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Schwarzer Komet

Drachengesang und Sternentanz - Teil 1
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Wuza!
Das war ein langer Weg bis zu diesem Upload hier! Angefangen habe ich mit dieser Fanfiction bereits im April, aber sie ist noch lange nicht abgeschlossen. Allerdings bin ich zuversichtlich, dass ich jetzt genug vorgearbeitet habe, um bis Ende des Jahres oder womöglich auch noch länger, mit einem wöchentlichen Upload dienen zu können.

Insofern wünsche ich einfach mal viel Spaß! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Und schon ist eine Woche um!

Dieses Kapitel hier macht einen Zeitsprung und läutet damit eine längere Episode aus insgesamt 14 Kapiteln ein, die erzählen, was vor dem Prolog passiert ist. Gleichzeitig gehört dieses Kapitel zu einer siebenteiligen Reihe von Kapiteln, die die Hauptcharaktere vorstellen sollen. Das nur mal zur Warnung.

Viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ein wenig verspätet, weil ich die Woche dann irgendwie nicht dazu gekommen bin, das Kapitel vorzubereiten, aber noch rechtzeitig!

Dieses Kapitel gehört wieder zu den sieben "Hauptcharakter-Kapiteln" und stellte Romeo und Wendy vor. Ich bin total vernarrt in die Beiden XD

Viel Spaß beim Lesen!^^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Kapitel hat mich echt einige Nerven gekostet! Und irgendwie habe ich immer noch das Gefühl, dass es dem, was ich eigentlich aussagen wollte, nicht wirklich gerecht geworden ist. Dabei liegen mir die Eismenschen echt am Herzen :(

Ich hoffe, es hat dennoch jemand Spaß am Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Es tut mir furchtbar Leid, aber ich habe das Wochenende in Linum verbracht und das Internet dort funktioniert nicht (mehr), daher konnte ich das Kapitel leider nicht pünktlich hochladen >_<

Aber dafür ist es extralang und obendrein ist es ein echtes Meisterstück *stolz wie bolle*

Viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Herrje! Lange hat es mit dem wöchentlichen Upload ja nicht angehalten!
Es hat letzte Woche einfach hinten und vorne nicht gepasst mit der Zeit. Tut mir echt Leid!

Ich kann auch nicht versprechen, dass das nächste Kapitel auch schon nächste Woche online kommen wird. Die Kranichsaison hat mich noch immer fest im Griff und bei der Arbeit häuft sich auch vieles an. Eventuell werde ich also doch auf einen zweiwöchentlichen Uploadrhythmus umsteigen.

Dennoch viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Tja, es lässt sich nicht ändern: Ich muss auf einen zweiwöchigen Rhythmus umsteigen. Bei mir ist so viel los und das wird auch mit dem Ende der Kranichsaison kaum abnehmen. Da will ich mich, ehrlich gesagt, nicht damit abhetzen, jede Woche ein Kapitel abzutippen und hochzuladen. Dadurch würde mir zu viel Zeit für andere spannende Projekte verloren gehen.

Mit diesem Kapitel hier ist die Reihe der "Vorstellungskapitel" beinahe abgeschlossen. Es kommen jetzt erst einmal zwei "normale" Kapitel, ehe das letzte "Vorstellungskapitel" kommt.

Ich wünsche viel Spaß beim Lesen!^^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Uff, jetzt wird es kompliziert, liebe Leute! Bis ich die Handlungsstränge jetzt alle bei der Opferung zusammen kriege, wird es jetzt immer wieder zeitliche Sprünge geben. Weil halt *drop*
Deshalb greife ich momentan auch noch zum Hilfsmittel der Zeitangaben vor jeder Szene^^'
Egal, ich hoffe, ihr habt Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Himmel, hat mir dieses Kapitel Kopfzerbrechen bereitet! Ich war zuerst furchtbar unzufrieden damit und irgendwie habe ich das Gefühl, dass es immer noch etwas holprig ist, aber besser kriege ich es jetzt echt nicht mehr hin, sorry.

Dennoch viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
So, und hiermit das letzte Vorstellungskapitel! Natsu brauchte einfach unbedingt noch einen eigenen Flashback, das war mir wirklich sehr wichtig!

Viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hiermit melde ich mich mit dem letzten Kapitel für dieses Jahr bei euch!
Aber keine Sorge, in zwei Wochen wird es nahtlos weiter gehen, ich habe handschriftlich noch 15 Kapitel in Reserve (wahrscheinlich sogar mehr, denn es gibt da ein paar kritische Punkte, bei denen ich Szenen vielleicht eilen werde). Der SK wird also noch geraume Zeit ein regelmäßiges Projekt bleiben - ich hoffe, dass er das sogar noch das gesamte Jahr 2017 bleiben wird!

An diesem Kapitel hier habe ich viel herum gedoktort. Die erste Szene ist nur ein kleiner Zwischeneinschub, um Levy nicht später ganz plötzlich in Malba auftauchen zu lassen. Um sie dennoch gehaltvoller zu gestalten, gab es ein paar historische Exkursionen - wobei ich da immer noch nur an der Oberfläche gekratzt habe, es gibt wirklich mordsmäßig viel Hintergrundstory für dieses Projekt!
Bei der zweiten Szene kommen die Dinge bei Lucy allmählich so richtig ins Rollen.

Viele Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Frohes Neues euch allen!
Ich hoffe, ihr seid sicher rein gerutscht und hattet einen schönen Jahresbeginn. Über meinen kann ich mich - insbesondere schreibtechnisch - absolut nicht beklagen. Wenn es jemanden interessiert, schaut mal bei meinen FanFics nach, da ist etwas neues dazu gekommen. Und keine Sorge: Das bedeutet nicht, dass es hier langsamer voran geht. Ich habe nach wie vor genug Kapitel auf Vorrat, um bis in die zweite Jahreshälfte hinein beim Zwei-Wochen-Takt zu bleiben. Und der Nachschub kommt beständig, da ich weiterhin fleißig während meiner Bahnfahrten schreibe.

Wie dem auch sei - viel Spaß beim Lesen!^^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Beinahe hatte ich befürchten müssen, das Kapitel gar nicht rechtzeitig hochladen zu können, weil ich diese Woche massive Internetprobleme hatte. Zum Glück hat es sich heute/gestern dann doch eingerenkt und ich kann euch das hier präsentieren!

Viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Diese Woche hatte ich nen echten Lauf! Ich konnte nicht nur dieses Kapitel hier ganz bequem abtippen und mehrfach überarbeiten - und zu überarbeiten gab es da in der Tat viel, insbesondere an der zweiten Szene habe ich viel herumgedoktort^^' -, sondern auch zwei Kapitel für ein Prequel zum Schwarzen Kometen schreiben. Besagtes Prequel dreht sich allein um die Ereignisse in der Stillen Wüste, behandelt also nur einen kleinen Teil des Großen Ganzen. Dennoch ist das Prequel recht umfangreich. Dementsprechend froh bin ich, dort voran zu kommen, denn ich hege die Hoffnung, dieses Prequel vielleicht schon Ende des Jahres hochzuladen!

Wie dem auch sei, viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Endlich geschafft! Was habe ich nicht an diesem Kapitel herum gedoktort! Die handschriftliche Version ist schauerlich, das kann ich euch sagen >__<

Jedenfalls sind wir jetzt am Tag der Opferung angelangt und die Handlungsstränge verdichten sich. Es hat mich lange Zeit ins Grübeln gebracht, wie ich das alles vernünftig hinkriegen soll, aber mittlerweile bin ich sehr zufrieden damit!

Mit diesem Kapitel enden übrigens auch die Zeitangaben vor jedem Kapitel und mit dem nächsten Kapitel ist auch der erste Teil der Fic abgeschlossen - was allerdings nicht heißt, dass es zu irgendeiner Pause kommen wird, keine Sorge!

Genug geredet!
Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und bedanke mich im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Uff! Dieses Kapitel war so extrem grottig in der handschriftlichen Variante. Viel zu viele Charaktere auf einem Haufen! Viel zu viel Vorstellungsbedarf. Wie gut, dass ich ersteres schon in den nächsten Kapitel ein bisschen eindämmen kann, während ich mich an zweiterem mehr oder minder vorbei mogel^^'
*hüstel*
Na ja, ich denke mal, ich habe die Schwächen der Rohfassung so halbwegs ausgebügelt >_>

Damit sind auch die Fäden endlich zusammen gelaufen und von nun an geht es in der großen Gruppe weiter - und im Grunde fängt die ganze Story jetzt erst so richtig an :D

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Kapitel ist leider mit einer Woche Verspätung online gekommen, weil es mir letzten Sonntag echt dreckig ging. Eine Nierenbeckenentzündung ist echt ne beschissene Sache, kann ich niemandem empfehlen!

Dafür ist das Kapitel ziemlich lang geworden - obwohl gar nicht so wirklich viel passiert. Es gibt nur ziemlich viele Erklärungen und ein bisschen Bonding. Mit dem Ende bin ich nicht so hundertpro zufrieden, das war echt bockig und irgendwann habe ich dann doch aufgegeben, weil ich keinen Plan mehr hatte, was ich noch ändern sollte >_>

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Obwohl in diesem Kapitel eigentlich gar nicht wirklich etwas passiert, bin ich irgendwie dennoch ziemlich stolz darauf. Ich mag es sehr. Schon allein wegen der wahnsinnig vielen Andeutungen - denn Teufel noch eins, diese Story hat soooooooooooooooooo viel Hintergrundstory! Ich liebe es einfach! *~*

Die nächsten beiden Kapitel werden sich auch noch vorrangig auf Lucy konzentrieren. Danach wird der zweite Teil der Geschichte eingeleitet!

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich glaube, ich komme jetzt an einen Punkt in der Story, ab dem die Kapitel nur immer länger werden. Wenn ich so durch die Notizen für die nächsten Kapitel blättere und bedenke, wie viel ich da teilweise noch ergänzen muss... Na ja, ich hoffe mal, dass es niemanden stört?^^'

Nachdem im letzten Kapitel Natsus Sicht auf Lucy dargestellt wurde, musste in dieses Kapitel natürlich ein Lucy-PoV rein. Dafür hat sich sogar ein kleiner Flashback eingemogelt - Judes einziger Auftritt in der gesamten Story^^'
Und wieder gibt es viele Andeutungen und auch einige Vorverweise auf zukünftige Ereignisse. Insbesondere die letzten beiden Szenen enthalten diesbezüglich einige wichtige Dinge.

Capricorn hat es mir irgendwie etwas schwierig gemacht. Wenn er "Herrin Lucy" sagt, passt das irgendwie, aber mir ist ums Verrecken nichts Besseres als "Herr Natsu" eingefallen. Was bin ich froh, dass Capricorn nicht so viele Auftritte hat - obwohl ich ihn ja wirklich mag >.<

Der erwähnte Meister Aquila ist übrigens nur erfunden - eine Anlehnung an das Sternbild des Adlers. Ist überhaupt nicht weiter wichtig, ich wollte nur einfach nicht schon wieder eine Heartfilia dafür herhalten lassen müssen^^'

Im nächsten Kapitel gibt es ein paar Infos zu den Drachen und ein paar wichtige Bonding-Momente. Auf die freue ich mich schon wie blöde :D

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Puh! Obwohl ich dieses Kapitel so früh abgetippt hatte, war es dann doch irgendwie eine schwere Geburt, es für den Upload fertig zu kriegen. Es war schon in der Rohfassung ziemlich lang, aber beim Überarbeiten kamen noch so viele Kleinigkeiten dazu und so ist das Ganze zu einem der längsten Kapitel bisher geworden^^'

Es ist vor allem in Sachen Bonding ein wichtiger Schritt und enthält wieder einmal einige Informationen. Und schon wieder gluckt die große Gruppe aufeinander, aber ich muss sagen, dass ich dieses Mal zufriedener bin als bei der Szene in Malba. Allgemein mag ich das Kapitel sehr und bin recht zufrieden damit. Nur beim Anfang habe ich das Gefühl, dass er etwas holprig ist.

Übrigens weiß ich sehr wohl, dass Sternheim immer noch nicht richtig beschrieben worden ist, aber irgendwie hat sich dafür einfach keine recht Gelegenheit geboten. Sorry?^^'
Das wird wohl noch ein Weilchen dauern, bis ich dazu komme, denn das nächste Kapitel läutet dann den Aufbruch von Heartfilia ein und schließt dann auch den ersten Teil der Geschichte ab.

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich habe ehrlich nicht gedacht, dass ausgerechnet dieses Zwischenkapitel so ewig lang werden würde, aber irgendwie... hat sich das so ergeben?^^'
Ursprünglich war die zweite Szene gar nicht geplant. Die habe ich in den letzten beiden Tagen noch komplett schreiben müssen, weil mir die Idee dafür erst kam, als ich handschriftlich schon weiter war. Auch bei den nächsten beiden Kapitel werde ich noch einiges überarbeiten/hinzufügen müssen, aber ich bin letztendlich sehr zufrieden mit dieser Fügung ^^b

In diesem Kapitel gibt es so einige wichtige Sachen. Zunächst einmal geht jetzt die Reise für Natsu & Co. los - und wird sich nun über die nächsten ca. 80 Kapitel ziehen. Ohne gleich zu viel zu verraten, kann ich schon mal versprechen, dass es während dieser Reise so einige Wendungen geben wird. Es wird viel Bonding geben, viele Krisen - ein paar davon sind ja bereits angedeutet oder sogar explizit vorbereitet worden - und viele Abenteuer und Gefahren, aber auch einige ruhige oder auch mal feierliche Momente. Die letzten 20 Kapitel dienten in gewisser Weise wirklich dazu, überhaupt erst einmal diese Gruppe zusammen zu kriegen und jetzt geht die eigentliche Story los! (Boah, wie das klingt, wenn man bedenkt, dass viele andere Fics mit 20 Kapitel schon fertig sind ID")

Die zweite Szene ist die reinste Namenparade. Habe ich schon mal erwähnt, dass ich beinahe ALLE FT-Charaktere in dieser Fic verbraten habe? *hüstel* Etwa auf halber Strecke habe ich deshalb auch beschlossen, das Ende für die Szene früher anzusetzen. Ansonsten wären ernsthaft noch mehr Charaktere aufgetaucht oder erwähnt worden. Auch so sind es schon ziemlich viele und die meisten davon werden jetzt eeeeeeewig lange gar nicht mehr auftauchen. Viele von ihnen werden sogar erst in der Fortsetzungs-Fic mal eine etwas wichtigere Rolle spielen, um ehrlich zu sein^^'

Um Fragen zuvor zu kommen: JA, ich shippe Eve und Chelia. Weil halt *shrug*
Falls jemand über das Wort Base stolpert: Cousine/Kusine klang mir irgendwie zu modern. Beim zweiten oder dritten Mal ist mir auch aufgefallen, dass ein Chemiker womöglich auch aus ganz anderen Gründen dabei ins Stolpern geraten könnte. Aber ich habe es dann so belassen^^'

Sorry an alle, die Pyxis vielleicht mögen und es mir übel nehmen, dass ich aus ihn/ihr ein Schiff gemacht habe.
Und ich habe ernsthaft mit dem Taschenrechner, einer Kartenskizze und der Wikipediaseite über Koggen vorm Rechner gesessen und ausgeklügelt, wie lange die Reise der Gruppe nach Sabertooth dauern müsste. EIGENTLICH bin ich dabei auf so um die 14 Tage gekommen, aber ich habe hier einfach noch den Vorteil angeräumt, dass sie flussabwärts fahren und dass die Kogge nicht so schwer beladen ist wie die anderen Schiffe. (Falls es jemanden interessiert: Die Gruppe legt jetzt so ca. 1200km zurück. Ja, ich weiß, Fiore ist hier abnorm groß, aber was schustert man sich nicht alles zurecht, wenn man ALLE Klimazonen drin haben will?^^')

So, mehr fällt mir erst einmal nicht zu dem Kapitel ein >_>

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Es tut mir echt Leid, dass ich mich mit diesem Kapitel um einen Tag verspäte, aber in der vergangenen Woche hatte ich arbeitsbedingt irgendwie nicht wirklich viel Zeit zum Schreiben und für dieses Kapitel hier musste ich die erste Szene auch erst einmal komplett aus dem Nichts heraus schreiben. Ursprünglich waren ja die erste Szene des vorherigen Kapitels und die zweite Szene dieses Kapitels hier als ein Kapitel gedacht, aber dann kam mir halt die Ideen für diese anderen Szenen und ich habe alles ein bisschen umgewürfelt. Dass dieses Kapitel dabei wieder so lang werden würde, hätte ich allerdings auch nicht gedacht^^'

World Building! Ganz viel World Building! Wahrscheinlich ganz schön überzogen, aber hey: In DIESEM 'verse habe ich echt eine ganze Menge Freiheiten dank seiner ewig langen Geschichte. Ich DARF das XP"
Es hat echt Spaß gemacht, den Thronsaal zu entwerfen, knifflig war hingegen, die Informationen bei Mavis zu bündeln unter der Berücksichtigung des Perspektivwechsels etc. Ich hoffe, das klingt alles schlüssig so und ich hoffe, ich habe Shagotte einigermaßen hingekriegt. Bei der Planung für die Story habe ich sie einfach nur als Königin von Extalia abgestempelt und noch gar nicht daran gedacht, dass sie jemals einen aktiven Auftritt haben würde, aber siehe da...

In beiden Kapiteln gibt es wieder so einige Andeutungen - weil's halt Spaß macht und weil ich in dieser Story alle Zeit der Welt habe, um noch in aller Ruhe auf alle möglichen Punkte einzugehen. Das Kargland z.B. hat auch noch eine besondere Bedeutung, auf die ich später eingehen werde.

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia

PS: Das nächste Kapitel wird urlaubsbedingt - und weil ich da wieder viel umschreiben muss - mit einer Woche Verzögerung online kommen. Seht die Länge dieses Kapitels hier als Kompensation dafür^^' Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Es tut mir Leid, dass dieses Kapitel recht spät online kommt, aber irgendwie habe ich echt eine ganze Weile für die zweite Szene gebraucht. Es ist immer schwerer, eine Szene ein zweites Mal zu schreiben, finde ich - und in diesem Fall musste ich das ja, weil die Szene in der handschriftlichen Variante ja Lucy-PoV hatte und nur der Anfang einer viel zu langen Szene gewesen ist, welche ich nun aufgeteilt habe. Dementsprechend habe ich für diese Szene gewissermaßen auch eine Lucy-Variante und da war es ganz schön knifflig, alles auf Juvia umzuschreiben. Ich hoffe, es passt jetzt so!

Außerdem hoffe ich, dass jetzt niemand genervt davon ist, weil Lucys Stimmung jetzt schon wieder umschwenkt, aber Tatsache ist ja, dass sich mit dem Ritt auf Igneel und dem Kampf mit Natsu keineswegs alle Probleme in Luft aufgelöst haben. Lucy schleppt da noch eine ganze Menge mit sich herum und das wird sich erst im Verlauf der nächsten zwanzig Kapitel Stück für Stück bessern.
Allerdings kann ich auch versprechen, dass Lucy bei all dem dennoch etwas zurück gerückt wird - oder vielmehr dass die anderen Charaktere jetzt auch nach und nach vorrücken. Mit den nächsten Kapiteln werden noch so einige Entwicklungen in die Wege geleitet werden, die wegweisen für die Story werden. Ich versuche ja, allen Hauptcharakteren gerecht zu werden!

Übrigens weiß ich nicht , ob Koggen überhaupt Ruder haben können. Ich habe wie blöde hin und her recherchiert, aber so wirklich etwas gefunden habe ich nicht dazu. Also habe ich einfach entschieden, dass es in diesem 'verse halt so ist und Punkt. Künstlerische Freiheit XP"

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Leute, ich bin ehrlich froh, dass ich die Juvia-Szene aus dem letzten Kapitel so umgeschoben habe. Wenn die auch noch mit an diesem Kapitel hier dran gehangen hätte, wäre das Kapitel ein noch schlimmeres Monster geworden^^'
Auch so ist das Kapitel ganz schön lang geworden, weil ich an allen möglichen Stellen noch etwas hinzufügen musste beim Überarbeiten >_>

Aber das World Building hat wieder großen Spaß! Ich mag Sabertooth. Es ist mein liebstes Setting in diesem 'verse - und das liegt nicht nur daran, dass Sting und Rogue dort unterwegs sind X////D

Übrigens ist mir klar, dass Libras Erklärung seltsam klingt. Das ist Absicht. Mehr verrate ich nicht :P

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Eigentlich wollte ich viel schneller mit diesem Kapitel fertig sein, weil ich heute noch ein paar wichtige Dinge erledigen muss, aber das Kapitel hat sich als ausgesprochen arbeitsaufwändig herausgestellt. Die handschriftliche Version war der reinste Mist, hatte lauter Logikfehler und Lücken, war an vielen Stellen zu oberflächlich und/oder zu hastig. Insgesamt ist diese Version hier fast doppelt so lang wie die handschriftliche.

Ich hoffe, ich habe den ganzen Part mit der Magie halbwegs glaubwürdig hingekriegt. Dieses Kapitel hat mir klar gemacht, wie kompliziert diese Art der Magie zu beschreiben ist >_>"
Ganz zu schweigen davon, dass so viele Charaktere einfach schwer unter einen Hut zu kriegen sind *drop*

Wie auch immer, das nächste Kapitel wird wieder ein sehr ausführliches Erklärkapitel werden, inklusive eines kleine Geschichtsexkurses - weil Geschichte einfach Spaß macht XD

Bis dahin viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Es tut mir wirklich Leid, dass dieses Kapitel mit einer ganzen Woche Verspätung online kommt, aber es hat mir echt Schwierigkeiten bereitet und irgendwie hat mein Zeitmanagement in letzter Zeit so gar nicht hingehauen :/

Egal, dafür ist das Kapitel wieder schön lang!

Und es ist wahnsinnig informationslastig - und das gleich in mehrfacher Hinsicht. World Building hoch zehn!
Und wieder lauter Andeutungen.
Bosco habe ich übrigens an Äthiopien angelehnt, falls das jemanden interessiert. Und ein traditionsbewusster Totomaru ist einer meiner Headcanons. Ich maaaaag Totomaru einfach! :D

Ob ich das nächste Kapitel schon in einer oder erst in zwei Wochen online stelle, kann ich noch nicht sagen. Das hängt davon ab, wie gut ich durch komme. Allerdings muss ich gestehen, dass ich bereits darüber nachdenke, nach meinem Urlaub Ende September/Anfang Oktober nur noch in einem Vier-Wochen-Rhythmus Kapitel hoch zu laden. Das Abtippen und Überarbeiten der Kapitel frisst viel Zeit und ich komme mit einigen anderen Projekten einfach nicht mehr hinterher. Ganz und gar entschieden ist es noch nicht, aber es gibt halt mehrere gute Gründe, die dafür sprechen...

Viel Spaß beim Lesen dieses Kapitels und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
Lg
Yosephia Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Für dieses Kapitel musste ich mal wieder eine Szene komplett aus dem Nichts heraus schreiben. Und auch die Juvia-Szene habe ich stark überarbeitet, die war in der handschriftlichen Version deutlich kürzer. Insgesamt glaube ich aber, dass ich jetzt die Strecke überwunden habe, in der ich immer wieder Kapitel ummodeln muss. Eventuell werde ich ein paar Szenen noch herum schieben, wenn die Kapitel zu lang werden, aber mal schauen.

Die GraLu-Szene war mir insofern wichtig, weil die Beiden eigentlich ein wirklich wichtiges Broship in der Story sind, das aber bisher noch überhaupt nicht zur Geltung gekommen ist. Sie schwankt ganz schön in ihren Stimmungen, aber ich hoffe, das ist alles so nachvollziehbar für euch. Gray und Lucy sind zur Zeit einfach wirklich sehr schwierig u.u
Später wird sich das zwischen den Beiden aufklären, versprochen!

Die zweite Szene soll die Dinge auch mal ein bisschen auflockern und natürlich auch ein paar Hints streuen. Ich habe ja "nur" noch 80 Kapitel für diverse Entwicklungen, das muss ja langsam mal in die Gänge kommen XD"

Oh, und ja, ich habe wieder einige Recherchen betrieben für dieses Kapitel. Sahn sind meist eigentlich Innenhöfe in Moscheen, aber in einem Palast passt das schon, dachte ich mir. Und die erwähnten Wale sind tatsächlich in solchen Breitengraden unterwegs und wurden/werden auch von den Inuit gejagt. Ist zwar eigentlich total unwichtig gewesen, aber die Recherchen dafür haben mir dennoch Spaß gemacht XD"

Übrigens feiert der SK heute seinen einjährigen Geburtstag. Vor genau einem Jahr habe ich mit dem Upload angefangen und ich habe seitdem zwar einige Aussetzer gehabt, aber insgesamt ist die Fic doch relativ konsequent gelaufen und darauf bin ich wirklich stolz. Ich werde mir alle Mühe geben, damit sich das noch bis zum Ende des Tartaros-Arcs fortsetzen wird. Für selbigen Arc fehlen mir noch einige Kapitel handschriftlich, aber ich hoffe, dass ich die alle rechtzeitig fertig kriege! (Besagter Arc wird übrigens noch mindestens bis Kapitel 43 laufen, da wird noch viel kommen^^)

Das nächste Kapitel werde ich am 10. September hochladen, um vor meinem Urlaub noch mal einen Upload zu haben. Ab dem nächsten Kapitel werde ich dann auch - wie man nach diesem Kapitel hier erraten kann - mit den Kleingruppen arbeiten. Das alles auf Linie zu bringen, hat mich echt einige Denkarbeit gekostet^^'

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
Lg
Yosephia Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Kapitel hier ist eine Art "Plätscherkapitel", würde ich mal sagen. Es gibt einige Andeutungen, die für spätere Entwicklungen wichtig werden, ein bisschen Bonding hier und da, ein bisschen World Building - was wäre ein Kapitel ohne World Building? XD"

Aber es ist wahrscheinlich sogar ganz passend, dass dieses Kapitel gerade jetzt kommt, denn nun wird diese Fic erst einmal fünf Wochen lang pausieren, da ich kommenden Samstag für drei Wochen in den Urlaub fliege. Das nächste Kapitel wird - sofern nicht etwas Übles dazwischen kommt - am 15. Oktober online kommen. Danach wird es hoffentlich wieder im gewohnten Zwei-Wochen-Rhythmus weiter gehen, bis der Tartaros-Arc vorbei ist (was nach meiner Kalkulation erst nächstes Jahr im April/Mai der Fall sein wird).

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich bin wieder im Lande und ich habe super viele Eindrücke gesammelt, die sich zum Teil auch hervorragend für die kommenden Kapitel eignen *~*

Und ich bin pünktlich *stolz*
Dabei ist das Kapitel schon wieder so ewig lang und es brauchte nach dem Abtippen wirklich noch viel Überarbeitung. Insbesondere die erste Szene kam mir sehr holprig vor und ich bin mir immer noch nicht so hundertpro sicher damit :/

Ich weiß, dass Jadestadt ein bisschen übertrieben ist. Ich habe nichts zu meiner Verteidigung zu sagen ^^'

Und endlich Akis und Toraans Auftritt. Ich habe sie mir - genau wie Mummy - aus Hiro Mashimas Manga Monster Soul geliehen, einfach weil sie hervorragend mit in dieses Setting gepasst haben. In den folgenden Kapiteln werden sie noch einige mehr oder weniger wichtige Auftritte haben.

Ab sofort werden die Kapitel - hoffe ich zumindest - wieder im normalen 2-Wochen-Rhythmus online kommen. Das könnte allerhöchstens mal um einen oder zwei Tage schwanken, da ich bis Mitte November in einer sehr turbulenten Phase stecke - Kranichsaison halt X//D

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ein wenig spät, aber doch noch rechtzeitig am Sonntag das neue SK-Kapitel!
Dieses Mal ist es ein wenig kürzer, was aber daran liegt, dass es am Anfang mit drei Szenen schon recht lang wurde und dann habe ich noch eine vierte Szene dafür aus dem Boden gestampft - und als ich dann beim Überarbeiten der ersten Szene gemerkt habe, wie lang das ganze Ding wurde, habe ich es geteilt.

Es ist meine erste richtige Schlachtszene im SK und ich bin ziemlich zufrieden damit. Unsicher bin ich nur mit Minervas Rede. Reden sind echt so ein Thema für sich >_>

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Kapitel hier ist mal wieder etwas kürzer, aber ich wollte keine der nachfolgenden Szenen hier mit rein ziehen und hätte ich dieses Kapitel ins vorherige mit rein gestopft, wäre es auch zu lang geworden - zumal die beiden Szenen aus dem Kapitel zu zweit besser da gestanden haben, finde ich. Von daher... ist halt so? Das nächste Kapitel wird schon wieder länger werden.

Ansonsten kann ich nicht viel hierzu sagen. Es ist eigentlich nur ein Überleitungskapitel - und zwar bei beiden Szenen. An die zweite Szene werde ich im nächsten Kapitel auch gleich anknüpfen, versprochen!

An dieser Stelle möchte ich auch mal Werbung für eine andere - ausgezeichnete - Fairy Tail FF machen: The Dragon Blade von Arianrhod-. Ebenfalls Fantasy, ebenfalls sehr lang, aber super spannend und auch mit süßen Pairing-Momenten, vielen schönen Broship-Momenten, kleinen Witzeleien, packenden Kämpfen, anschaulichen Beschreibungen... kurz und gut: Rundum perfekt! Diese FF ist letztendlich mein Anreiz gewesen, selbst eine große FT-Fantasy-Story zu schreiben. Lest sie, lasst einen Kommentar oder einen Stern da. Darüber würde ich mich riesig freuen!

Viel Spaß beim Lesen dieses Kapitels - und der anderen Fic - und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Puh! An der ersten Szene dieses Kapitels habe ich ganz schön viel herum gedoktort, weil ich in der handschriftlichen Variante irgendwie total vergessen hatte, auch etwas von Levys Fortschritten bei der Recherche zu schreiben^^'

Jetzt kommen so langsam immer mehr Dämonen von Tartaros zum Vorschein, aber ich warne gleich mal vor: Da Tartaros lediglich während des gerade laufenden Arcs ein Gegner sein wird, habe ich ihr Stärkelevel - das im Manga sowieso viel zu überpowert war - angepasst. Außerdem habe ich in einigen Fällen auch die Magie der Dämonen verändert, damit sie besser in das 'verse und/oder in die Story passen (ehrlich, ich habe lange darüber gegrübelt, welche Kampfpaarungen es geben soll^^').

In diesem Kapitel gibt es wieder so einige Andeutungen, insbesondere auf die Geschichte der Geister. Wenn das alles immer noch verwirrend ist: Es wird noch ein Kapitel geben, in dem das auch mal strukturiert erklärt werden wird. An dieser Stelle hier wäre es einfach nicht passend gewesen, einen allzu langen Geschichtsexkurs einzubauen - und ja, ich rechne wirklich damit, dass er lang wird XD"

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Zunächst einmal muss ich mich aus zweierlei Gründen entschuldigen. Erstens weil dieses Kapitel hier mit einer Woche Verzögerung online kommt und zweitens, weil sich ab nächsten Jahr der Upload-Rhythmus hier ändern wird. Das nächste Kapitel wird am 7. Januar online kommen und danach werden nur noch alle vier Wochen neue Kapitel folgen.
Der Grund dafür ist schlicht und einfach der, dass mir das handschriftliche Material ausgeht. Ich greife dieses Jahr irgendwie immer nach sehr arbeitsintensiven Kursen an der Uni und das hat zur Folge, dass ich weniger Zeit fürs Schreiben am SK während meiner vielen Pendelzeiten habe.
Und ich ändere lieber den Upload-Rhythmus, als dass ich kurz vorm Ende des zweiten Arcs eine lange Pause einlegen muss. Der jetzt laufende Arc der Geschichte soll in einem halbwegs regelmäßigen Fluss online kommen.

Aber vielleicht ist es eine Entschädigung, dass ich am 21. Januar mit dem Upload eines Prequels beginnen werde. Mit Sand und Blut dreht sich um Sting, Rogue, Minerva und Yukino und um Sabertooths Befreiung. Diese Story möchte ich ebenfalls im 4-Wochen-Rhythmus hochladen und damit wird es doch wieder alle 2 Wochen ein Kapitel in diesem 'verse geben. Es würde mich freuen, wenn der eine oder andere von euch auch dieser Story eine Chance geben würde, denn sie liegt mir wirklich sehr am Herzen!

Speziell zu diesem Kapitel...
Es ist wahrscheinlich fies, mit diesem Kapitel das Jahr abzuschließen (wobei ich dieses Jahr noch ein paar Sachen in anderen Projekten hochladen werde), aber das war keine Absicht, versprochen!
Die zweite und die dritte Szene enthalten Andeutungen auf später sehr wichtige Entwicklungen und die erste Szene ist so ein bisschen World Building, damit ihr auch ja nicht denkt, ich würde damit jemals aufhören XP

Im nächsten Kapitel wird es unmittelbar bei der Zuflucht weiter gehen, also seid gespannt!

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia

PS: Ich wünsche euch schöne Feiertage und einen Guten Rutsch! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich wünsche euch allen ein gesundes Neues Jahr!
Ich hoffe, ihr seid gut - und sicher - rein gerutscht und bereit für ein weiteres Jahr mit dem Schwarzen Kometen, denn nach meiner derzeitigen Planung wird der zweite Teil, der ja nun schon seit Kapitel 21 läuft, mit dem neuen Upload-Rhythmus wohl noch das gesamte Jahr 2018 füllen. Wenn ich bedenke, dass damit dann gerade einmal das zweite Fünftel der gesamten Story abgeschlossen sein wird... Himmel, ich muss verrückt gewesen sein, als ich diese Story geplant habe ID"

Na ja, jedenfalls habe ich fest vor, mich dieses Mal nicht zu verspäten. Wenn ich den Rhythmus schon ändern muss, soll das wenigstens auch irgendwie Vorteile für euch nach sich ziehen^^'
Und ich werde alles daran setzen, dass ich handschriftlich gut genug voran komme, um bis zum Ende dieses Arcs keine Unterbrechung zu zulassen! >_<

Dieses Kapitel hier dreht sich um die Ereignisse bei der Zuflucht. Manch einen irritiert es vielleicht, dass die Dämonen hier sterben wie die Fliegen, aber bitte berücksichtigt die teilweise schon eingeflochtenen oder auch hier im Kapitel angeführten Erklärungen.
Außerdem habe ich einfach versucht, die so mega überpowerten Dämonen von Tartaros so ein bisschen auf den Boden der Tatsachen zu holen. Immerhin versuche ich das bei den Drachenreitern genauso zu halten. Ich möchte keine Fic schreiben, in der mit einem Schwertstreich ein Komet zerteilt wird >_>

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Puh! Ich weiß noch ganz genau, dass ich dieses Kapitel geschrieben habe, während ich im Schildkröteneinsatz war XD
Das habe ich immer mit meiner Arbeit an einem großen Referat abgewechselt. Aber es ging damals wirklich sehr schleppend voran, weil dieses Kapitel einfach so viele komplizierte Fragen aufwirft. Zugegebenermaßen habe ich in der handschriftlichen Version an einigen Stellen echten Blödsinn zusammen gerafft. Da habe ich beim Editieren einiges ausgebügelt ID"

Es ist immer noch an einigen Stellen kryptisch, denke ich, aber zumindest weiß ich jetzt bei allem selbst, was es damit auf sich hat XD"

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Es tut mir wahnsinnig Leid, dass das Kapitel zwei Tage zu spät online kommt, aber undiszipliniert, wie ich bin, habe ich mich letzte Woche von einem längeren Stingue-OS locken lassen und dafür die Arbeit an diesem Kapitel auf die lange Bank geschoben >__<

Obendrein ist dieses Kapitel ziemlich kurz und es passiert auch nicht wirklich etwas. Es ist eher ein Füllkapitel, sorry^^'
Aber so langsam bewegen sich alle Charaktere in die richtige Richtung für das große Finale des Arcs - auch wenn das noch ein bisschen bis dahin dauert, vorher müssen noch ein paar Figuren zurecht geschoben werden, ein paar Informationen geliefert werden und ein weiterer harter Kampf bestritten werden. (An letzterem arbeite ich zur Zeit handschriftlich und ganz ehrlich - der ist eine megaschwere Geburt X__x)

Übt ein wenig Nachsicht mit Romeo. Trotz seines krassen Trainings ist er eben doch sehr behütet aufgewachsen und wird jetzt zum ersten Mal mit solchen Problemen konfrontiert. Er wird früher oder später über all dem noch zu einer gewissen Reife gelangen, aber jetzt muss er erst einmal ein bisschen leiden^^'

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Irgendwie passiert in diesem Kapitel nicht viel und dann wieder doch. Ich mag es einfach, eben weil es die Dinge, die sich ja nun allmählich immer mehr überschlagen, etwas entschleunigt und dabei doch wieder wichtige Punkte anbringt. Insbesondere in Bezug auf Lucy!

Was den Dämon betrifft - sorry, aber der hat einfach nur gestört, also habe ich ihn von Zirkonis platt machen lassen^^'

Und Auftritt Zirkonis! Yay! Ich finde ihn irgendwie witzig zu schreiben XD"

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
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Vorwort zu diesem Kapitel:
Uff!
Dieses Kapitel ist wirklich lang geworden und es war wirklich mega kompliziert. Zumindest die zweite Szene. Die erste hat mir zugegebenermaßen auch einfach großen Spaß gemacht. Zirkonis ist lustig XD"
Was es nun mit diesem Königsmörder auf sich hat, wird im übernächsten Kapitel erklärt werden, versprochen!

Eine dringende Warnung bezüglich der zweiten Szene: Es ist eine Folterszene und Lamy ist sehr grausam und auf perverse Art einfallsreich. Wer durch so etwas getriggert werden könnte, sollte die Szene vielleicht überspringen, auch wenn sie per se keine ausführlichen Verletzungsbeschreibungen enthält und wohl mit FSK 16 auskommen sollte.

Ich hoffe, ich habe Lamy und Seilah so gut getroffen. Kyouka hatte nicht so viel Screentime, aber das kommt im nächsten Kapitel^^'

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
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Vorwort zu diesem Kapitel:
Das hier ist, ehrlich gesagt, ein Kapitel, vor dem ich ewig lange Bammel hatte. Einfach weil ich keinen Plan hatte, was genau ich mit Kyouka machen sollte. Erst beim Schreiben dieses Kapitels hatte ich endlich eine "Magie" gefunden, die zu ihr passte!
Aber dafür bin ich jetzt sehr zufrieden mit dem Kapitel! :D

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
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Vorwort zu diesem Kapitel:
Und schon wieder eine Verspätung. Es tut mir so Leid! >_<

Irgendwann während des Editierens ist mir aufgefallen, dass dieses Kapitel sich irgendwie wie eine Abrechnung mit den Wüstennomaden und den Geistern liest. Es ist, ehrlich gesagt, auch reiner Zufall, dass diese beiden Betrachtungen jetzt zusammen gefallen sind, aber vielleicht gar nicht so unpassend?

Und so langsam steuert der Arc auf sein großes Finale zu. Der Kapiteltitel fasst es wirklich gut zusammen, auch wenn es tatsächlich noch ein paar Kapitel dauert, bis alle wichtigen Akteure dort sind, wo ich sie für die finale Schlacht brauche.
Nächstes Kapitel wird wieder spektakulärer, von daher hoffe ich, dass ihr diese Atempause hier nicht zu langweilig findet^^'

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
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Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich mag das Kapitel nicht :/
Ich habe wirklich lange daran herum gedoktort und viel verändert, aber ich habe immer noch das Gefühl, dass der Kampf gegen Jackal total blöd ist. Magische Kämpfe sind kacke u.u

Aber zumindest kommen die Dinge jetzt auch in Sabertooth in Gang. Nicht mehr lange bis zum Finale dieses Arcs!

Dennoch viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar! Ich bin offen für jeden Verbesserungsvorschlag!
LG
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Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Kapitel war ein einziger großer Krampf X___x
Die erste Szene habe ich beinahe komplett neu geschrieben, weil die handschriftliche Version einfach mal Scheiße war. Bei der zweiten Szene musste ich die zweite Hälfte überhaupt erst einmal schreiben und damit bin ich auch ewig stecken geblieben, weil sich nichts so wirklich passend angefühlt hat.
Deshalb hat es auch so ewig gedauert, bis ich dieses Kapitel endlich fertig hatte :/

Mittlerweile bin ich aber halbwegs zufrieden mit dem Kapitel. Ich habe immer noch das Gefühl, dass einige Off-Screen-Abläufe nicht so wirklich klar sind, aber vielleicht mache ich mir da auch zu viele Gedanken? Bitte gebt mir dazu Feedback! >_<

Ansonsten wünsche ich viel Spaß beim Lesen und danke im voraus für jeden Kommentar!
LG
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Die Nacht, in der die Sterne erbebten

Es war eine wolkenlose Nacht. Wie geschaffen für jeden Astronomen. Tausende und abertausende von Sternen erhellten sie. Ganz deutlich schlängelte sich die Milchstraße über den Himmel und der Mond, voll und rund und ungewöhnlich groß, leuchtete fahl.

Eine Nacht der Verheißungen für all jene, die glaubten, in den Sternen die Zukunft lesen zu können. Eine Nacht der Gelehrsamkeit, denn an der Universität von Crocus und an allen anderen Lehrstätten des Landes würden die Studenten heute von ihren Professoren auf die Astronomie-Türme getrieben, um bis zum Morgengrauen die Sterne zu studieren. Eine Nacht der Heimlichkeiten, der Abenteuer und der Romanzen. Mancherorts wurde diese Nacht zum Anlass für rauschhafte Feiern und obskure Rituale.

Und es war eine Nacht, in welcher der Puls der Sterne die ganze Welt vibrieren ließ. Unbemerkt wie eh und je, doch so stark wie selten zuvor. Er ließ das Miasma in allen Dingen und Wesen wirbeln, trieb das Land auf und ab.

In ihrer kleinen, schmuddeligen Zelle spürte Lucy diesen Puls so deutlich wie ihren eigenen, während sie den winzigen Ausschnitt des Himmels betrachtete, welchen sie durch die Sichtscharte sehen konnte. Von einem Fenster konnte dabei keine Rede sein, hätte doch nicht einmal Lucys Kopf hindurch gepasst.

Es war ein Sternenhimmel, dem ein Hauch von Schicksal anhaftete. Genau solch ein Himmel hatte sie bereits vor zwanzig Jahren heimgesucht, als sie das erste Mal den Puls der Sterne gespürt hatte. Dort oben in den unendlichen Weiten, deren Geheimnisse ihr Professor Michello an der Universität offen gelegt hatte, war etwas im Gange. Ein Geheimnis fernab jeder Wissenschaft. Doch Lucy war der einzige Mensch in Fiore, der davon wusste. In keinem noch so dicken Buch hatte sie jemals etwas über den Puls der Sterne gelesen, der sie doch seit ihrer Kindheit verfolgte.

Das Stimmenrauschen von draußen schwoll allmählich an. Schaulustige, nahm Lucy an, die nach Blut gierten. Lucys Blut. Das Blut eines Opfers zu Ehren des Schwarzen Kometen.

So war es Lucy erklärt worden, als sie hier eingesperrt worden war. Sie musste geopfert werden, um den Schwarzen Kometen zu wecken. Wozu das jedoch gut sein sollte und wer oder was dieser Schwarze Komet überhaupt war, das hatte ihr keiner gesagt. Sie hatte den Verdacht, dass diese Fanatiker dies selbst nicht so genau wussten.

Lucy holte tief Luft und verschränkte ihre Finger miteinander, um deren Zittern unter Kontrolle zu bekommen. Ihr war vor Angst ganz flau im Magen und in ihren Augen brannten Tränen. Sie versuchte, sich die alten Lieder der Geister in Erinnerung zu rufen, aber ihre Gedanken kreisten immer wieder um das, was sie in dieser Nacht erwartete.

Sie legte sich die Hände aufs Gesicht, als die Tränen sich nicht mehr zurückhalten ließen.

Sie wollte nicht sterben...
 

Als die Zellentür mit einem grausamen Quietschen geöffnet wurde, erhob sich Lucy vom feuchten, kalten Zellenboden, das Kinn trotzig nach vorn gereckt, die Augen trocken.

Zwei Akolythen in schwarzen Kutten kamen herein und bezogen zu beiden Seiten Lucys Position. Sie führten Lucy durch das modrige Kellergewölbe und schließlich eine steile Steintreppe hinauf auf den Innenhof einer kleinen, düsteren Festung, die ihre besten Tage schon lange hinter sich hatte.

Lucy erkannte die Nachlässigkeit, mit der die hölzernen Unterstände für die Pferde zusammen gezimmert worden waren, und die Tür, welche zu den Kerkern hinunter führte, hing schief in den Angeln.

Es ging über den Hof und zum Tor, zur Quelle unzähliger Stimmen, die wild durcheinander riefen. Am Tor wurde Lucy von weiteren Akolythen umringt. Ob sie ihr wertvolles Opfer vor den Gaffern schützen oder einfach nur an der Flucht hindern wollten, erschloss sich Lucy nicht. Höchstwahrscheinlich Beides.

Quälend langsam und mit grausam quietschenden und knarrenden Gewinden wurde das Tor hochgezogen. Das vorher noch von den Mauern gedämpfte Geschrei der Menge – mehrere hundert Menschen mochten sich auf den Platz vor der kleinen Festung versammelt haben – traf Lucy mit voller Wucht und ließ sie erschrocken zurück taumeln. Männer und Frauen, zumeist von schrecklich herunter gekommener Erscheinung, streckten kreischend und stöhnend die dreckigen Finger nach Lucy aus. Die junge Frau war beinahe froh um den undurchlässigen Ring, welchen die Akolythen um sie herum gebildet hatten.

Nur stockend kam die Prozession voran. Die Akolythen mussten sich mit bald blutigen Knüppeln einen Weg frei schlagen. Erst nach einem dutzend Schritten wurde Lucy des hölzernen Podests gewahr, welches in der Mitte des Platzes stand. Darauf wartete ein Mann mit einer wallenden schwarz-weißen Robe und langem, schlohweißem Bart, die Arme in einer prophetischen Geste weit ausgestreckt.

Lucy wollte den Blick abwenden, wollte sich umdrehen und die Flucht ergreifen, aber ihr war bereits in ihrer moderigen Zelle klar geworden, dass sie keine Chance hatte. Sie war alleine unter hunderten von Wilden, sie war unbewaffnet und sie wusste nicht einmal, in welcher Ecke von Fiore sie sich befand.

In all dem Chaos um sie herum erblickte Lucy plötzlich ein bekanntes Gesicht. Die blauen Haare, die sich nie so ganz zähmen ließen, mochten unter einer Kapuze verborgen sein, aber diese großen, klugen Augen hätte Lucy jederzeit erkannt. Es handelte sich um ihre beste Freundin Levy McGarden, die jetzt eigentlich in der wunderschönen Universität von Crocus ihren Studien nachgehen sollte.

Lucy erkannte das Entsetzen in den Augen ihrer Freundin. Sie öffnete bereits die Lippen. In Lucy machte sich Panik breit. Wenn Levy zu erkennen gab, dass sie mit dem Opfer befreundet war? Nein, das konnte Lucy unter keinen Umständen zulassen! Sie stolperte wie zufällig und ließ sich nach vorn fallen. Im Fallen fing sie wieder den Blick ihrer Freundin auf und schüttelte einmal den Kopf.

Der Aufprall war hart. Lucy schlug sich das linke Knie auf und ihre Handballen wurden auf der grob gepflasterten Straße aufgeschürft. Ehe Lucy sich selbst wieder aufrappeln konnte, wurde sie von einem Akolythen an den Haaren in die Höhe gerissen und dann weiter geschoben.

Lucy stolperte weiter. Ihre Freundin hatte sie aus den Augen verloren, aber sie hoffte, dass ihr Manöver etwas gebracht hatte. Leider kannte sie Levy zu gut, um auch darauf zu hoffen, dass sie gleich die Stadt verlassen würde.

Sie erreichte mit ihrer Eskorte das Podest. Zwei der Akolythen begleiteten sie nach oben und zwangen sie dort sofort in eine kniende Position direkt vor einer großen, flachen Schale, in welcher ein seltsam verzierter Ritualdolch bereit lag. Der Griff, stellte Lucy mit Grauen fest, bestand aus Knochen.

Der Mann mit dem langen Bart trat neben Lucy und hob die Hände mit den Flächen gen Himmel. Die Fanatiker verstummten schlagartig und hoben nun allesamt gleichfalls ihre Hände.

„Wer bin ich?“, intonierte der Bärtige mit schnarrender Stimme, die eigentlich nicht für einen Vortrag geeignet war.

„Priester Arlock!“, erwiderten die Männer und Frauen im Chor.

„Wer seid ihr?“, fuhr der Priester fort.

„Die Gläubigen.“

„Wer sind wir?“

„Avatar!“

Die Gläubigen, wie sie sich selbst nannten, brachen in frenetischen Jubel aus und Arlock ließ sie einige Sekunden lang einfach gewähren. Schließlich senkte er die rechte Hand und sofort ging der Akolyth links von Lucy in die Knie und hob mit beiden Händen ehrerbietig den Ritualdolch auf. Als er sich umdrehte, konnte Lucy in seinen Augen ein fanatisches Leuchten erkennen. Er übergab Arlock den Dolch mit einer tiefen Verbeugung und der Priester hielt ihn in die Höhe. Sofort verstummten die Gläubigen wieder.

„Wir dienen dem Schwarzen Kometen“, ging es weiter, „und der Schwarze Komet verlangt nach dem Blut dieser Frau…“

Während der Priester weiter sprach, blickte Lucy über die Köpfe der Gläubigen hinweg zu den drei Straßen, welche in den Platz mündeten. Nur eine von ihnen war überhaupt breit genug, um auch ein Fuhrwerk hindurch zu lassen, die anderen waren eher enge Gassen als richtige Straßen.

„Er wird daran wieder erstarken und das schändliche System, dem wir jetzt unterworfen sind, stürzen. Kein Mensch wird jemals wieder von der Magie besudelt werden!“

Die Gassen waren so schummrig, dass das Sternenlicht nicht ausreichte, um weiter als ein paar Meter hinein zu blicken. Einige Gläubige standen dort auf Treppenabsätzen und Fässern, um die Geschehnisse auf dem Platz beobachten zu können, auf welchem sie selbst nicht mehr hinauf gekommen waren.

„Der Schwarze Komet wird uns von der Verderbtheit befreien und wir werden wieder ein rein menschliches Leben führen können.“

An den Fenstern und auf den Dächern der Gebäude, welche den Platz umgaben, standen noch mehr Schaulustige. Direkt in Lucys Sichtlinie lag ein Fachwerkhaus mit flachem Dach, dessen Fassade wohl mal weiß gewesen war. Auf dem Dach saßen, hockten und standen gut ein Dutzend Männer. Die meisten in abgerissener, verdreckter Kleidung, doch einer war zwar in einen schäbigen Umhang gehüllt, doch darunter erkannte Lucy ein Breitschwert am Gürtel. Die Reiterstiefel waren zwar verdreckt, aber Lucy bemerkte die solide Machart. Ihr Blick wanderte weiter nach oben zu einem markanten Gesicht mit dunklen Augen und struppigen, schwarzen Haaren.

Lucy blinzelte heftig. Ob sie in ihrer Verzweiflung Wahnvorstellungen hatte? Nein, es war und blieb einer ihrer engsten Freunde aus Crocus! Und er hatte sie ebenfalls unter all dem Dreck und in den Lumpen, zu denen ihre Reisekleidung verkommen war, erkannt. Er presste die Lippen zusammen und seine Hand wanderte zum Schwertgriff.

Lucy schloss die Augen. Er war einer der besten Schwertkämpfer, die sie kannte, und obendrein auch noch ein Magier der Kaiserlichen Armee, aber er war und blieb nur ein Mann gegen einen fanatischen Mob aus vielleicht dreihundert oder mehr teilweise bewaffneten Männern und Frauen. Er konnte es nicht alleine mit ihnen aufnehmen. Dennoch war der Gedanke tröstlich, dass er hier war.

Aus einem Grund, den sie selbst nicht verstand, schwand Lucys Angst langsam. Sie öffnete die Augen wieder und lächelte. Ihr Freund presste die Lippen noch fester zusammen, aber dann nickte er resigniert und nahm seine Hand vom Schwert.

Währendessen hatte Priester Arlock seine Rede beendet und war mit dem Ritualdolch hinter Lucy getreten. Er griff in ihre Haare und zog ihren Kopf in den Nacken, sodass sie ihre Kehle entblößen musste.

Ihr Blick ging nach oben zum wunderschönen Sternenhimmel. Sie konnte das Sternbild des Drachen erkennen und den Geisterstern, der heller strahlte denn je.
 

Leben heißt Hoffen.

Leben heißt Lieben…

ging es Lucy durch den Kopf. Ein altes Lied der Geister, welches ihre Mutter ihr immer vorgesungen hatte. Lucys älteste Erinnerung.
 

Leben heißt Wandel.

Leben heißt Erinnern.

Leben heißt Sterben…

Der Priester rief irgendetwas und die Gläubigen schrien ekstatisch, aber Lucy verstand sie nicht mehr. Vor ihrem inneren Auge tauchte ein breites Lächeln auf, das ihr eine wohlige Wärme einhauchte.
 

Leben ist Auf und Ab.

Leben ist Schmerz und Freud.

Im hellsten Licht wie im finstern Schatten

ist Leben,

ist Hoffen,

ist Lieben,

ist Wandel,

ist Erinnern,

ist Sterben.

Ewig neu.

Ewig alt.

Ewig Leben...

Das Sternbild des Drachen hatte Lucy noch nie so klar vor Augen gestanden. Es war atemberaubend schön, wirkte beinahe lebendig. Für einen Moment wollte Lucy die Hände danach ausstrecken, um über die Schuppen zu streichen.
 

Sterben heißt Hoffen.

Sterben heißt Lieben.

Sterben heißt Wandel.

Sterben heißt Erinnern…

Die Klinge des Ritualdolches lag kalt an ihrer Kehle, aber Lucy zuckte nicht zurück. Über dem Drachen tauchte das Lächeln auf und Lucy verspürte keinerlei Angst mehr, nur noch Vertrauen.
 

Sterben heißt Leben…
 

Der Tag, an dem sie ihm begegnete

20 Jahre vor der Opferung
 

Am Morgen des Tages, als sich alles verändern sollte, fühlte Lucy sich schlapp und zog sich zunächst wieder die Decke über den Kopf, als Tante Spetto in ihr Zimmer kam. Etwas würde heute geschehen, das spürte die Fünfjährige, und sie hoffte, dass es einfach an ihr vorüber zöge, wenn sie nur im Bett blieb. Aber Tante Spetto spürte nichts und sie wollte ihr Mündel aller Umstände zum Trotz nicht den ganzen Tag faulenzen lassen. Sie trieb Lucy gnadenlos aus dem Bett und half ihr bei der Morgentoilette.

„Es wird schon alles gut werden, junges Fräulein“, sagte sie gutmütig und band eine Schleife in das blonde Haar.

Lucy blickte ihre Amme wortlos durch den Spiegel an und fragte sich, warum alle ihr das schon seit Wochen immer wieder sagten. Glaubten sie wirklich, das Offensichtliche vor dem Mädchen verbergen zu können? Oder wollten sie es selbst nicht wahrhaben? Das konnte Lucy sogar verstehen. Immerhin hatte sie Wochen lang einfach mitgespielt und sich von ihnen beruhigen und froh stimmen lassen.

Doch heute war es anders. Heute hatte Lucy so ein flaues Gefühl, über das ihr Tante Spettos liebe Aufmunterungsversuche nicht hinweg helfen konnten.

Sie folgte der Amme artig ins Speisezimmer, obwohl sie gar keinen Appetit hatte. Aed, der Küchenmeister, der Lucy immer naschen ließ, wenn sie sich in sein Heiligtum schlich, stand mit einer Auswahl von Lucys Lieblingskuchen bereit und begrüßte sie mit seinem warmen, runzligen Lächeln.

Lucy versuchte, das Lächeln zu erwidern, aber sie brachte nur eine Grimasse zustande und ihr Blick huschte zum Platz an der Stirnseite des Tisches. Dort stand kein Frühstücksgedeck.

„Wo ist Papa?“

Aed und Tante Spetto warfen einander jene Art von Blick zu, die Lucy grundzuwider war, denn sie verstand zwar, dass sie einander damit irgendetwas sagten, aber sie verstand nicht, was sie meinten. Nur eines verstand sie: Sie verschwiegen ihr etwas.

„Du solltest erst einmal ordentlich frühstücken, dann kannst du ihn sicher sehen“, erklärte Tante Spetto besänftigend und ergriff die Hand des Mädchens, um es zum Tisch zu ziehen.

Doch Lucy entzog der Amme ihre Hand wieder und ging einen Schritt rückwärts. Ihr Blick wanderte ängstlich zwischen Aed und Tante Spetto hin und her.

„Er ist bei Mama, oder?“

Keiner der Beiden sagte etwas, aber ihre Augen wirkten schrecklich traurig. Das feuerte Lucys Angst noch mehr an. Sie wirbelte herum und rannte aus dem Speisezimmer heraus. Tante Spetto rief ihr hinterher, aber Lucy hielt nicht an. Sie rannte den langen Flur entlang bis zu dessen Ende. Dort war das Runde Zimmer, das Studierzimmer ihrer Mutter.

Als Lucy die schwere Holztür mühsam aufstemmte, fand sie ihren Vater am Bett sitzend vor, das seit einigen Wochen hier stand. Etwas entfernt vom Bett standen mehrere Personen. Capricorn, der Leibwächter ihrer Mutter, wirkte steif und angestrengt. Meister Crux, sonst immer so verschlafen, war hellwach, die Miene furchtbar ernst. Sogar Aquarius war da, dabei hasste sie es, an Land zu kommen, das wusste sogar Lucy. Ihre sonst so strenge Miene war nun traurig.

Lucy eilte zum Bett und kletterte darauf. Ihr Vater zuckte zusammen und machte Anstalten, sie am Arm zu packen. Sein Gesichtsausdruck bereitete Lucy noch mehr Angst und sie krabbelte auf die andere Seite des Bettes, um aus seiner Reichweite zu kommen.

„Lucy, du solltest-“

„Jude…“

Es dauerte einige Sekunden, bis Lucy begriff, dass das schwache Hauchen, das ihren Vater sofort hatte verstummen lassen, aus dem Mund ihrer Mutter gekommen war. Verstört blickte Lucy auf das bleiche, magere Gesicht hinunter, das sich kaum vom Kissen abhob, und suchte darin nach dem zärtlichen, stets geheimnisvollen Lächeln, das sie seit jeher von ihrer Mutter kannte. Doch sie fand nur Müdigkeit und etwas, was sie nicht so recht beschreiben konnte. Vielleicht war es Angst? Oder hatte ihre Mutter Schmerzen?

Zaghaft legte Lucy ihre Hand in die ihrer Mutter, aber der zärtlich-starke Griff der mütterlichen Finger blieb aus.

„Mama, was passiert mit dir?“, jammerte Lucy und hob die Hand an ihre Wange, um den Geruch ihrer Mutter einzuatmen, doch selbst der schien verschwunden zu sein. An seine Stelle war ein muffiger, beinahe ekliger Geruch getreten. Lucy fühlte sich an damals erinnert, als sie sich verbotenerweise auf den Dachboden geschlichen und dort einen Schrank gefunden hatte, voll mit sehr seltsamen Kleidern. Als sie erwischt worden war, hatte man ihr erklärt, dass es die Kleider ihrer Uroma waren. Doch wieso roch ihre Mutter jetzt so…?

„Lucy… du bist… doch schon ein… e-ein großes… Mädchen…“

Die Fünfjährige musste sich wirklich anstrengen, um ihre Mutter zu verstehen. Unwillkürlich straffte sie die Schultern, wie Capricorn es gerade tat und nickte ruckartig.

„Du m-musst jetzt… stark sein…“, begann Layla mühsam, dann entfuhr ihr ein Keuchen und sie kniff die Augen zusammen. Es war, als schrumpfe sie vor aller Augen in sich zusammen. Mit jedem Atemzug wurde sie magerer und blasser. Beinahe kam es Lucy so vor, als würde ihre Mutter unsichtbar. Zitternd klammerte sie sich an die Hand ihrer Mutter und versuchte, nicht zu blinzeln, damit die Tränen nicht über ihre Wangen rannen.

„Ich muss… dir etwas… s-sagen…“ Wieder kniff Layla die Augen zusammen und der Schmerz grub sich so tief in ihr Gesicht, dass es auch Lucy weh tat. Layla öffnete die Augen wieder und drehte stockend den Kopf, bis sie ihren Mann anblicken konnte. „Vergiss es nicht… Sie muss es wissen… wenn sie alt genug ist…“

Jude tat einen langen, schweren Atemzug, der Lucy noch mehr zittern ließ. Waren das Tränen in seinen Augen?

Lucy kroch wieder über das Bett und auf den Schoß ihres Vaters, ihr angestammter Platz. Hier zu sitzen war richtig und wichtig. Es rückte die Dinge wieder ein Stück weit ins rechte Licht. Sofort schlang Jude die Arme um sie. Der Schatten eines Lächelns erhellte Laylas trübe Augen bei diesem Anblick.

„Ich… liebe euch…“, seufzte die Fürstin und ihre Lider sanken nieder.

Lucy spürte das Zittern ihres Vaters und dann tropfte etwas auf ihren Nacken. Sie versuchte, zu begreifen, wieso er weinte, wo sich ihre Mutter doch endlich wieder entspannte. Sie lag ganz friedlich da und lächelte sogar. Wieso machte das ihren Vater so traurig?

Und wieso verschwamm ihr Sichtfeld immer mehr…?
 

3 Wochen vor der Opferung
 

„Lucy…? Lucy!“

Abrupt zog die junge Frau am Zügel und blickte verwirrt auf. Direkt vor ihrer Fuchsstute stand Loke mit seinem großen Rappen. Seine Miene kündete von Verwirrung und einem Hauch von Sorge. Aus dem Augenwinkel bemerkte Lucy die Pferde der restlichen Reisegruppe. Sie hielten sich zurück, wahrscheinlich auf Lokes Geheiß hin.

„Lucy, ist alles in Ordnung?“

„Ja, ich… war nur in Gedanken…“, erklärte Lucy gedehnt.

Das war nicht gelogen, aber es war auch nur die halbe Wahrheit. Seit ihrem Aufbruch von Crocus fühlte sie sich angespannt und schwermütig. Die Vorstellung, nach Heartfilia zurück zu kehren und die Verantwortung der Fürstenwürde zu übernehmen, welche ihr Vater als Regent zwei Dekaden lang für sie getragen hatte, erfüllte sie gleichermaßen mit Stolz und Beklemmung. Sie wollte das jahrhundertealte Erbe ihrer Ahnen fortsetzen, wollte ihrem Namen Ehre machen und den Einwohnern Heartfilias eine gute Fürstin sein.

Doch sie hatte in Crocus gesehen, wie ihr Leben aussehen könnte, wenn sie nicht die Pflichten einer Fürstin tragen müsste. Sie hatte sich in der gelehrsamen Atmosphäre der Universität von Crocus so gut eingelebt, dass ihr der Abschied davon beinahe wie eine physische Verwundung vorgekommen war. Für ihr Erbe musste sie einigen ihrer teuer gewordenen Freiheiten abschwören. Das kostete sie eine Menge Überwindung.

An seinem Blick merkte Lucy ihrem Freund an, dass er sich noch immer um sie sorgte. Sie kannten einander nun schon seit fünfzehn Jahren, das machte sich bemerkbar. Nicht umsonst hatte sie ihn vor ihrer ersten Reise nach Crocus als ihren Schild und Schwert auserkoren.

Sie lächelte matt. „Ich musste nur daran denken, dass ein Teil von mir gerne in Crocus geblieben wäre“, gestand sie.

Loke lenkte seinen Rappen neben ihre Fuchsstute und ergriff eine ihrer Hände, um sie aufmunternd zu drücken. „Meister Capricorn hätte sicher bessere Worte dafür, aber ich denke, gerade dass du dennoch aufgebrochen bist, beweist, dass du eine gute Fürstin für Heartfilia sein wirst. Ich für meinen Teil wusste das schon, als ich dich in Meister Capricorns Unterricht über den Hof gejagt habe“, fügte er mit einem verschmitzten Grinsen hinzu.

Lucy verdrehte die Augen, konnte jedoch nicht anders, als ebenfalls zu grinsen. „Ich hätte dich niemals mit nach Crocus nehmen sollen. Fernab von Aries’ Einfluss verkommst du zum Süßholzraspler!“

Als wäre er schwer getroffen, legte Loke sich eine Hand auf die Brust und schüttelte theatralisch den Kopf, musste jedoch gleich wieder grinsen. Lucy lachte leise. Auch wenn sie immer noch Zweifel hegte, hatten ihr Lokes Worte gut getan.

Eigentlich war er kein Mann großer Worte, aber wenn es darauf ankam, fand er für Lucy immer die richtigen. Ein Zeugnis ihrer langjährigen Freundschaft. Er beschützte sie nicht nur, weil sie die neue Fürstin von Heartfilia war, und sie hatte ihn nicht nur als ihren Schild und Schwert ausgewählt, weil er mit Abstand der Beste von Capricorns Schülern gewesen war.

Sie nahmen Beide ihre Zügel wieder auf und lenkten ihre Pferde die Straße weiter, die sich durch den hügeligen Wald des nördlichen Zipfels von Magnolia schlängelte. Uralte Eichen und Linden flankierten die Straße, die zu befestigen man sich nie die Mühe gemacht hatte. Händler und andere Reisende, die auf ein Gespann angewiesen waren, wählten sowieso lieber den Weg mitten durch Magnolia hindurch, der zwar länger war, aber durch die vielgerühmten Zunftdörfer und schließlich auch durch die Hauptstadt des Fürstentums führte.

Finken, Sperlinge und Meisen trällerten und tschilpten ihre Lieder und das Lachen eines Grünspechts hallte weithin durch den Wald. Ein Hase wurde von ihren Pferden aufgescheuchte und rannte Haken schlagend davon. Eichhörnchen hielten wie erstarrt auf ihren Ästen inne, wenn sie der Reiter gewahr wurden. Über sich hörte Lucy den Schrei eines Mäusebussards. Ein Fuchs huschte schnell über den Weg. Weiter entfernt war Rotbauchunken zu vernehmen.

Schließlich zügelte Lucy ihr Pferd wieder und spähte durch dichtes Gebüsch hindurch zu einer nahen Lichtung, auf welcher eine große, gesunde Hirschkuh erschien, die sich sorgsam umsah, ehe ihr mehrere Kühe mit Kälbern auf die Lichtung folgten. Eines der Jungtiere war noch sehr unbeholfen mit seinen langen Beinen und stakste zittrig hinter seiner Mutter her, welche immer nur einige Schritte ging, sich nach ihrem Nachwuchs umsah und dann wieder äste. Schließlich holte das Kleine auf und schnupperte gierig nach dem prallen Euter. Es brauchte mehrere Versuche, aber dann erzitterte es wohlig und sein Schmatzen gesellte sich zum zarten Geräuschkonzert des Waldes.

Behutsam schmiegte Lucy ihre Stiefel in den Bauch ihres treuen Pferdes und ritt gemächlich weiter, erfüllt von Frieden und Seligkeit. Loke und die Anderen folgten ihr schweigend. Scorpio bildete wieder die Vorhut, Loke und Gemini flankierten Lucy und Sagittarius ritt am Schluss, wobei er das Packpferde mitführte. Auf Geminis Sattelhorn saß Plue, ein kleiner hellblauer Wesensgeist mit orangefarbener, spitzer Nase und schwarzen Knopfaugen. Von Zeit zu Zeit gab er ein leises „Pun!“ von sich, als wollte er darauf hinweisen, dass er auch noch da war.

Lucy musste jedes Mal lächeln, wenn sie den kleinen Geist hörte. Niemand wusste, woher Plue kam, er war einfach vor vier Jahren vor Lucy und ihrer Eskorte aufgetaucht, als sie für einen Heimatbesuch auf dem Weg nach Heartfilia gewesen waren, und folgte ihnen seitdem auf Schritt und Tritt. Alles, was er sagen konnte, war „Pun“ und es war unklar, wie viel er von dem verstand, was zu ihm gesagt wurde. Dennoch – oder vielleicht auch gerade deswegen – gehörte Plue einfach dazu.

Das mächtige Rufen eines Seeadlers ließ Plue zusammen zucken. Die Anderen hätten gar nicht weiter darauf geachtet – die mächtigen Greifvögel waren in dieser Gegend nicht selten, weil sei in den nördlich gelegenen Sümpfen viele Gänse ergattern konnten –, wenn nicht ein schriller Schrei gefolgt wäre.

„Dort!“, sagte Sagittarius, der von ihnen allen die schärfsten Augen hatte. Seine Hand glitt automatisch zu seinem Reitbogen.

Es dauerte einige Sekunden, bis Lucy begriff, was sie sah: Ein wunderschöner Seeadler, dem reinweißen Stoß nach ausgewachsen, der in seinen Klauen etwas Blaues hielt, das wild strampelte und offensichtlich auch die Quelle des Geschreis war.

„Ein Exceed“, murmelte Loke und nickte Sagittarius zu, welcher nun einen Pfeil aus seinem Sattelköcher zog.

„Es ist nicht notwendig, den Adler zu verletzen“, widersprach Lucy und drehte sich im Sattel, um Gemini anzublicken, welcher angesäuert das Gesicht verzog.

„Wir hassen es, uns in Tiere zu verwandeln“, murrte er, hob Plue jedoch zu Lucy hinüber und saß ab. Er nahm seinen Schwertgurt ab und übereichte ihn zusammen mit den Zügeln seines Pferdes Loke.

Dann legte er beide Hände zusammen und schloss konzentriert die Augen. Ohne Vorwarnung verschwand er in einer Dampfwolke und noch ehe diese sich verflüchtigen konnte, brach daraus ein Seeadler hervor und tat mehrere schwankende Flügelschläge, ehe er sich fing und schnell an Höhe gewann. Lucy und die Anderen hatten Mühe, ihre Pferde wieder zu beruhigen.

Als Lucy wieder aufblicken konnte, hatte Gemini den Seeadler und seine Beute bereits erreicht. Beide Greifvögel stießen Schreie aus, es gab ein Getümmel aus Flügeln in der Luft, dann sah Lucy den blauen Exceed fallen. Scorpio reagierte am schnellsten und gab seinem Pferd die Sporen. Irgendwie schaffte er es, das Katzenwesen aufzufangen.

Lucy blickte erneut auf. Gemini hatte sich in eine Dohle verwandelt und flog dem erbosten Seeadler flink davon, welcher dazu überging, Kreise zu ziehen, um seine Beute wieder zu finden. Die Dohle landete auf dem Weg und verwandelte sich wieder in einen braunhaarigen, großgewachsenen Soldaten Heartfilias mit Dreitagebart und nun auch mit tiefen Schatten unter den Augen.

Er richtete sich aus seiner Hockstellung auf und blickte zu Scorpio. „Lebt er noch?“

Sie saßen alle ab und scharten sich um Scorpio, um den Exceed zu betrachten. Über den Rücken des blauen Katers zogen sich sechs Striemen, wo die Krallen des Seeadlers ihn gepackt gehalten hatten. Zu Lucys Erleichterung schienen sie alle nicht lebensgefährlich zu sein.

Behutsam nahm sie den Exceed von Scorpio entgegen und ließ sich mit ihm am Boden nieder, wo Loke bereits eine Decke ausgebreitet hatte. Die Soldaten wussten sofort, was zu tun war. Sagittarius kümmerte sich um die Pferde, Loke holte den Medizinbeutel vom Rücken des Packpferdes und Scorpio entkorkte bereits den Wasserschlauch. Gemini ließ sich einfach auf den Hosenboden plumpsen und begann, ein Stück Brot zu verschlingen.

Sich in einen Menschen zu verwandeln, bereitete Gemini wenige Schwierigkeiten. Er konnte in menschlicher Gestalt sogar schlafen und kämpfen. Tierverwandlungen fielen ihm ungleich schwerer und zehrten an seinen Magiereserven. Dass Gemini jetzt so erschöpft war, tat Lucy Leid, aber sie hätte sich schlecht dabei gefühlt, den Seeadler töten zu lassen, obwohl es gar nicht notwendig gewesen wäre. Lucy nahm sich vor, Gemini mit einem Meisterwerk aus Aeds Küche zu danken, sobald sie wieder in Heartfilia waren.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den bewusstlosen Exceed. Er war noch sehr jung, hatte wohl zwischen zehn und fünfzehn Sommer erlebt. Es war bei Exceed schwierig, ihr genaues Alter zu erraten. Sie waren erst mit etwa zwanzig Jahren ausgewachsen. Dieser hier war nach Exceed-Maßstäben noch ein Kind, so viel war sicher. Damit war er etwas Besonderes, wie Lucy wusste. Seit der Zerstörung von Extalia gab es nur noch wenige Exceed und noch weniger Schlüpflinge. Martam, der Exceed von Heartfilia, hatte Lucy viel darüber erzählt.

Behutsam begann die Blonde, ihren Patienten zu versorgen, so gut sie es mit ihren bescheidenen Medizinkenntnissen vermochte. Wie alle Studenten hatte sie pflichtgetreu die Medizinkurse bei Professorin Porlyusica besucht und darin auch ihre Prüfungen abgelegt, aber Naturwissenschaften lagen ihr nicht besonders. Sie war eher der Astronomie und den Geschichtswissenschaften zugetan. Leider besaß sie auch kein so ausgezeichnetes Gedächtnis wie ihre Freundin Levy. Aber für eine vernünftige Erstversorgung des Exceed würde es hoffentlich ausreichen.

„Wo er wohl herkommt?“, murmelte Lucy, nachdem sie die Wunden mit Lokes Hilfe richtig verbunden hatte.

„Vielleicht ist er einer der nichtstädtischen Exceed“, mutmaßte Loke mit einem Schulterzucken und holte seinen Feuerstein und etwas Zunder aus seiner Gürteltasche, als Scorpio mit dem Arm voll Feuerholz zu ihnen kam.

Obwohl das hier alles andere als die ideale Lagerstelle war, stellte sich für keinen von ihnen die Frage, ob sie weiter ritten. Der Exceed musste geschont werden. Ohne Absprache wusste jeder, was zu tun war. Sagittarius und Gemini bauten die Zelte auf und Loke entzündete geschickt das Feuer und bereitete in einem gusseisernen Kessel Tee zu, während Scorpio mit den geleerten Wasserschläuchen los zog, um sie an einem Bach in der Nähe aufzufüllen.

Loke gab in das heiße Wasser Minzblätter, welche er am Waldrand gepflückt hatte, dann breitete er ihren Proviant aus: Getrocknete und frische Beeren, ein halber Laib Käse, zwei Laibe Brot, Trockenfisch, Pökelfleisch und ein kleines Stück Schinken. Dazu kamen mehrere Äpfel und Birnen. Sie waren von Crocus aus mit mehr Proviant aufgebrochen, als es für den Weg nach Heartfilia nötig war, aber Loke hatte auf Nummer sicher gehen wollen.

Während Loke das Brot schnitt, regte sich der Exceed wieder. Seine Lider flatterten mehrmals, dann öffneten sich die großen Augen. Zuerst sah der junge Kater verwirrt aus, dann ängstlich, dann wieder verwirrt.

Lucy schob sich in sein Sichtfeld. „Keine Angst, du bist in Sicherheit.“

Der Exceed richtete sich langsam auf und zuckte dabei vor Schmerz zusammen.

„Keiner von uns ist ein Heiler oder Arzt“, erklärte Lucy entschuldigend. „Ich habe getan, was ich konnte aber wir müssen dich zu einen richtigen Mediziner bringen. Ist dein Dorf in der Nähe?“

„Nein, ich komme aus Magnolia“, antwortete der Kater und wiegte den Kopf hin und her.

„Das ist ein weiter Weg“, stellte Loke mit einem Stirnrunzeln fest.

Überrascht, dass da noch jemand war, zuckte der Exceed zusammen. Beruhigend legte Lucy eine Hand auf seine Schulter.

„Das ist Loke und ich bin Lucy.“

„Ich bin Happy“, stellte er sich nun wieder sicherer vor. „Habt ihr mich gerettet?“

„Das war unser Freund Gemini“, erklärte Lucy lächelnd. Der Wesensgeist lugte aus seinem fertig aufgebauten Zelt heraus und salutierte lässig. „Sollen wir dich mit nach Heartfilia nehmen und von dort aus einen Boten nach Magnolia schicken, damit sich dort keiner Sorgen um dich machen muss?“

Nun deutlich selbstbewusster schüttelte Happy den Kopf. „Nein, Natsu wird sicher bald hier sein.“

„Noch ein Exceed?“, fragte Lucy.

Wieder ein Kopfschütteln. „Mein Partner.“

Loke runzelte wieder die Stirn und Lucy verstand auch, warum. Seit dem Bündnis zwischen Königin Shagotte und der Unsterblichen Kaiserin hatten sich die überlebenden Exceed auf die Städte und Fürstentümer Fiores aufgeteilt. Der Partner eines Exceed war also immer der jeweils amtierende Bürgermeister oder Fürst. Doch der Fürst von Magnolia war Makarov Dreyar, unterstützt von seinem Enkel und designierten Nachfolger Laxus. Ein Natsu von Magnolia war Lucy völlig unbekannt. Zumal Magnolia mit Lucky und Marl bereits zwei Exceed hatte. Wobei Happy, wenn Lucy es recht bedachte, durchaus der Sohn des Exceed-Paares sein könnte.

„Wer…?“, setzte Loke an, verstummte jedoch und legte den Kopf schief. Ein Zeichen dafür, dass er jemanden oder etwas hörte.

Plue huschte in Geminis Zelt, aus welchem der ältere Wesensgeist kam, eine Hand an seinem Schwert. Auch Scorpio und Sagittarius traten näher ans Feuer heran. Lucy wusste, dass Loke noch der Einzige war, der etwas hören konnte. Nur der Feuergeist besaß den außergewöhnlichen Hörsinn, aber die Anderen hatten ein Gespür für sein Verhalten und machten sich automatisch dafür bereit, Lucy im Ernstfall vor jedweder Bedrohung zu beschützen. Unwillkürlich versicherte Lucy sich mit einem Blick, dass ihr Rapier in Reichweite war.

Loke entspannte sich schließlich wieder und stand auf. „Dein Partner ist wohl gleich hier.“

Auch die Anderen entspannten sich wieder, auch wenn sie weiterhin in Bereitschaftsstellung bleiben. Happy wollte aufspringen seine Augen leuchteten vor Freude –, aber Lucy hielt ihn zurück, damit seine Wunden nicht wieder zu bluten begannen.

„Er ist schnell“, stellte Loke fest und Lucy hörte Anerkennung aus seiner Stimme heraus.

Wenig später konnten sie alle einen Mann hören, der immer wieder nach Happy rief und dabei stetig näher kam. Zwar blieb der Exceed auf Lucys erneute Ermahnung hin sitzen, aber er holte tief Luft und rief dann in den Wald hinein: „Natsu, ich bin hier!“

„Happy!“

Der Mann setzte zum Endspurt an. Lucy konnte das Rascheln der Zweige hören, welche den Partner des Exceed streiften, während er durch das Unterholz brach.

Und dann erreichte er das Lager, von Kopf bis Fuß ungestüm, auf eine beinahe animalische Art wild. Er trug einen Waffengürtel mit Langschwert und Dolch, aber er trug Pluderhosen, wie sie in der Stillen Wüste üblich waren, und eine offene Weste, die kaum ein Detail seines durchtrainierten Oberkörpers verbarg. Lucy erwischte sich beim Starren und ließ den Blick peinlich berührt weiter wandern, hoch zu einem markanten Gesicht mit ausdrucksstarken, dunklen Augen und wirren, rosafarbenen Haaren, in welchen sich einige Zweige verfangen hatten.

Er atmete zweimal tief ein und aus, dann hatte sein Atem sich bereits wieder beruhigt. Lucy schielte fragend in Lokes Richtung, aber ihr Freund schüttelte den Kopf unmerklich. Sie hatte sich also nicht geirrt, Natsus außergewöhnliche Konstitution hing wirklich nicht damit zusammen, dass er vielleicht ein Geist war. Das musste eine andere Ursache haben.

Happy ließ sich nicht mehr halten. Er rappelte sich auf und stakste unter offensichtlichen Schmerzen zu seinem Partner. Dieser ging in die Knie und schloss den Exceed in die Armee. Lucy lächelte und bedeutete ihren Begleitern, dass kein Grund mehr zur Anspannung bestand. Dennoch ließ Gemini sich vor seinem Zelt nieder und Scorpio und Sagittarius nahmen zwar ihre vorherigen Aufgaben wieder auf, blieben jedoch aufmerksamer als sonst. Jeder von ihnen durch und durch ein Schüler des gestrengen Capricorn.

Lucy stand auf und trat auf das ungleiche Duo zu. Ihr Rapier blieb am Feuer liegen, denn irgendwie war Lucy sich vollkommen sicher, dass von diesem ungewöhnlichen Mann keinerlei Gefahr für sie ausging.

Natsu stand mit Happy in seinen Armen auf, als er Lucy bemerkte. Er schenkte ihr ein breites Grinsen, aus dem Dankbarkeit, Erleichterung und Wiedersehensfreude sprachen. Ganz unwillkürlich musste Lucy auch grinsen.

„Ihr habt Happy gerettet“, sagte Natsu mit einer leicht vibrierenden Stimme. Seine dunklen Augen leuchteten vor Freude. Er streckte ganz zwanglos die Hand aus – und aus irgendeinem Grund war Lucy sich sicher, dass er das auch dann täte, wenn er um ihren Stand wüsste. „Vielen Dank! Ich stehe in eurer Schuld!“

„Wir erwarten keine Gegenleistung“, erwiderte Lucy lächelnd und legte ihre Hand in Natsus.

Sie war rau und schwielig, die Hand eines Mannes der Tat, und sie war unglaublich warm. In dem Moment des ersten Hautkontakts überkam Lucy ein Gefühl, das sich mit keinem Wort in irgendeiner ihr bekannten Sprache beschreiben ließ. Es hatte etwas von Ewigkeit und Flüchtigkeit zugleich, Schicksal und Selbstbestimmung. Wichtig und nichtig. Warm und kalt. Aufregend und beruhigend. Es war alles und nichts, voll und leer, schön und hässlich.

Es schien nichts mehr auf der Welt zu existieren außer diesem Händedruck. War das Magie oder waren das überschäumende Gefühle?

Die Überraschung in Natsus Blick verriet Lucy, dass auch er etwas spürte. Doch er erlangte zuerst seine Fassung wieder und sein Grinsen wandelte sich zu einem Lächeln voller Vertrauen und Wärme, das Lucys Knie ganz schwach werden ließ.

„Ich bin Natsu. Natsu Dragneel“, stellte er sich sanft vor.

„Lucy“, antwortete die Blonde mit belegter Stimme. Ihre Hand ruhte noch immer sicher in seiner und es war unvorstellbar, sie jemals wieder heraus zu ziehen. „Lucy Heartfilia…"

Der Morgen, an dem sie eigentlich Kräuter sammeln wollten

12 Jahre vor der Opferung
 

Cait Shelter lag im Nebel, geheimnisvoll und verschlafen. Die umliegenden Berge waren nicht auszumachen. Romeo konnte nicht einmal bis zum Ende der Gasse blicken – und keine der Gassen von Cait Shelter wäre jemals als lang zu bezeichnen. Aus purer Langeweile hatte Romeo einmal diese Gasse vermessen: Dreißig große Schritte waren es von der Schmiede seines Vaters bis zur Kasernenmauer. Und eben diese Mauer konnte er nur sehr vage erahnen.

Selbst sein Vater, auffällig hochgewachsen und aufgrund der Kälte in seinen Mantel gekleidet, erschien zuweilen nicht ganz klar und deutlich für Romeo. Obwohl er den Weg zur Kaserne auch in finsterster Nacht gefunden hätte, beeilte Romeo sich, zu seinem Vater aufzuschließen.

Heute war ein Nebeltag, das spürte jeder Einwohner von Cait Shelter in den Knochen. An Nebeltagen verließ man die sicheren Häuser nur, wenn es unbedingt nötig war. An Nebeltagen wurde das bunte und lebendige Cait Shelter zur Geisterstadt.

Romeo und sein Vater Macao durften den Wachposten am offenen Tor der Kaserne passieren. Die Stadtwachen lebten alle in ihren eigenen Häusern, ebenso die Rekruten, daher bestand die Kaserne nur aus einem Verwaltungsgebäude, einem Waffenlager – eben jenes Gebäude, welches Macao ansteuerte – und einem Übungsplatz. Die Mauer war nur dafür da, damit niemand die Rekruten von ihren Übungen ablenkte. Das hatte Macao seinem immer neugierigen Sohn einmal erklärt.

An Nebeltagen schienen jedoch selbst die Übungen der Rekruten ausgesetzt zu werden. Im Verwaltungsgebäude war Kerzenschein zu erkennen. Am Waffenlager wartete der Rüstungsmeister Goldmine. Ansonsten war die Kaserne beinahe wie ausgestorben.

Beinahe.

Am Rande des Übungsplatzes erkannte Romeo im Nebel mehrere Gestalten. Zwei davon – eine große und eine kleine – bewegten sich. Wurde ein neuer Rekrut unterwiesen? Romeo blickte zu seinem Vater, doch der war bereits mit Goldmine in ein gedämpftes Gespräch vertieft. Die beiden Ratsherren würden Romeo nicht vermissen – und er verstand ohnehin nur die Hälfte ihrer Fachsimpeleien. Er wusste nur, dass es darum ging, das zu ersetzen, was die Stadt während des Krieges verloren hatte, aber sie jonglierten dabei mit Zahlen, die weit über das Vorstellungsvermögen eines Siebenjährigen hinaus gingen.

Romeo wandte sich demonstrativ von den beiden Männern ab, blickte jedoch noch mal über seine Schulter. Sein Vater sah kurz zu ihm und nickte, dann widmete er sich wieder Goldmine. Macao wusste, dass sein Sohn die Spielregeln kannte, daher machte er sich – sehr zu Romeos Freude – keine Sorgen. Sie waren ein eingespieltes Team. Sehr zum Leidwesen des einzigen weiblichen Familienmitglieds.

Gemächlich schlenderte Romeo über den Übungsplatz zu jener Gruppe, die seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Als er sich näherte, erkannte er Vater Block, den Leiter des Waisenhauses von Cait Shelter, daneben der uralte, verhutzelte und winzige Roubaul, der Meister der Bücher. Gogotora, der breitgesichtige, rotbraune Exceed von Cait Shelter, stand mit einer sehr jungen Exceed, deren Fell reinweiß war, daneben.

Romeo kannte diese Exceed nicht. Laut dem, was Meister Roubaul in seinem Geschichtsunterricht über den Untergang von Extalia erzählt hatte, hatten Königin Shagotte und die Unsterbliche Kaiserin sich darauf geeinigt, dass in jedem Fürstentum von Fiore ein Exceed sein sollte, um eine schnelle Kommunikation zu ermöglichen. Wenn Romeo sich richtig erinnerte, gab es da einige Ausnahmen, aber etwas viel Interessanteres hielt ihn davon ab, weiter darüber nachzudenken:

Die große kämpfende Gestalt, die er gesehen hatte, war Azuma, ein riesiger, breitschultriger Mann, dessen Haar und Bart von dunkelbrauner Farbe war und Romeo immer an die Löwenbilder erinnerte, welche Meister Roubaul im Naturkundeunterricht gezeigt hatte. Azuma war ein Kriegsveteran. Er hatte nach Abschluss seiner Ausbildung in Extalia die diplomatische Mission begleitet und sich im darauf folgenden Krieg hervor getan. Nach der Zerstörung des kleinen Königreichs der Exceed war Azuma nach Cait Shelter zurückgekehrt und sogleich für die Rekrutenausbildung akquiriert worden.

Romeo hatte schon ein paar Mal beobachten können, wie gnadenlos Azuma seine Rekruten drillte. Gnadenlos, aber niemals grausam. Er war uneingeschränkt fair. Romeos Vater sprach in dem Zusammenhang oft von Prinzipientreue. Für den jungen Schmiedesohn war Azuma gewissermaßen ein Held und Vorbild.

Doch hier und jetzt geriet dieses Ideal gewaltig ins Wanken, denn Azumas Schüler war ausgerechnet der Mensch, dem Romeo nie und nimmer eine Waffe in die Hand drücken würde – auch nicht ein Übungsschwert aus Holz: Wendy Marvell.

Sie war ein Jahr jünger als Romeo, war ihm jedoch schon mehrmals im Unterricht aufgefallen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kindern war sie mit Feuereifer beim Lernen dabei. In den Pausen las sie oft fürchterlich dicke Bücher oder arbeitete im Kräutergarten. Romeo wusste, dass sie eine Waise war und bei Vater Block wohnte. Doch wenn er sie sah, war er deswegen nicht von Mitleid erfüllt, sondern empfand vielmehr ein bisschen so etwas wie Bewunderung.

Wendy hielt das Schwert, als wäre es eine Schlange, ihre Augen extrem geweitet und voller widerstreitender Gefühle. Sie war in Romeos Augen ganz und gar fehl am Platz.

Azuma hob wieder sein Schwert und erklärte: „Du darfst dich nicht so versteifen. Das bereitet dir nur Schmerzen, wenn du parierst oder selbst angreifst. Du bist flink, mach’ dir das zunutze.“

„O-okay“, murmelte Wendy, aber ihre großen Augen waren voller Angst.

Vater Block hatte die Lippen aufeinander gepresst und runzelte missbilligend die Stirn. Meister Roubaul schüttelte sachte den Kopf. Gogotora verschränkte die Arme vor der rundlichen Gestalt. Doch keiner von ihnen sagte etwas. Keiner unternahm etwas, als Azuma auf Wendy zutrat.

Romeo konnte sich nicht mehr beherrschen. Er überwand den Abstand zu den Anderen mit großen Schritten und stellte sich demonstrativ zwischen Wendy und Azuma, das Gesicht letzterem zugewandt, die Arme ausgebreitet.

„Hört auf damit! Wendy ist keine Kämpferin!“

„Romeo…“ Die Art, wie das Mädchen seinen Namen aussprach, bekräftigte Romeo in seinem Entschluss.

„Wendy wird einmal eine Ärztin, sie könnte niemals jemanden verletzen“, erklärte er voller Inbrunst, drehte sich um, nahm Wendy die Übungswaffe ab und warf sie Azuma vor die Füße.

Der Ausbilder hob die Augenbrauen und blickte dann abwartend zu den anderen Männern, welche sich nicht so gut unter Kontrolle hatten und Grimassen zogen, als hätten sie etwas besonders Ekliges geschluckt.

„Wendy muss sich selbst verteidigen können“, erklärte Meister Roubaul mit knirschender Stimme, die Hände zu fest um seinen knorrigen Gehstock geschlungen. „Das verstehst du nicht, Romeo.“

„Tue ich wohl“, widersprach der Junge energisch. „Wendy ist kein Mensch, der anderen weh tut. Wenn ihr sie dazu zwingt, ist das…“ Romeo rang um die richtigen Worte. Böse erschien ihm viel zu schwach.

„Ein Verbrechen.“

Alle drehten sich überrascht zu dem Sprecher um, der unbemerkt heran gekommen war. Er war schlank, was durch eine eng anliegende, dunkle Lederrüstung noch betont wurde. Sein markantes, ernstes Gesicht zierten auf der linken Seite drei Narben, die einander überkreuzten, und seine schwarzen Haare standen in alle Richtungen ab. An seiner Hüfte hingen ein Kurzschwert und ein Köcher mit schwarz gefiederten Pfeilen. Über die linke Schulter hatte er einen Kurzbogen geschlungen. Er war noch sehr jung, aber er hatte offensichtlich keine Scheu vor den Älteren. Im Gegenteil sogar: In seinem Blick lagen Wut und Verachtung, obwohl seine Züge sich überhaupt nicht regten.

„Mest Gryder“, stellte Azuma ruhig fest und nickte dem Jüngeren anerkennend zu. „Man hat dich für tot gehalten.“

Der junge Mann namens Mest – er mochte nicht einmal zwanzig Jahre zählen – erwiderte den Gruß nicht minder respektvoll. „Ich habe an der Front viel von deinen Taten gehört, Azuma.“ Dann wandelte sich der Respekt zu kalter Härte. „Warum versuchst du, meine Schwester zu unterrichten? Sie ist noch lange nicht im rechten Alter und bei meiner Abreise gab es noch keine Wehrpflicht. Hat sich in vier Jahren so viel in Cait Shelter verändert, dass nun Kinder zwangsrekrutiert werden?“

Verwirrt drehte Romeo sich zu Wendy um. Dieser Mest war ihr Bruder? Sie schien freudig-überrascht zu sein und ihr fragender Blick ging zu Vater Block, der allerdings noch immer Mest wie eine Erscheinung anstarrte.

Die weiße Exceed rührte sich zum ersten Mal und ging zu Wendy, um deren Hand zu ergreifen. Obwohl ihr Schlupf erst vor ein oder zwei Jahren gewesen sein konnte, wirkte sie schon sehr reif. „Wendy muss sich verteidigen können, mehr darfst auch du nicht wissen, Mest.“ Dabei huschte ihr Blick auch kurz zu Romeo, womit klar war, dass dieser auch nichts erfahren sollte.

Verärgert machte der Junge eine wegwerfende Handbewegung. „Eure Geheimnisse sind mir egal. Wendy kann nicht kämpfen und ihr dürft sie nicht zwingen. Wenn sie eine Verteidigung braucht, mache ich das!“

Jetzt starrten alle Romeo an – und sogar Azuma und Mest sahen überrascht aus. Meister Roubaul war der Erste, der sich wieder fasste. „Das ist unmöglich. Dein Vater wird das nicht erlauben.“

Rebellisch schob Romeo das Kinn vor. „Das ist meine Entscheidung! Und Wendys“, fügte er rasch hinzu und blickte zu dem Mädchen hinter sich.

Sie sah ihm auf eine Weise in die Augen, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte. Er verspürte den Drang, ihre Hand zu ergreifen und nie wieder los zu lassen. Langsam nickte sie und wandte sich dann an Meister Roubaul und Vater Block.

„Ich habe Grandine das Versprechen gegeben, auf mich aufzupassen. Aber ich habe Angst vor dem Kämpfen. Grandine wird Romeo auch vertrauen, ganz bestimmt.“ Ihr Blick wanderte weiter zu ihrem Bruder und sie lächelte schüchtern. „Und Mest auch.“

Hin und hergerissen wiegte Vater Block den Kopf, ehe er sich an den alten Stadtrat wandte. „Vielleicht ist es besser so…“

„Was ist besser so?“ Macao und Goldmine waren dazu getreten, begleitet von Wakaba, dem jüngst ernannten Quartiermeister der Stadt, welcher wie so oft seine Pfeife im Mund hatte.

„Dein Junge will Wendys Leibwächter werden“, erklärte Meister Roubaul.

„Auf keinem Fall“, platzte es aus dem Schmiedemeister heraus. „Romeo, geh’ sofort nach Hause!“

Romeo verschränkte die Arme vor der Brust. „Nein“, sagte er schlicht.

Noch nie hatte er seinen Vater so aufgelöst gesehen. In seinen Augen war Angst zu erkennen und er rang verzweifelt mit den Händen. Keine Spur mehr vom souveränen Schmiedemeister und Stadtrat Cait Shelters.

Erst Jahre später sollte Romeo begreifen, dass so ein Mann aussah, der befürchtete, das Wichtigste in seinem Leben zu verlieren. Hier und jetzt war diese Angst für Romeo jedoch vollkommen unverständlich, also reagierte er mit Trotz.

„Vielleicht sollte Mest den Jungen ausbilden“, sagte Azuma in die drückende Stille hinein. „Mest hat auch in dem Alter angefangen und er kann sich auch gleichzeitig darum kümmern, dass Wendy weiß, was in Krisensituationen zu tun ist. Er kann die Beiden als Team ausbilden.“

Macaos Blick zuckte von Mest zu Romeo und wieder zurück. Das sonnengebräunte Gesicht des Familienvaters war bleich und hatte sich verzogen, als hätte der Mann grauenhafte Schmerzen. Es tat Romeo weh, seinen Vater so zu sehen, zumal er den Grund für all das hier immer noch nicht verstand. Wer war diese Grandine und was hatte Wendy mit ihr zu tun? Warum war all das so ein großes Geheimnis? Romeo war verwirrt, aber sein Entschluss stand unumstößlich fest.

Meister Roubaul seufzte und blickte zu Macao. Wakaba war neben seinen Freund getreten und hatte ihm eine Hand auf die bebende Schulter gelegt. „Ich fürchte, das ist jetzt schon entschieden. Aber bevor ich als Stadtrat mein Votum dafür abgebe, sollten Mest und Romeo wissen, worauf sie sich eigentlich einlassen.“

Vater Block nickte erleichtert. Azuma rührte sich nicht. Mest jedoch trat zu Wendy und Romeo und stellte sich so zwischen sie, dass er Beiden je eine Hand auf die Schulter legen konnte. Grimmig-triumphierend blickte Romeo zu dem Soldaten auf, der mit einem angedeuteten Lächeln nickte.

Der Meister der Bücher räusperte sich. „Ihr dürft niemals mit Außenstehenden darüber reden. Je weniger Leute Bescheid wissen, desto geringer ist das Risiko für Wendy.“

Verstehend nickte Romeo und linste an Mest vorbei, um dessen Schwester ein zuversichtliches Grinsen zu schenken. Sie erwiderte die Geste mit einem sanften Lächeln, bei dem Romeo ganz warm zumute wurde.

Er blickte wieder zu Meister Roubaul. Er war neugierig, aber eigentlich müsste er gar nicht wissen, was es mit Wendy auf sich hatte. Er hatte sich bereits entschieden und von diesem Weg würde er nicht mehr abweichen…!
 

4 Wochen vor der Opferung
 

Etwas kitzelte Romeos Nase. Etwas Feines, Haariges und unglaublich gut Duftendes. Etwas so Vertrautes, als wäre es ein Teil seines Selbst. Obwohl noch im Halbschlaf, wusste er, wozu dieser Geruch gehörte, und sein Stirnrunzeln glättete sich wieder. Ein glockenhelles Kichern drang an seine Ohren, dann spürte er die hauchzarte Berührung weicher Lippen auf seinen, ehe der warme Körper sich zurückzog, der sich über ihn gebeugt hatte. Er seufzte verschlafen und drehte sich auf die Seite, schob sich dabei einen Arm unter den Kopf.

Es war ein schöner Frühsommermorgen. Die Vögel zwitscherten bereits ihre Lieder und in weiter Ferne glaubte Romeo, das Meckern von Gämsen zu vernehmen, sowie den Schrei eines Bartgeiers auf Beutezug. Klare Bergluft, vermischt mit dem herben Geruch der Kiefern und Tannen, die sich auf dieser Höhe noch hielten, drang in seine Nase. Neben ihm knisterte ein rauchloses Feuer und in der gusseisernen Kanne darüber begann das Wasser leise zu blubbern. Ganz in der Nähe raschelte das karge Unterholz unter ansonsten lautlosen Schritten und das verträumte Summen der schönsten Stimme, die Romeo kannte, drang aus dieser Richtung.

Wieder seufzte der junge Mann, zufrieden mit sich und der Welt, und öffnete die Augen, um die Besitzerin der Stimme zu betrachten. Ihre dunkelblauen Haare waren zu einem langen, dicken Zopf geflochten, damit sie nicht störten. Nur die Ponypartie fiel ihr manchmal in die Augen, während sie Moose vom Boden absammelte. Dann pustete sie sich selbst ins Gesicht, wodurch ihr Summen unterbrochen wurde. Es war kein richtiges Lied, keine definierbare Melodie. Wendy sang nicht, Musik gehörte nicht zu ihren zahlreichen Stärken, obwohl sie besser als irgendein anderer lebender Mensch hören konnte.

Sie trug praktische Lederhosen und eine leinene Bluse mit blauen Stickereien. Das Geschenk einer Freundin. Es brachte alles gut zur Geltung, ohne etwas zu stark zu betonen – etwas, wozu insbesondere in den Städten viele Frauen neigten, wie Romeo wusste.

Ihr Gesicht war etwas schmal, ihr Kinn spitz, die Wangenknochen hoch angesetzt. Ihre braunen Augen groß und von langen Wimpern bekränzt, nun halb geschlossen, während Wendy sich – Romeo wusste das nur zu gut – auf Tast- und Geruchssinn verließ, um das richtige Moos zu finden und behutsam vom Boden zu lösen, immer darauf bedacht, das nicht benötigte Moos nicht zu zerstören.

Lächelnd richtete Romeo sich auf und nahm die Kanne mit einem weichen Lederfetzen vom Gestell. Sobald das Wasser nicht mehr blubberte, streute er die frisch geernteten Kräuter, die Wendy bereit gelegt hatte, hinein. Sofort stieg ihm der erfrischende Geruch von wilder Minze in die Nase. Romeo ließ die Decke aus Gämsfell von seinen nackten Schultern gleiten, um das Frühstück vorzubereiten. Er schob kleine Käsestückchen in noch weiche Brötchen und spießte diese auf einem eisernen Harken auf, um sie über dem Feuer zu rösten. Die Reste des Gemüsebreis von gestern wärmte er in einem kleinen Topf auf, den er an das Gestell der Kanne hängte.

Ihre frischen Vorräte gingen bald zur Neige, aber Romeo machte sich keine Sorgen deswegen. Sie hatten noch genug lang haltbares Soldatenbrot für mindestens zwei Wochen und mit Wendys Nase und all dem Wissen, das Mest ihnen eingetrichtert hatte, fanden sie immer irgendwo Gemüse.

Als Wendys Summen verstummte, hob Romeo den Blick. Überraschung malte sich auf ihren Zügen ab. Als er ihrer Blickrichtung folgte, verstand er, warum. Zwischen zwei krummen Kiefern stand ein seltener Bewohner der Berge: Gut drei Meter lang und so dick wie die Hüfte eines ausgewachsenen Mannes, kurze stämmige Vorderbeine mit kurzen Krallen und der Andeutung von Schwimmhäuten. Die feucht schimmernden Schuppen in verschiedenen Grüntönen – ein weniger auffälliges Exemplar, als Romeo sie bisher gesehen hatte. Das Gesicht molchartig mit breitem Maul, geschlitzten Nüstern und runden, schwarzen Augen, so klein wie Hemdknöpfe – zu klein, wie es Unkundigen oft schien, die diese abstrakten Gesichter oft nach menschlichen oder tierischen Maßstäben beurteilten.

Romeo blickte zu Wendy zurück und tauschte ein Lächeln mit ihr. Er wusste, wie sehr sie sich immer freute, Tatzelwürmer zu sehen. Von allen Drachenartigen waren sie die sanftmütigsten, aber dadurch leider auch die seltensten, da sie sich so leicht fangen und töten ließen. Wilderei war im Gebiet von Cait Shelter verboten und wurde streng bestraft, aber die Trophäenjäger zu fassen, war alles andere als einfach. Dafür war das Verbreitungsgebiet der Tatzelwürmer zu weitläufig und zu unübersichtlich.

„Da will wohl jemand etwas von unserem Frühstück abhaben“, kicherte Wendy.

Romeo grinste. Tatzelwürmer waren Allesfresser und sehr gefräßige Gesellen – und der junge Mann kannte seine Freundin gut genug, um zu wissen, dass sie Freude daran hatte, die anhänglichen Drachenverwandten zu verwöhnen. Einmal hatten sie eine Gruppe von vier Gelegegeschwistern gefüttert, gerade einmal einen halben Meter lang, quirlig und zutraulich wie schmusebedürftige Hunde.

Der Tatzelwurm – ein Männchen, wie Romeo anhand des Rückenkamms erkannte – legte den behäbigen Kopf schief und leckte sich das breite, scheinbar zahnlose Maul. Dann senkte er die Schwulst, die seine spitzen Zähne verbarg und bebte mit dem Hinterleib.

Romeo war auf den Beinen, bevor er überhaupt daran gedacht hatte, die Scheide mit dem Kurzschwert – einem Meisterstück seines Vaters – in der Hand. Der Tatzelwurm schoss regelrecht auf Wendy zu, das Maul geifernd und zähneblitzend, die Vorderbeine nach vorn gestreckt, bereit Wendys Kehle zu zerfetzen.

Einen Meter vor dem Ziel rammte Romeo das Wesen mit der linken Schulter. Er prallte ächzend zu Boden – ein Tatzelwurm dieses Kalibers wog gut und gerne so viel wie drei Männer –, aber sein Gegner verlor den Schwung und taumelte an Wendy vorbei. Hastig sprang Romeo wieder auf und zog seine Freundin aus der Gefahrenzone, denn der Tatzelwurm drehte sich mit immer noch gebleckten Zähnen herum und sammelte mit seinem Hinterleib wieder Kraft für einen Angriffssprung. Der Rückenkamm wurde dunkler wegen des Blutes, das sich vor Aufregung darin sammelte.

„Auf einen Baum!“, befahl Romeo und schob Wendy in Richtung einer knorrigen Kiefer, die gerade so genug Raum zum Klettern bot. Dort würde Wendy sicher sein. Sie war aus Cait Shelter, wo die Kinder das Klettergeschick quasi in die Wiege gelegt bekamen.

Es blieb keine Zeit, um sicher zu gehen, dass Wendy seiner Anweisung Folge leistete. Der Tatzelwurm schoss auf den einzigen Gegner zu, der ihm blieb. Romeo sprang im letzten Moment zur Seite und zog in derselben Bewegung sein Schwert aus der Scheide. Die bläulich schimmernde Klinge ging auf das Rückgrat des Wesens nieder, doch sie prallte von der dicken Schuppenschicht ab und hinterließ nur einen unbedeutenden Kratzer. Romeos Arm kribbelte vom heftigen Rückstoß und er wechselte das Schwert in die linke Hand. Wie gut, dass Mest ihn auf alle Eventualitäten vorbereitet hatte.

Im nächsten Moment sprang er in die Höhe, weil der Tatzelwurm mit dem Hinterleib nach ihm ausschlug. Hätte er seine Stiefel an, hätte er nach dem Kopf des Untiers getreten. Das hätte ihm zumindest etwas Zeit verschafft. Er landete mit einem Fuß und schob den anderen unter die Scheide, die er hatte fallen lassen. Mit genau dem richtigen Kraftmaß trat er die Scheide in die Luft, fing sie auf und rammte sie mit aller Kraft gegen das eine Trommelfell des Tatzelwurms, die Breitseite seines Schwerts gegen das andere. Ein Manöver, dessen Meisterung ihm Jahre unter Mests strengen Augen gekostet hatte. Sein rechter Arm kribbelte noch mehr, aber es hatte sich gelohnt: Der Tatzelwurm taumelte benommen.

Romeo stieß die Luft aus – wie lange hatte er sie eigentlich angehalten? – und brachte etwas Abstand zwischen sich und seinen Gegner, um seine Lage zu überdenken.

Er würde sich selbst keineswegs als Tatzelwurm-Experten bezeichnen, aber eines war ihm vollkommen klar: Mit diesem Exemplar hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Es war gefährlich.

Normalerweise waren Tatzelwürmer in etwa so aggressiv wie ein Lamm. Sie wehrten sich nicht einmal dann, wenn man mit einem Schwert direkt vor ihnen stand. Die spektakulären Geschichten, welche aufgeblasene Trophäensammler in den Spelunken des Flachlands zum Besten gaben, hatten nichts mit der Realität zu tun. Einen Tatzelwurm zu töten, war so einfach, wie eine Blume zu pflücken.

Lediglich während der Paarungszeit konnte es zu Kämpfen zwischen den Männchen kommen, aber selbst das war nicht annähernd so gefährlich wie bei Tieren. Die Männchen schlugen ihre Bäuche gegeneinander und wetteiferten darum, wessen Rückenkamm dunkler wurde – aber sobald das zu erobernde Weibchen sich entschieden hatte, war die ganze Angelegenheit schon wieder vorbei.

Der Tatzelwurm fing sich wieder und drehte sich zu Romeo herum. Die Schwulst stülpte sich kurz über das Gebiss, dann entblößte sie es wieder. Ein Biss wäre lebensgefährlich, das war offensichtlich. Ebenso ein Schlag mit dem Hinterleib – der würde Romeo wohl so viele Knochen zertrümmern, dass selbst Wendy keine Chance mehr hätte, ihn zu retten.

Allerdings hatte Romeo nicht vor, sich beißen oder schlagen zu lassen! Er hatte einer Menge Leute geschworen, dass er Wendy beschützen würde. Nicht dass auch nur einer dieser Schwüre jemals schwerer gewogen hätte als sein eigener Wunsch, Wendy immer beizustehen!

Der Tatzelwurm griff wieder mit dieser irrsinnigen Schnelligkeit an, die man ihm nie im Leben zutrauen würde. Romeo rannte ihm entgegen und holte mit dem Schwert aus, um auf die Kehle zu zielen, wo die Schuppen ungleich dünner und verletzlicher waren. Doch im letzten Moment senkte das Untier den grotesken Kopf. Hatte es die Gefahr erkannt?

Romeo sprang beiseite und rollte sich ab, wofür er die Scheide wieder fallen lassen musste. Beinahe wäre er in das Lagerfeuer hinein geraten, aber er konnte unmittelbar davor in einer Hockstellung landen. Noch in eben dieser Stellung drehte er sich um. Der Tatzelwurm setzte schon wieder zum Angriff an. Keinerlei Anzeichen von Ermüdung.

Aus der Hocke machte Romeo einen Rückwärtssalto, kam auf der anderen Seite des Lagers auf und griff nach dem Wurfdolch, der zusammen mit den anderen Waffen neben der Schlafstatt lag. Es blieb keine Zeit, um darüber nachzudenken, geschweige denn zu zielen, aber die benötigte der junge Krieger auch nicht. Er warf die Klinge und traf das linke Auge des Drachenartigen.

Dieser riss das Maul für ein gequältes Zischen auf – der erste Laut, den Romeo jemals von einem Tatzelwurm zu hören bekam – und krümmte sich noch im Sturm zusammen. Die gewaltige Masse aus Fleisch und Schuppen rollte regelrecht über Romeo hinweg. Eine der Klauen riss seine linke Schulter auf und er wurde nach hinten gestoßen und stieß sich den Hinterkopf an einem Stein.

Mit pochendem Schädel richtete er sich wieder auf. Er hatte keine Zeit zum Verschnaufen, denn der Tatzelwurm wand sich so heftig vor Schmerzen, dass er Romeo beinahe nochmals überrollt hätte. Der junge Krieger stolperte rückwärts, bis er außer Reichweite des Ungetüms war. Das Lagerfeuer und die drum herum zerstreute Ausrüstung wurden niedergewalzt. Romeo konnte das Knacken der Pfeile hören, die sich im Köcher neben dem Schlaflager befunden hatten. Er hätte Pfeil und Bogen aus der kurzen Distanz ohnehin nicht verwenden können, aber es war schade um die Arbeit, die er bei der Anfertigung gehabt hatte.

Der Tatzelwurm versuchte offensichtlich, den Dolch in seinem Auge wieder los zu werden. Er drehte sich um die eigene Achse und entblößte dabei immer wieder seine empfindliche Bauchseite. Romeo zögerte nicht mehr, er nahm sein Schwert in beide Hände, sprang und schlug mit aller Kraft zu, die er noch aufbringen konnte – einen Sekundenbruchteil zu spät. Der Tatzelwurm drehte sich bereits wieder und Romeo konnte sehen, wie sich ihm das Maul entgegen reckte, aber er wurde von seinem eigenen Schwung weiter getragen. Direkt auf die tödlichen Zähne zu…

Und dann wurde er von warmer Luft umspült und weiter getragen – sicher über die Bedrohung hinweg. Die Windmagie fing den Schwung seines Sprungs ab und ließ ihn in sicherer Entfernung vom Tatzelwurm weich landen.

Erleichtert stieß er den angehaltenen Atem aus und blickte zu Wendy hoch, die sicher in einer dicken, aber engen Astgabel der Kiefer saß und zu ihm hinunter sah. Er nahm sich die Zeit, ihr ein Lächeln zu schenken, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Tatzelwurm, der es endlich geschafft hatte, sich des Dolchs zu entledigen – auch wenn er sich dabei die linke Gesichtshälfte fürchterlich zerkratzt hatte.

Der Drachenartige gab ein Fauchen von sich, das beeindruckend nahe an dem eines Drachen dran war. Wieder sammelte er alle Kraft im Hinterleib und schoss vor. Im letzten Moment ließ der junge Krieger sich schräg nach vorn fallen, das Schwert seitlich ausgestreckt, die Beine sofort wieder gespreizt, die nackten Füße in den aufgewühlten Boden gegraben, um der Wucht des Angreifers zu widerstehen.

Romeo spürte mehr, als dass er es sah, wie der Stahl sich tief in die Kehle des Tatzelwurms grub. Mit aller Kraft hielt Romeo sein Schwert an Ort und Stelle, aber mit Kraft und Masse des Tiers konnte er sich allen Trainings zum Trotz nicht messen. Die Klinge wurde ihm aus den Händen gerissen und er selbst wurde wieder umgeworfen.

Stöhnend vor Schmerz hob er sein Gesicht aus dem zerdrückten Moos und sah sich nach seinem Gegner um, doch in diesem Moment ging Wendy neben ihm in die Knie, das Gesicht bleich und noch vom Schrecken des Erlebten gezeichnet.

„Du hast es geschafft“, krächzte sie. In ihrer Stimmen klangen gleichermaßen Erleichterung und Bedauern mit. Romeo verstand, wie es gemeint war, und legte ihr tröstend eine Hand auf die Wange. Sie schmiegte sich für einige Sekunden dankbar dagegen und holte mehrmals tief Luft, dann setzte sie wieder ihr Heilergesicht auf. „Was tut dir weh?“

Romeo versuchte gar nicht erst, seine Blessuren herunter zu spielen. Zu oft hatte er gesehen, wie streng Wendy zu ihren Patienten war, wenn diese nicht vernünftig waren. Artig ließ er sich an der Schulter versorgen und einige einfache Tests über sich ergehen, damit eine Gehirnerschütterung ausgeschlossen werden konnte.

Nachdem Wendy Entwarnung gegeben hatte, stand Romeo auf, um sich Hemd und Stiefel anzuziehen. Während er noch das lockere Hemd zuknöpfte, betrachtete er nachdenklich den Leichnam des Tatzelwurms. Das Verhalten des Drachenartigen war ihm immer noch ein Rätsel.

„Vielleicht hat jemand Magie an ihm ausgeführt“, riet er ins Blaue hinein. „Auch wenn das so ziemlich das Dümmste seit der Erfindung der Männerstrumpfhosen wäre…“

Über Wendys Gesicht huschte ein Grinsen, doch dann wurde sie wieder ernst und nickte bedächtig. Selbst Romeo, der nicht einen Hauch von Magie sein Eigen nennen konnte, wusste nur zu gut, dass menschliche Magie für Drachenartige viel zu schwach war und daher meist eher den gegenteiligen Effekt hatten, wenn denn überhaupt einen.

„Also wirklich, da lasse ich euch einmal allein, damit ihr in Ruhe turteln könnt, und dann das!“

Romeo und Wendy blickten auf, als eine weiße Exceed in einem mit dezenten Rüschen besetzten Kleid zu ihnen herabgeschwebt kam. An der Schwanzspitze war eine Schleife im selben Blauton wie ihr Kleid befestigt. Die Arme hatte sie vor der Brust verschränkt.

Romeo versuchte, wegen des Kommentars mit dem Turteln nicht zu erröten, und verschränkte seinerseits die Arme vor der Brust, was ein leichtes Ziehen in seiner Schulter verursachte – damit würde er sich noch ein paar Tage lang arrangieren müssen, auch Wendys Heilmagie war nicht allmächtig.

„Ich habe mir das hier sicher nicht ausgesucht!“

Charle winkte ab und wandte sich fragend an Wendy, welche jedoch nur ratlos mit den Schultern zuckte.

„Er hat uns ohne jeden Grund angegriffen...“

„Merkwürdig…“, murmelte Charle.

„Zu dem Schluss sind wir auch schon gekommen“, murrte Romeo verdrießlich.

Die Exceed ignorierte ihn voller Erhabenheit. Er schnitt ihr eine Grimasse und machte sich auf die Suche nach seinem Dolch, ein Geschenk von Natsu. Seine Gedanken kreisten jedoch immer noch um den Tatzelwurm.

„Was ist, wenn so etwas noch mal passiert und jemandem, der sich nicht so gut wehren kann?“, murmelte Wendy voller Sorge.

„Es muss eine Ursache hierfür geben“, erwiderte Charle. „Und es muss etwas Gefährliches sein… Wir sollten mit dem Rat darüber reden und dafür sorgen, dass alle gewarnt sind.“

Nachdenklich nickte Romeo, aber er hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie beim Rat keine Antworten erhalten würden…

Der Tag, an dem sie heimkehrten

5 Wochen vor der Opferung
 

Wenn im Rest von Fiore Frühsommer herrschte, waren die Winde auf dem Spaltengletscher unstet und tückisch. Sie trieben Gletscherläufern Tränen in die Augen und behinderten so die Sicht auf das Panorama des Spaltengletschers, einer zerklüfteten Wand aus uraltem, stetig wanderndem Eis in geheimnisvollen Blau- und Grüntönen. Ein Labyrinth aus Schluchten und Eisgebilden, die teilweise sogar an menschliche Gebäude erinnerten, immer wieder durchsetzt von riesigen Findlingen. Gewaltige Schneewehen sammelten sich an Wänden und in Kratern und machten letztere zur Todesfalle. Hier nichts sehen zu können, war lebensgefährlich.

Auch für Gray blieb die wilde Schönheit des Gletschers weitgehend verborgen, während er sich in den Rückenwind lehnte, um nicht nach vorn zu stolpern, und seine Schritte nur langsam und immer vorsichtig tastend setzte. Sein Gespür für Eis und seine Sinne suchten seine unmittelbare Umgebung ab, achteten auf alles, was eine Gefahr darstellen könnte, und verfolgten den sicheren Pfad, dessen gut versteckte Anzeichen zu lesen, Gray vor vielen Jahren gelernt hatte.

Ein Ruck an seiner Hüfte ließ ihn innehalten. Schwerfällig drehte er sich herum und blickte hinter sich zu der Person, die mit ihm über ein Seil verbunden war. Die Kleidung war so dick, dass keine Körperkonturen zu erkennen waren, aber eine pinkfarbene Strähne hatte sich aus der Kapuze aus Elchfell gemogelt und flatterte nun im schneidend kalten Wind vor und zurück. Gray konnte ihr Gesicht nicht erkennen, denn sie hatte sich herum gedreht und blickte zur dritten Person ihrer kleinen Gruppe zurück. Schnaubend stapfte er mit seinen mit Eiskrallen bewehrten, pelzverbrämten Stiefeln zurück.

Eisiger Wind pfiff ihm nun wieder ins Gesicht, aber dennoch erreichte er Lyon noch vor Meredy, obwohl diese den kürzeren Weg hatte. Sie war es eindeutig nicht gewohnt, sich auf solchem Terrain und mit so klobiger Kleidung zu bewegen. Irgendwann musste selbst ihre Anpassungsfähigkeit an ihre Grenzen stoßen.

In eine Jacke aus Elchfell gekleidet, kniete Lyon am Boden und strich mit der bloßen Rechten über eine Stelle im blaugrünen Gletschereis. Stirn runzelnd trat Gray näher und hockte sich daneben. Unter der Einflussnahme seines Bruders schwand ein kleiner Teil der oberen Eisschicht – oder vielmehr wurde er durchsichtig – und offenbarte ein etwa faustgroßes Knochengebilde.

„Was ist das?“ Meredy kniete nun zu Lyons anderer Seite, wo sie besser vom Wind geschützt war. Dennoch konnte Gray sehen, wie sie erzitterte.

„Eine Gletschermarke“, erklärte Lyon, dem genau wie Gray überhaupt nicht anzumerken war, ob ihm kalt war. „Gletscherläufer hinterlassen sie einander, um vor Gletscherspalten und ähnlichen Gefahren zu warnen.“

„Und wovor warnt diese Gletschermarke hier?“

„Vor einer eingebrochenen Brücke, etwa hundert Schritte vor uns“, antwortete Lyon und zeigte auf zwei schmale, parallel ausgerichtete Knochen, gekreuzt von einem dicken, kurzen. Drüber waren zehn kleine, dunkle Steinchen eingesetzt.

„Woher wisst ihr, welche Richtung gemeint ist?“, stellte Meredy eine sehr folgerichtige Frage.

Gray zog ebenfalls einen Handschuh aus – er bemerkte, wie Meredy bei dem Anblick erschauderte – und deutete auf den längsten Knochen, etwa so lang wie ein Zeigefinger. Er stand senkrecht zum Brückensymbol und an ein Ende war ein Splitter gesetzt worden.

Verstehend nickte Meredy, ehe sie mit ihrem Fäustling aus Schneehasenfell auf die übrigen Knochen und Steine deutete. „Und was bedeutet das?“

„Es ist eine Zeitangabe“, erklärte Lyon und deutete auf ein kreisförmig geschliffenes Knochenstück. „Das steht für den Vollmond. Die drei kleinen Steine davor geben an, der wievielte Mond des Jahres gemeint ist, die Stäbe dahinter sagen an, wie viele Tage vor oder nach dem Vollmond die Marke gesetzt wurde. Horizontal für davor, vertikal für danach. Ein Neumond wird mit einem dunklen Stein gekennzeichnet.“

„Also wurde diese Gletschermarke sechs Tage nach dem dritten Vollmond gesetzt“, kombinierte Meredy und noch während sie sprach, runzelte sie die Stirn. „Ist das nach Dorfzeitrechnung nicht schon einen ganzen Mondumlauf her?“

„Und genau das ist das Seltsame an dieser Marke“, murmelte Gray. „Es hätte schon längst ein neuer Weg gelegt werden müssen. Gletscherläufer lassen einander keine Umwege gehen…“

„Vater wird sicher eine Erklärung dafür haben“, entschied Lyon und stand wieder auf.

Gray fuhr mit seiner nackten Hand über die Marke, um das Eis darüber wieder undurchsichtig zu machen. Nur Eismagier und sehr geübte Gletscherläufer konnten sie wieder finden. Eine der Schutzmaßnahmen der Eismenschen.

Er stand auch wieder auf und zog sich seinen eigenen Fäustling wieder an, obwohl er ihn kaum brauchte. Die Eisseele schützte ihn wie jeden anderen Eismenschen auch vor Unterkühlung. Dennoch gingen sie immer lieber auf Nummer sicher, auch wenn nicht zu erwarten war, dass sie ihre Magie derartig stark einsetzen mussten, dass die Eisseele zu schwach wurde, um sie zu schützen. Man konnte gar nicht so dumm denken, wie es manchmal kam – und der Gletscher verzieh keine Fehler, pflegten die Eismenschen zu sagen.

Sie gingen den Umweg und verfolgten den alten Pfad schließlich weiter. Gray an der Spitze, Lyon hinten und Meredy als unerfahrener Sonnenmensch in der sicheren Mitte. Als das Grau des Himmels sich immer weiter abdunkelte und der Wind noch kälter wurde, hielt Gray nach einem Rastplatz Ausschau.

An der Wind abgewandten Seite eines Eisfindlings schlugen sie ihr Lager auf. Sie stellten einen stabilen Rahmen aus langen, dicken Knochen auf und breiteten darüber erst einen Eisbärenpelz, dann zwei wasserdichte Elchlederdecken, die sie innen durch eingearbeitete Ösen mit einem weiteren Eisbärenpelz verknüpften, der als Untergrund diente.

In diesem Schutz holte Lyon einen Lichtlacrima hervor und rieb diesen sachte, bis er ein warmes Licht ausstrahlte, das hell genug war, damit sie einander sehen konnten. Ein Zugeständnis gegenüber Meredy. Gletscherläufer verwendeten solcherlei Hilfsmittel nur in Notfällen. Sie gingen sparsam damit um, denn Lacrima waren teuer und das Dorf war nicht darauf ausgelegt, viel Handel zu betreiben. Überwiegend lebten sie von dem, was die Eiswüste ihnen bot.

Meredy öffnete ihre Kapuze und schüttelte den langen pinkfarbenen Zopf aus. Gray bemerkte, wie sein Bruder sie dabei hingerissen beobachtete, und er verdrehte die Augen, ehe er den Proviant hervorholte. Pökelfleisch und getrockneter Fisch, dazu ein Tiegel mit fettem Quark und Brot zum Eintunken. Den Quark und das Brot schob er Meredy zu. Ihr Körper kannte die Strapazen des Eises nicht und brauchte viel Fett.

Klaglos nahm Meredy dieses für sie eher ungewohnte Mahl zu sich, richtete dabei jedoch den fragenden Blick ihrer smaragdgrünen Augen auf ihren Freund. „Wie weit ist es jetzt noch?“

„Zwei Tage, wenn wir keine weiteren Umwege einschlagen müssen. Wir sind gut voran gekommen.“

„Und das, obwohl Lyon so ein Trödler ist“, spottete Gray, worauf sein Bruder ihm eine wüste Geste machte, die sich in Gegenwart einer hochgeborenen Dame eigentlich ganz und gar nicht schickte.

„Du meinst, obwohl ihr mit einem Sonnenmenschen unterwegs seid“, erwiderte Meredy und tätschelte besänftigend den Arm ihres Freundes.

Gray zuckte mit den Schultern. „Ich habe bisher noch keine Gletscherüberquerung mit einem Sonnenmenschen gemacht, aber wir sind zumindest nicht gravierend langsamer als bei unserer letzten Überquerung.“

„Was er damit sagen will, dieses ungesprächige, uncharmante Eishirn, ist, dass du dich gut hältst“, sprang Lyon ein und beugte sich zu seiner Freundin.

Gray schnaufte und drehte sich mit einem getrockneten Fisch herum, um den Beiden nicht beim Turteln zusehen zu müssen. Stören wollte er sie jedoch nicht, wusste er doch, wie nervös sein Bruder sein musste…
 

3 Monate vor der Opferung
 

Die Universität von Crocus war die größte und beste von ganz Ishgar. Von Nah und Fern strömten Männer und Frauen allen Alters herbei, um hier zu studieren. Gut zehntausend Studenten waren hier eingeschrieben – und gefühlt die Hälfte von ihnen hatte sich gerade in der Mensa versammelt. Das Klappern des Geschirrs, das Knarren der Stühle, das Trampeln der Füße, das Lachen, Rufen und Diskutieren der Studenten – es war eine immer währende Kakophonie, die das große Gebäude erfüllte.

Gray seufzte genervt und senkte den Blick wieder auf die Karte, die auf dem Tisch vor ihm ausgebreitet war. Solange Lucy und die Anderen da gewesen waren, war ihm der Lärm gar nicht so sehr aufgefallen, weil sie ihm so viel auf der Karte von Fiore gezeigt hatten, aber jetzt fühlte es sich an, als würde eben dieser sich in seinen Kopf bohren.

Seit vierzehn Jahren lebte er in Crocus, aber er hatte sich nie voll und ganz an dessen Hektik und Lautstärke gewöhnen können. Da war es für ihn sogar einfacher, mit den hohen Temperaturen zu Recht zu kommen.

Aber er musste schon zugeben, dass es auch spannend war, so viel zu erfahren. Er schätzte Lucy und Levy und er lernte gerne mehr über ihre Lebensweisen. Auch auf Lucys Einladung, sie in Heartfilia zu besuchen, würde er definitiv irgendwann zurück kommen. Auch wenn ihn das noch mehr in den Süden führen würde. Noch weiter weg von seiner Heimat.

Gedanken verloren wanderte Gray mit einem Finger die große Nordstraße entlang, die von Crocus nach Margaret, dann weiter nach Oak und schließlich in das wilde, oft unwegsame Gebirge von Cait Shelter im Nordwesten führte. Hinter Oak zweigte von der Hauptstraße eine kleinere ab, die schnurgerade in den Norden und somit nach Boscun am Rande der Eiswüste führte. Von Boscun aus ging es nicht weiter in den Norden. Zumindest nicht auf öffentlichen Wegen. Nur Gletscherläufer wagten sich über den Spaltengletscher, in die Eiswüste und bis zum Dorf der Eismenschen.

Gray fuhr über den Titel über dem kleinen Punkt, der seine Heimat symbolisierte. Es gab keinen richtigen Namen für das Dorf. Für seine Einwohner war es einfach nur die Heimat. Aus Neugierde hatte Gray mal mit Levys Hilfe in der Universitätsbibliothek recherchiert, ob das Dorf jemals einen Namen besessen hatte, aber er war nur auf allerlei Varianten des heute noch gebräuchlichen Titels gestoßen.

Vor vierhundert Jahren waren die Eismenschen wie aus dem Nichts in der Geschichte Fiores aufgetaucht und hatten den Spaltengletscher und alles nördlich davon zu ihrem Gebiet erklärt. In den damals herrschenden Wirren hatte niemand diesem Anspruch mit der nötigen Autorität widersprechen können, aber über anderthalb Jahrhunderte lang war es als Rebellen- oder auch als Wildendorf verunglimpft worden, ehe die Unsterbliche Kaiserin das Dorf offiziell anerkannt und mit dessen Anführer den sogenannten Nordfrieden geschlossen hatte.

Nicht einmal die Dorfbewohner selbst wussten so richtig, wo ihre noch so junge Geschichte ihren Anfang genommen hatte. Es gab kaum schriftliche Überlieferungen – die ersten erst aus der Zeit des Nordfriedens –, nur viele Lieder und Legenden, allesamt farbenfroh ausgeschmückt, doch viele drehten sich um die Mission der Eismenschen, ihre ewige Aufgabe. Ein Geheimnis, das die Dorfbewohner eifersüchtig hüteten…

„Unser letzter Besuch ist vier Jahre her.“

Gray blickte von der Karte zu seinem Bruder auf, welcher ihm gegenüber saß und nun ebenfalls von der Karte aufsah. Lyon kam in allem nach ihrer gemeinsamen Mutter Mika mit seinen edlen Gesichtszügen, den mandelförmigen, schwarzen Augen, die allein schon eine Waffe für den Frauenfang waren, und den schneeweißen Haaren, die gezielt verwegen in seine Stirn hingen. Um sie herum registrierte Gray mehrere interessierte Frauenblicke. Dabei musste er seinem Bruder wirklich zugestehen, dass dieser es nicht darauf anlegte.

„Vielleicht wäre es an der Zeit, dass wir mal wieder nach Hause reisen. Wir bekommen sicher Urlaub. Womöglich geht es sogar als Mission durch, wenn wir eine Kaiserliche Rolle überbringen müssen.“

„Du willst doch nicht allen Ernstes die Unsterbliche Kaiserin um eine Rolle bitten, damit wir nach Hause können?“, schnaubte Gray.

Lyon grinste verwegen – irgendwo hinter sich hörte Gray einen hingerissenen Seufzer – und hob abwehrend die Hände. „Ich dachte, das würde auch leichter erklären, warum eine Assassine uns begleitet…“

Der Schwarzhaarige stutzte. „Du willst Meredy mitnehmen?“

Sicherlich, sein Bruder war schon seit fünf Jahren mit der Pinkhaarigen zusammen, aber ihm war entgangen, wann Lyon begonnen hatte, ernsthafte Pläne zu schmieden.

„Vater und Mutter sollen sie kennen lernen… Und sie soll meinen Kulturkreis miterleben“, erklärte Lyon und in seinen schwarzen Augen erkannte Gray für einen Moment Nervosität. Mehr noch, richtige Angst.

Wer konnte es ihm verdenken? Es kam so gut wie nie vor, dass sich ein Sonnenmensch für das Leben eines Eismenschen entschließen konnte. Allein der beschwerliche Weg zum Dorf schreckte viele ab. Und Meredy hatte bereits eine Heimat aufgeben müssen.

Es stünde Lyon frei, für immer hier in Crocus oder anderswo in Fiore zu leben, aber Gray wusste nur zu gut, dass Lyon genau wie er selbst nichts anderes als ein Eismensch sein konnte. Sie waren nie indoktriniert worden, ganz im Gegenteil sogar, sie waren immer dazu ermuntert worden, Fiore mit all seinen Facetten kennen und lieben zu lernen. Aber es lag ihnen einfach im Blut, Eismenschen zu sein. Das war ein unumgehbarer Teil ihres Selbst. Für Lyon gab es die Wahl zwischen seiner Heimat und der Frau, die er liebte, nicht. Formal vielleicht, aber das bedeutete nichts.

Dem Schwarzhaarigen fehlten die passenden Worte und er senkte den Blick wieder auf die Karte. Gewiss, er hatte ein paar wenige Erfahrungen mit Frauen gemacht, aber er hatte nie auch nur ansatzweise darüber nachgedacht, eine von ihnen mit zu seinen Eltern zu nehmen. Er kannte die tiefen Gefühle seines Bruders also nicht wirklich. Wie könnte er da versuchen, ihn aufzumuntern?

„Ich denke darüber schon seit einer ganzen Weile nach“, erklärte Lyon leise und Gray blickte wieder auf. Jetzt war es sein Bruder, der den Blick gesenkt hatte, und auf seinen Lippen lag ein seltsames Lächeln, das eigentlich keines war. „Seit Jellals und Erzas Verlobung…“

Ungläubig starrte Gray den Weißhaarigen an. Seit zweieinhalb Jahren schleppte dieser also schon diese Frage mit sich herum?!

„Wieso jetzt?“, fragte der Schwarzhaarige vorsichtig.

Unschlüssig zuckte Lyon mit den Schultern. „Ich kann es nicht ewig hinaus zögern. Ich will es endlich wissen.“ Er hob den Blick, die Stirn gefurcht, die Augenbrauen zusammen gezogen. „Was glaubst du?“

Gray verkniff es sich, wieder auf die Karte zu blicken. Sein Bruder hatte besseres verdient als irgendwelche Ausflüchte.

„Ich kann sie gut leiden, sie hat mächtig was auf dem Kasten, aber… ich habe keine Ahnung… Ich würde mir für dich wünschen, dass es anders wäre, aber bisher habe ich in ihr nie etwas anderes als einen Sonnenmensch gesehen.“

„Und ich habe in ihr Jahre lang nur die perfekte Frau an meiner Seite gesehen…“, gestand Lyon.

Und sie verfielen in ein Schweigen, das auch vom alltäglichen Lärm der Mensa nicht durchbrochen werden konnte.
 

4 Wochen und 5 Tage vor der Opferung
 

Jedes Mal, wenn Gray die Heimat betrat, fühlte es sich an, als würde er zu sich selbst zurück finden. Zu seinem Ursprung, zur Quelle seiner Existenz, zu den Wurzeln seines Lebens. Das Dorf war alles, war seine Vergangenheit, seine Gegenwart und seine Zukunft.

Und nun stand er hier zwischen den Trümmern der Heimat. Die kleinen, runden Eispilze genannten Behausungen der Eismenschen, gebaut aus Gletschersteinen und mit Eismagie versiegelt, waren zerborsten. Einige vollständig, von anderen standen noch Mauerreste. Ganz in der Nähe stand noch ein Stück der Nordwand eines Eispilzes, daran lehnte ein Regal aus Eisbärenknochen, vollgestopft mit Fellen in unterschiedlichen Bearbeitungsstadien.

Die Halle, der Versammlungsort des Dorfes für Anlässe jedweder Art, einstmals ein höher aufragendes Gemäuer aus Gletschersteinen, geschmückt mit Knochen und Fellen, war völlig zerstört, die Überreste pechschwarz.

Die flachen Kuppeln der Lager, deren Fundamente mit Magie tief in den vereisten Boden getrieben worden waren, waren aufgerissen worden, ihr wertvoller Inhalt zu einem Großteil bereits vom Getier der Eiswüste geplündert.

Hinter sich hörte Gray einen Laut, der ihn an seinen ersten erlegten Eisbären erinnerte. Es war der Laut eines Wesens, das nicht glaubten konnte – nicht glauben wollte –, was geschehen war. Es war ein Laut blanker, zerreißender Verzweiflung, unermesslich, unheilbar, todbringend…

Von Panik erfasst wirbelte Gray herum. Sein Bruder kauerte am Boden, der Blick flackernd und von Horror erfüllt. Meredy kniete neben ihm, die Arme um seine Schultern geschlungen. Stumme Tränen rannen über ihre Wangen und in ihren grünen Augen stand der Schmerz grausamer Erinnerungen.

Wieder wirbelte Gray herum und stolperte durch die Trümmer der Heimat. Er wollte nach seinen Eltern rufen, wollte sich den Druck von der Seele schreien, der sich immer schmerzhafter in ihm aufbaute. Doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Keinen klaren Gedanken konnte er fassen. Sein Blick zuckte von einem zerstörten Eispilz zu zwei übereinander liegenden, halb zernagten Leichen, die untere klein und schlaksig.

Dann der nächste Eispilz – größer als die meisten anderen –: Die Schule des Dorfes. Hier hatte seine Mutter die Kinder von der fünften bis zur fünfzehnten Schmelze unterrichtet. Er hatte darauf bestanden schon während seiner vierten Schmelze in die Schule gehen zu dürfen, weil er nicht hinter Lyon hatte zurückstehen wollen…

Leichen und Trümmer. Trümmer und Leichen.

Ihm kamen Erinnerungen aus seiner Kindheit in den Sinn. Das gütige Lächeln seiner Mutter. Die Hand seines Vaters auf seiner Schulter. Das riesige Säbelzahntigerfell, unter das er und Lyon sich immer gekuschelt hatten. Die alten Lieder, begleitet von rhythmischem Klatschen und Trommeln. Das raue, tiefe Lachen seines Vaters. Seine erste Jagd. Die Grüße der Eismenschen bei seiner ersten Heimkehr. Die Spiele mit den anderen Kindern: Das Zapfenwachsen, das Steinhüpfen, die Schneeballschlachten. Der klare, reine Gesang seiner Mutter…

Gray strauchelte und fiel zu Boden, Nase und Mund in Schnee gepresst, der nicht mehr nach dem Schnee der Heimat roch und schmeckte. Er war besudelt, stank bestialisch nach Tod und Zerfall und Verzweiflung.

Doch Gray vermochte es nicht, den Kopf zu heben. Seine Augen brannten vor Tränen, die nicht zu Tage kommen wollten – oder konnten. Gray suchte nach der lindernde Kälte der Heimat, aber er fühlte sich wie im Fieber.

Ob nur Minuten oder Stunden oder Tage vergingen, Gray wusste es nicht, aber irgendwann war da die Hand seines Bruders in seinen Haaren. Sie streichelte ihn nicht, tätschelte ihn nicht, nahm ihn nicht in den Schwitzkasten. Sie war einfach nur da. Ein Stückchen Heimat inmitten der Heimatlosigkeit.

Wortlos richtete Gray sich auf und saß schließlich neben Lyon im Schnee, vor ihnen die Trümmer des Eispilzes ihrer Eltern. Das Schweigen zwischen ihnen wurde erst von Meredys Schritten unterbrochen – selbst im knirschenden Schnee und mit den für sie noch so ungewohnten Schneeschuhen war sie beinahe lautlos, nicht umsonst war sie eine Assassine der Unsterblichen Kaiserin. Eine Schrittlänge hinter den Fullbuster-Brüdern blieb sie stehen. Geduldig abwartend.

Gray schielte zu Lyon und bemerkte, dass dieser es ihm gleich tat. Ein freudloses und doch warmes Lächeln huschte über Lyons Züge, dann stand er auf und bot seinem Bruder die Hand an. Dieser nahm die Hilfe an und ließ sich in die Höhe ziehen. Länger als nötig hielten sie einander fest, ehe sie sich gemeinsam zu Meredy herum drehten.

Ihre grünen Augen waren leicht gerötet, doch ansonsten wirkte sie gefasst und bedacht. Sie trug die Bürde der Erfahrung und sie trug sie, ohne darunter einzuknicken. Vielleicht steckte doch etwas von einem Eismenschen in ihr.

„Ich habe hundertdreiundachtzig Tote gezählt. Der Anzahl der Behausungen nach haben hier aber etwas dreihundert Eismenschen gelebt.“

„Dreihundertvierzehn waren es bei unserem letzten Besuch“, bestätigte Lyon leise. „Du meinst…“

Meredy nickte knapp. „Ich kenne euch gut genug, Eismenschen fliehen nicht, also besteht die Chance, dass noch einige eurer Stammesbrüder leben könnten. Und ich habe einen Anhaltspunkt, wo wir zuerst nach ihnen suchen können. Das hier habe ich bei einem der Toten gefunden, aber ich gehe stark davon aus, dass es ihm nicht gehört hat.“

Sie zog eine kleine Wappenbrosche hervor. Auf dem silbernen Grund war ein schwarzer Titan mit erhobenen Händen abgebildet, zwischen dessen Händen ein schwarzer Komet nieder ging. Das war tatsächlich nichts, was ein Eismensch besitzen würde. In der Heimat wurden keine Wappen gebraucht. Das waren Sonnenmenschen-Attitüden, für Eismenschen war so etwas nur Ballast.

Gray blickte fragend auf, aber Meredy zuckte nur mit den Schultern. „Ich kenne das Wappen nicht. Noch nicht. Sobald wir zurück in Boscun sind, kann ich es herausfinden.“

„Meredy…“, begann Lyon und Gray rechnete damit, dass sein Bruder die Pinkhaarige bitten wollte, nach Crocus zurück zu kehren. Das hier würde eine gefährliche Sache werden.

Doch ein Blitzen in Meredys Augen ließ Lyon jäh verstummen. Obwohl er sich noch immer elend fühlte, musste Gray grinsen. „Schneepuppe“, murmelte er und kassierte dafür einen schmerzhaften Rippenstoß.

Meredy klatschte in die mit Fäustlingen versehenen Hände, ihre Miene ernst und unsicher. „Wir müssen zuerst die Toten würdevoll bestatten, danach sollten wir uns gleich auf den Weg machen.“

Sofort war der Anflug von Humor wieder verflogen, aber Gray war dennoch dankbar für Meredys Anweisung. Sie verstand die Situation der Brüder und das vielleicht sogar besser, als diese es selbst taten. Sie warf ihnen in diesem Sumpf aus Schmerz, in dem sie noch steckten, ein rettendes Seil zu.

Das würde Gray ihr niemals vergessen. Soweit es ihn betraf, war sie bereits ein Eismensch und seine Schwester!

Der Morgen, an dem der Hilferuf kam

8 Jahre vor der Opferung
 

Langsam zu laufen, wenn man es doch eigentlich eilig hatte, war eine harte Prüfung. Vielleicht sogar eine der härtesten – immerhin ging es hierbei um entscheidende Informationen in einem Krieg.

Wieder hielt der junge Mann an und grüßte zwei grobschlächtige Wachen. Sie erkannten ihn sofort. Natürlich, er war das Ebenbild seines Vaters, ihres Kommandanten. Respektvoll nahmen sie Haltung an, aber sie boten dabei keinen besonders imposanten Anblick. Zu verschlagen und heuchlerisch wirkten ihre Mienen, zu viel Gewaltbereitschaft sprach aus ihrer Körperhaltung. Der junge Mann war von ihnen angewidert, aber seine Miene blieb ruhig.

„Habt ihr das Nest endlich gefunden?“

Dass seine Stimme so ruhig blieb, schüchterte die Männer mehr ein, als wenn er einen barschen Tonfall angeschlagen hätte. Es bewies einmal mehr, dass er der Sohn seines Vaters war und damit weit über ihnen stand.

Nervös scharrten sie mit den Füßen. „Nein, Herr. Sie verstecken sich wie feige Ratten.“

„Und ihr lasst euch von Ratten an der Nase herum führen“, stellte er gefährlich leise fest und machte eine scheuchende Handbewegung. Sie zogen die Köpfe ein und beeilten sich, ihre Patrouille fortzusetzen.

Als sie auch nicht mehr zu hören waren, setzte er seinen Weg durch die nächtliche Stadt fort. Seine Rüstung wies ihn als diensthabenden Nachtkommandanten aus. Die perfekte Tarnung.

Er tauchte in eine Seitengasse ein, gerade breit genug für einen Einspänner. Die löchrigen Markisen der Händler, die hier tagsüber Waren feilboten – Gewürze, dem Duft nach zu schließen –, hielten das fahle Mondlicht vom Boden fern, doch der junge Mann konnte dennoch perfekt sehen. Die Schatten um ihn herum erschienen ihm freundlich, grüßten ihn wie einen alten Gefährten, der er tatsächlich auch war.

Eine weitere Gasse, mehr ein Spalt, der junge Mann musste seitwärts laufen. In der Mitte der Passage hielt er inne und lauschte angestrengt. Außer seinem eigenen Herzschlag und dem fernen Jaulen eines Schakals hörte er nichts.

Er ging in die Hocke und lehnte sich gegen die Lehmwand, die daraufhin nach innen zurück schwang. Eine versteckte Tür, die sich nahtlos in das Gebäude einfügte und in einen winzigen toten Raum führte. Als er die Tür hinter sich wieder geschlossen hatte, griff der junge Mann in den Sand zu seinen Füßen und hob eine Falltür an, unter der sich eine grob behauene, steile Treppe befand, welche er hinunter stieg. Er brauchte keine Hand an die Wand zu legen. Die Schatten hier unten hießen ihn geradezu willkommen.

Unten angelangt, schob er einen Vorhang beiseite und trat in ein schmuddeliges Kellergewölbe. An jeder Wand war ein ähnlicher Vorhang wie jener, welchen er gerade passiert hatte. Die Wände dazwischen waren mit Säcken und Kisten voll gestellt, dazwischen quetschten sich immer wieder provisorische Schlaflager.

Der junge Mann achtete jedoch kaum auf diese Details. Seine Aufmerksamkeit galt gleich dem Zentrum des Raums, wo sich ein provisorischer Tisch befand – ein morsches Brett auf zwei Fässern –, beladen mit Karten, Plänen, Listen, Skizzen und Briefen, welche mit Bechern und Schalen beschwert wurden. Um den Tisch herum standen und saßen mehrere Männer und Frauen.

An der Stirnseite hatte sich eine junge Frau über ein Dokument gebeugt. Sie war hochgewachsen und schlank, hatte ein schmales Gesicht mit mandelförmigen, olivgrünen Augen. Ihre langen, schwarzen Haare waren nachlässig geflochten und sie trug eine einfache Tunika und ebenso einfache Hosen aus Leinen, wie es in den Armenvierteln der Stadt ständig zu sehen war.

Zu ihrer Rechten lümmelte sich ein junger Mann auf einem Fass. Er war ebenso hochgewachsen und schlank, sehnig muskulös und gleichmäßig sonnengebräunt. Seine Gesichtszüge waren sehr markant und seine blonden Haare absichtlich wirr. An seiner linken Schulter prangte ein Tattoo: Zwei Löwen und ein Basilisk einander zugewandt – das Wappen des Hauses Orland. Seine blauen Augen waren aufmerksam und ernst auf den Plan gerichtet, doch an seinen Lippen zupfte das Lächeln eines Menschen, der das Leben mit sehr viel Zuversicht zu nehmen verstand.

Er war es auch, der den Neuankömmling zuerst bemerkte. Er hob den Blick und in seine Augen trat ein Funkeln, bei welchem dem jungen Mann ganz schwummrig zumute wurde. „Wir haben dich schon vermisst, Rogue“, grüßte der Blonde grinsend und hob die Hand.

„Du sprichst nur von dir selbst, Sting“, mischte sich ein muskelbepackter Hüne mit wilder, blaugrüner Mähne neben ihm ein.

Sting grinste darauf nur, ohne auch nur ansatzweise rot zu werden. Der Neuankömmling wünschte, er könnte es ihm gleichtun, aber ihn machte Spruch des Hünen sehr verlegen. Das war nicht gerade förderlich, wo ihn Sting doch sowieso schon alle Nase lang aus der Fassung brachte.

An den schmalen Lippen der schwarzhaarigen Frau zupfte ein amüsiertes Lächeln, ehe sie sich mit wieder ernster Miene an den Neuankömmling wandte: „Wie ist der Besuch des Kaiserlichen Gesandten verlaufen?“

„So wie geplant“, gestand er. „Er hat gesehen und gehört, was er sehen und hören sollte, und ist wieder nach Crocus gereist.“

„Bei den Eiern des Basilisken!“, fluchte der Hüne lautstark.

Sting schnaubte über den Fluch, aber auch seine Miene war ernst geworden. Sie alle hatten gehofft, der Gesandte wäre gewitzt genug, die Missstände in Sabertooth zu bemerken. Die Rebellen brauchten einen Außenstehenden, der ihre Taten durch seinen Zeugenstand legitimierte. Immerhin war Jiemma von Rechts wegen der Fürstregent. Er war zu geschickt darin, gegen seine eigene Tochter zu intrigieren und ihren Erbanspruch auf den Fürstenthron zu untergraben.

Der Neuankömmling gestattete sich bei seinen nächsten Wochen ein Lächeln: „Aber die Assassine hat unsere Nachricht mitgenommen.“

„Du!“, polterte der Hüne los und deutete auf ihn, dann drehte er sich zu Sting herum. „Du! Du Wüstenlümmel hast einen schlechten Einfluss auf Raios!“

„Sein Name ist jetzt Rogue und ich bin mir keiner Schuld bewusst“, erwiderte der Blonde entspannte, reckte Rogue dabei jedoch mit einem Grinsen den Daumen entgegen, das den Magen des jungen Mannes Purzelbäume schlagen ließ.

„Du solltest dir nicht so viel von Sting abgucken, Rogue, sonst verscherzt du es dir noch mit Orga“, mischte sich die Schwarzhaarige mit milder Strenge ein.

„Bestimmt wollte er nur herausfinden, ob Orga fluchen kann, Minerva“, schwatzte Sting munter und drehte sich wieder zu dem Hünen um. „Kannst du übrigens nicht.“

Minerva ließ ihre Getreuen zanken und winkte den jungen Mann zu sich. Sofort machte der Mann zu ihrer Linken Platz für ihn, doch nicht so unterwürfig wie die Stadtwachen vorhin, sondern mit einem respektvollen Lächeln und einem kameradschaftlichen Schulterklopfen.

Mit dem Gefühl tiefer Zufriedenheit nahm er den Platz ein, den er sich hier verdient hatte. Er blickte an Minerva vorbei – der einzig wahren Fürstin von Sabertooth, vor der er den Treueid abgelegt hatte – zu Sting, der seinen Blick sofort auffing und mit einem intensiven Blick erwiderte.

Ganz unwillkürlich erwiderte er Stings Lächeln, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Stadtplan, der vor Minerva auf dem Tisch ausgebreitet war. Und während er Minervas Ausführungen lauschte, die dazu führen sollten, seinem Vater und dessen Patron Jiemma die Macht zu entziehen, hatte er nicht den geringsten Zweifel.

Als Sting ihn vor einem halben Jahr für Minerva rekrutiert hatte, hatte er sich bereits voller Überzeugung für die Wüstenlöwin entschieden und gegen den Usurpator – und er hatte es seitdem kein einziges Mal bereut.

Hier gehörte er hin: Zu Minerva und ihren Getreuen – und zu Sting…
 

4 Wochen vor der Opferung
 

Der mächtige Körper bewegte sich ruhig und gleichmäßig unter Sting. Die weiß-gefiederten Schwingen hoben und senkten sich und ließen den Reiter leicht vor und zurück wippen. Der schlanke Körper schmiegte sich in die Luftströmungen, um den Widerstand zu verringern. Kräfte walteten in diesem Körper, die über alles hinaus gingen, was Sting oder irgendein anderer Mensch jemals erreichen konnte. Kräfte, deren Ursache dem Besitzer selbst sogar unklar war. Sie waren einfach immer da gewesen…

Wobei Weißlogia niemals offen zugeben würde, dass er nichts über seine Herkunft und die der anderen Drachen wusste. Sie gaben sich diesbezüglich geheimnisvoll und unnahbar, aber Sting hatte seit sieben Jahren eine Verbindung zu ihm. Er kannte ihn mittlerweile gut. So wie jeder Drachenreiter seinen Partner nun einmal kannte.

Und wie für jeden Drachenreiter gab es auch für Sting kaum ein anderes Wesen, mit dem er sich so verbunden fühlte wie mit seinem Drachen – um genau zu sein, waren das drei Menschen und…

Als hätte er geahnt, dass Sting an ihn dachte, landete ein junger Exceed mit rotbraunem Fell und hellbraunem Gesicht und Bauch auf Weißlogias Hals unmittelbar vor der Kuhle zwischen Hals und Rücken, in welcher Sting sicherer saß als in jedem Pferdesattel. Der Exceed trug nichts weiter außer einer blauen Weste und seine Miene war verdrießlich, während er seine weißen Schwingen verschwinden ließ.

Sting runzelte die Stirn. „Solltest du nicht bei Mysdroy sein und dich unterrichten lassen, Lector?“

„Starke Worte von einem Jungen, der lieber mit dem Säbel herum gefuchtelt hat, als immer artig im Unterricht des Wüstenweisen zu sitzen“, amüsierte sich Weißlogia.

Sting blies die Wangen auf und schlug gegen den Hals seines Drachen, doch dieser flog unbeeindruckt weiter über den gelben Sand der Wüste hinweg nach Südwesten

„Frosch hat mitbekommen, dass ihr eine Mission in der Nähe von Jadestadt habt“, erklärte Lector und zuckte mit den Schultern. „Ich konnte sie schlecht alleine los fliegen lassen.“

Sting seufzte. Jeder, der Frosch kannte, war ihr hoffnungslos verfallen, aber es ließ sich nicht leugnen, dass sie eine für einen Exceed sehr untypische Schwäche besaß: Sie war voll und ganz orientierungslos. Jeder andere Exceed könnte von der Stillen Wüste bis zum Rand des Spaltengletschers fliegen, ohne auch nur einmal landen und nach dem Weg fragen zu müssen. Sie besaßen ein außergewöhnliches Orientierungsvermögen, was sie in Kombination mit ihrer Schnelligkeit – nicht einmal ein Drache konnte es auf langer Strecke mit ihnen aufnehmen – zu perfekten Boten machte. Aber bei Frosch konnte man schon froh sein, dass sie sich nicht mehr innerhalb von Sabertooth verirrte. Wie oft sie nicht auf der Suche nach ihr die halbe Stadt auf den Kopf gestellt hatten!

Sting blickte nach links, wo Skiadrum flog, durch und durch schwarz und von ähnlich schlanker Statur wie Weißlogia. Auf ihm ritt Rogue, der seiner alten Gewohnheit nach in eine dunkle, weitärmelige Robe gekleidet war, die Haare nun jedoch länger und zu einem Zopf gebunden trug. Die dicken Ponyfransen fielen über das rechte Auge und verbargen teilweise auch die Narbe, die quer über die schmale Nase hinweg verlief – ein Andenken aus jener Nacht, in der sie Sabertooth von Jiemmas Tyrannei befreit hatten.

Während Sting ihn beobachtete, streckte Rogue gerade die Arme aus, um Frosch aus der Luft zu fischen, der es schwer fiel, mitten im Flug auf Skiadrum zu landen. Vom durchgehend grünen Fell der Exceed war durch das rosa Froschkostüm kaum etwas zu erkennen. Seit sie das Kostüm letztes Jahr geschenkt bekommen hatte, mochte Frosch sich kaum davon trennen – und seitdem vergötterte sie Yukino, welche ihr das Kostüm von einer ihrer Reisen mitgebracht hatte. Deshalb hatte Frosch wohl mitkommen wollen. Yukinos Pflichten ließen häufige Besuche nicht zu.

Als Rogue die kleine Exceed endlich sicher in seinen Armen hielt, lächelte er zärtlich und strich über ihren Kopf, der unter der Kapuze mit aufgenähten Froschaugen verborgen war. Beim Anblick von Rogues Lächeln wurde Sting ganz warm zumute.

„Heb’ dir diese Gedanken für die Nacht auf. Wir sind gleich da“, verkündete Weißlogia.

Sting grinste breit. „In der Nacht machen wir ganz andere Sachen…“

Unter ihm erschauderte der mächtige Drachenkörper. „Das will ich gar nicht wissen!“

„Sting, hör’ auf damit!“, erklang Rogues Ruf und mit einer Mischung aus Zufriedenheit und Anbetung bemerkte der Getadelte einen Rotschimmer im Gesicht seines Freundes.

Verwirrt blickte Lector von Sting zu Rogue und wieder zurück. Immer noch grinsend tätschelte Sting den Kopf des Exceed und wandte seinen Blick nach vorn auf Wüstengrün, ein kleines Dorf an der Grenze des Fürstentums Jadestadt.

Viel war von den Lehmhütten nicht übrig geblieben. Gut drei Viertel der Gebäude waren dem Erdboden gleichgemacht worden. Die kostbaren, Namen gebenden Gärten im Zentrum, die mit dem Wasser des Brunnens versorgt worden waren, welcher ein Leben mitten in der Stillen Wüste überhaupt erst möglich gemacht hatte, waren nicht mehr wieder zu erkennen. Sogar die riesigen Palmen waren dem Ansturm zum Opfer gefallen.

Der Geruch von altem Blut und verdampftem Gift stieg Sting in die Nase und über sich hörte er die Rufe von Wüstenraben und Schmutzgeiern. Sie würden allerdings keine Gelegenheit mehr bekommen, ihr Mahl fortzusetzen. Während Weißlogia zur Landung ansetzte, konnte Sting erkennen, wie Soldaten von Jadestadt die Leichen der Dorfbewohner in Tücher schlugen und auf Sandschlitten luden.

Der Drachenreiter sprang zu Boden und hörte, wie Rogue es ihm gleichtat. Während ihre Drachen sich ausstreckten und die Flügel ausschüttelten, wandten sie sich gemeinsam an einen breitschultrigen Mann mit braunem Haar und Bart, gekleidet in den silber-grünen Harnisch des Rüstungsmeisters von Jadestadt. Als er sich von der kleinen Gruppe, mit der er eben noch gesprochen hatte, weg drehte, bauschte sich der weiße Umhang mit der grünen Borte theatralisch auf. Sting musste ein amüsiertes Schnauben unterdrücken. Er war sich nie sicher, ob der Mann das absichtlich tat oder ob ihm diese Effekte einfach anhafteten.

Mit grimmiger Miene nickte Arkadios ihnen zu, ehe er ohne Umschweife berichtete: „Wir haben sieben Überlebende gefunden.“

Er deutete hinter sich, wo sich vier Pioniere um drei Männer, eine Frau mit Säugling und zwei Jungen von vielleicht zehn und dreizehn Sommern kümmerten. Die Männer waren dem Aussehen nach Handwerker – einer schien die muskulösen Oberarme eines Schmieds zu haben. Zwei waren verletzt. Sie wiesen die hässlichen schwarzen Flecken auf der Haut auf, die entstanden, wenn man mit dem giftigen Geifer von Basilisken in Berührung kam – und der jüngere Mann würde dem Ausmaß seiner Vergiftung nach wohl in wenigen Tagen sterben. Der andere würde es wohl schaffen, auch wenn er sicher zwei Finger seiner rechten Hand einbüßen würde.

„Sieben… von hundertzwanzig“, murmelte Rogue und Sting erschauderte unwillkürlich.

Der Angriff auf Wüstengrün hatte vor zwei Tagen stattgefunden. Einem Jäger des Dorfes war es mit einem Sandschlitten gelungen, zu entkommen und Jadestadt zu erreichen. Fürstin Hisui hatte sofort ein Kontingent Soldaten und Pioniere unter dem Kommando ihres Rüstungsmeisters ausgesandt und den Exceed Salberay nach Sabertooth geschickt, um die Unterstützung der Klauen zu erbitten. Wenn man es mit gleich mehreren Basilisken zu tun hatte, war es eindeutig sicherer, die Reiter und ihre Drachen zur Seite zu haben. Ganz zu schweigen von Stings Expertise als Wüstennomade.

„Yukino ist draußen“, erklärte Arkadios und deutete zum Südende des Dorfes, wo die Verwüstungen besonders schlimm waren. Seine Stimme war angespannt. Er hatte sich nie so recht an Yukinos besondere Stellung gewöhnen können. Für ihn war sie wohl einfach eine junge Frau, die seine Ritterlichkeit oder so etwas weckte.

Sting nickte dem Älteren knapp zu, bedeutete Lector, bei Weißlogia zu bleiben, und ging in die angewiesene Richtung. Als er die Dorfgrenze passierte – deutlich erkennbar an den in regelmäßigen Abständen in den Sand eingegrabenen Obsidianstelen, die die Basilisken eigentlich hatten fernhalten sollen –, erkannte er die Trümmer mehrerer Sandschlitten. Es grenzte an ein Wunder, dass zumindest ein Mann es an den wütenden Basilisken vorbei geschafft hatte.

Gut hundert Schrittlängen vom Dorf entfernt fanden sie Yukino. Sie war zierlich, aber sinnlich gebaut mit den sehnigen Muskeln, die vom Training und vom Leben einer Wüstennomadin kündeten. Ihr herzförmiges Gesicht mit den großen, braunen Augen wurde von kurzen, weißen Haaren eingerahmt. Sie trug dünne Pluderhosen so wie Sting auch und darüber eine eng anliegende, lange Robe in den Farben von Jadestadt. Am breiten Gürtel trug sie wie Sting einen Säbel, zwei lange Rebmesser und eine Kettensichel – die Waffen der Wüstennomaden.

Ihre Füße waren jedoch blank. Sting hatte schon vor Jahren aufgehört, sich zu fragen, wie Yukino es ohne Schutz schaffte, auf dem glühend heißen Sand zu laufen. Das war ein Relikt aus ihrer Zeit alleine in der Wüste, bevor sie die Nomaden gefunden und aufgenommen hatten. Sting hatte sich so sehr daran gewöhnt, dass es ihm falsch vorkam, wenn sie doch mal Schuhwerk trug.

Als Sting und Rogue sich ihr näherten, blickte sie von den Trümmern auf, die sie untersucht hatte. Ein warmes Lächeln erhellte ihre vorher angespannten Gesichtszüge und sie stand auf, um ihnen entgegen zu kommen. Sting beugte sich zu ihr runter und lehnte seine Stirn nach Sitte der Wüstennomaden gegen ihre. Dann wiederholte sie die Begrüßungsgeste bei Rogue.

„Yukino!“, jubelte auf einmal Frosch und flatterte in die ausgestreckten Arme der jungen Frau.

Lector ließ sich seufzend auf Stings Schulter nieder. „Sie wollte einfach nicht im Dorf bleiben…“

Yukino herzte und streichelte die junge Exceed, ehe sie wieder mit ernster Miene aufblickte. „Das hier ist ganz und gar untypisch für Basilisken“, erklärte sie angespannt. „Es muss ihnen furchtbare Schmerzen bereitet haben, auch nur in die Nähe des Dorfes zu kommen.“

Sting nickte zustimmend und ließ den Blick über die Umgebung schweifen. Er runzelte die Stirn. „Die Trümmer…“

„Was ist damit?“, fragte Lector verwirrt.

„Sie sind viel zu klein. Die Basilisken haben die Sandschlitten regelrecht zerfetzt“, murmelte Rogue nachdenklich. Er mochte kein Wüstennomade sein, aber er war in der Stillen Wüste aufgewachsen und seit Jahren mit Sting unterwegs.

„Normalerweise richten sich die Aggressionen von Basilisken nur gegen Lebewesen“, fügte Yukino zustimmend hinzu. „Laut den Dorfbewohnern waren es mehrere Dutzend. Den Spuren nach würde ich tatsächlich auf mindestens zwanzig tippen.“

„Viel zu viele“, murmelte Sting düster.

Die riesigen Sandschlangen waren auch untereinander zu aggressiv, als dass sie sich für so einen Angriff hätten sammeln können. Selbst ihre Verpaarungen endeten nicht selten tödlich und Nestgeschwister fraßen einander auf, wenn sie es konnten.

„Vielleicht steckt ein Magier dahinter?“, schlug Lector grübelnd vor.

„Nein…“ Sting hob die Hand und strich über den Kopf seines Exceeds. „Magie wirkt nicht bei Drachenartigen.“

„Warum nicht?“, frage Frosch, die den Ernst der Lage nicht zu verstehen schien, und blickte nach oben zu Yukinos Gesicht.

„Die Magie der Drachenartigen ist zu stark, als das Windmagie oder Wassermagie ihre Sinne trüben könnten“, erklärte Yukino sanft.

„Die Frage ist jetzt, ob die Basilisken tatsächlich fort sind“, gab Rogue zu bedenken und wandte sich dabei fragend an Yukino. „Ihr habt euch von Westen genähert?“

„Ja, wir hielten es für angeraten, den direkten Weg zu vermeiden. Im Westen war alles ruhig.“

„Dort scheint der Schutz noch zu wirken“, stellte Sting erleichtert fest.

Eine Tagesreise im Westen waren die reichen Steinbrüche von Jadestadt. Ein Angriff in diesem Gebiet würde ein Vielfaches der hiesigen Opferzahlen nach sich ziehen. Ein grauenhafter Gedanke. Basiliskenangriffe waren nichts Neues für Sting. Als Wüstennomade war er mit der Gefahr, die von diesen Wesen ausging, aufgewachsen, aber das hier ging ihm nicht in den Kopf. Basilisken, die sich in einem Rudel zusammen schlossen. Basilisken, die sich nicht von Obsidian abhalten ließen…

Zuerst fiel Sting auf, dass die Aasvögel über dem Dorf verstummten. Danach spürte er das Vibrieren des Sandes unter seinen leichten Lederstiefeln.

„Lector, schnapp’ dir Frosch und fliegt so hoch, wie ihr könnt“, befahl Sting seinem Exceed, zog sich sein Halstuch über Mund und Nase und griff nach seiner Kettensichel. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Rogue herum wirbelte und zum Dorf zurück eilte, während Yukino ebenfalls ihre Kettensichel vom Gürtel löste.

Lector entfuhr seine weißen Schwingen und verließ seinen Platz auf Stings Schulter. Frosch protestierte verwirrt, aber Yukino schob sie in Lectors Griff, ehe sie sich einige Schritte von Sting entfernte.

Dieser beobachtete, wie Rogue die Dorfgrenze passierte und wie die Exceed weiter aufstiegen, dann nickte er seiner Kindheitsfreundin zu. Gleichzeitig begannen sie, hart und schnell aufzutreten, und bewegten sich dabei weiter in die Wüste hinaus und voneinander weg. Beinahe sofort spürten sie, wie das Vibrieren stärker wurde, und wenige Herzschläge später erkannten sie die viel gefürchteten Sandwellen. Und es waren ihrer viele. Mindestens ein Dutzend große zählte Sting…

Über die telepathische Verbindung spürte er Weißlogias Besorgnis, aber über sein Gesicht breitete sich ein vorfreudiges Grinsen. Er hatte schon lange nicht mehr so eine Herausforderung gehabt!

Die Sandwellen kamen im rasenden Tempo näher und wurden größer, das Vibrieren des Sandes ließ Sting einige Zentimeter einsinken. Schließlich brachen die schroffen Rückenkämme an die Oberfläche und Sting ließ den Griff seiner Kettensichel aus der rechten Hand gleiten, um Sekundenbruchteile später nach der Kette zu greifen und sie wirbeln zu lassen. Mit der Linken hielt er das Kettenende konsequent fest, damit der Schwung der Waffe diese nicht verselbstständigte.

Endlich brach der erste Basilisk aus dem Sand hervor. Ein fürchterlich zernarbtes Untier, gut dreißig Schrittlängen vom Maul bis zur Schwanzspitze, die braungrauen Schuppen zerklüftet, die Rückenkämme teilweise abgerissen. Im giftgeifernden, weit aufgerissenen Maul mit den mehrfachen, unregelmäßigen Zahnreihen erkannte Sting zahlreiche Zahnstümpfe. Ein Alttier, das unzählige Kämpfe hinter sich hatte. Es hätte das Zeug dazu, ein Unsterblicher zu werden, aber Sting befürchtete, dass er es sich nicht leisten konnte, zimperlich zu sein.

Der Basilisk wählte Sting zur Beute aus und schoss mit einem durchdringenden Fauchen auf diesen zu, doch der Blonde sprang im letzten Moment beiseite und ließ seine Kettensichel durch die Luft zischen. Im richtigen Moment griff Sting wieder in die Kettenglieder und drückte diese nach unten, kaum dass er spürte, wie sich die Kette straffte. Die Sichel schnellte schlagartig nach unten und grub sich in den Rücken des Basilisken.

Schon wurde Sting vom Schwung der Sandschlange mitgerissen und er sprang vor und holte so schnell wie möglich die Kette ein. Nicht schnell genug, denn er landete im Sand und wurde dann weiter geschleift, aber das Manöver gelang nur den wenigsten. In seinem ganzen Leben hatte Sting es nur zweimal geschafft – und er hatte es schon mit unzähligen Basilisken aufgenommen. Er drehte die Füße hoch, damit der Sand unter seine Sohlen glitt, wie er es bei den Kufen eines Sandschlittens tat, und holte die Kette weiter ein. Nach vier Kräfte zehrenden Klimmzügen hatte er die Flanke des Basilisken erreicht und konnte von dort aus auf den Rücken klettern.

Mit der Linken zog er die Kette wieder straff, mit der Rechten löste er eines der Rebmesser vom Gürtel und harkte sich damit neben der Sichel zwischen zwei Schuppenwülsten ein. Als er so sicheren Halt gefunden hatte, löste er seine Kettensichel, holte mit wenigen geübten Schwüngen die Kette ein und schob die Waffe zurück in die dafür vorgesehene Schlaufe an seinem Gürtel.

Das war der schwierige Part gewesen. Jetzt konnte Sting sich unter Zuhilfenahme des zweiten Rebmessers am Rücken des Untiers nach vorn ziehen – ganz so wie beim Klettern an den Felsinseln. Der Körper der Sandschlange unter ihm bebte und schwankte immer wieder nach links und rechts, während das Untier im Sand nach seiner Beute suchte, aber Sting glich diese Manöver immer wieder problemlos aus, indem er geschmeidig mit den Knien federte.

Im Nacken des Basilisken schob er die Haken der Rebmesser in die Ohrwülste, suchte einen sicheren Stand und erlaubte sich das erste Mal, den Blick von seinem unfreiwilligen Reittier zu heben. Um ihn herum war ein Dutzend Basilisken von zehn bis dreißig Metern Länge aus dem Sand gebrochen. Dazu kamen gut zehn der Drei- bis Zehn-Meter-Klasse. Die größeren Sandschlagen scherten sich allesamt nicht darum, ihre kleineren – und wehrlosen – Artgenossen zu verschlingen, sondern hielten auf Wüstengrün zu.

Rechts erkannte Sting, wie Yukino gerade ihre Rebmesser in die Ohrwülste hakte. Auch sie hatte es auf einen Basilisken geschafft, aber daran hatte Sting auch nicht gezweifelt. Wenn es um Basilisken ging, hatte ihm die Weißhaarige vielleicht sogar etwas voraus. Ihm und allen anderen Wüstennomaden.

Yukino nahm mit ihm Blickkontakt auf und nickte dann nach rechts. Sting bestätigte mit einem Rucken des Kinns, dann verlagerte er den Druck seines linken Rebmessers und zwang den Basilisken so, nach links abzuschwenken, während Yukino ihre Sandschlange nach rechts lenkte. Der Basilisk bockte mehrmals, aber Sting blieb unerschütterlich stehen und behielt die wenige Kontrolle, die man überhaupt über einen Basilisken erlangen konnte. Das berauschende Gefühl, auf dem gefährlichsten Wesen der Stillen Wüste zu reiten, hatte nichts von seiner Intensität verloren, aber Sting musste sich eingestehen, dass er wesentlich lieber auf Weißlogias Rücken saß.

Das möchte ich dir auch geraten haben, erklang das Brummen seines Drachens in seinem Kopf und der schneeweiße, gefiederte Koloss schoss wie aus dem Nichts auf einen zehn Meter langen Basilisken hernieder, um dessen Kopf mit einer Lanze aus Licht, die aus seinem weit geöffneten Maul drang, zu zerdrücken.

Neben Weißlogia verfuhr Skiadrum ebenso mit einem anderen Basilisken, seine Attacke eine Lanze aus manifestierten Schatten, die das Rückgrat der Riesenschlange aufriss. Auf Skiadrums Rücken erkannte Sting Rogue, der in seiner linken Hand eine Kugel aus Schattenmagie sammelte und dann auf den Kopf eines fünf Meter langen Basilisken schleuderte. Die Attacke mochte im Vergleich zu Skiadrums lächerlich wirken, doch sie war genauso effektiv. Die Schattenkugel fraß sich durch das Auge des Basilisken und bis zu dessen Gehirn. Von einem Moment auf den anderen erschlaffte der Körper.

Sting grinste triumphierend und zwang seinen Basiliken, sich über einen weiteren Fünf-Meter-Artgenossen zu wälzen. Yukino verfuhr auf der anderen Seite der Zange genauso und die Drachen töteten drei weitere Basilisken.

Dann erst begann der wirklich gefährliche Teil des Kampfes, denn nun richteten die Sandschlangen ihre ganze Aufmerksamkeit und Aggressivität auf ihre Angreifer. Was auch immer sie auf das Dorf zugetrieben hatte, es war nicht mehr stark genug. Ein Fünfzehn-Meter-Basilisk richtete sich weit auf und streckte das geifernde Maul nach Skiadrum aus, aber der Schattendrache war schneller und gewann mit kräftigen Flügelschlägen wieder an Höhe.

Weißlogia nutzte die Gunst der Stunde und spie eine weitere Lichtlanze auf den Angreifer, zerfetzte damit die Bauchschuppen und die darunter befindlichen Innereien. Der massige Schlangenkörper fiel hintenüber und begrub unter sich einen Drei-Meter-Basilisken, der nicht schnell genug ausgewichen war.

Stings Basilisk bockte erneut und der Wüstennomade grub seine Rebmesser tiefer in die Wülste, ehe er minimal nach hinten ruckte. Der Basilisk brüllte auf und hob den gesamten Vorderkörper in die Luft. Aus einer Höhe von fünfzehn Metern erkannte Sting, wie sich von rechts zwei Zehn-Meter-Basilisken mit weit aufgerissenen Mäulern näherten. Er legte seinen Druck in das rechte Rebmesser und der Basilisk folgte der groben Stimulierung seiner Nerven und kippte in die angewiesene Richtung.

Sting konnte Knochen und Schuppen knirschen hören, als die beiden Basilisken zermalmt wurden, aber er konnte aus dem Augenwinkel einen weiteren Basilisken herannahen sehen. An den Bewegungen unter seinen Füßen erkannte er, dass sein Basilisk zu verletzt war, um sich schnell genug wieder aufrichten zu können. Einer der Knochen der toten Artgenossen mussten sich durch die Bauchschuppen gedrückt und wichtige Organe verletzt haben. Den Magen vielleicht, wenn Sting die Krämpfe bedachte, die er spürte.

Sting zog seine Rebmesser aus den Nervensträngen heraus und drückte sich mit aller Kraft von den Nackenschuppen ab. Mit einer Vorwärtsrolle schwächte er den Sturz ab. Der heiße Sand fing allen Schwung ab und Sting kam eher unelegant zum liegen, doch er rappelte sich sofort wieder auf und warf einen Blick zurück. Sein Basilisk und der neue Angreifer hatten sich todbringend ineinander verbissen und nahmen keinerlei Notiz von dem winzigen Menschen neben ihnen, der ihnen diese Situation überhaupt erst eingebrockt hatte. Doch ihre Leiber schlugen im Todeskampf wild um sich und Sting sah zu, dass er Abstand zu ihnen gewann.

In sicherer Entfernung musste er feststellen, dass der letzte überlebende Basilisk jener war, welchen Yukino ritt. Die Weißhaarige musste das auch bemerkt haben, denn sie lenkte ihre Riesenschlange in Richtung der offenen Wüsste, dann löste sie ihre Rebmesser und rannte den Rücken des Drachenartigen entlang bis zur Schwanzspitze, um von dort abzuspringen. Doch anders als wohl von Yukino erhofft, walzte der Basilisk nicht zurück in die Stille Wüste, sondern hob und drehte den Körper zum Angriff.

Weißlogia und Skiadrum griffen gleichzeitig an und der gesamte Vorderkörper der Sandschlange wurde von den Licht- und Schattenlanzen zerfetzt. Der Hinterleib fiel mit einem Rumsen zu Boden, den der Sand nicht gänzlich abfedern konnte. Sting spürte den Aufprall in den Knien und er stieß pfeifend die Luft aus.

Er eilte zum halbierten Schlangenkörper, aber bevor er diesen erreichen konnte, tauchte Yukino aus dem Sand auf. Sie sah ein wenig zerrupft aus, aber sie schien nicht verletzt zu sein. Gemächlicher ging Sting zu ihr und schob im Laufen seine Rebmesser zurück in die dafür vorgesehenen Holster am Gürtel. Die Drachen landeten neben dem Kadaver und Rogue sprang geschickt von Skiadrums Rücken.

In der Mitte trafen sich die drei Menschen und Yukino lehnte ihre Stirn zuerst gegen Stings, dann gegen Rogues, ehe die beiden jungen Männer diese Geste miteinander austauschten. In Rogues roten Augen erkannte Sting Erleichterung und wenn er ehrlich war, verspürte er selbst sie auch. Er schob eine Hand in den Nacken des Schwarzhaarigen und lächelte beruhigend – und sein Herz machte einen Hüpfer, als Rogue die Geste erwiderte. Die rauen Finger hinterließen ein angenehmes Kribbeln auf seiner Haut. Es kostete sie Beide Mühe, sich wieder voneinander zu lösen.

Yukino tat so, als hätte sie nicht bemerkt, wie lange die beiden Männer einander in die Augen geblickt hatten, aber ihre Lippen umspielte ein feines Lächeln. Immerhin war sie diejenige gewesen, die Sting damals den entscheidenden Schubs gegeben hatte.

„Rogue!“

Die drei Menschen blickten hinauf zu einer völlig aufgelösten Frosch, die langsam zu Boden trudelte. Lector folgte ihr mit verdrießlicher Miene und landete wieder einmal auf Stings Schulter.

„Das nächste Mal passt einer von euch auf sie auf“, brummte der rotbraune Exceed übellaunig.

„Und du kümmerst dich derweil um die Basilisken?“, kicherte Sting und zerzauste Lectors Kopffell, während Rogue seiner Exceed beruhigend zuflüsterte.

„Die Frage ist, ob es ein nächstes Mal geben wird“, stellte Yukino mit ernster Miene fest.

