty werden.“ „Süße, ich sagte eine Minute. Die ist jetzt vorbei.“ „Du hast den Oberfeldwebel gehört…“, seufzte ich und wäre am liebsten durch den Hörer geklettert, um mich in seine Arme zu schmiegen. „Wir sehen uns morgen in der Kirche und dann lasse ich dich nie wieder weg.“ „Versprichst du es?“ „Ich schwöre. Schlaf gut, Schatz. Und sag auch unserem Kind, dass ich es sehr liebe.“ „Wir lieben dich auch. Träum schön!“ „Immer.“ „Und ewig.“ Dann legte ich auf und blickte meine Freundinnen an. Die wiederum betrachteten mich mit mitfühlenden Mienen und kamen dann gleichzeitig mit weit geöffneten Armen auf mich zu. „Eine Nacht, Lilly. Da bringen wir dich auch noch durch“, sagte Mia. „Okay.“ Ich ließ mich lange knuddeln, dann schlüpfte ich ebenfalls in meinen Schlafanzug und es wurde ein sehr lustiger Abend. Wir sahen ‚Pretty Woman‘, lachten viel, unterhielten uns, aßen Marshmallows und tranken den leckeren Kakao von Mrs. Simmons. Sean und Jamie heiterten jeweils für eine Viertelstunde die ganze Stimmung noch mehr mit ein paar witzigen Geschichten auf. Dann legten wir uns schlafen. Carly und ich kuschelten uns in ihr Bett, das die anderen uns freiwillig überließen. Kelly, Mia und Elli hatten es sich davor mit mehreren Decken und ihren Schlafsäcken gemütlich gemacht. „Egal, was du morgen für Wünsche hast“, wisperte Carly, „ich erfülle sie dir alle. Du musst sie nur äußern.“ „Ernsthaft?“ „Ja, vollkommen egal, wie verrückt sie zu sein scheinen.“ „Es war ein wundervoller Junggesellinnen-Abschied. Danke.“ „Das freut mich. Und jetzt schlaf. Du wolltest doch deinen Hochzeitstag wach erleben.“ „Aye aye, Ma‘m.“ Ich küsste sie auf die Wange, dann schliefen wir innerhalb weniger Minuten ein.

 

„Emmett Alexander Wood, erklärst du mir mal, was du da tust?“ Der soeben Angesprochene zuckte ein klein wenig zusammen. Reumütig dreinschauend wandte er sich zu mir um. „Ich habe nur versucht, Grams zu sehen.“ „Und das machst du hier draußen in dieser Kälte?“ Ich schlang meine Strickjacke fester um mich und schritt weiter auf den blonden Jungen zu, der neben der Schaukel auf dem gefrorenen Boden saß. „Hier kann ich es am besten. Keine Ahnung, wieso.“ „Aber du könntest dir wenigstens ein paar dickere Sachen anziehen.“ „Mom,…“ „Ja, ich weiß, dass du das aufgrund der Gene deines Vaters nicht brauchst. Aber wenn die Nachbarn dich so sehen, denken die noch ich hätte keine Ahnung von Kindererziehung.“ „Du bist die beste Mom der Welt“, grinste er - auch das verfluchte Lächeln seines Vaters - und blickte mich aus strahlend blauen Augen an. „Charmeur. Und trotzdem ziehst du dir was über, los.“ „Na gut“, er erhob sich und lief ergeben in Richtung Haus. „Hey, nicht so stürmisch, kleiner Mann!“ „Dad!“ Emmett klammerte sich an die Beine Taylors und der hob ihn auf seine Arme. „Wow, du wirst ja immer schwerer. Was gibt dir deine Mutter nur zu essen?“ „Dasselbe wie dir, Dad. Aber ich werde älter, da wird man auch größer und schwerer.“ „Ach, ich vermisse die Zeit, in der du noch nicht so viel wusstest und man dich mit solchen Dingen immer zum Lachen bringen konnte. Wie alt bist du noch gleich?“ „DAD!“ Taylor lachte laut auf. „Ist ja gut, ich weiß es doch.“ „Na?“ „Sechs. Du bist sechs, kleiner Mann.“ „Gut geraten“, erwiderte ich lächelnd und auch Emmett lachte, „jetzt lass ihn runter und sich was überziehen.“ Er tat es und unser Sohn lief schnurstracks ins Haus, um seine Jacke zu holen. „Was tust du bei der Kälte hier draußen?“, fragte Taylor und nahm mich fest in seine Arme. „Deinen Sohn daran erinnern, dass es Nachbarn gibt, die uns beim Jugendamt anschwärzen könnten, weil wir ihn bei solchen Temperaturen im T-Shirt im Garten auf dem gefrorenen Boden sitzen lassen.“ „Ja, er vergisst leider viel zu oft, dass andere bei diesen Graden frieren. Was hat er überhaupt auf dem Boden gemacht?“ „Er wollte meine Mutter sehen.“ „Kann er das denn schon so gut?“ „Ich habe es ihm vor einer Weile erklärt, weil er sie unbedingt selbst sehen wollte. Nicht nur auf Fotos. Er sagt, dass er es bei der Schaukel am besten kann.“ „Ein guter Punkt also.“ „Ja, wie bei mir bei deinem Vater zu Hause. Mir macht nur ein wenig Angst, wie weit es bei ihm schon in dem Alter ausgeprägt ist. Irgendwann wird er mehr können als ich und dann werde ich ihm keine Hilfe mehr sein.“ „Dann zeigt er dir etwas. Oder willst du es nicht weiter ausbauen?“ „Doch, aber als Mutter will man nicht von seinem Kind unterrichtet werden. Obwohl ich Mom auch Einiges erkläre, wenn ich sie sehe. Es ist komisch, dass sich das auf diese Weise wiederholt.“ „Genieß die Zeit, die du mit ihr verbringen kannst. Wenn das bei meiner Mutter auch funktionieren würde…“ „Ich weiß, Schatz. Ich wünschte, dass ich das für dich tun könnte, aber sie hat solch eine Fähigkeit nicht.“ „Allein für den Gedanken, bin ich dir doch schon dankbar. Aber im Moment solltest du dich nicht so anstrengen.“ „Aber es geht uns gut.“ Er strich über meinen Bauch, der langsam runder wurde und auch Außenstehenden von der zweiten Schwangerschaft verriet. „Auch meine Hebamme sagt, dass…“ „Deine Hebamme ist Carly, die würde dich immer bestätigen.“ „Das ist gar nicht wahr. Sie kann auch ziemlich streng sein.“ „Bei dir? Das bezweifle ich doch stark.“ Ich schubste ihn sachte und zog eine missmutige Schnute. Er lachte herzhaft. „Mom?“ „Ja, Spatz?“ Wir sahen beide zu Emmett, der auf der Veranda stand - in seine dicke Jacke gehüllt - und breit grinste. „Hast du es Dad schon gesagt?“ Seine blauen Augen betrachteten mich lange und eindringlich und ich wusste, was er meinte. „Du fragst, ob ich ihm schon gesagt habe, dass du eine kleine Schwester bekommst?“ Emmetts Grinsen wurde noch breiter und dann hob mich Taylor hoch. „Wirklich? Ein Mädchen?“ „Ja, ganz sicher.“ „Das ist wunderbar.“ „Freu dich nicht zu früh. Bei unseren verrückten Genen wird es ein Mädchen, dass friert wie ich und sich dennoch verwandelt wie du.“ „Na, und? Dann habe ich auch ein Kind, dem ich etwas beibringen kann. Ist doch super. Wir wollten immer einen Jungen und ein Mädchen.“ Ein paar Nachbarn kamen an unserem Grundstück vorbei und lächelten verschmitzt über das Bild, das wir abgaben. Ich glaube, sie wunderten sich schon lange nicht mehr über die Dinge, die wir taten. Taylor hob mich noch immer hoch und Emmett sprang fröhlich um uns herum. Und wenn ich daran dachte, dass wir auch noch eine Tochter dazu bekamen, konnte ich gar nicht anders und lachte mit ihnen.