Sting nickte grimmig und ließ den Blick über das Schlachtfeld gleiten. Von einigen der Kadaver stiegen noch giftige Dämpfe auf, aber hoch am Himmel kreisten bereits die zuvor geflohenen Aasvögel. Einige mutige Wüstenraben taten sich bereits am Fleisch des halbierten Basilisken gütlich, dessen Speichel- und Giftdrüsen ja zusammen mit dem Rest des Vorderkörpers zerstört worden waren und somit keine Gefahr mehr darstellten.

„Wir müssen mit Hisui und Minerva darüber reden und die kleineren Wüstendörfer sollten gewarnt werden. Und die Wüstennomaden“, fügte Rogue mit einem vorwurfsvollen Blick auf Sting und Yukino hinzu. „Glaubt nicht, ich hätte nicht bemerkt, dass ihr improvisiert habt!“ Die Gescholtenen grinsten einander unschuldig an und Rogue seufzte entnervt. „Ihr Wüstennomaden und eure Herausforderungen!“

Yukino kicherte und hakte sich versöhnlich bei dem Schwarzhaarigen unter. „Lasst uns etwas essen und danach die Expedition nach Jadestadt eskortieren.“

„Essen ist eine gute Idee“, freute Sting sich und hakte sich an Rogues anderer Seite unter.

„Hey, ihr nehmt mich nicht ernst!“, knurrte der Schattenmagier.

„Gerade weil wir dich ernst nehmen, konnten wir uns erlauben, zu improvisieren, Rogue“, erwiderte Sting sanft.

Rogue brummte leise, aber auf seine Wangen hatte sich wieder ein Rotschimmer geschlichen. Wieder kicherte Yukino und beschleunigte ihre Schritte, um ihre Freunde so mit sich zu ziehen. Diese schlossen rasch zu ihr auf und gemeinsam kehrten sie zu einem übel aufgelegten Arkadios zurück, während Weißlogia und Skiadrum sich wieder in die Lüfte schwangen, um am Himmel ihre wachsamen Kreise zu ziehen.

Doch so gelassen die beiden Drachenreiter und ihre Freundin Arkadios’ Standpauke über Vorsichtnahme und Risiken und dergleichen auch über sich ergehen ließen, ihnen allen war klar, dass hier etwas Ungeheuerliches vor sich ging. Etwas, das zu einer Lebensgefahr für alle Bewohner der Stillen Wüste werden konnte!

Der Tag, an dem er tierisch genervt war

18 Jahre vor der Opferung
 

Juvia war ein winziges Bündel aus mageren Gliedern und verfilzten, blauen Haaren. Die Unterernährung und die Schufterei in den Bergwerken machten ihr schwerer zu schaffen als Gajeel und Totomaru, die zwei Jahre älter waren – oder zumindest glaubten, es zu sein. Solange sie denken konnten, waren sie in den Sklavenhütten von Phantom Lord gewesen und dort hatte sich nie jemand um ihr korrektes Alter geschert. Sie konnten nur anhand von bekannten Vergleichswerten schätzen. Und sie konnten sich Beide daran erinnern, Juvia als krabbelnden Winzling gesehen zu haben. Daher ihre Annahme, dass Juvia zwei – oder vielleicht auch drei – Jahre jünger als sie war.

Heute war Juvia vielleicht fünf Jahre alt und sie war seit einem Jahr in der Hölle der Bergwerke gefangen – und dennoch schenkte sie Gajeel und Totomaru bei jeder Begegnung ein strahlendes Lächeln. Sie war ein Sonnenschein, sanft und warm und beständig. Für Gajeel war sie der Halt, der ihn angesichts all der Gewalt um ihn herum vor den Wahnsinn bewahrte, dem so viele andere Kinder in den Bergwerken irgendwann anheimfielen.

Aber heute war Juvia kein Sonnenschein. Sie hatte Fieber – so hatte einer der Älteren aus der Sklavenhütte es genannt – und sie wollte einfach nicht essen, obwohl Totomaru ihr Pökelfleisch vom Aufseher gestohlen hatte.

Unbeholfen tätschelte Gajeel ihre Wange und sah sich unschlüssig im stickigen Schlafsaal um. Vielleicht täte es ihr gut, nach draußen zu kommen, aber es regnete schon seit den Nachtstunden unablässig. Der Ältere hatte etwas davon gesagt, dass Juvia eine Lungenentzündung bekommen könnte, wenn sie sich jetzt auch noch verkühlte – und so etwas konnte wohl tödlich sein.

Tödlich… Gajeel hatte gelernt, was dieses Wort bedeutete, aber es mit Juvia in Verbindung zu bringen, bereitete ihm ein eigenartiges Gefühl in der Brust. Er bekam dann kaum noch richtig Luft und sein Körper wurde noch kälter und tauber als damals, als er in einen unterirdischen Fluss gefallen und beinahe ertrunken war.

Ein Poltern ließ Gajeel von Juvias gerötetem Gesicht aufblicken. Die Tür zum Schlafsaal wurde aufgerissen und Totomaru hindurch geworfen. Hustend krümmte er sich zusammen. Gajeel konnte erkennen, dass sein Freund sich den linken Arm an die Brust presste und im Gesicht war Blut. Viel Blut.

Gajeel sprang auf und stellte sich zwischen Juvias kümmerliche Pritsche und die Tür, in welcher nun der Aufseher Aria stand, ein riesiger, breitschultriger Mann mit zu kleinem Kopf und grausam-unbeteiligten Gesichtszügen.

„So so, ihr schwänzt den Dienst“, stellte der Mann kalt fest und der Blick seiner schlitzartigen Augen huschte zu Juvia hinüber. „Die Kleine krepiert bald, an der ist jede Mühe vergeudetet.“

Gajeel gab ein Grollen von sich und hob die Fäuste. Er weigerte sich, zu glauben, dass das Mädchen hinter ihm bald sterben würde. Er würde Juvia mit allem verteidigen, was er hatte – auch wenn er genau wusste, dass das nicht viel war.

„Ich gebe dir eine einzige Chance, Junge: Geh’ an deine Arbeit und lass’ mich an die Göre ran, dann sehe ich davon ab, deine Rationen streichen zu lassen.“

Der Schwarzhaarige blieb, wo er war, und hinter sich hörte er Totomaru husten, der sich wieder aufrichtete. Der Junge stöhnte leise, aber das stärkte Gajeels Entschlossenheit nur noch mehr.

Ein kaltes Grinsen umspielte Arias wulstige Lippen, als er vortrat. Gajeel stürzte sich auf ihn und schlug und trat mit aller Kraft auf ihn ein. Aria hielt ihn mit einem brutalen Tritt in die Magengrube von sich fern. Der Junge stolperte ächzend zurück, blieb jedoch auf den Beinen. Doch Aria war noch nie zum Spielen aufgelegt gewesen. Er machte kurzen Prozess und trat Gajeel die Beine unter dem Körper weg. Dem folgte ein ungezügelter Tritt in die Seite.

Keuchend drehte Gajeel sich auf den Bauch und stemmte sich mühsam auf Hände und Knie. Ein weiterer Tritt in die Seite ließ ihn beinahe einknicken, doch er drückte die Ellenbogen sofort wieder durch und versuchte, den Schmerz zu ignorieren.

Über sich hörte er Arias unwilliges Knurren und er wusste, gleich würde der nächste Tritt folgen – doch dann stieß der Aufseher ein Fauchen aus. Gajeel hob den Blick und erkannte Totomaru mit blutüberströmtem Gesicht und schwer atmend, eine stark rußende Fackel in der rechten Hand. Aria warf seinen brennenden Mantel zu Boden, um ihn auszutreten, dann schlug er nach dem Jungen mit den weiß-schwarzen Haaren. Dieser wich aus, geriet jedoch ins Straucheln. Hastig rappelte Gajeel sich auf und sprang dem Aufseher in den Rücken.

Nun verlor Aria endgültig die Geduld. Er wirbelte herum und zog dabei seinen Prügel aus der Gürtelschlaufe. Das verdickte Ende krachte gegen Gajeels Schläfe, bevor dieser ausweichen konnte. Wie ein nasser Sack ging er zu Boden. Sein Kopf pochte grauenhaft und er schmeckte Blut, weil er sich auf die Zunge gebissen hatte. Außer seinen Kopfschmerzen, den schmerzenden Rippen und dem rebellierenden Magen registrierte der Junge nichts mehr um sich herum.

Dann stolperte Aria über ihn hinweg und trat dabei wieder in seine Magengrube. Stöhnend fuhr Gajeel hoch und riss die Augen auf. Der Hut des Aufsehers stand in Flammen und lag zu Füßen seines schnaufenden Besitzers, welcher sich den versengten Kopf rieb. Zu Gajeels anderer Seite stand Totomaru, eine blaue Flamme in der Hand und vor Anstrengung am ganzen Körper zitternd.

„So so, der Bengel ist also ein Magier und hat es uns verheimlicht, äh?“, stellte Aria sehr gehässig fest.

Gajeel spuckte Blut aus und kämpfte sich wieder auf die Beine, um sich vor seinen Freund zu stellen. Dass Totomaru ein Feuermagier war, hatten sie letztes Jahr entdeckt und seitdem immer geheim gehalten. Oft genug hatten sie beobachtet, wie magiebegabte Kinder fortgebracht worden waren – und keiner von ihnen war noch so naiv, anzunehmen, dass es diesen Kindern besser erging als ihnen hier im Bergwerk.

„Die Doktoren werden sich freuen, endlich wieder ein Versuchskaninchen zu haben“, erklärte Aria und ließ den Prügel in seine Handfläche klatschen, während er näher kam.

Und dann schoss etwas Großes an Gajeel und Totomaru vorbei und ein Schwall Wasser drückte Aria an die Wand und entriss ihm den Prügel. Die beiden Jungen wirbelten herum.

Juvia stand schwankend auf ihrer Pritsche, der Blick benommen. Um ihre ausgestreckten Hände flossen unstete Ringe aus Wasser. Gajeel hatte das Gefühl, als würden ihm gleich die Augen aus dem Kopf fallen. Juvia war eine Wassermagierin!

„Magiebrand also“, schnaufte Aria und sah sich nach seinem Prügel um. „Angeblich regnet es immer, wenn sehr starke Wassermagier krank sind. Die Doktoren werden sich freuen!“

„Niemals!“, brüllten Gajeel und Totomaru wie aus einem Mund und sprangen vor.

Gajeel erreichte den Prügel vor Aria und hob ihn auf. Er war schwer und unhandlich, aber die Sorge um Juvia verlieh Gajeel ungeahnte Kräfte. Er holte aus und schlug Aria den Prügel gegen ein Knie. Er konnte ein Knacken hören und der Aufseher brüllte vor Schmerz. Dann warf Totomaru eine blaue Flamme – die heißeste, die er zustande brachte. Innerhalb von Sekunden fing Arias gesamte Kleidung Feuer und kurz darauf roch Gajeel verbranntes Fleisch. Aria schlug vor Qual um sich.

Gajeel blickte auf den Prügel in seiner Hand. Er könnte den Aufseher damit bewusstlos schlagen, dann hätte er es hinter sich… Der Junge schob den Prügel unter den Strick, der die zerschlissenen Hosen auf seinen Hüften hielt, dann wirbelte er herum und eilte zu Juvia. Kurzerhand hob er sich das Mädchen auf die Schulter, drehte erneut um und packte mit der freien Hand Totomaru am Arm, der immer noch Aria anstarrte.

„Er hat es verdient“, erklärte Gajeel und zog den Feuermagier mit sich. Im Vorbeilaufen spuckte er Blut in Richtung des brennenden Mannes, der schon so viele Kinder gequält hatte und nun hoffentlich kein einziges mehr würde quälen können…
 

6 Wochen vor der Opferung
 

Das kleine Segelboot schaukelte im seichten Wellengang hin und her.

Hin und her.

Am wolkenlosen Himmel segelten einige Möwen und Albatrosse untypisch träge dahin. Die Sonne machte auch ihnen zu schaffen.

Und hin und her. Hin und her.

Außer einem leisen Rauschen und dem Gluckern des Wassers, das gegen den Rumpf des Bootes schlug, war nichts zu hören. Außer Wasser und Himmel nichts zu sehen. Blau und Blau. Eine blaue Einöde.

Und hin und her. Hin und her…

„Gah! Ich halte das nicht mehr aus!“

Ruckartig richtete Gajeel sich auf, wodurch das Boot ins Wanken geriet, und raufte sich die wilden, schwarzen Haare.

Nichts und niemand rührte sich. Gajeel war mutterseelenallein auf diesem verfluchten Boot und es gab absolut nichts, womit er sich beschäftigen konnte.

Nicht zum ersten Mal fragte der junge Mann sich, wie sein Leben eine solche Wende hatte nehmen können. Vor achtzehn Jahren hatte er nach der geglückten Flucht aus dem Bergwerk von Phantom Lord geglaubt, fortan würde alles besser werden. In so mancher Hinsicht war es das auch – aber in anderen Dingen wiederum ganz und gar nicht. Er hatte Totomaru verloren und er war wieder auf der Flucht, das war kaum auszugleichen.

Und wenn er sich nach Frieden sehnte, war damit nicht dieses stinklangweilige Meer gemeint. Aber er konnte ja wohl schlecht nein sagen, wenn ausgerechnet Juvia ihn um etwas bat – und sie hatte nun einmal das Kaiserliche Meer erkunden wollen.

„Was ist los, Gajeel?“

Der Schwarzhaarige blickte auf, als der Besitzer der tiefen Stimme geschmeidig auf dem Boot landete, ein schwarzbrauner Exceed mit runden Ohren und narbigem Gesicht, der eine Pluderhose trug und am Gürtel ein Federschwert – jene magische Waffe, die nur von einem Exceed geführt werden konnte und derer es seit der Zerstörung von Extalia nur noch so wenige gab.

„Mir ist langweilig, Pantherlily“, erklärte Gajeel mürrisch.

Der Exceed zog eine Augenbraue in die Höhe. „Wie lange ist sie denn schon unten?“

Zur Antwort zuckte Gajeel mit den Schultern. „Lange.“

Pantherlily seufzte und Gajeel fühlte sich wie ein kleiner Junge vor einem entnervten Vater. Manchmal merkte man sehr deutlich, dass der Exceed mehr Lebenserfahrung und einen Krieg hinter sich hatte. Aber letztendlich, so tröstete Gajeel sich, saßen sie im selben Boot – im wortwörtlichen und im übertragenem Sinn.

Auch Pantherlily war auf der Flucht. Er mochte es anders nennen, aber Gajeel steckte schon zu lange selbst in dieser Fluchtsituation, als dass er einen Leidensgefährten nicht erkennen würde.

„Wie sieht es auf der nächsten Insel auf?“

„Ruhig, klein, keine Anzeichen von Besiedlung. Auch keine Schmugglerverstecke. Ein paar Lemuren, viele Bananen und Kokosnüsse.“

Gajeel verzog das Gesicht. Abgesehen davon, dass Lemuren scheußlich schmeckten, hatte Juvia es ihm sehr übel genommen, als er eines dieser ihrer Ansicht nach so niedlichen Viecher mal zum Essen serviert hatte. Da würde es heute Abend mal wieder Fisch geben. Und morgen früh Bananen. Wie lange war es her, dass er mal so einen richtig deftigen Hammelbraten gegessen hatte? Er konnte sich kaum noch an den Geschmack erinnern. Das Lamm, das sie letztes Jahr gegen eine gefundene Perle eingetauscht hatten, hätte ein guter Ersatz werden können, aber das hatte Juvia ihm ja mit ihrem vorwurfsvollen Blick madig machen müssen.

Vielsagend zog Pantherlily eine Augenbraue in die Höhe, aber Gajeel winkte nur ab. Die Diskussion hatten sie mehrmals geführt und waren nie zu einem Ergebnis gekommen. Gajeel würde sich nicht noch einmal in einer Menschensiedlung niederlassen. Schon allein, weil es Juvia nie irgendwo lange hielt.

Von Gajeels Warte aus war es eine Flucht vor der sogenannten Zivilisation, Juvia hingegen war auf der Suche nach etwas, das sie selbst nicht definieren konnte. Nicht dass sie lauter tiefsinnige Gespräche darüber führen würden, aber Gajeel kannte die Blauhaarige nun einmal schon ihr gesamtes Leben lang. Wahrscheinlich kannte er sie sogar besser, als sie sich selbst.

Als hätte sie gespürt, dass er über sie nachgedacht hatte, tauchte Juvia neben dem Boot aus dem Wasser auf und ließ sich mit einem leichten Schwenken ihrer Hand von einer kontrollierten Fontäne in die Höhe heben, bis sie bequem ins Boot steigen konnte.

„Hallo Lily“, begrüßte sie den Exceed mit jenem unschuldigen Strahlen in den Augen, von dem Gajeel hoffte, es immer bewahren zu können.

Sie wrang die langen, blauen Haare aus und schlüpfte wieder in das schlichte Oberkleid, das sie vor ihrem Tauchgang ausgezogen hatte. Mühelos balancierten Gajeel und Pantherlily das Wanken des Bootes aus, welches durch Juvias Bewegungen verursacht wurde. Schließlich ließ die junge Frau sich auf dem Mittelsitz nieder.

„Wo ist die nächste Insel, Lily?“

„Etwa fünfzehn Seemeilen im Norden“, erklärte der Exceed und deutete mit dem Daumen hinter sich.

Juvia nickte verstehend und machte mit beiden Händen winkende Bewegungen. Sofort nahm das kleine Boot Fahrt auf, getrieben von einer magischen Strömung.

Bislang war Juvia die einzige Wassermagierin, der Gajeel je begegnet war, aber er wusste mit völliger Gewissheit, dass ihre Kontrolle über das nasse Element das normale Maß bei weitem überstieg. Gut möglich, dass sie einer der besten Wassermagier von ganz Fiore war, wenn nicht sogar von ganz Ishgar. Natürlich hatte sie dabei ihrer Schwächen, aber dafür war ja Gajeel da. Er beschützte Juvia schon sein ganzes Leben lang und würde es auch weiterhin tun!

„Vielleicht sollten wir uns mal wieder mit den anderen Reitern treffen“, begann Juvia ein Gespräch, als sie mit ihren Bewegungen innehielt, damit die Strömung nicht zu stark wurde.

Gajeel runzelte die Stirn. „Warum? Wir haben mit ihnen nichts weiter zu tun. Die bisherigen Treffen hingen auch nur mit diesem rührseligen Ritual zusammen.“

Über ihre Schulter hinweg blickte Juvia Gajeel an und zog eine Flunschmiene. „Juvia mag die anderen Reiter aber und sie wüsste gerne, was sie jetzt machen.“

Der Schwarzhaarige zuckte mit den Schultern. „Was sollen sie schon machen. Sting und Rogue haben ihr Klauen-Ding…“

„Aber vielleicht haben sie ja geheiratet“, protestierte Juvia mit schwärmerischer Miene, aber in ihren Augen erkannte Gajeel noch etwas anderes: Sehnsucht. Wollte Juvia etwa heiraten? Wofür denn das?

„Was macht das schon für einen Unterschied? Die stecken einander auch so die Zunge in den Hals“, brummte Gajeel mit einem weiteren Schulterzucken. Juvias Wangen bekamen einen kräftigen Rotschimmer, was Gajeel ein fieses Grinsen entlockte. „Und für nächtliche Abenteuer brauchen die auch keine Heirat. Wahrscheinlich treiben die es jede N-“

Juvias schrilles Quietschen und der Ruck, der durch das Boot ging, als die magische Strömung rasant beschleunigt wurde, ließen Gajeel verstummen, aber er kicherte verschlagen in sich hinein. Auch Pantherlilys skeptischer Blick konnte ihm die Freude über diesen kleinen Sieg nicht trüben.

Er lehnte sich zurück und genoss den kühlen Fahrtwind. Natürlich hätten er und Pantherlily sich auch in die Riemen legen können, aber mit Juvias Magie kamen sie eindeutig schneller voran und es verlangte ihr im Grunde keine richtige Mühe ab. Damit Juvia ermüdete, musste schon etwas wirklich Großes passieren.

Als die kleine Insel in Sichtweite kam, hielt Juvia in ihren Bewegungen inne, damit sich die Strömung von selbst verlangsamen konnte. Dann drehte sie sich wieder mit trotziger Miene zu Gajeel herum.

„Juvia würde die Anderen dennoch gerne wieder sehen.“

„Vielleicht ergibt es sich“, winkte Gajeel ab.

Es war nicht so, dass er Sting, Rogue und die Anderen nicht leiden konnte, aber er kannte sie kaum und sah keinen Sinn darin, etwas daran zu ändern. Es war ja nicht so, als hätten sie alle viel miteinander zu tun.

„Wir könnte-“

Gajeel bemerkte sofort die Veränderung in Juvias Haltung und Miene, als diese einfach verstummte, und er richtete sich mit einem Stirnrunzeln auf.

„Was ist los? Ein Sturm?“ Misstrauisch blickte er sich um, doch das Wasser und der Himmel waren immer noch so langweilig blau.

Langsam schüttelte Juvia den Kopf und rutschte an den Rand des Bootes, beugte sich darüber und steckte ihr Gesicht ins Wasser. Automatisch verlagerten Gajeel und Pantherlily das Gewicht, um ein Kippen des Bootes zu verhindern.

Nach kurzer Zeit zog Juvia den Kopf zurück, ihre Miene nun zutiefst beunruhigt. „Da unten ist ein Leviathan.“

Gajeel und Pantherlily wechselten einen Blick. Die Einzige von ihnen, die jemals einem Leviathan begegnet war, war Juvia. Die Wassermagierin war mit den kolossalen Drachenartigen geschwommen und hatte sie studiert. Damals war sie von der Sanftmut dieser Wesen begeistert gewesen und hatte sich kaum überreden lassen, wieder aus dem Wasser heraus zu kommen.

Pantherlily blickte über seine Schulter zur inzwischen gut erkennbaren Insel. Gajeel erkannte, wie die Hand des Exceed langsam zum Griff des Federschwerts glitt.

„Wir sind viel zu nahe an der Insel. Wieso sollte ein Leviathan so ein Risiko eingehen?“

Ratlos schüttelte Juvia den Kopf. „Er ist nicht verletzt und er ist auch kein verirrter Schlüpfling. Juvia hat keine Erklärung dafür.“

„Wir sollten so schnell wie möglich an Land“, knurrte Gajeel.

Leviathane mochten normalerweise scheu und zurückhaltend sein, aber irgendetwas musste ja an dem Seemannsgarn über die riesigen Seeungeheuer dran sein. Er wollte nicht in Reichweite eines solchen bleiben, wenn sogar Juvia wegen seines Verhaltens beunruhigt war. Ganz unwillkürlich tastete er nach seiner telepathischen Verbindung.

Zuerst erhielt er Spott zur Antwort, doch dann spürte er Sorge auf der anderen Seite. Das trug nicht unbedingt dazu bei, dass er sich sicherer fühlte.

„Wenn wir das Boot bewegen, wird er es sicher merken“, wandte die Blauhaarige ein. „Vielleicht sollte Juvia versuchen, ihn abzulen-“

„Nein!“, kam es gleichzeitig von Gajeel und Pantherlily.

„Bring’ zuerst Juvia auf die Insel und dann komm’ mich holen, Lily“, entschied Gajeel brüsk.

Der Exceed nickte grimmig und richtete sich auf, um die weißen Flügel erscheinen zu lassen. Zu spät. Gajeel konnte ein anschwellendes Rumoren spüren und dann krachte etwas gegen die Unterseite des Bootes. Es wurde regelrecht durch die Luft geschleudert und verteilte seine Insassen im Wasser.

Gajeel besaß gerade noch die Geistesgegenwart, seinen Körper zu verhärten, dann traf er hart auf das Wasser und ging gleich unter wie ein Stein. Schnell löste der Schwarzhaarige seine Magie wieder, um nicht in noch gefährlichere Tiefen zu kommen, und machte sich daran, wieder aufzutauchen. Er mochte nicht einmal ansatzweise Juvias Eleganz besitzen, aber er war ein passabler Schwimmer und Taucher. Passabel genug, um problemlos die Wasseroberfläche zu erreichen.

Er spuckte Salzwasser aus und sah sich hektisch nach den Anderen um. Panik stieg in ihm auf, als er niemanden erkennen konnte, nur unruhige See. Hatte er sich vorhin wirklich über Langeweile beklagt? Er nahm alles wieder zurück!

Rechts von ihm brach Pantherlily aus dem Wasser und kam sofort auf ihn zugeschwommen. Er war jetzt in seiner großen Form, ein Muskelberg von einem Panther, aber seine Miene war ernst. „Meine Flügel sind nass geworden.“

Gajeel fluchte farbenfroh und schlug mit der Faust hilflos aufs Wasser. Die Flügel waren die große Schwäche der Exceed. Wurden sie nass, waren sie über Stunden unbeweglich.

„Hast du Juvia gesehen?“

Als der Exceed den Kopf schüttelte, schloss sich eine eisige Faust um Gajeels Herz. Juvia war doch nicht…? Unmöglich! Sie konnte nicht! Nicht hier! Nicht jetzt! Niemals!

„Gajeel, wir müssen-“

Der Schwarzhaarige erfuhr nicht, was sie angeblich mussten, denn in diesem Moment brach etwas Urgewaltiges aus dem Wasser. Der Körper war massig wie der eines Blauwals – Gajeel hatte welche gesehen, als sie das Nordmeer erkundet hatten –, aber der Schwanz erinnerte an einen Schleierfisch und war noch mal genau so lang wie der Körper. Seltsam grotesk und doch irgendwie harmonisch schloss sich an den stromlinienförmigen Körper ein dicker Halz an, welcher ein lang gezogenes Gesicht mit spitzem, vielbezahntem Maul, großen, schwarzen Augen und einem Schuppenkragen trug. Der gesamte Körper schillerte in Blau- und Grüntönen. Auf dem Rücken waren verkümmerte – aber immer noch sehr imposante – Flügel zu erkennen.

Laut Juvia hatten Schlüpflinge noch richtete Flügel und nutzten sie in der ersten Zeit auch sehr ausgiebig. Erst mit zunehmendem Alter und der damit einhergehenden Hauptnutzung des effektiveren Schleierschwanzes bildeten sich die Flügel nicht mehr richtig aus.

Dieser Leviathan war genauso lang wie das größte Schiff, das Gajeel jemals gesehen hatte – die Kanaloa, ein gigantisches Schlachtschiff, welches das Kaiserliche Meer durchkreuzte und überwachte – und somit auch ein gutes Stück größer als ein Drache. Doch die weichen Bauchschuppen, der höchst empfindliche Schleierschwanz und die hoch sensiblen Umgebungsbedürfnisse machten den Leviathan gegenüber einem erfahrenen Drachen eindeutig unterlegen.

Dennoch konnte Gajeel nichts anderes tun, als zu starren und sich zu fragen, ob dieses riesige Maul Juvias winzigen Körper zermalmt hatte. Erst als Pantherlily ihm einen brutalen Schlag gegen den Hinterkopf versetzte, kam er wieder zu sich und war in der Lage, dem Fingerzeig des Exceed mit dem Blick zu folgen.

Gajeel blieb beinahe das Herz stehen: Juvia hing an einem Augenlid des Leviathans und redete anscheinend auf ihn ein. Selbst mit seinem feinen Gehör konnte Gajeel sie aufgrund des Wasserrauschens und des Grollens im Inneren des Drachenartigen nur bruchstückhaft verstehen.

„-ir nichts… -rück! Du musst zu-… -fährlich für dich… Wir tun di…“

Der Impuls war, nach Juvia zu schreien, damit sie von diesem verdammten Ungetüm herunter kam, aber Pantherlilys Hand auf seiner Schulter beruhigte Gajeel wieder. Wenn dieses Ding hören konnte, wäre es sehr unklug, herum zu brüllen und es damit noch mehr aufzuregen. Wenn überhaupt jemand heil aus dieser Situation heraus kommen konnte, dann war es wohl eine Wassermagierin von Juvias Format. Gajeel musste darauf vertrauen, dass sie rechtzeitig reagieren würde, wenn der Leviathan vollends ausrastete.

Er drehte sich im Wasser, bis er zu seiner Linken die Insel erkennen konnte. Im Vergleich zu dem Leviathan kam sie ihm winzig vor. Ob die überhaupt einen vernünftigen Schutz darstellte – Schleierschwanz hin oder her? Aber was blieb ihnen anderes übrig?

Er bedeutete Pantherlily mit einem Nicken die Richtung und der Exceed zog die Lefzen missmutig hoch. Gajeel knurrte zustimmend. Er wollte Juvia auch nicht zurück lassen.

Gleichzeitig blickten sie auf, als der Leviathan ein schrilles Kreischen ausstieß und wild mit dem Kopf schüttelte. Vor Schreck hielt Juvia sich fest, statt sich ins für sie rettende Wasser fallen zu lassen.

„DU IDIOT!“, brüllte Gajeel außer sich, während er dagegen ankämpfte, von den immer höheren Wellen davon gespült zu werden. „LASS’ LOS!“

Ob sie ihn hörte oder ob ihr einfach die Kraft ausging, Juvia ließ endlich los und stürzte ins Wasser. Es bedurfte keiner Absprache. Pantherlily schwamm sofort in Juvias Richtung, während Gajeel sich dem Leviathan zuwandte, der mit seinem mächtigen Körper in alle Richtungen wippte und wankte und das Wasser immer mehr aufwühlte. Gajeel sammelte seine Magie und holte so tief Luft, wie seine missliche Lage es ihm erlaubte, dann spie er die stärkste Attacke aus, die er zustande bringen konnte: Das Gebrüll des Eisendrachen.

Ein wütender, rasender Wirbel aus Eisenschrapnell kam aus Gajeels Inneren und traf den Leviathan am Rücken, zerfetzte einen der Flügel und streifte den Schleierschwanz. Das Geschrei des Wesens ließ Gajeels Ohren klingeln und die aufschlagenden Wellen begruben ihn fast. Mühsam hielt er sich mit den Beinen über Wasser, während er mit den Armen das Gleichgewicht hielt.

Der Leviathan hatte offensichtlich grauenhafte Schmerzen, aber die Wunden waren nicht so fatal, dass von Entwarnung die Rede sein könnte. Wenn er es gekonnt hätte, hätte Gajeel auf den Bauch gezielt, das hätte die ganze Sache gewiss beendet, aber unter diesen Umständen konnte er sich wohl glücklich schätzen, überhaupt getroffen zu haben.

Eine große Welle schwappte über Gajeel hinweg und drückte ihn wieder unter Wasser. Die heftigen Bewegungen des Ungetüms brachten die Strömungen durcheinander und Gajeel wurde so schnell und so oft herum gewirbelt, dass er nicht mehr wusste, wo oben und wo unten war. Allmählich ging ihm die Luft aus und vor seinen Augen begann es zu flimmern.

Wie lächerlich, dachte er bei sich, dass er so drauf gehen sollte. Er war Phantom Lord entkommen und hatte Bosco hinter sich gelassen. Er war verdammt noch mal ein Drachenreiter!

Ganz recht, also reiß’ dich jetzt zusammen, erklang eine grimmige Stimme in seinem Kopf und er wurde hart um die Mitte gepackt und aus dem Wasser gerissen.

Benommen hing er in den scharfen Krallen und blinzelte das brennende Salzwasser aus den Augen. Unter ihm schoss das Wasser dahin, noch immer aufgewühlt und tückisch. Und dann kam der tobende Leviathan in Gajeels Blickfeld und der Drachenreiter schüttelte den Kopf, um die Erschöpfung zu vertreiben.

„Wo sind Juvia und Lily?“, rief er gegen das Getöse an und drehte sich im Griff der Krallen, um nach oben zu Metallicana zu blicken.

Der Eisendrache war dunkelgrau mit einem massiven Kopf, der an einen Rammbock erinnerte. Unter den Schuppen spielten wahre Muskelberge und die Flügel warfen einen riesigen Schatten, während der lange, zackenlose Schwanz wie eine Peitsche durch die Luft zischte.

„Woher soll ich das wissen?“, grollte der Drache. „Die können schon auf sich aufpassen. Wir müssen uns erst einmal um diesen Fisch kümmern, also hör’ auf, dich da unten herum hängen zu lassen, und komm’ hoch.“

Schimpfend und fluchend drückte Gajeel sich aus den Krallen heraus und kletterte das Bein hinauf. „Hängen lassen, sagt er, dieser Windbeutel von einem Drachen!“ Die Bewegungen der Muskeln unter seinen Händen und Füßen machten den Aufstieg noch schwerer als ohnehin schon. „Hätte ja auch früher kommen können, dieses Drachenloch!“ Mühsam zog er sich am Rückenkamm die Wirbelsäule entlang bis zum Halsansatz. „Woher soll er denn das wissen? Riechen könnte er sie, aber soweit reicht es bei ihm wohl nicht!“, schimpfte Gajeel weiter und ließ sich in die Kuhle sinken, die perfekt zum Reiten geeignet war.

„Bist du fertig?“, brummte Metallicana gelangweilt. „Zieh’ nicht so eine Fresse.“

„Ich ziehe überhaupt keine Fresse! Erledige endliches dieses Vieh, bevor es Juvia frisst!“

„Das ist ein Leviathan, kein Vieh.“

„Gerade eben hast du es noch Fisch genannt.“

„Das ist etwas vollkommen anderes“, erwiderte der Eisendrache erhaben und sammelte seine Magie.

Sein Gebrüll des Eisendrachen – größer und stärker als Gajeels – hätte das Meeresungeheuer erledigt, wenn es sich nicht im letzten Moment gedreht hätte. So streifte der gewaltige Wirbel aus Eisenschrapnell nur die Seite des Leviathans. Zwar riss er dabei eine hässliche Wunde, aus welcher sogleich die Innereien quollen, aber der Drachenartige lebte noch und vergeudete seine letzte Lebenskraft mit noch mehr Raserei.

„Bist du blind? Der war direkt vor deiner Nase!“

„Ach wirklich? Ich habe ihn nicht gesehen…“

Gajeel lag noch so einiges auf der Zunge, doch dann fiel sein Blick auf zwei Gestalten im tobenden Wasser. Er konnte nicht erkennen, wie es um sie bestellt war, nur dass sie gefährlich nah an dem Moloch dran waren.

„Runter! Du musst-!“

Dem Schwarzhaarigen blieben die Worte im Halse stecken, als sein Drache einen harten Schwenk nach unten machte und die Flügel anzog, um noch mehr Fahrt aufzunehmen. Gajeel beugte sich vor und beobachtete mit zusammen gekniffenen Augen, wie seine Freunde immer näher kamen. Dann ging ein weiterer Ruck durch Metallicanas Körper, als dieser den Winkel seiner Flügel erneut veränderte und den Schwung des Sturzes für die ersten hundert Mannslängen des Wiederaufstiegs nutzte. Erst als der Schwung nachließ, breitete er wieder die Flügel aus und schlug mehrmals kräftig damit, um weiter an Höhe zu gewinnen.

„Ich hab’ sie und Beide leben, also reiß’ dich zusammen“, schalt Metallicana seinen besorgten Reiter und machte eine Kehrtwende. „Und mach’ der Schlange den Garaus, damit endlich wieder Ruhe ist.“

„Fisch, Schlange, was ist es denn nun?“, knurrte Gajeel, sammelte jedoch seine Magie für ein weiteres Gebrüll des Eisendrachen. Er wartete den Moment ab, bis sein Drache nahe am Kopf des Leviathans vorbei flog, dann ließ er die magische Attacke los.

Augen und Schuppenkragen wurden völlig zerfetzt, die Nüstern und die flache Stirn aufgerissen. Spätestens als die ersten Eisensplitter in das bloßgelegte Gehirn drangen, hatte die Pein des Drachenartigen endlich ein Ende. Das Geschrei verstummte und der mächtige Körper fiel völlig schlaff ins Wasser. Eine beachtliche Flutwelle breitete sich in alle Richtungen aus, gefolgt von einigen kleineren, als der leblose Körper im Wasser versank.

Metallicana setzte zum Landeanflug an. Anhand der Muskelzuckungen erkannte Gajeel, dass der Drache das Bein, in dessen Klaue er Pantherlily und Juvia hielt, anzog, damit ihnen bei der Landung nichts geschah.

Als sie endlich auf der kleinen Insel aufgesetzt hatten, sprang Gajeel herunter. Metallicana hatte die Anderen bereits losgelassen. Sie schienen etwas mitgenommen, aber unverletzt, wie Gajeel erleichtert feststellte, dann stapfte er auf Juvia zu und versetzte ihr eine Kopfnuss.

„Wehe, du ziehst noch mal so eine Mein Freund, der Leviathan-Nummer ab!“

Die Blauhaarige hielt sich den Kopf, blickte jedoch trotzig zu Gajeel auf. „Juvia musste es versuchen. Etwas hat nicht mit diesem Leviathan gestimmt.“

„Keine Heldentaten mehr! Die kosten uns nur die Köpfe“, fauchte Gajeel.

„Merke ich mir“, mischte sich Metallicana ein und schüttelte den imposanten Körper durch, um das Wasser von den Schuppen zu kriegen. „Beim nächsten Mal lasse ich dich einfach absaufen und suche mir einen neuen Reiter.“

„Mach’ doch. Einen so guten wie mich findest du nie wieder“, grollte Gajeel. Der Drache schnaubte.

Juvia legte Gajeel eine Hand auf den Arm und drehte sich herzlich lächelnd zu Metallicana herum. „Was Gajeel eigentlich sagten wollte, ist: Danke, dass du uns gerettet hast.“

„Gern geschehen, Wassermädchen, Eisenhirn.“

„Wer ist hier ein Eisenhirn?!“

Wieder schnaubte Metallicana und Gajeel hatte nicht übel Lust, ihm einen richtigen Schlag zu verpassen, aber Pantherlilys Räuspern ließ ihn innehalten.

Der Exceed war nun wieder in seiner kleinen Gestalt. Die große kostete ihm viel Magie und damit auch Kraft – und allen Drills und aller Erfahrung zum Trotz war auch Pantherlily nicht unerschöpflich.

„Hast du vielleicht eine Idee, was es mit dem merkwürdigen Verhalten des Leviathans auf sich haben könnte, Metallicana?“

„Nicht die geringste.“

Jetzt erlaubte Gajeel sich ein Schnauben und ein triumphierendes Grinsen. Es war ihm eine Genugtuung, dass der Drache eben doch nicht alles wusste.

„Zieh’ nicht so eine Fresse, sonst lasse ich dich hier bei den Lemuren, Bananen und Kokosnüssen alleine.“

„Eisenhirn!“

„Wie gut, dass ein Reiter nicht kreativ sein muss.“

„Fledermaus!“

„Bitte?“

„Riesenechse!“

„Versuchst du gerade, mich zu beleidigen…?“

Der Abend, an dem sie ein besonderes Buch fand

6 Jahre vor der Opferung
 

Tief holte Levy Luft und presste die drei schweren Wälzer noch fester an ihre Brust, um ihren zitternden Händen eine Aufgabe zu geben. Bei den Sieben Künsten, sie war so schrecklich nervös! Seit fünfzehn Jahren träumte sie von diesem Tag und nun würde sie am liebsten davon laufen!

Alle hier sahen so viel klüger aus, als sie sich fühlte. Sie gingen mit einer Selbstverständlichkeit einher, die Levy völlig abging. Fühlte keiner von ihnen die Ehrfurcht vor diesem riesigen Gebäude mit seiner kunstvollen Backsteinfassade, den beiden große Seiten Seitenflügeln, den zahlreichen Nebengebäuden, den Schiefer gedecktem Dach und dem himmelhoch aufragenden Glockenturm? Hatte keiner dieses Gefühl der Erdrückung von all der Pracht und Würde dieses heiligsten aller Orte in ganz Fiore – ach was, in der ganzen Welt?!

Levy machte einen zaghaften Schritt nach vorn. Ihre Beine knickten beinahe ein. Vor ihren Augen flimmerte es. Der Turm wurde größer und größer und größer…

Ein harter Stoß an ihrer Schulter riss Levy aus ihrer Trance. Sie stolperte nach vorn und die Bücher rutschten langsam aus ihren Armen. Hastig schloss Levy die Glieder fester darum und drückte die Knie durch, um wieder aufrecht zum Stehen zu kommen.

Vorsichtig rückte sie die Bücher zurecht und wagte es schließlich, eine Hand davon weg zu nehmen, um sich eine verirrte blaue Haarsträhne hinters Ohr zu schieben, die sich aus dem orangefarbenen Haarband gelöst hatte. Sofort hing ihr die Strähne wieder ins Gesicht. Wider besseres Wissen versuchte sie noch einmal, die widerspenstige Strähne zu zähmen, doch dann musste sie rasch wieder nach den rutschenden Büchern greifen.

Seufzend und auf sehr wabbeligen Beinen ging sie weiter, bis sie die durchgetretenen Stufen der berühmten Treppe der Sieben Künste erreichte. Sieben mal sieben Stufen, auf jedem Absatz mit Mosaiken versehen, die jeweils eine der sieben Künste thematisierten. Noch nie hatte Levy diese Stufen betreten oder auch nur vom Weiten gesehen, aber sie kannte die Themen der einzelnen Absätze dennoch ganz genau:

Die Ökonomie – der Fluch und Segen der Menschheit, nährend und hungernd, gerecht und grausam, logisch und mysteriös.

Die Politik – das Gehirn des Weltgeschehens, kalkulierend, intrigierend, tückisch, der Seiltanz auf dem Wollfaden.

Die Naturwissenschaften – die großen Antwortenden und Fragenden, ewig forschend, irrend, revidierend.

Die Kunst – der Traum vom Leben, das Leben im Traum, spiegelnd, verzerrend, verwirrend.

Die Philologie – Zungen der Welten, Medium, Werkzeug, Kunstwerk, warm- und kaltherzig zugleich.

Die Geschichte – Lehrerin, Sammlerin, Rück- und Vorausblickende, mächtig und machtlos.

Und die Astronomie – die Unentwirrbare, die Magische, die Logische, die alles Bewegende und doch so Ferne.

Offiziell wurden die Sieben Künste als gleichberechtigt behandelt, doch in ganz Fiore galt die Fakultät der Astronomie als die wertvollste und angesehenste, wenn auch gleichzeitig als die schwierigste und unzugänglichste. Als einzige der Sieben Künste beschäftigte sie sich mit der Magie, ihren Ursprüngen, Gesetzmäßigkeiten und Wirkungsweisen, aber gerade deshalb hatte sie oft den Charakter eines blinden Tastens.

Levy musste gestehen, dass die Astronomie einen ganz besonderen Charme hatte, aber ihr Herz schlug für die Fakultäten der Geschichte und der Philologie mit all ihren Instituten zu Geographie, Ethnologie, Religion, Archäologie, Literatur, Rhetorik, Grammatik, Musik und dergleichen mehr. Das war ihre intellektuelle Heimat, dort fühlte sie sich geborgen.

In ihrer Familie, die schon seit Generationen einen kleinen Flecken Land bestellte, verstand keiner Levys Begeisterung für all das, dennoch hatten ihre Eltern alles in Bewegung gesetzt, um Levy den Weg in die Universität zu ebnen. Sicherlich auch in der Hoffnung, dass ihr viertes von sieben Kindern dort eine Basis fand, die es vom Familienerbe unabhängig machte, aber Levy war ihnen dennoch unendlich dankbar dafür!

Als sie endlich den Absatz mit ihrer Lieblingsfakultät betrat, machte ihr Herz einen Hüpfer, als sie die Insignien der Institute im Mosaik erkannte. Vergessen war die Nervosität. Levys Wangen waren vor Freude gerötet und sie lächelte versonnen vor sich hin, während sie die gesamte Länge des Absatzes abschritt. Beinahe kamen ihr die Tränen beim Anblick von Feder und Tintenfass, den Insignien des Handschriften-Instituts.

Es kostete sie eine Menge Überwindung, endlich weiter zu gehen und die letzten sieben Stufen zum Absatz der Astronomie zu bewältigen. Hier waren Sternbilder abgebildet. Die Nördliche Krone, das Kreuz des Südens und ganz zentral: Das Sternbild des Drachen. Levy hatte schon gefühlt hundert Legenden darüber gelesen, von astronomischen Abhandlungen über die Deutung des Erscheinens des Drachens ganz zu schweigen. Am besten gefiel ihr die Legende, laut der dieses Sternbild nur zu sehen war, wenn die Drachen sich versammelten. Der Gedanke, dass sich irgendwo in Fiore vor einem Jahr die Drachen getroffen hatten, war aufregend! Damals hatte Levy die ganze Nacht draußen verbracht, das Sternbild des Drachen betrachtet und sich Träumereien von Drachen hingegeben.

Endlich riss Levy sich auch von diesem Mosaik los und drehte sich um. Jetzt konnte sie den verwinkelten Park überblicken, der dem Universitätskomplex vorgelagert war und in welchem Studenten und Dozenten herum wuselten wie in einem Ameisenbau. Zwischen den Gewächshäusern zur Linken lugte das Laborgebäude aus bereits verdunkeltem Sandstein hervor, versehen mit riesigen Rundbogenfenstern, wohl um viel Licht in die Laboratorien zu kriegen.

Zur Rechten lagen die Beete, Äcker und Plantagen. Musterbeispiele für das Aggrar- und auch für das Botanikinstitut. Die Erträge wurden für die nahe liegende Mensa verwendet, wie Levy gelesen hatte.

Wenn Levy jedoch direkt geradeaus blickte, sah sie die großen und kleinen Dächer der Kaiser-Metropole Crocus – die größte Stadt von ganz Ishgar – und schließlich den Burgkomplex. In seinem Zentrum war der reinweiße und hoch aufragende Turm der Ewigkeit zu erkennen, um den sich mindestens genauso viele Legenden rankten wie um das Sternbild des Drachen. Seit der Thronbesteigung der Unsterblichen Kaiserin vor dreihundert Jahren war der Turm ein Symbol für Macht, Weisheit, Einigkeit und noch vielerlei mehr geworden.

Am liebsten hatte Levy ihn als Symbol der Gleichberechtigung. Wäre sie zu Zeiten der Ständedünkel auf die Welt gekommen, hätte sie nie und nimmer hier studieren können. Wahrscheinlich wäre sie dann jetzt schon verheiratet und mindestens zweifache Mutter. Nicht dass Heirat und Familiengründung für sie keine Option wären – sie liebte Kinder und war ganz vernarrt in ihre drei Neffen –, aber sie war noch nicht bereit dafür und war darum dankbar für den gesellschaftlichen Wandel seit der Thronbesteigung der Unsterblichen Kaiserin. Heutzutage standen jedem beinahe alle Türen offen.

Sicher, ein Großteil der Fürstentümer Fiores war immer noch genau das. Freie Städte wie Cait Shelter, Malba und Borwatt waren selten. Doch die Macht der Fürsten wurde von ihren Untertanen legitimiert. Das hatte der Thronwechsel in Sabertooth vor zwei Jahren erst wieder bewiesen. Die Bewohner des Fürstentums und die freien Wüstennomaden hatten sich hinter Minerva Orland gestellt. Dass es dennoch zu einer blutigen Schlacht gekommen war, war dem Fürstregenten Jiemma zur Last zu legen, der seinen unrechtmäßigen Anspruch auf den Thron mit Gewalt hatte durchsetzen wollen. Levy hatte die Berichte über diese Vorgänge sehr aufmerksam verfolgt.

Levy drehte sich wieder dem Hauptportal der Universität zu, ein riesiger Bogen, durch den eine Kutsche passen würde. In den Kantstein des Bogens war das Wappen der Universität eingraviert und mit Farbe nachgemalt worden: In schwarzem Feld eine stilisierte silberne Frau mit spitz zulaufenden Schmetterlingsflügeln, um sie herum sieben Sterne verteilt.

Andächtig durchschritt Levy den Bogen. Nach zwanzig Schritten erreichte sie den Innenhof. Ein riesiges Areal, das an allen Seiten durch weitere Seitenflügel abgegrenzt wurde. Genau wie außen schlossen sich auch innen zahlreiche Anbauten an die Hauptgebäude an, sodass die quadratische Struktur durchbrochen wurde. Im Areal selbst gab es ein großes Theater zur Rechten, sowie den Bibliothekskomplex zur Linken. Ansonsten verteilten sich hier an geschlängelten Wegen zwischen Bäumen, Büschen und Teichen mehrere Freiluftklassenzimmer, sowie lauter kleine Lauben mit Tischgruppen, wo die Studenten lernen und diskutieren konnten.

Es war ein überwältigendes Durcheinander, aber eines, in dem doch jeder zu wissen schien, wo er hingehörte.

Levy wandte sich nach links und hielt sich nahe beim Hauptgebäude, anstatt sich daran zu versuchen, durch den Irrgarten aus Wegen und Trampelpfaden hindurch querfeldein zur Bibliothek zu gelangen. Sie hatte sich bisher nicht in Crocus verlaufen und ihr Ehrgeiz gebot ihr, dass das in der Universität so blieb. Insbesondere an ihrem ersten Tag, an dem nur zwei Dinge anstanden: Sie musste sich bei Professorin Belno melden, der Direktorin der Universitätsbibliothek und damit ihre Chefin für die nächsten sechs Jahre, und sie musste zur Empfangsrede für die Studienanfänger. Letzteres mochte keine ausdrückliche Pflichtveranstaltung sein, aber es war vielleicht Levys einzige Chance, jemals in ihrem Leben die Unsterbliche Kaiserin zu sehen.

Auf ihrem Weg sammelten sich immer mehr Menschen. Studenten in Zivilkleidung – einige in feine Seide und in Damast gekleidet, andere in schlichtes Leinen oder Wolle –, Dozenten in schwarzen Talaren, Doktoren in schwarzen Talaren mit Purpurstreifen und Professoren in purpurnen Talaren. In schwarzen Uniformen mischten sich noch Universitätsangestellte darunter und immer wieder waren auch Männer und Frauen in der weiß-blauen Alltagsuniform der Kaiserlichen Armee zu sehen, auf ihren linken Brüsten und auf ihren Rücken das Emblem ihrer jeweiligen Abteilung, die wohl von ihrem Recht Gebrauch machten, Vorlesungen zu besuchen.

Wieder gerieten Levys Bücher ins Rutschen und die Blauhaarige versuchte, aus dem dichten Menschenstrom heraus in eine ruhige Nische zu kommen, um die Kontrolle über die Schriftstücke zurück zu erlangen. Doch sie konnte sich kaum gegen die vielen Leute durchsetzen und wurde immer wieder angerempelt.

Ein Stoß in ihrem Rücken, als ein junger Student an ihr vorbei hastete, brachte sie endgültig aus dem Gleichgewicht. Sie stolperte nach vorn, die Bücher fielen zu Boden und verschwanden im Getümmel der unzähligen Füße.

Levy kamen beinahe die Tränen. Für diese Bücher hatten ihre Geschwister zusammen gelegt, um ihr einige lang gehegte Wünsche zu erfüllen. Für die Blauhaarige waren diese Werke schon allein aus ideellen Gründen unbezahlbar!

Die junge Frau ging in die Knie und warf sich schützend über das erste Buch. Wie eine Mutter ihren Säugling presste sie es an ihre Brust und sah sich verzweifelt nach den anderen beiden um. Um sie herum beschwerten sich einige Studenten, aber Levy krabbelte weiter, bis sie auch das zweite Buch wieder an sich drücken konnte. Doch das dritte – das ihr liebste überhaupt von einer der genialsten Autorinnen, die jemals auf Erden gewandelt waren – blieb verschollen.

Und dann lichtete sich die Menge um sie herum und jemand hielt ihr das kostbare Buch vor die Nase. Verdattert blickte Levy von ihrer knienden Position auf zu einer jungen Frau in ihrem Alter mit brustlangen, blonden Haaren und großen, braunen Augen in einem herzförmigen Gesicht. Ihr Körper ließ keine Wünsche offen: Üppige, frauliche Rundungen, die dennoch im Einklang mit den schlanken, sehnigen Gliedern standen. Sie trug ein feines, aber einfaches Wams und zweckdienlich-elegante Lederhosen und hohe Stiefel. Der Gürtel wies eine leere Schlaufe auf, deren rissiges Leder von häufiger Benutzung kündete. Die Schlaufe für ein Schwert? Das Tragen von Waffen war auf dem gesamten Universitätskomplex strengstens untersagt. Sogar die Soldaten mussten sich daran halten, gleichgültig wie hoch ihr Rang war, und ihre Waffen bei einem der vier Portale abgeben.

Zur Linken und zur Rechten der Blonden standen zwei Männer, die allein durch ihre Haltung den Studentenstrom zu teilen verstanden, beide ähnlich gekleidet wie die Frau. Der eine hatte stoppelige, rot-weiße Haare und stark gebräunte Haut, der andere hatte eine kupferfarbene Haarpracht, die an eine Löwenmähne erinnerte, und ein Gesicht, von dem Levy wusste, dass ihm alle ihre drei Schwestern und sogar ihre Mutter verfallen würden.

Levy richtete ihre Aufmerksamkeit jedoch lieber auf das Buch in den Händen der Frau. Stammelnd vor Dankbarkeit nahm sie es entgegen und presste es wieder fest gegen ihre Brust. Die Blonde lächelte und Levy meinte, in den sanften, braunen Augen Verständnis heraus zu lesen.

Die Lieder der Geister von Maria Heartfilia. Eine echte Rarität. Die meisten greifen für das Thema lieber zu den knapperen Werken der letzten dreißig Jahre“, urteilte die Frau.

Levys Miene und Stimmung hellten sich noch mehr auf. „Du hast es auch gelesen?“

„Sicher.“ Ein schiefes Grinsen huschte über die sinnlichen Lippen. „Zuhause gehörte es zur Pflichtlektüre.“ Seltsamerweise grinsten die beiden Männer, aber Levy war so begeistert, dass sie sich nichts weiter dabei dachte.

Sie hielt der Frau die Hand hin. „Ich bin Levy McGarden.“

Und erst als die Blonde ihren Händedruck erwiderte, fiel Levy das Wappen auf der silbernen Gürtelschnalle auf. Eine kniende, betende Frau unter einem Stern.

„Oh…“
 

4 Wochen vor der Opferung
 

Crocus war eine Stadt, die nicht schlief. In Levys Heimatdorf war das Leben mit dem Schwinden des Tageslichts einfach erlahmt, aber in der Stadt der Unsterblichen Kaiserin war nachts beinahe genauso viel los wie tagsüber. Daran hatte Levy sich lange Zeit nicht gewöhnen können und Wochen lang unter akutem Schlafmangel gelitten. Mittlerweile konnte sie von sich selbst behaupten, selbst dann wie ein Stein schlafen zu können, wenn direkt neben ihr eine Studentenfeier stieg, aber das hieß nicht, dass sie die Stille der nächtlichen Universitätsbibliothek nicht zu würdigen wusste.

Für Levy McGarden, Magistra der Universität und Doktorandin der Philologischen Fakultät, gab es keinen schöneren Ort als die riesige Halle mit den begehbaren Regalen, den Lesezimmern, den Themennischen, den Lernpulten, den Registertischen und den Vitrinen mit den Seltenheiten. All die Winkel und Gassen, die Dunkelkammern, die Archivschränke, die Münzsammlungen, die Heraldischen Teppiche, die Fresken zwischen den Regalen, die Mosaike auf dem Fußboden, die altertümlichen Instrumente in den Vitrinen…

Und überall hingen Licht-Lacrima – die einzige zumutbare Methode, um in dem riesigen Gebäude für genügend Licht zu sorgen, ohne dass die kostbaren Werke gefährdet wurden. Das Entzünden von Feuer war hier strengstens untersagt und Fenster waren beim Bau bereits ausgeplant worden. Für eine für die Bücher zuträgliche Belüftung war ein kompliziertes Rohrkonstrukt im Deckengewölbe entworfen worden, das sich in den letzten zweihundert Jahren bewährt hatte.

Das hier war Levys Heimat. Hier kannte sie jeden Pfad, jedes Regal, jede Kammer, jedes Register.

„Levy, ich bin fertig für heute.“

Die Blauhaarige blickte von ihrer Lektüre zu einer gleichaltrigen Frau mit violetten, schulterlangen Haaren auf, die sich den schwarzen Talar einer Magistra über den linken Arm gelegt hatte.

„Wie spät ist es?“, fragte Levy verwirrt und sah sich um. Alle Licht-Lacrima außer denen in ihren und Ennos Laternen waren gelöscht worden. Es war gespenstisch still.

„Es hat vor vielleicht fünf Minuten zur elften Stunde geschlagen, hast du das nicht gehört?“ Es klang mehr nach einer Feststellung als nach einer Frage und Levy errötete verlegen.

Grinsend legte Enno den gewaltigen Schlüsselbund neben Levys Buch. In den Kreisen der Bibliotheksmitarbeiter wurde er zuweilen als Heiligtum der Welt bezeichnet, denn er enthielt alle Schlüssel zu allen Kammern, Vitrinen und Zugangstüren der Bibliothek. Es gab nur einen einzigen weiteren Schlüsselbund dieser Art und den gab Professorin Belno nie aus der Hand, wie es auch vor ihr kein Bibliotheksdirektor je getan hatte. Auch dieses Exemplar hier durfte nur an von Belno höchst persönlich ausersehene Mitarbeiter weiter gegeben werden. Levy und Enno genossen Beide dieses seltene Privileg.

Enno hob das Buch an, um den Titel auf dem Deckel lesen zu können. „Kompendium der Zukünfte. Gesammelte Prophezeiungen Fiores“, las sie vor und suchte Levys Blick. „Wolltest du deine Doktorarbeit nicht über die Geburtshymnen der Geister schreiben?“

„Das will ich auch weiterhin, aber ich bin auf einen Querverweis gestoßen und wollte dem nachgehen und dann…“

„Und dann bist du vom Hundertsten ins Tausendste gekommen. Schon klar“, gluckste Enno und richtete sich wieder auf. „Übertreib’ es nur nicht… Die Türen und Kammern habe ich alle abgeschlossen und die Vitrinen und Register überprüft. Du musst nur noch das Hauptportal schließen.“

„Danke und schlaf’ gut.“

„Du auch, wenn du so etwas überhaupt mal machst“, erwiderte Enno noch immer grinsend und winkte, ehe sie Levys Lesepult verließ. Ihre Schritte hallten von den Wänden wieder.

Levy wartete, bis sie verklungen waren, ehe sie sich wieder dem Abschnitt zuwandte, den sie vor Ennos Auftauchen studiert hatte. Laut dem Einleitungstext war diese Prophezeiung vierhundert Jahre alt und der Ursprung äußerst nebulös. Es hatte zu jener Zeit wohl eine verheerende Seuche in der Gegend des heutigen Malba gegeben, der beinahe alle Einwohner der Stadt zum Opfer gefallen waren. Die wenigen Überlebenden waren schwer traumatisiert und nicht in der Lage gewesen, richtig zu erzählen, was ihnen widerfahren war. Kurz darauf waren sie allesamt heftigen Fieberanfällen erlegen. Aber im Fieberwahn hatten sie alle dasselbe gesammelt und ein junger Priester hatte ihre Worte schließlich aufgezeichnet:

Der Tod ist in den Himmel gestiegen und harrt dort zwischen den Sternen aus. Ohne Odem und Macht, ein Hauch seiner Selbst und doch in ewiger Verbundenheit zu seinesgleichen. Wenn er jedoch Odem und Macht zurückerlangt, wird er über uns kommen und uns aller Sünden entblößen. Odem und Macht sollen ungenannt, unerkannt, ungescholten bleiben, denn nur so hat der Schutz Bestand vor der Gewalt des Schwarzen Kometen!

Von Religionswissenschaftlern, Psychologen und sogar von Astronomen wurde diese Prophezeiung als Auswuchs eines posttraumatischen Stresssyndroms bezeichnet. Im Allgemeinen gingen die Historiker davon aus, dass das Massensterben in Malba tatsächlich mit einer Seuche zu tun hatte, deren Ursprung medimagische Experimente gewesen waren.

Im Volksglauben hatte diese Prophezeiung jedoch Wurzeln geschlagen und Ethnologen hatten mindestens zwei Dutzend Lesarten in Gruselgeschichten, Liedern, Lehrsprüchen und Sektenbekenntnissen identifizieren können.

Levy überflog die Liste, aber mit ihren Gedanken hing sie noch an den Worten der Prophezeiung. Sie wusste wirklich nicht, wieso, aber etwas beunruhigte sie zutiefst…

Ihr Blick blieb am letzten Punkt der Liste hängen: Avatar, die Gilde des Wahren Weges, magiefeindliche Sekte, seit dem Jahr 257 durch öffentliche Schmähschriften und –reden bekannt. Berufen sich in standardisierten Ritualen auf den Schwarzen Kometen. Bekannte Stützpunkte in Malba und einigen kleineren Städten im Umfeld. Als ungefährlich eingestuft.

Wahrscheinlich war es gar nicht weiter verwunderlich, dass diese kleine Sekte sich in Malba angesiedelt hatte, aber Levy wurde dennoch aus irgendeinem Grund schwummrig zumute. Wurde unter den Sünden etwa Magie verstanden? Levy musste an ihre Freunde Gray und Lyon denken, die jetzt wahrscheinlich schon de Spaltengletscher überquert hatten. Waren die Beiden auch durch solch eine Prophezeiung bedroht?

Levys Blick glitt zum Ende der Doppelseite, wo sich Quellen und weiterführende Literaturangaben befanden. Darunter war auch ein Protokoll des Priesters über die Überlebenden aufgeführt worden.

Die Magistra stand auf und ging zum Register der ethnologischen Abteilung hinüber. Sorgfältig durchblätterte sie die ordentlich beschriebenen Karten. Doch die Kartei für das Protokoll konnte sie nicht finden. Also räumte sie ihren Platz auf, stellte das dicke Buch zurück ins Regal, schnappte sich Schlüssel und Laterne und ging in den vorderen Bereich der Bibliothek.

Im Ausleihregister fand sie das Protokoll auch nicht. Erst im Inventurregister fand sie einen Vermerk. Fünf Exemplare hatte es vor zehn Jahren noch gegeben. Bei der Inventur vor neun Jahren waren sie alle nicht mehr da gewesen. Eine Nachbestellung sei nicht möglich gewesen.

Verwirrt runzelte Levy die Stirn. Gewiss kam es trotz strengster Kontrolle manchmal vor, dass Bücher verschwanden. Das ließ sich bei so einer großen Sammlung und bei so vielen täglichen Besuchern nicht vermeiden. Aber es war undenkbar, dass alle fünf Exemplare eines wenig genutzten Buches gleichzeitig verschwanden.

Als die Tür schwungvoll geöffnet wurde, zuckte Levy erschrocken zusammen und klappte das riesige Registerbuch zu. In der Tür stand eine hochgewachsene Frau in einem purpurnen Talar mit hagerem, strengem Gesicht und hellbraunen, grau durchwirkten Haaren, die zu einem buschigen Zopf am Hinterkopf zusammen gefasst waren. Sogar die Gesichtsfalten wirkten streng.

„M-meisterin Belno, Ihr seid noch wach?“, stammelte Levy, die sich aus irgendeinem Grund ertappt fühlte. Sie wuchtete das schwere Buch zurück ins richtige Regal und ergriff dann ihre Laterne und den Schlüsselbund. „Ich wollte gerade Schluss machen.“

Belno verengte die Augen. „Du bist eine schlechte Lügnerin, Levy McGarden.“

„Uhm…“ Die Blauhaarige suchte nach den richtigen Worten. Sie fühlte sich auf einmal wieder wie zu Beginn ihres Studiums.

„Du hättest die ganze Nacht hier verbracht“, tadelte Belno. „Mir ist klar, dass du sehr ehrgeizig bist, was deine Doktorarbeit betrifft, aber du solltest auch mal dein Leben außerhalb der Universität pflegen.“

Das waren starke Worte von einer Frau mit drei Doktortiteln, einer Professur, einer Direktion, unzähligen Publikationen und einem winzigen Häuschen, das so nahe am Campus lag, wie es nur möglich war. Doch Levy hätte nie gewagt, das anzumerken.

„Was ist mit deinen Freunden?“

„Die sind alle auf Heimatbesuch“, erklärte Levy und konnte ihre Wehmut dabei nicht ganz verbergen.

Seit Lucy und die Anderen Crocus verlassen hatten, fühlte Levy sich oft entsetzlich einsam. Sie vermisste die langen Gespräche mit ihrer besten Freundin, die zuweilen beinahe abenteuerlichen Unternehmungen und vor allem die Geselligkeit. Um sich davon abzulenken, hatte sie sich mit Feuereifer in die Recherchen für ihre Doktorarbeit gestürzt.

In einer unmissverständlichen Geste trat Belno beiseite und hielt die Tür weiter auf. „Vielleicht solltest du auch mal darüber nachdenken, Levy McGarden.“

„Hm… vielleicht…“

Die junge Magistra ging an ihrer Vorgesetzten vorbei. Im Regal neben dem Büro stellte sie die Laterne ab und löschte sie, dann verließ sie das Gebäude. Hinter ihr schloss Belno ab und sie gingen schweigend nebeneinander her durch den Park. Dank des Mondlichts brauchten sie keine Laternen.

Im Eingangsbogen wurde ihnen der Weg dann von Fackeln mit Feuer-Lacrima erhellt. Am Fuße der Treppe der Sieben Künste wandte Belno sich schließlich nach links.

„Schlaf’ gut, Levy McGarden.“

„Ihr auch, Meisterin Belno.“

Levy war schon mehrere Schritte dem Hauptweg gefolgt, als die Bibliotheksleiterin ihr noch hinterher rief: „Und mach’ Urlaub. Ich kann es nicht gebrauchen, dass du zusammen brichst.“

So herzlos die Worte auch klangen, Levy begriff doch, dass aufrichtige Sorge dahinter steckte. Deshalb fühlte sie sich wegen des Plans, der bei Belnos Vorschlag in ihrem Hinterkopf heran gereift war, beinahe schuldig.

Sie würde Urlaub machen, ja, aber sie würde nicht zu ihrer Familie reisen, sondern nach Malba…!

Der Abend, an dem sie eine Spur fanden

4 Wochen vor der Opferung
 

Die Taverne Zum wandernden Eis war die größte von Boscun und sie war an diesem regnerischen, kalten Nordsommerabend brechend voll. Überall grölten betrunkene Männer und hier und da kam es zu Prügeleien, bei welchen der schmähbäuchige, knollennasige Wirt mit seinen beeindruckend muskulösen Armen sofort einschritt und alle Beteiligten ohne viel Federlesen vor die Tür setzte. Ein paar Kinder rannten zwischen den Tischen oder balgten sich mit den Wirtshunden vor dem knisternden Kaminfeuer. Leicht bekleidete Frauen suchten an den Tischen nach gewogenen Kunden, ein Spielmann ließ seine Fidel grauenhaft quietschen und wurde nur deshalb nicht rausgeworfen, weil neben ihm ein furchteinflößender Wolfshund stand, und am größten Tisch nahe dem Kaminfeuer fand ein offenbar hoch dotiertes Kartenturnier statt, das immer mehr Zuschauer anlockte.

Lyon bekam von all dem kaum etwas mit. Er saß seinem Bruder in einer halb vom Tresen versteckten Nische gegenüber und starrte finster in seinen Bierkrug. Mit seinen Gedanken war er immer noch auf der anderen Seite des Spaltengletschers. In der Heimat, welche bis auf die Grundmauern zerstört worden war. Am Grab seiner Mutter.

Sie hatten Mika Fullbuster in den Trümmern der Schule gefunden, um sie herum ein halbes Dutzend Kinderleichen. Jetzt ruhte sie wie alle anderen Eismenschen, die sie gefunden hatten, in einem Eissarkophag, der sie bewahren sollte, bis die Überlebenden zurückkehren und ihre Angehörigen nach alter Sitte bestatten konnten.

Lyon hoffte, dass das irgendwann möglich war. Allein der Gedanke an die Überlebenden – zu welchen hoffentlich auch sein Vater zählte – hielt ihn und Gray im Moment aufrecht. Das und Meredys Beistand…

„Darf es für die stattlichen Krieger noch etwas sein?“, erklang neben ihrem Tisch ein Flöten. Ein dralles Schankmädchen, kaum siebzehn oder achtzehn Schmelzen alt, das kokett den Kopf schräg gelegt hatte und Lyon mit einem Lächeln fixierte, über dessen Gesinnung kaum ein Zweifel bestand.

Der Weißhaarige schob ihr wortlos seinen leeren Humpen hin. Das Lächeln bröckelte und das Mädchen schnappte sich die Krüge, um sie auffüllen zu gehen.

„Dass du tatsächlich mal deinen Charme verlieren kannst“, murmelte Gray, aber er klang gar nicht nach seinem üblichen spöttischen Selbst.

Lyon versuchte sich an einem Grinsen, aber es fühlte sich verkrampft an, als hätten seine Gesichtsmuskeln die einfache Geste völlig verlernt. „Immerhin hatte ich mal Charme.“

Sein Bruder quittierte das Bemühen mit einer Grimasse, aber er blieb stumm. Das Mädchen kehrte zurück und stellte die vollen Humpen auf den Tisch. Lyon zählte ihr den Preis für das Bier und drei Jewel Trinkgeld in die Hand und griff dann nach seinem Bierkrug. Aus dem Augenwinkel sah er, wie das Mädchen eine Flunschmiene zog, ehe es sich das Trinkgeld in den Ausschnitt schob und dann provokant mit den Hüften schwingend davon stolzierte.

In der Mitte des Raums wäre es beinahe mit einem Gast zusammen gestoßen. Sie fauchte etwas, erhielt eine Antwort und lief dann puterrot an.

Der Gast schlängelte sich mit tänzerischer Gewandtheit durch den Schankraum auf den Tisch der Fullbuster-Brüder zu. Erst jetzt erkannte Lyon den dicken, pinken Zopf, der über die rechte Schulter fiel, und er richtete sich auf seinem Stuhl auf.

Mit wenigen Schritten war Meredy bei ihnen am Tisch und ließ sich auf den Stuhl zwischen ihnen nieder, ehe sie sich die Kapuze zurückschlug. Ihre Kleidung war durchnässt, aber ihr war nicht anzusehen, ob sie fror. Dennoch hätte Lyon sie gerne zu sich gezogen. Alles erschien ihm leichter zu ertragen, wenn er sie an seiner Seite hatte. Außerdem war sie schon seit Stunden unterwegs. Er hatte sich bereits Sorgen gemacht – dabei war ihm bewusst, dass das albern war, wo sie doch eine voll ausgebildete und sehr erfahrene Assassine war.

„Ich musste eine Weile suchen, aber ich weiß jetzt, wem das Wappen mit dem Riesen gehört“, erklärte sie und gönnte sich auf Lyons Einladung hin einen Schluck aus seinem Humpen. „Eine magiefeindliche Sekte namens Avatar. Es gibt sie erst seit etwa zwei Generationen und sie sind nicht besonders zahlreich, geschweige denn vermögend oder einflussreich. Anscheinend werden sie eher als Kuriosität gehandelt, ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass Jellal und Urtear sie jemals in ihren Sicherheitsberichten erwähnt hätten.“

„Aber was soll das?“, mischte sich Gray ungeduldig ein. „Magiefeindlich schön und gut, aber wieso ausgerechnet die Eismenschen? Das muss für diese Sonnenmenschen ein irrsinniger Aufwand gewesen sein. Da hätten sie genauso gut den Turm der Ewigkeit angreifen können.“

„Ich weiß es nicht“, gab Meredy gelassen zu und nahm noch einen Schluck Bier. „Aber wir werden es heraus finden. Die Heimatbasis von Avatar ist in Malba. Ich habe uns bereits Reitkatzen organisiert. In etwas mehr als drei Wochen können wir in Malba sein, aber wir müssen noch heute Nacht aufbrechen.“

Lyon runzelte die Stirn. „Bist du nicht verpflichtet, Ihrer Majestät zu berichten, was im Dorf geschehen ist?“

„Ich war nicht auf Mission, also bin ich zu gar nichts verpflichtet“, erklärte Meredy resolut. „Und wir sollten hierüber mit niemandem reden. Wenn die Urheber erfahren, dass man schon von ihrer Tat weiß und auf der Suche nach ihnen ist…“

„Fangen sie an, die Geiseln zu töten“, murmelte Gray dumpf.

Lyon presste die Lippen zusammen. Er konnte gar nicht sagen, wie dankbar er seiner Freundin für alles war, aber der Gedanke, sie mit in die Gefahr hinein zu ziehen, bereitete ihm Bauchschmerzen. Wie sollte er damit leben, wenn ihr etwas geschah?

Ein Finger drückte sein Kinn nach oben und er wurde gezwungen in die grünsten Augen der Welt zu blicken, die ihn jetzt streng musterten.

„Ich scheue die Gefahr nicht, Lyon.“

„Das habe ich nie auch nur gedacht“, erwiderte er matt. „Aber…“

„Lyon… wie kämpfen Eismenschen?“, mischte Gray sich ein, was für ihn sehr ungewöhnlich war. Normalerweise hielt er sich von jeder Situation fern, in welcher er auf einmal als Vermittler zwischen Partnern landen könnte.

Verwirrt sah Lyon zu seinem Bruder, bis er endlich verstand. Er musterte seine Freundin, dann schenkte er Gray ein dankbares Lächeln. „Rücken an Rücken“, antwortete er und streckte seine Faust nach vorn. „Ihr habt meinen Rücken.“

Gray hielt seine Faust dagegen. „Ihr habt meinen Rücken“, sagte auch er.

Meredy verstand und hielt ihre Faust seitlich gegen die anderen beiden, ehe sie die Worte wiederholte.

Für die meisten Sonnenmenschen mochte das nichts weiter bedeuten, aber für Eismenschen war das einer der wichtigsten Schwüre überhaupt. Einander den Rücken zu „geben“, bedeutete, einander bedingungslos zu vertrauen. Wenn Meredy mit ihnen Rücken an Rücken kämpfte, dann würden Gray und Lyon ihr immer Deckung geben.

Mit einem grimmigen Grinsen griff Gray nach seinem Bierkrug und leerte ihn in einem Zug, ehe er den Krug zurück auf den Tisch knallen ließ. „Also dann, auf nach Malba!“

Schwungvoll stand Meredy auf und führte die Brüder aus der Taverne und durch das nächtliche Boscun zur Post. Neben dem kleinen Fachwerkhaus befanden sich die Kutschhalle, der Pferdestall und schließlich die Katzenhöhle. Eben diese umrundete Meredy. Am Hintereingang standen drei prächtige Reitkatzen, eine sandfarben, zwei getigert, alle so groß wie Ponys mit muskulösen Beinen und wuchtigen Köpfen, aus deren Mäulern beeindruckend lange Reißzähne ragten. Alle Drei waren bereits gesattelt.

Gray pfiff durch die Zähne. „Es hat schon was für sich, mit einer Assassine zu reisen“, meinte er und trat dann zu einer der getigerten Reitkatzen, um die Ausrüstung an den dafür vorgesehenen Sattelschlaufen zu befestigen.

Lyon musste seinem Bruder zustimmen. Weil Reitkatzen so selten und so schwierig in der Zucht waren, waren in jeder Stadt nur wenige von ihnen stationiert und durften nur von Trägern einer Kaiserlichen Rolle und von Assassinen geritten werden. Meredy musste ihre Kontakte angezapft haben, damit sie drei Reitkatzen bekamen. Mit ihrer Hilfe würden sie beinahe doppelt so schnell wie zu Pferd nach Malba kommen. Schneller wäre nur Fliegen, aber so nahe am Spaltengletscher waren ohnehin keine Lindwurmreiter stationiert. Ganz zu schweigen davon, dass das Reiten dieser Drachenartigen nur Soldaten der Lindwurm-Schwadron gestattet war.

Als Meredy es Gray gleich tun wollte, ergriff Lyon ihre Hand und zog sie in seine Arme. Er konnte die Verwirrung in ihren Augen erkennen, aber sie schmiegte sich dennoch sofort an ihn und ließ auch zu, dass er ihr die Lippen auflegte.

Er schob eine Hand in ihren Nacken und bewegte seine Lippen härter gegen ihre. Als sie sich einen Spalt breit öffneten, nahm er die Einladung sofort an. Ihr Seufzen brachte sein Herz zum Rasen und er schlang beide Arme um ihre Taille, um sie noch enger an sich zu ziehen.

Diese Berührungen waren wie Balsam für sein angstgepeinigtes, trauerndes Herz. Er hatte sich so sehr gewünscht, Meredy seinen Eltern vorzustellen, ihr seine Kultur näher zu bringen. Alles in der sehnlichen Hoffnung, sie möge bereit sein, ein Teil dieser Kultur zu werden. Im Moment waren diese Gedanken weit in den Hintergrund gerückt. Alles, was er sich jetzt von Meredy wünschte, war ihr Beistand.

Als ihnen die Luft ausging, löste er den Kuss, aber hielt Meredy weiterhin fest. Auf ihre Wangen hatte sich ein Rotschimmer geschlichen, aber sie lächelte sanft. Lyon drückte einen Kuss auf ihre Stirn und vergrub das Gesicht in ihren pinken Haaren.

„Du hast meinen Rücken“, wisperte er heiser.

„Und du meinen“, erwiderte sie leise und hielt ihn fest, bis er endlich bereit war, sich wieder von ihr zu lösen.

Gray stand geduldig neben seiner Reitkatze und kraulte diese hinter dem linken Ohr, was sie mit einem lauten Schnurren beantwortete. Die Szene eben ließ er vollkommen unkommentiert. Dabei hätte er früher so einige Sprüche dafür übrig gehabt.

Unwillkürlich fragte Lyon sich, wie viel von seinem kleinen Bruder im Eissarkophag ihrer Mutter zurück geblieben war.

Und wenn er ehrlich war, fürchtete er sich vor der Antwort.
 

2 Wochen vor der Opferung
 

Der Geruch von Blut benebelte Wendys Sinne. Selbst das Tuch, das Mest ihr über Mund und Nase gebunden hatte, half da nichts. Ihre Knie drohten bei jedem Schritt einzuknicken.

Dabei machte Blut ihr wirklich nichts aus. Sie war nicht nur eine Heilerin, sondern auch eine Ärztin und als solche hatte sie oft genug mit Blut zu tun. Professorin Porlyusica hatte sich während Wendys Sonderausbildung in Crocus nicht geziert, ihre Schülerin mit in die blutigsten Operationen zu nehmen. Insgesamt hatte Wendy sich also für abgehärtet gehalten.

Aber Mest hatte ihr und Romeo bereits erklärt, dass es keine Vorbereitung dafür gab, wenn man das erste Mal ein Schlachtfeld betrat. Wieder einmal hatte er Recht behalten…

Sie stand am Rande einer Brutkolonie. Versteckt in einer Felsspalte in einem abgelegenen, dicht bewaldeten Tal, mussten hier einmal fünf Nester gewesen sein. Die von den Elterntieren heran geschleppten Moosbrocken zur Polsterung der kostbaren Eier und die hellgrauen, schwarz gefleckten Eierschalen waren noch nestweise zu erkennen, wenn sie auch stark in Mitleidenschaft gezogen worden waren.

In den Nestern und ihrem Umfeld waren die Kadaver von insgesamt einem Dutzend Schlüpflingen zu erkennen, zerrissen, zerquetscht, teilweise sogar aufgefressen. Der Anblick der nicht einmal halbmeterlangen Geschöpfe, von denen doch jedes einzelne für den Erhalt der Tatzelwürmer unabdingbar war, brach Wendy das Herz, was ihr Schwindelgefühl noch verstärkte.

Die junge Heilerin konnte wirklich nicht mehr tun, als am Eingang der Kolonie zu stehen und sich an der Felswand festzuhalten, während Mest und Romeo die Spuren untersuchten. Romeo wirkte fahrig und sein Gesicht war bleich, während er krampfhaft zu Boden starrte, um alle Spuren zu deuten. Er war von Mest durch ein mörderisches Training getrieben worden, aber Wendy sah ihm an, dass er sich kaum auf seine Aufgabe konzentrieren konnte. Wahrscheinlich musste er genau wie sie daran denken, wie sie einmal eine kleinere Brutkolonie kurz nach der Schlupfzeit beobachtet hatten. Das hier waren Babys gewesen, unschuldige, unendlich wertvolle Wesen. Gemeuchelt von ihresgleichen…

Mest stand auf und winkte Romeo, ihm zu folgen. Die ersten Schritte des jungen Kriegers waren wackelig, ehe er zu seinem Lehrer aufschloss. Behutsam ergriff Mest Wendys Arm und stützte sie auf dem Weg durch den Felsspalt und zurück in den Wald. Wendy bemerkte voller Dankbarkeit, wie der Geruch nachließ, und schließlich wagte sie es, das Tuch von ihrer Nase zu ziehen. Erleichtert atmete sie klare Luft ein, geschwängert mit dem Aroma von Kiefern und Tannen.

Auf einer großen Lichtung stoppte Mest und holte einen kleinen Tiegel aus einer Gürteltasche. Er zog den Pfropfen und ließ die Jüngeren daran riechen. Der belebende Duft von Thymian prickelte in Wendys Nase und ihre Glieder entspannten sich endlich. Auf Romeo schien die Geruchsessenz einen ganz ähnlichen Effekt zu haben.

„Beschreibt, was euch aufgefallen ist“, forderte Mest und verschloss den Tiegel wieder sorgfältig, ehe er ihn zurück in die Gürteltasche steckte.

Wendy tauschte einen Blick mit ihrem Freund. Als er ihr zunickte, ergriff sie zuerst das Wort: „Das waren keine Wunden, die ein hier heimisches Raubtier reißen könnte. Und ich glaube nicht, dass mir der Geruch eines Bären oder so entgangen wäre.“

Mest nickte bekräftigend und Romeo fuhr fort: „Es war kein Jagd- oder Revierkampf. Die Leichen lagen alle sehr nahe beieinander und einander zugewandt. Ich habe auch nur die Spuren von Tatzelwürmern und von Aasfressern gesehen.“

„Was für Aasfresser?“, hakte Mest nach.

„Ein Fuchs, zwei Dachse, vier Steinmarder, zwei Borsten- oder Kolkraben, mehrere Alpendohlen und mindestens zwei Bartgeier.“

„Drei“, bestätigte Mest und Wendy musste lächeln.

Ihr Bruder prüfte Romeo unablässig, aber Romeo war das seit Jahren gewohnt. Sein Vater hatte häufiger Zweifel angemeldet, sogar im Rat war mehrmals debattiert worden, ob Mests harte Gangart gerechtfertigt war. Romeo hatte sich allerdings immer für die Methoden seines Lehrers ausgesprochen und Wendy hatte den Beiden vertraut und abgesehen vom Kampftraining war sie auch durch Mests harte Schule gegangen. Letztendlich war sie dankbar darum. Es hatte sie eindeutig weiter gebracht.

„Sie haben also einander angegriffen“, schlussfolgerte Mest. „Zusammen mit eurem Vorfall und den anderen Funden ist das Grund genug, um von einem allgemeinen Problem unter den Tatzelwürmern auszugehen.“

Wendy presste die Lippen aufeinander. Nach dem Angriff des Tatzelwurms vor zwei Wochen waren sie und Romeo auf Grandines Rücken nach Cait Shelter zurückgekehrt und hatten dem Rat davon berichtet. Nach reiflicher Überlegung hatte man sich dort unter anderem dafür entschieden, mehrere Gruppen in die Berge zu schicken, um herauszufinden, ob sich in den bekannten Tatzelwurmgebieten ähnliche Dinge ereignet hatten. Mit Charle und Gogotora für die Luftaufklärung und Gruppenkoordination waren fünf Drei-Mann-Teams ausgesandt worden. Mest, Wendy und Romeo waren seitdem zehn Tage lang unterwegs und hatten einen toten Steinbock, drei tote Gämse und sogar einen toten Braunbären gefunden, den Spuren nach alle von Tatzelwürmern erlegt – obwohl massakriert wohl das bessere Wort war.

„Das kann keine normale Magie gewesen sein“, überlegte Mest laut. „Vielleicht ist es etwas Physiologisches, aber die Kadaver waren zu alt, um eine Autopsie durchführen zu können, und ich möchte ungern einen Tatzelwurm nur dafür töten.“

„Wenn wir zurück sind, wird Laki sicher alle in Frage kommenden Bücher gewälzt haben. Vielleicht hat sie einen Anhaltspunkt gefunden. Und wenn nicht, können wir nach Crocus und Le-“

Romeo unterbrach sich sofort, als Wendy zusammen zuckte. Er und Mest blickten sie angespannt an, Romeo mit Pfeil und Bogen in den Händen, Mest mit halb gezogenem Kurzschwert.

„Ich höre Tatzelwürmer“, erklärte die Heilerin leise und drehte sich, um die Schallwellen besser aufnehmen zu können. „Fünf aus Norden… und drei aus Nordosten“, fügte sie hinzu, als sie noch mehr der Drachenartigen hörte. Langsam drehte sie sich weiter. Sie wurde bleich. „Sie kommen aus allen Richtungen.“

„Ruf’ Grandine“, sagte Mest und schob sein Schwert zurück in die Scheide.

Romeo steckte Pfeil und Bogen in den Köcher und ergriff Wendys Hand, um sie zu führen, während sie sich auf ihre Verbindung zu Grandine konzentrierte, dem Winddrachen, der sie vor zwölf Jahren als ihre neue Reiterin ausgewählt hatte. Die Drachendame reagierte sofort und umfing Wendys Geist mit Wärme, die jedoch von Sorge durchzogen war, sogar von einer Spur von Angst.

Du musst uns hier raus holen, flehte Wendy.

Ich bin ganz in der Nähe, versprach Grandine sanft.

Wendy löste sich aus der Verbindung, um sich darauf zu konzentrieren, hinter Romeo eine Geröllhalde zu erklimmen. Sie erreichten einen kargeren Waldabschnitt und hasteten an krummen Kiefern vorbei immer weiter hinauf.

Romeo warf im Laufen einen Blick über seine Schulter. „Wie nahe sind sie?“

„Nur dreihundert Schritte“, antwortete Wendy. „Grandine ist gleich am Abhang.“

Wie auf Kommando flog ein riesiger Schatten über sie hinweg. Die drei Menschen beschleunigten und ließen die letzten Ausläufer dessen, was man tatsächlich noch als Wald bezeichnen konnte, hinter sich. Nicht weit entfernt lag der Abhang, eine der besten Stellen, um wenigstens einen Teil des Gebirges von Cait Shelter zu überblicken. Dort landete Grandine und legte die Flügel an, um auf die Menschen zu warten.

Die Drachendame war strahlend weiß mit einem weich erscheinenden, zackenfreien Körper. Ihre tiefblauen Augen spähten den Menschen mit äußerster Konzentration entgegen und ihre Nüstern bebten.

„Beeilt euch!“

Hinter sich hörten sie das Schleifen der wuchtigen Tatzelwürmer. Schwer atmend überwanden sie mit einem kräftezehrenden Sprint den letzten Abstand und kletterten schließlich auf Grandines Rücken. Am Fuß des Abhangs – und somit nur noch hundert Schritte hinter ihnen – erkannte Wendy die Tatzelwürmer, sicher ein Dutzend. Sie trugen teilweise klaffende Wunden und ihre entblößten Zähne blitzten im Sonnenlicht. Und in der Ferne konnte sie das Trampeln weiterer Tatzelwürmer hören.

„Was haben sie vor?“, fragte Mest, der vor Wendy saß.

„Ich bin mir nicht sicher. So haben sie sich in all den Jahren, die ich in den Hohen Bergen verbracht habe, nie verhalten. Vielleicht reagieren sie auf Wendys Drachenmagie.“

„Aber wieso jetzt? Wendy und ich sind früher auch schon auf Tatzelwürmer gestoßen und sie haben sie immer gemocht“, wandte Romeo ein und seine Arme schlossen sich schützend um Wendys Taille. Dankbar legte sie ihre Hände auf seine.

„Es muss einen Auslöser von außen gegeben haben“, mutmaßte Mest. Seine Schultern waren angespannt und seine Stimme knirschte. „Könnte das eine Spätfolge der Edolas-Seuche sein?“

Wendys Herz zog sich zusammen. Im Unterricht von Meister Roubaul hatte sie gelernt, was während des Extalia-Kriegs vorgefallen war, aber durch Grandine und Mest hatte sie erst so richtig begriffen, welche Narben dieser Krieg auch bei einzelnen Individuen hinterlassen hatte.

Grandine und ihre frühere Reiterin Ralja waren während des Kriegs im Einsatz gewesen. Sie hatten Opfer der katastrophalen Seuchenmagie bergen und retten wollen, aber letztendlich war Ralja von einem panischen Mob zu Tode getrampelt worden. Das war ein schmerzlicher Verlust für den Winddrachen und auch für den Rat von Cait Shelter gewesen, insbesondere für Meister Roubaul, der Wendy auf seinem Sterbebett gestanden hatte, dass diese Reiterin seine Enkelin und letzte Verwandte gewesen war und dass er sich deshalb so vehement für Wendys Kampftraining ausgesprochen hatte.

Was genau Mest in den vier Jahren des Krieges durchgemacht hatte, wusste Wendy bis heute nicht, aber es verfolgte ihn auch nach zwölf Jahren noch immer wieder bis in seine Träume hinein. Wendy wollte sich nicht ausmalen, was ihr Bruder während der Aufklärungsmission nach Ende des Kriegs im zerrütteten Edolas alles gesehen hatte.

„Ich weiß es nicht, so eine scheußliche Magie wurde nie zuvor angewendet“, erklärte Grandine und Wendy spürte die Steifheit ihrer Partnerin, als diese die langen Flügel ausbreitete.

Anstatt sofort abzuheben, schlug der Winddrache einmal kräftig mit den Flügeln und entfachte damit einen magischen Windimpuls, der sich in alle Richtungen ausbreitete und gezielt nur die Tatzelwürmer erfasste. Die Drachenartigen wurden mehrere Meter zurückgestoßen. Bei den Exemplaren am Fuß des Abhangs konnte Wendy beobachten, wie sie verwirrt die Köpfe schüttelten, die Wülste wieder über die scharfen Zähne stülpten und dann torkelnd davon krochen.

„Was auch immer es ist, es ist noch nicht so stark wie ein Drache“, stellte Grandine erleichtert fest und stieß sich kraftvoll vom Boden ab.

Ihr mächtiger Körper erhob sich mit wenigen kräftigen Flügelschlägen in die Lüfte, dann richteten sich die Flügel präzise nach dem Wind aus.

„Vielleicht hat Laki eine Erklärung gefunden und wenn nicht, reisen wir nach Crocus“, schlug Romeo noch einmal vor.

„Ihr solltet Charle oder Gogotora nach Crocus schicken“, widersprach Grandine sanft, aber entschieden. „Ich möchte euch mit nach Magnolia nehmen. Es wird Zeit für ein Treffen mit den anderen Drachen und ihren Reitern. Ich fürchte, wir werden hier ihre Hilfe brauchen.“
 

2 Wochen vor der Opferung
 

Das Miasma des Windes war weiß und grau und blau, ein ewig wechselnder Wirbel. Mal sanft wie eine Brise, mal wuchtig wie ein Orkan. Wann immer irgendwo Windenergie angewendet wurde, wurde das Miasma dunkler und hektischer. Eine starke, dunkle Böe wirbelte durch das Miasma. Irgendwo hatte ein sehr mächtiger Windmagier von seiner Begabung Gebrauch gemacht – und nun war es Chelias Aufgabe, die Verunreinigung des Miasmas zu beheben.

Behutsam kanalisierte Chelia die stetigen Miasma-Ströme mit ihrer eigenen Magie, führte sie durch ihren Körper und filterte sie dort. Als sie das Miasma wieder entließ, war es rein und ruhig und wunderschön. Zufrieden schwelgte Chelia in diesem Anblick.

Eine Hand auf ihrer Schulter löste sie behutsam aus der erweiterten Bewusstseinsebene. Blinzelnd fand sie sich im Raum der Reinigung wieder, kreisrund und aus schwarzgeädertem, weißem Marmor gefertigt. Das einzige Mobiliar stellten sieben niedrige Meditationssessel dar. In einem davon saß Chelia.

Die junge Frau mit den pinken Haaren hob den Blick zu einem Mann, der dem Anschein nach höchstens zehn Jahre älter als sie war. Er hatte struppige, blonde Haare und gebräunte Haut, war sehnig-muskulös und hochgewachsen. Doch seine Augen waren uralt. Ein Mahlstrom aus Gefühlen und Erfahrungen. Beängstigend und doch gleichzeitig beruhigend.

Jetzt blickte er ernst auf Chelia hinab. „Du solltest das Miasma nicht zu oft kanalisieren. So schnell gerät es nicht aus dem Gleichgewicht. Es schadet deinem Körper und deinem Geist, wenn sie immer wieder den Urgewalten ausgesetzt werden.“

Diese Warnung hatte Chelia schon mehrmals gehört, seit sie vor drei Jahren zur Wächterin des Windes ernannt worden war, aber manchmal fiel es ihr schwer, dies zu beherzigen. Manchmal wurde die Sehnsucht nach ihrem alten Leben unerträglich stark und dann blieb ihr nur, sich der Wichtigkeit ihrer Aufgabe wieder bewusst zu werden:

Die Reinigung des Miasmas, das durch die Benutzung von Magie ins Ungleichgewicht geriet. Vor der Entdeckung dieser Kausalität durch die Unsterbliche Kaiserin hatte es viele Naturkatastrophen gegeben und über Jahrhunderte hinweg waren die Drachen Ishgar ferngeblieben. Erst vor zweihundert Jahren waren sie zurückgekehrt und hatten mit der Herrscherin Fiores ein Bündnis geschlossen. Diesen Aspekt der Geschichte lernte man nicht an Schulen oder wenigstens an der Universität. Die Aufgabe der Wächter im Turm der Ewigkeit war ein wohl gehütetes Geheimnis. Chelia hatte nicht einmal ihrer Cousine Sherry oder ihren besten Freunden Romeo und Wendy davon erzählen dürfen. Dabei waren alle Drei absolut vertrauenswürdig.

„Meister Yuri, wieso nehmt Ihr keinen Schaden?“

Der Wächter des Blitzes lächelte wehmütig. „Ich bin vor langer Zeit geheilt worden. Also mein Geist zumindest. Und mein Körper kann keinen Schaden nehmen.“

„Weil Ihr unsterblich seid?“

Chelia und Yuri hoben den Blick, als der Wächter des Feuers in den Raum der Reinigung trat. Er war ein schlanker, hochgewachsener Mann in den Endzwanzigern. Seine Haare waren weiß und schwarz und zu einem hohen Zopf gebunden und von Wange zu Wange war über den Nasenrücken ein beidseits unterbrochener, schwarzer Strich tätowiert worden, eine Anspielung auf eine boscanische Tradition, soweit Chelia es wusste. Seine dunklen Augen musterten Yuri scharf, aber nicht feindselig.

„Wie kommst du darauf, Totomaru?“

Yuris Ton wirkte gleichmütig, aber Chelia konnte mit ihrem feinen Gehör seinen härteren Herzschlag wahrnehmen.

Totomaru grinste spöttisch. „Meister Yuri, ich bin schon seit acht Jahren hier und Ihr seid seitdem um keinen Tag gealtert. Und Ihre Kaiserliche Majestät nennt euch alter Freund. Seid Ihr auch vor dreihundert Jahren unsterblich geworden?“

„Du bist sehr aufmerksam, Totomaru“, lobte Yuri. „Aber auch sehr direkt. Ur hat mich nie darauf angesprochen.“

„Man kann nicht ewig um den Drachen herum reden. Davon verschwindet er nicht“, erwiderte der Feuermagier lässig.

Der Blitzmagier gluckste. „Ich wusste gleich, dass du eine gute Wahl bist. Du und Chelia bringt hier Schwung rein.“

„Also seid Ihr wirklich unsterblich?“, mischte Chelia sich ein. „Und Ihr seid schon seit dreihundert Jahren ein Wächter?“

„Die Wächter gibt es erst seit zweihundertfünfzig Jahren, aber ja, Warrod und ich sind Gründungsmitglieder.“

Chelia erschauderte. Sie war von der Wichtigkeit ihrer Berufung voll und ganz überzeugt und sie wusste, dass es Totomaru und Ur genauso ging, aber sie wüsste nicht, ob sie es ertragen könnte, diese Bürde für die Ewigkeit zu schultern.

Der Blitzmagier blickte lächelnd von Chelia zu Totomaru und wieder zurück. „Ich kann mir vorstellen, was ihr denkt. Ja, es ist hart, aber ich habe einen Grund gefunden, um damit so lange weiter zu machen, wie es eben nötig ist. Und die Meister vom Großen Baum suchen nach einer Lösung zur Stabilisierung des Miasmas, die den Einsatz von Wächtern nicht mehr notwendig macht. Bis dahin versuche ich, auf euch sterbliche Wächter aufzupassen.“

„Wie ein Vater“, stellte Chelia lächelnd fest, aber sie bemerkte sofort, dass sie etwas Falsches gesagt hatte. Yuris Herzschlag stoppte abrupt, ehe er schmerzhaft raste. Die Miene des Mannes zuckte minimal, ehe er sich wieder im Griff hatte.

Unsicher sah Chelia zu Totomaru, der so aussah, als wäre ihm ebenfalls etwas aufgefallen, jedoch nichts sagte. Er fing nur ihren Blick auf und hob einmal die Schultern.

„Ja, wie ein Vater“, sagte Yuri und zerzauste Chelias Haare. „Also seid artig und hört auf mich.“

Grinsend ging er zu Totomaru und zauste auch dessen Haare, ehe er den Raum der Reinigung unbeschwert pfeifend verließ.

Unwillig strich Totomaru seine Ponypartie wieder glatt und blickte seinem Wächterkollegen hinterher, ehe er zu Chelia sah.

„Denk’ nicht so viel darüber nach. Hier hat jeder sein eigenes Päckchen zu tragen und Meister Yuri kriegt das noch am besten hin.“

Nachdenklich nickte Chelia und erhob sich von ihrem Meditationssessel, um sich zu dem Feuermagier zu gesellen. Während sie gemeinsam die Treppen hinab zum Speisesaal gingen, fragte sie sich, welches Päckchen wohl Totomaru zu tragen hatte.

Und welches wohl ihr eigenes war…

Der Morgen, an dem sie in die Zivilisation aufbrachen

6 Wochen vor der Opferung
 

Unter einer von Metallicanas Schwingen und mit dem Rauschen der See im Ohr und der Erschöpfung des Vortages in den Knochen hatte Juvia tief und fest geschlafen und sich wunderbar erholt. Am nächsten Morgen wurde sie jedoch noch vor den Anderen wach und kroch unter der Deckung des Drachenflügels hervor. Eines von Metallicanas Lidern hob sich und die geschlitzte Pupille schimmerte durch das halbdurchsichtige innere Lid hindurch und musterte Juvia einen Moment lang, ehe sich das äußere Lid wieder herab senkte.

Die Blauhaarige ging am Strand der winzigen Insel entlang, die ihren Fortbestand einem ausgedehnten Riff verdankte, dass die Gewalt des Meeres milderte. Die Palmen wuchsen hier prächtig und boten den Lemuren und den bunten Vögeln ausreichend Nahrung. Über den beinahe weißen Sand krochen einige Krebse, die jedoch das Weite suchten, als sie der Menschenfrau gewahr wurden.

Juvia mochte das idyllische Eiland, aber wie schon in der Vergangenheit bei vielen anderen würde es ihr auch dieses Mal nicht schwer fallen, wieder von hier aufzubrechen. Dieser kleine Flecken mitten im Meer konnte sie nicht halten. Sie nicht und Gajeel auch nicht. Sie waren ewige Wanderer, rast- und heimatlos. Dabei hatten sie einmal geglaubt, endlich eine Heimat gefunden zu haben…

Auf der Nordseite der Insel konnte man den Kadaver des Leviathans sehen, der am Riff hängen geblieben war und immer noch teilweise aus dem Wasser heraus ragte. Ringschnabel- und Silbermöwen machten sich scharenweise darüber her und Juvia konnte die Rückenflossen von mindestens drei Walhaien ausmachen. Höchstwahrscheinlich tummelten sich auch einige kleinere Haie dazwischen, um etwas von dem reichlich vorhandenen Fleisch zu ergattern.

Der Anblick des sanften Meeresriesen schmerzte Juvia in der Brust und sie fragte sich, ob Gajeel und Metallicana ihn nicht unter eigener Lebensgefahr hätten töten müssen, wenn es ihr nur irgendwie gelungen wäre, das Wesen zu beruhigen…

Die große Hand auf ihrer Schulter ließ sie zusammen zucken und herumfahren. Vor ihr stand Gajeel mit grimmig-besorgter Miene. „Das war nicht deine Schuld, also denk’ nicht weiter darüber nach.“

„Aber wenn Juvia nur-“

„Du bist eine Magierin, Juvia, aber nicht allmächtig. Das sind nicht einmal Drachen oder ihre Reiter.“

Ein bitterer Zug trat in Gajeels Gesicht, den Juvia leider nur zu gut kannte. Behutsam legte sie ihre Hand auf seine, die immer noch auf ihrer Schulter ruhte. Minimal drückte er ihre Schulter – ein stummer Dank, denn Gajeel brachte es selten einmal fertig, seine Gefühle richtig in Worte zu fassen –, dann unterbrach er den Kontakt und drehte sich herum.

„Lily und die Flügelechse warten bereits auf uns.“

Juvia warf einen letzten bedauernden Blick über ihre Schulter zum Leviathan hin, dann folgte sie ihrem Ziehbruder zurück zur anderen Seite der Insel, wo Metallicana mit ungeduldig schwenkendem Schwanz bereit stand, während Pantherlily das Wenige von ihren Habseligkeiten zu einem kleinen Bündel zusammenpackte, was nach dem Angriff des Leviathans an den Strand gespült worden und noch intakt gewesen war.

„Habt ihr euch endlich entschieden, wo ich euch hinbringen soll?“, grollte Metallicana.

„Juvia ist immer noch der Meinung, dass wir die Kanaloa suchen und Admiral Cracy warnen sollten“, beeilte sich die Blauhaarige, ihren gestrigen Standpunkt noch mal zu vertreten.

Keiner der anderen Drei war davon begeistert, was sie auch schon am Vorabend zum Ausdruck gebracht hatten. Metallicana missfiel die Aussicht, Tage lang über dem Meer zu fliegen auf der Suche nach dem kaiserlichen Schlachtschiff, das seiner Meinung nach ohnehin nichts ausrichten konnte gegen verrückt gewordene Leviathane. Pantherlily war skeptisch, ob man sie überhaupt ernst nehmen würde. Und Gajeel schließlich wollte grundsätzlich nichts mit einem Kaiserlichen Gesandten zu tun haben, ganz gleich welchen Ranges und wie angesehen er war.

„Wir sollten die Sache zuerst näher erforschen und herausfinden, ob es noch mehr Angriffe gegeben hat“, schlug Pantherlily vor.

„Dabei kriegen wir nur jede Menge Seemannsgarn zu hören“, schnaubte Gajeel.

„Aber wenn ich das Meer gründlich überfliege, finde ich vielleicht weitere Leviathane, die auf Grund gelaufen sind.“

„Das würde Wochen oder sogar Monate dauern. Sollen wir solange Däumchen drehen?!“

„Ihr könntet einen Dracologen von Crocus-“

„Nein! Wir setzen keinen Fuß in Crocus hinein!“, fauchte Gajeel.

Pantherlily verschränkte die Arme vor der Brust und obwohl er in seiner kleinen Form blieb, sah er aus wie ein Lehrer, der seinen Schüler musterte und überlegte, wie er ihn maßregeln konnte.

„Wir könnten zuerst in einer der öffentlichen Bibliotheken nachforschen, ob es so ein Verhalten schon einmal bei Leviathanen gegeben hat“, ging Juvia dazwischen. „Juvia könnte das übernehmen und du könntest jagen gehen, damit wir unsere Reiseausrüstung wieder aufstocken können. Hargeon liegt nur drei Tagesreisen von uns entfernt, wenn Metallicana uns bringen kann. Und Pantherlily kann sich auf den Inseln umhören und Ausschau nach weiteren Levathanen halten..“

„Das ist eine gute Idee, Wassermädchen!“, lobte Metallicana zufrieden brummend, ehe er sich an Gajeel wandte. „Zieh’ nicht schon wieder so eine Fresse, Eisenhirn.“

„Ich ziehe keine Fresse!“, sprang der Schwarzhaarige natürlich sofort auf diese Provokation an.

Juvia mischte sich in den Disput zwischen Drachen und Reiter nicht ein, der wieder einmal ohne irgendeinen tieferen Sinn entbrannte. Sie war sich nicht völlig sicher, aber sie hatte das Gefühl, dass Metallicana seinen Reiter extra provoziert hatte, damit dieser nicht so viel an ihre bevorstehende Reise dachte.

Nur zu gut wusste Juvia, was ihren Ziehbruder von der Zivilisation fernhielt. Um genau zu sein, ging es ihr ähnlich. Zu viel war geschehen, um noch einfach so vertrauen zu können. Die einzigen Menschen, denen Juvia vorbehaltlos vertraute, waren Gajeel und… und früher einmal auch Totomaru, der sie verlassen hatte – oder sie ihn, wenn man es genau nehmen wollte. Seit diesem Vorfall gab es nur noch Gajeel und Juvia. Den Kontakt zu anderen Menschen mieden sie nach Möglichkeit.

Ein Umstand, der sie schwermütig machte. Gajeel und sie waren schon sieben Jahre lang auf Reisen. Allmählich nagte es an Juvia, aber gleichzeitig hatte sie nie einen wirklich wichtigen Grund gefunden, Gajeel dazu zu überreden, irgendwo länger zu bleiben. Nirgends, wo sie bisher gewesen waren, hätte sie sich niederlassen wollen…

Während sie ihren Gedanken nachhing, nahm Juvia Pantherlily das Bündel ab. Nichts daraus war ihm bei seiner bevorstehenden Reise nützlich. Wenn er so lange unterwegs war, musste er unnötigen Ballast tunlichst vermeiden. Er hatte lediglich eine Feldflasche mit Wasser neben seinem Federschwert am Gürtel hängen. Proviant konnte er sich mit seinem Erfahrungsschatz problemlos unterwegs besorgen.

„Wirst du uns auch wirklich wieder finden?“, fragte Juvia nicht ohne eine gewisse Angst.

Der Exceed blickte lächelnd zu ihr auf. „Im Zweifelsfall fliege ich auf das größte Chaos zu.“

Die Wassermagierin kicherte erleichtert und hob den Exceed hoch, um ihn einmal fest an sich zu drücken. „Pass’ auf dich auf, Lily. Juvia wird dich vermissen.“

Pantherlily verzog ob dieser verniedlichenden Behandlung das Gesicht, protestierte jedoch nicht. Juvia beschloss, ihre Privilegien bei ihm nicht auszureizen, und setzte ihn wieder ab.

„Pass’ auf Gajeel auf“, bat er ernst. „Vielleicht kannst du ihn doch noch zu einem Treffen mit den anderen Reitern überreden. Das würde ihm sicher gut tun. Und vielleicht können sie sogar helfen.“

„Juvia wird ihr Bestes geben“, versprach die Blauhaarige mit einem bekräftigenden Nicken.

„Daran zweifle ich nicht.“

Stolz lächelnd ließ Pantherlily seine reinweißen Flügel erscheinen. Das riss Gajeels Aufmerksamkeit von der Diskussion mit Metallicana los. Der Eisenmagier kam mit grimmiger Miene herüber gestapft und klopfte dem Exceed auf den Kopf.

„Guten Flug“, knurrte er.

„Euch auch.“

Mit diesen Worten erhob sich Pantherlily in die Lüfte und schoss mit der Geschwindigkeit eines Pfeils in Richtung Süden davon. Selbst für einen Exceed war er ausgesprochen schnell, wohl das Zeugnis einer knochenharten Ausbildung während seiner Zeit in Extalia, über die er jedoch nie sprach.

Juvia betrachtete Gajeel, welcher dem Exceed auch dann noch hinterher blickte, als dieser schon verschwunden war. Um die Lippen des Schwarzhaarigen lag wieder dieser bittere Zug von vorhin. Er war erst vor sieben Jahren entstanden, aber Gajeel trug ihn jetzt wie eine zweite Haut.

„Können wir dann oder wollt ihr noch mit einem weißen Taschentuch hinterher winken?“, spöttelte Metallicana, aber in seiner Stimme schwang ein scharfer Klang mit, den Juvia als Besorgnis zu erkennen glaubte.

„Von mir aus“, knurrte Gajeel ruppig und riss Juvia regelrecht das Bündel aus den Armen, damit sie hoch auf Metallicanas Rücken klettern konnte.

Unbehaglich ließ sie sich in die Kuhle am Halsansatz gleiten. Sie mochte und vertraute Metallicana, aber das Fliegen war ganz und gar nicht ihr Ding. Wenn Pantherlily sie trug, war es genauso. Sie war eher ein Mensch des Wassers und der Erde.

Hinter ihr sank Gajeel in die Kuhle. Er drückte ihr das Bündel wieder in die Arme und schlang dann einen Arm um ihre Taille. Obwohl sie nicht mit einem unruhigen oder gar gefährlichen Flug rechnete, war die Wassermagierin dankbar um diese schützende Geste.

„Ich bringe euch in die Nähe von Hargeon, von dort aus kommt ihr ja wohl alleine weiter.“

„Zu gütig, dass du uns nicht einfach über Hargeon abwirfst“, brummte Gajeel.

„Bei dir überlege ich mir das vielleicht noch, Eisenhirn“, schnaubte der Drache amüsiert, dann stieß er sich vom Boden ab und schlug mit den gewaltigen Flügeln.

Unwillkürlich presste Juvia das Bündel an sich. Ihr Magen rumorte. Sie war wirklich nicht für das Fliegen gemacht!
 

Eine Woche vor der Opferung
 

Drückende Stille lastete auf der kleinen Gruppe. Die Anspannung war regelrecht mit Händen zu greifen. Rogue ließ den Blick über das Schlachtfeld gleiten, um nicht zu Sting und Yukino blicken zu müssen, die zutiefst erschüttert waren. Der Schattenmagier konnte es ihnen nicht verübeln, standen sie doch vor dem, was neben der Weite der Stillen Wüste die einzige räumliche Konstante in ihrer Kindheit gewesen war. Diese massive, mit Obsidian geäderte Felsinsel war das Hauptquartier von Stings und Yukinos Volk. Hierher war damals die achtjährige Minerva geflohen in der bangen Hoffnung, hier Hilfe zu finden. Nicht umsonst wurde dieser Ort schlicht Zuflucht genannt.

Jetzt lagen hier überall Basiliskenkadaver und zwei der vier Wächter – Felsenfinger aus reinem Obsidian, die vor der Zuflucht aus dem Sand ragten und früher allen herannahenden Basilisken Einhalt geboten hatten – waren von der Wucht der Angriffe regelrecht zerfetzt worden.

Ein Räuspern riss Rogues Aufmerksamkeit auf den Nordeingang zur Zuflucht, wo Gran Doma, der Wüstenweise und somit der spirituelle Führer der Wüstennomaden, stand. Er war alt, wovon seine schlohweißen Haare, der brustlange, weiße Bart und die Altersflecken und Falten auf der Haut sprachen. Seine wettergegerbte Haut erinnerte an rissiges Leder, aber seine dunklen Augen sprühten vor Leben und Weisheit. Der Tamariskenholzstab in seiner Hand mit seinen unzähligen Würdenzeichen diente eher zur Unterstreichung seiner Autorität, denn trotz seines Alters war er hoch und gerade aufgerichtet, vom Scheitel bis zur Sohle ein unbezwingbarer Wüstennomade und Basilisken-Reiter.

Nach Art des Wüstenvolks grüßte Rogue den Älteren und Höhergestellten, indem er sich die Hand an die Stirn legte, dann eine Verbeugung andeutete und dabei die Hand nach vorn streckte. Nachdem der Wüstenweise kurz über Rogues Handfläche gestrichen hatte, richtete dieser sich wieder auf und beobachtete, wie Sting und Yukino seinem Beispiel folgten.

„Meister, wie viele-?“

Yukino blieb die Frage im Hals stecken. Wer könnte es ihr verdenken? Sie, Sting und Rogue waren auf Hisuis und Minervas Geheiß hin in den letzten drei Wochen mit Weißlogia und Skiadrum über die Stille Wüste gezogen, um nach weiteren Basiliskenrudeln zu suchen, wie sie es vor Wüstengrün erlebt hatten. Ausgerechnet hier eines zu finden, bei der Zuflucht, der als uneinnehmbar geltenden Stätte der Wüstennomaden, war ein Schock sondergleichen.

„Dreißig Männer und Frauen haben ihren letzten Ritt angetreten“, erklärte Gran Doma ruhig und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. „Aber ihr Opfer hat dreihundert Leben gerettet. Diese Basilisken waren nicht zahlreich genug, um unsere Verteidigung zu durchbrechen.“

Rogue war erleichtert. Der Angriff auf die Zuflucht mochte ein nie da gewesenes Ereignis darstellen, aber er war erfolglos geblieben. Die Zuflucht war nach wie vor ein sicherer Hort für die Wüstennomaden.

Allerdings wirkten Sting und Yukino noch immer benommen. Das war verständlich, aber alles andere als hilfreich. Rogue schnaufte leise. Schade, dass Minerva nicht da war. Sie war eindeutig besser in diesen Dingen. Er trat hinter die Beiden, versetzte Yukino eine sanfte Kopfnuss und rammte Sting die Handkante in die Seite.

„Reißt euch zusammen. Die Wüstennomaden sind hier immer noch in Sicherheit. Die haben euch immerhin ausgebildet!“

„Aua!“, jammerte Sting und rieb sich die Seite, aber sein Blick war wieder klar und auch Yukino wirkte, als hätte sie sich wieder erholt. „Kein Grund, gleich brutal zu werden“, brummte er.

„Du willst gar nicht erleben, wenn ich brutal werde“, erwiderte Rogue rigoros. Doch gleich darauf nahm er das Gesicht seines Freundes in beide Hände und lehnte seine Stirn gegen Stings. „Wir finden schon noch heraus, was es mit all dem auf sich hat. Dafür musst auch du einen kühlen Kopf bewahren, so schwer dir das auch fallen mag.“

Sting versuchte zu schmollen, aber Rogue kniff ihm in die Wangen und Stings Lippen zuckten verräterisch. Zufrieden ließ Rogue von ihm ab, zauste dann Yukinos Haare und wandte sich schließlich wieder an Gran Doma, der ihm ein anerkennendes Lächeln schenkte, ehe er sich herum drehte.

Sie setzten sich in Bewegung und durchschritten den kurzen Nordgang, um in den Inneren Kreis zu gelangen, wo geschäftigeres Treiben als sonst herrschte. Waffen wurden aus den Lagerhöhlen geholt und überprüft. Viele blickten hoffnungsvoll zu ihren Wüstenweisen und dessen Begleitern hinüber, aber Gran Doma ging unbeirrt weiter auf eine Spalte in der Westseite der Zuflucht zu, die in einen kurzen Tunnel mündete. Der Tunnel gabelte sich nach zehn Schritten. Von links war das Stöhnen und Wimmern Verwundeter zu hören, Grand Doma wandte sich jedoch nach rechts, wo sich seine eigene Wohnhöhle befand.

Sie war großzügiger als die meisten anderen Höhlen. In die Wände waren mehrere Schlafnischen und auch mehrere Regale gemeißelt worden. In den Regalen lagen nur wenige Bücher, aber dafür umso mehr Papyrusrollen, sowie allerlei Figuren, Krüge, Körbe und eine beachtliche Sammlung an allen möglichen Tier- und Basiliskenknochen. Im Zentrum der Höhe befand sich ein munter prasselndes Kochfeuer in einem Steinkreis, um welchen mehrere Bastmatten ausgelegt waren, die zum gemütlichen Sitzen einluden. Vom Ruß geschwärzten Krug, der an einem Gestell über dem Feuer hing, stieg der süßliche Geruch von Datteltee auf.

Auf Gran Domas Einladung hin ließen die drei jungen Leute sich auf den Bastmatten nieder. Sting saß so nahe bei Rogue, dass ihre Knie sich berührten. Beruhigend legte Rogue ihm eine Hand aufs Bein und wandte dann seine Aufmerksamkeit auf den Wüstenweisen, der sich am Krug bediente.

„Habt Ihr eine Erklärung für das Verhalten der Basilisken, Meister?“

Gran Doma schüttelte offensichtlich unwillig den Kopf. „Ich habe die alten Schriften bereits studiert und sogar die Legendensammlungen durchgesehen, aber von solch einem Phänomen war nirgends je die Rede.“

„Das wird Minerva und Hisui nicht gefallen“, seufzte Yukino und strich sich die Haare immer noch glatt.

Mir gefällt es nicht“, murrte Sting und unter seiner Hand spürte Rogue das mühsam beherrschte Zittern seines Partners. „Wenn wir nicht wissen, womit genau wir es zu tun haben, wie sollen wir dann die Dörfer und Kleinstädte schützen? Die Basilisken-Reiter werden hier gebraucht und dürften ohnehin nicht zu weit verteilt werden und wir können auch nicht überall sein.“

„Bisher haben sich die Basilisken nur über kleine Ansiedlungen hergemacht“, gab Rogue zu bedenken. „Vielleicht wäre eine Evakuierung nach Jadestadt und Sabertooth vorerst das Beste. Die Mauern dort bestehen aus Obsidian und sind dick und hoch.“

„Das scheint nach unserem derzeitigen Wissensstand das Sinnvollste zu sein“, stimmte Gran Doma zu.

Sting knurrte unwillig. „Ich hätte lieber einen eindeutigen Kampf.“

Rogue verkniff es sich, zu zugeben, dass es ihm genauso erging. Als sie vor acht Jahren gegen den Usurpator Jiemma gekämpft hatten, hatten sie genau gewusst, wer ihr Gegner war und wie er vorging. Dieses Mal hatten sie es mit etwas oder jemandem zu tun, den sie nicht verstanden. Basilisken, die in Rudeln angriffen. Basilisken, die sich von Obsidian nicht fernhalten ließen. Welche Macht konnte sie so weit treiben? Rogue zermaterte sich seit drei Wochen den Kopf deswegen.

„Meister Gran Doma.“

Ein junger Mann, der gerade erst seine Reiterinitiation erhalten haben konnte, betrat die Höhle. Für einen Moment huschte sein Blick ungeniert über Sting, der dies jedoch zu Rogues Erleichterung gar nicht realisierte. Obwohl er nicht an Stings Treue zweifelte, fühlte Rogue sich nicht wohl, wenn die jungen Männer und Frauen des Wüstenvolks diesem oft sehr eindeutige Angebote machten – oft sogar in Rogues Beisein. Bei ihnen galt das als unverwerflich, sie waren in Liebesangelegenheiten sehr freizügig und offen. Einer der wenigen Punkte bei den Wüstennomaden, mit denen Rogue einfach nicht zurecht kommen konnte.

Als der Wüstenweise sich räusperte, wandte der junge Reiter sich wieder ihm zu. „Wir haben einen fremden Leichnam gefunden. Ein Grünländer. Er hatte keine Rebmesser bei sich, sondern Lanzen mit Widerharken.“

Sting zischte leise und Yukino erschauderte. Rogue hatte das Basilisken-Reiten nie erlernt, aber Sting hatte ihm vieles darüber erzählt, daher konnte der Schwarzhaarige die Reaktionen seiner Freunde nachvollziehen. Rebmesser waren so gefertigt, dass sie keine Schäden bei einem gerittenen Basilisken hinterließen. Im Kampf gegen Menschen, eigneten sie sich daher nur als Schlagwaffe – wenn auch als äußerst effektive. Wüstennomaden respektierten die Sandschlangen, ja, verehrten sie sogar, und versuchten nach Möglichkeit immer zu vermeiden, diese zu verletzen. Eine Lanze mit Widerharken war eine wirkungsvolle, aber sehr grausame Variante, einen Basilisken zu reiten. Dabei wurde von vorneherein in Kauf genommen, dass die Sandschlange einen irreparablen und massiven Nervenschaden davon trug, der zu Blindheit oder Schlimmerem führte.

„Außerdem hatte er das hier bei sich“, fügte der Junge hinzu und reichte dem Wüstenweisen eine Wappenbrosche.

Sting, Rogue und Yukino beugten sich vor. Auf dem silbernen Grund der Brosche war ein schwarzer Riese abgebildet, durch dessen erhobene Hände ein ebenfalls schwarzer Komet herabstieg.

„Ich bin mit der Heraldik der Grünländer nicht vertraut. Erkennt ihr dieses Wappen?“, fragte Gran Doma.

„Ich habe keinen Schimmer von Wappen“, erklärte Sting mit einem Schulterzucken. Als Rogue und Yukino ihn ansahen, hob er verteidigend die Arme. „Guckt nicht so! Ich bin Minervas Rechte Klaue, nicht ihr Herold oder ihr Meister der Bücher.“

„Vielleicht solltest du dich auch mal in Mysdroys Unterricht setzen“, neckte Yukino und Rogues Lippen zuckten, als sein Freund vor Entsetzen erschauderte.

Sting kam mit dem Exceed von Sabertooth einfach nicht auf einen grünen Zweig. Das wusste jeder. Mysdroy war sehr sittenstreng und hatte wenig für Stings lockere Art übrig. Minerva vermied es daher nach Möglichkeit, die Beiden zur gleichen Besprechung dazu zu holen.

„Kennt ihr das Wappen denn?“, fragte Sting mit einer Schmollmiene.

„Es ist kein Fürstenwappen, da bin ich mir sicher“, erklärte Rogue wieder ernst.

„Es ist ein Sektenwappen“, sagte Yukino schaudernd. „Während meiner letzten Reise bin ich in Malba in eine Kundgebung der Sekte Avatar gestolpert. Alle Anhänger – die Gläubigen, wie sie sich selbst nennen – haben dieses Wappen getragen.“

„Und was will diese Sekte?“, fragte Gran Doma konzentriert.

Yukino verzog das Gesicht. „Avatar ist eine ziemlich fanatische Sekte. Sie wettern auf alles und jeden, der auch nur ansatzweise mit Magie zu tun hat.“

Sorge zeichnete sich in dem Blick ab, dem sie Sting und Rogue zuwarf, und einmal mehr war Rogue für die Umstände dankbar, die ihm Yukino als Freundin zugewandt hatten. Sie war wie eine Schwester für ihn. Es gab nichts, was er nicht für sie tun würde.

„Das ergibt keinen Sinn“, brummte Sting und verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum greifen die Dörfer wie Wüstengrün oder die Zuflucht an? Da gibt es nicht eine Unze Magie. Nicht einmal einen Exceed. Geschweige denn Magier oder Drachen. Und müssten sie streng genommen nicht auch ein Problem mit Basilisken haben?“

„Das sind berechtigte Einwände“, gab Gran Doma bedächtig zu. „Aber wer kann schon sagen, was in den Köpfen dieser Menschen vor sich geht? Ihr solltet diese Brosche mit zur Wüstenlöwin nehmen, damit sie entscheiden kann, was zu tun ist. Gewiss wird sie dieser Spur nachgehen wollen.“

Zustimmend nickte Rogue und nahm die Wappenbrosche an sich, um sie in einer Gürteltasche zu verstauen. Dann wiederholte er die Grußgeste gegenüber Gran Doma.

„Habt Dank für Eure Zeit und Euren Rat, Meister. Wir werden Kontakt zu Euch halten.“

„Und wir zu euch“, erwiderte der Wüstenweise, während er über Rogues dargebotene Hand strich. Dann wandte er sich an Sting und Yukino, um sich auch von ihnen zu verabschieden. „Nehmt euch an Rogue ein Beispiel und bleibt besonnen.“

Die Beiden sahen erst einander, dann Rogue an, dann verzogen sich Stings Lippen zu einem Grinsen, während Yukino ihr eigenes hinter einer Hand verbarg. „Streber“, lautete das Urteil.

Rogue verdrehte die Augen und verließ vor den Beiden die Privathöhle von Gran Doma.

Auf dem Weg durch die Zuflucht achtete Rogue genau auf die Menschen um ihn herum. In den Mienen erkannte er Angst und Verwirrung, aber zuallererst Trotz. Diese Männer und Frauen lebten schon seit vielen Generationen mit der Gefahr durch die Basilisken. Ein neues Manöver war bei weitem nicht genug, um sie einzuschüchtern. Rogue hoffte inständig, dass der Schutz durch die Zuflucht und durch die unverbrüchliche Gemeinschaft dieses Volkes weiterhin bestehen würde.

Kurz vor dem Eingang, wo Rogue die Anwesenheit seines Drachen spüren konnte, begegneten sie einer hochgewachsenen Frau mit langen, blonden Haaren und in den typischen Pluderhosen und einer eng anliegenden Tunika der Wüstennomaden, die wenige Sommer älter als Sting und Rogue war.

Sting und Yukino begrüßten sie mit einem Handschlag. „Mummy, sind Aki und Toraan auch hier?“, wollte Yukino wissen.

Die Blonde schüttelte den Kopf. „Die Beiden sind wieder einmal auf einem Trip. Ich weiß nicht, wo sie momentan auf der Suche sind. Vielleicht wieder bei der Golemschlucht. Sie haben immer noch nicht aufgegeben.“

„Würde ich an ihrer Stelle auch nicht“, erklärte Sting mit einem Schulterzucken.

Rogues Blick glitt zu Yukino hinüber. Sie konnte Toraans verzweifelte Suche wahrscheinlich am besten verstehen, hatte eine ebensolche sie doch schon zu drei ausgedehnten Reisen quer durch Fiore getrieben. Sie mochte nun Säbel und Feder der Jadefürstin sein, aber Rogue wusste genau, dass sie ihre Suche immer noch nicht aufgegeben hatte.

Behutsam legte er eine Hand auf ihre Schulter und drückte diese sanft. Überrascht blickte die Weißhaarige auf. Eine Träne rann über ihre linke Wange, doch sie schenkte Rogue ein warmes Lächeln und legte ihre Hand auf seine.

„Es ist die freie Entscheidung der Beiden. Dieses Recht will ich ihnen nicht absprechen“, erklärte Mummy ernst. „Aber dass sie ausgerechnet jetzt nur zu zweit unterwegs sind, macht mir Sorgen.“

„Keine Bange, wenn jemand auf sich selbst aufpassen kann, dann die Beiden“, beschwichtigte Sting voller Vertrauen.

„Sie sind noch halbe Kinder.“

„Das waren wir auch, als wir Sabertooth zurück erobert haben.“

Mummy wollte noch etwas sagen, doch Yukino trat einen Schritt vor und ergriff die Hände der Älteren. „Hab’ Vertrauen in die Beiden. Sie wissen, wo ihre Heimat ist, gerade deshalb haben sie auch die Stärke, weiter zu suchen.“

Rogue fing Stings Blick auf. Sein Partner grinste stolz. Rogue lächelte.

Sie verabschiedeten sich von Mummy und verließen die Zuflucht. Direkt vor dem Eingang warteten bereits Weißlogia und Skiadrum.

„Also zurück nach Sabertooth“, stellte Sting seufzend fest.

Yukino strebte auf Weißlogia zu und kletterte leichtfüßig auf dessen Rücken. Schon wollte Rogue ihrem Beispiel bei Skiadrum folgen, als sein Partner ihn zurück zog und die Arme um ihn schlang. Reflexartig erwiderte Rogue die Umarmung und legte den Kopf schräg, als Stings Lippen die seine suchten. Der Kuss war lang und leidenschaftlich und vollkommen hemmungslos. Rogues Gedanken wurden ganz schwammig. Nur vage war er dankbar für den Umstand, dass Lector und Frosch sich davon hatten überzeugen lassen, bei Minerva zu bleiben.

Der Kuss lief so zärtlich aus, dass Rogue mit aller Macht gegen ein Zittern seiner Knie ankämpfen musste. Als er Stings Stirn an seiner spürte, öffnete er die Augen wieder – er hatte gar nicht bemerkt, wann er sie geschlossen hatte. In den blauen Augen seines Partners erkannte er eine Sanftheit, bei der ihm ein wohliger Schauder über den Rücken lief.

„Ich habe den Blick des Kleinen übrigens sehr wohl bemerkt“, flüsterte Sting mit verräterisch heiserer Stimme. Er hauchte Rogue einen weiteren Kuss auf die Lippen. „Aber er hat mich nicht interessiert. Das wird er nie.“

Schon wollte Sting sich lösen, um endlich aufzubrechen, aber jetzt war es Rogue, der ihn zurückhielt. „Gut“, stieß er krächzend hervor und gab Sting einen weiteren hemmungslosen Kuss.

Die Belustigung seines Drachen und das ungeduldige Brummen von Weißlogia ignorierte er für diesen Moment genauso wie seine Sorge in Bezug auf die Probleme in der Stillen Wüste. Für diese paar Minuten drehte sich sein ganzes Denken und Handeln einfach nur um seinen Partner…

Der Morgen, an dem ihm der Abschied schwer fiel

20 Jahre vor der Opferung
 

Mit schlafwandlerischer Sicherheit tapste Natsu durch die breiten, hellen Straßen von Magnolia. Obwohl erst fünf Sommer alt, kannte er die Stadt wie seine Westentasche – und sie ihn. Die Ladenbesitzer grüßten ihn lächelnd, von der dicken Bäckerin bekam er sogar eines der Brötchen, die sie gerade aus dem Ofen geholt hatte. Spielende Kinder winkten ihm zu, sich ihnen anzuschließen, ein Soldat zauste ihm grinsend die Haare.

Es war ein sonniger, fröhlicher Tag. Alle waren zufrieden und heiter, die Arbeiten gingen allen locker von der Hand. Selten einmal durchbrachen Flüche oder gar Streitereien die Idylle. So wie Natsu es gewohnt war, seit er angefangen hatte, durch die Fürstenstadt zu stromern. Alles war wie immer.

Und doch war es heute anders. Anstatt kreuz und quer durch die Stadt zu laufen, mal hier, mal dort stehen zu bleiben und die Ereignisse zu beobachten oder mit den Leuten zu reden, hatte Natsu heute ein ganz konkretes Ziel.

„Na, Natsu, wo geht es heute hin?“, rief ihm ein Fuhrmann zu, der ein Dutzend mächtiger Eichenstämme aufgeladen hatte, die aufgrund ihres geraden Wuchses von kaum zu ermessenden Wert waren.

„Dorthin“, sagte der Junge nur und deutete geradeaus.

Der Fuhrmann lachte rau und knallte einmal mit dem dicken Zügel, um die beiden kräftigen Kaltblüter wieder anzutreiben.

Und Natsu ging weiter. Er hielt nicht am Waisenhaus, um mit den Kindern zu spielen, und auch nicht am Truppenübungsplatz, um die Soldaten unter Gildartz’ Leitung zu beobachten. Unbeirrt ging er immer weiter, bis er die hoch aufragenden Stadtmauern erreichte, durch deren tagsüber geöffnete Tore zahlreiche Menschen strömten. Bauern, die ihre Waren auf dem Markt vertreiben wollten. Händler, die von Geschäftsreisen kamen oder zu neuen aufbrachen. Wanderer, die mit ihren Geschichten und Diensten in Magnolia Obdach zu finden hofften. Soldaten, die von ihrem Dienst bei anderen Posten im Fürstentum zurückkehrten.

In all dem Trubel gelang es Natsu mühelos, unbemerkt zwischen all den anderen Menschen nach draußen zu schlüpfen, obwohl Gildartz und Cornelia ihm genau das immer verboten hatten. Nie zuvor hatte er darüber nachgedacht, dieses Verbot zu übergehen. Magnolia war zu groß und zu lebendig, als dass einem Fünfjährigen langweilig werden könnte. Aber heute war es anders.

Heute wurde Natsu gerufen.

Bereits als er heute Morgen die Augen aufgeschlagen hatte – geweckt vom Rumpeln der Fuhrwerke auf der Straße –, hatte er gespürt, dass etwas anders war als sonst. Während des Frühstücks war er unruhig gewesen. Cornelia hatte es auf seinen üblichen Bewegungsdrang geschoben und deshalb nicht weiter nachgefragt. Ziellos war Natsu nach dem Essen durch die Stadt gelaufen und hatte dabei in sich hinein gelauscht, aber erst zur Mittagsstunde, als er mit dem geschenkten Brötchen an einem der Brunnen gesessen hatte, hatte er erkannt, dass er gerufen wurde. Es war keine tatsächlich hörbare Stimme, es gab keine klaren Worte, es war eher ein Gefühl. Eine Sehnsucht nach etwas, das er eigentlich gar nicht kannte. Die Gewissheit, aufbrechen zu müssen, um den Ursprung dieses Rufs zu finden.

Also war er los gelaufen, hatte halb Magnolia durchquert und schließlich auch dann nicht gezögert, als er die Mauer erreicht hatte.

Eine kleine Weile folgte er dem Menschenstrom, welcher der Kaiserlichen Straße nach Westen in Richtung Clover folgte, doch am Waldrand schlug er sich in die Büsche. Hier gab es keine Wege mehr, nur noch einige vage Pfade, an denen er sich orientieren konnte. Dennoch strebte er immer weiter. Je weiter er voran kam, desto lauter wurde der Ruf.

Um ihn herum zwitscherten viel mehr kleine Vögel, als er es aus der Stadt kannte, und dann hörte er hoch über sich einen lauten, schrillen Ruf und ein brauner Vogel mit weißer Brust flog blitzschnell über ihn hinweg. Ein Gebüsch neben ihm raschelte und ein Kaninchen schoss Haken schlagend daraus hervor.

Mit großen Augen wanderte Natsu durch diese für ihn so neuartige Welt. Er war schon ein paar Mal mit Gildartz, Cornelia und Cana im Wald gewesen, aber das alles alleine zu erkunden, war doch etwas vollkommen anderes.

Schließlich trat er auf eine große Lichtung und dort lag… ein Wesen, wie Natsu es bisher nur aus Büchern gekannt hatte. Es hatte vier Beine wie viele andere Tiere auch, aber es hatte kein Fell und keine Federn, sondern Schuppen, ähnlich wie bei einer Eidechse, doch viel größer und dem Augenschein nach auch dicker und härter. Auch die riesigen Flügel, die Natsu an die Segel der Flussschiffe erinnerten, waren unbefiedert. Da war auch ein langer Schwanz, der leicht hin und her wiegte. Und das gesamte Wesen war viel, viel größer als jedes andere, das Natsu jemals gesehen hatte.

Bei dem Versuch, den Kopf weit genug in den Nacken zu legen, um auch den Kopf des Wesens richtig betrachten zu können, plumpste Natsu auf den Hosenboden. Das Wesen neigte langsam das Haupt und musterte den Menschenjungen aufmerksam. Es hatte ein riesiges Maul voller Zähne, mit dem es einem Mann wie Gildartz wahrscheinlich mit wenigen Bissen verspeisen könnte.

Aber über Natsus Gesicht breitete sich ein strahlendes Grinsen. Er streckte beide Arme aus und lachte vergnügt. „Du bist ein echter Drachen!“

Ein Schwall warmer Luft glitt über den Jungen hinweg und die Augen des rot-gelben Drachen blinzelten gutmütig. „Und du bist ein sehr mutiger Junge“, grollte er. Seine Stimme vibrierte in Natsus Ohren.

Natsu grinste immer breiter. „Ich bin Natsu!“

„Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Igneel.“ Ein weiterer warmer Luftschwall traf Natsu, dann näherte sich ihm das beeindruckende Drachenmaul, bis es behutsam in seinen Bauch stieß.

„Igneel!“, wiederholte Natsu selig und versuchte, das Maul zu umarmen.

Natsu hatte schon viele abenteuerliche Geschichten über Drachen gehört. Wie mächtig und gefährlich sie für ihre Gegner waren. Dass sie sich nie zähmen ließen. Es gab auch furchtsame Leute, die behaupteten, Drachen fräßen Menschenfleisch. Aber Natsu spürte instinktiv, dass Igneel ihm niemals etwas zuleide tun würde. Igneel war ein guter Drache und was noch wichtiger war: Er war Natsus Drache.

Mit aller Gewissheit, die ein Fünfjähriger aufzubringen vermochte, war Natsu sich sicher, dass er und Igneel fortan zusammen gehörten. Dafür brauchte er keine Erklärungen von Erwachsenen über Drachenmagie, Telepathie und dergleichen. Er wusste es einfach und er war glücklich darüber.

Und er wusste mit ebensolcher Sicherheit, dass Igneel es auch war!
 

2 Wochen vor der Opferung
 

Sehr aufmerksam beobachtete Natsu, wie Lucy die getrockneten Minzblätter aus einem kleinen Beutel zu einem feinen Pulver zerrieb und in das heiße Wasser gab. Er studierte den graziösen Tanz ihrer feingliedrigen Finger, beobachtete das Wehen einiger goldener Haarsträhnen, die sich aus dem Zopf gelöst hatten, betrachtete den Schwung ihrer schimmernden Lippen, verfolgte das Auf und Ab ihrer dichten, langen Wimpern, als sie blinzelte.

Dann hob sie den Blick und begegnete den seinen. Wieder war Natsu verblüfft, wie braun ihre Augen waren. Auf all seinen Reisen hatte er noch nie so sehr auf Augenfarben und dergleichen geachtet, aber Lucys Augen waren von einem tiefen Braun und warm und klug und wunderschön… Er verspürte den Drang, sich ihr zu nähern, um ihr noch tiefer in die Augen blicken zu können. Ob sie ihm das anmerkte? Ihre Wangen bekamen einen rosigen Schimmer und um ihre Lippen spielte ein beinahe schüchternes Lächeln. Natsu wurde ganz kribbelig zumute.

Ein vernehmliches Räuspern lenkte Natsus und Lucys Aufmerksamkeit auf Loke, der mit ihnen am Feuer saß und nun Beiden je ein Stück Brot hin hielt, die Miene dabei seltsam angestrengt.

„Danke“, nuschelte Lucy und nahm ihr Brot an sich.

Natsu ergriff sein eigenes Stück und nickte Loke irritiert zu. Irgendwie verhielt der Krieger sich merkwürdig. Nicht direkt unfreundlich oder gar feindselig, eher so, als hätte er die ganze Zeit Magenschmerzen. Das vielsagende Grinsen von Scorpio und Gemini, die Loke gegenüber saßen, machte Natsu auch nicht schlauer.

Seit einer Woche war er mit Lucy und ihren vier Kameraden zusammen – fünf, wenn man Plue richtig mit dazu zählen wollte, der jetzt vor Gemini saß und an einer Möhre knabberte. Damit Happys Wunden nicht wieder aufbrachen, hatten sie sich nur fortbewegt, um an günstigerer Stelle ihr Lager zu errichten. In dieser Zeit hatten Natsu und Happy Freundschaft mit Lucy geschlossen, aber für Natsu war es eine ganz andere Freundschaft, als er sie etwa mit Sting und Rogue, mit Romeo und Wendy oder auch mit Cana pflegte. Er hätte gerne mit Gildartz darüber geredet, aber er hatte keine Ahnung, wo der gerade unterwegs war.

„Also… Wir müssen langsam wieder aufbrechen“, begann Loke bemüht ruhig. „In Heartfilia wartet man sicher bereits auf uns.“

„Aber Happys Wunden…“, protestierte Lucy und rang mit den Händen.

„Mir geht es schon viel besser“, erklärte der Exceed eifrig und wollte aufstehen, um das zu beweisen, aber Natsu hielt ihn behutsam zurück. Immerhin hatte Lucy ihn ermahnt, darauf aufzupassen, dass Happy sich schonen musste.

„Keine Sorge, Lucy, ich bringe Happy nach Hause, dort kann man sich auch um ihn kümmern“, versprach Natsu mit einem beruhigenden Grinsen. „Happy ist zäh und du hast ihn gut versorgt.“

„Ihr solltet das nicht so auf die leichte Schulter nehmen“, erboste sich die Blonde.

Wenn sie wütend war, besaß sie eine ganz eigene Anziehungskraft. Dann blies sie immer die Wangen ein wenig auf und zog die Augenbrauen zusammen. Und ihre Augen blitzten dann streng. Bei diesem Anblick ging Natsu das Wort niedlich durch den Kopf und er konnte einfach nicht anders, als sie weiterhin zu necken. Daher winkte er lässig ab. „Das wird schon, Lucy, reg’ dich nicht so auf.“

„Aye, davon kriegst du Falten!“, ließ sich Happy vernehmen.

Empört schnaubend verschränkte Lucy die Arme vor der Brust und funkelte Natsu und Happy an. „Wo habt ihr Zwei euer Hirn gelassen?“ Grinsend zuckte Natsu mit den Schultern.

Wieder einmal räusperte Loke sich und aus irgendeinem Grund musste Gemini husten, obwohl er nichts gegessen oder getrunken hatte, wobei er sich hätte verschlucken können. Mit zuckenden Lippen klopfte Scorpio seinem Kameraden auf den Rücken.

„Also sind wir uns einig, dass wir heute aufbrechen?“

Natsus gute Laune bekam einen ordentlichen Dämpfer. Die Vorstellung, sich so bald schon von der schönen Blonden verabschieden zu müssen, gefiel ihm gar nicht. Er würde sie schmerzlich vermissen. Allein schon ihren herrlichen Duft…!

Allerdings fiel ihm kein sinnvoller Vorwand ein, warum sie sich noch nicht voneinander trennen konnten. Immerhin hatte er Happy soeben für reisefähig erklärt. Da war er ganz schön voreilig gewesen, aber zurückrudern konnte er jetzt auch nicht mehr.

Schicksalsergeben nickte er. Bildete er sich das ein oder wirkte Lucy betrübt, als sie ebenfalls nickte? Ganz automatisch verspürte der den Drang, sie aufzuheitern, aber bevor er den Mund aufmachen konnte, fuhr Loke in einem geschäftsmäßigen Tonfall fort: „Dann sollten wir das Lager abbrechen. Ein kurzes Stück können wir noch zusammen reisen. Gegen Mittag sollten wir den Abzweig erreichen, der direkt nach Magnolia führt. Das dürfte für euch der schnellste und bequemste Weg sein.“

Noch immer grinsend erhoben sich Scorpio und Gemini. Letzterer stopfte sich noch ein Stück Brot in den Mund, ehe er zu Sagittarius’ Zelt ging, um den Bogenschützen zu wecken, der die letzte Schicht der Nachtwache gehabt hatte.

„Ich gehe noch ein paar Kräuter für Happys Wundumschläge suchen. Das, was ich noch getrocknet habe, wird wahrscheinlich nicht reichen, bis ihr Magnolia erreicht habt“, erklärte Lucy und stand ebenfalls auf.

Natsu beeilte sich, ihr zu folgen. „Ich begleite dich. Du kannst mir die Kräuter zeigen.“

Loke schien protestieren zu wollen, aber Lucy kam ihm zuvor, indem sie ihn bat, auf Happy aufzupassen, damit dieser sich schonte. Wie um die Wichtigkeit dieses Anliegens zu bekräftigen, versuchte der Exceed schon wieder, aufzustehen. Natsu fing den Blick seines Partners auf und war sehr verwirrt, als dieser ihm schelmisch zuzwinkerte, aber er schob den Gedanken daran beiseite und schloss zu Lucy auf, die bereits im Unterholz verschwunden war.

Einige Minuten gingen sie schweigend nebeneinander her. Natsu hielt der Blonden mehrmals Zweige aus dem Weg. Nicht weil er sie für zimperlich hielt, sondern weil es ihr zu gefallen schien, denn sie schenkte ihm dafür jedes Mal ein umwerfendes Lächeln.

„Hier“, sagte sie schließlich und ging vor einem Gebüsch im Schatten in die Hocke. Sie deutete auf eine kleine, unscheinbare Blume mit großen, weißgefleckten Blättern und bläulich-violetten, schlichten Blüten, die an ihren Stengelenden in Wickeln standen. Natsu ging ebenfalls in die Knie und lauschte, während Lucy ihm die Kennzeichen und die Anwendung der Pflanze – Lungenkraut nannte sie es – erklärte, deren Blüten und Blätter er ernten musste, ohne sie zu zerdrücken, um sie dann auf einem Stein in der Sonne zu trocknen.

Bald wurde sein Blick wieder vom Tanz der zierlichen Finger gefesselt und er verspürte den Drang, diese Finger festzuhalten und nie wieder los zu lassen.

„Tut mir Leid, dass ich nur so wenig für Happy tun kann“, sagte Lucy schließlich zaghaft. „Ich habe während des Studiums nur die Pflichtkurse in Medizin besucht.“

„Du und deine Freunde habt Happy das Leben gerettet. Ich hätte ihn wahrscheinlich nicht rechtzeitig eingeholt.“

„Ich glaube, du hättest rechtzeitig einen Weg gefunden“, widersprach Lucy ihm zu seiner Überraschung und schenkte ihm dabei ein aufmunterndes Lächeln. „Ich kenne dich noch nicht so lange, aber ich glaube, ausweglose Situationen spornen dich erst richtig an.“

Verblüfft betrachtete Natsu die Blonde. Er war es gewohnt, dass die meisten ihn für einen gedankenlosen Trottel hielten. Tatsächlich wusste er, dass er nicht so clever war wie der grüblerische Rogue oder die gelehrte Wendy. Er hatte sich nie viel daraus gemacht und stets seinen eigenen Weg verfolgt. Dass da jemand war, der so bedingungslos an ihn glaubte, war neu für ihn. Das kannte er nur von Happy und bei dem war das eindeutig etwas anderes als hier und jetzt mit Lucy.

Ein warmes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus und er beugte sich vor, bis er nichts anderes mehr als Lucys große, braune Augen sehen und nichts anderes als ihren betörenden Duft riechen konnte.

„Ja, das tun sie. Ich lasse mich nicht so leicht klein kriegen. Vor allem nicht, wenn es um meine Freunde geht.“

Lucys Blick funkelte seltsam und unwillkürlich kam Natsu ihr noch näher, um das Funkeln besser deuten zu können. Als sie sprach, klang sie heiser. „Das gibt mir als deine Freundin ein gutes Gefühl.“

Dass sie sich als seine Freundin betrachtete, machte Natsu eigentümlich glücklich, aber gleichzeitig war er damit unzufrieden. Ein kleiner Teil von ihm hatte das Gefühl, dass das nicht genug war…

Ohne richtig darüber nachzudenken, kam er Lucy noch näher. Er konnte ihren Atem auf seinen Lippen spüren. Sie zuckte nicht zurück. Kein Erschrecken und keine Ablehnung erkannte er in ihren Augen, sondern Sehnsucht.

Für einen Sekundenbruchteil streiften seine Lippen ihre, doch dann erklang direkt neben ihnen ein lautes Räuspern. Sofort wichen sie auseinander. Natsus Wangen brannten, aber seine Lippen prickelten. Zu gerne hätte er mehr von dieser Berührung gehabt!

Frustriert hob er den Blick zum Störenfried an. Es war Loke und er macht ein finstereres Gesicht als Cana, wenn das Bier schal war. „Ich habe euch mehrmals gerufen“, knirschte er und legte demonstrativ eine Hand auf den Knauf seines Langschwertes.

„Und wir haben dich gebeten, auf Happy aufzupassen“, erwiderte Lucy scharf, ihre Wangen entzückend dunkelrot.

Sie erntete etwas von der Blume, die sie Natsu gezeigt hatte, und stampfte dann in Richtung Lager zurück. Loke folgte ihr mit einem gewissen Sicherheitsabstand und Natsu trottete verwirrt und frustriert hinterher.

Die Zelte waren abgebaut und das Gepäck wieder auf das Packpferd verladen. Gemini löschte gerade das Feuer. Plue tanzte auf seine ulkig zittrige Art darum herum. Happy saß daneben und blickte Natsu und den Anderen unverhohlen neugierig entgegen. Natsu wusste, dass er sich auf jede Menge Fragen gefasst machen konnte, sobald er mit dem Exceed wieder alleine war. Scorpio, der gerade das letzte Pferd sattelte, grinste breit. Sogar Sagittarius schien sein Schmunzeln nicht zurückhalten zu können.

„Bis zur Weggabelung laufen wir“, entschied Lucy rigoros und hob Happy in ihre Arme.

Also liefen sie. Loke positionierte sich zunächst zwischen Natsu und Lucy, aber ein scharfer Blick seitens Lucy ließ ihn zurückfallen, sodass Natsu wieder neben der Blonden laufen konnte. Zwischen ihnen blieb jedoch ein gewisser Abstand, den Natsu nicht mehr zu verringern wagte.

Wenn Lucy mit ihren Freunden zusammen war, ließ sie sich nicht einfach treiben. Ein Teil ihrer Gedanken schien dann immer um ihre bevorstehende Aufgabe als Fürstin von Heartfilia zu kreisen. Natsu kannte dieses Phänomen von Laxus.

Dennoch genoss der Pinkhaarige die Zeit mit Lucy. Auf ihren Wunsch hin erzählten er und Happy wieder von ihren Reisen. Gestenreich beschrieb er ihr die Berge von Cait Shelter und das überwältigende Gefühl, das ihn überkommen hatte, als er vor dem Spaltengletscher gestanden hatte. Lucy erzählte ihm, dass sie unter den Eismenschen zwei Freunde hatte, und für einen winzigen Moment empfand Natsu Eifersucht, als er das liebevolle Funkeln in Lucys Augen bei dieser Erwähnung bemerkte.

Happy lenkte ihn jedoch ab, als dieser den Kopf in den Nacken legte, um Lucys Gesicht betrachten zu können. „Kommst du uns mal in Magnolia besuchen, Lucy? Dann können wir gemeinsam eine Reise machen.“

„Besuchen komme ich euch sicher, aber für eine lange Reise werde ich leider keine Zeit haben“, entschuldigte sie sich mit wehmütiger Miene.

Natsu verspürte den Drang, Lucy hier und jetzt mit sich zu nehmen und irgendwohin zu bringen, wo niemand sie mit ihren Pflichten als Fürstin behelligen konnte, aber er kannte Lucy bereits gut genug, um zu wissen, dass sie das selbst nicht wollte. Sie liebte ihre Heimat und wollte ihre Pflichten gewissenhaft ausüben, auch wenn das bedeutete, Opfer bringen zu müssen. Das machte sie dem Opa-Fürsten ähnlich. Natsu fühlte sich gleich noch mehr zu ihr hingezogen.

„Ich hoffe doch, ihr kommt mich in Heartfilia auch mal besuchen?“, fragte Lucy und riss Natsu damit zurück in die Gegenwart.

„Aye!“, rief Happy enthusiastisch aus. „Dann zeigst du uns dein Land!“

Lächelnd strich Lucy über Happys Kopf und der Exceed strahlte sie glücklich an. Happy war allgemein sehr zugänglich, aber Lucy hatte er unübersehbar gern. So anhänglich hatte Natsu ihn gegenüber anderen Menschen noch nie erlebt.

Natsus Laune bekam schon wieder einen Dämpfer, als er nicht weit entfernt die Weggabelung erkannte. War die Zeit wirklich schon vorbei? Es hatte sich nur wie Minuten angefühlt, seit sie aufgebrochen waren!

Sie hielten an der Verzweigung. Während Lucy sich innig von Happy verabschiedete, reichte Natsu ihren vier Leibwächtern die Hand. Gemini grinste ihn breit an und Scorpio zwinkerte ihm zu, Loke hingegen drückte Natsus Hand eine Spur fester als nötig. Automatisch erwiderte Natsu den erhöhten Druck und Loke setzte noch einen drauf. Natsu zog weiter mit und langsam zitterten ihrer Beider Hände vor Anstrengung. Erst als Lucy mit Happy heran trat, lösten sie sich voneinander. Einen eindeutigen Sieger gab es nicht. Es juckte Natsu in den Fingern, das zu ändern, doch jetzt wandte er sich lieber Lucy zu.

Behutsam nahm er Happy entgegen, ehe er Lucy mit dem freien Arm an sich drückte. Ihre Wangen röteten sich, aber sie erwiderte die linkische Umarmung.

„Passt gut auf euch auf und geht in Magnolia schnurstracks zu einem Arzt oder Heiler, verstanden?“

„Machen wir“, versprach Natsu und erlaubte sich, ein letztes Mal an der Blonden zu schnuppern. „Sobald Happy wieder fit ist, kommen wir nach Heartfilia.“

„Ich freue mich schon darauf“, versicherte Lucy lächelnd.

Noch einmal drückte Natsu die junge Frau an sich und wollte sie dann eigentlich loslassen, doch dann spürte er ihre weichen Lippen an seiner Wange. Er wurde ganz schwach. Beinahe hätte er Happy einfach fallen gelassen und dort mit Lucy weiter gemacht, wo Loke sie vorhin unterbrochen hatte.

Ehe er seine Hemmungen jedoch überwunden hatte, löste Lucy sich wieder von ihm und drehte sich mit einem heiseren „Bis bald!“ ab, um sich auf ihr von Loke bereit gehaltenes Pferd zu schwingen. Ihre Wangen leuchteten feuerrot.

Belämmert blickte Natsu ihr hinterher. Er hätte ihr gerne noch etwas zugerufen, aber es fühlte sich an, als hätte er seine Zunge verschluckt. Wie angewurzelt stand er da und beobachtete die allmählich kleiner werdende Reisegruppe, während seine Wange intensiv kribbelte.

Er kam erst wieder zu sich, als Happy ihm mit einem verschlagenen Grinsen ins Ohr kniff und ihn mit Fragen zu löchern begann.

Der Tag, an dem sie das erste Mal auf Reisen ging

3 Wochen vor der Opferung
 

„Malba! Fahrgäste nach Malba!“

Das Gebrüll des grobschlächtigen Kutschers ließ Levy zusammen zucken. Sie stand direkt unter dem Messingschild mit der klaren Aufschrift Malba, sie hätte nicht erwartet, dass es eines zusätzlichen Hinweises bedurft hätte – doch dann fiel ihr voller Verlegenheit ein, dass auch nach den Bildungsreformen der Unsterblichen Kaiserin keineswegs jedermann lesen konnte.

Sie wuchtete ihren schweren Reisetornister, den sie sich extra gekauft hatte, in die Höhe und schleppte ihn mit zum Kutscher, um diesem die Fahrkarte zu zeigen, die sie im Postamt gekauft hatte. Der bullige Mann musterte sie und ihr Ticket sehr eindringlich, ehe er seinen Kautabak ausspuckte. Levy versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie davon angeekelt war.

„Ne Magistra, hä?“

Die Blauhaarige nickte wortlos, obwohl sie sich insgeheim ärgerte. So wie er es aussprach, klang es beinahe demütigend. Lucy hätte den Mann an Levys Stelle bereits ordentlich zusammen gestaucht, bis er sich ohne Erlaubnis nicht einmal mehr getraut hätte, auch nur einen Piep von sich zu geben. Und Gray hätte dem Mann wahrscheinlich einen Satz warme Ohren verpasst, an die er sich auch in zehn Jahren noch erinnert hätte.

Levy jedoch schluckte allen Ärger herunter und gab auf Geheiß des Kutschers seinem Gehilfen ihr Gepäck, ehe sie nur mit einer Umhängetasche mit dem Nötigsten in die Postkutsche stieg. Sie rutschte auf den Fensterplatz in Fahrtrichtung und wartete angespannt, während in die Truhe der Kutsche die Briefe und Pakete und auf das Dach das Gepäck der Reisegäste geladen wurden.

Sieben weitere Personen stiegen nach und nach ein. Eine vierköpfige Familie, der Kleidung nach Angehörige der Tuchhändlergilde, mit Kindern von vielleicht sieben und vier Jahren. Ein steinalter Geldverleiher oder Notar, der immer wieder ungeduldig nach draußen sah und Levy dabei den Ellenbogen in die Rippen stieß. Und zwei Gesellen, bei denen sich der Kutscher über die Hobelspäne auf ihrer Kleidung beschwert hatte. Vielleicht waren sie auf ihrer Gesellenreise. Levy hatte mal gelesen, dass Malba dabei als erste Reiseetappe sehr beliebt war, weil die Stadt ein wichtiger Handelsknotenpunkt für die Holzarbeiten aus Magnolia war.

Levy nickte allen Mitreisenden höflich zu – obwohl diese Geste kaum erwidert wurde –, ehe sie ihren Blick wieder aus dem Fenster richtete. Nach einer Ewigkeit wurde die Kutschentür unnötig laut zugeschlagen und der Kutscher ließ seine Peitsche knallen. Das Gefährt rollte an. Mehrmals erklangen bösartige Warnungen, man solle nicht im Weg herum stehen. Dann veränderte sich der Untergrund: Aus fest gestampfter Erde wurde das Kopfsteinpflaster der Pergamentstraße, die südlich aus dem Stadtkern von Crocus und durch das Seidentor hindurch aus der Stadt heraus hinaus führte.

Der Alte murrte über die wackelige Fahrt und das Elternpaar zankte sich über die Mutter des Mannes, während die Söhne sich beide auf den Fensterplatz drängten, um die vorbeiziehenden Straßen betrachten zu können.

Levy versuchte, all das auszublenden und sich auf ihr bevorstehendes Ziel zu konzentrieren. Fast eine Woche lang hatte sie mit sich gehadert, ob sie wirklich dieser dubiosen Spur nachgehen sollte. Sie hatte weiter in der Bibliothek recherchiert. Über Malba, über magische Experimente, über den Schwarzen Kometen, über Avatar und über Magiefeindlichkeit in Fiore.

Letzteres hatte ihr schwer zugesetzt. Sie hatte immer gedacht, einen guten Überblick über die Geschehnisse in Fiore zu haben, aber dass es schon seit Jahrhunderten immer wieder magiefeindliche Bewegungen gegeben hatte, war irgendwie immer an ihr vorbei gezogen. Die Verfolgungen der Geister begründeten sich teilweise darauf, genau wie die Golem-Kriege, die Werwolfhetzen und die Jagden auf Drachenartige. Selbst gegenüber Menschen hatte die Magiefeindlichkeit immer wieder verstörende Ausmaße angenommen. Magiebegabte Kinder waren in Flüsse geworfen oder in Kerker gesperrt worden. Magierschulen waren bis auf die Grundfesten nieder gebrannt worden. Seit dem Fanal vor über fünfhundert Jahren, als es zu einem unerklärbaren magischen Vorfall gekommen war, der für ein Jahrzehnt Naturkatastrophen und Massensterben über Ishgar gebracht und über eine lange Zeit hinweg die Drachen von diesem Kontinent ferngehalten hatte, hatten Magier sich verstecken oder in friedlicher gesinnte Regionen fliehen müssen.

Das alles fiel in die Zeit der Kriegswirren, als die vielen Fürstentümer in Fiore einander oft für Nichtigkeiten bis aufs Blut bekämpft hatten, und das war wohl auch der Grund, warum in den allgemeinen Abhandlungen über diese düstere Epoche nicht auch noch die Anti-Magie-Bewegungen thematisiert wurden. Erst nach der Thronbesteigung der Unsterblichen Kaiserin war das nach und nach abgeschwächt. Bestandteil jedes Bündnisvertrags der Herrscherin war die Gleichberechtigung aller Gruppen gewesen, Menschen und Nichtmenschen, Magier und Nichtmagier, Adlige und Gemeine, Männer und Frauen. Heute gab es nur noch einige wenige magierfeindliche Sekten, die oft nur lokalen Einfluss hatten – wenn überhaupt.

Diese Recherchen hatten Levy letztendlich derartig bestärkt, dass sie zu Professor Neville, dem Dekan der Philologischen Fakultät, und zu Professorin Belno gegangen war und um Heimaturlaub gebeten hatte. Sie hatte mehr als einmal versucht, sich selbst einzureden, dass es nur wissenschaftliche Neugierde war, die sie dazu getrieben hatte, ein teures Postkutschenticket zu kaufen, aber in der letzten Nacht hatte sie sich eingestanden, dass sie Angst hatte.

Der Wortlaut der Prophezeiung des Schwarzen Kometen hatte sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt und lag ihr aus irgendeinem Grund schwer im Magen. Es fiel ihr schwer, sich überhaupt noch auf etwas anderes zu konzentrieren, und die ganze Sache verfolgte sie sogar bis in ihre Träume. Beängstigende Träume von Schemen, die ihr bekannt vorkamen, obwohl sie vollkommen unkenntlich waren…

Ein heftiges Rucken der Kutsche riss Levy aus ihren Gedanken. Der Ellenbogen des Geldverleihers grub sich so tief in ihre Rippen, dass ihr ein Keuchen entfuhr, und der Jüngere der Jungen purzelte mit einem Schrei von seinem Sitz. Soweit Levy es beurteilen konnte, wurde er dabei nicht verletzt, dennoch begann er, herzerweichend zu weinen. Die Mutter ließ sich neben ihm auf den Boden der Kutsche sinken und zog ihn in ihre Arme, um ihn zu trösten und gleichzeitig nach Verletzungen abzutasten.

Höchst wahrscheinlich hatte der Kutscher nichts gehört, denn er fuhr unbeirrt weiter in seinem halsbrecherischen Tempo – oder vielleicht hatte er es auch einfach ignoriert, Levy würde es ihm zutrauen.

Der Geldverleiher stöhnte unverhohlen genervt, als der Junge sich nicht sofort beruhigen ließ. Dieses Mal warf Levy ihm einen empörten Blick zu, ehe sie auch von ihrem Platz glitt und aus ihrem Rucksack ein Stück Zuckergebäck zog, um es dem Jungen hin zu halten. Einer ihrer vielen Neffen war im selben Alter gewesen, als Levy das letzte Mal ihr Heimatdorf besucht hatte. Ein zart gebautes Kerlchen, das leicht in Tränen ausbrach, aber dafür ein wunderschönes, strahlendes Lächeln für jeden bereithielt, der nett zu ihm war. Bei ihrem Besuch hatte er Levy jeden Abend angebettelt, ihm eine Geschichte vorzulesen.

Endlich konnte der Junge sich beruhigen und die Mutter bedankte sich bei Levy mit einem Lächeln, ehe sie sich und ihren Sohn mit Hilfe ihres Mannes zurück auf die Bank zog. Levy gab dem zweiten Jungen, der seinen Bruder neidisch anstarrte, das ihr verbliebene Zuckergebäck, dann drehte sie sich um, damit sie wieder auf ihren Platz klettern konnte, aber sie musste feststellen, dass der Geldverleiher darauf gerutscht war. Ihr blieb also nur, sich mit dem Mittelplatz zwischen ihm und dem Gesellen auf dem anderen Mittelplatz zu begnügen. Der Geselle bot Levy eine Hand an und so schaffte sie es auf die Bank zurück, nun den rechten Ellenbogen des Alten in der Seite.

Seufzend schlang sie beide Arme um ihren Rucksack und schielte am Geldverleiher vorbei aus dem Fenster. Laut den Informationen des Postamtes dauerte die Reise nach Malba je nach Wetterlage drei bis vier Tage. Planmäßige Pausen würde es nur zum Pferdewechsel bei den Raststationen geben.

Das war Levys erste richtige Reise und sie war sich sicher, dass sie sie nicht in guter Erinnerung behalten würde. Sie konnte nur hoffen, dass sich diese Strapazen auch lohnen würden…!
 

10 Tage vor der Opferung
 

Ohne Natsu und Happy war es sehr still in der kleinen Reisegruppe geworden. Nicht dass Lucy und ihre Begleiter einander nichts zu sagen hatten – nein, sie waren Freunde, nicht einfach nur Fürstin und Eskorte –, aber Natsu hatte etwas an sich gehabt, das einen besonderen Schwung in die Gruppe gebracht hatte.

In seiner Gegenwart hatte Lucy sich anders als sonst gefühlt. Frei und ausgelassen und zutiefst glücklich. Sie vermisste diese Gefühle und noch viele weitere. Das Kribbeln, das jedes Mal ihren Körper befallen hatte, wenn Natsu ihr nahe gekommen war. Das aufgeregte Herzklopfen, wenn er ihr in die Augen geblickt oder sie angelächelt hatte. Wann hatte es je zuvor einen Mann mit einem solchen Lächeln gegeben? Ein Lächeln so voller Wärme und Lebensfreude und Abenteuerlust. Lucy könnte dieses Lächeln für den Rest ihres Lebens betrachten und würde dessen doch nie überdrüssig, da war sie sich sicher.

Lucy konnte gar nicht in Worte fassen, wie sehr sie den Pinkhaarigen vermisste! Dabei war ihrem vernünftig denkenden Teil sehr wohl klar, wie absurd das war, da sie Natsu doch erst seit einer Woche kannte. Beinahe hatte sie ein schlechtes Gewissen gegenüber ihren Freunden in Crocus, die sie doch schon viel länger kannte, an die sie jedoch während ihrer Zeit mit Natsu kaum noch einen Gedanken verschwendet hatte.

Und ein bisschen ärgerte sie sich sogar über ihre Schwärmereien für den Pinkhaarigen, ahnte sie doch, wohin das führen mochte. Nicht dass es ihr als Fürstin grundsätzlich verboten wäre, aber es machte alles so viel komplizierter, einfach weil es Sehnsüchte in ihr weckte, die sich definitiv nicht mit ihren Pflichten vereinbaren ließen. So gesehen, war es vielleicht sogar gut, dass sie Natsu jetzt eine Weile nicht mehr sehen würde. Das würde ihr hoffentlich helfen, wieder vernünftig zu werden.

Am Tag, als sie sich von Natsu und Happy getrennt hatten, waren sie gemütlich weiter geritten. Zwar hatte Loke gesagt, in Heartfilia würde man auf sie warten – und das stimmte ja auch –, aber in ihrem Brief hatte Lucy ihrem Vater keine konkrete Reisezeit genannt. Rein theoretisch hätten sie also noch ein paar Tage mehr mit dem Duo aus Magnolia verbringen können, doch als Loke das Thema Weiterreise auf den Tisch gebracht hatte, waren Lucy keine vernünftigen Argumente eingefallen, warum sie noch länger bei Natsu und Happy bleiben sollten.

Mittlerweile waren sie vier Tage unterwegs. Sie hatten die formale Grenze von Magnolia und Heartfilia passiert, ohne einen richtigen Grenzposten oder dergleichen zu sehen, aber das war nicht ungewöhnlich. Zwischen den Adelshäusern Dreyar und Heartfilia und ihren Untertanen herrschte schon seit vier Generationen ein freundschaftlicher Friede. Richtige Grenzposten gab es nur an der Kaiserlichen Straße, aber die hatten Lucy und ihre Begleiter ja bewusst gemieden.

Nun waren sie nur noch drei Tagesritte von Heartfilia entfernt. Langsam kehrte Lucys Nervosität zurück, die sie dank Natsu so gut hatte vergessen können: Ob sie eine gute Fürstin sein würde? An ihrer Ausbildung zweifelte sie nicht. Ihren Magisterabschluss hatte sie sich hart und ehrlich erarbeitet und auch im Unterricht von Meister Capricorn hatte sie sich behauptet.

Aber hatte sie überhaupt das Zeug dazu, die Verantwortung für so viele Menschen und Geister zu tragen? Würde sie sich gegenüber den anderen Fürsten behaupten können? Würde etwa die legendäre Wüstenlöwin Minerva Orland von Sabertooth sie ernst nehmen? Sie mochten zwar fast gleich alt sein, aber Minerva saß bereits seit acht Jahren auf dem Fürstenthron. Und dann waren da noch Fürsten wie Makarov Dreyar von Magnolia, der weit mehr Lebens- und Regierungserfahrung besaß. Eigentlich hatte Lucy den alten Mann immer sehr gemocht, aber jetzt fühlte sie sich vom bloßen Gedanken an ihn eingeschüchtert.

„Pun?“

Eine kleine, hellblaue Pfote legte sich auf Lucys Hand und Plues Gesicht schob sich in ihr Blickfeld. Die junge Frau musste lächeln. Dankbar strich sie über den Kopf des kleinen Wesensgeistes, der die Streicheleinheit mit einem zufriedenen „Pun“ belohnte.

„Du solltest nicht an dir zweifeln, Lucy.“ Loke hatte sein Pferd neben ihres zurückfallen lassen und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Das Volk von Heartfilia steht geschlossen hinter dir und du hast deinen Vater, Meister Crux und Meister Capricorn, die dir immer zur Seite stehen werden. Du bist nicht alleine mit dieser Aufgabe und ich bin mir sicher, dass das auch für alle anderen Herrscher in Fiore gilt. So etwas wie Alleinherrschaft kann gar nicht funktionieren.“

Da war was dran. Selbst im Dorf der Eismenschen war es nie so, dass der Anführer alle Entscheidungen alleine fällte, das hatten Gray und Lyon ihr erzählt. Und wenn Levy jetzt hier wäre, könnte sie wahrscheinlich den ganzen Tag Beispiele runter rattern, die Lokes Worte untermauerten. Lucy wurde beim Gedanken an ihre Freunde warm ums Herz.

„Du hast ja Recht. Ich bin einfach nur nervös“, erklärte Lucy matt lächelnd.

„Wird schon“, brummte Gemini von hinten.

Mit einem bekräftigenden „Pun!“ riss Plue die Arme hoch und wäre deshalb beinahe vom Pferd gerutscht, wenn Lucy ihn nicht aufgefangen hätte.

Lächelnd blickte Lucy reihum ihre Freunde an und setzte Plue wieder vor sich auf das Sattelhorn. Sie war von tiefer Dankbarkeit erfüllt und fühlte sich ermuntert. Sie wollte ihr Bestes für die Bewohner von Heartfilia geben, damit ihre Mutter stolz auf sie sein konnte. Auch wenn Lucy kaum Erinnerungen an ihre Mutter hatte, war diese ihr doch unendlich wichtig. Anhand der gefühlvollen Erzählungen ihres Vaters war ihr Layla Heartfilia in gewisser Weise immer nahe geblieben. Deshalb dachte Lucy auch oft darüber nach, wie ihre Mutter wohl an ihrer Stelle handeln würde.

Die Blonde wollte noch etwas zum Dank sagen, doch Sagittarius’ erhobene Faust ließ sie abrupt ihr Pferd zügeln. Die Stute riss erschrocken den Kopf hoch und spielte nervös mit den Ohren. Beruhigend tätschelte Lucy den Hals des Tieres und griff unwillkürlich nach dem Rapier an ihrer Hüfte.

Scorpio und Gemini schlossen zu ihr auf und flankierten sie, während Loke vom Pferd stieg. Der Rappe scharrte mit dem linken Vorderhuf, blieb jedoch gehorsam stehen, während sein Reiter zu Sagittarius ging und sich neben diesem zu Boden kniete. Die Beiden strichen über etwas am Boden und sahen einander dann abwägend an.

„Zwanzig“, murmelte Sagittarius. „Vielleicht fünfundzwanzig.“

Loke nickte angespannt und blickte über seine Schulter. „Gemini, wir gehen auf Nummer Sicher.“

Der Wesensgeist nickte und schwang sich aus dem Sattel, um seine Lederrüstung abzulegen und den Gürtel enger zu schnallen.

„Nein!“, rief Lucy mit scharfer Stimme. „Gemini, ich will nicht, dass du dich in Gefahr begibst, indem du dich in mich verwandelst.“

Sie wollte sich ebenfalls aus dem Sattel schwingen, aber auf einmal hielt Scorpio sie fest am Oberarm gepackt und Gemini griff in die Zügel ihrer Stute. In seinen Iriden loderten die magischen Farben und seine Haare richteten sich steil auf.

„Beleidige uns nicht, Lucy“, sagte der Wesensgeist schroff und seine Stimme hatte dabei den Doppelklang, den der Geist für gewöhnlich problemlos kaschieren konnte. „Wir haben einen Eid geleistet und wir sind bereit, ihn zu erfüllen. Dafür sind wir mit dir und den Anderen nach Crocus gekommen.“

Hektisch schüttelte Lucy den Kopf. Gemini und die Anderen waren ihre Freunde, keine Schachfiguren, die man einfach opferte! Flehend blickte Lucy Scorpio an, doch dessen sonst so heitere Miene war nun ernst und verschlossen.

„Lucy…“ Lokes Stimmte war von sanfter Strenge erfüllt. Er hatte sich wieder aufgerichtet und blickte unerschütterlich ruhig zu ihr hinüber. „Hältst du mich für jemanden, der einfach so einen Kameraden opfert?“

„Natürlich nicht!“, erwiderte sie hastig. „Aber ihr könnt doch nicht einfach für mich mit entscheiden.“

„Doch, das können wir.“ Loke deutete auf das Wappen auf seiner Brust: Das Wappen der Heartfilias, flankiert von einem Schild und einem Schwert. „Ich bin dein Schild und Schwert, Lucy. Du hast mich dazu gemacht, weil du mir vertraust. Und ich habe mich dazu machen lassen, weil ich dir vertraue. Du bist unsere Fürstin, wir glauben an dich. Wir, die Geister, und wir, die Bewohner von Heartfilia. Also musst du auch an uns glauben. Das ist kein Opfer, sondern eine Vorsichtsmaßnahme. Im Fall eines tatsächlichen Angriffs kann Gemini schnell genug reagieren. Dafür hat er seit Jahren trainiert.“

Noch immer war Lucy unwohl bei der Sache, aber sie nickte resigniert und erhob keine Proteste mehr. Gemini tätschelte versöhnlich ihr Knie und trat dann einen Schritt zurück, um sich auf seine Magie konzentrieren zu können. Im nächsten Moment war er in Rauch gehüllt und als dieser sich verzog, erblickte Lucy ein Abbild ihrer selbst in den Männerkleidern, die Gemini getragen hatte. Schnell griff der Wesensgeist nach dem rutschenden Gürtel, um ihn noch etwas enger zu schnallen. Danach bückte er sich, um seine Lederrüstung wieder aufzuheben.

Schweren Herzens rutschte Lucy aus dem Sattel und löste ihren Rapier mitsamt Scheide vom Gürtel, um ihn Gemini zu geben und dafür sein Langschwert und die Lederrüstung entgegen zu nehmen und anzulegen. Das Langschwert hing ungewohnt schwer an ihrer Hüfte. Gemini wedelte mit dem Rapier, als wäre der aus Papier.

„Niedlich“, urteilte er und über seine nun weiblichen Gesichtszüge huschte ein verschmitztes Grinsen.

Lucy brummte matt. Sie mochte ihren Rapier und für gewöhnlich setzte sie sich auch sehr energisch für die Verteidigung seiner Vorteile ein, aber jetzt war ihr danach absolut nicht zumute.

Scorpio, der nun ebenfalls abgestiegen war, klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter und führte sie zu Loke und Sagittarius hinüber. Letzterer deutete auf eine Spur – größtenteils von Füßen in festen Stiefeln –, welche die Straße gekreuzt hatte.

„Zu viele für Wanderer oder Jäger und Händler hätten normal die Straße genommen, wenn sie schon hier entlang gekommen wären“, erklärte der Bogenschütze mit ernster Miene.

„Es handelte sich also höchstwahrscheinlich um eine Räuberbande“, schlussfolgerte Gemini. Lucy erschauderte. Ihre eigene Stimme aus Geminis Mund zu hören, war irgendwie beunruhigend.

„Eine ganz schön stümperhafte, wenn sie solche Spuren hinterlässt“, urteilte Scorpio ungnädig.

„Aber eine zu große, um sie auf die leichte Schulter zu nehmen“, erwiderte Loke ernst. „Lucy, Gemini, ihr tauscht auch noch die Pferde. Versteck’ deine Haare, Lucy. Im Fall eines Angriffs werden wir uns nicht mit denen anlegen, sondern uns aufteilen. Lucy und ich schlagen uns nach Norden durch und dann nach Westen zurück bis nach Magnolia. Zur Not bitten wir Fürst Makarov um Geleit. Ihr Drei geht nach Süden und versucht, Heartfilia zu erreichen. Im Zweifelsfall verwandelt Gemini sich und fliegt mit Plue weiter, während Scorpio und Sagittarius nach eigenem Ermessen ausweichen.“

Hilflos sah Lucy zu, wie ihre Freunde mit grimmigen Mienen nickten. Dass jemand um ihretwillen sein Leben riskierte, war ihr ganz und gar nicht geheuer, aber gegen die Entschlossenheit der vier Geister kam sie nicht an. Schweren Herzens zog sie sich die Kapuze ihres Reiseumhangs über den Kopf, damit ihre Haare wie gewünscht versteckt waren.

Mühelos schwang sie sich in den Sattel von Geminis langbeinigen Apfelschimmel, während der Wesensgeist ihre Fuchsstute bestieg. Zutiefst verwirrt blickte Plue immer wieder von Gemini zu Lucy und wieder zurück, blieb aber auf dem Sattelhorn er Fuchsstute sitzen.

Loke lenkte seinen Rappen neben den Apfelschimmel und gab dann das Zeichen zum Aufbruch. Scorpio und Sagittarius ritten mit Gemini in ihrer Mitte voran, Loke und Lucy hinten. Es ging nun flotter voran. Solange die Pfade es zuließen, trabten sie.

Als auch nach einer halben Stunde nichts Interessanteres passiert war, als dass eine Bache mit einem Dutzend Frischlingen vor ihnen über den Weg gehetzt war, entspannte sich Lucy etwas. Vielleicht war die Räuberbande schnurgerade weiter nach Süden gezogen. Sobald sie in Heartfilia waren, mussten sie einen ausreichend großen Trupp hierher schicken, um sicher zu gehen, dass die Dörfer am Waldrand nicht behelligt wurden. Lucy hatte sich ihre erste Amtshandlung als Fürstin von Heartfilia wirklich anders vorgestellt.

Gerade wollte sie sich Loke zuwenden, um eine Schrittpause zu erbitten, als der Feuergeist einen Wahnruf ausstieß und Lucy nach vorn auf den Hals ihres Pferdes drückte. Über ihren Köpfen hörte die Blonde es zischen und rechts von ihr bleiben zwei Pfeile in Bäumen stecken.

„Galopp!“, brüllte Loke und instinktiv schmiegte Lucy ihr rechtes Bein an den Bauch des Apfelschimmels. Der Hengst schnaubte laut und verfiel in einen weitausholenden Galopp. Lucy ging in den leichten Sitz und stützte sich am Hals ihres Tieres ab, die Zügel lang, um ihm viel Raum zum Laufen zu geben.

Vor ihnen preschten die Pferde von Gemini, Scorpio und Sagittarius dahin. Lokes und Lucys Hengste wurden vom Herdentrieb erfasst und beschleunigten, um zu ihren Artgenossen aufzuschließen.

„Vorne!“, brüllte Scorpio und blickte über seine Schulter. „Mehr als ein Dutzend!“

„Folgt dem Plan!“, rief Loke in Geistzunge zurück. „Für Stern und Heimat!“

Die anderen drei Geister wiederholten die Formel und brachen nach rechts aus. Lucy zog die Zügel an und drückte fester mit dem rechten Bein. Gemeinsam mit Lokes Rappen brach der Apfelschimmel nach links aus und ins Unterholz ein.

Lucy beugte sich noch tiefer über den Hals ihres Tieres, um ihr Gesicht vor tief hängenden Zweigen zu schützen. Ihr Herz schlug so laut, dass sie kaum etwas um sich herum mit bekam. Vor sich sah sie Loke auf dem Rappen. Sie überließ es ihrem Pferd, ihnen zu folgen.