 

Als ich erwachte, schlug ich die Hände vor den Mund, um nicht laut aufzulachen. Gott, in solchen Momenten liebte ich meine Gabe. Nicht nur, dass ich zwei Kinder haben würde, ich könnte auch meine Mutter sehen und mit ihr reden. Ich warf einen Blick auf Carly. Meine zukünftige Hebamme. Es passte so wunderbar zu ihr. Am liebsten hätte ich ihr von dem Traum erzählt, aber manchmal musste man den Menschen, die es betraf, die Möglichkeit geben, selbst ihre Entscheidungen zu treffen. Plötzlich klingelte ein Wecker und ich hörte, wie die anderen aufstöhnten. „Noch fünf Minuten“, klagte Mia und drehte sich geräuschvoll in ihrem Schlafsack herum. „Ich bin dafür“, stimmte ihr Kelly zu. Carly und Elli reagierten gar nicht erst. Deshalb drückte ich auf die Schlummertaste und stieg langsam aus dem Bett. Ich konnte nicht mehr liegen bleiben. So schlich ich ins Badezimmer, wusch mich und zog mir bequeme Sachen an. Dann machte ich mich auf den Weg in die Küche. Dort blickte mich ein verschlafener Mr. Simmons an, doch seine Miene hellte sich auf, als er mich richtig erkannte. Er sah anders aus als sonst bis mir auffiel, dass er seine Brille kurz abgesetzt hatte, um sie zu putzen. „Guten Morgen, Lilly. Konntest du nicht mehr schlafen?“ „Nein, ich freue mich einfach zu sehr auf den heutigen Tag. Und die Nacht war auch sehr erholsam. Ein gutes Bett und wundervoll geträumt.“ „Die anderen schlafen noch?“ „Ja, ich hoffe, wir haben nicht all zu viel Krach gemacht.“ „Nein, alles in Ordnung. Ich muss heute sehr früh ins Büro. Die Abrechnungen stehen an, dann kann ich morgen nämlich auf frei machen.“ „Oh, das ist natürlich schön. Aber Sie und Ihre Frau kommen doch heute Nachmittag zu uns?“ „Das hatten wir doch versprochen. Natürlich.“ „Schön.“ „Möchtest du einen Kaffee?“ „Eine kleine Tasse, gern. Danke.“ Er griff in den Schrank, zeigte mir die Tasse, ehe er sie füllte und reichte sie mir dann. Der Dampf stieg in meine Nase und ich genoss das Gefühl, das meine Fingerspitzen durchströmte. Mein Handy vibrierte - ich hatte es sicherheitshalber darauf umgestellt - und ich öffnete die Nachricht:

»Guten Morgen, meine Schöne. Hoffe, ich wecke dich nicht. Aber ich konnte einfach nicht mehr schlafen und sitze gerade mit Sean und Dad in der Küche und frühstücke. Sie erzählten mir, dass du sie darum gebeten hast, damit ich nicht allein bin. Danke dafür. An so etwas hatte ich gar nicht gedacht.

Irgendjemand sagte mir mal, dass man an seinem Hochzeitstag nervös wäre, aber ich bin nur voller Vorfreude auf dich. Hoffentlich vergeht die Zeit schnell.«

Auch ich fühlte keine Nervosität. Es war merkwürdig, aber vielleicht lag es daran, dass es für mich nur natürlich war Taylor zu heiraten. Niemand sonst würde dafür in Frage kommen und ich freute mich, dass es auch für ihn so war. Ich schrieb ihm, dass ich ohne die Mädels aufgestanden war, eine kleine Tasse Kaffee trank und mich mit Mr. Simmons unterhielt, weil der früh zum Büro musste. Dann erklärte ich ihm, dass auch ich nicht nervös war und mich ebenso sehr freute.