Ob sie nur Minuten oder Stunden ritten, konnte Lucy später nicht mehr sagen, aber irgendwann tauchten vor ihnen mehrere Pferde auf. Loke riss nach links aus, aber dann tauchten weitere Pferde auf, insgesamt mochten es jetzt zehn oder mehr sein. Das erste, ein reinweißer Schimmel, wurde von einem Mann mit feminin anmutenden Gesichtszügen und sorgsam gepflegten blonden Haaren geritten, der ein bestialisch großes Schwert mit schwarzer Klinge gezogen hatte. Ein Berserker-Schwert, erkannte Lucy.

„Zurück“, rief Loke ihr in Geistzunge zu. „Ich lenke sie ab.“

Als Lucy zögerte, streckte er die Hand nach ihr aus und ließ einen schwachen Schwall Funken hinaus schießen, gefolgt von einem Löwenbrüllen. Lucys Pferd scheute und nahm Reißaus.

Über ihre Schulter blickend sah Lucy noch, wie ihr Schild und Schwert seine eigene Klinge zog und sich dem blonden Krieger mit dem Berserker-Schwert stellte. Lokes Haare wurden länger und noch mehr Funken stoben auf.

Als ihr Pferd strauchelte, richtete Lucy ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorn und blinzelte die aufkommenden Tränen fort. Sie weigerte sich, zu glauben, dass dies das letzte Mal gewesen war, dass sie ihren treuen Freund gesehen hatte!

Lucy presste ihre Schenkel hart gegen de Bauch des Pferdes und ließ die Zügel fahren, lenkte nur noch mit Schenkeldruck. Hinter sich hörte sie das Löwengebrüll erneut, gefolgt von Rufen und Schwerterklirren, aber sie blickte nicht noch mal zurück, sondern trieb ihr Pferd weiter an.

Sie hatte keine Ahnung mehr, in welche Richtung sie eigentlich ritt, aber das war jetzt auch nicht wichtig. Spätestens in der Nacht würde es ein Kinderspiel für sie, sich zu orientieren, aber jetzt musste sie so viel Abstand wie irgend möglich zwischen sich und ihre Häscher bringen. Unter keinen Umständen durfte das, was ihre Freunde auf sich genommen hatten, um sie zu schützen, umsonst gewesen sein!

Die Nacht, in der sie auf der Flucht war

9 Tage vor der Opferung
 

Zitternd strich Lucy über die Blässe des Apfelschimmels, flüsterte dem Tier Beruhigungen zu, während es immer wieder versuchte, auf die Beine zu kommen. Mit der medizinischen Versorgung von Tieren kannte Lucy sich noch viel weniger aus als mit der von Menschen, aber ihr war schon seit Minuten klar, dass es für den treuen Hengst keine Rettung gab. Bei dem Sturz, der Lucy aus dem Sattel und in das Geäst einer Eiche befördert hatte, hatte er sich gleich beide Vorderbeine gebrochen.

„Es tut mir Leid“, krächzte Lucy schwach. „So Leid… Bitte vergib mir, dass ich dir nicht helfen kann…“

Das Tier wieherte gequält. Lucy trieb es die Tränen in die Augen, als sie einen langen Dolch an die Kehle des Pferdes setzte. „Bitte verzeih’ mir“, wimmerte sie wieder und stach die Waffe bis zum Heft in die weiche Haut.

Der muskulöse Körper bäumte sich auf, der Dolch glitt aus Lucys schwachen Fingern und dann spritzte das Pferdeblut auf ihr Gesicht und ihr Wams. Das Tier zuckte heftig und Lucy musste zurückweichen.

Sie wusste, dass sie eigentlich ihre Flucht fortsetzen musste, aber sie harrte knapp außer Reichweite des Pferdes aus, bis es sich nicht mehr rührte. Zitternd kroch sie danach zurück und schloss die leeren Augen, ehe sie ihren blutbesudelten Dolch im Gras abwischte und zurück in die Scheide an ihrem Gürtel steckte. Erst dann brachte sie es über sich, wieder aufzustehen und den Blick zum Himmel zu erheben, um sich anhand der Sterne zu orientieren.

Doch sie konnte keinen einzigen Stern ausmachen. Es war bewölkt und erst jetzt begriff Lucy, dass es nicht nur Tränen waren, die über ihre Wangen liefen und das Pferdeblut abspülten. Sie biss sich auf die Unterlippe. Das würde es Loke viel schwerer machen, sie wieder zu finden, und ihr blieb keine andere Wahl, als ziellos weiter zu laufen.

Da sie nicht wusste, wer die Angreifer waren, woher sie kamen und was sie überhaupt für Absichten hatten, hatte sie ohnehin keinen Anhaltspunkt für eine sichere Fluchtrichtung. Ihr blieb einzig und allein die Wahl, sich irgendwo zu verstecken oder weiter zu laufen.

Obwohl sie sich nach dem stundenlangen Gewaltritt, der ihrem Pferd das Leben gekostet hatte, schrecklich zerschunden fühlte, entschied sie sich für letzteres. Jetzt in einem Versteck zu hocken, würde ihr keinerlei Erholung bringen.

Ihre Gedanken jagten einander. Immer wieder fragte sie sich, wo ihre Freunde wohl waren und ob es ihnen gut ging. Natürlich wusste sie, dass die vier Geister eben dank ihrer Veranlagungen wehrhafter waren als sie selbst, aber sie kam einfach nicht von ihrer Sorge um ihre Getreuen los. Und dann kreisten ihre Gedanken wieder um die Fragen nach den Angreifern. Die wildesten Theorien jagten einander in ihrem Kopf, eine haltloser als die nächste.

Das viele ergebnislose Denken bescherte der Blonden pochende Kopfschmerzen, die von den Schritten auf dem unregelmäßigen Waldboden immer schlimmer wurden. Dennoch quälte Lucy ihren matten Gliedern weitere Schritte ab.

Immer wieder stolperte sie im Dunkeln über Baumwurzeln und –stümpfe, über heruntergefallene Äste und über Steine oder rutschte auf nassem Gras aus. Geminis Langschwert hing immer schwerer und klobiger an ihrer Hüfte und ihr Umhang, der sie kaum vor dem stetig prasselnden Regen zu schützen vermochte, verhedderte sich immer wieder in Büschen.

Mehrmals blieb Lucy stehen und legte mit geöffneten Lippen den Kopf in den Nacken, um ihre trockene Kehle zu benetzen, aber sie wagte es nicht, lange stehen zu bleiben. Noch immer trieb die Angst sie an und nun kroch auch noch die Kälte in ihre Glieder. Als einziger Schutz blieb ihr, weiter zu gehen.

Stunde um Stunde schleppte sie sich weiter. Die ganze Zeit regnete es. Lucy war völlig durchnässt und auch ihre gut verarbeiteten Stiefel boten keinen Schutz mehr. Das Leder scheuerte unangenehm an ihren Waden und ihre linke Hacke schmerzte mit der Zeit so sehr, dass Lucy nicht mehr richtig auftreten konnte.

Mit dem ersten Dämmerlicht nahm der Regen noch einmal zu und die Bäume standen immer dichter beisammen, sodass Lucy sich immer wieder seitwärts durch die Lücken schlängeln oder Umwege laufen musste.

Sie versuchte, immer geradeaus zu laufen, aber sie war sich ziemlich sicher, dass sie gnadenlos daran scheiterte. Ohne strikte Orientierung waren Menschen gar nicht dazu in der Lage, eine gerade Linie zu laufen, das hatte sie bereits vor vielen Jahren in Meister Capricorns Wildnis-Unterricht im Kargland gelernt.

Als es langsam heller wurde, ließ auch endlich der Regen nach. Erleichtert schlug Lucy ihre Kapuze zurück und spähte nach dem Sonnenaufgang, um endlich zu erfahren, in welche Richtung sie sich bewegte. Doch noch immer hingen düstere Wolken am Himmel und die dicht stehenden Bäume behinderten Lucys Sicht noch zusätzlich.

Resigniert schleppte sie sich weiter. Kurz dachte sie darüber nach, das Langschwert fortzuwerfen, um Gewicht einzusparen, aber letztendlich obsiegte doch ihre Vorsicht. Auch wenn sie immer mit dem Rapier geübt hatte, mit dem schweren Langschwert konnte sie im Ernstfall doch mehr ausrichten als nur mit ihrem Dolch.

Als der Boden unter ihr absackte, war Lucy viel zu überrascht und viel zu erschöpft, um den Sturz verhindern zu können. Mit einem lauten Platschen fiel sie in kniehohes Wasser und stieß sich die Schulter am Stumpf einer abgestorbenen Birke. Keuchend stemmte sie sich wieder in die Höhe und sah sich um.

Sie war in einem Moor gelandet. Abgestorbene Erlen und Birken vermittelten auf dem ersten Blick, dass der Wald weiter ging, aber dazwischen wuchs das Feuchtigkeit liebende Wollgras und wiegte seine langen Halme mit den weißen, haarartigen Blüten in einer Brise, die der völlig durchnässten Lucy bis in die Knochen ging.

Ermattet setzte Lucy sich auf den Baumstumpf, an dem sie sich gestoßen hatte, und ließ den Blick schweifen. Zur Linken hatte sie einen schilfumstandenen Teich, auf dem Stock-, Tafel und Schellenten gründelten. Direkt vor und weithin rechts von ihr erstreckte sich das Moor. Verzweifelt blickte Lucy zurück. Hinter ihr lag endloser, nichtssagender Wald.

Sollte sie links den Teich umgehen? Oder rechts das Moor? Oder sollte sie einfach geradeaus weiter laufen, um das Moor zu durchqueren? Sie war ohnehin bis auf die Knochen durchweicht, da kam es auf den Marsch durch das Moor auch nicht mehr an. Aber wie weit erstreckte es sich noch? Wenn sie bereits im Einzugsgebiet der Freien Stadt Malba war, konnte es ohne weiteres sein, dass sie sich hier in einem der Weiten Moore befand, die oft die Ausmaße mehrerer mühseliger Tagesmärsche hatten.

Benommen betrachtete Lucy eine Wollgrasblüte direkt vor sich, die sich in der kalten Brise wiegte. Hin und her. Hin und her…

Lucys Körper war bleischwer. Sie hatte keine Ahnung, wie sie jemals wieder auf die Beine kommen sollte. Einfach hier sitzen bleiben und nie wieder auch nur einen Schritt tun, das erschien ihr wie ein Traum…

Weit entfernte Rufe rissen sie aus ihrer Trance. Die Blonde sprang auf und hetzte durch das Moor. Als es darauf ankam, war die Entscheidung einfach.

Es war unmöglich, sich im Moor zu bewegen, ohne Krach zu machen, aber Lucy steuerte auf ein dichtes Gestrüpp in der Ferne zu. Noch waren die Stimmen weit weg und ihre Besitzer würden das Platschen hoffentlich nicht hören. Und wenn Lucy sich in dem Gestrüpp verstecken konnte, würden die Verfolger das Moor hoffentlich nicht absuchen. Denn in ihrem Zustand konnte Lucy niemandem mehr davon laufen.

Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis sie endlich das Gestrüpp erreicht hatte. Erleichtert wollte sie sich hinein zwängen, als etwas vor ihr laut auf die Wasseroberfläche schlug. Federn wirbelten auf und dann flog ein Krickentenweibchen davon. Zu ihren Füßen erkannte Lucy sieben cremefarbene Eier.

„Da ist jemand!“

Der Ruf, so weit er auch entfernt war, ging Lucy durch Mark und Bein. Sie wirbelte herum und sah sicher ein Dutzend Menschen in der Ferne, die nun auf sie zu kamen. Und es sah keineswegs so aus, als wären sie genauso erschöpft wie Lucy.

Mit einem panischen Wimmern drehte sie sich wieder herum und stakste so schnell, wie sie nur konnte, durch das Moor. Das Gestrüpp, das ihr Schutz werden sollte, ließ sie hinter sich, hastete weiter. Immer wieder bleib sie mit ihren Stiefeln im kniehohen Morast stecken – und jedes Mal rieb das Leder schmerzhaft über die wundgescheuerten Waden und erweiterte dabei wohl die Verletzungen. Tränen rannen über Lucys verdreckte Wangen, aber die junge Frau schleppte sich weiter. Das Platschen ihrer Verfolger wurde langsam lauter.

„So ein Hundsdreck!“, fluchte ein Mann. „Lassen wir sie doch einfach laufen. Die ist es nicht wert.“

„Nein, sie ist eine von denen! Es ist unsere Aufgabe, sie alle zu töten, also schnappt sie euch“, widersprach eine dunkle Frauenstimme herrisch.

An einem halb vermoderten Baumstamm im Wasser blieb Lucy hängen und fiel mit einem erschrockenen Aufschrei vornüber. Sie rutschte aus dem linken Stiefel heraus, wodurch die aufgerissene Ferse direkt mit dem modrigen Wasser in Berührung kam. Lucy brüllte vor Schmerz.

Mehrmals gaben ihre Arme unter der Last ihres Körpers nach, ehe sie es schaffte, sich wieder in die Höhe zu stemmen. Sie taumelte weiter, ohne noch mal zurück zu blicken. Das Platschen und die Rufe waren nun ganz nahe. Lucy wusste, dass es hoffnungslos war, aber konnte sie deswegen einfach aufgeben und die Bemühungen ihrer Freunde verraten?

Grobe Hände packten sie an den Armen und griffen in ihre langen Haare, deren Frisur sich schon während des Ritts aufgelöst hatte. Sie wurde brutal zurück gerissen. Mit einem verzweifelten Aufschrei schlug sie um sich. Ihre Faust landete in etwas Weichem und zwei der Hände ließen sie wieder los. Lucy warf sich nach vorn, um auch dem zweiten Häscher zu entkommen. Sie trat mit dem rechten Fuß aus und traf tatsächlich etwas. Ein schmerzerfülltes Fluchen erklang.

Mit der Kraft der Verzweiflung rappelte Lucy sich wieder auf und zog das schwere Langschwert, wirbelte damit so schnell herum, wie das bei dem Untergrund und in ihrem Zustand überhaupt möglich war. Sie wurde von ihrem eigenen Schwung mitgerissen und die Spitze des Schwertes kam so hoch, dass sie einem der grobschlächtigen Männer die Wange und den Nasenrücken aufschlitzte. Der Verletzte brüllte wie am Spieß und sein Kumpan sprang zurück – außer Reichweite von Lucys Schwert.

Hinter den Beiden erkannte Lucy acht weitere Männer, die sie auch gleich erreichen würden. Etwas weiter hinten folgten eine dunkelhäutige Frau mit brustlangen, weißen Haaren und ein großer, massiger Mann mit Glatze und langem Schnurrbart, anscheinend die Anführer dieses Suchtrupps. Es gab keine Chance auf Entkommen. Aber Lucy hatte sich zu sehr abgekämpft, um jetzt klein bei zu geben!

Wild entschlossen hob sie ihr Schwert schräg vor den Körper. Sie musste es mit beiden Händen halten, aber wenn sie ehrlich war, stünden ihre Karten noch schlechter, wenn sie jetzt ihren Rapier hätte. Die elegante Waffe erforderte Schnelligkeit und Wendigkeit – und das war hier im Moor einfach undenkbar.

Der Unverletzte der beiden Männer sprang mit erhobenem Schwert vor. Lucy trat mit aller Kraft ins Wasser, sodass es dem Angreifer ins Gesicht spritzte. Er ließ eine Hand vom Schwert, um über seine Augen zu wischen. Lucy drehte sich zur Seite und schlug mit ihrem Schwert nach der führenden Hand des Mannes. Die scharfe Klinge fuhr durch die Haut und traf gleich Knochen. Lucy konnte es knacken hören und ihr Angreifer schrie gequält auf. Er riss seine Hand zurück und fiel auf seinen Hosenboden.

Schnell, aber vorsichtig brachte Lucy etwas Abstand zwischen sich und die beiden Verletzten. Ihre Schreie ließen die Blonde erschaudern, aber sie brachte sich in Stellung, um sich gegen die drei Männer zu verteidigen, die als nächstes nahten.

Einer von ihnen bewegte sich trotz des Moores sehr geschickt. Vielleicht war er in der Nähe eines Moores aufgewachsen. Jedenfalls ließ er seine Kameraden hinter sich und sprang dann auf Lucy zu. Zu spät erkannte sie den Sinn und Zweck dieses Manövers. Weder ausweichen noch parieren konnte sie noch und wurde vom Gewicht des Mannes zu Boden geschleudert. Für einige Sekunden wurde sie unter Wasser gedrückt, ehe der Angreifer sich weit genug aufrichtete, um ihr das Schwert zu entreißen.

Keuchend tauchte Lucy wieder auf, die Augen voller Angst geweitet. Sie tastete nach ihrem Dolch am Gürtel, aber der Mann über ihr hielt ihre Hände grob gepackt und dann tauchte ein zweiter hinter ihr auf, riss ihren Kopf an den Haaren in den Nacken und setzte ihr einen Dolch an die Kehle. Sie erhaschte einen Blick in seine Augen. Ein manischer Hass starrte zurück und Lucy begriff langsam, dass es bei all dem nie um sie gegangen war, sondern um ihre Freunde. Das hier mussten Geisterjäger sein und sie hielten Lucy wohl auch für einen Geist.

„Was habt ihr mit meinen Freunden gemacht?“, krächzte sie und zwang sich, weiter in diese hasserfüllten Augen zu blicken.

„Das, was sie verdienen, diese Missgeburten“, zischte der Mann und Lucy spürte, wie der Dolch die Haut an ihrem Hals ritzte.

Ein unbeschreiblicher Horror erfüllte Lucy. So oft war sie in den Annalen Heartfilias auf die Erwähnungen von Geisterjägern gestoßen, aber sie war in einer friedlichen Zeit aufgewachsen, in der die Geister unter dem Kaiserlichen Schutz standen und in der die Vorsichtsmaßnahmen ihrer Vorfahren Früchte getragen hatten. Die Vorstellung, was diese… Unmenschen ihren Freunden vielleicht angetan hatten, einfach weil sie eben Geister waren, brachte die junge Fürstin schier um den Verstand.

Sie dachte gar nicht darüber nach, was sie tat – sie hatte nicht einmal direkt vor, etwas zu tun –, aber sie stieß einen Schrei aus, der ihr selbst in den Ohren klingelte, und irgendetwas breitete sich um sie herum aus und schleuderte die Männer davon.

Auf einmal war sie von etwas Heißem umgeben – ja, durchdrungen – und ihr Körper schien sich aufzulösen, so leicht und nichtssagend fühlte er sich an.

Lucys Blick glitt von den Männern ab, die sie fassungslos anstarrten, fand auch an den Bäumen und am Wollgras keinen Halt, glitt zum Himmel hinauf und durch die Wolken hindurch zur Ferne der Gestirne. Und in Lucys Körper schlug ein doppelter Puls, stark und lebendig und geheimnisvoll.

Mit einer Klarheit, die ihr nicht einmal das kostbare Teleskop von Professor Michello gewährte, erkannte Lucy die Sterne und wisperte ihre Namen. Und ihr Blick glitt weiter, durch die Sterne hindurch, erhaschte Bilder: Ein Drache, der über Bergen flog. Eine riesige Schlange in einer Höhle. Ein gefangener Dämon mit blutrünstig blitzenden Augen. Ein alter Mann an einem Schreibtisch… Irgendwoher wusste Lucy, dass sie alle sie in diesem Moment spüren konnten, doch sie konnte mit keinem von ihnen Kontakt aufnehmen.

Weiter wurde ihr Blick gezogen in eine drohende Schwärze jenseits aller Sterne und Bilder. Lucy spürte die Gefahr, die davon ausging, und versuchte instinktiv, gegen diesen Sog anzukämpfen, doch es war vergebens.

Sie traf auf die Schwärze und die Schwärze war Kälte und Schmerz und Verzweiflung.

Und Lucy schrie mit aller Kraft, schrie, ohne Atem zu schöpfen, schrie, bis ihr Körper darunter zu zerreißen schien.

Doch die Schwärze verschlang sie unbarmherzig.

Und dann war da… nichts…
 

9 Tage vor der Opferung
 

Eine kühle Hand an ihrer Wange ließ Mavis die Augen aufschlagen. Über sie beugte sich Zerefs bleiches, ernstes Gesicht mit den pechschwarzen Haaren und den unergründlichen dunklen Augen.

Als er sah, dass sie wach war, beließ er seine Hand noch einige Augenblicke an ihrer Wange. Für die Dauer eines Herzschlages erkannte Mavis etwas Weiches in dem schmalen Gesicht. Dann nahm er seine Hand zurück und bot sie ihr an, um ihr aufzuhelfen.

Wortlos nahm Mavis das Angebot an und sah sich um. Sie befanden sich im Arbeitszimmer, das zugleich auch als ihre Privatbibliothek diente. Ein großer, weiß verputzter Raum, in dem dank der hohen Fenster, die eine gesamte Breitseite ausmachten, warmes Sonnenlicht flutete. Der steinerne Boden war mit dicken Teppichen ausgelegt.

Jeder Platz an der Wand war mit Regalen aus Weißbuchenholz gefüllt, alle schwer beladen mit teilweise jahrhundertealten Folianten und noch älteren Schriftrollen. An der Fensterfront stand auf einem großen Eisbärenfell ein wuchtiger Schreibtisch aus demselben Material, eine Handwerkskunst aus Magnolia mit stilisierten Baum- und Tierschnitzereien, dessen Füße in Baumwurzeln endeten. Daneben befand sich eine Stellwand aus Kork, an welcher eine große Karte Fiores und allerlei Notizen und Markierungen mit Nadeln befestigt waren.

Zur anderen Seite des Tisches standen vor den Fenstern zwei Sessel aus Korbgeflecht, die mit Fellen gepolstert waren. Dazwischen ein kleiner Beistelltisch, auf dem eine fein gearbeitete Kanne und zwei Tassen derselben Stilrichtung bereit standen. Das erfrischende Aroma von Wasserminze, vermischt mit der Süße von Himbeere kam aus dieser Richtung.

Alles war wie immer und doch fühlte Mavis sich erschüttert wie schon seit vielen Jahren nicht mehr.

Langsam ging Mavis zu einem der Sessel und ließ sich darauf nieder, um nach Kanne und Tasse zu greifen. Während sie einen vorsichtigen Schluck zu sich nahm, ging ihr Blick aus dem Fenster hinaus.

Ganz Crocus lag ihr dort zu Füßen, bunt und laut und lebendig. Ein Hexenkessel der Gesellschaft, Wirtschaftsknotenpunkt, Hort der Bildung. Wie sehr es sich doch verändert hatte. Nicht ausschließlich zum Guten, das musste Mavis sich eingestehen. Wo viele Menschen eng beieinander lebten, gab es Betrug und Gier, Neid und Intrigen, Missgunst und Streit. Aber Mavis war sich dennoch sicher, vor dreihundert Jahren den richtigen Pfad eingeschlagen zu haben. In dieser Stadt gedieh auch so viel Gutes, gab es so viel Freude und Fortschritt. Crocus – Fiore, ja, ganz Ishgar – war auf dem richtigen Weg!

Doch hier und jetzt half ihr der Blick aus dem Fenster nicht so weiter, wie er es sonst immer tat. Sie fand keine Antwort für ihre ungestellten Fragen. Crocus sah genauso aus wie noch vor einer Stunde.

„Du hast nicht meditiert.“

Zerefs tiefe, ruhige Stimme lenkte Mavis’ Aufmerksamkeit vom Fenster ab. Wie immer trug er seine schwarze Robe mit der weißen Schärpe. Die alte Tracht seines Heimatlandes, doch es war kein patriotisches Bekenntnis, sondern eine ewige Selbstermahnung, wie Mavis wusste.

„Nein, ich habe nach dem Atlas der Ersten Siedler gesucht“, bestätigte Mavis die Feststellung leise.

„Es war stärker als die bisherigen Male.“ Zeref trat zum zweiten Korbsessel, um sich darauf nieder zu lassen. „Die Anderen werden es auch gespürt haben.“

Mavis gab nur ein nachdenkliches Brummen von sich und nahm noch einen Schluck Tee zu sich. Diese Impulse im Miasma waren nichts Neues für Mavis. Seit sie und die anderen Wächter sich auf das Miasma eingestimmt hatten, waren diese Impulse nun schon acht Mal aufgetaucht und hatten dabei nicht nur einen einzelnen Wächter berührt, wie es sonst immer bei der Ausübung von Magie geschah, sondern alle, besonders stark aber Mavis, die Wächterin des Lichts.

Doch Zeref hatte Recht, dass dieser Impuls besonders stark gewesen war. Selbst jetzt noch kribbelte ihr gesamter Körper davon. Und ein seltsamer Geschmack lag auf ihrer Zunge, der sich vom Tee nicht vertreiben ließ.

„Wir sind immer noch so schlau wie vor zweihundertfünfzig Jahren, was es damit auf sich hat“, seufzte Mavis frustriert und stellte ihre Tasse auf dem Tischchen ab.

Da die Impulse die Wächter aller sieben Elemente trafen, waren sie sich sicher, dass es sich um eine Urmagie handelte, auch wenn die Geschichtsbücher der Magie ihnen samt und sonders sagten, dass die Urmagien mit dem Fanal vor fünfhundert Jahren zersplittert waren. Nach dem Fanal, dessen Ursache unklar war, hatte es nur noch die sieben Elementarmagien und ihre facettenreichen Spielarten gegeben.

Mavis hatte unzählige Stunden, Tage, Jahre damit verbracht, alle Aufzeichnungen über Magie zu studieren, derer sie habhaft werden konnte, aber sie wusste bis heute nicht, was es mit dieser Urmagie auf sich hatte, die sie in den letzten zweihundertfünfzig Jahren mehrmals heimgesucht hatte. War der Magier ein Unsterblicher wie sie selbst? War er überhaupt ein Mensch? Was tat er, wenn er seine Magie ausübte? Die Fragen brannten mit jedem Mal stärker auf Mavis’ Seele und feuerten ihren Wissensdurst so sehr an wie nichts Anderes.

„Habe ich dir mal erzählt, was Meister August an dem Tag gesagt hat, als er angefangen hat, mich zu unterrichten?“

Mavis richtete ihren Blick wieder auf Zeref, der sie ruhig ansah. Für Mavis, die ihn schon seit dreihundert Jahren kannte, sagte seine Miene dennoch so unglaublich viel aus. Und doch fühlte sie sich auch nach so langer Zeit noch wie gefangen. Ob er jemals aufhören würde, solch ein Mysterium für sie zu sein?

„Vielleicht, dass Magie unergründlich ist?“, schlug sie unschuldig vor.

An Zerefs Mundwinkel zupfte die Ahnung eines Lächelns. Für viele war es gar nicht zu erkennen, aber Mavis freute sich und musste unwillkürlich selbst lächeln.

„Er sagte, selbst in tausend Jahren könnte man nicht alles über die Magie lernen. Sie wird immer Rätsel haben. Magie zu erlernen, bedeutet folglich, auch Einsicht und Demut zu lernen.“

„Hast du mich gerade hochmütig und uneinsichtig genannt?“, schmunzelte Mavis.

„Nur stur und verbissen“, war die ruhige Antwort.

Die Blonde musste grinsen. Sie schwang sich aus dem Korbsessel und ging zum Fenster, um auf den Kaiserpalast hinunter zu blicken, in dem sie aufgewachsen war und der nun offiziellen Anlässen diente. Am Fuße des Turms erkannte sie die weißen Umhänge der Runen-Ritter. Anscheinend war gerade Wachablösung.

„Was sagt dir dein Gefühl, Zeref?“

„Dass, wer oder was auch immer diese Magie wirkt, schon längst etwas angerichtet hätte, wenn er es gewollt hätte. Die Impulse sind mächtig, aber gutartig und lebendig, nicht zerstörerisch.“

Obwohl sie schon vor Jahren zu einem ähnlichen Schluss gekommen war, tat es Mavis doch gut, diese Worte von Zeref zu hören. Mit einem Lächeln drehte sie sich wieder zu ihm um. Ihre Blicke begegneten einander und Mavis fühlte sich wieder einmal wie das junge Ding, das von dem fremdländischen, jungen Mann so fasziniert gewesen war, dass es gar nicht gewusst hatte, welche Frage es zuerst stellen sollte.

Ein Klopfen riss Mavis zurück in die Gegenwart. Yuri und Warrod betraten das Arbeitszimmer, ohne überhaupt auf eine Aufforderung zu warten.

„Wie geht es den Anderen?“, fragte Mavis ihre alten Freunde besorgt.

„Chelias Ohren haben gewackelt“, kicherte Warrod und ordnete mit seinen hölzernen Fingern seine Haare, die eher an Laub erinnerten. Ein Erbe seines Volkes.

Yuri verdrehte demonstrativ die Augen in Richtung des Pflanzenmagiers. „Warrod hat wieder seinen Weltuntergangswitz gebracht. Es war gar nicht so einfach, Totomaru davon abzuhalten, ihn zu verkohlen.“

Mavis musste grinsen. Warrod hatte im Verlauf der Jahrhunderte einen sehr eigenwilligen Humor entwickelt, aber auch wenn den außer einer Person niemand lustig fand, hatte er doch immer einen bestimmten Zweck und erfüllte ihn wundersamerweise auch.

„Alles in allem sind sie ganz schön verwirrt, aber wohlauf. Sie sind zäh.“

Erleichtert nickte Mavis. Sie hatte schon viele Wächter auserwählt und auch auf ihrem letzten Weg begleitet, aber dennoch hatte jeder von ihnen etwas Besonderes für sie, gehörte beinahe zur Familie – und Mavis sorgte sich immer um ihre Familienmitglieder.

„Mavis, es war dieses Mal stärker, nicht wahr?“, fragte Yuri mit ernster Miene.

„Aber nicht bedrohlich“, fügte Warrod bedächtig nickend hinzu, wobei seine Blätter leise raschelten.

„Richtig“, murmelte Yuri. „Aber wisst ihr, was Totomaru gesagt hat? Es fühle sich an wie ein Magiebrand.“

Das war eine neue These. Keiner von ihnen hatte einen Magiebrand durchgemacht, weil sie alle bereits vor dem kritischen Punkt unterrichtet worden waren. Wann genau ein Magiebrand ausbrach, war bei jedem Menschen anders. Bei manchen war das magische Potenzial so gering, dass sich die Magie nie hoch genug dafür aufstaute. Andere fanden irgendwie schon als Kinder einen Kanal für ihre Magie, oft auch, ohne es sogleich als Magie wahrzunehmen. Wenn magisch begabte Kinder solch einen Kanal jedoch nicht fanden, wurden sie irgendwann krank, bei einigen wirkte es wie eine Erkältung, andere kamen dabei dem Tode gefährlich nahe. Die Theorie dahinter war sehr kompliziert, aber im Wesentlichen hieß ein Magiebrand, dass der Mensch keine Magie mehr sammeln konnte und diese sich dann entlud.

„Wie kommt er darauf?“, fragte Zeref. „Wir können Magiebrände nicht von anderen Magieanwendungen im Miasma unterscheiden.“

„Das habe ich ihm auch gesagt, aber er meinte, er kann es. Er hat seinen Magiebrand mit sechs gehabt und er hat den Magiebrand einer Fünfjährigen miterlebt.“

Eine von Zerefs Augenbrauen hob sich minimal an. „Das ist extrem früh.“

„Totomaru ist ein außerordentlich starker Feuermagier“, sinnierte Mavis beeindruckt. „Ich würde ihm zutrauen, dass er es mit Natsu aufnehmen könnte.“ Aus dem Augenwinkel nahm sie ein Zucken in Zerefs Gesicht wahr, aber der Schattenmagier sagte nichts, weshalb sie fortfuhr, als hätte sie nichts bemerkt. „Wenn das wirklich ein Magiebrand war, dann heißt das, dass irgendwo in Fiore eine überaus mächtige Magierlinie fortbesteht und dass jedes ihrer Mitglieder nach dem Magiebrand auf eine weitere Anwendung der Magie verzichtet.“

„Oder beim Magiebrand stirbt“, fügte Warrod ungewohnt ernst hinzu.

Mavis unterdrückte ein Schaudern und nickte bedächtig, ehe sie sich wieder zum Fenster umdrehte. Irgendwo da draußen war ein sehr mächtiger Magier – ob nun tot oder lebendig –, dessen Magie eine Anomalie darstellte. Eine Magie, der Mavis nur allzu gerne auf den Grund gehen würde…

Der Nachmittag, an dem sie eine Mission erhielten

5 Tage vor der Opferung
 

„Nein!“

Sogar in Stings eigenen Ohren klang dieser Widerspruch sofort unverfroren, dennoch blieb er, wo er war, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick stur auf Minerva gerichtet. Diese hatte die Hände in die Hüften gestemmt und erwiderte seinen Blick unnachgiebig. Sie standen einander in Minervas privaten Arbeitszimmer gegenüber, jeder an einem Ende des Kartentisches aus Olivenholz, während die übrigen Mitglieder der Körperschaft am Tisch saßen und zwischen ihnen hin und her sahen.

„Doch, Sting“, sagte Minerva gefährlich ruhig. „Das war kein Befehl, aber ich kann einen daraus machen.“

„Ich werde Sabertooth nicht in so einer Situation verlassen, um dieser halbgaren Spur nachzugehen! Du hast selbst gesagt, dass da irgendetwas faul ist.“

Von links hörte Sting das Seufzen seines Partners, aber er reagierte nicht darauf. Er blieb bei seiner Meinung.

„Es ist die einzige Spur, die wir haben, Sting. Wir müssen das überprüfen und wir müssen es schnell tun. Selbst wenn wir so nicht direkt an die Verursacher der Probleme hier heran kommen, findet ihr dort vielleicht Verbündete unserer Feinde und kommt an neue Informationen. Du und Rogue könnt am schnellsten nach Malba gelangen.“

„Dann schick’ nur mich“, mischte Rogue sich nun doch ein.

„Nein!“, sagten Sting und Minerva im Chor.

Sting sah seinem Freund die Verblüffung an, Yukino links von ihm hob schnell die Hand, um ihr Lächeln zu verbergen, Orga rechts von ihm verdrehte die Augen und Rufus daneben blickte betont unbeteiligt auf die Karte hinunter, die auf dem Tisch ausgebreitet war.

„Wisst ihr, ich bin schon groß, ich werde schon nicht an Malba vorbei fliegen“, sagte Rogue beinahe bockig. Yukinos Augen blitzten spitzbübisch.

„Wir werden beide hier gebraucht“, und „Ich will euch Beide in Malba haben“, sagten Sting und Minerva gleichzeitig.

„Selbst wenn ihr euch uneins seid, seid ihr euch einig“, brummte Orga Kopf schüttelnd.

Sting ignorierte den Hünen und wandte sich an Minerva. „Rogue und ich müssen bei der Evakuierung helfen.“

„Dafür haben wir genug fähige Leute aus Jadestadt und Sabertooth. Orga und Meister Arkadios organisieren die Eskorte und bei der Organisation bist du überhaupt nicht zu gebrauchen“, wischte Minerva das Argument vom Tisch. „Ich will, dass dieser Spur so schnell wie möglich nachgegangen wird. Und da ich nicht weiß, wer oder was in Malba lauert, werde ich garantiert keinen Exceed schicken. Ihr seid auf euren Drachen die nächstschnellere Option.“

„Dann lass’ mich mit Skiadrum doch einfach allein-“

„Nein!“, schnitten Sting und Minerva dem Schwarzhaarigen schon wieder das Wort ab.

„Hey!“, protestierte Rogue aufgebracht und machte Anstalten, sich auch aufzurichten, aber Orga drückte ihn auf seinen Stuhl zurück und Yukino tätschelte kichernd seinen Arm.

Yukinos und Rufus’ unverhohlenes Amüsement ließ Sting stutzen. War die Situation nicht viel zu ernst für so etwas?

„Mit euch gehen die Sandwürmer durch“, erklärte Orga brummend.

„Tun sie gar nicht“, maulte Sting trotzig.

„Sting, Rogue ist der beste Kandidat, um nach Malba geschickt zu werden“, sagte Rufus ruhig.

Als Rogue etwas sagen wollte, hielt Yukino ihm den Mund zu, ehe sie fort fuhr: „Aber wir wissen nicht, wer oder was in Malba auf ihn wartet. Er braucht Rückendeckung. Deine Rückendeckung.“

„Oh…“ Dieses Mal waren Sting und Rogue synchron.

Jetzt machte Yukino sich keine Mühe mehr, ihr Grinsen zu verbergen und Orga seufzte wieder: „Von Sting bin ich das ja gewohnt, aber Rogue? Ich habe immer gesagt: Sting hat einen schlechten Einfluss auf ihn.“

„Habe ich nicht!“ „Hat er nicht!“

Yukino kicherte schon wieder.

„Warum hast du das nicht gleich gesagt?“, wandte Sting sich an Minerva.

„Hätte ich, wenn du Dattelkopf mich mal hättest ausreden lassen“, war die hoheitsvolle Antwort, aber irgendwie wirkte Minerva extrem angespannt auf Sting.

Aus irgendeinem Grund kicherte Yukino gleich noch lauter und Minerva warf ihr dafür einen giftigen Blick zu, der die Weißhaarige jedoch nicht einzuschüchtern vermochte.

„Minerva, wir sind deine Klauen“, ergriff Rogue das Wort, der aus Yukinos Verhalten auch nicht schlau zu werden schien. „Wir haben geschworen, dich und Sabertooth mit unserem Leben zu beschützen. Sting kann hier besser helfen.“

„Das hier ist kein Schach, bei dem man die Bauern einfach opfert, Rogue“, knurrte Minerva und wandte sich brüsk zum Fenster um, damit keiner der Anwesenden ihr Gesicht sehen konnte.

Sting begriff endlich und sein zum neuerlichen Protest geöffneter Mund schloss sich lautlos wieder. Auf einmal packte ihn die Verlegenheit und Rogue schien es genauso zu gehen. Minerva kehrte es selten bis nie nach außen, aber Sting, Rogue und Yukino waren ihre Familie, mehr als das, sie waren vom selben Sand, das war die höchste Verbundenheitsbezeugung bei den Wüstennomaden. Ihre Klauen in eine mutmaßliche Falle zu schicken, musste Minerva schrecklich schwer fallen.

Sting hatte keinen Schimmer, wie er damit umgehen sollte. Für gewöhnlich war Minerva in jeder Lebenslage die unerschrockene Wüstenlöwin. Sie ließ sich nicht einfach so einschüchtern. Wenn noch irgendetwas gefehlt hatte, um ihm den Ernst der Lage bewusst zu machen, dann das.

„Hey… Nerva… Rogue und ich passen aufeinander auf. Wir sind zäh, das weißt du doch“, begann er zaghaft.

Die Schwarzhaarige wandte sich hoch erhobenen Hauptes wieder um. Bei ihrem stählernen Blick lief es Sting eiskalt den Rücken herunter. „Ja, das weiß ich. Wenn du mich noch einmal Nerva nennst, schicke ich dich mit Mysdroy nach Malba.“

Sting verzog beleidigt das Gesicht. „Du bist die schlimmste Fürstin aller Zeiten! Und du hast viel zu viel Spaß an der ganzen Sache!“, schob er gleich noch hinterher und deutete anklagend auf Yukino.

Die lachte jedoch unbekümmert: „Kann ich etwas dafür, wenn ihr Drei so niedlich seid?“

„Ist der Ruf erst ruiniert…“, murmelte Rufus vor sich hin und Orga schnaubte zustimmend.

Minerva bedachte die Drei mit finsteren Blicken und Rogue schmollte. Yukino zwickte ihm in die Seite und wollte – weil das nun einmal so ihre Art war – unter Garantie etwas Versöhnliches sagen, aber das Quietschen alter Angeln lenkte die Aufmerksamkeit aller auf die Tür.

Wie immer ohne zu klopfen und auf einen Zuruf zu warten, betrat Dobengal die Tür, ein schlanker, fast hagerer, junger Mann mit braunem Haar und braunen Augen. Obwohl er einige Jahre jünger als die anderen Anwesenden war, zuckte er nicht einmal mit einer Wimper. Seine Miene passte perfekt zu seinem Rang, war er doch Minervas Assassine.

„Minerva, du musst zur Stadtmauer kommen und dir das ansehen“, erklärte er, ohne sich an Förmlichkeiten aufzuhalten, die zu erlernen er sich immer geweigert hatte.

„Ist dem Flüchtlingskonvoi etwas zugestoßen?“, fragte Minerva alarmiert und schnallte sich ihren Waffengürtel um, während sie Dobengal bereits folgte – Sting und die Anderen auf den Fersen.

„Sie sind alle rechtzeitig rein gekommen, ehe der Angriff kam.“

„Ein Angriff?! Und du redest um den Basilisken herum?!“, brauste Orga auf und ganz automatisch verfielen alle bis auf Dobengal in den Laufschritt. Dass er Jüngere sich ihrem Tempo nicht anpasste, brachte den Rüstungsmeister aus dem Tritt und seine dröhnende Stimme wurde lauter, während er weitere Fragen stellte. „Wer greift uns an? Wie viele Männer? Was für Waffen? Welche Tore? Ist die Reserve informiert?“

„Die Reserve wird nicht benötigt“, erwiderte der Assassine unbeeindruckt, der im Vergleich zu Orga nur eine halbe Portion war. „Seht es euch einfach an.“

Außerhalb des Palasts standen Knechte mit Meldepferden bereit. Sting verzog unwillig das Gesicht, schwang sich jedoch ohne Widerworte auf einen Fuchswallach. Auch die Anderen saßen auf und lenkten ihre Tiere hinter Dobengals her zum Südtor. Die Menschen machten ihnen sofort Platz. Einige riefen ihnen Fragen oder Bewunderungsbezeugungen zu, andere verbeugten sich tief, aber Minerva achtete kaum darauf und Sting tat es ihr gleich.

Je näher sie der Mauer kamen, desto ängstlicher wurden die Mienen der Menschen. Der Grund war ein stetig lauter werdendes Geräusch – halb Zischen, halb Kreischen –, das Stings sensiblen Ohren schmerzte und ihm irgendwie bekannt vorkam.

Als sie am Fuß der Mauer hielten und ihre Pferde dort anderen Knechten übergaben, war das Geräusch beinahe ohrenbetäubend. Viele der Umstehenden hatten grünliche Gesichter. Wer es sich erlauben konnte, ergriff die Flucht. Auch Stings Magen rumorte aus irgendeinem Grund und seine Nackenhaare sträubten sich.

Minerva stürmte regelrecht die Mauertreppe hinauf. Sting folgte dicht auf, Dobengal und Rogue neben ihm. Hinter sich hörte er Orgas schwere Stiefeltritte, während Rufus und Yukino so gut wie gar keine Geräusche machten.

Oben angekommen führte Dobengal sie alle zu den Zinnen und deutete hinunter. Was Sting dort sah, ließ ihn entsetzt keuchen: Basilisken, unzählige kleine Basilisken, die meisten noch Schlüpflinge, ihre Schuppen noch glatt und dunkel glänzend, frei von jeglichen Kampfwunden. Es waren Dutzende, vielleicht sogar mehr als hundert.

Sie mussten sich aller Schmerzen zum Trotz durch den Ring aus Obsidiansäulen gequält haben, der fünfzig Schritte vor den Stadtmauern lag und bislang jeden Basilisken davon abgehalten hatte, sich der Stadt zu nähern. Dennoch hatten die Erbauer der Stadt damals auf Nummer Sicher gehen wollen und hatten auch in die Mauern selbst Obsidianelemente eingefügt. Nun waren die jungen Basilisken zwischen der Mauer und dem Säulenring eingesperrt und wanden sich vor Qual. Einige verfielen in schreckliche Zuckungen.

Hinter sich hörte Sting Kettenrasseln und ein kurzes Gerangel. Als er sich umdrehte, erkannte er, dass Yukino ihre Kettensichel gezogen und Rogue sie an beiden Handgelenken gepackt hatte. Sie wand sich wimmernd in dem Griff, ihr gequälter Blick zuckte immer wieder zu dem grauenhaften Schauspiel vor den Mauern hinunter. Rogue blieb jedoch unnachgiebig und Sting war ihm dankbar dafür. Wenn Yukino da raus gestürmt wäre, um die armen Kreaturen zu erlösen, wäre das ihr sicherer Tod gewesen.

„Lass’ mich! Jemand muss das beenden“, krächzte die Weißhaarige.

„Aber nicht du“, erwiderte Rogue mit Bestimmtheit.

Als hätten sie nur auf dieses Stichwort gewartet, kamen Weißlogia und Skiadrum herangeflogen. Vielleicht hatten sie die Unruhe ihrer Reiter über das telepathische Band gespürt oder womöglich hatten sie die Basilisken gehört oder gewittert, jedenfalls hatten sie offensichtlich nicht gezögert, von ihrem Ruhehort auf einer kleinen Felsinsel ganz in der Nähe der Stadt herbei zu fliegen. Es war ein Gemetzel sondergleichen, aber die Licht- und Schattenattacken der beiden Drachen machten dem Elend der Basilisken ein schnelles, gnädiges Ende.

Als er sicher war, dass alle Basilisken tot waren, drehte Sting sich wieder um. Rogue hatte Yukino mittlerweile in seine Arme gezogen und strich ihr nun beruhigend über den Rücken. Sie hatte das Gesicht in Rogues Robe vergraben und zitterte am ganzen Körper. Rufus und Orga hatten sich taktvoll zurückgezogen. Der Rüstungsmeister kam seinen Pflichten nach und kümmerte sich darum, dass die Wachen auf den Mauern ausgetauscht wurden. Rufus wirkte einen Windzauber, um die giftigen Dämpfe, die von den Kadavern der Basilisken aufstiegen, von der Stadt fernzuhalten.

„Ich denke, wir sollten gleich aufbrechen“, murmelte Rogue, ohne Yukino loszulassen.

Die Weißhaarige gab einen erstickten Laut von sich und klammerte sich an Rogue. Dieser seufzte nachsichtig. Genau wie Sting und Minerva wusste er von Yukinos besonderer Verbindung zu Basilisken, daher hatte er Verständnis für ihren Zustand und versuchte nicht, sie zur Ordnung zu rufen.

Minerva, die etwas mit Dobengal besprochen hatte, welcher nun wie ein Schatten verschwand, strich Yukino sanft über die Haare, ehe sie sich an ihre Klauen wandte.

„Dobengal besorgt euch Proviant und alles, was ihr sonst noch gebrauchen könnt.“

Sting nickte betreten. Mehr denn je hatte er kein gutes Gefühl dabei, Sabertooth zu verlassen, aber er würde nicht mehr diskutieren. Die Zeit drängte.

Zu seiner Überraschung trat Minerva direkt vor ihn, beugte sich vor und lehnte ihre Stirn gegen seine. Da sie nur selten voneinander getrennt waren und Minerva auch nicht unbedingt anhänglich war, tauschten sie diese Geste nur selten aus. Hier und jetzt hatte sie jedoch etwas unglaublich Beruhigendes. Ihr Geruch war Sting so vertraut wie der von Yukino und in seiner Brust spürte er die tiefe Verbundenheit mit der vielgerühmten Wüstenlöwin.

„Dass ihr mir ja heil zurückkommt“, mahnte Minerva, aber Sting kannte sie lange und gut genug, um zu begreifen, dass sie ganz schön verlegen war. „Was wäre denn eine Wüstenlöwin ohne ihre Klauen?“

„Ein Schmusekätzchen?“, schlug Sting mit einem verschmitzten Grinsen vor und musste im nächsten Moment einem Faustschlag ausweichen, der ihn gewiss zu Boden geschickt hätte.

Munter tänzelnd entfernte er sich von seiner Fürstin und ging zu Rogue, um ihm Yukino abzunehmen, die sich endlich wieder ein bisschen beruhigt hatte. Während Minerva auch mit Rogue den vertraulichen Gruß austauschte, schloss er Yukinos zierlichen Körper behutsam in seine Arme.

Er hatte völlig vergessen, wie klein sie eigentlich war. Beinahe hatte er das Gefühl, wieder das winzige Bündel Mensch von damals zu sehen, das er und Minerva im Geäst einer Tamariske gefunden hatten. Nur dass er Yukino damals nicht einmal hatte nahe kommen können…

„Wir sind in ein paar Tagen wieder da und dann machen wir diesem ganzen Spuk ein Ende, du wirst schon sehen“, sagte er und lehnte seine Stirn gegen Yukinos. „Keine Dummheiten bis dahin, verstanden?“

„Das ist der Witz des Jahrhunderts! Sting Eucliffe ruft zur Vernunft auf“, schnaubte Minerva.

„Du bist eine fiese Stimmungskillerin, Minerva!“, schimpfte Sting und schüttelte eine Faust. Yukino in seinen Armen kicherte leise.

„So gefällt mir das schon besser“, schnurrte Minerva zufrieden und schlang einen Arm um Yukinos Schultern, um die Jüngere aus Stings Umarmung zu ziehen. „Und nun husch! Schnappt euch eure Fresspakete und macht euch auf den Weg. Macht mir keine Schande. Rogue, halt’ Sting an der Leine. Ihr repräsentiert mich bei den Grünländern, nicht vergessen.“

„Willst du nicht doch lieber Mysdroy mit ihm mit schicken?“, fragte Rogue ernst, aber seine roten Augen funkelten schelmisch.

„Ihr seid alle gemein!“, jammerte Sting, schnappte sich den Rucksack, den Dobengal ihm mit betont beiläufiger Miene hinhielt, und trottete dann die Treppe hinunter.

Rogue folgte ihm mit zwei Stufen Abstand. Sting musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass sein Freund grinste.

„Hast du wieder den Kürzeren gezogen, Sting?“, feixte Orga und klopfte ihm zum Abschied auf die Schulter.

„Ach, lasst mich doch alle in Ruhe…“

Als sie vor dem Tor warten mussten, bis es hoch gezogen wurde, legte Rogue jedoch einen Arm um ihn und er wurde beinahe schwach. Schmollend blickte er zu seinem Freund auf, der hob jedoch nur die Augenbrauen an und lächelte.

„Das ist unfair“, seufzte Sting, als sein Widerstand dahin schmolz.

„Finde ich nicht, du machst das auch oft genug mit mir“, erwiderte Rogue und sein linker Mundwinkel zuckte verräterisch. Seine Miene wurde weicher, als er sich vorbeugte…

Das Tor öffnete sich viel zu schnell für Stings Geschmack. Bedauernd löste er sich wieder von einem Freund und trabte hinüber zu Weißlogia, der zehn Schritte von der Mauer entfernt gelandet war. Der Lichtdrache schlug einmal mit den gefiederten Flügeln, wodurch Sting Sand entgegen gewirbelt wurde.

„Keine Turteleien und Schwärmereien während des Flugs“, mahnte er.

„Spielverderber“, entgegnete Sting nur und kletterte auf den Rücken seines Drachen.

Beinahe gleichzeitig hoben die beiden Drachen ab und gewannen schnell an Höhe. Sting erhaschte einen Blick auf Minerva und Yukino, die ihnen zuwinkten. Er erwiderte die Geste grinsend. Es tat gut, Yukino wieder lächeln zu sehen. Sting wollte jetzt einfach glauben, dass er und Rogue wieder da waren, bevor etwas passieren konnte.

Dann erkannte er Lector und Frosch, die sich beeilten, zu den Drachen aufzuschließen. Lächelnd schüttelte er den Kopf. Es war so typisch für Minerva, dass sie ihnen ihre Exceed mit schickte. So viel zum Schmusekätzchen…
 

4 Tage vor der Opferung
 

Bereits in Hargeon hatte Gajeel sich zu Tode gelangweilt, aber in Malba war alles noch tausendmal schlimmer.

Für Gajeels Empfinden war die Handelsstadt einfach nur eine große Häuseransammlung, in der sich alles nur um langweilige Geschäfte drehte. Hargeon hatte wenigstens noch einen interessanten Hafen gehabt, der Hafen von Malba verdiente kaum diese Bezeichnung. Nach allem, was Gajeel beobachtet hatte, diente dieser kleine Kanalhafen auch eher dem Import der regionalen Erzeugnisse. Schifffahrttechnisch lag Malba einfach denkbar ungünstig. Das Bachflüsschen hatte seine Quelle in den riesigen Mooren südlich der Stadt und war am Rande der Stadt in einen Kanal gelenkt worden, dessen Wasser jedoch so flach war, dass er für echte Handelsschiffe viel zu gefährlich war.

Obendrein zu all dieser Langeweile stank es in der gesamten Stadt bestialisch nach den Indigo-Färbereien im Stadtkern. Die Einwohner selbst schienen das gar nicht mitzukriegen. Vielleicht waren ihre Nasen schon abgestorben. Gajeels war es hingegen noch nicht.

Abgesehen davon gab es in Malbas Umgebung keine guten Jagd- oder Fischgründe. Lediglich die Moore würden sich für die Gänsejagd anbieten, aber die waren mindestens drei beschwerliche Tagesreisen von der Stadt entfernt. Gajeel stand also nur zur Auswahl, sich entweder in der schmuddeligen Herberge zu langweilen, in der er sich mit Juvia ein Zimmer teilte, oder hier in der Stadtbibliothek, wo Juvia ihre Recherchen fortgesetzt hatte, nachdem sie in Hargeon einfach nicht fündig geworden war.

Groß und alt war die Bibliothek, aufgrund der kleinen Fenster schummrig und stickig und obendrein auch noch staubig. Es kitzelte die ganze Zeit in seiner Nase und Gajeel hatte nicht übel Lust, einfach alle Nieser raus zu lassen, um die alte Bibliothekarin mit dem spitzen Gesicht auf die Palme zu bringen, die ihn andauernd so finster anstarrte. Musste ihr das nach drei geschlagenen Tagen nicht langsam mal langweilig werden? Gajeel ödete das alles schon seit dem ersten Tag an.

Aber leider, leider ging Juvia bei ihrer Recherche sehr sorgfältig vor. Beinahe schon akribisch besah sie sich jede einzelne Seite in jedem einzelnen Buch über Drachenartige und speziell über Leviathane, das sie finden konnte. Gajeel glaubte schon lange nicht mehr daran, dass Juvia hier eine Erklärung für das Verhalten des Leviathans finden würde, aber da ihm selber nicht Besseres einfiel, bewahrte er Stillschweigen.

Zutiefst gelangweilt schlenderte Gajeel durch die engen Regalreihen und ließ den Blick unstet über die vielen alten Bände wandern. Der Gedanke, wie viel Wissen hier gebündelt sein sollte, kam ihm irgendwie absurd vor. Wissen ist Macht, hatte Pantherlily ihm immer wieder gepredigt. Aber Gajeel hatte nicht die Geduld für all diese winzigen Buchstaben auf dem viel zu empfindlichen Papier. Es war ja schon nervig genug gewesen, Lesen zu lernen. Juvia und Totomaru waren ihm da immer um Längen voraus gewesen, einfach weil sie sich auch dafür interessiert hatten.

Ein Stoß in seinen Bauch und ein Rumpeln, gefolgt von einem leisen Schmerzenslaut, ließen ihn hinunter blicken. Vor ihm lagen mindestens zehn dicke Wälzer am Boden verstreut und dazwischen saß eine Frau in Juvias Alter. Sie war gut einen Kopf kleiner als Juvia und deutlich flacher gebaut, aber doch nicht kindlich. Ihr schmales Gesicht mit der kleinen Stupsnase und dem spitzen Kinn war das einer Frau. Ihre blauen Haare wurden eher mäßig von einem orangefarbenen Band zurückgehalten, sie waren nicht so lang und geschmeidig wie Juvias, sondern kurz geschnitten und ein wenig strubblig, obwohl sie dem frischen Geruch nach sorgsam gepflegt wurden. Und ihre braunen Augen waren faszinierend groß. Aus ihnen sprachen Klugheit und Sanftmut, aber auch eine Stärke besonderer Art, die Gajeel irgendwie ansprach.

„Tschuldigung“, brummte er und hockte sich hin, um der Blauhaarigen dabei zu helfen, die Bücher einzusammeln.

Schwindelerregende Titel wie Theorien des Dunklen Jahres, Magie als sozialer Faktor und Die Gesellschaft der Magie kamen ihm da unter. Und jedes Buch war so dick, dass es als Waffe Verwendung finden könnte.

„Schaffst du das auch alleine?“, fragte er skeptisch, als er beobachtete, wie die Blauhaarige die Bücher aufeinander stapelte.

„Natürlich, ich bin das gewohnt“, erklärte sie nervös.

Sie stand wieder auf und hob den Stapel hoch. Gajeel konnte sehen, wie ihre Arme vor Anstrengung zitterten, aber sie schaffte es tatsächlich, sich aufzurichten. Der Stapel überragte ihren Kopf und wackelte bedenklich.

Kurzerhand nahm Gajeel ihr einen Großteil der Bücher ab, sodass ihr der Stapel nur noch bis zur Brust reichte. Zuerst schien sie protestieren zu wollen, aber dann nickte sie nur verschüchtert und führte ihn zu einem Tisch. Unschlüssig blieb er davor stehen. Der Tisch war im Grunde bereits übervoll. Gajeel zählte ein Dutzend Bücherstapel und einen dicken Stapel voll geschriebener Papierbögen, sowie zwei Notizbücher, alles mit einer sehr kleinen, sehr akkuraten Schrift versehen. An dieser Frau schien aber auch wirklich alles winzig zu sein, von ihrer Wissbegierde mal abgesehen.

„Moment.“

Die Blauhaarige verteilte die Bücher, die sie noch hatte, schnell auf die Stapel, dann nahm sie Gajeel ein Buch nach dem nächsten ab und verfuhr damit genauso, ohne je auch nur einen Herzschlag lang überlegen zu müssen, wo das jeweilige Buch hin sollte. Anscheinend hatte sie ein ausgeklügeltes System dabei, das Gajeel einfach nur nicht durchschauen konnte.

„Danke“, sagte die Blauhaarige leise, als sie Gajeel das letzte Buch abnahm.

Er zuckte mit den Schultern und brummte: „Nimm beim nächsten Mal einfach weniger. Jemand so Kleines wie du kann nicht so viel tragen.“

„Vielen Dank für die Blumen“, knurrte sie und in ihren großen, braunen Augen erkannte er Trotz. Irgendwie gefiel ihm das. Anscheinend hatte er es mit einer Kämpferin zu tun – oder eher mit einem Kampfzwerg.

Er grinste wölfisch. „Na dann noch viel Spaß mit… was auch immer das wird.“

Die Blauhaarige bedachte ihn mit einem beinahe düsteren Blick, dann setzte sie sich einfach an den Tisch. Er ließ sie alleine und wollte sich eigentlich auf die Suche nach Juvia machen – bei all dem Staub konnte er sie gar nicht riechen –, aber sie wartete bereits hinter dem nächsten Regal und sah ihn mit leuchtenden Augen an.

„Juvia hat alles gesehen! Du magst sie!“, flüsterte sie mühsam beherrscht.

Irritiert blinzelnd sah er die Wassermagierin an. Mögen? Wie verstand Juvia das denn, dass sie davon so begeistert war?

Er zuckte mit den Schultern – seine Lieblingsantwort – und setzte sich wieder in Bewegung, was Juvia dazu zwang, ihm zu folgen. „Bist du fertig? Ich habe Hunger.“

„Juvia hat immer noch nichts gefunden“, seufzte seine Ziehschwester betrübt.

„Morgen vielleicht“, erwiderte er in einem Versuch, sie zu trösten.

„Vielleicht ist sie morgen auch da?“, schwenkte Juvia schnell wieder auf das für sie offensichtlich so erfreuliche Thema um. „Du solltest sie nach ihrem Namen fragen.“

„Du willst ihn wissen. Frag’ selbst“, knurrte Gajeel, während er die Tür der Bibliothek aufstieß.

„Du kannst Juvia nicht täuschen. Du magst sie!“

„Also gut, sie ist in Ordnung. Jetzt zufrieden?“

„Frag’ sie morgen, wie sie heißt!“

Gajeel verdrehte die Augen. Da hatte er sich ja etwas eingebrockt. Da war er ein einziges Mal gegenüber einer Fremden hilfsbereit und prompt bildete Juvia sich sonst was ein. Aber auch wenn er das niemals zugeben würde: Eine leise Stimme in seinem Hinterkopf freute sich ebenfalls darauf, die kleine Blauhaarige mit dem Bücherwahn wieder zu sehen…

Der Morgen, an dem sie in einer Zelle erwachte

Vier Tage vor der Opferung
 

Lucys gesamter Körper schmerzte, als die junge Frau erwachte. Ihr Kopf dröhnte und sie hatte einen seltsamen Geschmack auf der Zunge, der diese prickeln ließ. Bei einem ersten Versuch, die verklebten Augen zu öffnen, wurde sie von einem Licht geblendet. Es dauerte eine ganze Weile, bis Lucy zumindest blinzeln konnte, ohne dass es weh tat.

Ganz vorsichtig drehte sie den Kopf und realisierte dabei, dass sie auf feuchtem, modrig riechendem Stein lag. Jemand hatte ihr auch den zweiten Stiefel und Geminis Lederrüstung ausgezogen und sie spürte auch nicht mehr den vertrauten Druck ihres Waffengürtels an der Hüfte.

Als sie endlich die Augen öffnen konnte, starrte sie auf eine grobe, von Schimmel überzogene Steinwand. Es war schummrig, Lucy verstand gar nicht mehr, was sie vorhin geblendet hatte. Ganz langsam drehte sie den Kopf, wobei sie einen Blick auf ein wenig vertrauenerweckendes Strohlager erhaschte.

Sie musste kurz blinzeln, als ihr Gesicht von einem Lichtstrahl getroffen wurde, dann erkannte sie, dass sich auch zu ihrer Linken eine solide, aber schimmlige Wand befand. Das Licht fiel durch einen schmalen Sichtschlitz im oberen Drittel dieser Wand – Fenster konnte man das wirklich nicht nennen. Es war unmöglich zu bestimmen, welchen Stand die Sonne gerade hatte.

Mühsam schob Lucy ihre bleischweren Arme unter ihren Oberkörper und stemmte sich in die Höhe. Sie schaffte es in eine aufrechte Sitzposition und ihre Gedanken waren nun klar genug, um das Ausmaß ihrer Situation zu erfassen, während sie sich umdrehte.

Sie bemerkte eine eisenbeschlagene Holztür mit einem winzigen, vergitterten Fenster, hinter dem es jedoch dunkel war. Wenn es noch eines Beweises dafür bedurft hatte, dass sie sich in einer Gefängniszelle befand, war es diese Tür. Die Zelle war winzig, maß in Länge und Breite vielleicht vier Schrittlängen. Außer dem Strohlager gab es nichts. In einer Ecke roch es so ekelerregend, dass es Lucy beinahe den Magen umstülpte.

Um sich davon abzulenken, konzentrierte sie sich auf ihren eigenen Zustand. Ihr ehemals weißes Wams war völlig verdreckt und an einigen Stellen gerissen. Ihre Hose sah trotz der guten Lederarbeit kaum besser aus. Verletzt schien sie nicht zu sein, von der aufgeschrammten Ferse und den wundgescheuerten Waden mal abgesehen. Doch ihr Körper musste von blauen Flecken übersäht sein und ihre Muskeln waren qualvoll verspannt. Sie verspürte bohrenden Hunger und ihre Kehle war wie ausgedörrt. Als Lucy vorsichtig ihren Kopf nach der Ursache für die Schmerzen dort abtastete, bemerkte sie, dass ihre Haare verfilzt und dreckverkrustet waren. Eine Beule konnte sie jedoch nicht spüren.

Seufzend strich sie dennoch weiter durch ihre Haare und versuchte, sie zu entwirren. Es ziepte und wahrscheinlich wäre es mit Wasser sehr viel einfacher, aber Lucy war dankbar, eine Beschäftigung für ihre Finger zu haben.

Wie lange war sie bewusstlos gewesen? Sie konnte sich noch an eine holprige Fahrt auf der Ladefläche eines Gespanns erinnern, an Hände, die ihr Wasser und Nahrung einflößten. Mehr war ihr von der Reise hierher – wo auch immer das war – nicht in Erinnerung geblieben. Davor konnte sie sich daran erinnern, dass sie durch das Moor gehetzt war, mehrere Verfolger auf den Fersen. Sie war eingeholt worden, sie hatte sich mit Geminis Schwert zur Wehr gesetzt…

Gemini! Wie war es ihm und den Anderen ergangen? War ihnen die Flucht gelungen oder wurden sie auch hier in einer anderen Zelle gefangen gehalten? Oder waren sie…?

Lucy schüttelte so heftig den Kopf, dass dieser prompt noch mehr zu dröhnen begann. Sie konzentrierte sich ganz bewusst auf den Schmerz, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Alles war besser, als auch nur einen Herzschlag lang das Schlimmste in Erwägung zu ziehen!

Als die Erinnerung an Loke hoch kam, der ihr zurief, zu fliehen, ehe er sich einem Dutzend Bewaffneter stellte – darunter jemand mit einem Berserker-Schwert –, schnürte ihr beinahe die Luft ab. Keuchend beugte sie sich vornüber, bis ihre Stirn den Boden berührte. Der Modergeruch stach ihr geradezu in die Nase. Sie zwang sich, ihn tief einzuatmen, nahm die Kälte des Bodens dankbar an. Alles, um nur nicht an ihre Freunde zu denken, die womöglich ihre Leben gelassen hatten – und, was am schlimmsten war, das wahrscheinlich auch noch umsonst.

Zitternd kämpfte sie sich auf die Beine und torkelte auf den Fensterschlitz zu. Sie konnte ihre Glieder kaum spüren und krachte beinahe gegen die Wand. Sie schrammte sich den linken Handballen auf, als sie nach Halt suchte, aber sie nahm auch diesen Schmerz dankbar an.

Ein Hauch frischer Luft traf ihr tränennasses Gesicht und sie hob den Blick zu dem winzigen Himmelausschnitt, den sie durch den Schlitz sehen konnte. Es war ein wolkenloser Sommerhimmel, heiter und fröhlich. Ein Hohn auf Lucys Situation.

Das rief den Trotz in ihr wach. Sie war die Fürstin von Heartfilia, die Tochter von Jude und Layla, die Schülerin von Meister Crux und Meister Capricorn. Sie würde diesen Monstern hier nicht die Genugtuung geben, sie anzubetteln, und sie würde sich weder erpressen noch erniedrigen lassen! Auch wenn vielleicht nie jemand davon erfahren sollte, Lucy würde hier nicht ihren Stolz und ihre Prinzipien hintergehen!

Diese Entschlossenheit straffte Lucys Schultern. Es fühlte sich an, als würde sie einige Fingerbreiten wachsen. Sogar ihre Kopfschmerzen vergaß sie darüber.

Als die Zellentür widerlich knarrend geöffnet wurde, drehte Lucy sich mit aller Würde ihres Standes herum und blickte dem Ankömmling entgegen. Es war ein großer, doch spindeldürrer Mann mit langem, weißem Bart und ebensolchen Haaren. Er trug eine weiß-schwarze Robe und auf seiner Brust war ein Wappen eingestickt: Ein schwarzer Riese, durch dessen erhobene Hände ein schwarzer Komet hernieder ging. Lucy kannte dieses Wappen nicht. Es stammte von keinem der Fürstentümer und auch von keiner der Freien Städte. Auch gehörte es zu keinem anerkannten Orden. Lucy kannte gewiss nicht alle Wappen Fiores, aber in diesen Punkten war sie sich doch sehr sicher.

„Wer seid Ihr und was wollt Ihr von mir?“, fragte Lucy schneidend. Zu ihrem Ärger klang ihre Stimme heiser und kraftlos, aber sie verbot sich ein Räuspern. Ja keine Schwäche zeigen!

Der Mann blieb ihr zunächst eine Antwort schuldig und musterte sie eingehend. Sein Blick wirkte beinahe manisch auf Lucy. Hatte sie es mit einem Verrückten zu tun?

„Wo sind meine Freunde?“, schob Lucy eine weitere brennende Frage hinterher, als ihr das Schweigen zur Qual wurde.

„Was wir von Euch wollen, ist sehr einfach“, erklärte der Mann erhaben. Er sprach so betont, als würde er ein Theaterstück aufführen, und machte eine dramatische Pause. „Wir wollen Euer Leben dem Schwarzen Kometen opfern.“

Lucy lief es eiskalt den Rücken herunter. Sie hatte noch nie von diesem ominösen Schwarzen Kometen gehört, aber zweifelsohne hatte sie es hier mit einer Sekte zu tun. Und zwar mit einer, die entartet genug war, um sich nicht darum zu scheren, dass Menschenopfer nach dem Kaiserlichen Gesetz verboten waren. Es kostete Lucy alle Beherrschung, ruhig zu bleiben.

„Wo sind meine Freunde?“, fragte sie noch einmal.

„Nicht hier“, war die knappe Antwort. „Wir benötigen sie nicht mehr, also haben wir die Verfolgung eingestellt. Wenn der Schwarze Komet Euch annimmt, werden die Unreinen ohnehin bald allesamt vernichtet werden.“

„Seid Ihr etwa ein Geisterjäger?“, spie Lucy angewidert aus.

Wieder blieb der Alte ihr die Antwort schuldig, aber das war Lucy Bestätigung genug. Ihr wurde beinahe schlecht vor Ekel.

„Wir werden Euch in der nächsten Vollmondnacht opfern, also in vier Tagen“, erklärte der Mann und sein Ton machte deutlich, dass das Gespräch für ihn damit beendet war. „Ihr solltet nicht über eine Flucht nachdenken, das wäre zwecklos.“

Damit drehte er sich wieder um und verließ die Zelle. Das Schließen der Tür klang endgültig. Erst als sie sicher sein konnte, dass sie alleine war, ließ Lucy sich an der Mauer langsam zu Boden gleiten, schlang die Arme um die Beine und drückte das Gesicht gegen ihre Knie, um ihre Tränen vor dem Rest der Welt zu verbergen.
 

Drei Tage vor der Opferung
 

„Natsu… Wieso reisen wir nicht mehr nach Magnolia?“

Der Feuermagier kaute das hart gewordene Brot durch und schluckte es herunter, ehe er den Exceed anblickte, dessen Frage nur allzu berechtigt war. Sie waren nur noch eine bequeme Tagesreise von ihrer Heimatstadt entfernt gewesen, als Natsu eine telepathische Nachricht von Igneel erhalten hatte. Seitdem ging Natsu wieder nach Nordosten zurück.

Um Happys Verletzung zu schonen, waren sie langsamer als sonst unterwegs und nun waren sie erst vier Tagesreisen von Magnolia entfernt. Heute Morgen hatte Natsu deutlich gespürt, dass sein Drache ganz in der Nähe war, weshalb er ausgiebiger als sonst frühstückte.

„Igneel will einer seltsamen Spur nachgehen und er braucht dafür vielleicht unsere Hilfe“, erklärte er.

„Einer seltsamen Spur?“, wiederholte Happy und legte den Kopf schräg.

Ratlos zuckte Natsu mit den Schultern. „Er hat etwas gespürt, das er nicht kennt. Etwas Starkes. Vielleicht sogar etwas Gefährliches.“

„Ich habe nichts gespürt.“

„Ich auch nicht“, seufzte Natsu und schnitt das Käsestück, das ihm verblieben war, in zwei Teile. Eines schob er sich in den Mund, das andere gab er Happy, dann wischte er sein Messer mit einem Lederlappen sauber. „Wie fühlst du dich?“

„Gut, Lucys Medizin wirkt Wunder“, erklärte Happy eifrig.

Beinahe wäre Natsu ein sehnsüchtiger Seufzer entschlüpft. Allein die Erwähnung ihres Namens ließ ihn Lucy gleich noch mehr vermissen. Ihren betörenden Geruch, ihre wunderschönen braunen Augen, ihr sanftes Lächeln, ihre schimmernden Haare, ihre grazilen Finger, ihre melodiöse Stimme…

Wo sie jetzt wohl war? Wahrscheinlich war sie bereits mit Loke und den Anderen in Heartfilia und kam ihren Pflichten als Fürstin nach. Sicher war sie eine großartige Fürstin. Sie war so klug und so sanft, konnte aber auch streng werden. Vielleicht sollte Natsu mal den alten Makarov fragen, ob er nach Heartfilia ziehen konnte…?

Hör’ auf, von deiner Prinzessin zu träumen. Wir sind gleich da, erklang Igneels Stimme in seinem Kopf.

Unwillig verzog Natsu das Gesicht. Sie ist nicht meine Prinzessin!

Aber sicher doch…, war die trockene Antwort.

Und wen meinst du mit Wir?

Wirst du gleich sehen.

Brummend verdrehte Natsu die Augen und begann, seine Sachen zusammen zu packen. „Igneel ist gleich da. Er hat es ganz schön eilig.“

Ein verschlagenes Grinsen breitete sich auf Happys Gesicht aus. „Weiß er es auch schon?“

„Was soll er wissen?“

„Dass du verliebt bist!“ Der Exceed kicherte vergnügt.

Natsus Gesicht wurde heiß. Er musste sich in Erinnerung rufen, dass sein kleiner Freund noch immer verletzt war und daher eine ordentliche Kopfnuss nicht so gut vertragen würde. Also verlegte er sich darauf, etwas vor sich hin zu nuscheln und sich aufs Packen zu konzentrieren.

War er also wirklich in Lucy verliebt? Er hatte damit keine Erfahrung. Klar, er hatte schon verliebte Paare beobachten können, aber das, was er jetzt fühlte, konnte er gar nicht richtig in sein Weltbild einordnen. Er wusste nur mit völliger Sicherheit, dass er sich nichts sehnlicher wünschte, als Lucy immer an seiner Seite zu haben. War das Liebe?

Ein lautes Rauschen über ihren Köpfen ließ Natsu und Happy aufblicken. Zwei gewaltige Körper flogen über sie hinweg, der erste rot mit einem gelben Bauch, der zweite, etwas zierlicher gebaute, reinweiß. Über Natsus Gesicht breitete sich ein freudiges Grinsen aus. Schnell verschnürte er seinen Rucksack und lud ihn sich auf den Rücken, um dann Happy hoch zu heben, der auf einmal sehr nervös wirkte.

Die beiden Drachen landeten geschmeidig auf der Lichtung und von Grandines Rücken kletterten Romeo und Wendy, beide in Reiseumhänge gehüllt, unter Romeos Umhang blitzte eine fein gearbeitete Lederrüstung hervor und er trug sowohl sein Kurzschwert als auch seinen vollen Köcher mit dem ausgespannten Bogen am Gürtel. Natsu entging nicht, wie enttäuscht Happy war, als ihm klar wurde, dass Charle den Beiden nicht folgte, aber er begrüßte zunächst Romeo mit einem kameradschaftlichen Handschlag und Wendy mit einer kurzen, aber herzlichen Umarmung.

Auch wenn der die Beiden erst vor wenigen Monden in Cait Shelter zurück gelassen hatte, freute er sich doch, sie wieder zu sehen. Das tat er immer, wenn er einen der Drachenreiter wieder traf, denn in seinen Augen gehörten sie alle zusammen.

„Was führt euch denn hierher?“

„Und wo ist Charle?“, rief Happy dazwischen.

„Ärger“, seufzte Romeo missmutig. „Irgendetwas bringt die Tatzelwürmer durcheinander. Charle ist in Crocus und sucht eine Freundin von uns, die ihr hoffentlich bei den Recherchen in der Universitätsbibliothek helfen kann“, fügte er mit einem entschuldigenden Blick in Happys Richtung hinzu.

„Eine wirklich besorgniserregende Geschichte“, mischte sich Igneel ein, „der ich auch nachgehen möchte, sobald ich diese andere Sache überprüft habe.“

Verwirrt sahen Romeo und Wendy Natsu an, doch der konnte nur mit den Schultern zucken. „Igneel hat etwas gespürt und hat uns sofort umdrehen lassen. Ah, genau, wir wollten Happy in Magnolia heilen lassen, aber jetzt kannst du dich ja darum kümmern, oder, Wendy?“

Er hielt der Jüngeren seinen Partner hin. Sofort nahm Wendy den Patienten an und setzte ihn am Boden ab, um den Verband vorsichtig abzuwickeln und sich die Wunde zu besehen.

„Ein Seeadler“, erklärte Natsu ungefragt. „Vor fast drei Wochen.“

Wendy schnupperte an der heilenden Paste, die Natsu nach Lucys Anweisungen hergestellt und aufgetragen hatte. Verwundert blickte sie auf. „Lungenkraut… Warst du das?“

„Ja, Lucy konnte das viel besser“, jammerte Happy wehleidig, wofür Natsu ihm einen beleidigten Blick zuwarf.

„Sie hatte nicht viel Zeit, um mir das beizubringen.“

„Ihr hättet weniger flirten sollen.“

Nun noch viel verwirrter blickte Wendy zwischen ihnen hin und her. „Lucy? Lucy Heartfilia?“

Jetzt war es Natsu, der verwirrt war. „Woher kennst du Lucy?“

„Aus Crocus. Als ich dort bei Professorin Porlyushka Medizin und Heilkunst studiert habe, haben wir auch Lucy kennen gelernt.“

„Lucy und ihre Freunde haben mich vor dem Seeadler gerettet“, meldete sich Happy bewundernd zu Wort.

Wendy lächelte und legte ihre Hände behutsam auf Happys Rücken. Natsu hörte es leise rauschen, als Wendy ihre heilende Windmagie anwandte und damit die tiefen Schnitte langsam schloss.

„Dann war Lucy auf dem Heimweg?“, fragte Romeo und verzog das Gesicht. „Schade, dass wir sie verpasst haben. Ich hätte gerne mal wieder mit Loke trainiert.“

„Ist er so gut?“, fragte Natsu verblüfft.

„Beinahe so gut wie Mest.“

Dieses Urteil überraschte Natsu. Mest war der beste Schwertkämpfer, den er kannte, und er wusste nur zu gut, dass Romeo nichts auf seinen Meister kommen ließ. Demzufolge musste Loke tatsächlich eine Menge auf dem Kasten haben. Nicht dass Natsu ihn für schwächlich gehalten hatte – immerhin war Loke der Schild und Schwert der Fürstin von Heartfilia –, aber er hätte ihn doch nicht für so gut gehalten…

„Wir können ja mal gemeinsam nach Heartfilia reisen“, schlug Natsu vor.

„Dann kannst du wieder mit Lucy flirten“, kicherte Happy.

„Sei ruhig, du kannst ja mal anfangen, mit Charle zu flirten!“, fauchte Natsu mit heißen Wangen zurück.

Romeo grinste in sich hinein und reichte Wendy einen Tiegel und Mullbinden auf ihren Wunsch hin. Die strich etwas von der intensiv riechenden Salbe auf die noch stark geröteten, kahlen Stellen auf Happys Rücken und verband sie dann wieder.

„In ein bis zwei Tagen kannst du wieder fliegen, aber solange es noch zieht, solltest du vorsichtig bleiben“, erklärte sie, während sie den Tiegel wieder verschloss.

Der Exceed strahlte und bedankte sich überschwänglich. Natsu setzte ihn sich auf die Schulter und ging zu Igneel, der mit Grandine wortlos gewartet hatte. Als er sich auf den Rücken des Feuerdrachen schwang, seufzte er leise. Fast drei Jahre lang war er nicht mehr auf Igneel geritten, weil dieser sich im Gebirge von Bosco herum getrieben hatte, während sein Reiter in halb Fiore unterwegs gewesen war. Es tat gut, wieder die geballte Macht des Drachen zu spüren, und über das telepathische Band fühlte Natsu, dass Igneel sich ebenfalls über das Wiedersehen freute.

Nachdem Romeo und Wendy auf Grandines Rücken geklettert waren, hoben beide Drachen ab. Sie drehten mehrere Runden, bis sie an Höhe gewonnen hatten, dann schlugen sie wieder den Kurs nach Nordosten ein. Für eine Weile genoss Natsu es einfach nur, den Wind in seinen Haaren und das Muskelspiel unter sich zu spüren, doch nach vielleicht einer Stunde bemerkte er, wie Igneel sich anspannte. Ein Blick nach vorn verriet ihm den Grund: Ein Schwarm Aasvögel zog konzentriert an einem Punkt seine Kreise und gab dabei eine Kakophonie von sich, die Natsus Nackenhaare sträubte. Immer mehr Kolkraben, Nebelkrähen und Rabenkrähen gesellten sich dazu, während andere bereits im Schwarm befindliche dem Boden entgegen strebten.

„Eine Schlacht?“ Natsu runzelte die Stirn. Das hier war unbewohntes Waldland, was gab es hier schon zu erobern? „Igneel, ist das die Stelle, zu der du wolltest?“

„Nein, aber ihr solltet euch das vielleicht dennoch ansehen. Wenn es Überlebende gibt, brauchen sie mit ziemlicher Sicherheit Wendys Hilfe“, grollte der Feuerdrache und seine Artgenossin schnaubte zustimmend.

Bei einer großen Lichtung ganz in der Nähe des Schwarms landeten die Drachen. Hier konnte Natsu den Blutgeruch so deutlich wahrnehmen, dass sein Magen rumorte. Er blickte besorgt zu Wendy und erschrak heftig. Ihre Miene spiegelte blanken Horror wieder. Mit einer so heftigen Reaktion hatte er trotz ihres Sanftmuts nun auch nicht gerechnet. Romeo schien deswegen genauso besorgt zu sein. Vorsichtig legte er seiner Freundin eine Hand auf die Schulter.

Das riss Wendy aus ihrer Starre. Sie rannte los in Richtung des Schlachtfeldes. Natsu tauschte einen besorgten Blick mit Romeo, dann setzten sie sich ebenfalls in Bewegung, Happy wieder auf Natsus Schulter. Als sie dem Schlachtfeld näher kamen, mischte sich etwas Verbranntes in den Blutgestank. Und dann stießen sie auf die ersten Leichen. Leichen mit sehr seltsamen Verletzungen. Da war ein Mann, dessen Gesicht aussah, als wären große Glutstücke tief hinein gedrückt worden. Einem anderen war der Bauch aufgeschlitzt worden – doch nicht mit einem Schwert, sondern mit Klauen.

Romeo nutzte die Gelegenheit, dass Wendy stehen blieb, um sich mit ihrer viel feineren Nase zu orientieren, und ging in die Knie. Natsu blickte über seine Schulter auf eine große Spur, die sein Freund entdeckt hatte. Er war kein so versierter Fährtenleser wie Romeo oder Sting, aber er hatte doch einiges von den Beiden gelernt, weshalb er nun die Stirn runzelte.

„Ein Löwe?“

„Viel zu groß“, murmelte Romeo und schüttelte verwirrt den Kopf.

Wendy setzte sich nun langsamer in Bewegung, Natsu und Romeo folgten ihr. Der Blutgeruch stach Natsu in die Nase. Immer wieder blickte er besorgt zu Wendy, der das alles noch viel mehr zusetzen musste, aber aus irgendeinem Grund quälte sie sich weiter.

Sie fanden weitere Leichen, einige von Schwertwunden nieder gestreckt, doch die meisten wiesen ähnliche Todesursachen auf wie die ersten beiden Leichen. Der Boden und die Bäume um sie herum waren teilweise verkohlt.

Als sie eine dicke Eiche umrundeten, erblickten sie die Leiche eines blondgelockten Kriegers mit feinen Gesichtszügen, die in der Todesqual zu einer grauenhaften Grimasse verzerrt waren. Romeo zog scharf die Luft ein und deutete auf das riesige Schwert mit schwarzer Klinge, das neben dem blonden Krieger lag. „Ein Berserker-Schwert.“

„Die gibt es wirklich?“, fragte Happy, der sich schon seit geraumer Zeit die Nase zuhielt.

„Sie sind nicht ganz so fantastisch wie in den vielen Geschichten, aber ja, es gibt sie. Vater hat drei Berserker-Waffen in Verwahrung. Leider lassen sie sich aus irgendwelchen Gründen nicht einschmelzen“, erklärte Romeo und zog seine Lederhandschuhe an, die er sich zuvor unter den Gürtel geklemmt hatte. „Wir sollten das nicht hier liegen lassen. In den falschen Händen können Berserker-Schwerter furchtbaren Schaden anrichten. Es sollte weg gesperrt werden.“ Er holte aus seinem Rucksack eine Decke und einen dünnen Strick und verschnürte das vergiftete Schwert zu einem Paket. Mit dem Rest des Stricks bastelte er eine Trageschlaufe, um sich die Waffe auf den Rücken zu binden.

Romeo rückte das Berserker-Schwert noch zu Recht, als sie Wendys erschrockenen Aufschrei hörten. Sofort setzten Natsu und Romeo sich in Bewegung. Schon nach wenigen Schritten durch dichteres Unterholz sahen sie, was Wendy meinte.

Sie kniete zwischen den Wurzeln einer Weide und untersuchte bereits einen Mann mit kupferfarbenem Haar und braunen Augen, der sich an den Stamm der Weide gelehnt hatte und erschöpft zu Boden stierte. Sein Oberkörper war blank und über seinem Schoß lag nur Wendys Reisemantel. An der rechten Seite hatte er eine klaffende, schwärzlich verfärbte Wunde, neben der sich die Schnitte und Prellungen am Rest des Oberkörpers harmlos ausnahmen.

„Loke“, keuchte Romeo.

Natsu war unfähig, irgendetwas zu sagen oder zu tun. Er konnte nur Loke anstarren, der jetzt eigentlich in Heartfilia sein sollte. Bei Lucy…

Ohne richtig darüber nachzudenken, sprang Natsu vor und packte Loke an den Schultern, um ihn durchzuschütteln. „Wo ist Lucy?!“, rief er mit schwankender Stimme.

„Ich weiß es nicht“, krächzte Loke und blickte mit angsterfüllten Augen zu Natsu auf. „Bitte… ihr müsst mir helfen, sie zu finden…“

„Verdammt, du solltest auf sie aufpassen!“, fauchte Natsu und schleuderte Loke gegen den Baumstamm. Er zitterte am gesamten Körper.

„Natsu…“

Happys klägliche Stimme machte ihm seine eigene Angst nur noch schmerzlicher bewusst. Die Vorstellung, dass Lucy irgendwo da draußen von weiteren Irren mit Berserker-Waffen gejagt wurde, brachte ihn beinahe um den Verstand.

„Was ist passiert, Loke? Waren sie hinter Lucy her?“ Romeos ruhige Stimme holte Natsu zurück in die Gegenwart.

Der Leibwächter hob den Blick voller Angst und Gram. „Sie haben uns auf der Straße angegriffen. Lucy und ich sind nach Norden geritten, die Anderen nach Süden. Ich habe Lucy alleine weiter geschickt, um die hier aufhalten zu können. Sie sind Lucy nicht gefolgt, aber…“

Lokes Stimme erstarb. Erst jetzt begriff Natsu langsam, dass all diese Toten hier allein auf Lokes Kappe gingen, und sein Respekt für den Leibwächter kehrte zurück. Doch es hatte dem Krieger eine Menge gekostet. Seine Haut war bleich und seine Augen lagen tief in den Höhlen. Wendy an seiner Seite hatte bereits die Hände auf die schwarz verfärbte Wunde gelegt und entzog dieser mit ihrer Magie langsam, aber stetig das Gift. Ihre Miene war hoch konzentriert. Natsu war sich nicht einmal sicher, ob sie noch etwas von dem Gespräch mitbekam.

In Cait Shelter hatte sie ihm einmal erklärt, dass Heilungsmagie – egal ob sie auf Wind, Wasser oder Licht beruhte – immer direkt durch den Körper des zu Heilenden kanalisiert werden musste. Dabei war das Risiko, mehr Schaden als Nutzen anzurichten, indem man Blutgefäße oder Nervenstränge platzen ließ, unglaublich hoch. Ein guter Heiler brauchte deshalb Ruhe oder aber die Fähigkeit, sich diese Ruhe zu verschaffen, gleichgültig, was um ihn herum vor sich ging.

„Ich kann sie nicht mehr riechen“, krächzte Loke mit flackernden Augen. Die Behandlung schlug an, aber sie zollte ihren Tribut. Die Stimme des Leibwächters klang nur undeutlich. „Der Regen hat ihre Spur verwischt…“

„Keine Sorge, Loke“, sagte Romeo zuversichtlich und legte dabei eine Hand auf Natsus Schulter, was diesem klar machte, dass sich die Worte auch an ihn richteten. „Sobald du wieder auf den Beinen bist, kann Wendy Lucy finden.“

Abwesend nickte die Heilerin und Natsu hätte die beiden Jüngeren vor lauter Dankbarkeit am liebsten geküsst!

Der Abend, an dem die Zeremonie angekündigt wurde

Der Tag der Opferung
 

„Juvia hat immer noch nichts gefunden…“

Zerknirscht trat die Blauhaarige zu ihrem Ziehbruder, der an der Fassade der Stadtbibliothek lehnte und mit unzufriedener Miene von einer Pastete abbiss. Es war später Nachmittag und sie waren seit dem frühen Morgen hier gewesen. Irgendwann hatte Gajeel sich verzogen, um sich etwas zum Essen zu besorgen. Juvia musste sich eingestehen, dass sie auch schon mächtigen Hunger hatte.

„Sind wohl doch nicht so schlau, diese Gelehrten“, nuschelte Gajeel und warf die Pastete in ein nahe stehendes Gebüsch. „Uärgs… Ratte!“ Angewidert spuckte er das, was er ihm Mund hatte, ebenfalls aus, ehe er sich von der Wand abstieß. „Lass’ uns etwas Richtiges zum Essen suchen.“

Immer noch betrübt über ihr Scheitern folgte Juvia dem Hünen. Eine Woche lang suchte sie nun schon in der Bibliothek nach einer Erklärung für das untypische Verhalten des Leviathans, aber sie war nicht einmal im Ansatz fündig geworden. Vom Gefühl her hatte sie jedes Buch über Drachenartige im Allgemeinen und Leviathane im Speziellen in der Stadtbibliothek Seite für Seite durchgeblättert. Ihr schwirrte der Kopf vor lauter Fakten, Bildern und Seemannsgeschichten. Und dennoch war sie genauso ratlos wie vor anderthalb Monden.

Im Laufen betrachtete sie nachdenklich Gajeels breiten Rücken. Sie sah nur noch eine Möglichkeit, um vielleicht doch noch an eine Erklärung zu kommen, aber sie wusste ganz genau, dass Gajeel sich nicht darauf einlassen würde. Sie konnte ihn ja irgendwie verstehen. Auch ihr wurde beim Gedanken an Crocus mulmig zumute. Aber wäre es nicht ziemlich egoistisch, dieses Problem nur deshalb zu ignorieren, obwohl es offensichtlich eine Gefahr für alle darstellte, die auf dem Kaiserlichen Meer unterwegs waren?

Juvia war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie gar nicht bemerkte, wie Gajeel stehen blieb. Sie japste überrascht, als sie in seinen breiten Rücken hinein lief, er hingegen geriet nicht einmal ins Wanken.

„Was ist los?“, fragte Juvia und stellte sich neben Gajeel, der die Luft tief mit der Nase einsaugte.

Ohne ihr zu antworten, setzte er sich wieder in Bewegung und führte sie durch einige engere Gassen. Als sie um eine Ecke bogen, stieß Juvia einen überraschten Ruf aus. Ihnen standen Sting und Rogue gegenüber, beide in schlichte Reisemäntel ohne Wappen gehüllt, Sting mit mürrischer Miene, die sich jedoch erhellte, als er Gajeel und Juvia erkannte. Auf Stings Kopf lag ein rotbrauner, junger Exceed mit einem breiten, gelangweilt dreinschauenden Gesicht, während auf Rogues Schulter eine grüne, ebenfalls sehr junge Exceed saß, die ein rosa Froschkostüm trug und sich staunend umsah.

„Was macht ihr denn hier?“, fragten Gajeel und Sting gleichzeitig.

„Einer Spur nachgehen“, sagte Rogue. Und Juvia: „Eine Erklärung suchen.“

Als verwirrtes Schweigen einsetzte, klatschte Juvia mit einem freudigen Lächeln in die Hände. „Juvia freut sich so, euch wieder zu sehen. Sie hat erst vor kurzem mit Gajeel darüber gesprochen, wie schön es wäre, euch zu treffen!“

„Ach so?“, fragte Sting überrascht.

Gajeel nickte ruppig und grinste dann fies. „Seid ihr Zwei verheiratet?“

Während sich über Rogues Wangen ein Rothauch legte, kratzte Sting sich irritiert am Kopf. „Ähm… nein?“

Mit einem triumphierenden Grinsen drehte Gajeel sich zu Juvia um. „Siehst du? Sie brauchen keine Hochzeit, um-“

„Gajeel!“, quietschte Juvia mit brennend heißen Wangen.

Auch nach all den Dingen, die sie bereits erlebt und gesehen hatte, war es für Juvia doch ein Unding, einfach über solcherlei delikate Themen zu sprechen. Nicht nur, weil es privat war, sondern auch weil sie sich insgeheim eingestehen musste, dass sie sich zuweilen eben doch fragte, wie sich das wohl anfühlte – ein Gedankengang, den sie jedes Mal lieber sofort verdrängte.

„Wieso interessiert ihr euch für unser Sexleben?“, fragte Sting, noch immer nicht einmal ansatzweise verlegen.

„Du, Rogue, was ist ein Sexleben?“, mischte sich die junge Exceed auf Rogues Schulter ein.

„Nichts, worüber man spricht!“, sagte Rogue hastig, seine Wangen genauso rot wie Juvias.

Gajeel kicherte diabolisch, wofür Juvia ihm auf den Arm schlug. Er tat so, als würde er eine Fliege verscheuchen, und kicherte weiter.

„Wir müssen weiter“, erklärte Rogue, aber Sting hielt ihn am Mantel zurück und wandte sich an Gajeel und Juvia.

„Wisst ihr etwas über diese Avatar-Sekte? Deswegen sind wir nämlich hier.“

Sofort verfinsterte sich Gajeels Miene wieder. „Ein Haufen Spinner“, knurrte er. „Halten lauter dämliche Reden hier.“

„Und wo halten sie diese Reden?“, hakte Rogue nach.

„Im Dunklen Viertel“, erklärte Juvia und rieb sich dabei schaudernd die Unterarme. „Wir können euch hinbringen.“

Wohl war ihr nicht dabei zumute, auch nur in die Nähe dieser Fanatiker zu kommen. Schon am Tag ihrer Ankunft hier hatten sie die Hetzrede eines Gläubigen mit anhören können. Seitdem hielten Gajeel und Juvia sich vom Dunklen Viertel fern, dessen Name wohl einen mythisch-historischen Ursprung hatte, auch wenn er genauso gut zum tatsächlichen Bild des Viertels passte. Juvia war nicht unbedingt sehr bewandert bei diesem Thema.

„Was wollt ihr überhaupt von denen?“, fragte Gajeel, als sie sich in Bewegung setzten. „Und ihr solltet eure Exceed verstecken, diese Leute würden sie angreifen, die haben etwas gegen alles Magische.“

„Es gibt Ärger in der Stillen Wüste und unsere bisher einzige Spur führt zu Avatar“, erklärte Rogue ernst und schob die kleine Exceed unter seinen Mantel.

Nun runzelte Gajeel die Stirn. „So eine große Nummer schienen die gar nicht zu sein…“

„Dann lasst sie uns aufmischen und die Informationen aus ihnen raus holen, damit wir schnell wieder zurück können“, schlug Sting energisch vor.

„Dürfte nicht allzu schwer sein. Die Verteidigung ihrer Festung ist ein Witz“, meinte Gajeel mit einem Schulterzucken.

„Wir sind nicht hierher gekommen, um Avatar aufzumischen, sondern um Informationen zu sammeln“, maßregelte Rogue seinen Freund.

Sie betraten eine Straße, die kaum noch breit genug für ein Gespann war – und obwohl sie hier schon einmal gewesen war, kam es Juvia auch dieses Mal vor, als würde sie eine ganz andere Welt betreten. Hier gab es keine Händlerstände wie im Rest der Stadt. Die Leute hatten es hier entweder sehr eilig oder sie standen in Gruppen eng zusammen und tuschelten miteinander. Die dreckige Kopfsteinpflasterstraße führte schnurgerade weiter, alle zwanzig oder dreißig Schritte wurden die von Rauch und Alter rußgeschwärzten Häuserfassaden von engen Gassen unterbrochen. Durch einige davon kam man sogar nur durch, wenn man seitwärts lief.

„Sind alle Grünländer-Städte so?“, fragte Sting unbehaglich.

„Überhaupt nicht“, versicherte Juvia eifrig, dankbar um die Ablenkung. „Wir waren schon in wunderschönen Städten. Malba ist eine Ausnahme…“

Sie verstummte, als sie den Platz am Ende der Straße erreichten, der das Zentrum der Freien Stadt darstellte. Er war bereits gut gefüllt, weshalb Gajeel Juvia in die Nische eines Hauseingangs zog. Auffällig viele der Anwesenden trugen Umhänge und an Ketten oder Lederbändern das Wappen Avatars.

„Das ist sie“, brummte Gajeel und nickte zur Festung auf der anderen Seite des Platzes.

Ihre Mauern – von Wetter und Zeit zermürbt, sodass die klaren Konturen anderer Bollwerke hier kaum noch zu erahnen waren – ragten vielleicht sechs Mannslängen in die Höhe und waren abschnittsweise sogar zur Hälfte eingebrochen, der Burgfried konnte kaum größer sein, da er von hier aus nicht zu sehen war, und das Falltor war rostig.

„Niedlich“, lautete Stings vernichtendes Urteil. „Ist das eine Strategie, die Festung so klein zu bauen, dass man sie mit Katapulten nicht treffen kann?“

„Malba ist eine der ältesten Städte von Fiore, gut zweihundert Jahre älter als Sabertooth. Damals herrschten noch andere Verhältnisse“, mutmaßte Rogue und unter seinem Umhang flüsterte es: „Frosch denkt das auch!“

Juvia, die sich nie für Kriegsangelegenheiten interessiert hatte, ließ ihren Blick über den Platz schweifen. Im Zentrum war ein Podest aus Holz errichtet worden. Würde es etwas wieder eine Kundgebung werden? Normalerweise stellten die Redner sich dafür einfach auf Fässer oder Kisten.

In die Menge kam Bewegung, als eine Frau aus der Pforte am Falltor trat. Über die Köpfe der Schaulustigen hinweg konnte Juvia sie danach lange Zeit nicht sehen, aber schließlich trat die Frau mit den kinnlangen, violetten Haaren in der Robe einer Adeptin auf das Podest und breitete dort theatralisch die Arme aus.

„Brüder, wir haben das prophezeite Opfer gefunden und Priester Arlock hat die Zeichen gedeutet. Sobald es vollständig dunkel und damit dem Schwarzen Kometen gefällig ist, wird das Opfer vollzogen!“

Die Männer und Frauen auf dem Platz brachen in frenetischen Jubel aus. Juvia wurde hingegen von Grauen erfüllt. Ein Opfer? Hieß das, dass hier gleich ein Mensch getötet werden sollte? Allein bei der Vorstellung wurde der Wassermagierin speiübel. Und als sie sich zu den drei Drachenreitern umdrehte, erkannte sie, dass sie damit nicht alleine war…
 

Die Stadtbibliothek von Malba hatte längst nicht so einen umfangreichen Bestand wie die Universitätsbibliothek von Crocus und ihr fehlte eindeutig die gestrenge Hand einer so pedantischen Bibliothekarin wie Professorin Belno, aber Levy musste zugeben, dass sie durchaus ihre Reize hatte. Ihre Dracologie-Abteilung war hervorragend ausgestattet und im Antiquariat befanden sich einige wahre Kostbarkeiten.

Es gab hier sogar ein eigenes Themenregal für Avatar, das nicht nur mehrere Studienberichte über die Sekte enthielt, sondern auch die gesammelten Reden ihrer namhaften Meister und die Abhandlungen von dreien dieser Meister, in welchen sie ihre Gedanken über Magie und deren Widernatürlichkeit festhielten. Die Lektüre dieser Werke ging Levy ganz schön an die Substanz, aber sie hatte dabei doch einen wichtigen Einblick in das Gedankensystem der Sekte erhalten. In gewisser Weise war ihr sogar ein Durchbruch gelungen.

Aber Avatar war nicht der Hauptgrund für ihre strapaziöse Reise nach Malba gewesen, sondern das Protokoll über die Überlebenden der Seuche – und genau dieses Protokoll ließ sich partout nicht auffinden. Mittlerweile war Levy sich sicher, dass sie die Stadtbibliothek sehr gründlich nach diesem Protokoll abgesucht hatte, aber es war und blieb verschollen.

„Vielleicht sollten Sie es in Jadestadt versuchen?“, schlug der Bibliothekar freundlich vor, als der Einblick in die Inventarregister verriet, dass die Ausgaben des Protokolls allesamt vor neun Jahren verschwunden waren. Es konnte kein Zufall sein, dass die Bücher zur selben Zeit verschwunden waren wie die in der Universitätsbibliothek von Crocus, was Levys dumpfes Gefühl diese Prophezeiung betreffend noch verstärkte.

Nachdenklich legte Levy bei diesem Vorschlag den Kopf schief. Tatsächlich war die Stadtbibliothek von Jadestadt für ihre gigantische Mythensammlung bekannt. Die Chancen, dort endlich das Protokoll zu finden, standen gar nicht mal so schlecht. Aber wie im Namen der Kaiserin sollte sie dort hinkommen? Die Postkutschen fuhren nur bis nach Heartfilia. Danach ging es nur mit dem Schiff bis nach Sabertooth weiter und von dort aus war es immer noch ein weiter Weg bis nach Jadestadt. Obendrein auch noch durch die Stille Wüste…

„Danke für Ihre Hilfe“, seufzte Levy und schnappte sich ihre Arbeitsmappe mit den Aufzeichnungen, um nach draußen zu gehen.

„Sie sollten heute schnell zu Ihrer Herberge gehen“, riet der Bibliothekar noch mit aufrichtig besorgter Miene. „Heute Nacht könnte es ganz schön ungemütlich werden.“

„Inwiefern?“

Der Mann blickte sich unbehaglich um, dann beugte er sich vor. Levy folgte dem Wink und beugte sich ebenfalls vor, damit sie ihn verstehen konnte.

„Die Verrückten halten heute im Dunklen Viertel irgendeine Zeremonie ab.“

„Die Verrückten? Meinen Sie Avatar?“ Das passte durchaus in das, was Levy bisher über die Sekte gelesen hatte. „Wirklich eine öffentliche Zeremonie?“

„Ja, vor der Alten Festung. Angeblich soll es ein Menschenopfer geben, aber wahrscheinlich wird das nur irgendeine aufgeblasene Schau. Dennoch sollten Sie vorsichtig sein. Der Pulk wird sicher ganz schön aufgeladen sein.“

„Danke für die Warnung und für die Hilfe“, sagte Levy höflich und verließ die Bibliothek.

Auf der Straße haderte sie mit sich. Sie hatte schon Angst vor Avatar, aber gleichzeitig wäre diese Zeremonie die Gelegenheit, um ihre Theorie in Bezug auf die Sekte zu untermauern. Dann wäre ihre Reise nach Malba nicht völlig umsonst gewesen.

Aber sie war völlig allein, sie kannte niemanden hier in Malba und in Crocus wusste auch niemand, dass sie hier war. Dort würde man sich am Beginn des Wintersemesters wundern, wo sie war, aber man würde sie zuerst bei ihren Eltern suchen – und wenn man sie dort nicht fand, hatte man keinerlei Anhaltspunkte für die weitere Suche. Es wäre also mehr als nur leichtsinnig, zu dieser Zeremonie zu gehen.

Doch andererseits hatte sie nicht all ihre Ersparnisse auf den Kopf gehauen, um dann mit beinahe leeren Händen heimzukehren. Sie war aufgebrochen, weil sie sich sicher gewesen war, dass mehr hinter der Prophezeiung des Schwarzen Kometen steckte, und dessen war sie sich immer noch vollkommen sicher!

Mit grimmiger Miene schlug sie den Weg zum Dunklen Viertel ein. Bisher hatte sie das Viertel nicht betreten, aber sie hatte Malbas Stadtplan sehr genau studiert und daher keinerlei Schwierigkeiten, zum alten Stadtkern zu finden, der heutzutage für den Handel und die Verwaltung der Stadt keinerlei Rolle mehr spielte und als Verrücktenviertel verschrien war. Architektonisch war das Dunkle Viertel für Levy jedoch sehr spannend. Es fühlte sich wie eine Zeitreise in jene Epoche an, als man keine Zeit und keine Muße für den Bau breiter, heller Straßen und kunstvoller Gebäude hatte. Hier war alles so urtümlich und machte dem Namen des Viertels wirklich alle Ehre. Die Gebäude drängten sich aneinander und schienen einander einzuquetschen, oft waren sie nur wenige Schrittlängen breit und nur zwei oder drei Stockwerke hoch. Die Fassaden waren vielerorts derartig geschwärzt, dass sie beinahe vollständig dunkel wirkten. Die oberen Stockwerke lehnten sich oft bis zu einer halben Mannslänge über die Straße, was noch mehr Licht von eben jener abhielt.

Da sie sich bisher von diesem Viertel ferngehalten hatte, wusste Levy natürlich nicht, wie es hier normalerweise zuging, aber ihr fiel schnell auf, wie viele Sektenanhänger – Laien, sowie Akolythen – sich auf den Straßen herum trieben und dass alle in eine bestimmte Richtung strebten. Levy folgte dem Menschenstrom, die Kapuze über den Kopf gezogen und die Tasche mit ihren Unterlagen fest an sich gepresst. Ständig hörte sie Getuschel über das Opfer und den Schwarzen Kometen, aber es war nie etwas Handfestes dabei. Nicht zu leugnen war jedoch der erregte Unterton, der in den Gesprächen mitschwang. Diese Menschen fieberten der Zeremonie entgegen und Levy fragte sich allmählich, warum man Avatar leichtsinnigerweise als ungefährlich eingestuft hatte.

Ihr Weg führte Levy auf einen großen Platz vor der Alten Festung. Laut dem Almanach der Städte und Stände Fiores war dieses Bollwerk vor siebenhundert Jahren errichtet worden und hatte damit auch den Grundstein für die Stadtgründung gelegt. Die Dimensionen hatten sich seitdem eindeutig verschoben. Levy hatte in Crocus Privathäuser gesehen, die größer und wehrhafter waren als diese Festung. Der verwahrloste Zustand war eine Qual für jeden Historiker, weshalb Levy versuchte, nicht allzu sehr darauf zu achten.

Sie mischte sich in den Menschenauflauf und arbeitete sich langsam zum Weg von der Festung zum Podest vor. Sie wollte dem später vorbei kommenden Priester so nahe wie möglich sein, um begreifen zu können, was für ein Mensch er war.

Levy musste über ihre eigenen Gedankengänge lächeln. Bisher hatte sie sich nicht unbedingt als für Feldstudien geeignet gehalten und jetzt hatte sie sich einfach in eine hinein geworfen. Noch immer hatte sie Angst, denn es wurde mit zunehmender Dunkelheit immer voller auf dem Platz. Immer wieder wurde sie herum geschubst, aber im Universitätsalltag hatte sie viel Erfahrung damit sammeln können, sodass es sie nicht mehr derart aus dem Gleichgewicht brachte wie an ihrem allerersten Studientag.

Um sich herum hörte sie das Tuscheln der Gläubigen. Anscheinend war eine Adeptin namens Mary kurz vor Levys Ankunft aufs Podest getreten und hatte verkündet, dass das Opfer für den Schwarzen Kometen gefunden worden sei.

Levy wurde mulmig zumute. Irrte sich der Bibliothekar etwa und es ging hierbei um ein echtes Menschenopfer? Das warf Levys gesamtes Bild von Avatar schon wieder über den Haufen! Wieder überlegte sie, ob sie sich nicht lieber zurückziehen sollte, aber sie musste erkennen, dass es bei diesem Gedränge kein Durchkommen mehr gab.

Nur zufällig fiel ihr Blick auf den Sternenhimmel und ihr stockte der Atem, als sie das Sternbild des Drachen erkannte. Wenn man die neun hell leuchtenden Sterne richtig miteinander verband, war das Bild eines Drachen mit ausgebreiteten Schwingen und einer erhobenen Klaue gut zu sehen. Levy konnte sich nicht erinnern, es auch nur in einer Nachtlektion von Professor Michello gesehen zu haben, und nun stand es so klar und deutlich am Himmel, wie man es sonst nur in Büchern sehen konnte. Sofort musste Levy an die Legende denken, laut der das Sternbild nur erschien, wenn es ein Treffen der Drachen gab. Was mochte das bedeuten…?

Das grauenhafte Quietschen der Falltorwinden ließ Levy den Blick wieder senken. Gemeinsam mit all den anderen Schaulustigen drehte sie sich zur Festung um, aber sie war zu klein, um viel erkennen zu können. Eine Hand noch immer auf ihre Tasche gepresst, kämpfte sie nur verzweifelt darum, nicht von den anderen Männern und Frauen zu Boden gestoßen zu werden.

Ein hochgewachsener Mann kam, flankiert von einem Kahlköpfigen mit Tätowierung auf der Stirn und einer dunkelhäutigen Frau, schließlich zuerst an Levy vorbei, gefolgt von einer Violetthaarigen im Adeptengewand und einem winzig kleinen Mann mit angemaltem Gesicht. Die Menschen um Levy herum gerieten in Ekstase und drängten auf den Priester zu, wurden jedoch mühelos von dessen Begleitern zurückgehalten. Schließlich bestieg der Priester das Podest, während die anderen Vier neben dem Aufstieg Stellung bezogen. Alle waren sie schwer bewaffnet. Der Kahlköpfige mit einer monströsen Doppelaxt, die Adeptin mit mehreren offen getragenen Dolchen, ebenso der Kleine und die Dunkelhäutige mit einem Giftsäbel, dessen Führung in Fiore eigentlich genauso verboten war wie Berserker-Waffen.

Dann wurde das Tor erneut geöffnet und in der Menge entstand ein geradezu tollwütiges Geschrei nach dem Opfer. Levy wurde bleich vor Ekel. Noch immer konnte sie nicht glauben, dass hier tatsächlich ein Mensch getötet werden sollte.

Das Opfer wurde von mehreren Akolythen geführt, die sich mit bald blutigen Prügeln einen Weg durch die Menge bahnen mussten. Levy erhaschte einen Blick auf verdreckte, blonde Haare, doch alles andere blieb ihr zunächst noch verborgen. Sie versuchte auch gar nicht erst, sich zu strecken. Zum einen wusste sie, dass es ohnehin nichts brachte, und zum anderen hatte sie auch so schon Schwierigkeiten, ihr Frühstück bei sich zu behalten. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, als stünde etwas Furchtbares bevor. Wieder überlegte sie, die Flucht zu ergreifen, aber dann beugte sich einer der Akolythen vor und Levy erkannte ein zwar verdrecktes, aber doch wunderschönes Gesicht mit einem energischen Kinn, sinnlichen Lippen, hohen Wangenknochen und ausdrucksstarken, braunen Augen.

Es fühlte sich an, als würde ihr das Blut in den Adern gefrieren, als ihr Blick dem ihrer besten Freundin Lucy Heartfilia begegnete…
 

Geschmeidig landete Meredy in der Hocke und ließ den Blick über den beengten Hof der Alten Festung von Malba wandern. Für ihren Dienst für die Unsterbliche Kaiserin hatte Meredy schon so einige armselige Löcher aufgesucht. Dieses hier gehörte eindeutig zu den schlimmsten. Es hatte sogar Schmugglerverstecke in den Slums von Crocus gegeben, die sauberer waren als dieser Hof. Man hatte sich hier nicht einmal die Mühe gemacht, die Hinterlassenschaften der Pferde zu beseitigen, und aus den kümmerlichen Holzunterständen für die Tiere stank es erbärmlich nach gammligem Stroh.

Meredy zog sich ihr Halstuch über den Mund und schob eine widerspenstige Haarsträhne zurück unter das schwarze Kopftuch, ehe sie sich langsam an den Verschlägen vorbei pirschte – immer Ausschau haltend, ob doch jemand auf den Hof trat, aber es machte ganz den Anschein, als sei die gesamte Sekte draußen bei der Zeremonie. Die war im vollen Gange. Nachdem das fanatische Grölen der Menge etwas abgeflaut war, erklang nun eine unangenehme Männerstimme für eine Rede, deren genauen Inhalt Meredy hier nicht zu hören vermochte. Sie konzentrierte sich lieber auf den menschenleeren Innenhof.

Dass man hier keinerlei Vorsicht walten ließ, machte es für Meredy erheblich einfacher. Und gerade das machte sie stutzig: Während des langen Ritts nach Malba war sie es immer wieder durchgegangen, hatte alle Indizien hin- und hergeschoben – und Avatars Rolle ergab einfach keinen Sinn für sie.

Gleichwohl war gerade das erst recht ein Grund, der ganzen Sache nachzugehen. Deshalb war sie nach ihrer Ankunft in Malba vor vier Tagen in eine Assassinen-Ausrüstung geschlüpft – sie hatte ein wenig improvisieren müssen, weil sie ihre eigentliche Ausrüstung bei ihrem Aufbruch zum Spaltengletscher natürlich in Crocus gelassen hatte – und hatte ihre speziellen Quellen angezapft, während Lyon und Gray sich ein Bild von Malba und von Avatars öffentlichem Auftreten gemacht hatten.

Meredy wusste nur zu gut, dass die Brüder darauf brannten, etwas Handfestes zu unternehmen, aber sie hatte die Beiden noch einmal genau davor gewarnt. Das Leben der vermissten Eismenschen konnte nur geschützt werden, wenn diejenigen, die sie gefangen hielten, sich in Sicherheit wähnten.

Aus diesem Grund hatte Meredy auch darauf bestanden, alleine in die Alte Festung einzudringen. Lyon und Gray waren herausragende Krieger und Magier, aber sie waren keine Assassinen – und hier brauchte es die Expertise eines eben solchen.

Lautlos glitt Meredy durch die halbgeöffnete Tür des Burgfrieds und ertastete dessen Wendeltreppe. Es war eng hier, roch nach menschlichen Ausscheidungen und war überdies nur spärlich beleuchtet. Meredy ließ sich einige Herzschläge Zeit, damit ihre Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnen konnten, dann erklomm sie die ausgetretenen Stufen.

In den ersten beiden Stockwerken fand sie mehrere verschlossene Türen vor, doch keines der Schlösser stellte eine Herausforderung für sie dar. Dahinter verbargen sich karg eingerichtete Kammern, die immer nur wenige Schritte in Länge und Breite maßen. Erst im dritten Stock fand Meredy ein Arbeitszimmer, dessen Untersuchung ihr lohnenswert erschien.

Der Schreibtisch im Zentrum des Zimmers war ein Meisterwerk der Tischlerkunst, aus wertvollem magnolischen Eichenholz und mit liebevoll herausgearbeiteten Schnitzornamenten, aber wie der Rest der Alten Festung sträflich vernachlässigt. Das Holz war grau und spröde geworden, ein Bein war zur Hälfte zersplittert und eine Ecke war mit teilweise wohl schon Jahrzehnte altem Wachs verunstaltet, das nie weg gekratzt worden war.

Immer darauf lauschend, ob sich nicht vielleicht doch jemand näherte, glitt Meredy zum Schreibtisch und studierte das Papierchaos darauf. Redenentwürfe, philosophische Abhandlungen zur Widernatürlichkeit der Magie, astronomische Berechnungen zu einem ominösen Schwarzen Kometen. Eine Hetzschrift gegen Geister, eine Anklage gegen die Kaiserin, eine Argumentation gegen die Existenz von Drachen. Meredy verzog angewidert das Gesicht. Der Priester von Avatar war eindeutig krank im Kopf!

Meredy fiel eine Liste in die Hand, die mit Namen und Truppenzahlen gefüllt war. Der Name Jerome kam ihr bekannt vor, das war ein verrufener Söldner, allerdings war der Name zusammen mit der darunter angegebenen Truppenstärke durchgestrichen worden. Dafür standen da noch die Namen Abel, Briar und Goumon, alle jeweils mit beachtlichen Kontingenten ausgestattet. Das war merkwürdig. Woher hatten diese Wirrköpfe das Geld für so viele Söldner? Jetzt suchte die Assassine gezielt nach Korrespondenzen und taktischen Plänen. Die aufgelisteten Truppen könnten für den Angriff auf das Dorf der Eismenschen gereicht haben.

Schließlich entrollte sie eine fleckige Karte mit ziemlich stümperhaften taktischen Markierungen für Verteidigungsschwachpunkte, Landmarken und Truppenbewegungen. Doch das fett eingekreiste Ziel war nicht das Dorf, sondern Heartfilia…

Meredy wurde eiskalt zumute. Das durfte nicht geschehen! Lucy war in Heartfilia! Sie durfte nicht dasselbe durchmachen wie Gray und Lyon – und wie Meredy.

Tief holte die Assassine Luft und faltete dann den Plan wieder zusammen, nachdem sie sich alles genau eingeprägt hatte. Dann suchte sie weiter, doch sie fand keinerlei Hinweis darauf, dass Avatar tatsächlich hinter dem Angriff auf die Eismenschen steckte. Das hier war eine Sackgasse, aber zumindest hatte Meredy hier andere wichtige Informationen erhalten. Sie musste sofort zu Gray und Lyon gehen. Sie mussten Lucy warnen, bevor ihre Heimat angegriffen wurde!

Beinahe hatte Meredy sich schon herum gedreht, als ihr unter einem krakeligen Redenentwurf eine kunstvoll gearbeitete, winzige Gemme auffiel, durch deren Öse eine feingliedrige Goldkette gefädelt war. Auf blauem Grund zeigte diese Gemme eine silberne, kniend betende Frau unter drei goldenen Sternen. Dieses Schmuckstück hatte sie schon oft gesehen…

Hastig steckte Meredy die Kette mit der Gemme in eine ihrer Gürteltaschen und machte dann auf dem Absatz kehrt. Beinahe hätte sie sogar vergessen, die Tür wieder abzuschließen. Ihre Hand zitterte unmerklich, als sie ihr Werkzeug wieder einsteckte. Sie zwang sich, tief durch zu atmen und das Bild von einem herzlichen Lächeln zu verdrängen, das ihr zusammen mit einer festen Umarmung geschenkt worden war, als sie mit Lyon und Gray zum Spaltengletscher aufgebrochen war…
 

„Wir dürfen das nicht zulassen“, krächzte Juvia. Ihre blauen Augen flackerten vor Entsetzen, während sie das Geschehen auf dem Podest verfolgten.

Nachdem die junge Frau, die als Opfer dienen sollte, auf das Podest geführt worden war, begann der Priester mit seiner Rede. Das Ganze war eine lächerliche Vorstellung und zugleich absolut ekelerregend.

Unter seiner Robe spürte Rogue Froschs Zittern und über die Berührung ihrer Schultern nahm er Stings Anspannung wahr.

„Wir können nicht einfach vorstürmen. Wir sind nicht schnell genug am Podest“, mahnte er und tastete nach seinem telepathischen Band zu Skiadrum. Sein Drache ekelte sich genauso vor dem, was hier vor sich ging, schien jedoch unschlüssig zu sein, wie man der Frau helfen konnte, ohne dass es zu vielen Toten kam.

„Ich könnte…“, begann Sting.

„Das würde die gesamte Stadt in Aufruhr versetzen“, unterbrach Gajeel ihn.

„Aber wenn wir unsere Kräfte kombinieren…“

Rogue presste die Lippen zusammen. Wenn sie sich jetzt hier einmischten, hatten er und Sting keine Chance mehr, ihre Mission zu erfüllen. Aber würde Minerva es gutheißen, wenn sie für ihre Mission zuließen, dass eine wehrlose Frau geopfert wurde? Wohl kaum, zumal ihre Mission ohnehin fragwürdig war…

Ein Impuls seines Drachen riss Rogue aus seinen fieberhaften Überlegungen. Er tauschte einen überraschten Blick mit Sting. Anscheinend hatte der auch eine Nachricht von Weißlogia erhalten.

„Gib mir Lector und mach’ dich bereit“, entschied Rogue.

Er verdichtete die Schatten um sie herum, damit niemandem auffiel, wie der rotbraune Exceed unter seinen Reiseumhang schlüpfte. Die zitternde Frosch klammerte sich sofort an ihren Freund.

Auf einmal hob Gajeel den Kopf. Seine Nasenflügel bebten und er schnupperte in verschiedene Richtungen. Dann verdüsterte sich seine ohnehin schon grimmige Miene noch mehr und er wandte sich ruppig an Juvia: „Bleib’ bei Rogue. Haltet euch vom Gedränge fern. Wehe, ihr passiert etwas“, warnte er Rogue mit einem wilden Zähnefletschen. Ohne eine weitere Erklärung verschwang er in der Menge der Schaulustigen.

Verwirrt tauschte Rogue einen Blick mit seinem Partner, ehe er Juvia ansah, doch die hob unsicher die Schultern.

„Juvia versteht es auch nicht…“

„Er wird schon seine Gründe haben“, entschied Sting und öffnete die Spange seines Reiseumhangs, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Er warf Juvia den Umhang über und schob sie in Rogues Richtung, der sie sofort tiefer in die Nische zog, wo die Schatten sie Beide verbargen.

„Pass’ auf dich auf“, sagte Rogue angespannt.

Obwohl Sting gleich mehr als genug Rückendeckung erhalten würde, war Rogue doch für einen Moment flau zumute.

„Wird schon schief gehen.“ Die blauen Augen funkelten abenteuerlustig.

„Wüstenlümmel“, brummte Rogue, was Sting sogar ein leises Lachen entlockte.

„Passt aufeinander auf“, sagte er noch, dann tauchte er ins Gedränge ab.

„Sollten wir nicht helfen?“, fragte Juvia mit schuldbewusster Miene.

Rogue schüttelte den Kopf. „Nicht nötig. Es ist bereits Verstärkung unterwegs.“

Und nach allem, was Skiadrum ihm übermittelte, war diese Verstärkung extrem wütend…

Die Nacht, in der sie geopfert werden sollte

Für Gray gab es nur wenige Sonnenmenschen, denen er vorbehaltlos vertraute. Solange er auch schon unter ihnen gelebt hatte, sie waren in seinen Gedankengängen noch immer zuallererst Sonnenmenschen. Menschen, die ihm immer etwas fremd waren und denen er auch immer fremd blieb. Aber es gab einige wenige, auf die das nicht zutraf – die ihm so nahe wie Familie waren.

Und einer von ihnen war genau die Frau, die dort auf dem Podest kniete, während ihr dieser aufgeblasene Sektenführer einen Dolch an die Kehle hielt. Als designierte Fürstin von Heartfilia war Lucy auch bei offiziellen Anlässen am Kaiserlichen Hof zugegen gewesen, genauso wie Gray und Lyon als Repräsentanten der Eismenschen. Wie genau er damals vor sechs Jahren mit Lucy ins Gespräch gekommen war, wusste Gray nicht einmal mehr, aber dem war eine Freundschaft gefolgt, die er nicht missen wollte. Diese Freundschaft war genau das, wovon sein Vater damals gesprochen hatte, als er ihn und Lyon nach Crocus zurück geschickt hatte. Ein weiterer Grund, warum seine Mission so wichtig war…

Grays Blick zuckte quer über den Platz zu einem Vordach, auf welchem Lyon Stellung bezogen hatte, um die Zeremonie zu beobachten. Genau wie Gray trug er einen zerschlissenen Reiseumhang, unter dessen Kapuze nur einige weiße Haarsträhnen hervor lugten, aber dank der vorherigen Absprache fand Gray ihn sofort. Der Blick seines Bruders war von demselben Horror erfüllt, der auch Gray beinahe zittern ließ.

Und sie waren sich einig: Sie konnten ihre gemeinsame Freundin nicht sterben lassen. Was auch immer es sie kosten mochte, um keinen Preis in der Welt konnten sie tatenlos zusehen, wie Lucy geopfert wurde.

Gray eilte zu der Leiter, mit der er und die anderen Schaulustigen auf das Dach gelangt waren. Mehrere Männer, die keinen Platz mehr auf dem Dach gefunden hatten, standen auf den Sprossen. Seitlich hangelte Gray sich die Leiter hinab, was die Leiter bedenklich schwanken und die Leute darauf laut protestieren ließ. Eine Mannslänge über dem Boden ließ Gray sich einfach fallen und landete sicher mit den Knien federnd am Boden. Noch während er sich aufrichtete, löste er die Klammer seines Reiseumhangs, der ihm hier nur hinderlich sein würde, und stürmte los.

Obwohl er die Gläubigen oft grob beiseite stoßen musste, nahmen sie kaum Notiz von ihm, so ekstatisch waren sie angesichts der Ereignisse auf dem Podest, die Gray nur noch vage erkennen konnte, weil ihm so viele Leute im Weg waren.

Der Priester zog Lucys Kopf an den Haaren in den Nacken, während er ein Gebet an den Schwarzen Kometen intonierte. „Oh, du ewig Wachender! Nimm dieses Opfer an und reinige das Land von der Verderbnis…“

Panik stieg in Gray auf und er versuchte, schneller voran zu kommen, aber je näher er dem Podest kam, desto dichter standen die Gaffer. Er hatte nicht einmal genug Raum, um die Leute mit seinem Schwert zu vertreiben. Auf Lyons Seite konnte es kaum anders aussehen.

Blieb ihnen denn noch eine Wahl? Wenn sie ihre Freundin retten wollten, mussten sie Magie gebrauchen, egal was das bei einem magiefeindlichen Pulk wie diesem hier für Folgen haben mochte…

Fieberhaft konzentrierte Gray sich auf seine Magie, als über ihm ein markerschütterndes Gebrüll erklang. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Gray zum Torhaus der Alten Festung, auf dem sich ein leibhaftiger Drache niederließ, ein Koloss aus roten und gelben Schuppen mit einem narbigen Gesicht und Klauen so lang wie Grays Unterarme. Die riesigen Flügel Ehrfurcht gebietend ausgebreitet, warf er den Kopf in den Nacken und spie eine Feuerlanze in den Himmel, deren Hitze allen Anwesenden auf dem Platz den Schweiß aus den Poren trieb.

Neben ihm landete ein zweiter Drache auf den bröckeligen Mauern – ein wenig kleiner, mit weicheren Konturen und von reinweißer Farbe – und als Gray in den Himmel blickte, sah er dort drei weitere Drachen kreisen, einer ebenfalls weiß, einer schwarz, der letzte grau.

Dann senkte der erste Drache einen seiner Flügel bis zum Boden vor dem Torhaus und Gray erkannte zwei Männer – einen mit pinkfarbenen Haaren und einem mit kupferfarbenen, der ihm irgendwie bekannt vorkam –, die auf diesem Flügel mit gezogenen Waffen zu Boden rutschten. Sie landeten mitten in der in Panik versetzten Menge.

„Lasst die Frau sofort frei oder wir garantieren für nichts“, grollte der rote Drache und droben am Himmel brüllte einer der anderen Drachen und eine Lanze aus Licht erhellte für einen Moment die Nacht.

Mindestens die Hälfte der Anwesenden gab sofort Fersengeld und Gray musste nun gegen den Strom der Flüchtenden ankämpfen, die ihn in ihrer Hast, sich vor den Drachen in Sicherheit zu bringen, mehr als einmal beinahe von den Füßen rissen. Als sich der Platz endlich leerte, erkannte Gray, dass ein wild entschlossener Trupp einen Ring um das Podest gebildet hatte. Auch der Priester war noch da und deutete dramatisch auf die Drachen.

„Da seht ihr die Scheusale!“, spie er aus. „Sie verwüsten unser Land und wollen uns unterdrücken! Kämpft gegen sie! Der Schwarze Komet wird euch bald beistehen!“ Und dann holte er mit dem Dolch aus und zog Lucys Kopf weiter in den Nacken. Gray blieb vor Angst das Herz stehen…

Im nächsten Moment wurde der Priester zurück geworfen. Ein Pfeil ragte aus seiner Schulter hervor. Gray folgte dem mutmaßlichen Kurs und riss wieder weit die Augen auf, als er auf einer halb zerfallenen Burgzinne neben dem weißen Drachen niemand anderen als Romeo erkannte, der bereits einen neuen Pfeil angelegt hatte und auf das Podest zielte.

„Tötet sie!“, keifte der Priester, dessen Robe sich langsam rot färbte. „Schlachtet die alle ab!“

Einer seiner Akolythen griff nach Lucy, um sie als lebenden Schild zu missbrauchen, doch noch ehe er ihr nahe kommen konnte, hatte er einen Pfeil im Auge stecken.

Endlich riss Gray sich aus seiner Starre. Romeo war ein grandioser Bogenschütze, aber der Schutz, den er Lucy gewährleisten konnte, hatte seine Grenzen, zumal der Vorrat seiner Pfeile endlich war.

Schwert schwingend und brüllend kämpfte Gray sich durch die vor Hass geifernden Gläubigen. Die meisten waren kaum mehr als wilde Tiere, aber einige stellten sich ihm mit teils improvisierten und teils richtigen Waffen. Mühelos wich Gray ihren zumeist stümperhaften Angriffen aus und teilte bedenkenlos Schläge aus. Er hörte das Knacken von Knochen, spürte das Reißen von Haut, sah Blut sprudeln, sah panische Augen, hörte Stöhnen und Schreie, erhielt Stöße, wenn er sich durch das Gedränge schlug. Es kam ihm so vor, als wüssten die Leute nicht, in welche Richtung sie fliehen sollten. Anscheinend gab es an mehreren Stellen auf dem Platz weitere Unruhen, auch wenn er keine Ahnung hatte, worin diese ihren Ursprung hatten.

Endlich erreichte er das Podest, umringt von Akolythen. Darauf standen weitere Akolythen. Sie hatten Lucy die Arme auf den Rücken gedreht. Ein Blutrinnsal an ihrer linken Schläfe verriet, wie heftig Lucy sich gewehrt haben musste. Gegen diese zahlenmäßige Übermacht konnte Romeo mit Pfeil und Bogen nichts ausrichten.

„Ergebt euch, Ketzer!“, schrie der Priester, der zu Grays Leidwesen immer noch lebte, auch wenn er sich schwer auf einen Akolythen stützte.

Gray konnte nicht hoffen, unbemerkt an Lucy heran zu kommen, also trat er offen vor das Podest, sein Breitschwert fest in der Hand.

„Ich bin Gray Fullbuster, Magier der Kaiserlichen Armee. Lasst die Fürstin Heartfilia sofort frei oder ihr werdet es bereuen!“

Von links kam ein Söldner von massiger Gestalt mit einer gewaltigen Doppelaxt auf ihn zu. Ehe er ihn jedoch erreichen konnte, wuchs zwischen ihnen eine Eiswand hervor. Gray drehte sich zur Seite und erkannte seinen Bruder, der eine Hand noch für die Bündelung des Miasmas erhoben hatte und in der anderen sein eigenes Breitschwert hielt.

Der Platz war nun beinahe leer, nur das Podest war übervoll. Mehrere Akolythen stürmten auf Gray und Lyon zu, doch sie wurden von einer Art Lichtlanze fortgeschleudert und ein Mann in Grays Alter mit strohblonden Haaren und sonnengebräunter Haut sprang mit gezogenem Säbel zwischen die Brüder.

„Sting Eucliffe, Rechte Klaue der Wüstenlöwin“, bellte er und hob eine Hand, in der sich eine Lichtkugel manifestierte. Seine Lippen umspielte ein herausforderndes Grinsen. „Basilisken-Reiter der Wüstennomaden, Reiter von Weißlogia, dem Lichtdrachen.“

„Abschaum!“, schrie Arlock wie von Sinnen. „Widerwärtiges Gesindel! Schandflecke der Natur!“

Dann löste sich die Formation am Podest auf. Die Akolythen gerieten in Panik, als mitten unter ihnen zwei Kämpfer um sich schlugen. Gray konnte die Beiden nicht erkennen, aber er entschied, dass ihm das im Moment egal war. Wichtig war jetzt nur, Lucy zu retten.

Gemeinsam mit Lyon und dem Wüstennomaden kämpfte er sich durch die Reihen der Gläubigen. Er beobachtete wie sein Verbündeter sich mit einer Dunkelhäutigen maß, die einen Giftsäbel führte, aber erkannte die Überlegenheit des Blonden und strebte weiter…
 

Um Lucy herum herrschte Chaos. Priester Arlock keifte unablässig, aber es war unmöglich, auch nur die Andeutung einer Schlachtordnung zu erkennen. Lucy wurde herum geschubst, keiner fühlte sich mehr für sie zuständig. Alle wollten sich mit den Magiern messen, die mitten unter ihnen aufgetaucht waren.

Lucy sah einen großen, wuchtigen Mann mit wilden, schwarzen Haaren, der ein Bastardschwert gegen seine Gegner schwang, als sei es nur ein dünner Stock. Hinter ihm vermeinte sie für einen wahnwitzigen Moment Levy zu erkennen.

Da waren Eis und Licht und schließlich auch Flammen. Pfeile trafen die Männer um Lucy herum. Gebrüll, Schmerzensschreie, Flüche. Und das Gebrüll der Drachen und der Puls der Sterne.

Schnell und hektisch schlug er, als wüsste er genau, was hier vor sich ging. Er war nun so stark, dass Lucas Herz davon zusammen gepresst wurde.

Zitternd suchte Lucy nach einem Ausweg aus dem Getümmel, als sie von einem brutalen Tritt in den Rücken zu Boden geschickt wurde. An den Haaren wurde sie nach oben gezogen, bis sie auf Augenhöhe mit einem sehr kleinen Mann mit geschminktem Gesicht war, der sie aus kalten Augen durchdringend anstarrte.

„Nicht doch, Fürstin, dies ist Euer großer Abend“, sagte er höhnisch. Gemächlich zog er einen seiner Dolche.

Lucy war es so Leid. Diese Fanatiker mit ihren krankhaften Vorstellungen hatten ihre Freunde angegriffen und Lucy in den letzten Tagen die Hölle auf Erden bereitet. Nie hatte Lucy sich richtig zur Wehr setzen können und jetzt führte dieser Mistkerl sich auf, als sei sie nur ein Spielzeug!

Mit einem wütenden Aufschrei warf Lucy ihr gesamtes Körpergewicht gegen den Mann, der überrascht zurückstolperte. Als Lucy nach seinem Dolch greifen wollte, hatte er sich schon wieder gefangen, wich aus und wollte mit der Waffe ausholen, aber dann war da auf einmal eine Hand, die ihn an der Schulter packte und von Lucy fort schleuderte.

Lucy erkannte einen breiten Rücken, der nur mit einer Weste bekleidet war und sich schützend vor sie schob, als der kleine Mann wieder angriff. Mit dem Langschwert wehrte er die schnellen Schläge und Stiche mit einer Gewandtheit ab, wie Lucy es bisher nur selten mit dieser langen, schweren Waffe gesehen hatte. Selbst im hier herrschenden Getümmel bewegte er sich beinahe frei mit seinem Schwert und hielt den schnellen Dolchkämpfer anscheinend mühelos auf Abstand.

Und dann trat er blitzschnell vor, zog mit der Linken einen Dolch aus einem Holster am Gürtel und fuhr damit über die Kehle des kleinen Mannes. Voller Entsetzen sah Lucy, wie das Leben aus den kleinen, kalten Augen wich und der Körper in sich zusammen sackte. Sie hatte diesem Mann nicht einmal ansatzweise Sympathie entgegen gebracht, aber bis vor ein paar Tagen war ihr der Anblick von Toten durch einen Kampf immer erspart geblieben. Zu sehen, wie schnell ein Leben enden konnte, war… verstörend…

Lucys Retter drehte sich zu ihr herum. Erst jetzt erkannte sie die pinken Haare, die verwegen vom Kopf abstanden, und die weißen, nun besudelten Pluderhosen nach Art der Wüstenbewohner. Doch die dunklen Augen wirkten nun ganz anders, als Lucy sie in Erinnerung hatte. Sie flackerten vor Wut und vor… Angst?

„Natsu?“, krächzte Lucy und machte einen Schritt auf den jungen Mann zu.

In dem Moment sprang Priester Arlock von der Seite auf sie zu, martialisch schreiend und mit dem Ritualdolch fuchtelnd. Ehe er Lucy und Natsu jedoch nahe kommen konnte, wurde von hinten mit derartiger Wucht ein Breitschwert in seinen Nacken geschlagen, dass sein Genick mit einem gut hörbaren Knacken brach. Zu Füßen des kampfbereiten Natsu fiel der Priester zu Boden, der Kopf seltsam verdreht, die Augen starr auf Lucys Füße gerichtet.

Benommen hob Lucy den Blick, um ihren zweiten Retter zu identifizieren. Sie konnte ihn nur verschwommen erkennen, was sich auch nicht besserte, als sie heftig blinzelte. Erst jetzt bemerkte sie wieder ihren schmerzhaft pochenden Kopf und ihre schlotternden Knie.

„Gray…“, wisperte sie unendlich schwach.

Die Beine gaben unter ihrem Körper nach. Natsus starke Arme fingen sie auf und hoben sie hoch. Über sich erkannte Lucy Gesichter und Stimmen drangen an ihr Ohr. Mehrere Leute schienen sie zu rufen und irgendwie hatte sie das Gefühl, als würde sie diese Stimmen kennen, aber sie konnte nichts davon noch richtig zuordnen.

Das Einzige, was sie mit völliger Klarheit sehen konnte, ehe alles schwarz wurde, war das Sternbild des Drachen…
 

Mit einer Gewandtheit, die viele einem so großen Wesen niemals zutrauen würden, sprang Grandine auf den nun leeren Platz vor der Alten Festung und Romeo und Wendy glitten von ihrem Rücken und eilten zum Podest, während Igneel sehr ausgiebig das Torhaus der Festung zertrampelte. Auf dem stand Natsu mit Lucy in den Armen, ihm gegenüber Gray, der offensichtlich nicht wusste, ob er dem Drachenreiter trauen konnte. Auch die Tatsache, dass Loke sich neben Natsu stellte, schien das Misstrauen des Eismenschen nicht zu lindern.

Von den Sektenanhängern stand keiner mehr. Gut drei Dutzend von ihnen lagen am Boden, einige atmeten noch, doch die meisten waren der Wut ihrer Angreifer zum Opfer gefallen. Allein Romeo wusste von mindestens drei tödlichen Treffern, die ihm trotz der erschwerten Bedingungen gelungen waren.

Nun näherten sich dem Podest zu Romeos Verblüffung immer mehr bekannte Gestalten. Lyon trat neben seinen Bruder, ebenso angespannt, aber bis auf ein paar Kratzern genauso unversehrt. Zu Natsu gesellte sich Sting dazu, der in einer Hand seinen eigenen Säbel und in der anderen einen Giftsäbel hielt. Von den Häusern kamen Rogue und Juvia heran, an Rogues Schultern klammerten sich zwei junge Exceed, die sich verschreckt umsahen, und zu Romeos besonderer Überraschung tauchte auf einmal Levy neben Natsu auf und versuchte, mit fürchterlich zitternden Händen ihre beste Freundin zu untersuchen, hinter ihr ein grimmiger Gajeel, der sein Bastardschwert mit der Robe eines toten Akolythen abwischte.

Romeo wurde bewusst, dass er und Wendy die Einzigen waren, die alle Anwesenden bereits kannten. Während seine Freundin Natsu dazu brachte, Lucy zu Boden zu legen – erstaunlicherweise besaß Natsu so viel Feingefühl, eine saubere Robe ausbreiten zu lassen, ehe er Lucy darauf ablegte –, stellte Romeo sich demonstrativ in die Mitte des Geschehens.

„Romeo, wer sind diese Leute?“, fragte Gray Zähne knirschend.

„Drachenreiter. Ihr könnt ihnen vertrauen.“

Die beiden Eismenschen wirkten alles andere als überzeugt. Irgendwie verhielten sie sich seltsam. In ihren Augen erkannte Romeo eine Härte, die früher nicht da gewesen war. Sie erinnerte ihn an Mest und Azuma, ohne dass er den Grund dafür richtig erklären könnte.

„Wir können uns einander später richtig vorstellen, aber jetzt sollten wir Deckung suchen“, schlug Loke mit steinerner Miene vor, während er sich neben die bewusstlose Lucy kniete. In den Sachen, die Natsu ihm geliehen hatte – Romeo fragte sich immer noch, wie Loke seine eigene Kleidung eigentlich eingebüßt hatte –, sah er sehr merkwürdig aus. Dank Wendy war er wieder auf den Beinen, aber ihm war die Erschöpfung der letzten Tage noch deutlich anzusehen. „Wendy, wie geht es ihr?“

„Es scheint vor allem Erschöpfung zu sein“, erklärte die Drachenreiterin ruhig. „Diese Verletzungen sind alle nicht weiter gefährlich.“

„Er hat Recht“, meldete sich Rogue zu Wort. „Einige der Sektenanhänger werden sich wahrscheinlich zusammenrotten und bewaffnen und dann hierher zurückkehren.“

Juvia hatte sich inzwischen neben Wendy gesellt und stellte dieser reines Wasser mit ihrer Magie zur Verfügung, welches für die Reinigung des Gesichts diente, während ihr Blick immer wieder fasziniert zu Gray huschte. Levy hockte zitternd daneben und hielt sich an Lucys Hand fest.

Sting blickte sich um und sah dann zur Festung. „Was ist mit unserer Mission, Rogue? Wir wissen noch nicht, ob sie hinter den Ereignissen in der Stillen Wüste stecken.“

Als Romeo eine weitere Person bemerkte, die langsam von der Festung her zu ihnen kam, seufzte er frustriert. Die ganze Angelegenheit wurde immer komplizierter!

Langsam kam Meredy zu ihnen. Sie trug schwarze, eng anliegende Lederhosen und ein ebensolche Bluse aus Leinen, die sie an den Unterarmen mit ebenfalls schwarzen Lederstreifen umwickelt hatte, und hielt die auffälligen Haare unter einem Kopftuch verborgen. Obwohl offensichtlich improvisiert, war es die Ausrüstung einer Assassine. Als Rogue sie sah, wandte er sich an seinen Partner: „Anscheinend müssen wir die Festung nicht mehr auf den Kopf stellen, sondern nur die richtige Person fragen.“

„Raios Cheney“, grüßte Meredy ruhig und nickte dem Schattenmagier zu.

„Er heißt Rogue“, widersprach Frosch eifrig.

Meredy nahm die Korrektur mit einem schlichten Nicken zur Kenntnis, ehe sie zu den Fullbuster-Brüdern blickte und mit dem Kopf schüttelte. Die Beiden wirkten gleich noch angespannter.

Rogue, dem dieser wortlose Austausch zweifellos auch nicht entgangen war, überging das und kam auf die eigene Frage zurück. „Ihr ward in der Festung von Avatar. Habt Ihr Hinweise darauf gefunden, dass sie eine Verbindung in den Süden haben?“

„Nicht nach Sabertooth oder Jadestadt“, erwiderte Meredy langsam und ging zu der Gruppe um Lucy. Aus einer Gürteltasche holte sie eine Kette und gab sie Loke. „Wir müssen so schnell wie möglich aufbrechen. Ich habe im Arbeitszimmer des Priesters einen Plan für einen Angriff auf Heartfilia gefunden.“

Loke erbleichte und Levy und Juvia zuckten zusammen.

„Dann sollten wir aufbrechen, sobald Lucy wach ist“, entschied Natsu und die Anderen nickten reihum.

Loke stand auf. „Natsu, Romeo, bringt Lucy aus der Stadt raus. Mir ist es lieber, wenn sie hiervon nichts mehr sieht.“ Er deutete auf die vielen Leichen. „Ich sorge dafür, dass Levy die nächste Postkutsche nach Crocus kriegt, dann folge ich euch.“

„Nein“, widersprach Levy ungewöhnlich scharf. „Ich komme mit euch mit nach Heartfilia.“

Loke runzelte die Stirn. „Lucy würde nicht wollen, dass du in Kämpfe verwickelt wirst.“

„Wie ich das sehe, seid ihr schlagkräftig genug, dass ich mir darum keine Sorgen machen muss. Und wenn es Lu wieder besser geht, muss ich weiter nach Jadestadt.“

„Jadestadt ist bis auf Weiteres nicht erreichbar“, mischte Rogue sich ein.

Levy machte eine fahrige Handbewegung. Es war offensichtlich, dass so viele Krieger auf einem Haufen sie einschüchterten, aber sie versuchte dennoch, standhaft zu bleiben.

„Juvia findet, dass Levy ein Recht darauf hat, bei ihrer Freundin zu bleiben.“

„Das ist zu riskant“, erwiderte Gray ernst. „Wir wissen nicht, was uns in Heartfilia erwartet, und Levy hat keinerlei Kampferfahrung.“

„Dann müssen wir halt auf sie aufpassen“, brummte Gajeel und zuckte mit den breiten Schultern.

Ausnahmslos alle Anwesenden starrten den Eisenmagier verblüfft an.

Seufzend blickte Loke auf die Blauhaarige hinunter. „Lucy wird das nicht gutheißen.“

„Muss sie auch nicht, das ist meine Entscheidung.“

„Können wir dann?“, brummte Natsu und kniete sich neben Wendy. „Können wir sie transportieren?“

„Ich denke ja, aber behalt’ sie gut im Auge und versuche, sie möglichst ruhig zu halten.“

Natsu nickte ernst und schob vorsichtig seine Arme unter Lucys Körper, um sie hoch zu heben. Mit seiner Last kletterte er vorsichtig auf den Rücken seines Drachen, der neben Grandine gelandet war. Loke folgte ihm mit angespannter Miene.

Als Gray ebenfalls folgen wollte, winkte Romeo ihn zu sich. „Du und Levy reitet mit Sting auf Weißlogias Rücken. Das Gewicht ist den Drachen egal, aber es ist nicht viel Platz auf ihren Rücken.“

Gray warf einen Blick nach oben zu den dort noch immer kreisenden Drachen, ehe er sich an Romeo wandte. Um seine Lippen spielte ein erstauntes Lächeln, auch wenn es eine gewisse Bitterkeit enthielt. „Wer hätte gedacht, dass du ein Drachenreiter bist?“

„Bin ich nicht. Wendy ist die Reiterin. Ich bin-“

„Wendys Leibwächter“, lachte Sting und schlug Romeo im Vorbeilaufen so hart auf die Schulter, dass dieser beinahe Bekanntschaft mit dem Boden gemacht hätte. „Ihr Zwei haltet euch an Rogue und Skiadrum“, erklärte er Lyon und Meredy und deutete auf seinen Partner.

„Wohl eher ihr Wachhund“, schnaubte Gajeel, während er auf seinen Drachen zu stapfte, der bereits gelandet war.

„Gajeel, du musst den Beiden Zeit lassen“, mahnte Juvia streng und schenkte Romeo und Wendy ein enthusiastisches Lächeln.

Skeptisch blickte Levy von einem zum nächsten. „Wissen die denn nicht-“

„Nein, müssen sie auch nicht!“, sagte Romeo hastig. Seine Wangen brannten vor Verlegenheit. „Jetzt lasst uns endlich aufbrechen.“

Levy kicherte verhalten und sogar Gray gluckste leise, wenn auch nur kurz und irgendwie abgehackt. Während Romeo mit Wendy zu Grandine ging, fragte er sich, wieso Gray, Lyon und Meredy eigentlich nach Malba gekommen waren, aber er hatte so ein Gefühl, dass er darauf keine vernünftige Antwort von ihnen erhalten würde.

Überhaupt hatte diese Nacht viel zu viele komplizierte Fragen aufgeworfen…

Der Tag, an dem sie endlich Heartfilia erreichte

Der mächtige Körper unter Lucy bewegte sich mit jedem Flügelschlag langsam auf und ab, ein ruhiges Schaukeln, nur gelegentlich unterbrochen von einem kaum merklichen Schlingern, wenn sich Luftturbulenzen in den gewaltigen Flügeln fingen.

Träge folgte Lucy mit ihren Augen dem Verlauf der Reise. Weit unten erkannte sie ein lang gestrecktes Moor. Vielleicht war es eben jenes, in welchem die Söldner von Avatar sie gestellt hatten. Irgendwo dort lag immer noch Geminis Langschwert, ging es ihr durch den Kopf, und sie erinnerte sich automatisch an die Szene auf dem Podest: Um sie herum lauter verzerrte Fratzen, die nach ihrem Tod lechzten, an ihrer Kehle der Ritualdolch...

Um nicht mehr daran denken zu müssen, drehte sie den Kopf. Sie erhaschte einen Blick auf Natsus Kinn, dann kam ihre Wange an seiner warmen Brust zum Ruhen. Sofort spürte sie, wie Natsu sie ein wenig fester an sich drückte.

Müde blinzelnd stierte sie geradeaus und sah so die anderen Drachen, die neben Natsus Drachen Igneel flogen. Sie erkannte Gray und Levy auf Weißlogia, dessen Reiter Sting Eucliffe war, ein Wüstennomade mit verwegenen, blonden Haaren. Er und Rogue Cheney, der Reiter des schwarzen Drachen Skiadrum, waren die legendären Klauen der Wüstenlöwin Minerva Orland. Hinter Rogue saßen Lyon und Meredy. Auf dem grauen Drachen Metallicana saßen dessen Reiter Gajeel und Juvia, eine Wassermagierin, die nun die Augen zugekniffen und die Arme fest um Gajeels Taille geschlungen hatte. Die Beiden stammten aus Bosco, das hatte Lucy leicht am Akzent erkannt

Boscos, Drachen, Drachenreiter, Wüstennomaden, Klauen… Zu einer anderen Zeit hätte Lucy all das brennend interessiert, aber nun steckte ihr die Erschöpfung noch immer in den Knochen. Als sie vor wenigen Stunden in einem kleinen Hain einen halben Tagesmarsch von Malba entfernt aufgewacht war, hatte sie die Vorstellungen und Erklärungen einfach nur mit einem matten Nicken hingenommen. Sie war gar nicht richtig in der Lage gewesen, das alles zu verarbeiten, fühlte sich auch jetzt noch schlapp und hilflos, obwohl Natsu und Loke ihr wiederholt versichert hatten, dass sie jetzt in Sicherheit sei.

Lucys unsteter Blick glitt weiter über die drei Exceed Happy, Lector und Frosch hinweg, die etwas oberhalb der Drachen flogen, um nicht in Luftverwirbelungen zu geraten, die durch die mächtigen Drachenschwingen entstanden, und zur Drachendame Grandine, deren Reiterin Wendy war. Hinter Wendy saß Romeo, der immer wieder besorgt zwischen Lucy, Gray und Levy hin und her blickte, was auch Lucy wieder zu ihren beiden besten Freunden schauen ließ.

Beide warfen Lucy immer wieder besorgte Blicke zu, hingen jedoch offensichtlich auch ihren eigenen Gedanken nach. Aller Müdigkeit zum Trotz war Lucy bereits heute Morgen nicht entgangen, dass die Beiden etwas mit sich herum schleppten. Levy wirkte unruhig und dachte immer wieder fieberhaft über etwas nach und Grays Miene war so verschlossen und finster, wie Lucy es früher nie bei ihm bemerkt hatte. Als Lucy für einige Herzschläge Blickkontakt mit Gray hatte, zuckte sie gepeinigt zusammen. In Grays Augen lag ein Schmerz, der ihr die Luft abzuschnüren drohte.

Sofort spürte sie Natsus Hand auf ihrem Kopf. Sie hob den Blick und begegnete dem des Drachenreiters. Sanft war er und beruhigend, ein unerschütterliches Versprechen. Ganz unwillkürlich erwiderte Lucy das Lächeln und lehnte sich an seinen Brustkorb. Sie konnte seinen Herzschlag hören…

Babumm, babumm, babumm…

Natsus Körper war trotz der kalten Winde in dieser Flughöhe warm. In seiner Umarmung fühlte Lucy sich behaglicher, als sie es jemals zuvor erlebt hatte. Die Hand auf ihrem Kopf ließ Lucy wohlig erschaudern.

Babumm, babumm, babumm…

Lucys Herzschlag schien auf den Natsus zu reagieren. Ihr gesamter Körper entspannte sich. Ihre Augen fielen zu und ihr war so wunderbar warm. Für einige wunderbare Augenblicke konnte sie die abklingenden Schmerzen der wundgescheuerten Waden und der aufgeschürften Ferse vergessen, die Schwere ihrer Glieder, das Brummen ihres Schädels. Wendy hatte angeboten, die Beschwerden mit ihrer Windmagie zu heilen, aber Lucy hatte nicht gewollt, dass die Jüngere sich wegen dieser Lappalien zu sehr belastete. Sie konnte es ertragen und dank Natsu konnte sie es gemeinsam mit ihren Sorgen und dem Schrecken, der ihr noch immer in den Knochen steckte, sogar eine Weile vergessen…

„Igneel, bitte flieg’ etwas langsamer.“

Lokes Stimme riss Lucy aus ihrem Dämmerzustand heraus und die junge Frau richtete sich etwas auf, um über Natsus Schulter hinweg zu dem Feuergeist blicken zu können. Er saß hinter Natsu und trug geliehene Pluderhosen und eine Weste. Sein Gesicht war noch immer etwas blasser als sonst, aber er hatte den Rücken durch gestreckt. Nun hatte er den Kopf schräg gelegt und lauschte angestrengt.

Natsu tat es ihm mit verwirrter Miene gleich. „Ein Wanderfalke?“, fragte er nach einigen Augenblicken.

Ohne zu antworten, stand Loke vorsichtig auf und legte sich zwei Finger in den Mund, um laut und anhaltend zu pfeifen. Die anderen Drachen hatten ihr Tempo mittlerweile auch gedrosselt und ihre Reiter beobachteten verwirrt Loke. Happy landete auf Lucys Schoß und strich behutsam über ihre Finger, wofür sie ihn mit einem matten Lächeln dankte, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren Schild und Schwert richtete.

Nach einer Weile konnte Lucy den schrillen Ruf des Wanderfalken auch hören und dann flog der Greifvogel bereits hektisch um Igneel herum. Als Loke den Arm hob, hatte das Tier einige Mühen damit, darauf zu landen, doch schließlich gelang es ihm. Der Krieger setzte sich wieder hin und platzierte den Vogel vor sich. Dann stob eine Rauchwolke auf.

Lucy spürte, wie Natsu sich anspannte, aber sie griff nach seiner Weste und schüttelte rasch den Kopf, damit er nichts unternahm.

Als die Rauchwolke sich schnell verflüchtigte, kamen zwei identische Wesen zum Vorschein, gerade einmal vier Handlängen groß und von annähernd menschlicher Gestalt, doch mit grauer Haut und schwarzen Knopfaugen.

„Gemi, Mini, wo sind Sagittarius, Scorpio und Plue?“

Lucy konnte ihren Reisegefährten die Überraschung angesichts von Geminis wahrer Gestalt ansehen. Nur Levy nicht. Wie Lucy wusste, hatte ihre Freundin schon vor einiger Zeit die subtilen Anzeichen für die Identität eines Geistes zu deuten gelernt. Allerdings war es auch für Levy das erste Mal, dass sie einen Geist in seiner Urform sah, und dementsprechend aufgeregt sah sie auch aus.

„Sie sind in Sicherheit“, erklärten die beiden Wesen wie aus einem Munde. „Wir haben mit ihnen Heartfilia erreicht. Meister Capricorn hat uns losgeschickt, um euch zu suchen…“ Im Doppelklang der Stimme schwang eine ungewohnte Schwäche mit, die nichts mit der Erschöpfung durch den schnellen Flug zu tun hatte.

Auf einmal machte sich ein seltsam taubes Gefühl in Lucy breit. Sie konnte nicht erklären, woher sie die Gewissheit nahm, aber ihr war klar, dass Geminis nächste Worte alles auf den Kopf stellen würden. Unwillkürlich richtete sie sich in Natsus Armen auf. Als er sie stützen wollte, verkrampfte sie sich und er zog seine Hände zurück, ließ sie zaghaft über ihrer Taille schweben.

„Was ist passiert, Gemi, Mini?“

Der Wesensgeist rang um die richtigen Worte. In den schlichten Gesichtern spiegelten sich Schmerz und Bitterkeit. Das taube Gefühl in Lucys Inneren nahm noch zu.

„Sagt es“, krächzte Lucy und sie fühlte sich dabei geradezu jämmerlich.

„Heartfilia wurde angegriffen“, war die gepresste Antwort.

Lucy wurde schwindelig und sie hatte auf einmal ein peinigendes Rauschen im Ohr. Sie bekam gar nicht richtig mit, was Loke brüllte und was Natsu lautstark erwiderte. Natsus Arme schlossen sich wieder fester um sie, aber Lucy fühlte sich steif wie ein Brett. Der Drachenreiter sagte irgendetwas zu ihr. Sie verstand ihn nicht, sah nur, wie sich seine Lippen schnell bewegten, während er ihr voller Sorge in die Augen blickte. Happy weinte und klammerte sich an ihre Hand, doch sie nahm die Berührung nur dumpf wahr, als würde sie durch mehrere Decken hindurch angefasst werden. Auch die Rufe ihrer Freunde drangen nicht zu ihr durch. Das Rauschen und der Schwindel ergriffen immer mehr Besitz von Lucy und irgendwann breiteten sie ihre dunkle Decke über ihr aus…
 

Als sie vor dem Nordtor von Heartfilia landeten, sprang Loke von Igneels Rücken. Nie zuvor hatte Levy den Leibwächter ihrer Freundin auch nur annähernd so aufgelöst gesehen. Nicht dass sie in Crocus je auch nur ansatzweise in eine vergleichbare Situation geraten wären, aber es war verstörend, ihn so zu sehen. Sein ebenmäßiges Gesicht war von Panik entstellt, er zitterte am ganzen Körper, seine Bewegungen waren fahrig, ihnen ging die sonstige Eleganz völlig ab.

„Aries!“, brüllte er und rannte auf das verschlossene Tor zu, dessen Gewinde schon knarrend und quietschend arbeiteten.

Zwischen den Zinnen über dem Torhaus erkannte Levy Sagittarius und eine Frau mit kurzen, pinken Haaren, welche die Rüstung einer Stadtwache trug. Die Mienen der Beiden waren grimmig und müde. Ihnen war nicht die geringste Überraschung darüber anzusehen, dass vor ihnen fünf Drachen gelandet waren. Gemini musste sie vorgewarnt haben, als er wieder nach Heartfilia aufgebrochen war.

Als sich das Tor endlich geöffnet hatte, rannte Loke an den Menschen und Geistern dahinter vorbei. Mit betretenen und verhärmten Gesichtern machten sie ihm Platz. Nicht wenige von ihnen waren verletzt. Nach dem, was Gemini erzählt hatte, war auch Lokes Schwester Aries verletzt worden. Zwar hatte sie nie in Todesgefahr geschwebt, aber Levy konnte Lokes Eile dennoch nachvollziehen. Ginge es um eine ihrer Schwestern, würde sie wohl genauso reagieren.

Gemeinsam mit Gray und Sting kletterte Levy von Weißlogias Rücken. Sie zitterte und ihre Kehle war wie zugeschnürt, als sie zu Lucy aufschloss, die Natsus Stütze abgelehnt hatte und alleine zum Tor humpelte. Es war offensichtlich, dass sie trotz der Behandlung durch Wendy und trotz des Schlafs auf dem Weg hierher noch immer erschöpft war und Schmerzen hatte. Doch Lucys Rücken war trotz des Hinkens steif wie ein Brett, ihr Kinn hoheitlich erhoben, fest entschlossen, den Schmerzen und der Erschöpfung zu widerstehen.

Die Bewohner von Heartfilia begrüßten ihre junge Fürstin voller Ehrfurcht und Herzlichkeit. Sie umringten sie, ergriffen ihre Hände oder warfen sich vor ihr weinend zu Boden. Und Lucy schenkte ihnen allen ihre volle Aufmerksamkeit. Sie umarmte, drückte Hände und Schultern, wischte Tränen fort und sprach Trost- und Ermunterungsworte aus. Jeden Einzelnen sprach sie mit Namen an, selbst die kleinen Kinder, die sich zwischen die Erwachsenen quetschten und Lucy immer wieder bewundernd Sternenprinzessin nannten.

Gemeinsam mit den Drachenreitern und ihren Begleitern trat Levy über die Schwelle des Stadttores, während die Drachen sich wieder in die Lüfte erhoben und nach Norden zurück flogen – wahrscheinlich, um im dortigen Wald zu rasten.

„Warum nennen sie Lucy so?“, fragte Romeo mit gedämpfter Stimme.

„Weil die Heartfilias den Stern im Wappen tragen und weil sie in den Augen der Geister die Nachfolger des Geisterkönigs sind, keine reinen Fürsten“, antwortete Levy, ohne den Blick von ihrer Freundin zu nehmen.

„Sind hier denn viele Geister?“, meldete sich Sting zu Wort und wackelte mit der Nase. „Hier ist überall der fremde Geruch, wie bei Loke, aber ich kann hier nichts auseinander halten.“ Die anderen Drachenreiter nickten zustimmend.

„Nur etwa jeder Dritte hier ist ein Mensch“, erklärte Levy, während sie den Blick über die Bewohner schweifen ließ. Sie hatte selbst fünf Jahre mit Loke und den Anderen gebraucht, um zu erkennen, dass sie Geister waren, daher wunderte sie sich nicht darüber, dass die Anderen ratlos waren.

„Woran erkennst du es?“, fragte Meredy Stirn runzelnd.

„Es gibt verschiedene Anzeichen. Der Akzent der Geistzunge, das Verhalten, etwas in ihren Augen… und bei Loke und den Anderen war es zugegebenermaßen vollkommen klar, dass mindestens einer von ihnen ein Geist sein musste, wenn sie mit dem Schutz der designierten Thronerbin betraut sind.“

„Ein Akzent?“ Juvia legte den Kopf schief. „Juvia ist nichts aufgefallen. Euch?“

Reihum schüttelten die Anderen den Kopf. Sogar Gray und Lyon waren ratlos.

„Die Muttersprache der Geister ist Geistzunge“, erklärte Levy geduldig. „Es ist eine reine Sprech- und Gesangsprache. Sie lässt sich nicht richtig verschriftlichen, deshalb weiß kaum jemand etwas darüber.“

Ehe noch jemand weitere Fragen stellen konnte, trat die pinkhaarige Stadtwache zu Lucy und verbeugte sich tief vor ihr, die Hände vor der Brust gefaltet.

„Prinzessin, Sagittarius besogt bereits Pferde für Euch und Eure Begleiter.“

„Nicht nötig, Virgo, ich werde laufen“, erklärte Lucy sanft, aber unnachgiebig. „Ich will alles sehen, was hier angerichtet wurde.“ Dann drehte sie sich zu Levy und den Anderen herum. „Wollt ihr schon mal zu den Quartieren?“

„Ich will helfen“, erklärte Wendy als Erste und überraschend energisch.

Levy war müde und sie wusste, dass sie hier nicht viel helfen konnte, dennoch lehnte auch sie das Angebot ab, ebenso die Anderen. Sie alle schienen das Bedürfnis zu haben, Lucy zu helfen. Natsu hatte deswegen bereits auf dem Weg hierher Happy nach Magnolia geschickt, um seinen Fürsten um Hilfe für Heartfilia zu bitten, und Sting und Rogue hatten ihre Exceed nach Sabertooth zurück fliegen lassen, um ihre Fürstin darüber zu informieren, dass sie hier helfen wollten.

Gemeinsam setzten sie sich in Bewegung und durchquerten die Stadt der Geister. Ihre Gebäude waren entsprechend der Vielfalt ihrer Bewohner bunt zusammen gewürfelt. Solide ebenerdige Gebäude aus Back- oder Bruchstein standen neben Sandsteingebäuden mit hohen Fenstern und verspielten Ornamenten. Fachwerkhäuser wechselten sich mit Lehmhütten und schlichten Holzbauten ab. Das Alter der Häuser variierte stark, doch alles war in einem guten Zustand, der vom finanziellen Wohlbefinden der Bewohner kündete. Und obwohl Bauart, Form und Größe der Gebäude sich so stark voneinander unterschieden, ruhte dem Gesamtbild eine gewisse Harmonie inne. Die Gebäude schienen einander zu ergänzen wie die einzelnen Instrumente in einem Orchester.

Hier in den Norden der Stadt waren die Söldner offensichtlich kaum vorgedrungen, es ließen sich nur vereinzelte Spuren der Zerstörung entdecken. Der einzige größere Schaden war ein abgebrannter Holzschuppen. Doch die hiesigen Bewohner wirkten gleichwohl geschockt und grimmig und trugen ihre Waffen offen bei sich. Die meisten hatten es eilig, wollten wohl in den betroffenen Gebieten helfen, doch alle nahmen sich die Zeit, ihrer Fürstin ihren Respekt zu zollen.

Lucy erwiderte jeden Gruß und ließ ihren Blick über jedes einzelne Gebäude schweifen, als wollte sich bei jedem persönlich vergewissern, dass es keinen Schaden genommen hatte und seine Bewohner sicher und gesund waren. Virgo ging neben ihrer Fürstin und erzählte, wie es den Söldnern gelungen war, in Heartfilia einzudringen: „Sie haben in der Nacht angegriffen und am Westtor.“

„Dort, wo es am wenigsten zu erwarten wäre, die haben ihre Hausaufgaben gemacht“, murmelte Lucy.

Die Wachfrau nickte ruckartig. „Einige von ihnen haben sich – vermutlich mit Hilfe – in den Tagen zuvor herein geschlichen. Als von außen der Angriff erfolgte, sind sie uns in den Rücken gefallen und haben das Tor mit Pech bespritzt und in Brand gesteckt. Kaum dass sie das Tor durchbrochen hatten, sind sie in der gesamten Stadt ausgeschwärmt und haben jeden getötet, der ihnen über den Weg gelaufen ist.“

„Es ging ihnen nicht darum, Heartfillia zu erobern. Sie wollte nur so viele Geister wie möglich töten“, schlussfolgerte Lucy. Ihre Stimme klang seltsam hohl und Levy erschauderte. Lucys nächste Frage ließ die Blauhaarige zusammen zucken und zwang die ganze Gruppe zum Halten: „Wie ist mein Vater gefallen?“

Virgo kam aus dem Tritt. „Prinzessin?“

„Vater wäre um jeden Preis zum Tor gekommen, um sich persönlich davon zu überzeugen, dass es mir gut geht“, erklärte Lucy leise, ihre Stimme noch immer tonlos, als ginge es nicht um das Ableben ihres letzten Verwandten. „Und du bist meinem Blick von Anfang an ausgewichen.“

Die Stadtwache drehte sich hastig herum und ging vor Lucy in die Knie, den Blick demütig zu Boden gerichtet. „Verzeiht mir, Prinzessin, aber ich hielt es für angemessener, wenn Ihr es von Meister Capricorn erfahrt.“

„Das weiß ich, Virgo, wir sind zusammen ausgebildet worden, ich kenne dich also ganz gut“, erwiderte Lucy sanft und berührte die Pinkhaarige an der Schulter. „Aber erzähl’ es mir bitte.“

Levy konnte nur Lucys Profil sehen, aber sie erkannte dennoch, dass das Lächeln Lucys Augen nicht erreichte. Die sonst so ausdrucksstarken Augen wirkten nun leer, beinahe tot. Es trieb Levy die Tränen in die eigenen, ihre beste Freundin so zu sehen.

Die Mitglieder ihrer Reisegesellschaft reagierten sehr unterschiedlich auf diese Neuigkeit. Am verstörendsten fand Levy die Reaktion der Fullbuster-Brüder. Lyon hatte den Blick gesenkt und biss sich auf die Unterlippe, während er sich an Meredys Hand klammerte. Gray hingegen starrte Lucy an und schien doch durch sie hindurch zu sehen, seine Miene eine steinerne Maske.

Nicht zum ersten Mal fragte Levy sich, ob die beiden Eismenschen tatsächlich nur nach Malba gereist waren, um Meredy bei ihrem Auftrag zu unterstützen, Avatar unter die Lupe zu nehmen, wie sie es am Morgen nach der gesprengten Opferzeremonie behauptet hatten. Irgendetwas musste in ihrem Heimatdorf passiert sein, aber sie wollten nicht darüber reden.

„Euer Vater war in der Nacht beim Aschenkreis. Auf dem Rückweg hat er von dem Überfall erfahren und wollte zu Meister Capricorn reiten. Der Einzige aus seiner Gruppe, der überlebt hat, war Cancer.“

Es herrschte unbehagliches Schweigen. Levy wischte sich mit dem Ärmel ihres Kleides über die feuchten Augen und bemerkte dabei, wie intensiv Natsu Lucy anstarrte. Wieder einmal fragte die Gelehrte sich, was in den wenigen Tagen, die Lucy mit dem Drachenreiter verbracht hatte, zwischen den Beiden vorgefallen war. Natsu trug Lucy regelrecht auf Händen und bis vor kurzem hatte diese ihm bedingungslos vertraut. Erst die Nachricht vom Angriff auf Heartfilia hatte zur Distanz geführt, aber dass hatte eher mit Lucys Schockzustand zu tun, schätzte Levy.

„Wie geht es Cancer?“

„Er ist noch immer nicht über den Berg. Sein Fieber ist hartnäckig“, erklärte Virgo offensichtlich voller Unbehagen ob des Verhaltens ihrer Fürstin.

Ehe eine der beiden Frauen noch etwas sagen konnte, erklang das Klappern von Hufen und dann kam bereits Sagittarius heran geritten, in seiner Begleitung ein weißhaariger, breitschultriger, aber schlanker Mann mit Ziegenbart und scharfem Blick. Genau wie Virgo und Sagittarius trug er eine Lederrüstung mit dem eingestanzten Wappen Heartfilias auf der Brust, doch sein Wappen ruhte auf einer stilisierten gepanzerten Hand. An seinem Waffengürtel hing ein Langschwert, dessen lederner Griff zwar gepflegt, doch offensichtlich alt und viel genutzt war, das Schwert eines Veteranen. Sofort verneigte Lucy sich vor ihm und faltete respektvoll die Hände vor der Brust. „Meister Capricorn…“

„Herrin, es ist nicht rechtens, wenn Ihr Euch vor mir verneigt“, erklärte er angespannt und stieg von seinem Fuchshengst ab.

„Einem Meister gebührt immer Respekt.“

Obwohl Lucys Stimme noch immer so seltsam klang, bestand für Levy keinerlei Zweifel daran, dass die Worte ernst gemeint waren. Lebhaft hatte Levy die vielen Geschichten von Lucy und ihren Leibwächtern über den Schwertmeister in Erinnerung.

„Virgo hat mir gerade vom Angriff erzählt“, fuhr Lucy fort und setzte sich in Bewegung, was die gesamte Gruppe dazu zwang, ihr zu folgen. Capricorn tauschte einen Blick mit Virgo, welche leicht nickte. Über die beherrschte Miene des Älteren huschte ein Schatten der Betroffenheit, doch er sprach das Problem nicht an. „Wie viele Opfer hat es gegeben?“

„Einhundertdreiundvierzig“, antwortete Capricorn und warf Sagittarius die Zügel seines Pferdes zu, damit er neben Lucy her laufen konnte. „Wir haben die Namen bereits gesammelt und mit den Vorbereitungen im Aschenkreis begonnen.“

„Die Hinterbliebenen?“

„Werden so gut wie möglich versorgt. Horologium kümmert sich bereits darum, dass alle Witwen ihre Rente erhalten werden, und für sieben der neun Waisen haben sich bereits Familien gefunden.“

„Wenn die anderen Beiden keine Familien finden, nehmen wir sie in Sternheim auf“, erklärte Lucy resolut. „Spetto kümmert sich sicher gerne um sie und Ribbon und Meister Crux können sie unterrichten.“

„Jawohl, Herrin“, antwortete der Capricorn.

„Rente?“, fragte Romeo flüsternd.

„Etwas, das sie schon vor vielen Jahren in Heartfilia eingeführt haben“, erklärte Levy, dankbar für die Ablenkung. „Heartfilia wurde lange Zeit hartnäckig umkämpft, ehe die Unsterbliche Kaiserin ihre Macht so weit konsolidieren konnte, dass sie Heartfilia schützen konnte. Bis dahin sind jedes Jahr viele Krieger gestorben und die Fürsten haben deshalb eine Unterstützungszahlung für Witwen eingerichtet, die von den Steuereinnahmen finanziert wird. Die Eheschwüre hindern Geister daran, noch mal zu heiraten oder sich auch nur zu verlieben, wenn der Partner frühzeitig verstirbt, deshalb brauchen die Witwen Hilfe. Und getreu dem Gleichstellungsideal der Verfassung von Heartfilia erhalten auch Witwer die Rente, egal ob sie Mensch oder Geist sind.“

„Wird man bestraft, wenn man sich doch verliebt?“, fragte Sting mit einem Stirnrunzeln. Für ihn musste das besonders befremdlich sein, da die Wüstennomaden doch eine ganz andere Mentalität innehatten. Dort waren offene Beziehungen und Polygamie an der Tagesordnung.

„Es hat etwas mit der Magie der Geister zu tun. Sie können sich nur einmal in ihrem Leben verlieben. Sie haben sich das nicht ausgesucht, es ist sogar ein gewisser Nachteil für sie, der sie beinahe an den Rand des Aussterbens gebracht hat“, fuhr Levy geduldig fort.

„Weil die Geister so lange gejagt wurden“, murmelte Rogue düster und Levy nickte betrübt.

„Aber warum?“, fragte Juvia bestürzt. So viel Brutalität schien ihr schwer zu zusetzen, dabei würde Levy wetten, dass sie in Bosco schon furchtbare Dinge gesehen hatte, aber Juvia hatte offensichtlich ein großes Herz, das am Leid anderer Anteil nahm.

„Aus rassischen Gründen. Es galt als Sport, niedere Wesen wie Geister, Dämonen und Drachenartige zu jagen und zu versklaven. Sogar mit Exceed wurde das gemacht. Und Geister sind die Einzigen, die Lacrima herstellen können. Das machte sie als Sklaven besonders begehrt“, erklärte Levy mit angewiderter Miene. „Die letzte große Geisterjagd gab es vor hundertfünfzig Jahren. In der Folge erklärte Lea Heartfilia ihr Fürstentum zur Sperrzone für Reisende. Erst ihr Sohn und Nachfolger Tristan hat die Grenzen wieder geöffnet. Seither hat es nur einzelne Spinner gegeben, aber nicht…“

Ihr blieben die Worte im Halse stecken, als sie das Westviertel der Stadt erreichten. Die einstmals malerischen Häuser – Lager, Werkstätten, Läden und Wohnhäuser – waren vom Feuer versehrt worden. Von einigen standen nur noch die Grundmauern, andere hatten nur ihre Dächer eingebüßt. Die Bewohner durchsuchten die Ruinen nach allem, was noch brauchbar war. Stadtwachen und Freiwillige sicherten einsturzgefährdete Gebäude und trugen Trümmer ab.

„Hier!“, brüllte eine Wache auf einmal. „Hier lebt noch jemand!“

Noch vor allen Anderen setzte sich Lucy in Bewegung und einen Herzschlag später folgte Natsu ihr. Bangend sah Levy zu, wie die Beiden in die Trümmer stiegen. Sie konnte Lucy reden hören, verstand ihre Worte jedoch nicht. Dann bellte Lucy Befehle und jeder beeilte sich, sie sofort auszuführen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen Natsu und Lucy wieder zum Vorschein und Natsu trug einen bewusstlosen Jungen von höchstens einem halben Dutzend Sommern, den er auf Wendys Geheiß hin sofort zu Boden legte.

Die Drachenreiterin untersuchte das Kind sorgfältig, hob die Augenlider, um den Pupillenreflex zu überprüfen, horchte Herzschlag und Atmung ab und tastete die Glieder entlang.

„Lag ein Balken auf dem Bauch?“, fragte sie ernst, als ihre zierlichen Hände schließlich auf dem schmalen Brustkorb zum Ruhen kamen.

„Ja, hat er innere Blutungen?“, erwiderte Lucy ruhig, aber eindeutig besorgt.

Levy biss sich auf die Unterlippe. Diejenigen, die nur die medizinischen Pflichtkurse im Grundstudium belegt hatten, waren von Professorin Porlyushka immer dazu ermahnt worden, beim Verdacht auf innere Blutungen sofort einen Chirurgen oder – besser noch – einen Heiler zu rufen. Innere Blutungen waren etwas, dem nur wenige beikommen konnten. Levy hoffte, dass Wendy es konnte.

„Ich muss ihn operieren. Dafür brauche ich einen sterilen Raum. Sofort.“

„Das Lazarett ist ganz in der Nähe, wir haben die Markthalle dafür räumen lassen“, erklärte Capricorn, hinter dem bereits zwei Soldaten mit einer Trage warteten.

„Vermeidet Erschütterungen“, wies Wendy ungewohnt herrisch an. „Lucy, ich will mir alle Verwundeten ansehen. Romeo kann sie einstufen, damit ich weiß, wer meine Hilfe zuerst braucht.“

Capricorn schien wegen dieses Befehlstons gegenüber seiner Fürstin protestieren zu wollen, aber Lucy ließ ihn mit einem Wink innehalten.

Im Laufschritt eilten sie zum provisorischen Krankenhaus. Unterwegs flocht Wendy ihre langen Haare und band sie zu einem Knoten hoch, während Romeo aus seinem Reisebündel einen knittrigen Bogen Papier und ein Stück Kohle heraus kramte.

Die Markthalle war ein großes Gebäude mit Kuppeldach, das wie ein Hügel aussehen würde, wenn es nicht aus scharfkantigen und dank regelmäßiger Pflege hellen Sandstein bestünde. Im Inneren befanden sich Säulengänge und zwischen diesen Säulen befanden sich normalerweise die hölzernen Markstände, doch nun waren dazwischen Feldbetten, Matratzen und Strohlager für die Verletzten aufgestellt worden. Nur etwa die Hälfte aller Verletzten waren Soldaten, einige von ihnen furchtbar verstümmelt und offensichtlich fiebernd. Mehrere Ärzte und ihre Helfer bahnten sich ihre Wege durch die Halle und halfen, wo sie konnten, aber sie waren allem Anschein nach mit der schieren Menge der Verwundeten überfordert und wohl auch schon seit Tagen auf den Beinen.

Mit langen Schritten ging Wendy durch die Reihen und musterte dabei jeden einzelnen Verletzten. Capricorn und die Bahrenträger liefen vor ihr und gaben als Richtung den hinteren Bereich der Halle vor, der mit Laken abgehangen worden war, um ihn vom Rest der Halle zu trennen.

„Sting, Juvia, ihr kommt mit mir“, ordnete Wendy an.

„Ich?“ „Juvia?“

„Licht und Wasser“, erklärte Wendy ungeduldig.

Ohne auf die Beiden zu warten, beschleunigte sie ihre Schritte wieder. Sting drückte Rogue sein Reisebündel in die Arme, Juvia überreichte Gajeel ihr Bündel, dann beeilten sie sich, der Heilerin zu folgen.