Mr. Simmons erhob sich dann, faltete die Zeitung zusammen und wünschte mir einen schönen Tag, als er sich auf den Weg zur Arbeit machte. Von oben hörte ich Geräusche, sodass es Carly und die anderen wohl doch aus dem Bett geschafft hatten. Nachdem sie gefrühstückt hatten, begann der Trubel. Jeder wollte sich fertig machen, doch für sie stand ich im Vordergrund. Auch Mrs. Simmons fasste mit an und half mir beim Kleid. Mia kümmerte sich um meine Haare, Carly um das Make-up und Kelly und Elli wurden dazu verdonnert, zu laufen, wenn jemand etwas brauchte. Dann war ich fertig und die anderen zogen sich um.

Carly trug ein hellgrünes Kleid, das ihr fantastisch stand und zu ihrem kastanienbraunen Haar passte. Elli hatte sich für ein dunkelblaues langes Kleid entschieden, das zu ihren blonden Haaren wundervoll aussah. Sie hatte es sich in Locken gedreht. Kelly hatte sich ein rotes Top gekauft, das sie mit einem schwarzen knielangen Rock kombinierte. Es war seit langer Zeit das erste Mal, dass ich sie mit offenen Haaren sah. Sonst trug sie immer einen Pferdeschwanz, aber heute umrahmte ihr langes schwarzes Haar ihr Gesicht und sie wirkte damit zarter. Mia trug ein roséfarbenes Kleid mit langen Ärmeln, die an den Gelenken etwas weiter ausfielen und sie wie eine Elfe wirken ließen. Ihr braunes Haar war kunstvoll hochgesteckt. Dann klingelte es an der Tür und Carly lief hin. Es war mein Vater, der uns zur Kirche fahren würde. Ich hoffte, er würde nicht all zu geschockt über den Anblick seiner Tochter im Hochzeitskleid sein. Ein letztes Mal betrachtete ich mich in dem mannshohen Spiegel und musste mir eingestehen, dass ich mich recht hübsch fand. Das Haar hatte ich mir wie in dem ersten Traum meiner Hochzeit machen lassen. Das Deckhaar hochgesteckt, der Rest offen in weichen Wellen über den Rücken fließend. Am Hinterkopf in Höhe der Ohren den Schleier, der wirklich gut zum Kleid passte. Dieses wiederum hatte schmale Träger aus feiner Spitze, die sich auch am Dekollete wiederfand. Der Stoff war weich und fließend - fest um meine Brust, darunter allerdings weit geschnitten, damit mein Bauch nicht zu groß darin wirkte. Ich wollte mich nicht in ein Kleid hineinzwängen müssen. Es reichte bis zum Boden und ich trug flache weiße Schuhe, weil ich nicht Gefahr laufen wollte, zu stürzen. Auf die Handschuhe hatte ich verzichtet. Dazu trug ich kleine silberne Ohrstecker und die Kette, die Taylor mir zu meinem Geburtstag geschenkt hatte. Damit hatte ich dann auch gleich etwas Blaues. Das Make-up war auf ein Minimum reduziert. Und doch wirkte ich strahlend. Mascara, Eyeliner, ein leichtes Puder, Rouge und Lippenstift. „Kommen Sie noch kurz rein, Mr. Connor. Wir sind sofort so weit. Ich muss nur noch meine Wechselsachen einpacken“, meinte nun Carly und ich blickte zum Flur. Sie hatten sich alle für weitere Sachen entschieden, um sich nach der Trauung umzuziehen. Es war schließlich kurz vor Weihnachten und eisig kalt. Und bei Taylor und mir Zuhause würden sie nicht in den guten Kleidern herumlaufen müssen. Bei der Trauung war es mir wichtig und für die Fotos danach, aber beim gemütlichen Zusammensein nicht mehr. „Oh, Lils…“, seufzte mein Vater, „du siehst wundervoll aus.“ „Danke, Dad.“ „Deine Mutter wäre furchtbar stolz.“ „Oh, fang nicht damit an. Sonst weine ich gleich los und dann muss Carly mit dem Make-up noch mal von vorne anfangen.“ „Tut mir leid, aber es ist so.“ Er kam ein paar Schritte näher und schloss mich dann vorsichtig in seine Arme. „Gut, das war es. Mehr Rührseligkeiten wirst du von mir nicht hören, hoffe ich.“ Ich lachte. Dann dankte ich Mrs. Simmons für die Gastfreundschaft und, dass sie es mit uns Mädels ausgehalten hatte. Sie lächelte und wünschte mir alles Gute. Und fünf Minuten später saßen wir alle in dem Mietwagen, den mein Vater Richtung Kirche steuerte.

 