„Wendy ist echt beeindruckend, wenn es ans Eingemachte geht“, stellte Lyon milde amüsiert fest, ehe er sich an Lucy wandte. „Sag’ mir, wie ich helfen kann.“

„Hier bei den Verwundeten können wir am besten helfen“, antwortete Romeo an Lucys statt, als die Fürstin noch immer am Eingang der Markthalle stehen blieb und auf die vielen Verletzten starrte. „Wir sollten uns paarweise zusammen tun und helfen, wo wir es selbst können. Gajeel, du hilfst Levy, sie hat im Grundstudium genug gelernt, aber du musst vielleicht Verwundete festhalten. Meredy, Gray, Lyon, ihr habt sicherlich bei der Ausbildung einiges gelernt? Rogue, du hilfst mir. Lucy, wir brauchen viel mehr Wasser und Licht, Leinentücher, Kräuter… Wenn Wendy hier einmal durch ist, werden eure Vorräte ganz schön geschröpft sein.“

Der Befehlston schien Lucy zu helfen. Sie nickte ruckartig und machte auf dem Absatz kehrt, um die benötigten Utensilien zu beschaffen, Natsu folgte ihr auf dem Fuß. Die Fullbuster-Brüder und Meredy legten ihre Reisebündel in eine leere Nische und machten sich bereits an die Art und auch Rogue und Gajeel entledigten sich bereitwillig ihrer Sachen. Mit zittrigen Fingern folgte Levy ihrem Beispiel, behielt die Umhängetasche mit ihren Unterlagen jedoch bei sich.

Als sie sich langsam in Bewegung setzte, hörte sie Gajeels schwere Schritte hinter sich. Sie konnte seinen prüfenden Blick im Rücken spüren und versuchte, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren und den omnipräsenten Blutgeruch zu ignorieren. Zuerst kniete sie sich neben einen Soldaten, dessen linke Hand abgetrennt war. Ein ganz normaler Mensch, aber die Angreifer hatten sich wohl nicht darum geschert, dass sie auch Menschen verletzen könnten.

Als Levy den Verband löste, um zu sehen, ob ein guter Stumpf vorhanden war, zitterten ihre Hände und ihre Sicht war von Tränen verschwommen. Das Schicksal von Heartfilia tat ihr so entsetzlich weh, dass sie es gar nicht in Worte fassen konnte, und gleichzeitig hatte sie Angst, was das alles hier bei Lucy verursacht haben könnte.

„Ganz ruhig“, brummte Gajeel und tätschelte unbeholfen und ein wenig zu fest ihre Schulter.

Es war eine seltsame Geste in so einer Situation. Gajeel hatte eindeutig wenig Erfahrung mit menschlicher Interaktion. Dennoch hatte es irgendwie etwas Tröstliches und Beruhigendes.

Levy schloss die Augen und holte tief Luft. Lucy war jetzt in einer Krisensituation, aber sie würde sich wieder fangen. Und Gray und Lyon würden irgendwann bereit sein, zu erzählen, was im Dorf der Eismenschen passiert war. Nichts davon konnte Levy jetzt beschleunigen. Was sie tun konnte, war, ihre Medizinkenntnisse zusammen zu kratzen und den Leuten hier helfen!

Mit dem Ausatmen öffnete Levy die Augen wieder, schenkte Gajeel ein dankbares Lächeln und kümmerte sich um den Soldaten. Dieses Mal zitterten ihre Hände nicht und sie würden es den ganzen restlichen Tag nicht tun…

Der Tag, an dem sie die Toten besangen

„Und du bist sicher, dass es in Ordnung ist, wenn wir in unseren Reisesachen dort aufkreuzen?“, fragte Lyon skeptisch, während sie durch die gepflasterten Straßen Heartfilias gingen.

Hier im Südteil der Stadt waren die Schäden ähnlich verheerend wie im Westteil, auch wenn sich die äußerlichen Wunden bereits schlossen. Überall gab es Anzeichen für die Reparatur und den Neubau der Gebäude. Die Einwohner Heartfilias besaßen offensichtlich ihre eigene Art, mit dem umzugehen, was ihnen widerfahren war. Als wollten sie jedem demonstrieren, dass sie sich von niemandem in die Knie zwingen ließen. Oder vielleicht taten sie das auch, um sich von ihren Verlusten abzulenken. Eine Methode, die Natsu vertraut war.

„Vollkommen sicher. Ihr werdet es bald verstehen“, winkte Levy ab, auch wenn ihre Stimme belegt klang.

Natsu, der hinter ihnen lief, hörte nur mit einem Ohr zu. Wie alle Anderen war er schweigsam. Das bevorstehende Ereignis drückte ihnen allen aufs Gemüt. Selbst Sting und Rogue, die so etwas ja schon mal miterlebt hatten. Wahrscheinlich war es gerade deswegen für die beiden besonders schlimm.

Natsu war froh, dass Happy nicht hier war. Mittlerweile war sein kleiner Freund stimmt schon in Magnolia angekommen und Natsu hoffte sehr, dass bald Hilfe nach Heartfilia unterwegs war – und dass Lucy diese Hilfe auch annehmen und sich kein Beispiel an ihrer Ahnin nehmen würde, von der Levy erzählt hatte.

Wie die Einwohner ließen sie das Südtor hinter sich und erblickten saftige Weidegründe, auf denen Schafe unterschiedlicher Arten fraßen, bewacht von eifrigen Hütehunden. Die vielen Zweibeiner, die an ihnen vorbeiliefen, ließen sie immer wieder nervös blöken. Vielleicht ahnten sogar die Schafe, dass etwas Wichtiges bevorstand.

Der Weg gabelte sich nach zweihundert Schritten. Während es rechts zum Hafen ging, von wo ebenfalls Menschen und Geister kamen, führte der linke Weg einen kleinen Hügel hinauf. Von dort kam Natsu der Geruch von kalter Asche und von Geistern entgegen.

Mittlerweile hatte er ein Gespür für die Geister entwickelt und konnte sie anhand ihres Geruchs von Menschen unterscheiden. Von den Anzeichen, von denen Levy erzählt hatte, hatte er freilich noch kein einziges erkannt. In ihrem Verhalten konnte er auch nichts Eindeutiges festmachen. Die Menschen und die Geister hatten sich hier vollkommen aneinander angepasst. Für die Menschenkinder war es vollkommen normal, wenn einer ihrer Spielgefährten sich plötzlich in seine wahre Gestalt verwandelte, weil er die Konzentration verlor. In allen Berufsgruppen waren Geister vertreten. Sie wurden hier vollkommen gleichberechtigt behandelt und sie verehrten Lucy mit einer beinahe beängstigenden Inbrunst.

Natsu und die Anderen waren von allen Bewohnern Heartfilias herzlich empfangen worden. Es hatte sich schnell herum gesprochen, dass sie Lucy vor Geisterjägern gerettet hatten, und ihre Hilfe wurde stets dankbar angenommen.

Seit drei Tagen waren die Drachenreiter und ihre neuen und alten Begleiter nun in Heartfilia und halfen je nach ihrer Eignung beim Wiederaufbau der Gebäude oder bei der Versorgung der Verletzten. Die Abende verbrachten sie gemeinsam in den Räumlichkeiten für die Gäste in Sternheim, dem Anwesen der Fürstenfamilie, wodurch sie einander langsam besser kennen lernten.

Levy und Meredy konnte Natsu gut leiden, auch wenn er zumindest Levy anmerkte, dass sie ihre Geheimnisse hütete, während er oft das Gefühl hatte, Meredy überhaupt nicht durchschauen zu können. Aber mit Gray und Lyon war es schwieriger. Während der Ältere der Brüder sich oft zurück zog, war der Jüngere ruppig und ungeduldig, seine Kommentare oftmals kaltschnäuzig und provozierend. Mehrmals war Natsu bereits mit ihm über Kleinigkeiten aneinander geraten.

Heute jedoch war Gray genauso schweigsam wie sein Bruder, seine Haltung steif, seine Miene steinern. Natsu bemerkte, wie Meredy ihm und Lyon immer wieder rasche Blicke zuwarf. Die Drei hatten ein wichtiges Geheimnis, das bemerkte sogar Natsu, aber genau wie alle Anderen sagte er nichts dazu. Wenn er eines auf seinen Reisen gelernt hatte, dann dass die Menschen selbst über ihre Geheimnisse entscheiden mussten.

Auf der Kuppel des Hügels erreichten sie eine große, ebene Fläche, die mit Asche bedeckt war und auf der nun Scheiterhaufen errichtet worden waren. Die Toten waren bereits darauf aufgebahrt worden, alle fest in weißes Leinen gewickelt, sodass sie nur anhand ihrer frei gelassenen Gesichter zu unterscheiden waren.

Die Trauernden hatten sich ohne erkennbare Rangfolge im Kreis um die Ebene herum aufgestellt. Natsu erkannte Lucy neben Loke und zwei Frauen. Die Pinkhaarige von ihnen war Lokes Schwester Aries, wie Natsu am zweiten Tag nach der Ankunft in Heartfilia erfahren hatte. Sie trug ihren linken Arm noch in einer Schlinge und ihr Gesicht war bleich. Die andere Frau war blond und Natsu konnte sich nicht erinnern, sie schon einmal gesehen zu haben. Genau wie Lucy trug sie ein schleierartiges Kleid aus einem seltsamen Stoff. Während Lucys Haare jedoch kunstvoll geflochten waren, waren ihre offen und sie trug auch keine Schuhe. Loke und Aries waren im krassen Gegensatz dazu spärlich bekleidet. Loke trug nur eine Leinenhose und war unbewaffnet, während seine Schwester eine schlichte Tunika trug, die ihr bis zu den Oberschenkeln reichte.

Jetzt fiel Natsu auf, dass alle Geister so knapp bekleidet waren. Neben sich hörte er Romeo tuscheln, ob das normal sei. „Ihr werdet es bald sehen“, wiederholte Levy sich angespannt.

Capricorn kam auf sie zu. Er trug auch nur eine Leinenhose, aber an seinem Waffengürtel hingen zwei Langschwerter. Eines roch nach Loke. Respektvoll nickend blieb der Geist vor ihnen stehen.

„Verzeiht. Seit Eurer Ankunft wurden wir einander noch nicht offiziell vorgestellt. Ich bin-“

„Meister Capricorn“, platzte es aus Levy heraus. „Der Schwertmeister von Heartfilia, ehemaliger Schild und Schwert von Fürstin Layla Heartfilia, Mitglied des Rates, Veteran der Bosco-Schluchtenkämpfe und des Extalia-Krieges, Schmied des Sonnenschwerts und der Sternenklinge…“

Levys Stimme überschlug sich geradezu vor Ehrfurcht, aber die Blauhaarige verstummte, als ihr auffiel, dass ihre Reisegefährten sie anstarrten.

„Woher weißt du so etwas?“, fragte Sting verwirrt.

„Als Magistra der Historischen Fakultät hat Levy McGarden einen breit gefächerten Wissensschatz“, sagte Capricorn respektvoll und faltete bei seiner nächsten Verbeugung in Levys Richtung die Hände vor der Brust.

Levy erwiderte die Geste und sagte etwas in Geistzunge.

Als Natsu die Sprache das erste Mal gehört hatte, war er schrecklich verwirrt gewesen. Geistzunge war ein seltsamer Singsang, klang ein bisschen nach Vogelgezwitscher. Damit hob sich die Sprache gravierend von allen anderen Sprachen ab, die er bisher auf seinen Reisen gehört hatte – nicht dass er jemals eine davon tatsächlich gemeistert hätte, er hatte keine Geduld dafür, so viel zu lernen.

„Herrin Lucy hat bereits in den höchsten Tönen davon gesprochen, wie gut Ihr Geistzunge beherrscht, aber es nun selbst zu hören, ist wirklich beeindruckend.“

Mit roten Wangen nuschelte Levy einen Dank. Dieses Kompliment schien ihr eine Menge zu bedeuten. Es lenkte sie sogar von ihrer Anspannung wegen des Bevorstehenden ab.

Capricorn wandte sich als nächstes Sting und Rogue zu: „Es ist eine Ehre, die Klauen der Wüstenlöwin kennen zu lernen. Wir haben hier schon viel von Euch gehört.“

Sting blinzelte verwundert. „Ach so?“

Levy schnaufte leise. „Die Befreiung von Sabertooth steht bereits in den Geschichtsbüchern.“

„Tut sie?“ Verblüfft starrte Sting die Gelehrte an. Romeo kicherte leise.

„Wir hatten Yukino Aguria mehrmals zu Gast“, erklärte Capricorn. „Sie hat uns viel über Euch erzählt.“

„Sicher nur Gutes“, feixte Sting und sein Partner verdrehte die Augen.

Nacheinander begrüßte Capricorn auch die Anderen aus der Gruppe. Bei Gray und Lyon wendete er eine seltsam ruppige Geste an, bei der er sich mit der rechten Faust gegen die linke Schulter schlug. Die Brüder erwiderten den Gruß perplex. Meredy wurde von Capricorn auf Edolas begrüßt. Natsu beherrschte die Sprache zwar nur sehr bruchstückhaft, aber er hatte sie relativ oft während seines Besuchs in Cait Shelter gehört und erkannte sie daher recht einfach. Für einen Moment hätte er schwören können, dass ein Schatten über das Gesicht der Pinkhaarigen huschte, ehe sie den Gruß erwiderte – auf Fiore, wie Natsu verwundert feststellte.

Gajeel und Juvia redete der Schwertmeister auf Bosco an, eine Sprache, die Natsus Pflegeeltern ihm einzutrichtern versucht hatten, mehr als ein paar deftige Beleidigungen waren jedoch nicht bei ihm hängen geblieben. Juvia freute sich darüber, während ihr Ziehbruder es bei einem grüßenden Brummen beließ. Nach Cait Shelter Sitte grüßte Capricorn Romeo und Wendy mit einem kameradschaftlichen Handschlag. In der freien Stadt in den Bergen hielt man nicht so viel von zeremoniellen Förmlichkeiten.

Zuletzt wandte Capricorn sich an Natsu. „Ihr seid also der berühmte Drachenreiter von Magnolia.“

„Du bist berühmt?“, fragten Sting, Gajeel und Gray wie aus einem Munde. Lyon schnaubte amüsiert.

„Keine Ahnung“, erwiderte Natsu ehrlich verdutzt. Er war selten lange genug an einem Ort gewesen, um viel davon mitzukriegen, was die Leute sich über ihn erzählten. Und von einer Ausnahme abgesehen, hatte er auch nie Gebrauch von seinem Rang als Drachenreiter gemacht.

„Ihr habt eine offizielle Position am Hofe von Fürst Makarov und Ihr seid Ehrenlegionär.“

„Ehrlich? In dem Alter?!“, rief Levy mit fasziniert funkelnden Augen.

„Was ist ein Ehrenlegionär?“, fragte Juvia verwirrt.

„Nur ein Titel“, erklärte Natsu und schnitt eine Grimasse beim Gedanken an die unbequeme Uniform der Ehrenlegionäre, die er in Magnolia zurück gelassen hatte. „Ich war noch nie für einen offiziellen Anlass am Hof.“

„Auch dafür seid Ihr berühmt“, schmunzelte Capricorn.

„Wohl eher berüchtigt“, spottete Gray und Natsu drohte ihm mit der Faust.

„Wie dem auch sei…“, sagte Capricorn nun wieder ernst. „Unser Bestattungsritus ist für Außenstehende oft sehr befremdlich. Ich möchte Euch bitten, nichts zu unternehmen. Magistra McGarden, Ihr kennt den Ablauf, nehme ich an?“ Die Blauhaarige nickte, nun wieder beklommen.

Als Capricorn sich abwandte, gestattete Wendy sich ein Niesen. Natsu konnte es ihr nachempfinden. Die viele Asche hier kitzelte auch in seiner Nase und Wendys war noch viel feiner.

Gajeel rümpfte die Nase. „Wieso haben die beim letzten Mal ihre Asche nicht weg geschafft?“

„Das tun sie nie“, murmelte Levy und rieb sich die fröstelnden Arme. „Nach dem Glauben der Geister sind die Einzigen, die über die Asche verfügen dürfen, die Naturgewalten. Dieser Aschenkreis hier ist vierhundert Jahre alt. Generationen von Geistern und Menschen aus Heartfilia sind hier besungen worden.“

„Die Asche von vierhundert Jahren…“ Romeos Stimme klang unbehaglich und Natsu konnte es ihm nicht verübeln.

Während seiner Reise hatte er viele verschiedene Orte besucht und von ihren Bestattungsriten gehört. Auf Tenrou wurden die Leichen in Boote gelegt, in Brand gesteckt und der See überantwortet. In der Stillen Wüste wurden die Leichen verbrannt und ihre Asche je nach testamentarischem Wunsch des Verstorbenen entweder in einer Urne den Hinterbliebenen gegeben oder in der Wüste verstreut. Letzteres war vor allem bei den Wüstennomaden üblich. In Cait Shelter wurden Felsengräber errichtet. In Crocus gab es Katakomben, in denen die Körper oder die Urnen mit der Asche eingemauert wurden. Und in Magnolia wurde die Asche in kleinen Holzkisten zwischen den Wurzeln eines Baumes begraben.

Aber das hier… Die Asche einfach Wind und Regen zu überlassen, während ganz in der Nähe die Schafe weideten… Das war wirklich seltsam.

„Es sind ihre Bräuche, das sollten wir akzeptieren“, sagte Lyon mit brüchiger Stimme, der Ansatz von guter Laune wieder verflogen. Gray neben ihm hatte den Blick gesenkt. Das hier schien die Brüder ganz schön aufzuwühlen.

Natsu bemerkte, dass Juvia immer wieder zu Gray blickte. Aufrichtige Sorge spiegelte sich in ihrer Miene wieder – sehr viel mehr, als man erwarten sollte, wenn man bedachte, dass sie den Eismenschen erst seit wenigen Tagen kannte. Bei seinen wenigen bisherigen Treffen mit Juvia hatte Natsu sie als sehr mitfühlend kennen gelernt, aber er war vertraut genug mit ihren Eigenheiten, um zu sehen, dass sie sich ungewöhnlich stark auf Gray konzentrierte.

Als die gedämpften Gespräche um sie herum verstummten, richtete Natsu seine Aufmerksamkeit wieder auf die Scheiterhaufen. Es waren weniger als hundert. Auf einigen lagen mehrere Körper – vielleicht Ehepartner oder Familien. Natsu erschauderte, als er auf einem der Scheiterhaufen neben zwei großen Körpern ein winziges Bündel erblickte. Nicht einmal vor Säuglingen hatten diese Irren Halt gemacht.

Neben jedem Scheiterhaufen standen jetzt eine oder mehrere Personen mit Fackeln in den Händen. Die Angehörigen, vermutete Natsu. Neben acht Scheiterhaufen standen Kinder, eines davon – ein vielleicht zehnjähriger Junge – hielt ein dreijähriges Kleinkind an der Hand, aus dessen Haar ein winziges Geweih und Rehohren ragten.

Lucy stand ebenfalls neben einem Scheiterhaufen, hinter ihr hatte Loke Stellung bezogen. Während der Krieger besorgt und vergrämt aussah, war Lucys Miene eine Maske aus Selbstbeherrschung und Würde. Lucys Rücken war gerade, ihre Schultern gestrafft. Nicht das geringste Zittern ließ die Flammen der Fackel flackern. Aber ihre Augen… diese wunderschönen, braunen Augen, die vor einigen Tagen noch so sanft und gütig dreingeblickt hatten, waren nun kalt und trüb und ausdruckslos. Unwillkürlich griff Natsu sich an die Brust, wo er einen bohrenden Schmerz verspürte. Er spürte Romeos und Wendys Blicke, aber er sah nicht zu ihnen. Um ihn mussten sie sich nicht sorgen. Er war es nicht, dessen Heimat angegriffen und dessen Vater getötet worden war…

Die blonde Frau mit dem seltsamen Kleid trat in die Mitte des Aschenkreises. Sie drehte sich einmal im Kreis und während dieser Drehung schien sie sich zu verändern. Ihre Haare wurden länger und wirkten wie Licht, ihr Gesicht und ihre Arme wurden durchscheinend. Dann hob sie den linken Arm und daran hingen auf einmal goldene Fäden aus Licht wie bei einer Harfe.

„Was ist das?“, wisperte Juvia atemlos.

„Sie ist die Zeremonienmeisterin. In Heartfilia ist das eine wichtige Stellung, für die sich nur Klanggeister eignen“, erklärte Levy mit gedämpfter Stimme.

Ehe jemand nachfragen konnte, was ein Klanggeist war, begann die Zeremonienmeisterin, mit der rechten Hand an den Saiten ihrer Lichtharfe zu zupfen, und erhob gleichzeitig ihre Stimme. Es war eine klare, helle Stimme, die mühelos über den gesamten Aschenkreis reichte. Sie sang in Geistzunge – und obwohl Natsu die Sprache nicht einmal ansatzweise beherrschte, verstand er doch den Sinn hinter den Worten. Es war, als würden sie direkt zu seinem Inneren sprechen.

Flüsternd übersetzte Levy:
 

Was aus Asche und Lied geboren,

Muss nun dorthin zurück.

Zu früh. Viel zu früh.

Väter, Mütter, Brüder, Schwestern, Söhne, Töchter.

Geliebte, Freunde, Nachbarn.

Tot harren ihre Leiber der Ewigkeit

Und ihre Seelen dem neuen Kreislauf.

Wir geben ihre Asche zurück und singen für sie.

Zu den Sternen, zu den Ahnen und zum König.
 

Levy nutzte die Gelegenheit, als alle Anwesenden in Geistzunge zu singen begannen, und räusperte sich. „Der Originaltext ist viel schöner, aber Geistzunge lässt sich leider nie korrekt übersetzen“, entschuldigte sie sich. Kurz lauschte sie dem Chor und ihre Miene war von Kummer gezeichnet. In ihren großen Augen schimmerten sogar Tränen, als sie weiter übersetzte:
 

Fort sind sie. Fort.

Lassen uns zurück.

Lassen uns leiden und trauern.

Die Qual des Lebens ist der Tod der Lieben.

Oh, diese Qual. Diese Qual…
 

Natsu versuchte, Levys Übersetzung auszublenden. Zu wissen, was Lucy dort mit diesen furchtbar leeren Augen sang, während sie die Fackel an den Scheiterhaufen ihres Vaters hielt, war zu schmerzhaft. Neben sich hörte Natsu Juvias Schniefen und Stings und Rogues Haltung hatte sich merklich versteift. Wahrscheinlich erinnerte das alles hier die Beiden an all die Opfer, welche die Befreiung von Sabertooth gefordert hatte. Natsu hatte bei seinem Besuch in Sabertooth schnell gemerkt, wie wichtig dort das Andenken jener war, die für die Befreiung der Stadt und in Loyalität gegenüber der wahren Thronerbin ihr Leben gelassen hatten.

Noch während alle weiter sangen, trat Lucy in die Mitte des Kreises neben die Zeremonienmeisterin, die noch immer ihre Lichtharfe spielte, nur begleitet von Loke, alle anderen Angehörigen traten von den lichterloh brennenden Scheiterhaufen zurück. Die Veränderung trat schleichend ein, sodass es Natsu erst spät auffiel, aber die Feuer brannten unnatürlich hoch und heiß und sie schienen zu flüstern, als wollten sie in das Trauerlied einstimmen. Nie zuvor hatte Natsu eine so intensive Lebendigkeit bei anderen Flammen als den seinen oder Igneels gespürt. Sie fraßen die toten Leiber nicht auf, sondern retteten sie. Das klang sogar in Natsus eigenen Gedanken paradox, aber irgendwie spürte er es einfach.

Natsu war so gefangen von diesem Phänomen, dass es ihn wie ein Schlag traf, als die Flammen sich mit einem Mal wie eine Welle über den gesamten Aschenkreis ausbreiteten. Direkt auf Lucy zu, die immer noch im Zentrum stand und sang. Erst als Levy ihn festhielt, bemerkte er, dass er hatte vorstürmen wollen. Mit der anderen Hand klammerte die Magistra sich an Gray, der offenbar auch Anstalten machte, Lucy zur Hilfe zu eilen. In Grays Augen erkannte Natsu eine ähnliche Panik, die auch ihn quälte.

„Mischt euch nicht ein“, zischte Levy mit mühsam gedämpfter Stimme. „Sie ist in Sicherheit. Loke ist bei ihr.“

„Was soll Loke denn gegen Feuer ausrichten?“, begehrte Gray auf.

„Die Fürstin und die Zeremonienmeisterin werden bei dieser Zeremonie immer von einem Feuergeist beschützt, also muss Loke einer sein“, erklärte Levy fieberhaft, aber Natsu fiel auf, dass ihre Hände zitterten.

„Es sind keine Schreie zu hören“, mischte sich Gajeel ein. War das etwa ein Versuch, Levy zu beruhigen?

„Und die Anderen hier machen sich offensichtlich keine Sor-“

Meredy brach ab und Natsu verstand auch sofort, warum. Mehr als zwei Drittel aller Anwesenden hatte sich verwandelt. Die wenigen Menschen schien es gar nicht weiter zu verwundern. Wahrscheinlich kannten sie es schon zur Genüge, Geister in ihrer wahren Form zu sehen, aber Natsu hatte auf all seinen Reisen noch nie eine vergleichbare Versammlung gesehen.

Capricorn hatte jetzt Gesicht und Hörner eines Steinbocks und seine Hände und Füße waren Hufe. Die blauhaarige Frau mit dem strengen Gesicht, die neben ihm gestanden hatte, hatte von der Taille an abwärts statt Beinen einen Fischschwanz. Aries hatte Widderhörner und ihr menschlicher Oberkörper saß auf dem Körper eines Widders. Die kuriosesten Gestalten waren zu erkennen. Viele waren teilweise oder gänzlich tierisch, einige jedoch ähnlich abstrakt wie Gemini und Plue. Crux etwa, der Meister der Bücher am Hofe von Heartfilia, hatte einen kreuzförmigen Kopf. Nur der große Schnurrbart und die verschlafen wirkenden Augen gaben Auskunft über seine Identität.

Die Flammen im Aschenkreis legten sich wieder und ließen den Blick auf das Zentrum frei. Lucy und die Zeremonienmeisterin standen vollkommen unbeschadet dort, wo sie vorher auch gestanden hatten. Nicht einmal ihre Kleider waren verrußt. Und hinter ihnen stand ein gewaltiger Löwe. Er war mit einem ausgewachsenen Mann auf Augenhöhe und mit seinen Pranken könnte er wahrscheinlich einem Ochsen das Rückgrat brechen. Das erstaunlichste war jedoch seine Mähne, denn sie schien gleichermaßen aus manifestiertem Licht und aus Flammen zu bestehen. Wie echtes Haar wiegte sie sich im Wind. Gelegentlich flogen Funken von ihr ab, die wirkungslos in der Luft verloschen. Das erklärte die ungewöhnlichen Wunden der Söldner, als Natsu, Romeo und Wendy den Krieger gefunden hatten.

„Ein Sonnenlöwe!“, hauchte Levy. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass Loke vom Löwen des Westens abstammt!“

„Von wem?“, fragte Sting verwirrt.

„Der Löwe des Westens ist ein Held aus dem Extalia-Krieg“, erklärte Romeo ehrfürchtig. „Er hat mit Kommandant Wolfheim damals den Rückzug der Armee ermöglicht, als der Drache gefallen war.“

„Welcher Drache?“, wollte Gajeel wissen.

„Cubellios, der Giftdrache“, murmelte Natsu und die Erinnerung an den spitzzüngigen, humorvollen Drachen machte ihn noch schwermütiger.

„Müsstet ihr den nicht alle kennen?“, fragte Lyon gedämpft.

„Drachenreiter werden erst nach dem Tod des alten Drachenreiters ausgewählt. Manchmal verbindet sich ein Drache auch längere Zeit mit gar keinem neuen Reiter“, erklärte Rogue. „Sting und ich sind erst vor sieben Jahren Drachenreiter geworden, Natsu hingegen ist schon seit zwanzig Jahren einer.“

„Natsu ist der Einzige von uns, der Cubellios und seinen letzten Reiter kennen gelernt hat. Meine Vorgängerin ist zum Ende des Extalia-Kriegs gefallen“, fügte Wendy hinzu.

Natsu hörte nicht weiter hin. Er konzentrierte sich wieder auf Lucy, die aller anderweitigen Bemühungen zum Trotz so schrecklich einsam und zerbrechlich wirkte. Sie hatte ihren Vater verloren, aber sie war so vehement darauf bedacht, ihre Pflichten zu erfüllen, dass sie sich keine Trauer gestattete.

Wie aus einem Munde begannen alle Trauernden wieder zu singen. Ihre Stimmen waren jetzt kraftvoller, als hätte das Feuer sie von ihrer Trauer befreit. Levy übersetzte wieder. Etwas von der Einheit von Tod und Leben, vom Übergang der Toten in den Geist der Welt, vom Segen eines Königs und vom Trost der Lebenden durch die Berührungen der Asche. Natsu begriff kaum den Sinn hinter all dem. Nur die letzten Worte gruben sich tief in sein Gedächtnis: Wir nehmen Abschied und erinnern uns. Wir erinnern uns und leben weiter.

Die Worte hallten laut und klar über den gesamten Aschenkreis, Appell und Trost und Offenbarung zugleich. Natsu bemerkte, wie sich Meredys Hand in Lyons schob und wie der Weißhaarige die freie Hand auf die Schulter seines Bruders legte. Doch um Grays Lippen lag weiterhin ein bitterer Zug und in seinen Augen war dieser Funken, der Natsu an andere Personen erinnerte.

Die Harfentöne der Zeremonienmeisterin verklangen und über den Aschenkreis breitete sich kurzes Schweigen aus, ehe Lucys Stimme erklang. Sie war fest, ruhig und gleichmäßig und Natsu wurde klar, dass sie etwas aufzählte.

„Die Namen und Ränge der Toten“, erklärte Levy heiser. „Die größte Ehrerbietung ist es, die Namen der Verstorbenen in dankbarer Erinnerung zu behalten. So leben sie im Gedächtnis des Kollektivs weiter.“

„Und in Lucys“, murmelte Gray und in seiner Stimme lag dabei sorgenvolle Missbilligung. So sehr ihm diese andere Sache auch zu schaffen machte, Lucy bedeutete ihm offensichtlich eine Menge.

„Jude Heartfilia…“

Etwas in Lucys Stimme, als sie Namen und Rang ihres Vaters ganz zum Schluss nannte, ließ Natsu zusammen zucken. Wieder verspürte er den Wunsch, die Fürstin zu beschützen. Er wollte sie in seine Arme ziehen und von all den Verpflichtungen abschirmen, damit sie endlich ihrer Trauer freien Lauf lassen konnte. Er hätte beinahe alles gegeben, um ihr zu ihrem Lächeln zurück zu verhelfen!

Dieses Mal schienen es alle bemerkt zu haben. Levy und Juvia hatten sich weinend aneinander geklammert, während Gajeel unbehaglich hinter ihnen stand und mit den Füßen scharrte. Romeo hatte Wendy an sich gezogen, sein Gesicht bleich, die Augen geweitet. Wahrscheinlich dachte er dabei an seinen eigenen Vater in Cait Shelter.

„Jude!“

Zuerst taten es nur einige einzelne Menschen und Geister, aber immer mehr von ihnen stimmten in den Chor ein, der den Namen von Lucys Vater wiederholte. In Lucys Blick flackerte es und ihre Hände ballten sich an ihren Seiten zu zitternden Fäusten. Natsu begriff, dass dies hier nicht mehr Bestandteil der eigentlichen Zeremonie war, sondern eine spontane Huldigung der Einwohner an den verstorbenen Fürstregent des Landes.

Und Natsu wusste nicht, wieso – immerhin hatte er Jude Heartfilia nie kennen gelernt und vor seiner Ankunft hier nicht einmal etwas von ihm gewusst –, aber er holte tief Luft und stimmte in den Chor ein…

Der Morgen, an dem die Trauer herein brach

6 Monate zuvor
 

Im Arbeitszimmer ihres Vaters roch es nach Papier und Tinte und nach dem Aroma der Kräuter, die ins Kohlebecken gestreut worden waren. Das Kohlebecken im Zentrum des Raums spendete wohltuende Wärme, um der bitteren Winterkälte zu trotzen. Und wie immer lag der Hauch von Vergangenheit in diesem Raum.

Rundum waren alle Wände mit Regalen voll gestellt. Zum größten Teil enthielten sie ältere und neuere Bücher, aber daneben befanden sich in vielen der kleinen Regalfächer auch Ausstellungsstücke. Alte Rechenschieber, Münzwaagen und Sanduhren. Geschnitzte und gemeißelte Figuren. Allerlei Andenken aus fremden Ländern. Broschen, Schreibfedern, Kunstwaffen, hölzerne und marmorne Stadtmodelle, Sternengloben und –modelle. Die Sammlung zahlreicher Generationen von Fürsten und Fürstinnen mit den unterschiedlichsten Interessengebieten. Als kleines Mädchen hatte Lucy oft Stunden lang vor einem einzigen Regal gestanden, die Buchtitel studiert und die Andenken betrachtet, während hinter ihr die Feder ihres Vaters unermüdlich über Pergament oder Papier gekratzt hatte.

Bei den großen Spitzbogenfenstern stand ein wuchtiger Schreibtisch aus edelstem Eichenholz mit liebevollen Blatt- und Blumenornamenten nach magnolischer Handwerkskunst. Ein Geschenk von Rita Dreyar anlässlich des Friedens von Lumen Histoire. Links davon stand ein Taktischer Tisch, ein riesiges geschnitztes Modell von Fiore mit detaillierten Gebirgen und Flussverläufen, winzigen Stadtsilhouetten und angedeuteten Wäldern. Es war nicht mehr vollends zeitgemäß, einige der Wälder existierten nicht mehr, neue Orte fehlten, ebenso einige neue Abzweige des Kaiserlichen Straßennetzwerks. Ein Modell von Jadestadt aus hellerem Holz war vorsichtig eingefügt worden und die Gebiete von Edolas und Extalia waren eingeschwärzt worden.

Der Stuhl hinter dem Schreibtisch war schlicht und ungepolstert, das Holz an den Armlehnen abgenutzt. Dieser Stuhl war so alt wie das Fürstentum selbst, wenn man den eingeritzten Namen auf der Rückseite glauben durfte. Und er war ganz und gar unbequem. Eine Mahnung an jeden Fürsten und Regenten, dass dieses Amt keine Bequemlichkeit, sondern eine Verpflichtung war, von der viele tausend Leben abhingen.

Der Anblick des Stuhls schaffte es seit geraumer Zeit, jedes Mal Lucys Laune zu dämpfen, wenn sie das sonst so gemütliche Arbeitszimmer betrat. Er erinnerte sie daran, was für eine Bürde sie bald tragen musste und wie viele Selbstzweifel sie deswegen plagten. Noch hatte ihr Vater diese Verantwortung inne, aber wenn sie diesen Raum das nächste Mal betreten würde, würde es ihr Platz auf diesem unbequemen Stuhl sein.

„Er ist nicht so hart, wie er aussieht.“

Lucy drehte sich zu ihrem Vater herum, der im Türrahmen stand, seine Haltung wie immer mustergütig gerade, die Haare perfekt zurück gekämmt, der Schnurrbart vollkommen gerade gestutzt. In den Augenwinkeln hatte er stark ausgeprägte Falten und an den Schläfen ergrauten seine sandbraunen Haare, aber er trug sein Alter mit Würde.

Wie immer trug er feine, aber zweckmäßige Kleidung. Der Winterkälte wegen hatte er sich eine wollene Jacke angezogen, schlicht und irgendwie unpassend, aber Lucy wusste aus Erfahrung, wie viel solche Strickjacken bei solchem Wetter wert waren, und natürlich bestand diese hier aus bester Heartfilia-Wolle.

„Ich habe nach dem Sternenatlas von Meister Aquila gesucht“, erklärte Lucy ihre Anwesenheit. Die Aussage ihres Vaters über den Stuhl überging sie absichtlich. „Ich brauche ihn für meine Studien.“

„Du willst deine Magisterarbeit also wirklich in Astronomie ablegen, obwohl Professor Michello es dir so schwer macht?“, fragte Jude gelassen, ohne sich anmerken zu lassen, was er über den rüden Themenwechsel dachte.

„Mutter hat es damals auch geschafft und sie war obendrein auch noch hochschwanger.“

Ein erinnerungsseliges Funkeln lag in Judes Augen, als er das Arbeitszimmer betrat und zielstrebig zu einem Regal ging.

„Stimmt, Layla hat ihren Abschluss gemacht und zwei Wochen später haben wir dich bekommen. Damals waren wir schon vier Jahre verheiratet.“

Lucy verdrehte lächelnd die Augen. „Du hattest schon mal bessere Überleitungen für dieses Thema, Vater.“

Jude gluckste leise und zog den gewünschten Atlas aus einem der oberen Regalfächer. „Du bist bald die Fürstin von Heartfilia und die einzige Erbin. Ich sage ja nicht, dass du deswegen den nächstbesten Edelmann heiraten sollst, aber… vielleicht kannst du die Augen offen halten?“

„Gib doch einfach zu, dass du deine Pensionierung nutzen willst, um Enkelkinder zu verwöhnen“, schnaubte Lucy.

Mit vollkommen ernster Miene drehte ihr Vater sich zu ihr um, aber seine Augen funkelten amüsiert. Lucy wiederum gab sich gar nicht erst die Mühe, empört oder vorwurfsvoll dreinzublicken. Sie würde es ihrem Vater vom ganzen Herzen gönnen, dass er sich um Enkelkinder kümmern konnte, aber sie hatte bisher einfach keinen Mann betroffen, mit dem sie sich die Familiengründung vorstellen könnte. Und sie hatte in Crocus keineswegs scheu in ihrer Studentenkammer gesessen, sondern war häufiger mit ihren Freunden um die Häuser gezogen, als es ihrem Vater wahrscheinlich lieb wäre. Nicht selten war sie dabei auch von Männern angesprochen worden, aber keiner davon hatte jemals wirklich ihr Interesse geweckt.

„Wie wäre es denn mit diesem Freund, von dem du so viel erzählt hast? Gray?“

Entschieden schüttelte Lucy den Kopf. „Gray ist durch und durch ein Eismensch und mein Platz ist hier.“

„Zu schade aber auch“, seufzte Jude.

Lucy winkte ab. Selbst wenn es dieses Problem mit Gray nicht gäbe, wäre eine Liebesbeziehung mit ihm für Lucy völlig undenkbar. Gray war genau wie Loke wie ein Bruder für sie. Sicherlich, es bestand nicht die geringste Blutverwandtschaft und jeder von ihnen wäre eine vorteilhafte Partie, aber bei Lucy sträubte sich beim Gedanken an eine Ehe mit einem von ihnen alles. Sie war so fest davon überzeugt, dass es irgendwo in Fiore die perfekten Frauen für ihre beiden Freunde gab – wobei sie es bei einem der Beiden ja schon wusste, auch wenn er selbst es noch nicht erkannt hatte. Genauso glaubte sie auch daran, dass Levy eines Tages einem Mann begegnen würde, der ihr Temperament aus ihr herauskitzeln konnte.

„Und wenn du mal deine Fühler ausstreckst?“, schlug Jude vor. „Der Drachenreiter von Magnolia soll in deinem Alter sein…“

„Und ein Draufgänger und Tunichtgut“, schnaubte Lucy. „Wie lange hat man ihn schon nicht mehr an der Seite seines Fürsten gesehen? Heartfilia braucht keinen Fürstgemahl, der keine Pflichten kennt.“

„Aber du vielleicht“, sagte Jude ungewöhnlich ernst. „Du solltest jemanden an deiner Seite haben, wenn du den Thron besteigst. Jemanden, der dir den Rücken stärkt, selbst wenn er sich nicht mit dem Regierungsgeschäften auskennt.“

Kopf schüttelnd streckte Lucy sich und gab ihrem Vater einen Kuss auf die Wange. „Das eilt nicht. Du wirst mir sicher noch lange erhalten bleiben…“
 

Heute
 

Der Stuhl war noch viel härter, als er aussah. Lucy hatte das Gefühl, viel zu klein und unbedeutend für ihn zu sein. Es kostete sie alle Beherrschung, nicht immer wieder auf ihm herum zu rutschen.

Der aromatische Qualm des Kohlebeckens im Zentrum des Arbeitszimmers reizte ihre Nase und ihre Augen und sie fragte sich, wie sie ihn jemals als angenehm hatte empfinden können. Der ganze Raum wirkte feindselig und erdrückend auf sie. Die Wände schienen zusammen zu rücken, sie zu bedrängen, regelrecht zu zerquetschen. Die Luft war dünn, jedes Geräusch schien sie zu verhöhnen…

Hatte ihr Vater sich auch so gefühlt, als er nach dem Tod seiner Frau die Regierungsgeschäfte übernommen hatte? War das der Fluch dieses Amtes? Oder der Familie?

Müde hob Lucy eine Schreibfeder und zog einen der Verträge heran, die sie als neue Fürstin verifizieren musste. Der Lohn für die Hofangestellten und für die Verwaltungsbeamten. Der Sold für die Soldaten. Pachtverträge. Aufträge für Lieferanten. Alles musste neu ausgestellt werden. Nicht weil man ihr oder ihrem Vater misstraut hätte, sondern weil alles eindeutig sein sollte. Niemand sollte daran zweifeln müssen, wer für die Einhaltung eines Vertrags zu haften hatte. Ein Kaiserliches Gesetz. Es mochte Zeit rauben, aber Lucy verstand den Sinn dahinter und akzeptierte es.

Sie musste nur ihre Unterschrift unter jeden Vertrag setzen, um alles andere würde sich Horologium, ihr Meister der Schriften, kümmern. Er kannte dieses Prozedere sogar schon aus der Zeit, als Lucys Großmutter gestorben und Layla die neue Fürstin geworden war.

Ihre Mutter… Lucy hatte gerade einmal fünf Sommer gezählt, als Layla Heartfilia nach langem Kampf einer Herzkrankheit erlegen war. Sie konnte sich nur vage an die schönen Gesichtszüge erinnern. Am deutlichsten waren ihr die Geschichten ihrer Mutter über die Sterne in Erinnerung geblieben. Sowohl die Geschichten selbst als auch das Gefühl, das die sanfte, ruhige Stimme bei ihr verursacht hatte, wenn sie gemeinsam auf dem Astronomieturm von Sternheim gesessen und die Sterne beobachtet hatten. Eine Tradition, die sie bei trockenem Wetter jeden Mond mindestens einmal gepflegt hatten. Besonders in klaren Nächten hatte es Mutter und Tochter einfach immer nach draußen gezogen. Ob ihre Mutter auch den Puls der Sterne hatte spüren können…?

Lucy legte ihre Feder beiseite und strich sich mit beiden Händen über das Gesicht. Sie war sich darüber im Klaren, dass ihre Gedanken unproduktiv hin und her sprangen. Das war schon seit gestern so. Seit sie ihren Vater und all die anderen Opfer des Angriffs besungen hatte.

Sie versuchte, es zu ignorieren, versuchte, sich mit Arbeit von diesem reißenden Gefühl in ihrer Brust abzulenken, aber der Chor der Einwohner zu Ehren ihres Vaters ließ sie einfach nicht mehr los. Dabei hatte sie gar keine Zeit für so etwas. Sie war jetzt die Fürstin Heartfilias. Das Wohl jedes Einzelnen ihrer Schutzbefohlenen stand weit über ihrem eigenen. Sie durfte diese Menschen und Geister nicht enttäuschen. Sie durfte ihre Eltern nicht enttäuschen.

Seufzend griff Lucy wieder nach ihrer Feder und tauchte sie in das kleine Tintenfässchen. Ihre Hand zitterte nur minimal, aber es genügte, damit sich ein Tropfen Tinte von der Feder löste und auf das Pergament fiel. Rasend schnell breitete sich die Tinte über mehreren Zeilen des Schriftstücks aus. Wie eine schwarze Flut. Sie verschlang Buchstaben, ja, ganze Wörter, riss ein klaffendes Loch in den Text…

Und alles, was Lucy tun konnte, war, zu starren. Wie gelähmt saß sie da, den Blick auf das besudelte Schriftstück gerichtet.

Schwarze Tinte. Ein Nichts, das dem Ganzen den Sinn nahm. Ein Abgrund, dessen Ränder immer weiter bröckelten…

Wie der Tod ihres Vaters.

Egal wie selten sie ihn wegen ihres Studiums gesehen hatte, er war das Fundament gewesen, auf das sie immer hatte bauen können. Er hatte sie groß gezogen, hatte ihr immer beigestanden, immer auf sie gewartet, sie mit diesem besonderen Lächeln in seinen Augen begrüßt. Er war einfach immer da gewesen – und nun schien einfach alles in sich zusammen zu stürzen.

Tränen tropften auf das Papier, ließen noch mehr Worte verschwimmen. Lucy wollte sie eindämmen und zurückkämpfen. Sie durfte jetzt nicht schwach werden, sie musste sich um die Bewohner Heartfilias kümmern, sich des Vertrauens würdig erweisen, das sie in sie setzten…

„Lucy…“

Als sich zierliche Arme um sie legten, zuckte die Blonde zusammen. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie Levy das Arbeitszimmer betreten hatte, konnte sich nicht einmal an ein Klopfen erinnern, aber jetzt war sie hier und hielt Lucy fest umarmt.

Zuerst versteifte Lucy sich und versuchte, einen Arm zu befreien und die Tränen fortzuwischen. Doch ihre Freundin hielt sie unbeirrt fest und Lucy spürte, wie ihr Wille, stark zu bleiben, erlahmte.

Sie war von Geisterjägern entführt worden, wäre beinahe hingerichtet worden und als sie nach Hause gekommen war, hatte sie erfahren müssen, dass ihre geliebte Heimat angegriffen worden war. Am schwersten wog für sie jedoch wirklich der Verlust ihres Vaters. Sie hatte die Studienzeit in Crocus genossen und war in diesen sechs Zyklen nur selten bei ihrem Vater gewesen, ja, aber vergessen hatte sie ihn nie. Ihren arbeitsverliebten, bedächtigen Vater, der alles beiseite geschoben hatte, wenn es galt, ihre Sorgen zu zerstreuen, ob sie eine gute Fürstin sein konnte. Ihren disziplinierten, etwas steifen Vater, der das Andenken ihrer Mutter immer in Ehren gehalten hatte…

Zitternd klammerte Lucy sich an ihre Freundin. „Er ist tot“, würgte sie verzweifelt hervor. Die Tränen kamen nun in Sturzbächen und spülten jedweden Gedanken an Selbstbeherrschung hinfort. Der einzige Halt, der Lucy blieb, war Levy, die sie liebevoll umarmte, ihr Haar streichelte und sie alles aussprechen ließ, was sich seit Tagen in ihr aufgestaut hatte. „Er hat versprochen, mir zu helfen, und jetzt ist er tot…“
 

Lucys Schluchzer waren laut und hemmungslos. Auch ohne seine Drachensinne hätte Natsu sie von seinem Platz vor der Tür des Arbeitszimmers aus hören können. Sie drangen durch das Holz und mitten in seine Brust, wo sie einen schmerzhaften Stich verursachten.

Schweren Herzens nahm er die Hand wieder von der Klinke. Nur allzu gerne wollte er in diesen Raum stürmen und Lucy fest in seine Arme schließen, aber dazu hatte er kein Recht und es war auch nicht angemessen. Als er mit Levy hierher gekommen war, um Lucy zu fragen, ob sie mit ihnen frühstücken wollte, hatte Levy ihn ermahnt, sie alleine ins Arbeitszimmer gehen zu lassen. Kurz darauf waren Lucys Schluchzer erklungen.

Levy war jetzt für Lucy da und gab ihr Bestes, um sie zu trösten. Ihre sanfte Stimme, aus der sie beinahe gänzlich das zaghafte Zittern verbannt hatte, flüsterte beruhigende Worte, ohne wirklich viel Sinn zu ergeben, aber das mussten sie wohl auch nicht, auf die Tonlage kam es an.

Natsu fürchtete, dass Lucy glauben würde, stark sein zu müssen, wenn noch jemand in den Raum treten würde. Aber sie musste jetzt weinen und ihre Trauer an die Luft lassen. Das war genau das, was Lucy jetzt brauchte – Natsu hatte das damals bei Cana gesehen, als Cornelia gestorben war.

Unschlüssig lehnte Natsu sich neben der Tür an die Wand. Auch wenn er sich entschieden hatte, hier Levy das Feld zu überlassen, hatte er das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen. Auf Frühstück hatte er keinen Appetit mehr.

Schritte im Korridor ließen ihn aufblicken. Es war Capricorn, der jedoch sofort innehielt, als er Natsu erblickte. Genau wie Loke schien auch der Schwertmeister ein ausgezeichnetes Gehör zu besitzen, denn in seine Augen trat aufrichtiger Kummer, nachdem er kurz gelauscht hatte.

Natsu stieß sich von der Wand ab und ging zu dem Tiergeist. „Levy ist bei ihr“, erklärte er mit gedämpfter Stimme.

Capricorn nickte. „Auch wenn die Umstände alles andere als erfreulich sind, ich bin erleichtert, dass die Herrin Freunde hat, die sie stützen.“ Mit einem letzten Blick auf die Tür des Arbeitszimmers drehte er sich um und bedeutete Natsu, ihm zu folgen.

Der zögerte einige Herzschläge lang. Noch einmal lauschte er Lucys Schluchzern und Levys Worten, atmete den Geruch von Lucys Tränen ein. In seiner Brust verspürte er immer noch einen schmerzhaften Stich, aber er gestand sich ein, dass er Lucy keine Hilfe war, wenn hier herum stand. Da konnte er genauso gut Capricorn folgen.

Sie schritten den kurzen Korridor hinunter bis zur Galerie, die auch gleichzeitig Teil des Empfangssaals war. Über eine breite Treppe mit reich ornamentierter Balustrade war das obere Stockwerk mit den privaten Gemächern der Fürstenfamilie zu erreichen. Ein riesiger Kronleuchter hing im Zentrum des Saals. Anstelle von Kerzen trug er Lichtlacrima. Selbst Natsu, der sich nicht viel um solcherlei scherte, erkannte, wie wertvoll und außergewöhnlich dieser Kronleuchter war. Der Boden bestand aus blank poliertem Parkett, alt aber sorgsam gepflegt. Obwohl es schon so lange hier war, nahm Natsu daran immer noch den typischen Geruch von magnolischem Holz wahr.

Abgesehen von einigen gepolsterten Stühlen und Bänken war der Saal leer, aber Capricorn blieb genau unter dem Kronleuchter stehen und Natsu folgte seinem Beispiel. Als er dem Fingerzeig des Geistes zur nördlichen Stirnseite des Saals folgte, erkannte er das Gemälde einer jungen Frau, überirdisch schön, mit langen, goldenen Haaren, angetan mit einer schweren Rüstung. Ihr Blick hatte etwas Bohrendes, Hartes, Unerschütterliches.

„Anna Heartfilia, die Begründerin des Geschlechts und des Landes“, erklärte Capricorn und in seiner Stimme lag Ehrfurcht. „Sie hat die Geister vereint und unter ihren Schutz genommen. Und alle ihre Nachfahren…“ Er machte eine weitschweifige Geste, welche alle Gemälde an den Wänden umfasste, kleine wie große. „… haben dieses Werk fortgeführt. Die Heartfilias gehörten zu den ersten Unterstützern Ihrer Kaiserlichen Majestät und sie haben auch den Marktwert von Lacrima für den Schutz des Fürstentums und seiner Bewohner nutzbar gemacht. Zwei Drittel aller Fürsten dieses Landes sind gewaltsam gestorben, immer im Dienst der Sache. Das ist ein ungeheures Erbe, das Herrin Lucy antreten muss…“

Natsu schwieg, denn er hatte nicht das Gefühl, dass Capricorn eines Kommentars bedurfte. Vielmehr schien der Geist ihm etwas sagen zu wollen.

„Die Last dieser Verantwortung drückt bereits seit dem Tod ihrer Mutter auf Herrin Lucys Schultern, ohne dass einer von uns jemals die Gelegenheit gehabt hätte, sie zu erleichtern. Es liegt wohl in der Natur der Sache, dass ein Geist sie auch immer daran erinnern wird, was für eine Aufgabe sie hat. Ich hege die Hoffnung, dass Ihr und Eure Freunde der Herrin dort helfen könnt, wo wir es nicht vermögen. Insbesondere jetzt, da Herr Jude verstorben ist.“

Natsu runzelte verwirrt die Stirn. „Worauf wollt Ihr hinaus?“

„Loke hat mir erzählt, was Euch alle jeweils nach Malba geführt hat. Ich denke, dass es für Herrin Lucy das Beste wäre, nach Süden zu reisen, um Magistra McGarden bei ihren Studien in Jadestadt zu helfen.“

„Das ist keine gute Idee“, widersprach Natsu unbehaglich. „Laut Sting und Rogue spielen die Basilisken verrückt. Die Reise nach Jadestadt ist zu gefährlich für Lucy und Levy.“

„Gedenken die Drachenreiter denn, sich wieder zu trennen?“ Der Schwertmeister zog eine Augenbraue in die Höhe. „Ich habe angenommen, dass Ihr den Klauen der Wüstenlöwin gemeinsam beistehen würdet.“

Da war etwas dran. Natürlich waren auch die Situationen in den Bergen von Cait Shelter und im Kaiserlichen Meer bedenklich, aber in der Stillen Wüste lauerte eindeutig etwas sehr Starkes und sehr Gefährliches. Es wäre wohl das Klügste, Sting und Rogue zu begleiten, um Sabertooth und Jadestadt zu helfen, auch wenn Natsu noch nicht wusste, was er überhaupt ausrichten konnte.

„Ihr wollt, dass wir Lucy mit in die Stille Wüste nehmen, wo sie wahrscheinlich in Lebensgefahr schweben wird?“

„Ich denke, fünf Drachenreiter und mehrere starke Magier und Krieger sollten durchaus in der Lage sein, die Herrin zu beschützen“, erwiderte Capricorn mit der Andeutung einer Verbeugung.

Ein wenig perplex erwiderte Natsu die Geste. Er wusste immer noch nicht, ob er wirklich wollte, dass Lucy in ein so gefährliches Gebiet zog, aber andererseits wollte er ihr nur zu gerne nahe bleiben und gleichzeitig aber auch unbedingt Sting und Rogue helfen. Und natürlich hatte Capricorn Recht: Wenn Lucy im Kreise der Drachenreiter nicht sicher war, war sie es wahrscheinlich nirgends. Lieber würde Natsu nie wieder auf Igneel reiten, als zu zulassen, dass Lucy noch einmal so etwas wie in Malba widerfuhr.

Meine Güte, dich hat es ja ganz schön erwischt. Igneels Amüsement erfüllte die telepathische Verbindung und Natsu verzog unwillig das Gesicht.

Kümmer’ dich um deinen Kram!

Habe ich. Wir haben das gesamte Gebiet übergründlich durchkämmt, aber es gibt keinen Hinweis darauf, woher der magische Impuls kam.

Nachdenklich wiegte Natsu den Kopf hin und her. Er war für gewöhnlich nicht paranoid, aber das seltsame Verhalten der Drachenartigen, der magische Impuls und der großflächige Angriff auf Heartfilia durch die eigentlich so schwache Sekte Avatar…

Du hast es erfasst, Natsu. Das sind mir auch zu viele Zufälle auf einmal. Die Drachenreiter sollten vorerst zusammen bleiben. Vielleicht kann die kleine Magistra neben ihren eigenen Recherchen auch diese Dinge untersuchen. Ihr solltet ihr folgen.

Und was tut ihr?

Wir teilen uns auf. Metallicana, Weißlogia und Skiadrum suchen das Meer ab. Grandine und ich fliegen in die Berge.

Das war riskant. Auf so große Entfernung war eine Kommunikation über das telepathische Band nur mit intensiver Meditation möglich.

Ihr seid stark und erfahren genug, ihr werdet in der Stillen Wüste schon zu Recht kommen, erklärte Igneel zuversichtlich. Außerdem ist auch noch Zirkonis da.

Der hat wahrscheinlich noch gar nichts mitgekriegt und schläft irgendwo.

Natsu hatte den Jadedrachen nur einmal getroffen, nämlich als er vor zwanzig Jahren in den Kreis der Reiter aufgenommen worden war. Damals hatte Zirkonis sich dazu bequemt, Natsus Vorstellung beizuwohnen, auch wenn er nichts als spöttische Bemerkungen für den fünfjährigen Jungen übrig gehabt hatte. Zirkonis war den Menschen zwar gewogen, aber er hatte noch nie zu den berittenen Drachen gehört. Das war unter Drachen anscheinend eine schwer wiegende Entscheidung, zu der sich nicht jeder durchringen konnte oder wollte. Doch auch ohne einen Reiter hatte Zirkonis sich nach den Bosco-Schluchtenkämpfen bereit erklärt, sich in der Nähe von Jadestadt nieder zu lassen, um immer ein Auge auf das zerrüttete Nachbarland zu haben.

Dann weckt ihn, sagte Igneel belustigt. Warn’ die Bewohner von Heartfilia vor, dass wir diese Nacht vor ihrem Nordtor rasten werden. Morgen brechen wir auf.

„Herr Natsu?“

Der Feuermagier blinzelte verdutzt und ihm wurde klar, wie seltsam es für Capricorn gewirkt haben musste, als er hier regungslos und mit starrem Blick gestanden hatte.

„Ich habe mit Igneel gesprochen“, erklärte er schlicht und das schien dem Tiergeist auch als Erklärung zu genügen.

Wie viel er wohl über das magische Band zwischen den Drachen und ihren Reitern wusste? Wenn er am Extalia-Krieg teilgenommen hatte, war er vielleicht auch dabei gewesen, als Cubellios gestorben war. Für einen Moment erwog Natsu, den Schwertmeister danach zu fragen, aber er verwarf den Gedanken sofort wieder. Der Extalia-Krieg war ein Massaker gewesen. Da hatte es eigentlich keine Helden gegeben, nur Tote und Krüppel. Natsu hatte schon mit vielen Überlebenden dieses Krieges zu tun gehabt und ausnahmslos jeder hatte damals Schäden davon getragen, die er auch heute noch mit sich herum schleppte. Bei jedem äußerte sich das anders und Natsu wollte nicht an Capricorns Wunden rühren.

„Bitte sagt den Wachen auf den Mauern Bescheid, dass die Drachen diese Nacht vor dem Nordtor rasten werden“, sagte Natsu also stattdessen.

„Natürlich. Habt Dank, dass Ihr mir zugehört habt.“

Der Geist deutete wieder eine Verbeugung an und verließ dann mit langen Schritten den Saal. Natsu blieb alleine zurück und sah sich weiter um. Sein Blick glitt die Reihe der Bilder entlang bis zum vorletzten, das laut der darunter befindlichen Messingplatte Lucys Mutter Layla darstellte. Lucy war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten mit den goldenen Haaren und den sanften, braunen Augen – oder zumindest war sie es gewesen, als Natsu sie vor wenigen Wochen das erste Mal getroffen hatte…

Capricorn glaubte, die Reise nach Jadestadt könnte Lucy gut tun, aber gab es vorher nichts, was Natsu für sie tun konnte…?

Und dann kam Natsu ein Geistesblitz und er tastete nach seinem Band mit Igneel. Wann werdet ihr Heartfilia erreichen?
 

Den Mitgliedern der bunt zusammen gewürfelten Reisegruppe waren gemütliche Gästezimmer zur Verfügung gestellt worden. Ob sie aufgrund ihrer Beziehung zu Lucy oder aufgrund ihrer besonderen Stellungen oder einfach aufgrund ihrer Hilfeleistung beim Wiederaufbau diese Geste erhalten hatten, Levy hatte jedenfalls beim ersten gemeinsamen Abendessen überdeutlich betont, was für ein immenser Vertrauensbeweis es war. Anscheinend wurde nur wenigen Gästen jemals gestattet, unbeaufsichtigt in den Gästezimmern von Sternheim Quartier zu beziehen.

Das Zimmer von Lyon und Meredy lagt direkt neben Grays. Es war dank der hohen Fenster hell und warm und mit kunstvollen Möbeln aus dem roten Kernholz von Lärchen eingerichtet: Ein großer Kleiderschrank, ein noch größeres Regal mit allerlei Klassikern der fiorianischen Dichtung, eine mit blauem Samt bezogene Sitzecke und ein Himmelbett. An den Wänden hingen Wandteppiche mit Szenen aus der Geschichte der Geister. Nach fiorianischen Maßstäben war dieses Zimmer angemessen für jedweden diplomatischen Besuch, aber Gray fühlte sich hier genauso unwohl wie in den Herbergen in Boscun und Malba.

Seit der Bestattung seiner Mutter kam er nirgends mehr richtig zur Ruhe, fand oft nur wenig Schlaf und wachte jedes Mal viel zu früh und mit kaltem Schweiß bedeckt wieder auf. Die Sorge um seine beste Freundin machte das nur noch schlimmer. Die gestrige Bestattungszeremonie hatte ihn trotz oder vielleicht auch gerade wegen ihrer Fremdartigkeit aufgewühlt und er hatte in der vergangenen Nacht kein Auge zu gekriegt.

Statt mit den Drachenreitern und ihren Begleitern zu frühstücken, war er heute Morgen durch die Stadt gelaufen, ohne ihre trotz der frischen Wunden unübersehbare Schönheit richtig würdigen zu können.

Eigentlich hatte Lucy ihm damals bei ihrem Abschied in Crocus versprochen, ihn durch ihre Heimat zu führen. Eigentlich hatte er ihr das Gleiche in Bezug auf seine Heimat versprochen... Es fühlte sich an wie aus einem anderen Leben. Ein Leben, in dem sie Beide noch Heimat und Familien besessen hatten. Obwohl Heartfilia bereits im Wiederaufbau begriffen war, wusste Gray, dass Lucy genau wie er noch immer entwurzelt war.

Irgendwann hatten Lyon und Meredy ihn eingesammelt und hierher in ihr Zimmer gebracht. Sie waren mehrfach sicher gegangen, dass niemand ihr Gespräch mit anhören konnte, dann hatte Meredy ihre Unterlagen auf dem kleinen Beistelltisch der Sitzecke ausgebreitet.

„Also, wir haben als einzigen Hinweis darauf, dass Avatar etwas mit dem zu tun hat, was in der Heimat passiert ist, die Brosche“, begann Meredy in ihrem geschäftsmäßigen Tonfall und legte das erwähnte Schmuckstück auf den Tisch. „Sting und Rogue haben einen ganz ähnlichen Hinweis in Bezug auf die Vorkommnisse in der Stillen Wüste gefunden. Das lässt darauf schließen, dass Avatar weder mit dem einen noch mit dem anderen Vorfall auch nur das Geringste zu tun hatte.“

„Also waren diese Broschen nur Ablenkungsmanöver“, schlussfolgerte Lyon mit einem Stirnrunzeln.

„Und um dieses Ablenkungsmanöver möglichst groß aufzublasen, wurde Avatar mit genug Geld ausgestattet, um Söldner für einen Angriff auf Heartfilia anzuheuern.“

Also waren Lucy und ihre Heimat nur Spielfiguren auf dem Schachbrett derjenigen gewesen, welche die Heimat angegriffen hatten. Gray presste die Lippen zusammen und blickte hasserfüllt auf die kleine, unschuldig wirkende Brosche hinunter. So viel Tod und Elend und Trauer…!

„Die Frage ist, ob die Vorfälle in der Stillen Wüste und jenseits der Gletscher miteinander in Verbindung stehen“, murmelte Meredy. „Unsere einzige Möglichkeit, das heraus zu finden, führt in den Süden, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass wir damit jemandem in die Hände spielen. Wem auch immer.“

„Uns bleibt keine andere Wahl, als der Spur zu folgen und dabei so vorsichtig wie möglich vorzugehen“, seufzte Lyon.

„Und wir müssen dabei weiterhin mit äußerster Verschwiegenheit vorgehen“, bestätigte seine Freundin mit ernster Miene.

Die Brüder tauschten einen unbehaglichen Blick. In den letzten Tagen hatten sie ihre Freunde wiederholt mit Halbwahrheiten und Lügen abgespeist, um nicht verraten zu müssen, weshalb sie in Malba gewesen waren. Gray fühlte sich damit ganz und gar nicht wohl. Lucy und die Anderen hatten das nicht verdient. Nicht einmal dieser Idiot Natsu.

„Ich weiß, dass das schwer ist“, begann Meredy behutsam, „aber dieses Wissen könnte die Anderen sogar in Gefahr bringen. Wir haben es hier immerhin mit jemandem zu tun, der in der Lage war, unbemerkt über den Spaltengletscher zu kommen, das Dorf anzugreifen und alle Eismenschen zu töten oder gefangen zu nehmen – und obendrein auch noch seine Spuren zu verwischen. Und er steht irgendwie mit jemandem im Bunde, der in der Lage ist, Basilisken zu kontrollieren. So jemand ist auch für Drachenreiter eine Gefahr.“

„Und mit so jemandem wollen wir uns ganz alleine anlegen?“, fragte Gray angespannt.

„Wir finden heraus, wer er ist und wo er die Eismenschen gefangen hält, dann gehen wir zur Kaiserin. Wenn wir mit der Kaiserlichen Armee aufmarschieren, haben wir eine Chance. Bis dahin sind wir auf uns allein gestellt.“

In den Augen der Pinkhaarigen erkannte Gray Unwillen, Sorgen und schmerzhafte Erinnerungen. Das alles musste sie stetig an ihre alte Heimat erinnern. Grays Blick ging zu Lyon, der die Hand seiner Freundin ergriffen hatte. Ob Lyon wusste, was genau Meredy widerfahren war, bevor sie an den Kaiserlichen Hof gekommen war? Auf Gray machte es nicht den Eindruck, als könnte Meredy darüber reden. Doch andererseits kannte er seinen Bruder gut genug, um zu wissen, dass er selbst ihm Meredys Geheimnisse vorenthalten würde, wenn es für sie wichtig war. Gray hatte deswegen noch nie Anstalten gemacht, danach zu fragen. Meredys Vergangenheit sollte auch ihre Vergangenheit bleiben, solange sie es so wollte.

„Also begleiten wir die Anderen nach Jadestadt, wenn sie aufbrechen“, durchbrach Lyon die unangenehme Stille. „Sie werden denken, dass wir helfen wollen.“

„In gewisser Hinsicht wollen wir das auch“, erklärte Meredy sanft.

Gray brummte zustimmend, aber am Schweigen das danach über ihnen hing, merkte er, dass die anderen Beiden die gleichen Gefühle plagten wie ihn: Als würden sie die Anderen hintergehen…

Die Nacht, in der neue Dinge begannen

Erschöpft strich Lucy sich eine Strähne hinters Ohr, die sich aus dem Knoten in ihrem Nacken gelöst hatte. Ihre Hand zitterte dabei. Sie fühlte sich noch viel kraftloser als an jenem Morgen nach der vereitelten Opferung, als sie in Natsus Armen aufgewacht war. Ihre Gedanken waren schwammig und träge. Obwohl die Sonne sich gerade erst dem Horizont zuneigte, sehnte sie sich nach ihrem Bett.

Levys besorgter Blick lastete schwer auf ihr. Stunden lang hatte die Blauhaarige sie fest gehalten und einfach weinen lassen. Obwohl Lucy ihr dafür dankbar war, wünschte sie sich jetzt, ihre Freundin würde sie alleine lassen. Wenn Levy bei ihr war, verspürte sie das Bedürfnis, einfach weiter schwach zu bleiben und sich an sie zu lehnen. Das durfte sie nicht. Sie hatte Pflichten. Sie war die Fürstin von Heartfilia!

Doch Levy hatte ihr nur Gelegenheit gegeben, die geschwollenen Augen mit etwas Wasser zu kühlen und sie dann unnachgiebig gepackt, um sie mit den Worten, dass sie endlich wieder richtig essen müsste, durch die Korridore zum Speisezimmer zu führen. Stocksteif blieb Lucy stehen und stemmte sich gegen Levys Griff, als sie Gray und die Anderen dort sitzen sah. War es wirklich schon die Zeit fürs Abendessen? Lucy hatte gar nicht bemerkt, wie viel Zeit vergangen war, während sie sich in nutzlosem Selbstmitleid gesuhlt hatte!

Alle wandten sich ihr zu, die Blicke mitfühlend und besorgt. Juvia richtete sich langsam auf, die Hände rastlos in der Luft ringend. Sie sah verunsichert aus, schien aber unbedingt helfen zu wollen. Am liebsten hätte Lucy die Flucht ergriffen, aber Levy hielt sie noch immer fest.

„Dein Koch ist wirklich so gut, wie du immer geschwärmt hast“, begann Lyon in einem Versuch, die Situation zu entschärfen.

„Das Lob freut ihn sicher“, erwiderte Lucy und sie schämte sich, wie heiser ihre Stimme dabei klang.

Erst jetzt wurde ihr bewusst, was für ein jämmerliches Bild sie hier abgeben musste mit ihrer aufgelösten Frisur, dem knittrigen Kleid und den wahrscheinlich immer noch blutunterlaufenen Augen. Als sie versuchte, die Schultern zu straffen, sackten diese noch mehr nach unten. Lucy wollte stark bleiben, aber ihr fehlte immer mehr die Kraft dafür.

„Vielleicht solltest du dich schlafen legen“, schlug Meredy sanft vor.

Hastig nickte Lucy und machte Anstalten, Levys Arm abzustreifen, aber das Zittern ihrer Freundin hielt sie auf. In Levys großen, braunen Augen stand die Sorge geschrieben. Um sie, Lucy, ihre Kommilitonin und Freundin, nicht um Lucy, die Fürstin.

Aber konnten diese Identitäten überhaupt nebeneinander existieren? Durften sie das? War sie nicht ihrem Volk und ihrem Erbe verpflichtet?

„Endlich!“ Verwirrt ruckte Lucys Kopf hoch, als Natsu, der bisher auffallend still am Tisch gesessen hatte, aufsprang. Er durchschritt den Raum und ergriff wie selbstverständlich Lucys Hand. „Tut mir Leid, Levy, aber ich muss dir Lucy für eine Weile weg nehmen“, erklärte er mit einem aufgeregten Grinsen.

Die Blauhaarige blickte genauso verdattert aus der Wäsche wie alle Anderen, aber Natsu störte sich offensichtlich nicht im Geringsten daran und zog Lucy einfach mit sich. Aus dem Speisezimmer heraus und weiter durch die Korridore. Während der ersten Schritte stolperte Lucy noch hinter Natsu her, aber dann versuchte sie, sich gegen seinen Sog zu stemmen. Zur Antwort blickte er nur über seine Schulter und in seinen Augen lag etwas, was Lucys Widerstand erlahmen ließ.

Sie beherrschte drei Sprachen fließend und konnte sich in einer weiteren Handvoll halbwegs verständlich machen, aber das, was sie in Natsus Augen sah, war unmöglich in Worte zu fassen. Dieses Leuchten. Diese völlige Überzeugung davon, das Richtige zu tun. Dieses Vertrauen in… etwas oder jemanden… Nichts an Natsu brachte die Natur seiner Magie so gut zum Ausdruck wie dieser Blick, stark und lodernd und doch zugleich wärmend und einladend. Das war nicht einfach nur ein Blick, das war ein Versprechen. Wofür und an wen und warum, das konnte Lucy unmöglich sagen, aber es berührte sie so tief, dass sie keine Chance hatte, dagegen aufzubegehren.

Schicksalsergeben ließ sie sich aus Sternheim heraus und auf den Hof führen, wo sie Capricorn und Loke zusammen mit einigen Mitgliedern der Fürstengarde erkennen konnte. Loke runzelte die Stirn, als er das sah, was auf ihn beinahe wie eine Entführung wirken musste, aber bevor er Anstalten machen konnte, Natsu aufzuhalten, legte Capricorn ihm eine Hand auf die Schulter. Der Schwertmeister sagte etwas zu ihm, doch Lucy konnte nichts verstehen, weil Natsu sie ungerührt weiter und an den Beiden vorbei zog.

Sie verließen den Hof und eilten weiter durch die Straßen. Ein paar Mal stolperte Lucy über den Saum ihres Kleides und nach einer Weile bekam sie Seitenstechen. Als sie deswegen nach Luft schnappte, drosselte Natsu das Tempo und legte stützend einen Arm um ihre Schultern.

Lucy erschauderte unwillkürlich. Es war, als würde sich eine warme Decke um sie legen. Nicht nur aufgrund von Natsus Körperwärme. Es war schwer zu erklären, aber seine Umarmung tat gut, brachte Lucy in mehr als einer Hinsicht ins Gleichgewicht zurück.

Immer weiter ging es durch die Stadt. Die Bewohner sahen reichlich verwirrt aus, als sie sahen, wie ihre Fürstin so unziemlich – und auch noch in einem so aufgelösten Zustand – durch die Straßen geführt wurde, aber Natsu schien sie nicht einmal zu bemerken. Unbekümmert grinsend zog und schob er Lucy auf schnellstem Wege zum Nordtor.

Taurus und Virgo hatten dort heute Wache. Keiner der Beiden stellte auch nur eine Frage. Virgo ging einfach zum Torhaus und rief ein Kommando und dann hob sich auch schon das schwere Fallgitter. Taurus öffnete daraufhin den kleinen Tordurchlass und Natsu zog Lucy hindurch. Das alles war anscheinend abgesprochen, aber Lucy fragte sich, wofür. Es sah Capricorn gar nicht ähnlich, bei so etwas mitzuspielen.

Vor dem Tor standen die Drachen, die Lucy vor einigen Tagen nach Hause gebracht hatten. Das hieß, eigentlich stand nur Igneel. Die anderen Vier hatten sich auf der Erde niedergelassen, anscheinend wollten sie sich ausruhen. Allerdings hatten sie alle die Augen geöffnet und beobachteten aufmerksam, wie Natsu und Lucy sich ihnen näherten. Selbst der etwas bärbeißige Metallicana, der das gewaltige Maul auf den Pranken abgestützt hatte, blickte milde interessiert zu ihnen. Und bildete Lucy sich das ein oder blitzten Grandines Augen amüsiert?

Schließlich richtete Lucy ihre Aufmerksamkeit auf Igneel. Der Feuerdrache breitete die gewaltigen Schwingen aus und warf mit ihnen einen langen Schatten. Vor der untergehenden Sonne wirkte er unglaublich imposant. Lucy stockte der Atem, als sie zum ersten Mal so richtig begriff, dass sie hier vor leibhaftigen Drachen stand!

Abgesehen von einigen Verschwörungsfanatikern bezweifelte niemand die Existenz der Drachen. Der sogenannte Drachenpakt, den die Unsterbliche Kaiserin vor zweihundert Jahren mit den Drachen geschlossen hatte, war ein öffentliches Ereignis vor Crocus’ Toren gewesen, bezeugt von Zivilisten, Abgesandten verbündeter und rivalisierender Fürstenhäuser und mehreren namhaften Historikern, welche das Geschehen in allen Einzelheiten für die Nachwelt festgehalten hatten.

In Meister Crux’ Unterricht hatte Lucy schon als kleines Kind die Namen der neun Drachen und ihren jeweiligen Werdegang in Fiores Geschichte auswendig lernen müssen. Atlas Flame war kurz nach der Paktschließung verschwunden, Zirkonis war mal hier, mal dort gewesen, bis er sich vor fast dreißig Zyklen in den Bruchbergen von Jadestadt niedergelassen hatte, um die neue boscanische Grenze im Auge zu behalten. Levia und Cubellios waren in Kriegen gefallen. Damit blieben fünf berittene Drachen auf dem riesigen Terrain von Fiore übrig. Die Chancen, da mal einen von ihnen am Himmel zu sehen, waren verschwindend gering. Geschweige denn, mal mit einem von ihnen zu sprechen.

Jetzt gleich vor allen fünf berittenen Drachen zu stehen, war kaum zu beschreiben. In ihrem Äußeren und ihrer Wirkung auf den Betrachter unterschieden sie sich stark voneinander. Während Grandine etwa mit den weichen Linien, dem reinweißen Fell und den großen Augen wie die Personifizierung von Sanftmut wirkte, schien Metallicana mit seinen scharfen Konturen und den kleinen, rot glühenden Augen unfreundliche Härte auszustrahlen. Skiadrums Umrisse schienen immer wieder mit den Schatten seiner Umgebung zu verschmelzen und verliehen ihm eine geheimnisvolle Ruhe und Weißlogia, strahlend weiß und schlank mit raschelnden Federn und klugen, bernsteinfarbenen Augen, war ein Sinnbild der Würde. Unter ihnen hob sich Igneel mit seinen offensichtlichen Muskeln, den scharfen Narben im Gesicht und den stechend roten Schuppen ab, ohne dass er tatsächlich als Anführer erkennbar war – das war er auch nicht, soweit Lucy es wusste, waren die Drachen untereinander gleichberechtigt.

Ihnen allen war jedoch eines gemein: Sie waren groß – mehr als nur im Sinne ihrer Körpermaße – und in einer Art und Weise machtvoll, die Lucy bei keinem anderen Wesen in Fiore jemals wahrgenommen hatte. Nicht einmal bei den Lindwürmern, die sie gelegentlich in Crocus gesehen hatte. Sie waren ein Enigma, unerklärlich, altehrwürdig…

„Können wir?“, grollte Igneel und ging in eine Hockstellung, wobei er mit einem Flügel eine Aufstiegshilfe bot.

Ehe Lucy sich von ihrer ehrfürchtigen Trance erholen und fragen konnte, was der Feuerdrache meinte, verstärkte Natsu den Griff um ihre Schultern und schob ihr den anderen Arm unter die Kniekehlen, um sie in die Höhe zu heben.

Ihr entfuhr ein erschrockenes Quietschen: „Natsu, was soll das?!“

„Wirst du gleich sehen“, lachte der Magier übermütig.

Mühelos kletterte er mit ihr in seinen Armen auf Igneels Rücken. Im Nacken des Drachen ließ er sie behutsam sinken, setzte sich hinter sie und schlang einen Arm fest um ihre Taille, die Füße mit selbstverständlicher Sicherheit auf die massiven Schuppen zu beiden Seiten von Igneels Hals gestemmt.

„Gut festhalten“, mahnte Igneel – bildete Lucy sich das ein oder klang der Drache amüsiert?

Die Flügel weit ausgestreckt, ging er noch mehr in die Hocke. Lucys Magen rumorte, als sie ein kleines Stück nach vorne kippte, ehe Natsus Griff sie sicherte. Als sie das letzte Mal geflogen war, war sie kaum richtig bei Bewusstsein gewesen und hatte gar nicht darüber nachgedacht. Aber jetzt war sie sehr wach und dachte eindeutig zu viel darüber nach – und das hier behagte ihr ganz und gar nicht. Da sie jedoch einsehen musste, dass Natsu sie nicht einfach so loslassen würde, versuchte sie nur, ihr Kleid so unter sich einzuklemmen, dass es nicht wild herum flatterte und ihre Unterröcke offenbarte.

Natsus warmer Atem streifte ihren Nacken. Sie spürte sein aufgeregtes Zittern. Was sollte das alles? Wenn Natsu etwas Spaß wollte, musste er dann ausgerechnet sie entführen? War er wirklich so rücksichtslos? Der Gedanke versetzte Lucy einen Stich.

Als Igneel sich vom Boden abstieß und mit den gewaltigen Schwingen schlug, wurde Lucy ordentlich durchgeschüttelt. Wieder quietschte sie und schlang die Arme um Natsus Oberkörper, das Gesicht an seine Brust gedrückt. Während der ersten paar Flügelschläge wusste sie kaum noch, wo oben und wo unten war, aber dank Natsu bestand nicht einen Herzschlag lang die Gefahr, dass sie von Igneels Rücken fiel. Er schien keinerlei Mühe dabei zu haben, das Gleichgewicht zu halten und dabei gleichzeitig dafür zu sorgen, dass sie sicher saß. Wahrscheinlich hatte er die wirklich nicht. Es musste ja eine Bedeutung haben, ein Drachenreiter zu sein.

Auch als Igneels Flug sich endlich stabilisiert hatte, drückte Lucy ihr Gesicht lieber in Natsus Weste. Der Gedanke, wie weit oben sie jetzt in der Luft waren, war zu beängstigend!

Erst die sanfte Berührung von Natsus Hand an ihrem Rücken ließ sie aufblicken. Der Feuermagier schenkte ihr ein breites Grinsen. „Schau’ nach unten.“

Der hatte gut reden! Sie mussten doch schrecklich weit oben sein. Lucy war vorher noch nie geflogen. Martam, der Exceed hier in Heartfilia, der sich momentan auf dem Weg nach Crocus befand, war nie zu erweichen gewesen, mit ihr zu fliegen, egal wie sehr sie ihn als kleines Mädchen angebettelt hatte. Und die Lindwurm-Schwadron hatte sie in Crocus immer nur vom Weiten gesehen.

„Trau’ dich. Ich halte dich fest“, ermunterte Natsu sie noch immer euphorisch grinsend.

Lucy verbiss es sich, ihn scharf anzufahren. Auch wenn es eine zweifelhafte Methode war – wofür auch immer –, der Feuermagier hatte es gewiss nur gut gemeint.

Seufzend nahm sie das Gesicht von Natsus warmer Brust und blickte ganz vorsichtig an Igneels Hals vorbei nach unten. Es war unmöglich zu sagen, wie hoch sie flogen, aber Grandine und die anderen Drachen hatten von hier aus nur noch die Größe von Hunden. Einzelne Menschen waren überhaupt nicht mehr auszumachen und die Stadt sah aus wie das Modell in Lucys Arbeitszimmer. Durch den roten Sonnenschein und die wachsenden Schatten wirkte das alles irgendwie noch viel unwirklicher. Als wäre nichts davon von dieser Welt. Aber gleichzeitig war auf einmal alles so klar und eindeutig. Lucy konnte die Wunden des Angriffs ganz deutlich in ihrer Heimatstadt erkennen, aber sie erkannte auch, dass diese Wunden im Heilen begriffen waren. Die Stadt machte weiter. Ihre Bewohner machten weiter.

„Eine beeindruckende Stadt“, grollte Igneel und schlug einmal mit den Flügeln, um eine Luftströmung zu überwinden, die Lucys vorher schon so aufgelöste Haare aus der versilberten Spange riss. Das Schmuckstück wäre verloren gegangen, wenn Natsu nicht so schnell danach gegriffen hätte. Dankbar bemerkte Lucy, wie er es in einer Tasche an seinem Gürtel verstaute. Als wäre nichts gewesen, sprach Igneel weiter. „Kein Drache hatte je einen Reiter aus Heartfilia, deshalb habe ich mich kaum damit beschäftigt, aber… ihr seid ein starkes Volk.“

„Hat es nie einen Geist als Drachenreiter gegeben?“, fragte Lucy nun ehrlich neugierig. „Nach welchen Kriterien wählt ihr eure Reiter aus?“

„Wir wählen die Reiter nicht aus. Das Band wählt sie aus“, erklärte Igneel bereitwillig.

„Das Band?“

„Wenn ein Drache sich dafür entscheidet, beritten zu werden, zeigt das Band ihm, wo er seinen neuen Reiter findet. Es ist ein rätselhafter Teil unserer Magie. Wenn wir so weit sind, wieder beritten zu werden, spürt das Band es und führt uns. Nach welchen Kriterien es die Reiter aussucht, verstehen wir genauso wenig wie alle Anderen. Die einzige uns bekannte Einschränkung ist die Natur der Magie... Zirkonis und Atlas Flame haben sich damals nach dem Drachenpakt dagegen entschieden, das Band zu zulassen, denn es bedeutet leider auch eine Schwächung…“

„Wenn der Reiter stirbt…“, murmelte Lucy und ganz unwillkürlich lehnte sie ihre Wange gegen Natsus Brust, um seinem Herzschlag zu lauschen. Sein Arm schloss sich wieder fester um ihre Schultern, seine Finger strichen beruhigend über ihren Oberarm. „Das ist sicher ein trauriges Leben…“

„Ganz und gar nicht“, widersprach Igneel und schlug erneut mit den Flügeln. „Ein berittener Drache zu sein, ist sehr erfüllend. Wir alle lernen mit jedem Reiter dazu, entdecken neue Orte oder Dinge... Vor Natsu hatte ich noch nie einen so jungen Reiter. Grandine und Metallicana ging es mit Wendy und Gajeel ganz ähnlich. Es ist eine völlig neue Erfahrung, das Aufwachsen eines Menschen mit zu erleben.“

„Ich war fünf Sommer alt, als ich ausgewählt wurde“, erklärte Natsu und klang dabei irgendwie stolz. „Opa Makarov war ganz schön aus dem Häuschen. Alle haben viel Wirbel darum gemacht. Ich fand es einfach nur toll.“

„Er war kaum von meinem Rücken runter zu bekommen“, schmunzelte Igneel.

„Kann ich mir gut vorstellen“, kicherte Lucy.

Wie auch immer Igneel und Natsu das gemacht hatten, Lucy fühlte sich zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wieder behaglich. Ganz so, als hätte sich ein Knoten in ihrem Inneren gelöst. Sie hätte sich gerne irgendwie bedankt, aber es war ihr auch zu wichtig, um es mit einer Phrase abzutun.

„Auf einem Drachen zu reiten, ist nun einmal das Beste, was es gibt!“, erklärte Natsu mit eifrig leuchtenden Augen. „Lass’ es uns Lucy beweisen, Igneel!“

Der Drache schnaubte belustigt. „Gut festhalten.“

Lucy schlang ihre Arme wieder fester um Natsus Brust und war dankbar um seinen Arm, der nun fest und sicher an ihrer Taille lag.

Igneel legte die Flügel an und kippte seitlich nach vorn. Lucys erschrockener Aufschrei wurde abrupt abgewürgt, als der Drache pfeilschnell in die Tiefe schoss. Wie gebannt beobachtete Lucy, wie der Boden immer näher kam. In ihren Ohren klingelte Natsus Jubel. Unbeirrt hielt der Feuerdrache auf den Wald nördlich der Stadt zu. Lucy konnte die Augen kaum offen halten…

Wenige Mannslängen über den Baumwipfeln schwang Igneel sich wieder steil in die Höhe. Sein Winkel wurde immer steiler und auf einmal schlang sich auch Natsus zweiter Arm um Lucys Taille. Viel zu spät begriff Lucy, was ihr blühte…

Ihr Schrei war schrill und panisch, als die Welt auf einmal Kopf stand und ihre Beine den Halt an Igneels Körper verloren. Sie war sich sicher, in die Tiefe zu stürzen und sich sämtliche Knochen zu brechen. Aber dann hatte Igneel den perfekten Kreis vollendet, Lucy und Natsu sackten wieder auf seinen Nacken und der Drache schoss rasend schnell über den Bäumen dahin.

Natsu riss einen Arm in die Höhe und jubelte lautstark – und Lucy, zitternd und doch eigentlich atemlos, stimmte mit ein, ohne es erklären zu können.

Davon angespornt, schlug Igneel mit den gewaltigen Flügeln, um wieder an Höhe zu gewinnen. Als er weit genug von den Bäumen entfernt war, drehte er sich um die Längsachse. Einmal, zweimal, dreimal… Lucy konnte nicht zählen. Sie war wie im Rausch. Alles bestand nur noch aus Geschwindigkeit und Wind und aus Natsus starkem, warmem Körper. Sie jubelten und lachten und feuerten Igneel an, der sich zu immer neuen spektakulären Manövern hinreißen ließ.

Als Igneel schließlich hoch oben in der Luft die Schwingen ausbreitete, um in einen ruhigen Segelflug über zu gehen, war Lucy völlig verschwitzt und atmete schwer. Ihr Kleid flatterte wild um sie herum und ihre Haare tanzten ungebunden in der Luft, aber ihre Lippen zierte ein glückseliges Grinsen.

„Das war…“

Ihr fehlten die Worte. So etwas Aufregendes und Fantastisches hatte sie noch nie erlebt!

„Freut mich, dass es dir auch Spaß gemacht hat“, schnurrte Igneel zutiefst zufrieden.

„Jetzt verstehe ich, warum Natsu nicht von dir runter zu kriegen war“, keuchte Lucy und blickte voller Dankbarkeit zu dem Drachenreiter auf.

Dieser schenkte ihr sein typisches Grinsen. „Das Beste kommt noch!“ Er machte eine Geste, die ihre gesamte Umgebung einschloss.

Erst jetzt fiel Lucy auf, dass die Sonne vollends unter gegangen war. Heartfilia war nur noch anhand der Lichter zu erkennen, ansonsten war die Landschaft lange Zeit beinahe einheitlich schwarz, nur unterbrochen vom glitzernden Band des Schlangenflusses, ehe im Westen ein paar vereinzelte Lichter zu erkennen waren. Das musste Sternwasser sein, ein Straßendorf des Fürstentums. Lucy konnte den großen See, der dem Dorf seinen Namen gegeben hatte, erahnen.

Dann wandte sie ihren Blick nach oben. Die Sterne schienen zum Greifen nahe zu sein und es schienen auch viel mehr zu sein, als Lucy jemals zuvor gesehen hatte. Sie waren so groß und wunderschön, ihr Puls schien Lucy zärtlich zu begrüßen. Der Anblick der Sterne und die Nähe zu Natsu und Igneel schienen alles ins rechte Licht zu rücken…
 

Oh geliebter Stern, der du mich schützt und hegst und liebst,

Siehst du mich?

Siehst du meine Schritte?

Siehst du meinen Kampf, meine ungeweinten Tränen?

Hörst du mein Lachen?

Hörst du meine Reden, meine stummen Klagen?

Fort, fort ist mein Vater,

Der mich lehrte und leitete und liebte.

Wo hast du ihn hingeschickt?

Geht es ihm gut?

Sieht er mich?

Hört er mich?

Sende ihm, oh geliebter Stern,

Meine Worte, die ich nicht sagen,

Meine Tränen, die ich nicht weinen kann.

Zeige ihm, wie sehr ich ihn noch immer liebe.

Dann weiß ich, wenn ich dich sehe,

Dass er auch noch da ist…
 

Lucys geflüstertes Klagelied verklang, nur gehört von Igneel und Natsu, die Beide nicht der Geistzunge mächtig waren und von denen Lucy sich doch aus irgendeinem Grund verstanden fühlte.

Weinend lehnte sie ihre Wange an Natsus Brust und er schlang beide Arme um sie, warm und zärtlich und tröstend. Der Wunsch, ihre Trauer zu verschließen, war fort. Hier und jetzt war Lucy keine Fürstin, sondern einfach nur eine trauernde Tochter, eine Waise. Aber es war nicht so niederschmetternd wie vorhin in Levys Armen, als sie überhaupt das erste Mal ihre Trauer an die Luft gelassen hatte. Es waren keine Tränen der Verzweiflung mehr. Es waren Tränen der Läuterung, der Erlösung, des Loslassens.

Hier unter diesem wunderschönen Sternenhimmel, auf Igneels starkem Rücken und in Natsus warmen Armen verspürte sie heilenden Frieden und Dankbarkeit darüber, dass sie nicht alleine war…
 

Nachdem Natsu Lucy gewissermaßen entführt hatte, hatte nichts und niemand mehr die Hitzköpfe in ihrer Runde halten können. Die Fullbuster-Brüder und Levy hatten sich gleich wieder Sorgen gemacht und Sting, Juvia und Romeo waren vor lauter Neugier fast geplatzt. Die übrigen in der Gruppe waren ihnen im Sinne der Schadensbegrenzung gefolgt.

Als sie auf den Hof hinaus traten, begegneten sie einer aufgeregten Schar aus Hausangestellten, Soldaten und Stadtbewohnern. Capricorn stand in ihrer Mitte und erklärte mit stoischer Miene, dass kein Grund zur Sorge bestünde und dass die Herrin Lucy in besten Händen sei. Neben ihm stand Loke mit einer Miene krampfhaft kontrollierter Sorge.

„In welche Richtung sind sie gelaufen?“, wandte Levy sich an Gajeel, der jedoch nur ratlos mit den Schultern zuckte.

Auch Rogue hätte die Frage der Magistra nicht so ohne Weiteres beantworten können. Bei all den Gerüchen, die in einer Stadt nun einmal in der Luft lagen, war es schwierig, einzelne Spuren zu verfolgen. Nicht unmöglich für die Drachenreiter in der Runde, aber Rogue verspürte kein gesteigertes Verlangen, als Suchhund für diese Hitzköpfe herzuhalten, obwohl doch kein Grund zur Sorge bestand.

„Grandine sagt, dass Natsu und Lucy gerade mit Igneel fortgeflogen sind“, meldete sich Wendy zu Wort.

„Fortgeflogen? Wohin?“, fragte Gray angespannt.

„Die machen einen Ausflug“, stellte Sting fest, nachdem er wohl mit Weißlogia in Kontakt getreten war. Seine Miene war unverhohlen enttäuscht und Rogue verdrehte die Augen. Wahrscheinlich hatte der Blondschopf sich irgendeinen Blödsinn ausgemalt. Manchmal kam es ihm vor, als wäre er nicht Stings Partner, sondern sein Vater…

Auf Romeos Vorschlag hin gingen sie wieder hinein und suchten sich einen Weg zum Astronomieturm, der laut Levy den Studien der Heartfilias diente. Das Fürstengeschlecht hatte schon einige namhafte Astronomen hervor gebracht. Aus seiner eigenen Ausbildungszeit konnte Rogue sich auch an die Abhandlungen einiger Heartfilia-Astronomen erinnern. Er fragte sich, woher diese beinahe zwanghafte Fixierung auf eine derart realitätsferne Kunst kam. Man sollte meinen, Politik, Wirtschaft und Geschichte seien die wichtigeren Künste für Fürsten.

Auf dem Astronomieturm standen eine Bank, ein Zeichentisch und ein Teleskop bereit, letzteres mit einer wasserabweisenden Lederplane geschützt.

„Dort sind sie!“, rief Romeo und deutete grinsend nach oben, wo Igneels roter Drachenkörper gerade immer weiter nach oben flog. Er war bereits so weit entfernt, dass Natsu und Lucy nicht zu erkennen waren.

„Was haben sie vor?“, fragte Lyon mit einem besorgten Stirnrunzeln und ließ sich mit verschränkten Armen auf der Bank nieder.

„Die Drachen brechen morgen auf. Wahrscheinlich wollte Natsu noch mal eine Runde auf Igneel drehen“, mutmaßte Sting, der sich auf eine der Zinnen geschwungen hatte und dort im Schneidersitz herum lümmelte.

„Und warum hat er Lucy dafür mitgenommen?“, wandte Meredy mit hochgezogenen Augenbrauen ein.

Romeo hüstelte grinsend. „Happy hat da so etwas angedeutet…“

Beinahe hätte Rogue geseufzt, als er sah, wie sich reihum Verstehen in den Gesichtern seiner Begleiter wieder spiegelte. Der Grad dieses Begreifens reichte dabei von stillem Amüsement – etwa bei Meredy – über Verwirrung – bei Gray – bis hin zu Euphorie – bei Sting.

„Wie romantisch!“, seufzte Juvia hingerissen und warf Gray dabei einen glühenden Blick zu, welchen dieser jedoch nicht zu bemerken schien. Genauso wenig wie die meisten Anderen. Rogue registrierte lediglich Gajeels finsteres Stirnrunzeln.

„Das wird doch nie was“, schnaubte Gajeel abfällig und Rogue hatte den Verdacht, dass der Eisenmagier sich selbst abzulenken versuchte. „Natsu ist viel zu blöd dafür.“

„Lucy scheint aber gar nicht so abgeneigt zu sein“, mischte Levy sich ein, ohne auch nur einmal den Blick von dem winzigen Punkt zu nehmen, zu dem Igneel zusammen geschrumpft war.

„Wahrscheinlich, weil dieser Idiot zu verpeilt ist, um ihr den Hof zu machen, wie es diese Lackaffen in Crocus alle Nase lang tun“, murmelte Gray und Lyon gluckste amüsiert.

„Ob ein Mann einer Frau den Hof macht, ist nicht das Entscheidende, sondern das Wie“, erklärte Meredy mit einem feinsinnigen Lächeln und nickte in Igneels Richtung. „Das dort ist auch eine Methode.“

Just in diesem Moment ließ Igneel sich in die Tiefe stürzen. Levy stieß einen spitzen Schrei aus und Juvia schlug mit grünlichem Gesicht die Hände über die Augen. Obwohl er dieses Manöver schon oft selbst mit Skiadrum ausgeführt hatte, beobachtete Rogue wie gebannt, wie Igneel erst unmittelbar über den Baumwipfeln seinen Sturzflug beendete, den Schwung für eine enge Wende senkrecht zum Boden nutzte und dann pfeilschnell über den Wald dahin schoss.

„Also wenn er Lucy damit nicht rumkriegt, dann stimmt etwas nicht mit ihr“, lachte Sting begeistert.

„Nicht jeder ist so wie du drauf“, wandte Gajeel skeptisch ein, doch der Wüstennomade ließ die Spitze an sich abprallen, als wäre nichts.

Als Igneel wieder etwas in die Höhe stieg, um sich dann rasend schnell um die eigene Längsachse zu drehen, stöhnte Levy entsetzt auf und hielt sich ebenfalls die Hände vor die Augen.

„Natsu und Igneel würden sicher nicht so weit gehen, wenn Lucy Angst hätte“, versuchte Wendy die Blauhaarige zu beruhigen. „Die Beiden wissen, was sie tun.“

„Manchmal zumindest“, merkte Gajeel an und klopfte der Magistra auf die schmalen Schultern, worauf diese beinahe eingeknickt wäre.

„Eher selten, würde ich sagen.“

„Das ist nicht hilfreich, Gray“, sagte Lyon vorwurfsvoll, aber seine Lippen zuckten verräterisch.

„Ich wette darauf, dass die Beiden ein Paar werden“, verkündete Sting lautstark. „Und zwar innerhalb der nächsten zwei Monde!“

„Niemals!“, protestierten Gajeel, Gray und Levy.

Romeo wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. „Ich sage sechs Monde.“

„Zehn Zyklen“, sagte Gajeel.

„Juvia glaubt, dass Natsu Lucy schon bald einen Heiratsantrag macht.“

Rogue seufzte resigniert und tauschte einen leidigen Blick mit Wendy, die neben ihm die Einzige war, die sich nicht an der Wette beteiligte. In seinen Augen war es lächerlich auf etwas so Ungewisses zu wetten, egal was Happy angedeutet haben mochte. Gerade der blaue Exceed neigte genau wie sein Partner gerne zu Übertreibungen. Es war ja nicht einmal klar, wie lange Lucy und Natsu noch zusammen bleiben konnten, wenn man bedachte, in welchen Situationen sie alle jeweils steckten.

Die rege Diskussion über die Wette verstummte erst, als Loke nach oben kam. Die Haltung des Feuergeists war ausgesprochen steif und sein Blick verdüsterte sich sogar noch mehr, als er kurz zu Igneel sah, der noch immer wilde Flugmanöver ausführte.

Mittlerweile war der Feuerdrache für die meisten hier wohl nur noch vage zu erkennen. Sein Körper verschwand beinahe in der nun schnell zunehmenden Dämmerung. Rogue als Schattenmagier konnte den Drachen noch deutlich sehen, aber damit war er auch der Einzige in der Gruppe.

„Wisst ihr, wann er endlich wieder landen wird?“, fragte Loke angespannt.

Offensichtlich machte es ihm zu schaffen, seine Fürstin so lange aus den Augen zu lassen. Die Sache mit Lucys Beinahe-Opferung steckte ihm sicher noch in den Knochen.

„Bei Natsu kann man das nie so genau sagen“, erklärte Romeo mit einem entschuldigenden Grinsen.

„Igneel wird sich wohl bald ausruhen wollen“, sprang Rogue ein, als Lokes Miene noch finsterer wurde. „Er und Grandine wollen morgen nach Cait Shelter aufbrechen, das wird anstrengend.“

„Gut“, brummte Loke undeutlich und wollte sich schon umdrehen, als Stings vergnügliche Stimme ihn zurückhielt.

„Willst du mit wetten?“

Rogue unterdrückte ein Stöhnen und Wendy neben ihm seufzte ergeben.

„Eine Wette?“

„Nichts Schlimmes“, beeilte Levy sich zu sagen. „Nur darum, wann Natsu und Lucy wohl zusammen kommen und wer wohl wie den ersten Schritt macht.“

„Was?!“ Der Krieger wirbelte zu Gray herum und deutete anklagend auf ihn. „Machst du da etwa mit?!“

Der Eismagier zuckte mit den Schultern. „Klar, warum nicht? Es ist harmlos.“

„Du bist ein schlechter Freund! Du solltest eher aufpassen, dass dieser… dieser… dieser Kerl seine Finger bei sich behält!“

Der Eismagier verzog vielsagend das Gesicht. „Ich habe bei Lyon nicht die Anstandsdame gegeben, da werde ich bei Lucy nicht damit anfangen.“

„Ich dachte, wir wären Freunde!“, schimpfte Loke.

Romeo prustete leise, wofür Wendy ihm mahnend auf den Arm schlug.

„Sind wir auch, aber wenn Lucy mit diesem Idioten da anbändeln will, werde ich mich sicher nicht einmischen, sonst macht sie mich einen Kopf kürzer. Mir liegt etwas an meinem Leben“, erklärte Gray schaudernd.

Anklagend starrte Loke den Eismagier noch einige Herzschläge lang an, ehe er davon rauschte. Sting kicherte vergnügt und Rogue lehnte sich ergeben seufzend gegen die Zinne, auf der sein Partner saß. Er empfand Mitleid für den Feuergeist. Lucy schien für ihn wie eine Schwester zu sein und Rogue war sich sicher, dass er selbst auch nicht darüber erbaut wäre, wenn auf einmal jemand Yukino den Hof machen würde. Aller Liberalität und Freizügigkeit seines Volkes zum Trotz wäre Sting es auch nicht, das war Rogue klarer als seinem Partner selbst.

Als Lokes Schritte verklungen waren, nahmen die Anderen ihre Diskussion um die Wette wieder auf. Sogar Lyon, Meredy und Levy, die Rogue eigentlich für vernünftiger gehalten hätte, beteiligten sich. Levy war überzeugt, dass Lucy den ersten Schritt machen würde. Lyon und Meredy waren sich einig, dass es noch etwa einen Zyklus mit Natsu und Lucy dauern würde. Sting beharrte auf seinen Einsatz mit zwei Monden.

Rogue ließ sie alle einfach machen und beobachtete, wie Igneel hoch oben am Sternenhimmel langsam dahin glitt.

Er wollte gar nicht abstreiten, dass Natsu tatsächlich mehr als Freundschaft für die Fürstin empfand, das war in den letzten Tagen bereits offensichtlich gewesen. Doch das da oben – da war Rogue sich sicher – drehte sich einzig und allein darum, Lucy zu helfen, mit ihrer Trauer fertig zu werden.

Ob es etwas gebracht hatte, würde sich noch zeigen.

Der Morgen, an dem sie sich auf dem Weg nach Süden machten

Der Hafen von Heartfilia nahm sich im Vergleich zu den Häfen, die Gajeel bisher gesehen hatte, eher bescheiden aus. Ein Großteil der Lager befand sich – wahrscheinlich aus Sicherheitsgründen, da der Hafen nicht so gut befestigt war – in der Stadt. Die Werft bot nur Platz für zwei Schiffe. Einer der Liegeplätze dort wurde für den Bau einer Galeere gebraucht, der andere wurde anscheinend für Reparaturen frei gehalten. Ansonsten gab es nur ein paar Werkstätten, Hütten für die Hafenarbeiter, eine kleine Taverne – die durfte wohl in keinem Hafen fehlen, egal wie winzig er war – und eine Schreibstube für den Hafenmeister, einen grimmig dreinblickenden Alten, der gut zwei Dutzend Hafenarbeiter herum hetzte, um die Arbeiten zur Beladung der wenigen ankernden Schiffe nicht ins Stocken geraten zu lassen.

Zwei Koggen und eine Galeere ankerten momentan, ansonsten waren nur kleine Fischerboote und Frachtkähne zu sehen. Alles, was über genügend Laderaum verfügte, wurde nun mit den Kisten und Fässern beladen, die in einem steten Strom von Lastkutschen von der Stadt hierher gefahren wurden. Dafür dass der Hafen so klein war, herrschte hier momentan ganz schön viel Betrieb und die kleine Reisegruppe, die aus den Drachenreitern und ihren Begleitern bestand, musste aufpassen, nicht im Weg herum zu stehen.

„Müssen wir wirklich mit dem Schiff reisen?“, fragte Sting ungewohnt kleinlaut. Rogue neben ihm hatte die Lippen zusammen gepresst.

„Stimmt, wir könnten auch Kähne nehmen“, schlug Natsu verschlagen grinsend vor. „Die sind schneller und wendiger.“

Das sonst so sonnengebräunte Gesicht des Wüstennomaden wurde bleich. „Wir könnten doch stattdessen reiten.“

„Du kannst das Reiten auf Pferden doch nicht leiden“, feixte Natsu.

„Frosch denkt das auch!“, ließ Frosch sich arglos vernehmen, die sich auf Rogues Schulter hielt.

„Pferde sind zu langsam und in Heartfilia sind keine Reitkatzen stationiert“, mischte Meredy sich Stirn runzelnd ein.

Levy, die nie müde wurde, etwas über Heartfilia zu erzählen, hatte ihnen auf dem kurzen Weg hierher erklärt, dass das Fürstentum trotz seiner zentralen Lage eher abgeschottet war. Im Norden trennten die weit ausgedehnten, kaum passierbaren Sümpfe das Land vom Einflussbereich der Freien Stadt Malba.

Im Osten und Süden erstreckte sich das Kargland, das während der Thronkämpfe vor dreihundert Jahren völlig unbeachtet geblieben war. In diesem Land gab es wenig Wald, wenig Weidegrund, wenig Seen, wenig Struktur. Eine unendliche Weite aus Trockengräsern. Strategisch vollkommen nutzlos, wirtschaftlich der reinste Alptraum. Die Wege dorthin waren nicht mehr als Trampelpfade.

Im Westen grenzte Heartfilia an das reichhaltige Magnolia, mit dem es seit der Regierungszeit einer Rita-Irgendwie eine tiefe Freundschaft verband. In dieser Richtung waren die Handelswege gut ausgebaut. Allerdings eher zu Land als zu Wasser.

Der Namen gebende Verlauf des Schlangenflusses machte eine Schiffreise von Magnolia nach Heartfilia kaum lohnenswert. Die vielen Bögen waren selbst für versierte Flussschiffer eine ernst zu nehmende Herausforderung und zwangen sie beständig, langsam zu fahren. Erst ab Heartfilia strebte der Fluss beinahe schnurgerade durch das Kargland nach Süden und bis nach Sabertooth, ehe er einen scharfen Knick nach Osten machte und nach vielen Tagesreisen schließlich ins Kaiserliche Meer mündete.

Stings Mund klappte auf, wieder zu, noch mal auf. Schließlich seufzte der Wüstennomade wehleidig und ließ den Kopf hängen.

„Ihr werdet wirklich Beide seekrank?“, wollte Romeo wissen. Seine Mundwinkel zuckten verräterisch.

„Als wir an die Küste gesegelt sind, hat Sting auf Minervas Karte gekotzt und Rogue ist umgekippt“, kicherte Lector.

Er und Frosch waren gestern früh wieder in Heartfilia aufgetaucht. Die Wüstenlöwin hatte sie mit der Aufgabe geschickt, Sting und Rogue so schnell wie möglich nach Sabertooth zurück zu bringen. Jadestadt sei von einem unbekannten Feind eingenommen worden. Sabertooth hatte zum Krieg gerüstet.

Wendy und Natsu – und mit Wendy natürlich auch Romeo – hatten sofort ihre Hilfsbereitschaft erklärt. Und die beiden Eishirne und ihre Assassinen-Freundin hatten sich auch ganz schnell gemeldet.

Als Gray sich für die Expedition gemeldet hatte, hatte Juvia darauf bestanden, ebenfalls helfen zu wollen. Gajeel hatte versucht, dagegen zu argumentieren. Er wollte sich nicht in irgendetwas verstricken lassen, was ihn nichts anging, egal ob er ein Drachenreiter war oder nicht. Er hatte der Allgemeinheit schon genug geopfert und er hatte nicht vor, sich versklaven zu lassen. Als Juvia jedoch allen Ernstes angedroht hatte, auch alleine nach Sabertooth zu gehen, hatte er Zähne knirschend eingewilligt, fürs Erste mit den anderen Drachenreitern mit zu ziehen. Wenn in der Stillen Wüste alles geklärt war, würde er jedoch mit Juvia wieder das Weite suchen, so viel stand für ihn fest!

Zuletzt hatte Levy sich ihnen angeschlossen. Keiner von ihnen konnte das befürworten. Die Magistra war mutig und wusste mehr als sie alle zusammen über Geschichte und Sprachen und allen möglichen anderen Kram, aber die Stille Wüste war jetzt ein Kampfgebiet. Das war kein Ort für jemanden, der so unerfahren wie Levy war. Aber sie war genauso stur wie klein und hatte erklärt, dass sie einer Sache auf der Spur sei, die sogar noch weit über die Probleme in der Stillen Wüste hinaus gehen würde. Irgendwann hatte sich ausgerechnet Rogue auf ihre Seite geschlagen mit der Begründung, dass Levy mehr als sie alle über Avatar wusste und daher vielleicht auch bei der Suche nach denjenigen helfen konnte, welche die Stille Wüste unsicher machten.

Es gefiel Gajeel ganz und gar nicht, dass Levy sich in Gefahr begab, aber er würde den Teufel tun, das zu zugeben.

So war ihre Reisegesellschaft auf elf Personen und zwei Exceed angewachsen und sie hatten so schnell wie möglich alle Vorbereitungen für den Aufbruch getroffen. Von einem Wesensgeist namens Horodingsbums waren sie für die Reise ausgerüstet worden. Wie alle Anderen trug Gajeel jetzt Pluderhosen nach Art der Wüstennomaden und um seinen Hals hing ein langer Schal aus leichtem Stoff – Tagelmust hatte Sting es genannt –, der zu einem Kopftuch mit Schleier gewickelt werden musste, um zum einen vor der sengenden Sonne und zum anderen vor dem Sand in der Luft zu schützen. Nur Sting brauchte als Lichtmagier keinen Schutz vor der Wüstensonne und trug nur ein simples Halstuch, das er sich über Mund und Nase ziehen konnte.

„Wir probieren mal aus, ob meine Magentränke bei euch anschlagen“, schlug Wendy mit einem mitleidigen Lächeln an Sting und Rogue gewandt vor.

Letzterer nickte steif und setzte sich in Bewegung, als der Kapitän der Pyxis, einer der Koggen, ihnen zuwinkte. Sting zierte sich und schielte verzweifelt zu den Ställen, woraufhin Natsu ihm lachend auf die Schulter schlug und ihn dann nach vorn und den Laufsteg hinauf schob.

„Ist es eigentlich Zufall, dass in unserer Gruppe zwei Drachenreiter seekrank sind?“, frage Levy mit diesem Forscherblick, der ihr so zu Eigen war.

„Es hängt irgendwie mit der Drachenmagie zusammen“, erklärte Wendy, während sie ihre Sachen in einer ihnen zugewiesenen, ruhigen Ecke im Schatten des Achterkastells abluden und sich auf den dort vertäuten Kisten oder direkt auf den Planken nieder ließen. „Der Wellengang bringt etwas in uns ins Ungleichgewicht und wir werden seekrank. Was genau der Grund dafür ist, konnte Grandine mir allerdings auch nicht erklären. Auf alle Fälle betrifft es jeden Drachenreiter, egal wie seefest er vor dem Knüpfen des Bands war.“

Juvia kicherte leise. „Als Juvia mit Gajeel das erste Mal auf das Kaiserliche Meer gefahren ist, hing Gajeel auch nur über der Reling.“

Angesäuert sah Gajeel seine Ziehschwester an, doch deren Augen funkelten vergnügt. Seit sie mit Natsu und den Anderen zusammen waren, blühte die Wassermagierin immer mehr auf. Insbesondere dann, wenn sie zu Gray blickte. Dabei beachtete der sie kaum und überhaupt war von einem Eishirn eindeutig wenig zu erwarten. Zu Gajeels Leidwesen schien Juvia sich von der beständigen Ignoranz des Schwarzhaarigen nicht abschrecken zu lassen.

„Bei unserer ersten Bergflussfahrt bin ich ohnmächtig geworden“, gestand Wendy verlegen.

„Mest und ich waren zum Glück durch Meister Roubaul vorgewarnt“, sagte Romeo und warf seiner Schutzbefohlenen einen fürsorglichen Blick zu, der sie erröten ließ.

Alle wandten sich fragend an Natsu, der jedoch unbekümmert mit den Schultern zuckte. „Bei meiner ersten Fahrt nach Tenrou habe ich, kaum dass auf Deck war, mein Frühstück wieder hoch gewürgt. Sawyer hat mich alles aufwischen lassen, aber dabei kam mir wegen des Geruchs gleich noch mehr hoch. Es hat einen halben Tag gedauert, alles sauber zu kriegen, aber danach war ich geheilt. Sawyer hat sich allerdings noch einen ganzen Mond lang über den Gestank beschwert.“

„Wo liegt Tenrou?“, fragte Levy verwirrt. „Ich habe noch nie davon gehört.“

„Solltest du auch nicht“, mischte Meredy sich ein und musterte Natsu kritisch. „Sollte keiner hier.“

Genau diese Worte schienen erst recht Levys Neugierde zu wecken. Ihre braunen Augen begannen regelrecht zu leuchten. „Ist das etwa einer der Unsterblichen Orte? So wie der Turm der Ewigkeit?“

Wendy und Romeo horchten auf, Juvia jedoch zuckte zusammen. In Gajeels Brust regte sich das altbekannte Monster aus Wut und Verlust. Mit einem Knurren wandte er sich von den Anderen ab und lehnte sich an die Reling, um die letzten Vorbereitungen zu beobachten. Dennoch konnte er seine Ohren nicht vor dem weiteren Gespräch verschließen.

„Es ist einfach nur eine Insel mit einem komischen Baum, mehr nicht“, erklärte Natsu ratlos.

„Du solltest nicht darüber reden. Als Kaiserlicher Geheimniswahrer bist du zu Stillschweigen verpflichtet“, sagte Meredy angestrengt ruhig. „Das wurde dir doch sicher gesagt.“

„Ach, was ist schon dabei? Ich habe da nichts Besonderes gesehen.“

Meredy schnaubte frustriert.

„Lass’ gut sein, Natsu“, mischte Wendy sich versöhnlich ein.

„Blödes Gerede über Inseln und Flüsse“, grummelte Sting.

Gajeel blickte nach rechts, wo Sting halb über der Reling hing. Rogue hockte neben ihm auf einer Kiste und starrte angestrengt auf die Deckplanken. Lector tänzelte leichtfüßig zu Stings anderer Seite auf der Reling, während Frosch auf Rogues Schoß saß und alles und jeden um sich herum mit staunenden Augen beobachtete.

„Blöde Schiffe. Blödes Wasser…“

„Vielleicht solltet ihr ausprobieren, ob ihr auch abgehärtet werden könnt“, schlug Lector vor.

„Frosch denkt das auch!“

Stings Gesicht bekam einen Grünstich und Rogue presste die Lippen noch fester aufeinander.

Eine Bewegung am Laufsteg lenkte Gajeel ab. Dort standen Lucy, ihr Wachhund und der Ziegen-Schwertmeister. Die ersten Beiden waren in Pluderhosen und Lederrüstung gekleidet und trugen bereits richtig geknotete Kopftücher, deren Schleier in einer leichten Brise flatterten.

Nachdem er sie bisher nur in den feinen Fürstenfummeln gesehen hatte, war es Gajeel nicht aufgefallen, aber nun erkannte er in Lucys Bewegungen den Jahre langen Drill einer Schwertkämpferin. Ihr Gang war geschmeidig, ihre Schritte waren zielstrebig, hatten immer eine sichere Verbindung zum Boden. Der Rapier an ihrer Hüfte mochte im Vergleich zu einem Lang- oder Breitschwert mickrig wirken, aber für Lucy war er offensichtlich eine gute Wahl. Ihre Haltung war souverän und selbstsicher. Sie wusste, was sie konnte, und sie war wachsam. Eine Hand strich immer wieder vergewissernd über den Griff ihres Rapiers.

In diesem zwitschernden Geisterkauderwelsch wechselte sie einige Worte mit dem Schwertmeister. Ihr Unterton und ihre Miene verrieten Sorge und Zweifel. Der Geist antwortete beruhigend und verneigte sich tief, ehe er sich an Lucys Wachhund wandte. Dieser nahm sofort eine respektvolle Habachtstellung ein. Seine Miene kündete von Entschlossenheit, als er sprach, seine Stimme klang sogar beinahe feierlich. Ein Schwur? Der Schwertmeister nickte zufrieden und die beiden Jüngeren nahmen ihre Reisebündel auf und erklommen den Laufsteg.

Gajeel drehte sich um und lehnte sich rücklings an die Reling, um weiter alles beobachten zu können. Zuallererst wurde Lucy vom Kapitän der Pyxis begrüßt. Der Mann war hellauf begeistert von seinem hochgestellten Gast und berichtete stolz, dass sie in einer Stunde ablegen und bei gutem Wind wohl in acht bis zehn Tagen Sabertooth erreichen würden.

Als der Mann von ihr abgelassen hatte, wandte Lucy sich an Natsu und die Anderen. Seit dem Ritt auf Igneel schien es der Blonden besser zu gehen. Sie hatte danach mit den Anderen ein verspätetes Abendessen eingenommen und auch an den Tagen danach war sie immer wieder bei ihnen gewesen, wenn sie sich nicht gerade um ihre Pflichten hatte kümmern müssen.

Juvia sprang als Erste auf, als sie Lucy bemerkte. Ihre blauen Augen leuchteten vor Freude, während sie zu der Fürstin trat und deren Hände ergriff.

„Juvia freut sich, dass du mit uns kommst!“

„Ich mich auch“, gestand Lucy lächelnd.

Bei der Krisenbesprechung nach Lectors und Froschs Eintreffen war Lucy unsicher gewesen, ob sie es verantworten konnte, Heartfilia zu verlassen. Sie hatte ihnen versprochen, ein Schiff und Ausrüstung für ihre schnelle Reise nach Sabertooth und obendrein Hilfe für das südliche Fürstentum zur Verfügung zu stellen. Soweit Gajeel es wusste, wurden die zweite Kogge, die Galeere und die größeren Frachtkähne gerade voll beladen mit Proviant für die vielen Flüchtlinge, die Sabertooth hatte aufnehmen müssen. Ob Lucy selbst jedoch mit ihnen kommen würde, war bis eben unklar gewesen.

Auch Natsu sprang auf und umarmte die Blonde stürmisch, wofür Loke ihn mit einem finsteren Blick bedachte. Gajeel musste grinsen. Bis auf Rogue und Wendy hatten sich alle an der Wette um Natsu und Lucy beteiligt, aber sie waren sich alle einig, dass sie den Beiden nichts davon verraten würden. Ansonsten könnte das den Ausgang der Wette beeinflussen.

Als Natsu von Lucy abgelassen hatte, begrüßten auch die Anderen die Fürstin. Schließlich sah Lucy fragen zu Sting und Rogue hinüber, aber Natsu winkte lachend ab. „Die Beiden sind seekrank. Nicht weiter wild.“ Sting gab ein undefinierbares Grummeln von sich.

„Woher wisst ihr, wie man den Tagelmust bindet?“, fragte Wendy Lucy.

„Yukino hat es uns beigebracht“, erzählte Lucy bereitwillig. „Sie hat damals bei uns Rast gemacht, bevor sie nach ihrer erfolglosen Suche zurück in die Stille Wüste wollte.“

Aller Übelkeit zum Trotz war Sting und Rogue bei dieser Erwähnung von Yukino die Sorge deutlich anzusehen. Sie hatten Lector und Frosch bei deren Bericht über Jadestadts Besetzung auch nach dieser Frau gefragt, aber die Exceed hatten leider nichts über deren Verbleib gewusst.

Wieder blickte Lucy zu den beiden Klauen, ihre Miene ernst und sorgenvoll, aber auch wild entschlossen. Sie drehte sich zügig um und ging zum Kapitän, um diesen zur Eile anzuspornen. Sie würden in Sabertooth gebraucht. Voller Dankbarkeit blickten die Klauen ihr hinterher. Je schneller sie aufbrachen, desto schneller waren sie in Sabertooth und konnten ihren Freunden dort helfen, so einfach war die Rechnung.

„Lucy ist schwer in Ordnung“, lautete Lectors Urteil.
 

Der Militärkomplex von Crocus nahm ein eigenes Stadtviertel ein. Er wurde durch hohe, fugenlose Mauern vom Rest der Stadt abgegrenzt und war nur durch drei Tore im Süden, Osten und Westen zugänglich. Alle fünfzig Schritt stand ein Wehrturm mit einer Balliste, einem Onager oder einer Turmarmbrust. Obwohl sie seit über zweihundert Jahren nicht mehr im Einsatz gewesen waren, sahen sie alle wie neu aus und waren allesamt mit mindestens einem Soldaten bemannt.

Chelia wusste, dass diese Waffen regelmäßig gepflegt und je nach Notwendigkeit auch durch neue Geräte ersetzt wurden. In der Kaiserlichen Armee ließ niemand die Zügel schleifen. Das war schon so unter den letzten beiden Generälen gewesen und das war erst recht so, seit Erza Scarlet das Amt des Generals bekleidete.

Als Chelia durch das geöffnete Südtor trat, das dem Turm der Ewigkeit am nächsten war und zugleich auch den Haupteingang zum Militärkomplex darstellte, wurde sie von den dort stationierten Wachen mit einem freundlichen Nicken begrüßt. Sie war hier bereits wohl bekannt und musste sich schon lange nicht mehr ausweisen. Es hatte seine Vorteile zu den Kaiserlichen Geheimniswahrern zu zählen und obendrein auch noch mit einer Kommandantin der Kaiserlichen Armee verwandt zu sein.

Hinter dem Südtor erstreckte sich der schier riesige Appellplatz, umgeben von Bürogebäuden, Werkstätten und Lagern. Zehn Strafpfähle standen in einem Kreis in der Mitte des Platzes, eine ewige Ermahnung an die Strenge, die noch immer in der Kaiserlichen Armee gepflegt wurde. Heute waren sie verwaist, aber Chelia machte dennoch einen großen Bogen um sie. Mehr als einmal hatte sie dort bereits Diebe oder Trunkenbolde schmoren sehen.

Je nach Schwere ihres Vergehens wurden sie nach ihrer Auspeitschung einen oder auch mehrere Tage an den Strafpfählen angekettet und den Unbilden des Wetters ausgesetzt. Für schwere Verbrechen wie Desertion, Vergewaltigung und Mord gab es die Todesstrafe. Der schwere, von Blut geschwärzte Enthauptungsklotz im Zentrum des sogenannten Strafzirkels gemahnte immer daran, wie erbarmungslos auch heute noch von dieser Strafe Gebrauch gemacht wurde, wenn es notwendig war.

In einem so großen Verbund wie der Kaiserlichen Armee war es traurige Normalität, dass es immer wieder schwarze Schafe in den Reihen der Soldaten gab. Manche stumpften im Dienst zu sehr ab – insbesondere, wenn sie im Kriegseinsatz gewesen waren – und andere… hatten andere Gründe oder auch gar keine. Um die Disziplin und das Ansehen der auf ganz Ishgar gefürchteten Armee aufrecht zu erhalten, war deshalb eine strenge Hand vonnöten, die sich nicht davor scheute, auch das Blut von Soldaten zu vergießen, die ihren Eid gebrochen hatten.

Chelia wusste all das. Sie hatte den Eid gelesen, den jeder Soldat leisten musste, bevor er nach der Abschlussprüfung der Rekrutenzeit die Kaiserliche Rüstung erhielt. Es war notwendig und richtig, so zu verfahren. Dennoch ließ es sie jedes Mal erschaudern, wenn sie den süßlichen Geruch in der Nase hatte, der stets von dem Enthauptungsklotz ausging…

Sie beeilte sich, über den Appellplatz zu kommen und winkte nur im Vorbeigehen Alzack und Bisca zu, den Kommandanten der Leichten und der Schweren Artillerie, die gemeinsam einen offensichtlich neuen Onager auf der Ladefläche eines Ochsengespanns unter die Lupe nahmen. An Alzacks Hand hing die gemeinsame Tochter Asuka, die offensichtlich von der akribischen Arbeit ihrer Eltern gelangweilt war. Wahrscheinlich wollte das Paar gleich einen Familienausflug machen. Wären sie im Dienst, würden sie ihre Rüstungen und Umhänge tragen und dann wäre Asuka auch nicht hier.

Hinter dem Appellplatz begann der weitläufige Übungs- und Rekrutenkomplex. Kleinere Kampfplätze lösten sich mit Baracken, Hindernisstrecken, Übungsgeräten und Lagern ab. Zur vorherrschenden Mittagsstunde waren nur wenige Soldaten mit freiwilligen Übungen beschäftigt, aber so einige Rekrutengruppen wurden trotz der Hitze von ihren Ausbildern gedrillt.

Chelia verzog das Gesicht, als sie sah, wie ein paar junge Burschen von höchstens fünfzehn Sommern einen brutalen Hürdenlauf absolvieren mussten. Der Ausbilder brüllte ihnen die ganze Zeit Befehle um die Ohren und ein paar der Jungen weinten vor Erschöpfung.

Der Gedanke, dass Romeo diesen Drill während seiner Zeit in Crocus freiwillig mitgemacht hatte, kam Chelia immer noch unfassbar vor. Aber andererseits hatte Romeo seit zwölf Zyklen kaum etwas anderes im Kopf, als stärker zu werden und Wendy zu beschützen. Chelia war von Anfang an dabei gewesen, hatte die vielen Übungen gesehen, durch die Romeo sich gequält hatte, und hatte sich dabei immer gefragt, warum er all das auf sich genommen hatte. Erst als sie in den Turm der Ewigkeit berufen und somit zu einer Kaiserlichen Geheimniswahrerin ernannt worden war, hatte Chelia von ihren Freunden endlich erfahren, was es damit auf sich gehabt hatte, aber selbst dann hatte sie Romeos Verbissenheit kaum begreifen können. Hätte nicht einfach Mest Wendys Beschützer werden können? Warum hatte Romeo so früh mit dem Kriegshandwerk beginnen müssen?

Heute verstand Chelia es besser. Seit sie das Ausmaß ihrer Verpflichtung kannte, konnte sie auch Romeos Entschlossenheit besser nachvollziehen, aber obwohl es sie beruhigte, dass ihre beste Freundin in so guten Händen war, fragte sie sich doch manchmal, ob all das wirklich gut für Romeo war. Was würde mit ihm geschehen, wenn er an seine natürlichen Grenzen stieß? Und dass es irgendwann so kommen musste, war unvermeidlich, da war Chelia sich leider sicher…

Laute Rufe und ein wütendes Wiehern ließen Chelia aufblicken. Hinter den Übungsanlagen lag das Areal der Kavallerien. Kleinere Ställe für die Pferde in den unterschiedlichen Ausbildungsstadien reihten sich hier aneinander. Verschiedene Reitplätze hielten diverse Übungen bereit und vor den Werkstätten der Hufschmiede und Sattler stauten sich Wartende.

Das Spektakel fand jedoch auf einem der großen Reitplätze statt, an dessen Zaun sich zahlreiche Soldaten lehnten und die Reiterin anfeuerten, welche offensichtlich gerade ein neues Pferd einritt. Das pechschwarze Tier war stark und schnell, buckelte und sprang und schlug mit allen Hufen aus. Aber die Reiterin saß unerschütterlich im Sattel, als würde sie all diese Eskapaden gar nicht bemerken. Ihr langer, schwarzer Zopf schlug wild durch die Luft und das leichte Hemd war durchgeschwitzt, doch ihre Miene war hochkonzentriert.

„Halt’ durch, Kagura, bald hast du ihn klein gekriegt!“, rief eine junge Frau enthusiastisch, nur wenige Zyklen älter als Chelia und mit hellbraunen, struppigen Haaren. Millianna, die Adjutantin der soeben so formlos angerufenen Kommandantin der Leichten Kavallerie, Kagura Mikazuchi. Der reinweiße, schwarz bordierte Kommandatenumhang lag ordentlich gefaltet über Milliannas linkem Arm.

Neben der vorlauten Adjutantin stand Simon Mikazuchi, Kommandant der Schweren Kavallerie, die Arme vor der muskulösen Brust verschränkt, während er aufmerksam jede Bewegung seiner Schwester verfolgte. Während Kagura schlank wie eine Gerte war, war er so breitschultrig, dass er kaum durch eine normale Tür passen konnte, hatte riesige Hände, die an Schaufeln erinnerten, und ein breites, grimmiges Gesicht, doch Chelia kannte ihn bereits und wusste um seine sanfte Natur. Sie hatte bereits gesehen, wie behutsam er mit entwöhnten Jährlingen umgehen konnte und wie geduldig er immer wieder die Haltung von Rekruten bei ihren Reitübungen korrigierte.

„Chelia, da bist du ja.“

Die Windmagierin drehte sich um und sah sich einem Mann gegenüber, der gut eine Handbreite kleiner als sie war. Seine blauen Haare waren zu einem langen Zopf geflochten und seine dunkleren, breiten Augenbrauen verliehen seinem Gesicht irrtümlicherweise etwas Verschlagenes.

„Yuka“, grüßte Chelia mit einem freundlichen Grinsen. „Du wirst auch nicht mehr größer, oder?“

„Ich habe keine Ahnung, was du meinst“, erwiderte der Ältere gespielt kühl und straffte den Rücken, als könnte er so um ein paar Fingerbreiten wachsen.

Kichernd gesellte Chelia sich neben ihn und folgte mit ihm weiter der Hauptstraße zum Nordende des Militärkomplexes. Yuka Suzuki, Adjutant der Kommandanten der Lindwurm-Schwadron, war einer der ersten Soldaten, die Chelia hier in Crocus kennen gelernt hatte. Seine trockene, wenig subtile Art war ihr auf Anhieb sympathisch gewesen und irgendwie hatte er ein bisschen so etwas wie eine Bruderrolle für sie eingenommen.

„Als eure Nachricht mich erreicht hat, bin ich gleich aufgebrochen“, erklärte Chelia, während um sie herum Lager und Werkstätten nun die Straße flankierten.

„Hast du dich auch nicht von einem gewissen Runenritter ablenken lassen?“, hakte Yuka mit einem Wackeln seiner breiten Augenbrauen nach.

„Ich… habe keine Ahnung, was du meinst“, grummelte Chelia und wünschte sich, sie hätte sich gut genug unter Kontrolle, um die Röte ihrer Wangen unterdrücken zu können.

Yuka lachte rau und schlug ihr auf den Rücken, was sie ein paar Schritte nach vorn stolpern ließ. „Warst du mit ihm denn in dieser Taverne, in die er dich eingeladen hat?“

Wieder einmal verfluchte Chelia den Umstand, dass Yuka dabei gewesen war, als Eve Tearm, seines Zeichens Adjutant des Kommandanten der Runenritter, sie unverblümt in eine der besten Tavernen des Kaiser-Viertels eingeladen hatte. Zwar hatte er ihr zumindest den Gefallen getan, es nicht weiter zu tratschen – ganz im Gegensatz zu Yuri, der es allen Bewohnern des Turms der Ewigkeit erzählt hatte, weshalb Chelia dort allerlei teils gutmütige, teils stichelnde Kommentare über sich ergehen lassen musste –, aber wenn sie alleine waren, fragte er sie doch jedes Mal deswegen aus. Chelia schwankte immer, ob das aus Neugierde oder aus Sorge heraus geschah.

„In letzter Zeit war ich im Turm ziemlich eingespannt“, verneinte Chelia und unterdrückte einen müden Seufzer.

Mehr durfte sie Yuka nicht verraten, aber tatsächlich bereitete ihr der Zustand des Miasmas zurzeit Sorgen. Es wurde viel zu schnell wieder verunreinigt und die häufigen Meditationen erschöpften Chelia. Die anderen Wächter waren davon kaum betroffen, weshalb die Unsterbliche Kaiserin die Vermutung geäußert hatte, dass ein Windmagier momentan beständig im Einsatz zu sein schien. Und zwar ein starker und von einer Art, wie Chelia es bisher noch nie im Miasma gespürt hatte.

Als sie Yukas Blick spürte, sagte sie nichts und er fragte auch nicht nach. Er wusste und akzeptierte, dass Chelia über ihre Pflichten im Turm der Ewigkeit Stillschweigen bewahren musste.

„Es kommen auch wieder ruhigere Tage“, sagte er nur und tätschelte ihre Schulter dieses Mal sanfter.

Schließlich betraten sie das Gebiet der Lindwurm-Schwadron. Ähnlich wie die Magier-Einheit, deren Übungsgebiet abseits der Hauptstraße lag, weshalb Chelia es heute nicht durchquert hatte, war auch diese Abteilung der Kaiserlichen Armee wesentlich kleiner als die anderen Abteilungen. Sie zählte nur etwa hundert Männer und Frauen. Genau wie man nicht einfach lernen konnte, ein Magier zu sein, war es auch nicht möglich, aus reinem Willen oder durch Übung zu einem Lindwurmreiter zu werden. Der Lindwurm wählte sich den Reiter, nicht umgekehrt.

Dennoch brauchte die Lindwurm-Schwadron unverhältnismäßig viel Platz. Die Ställe der Lindwürmer waren riesige Steinbauten mit hohen Kuppeln, die immer nur für eine Handvoll der Drachenartigen Platz boten. Im Gegensatz zu den meisten anderen Soldaten wohnten die Lindwurmreiter direkt im Militärkomplex, oftmals sogar in Häusern direkt neben den Ställen ihrer jeweiligen Lindwürmer. Die meisten der viel bewunderten Flugschlangen waren sehr eigenwillig und akzeptierten selten einen anderen Pfleger als ihren Reiter. Da war es tatsächlich einfacher, immer in ihrer Nähe zu sein – und soweit Chelia das bei ihren zahlreichen Besuchen beobachtet hatte, gab es keinen einzigen Lindwurmreiter, der damit ein Problem hatte. Die Männer und Frauen hier waren stolz, zu den Auserwählten zu gehören, und kümmerten sich voller Hingabe um die Wesen, die ihnen so zugetan waren.

Dementsprechend erinnerte das Gebiet der Lindwurm-Schwadron trotz seiner Weitläufigkeit an ein kleines Dorf. Es gab hier einen eigene Mensa, eine Gärtnerei, eine kleine Schule für die Kinder der Lindwurmreiter, einen eigenen Platz für Schwert- und Bogenübungen und noch so allerhand mehr, was weder in einem kleinen Dorf, noch in einer Kaserne fehlen durfte. Nur eine eigene Taverne war hier nie geduldet worden, weil der Geruch von Alkohol die Lindwürmer zu sehr reizte.

Während sie eine der größten Kuppeln anstrebten, fiel Chelia auf, wie ruhig es hier heute war. Normalerweise nutzten die Lindwurmreiter gerade die Mittagshitze aus, um mit den Drachenartigen einige Flugmanöver durch zu führen. Ähnlich wie Leviathane und Basilisken waren Lindwürmer ausgesprochen kälteempfindlich. Ihre dünnen Flughäute wurden steif, wenn sie unterkühlten, und konnten dann sogar reißen. Mit der zunehmenden Sommerhitze dieser Tage hätten die Lindwürmer und ihre Reiter jedoch zufrieden sein müssen.

„Seit die Probleme sich häufen, gehen wir lieber keine Risiken mehr ein“, erklärte Yuka auf Chelias Frage hin und runzelte dabei so sehr die Stirn, dass sich seine Augenbrauen beinahe trafen. „Sherry und Ren haben beschlossen, dass die Lindwürmer nur noch für Einsätze ausfliegen dürfen.“

Er sah nicht glücklich mit dieser Entscheidung aus, auch wenn er sie sicherlich nicht anzweifelte. Lindwürmer mochten zu den einzigen Drachenartigen gehören, die relativ ungefährlich beritten werden konnten, aber sie waren dennoch freiheitsliebende Kreaturen, die viele Flugstunden brauchten. Während der Wintermonde mussten die Reiter sich deshalb immer neue Geschicklichkeits- und Denkübungen für die Flugschlangen ausdenken, damit diese ausreichend beschäftigt waren.

„Wie ergeht es den Reitern, die in den anderen Städten stationiert sind?“

„In Sabertooth, Heartfilia und Hargeon haben wir zurzeit zum Glück keine Lindwürmer stationiert. Aber Vjeeter aus Magnolia und Bobo auf Galuna haben ganz ähnliche Schwierigkeiten. Die Beiden haben Nachricht geschickt, dass sie ihre Flugschlangen auch in den Kuppeln belassen, bis das Problem gelöst ist“, antwortete Yuka mit nun noch finsterer Miene und öffnete den Menschendurchlass im Eingangstor der Kuppel, welches groß genug für ein Ochsengespann war.

Die Kuppel maß etwa dreißig Schritt im Durchmesser. Am Boden waren an der Wand entlang mehrere Schlafnester verteilt, jedes fünf Schritt im Durchmesser und mit frischem Stroh und Heut gefüllt. Im Zentrum der Kuppel befand sich eine steinerne Futterraufe, die lang und breit genug war, dass sich zehn Männer hinein legen könnten.

Wenige Schritte vom Tor entfernt erblickte Chelia zwei Männer. Einer war nur wenige Zyklen älter als sie, von schlanker, beinahe schlaksig zu nennender Statur, mit tiefbrauner Haut und blonden Haaren, die der Schwerkraft zu trotzen schienen. Er trug das formelle Livree des Generaladjutanten und hielt die Schultern gestrafft, während er aufmerksam beobachtete, was im Inneren der Kuppel vor sich ging.

Der andere Mann war etwas älter, ebenfalls mit brauner Haut, aber mit schwarzen Haaren und edlen Gesichtszügen und etwas breiteren Schultern, die sein stattliches Flair vervollständigten. Wie Yuka trug er eine Rüstung aus gehärtetem und imprägniertem Leder und einen Köcher mit Pfeilen und Bogen an der Hüfte. Auf den Kommandantenumhang hatte er verzichtet

Als Yuka die Tür hinter ihnen mit einem leisen Klicken schloss, blickte der Schwarzhaarige über seine Schulter und nickte ihnen mit ernster Miene zu. Normalerweise war Ren Akatsuki, einer der beiden Kommandanten der Lindwurm-Schwadron, ein eloquenter und galanter Geselle, hatte immer ein feinsinniges Lächeln auf den Lippen und besonders für Frauen eine elegante Verbeugung parat. Dass er heute so schweigsam und angespannt war, verriet Chelia noch viel mehr über den Ernst der Lage.

Gemeinsam mit Yuka trat sie zu den beiden dunkelhäutigen Männern. Der Jüngere war Sho, der Adjutant von General Erza Scarlet. Obwohl sonst heiter und neugierig, wirkte er heute genauso ernst und bedrückt wie die Anderen.

Während Yuka bei Ren und Sho blieb, ging Chelia langsam weiter zur einzigen anderen Person in der Kuppel, die neben der Futterraufe stand. Zierlich, kurvig, mit wallenden, pinken Haaren, porzellanfarbener Haut und einem herzförmigen Gesicht stand Sherry Akatsuki im Zentrum des Gebäudes. Genau wie ihr Mann und Kommandantenkollege Ren trug sie eine Lederrüstung, aber keinen Köcher am Gürtel, wahrscheinlich um die jungen Lindwürmer nicht zu provozieren, die sich auf den Pfählen tummelten, welche in verschiedenen Höhen ins Mauerwerk eingelassen waren, um den Bewohnern der Kuppel Kletter- und Sitzgelegenheiten zu bieten.

Chelia gesellte sich neben ihre Base und folgte ihrem Blick nach oben. Es waren insgesamt ein Dutzend Flugschlangen, allesamt gerade einmal so groß wie Ponys, die Körper noch dünn und mickrig im Vergleich zu ihren ausgewachsenen Artgenossen, die Hornwülste am Hinterkopf kaum mehr als harmlose Stummel. Ihre Flügel wirkten noch zu groß für ihre schlanken Körper und ihre braunen, grünen oder schwarzen Schuppen sahen noch weich und geschmeidig aus und hatten wenig mit den panzerartigen, harten Schuppen der Lindwürmer gemein, die in der Schwadron beritten wurden. Chelia wusste, dass diese Kreaturen hier vor zwei Zyklen ausgebrütet worden waren und dass sie noch drei weitere Zyklen brauchen würden, ehe potenzielle Rekruten an sie heran geführt werden konnten. Doch ihre gebleckten, spitzen Zähne und das Grollen und Zischen, das sie in Sherrys Richtung ausstießen, war bereits respekteinflößend.

So aggressiv kannte Chelia die sonst so anschmiegsamen Halbwüchsigen gar nicht. Wenn ihre Base sie hierher mitgenommen hatte, hatten die Drachenartigen sie immer mit freudigem Flügelgeflatter und Schnurren begrüßt und sich ausgiebig von ihr streicheln lassen. Solange sie noch nicht geschlechtsreif waren, waren Lindwürmer sehr verspielt und zugänglich. Erst mit der ersten Brunft wurden sie wählerisch, wenn es darum ging, wer sie pflegen durfte, und konnten auch nicht mehr in so großen Gruppen gehalten werden.

„Verhalten sich alle Lindwürmer so?“, fragte Chelia mit gedämpfter Stimme, ohne die Flugschlangen aus den Augen zu lassen.

„Nicht ganz“, antwortete Sherry ernst. „Die meisten der Alten sind zwar sehr angespannt und übellaunig, aber sie gehorchen den Kommandos noch. Unsere trächtigen Weibchen und die Jünglinge sind das Problem. An die Weibchen kommen nicht einmal mehr ihre Reiter heran…“

„Was ist mit Angelica?“ Chelia dachte an das majestätische Lindwurm-Weibchen, das ihre Base vor zehn Zyklen als Reiterin akzeptiert hatte, als Sherry gemeinsam mit zahlreichen anderen Soldaten und Rekruten den neuen Lindwürmern angeboten worden war. Angelica war von seltener hellblauer Farbe und sehr liebevoll – und sie war vor drei Monden gedeckt worden.

Anstatt zu antworten, presste Sherry nur die Lippen aufeinander.

Die Wächterin der Lüfte richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Lindwürmer. Einige geiferten sogar und ein junges Männchen, das größer als die Anderen war, stieß ein tiefes Grollen aus, die zu langen Flügel weit ausgestreckt und die Krallen der stummelartigen Vorderbeine bedrohlich erhoben, während sich der lange Schwanz zur Unterstützung der Hinterbeine um den Pfahl gewickelt hatte. Die gelben Augen des braunen Tieres waren extrem geweitet und unter den dünnen Gesichtsschuppen pulsierten die Adern an den Schläfen.

„Ich hatte gehofft, dass du heraus finden kannst, was ihnen fehlt“, erklärte die Kommandantin schließlich leise. „Dadurch dass auch die Lindwürmer in Magnolia und Galuna betroffen sind, können wir eine Krankheit eigentlich schon ausschließen, aber vielleicht liegt etwas in der Luft?“

„Ich kann es versuchen“, versprach die Jüngere, ohne den Blick von den jungen Flugschlangen abzuwenden.

Mit einem tiefen Luftholen konzentrierte Chelia sich auf ihre Magie, um das zu ergründen, was den menschlichen Sinnen verborgen blieb. Sie hörte die viel zu schnell schlagenden Herzen der Flugschlangen, das Rauschen des Blutes in ihren Adern, das Grollen ihrer Mägen, roch Blut und Sekrete, erspürte die Luftwege, das Pumpen der Lungen, das Pulsieren der Luftröhren… Seit drei Jahren war Chelia mit Lindwürmern vertraut, wusste, wie es in einem gesunden Lindwurm klingen musste, konnte anhand der inneren Geräusche die Ursachen für Krankheiten ausmachen, konnte am Fluss des Blutes spüren, wo die Drachenartigen innere Verletzungen davon getragen hatten, aber hier…

„Sie sind nicht krank“, flüsterte Chelia und sah verunsichert ihre Base an. „Sie haben… Angst…“

„Wovor?“ Sherrys Frage war kaum mehr als ein Hauchen, aber für die Windmagierin klang es dennoch schmerzhaft laut in den gerade so hypersensiblen Ohren.

Mit dieses Mal geschlossenen Augen holte sie tief Luft, schmeckte all die feinen Gerüche, welche auch die Lindwürmer wahrnahmen. Den Schweiß der Menschen, den Staub, den Kot von Menschen, Lindwürmern und Tieren, die Pferde in der Ferne, Vögel auf den Kuppeln, das Essen der Menschen, Gras, Kochfeuer, Blut, Stein, Holz, Metall, Leder, die Kampfhunde im Ostteil des Militärkomplexes, die Katzen auf der Jagd nach ungebetenen Mäusen in den Lagern und Ställen, noch mehr Schweiß, noch mehr Kot, Feuer, Menschen, unendlich viele Menschen und Tiere und so viele weitere Gerüche und dazugehörige Geräusche.

Blubbern, Zischen, Knacken, Grollen, Knarren, Quietschen, Lachen, Rufe, Schnarchen, Schreie, Flüstern, Poltern, Klappern… Ein unharmonisches Orchester des Lebens, gespeist von jedem einzelnen Einwohner der gewaltigen Stadt, von jedem einzelnen Tier und Insekt, vom Wasser, von Feuern, von Pflanzen und selbst von Häusern…

Nichts davon war anders als sonst. Die Geräusche und Gerüche, die Temperatur und die Windstärke. Alles war so, wie es schon immer gewesen war, seit Chelia das erste Mal einen Fuß über Crocus’ Grenzen gesetzt hatte. Ja, selbst wenn sie Crocus’ Besonderheiten auszublenden versuchte, nahm sie nichts wahr, was sich von dem unterschied, was sie in Cait Shelter und auf der langen, gemütlichen Reise hierher nach Crocus gerochen, gehört und gespürt hatte. Alles war vollkommen normal.

Für sie jedenfalls.

„Ich weiß es nicht“, presste sie hervor und öffnete die Augen, um schuldbewusst in die Augen ihrer Verwandten zu blicken. „Sie spüren irgendetwas, aber ich kann es nicht spüren…“

Sanft schlang Sherry einen Arm um die Schultern der Jüngeren und führte sie zurück zu den Anderen, den Blick immer wachsam auf die angriffbereiten Lindwürmer gerichtet. Bei jedem Schritt spürte Chelia, wie erschöpft sie auf einmal war. Ihre Windmagie auf diese Weise zu gebrauchen, war aufgrund der hohen Konzentration, die es erforderte, beinahe anstrengender als Kampf- oder Heilmagie. Sie hatte so intensiv nach einer Antwort auf die Frage ihrer Base gesucht, dass ihr gar nicht aufgefallen war, wie sehr sie ihre ohnehin schon angeschlagenen Kräfte strapaziert hatte.

„Du hast es versucht“, sagte Sherry beruhigend und rieb behutsam Chelias zitternden Oberarm. „Um mehr konnten wir dich nie bitten…“

„Aber wenn es nichts in der Luft ist, was ist es dann, was die Lindwürmer so in Angst versetzt?“, sprach Sho die Frage aus, die wahrscheinlich ihnen allen auf der Zunge brannte. „Und was bedeutet das alles noch für uns? Steht uns Ärger bevor? Und wenn ja, wie bereiten wir uns darauf vor?“

Keiner hatte eine Antwort für ihn parat.

Der Weg, der sie näher zusammen führte

Der Thron bestand aus Gold und rotem Marmor und Rubinen. Beeindruckend, ehrfurchtgebietend, furchteinflößend. Die Rückenlehne ragte anderthalb Mannslängen in die Höhe und hat die Form eines aufsteigenden Vogels, die langen, spitz zulaufenden Flügel ausgebreitet, als wollten sie noch einmal für den Aufstieg in den ewigen Himmel schlagen. Der Kopf mit den langen Federn am Scheitel zurückgerissen, der spitze Schnabel aus Gold für einen Schrei geöffnet, das sichtbare Rubinauge gen Decke gerichtet. Über den gesamten Thron waren die Federn in vollkommener Akkuratesse eingemeißelt. Jeder Kiel, jeder Fahne war perfekt dargestellt, angefangen bei den gewaltigen Schwungfedern bis hin zu den winzig kleinen, feinen Gesichtsfedern. Schier unendlich zarte Goldfäden bildeten die Wimpern des Wesens nach. Seine Klauen endeten in den Vorderfüßen des Throns, die Krallen mit Gold ausgekleidet und fest in den Boden geschlagen, der aus reinweißem Marmor bestand, abgesehen von jenen drei Mannslängen, über die sich der Schweif des Vogels wand, auch er bestehend aus rotem Marmor und akzentuiert mit hauchfeinen goldenen Fäden.

Dies war der Thron des Hauses Vermillion, das vor fünfhundert Zyklen die Kämpfe um Crocus für sich entschieden und die älteste aller ishgarischen Städte in Besitz genommen hatte. Inklusive dieses Throns, der schon hier gestanden hatte, als die Drachen noch zu Hunderten über Ishgar geherrscht hatten. Eine Steinmetzarbeit aus der Zeit, als es noch keine Steinmetze gegeben hatte. Aus jener sagenumwobenen Epoche vor den Ersten Siedlern, als das Land wild und brutal und völlig von Magie durchdrungen gewesen war.

Niemand wusste, was für Wesen diesen Thron geschaffen hatten. Es war nicht die Kunstart der Dämonen – so wenig man auch über deren Kunst wusste – und die Throne der Geister hatten anderswo gestanden, standen womöglich sogar immer noch dort, fernab des Wissens der Menschen, in Hymnen der Geister weiterhin verehrt. Drachen hatten nie auch nur ansatzweise etwas benötigt, das einem Thron geähnelt hätte, und die Exceed hatten seit jeher ihrem Federthron in der Hochburg von Extalia gehuldigt – er genauso verloren wie alles andere von Extalia, für die Dauer unzähliger Generationen verseucht und besudelt von einer Magie, die nie hätte existieren dürfen.

Keines der bekannten Wesen war also für diesen Thron verantwortlich. Wer dann? Hatte es andere Wesen gegeben und wenn ja, wie hatten sie ausgesehen? Wer waren sie gewesen? Was für einen Grund hatten sie gehabt, mitten auf einem Felsen eine Fläche mit weißem Marmor auszulegen, um darauf diesen Thron zu errichten? Hatten sie hier geherrscht? War es nur eine Laune gewesen? Eine Schöpfung um der Schöpfung willen?

Seit dreihundert Jahren stellte Mavis sich diese Fragen, auf die es keine Antworten gab. Natürlich gab es Legenden von gottgleichen Wesen und ihrem Segen für diesen Ort. Legenden davon, dass der Inhaber dieses Throns dazu bestimmt war, über ganz Ishgar zu herrschen. Ja, Mavis hatte sogar einmal gehört, es sei dieser Thron, der für ihre Unsterblichkeit verantwortlich war. Wenn es doch nur so wäre…

Bereits wenige Zyklen nach ihrer Inthronisierung hatte Mavis den Thron mit weichen Fellen auspolstern lassen, die ihr einen Schutz vor der ewigen Kühle und Härte des kostbaren Steins boten, während sie auf jene hinunter blickte, die ihr vor dem Thron ihre Aufwartung machten.

Um sie herum breitete sich die obszöne Größe des Thronsaals aus, welchen der Großvater ihres Großvaters hatte errichten lassen, nachdem die Herrschaft der Vermillions über Crocus nach langen, blutigen Kämpfen konsolidiert worden war.

Hundert Mannslängen musste man vom Einfang bis zum Thron zurücklegen, flankiert von Säulen, welche die Reliefe großer Schlachten trugen, an die sich heute nur die wenigsten erinnern konnten. Schlachten aus der Zeit, als Ishgar bereits den Menschen gehört hatte und von ihnen genauso verheert worden war wie dereinst von Dämonen, Geistern, Exceed und Drachen. Gewaltige Platten aus geädertem Marmor, jede einzelne perfekt quadratisch und eine Mannslänge an jeder Kante messend, legten den Boden bis zu jenem Heiligen Kreis aus, der durch den weißen Marmor gekennzeichnet wurde, auf dem der Thron ruhte. Woher dieser weiße Marmor stammte, war genauso unbekannt wie die Identität der Thronerbauer.

Die Decke des Thronsaals wurde von unzähligen Spitzbögen getragen, die so hoch waren, dass das Gebälk von Finsternis verschluckt wurde, solange nicht alle zehn Kronleuchter vollständig brannten. Bei allen pompösen Bauplänen hatte Mavis’ Vorfahr doch nie daran gedacht, wie Licht in diesen unendlich großen Raum gelangen sollte. Sein Sohn hatte deshalb Ölrinnen zwischen den Säulen und um die Säulen herum meißeln lassen, welche für Festlichkeiten entzündet worden waren. Die Gäste dieser Feiern hatten regelmäßig ihre Kleider in Brand gesteckt, hieß es, weshalb bereits Mavis’ Großvater die Kronleuchter hatte aufhängen lassen. Alle zehn zu bestücken erforderte angeblich zehn Bedienstete und einen ganzen Tag – und drei Wagenladungen bester Kerzen.

Für Mavis war der gesamte Saal – und insbesondere dieser rätselhafte Thron – eine ewige Ermahnung daran, wie wenig sie noch immer über die Welt wusste, über die sie seit drei Jahrhunderten herrschte. Eine Ermahnung daran, wie bedeutungslos sie ihrer Unsterblichkeit zum Trotz eigentlich war, wenn sie nicht handelte. Es widerstrebte ihr jedes Mal, dieses Bauwerk zu betreten, und gleichzeitig zog es sie wie magisch an, lockte sie mit seinen Geheimnissen und seiner unverschleierten Zuschaustellung menschlicher Hybris.

Auch heute war sie dieser Lockung erlegen, wie es dieser Tage oft geschah, seit die Exceed aus allen Ecken Fiores in den Kaiserpalast flatterten, als handelte es sich bei ihm um einen Taubenschlag, allesamt mit Hiobsbotschaften im Gepäck. Zuletzt war vor drei Tagen Martam eingetroffen, der Exceed von Heartfilia, der von dem Angriff auf die Hauptstadt des Fürstentums und vom Tod des Fürstregenten Jude berichtet hatte.

Diese Nachricht hatte Mavis ernsthaft bekümmert, denn sie hatte den Mann stets geschätzt, der so umsichtig mit den besonderen Ressourcen seines Landes umgegangen war. Sie hatte sofort ein Beileidsschreiben für die Tochter des Verstorbenen aufsetzen wollen, aber der Gedanke an das fröhliche Mädchen, das vor wenigen Monden während der Frühlingsfeier noch ausgelassen hier im Thronsaal getanzt hatte, hatte es ihr unmöglich gemacht, ein vernünftiges Wort zu Papier zu bringen. Obwohl sie sich schlecht dabei gefühlt hatte, hatte sie ihre Schriftmeisterin Araña damit beauftragt, ein Kondolenzschreiben zu verfassen.

Der Angriff auf Heartfilia war bedauerlicherweise nur die Spitze des Eisbergs an Sorgen, die Mavis in letzter Zeit umtrieben. Sogar in ihrer eigenen Stadt gingen unerklärliche Dinge vor sich, die sie noch nicht einmal bemerkt hatte, bevor man ihr davon berichtet hatte. Etwas ging vor sich im Gefüge der Welt, das weder Mavis noch Zeref einzuordnen vermochten…

„Majestät…“

Die Blonde unterdrückte einen müden Seufzer, als Lahars Stimme durch den Saal hallte, und drehte sich auf dem Wolfsfell herum, das sie neben der Feuerschale vor dem Thron ausgebreitet hatte, um sich vor dem kühlen Marmor zu schützen und nachdenken zu können. Der Anführer ihrer Runenritter, der Einheit an Elitesoldaten, die mit dem Schutz des Turms der Ewigkeit und des Kaiserpalasts betraut war, stand nur fünf Mannslängen hinter ihr.

Es überraschte sie nicht, dass er es geschafft hatte, unbemerkt so nahe an sie heran zu kommen. Abgesehen davon dass sie so tief in Gedanken versunken war, war Lahar nicht umsonst in einer so hohen Position. Schon als junger Soldat während des Extalia-Kriegs hatte er sein außerordentliches Talent unter Beweis gestellt und hatte während der letzten Kriegsmonde einer Sondereinheit angehört, die sich jenseits der Fronten bewegt hatte.

Wie immer war seine schwere Rüstung mit den weißen Lederapplikationen auf Hochglanz poliert, der Umhang auf seinen Schultern makellos weiß. Sogar seine schwarzen Haare waren gewissenhaft gebändigt, das schmale, spitz zulaufende Gesicht eine Maske der Beherrschtheit. Lahar war ein Musterbeispiel von Seriosität, leider ein wenig steif und regelversessen, aber so gewissenhaft und treu wie kaum ein zweiter Mann in der Kaiserlichen Armee. Mavis schätzte ihn sehr und war dankbar darum, den Schutz ihres Heims – denn als solches betrachtete sie den Turm der Ewigkeit tatsächlich – in so guten Händen zu wissen.

„Noch mehr schlechte Nachrichten, Lahar?“, fragte Mavis mit einem schiefen Lächeln.

Der Soldat verbeugte sich mit unbewegter Miene. „Ich fürchte ja, Majestät. Kurubushi aus Malba ist soeben eingetroffen. Er erstattet bereits Königin Shagotte Bericht. Ihre Hoheit hat mir aufgetragen, Euch auszurichten, dass sie in den Turm kommen wird, sobald sie über alles im Bilde ist.“

Mavis unterdrückte einen weiteren Seufzer und erhob sich, um den langen Thronsaal zu durchqueren. Lahar setzte sich eine Schrittlänge hinter ihr in Bewegung und passte sich ihrem Tempo an. Selbst jetzt konnte Mavis nicht hören, wann seine Sohlen auf den blank polierten Marmor traten. Nicht einmal ein Rascheln des langen Umhangs oder ein Knarren des Rüstungsleders konnte sie vernehmen.

Als sie ins Sonnenlicht trat, musste Mavis nicht blinzeln. Vielmehr schien die Sonne sie willkommen zu heißen und zärtlich zu umhüllen. Wenigstens das hatte sich nicht geändert, dachte sie mit einer gewissen Müdigkeit, während sie gemessenen Schrittes den Platz überquerte, der zwischen dem Kaiserpalast und dem Turm der Ewigkeit lag.

Der Turm war in beinahe allen Dingen ein Gegenstück zum Prunk des Palastkomplexes. Seine Fassade aus schlichtem Backstein wies außer einigen Wasserspeiern in Form von verschiedenen Tieren keine Verzierungen auf. Er beeindruckte jedoch genau wie der Thronsaal durch seine Größe und allein das genügte, um ihn zum Stoff unzähliger Legenden zu erheben. Die Geschichten, die Mavis bereits über die Vorgänge im Turm der Ewigkeit zugetragen worden waren, waren so vielfältig wie die Fülle der Bücher in der Universitätsbibliothek. Einige waren sogar sehr amüsant, andere einfach absurd, wieder andere abstoßend – nicht der erste Beweis dafür, dass Mavis’ Kurs nicht allen Bewohnern Fiores gefiel.

Mavis nickte den Runenrittern, die an der Tür des Turms Wache hielten, zu und dankte Lahar, ehe sie die schwere, aber gut geölte Eichenholztür öffnete und ins Innere des Gebäudes schlüpfte. Erst hier erlaubte sie sich, ihre Schultern sinken zu lassen und den Seufzer auszustoßen, der ihr schon seit einer Ewigkeit in der Kehle zu sitzen schien.

Hier war sie immer noch die Unsterbliche Kaiserin, immer noch für die Leben unzähliger Wesen verantwortlich, aber dennoch fühlte sie sich hier freier, konnte hier besser atmen…

Langsamer durchschritt Mavis die Eingangshalle, die zugleich als Bibliothek fungierte. Der Turm der Ewigkeit hatte keine repräsentativen Zwecke, also hatte Mavis sich bei seiner Gestaltung viele Freiheiten heraus genommen. Die mannshohen Regale mit den Folianten und Schriftrollen, die Vitrinen mit alten Münzen, Wimpeln, Statuetten und Instrumenten, die großen und kleinen Teppiche unterschiedlicher Knüpfarten und die Felle verschiedenster Tiere ließen die Eingangshalle eher wie ein heimisches Wohnzimmer wirken. Natürlich noch immer viel reichhaltiger, als das Wohnzimmer eines normal verdienenden Bürgers jemals sein könnte – wenn er denn überhaupt ein Wohnzimmer besaß –, aber die gemütlichen Korbsessel und die unverschnörkelten Sofas luden zum Verweilen ein. Auf einem Sofa lag noch ein aufgeschlagenes Buch bereit und wartete darauf, weiter gelesen zu werden.

Eine breite, unverzierte Wendeltreppe führte in den nächsten Stock hinauf, welcher den Unterkünften der normalsterblichen Wächter und der wenigen Turmdiener vorbehalten war. In der dritten Etage begegnete Mavis bereits den ersten verlockenden Dünsten der abendlichen Mahlzeit. Durch die halboffene Tür der Küche erkannte sie ihre Quartiermeisterin Lisley am Herd und Totomaru, Chelia und Ur am großen Esstisch, die sich mit einem Kartenspiel die Zeit vertrieben.

Chelia sah immer noch müde und besorgt aus, aber die anderen Beiden schienen ihr Bestes zu geben, um die Jüngste der Wächter auf andere Gedanken zu bringen. Für einen Moment stellte Mavis Blickkontakt zu Ur her und nickte ihr lächelnd zu. Sie war der Schwarzhaarigen dankbar für ihre Umsicht im Umgang mit den beiden Jüngeren, die bei weitem noch nicht so lange im Turm der Ewigkeit lebten. Insbesondere in der jetzigen Krisenzeit brauchten die Kinder Hilfe – obwohl von Mavis’ Warte aus selbst Ur ein Kind war.

Über der Küche lag der Meditationsraum, der mit seinen hellen Marmoreinfassungen einen scharfen Kontrast zu den anderen Räumen im Turm bildete, aber der immerkalte, reine Stein hatte irgendwie einen beruhigenden Effekt auf die Wächter und half ihnen, sich auf die Reinigung des Miasmas zu konzentrieren.

Es folgten die Quartiere der vier Unsterblichen und letztendlich Mavis’ Arbeitszimmer und Privatbibliothek. Die Aussichtsplattform auf dem Dach war bereits seit Jahrzehnten begrünt, ein kleines Paradies aus Blumen, Kräutern und Sträuchern und sogar einigen kleineren Bäumen, sorgsam gepflegt von Warrod und seit einigen Sommern auch von Beth, der Läuferin des Turms, die sich als talentierte Pflanzenmagierin entpuppt hatte und deshalb von Warrod unterricht wurde.

Im Arbeitszimmer fand Mavis Zeref und Yuri, letzterer saß im Schneidersitz vor einem der mannshohen Fenster und stierte hinaus, während der Schattenmagier völlig bewegungslos in einem der Korbsessel Platz genommen hatte und ein Buch las. Beide blickten auf, als Mavis die Tür öffnete.

„Ist Warrod auf dem Dach?“, fragte sie um Ruhe bemüht.

Yuri schüttelte den Kopf. „Er ist mit Beth im Palastgarten. Irgendeine Baumstudie oder so etwas.“

„Nun gut, dann werden wir ihn später informieren“, seufzte Mavis und ließ sich in einen der anderen Korbsessel sinken.

„Noch mehr Ärger?“ Yuri verzog entnervt das Gesicht. „Ich habe gesehen, dass Lahar dich aus dem Thronsaal geholt hat.“

„Wahrscheinlich ja“, antwortete die Blondine matt. „Kurubushi aus Malba ist vorhin angekommen. Shagotte ist wahrscheinlich bald hier.“

„Malba… Schon wieder eine neue Ecke“, stellte Zeref leise fest und klappte sein Buch zu.

Ohne nachzufragen füllte er eine weitere Tasse mit aromatisch duftenden Tee und drückte sie Mavis in die Hand. Als ihre Finger einander bei der Übergabe berührten, glitten seine Kuppen über ihren Handrücken, ehe er nach seiner eigenen Tasse griff, als wäre nichts gewesen.

„Es hängt alles irgendwie zusammen, oder?“, brummte Yuri, der sich wieder dem Fenster zugewandt hatte. „Die Tatzelwürmer in den Bergen, die Leviathane im Kaiserlichen Meer, die Lindwürmer hier… Würde mich nicht wundern, wenn auch etwas mit den Basilisken nicht stimmen würde.“

„Wenn dem so ist, haben die Fürsten von Jadestadt und Sabertooth wohl Wichtigeres zu tun, als uns Bericht zu erstatten“, murmelte Mavis und schloss beide Hände um ihre Tasse.

Sie fragte sich, ob sie Hilfe in die Stille Wüste schicken sollte, aber im nächsten Moment fragte sie sich, wie diese Hilfe überhaupt aussehen sollte. Das Verhalten der anderen Drachenartigen war ein Novum. Niemand wusste, was man tun konnte, um sie zu beruhigen. Allem Anschein nach wussten nicht einmal die Drachen etwas.

„Und dann auch noch der Angriff auf Heartfilia“, fuhr Yuri düster fort. „Ich dachte eigentlich, das hätte Fiore endlich hinter sich.“

„Das dachten wir alle.“

Zerefs Stimme klang so monoton wie immer, aber Mavis hörte die feine Nuance der Anspannung dennoch heraus, was ihr selbst noch mehr Kopfzerbrechen bereitete. Natürlich wusste sie, dass es noch immer Magiefeinde gab und dass weder Geisterjäger noch Dämonenhetzer sich einfach so in Luft aufgelöst hatten, aber ein so großflächiger Angriff, obendrein auch noch so gut organisiert, war mehr als nur beunruhigend. Was ging in ihrem Land vor? Wie blind war sie in den letzten Zyklen gewesen, dass sich so etwas beinahe direkt unter ihrer Nase hatte zusammenbrauen können?

Ein dezentes Klopfen riss die drei Unsterblichen aus ihren Gedanken. Mavis stellte ihre Tasse wieder ab und wandte sich zur Tür um, die sich langsam öffnete. Ihre Schriftmeisterin Araña trat sofort beiseite, um die schlanke, zierlich gebaute Exceed herein zu lassen, die hinter ihr stand. Königin Shagotte von Extalia war nach den Maßstäben ihres Volkes schön, vielleicht sogar attraktiv zu nennen. Ihre Gesichtszüge waren katzenhaft edel mit klugen grauen Augen. Geziert wurde ihr Gesicht von kostbaren, weißsilbernen Diamanten, die beide Augen flankierten – ein Zeichen ihrer Königswürde, eine Krone hatten die Herrscher von Extalia nie besessen. Ein burgunderfarbenes Kleid nach angepasstem fiorianischen Schnitt umhüllte ihre feminine Gestalt, die höher aufragte, als es bei den meisten anderen Exceed der Fall war.

Obwohl ihres Landes und ihrer Herrschergewalt beraubt, strahlte Shagotte noch immer etwas Hoheitliches aus, von dem Mavis immer das Gefühl hatte, dass es ihr selbst abging. Die weiße Exceed hatte eine Art, ihr Schicksal in Würde zu tragen, obwohl sie mit dem Verlust ihres Landes und eines Großteil ihres Volkes auch ihren eigenen Gefährten verloren hatte, die trotz der vielen Jahre Erfahrung über Mavis’ Verständnisvermögen hinaus ging. Sogar ihre eigene Tochter hatte Shagotte für die neue Sache der Exceed missioniert, hatte die beinahe frisch geschlüpfte Charle schon wenige Monde nach dem Ende des Extalia-Kriegs und dem Beginn des Exils in Fiore nach Cait Shelter geschickt, um die neue Reiterin des Winddrachen Grandine zu begleiten.

Der Wert der Hilfe der Exceed war kaum in Worte zu fassen und gab Mavis in unsicheren Momenten oft das Gefühl, vom Untergang des geheimnisvollen Flugkatzenreiches zu profitieren, aber sie wusste auch, dass diese Hilfe ein Freundschaftsdienst war, ein Zeichen des Danks für die Versuche der Kaiserlichen Armee, Extalia zu retten. Und eine Ehrung für die Opfer, die auch Fiore während dieses furchtbaren Kriegs gebracht hatte – nicht zuletzt der Tod dreier Drachenreiter und eines Drachen…

Während Araña die Tür wieder schloss, folgte Shagotte Mavis’ Einladung und nahm in einem der Korbsessel Platz, jede ihrer Bewegungen grazil und beherrscht, doch Mavis entging nicht das feine Kräuseln der Katzennase und das gelegentliche nervöse Zucken der großen, weißen Ohren.

„Das Dunkle Viertel von Malba gleicht einem Blutbad“, begann Shagotte schließlich mit ihrer melodiösen Stimme, die im scharfen Gegensatz zu ihrer schonungslosen Offenheit stand. „Die Drachenreiter und einige andere Krieger haben die Sekte Avatar bei einem zweifelhaften Ritual vor der Alten Festung unterbrochen und einen Großteil der Akolythen und den Priester getötet.“

Die Drachenreiter?“, wiederholte Zeref und eine winzige Falte entstand zwischen seinen schmalen Augenbrauen. „Wer genau?“

„Kurubushi hat fünf Drachen am Himmel über Malba gesehen.“

Von Yuri war ein verstimmtes Brummen zu hören und Mavis hatte nicht übel Lust, es ihm gleich zu tun. Diese Handlung widersprach dem Drachenpakt und obendrein war es völlig überzogen, dass sich fünf Drachen gegen eine Sekte zusammen schlossen, die gemäß ihren eigenen Überzeugungen über keinerlei Magier verfügte. Was in aller Welt hatten sie sich dabei nur gedacht?

„Das klingt ganz und gar nicht nach den Drachen“, durchbrach Yuri die Stille. „Natsu oder Sting würden so etwas vielleicht machen, aber Rogue und Wendy doch nicht und keiner der Drachen würde einfach so den Pakt verletzen.“

„Charle hat dasselbe gesagt“, stimmte Shagotte bedächtig zu. „Wendy und Romeo waren mit Grandine auf dem Weg nach Magnolia, um Igneel um Rat zu fragen. Sie versteht nicht, warum sie auf einmal viel weiter nach Osten geflogen sind und eine harmlose Stadt unsicher machen.“

Wieder einmal unterdrückte Mavis einen Seufzer. Noch mehr Rätsel. Hing das auch mit all dem zusammen, was sowieso schon in Fiore geschah? Wussten die Drachen womöglich doch mehr über all das, als Grandine es zuvor zugegeben hatte?

„Wusste Kurubushi, wer die erwähnten anderen Krieger waren?“, fragte sie in einem Versuch, ihre Gedanken zu ordnen.

„Bevor die Stadtwache von Malba die Alte Festung erreichen konnte, waren die Drachenreiter und die Krieger bereits verschwunden. Einige Augenzeugen haben allerdings von Eismagiern berichtet.“

„Das wird ja immer besser“, schnaubte Yuri und lehnte den Kopf mit einem dumpfen Geräusch gegen die Glasscheibe hinter sich. „Was haben Eismenschen so weit im Süden zu suchen? Die kommen doch schon hier in Crocus ins Schwitzen!“

„Die Augenzeugen sind nicht besonders zuverlässig, meint Kurubushi“, fuhr Shagotte ungerührt fort. „Es waren Teilnehmer des Rituals.“

„Was war das für ein Ritual?“, fragte Zeref noch immer mit der Falte zwischen seinen Augenbrauen.

„Auch das ist unklar. Im Vorfeld waren bereits Gerüchte über eine Opferung im Umlauf und es gab eine ungewöhnlich hohe Aktivität im Dunklen Viertel, aber laut Kurubushi hat der Stadtrat das nicht besonders ernst genommen. Die Sekte Avatar hatte sich bis dahin anscheinend immer nur durch große Reden hervor getan, aber nie durch Gewaltakte.“

„Aber es könnte sein, dass sie an diesem Tag doch weiter gegangen sind“, murmelte Zeref nachdenklich. „Das würde das Verhalten der Drachen erklären – auch wenn es nicht erklärt, was sie alle nach Malba geführt hat.“

„Ich empfehle, dass Ihr die Assassinen nach Malba schickt. Sie werden gewiss zuverlässigere Informationen sammeln können als der Stadtrat.“

Mavis nickte der Exceed zustimmend zu und griff wieder nach ihrer Teetasse. In ihrem Kopf wirbelten nun noch viel mehr Fragen als vorher schon herum. Wo waren die Drachen jetzt und was unternahmen sie? Was hatte sie überhaupt erst alle nach Malba geführt? Und wer waren die anderen Krieger gewesen?

„Moment mal…“ Alle blickten zu Yuri, der verwirrt die Stirn runzelte. „Fünf Drachen? Heißt das etwa, dass Metallicanas Reiter endlich aktiv geworden ist…?“

Beinahe hätte Mavis gestöhnt. Noch ein Rätsel…!
 

Das Kargland mochte für viele seinen Namen zu Recht tragen, aber Wendy fand es ganz und gar nicht karg. Der Wind hatte hier eine ganz andere Melodie, als sie es aus den Bergen kannte, und er trug einen grasigen, äußerst lebendigen Geruch mit sich.

Für die Augen verborgen, nutzten unzählige Tiere das verlassene Land. Wendy hörte zahlreiche Stimmen verschiedenster Steppenbrüter, die jetzt ihre Küken großzogen, das beinahe lautlose Tappen von Füchsen, das Wuseln von Nagern unterschiedlicher Art, in weiter Ferne nahm Wendy den scharfen Geruch und das Schnauben und Stampfen von Wisenten wahr. Hunderte und tausende verschiedener Pflanzengerüche erfüllten Wendys Nase. Und der Gesang des Windes war wild und ungezügelt. Dieses Land war unberührt von menschlicher Besiedlung und das verlieh ihm eine ganz besondere Note.

Jetzt verstand Wendy, warum Natsu auf dem Weg nach Sabertooth auf eine Reise zu Pferd verzichtet hatte. Auch wenn sein Geruchssinn nicht so ausgeprägt war wie Wendys, musste diese Reise unglaublich berauschend gewesen sein.

Es war der dritte Tag seit dem Aufbruch von Heartfilia. Der Wind blähte beinahe konstant die Segel der Pyxis und die Kogge fuhr mit der Strömung, wodurch sie guten Weg machte. Während der Fahrt blieb den Passagieren jedoch kaum etwas zu tun. Nachdem sie Sting und Rogue noch mal frischen Tee zubereitet hatte – zumindest bei Rogue schien er auch anzuschlagen –, war Wendy deshalb zum Krähennest hinauf geklettert, um die Eindrücke des Karglandes besser aufnehmen zu können.

Lucy und Lyon spielten auf einer Kiste an Deck Schach. Soweit Wendy das verfolgt hatte, war die Partie sehr langwierig und verzwickt. Anders als Gray, der eher auf seine Instinkte setzte, war Lyon ein brillanter Taktiker. Wahrscheinlich stünde ihm eine glänzende Karriere in der Kaiserlichen Armee offen, wenn er es darauf anlegen würde.

Romeo vertrieb sich die Zeit mit der Pflege seiner Ausrüstung. Levy saß neben dem dösenden Gajeel und studierte ihre Aufzeichnungen. Was genau die Magistra für eine Spur verfolgte, wussten sie immer noch nicht, aber so wie Wendy sie kannte, musste das wirklich von immenser Bedeutung sein.

Natsu und Juvia saßen unweit von den Anderen und spielten ein Spiel, das sie sich, soweit Wendy es wusste, bereits beim ersten Treffen vor vierzehn Zyklen ausgedacht hatten, als Gajeel als neuer Reiter von Metallicana vorgestellt worden war. Oder vielmehr hatte Juvia es Natsu beigebracht. Es basierte darauf, dass Natsu einen Feuerball erschuf und Juvia eine Wasserkugel und dass diese dann gegeneinander gedrückt wurden. Laut den Regeln durften Feuer und Wasser den Umfang eines Kopfes nicht überschreiten und sollten ihre runde Form nicht verändern. Wer es schaffte, die Magie des Anderen zu verlöschen, hatte gewonnen.

Als Wendy es das erste Mal beobachtet hatte, hatte Juvia sich die Fingerspitzen verbrannt und vor Schreck so viel Wasser aus dem Boden beschworen, dass Natsu von Kopf bis Fuß durchnässt worden war. Heute hatten sowohl Natsu als auch Juvia ihre Magien wesentlich besser im Griff. Ihre Kugeln waren nur faustgroß und rangen schon seit einer Weile zischend miteinander. Während die beiden Kontrahenten zunächst noch miteinander gescherzt hatten, waren sie nun hochkonzentriert. Natsu musste seinen Feuerball aus dem Feuer in seinem Inneren speisen, während Juvia konsequent Wasser aus dem Fluss beschwor. In mehreren feinen Linien waberte es um Juvias Körper herum und floss der Wasserkugel gleichmäßig zu, um diese aufrecht zu erhalten.

„Eine interessante Art, sich die Zeit zu vertreiben.“

Wendy blickte neben sich, wo Meredy mühelos auf der Segelstange balancierte. Die Pinkhaarige trug wie alle Anderen die Pluderhosen, die Horologium ihnen zur Verfügung gestellt hatte, aber darunter zeichneten sich die eng anliegenden Lederhosen ab, die sie auch schon an jenem Tag in Malba getragen hatte.

„Es erinnert mich an Grays und Lyons Zapfenspiel“, erwiderte Wendy. „Mit Chelia habe ich auch etwas Ähnliches gespielt, als wir jünger waren.“

Für einen winzigen Moment glaubte Wendy, eine Veränderung in Meredys Atemfrequenz wahrzunehmen, doch dann hatte die Assassine sich wieder im Griff. Wendy konnte nicht einmal genau sagen, worauf Meredy wohl reagiert hatte. Auch die grünen Augen blieben vollkommen undurchschaubar.

Wendy überlegte, ob sie endlich nach dem Grund für Meredys Auftauchen in Malba fragen sollte, aber sie verwarf den Gedanken doch wieder. Sie würde ohnehin keine Antwort erhalten. Die Entschlossenheit in Meredys Augen war unübersehbar. Beinahe hatte sie etwas Manisches, was Wendy einmal mehr daran erinnerte, wie wenig sie über die Assassine wusste.

Es war unter den Freunden bekannt, dass sie früher einmal eine Bewohnerin von Edolas gewesen war, aber unter welchen Umständen sie während des Kriegs das Land verlassen hatte, wusste wohl höchstens Lyon. Und sie hatte das Land nicht einfach nur verlassen, sie hatte es abgestreift wie eine Schlange ihre alte Haut. Selbst Wendy konnte den vertrauten Edolas-Akzent nicht einmal ansatzweise wahrnehmen und Meredy hatte in absolut allen Dingen die fiorianischen Gepflogenheiten angenommen. Sie war nur noch eine Assassine der Unsterblichen Kaiserin.

Aber irgendwie war sie jetzt auch ein Eismensch. So wirkte es zumindest auf Wendy. Es hatte auch vor einem Jahr schon kein Zweifel an Meredys und Lyons Gefühlen füreinander bestanden, aber auch zu Gray schien die Pinkhaarige jetzt eine Bindung zu haben und umgekehrt. Zwischen Meredy und den Fullbuster-Brüdern herrschte eine für Wendy verblüffende Eintracht.

„Was glaubst du, wer stärker ist?“, durchbrach Meredy das Schweigen.

„Ich kenne Juvia nicht so gut wie Natsu und letztendlich kommt es auch immer auf die Umgebung an, aber ich glaube, dass die Beiden als Magier gleich stark sind.“

Meredy hob eine Augenbraue an. „Ich hätte gedacht, dass Drachenreiter die mächtigeren Magier sind?“

Wendy schüttelte den Kopf. „Das magische Potenzial hat wenig mit dem Band zu tun. Drachenreitern sind beinahe dieselben Grenzen gesetzt wie anderen Magiern. Sie haben zwar noch das Gebrüll und können ihr Element auch erschaffen und nicht nur lenken, aber das erschöpft sie auch sehr stark. Juvias großer Vorteil ist, dass ihr Element allgegenwärtig ist, während Natsu seines erst schaffen muss. Entweder durch seine Körperwärme oder dadurch, dass er sich die Hitze der Sonne zunutze macht. Beide Methoden zehren an seinen Kräften. Nach diesem Spiel da unten wird Natsu sehr hungrig sein.“

„Wie ist das mit dir? Wie stark bist du?“

Wendy senkte den Blick wieder auf Natsu und Juvia. Beiden standen nun Schweißperlen auf der Stirn und ihre Hände, mit denen sie die Magie bündelten, zitterten. Die Anderen der Reisegesellschaft hatten den Kampf mittlerweile auch bemerkt und beobachteten ihn gespannt. Sogar Sting ließ von dem Eimer ab, den einer der Matrosen ihm gegeben hatte. Gleichzeitig ließen die Kontrahenten sich nach hinten fallen und lösten ihre Magien auf. Beide rangen um Atem, aber Natsus Augen leuchteten enthusiastisch.

Er war auch der Erste, der wieder auf den Beinen war. „Du bist wahnsinnig stark geworden!“

„Juvia gibt ihr Bestes“, erwiderte die Blauhaarige verlegen nuschelnd.

Lachend verschwand Natsu im Inneren des Schiffs. Wahrscheinlich, um die Kombüse aufzusuchen. Juvia hingegen lehnte sich erschöpft an den Hauptmast und schloss die Augen.

Wendy entging nicht, dass Meredy sie noch immer fragend von der Seite ansah. Unbehaglich scharrte sie mit den Füßen im engen Raum des Krähennests. „Ich habe nie versucht, mit ihnen mitzuhalten. Kämpfe… machen mir Angst“, gestand sie leise.

Noch heute fragte sie sich, wie Romeo das damals bereits hatte erkennen können. Bevor er sich dafür entschieden hatte, ihr Leibwächter zu werden, hatten sie nur wenig miteinander zu tun gehabt. Wendy hatte sich in Büchern vergraben und Romeo hatte mit Chelia allerlei Schabernack getrieben. Dennoch hatte er sie um ihrer selbst willen vor Azumas schroffen Unterrichtsversuchen verteidigt.

„Das ist keine Schande, weißt du?“, sagte Meredy leise. „Was du leistest, ist beinahe noch wichtiger als das, was Natsu leisten kann. Letztendlich stehen und fallen Kriege selten nur durch Kämpfer. Worauf es manchmal wirklich ankommt, das sind Heiler…“

„Und Assassinen?“, fragte Wendy verwirrt.

„Tun, was nötig ist…“

Weil sie das Gefühl hatte, keine genauere Antwort mehr zu erhalten, stellte Wendy keine weiteren Fragen, sondern richtete ihre Aufmerksamkeit nach unten, wo Lucy und Romeo einen Übungskampf begonnen hatten, während Lyon die Schachfiguren in einer kleinen Schatulle verstaute. Sie hatten ihre Schwerter mit Stoffbahnen umwickelt, um einander nicht zu verletzen, und ihre übrigen Waffen abgelegt. Romeo hatte nur sein Kurzschwert, Lucy ihren eleganten Rapier.

Kauend und noch mit einem Kanten Brot in der Hand kam Natsu wieder an Deck und beobachtete den Kampf sehr aufmerksam. Ausnahmsweise lag nichts Schwärmerisches in seinem Blick, sondern eher etwas Prüfendes.

Der Übungskampf war zunächst ein ausgewogenes Abtasten. Romeo und Lucy hatten seit einem Zyklus nicht mehr gegeneinander gekämpft. Beide wollten sie zuerst die neuen Grenzen ausloten. Romeo war eindeutig stärker. Das rigoros Krafttraining mit Mest und Azuma und die vielen Kämpfe mit Natsu hatten sich bezahlt gemacht. Aber Lucy hatte auch nicht auf der faulen Haut gelegen. Äußerst geschickt kombinierte sie komplizierte Manöver miteinander und wagte mehrere kühne Vorstöße, ohne je ihre eigene Deckung zu vernachlässigen. Nach einigen Schlagabtäuschen traten Romeo und Lucy gleichzeitig einen Schritt zurück und ließen ihre Waffen sinken, um Atem zu schöpfen.

Natsu schluckte den letzten Bissen Brot herunter und griff nach seinem Langschwert, um sich neben Romeo zu stellen. Auf seinen Lippen lag ein vorfreudiges Grinsen. „Habt ihr etwas dagegen, wenn ich übernehme?“

„Solltest du dich nicht noch ausruhen?“, fragte Lucy Stirn runzelnd.

Übermütig winkte Natsu ab und begann, seine eigene Waffe mit den Stoffbahnen zu umwickeln, die Romeo ihm von seinem eigenen Schwert gab. Wendy glaubte ihm sogar, dass er wieder einsatzbereit war. Der Feuermagier war unglaublich ausdauernd und obendrein auch noch stur. In einem Kampf auf Zeit würde man ihm gegenüber definitiv den Kürzeren ziehen.

Lucy schien noch skeptisch zu sein, aber Romeo zwinkerte ihr ermunternd zu und sammelte seine abgelegten Waffen wieder ein. Er ließ sich neben Gray und Lyon nieder und Wendy konnte genau das Getuschel der Drei hören, als sie Wetten abgaben. Sie waren sich einig, dass Lucy siegreich aus dem Kampf hervor gehen würde, aber sie feilschten um die Zeit.

Auch die Anderen zeigten wieder Interesse. Wendy musste sich eingestehen, dass sie auch neugierig war, weshalb sie gemeinsam mit Meredy nach unten aufs Deck kletterte und sich neben Romeo setzte.

„Drei Minuten, höchstens vier“, sagte Gray mit siegesgewissem Grinsen.

Romeo machte eine wedelnde Handbewegung. „Wenn sie in die ihre Trickkiste greift, reicht das vielleicht.“

Gray schnaubte: „Für das Feuerhirn braucht sie das nicht.“

„Natsu ist ziemlich gut“, hielt Romeo dagegen und ein Hauch von Bewunderung schwang in seiner Stimme mit, wie es sonst nur bei Erzählungen über Mest der Fall war. „Er hat einen schwer durchschaubaren Stil und trainiert schon seit zwanzig Jahren bei wechselnden Lehrern. Ich würde ihn an eurer Stelle nicht unterschätzen.“

„Und du gehst dennoch davon aus, dass Lucy gewinnt?“, mischte Rogue sich mit einem Stirnrunzeln ein. „Ist sie so stark?“

Loke schnaubte leise, sagte jedoch nichts. Stattdessen erklärte Levy, welche die Mappe mit ihren Unterlagen zugeklappt hatte, eifrig weiter: „In Heartfilia ist es üblich, dass die Kinder des Fürsten ab dem zehnten Sommer am Kampfunterricht der Garde teilnehmen. Zum einen damit sie sich in Krisensituationen selbst verteidigen und zum anderen damit sie ihren Schild und Schwert alleine auswählen können. Lucy und Loke sind die besten Schüler Meister Capricorns gewesen. Noch zu Ausbildungszeiten erhielten sie deshalb die Beinamen Sonnenschwert und Sternenklinge.“

Loke verdrehte die Augen. „Gemini und Scorpio sind Klatschweiber…“

„Vielleicht hast du ja Glück und sie erzählen Aries nichts von deinen Frauengeschichten in Crocus“, spottete Gray.

„Zumindest hatte ich im Gegensatz zu dir welche“, erwiderte der Feuergeist erhaben. Lyon kicherte amüsiert.

„Ich wusste gar nicht, dass Heartfilia so kriegerisch ist“, meldete sich Sting zu Wort, der seinen Eimer in Reichweite behielt.

„Juvia findet nicht, dass Heartfilia besonders kriegerisch wirkt.“

„Es ist auch eher für seinen hohen Bildungsstatus und für seinen Reichtum durch den Lacrima-Handel bekannt, aber es stimmt schon, sie sind dort überraschend wehrhaft“, räumte Lyon ein.

„Blieb ihnen ja kaum eine Wahl“, brummte Gajeel, der sich in eine sitzende Position aufgerichtet hatte, um den Kampf verfolgen zu können. „Wenn sie andauernd mit diesen Geisterjägern zu tun haben…“

Mittlerweile hatte Natsu sein Schwert umwickelt und seine Dolche und Messer abgelegt. Auf dem Achterkastell hatten sich einige Matrosen versammelt, die sich das Spektakel auch nicht entgehen lassen wollten. Sogar der Kapitän war dabei, sein Blick voll glühender Bewunderung auf Lucy gerichtet. Ob es Lucy manchmal unangenehm war, wie sehr die Bewohner von Heartfilia sie verehrten? Die Erwartungen in Lucy schienen auf alle Fälle extrem hoch zu sein. Wendy war sich nicht sicher, ob sie mit so etwas zurechtkäme.

Lucy jedoch ignorierte alle Zuschauer und brachte sich in Position. Ihren Rapier gerade auf Natsu gerichtet, den linken Arm auf den Rücken gelegt, den Körper seitlich gedreht, sodass Natsu eine minimale Angriffsfläche geboten wurde, und die Beine leicht gespreizt.

Natsu war in allem das Gegenteil von Lucy. Er hielt das Langschwert mit beiden Händen und hatte sich Lucy frontal zugedreht. Auf seinen Lippen lag das typische abenteuerlustige Grinsen und zu Wendys Überraschung fand es auf Lucys Lippen eine Erwiderung. Die bisherige Disziplin der Blonden war ungebrochen, aber ihre Vorfreude war unübersehbar.

Gleichzeitig setzten die Kontrahenten sich in Bewegung. Natsu begann mit einem simplen Frontalangriff, bei dem er das Schwert von oben hernieder sausen ließ. Als hätte sie Natsus Gedanken gelesen, sprang Lucy genau im rechten Augenblick zurück, dann wieder vor und an der gegnerischen Deckung vorbei, um mit dem Rapier nach ihm zu stechen. Schneller, als das mit einem Langschwert möglich sein sollte, wirbelte Natsu seine Waffe herum und schlug mit der Breitseite nach Lucy. Doch sie ging im letzten Augenblick in Deckung und versetzte von dort aus der schwingenden Klinge einen Stoß, um Natsu aus dem Gleichgewicht zu bringen und erneut vorzustoßen. Kurz bevor der Rapier ihn berühren konnte, ließ Natsu sich zur Seite fallen und versuchte, Lucy die Beine unter dem Körper weg zu fegen. Lucy sprang mühelos darüber hinweg und brachte sich wieder in Angriffsposition, während Natsu geschwind wieder auf die Beine kam.

Sting pfiff leise. „Das hätte ich Lucy nicht zugetraut“, gestand er beeindruckt.

„Ihr Vorteil ist, dass sie alle Nase lang mit Langschwertkämpfern zu tun hat“, erklärte Loke nicht ohne Stolz in der Stimme.

„Natsu sieht nicht sonderlich überrascht aus“, stellte Lyon fest.

„Wer weiß, gegen was für Waffentypen er schon gekämpft hat“, meinte Romeo und zuckte mit den Schultern. „Er ist seit Jahren in ganz Fiore unterwegs, da hat er sicher viele Erfahrungen gesammelt.“

„Und er hat gute Instinkte“, fügte Rogue hinzu. Bei seinen nächsten Worten warf er seinem Partner einen vielsagenden Seitenblick zu. „Er ist die Sorte von Mensch, die immer das Abenteuer sucht.“ Der Wüstennomade antwortete darauf mit einem frechen Augenbrauenwackeln, das Wendy verlegen den Blick abwenden ließ.

Natsu und Lucy grinsten einander unisono an und dann trat Lucy vor. Ihre Schritte waren fließend und so schnell, dass es beinahe wirkte, als würde sie über die Planken gleiten. Mit einer beeindruckenden Kombination von Schrittfolgen, Finten, Stößen, Schlägen und überraschenden Handschlägen und Fußtritten drang sie auf Natsu ein. Doch der ließ sich keineswegs aus dem Konzept bringen, wich behände aus, konterte, parierte. Es wirkte beinahe wie ein Tanz. Die Kontrahenten wirbelten über das halbe Deck und zogen immer neue Manöver aus den Ärmeln.

Wendy merkte sowohl den Drachenreitern als auch den Eismenschen an, wie verblüfft sie waren, und sie selbst war auch beeindruckt, obwohl sie sowohl Natsu als auch Lucy oft hatte kämpfen sehen.

Schließlich ließen die Beiden für eine Verschnaufpause voneinander ab. Trotz seines schweren Atems lachte Natsu vergnügt. „Du bist richtig gut, Lucy!“

Ein stolzes Grinsen stahl sich auf Lucys Lippen. „Danke, du auch.“

Und dann sprang sie auf einmal mit gesenktem Rapier vor und presste ihren Körper gegen Natsus. Japsend stolperte er rückwärts und prallte gegen die Kombüsenwand. Die Spitze des Rapiers lag an seiner Wange. Lucy hatte die Klinge so schnell gedreht und nach oben schnellen lassen, dass Wendy die Bewegung gar nicht richtig hatte verfolgen können.

„Verdammt gut“, krächzte er noch immer grinsend.

„Aber nicht gut genug“, stellte Lucy fest und Wendy erkannte Natsus Faust an Lucys Hüfte. Hätte er einen Dolch in der Hand, hätte er Lucys Hüftarterie getroffen. Es war unmöglich zu sagen, wer von den Beiden bei einem ernsthaften Kampf zuerst gestorben wäre.

Schwer atmend blieben Natsu und Lucy noch kurz beieinander stehen. Kurz, aber doch lange genug, das Loke brummte und Sting leise kicherte.

Als die Beiden sich voneinander lösten, grinste Natsu von Ohr zu Ohr und seine Nasenflügel bebten, während in Lucys Augen ein sanfter Schimmer lag. Unwillkürlich musste Wendy lächeln und als Romeos Hand heimlich nach ihrer griff, wusste sie, dass er das Gleiche wie sie dachte: Vielleicht würde es noch seine Zeit brauchen, bis sie es Beide begriffen, aber es war unübersehbar, dass Natsu und Lucy ineinander verliebt waren!

Der Fluss, der ein großes Geheimnis offenbarte

Etwa zwei Tage vor ihrer angekündigten Ankunft in Sabertooth passierten sie die ersten Dörfer des Fürstentums. Kleine Ansammlungen einfacher Lehmhütten mit Schilf- oder Papyrusdächern, von denen lange Stege in den breiten, ruhigen Fluss hinein ragten, während im Hinterland Felder mit Hafer und Sommergerste und in den meist nur sporadisch abgesteckten Gärten Oliven- und Dattelbäume zu erkennen waren. Lastkähne tummelten sich hier auf dem Schlangenfluss, alle voll beladen mit Vorräten, alle auf dem Weg nach Süden. Die Mienen der Insassen waren grimmig und entschlossen, während sie ihre kleineren Segel beständig nach dem Wind ausrichteten oder aber sich mit Rudern abplagten.

Sting und Rogue, denen es dank Wendys Heiltee endlich besser ging, standen mit steinernen Mienen und steifen Schultern an der Reling und beobachteten das Treiben. Wenn die Menschen sie erkannten – und das taten sie fast immer – beeilten sie sich, ihre Kähne aus dem Weg der Pyxis zu bekommen. Viele bedachten die weithin bekannten Klauen ihrer Fürstin mit ehrfürchtigen, beinahe verehrungsvollen Blicken.

An Bord der Pyxis herrschte eine angespannte Stimmung. Levy fiel es dabei schwer, sich noch auf die Unterlagen zu konzentrieren, die sie in Crocus und Malba zusammen getragen und in Heartfilia zu ordnen begonnen hatte. Meistens beobachtete sie jetzt ihre Reisegefährten.

Natsu und Lucy standen bei Sting und Rogue, letztere hielt die Reling mit zitternden Fingern umfasst und griff oft nach ihrem Rapier. Romeo und Gajeel pflegten und überprüften wieder einmal ihre Ausrüstungen, letzterer offensichtlich ungerührt, während Romeo seine Nervosität nicht ganz verbergen konnte. Neben ihnen saß Wendy und verarbeitete mit betroffen gesenktem Blick ihre Kräuter, tatkräftig unterstützt von Juvia, die immer wieder um sich blickte.

Im Schatten des Achterkastells lehnte Loke an der Wand, eine Hand auf das Schwert in seinem Schoß gelegt, und schien zu versuchen zu dösen, verriet sich jedoch dadurch, dass er immer wieder zu Lucy hinüber blickte.

Meredy war nicht anzusehen, was sie dachte, während sie mit ihren Wurfmessern übte, als wäre alles in bester Ordnung. Lyons und Grays Gesichter waren bleich, ihre Mienen krampfhaft ausdruckslos. Sie mieden jeden Blick auf die Bewohner von Sabertooth und versuchten, so zu tun, als würden sie sich auf ihre Aufgaben konzentrieren. Lyon zog den Wetzstein über sein Breitschwert, sein jüngerer Bruder überprüfte die Schnallen und Riemen seines ledernen Brustpanzers.

Unbehaglich rieb Levy sich die Hände. Während der ersten Tage der Reise hatte die Gruppe langsam zueinander gefunden. Sie hatten miteinander trainiert, Karten und Schach gespielt, gemeinsam gegessen und gemeinsam an Deck geschlafen. Aber seit sie das Kargland hinter sich gelassen hatten, waren Sting und Rogue zu angespannt, um sich noch ablenken zu lassen. Sie hatten Lector und Frosch wieder nach Sabertooth geschickt, als der Kapitän verkündet hatte, dass sie bald da wären.

Während ihres Studiums und auch schon lange davor hatte Levy von unzähligen Schlachten und Kriegen gelesen. Allein die vielen Konflikte hier in der Stillen Wüste füllten in der Universitätsbibliothek mehrere Regalreihen. Doch keines dieser Bücher hatte je richtig eingefangen, was Levy jetzt beobachten konnte.

Die Menschen auf den Lastkähnen und am Ufer spiegelten ein breites Gefühlsspektrum wieder: Angst und Unsicherheit, Wut und Hass, Trauer und Verzweiflung, Entschlossenheit und Hoffnung. Die Blicke, die auf Sting und Rogue lasteten, waren hoffnungs- und erwartungsvoll. Die beiden Drachenreiter waren die Helden der Stillen Wüste, die Befreier von Sabertooth, die sagenumwobenen Klauen, Drachenreiter, im Grunde lebende Legenden. Die Verantwortung, die ihnen damit aufgebürdet wurde, war unbeschreiblich.

Sie ließen wieder ein Dorf hinter sich und begegneten nur noch vereinzelten Kähnen und Booten. Lucy legte Sting und Rogue kurz die Hände auf die Schultern und wandte sich dann dem Kapitän zu. Über das Schweigen der Anwesenden hinweg war ihre Stimme klar und deutlich auf dem gesamten Deck zu vernehmen.

„Lasst die Männer an die Ruder gehen. Wir müssen endlich Sabertooth erreichen.“

„Herrin, damit gewinnen wir höchstens einen halben Tag und dieser Abschnitt des Schlangenflusses ist besonders in der Nacht sehr heikel“, erklärte der Kapitän und nestelte an seiner Weste herum. „Wir könnten auf einer der Sandbänke auflaufen.“

„Wie oft seid Ihr diese Strecke bereits mit diesem Schiff gefahren? In den Hafenbüchern ist die Pyxis allein für den vergangenen Frühling dreimal für die Strecke Heartfilia-Sabertooth-Hargeon eingetragen. Oder irre ich mich?“, fragte Lucy mit herrischer Stimme.

„N-nein, Herrin, Euer Gedächtnis ist ausgezeichnet. Ich wusste nicht, dass Ihr die Hafenbücher-“

„Die Wahl für die Passage nach Sabertooth fiel nicht von ungefähr auf die Pyxis“, unterbrach Lucy den Mann schroff. „Ihr kennt die Strecke, Ihr kennt die Sandbänke und die Strömungen. Welche Schäden auch immer trotz Eures Könnens entstehen sollten, Heartfilia wird sie zehnfach begleichen. Wenn wir allerdings bei Morgengrauen in den Hafen von Sabertooth einlaufen, erhaltet Ihr eine Frachtladung Lacrima samt Zertifikat zur freien Verfügung.“

Levy schnappte nach Luft und sogar Sting und Rogue hatten sich überrascht zu Lucy herum gedreht. Alle blickten von ihrer Beschäftigung auf und beobachteten das Mienenspiel des Kapitäns. Der schien wirklich zu versuchen, sich seine Gier nicht anmerken zu lassen, aber er scheiterte angesichts des ungeheuren Reichtums, der ihm winkte. Mit einer Frachtladung zertifizierter Lacrima würde er sich einen Palast errichten lassen oder eine Handelsflotte aus dem Boden stampfen oder sogar eine kleine Insel kaufen können.

Tief verbeugte er sich vor Lucy und hastete dann unter Deck, um jeden verfügbaren Mann an die Ruderbänke zu schicken.

„Das ist zu viel“, sagte Rogue missbilligend. „Das wird Sabertooth nicht zahlen können. Und Heartfilia sollte das auch nicht.“

Von ihrer Position aus konnte Levy das Gesicht ihrer Freundin nicht sehen, aber sie erkannte die Steifheit in Lucys Haltung und hörte einen gepressten Unterton heraus, als sie dem Schattenmagier antwortete: „Mein Vater kam aus einer Kaufmannsfamilie, die Generationen zurück reichte, aber er war der Alleinerbe. Bevor er meine Mutter geheiratet hat, hatte er ein ganzes Handelsimperium unter sich. Mit seiner Heirat hat er das gesamte Vermögen Heartfilia überschrieben. Das sind Handelskontakte in ganz Ishgar und sogar bis nach Alvarez. Die Einnahmen spülen jedes Jahr enorme Reichtümer in Heartfilias Kasse. Damit reichern wir die Renten an, zahlen den Sold, vergeben Stipendien… Dieses Mal können wir damit hoffentlich verhindern, dass es Sabertooth genauso ergeht wie Heartfilia…“

Noch immer schien Rogue mit sich zu hadern, Sting jedoch trat einfach vor, schlug sich mit der rechten Hand auf die Brust und streckte dann die Hand aus, die Innenseite Lucy zugewandt. Levy erinnerte sich an eine entsprechende Beschreibung in Ein Leben im Sand von Myrbus Orland, einer Studie über die Gebräuche und Künste der Wüstennomaden. Diese Geste drückte tief empfundenen Dank und den Wunsch aus, eine Freundschaft wachsen zu lassen.

„Das werden wir nicht vergessen, Lucy. Sabertooth steht in deiner Schuld.“

„Noch sind wir nicht da und wissen auch nicht, ob wir überhaupt rechtzeitig sein werden“, widersprach Lucy und echte Sorge schwang in ihrer Stimme mit.

„Was zählt, ist der Sand selbst, nicht seine Form, sagen die Wüstennomaden“, sagte Rogue und wiederholte Stings Geste.

„Und Hoffnung ist der hellste Stern“, übersetzte Lucy leise ein vielgenutztes Geistersprichwort und legte ihre Hände an die Handflächen der beiden Klauen, während unter Deck eine tiefe Trommel den Rhythmus für die Ruderer zu schlagen begann.
 

Die Trommelschläge hielten die ganze Nacht an, bisweilen von rüden Seemannsliedern begleitet, mit denen die Ruderer sich motivierten, wenn sie gegen besonders starke Strömungen ankämpfen mussten. Das Achterkastell war hell erleuchtet und neben der Gallionsfigur am Bug waren hölzerne Konstruktionen aufgestellt worden, in deren Inneren Lichtlacrima brannten und den voraus liegenden Flussverlauf beleuchteten. Das Schiff wankte leicht in den wechselhaften Strömungen, die durch die vielen Sandbänke verursacht wurden. Das Holz knarrte und ächzte und das Segel knatterte in einer steifen Brise, die bei Sonnenuntergang aufgekommen war.

An Schlaf war für Juvia und die Anderen kaum zu denken, auch wenn sie es zumindest versuchten, um bei ihrer Ankunft in Sabertooth auch zu etwas nütze zu sein. Wie in den vorherigen Nächsten hatten sie ihre Decken im Schatten des Achterkastells ausgebreitet, heute auch schon aus dem Grund, weil die Trommeln unter Deck geradezu ohrenbetäubend laut waren.

Juvia lag zwischen Lucy und Gajeel. Letzterer hatte sich zur Wand gedreht und schien tatsächlich zu schlafen, Lucy jedoch war wach und hielt Levys Hand. Die Magistra lag neben ihrer Freundin und drehte sich oft herum, brummte immer wieder leise im Schlaf, stöhnte oder wimmerte mitunter sogar. Seit dem Aufbruch von Heartfilia war Levy des Nachts immer so unruhig und Juvia fragte sich, ob das an dem lag, was Levy in Malba und Heartfilia gesehen hatte, oder ob das mit Levys Recherchen zusammen hing.

Die Magistra schien wohlbehütet aufgewachsen zu sein, fernab von Kriegen, Versklavung und Raubzügen. Wahrscheinlich hatte sie vor den Kämpfen in Malba noch nicht einmal eine ernsthafte bewaffnete Auseinandersetzung mit angesehen. Warum sie sich dennoch so energisch dafür entschieden hatte, mitten in ein Kriegsgebiet zu ziehen, ging über Juvias Verständnis hinaus.

Aber andererseits verstand sie ja nicht einmal genau, warum sie selbst hier auf diesem Schiff lag. Es war ihr einfach so natürlich erschienen, Sting und Rogue dabei helfen zu wollen, ihre Heimat zu verteidigen. Dabei hatte Juvia nicht die leiseste Ahnung davon, was eine Heimat eigentlich war, und gleichzeitig war sie sich nicht einmal sicher, ob sie tatsächlich helfen konnte. Sie war keine Kämpferin und keine Heilerin und besaß auch nicht die geschärften Sinne der Drachenreiter oder Levys und Lucys breit gefächerten Wissensschatz. Sie war einfach nur eine ganz normale Wassermagierin…

Sie hörte Levy leise seufzen und dann hörte das beständige Rascheln endlich auf. Irgendwo an Juvias Kopfende hörte sie jemand anderen rascheln, ehe sie Rogues leises Seufzen vernahm: „Sting…“

Im Schatten des Achterkastells erkannte Juvia nur vage Stings breitschultrige Gestalt, die davon schlich. Kurz darauf folgte Rogue ihm und Juvia konnte die Beiden nicht mehr sehen, ohne sich aufzurichten. Wahrscheinlich gingen sie wieder zur Reling. Es grenzte sowieso an ein Wunder, dass sie zumindest versucht hatten, einzuschlafen.

Als Lucy sich neben ihr auf den Rücken drehte, lenkte Juvia ihre Aufmerksamkeit wieder auf die junge Fürstin. Die Blonde hatte den Blick gen Himmel gerichtet, wo die Sterne nur vereinzelt zwischen den Wolken hervorlugten, die mit dem Sonnenuntergang aufgezogen waren, ohne auch nur einen Regentropfen zu Boden zu schicken. Soweit die Sichtverhältnisse es zuließen, betrachtete Juvia Lucys Profil.

Die Gleichaltrige war jene Art Frau, die Juvia gelegentlich in Crocus aus der Ferne gesehen hatte. Diese Frauen, um die sich zahllose Verehrer scharten, weil sie schlicht und einfach perfekt waren. Angefangen von Lucys femininer Figur über ihren leuchtenden goldenen Haaren bis hin zu ihrem wunderschönen Gesicht mit diesen großen, sanften Augen und dem niedlichen Mund und… Nein, Lucy übertraf jede Frau, die Juvia je zuvor gesehen hatte. Denn sie war nicht nur schön, sondern auch noch klug und verantwortungsvoll und stark und unglaublich tapfer. Ja, irgendwie bewunderte Juvia die Blonde und wünschte sich, sie könnte ein bisschen so wie sie sein.

Trotz der unbestreitbaren Unterschiede zwischen ihnen, fühlte Juvia sich Lucy jedoch auch unglaublich nahe. So viele Qualitäten und Stärken Lucy auch hatte, sie hatte auch ihre Schwächen und sie versuchte nicht mehr so krampfhaft wie bei ihrer Ankunft in Heartfilia, eben diese zu verbergen. Vielleicht tat sie es auch gar nicht bewusst, aber es gab diese Momente, in denen Lucys Ängste und Schmerzen unverkennbar durch die Schale aus Verantwortungsgefühl durchschimmerten, hinter der Lucy sich leider immer noch gelegentlich verborgen hielt.

So wie jetzt. Aufmerksam beobachtete Juvia, wie Lucys Miene sich anspannte, während sie weiter zum Himmel hinauf blickte. Sie zog immer wieder die Augenbrauen leicht zusammen, als hätte sie Schmerzschübe, und sie kaute sich auf der Unterlippe herum, als lägen darauf Worte, die sie aussprechen wollte und doch nicht wollte. Die sonstige Beherrschung bröckelte und dahinter kam eine junge Frau voller Zweifel und Schuldgefühlen zum Vorschein.

Irgendwann fiel es Lucy wohl doch auf, dass Juvia sie beobachtete. Sie versteifte sich, ballte sogar die Fäuste, die sie hastig wieder öffnete. Für einen Moment schloss sie die Augen und atmete tief aus, dann drehte sie den Kopf. Jetzt hatte sie ihre Miene wieder besser im Griff, aber zumindest versuchte sie nicht, ihre vorherige Schwäche weg zu lächeln. Im Dunkeln war es nur undeutlich zu erkennen, aber Juvia hatte den Eindruck, dass Lucys Augen müde wirkten. Nicht körperlich müde, sondern seelisch. Sie schienen so viel älter zu sein, als sie eigentlich in Wahrheit waren. Keine Spur mehr von diesem wunderschönen Leuchten, das nach Lucys Übungskampf mit Natsu in ihnen gelegen hatte.

„Du trägst keine Schuld an dem, was deinem Land passiert ist, weißt du?“, flüsterte Juvia unwillkürlich.

Sofort konnte sie sehen, wie Lucy sich wieder verkrampfte, und für einen Moment befürchtete Juvia, dass die Blonde ihr den Rücken zudrehen würde, aber dann hatte diese sich offensichtlich wieder im Griff, auch wenn ihre Stimme belegt klang, als sie antwortete: „Wie kommst du darauf?“

Die Wassermagierin nahm sich einige Herzschläge Zeit, um nach den richtigen Worten zu suchen, ehe sie sich für die ehrlichsten entschied. „Juvia hat das Gefühl, dass du immer noch viel in dich hinein frisst…“

Jetzt drehte Lucy doch den Kopf auf die andere Seite und die sichtbare Hand ballte sich zu einer zitternden Faust. Unwillkürlich hielt Juvia die Luft an. War sie zu weit gegangen? Sie verstand so wenig von diesen Dingen. Sie hatte immer nur Gajeel, Totomaru, Pantherlily und Metallicana um sich herum gehabt und keiner von ihnen war besonders gesprächig. Am ehesten noch Metallicana, aber selbst bei ihm hatte Juvia das Gefühl, das es etwas gab, was er sogar vor sich selbst verschloss.

Vielleicht hing es damit zusammen, dass er so lange Zeit unberitten geblieben war. Es konnte unmöglich spurlos an den Drachen vorbei ziehen, wenn sie einen Reiter verloren, und Metallicana mochte sich immer über Gajeel lustig machen, letztendlich hatte er doch eine Schwäche für den Eisenmagier und war auch gegenüber Juvia immer ausgesprochen sanft, beinahe väterlich aufgetreten. Nur hatte er eben nie darüber gesprochen. Das schien der Standard für die kleine Gruppe um Gajeel zu sein, wovon Juvia sich selbst nicht ausschließen konnte.

Zwar hatte sie unter diesen Umständen die vielen kleinen Anzeichen dafür zu erkennen gelernt, ob jemand etwas in sich hinein fraß, aber damit umzugehen, war ihr dennoch fremd. Bisher hatte sie diese Herausforderung immer gescheut. Warum sie sie dieses Mal angegangen war, verstand sie selbst nicht so genau, aber sie hatte nicht einfach schweigen können. Sie hatte endlich helfen wollen…

„Als Meister Capricorn und die Anderen mich überredet haben, nach Sabertooth aufzubrechen, war ich erleichtert“, durchbrach Lucy das Schweigen schließlich. Ihre Stimme klang gepresst und ihre Hände waren noch immer zu Fäusten geballt. Eine Weile kaute sie sich wieder auf der Unterlippe herum, den Blick wieder gen Himmel gerichtet, ehe sie weiter sprach. „Ich habe mich mein Leben lang auf die Aufgaben einer Fürstin vorbereitet und ich will das auch wirklich schaffen, weil ich mein Land und mein Volk liebe, aber…“

Wieder ein Zögern. Lucy blinzelte nun heftig und schluckte mehrmals. Beinahe bereute Juvia es, die Blonde auf diese Sache angesprochen zu haben. Es schien ihr doch geradezu körperliche Schmerzen zu bereiten, auch nur daran zu denken.

„Ich bin damit überfordert“, krächzte Lucy schließlich. „Und jetzt fühle ich mich schuldig, weil ich meine Pflichten einfach abgewälzt habe…“ Die Worte erstarben und dann rann die erste Träne über Lucys Schläfe. Hastig schlug sie die Hände über das Gesicht. Der letzte Satz klang wie ein Würgen, schwach und abgehackt. „Ich will keine Fürstin sein…“

Bestürzt betrachtete Juvia die Gleichaltrige. Sie hatte geahnt, dass die Verantwortung der Fürstenwürde schwer auf Lucys Schultern lasten musste – wie könnte sie das auch nicht in solchen Zeiten? –, aber das war so viel mehr… Es war ein grauenhaftes Geheimnis, ein Eingeständnis von Schwächen und Ängsten, die immer unausgesprochen geblieben waren.

Wieso Lucy dieses Geheimnis ausgerechnet mit Juvia teilte, jemandem, den sie noch nicht einmal einen Mond lang kannte und der nicht den Hauch einer Ahnung von all diesen Dingen hatte, war der Blauhaarigen ein Rätsel. Womit hatte sie sich solch ein Vertrauen verdient? Sie hatte doch in der Zeit seit Lucys Rettung nichts für die Blonde tun können. Sie hatte hilflos daneben gestanden, als Lucy vom Tod ihres Vaters erfahren hatte, hatte tatenlos die Bestattung mit angesehen, hatte Lucy in den Tagen danach kaum zu Gesicht bekommen. Bei den wenigen Begegnungen hatte Juvia immer versucht, irgendwie für Lucy da zu sein, aber sie hatte sich dabei immer unzulänglich und nutzlos gefühlt. Schlimmer noch als bei der Sache mit diesem armen Leviathan. Viel schlimmer.

Dennoch lag Lucy hier neben ihr, die Hände aufs Gesicht gepresst, die Schultern zitternd…

Und dieses Mal wollte Juvia nicht tatenlos bleiben! Ganz vorsichtig rutschte sie näher an die Andere heran und streckte die Hand aus. Für einen Moment zögerte sie noch, dann strich sie über Lucys Arm.

„Juvia versteht nichts von Politik“, begann sie unsicher, ihre Stimme so weit gesenkt, wie sie nur konnte. „Juvia und Gajeel sind immer davor weg gelaufen, aber sie glaubt nicht, dass du ein schlechter Mensch bist, nur weil du Zweifel hast. Diese Aufgabe, für so viele Leben verantwortlich zu sein…“ Sie rang um die richtigen Worte und fand keine. Seufzend strich sie über Lucys Kopf. „Juvia hätte auch Angst davor…“

Es kam ihr falsch vor, Lucy hier und jetzt in den Arm zu nehmen. So sehr sie sich auch wünschte, mit der Blonden Freundschaft zu schließen, sie kannten einander eben doch noch nicht lange genug. Und gleichzeitig war sie sich nicht sicher, was eine Umarmung jetzt ausrichten würde. Ob sie Lucy nicht vielleicht zu sehr aus der Fassung bringen würde. Also blieb sie einfach nur neben Lucy liegen und streichelte ihr seidenes Haar.

Eine Weile verharrten sie so, bis Lucys Zittern nachließ. Mehrmals holte sie tief Luft und dann nahm sie die Hände wieder vom Gesicht und ergriff die Hand auf ihrem Kopf, um sie sanft zu drücken. Zaghaft erwiderte Juvia den Druck und lächelte die Andere an, welche die Geste zittrig erwiderte.

Wieder verblieben sie so, hielten einander fest und lächelten unsicher und doch voller Zuneigung. Juvia hatte ein wohlig warmes Gefühl in der Brust und legte sich wieder richtig neben die Blonde, ihre Schultern leicht aneinander gedrückt, ihre Blicke nun beiderseits nach oben gerichtet.

Mittlerweile waren mehr Sterne zu sehen, aber das tiefe Schwarz des Firmaments schien sich minimal aufgehellt zu haben. Juvia wunderte sich, wie viel Zeit vergangen war, seit sie sich getraut hatte, Lucy anzusprechen. Es war alles irgendwie so schnell gegangen und doch wieder nicht. Sie war sich nicht einmal sicher, ob ihre Worte wirklich etwas bewirkt hatten. War sie Lucy bei all dem nicht vielleicht doch zu nahe getreten…?

Ein weiterer sanfter Druck an ihrer Hand ließ Juvia aufblicken. Neben ihr richtete Lucy sich langsam auf. „Wir müssten bald da sein, wir werden langsamer“, flüsterte sie zur Erklärung und lächelte beruhigend.

Erst jetzt bemerkte Juvia, dass sie die vielen gefährlichen Strömungen tatsächlich hinter sich gelassen hatten und dass sich der Rhythmus der Trommeln verlangsamt hatte. Die Aussicht auf Lucys Belohnung schien den Kapitän und seine Mannschaft ausreichend beflügelt zu haben.

Als Lucy mitten in der Bewegung erstarrte, stemmte Juvia sich auf den rechten Arm und drehte sich um, um Lucys Blick zu folgen. Sie erkannte Loke, der sitzend an einer Kiste lehnte, das Schwert wieder auf seinem Schoß, den Blick auf Lucy gerichtet.

Hatte er gehört, was Lucy vorhin gesagt hatte? Schon wieder verunsichert blickte Juvia zwischen Loke und Lucy hin und her. In Lucys Gesichtszügen zuckte es verräterisch, aber Lokes Miene blieb vollkommen ruhig. In seinen Augen lagen keine Vorwürfe oder Sorgen. Einfach nur Vertrauen. Gerade noch rechtzeitig sah Juvia, wie Lucy schwer schluckte, ehe sie sich hastig herum drehte und zur Reling ging, die Schultern steif, die Hand um den Griff ihres Rapiers verkrampft, den sie sich beim Aufstehen wieder umgegürtet hatte.

Langsam stand auch Juvia auf und blickte wieder zurück zu Loke, der sich so geschmeidig erhob, als wäre es vollkommen normal für ihn, in sitzender Position zu schlafen – wenn er denn überhaupt geschlafen hatte. Noch immer wirkte er vollkommen entspannt, obwohl seine Fürstin vorhin gestanden hatte, dass sie eigentlich gar keine Fürstin sein wollte. War sein Glaube an Lucy so unerschütterlich?

Der Morgen dämmerte und nach und nach richteten sich auch die Anderen auf. Natsu war als Erster auf den Beinen und gesellte sich zu Lucy, Sting und Rogue, deren Konturen sich mittlerweile deutlicher abhoben. Mit einem Brummen drehte Gajeel sich um und richtete sich in eine sitzende Position auf. Sein Blick huschte einen Moment lang zu Levy, die sich erschöpft die Augen rieb. Juvia tat so, als hätte sie nichts bemerkt. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um Gajeel darauf anzusprechen.

Schließlich folgte sie den Anderen an die Reling und richtete ihren Blick nach vorn. Sie konnte spüren, wie der Fluss hier ruhig, beinahe schon sanft dahin floss, ehe er mehrere hundert Schrittlängen voraus in einen breiten, künstlichen Kanal geleitet wurde. Dort schoss er wieder schneller dahin und zog an den stabilen Stützpfeilern unzähliger Stege – viel mehr, als Juvia sie in einer Stadt am Rande der Wüste für möglich gehalten hätte.

Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie bisher eigentlich gar keine wirkliche Vorstellung von Sabertooth gehabt hatte. Sie war mit Gajeel eher im Nordwesten Fiores unterwegs gewesen. Nach ihrer Flucht aus Crocus waren sie einige Monde lang durchs Land gezogen, hatten Station in Margaret gemacht, waren wieder auf Wanderschaft gegangen, dann wieder ein paar Monde in Hargeon, ehe sie sich ein Boot gekauft hatten und aufs Kaiserliche Meer hinaus gefahren waren… Vom Rest Fiores hatte Juvia nur wenig erfahren, geschweige denn gesehen.

Gespannt folgte sie mit dem Blick dem Fluss, der sich dunkler in einer von Sand dominierten Umgebung abhob. Diese nun so deutlich wahrnehmbare Linie leitete Juvias Blick schließlich zu den Mauern von Sabertooth, die schier unendlich hoch über dem Boden aufragten. Juvia musste sich eingestehen, dass sie zu wenig von Architektur verstand, um näheres dazu sagen zu können. Vage konnte sie jedoch die helle Rotfärbung des Steins und die vollkommen glatte Oberfläche erkennen. Die Zinnen begannen erst fünfzehn oder noch mehr Mannslängen über dem Boden und dazwischen waren immer wieder patrouillierende Soldaten zu erkennen.

Zu beiden Seiten des Flusses ragten massive Wehrerker aus den Mauern, die groß genug waren, um Skorpione zu beherbergen – eine klare Warnung an jeden potenziellen Eindringling, der glaubte, auf dem Fluss leichtes Spiel zu haben. Über den Fluss selbst spannte sich von Mauer zu Mauer eine gewaltige, dornenbewehrte Kette, die jedem Schiff Einhalt gebieten konnte.

Diese Stadt war es gewohnt, sich verbissen zu verteidigen.

An der Reling hob Sting eine Hand mit einer Lichtkugel, die hell genug war, um ihn und Rogue zu beleuchten, und winkte mehrmals in Richtung eines der Erker. Undeutlich konnte Juvia dort Rufe hören, dann konnte sie erkennen, wie Bewegung in die dort stationierten Soldaten kam.

Wenig später erklang das quälende Quietschen von riesigen Winden und ganz langsam hing die Kette über dem Fluss durch, bis sie schließlich darin verschwand.

Unruhig vergrub Juvia die Finger im Stoff ihrer Pluderhose und schluckte schwer. Sabertooth hieß sie willkommen – und sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie hinter diesen Mauern erwarten würde.

Die Straße, auf der sie zum Sandpalast fanden

Langsam und leise glitt die Pyxis durch das Wasser. Die Trommeln waren verstummt und die Ruderer waren alle an Deck geholt worden, um sich um die Takelage zu kümmern und die ersten Segel zu reffen, während der Kapitän das Schiff bedächtig auf einen der großen Stege zu lenkte, zu welchem das Leitboot sie führte. Mit Lichtlacrima gab der Lotse auf selbigem Kommandos, die mit einer komplizierten Flackerabfolge verschlüsselt waren, die Lucy nur bruchstückhaft verstand. Ihre Studien in Heartfilia und Crocus und ihr Training unter Meister Capricorn hatten ihr wenig Zeit gelassen, um auch mal mit einem der Handelsschiffe ihres Vaters mitzufahren und mehr über die Schifffahrt zu lernen.

Da keiner von ihnen überhaupt Erfahrung mit der Handhabung eines Schiffs hatte, hielten Lucy und ihre Freunde sich lieber vom Gewimmel der Matrosen fern und beobachteten stattdessen schweigend, wie sich die Pyxis gemächlich dem zugewiesenen Liegeplatz näherte.

Lucys Blick glitt zum ersten Mal über Sabertooth. Obwohl sie gewusst hatte, wie viele Einwohner das Fürstentum hatte, und obwohl sie viele Zyklen in Crocus verbracht hatte, war sie doch beeindruckt vom Anblick der unzähligen Gebäude, die sich so eng aneinander schmiegten, dass es ohne weiteres möglich wäre, die Stadt über die flachen Dächer hinweg zu durchqueren. Das hieß, wenn man die mitunter beachtlichen Höhenunterschiede der benachbarten Flachdächer überwinden konnte. Während einige Gebäude ebenerdig zu sein schienen, ragten andere drei oder sogar vier Geschosse in die Höhe, ohne dass sie sich in ihrer schlichten Quaderform wesentlich voneinander unterschieden. Beinahe könnte man glauben, dass die Stadt versuchte, in die Höhe zu wachsen, da sie anderweitig keinen Platz mehr in den überlebenswichtigen Mauern fand. Lucy erinnerte sich, dass Sabertooth seit der Befreiung ein beachtliches Bevölkerungswachstum aufwies.

Im fahlen Licht der Morgendämmerung waren noch nicht viele Menschen auf den Straßen zu sehen. Lucy erkannte vereinzelte Hand- und Eselkarren und eine kleine Schlange an einem Brunnen, der neben einem der Hafenlager lag.

Der Hafen selbst war um ein Vielfaches größer als der von Heartfilia, wahrscheinlich sogar um einiges größer als der von Crocus, wenn auch ungleich chaotischer. Er schien sich zu beiden Seiten des Schlangenflusses durch die gesamte Stadt zu ziehen. Der Teil, auf den die Pyxis zuhielt, war offensichtlich für große Frachtschiffe vorbehalten. Die Stege waren hier breit genug für Fuhrwerke und es gab sogar einige fest installierte Kräne. Am gegenüberliegenden Ufer konnte Lucy die Skelette mehrerer Segelschiffe unterschiedlicher Arten auf Stützen ausmachen. Eine fast vollendete Dau war bereits zu Wasser gelassen worden und wartete anscheinend darauf, mit Takelage und Segel versehen zu werden.

Während die Pyxis vertäut und der Laufsteg herunter gelassen und gesichert wurde, trat Lucy zu einer der großen Kisten, wo der Kapitän bereits eine Laterne und Schreibmaterial bereit gelegt hatte. Während er bemüht ruhig daneben stand, setzte sie das Schreiben auf, mit dem er die versprochene Belohnung in Heartfilia erhalten würde, unterschrieb es und versah es mit ihrem Siegel, das sie in einer ihrer Gürteltaschen aufbewahrte.

Sie hatte kein schlechtes Gefühl dabei, diesem Mann einen solchen Reichtum zu überantworten. Er hatte seinen Teil der Abmachung erfüllt und er war kein schlechter Mensch, nur weil ihm seine Besitztümer wichtig waren. Allerdings fügte sie eine Extraklausel hinzu, dass die Mannschaft einen fairen Anteil am Gewinn erhalten sollte. Der Kapitän nickte dabei nur bekräftigend, weshalb Lucy sich in ihrer Zuversicht bestätigt sah.

Freundlich aber knapp verabschiedete sie sich von ihm und ging zurück zu ihren Freunden, die am Laufsteg auf sie warteten, jeder mit einem Reisebündel unterm Arm oder auf dem Rücken. Nun da sie endlich am Ziel ihrer Reise angelangt waren, spiegelten sich auf ihren Gesichtern wenig positive Gefühle wieder. Die meisten waren angespannt und unruhig, mithin sogar ängstlich. Aber jeder auf seiner Weise trug einen grimmigen Ausdruck in den Augen, der Lucys eigene Entschlossenheit anfeuerte. Keiner von ihnen war hier, um tatenlos zu bleiben. Selbst unter Levys nervösem Blinzeln erkannte Lucy eine Beharrlichkeit, die weit über reinem Wissenseifer hinaus ging, was Lucy daran erinnerte, dass sie endlich mit ihrer Freundin darüber reden musste, welcher Spur sie eigentlich zu folgen versuchte.

Gemeinsam stiegen sie den Laufsteg hinunter. Am Fuß desselbigen wurden sie von einem jungen Mann erwartet, der höchstens zwei oder drei Zyklen älter als Romeo und Wendy sein konnte. Mit seiner schlanken Statur und den sandbraunen Haaren war er eher unauffällig und er lümmelte ungerührt auf einem Fass. Der Blick, mit dem er die Reisegruppe bedachte, war abschätzig. Was er wirklich dachte, war ihm nicht anzusehen. Er ruckte mit dem Kinn, als er schließlich Sting und Rogue ansah.

„Schneller als erhofft. Wie riecht es jetzt auf dem Deck?“

Seine Stimme war ruhig, klang beinahe monoton, als hätte er gerade nicht einen Kommentar abgefeuert, der Sting unweigerlich ärgern musste. Lucy fiel auf, dass seine Aussprache sehr knapp und derb war. Nicht der leichte Akzent von Sting und Yukino, der anscheinend bei den Wüstennomaden üblich zu sein schien und der immer ein bisschen an einen Singsang erinnerte, und auch nicht Rogues kultiviert-klare Sprechart, die dem Hochfiorianischen sehr viel näher kam als das mitunter kaum verständliche Kauderwelsch im Schmelztiegel von Crocus. Dieser Mann hier war kein Freund vieler Worte, selbst wenn er nicht direkt über Geschäftliches sprach.

Sting knurrte in die Richtung des Jüngeren, aber Natsu kicherte leise. „Leute, das ist Dobengal, Auge und Ohr der Wüstenlöwin“, erklärte er mit einem breiten Grinsen.

Der Vorgestellte verzog das Gesicht. „Wolltest du nicht auf Reisen gehen, Feuerdrache?“

Grinsend winkte Natsu ab und erklärte weiter: „Dob hat ein Problem mit Titeln.“

„Dabei sind die meisten der Körperschaften keine offiziellen Ämter“, legte Levy mit leuchtenden Augen los. „Nur der Rücken und der Kopf sind auch als offizielle Titelträger eingetragen, aber die Klauen und Auge und Ohr sind Neuschöpfungen der Wüstenlöwin.“

Dobengal zog die Augenbrauen hoch und wandte sich wieder an die Klauen. „Sabertooth befindet sich im Krieg und ihr bringt eine Magistra mit?“

„Sie ist eine Expertin für die Sekte Avatar und für alles mögliche andere. Sie wird sicher helfen können“, erwiderte Sting mit einem Schulterzucken. „Warum bist du hier?“

„Nachdem ihr Lector und Frosch wieder zurück geschickt habt, war klar, dass ihr bald da sein würdet. Ich habe also den Fluss im Auge behalten“, erklärte Dobengal gelassen, als wäre es für ihn völlig normal, eine ganze Nacht lang Wache zu halten. In Anbetracht seines Status’ war es das wahrscheinlich sogar wirklich. Mit dem Daumen deutete er hinter sich. „Dahinten stehen genug gesattelte Pferde bereit. Minerva und die Anderen sind sicher schon wach, wenn sie überhaupt geschlafen haben. Und unsere Informantin dürfte jetzt auch erholt genug sein.“

„Informantin?“, fragte Rogue und setzte sich gleichzeitig mit Sting in Bewegung, als Dobengal von seinem Fass sprang und zu dem offenen Stall hinüber ging.

Die Anderen folgten und suchten sich jeder ein Pferd heraus. Lucy schwang sich mühelos auf den Rücken einer zierlichen, aber temperamentvollen Rappstute. Sorgsam beobachtete sie, wie Gray Levy den schweren Reisetornister abnahm, den sie immer noch mit sich führte, und ihr aufs Pferd half, während Gajeel Juvia einfach hinter sich auf den Rücken eines kräftigen Wallachs zog.

„Eine Soldatin aus Hisuis Leibgarde“, erklärte Dobengal ruhig, der bereits auf seinem Pferd saß und darauf wartete, dass die übrigen Mitglieder der Gruppe endlich aufbruchbereit waren. „Sie konnte fliehen und hat es mit einem Sandschlitten bis hierher geschafft. Gestern ist sie vor den Toren zusammen gebrochen. Hat wohl schon länger nicht mehr gegessen und getrunken.“

„Eine Jaderitterin? Hat sie etwas über Yukino gesagt?!“

Dobengal warf Sting einen vielsagenden Blick zu, sagte jedoch nichts, sondern gab seinem Apfelschimmel die Sporen.

„Wie denn, wenn sie zusammen gebrochen ist?“, maßregelte Rogue seinen Partner und versetzte ihm einen Rippenstoß, ehe er sich zu ihm beugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Für einen Moment hielt der Schattenmagier Stings Hand fest und Lucy wandte verlegen den Blick ab.

Vor ihrem Aufbruch von Heartfilia hatte Lucy im Grund nichts davon mitgekriegt, aber auf dem Schiff war ihr die innige Vertrautheit zwischen den Klauen bereits aufgefallen. Selbst im harten Griff ihrer Seekrankheit hatten die Beiden immer wieder kleine Gesten miteinander ausgetauscht, hatten einander berührt, hatten immer dicht nebeneinander geschlafen, sich an der Reling aneinander gelehnt…

Es war nicht so, als hätte Lucy so etwas vorher noch nie beobachtet. In Crocus war sie oft genug mit Lyon und Meredy zusammen gewesen, um zahlreiche Facetten ihrer Beziehung mit zu erleben. Ihre offenherzigen Flirts, die sanften Blicke, die oft beiläufig wirkenden Berührungen, die doch so vertraut und intim wirkten… Lucy hatte die ersten zaghaften Schritte bei Romeo und Wendy beobachtet, die scheuen Versuche, Händchen zu halten, die schüchternen Küsse, das beständige Erröten und Stottern und die ewigen Versuche, den jeweils anderen eben nicht die ganze Zeit anzustarren.

Intimitäten zu beobachten, war Lucy nicht fremd. In Heartfilia machte man keinen Hehl daraus, wenn man sich dafür entschieden hatte, sich aneinander zu binden. Dort wurde das höchste Glück, einen Partner fürs Leben gefunden zu haben, Tag für Tag geehrt.

Aber früher hatte Lucy all das mit anderen Augen gesehen. Sie konnte nicht sagen, was sich verändert hatte, aber Sting und Rogue jetzt so zu sehen, verursachte ein seltsames Gefühl in ihrer Brust. Um sich davon abzulenken, tätschelte sie den Hals ihrer Stute, ehe sie ihr die Fersen in den Bauch drückte.

Sie alle setzten ihre Reittiere nun in Bewegung. Gray trug nun Levys Tornister auf dem Rücken und Lyon griff in Levys Zügel, um der Blauhaarigen zu helfen, die sich krampfhaft am Sattelhorn festhielt und in einem laienhaften Versuch, besseren Halt zu finden, die Knie zu hoch zog, weshalb die Steigbügel nutzlos an ihren Zehenspitzen hingen. In den morgendlichen Straßen hatten sie ohnehin nicht die Möglichkeit, schnell voran zu kommen, also bestand hoffentlich kein Risiko, dass Levy vom Sattel rutschte.

Die Menschen strömten allmählich aus den Häusern, um ihrem Tagewerk nachzugehen. Zwar drängten sie sich an die Wände, als sie erkannten, um wen es sich bei den Anführern der Reitergruppe handelte, aber die Straßen waren hier im Allgemeinen sehr eng und selten richtig befestigt, weshalb meist nur zwei oder drei Pferde nebeneinander laufen konnten.

Das gab Lucy zumindest die Gelegenheit, Sabertooth ausgiebig zu betrachten. Es war eine schier unermessliche Ansammlung an Lehmhütten in verschiedenen Größen, dazwischen stachen die stabileren und höher aufragenden Sandsteingebäude hervor – Schulen, Waisenheime, Hospitäler, Wachen, Lager oder auch private Villen, abgegrenzt durch übermannshohe Mauern, hinter denen schlanke Kunsttürme mit zwiebelartigen Spitzen hervorragten.

In beinahe jeder Seitengasse erkannte Lucy bunte Markisen, unter welchen bereits Händler begannen, ihre Ware darzubieten. In Tonkrügen- und schalen priesen sie Oliven und Datteln an, Gewürze und Weine, Burni und Tuniken, Tagelmuste, Teppiche, Essgeschirr, grobes oder bereits gemahlenes Korn. Unweit des Flusses passierte die Gruppe einen Stand, der die ersten Fische des Tages feilbot. Mehrmals kamen sie an kleineren Marktplätzen vorbei, die sich mit Voranschreiten des Morgens immer dichter füllten.

Lucy hatte gewusst, dass Sabertooth deutlich größer als Heartfilia war – tatsächlich war es die drittgrößte Stadt von ganz Fiore –, aber es jetzt zu sehen, war doch etwas anderes. Auf eine ganz eigene Art und Weise waren die Stadt und ihre Bewohner überwältigend.

Die generelle Enge und die Schlichtheit der Behausungen wären an jedem anderen Ort als ungemütlich empfunden worden, aber hier sahen die Bewohner stolz und grimmig aus. Sie hielten die Schultern gestrafft und verrichteten ihr Tagewerk mit einer Würde, als seien sie Könige. Selbst wenn einige von ihnen ängstlich zu den Mauern schielten, Unterwerfung schien diesen Menschen fremd zu sein. Wenn sie Sting und Rogue sahen, waren ihre Blicke voller Bewunderung und Hoffnung. Anders als die schlichten Behausungen es vermuten ließen, waren die Leute in der Regel gut gekleidet und genährt. Bettler waren nirgends zu sehen.

Sanft trieb Lucy ihre Stute an, um zu Rogue aufzuschließen und ihn danach zu fragen. Der schien sogar dankbar für die Ablenkung zu sein und erzählte ihr von den Armenhäusern, welche die Menschen aufnahmen, welche, aus welchen Gründen auch immer, ihr Heim verloren hatten. Arbeitgeber auf der Suche nach Personal warben dort die Obdachlosen an. Sobald jemand Arbeit hatte, hatte er drei Monde Zeit, um ein Obdach zu finden. Danach musste er dem Heim eine angemessene Miete zahlen, wenn er bleiben wollte. Manchmal wurden auch Angestellte für den Verwaltungsapparat oder für die Heime oder auch Soldaten in den Reihen der Obdachlosen rekrutiert, wenn diese dafür geeignet erschienen. Invaliden wurden in eigenen Pflegeheimen untergebracht, wenn sie keine Familienmitglieder oder Freunde hatten, die sich um sie kümmern konnten oder wollten.

Wenn jemand sich trotz Eignung weigerte, zu arbeiten, oder sich schwerer Verbrechen schuldig machte, wurde er nach den Sitten der Wüstennomaden in der Wüste ausgesetzt mit genug Proviant und Wasser für drei Tage. Zu schweren Verbrechen zählten vorsätzliche Verletzungen, Vergewaltigung, Mord, Sklaverei, Menschenhandel und Kindesmisshandlung. Finanzdelikte wurden mit Zwangsarbeit bestraft. Gefängnisse gab es in Sabertooth nur wenige.

Dieses strikte System war nach der Befreiung von der Wüstenlöwin implementiert worden. Eine Hybridform aus der Rechtsprechung der Wüstennomaden und jener der Orlands vor der Regentschaft durch Jiemma. Im Volk wurde sie dafür verehrt, soweit Lucy es beurteilen konnte, und alle hatten Vertrauen darin, dass ihre Fürstin ihnen auch aus der neuen Krise heraus helfen würde.

„Seit einigen Jahren gibt es ganz schön viele Mädchen mit dem Namen Minerva“, gluckste Sting, als Rogue geendet hatte.

„Und Klein-Stings und Klein-Rogues“, fügte Dobengal mit jener Beiläufigkeit hinzu, die er gegenüber Sting immer an den Tag zu legen schien.

Der blonde Drachenreiter verzog prompt das Gesicht, während sein Partner die Augen verdrehte. Kichernd richtete Lucy ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Umgebung.

Sie erkannte wieder einen Marktplatz – größer dieses Mal –, der ihr jedoch seltsam vorkam. Die Hütten südlich davon waren gewohnt schlicht, die nördlichen hingegen waren an Fenstern und Türen mit bunten Teppichen behangen. Die Straßen wurden hier enger und dunkler, denn hier spannten sich überall von Haus zu Haus Leinen, über welchen Teppiche hingen. Vor den Hütten saßen deren Bewohner mit robusten Holzgestellen, auf denen Teppiche in unterschiedlichen Fortschrittsstadien aufgespannt waren. Kinder bürsteten mit groben Kämmen Wolle in unterschiedlichen Farben, um sie danach zu Fäden zu zwirbeln. An anderer Stelle pflückten Frauen Verunreinigungen aus ungefärbter Wolle und wuschen sie. Ein strenger Geruch, der Lucy von den Färberwerkstätten in Heartfilia vertraut war, drang zuweilen aus einer der Hütten.

„Ist das das berühmte Knüpferviertel?“, wandte sie sich wieder an Rogue.

Die Knüpfteppiche waren eines der beliebtesten Güter aus Sabertooth. Reiche, die etwas auf sich hielten, brauchten mindestens einen großen Läufer aus der Wüstenstadt oder besser noch: einen der besonders aufwendigen und deshalb umso kostbareren Gemäldeteppiche. Obgleich die Verfahrensweise des Teppichknüpfens denkbar simpel war, war die Qualität von Originalstücken aus Sabertooth kaum von Teppichen aus anderen Werkstätten in Fiore zu übertreffen. In ihrem eigenen Schlafgemach hatte Lucy einen Gemäldeteppich, der einen Basilisken zeigte. Ein Geschenk von Yukino.

Der Schwarzhaarige nickte. „In gewisser Weise stellen sie in Sabertooth eine eigene Gemeinde dar. Sie sind sehr stolz auf ihre Arbeit und die damit zusammen hängenden Traditionen. Während der Befreiung gehörten die Knüpfer zu den Ersten, die sich den Rebellen angeschlossen haben. Der Usurpator hat viele ihrer Traditionen boykottiert, das hat sie gegen ihn aufgebracht.“

„Außerdem haben sie Nerva als eine von ihnen betrachtet. Ihre Großmutter stammte von hier und ihre Mutter hat das Knüpfhandwerk auch gelernt und war eine der Besten für Gemäldeteppiche. Hier im Viertel ist sie immer noch eine Legende“, fügte Sting mit einer gewissen Sanftheit hinzu, von der Lucy bisher geglaubt hatte, sie würde nur Rogue vorbehalten bleiben. Oder vielleicht war es auch eine andere Nuance von Sanftheit.

Während ihrer Gespräche hatte Yukino die Beziehung zwischen ihr, Sting und Minerva immer mit einer Redewendung der Wüstennomaden umschrieben: Vom selben Sand sein. Das ging über normale Familienbande hinaus, hatte Yukino ihr erklärt. Es ging tiefer, es bedeutete Vertrauen und Verbundenheit, es stand für ein Verständnis, das keiner Worte bedurfte. Manchmal entwickelte es sich, manchmal war es einfach sofort da. Sting und Minerva teilten dieses Band seit beinahe zwei Dekaden. So lange kannte Lucy keinen einzigen ihrer Freunde. Nicht einmal Loke.

Wenn die Knüpfer Sting und Rogue erkannten, stießen sie wortlos eine Faust in die Luft und nickten ruppig, ehe sie einfach mit ihrer Arbeit weiter machten. Anstelle von Bewunderung brachten sie hier Kameraderie und Respekt zum Ausdruck. Etwas, mit dem die Klauen sich bedeutend wohler zu fühlen schienen, auch wenn sie das nicht zum Anlass nahmen, um den Schritt ihrer Pferde zu verlangsamen.

Am Ende des Knüpferviertels kamen sie auf einen großen Platz und erst hier war der Sandpalast zu erkennen, eine imposante Festung aus Sandstein mit vielen kleinen Türmen mit diesen kunstvollen Zwiebeldächern, die jedoch nicht derart in die Höhe strebten, wie Lucy es von anderen Festungen kannte. An der höchsten Stelle mochte der Palast vier Geschosse haben, was auch erklärte, warum er im verwinkelten Knüpferviertel nicht zu sehen gewesen war. Was ihm an Höhe fehlte, machte er durch Weitläufigkeit wieder wett, auch wenn Lucy selbige hinter den hohen Mauern nur erahnen konnte.

Auf dem Platz vor dem Sandpalast war eine Zeltstadt für die Flüchtlinge errichtet worden. Zwischen all den Zelten ragte ein leerer Sockel hervor. Lucy hatte mal gehört, dass Minerva mit der Tradition gebrochen hatte, der zufolge bisher jeder Orland während eine Statue von sich dort hatte errichten lassen. Das schien wohl zu stimmen.

Ehe Lucy Rogue darauf ansprechen konnte, bemerkte einer der Flüchtlinge die Ankömmlinge. Der Mann war hagerer als die Stadtbewohner, die Haut rauer und eine Nuance dunkler, was Lucy vermuten ließ, dass er zuvor in einer kleinen Siedlung von harter Arbeit unter der Sonne gelebt haben musste. Unter seinen Augen waren dunkelviolette Schatten zu erkennen. Die Unruhe der Stadt machte ihm offensichtlich schwer zu schaffen.

„Die Drachenreiter!“, rief der Mann aus und warf sich in den Staub. „Unsere Retter!“

Die Rufe wurden von den anderen Flüchtlingen aufgenommen und innerhalb kürzester Zeit scharten sich unzählige Männer und Frauen um die Reisegruppe, viele von ihnen in einem ähnlich erschöpften Zustand wie der erste Rufer. Ein Mann griff in Lucys Zügel, um sie von den Klauen abzudrängen, welchen er so verzweifelt näher kommen wollte. Loke trieb sein Pferd dazwischen und flankierte so Lucy und die Klauen. Obwohl die Beiden versuchten, ihre Fassung zu wahren, vermeinte Lucy, ihnen die Unsicherheit angesichts dieses Schauspiels anzusehen.

Dobengals Pferd scheute zu Stings anderer Seite und erst jetzt bemerkte Lucy, dass der junge Mann verschwunden war. Von allen Seiten versuchten die Heimatlosen, an Sting und Rogue heran zu kommen. Loke und die Anderen bildeten einen Ring um die Klauen und diejenigen, die sich nicht gegen den Andrang verteidigen konnten, um die Leute fernzuhalten, aber an ein Vorankommen war so nicht zu denken, wenn sie die Menschen nicht verletzen wollten. Lucys Stute legte die Ohren an und stampfte wütend mit den Hufen. Um rechtzeitig reagieren zu können, bevor ihr Reittier endgültig die Fassung verlor, zog Lucy mit der Rechten den Zügel stärker an, während sie mit der Linken den Hals des Tieres tätschelte. Ihre Hand zitterte, aber sie versuchte, es zu ignorieren, indem sie sich weiter nach Hilfe umsah.

Die Mienen der Flüchtlinge waren vor Verzweiflung verzerrt. Diese Menschen waren heimatlos, hatten ihre Existenzgrundlage zurücklassen müssen, hatten womöglich sogar Familienmitglieder und Freunde verloren. Es erinnerte Lucy schmerzhaft an Heartfilia, aber hier waren es so viel mehr. Allein hier auf dem Platz waren es Hunderte...

Ruhe!

Die herrische Stimme war nicht einmal direkt laut, aber sie hatte etwas an sich, das die Menschen verstummen und ehrfürchtig zurückweichen ließ. Wie ein Keil teilte die Reitergruppe von der Festung aus das Meer der Flüchtlinge. Zuvorderst ritt eine Frau in Lucys Alter, schlank und sehnig mit schmalen, edlen Gesichtszügen, schrägen, olivgrünen Augen und rabenschwarzen Haaren, die zu einem schlichten Knoten gebunden waren. Sie trug eine lange Tunika, die jedoch im Rockbereich so geschlitzt war, das sie im Herrensattel keine Schwierigkeiten hatte. Die Pluderhosen und die Waffen an ihrem Gürtel – zwei Säbel, zwei Rebmesser und eine Kettensichel – wiesen sie als Wüstennomadin aus. Der mit Goldfäden durchwirkte Burnus und einer der Säbel, dessen Scheide mit Gold beschlagen war, waren die einzigen Indizien für ihren hohen Status.

Flankiert wurde sie von einem schlanken Mann mit edlen Gesichtszügen und langen, blonden Haaren und von einem bärenartigen Hünen mit wilder, blaugrüner Mähne, breiten Gesichtszügen und einer Strichartigen Tätowierung am Kinn.

Den Dreien folgten noch einige Palastwachen, aber niemand hatte die Waffen gezogen. Als sie Stings und Rogues Gruppe erreichten, ließ die Frau ihr Pferd im Kreis tänzeln, während sie wieder die Stimme erhob.

„Meine Klauen können eure Heimat nicht zurückerobern, wenn ihr ihnen im Weg herum steht. Hebt euch eure Gebete für Sand und Sonne auf, Menschen stehen sie nicht zu.“

Viele der Flüchtlinge nahmen sich diesen schroffen Tadel offensichtlich sehr zu Herzen. Schuldbewusst senkten sie die Blicke und wichen noch weiter zurück. Doch einigen standen noch immer Verzweiflung und Trauer ins Gesicht geschrieben. Vermutlich waren das die Angehörigen der bisherigen Opfer. Allein in ihrem Umfeld erkannte Lucy gut ein Dutzend solcher Menschen. Es war erschütternd, wie viele dem namen- und gesichtslosen Feind zum Opfer gefallen waren.

„Wenn ihr etwas Reales beitragen wollt, wendet euch an die Schreiber. Weder ich noch meine Klauen können die Stille Wüste im Alleingang befrieden. Sie wurde vor Generationen von vielen gemeinsam erobert und nur so kann sie auch gehalten werden. Viele Sandkörner bilden die Wüste!“

Ohne abzuwarten, wie ihre Untertanen diesen Aufruf aufnahmen, wendete Minerva erneut ihr Pferd und ritt zurück zur Festung. Sting und Rogue trieben ihre Tiere an, bis sie ihre Fürstin flankierten, Rogue zur Linken, Sting zur Rechten. Ihnen folgten der Hüne und der Blonde. Lucy und die Anderen schlossen sich ihnen an.

Unbehelligt erreichten sie das große, eisenbeschlagene Tor und ritten hindurch. Im dahinter liegenden Innenhof konnte Lucy endlich mehr vom Sandpalast erkennen. Beinahe wirkte es, als wäre das Gebäude selbst ein Knüpfwerk. Lange Flure wechselten sich vollkommen willkürlich mit Hallen ab, einige mit Flach-, einige mit Kuppeldächern, einige beinahe winzig klein, dass man dahinter nur ein Arbeitszimmer vermuten konnte, die größten mit einer Länge von fünfzig Schritten. Die Türme wucherten an allen möglichen und unmöglichen Stellen regelrecht aus dem Palast heraus. Viele von ihnen waren viel zu zierlich, um auch nur einen Mann zu tragen. Zwischen den Gebäuden ragten immer wieder große Palmen hervor. Wahrscheinlich war der Grundriss des Palasts ein einziges Chaos.

Stallburschen eilten herbei und nahmen den Reitern die Pferde ab, als diese sich aus den Sätteln geschwungen hatten. Kaum dass ihre Füße den Boden berührt hatten, setzte Minerva sich in Bewegung und alle Anderen beeilten sich, ihr zu folgen.

Beim Marsch durch den Palast bewahrheitete sich Lucys Vermutung. Es war ein einziger Irrgarten. Die Flure und Treppen waren vollkommen wirr angelegt. Mal waren es schmale Wendeltreppen, dann wieder breite, mit Läufern ausgelegte Stiegen, mal waren die Flure lang und führten alle paar Mannslängen in eine neue Kammer, mal waren sie einfach nur ein Verbindungstunnel zwischen zwei Hallen. Ständig wechselten der Baustil und damit einhergehend auch das Dekor. Eine Halle wies einen mannshohen Fries auf, der einander jagende Basilisken zeigte, eine andere war mit riesigen Wandteppichen mit Schnörkelmustern behängt. Rüstungen, übermannshohe Vasen, Statuen, Lampenständer und Regale mit kleineren Kunstgegenständen füllten die Leere der Flure. Der gesamte Palast war ein wildes Sammelsurium. Ein Zeugnis der bewegten Geschichte von Sabertooth seit seiner Gründung vor fünfhundert Zyklen.

Für einen Moment fing Lucy Levys Blick auf. Obwohl die Blauhaarige sich immer wieder nervös über die Lippen leckte und ihre Finger sich krampfhaft fest um die Tragegurte ihres Reisetornisters geschlungen hatten, lag in ihren Augen doch auch ein aufgeregtes Schimmern. Lucy wünschte sich, sie und Levy hätten genug Zeit, um diesen Palast in aller Ruhe zu erkunden. Solche Orte waren der reinste Traum für eine Magistra der Geschichte, wie Levy eine war und wie Lucy es geworden wäre, wenn sie sich nicht für Astronomie entschieden hätte.

„Wieso campieren diese Leute auf dem Platz?“, fragte Rogue seine Fürstin, der schon wieder links lief, während Sting die rechte Seite einnahm. „Was ist mit den Schulen und den Armenhäusern?“

„Die platzen aus allen Nähten“, knurrte Minerva. „Die ganze Stadt platzt aus allen Nähten. Die Stadtbewohner versuchen, weiter zu machen, aber die Flüchtlinge werden von Tag zu Tag unruhiger, weil nichts zu geschehen scheint. Es sind alle möglichen dummen Gerüchte im Umlauf, ständig gibt es Krawalle in den Unterkünften. Diese Menschen sind es nicht gewöhnt, in einer ohnehin schon so voll gepackten Stadt zu leben. Einige haben sogar schon verlangt, in ihre Siedlungen zurück kehren zu dürfen.“

„Aber dort draußen sind tausende von Basilisken unterwegs, die keinen Halt mehr vor Obsidian machen. Das ist der sichere Tod!“, rief Sting ungläubig aus.

„Das haben wir ihnen immer wieder gesagt, aber wir können sie nicht zwingen, hier zu bleiben“, antwortete der blondhaarige Mann anstelle seiner Fürstin, deren Hand sich so fest um den Knauf des schlichteren Säbels geschlungen hatte, dass die Haut an den Knöcheln schneeweiß wurde.

„Was ist mit Evakuierungen in andere Städte?“, fragte Sting und blickte über seine Schulter zu Lucy, aber Minerva schüttelte ruppig den Kopf.

„Dafür müssen wir die dortigen Fürsten zuerst fragen. Wir können nicht hunderte von Flüchtlingen einfach so nach Hargeon, Heartfilia oder Magnolia schicken. Es müssten Vorkehrungen getroffen werden, aber ich kann keinen unserer Exceed entbehren, um sie zu den Städten zu schicken. Wir brauchen sie hier. Außerdem wollen die Leute nicht fort aus der Stillen Wüste. Sie wollen zurück in ihre Dörfer. Wer kann es ihnen verübeln?“

Die letzten Worte waren gedämpft und klangen so verbittert, dass Lucy sich unbehaglich die Arme rieb. Sie beobachtete, wie Sting und Rogue über Minervas Kopf hinweg einen besorgten Blick austauschten. Die Fürstin selbst schien das jedoch auch zu bemerken, denn sie versetzte Sting im Laufen einen Stoß und schnaubte etwas Unverständliches. Der Wüstennomade geriet nicht einmal ins Stolpern, zischelte jedoch etwas scheinbar Garstiges zurück, aber seinem Ton fehlte die Schärfe.

„Zumindest ist noch nichts über Jadestadt zu den Flüchtlingen vorgedrungen.“

Alle zuckten zusammen, als Dobengal urplötzlich neben Sting auftauchte. Der Blondschopf knurrte den Jüngeren wieder einmal an.

„Wo warst du auf einmal?“

„Ich habe Minerva Bescheid gesagt“, war die lakonische Antwort.

Lucy fragte sich, wie Dobengal durch dieses dichte Menschengedränge hindurch gekommen war. Ihr Blick huschte zu Meredy hinüber, deren Miene völlig neutral blieb. Auch wenn Dobengal einen anderen Titel trug, er war ein Assassine. Wahrscheinlich war es nur eines seiner zahlreichen Talente.

Wovon er hingegen nichts zu halten schien, waren Förmlichkeiten. Selbst in Gegenwart seiner Fürstin benutzte er nicht ihre Titel und vorhin am Hafen hatte er die Jadefürstin auch nur bei ihrem Vornamen genannt. In anderen Gegenden wäre so etwas als Affront betrachtet worden, aber Minerva war das offensichtlich schon gewohnt und beachtete es nicht einmal.

In einer kleineren, schmucklosen Halle machten sie endlich halt. Im Zentrum stand ein langer Tisch, auf dem neben unzähligen Listen und Plänen auch eine riesige Karte der Stillen Wüste lag, die mit Markierungen versehen waren. Je zwei überkreuzte Holzstäbe lagen über mehreren kleinen Dörfern. Lucy vermutete, dass das jene waren, die zerstört oder evakuiert worden waren. Auf Jadestadt stand die Figur eines schwarzen Königs.

In einer Ecke der Halle arbeiteten unermüdlich ein halbes Dutzend Sekretäre, zu denen immer neue Laufburschen eilten, um Dokumente zu überbringen und dann mit neuen Aufträgen wieder zu verschwinden. Ein geschäftiges Summen lag in der Halle, die offensichtlich zur Operationsbasis für die Krise bestimmt worden war.

Hier saßen auch Lector und Frosch auf dem Tisch neben der Karte. Beide eilten der Gruppe entgegen, als diese die Halle betrat. Rogue ging sofort in die Hocke, um seine grüne Exceed an sich zu ziehen und sanft über ihren Kopf zu streichen, während Sting Lector das Kopffell zerzauste, er ihn sich auf die Schulter setzte.

Nachdem sie ihre Bündel einfach neben den Tisch hatten fallen lassen, stellten Sting und Rogue formlos den Hünen als Orga Nanagear vor, den Rüstungsmeister von Sabertooth und sogenannten Rücken, und den Blonden als Rufus Lore, Hofmagier und Kopf der Wüstenlöwin. Danach stellten sie ihrer Fürstin die Mitglieder der Gruppe vor. Zuletzt deutete Rogue auf Lucy, aber Minerva kam ihm zuvor.

„Lucy Heartfilia, Magistra der Astronomie, die sogenannte Sternenklinge, Fürstin von Heartfilia und Herrin der Geister.“ Die Schwarzhaarige neigte respektvoll den Kopf. „Ich hatte gehofft, Euch unter angenehmeren Umständen kennen zu lernen. Mein aufrichtiges Beileid für Euren Verlust.“

In Lucys Magengegend krampfte sich etwas zusammen. Noch immer war sie es nicht gewohnt, diese Phrase zu hören, egal wie aufrichtig sie auch gemeint sein mochte, aber sie verdrängte den Gedanken an ihre Trauer und nickte der Fürstin ihrerseits zu.

„Minerva Orland, Wüstennomadin, Basiliskenreiterin, Wüstenlöwin, Befreierin und Fürstin von Sabertooth. Ich danke Euch und Euren Klauen. Sie haben zu meiner Rettung beigetragen und mein Volk unterstützt. Leider kann ich Euch außer Lokes und meiner keine weiteren Klingen zur Verfügung stellen, aber in zwei bis drei Tagen sollten die Grasblick und die Caelum mit Hilfsgütern hier eintreffen.“

„Das ist weit mehr, als ich jemals gewagt hätte zu erbitten“, erwiderte Minerva und warf einen Blick auf eine Frau, die auf einem Stuhl am Tisch gesessen hatte.

Sie war schlank mit sonnengebräunter Haut und rabenschwarzen Haaren, gekleidet in einfache Hosen und eine Tunika, an ihrer Hüfte ein Säbel und ein Krummdolch. Ihr Arm lag in einer Schlinge, der andere Unterarm war verbunden. Im Ausschnitt der Tunika blitzten weitere Verbände hervor. Sie nahm Minervas Blick als Zeichen, um sich zu erheben und sich nach Sitte der Wüstennomaden vor Minerva und dann nach Sitte der Geister vor Lucy zu verneigen.

Erst in diesem Moment erkannte Lucy die subtilen Anzeichen für die wahre Natur der Frau. Sie waren bei weitem nicht so stark ausgeprägt wie bei Loke und den Anderen, aber doch unverkennbar. Ein vergewissernder Blickaustausch mit Loke bekräftigte Lucys Gedanken, aber sie sagte nichts dazu, sondern beantwortete die Geste der Frau mit einem Nicken.

„Mein Name ist Libra, Jaderitterin von Fürstin Hisui.“

Ihre Sprechart war der von Heartfilia sehr ähnlich, aber es schwang noch etwas anderes mit, etwas Schroffes, das die Worte abzuraspeln schien. Mit ihren mangelnden Kenntnissen in diesem Bereich brauchte Lucy einen Moment, um diesen Akzent als Bosco zu erkennen. Anscheinend war diese Frau ein Kind zweier Kulturen. Für Lucy war es nicht das erste Mal, dass sie einem Mischling begegnete, aber Libra war der erste außerhalb Heartfilias.

„Erzähl’ uns, was in Jadestadt vorgefallen ist“, ordnete Minerva an, während sie sich auf einem der Stühle nieder ließ. Lucy und einige der Anderen folgten ihrem Beispiel, aber Sting und Rogue blieben stehen. „Wie konnte der Feind eure Verteidigung überwinden?“

„Er hat uns überrannt, während wir eine Flüchtlingsgruppe aus einem der Steinbrüche im Norden von Jadestadt eskortiert haben. Bevor wir wussten, was geschah, war er mitten unter uns, hat das Volk zusammen getrieben und die Fürstin als Geisel genommen. Wir hatten keine Chance“, erklärte Libra bitter. „Die überlebenden Soldaten haben sie entwaffnet und eingesperrt. Als die ersten Männer verschwanden, wagten wir den Fluchtversuch. Meister Arkadios hat uns mit seinem Leben Zeit erkauft, um zu einem der Tore zu gelangen und die Stadt zu verlassen.“

Lucy bemerkte, wie Sting und Rogue einen betroffenen Blick tauschten. Anscheinend hatte sie den berühmten Wüstenblumenritter persönlich gekannt.

„Gab es irgendeinen Hinweis, wer die Angreifer sind und was sie überhaupt wollen?“, ergriff Meredy das Wort, ihre Miene wieder so undurchschaubar, wie sie es dieser Tage fast immer war.

„Die Männer und Frauen, die uns gefangen genommen haben, haben nie Namen genannt und schienen selbst nicht zu wissen, worauf das alles hinaus laufen sollte“, antwortete Libra bereitwillig. „Sie schienen sogar große Angst vor ihren Anführern zu haben. Von den Anführern habe ich nur einen gesehen. Ein Mann in einer Kutte und mit einer Totenkopfmaske. Auf dem Rücken trug er ein Wappen, das nicht einmal Meister Arkadios oder Yukino kannten. Zwei überkreuzte Hammer. Es wirkte sehr abstrakt…“

Lucy runzelte die Stirn. Die Beschreibung dieses Wappens kam ihr nicht einmal ansatzweise bekannt vor, dabei war sie in den Heraldik-Lektionen immer eine der Besten gewesen. Ratlos blickte sie zu Rogue und Meredy, aber die schienen mit diesem Wappen auch nichts anfangen zu können. Levy jedoch kramte einen Pergamentfetzen und ein Kohlestück aus ihrer prall gefüllten Tasche und hielt beides Libra hin.

„Bitte zeichne es mir auf, ich habe eine Ahnung… Aber ich müsste das in Eurer Bibliothek überprüfen“, fügte sie mit einem schüchternen Knicks in Minervas Richtung hinzu.

„Dobengal wird Euch hinbringen, Magistra“, erklärte die Fürstin bereitwillig, nachdem sie einen kurzen Blick mit Rogue ausgetauscht hatte.

Lucy erhaschte einen Blick auf Libras Zeichnung, aber noch immer kam ihr das Wappen nicht bekannt vor. Sie fragte sich sogar, ob es überhaupt ein Wappen war.

Als Levy hinter Dobengal die Halle verließ, folgte Gajeel ihr einfach, ohne den Anderen eine Erklärung zu geben. Als Lucy Natsu deshalb einen fragenden Blick zuwarf, zuckte dieser mit den Schultern, grinste jedoch amüsiert.

„Ist noch jemandem die Flucht gelungen?“, fragte Minerva, als die Drei verschwunden waren.

„Ich habe gesehen, wie sie Deneb töteten, und Pisces ist im ersten Dorf zurückgeblieben, um mir die weitere Flucht zu ermöglichen. Was aus Yukino geworden ist, weiß ich nicht. Sie ist nach Süden gegangen.“

Lucy könnte schwören, dass Sting, Rogue und Minerva gleichzeitig die Luft anhielten. Neben ihr scharrte Loke mit einem Fuß und seine Hand schloss sich fester um seinen Schwertknauf.

„Hatte Yukino ihre Waffen dabei?“, fragte Rogue angespannt.

Libra schüttelte verbittert den Kopf. „Als sie uns festsetzten, haben sie uns alle Waffen abgenommen. Wir konnten uns bei der Flucht mit Säbeln bewaffnen, aber ihre Rebmesser und die Kettensichel hatte Yukino nicht dabei.“

„Ihre Flöte… hatte Yukino ihre Flöte dabei?“, mischte Sting sich ein, seine Stimme gepresst. Lector auf seiner Schulter machte riesige Augen und hielt sich zitternd an Stings Haaren fest.

Libra war von dieser Frage verwirrt – wie beinahe alle Anwesenden, nur Minerva und Rogue schienen zu verstehen und ungeduldig auf eine Antwort zu warten. „Ich glaube nicht… Yukino trägt die Flöte immer am Waffengürtel und den haben sie ihr abgenommen…“

Bevor Lucy es überhaupt realisieren konnte, war Sting auf dem Weg zur Tür. Minerva reagierte schneller. Ihre scharfe Stimme schnitt regelrecht durch die Luft: „Bleib’ hier, Sting.“

Der Wüstennomade wirbelte so schnell herum, dass Lector hastig von seiner Schulter springen musste, um nicht abgeworfen zu werden. Die kobaltblauen Augen des Blonden funkelten vor Wut. „Wenn du uns nicht weg geschickt hättest-“

„Wäre das womöglich dennoch passiert“, unterbrach seine Fürstin ihn. „Ihr seid Drachenreiter, keine Götter. Und Yukino wusste, worauf sie sich einließ, als sie in die offene Wüste gelaufen ist.“

„Sie hat keine Waffen, keine Flöte und kein Wasser und ist in einem der trockensten und basiliskenreichsten Gebiete der Wüste unterwegs!“, zischte Sting aufgebracht. „Wir müssen sie suchen. Jetzt!

„Ich könnte sie viel schneller suchen“, bot Lector an, seine Miene ebenfalls von tiefer Sorge gezeichnet.

„Nein“, widersprachen Minerva und Sting gleichzeitig.

„Das ist zu gefährlich“, erklärte Rogue dem Exceed geduldig, während er beruhigend über Froschs Rücken strich. Die grüne Exceed hatte sich an seine Robe geklammert und wimmerte leise. „Das führt dich zu nahe an Jadestadt heran.“

„Aber ich will helfen!“, protestierte Lector verzweifelt.

Die anderen Mitglieder der Reisegruppe schwiegen angespannt und bedrückt. Lucy hielt sich am Griff ihres Rapiers fest, um ihr Zittern unter Kontrolle zu halten. Ganz deutlich stand ihr die Freude in Yukinos Zügen vor Augen, als Aries ihr vor einem Zyklus das Froschkostüm übergeben hatte. Am selben Abend hatten sie unter einem wunderschönen Sternenhimmel auf dem Astronomieturm gesessen und bis in den Morgengrauen Geschichten ausgetauscht…

„Wenn jemand das überleben kann, dann Yukino.“

Lokes bedächtige Worte unterbrachen die heftige Diskussion zwischen Minerva und Sting und lenkten die Aufmerksamkeit aller auf den Feuergeist, dessen Miene ruhig und gefasst wirkte. Zu ruhig und gefasst, aber das bemerkte nur Lucy.

„Unter den gegebenen Umständen war vollkommen klar, dass einige der entflohenen Jaderitter sterben würden. Libra war diejenige, die am schnellsten hierher gelangen konnte. Darum war es aus Yukinos Sicht nur logisch, Libra und Pisces in den Norden zu schicken und selbst in den Süden zu gehen, wo sie als Wüstennomadin noch die besten Überlebenschancen hat.“

„Woher willst du wissen, wie Yukino darüber gedacht hat?“, fauchte Sting.

„Weil er etwas Ähnliches gemacht hat“; mischte Lucy sich ein und versuchte dabei, nichts von der Bitterkeit nach außen dringen zu lassen, die sich ihrer zu bemächtigen drohte. „Und wenn ihr euch nur einmal vorstellt, es ginge um eure Fürstin und um eure Stadt, müsstet ihr einsehen, dass ihr genauso handeln würdet. Egal wie ihr genannt werdet, ihr seid alle Leibwächter.“

In Minervas Augen erkannte Lucy Zustimmung, aber auch noch etwas anderes: Die Angst davor, dass Sting und Rogue sich eines Tages für sie opferten. Auf einmal fühlte Lucy sich der Schwarzhaarigen sehr nahe.

„Warum war Libra diejenige, die am schnellsten hierher kommen konnte?“, fragte Rufus in die entstandene Stille hinein.

„Deshalb“, antwortete die Jaderitterin und hob ihre rechte Hand, die Finger kontrolliert tanzend. Vom Boden hoben sich Sandkörner und bildeten einen winzigen Wirbel.

„Du bist eine Magierin? Mir war nicht bekannt, dass die Jadefürstin Magier an ihrem Hof hat“, sagte Minerva mit einem leichten Stirnrunzeln.

„Hat sie auch nicht. Zumindest nicht offiziell. Ich bin ein Halbblutgeist und gehöre zur Kolonie von Jadestadt, die unter Herrin Hisuis Schutz steht. Pisces und Deneb waren meine Koloniekameraden…“ Steif drehte Libra sich zu Lucy und Loke herum und verneigte sich tief vor ihnen, ehe sie in Geistzunge weiter sprach. „Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr sie besingen würdet.“

Noch mehr Totenlieder, ging es Lucy bitter durch den Kopf und für einen Moment sanken ihre Schultern herab, ehe sie sie wieder straffte und huldvoll nickte. „Es wird mir eine Ehre sein.“

Schon wieder legte sich Stille über die Gruppe und Lucy ließ den Blick über die Karte gleiten. Sie folgte von Sabertooth aus dem Verlauf der Dörfer nach Südwesten bis nach Jadestadt. Von dort aus lagen im Norden und Nordwesten die ergiebigen Steinbrüche, im Süden hingegen gab es nichts anderes als offene, tödliche Wüste. Irgendwo dort war Yukino – Lucy wollte nicht daran denken, dass ihre Freundin vielleicht tot war.

„Was ist eigentlich mit Zirkonis, dem alten Lustmolch?“, unterbrach Natsu die Stille. „Weiß er schon Bescheid?“

„Wir wissen nicht, wo genau er sich im Moment aufhält“, erklärte Rufus ruhig. „Bei all den anderen Dingen, die wir erledigen mussten, konnten wir niemanden entbehren, um in Zirkonis’ Höhle nachzusehen.“

„Wendy wird ihn sicher aufspüren können“, sagte Natsu zuversichtlich und die jüngere Drachenreiterin nickte zustimmend.

„Das wäre eine große Hilfe…“

Die Fürstin wollte noch etwas sagen, doch neben Lucy riss Loke sich auf einmal den Schwertgurt von der Hüfte und stieß ein warnendes Brüllen aus. Ehe einer von ihnen reagieren konnte, waren die Flammen auch schon da…

Der Pfad, auf dem sie gerettet wurden

Ein leises Stöhnen riss Chelia aus den behutsamen Endzügen ihrer Meditation. Sie schlug die Augen auf und erblickte auf dem gegenüberstehenden Sessel Totomaru. Der Wächter des Feuers saß mit ihr im Raum der Reinigung und hatte jetzt angestrengt die Augen geschlossen. Seine Stirn hatte sich in Falten gelegt, die ihn auf einmal viel älter wirken ließen.

„Totomaru…“

Unsicher löste Chelia ihre Meditationshaltung auf und setzte ihre Füße auf den Boden, zögerte jedoch, sich zu erheben und zu Totomaru zu gehen. Sie wollte dem Älteren irgendwie helfen, aber sie wusste, dass sie das nicht konnte. So wie Totomaru ihr nicht helfen konnte, die Windmagie zu reinigen. Aber sie hatte noch nie erlebt, dass der Feuermagier solche Schwierigkeiten bei seiner Aufgabe gehabt hatte.

Seine Hände verkrampften sich, gruben sich wie Klauen in die Leinenhose. Die Schultern sackten weiter nach vorn, dass Chelia befürchtete, Totomaru würde gleich zu Boden fallen.

„Totomaru“, versuchte sie es noch einmal, aber wieder erhielt sie keine Reaktion.

Und dann warf der junge Mann den Kopf in den Nacken und stöhnte angestrengt auf. Ihm standen Schweißperlen auf der Stirn und seine Gesichtszüge zuckten nun unkontrolliert.

Ohne noch mal darüber nachzudenken, sprang Chelia auf die Beine und verließ den Raum der Reinigung. So kurz nach einer Reinigung konnte sie mit ihrer Windmagie nicht den ganzen Turm durchsuchen, weshalb sie an der Treppe für einen Moment in Panik geriet. Von unten aus der Küche hörte sie Meister Warrod und seine Schülerin Beth, die Meldegängerin des Turms der Ewigkeit. Die Beiden unterhielten sich laut über Eichen und Birken und wie unterschiedlich sich diese anscheinend manipulieren ließen. Anhand des Essengeruches vermutete Chelia, dass auch Lisley in der Küche war, und dann hörte sie auch Yuri einen trockenen Kommentar einwerfen, als Warrod und Beth über irgendetwas lachten.

Natürlich war es möglich, dass die Unsterbliche Kaiserin auch in der Küche oder noch weiter unten in der Bibliothek war, aber Chelia entschied sich dafür, zuallererst im Arbeitszimmer zu suchen. Sie hechtete die Wendeltreppe hinauf und nahm dabei immer zwei Stufen auf einmal. Auf dem Stockwerk mit den Privatquartieren der Unsterblichen hielt sie sich nicht auf, sondern eilte weiter nach oben.

Ohne sich damit aufzuhalten, anzuklopfen, stieß Chelia schließlich die schwere Eichenholztür zum Arbeitszimmer auf – und platzte mitten in eine Besprechung zwischen der Kaiserin, Meister Zeref, General Erza und den Assassinen Jellal und Urtear. Letztere sprach gerade.

„Meinem Kontaktmann ist völlig unklar, um wem es sich bei dem Opfer in Malba gehan-“

Die Assassine mit den langen, schwarzen Haaren und den durchdringenden, roten Augen unterbrach sich und drehte sich langsam zu Chelia herum, um diese prüfend zu mustern. Ihre Ähnlichkeit zu ihrer Mutter war unübersehbar, selbst die langen Haare im Gegensatz zu Urs kurzen konnten nichts daran ändern. Es war Monde her, dass Chelia sie gesehen hatte. Urtear war als Assassine oft auch in den Nachbarländern unterwegs. Insbesondere in Bosco, wo aller Verhandlungen der Kaiserin zum Trotz immer noch Sklaverei herrschte.

„-gehandelt hat“, schloss Urtear und trat dann wieder zurück neben die anderen beiden Besucher.

Jellal hatte blaue Haare und eine auffällige Tätowierung auf der rechten Gesichtshälfte, die seinen ehemaligen Status symbolisierte. Solche Muster kannte Chelia noch aus Cait Shelter, wo gelegentlich noch einige Kulturüberbleibsel aus Edolas auftauchten, allerdings hatte sie sich nie genug dafür interessiert, um herausfinden zu wollen, was sie bedeuteten. Dass sie auch ein Statussymbol waren, hatte sie sich zusammen gereimt, nachdem sie Totomaru mal nach seiner Tätowierung gefragt hatte, die zwar völlig anders aussah und aus einem anderen Kulturkreis stammte, aber eine ähnliche Funktion hatte.

Genau wie Urtear trug Jellal eine schwarze, eng anliegende Lederrüstung. Am Rücken trug er einen Falchion, dessen Griff über die rechte Hüfte ragte. Über dem Herzen steckten drei Wurfmesser in einem Holster. Wahrscheinlich trug Jellal noch an einem Dutzend weiterer Stellen Messer und Dolche. Es zeugte vom grenzenlosen Vertrauen der Kaiserin, dass Jellal seine Waffen nicht ablegen musste, wenn er den Turm der Ewigkeit betrat.

Neben ihm stand General Erza Scarlet, wie immer mit mustergültiger Haltung, die langen, roten Haare zu einem strengen Zopf geflochten, damit sie nicht störten. Sie trug ihre lederne Alltagsrüstung, an deren Schulterplatten ein schwerer Umhang mit Goldborte hing, der ihren Rang anzeigte, und an ihrer Hüfte hing ein Langschwert, dessen Knauf vom Wappen der Kaiserlichen Armee geziert wurde.

Die Kaiserin saß hinter ihrem großen Schreibtisch, hinter ihr wie ein Schatten Meister Zeref, der wie immer seine dunkle Robe trug und sich nicht im Geringsten anmerken ließ, was er von Chelias ungebührlichem Auftritt hielt.

„Chelia, was ist los?“, fragte die Kaiserin mit ihrer ruhigen, bedächtigen Stimme und ihre jugendliche Stirn wurde von einer tiefen Sorgenfalte durchzogen.

Die Windmagierin vergaß zum ersten Mal, sich anständig zu verbeugen. Ihre Hände ballten sich zu zitternden Fäusten. „Totomaru… Er ist im Raum der Reinigung. Etwas stimmt nicht mit ihm“, würgte sie hervor.

Ohne weitere Nachfragen kam die Kaiserin um den Tisch herum. Erza und die beiden Assassinen gingen sofort respektvoll in die Knie, was mit einem knappen Nicken beantwortet wurde.

„Hab’ Dank für deine Mühen, Urtear. General Scarlet, entsendet eine Kompanie nach Malba und lasst die Festung von Avatar besetzen. Jellal, Urtear, ich wäre euch sehr verbunden, wenn ihr ebenfalls dorthin aufbrechen würdet, um mehr über dieses Opfer heraus zu finden – und im Idealfall auch etwas über den aktuellen Aufenthaltsort der Drachenreiter. Wenn ihr könnt, holt sie ein und bittet sie hierher. Aber ich erwarte, dass ihr Vorsicht walten lasst. Ich würde es nicht gerne sehen, wenn die Trauung im Herbst verschoben werden müsste.“

„Eure Majestät…“ Jellals Miene blieb ruhig, aber Urtear neben ihm erlaubte sich ein leises Grinsen und blickte an ihrem Kollegen vorbei zu Erza, die verlegen mit dem Fuß scharrte.

Mit dem Anflug eines Lächelns nickte die Kaiserin ihnen noch einmal zu, ehe sie sich an Chelia wandte und dieser bedeutete, voraus zu gehen. Ohne noch mal zu warten und sich zu vergewissern, wer ihr alles folgte, drehte die Windmagierin sich wieder um und eilte die Treppen wieder nach unten und zurück in den Raum der Reinigung. Sie war erleichtert, als sie sah, dass Totomaru noch aufrecht sitzen konnte. Allerdings war sein Gesicht nun schweißüberströmt und sein Atem ging schwer.

Die Kaiserin trat an Chelia vorbei zu ihm und strich mit leuchtender Hand über seine Stirn, während Meister Zeref neben Chelia am Eingang des Raums stehen blieb. Der Feuermagier schien die Berührung nicht einmal zu bemerken. Als die Kaiserin die Hand wieder sinken ließ und zurück trat, bekam Chelia es mit der Angst zu tun.

„Ihr müsst ihm doch irgendwie helfen können!“

„Er steckt mitten im Reinigungsprozess. Nur ein anderer Feuermagier könnte ihm helfen“, sagte Meister Zeref ruhig, während die Kaiserin bedauernd den Kopf schüttelte.

„Aber Ihr dürft ihn nicht im Stich lassen“, protestierte Chelia lautstark.

Nur vage war sich Chelia bewusst, dass sie sich hier mehr als nur ungebührlich verhielt, aber sie konnte sich nicht beruhigen. Totomaru war ihr Freund, ihr Leidensgefährte – und nun war sie dazu verdammt, tatenlos zu zusehen?!

„Hab’ Vertrauen, Chelia“, sagte die Kaiserin mit einem verständnisvollen Lächeln. „In all den Jahren habe ich kaum einen Feuermagier getroffen, der es mit Totomaru aufnehmen könnte. Er wird das hier schaffen.“

Chelia presste die Lippen aufeinander. Natürlich war Totomaru ein großartiger Magier, aber sie hatte dennoch Angst.

Als Totomaru überraschend die Augen aufriss und nach Luft schnappte, zuckte sie zusammen. Die Kaiserin war sofort zur Stelle, als er nach vorne fiel. Sie war nicht stark genug, um ihn zurück in den Sessel zu drücken, stattdessen schwächte sie seinen Sturz ab und ließ ihn behutsam zu Boden gleiten.

Chelia eilte an seine Seite, half, ihn auf den Rücken zu drehen und suchte nach Anzeichen für Schäden, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie diese aussehen könnten, waren sie doch nicht einmal bei Ur sichtbar, die schon viel länger als Totomaru und Chelia zusammen als Wächterin tätig war. Totomarus Körper war so heiß, dass er in der milden Kühle des Raums dampfte, und zitterte vor Erschöpfung, aber seine Augenlider flatterten und er drehte sachte den Kopf, um die drei anderen Wächter erkennen zu können.

„Totomaru, was ist passiert?“, fragte die Kaiserin sanft und ging neben dem Bosco in die Knie.

„Drei Magien…“, stöhnte Totomaru erschöpft und kniff die Augen zusammen. Seine Stimme war heiser, kaum verständlich. „Drei Magien…“, murmelte er noch einmal, dann erschlaffte sein Körper.

Für einen Moment bekam Chelia es schon wieder mit der Angst zu tun und sie wollte bereits die Hand nach dem Älteren ausstrecken, aber Meister Zerefs Hand an ihrer Schulter ließ sie innehalten. Sie hob den Blick zu dem Schattenmagier auf, der beruhigend den Kopf schüttelte.

„Er ist nur ohnmächtig. Sieh’, er atmet noch.“

Als sie seinem Fingerzeig folgte und sah, dass sich Totomarus Brustkorb hob und senkte, wäre sie vor Erleichterung beinahe in Tränen ausgebrochen. Zitternd stieß Chelia die Luft aus und strich sich über das Gesicht. Es war alles wieder in Ordnung, ermahnte sie sich selbst. Totomaru würde sich schon wieder holen. Keiner von ihnen war in Lebensgefahr. Noch nicht zumindest – denn dieser Vorfall konnte unmöglich harmlos gewesen sein. Chelia wünschte sich, ihr würde endlich jemand erklären, was hier in letzter Zeit los war!

Als sie sich wieder gefasst hatte, blickte sie zur Kaiserin auf. „Was meinte er damit?“

Zu ihrer Überraschung schüttelte die Unsterbliche ratlos den Kopf. „Das wird er uns hoffentlich sagen können, wenn er wieder bei Bewusstsein ist.“
 

Alles, woran Sting denken konnte, bevor die Flammen über ihn herein brachen, war, dass Rogue, Minerva und den Exceed nichts passieren durfte. Er durfte sie nicht verlieren. Sie waren seine Familie und sie hatten womöglich schon Yukino verloren…

Die Hitze, die ihn umgab, war grauenhaft. Ihm brach sofort der Schweiß aus und durch seine geschlossenen Lider erkannte er dennoch Röte. Aber der erwartete Schmerz auf seiner Haut blieb aus. Weder roch er verbrannte Haut, noch hörte er die Schmerzensschreie der Anderen.

Überrascht riss er die Augen auf und erkannte, dass er in einer Art Blase saß, die über den halben Saal reichte, während sie sich mit einer zweiten überlappte, die noch bis zum Ende des Beratungstischs reichte, wo zu Stings unendlicher Erleichterung Minerva und Rogue standen, Beide mit je einem Exceed im Arm und mit bleichen Gesichtern.

Im Zentrum seiner Blase erblickte Sting Natsu, der die Arme mit nach außen gerichteten Handflächen zu beiden Seiten ausgestreckt hatte. Auch Natsu schwitzte, aber das Zittern seines Körpers verriet, dass dem nicht die Hitze zugrunde lag. Er hielt die Flammen zurück, erkannte Sting.

Feuermagie funktionierte grundlegend anders als Licht- und Schattenmagie – oder auch Windmagie, die Sting durch Rufus auch zumindest ein bisschen kannte. Natsu hatte es Sting damals kaum anders erklären können, als dass sich Feuermagie anfühlte, als würde man ein wildes Tier bändigen, was auch tatsächlich auf zweierlei Arten ablaufen konnte: Mit Gewalt oder mit Gefühl. Trotz der Andersartigkeit seiner eigenen Magie erkannte Sting, dass Natsu – ausgerechnet Natsu, für den Feuermagie so selbstverständlich wie Atmen war – hier Gewalt anwenden musste.

Im Zentrum der zweiten Blase stand derselbe riesige Löwe, in den Loke sich vor etwas mehr als einem halben Mond verwandelt hatte, als die Opfer des Angriffs auf Heartfilia besungen worden waren. Er hatte alle vier Pranken fest auf den Boden gestemmt, die beeindruckenden Krallen gruben sich sogar ein Stück in den Sandstein. Das gewaltige Maul des Löwen war aufgerissen und schwere Atemzüge ließen den Körper beben, während von der Mähne unablässig Funken abgingen, die sich gegen die gegnerischen Flammen zu wenden schienen.

Lucy stand neben dem Löwen und hielt Lokes Langschwert im Arm. Auch ihr stand der Schweiß auf der Stirn und ihr Blick zuckte hin und her, was Sting dazu veranlasste, sich auch endlich umzusehen. Die anderen Mitglieder der Reisegruppe hockten und saßen innerhalb der beiden Blasen. Romeo hatte schützend beide Arme um Wendy geschlungen und Juvia hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Gray und Lyon schienen Schwierigkeiten beim Atmen zu haben. Zwischen ihnen kniete Meredy, je eine Hand auf der Schulter eines Fullbuster-Bruders, und in ihren grünen Augen konnte Sting zum ersten Mal, seit er die Assassine kennen gelernt hatte, einen ganzen Sturm an Gefühlen erkennen.

Weil er ihnen nicht zu helfen wusste, blickte Sting wieder zu Minerva und Rogue. Letzterer bemühte sich, seine Exceed zu beruhigen, die sich ängstlich wimmernd an ihn klammerte. Minerva jedoch war an den Rand der Blase getreten. In einem weiteren Anflug von Panik eilte Sting an ihre Seite, um sie aufzuhalten, aber er erkannte, dass sie nicht weiter gehen wollte, sondern nur in eine bestimmte Richtung blickte. Erst da fiel es ihm wieder ein.

Mit einem schweren Schlucken blickte Sting in die Ecke der Halle, wo zuvor die Schreiber so hart gearbeitet hatten, aber keine der beiden Blasen reichte so weit. Beinahe hätte Natsus Blase nicht einmal bis zu Sting gereicht, weil er so nahe bei der Tür gestanden hatte. Wäre sie nur um zwei Schrittlängen kleiner gewesen…

„Wir müssen etwas unternehmen!“, rief Lucy über das Brüllen des Feuersturms hinweg. „Loke und Natsu können das nicht ewig machen!“

Tatsächlich hatte Sting den Eindruck, dass Lokes Blase allmählich schrumpfte. War das überhaupt normales Feuer? Irgendwie kam es Sting zu zielgerichtet vor und es hatte sich auch viel zu schnell ausgebreitet.

„Juvia, kannst du genug Wasser beschwören?“, fragte Natsu mit zusammen gebissenen Zähne, die Stirn vor Anstrengung gerunzelt.

Endlich ließ die Wassermagierin ihre Hände sinken und richtete sich auf. Ihre Augen flackerten einen Moment, dann nickte sie grimmig. „Juvia versucht es.“

Vor Sting sackte die Blase eine Schrittlänge ein, weshalb der Lichtmagier seine Fürstin wieder weiter ins Zentrum der Blase zog, und Loke begann zu zittern, aber keiner von ihnen sagte etwas, um Juvia anzutreiben.

Sting führte Minerva noch näher zu Natsu und auch die Anderen rappelten sich auf, um vom Rand der Blase fortzukommen. Nun endlich breitete Sting die Arme aus, um Lector aufzufangen, der aus Minervas Armen heraus gesprungen war. Sanft strich er über den Kopf des jungen Exceed und blickte zu Loke und Lucy, die sich nicht vom Fleck gerührt hatten. Woran auch immer es lag, Lokes Blase schrumpfte immer schneller und der Löwe ging zitternd in die Knie.

„Lucy, komm’ hier rüber!“, krächzte Gray so laut er konnte. Trotz der Hitze war sein Gesicht bleich vor Angst.

Trotz des lauter werdenden Brüllens des Feuers musste die Blonde ihn gehört haben, aber sie reagierte nicht. Der Sonnenlöwe knurrte wütend und drehte den mächtigen Kopf, um seine Schutzbefohlene anzusehen, doch die blickte stur zurück und legte die Hände auf die zitternden Flanken des Geistes. Sting überlegte, auf die Beiden zu zugehen, aber Minerva hielt ihn zurück. In ihren Augen erkannte er etwas, was ihn sehr verwirrte. Verständnis. Für Lucy?

Ehe Sting es hinterfragen konnte, riss Juvia auf einmal die Arme hoch. Dem Augenschein nach geschah nichts, aber in der Ferne vermeinte Sting ein Zischen zu vernehmen.

„Haltet euch irgendwo fest“, presste Juvia hervor, die Augen zur Konzentration geschlossen und die Arme zitternd. „Das Wasser wird schnell kommen und Juvia kann euch nicht schützen.“

Festhalten? Es gab hier nichts, woran sie sich festhalten konnten. Sie befanden sich mitten im Raum und der Besprechungstisch war bereits zusammen gebrochen, weil er zur Hälfte den Flammen ausgeliefert war. Stings Blick huschte über den Boden auf der Suche nach Fugen, in die er seine Rebmesser schlagen könnte, aber die Sandsteinplatten waren viel zu dicht nebeneinander gesetzt. Und das Zischen wurde lauter…

„Runter!“, rief Romeo über das Brüllen der Flammen. Während alle Anderen untätig geblieben waren, hatte er sich neben Juvia gekniet und hielt einen Arm bereit, um die Wassermagierin aufzufangen. „Wenn das Wasser euch von den Beinen reißt-“

Sting erfuhr nicht, was der Jüngere noch darüber zu sagen wusste. Mit einem gewaltigen Donnern schlugen die Wassermassen das Tor der Halle auf und fluteten den Raum. Sting drückte Lector in Minervas Arme und zog die Dunkelhaarige dann an sich, Lector schützend zwischen ihnen eingequetscht. Dann wurden sie von den Fluten erfasst.

Der Aufprall des wütenden Wassers auf seinen Beinen war so stark, dass Sting das Gefühl hatte, seine Glieder würden darunter zerbrechen. Bevor es tatsächlich so weit kommen konnte, wurden sie unter ihm fort gerissen und er stürzte gemeinsam mit Minerva zu Boden, nur um fortgespült zu werden. Das Wasser wirbelte sie Beide gnadenlos herum. Mehrmals stieß Sting sich den Kopf und er war sich nicht sicher, ob das Gegenstände oder Menschen waren. Dann prallte er mit dem Rücken so hart gegen eine Wand, dass er aufschrie und im nächsten Moment Wasser schlucken musste. Das Wasser presste Minerva und Lector gegen ihn, drückte ihn immer härter gegen die Wand, bis er das Gefühl hatte, als würde sein Rückgrat unter der Gewalt nachgeben…

Wie lange dieses Martyrium andauerte, wusste Sting im Nachhinein nicht zu sagen. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, aber genauso abrupt, wie ihn das Wasser getroffen hatte, verschwand es auch wieder und ließ ihn nach Luft schnappend und zitternd am Boden liegen. Seine Augen brannten wegen des Wassers, weshalb Sting sie lieber noch zukniff.

Um sich herum hörte Sting den keuchenden Atem seiner Kameraden und das unschuldige Plätschern und Tropfen von Wasser.

„Der Wahnsinn, Juvia!“, durchbrach Natsu das Schweigen. Seine Stimme war nur ein heiseres Stöhnen, aber Sting vermeinte dennoch, ein anerkennendes Lächeln aus den Worten heraus zu hören.

Als von Juvia keine Antwort kam, schlug Sting die Augen auf und stemmte sich mühsam auf einen Ellenbogen, um nach der Wassermagierin zu sehen. Minerva wand sich unter seinem anderen Arm hervor und richtete sich langsam auf. Ihre Frisur hatte sich aufgelöst und ihre Tunika klebte am Körper. An der linken Wange hatte sie einen hässlichen Kratzer und der linke Ärmel ihrer Tunika war zerrissen und brachte eine lange Schürfwunde zum Vorschein.

Eine Bewegung an seiner Brust ließ Sting nach unten blicken. Lector war ebenso durchweicht wie alle Anderen und blinzelte benommen, aber als Sting vorsichtig über seinen Kopf strich, hob er den Blick und lächelte müde. Erleichtert zauste der Wüstennomade das Kopffell des Exceed, ehe er wieder zu Minerva hoch sah, welche ihn ihrerseits besorgt musterte.

„Bist du okay?“, fragte sie Sting mit heiserer Stimme.

„Ich war noch nie so nass in meinem Leben, aber ansonsten geht es mir gut, glaube ich“, antwortete er träge und richtete sich mit Lector in seinen Armen in eine sitzende Position auf.

„Ich wusste auch vorher schon, dass du nicht badest“, schoss Minerva sogleich eine Spitze ab.

Ganz automatisch reagierte Sting mit einem Schmollen und sah sich nach seinem Partner um, um sich seiner Unterstützung zu versichern. Ihm gefror das Blut in den Adern, als er Rogue nicht sofort entdecken konnte.

Rogue konnte doch nicht…? War er etwa…?! Nein! Nicht auch noch er! Nicht Rogue!

Ein Schlag mit der Handkante auf seiner Stirn ließ ihn aufblicken. Minerva hockte wieder direkt vor ihm und deutete mit einem Zeigefinger nach links, von wo sich Rogue näherte. Seine Haare hatten sich ebenfalls aus dem Band gelöst und an der Stirn hatte er eine Platzwunde, sein Gang wirkte noch etwas wackelig und er war natürlich genauso nass wie alle Anderen – aber er lebte!

Zitternd stemmte Sting sich in die Höhe und eilte zu seinem Partner – oder eher schwankte zu ihm. Er fühlte sich so kraftlos, dass er beinahe gegen Rogue geprallt wäre, wenn dieser nicht den freien Arm um ihn geschlungen hätte, mit dem er nicht die noch immer zitternde Frosch an sich drückte. Der starke Arme legte sich erstaunlich fest um Stings unteren Rücken und drückte ihn an einen nassen Körper und dann küsste Rogue ihn. Auf einmal fühlten sich Stings Beine noch viel wackeliger an. Die Lippen seines Partners schienen ihn regelrecht zu verschlingen, hielten ihn gefangen, nahmen ihn in Besitz. Und es war ein gutes Gefühl. Voller Hingabe schlang Sting seinerseits den freien Arm um Rogues Hals und erwiderte den leidenschaftlichen Kuss, zu dem es unter normalen Umständen nie vor den Augen Anderer gekommen wäre.

Erst ein vernehmliches Räuspern unterbrach die Beiden. Minerva stand neben ihnen. In ihren olivgrünen Augen funkelte es amüsiert, aber dahinter verbarg sich eine Weichheit, die sie selbst gegenüber Sting selten offenlegte. Nur weil er die Fürstin schon so viele Jahre kannte, konnte Sting die feinen Anzeichen erkennen und er reagierte ganz instinktiv mit einem warmen Lächeln, obwohl Minerva ihn gestört hatte.

Jeder Andere hätte sich wahrscheinlich noch einmal versichert, ob es ihnen gut ging, aber Minerva verlegte sich auf einen geschäftsmäßigen Tonfall, als sie das Wort erhob: „Wir sollten den Anderen helfen.“

Erst jetzt wurde Sting sich bewusst, dass seine Freunde teilweise noch am Boden lagen, und er löste sich schuldbewusst von seinem Partner, um sich dem Ersten zu zuwenden, der in seiner Nähe lag. Gray, Lyon und Meredy waren bereits wieder auf den Beinen und kümmerten sich um Juvia, die bewusstlos in Grays Armen hing. In Grays Miene lag beinahe Ehrfurcht, während er auf die Wassermagierin hinab blickte. Wahrscheinlich war es das erste Mal, dass er Juvia bemerkt hatte, und unter anderen Umständen hätte Sting sich über diesen Idioten lustig gemacht. So jedoch widmete er seine Aufmerksamkeit Natsu, der es nur in eine sitzende Position geschafft hatte und noch immer schwer atmete.

„Bist du verletzt?“, fragte Sting und setzte Lector auf seine eigenen Beine, um Natsu stützen zu können, als der vornüber zu kippen drohte.

„Ich glaube nicht“, murmelte der Feuermagier matt. Er schien sogar Mühe zu haben, die Augen offen zu halten, aber noch schaffte er es irgendwie, wach zu bleiben. „Wie geht es Lucy und Loke?“

Sting blickte wieder auf und an Romeo und Wendy vorbei, die sich um Libra kümmerten, deren Wunden durch den Wasserdruck teilweise wieder aufgerissen zu sein schienen. Das Reisegepäck, das sie zuvor einfach neben dem Besprechungstisch abgelegt hatten, war ebenfalls an die Wand gespült worden, aber irgendwie hatte Romeo es bereits geschafft, die Tasche wieder hervor zu kramen, die Wendy nun brauchte.

Dann erkannte Sting Orgas bullige Gestalt – eine weitere Welle der Erleichterung durchflutete ihn, als er sah, dass sein alter Kampfgefährte wohlauf war. Er kniete am Boden und zog aus einem der Reisebündel eine durchnässte Decke, um sie über Loke auszubreiten. Bevor der Stoff herunter fiel, erkannte Sting noch, dass der Feuergeist nackt war. Anscheinend hatte die Kleidung die drastische Verwandlung des Mannes nicht mitgemacht. Zu Lokes anderer Seite kniete Lucy, welcher die Haare wirr ins Gesicht hingen.

„Ist alles in Ordnung mit Euch?“, erhob Minerva das Wort und stakste auf die andere Fürstin zu.

„Mit mir ja, dank Loke und Meister Nanagear“, antwortete Lucy mit einem matten, aber aufrichtigen Lächeln. „Euer Rüstungsmeister war schnell genug bei uns, um Loke und mich zu schützen, als das Wasser uns gegen die Wand gedrückt hat.“

Sting spürte, wie Natsu bei diesen Worten erleichtert die Luft ausstieß und dann einfach erschlaffte. Behutsam ließ er den Feuermagier in eine bequemere Liegeposition gleiten und sah sich nach irgendetwas um, womit er Natsus Kopf stützen konnte, während er gleichzeitig weiter die ungleichen Fürstinnen beobachtete.

„Euer Schild und Schwert hat meinen Männern und mir das Leben gerettet, man könnte also sagen, dass wir quitt sind“, sagte Minerva und bot der Blonden die Hand an, um sie auf die Beine zu ziehen, was diese vertrauensvoll annahm.

„Minerva…“ Sting drehte den Kopf und erkannte Rufus – wieder fiel ihm ein Stein von Herzen. Den sonst so eleganten Windmagier so aufgelöst zu sehen, war fast noch ungewohnter als Minerva mit offenen Haaren. Das deutlichste Zeichen für seine Sorge war jedoch die Tatsache, dass er in der Gegenwart Außenstehender so vertraut mit der Fürstin sprach. Normalerweise wahrte er die offiziellen Anreden, wenn sie nicht unter sich waren. „Hörst du das?“

Erst jetzt bemerkte Sting in der Ferne ein seltsames Brummen. Er musste sich genau darauf konzentrieren, um zu erkennen, dass dieses Brummen aus vielen hundert Stimmen bestand, die jammerten und schrien und wimmerten. Vereinzelt hörte er sogar das Wort Wüstenlöwin heraus.

„Euer Volk sorgt sich um Euch“, stellte Lucy fest, nachdem sie einige Herzschläge lang gelauscht hatte. „Für die Menschen auf dem Platz muss es ein schrecklicher Anblick gewesen sein, als Euer Palast auf einmal in Flammen aufgegangen ist.“

Ruckartig nickte Minerva und straffte die Schultern. Ihr Befehlston war schneidend. „Ich kümmere mich darum. Orga, du kommst mit mir. Rufus, ich brauche einen Lagebericht. Ich will wissen, ob wirklich der gesamte Palast betroffen ist und ob noch jemand überlebt hat. Sting, Rogue… ihr sucht Dobengal.“

Die Erwähnungen des ehemaligen Taschendiebs presste schon wieder Stings Herz zusammen. Auch wenn Dobengal ihn andauernd ärgerte, sie hatten Seite an Seite gegen den Usurpator gekämpft. Dobengal war ihr erster Verbündeter gewesen, als Sting und Minerva nach Sabertooth gekommen waren, er hatte ihnen mehrfach das Leben gerettet, hatte ihnen Verstecke gezeigt. Auf einmal fragte Sting sich voller Gram, ob er dem Jüngeren überhaupt jemals dafür gedankt hatte…

„Levy und Gajeel.“

Lucys Stimme war kaum mehr als ein entsetztes Hauchen, aber es genügte, um Sting zusammenzucken zu lassen. Seine Eingeweide verknoteten sich noch mehr. Gajeels Eisenmagie konnte wohl kaum etwas gegen diese Feuersbrunst ausgerichtet haben. Sofern Levy also nicht irgendein Ass im Ärmel gehabt hatte…

„Wir kümmern uns um Loke, geh’ mit Sting und Rogue mit, Lucy“, meldete sich Wendy zu Wort und stand auf, während Romeo noch einen Verband an Libras Arm erneuerte.

Dankbar drückte Lucy die Schulter der Jüngeren, dann wandte sie sich Sting zu, der Natsu noch einen Klaps auf die Schulter gab, auch wenn dieser das gar nicht mehr mitbekommen konnte, und sich ebenfalls erhob. Rogue vertraute Frosch Lectors Obhut an und schloss sich ihnen an. Gray hielt noch immer Juvia im Arm und flößte ihr Wasser aus seiner Feldflasche ein. Lyon sammelte mit Meredy die Ausrüstung wieder ein, die von Juvias Flut davon gespült worden war.

Als sie zu dritt durch die Gänge des Sandpalastes schritten, offenbarte sich das ganze Ausmaß der Schäden. Die teilweise jahrhundertealten Wandteppiche waren den Flammen zum Opfer gefallen, teilweise waren sogar die Haken, mit denen sie festgehalten worden waren, eingeschmolzen worden. Fresken waren vom Druck des Wassers von der Wand gespült worden. Türen waren verkohlt und aus den Angeln gerissen. Laternen zerschmolzen. Und zwischen all dem Chaos lagen auch noch die Leichen.

Schon wieder musste Sting schwer schlucken. Das hier war sein Zuhause. Egal wie sehr er Wüstennomade geblieben war und wie oft er Ausflüge in die Wüste unternommen hatte, er hatte kein einziges Mal bereut, die Zuflucht zugunsten des Sandpalasts verlassen zu haben. In den Trümmern seines Zuhauses zu stehen, war beinahe unerträglich.

Eine zaghafte Berührung an seinem Arm ließ ihn nach rechts blicken. Aufrichtige Anteilnahme und Bestürzung standen Lucy ins Gesicht geschrieben und sofort verspürte Sting ein schlechtes Gewissen. Auch Lucy hatte vor nicht einmal einem Mond in den Trümmern ihrer Heimatstadt gestanden und sie hatte ihren eigenen Vater zu Grabe getragen. Ihre Trauer musste noch immer frisch und qualvoll sein, dennoch war sie hier und versuchte zu helfen.

Sie schlugen den direkten Weg zur Bibliothek ein, den Dobengal wahrscheinlich auch gewählt hatte. In Begleitung anderer nutzte er seine mysteriösen Geheimwege nie, von denen nicht einmal Minerva etwas wusste, obwohl sie ihre ersten acht Sommer hier im Sandpalast verbracht hatte.

Die Bibliothek war in einem der größten Säle untergebracht, die dem Sandpalast angehörten. Sie hatte mehrere Stockwerke, welche an drei verschiedenen Stellen über enge Wendeltreppen zu erreichen waren. Die deckenhohen Regale waren hier immer wie ein Labyrinth angelegt gewesen. Sting wusste gar nicht, wie oft er hier, wo seine Nase wegen der vielen Gerüche von Pergament, Papyrus, Papier, Tinte und Holz überreizt war, gefühlte Ewigkeiten nach seinem Partner gesucht hatte.

Doch nun war beinahe alles vernichtet. Die riesigen Regale aus Tamariskenholz mit den unzähligen Papyrusrollen und Einbänden waren fort. Die verschlossenen Schränke mit den riesigen Folianten, deren alleiniger Anblick Sting immer abgeschreckt hatte, waren verschwunden. Nur einige verkohlte Holzscheite waren an die nördliche Wand gespült worden.

Nur langsam schritten Sting und die Anderen durch die Überreste des Raumes. Als sie auf eine Leiche stießen, keuchte Lucy neben Sting gepeinigt auf. Hastig schlang er einen Arm um ihre Schultern, um sie zu stützen.

Es war Rogue, der sich ein Herz fasste und sich neben die Leiche kniete. Schließlich blickte er über seine Schulter zu ihnen: „Diese Person ist zu groß für Levy und zu klein für Gajeel. Das muss… einer der Bibliothekare gewesen sein.“

Trotz dieser Worte schniefte Lucy laut und schlug hastig die Hände vors Gesicht. Behutsam hielt Sting sie weiter fest. Er konnte sich vorstellen, was der Blonden durch den Kopf ging: Auch wenn dies hier nicht Levys oder Gajeels Leiche war, wie hoch standen die Chancen schon, dass die Beiden überlebt hatten? Stand es nicht eher zu erwarten, dass sie hier schon sehr bald auch auf ihre verkohlten Körper stoßen würden?

Und überhaupt: Dieser Bibliothekar hier war tot! Genau wie die Schreiber in der Halle und die Bediensteten und Soldaten in den Gängen. Sting hatte nicht einmal alle ihre Namen gekannt, hatte teilweise noch nie mit ihnen gesprochen, aber… sie hatten alle hierher gehört. Sie hatten ihren Teil beigetragen, um Minerva zu unterstützen, waren denkende, fühlende Menschen gewesen. Womöglich hatten sie sogar in der Stadt Angehörige gehabt. Wie vielen Familien würde Minerva in den nächsten Tagen mitteilen müssen, dass ihre Lieben diesen Flammen zum Opfer gefallen waren?

Als Rogue vor sie Beide trat, hob Sting den Blick. Sein Partner war bleicher als sonst, seine Miene so angestrengt ruhig, dass umso offensichtlicher war, wie aufgewühlt auch er war. Sting fragte sich, ob Rogue diesen Bibliothekar erkannt hatte. So viel Zeit, wie er hier verbracht hatte, hatte er sicher alle Bibliotheksdiener mit Namen gekannt.

„Lucy, hast du eine Ahnung, wonach Levy gesucht haben könnte? Dann wüssten wir, wo wir zuerst suchen müssen.“ Rogue bemühte sich, seine Stimme ruhig zu halten, aber für Sting klang sie doch gepresst.

Es brauchte einige Herzschläge und mehrere tiefe Atemzüge, bis Lucy sich weit genug beruhigt hatte, um mit krächzender Stimme antworten zu können: „Vielleicht in der Symbolikabteilung. Was Libra uns gezeigt hat, war kein richtiges Wappen.“

„Dann müssen wir zwei Stockwerke höher.“

Sie folgten Rogue zu einer der Wendeltreppen, deren Stufen noch glitschig waren. Sting lief am Ende der Gruppe, um ein Auge auf Lucy zu haben, deren Beine bei jeder Stufe wackelten. Doch jedes Mal, wenn Sting glaubte, doch zugreifen zu müssen, straffte die Fürstin die Schultern, schob das Kinn vor und zog sich am Geländer weiter nach oben. Zum wiederholten Mal war Sting beeindruckt von ihrer Zähigkeit.

Sie waren schon am ersten Stock vorbei, als hinter ihnen ein gekrächzter Ruf erklang. „Lucy?!“

Die Gerufene wirbelte so schnell herum, dass sie gestürzt wäre, wenn Rogue von oben nicht nach ihrem Arm gegriffen hätte. Sting drehte sich herum und erkannte Gajeel und Levy, die aus dem ersten Stock zu ihnen aufblickten. Beide sahen ganz schön angeschlagen aus. Ihre Haare und Kleidung waren angesenkt und Levys rechter Arm wies eine hässliche Verbrennung auf. Doch im Großen und Ganzen waren sie wohlauf und Levys Arme schlossen sich fest um einen Einband mit dem nebulösen Titel Ein Blick durch den Wind.

Vor Erleichterung kamen Lucy wieder die Tränen. Sie stolperte an Sting vorbei nach unten und zog die Magistra in ihre Arme. Der Anblick versetzte Sting einen Stich, denn er erinnerte ihn an Yukino und Dobengal.

„Wie konntet ihr überleben?“, fragte Rogue und kam ein paar Stufen nach unten.

„Levy hatte einen starken Feuerlacrima dabei“, erklärte Gajeel und zuckte schlicht mit den breiten Schultern.

„Der, den du mir letztes Jahr für meine Lacrima-Studien mitgebracht hast, Lucy“, plapperte Levy offensichtlich aufgekratzt drauflos und zeigte ihnen einen ermatteten Stein, über dessen Oberfläche sich Risse zogen. „Ich weiß gar nicht, warum ich ihn überhaupt eingepackt habe, aber als Gajeel gesagt hat, dass er Feuer riecht, habe ich ihn in die Hand bekommen und aktiviert. Ich hatte keine Ahnung, was ich da mache, aber es hat funktioniert.“

„Ohne Juvias Wasser wäre es dennoch übel ausgegangen“, sagte Gajeel und deutete erklärend auf Levys Hand. „Wie geht es Juvia?“

„Sie ist erschöpft, aber ansonsten geht es ihr gut. Romeo, Gray und Lyon passen auf sie auf. Wendy päppelt sie, Natsu und Loke wieder auf“, antwortete Rogue. „Wisst ihr, wo Dobengal ist?“

„Er hat uns nur in die Bibliothek gebracht und meinte dann, hier könnte er uns nicht mehr weiter helfen.“

Sting versuchte, tief Luft zu holen und nicht an den naseweisen Taschendieb zu denken, den er damals eingefangen hatte. Er verspürte ein Stechen in der Brust und das Atmen fiel ihm schwerer.

Rogues Hand auf seiner Schulter riss ihn zurück in die Gegenwart. Lucy und Levy hatten betroffen die Blicke gesenkt. Stings Blick fiel auf das Buch in Levys Armen.

„Hat die Suche etwas gebracht?“

„Ja, aber das sollten alle hören. Besonders Fürstin Minerva“, erklärte die Magistra und Sting vermeinte, Angst aus ihrem Blick heraus zu lesen.

Langsam stiegen sie wieder die Stufen hinunter und machten sich auf dem Weg zurück zum Saal. Das dumpfe Brummen des Stimmengewirrs draußen auf dem Platz hatte sich wieder etwas beruhigt. Minerva hatte es offensichtlich geschafft, die Flüchtlinge zur Vernunft zu bringen. Jetzt saß sie auf den zusammengebrochenen Überresten des Tisches. Die Steifheit ihres Rückens und die Ausdruckslosigkeit ihrer Miene verrieten Sting, wie betroffen seine Freundin in Wahrheit war.

Als Sting und die Anderen zurückkehrten, huschte Minervas Blick über ihre kleine Gruppe. Ihre Nasenflügel bebten verräterisch, dann hatte sie sich wieder im Griff.

„Es beruhigt mich, dass Ihr überlebt habt“, wandte sie sich an Gajeel und Levy.

Letztere nickte zaghaft. „Leider wissen wir nicht, wo Euer Assassine war, als das Feuer ausgebrochen ist. Es tut mir von ganzem Herzen Leid…“

Minervas einzige Reaktion darauf war ein knappes Nicken. Müde ließ Sting sich neben ihr auf die Trümmer sinken und strich sich durch die Haare. Rogue blieb neben Sting stehen und legte diesem eine Hand auf die Schulter. Seine Ruhe half Sting, seine Trauer im Schach zu halten und die Fassung zu wahren.

„Wie geht es den Dreien?“, fragte Lucy besorgt und kniete sich neben Wendy, die gerade Loke etwas einflößte.

„Natsu und Juvia sind nur erschöpft, aber Loke macht auf mich den Eindruck, als wäre er vergiftet worden. Ich muss mich noch richtig darum kümmern“, erklärte die Heilerin.

„Warum ist Loke so anfällig?“, fragte Gray besorgt und machte Gajeel Platz, der ihn anknurrte und Juvia an sich zog.

„Weil das kein normales Feuer war. Nicht einmal ein normales Magiefeuer“, sagte Levy mit ernster Miene. „Es war das Feuer eines Dämons.“

Der Pfad, auf dem Entscheidungen gefällt wurden

„Dämonen?“

Die Reaktionen auf Levys Eröffnung fielen sehr unterschiedlich aus: Gray und Lyon strafften beinahe gleichzeitig die Schultern und tasteten nach ihren Waffen, was außer Meredy jedoch niemand zu bemerken schien. Lucy warf einen alarmierten Blick auf Loke. Romeo, Wendy und Gajeel wirkten hingegen eher ratlos. Und die Wüstenlöwin, ihre Klauen und der Rüstungsmeister blickten zutiefst skeptisch drein.

„Es gibt keine Dämonen mehr in der Stillen Wüste, von zwei Ausnahmen abgesehen und die haben absolut nichts mit den Ereignissen der letzten Zeit zu tun“, erklärte die Fürstin schließlich ruhig.

Aus dem Augenwinkel beobachtete Meredy, wie Gray und Lyon einen unbehaglichen Blick tauschten. Die Brüder wirkten noch viel angespannter als vorher. Ob das mit den Vorbehalten gegenüber Dämonen in den Reihen der Kaiserlichen Armee zusammen hing? Auch wenn sich kaum jemand traute, darüber zu reden, Meredy hatte genug über die Streitigkeiten betreffend General Wolfheims wahrer Natur erfahren. Das hatte insbesondere in der Magierschwadron hohe Wellen geschlagen. Hinter vorgehaltener Hand munkelte man noch immer darüber und die Meinungen darüber gingen sehr weit auseinander. Bisher hätte Meredy jedoch im Leben nicht angenommen, dass Lyon und Gray sich etwas daraus machen würden.

Ehe Levy etwas darauf erwidern konnte, trat Rufus in den Saal. Im Gegensatz zu den meisten Anderen hier hatte er es geschafft, sein Äußeres wieder vorzeigbar herzurichten, auch wenn seine zusammen gebundenen Haare und die zerknitterte Tunika ein Zugeständnis an die Umstände waren. Seine Schritte waren lang, aber ruhig, verrieten das Bemühen um Beherrschung. Seine Miene war weniger gut zu lesen. Lediglich der dünne Strich seiner zusammen gepressten Lippen gab Meredy einen Einblick in seine Anspannung.

Er hielt neben Orga, der sich unelegant auf dem Boden nieder gelassen hatte. Für die Dauer einiger Herzschläge schien es einen wortlosen Austausch zwischen den Mitgliedern der kleinen Gruppe um Minerva zu geben und Rufus legte seine Hände auf den Rücken, als könnte er dort einen dringend benötigten Halt finden. Dann richtete sich sein Blick direkt auf Minerva und entgegen seiner bisher so formalen Art begann er ohne Umschweife. Obwohl die Besucher kaum weiter von ihnen entfernt standen, wirkten Minerva, Sting, Rogue, Rufus und Orga wie eine eingeschworene Gruppe. Sie wandten sich einander in völligem Vertrauen zu, bedurften keiner weitschweifigen Gesten oder langatmiger Phrasen. Es erinnerte Meredy an zwei junge Soldaten, die sie und ihren Bruder vor so langer Zeit gerettet hatten.

„Etwa ein Viertel des Sandpalasts ist vom Feuer betroffen“, erklärte der Hofmagier mit ruhiger Stimme, deren Zittern Meredy beinahe entgangen wäre. „Das Wasser ist vom Kanal im Palastgarten durch den halben Palast gerauscht. Es gibt einige leichte Verletzungen bei jenen, die vom Wasser herum geschleudert wurden… Die Zahl der Toten im vom Feuer betroffenen Bereich ist noch unbekannt.“ Der Mann machte eine Pause und blickte seiner Fürstin direkt in die Augen. Als er keine Reaktion erhielt, fuhr er fort. „Davon ausgehend, welche Bereiche betroffen worden sind, ist wahrscheinlich mit sechzig bis siebzig Opfern zu rechnen.“

Die Miene der Wüstenlöwin blieb steinern, aber Sting neben ihr sackte etwas in sich zusammen und strich sich mit zitternder Hand durch die trocknenden Haare. Rogues Hand auf seiner Schulter drückte zu und die Lippen des Schattenmagiers pressten sich fester aufeinander. Orga machte seiner Betroffenheit mit einem schweren Seufzer Luft und ballte die Hände zu Fäusten.

„Ich will die Namen aller Opfer haben“, erklärte Minerva schließlich mit schneidender Stimme. „Die Angehörigen werden durch die Gerüchte schon früher von all dem hier erfahren, als wir sie informieren können, aber ich will dennoch mit jeder einzelnen Familie reden. Und ich will den Kopf desjenigen, der hierfür verantwortlich ist. Also…“ Ihr scharfer Blick richtete sich auf Levy, die merklich in sich zusammen schrumpfte. „Was habt Ihr heraus gefunden? Was sind das für Dämonen?“

Nun noch viel nervöser als vorher schon verneigte Levy sich und nestelte dann an dem dicken Buch in ihren Armen herum, versuchte aber gleichzeitig, die Tasche mit ihren Aufzeichnungen nicht loszulassen. Sie schien beinahe an ihrem Unvermögen, Tasche und Buch gleichzeitig festzuhalten, zu verzweifeln. Die Blicke, die sie Minerva und ihren Vertrauten immer wieder zuwarf, wurden zunehmend ängstlicher. Schließlich stand Gajeel mit einem leisen Schnaufen auf, ging zu der Magistra hinüber und nahm ihr die Tasche ab. Die überraschten Blicke der anderen Drachenreiter ignorierte er geflissentlich.

Zuerst verwirrt, dann erleichtert blickte Levy zu dem Hünen auf, dann nickte sie ihm dankbar zu und klappte endlich das Buch auf. Die Anderen rückten näher oder beugten sich vor, um erkennen zu können, was die Magistra zeigen wollte. Sie schlug ein Kapitel mit dem reißerischen Titel Die Dämonen der Apokalyptischen Freiheit auf. Unter dem Titel war eine verblasste Tuschezeichnung abgebildet, welche mehrere Gestalten unterschiedlicher Form und Größe zeigte, einige klar erkennbar, andere nur schattenhaft, aber alle doch von annähernd menschlicher Gestalt, ihnen folgte ein Heer unförmiger, niederer Dämonen. Unter der Zeichnung war dasselbe Symbol abgebildet, das Libra ihnen vorhin gezeigt hatte.

„Tartaros“, erklärte Levy ruhig. „Eine Gruppe überaus mächtiger Dämonen. Während der Besiedlungskriege haben sie tausende von Menschen getötet. Dann in den Geisterkriegen haben sie nach dem Tod des Königs die Städte der Geister vernichtet und ihr Land verwüstet.“

Wäre die Situation nicht so ernst, hätte Meredy sich ein amüsiertes Lächeln bei den Mienen der Anderen erlaubt. Außer Lucy schien keiner der Anwesenden etwas mit diesen Informationen anfangen zu können. Meredy selbst musste sich eingestehen, dass sie nichts über diese alten Zeiten wusste. Wenn sie sich mit der ishgarischen Geschichte beschäftigt hatte, dann mit der jüngeren seit der Thronbesteigung der Unsterblichen Kaiserin.

Von den Besiedlungskriegen hatte sie nur mal vage Geschichten gehört, die Geisterkriege waren ihr jedoch ein Rätsel. Insbesondere die Erwähnung eines Königs verwirrte sie.

„Aber die Besiedlungskriege sind mindestens anderthalb Millennien her und die Geisterkriege fanden vor neunhundert Zyklen statt“, wandte Lucy mit skeptischer Miene ein. „Die Quellenlage aus der Zeit der Besiedlungskriege ist mehr als dürftig. Wie kann man sich sicher sein, dass die gleiche Gruppe dafür verantwortlich ist?“

„Nicht die gleiche, dieselbe“, erwiderte Levy unbehaglich. „Wir haben es hier mit Höhlengebundenen zu tun. Und wir können uns da absolut sicher sein…“

Wortlos klappte Levy das Buch wieder zu und deutete auf den Autorennamen unter dem Titel. „Eclair“, hauchte Lucy ehrfürchtig. „Die Windpriesterin…“

„Ich verstehe gar nichts“, brummte Sting verstimmt. „Wer ist diese Eclair? Und wieso macht das die ganze Geschichte glaubwürdiger?“

Überrascht sahen Levy und Lucy reihum, aber keiner der Anderen sah so aus, als könnte er Stings Fragen beantworten.

„Nicht jeder ist so ein Geschichtsexperte wie ihr Zwei“, schmunzelte Meredy amüsiert, während Gray die Augen verdrehte.

„Ihr wisst nichts über die Windmenschen?“, fragte Lucy.

„Haben die etwas mit den Feuermenschen zu tun?“, warf Sting ein. Als alle ihn verblüfft ansahen, zog er eine Schnute. „Das Feuertanzlied ist halt gut!“

Synchron verdrehten Minerva und Rogue die Augen, während Orga leise schnaubte und Rufus in sich hinein schmunzelte, aber keiner von ihnen konnte über seine Erheiterung hinweg täuschen. Für Andere mochte es befremdlich wirken, dass die Fürstin und ihre Getreuen sich so schnell vom Verlust eines geschätzten Kameraden ablenken ließen, aber Meredy wusste aus eigener Erfahrung, dass das die Spuren anderer Verluste waren. Verluste in einem Krieg, in dem man sich Trauer nicht hatte leisten können. Um weiter funktionieren zu können, um weitere Verluste verhindern zu können, waren solche Ablenkungen der einzige Weg. Nicht auf Dauer, aber zumindest fürs Erste.

„Sie haben nicht direkt etwas miteinander zu tun“, erklärte Lucy und schenkte Sting ein entschuldigendes Lächeln. „Es gab früher Wind-, Wasser-, Feuer- und Erdmenschen. Die Wassermenschen sollen eine Insel im Kaiserlichen Meer besiedelt haben, die Windmenschen waren in den Hohen Bergen, die heute zu Cait Shelter gehören, die Erdmenschen im Alten Wald, der sich heute über das Gebiet von Magnolia erstreckt, und die Feuermenschen in der Stillen Wüste. Am Ende der Siedlungszeit waren sie die stärksten Verbündeten der Menschen, auch wenn es immer nur sehr wenige von ihnen gab. Vor fünfhundert Jahren sind beinahe alle von ihnen verschwunden, etwa zur selben Zeit, als auch die Ersten Drachen Ishgar verließen. Es ist bis heute unklar, was damals passiert ist und ob das alles miteinander zusammenhängt. Jedenfalls sind danach nur ganz selten Vertreter der Völker aufgetreten. Eclair war ein Windmensch und als solche eine überaus mächtige Windmagierin. Und sie konnte in die Vergangenheit blicken.“

„Wie soll das denn möglich sein?“, fragte Gray skeptisch.

„In Astronomenkreisen kursiert die Theorie, dass es auch heute noch möglich ist“, warf Rufus bedächtig ein. „Wenn Windmagier eine hohe Stufe der Konzentration erreicht haben, können sie in die Vergangenheit blicken. Oder in die Ferne. Allerdings ist das seit vielen Jahrhunderten niemandem mehr gelungen.“

Levy nickte auf die Worte des Windmagiers hin und fuhr fort: „Einige der Windmenschen waren dazu in der Lage. Aber es sind meist nur unklare Bilder gewesen, die sie erkennen konnten. Es gibt in den Berghöhlen von Cait Shelter einige Höhlenzeichnungen von ihren Eindrücken. Die meisten davon sind sehr wirr, ergeben nur unförmige Gestalten, die zusammenhanglos nebeneinander zu stehen scheinen. Eclair war einer der ganz wenigen Windmenschen, der so gut war, um tatsächlich vergangene Ereignisse nacherzählen zu können.“

„Haben die Feuermenschen und die Anderen auch solche besonderen Fähigkeiten?“, fragte Sting und blickte nun unverhohlen neugierig zwischen Lucy und Levy hin und her.

Wieder nickte Levy und antwortete eifrig. Über für sie so vertraute Themen zu sprechen, schien ihr etwas von ihrem Selbstvertrauen wieder zu geben. Sie hatte sogar aufgehört zu zittern. „Die Erdmenschen konnten mit Pflanzen reden und die Wassermenschen dem Meer lauschen. Und Feuermenschen kon-“

Levy brach jäh ab, als noch jemand in den Saal trat. Mit einem Mal waren Sting, Minerva und Orga wieder auf den Beinen, denn auf der Schwelle stand niemand geringerer als Dobengal. Der Assassine sah erschöpft und mitgenommen aus, er hatte an der linken Wange einen langen Schnitt und kleinere Schnitte an der linken Schulter. Seine sandbraunen Haare waren auch noch feucht und seine Kleidung an der linken Seite mehrfach aufgerissen. Aber er hatte keine einzige Verbrennung.

„Dob, du lebst!“, keuchte Sting und er schien drauf und dran, auf den Jüngeren zu zueilen.

„Ihr auch“, stellte der Jüngere nüchtern fest, als hätte nicht gerade ein Teil des Palasts in Flammen gestanden. „Glück gehabt.“

„Wie hast du es geschafft, den Flammen zu entkommen?“, fragte Minerva, die sich wieder gefasst hatte und sich langsam zurück auf die Überreste des Tisches sinken ließ.

„Bin zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen“, log der Assassine.

Meredy war sich sicher, dass er log. Er war wirklich verdammt gut, das musste sie anerkennen, seiner Miene war nicht das Geringste anzumerken und seine Stimme war so ruhig wie eh und je, aber Meredy war schon zu lange als Assassine tätig, als dass man sie täuschen könnte. Die Frage war, warum Dobengal seine Kameraden belog, die sich so offensichtlich große Sorgen um ihn gemacht hatten. Was hatte er vor ihnen zu verbergen? Doch Meredy glaubte nicht, dass es da ein Loyalitätsproblem gab, also schwieg sie sich über ihre Erkenntnis aus.

„Hauptsache, dir geht es gut“, entschied Minerva und winkte ihren Assassinen zu sich.

Mit einem müden Seufzer ließ dieser sich auf dem Boden zu Füßen seiner Fürstin nieder und erhob auch keinen Protest, als Sting ihm mit einem erleichterten Grinsen auf die Schulter schlug.

„Bitte fahrt fort“, wandte Minerva sich wieder an Lucy und Levy.

„Also…“ Levy räusperte sich und schlug das Buch wieder an der Stelle auf, die sich mit Tartaros beschäftigte. „Tartaros wurde allem Anschein nach den Geisterkriegen stark dezimiert und schlug sich nach Süden durch. Während der Nomadenzüge tauchte nur einer der Dämonen von Tartaros wieder auf.“ Die Magistra blätterte um, bis ein Dämon mit Umhang und Totenmaske auf einer Seite erschien, exakt wie Libra ihn vorhin beschrieben hatte.

„Der Totengolem!“, riefen überraschenderweise Sting und Minerva gleichzeitig aus.

„Es gibt eine Abbildung von ihm in der Lerngrotte“, erklärte Sting aufgeregt. „Er soll die Golems angeführt haben, als diese die Ersten angegriffen haben. Tetra Orland hat ihn damals fünf Jahre lang gejagt!“

„Um genau zu sein, scheint er die Golems irgendwie manipuliert zu haben“, erklärte Levy. „Hier sind die Aufzeichnungen von Eclair sehr vage. Wie gesagt, es war sehr schwierig, in die Vergangenheit zu blicken. Eclair deutete das, was sie gesehen hatte, so, dass dieser Dämon die Golems irgendwie mit seiner Sandmagie gesteuert hat. Offensichtlich hielt Eclair es für möglich, dass starke Sandmagier dazu in der Lage sind, Geschöpfe der Wüste zu manipulieren. Ähnlich wie Windmagier es mit Menschen und Tieren machen können.“

„Dann war seine Magie stark genug die Golems zu kontrollieren…“, kombinierte Romeo mit angewiderter Miene. „Die Kriege damals…“

„… waren ein weiteres Komplott von Tartaros…“, murmelte Minerva und ihre olivgrünen Augen verengten sich merklich. „Und dann könnte es dieser Dämon gewesen sein, die unseren Dörfern die Basilisken auf den Hals gehetzt hat?“

Nun wieder verunsichert zuckte Levy mit den schmalen Schultern. „Die dracologischen Abhandlungen über Basilisken sind sehr dürftig. Es gibt noch viele Rätsel über die Anatomie der Drachenartigen und eigentlich ist man bisher immer davon ausgegangen, dass ihre ihnen eigene Magie es nicht möglich macht, dass sie kontrolliert werden…“

Die Stimme der Magistra erstarb und sie rieb sich unbehaglich über den Arm, der das kostbare Buch wieder an ihre Brust drückte. Im Saal herrschte gedrücktes Schweigen. Insbesondere Sting stierte finster zu Boden. Diese Einsicht in die Hintergründe eines Krieges, der Generationen seines Volkes in Bedrängnis gebracht hatte, musste ihm ganz schön zu denken geben.

„Aber warum?“, fragte Meredy und schlug dabei absichtlich einen nüchternen Tonfall an. „Was hatte Tartaros davon, Menschen und Golems aufeinander zu hetzen?“

„Vor der Besiedlung gab es keine Menschen auf Ishgar. Der Kontinent hat den Dämonen, den Geistern und den Ersten Drachen gehört“, überlegte Lucy laut.

„Sie wollten also ihre Heimat zurück erobern“, schlussfolgerte Gajeel brummend.

„Wie Lucy vorhin gesagt hat, sind die Aufzeichnungen aus der Besiedlungszeit ziemlich rar“, erklärte Levy mit grüblerischer Miene, offensichtlich dankbar für dieses neue Thema. „Das meiste sind wilde Legenden, aber ihr wesentlicher Kern ist meistens gleich: Die Siedler waren Vertriebene oder Heimatlose, vielleicht auch Überlebende einer Katastrophe. Sie kamen über das Meer, landeten an der Ostküste von Ishgar und nahmen das Land in Besitz, das ihnen unbewohnt erschien.

Mit den Geistern schlossen sie relativ früh einen Nicht-Angriff-Pakt oder womöglich sogar einen Friedensvertrag. Als sie ins Gebiet der Ersten Drachen kamen, wurden sie wieder vertrieben. Die Dämonen jedoch, die untereinander und mit den Drachen und Geistern verfeindet waren, griffen sie an.

Einige Siedler flohen in andere Gebiete von Ishgar, so wurden Edolas, Bosco und die anderen Länder besiedelt. Andere nahmen den Kampf auf. Es gibt viele fantastische Geschichten, wie die Siedler gewonnen haben, aber ich halte es für viel wahrscheinlicher, dass es zu einer Pattsituation gekommen ist, als die magischen Menschen auftauchten. Deren Herkunft ist vollkommen unklar und ebenso wenig ist klar, wie die Siedler an Magie gekommen sind.

Jedenfalls haben die Golems sich einfach zurückgezogen und die Wolfsdämonen waren sowieso schon immer unabhängig von den anderen Dämonen. Die Höhlengebundenen aber kämpften weiter, unterstützt von niederen Dämonen wie Berserkern und Windteufeln. Sie haben Kinder abgeschlachtet, Brunnen vergiftet, Tiere auf ihre Herren gehetzt… Im Gegenzug haben die Menschen die Bruthöhlen der Dämonen nach und nach vernichtet. Die Parteien haben einander damals nichts geschenkt.“

Unbehaglich strich Levy sich eine Strähne hinters Ohr, wie sie es immer tat, wenn sie nervös war.

„Etwas verstehe ich nicht“, meldete Lyon sich zu Wort. „Wie können die Dämonen jetzt noch existieren? Von unsterblichen Dämonen ist nie die Rede gewesen, soweit ich mich erinnern kann.“

„Ihre Bruthöhle“, murmelte Lucy und Levy nickte zustimmend. „Höhlengebundene reproduzieren sich anders als die meisten anderen Wesen. Oder haben es zumindest getan. Es ist eines der großen Mysterien der Dämonologie, wie genau es funktionierte, aber diese Bruthöhlen waren organisch und wahrscheinlich auch bis zu einem gewissen Grad intelligent. Sie haben neue Dämonen geboren und verletzte Dämonen geheilt. Womöglich hat die Bruthöhle von Tartaros ihre Dämonen am Leben erhalten.“

„Aber warum tauchen sie ausgerechnet jetzt wieder auf?“, brummte Sting.

„Und was haben sie mit Avatar zu tun?“, setzte Rogue nach.

Ratlos hoben Lucy und Levy die Schultern an.

„Im Moment ist mir das egal“, entschied Minerva herrisch. „Nach dem, was Ihr erzählt habt, klingt es für mich ganz danach, als hätte Tartaros vor, alle Bewohner der Stillen Wüste zu töten. Und sie haben Jadestadt als Geisel verwendet, damit wir still halten.“

„Und dann haben sie gezielt den Palast angegriffen, um Sabertooth die Führung zu nehmen“, murmelte Rogue und Sting stieß ein tiefes Knurren aus.

„Was dank unserer Freunde gescheitert ist“, sagte Minerva und nickte dankbar in Richtung der drei Bewusstlosen, ehe sie sich wieder an Levy wandte. „Denkt Ihr, dass der Dämon, der dieses Feuer gelegt hat, auch zu Tartaros gehört?“

„Ich bin mir ziemlich sicher.“ Wieder schlug Levy das Buch auf und zeigte die Abbildung eines Dämons mit einem menschlichen Oberkörper, aus dessen Haaren lange, spitze Schakalohren ragten. Seine Beine waren die eines Schakals, er besaß einen dementsprechenden Schwanz, sein Körperbau war schlank und sehnig, seine Miene grausam und blutrünstig. Unter der Abbildung war ein kurzer Text, auf welchen Levy tippte, während sie weiter sprach: „Laut Eclair war dies einer der kriegerischsten Dämonen von Tartaros. Und anscheinend der einzige Feuerdämon. Eclair hat mehrmals gesehen, wie er verschiedene Menschensiedlungen verbrannt hat, allerdings schien dem danach auch immer eine Schwächeperiode zu folgen. Eine so starke und konzentrierte Magieanwendung fordert auch von Dämonen ihren Tribut.“

„Das gibt uns also etwas Zeit“, murmelte Minerva und blickte nachdenklich zu Boden. Schließlich nickte sie entschlossen und erhob sich, eine Hand auf ihrem Säbel. „Orga, teile deine Truppen auf. Wir brauchen eine schlagkräftige, wüstenerfahrene Angriffsgruppe, aber auch eine vernünftige Verteidigung für Sabertooth. Rufus, Dobengal, ihr versucht, diesen Feuerdämon zu finden und kümmert euch um die Stadt, während ich mit Orga und dem Heer mitgehe. Sting, Rogue, ihr sucht Zirkonis und macht euch dann mit ihm auf die Suche nach dieser Bruthöhle von Tartaros.“

Während die anderen Drei bereitwillig nickten, tauschten Sting und Rogue nur einen Blick. Ersterer verschränkte schließlich stur die Arme vor der Brust und blickte seiner Fürstin rebellisch in die Augen. Die seufzte ungeduldig. „Ich weiß, was ihr eigentlich tun wollt, aber… Was würde Yukino von euch erwarten?“

Sting verzog unwillig das Gesicht, Rogue jedoch legte ihm wieder eine Hand auf die Schulter und blickte Minerva unverfroren ins Gesicht. „Und was würde sie an unserer Stelle tun?“

Die Entgegnung gefiel Minerva offensichtlich nicht und in der Luft lag eine Spannung, die selbst Meredy frösteln ließ. Ihr Blick huschte zu Gray und Lyon, die in Malba vor einer ähnlichen Entscheidung gestanden hatten.

„Wendy kann sie finden“, brummte Gajeel und verdrehte die Augen. „Offensichtlich…“

Die Drachenreiterin blickte verblüfft zu dem Bosco auf, Romeo hingegen wiegte mit nachdenklicher Miene den Kopf hin und her.

„Aber ihr kennt euch mit der Wüste nicht aus“, wandte Rogue ein.

„Ich gehen mit ihnen mit“, erklärte Gajeel. „Ich kenne die Hochebenen von Bosco, da sind die Bedingungen ähnlich.“

Noch immer sahen Sting und Rogue nicht überzeugt aus, aber Minerva nickte dankbar und wandte sich an Lucy. „Ich danke Euch für Eure bisherige Hilfe, aber mehr kann ich unmöglich von Euch annehmen.“

„Dennoch werdet Ihr mehr erhalten“, erwiderte Lucy und straffte dabei wieder die Schultern. „Ich kann euch keine Kampftruppen zur Verfügung stellen, aber ich biete Euch erneut mein Schwert an und hoffe, dass Ihr es nutzt.“

„Ihr trag die Verantwortung für Euer Volk, ich kann Euch nicht dieser Gefahr aussetzen.“

„Unsere Völker sollen endlich Freundschaft schließen. Das geht nicht, wenn Tartaros hier obsiegt“, hielt Lucy dagegen.

„Dann lass’ Lucy mit uns gehen“, schlug Sting vor, der Gajeel einen weiteren prüfenden Blick zuwarf, ehe er diesem zunickte und sich gänzlich den beiden Fürstinnen zuwandte. „Der alte Drache ist sowieso viel umgänglicher bei Frauen.“

„Das wird Loke nicht gefallen“, warnte Gray, der selbst alles andere als begeistert aussah.

„Er wird die Entscheidung seiner Fürstin akzeptieren müssen“, war die stachelige Antwort von Lucy.

„Dann komme ich mit euch mit.“

„Ich denke, es ist sinnvoller, wenn wir mit der Hauptstreitmacht mit gehen“, widersprach Lyon seinem Bruder. „Ein paar Magier können sicher nicht schaden. Und zu dritt können sie auf einem Drachen reiten, bei mehr Leuten wird es schwieriger.“

„Mitglieder der Magierschwadron wären uns tatsächlich hochwillkommen“, erklärte Minerva mit einem beifälligen Nicken. „Ich hoffe darauf, dass Natsu und Juvia sich uns ebenfalls anschließen werden.“

„Was das Feuerhirn macht, ist mir egal, aber Juvia wird nicht in euren Krieg ziehen“, entschied Gajeel schroff. „Sie wird hier bleiben, hier kann sie auch helfen.“

„Das ergibt sogar Sinn“, mischte Rufus sich ein. „Sie wird bei der Verteidigung gegen den Feuerdämon sicher von ungeheurem Wert sein.“

„Und was wollt ihr tun?“, wandte Sting sich fragend an Meredy und Levy.

Für Meredy stand schon eine ganze Weile fest, was sie tun wollte. Wenn sie ihrem eigentlichen Ziel weiterhin näher kommen wollte, gab es nur einen Weg für sie. Sie blickte bewusst nicht in Dobengals Richtung, als sie antwortete: „Ich werde mit der Hauptstreitmacht mitziehen.“

„Und ich werde hier bleiben und mit Eurer Erlaubnis versuchen, in den Privatbibliotheken nach mehr Hinweisen zu suchen“, erklärte Levy.

„Sie könnte mit Meister Orgs Bibliothek anfangen“, schlug Rufus vor und wieder nickte Minerva.

„Und was ist mit uns? Wir wollen auch helfen“, protestierte Lector empört.

„Frosch denkt das auch!“

Stings und Rogues Gesichter ließen keinerlei Zweifel daran, was die Beiden von dieser Idee hielten, aber es war Lucy, die den Exceed antwortete: „Für euch Beide habe ich eine besondere Mission. Ihr müsst so schnell wie möglich nach Heartfilia fliegen und dort Meister Capricorn erzählen, mit was für Gegnern wir es hier zu tun haben. Er wird mit dem nächsten Schiff Hilfe mitschicken. Richtig eingesetzt, sind Lacrima sehr effektiv im Kampf gegen Dämonen.“

Die beiden Exceed überlegten angestrengt, aber schließlich nickten sie zustimmend. Minerva schenkte der anderen Fürstin ein dankbares Lächeln, dann klatschte sie in die Hände. „Nun, da alles geklärt ist, sollten wir uns an die Vorbereitungen machen. Es gibt einen Krieg gegen Dämonen zu schlagen.“
 

Von Anfang an hatte Mavis es den Bewohnern des Turms der Ewigkeit immer frei gestellt, wie sie ihre Privaträume gestalteten. Wer den Rest seines Lebens in diesen Gemäuern verbringen würde, sollte sich auch in ihnen wohl fühlen.

In den vielen Dekaden hatte Mavis allerlei Kultureinschläge erlebt. Aus allen Ecken Fiores hatte sie bereits Wächter rekrutiert, die Möbel, Kleidung, Kunstgegenstände und dergleichen mehr aus ihrer Heimat in den Turm geholt hatten.

Als vor hundert Zyklen ein Wüstennomade zum Wächter des Feuers ernannt worden war, hatte er sogar nach einigen Sommern im Turm mehrere Säcke Wüstensand nach Crocus bringen lassen und diese in seinem Raum auf dem Boden verteilt. Das hatte das Heimweh des jungen Mannes jedoch auch kaum mildern können. Zu spät hatten Mavis und die anderen Wächter bemerkt, dass er schließlich angefangen hatte, sich mit Basiliskengift zu verätzen, um mit seinem inneren Druck fertig zu werden. Eine Geschichte, an die Mavis nicht gerne dachte, die sich ihr jedoch jedes Mal aufdrängte, wenn sie dieses Zimmer betrat.

Totomarus Einrichtungsstil sollte sie nach all dem nicht überraschen, aber sie war doch verblüfft gewesen, als sie mitbekommen hatte, wie er sich von dem Geld, das sie ihm dafür zur Verfügung gestellt hatte, nach und nach Kulturgüter aus Bosco besorgt hatte. Jedes Mal, wenn sie nun sein Zimmer betrat – so selten das auch der Fall war – hatte sie das Gefühl, sich im Trödelwagen eines boscanischen Händlers zu befinden.

Felle von Boscanischen Steinböcken, Gazellen und Wölfen bedeckten größtenteils den Boden und hingen an den Wänden. Übereinander gestapelte, geflochtene Matten stellten, gepolstert mit weiteren Fellen, die Bettstatt dar. Auf einem Regal reihten sich Selus- und Lamlameta-Spielbretter aus Horn und Holz aneinander und auf einem niedrigen Tisch aus Wacholderholz stand sogar ein Oware-Spielbrett aus Bronze, daneben eine bauchige Flasche mit goldgelben Tej, zwei umgedrehte Trinkschalen aus weißem Horn und ein mitgenommenes Buch, das dem Titel nach die Oware-Spielregeln und -Taktiken enthielt.

Auf weiteren Regalen standen geschnitzte Figuren von Bergnyala, Wölfen, Klippspringern und anderen Tieren der boscanischen Hochebenen, dazwischen geknetete Kerzen und die Hörner verschiedener Gazellenarten. Federn und Schnäbel von Vögeln – Mavis erkannte lediglich den charakteristischen Schnabel eines Erzraben – hingen an Bändern von der Decke. Ritualdolche zierten freie Stellen an der Wand und über dem Bett hing eine lange, schlanke Bosco-Klinge – der sonst so beherrschte Lahar hatte damals beinahe einen Aufstand geprobt, als Totomaru mit der kostbaren und äußerst gefährlichen Waffe den Turm hatte betreten wollen.

Ein großes Regal war gefüllt mit Büchern über Boscos Kultur und Geschichte, sowie mit mehreren Wörterbüchern und Grammatiken. Eine gesamte Reihe des Regals war Büchern in Bosco vorbehalten, deren Schrift selbst für Mavis, die so viel Zeit gehabt hatte, um die Sprachen Ishgars zu lernen, ungewohnt war. Umso beeindruckter war sie, dass Totomaru sich die Schrift mit Hilfe seiner dürftigen mündlichen Bosco-Kenntnisse selbst angeeignet hatte.

Das Prunkstück des Raums stellte eine kunstvolle Beganna mit goldenen Einlegearbeiten dar, die auf einem Hocker aus Wacholderholz an der Wand ruhte, das Holz glänzend dank der guten Pflege, die Totomaru dem Instrument nach jeder Übungsstunde angedeihen ließ.

Mavis hatte bereits dreimal Boscos zu Wächtern auserkoren, aber der letzte war vor fünf Generationen hier gewesen – zu einer Zeit, als Bosco sich in der Blüte befunden hatte – und kein einziger von ihnen war jemals so traditionsbewusst wie Totomaru gewesen. Dabei hatte der junge Mann gerade genug von sich selbst preisgegeben, dass Mavis sich ein Bild von seiner elendigen Kindheit in einem der Bergwerke hatte machen können. Wie er das Bergwerk hatte verlassen können und wie er es sogar bis nach Crocus geschafft hatte, war Mavis bis heute ein Rätsel. Auch wenn er bereits mit so jungen Jahren sein Talent als Feuermagier entdeckt hatte und mit einer ebenso starken Wassermagierin zusammen gewesen war, war das doch eine ungeheuer lange und beschwerliche Reise.

Unter diesen Gesichtspunkten konnte Totomaru eigentlich keine guten Erinnerungen an seine Heimat haben und dennoch wirkte dieser Raum hier beinahe wie ein boscanisches Heiligtum. Alles hier kündete davon, wie sehr Totomaru die Kultur seines Geburtslandes in Ehren hielt. Sogar sein eigenes Äußeres kündete davon, trug er doch das Kastenzeichen eines Händlers auf dem Gesicht. War seine Familie eine Händlerfamilie gewesen?

Manchmal würde Mavis ihn gerne deswegen ausfragen. Die Neugierde brannte ihr geradezu unter den Nägeln und sie gab es gerne zu: Sie wollte gerne mehr aus erster Hand über das Nachbarland erfahren, das ihren Vasallen im Südwesten so viele Schwierigkeiten bereitete und so vielen ihrer Soldaten das Leben gekostet hatte. Sie wünschte sich ein Bild abseits der allseits bekannten Schandflecke der Sklaverei und Kinderarbeit. Vielleicht könnte ihr das helfen, zu verstehen, wie aus einer glanzvollen Hochkultur etwas so Verdorbenes hatte werden können. Vielleicht konnte ihr das sogar helfen, eine solche Entwicklung in Fiore zu verhindern…

Aber heute hatte sie andere Sorgen. Und nicht wenige davon drehten sich unmittelbar um den Bewohner dieses außergewöhnlichen Zimmers, der auf der Bettstatt saß, den Rücken an die Wand gelehnt und eine grob gestrickte Decke mit boscanischen Mustern bis zur Brust hoch gezogen.

Sein Gesicht war bleich und seine Augen lagen tief in den Höhlen, als hätte er mehrere Nächte lang nicht geschlafen. Seine Hände zitterten vor Erschöpfung und krallten sich wie Klauen in die Decke, während der junge Mann müde zu seinen Gästen aufblickte.

„Bist du sicher, dass du bereits so weit bist?“, fragte Ur ruhig, die mit Chelia an dem niedrigen Tisch mit dem Oware-Spielbrett saß. Sie hatte einen Arm um die Schultern der Jüngeren geschlungen, die sich nach Totomarus Zusammenbruch heute Morgen nur langsam hatte beruhigen können.

„Ich muss doch nur’n paar Fragen beantwort’n“, erwiderte der Bosco matt, seine Aussprache sehr viel unsauberer als sonst, und blinzelte mehrmals, ehe er die Schultern straffte.

„Übertreib’s nicht“, brummte Yuri. Der Blitzmagier hatte es sich auf dem Fußende von Totomarus Bett bequem gemacht und klopfte jetzt gegen Totomarus Beine. „Du hättest uns nicht extra noch heute Abend rufen müssen.“

„Wenn ihr glaub’n würdet, dass es nich wichtig wär’, wärt ihr nich hier.“

„Eine Eiche, die dem Sturm getrotzt hat, kann danach auch unter einem leichten Regen einknicken, wenn sie keine Zeit zur Erholung findet“, warf Warrod bedächtig nickend ein. Seine Worte klangen beinahe beiläufig und er blickte nicht einmal von der Teetasse auf, die er mitgebracht hatte, als Beth sie alle in Totomarus Zimmer gerufen hatte, aber von der Seite erkannte Mavis sein sorgenvolles Stirnrunzeln.

So gerne der Erdmagier sich auch als witziger Kauz gab, unter all seinen Marotten lagen doch noch immer tiefe Anteilnahme am Schicksal der anderen Wächter. Die Tatsache, dass er ein Sprichwort aus seiner alten Heimat zitierte, war Beleg genug dafür. Auch nach all der Zeit noch machte dieses Erbe einen fundamentalen Bestandteil seines Wesens aus.

Zu Mavis Rechter verlagerte Zeref beinahe unmerklich sein Gewicht. „Wir sollten das hier nicht noch weiter in die Länge ziehen.“

„Danke, Meister“, murmelte Totomaru und strich sich mit einer zitternden Hand durch das zweifarbige Haar.

Um nicht die ganze Zeit über dem erschöpften Feuermagier aufzuragen, trat Mavis an den Tisch und ließ sich zu Chelias anderer Seite nieder. Für einen Moment glitt ihr Blick über das Oware-Spielbrett. So schlicht es auch aussah, die Regeln dieses Spiels waren ausgesprochen komplex. Sie fragte sich kurz, ob Totomaru mal eine Partie mit ihr spielen würde, wenn sich die Lage wieder entspannt hatte, aber dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den jungen Mann.

„Bevor du das Bewusstsein verloren hast, hast du etwas von drei Magien gesagt. Was meintest du damit?“

„Dass ich drei verschiedene Magien gespürt habe“, antwortete Totomaru mit einem halbherzigen Schulterzucken. „Ich habe das Miasma gereinigt. Es war nichts Besonderes dabei, so überragend viele Feuermagier gibt es ja nicht auf Ishgar.“

Das konnte er laut sagen. Bevor Zeref und Mavis den Bosco gefunden hatten, hatten sie fast drei Zyklen lang nach einem Feuermagier gesucht. Zeitweilig hatten sie sogar erwogen, ob es notwendig war, einen Feuergeist in Heartfilia zu suchen, auch wenn sie genau gewusst hatten, dass die Magie eines Geists aus irgendeinem Grund zu fragil für die Reinigung war, weshalb die Schäden an Körper und Geist bei Geistern viel früher auftraten. Es war ein Glücksfall gewesen, dass Yuri bei einem seiner seltenen Tavernenbesuche in der Stadt einen jungen Burschen beobachtet hatte, der abwesend mit einer Kerzenflamme gespielt hatte, während er über einem alten Buch gebrütet hatte.

„Was ist dann passiert?“, fragte Zeref ruhig.

„Ich war schon dabei, die Meditation zu beenden, als beinahe gleichzeitig drei verschiedene Feuermagien gewirkt wurden. So starke, wie ich sie nicht mehr gespürt habe, seit ich beim ersten Mal die Reinigung für drei Zyklen nachholen musste.“ Totomaru schnitt eine schmerzerfüllte Grimasse. „Ich glaube, einer der Magier war dann wohl Natsu.“

Von Yuri war ein Schnauben zu hören. „Keiner von uns war jemals in der Lage, so detailliert zu unterscheiden, was er bei der Reinigung im Miasma spürt.“

„Nicht meine Schuld“, erwiderte Totomaru trotzig.

„Nehmen wir mal an, dass du Recht hast und einer der Magier wirklich Natsu gewesen ist“, unterbrach Mavis eine aufkommende Diskussion zwischen Yuri und Totomaru. „Inwieweit unterscheiden sich die anderen Magien von seiner?“

„Sie tun’s einfach“, war die ratlose Antwort, begleitet von einem weiteren Schulterzucken. „Sie waren nicht menschlich, da bin ich mir sicher. Und sie gehörten zu unterschiedlichen Spezies und nicht zu Igneel. Ich habe sie noch nicht oft im Miasma gespürt, aber seine ist stärker als diese drei Magien.“

Eigentlich wollte Mavis ihrem alten Freund Recht geben, dass es nicht möglich war, die unterschiedlichen Magien im Miasma zu erspüren, aber sie musste sich eingestehen, dass sie es bisher einfach nicht versucht hatte. Was auch immer seine Gründe dafür waren, Totomaru hatte sich von Anfang an mit einer Konzentration um seine Aufgabe als Wächter des Feuers gekümmert, wie Mavis sie zuvor selten einmal bei einem Wächter festgestellt hatte. Er war auch vorher schon ausgesprochen vertraut mit seiner Magie gewesen. Wahrscheinlich resultierte das daraus, dass er seinen Magiebrand bereits in einem so jungen Alter gehabt hatte.

„Damit bleiben nur noch Geister und Dämonen“, schlussfolgerte Ur und verengte nachdenklich die Augen zu Schlitzen. „Aber gibt es überhaupt noch Feuerdämonen?“

„Muss ja“, murmelte Totomaru und rieb sich über die Augen.

„Haben die drei Magier gegeneinander gekämpft?“, fragte Yuri mit einem Stirnrunzeln.

„So genau weiß ich es dann auch nicht.“

Während Yuri ob dieser Antwort die Augen verdrehte, raschelte Warrod beunruhigt mit seinem Blätterhaar. „Es sind zu viele Zufälle auf einem Haufen…“

„Wie meint Ihr das, Meister?“, meldete sich Chelia zu Wort. Ihre Stimme klang dünn und zittrig.

Mavis antwortete an Stelle ihres alten Freundes und hob zur Unterstreichung jedes ihrer Punkte einen weiteren Finger: „Erstens sind die Drachen und die Drachenreiter aus irgendeinem Grund in Malba auf den Plan getreten und das auch noch gemeinsam, dabei sind sie eigentlich in ganz Fiore verstreut gewesen. Zweitens gibt es ein Problem mit allen Drachenartigen. Drittens gibt es eine ungewöhnlich hohe Aktivität im Miasma, insbesondere im Windmiasma. Viertens haben wir vor kurzem alle die Urmagie gespürt. Und nun treten auch noch Dämonen auf den Plan, von denen wir geglaubt haben, dass sie ausgestorben sind…“

„Ihr glaubt, dahinter steckt irgendetwas oder irgendjemand?“, fragte Chelia und rutschte unruhig auf dem Bastkissen herum, das ihr als Sitzunterlage diente. „Aber wer wäre dazu in der Lage?“

„Und warum?“, schob Totomaru hinzu und kämpfte vergeblich gegen ein Gähnen an.

„Darum solltest du dir heute keine Gedanken mehr machen“, sagte Yuri und klopfte wieder auf Totomarus Schienbeine. „Darüber zu grübeln, bringt uns sowieso nichts. Jellal und Urtear finden schon heraus, wo die Drachen und ihre Reiter sind. Ein paar ziemlich schlaue Leute durchforsten die Dracologie-Abteilung in der größten Bibliothek von Ishgar und wir passen derweil aufeinander auf, wenn wir das Miasma reinigen.“

Totomaru schnaufte unverfroren. „Ich werde nach dreihundert Sommern hoffentlich nich so… so naiv klingen…“, murmelte er, gähnte jedoch schon wieder.

„Nach dreihundert Sommern wirst du merken, dass es nichts bringt, immer auf den Sprung zu sein“, war Yuris lakonische Entgegnung, aber Mavis bemerkte den altbekannten Schatten sehr wohl, der für einen Moment über Yuris Gesicht huschte.

Um sich selbst und alle Anderen davon abzulenken, stemmte sie sich rasch in die Höhe. „Wir sollten Totomaru jetzt wirklich schlafen lassen. Wie Yuri gesagt hat, haben wir vertrauenswürdige Leute dort draußen, die versuchen, ein paar unserer Fragen zu beantworten. Solange wir nicht mehr wissen, können wir also nicht mehr tun, als aufeinander aufzupassen. Ab sofort müsst ihr immer jemanden dabei haben, wenn ihr meditiert, und ihr solltet zwischen den Meditationen viel ruhen. Totomaru, du wirst frühestens in einem halben Mond wieder das Miasma reinigen. Auf keinem Fall vorher.“

Wenn er munterer wäre, hätte der junge Mann wohl protestiert, das konnte Mavis seinen Augen ansehen, so jedoch gab er nur ein unwilliges Brummen von sich, ehe er sich an der Wand nach unten auf seine Matten sinken ließ und die Decke bis zum Kinn zog.

Einer nach dem nächsten verließen sie den Raum. Im Flur warteten Lisley und Beth auf Nachrichten. Unwillkürlich musste Mavis lächeln. Sie hatte es niemals vorgehabt, aber als sie damals den Turm der Ewigkeit hatte errichten lassen und die Gemeinschaft der Wächter gegründet hatte, hatte sie anscheinend auch eine Familie entstehen lassen, in der alle füreinander sorgten. Insbesondere in unsicheren Zeiten wie jetzt war es ein gutes Gefühl, diese Familie zur Seite zu haben.

„Totomaru braucht noch ein paar Tage Erholung, dann wird er wieder ganz der Alte sein“, versprach sie den beiden Turmdienerinnen.

„Ja, ganz der vorlaute Bengel“, schnaubte Yuri amüsiert und klopfte Chelia beruhigend auf die schmale Schulter, ehe er sich auf dem Weg nach oben zu seinem Quartier machte.

„Eine alte Birke biegt sich genauso wie eine junge“, sinnierte Warrod und Beth kicherte leise.

Während sie mit Zeref ebenfalls die Treppen erklomm, musste Mavis es ihr unwillkürlich gleich tun und aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, wie sich einer von Zerefs Mundwinkeln minimal hob.