Noch immer war er nicht nervös. Ganz im Gegensatz zu seinem Vater. Der schritt auf und ab, überprüfte immer wieder seinen Schlips und die seiner Söhne. Richtete die Einstecktücher bei Sean und sich und die einzelne weiße Rose in Taylors Knopfloch. „Dad, setz dich doch einen Moment“, versuchte er es diplomatisch, doch sein Vater schüttelte den Kopf und brummte irgendetwas von ‚so weit kommt es noch‘ oder so ähnlich. Es war viertel Elf und ihm graute vor der nächsten Viertelstunde, die sein Vater hier noch verbringen würde. Auf und ab laufend und alle ringsum nervös machend. Einige Gäste waren bereits da. Collin und ein paar Jungs aus dem Team; Jamie wartete vor der Kirche auf Mia; die Kumpels von Lillys Vater, die sie schon von klein auf kannte und später in der Bar bedient hatte waren ebenfalls da; Henry und seine Frau und auch Rosie war gekommen. Es fehlten nur noch die Mädchen und seine Lilly. Seine zukünftige Frau, die Mutter seines Kindes. Ganz egal, wie oft er sich das sagte, es fühlte sich noch immer wundervoll an. Sean warf einen Blick auf sein Handy und las die eben darauf eingegangene Nachricht. „Ein paar Minuten, dann sind sie hier“, wisperte er ihm zu. „Dann können wir pünktlich anfangen. Gut.“ „Noch immer keine Nervosität?“ Sein Bruder warf ihm einen anerkennenden Blick zu. „Nein, denn sie ist Alles, was ich will. Sie ist die Richtige, die Einzige.“ Sean klopfte ihm auf die Schulter und sagte: „Ich weiß!“ „Was?“ „Ihr ward sofort miteinander verbunden. Das haben auch Dad und ich gespürt. Vom ersten Tag an. Und so viel, wie sie mit dir durchgestanden hat, konnte es nur hierauf hinaus laufen. Auch wenn ihr natürlich ein schnelleres Tempo hingelegt habt, als andere gedacht hätten.“ Er lächelte und sparte sich darauf einen Kommentar. Sein Vater zupfte ein letztes Mal an seinem Schlips herum, dann ging Sean zum Eingang, um den Mädchen zu helfen. Nur noch wenige Augenblicke und er würde seine Lilly wieder in die Arme schließen können. Diese 24 Stunden hatten ihm nur all zu deutlich vor Augen geführt, wie sehr er sie liebte; wie schrecklich er sie vermisste, wenn sie nicht bei ihm war. Nur wenige Momente später fühlte er ihre Anwesenheit hinter den großen Türen, die den Kirchenraum vom Flur trennten. „Dad“, sagte er fest, „setz dich!“ Der große Mann tat, wie ihm geheißen worden war, dann kam Sean zurück - er quetschte sich durch einen schmalen Spalt in der Tür, damit niemand die Braut sah. Hinter ihm kamen Kelly, Elli und Mia mit Jamie hinein, um sich auf ihre Plätze zu begeben. Sie lächelten ihm zu und Jamie nickte breit grinsend. Collin machte freudig lächelnd Kelly einen Platz neben sich frei, die wiederum leicht rot wurde und sich dann dankend hinsetzte. So ist das also, dachte er. „Eine wunderschöne Braut hast du da“, wisperte Sean, als er sich auf den Platz des Trauzeugen stellte. Dann gab er der Orgelspielerin einen Hinweis und sie begann eine hübsche Melodie zu spielen. Carly trat durch den schmalen Spalt und schritt langsam auf den Altar zu. Sie zwinkerte seinem Bruder zu und lächelte dann auch ihn an. Ihre Augen funkelten und er wusste, dass sie sich für ihre Freundin und ihn freute. Gott, wie lange dauerte es noch bis die Türen vollständig aufgingen? Sean räusperte sich, die Gäste erhoben sich und dann wurden die Türen weit geöffnet. Der Hochzeitsmarsch wurde gespielt und Lilly, am Arm ihres Vaters, ging langsam auf ihn zu. Sie hatte nur Augen für ihn - wie versprochen -, er hörte ihr Herz laut und kräftig schlagen, fühlte ihr Blut in ihren Adern rauschen und sah dieses unglaublich strahlende Lächeln, das sie ihm schenkte. Ein Lächeln, das er für den Rest seines Lebens nicht mehr vergessen würde. „Die Einzige“, wisperte er erneut und Sean klopfte ihm ein weiteres Mal auf die Schulter. Ein Engel in einem weißen Kleid trat auf ihn zu. Der Schleier wehte hinter ihr her und verlieh ihr etwas Zauberhaftes.

 

Sean hatte mir - ganz der Gentleman - aus dem Wagen geholfen, dann den anderen Mädchen und nachdem er Carly ausreichend ‚begrüßt‘ hatte, wandte er sich wieder mir zu. Ich war gerade dabei mein Kleid zu richten. „Er ist nicht ein bisschen nervös und du wohl auch nicht.“ „Nein, denn er ist Alles, was ich will.“ Keine Ahnung wieso, aber er lachte herzhaft. „Was war so komisch?“ „Nichts, ich habe nur festgestellt, wie ähnlich ihr euch seid. Du siehst wundervoll aus. Taylor wird begeistert sein.“ „Wirklich?“ „Glaub mir, ich kenne ihn lange genug, um das zu wissen.“ „Danke.“ Und ich küsste ihn auf die Wange. Dann trat mein Vater an meine Seite, nachdem er das Auto geparkt hatte und führte mich ins Innere der Kirche. Kelly, Elli und Mia folgten Jamie und Sean in den Kirchenraum. Der Rest von uns wartete auf die einsetzende Musik. Carly reichte mir meinen Brautstrauß und zupfte ein letztes Mal an meinem Schleier herum. „Das wird dein Tag, Süße.“ „Vielen Dank, für alles. Ich habe dich so lieb. Es gibt keine Worte dafür.“ „Schwestern“, erinnerte sie mich. „Schwestern“, bestätigte ich ihr und sie drückte auch meinem Vater kurz die Hand, als eine fröhliche Melodie erklang und sie sich auf den Weg zum Altar machte. „Er ist der Richtige für dich“, raunte mein Vater und ich blickte zu ihm auf. „Dad?“ Er wandte mir sein Gesicht zu. „Das Versprechen hat er gehalten. Er hat mir gezeigt, wie sehr er dich liebt und dich beschützen kann. Und so wie du ihn immer ansiehst, hat auch deine Mutter mich angeblickt. Deshalb hätte ich auch nie eine Chance gehabt, mich zwischen euch zu stellen, wenn ich es denn gewollt hätte. Ich möchte nur, dass du glücklich bist. Und das schafft er.“ „Ich danke dir. Und ich habe dich so lieb, Dad. Mom ist bei uns, da bin ich mir sicher. Und nur mit euch hätte ich diesen Tag begehen wollen.“ Er holte tief Luft, drückte meinen Arm an sich und fragte dann: „Gut, bist du soweit?“ „Oh ja, schon lange.“ Der Hochzeitsmarsch wurde gespielt und die Türen weit geöffnet. Der Kirchenraum erstrahlte im sanften Licht der Kerzen und die Blumenbouquets sahen aus, wie die aus meinem Traum unserer Hochzeit. Und dann konnte ich einfach nur noch Taylor ansehen. Er stand aufrecht am Altar, lächelte und blickte mich an. Für mich zählte nur das: Wie er liebevoll lächelnd neben dem Pfarrer stand und blendend gut aussah in seinem Anzug. Sonst nahm ich keinen der Gäste mehr wahr. Es kam mir wie Stunden vor, die wir für den Weg zu ihm benötigten, doch dann küsste mich mein Vater auf die Wange und reichte mich an Taylor weiter. Ich übergab Carly meinen Strauß, dann griff er auch nach meiner anderen Hand und wir sahen einander einfach nur an. Und strahlten um die Wette. „Hey.“ „Hey.“ Ich seufzte. „Du siehst wunderschön aus“, wisperte er. „Danke. Dir steht der Anzug auch sehr gut.“ „Ich liebe dich.“ „Ich dich auch.“ Dann beugte er sich hinab und küsste mich kurz und sanft. Ein Räuspern ließ uns aufsehen. Der Pfarrer lächelte höflich, blickte uns aber mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Warten Sie doch, bitte, noch damit bis ich Sie getraut habe.“ Ich lachte verlegen und auch Taylor wirkte reumütig. „Entschuldigung.“ Die Gäste kicherten leise und wir wandten uns wieder einander zu. Der Pfarrer begann mit der Zeremonie und kam dann zu einem besonderen Teil: „Die beiden haben sich dafür entschieden, ein paar eigene Worte aneinander zu richten. Bitte, Lillian.“ Ich spürte, wie Taylor meine Hände fester umschloss und lächelte noch ein wenig breiter. „Carly war es, die mir vor einer Weile sagte, dass du mich hast zu mir selbst finden lassen. Und wie so oft hat sie einfach Recht. Irgendetwas fehlte mir immer, ich wusste nur nicht was. Dann begegnete ich dir, ich verliebte mich in dich und wusste, dass ich den Rest meines Lebens an deiner Seite verbringen will. Du hast mich komplett gemacht; du hast dafür gesorgt, dass ich mich an jedem Tag seit ich dich kenne, geborgen fühle und nicht mehr so viel Angst vor dem Leben habe. Weil du an meiner Seite bist, mich liebst, mich beschützt und mir mehr gibst, als ich je erwartet hätte je zu bekommen. Du hast mir gezeigt, dass es kein Verbrechen ist, Träume zu haben und sie zu leben. Ich verdanke es dir, dass ich endlich weiß, wer ich wirklich bin und wozu fähig. Du bist der einzige Mensch, der mich aus dem tiefen Loch ziehen konnte, in das ich vor einigen Jahren fiel. Ich werde Dein sein für immer. Du bist das fehlende Stück zu meinem Herzen. Du bist meine Familie. Du bist mein Zuhause. Hier gehöre ich her!“ Sein Lächeln war verschwunden, doch seine Augen blickten mich liebevoll an. Ich hatte sogar das Gefühl, dass er einen Kloß in seinem Hals zurückdrängte. „Taylor“, meinte nun der Pfarrer und deutete ihm, dass er an der Reihe wäre. „Ich glaube nicht, dass ich bei so einem Gelübde mithalten kann, aber ich versuche mein Glück...“ Sean lachte leise und ich hörte auch Carly kichern. Er verschränkte seine Finger mit den meinen und strich sanft mit seinen Daumen über meine Haut. „Erinnerst du dich an den Abend, an den Sonnenuntergang, als ich dir sagte, dass ich immer schon etwas gesucht habe?“ Ich nickte nur, um ihn nicht zu unterbrechen. „Und ich sagte dir auch, dass ich es in dir gefunden hätte. Aber eigentlich beschreibt es das nicht einmal ansatzweise. Vom ersten Tag an, als ich dir begegnete, wusste ich, dass ich zu dir gehöre. Dass mein Leben erst mit dir richtig beginnen würde. Ich habe nie an die Zukunft gedacht, es war mir immer egal. Aber du warst es, die in mir die Wünsche zum Vorschein brachte, die tief in meinem Herzen vergraben waren. Die ich nicht zu träumen wagte, aus Angst, dass das wirkliche Leben sie findet und zerstört, ehe ich sie wahrmachen kann. Du treibst mich an meine Grenzen; lässt mich Dinge sehen, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Du bringst mich zum Lachen; lässt mich manchmal verzweifeln und dann, mit nur einem Blick, machst du mich zum stärksten Mann der Welt. Ich könnte Bäume ausreißen oder die ganze Welt erobern, wenn du es dir wünschen würdest. Und ich wusste,… nur du konntest es sein, die all meine geheimen Wünsche auf einmal erfüllt.“ Ich schluckte schwer und dann griff er meine Worte auf: „Ich werde Dein sein für immer. Du bist meine Familie, mein Zuhause. Und hier gehöre ich her!“ Es herrschte Stille und dann endlich fand ich meine Stimme wieder und wischte ein paar Tränen fort: „Ich finde, du hast das sehr gut gemacht.“ Er setzte sein schiefes Lächeln auf. „Dann bitte ich um die Ringe“, fuhr der Pfarrer fort und Sean und Carly überreichten sie uns jeweils. „Bitte sprechen Sie mir nach: Ich, Lillian Elisabeth Connor…“ Taylor sah erstaunt auf. Bis heute hatte ich nie erwähnt, dass ich einen zweiten Vornamen hatte. Doch ich sprach dem Reverend unbeirrt nach: „Ich, Lillian Elisabeth Connor, nehme dich, Taylor Wood, zu meinem mir angetrauten Ehemann. Dich zu lieben und zu ehren, in Krankheit und Gesundheit, in Reichtum und Armut, in guten wie in schlechten Zeiten bis dass der Tod uns scheidet, das schwöre ich.“ Ich streifte ihm den Ring über den Finger und lächelte dann zu ihm auf. Dann wiederholte er die Worte des Geistlichen: „Ich, Taylor Wood, nehme dich, Lillian Elisabeth Connor, zu meiner mir angetrauten Ehefrau. Dich zu lieben und zu ehren, in Krankheit und Gesundheit, in Reichtum und Armut, in guten wie in schlechten Zeiten bis dass der Tod uns scheidet, das schwöre ich.“ Er nahm vorsichtig meine Hand und schob den Ring zu meinem Verlobungsring hinauf. „Was Gott vereint, soll der Mensch nicht trennen. Und so erkläre ich Sie, Kraft des mir verliehenen Amtes, zu Mann und Frau. Jetzt dürfen Sie die Braut küssen.“ Wieder lachten die Gäste und dann schlang Taylor seinen Arm um meine Hüfte und zog mein Gesicht mit seiner anderen Hand zu seinem Gesicht. Mein Herz zersprang fast vor Glück und schlug unglaublich schnell. Bis ich spürte, dass mir seines in gleicher Weise antwortete. Er empfand denselben Stolz, dasselbe Glück. „Ich liebe dich, Taylor.“ „Ich liebe dich auch.“ „Bitte begrüßen Sie mit mir, Mr. und Mrs. Taylor Wood“, sprach der Reverend und beglückwünschte uns als Erster. Er schickte uns Gottes Segen und entließ uns dann in die freudigen Arme unserer Familien und Freunde. Carly weinte, so wie auch meine anderen Freundinnen. Sean und Kenneth und mein Vater umarmten mich sanft nacheinander. Und auch der Rest der Gäste schloss sich fröhlich an. Dann löste sich die Gruppe auf, jeder stieg in seinen Wagen - wir beide allen voran - und man machte sich auf den Weg zu unserem Haus.