Die Gabelung, an der sie voneinander Abschied nahmen

Es war eine weitere sternenklare Nacht, wie sie in der Stillen Wüste typisch waren. Wolken waren bei Tage wie bei Nacht außerhalb der Regenzeit selten hier, hatte Meredy vor einigen Tagen erklärt, als sie auf der Pyxis die unklare Grenze zwischen dem Kargland und der Stillen Wüste passiert hatten.

Gray kannte solche Nächte. Er hatte sie in Crocus so einige Male erlebt und ein paar Mal hatte er Lucy sogar während ihrer Studien in solchen Nächten auf dem Astronomieturm Gesellschaft geleistet. Vor allem aber hatte er solche Sternenhimmel auch in der Heimat erlebt. Sie waren dort nicht so häufig wie hier, aber häufig genug, dass sie eine der wichtigsten Orientierungshilfen für die Eismenschen waren. Lange bevor er mit seiner Lehrmeisterin nach Crocus aufgebrochen war, hatte Gray die wichtigsten Sternbilder und ihre Wanderungen im Verlauf eines Zyklus’ eingetrichtert bekommen. Er hatte gelernt, wie er in der Nacht die Himmelsrichtungen bestimmte, welche Sterne am verlässlichsten waren und welche trügerisch.

Die große Begeisterung seiner langjährigen Freundin für Astronomie hatte Gray jedoch nie geteilt. Sterne waren ein nützliches Hilfsmittel, mehr nicht.

Zumindest war das früher so gewesen.

Jetzt erinnerten solche Nächte ihn immer an die Heimat. Ganz unbewusst verglich er sie immer mit dem, was seine Eltern und Ur ihm beigebracht hatten, erinnerte sich an die Legenden, die seine Mutter ihm und Lyon immer vor dem Einschlafen erzählt hatte, während sie sich unter warme, weiche Felle gekuschelt hatten, dachte an die Seelenlichter, die sein Vater ihm und Lyon nach ihrem Initiationsritual gezeigt hatte.

Es waren schmerzhafte Gedanken. Der Anblick der Sterne war schmerzhaft. Vieles war schmerzhaft dieser Tage.

Mit vor der Brust verschränkten Armen saß Gray auf einer steinernen Bank in dem Innenhof – hierzulande hieß das Sahn, hatte Levy leise erklärt, als sie hergeführt worden waren –, der im Zentrum des Quartierkomplexes lag, in welchem die Gäste untergebracht worden waren. Im Erdgeschoss war der Sahn an drei Seiten von einer Arkade umgeben, unter welcher Türen in schlichte Lagerräume führten. Die vierte Seite wurde von einer breiten Treppe aus Sandstein eingenommen, die hinauf in das nächste Geschoss führte, das um den Sahn herum ebenfalls mit einer überdachten Arkade versehen war. Hinter dicken Holztüren befanden sich dort oben die Zimmer für die Gäste. Der Boden des Sahns war mit einem schwarz-weißem Mosaik versehen, das eine Oase darstellte. An den Säulen der Arkade standen abwechselnd mannshohe Vasen mit verschnörkelten Malereien und schlichtere Krüge mit Palmen und kleineren Bäumen. Zwischen den Säulen hingen Öllampen. Im Zentrum des Sahn befand sich eine kunstvolle Basiliskenstatue.

Der Drachenartige hatte sich auf dem letzten Drittel seines mächtigen Körpers aufgerichtet, der gegabelte Schwanz in die Luft gestreckt und gekringelt, die Schuppen eindrucksvoll gesträubt, wie Gray es eigentlich nur von Pelztieren kannte. Das Maul des Wesens war aufgerissen und offenbarte unregelmäßige, dolchartige Zähne und eine gespaltene Zunge. Am eindrucksvollsten waren jedoch die Augen des Wesens. Obwohl sie wie der Rest der Statue nur aus Sandstein bestanden, waren sie von fesselnder Lebendigkeit. Die behutsam herausgearbeiteten Pupillen waren kaum mehr als Schlitze und zielgenau auf eine unsichtbare Beute oder einen Revierrivalen vor dem Drachenartigen gerichtet. Die schwülstigen Schuppenplatten, die wie Augenbrauen wirkten, waren nach oben gezogen, die fünf angedeuteten Schuppenkämme am Scheitel ebenfalls gesträubt. Es war ein imposanter Anblick, lebendig, kraftvoll, beinahe beängstigend. Obwohl gerade einmal zwei Mannslängen hoch, ließ die Figur erahnen, was für eine Urgewalt die lebendigen Basilisken darstellen mussten.

Die einzigen Drachenartigen, die Gray bisher gesehen hatte, waren die Lindwürmer der Kaiserlichen Armee gewesen. Wie jeder Rekrut war er den Drachenartigen damals vorgeführt worden, aber so beeindruckt er auch von ihnen gewesen war, er hatte es nicht bedauert, dass keines der sieben reiterlosen Wesen ihn ausgewählt hatte. Er hatte damals schon gedacht, dass er mit beiden Beinen lieber auf dem Boden blieb. Als er vor einem Mond auf dem Rücken von Weißlogia von Malba nach Heartfilia geflogen war, hatte ihn nur seine Sorge um Lucy davon abgehalten, allzu viel darüber nachzudenken, wie viele Mannslängen ihn vom sicheren Boden trennten.

Nichts desto trotz, Gray war immer von den Lindwürmern beeindruckt gewesen. Sie waren so völlig anders als jedes andere Wesen, das Gray zuvor gesehen hatte – und er hatte jenseits des Spaltengletschers immerhin auch Elche, Eisbären und Walrösser gejagt, ja, einmal hatte er sogar eine Jagdgruppe zum Schollenmeer begleitet und bei der Jagd nach Narwalen geholfen und dabei in weiter Ferne gesehen, wie ein Grauwal aus dem Wasser aufgestiegen war. Obwohl nicht überragend groß, hatten die Lindwürmer eine Majestät besessen, an die kein anderes Wesen heran reichen konnte und an die Gray sich nie so ganz hatte gewöhnen können. Egal wie viele Zyklen er bei der Kaiserlichen Armee in Crocus gewesen war, es war immer etwas Besonderes gewesen, wenn er die Lindwurm-Schwadron bei ihren Übungsflügen beobachtet hatte.

Crocus... Noch ein Gedanke, der Gray bitter aufstieß.

Es schien ihm ein ganzes Menschenleben her zu sein, seit er mit Lyon und Meredy von der Kaiserstadt aus in den Norden aufgebrochen war. Als wäre er damals ein anderer Mensch gewesen.

Manchmal fragte er sich, wie alles verlaufen wäre, wenn er sich nach seiner Initiation geweigert hätte, wieder nach Crocus zurück zu kehren. Er war damals dem Recht nach ein Mann gewesen, er hätte sich der Anweisung seines Vaters widersetzen können. Auch als Anführer hatte Silver keine unbeschränkte Macht über die Eismenschen inne gehabt, er hätte seine Söhne nicht zwingen können.

Dann wäre Gray dabei gewesen, als die Heimat angegriffen worden war. Vielleicht hätte er etwas ausrichten können. Vielleicht hätte er den entscheidenden Unterschied gemacht, hätte seine Stammesgenossen vor der Gefangennahme bewahrt, hätte seine Mutter gerett-

Hastig schüttelte Gray den Kopf, um die Erinnerung an den Eissarg seiner Mutter zu verdrängen. Seit zwei Monden verweigerte er sich diesem Bild, schob die Trauer so weit wie möglich von sich, konzentrierte sich einzig und allein auf seinen Vater, für dessen Überleben es zumindest noch Hoffnung gab.

Das war noch ein Grund, warum es Gray letztendlich so leicht gefallen war, in Meredys Plan einzustimmen, den Anderen nichts vom Vorfall in der Heimat zu berichten. Wenn er jemandem davon erzählen würde, so fürchtete er, würde das seine bislang so mühsam aufrecht erhaltene Beherrschung zum Einsturz bringen. Und er konnte es sich nicht erlauben, einzuknicken. Auf seinen Schultern ruhte die Verantwortung für das Überleben seines Stammes und seiner Kultur und für die lebenslange Erfüllung der Mission der Eismenschen…

Leise Schritte lenkten Grays Aufmerksamkeit zur Treppe. Es war Lucy, die herunter kam. Sie trug neue, saubere Pluderhosen und eine lockere, bestickte Tunika. Auf ihre Lederrüstung hatte sie verzichtet, aber der Waffengürtel mit dem Rapier hing an ihrer Hüfte. In ihrer linken Hand hielt sie einen in Tuch eingeschlagenen Gegenstand, welcher der Form nach ein Dolch zu sein schien. In der linken Hand hielt sie eine kleine Ledermappe mit Knopfverschluss, wie man sie Exceed für die Überbringung von Nachrichten mitzugeben pflegte, um das Papier vor der Luftfeuchtigkeit zu schützen.

Als Lucy ihn bemerkte, geriet sie ins Stocken. Sie sah müde aus, erschöpft von den Ereignissen des Tages, sicher, aber auch bedrückt, wenn nicht sogar verbittert. Früher hatte Gray sie nie so finster gesehen. Nicht einmal, wenn sie sich über die Schikanen von Professor Michello ausgelassen hatte.

„Wie geht es Loke?“, durchbrach Gray das Schweigen zwischen ihnen.

„Er ist immer noch bewusstlos“, antwortete Lucy langsam und setzte sich wieder in Bewegung. Statt in den Gang einzutauchen, der sie aus dem Gästekomplex heraus und ins Gewirr des Sandpalast hinein führen würde, wo ihr einer der Bediensteten schon sagen können würde, wo sich die Wüstenlöwin aufhielt, für die zweifellos die Nachricht in der Ledermappe gedacht war, überquerte Lucy den Sahn und ließ sich neben Gray nieder. „Wendy kann nicht wirklich viel für ihn tun. Eine Vergiftung durch Dämonenmagie lässt sich nicht so leicht beheben wie andere Vergiftungen. Solange Meister Capricorn keine Hilfe schicken kann, bleibt uns kaum etwas anderes übrig, als abzuwarten, bis Lokes Körper sich von alleine erholt hat.“

Gray stieß ein leises Brummen zum Zeichen aus, dass er verstanden hatte. Sein Bruder war derjenige, der an der Universität alle möglichen Vorlesungen über Dämonologie, Dracologie, Astronomie und allerhand anderen Themen besucht hatte. Gray hatte sich eher auf seine Übungen bei Ur und bei der Kaiserlichen Armee konzentriert, hatte mit Erza Kämpfe bestritten und war mit Kameraden ausgeritten, um sich mit Geländeeinsätzen vertraut zu machen. Über die komplexen Prozesse bei einer magischen Heilung wusste er nichts und er hatte sich auch nie mit der kulturellen und magischen Wechselwirkung zwischen Geistern und Dämonen beschäftigt.

Aber Lucy hatte es einfach genug erklärt. Ein deutliches Zeichen dafür, wie müde sie war. Früher hatte sie sich vor lauter Wissenseifer in ihren Worten geradezu überschlagen, hatte so schnell geredet und so sehr gefachsimpelt, dass Gray das Gefühl gehabt hatte, sie würde eine andere Sprache sprechen. Besonders irritierend war es gewesen, wenn Levy ihrer Freundin mit derselben Begeisterung geantwortet hatte. Irgendwie hatten die beiden Magistrae einander immer verstanden, während ihre Freunde ratlos daneben gestanden hatten. Selbst die sonst so aufmerksame Meredy hatte sich davon aus dem Tritt bringen lassen.

Gray fragte sich, wie viel von ihnen allen im Vergleich zur damaligen Zeit eigentlich noch übrig geblieben war. Seit ihrem Abschied in Crocus vor drei Monden hatten sie alle sich so sehr verändert. Obwohl Lucy ihm so nahe war, fühlte es sich für Gray so an, als lägen zwischen ihnen ganze Länder.

Er wusste, dass er eine große Teilschuld dafür trug, indem er seiner Freundin nichts von dem verriet, was in der Heimat geschehen war, aber er hatte entschieden, dass es wirklich besser so war. Lucy und die Anderen in die Sache mit hinein zu ziehen, war nicht fair. Sie hatten schon genug durchgemacht. Insbesondere Lucy, aber nun auch Sting und Rogue, die um den Erhalt ihrer Heimat fürchten mussten. Und Levy hatte auch noch andere Sorgen und bei Gajeel und Juvia lag auch etwas im Argen…

„Ich glaube, Natsu geht es schon wieder ziemlich gut“, sprach Lucy weiter. An ihren Lippen zupfte ein amüsiertes Lächeln und ihre Gesichtszüge wurden weicher, erinnerten Gray mehr an die Lucy, die er vor sechs Zyklen auf einer Feier im Thronsaal der Kaiserin kennen gelernt hatte. „Als ich an seiner Tür vorbei gekommen bin, habe ich ihn schnarchen gehört.“

Unwillkürlich musste Gray schnauben. „Das Feuerhirn kriegt man wohl nicht so leicht klein. Das macht es wohl aus, ein Drachenreiter zu sein.“

Seiner harschen Worte zum Trotz war Gray immer noch beeindruckt davon, wie Natsu so lange Zeit das Dämonenfeuer hatte zurückhalten können. Der Feuermagier hatte ihnen allen das Leben gerettet und war danach sogar noch lange genug bei Bewusstsein geblieben, um sich nach Lucy zu erkundigen.

Ob Lucy überhaupt bemerkte, was dieser Idiot für sie empfand? Es war ziemlich offensichtlich und normalerweise war Lucy sehr scharfsinnig, aber in diesem Fall war ihre Sicht vielleicht durch ihre eigenen Gefühle verschleiert. Aller Umstände zum Trotz hatte Gray doch immer wieder bemerkt, wie Lucy den Drachenreiter ansah, seit er mit ihr diesen spektakulären Ritt auf Igneel gemacht hatte. So hatte sie keinen einzigen der Fürstensöhne jemals angesehen, die ihr auf den Festen der Kaiserin den Hof gemacht hatten. Sie hatte mit diesen Männern getanzt, hatte mit ihnen kokettiert und ihnen mitunter sogar absichtlich die Köpfe verdreht, aber für Gray war immer offensichtlich gewesen, dass es nichts Ernstes war. Mit Natsu war es vollkommen anders.

„Na ja, Juvia ist keine Drachenreiterin und ihre Leistung war mindestens genauso beeindruckend“, wandte Lucy ein und warf Gray einen Seitenblick zu, den er nicht wirklich deuten konnte.

„Ja… sehr beeindruckend“, murmelte er und wandte unwillkürlich den Blick gen Himmel.

Er musste sich eingestehen, dass er der Wassermagierin seit der ersten Begegnung in Malba nie viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Ständig war er mit seinen Gedanken woanders gewesen und immer wieder war irgendetwas passiert. Als Juvia dieses Dämonenfeuer gelöscht hatte, war das sogar mehr als nur beeindruckend gewesen. Gray war sich nicht einmal sicher, ob seine Lehrmeisterin Ur, die mächtigste Eismagierin, die er kannte, zu so etwas in der Lage gewesen wäre. Eine solche Stärke und Kontrollfähigkeit hätte er der Blauhaarigen zugegebenermaßen nie zugetraut.

„Vielleicht solltest du ihr das mal sagen.“

Der beiläufige Tonfall seiner Freundin machte Gray sofort misstrauisch und tatsächlich: Als er sich wieder zu ihr herum drehte, grinste sie verschlagen. Er runzelte verwirrt die Stirn.

„Willst du etwas andeuten?“

„Muss ich das denn?“, erwiderte Lucy frech und wackelte nun sogar mit den Augenbrauen. „Komm’ schon, Gray, das müsstest du doch auch mitgekriegt haben.“

„Was denn?“

Lucy lachte leise und schüttelte ungläubig den Kopf. „Vergiss es wieder. Das verrate ich dir nicht, darauf musst du schon alleine kommen.“

„Wenn du meinst“, brummte Gray missmutig und verdrehte die Augen, während seine Freundin weiterhin vor sich hin kicherte.

Er wusste mit diesen nebulösen Andeutungen nicht wirklich etwas anzufangen, aber in Bezug auf Juvia verhielten sich sowieso einige Leute seltsam. Aus irgendeinem Grund hatte Lyon heute früh nach der Flutung des Palasts extra dafür gesorgt, dass es Gray war, der sich um Juvia kümmerte, und Gajeel hatte offensichtlich ein Problem damit gehabt, dass Gray die bewusstlose Juvia in den Armen hielt. Letzteres könnte aber auch einfach mit dem grundsätzlichen Misstrauen zusammenhängen, mit dem der Eisenmagier alles und jeden zu bedenken schien.

Wieder schwiegen sie eine Weile und dieses Mal war es ein angenehmes Schweigen. Was auch immer Lucy hatte andeuten wollen, das Gespräch schien ihr geholfen zu haben, sich ein wenig zu entspannen. Auf Gray hatte es auf jeden Fall diesen Effekt gehabt. Beinahe fühlte es sich wieder so vertraut wie früher zwischen ihnen an. Wenn sie gemeinsam in Kneipen gefeiert hatten, wenn sie einander auf den Feiern bei Hofe geärgert hatten, wenn sie einander von ihrer jeweiligen Heimat erzählt hatten, wenn sie Romeos und Wendys zaghafte Annäherungsversuche oder auch Lyons unverhohlenes Werben um Meredy beobachtet hatten…

Schon wieder an früher zu denken, erfüllte Gray erneut mit Wehmut und er senkte den Blick auf das Mosaik. Zu seinen Füßen war eine Palme dargestellt worden, die Steinchen so fein, dass sogar die Rinde der Pflanze angedeutet worden war.

Er vermisste die gute, alte Zeit, als er noch nichts von der Zerstörung seiner Heimat gewusst und Lucy noch nicht die Verantwortung einer Fürstin getragen hatte. Als er gesehen hatte, was mit der Heimatstadt seiner Freundin geschehen war, hatte Gray unablässig an sein eigenes Zuhause denken müssen. Bei der Bestattungszeremonie hatte er die ganze Zeit die vielen Eissärge vor Augen gehabt, die er und Lyon hatten schaffen müssen…

Eine vorsichtige Berührung an seiner Hand ließ ihn aufblicken. Auch Lucys Miene war wieder ernst und bitter und in ihren braunen Augen erkannte er eine unerbittliche Strenge. „Du, Lyon und Meredy habt wahrscheinlich sehr gute Gründe für euer Schweigen und jetzt ist nicht die rechte Zeit dafür, aber wenn die Dinge hier in der Stillen Wüste wieder ruhig sind, wirst du mir erzählen, was in der Heimat passiert ist, in Ordnung?“

Unwillig zog Gray die Augenbrauen zusammen. „Wie willst du mich denn zwingen?“

„Das muss ich gar nicht“, erwiderte Lucy und reckte stur das Kinn nach vorn. „Du kannst es nicht ewig für dich behalten, das weißt du genauso gut wie ich.“

„Ist ja nicht so, als wäre ich der Einzige, der etwas für sich behält“, entgegnete Gray schroff. „Immerhin laufe ich nicht vor einer Konfrontation mit Loke davon.“

Noch während er die Worte aussprach, wusste Gray, dass er zu weit gegangen war. Die Miene seiner Freundin flackerte und dann wurde sie hart wie Granit und ihr Blick eiskalt. Sie öffnete die Lippen, dann presste sie sie fest zusammen, als würde sie darum ringen, eine scharfe Erwiderung herunter zu schlucken.

Schließlich schloss sie mit einem schweren Seufzen die Augen und schüttelte den Kopf. „Ob nun weglaufen oder schweigen, das macht wohl kaum einen Unterschied“, flüsterte sie bitter, den Blick schließlich auf das Mosaik gesenkt.

Als sie den eingewickelten Dolch und die Ledermappe wieder aufnahm und sich erhob, griff Gray reflexartig nach ihrer Hand und hielt sie zurück, bevor sie einfach verschwinden konnte. Lucy blieb stehen und wartete, aber ihre Schultern waren noch immer steif und ihr Blick eisern von Gray abgewandt, dessen Gedanken sich geradezu überschlugen.

Er konnte Lucy nicht erzählen, was in der Heimat passiert war. Sie hatte genug Ärger in Heartfilia, sie war für tausende von Leben verantwortlich, wie könnte er sie da noch in so etwas hinein ziehen? Das hatte absolut nichts damit zu tun, das er glaubte, sie würde irgendjemandem von seiner Suche nach seinen Stammesgenossen erzählen. Wenn er irgendjemandem so sehr vertraute wie Lyon und Meredy, dann war es Lucy!

„Wenn… wenn ich so weit bin, werde ich es dir erzählen“, stieß er schließlich mühsam hervor. „Ich weiß noch nicht, wann… Tut mir Leid…“

Für einige Herzschläge glaubte er, Lucy würde protestieren oder wütend davon rauschen, weil ihr dieses Versprechen zu vage war, aber als die Blonde wieder seufzte, lockerte sich auch die Anspannung ihrer Schultern und sie drehte sich noch einmal zu Gray herum. Auf ihren Lippen lag ein bitteres Lächeln, das Gray Bauchschmerzen bereitete.

„Und wenn ich so weit bin, werde ich mit Loke reden.“

Wieder senkte sich Schweigen über sie, während sie einander ansahen. Lucy stehend, Gray sitzend, gerade einmal eine halbe Schrittlänge voneinander entfernt und doch mit ganzen Tagesmärschen zwischen ihnen. Das Fremde war wieder da, die Last der Ereignisse und Verantwortungen, die Wunden der erlittenen Verluste.

Langsam ließ Gray Lucys Hand los und richtete sich auf. Als Lucy auf ihn zu trat, breitete er die Arme aus und sie umarmten einander. Ihre Glieder fühlten sich steif an, die Nähe merkwürdig kühl und fremd, aber Gray spürte, wie sich Lucys Finger in seinem Rücken in den Stoff der Tunika krallten, und ganz unwillkürlich drückte er sie etwas fester an sich.

Er wollte daran glauben, dass Lucy ihre Zweifel oder was auch immer sie plagte, überwinden und eine gute Fürstin werden konnte, ohne sich selbst völlig verbiegen zu müssen. Sie war immer so klug und stark gewesen und er wusste genau, wie sehr sie ihr Volk liebte. Irgendwie würde sie über das, was ihr jetzt im Weg stand, hinweg kommen.

Und irgendwann würde er ihr wieder als der aufrichtige und vertrauensvolle Freund entgegen treten, der er im Grunde auch jetzt sein wollte, und ihr alles erzählen.

„Pass’ während deiner Reise mit Sting und Rogue auf dich auf“, sagte er mit rauer Stimme und ließ die Fürstin schließlich los.

Die trat einige Schritte zurück und als sie den Blick hob, lag ein schwaches, aber aufrichtiges Lächeln auf ihren Lippen. „Du auch.“

Zwischen ihnen hingen noch so viele unausgesprochene Worte, so viele Sorgen und Bedenken, aber Gray wusste, dass sie für heute alles gesagt hatten, was sie sagen konnten, ohne darunter einzuknicken. Alles andere würde folgen. Irgendwann. Wenn sie Beide so weit waren.

Lucy nickte, als hätte sie Grays Gedanken gelesen, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ den Sahn, Dolch und Ledermappe fest an ihre Brust gedrückt, die freie Hand um den Griff ihres Rapiers gelegt. Gray lauschte noch ihren Schritten, bis sie völlig verklungen waren, dann wandte er sich langsam der Treppe zu, um hinauf zu seinem Quartier zu gehen, das neben dem von Lyon und Meredy lag. Er hatte nicht das Gefühl, dass er viel Schlaf finden würde, aber er musste es zumindest versuchen.
 

„Und du bist dir sicher, dass Juvia nicht mit euch mit kommen soll?“

Die Blauhaarige konnte ihrem Gegenüber ansehen, dass er sich nur mit Mühe das Augenrollen verkniff. „Vollkommen sicher. Du bist noch erschöpft, du bleibst hier und passt auf, dass die kleine Magistra auch mal eine Pause macht.“

„Die kleine Magistra steht neben euch und sie hat einen Namen“, knurrte Levy neben Juvia unwillig. „Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen.“

„Sicher“, schnaufte Gajeel, woraufhin Levy empört die Hände in die Hüften stemmte.

Sie standen zu dritt zwischen den Obsidianstelen, welche die Mauern von Sabertooth in einiger Entfernung umgaben und diese vor einem Basiliskenangriff schützten. In Anbetracht der früheren Ereignisse war es eigentlich nicht sicher, hier zu stehen, aber wenn die beiden Gruppen mit den Sandschlitten aufbrechen wollten, brauchten sie dafür genug freien Raum um sich herum, damit der Wind nicht gebrochen wurde und sich in den Segeln fangen ließ.

Auf den Mauern standen Soldaten bereit, die wachsam in die Ferne blickten. Bei Tageslicht erkannte Juvia, dass die Mauern von demselben gelbbraunen Stein waren wie die meisten der solideren Gebäude in der Stadt. Sie bestanden aus riesigen, beinahe nahtlos gefugten Quadern und wurden nur unterbrochen von dicken, schmucklosen Pilastern aus grauschwarzem Obsidian, der im Sonnenlicht funkelte. Die gewaltigen Flügeltüren des Tores – beinahe fünf Mannslängen hoch und drei breit, die Türen so schwer, dass sie mit einem Hebelmechanismus hatten geöffnet werden müssen, wie Juvia beim Verlassen der Stadt gesehen hatte – waren bis auf einem winzigen Spalt geschlossen, aus welchem nun einige Reiter hervor kamen.

Allerdings schenkte Juvia dem Herannahen dieser Reiter keine großartige Beachtung. Fasziniert blickte sie stattdessen zwischen Gajeel und Levy hin und her, die sich eine Diskussion darüber miteinander lieferten, ob Levy auf sich aufpassen konnte oder nicht. Im Umgang mit der Magistra wirkte Gajeel viel entspannter und auf seine eigenwillige Art und Weise sogar nett. So nett war er sonst zu niemandem und das kurbelte Juvias Fantasie an. Sie wünschte sich, Pantherlily wäre hier, um ihre Vermutung zu bestätigen!

Schnell schob sie den Gedanken an den Exceed wieder von sich. Sie wollte sich keine Sorgen um den Freund machen, der ihr und Gajeel so oft aus der Patsche geholfen hatte. Er war gewiss in Sicherheit. Vielleicht hatte er die Kanaloa sogar schon gefunden und General Byro von der Sache mit den Leviathanen berichtet.

Juvia blickte zu Romeo und Wendy, welche ganz in der Nähe die kleinen Sandschlitten beluden, welche ihnen vom Zeugmeister von Sabertooth zur Verfügung gestellt worden waren. Romeo blickte immer wieder grinsend zu Gajeel und Levy. Irgendwann schlug Wendy ihm deshalb mahnend auf den Unterarm und sagte etwas leise zu ihm, aber er schenkte ihr nur ein Grinsen, das Wendy erröten ließ.

Juvia seufzte hingerissen. Die Beiden wären so ein niedliches Paar, wenn sie es doch nur endlich einsehen würden!

Als Meredy und die Fullbuster-Brüder – sie waren anscheinend die Reiter gewesen, die Juvia eben gesehen hatte – zu den Beiden traten, verspürte Juvia das mittlerweile altbekannte Herzklopfen.

Von dem Moment an, als sie Gray das erste Mal gesehen hatte, hatte sie all die aufregenden Gefühle verspürt, von denen in den Liebesromanen immer die Rede gewesen war, die sie damals in Crocus gelesen hatte. Es bestand kein Zweifel, dass sie sich in den eigenbrötlerischen Eismenschen verliebt hatte – und dieses Gefühl war einfach überwältigend. Juvia war ganz kribbelig zumute, sie sehnte sich nach der Nähe des Dunkelhaarigen, aber gleichzeitig machte er sie schrecklich nervös. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie sich verhalten sollte – die Protagonisten in den Liebesromanen hatten da ganz unterschiedliche Strategien verfolgt und die Erfolge ein- und derselben Strategie waren in unterschiedlichen Büchern auch ganz unterschiedlich ausgefallen.

„Juvia, ist alles in Ordnung?“

Die Wassermagierin wirbelte herum und sah sich Sting und Rogue gegenüber, welche die Zügel ihrer Pferde anscheinend Rufus übergeben hatten, der im Hintergrund mit den Tieren stand. Jeder von ihnen trug ein Bündel unterm Arm und sie trugen zusätzlich zu den Pluderhosen, Tuniken und Lederrüstungen lederne Handschuhe, wie man sie für die Handhabung eines Sandschlittens brauchte.

„Juvia geht es gut“, beeilte sie sich und versuchte, die Hitze unter Kontrolle zu kriegen, die in ihrem Gesicht aufstieg.

Sting blickte kurz zu Gray hinüber und kicherte dann amüsiert, woraufhin sein Partner die Augen verdrehte. „Ein paar Tage hast du ja noch Zeit, Juvia“, raunte der Wüstennomade und wackelte mit den Augenbrauen.

„Ein paar Tage wofür denn?“, mischte Natsu sich ein und trat zu ihnen. Sein Pferd stand lammfromm hinter ihm und ließ entspannt die Unterlippe hängen.

Ihm war nichts mehr von der Erschöpfung nach dem Dämonenfeuer anzusehen. Als er gestern Mittag wieder aufgewacht war, hatte er so viel Essen in sich hinein geschaufelt, dass sogar den Gefräßigsten unter den Anwesenden die Spucke weg geblieben war. Danach hatte man ihm von den Reiseplänen erzählt. Zuerst hatte er unwillig ausgesehen bei der Vorstellung, dass er nicht mit Lucy mit durfte, aber er hatte erstaunlicherweise keinen Protest erhoben.

„Um mit dir zu üben“, erklärte Juvia hastig, um Sting daran zu hindern, etwas auszuplaudern. „Juvia hätte vorgestern beinahe zu lange gebraucht.“

„Du machst Witze, oder?“, schnaubte Natsu. „Du hast Wasser aus einem zig Mannslängen entfernten Kanal durch den gesamten Sandpalast gelenkt. Kein anderer Wassermagier könnte das!“

Jetzt wurden Juvias Wangen vor Verlegenheit heiß – was dadurch, dass Sting bekräftigend nickte, nicht unbedingt besser wurde.

„Jedenfalls…“ Natsus Nasenflügel blähten sich, während er sehr intensiv schnupperte und sich noch gründlicher umsah, ehe er sich an Sting und Rogue wandte. „Ihr passt auf Lucy auf, ja?“

„Das mussten wir Gray, Lyon und Levy auch schon versprechen“, seufzte Sting entnervt. „Lucy ist wehrhaft und clever, weißt du?“

„Das meine ich auch nicht“, erwiderte Natsu mit ungewöhnlichem Ernst.

Stings Augen wurden groß und auch Juvia starrte den Feuermagier verblüfft an. Nicht dass Natsu immer nur bedenkenlos herum rannte, aber diese Ernsthaftigkeit war doch ungewöhnlich.

„Wir werden sie nicht zum Reden zwingen“, erklärte Rogue ruhig.

„Müsst ihr auch nicht, aber…“

„Wir passen schon auf. Wir sind ihr einiges schuldig.“

„Außerdem ist sie eine Freundin“, fügte Sting eifrig nickend hinzu.

Erstaunt blickte Juvia zwischen den drei Drachenreitern hin und her. Auch wenn in der Zeit seit Lucys Befreiung in Malba bereits offensichtlich geworden war, wie viel Natsu für die Fürstin empfand, war es doch überraschend, wie sehr er sich nicht nur um Lucys körperliches, sondern auch um ihr seelisches Wohlergehen bemühte. Hoffentlich erkannte Lucy schnell, was für eine gute Partie Natsu für sie war!

Als die Anderen zu ihnen traten, riss Juvia sich aus ihren schwärmerischen Vorstellungen von Natsu und Lucy als Ehepaar. Natsu und Romeo schlugen kräftig ein und Wendy erhielt eine brüderliche Umarmung, die innig erwidert wurde.

„Passt auf Gajeel auf, damit er sich nicht noch mehr Ärger einhandelt“, wies Natsu die beiden Jüngeren an.

„Was soll das denn heißen, Feuerhirn?!“, fauchte der Eisenmagier sofort los.

„Was denn? Willst du etwa behaupten, dass du den Ärger nicht anziehst wie Sting die Motten?“

„Hey! Rogue ist keine Motte!“

„Sting!“

„Der hat ja auch eher dich angezogen als du ihn.“

Alle drehten sich zu den Neuankömmlingen um: Minerva und Lucy, beide noch zu Pferde. Lucy war ähnlich gekleidet wie Sting und Rogue und hatte sich den Tagelmust bereits richtig gebunden. Mit zuckenden Mundwinkeln schwang sie sich aus dem Sattel. Die Wüstenlöwin jedoch blieb auf ihrem Reittier und betrachtete dann ihre Klauen mit hochgezogenen Augenbrauen, während Natsu und Gajeel sich auf einmal einvernehmlich ins Fäustchen lachten.

„Bevor jetzt alle sentimental werden: Ab mit euch. Je früher ihr diese Bruthöhle finden und zerstören könnt, desto besser.“

„Wir werden dich auch vermissen, Nerva“, ätzte Sting, was seine Fürstin lediglich mit einem dünnen Lächeln quittierte, ehe sie sich an Lucy wandte.

„Passt gut auf meine Klauen auf und ruft sie ruhig gelegentlich zur Ordnung. Die brauchen das.“

Lucys Miene blieb sehr ernst, als sie nickte, aber ihre Augen funkelten vergnügt. „Ich werde mein Bestes geben.“

„Und ihr seid artig“, mahnte Minerva noch mal ihre Klauen, deutete in Lucys Richtung eine Verbeugung an und wendete ihr Pferd, um zurück zur Stadt zu traben.

Ein ziemlich knapper Abschied, der Juvia sehr verwirrte. Sie hätte geglaubt, die Dunkelhaarige würde sich mehr Zeit nehmen, da ihre langjährigen Kameraden doch so eine wichtige und möglicherweise auch gefährliche Reise antraten. Sogar der sonst so distanzierte Dobengal war im Hof des Sandpalast noch mal auf die Klauen zugetreten, um ihnen viel Glück zu wünschen, und Orga, der eigentlich alle Hände voll mit den Vorbereitungen für den Kriegszug zu tun gehabt hatte, hatte Beide in eine knochenbrechende Umarmung gezogen, die sie offensichtlich sehr verlegen gemacht hatte. Minerva hingegen hatte ihren Klauen kaum richtig in die Augen geblickt – und die schien das seltsamerweise noch nicht einmal zu stören.

„Seid ihr Klauen oder Hündchen?“, schnaubte Gajeel.

Juvia schlug ihm auf den Unterarm, auch wenn sie wusste, dass er das gar nicht wirklich merkte. „Du solltest nicht so gehässig sein!“

Doch der Eisenmagier winkte ab und Romeo und Natsu kicherten amüsiert, während Sting und Rogue ziemlich missmutig drein sahen.

Gray, Lyon und Meredy verabschiedeten sich als erstes von Lucy, jeder mit einer kurzen Umarmung. „Geh’ keine Risiken ein“, mahnte Gray besorgt.

Juvia verspürte einen Stachel von Eifersucht. Sie wünschte sich, Gray würde sich um sie auch so sorgen! Oder wenn er sie überhaupt mal beachten würde…!

Zur gleichen Zeit verabschiedeten Sting und Rogue sich von den Anderen. Zunächst wandten sie sich an die Gruppe, die sich auf die Suche nach Yukino machen wollte.

„Danke, Gajeel“, sagte Sting mit leicht rauer Stimme. „Wenn du Yukino wirklich findest-“

„Wenn überhaupt, dann findet Wendy sie“, erwiderte Gajeel brummend und verdrehte wieder einmal die Augen. „Werdet ja nicht rührselig!“

„Dennoch Danke“, warf Rogue ein und zog zusammen mit einer gefalteten Karte auch eine kleine, knöcherne Flöte aus seiner Gürteltasche, um sie Romeo zu übergeben. „Diese Flöte gehört Yukino. Um ihren Geruch zu finden, ist der Tagelmust, den Wendy gestern Abend gekriegt hat, wahrscheinlich besser geeignet, aber Yukino kennt euch nicht. Zeigt ihr die Flöte und sagt ihr, dass ihr sie von uns habt. Dann wird sie wissen, dass sie euch vertrauen kann.“

Der Jüngere nahm Karte und Flöte an sich und verstaute Beides sicher in seiner eigenen Gürteltasche, ehe er Rogue die Hand zum Einschlagen anbot. „Wir werden sie finden, versprochen. Wendy wird sich erst noch an die Gerüche hier gewöhnen müssen, aber bisher hat sie noch jeden gefunden“, erklärte er voller Stolz und Vertrauen.

Neben ihm errötete Wendy wieder einmal, was noch schlimmer wurde, als Sting sie zum Abschied in eine linkische Umarmung zog.

Solche Gesten waren noch völlig neu zwischen ihnen allen. Kaum einer von ihnen hatte vorher besonders viel mit den Anderen zu tun gehabt. Sie wuchsen gerade einmal langsam als Gruppe zusammen und nun waren sie auch schon wieder dabei, sich aufzuteilen – und das alles im Angesicht eines Krieges, in dem es höchst wahrscheinlich um das Überleben der Menschheit in der Stillen Wüste ging. Ein Gedanke, bei dem Juvia für eine Weile so schwummrig wurde, dass sie nur am Rande mitbekam, wie die Klauen sich auch von den Anderen verabschiedeten. Sie blinzelte, als Sting ihre Schulter aufmunternd drückte und Rogue ihr beruhigend zunickte, ehe sie sich Rufus zuwandten. Von dem Windmagier verabschiedeten sie sich mit einem kameradschaftlichen Handschlag und einigen geflüsterten Worten.

Nachdem Lucy sich auch von Romeo und Wendy mit einer Umarmung verabschiedet hatte, trat Levy vor. Die Freundinnen umarmten einander besonders lang.

„Bist du sicher, dass du jetzt aufbrechen willst?“, versuchte Levy es noch einmal. „Loke wird dir das sehr übel nehmen.“

„Loke soll sich darauf konzentrieren, wieder gesund zu werden. Pass’ auf, dass er keine Dummheiten macht.“

„Ich glaube kaum, dass er sich ans Bett fesseln lassen wird“, erwiderte Levy skeptisch.

Für einen Moment flackerte Lucys Blick seltsam und huschte zu Sting und Rogue hinüber, dann zu Gajeel, Romeo und Wendy. Doch dann zuckte sie mit den Schultern.

„Im Zweifelsfall müsst ihr Meister Rufus darum bitten, Loke im Schach zu halten. Loke ist im Moment nicht mein Schild und Schwert, sondern einfach nur mein Freund. Sagt ihm das ruhig.“

„Das ist ganz schön hart, meinst du nicht?“

„Wir leben in harten Zeiten.“

Levy seufzte resigniert und umarmte ihre Freundin noch einmal. „Pass’ auf dich auf, Lucy.“

„Ich bin mit den Klauen der Wüstenlöwin unterwegs, was soll mir schon passieren?“

„Nur kein Druck, hm?“, wandte Romeo sich feixend an die Klauen, die wieder heran getreten waren, worauf Sting nur schnaufte.

Schließlich wandte Lucy sich an Juvia und umarmte diese fest und herzlich. Überrascht schlang die Blauhaarige ihrerseits die Arme um die Andere.

„Pass’ gut auf dich und Levy auf“, bat Lucy mit gedämpfter Stimme. Echte Sorge schwang in ihrer Stimme mit und Juvia fühlte sich ob ihrer Eifersucht von vorhin schuldig. Gray und Lucy kannten einander seit langer Zeit. Da war es normal, dass sie einander so nahe standen. Und Lucy hatte diese Zuwendung verdient nach allem, was sie durchgemacht hatte.

„Juvia wird dich vermissen“, erklärte sie aufrichtig.

Lucy lächelte sanft, als sie antwortete: „Ich dich auch.“

Noch einmal wurden Juvias Hände gedrückt, dann wandte Lucy sich an Gajeel, um ihm zu zunicken. Zuletzt verabschiedete sie sich von Natsu. Beide standen einander für einige Herzschläge einfach nur abwartend gegenüber, ehe sie gleichzeitig ihre rechten Fäuste vorstreckten und gegeneinander stießen.

„Viel Spaß mit Zirkonis“, wünschte Natsu grinsend.

„Viel Spaß mit Gray“, erwiderte Lucy schmunzelnd.

„Hey!“, brummte Gray und versetzte seinem glucksenden Bruder einen Rippenstoß. Bei sich dachte Juvia, dass der Eismensch sogar dann anbetungswürdig aussah, wenn er schmollte.

Mit Sting und Rogue ging Lucy zu den beiden Sandschlitten. Rogue band das Gepäck seiner Begleiter auf seinem Schlitten fest, während Sting Lucy erklärte, worauf sie achten musste, wenn sie bei ihm mitfuhr.

Auch Romeo und Wendy begaben sich zu ihren Schlitten und Gajeel drückte Juvia brummelnd an sich, klopfte Levy auf die Schulter und folgte dann den beiden Jüngeren.

Juvia trat mit Natsu, Levy, Meredy und den Fullbuster-Brüdern zurück neben Rufus und beobachtete, wie die beiden kleinen Gruppen die Segel ihrer Schlitten herunter ließen, sich mit den Füßen kräftig abstießen und die Segel nach dem Wind ausrichteten, um zunächst Fahrt aufnehmen zu können. Rufus übergab die Zügel der ihm anvertrauten Pferde an Natsu und Gray und begann, sachte mit den Händen zu rudern, als würde er etwas in Richtung der Sandschlitten schieben wollen. Ganz langsam kam ein leichter Wind auf, der Juvias Haare über ihre Schultern flattern ließ und sich schließlich in den Segeln verfing. Die Stoffbahnen blähten sich und die Gefährte setzten sich in Bewegung.

Während der ersten paar hundert Mannslängen fuhren beide Gruppen in die gleiche Richtung, weil sie den Wind brauchten, um genug Schwung aufzunehmen, aber schließlich schwenkten zwei Sandschlitten nach Westen, während die anderen nach Südwesten abbogen.

Juvia blieb mit den Anderen stehen, solange die Sandschlitten noch zu sehen waren, und selbst, als sie am Horizont verschwunden waren, harrte Juvia weiter aus.

Für sie war es das erste Mal, dass sie über einen so langen Zeitraum und über eine so große Distanz von Gajeel getrennt war. Ihr war deswegen mulmig zumute. Sie hatte Angst, dass sie alleine nicht in der Lage war, ihren neuen Freunden zu helfen.

Unsicher linste sie zu den Anderen. Levys Miene war unverhohlen besorgt, während Grays und Lyons Mienen von gemischten Gefühlen zeugten. Meredys Gesicht blieb jedoch vollkommen ruhig. Juvia fragte sich, wie viel die Pinkhaarige durchgemacht hatte, um sich eine derartig harte Schale zu zulegen.

Natsu jedoch schien allen Ernsts zum Trotz guter Dinge zu sein und schlug dem neben ihm stehenden Gray auf die Schulter. „Die werden das schon hinkriegen.“

Ohne sich an Grays Knurren zu stören, drehte er sich um, schwang sich mühelos in den Sattel seines noch immer gutmütig wartenden Pferdes und machte sich mit drei der sechs überzähligen Pferde auf dem Weg zurück in die Stadt – wahrscheinlich um bei den Vorbereitungen für den Feldzug zu helfen.

„Das sagt sich so leicht“, brummte Gray, folgte dem Drachenreiter jedoch mit den anderen drei freien Pferden.

Lyon und Meredy zogen sich schweigend zurück, sodass Juvia schließlich mit Levy alleine vor den Toren von Sabertooth stand.

Überrascht blickte Juvia nach unten, als eine kleine, zierliche Hand ihre ergriff und Trost suchend drückte. „Sie sind Drachenreiter. Das muss etwas wert sein“, sagte Levy mit belegter Stimme.

Vorsichtig erwiderte die Blauhaarige den Händedruck und schöpfte ihrerseits Trost aus der Berührung, während ihr Blick sich wieder auf die Weite der Wüste richtete, in der ihre Freunde verschwunden waren.

„Juvia hofft das von ganzem Herzen.“

Der Weg, auf dem unangenehme Fragen gestellt wurden

Wendys Nasenflügel blähten sich, als die Drachenreiterin mit geschlossenen Augen versuchte, eine Duftnote zu erhaschen. Gemeinsam mit Gajeel hielt Romeo sich in ihrem Windschatten, um ihr die Aufgabe nicht noch schwerer zu machen.

Vier Tage waren sie stetig nach Südwesten gefahren auf genau jenes Gebiet zu, in welches Yukino laut Libras Erzählung aufgebrochen war. Libra hatte dank ihrer Magie drei Tage von Jadestadt bis nach Sabertooth gebraucht, danach hatte es drei Tage gedauert, bis der Suchtrupp losgefahren war. Die Spuren, die Wendy jetzt in dieser für sie noch so ungewohnten Umgebung suchte, waren also etwa zehn Tage alt. Das waren alles andere als ideale Bedingungen.

„Immer noch nichts“, seufzte Wendy und ihre Schultern senkten sich enttäuscht.

Romeo blickte auf die Karte hinunter, die er von Rogue erhalten hatte, und legte einen Finger an ihre derzeitige Position. Sie waren einen Tagesmarsch südlich von Jadestadt, aber Gajeel hatte bereits erklärt, dass man in der Wüste für diese Strecke mindestens die doppelte Zeit brauchte, wenn man kein Reittier oder einen Sandschlitten hatte. Und Yukino hatte unterwegs sicher Wurzeln suchen müssen, um an Wasser und Nahrung zu kommen.

Wenn sie also davon ausgehen könnten, dass Yukino schnurgerade nach Süden geflohen war, wäre es ein Leichtes, sie zu finden. Minerva hatte sie allerdings davor gewarnt, dass es wahrscheinlich niemanden gab, der dieses Gebiet so gut kannte wie Yukino. Sie war bei den Wüstennomaden aufgewachsen und sie hatte davor zwei Zyklen lang alleine in der Wüste überlebt.

Es war Romeo schleierhaft, wie eine damals Achtjährige es geschafft hatte, so lange alleine in der Wüste durch zu kommen. So gut Mest ihn auch von Anfang an gedrillt hatte, er hätte das niemals geschafft. Dahinter steckte irgendein Geheimnis, dessen war Romeo sich sicher, aber er hatte die Fürstin nicht danach gefragt. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass es einen guten Grund hatte, etwas zu verschweigen – und dabei dachte er nicht einmal an den Umstand, dass die Drachenreiter nichts von seiner Beziehung mit Wendy wussten.

„Wenn wir noch ein kleines Stück nach Südwesten fahren, erreichen wir eine kleine Felsansammlung. Mit den Sandschlitten brauchen wir nicht lange“, erklärte er und hielt die Karte so, dass auch Gajeel und Wendy den Punkt sehen konnten, auf den er deutete. „Dort können wir die Nacht verbringen.“

An der Art, wie sich Wendys Lippen minimal aufeinander pressten, erkannte Romeo sofort ihren Unwillen, aber er sagte nichts dazu. So sehr er sich auch wünschte, Stings und Rogues – und anscheinend auch Lucys und Lokes – Freundin lebendig zu finden, er musste doch vernünftig bleiben. Er war die hohen Temperaturen und die Trockenheit der Wüste noch nicht gewohnt und Wendy ging es da nicht anders. Ihre Körper konnten sich nicht so schnell auf dieses so fremdartige Klima umstellen. Vor solchen Gefahren hatte Mest sie während ihrer Ausbildung mehrfach und eindringlich gewarnt.

Sie stiegen wieder auf ihre Sandschlitten und fuhren in die von Romeo gewiesene Richtung. Gajeel übernahm wieder die Führung. Auch wenn ihn die Hitze der Wüste nicht unberührt ließ, war er sie als Bosco bei weitem besser gewohnt und konnte sie auch besser verkraften. Das machte ihn zum verlässlichsten Führer und Kämpfer in ihrer Gruppe.

Der Drachenreiter war ein sehr schweigsamer Reisegefährte. Romeo hatte den Eindruck, dass Gajeel über vieles grübelte, was ihm zu schaffen machte. Ob er Juvia vermisste? Bei den bisherigen Treffen der Drachenreiter hatte Gajeel die Wassermagierin immer mitgebracht, soweit Romeo es von Wendy und Natsu wusste – er selbst war ja erst beim letzten Treffen vor sieben Zyklen das erste Mal mit dabei gewesen, als Sting und Rogue in die Gemeinschaft der Drachenreiter aufgenommen worden waren. Weder Natsu noch Wendy hatten Romeo viel über Gajeel erzählen können. Der Eisenmagier hatte sich schon immer bedeckt gehalten und ihnen noch nicht einmal verraten, wo er sich niedergelassen hatte, nachdem er mit Juvia Bosco verlassen hatte.

Nach einer Weile erreichten sie die Felsen. Die größten waren vielleicht fünf Mannslängen hoch und die gesamte Insel maß an der längsten Stelle höchstens zehn Schrittlängen in der Breite. Von Wind und Sand waren die Felsen beinahe perfekt glatt geschliffen worden, sodass sie nun abstrakte, runde Formen bildeten. Der höchste Felsfinger im Zentrum erinnerte entfernt an ein Kamel und daher hatte dieses Fleckchen hier wohl auch seinen auf der Karte verzeichneten Namen: Kamelrast.

Romeo und die Anderen stiegen von ihren Schlitten, rafften die Segel und schoben die Gefährte unter einen Überhang, der gerade so genug Platz für sie bot.

„Kein Feuer“, brummte Gajeel, als sie ihr Lager aufschlugen.

Sie legten trotz der nächtlichen Kälte keinen Widerspruch ein. Zwar hatte Wendy bisher auch keine Dämonen gerochen, aber man konnte ja nie wissen. Zum Glück hatten sie genug warme Decken mitbekommen – und eine Feldflasche mit einem Gebräu namens Sandfeuer. Ein kleiner Schluck davon genügte, um einen von innen heraus zu wärmen, aber wegen des hohen Süßegehalts machte es gleichzeitig auch wach. Nachdem er einmal daran genippt hatte, hatte Romeo für sich entschieden, dass er dieses Zeug nur im äußersten Notfall trinken würde. Wendy hatte sogar nur einmal kurz daran geschnuppert und die Flasche dann schnell wieder weggeben.

Schweigend nahmen sie das Pökelfleisch und die Trockenfrüchte zu sich und tranken den Saft, den Gajeel aus den Wurzeln gepresst hatte, welche sie heute Morgen dank Wendys Nase gefunden hatten. Es war eine Kunst für sich, in all dem Sand die dicken Knollen zu finden, die optisch nur anhand von dünnen, hellbraunen Stielen zu erkennen waren, welche ein bis zwei Handlängen in die Höhe ragten. Die dicke, harte Schale zu zerschneiden und das zähe Fruchtfleisch auszupressen, war ebenso ein harter Akt. Die handliche Presse, die sie in Sabertooth dafür bekommen hatten, machte das zum Glück erheblich einfacher. Der daraus gewonnene Saft war ziemlich bitter, aber er versorgte die Reisenden mit ausreichend Flüssigkeit.

„Wie gut kannst du eigentlich kämpfen?“, durchbrach Gajeel das Schweigen nach einer Weile und musterte Wendy abschätzig.

„Das muss sie nicht“, mischte Romeo sich sofort mit finsterer Miene ein.

Jetzt ruhte der Blick des Eisenmagiers auf ihm. „Bist du auf einmal ein Magier geworden?“

Damit traf Gajeel genau Romeos wunden Punkt. Die Sorge, wie er seine Freundin vor Magiern beschützen sollte, umtrieb den jungen Krieger schon seit langer Zeit. Er hatte mit Mest dafür einige Strategien entwickelt. Dennoch war ihm bewusst, dass ihm dabei Grenzen gesetzt waren.

„Romeo hat härter geübt als irgendjemand sonst“, sagte Wendy und ergriff Romeos Hand. Überrascht betrachtete er sie von der Seite. Ihre Miene war entschlossen, beinahe grimmig. „Er ist im Umgang mit zig Waffen gedrillt worden und er musste mehr Dinge lernen, als man sich überhaupt vorstellen kann. Du hast kein Recht, ihn gering zu schätzen, nur weil er kein Magier ist.“

Zuerst sah Gajeel die Jüngere einfach nur überrascht an, doch dann breitete sich ein Grinsen auf seinen Zügen aus. Es war eine Spur weniger gehässig, als Romeo es bisher bei ihm gesehen hatte.

„Wenn du das sagst…“ Sein Grinsen hatte nun beinahe etwas Anzügliches und Romeo schoss die Hitze ins Gesicht. Er ließ Wendys Hand wieder los und nestelte an einer seiner Gürteltaschen herum, den Blick vehement gesenkt.

Er hatte lange genug – und viele freundschaftliche Schubse – gebraucht, um sich einzugestehen, dass Wendy mehr für ihn war als eine Freundin und Schutzbefohlene. In Gegenwart Anderer fühlte er sich noch immer gehemmt deswegen. Aus diesem Grund hatte er ja auch Levy daran gehindert, den Drachenreitern etwas zu verraten. Die würden sich nur über ihn lustig machen. Immerhin waren er und Wendy die Jüngsten in der Runde, da waren sie geradezu prädestiniert dafür.

„Aber das beantwortet immer noch nicht meine Frage“, durchbrach Gajeel das peinliche Schweigen wieder. „Wie gut kannst du kämpfen? Beherrscht du dein Drachengebrüll?“

Bedrückt senkte Wendy den Kopf. Romeos Verlegenheit verflog und er griff wieder nach der Hand seiner Freundin, um diese tröstend zu drücken.

„Grandine sagt, dass nur wenige ihrer Reiter jemals das Gebrüll beherrscht haben“, erklärte Wendy kleinlaut.

„Und warum gehörst du nicht dazu?“

„Weil ich mich nie daran versucht habe“, war das gewisperte Geständnis.

„Wendy ist keine Kämpferin. Sie ist eine Heilerin und Ärztin“, ging Romeo erneut dazwischen.

„Und wenn sie mal kämpfen muss? Was ist, wenn du verletzt oder einfach nicht da bist?“

„Ich werde immer da sein“, erwiderte Romeo wild entschlossen und drückte behutsam die hand seiner Freundin. „Wendy und ich sind ein Team. Wir kriegen das hin, ohne dass Wendy sich verbiegen muss.

Die kleinen, zierlichen Finger zuckten zaghaft, ehe sie den Griff erwiderten. Romeo schenkte seiner Freundin ein zuversichtliches Lächeln, aber er musste sich eingestehen, dass Gajeels bohrender Blick ein ungutes Gefühl bei ihm hinterließ.
 

„Sagt mir, dass ihr nur Witze macht!“

Bei Lokes scharfem Tonfall zuckte Levy zusammen. Der Feuergeist hatte sich trotz vor Anstrengung zitternden Armen in die Höhe gestemmt und blickte mit weit aufgerissenen, fiebrigen Augen zu ihr und Juvia auf, die neben seinem Bett standen. In beiden Augen waren Adern geplatzt und die Augen lagen tiefer in den Höhlen, als Levy es jemals in einem menschlichen Gesicht für möglich gehalten hätte. Seine Haut war bleich, seine Lippen aufgesprungen, seine Wangen eingefallen. Alles in allem bot Loke einen erschreckenden Anblick.

Zumindest besserte sein Zustand sich langsam, seit sie Loke dreimal am Tag den Aufguss des Pulvers einflößten, welches Natsu ihnen gegeben hatte, bevor er gestern mit dem Heer aufgebrochen war. Eine Medizin für magische Vergiftungen, die er von einem alten Freund erhalten hatte, hatte er nur erklärt. Leider würde das Pulver nicht mehr lange reichen.

Und die Heilung ging nur sehr langsam vonstatten, weshalb Levy eigentlich gehofft hatte, dass es noch eine Weile dauern würde, bis Loke erwachte und sie ihm sagen musste, wo Lucy war. Oder wenn er wenigstens schon gestern aufgewacht wäre, als Gray und Natsu noch da gewesen waren. Die Beiden könnten Loke sicher besser beruhigen. Immerhin waren sie von Lucys Entscheidung auch nicht begeistert gewesen – schon komisch, dass es tatsächlich etwas gab, worin sie sich einig waren, da sie doch sonst unablässig zankten.

„Sagt mir, dass Lucy irgendwo hier in Sabertooth ist und den Nachschub sichert oder Recherchen anstellt, statt nur mit zwei Männern in einer lebensfeindlichen Wüste unterwegs zu sein, um eine Dämonenbruthöhle zu töten!“, krächzte Loke und kämpfte darum, weiterhin in einer sitzenden Position zu bleiben.

„Sting und Rogue sind sehr stark und sie werden auch noch Zirkonis um Hilfe bitten. Ich denke nicht, dass Lucy tatsächlich in Gefahr ist. Wahrscheinlich ist sie sogar sicherer als wir hier“, versuchte Levy es vorsichtig.

„Die Höhlengebundenen werden riechen, dass Lucy viel Umgang mit Geistern hat“, rief Loke und stemmte sich noch etwas weiter nach vorn. Vor Übelkeit wurde sein Gesicht kalkweiß.

„Juvia denkt, dass du Sting und Rogue vertrauen solltest. Die Beiden werden Lucy mit ihrem Leben beschützen.“

Loke warf der Wassermagierin neben Levy, die sich nun das erste Mal zaghaft zu Wort gemeldet hatte, einen so scharfen Blick zu, dass diese zusammen zuckte.

„Das ist aber meine Aufgabe! Ich bin Lucys Schild und Schwert!“

Levy brachte es nicht über sich, dem Geist die harschen Worte seiner Fürstin zu übermitteln. Seit der Sache mit Avatar schien etwas zwischen Lucy und Loke zu stehen. Meistens verhielten sie sich dennoch ganz normal, aber Levy kannte sie nun schon seit sechs Zyklen. Für sie war unübersehbar, dass es ein Problem gab. Gerne hätte sie irgendwie vermittelt, aber es war nie die rechte Zeit dafür gewesen.

Als Loke Anstalten machte, aus dem Bett zu steigen, sprang Levy an seine Seite und versuchte, ihn zurück aufs Bett zu drücken. Dass ihr das tatsächlich gelang, jagte ihr eine Heidenangst ein.

„Loke, sie sind vor vier Tagen aufgebrochen. Selbst wenn du fit wärst, könntest du sie nicht einfach so einholen“, beschwor sie ihn beinahe flehend. „Bitte vertrau’ auf Sting und Rogue.“

Dem Feuergeist entfuhr ein heiseres Krächzen und als er zu Levy aufblickte, erkannte sie hinter dem Fieberglanz eine kaum zu beschreibende Angst. Ihre Kehle fühlte sich auf einmal wie zugeschnürt an und sie musste gegen die Tränen anblinzeln.

„Bitte“, flehte sie schwach und drückte ihren Freund in eine liegende Position zurück.

„Ich darf sie nicht im Stich lassen“, murmelte Loke schwächlich und mit flackernden Augen. Er versuchte noch einmal, sich auf die Ellenbogen zu stützen, aber die Arme gaben unter seinem Gewicht nach. „Ich habe geschworen… geschworen…“ Die Erschöpfung traf Loke offensichtlich wie ein Hammerschlag. Von einem Moment auf den nächsten wurden seine Worte vollkommen unverständlich und sein gesamter Körper, der sich eben noch für den Versuch verkrampft hatte, wieder aufzustehen, erschlaffte. Die Aufregung hatte den Körper wieder anfälliger für das dämonische Gift gemacht, das sich auch mit der Unterstützung von Natsus Pulver nur quälend langsam abbaute.

Levy wartete noch, bis der Feuergeist wieder eingeschlafen war, dann trat sie zurück und ergriff die Flucht. Sie verließ das kleine Gästequartier und stürzte in die Galerie hinaus, vorbei an den leeren Zimmern, die vor wenigen Tagen noch von ihren alten und neuen Freunden bewohnt worden waren, und die Treppe hinunter.

Im Sahn kauerte Levy sich zu Boden und drückte die Handballen auf ihre Augen, um sich wieder unter Kontrolle zu kriegen. In was war sie hier nur hinein geraten? Vor zwei Monden hatte sie noch an ihrer Doktorarbeit gesessen und war ihren Pflichten in der Bibliothek nachgegangen. Und nun? Eine irre Sekte hatte versucht, ihre beste Freundin zu töten, deren Heimat angegriffen worden war. Die Drachenartigen in ganz Fiore spielten verrückt, die Drachenreiter schlossen sich zusammen und nun tauchten auch noch Dämonen wieder auf, die vor mehr als tausend Zyklen alles daran gesetzt hatten, so viele Menschen wie möglich auszuschalten – und sie, eine kleine, unbedeutende Magistra, steckte mittendrin…

Eine Hand auf ihrer Schulter ließ sie aufblicken. Juvia hockte vor ihr, ihre großen, blauen Augen voller Verständnis und Sorge.

„Juvia denkt, dass du dich ausruhen solltest“, sagte die Wassermagierin sanft. „Bevor man uns Bescheid gesagt hat, dass Loke wach ist, hast du den ganzen Tag in der Bibliothek von Meister Org gearbeitet. Du hattest keine einzige Pause. Juvia musste dich sogar zwingen, wenigstens zwischendurch etwas zu essen und zu trinken.“

Levy schwieg betreten und hob den Blick zum Himmel. Die Sonne hatte den Zenit schon längst überschritten und neigte sich wieder dem Horizont zu. Erst jetzt fiel Levy auf, wie lang die Schatten im Sahn waren. War sie wirklich den ganzen Tag in der Bibliothek gewesen? Sie hatte kein Zeitgefühl mehr, wenn sie sich so richtig in ihre Arbeit stürzte – und die Privatsammlung des ehemaligen Hofmagiers von Sabertooth lud geradezu dazu ein, darin zu versinken.

Neben ihren Dämonologie-Recherchen suchte Levy immer noch nach Abhandlungen über den Schwarzen Kometen. Zumindest einen aufschlussreichen Artikel über die Katastrophe in Malba hatte sie gefunden. Darin wurden zahlreiche Thesen logisch widerlegt, die voran gegangene Wissenschaftler aufgestellt hatten. Es konnte keine Krankheit sein, keine Naturkatastrophe, kein dämonischer Einfluss, keine Giftmagie… Vielmehr deutete alles darauf hin, dass Experimente in Bezug auf das Fanal, welches hundert Zyklen zuvor stattgefunden hatte, ausgeführt worden waren. Womöglich hatte jemand nach einer Methode gesucht, das Fanal rückgängig zu machen. Für die Prophezeiung zog der Autor als Erklärung jedoch nur eine magisch induzierte Massenhalluzination heran.

Wirklich weiter gebracht hatte diese Lektüre Levy nicht, aber aus irgendeinem Grund war ihr seitdem noch mulmiger zumute. Sie hatte das Gefühl, dass sie etwas Wichtiges übersah, doch sie konnte den Finger nicht darauf legen.

Außerdem sollte sie sich lieber auf Tartaros konzentrieren. Meister Orgs Bibliothek hatte einen erstaunlich großen Bestand an Dämonologie-Werken. Neben Klassikern wie Ein Tanz mit Wölfen, Die Kriege der Golems, Dämonen der alten Ära und Kartographie der Dämonenwanderungen gab es auch einige Exemplare, bei denen Levy sich sicher war, sie nie im Inventar der Universitätsbibliothek gesehen zu haben. Und einige sehr alte handschriftliche Aufzeichnungen, von denen manche sogar auf Alt-Bosco geschrieben waren.

Aus all dem das heraus zu suchen, was sie wirklich brauchte, kam Levy wie die berühmte Suche nach der Nadel im Heuhaufen vor. Tartaros wurde so gut wie nie namentlich erwähnt, aber in den Aufzeichnungen über die Golem-Kriege etwa wurde auch der sogenannte Totengolem nochmals erwähnt, weshalb Levy sich gezwungen sah, alles zu den großen Konflikten zusammen zu tragen, an denen Tartaros Eclair zufolge beteiligt gewesen war. Zwischen den Zeilen ließen sich so vielleicht doch Verweise auf Tartaros finden, doch das bedeutete einen schier unendlich großen Berg an Lesearbeit. Im Grunde war das erst recht ein Ansporn für Levy, die für ihr Leben gern Rätsel gelöst hatte, aber die Gewissheit, dass davon wahrscheinlich das Überleben ihrer Freunde – und womöglich sogar das aller Menschen in der Stillen Wüste – abhing, bereitete ihr furchtbare Bauchschmerzen.

„Juvia musste Gajeel versprechen, auf dich aufzupassen. Bitte leg’ dich für den Rest des Abends ins Bett.“

Levy Wangen wurden aus irgendeinem Grund heiß. „Gajeel sollte sich lieber um seine eigene Situation Gedanken machen. Ich kann sehr gut auf mich alleine aufpassen.“

Abwägend neigte Juvia den Kopf mal nach links, dann nach rechts. „Gajeel macht sich Sorgen um dich…“

„Warum sollte er? Wir kennen einander doch kaum“, protestierte Levy und wedelte abwehrend mit den Händen.

Zur Antwort schenkte Juvia ihr ein Lächeln, das irgendwie an Lucy erinnerte. Ein skurriler Gedanke, da Lucy und Juvia doch so unterschiedlich waren, aber er ließ sich auch nicht verdrängen.

Levys Gesicht war nun brennend heiß und ihr fiel auf, dass sie wild mit ihren Händen herum fuchtelte und die Lippen immer wieder öffnete und schloss, ohne ein Wort zustande zu bringen.

Sie zwang sich, die Hände sinken zu lassen, und starrte verwirrt zu Boden. Insgeheim war sie heilfroh, dass Lucy und Gray nicht hier waren. Für die Beiden wäre Levy jetzt ein gefundenes Fressen – dabei sollten die mal ganz ruhig sein! Gray, der Juvias schmachtende Blicke nicht bemerkte, und Lucy, die mit Natsu flirtete, ohne es so richtig zu kapieren!

Levy schoss das Blut in die Wangen, als ihr klar wurde, dass sie ihre – vollkommen unromantische – Beziehung mit Gajeel mit denen ihrer Freunde verglichen hatte. Sie war eindeutig übermüdet und halluzinierte bereits, anders ließ sich das nicht erklären.

„Ich gehe schlafen“, erklärte sie darum hektisch und sprang auf die Beine.

Juvias Kichern verfolgte sie auf dem ganzen Weg die Treppe hinauf und bis zu der Kammer, die sie sich mit Juvia teilte, seit die Blauhaarige sie nach Gajeels Abreise gefragt hatte, ob sie bei ihr schlafen durfte.

Seufzend ließ die Magistra sich auf ihre Matratze sinken. Die Berührung mit der bequemen Unterlage rief ihr schlagartig all die grässlichen Verspannungen wieder in Erinnerung, welche die Recherchen in der Bibliothek von Meister Org nach sich gezogen hatten. Sie brachte es gerade so noch zustande, ihre leichten Lederstiefel, die sie in Heartfilia bekommen hatte, abzustreifen, dann drückte die Erschöpfung sie aufs Bett. Ihr letzter Gedanke war, dass sie am nächsten Morgen mit der historischen Abteilung in Meister Orgs Bibliothek anfangen könnte, dann dämmerten ihre Gedanken weg…
 

Wenn Rogue es nicht besser wüsste und wenn er weniger aufmerksam wäre, hätte er allen Grund, sich zu ärgern, denn Sting und Lucy verstanden sich blendend miteinander. Während der Fahrt mit den Sandschlitten hatte Sting der Fürstin die Handhabung des Gefährts beigebracht und die Beiden hatten daran offensichtlich viel Spaß gehabt. Verdächtig viel, hätte ein Unkundiger glauben können.

Aber Sting war als Wüstennomade einfach grundsätzlich viel entspannter in solchen Belangen. In der Zuflucht lebte das Freie Volk auf so engem Raum, dass ihre Toleranzgrenze für Berührungen sehr viel höher war als anderswo in Fiore. Manch einer warf ihnen sogar Schamlosigkeit vor – und hatte damit gar nicht so Unrecht. Selbst mit den… delikaten Details ihrer Beziehung war Sting zu Rogues Leidwesen immer sehr freizügig umgegangen.

Wenn Sting tatsächlich ein weitergehendes Interesse an Lucy hätte, würde er daraus also auch keinen Hehl machen. Polygamie – obwohl es keine Ehegelübde bei den Wüstennomaden gab – war Gang und Gebe. Monogame Beziehungen waren hingegen eher selten. In dieser Hinsicht brach Sting mit den Gebräuchen seines Volks. Er hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass Rogue mehr als nur ein Bettgenosse für ihn war.

Lucy wiederum war offensichtlich begierig darauf, zu lernen, wie man den Sandschlitten handhabte, und brachte dabei eine gewisse Abenteuerlust ein, doch wenn sie Sting berührte, dann nur haltsuchend. Sie lachte vergnügt mit Sting, scherzte und lächelte ohne Scheu, einfach weil sie nicht schüchtern war, aber sie suchte offensichtlich keine vertraulichere Nähe zu Sting.

Für Rogue war es ganz ähnlich, als wenn er Sting mit Yukino beobachtete. Vielleicht brauchten Sting und Lucy das Beide, trieb sie doch auch Beide die Sorge um die gemeinsame Freundin um.

An den Abenden, wenn es zu riskant wurde, weiter zu fahren, übte Lucy mit ihnen ihr Bosco – sie war verblüffend gut, auch wenn ihre Wortwahl ziemlich steif und ihr Akzent sehr stark war – und trainierte mit ihnen ihren Schwertkampfstil. Zu Rogues Überraschung hatte sie wohl schon mal gegen eine Bosco-Klinge wie die seine gekämpft. Allerdings zehrten die heißen Tage und die lange Fahrt an ihr und sie war es wohl fast nur gewohnt, auf festem Untergrund zu kämpfen. Die ständigen Niederlagen nahm sie jedoch ausgesprochen würdevoll an und fragte immer nach Möglichkeiten zur Verbesserung ihres Stils.

Mittlerweile waren sie seit vier Tagen unterwegs und nun kamen die ersten Ausläufer der Trümmersteinberge in Sicht. Scharfkantig ragten sie aus den weichen Linien des Wüstensandes ab, der Stein gelbbraun, selten einmal grau oder gar schwarz. Das Wüstengebirge lag nördlich von Jadestadt und erstreckte sich in der Nord-Süd-Strecke über vier Tagesreisen, in der Ost-West-Strecke über das Fünffache. Ein gewaltiger Wall, der Jadestadt beinahe gänzlich von Clover abschottete, welches jenseits der Weiten Steppe lag, welche sich an die Trümmersteinberge anschloss.

Lucy fuhr jetzt beinahe alleine, Sting hielt sich ohne Einmischung hinter ihr und achtete nur darauf, sein Gewicht immer richtig zu verlagern. Rogue fuhr schräg vor ihnen, um Lucy die Richtung anzuzeigen. Wenn die Blonde ihn mal überholte, erkannte er jedes Mal das herausfordernde Grinsen auf Stings Lippen, aber er beantwortete es immer nur mit einem Augenrollen.

Feigling, formte Sting mit den Lippen beim nächsten Mal.

Spielkind, antwortete Rogue.

Als Sting anzüglich mit den Augenbrauen wackelte, verspürte Rogue einerseits den Wunsch, seinem Partner einen ordentlichen Klaps auf den Hinterkopf zu verpassen, aber andererseits musste er sich eingestehen, dass Stings verruchtes Lächeln eine unglaubliche Anziehungskraft auf ihn ausübte.

Fassungslos schüttelte er den Kopf und richtete sein Segel neu aus, um Lucy zu überholen und zum verstecken Gebirgspfad zu dirigieren. Während er jedoch konstant sein Tempo drosselte, ging das bei Lucy eher stockend vonstatten. Als sie kurz das Gleichgewicht verlor, rutschte das Segel wieder in den Wind und der Schlitten schoss regelrecht an Rogue vorbei.

Sting unternahm zu Rogues Erleichterung keinen waghalsigen Versuch, das Gefährt wieder unter Kontrolle zu bringen, sondern schlang einen Arm um Lucys Hüfte, den anderen um ihren Kopf und sprang mit ihr ab. Der Sandschlitten krachte gegen den nächsten Felsen und zersplitterte.

Rogue hielt neben Sting und Lucy und stieg von seinem eigenen Schlitten, um den Beiden je eine Hand anzubieten. Sie waren zum Glück Beide unverletzt.

„Das passiert, wenn man sich so etwas von Sting beibringen lässt“, erklärte er amüsiert.

„Hey, Natsu habe ich es auch beigebracht!“, protestierte Sting beleidigt.

„Der tickt ja auch genau wie du und versteht deine komischen Erklärungen.“

Während Sting einen Flunsch zog, kicherte Lucy und tätschelte besänftigend seine Schulter. „Lass’ dir nichts einreden, Sting, du bist ein guter Lehrer. Es hat Spaß gemacht. Schade nur um den Sandschlitten.“

„Ach, den brauchen wir sowieso nicht mehr“, erwiderte Sting unbekümmert, der sich offensichtlich über Lucys Lob freute und darüber völlig vergaß, weiterhin den Beleidigten zu mimen.

Schmunzelnd kehrte Rogue zu seinem Sandschlitten zurück und lud die darauf verknoteten Rucksäcke ab, ehe er das Segel raffte und einklappte und das Brett im Sand vergrub. Derweil sammelten die anderen Beiden die Trümmer des zweiten Schlittens ein und versteckten sie ebenfalls im Sand.

„Bist du schon mal geklettert?“, fragte Sting Lucy, nachdem sie ihre Rucksäcke geschultert hatten.

„Nur auf Bäumen. Heartfilia und das Kargland sind allenfalls ein bisschen hügelig. Meister Capricorn hat uns zwar im Mondsteinbruch einige Kletterübungen abhalten lassen, aber er hat uns gewarnt, dass das eigentlich keine richtige Vorbereitung ist“, antwortete die Fürstin, während sie ihren Tagelmust neu band, der während des Absprungs verrutscht war.

Wieder war Rogue verblüfft, wie kriegerisch Heartfilia in Wahrheit war. Nicht dass er sich je besonders intensiv mit dem Fürstentum beschäftigt hatte, aber alles, was er je darüber gehört hatte, hatte sich immer nur mit dem dort herrschenden hohen Lebens- und Bildungsstandard befasst.

Die Fürsten und Fürstinnen des Heartfilia-Geschlechts wiederum hatten sich oft als Gelehrte unterschiedlicher Fachrichtungen hervor getan, insbesondere in der Astronomie und in der Diplomatie. Auch einige berühmte Künstler stammten aus ihren Reihen, Rogue konnte sich an einen Gedichtband von einer Sarah Heartfilia erinnern, der ihm in der Bibliothek des Sandpalasts mal in die Hände gefallen war. Und um den Reichtum des Landes hatten sich die wildesten Gerüchte gerankt – an denen nach dem, was Lucy offenbart hatte, anscheinend mehr dran war, als Rogue je angenommen hätte.

Aber für große Schlachten und Kriege waren die Menschen und Geister Heartfilias nie bekannt gewesen. Ganz offensichtlich war man in Heartfilia auch in der heutigen Zeit darum bemüht, diesen Trumpf immer in der Hinterhand zu behalten.

„Das erste Stück, das wir heute noch schaffen können, ist einfach. Pass’ auf, wo Rogue und ich hintreten, und sag’ Bescheid, wenn du eine Pause brauchst“, instruierte Sting ernsthaft.

Die Fürstin nickte zustimmend. Sie ging für eine Grünländerin bemerkenswert vernünftig mit den körperlichen Grenzen um, welche ihr die ungewohnten Wüstentemperaturen setzten. Wahrscheinlich ein weiteres Ergebnis ihrer harten Ausbildung.

Wie Sting es angekündigt hatte, war das erste Stück sehr einfach. Man konnte es kaum richtiges Klettern nennen. Es ging zwar recht steil nach oben, aber es boten sich für die Füße genug Trittstellen und zwischendrin gab es immer wieder Absätze, die sich für eine Verschnaufpause anboten.

Sting, der mit Abstand der beste Kletterer unter ihnen war, gab das Tempo und die genaue Richtung vor, aber Rogue erkannte mühelos, dass sein Partner sich zurückhielt. Würde Sting sich in seinem gewohnten Tempo bewegen, hätte Lucy kaum eine Chance, mit zu halten. Auch so war nach einiger Zeit ihr schwerer Atem zu hören, aber sie hielt in der ganzen Zeit nur zweimal an, um von einem Absatz aus die Stille Wüste zu überblicken und gleichzeitig nach Luft zu schnappen.

Jedes Mal nahm sich auch Rogue die Zeit, um den Blick über das schier unendliche Sandmeer gleiten zu lassen. Von den südlichsten Ausläufern der Trümmersteinberge aus konnte man an guten Tagen Jadestadts Mauern erkennen, aber sie waren mehr als zwei Tagesreisen nordöstlich davon und würden sich diesem Gebiet auch nicht nähern. Zirkonis hatte sich damals anscheinend extra ein abgelegenes und weniger gut zugängliches Areal für seine Schlafhöhle ausgesucht, weitab von den geschäftigen Edelsteinminen und den reichhaltigen Alabaster- und Marmorsteinbrüchen, die von Jadestadts Steinmetzen genutzt wurden.

Wenn Rogue von hier aus über die Wüste blickte, sah er nur Sand, Sand und nochmals Sand. Früher hatte ihm das nichts bedeutet. Wenn er als kleiner Junge hinter seinem Vater her über die Mauern von Sabertooth gelaufen war und in die Wüste hinaus geblickt hatte, hatte er sie als eintönig empfunden. Nach seiner ersten Wüstenprüfung war sie ihm zum Feind geworden. Heute brachte er die Wüste immer mit Sting in Verbindung und das verlieh ihr etwas Abenteuerliches und zugleich etwas Heimeliges. Heute war die Wüste seine Heimat.

Eine Heimat, die er mit allen Mitteln zu verteidigen gedachte.

Als sie vor der erwarteten Zeit einen geeigneten Rastplatz erreichten, ließ Lucy sich keuchend sinken und massierte sich die Waden. Rogue gab ihr eine Feldflasche mit Sandfeuer, einem Dattelschnaps, der genug Zucker enthielt, um Lucys Lebensgeister wieder für eine Weile zu wecken, während Sting die Schlafdecken entrollte.

Lucy verzog angewidert das Gesicht, trank jedoch tapfer einen Schluck, ehe sie Rogue die Flasche mit einem Seufzen wieder gab. „Ich habe mich eigentlich für ziemlich fit gehalten.“

„Bist du auch“, versicherte Rogue ihr. „Selbst Natsu hat mehrere Tage gebraucht, um sich an das Wüstenklima zu gewöhnen, und der ist beinahe unverwüstlich.“

Bei der Erwähnung des Feuermagiers trat ein Glitzern in Lucys Augen. Zum Glück bemerkte Sting es nicht, sonst hätte er sich wohl hinreißen lassen, etwas dazu zu sagen.

„Wann war Natsu denn hier?“, fragte Lucy verräterisch beiläufig.

„Er ist vor viereinhalb Zyklen in Sabertooth aufgetaucht. Fast drei Monde hat er bei uns verbracht, ehe er mit einem Schiff nach Hargeon aufgebrochen ist.“

„Aber warum? Er hat doch in Magnolia sicher Pflichten gehabt.“

Sting zuckte mit den Schultern. „Soweit ich es verstanden habe, ist es nur ein Scheintitel. In Magnolia erwartet wohl keiner, dass Natsu eine militärische oder diplomatische Position einnimmt. Fürst Makarov muss ziemlich nachsichtig sein.“

„Und wieso macht er überhaupt so eine lange Reise?“, hakte Lucy Stirn runzelnd nach.

„Natsu ist durch und durch ein Drachenreiter“, erklärte Rogue. Während er weiter sprach, packte er die Vorräte aus. Das Pökelfleisch und die Trockenfrüchte würden sich noch eine Weile halten, daher griff er zuerst nach dem Brot. „Er hat oft betont, dass wir als Drachenreiter mehr Kontakt miteinander haben sollten. Und eines Tages stand er eben vor uns und hat sich von uns die Stille Wüste zeigen lassen. Er hat sogar Zirkonis besucht, um auch den unberittenen Drachen kennen zu lernen. Für ihn war es wichtig, mehr über die anderen Drachenreiter zu erfahren.“

„Ergibt das denn nicht Sinn, dass die Drachenreiter eng zusammenhalten?“, fragte Lucy verwirrt.

„Schon, aber das ist nicht so einfach, wie Natsu sich das wohl vorstellt“, erwiderte Rogue, während er das Brot in Scheiben schnitt und diese zwischen ihnen aufteilte. „Jeder von uns hat auch seine Verpflichtungen.“

„Du meinst euren Rang als Klauen der Wüstenlöwin?“

„Wir haben uns aus freien Stücken dafür entschieden, aber es bindet uns an Sabertooth. Wir können die Stille Wüste nicht einfach mal eben so verlassen“, erklärte Sting und riss von seiner Brotscheibe ein Stück ab, um es sich in den Mund zu schieben.

„Bereut ihr es?“

So wie Lucy aussah, kaum dass die Frage aus ihr heraus geplatzt war, war sie selbst davon überrascht. Auf ihrer Miene spiegelte sich zuerst Verlegenheit, dann Schuld, dann etwas, das Rogue vage als Selbstzweifel zu erkennen glaubte, ehe es innerhalb eines Herzschlages wieder verschwunden war.

„Tut mir Leid, die Frage war dumm. Vergesst sie einfach wieder“, sagte Lucy hastig und wedelte hilflos mit den Händen.

„Nein“, antwortete Sting dennoch. „Ich bin gerne ein Wüstennomade und habe es gerne leicht. Die Verantwortung für die Stille Wüste zu tragen, war sicher nicht das, was ich mir als Sandfloh erträumt habe. Aber indem ich tue, was ich tue, kann ich vielen Menschen helfen. Nicht zuletzt auch meiner… ihr Grünländer würdet es wohl Familie nennen.“

Bei seinen letzten Worten blickte Sting direkt in Rogues Augen. Dem Schwarzhaarigen wurde ganz warm und kribbelig zumute und er antwortete unwillkürlich mit einem Lächeln. Sting hatte ihm vor langer Zeit erklärt, was es bedeutete, vom selben Sand zu sein. Dieses Band teilte Sting seit seiner Kindheit mit Minerva und später war auch Yukino in diesen Bund aufgenommen worden – und seit mehr als acht Zyklen gehörte auch Rogue dazu. Für ihn war das neben Stings Liebe und seinem Band mit Skiadrum das Wertvollste, was er sich vorstellen konnte.

Für einen Moment ergriff er Stings Hand und drückte diese, um seinen überwältigenden Gefühlen Ausdruck zu verleihen, ehe er sich ernst an Lucy wandte: „Dass wir es nicht bereuen, heißt nicht, dass wir nie Zweifel haben.“ Die junge Fürstin blickte wieder von ihren Händen auf. „Manchmal – so wie jetzt – stehen der Schutz der Stillen Wüste und der Schutz unserer Familie augenscheinlich nicht im Einklang miteinander.“

„Yukino…“, murmelte Lucy und Rogue spürte das Zucken von Stings Hand in seiner. „Sie lebt sicher noch. Sie hat ihre Suche noch nicht beendet, das wird sie nicht aufgeben. Außerdem meinte sie, sie könnte euch Zwei nicht lange alleine lassen“, fügte sie lächelnd hinzu.

Sting brummte beleidigt. „Als ob wir kleine Sandflöhe wären! Yukino ist diejenige, die durch halb Fiore gereist ist!“

„Und es hat sie alle drei Male hierher zurück gezogen“, schmunzelte Lucy und in ihren Augen vermeinte Rogue Bewunderung zu erkennen.

„Wie gut kennst du Yukino?“, fragte er leise.

„Nicht so gut wie ihr, aber wir sind befreundet. Bei ihrer ersten Vorstellung war… Vater sehr verwirrt, als Yukino sich mit dem Reisebrief der berühmtberüchtigten Wüstenlöwin vorstellte.“

Das glaubte Rogue ihr aufs Wort. Damals war Yukino zarte siebzehn Sommer alt gewesen. Kurz nach der Befreiung war sie zu Minerva gegangen und hatte dieser erklärt, dass sie endlich ihre Suche beginnen wollte. Sting hatte lautstark protestiert und ausnahmsweise mal waren er und Orga damit voll und ganz einer Meinung gewesen. Selbst Rufus war skeptisch gewesen und auch Rogue hatte starker Widerwille erfüllt, die neu gewonnene Freundin alleine ziehen zu lassen. Aber Minerva hatte alle Widerworte abgewürgt und Yukino den Reisebrief ausgestellt, der ihr während ihrer Reise die Unterstützung aller Fürsten verschaffen sollte.

„Ich fand es wahnsinnig aufregend, endlich aus erster Hand etwas über die Befreiung zu erfahren“, erklärte Lucy. „Fast einen Mond lang war Yukino bei uns, ehe es sie wieder zu euch gezogen hat.“

Den nächsten Teil der Geschichte kannte Rogue: Auf ihrer Reise den Schlangenfluss hinunter hatte Yukino zwei Tagesreisen vor Sabertooth noch mal in einer kleinen Herberge Quartier bezogen, in welcher zufällig auch Hisui, die designierte Fürstin von Jadestadt, gerastet hatte, die auf dem Heimweg nach ihrem Studium in Crocus gewesen war. Als Hisuis Reisegesellschaft von Banditen angegriffen und überwältigt und die Fürstin verschleppt worden war, hatte Yukino die Verfolgung in die Wüste aufgenommen. Sie hatte den Banditen den Garaus gemacht, einen Basilisken gezähmt und mit ihm die Fürstin nach Sabertooth gebracht. Damals waren Sting und Rogue gerade von ihren Drachen erwählt worden und auf einer Übungsreise in der Stillen Wüste unterwegs gewesen, weshalb Minerva Yukino zu Hisuis Eskorte bestimmt hatte. Während dieser Reise nach Jadestadt waren die beiden Frauen Freundinnen geworden und letztendlich hatte Yukino den Titel Säbel und Feder angenommen, den Hisui ihr verliehen hatte.

„Während ihres zweiten Besuchs habe ich sie verpasst, weil ich in Crocus war, aber beim dritten Besuch hat sie meine Semesterferien abgepasst und wir hatten wieder einen Mond lang Zeit füreinander. In der Zeit hat sie Aries auch gebeten, das Kostüm für Frosch zu nähen“, erklärte Lucy mit einem wehmütigen Lächeln. „Eigentlich hatte ich Yukino versprochen, nach meiner Inthronisierung auf einen Freundschaftsbesuch vorbei zu kommen. Ich wollte die Stille Wüste immer schon mal kennen lernen…“

Lucys Stimme verklang, als sie den Blick zu den ersten Sternen am dunkelnden Himmel hob. In ihren Augen lag eine undefinierbare Einsamkeit. Der Schmerz des Erlebten und des Verlusts. Rogue fragte sich, ob diese Lucy hier noch die Lucy war, mit der Yukino sich angefreundet hatte.

„Du bist ja jetzt in der Stillen Wüste und wir können dir ganz viel über sie erzählen“, durchbrach Sting die Stille und schenkte der Fürstin ein aufmunterndes Grinsen. „Sobald wir die Dämonen erledigt haben, kannst du mal so eine richtige Feier im Wüstenstil erleben!“

Rogue seufzte augenrollend und Lucy kicherte befreit. „Ich freue mich schon darauf.“

Erst als sie sich schlafen legten – Sting hielt mit auf dem Schoß gelegten Säbel Wache – kam Rogue in den Sinn, dass Lucys Frage danach, ob sie ihre Entscheidung bereuten, wohl nicht von ungefähr gekommen war. Hatte Lucy danach absichtlich das Thema auf Yukino gelenkt, um diese Frage zu vertuschen?

Der Pfad, auf dem der Krieg begann

Der Puls der Sterne stach und zwickte heute, schien sich in Lucys Körper hinein zu wühlen und fest zu setzen wie ein Parasit. Lucys Herz wurde zusammen gepresst, auseinander gezogen, wieder zusammen gepresst – und jedes Mal schien ein bisschen etwas weg zu bröckeln, bis das Herz nackt und wehrlos für das schwarze Nichts da lag, das sich aus dem Himmel schälte. Das Licht und die Wärme der Welt schwanden.

Lucy wollte schreien, wollte die Hände um ihr schutzloses Herz legen, aber etwas hielt sie fest. Etwas das Alles und Nichts zugleich war. Ein Unding – kalt, dunkel und unendlich grausam. Das Unding umfing sie, schnitt sie von der Außenwelt ab, ja, sogar von der Luft. Lucy rang um Atem, der ihr doch verwehrt blieb. Verzweifelt beschwor sie das Bild ihrer Freunde herauf, den alten und den neuen. Doch das Nichts verschlang auch dieses Bild. Ein Gesicht nach dem nächsten verzog sich in Agonie, ehe es verging. Zuletzt erstarb auch Natsus zuversichtliches Lächeln und Lucys Herz zerriss…

„Rogue, Lucy, wir bekommen Besuch.“

Sofort schlug Lucy die Augen auf und griff nach ihrem Rapier, das sie vorm Einschlafen in Reichweite neben sich gelegt hatte. Ihre Finger waren steif vor Kälte, die nichts mit der Nachtkühle der Wüste zu tun hatte, und ihr Herz raste. Auf ihrer Zunge lag der bittere Geschmack des Alptraums. Sie verstärkte ihren Griff um ihre Waffe und richtete sich auf, um sich zu ihren Begleitern herum zu drehen.

Im Licht des Mondes konnte Lucy sie kaum sehen, aber Beide hielten still und schienen zu lauschen. Lucy versuchte gar nicht erst, es ihnen gleich zu tun. Sie besaß einfach nicht das sensible Gehör der Drachenreiter. Stattdessen hob sie den Blick und studierte den Himmel. Es konnte noch nicht lange her sein, seit sie sich zur Ruhe gebettet hatte.

„Etwas nähert sich schnell“, murmelte Rogue und blickte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. „Vielleicht sechs oder sieben, den Schrittgeräuschen nach zu urteilen.“

„Dämonen vermutlich. Sie stinken bestialisch“, knurrte Sting, stand auf und schob seinen Säbel in die passgerechte Scheide an seinem Gürtel.

Auch Lucy rappelte sich auf, hängte ihr Rapier wieder in ihren Waffengürtel und faltete ihre Decke zusammen, um sie in den Rucksack zurück zu stecken.

„Kämpfen wir gegen sie?“

„Nein, wir gehen weiter“, erklärte Rogue und knotete sich ein Seil um die Hüfte, ließ zwei Mannslängen frei und schlang das Seil dann um Lucys Hüfte.

„Versuch’ nicht, etwas zu sehen. Verlass’ dich auf deine Hände und Füße und folge dem Zug des Seils“, riet Sting ihr und reichte seine Rebmesser an Rogue weiter, der ihm dafür das Ende des Seils übergab. „Rogue ist jetzt unsere Augen. Er ist nicht umsonst der Reiter des Schattendrachens.“

Lucy nickte und beobachtete, wie Sting sich das Ende des Seils um die Hüfte schlang. Sie würde also zwischen den beiden Drachenreitern klettern. So war sie nicht nur vor einem Sturz, sondern auch vor den Verfolgern am besten abgesichert.

Für weitere Gedanken hatte sie keine Zeit. Sie musste sich aufs Klettern konzentrieren. Wie Sting es ihr geraten hatte, verließ sie sich auf ihren Tastsinn. Es ging immer steiler bergauf, sodass sie irgendwann nicht mehr normal laufen konnten, sondern im Grunde auf allen Vieren krochen.

Bislang war Lucy der Rucksack leicht vorgekommen, aber jetzt begannen ihre Schultern irgendwann zu schmerzen und ihre Waden wurden schwer wie Blei. Dennoch weigerte Lucy sich, um eine Pause zu bitten. Sie trieb sich immer weiter. Selbst als ihre Gedanken langsam stumpf und träge wurden, hielt sie ihre Entschlossenheit, durchzuhalten, aufrecht.

Nach einer Ewigkeit realisierte sie, wie sie auf einmal wieder auf halbwegs ebenen Boden trat. Rogue hielt und legte lauschend den Kopf schräg. Darum bemüht, leise zu bleiben, stützte Lucy sich auf ihren zitternden Knien ab und konzentrierte sich auf ihren Atem.

„Wir haben einen guten Vorsprung, aber abhängen können wir sie so nicht“, murmelte Rogue und machte sich am Seil an seiner Hüfte zu schaffen.

„Was hast du vor?“, krächzte Lucy.

„Ich verschaffe uns etwas mehr Zeit“, war die nebulöse Antwort.

Der Schattenmagier entledigte sich seines Rucksacks und zog sich die schwarze Robe aus. Darunter trug er einen ebenfalls schwarzen Lederpanzer und lederne Unterarmschienen.

„Pass’ auf dich auf“, flüsterte Sting, der sich auch des Seils entledigt hatte, und trat vor, um seinen Partner zu küssen.

Verlegen sah Lucy beiseite, bis die Drachenreiter sich wieder voneinander lösten. Rogue verschwand vollkommen lautlos in den Schatten und Sting ließ sich zu Boden sinken, wo er sich mit dem Rücken an einen Stein lehnte. Indem er neben sich auf den Boden klopfte, bedeutete er Lucy, sich neben ihn zu setzen. Als sie sich mit züchtigem Abstand neben ihm nieder ließ, rückte er an sie heran.

„Du bist verschwitzt und müde und heute Nacht ist es kühl“, erklärte er schlicht und ein Grinsen umspielte seine Lippen. „Keine Sorge, ich werde dir nicht an die Wäsche gehen. Dafür habe ich Rogue.“

„D-das will ich gar nicht wissen“, quietschte Lucy und das Blut schoss ihr in die Wangen.

Sting kicherte. „Ihr Grünländer seid ja alle so prüde.“

„Sind alle Wüstennomaden so unverschämt wie du?“, konterte Lucy beleidigt.

Nachlässig wackelte Sting mit einer Hand. „Die meisten sehen nicht so gut aus und sind auch nicht so stark wie ich.“

„Wie gut, dass du so bescheiden bist“, stellte Lucy spitz fest.

„Finde ich auch.“

Lucy schnaubte leise, lehnte sich jedoch dankbar an Stings Schulter, die ihr Schutz vor der kühlen Nachtbrise bot. Eine Weile schwieg sie und versuchte wider besseres Wissen, ein Geräusch zu hören, das ihr Aufschluss über Rogues Verbleib gab. Irgendwann verlegte sie sich darauf, zu Sting hinauf zu schielen, um zu erraten, was in ihm vorging. Obwohl er sonst so ausdrucksstark und –freudig war, hatte er sich jetzt gut im Griff.

„Hast du keine Angst um Rogue?“

„Jetzt gerade besteht kein Grund dafür“, erklärte Sting ruhig. „Diese Dämonen sind dumm, sie machen Krach und sie achten nicht auf ihren Geruch. Obendrein sind sie weit genug weg. Rogue wird ihnen ein paar nette Grüße schicken und dann wird er auch schon wieder hier sein.“

Seiner ruhigen Worte zum Trotz schien Sting sehr angespannt zu lauschen. Lucy tat so, als würde sie gähnen, um ihr Lächeln hinter ihrer Hand zu verbergen. Sting und Rogue waren ein schönes Paar. Sie kannten einander so gut, waren vollkommen vertraut miteinander und so gerne Sting auch pikante Andeutungen machte, es war doch unübersehbar, wie verliebt er in den Schattenmagier war.

Sie führten die Art von Beziehung, die Lucy sich insgeheim immer für sich selbst gewünscht hatte. Damals, als sie noch nicht die Verantwortung für ein ganzes Fürstentum auf den Schultern gespürt hatte. Damals, als der Gedanke, jemand würde sie mit seinem Leben beschützen müssen, vollkommen abwegig gewesen war…

„Glaubst du wirklich, dass Yukino noch lebt?“, durchbrach Sting das Schweigen überraschend und riss Lucy damit aus ihren sich verdüsternden Gedanken.

„Ich weiß es“, erwiderte sie bestimmt, überwand ihre Scheu und schlang einen Arm um Stings Taille. „Yukino ist von dir und Minerva ausgebildet worden und sie konnte mir gar nicht oft genug sagen, wie sehr sie das geprägt hat.“

Amüsiert und irgendwie auch gerührt beobachtete Lucy, wie Sting sie zuerst offenen Mundes anstarrte, ehe er mit roten Wangen schnell den Blick abwandte. Die Verbindung zwischen Sting, Rogue, Minerva und Yukino war wirklich etwas Besonderes. Das bedeutete es, vom selben Sand zu sein. Yukino hatte sich schwer damit getan, die Bedeutung dieser Formel zu erklären, aber jetzt erkannte Lucy es von selbst, Sie fühlte sich an die Zeit erinnert, als sie mit Loke und den Anderen in der harten Ausbildung von Meister Capricorn gesteckt hatte. Und an die Zeit mit Levy, Meredy und den Fullbuster-Brüdern in Crocus. Wieder verspürte sie einen wehmütigen Stich ob des Verlusts dieser unbeschwerten Zeiten, aber sie vertrieb den Gedanken schnell wieder.

„Dass es tatsächlich möglich ist, dich mundtot zu kriegen“, neckte sie Sting.

Sofort blies dieser beleidigt die Wangen auf. „Yukino ist gemein, so aus den Höhlen zu plaudern!“

Kichernd schubste Lucy den Drachenreiter an. „Sie hat mir noch etwas verraten… Deine große Schwachstelle…“

Zuerst schien Sting verwirrt, aber als sie in seine Haare greifen wollte, wich er entsetzt zurück. „Bring’ nicht meine Haare durcheinander!“

Lucy lachte befreit und versuchte wieder, nach Stings Haaren zu greifen. Er hielt sie an den Handgelenken fest. Sie entwand sich und ließ ihre Hand vorschnellen. Als Sting auswich, kippte er nach hinten und zog Lucy mit sich. Prustend kniete Lucy über dem Drachenreiter, der schmollend zu ihr aufsah.

„Niemand darf meine Haare anrühren außer Rogue!“

„Das ist echt süß“, kicherte Lucy und krabbelte wieder von Sting herunter.

Brummelnd setzte Sting sich wieder neben sie und sie lehnte sich entspannt an seine Schulter. So losgelöst hatte sie sich seit dem Vorfall in Sabertooth nicht mehr gefühlt. Nein, eigentlich war es sogar länger her. Nach dem Ritt auf Igneel und während der ersten Tage auf der Pyxis hatte sie sich eine Zeit lang treiben lassen können, aber je näher sie Sabertooth gekommen waren, desto mehr hatten ihr wieder ihre Zweifel zu schaffen gemacht.

Ein lautes Krachen in der Ferne ließ Lucy zusammen zucken. Sofort schlang Sting beruhigend einen Arm um ihre Hüfte. „Keine Sorge, das ist Rogue.“

„Hat er einen Steinschlag ausgelöst?“

Angst umklammerte Lucys Herz. Was war, wenn Rogue auch davon erfasst worden war? War er just in diesem Moment verschüttet und brauchte Hilfe? Sollten sie besser nach ihm suchen?

„Es geht ihm gut“, erklärte Sting mit völliger Gewissheit. „Er weiß genau, was er tut.“

Für einen Moment wollte Lucy etwas einwenden, doch dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus. „Es gefällt mir nicht, so unwissend zu warten, während jemand unter anderem auch meinetwegen sein Leben riskiert.“

„Habe ich schon gemerkt, dass du ein Problem damit hast“, sagte Sting ernst. „Dein Verhalten bei der Sache mit dem Dämonenfeuer… Vertraust du Loke nicht mehr?“

Lucy zuckte zusammen und für einen Moment erwog sie, sich einfach von Sting abzuwenden, aber schließlich musste sie der traurigen Wahrheit ins Gesicht sehen: Sting hatte einen wunden Punkt bei ihr getroffen.

„Während unserer Ausbildung war für mich alles vollkommen klar“, murmelte Lucy, schlang die Arme um die angezogenen Beine und stützte das Kinn auf den Knien ab. „Loke und ich… Wir haben einfach zusammen gepasst. Wir haben einander ergänzt, einander gestärkt… Es stand für mich nie zur Debatte, jemand anderen als meinen Schild und Schwert zu wählen. Ich habe ihm immer vertraut, bis…“

Lucy blieben die Worte im Halse stecken und um ihre aufkommenden Tränen zu verbergen, drückte sie ihre Stirn gegen die Knie. Als sich Stings Arm tröstend um ihre Schultern legte, verkrampfte sie sich, aber er zog sich nicht wieder zurück.

„Bis er sein Leben für dich riskiert hat, als ihr von den Söldnern von Avatar überfallen wurdet?“

Wieder zuckte Lucy zusammen und sie kauerte sich noch mehr zusammen, um ihr Zittern unter Kontrolle zu kriegen. Noch immer hielt Sting sie fest. Eine ruhige, unerschütterliche Wärme.

„Loke tat, was er tun musste, das weißt du, ja? Du bist die Fürstin von Heartfilia. Dein Volk braucht dich. Ich habe gesehen, wie viel Hoffnungen sie in dich setzen.“

Lucy kniff die Augen zusammen und verkrampfte ihre Finger im Leinen ihrer Pluderhose. Sie war sich bewusst, dass ihre Schultern bebten, aber sie hatte nicht mehr die Kraft, dagegen anzukämpfen. Sie musste daran denken, was sie zu Juvia gesagt hatte und wie Loke sie daraufhin angesehen hatte. Wieso vertraute er ihr so bedingungslos, obwohl sie doch so schwach war?

„Ich glaube, dass du das irgendwann von selbst verstehen wirst, was Loke in dir sieht“, sagte Sting zu ihrer Überraschung schließlich leise.

„Ihr traut mir alle viel zu viel zu“, krächzte Lucy dem Boden entgegen.

Sting schnaubte leise. „Ich bin erst seit einem Mond mit dir unterwegs und ich glaube, wir trauen dir alle eher zu wenig zu.“ Ungläubig hob Lucy den Blick und erkannte im Dämmerlicht Stings warmes Lächeln. „Du hast bei deiner Ankunft in Heartfilia vom Tod deines Vaters erfahren, dennoch warst du die ganze Zeit die Fürstin, die Heartfilia brauchte. Aber du bist eben immer noch ein Mensch. Du hast Gefühle und Zweifel. Dafür brauchst du dich nicht zu schämen.“

Diese aufrichtigen Worte trieben Lucy noch mehr Tränen in die Augen. Sie fühlte sich an Juvias zaghafte Trostversuche auf der Pyxis erinnert, an Lokes unerschütterlichen Blick, an das unsichere Versprechen mit Gray, an Levys Umarmung. Und an den Ritt auf Igneel…

Es gab so viele Menschen, die sich um sie sorgten. Nicht weil sie die Fürstin von Heartfilia war. Ganz bestimmt nicht deswegen. Sting gehörte dazu. Der vorlaute, abenteuerlustige Sting, der hier und jetzt genug eigene Sorgen hatte und sich dennoch geduldig ihre wirren Ängste anhörte.

Die Gefühle schäumten über und als ihr ein Schluchzen entkam, presste Lucy sich beide Hände auf den Mund. Sting hielt sie einfach weiter fest und ließ sie weinen, ihr Wimmern gedämpft von ihren Händen und seiner Tunika.

Im Rückblick betrachtet, war das wahrscheinlich der Moment, an dem aus ihnen wirklich und wahrhaftig Freunde wurden.
 

Jadestadt stellte einen schärferen Kontrast zu Sabertooth dar, als Gray es für möglich gehalten hätte. Allein die Mauern waren ein Kunstwerk, ein krasser Gegensatz zu den schmucklosen, gnadenlos dicken Mauern von Sabertooth. Hoch aufragend aus dunklem, weiß geädertem Marmor und mit Reliefen versehen waren sie hier. Alle dreihundert Schrittlängen waren Türme in die Mauer eingefügt worden, jeder von ihnen eine in sich gedrehte Spirale mit zierlicher Spitze. Selbst die Obsidiansäulen, die alle hundert Schrittlängen ins Mauerwerk eingefügt waren, waren mit Ornamenten versehen.

Doch allem Prunk zum Trotz ließen die Mauern keinen Zweifel an ihrer Wehrhaftigkeit. Kleine und große Pechnasen ragten an verschiedenen Höhen aus dem Mauerwerk und die Ballisten und Onager ragten hinter den Zinnen hervor. Und auch wenn Gray es aus dieser Entfernung nicht sehen konnte, er war sich doch sicher, dass die Mauern letztendlich doch keinen einzigen guten Griff für etwaige Kletterer boten. Anders ließe sich nicht erklären, wie diese Stadt seit mehr als hundertfünfzig Zyklen gegen die beständige Bedrohung durch Bosco bestehen konnte.

Hinter den Mauern ragten weitere Türme auf, dem Anschein nach alle aus Marmor und sogar noch kunstvoller gestaltet als die Wehrtürme. Am höchsten ragte jedoch der namengebende Turm im Zentrum der Stadt auf. Vom Fundament bis zur Spitze bestand er aus kostbarem Jademarmor. Das Wahrzeichen einer Stadt, die ihren Reichtum und ihre bloße Existenz einer glücklichen Entdeckung und dem Geschick ihres Gründers verdankte.

„Wer hätte gedacht, dass es uns mal bis zur südlichsten Stadt von Fiore führen würde…“

Gray ließ seine Hand, mit der er die Augen beschattet hatte, sinken und wandte sich seinem Bruder zu. Lyons Gesicht war gerötet von der ewig sengenden Sonne und der Schweiß stand auf seiner Stirn und verklebte die weißen Strähnen, die unter dem Tagelmust hervorlugten.

Gray verkniff sich einen Kommentar zu diesem Aussehen, denn er war sich deutlich bewusst, dass er kein besseres Bild bot. Beim großen Sturm, sie waren Eismenschen! Ihre Heimat lag mehr als sechzig Tagesreisen von hier entfernt!

Es hatte immer wieder Eismenschen gegeben, die jenseits des Spaltengletschers auf Abenteuerreise gegangen waren, die Crocus besucht hatten, vielleicht auch Hargeon oder Malba, meistens Margaret, das mit seiner zentralen Lage im Norden den idealen Umschlagplatz für alle Handelsgeschäfte bot, oder auch Cait Shelter. Südlich von Crocus wurde es den meisten Eismenschen einfach zu warm. Gray konnte sich an keinen einzigen Reisebericht über Sabertooth oder Jadestadt erinnern. Gut möglich also, dass er und sein Bruder auch die allerersten Eismenschen waren, die auf Kamelen geritten waren.

Während der letzten sechs Tage waren sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang immer auf den beharrlichen Wüstenschiffen unterwegs gewesen, hatten Mensch und Tier nur in der Nacht Zeit zum Ausruhen zugestanden. Abgesehen von der Zeit der brennenden Mittagshitze waren sie ständig im holprigen Trab unterwegs gewesen. Die gemütlich schunkelnden Schrittphasen waren da jedes Mal eine Wohltat für Gray gewesen, der sich auf dem breiten Sattel des Kamels bei weitem nicht so gut halten konnte wie auf einem Pferdesattel oder auf dem Sattel einer Reitkatze.

Sein Blick wanderte zu Meredy hinüber, die auf ihrem ruhenden Kamel saß, als hätte sie nie etwas anderes getan. Ihr schien die Hitze bei weitem nicht so viel auszumachen. Wahrscheinlich war sie bereits abgehärtet. Wer wusste, was für Orte sie als Assassine bereits bereist hatte. Vielleicht war ihr sogar alles recht, was sie nicht an das einstmals milde Klima ihres Heimatlandes erinnerte.

Etwas entfernt war Natsu von seinem Kamel abgestiegen und kraulte es nun am Kinn. Entspannt ließ das Tier die Unterlippe hängen und schlug nur noch träge mit den Ohren, die Lider mit den langen Wimpern beinahe geschlossen. Ob es an seiner Drachenmagie lag oder daran, dass er so viel herum gekommen war, auch Natsu war nicht anzumerken, ob ihm die Hitze irgendwie zusetzte. Nicht ein Schweißtropfen stand auf seiner Stirn. Dabei trug er wie alle Anderen auch ein fein gearbeitetes Kettenhemd und eisenbeschlagene Stiefel. Nur einen Lederhandschuh hatte er sich ausgezogen, um sein Reittier streicheln zu können.

Natsu schaffte es sogar, frisch und erwartungsvoll zu wirken, während er zur Heeresführung blickte und der Dinge harrte, die da kommen mochten.

Diese bestand aus Rüstungsmeister Orga, dem alten Exceed Mysdroy und Fürstin Minerva, welche zusammen mit Libra im Sand knieten und eine Skizze von Jadestadt studierten, welche die Jaderitterin angefertigt hatte. Alle waren gerüstet, Minervas Hand ruhte immer auf dem Knauf des schlichten Säbels, anscheinend ihre bevorzugte Waffe.

„Wir haben keine Chance, ungesehen an die Stadt heran zu kommen“, brummte Orga, die Stirn in tiefe Falten gelegt. „Es gibt hier keine Deckung für uns. Wahrscheinlich haben sie uns sogar schon gesehen.“

„Davon ist wohl auszugehen“, sinnierte Mysdroy und strich sich über den Schnurbart. „Aber eine offene Schlacht könnte die Dämonen veranlassen, unsere Verbündeten zu töten.“

„Nach allem, was wir wissen, haben sie ohnehin vor, sie zu töten“, erwiderte Minerva mit beherrschter Wut in der Stimme. „Sie scheinen auf irgendetwas zu warten. Die Frage ist nur, worauf…“

„Unseren Angriff womöglich.“

„Wir können nicht einfach nichts tun. Sabertooth ist Jadestadt verpflichtet.“

„Vielleicht hätten wir Dobengal mitnehmen sollen. Augen und Ohren im feindlichen Lager zu haben, wäre jetzt sehr praktisch“, murmelte Orga.

„Da kann ich vielleicht helfen.“

Neben Gray zuckte Lyon heftig zusammen, als seine Freundin auf die Heeresführung zutrat, ihre Haltung mustergütig gerade, das Kinn nach vorn gereckt.

„Ich kenne Jadestadt, ich werde mich dort unbemerkt fortbewegen können. Eure Späher beherrschen gewiss auch die Spiegel- und Laternenkodierungen. Lasst sie Jadestadt im Auge behalten. Sobald ich Genaueres weiß, werde ich ihnen eine Nachricht zukommen lassen.“

Kritisch musterte Minerva die Assassine. „Ich bin bereits von Rogue informiert worden, dass wir Euch meine Legitimierung verdanken. Als kaiserliche Assassine halte ich Euch für kundig genug, um Euch unbemerkt in der Stadt zu bewegen und an die Informationen zu kommen. Aber wie wollt Ihr hinein gelangen? Ihr steht da vor denselben Problemen wie das Heer.“

„Wenn der Löwe eine Gazelle sieht, interessiert er sich nicht für die Maus zu seinen Pranken“, antwortete Meredy ruhig und schlug dabei den Singsang-Ton der Wüstennomaden an, von welchen das Sprichwort anscheinend stammte.

„Ein Ablenkungsmanöver mit dem Heer“, murmelte Mysdroy. „Das könnte funktionieren.“

Minerva verengte die Augen und sah sich langsam im Lager um. Ihre Miene blieb vollkommen unbewegt, während sie den Blick über die vielen Sonnensegel schweifen ließ, unter denen sich die Soldaten eine Pause gönnten, die Waffen stets griffbereit, allesamt vollständig gerüstet, die Kamele noch gesattelt. Ob sie daran dachte, wie viele dieser Männer und Frauen für dieses Ablenkungsmanöver vielleicht sterben mussten? Auf einmal war Gray heilfroh, dass er nie eine so gewaltige Verantwortung würde tragen müssen. Die paar hundert Eismenschen, für deren Leben er Sorge zu tragen hatte, waren schon schlimm genug.

Schließlich wandte Minerva sich wieder an Meredy. „Ich habe nicht das Recht, Euch um so etwas zu bitten. Diese Mission könnte sehr schnell Euren Tod bedeuten und Ihr seid eine Assassine der Kaiserin.“

„Hier und jetzt bin ich niemandes Assassine.“

In Grays Kehle bildete sich ein unangenehmer Kloß. Er hatte Meredy als seine Schwester angenommen und das war ihm jetzt sogar noch heiliger, als es das vor vier Monden gewesen wäre. Meredy in einer Stadt mit Dämonen zu wissen, über deren Truppenstärke und Fähigkeiten sie nur spekulieren konnten, war ein grauenhafter Gedanke. Aber das war die Gelegenheit, etwas über diejenigen zu erfahren, die die Heimat angegriffen hatten. So konnten sie vielleicht eine Spur zu den überlebenden Eismenschen finden…

Lyon wollte vortreten und etwas sagen. Gray hörte ihn schon tief Luft holen, als Meredys scharfe Stimme durch die Stille schnitt: „Ich weiß, welches Risiko ich eingehe, und ich weiß auch, wofür ich das tue.“

Obwohl die Worte allgemein gehalten waren, wusste Gray, dass sie an ihn und Lyon gerichtet waren. Er konnte Lyons Zähneknirschen hören, aber sein Bruder schluckte den Protest herunter. Auch Gray schwieg, aber er hatte kein gutes Gefühl dabei.
 

Die Gesteinsformation, die vor ihnen aufragte, hatte etwas sehr Eigentümliches. Wie ein von Menschenhand erschaffenes Gebäude ragte sie beinahe schnurgerade in die Höhe und hatte eine Nord-Süd-Ausdehnung von schätzungsweise zweitausend Schrittlängen. In der Außenwand waren ansatzweise Stufen zu erkennen, sehr unregelmäßig große, oft auch noch schiefe, aber doch Stufen. Sie führten zu Höhlen und Plattformen, doch Gajeel konnte lediglich die Nester einiger Schmutzgeier und Wüstenraben erkennen, ansonsten waren keine Anzeichen von Besiedlung zu sehen oder zu riechen.

Für einen Moment zweifelte Gajeel an Wendys Nase, aber er behielt diese Zweifel für sich. Die Jüngere hatte sich vorgestern nach mehreren Tagen erfolglosen Suchens in eine Art meditative Trance begeben, um sich noch besser auf die Winde der Wüste einzustimmen. So hatte Romeo es zumindest erklärt. Nervenaufreibend lange hatte Wendy da gesessen und ihre Haare hatten sich in einer Brise bewegt, die Gajeel nicht hatte spüren können. Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit endlich die Augen geöffnet hatte, hatte sie schnurstracks ihren Sandschlitten bestiegen und war nach Südosten abgeschwenkt. Sie wären wohl die Nacht hindurch gefahren, wenn Romeo seine Schutzbefohlene nicht zu einer Pause ermahnt hätte.

Ihr neuer Kurs hatte sie in ein noch trockeneres Gebiet geführt. Weit und breit gab es nur Sand und gelegentlich Felsen. Gajeel bereute beinahe, Juvia nicht mitgenommen zu haben. Sie könnte hier sicher immer noch Wasser finden. So mussten sie mit ihren Vorräten haushalten und immer Ausschau nach den Stümpfen der Knollen halten, die es irgendwie schafften, in dieser unwirtlichen Gegend Wasser zu speichern.

Laut der Karte, die Romeo nach wie vor führte, waren sie hier nun bei der Golemschlucht und damit nur noch vier bis fünf Tagesreisen mit dem Sandschlitten von der Zuflucht entfernt. Von dort aus müssten sie sich vier Tage geradewegs nach Norden begeben, um nach Sabertooth zurück zu gelangen. Dann hätten sie sich einmal im Kreis bewegt.

„Sie ist da drin“, erklärte Wendy leise, stieg von ihrem Sandschlitten ab und deutete auf einen schmalen Durchlass im Gestein. „Ich kann altes Blut riechen.“

„Ist sie allein?“, fragte Romeo angespannt und musterte den Durchlass kritisch. Ihm war wahrscheinlich auch klar, dass das der perfekte Ort für einen Hinterhalt war.

Die Nasenflügel der Windmagierin bebten, als sie intensiv schnupperte, aber sie runzelte verwirrt die Stirn und legte dann den Kopf schräg, um zu lauschen. Als Gajeel es ihr gleichtat, konnte er nichts hören, dennoch legte er eine Hand an den Griff seines Bastardschwertes.

„Ich kann etwas hören, aber es ist sehr undeutlich. So etwas habe ich noch nie gehört…“

„Die Dämonen hätten Yukino wahrscheinlich eher gleich getötet“, überlegte Romeo laut, der seinen Sandschlitten neben denen der Anderen abstellte, ohne das Segel einzuklappen – bereit für einen schnellen Aufbruch. „Vielleicht sind das hier Verbündete.“

Seiner Worte zum Trotz zog der junge Krieger seinen Kurzbogen aus dem Köcher und spannte beeindruckend schnell die Sehne auf. Dann nockte er einen Pfeil ein und blickte fragend zu den Anderen. Gajeel brummte und ging voraus, um die Vorhut zu bilden. Sie waren doch nicht so lange unterwegs gewesen, um kurz vorm Ziel aufzugeben. Außerdem hatte er Sting und Rogue ein Versprechen gegeben. Warum auch immer er das getan hatte, aber jetzt würde er dazu stehen.

Romeo bildete die Nachhut, seine Schritte erstaunlich lautlos.

Als Gajeel ihn vor sieben Zyklen das letzte Mal gesehen hatte, war er noch ein naseweißer Bengel gewesen, der ständig nach Herausforderungen gehungert hatte. Die Ausbildung bei seinem vielgerühmten Lehrmeister hatte jedoch verblüffende Früchte getragen. Selten zuvor war Gajeel einem so gut trainierten Krieger begegnet. Und das nicht nur in Bezug auf die kämpferischen Fähigkeiten: Romeo hatte sich den hiesigen Klimaverhältnissen überraschend schnell angepasst und ging ausgesprochen vernünftig und effektiv mit all seinen Ressourcen um. Damit erinnerte er Gajeel irgendwie an Pantherlily. Gajeel hatte sich nie die Mühe gemacht, danach zu fragen, aber mittlerweile nahm er an, dass der Lehrer des Jungen ein Kriegsveteran war. Einer, der es verstand, seine Erfahrungen in den Unterricht einfließen zu lassen. So wie Pantherlily.

Wendy wiederum gab Gajeel ein anderes Rätsel auf. Das magische Kontrollvermögen der Drachenreiterin war außergewöhnlich. Gajeel schätzte, dass ansonsten höchstens Rogue so akkurat mit seiner Magie umgehen konnte. Aber dass Wendy so vehement alle Kampftechniken mied, war in Gajeels Augen ein gewaltiger und womöglich sogar tödlicher Fehler. Es war naiv, zu glauben, dass Romeo sie immer würde beschützen können. Der junge Krieger war ohne Zweifel begnadet und auch für Magier sicherlich ein ernst zu nehmender Gegner, wenn er es richtig anging, aber er war nicht allmächtig. Irgendwann würde er an seine Grenzen stoßen und dann würde Wendy keinerlei Schutz mehr haben.

Aber Gajeel sprach keinen dieser Gedanken aus. Das war etwas, was Romeo und Wendy allein verantworten mussten. Immerhin hatten sie es Beide so weit kommen lassen. Und wenn das alles hier vorbei war, würde Gajeel nichts mehr mit den Beiden zu tun haben. Er würde sich Juvia schnappen und mit ihr wieder verschwinden, bevor jemand auf sie aufmerksam werden konnte. Für Juvia war es wahrscheinlich sogar besser, von der Gruppe – besonders von diesem Idioten Gray – wieder los zu kommen. Auch wenn sie sie alle ins Herz geschlossen haben mochte, die bedeuteten doch nichts als Ärger.

Langsam tauchten sie in den Spalt ein und schon bald musste Gajeel feststellen, dass sie sich damit immer tiefer in ein Labyrinth begaben. Immer wieder gab es Abzweigungen, Tunnel, Brücken, Steigungen, Senken, Nischen, Höhlen, Plattformen… Die Größenverhältnisse waren genauso grotesk, die Linien und Winkel genauso ungelenk, wie bei den Treppen an der Außenseite. Es gab auch keinerlei Anzeichen dafür, dass hier auch nur ein einziges Mal der Meißel von einem Menschen geschlagen worden war. Tatsächlich bezweifelte Gajeel sogar, dass hier überhaupt irgendein Werkzeug verwendet worden war. Hier sah es aus, als sei eine Höhle in den Stein hinein geschmolzen worden, dort schien eine Treppe aus dem Boden gewachsen zu sein. Eine Nische wies Fingerspuren an den Wänden auf, als wäre das Gestein mit bloßen Händen aus der Wand heraus geklaubt worden.

Magie.

Gajeel hatte von Metallicana den Umgang mit Eisenmagie erlernt, aber eigentlich war Gajeel ein Erdmagier. Was er hier sah und spürte, war das Resultat von Erdmagie. Der Geruch, der hier in der Luft lag, war jedoch sehr fremdartig. Höchst wahrscheinlich gehörte er zu den Golems, die einstmals hier gelebt hatten.

Sie folgten Wendys Nase, mussten dafür jedoch immer wieder schier endlose Umwege auf sich nehmen. So langsam begriff Gajeel, dass das hier eine Stadt gewesen war. Die Stadt der Golems. Ob sie auch in Familiengemeinschaften gelebt, Freundschaften gepflegt und Liebschaften unterhalten hatten? Wie viele von den grausigen Dämonengeschichten über sie waren überhaupt wahr?

Gajeel musste an Levy denken, die ihm all diese Fragen wahrscheinlich beantworten könnte. Er war sich ziemlich sicher, dass sie ihm sogar einen halben Tag lang Fakten über Golems auflisten könnte, inklusive allen möglichen Büchern zu dem Thema. Und ganz gewiss würde sie Luftsprünge machen, wenn sie durch diese Stadt hier laufen könnte. Der Gedanke daran, wie ihre braunen Augen dabei vor Begeisterung und Wissbegierde leuchten würden, war jedoch irgendwie… irritierend…

„Wartet.“

Gajeel drehte sich zu Romeo um, der seinen Kurzbogen noch immer bereit hielt, den Blick jedoch gesenkt hatte. Als Gajeel dem Hinweis folgte, konnte er nur Wendys Fußspuren sehen, die langsam verweht wurden.

„Was ist?“, knurrte Gajeel verärgert.

„Die Spuren verschwinden zu schnell“, erklärte Romeo.

Aus einer Gürteltasche holte er eine Feder – vermutlich für neue Pfeile gedacht – und ließ sie fallen. Zuerst trudelte sie langsam nach links, doch kaum dass sie den Boden berührte, wurde sie wie von einer unsichtbaren Strömung nach hinten gezogen oder getrieben.

„Sandmagie“, überlegte Romeo laut. „Das ist es wohl auch, was es euch so schwer macht, Yukino zu riechen.“

„Beeindruckend. Es gibt nur wenige, die es so schnell bemerken.“

Alle Drei wirbelten sie herum, Gajeel zog sein Bastardschwert, Romeo hob seinen Bogen wieder, spannte und ankerte – alles innerhalb eines Herzschlages, der Pfeil sicher auf den Sprecher gerichtet. Auf einem Absatz über ihnen hockte ein Junge von vielleicht fünfzehn oder sechzehn Sommern mit struppigen, schwarzen Haaren, die unter einem sehr nachlässig gebundenen Tagelmust hervorlugten. Er trug die Pluderhosen der Wüstennomaden und ein schlichtes langärmeliges Hemd. An seinem geflochtenen Kordelgürtel hing ein Säbel und unter den Ärmeln und in den Stiefeln erkannte Gajeel die Konturen von Dolchen. Als er verwegen grinste, blitzten Reißzähne auf, die keinen Zweifel an einer nichtmenschlichen Herkunft ließen. Ebenso wenig die kleinen Hörner, die sich unter dem zu dünn gewickelten Stoff des Tagelmust abzeichneten.

„Habt ihr euch verlaufen, Grünländer?“, fragte er unverhohlen spöttisch.

Obwohl er lümmelhaft am Boden hockte und seine Hände nicht einmal in der Nähe seiner Waffen waren, bestand doch kein Zweifel an seiner Kampfbereitschaft. Und der Spott sollte wohl nur sein Misstrauen übertünchen. Der Bengel war ein Kämpfer.

„Ihr solltet wieder umdrehen.“

„Soll das eine Drohung sein?“, knurrte Gajeel.

„Eine Warnung.“ Wieder blitzten die Eckzähne.

„Wartet“, flüsterte Wendy. „Yukinos Geruch haftet an ihm.“

Der Junge zog die Augenbrauen zusammen. Seine Hand wanderte langsam zum Säbel. „Eine Windmagierin… Was geht euch Yukinos Geruch an?“

„Wir suchen sie“, erwiderte Gajeel knapp.

„Wir sind Freunde von Sting und Rogue“, fügte Romeo hinzu, ließ die Sehne seines Bogens wieder locker, ehe er die Waffe senkte und die kleine, knöcherne Flöte aus einer seiner unzähligen Taschen hervor zog. „Wir haben ihnen versprochen, Yukino zu finden.“

Die Hand des Jungen lag nun offen auf dem Säbel und die Zähne waren gefletscht. Ein Knurren – viel zu tief und zu mächtig für so einen schlaksigen Körper – drang aus seiner Kehle.

„Woher soll ich wissen, dass ihr tatsächlich Freunde der Beiden seid und nicht ihre Mörder?“

Gajeel schnaubte spöttisch. „Woher sollen wir wissen, dass du ein Freund von Yukino bist und nicht ihr Gefängniswärter?“

„Das ist nicht mein Problem“, stellte der Junge feindselig fest.

„So kommen wir nicht weiter“, seufzte Wendy leise. „Yukino braucht Hilfe.“

„Dann finden wir sie alleine“, entschied Gajeel und wandte sich wieder in die Richtung, die Wendy ihnen vorhin gewiesen hatte.

Verblüffend geschickt sprang der Junge von seinem Hochsitz herunter und landete mit animalischer Eleganz mitten im Weg, der Säbel in seiner rechten Hand, ein Krummdolch in seiner linken Hand. Wieder knurrte er. Noch tiefer sogar.

Gajeel wollte sein Bastardschwert heben, aber da trat Romeo vor, die Knochenflöte erhoben, Pfeil und Bogen weiterhin gesenkt. „Wir haben eine Nachricht von der Wüstenlöwin für Yukino, damit sie uns als Freunde erkennen kann.“

„Die Flöte hättet ihr auch von den Leichen holen können“, erwiderte der Junge misstrauisch.

„Wenn du ein Freund von Yukino bist, dann weißt du auch, dass Minerva Orland und ihre Klauen uns selbst unter Folter niemals die Möglichkeit gegeben hätten, Yukinos Vertrauen zu gewinnen, wenn wir Feinde wären“, erklärte Romeo ruhig. „Die Nachricht lautet: Deine Suche ist noch nicht beendet, also untersteh’ dich, den letzten Ritt anzutreten!

Sofort fiel die Anspannung von dem Jungen ab, er blinzelte kurz verblüfft, dann lachte er auf. „Das sieht Nerva ähnlich, so eine Drohung auszustoßen!“ Er gab seine Kampfposition auf und steckte seine Waffen wieder ein. „Aber warum schickt sie euch? Mit Sting und Rogue wäre es viel einfacher gewesen.“

„Hast du eigentlich mitgekriegt, dass die Stille Wüste zum Schlachtfeld geworden ist?“, schnaubte Gajeel und ließ ebenfalls sein Schwert sinken, auch wenn er es noch nicht wieder in die Scheide gleiten ließ. „Die Turteltauben sind auf dem Weg zu Zirkonis.“

Jetzt schnaubte der Junge. „Sie waren sicher sehr begeistert… Wie habt ihr hierher gefunden? Toraans Sandmagie hätte Yukinos Geruch eigentlich tilgen müssen.“

„Das hat es mir also so schwer gemacht“, stellte Wendy seufzend fest. „Ich bin Wendy, das sind Romeo und Gajeel. Ich bin die Reiterin von Grandine, dem Winddrachen.“

„Reife Leistung, Wendy. Ich bin Aki.“

Der Junge grinste wieder und drehte sich herum, wobei er ihnen winkte, ihm zu folgen. Gajeel war zutiefst skeptisch, aber Romeo und Wendy zuckten einvernehmlich mit den Schultern und folgten dem Bengel einfach. Missmutig schloss Gajeel sich ihnen an.

Zügig führte Aki sie durch eine Spalte, die so eng war, dass Gajeel seitwärts gehen musste. Noch immer war er misstrauisch. Der Junge mochte nicht zu den Dämonen von Tartaros gehören, aber er war eindeutig kein Mensch und auch kein Geist, also konnte er nur ein Dämon sein. Und was war die von ihm erwähnte Person namens Toraan für eine, dass sie so starke Sandmagie beherrschte? Warum hatten Sting und Rogue eigentlich nicht erwähnt, dass es in ihren Freundeskreis Dämonen gab?

Soweit Gajeel sich orientieren konnte, drangen sie weiter ins Zentrum des Labyrinths vor. Kein einziges Mal musste Aki innehalten, um sich zu orientieren. Anscheinend war er schon sehr oft hier gewesen. Gleichgültig, welcher Spezies er angehörte, er war noch blutjung. Was machte solch ein Hüpfer in so einer lebensfeindlichen Umgebung?

Schließlich führte Aki sie in eine Höhle und hier endlich konnte auch Gajeel Yukino riechen. Er musste stehen bleiben, damit seine Augen sich nach der langen Zeit im Hellen an die dämmrigen Lichtverhältnisse gewöhnen konnten. Aki schien diese Zeit nicht zu brauchen. Er ging zielgerade weiter in den hinteren Bereich der Höhle. Als er endlich etwas sehen konnte, erkannte Gajeel, dass die Höhle mehrere kuhlenartige Nischen besaß. Schlafstätten? Decken und dergleichen hatten die Golems wohl nie gebraucht.

In einer dieser Nischen lag Yukino – mit einer Decke unterm Kopf und mehreren notdürftigen Verbänden versehen, die bräunlich verfärbt waren. Der beißende Gestank von Eiter ging von den Tüchern aus. Das Gesicht war fiebrig rot, die Haare verdreckt und nass von Schweiß, der Atem rasselnd.

Neben dem Krankenlager saß ein Mädchen, das etwa so alt wie Aki sein mochte. Es war barfuß und trug wie der Junge Pluderhosen und Tunika, jedoch kein Kopftuch über den kastanienbraunen, brustlangen Haaren. Das wirklich Bemerkenswerte waren jedoch die Arme des Mädchens, denn von den Ellenbogen an schienen sie sich mit dem Sand am Boden vereint zu haben und von ihnen ging die Strömung aus, die es Wendy und Gajeel so schwer gemacht hatte, Yukino zu riechen und zu hören. Das war dann wohl Toraan – und sie war offensichtlich ein Sandgolem. Entweder ein Halbdämon oder ein besonders mächtiger Vollgolem, denn soweit Gajeel es wusste, konnten nur wenige Golems eine menschliche Gestalt annehmen.

„Das ist Toraan“, erklärte Aki und kniete sich neben Yukino. „Toraan, das sind Wendy, Gajeel und Romeo, sie sind Freunde der Klauen.“

Das Mädchen fragte nicht nach, nickte einfach nur. Es schien dem Urteil seines Begleiters vorbehaltlos zu vertrauen und sich weiterhin auf seine Aufgabe zu konzentrieren, Yukinos Geruch zu verschleiern.

Wendy kniete sich neben Yukino. Ihre Nasenflügel bebten und ihre Augen verengten sich, während sie die Verletzungen der Wüstennomadin musterte.

„Bist du eine Ärztin oder eine Heilerin?“, fragte Aki hoffnungsvoll. Als Wendy nickte, beeilte er sich, zu erzählen: „Yukino ist vor fünf Tagen hier angekommen. Sie hat es irgendwie geschafft, einen Basilisken-Schlüpfling zu zähnen und auf ihm zu reiten. Sie war vertrocknet und die Wunden sahen sogar noch schlimmer aus. Wir hatten nicht viel bei uns. Ich habe ihr all mein Wasser eingeflößt und ihre Wunden geleckt, besser wusste ich ihr nicht zu helfen.“

„Geleckt?“, fragte Romeo verwirrt.

Auch Gajeel war stutzig: „Was habt ihr getrunken, wenn ihr euer Wasser Yukino gegeben hat?“

Aki tauschte einen Blick mit Toraan, dann schob er seinen Tagelmust zurück. Darunter kamen zwischen den platt gedrückten Haaren zwei kleine, dicke, spitze Hörner zum Vorschein.

„Ich brauche kein Wasser. Es ist sogar schädlich für mich“, erklärte Toraan. „Und Aki hat in den letzten Tagen das Blut der Geier getrunken, die er gejagt hat.“

„Ewig kann ich so nicht überleben, aber ein bis zwei Monde geht das schon“, fügte Aki hinzu.

„Wieso hast du Yukinos Wunden geleckt?“, wiederholte Romeo seine Frage.

„Es ist das Einzige, was mir eingefallen ist. Wölfe machen das so, wenn ein Mitglied ihres Packs verletzt ist.“

„Du bist ein Wolfsdämon?“, fragte Romeo fasziniert.

Von dieser Reaktion schien der Jüngere zuerst verwirrt zu sein, doch letztendlich beließ er es bei einem schlichten Schulternzucken. „Aber ich wurde von den Wüstennomaden großgezogen. Was aus meinem Pack geworden ist, weiß ich nicht. Wahrscheinlich Opfer von Trophäensammlern oder so.“

Romeo und Wendy senkten bedrückt ihre Blicke und schwiegen. Schwer ließ Gajeel sich zu Boden sinken und zog seine Feldflasche aus seinem Bündel, um sie Wendy zu zuwerfen. Sie verstand die Aufforderung und begann, sich um Yukinos Wunden zu kümmern.

Akis Schicksal ließ sich nicht ändern, egal wie viel Mitleid sie zur Schau stellten – und er schien damit bereits seinen Frieden gemacht zu haben. Gajeel fragte sich, warum er sich dem Bengel in gewisser Hinsicht unterlegen fühlte.

Die Straße, die zur ersten Schlacht führte

Während all seiner Reisen war Natsu so einige Male in bewaffnete – und zuweilen sogar lebensgefährliche – Auseinandersetzungen verwickelt worden. Wegelagerer, Piraten, betrunkene Haudegen in zwielichtigen Spelunken, zuletzt die Söldner von Avatar... Hinzu kamen mehr Übungskämpfe mit den verschiedensten Partnern, als er je zählen könnte.

Was er in all den Zyklen seiner Reise jedoch nie erlebt hatte, war eine richtige Schlacht. Seine Eltern waren in Bosco gefallen, aber als er alt genug war, um zum Ehrenlegionär ernannt zu werden, waren die boscanischen Grenzen schon lange gesichert worden. Auch während des Extalia-Krieges war er viel zu jung gewesen, obwohl er Igneel damals wirklich angefleht hatte, ihn ins Kampfgebiet zu bringen.

Bislang hatte Natsu einem Kampf immer entgegen gefiebert und immer die Herausforderung gesucht, aber hier und jetzt war ihm mulmig zumute. Neben den Soldaten von Sabertooth zu stehen und dabei zu wissen, dass einige – im schlimmsten Fall sogar viele – von ihnen die bevorstehende Schlacht nicht überleben würden, ließ ihn bereuen, heute Morgen gefrühstückt zu haben.

Wenn er wenigstens wüsste, dass sie eine Chance hätten, wäre es vielleicht einfacher, aber das hier – ein Ablenkungsmanöver, damit Meredy sich in Jadestadt einschleichen konnte – gefiel ihm nicht. Er verstand die Argumentation dahinter, aber er wurde das Gefühl nicht los, etwas Offensichtliches zu übersehen.

Neben ihm stand Orga wie ein Fels in der Brandung. Der Hüne hatte bereits an einem Krieg teilgenommen, erinnerte Natsu sich. Es mochte eine andere Art von Krieg gewesen sein als das hier jetzt, aber sie war gleichwohl blutig, verlustreich und unbarmherzig gewesen. Orgas Ruhe war die Ruhe eines Kriegsveteranen, wie Natsu sie auch schon bei Gildartz, Mest und zuletzt auch bei Capricorn miterlebt hatte.

Als Orga Natsus Blick bemerkte, lächelte er freudlos. Kein rauer Kommentar, kein Schulternklopfen. Unter der ruhigen Maske brodelte es, erkannte Natsu. Nun noch angespannter richtete Natsu seinen Blick auf Minerva, die an der Spitze ihrer Truppen auf einem Felsblock stand und auf ihre unruhigen Männer hinunter sah. Wie alle Anderen war sie gerüstet und bewaffnet, an ihrem Gürtel die zwei Säbel, die Kettensichel, die Rebmesser und ein Dolch, dessen Knauf einen Stein enthielt, der im Licht der Morgensonne blitzte. Sie trug damit sogar mehr Waffen als die meisten anderen Soldaten hier, aber ihr war nicht anzumerken, ob sie das Gewicht störte. Natsu glaubte es nicht, waren Säbel, Rebmesser und Kettensichel doch sowieso schon immer die Waffen gewesen, die Minerva als Wüstennomadin stets bei sich getragen hatte.

Sie selbst war vollkommen ruhig und strahlte in dieser Ruhe eine Hoheit aus, wie Natsu sie selten zuvor erlebt hatte. In ihrer Härte und Entschlossenheit konnte sie es sogar mit der Unsterblichen Kaiserin aufnehmen – obwohl Natsu von dieser Seite der Kaiserin nur den Hauch einer Ahnung erhascht hatte, während sie den Großteil ihres denkwürdigen Gesprächs vor einer Dekade eher nachsichtig und sogar amüsiert gewesen war.

Langsam ließ die Fürstin ihren Blick schweifen, sah jedem Soldaten direkt in die Augen, und Natsu ahnte, dass sie versuchte, sich jedes einzelne Gesicht genau einzuprägen. Jetzt fühlte er sich an Lucy erinnert, wie sie bei der Bestattung die Namen aller Gefallenen mit einer Flüssigkeit aufgesagt hatte, als wären sie alle gute Freunde gewesen. Und an den Opa-Fürsten, der mit einer Zärtlichkeit über Natsus Eltern gesprochen hatte, als wären sie seine eigenen Kinder gewesen.

„Ich werde euch keinen Sieg versprechen, geschweige denn heldenhaften Ruhm. Hier und jetzt seid ihr nicht mehr als meine Schachfiguren“, begann Minerva ruhig und doch klar verständlich. Diese schonungslose Ehrlichkeit hatte etwas Bestechendes. Um Natsu herum verstärkten die Männer und Frauen die Griffe um ihre Waffen. „Ich riskiere eure Leben für Informationen, die hoffentlich helfen werden, unserem Feind zu trotzen, aber ich kann und werde euch kein Versprechen dafür geben.

„Ihr habt den Schwur auf Thron und Stadt geleistet, ihr seid Soldaten von Sabertooth, Krieges des Sandes – und als solche opfere ich euch gewiss nicht leichtfertig. Dieses Manöver ist eine Chance, aber auch nicht mehr als eben das. Wer diese Chance verstreichen lassen und zu Heim und Weib zurückkehren will, den entbinde ich hiermit von seinem Schwur.“

Nicht einer der Soldaten rührte sich, um Minervas Worten gemäß unbescholten seinen Schwur abzulegen und dem Schlachtfeld den Rücken zu kehren. Stattdessen erhob sich ein Sprechgesang. Hunderte – Tausende – von Kehlen skandierten den Namen ihrer Fürstin, kräftig, entschlossen, zu allem bereit.

„Ich wusste gar nicht, dass sie so eine gute Rednerin ist“, gestand Natsu an Orga gewandt.

Der Rüstungsmeister grinste stolz. „Sie hält nicht oft Reden, weil ihr diese Art des öffentlichen Auftritts nicht gefällt, aber sie hat auch während der Zeit der Befreiung solche Reden gehalten. Sie meinte mal, dass sie immer dabei war, wenn ihr Onkel Reden gehalten hat, und bei den Wüstennomaden scheint sie wohl auch etwas gelernt zu haben. Aber ich glaube, die meisten ihrer Reden kommen spontan. Ihre Ehrlichkeit gefällt den Leuten.“

Natsu nickte zustimmend. Er war kein Freund vieler Worte, dafür war er zu ungeschickt und zu ungeduldig. Aber er war beeindruckt.

Orga klopfte ihm nun doch auf die Schulter und stapfte dann nach vorn, seine gewaltige Streitaxt erhoben, damit die ihm zugeteilten Männer ihn erkennen konnten.

Das Heer spaltete sich in zwei Teile auf. Natsu und Gray sollten bei Minerva bleiben, Lyon und Meredy zogen mit Orgas Gruppe mit. Natsu beobachtete, wie Gray Meredy kurz, aber herzlich umarmte. Lyon stand mit starrer Miene daneben. Offensichtlich konnte er sich immer noch nicht mit Meredys Plan anfreunden. Vorhin hatte Natsu gesehen, wie Meredy auf Lyon zugetreten war und dieser sich steif abgewandt hatte. Für einen winzigen Moment hatte Meredys Blick bei dieser Abweisung geflackert, ehe sie sich wieder im Griff gehabt hatte.

Natsu konnte Lyon verstehen. Er war auch aus allen Wolken gefallen, als er erfahren hatte, dass Lucy sich mit Sting und Rogue auf die Suche nach der Bruthöhle der Dämonen machen wollte. Sein erster Impuls war es auch gewesen, zu protestieren. Wenn er nicht überzeugt gewesen wäre, dass Sting und Rogue Lucy wie ihren Augapfel hüten würden, hätte er wohl wirklich etwas gegen Lucys Entscheidung gesagt. Aber er vertraute den Klauen. Immerhin hatte er mehrere Monde mit ihnen zusammen trainiert. Sie waren Beide starke Magier und geschickte Kämpfer. Obendrein kannten sie die Gefahren der Wüste besser als irgendjemand sonst. Lucy war bei ihnen gut aufgehoben.

Lyon hatte diese Sicherheit jedoch nicht. Seine Freundin würde sich ganz alleine in eine Stadt schleichen, über deren Besetzung durch den Feind sie nichts Genaues wussten. Rein theoretisch könnte ganz Tartaros hinter diesen Mauern warten. Und Meredy mochte eine gute Assassine sein, aber sie war nicht allmächtig. Niemand war das – eine Lektion, die Natsu früher und schmerzhafter gelernt hatte, als ihm lieb war.

Ohne eine Wort miteinander zu wechseln, wandten Lyon und Meredy sich Orgas Truppe zu, während Gray zu Natsu herüberkam. Die Miene des Eismenschen war verbissen beherrscht, aber Natsu konnte seine Anspannung regelrecht mit Händen greifen. Bevor Gray ihn richtig erreichen konnte, gab Minerva bereits das Zeichen zum Aufbruch. Ihre Einheit setzte sich langsam in Bewegung, um als Erste auf die Stadt zu zustürmen. Je näher sie den Mauern kamen, desto schneller schritten einige der Soldaten voran, aber Natsu ließ sich von der adrenalingepeitschten Euphorie nicht mitreißen, sondern achtete darauf, in Minervas Nähe zu bleiben. Sie mochten noch fünfhundert Schrittlängen von Jadestadt entfernt sein, als sich das Osttor öffnete und die Dämonen regelrecht aus der Stadt heraus quollen.

Es waren ungeschlachte Gestalten, ganz offensichtlich Zyklopen, ihre Körper nur entfernt menschenähnlich mit grotesk großen Köpfen, tonnenartigen Brustkörben und unproportional langen Gliedern. Ihre Häute gelb, ihre einzelnen Augen durchgehend schwarz. Sie geiferten und johlten und kreischten, die Hände wild fuchtelnd und grabschend.

Der Gestank, der von der Dämonenhorde ausging, war bestialisch – schlimmer als alles, was Natsu jemals zuvor gerochen hatte, inklusive der Gerichte der beiden schlechtesten Köchinnen, die er jemals kennen gelernt hatte. Ihre Schreie waren Ohren betäubend und reizten Natsus Nerven über gebühr.

Alles in allem erfüllten diese Zyklopen genau das Bild, das wohl jeder vor Augen hatte, wenn das Wort Dämon fiel. Dabei hatte Natsu immer gedacht, Cana hätte bei ihren Gruselgeschichten über Dämonen viel zu sehr übertrieben.

Ihnen allen voran schritt ein größerer Dämon mit gelb-violetten Beinen, rüstungsartigen Hornplatten auf Armen und Schultern und extrem wulstigen Lippen. Anders als die anderen Dämonen grinste er nur siegesgewiss und er wedelte nicht so wild mit den Armen. Das musste einer der Dämonen von Tartaros sein, während die Anderen anscheinend nur Fußsoldaten waren.

Die Männer und Frauen um Natsu herum gerieten ins Stocken und er konnte es ihnen nicht verübeln. Dämonen waren Figuren für Schauergeschichten am Lagerfeuer, der Stoff für Abenteuergeschichten. Tatsächliche Begegnungen mit Dämonen waren dieser Tage so selten wie Drachensichtungen – wenn man nicht gerade ein Drachenreiter war oder einen in seinem Umkreis hatte. Niemand hätte je angenommen, dass es noch so viele Zyklopen gab.

Natsu fragte sich, wo sie sich in all der Zeit versteckt gehalten hatten. Auch wenn er keine Vorstellungen davon hatte, wie diese Bruthöhlen-Dinger funktionierten, glaubte er nicht, dass all diese Zyklopen höhlengebunden waren. Beinahe wünschte er sich, er hätte damals während seines Schulunterrichts in Magnolia, zu dem Gildartz ihn bis zu seinem vierzehnten Sommer unnachgiebig gedrängt hatte, besser aufgepasst.

Minerva ließ sich im Angesicht ihrer zahlreichen Feinde nicht das geringste Zögern anmerken. Sie hob den Säbel mit den Herrschaftsinsignien der Orlands und schwenkte ihn nach vorn – und diese simple Geste genügte, um ihre Soldaten wieder anzuspornen. Mit einem Angriffsgeheul, das beinahe die Schreie der Dämonen übertönte, rannten die Männer und Frauen weiter.

Natsu und Gray hielten sich weiterhin hinter Minerva, wie es heute in der Morgendämmerung besprochen worden war. Die Fürstin wollte schnellen Zugriff auf die beiden einzigen Magier in ihrer Gruppe haben – und Orga hatte vor Beginn der Schlacht Natsu beiseite genommen und ihn gebeten, auf Minerva aufzupassen. Es war beinahe lachhaft: Wenn jemand auf sich selbst aufpassen konnte, dann ja wohl die Wüstenlöwin!

Die beiden ungleichen Heere prallten aufeinander und vermengten sich miteinander. Es dauerte nicht lange, bis so viel Staub aufgewirbelt wurde, dass ein Gesamtüberblick über das Geschehen beinahe unmöglich wurde. Natsu erkannte nur ausschnittsweise, was für sich ging.

Die Dämonen schlugen und traten mit übermenschlicher Kraft und waren geradezu abartig schnell und wendig. Sie zertrümmerten mit ihren Faustschlägen behelmte Schädel und Brustkörbe, brachen mit ihren Tritten Wirbelsäulen, zerrissen mit ihren Zähnen und Klauen Kehlen und Bäuche. Durch Rüstungen schnitten sie wie durch dünnes Leinen. Der einzige Schutz vor ihren Angriffen war, immer auszuweichen und im rechten Moment anzugreifen – und dann den richtigen Punkt zu treffen. Die Haut der Dämonen war so dick, dass ihr mit Pfeilen und Dolchen nicht beizukommen war. Es brauchte die Wucht von Langschwertern und Äxten oder aber das tänzerische Geschick mit dem Säbel, das Minerva demonstrierte, indem sie ihre Waffe über die empfindlicheren Kehlen oder in die Achselhöhlen der Dämonen fahren ließ.

Obwohl die Dämonen eins zu drei unterlegen waren, gewannen sie doch zusehends die Oberhand. Um sich herum sah Natsu die Männer und Frauen mit dem Löwen und den Basilisken auf ihren Brust- oder Schulterplatten reihenweise sterben. Ihre Todesschreie dröhnten in seinen Ohren und ihr Blutgeruch stach in seine Nase.

Gray neben ihm hielt den Dämonen eisern stand. Trotz seines wuchtigen Breitschwertes war er schnell und präzise. Selten einmal traf er nicht beim ersten Schlag die Schwachstelle seines Gegners. Sein Stil war ruckartig, seine Schritte hätten gedröhnt, wenn sie nicht vom Sand aufgefangen worden wären. Seine Miene blieb ruhig und konzentriert. Nichts schien ihm zu entgehen, kein Dämon vermochte es, seinen Rücken zu erreichen.

Es war ein gutes Gefühl, neben Gray zu kämpfen. Natsu wurde davon angespornt und obwohl er immer noch kaum etwas über den Eismenschen wusste und sich bisher immer nur mit ihm gezankt hatte, vertraute Natsu ihm rein instinktiv. Mit Gray Seite an Seite zu kämpfen, war einfach und richtig und aufpeitschend und beruhigend zugleich.

Als Natsu den Blick des Schwarzhaarigen auffing, grinste er übermütig – und erhielt zu seiner Überraschung ein ebensolches Grinsen zurück. Für die Dauer einiger Herzschläge war Gray nicht der verschwiegene, rachsüchtige Eisklotz, den Natsu in Malba kennen gelernt hatte, sondern ein ganz normaler Mann, ein Krieger, ein Kamerad – vielleicht sogar ein Freund…

Doch als Minerva mit ihrem Gazellenhorn das Zeichen für das Vorrücken der zweiten Gruppe blies, drehte Gray sich ruckartig um und brach damit den Blickkontakt ab.

Während er sich mit Minerva, Gray und den vielleicht vier- bis fünfhundert überlebenden Soldaten zusammenrottete und dabei immer wieder Dämonen nieder streckte, beobachtete Natsu das, was er vom Vormarsch von Orgas Einheit hinter all dem aufgewirbelten Sand ausmachen konnte. Der unübersehbare Hüne schritt seinen Männern voran, die Streitaxt kampfbereit in den Händen. Von Lyon und Meredy konnte Natsu nichts entdecken, aber das war ja auch Sinn der Sache. Die zweite Heeresgruppe brach in die Flanke der Dämonen ein und trieb sich wie ein Keil immer tiefer und tiefer, beständig auf die erste Gruppe zu.

Nun zeigte sich, wie stumpfsinnig die Dämonen waren: Sie drehten sich von einer Feindesgruppe zur nächsten und stürzten dann jeder für sich auf eine der beiden Gruppen zu, wobei sie einander immer wieder in die Quere kamen. Um an ihre auserkorene Beute zu kommen, schreckten sie nicht einmal davor zurück, ihre Artgenossen zu verletzen, wenn diese ihnen im Weg waren.

Der Einzige, der sich davon nicht beeindrucken ließ, war der Anführer der Zyklopen – wenn man ihn denn überhaupt so nennen konnte, denn keiner der niederen Dämonen schien sich nach ihm zu richten und er schien sich im Gegenzug auch nicht um sie zu scheren. Er metzelte sich weiter durch die Reihen der ersten Heeresgruppe. Niemand vermochte es, ihn zu verlangsamen, ganz zu schweigen davon, ihn zu stoppen.

Zuvor war Natsu die Zielstrebigkeit dieses Dämons nicht aufgefallen, aber im jetzigen Getümmel fiel der Höhlengebundene besonders gut auf – und es wurde offensichtlich, was oder vielmehr wer sein Ziel war.

Gleichzeitig riefen Gray und Natsu den Namen des jeweils Anderen und setzten sich in Bewegung. Als der Dämon sein Ziel erreichte, waren sie zur Stelle, flankierten die kampfbereite Wüstenlöwin. Natsu schlug die vorschnellende Rechte beiseite und Gray die Linke – und Minerva zog ihren Säbel über die Kehle ihres Häschers. Bei jedem anderen Gegner wäre das eine tödliche Trias gewesen, aber der Höhlengebundene ließ sich unnatürlich schnell nach hinten fallen und entging so dem Hieb.

Ehe sie reagieren konnten, schlug der Gelbe einen Rückwärtssalto und sprang dann sofort wieder nach vorn, um sie alle mit seiner schieren Masse von den Füßen zu fegen. Alles, worauf Natsu sich konzentrieren konnte, als er über den Sand schlitterte, war, sein Schwert nicht zu verlieren – jene eine Lektion, in der alle seine Lehrmeister überein gestimmt hatten. Als er endlich zum liegen kam, dröhnte sein Kopf und schmerzte sein getroffener Brustkorb und er spürte einen scharfen Schmerz am Oberschenkel, mit dem er wohl über eine im Sand vergrabene Waffe geschrammt war – aber sein Langschwert lag fest in seiner Hand.

Schnaufend stemmte er sich in die Höhe und suchte nach Minerva und dem Dämon. Die Wüstenlöwin lag auf dem Rücken und versuchte, sich mit ihren beiden Säbeln den Zyklop vom Hals zu halten. Natsu stürmte auf die Beiden zu und schwang sein Schwert. Im letzten Moment wich der Dämon mit einer Seitwärtsrolle aus. Als er wieder auf die Beine kam, war Gray auf einmal hinter ihm und schlug nach seiner Mitte. Der Eismensch traf, aber seine Klinge schaffte es gerade einmal, die Haut des Dämons zu ritzen.

„Zäher Mistkerl“, knurrte Natsu und bot Minerva eine Hand an.

„Halte dich zurück“, warnte Minerva. „Keine Magie!“

Natsu verbiss sich eine scharfe Erwiderung. Er sah ja ein, dass er und die Fullbuster-Brüder der Trumpf der Armee bleiben mussten, solange die volle Stärke der Dämonenarmee nicht bekannt war, aber es gefiel ihm dennoch nicht, nicht mit voller Stärke kämpfen zu dürfen, während um ihn herum weitere Kameraden starben.

Minerva steckte einen der Säbel zurück an ihren Gürtel und zog stattdessen den armlangen Dolch aus einer kunstvollen Scheide an ihrem Gürtel. Die Klinge wirkte seltsamerweise strahlend weiß und in den Knauf war ein ebenso weißer Stein eingelassen, in welchen ein kleines Symbol eingeritzt worden war, das Natsu hier nicht erkennen konnte.

„Ich brauche nur die Gelegenheit für einen guten Hieb“, erklärte Minerva ernst.

Natsu verstand nicht, was sie damit zu bezwecken glaubte, aber er sah keinen Grund, hier und jetzt an Minervas Urteilsfähigkeit zu zweifeln, und nickte ruckartig. „Die sollst du kriegen“, versprach er und setzte sich in Bewegung, um sich neben Gray zu gesellen unf mit ihm gemeinsam gegen den Zyklopen vorzugehen.

Natsu mochte Grays wilden, unberechenbaren Stil. Es war so verblüffend einfach, mit ihm Seite an Seite zu kämpfen. Viel einfacher, als Natsu es jemals zuvor erlebt hatte. Sie mussten keinerlei Rücksicht aufeinander nehmen, ihre Angriffe reihten sich nahtlos aneinander, prasselten unablässig auf den Höhlengebundenen ein.

Als es Gray gelang, das Knie des Dämons zu zerschmettern, nutzte Natsu das sofort aus und schlug nach dem anderen Knie. Der Dämon sackte nach vorn. Hinter sich bemerkte Natsu die huschende Bewegung und er wich zur Seite aus, um Minervas Streich Platz zu geben.

Die Augen des Dämons weiteten sich ungläubig, als der Dolch mit der weißen Klinge über seine Kehle fuhr und geradezu mühelos durch die Haut schnitt. Das Symbol am Knauf leuchtete auf, als Dämonenblut darauf spritzte.

„Ich bin Franmalth von Tartaros“, röchelte der Zyklop, während sein Körper langsam erschlaffte. „Wie… wie…?“

Hoheitlich ragte Minerva über ihm auf. „Ich bin Minerva Orland von Sabertooth, Wächterin der Stillen Wüste, Freundin der Wüstennomaden… Und Freundin der Geisterfürstin“, fügte sie hinzu und hielt ihren Dolch so, dass Franmalth das Symbol am Knauf sehen konnte. Erst jetzt erkannte Natsu, dass es sich um das Wappen des Hauses Heartfilia handelte, die betende Jungfrau unter dem Stern.

Die Augen des Dämons weiteten sich vor Erstaunen, doch dann verengten sie sich voller Häme. „Ihr habt eure einzige Waffe am Geringsten der Dämonen von Tartaros vergeudet. Mard Geer wird euch lehren, ihn nie wieder zu unterschätzen. Gegen ihn seid ihr Kakerlaken im Staub.“

Vollkommen unbeeindruckt legte Minerva den Dolch mit der langsam verblassenden Klinge an Franmalths Hals, dann holte sie mit der Waffe aus. „Wir werden sehen“, erklärte sie ruhig und schlug zu. Ob es die Wucht des Hiebes oder die Magie der Waffe war, der Dolch, der dafür eigentlich zu klein hätte sein müssen, trennte den Kopf sauber ab. Der Körper sackte vollends zu Boden und der Kopf verschwand im Gewirr der Schlacht.

Natsu stieß den angehaltenen Atem aus und sah sich um. Die Kämpfe hatten kaum nachgelassen. Die niederen Dämonen hatten Franmalths Tod entweder gar nicht bemerkt oder aber ignoriert. Sie konzentrierten sich einzig und allein darauf, die Soldaten von Sabertooth einzukesseln.

Orgas mächtige Stimme hallte über die Schreie hinweg. Er versuchte, den Rückzug zu organisieren.

„Das sollte Meredy genug Zeit verschafft haben“, murmelte Gray und Minerva nickte zustimmend.

Sie wischte ihren Säbel und den spröde gewordenen Dolch ab, schob letzteren zurück in die Scheide und warf den Säbel zurück in ihre Rechte, um ihn in die Luft zu stoßen und mit lauter, klarer Stimme zum Rückzug aufzurufen.

Erschöpft blickte Natsu zu all den toten Soldaten, die sie zurücklassen mussten, aber er hielt sich an die Befehle und folgte Minerva und Gray.

Die Dämonen setzten ihnen blindlings nach und einige der jüngeren Soldaten verfielen in Panik. Immer wieder riefen Orga und Minerva die Befehle. Einige beherzte Veteranen hielten ihre unerfahrenen Kameraden zurück, die sich noch mal den Dämonen zuwenden wollten. Von einigen unaufhaltsamen Narren abgesehen, hielt die Formation und somit auch der Fluchtweg. Die Dämonen waren stärker und schneller, aber offensichtlich nicht in der Lage, als Einheit zu agieren – oder die Falle zu wittern.

Als das Heer mehr als tausend Schrittlängen vor der Stadt eine kleine Felsformation passierte, richteten sich auf den Felsen Bogenschützen auf und walteten sofort ihres Amtes. Viele Pfeile prallten erfolglos von der dicken Haut der Dämonen ab, doch mehr als genug trafen die Augen oder Schlünde und machten so zahlreichen Dämonen den Garaus.

Der Beschuss hielt die Dämonen auf, sodass das Heer sich unbeschadet zurückziehen konnte, gedeckt von weiteren Reservetruppen auf Kamelen, die hinter den Felsen hervor kamen. Orga schwang sich auch auf den Rücken eines Kamels, das ein Soldat für ihn bereit hielt, und ritt zurück in die Schlacht, während Minerva sich den in Unordnung geratenen Tagelmust abnahm und weitere Befehle rief.

„So sollte eine Schlacht nicht ausgehen“, murmelte Gray neben Natsu unzufrieden.

Minerva drehte sich herum. Um ihren Mund lag ein bitterer Zug, aber ihre Augen blitzten vor Entschlossenheit. „Es war notwendig. Dank des Opfers dieser Männer haben wir jetzt schon mehr Informationen. Magistra McGarden wird mit dem Namen Mard Geer hoffentlich etwas anfangen können.“ Sie wandte sich wieder um und ging zum Befehlsstand hinüber, wo der alte Exceed Mysdroy mit dem Kommandanten ausharrte, der die Bogenschützen befehligt hatte.

„Mir wäre es dennoch lieber gewesen, wir hätten sie offen bekämpfen können“, brummte Natsu düster und besah sich den langen, aber zum Glück nicht sehr tiefen Schnitt am Oberschenkel, der seine Pluderhose zerfetzt hatte.

Der Kampf mit Franmalth wäre auch mit Magie sicher kein Zuckerschlecken geworden, aber dann hätte vielleicht einer von ihnen gereicht. Sie hätten mehr ausrichten, hätten mehr Soldaten vor dem Tod retten können.

Neben sich bemerkte Natsu, wie Gray sich immer wieder suchend umsah. Verwirrt blickte er sich auch um. „Was ist los?“

Anstatt zu antworten, hielt Gray einen der Soldaten zurück. „Warst du in Meister Nanagears Gruppe?“ Als der Mann irritiert nickte, stellte Gray gleich die nächste Frage. „Wo ist Lyon?“

Als der Mann nicht sofort Antwort gab, wollte Gray ihn schütteln, aber Natsu packte ihn schroff an der Schulter, um ihn zu beruhigen, und wandte sich erklärend an den Soldaten. „Der Grünländer mit den weißen Haaren.“

„Achso, der! Der ist mit seiner Gefährtin gleich zu Beginn der Schlacht verschwunden. Haben vielleicht die Flucht er-“

Bevor Gray sein Schwert gezogen hatte, hatte Natsu dem Soldaten bereits einen Kinnhaken versetzt, der ihn zu Boden schickte. „Das war dafür, dass du einen Kameraden beleidigt hast. Verschwinde!“, zischte er und griff dann wieder nach Grays Arm.

Der Eismensch war offensichtlich vollkommen aus der Fassung. Seine Augen waren extrem geweitet und huschten verzweifelt suchend umher.

„Ich muss ihn suchen“, murmelte Gray und wollte sich abwenden.

Wieder hielt Natsu ihn auf. „Er muss den Plan geändert haben und mit Meredy mit gegangen sein. Vertrau’ ihm einfach.“

„Was weißt du denn schon?!“, fuhr Gray wütend aus der Haut und holte mit der geballten Faust aus. „Lyon ist Stratege, kein Assassine!“

Der Schlag hätte Natsu wahrscheinlich ins Land der Träume geschickt, wenn er nicht gerade noch rechtzeitig ausgewichen wäre. In einem Versuch, Gray vor einer Dummheit zu bewahren, warf er sich auf diesen. Sie fielen Beide zu Boden. Gray wollte sich befreien und trat schmerzhaft fest gegen Natsus Schienbein. Knurrend schlug Natsu dem Dunkelhaarigen ins Gesicht.

„Reiß’ dich zusammen!“

„Du hast nicht die geringste Ahnung!“, brüllte Gray und wand sich weiter, aber Natsu hatte endlich die Oberhand und ließ ihn nicht mehr los.

Beinahe hätte er es doch getan, als Gray unter ihm in Tränen ausbrach. „Er ist alles, was ich noch an Familie habe…“

Grays Stimme brach. Nur zweimal in seinem Leben hatte Natsu Männer derartig weinen sehen.

„Was soll das heißen? Was ist mit deiner Familie passiert?“, fragte Natsu mit belegter Stimme.

Gray gab keine Antwort. Er presste sich den Unterarm aufs Gesicht, während sein Körper verräterisch bebte. Schwer schluckend sah Natsu sich um, aber bei all der Hektik nach der Schlacht achtete zum Glück keiner auf sie. Weil er sich nicht anders zu helfen wusste, griff er nur nach seinem Tagelmust und legte ihn über Grays Gesicht, damit niemand dessen Tränen sehen konnte.

Dann blieb er hilflos neben dem Magier sitzen.
 

„Du Eishirn!“

Lyon konnte sich nicht erinnern, seine Freundin jemals zuvor so wütend gesehen zu haben. Ihre Augen schienen zu glühen und ihre Augenbrauen begegneten einander beinahe, während sie zu ihm aufblickte.

Mit verräterisch zitternden Fingern hielt sie Lyon an den Messergurten gepackt, die sich über seiner Brust kreuzten, und drückte ihn in eine dunkle Nische zwischen dem Wachhaus und der Treppe, welche die Mauer von Jadestadt hinauf führte. Jenseits der Mauer konnte er hören, wie sich der Lärm der Schlacht langsam entfernte, ansonsten war es vollkommen still in der Stadt. Kein einziger Dämon schien hier zurück geblieben zu sein, um das Tor zu bewachen.

„Du unfassbar dämliches, blindes, wahnsinniges Eishirn!“, zischte Meredy, gefolgt von einigen Ausdrücken auf Edolas, die keiner Übersetzung bedurften. „Wie konntest du nur? Hast du auch nur den Hauch einer Ahnung, wie gefährlich es hier für dich ist?! Du-“

Beherzt hielt Lyon ihr den Mund zu. „Es wird noch viel gefährlicher, wenn du noch lauter wirst“, flüsterte er. Unnachgiebig blickte er in die grünen Augen. „Und für dich ist es nicht weniger gefährlich.“

Meredy riss die Hand weg und schlug mit der Faust auf Lyons Brust. Dank seines Kettenhemdes spürte er kaum etwas davon. „Ich bin eine Assassine! Es ist meine Aufgabe, mich in diese Gefahr zu begeben!“

„Ich lasse dich nicht alleine in eine von Dämonen beherrschte Stadt“, erwiderte Lyon stur.

„Du Eishirn!“

Die Wut in Meredys Blick flackerte, wurde von Angst überlagert. Eben jene Angst, die Lyon umtrieb, seit Meredy vorgeschlagen hatte, sich in Jadestadt einzuschleichen. Wortlos beugte er sich vor und küsste Meredy. Ihre Lippen zitterten unter seinen und er zog sie an sich. Für einen Moment glaubte er, sie würde seine Umarmung abschütteln, aber dann sackte sie in sich zusammen, gab den Kampf einfach auf.

„Was ist, wenn uns etwas passiert?“, flüsterte sie gegen seine Lippen.

„Dann passiert es uns gemeinsam“, erwiderte er fest entschlossen, obwohl er gleichzeitig einen schmerzhaften Stich der Schuld verspürte. Wenn er hier sterben sollte, wäre Gray der Letzte von ihnen. So stark Gray sich auch gab – und auch tatsächlich war –, das war eine Bürde, die Lyon ihm ersparen wollte.

Nur allzu gut konnte er sich vorstellen, was jetzt in seinem kleinen Bruder vor sich ging, aber als er gesehen hatte, welchen Gegnern sie vor dem Mauern der Stadt gegenüber treten mussten, und sich vorgestellt hatte, was für schrecklichere Gegner innerhalb der Mauern lauern mochten, hatte er alles andere vergessen und war Meredy gefolgt. Weil es ihm egal war, ob sie eine Assassine war oder nicht – sie war die Frau, die er liebte, auch wenn er ihr nichts bieten konnte außer einer Jagd nach einem Phantom quer durch Fiore…

„Aber uns wird nichts passieren“, fügte er hinzu – um Meredys willen und um seiner selbst willen, denn er wollte nicht daran denken, was ansonsten aus seinem Bruder werden würde. Er schlang die Arme noch fester um Meredys zierlichen Körper und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. An seiner Brust spürte er noch immer das Zittern ihrer Finger und er hörte ihre schweren, panischen Atemzüge. Ohne sich auch nur eine Haaresbreite von ihr zu entfernen, flüsterte er ihr weitere Beruhigungen zu: „Wir finden heraus, was hier los ist und wer der Drahtzieher hinter all dem ist, und dann kommen wir hier wieder heraus!“

Der Weg, auf dem sie sich einer neuen Herausforderung stellen mussten

Frustriert stapfte Romeo hinter Gajeel her durch den weichen Wüstensand und starrte den Sack an, den Gajeel sich über die Schulter gelegt hatte und der lediglich vier große Wurzelknollen enthielt. Vier Knollen und das, obwohl sie einen halben Tag lang gesucht hatten!

Es war im Grunde nicht weiter überraschend. Laut der Karte war das nächste Wasserloch zwei Tagesreisen von hier entfernt – und es war nun, während der Dürrezeit, auch so gut wie ausgetrocknet, wenn die Hinweise auf der Karte noch aktuell waren. Sie befanden sich hier in einem vollkommen trockenen Wüstengebiet, das nur von Basilisken und hoch spezialisierten Wüstentieren bewohnt wurde – und früher auch von den Golems. Nicht einmal die Wüstennomaden hatten hier jemals lange Fuß fassen können, nachdem es ihnen gelungen war, die Golems zu vernichten.

Mit gemischten Gefühlen beobachtete Romeo, wie die Felswände der Golemschlucht näher rückten. Noch immer war er fasziniert von diesem Labyrinth, aber unter den gegebenen Umständen wünschte er sich, mit den Anderen ganz woanders zu sein.

Unter Wendys Pflege besserte sich Yukinos Zustand langsam, aber sowohl Wendy als auch Yukino brauchten für diesen komplizierten Heilungsprozess viel Wasser. Gleichzeitig brauchten aber auch Gajeel und Romeo Wasser, um bei Kräften zu bleiben, denn sie konnten im Gegensatz zu Aki nicht auf das Blut der erbeuteten Geier zurückgreifen.

Deshalb waren sie heute bei Morgengrauen, als es noch nicht so brütend heiß gewesen war, aufgebrochen, um die Wasser speichernden Wurzelknollen zu finden. Doch selbst mit Gajeels schärferen Drachenreitersinnen hatten sie nur so eine geringe Ausbeute erzielt und jetzt in der Mittagshitze wäre es unvernünftig, ihre Suche fortzusetzen.

Auch wenn Romeo wohl, ohne zu lügen, behaupten konnte, dass er sich weitgehend an das Wüstenklima gewöhnt hatte und nun wusste, wie er damit umgehen konnte und musste, er war doch erleichtert, als sie in den Schatten der Golemschlucht eintraten. Er musste an seine Heimat denken. In den Bergen von Cait Shelter hielt jetzt auch der Sommer Einzug. In dieser Zeit war es selbst so hoch im Norden mitunter brütend heiß, aber dort wehte wenigstens fast immer ein Lüftchen und selbst für Romeos normale Menschennase war die Bergluft erfüllt von lebendigen Gerüchen nach Pflanzen und Tieren. Hier jedoch tat sich so gut wie gar nichts. Zumindest nichts, was auch tatsächlich Linderung versprochen hätte. Mehr noch als die kühlende Luft vermisste Romeo das satte Grün der Wälder und Almen, das Grau der Hohen Gipfel, akzentuiert mit den ganzjährigen Schneekuppen, die schillernden Farben der Ziegel in Romeos Heimatstadt…

Der junge Krieger schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu klären und sich wieder auf seine Umgebung zu konzentrieren. Er hatte keine Zeit für Heimweh. Auch wenn es hier vollkommen ruhig war, befand er sich immer noch in einem Kriegsgebiet!

Der Gedanke an den Krieg verdüsterte Romeos Stimmung gleich noch mehr. Seine Freunde waren irgendwo nördlich der Golemschlucht, einige bei Jadestadt, einige in Sabertooth und einige hoffentlich bald bei Zirkonis’ Höhle. Romeo hoffte inständig, dass es ihnen allen gut ging, aber die Tatsache, dass er eben darüber keine Gewissheit hatte, wurmte ihn. Beinahe bereute er, dass er sich für die Suche nach Yukino gemeldet hatte. Ein Gedanke, für den er sich im nächsten Moment selbst schalt.

„Verfluchte Golems“, knurrte Gajeel und blieb an einer Kreuzung stehen.

„Wir müssen da lang.“ Ohne zu zögern, ging Romeo an dem Bosco vorbei und schräg nach rechts.

Zwar könnte er nicht behaupten, dass er die Golemschlucht in- und auswendig kannte, aber er hatte ein gutes Gefühl für sie entwickelt. Akis Bereitwilligkeit gestern Abend, ihn hier herum zu führen, während Wendy sich um Yukino kümmerte, hatte ihm sehr geholfen.

Im Gegensatz zu Gajeel, der den Wolfsdämonen mit seiner typisch sturen Gleichgültigkeit entgegen trat, verstand Romeo sich blendend mit dem Jüngeren. Aki war vorlaut und dreist, schien ständig in Bewegung sein zu wollen, aber er war auch gesellig und redselig. Im Großen und Ganzen wirkte er wie ein ganz normaler Junge auf der Schwelle zum Erwachsenwerden. Würde er nicht so unbekümmert mit seinem wahren Naturell umgehen, könnte man ihn für einen gewöhnlichen Menschen halten.

Dabei konnte Romeo sich nicht vorstellen, dass Aki bei den Wüstennomaden immer herzlich aufgenommen worden war. Gewiss, es musste dort Leute geben, die den damals noch völlig schutz- und wehrlosen Welpen gerettet und für ihn gesorgt hatten, aber nach allem, was Romeo wusste, hatten die Wüstennomaden Generationen lang Kriege geben Dämonen geführt. Vorrangig zwar gegen die Golems, aber soweit Romeo sich an seinen Unterricht bei Meister Roubaul erinnerte, hatten die Wolfshetzen in ganz Fiore stattgefunden. Er glaubte nicht, dass die Wüstennomaden da eine Ausnahme darstellten. Beim Freien Volk musste Aki auf viel Ablehnung und Misstrauen gestoßen sein, aber offensichtlich nicht bei Sting und Rogue, sonst hätte er nicht so positiv auf ihre Namen reagiert.

Dasselbe galt auch für Toraan. Ihr war auch bei weitem deutlicher als Aki anzumerken, dass sie keine leichte Kindheit bei den Wüstennomaden gehabt hatte. Sie war ruhiger, beinahe reserviert, initiierte selten von sich aus ein Gespräch mit den drei Menschen, die seit gestern in der Golemschlucht waren. Allerdings verwandte sie schon seit Tagen einen wohl nicht unerheblichen Anteil ihrer Kräfte darauf, dafür zu sorgen, dass kein Dämon Yukino riechen konnte, und sie hatte gestern auch einige besorgte Fragen nach Minerva, Sting und Rogue gestellt. Inmitten aller Feindseligkeiten hatte auch sie Freunde bei den Wüstennomaden gefunden, die ihr wichtig genug waren, um sich in einen Vernichtungskrieg einzumischen.

Als sie in die Höhle eintraten, die Aki und Toraan als Versteck für Yukino auserkoren hatten, blieb Romeo wieder stehen, um seinen Augen die Gelegenheit zu geben, sich an die dämmrigen Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Sobald er endlich wieder normal sehen konnte, erkannte er, dass sich nichts geändert hatte, seit er heute früh mit Gajeel aufgebrochen war.

Yukino war immer noch bewusstlos und Toraan wirkte immer noch – oder schon wieder – ihre Sandmagie. Aki döste in einer der Nischen, eine Hand auf seinem Bauch. Vielleicht war seine Jagd nach Geiern erfolgreicher gewesen als Gajeels und Romeos Suche nach Wasserknollen. Wendy saß neben Yukino und flößte dieser gerade einen Sud ein. Allem scheinbaren Frieden zum Trotz entging Romeo nicht, dass Toraan die Flasche in Wendys Hand mit Misstrauen beäugte.

Dass Golems anfällig für Wasser waren, war weithin bekannt. Kamen sie mit Wasser in Kontakt, hatte es denselben Effekt, als wenn ein normaler Mensch sich mit Feuer verbrannte. Und so wie ein Mensch an Verbrennungen zugrunde gehen konnte, konnten Golems durch Wasser verenden. Es hatte damit zu tun, dass sie als Dämonen mehr aus Sand und Stein als aus Fleisch und Blut bestanden. Im Grunde war es schon ein Wunder, dass Toraan als Halbdämonin existierte und so alt geworden war. Die meisten Halbgolems, über die man Bescheid wusste, waren aufgrund ihrer inneren Widersprüchlichkeit schon im Säuglingsalter gestorben.

Diese eine große Schwäche war es schließlich auch gewesen, die den Wüstennomaden langsam aber sicher zum Sieg verholfen hatte. Es hatte viele Zyklen gedauert und viele Opfer gebraucht, aber die zahlenmäßig ohnehin nie stark vertretenen Golems waren nach und nach weiter von ihren Feinden dezimiert worden.

Ob es heute noch irgendwo Golems außer Toraan gab, war fraglich. Romeos Einschätzung nach könnten sie sich höchstens noch weiter im Süden aufhalten, aber da erstreckte sich nur noch das Weite Land, ein unendliches Areal, das einzig und allein aus Sand bestand. Niemand wusste, wie weit es sich in den Süden erstreckte. Jene, die versucht hatten, es zu ergründen, waren entweder nach mehreren Monden entmutigt zurückgekehrt oder gar nicht.

Behutsam ließ Wendy Yukinos Kopf wieder sinken und blickte dann zu Gajeel und Romeo auf. „Wart ihr erfolgreich?“

„Leider nicht wirklich“, seufzte Romeo und deutete auf den Sack, welchen Gajeel nun zu Boden fallen ließ. „Damit halten wir nicht lange durch.“

„Wir müssen weiter ziehen“, knurrte Gajeel und ließ sich in einiger Entfernung zu Toraan nieder, um damit zu beginnen, eine der Knollen zu zerkleinern und die Fruchtstücken über einer Schale auszupressen. „Kann Yukino transportiert werden?“

„Gebt mir noch einen oder zwei Tage, bis ich ihre Wunden verschlossen habe“, bat Wendy. Die magere Ausbeute schien für sie überzeugend genug zu sein, um Gajeel nicht widersprechen zu wollen, obwohl Romeo sich sicher war, dass sie Yukino normalerweise lieber erst dann bewegt hätte, wenn diese wieder bei Bewusstsein war.

„Wohin wollt ihr mit ihr?“, fragte Toraan mit einem Stirnrunzeln. „Bis nach Sabertooth ist es zu weit und wenn die Dämonen nicht auch noch das beeinflusst haben, befinden sich in diesem Gebiet immer noch viele Basilisken.

„Das Risiko werden wir eingehen müssen“, erwiderte Romeo mit einem Schulterzucken und gesellte sich zu Gajeel, um es ihm gleich zu tun und ebenfalls eine der Wasserknollen zu bearbeiten. „Wir können nicht hier bleiben. Wir brauchen alle Wasser.“

„Dann zieht zur Zuflucht“, mischte Aki sich ein, der auf einmal aufrecht in seiner Schlafnische saß. „Toraan und ich können euch hinbringen, damit sie euch rein lassen. Die Quelle dort führt auch in der Dürrezeit genug Wasser. Mit dem Sandschlitten sind das zwei bis drei Tage dorthin, anderthalb, wenn ihr die Nacht hindurch fahrt. Wir können euch ja führen.“

Aus dem Augenwinkel bemerkte Romeo, wie Gajeel das Gesicht verzog. Er konnte nur raten, aber er vermutete, dass der Eisenmagier lieber direkt nach Sabertooth zurückgefahren wäre. Ob er sich Sorgen um Juvia machte? Oder wollte er einfach den Wüstennomaden aus dem Weg gehen? Er schien sich allgemein lieber von Menschenansammlungen fernzuhalten. In Heartfilia war er auch immer in Sternheim geblieben und er hatte nicht unbedingt glücklich gewirkt, als sie Sabertooth erreicht hatten. Allerdings hatte er sich in Malba unter die Menge der Gläubigen gemischt, um Levy zu beschützen, und im Sandpalast hatte er Levy auch begleitet…

Für einen Moment zuckten Romeos Mundwinkel unkontrolliert, ehe er sich wieder im Griff hatte. Vielleicht lag es nicht nur an Juvia, dass Gajeel so schnell wie möglich wieder nach Sabertooth zurück wollte…?