 

Er fuhr nur ein kleines Stück, dann hielt er rechts am Straßenrand und schnallte sich ab. „Ist bei dir alles in Ordnung?“, fragte er und berührte sanft ihre Wange, um die Tränen fortzuwischen, die unaufhaltsam aus ihren Augen drangen. „Ja, ich…“, sie schluchzte und gab sich dann Mühe, es in Worte zu fassen, „All deine Wünsche auf einmal?“ „Ja.“ „Ich?“ Er nickte: „Du!“ Dann lehnte er sich zu ihr hinüber und küsste sie zärtlich. „Wieso hast du mir das nie erzählt?“ „Weil es mir selbst erst vor Kurzem bewusst geworden ist. Ich dachte immer, ich hätte keine Wünsche und Träume. Wie gesagt, sie waren tief vergraben und du hast sie hervorgeholt.“ „Deine Worte waren so wundervoll. Und hätte ich mir selbst nicht geschworen, die Tränen solange zurückzuhalten bis wir alleine sind, hätte ich schon in der Kirche völlig die Fassung verloren.“ Irgendwie erfüllte ihn das mit Stolz, doch das sagte er ihr nicht. „Meinst du, wir können weiter fahren?“, fragte er stattdessen. „Ja, ich denke, ich habe mich bis Zuhause beruhigt. Nur ein Kuss noch!“ „Jederzeit, Elisabeth.“ Erneut beugte er sich zu ihr und küsste sie. Sie lachte und wischte noch einmal die Tränen fort. „Ich habe gesehen, wie überrascht du warst.“ „Du hast nie etwas gesagt… Aber ich liebe deinen Namen.“ „Du meinst: Lillian Elisabeth Wood?“ „Oh, ja.“ Erneut lachte sie und er griff nach ihrer Hand, während er das Auto wieder in den Verkehr lenkte.

 

Zuhause dann begrüßten uns alle Gäste - auch die Familie Simmons war komplett anwesend - mit Reis. Die Nachbarn traten aus ihren Häusern und riefen uns ebenfalls Glückwünsche zu. Manch eine Familie kam kurz hinüber, um kleine Geschenke zu überreichen und sich dann gleich wieder in ihr Haus zu begeben. Drinnen wurde ich erneut überrascht. „Hast du deinen gestrigen Tag etwa so verbracht?“, fragte ich erstaunt und griff nach seiner Hand. Im Haus war alles so umgestellt worden, dass ein langer Tisch als Tafel gedeckt und ein gewisser Platz zum Tanzen frei war. Sean schlüpfte an uns vorbei und drückte die Anlage an, aus der leise Musik spielte. Überall waren Blumen verteilt und der Kamin wurde gerade durch Kenneth angefeuert. Kleine Tischkärtchen wiesen den Gästen ihre Plätze und ich strich vorsichtig über das meine. „Mrs. Lillian Wood“, hauchte ich und wandte mich zu ihm um. Ein breites Lächeln zierte mein Gesicht und er grinste zurück. „Du bist der beste Ehemann aller Zeiten.“ „Das will ich schriftlich.“ Ich lachte und zog ihn für einen Kuss an mich. Carly und die Mädels johlten und auch Rosie stimmte mit ein. „Ehe wir uns alle setzen, würde ich gern ein paar Hochzeitsbilder machen. Carly, ihr wollt euch doch sicher erst danach umziehen?“, fragte Kenneth und hielt so meine vier Freundinnen davon ab, ins obere Stockwerk zu verschwinden. Neben dem Kamin war genug Platz, sodass sich jede Gruppe mit uns fotografieren lassen konnte. Danach bat mein Schwiegervater uns kurz nach draußen. „Es ist wundervolles Wetter und ich werde mich beeilen, damit du nicht all zu schnell frierst, ja?“, fragte er, doch Taylor schlang seine Arme um mich und ich meinte: „Mit diesem Mann werde ich nie wieder frieren.“ Die beiden lachten und wir verzogen uns schnell nach draußen. Ein paar Fotos später kehrten wir ins Haus zurück und die Stimmung war noch immer so fröhlich.

„Wenn ich dann das Brautpaar zum ersten gemeinsamen Tanz bitten dürfte“, flötete Sean und ich erntete einen anzüglichen Blick meines Schwagers. „Geht es dir gut?“, fragte Taylor und ich griff sofort nach seiner Hand. „Oh ja, dem zeigen wir es.“ „Na schön…“ „Hey, ein bisschen mehr Begeisterung, wenn ich bitten darf.“ „Hurra!“ „Geht doch. Was nehmen wir?“ „Lass dich überraschen.“ „Was hast du eigentlich nicht geplant?“ Er hob seine Schultern fast bis an die Ohren und setzte eine Unschuldsmiene auf. Mir schwante, dass mein Leben nie wieder langweilig werden würde. Die ersten Töne des Songs erklangen und ich blickte wehmütig zu ihm auf. „Ich liebe dieses Lied“, hauchte ich und er nickte. „Dabei hatte ich ein wenig Hilfe.“ Carly lächelte auf, als ich sie ansah. Es war der Song „Make it to me“ von Sam Smith. Ein langsames Lied, das perfekt zu uns passte. Taylors Hand lag auf meiner Hüfte, die andere hielt meine Hand. Ich lehnte meinen Kopf an seine Brust und bekam längst nicht mehr mit, dass Kenneth auch jetzt Fotos von uns machte. Alles um uns herum blendete ich aus und verlor mich in dem Gefühl der Geborgenheit. Dann begann der Refrain und ich bewegte stumm meine Lippen mit, während ich Taylor ansah: You’re the one designed for me. A distant stranger that I will complete. I know you’re out there we’re meant to be. So keep your head up and make it to me. And make it to me. „Ich lasse dich nie wieder gehen”, antwortete er leise. „Und ich werde dich bis ans Ende meiner Tage nicht verlassen.“ Das Lied endete und wir küssten uns. „Na, ich würde mal sagen, das hat mein kleiner Bruder doch ganz gut hingekriegt. Das hatte ich nicht erwartet“, verkündete Sean und erntete ein paar Lacher. Mein Vater stand plötzlich neben uns und hielt mir seine Hand hin. „Darf ich?“ „Oh, ich bitte darum. Du entschuldigst mich?“ Taylor verneigte sich leicht und bat dann Carly um den nächsten Tanz. Das Essen war wunderbar. Rosie hatte auch eine grandiose Torte beigesteuert, die wir gemeinsam anschnitten und dann an alle verteilten. Wir tanzten und lachten und ich genoss diesen Tag in vollen Zügen. Es würde in einigen Monaten noch stressig genug werden.

Abends fielen wir erschöpft ins Bett und nie hatte ich mich glücklicher gefühlt. Doch dann erinnerte ich mich an einen Eintrag meiner Mutter. „Oh, ehe wir das Licht ausmachen, muss ich noch einen Brief meiner Mutter lesen. Ist das okay?“ „Aber sicher. Möchtest du das alleine machen?“ „Nein, bleib ruhig. Ich weiß nicht, wie emotional das wird. Ich hätte dich gern dabei.“ Ich huschte schnell zum Schreibtisch hinüber, öffnete das Tagebuch und schlug die letzte Seite auf. Dahinter war ein Einsteckfach mit mehreren Briefen, auf denen unter anderem stand: Dein Hochzeitstag, Die Geburt deines 1. Kindes, Dein 21. Geburtstag, Die Einschulung meines Enkelkindes, und dutzende mehr. Ich griff mir den ersten und schlüpfte dann wieder zu Taylor unter die Decke. Er wickelte mich fest ein, dann lehnte ich mich an seine Schulter, atmete tief durch und öffnete den Brief, während er eines seiner Bücher zur Hand nahm.

 

»Mein wundervoller Engel,

zu allererst möchte ich mich vielmals dafür entschuldigen, dass ich an diesem großartigen, für jedes Mädchen, so wichtigen Tag nicht ganz bei dir war. Du ahnst nicht, wie sehr es mich schmerzt nur auf diese eine Art dabei zu sein und dir nicht die Hand halten zu können, dir keine Ratschläge zu geben und keinen Tanz mit deinem Ehemann wahrzunehmen. (Seien wir ehrlich, irgendwie muss ich ihn ja unter die Lupe nehmen.) Aber sei dir gewiss, ich war da. Ich habe geweint bei euren Worten, gelacht als ihr euch die Ringe angesteckt habt und mich darüber gefreut, dass es diesen einen Menschen für dich gibt, der dich bedingungslos liebt. Und dessen Liebe du auf dieselbe Weise erwiderst. Ich weiß nicht, ob er diese Zeilen auch von dir vorgelesen bekommt, daher richte ihm bitte aus, dass ich sehr stolz bin, einen solchen Schwiegersohn in der Familie willkommen zu heißen und er mehr als das Recht besitzt, dich Sein zu nennen. Und sag ihm, dass dein Vater ihn ebenfalls sehr gern hat und von Anfang an wusste, dass ihr füreinander bestimmt ward. Er wird es ihm sicher nicht direkt sagen. Du kennst ihn ja.

So. Nun bist du also eine Ehefrau. Eigentlich habe ich keine wirklichen Ratschläge für dich. Du kannst bereits wunderbar kochen, bist klug und scheust dich nicht davor mit anzupacken, wenn es deiner Hilfe bedarf. Aber eines will ich dir unbedingt mit auf den Weg geben. Etwas, das nicht nur für dich als Ehefrau gilt: Stell deine Wünsche nicht immer hinten an. Glaub mir, seine Sehnsüchte zu verschweigen und sein Leben nicht so zu leben, wie man es will, raubt einem Kraft. Ich sage nicht, dass man egoistisch sein soll und alles andere aus den Augen verlieren darf, aber ab und an mal sich selbst wichtig zu nehmen und andere um Hilfe zu bitten, ist keine Schwäche und kein Fehler. Man verliert viel mehr, wenn man schweigt. Als ich jünger war, habe ich das viel zu oft getan. Erst als ich deinem Vater begegnete und er mir half, zu mir selbst zu finden, war ich lebendig. Das ist auch etwas, das wir beide teilen. Manchmal sehe ich so viel von mir in dir, dass es mich wahrhaftig umhaut. Während ich diesen Brief schreibe, bist du zehn Jahre alt und kommst so sehr nach mir, dass dein Vater mich schon damit aufzieht, wir hätten eine zweite Grace im Haus. Das ist nicht immer nur als Kompliment gemeint. Deshalb bitte ich dich aus tiefstem Herzen, folge nicht immer deinem Kopf. Ich kenne dich, weil ich mich kenne. Mein Herz war oft anderer Meinung, aber ich habe Einiges nach meinem Sturkopf entschieden. Verrenne dich nicht und hör auf dein Gefühl. Es mag zunächst nicht immer richtig erscheinen, vielleicht geht manchmal auch etwas schief, aber am Ende ist jede von diesen Entscheidungen mehr wert als die deines Kopfes. Das wahre Leben verläuft nie nach Plan. Wäre das der Fall, glaub mir, wäre es für uns alle mehr als langweilig.