„Aber wie transportieren wir Yukino?“, wandte Wendy leise ein.

Romeo rief sich selbst zur Ordnung und konzentrierte sich wieder auf das Hier und Jetzt. „Vielleicht kann ich zwei Sandschlitten irgendwie zusammenzimmern, sodass wir eine Ladefläche haben, auf der Yukino liegen kann… Gibt es hier irgendwo Baumaterial?“, fragte er Toraan.

Als die Dämonin den Kopf schüttelte, wollte er bereits das Gesicht verziehen, aber Akis lautes Klatschen ließ ihn aufblicken.

„Kein Problem, Leute! Ich werde Yukino tragen.“

DU?!“, schnaubte Gajeel abfällig. „Wie willst du dünnes Hemdchen das denn schaffen?“

Ein wölfisches Grinsen verzerrte Akis jugendliche Gesichtszüge und zu Romeos Überraschung zierte auch Toraans Gesicht ein amüsiertes Lächeln.

Und dann begriff Romeo es auch: Als Mensch mochte Aki schlaksig und klein aussehen, aber er war ja kein Mensch
 

„Die sind echt zäh.“ Seufzend hielt Sting seine Nase in die Luft und verzog sogleich das Gesicht. „Und dank ihres Gestanks kann ich Zirkonis nicht riechen.“

Neben ihm mühte Lucy sich damit ab, ihre langen Haare mit den Fingern zu durchkämmen. In den letzten Tagen seit dem Beginn der Verfolgung durch die Dämonen hatten sie immer nur kurze Pausen gemacht, die kaum für mehr Zeit ließen als für Schlafen und Essen. Körperpflege kam da deutlich zu kurz. So wie Sting es mittlerweile aber von ihr erwartete, beklagte Lucy sich nicht darüber. Sie hielt tapfer durch und Sting hatte sogar den Eindruck, dass sie kräftiger wurde. Anscheinend gewöhnte sie sich an die täglichen Gewaltmärsche und das Klettern und die viel zu kurzen Pausen. Sie schaffte es sogar, während der Pausen weiterhin mit Rogue ihr Bosco zu üben und ihre Ausrüstung zu überprüfen.

„Wie weit sind wir noch von der Höhle entfernt?“

„Einen Tagesmarsch, vielleicht zwei, wenn wir weiterhin Umwege laufen“, erklärte Rogue, der sich bereits den Tagelmust band. „Vielleicht sollte ich heute Nacht noch mal…“

„Nein!“, schnappte Lucy und bohrte Rogue den Finger in die Brust. „Beim letzten Mal haben sie dir aufgelauert!“

Rogues Augen funkelten trotzig und für einen Moment erwartete Sting, dass sein Partner sich tatsächlich auf eine Diskussion einlassen würde. Als er jedoch schicksalsergeben mit den Schultern zuckte, kicherte Sting. Beim Unsterblichen, Lucy war phänomenal! Sie mochte sich gerade wie eine Furie aufführen, aber in Wahrheit machte sie sich einfach Sorgen um Rogue, für den es beim letzten Mal tatsächlich knapp gewesen war. Sting hatte es selbst mit der Angst zu tun bekommen, als sein Partner gestern reichlich angeschlagen ins Lager zurück gekommen war.

„Wenn das so weiter geht, holen sie uns bei der Höhle ein“, gab Rogue zu bedenken und warf Sting einen säuerlichen Blick zu.

„Da wir dort sicher schon erwartet werden, kommt es darauf auch nicht mehr an“, erwiderte Lucy und flechtete ihre Haare schnell zu einem Zopf.

Als Rogue zustimmend nickte, blickte Sting verwirrt zwischen den Beiden hin und her. „Habe ich etwas verpasst?“

Mit dem gleichen Lehrergesicht, das auch Levy immer bei ihren Ausführungen aufgelegt hatte, hob Lucy zwei Finger. „An der Höhle erwarten uns entweder weitere Dämonen oder Zirkonis. Die Höhlengebundenen von Tartaros hatten genug Zeit, sich kundig zu machen. Sie haben ja auch versucht, euch aus dem Verkehr zu ziehen, also müssen sie darüber Bescheid wissen, dass ihr Drachenreiter seid. Unter Garantie wissen sie auch von Zirkonis, also werden sie ihn sicher angreifen, womöglich sogar einer der Höhlengebundenen persönlich. Wenn Zirkonis nicht in seiner Höhle ist, dann leben diese Dämonen wohl noch, wenn doch, sind sie gewiss schon tot.“

„Das ergibt Sinn“, murmelte Sting und rieb sich den Hinterkopf.

Lucys Mundwinkel zuckten kurz, aber dann wurde die Fürstin sofort wieder ernst. „Vielleicht ist es besser, wenn wir uns jetzt den Dämonen stellen, die uns verfolgen. Sonst fallen sie uns später in den Rücken, wenn wir gegen die Anderen kämpfen.“

„Hast du schon an einem Kampf auf Leben und Tod teilgenommen?“, fragte Rogue mit einem besorgten Stirnrunzeln.

„Einmal…“ Lucys Blick trübte sich. „Damals war ich allein und bereits von der Flucht erschöpft. Und Gemini und ich hatten zuvor unsere Waffen getauscht. Ich hatte keine Chance…“

Sting tauschte einen Blick mit Rogue. Anscheinend redete Lucy von der Gefangennahme durch die Söldner von Avatar.

„Du hast noch nie getötet?“, fragte Rogue behutsam nach.

Zu Stings großer Verwirrung zuckte Lucy mit den Schultern. „Ich kann mich immer noch nicht an alles erinnern, was damals im Moor passiert ist. Ich weiß noch, dass ich zwei verletzt habe, bevor ich entwaffnet wurde. Der Mann, der mich danach festgehalten hat, wollte mich töten. Er hat mich für einen Geist gehalten und dafür gehasst…“

Lucy rieb sich fröstelnd die Unterarme. Sting musste daran denken, wie er damals inmitten dieser Fanatiker gestanden hatte, die nach Lucys Tod gelechzt hatten. Auch heute noch wurde ihm bei der Erinnerung daran übel. Überrascht sah er auf, als Rogue eine Hand auf Lucys Schulter legte. Auch die Fürstin schien verblüfft, doch dann schlich sich ein warmes Lächeln auf ihre Lippen und sie legte ihre Hand auf Rogues.

„Dieses Mal wird es anders laufen“, erklärte sie energisch. „Dieses Mal habe ich meinen Rapier und ich bin fit.“

„Und du bist nicht allein“, fügte Sting stolz grinsend hinzu.

„Also wollen wir es wagen?“, fragte Rogue ernst. „Sie sind immer noch in der Überzahl.“

„Das macht nichts, wir sind stärker und klüger als diese Dämonen“, erwiderte Sting großspurig.

„Zumindest ein bisschen“, sagte Rogue trocken und seine Augen funkelten belustigt. Lucy neben ihm kicherte leise.

„Hey! Wenn du mich weiter ärgerst-“

In der Ferne erklang ganz leise ein vertrautes und doch fremdes Geheul. Sting unterbrach seinen schmollenden Protest und wirbelte herum, den Säbel in derselben Bewegung aus dem Gürtel ziehend, den Kopf zum angestrengten Lauschen schräg gelegt. Rogue hatte seine schlanke, dunkle Bosco-Klinge genauso schnell gezogen und nur ein Augenblinzeln später hielt auch Lucy ihren Rapier in der Hand.

„Von wo kommen sie?“, fragte sie angespannt und mit gedämpfter Stimme. „Das können doch nicht die Dämonen sein, die uns bisher verfolgt haben.“

„Sind sie auch nicht. Die kommen von der Höhle und sie riechen anders“, erklärte Rogue ruhig, aber Sting spürte, wie sein Partner näher an ihn heran rückte.

Stings Rechte schloss sich fester um den Griff seines Säbels, so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. In seinem Inneren schien sich etwas zu verknoten.

„Ich dachte, es gäbe nur noch einen in der Stillen Wüste“, murmelte er zähneknirschend.

„Was sind das für Dämonen?“, wollte Lucy beunruhigt wissen.

„Solche von der schnellen und starken Sorte“, antwortete Rogue und stellte sich so hin, dass sie ein Dreieck bildeten und einander Deckung gaben.

Vor Stings Augen tauchte ein jugendliches Gesicht auf, die Lippen zu einem breiten Grinsen verzogen, die Augen abenteuerlich funkelnd, die schwarzen Haare wild in alle Richtungen abstehend. Noch jemand, über dessen Verbleib Sting seit Ausbruch des Kriegs nichts wusste.

Als Rogues Ellenbogen seinen berührte, drehte Sting den Kopf. Die roten Augen waren ruhig und zuversichtlich und vertrauensvoll und die schmalen Lippen hoben sich zu einem beruhigenden Lächeln.

Sting musste unwillkürlich selbst lächeln. Er schüttelte die Schultern aus und veränderte seinen Stand, ehe er über seine Schulter zu Lucy blickte.

„Sie sind deutlich größer als jeder von uns, sie wirkten keine Magie, aber sie haben gewaltige Kräfte. Lass’ dich um keinen Preis von ihnen erwischen.“

„Haben sie Schwachstellen?“, fragte Lucy mit verengten Augen.

Sting rief sich in Erinnerung, was Meister Gran Doma ihm vor vielen Zyklen auf seine neugierigen Fragen hin erzählt hatte, und er verdrängte das Bild des schwarzhaarigen Jungen aus seinen Gedanken.

„Der Kopf“, murmelte er. „Ziel’ auf den Kopf der Wolfsdämonen.“

Der Pfad, der sich durch die Informationen schlängelt

Ein rücksichtsloses Klopfen riss Levy aus dem Schlaf und sie brauchte einige Herzschläge, um sich daran zu erinnern, wo sie sich befand. Sie war nicht in ihrem gemütlichen, kleinen Herbergszimmer in Crocus, sondern in einem Gästequartier des Sandpalasts in Sabertooth. Sie war in der Stillen Wüste, viele Tagesreisen von ihrem sicheren Zuhause entfernt, getrennt von ihren Freunden und seit Tagen damit beschäftigt, die Bibliotheken von Sabertooth nach Hinweisen über die Dämonen von Tartaros zu durchforsten.

Im zweiten Bett des Raumes hörte sie Juvia leise stöhnen und mit den Laken rascheln. Erst als die Tür zur Kammer geöffnet wurde und Laternenlicht hinein flutete, wurde Levy bewusst, dass es tatsächlich noch dunkel war. Vom Fenster her drangen noch nicht die geschäftigen Großstadtgeräusche des Tages herein.

Es konnte nicht viel Zeit vergangen sein, seit Levy sich nach einem reichlich verspäteten Abendessen und nur auf Juvias Drängen hin ins Bett gelegt hatte. Sie spürte selbst jetzt noch die Rückenschmerzen vom ewig langen Brüten über alten Büchern. Und sie konnte sich nicht einmal erinnern, geträumt zu haben – dabei wurde sie dieser Tage ständig von Alpträumen geplagt.

Langsam richtete sie sich auf und blickte zur Tür. Vor dem Licht der Öllampen, die zu beiden Seiten jeder Tür angebracht waren, hob sich Dobengals hagere Gestalt ab. Die Gesichtszüge des Assassinen lagen im Schatten, aber Levy war sich sicher, dass sie so ungerührt wie immer aussahen.

„Ihr müsst in den Beratungsraum kommen“, sagte er, ohne sich an einer Entschuldigung dafür aufzuhalten, dass er sie geweckt hatte. „Mysdroy ist mit Nachrichten von der Front zurück.“

Levy war selbst verblüfft, wie schnell sie es auf einmal aus dem Bett schaffte, aber allein die Hoffnung, endlich Nachricht von zumindest einigen ihrer Freunde zu erhalten, beflügelte sie regelrecht. Seit Tagen hatte sie darauf gewartet, auch wenn sie sich selbst immer wieder ermahnt hatte, dass alle Gruppen wohl noch unterwegs waren – immerhin war die Stille Wüste ein riesiges Areal und unwegsam noch dazu, bis man hier sein Ziel erreichte, dauerte es noch länger als im Rest von Fiore bei gleicher Entfernung.

Allerdings war es schwer, sich selbst mit Vernunft zu beruhigen, wenn sie doch gleichzeitig die Berichte über die Dämonen von Tartaros las. Mittlerweile hatte sie einen kleinen Stapel an Berichten und Legenden angesammelt, die sie alle auf Tartaros zurück führen konnte. In einigen davon wurden sie nicht namentlich genannt, aber aufgrund der Beschreibungen war es ihr doch möglich gewesen, sie zu zuordnen.

Neben Jackal, dem Feuerdämon, der sich wahrscheinlich immer noch irgendwo hier in der Nähe oder womöglich sogar direkt in der Stadt aufhalten musste – ein Gedanke, der Levy mit jedem Tag mehr beunruhigte –, hatte Levy zwei weitere Dämonen benennen können: Zum einen war da ein Erdkoloss namens Ezel und zum anderen ein Tiefseedämon namens Torafuzar. Beide hatten damals Sternklang mit Erdbeben und Überschwemmungen vernichtet, die legendäre Hauptstadt der Geister, die nach dem Tod des Königs im Chaos versunken war. Während des daran anschließenden letzten Geisterkriegs, bei dem es nur noch darum gegangen war, so viele Geister wie möglich zu vernichten – während die Geister verzweifelt versucht hatten, so viele wie möglich zu retten –, schienen sich zudem auch einige niedere Dämonen Tartaros angeschlossen zu haben. Zumindest war während der Golemkriege ein paar Mal ein Windteufel mit von der Partie gewesen, der vorher nie aufgetaucht war…

Alles in allem halfen diese Informationen jedoch kaum weiter. Was Levy verzweifelt suchte, war eine Information darüber, wie damals die anderen Dämonenbruthöhlen vernichtet worden waren, aber bislang hatte sie genau dazu keinerlei genauere Aufzeichnungen gefunden. Sie hatte lediglich einen Augenzeugenbericht von jemandem gelesen, der aus der Ferne beobachtet hatte, wie seine Kampfgefährten gegen eine Bruthöhle vorgegangen waren. Was sie gemacht hatten, hatte er nicht erkennen können, aber auf einmal hätte sich die Höhle zuerst verkrampft und sei dann wie von einem inneren Druck zerfetzt worden und hätte dabei so giftige Gase ausgestoßen, dass keiner der Gefährten des Zeugen lange genug überlebt hatte, um Genaueres berichten zu können. Levy hatte diese Informationen bereits mit Rufus geteilt, aber der Magier hatte erklärt, dass er derzeit keine Möglichkeit hätte, um Sting und Rogue zu warnen, da Lector und Frosch noch nicht wieder zurück waren.

Noch etwas, das Levy bereits seit drei Tagen fürchterliche Sorgen bereitete. Da war es wenig hilfreich, dass sich Lokes Zustand nur schleppend verbesserte, seit das Heilmittel, das sie von Natsu bekommen hatten, aufgebraucht war.

Umso mehr hoffte Levy jetzt endlich auf gute Nachrichten!

Sie schlüpfte blindlings in ihre Schnürschuhe und griff nach ihrem Band, um sich die Haare aus der Stirn zu halten. Juvia hielt sich nicht mit Schuhen und Haaren auf, sondern zog sich nur ihre Pluderhosen an. Levy war dankbar um ihr längeres Nachthemd und ließ ihre eigenen Pluderhosen liegen.

Sie griff noch nach ihrem Notizbuch, dann verließ sie mit Juvia die Kammer und stieg die Treppe hinunter in den Sahn, um dann in den Gang einzutauchen, der aus dem Gästekomplex heraus führte. Dobengal hatte nicht auf die beiden Frauen gewartet, sondern war schon in den Beratungsraum voraus gegangen, aber sie kannten den Weg auch so schon, denn Rufus hatte sie in den vergangenen Tagen mehrmals in seinen strategischen Überlegungen einbezogen, die er mit Dobengal zusammen leitete, um den Feuerdämon Jackal ausfindig zu machen.

Im Beratungsraum warteten bereits Rufus und Mysdroy. Dem blonden Magier war nicht anzusehen, ob er genauso abrupt wie Levy und Juvia geweckt worden war oder ob er noch gar nicht im Bett gewesen war. Seine Miene war hochkonzentriert, während er verfolgte, wie der alternde Exceed Mysdroy auf eine Karte des Gebiets von Jadestadt, die auf dem Tisch ausgebreitet worden war, strategische Anmerkungen setzte.

Dobengal saß mit undeutbarer Miene falsch herum auf einem Stuhl und stützte das Kinn auf der Rückenlehne ab. Als Levy und Juvia herein hasteten, blickten nur Rufus und Mysdroy auf und nickten ihnen zu.

Levy musste sich eine gleichartige Erwiderung geradezu abringen, Juvia jedoch platzte gleich mit der Frage heraus, die ihnen Beiden so sehr zu schaffen machte: „Wie geht es unseren Freunden?“

„Meister Dragneel und Meister Fullbuster sind wohlauf, sein Bruder und die Assassine haben sich vermutlich erfolgreich in Jadestadt eingeschlichen“, brummte der Exceed offensichtlich ungehalten ob dieser hektischen und formlosen Begrüßung.

„Lyon und Meredy sind in Jadestadt? Bei diesen Dämonen?“, hauchte Levy entsetzt und ihr wurde eiskalt zumute, während sie sich ausmalte, gegen welchen der Dämonen, deren Identität sie bereits heraus gefunden hatte, ihre Freunde wahrscheinlich antreten mussten. Lyon war ein starker Magier, aber konnte er unter den hiesigen für ihn so ungewohnten Wetterbedingungen mit seiner Eismagie zum Beispiel gegen Ezel bestehen...?

„Genau das sagte ich gerade“, erwiderte Mysdroy schroff.

„Meister, lasst Nachsicht walten. Levy und Juvia sind in Sorge“, sagte Rufus respektvoll und bedeutete den beiden Frauen, an den Tisch zu treten.

„Wir sind alle in Sorge. Es geht in diesem Krieg um das Überleben der Menschen in der Stillen Wüste“, war die ungnädige Antwort.

„Wenn Einzelne nicht mehr wichtig sind, ist das Volk es auch nicht“, murmelte Dobengal.

Überrascht riss Levy die Augen auf. Ausgerechnet von Dobengal ein Zitat aus dem Manifest des Lebens zu hören – jener Denkschrift, mit der die Unsterbliche Kaiserin vor so langer Zeit ihre Absicht eines kontinentalen Bundes aller Fürstentümer und Freien Städte verkündet hatte –, hätte sie wirklich nicht erwartet. Bisher hatte sie nicht den Eindruck gehabt, dass er sich um solcherlei kümmerte. Sie war sich nicht einmal sicher, ob Dobengal sich jemals damit abgegeben hatte, Lesen und Schreiben zu lernen. Für die Ausübung seiner Pflichten war er ja nicht zwangsläufig darauf angewiesen. Auch Rufus sah seinen Kameraden mit hochgezogenen Augenbrauen an. Anscheinend war das selbst für ihn eine Überraschung.

Mysdroy verzog mürrisch das Gesicht. „Woher kennst du die Worte der Kaiserin?“

„Von einer Freundin. Aus einer vergangenen Zeit…“ Der Assassine zuckte mit den Schultern. „Erzähl’ weiter, Mysdroy.“

Die respektlose Anrede gefiel dem Exceed offensichtlich nicht im Geringsten. Er brummte unwillig und richtete dann seinen Blick auf Levy.

„Ihre Fürstliche Hoheit ist in der Schlacht einem der Dämonen von Tartaros begegnet. Gemeinsam mit Meister Dragneel und Meister Fullbuster ist es ihr gelungen, ihn nieder zu strecken. Vor seinem Ableben hat er seinen Namen genannt und den desjenigen, der anscheinend der Herr von Tartaros ist. Zusätzlich zu meinem Frontbericht trug Ihre Fürstliche Hoheit mir auf, Euch die Namen zu nennen, in der Hoffnung, dass Euch das bei Euren Recherchen dienlich sein wird.“

Levy nickte fahrig und trat an den Tisch, um ihr Notizbuch aufzuklappen und nach einem der Kohlenstückchen zu greifen, die für Markierungen auf der Karte in einer kleinen Schale bereit lagen.

„Wie lauten die Namen?“

„Der Besiegte hieß Franmalth. Er bezeichnete sich selbst als einen der Niedrigsten in den Reihen von Tartaros.“

Eilig aber ordentlich schrieb Levy den Namen neben die kurze Liste der Namen, die sie bisher gefunden hatte. Er war ihr im Zusammenhang mit Tartaros neu, aber sie hatte in einer Abhandlung über Zyklopen etwas über ihn gelesen. Dieser Dämonenstamm hatte sich lange Zeit im Südwesten Fiores herum getrieben und immer wieder Dörfer überfallen, bis er eines Tages, wie vom Erdboden verschluckt, verschwunden war. Gut möglich, dass das genau zur selben Zeit geschehen war, in der auch Tartaros von der Bildfläche verschwunden war, aber das war jetzt wohl nicht mehr relevant.

„Und der andere?“, fragte Levy und strich sich nervös eine Haarsträhne zurück.

„Der Herr von Tartaros heißt diesem Franmalth zufolge Mard Geer.“

Heftig zuckte sie zusammen und machte versehentlich einen fetten Strich durch ihre Namensliste.

„Levy, was ist los?“, fragte Juvia und legte ihr behutsam eine Hand auf die Schulter.

Die Magistra zwang sich, tief durchzuatmen. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Nach allem, was sie in den letzten Tagen bereits erlebt und erfahren hatte, hätte sie nicht für möglich gehalten, dass es noch etwas gab, was sie derartig schocken konnte, aber das…

„Levy, Ihr kennt den Namen, nicht wahr?“, fragte Rufus ruhig.

Zaghaft nickte sie zur Antwort. Ein schier übermächtiges Zittern erfasste ihren Körper.

„Stecken wir in der Klemme?“, mischte Dobengal sich mit immer noch unbewegter Miene ein.

„Ich… ich weiß nicht, ob es die Dinge tatsächlich schlimmer macht, aber Lucy muss davon erfahren“, krächzte Levy und legte das Kohlestück beiseite, um ihre Hände aneinander zu reiben. „Das ist… monströs…“

„Inwiefern?“ Rufus’ Stirn legte sich in nachdenkliche Falten.

„Mard Geer ist eine der zentralen Gestalten, wenn man die Geschichte der Geister studiert“, erklärte Levy leise und senkte den Blick zu Boden, damit keiner der Anwesenden die Tränen der Angst in ihren Augen schimmern sah. „Er ist der Große Verräter, der Todfeind aller Geister. Wenn ein Geist sich eines schweren Verbrechens schuldig gemacht hat, ereilt ihn der Fluch des Mard Geer…“

„Klingt, als wären die Geister ganz schön nachtragend“, stellte Dobengal trocken fest.

Levy schüttelte schwach den Kopf. Nur mit äußerster Mühe widerstand sie dem Drang, sich über die Augen zu wischen. „Ich kann es nicht richtig erklären. Das ist für Geister ein wahnsinnig heikles Thema. Mard Geer hat den Bruderkrieg beendet und die Geister von einer machtvollen, blühenden Hochkultur in ein Volk der Versklavten und Gejagten verwandelt. Seinetwegen sieht das Kargland heute so aus.“

„Oha, der war ja ganz schön beschäftigt.“

Seiner trockenen Worte zum Trotz wirkte sogar Dobengal beunruhigt. Mysdroys Fell war gesträubt und Juvia zitterte neben Levy.

„Was hat er getan?“, fragte Rufus mit gedämpfter Stimme. „Und was bedeutet das für den Krieg?“

Bevor Levy antworten konnte, erklangen am Ende des Flures laute Proteste, ehe drei Exceed in den Beratungsraum geflogen kamen. Happy, Lector und Frosch sahen reichlich müde aus, aber Levy atmete erleichtert aus. Hastig wischte sie sich nun doch über die Augen und eilte den Exceed entgegen.

„Happy, Lector, Frosch! Wir brauchen eure Hilfe! Ihr müsst zu Zirkonis’ Höhle fliegen und Lucy warnen!“

„Aye, ist Lucy in Gefahr?“, fragte Happy sofort sorgenvoll.

„Ja, nein… ich weiß es nicht!“

Levy traten noch mehr Tränen in die Augen. In was war sie bloß hinein geraten? Sie sollte jetzt in Crocus an ihrer Doktorarbeit sitzen. Sie sollte nicht hier sein und solche Fragen beantworten müssen!

Zierliche Hände auf ihren Schultern ließen sie den Blick heben. Juvia stand hinter ihr und nickte ihr aufmunternd zu. „Juvia vertraut deinem Urteil. Lucy sollte gewarnt werden, wer der Feind ist.“

„Wenn jetzt die Geister so stark involviert sind, ist das wohl tatsächlich besser“, ließ sich auch Rufus vernehmen. „Herrin Heartfilia wird gewiss beurteilen können, was zu tun ist. Außerdem sollten wir ihr und den Klauen Eure gesammelten Informationen über die Dämonenbruthöhlen zukommen lassen.“

Dieser vermaledeite Krieg war Levy so furchtbar egal! Alles, woran sie denken konnte, war, dass ihre beste Freundin wahrscheinlich schon wieder in Lebensgefahr schwebte…

Aber sie schluckte alle Klagen herunter und nickte nur matt, ehe sie zu den drei jungen Exceed blickte. „Sagt Lucy, dass der Feind vom Königsmörder angeführt wird…“
 

Während eines Einführungskurses in die Dämonologie hatte Lucy sich auch mit Wolfsdämonen beschäftigt. Das Bild, das ihr dabei vorgelegt worden war, war sehr negativ belastet, wenngleich kein noch so scharfer Wolfshetzer es jemals zu leugnen vermocht hätte, dass die Wolfsdämonen sich seit jeher aus den großen Konflikten in Fiores Geschichte heraus gehalten hatte. Heroische Gestalten aus ihren Reihen wie den Extalia-Kriegshelden General Wolfheim versuchten die Wolfshetzer meistens zu ignorieren.

Die neutralen oder gar positiven Darstellungen der Wolfsdämonen waren selbst in den schier unendlichen Weiten der Universitätsbibliothek von Crocus rar gesät. Ebenso die ernsthaften wissenschaftlichen Abhandlungen. Dementsprechend lückenhaft waren die Fakten, die Lucy in dem Einführungskurs präsentiert bekommen hatte.

Was Lucy jedoch auf dieser dürftigen Wissensgrundlage beim Anblick der Wolfsdämonen erkennen konnte, war eindeutig: Sie hatten es mit einem unterworfenem Pack zu tun. Wenn Wolfsdämonen überhaupt in ausreichend großer Zahl zusammen fanden, um ein Rudel zu bilden, besaßen sie ein starkes Gruppengefüge und stimmten sich in allen Situationen auf- und miteinander ab. Doch diese Dämonen hier taten dies nicht einmal ansatzweise. Sie drängten einander immer wieder ab, um an ihre Beute heran zu kommen, zuweilen schnappten sie sogar nacheinander.

Dennoch waren sie eine kaum zu unterschätzende Gefahr. Mit ihren fingerlangen Krallen könnten sie mühelos die leichten ledernen Brustharnische durchdringen, die Lucy und ihre Freunde unter ihren Tuniken trugen, und allein ein Schlag ihrer Pranken genügte wahrscheinlich, um einen menschlichen Brustkorb zu zerschmettern. Wie gut, dass Lucy von Meister Capricorn immer darauf gedrillt worden war, in ihren Kämpfen auf Schnelligkeit und Wendigkeit zu setzen.

Und wie gut, dass sie zwei kampferprobte Krieger hatte, die ihre Flanken deckten. Viel konnte Lucy nicht von den Manövern der Beiden beobachten, weil sie sich auf ihre eigenen Gegner konzentrieren musste, aber Stings Säbel schien am Rande ihres Blickfelds regelrecht durch die Luft zu tanzen, schnell und kraftvoll und wild, wobei Sting Sprünge und Drehungen vollzog, die man bei einem Mann mit menschlichen Gelenken kaum für möglich halten sollte. Und Rogues schlanke, lange Bosco-Klinge glitt geschmeidig und fließend durch die Luft, als galten für sie andere Zeitgesetze. Rogue schien immer zehn Züge voraus zu denken, war die Ruhe selbst.

Die beiden Drachenreiter waren tatsächlich wie Licht und Schatten, aber sie ergänzten einander gerade dadurch perfekt. Sie waren es gewohnt, Seite an Seite zu kämpfen. Mehr noch, es schien in ihrer Natur zu liegen. Ihre Attacken waren zugleich die Verteidigung für den jeweils Anderen und sie banden Lucy vollkommen mühelos in ihre Choreographie ein, schützten sie und vertrauten ihr ihre Flanken an.

Lucy fühlte sich beflügelt und kämpfte so gut wie selten zuvor. Es erinnerte sie an die Zeit, als sie ebenso gut synchronisiert mit Loke hatte kämpfen können. Loke war zwar der Stärkere von ihnen Beiden, aber er hatte einmal halb im Scherz gesagt, dass das Sonnenschwert und die Sternenklinge nur gemeinsam zu wahrer Meisterschaft gelangen könnten.

Lucy verdrängte die Gedanken an ihren Schild und Schwert und konzentrierte sich auf den Kampf. Indem sie zurück wich, lockte sie einen geifernden Wolfsdämon mit verfilztem, dreckigbraunem Pelz zu sich. Er riss das gewaltige Maul auf, um nach ihr zu schnappen, und sie sprang vor, den Rapier nach vorn stoßend. Die Klinge drang in das Maul des Dämons vor und schließlich bis ins Hirn. Der stinkende Körper zuckte einmal, dann erschlaffte er.

Hastig zog Lucy ihren Rapier zurück, doch einer der mächtigen Reißzähne riss ihren Ärmel auf, durchdrang den ledernen Armschutz darunter und ritzte die Haut über die gesamte Länge des Unterarms auf. Lucy zischte leise, doch sie zwang sich, nicht auf die Wunde zu blicken, und wandte sich schräg nach rechts, wo zwei Wolfsdämonen Stings Flanke bedrohten.

Als einer vor dem Schwung von Stings Säbel davon weichen musste und dann gleich zu einem neuerlichen Angriff aus seiner Hockstellung heraus ansetzte, schlug Lucy mit ihrer Waffe gegen seinen Kopf und durchschnitt dabei sein Ohr. Das lenkte das Untier lange genug ab, damit Sting mit seinem Säbel über seine Kehle fahren und ihn dann gegen seinen Artgenossen stoßen konnte. Das wiederum ermöglichte es Lucy, ihren Rapier ins Auge des zweiten Wolfsdämonen zu treiben. Bevor ihre Klinge bis ins Hirn des Gegners vordringen konnte, wich dieser zurück, aber Sting setzte ihm nach und schlitzte auch seine Kehle auf.

Rogues knapper Warnruf veranlasste Lucy und Sting, sich zu ducken und so dem weit ausholenden Schwerthieb des Schattenmagiers zu entgehen, der einen weiteren Wolfsdämonen köpfte.

Noch ehe Lucy sich aufrichten konnte, bemerkte sie einen weiteren Dämon, der auf Rogue zusprang. Ganz unwillkürlich platzte ein Ruf aus ihr heraus. Mitten im Sprung erstarrte der Angreifer und stieß ein irritiertes Winseln aus. Dieses Zögern gab Rogue genug Zeit, herum zu wirbeln und mit einem weiteren machtvollen Schwung seiner Bosco-Klinge auch diesen Dämon zu enthaupten.

Mit einem dumpfen Laut fielen Kopf und Rumpf des Wesens zu Boden und es trat eine eigentümliche Ruhe auf dem Schlachtfeld ein. Schwer schluckend richtete Lucy sich auf und begutachtete die sieben Dämonen, die ihr und ihren Begleitern zugesetzt hatten. Auch wenn es Dämonen waren, auch wenn sie Lucy hatten ermorden wollen, auch wenn sie Kriegsgegner waren – es war und blieb das erste Mal, dass Lucy getötet hatte. Es war kein Vergnügen, Lucy fühlte sich nicht gut dabei. Aber sie rief sich selbst in Erinnerung, dass es notwendig war.

„Was war das gerade?“, fragte Sting neugierig in die entstandene Stille hinein. Er klang beinahe unbeschwert, aber die Tatsache, dass ihre Kampfgefährten ihre Waffen nicht weg steckten, verriet Lucy, dass es noch nicht vorbei war. „Was hast du da gerufen?“

„Fluch“, antwortete Lucy, froh um die Ablenkung, auch wenn es sie gleichzeitig in Verlegenheit stürzte. „Die Sprache der Dämonen. Ein paar der Wörter sind als Schimpfwörter in die Geistzunge eingeflossen. Ich habe darauf spekuliert, dass es den Dämon lange genug irritiert, damit Rogue ihn töten kann.“

„Danke, das hätte ansonsten übel ausgehen können“, erklärte Rogue und deutete fragend auf Lucys verletzten Unterarm.

Sie wechselte ihren Rapier in die linke Hand und zog ihren Handschuh aus, um Rogue den verletzten Arm hinzuhalten. Behutsam rollte er ihren Ärmel hoch und löste die Schnalle ihrer Armschiene, ehe er die Wunde begutachtete. Zweifelsohne erkannte er auch, dass das genäht werden musste, aber hier und jetzt blieb nur die Zeit für einen Verband. Rogue öffnete eine seiner Gürteltaschen und holte einen sauberen Stoffstreifen daraus hervor, der zu einer gleichmäßigen Rolle gewickelt worden war. Mit routinierten Bewegungen, die Lucy viel über Stings Abenteuerlust verriet, legte Rogue zuerst einen dickeren Stoffstreifen auf den Schnitt, ehe er den Verband um den Arm wickelte.

„Es gibt in Geistzunge Schimpfwörter?“, staunte Sting. „Die Geister wirkten auf mich immer so formell und höflich…“

„Sag’ ruhig langweilig und spießig, wenn du das meinst“, schmunzelte Lucy und sie konnte erkennen, wie Rogues Mundwinkel kurz zuckten, während er das Ende des Verbands einriss, um einen sicheren Knoten zu binden.

Der Wüstennomade grinste ertappt, sah jedoch nicht im Geringsten reumütig aus. Lucy kicherte. Oh, sie wüsste da etwas, womit sie Stings Meinung über die Geister grundlegend ändern könnte, aber das behielt sie schön in der Hinterhand…

„Und was hast du eben in Fluch gesagt? Der Dämon sah aus, als hätte ihn der Blitz getroffen.“

„Es lässt sich nur schwer übersetzen“, wich Lucy aus.

„Das macht erst recht neugierig!“

Rogue schnaufte leise und schnallte den Armschutz wieder über Lucys Verband.

„Erzähl’ schon, Lucy!“

Verlegen kratzte die Blonde sich die Nase. „Es geht um eine… sehr geringe Ausstattung… die ein Weibchen nicht einmal riechen könnte…“

Lachend schlug Sting ihr auf die Schulter. „Ich hätte nicht gedacht, dass eine Grünländer-Prinzessin so unartige Wörter kennt!“

„Die habe ich von Gemini und Scorpio gelernt“, nuschelte Lucy. „Als ich den Fluch mal in Vaters Gegenwart benutzt habe, als mir ein Missgeschick passiert ist, war er geschockt.“

Während Sting noch in sich hinein lachte, bemerkte Lucy Rogues aufmerksamen Blick. Für einen Moment war sie verwirrt, bis sie begriff, dass sie gerade vollkommen unbeschwert von ihren Vater gesprochen hatte. Als wäre es schon normal, über ihn zu reden, der doch erst vor einem Mond von ihr gegangen war…

Musste sie sich deswegen schlecht fühlen? Unsicher senkte sie den Blick auf den Rapier, den sie nun wieder in der rechten Hand hielt. Ihr Vater würde wollen, dass sie weiter machte und glücklich wurde. Und hatte sie nicht zu den Sternen gesprochen, dass ihr Vater sehen sollte, wie sehr sie ihn liebte und in Ehren hielt? Es war kein Vergehen, mit Sting und Rogue darüber zu reden – es war ein Fortschritt!

Als sie den Blick wieder hob, hatte Rogue eine Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen. Sie schenkte ihm ein Lächeln und schüttelte sachte den Kopf – und er antwortete mit einem erleichterten Nicken.

Ehe einer von ihnen jedoch noch etwas dazu sagen konnte, warf Sting sie auf einmal Beide zu Boden. Etwas Großes sprang über sie hinweg auf Sting zu, der seinen Säbel hochriss und gleichzeitig in seiner Linken eine Kugel aus Lichtmagie entstehen ließ, um sie dem Angreifer in die Brust zu drücken. Doch der wich im letzten Moment aus und ging auf Abstand. Die tollwütige Blindheit der anderen Wolfsdämonen galt offensichtlich nicht für ihn.

Dieser Wolf war fast doppelt so groß wie Sting – was besonders deshalb auffiel, weil er anders als die anderen Wolfsdämonen nicht auf allen Vieren stand, sondern nur auf den Hinterläufen – und besaß noch annähernd menschliche Gesichtszüge. Sein Pelz war gelbbraun und wilder und dichter als bei den anderen Dämonen, erinnerte beinahe an eine Löwenmähne. Seine Augen waren klar und voller Tücke und Grausamkeit. Der Leitwolf! Er hatte das Pack unterworfen, mit dem Lucy und die beiden Drachenreiter bisher gekämpft hatten!

Lucy wollte sich aufrappeln, doch dieses Mal warf Rogue sie zu Boden und riss seine Rechte hoch, in der sich eine Kugel aus Schatten manifestiert hatte. Er drückte sie einem anderen angreifenden Wolfsdämonen direkt ins Gesicht, von dem daraufhin nichts mehr übrig blieb. Im letzten Augenblick rollte Lucy sich weg, ehe der massige, stinkende, nun kopflose Körper auf sie fallen konnte.

Jetzt endlich schaffte sie es wieder auf die Beine und gewann einen Überblick über die Situation: Sting kämpfte mit Säbel- und Lichtattacken gegen den Leitwolf und ein halbes Dutzend niederer Wolfsdämonen umstellte sie und Rogue.

Sie bemerkte, wie Rogue die Lippen zusammen presste und die Augen verengte. Auch ihr war nicht wohl dabei, dass Sting alleine gegen den Leitwolf kämpfen musste, denn es war offensichtlich, um wie vieles stärker und klüger dieser im Vergleich zu den anderen Wolfsdämonen war. Er setzte Sting mit einem Stakkato aus blitzschnellen Angriffen zu, die immer wieder ganz andere Körperbereiche zum Ziel hatten. Zwar war Sting dem Dämon in Sachen Schnelligkeit und Wendigkeit immer noch um einiges voraus, aber ein einziger Treffer würde genügen und es könnte alles ganz anders aussehen – und es ließ sich nicht übersehen, dass Sting nicht dazu kam, anzugreifen. Nach mehreren Paraden mit dem Säbel ließ er sogar davon ab, die Angriffe abzuwehren und wich nur noch aus.

Sting brauchte Rogues Hilfe. Gemeinsam könnten die Klauen den Leitwolf besiegen, da war Lucy sich sicher. Doch Rogue konnte sich nicht alleine durch sechs blutrünstige Wolfsdämonen kämpfen. Nicht wenn er gleichzeitig Lucy Deckung geben musste.

Während sie den Angriffen der Dämonen auswich und es schaffte, einem von ihnen einen Schnitt am Hals zuzufügen, dachte Lucy fieberhaft nach. Allmählich machte sich bei ihr die Erschöpfung bemerkbar. Sie reagierte langsamer auf die Angriffe und es fiel ihr schwerer, ihre Waffe zu heben, zumal ihr Arm schmerzhaft pochte. Unter der Armschiene drang ein Blutrinnsal hervor und sickerte durch den Ärmel von Lucys Tunika. Lange würde sie nicht mehr durchhalten, das wurde Lucy bitter bewusst. Während ihrer Zeit in Crocus hatte sie ihre Schwertkampfübungen nicht in derselben Intensität verfolgt wie zuvor in Heartfilia und sowieso: Gegen eine solche Art von Gegner hatte sie nie kämpfen gelernt.

„Duck’ dich“, hörte sie Rogue hinter sich murmeln.

Und sie dachte gar nicht darüber nach, sie ging einfach sofort in die Hocke. Über sich spürte sie einen Wirbel – oder doch etwas Solides? Sie konnte es nicht beschreiben, aber es sorgte dafür, dass ihre Nackenhaare sich aufrichteten. Als sie den Blick hob, erkannte sie einen Strahl aus Schatten. Er zerfetzte die beiden Wolfsdämonen, denen Lucy sich mit Mühe und Not gestellt hatte. Dieser Strahl kam direkt aus Rogues Mund, der wie für einen Schrei weit aufgerissen war.

Magier – zumindest die vernunftbegabten unter ihnen – machten von ihrer Magie nur selten Gebrauch. Zu viel Kraft erforderte es und auch zu viel Konzentration. Deshalb konnte es ohne Weiteres vorkommen, dass ein Fiorianer in seinem Leben nie dem Wirken von Magie beiwohnte. Wenn man in Heartfilia aufwuchs, war das anders. Magie gehörte zur zweiten Natur eines Geistes – schon als Kinder erlernten sie die Kontrolle darüber spielerisch. Lucy kannte Magie also sehr gut und in allen möglichen Spielformen. Als Abkömmlinge der Heiligen waren Loke und Aquarius sogar sehr starke Magieanwender. Aber das hier war viel stärker, viel reißerischer. Es war Drachenmagie, uralt und mysteriös und überwältigend!

Wie gebannt beobachtete Lucy den Wirbel aus Schatten und wie er einem nach dem anderen den Wolfsdämonen den Garaus machte. So gefangen war sie von diesem Anblick, dass sie sogar vergaß, wo sie war und in welcher Gefahr sie schwebte.

Als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung bemerkte, reagierte sie rein instinktiv. Sie rutschte in einer fließenden Bewegung zu Rogue, richtete sich hinter ihm auf, den Rapier nach oben ziehend. Die Klinge fuhr beinahe wirkungslos über die Brust des Dämons, doch an der Kehle glitt sie tief ins Fleisch. Am Unterkiefer veränderte Lucy den Winkel und trieb die Klinge von unten in den Kopf des Dämons. Sie konnte sehen, wie das Leben in seinen Augen erlosch, doch der Körper wurde vom Schwung weiter getragen und krachte gegen Lucy, um sie unter sich zu begraben.

Benommen und zu erschöpft, um den schweren Körper alleine zu bewegen, blieb Lucy liegen. Erst jetzt hörte sie wieder die Geräusche von Stings Kampf mit dem Leitwolf. Von Rogue hörte sie nichts und sie bekam es schon mit der Angst zu tun, aber da wurde der Kadaver von ihr herunter gerollt und Rogue bot ihr eine Hand an. Sein Gesicht war bleicher, aber er hielt Lucy sicher fest, bis sie wieder auf ihren eigenen Beinen stand.

Lucy ließ den Blick schweifen. Alle Wolfsdämonen waren tot bis auf dem Leitwolf, der Sting noch immer bedrängte. Stings linke Augenbraue und Wange waren aufgeschürft und das Blut rann den Hals hinab und wurde vom Stoff der Tunika aufgesogen. Ansonsten schien Sting unverletzt zu sein, auch wenn die Anzeichen seiner Erschöpfung offensichtlich waren.

Als Rogue sich in Bewegung setzte, zögerte Lucy nicht lange. Sie wusste ganz genau, dass sie gegen diesen höhlengebundenen Dämon – denn das musste er sein – nicht bestehen konnte, aber sie positionierte sich dennoch direkt hinter ihm, während Sting und Rogue nun gemeinsam gegen ihn vorgingen. Mit der Unterstützung seines Partners kam Sting zwar aus der Defensive heraus, aber die Drachenreiter hatten sich bereits über gebühr verausgabt, während ihr Gegner unerschöpflich zu sein schien. Er ließ ihnen kaum eine Gelegenheit, sich lange genug auf ihre Magie zu konzentrieren.

„Dämon!“, rief Lucy einer Eingebung folgend in Geistzunge. „Wir haben eine Rechnung zu begleichen!“

Langsam drehte der Leitwolf sich um und fletschte die Zähne. „Du stinkst nach Geistern, Frau“, grollte er in Fiore. „Bist du ein Mischling?“

„Ich bin eine, die Gerechtigkeit fordert“, erwiderte Lucy und hob ihren Rapier mit dem Wappen ihres Hauses.

„Gerechtigkeit für einen König, den niemand mehr kennt?“ Ein höhnisches Grinsen verzerrte die Gesichtszüge des Dämons noch mehr. „Wir wissen, wie viel Zeit seit damals vergangen und dass die Macht der Geister gebrochen ist.“

„Das ist sie nicht, solange noch ein einziger Geist um sein Leben kämpft – und es gibt viele, die das tun!“

Während sie sprach, blickte Lucy dem Dämon unverwandt ins Gesicht und zwang sich, nicht in Stings und Rogues Richtung zu schielen, ja, nicht einmal an die Beiden zu denken.

Der Blick des Leitwolfs glitt wieder zu Lucys Rapier. „Du bist die Geisterfürstin. Der armselige Ersatz für den König.“

„Niemand ersetzt den König“, erwiderte Lucy leidenschaftlich und hob herausfordernd ihre Waffe. „Ich bin Lucy Heartfilia, Nachfahrin von Anna Heartfilia.“

Geringschätzig fletschte der Dämon wieder die Zähne, ehe er sich spöttisch verbeugte. „Ich bin Tempesta, der Wolf von Tartaros.“

Bei seinen letzten Worten sprang er vor und streckte die gefährlich funkelnden Klauen nach Lucy aus. Die spürte nur, wie sich die feinen Haare in ihrem Nacken sträubten, und ohne es richtig zu begreifen, ließ Lucy sich einfach zu Boden fallen. Einen Herzschlag später wurde Tempesta von zwei Magielanzen getroffen, eine aus Licht, eine aus Schatten. Dieser geballten Macht konnte der Dämon nichts entgegen setzen. Von ihrer liegenden Position aus konnte Lucy sehen, wie der Oberkörper des Leitwolfs innerhalb weniger Herzschläge zerfetzt wurde. Doch selbst als ihn das Ende ereilte, vermeinte sie sie, in seinen Augen ein letztes Mal pure Mordlust auffunkeln zu sehen – und für einen Moment hatte sie das Gefühl, in andere Augen mit demselben Ausdruck zu blicken, menschliche Augen voller Hass, die ihr vage bekannt vorkamen…

Als die Magie verebbte, verging das Trugbild vor Lucys Augen. Mühsam stemmte sie sich in die Höhe, sank jedoch sofort wieder in die Knie zurück. Ihre Beine waren zu schwach, um noch ihr Gewicht halten zu können. Blinzelnd blickte sie zu ihren Freunden hinüber. Schwer atmend und zitternd standen Sting und Rogue da. So mächtig die Magie der Drachenreiter auch war, sie forderte offensichtlich ihren Tribut. Als die Beiden nebeneinander zu Boden sackten, krabbelte Lucy langsam zu ihnen.

„Das war leichtsinnig“, schalt Rogue sie heiser und schüttelte matt den Kopf.

„Ihr brauchtet Zeit“, erwiderte Lucy mit einem müden Lächeln.

„Es wäre beinahe zu spät gewesen“, krächzte auch Sting.

„Aber nur beinahe.“

„Das hast du aber unmöglich wissen können, dass wir rechtzeitig angreifen können.“

„Doch…“

Langsam kroch Lucy noch näher und legte einen Arm um Rogue und einen um Sting. Ihr Körper erschlaffte endgültig und ihr schwanden die Sinne. Die letzten Worte, die sie zustande brachte, ehe sie das Bewusstsein verlor, waren kaum mehr als ein schwaches Nuscheln, aber daran, wie Sting und Rogue ihre Umarmung erwiderten, spürte sie, dass sie verstanden.

„Irgendwie wusste ich es…“

Die Straßen, die leer waren

Jadestadt war eine Planstadt. Die erste der wenigen in Fiore, die Lyon betrat, und die berühmteste. Selbst für ihn, der sich nicht einmal ansatzweise so umfangreich mit der fiorianischen Geschichte beschäftigt hatte wie Lucy und Levy, war die Gründungsgeschichte des südlichsten Fürstentums wohlbekannt.

Im Vergleich zu den anderen Fürstentümern Fiores war Jadestadt blutjung, gerade einmal ein Jahrhundert alt. Damals hatte ein gewitzter Bergbaumeister hier unter der schlichten Sandsteinschicht einer größeren Felsinsel eine Ader mit grünem Marmor gefunden – ein Novum in der Welt der Steinmetze, das sich sofort größter Beliebtheit in Fiores Fürstentümern erfreut hatte. Der Meister hatte ihn Jademarmor genannt und von der Unsterblichen Kaiserin die Genehmigung für eine neue Stadtgründung rund um den Steinbruch mit dem kostbaren Gestein erhalten, die den Kern eines neuen Fürstentums darstellen sollte, das den westlichen Teil der Stillen Wüste vor Boscos damals so gierigen Ambitionen schützen sollte.

Und es war eine Bergbaustadt eines völlig neuen Typs entstanden. Alles war von Anfang an einer Planung unterworfen worden, die erst eine Generation nach dem Tod des Meisters vollendet worden war: Eine Stadt, die so wehrhaft wie Crocus oder Sabertooth war und in jedweden Belangen für das Wohl ihrer Bewohner sorgte, auf deren harter Arbeit der immense Reichtum der Stadt fußte.

Die Straßen waren hier schnurgerade und eindeutig nach einem Raster angelegt, die Gebäude ihnen angepasst, nicht umgekehrt, wie es sonst für Städte üblich war, die im Verlauf der Geschichte heran gewachsen waren. Die Gebäude waren allesamt aus Sandstein, die Dächer mit Tonziegeln bedeckt. Holzbauten sah man hier nirgends. Es gab Latrinenhäuser, die größer und solider waren als so manches Wohngebäude in Crocus. Selbst die verwaisten Marktstände entlang der Straße, auf denen nun Früchte, Fleisch und Gebäck verdarben, waren aus Stein errichtet.

Das alles hätte einen lieblosen, militärisch anmutenden Eindruck gemacht, doch die Bewohner hatten den Gebäuden ihren eigenen Charme verliehen. Eingemeißelte Namensplaketten und Verzierungen über oder neben den Türen und Fenstern, bunte Sonnensegel, Werbeschilder, Blumenkästen auf den Fensterbrettern, kindliche, gelegentlich auch mal wirklich künstlerische Malereien an den Wänden… Das hier war eine lebendige, fröhliche Stadt mit Bewohnern, die stolz auf ihre Heimat waren.

Oder sie war es zumindest gewesen.

Sein dem gestrigen Nachmittag war Lyon mit Meredy in der verlassenen Stadt unterwegs. Sie hatten sich von der Mauer aus langsam durch die Straßen gearbeitet, aber bei Anbruch der Nacht hatten sie sich in ein Stofflager zurückgezogen, um sich auszuruhen, aber obwohl sie abwechselnd Wache gehalten hatten, hatte keiner von ihnen sich erholen können und sie waren noch vor der Morgendämmerung wieder aufgebrochen.

Während er Meredy nun von Schatten zu Schatten folgte, erschauderte Lyon immer wieder beim Anblick der verwaisten Straßen. Karren standen herrenlos mitten im Weg, die Auslagen einiger Stände waren achtlos herunter gestoßen worden. Alles sah ganz so aus, als wäre es in einem Moment noch völlig normal verwendet und dann einfach vergessen worden, sogar Geld und kleine Waffen, wie Privatleute sie oft zum Schutz trugen, lagen unbeachtet auf dem Boden herum.

Aus den Latrinenhäusern stank es entsetzlich, wohl weil sie seit Einnahme der Stadt nicht mehr gespült worden waren. Aus einem langgestreckten Stallgebäude drangen der Geruch von Verwesung und das müde Ächzen verhungernder Tiere. Das Summen der unzähligen Fliegen und das Krächzen der verschiedenen Vögel, die sich am verderbenden Essen der Menschen gütlich taten, waren in der Totenstille beinahe Ohren betäubend.

Von den gut siebentausend Einwohnern der Stadt fanden sie zunächst keine Spur, aber Meredy ging äußerst akribisch und vorsichtig vor. Sie durchsuchten jedes einzelne Gebäude und waren dabei um völlige Lautlosigkeit bemüht. Irgendwie schaffte Meredy es dabei immer wieder, offene Wege zu vermeiden, selbst wenn sie auf die andere Straßenseite mussten.

Meredy war die geborene Assassine und Lyon fragte sich unwillkürlich, warum ihm das früher nie aufgefallen war, selbst als sie ihm ihre wahre Aufgabe verraten hatte. Das gehörte wohl zu einem guten Assassinen dazu, dass man ihm eben das nicht zutraute. Ob im Kreis ihrer Freunde, bei den Manöverübungen der Armee oder bei offiziellen Anlässen bei Hofe, Meredy passte sich den jeweiligen Gegebenheiten mühelos an.

Früher hätte Lyon deswegen wohl gezweifelt, ob er die echte Meredy überhaupt kannte, aber heute erinnerte er sich nur zu gut an den Schmerz in ihren Augen und das Zittern in ihrer Stimme, als sie ihm vom Verlust ihrer Heimat erzählt hatte. Er erinnerte sich an ihre Blicke und Berührungen, wenn sie alleine gewesen waren, an zitternde Finger in seinen... Nein, es gab keinen Grund, an Meredy zu zweifeln. Sie war eine Assassine, aber sie war auch die Frau, für die Lyon einen Eispilz bauen wollte…

In einer Schreinerwerkstatt suchten sie Schutz, um zu rasten, und Meredy zog einen Bogen Papier und ein Stück Kohle heran, um einen Grundriss von Jadestadt aufzuzeichnen. Sie hielt kein einziges Mal zum Nachdenken inne, als würde sie schon seit vielen Zyklen durch die hiesigen Straßen wandeln. Lyon ging jede Wette ein, dass seine Freundin genauso gut einen Plan von jeder anderen bedeutenden Stadt in Fiore zu Papier bringen könnte.

„Wir sind hier“, erklärte Meredy und deutete ohne Zögern auf einen Punkt in der südöstlichen Ecke der Stadt. Dann umkreiste sie ein Gebiet, das Lyon als jenes zu erkennen meinte, welches er und Meredy bisher durchsucht hatten. „Das hier ist vor allem ein reines Wohnviertel. Bei der Planung der Stadt hat man versucht, die Zivilisten von der Seite fernzuhalten, die Bosco zugewandt ist.“

„Das ergibt Sinn. Wenn die Zivilisten bei einer Evakuierung die Tore im Osten und Nordosten nehmen, bewegen sie sich direkt auf Sabertooth zu“, murmelte Lyon und war unwillkürlich beeindruckt von der vorausschauenden Bauweise der Stadt.

„Genau. Im Westen liegt die Kaserne mit allem, was dazu gehört. Mehrere Stallungen, Waffenlager, das Spital, die Zeughäuser, die Verwaltung…“ Während sie sprach, füllte Meredy die Karte weiter aus. Schließlich wanderte ihre Hand zum Norden der Stadt. „Nördlich der Stadt liegen mehrere Steinbrüche und Minen. Direkt im Nordviertel selbst liegt auch der Steinbruch für den Jademarmor. Deshalb beherbergt das Nordviertel lauter Werkstätten und Lager.“

„Um also möglichst viele der Einwohner an einem Ort fest zu halten, bieten sich die Lager oder die Kaserne an“, schlussfolgerte Lyon.

Wieder nickte Meredy, ehe sie fortfuhr. „Um die gesamte Stadt im Auge zu behalten, ist der Turm am besten geeignet.“ Sie deutete auf das Zentrum der Stadt. „Er ist groß genug. Von seiner Spitze aus sieht man sogar die boscanischen Hochebenen.“

Überrascht blickte Lyon von der Karte auf. „Du warst im Jadeturm?“

Die einzige Antwort war ein feines Lächeln, ehe Meredy mit ihren Ausführungen fortfuhr: „Wenn wir die wahrscheinlich gefangenen Stadtbewohner suchen, sollten wir erst ins West- und dann ins Nordviertel gehen. Wenn wir die Dämonen von Tartaros suchen, empfiehlt sich der Turm.“

Grübelnd blickte Lyon auf den Plan hinunter. Sie hatten hier die Wahl, ob sie vielleicht die Gefangene retten oder den Feind ausspionieren sollten. Beides barg seine eigenen Gefahren. Für den Kriegsverlauf waren die Informationen wichtiger – ein Gedanke, der Lyon absolut nicht behagte, der aber schlicht und einfach logisch war –, aber diese Informationen ließen sich unter Umständen auch durch die Befreiung der Gefangenen gewinnen.

„Davon ausgehend, dass sie ähnlich scharfe Sinne wie die Drachenreiter haben, könntest du dich vor Ohren und Nase eines Dämons verbergen?“, fragte Lyon.

„Ich hatte bisher keine Gelegenheit, es mit Dämonen oder Drachenreitern auszuprobieren, aber an Wachhunden komme ich immer problemlos vorbei, ohne dass sie sich rühren“, erwiderte Meredy und runzelte skeptisch die Stirn. „Aber das kann ich dir nicht so ohne Weiteres beibringen.“

„Für irgendetwas müssen die vielen Nächte, die du nicht bei mir warst, ja gut gewesen sein“, stellte Lyon trocken fest. Er war erleichtert, als über die Lippen seiner Freundin ein Lächeln huschte. Ob seiner eigenen Sorge und Trauer war es ihm nicht sofort aufgefallen, aber seit ihrer Entdeckung des zerstörten Dorfes war Meredy härter geworden und erinnerte ihn wieder mehr an jenes misstrauische Mädchen, das er vor so vielen Jahren am Kaiserlichen Hofe kennen gelernt hatte. Umso dankbarer war er für jedes aufrichtige Lächeln und Funkeln in den wunderschönen grünen Augen.

„Ich dachte daran, alleine weiter zur Kaserne zu gehen, während du zum Turm gehst“, erklärte er schließlich wieder ernst. Als er den Widerwillen durch Meredys Maske hindurch brechen sah, beeilte er sich, seine Gedanken zu erklären. „Ich kann dich im Turm nicht unterstützen, wir müssten uns so oder so trennen, damit die Mission ein Erfolg wird.“

„Warum bist du dann überhaupt mit hierher gekommen?“, warf sie ihm vor. „Du hättest bei Gray bleiben sollen!“

Vorsichtig beugte Lyon sich vor und legte eine Hand auf die makellose Wange seiner Freundin. Sie erzitterte unter der Berührung, kämpfte offensichtlich gegen ihre Ängste an. Ihre grünen Augen flackerten.

„Es war vielleicht nicht vernünftig, aber es war meine Entscheidung und ich würde sie immer wieder so fällen“, erklärte er flüsternd und strich mit dem Daumen über die weiche Haut. Für einen Moment spürte er, wie Meredys Kopf sich von ihm abwenden wollte, aber er versuchte nicht, sie daran zu hindern, sondern sprach weiter. „Ich bin kein Assassine, aber ich weiß, dass es gefährlicher wird, je länger wir hier bleiben, denn das hier ist momentan de facto Feindgebiet und wir wissen nicht, wie viele Dämonen sich hier aufhalten. Wir müssen hier möglichst bald wieder raus, aber nicht ohne die Informationen. Sonst war der Tod der Soldaten sinnlos. Wenn wir uns aufteilen, steigen unsere Chancen, an die Informationen zu kommen, und es geht obendrein schneller.“

Meredy rang noch immer mit sich, aber sie erhob keinen Einspruch mehr, senkte nur ergeben den Blick. Seufzend schob Lyon den Stadtplan beiseite, rutschte nach vorn und zog seine Freundin an sich. Sie gab ein schwaches Geräusch von sich und rieb ihre Wange an seiner Brust.

Am liebsten hätte Lyon sie nie wieder los gelassen. Am liebsten hätte er mit ihr einfach alles hinter sich gelassen: Ihre Erinnerungen an ihre Heimat, seine Verpflichtungen, diesen Krieg…

Aber er konnte es nicht und er wusste, dass Meredy es auch nicht konnte.

Also drückte er ihr einen Kuss ins Haar, ehe er sein Gesicht darin vergrub. „Wir kommen hier wieder raus. Wir schaffen das…“
 

„Warum hast du nichts gesagt?“

Müde blickte Gray zu Natsu auf. Die Miene des Drachenreiters war bitterernst, seit Gray ihm gestern stockend erzählt hatte, was mit der Heimat geschehen war, und auf merkwürdige Art und Weise fühlte Gray sich wirklich von ihm verstanden. Keine hohle Phrase hatte er von sich gegeben, nicht einmal einen mitleidigen oder gar verständnisvollen Blick aufgelegt. Um seine Lippen spielte ein bitterer Zug und sein Blick war hart wie Granit. Welche Erinnerungen mochten Grays Worte in ihm ausgelöst haben? Er war bisher immer so aufrichtig heiter gewesen, dass Gray nicht einmal auf die Idee gekommen war, Natsu könnte etwas mit sich herum schleppen.

„Du bist mit Lucy und den Anderen befreundet. Warum hast du keinem von ihnen etwas gesagt?“, präzisierte Natsu seine Frage.

Müde ließ Gray den Blick über das Lager schweifen, das sich noch immer hinter den Felsfingern befand, die unweit der Mauern von Jadestadt aus dem Sand ragten. Obwohl keine weiteren Angriffe auf die Stadt geplant waren, herrschte rege Betriebsamkeit. Mehrere Soldatengruppen brachen immer wieder auf, um die Toten vom Schlachtfeld zu bergen. In einiger Entfernung brannten bereits die ersten Leichenfeuer. Derweil wurden die Verletzten von den Feldärzten versorgt und ein nicht unerheblicher Teil der Soldaten hielt unentwegt Wache. Ausnahmslos jeder Mann und jede Frau hier war aufs äußerste angespannt, wartete auf irgendein Zeichen aus der Stadt oder von Minerva, welche das Treiben im Lager mit dem Blick eines Greifvogels begutachtete, der selbst aus fünfzig Mannslängen Höhe eine Maus entdecken konnte.

Keiner von ihnen kümmerte sich darum, dass Grays womöglich letzter lebender Verwandter in Jadestadt war. Außer Natsu wusste es wahrscheinlich niemand.

„Lucy hat um ihren Vater getrauert und Loke hat sich die ganze Zeit um sie gesorgt. Und Levy hat anscheinend ihr eigenes Päckchen zu tragen…“, erklärte Gray schließlich mit rauer Stimme.

Er schämte sich dafür, wie wenig er sich unter Kontrolle hatte, und er war Natsu für seine Umsicht dankbar, ihn zu einem weitgehend blickgeschützten Winkel des Lagers zu bringen. Es war schon schlimm genug, dass er vor Natsus Augen in Tränen ausgebrochen war.

Zum Glück waren die Tränen wieder versiegt, aber sonderlich beruhigt fühlte er sich nicht. Er hatte Angst um seinen Bruder, aber gleichzeitig war er unglaublich wütend auf ihn. So gut er Lyons Sorge um Meredy auch verstehen konnte, was hatte dieses Eishirn sich bloß dabei gedacht, ihr in eine von Dämonen besetzte Stadt zu folgen?! Wahrscheinlich gar nichts. Wie Gray seinen liebeskranken Bruder kannte, war der seinem Herzen gefolgt.

„Wir wollen die Verantwortlichen finden“, fuhr er leise fort, als Natsu ihn einfach nur abwartend ansah. Woher nahm der Drachenreiter diese Geduld? „Mein Vater und einige der anderen Eismenschen könnten noch leben. Wenn diejenigen, die sie gefangen halten, von unserer Suche erfahren…“

Gray blieben die Worte im Halse stecken. Hilflos rang er mit den Händen.

„Du kannst Lucy und den Anderen vertrauen“, sagte Natsu noch immer so erstaunlich ruhig.

„Aber ich kann sie nicht einfach so da mit hinein ziehen“, erwiderte Gray matt. „Das ist… Lucy ist Fürstin und Levy Magistra und…“

„Und wir hängen da alle bereits mit drin“, unterbrach Natsu ihn. „Oder glaubst du wirklich, dass unser Treffen in Malba Zufall war?“

Diese Schlussfolgerung hatte Meredy auch schon mal formuliert – dennoch war Gray wiederum erstaunt, dass ausgerechnet Natsu auch darauf gekommen war, und gleichzeitig hörte es sich bei dem Magnolianer irgendwie anders an. Als würde diese Gemeinsamkeit sie alle zusammen schweißen. Als ginge es hier um einen gemeinsamen Kampf oder etwas in der Art. Gray würde Natsu sogar zutrauen, dass er an Begriffe wie Schicksal dachte – und gleichzeitig auch wieder nicht. Natsu schien doch eigentlich eher der Menschenschlag zu sein, der sein Leben selbst in die Hand nahm.

„Ich werde dir helfen.“

Überrascht blickte Gray auf, als Natsu ihm die Faust entgegen streckte. Der Blick des Drachenreiters loderte mit einer Entschlossenheit und Kameradschaft, wie Gray sie bisher selten erfahren hatte. Was war Natsu für ein Mensch, dass er sich einfach so einer fremden Mission verschrieb?

„Wie stellst du dir das vor?“, formulierte Gray seine Zweifel. „Wie willst ausgerechnet du eine Spur finden? Das alles geht dich überhaupt nichts an. Das ist eine Sache der Eismenschen!“

Unbeirrt und vollkommen wortlos hielt Natsu ihm weiter die Faust hin und blickte ihm in die Augen. Gray musste schwer schlucken. Ob der Drachenreiter überhaupt wusste, wie bedeutsam diese Geste bei den Eismenschen war? Wahrscheinlich nicht. Natsu war laut und kindisch und impulsiv. Ganz anders als die Eismenschen. In vielen Dingen sogar das genaue Gegenteil. Aber etwas an ihm überzeugte Gray, dass er ihm vertrauen konnte. Natsu war ein Sonnenmensch, ein Fremder, aber er war auch ein Kamerad…

Langsam hob Gray seine Faust, zog sie wieder zurück, hob sie wieder… Er hatte nicht die geringste Ahnung, was für Vorstellungen Natsu davon hatte, ihm zu helfen, aber andererseits hatte er wohl nichts mehr zu verlieren und konnte sich genauso gut auf die wahrscheinlich eher unkonventionellen Methoden des Anderen einlassen.

Wieder hob Gray die Faust und schlug sie schließlich doch gegen Natsus. Und als der Drachenreiter ihn zufrieden angrinste, verspürte er einen Anflug von wohlig warmer Dankbarkeit.
 

Der Wolfsdämon war pechschwarz und deutlich größer als die zierlichen Vollblutpferde, auf welchen Wendy und die Anderen in Sabertooth geritten waren. Obwohl noch offensichtlich jugendlich schlaksig, war er bereits eine beeindruckende Gestalt und das Verhältnis seiner gewaltigen Pranken zum Rest des Körpers verriet, dass er noch nicht ausgewachsen war. Unter dem struppigen Fell ließen sich feste Muskeln erahnen. Aus den wirren Fransen zwischen den Ohren, die stark an die wilde Haarpracht des menschlichen Akis erinnerten, ragten zwei dicke, leicht gebogene Hörner, die gut und gerne eine halbe Armlänge maßen und ausgesprochen bedrohlich aussahen.

Ihm ruhte eine Kraft inne, die in gewisser Weise an einen Drachenartigen erinnerte. Ein sehr passender Vergleich, denn nach allem, was Wendy über Wolfsdämonen wusste, gehörte Aki zur Gattung der Königswölfe, den stärksten ihrer Art. Wendy wusste nur von einem weiteren lebenden Vertreter der Königswölfe und fragte sich, ob er mit Aki verwandt war – aber diese Frage war wahrscheinlich müßig, da niemand mehr wusste, wo sich General Wolfheim nun befand…

In dieser Wolfsform war es Aki ein Leichtes, sowohl Toraan als auch die immer noch bewusstlose Yukino auf dem Rücken zu tragen und mit den drei Sandschlitten Schritt zu halten. Wann immer Wendy zu dem Wolfsdämon blickte, sie hatte nie das Gefühl, dass er langsamer wurde. Er musste oft so unterwegs sein, wenn es ihm so leicht fiel.

Und Toraan schien es gewohnt zu sein, auf Akis Rücken zu reiten. Obwohl es holprig sein musste, schwankte sie nie, nahm nicht ein einziges Mal die zweite Hand zur Hilfe, um sich besser festhalten zu können. Sie hielt mühelos das Gleichgewicht und gleichzeitig das von Yukino.

Als Wendy den Blick von Aki löste und nach oben richtete, erkannte sie, dass die Sonne fast im Zenit stand. Bei ihrem Aufbruch von der Golemschlucht gestern früh hatten Aki und Toraan gesagt, dass sie es in etwa anderthalb Tagen zur Zuflucht schaffen konnten, wenn sie sich in der Nacht nur auf eine kurze Pause beschränkten. Darauf bedacht, dass ihre Wasservorräte beinahe erschöpft waren, hatten sie den Vorschlag angenommen.

Mittlerweile sollten sie in der Nähe der Zuflucht sein, überlegte Wendy, konzentrierte sich auf ihre Windmagie und nahm einen tiefen Atemzug.

Im selben Moment, da sie die Erkenntnis traf, jaulte Aki warnend auf und kam rutschend zum Halt. Toraan hielt Yukino nun mit beiden Händen fest und rutschte bedenklich nach vorn, konnte sich jedoch auf Akis Rücken halten. Wendy stellte das Segel ihres Sandschlittens abrupt gegen den Wind und kam einige Schritte von dem Wolfsdämon entfernt zum Stehen, Romeo und Gajeel schafften es beinahe genauso schnell.

„Was ist los?“, fragte Romeo alarmiert, während er vom Sandschlitten sprang, um die steifen Glieder auszuschütteln.

„Dämonen in der Zuflucht“, grollte Aki. In seiner Wolfsform klang er ungleich tiefer und bedrohlicher. „Blut. Viel Blut.“

„Gibt es noch Überlebende?“, fragte Romeo, eine Hand an seinem Kurzschwert.

„Sie kämpfen noch erbittert“, murmelte Wendy, während sie den entfernten Geräuschen lauschte. Sie zuckte zusammen, als sie das Weinen von Kindern hörte.

„Wie viele Dämonen sind es?“, fragte Gajeel. Seine Miene ließ nicht erkennen, ob er Anteil am Schicksal der Wüstennomaden nahm.

„Zwei fremde Gerüche“, knurrte Aki. Sein Blick huschte zu Toraan und er fletschte die Zähne. „Wasserdämon im Süden.“

Das Golem-Mädchen schluckte schwer. Seine Gesichtszüge verrieten, wie zerrissen es sich fühlte. Auch wenn es die Suche nach seinen Artgenossen nicht aufgegeben hatte, die Zuflucht war wohl am ehesten seine Heimat. Alle seine Instinkte warnten es vor der tödlichen Gefahr des Wassers, aber dennoch…

„Toraan, bleib’ mit Wendy hier und schütze Yukino“, mischte Romeo sich ein und streifte sein Reisebündel ab. „Wenn du merkst, dass wir es nicht schaffen, bring’ die Beiden so schnell wie möglich nach Sabertooth. Sie müssen dort Beschei-“

„Nein!“

Wendy war selbst am meisten über ihren scharfen Protest überrascht. Das Wort war ihr über die Lippen gekommen, ohne dass sie darüber nachgedacht hatte. Doch als sie jetzt die verblüfften Mienen der Anderen sah, straffte sie die Schultern. Sie würde nicht weglaufen, wenn Romeo sich in den Kampf warf!

„Dort sind Verletzte, denen ich vielleicht noch helfen kann“, sagte sie laut und deutete in Richtung der Zuflucht. „Ich komme mit!“

Das Entsetzen, das bei ihren Worten über Romeos Züge zuckte, presste ihr das Herz zusammen. Er wollte sie nicht in einem Kampf auf Leben und Tod dabei haben, wurde ihr voller Pein bewusst. Hatte er so wenig Vertrauen in die Fähigkeiten, die er sich über Jahre hinweg angeeignet hatte, um sie zu beschützen? Oder hielt er Wendy für so schwach? Empfand er sie womöglich sogar als Ballast?

„Deine Entscheidung“, brummte Gajeel und legte sein eigenes Reisebündel neben Toraan ab, um die muskulösen Schultern kreisen zu lassen, damit sie für den bevorstehenden Kampf gelockert waren.

Romeo jedoch rang hilflos mit den Händen. Seine dunklen Augen flackerten immer wieder und wichen Wendys Blick aus. Erst nach mehrmaligem Räuspern konnte er die Stimme erheben: „Wendy, ich habe Mest und den Anderen geschworen, dich niemals in Gefahr zu bringen…“

„Ich bin Grandines Reiterin“, erwiderte sie stur. „Ich bin Ärztin und Heilerin. Es ist meine Pflicht, zu helfen.“

Sie wusste, dass sie es nicht mit einem kampferprobten Magier aufnehmen konnte, aber allein die Vorstellung, hier zu warten, während Romeo sich in Gefahr begab, war der reinste Alptraum für sie. Sie musste bei ihm bleiben. Sie musste ihm auf jede Weise helfen, die ihr möglich war. Wie damals im Kampf gegen den Tatzelwurm.

„Wendy, ich…“

Romeo verstummte und sah sich Hilfe suchend um, aber Gajeel zuckte nur ruppig mit den Schultern und Aki legte den schweren Wolfskopf schief. Beinahe tat es Wendy Leid, Romeo in solche Sorge zu versetzen. Der Zwiespalt zwischen seinen Wünschen, den Wüstennomaden zu helfen und seinem Schwur zu erfüllen, schien ihm beinahe körperliche Schmerzen zu bereiten.

Genau das war das Problem, dachte Wendy voller Verbitterung bei sich. Solange sie in friedlichen Zeiten gelebt hatten, war es ihnen nicht aufgefallen, aber seit dem Kampf mit dem Tatzelwurm gärte es in Wendys Brust. Wenn sie damals auch hätte kämpfen können, wäre Romeo vielleicht nicht verletzt worden. Wenn sie nicht schon als Kind solch ein Angsthase gewesen wäre, könnte sie heute Seite an Seite mit Romeo kämpfen. Wenn, wenn, wenn…

In Worte gefasst hatte dieses Problem ausgerechnet Gajeel, indem er sie nach ihrem Gebrüll gefragt hatte. Seitdem konnte Wendy nicht mehr aufhören, darüber nachzudenken. Nicht dass sie ihren eigenen Wert auf einmal gering schätzte oder sich nach dem Kampf sehnte. Nein, sie musste nur immer wieder daran denken, wie gefährlich ihre Unzulänglichkeit im Kampf war, wenn sie nicht auf sich selbst aufpassen konnte.

Natürlich vertraute sie Romeo weiterhin – ihm mehr als irgendjemandem sonst auf der Welt –, aber es kam ihr falsch vor, dass er ihr Beschützer war. Er war ihr Partner. Sie sollten gleichberechtigt sein, doch Wendy wusste, dass Romeo zugunsten seines Trainings bei Mest oft – viel häufiger, als er es wohl jemals zugeben würde – auf andere Gelegenheiten verzichtet hatte. Ginge es etwa nach seinen wahren Vorlieben, wäre er trotz seines jungen Alters bereits ein Meisterschmied. Wendy hatte genau gesehen, wie sehr Romeo es bedauert hatte, vor dem Aufbruch zum Hafen von Heartfilia das Berserkerschwert Meister Capricorn zur Verwahrung zu übergeben, weil er es am liebsten selbst untersucht und eingeschmolzen hätte.

Es tat ihnen Beiden nicht mehr gut, wenn Romeo der Einzige war, der kämpfte. Weder ihnen als Individuen, noch dem, was zwischen ihnen entstanden war.

Wendy wusste, dass das, was sie als nächstes tat, die Dinge später sogar noch komplizierter machen würde, aber sie konnte hier und jetzt nicht mit Romeo so darüber reden, wie sie es eigentlich müssten. Vor Publikum und mit den Schmerzensschreien der Wüstennomaden im Ohr…

Also drehte sie sich um, legte ihr Bündel neben Toraan ab, zog daraus ihre Medizintasche hervor und schlang sich deren Riemen um die Schulter.

„Wendy…“

Romeos Stimme war kaum mehr als ein schwaches Hauchen, aber es zerriss ihr regelrecht das Herz. Nur mit äußerster Willensanstrengung konnte sie sich dazu bringen, auf ihren Sandschlitten zu steigen und Romeo mit einem Trotz, den sie kaum empfand, das Kinn entgegen zu recken.

„Wir müssen uns beeilen“, erklärte sie mit verräterisch belegter Stimme und wandte den Blick von Romeos verzweifelt flackernden Augen ab, um sich mit ihrem Sandschlitten abzustoßen.

Sie konnte hören, wie sich mit nur kurzer Verzögerung zwei weitere Sandschlitten und ein mächtiger Wolfskörper hinter ihr in Bewegung setzten. Gajeel und Aki zogen schnell an ihr vorbei, aber Romeo blieb die ganze Zeit hinter ihr.

Als die Zuflucht in Sicht kam, schwenkte Gajeel nach rechts, wo der Duft des dortigen Dämons nun deutlich wahrzunehmen war, der nach kaltem, abgestandenem Wasser roch. Mit all seinen Erfahrungen mit Juvia sollte Gajeel diesem Gegner alleine gewachsen sein, überlegte Wendy und folgte Aki nach links um die Zuflucht herum.

Aus der Ferne könnte man die Zuflucht für einen einzigen großen Felsen haben, aber als sie näher kamen, erkannte Wendy, dass es sich um einen riesigen Ring aus ineinander verschobenen, dicken Felswänden handelte. Eine gewaltige, natürlich gewachsene Festung, wenn auch bei weitem nicht von jenem Ausmaß, das sie in der Golemschlucht mit angesehen hatten.

Je näher sie der großen Felsinsel kamen, desto stärker wurde der Gestank von Gift. Berserkergift, erkannte Wendy schließlich und blickte über ihre Schulter, um Romeo ihre Erkenntnis mitzuteilen. Als er von ihren Lippen ablas, wich die beständige Sorge in seinem Blick einer grimmigen Entschlossenheit und er richtete seinen Sandschlitten besser aus, um zu Wendy aufzuholen.

„Halte mir den Rücken frei!“, rief er über das Knattern der Segelplanen hinweg und Wendy nickte ihm dankbar zu.

Was auch immer ihre Konfrontation vorhin noch für Folgen haben mochte, sie würden es gemeinsam klären und es würde ihnen bei dem, was ihnen jetzt bevor stand, nicht im Wege stehen!

Sie legten ihre Segel noch ein bisschen besser aus, sodass sie noch mehr Fahrt aufnahmen, bis sie gleichauf mit Aki waren. Sein Maul mit den furchterregenden Zähnen stand halb offen und er stieß immer wieder ein tiefes Grollen aus, das Wendy selbst in dieser Situation eine Gänsehaut bescherte.

Die Zuflucht war nun direkt vor ihnen. Als sie noch etwas weiter um das Felsgebilde herum fuhren, gerieten sie in eine Flaute. Die massiven Wände der Zuflucht bildeten einen Windschatten, der die Segel ihrer Sandschlitten erlahmen ließ. Romeo und Wendy ließen sich vom letzten Schwung der vorherigen Fahrt weiter tragen und stiegen schließlich ab. Neben ihnen war Aki zuerst in einen Trab und schließlich in einen Schritt gefallen, sein Blick unablässig auf das gerichtet, was vor ihnen lag.

„Da vorne sind die Wächter“, knurrte er.

Als Wendy die Augen zusammen kniff, erkannte sie vier Felsfinger, die in einem Abstand von bis zu hundert Schrittlängen vor dem Eingang zur Zuflucht aus dem Sand ragten. Sie hatten ihren Namen zweifelsohne zu Recht erhalten. Wie sie dort standen, jeder mit seiner eigenen Form, erinnerten sie an sitzende und hockende Menschen.

Im Umkreis der Wächter und am Eingang der Zuflucht lagen die Leichen von sicher zwei Dutzend Wüstennomaden. Schaudernd trat Wendy an der Seite von Romeo und Aki auf den Eingang der Zuflucht zu und ließ dabei den Blick über die Toten wandern. Den meisten von ihnen fehlten Gliedmaßen oder Köpfe. Eine schlanke Frau war tatsächlich an der Hüfte zweigeteilt worden. Einem bulligen Mann war der Kopf und Hals gespalten worden. Die Wunden waren schwarz verfärbt und stanken nach altem Tod, obwohl sie allem Anschein nach erst vor kurzer Zeit geschlagen worden waren. Nicht eine Fliege ließ sich auf den Körpern nieder und die Aasvögel am Himmel hielten sich fern und blieben stumm, als hätten sie Angst vor dem, was am Boden auf sie lauerte.

Neben Wendy hatte Romeo mit gewohnter Schnelligkeit seinen Bogen gespannt und einen Pfeil eingelegt und Aki sah aus, als wäre er jederzeit für einen Angriffssprung bereit. Wendy fragte sich, wie sie sich vorbereiten sollte und konnte. Romeo bewegte sich mit einer Selbstsicherheit, als würde er jeden Tag in ein Kampfgebiet laufen, aber sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte.

Sie tauchten in den Gang ein, in dem der Gestank der Berserkerwunden so stark war, dass sogar Romeo leise hustete. Wendy versuchte, sich auf andere Gerüche zu konzentrieren. Ganz schwach lagen die Duftnoten von Sting, Rogue und Yukino noch in der Luft. Sie waren lange nicht hier gewesen, vielleicht einen halben Mond vor der Begegnung in Malba. Unwillkürlich war Wendy froh, dass Sting das hier nicht sehen musste.

Als sie ins Innere des Felsenrings und somit wieder ins Sonnenlicht traten, wurden sie von einem Mann mit noch breiteren Schultern als Gajeel empfangen. Obwohl er genauso groß wie der Eisenmagier war, wirkte er durch die kurzen Beine gedrungen und die langen Arme mit den riesigen Fäusten unterstrichen seine groteske Gestalt noch. Der deutlichste Hinweis für seine nichtmenschliche Natur war sein Gesicht, genauer sein Mund: Er war um ein Vielfaches breiter als bei einem Menschen, lippenlos und mit einer Reihe spitzer Zähne versehen.

Er war ein Berserker, eine jener Schreckgestalten, die Jahrhunderte lang Menschen, Geister und sogar Dämonen gejagt hatte – obwohl Berserker eigentlich selbst zur letzten Gruppe gehörten. Bei der Herstellung ihrer Waffen verwendeten sie Knochen als Brennmaterial und für die Griffe, Haut anstelle von Leder und beim Schmieden wurden die Waffen mit Blut abgelöscht. Selbst unter Dämonen waren sie gefürchtet oder wurden zumindest verachtet.

Sie waren aufgrund ihrer Blutrünstigkeit schon immer eine seltene Erscheinung in Ishgar gewesen und dieser Tage gab es sie in Fiore gar nicht mehr, aber ihre verfluchten Waffen, die nur von kundigen Schmieden eingeschmolzen werden konnten, waren leider nicht selten in die Hände unvernünftiger Menschen geraten.

Der Berserker stand mitten in der Freifläche im Inneren der Zuflucht, um ihn herum die Leichen von weiteren Wüstennomaden, sie alle ähnlich verstümmelt wie die Männer und Frauen der ersten Verteidigungslinie am Eingang der Zuflucht. Den Schaft seiner gewaltigen Axt hatte der Dämon gegen seine Schulter gelehnt, das schwarze Blatt schwebte neben seinem Kopf. Von der Spitze tropfte Blut auf seine gepanzerte Schulter und rann von dort aus unbeachtet über seinen rechten Arm.

In der linken Hand hielt der Berserker den Oberarm einer Wüstennomadin mit langem, blondem Haar. Sie war mit Quetschungen und Schrammen übersäht. An der Art, wie ihr Atem rasselte, vermutete Wendy mehrere Rippenbrüche, aber immerhin lebte sie noch. Für einen Moment wunderte Wendy sich darüber, dass der Berserker jemanden am Leben gelassen hatte, aber dann fiel ihr auf, dass nirgendwo die Leiche eines Kindes zu sehen war, obwohl zwischen den verwüsteten Arbeitsplätzen hier auch Puppen im Sand lagen.

„Lass’ sie los“, grollte Aki, die Zähne gefletscht, das Fell gesträubt.

„Frau ist stur“, knurrte der Berserker mit einem monotonen, dumpfen Brummen, seine kleinen Augen ausdruckslos auf die Neuankömmlinge gerichtet. „Will nicht sprechen. Willst du sprechen, Wolf?“

Anstatt zu antworten, sprang Aki vor, die mörderischen Pranken nach der Kehle des Berserkers ausgestreckt. Im letzten Moment warf dieser die Frau nach vorn. Aki machte eine verzweifelte Drehung in der Luft und fing die Blondine auf, ehe er mit ihr zu Boden fiel.

Als sie den Grund berührten, schoss Romeos erster Pfeil über sie hinweg. Gerade noch rechtzeitig riss der Berserker den Kopf zurück, ansonsten hätte sich der Pfeil in sein Auge gebohrt.

„Guter Schuss, Junge“, grunzte er, ohne dass er tatsächlich anerkennend klang, und deutete mit seiner Axt auf Romeo.

Der warf seinen Bogen beiseite und löste die Schnalle seines Köchers vom Gürtel, ehe er sich in Bewegung setzte. Mühelos sprang er über Aki und die Frau hinweg. Noch während der Landung zog er ein Wurfmesser und schleuderte es auf den Berserker zu. Die Klinge prallte von der Axt ab, aber Romeo hatte erreicht, was er wollte. Der Dämon war für einen Herzschlag abgelenkt und Romeo konnte unter der feindlichen Waffe hinweg tauchen und mit seinem gezogenen Schwert auf die Kehle zielen. Wieder wich der Berserker aus, grunzte dabei jedoch unwillig, als Romeos Klinge seine Wange aufschlitzte.

Was folgte, war ein schnellerer Kampf, als Wendy es sich bei solch einem Gegner jemals vorgestellt hätte. Doch während Romeos Angriffs- und Ausweichmanöver stets fließend ineinander übergingen und dabei beinahe einem Tanz glichen, waren die Bewegungen des Berserkers ruckartig. Es war fast, als könnte der Koloss sich nur rasend schnell oder sehr langsam bewegen.

Wendy riss sich aus ihrer Starre und eilte zu Aki und der Frau. Sie war nicht einmal annähernd in der Lage, Romeo zu helfen, aber sie konnte zumindest für diese Frau sorgen, rief sie sich zur Ordnung.

Behutsam zog sie die Frau aus Akis mächtigen Wolfsarmen. Der junge Dämon schnupperte winselnd an den Blessuren der Frau, ehe er zu Wendy aufblickte. Selbst in dieser Gestalt konnte Wendy die Sorge in seinen Augen erkennen. „Das ist Mummy, sie ist Toraans und meine Höhlenschwester… Kannst du sie retten?“

Konzentriert ließ Wendy den Blick über den zerschundenen Körper gleiten, dann sah sie über ihre Schulter zurück zu Romeo und den Berserker. „Ich werde mein Bestes geben“, wandte sie sich wieder an Aki, ihre Stimme fest und sicher. Das hier war etwas, was sie so gut wie kaum ein Anderer in Fiore konnte. Hierfür hatte sie seit ihrem sechsten Sommer gelernt und geübt. „Ich werde sie retten. Pass’ du dafür auf Romeo auf.“

Für einen Moment blickte Aki ihr einfach nur in die Augen. Dann nickte er mit seinem großen, struppigen Kopf und richtete sich wieder zu voller Größe auf. „Ich vertraue dir.“

Wenn er noch etwas sagte, bevor er an ihr vorbei ging, hörte Wendy es nicht mehr. Sie konzentrierte sich bereits auf ihre Patientin.

Der Pfad, der zu neuer Stärke führte

Der Geruch von Blut mischte sich mit dem Gestank brackigen Wassers und erfüllte seine Nase. In seinen Ohren erklang das Röcheln und Wimmern Sterbender. Obwohl er nicht die geringste Ahnung vom Heilen hatte, wusste Gajeel, dass diesen Menschen nicht mehr zu helfen war. Sie klangen genauso wie die Sterbenden damals in den Minen, wenn sie vom Aufseher wegen irgendetwas zu Tode gefoltert oder wenn sie bei einem Stolleneinbruch zerschmettert worden waren.

Der Eisenmagier verzog keine Miene. Es kümmerte ihn wenig, was mit den Wüstennomaden geschah. Sie waren ihm genauso fremd wie alle anderen Menschen in Ishgar und bedeuteten ihm nicht das Geringste.

Aber wer ihm noch fremder war, das waren die Dämonen von Tartaros. Auch wenn der Angriff in Sabertooth nicht auf ihn, Juvia oder Levy abgezielt hatte, hätte er ihnen doch beinahe das Leben gekostet. Natsu hatte Juvia das Leben gerettet und Levy Gajeel. Also war Gajeel es ihnen schuldig, wenigstens einem dieser Dämonen den Garaus zu machen. Außerdem hatte er Sting und Rogue versprochen, Yukino zu retten, was nun wohl auch die Rettung der Wüstennomaden nach sich zog.

Wenn das alles hier endlich vorbei war, könnte er endlich ruhigen Gewissens mit Juvia seiner Wege ziehen.

Das war es zumindest, was Gajeel durch den Kopf ging, während er seinen Sandschlitten in Richtung des Strudels aus Schlamm lenkte, der südlich der Zuflucht mitten im Wüstensand entstanden war. Er erkannte mehrere zerstörte Sandschlitten und Leichen – oder Sterbende – in diesem träge treibenden Strudel. Wüstennomaden.

Warum waren sie überhaupt hier, wo der Dämon sie abgefangen hatte? Hatten sie versucht zu fliehen? Gajeel runzelte die Stirn. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Sting aus einem Volk von Feiglingen und Verrätern stammte und dann so stolz auf seine Herkunft war.

Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, schoss aus dem Strudel eine dreckige Fontäne hervor. Sie stank brackig, richtiggehend verseucht. Kein Vergleich zu Juvias klarem, frischem Wasser, das sie mit Mühelosigkeit selbst aus solch einem Schlammstrudel ziehen könnte.

Gajeel wusste es besser, als zu versuchen, der Fontäne auszuweichen. Er sprang von seinem Sandschlitten, der herrenlos weiter fuhr, bis er kippte und im Sand stecken blieb. Als ihn das Wasser erreichte, hatte Gajeel seinen gesamten Körper bereits mit einer Haut aus Eisen umhüllt.

Es war eine unangenehme und Kraft raubende Anwendungsart seiner Magie, aber sie schützte ihn nicht nur tadellos, sondern machte ihn auch schwerer. Wirkungslos floss das eklige Wasser über ihn hinweg und versickerte hinter ihm im Wüstensand.

Zu spät erkannte er die wahre Absicht hinter diesem Angriff, als aus dem Sand der Dämon schoss, angetrieben von einer weiteren Schlammfontäne. Der wuchtige Körper traf ihn mit voller Kraft und hätte ihn von den Füßen gerissen, die Krallen womöglich nicht bloß seine stabile Lederrüstung, sondern auch seine Brust zerfetzt, wenn er nicht seinen eisernen Schutz gehabt hätte. Der Aufprall trieb ihm nur die Luft aus den Lungen und schob ihn mehrere Schrittlängen über den Sand.

Als er endlich sein Gleichgewicht wieder fand, riss er sein Bastardschwert aus der Scheide an seinem Rücken und schlug nach dem Angreifer. Der wich schnell zurück und so sah Gajeel sich schließlich einer Art Fischwesen gegenüber. Es war von menschlicher Statur, jedoch violett beschuppt. Dort, wo bei einem Menschen der Nasenrücken war, begann eine helmartige Verdickung der Schuppen, welche die kleinen, grausamen Augen überschattete. Am Scheitel hatte sie eine dicke, spitze Flosse wie die Rückenflosse eines Hais. Die Ohren erinnerten auch eher an Flossen – wenn auch dieses mal eher an die von kleineren Fischen – und das Gebiss war wie das eines Hais. Die Arme waren überproportional lang und muskulös und aus beiden Unterarmen wuchsen, beginnend etwa an den Handgelenken, wieder diese dick beschuppten Flossen, die auf Höhe der Ellenbogen in gefährlichen Spitzen endeten und zweifellos genauso tödlich wie Dolche waren.

Das war also ein Dämon.

Gajeel schnaubte verächtlich. Er hätte mehr erwartet nach all der Panik wegen dieser Tartaros-Bande.

„Du willst sterben, Mensch“, stellte der Dämon mit knirschender Stimme höhnisch fest und musterte Gajeels stählerne Haut. „Das da wird dich nicht schützen.“

Jetzt lachte Gajeel rau und hob sein Bastardschwert für eine anständige Kampfposition, wie Pantherlily es ihm eingetrichtert hatte. Juvia hatte den Kampf noch nie gemocht und sich immer davor gescheut, aber Gajeel hatte dennoch mit ihr trainiert. Er wusste, zu was Wassermagie imstande war, und er wusste, dass dieser Dämon hier schwächer als Juvia war. Denn die Wassermagierin konnte ihr Wasser reinigen und sie hätte Gajeel mit Leichtigkeit von den Füßen gerissen. Dieser Dämon war im Gegensatz zu Juvia nicht stark genug, um ausreichend Wasser aus seiner Umgebung zu ziehen und hatte sich bereits damit aufgehalten, gegenüber den Wüstennomaden seine Überlegenheit auszuspielen.

Ohne sich an einer Antwort aufzuhalten, preschte Gajeel vor, um seinen Kontrahenten mit so schnellen und so starken Angriffen zu traktieren, wie er nur konnte. In seinem Zustand konnte er nicht lange bleiben. Insbesondere nicht an einem Ort wie die Wüste, wo er bereits spürte, wie sein Körper sich ungesund erhitzte.

Die Augen des Dämons weiteten sich verblüfft und Gajeel gelang ein Überraschungstreffer an der Flanke, ehe sein Gegner sich an die neuen Begebenheiten anpasste und das einzig Sinnvolle in seiner Situation tat: Er ging auf Abstand und versuchte, Gajeel mit seiner Wassermagie im Schach zu halten.

Seine beinahe behäbig zu nennenden Bewegungen verrieten Gajeel, dass sein Gegner hier einen weitaus größeren Nachteil hatte als er selbst. Er verwendete nicht einfach nur Wassermagie, er war ein Geschöpf des Wassers. Im Wasser wäre dieser Dämon tödlich schnell und Gajeel hätte gegen ihn genauso geringe Chancen wie gegen den Leviathan vor einigen Monden. An Land jedoch konnte er seine körperlichen Stärken nicht ausspielen und hier in der Wüste war auch seine Wassermagie schwach. Die Erschaffung dieses Schlammstrudels schien ihn bereits hinreichend verausgabt zu haben, denn er unternahm keinen Versuch, ein weiteres derartiges Manöver zu unternehmen.

Wild entschlossen, diese Vorteile zu nutzen, setzte Gajeel dem Dämon nach. Zwar war er in seinem Zustand auch nicht besonders schnell, aber er war stark genug, um sein Bastardschwert gegen die Wasserangriffe zu drücken.

Er rückte immer weiter vor, schlug die kleineren Angriffe beiseite und schwang seine schwere Waffe immer wieder nach dem Dämon. Dieser wich zunehmend verzweifelt aus, seine Magie wurde schwächer, seine Bewegungen immer unvorsichtiger. Gajeel traf ihn an der Schulter, dann wieder an der Flanke, schließlich am Bein – doch keine der Wunden war auch nur annähernd verheerend genug, um das Untier zur Strecke zu bringen.

Es war ein Ringen darum, wer den längeren Atem hatte. Gajeels Muskeln protestierten immer deutlicher, führten ihre Befehle immer langsamer aus. Aber er trieb sich weiter, setzte dem Dämon immer wieder nach…

Als das Bastardschwert durch Schuppen, Muskeln und Fasern schnitt und einer der muskulösen Arme mit einem dumpfen Geräusch im Sand landete, war Gajeel fast genauso überrascht wie sein Gegner. Für einen winzigen Moment blickten sie Beide auf die abgetrennte Gliedmaße herunter, dann riss Gajeel seine Waffe wieder hoch und schmetterte sie auf die Stelle zwischen Hals und Schulter. Noch mehr Knochen brachen, noch mehr Muskeln rissen und dunkles Blut spritzte Gajeel ins Gesicht.

Mit einem erschöpften Grunzen stieß er den Dämon von sich, dessen Glieder noch einige Herzschläge lang wild zuckten, sich widernatürlich verdrehten. Mit seinen letzten Atemzügen spuckte der Dämon Blut, dann blieb er leblos liegen, der Blick leer und trüb.

Keuchend stützte Gajeel sich auf seinem Schwert ab und schloss seine Augen, um sich darauf zu konzentrieren, seinen Schutz sinken zu lassen. Ein schmerzhaftes Brennen überzog seine Haut und seine Kehle war staubtrocken. Mühsam tastete er nach der Feldflasche an seinem Gürtel und löste den Pfropfen, zögerte jedoch, als er bemerkte, wie leicht die Flasche war. Mehr als ein paar Schlucke konnten kaum drin sein.

Gajeel gestattete sich nur einen einzigen, sorgsam bemessenen Schluck, dann verschloss er die Flasche wieder, schob sein Schwert zurück in die Scheide – er brauchte mehrere Anläufe, ehe er seine erschöpft zitternde Hand ruhig genug halten konnte – und machte eine Bestandsaufnahme. Dadurch dass er schnell genug reagiert hatte, hatte er keine Verletzungen davon getragen, aber seine Glieder fühlten sich jetzt sogar noch schwerer an, obwohl sie keinen eisernen Schutz mehr zu tragen hatten. Wenn Gajeel es nur zuließe, könnte er wahrscheinlich einen ganzen Tag lang durchschlafen – und er wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Erschöpfung ihn vollends übermannte.

Obwohl seine Ohren ihm bereits alles verrieten, was er wissen musste, ging Gajeel zum Schlammstrudel hinüber, um nach Überlebenden zu suchen – Sting zuliebe, sagte er sich und verzog mürrisch das Gesicht. Unter der sengenden Sonne war der Schlamm schon längst wieder getrocknet und zu feinem Sand zerbröselt. Die Grenzen des Strudels waren im Grunde nur noch vage daran zu erkennen, dass innerhalb des Mahlstroms Trümmer und Leichen aus dem Sand ragten. Keine Überlebenden.

Es waren alles junge Männer und Frauen, alle kräftig und wohlgenährt. Keine Kinder unter ihnen, keine Gebrechlichen. Ihr Fluchtversuch war in Wahrheit ein Ablenkungsversuch gewesen, wurde Gajeel klar. Indem sie mit ihren Sandschlitten hierher geflohen waren, hatten sie einen der Dämonen von der Zuflucht fortgelockt, wo es zweifellos ein gutes Versteck für die Kinder gab – alles andere wäre für ein Volk, das Generationen lang Kriege gegen die Golems geführt hatte, absolut blamabel. Zum Schutz der Schwachen in ihrer Gemeinschaft hatten diese Männer und Frauen hier sich geopfert. Das war nicht das, was Gajeel bisher erlebt hatte.

Selbstaufopferung…

Sein Blick glitt zur Zuflucht und er sog tief die Luft ein. Etwas störte schon wieder seinen Geruchssinn. Er wusste nicht einmal zu sagen, ob die drei Kinder bereits in der Zuflucht waren, geschweige denn ob sie noch lebten. Irgendwie hatte er ein merkwürdiges Gefühl. Als würde etwas auf ihm lasten.

Er stieß ein unwilliges Knurren aus und stapfte zu seinem Sandschlitten. Es kostete ihm alle Kraft, das Gefährt aus dem Sand zu ziehen und das Segel zu richten, aber schließlich fing er damit genug Wind ein, um zur Zuflucht fahren zu können.

Hoffentlich waren die Bälger noch am Leben!
 

Der Berserker war stärker als Romeo. Spätestens als sein Schwert anstelle von Romeos Kopf einen der Felsfinger im Inneren Kreis traf und diesen daraufhin zum Einsturz brachte, war das vollkommen klar. Ein einziger Hieb würde Romeos Glieder unrettbar zertrümmern – wenn er ihn nicht sogar sofort töten würde.

Einzig und allein ihre Patientin hielt Wendy davon ab, in blinde Panik zu verfallen und sich in den Kampf einzumischen. Sie war hierher gekommen, um den Wüstennomaden zu helfen, und das konnte sie am besten als Heilerin. Das Kämpfen musste sie Romeo überlassen, der dafür mehr als sein halbes Leben lang trainiert hatte.

Es stand schlecht um Mummy, auch wenn sie keine vergifteten Schwertwunden aufwies. Wohl um sie länger am Leben zu erhalten, hatte der Berserker seine verfluchte Klinge nicht an ihr angewandt. Stattdessen hatte er sie gefoltert. Sie hatte mehrere Knochenbrüche, furchtbare Prellungen und allem Anschein nach innere Blutungen. Auch ihr Gehirn musste Schaden genommen haben, denn ihre linke Pupille war bei der Untersuchung starr.

Aber Wendy spürte noch immer starke Lebenskräfte, hörte ein trotzig schlagendes Herz. Diese Frau, die so viel zum Schutz von Volk und Heimat auf sich genommen hatte, weigerte sich, einfach zu sterben. Diese Stärke gab Wendy einen Anker, spornte sie an, alles in ihrer Macht stehende zu tun.

Sie überließ es Aki, auf den Kampf zwischen Romeo und dem Berserker zu achten, und konzentrierte sich mit jeder Faser ihres Seins auf ihre Patientin. Vor ihrem inneren Auge sah sie das fragile Innere des menschlichen Abdomens, wie Professorin Porlyushka es ihr in den Pathologie-Seminaren gezeigt hatte, und mit ihrer Windmagie spürte sie den Schäden nach, welche der Berserker verursacht hatte.

Sie konnte nicht alles auf einmal heilen, aber sie lokalisierte die wirklich lebensgefährlichen Brandherde und konzentrierte sich auf deren Heilung. Die Winde in so engen Bahnen zu lenken, war nervenaufreibend. Der kleinste Fehler könnte wichtige Blutgefäße und Nervenbahnen zerfetzen.

Mit zusammen gepressten Lippen richtete Wendy eine gebrochene Rippe und hielt gleichzeitig das Blut in Schach, das durch das Loch zu fluten drohte, welches die Rippe in die Lunge gestochen hatte. Danach konzentrierte sie sich auf die Schäden im Gehirn, heilte in nervenaufreibend kleinschrittiger Arbeit die hauchfeinen Nervenstränge.

Als sie endlich die Hände von der Frau nahm, fühlte sie sich schlapp und zittrig und vor ihren Augen verschwamm alles.

Mühsam blinzelnd versuchte sie, zu erkennen, wie es um Romeo stand. Aki war nicht mehr neben ihr, sondern kauerte neben Romeo, der verschwitzt und zitternd am Boden kniete, in der Linken das Kurzschwert, der rechte Arm fürchterlich verdreht. Wendy fragte sich, ob Romeo geschrien hatte, aber sie konnte sich nicht erinnern.

Der Berserker stand zu Wendys Entsetzen noch, die Miene ungerührt, die gewaltige Axt geradezu entspannt gegen seine Schulter gelehnt.

Doch bei genauerem Hinsehen erkannte Wendy zahlreiche Risse und Schnitte in der Lederrüstung des Dämons, sogar Beulen in den metallenen Schulterplatten. Ob der Dämon auch verletzt war, konnte Wendy weder sehen noch riechen. Ihr Geruchssinn war überreizt, ihre Magie erschöpft.

Wieder blinzelte sie und nahm immer mehr Details bei dem Berserker wahr: Zwei Finger der linken Hand schienen gebrochen, das linke Auge zuckte immer wieder und der Knochenstiel der Axt wies mehrere tiefe Scharten auf. Die Haltung des Berserkers war gar nicht entspannt, begriff Wendy. Vielmehr wirkte es… wie die Ruhe vor dem Sturm…

Als Romeo sich schwankend wieder aufrichtete, schnellte Wendys Aufmerksamkeit zurück zu ihm. Seine Kleidung hatte weniger abbekommen als die des Berserkers. Den meisten Angriffen schien er erfolgreich ausgewichen zu sein, aber seine Erschöpfung offenbarte, wie viel ihn das abverlangt hatte. Der verdrehte und wahrscheinlich auch mehrfach gebrochene Arm musste ihm furchtbare Schmerzen bereiten, aber er biss sich auf die Unterlippe und hob das Schwert mit der Linken, während sich seine Füße in eine Kampfposition schoben. Seine Nasenflügel bebten mehrmals, ehe er tief Luft holte und dann auf einmal still stand. Den Schmerz wegatmen. Davon hatte Wendy ihren Bruder mal zu Romeo reden gehört. Weiter kämpfen zu können, wenn der Körper es eigentlich verweigerte…

„Du stirbst, Bengel“, grollte der Berserker und hob seine Axt. „Ich bin Doriate vom Reißfangclan und ich werde dich töten. Und danach töte ich den Wolf und die, die sich verstecken.“

Romeo schwieg darauf, aber Aki stieß ein weiteres tiefes Grollen aus und richtete sich zu seiner vollen, gewaltigen Größe auf.

„Aki…“ Beim Klang von Romeos Stimme erschauderte Wendy. Sie wirkte tiefer als sonst, regelrecht bedrohlich, dabei blieb sie doch eigentlich vollkommen ruhig. „Halt’ mir den Rücken frei…“

Und dann griff er den Berserker wieder an. Trotz seines verletzten Arms und trotz seiner Erschöpfung bewegte er sich mit tödlicher Präzision. Seine Füße fanden mühelos mit jedem Schritt einen sicheren Halt, der es seinem gesunden Arm ermöglichte, den Schwung zu holen, den er für seine Angriffe brauchte – jeder einzelne exakt auf kritische Punkte gezielt.

Wendy hatte Romeo schon bei vielen Übungskämpfen beobachtet. Mit Mest und Azuma, mit Gray, Lyon und Loke und mit Natsu. In all diesen Kämpfen hatte Romeo immer Freude ausgestrahlt, selbst wenn Mest und Azuma ihn in die Mangel genommen und gar verletzt hatten, er hatte den Nervenkitzel genossen, hatte seinen Körper an seine Grenzen getrieben und sich über Erfolge gefreut. In seinen Augen hatte immer dieses ehrgeizige Funkeln gelegen… Aber hier und jetzt lag etwas Anderes in seinen Zügen. Etwas, das Wendy die Luft abschnürte. Romeo wollte töten… Er wollte seinen Gegner nicht einfach nur außer Gefecht setzen, er wollte ihn wirklich und wahrhaftig töten!

Romeo hatte vorher schon getötet: Den Tatzelwurm in den Bergen und wahrscheinlich hatten einige der Sektenanhänger, auf die er in Malba geschossen hatte, nicht überlebt. Aber noch nie hatte er sich bewusst dafür entschieden, jemanden zu töten. Mehr als das: Romeo schien regelrecht besessen davon zu sein, diesen Dämon zu bezwingen.

Wendy erinnerte sich wieder an die Worte ihres Bruders während einer gemeinsamen Übung: Irgendwann wird Romeo sich ganz bewusst dafür entscheiden, jemanden zu töten, und egal, aus welchem Grund er das tun wird, es ihn verändern. Es könnte ihn sogar zerstören. Darauf kann ich ihn nicht vorbereiten. Niemand kann das. Es wird passieren, irgendwann, irgendwie. Und erst danach kann man reagieren…

Wendy spürte die Tränen auf den Wangen und der Kampf verschwamm vor ihren Augen. Nur vage erkannte sie, wie Romeo mehrere Stöße nach dem Gesicht des Berserkers ausführte, wie der Berserker die ersten Schläge noch abwehrte, bis Romeo ein Durchbruch gelang. Sein Gegner riss zu spät den Kopf zurück und das Kurzschwert grub sich mit aufwärts geführtem Schwung in den unteren Kieferknochen, schnitt den rechten Mundwinkel auf und zerfetzte den Nasenflügel.

Mit einem lauten Grunzen taumelte der Berserker zurück und griff mit der bloßen Hand nach der Klinge. Bevor Romeo sein Gleichgewicht wieder finden konnte, stieß der Dämon ihn zurück und entriss ihm die Waffe. Dass sich der stets so sorgsam gepflegte, geschärfte Stahl in seine dicken Finger schnitt, schien den Dämon nicht zu stören. Vielleicht war dieser Schmerz im Vergleich zu seiner Wunde im Gesicht auch einfach nicht bemerkenswert.

Wendy entfuhr ein heiserer Schrei, als der Dämon seine eigene Axt nach Romeo schwang. Im letzten Moment bog Romeo den Rücken durch und entging dem Schlag, doch dem darauf folgenden Tritt konnte er nicht ausweichen. Obwohl sie zu erschöpft war, um ihre Magie auf ihr Gehör zu konzentrieren, konnte Wendy das Knacken der Rippen unter dem eisernen Stiefel vernehmen. Romeos lautes Stöhnen ging ihr durch Mark und Bein und sie zwang sich unter Aufbietung all ihrer Kräfte in die Höhe.

Sie musste etwas unternehmen!

Der Berserker warf Romeos Schwert – eines von Macaos Meisterstücken – achtlos hinter sich und stapfte auf den jungen Krieger zu. Mit einem abermaligen Stöhnen zog Romeo sich an einem der Felsen in die Höhe und zog den Dolch, den Natsu ihm geschenkt hatte. Er schwankte unübersehbar und blinzelte heftig.

Zitternd holte Wendy Luft. Ihr Blick zuckte hin und her, suchte nach einer Rettung. Romeo durfte nicht sterben. Sie durfte ihn nicht verlieren!

Als Aki mit einem lauten Knurren die Aufmerksamkeit des Berserkers auf sich lenkte, ließ Romeo den Dolch herum schnellen, fasste die Spitze locker zwischen Daumen und Zeigefinger und warf die Waffe. Sie drang in das rechte Auge des Berserkers ein. Wie bei dem Tatzelwurm damals. Ein weiteres unwiderlegbares Zeugnis für Romeos rigoroses Training.

Und die entscheidende Wende im Kampf.

Der Dämon brüllte schmerzerfüllt auf und hatte nichts entgegen zu setzen, als Aki ihn ansprang. Die verfluchte Axt flog davon, die beiden Dämonen gingen zu Boden und der Wolf schlug seine Zähne in die Kehle des Anderen.

Im Vertrauen darauf, dass Aki die Sache beenden würde, taumelte Wendy zu Romeo, der mit dem Rücken am Felsen wieder zu Boden gerutscht war, das Gesicht bleich vor Schmerz.

Als er ihr Näherkommen bemerkte, versuchte Romeo sich an einem Lächeln, aber es hatte etwas Bitteres und Grimmiges. Seine Züge schienen um viele Sommer gealtert, erinnerte Wendy an ihren Bruder. Wieder schnürte es ihr vor Angst vor diesem Fremden die Luft ab. Das war nicht der junge Mann, der letzte Nacht verstohlen ihre Finger miteinander verschränkt hatte, als während der Pause keiner von den Anderen zu ihnen gesehen hatte. Dieser Mann hier war unerbittlich und hart und kampfwütig…

Doch dann flatterten Romeos Lider und sein Kopf kippte nach hinten gegen den Felsen und alle Zweifel waren wie weggeblasen. Es spielte jetzt keine Rolle, was dieser Kampf in Romeo verändert hatte und was es sowieso noch zwischen ihnen zu klären gab. Das alles konnte warten, bis Romeos Verletzungen versorgt waren!

Noch während sie neben ihrem Freund in die Knie ging, spürte Wendy eine Veränderung in der Luft. Schon im nächsten Moment hörte sie Akis Jaulen und das Rauschen des Windes, spürte den Druck, der sie an den Felsen und – ausgerechnet! – an Romeos verletzten Arm presste.

„Ihr habt es also geschafft, Doriate und Torafuzar zu töten.“

Die gehässig gackernde Stimme hallte unangenehm im magischen Wind wieder. Wendy verengte die Augen und erkannte, dass Aki zu Boden gepresst wurde. Sand wehte ihnen um die Köpfe und die Alltagsgegenstände der Wüstennomaden, die noch im Inneren Kreis herum lagen, donnerten immer wieder gegen ihre Körper.

Langsam und mit beiden Händen zum Schutz erhoben, blickte Wendy sich um. Sie kratzte ihre Energiereserven zusammen, um dem Klang der Stimme zu ihrem Ursprung zu folgen und fand ihn bei einem Mann, der aus einer Felsspalte spaziert kam. Er war größer als die meisten Menschen, aber von hagerer Statur, das Gesicht schmal und eingefallen mit großer Hakennase, manisch hervortretenden Augen und vergilbten, gebleckten Zähnen. Die Haare waren schmutzigweiß und ragten, abgesehen von einer langen Strähne vorm Gesicht, unnatürlich in die Höhe. Außer einer zerschlissenen Pluderhose trug er nichts. In den Händen hielt er einen dunklen, mannshohen Stecken, an dem eine riesige Sichel befestigt war, deren Klinge von altem und neuem Blut besudelt war.

Es waren die blauen, wirbelartigen Tätowierungen auf Brust und Schultern und die schwarzen, pfeilartigen Tätowierungen unter beiden Augen, die Wendy die Natur des Wesens verrieten. Ein Windteufel, ein Angehöriger jener schwächeren Dämonen, die nach Blut lechzend von Krieg zu Krieg zogen und dort noch mehr Unheil anrichteten. In Bosco gab es noch welche, aber Fiore war für sie uninteressant geworden und nach Edolas konnten sie es nicht wagen.

„Ich bin Erigor“, fuhr der Windteufel irre kichernd fort. „Ich werde diese Festung dem Erdboden gleich machen und danach Sabertooth und Jadestadt und jede andere Menschensiedlung in der Wüste!“

Mit seinen Worten nahm der Wind zu. Herumfliegende Scherben, Messer und sogar Nadeln schnitten Wendys Ärmel und die Haut darunter auf. Ihr Tagelmust wickelte sich ab und flog davon. Der Wind presste sie und Romeo immer stärker an den Felsen. Aki jaulte und knurrte, während er versuchte, sich gegen den Druck zu wehren. Ganz in der Nähe brach das obere Drittel eines dünnen Felsfingers ab, zerschellte am Boden und ließ unzählige Splitter in alle Richtungen schießen.

„Sterbt, ihr Würmer!“, lachte Erigor manisch. „Verreckt elendig wie das wertlose Vieh, das ihr seid!“

Neben Wendy sackte Romeo in sich zusammen, auf seinen Lippen ein atemloser Fluch, und Aki grollte laut, aber ergebnislos. Das Lachen des Windteufels schnappte über, wurde lauter und schriller, schmerzte fürchterlich in Wendys Ohren. Die Tränen wurden von Wendys Gesicht gerissen, als die Verzweiflung sie schon wieder zu überwältigen drohte.

Was war es wert, dass sie die Reiterin des Winddrachen war, wenn sie ausgerechnet gegen diesen Dämon nicht ankam? Grandine hätte ihn mit einem Flügelschlag besiegt. Jeder der anderen Drachenreiter hätte ihn besiegt. Nur Wendy nicht. Weil sie sich immer hinter Romeo versteckt hatte. Weil sie dumm und naiv war – und schwach…

Mit diesem Gedanken sammelten sich so viel Frust und Wut in ihr, dass Wendy nichts anderes mehr tun konnte, als zu schreien. Ein wortloser, urgewaltiger Schrei mit dem sich alles entlud, was sie noch an Kraft aufbringen konnte.

Die magischen Windwirbel – vielfach verflochten, geballt zu einem starken, unwiderstehlichen Strahl – brachen mühelos durch die Windmagie des Dämons. Wendy spürte und hörte eher, als dass sie es sah, wie ihr Drachengebrüll den Windteufel erreichte und gegen einen Felsen schleuderte, wie seine Knochen brachen und Organe zerdrückt wurden und wie seine Magie erstarb.

Wendys Gebrüll verklang und hinterließ einen wunden Rachen und eine Schneise im Inneren Kreis. Nach Luft schnappend sackte Wendy noch weiter zu Boden, ihre Glieder vollkommen schlapp.

Sie hörte das Röcheln des Windteufels. Selbst mit seinen letzten Atemzügen verfluchte er seine Gegner noch: „Mard Geer wird euch alle zermalmen! Er wird euch dort treffen, wo es euch am meisten schadet. Er wird all das wertlose Menschengezücht vernichten und dann-“

„Soll er’s nur versuchen.“

Wendy konnte sich nicht einmal wundern, woher Gajeel auf einmal kam. Mit schwindenden Sinnen sah sie seine massige Gestalt über dem Dämonen aufragen. Sie sah, wie er sein Bastardschwert hernieder sausen ließ, sah Blut spritzten, hörte ein Ächzen – und dann wurde um sie herum alles schwarz.

Die Treppe, die den Turm hinauf führte

Im Herzen Jadestadts stand dessen Wahrzeichen. Ein massiver, runder Turm, hundert Schritt im Durchmesser und dreimal so viele in der Höhe, vom Sockel bis zum verspielten Spitzdach aus einem der kostbarsten Materialien, die Ishgar zu bieten hatte: dem Jademarmor, für den auch nach vielen Zyklen des Suchens nur ein einziger Steinbruch bekannt war. Seine Fassade war schlicht gehalten, stellte beinahe einen provokanten Gegensatz zu den spielerisch verzierten Stadtmauern dar. Als wollte man den Jademarmor an und für sich sprechen lassen.

Schon während ihrer vorausgegangenen Missionen in Jadestadt war Meredy sich nie völlig sicher gewesen, wofür dieser Turm stand. Sollten die Boscos mit dieser offenen Zurschaustellung von Reichtum provoziert werden? War es schlicht und einfach ein Geltungsbedürfnis gegenüber den anderen – sehr viel älteren – Fürstentümern mit ihren Wahrzeichen? Hatte man die Steinmetze Fiores zum Dienst in Jadestadt locken wollen? Oder die Bewohner ermutigen? Steckte einfach menschliche Hybris dahinter oder lag dem Turm die reine Freude an der Baukunst zugrunde?

Darüber wurde immer wieder spekuliert, denn obgleich er so viel geschaffen hatte, hatte der Stadtgründer und erste Fürst von Jadestadt kein Testament oder sonst irgendein Dokument hinterlassen, das darüber Aufschluss geben könnte.

Als sie das letzte Mal auf dem Rückweg von Bosco in Jadestadt Quartier bezogen hatte, hatte Meredy sich viele Gedanken darüber gemacht, ohne zu einem richtigen Ergebnis zu kommen. Sie hatte nur während ihres Aufenthalts immer wieder bemerkt, wie stolz die Bewohner Jadestadts auf ihre Heimat im Allgemeinen waren. Sie hatte das Leuchten in ihren Gesichtern gesehen, wenn sie zum Jadeturm geblickt hatten, und hatte gestaunt, wie nah der Fürstensitz dem einfachen Volk war.

Anders als der weitläufige Komplex des Kaiserpalastes mitsamt all seinen Anbauten, der in Crocus tatsächlich ein eigenes Stadtviertel darstellte, scharrte der Jadeturm um sich herum nur ein Wachhaus und einige Verwaltungsgebäude, an die sich beinahe nahtlos die normalen Stadthäuser anschlossen.

Nur im Süden des Turms – eben jene Richtung, in die sich auch die großen Flügeltüren öffneten – kam es durch einen großzügig angelegten Garten zu einer Unterbrechung im Stadtbild. Künstliche Gräben, überspannt mit vielen ornamentierten Brücken aus Marmor oder Sandstein, durchschnitten satte Grünflächen mit großen Palmen und Sträuchern. Üppige Blumenwiesen bildeten eine angenehme Abwechslung für den Betrachter und zahlreiche Bänke luden zum entspannten Verweilen ein. Die Ausmaße dieses Parks waren das Dreifache des Fürstengartens von Sabertooth, eine beinahe unwirkliche Oase inmitten der unwirtlichen Wüste – und das alles nur gespeist durch Brunnen, nicht wie in Sabertooth durch den Schlangenfluss.

Ein bisschen wirkte das alles auf Meredy so, als würden die Menschen hier in einer eigenen Welt leben, aber andererseits hatte sie im Verlauf ihrer Tätigkeit als Assassine oft genug Orte gesehen, die ihren eigenen Regeln zu folgen schienen. Selbst im Dorf der Eismenschen war das noch spürbar gewesen, obwohl dort alles in Trümmern gestanden hatte. Jadestadt war wohl einfach nur eine weitere Stadt mit Charakter in Fiore, erblüht unter den Freiheiten, welche die Unsterbliche Kaiserin jedem zu ermöglichen versuchte.

Die Erinnerung an die Frau, der sie vor so langer Zeit die Treue geschworen hatte, ließ Meredys Eingeweide rumoren. Auch wenn sie immer noch überzeugt davon war, dass es richtig war, niemanden in das Geheimnis um die Zerstörung des Dorfs der Eismenschen einzuweihen, hieß das nicht, dass es sie kalt ließ. Sie verdankte der Kaiserin ein neues Leben fernab all der Gewalt und Grausamkeit, die ihr in Edolas widerfahren war. Mehr als das: Die Unsterbliche hatte sie und Jellal trotz ihrer Herkunft in allen Ehren und mit mehr Herzlichkeit aufgenommen, als sie ihnen je in Edolas widerfahren war. Diese Geste mit Pflichtverweigerung zu vergelten, nagte an Meredy.

Doch mehr noch als der Kaiserin fühlte sie sich den Eismenschen verbunden. Gray war wie ein Bruder und Lyons Bedeutung für sie ließ sich gar nicht in Worte fassen. Er war alles, was sie brauchte und wollte. Er war ihre Heimat, ihr Herz, ihr ganzes Sein. Wenn sie in seinen Armen lag, war alles, was man ihr angetan hatte, null und nicht. Er war es erst gewesen, der ihr geholfen hatte, die Wunden aus Edolas verheilen, ihre Narben verblassen zu lassen.

Sie konnte nicht klar definieren, wann dieser Entschluss in ihr heran gereift war, aber sie wollte eine Eisfrau werden, wollte an Lyons Seite in der Heimat leben, wollte irgendwann eine Familie mit ihm gründen…

Aber was sie vor allem anderen wollte, war, dass Lyon seinen Vater und seine Stammesgenossen wieder fand, damit er mit ihnen seine Heimat neu aufbauen und der stolze, aufrechte Eismensch bleiben konnte, den sie so sehr liebte. Für dieses Ziel war sie zu absolut allem bereit. Selbst wenn es bedeutete, ihr Leben zu riskieren…

Für die Dauer einiger Herzschläge gestattete sie sich, die Augen zu schließen und sich auf ihre Aufgabe zu besinnen. Sie vertrieb jeden Gedanken an Lyon und Gray, klärte ihren Kopf, beruhigte ihr Herz, konzentrierte alles auf das Hier und Jetzt. So hatte sie es sich vor langer Zeit angewöhnt, als sie noch nicht einmal gewusst hatte, was eine Assassine war. Das hatte ihr und ihrem Bruder solange geholfen, zu überleben.

Ruhig und gleichmäßig holte Meredy Luft, während sie von Schatten zu Schatten tauchte, an einer Registratur vorbei, weiter in den Sichtschutz der langgestreckten Bibliothek, die sich am Rande des Parks befand. Durch die deckenhohen Fenster erkannte Meredy Reihen um Reihen von massiven Regalen, alle gefüllt mit dicken Folianten und Schriftrollen. Das reinste Paradies für jemanden wie Levy.

Während sie am Rande des Platzes unmittelbar vor dem Turm entlang schlich, glitt ihr Blick immer wieder über die Fenster des Turms, suchte nach Anzeichen dafür, dass jemand sie beobachtete, huschte über jedes mögliche Versteck, das sie selbst für einen Hinterhalt verwenden würde.

Als sie das doppelflügelige Eingangstor des Turms erreichte, ohne auch nur die Spur einer Wache zu entdecken, wurde sie nur noch wachsamer. Das Tor war halb offen. Daneben lagen zu beiden Seiten Hellebarden, in deren Stiele oberhalb der lederumwickelten Griffe das Wappen Jadestadts geritzt worden war. Es wirkte beinahe, als hätten ihre Besitzer sich einfach in Luft aufgelöst.

Wofür hatte der Feind zur Verteidigung der Stadt eine Dämonenschar gegen das Sabertooth-Heer geschickt, wenn er das Innere der Stadt nun völlig unbeaufsichtigt ließ? Worum ging es hierbei wirklich? Die bisherigen Erkenntnisse ergaben einfach keinen Sinn, egal wie sehr Meredy es auch hin und her drehte. Das machte es auch völlig unmöglich, eine Verbindung zu Avatar und zu den Angriffen auf das Dorf der Eismenschen herzustellen.

Lautlos schlüpfte Meredy ins Innere des Turms und trat direkt in den Empfangs- und Ballsaal. Sie war hier schon zweimal drin gewesen, aber sie war immer noch beeindruckt von der Kunstfertigkeit, die allein in diesem Saal demonstriert wurde.

Während auch die Innenwände des Turms aus dem kostbaren Jademarmor bestanden, war der Boden ausgelegt mit einem komplizierten Muster aus unterschiedlich großen, schwarzen und weißen Marmorplatten. Die Wände waren teilweise mit detailreichen Reliefen versehen, die zwölf tragenden Säulen in die Form von Tamariskenstämmen gemeißelt, an den Füßen Wurzeln angedeutet, an den Kapitellen Geäst mit Zweigen und Blättern. Jede Säule sah anders aus, sodass der Eindruck eines Tamariskenhains entstehen konnte. Durch große, südwärts gelegene Fenster flutete Licht in den Saal, ihre Rahmen in die Form von Strauchwerk gemeißelt.

Lebensgroße Gemälde der bisherigen sechs Fürsten hingen an den Wänden, jedes flankiert von je zwei Statuen, der eines Kriegers und der eines Steinmetz’. Die freien Stellen waren von Knüpfteppichen geschmückt, deren Kunstfertigkeit Sabertooth als Herkunftsort vermuten ließ. Auf ihnen waren Impressionen der Wüstenlandschaft und von Jadestadt zu sehen.

Besonders beeindruckend war ein Gemäldeteppich, der an allen Seiten je drei Mannslängen messen mochte und eine Komplettansicht der Stadt von eben jenem Aussichtspunkt aus zeigte, von dem aus Meredy vor kurzem noch auf die Stadt geblickt hatte. Das Bild wirkte beinahe lebensecht. Ein Paradebeispiel für die unübertroffene Kunstfertigkeit der Teppichknüpfer von Sabertooth.

Oberhalb der Gemälde und Wandteppiche lief ein Fries die gesamte Wand entlang und zeigte Wüstenszenen. An jedweder sinnvollen Stelle waren Lichtlacrima eingefügt worden, zweifellos Geschenke aus Heartfilia, mit dem Jadestadt seit seiner Gründung die Freundschaft pflegte. Wertvolle Bänke aus Magnolia und kristalline Kronleuchter aus Clover belegten weitere Bündnisse.

Doch trotz dieser vielen wertvollen Geschenke blieb das vorherrschende Motiv der Jademarmor. Stolz auf die eigenen Fortschritte? Oder Überlegenheit? Oder schlicht die Liebe für die Steinmetzarbeit? Die Bedeutung all dessen war genauso schwer zu definieren wie die des Turms an und für sich. Meredy fragte sich, ob der Stadtgründer das sogar beabsichtigt hatte.

Darauf bedacht, immer eine Wand im Rücken zu haben, schlich sie zur ebenfalls marmornen Treppe und folgte dieser nach oben ins Audienzzimmer, das in einem ähnlich prachtvollen Stil gehalten wurde. Dem folgten drei Etagen mit fürstlichen Gästequartieren, ein Bankettsaal, die fürstliche Privatbibliothek und schließlich die Privatgemächer der Fürstenfamilie.

Als Dienstmagd verkleidet, hatte Meredy diese Räumlichkeiten schon einmal eingehend untersucht, kurz nachdem Hisui als neue Jadefürstin vor sechs Zyklen inthronisiert worden war. Seitdem hatte sich wenig verändert. Die Staffelei an einem deckenhohen Südfenster kündete vom Kunstsinn der Frau und in den Regalen waren einige neue Bücher und Schriftrollen dazu gekommen.

Auf dem Schreibtisch stapelten sich ungewöhnlich viele Unterlagen. Vielleicht Kalkulationen, wie die vielen Evakuierten zu versorgen waren. Alles sah so aus, als wäre es vor kurzem noch benutzt worden. Nichts ließ auf eine Belagerung schließen.

Meredy runzelte die Stirn. Das passte nicht mit dem zusammen, was Libra erzählt hatte. Hatte die Jaderitterin gelogen? War sie eine Verräterin und hatte das Heer von Sabertooth fortgelockt? Aber wo waren dann Hisui und ihre Untertanen? Und was hatten die Dämonen wirklich vor?

Weiter schlich Meredy, spähte in die Schlafgemächer, die genauso verlassen wie der Rest des Turms waren, die Laken noch tadellos über den dicken Matratzen ausgebreitet und glatt gestrichen, die Kissen aufgeschlagen, alles bereit dafür, sich zur Ruhe zu betten.

Meredy war bereits auf halbem Weg zum Klosett, als sie von oben Stimmen hörte, die sich langsam näherten. Sie verschwand im Schatten eines bodenlangen Wandvorhangs und lauschte auf zwei Schrittfolgen.

Eine war energisch, herrisch, jeder Schritt erbarmungslos, völlig desinteressiert an allem, was in den Weg zu geraten drohte. Ein Kriegsherr, gewohnt zu befehlen, gewohnt an den Kampf auf Leben und Tod, gewohnt an den Sieg, die vollkommene Unterwerfung des Feindes. Die andere Schrittfolge war spielerisch und leichtfertig, aber die Hüpfer waren gleichfalls rücksichts- und bedenkenlos. Anders als der kalten Grausamkeit der Ersten hafteten dieser ein gewisser Sadismus und eine Häme an, die Meredy unangenehm berührten. Gleichwohl war auch vor den ersten schrill bettelnden Worten der Hüpferin unverkennbar, wer hier höher im Rang stand.

„Meisterin Kyouka, bitte lasst mir nur einen von ihnen!“

„Still!“, herrschte die Kyouka Genannte, ihre Stimme tief und voller Härte. Die Andere winselte wie ein getretener Hund. „Schlimm genug, dass wir in dieser stinkenden Menschensiedlung ausharren müssen, du wirst keinen Einzigen von ihnen in den Wahnsinn treiben.“

„Aber Meisterin Kyouka, sie werden doch sowieso bald sterben. Der Herr braucht sie nicht mehr“, greinte die Hüpferin. Beinahe klang sie nach einem schmollenden Kleinkind, wenn da nicht diese grauenhafte Menschenverachtung in den Worten mitschwingen würde. Meredy musste sich wirklich zusammenreißen, um ihren Ekel in den Griff zu bekommen.

„Der Herr will, dass wir die Soldaten von Sabertooth hier binden. Dafür müssen wir sie weiterhin im Ungewissen lassen. Deine Opfer neigen dazu, außer Kontrolle zu gehalten, Lamy!“

Lamy seufzte laut, als wäre sie fürchterlich vom Schicksal geplagt. „Es ist nicht meine Schuld, dass die Menschen so fragil sind!“

„Du wirst keinen anrühren“, erwiderte Kyouka und ihre Worte klangen absolut.

„Warum kann Meisterin Seilah die Soldaten da draußen nicht auch einfach unter ihre Kontrolle bringen?“

„Sich auf solch einen niederen Verstand zu konzentrieren, erfordert auf seine Art auch Anstrengung. Und bei so vielen Menschenwürmern umso mehr. Sie hat schon genug zu tun.“

„Hat sie deshalb auch die Wüstenratte verloren?“

Kyoukas Züchtigung kam beinahe ohne Vorwarnung. Meredy hörte nur, wie sie härter auftrat, dann war das schmerzhafte Ratschen ihrer Füße – oder Klauen? – auf dem blank poliertem Boden zu hören, ehe ihr Schlag Lamy traf. Die andere Dämonin war nicht darauf vorbereitet und stieß einen gepeinigten Schrei aus. Meredy konnte anhand der Geräusche nur Vermutungen anstellen, aber sie hatte den Eindruck, dass ein normaler Mensch unter Kyoukas Schlag wahrscheinlich zusammen gebrochen wäre.

„Merke es dir gut, Unwürdige: Seilah hat das Menschenweib laufen lassen, weil es nichts mehr wert war. Wichtig war nur, dass das Mischlingsgezücht nach Sabertooth kam und seine Aufgabe erfüllte.“

Damit musste Libra gemeint sein, überlegte Meredy, und wenn dem so war, dann war von Anfang an geplant gewesen, das Heer von Sabertooth fortzulocken – und das konnte nur bedeuten, dass…

Vor Meredys geistigem Auge tauchten die vielen tausend hoffnungsvollen Gesichter der Flüchtlinge auf, die Sting und Rogue in Sabertooth begrüßt hatten. Die Männer, Frauen und Kinder, die so viel Vertrauen in ihre Fürstin und in die legendären Klauen setzten. Die Soldaten, die vor den Toren von Jadestadt ihr Leben gelassen hatten im Vertrauen darauf, durch ihr Opfer ihre Familien in der Heimat zu schützen…

Und Meredys Freunde, die in Sabertooth zurück geblieben waren, alte wie neue. Levy, die sich so viel Mühe gab, auf ihre Weise zu helfen. Und Juvia, die gar keinen Grund gehabt hatte, sich ihnen anzuschließen, und nun dennoch die Stellung hielt.

Ein hohles Gefühl machte sich in Meredy breit. Waren ihre Freunde in Sabertooth womöglich in größerer Gefahr als sie hier in Jadestadt?

„Verzeiht, Meisterin Kyouka!“, quietschte Lamy noch schriller als vorher. „Ich krieche im Staub zu Euren Füßen, bitte tötet mich nicht!“

Die andere Dämonin schnaubte verächtlich und ein weiterer Schlag oder Tritt schien Lamy zu treffen, denn sie wimmerte gepeinigt.

„Du bist nicht einmal das wert, Lamy. Halte dich fern von den Menschlingen und wage es ja nicht, Seilah zu stören. Wenn der Herr mit Plutogrimm in Sabertooth fertig ist, kannst du dich zuerst um die Soldaten draußen kümmern.“

„Darf ich dann auch mit dieser Fürstin spielen, die sie die Wüstenlöwin nennen?“

„Was auch immer“, schnaubte Kyouka wieder und setzte sich in Richtung der Treppe in Bewegung. Lautes Rascheln verriet, das Lamy sich hastig aufrichtete, um ihrer Meisterin zu folgen.

Angestrengt lauschte Meredy den Schrittfolgen der beiden Dämonen, verfolgte, wie sie die Treppen hinunter stiegen und schließlich den Turm verließen. Selbst danach wartete die Assassine noch eine ganze Weile, ehe sie es wagte, ihr Versteck zu verlassen.

Ihre Hände fühlten sich schwitzig an und ihr wurde schwindelig. Eine furchtbare Angst bemächtigte sich ihrer – zu groß und zu reißerisch, um sie mit Ruhe zu ersticken. Angst um Juvia und Levy, die sich, wenn Meredy die Worte der beiden Dämonen richtig deutete, bald dem Anführer von Tartaros gegenüber sehen würden. Angst um Lyon, der in einer Stadt unterwegs war, in der sich eine Dämonin befand, die allem Anschein nach in der Lage war, Menschen zu manipulieren…

Prioritäten setzen, ermahnte Meredy sich selbst und atmete zittrig ein und aus. Erst eine Nachricht an die Wüstenlöwin schicken, dann Lyon suchen, dann von hier verschwinden!

Sachte nickte sie sich selbst zu und zog einen kleinen Spiegel aus ihrer Gürteltasche, während sie die letzte Treppe nach oben aufs Dach des Turms stieg.
 

Seit er ohne Meredy in der Stadt unterwegs war, hatte Lyon mehr denn je das Gefühl, über einen Friedhof zu marschieren. Weder Mensch noch Tier war zu sehen – abgesehen von den Fliegen, die sich über das vergammelnde Essen hermachten. Selbst die Ratten und Vögel, die man bei solch einem Festmahl erwarten könnte, hielten sich fern. Lyon lief es trotz der Hitze immer wieder eiskalt den Rücken hinunter.

In den Kasernen hatte er keine Menschenseele vorgefunden, nur auffällig viele Parallelen zur Kaserne von Crocus. Der Stadtgründer und –planer hatte die Kaiserstadt entweder selbst besucht oder sich militärische Berater von dort hinzugeholt. So oder so, die Kaserne war ausgesprochen effektiv angelegt. Die Versorgungswege waren breit genug für zwei Fuhrwerke, die Lager von mehreren Seiten begehbar, die Übungsplätze vielseitig, die Ställe hell und geräumig. Alles war hervorragend in Stand gehalten worden und Lyon würde einen Sold darauf wetten, dass der Verwaltungsapparat hier genauso tadellos funktionierte wie in Crocus.

Es wurde gern unterschätzt, weil es im Vergleich zu so ziemlich allem anderen, was mit dem Militär zu tun hatte, so unspektakulär aussah, aber der Krieg aus Papier und Tinte war mindestens genauso fordernd wie der mit dem Schwert. Materialbeschaffung, Rekrutierung, Auszahlung von Sold, Dienstpläne, Baumaßnahmen… Das alles trug genauso sehr zum Erfolg einer Armee bei wie die Übungen auf dem Sand.

Die Gedanken an all das hatten Lyon zumindest für eine Weile von seinen Sorgen um Meredy und Gray ablenken können, aber irgendwann ertappte er sich doch wieder dabei, wie er sich fragte, wie es den Beiden ging.

Auch wenn es sein Vorschlag gewesen war und er immer noch wusste, dass es das Vernünftigste war, die Trennung von Meredy bereitete ihm Bauchschmerzen. Die Chancen, dass sie im Turm einem der Dämonen begegnete, waren beängstigend hoch. Lyon wünschte sich, er hätte damals in Boscun darauf beharrt, dass Meredy nach Crocus zurückkehrte. Oder dass sie in Malba weiter nach Informationen suchte, statt mit in den Süden zu kommen. Dass sie einfach irgendwo anders war als hier, wo hinter jeder Ecke der Tod lauern könnte. Wie könnte Lyon jemals weiter machen, wenn er Meredy verlieren sollte? Alles könnte er hinter sich lassen – sogar seine wahre Natur als Eismensch –, aber nicht sie

Zitternd stützte der Weißhaarige sich an einer Werkstattwand ab und schloss die Augen, um sich all die Lektionen über Besonnenheit ins Gedächtnis zu rufen, die er jemals gehört hatte. Von seinen Eltern – die Erinnerung an seine Mutter versetzte ihm einen grauenhaften Stich im Herzen. Von Ur und von Ausbilder Rob – der Gedanke verursachte einmal mehr das bohrende Gefühl von Schuld in seinen Eingeweiden. Er versuchte, die Personen hinter den Lektionen vollkommen auszublenden und sich nur auf die Worte an und für sich zu konzentrieren, damit er wieder klar denken konnte.

Er durfte hier nicht in Panik verfallen. Wenn jemand unbemerkt an Dämonen vorbei kam, dann Meredy. Er hatte ihr seinen Rücken anvertraut und sie ihm den ihren. Damit Meredy nicht noch mehr Gefahren auf sich nehmen musste und um Stings und Rogues Heimat zu retten, musste Lyon sich zusammenreißen und seinen Beitrag leisten!

Das Zittern blieb, als Lyon sich seinen Weg durch das Netz aus Lagern und Werkstätten suchte, aber er hielt seine Angst in Schach, konzentrierte sich auf seine Umgebung, eine Hand immer an seinem Breitschwert.

Selbst im Nordviertel setzte sich das penible Straßenraster fort, aber hier ergab das sogar noch mehr Sinn als im Rest der Stadt. Die soliden Straßen erleichterten den Transport der Waren, die strikte Durchnummerierung der Werkstätten und Lager ermöglichten eine schnelle Zustellung. So abstrakt Lyon der Gedanke einer Planstadt vorher auch vorgekommen war, jetzt musste er sich doch eingestehen, dass sie ihre Vorteile hatte.

Als er sich dem Steinbruch näherte, konnte er ein gedämpftes, monotones Brummen vernehmen, das er nicht zu definieren wusste. Er hatte bisher noch nie einen Steinbruch vom Nahen gesehen, aber diese Laute waren ihm unerklärlich. Es schien zu gleichmäßig und zu leblos, um von einem Menschen oder Tier zu stammen, und es passte zu keiner der Apparaturen, die man erwarten würde.

Bevor er den Sichtschutz der letzten Werkstatt verließ, zögerte Lyon wieder, die Hand nun fest um den Schwertgriff gelegt. Das Brummen war hier lauter denn je, aber immer noch unverständlich. Trotz der furchtbaren Wüstenhitze verspürte Lyon eine Gänsehaut.

Es kostete ihm eine Menge Überwindung, aus dem Schatten der Schmiede heraus zu treten und zu einem Kran hinüber zu gehen, der am Rande des Steinbruchs stand und einen perfekten Sichtschutz darstellte. Zumindest vom Steinbruch aus konnte Lyon so nicht gesehen werden, aber er war sich unangenehm bewusst, dass er hier ansonsten wie auf dem Präsentierteller stand.

Noch einmal holte er Luft, dann lehnte er sich langsam um den Kran herum und blickte in den Steinbruch hinunter. Das Bild, das sich ihm bot, war unbegreiflich.

Hunderte, aberhunderte, nein, tausende Menschen saßen, standen und lagen zwischen und auf den kostbaren Marmorbrocken und den Arbeitsgeräten. Männer und Frauen, Alte und Junge, Zivilisten und Soldaten quer durcheinander. Keiner war gefesselt, nur einige wenige Soldaten waren verletzt, aber niemand rührte sich vom Fleck. Sie alle blieben, wo sie waren, und murmelten unablässig vor sich hin. Das war der Ursprung des Brummens.

Lyon spürte, wie ihm die Übelkeit hoch kam. Er ging in die Knie und spie sein Frühstück wieder aus, würgte und würgte und hatte doch die ganze Zeit das Gemurmel der Gefangenen im Ohr.

Als sein Magen sich endlich wieder beruhigt hatte, stemmte er sich mühsam in die Höhe und blickte wieder in den Steinbruch hinab. Die Gefangenen waren in einem miserablen Zustand, aber er konnte zwischen ihnen keine Leichen entdecken. Wie war das möglich? Sie wurden wahrscheinlich schon seit mehr als zwanzig Tagen so gefangen gehalten. Sie müssten allesamt verdurstet sein. Oder wenn sie doch irgendwie mit Wasser versorgt wurden, was war mit Nahrung? Und wenn sie schon so lange so da standen, müssten viele längst einen Hitzschlag erlitten haben. Es ergab keinen Sinn!

Obwohl keiner der Gefangenen noch irgendetwas um sich herum wahrzunehmen schien, hielt Lyon sich weiterhin halb hinter dem Kran versteckt, während er versuchte, die Menschen zu zählen. Während der Exerzierübungen in der Kaiserlichen Armee hatte Lyon auch gelernt, mit einem Blick auf eine feindliche Gruppe deren ungefähre Kopfzahl einzuschätzen. Hier war das schwieriger. Die Gefangenen hatten sich nicht gleichmäßig verteilt, das Gelände war unübersichtlich und die Liegenden und Sitzenden oder auch die Kinder konnten leicht übersehen werden. Letztendlich schätze Lyon die Zahl auf sechs- bis sechseinhalbtausend ein. Bei viertausend Einwohnern machte das zweitausend oder mehr Flüchtlinge aus den Wüsten- und Steinbruchsiedlungen. Das stimmte ungefähr mit den Zahlen überein, die Lyon in Sabertooth aufgeschnappt hatte. Das wiederum hieß, dass es bei der Besetzung von Jadestadt kaum Verluste gegeben haben konnte.

Lyon erinnerte sich an ein Seminar über Spekulative Magie. Es war bekannt, dass entsprechend begabte Windmagier dazu in der Lage waren, Tiere zu kontrollieren. Diese spezielle Form der Windmagie, bei der dem Opfer Sinnesreize übermittelt wurden, welche es lähmen oder nach dem Willen des Magiers bewegen konnten, wurde Herdenmagie genannt. Die Anwendung am Menschen – dann Telepathie genannt – war laut dem Kaiserlichen Gesetz verboten, aber in dem Wissen, dass sich nicht jeder an dieses Gesetz hielt, hatte man in dem Seminar damals auch über Telepathie und ihren Kriegseinsatz gesprochen. Die Grenzen von Telepathie hingen stark davon ab, wie viele Menschen in welcher Weise manipuliert wurden. Dass diese Menschen hier nur apathisch herum stehen sollten, machte es vermutlich einfacher für den Winddämonen, der sie kontrollierte, aber ihre schiere Menge musste eine unglaubliche magische Kraft kosten.

Lyon brummte unwillig. Das alles ergab nicht den geringsten Sinn! Was hatten die Dämonen mit diesen Menschen vor? Als Geiseln waren sie doch nur sinnvoll, solange man von ihnen wusste. Und wenn die Dämonen tatsächlich alle Menschen in der Stillen Wüste auslöschen wollten, ergaben ihre bisherigen Maßnahmen wenig Sinn. Sie verhielten sich bei weitem nicht so zerstörerisch, wie Lyon es nach Levys Zusammenfassung des Buches dieser Windpriesterin erwartet hatte.

Hielt jemand sie an der Kandare? Aber wer und warum? Was war das Ziel des Ganzen? Und… steckte derjenige auch hinter dem Angriff auf Lyons Heimat und hinter der Finanzierung von Avatar? Hing das alles auch irgendwie mit dem zusammen, was die Drachenreiter zusammengeführt hatte? Wer hatte so viel Macht, um Drachenartige aus dem Gleichgewicht zu bringen, und so viel Ressourcen, um in allen Ecken Fiores derartigen Schaden anzurichten?

Lyon wünschte sich, er könnte mit den Anderen darüber reden. Wenn sie nur alle gemeinsam darüber nachdachten und ihre Erkenntnisse kombinierten, fanden sie vielleicht endlich eine richtige Spur.

Um Lautlosigkeit bemüht, zog Lyon sich in den Schatten der Werkstätten zurück und schlug dann einen weiten Bogen in Richtung des Südtores, wo er sich mit Meredy treffen sollte. Er hoffte, dass sie eindeutigere Informationen hatte, vielleicht sogar endlich handfeste Hinweise.

Vor allem aber hoffte er, dass es ihr gut ging und dass sie Jadestadt endlich wieder verlassen konnten. Sein Gefühl sagte ihm, dass es hier nur immer gefährlicher wurde. Ohne mehr Rückendeckung wollte er sich nicht mit dem Dämon anlegen, der all diese Menschen unter seiner Kontrolle hielt.

Als er das Brummen der Gefangenen nicht mehr hören konnte, kam ihm die Stille der Stadt erdrückend vor. Seine Schritte schienen aller Vorsicht zum Trotz zu dröhnen. Sogar seine Atemzüge waren zu laut. Hinter jeder Ecke rechnete er mit einem ganzen Trupp Dämonen.

Aussichtslos.

Lyon stockte der Atem und er blieb wie festgefroren stehen. Vor seinem inneren Auge tauchte Meredy auf. Sie lag am Boden und krümmte sich immer wieder zusammen. Ihre schlanken Finger krallten sich um die Fugen des Pflasters. Sie drückte ihre Stirn auf den Boden, sodass ihr Gesicht nicht zu sehen war.

Dieser Kampf ist vergeblich, flüsterte eine samtige Stimme in Lyons Kopf. Sie war weiblich, beinahe sinnlich zu nennen, doch in ihr klang etwas schneidend Kaltes mit. Keine Gnade, kein Mitleid. Nur gleichgültige Grausamkeit. Ihr könnt nicht entkommen, könnt euch nirgends verstecken. Ihr seid allesamt dem Tode geweiht.

Meredy krümmte sich noch mehr zusammen und presste sich die Hände auf die Ohren. Lyon streckte die Arme aus, bereit, seine Freundin an sich zu ziehen, willens, sie mit seinem eigenen Leben zu beschützen…

Jämmerlich!

Die Arme griffen ins Leere, bekamen weder samtig weiche Haut noch seidige Haare zu fassen. Blinzelnd strich Lyon sich über das Gesicht. Das war falsch. Ein Trugbild. Er rief sich die Gefangenen im Steinbruch wieder in Erinnerung. Sie wurden von einem Winddämon kontrolliert. Wer wusste, was sie sahen und hörten, während sie dort standen und stumpfsinnig murmelnd ins Leere starrten…

Mit einem Ruck setzte Lyon sich wieder in Bewegung und zwang sich dabei, in Etappen zu denken, sich auf die nächsten Schritte zu konzentrieren. So war er in der Kaiserlichen Armee auf die Konfrontation mit einem Telepathen vorbereitet worden. Telepathen durchforsteten die Gedanken ihrer Opfer nach Ängsten und benutzten diese als Hebel. Man konnte seine Ängste nicht verstecken, aber man konnte ihre Hebelwirkung schwächen, indem man sich auf klare, wichtige Gedanken konzentrierte. Keine komplizierten Pläne, keine Fragen, keine Spekulationen.

Lyon musste zum Tor. Darauf konzentrierte er sich. Er blickte weder nach links noch nach rechts, lauschte nicht, suchte nicht. Es ging nur darum, weiter nach Süden zu gehen. Am Rande seines Gesichtsfeldes erkannte er irgendwann den Garten von Jadestadt. Er hatte also die Südhälfte der Stadt erreicht. Jetzt war es nicht mehr weit bis zum Tor, wo hoffentlich Meredy auf ihn war-

Aussichtslos. Die Stimme klang beinahe amüsiert. Als wäre Lyons Versuch, ihrem Einfluss zu entkommen, von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Kein Menschengewürm kann mir entgehen. Die Lehren eurer Magistri verstehen nichts von wahrer Macht. Ich habe schon Menschen versklavt, als sie das erste Mal einen Fuß auf unseren Grund und Boden gesetzt haben…

Wieder tauchte Meredy vor Lyons inneren Augen auf. Sie trug nur ein Leinenhemd und Lederhosen, ihre Haare waren offen, ihre Züge jünger, weniger kontrolliert. Tränen rannen in Strömen über ihre Wangen, ihre Augen waren voller Horror und Scham, während ihre Lippen sich unablässig bewegten.

Armes, gebrochenes Geschöpf…, spottete die Stimme.

Lyon öffnete die Lippen zum Protest, doch er erstarb, als er in der Vision sah, wie er selbst die Arme hob, um Meredy zu berühren, sie vorsichtig zu trösten, und wie sie davor zurück schreckte. Das war sein schlimmster Alptraum. Egal wie lange das schon her war, egal wie nahe er Meredy nun war, diese Erinnerung machte ihm auch heute noch zu schaffen. So wichtig dieser Schritt damals auch für sie Beide gewesen war, es blieb eine Tatsache, dass Meredy damals vor seinen Augen zerbrochen war und dass er nichts – absolut nichts! – für sie hatte tun können…

Lyon spürte vage, wie sich sein Körper bewegte, aber seine Gedanken kreisten einzig und allein um Meredy und seine schmerzhafte, verdammenswerte Hilflosigkeit.

Irgendwo in der Ferne glaubte er, jemanden seinen Namen rufen zu hören, aber das ging unter im Gewisper der Stimme…

Die Wege, die zu unangenehmen Erkenntnissen leiteten

„Natsu, Gray!“

Der scharfe Ruf des Rüstungsmeisters genügte, um Gray sofort aufspringen zu lassen. Beinahe wäre ihm sein Kurzschwert, das er mit dem Wetzstein behandelt hatte, um sich selbst beschäftigt zu halten, aus der Hand geglitten. Überraschenderweise war Natsu nur unwesentlich langsamer, obwohl er eben noch im Schatten des Sonnensegels gedöst hatte.

Wieder war Gray verblüfft, wie diszipliniert der Gleichaltrige sein konnte, obwohl er offensichtlich nie eine vollständige militärische Ausbildung erhalten hatte. Zumindest ließ das, was Gray bisher über Natsu gehört hatte, keine solchen Rückschlüsse zu. Ständig wechselnde Ausbilder und die ganzen Reisen waren bestimmt für Natsus erstaunliche Anpassungsfähigkeit verantwortlich, aber für seine Disziplin war das sicher nicht zuträglich gewesen – zumal er zugegeben hatte, nichts mit seinen Titeln in Magnolia am Hut zu haben.

Gemeinsam eilten sie zu Orga, der mit Minerva und einem hageren Soldaten unter einem Sonnensegel beisammen stand, welches vor dem privaten Schlafzelt der Fürstin aufgespannt worden war. Die Wüstenlöwin stand mit gewohnt beherrschter Miene neben ihrem Rüstungsmeister und hatte für die Beiden Neuankömmlinge nur ein knappes Nicken als Begrüßung übrig.

„Das ist Aldad, einer der Späher, die wir darauf angesetzt haben, nach einer Nachricht von Meredy Ausschau zu halten“, stellte Orga den Soldaten vor, der Natsu und Gray ruckartig zunickte. Er mochte am Ende seiner dritten Dekade sein. Sein Gesicht war faltig und pockennarbig, sein Haar bereits größtenteils ergraut, aber wie alle Männer hier hielt er sich aufrecht, die Schultern gestrafft, der Blick fest und selbstsicher.

„Also gibt es endlich ein Zeichen von Lyon und Meredy?“, fragte Gray begierig.

„Von Meister Lyon wurde nichts gesagt, verzeiht“, erwiderte Aldad mit einer angedeuteten Verbeugung. „Die Nachricht enthielt allgemein keine persönlichen Informationen. Die Kernbotschaft wurde wahrscheinlich als für zu dringlich empfunden, um mehr als unbedingt nötig zu übermitteln. Und wenn Ihr mir das Urteil erlaubt: Es ist in der Tat höchste Eile geboten.“

Gray verspürte den Drang, den Mann zu schlagen und alle Anderen anzuschreien, dass es nichts Wichtigeres gab als das Überleben seiner Familie. Seit zwei verfluchten Tagen wartete er darauf, etwas über Lyon und Meredy zu erfahren, und es machte ihn wahnsinnig. Was sollte er tun, wenn Lyon und Meredy starben? Wie sollte er die Heimat alleine wieder aufbauen? Und wie sollte er das seinem Vater erklären, wenn der noch lebte? Diese Gedanken setzten Gray schon viel zu lange zu…

Doch dieses Mal hatte er sich besser im Griff. Vielleicht auch, weil er Natsu und dessen Versprechen hinter sich hatte.

„Kommt zur Sache“, forderte Minerva kühl. „Wie lautet die Nachricht?“

Der Soldat straffte die Schultern und schlug einen zackigen, nüchternen Tonfall an. Minerva erinnerte Gray in ihrer Wirkung auf ihre Soldaten irgendwie an Erza. Die hatte schon während ihrer Zeit als Rekrutin eine geradezu furchteinflößende Autorität besessen, aber letztendlich hatte sie damals wie heute nicht durch Furcht, sondern durch Respekt geführt.

„Die Botschaft ist in einer Eilkodierung verfasst. Wörtlich lautet sie: Ziel Sabertooth. Heer abrücken. Jadestadt Ablenkung. Diese Nachricht wurde mehrmals wiederholt. Die letzten Male wurde noch Beeilung hinzugefügt.“

Gray wurde schlecht. Meredy war einer der beherrschtesten Menschen, die er kannte. Wenn sie solch eine dringende Botschaft schickte, musste das etwas heißen. Und ihre Nachricht war beängstigend. Sabertooth wurde nur von einer halben Streitmacht und zwei Magiern verteidigt und beherbergte zigtausende wehrlose Einwohner und Flüchtlinge. Wenn der Feind dort zuschlug, würde es in einem Massaker enden.

Der Gedanke an seine Freunde dort, ließ Gray beinahe zittern. War Loke bereits wieder stark genug, um sich selbst und die Anderen verteidigen zu können? Und was würde mit Levy geschehen? Beim letzten Mal hatte sie Glück gehabt, aber wie lange würde dieses Glück andauern, wenn sie womöglich direkt von einem Dämon angegriffen würde?

Und Juvia? Sie war überwältigend stark, aber sie schien sich nie darin geübt zu haben, ihre Magie im Kampf einzusetzen. Für einen Moment glaubte Gray, ihren leblosen Leib vor sich zu sehen. Ihr hübsches Gesicht bleich und leblos, die schönen Augen ins Leere gerichtet… Doch Gray ballte heftig die Hände zu Fäusten und zwang sich, das Bild zu verdrängen. Wenn jemand die Dämonen überraschen konnte, dann war das Juvia! Sie hatte schon einmal bewiesen, wie stark sie war, sie konnte es wieder schaffen!

„Sie haben uns an der Nase herum geführt“, murmelte Minerva düster. Ihr Blick zuckte in Richtung eines der Sonnensegel, die für die Soldaten aufgestellt worden waren. „Dann haben sie Libra und ihre Kameraden womöglich nur glauben lassen, sie wären aus eigener Kraft entkommen.“

Gray folgten dem Blick der Wüstenlöwin und erkannte die Jaderitterin zwischen den Soldaten von Sabertooth. Sie kümmerte sich um die Pflege ihres geliehenen Brustharnisches, beteiligte sich jedoch nicht an den Gesprächen der Männer und Frauen um sie herum. Die Vorstellung, dass all die Opfer und Strapazen, welche die Frau auf sich genommen hatte, dem Feind in die Hände gespielt hatten – ja, sogar von ihm benutzt worden waren –, machte Gray einmal mehr unglaublich wütend auf den Drahtzieher hinter all dem.

„Und ihre Freunde sind umsonst gestorben“, grollte Orga. „Was tun wir jetzt?“

„Wir kehren mit dem Heer zurück“, entschied Minerva ohne Zögern. Als Gray Protest erheben wollte, warf sie ihm einen finsteren Blick zu, der Erza abermals Konkurrenz machte, ehe sie an ihm vorbei sah. „Natsu, du und Gray kommt alleine klar?“

„Kein Problem. Ich weiß, wie man Sandschlitten fährt. Lasst uns für den Fall der Fälle genug Proviant da, Wasser holen wir in der Stadt, sobald wir euch folgen können“, antwortete der Feuermagier prompt.

Minerva nickte zufrieden. „Für den Fall, dass die Bewohner von Jadestadt noch leben, lasse ich die Hälfte der Pioniere und fünf Feldärzte hier. Holt sie aber erst, wenn die Stadt sicher ist.“

Verwirrt blickte Gray zwischen der Fürstin und Natsu hin und her. Er hatte das Gefühl, als hätten sie sich vorher schon miteinander abgesprochen, aber in der letzten Zeit war Natsu immer bei ihm gewesen und hatte gar keine Gelegenheit für solch eine Absprache gehabt. Hatte Natsu sich während seiner Zeit als Gast in Sabertooth damals so sehr mit der Wüstenlöwin vertraut gemacht? Oder hatte Minerva von Sting und Rogue genug Informationen über den Drachenreiter erhalten, um ihm so vorbehaltlos vertrauen zu können?

„Lasst euch nicht töten“, sagte Orga brummend. In seinen dunklen Augen war aufrichtige Sorge zu erkennen.

Aus Natsus nächsten Worten war das Grinsen heraus zu hören, aber als seine Hand auf Grays Schulter hinab fiel und diese kräftig drückte, vermeinte der Eismagier, auch seine Entschlossenheit zu spüren. Einmal mehr wurde er von einem warmen Gefühl der Dankbarkeit erfüllt.

„Keine Sorge, wir können es uns nicht leisten, hier zu sterben. Wir haben noch etwas zu erledigen.“
 

Der schroffe Fels der Zuflucht fühlte sich kühl in Romeos Rücken an, ein abstrakter Widerspruch zur gnadenlosen Hitze, welche sogar die Luft über dem Meer aus Sand flirren ließ. Hinter den teilweise zertrümmerten Felssäulen, welche die Wüstennomaden die Wächter nannten, erstreckte sich die Wüste in vollkommener Stille, unbeeindruckt und unangetastet von den Kämpfen, die erst gestern hier getobt hatten.

Die Spuren waren bereits verwischt worden, bevor die letzten Toten geborgen worden waren. Einige der Opfer des Wasserdämons, der südlich der Zuflucht sein Unwesen getrieben hatte, hatten gar nicht geborgen werden können. Zu schnell hatte die Wüste die Toten für sich beansprucht. Als wollte sie beweisen, dass sie letztendlich die alleinige Herrscherin war – über die Dämonen, über die Wüstennomaden und sogar über sich selbst.

Obwohl so viele ihrer Angehörigen gestorben waren, waren die Wüstennomaden bereits dabei, die Zuflucht wieder herzurichten. Die Toten hatten sie verbrannt, ihre Asche in der Wüste zerstreut, dann hatten sie sich einfach wieder an die Arbeit gemacht. Als wäre es nicht wichtig, dass ein gutes Drittel der Bewohner der Zuflucht tot war. Ja, als würde es ihnen gar nicht auffallen.

Für Romeo war dieses Verhalten vollkommen unverständlich. In seiner Heimat dauerte die Totenwache für gewöhnlich drei Tage, solange der Tote nicht an einer ansteckenden Krankheit gestorben war. Er hatte selbst schon eine für Meister Roubaul gehalten und obwohl er nicht sagen konnte, dass er dem Mann jemals außergewöhnlich nahe gestanden hatte, hatte es ihn doch viele Monde gekostet, sich daran zu gewöhnen, dass er nicht mehr da war.

Sicherlich hatte diesbezüglich jedes Volk seine eigenen Sitten und Riten, aber Romeo konnte sich nicht vorstellen, dass Sting auch so eine Gefühlskälte zur Schau stellen würde, wäre er jetzt hier. Wenn er allein daran dachte, was für Sorgen Sting sich um Yukino gemacht hatte und wie schwer Dobengals vermeintlicher Tod ihn getroffen hatte…

Müde seufzend strich Romeo sich mit der gesunden Hand durch die Haare. Er wünschte sich, er könnte irgendetwas tun, um seine umher springenden Gedanken abzulenken. Aber es war noch lange nicht daran zu denken, dass Wendy seinen Arm heilte.

Nachdem sie gestern Abend wieder erwacht war, war sie immer noch zu geschwächt gewesen, um Magie anzuwenden. Sie hatte sich mit konventionellen Mitteln um die Verletzten gekümmert, bis Romeo sie ermahnt hatte, sich endlich schlafen zu legen.

Jetzt war sie wieder seit dem Sonnenaufgang dabei, sich um die Verletzten zu kümmern. Toraan und Aki halfen beim Wiederaufbau und wo Gajeel war, wusste Romeo nicht. Wahrscheinlich versuchte er auch, sich vom Trubel fernzuhalten.

Das war zumindest Romeos Grund, warum er sich hier draußen versteckt hielt. Mit seinem verletzten Arm konnte er sich ohnehin nirgends nützlich machen, also hatte er nach einem ruhigen, schattigen Platz gesucht, wo er niemandem im Weg war – und wo ihn niemand stören konnte, während er seinen Gedanken nachhing.

Die Erinnerung an Wendys Blick, als sie darauf bestanden hatte, mit ins Kampfgebiet zu kommen, ließ ihn einfach nicht mehr los. So grimmig entschlossen hatte er sie nie zuvor erlebt. Aber er verstand nicht, woher dieser Wunsch, sich in Gefahr zu begeben und einen Kampf zu riskieren, auf einmal gekommen war.

Wendy musste nicht kämpfen. Das war seine Aufgabe. Dafür hatte er trainiert, seit er ein kleiner Junge gewesen war. Dafür hatte er sich alles abverlangt, hatte gelernt, Schmerzen, Hunger und Müdigkeit auszuhalten, alles zur Waffe zu machen, alle Hemmungen zu überwinden…

So viel hatte er auf sich genommen, nur damit Wendy sie selbst bleiben konnte.

Ja, wenn er ehrlich war, hatte er in all dem irgendwann auch eine Freude gefunden, die über die blinde Abenteuerlust eines unwissenden Bengels hinaus ging. Er war stolz auf seine Fortschritte, genoss den Nervenkitzel eines guten Kampfes, wurde eins mit dem Bogen, wenn er einen Pfeil anlegte…

Aber sein erster Gedanke bei jedem Schuss, jedem Tritt, jedem Hieb hatte immer und überall Wendy gegolten.

War er bei all dem nicht stark genug gewesen? Hatte Wendy sich unsicher gefühlt? Hatte sie ihm nicht zugetraut, mit einem Dämon fertig zu werden?

Diese Fragen geisterten durch seinen Kopf, seit er gestern hilflos ob seines verrenkten Arms hatte mit ansehen müssen, wie Gajeel die bewusstlose Wendy fort von dem Gemetzel im Inneren Kreis gebracht hatte.

Als in seinem Blickfeld zwei Paar nackter Füße auftauchten, hob Romeo verwirrt den Blick. Vor ihm standen Toraan und Aki. Die beiden Dämonenkinder wirkten sehr viel ruhiger, als Romeo sich fühlte.

„Yukino geht es schon viel besser, seit sie regelmäßig Wasser kriegen kann“, erklärte Aki und ließ sich sehr unelegant vor Romeo in den Sand fallen. „Wendy glaubt, dass sie schon sehr bald wieder zu Bewusstsein kommen könnte.“

Erleichtert nickte Romeo. Er war froh, dass er sein Versprechen gegenüber Sting und Rogue hatte halten können. Hoffentlich ging es den Beiden auch gut. Nach allem, was er wusste, könnten sie jetzt mit Lucy bei Zirkonis’ Höhle angekommen sein. Womöglich waren sie auch schon auf der Suche nach der Bruthöhle.

„Wie sieht es bei den Wüstennomaden aus?“, fragte er vorsichtig, um sich aus seinen Gedanken an seine Freunde heraus zu reißen.

„Schlechter, als sie es jemals zugeben würden, aber sie werden es überleben“, war Akis nachlässige Antwort.

Toraan, die sich sehr viel eleganter niedergelassen hatte, verdrehte in Richtung ihres Freundes die Augen, ehe sie zu einer richtigen Erklärung ansetzte. „Es sind viele Reiter und Jäger getötet worden, um die Kinder zu beschützen. Dieses Opfer war nicht umsonst, insofern werden die Wüstennomaden überleben. Vorausgesetzt…“ Sie brach ab und zuckte mit den Schultern. „Es wird eine schwierige Zeit für sie. So unabhängig sie auch sind, sie haben auch ihre Schwächen.“

Romeo verstand nicht, was Toraan damit meinte, aber sein Gefühl sagte ihm, dass sie ihm auch auf Nachfragen hin keine bessere Erklärung geben würde. Das war vermutlich eines jener Geheimnisse, die jedes Volk für sich beanspruchte.

Gleichzeitig fragte er sich, warum Aki und Toraan über die Wüstennomaden sprachen, als würden sie nicht dazu gehören. Waren sie nicht von ihnen großgezogen worden? Hatte Aki nicht sogar beim Anblick von Mummy – einer Wüstennomadin – und ihren katastrophalen Verletzungen die Beherrschung verloren?

Aber andererseits sagte all das wohl wenig darüber aus, wie die Beiden von den Wüstennomaden behandelt worden waren. Die Wüstennomaden hatten Generationen lang Kriege gegen Dämonen geführt, besonders gegen Golems. Wer wusste, wie viel von den alten Feindseligkeiten gegen diese Kinder gerichtet worden war, egal ob nun bewusst oder unbewusst. Vielleicht waren sie deshalb so vehement auf der Suche nach überlebenden Golems.

„Wie geht es eurer Freundin?“, wechselte er das Thema.

„Sie lebt und irgendwann wird sie auch wieder einen Basilisken reiten können. Mummy ist zäh, sie wird wieder auf die Beine kommen“, antwortete Aki erleichtert. „Wendy hat ihr das Leben gerettet.“

„Wenn Wendy bei mir geblieben wäre, hätte das wahrscheinlich Mummys Tod bedeutet.“

Toraans Worte ließen Romeo zusammen zucken. So unvermittelt auf seinen Konflikt mit Wendy am Vortag angesprochen zu werden, vergegenwärtigte ihm einmal mehr die Ängste, die ihn angetrieben hatten, während er gegen den Berserker gekämpft hatte. Wenn er verloren hätte, wäre Wendy dann gestorben? Und wieso war er nicht besser gewesen? Er musste stärker werden, schneller, besser, klüger. Er musste jeden töten können, der eine Bedrohung für Wendy darstellte!

„Du vertraust Wendy nicht.“

Entsetzt starrte Romeo Toraan an, welche ihn finster musterte. Wie kam sie auf diese Idee? Er kannte Wendy beinahe sein ganzes Leben, er wusste besser als irgendjemand sonst, wozu sie in der Lage war!

Sein Blick zuckte zu Aki, der jedoch ratlos mit den Schultern zuckte. Der junge Wolfsdämon schien entschieden zu haben, seiner Freundin das Wort zu überlassen.

Unsicher sah Romeo wieder Toraan an. „Das ist nicht-“

„Du wolltest Wendy nicht mit in den Kampf nehmen“, unterbrach Toraan ihn streng.

„Weil sie keine Kämpferin ist“, murmelte er.

„Sagt wer?“

„Wen…“

Er unterbrach sich selbst. Hatte Wendy das tatsächlich irgendwann behauptet? Auf einmal überkamen ihn furchtbare Zweifel. Er hatte damals nur gesehen, wie sehr sie sich davor gefürchtet hatte, den Schwertkampf zu erlernen, aber er hatte nie mit Wendy darüber geredet, ob sie sonst irgendwie kämpfen wollte.

Ihm kam wieder Gajeels Frage nach Wendys Drachengebrüll in den Sinn. Er hatte wieder Wendys Schrei im Ohr, während sie zum ersten Mal ihre Drachenmagie richtig entfaltet hatte…

„Ich…“, murmelte er verbittert und strich sich mit der gesunden Hand durch die Haare. „Ich wollte sie nur beschützen. Das ist doch meine Aufgabe…“

Toraan schnaubte laut. „Vielleicht solltest du darüber nachdenken, was für Aufgaben du sonst noch hast.“

„Toraan“, begann Aki langsam und das Mitleid in seinem Blick rief in Romeo den Wunsch hervor, sich im Sand zu vergraben.

Die Dämonin winkte unwirsch ab. „Wendy will nicht nur keinen Beschützer. Sie braucht auch keinen.“

Die Worte bohrten sich wie Dolche in Romeos Eingeweide und er senkte den Blick, um Toraan und Aki nicht zu offenbaren, wie hart er getroffen war. Mest hatte ihn immer davor gewarnt, dass jeder Magier ihm haushoch überlegen war, wenn er sich nicht schnell genug anpasste, aber nie hatte Romeo in Betracht gezogen, dass das auch auf Wendy zutreffen könnte. Und dennoch hatte er gestern gesehen, wie stark sie alleine sein konnte.

Wenn Wendy darauf aufbaute und Kampfmagie erlernte, was würde das dann für ihn bedeuten? Brauchte Wendy ihn dann überhaupt noch? Konnte er dann noch etwas für ihren Schutz ausrichten oder würde er zu nutzlosen Ballast verkommen?

Romeo ballte die gesunde Hand zu einer zitternden Faust und biss sich auf die Unterlippe beim Gedanken daran, dass all seine Mühen der letzten Zyklen womöglich vollkommen umsonst gewesen waren.

Nur vage bekam er mit, wie Toraan aufstand und davon ging. Aki blieb noch kurz und betrachtete ihn nachdenklich, aber schließlich richtete auch er sich wieder auf und ließ Romeo einfach mit den Scherben seines bisher immer so klaren Weltbildes alleine.

Der Weg, der zur Höhle führte

Das letzte Wegstück bis zur Höhle von Zirkonis war steil und bröckelig. Immer wieder lösten sich Steine unter dem Druck von Händen und Füßen, Pfade endeten vor unüberwindlichen Überhängen und Steigungen wurden steiler und steiler, bis sie beinahe senkrecht zum Boden standen. Zusätzlich wehte ein stetig stärker werdender Wind unablässig Sand umher. Das waren alles andere als ideale Bedingungen.

Rogue hatte seinen Tagelmust über Mund und Nase gezogen und die Augen zu winzigen Schlitzen verengt, während er halb kletterte, halb lief, an seiner Taille beständig der leichte Zug des Seils, das ihn mit Lucy und Sting verband. Er vertraute darauf, dass sein Partner sie Beide zur Höhle führen konnte. Für Sting waren diese Winde kaum der Rede wert. Als Wüstenomade fand er sich immer noch problemlos zurecht.

Dennoch hätte Rogue den Sandsturm – so harmlos er letztendlich auch sein mochte – am liebsten ausgesessen. Keiner von ihnen hatte sich von den Kämpfen gegen die Wolfsdämonen am Vortag richtig erholen können, aber als sie gerochen hatten, dass sich die Dämonen näherten, die sie in den letzten Tagen verfolgt hatten, war ihnen nichts anderes mehr übrig geblieben, als aufzubrechen. Der Sandsturm könnte sich als Vorteil erweisen, wenn er vielleicht die Dämonen zum Halt zwang oder zumindest die Spuren der drei Menschen störte, aber gleichzeitig verwischte er auch die Gerüche der Dämonen. Sting und Rogue hatten nicht die geringste Ahnung, wie dicht ihnen die Dämonen nun auf den Fersen waren.

Seines sonst so feinen Geruchssinns beraubt, konzentrierte Rogue sich auf das, was er sehen konnte. Weil Sting aus Rücksicht auf Lucy versuchte, den einfachsten Weg zu finden, schlugen sie mehrere Umwege ein, aber sein Gefühl sagte ihm, dass Sting sie immer noch in die richtige Richtung führte. Das genügte Rogue und er konzentrierte sich voll und ganz auf das, was er von Lucy durch das Sandtreiben hindurch erkennen konnte.

Nachdem die Blonde gestern bewusstlos geworden war, hatte sie die ganze Nacht hindurch geschlafen. Sie war nicht einmal wach geworden, als Rogue die Wunde an ihrem Arm genäht hatte. Rogue hatte sich mit Sting damit abgelöst, Wache zu halten, und kurz nach Beginn der Morgendämmerung war er vom Geflüster der beiden Anderen geweckt worden. Lucy war offensichtlich noch immer müde gewesen und hatte neben der versorgten Wunde am Arm einige Kratzer und eine aufgeschürfte Handkante davon getragen und ihre steifen Bewegungen hatten verraten, wie sehr ihre Muskeln schmerzten. Einzig und allein der Hunger habe sie geweckt, hatte sie verlegen gestanden, während ihr Magen laut gegrollt hatte – sehr zu Stings Erheiterung.

Rogue hätte ihr – und auch Sting und sich selbst – gerne eine längere Rast zugestanden, eben weil er gewusst hatte, was ihnen für ein beschwerlicher Aufstieg bevorstand, aber ihnen war nichts anderes übrig geblieben.

Der Aufprall einiger Steine auf seinem Schienbein war Rogues einzige Warnung, ehe ihm Lucy auch schon entgegen rutschte, als sie eine besonders steile Geröllhalde erklommen. Er schlang einen Arm um ihre Taille und suchte mit der anderen Hand einen Halt an dem Felsen, der neben ihnen aus dem lockeren Steinschutt ragte. Der poröse Stein gab mehrmals nach und sie rutschten gemeinsam noch eine Mannslänge nach unten, ehe sich das Seil an Lucys Taille straffte und ihren Fall abrupt aufhielt. Über das Rauschen von Wind und Sand hinweg hörte Rogue Stings Stöhnen und es kostete dem Schattenmagier alle Selbstbeherrschung, um nicht panisch mit den Füßen nach Halt zu suchen, damit sein Gewicht nicht mehr an Stings Taille hing.

Er zwängte Lucys hilflos rudernde Arme ein und versuchte selbst, so ruhig wie möglich zu bleiben und seine Lage einzuschätzen. Er hatte einen guten Griff am Felsen, aber wenn er auch mit der anderen Hand danach greifen wollte, würde er Lucy nicht mehr stabilisieren können, was den Zug an Stings Taille verschlimmern würde. Zuerst musste er für sich und Lucy einen sicheren Stand im Steinschutt finden und er durfte es nicht übereilen.

Sting hing mit seinen Rebmessern so sicher an der Wand, wie es nur möglich war, und er würde eine ganze Weile so aushalten können, wenn es nötig sein sollte. Die Griffe seiner Rebmesser waren mit Schlaufen ausgestattet, die er sich über die Handgelenke geschlungen hatte, bevor sie aufgebrochen waren. Wüstennomaden hängten sich mitunter einen ganzen Tag in diese Schlaufen, während sie Basilisken ritten. Fürs Erste waren Rogue und Lucy also sicher.

Ganz langsam lockerte Rogue seinen Griff um Lucys Taille und tastete mit den Füßen nach einem sicheren Halt zwischen den bröckelnden Steinen. Er spürte Lucys Zittern, als einzelne Steine sich lösten, aber die Blonde begann nicht noch mal zu zappeln. So weit, so gut…

Je länger er brauchte, desto mulmiger fühlte Rogue sich. Immer mehr Horrorszenarien, die in ihrer aller Tod endeten, kamen ihm in den Sinn. Das Seil könnte reißen. Der Sandsturm könnte schlimmer werden. Der Stein könnte unter Stings Füßen nach geben. Die Dämonen könnten zu ihnen aufholen.

Was würde dann passieren? Würde Zirkonis dennoch irgendwie von all dem hier erfahren und die Bruthöhle rechtzeitig töten? Würden Sabertooth und Jadestadt gerettet werden und ihre Freunde überleben? Würden Weißlogia und Skiadrum neue Reiter bekommen?

Der Gedanke an seinen Drachen unterbrach Rogues Zweifel. Skiadrum und die Anderen hatten ihren Reitern die Stille Wüste anvertraut. Sie waren sich sicher gewesen, dass die Menschen die Probleme hier gemeinsam lösen konnten!

Mit einem tiefen Luftholen grub Rogue seine Füße durch lockere Steine, bis er einen sicheren Halt fand. Er stemmte sich selbst und Lucy nach vorn und nach oben. Der Zug des Seils wurde lockerer, Rogue hörte Lucys erleichtertes Seufzen, aber er schob sie weiter.

Als sie näher an den Felsen heran kamen, half er Lucy dabei, Halt mit Händen und Füßen zu finden und langsam mit dem Aufstieg weiter zu machen. Er gab ihr etwas Zeit und schüttelte dabei seinen strapazierten Arm aus, dann folgte er ihr.

Lucy war jetzt langsamer, noch vorsichtiger, prüfte jeden Schritt sorgsamer denn je. Sie war niemand, der denselben Fehler mehrmals machen wollte. Und Sting und Rogue stimmten sich auf ihr Tempo ein.