 

Zu guter Letzt kann ich dir nur noch sagen, wie stolz und glücklich ich bin deine Mutter zu sein. Du bist ein wundervoller Mensch mit Verstand und Güte. Und einem mehr als großen Herzen. Ich wollte dich nie enttäuschen und hoffe, du verstehst eines Tages, warum ich meine letzte Entscheidung traf. Begreifst, dass es eine mit dem Herzen war. Aber jetzt, wo du deine eigene Familie hast, bin ich mir eigentlich recht sicher, dass es dir klar ist. Ich liebe dich so sehr und wünsche euch nur das Beste. Alles Gute zu eurer Hochzeit!

 

In Liebe

Mom«

 

Ich wusste nicht genau, was ich in diesem Moment fühlte, doch Taylor zog mich noch ein wenig fester an sich, während er weiterhin sein Buch las. Er musste gespürt haben, was in mir vor sich ging, doch Tränen rannen nicht über mein Gesicht. Sie war dabei gewesen, das wusste ich. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie lachen zu hören oder hatte ihre Finger nah meines Armes und meines Gesichtes wahrgenommen. Doch jetzt zu lesen, dass es tatsächlich so gewesen war… Diese Gabe war mehr als ich mir überhaupt je vorgestellt hatte. Endlich verstand ich, was Taylor damit meinte, es sei für Außenstehende ‚gruselig‘. „Ich möchte, dass du den Brief liest. Es muss nicht jetzt sein, wenn du nicht möchtest, aber irgendwann vielleicht“, sagte ich leise und blickte zu meinem Mann auf. Er erwiderte meinen Blick und erkannte, wie ernst es mir war. Langsam legte er sein Buch auf seinen Nachttisch zurück und bot mir seine Hand, in die ich das Blatt Papier legte. Ich konnte ihn nicht dabei ansehen, während er die Zeilen meiner Mutter las, doch ich spürte, wie seine Haltung sich veränderte. Er war nicht ängstlich oder bestürzt, sondern… ehrfürchtig. Ja, vielleicht war es das. Seine Hand lag noch immer an meiner Hüfte, das Baby strampelte in meinem Bauch und ich strich sanft über die Kugel. Augenblicklich besänftigte das unser Kind und mich überkam eine tiefe Ruhe. Alles schien mir unglaublich logisch. Natürlich waren mir noch nicht alle Einzelheiten über diese Fähigkeit klar. Da waren immer noch genügend ungeklärte Fragen, aber langsam fügte sich alles zusammen. „Es wäre mir eine Ehre gewesen, sie kennen zu lernen“, sagte Taylor, nachdem er mir den Brief zurückgegeben hatte und ich ihn wieder in dem Umschlag verstaute. „Sie hätte dich sehr gemocht. Ich bin mir sicher, ihr hättet euch wunderbar verstanden.“ Er küsste mich sanft und legte seine linke Hand auf meinen Bauch. Eine Weile noch lagen wir so einander in den Armen und irgendwann übermannte mich dann der Schlaf.



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Kommentare zu dieser Fanfic (6)

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Von:  _Melli_
2016-10-10T12:25:38+00:00 10.10.2016 14:25
Wirklich schön geschrieben!
Taylor und sie passt so gut zusammen! '*-* <3
Hoffe auf mehr!!

Sie- Die Protagonistin {Den Namen vergess'n} ^^'

Mfg. Mel ~

Von:  Vegetasan
2016-06-21T20:39:50+00:00 21.06.2016 22:39
Puh ich hab zwischen durch echt nen Schreck bekommen, als ich das mit dem Fenster und so gelesen hatte.
Schön das alles gut gegangen ist.
Freue mich auf das nächste Kapitel
Von:  Vegetasan
2016-06-19T22:48:54+00:00 20.06.2016 00:48
Ah endlich ein neues Kapitel, ich hab schon Fieberhaft drauf gewartet.
Schön das die beiden wieder zusammen gekommen sind und der Vater einverstanden ist.
Die Reaktion von Carly auf das Geheimnis der Woods hätte ich gerne gelesen.

Freu mich schon auf das nächste Kapitel.
Antwort von:  Kaname-chan
20.06.2016 19:09
Vielen Dank für deine Kommentare. Freue mich darüber!
Hatte zuerst überlegt, ob ich ihre Reaktion reinnehme, aber irgendwie fehlte mir die zündende Idee, wie genau Sean es ihr sagt oder sie es herausfindet. Wollte schließlich nicht das Gleiche nehmen wie bei den Hauptcharakteren. Vielleicht bearbeite ich das Kapitel ja irgendwann noch mal.
Von:  TheBlackRaven
2016-05-31T19:59:07+00:00 31.05.2016 21:59
Wow, ich bin vor ein paar Tagen über deine Geschichte gestolpert und ich muss sagen: Sie lenkt mich ganz schön von der Arbeit ab :-D
Super spannend und ich-kann-nicht-warten-bis-es-weitergeht >.<
Und ich liebe es, dass die Kapitel so schön lang sind und nicht nach zehn Minuten schon wieder vorbei *.*
Ich freue mich schon auf das nächste Kapitel ^.^
Von:  Caelifer
2016-05-30T09:44:57+00:00 30.05.2016 11:44
Ich finde die Geschichte richtig fesselnd und spannend.
Nach jedem neuen Kapitel freu mich umso mehr aufs nächste. ^^

freu mich schon auf das 6 Kapitel *_*
Von:  Vegetasan
2016-05-28T06:14:03+00:00 28.05.2016 08:14
Bisher eine sehr schöne, spannende und interessante Geschichte.
Das mit den Tagebucheinträgen war anfangs etwas verwirrend, hat sich aber mit der Zeit selbst erklärt, denke ich.

Ich hoffe auf ein baldiges neues Kapitel.


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