Bei all den immer gleichen Bewegungen und mit dem beständigen Rauschen des Sandes verlor Rogue irgendwann sein Gefühl für Zeit und Raum. Unter dem Tagelmust fiel ihm das Atmen immer schwerer und seine Gedanken wurden träger und träger…

Bis er auf ebenen, festen Boden stieß und im gleichen Moment in den Windschatten eines Überhangs gezogen wurde. Er blinzelte mühsam und erkannte, dass Lucy bereits am Boden saß und ihren Tagelmust mit steifen Fingern löste. Sie atmete schwer und zitterte am ganzen Körper.

Neben Rogue stand Sting. Er zog sich das Halstuch von Mund und Nase und darunter kam ein schiefes Lächeln zum Vorschein.

„Gut gefangen vorhin.“

Stings Stimme klang heiser und matt. Auch wenn er schon schlimmere Aufstiege hinter sich gebracht haben mochte, er war momentan alles andere als in Bestform.

„Gleichfalls“, erwiderte Rogue, riss sich den Tagelmust herunter und zog seinen Partner an sich.

Sting stieß einen überraschten Laut aus, aber sein Körper schmiegte sich nur allzu schnell an Rogues und sein Mund öffnete sich für einen hungrigeren Kuss, als Rogue es zuerst vorgehabt hatte. Er ließ sich hinreißen. Seine Hände schmiegten sich behutsam an Stings Hüften, er legte den Kopf schief und hob die Zunge…

Ein lautes Räuspern ließ ihn verlegen zurück zucken. Lucys Wangen brannten regelrecht, während sie betont auf ihre Feldflasche hinunter starrte. „Wie weit ist es jetzt noch?“

Sting kicherte albern. „Langweilst du dich etwa?“

„So kann man es auch nennen“, erwiderte Lucy pikiert, ohne aufzublicken.

„Dabei kannst du noch eine Menge von uns lernen“, lachte Sting, löste sich jedoch von Rogue, um sich des Seils an seiner Hüfte zu entledigen. Daran, wie vorsichtig er vorging, merkte Rogue, wie tief sich das Seil in seine Haut gegraben haben musste, aber seine Miene blieb ungerührt heiter.

„Rogue hat mich vor ein paar Tagen davor gewarnt, mir etwas von dir beibringen zu lassen“, war Lucys spitze Entgegnung, auch wenn ihre Wangen noch immer verräterisch rot waren.

„Stimmt“, schmunzelte Rogue und machte sich seinerseits am Seil zu schlafen. Während sein Partner beleidigt vor sich hin brummelte, wandte er sich an Lucy. „Wir sind fast da. Das letzte Stück führt über ein ungefährliches Plateau. Da brauchen wir das Seil nicht mehr.“

Nachdem er das Seil auch Lucy abgenommen und wieder aufgewickelt hatte, ließ er sich neben der Fürstin zu Boden sinken und erlaubte es sich, für einen Moment die Augen zu schließen. Während seiner knochenharten Ausbildung war er auch mal in einem Sandsturm ausgesetzt worden. Damals war er mehr tot als lebendig gewesen, als sein Vater ihn wieder hatte einsammeln lassen. Später hatte er noch zwei Sandstürme mit Sting und Yukino erlebt, aber da war er bei weitem nicht so erschöpft gewesen. Die Kämpfe von gestern und sein Einsatz des Drachengebrülls hatten ihn ganz schön ausgelaugt.

Ein stechender Geruch in seiner Nase ließ ihn wieder die Augen öffnen. Mit einem schiefen Lächeln hockte Sting vor ihm und hielt ein kleines Fläschchen unter seine Nase. „Wir sollten lieber schnell weiter. Der Sandsturm ist schon fast wieder vorbei und es ist noch eine Weile hell.“

Lucy seufzte leidig beim Anblick der Feldflasche. Rogue wusste bereits, dass es nicht besser wurde, wenn er es hinaus zögerte, und schluckte den widerlichen Dattelschnaps, den die Wüstennomaden Sandfeuer nannten und für Gelegenheiten wie diese verwendeten. Nach zwei Schlucken setzte er die Flasche wieder ab und hielt sie Lucy hin. Mit spitzen Fingern nahm sie sie entgegen und blickte geradezu gequält darauf hinunter.

„Muss ich das scheußliche Zeug wirklich trinken?“, jammerte sie.

„So schlimm ist es wirklich nicht“, kicherte Sting. „Du solltest mal Basiliskenblut probieren. Oder Mondgruß.“

Nun noch viel skeptischer wandte Lucy sich an Rogue. „Sollte ich?“

„Nur wenn dir nichts an deinem Geschmackssinn liegt.“

Sting schnaufte. „Rogue versteht nichts von richtigen Feiern!“

„Was auch immer du unter richtigen Feiern verstehst“, murmelte Lucy in sich hinein und schnupperte wieder an dem Sandfeuer. „Was genau ist das eigentlich?“

„Dattelschnaps“, erklärte Rogue und wünschte sich, er hätte die Zeit, etwas Brot zu essen, um den widerlich süßen Geschmack auf seiner Zunge loszuwerden. „Es ist kein Clovianischer Roter, aber es macht wach und munter.“

„Sofern es mich nicht umbringt“, fügte Lucy trocken hinzu.

„Ihr seid Banausen!“, schmollte Sting.

Zur Antwort prostete Lucy ihm zu und setzte die Feldflasche an die Lippen. Nach einem großen Schluck schüttelte sie sich mit angeekelter Miene und gab Sting die Flasche zurück.

Rogue und Lucy banden ihre Tagelmuste wieder richtig und Sting zog sein Halstuch wieder hoch, dann machten sie sich erneut auf den Weg zur Höhle des Jadedrachen. Das Plateau, das Rogue erwähnt hatte, lag nur noch wenige Mannslängen über ihnen. Die Steigung, die sie bis dahin überwinden mussten, war nach den vergangenen Strapazen kaum der Rede wert. Dennoch hörte Rogue Lucy erleichtert ausatmen, als sie endlich auf ebenen Grund traten. Selbst froh, den Aufstieg hinter sich zu haben, richtete Rogue seinen Blick sofort auf die gut hundert Mannslängen entfernte Höhle.

Wobei Höhle hier doch eine übertriebene Bezeichnung war. Zirkonis hatte sich einige Felsbrocken so unter einem mächtigen Überhang zurecht geschoben, dass sie ihm nach links und rechts einen Sicht- und Windschutz boten. Das Areal dazwischen war immer noch weit genug, dass der Drache seine Flügel ausbreiten konnte.

Sting und Rogue waren hier einmal mit ihren Drachen gewesen, als sie auf dem Rückweg von ihrem ersten Treffen mit den anderen Drachen und ihren Reitern gewesen waren, und einmal mit Minerva, Hisui und ihren jeweiligen Begleitern, weil die beiden Fürstinnen sich mit dem Jadedrachen hatten vertraut machen wollen.

Der Wind war jetzt nur noch ein laues Lüftchen und wehte ihnen lediglich Sand um die Beine. Es gab nichts, was die Sicht über das Plateau behinderte. Das vollkommen leere Plateau…

Weit und breit keine Spur von Zirkonis, aber auch von den Dämonen war nichts zu sehen. Die Wolfsdämonen von gestern waren hier nicht mehr zu riechen, der Sandsturm musste ihre Fährte getilgt haben. Von Zirkonis war natürlich auch nichts zu riechen.

Rogue lag ein wüster Fluch auf den Lippen. Sie hatten solche Mühe gehabt, hierher zu kommen, während ihre Freunde im Gebiet der Stillen Wüste verstreut waren, um sich den Dämonen von Tartaros zu stellen oder andere Missionen zu erfüllen. Und jetzt war der ganze Weg umsonst gewesen?

Natürlich war von vorneherein nicht garantiert gewesen, dass sie Zirkonis hier finden würden, aber sonst war der lüsterne Drache doch auch immer hier und faulenzte.

„Bei den ausgekotzten Gedärmen des Großen Wurms!“

Seines derben Fluchs zum Trotz klang Sting müde und entmutigt, als er sich das Halstuch vom Gesicht zog und sich auf einem flachen Felsen nieder ließ.

Insgeheim stimmte Rogue seinem Partner zu, aber er setzte sich wortlos neben ihn und entledigte sich seines Tagelmusts. Er müsste eigentlich darüber nachdenken, wo sie Zirkonis finden konnten, stattdessen stellte er sich vor, wie sie unverrichteter Dinge nach Sabertooth zurückkehrten. Sie hatten ja nicht einmal eine Ahnung, wo diese verdammte Bruthöhle der Dämonen war!

Als Lucy ihren Rucksack zu Boden fallen ließ und sich in Bewegung setzte, hob er den Blick. Die Fürstin lief schweigend weiter, bis sie in der Drachenhöhle stand. Aus der Entfernung war es unmöglich, genug von ihrem Mienenspiel zu sehen, um es zu deuten. Auf Rogue machte es jedoch beinahe den Eindruck, als würde sie sich in der Höhle suchend umsehen. Erwartete sie, den Jadedrachen oder eine Spur von ihm zu entdecken?

Schließlich kehrte Lucy zu ihnen zurück. Auch sie wirkte nun mutlos. „Es sind keine Knochen in der Höhle zu sehen, also frisst Zirkonis hier anscheinend nichts. Es könnte sein, dass er nur für ein paar Tage auf der Jagd ist, aber…“

Mit einem schweren Seufzer hob Lucy hilflos die Hände.

„Aber es könnte genauso gut sein, dass Zirkonis erst in einem Mond hier aufkreuzt“, stimmte Rogue müde zu. Die mutmaßlichen Jagdgründe für Zirkonis wären die Savannen im Norden an der Grenze zu Clover oder aber die Hochebenen von Bosco. Beide Gebiete waren für Zirkonis innerhalb weniger Tage zu erreichen, aber für sie hier wären das lange, beschwerliche Reisen – schon allein wegen des langwierigen Abstiegs von den Trümmersteinbergen. „Und es könnte auch sein, dass Zirkonis tatsächlich mal für einen oder zwei Monde in Bosco patrouilliert.“

„Oder den ganzen Sommer“, fügte Sting frustriert hinzu. „Wir hätten uns gleich auf die Suche nach dieser Dämonenhöhle machen sollen. Jetzt haben wir keine Sandschlitten, kaum noch Vorräte und Dämonen im Nacken!“

„Es war richtig, es zumindest zu versuchen, Zirkonis zu finden“, widersprach Lucy vorsichtig. „Wir haben keinerlei Informationen über Dämonenbruthöhlen, aber sie müssen dennoch sehr groß sein. Größer als ein Basilisk. Es braucht bestimmt eine unglaubliche magische Kraft, um sie zu töten. Ich bin mir nicht sicher, ob euer Drachengebrüll ausreicht.“

„Da mach’ dir mal keine Sorgen. Wir haben noch etwas Stärkeres in der Hinterha-“

Rogue bemerkte es genauso schnell wie sein Partner und zog sofort sein Schwert. Ohne darüber nachdenken zu müssen, war er auf den Beinen und an Stings Seite. Mit einigen Herzschlägen Verzögerung hörte er, wie Lucy ihren Rapier zog und neben sie trat.

„Keine Wolfsdämonen“, murmelte Sting nach einigen Atemzügen, die Nase gekräuselt ob des unangenehmen Geruchs, der auf einmal wieder in der Luft lag. „Das sind die, die uns die ganze Zeit verfolgt haben.“

„Wie konnten sie so plötzlich aufholen?“, fragte Lucy beunruhigt.

„Vielleicht ist einer von ihnen ein Winddämon und kann ihre Spuren verschleiern“, mutmaßte Rogue und positionierte sich so, dass Lucy zwischen ihm und Sting stand.

Sie erhob keinen Protest gegen diese Schutzmaßnahme, wie sie es noch am Anfang ihrer gemeinsamen Reise getan hätte. Sie riss sich nur den Tagelmust vom Kopf, um eine bessere Sicht zu haben. Sie war nicht die kampfgestählte, eisenharte Minerva, aber sie fügte sich dennoch wie selbstverständlich in die Trias ein. Rogue wusste, dass sie es wissen würde, wenn sie zurücktreten musste, das hatte sie bereits gestern im Kampf gegen die Wolfsdämonen bewiesen.

„Dann haben die Dämonen vielleicht die ganze Zeit Katz’ und Maus mit uns gespielt“, stellte Lucy unwillig fest.

„Aber warum haben sie uns dann nicht gemeinsam mit den Wolfsdämonen eingekesselt?“, fragte Sting, während er den Säbel um seinen Handrücken kreisen ließ.

„Die meisten Dämonen scheinen auch untereinander eine starke Rivalität zu hegen“, erklärte Lucy leise. „Es gibt nur wenige Dämonen mit einem ausgeprägten Gemeinschaftsgefühl und selbst dann beschränkt es sich auf ihre eigene Art wie etwa bei den Golems.“

Sting knurrte leise. Auch wenn sie bislang keine Gelegenheit gehabt hatten, darüber zu reden, Rogue wusste, dass sein Partner sehr an der Wahrheit über die Golemkriege zu knabbern hatte. In seinem Volk gab es so viele glorreiche Abenteuergeschichten über die Kämpfe gegen die Golems. Nur wenige Wüstennomaden hatten je die Legitimität ihres ewigen Kriegs gegen die Dämonen angezweifelt. Selbst die Tatsache, dass eine Halbgolem unter ihnen lebte, hatte nur bei wenigen etwas geändert.

Die Dämonen kamen in Sicht. Sie waren groteske Gestalten, breitschultrig und schier riesig, größer noch als die Wolfsdämonen von gestern, die Unterleiber saßen aus einem Wulst aus Tentakeln, die an Schlangenschwänze erinnerten. Ihre Köpfe waren unförmig und seltsam zackig, die Gesichter breit und flach, Haare besaßen sie nicht. Angeführt wurden sie vom Größten unter ihnen, einem ähnlich unförmigen Unwesen mit hellblauer Haut, das ein zusätzliches Paar Arme besaß, die sogar noch muskulöser als Orgas Arme wirkten.

Als er mit zwei Tentakeln fest auf den Boden schlug, um das Grunzen der anderen Dämonen zu unterbinden – erfolgreich –, gruben sie sich in die Erde. Oder tauchten einfach ein, das war schwer zu sagen. Es sah danach aus, als würde der Dämon einfach durch Schlamm waten und nicht durch festen Stein.

Rogue unterdrückte einen Seufzer. Statt eines Winddämons hatten sie hier einen Erddämon vor sich. In dieser Umgebung erschwerte das die Dinge erheblich. Wahrscheinlich hatte er seine Magie und die Gunst der Stunde während des Sandsturms genutzt, um seinen Geruch zu verwischen. Der Aufstieg hierher dürfte ihm auch sehr viel leichter gefallen sein als den drei Menschen.

„Ihr habt es also geschafft, Tempesta zu töten“, stellte der Dämon mit unangenehm schnarrender Stimme fest. „Der Meister wird mich sicher belohnen, wenn ich ihm eure Köpfe bringe.“

Neben Rogue seufzte Lucy müde, ehe sie das Wort erhob: „Wer ist euer Meister? Wer führt Tartaros an?“

Der Dämon zog die Luft ein, Erkennen trat in seine Augen und er grinste Lucy verschlagen an. „Jemand, dem es eine Freude sein wird, die Geister einer Freundin zu berauben.“

Über Lucys Kopf hinweg tauschte Rogue einen beunruhigten Blick mit Sting. Tempesta hatte gestern auch schon so komisch reagiert, als er erfahren hatte, wer Lucy war. Was hatten diese Dämonen selbst jetzt noch mit den Geistern zu schaffen? Wenn Rogue auch nur geahnt hätte, wie gefährlich diese Reise für sie werden würde, hätte er nicht eingewilligt, Lucy mit zu nehmen.

„Das haben nun schon mehrere Leute getönt und ich stehe immer noch hier“, rief Lucy zu Rogues Überraschung. Ihre Schultern waren gestrafft, ihre Stimme fest. „Ich bin die Fürstin von Heartfilia. Meine Ahnen haben den Geistern eine Heimat gegeben. Ich werde dieses Erbe nicht enttäuschen.“

Es war absurd: Sie standen hier einer Horde Dämonen gegenüber und ihre Mission, Zirkonis um Hilfe zu bitten, schien zum Scheitern verurteilt. Sie waren alle Drei erschöpft, hatten kaum noch Vorräte, wussten nichts darüber, wie es ihren Freunden ging – und doch hatte Rogue das Gefühl, von einem frischen Wind erfasst zu werden. Lucys Worte weckten in ihm Kraftreserven, an die er nicht mehr geglaubt hatte.

Es waren nur ein paar aufsässige Worte, aber dahinter erkannte Rogue eine kraftvolle Entwicklung, einen starken, hoffnungsvollen Beginn – und er erhaschte einen Blick darauf, was für eine große Fürstin Lucy werden würde. Kein Selbstzwang lag mehr in ihren Worten, kein Zweifel, nur Vertrauen und Entschlossenheit.

Genau dieser Funke war es, den Rogue vor all der Zeit auch bei Minerva wahrgenommen hatte, während er sie bei einem heimlichen Treffen mit den Bewohnern des Knüpferviertels beobachtet hatte. Dieser Funke, der ihn davon überzeugt hatte, dass sie die wahre Fürstin von Sabertooth war. Damals hatte er noch nicht einmal geahnt, dass Sting mit seinem strahlenden, immer abenteuerlustigen Lächeln zu ihr gehörte, hatte noch nichts von all dem gewusst, was ihn erwarten würde, aber dass Minerva Orland Sabertooth retten würde, das hatte er mit jeder Faser seines Körpers gespürt.

Minerva und Lucy waren offensichtlich aus demselben Holz geschnitzt. Sie waren Anführerinnen, sie brachten ihren Schutzbefohlenen mehr als nur Sicherheit und Stabilität, sie schufen eine Gemeinschaft, hielten sie beisammen, stärkten sie. Nicht indem sie alles konnten, sondern indem sie vertrauten.

„Gut gebrüllt, Löwin“, sagte Sting mit einem anerkennenden Grinsen – und er hätte es gar nicht besser ausdrücken können.

Den Dämonen war offensichtlich nicht klar, was hier vor ihren Augen geschehen war. Blindwütig setzten sie sich auf Befehl ihres Anführers in Bewegung und stürzten grölend auf ihre Beute zu.

Rogue verstärkte den Griff um seine Bosco-Klinge und drehte seinen Körper seitlich, während er federnd in die Knie ging. Er war bereit, bis zum Äußersten zu gehen und die anderen Beiden zur Not auch mit seinem Leben zu beschützen. Und er wusste, dass sie ebenso dachten. Sie würden hier gemeinsam kämpfen, einander beschützen. Lucy war endlich an dem Punkt angekommen, dass sie diese Bereitschaft begreifen, akzeptieren und sogar selbst spüren konnte. Sie war nun wahrhaft eine Fürstin und hier und jetzt waren Sting und Rogue ihr Schild und Schwert.

Die Dämonen waren nur noch zehn Schrittlängen von ihnen entfernt, als Rogue hinter sich ein Rauschen hörte. Er blickte über seine Schulter zurück und erkannte nur etwas Großes, Grünes, dann ließ er sich zu Boden fallen und zog Lucy mit sich, schützte ihren Kopf mit seinem Arm und spürte, wie Sting dasselbe tat.

Dann war der Drache über sie hinweg geflogen und pflügte sich mühelos durch die Dämonen. Einen zermalmte er unter seinem Hinterleib, einen schmetterte er mit einem Flügelschlag über den weit entfernten Abgrund, zwei weitere zerriss er mühelos mit seinen Vorderklauen. Innerhalb kürzester Zeit hatte der Drache alle Dämonen bis auf den Anführer getötet.

Und der war angesichts seines neuen Kontrahenten dumm genug, nicht die Flucht zu ergreifen. Er stampfte gleich mit drei Tentakeln auf, um unter dem Drachen eine Erdspalte entstehen zu lassen. Sie hatte ihr Ziel noch nicht einmal erreicht – geschweige denn, dass sie ihm gefährlich geworden wäre –, als der Drache auch schon genug Magie für sein Gebrüll gesammelt hatte. Es war innerhalb weniger Herzschläge für den Dämon vorbei. Die Attacke aus Jadesplittern zerfetzte ihn schon bei der ersten Berührung.

Als Rogue und die anderen Beiden wieder auf den Beinen waren, war der Dämon tot, sein Körper bis zur Unkenntlichkeit verwüstet. Rogue erinnerte sich, dass sein alter Lehrmeister aus Kindertagen während der wenigen Geschichtslektionen, die nicht von seinem Vater unterbunden worden waren, davon gesprochen hatte, dass keines der Völker sich damals mit den Drachen angelegt hatte. Offensichtlich waren die Drachen auch heutzutage noch allen Anderen überlegen – auch höhlengebundenen Dämonen.

Zumindest, was magische und körperliche Kraft betraf, dachte Rogue bei sich, als sich der Drache zu ihnen herum drehte. Sein Maul verzog sich zu einem breiten Grinsen und er beugte sich schnuppernd herunter.

„Wenn das mal nicht die Zweibeiner von Weiß und Skia sind! Da bringt ihr mir stinkende Dämonen in die Höhle, wo gibt es denn so etwas?! Hoffentlich kann eure hübsche Begleiterin das kompensieren!“

Rogue hörte Sting unwillig ächzen und unterdrückte selbst ein Seufzen, ehe er das Wort erhob. „Lucy, das ist Zirkonis, der Jadedrache.“

Der Pfad, auf dem das Ziel klar wurde

Im Vergleich zu den fünf Drachen, die Lucy bisher kennen gelernt hatte, wirkte Zirkonis schon irgendwie… anders. Vielleicht lag es an seinem Äußeren mit den fächerartigen Ohren, den hellgrünen Strähnen am Kinn, dem wesentlich breiteren Maul oder vielleicht auch an seiner hervorstechenden jadegrünen Schuppenfarbe. Mit all dem unterschied er sich doch sehr deutlich von den anderen Drachen und auch von den Lindwürmern, die Lucy in Crocus manchmal gesehen hatte.

Aber letztendlich war Lucy dazu geneigt, das Verhalten des Jadedrachen für ihren Eindruck von ihm verantwortlich zu machen. Denn auch wenn sie lediglich mit Igneel etwas mehr Kontakt gehabt hatte, war sie sich sicher, dass keiner der anderen Drachen jemals seine Nase zur Begrüßung an ihren Bauch gedrückt hätte. Irgendwie konnte sie einfach nicht anders, als Zirkonis als kauzigen Lustmolch einzustufen.

„Also wollt ihr mir sagen, dass irgendwo in der Stillen Wüste eine Dämonenbruthöhle unterwegs ist, deren Brutlinge es darauf abgesehen haben, alle Menschen zu vernichten?“, fasste der Drache schließlich zusammen. Er hatte sich auf seine Hinterbeine gesetzt, die Flügel angezogen und spielte mit einer Vorderklaue an den Strähnen am Kinn herum.

„So sieht es aus“, seufzte Rogue und obwohl er keine Miene verzog, merkte Lucy ihm nur zu gut an, wie entnervt er jetzt schon war.

Zirkonis war eindeutig ein schwieriger Zeitgenosse. Sogar Natsu schien das so zu empfinden, sonst hätte er Lucy wohl nicht so sarkastisch Viel Spaß mit dem Jadedrachen gewünscht. Und wenn Zirkonis sogar Rogues Geduld strapazieren konnte, musste das wirklich etwas heißen.

„Wir brauchen deine Hilfe, Zirkonis“, fasste Sting ungeduldig zusammen. „Wir müssen diese Bruthöhle vernichten und danach-“

„Na!“, unterbrach Zirkonis den Drachenreiter und streckte abwehrend eine Pranke aus. „Ohne mich! Diese Bruthöhlen stinken bestimmt erbärmlich, wenn man sie tötet. Und wer weiß, wie lästig ihre Brutlinge dann werden. Am Ende laufen die noch Amok. Viel zu unbequem!“

„Was?! Du kannst doch nicht-“

Rogue unterbrach seinen aufbrausenden Partner, indem er ihm eine Hand auf die Schulter legte, und wandte sich dann wieder an den Jadedrachen. „Ohne deine Hilfe könnte dieser Krieg das Ende der Menschen in der Stillen Wüste bedeuten, ist dir das klar?“

„Ach, ihr seht das zu verkniffen“, winkte Zirkonis ab und wiegte träge den Kopf hin und her. „Die Wüstenfürstinnen sind clevere Mädchen. Denen fällt schon etwas ein.“

„Es ist nicht einmal sicher, ob Hisui noch lebt“, gab Rogue zu bedenken.

„Jammerschade, war gut gebaut, die Kleine. Und sie hatte mehr Humor als ihr.“ Er wandte sich wieder Lucy zu und wollte wieder seine Nase gegen ihren Bauch drücken. Als sie hastig zwei Schritte zurück machte, kicherte er ausgelassen. „Hast du auch keinen Humor?“

„Du faule Echse!“, donnerte Sting los. „Wir haben keine Zeit für diesen Unfug! Wir müssen diese Höhle töten!“

„Dafür müsst ihr sie erst einmal finden“, gähnte Zirkonis unbeeindruckt und winkte mit einer Vorderklaue ab, ohne in Richtung des Lichtmagiers zu blicken. „Die Stille Wüste ist wirklich groß…“

„Du hast dich dem Drachenpakt mit der Unsterblichen Kaiserin verpflichtet“, erwiderte Rogue nun mit deutlicher Schärfe in der Stimme.

„Ach das… Das war Igneels Idee damals. Er hat geglaubt, damit Machtkämpfe zwischen den Zweibeinern verhindern zu können. Wie das für Levia und Cubellios geendet hat, weiß man ja.“

„Jetzt reicht’s!“, rief Lucy und schlug dem Drachen auf die Nase. „Du weißt ganz genau, dass Igneel nicht die Schuld für diese Tode trägt!“ Wieder ließ sie ihre Faust auf den Drachen nieder fahren. „Untersteh’ dich, Igneel dafür verantwortlich zu machen! Und wage es ja nicht, dich über diesen Krieg lustig zu machen! Unsere Freunde riskieren da draußen ihre Leben im Kampf gegen die Dämonen!“ Wieder schlug Lucy zu. Die Worte sprudelten geradezu aus ihr heraus. „Du bist ein feiges, faules Kriechtier! Drückst dich vor deiner Verantwortung! Du Schrumpfkopf! Du widerlicher Lustmolch!“

Um nach Luft schnappen zu können, hielt Lucy inne. Erst jetzt bemerkte sie, dass Sting und Rogue sie fassungslos anstarrten und Zirkonis stand sogar das Maul offen, während er zu ihr hoch blinzelte. Hitze stieg ihr ins Gesicht. Sie hatte sich von ihrem Ärger mitreißen lassen und einen leibhaftigen Drachen angepflaumt wie einen unreifen Lümmel!

Und dann brach Zirkonis so überraschend in schallendes Gelächter aus, dass Lucy nach hinten stolperte und zu Boden fiel. Vollends verwirrt blieb Lucy im Dreck sitzen und schaute zu, wie der Jadedrache sich wieder aufrichtete und den Kopf in den Nacken legte, um seinem Vergnügen Luft zu machen.

War das jetzt ein gutes Zeichen oder nicht? War Zirkonis verärgert? Oder lachte er sie aus und würde gleich davon fliegen, um die Stille Wüste sich selbst zu überlassen?

Hilflos suchte sie Blickkontakt zu Sting und Rogue. Ersterer starrte sie immer noch verdattert an, während sein Partner mit einem Stirnrunzeln zu dem Drachen aufblickte.

Genauso plötzlich, wie dieser in Gelächter ausgebrochen war, beruhigte der sich wieder und dann beugte er sich nach unten, bis er mit Lucy auf Augenhöhe war.

„Also gut, Mädchen! Ich werde euch Zweibeinern helfen. Wäre doch Verschwendung, wenn du in diesem Krieg sterben würdest. Jemand mit so viel Feuer im Hintern ist selten. Normalerweise macht ihr Zweibeiner euch vor Ehrfurcht fast ein. Ich mag dich!“

„Ähm… danke?“

Lucy war sich nicht sicher, ob sie Zirkonis’ Worte als Kompliment oder als Beleidigung verstehen sollte, aber wenn er ihnen tatsächlich half, war ihr das im Grunde einerlei.

„Hey, Bleichgesicht“, wandte Zirkonis sich an Rogue. Neben dem Schattenmagier verzog Sting verärgert das Gesicht, aber sein Partner hatte sich besser im Griff und hob nur aufmerksam den Blick. „Habt ihr eine Theorie, wo die Höhle herum kriechen könnte?“

„Keine wirklich zuverlässige, weil wir nichts über den Zustand der Bruthöhle wissen. Oder über Bruthöhlen im Allgemeinen. Womöglich versteckt sie sich in einer abgeschiedenen Gegend, um Angriffen zu entgehen. Oder sie nimmt an den Kampfhandlungen teil, dann könnte sie in der Nähe von Jadestadt oder Sabertooth sein.“

„Ah… wie typisch für euch Zweibeiner, alles muss man euch abnehmen“, schnaubte Zirkonis und richtete sich wieder auf seinen Hinterbeinen auf, um mit den Vorderklauen zu klatschen. „Auf, auf! Packt eure Sachen und erleichtert euch noch mal. Eure Blasen halten nichts aus und ich will bis zum Sonnenuntergang durchfliegen, bevor wir rasten!“

Peinlich berührt barg Lucy das Gesicht in den Händen. Sie war schon mit einigen Schandmäulern unterwegs gewesen, aber nie mit einem so schlimmen wie Zirkonis!

Eine Hand auf ihrer Schulter ließ sie vorsichtig zwischen ihren Fingern hindurch lugen. Sting und Rogue standen vor ihr und lächelten sie erleichtert an.

„Ich kann mir zwar vorstellen, dass du nur aus Ärger reagiert hast, aber danke“, sagte Rogue und bot ihr eine Hand an, um ihr aufzuhelfen. „Ich bin mir nicht sicher, ob Zirkonis ansonsten seine Meinung geändert hätte.“

„Ich habe die Beherrschung verloren“, nuschelte Lucy, während sie sich in die Höhe ziehen ließ.

„Und wie du das hast!“, lachte Sting und schlug ihr kräftig auf die Schulter. „So hat wahrscheinlich noch keiner mit einem Drachen gesprochen!“

Kichernd ging Sting zu den Taschen hinüber, die sie bei der Ankunft der Dämonen achtlos liegen gelassen hatten. Nun, da es endlich voran ging, wirkte er beschwingter denn je, aber es war auch offensichtlich, dass er es nun eilig hatte.

Mit jähem Schrecken wurde Lucy bewusst, dass sie seit neun Tagen mit Sting und Rogue unterwegs war. Die Verfolgung durch die Dämonen und schließlich die Kämpfe mit ihnen hatten Zeit gekostet. Zeit, die ihre Freunde vielleicht gar nicht hatten!

Langsam ließ Lucy ihren Blick über die Kadaver der Dämonen gleiten. Wo mochte diese Dämonenbruthöhle stecken? Wie konnten sie sie finden? Ob Levy endlich irgendwo genauere Informationen darüber gefunden hatte? Nein, dann hätte sie ihnen sicher schon einen Exceed her geschickt…

„Lucy!“

Die helle Stimme ließ Lucy überrascht aufblicken, dann hatte sie gerade noch genug Zeit, um die Arme auszubreiten, ehe Happy sie auch schon erreicht hatte. Der Exceed sah schrecklich erschöpft aus, sein Fell war ungepflegt und seine Flügel zersaust. Sein Körper erschlaffte regelrecht in Lucys Armen, sogar seine Flügel hingen kraftlos herunter, ehe sie sich auflösten. Schützend hielt Lucy ihn fest und blickte auf, als sie weitere Rufe hörte.

Lector und Frosch stürzten regelrecht auf Sting und Rogue zu. Die Flügel der grünen Exceed lösten sich zu früh auf und Rogue musste einen Hechtsprung machen, um sie vor einer schmerzhaften Bekanntschaft mit dem Boden zu bewahren.

„Was macht ihr hier?“, fragte Sting, der nun seinerseits Lector sicher in den Armen hielt. „Seit wann seid ihr wieder in der Stillen Wüste?“

„Seit gestern“, erklärte Lector matt. „Wir haben in Heartfilia Happy getroffen und sind gemeinsam nach Sabertooth geflogen. Als wir im Sandpalast ankamen, hat Levy uns zu euch geschickt.“

Missbilligend runzelte Rogue die Stirn, während er dem winzigen Wesen in seinen Armen sanft über den Kopf strich. „Warum hat sie das getan? Wärt ihr nur ein bisschen früher hier angekommen, hätte es gefährlich für euch werden können.“

In Lucys Armen begann Happy heftig zu zittern und seine Pfoten klammerten sich an ihre Tunika. Bestürzt senkte Lucy den Blick und erkannte schreckliche Angst in den sonst so heiteren Augen. Auf einmal wurde ihr flau im Magen.

„Happy, was für eine Nachricht hat Levy für uns?“

„Sie weiß jetzt, wer Tartaros anführt“, antwortete Happy mit belegter Stimme. „Und sie hat gesagt, dass du es unbedingt wissen musst.“

Behutsam drückte Lucy den Katzenkörper noch etwas mehr an sich. „Wer ist es, Happy?“

„Levy hat ihn den Königsmörder genannt…“

„Mard Geer“, hauchte Lucy. Auf einmal war ihr eiskalt zumute. Es war eine Sache gewesen, zu erfahren, dass Dämonen, die während der Geisterkriege aktiv gewesen waren, nun ihre Feinde waren, aber das…

Alte Verse geisterten ihr durch den Kopf und sie erinnerte sich an das Knirschen toter Erde unter ihren Stiefeln, an heiße Tränen und Klagegesänge und an einen ewigen Schwur, der in ihrem Herzen so hell brannte wie ein Lichtlacrima…

„Lucy!“

Erschrocken zuckte sie zusammen, als Sting sie sachte schüttelte. Seine blauen Augen waren vor Sorge extrem geweitet. Hinter ihm stand Rogue mit zusammen gepressten Lippen und sogar Zirkonis’ Miene wirkte ernst, während er sich über die beiden Drachenreiter beugte, um Lucy betrachten zu können.

„Lucy, was hat das zu bedeuten?“, frage Rogue eindringlich.

Tief holte sie Luft und schloss die Augen, um sich zu sammeln. Jetzt ergaben die Worte der beiden höhlengebundenen Dämonen mehr Sinn. Auf einmal war das alles eine zutiefst persönliche Gefahr geworden. Daran hatte bestimmt auch Levy gedacht. Die herzensgute, treue Levy, Lucys beste Freundin, die schon einmal beinahe Lucys Tod hatte mit ansehen müssen.

Aber hier ging es um so viel mehr als um Lucys Leben. Der Königsmörder hatte nicht wissen können, dass die Geister in den Krieg um die Stille Wüste verstrickt würden. Er musste andere Ziele haben…

Langsam öffnete Lucy die Augen und blickte zu Lector, der sich in Stings Armen so gedreht hatte, dass er sie beobachten konnte.

„Ihr habt Meister Capricorn meinen Brief gegeben, oder? Wen hat er danach zu den Bannern rufen lassen?“

Unsicher wiegte der Exceed den Kopf hin und her. „Er hat viele Namen genannt… Ich glaube, er wollte auch selbst mitkommen.“

Lucy nickte erleichtert. Ihr alter Lehrmeister war der beste Krieger, den sie kannte. Mit seiner streng gedrillten Einheit würde er eine große Hilfe in diesem Krieg darstellen. „Hat er auch Aquarius genannt?“, fragte sie weiter nach.

„Ja, Frosch erinnert sich!“, meldete sich die grüne Exceed in Rogues Armen zu Wort. „Die Tante war gerade da und ist ganz böse geworden, als der Meister deinen Brief vorgelesen hat.“

Lucy nickte grimmig. Das konnte sie sich gut vorstellen. Für Aquarius war das alles noch viel persönlicher als für Lucy selbst. Ihr Erbschwur reichte noch viel weiter zurück. Wie würde sie erst reagieren, wenn sie hörte, wie persönlich es war? Und was war mit Loke? War er wieder kräftig genug, um zu kämpfen? War er vernünftig genug, in Sabertooth zu bleiben? Bestimmt, ihm musste klar sein, dass er dort bald mehr als irgendwo sonst gebraucht würde.

„Lucy, was hat das alles zu bedeuten?“, wiederholte Sting seine Frage beunruhigt.

„Weißt du jetzt, worauf Tartaros es abgesehen hat?“, fragte Rogue angespannt.

Wieder nickte Lucy. „Er fängt immer mit der Herzstadt an…“ Bevor Sting und Rogue fragen konnten, wandte Lucy sich an Happy. Noch immer blickte der treue Exceed zu ihr auf. Die Anzeichen seiner Erschöpfung ließen Lucy das Herz schwer werden, auch wenn er versuchte, seine Schultern zu straffen. Zaghaft strich sie über seinen Kopf. „Ich muss dich bitten, zum Schlangenfluss zurück zu fliegen und nach den Schiffen aus Heartfilia zu suchen. Meister Capricorn und Aquarius müssen auch über Mard Geer Bescheid wissen und sich beeilen.“

„Lucy, Happy ist zu erschöpft. Du musst ihm Zeit-“

Mit einer fahrigen Geste schnitt Lucy Rogue das Wort ab und suchte als nächstes den Blick des Exceeds in Stings Armen. „Lector, schaffst du es noch bis nach Jadestadt? Minerva muss sofort das Heer zurück führen.“

Sie sah, wie in Rogues Miene Verstehen aufglomm, ehe es von blankem Horror abgelöst wurde, aber sie hob den Blick zu Zirkonis an. Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme zitterte, als sie das Wort erhob. „Ich bin mir sicher, dass ich jetzt weiß, wo die Bruthöhle auftauchen wird. Wir müssen uns beeilen.“ Ihr Blick huschte kurz zu Sting und Rogue und ein Zittern drohte, sich auch ihres Körpers zu bemächtigen. Sie rief sich selbst wieder zur Ordnung und richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf den Jadedrachen, der alle vorherige Verspieltheit abgelegt hatte. „Wir müssen zurück nach Sabertooth!“
 

Eine kleine, blonde Frau, in einen riesigen Pelz gehüllt, die mit seinem Vater Silver und… Ur sprach. Ja, die Frau hieß Ur… Es ging um eine wichtige Aufgabe. Lyons Vater und Ur zögerten eine Weile, beratschlagten sich miteinander, aber schließlich sagten sie der blonden Frau zu und dann sprach Silver von einer Bedingung…

Unter Lyon rumpelten die Räder der Kutsche – die erste, in die er sich jemals gesetzt hatte –, während er durch das Fenster hinaus blickte auf eine Stadt. Eine riesige Stadt mit viel zu vielen Menschen und Häusern und Geräuschen und Gerüchen und Farben. Alles war groß und aufdringlich und einfach viel zu viel…

Ein viel zu großes Zimmer in der Nacht mit mehr Möbeln, als ein Mensch eigentlich brauchte. Lyon lag hellwach in seinem Bett und lauschte dem misstönenden Lied einer Stadt, die niemals schlief… Im nächsten Moment tapste er durch einen nächtlichen Garten mit lauter fremdartigen Pflanzen. Im Zentrum lag ein Teich, dessen Wasser langsam zufror. Am Ufer saß Gray, der finster auf sein Werk hinunter starrte.

Ein rothaariges Mädchen an der Seite der zierlichen, blonden Frau. Seine Miene war verschlossen und abweisend, die Haltung steif und angespannt, als würde es jederzeit mit einem Angriff rechnen.

Dasselbe Mädchen, nur mehrere Sommer älter, die Miene grimmig entschlossen, während es Gray mit einem Übungsschwert gegenüber stand. Zwischen den Beiden stand ein bärtiger, alter Mann mit wohlwollend prüfender Miene.

Noch mehr Gesichter. Krieger, alte wie junge, Rivalen, Kameraden. Hoffeste mit erstickend vielen Sinneseindrücken. Kneipenabende. Das riesige Gelände der Universität – ein Vielfaches der Fläche von Lyons Heimat, vollgestopft mit schwatzenden, streitenden, lachenden Studenten.

Zwei junge Frauen, so unterschiedlich wie Tag und Nacht, doch Beide mit vor Wissbegierde funkelnden Augen. Neben ihnen ein junger Mann mit kupferfarbenen Haaren, der mit allerhand Frauen kokettierte, ohne dass es ihm jemals ernst zu sein schien…

Und dann…

Eine Flut rosafarbener Haare, die sich über einen schmalen Rücken ergossen. Der blasse, zitternde Körper wurde nur von einem dünnen Nachthemd verhüllt, das im Dunkeln des Gartens regelrecht zu leuchten schien. Das Mädchen, das eben noch im Garten vor einem Rosenbusch gehockt hatte, wirbelte panisch herum, die Augen weit aufgerissen, die Hand auf das linke Schulterblatt gepresst, um eine wulstige Narbe zu verbergen, die aus dem Nachthemd hervor lugte. Die smaragdgrünen Augen voller Angst und Misstrauen…

Grüne Augen, hart und unnahbar in einem ausdruckslosen Gesicht, das viel zu jung für solche Härte war.

Grüne Augen, die sich für einen Moment überrascht weiteten.

Grüne Augen, flackernd, zweifelnd, dann wieder beherrscht.

Grüne Augen, die flüchtig umher irrten, während sich blasse Wangen langsam röteten.

Grüne Augen, weich und warm, erfüllt von Zuneigung.

Grüne Augen voller Tränen, erfüllt von Angst und Schmerz.

Grüne Augen, distanziert und leer, ihr Blick in die Vergangenheit gerichtet.

Grüne Augen voller Vertrauen und Liebe, während volle, lächelnde Lippen drei kurze Worte formten…

Als sich der Nebel in Lyons Gedanken lichtete, spürte er zuallererst die Fesseln an seinen Handgelenken, die seine Hände über seinem Kopf festhielten. Sie saßen fest genug, um seine Finger ertauben zu lassen, und die Knoten drückten gegen seine Handrücken – ein überdeutliches Zeichen dafür, dass er sich aus eigener Kraft nicht würde befreien können. Sie waren von jemandem angelegt worden, der sein zweifelhaftes Handwerk verstand.

Der Gedanke führte Lyon zu der Frage, wer dieser Jemand war und wie Lyon von ihm überwältigt worden war. Seine Erinnerungen waren seltsam verhangen. Er konnte nur Fetzen erhaschen. Noch immer hing ihm der Traum nach, der eigentlich kein Traum, sondern vielmehr ein Zeitraffer seiner Kindheit und Jugend in Crocus gewesen war.

Um den merkwürdigen Nachhall dieses Erinnerungstraums loszuwerden, konzentrierte er sich auf die dringenderen Fragen und versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, was in jüngster Vergangenheit passiert war. Er hatte sich in Jadestadt eingeschlichen, um mit Meredy heraus zu finden, was die Dämonen von Tartaros mit den Einwohnern von Jadestadt gemacht hatten und was für Pläne sie in der Stillen Wüste verfolgten – und nebenbei hatten sie versucht, etwas über den Verbleib der entführten Eismenschen heraus zu finden. Sie hatten sich getrennt. Er hatte die Einwohner gefunden und…

Wie war er hierher gelangt? Was war passiert, nachdem er den Steinbruch verlassen hatte?

Und… wo war Meredy?

Schlagartig schien sich alles in Lyon zu verkrampfen. Hektisch schlug er die Augen auf und als er seine Freundin entdeckte, entfuhr ihm ein Keuchen.

Sie befanden sich allem Anschein nach im Kerker der Kaserne und waren gut sechs Schrittlängen voneinander entfernt. Zu Lyons Erleichterung schien Meredy unverletzt zu sein. Ihre Hände waren wie bei ihm mit ebenso engen Fesseln über ihrem Kopf zusammen gefasst worden, die mit Haken und Kette an den Deckenbalken hingen, sodass sie Beide keinen sicheren Stand erlangen konnten. Genau wie er selbst war Meredy geknebelt worden und sie trugen Beide keine Stiefel mehr – wahrscheinlich waren sie ihnen ausgezogen worden, um ihnen die Messer abzunehmen, die sie dort versteckt gehalten hatten.

Meredy war bewusstlos, aber selbst im Schlaf war die Angst deutlich zu erkennen, die sich in ihre Gesichtszüge gegraben hatte. Ihre langen Haare hatten sich teilweise aus dem strengen Knoten gelöst.

Wieder schienen sich Lyons Eingeweide zu verknoten. Was war mit ihnen geschehen? Er konnte sich an keine Gefangennahme erinnern. Nach seiner Entdeckung im Steinbruch war er doch-

Der Steinbruch! Die Gefangenen!

Der Dämon, der diese vielen tausend Menschen unter Kontrolle gehalten hatte, musste auch Lyon und Meredy erwischt haben!

Vorsichtig testete Lyon die Grenzen seiner Beweglichkeit aus. Er hatte mit den Füßen keinen richtigen Halt, berührte gerade einmal mit den Zehenspitzen den Boden. Seine Hände wurden von den Fesseln abgeschnürt und fühlten sich bereits taub an. Seine Arme schmerzten. Sein Mund war trocken, seine Lippen rissig. Wie lange war er bewusstlos gewesen?

Mit einem tiefen Luftholen schloss Lyon die Augen, um sich auf seine Magie zu konzentrieren, aber selbst hier im dämmrigen Kerker war die Luft zu trocken. Auf dem Weg nach Jadestadt hatte er mit Gray bereits die Grenzen ihrer Eismagie in der Stillen Wüste ausgetestet. Sie brauchten hier mehr Wasser als anderswo, wo sie normalerweise allein mit der Luftfeuchtigkeit bereits Eis erzeugen konnten. Sie hatten deshalb überlegt, Wasserschläuche am Körper zu tragen, doch nach einigen Experimenten hatten sie die Idee wieder verworfen. Sie wären in nichtmagischen Kämpfen nur hinderlich und mit so wenig Wasser konnten sie allenfalls einen einzigen magischen Angriff wagen – und dessen Effektivität würde unter der Hitze leiden. Jetzt jedoch wäre dieser eine Angriff vielleicht Lyons Chance, aber wahrscheinlich hätten ihm die Dämonen den Wasserschlauch ohnehin abgenommen.

„Bemühe dich nicht.“

Die Frauenstimme, die so unvermittelt erklang, war samtig weich mit einem sinnlichen Timbre, das Lyon erschaudern ließ. Er öffnete die Augen wieder und erkannte eine junge Frau mit langen, schwarzen Haaren, welche aus den Schatten hinter Meredy trat und schließlich direkt vor ihm stehen blieb. Sie trug eine fremdartige weite Tunika und ein Tattoo auf der Stirn, aber sie hätte dennoch als normaler Mensch durchgehen können, wären da nicht die Hörner gewesen, die aus ihren Haaren hervorragten.

„Du kannst keine Hand an mich legen.“

Lyon runzelte finster die Stirn, als er die Stimme erkannte. Das war die Frau, die er in seinen Gedanken gehört hatte, als er sich vom Steinbruch entfernt hatte. Sie musste es sein, die all die Menschen dort gefangen hielt. Die Winddämonin!

„Ganz recht. Ich war tatsächlich ein wenig beeindruckt von deinem Versuch, mir zu widerstehen. Eine interessante Strategie, aber für einen Menschenwurm dennoch zu komplex…“

Die Gehörnte richtete ihren Blick auf Meredy. „Dein Weib hat etwas Ähnliches versucht. Für einen Mensch konnte es sich erstaunlich gut vor meiner Wahrnehmung verstecken. Ich weiß nur, dass es eine Nachricht ans Lager geschickt hat, aber der Inhalt ist mir unbekannt. Das ist… ein Ärgernis…“

Lyon versuchte, seine sich überschlagenden Gedanken wieder zu beruhigen, aber er kam nicht um die Fragen herum, was Meredy im Jadeturm heraus gefunden und was sie daraufhin für eine Nachricht ans Lager geschickt hatte. War das Heer jetzt auf dem Weg hierher? Würde es die Dämonen angreifen? Wie viele Dämonen waren hier letztendlich überhaupt?

„Ja, das wüssten wir auch gerne“, sagte die Dämonin leise. „Davon hängt ab, ob ich die Gefangenen vor die Tore schicke oder ob ich sie Meisterin Kyouka übergebe.“

Vor die Tore schicken – etwa gegen die Soldaten von Sabertooth? Bei der Vorstellung wurde Lyon übel. Minervas Männer waren standhaft und entschlossen, das hatte Lyon während des Ablenkungsmanövers vor den Mauern von Jadestadt gesehen. Aber konnten sie auch bestehen, wenn sie offensichtlich willenlosen Gefangenen als Gegner gegenüber standen? Konnten sie sich gegen Kinder wehren…?

„Das können sie nicht.“ In der samtigen Stimme klangen Hohn und Verachtung mit. „Menschen nehmen Rücksicht aufeinander. Sie sind nicht zu solchen Opfern in der Lage, egal was auf dem Spiel steht. Deshalb seid ihr so niedere und schwache Wesen.“

Obwohl er es nicht wollte, musste Lyon an seine Familie denken. An das sanfte Summen, mit dem seine Mutter ihn und Gray in den Schlaf gelullt hatte. An das scharfkantige Profil seines Vaters, beschienen von den Seelenlichtern. An die Faust seines Bruders, die vertrauensvoll gegen seine stieß…

Als er benommen den Kopf schüttelte, lachte die Dämonin bösartig. Lyon versuchte, all seine Gedanken auf die Vorstellung zu konzentrieren, wie er der Gehörnten ein Schwert ins Herz stieß. Sie reagierte darauf mit Bildern von der zerstörten Heimat, vom Grab seiner Mutter und von Grays Tränen.

In einem verzweifelten Versuch, sich dagegen zu wehren, holte Lyon mit seinem gesamten Körper Schwung. Seine Armgelenke knackten schmerzhaft und Lyons Stöhnen drang nur teilweise gedämpft durch den Knebel. Aber er gelangte mit seinem Fuß hoch genug, um die Gehörnte an der Wange zu treffen. Ihr Kopf wurde zurück geworfen und Lyons Gedanken waren wieder frei. Seine Handgelenke wurden schmerzhaft durchgescheuert, während er hin und her schwang, aber das war es ihm wert. Beim Anblick der Fassungslosigkeit auf den Gesichtszügen der vorher so hoheitsvollen Dämonin verspürte er eine grimmige Genugtuung.

Für einige Herzschläge herrschte Schweigen, während die Gehörnte sich über die lädierte Wange strich. Vielleicht war es auch nur Wunschdenken, aber auf Lyon machte es den Eindruck, als würde ihre Hand zittern. „Du widerlicher Wurm“, fauchte die sie schließlich, ihre Stimme ganz und gar nicht mehr samtig. „Lamy!“

Die Tür wurde schwungvoll geöffnet und zwei weitere Dämonen traten herein. Eine hatte violette, kurz geschnittene Haare und jugendliche Gesichtszüge, die von grausamem Eifer verzerrt wurden. Die Andere hatte ein kaltes, brutales Gesicht, das von dem Panzer, den sie trug, teilweise überschattet wurde. Der Panzer erinnerte in seiner Form an einen Hybrid aus Vogel und Eidechse und machte auf Lyon den Eindruck, als sei er aus dem Körper der Dämonin gewachsen. Was die erste Dämonin war, wusste er nicht, aber die zweite war definitiv einer der in ganz Ishgar gefürchteten Knochenbrecher. Selbst in der Heimat gab es Geschichten über sie – und normalerweise verirrten sich sonst keine Dämonen oder auch nur Geschichten über sie über die Spaltengletscher.

„Meisterin Seilah“, schrillte die violetthaarige Dämonin und hüpfte erregt um die Gehörnte herum, während sie versuchte, einen Blick auf ihre Wange zu erhaschen. „Hat dieser Unwürdige gewagt, Euch anzuführen? Lasst mich ihn töten! Ich werde Euch sein Herz darreichen, damit Ihr es zerquetschen könnt!“

„Schweig’, Lamy“, befahl die Gepanzerte. Ihre Stimme war in jedweder Hinsicht ein krasser Gegensatz zu der der Gehörnten: Sie war tief und kalt, die Worte knapp, regelrecht herausgespuckt, jede Silbe eine brutale, erbarmungslose Drohung. „Willst du Seilah etwa mit Menschenblut besudeln?!“

„Wie könnte ich, Meisterin Kyouka?“, greinte Lamy im unterwürfigsten Ton. „Nichts läge mir ferner! Ich wollte Meisterin Seilah lediglich Rache-“

„Still.“ Seilahs ruhiger Befehl ließ Lamy sofort verstummen. Mittlerweile war der Gehörnten nichts mehr von Lyons Attacke anzumerken. Er hatte sie nicht stark genug getroffen, um Spuren zu hinterlassen, und jetzt hatte sie sich wieder im Griff. „Du wirst gleich deine Kunst an dem Menschenmann anwenden dürfen. Fang’ langsam an und lass’ ihn leben. Er ist unser Druckmittel.“

In Lamys Augen trat ein manisches Funkeln. Ihre Hände zuckten zu ihrem Gürtel, was Lyons Aufmerksamkeit auf die daran befestigten Instrumente lenkte: Messer und Nadeln verschiedener Größen und Gestalten, viele mit hauchfeinen Rillen versehen, die gewiss nicht für die reine Ästhetik da waren. Er hatte ähnliche – nur stabilere – Waffen im Lager der Kaiserlichen Armee gesehen. Sie waren für Giftmagier vorgesehen, welche ihre Gifte in die Rillen und so direkt in die Wunden ihrer Gegner fließen lassen konnten.

Nur dass das hier keine Waffen waren, sondern Folterinstrumente. Eine Giftdämonin, die sich auf Folter spezialisiert hatte. Als ob die Dämonen nicht vorher schon genug Abartigkeit bewiesen hätten…

„Darf ich den Knebel entfernen? Darf ich ihn schreien lassen?“, fragte Lamy voller Verzückung, während ihre Finger von einem Folterinstrument zum nächsten geisterten.

„Denk’ daran, dass er am Leben bleiben muss“, mahnte Seilah, ließ jedoch mit einer Geste verstehen, dass der Knebel entfernt werden durfte.

Als Lamy sich an dem Knebel zu schaffen machte, nahm sie keine Rücksicht darauf, dass Lyon seinen Mund nicht unendlich weit aufsperren konnte. Sie zog und zerrte, drückte den Knebel auch mehrmals tiefer in Lyons Kehle und provozierte damit seinen Würgreflex. Keuchend hing Lyon schließlich in seinen Fesseln, erleichtert, sich doch nicht übergeben zu haben und den Knebel los zu sein. Zweifellos hatte seine Peinigerin es eigentlich darauf angelegt gehabt, ihn zu demütigen. Sie schien ihr abartiges Handwerk zu verstehen.

„Du wirst dich wohl etwas mehr anstrengen müssen“, tadelte Seilah, die mittlerweile neben Meredy getreten war. Anstatt der Bewusstlosen ebenfalls den Knebel fortzunehmen, strich sie ihr nur über die blasse Wange.

Schon bei der ersten Berührung zuckte Meredy zusammen und es dauerte nicht lange, bis ihre Lider zu flattern begannen. Und dann war sie schlagartig wach. Lyon konnte sehen, wie sie innerhalb weniger Herzschläge die Situation überblickte. Für einen Moment erkannte er ein Zucken in ihrer Miene, aber schon im nächsten war es verschwunden und ihr Gesicht wurde vollkommen ausdruckslos.

„Du bist gut, Frau“, schnurrte Seilah. „Ihr Menschen verzieht so schnell das Gesicht und seid so schrecklich weinerlich.“

„Widerlich“, spie Lamy aus, aber ihre Miene verriet, was sie wirklich darüber dachte. Sie ergötzte sich am Leid der Menschen. Lyon hatte geglaubt, mit diesem Priester von Avatar den schlimmsten Irren erlebt zu haben, aber Lamy konnte es mühelos mit ihm aufnehmen.

Du irrst dich, Mensch, unterbrach Seilahs Stimme seine Gedanken. Als sein Blick zu ihr huschte, blieben ihre Lippen regungslos, aber noch immer konnte er ihre Stimme hören. Lamy ist schlimmer als dieser Wurm. Ihr Handwerk ist von der niedersten Art, aber sie beherrscht es perfekt.

Zur Antwort legte Lyon so viel Abscheu in seine Gedanken, wie er nur konnte.

Seilah quittierte den Versuch mit einem angedeuteten Lächeln und wandte sich dann wieder an Meredy. „Du hast eine Nachricht an die Soldaten vor den Mauern geschickt. Was war ihr Inhalt? Verrat’ es mir oder sieh’ zu, wie Lamy hier deinen Gefährten den eigenen Namen vergessen lässt.“

Ob nun mit oder ohne Knebel, Meredy gab keinen Ton von sich und ließ auch keine Regung erkennen. Offensichtlich konnte sie auch ihre Erinnerungen gut genug abschirmen, denn zwischen Seilahs Augenbrauen entstand eine winzige Falte des Missfallens.

„Lamy…“

Mehr Worte brauchte die andere Dämonin nicht. Sie griff nach einem schlanken Messer, dessen Spitze sich so sehr verjüngte, dass sie beinahe an eine Nadel erinnerte. Während ihre Finger spielerisch über das Instrument fuhren, es fast schon liebkosten, glitt ihr Blick über Lyons Körper, als würde sie nach dem ersten Ansatzpunkt suchen wie ein Bildhauer vor einem Felsblock.

Schließlich warf sie Lyon einen gehässigen Blick zu und umrundete ihn. Die Tatsache, dass er keine Möglichkeit mehr hatte, Lamys Handeln zu beobachten, ließ einen ungeahnten Horror in Lyon ansteigen. Das Gefühl, ausgeliefert zu sein, war auf einmal viel größer und-

Der Stich auf seinem Schulterblatt traf Lyon völlig unvorbereitet. Ihm entfuhr ein Keuchen und ganz unwillkürlich bog er seinen Körper durch, um dem Schmerz zu entgehen. Der Stich war nicht tief, erkannte er schließlich, aber von der Einstichstelle aus breitete sich ein grauenhaftes Brennen über das gesamte Schulterblatt aus. Ohne dass der Schmerz dort nachließ, kam ein weiterer am unteren Rücken dazu, dann einer an der Seite, tiefer dieses Mal – und jedes Mal breitete sich das Brennen weiter aus, das Lyon verriet, dass Lamy Gebrauch von ihrer Giftmagie machte. Gepeinigt warf er den Kopf in den Nacken und presste die Lippen zusammen. Bei seinem verzweifelten Versuch, keinen Laut von sich zu geben, spürte er, wie sein Kiefer sich verkrampfte.

Nur vage war ihm bewusst, dass letztendlich drei Messer in seiner Haut steckten und dass Blut sein Hemd und seine Hosen tränkte. Viel, viel deutlicher war ihm, dass Lamy schließlich begann, die Messer zu drehen und tiefer zu treiben. Das Brennen ließ unterdessen keinen Herzschlag lang nach. Aller Bemühungen zum Trotz konnte Lyon ein gepeinigtes Stöhnen schließlich nicht mehr unterdrücken.

„Endlich!“, trällerte Lamy entzückt und ruckte das Messer in Lyons Seite so abrupt herum, dass er abermals stöhnen musste. „Normalerweise quieken sie viel früher. Dieser hier ist gut! Eine Herausforderung!“

Von ihrem Platz an der Tür aus schnaubte Kyouka abfällig. „Kein Mensch kann jemals für einen wahren Dämon eine Herausforderung sein!“

„Aber so wie es unter den Dämonen starke und schwache gibt, so gibt es sie auch unter den Menschen“, wandte Seilah nachdenklich ein. „Für Menschen sind diese Beiden nicht schlecht. Sie halten Beide stand.“

„Noch“, kicherte Lamy boshaft und dann schnitt etwas über Lyons noch unverletztes Schulterblatt, trennte den Stoff des Hemdes und die ersten Hautschichten.

Vom ersten Herzschlag an drang Lyon dabei ein scharfer Gestank in die Nase. Mit einem kaum zu bekämpfenden Anflug von Übelkeit wurde ihm klar, dass das Gift, welches Lamy nun verwendete, seine Haut wegätzte. Gegen seinen Willen musste er wieder stöhnen, lang anhaltend und laut, zum Ende hin wurde es beinahe ein Wimmern.

„Jeder Mensch kann gebrochen werden, Frau“, sinnierte Seilah wieder mit ihrer samtigen Stimme an Meredy gewandt. „Lamy hat gerade erst angefangen. Mit ihren Giften kann sie deinen Gefährten lähmen, ihn erblinden und ertauben lassen…“

„Mehr als das!“, unterbrach Lamy eifrig. „Ich kann machen, dass er seine Gedärme auskotzt, dass ihm die Glieder abfallen, dass seine Haut und sein Fleisch so lange schmelzen, bis sie von den Knochen fließen. Ich kann seine Nerven vergiften, dass er für den Rest seines kümmerlichen Lebens vor Schmerzen schreit. Ich kann ihn vergessen lassen, wer er ist und wer du bist, ich kann ihn jede Muskelbewegung vergessen lassen, kann ihm Krämpfe bescheren, kann ihn von innen heraus verfaulen las-“

„Das genügt“, sagte Seilah leise, aber mit einem bedrohlichen Unterton – hinter Lyon verstummte Lamy mit einem gepeinigten Wimmern. Die Gehörnte wandte sich wieder an Meredy. „Du hast schon einmal einer Folter zugesehen und bist selbst gefoltert worden. Damals habt ihr Glück gehabt, aber dieses Mal sieht es anders aus. Dieses Mal wird keiner zu eurer Rettung eilen.“

Die Tatsache, dass Seilah nun doch Einblick in Meredys schlimmste Erinnerungen erlangt hatte – Erinnerungen, die sie auch mit Lyon lange Zeit nicht hatte teilen können –, erfüllte Lyon mit blankem Horror.

„Meredy, du darfst ihnen nichts verraten!“, krächzte er und suchte den Blick seiner Freundin. Als sie ihm auswich, wurde Lyon schon wieder übel. Er wusste nicht, welche Nachricht sie dem Heer gesandt hatte, aber davon hing vielleicht Grays Leben ab! Oder die Leben der Gefangenen im Steinbruch!

„Mere-“ Als Lamy den Dolch in seiner Seite schon wieder abrupt herum drehte und dann heraus riss, schrie Lyon auf. Lamys Lachen klang seltsam verzerrt in seinen Ohren und sein Kopf fühlte sich für einige Herzschläge merkwürdig trübe an.

„Ich kann ihn noch ein bisschen weiter bluten lassen, aber es dauert nicht lange, bis es lebensgefährlich wird“, gackerte Lamy. „Ihr Menschen verblutet so leicht. Ich muss jedes Mal richtig aufpassen.“

„Du hast es gehört. Dein Gefährte stirbt, wenn du nicht sprichst“, sagte Seilah leise.

Für Lyon klang es immer noch wie aus weiter Ferne. Er hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, aber er rief sich seine Aufgabe in Erinnerung und zwang sich, die Angst um sein eigenes Leben zu verdrängen. Denn ja, er hatte Angst. Unfassbar große, alles verschlingende Angst. Er wollte nicht sterben. Auch nach allem, was sich geändert hatte, hegte er immer noch den Wunsch, eines Tages mit Meredy eine Familie gründen zu können. Wenn er hier und jetzt starb, konnte er nicht mehr diejenigen beschützen, die ihm lieb und teuer waren. Aber hier und jetzt gab es Wichtigeres als sein Leben!

Mühsam hob er den Kopf, suchte Meredys Blick, um ihr irgendwie begreiflich zu machen, dass sie nicht nachgeben durfte. Doch Meredy hatte die Augen zugekniffen und zitterte am ganzen Körper.

„Ah…“ Auf Seilahs Lippen legte sich ein triumphierendes Lächeln, als Meredy den Kopf hängen ließ.

„Nein“, krächzte Lyon, obwohl ihm bereits klar war, dass es vergebens war.

„So, so, diese Frau hat es tatsächlich geschafft, euch zu belauschen, Kyouka“, erklärte Seilah leise. „Und sie hat den Soldaten draußen verraten, dass Jadestadt nur ein Ablenkungsmanöver ist.“

„Aber dann machen sich die Soldaten auf dem Weg zurück nach Sabertooth!“, stellte Lamy empört fest.

„Das macht auch nichts mehr. Meister Mard Geer sollte bald mit Plutogrimm und Keith da sein“, stellte Kyouka fest und drehte sich um. „Aber das bedeutet, dass wir uns endlich dieser stinkenden Maden entledigen können. Wir benötigen keine Geiseln mehr.“

Ohne eine weitere Erklärung verließ die gepanzerte Dämonin den Kerker, aber Lyon brauchte auch keine Erklärung. Vor seinem geistigen Auge tauchten schon wieder die Einwohner von Jadestadt auf. Dann wurde das Bild von einem anderen abgelöst: All diese Menschen tot, nieder gemetzelt wie Schlachtvieh, der Steinbruch ein See aus Blut…

„In der Tat, wir benötigen keine Geiseln mehr“, schnurrte Seilah.

Neben ihr ruckte Meredys Kopf hoch. Ihre grünen Augen flackerten vor Panik und durch den Knebel stieß sie unverständliche Laute aus, während sie sich verzweifelt in ihren Fesseln zu winden begann. Doch Seilah ergötzte sich sogar noch an Meredys Leid. Auf ihren edlen Zügen brach ihre wahre, abgrundtief böse Natur hervor, als sie grausam lächelte.

„Lamy…“

Hinter Lyon erklang ein glückseliges Jauchzen – und im nächsten Moment schnitt der vergiftete Dolch einmal seinen gesamten Rücken hinunter.

Und Lyon schrie…

Die Straße, die zu einem harten Kampf führte

Der Schrei zerriss die gespenstige Stille, die auf Jadestadt lastete, und brachte Gray aus dem Tritt. Keuchend stolperte er nach vorn und klammerte sich an eine Häuserecke, um nicht im Dreck zu landen. Die Ruhe, zu der er sich seit dem Aufbruch im Morgengrauen immer wieder ermahnt hatte, löste sich schlagartig in Luft auf und die wenigen Happen, zu denen Natsu ihn überredet hatten, drohten, wieder nach oben zu kommen. Nie zuvor in seinem Leben hatte Gray etwas so Schreckliches wie diesen Schrei seines Bruders gehört!

„Da lang!“, bellte Natsu neben ihm und zog ihn über den verlassenen Appellplatz der Kaserne von Jadestadt. Im Laufen zog der Drachenreiter ein Messer aus einem Holster am Gürtel.

Mit aller Kraft zwang Gray sich, neben seinem Kameraden wieder in einen regelmäßigen Laufschritt zu verfallen. Panik würde ihm jetzt nicht helfen, rief er sich selbst in Erinnerung. Und es würde auch nicht helfen, Natsu zu hetzen, der sie mit seiner feinen Nase bis hierher geführt hatte. Er hörte selbst, wie dringend es auf einmal war.

„Wie viele Dämonen sind es?“, fragte Gray, um die nächsten Schreie seines Bruders nicht so deutlich hören zu müssen.

„Drei waren hier, aber die Spur des einen führt weg von der Kaserne…“

Sie umrundeten das Lazarett und erreichten ein unbeschriftetes Gebäude, dessen vergitterte Fenster genug über seinen Zweck verrieten – und genau aus diesem Gebäude drang erneut ein Schrei, gefolgt von manischem, schrillem Gelächter.

Es wurde zu viel. Ohne abzuwarten, was Natsu tat oder sagte, folgte Gray den Geräuschen eine steinerne Treppe hinunter und durch einen schummrigen Gang bis zu einer eisenbeschlagenen Tür, die nur angelehnt war. Als er sie aufstieß, blieben ihm nur wenige Herzschläge Zeit, um die Szenerie zu überblicken: Lyon und Meredy, an Handfesseln von der Decke hängend, Meredy geknebelt und sich verzweifelt windend. Lyon zitternd und wimmernd, zu seinen Füßen eine Blutlache. Neben Meredy eine gehörnte Dämonin, hinter Lyon eine kleinere, einen blutigen Dolch erhoben.

Dann erklang hinter Gray ein Zischen – und im nächsten Augenblick ragte ein Wurfmesser aus der Kehle der Foltermeisterin hinter Lyon. Sie stieß ein überraschtes Gurgeln aus und ließ ihren Dolch fallen, um nach ihrer Kehle tasten zu können. Ihre Augen weiteten sich vor Unglauben und sie stolperte Blut spuckend nach hinten, bis sie an die Wand stieß und an dieser langsam zu Boden sank.

Als Gray wieder bewusst wurde, dass sich noch eine zweite Dämonin im Raum befand, und er herum wirbelte, war der Überraschungsmoment schon vorbei.

Menschenbrut!“, fauchte die Gehörnte und seltsamerweise hatte ihre Stimme einen Doppelklang in Grays Kopf. „Ihr wagt es! Dafür werdet ihr leiden!

Vor Grays Augen verschwamm erst alles und dann tauchten Lyon und Meredy vor ihm auf. Sie hingen noch immer von der Decke, regungslos, mit aufgeschlitzten Kehlen, die Augen leblos und starr. Gray entfuhr ein gepeinigtes Stöhnen und er wollte den Blick abwenden, aber etwas zwang ihn, still zu halten.

Zu spät, erklang es in seinem Kopf.

Lyon und Meredy verschwanden wieder, wurden von Grays Mutter abgelöst, ihr weißes Haar, das sie an Lyon vererbt hatte, Blut getränkt. Gray würgte verzweifelt.

Immer zu spät.

Beim Anblick seines toten Vaters sank Gray in die Knie. Der gesamte Körper seines Vaters war von Folterspuren übersäht…

Etwas Warmes spritzte auf Grays Gesicht und das Bild seines Vaters löste sich langsam auf. Es fühlte sich an, als würde sich ein dichter Nebel lichten, und als Gray wieder klar sehen konnte, stand vor ihm die gehörnte Dämonin. Aus ihrer Brust ragte ein ungleichmäßiger Splitter blutroten Eises, der bereits zu schmelzen begann.

Grays Blick zuckte zu seinem Bruder hinüber. Das Blut zu seinen Füßen war verschwunden und er hing nun völlig erschlafft in seinen Fesseln.

Eine Bewegung am Rande seines Blickfelds hielt Gray davon ab, in Panik zu verfallen. Natsu war mit wenigen Schritten bei der Dämonin und stieß ihr von unten einen Dolch durch Kehle und Kopf. Der Blick der Gehörnten erstarb und sie sackte lautlos in sich zusammen.

Zitternd und schwer atmend blieb Natsu für einen Moment über ihrem Leichnam stehen. Dann wischte er sich hastig über die Augen und drehte sich abrupt zu Gray herum. „Kümmere dich um Meredy.“

Für einen Moment wollte Gray widersprechen – Lyon brauchte seine Hilfe dringender! –, doch dann fiel sein Blick auf die Assassine. Sofort sprang er auf die Beine und machte einige Schritte auf sie zu, zögerte dann jedoch.

Obwohl die Dämonen keine Hand an sie gelegt zu haben schienen, sah sie fürchterlich aus. Die Fesseln hatten ihre Handgelenke völlig aufgeschürft, ihre Haare hingen ihr aufgelöst ins Gesicht und ihre Augen hatten sich derartig verdreht, dass nur noch das Weiße zu sehen war, während sie gepeinigt in ihren Fesseln zappelte und dabei durch den Knebel hindurch dumpfe Laute ausstieß. Sie hatte offensichtlich eine Panikattacke.

Lyon wäre derjenige, der sich jetzt um Meredy kümmern müsste. Er kannte Meredys Geschichte, besaß ihr Vertrauen, stand ihr nahe… Aber er konnte nicht helfen und Gray hatte sich doch geschworen, dass Meredy jetzt zu seiner Familie gehörte. Es war jetzt seine Aufgabe, sie zu beruhigen!

„Meredy“, sagte er leise und machte einen Schritt nach vorn, um sie an der Schulter zu berühren.

Sofort zuckte sie zusammen und stieß um den Knebel herum einen erstickten Schrei aus, ehe sie sich wieder zu winden begann.

„Meredy, ich bin es, Gray“, versuchte er es noch einmal, aber sie reagierte nicht auf ihn.

Es war fast, als würde sie sich immer noch in einer Halluzination der gehörnten Dämonin befinden. Was für eine Chance hatte Gray da überhaupt, zu Meredy vorzudringen?

Sein Blick zuckte zu Natsu hinüber, der es bereits geschafft hatte, Lyon von seinen Fesseln zu befreien, und ihn nun vorsichtig auf den Bauch legte, um das Hemd mit einem seiner Messer aufzuschneiden und vom blutigen Rücken zu lösen.

Ruckartig drehte Gray sich wieder um und griff nach Meredy Fesseln. Sie wehrte sich in blinder Panik, trat ihm mehrmals gegen die Schienbeine und schrie und wimmerte. Als er sie endlich auf die eigenen Füße stellen konnte, rutschte sie in ihrer Hast beinahe aus.

„Komm zu dir!“, rief Gray und schlang die Arme um Meredy.

Wieder wehrte sie sich, heftiger sogar, doch Gray hielt sie eisern fest und murmelte ihr immer und immer wieder ins Ohr, dass sie in Sicherheit war, dass Lyon in Sicherheit war, dass sie sich beruhigen musste…

Und irgendwann erlahmten ihre Zuckungen und ihr Körper erschlaffte in Grays Armen. Ganz vorsichtig lehnte Gray sich zurück und betrachtete die Frau, die er zu seiner Schwester erklärt hatte. Sie klammerte sich jetzt zitternd und weinend an ihn, das Gesicht an seine Brust gepresst. Gray hatte sie noch nie so unbeherrscht gesehen. So schrecklich verletzlich und so jung und alt zugleich.

Behutsam erlöste er sie endlich von dem Knebel, dann schlang er die Arme wieder fester um ihren Körper und drückte sein Gesicht in ihre Haare. Er konnte ihr die Erinnerungen an Edolas nicht nehmen, konnte das, was auch immer ihr dort widerfahren war, nicht ungeschehen machen. Alles, was er tun konnte, war, sie weiter festzuhalten.

„G-gray…“

Lyons schwaches Röcheln ließ Gray und Meredy gleichzeitig herum wirbeln. Lyon lag auf dem Bauch, um ihn herum die blutigen Fetzen seines Hemdes. Mit seinem Tagelmust hatte Natsu das Blut vom Rücken gewischt und drei Stiche und zwei Schnitte freigelegt. Während Natsu sich an einer seiner Gürteltaschen zu schaffen machte, hatte Lyon den Kopf herum gedreht, um Gray und Meredy sehen zu können. Es sah aus, als hätte er alle Mühe, bei Bewusstsein zu bleiben.

„Wir müssen Lyon zu den Ärzten bringen, die Minerva da gelassen hat“, krächzte Gray und versuchte, nicht zu genau auf den Schnitt am rechten Schulterblatt zu blicken, der sich bereits unheilverkündend schwarz verfärbte.

„Keine Zeit“, murmelte Lyon. „Ihr müsst… Kyouka… aufhalten…“

Neben Gray zuckte Meredy heftig zusammen und dann schien sie regelrecht in sich zusammen zu schrumpfen.

„Ist Kyouka der dritte Dämon?“, fragte Natsu, ehe er mit den Zähnen den Pfropfen einer kleinen Tonflasche heraus zog.

„S-sie ist auf dem Weg, um…“ Meredys Stimme erstarb und sie barg wimmernd das Gesicht in den Händen. „Es ist alles meine Schuld! Es tut mir so Leid!“

„Nicht…“ Lyons Hand zuckte, als wollte er sie nach einer Freundin ausstrecken. Sein flehender Blick wandte sich an Gray, welcher sich ein Herz fasste, einen Arm um Meredys Schultern schlang und sie mit sich runter zu Lyon zog.

„Im Nordviertel beim Steinbruch“, stieß Lyon matt hervor. „Dort sind die Gefangenen… Sie will sie alle töten… Ihr müsst euch beeilen.“

„Aber was ist mit dir?“, widersprach Gray und versuchte dabei, nicht an all die Menschen zu denken, die in dieser großen Stadt Platz hätten.

„Meredy kann sich um ihn kümmern“, mischte Natsu sich ein und hielt der Assassine das Fläschchen entgegen. „Träufel’ die Hälfte auf die Wunden und flöße ihm den Rest ein.“

„Was ist das?“, fragte Meredy krächzend, doch wieder gefasst genug, um misstrauisch klingen zu können.

„Keine Ahnung.“ Bei dem ratlosen Schulterzucken spürte Gray schon, wie ihm vor Wut die Galle hoch kam. „Gegengift von jemandem, der Ahnung davon hat. Ziemlich sicher sogar mehr als die da.“ Natsu nickte in Richtung der toten Giftdämonin, in deren Kehle noch sein Messer steckte. „Ich vertraue ihm.“

„Du kennst ziemlich viele Leute“, murmelte Meredy.

Wieder zuckte Natsu mit den Schultern, dann stand er auf und durchquerte mit großen Schritten die Kerkerzelle.

Für einen Moment zögerte Gray noch, dann straffte er die Schultern. „Gib Lyon das Gegengift. Keine Ahnung, warum, aber ich vertraue Natsu. Er weiß Bescheid.“

Meredys Augen weiteten sich ungläubig. „Aber warum hast du-?“

„Weil ihr Beide die größten Eishirne der Welt seid“, knurrte Gray. „Kümmere du dich um Lyon, ich helfe Natsu.“

Ohne auf eine Erwiderung zu warten, durchmaß Gray ebenfalls den Kerker und eilte die Treppe hoch. Natsu war schon nicht mehr zu sehen, also schlug Gray einfach die nächste Straße nach Norden ein.

Er konnte immer noch nicht klar sagen, warum er Natsu erzählt hatte, was in der Heimat geschehen war. Sicherlich war auch Lyons Alleingang dafür verantwortlich gewesen, aber auch vorher hatte Gray sich nicht wohl mit diesem Geheimnis gefühlt. Das Gespräch mit Lucy lag ihm auch heute noch schwer im Magen. Aber er hatte sich nicht Lucy, Loke oder Levy anvertraut, die er schon seit fünf Zyklen kannte, sondern ausgerechnet Natsu. Natürlich, im Moment seines Zusammenbruchs war nur der Drachenreiter zur Stelle gewesen, aber etwas an der Art, wie er auf Grays Geheimnis reagiert hatte, hatte Grays Vertrauen geweckt. Ohne dass Natsu etwas dergleichen gesagt oder auch nur angedeutet hätte, fühlte Gray sich von ihm verstanden.

Er fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Was war Natsu in der Vergangenheit widerfahren? Magnolia stand doch noch. Kam Natsu ursprünglich nicht aus dem Fürstentum? Aber wäre ein Fremder in Magnolia zum Ehrenlegionär ernannt worden? Wieder einmal wurde Gray bewusst, dass er im Grunde nichts über seinen Kameraden wusste.

Fernes Geschrei riss Grays Gedanken zurück in die Gegenwart und ließ ihn anhalten, um sich zu orientieren. Das irritierend gradlinige Straßennetz hatte es einfach gemacht, immer weiter nach Norden zu kommen, sodass er gar nicht weiter darauf geachtet hatte, wie sich seine Umgebung verändert hatte. Anstatt der Kasernen- und der daran anschließenden Wohngebäude umgaben ihn jetzt lauter Lager, die mit blockartigen Zahlen beschriftet waren.

Das Geschrei erklang östlich von ihm. Waren das die Gefangenen? Mit dem Tod der Telepathin mussten sie alle erwacht sein. Wenn sie etwas Ähnliches wie Gray vorhin gesehen hatten, war verständlich, warum sie jetzt schrien. Es musste für sie wie das Erwachen aus einem schier ewig währenden Albtraum sein.

Spätestens jetzt musste der letzte Dämon wissen, dass etwas nicht stimmte. Das konnte ihn womöglich zum Kerker zurück locken, aber Gray traute diesen Dämonen nicht einmal diesen Akt der Kameradschaft zu. Für viel wahrscheinlicher hielt er es, dass der Dämon sich beeilen würde, die Menschen von Jadestadt zu eliminieren.

Gray fluchte atemlos und hetzte weiter in Richtung des Geschreis, weil das sein einziger Hinweis auf den Aufenthaltsort der ehemaligen Gefangenen war – nur vage erinnerte er sich an den Stadtplan von Jadestadt, den er heute Morgen noch studiert hatte.

Wo bei allen Stürmen steckte bloß Natsu? Konnte er den Dämon wirklich riechen oder hatte er hier in der Nähe der Gefangenen dieselben Probleme wie in Sabertooth, als Minerva ihn gefragt hatte, ob er Jackal aufspüren konnte? Waren auch hier zu viele andere Gerüche in der Luft? Hatten sie zu lange im Kerker herumgestanden?

Als hätte Natsu Grays Sorgen gespürt, erklang just in diesem Moment ein lautes Grollen und drei Straßen weiter schossen Flammen zwischen den Gebäuden hervor. Sofort änderte Gray die Richtung. Je näher er dem Flammenherd kam, desto mehr Kampfgeräusche konnte er hören. Zuletzt quetschte er sich durch einen schmalen Spalt zwischen zwei Lagerhäusern, um schneller zur anderen Straße zu gelangen.

Gerade noch rechtzeitig konnte er sich selbst abfangen, als er auf die Straße zu stolpern drohte. Schwer atmend zwang er sich, zuerst die Lage zu überblicken: Natsu schwang gerade sein Langschwert nach einer Dämonin – das musste Kyouka sein – mit einer Knochenpanzerung, die gleichzeitig an einen Vogel und an eine Eidechse erinnerte, während sie mit einem Schwert parierte, das aus ihrem Armpanzer heraus wuchs.

Gray erinnerte sich an eine Geschichte seiner Mutter über die sogenannten Knochenbrecher – Dämonen von unvorstellbarer Körperkraft und mit Knochenpanzerung, die sie beliebig formen konnten. Sie waren nicht so monströs stark wie Berserker, doch dafür um Längen bessere Kämpfer, schneller, wendiger, effektiver. Gnadenloser noch als viele andere Dämonen und mit einer tiefen Abscheu gegen alles Menschliche. Und sie besaßen eine unglaublich starke Resistenz gegen alle Magieformen.

Hinter der Dämonin brannte ein hölzernes Fass so heiß, dass sogar die Metallbeschläge schmolzen. Natsu musste Kyouka mit voller Kraft getroffen haben, aber die Knochenbrecherin war nicht einmal angesengt. Ausgerechnet hier, wo die Umweltbedingungen ihn geradezu übervorteilten, stieß Natsu auf eine Gegnerin, gegen die er mit seiner Magie nicht das Geringste ausrichten konnte.

Doch zu Grays Überraschung ließ Natsu sich nicht davon aus dem Konzept bringen. In seinem typischen wilden Kampfstil, der Gray schon bei der Schlacht gegen die Zyklopen erstaunt hatte, schlug der Drachenreiter zu, parierte, wich aus, täuschte, trat. Sein Repertoire schien unerschöpflich, Zögern schien ihm unbekannt. Er kämpfte ohne Regeln, ohne Standards. So hatte Gray, der bei der Kaiserlichen Armee schon gegen so viele andere Krieger angetreten war, noch nie jemanden streiten sehen.

Allerdings war schon nach einem kurzen Schlagabtausch offensichtlich, dass Kyouka mehr Schlagkraft besaß und in Sachen Schnelligkeit mit Natsu mithalten konnte. Damit blieb Natsu als einziger Vorteil nur noch seine Unberechenbarkeit.

Grays Blick huschte umher auf der Suche nach einer Möglichkeit, die Dämonin zu überwältigen. Er war nicht so ein Taktiker wie Lyon und auch nicht so ein überragender Bogenschütze wie Romeo. Mit seiner Magie war er im Nachteil und die Umgebung versprach ihnen auch keine Vorteile.

Alles, was er tun konnte, war, sein Schwert im richtigen Augenblick in den Kampf zu werfen…

Gray tauchte wieder in die Gasse ein und hetzte zurück, um das Lager zu umrunden und so in Kyoukas Rücken zu gelangen.

„Hey da! Halt!“

Ein Soldatentrupp versperrte Gray den Weg. Sie schienen alles andere als gefasst, sie zitterten, ihre Gesichter waren bleich, ihre Augen extrem geweitet – und dennoch waren sie zu viert und hatten die Waffen erhoben. Gray stieß einen Fluch aus und blickte gehetzt zum Eingang jener Gasse, in die er rein musste, um Natsu helfen zu können.

„Wer seid Ihr?“, fragte einer der Soldaten, seinem Abzeichen an der Brust nach ein Hauptmann, mit dünner Stimme. „Was ist hier geschehen?“

„Ich habe keine Zeit, um es zu erklären“, erwiderte Gray barsch. „Geht zurück zum Steinbruch und sorgt dafür, dass alle dort bleiben. Mein Kamerad kämpft noch gegen einen Dämon und wir können es nicht gebrauchen, dass Ihr dazwischen geratet.“

„Ich verstehe nicht“, stammelte der Hauptmann. „Ein Dämon? Wie ist der hier herein gekommen?“

Beim Großen Sturm! Gray hatte Mitleid mit diesen Männern, die sich viel zu lange in der furchtbarsten Gefangenschaft befunden hatten, die er sich vorstellen konnte, aber hier und jetzt wünschte er sie in die Eiswüste.

„Verschwindet und kümmert Euch um Eure Leute!“, blaffte Gray und setzte sich in Bewegung.

Sein Bruder hätte ihn ein Eishirn genannt und im Nachhinein musste Gray sich eingestehen, dass er damit Recht hätte. Diese Menschen hatten Angst, waren verwirrt und geschwächt. Was sie brauchten, waren geduldige Erklärungen, keine unsensiblen Befehle von einem Fremden.

Es war den Männern nicht zu verdenken, dass sie ihre Schwerter hoben und Gray umzingelten. Er hätte es an ihrer Stelle wahrscheinlich genauso gemacht.

Aber verdammt sollten sie sein! Sie raubten Gray damit Zeit. Zeit, die Natsu vielleicht nicht hatte!

Gray zwang sich, tief Luft zu holen und jedem der Soldaten in die Augen zu blicken. „Ich weiß, dass Ihr verwirrt seid und Antworten wollt, aber ich kann sie Euch nicht geben. Nicht jetzt. Mein Kamerad braucht Hilfe!“

„W-woher sollen wir wissen, dass Ihr uns nicht anlügt?“, stammelte ein anderer Soldat. Er konnte kaum älter als Romeo sein, seine Ausrüstung war noch vollkommen neu. In seiner Angst wirkte er jünger und zerbrechlicher denn je. „Ihr könntet zu denen gehören! Wo habt Ihr unsere Fürstin versteckt? Wo ist Herrin Hisui?!“

Mit seiner Sorge um die Jadefürstin legte er auch gleich seine Verehrung für die Frau offen. Der arme Bursche war schwer verliebt in seine Lehnsherrin.

„Ich weiß nicht, wo Hisui ist“, erwiderte Gray unwirsch. „Vielleicht wird sie anderswo gefangen gehalten.“

Oder vielleicht war sie tot. Es war sechs Schmelzen her, seit Gray die Jadefürstin das letzte Mal in Crocus getroffen hatte. Sie war während der Dauer ihres Studiums oft am Kaiserlichen Hof gewesen, ehe sie ihren Abschluss in Politik gemacht hatte und nach Jadestadt zurückgekehrt war, um ihren Vater auf dem Fürstenthron abzulösen. Wegen des Altersunterschiedes hatte Gray nie so viel mit ihr verkehrt wie später mit Lucy, aber er hatte sie höher geschätzt als viele andere der Sonnenmenschenfürsten, die er vor und nach ihr kennen gelernt hatte. Der Gedanke, dass die Dämonen sie womöglich getötet hatten, tat Gray aufrichtig Leid, aber er konnte und durfte sich jetzt nicht darum kümmern.

„Wir lassen Euch nicht gehen, solange wir keine Antworten haben. Wir-“

Ein lautes Krachen unterbrach den Hauptmann und ließ ihn und seine Kameraden herumwirbeln. Gray spurtete los, rempelte einen der Soldaten so an, dass er dem daneben vor die Füße fiel, und rannte endlich um das Lager herum. Er hatte wirklich versucht, die Soldaten dazu zu bringen, zu verschwinden. Mehr Zeit konnte er sich nicht für sie nehmen. Wenn sie wenigstens einen Funken Restverstand hatten, würden sie beim Anblick der Dämonin hoffentlich Reißaus nehmen.

Als Gray aus der engen Gasse heraus stolperte, erkannte er, dass seine Chance vertan war. Die Straße glich einem Schlachtfeld. Die so gleichmäßig verfugten Bodenplatten waren verschartet und gesprungen, teilweise sogar richtig geborsten, deutliche Zeugnisse für Kyoukas ungeheure Kraft. Der Kampf hatte sich in eines der Lager verlegt, das massive, zweiflügelige Holztor war zersplittert und hing schief in den Angeln.

Im Inneren des Lagers waren unterschiedlich große Marmorblöcke fein säuberlich aufeinander gestapelt und aneinander gereiht. Es gab Fensterläden, die man öffnen konnte, um mehr Licht in den Raum zu lassen, aber jetzt waren sie alle geschlossen und je tiefer Gray in das Lager vordrang, desto schummriger wurde es. Vage erkannte er Flaschenzüge an den Deckenbalken und in einer Ecke befand sich ein kleiner Werkstattbereich, in dessen Zentrum ein teilweise bearbeiteter Block stand, der bereits die Form eines Basilisken erahnen ließ.

Gray folgte dem Kampfeslärm und der Spur aus Scharten an den Marmorblöcken und als er um eine Ecke bog, stand er schließlich in Kyoukas Rücken. Die Dämonin setzte Natsu noch genauso schnell und kraftvoll zu wie zu Beginn des Kampfes, während der Drachenreiter reichlich zerschunden aussah. Über der rechten Augenbraue hatte er einen hässlichen Schnitt davon getragen und Blut rann ihm über Gesicht und Hals. Das Wams wies mehrere Schnitte auf, unter welchen der leichte Lederpanzer zum Vorschein kam. Zum Glück schien keiner der Schnitte durch den Panzer gedrungen zu sein, aber Gray war sich sicher, dass das nur Natsus schnellen Reaktionen zu verdanken war – und das konnte nicht ewig anhalten.

Ohne sich noch mal aufhalten zu lassen, zog Gray sein Schwert und griff an, genau in dem Moment, da auch Natsu wieder sein Schwert schwang.

Kyouka hörte ihn – richtig, Knochenbrecher hatten scharfe Sinne –, aber sie musste Natsus schlichtem, aber kraftvollem Überkopfschlag ausweichen, der auf ihren Kopf zielte. Ein Stapel Marmorblöcke behinderte sowohl ihr Manöver als auch Grays. Es war hier zu eng für einen effektiven Gebrauch des Schwerts.

Allerdings war der Kampf unter solchen Bedingungen ein elementarer Bestandteil in Robs Ausbildungskonzept gewesen. Nur zu gut erinnerte Gray sich noch an all die zermürbenden Übungen zwischen eng zusammen gestellten Kisten und Fässern. Hier und jetzt musste er nicht einmal darüber nachdenken, was zu tun war. Ganz automatisch wurde aus dem Seitwärtshieb ein blitzschneller Vorwärtsstoß, der auf den Hals der Dämonin zielte.

Kyouka gelang es, rechtzeitig ihren Arm hoch zu reißen. Der undurchdringliche Knochenpanzer lenkte Grays Klinge vom Hals ab, aber gerade in dem Moment, da Gray spürte, wie sich sein eigener Schwung gegen ihn zu wenden drohte, war Natsu zur Stelle. Der Drachenreiter hatte einen Dolch gezückt und stach damit nach Kyoukas Handgelenk.

Das Ausbleiben eines Schmerzenschreis ließ das Knacken übelkeiterregend laut klingen. Jeder noch so gestandene Mann hätte bei einer solchen Verletzung unmöglich still bleiben können, aber Kyoukas einzige Reaktion war ein wildes Zähnefletschen, das wohl eher der Wut als dem Schmerz zuzuschreiben war.

Gray fing seinen eigenen Schwung ab und gleichzeitig mit Natsu sprang er von der Dämonin zurück, die den unverletzten Arm für einen Gegenschlag hob. Seite an Seite und mit erhobenen Waffen standen sie ihrer Kontrahentin gegenüber.

„Ihr Unwürdigen wagt es!“, spie sie hasserfüllt. „Und ihr habt Hand an Seilah gelegt! Ich kann ihr Blut riechen!“

„Deine Freunde haben bekommen, was sie verdienen“, erwiderte Natsu und schob sein hier nur hinderliches Langschwert in die Scheide, um stattdessen seinen Dolch in die rechte Hand zu legen. „Wenn du nicht wie sie enden willst, musst du Jadestadt verlassen, ohne auch nur einem Menschen ein Haar zu krümmen.“

Gray warf dem Drachenreiter einen Seitenblick zu. Es war klar, dass dieses Ultimatum reine Provokation zum Zweck hatte, aber Gray glaubte, dahinter auch ein Quäntchen Aufrichtigkeit zu erkennen. Hoffte Natsu etwa wirklich, die Dämonin würde das Angebot annehmen? Konnte er so naiv sein?

Gray dachte an die Kämpfe gegen die Zyklopen und in Malba. Nein, der Mann, der dort ohne Zaudern gekämpft und auch getötet hatte, war kein Naivling gewesen. Natsu kannte den Tod und den Überlebenskampf.

Aber allem Anschein nach kannte er auch die Prinzipien von Recht und Unrecht. Ob von Igneel, von seinem Fürsten, von seinen Eltern oder von einem seiner Lehrmeister, Natsu hatte Ehre kennen gelernt und hielt sie aufrecht.

„Unwürdige Kriecher!“, zischte Kyouka und ließ an beiden Unterarmen ihre Panzer so wachsen, dass sie wie stachelartige Dolche aussahen.

Eindeutig die beste Bewaffnung für die Gegebenheiten hier, auch wenn die Dämonin nicht gänzlich ihre Verletzung verschleiern konnte. Gray glaubte dennoch nicht, dass sie tatsächlich im Vorteil waren. Ihrer beider Magie war hier nutzlos und körperlich war Kyouka ihnen immer noch überlegen.

Gray blieb keine Zeit, auch nur darüber nachzudenken, was für eine Strategie sein Bruder womöglich verfolgen würde. Kyouka griff unbarmherzig und unablässig an, setzte ihnen Beiden mit Hieben und Tritten zu und drängte sie zurück.

Um nicht Gefahr zu laufen, Natsu in die Quere zu kommen, versuchte Gray eben nicht, ihm Deckung zu geben, sondern bewegte sich stattdessen langsam und mit vielen Rückschlägen so, dass sie Kyouka in die Zange nehmen konnten. Ob es Zufall war oder Natsu dieselbe Idee hatte oder einfach instinktiv richtig auf Grays Manöver reagierte – es gelang ihnen.

Doch selbst unter diesen Bedingungen schaffte Kyouka es, die Oberhand zu behalten. Ihre Bewegungen waren zu schnell, als dass die beiden Männer eine Lücke in ihrer Verteidigung erwischen konnten, ja, sie schaffte es sogar, ihnen weiterhin zuzusetzen.

Mit einem harten Tritt schleuderte sie Natsu gegen einen Stapel kleinerer Marmorblöcke. Tatenlos musste Gray mit ansehen, wie der beinahe doppelt mannshohe Turm zusammenfiel und Natsu unter sich begrub. Bevor er auch nur daran denken konnte, dem Drachenreiter zu helfen, wirbelte Kyouka herum und richtete ihre gesamte brutale Kraft gegen ihn.

Mit Mühe und Not verteidigte Gray sich, schnitt dabei jedoch nicht besser ab als Natsu vorhin. Er steckte einen brennenden Schnitt am Unterarm ein, einen Schlag gegen den Kopf, schließlich einen Tritt in den Bauch, der ihn nach hinten schleuderte. Er prallte gegen etwas Großes und sackte benommen zu Boden, beide Hände leer, ohne sich erinnern zu können, wann er seine Waffe eingebüßt hatte.

Träge hob er den Blick, als sich ihm schwere Schritte näherten. Er dachte an Lyon und Meredy und schickte ein Stoßgebet an seine Ahnen, dass die Beiden Kyouka irgendwie entgingen. Er sah, wie die Dämonin mit einem manischen Zähnefletschen den gesunden Arm hob, dessen Panzer zu einer Axt auswuchs…

Und dann kam etwas von der Seite geflogen und schlitzte den Nasenrücken der Dämonin auf. Brüllend vor Wut wirbelte sie herum und Gray, der ihrer Blickrichtung folgte, erkannte die Soldaten von vorhin. Diese bedauernswerten Narren zitterten schlimmer als Gray bei seinem ersten Eisbad. Es war der junge, verliebte Tölpel, der das Messer geworfen hatte, die Hand noch erhoben, den Mund vor Erstaunen geöffnet ob seines Trefferglücks.

Gray wollte ihnen zurufen, dass sie verschwinden sollten, aber da war es auch schon zu spät. Mit einem Sprung war Kyouka mitten unter ihnen und wirbelte mit ihrer Knochenaxt herum. Einem der Männer wurde der Kopf zerteilt, noch ehe er reagieren konnte. Die Anderen hoben ihre Waffen zur Verteidigung oder wichen aus, doch es wurde innerhalb weniger Herzschläge zu einem Gemetzel.

Entsetzt wandte Gray den Blick ab und kämpfte sich auf die Beine, während er sich nach seinem Schwert umsah. Ja, er hatte die Männer eben noch verflucht, weil sie ihn aufgehalten hatten, aber das hier hatte er nicht gewollt…

Sein Blick fiel auf den Gegenstand, gegen welchen er vorhin geprallt war. Es war ein Fass, das bei den Regalen der kleinen Werkstattecke stand, an welcher er vorhin vorbei gelaufen war. Und es roch nach Öl. Ein Stapel Lumpen lag darauf. Gray hatte keine Ahnung, wofür man in einer Bildhauerwerkstatt Öl brauchte, aber das war seine Rettung!

Er zog einen kleinen Eispickel aus einem Holster am Gürtel, der sich abseits seines eigentlichen Zwecks auch als Wurfwaffe eignen konnte – nur eben nicht gegen einen Feind wie Kyouka –, und schlug damit in die Planke des Fasses. Nach drei gut gezielten Hieben ergoss sich das Öl aus einem faustgroßen Loch auf den Boden.

Die Flüssigkeit war anders beschaffen als normales Wasser, gefror nur sehr schwerfällig und ließ sich dann auch nicht so einfach formen. Aber Ur hatte ihren Schülern seit jeher auch den Umgang mit anderen Flüssigkeiten als Wasser beigebracht. So hatte Lyon vorhin auch sein eigenes Blut gefrieren lassen können.

Gray konzentrierte sich auf seine Magie, lauschte nur am Rande den Kampfgeräuschen und dem Poltern, als Natsu mühsam die Marmorblöcke von sich stemmte. Schließlich konnte er das Öl spuren. Mehr Zeit ließ er sich nicht.

Abrupt drehte er sich zu Kyouka herum und machte einen Ausfallschritt, um den Schwung zu simulieren, den er dem gefrierenden Öl geben musste. Er achtete nicht auf die toten Körper zu Füßen der Dämonin, investierte all seine Aufmerksamkeit nur darauf, sie in einen unerbittlichen Hagelsturm aus Öl-Eiskörnern zu hüllen. Wie ein dichter Pfeilhagel prasselten sie auf Kyouka. Viele prallten vom Knochenpanzer ab, wirbelten herum und versuchten es erneut. Andere – und mit jedem Herzschlag wurden es mehr – drangen in winzige Lücken in der Verteidigung ein, fanden Wege zwischen die Knochenplatten und gruben sich darunter in die Haut. Sie rissen die Gesichtshaut der Dämonin auf, zerfleischten sogar ihre Augäpfel.

Keuchend sackte Gray zu Boden, als ihm die Kontrolle über das Öl schließlich entglitt. Seine Kehle war auf einmal wie ausgedörrt und er fühlte sich fiebrig und schwach. „Verdammte Wüste“, stöhnte er und blinzelte gegen den Nebel der Erschöpfung an.

Er erkannte die Dämonin und den jungen Soldaten, der sich hastig zurück zog, denn Kyouka verfiel in blinde Raserei – im wahrsten Sinne des Wortes. Brüllend schlug sie um sich, ließ dabei immer wieder Splitter von den Marmorblöcken abplatzen, erwischte einmal sogar einen der Stützbalken, woraufhin die darüber gelagerten Blöcke in Schräglage gerieten, rutschten und gegen den nächsten Stapel krachten, der daraufhin auch in Bewegung geriet.

Und Kyouka tobte weiter, in bereits wieder schmelzendes Öl getränkt, aber allem Anschein nach bei weitem nicht so schwer verletzt, wie Gray es gehofft hatte. Er hatte zu schnell die Kontrolle über das Öl verloren…

Auf einmal fühlte Gray sich von jemandem gepackt und in die Höhe gezogen. Er hob den Blick und erkannte Natsu. Der Drachenreiter sah genauso übel aus, wie Gray sich fühlte, aber er grinste grimmig.

„Danke für deine Vorarbeit!“

Gray verstand erst, als Natsu tief Luft holte und dann Flammen auf die Dämonin spie. Das Öl fing Feuer und unter dem Knochenpanzer breitete sich die Glut aus, griff all jene Stellen an, die sonst unerreichbar für jedweden Angriff waren.

Das Gebrüll wurde zu schrillem Geschrei, noch immer wütend und hasserfüllt, aber nun auch panisch und gepeinigt. Es waren Todesschreie.

Selbst jetzt noch blieb die Dämonin stärker und ausdauernder als beinahe jedes andere Wesen, aber genau das verlängerte ihre Qual nur noch. Grays Blick fiel auf die toten Soldaten, deren Opfer ihm genug Zeit verschafft hatte, um das Öl kontrollieren zu können – und er sah sich außerstande, auch nur ein Quäntchen Mitleid für Kyouka aufzubringen.

Auf Natsu gestützt sah er zu, wie die Dämonin sich irgendwann einfach zusammen krümmte und elendig jaulend zugrunde ging. Der Gestank von verkohltem Fleisch breitete sich im Lager aus.

„Lass’ uns rausgehen“, schlug Natsu schließlich mit kratziger Stimme vor und Gray nickte erleichtert.

Ächzend schleppten sie sich mit gegenseitiger Unterstützung in einem großen Bogen um Kyouka herum und aus dem Lager heraus. Im gleißenden Sonnenlicht fühlte Gray sich noch miserabler und er musste nach den dämmrigen Lichtverhältnissen im Lager die Augen zukneifen, aber er atmete dennoch erleichtert auf, als er wieder etwas anderes als brennendes Fleisch riechen konnte.

„Puh! Das war ein Gegner!“, schnaufte Natsu und ließ sich achtlos zu Boden fallen, alle Viere von sich gestreckt. Auf seinen Lippen lag ein anerkennendes Grinsen, während er zu Gray aufblickte. „Du bist richtig gut!“

„Alleine hätte ich es nicht geschafft“, erwiderte Gray frustriert und ließ sich neben dem Drachenreiter sinken.

„Ich auch nicht“, winkte Natsu leichthin ab. Bei seinen nächsten Worten hielt er Gray die Faust entgegen. „Wie gut, dass wir zusammen waren.“

Es brach die Dinge auf eine viel zu einfache Gleichung herunter, doch sie war Gray wohltuend vertraut. In der Heimat neigte man auch dazu, die Dinge einfacher zu betrachten, und hatte wenig Verständnis für all die Komplikationen der Sonnenmenschen. Zu Grays Verblüffung war Natsu unter all seiner Abenteuerlust und den Albernheiten den Eismenschen doch irgendwie ähnlich.

Langsam schlug er seine Faust gegen Natsus, ehe er sich ebenfalls nach hinten in den Dreck fallen ließ. Müde blickte er zum wolkenlosen Himmel auf und lauschte schon bald Natsus gleichmäßigen Atemzügen. Dieses Feuerhirn war tatsächlich auf offener Straße eingeschlafen!

„Idiot“, murmelte Gray, aber er spürte dabei, wie sich seine Mundwinkel hoben.

Die Wege, die zurück nach Sabertooth führten

Es war erst drei Tage her, seit Gajeel mit den Bälgern in der Zuflucht angekommen war, aber er hatte die Schnauze jetzt schon gestrichen voll. Die Wüstennomaden waren definitiv kein Volk, bei dem er leben würde, und wenn er ehrlich war, hatte er sie sich nach allem, was er bereits von Sting wusste, auch anders vorgestellt.

Sie waren zäh und absolut nicht zimperlich. Als sie die Leichname der Dämonen außerhalb der Zuflucht verbrannt hatten, hatten sie nicht einmal mit einer Wimper gezuckt und keiner von ihnen hatte sich vor der Bergung der Toten und den Aufräumarbeiten gedrückt. Den Beweis für ihre Aufopferungsbereitschaft hatte Gajeel vor drei Tagen ja bereits gesehen…

Aber da hörten die Ähnlichkeiten mit Sting in Gajeels Augen eigentlich auch schon wieder auf.

Auf eine sehr skurrile Art war dieses Volk unglaublich verbohrt und konservativ. Geradezu krampfhaft versuchten sie, in ihren alten Trott hinein zu finden. Reiter machten sich mit ihren Lehrlingen wieder auf den Weg, um Basilisken zu melken. Die Sammler rückten wieder aus. Die Lehrer nahmen ihren Unterricht wieder auf. Es wurde nicht über die Verluste gesprochen, die sie erlitten haben. Die Schäden im Gestein der Zuflucht wurden nicht beachtet. Und die Fremdlinge in ihrer Mitte ignorierten sie einfach.

Von Sting ausgehend hätte Gajeel das sogenannte Freie Volk für sehr viel neugieriger gehalten und die Aussicht auf lauter Fragen nach seinen Erlebnissen im Rest von Fiore hatte ihn eigentlich schon genervt. Doch: Nichts. Keine einzige Frage. Sie gaben ihm und den Kindern Essen und Trinken und stellten ihnen eine Schlafhöhle zur Verfügung, sie ließen zu, dass Wendy ihre Verwundeten verpflegte, aber ansonsten kümmerten sie sich nicht um ihre Retter.

Vielleicht wollten sie sich selbst gegenüber nicht eingestehen, dass sie ohne Hilfe von außen wahrscheinlich ausgelöscht worden wären. Vielleicht war ihnen die Magie von Wendy und Gajeel suspekt. Oder womöglich war dieser ganze Krampf hier nur ein kollektiver Versuch, das ganze Trauma des Dämonenangriffs zu verwinden.

Im Grunde war es Gajeel egal. Gerade er sollte da wohl nicht mit Steinen werfen. Aber etwas an den Blicken, die sie ihm und den Anderen zuwarfen, störte ihn. Wurde Rogue von denen auch immer so angestarrt? So verstohlen missbilligend, fast schon feindselig? Und warum wurden selbst Aki und Toraan so angesehen? Gehörten die Quälgeister nicht eigentlich zu ihnen?

Wobei Gajeel nicht den Eindruck hatte, als würden die beiden Dämonenkinder sich hier tatsächlich heimisch fühlen. Eigentlich interagierten sie fast nur mit Yukino, Mummy und dem alten Knacker mit dem langen Bart, der hier alle Nase lang Meister genannt wurde. Von den übrigen Wüstennomaden hielten sie sich fern.

Anscheinend gab es hier immer noch Vorurteile gegen Dämonen.

„Hast du etwas dagegen, wenn ich mich dazu setze?“

Grimmig hob Gajeel den Blick. Vor ihm stand der Wüstenweise, der sich schwer auf einen mannshohen Stock stützte, an welchem unsinnig viel Krimskrams hing. Eigentlich hatte Gajeel gedacht, er hätte hier in einer abgeschiedenen, schattigen Ecke des Inneren Kreises seine Ruhe, aber da hatte er sich wohl geirrt.

Zur Antwort gab er nur ein Brummen von sich, was dem Alten aber zu genügen schien. Schwerfällig ließ er sich neben ihm nieder und ließ seinen Blick durch den Inneren Kreis schweifen, sagte jedoch nichts, weshalb Gajeel sich erlaubte, wieder seinen eigenen Gedanken nachzuhängen.

Yukino war zwar immer noch etwas wackelig, aber wieder auf den Beinen. Also hatte er sein Versprechen gegenüber Sting und Rogue erfüllt. Mehr hatte er in der Stillen Wüste nicht zu schaffen. Er wollte zurück nach Sabertooth, dort würde er sich Juvia schnappen, sich kurz von Levy verabschieden und dann verschwinden. Wenn die anderen Dämonen von Sabertooth so stark waren wie die Drei, die hier für Ärger gesorgt hatten, sollten Natsu und die Anderen ja wohl keine Schwierigkeiten mit ihnen haben.

Selbst wenn doch – das alles hier war weder Gajeels noch Juvias Problem. Sie hatten sich nur um diese lästige Leviathan-Geschichte kümmern wollen und die wurde jetzt von Metallicana, Weißlogia und Skiadrum erforscht. Gajeel konnte sich mit Juvia wieder ein ruhiges Plätzchen suchen. Irgendwann würde sicher auch Pantherlily wieder dazu stoßen. Dann konnten sie zurück in ihr altes ruhiges Leben. Fernab von irgendwelchem Ärger…

„Ich weiß nicht, ob einer der Anderen es ordentlich getan hat, aber ich wollte mich bei dir und deinen Kameraden bedanken“, durchbrach der Alte die Stille.

Als Gajeel sich ihm zuwandte, bemerkte er einen ungewöhnlichen Ernst im Blick des betagten Mannes. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass es hier um sehr viel mehr als um einen bloßen Dank ging.

Zur Antwort zuckte er jedoch nur mit den Schultern. „Hab’s nicht für euch gemacht.“

„Darüber bin ich im Bilde“, erwiderte der Wüstenweise und neigte kurz das Haupt. Im veränderten Lichteinfall bemerkte Gajeel die tiefen Falten im Gesicht des Mannes und die kranken Schatten unter den Augen. Doch dann richtete Gran Doma sich wieder auf und war wieder der stolze, aufrechte Prediger mit diesem scharfen Blick, der Gajeel Unbehagen bereitete. „Dennoch haben du und deine Kameraden für die Wüstennomaden eure Leben riskiert.“

Gajeel schnaubte abfällig. „Dieser Wasserdämon ist keine Gefahr für mich gewesen!“

Gran Doma antwortete darauf nichts, musterte ihn nur scharf, als suchte er nach einem Beweis für die Worte. Aber Gajeel würde sich lieber beide Hände abhacken lassen, als darüber zu reden, dass er sich vor drei Tagen tatsächlich Sorgen gemacht hatte, als er die Windmagie in der Zuflucht bemerkt hatte. Das war etwas, worüber er nicht einmal nachdenken wollte. Entgegen dem, was Gran Doma gesagt hatte, waren Romeo und Wendy nicht seine Kameraden. Wendy war zufällig zur selben Zeit wie er eine Drachenreiterin und Romeo war ihr Anhang, aber das machte sie nicht zu Vertrauten oder dergleichen. Und die Dämonenbälger erst recht nicht.

Zu Gajeels Erleichterung vertiefte Gran Doma das Thema nicht weiter, sondern ließ seinen Blick wieder über den Inneren Kreis schweifen. Als Gajeel dem Hinweis folgte, erkannte er nichts Außergewöhnliches. Ein alter Mann mit Giftnarben gab einer Kinderschar Unterricht im Umgang mit dem Säbel, einige Männer und Frauen kochten und hüteten gleichzeitig die Säuglinge. Kleinkinder kletterten unbeaufsichtigt herum und in einer Nische wurde eine junge Frau von einem Mann leidenschaftlich gegen die Wand gedrückt.

Ohne sich um seine Umgebung zu kümmern, ließ der Mann seine Hand unter der Tunika seiner Partnerin verschwinden. Das zumindest passte wieder gut zu Sting, stellte Gajeel fest. Nicht das mit der Frau – oder überhaupt mit einer, Sting schien ja nur Augen und Ohren für einen gewissen Schattenmagier zu haben –, aber das mit der Schamlosigkeit.

Doch während er diesen Charakterzug bei Sting ganz witzig fand, konnte Gajeel der Szene, die sich hier gerade vor seinen Augen abspielte, nichts abgewinnen. Es entlockte ihm nur wieder ein abfälliges Schnauben.

„Du scheinst die Wüstennomaden nicht zu schätzen.“ Das war keine Frage seiten Gran Domas, sondern eine Feststellung.

Gajeel gab sich keine Mühe, mit seiner Meinung hinterm Berg zu halten. „Hätte gedacht, dass die Wüstennomaden mehr so wie Sting sind.“

„Sting…“ Für den Bruchteil eines Herzschlages glaubte Gajeel, einen besonderen Unterton in diesem geseufzten Wort heraus zu hören, aber er konnte nicht definieren, welcher Art er war. Dann klang der Alte auch schon wieder normal. „In gewisser Weise ist Sting wahrscheinlich der einzig wahre Wüstennomade.“

„Hä?“ Verwirrt wandte Gajeel sich wieder dem Wüstenweisen zu, doch der blickte immer noch aufmerksam auf das Treiben im Inneren Kreis.

„Die Wüstennomaden haben eine sehr turbulente Vergangenheit. Viele Generationen lang waren sie in alle möglichen Kriege verstrickt. Mit Golems und anderen Dämonen. Mit Boscos. Mit den Grünländern. Mit der Wüste selbst, wenn man so will… Sie haben stand gehalten und dazu gelernt, aber dieses Dazulernen hat eine merkwürdige Entwicklung vollzogen. Das Freie Volk ist schon lange nicht mehr so frei, wie es das gerne von sich behauptet.“

„Wenn du damit ihre dummen Regeln meinst, warum änderst du die nicht?“, fragte Gajeel frei heraus und bedachte den Alten mit einem Stirnrunzeln.

Endlich wandte der den Blick von seinen Stammesgenossen ab. Wieder änderte sich der Lichteinfall und der alte Mann wirkte auf einmal noch viel älter und sehr, sehr müde, aber dann lehnte er sich gegen den Stein in seinen Rücken und sein Blick wurde wieder stechend scharf.

„Wir haben keine Gesetzesrollen, wie sie eure Unsterbliche Kaiserin geschrieben hat. Die Regeln, die in der Gemeinschaft der Wüstennomaden gelten, sind ein Ergebnis des harten Lebens, das sie hier führen mussten. Erfahrungen längst vergangener Generationen, die Dekade um Dekade immer weiter gegeben und angepasst worden sind, ohne dass man jemals direkt darüber gesprochen hätte. Die Regeln der Wüstennomaden sind in ihrem Wesen verankert.“

„Und wieso ist Sting dann nicht so ein Vollidiot wie die da?“, knurrte Gajeel. „Die behandeln die Bälger und mich wie Luft. Sting wäre neugierig gewesen.“

„Das war schon immer Stings größte Stärke, auch wenn sie ihm oft als Schwäche zur Last gelegt worden ist“, sinnierte Gran Doma. „Er hat die Welt um sich herum ungefiltert betrachtet, hat immer nach neuen Erfahrungen gehungert, Fragen gestellt, war offen für Veränderungen, hat sich mehr auf seine Intuition verlassen… So waren vermutlich die allerersten Wüstennomaden, als sie das erste Mal auf Basilisken geritten sind und die Zuflucht nicht mehr als eine Steinansammlung gewesen ist.“

Gajeel konnte nicht behaupten, dass er voll und ganz verstand, was der Alte damit meinte. Vielleicht könnte Levy das, die kannte sich mit solchen Geschichtssachen definitiv besser aus. Klar war nur, dass Gran Doma nicht mit dem einverstanden war, was aus seinem Volk geworden war, aber anscheinend auch nichts ändern wollte. Oder nichts ändern konnte. Seltsam, dass er dann dennoch bei ihnen blieb. Gajeel hätte sich damit nicht abgegeben.

Als der Geräuschpegel im Inneren Kreis auf einmal abnahm, schwenkte Gajeels Blick zu den Neuankömmlingen. Yukino war aus dem Eingang getreten, der zu den Schlafhöhlen führte. An ihrem Kordelgürtel trug sie nur den Säbel, den sie auch getragen hatte, als Gajeel und die Kinder sie gefunden hatten, und sie hatte sich den Tagelmust ordentlich gebunden. Noch immer wirkte sie etwas blass, aber sie schritt forsch aus und hielt zielstrebig auf Gran Doma zu.

Hinter ihr her kamen die Kinder. Romeo trug seinen Arm immer noch in der Schlinge und Wendy war etwas blass um die Nase, aber genau wie Aki und Toraan waren die Beiden reisefertig, auch wenn ihre Tagelmuste ordentlicher gebunden waren. Für einen Moment musterte Gajeel die Drachenreiterin und ihren Partner. Beide wirkten übernächtigt und Romeo hielt den Blick gesenkt, wirkte beinahe ein wenig verbittert, als würde er etwas in sich hinein fressen.

Yukino erreichte die Nische und kniete sich vor Gran Doma in den Sand, strich mit einer Hand über ihre Stirn und bot sie dann ehrerbietig dem Alten an. Soweit Gajeel das bisher gesehen hatte, war es üblich, dass der Wüstenweise diesen Gruß annahm, indem er über die dargebotene Hand strich, doch dieses Mal ergriff er die Hand und drückte sie sachte.

„Du willst schon aufbrechen, Yukino?“, fragte er ungewöhnlich sanft.

„Ich muss“, erwiderte die Weißhaarige und hob wild entschlossen den Blick. „Ich weiß immer noch nicht genau, was in Jadestadt passiert ist, aber als ich mit Libra und den Anderen geflohen bin, hatte ich eine Art Vision oder so… Ich bin mir sicher, dass die Dämonen es auf Sabertooth abgesehen haben. Würden sie Jadestadt vernichten wollen, hätten sie das schon längst getan.“

In Gajeels Brust regte sich ein unangenehmes Gefühl und seine Gedanken huschten zu Juvia und Levy. Er hatte geglaubt, dass die Beiden in Sabertooth am sichersten waren. Hatte er etwa einen Fehler gemacht?

„Du hattest schon immer einen besonderen Instinkt für so etwas“, sagte Gran Doma ruhig. Für ihn schien nicht einmal zur Debatte zu stehen, dass Yukino sich das nur einredete. Anscheinend hielt er nicht nur auf Sting hohe Stücke. Bei seinen nächsten Worten hob der Alte die schwielige Hand und legte sie sanft auf Yukinos Haaren ab, um einmal darüber zu streichen. Die zärtliche Geste schien die junge Frau noch am meisten zu überraschen. „Richte Sting, Minerva und Rogue meine Grüße aus, wenn du sie siehst.“

„Das werde ich“, versprach Yukino leidenschaftlich. „Ganz bestimmt geht es ihnen allen gut! Wenn wir die Dämonen besiegt haben, kommen wir Euch besuchen, Meister, versprochen!“

Zur Antwort lächelte der Wüstenweise nur, ehe er sich an Aki und Toraan wandte. „Ihr wollt mitgehen?“

„Ist ja nicht so, als könnten wir hier großartig helfen“, erwiderte Aki flegelhaft und verschränkte die Arme hinter dem schlampig gebundenen Tagelmust. „Mummy kommt auch ohne uns wieder auf die Beine.“

„Was wir dir zu verdanken haben“, wandte Gran Doma sich an Wendy und nickte der Drachenreiterin respektvoll zu, doch die winkte verlegen ab.

„Wenn Romeo und Aki den Berserker nicht aufgehalten hätten, hätte ich für Mummy nicht Erste Hilfe leisten können.“

Die Erwähnung seines Namens ließ Romeo das Gesicht verziehen. Gajeel unterdrückte ein genervtes Schnaufen. Was war denn nun mit dem Bengel los? Immerhin hatte er es mit einem Berserker aufgenommen. Sollten die nicht extrem starke Kämpfer sein? War er damit etwa nicht zufrieden?

Na ja, das war nicht Gajeels Problem.

„Also, machen wir uns endlich auf den Weg?“, brummte er und stand auf. Merkwürdig schwerfällig folgte Gran Doma seinem Beispiel.

„Wir brauchen nur noch genug Proviant“, wandte Romeo ein und straffte wohl in einem Versuch, wie immer zu wirken, die Schultern, obwohl ihm das offensichtlich Schmerzen im verletzten Arm bereitete. „Mit den Sandschlitten brauchen wir vier Tage bis nach Sabertooth.“

„Wir reisen nicht mit den Sandschlitten. Das kostet zu viel Zeit und die hat Sabertooth vielleicht nicht mehr“, erwiderte Yukino grimmig und hob ihre linke Hand.

Erst jetzt erkannte Gajeel darin die kleine Flöte, die Rogue damals Romeo gegeben hatte. Ihren Mienen nach konnten Wendy und Romeo mit dieser Geste genauso wenig anfangen wie Gajeel, aber für Gran Doma und die Dämonenkinder schien damit alles klar zu sein.

Irgendwie hatte Gajeel ein seltsames Gefühl bei der Sache.
 

Viel schneller, als Sting es überhaupt verfolgen konnte, ließen sie die Trümmersteinberge hinter sich zurück und flogen schon bald über offene Wüste. Sie lag so ruhig da wie eine schwere Decke. Sting war mit Belehrungen über die Gefahren dieser trügerischen Ruhe aufgewachsen, aber nun hatte er doch Schwierigkeiten, dieses Bild mit seinem Wissen um die Gefahr in Einklang zu bringen, die seiner Heimatstadt drohte.

Heimatstadt. Wann war Sabertooth zu seinem Zuhause geworden? Dieser riesige Moloch, der ihn damals so überwältigt hatte… Aber es war sein Zuhause und die Vorstellung, was davon noch übrig blieb, wenn die Bruthöhle mit ihm fertig war, ließ Sting vor Verzweiflung nach Weißlogia tasten. Der Lichtdrache war viel zu weit weg, als dass sie einander spüren konnten. Es würde ungeheure Konzentration erfordern, ihn über das Band zu erreichen. Konzentration, die Sting nicht besaß…

Eine Berührung an seiner Schulter ließ ihn zurück zu Rogue blicken, der hinter ihm auf Zirkonis’ Rücken saß. In den Augen seines Partners erkannte er dieselben Ängste. Ganz unwillkürlich griff Sting nach der Hand und drückte sie sanft, versuchte, ihnen Beiden damit Trost zu spenden.

Er sah, wie Rogue schwer schluckte, ehe er sich ein unsicheres Lächeln abrang und dann den Blick auf Frosch in seinen Armen senkte. Obwohl die Exceed vorher so energisch darum gebettelt hatte, mit Lector oder Happy mit fliegen zu dürfen, kaum dass die Beiden aufgebrochen waren und auch Zirkonis sich mit den drei Menschen auf dem Weg gemacht hatte, war sie doch in Rogues sicheren Griff eingeschlafen.

Stings Gedanken glitten zu Lector ab. Sein kleiner Freund hatte ein paar Schlucke Sandfeuer getrunken, um für den für ihn zum Glück nur kurzen Flug nach Jadestadt fit genug zu sein. Im ausgeruhten Zustand bräuchte Lector wohl nur einen halben Tag, aber er würde die Nacht hindurch rasten müssen und erst morgen früh in Jadestadt ankommen.

Hoffentlich konnte Minerva sich schnell auf den Weg machen, aber selbst wenn – für eine gesamte Armee gab es nicht genug Sandschlitten in Jadestadt und sowieso war es zu riskant, mit dem gesamten Heer auf Sandschlitten unterwegs zu sein. Nur einer der jüngeren Soldaten müsste sein Segel falsch ausrichten und schon würde das halbe Heer in einer Katastrophe versinken. Mit Pferden und Kamelen war es langsamer, aber sicherer. Das bedeutete, dass Minerva erst in vier Tagen Sabertooth erreichen konnte und das auch nur, wenn sie es in Kauf nahm, die Tiere zu Schanden zu reiten.

„Lucy…“

Rogues Stimme klang gespenstisch in der angespannten Stille, die nur vom Rauschen des Flugwindes unterbrochen wurde, und lenkte Stings Aufmerksamkeit automatisch zu Lucy. Die Fürstin saß vor ihm, den Blick stur geradeaus gerichtet, die Schultern steif. Seit Happy ihr Levys Informationen überbracht hatte, war sie im Grunde wie ausgewechselt.

„Lucy, was hat es mit diesem Königsmörder auf sich? Woher weißt du, dass er Sabertooth angreifen wird?“

Einige Herzschläge lang sah es so aus, als würde Lucy die Fragen ignorieren, aber dann drehte sie sich herum. Sie biss sich auf die Unterlippe und ihr Blick war unstet, zuckte immer wieder von Rogue zu Sting und schließlich irgendwohin ins Leere, ehe sie die Augen schloss. Ein Zittern bemächtigte sich ihres Körpers, so heftig, dass es trotz der ständigen Erschütterungen durch Zirkonis’ Flügelschläge unübersehbar war, dann straffte sie die Schultern. Als sie die Augen wieder öffnete, wirkte sie etwas ruhiger, aber in ihnen spiegelten sich immer noch mehr Gefühle wieder, als Sting entziffern konnte.

„Es ist in mehr als nur einer Hinsicht die dunkelste Stunde in der Geschichte der Geister“, begann Lucy langsam. „Selbst heute noch wirken die Folgen nach. Mard Geer hat an einem einzigen Tag aus einer blühenden Hochkultur ein Volk aus Gejagten und Heimatlosen gemacht. Er hat ein ganzes Land vernichtet… und so falsch es auch gewesen ist, ein Teil der Geister damals hat das vielleicht sogar verdient.“

„Verdient?“, echote Sting verblüfft.

Solche Worte ausgerechnet aus Lucys Mund zu hören, die, solange er sie kannte, immer für die Geister eingetreten war, kam ihm beinahe unglaubwürdig vor.

„Was ist damals geschehen?“, fragte Rogue, als Lucy nach mehreren Atemzügen immer noch schwieg.

„Es war eine verworrene Zeit“, begann Lucy stockend. „Die Menschen hatten weite Teile Ishgars erobert, sie waren mit Hilfe ihrer wenigen Magiebegabten und durch ihre schiere Masse zu einer ernst zu nehmenden Bedrohung geworden. Insbesondere, da sie heraus gefunden hatten, dass Geister Lacrima herstellen konnten. Die Dämonen gaben sich mindestens genauso viel Mühe, das Land zu verheeren, und die Ersten Drachen ignorierten alles, solange man sie nicht behelligte.

„Der König der Geister wollte deswegen neue Wege einschlagen. Nach unzähligen Generationen, die die Menschen im besten Fall nur mit Herablassung betrachtet hatten, wollte er ein Gleichgewicht zwischen den Völkern Fiores schaffen. Und zwar zwischen allen Völkern…“

Wieder stockte Lucy und richtete ihren Blick kurz nach vorn. Blutrot schmiegte sich die Sonne an den Horizont, schuf eine Wüstenszenerie von grausiger Schönheit, die Sting einmal mehr Unbehagen bereitete. Obwohl er keine Verbindung zu ihm hatte, konnte er auch Zirkonis’ Anspannung spüren und er war sich sicher, dass der Jadedrache genauso aufmerksam lauschte. Schließlich zuckte Lucy mit den Schultern.

„Es gibt keine Aufzeichnungen aus der Zeit. Es sei denn, wir lassen Eclairs Geister-Kosmos gelten, aber das Werk ist schwierig. Eclair hat in all ihren Werken immer betont, dass sie nur die Bilder gesehen und nie gehört hat, was gesagt wurde, und dass sie die gesehene Bilder auch erst in eine für sie sinnvolle Reihenfolge bringen musste. Deshalb ist der Geister-Kosmos auch eher eine Ansammlung von Szenen und viele davon sind heute noch unklar. Abgesehen davon gibt es nur Legenden, die Generationen lang mündlich weiter gegeben worden sind.

„Es gibt jedenfalls langatmige Balladen darüber, dass der König nicht nur aus politischem Kalkül heraus eine Dämonin zur Frau genommen hat, aber das konnte nie bewiesen werden. So oder so, er hat die Ehegelübde in Geistzunge gesprochen und sich an eine Frau gebunden, die von vielen seiner Zeitgenossen als Todfeind betrachtet wurde.“

„Starkes Stück“, murmelte Sting.

Das war, als würde Minerva einen der Sklavenhalter von Bosco heiraten. So sehr das Volk sie verehrte, so etwas würde unter Garantie nicht gut aufgenommen werden.

„Der Name der Dämonin ist heute gar nicht mehr bekannt. Letztendlich ist sie sehr zurückhaltend geblieben und relativ kurze Zeit nach dem Schwur im Kindbett gestorben. Keiner hat sich je die Mühe gemacht, mehr über sie und ihre Gesinnung heraus zu finden. Nicht einmal Eclair.“

Verärgert runzelte Lucy die Stirn. Ganz offensichtlich stieß ihr die damalige Ignoranz sauer auf. Da kam wohl die Forscherin in ihr zu Tage. Sie hätte es bei den Wüstennomaden schwer. Die hinterfragten althergebrachte Überlieferungen auch nicht gern. Sting war deshalb als Sandfloh oft angeeckt mit seinen freieren Interpretationen. Heute wusste er, dass der Hauptgrund, warum er nie strenger gemaßregelt worden war, Gran Domas Wohlwollen gewesen war. Der Wüstenweise war es auch gewesen, der sich vehement für die Aufnahme der beiden Dämonenkinder stark gemacht hatte. Ansonsten wären sowohl Aki als auch Toraan wahrscheinlich zum Sterben in der Wüste ausgesetzt worden.

„Was wurde aus dem Kind der Verbindung?“, fragte Rogue nach.

„Über seine Kindheit ist nichts bekannt. Möglich, dass der Geisterkönig den Jungen in der ersten Zeit abschirmen konnte. Sicher ist nur, dass viele Geister einen Dämonenmischling nicht als ihren zukünftigen König akzeptiert hätten. Die Verachtung der Geister gegenüber den Dämonen war damals quasi omnipräsent. Höchst wahrscheinlich hat der Prinz diese Feindseligkeit irgendwann doch zu spüren bekommen. Aber so unklar die Frage nach den Gefühlen des Geisterkönigs für seine Frau bleibt, dass er seinen Sohn geliebt hat, ist offensichtlich gewesen. Er hat ihn sogar in den Rang eines Heiligen Generals erhoben.“

„Heiliger General?“, hakte Sting nach.

„Es war… mehr als nur eine militärische Position… Die Übersetzung des Titels ist schwierig, weil es in Fiore kein richtiges Wort dafür gibt“, erklärte Lucy langsam. „Meine Vorfahrin Anna hat den Titel mit dem Schild und Schwert in gewisser Weise wieder aufleben lassen und euer Status ist dem auch sehr ähnlich. Die Heiligen Generäle waren Berater und Vertraute und Leibgarde in einem. In den Schlachten kämpften sie Seite an Seite mit dem König, bei Beratungen waren sie immer dabei – diese Position erhielt damals wie heute nur jemand, dem der König bedingungslos vertraute.“

„Das muss damals schlecht angekommen sein bei den Geistern, dass ein Dämonenmischling zu einem Heiligen General ernannt wurde“, mutmaßte Rogue.

Lucy nickte. „Laut einer der glaubwürdigeren Legenden haben einige hochrangige Geister protestiert. Sogar einer der Generäle soll Bedenken geäußert haben. Aber der Geisterkönig hat darauf beharrt, seinem Sohn zu vertrauen. Und dann hat Mard Geer seinen eigenen Vater ermordet…“

Lucys Blick ging für mehrere Herzschläge ins Leere, aber Sting bemerkte es kaum. Er war zu sehr damit beschäftigt, zu verarbeiten, was sie gerade offenbart hatte. Der Geisterkönig war von seinem eigenen Sohn ermordet worden! Sting hatte seine eigenen Eltern nie kennen gelernt, aber das… Das war ungeheuerlich, unvorstellbar! Der König hatte so viel für sein Kind getan, hatte für ihn sogar seinem eigenen Volk die Stirn geboten. Und so war es ihm gedankt worden!

„Mit dem Tod des Königs fing es im Grunde erst an“, murmelte Lucy. „Mard Geer rief Dämonen nach Sternklang, ließ sie Jagd auf die Geister machen. Er tötete sogar den Heiligen General des Weiten Landes. Womöglich wäre es ihm damals sogar gelungen, das Volk der Geister vollends auszulöschen, wenn nicht die letzten beiden Heiligen Generäle die Flucht eines Teils der Geister ermöglicht hätten. Sie haben dafür mit dem Leben bezahlt. Es gibt sehr viele heroische Lieder darüber. Loke mag sie nicht.“

„Loke? Was hat er denn damit zu tun?“, fragte Sting.

„Ist er der Nachfahr eines der Generäle?“, riet Rogue.

Lucy nickte langsam. „Das Geschlecht der Sonnenlöwen war bei allen Kämpfen der Geister dabei. Lokes Vorfahr war der Heilige General der Starke Wärme und er hat an Mard Geer und den Geisterkönig geglaubt. Seine Tochter war gerade erst zur Kriegerin gesalbt worden, und dann musste sie die Flüchtlinge durch das Kargland führen. Generationen lang irrten die Geister durch Fiore, immer auf der Flucht vor Dämonen und Menschen. Viele von ihnen wurden versklavt, die Menschen haben mit ihnen gezüchtet wie mit Jagdhunden, haben sie zu Tode geschuftet, missbraucht, gefoltert… Als meine Vorfahrin Anna Heartfilia zufällig in ein Versteck der Geister stolperte, waren es nur noch etwa dreihundert Überlebende. Und wenn man die alte Stadtgrenze von Sternklang abläuft, muss die Stadt so groß wie Sabertooth gewesen sein.“

Sting stieß ein überraschtes Japsen aus. Heartfilia war kein Dorf gewesen, ja, aber im Vergleich zu Sabertooth war es winzig! Es war kaum vorstellbar, dass eine so große Gemeinschaft wie die Sabertooths derartig schrumpfen könnte.

„In der Geschichtsüberlieferung ist Mard Geer der Verräter, der Königsmörder, der Todfeind aller Geister“, murmelte Lucy. „Es gibt nichts, womit sich seine Taten entschuldigen lassen. Aber gleichzeitig… ist es eine Lehre gewesen.“ Während sie nach den richtigen Worten suchte, rang Lucy mit den Händen. „Die Geister damals waren hochmütig und rassenfeindlich. Sie haben auf Mard Geer wegen etwas herab geblickt, wofür er gar nichts konnte. Sie waren abscheulich…“

Sting musste an sein eigenes Volk denken. Die Wüstennomaden, in deren Augen alle Dämonen Bestien waren und die sogar darüber gestritten hatten, ob man wirklich wehrlose Dämonensäuglinge aufnehmen oder nicht doch lieber dem Tod überlassen sollte. Aki und Toraan würden niemals Mard Geers Beispiel folgen, da war Sting sich sicher, aber…

Wieder war es Rogues fester Griff an seiner Schulter, der Sting aus seinen Grübeleien riss. Er drehte sich und verschränkte seine Finger mit Rogues, suchte nach der wundervollen Ruhe, die der Schwarzhaarige ihm immer zu geben verstand.

„Lucy, ist es bei all dem wirklich weise, Heartfilia und die Geister weiter zu involvieren?“, durchbrach Rogue schließlich wieder das Schweigen. „Wie wird Mard Geer reagieren, wenn er bemerkt, dass Geister diejenigen unterstützen, die er vernichten will? Gerät Loke damit nicht in Lebensgefahr?“

„Nicht mehr als ihr“, erwiderte Lucy mit einem Stirnrunzeln. „Mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher, ob es bei diesem Krieg wirklich um Rassenfeindschaften geht. Es gibt zu viele Ungereimtheiten.“

Als Rogue nachdenklich nickte, blickte Sting verwirrt zwischen den Beiden hin und her. „Was für Ungereimtheiten?“

Der Weg, auf dem die Vorhut nahte

„Das alles ergibt keinen Sinn!“

Überrascht blickte Juvia von einem weiteren Buch über Leviathane auf und hinüber zu Levy. Die Magistra saß am einzigen Arbeitstisch in der winzigen und dennoch fürchterlich vollgestopften Privatbibliothek des verstorbenen Hofmagiers von Sabertooth, Rufus’ ehemaligen Lehrmeister Org. Um sie herum waren Bücher zu thematisch sortierten Stapeln aufgebaut und direkt vor ihr befand sich ein Chaos aus Notizen. Die Stapel waren so hoch und standen so dicht beieinander, dass Juvia nur wenig von ihrer Freundin sehen konnte, aber das, was sie erkennen konnte, sah furchtbar aus.

Dunkelviolette Schatten lagen unter ihren Augen, ansonsten war ihre Haut bleich. Ihre ohnehin widerspenstigen Haare waren einfach nur zu einem Knoten zusammen gefasst worden, dabei bräuchten sie wirklich mal wieder etwas Pflege.

Aber Juvia konnte es der Magistra kaum verdenken. Seit sie in der vorletzten Nacht die Exceed zu Zirkonis’ Höhle geschickt hatten, hatten sie Beide kaum ein Auge zugekriegt. Die Geschichte, die Levy Juvia über Mard Geer und den Geisterkönig erzählt hatte, nahm ihnen Beiden sowohl den Appetit als auch jedes noch so winzige Quäntchen Ruhe – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Für Juvia war es erschreckend, sich inmitten einer so gewaltigen Sache wieder zu finden. So viele Zyklen lang hatte sie sich immer von den Geschehnissen in der Welt ferngehalten, war einfach nur ziellos durch Fiore geirrt, ohne sich an irgendetwas oder –jemand anderen zu binden als ihre winzig kleine Reisegruppe. Nun hatte sie das erste Mal so viel Kontakt zu anderen Menschen und war wieder in Städten und lernte neue Kulturen kennen – nur um in einen Krieg hinein zu geraten, dessen Wurzeln weit in die Vergangenheit zurück zu reichen schienen.

In manchen Punkten schien Levy ähnlich zu denken, soweit Juvia das beurteilen konnte. Als die Magistra für ihre Recherchen nach Malba aufgebrochen war, hatte sie wohl kaum damit gerechnet, in so etwas hinein zu geraten. Kein Gelehrter rechnete wohl mit so etwas. Und wahrscheinlich auch sonst niemand, der das Glück gehabt hatte, in friedlichen Verhältnissen aufzuwachsen.

Der grundlegende Unterschied zwischen Juvia und Levy war aber, dass Levy eindeutig zu viel wusste. Sie hatte wahrscheinlich dutzende und aberdutzende von Büchern über solche Kriege und über Dämonen und alles mögliche andere gelesen. Auch wenn Juvia selbst kaum etwas über Fiores Geschichte wusste, war sie sich sicher, dass nicht alle der Kriege, über die Levy etwas gelesen hatte, gut ausgegangen waren – obwohl sie sich fragte, wie ein Krieg überhaupt gut ausgehen konnte. Diese ganzen Geschichten mussten der Magistra die ganze Zeit im Kopf herum spuken und sie waren es sicher auch, die Levy dazu trieben, ihre Bemühungen bei der Recherche zu verdoppeln. Es wirkte beinahe, als befände Levy sich in einer Art krankhaftem Rausch.

Alles in allem wusste Juvia, dass es nur noch eine Frage der Zeit bis zu Levys Zusammenbruch war. Sie hatte Angst deswegen und fühlte sich schuldig. Hatte sie Gajeel nicht versprochen, auf die Magistra aufzupassen? Und hatte sie es nicht auch sich selbst geschworen?

Nach all der Zeit auf der Flucht vor einem Häscher, den es – um mal ganz ehrlich zu sein – gar nicht gab, hatte Gajeel endlich wieder einen Menschen gefunden, um den er sich sorgte. Um Levys Willen hatte er sich in die Kämpfe in Malba eingemischt, ansonsten hätte er die Angelegenheit – da machte Juvia sich aller geschwisterlicher Zuneigung zum Trotz keine Illusionen – den anderen Drachenreitern überlassen. Aber um Levys Willen hatte er sich auf all das hier eingelassen und sobald er erst einmal drin gesteckt hatte, war eben auch seine sonst so gut versteckte gute Seite hervorgekommen. Juvia wollte den Menschen schützen, dem diese Veränderung bei Gajeel zu verdanken war.

Und von all dem abgesehen: Juvia mochte Levy! Auf ihre eigene Art und Weise kämpfte die Magistra für ihre Freunde. Sie trieb sich selbst über alle Erschöpfung hinaus, um nur irgendwie an Informationen zu kommen, die nützlich sein konnten. Das mochte nicht so spektakulär wie Natsus Kampfkraft oder so unmittelbar wirkungsvoll wie Wendys Heilmagie sein, aber es war das, was Levy tun konnte. Und sie tat es vollkommen uneigennützig, weil sie ein so großes Herz hatte und Anteil nahm. Ja, in gewisser Hinsicht bewunderte Juvia die Magistra.

Deshalb wünschte Juvia sich, sie könnte Levy besser unterstützen und entlasten. Deshalb ließ sie die Gelehrte kaum noch aus den Augen und half ihr, wo auch immer es ihr möglich war.

Etwas, was vom Gefühl her noch viel schwieriger geworden war, seit Loke wieder auf den Beinen war. Der Krieger hatte zuerst unbedingt aufbrechen wollen, um Lucy zu finden und in Sicherheit zu bringen. Erst Dobengals gnadenloses Argument, dass Loke erstens wohl kaum ein besserer Beschützer als Sting und Rogue sein und zweitens sowieso viel zu spät irgendwo ankommen würde, hatte ihn wieder zur Besinnung gebracht. Seitdem war er mit Rufus und Dobengal gemeinsam auf der Suche nach Jackal und verbrachte seine wenigen Pausen in der Privatbibliothek von Meister Org, in welcher Levy und Juvia seit zwei Tagen de facto wohnten.

Gerade war so eine seltene Pause und Loke blickte von seiner eigenen Lektüre über Dämonologie auf, als Levy so aus der Haut fuhr. „Was ergibt keinen Sinn?“

„Das alles hier“, erwiderte Levy und machte eine fahrige Geste, von der Juvia nicht ganz klar war, was sie alles einfasste. „Dieser Krieg, die Hinweise in Malba, die Basilisken – einfach alles!“

Juvia konnte der Magistra nicht folgen und seinem Stirnrunzeln nach hatte Loke ein ähnliches Problem. Doch bevor einer von ihnen nachfragen konnte, war Levy auch schon aufgesprungen, um vor ihrem Arbeitstisch auf und ab zu laufen, während sie die Probleme aufzählte.

„Tartaros und Avatar sollten sich gar nicht miteinander verbünden und ein Dämon sollte keine Drachenartigen kontrollieren können und überhaupt – warum sind alle Drachenartigen betroffen, wenn die Spuren nur in die Stille Wüste führen?!“

Als Levy stehen blieb und hörbar nach Luft schnappte, schob Juvia hastig ihren Stuhl zurück und eilte zu ihr. Ganz offensichtlich stand ihre Freundin kurz davor, überzuschnappen. Ihre Augen waren extrem geweitet und sie zitterte am ganzen Körper.

„Du musst atmen, Levy!“, erklärte Juvia und fühlte sich dabei fürchterlich dumm. Hilflos schlang sie die Arme um die Magistra, aber die wurde steif wie ein Brett.

„Ich muss Lu helfen. Sie verlässt sich auf mich“, stammelte Levy vor sich hin. „Aber ich weiß immer noch nicht, wie man eine Bruthöhle töten kann! Ich lese nur all diese Geschichten über Tartaros, aber nichts davon nützt uns etwas! Nicht einmal Jackal können wir finden!“

„Das ist auch gar nicht deine Aufgabe.“ Ohne Levy los zu lassen, drehte Juvia sich zu Loke herum. Seine Miene war grimmig. „Du musst nicht alle Verantwortung auf dich nehmen. Das kannst du gar nicht. Niemand kann das. Was du bereits herausgefunden hast, ist wichtig genug.“

Levy erzitterte in Juvias Armen, aber sie erhob keinen Protest. Dankbar lächelte Juvia dem Feuergeist zu. Es war immer noch unübersehbar, was für große Sorgen er selbst mit sich herum schleppte, auch wenn er ruhig blieb. Als er noch geschwächt gewesen war, hatte er diese Sorgen auch noch nicht so gut im Griff gehabt und immer wieder darauf beharrt, dass er Lucy folgen müsste. Zum Glück konnte er sich jetzt endlich wieder beherrschen.

„Du solltest dich endlich einmal ausruhen, Levy, fuhr der Krieger ruhig fort. „Wie willst du dich auf deine Nachforschungen konzentrieren, wenn du völlig übermüdet bist?“

„Aber ich muss doch heraus finden, wie alles zusammen hängt“, murmelte Levy matt.

Sie fühlte sich mittlerweile so schlapp an, dass Juvia sie vorsichtshalber zum Stuhl zurück lotste und darauf drückte. Die extreme Anspannung war aus ihrer Haltung gewichen, aber in ihren Augen spiegelte sich immer noch dieser gehetzte Ausdruck wieder.

„Und ich habe immer noch nicht as Protokoll gefunden.“

„Was für ein Protokoll?“, fragte Juvia verwirrt.

„Das Protokoll über die Prophezeiung vom Schwarzen Kometen.“

Juvia verspürte einen unangenehmen Schauder. Sie erinnerte sich nur zu gut an diese manische Rede des Priesters in Malba. Er hatte auch vom Schwarzen Kometen gesprochen, aber so, als wäre er eine Gottheit oder etwas in der Art. Und seine Jünger hatten diesem Gott gehuldigt und danach gegiert, ihm ein Menschenopfer darzureichen. Selbst jetzt noch wurde Juvia schlecht bei der Erinnerung.

Auch Loke sah alles andere als erbaut aus. „Was hat dieser Sektengott mit all dem hier zu tun?“

„Ich weiß es nicht“, gestand Levy kleinlaut. „Aber es ist kein Sektengott. Die Prophezeiung vom Schwarzen Kometen ist wesentlich älter als Avatar. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass sie wirklich wichtig ist und irgendwie mit allem anderen zusammen hängt.“

„Mit allem?“

Levy nickte knapp. Ihr Blick ging ins Leere. „Alle Spuren haben nach Malba geführt, aber Malba war gar nicht der wahre Ursprung…“

Das ergab keinen Sinn, aber Juvia wollte Levy nicht noch mehr aufregen und schwieg. Das ungute Gefühl, das sich ihrer bemächtigte, konnte sie allerdings nicht abschütteln.

Stimmte es? Hatten die Vorfälle mit den Tatzelwürmern und Leviathanen auch etwas mit dem zu tun, was hier in der Stillen Wüste geschah? Steckte einer der Dämonen dahinter? Womöglich derselbe, der auch die Basilisken in die Siedlungen getrieben hatte? Welcher Dämon war so stark? Bei ihren Recherchen über Leviathane hatte Juvia zwar nur von menschlichen Magiern gelesen, die versucht hatten, Drachenartige zu zähmen, aber sie waren allesamt gescheitert, egal wie mächtig sie gewesen waren. Waren Dämonen wirklich um so vieles mächtiger als Menschen? Bei der Vorstellung wurde Juvia schlecht vor Angst.

Sie senkte den Blick wieder, als sie spürte, wie sich Levy in ihren Armen zu regen begann. Die Magistra rieb sich die blutunterlaufenen Augen und stieß einen matten Seufzer aus.

„Es gibt so vieles, was ich nicht verstehe. Mir fehlen zu viele Informationen. Ich muss mit den Anderen reden und ich muss in andere Bibliotheken. Ich brauche dieses Protokoll!“

Nun klang die Gelehrte beinahe manisch und ihr Blick wirkte gehetzt und gierig und verzweifelt zugleich. Selbst Loke schien deswegen verunsichert zu sein, denn ein Blick in seine Richtung verriet Juvia, dass er zwar die Lippen öffnete, aber am Ende doch keinen Ton hervor brachte.

Nicht zum ersten Mal wünschte Juvia sich, Lucy wäre hier. In dieser einen Nacht auf der Pyxis hatte Juvia gesehen, wie zerfressen die Fürstin von ihren Selbstzweifeln wegen ihres Fürstenamts war, aber dennoch war Juvia sich sicher, dass Lucy Levy sehr viel besser helfen könnte.

Schließlich durchbrach Lokes Räuspern die angespannte Stille. „Levy, du solltest dich wirklich ausruhen. Wie willst du dich noch konzentrieren können, wenn du nicht vernünftig isst und schläfst? Denk’ dran, wie das war, als du und Lucy eure Magisterarbeiten geschrieben habt.“

Die Erinnerungen an diesen Vorfall schien Levy endlich aus ihrem Wahn zu wecken. Ihr Blick wurde klarer und fokussierte sich auf Loke, aber ihre Finger klammerten sich an Juvias Tunika.

„Glaubst du, dass es Lucy gut geht?“

Der Feuergeist verzog gequält das Gesicht. „Ich hoffe es. Bisher sah es nicht danach aus, als wollten die Dämonen Heartfilia in die Sache verwickeln, also werden sie es wohl nicht gezielt auf Lucy abgesehen haben. Und Sting und Rogue sind hoffentlich wirklich so gut, wie ihr Ruf es verspricht.“

„Sie sind besser“, mischte Juvia sich energisch ein.

Wenn sie ehrlich war, wusste sie wenig darüber, was man sich in Fiore eigentlich über die Klauen der Wüstenlöwin erzählte, und genau genommen kannte sie die Beiden nicht einmal besonders gut. Vor der Begegnung in Malba hatte sie Sting und Rogue nur ein einziges Mal getroffen. Aber sie hatte schon immer daran geglaubt, dass die Drachen und ihre Reiter eine Gemeinschaft waren, der sie vertrauen konnte.

Insbesondere der Feuereifer, mit dem Natsu von Anfang an darauf bestanden hatte, dass die Drachenreiter zusammen halten mussten, hatte sie immer wieder darin befeuert. Und egal wie griesgrämig er sich gegenüber Natsu und den Anderen immer wieder verhielt, Juvia wusste, dass Gajeel im Grunde seines Herzens auch daran glaubte. Genau deshalb war er doch jetzt auch auf der Suche nach Stings und Rogues Freundin.

„Juvia vertraut Sting und Rogue“, erklärte sie wild nickend. „Sie haben Natsu versprochen, sich um Lucy zu kümmern. Und sie sind starke, geschickte Magier. Das waren sie schon, als Juvia sie vor sieben Sommern kennen gelernt hat und seitdem sind sie sicher noch viel besser geworden.“

Juvia schien überzeugend genug zu sein. Zumindest nickten Loke und Levy und sie sahen sogar etwas erleichtert aus. Beschwingt von diesem kleinen und für sie doch so bedeutenden Sieg klatschte Juvia in die Hände.

„Lasst uns zum Sandpalast zurück gehen. Wir alle sollten ordentlich essen und schlafen. Wenn Wendy jetzt hier wäre, würde sie euch auch sagen, wie wichtig das ist!“

Als sie aus dem Augenwinkel bemerkte, wie Levy in Richtung der Bücher blickte, drohte sie schon zu verzagen, aber dann stieß die Magistra zu ihrer Erleichterung einen ergebenen Seufzer aus und nickte matt.

Sie verließen die Bibliothek und verriegelten sie mit den Schlüsseln, die sie von Rufus erhalten hatten. Dann traten sie durch einen unauffälligen Seiteneingang aus dem alten Haus des verstorbenen Hofmagiers heraus. Als er ihnen den Weg zum Gebäude gewiesen hatte, war es Rufus wichtig gewesen, dass die Bedeutsamkeit dieses von außen so unscheinbaren Gebäudes für die Bewohner von Sabertooth verborgen blieb. Zu Zeiten der Rebellion war dieses Haus eines der letzten Verstecke von Minervas Getreuen gewesen, hatte er erzählt, und das sollte es auch jetzt bleiben. Juvia vermutete, dass es zumindest für Rufus auch einen emotionalen Wert hatte, ein Erinnerungsstück, ja, das Erbe seines alten Lehrmeisters.

Sie tauchten ein in das geschäftige Treiben auf den Straßen. Man merkte schon, dass die Stadt sich in einem Ausnahmezustand befand. Die Menschen schienen vor allem darauf bedacht, ihr Tagewerk zu erfüllen. Begegneten sie Bekannten, grüßten sie diese nur knapp. In den Wirtshäusern – allesamt hoffnungslos überfüllt mit Flüchtlingen – herrschte trotz der vielen Menschen angespanntes Schweigen. Selten einmal hörte man noch irgendwo Gelächter. Alle wirkten grimmig und angespannt. Aber es gab keine Anzeichen für eine beginnende Panik. Jeder kümmerte sich weiter um seine Arbeit und hielt so den Lebensstrom der Stadt am Laufen. Für diese Menschen schien es nicht in Frage zu kommen, auch nur einen Herzschlag lang an ihrer Fürstin zu zweifeln.

Ohne sich vorher deswegen abzusprechen, schlugen Juvia und die Anderen einen Umweg ein, um am nahegelegenen Westtor vorbei zu kommen und dort nachzuhorchen, ob es Neuigkeiten gab. Dabei war es vollkommen abwegig, dass Happy, Lector und Frosch schon zurück sein könnten. Selbst wenn sie bei ihrem Aufbruch ausgeruht gewesen wären, bräuchten sie zu den Trümmersteinbergen und zurück doch mindestens vier Tage. Das hatte Rufus gestern schon erklärt.

Pantherlily, der älter und trainiert war, würde es vielleicht schneller schaffen, aber er war… irgendwo über dem Kaiserlichen Meer unterwegs. Ob er die Kanaloa bereits erreicht hatte? Das Kaiserliche Meer war so groß und das Schiff war kreuz und quer unterwegs. In all der Zeit, die Juvia mit Gajeel und Pantherlily unterwegs gewesen war, hatte sie das gewaltige Schlachtschiff nur zweimal aus der Ferne gesehen. Aber wenn jemand trotz dieser geringen Chancen das Schiff schnell finden konnte, dann war es sicher Pantherlily. Er war stark und klug und hatte gute Instinkte. Selbst in Übungskämpfen, in denen Gajeel Magie hatte anwenden dürfen, hatte Pantherlily es immer geschafft, ihn irgendwie zu überwältigen.

Juvia unterdrückte einen Seufzer. Sie wünschte sich, der Exceed wäre bei ihr. Bestimmt hätte er eine gute Idee, wie man Jackal finden konnte. Und mit seinem Rückhalt hätte Juvia auch weniger Angst vor einer Konfrontation mit dem mächtigen Feuerdämon.

Ein lauter Knall riss Juvia aus ihren Gedanken. Neben ihr verfiel Loke in einen Laufschritt und Juvia und Levy beeilten sich, ihm durch das Straßengewirr auf den Torplatz hinaus zu folgen. Der Anblick, der sich ihnen bot, verschlug Juvia den Atem: Das riesige eisenbeschlagene Tor brannte!

Die Flammen zerfraßen das massive Holz und ließen das Eisen schmelzen. Im Handumdrehen griff das Feuer auf das nahestahende Rad über, mit dem das Tor zuletzt geöffnet worden war, als das Heer aufgebrochen war. Und von dort aus erreichte es zwei Soldaten, die geschockt daneben gestanden hatten. Ihre Schreie gingen Juvia durch Mark und Bein, als sie um sich schlagend durch die Gegend torkelten. Vielleicht in der wahnwitzigen Hoffnung auf Rettung bewegten sie sich auf die Stadt zu – im nächsten Augenblick wurden sie Beide kurz nacheinander von irgendetwas getroffen und verstummten, sackten leblos in sich zusammen.

Neben Juvia wirbelte Loke mit einem wüsten Fluch auf den Lippen herum. Als sie seinem Blick folgte, erhaschte sie einen Blick auf eine Gestalt auf einem nahen Dach, die jedoch zu schnell verschwunden war, als dass Juvia sie erkennen konnte.

„Dobengal“, knurrte Loke.

„Warum tötet er seine eigenen Kameraden?“, krächzte Juvia.

„Weil sie ansonsten vielleicht in die Stadt getorkelt wären. Wahrscheinlich war es obendrein sogar ein Gnadenstoß, aber… so kaltblütig…“ Der Feuergeist schüttelte den Kopf und atmete tief durch, ehe er wieder sprach. „Juvia, geh’ mit Levy in die Nähe des nächsten Brunnens und schütze mit seinem Wasser die Häuser. Mehr nicht. Versucht nicht, euch einzumischen.“

Ohne auf eine Antwort zu warten, setzte Loke sich in Bewegung. Im Laufen schienen seine Haare länger zu werden, wurden langsam zu jener Flammenmähne, die er in seiner Löwengestalt trug. Er gürtete sein Schwert ab und warf es zu Boden, dann machte er einen gewaltigen Satz nach vorn – und landete als Sonnenlöwe auf allen Vieren. Er stieß ein markerschütterndes Brüllen aus, dann blickte er nach oben zum lichterloh brennenden Torhaus.

Zwischen den gierigen Flammen dort erkannte Juvia erst jetzt eine Gestalt mit dem Oberkörper eines Menschen und Unterleib, Schwanz und Ohren eines Schakals. Er blieb von den Flammen völlig unberührt und lachte. Ein wildes, zerstörungsfreudiges Lachen, das Juvia eine Gänsehaut bescherte.

„Jackal“, keuchte Levy und machte zu Juvias Entsetzen einen Schritt auf das Torhaus zu. „Genau wie in den Büchern. Ganz genau so…“

Verängstigt griff Juvia nach der Hand ihrer Freundin und zog sie mit sich zu den Häusern. „Loke hat gesagt, wir sollen uns aus dem Kampf heraus halten und die Häuser schützen. Wo ist der nächste Brunnen, Levy? Der Fluss ist zu weit weg. Juvia braucht einen Brunnen!“

Ihre eigene Stimme hörte sich schrill in ihren Ohren an. Sie war kurz davor, in Panik zu verfallen. Weil Jackal nach all der Zeit des ängstlichen Wartens auf einmal wirklich da war. Weil ausgerechnet sie all diese Menschen hier schützen sollte!

Nach wenigen Schritten wurde Juvia von Levy gestoppt. Die Hand der Magistra fuhr in die Tasche an ihrem Gürtel, als wollte sie sich vergewissern, dass etwas da war. Dann drehte sie sich stürmisch zu Juvia herum.

„Wir müssen Loke helfen! Alleine schafft er das nicht!“

Ungläubig blickte Juvia von Levy zu Loke, der mühelos nach oben aufs Torhaus gesprungen war und einen dichten Funkenregen gegen den Dämon schickte. Es sah nicht so aus, als würde er den Kürzeren ziehen. Aber andererseits musste Juvia daran denken, wie lange es gedauert hatte, bis Loke sich von der Konfrontation mit dem Dämonenfeuer erholt hatte.

„Juvia glaubt an Loke“, erklärte sie dennoch fest, als sie sich wieder der Magistra zuwandte. „Und das solltest du auch.“

„Das tue ich“, erwiderte Levy heiser. „Loke ist unglaublich stark, aber er kann sich noch nicht vollständig erholt haben und er ist und bleibt im Nachteil. Dieser Dämon dort stammt aus der Zeit vor dem Fanal und ist reinrassig. Loke ist es nicht. Der Dämon ist stärker!“

„Aber wie sollen ausgerechnet wir Loke helfen?“, fragte Juvia kläglich und sah wieder zum Torhaus, wo Loke und Jackal heftige Feuerattacken gegeneinander schickten.

Die Hitze ließ den Sandstein der Mauern derartig vertrocknen, dass er zerbröselte. Die Zinnen fielen teilweise bereits herunter. Und dann fielen die brennenden Balken des Tores in sich zusammen, als die Eisenbeschläge endgültig zerschmolzen waren. Als der Blick auf den Tordurchgang frei wurde, erkannte Juvia, dass auch das Außentor bereits brannte. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würde es in der gewaltigen Mauer von Sabertooth einen Durchbruch geben.

Verängstigt sah Juvia wieder Levy an. „Juvia will wirklich helfen, aber sie weiß nicht, wie. Sie hat nie Kämpfen gelernt.“

„Ich auch nicht, aber ich kann nicht mehr tatenlos zusehen“, erwiderte Levy. Aller wilder Entschlossenheit zum Trotz flackerten auch ihre Augen vor Angst. „Und wir müssen auch nicht kämpfen können. Es reicht, wenn wir es schaffen, Loke einen Vorteil zu verschaffen.“

Juvia wollte schon nachfragen, was für eine Idee ihre Freundin hatte, aber ein lautes Krachen ließ sie zum Torhaus blicken – das jedoch gar nicht mehr da war. Es war buchstäblich unter der Hitze und den Kampfeserschütterungen von der Mauer abgefallen. Zwischen seinen Trümmern standen Loke und Jackal. Dieses Mal schien Loke seine Gestalt zugute gekommen zu sein, er stand zumindest sicher und anscheinend auch unverletzt auf allen vier Beinen. Jackal hingegen entlastete ein Bein und fletschte verärgert die Zähne.

Juvia spürte ein hastiges Ziehen an ihrem Ärmel. Levy zitterte am ganzen Körper und ihre braunen Augen wirkten riesig. „Konzentriere dich auf alles Wasser, das du erreichen kannst und schicke es gegen Jackal. Das wird seine Feuermagie unterbrechen und ihn ablenken.“

Das war leichter gesagt, als getan. Schon seit ihrer Ankunft hier hatte Juvia immer wieder ausprobiert, wie gut sie unter den hiesigen Bedingungen Wasser sammeln und lenken konnte. Es war anstrengender als anderswo. Als Mädchen hatte sie das zwar oft in den ähnlich trockenen Hochebenen von Bosco tun müssen, aber damals war es nur darauf angekommen, genug sauberes Wasser für drei Kinder zu finden. Wenn sie damals von ihren Verfolgern eingeholt worden waren, hatte Juvia nie kämpfen müssen…

Laute Rufe lenkten Juvias Aufmerksamkeit erstmalig auf die Soldaten um sie herum. Sie standen in unordentlichen Reihen auf dem Torplatz, viele mit erhobenen Waffen, viele mit Angst verzerrten Gesichtern – doch kein einziger ergriff angesichts der Todesgefahr die Flucht. Diese Männer und Frauen standen zwischen der Bedrohung und allem, was ihnen lieb und teuer war. Für sie war es undenkbar, hier aufzugeben.

Diese Sorge um eine Heimat kannte Juvia nicht, hatte sie nie gekannt. Weder in Bosco, noch in Crocus, noch auf ihren Reisen.

Gajeel hatte ihr gesagt, sie solle sich aus diesen Kämpfen heraus halten. Dabei beteiligte er sich im Endeffekt selbst daran. Beinahe alle jene Menschen, die sie ihre Freunde nennen konnte, waren in diese Kämpfe um ein Land verstrickt, das den meisten von ihnen völlig fremd war. Wie könnte Juvia dann tatenlos bleiben? Sie konnte sie sich damit heraus reden, dass sie nie kämpfen gelernt hatte!

„Bleibt zurück und wartet auf den richtigen Augenblick.“

Wie immer angetan mit einer eleganten, aber zweckmäßigen Robe, sprang Rufus am Rande des Platzes von seinem panisch wiehernden Pferd und trat weit genug nach vorn, um sich der Aufmerksamkeit der Soldaten sicher zu sein. Seine Miene ließ nicht erkennen, was er angesichts der bedrohlichen Zerstörung dachte.

Mit seiner Magie könnte er die Flammen zwar ersticken, aber das hatte nur Aussicht auf Erfolg, wenn Jackal die Flammen nicht immer von Neuem speiste. Wasser war effektiver gegen Feuer.

Tief holte Juvia Luft, blendete für einen Moment die neuerlichen Kampfmanöver von Jackal und Loke aus und konzentrierte sich auf ihre Magie, den geheimnisvollen Widerhall in ihrem Inneren, der lauter und kräftiger wurde, je mehr Wasser ihr zur Verfügung stand.

Tief, tief unter sich spürte Juvia jene uralten Wasseradern, die der erbarmungslosen Hitze zu trotzen wussten. Sie waren nicht unerreichbar für Juvia, aber sie hatte Angst, was für langfristige Schäden sie anrichtete, wenn sie das Wasser durch den Fels zog, auf welchem Sabertooth errichtet worden war. Also suchte sie nach den Brunnen in ihrer unmittelbaren Nähe. Für Juvia waren sie nur dadurch zu finden, weil sich bei ihnen wenigstens ein bisschen mehr Wasser in der Luft und im Gestein befand. Es war ein Balanceakt, das Wasser aus der Tiefe durch die Brunnen zu ziehen, ohne diese durch zu viel Wucht zu beschädigen. In Crocus, wo Gajeel immer darauf bestanden hatte, dass sie sich bedeckt hielten, hatte Juvia auf ähnliche Art die Anwendung ihrer Magie geübt – wenn auch immer in einem sehr viel kleineren und unauffälligeren Maßstab. Und wenn Pantherlily sie zu Übungen heran gezogen hatte, hatte er auch immer auf ihre Kontrollfähigkeit gesetzt.

„Juvia, jetzt!“

Erschrocken riss Juvia die Augen auf und öffnete die Lippen, um zu rufen, dass sie noch nicht so weit war. Doch das war Jackal egal. Der Feuerdämon hatte sich den Soldaten zugewandt und einen Flammenstoß in ihre Richtung geschickt. Wo Loke war, konnte Juvia nicht erkennen. Vor lauter Panik verlor sie wieder die Kontrolle über das Wasser. Sie war nicht schnell genug gewesen und deshalb würden alle hier sterben…

Mit einer Gestik, als wollte er etwas schräg nach oben stemmen, stellte Rufus sich der Attacke in den Weg. Fauchend und grollend suchte das Feuer einen Weg entlang einer unsichtbaren Barriere und schoss harmlos in den Himmel hinauf.

Jackal stieß einen unwilligen Schrei aus und stampfte mit dem gesunden Fuß auf. Wie Wellen nach einem Steinwurf im Wasser breiteten sich die Flammen in alle Richtungen aus. Rufus breitete die Arme aus, die Handflächen immer noch schräg nach oben gerichtete, und wieder wurde der Angriff umgeleitete, aber es war offensichtlich, wie viel Kraft es dem Magier kostete.

Er musste die Luftströmungen großflächig so formen und halten, dass sie den Flammen einen ausreichend starken Widerstand boten. Das erforderte ein Höchstmaß an Konzentration, wie Rufus es wohl kaum gewohnt sein konnte. Kämpfe zwischen Magiern waren zu selten. Und gegen Dämonen von Jackals Kaliber erst recht. Selbst Natsu, der sein Leben lang den Kampfgebrauch von Magie geübt hatte, hatte nur eine gewisse Zeit gegen Jackal bestehen können. Juvia biss sich auf die Unterlippe und riss wild entschlossen die Arme in die Höhe. Rufus brauchte Hilfe!

Der Griff nach der Magie, die ihr schon immer so vertraut gewesen war, kostete ihr keine Anstrengung mehr. Durch die Brunnen, die sie vorher lokalisiert hatte, leitete sie das Wasser an die Oberfläche und gut fünfzig Mannslängen in die Luft, um sicher zu sein, dass sie keine Gebäude zerstörte.

„Bei allen Sternen“, keuchte Levy neben ihr, aber Juvia ignorierte sie, konzentrierte sich darauf, das gesammelte Wasser gegen Jackal zu schicken. Etwas bewegte sich neben ihr und neben dem stetig lauteren Tosen der Fluten erkannte sie Schreie.

„Nicht noch mal, Wasserweib!“, keifte Jackal wutentbrannt und bündelte seine Flammen in einem Strahl, den er dieses Mal ganz genau auf Juvia zuschießen ließ.

Auf einmal kam Juvia alles sehr langsam vor. Sie sah, wie etwas auf Jackal geworfen wurde und wie er sich daraufhin zusammen krümmte. Sie fragte sich, was passiert war, und sie sah noch immer die Flammen und fragte sich, wer schneller war: Jackals Feuer oder ihr Wasser. Verwundert senkte sie den Blick und richtete ihre Konzentration wieder auf ihre Magie. Obwohl ihr eigenes Element das Wasser war, hatte sie sich nie vor Feuer gefürchtet. Feuer gehörte zu Totomaru und zu Natsu. Feuer war gut. Es bedeutete einen Neuanfang, es bot etwas Heimeliges. Es schien völlig surreal, dass Juvia durch Feuer sterben sollte.

Etwas oder jemand Großes krachte von der Seite gegen Juvia und riss sie mit sich zu Boden und außer Reichweite der zischenden Flammen. Und dann war das Wasser da. Juvia hatte die Kontrolle darüber verloren, doch es wurde schon längst von seinem eigenen Schwung weiter getragen. Mühelos erstickte es Jackals Flammen und dann traf es auf den Dämon selbst.

Was danach mit Jackal geschah, konnte sie nicht erkennen. Er verschwand zwischen den Fluten, die mit urgewaltiger Kraft gegen die Mauern krachten. Ein Teil des Wassers schwappte zurück und übergoss Juvia und ihren Retter und den Rufen nach zu urteilen auch einen Großteil der Soldaten.

Und dann war alles ruhig. Keine fauchenden Flammen, kein rauschendes Wasser, keine pfeifenden Winde. Nur das Ächzen der Soldaten…

„Ich habe zwar gesagt, ich würde nach dem größten Chaos Ausschau halten, aber ich hätte nicht gedacht, dass du diejenige sein würdest, die dieses Chaos anrichtet.“

Überrascht riss Juvia die Augen auf und erkannte über sich das gutmütig lächelnde Gesicht von Pantherlily. Er sah erschöpft aus und seine Flügel hingen wegen des Wassers schwer herab, aber alles, woran Juvia denken konnte, war, dass er endlich wieder da war.

„Lily!“

Überglücklich schlang sie die Arme um den Hals des Exceed, der die Umarmung linkisch erwiderte. Am liebsten hätte sie ihm sofort lauter Fragen gestellt, aber schon die erste ging in einem Krächzen unter.

„Ganz sachte“, mahnte Pantherlily brummend. „Du hast da gerade etwas Gewaltiges geleistet. Und es ist noch nicht vorbei.“

„Nicht?“, würgte Juvia hervor und verdrehte ihren Kopf in die Richtung, wo sie zuvor Jackal gesehen hatte.

Mit einem Anflug von Schuld sah sie, dass ihr Wasser einen Teil der Mauer zum Einsturz gebracht hatte. Es war ein Glück, dass die Mauern so dick waren. Zumindest die äußeren Zinnen standen noch und boten Schutz. Oder sie täten es, wenn nicht das Außentor zerstört worden wäre – ob durch das Wasser oder vorher schon durch das Feuer, das ließ sich nicht mehr sagen.

Zumindest schien es unter den Soldaten keine weiteren Opfer zu geben. Einige der Männer und Frauen wirkten ganz schön ramponiert, aber keiner schien dringend einen Arzt zu brauchen.

„Hat Juvia jemanden verletzt?“

„Es geht allen gut, mach’ dir keine Sorgen.“ Mit steifen Knien und völlig durchnässt stakste Levy zu ihnen herüber. „Meister Rufus hat rechtzeitig seine Windmagie umgelenkt, sodass das Wasser nicht in die Stadt gelangt ist.“

„Was Eurem Ratschlag zu verdanken ist, Magistra. Ihr habt die Lage schneller durchschaut.“

Obwohl ebenfalls durchweicht und offensichtlich erschöpft, schaffte Rufus es immer noch, Haltung zu wahren, als er sich zu ihnen gesellte. Als er Levy respektvoll zunickte, errötete diese vor Verlegenheit.

„Wo ist Loke?“, krächzte Juvia als nächstes, doch die Frage beantwortete sich von selbst, als sie sich suchend umsah.

Der Feuergeist saß, nun wieder in seiner menschlichen Gestalt, vornüber gebeugt und offensichtlich erschöpft neben dem Schuttberg, der noch vor kurzem der innere Teil der Mauer gewesen war. Neben ihm stand Dobengal und Beide blickten auf etwas in den Trümmern.

Gestützt von Pantherlily humpelte Juvia zusammen mit Levy und Rufus auf die Beiden zu. Erst als sie neben ihnen anhielten, erkannten sie Jackals zerschmetterten und verdrehten Leichnam zwischen den Steinen. Ein faustdicker Pfahl, der aus einem massiven Mauerwerkbrocken ragte hatte sich von hinten durch seinen Bauch gebohrt. Sein Blick war ins Leere gerichtet.

Es war ein grausiger Anblick, aber Juvia war einfach nur erleichtert, als sie sich an Pantherlilys Arm klammerte. Sie hatten es geschafft! Obwohl er so viel mächtiger als jeder Einzelne von ihnen war, hatten sie Jackal durch ihre gebündelten Kräfte besiegt!

„Er konnte sich nicht mehr gegen das Wasser wehren, nachdem ich ihn getroffen habe“, stellte Dobengal ruhig fest und deutete auf den Hals des Dämons. Erst jetzt erkannte Juvia, dass dort ein Wurfmesser mit merkwürdigen Runen am Griff steckte. Der Assassine nickte Levy zu. „Danke fürs Ausleihen.“

Ein beklommenes Nicken war Levys einzige Antwort. Juvia fiel auf, dass die Magistra jeden Blick auf den toten Dämon mied und es eilig hatte, das Thema zu wechseln, indem sie auf den offenen Tordurchgang deutete.

„Wie schnell könnt Ihr das Tor wieder verschließen?“

„Hoffentlich schnell genug. Das wird gewiss nicht der einzige Angriff bleiben“, sagte Rufus.

„Wir brauchen keine Mauern“, murmelte Loke düster und strich sich durch die nassen Haare. Um die Schultern hatte er sich den Umhang geschlungen, den Dobengal ihn anscheinend überlassen hatte, um seine Blöße zu bedecken. Er sah aus, als würde er gleich umkippen. „Was wir brauchen, sind mehr Magier. Denn der da war nur die Vorhut.“

Der Fluss, der die Verstärkung brachte

Sie fanden die Leiche hinter einem der Lager. Fliegen, Ratten, Krähen und allerlei anderes Getier hatten sich bereits darüber hergemacht, die Gesichtszüge waren unkenntlich, aber es ließ sich noch ein beachtlicher Kinnbart erkennen. Die Schultern des Toten mussten breit gewesen sein, der ganze Mann groß und imposant. Es war verstörend, ihn so zu finden: Zusammen gekauert, eine Hand auf den Bauch gepresst, die andere – beinahe skelettierte – Hand in Richtung der Straße ausgestreckt.

Hatte der Mann während seiner letzten Atemzüge um Hilfe gebettelt? Oder hatte er bis zuletzt gegen den Tod und die Bedrohung gegen seine Heimatstadt gekämpft? War er von Lamy vergiftet worden oder hatte Kyouka ihn erstochen? Hatte Seilah ihn während seiner letzten Augenblicke nochmals mit einer Vision gequält? Oder war sein Geist zumindest in dem Moment wieder frei gewesen?

Unbehaglich rieb Natsu sich über den zerschrammten rechten Handrücken, während er einige Schritte von der Leiche entfernt stand und beobachtete, wie der alte Fürst von Jadestadt und sein Gefolge – darunter auch Libra – dem Toten ihren Respekt zollten.

Er musste an die eigentlich eher ulkigen Geschichten denken, die Sting ihm über Arkadios erzählt hatte, dem Schwertmeister von Jadestadt und Anführer von Fürstin Hisuis Jaderittern, der außerhalb seines Landes auch als der Wüstenblumenritter bekannt war. Sting hatte sich immer über seine steife Art mokiert, hatte über den Fimmel mit dem Umhang und die gestelzten Reden gewitzelt – aber er hatte auch voller Respekt von den Schwertkünsten des Mannes gesprochen und sowieso hatten sich seine Witze nie wirklich bösartig angehört. Letztendlich hatte Sting Arkadios wahrscheinlich schon irgendwie gern gehabt und als Verbündeten geachtet.

Bei all den Erzählungen war Natsu immer neugierig darauf gewesen, den Veteran aus zwei Kriegen, die ihn persönlich doch so stark betrafen, kennen zu lernen – und überhaupt Jadestadt. Jetzt bereute er es, dass er diese Gelegenheit damals vertan hatte in dem naiven Glauben, dass dafür auch zu einem späteren Zeitpunkt seiner Reisen noch Zeit sein würde…

Aus dem Augenwinkel bemerkte Natsu, wie Gray sich über das Gesicht strich. Der Eismagier sah genauso müde und ramponiert aus, wie Natsu sich fühlte. Auch wenn er nicht ganz so schlimm zerschrammt war wie Natsu – immerhin war über ihm kein Stapel mit Marmorblöcken zusammen gebrochen –, hatte er im Kampf gegen Kyouka mehr als genug abbekommen. Sie waren Beide ohne lebensbedrohliche Verletzungen davon gekommen, ja, sie waren nicht einmal so schlimm eingeschränkt, dass sie das Bett hüten mussten, aber reisefähig war keiner von ihnen, geschweige denn kampfbereit.

Die Schlacht um Sabertooth, zu der Minerva mit ihrem Heer aufgebrochen war, würde ohne Natsu und Gray stattfinden müssen. Sie konnten nur hoffen, dass die Verteidigung der Stadt standhalten würde.

„Ich verstehe das alles hier nicht mehr“, murmelte Gray, als er Natsus Blick bemerkte. „Wir haben nach Hisui gesucht, aber stattdessen finden wir ihren Leibwächter, der laut Libras Erinnerungen aber gestorben ist, als er ihr und den anderen Jaderittern die Flucht ermöglicht hat.“

Stirnrunzelnd legte Natsu den Kopf schräg. „Na ja, wir wissen doch sowieso nicht, was hier wirklich passiert ist, während alle Bewohner von Jadestadt unter Seilahs Einfluss gestanden haben. Vielleicht ging es bei der Aktion ursprünglich darum, Hisui zur Flucht zu verhelfen?“

„Oder sie sind einfach nur von Seilah ausgewählt worden, um die Falschnachricht nach Sabertooth zu bringen.“

Oder sie konnten sich zeitweilig befreien“, schlug Natsu vor, dem Grays Idee nur allzu pessimistisch vorkam.

„So schön es auch wäre, wenn ich mich mit solchen Federn schmücken könnte, ich fürchte, wir werden nie erfahren, was wirklich passiert ist“, mischte Libra sich ein, die zu ihnen getreten war. Ihre schmalen Gesichtszüge wirkten gealtert und müde, um ihre Lippen spielte ein bitterer Zug, aber ihr Blick war entschlossen. „Und das ist im Moment auch nicht die wichtigste Frage.“

„Ganz recht, zuallererst geht es darum, Herrin Hisui zu finden“, pflichtete Darton gewichtig bei, während er, schwer auf seinen Stock gestützt, gemeinsam mit seinem Fürsten zu ihnen herüber kam.

Der Meister der Bücher von Sabertooth war ein alter, verhutzelter Mann, schwer gebeugt, altersfleckig und doch mit einem wachen, scharfen Blick unter den merkwürdigen hammerförmigen Augenbrauen.

Obwohl er eigentlich jünger als sein Untergebener war – auch wenn er im Moment nicht so aussah –, war Fürst Toma ein gutes Stück kleiner, was Natsu stark an seinen eigenen Landesherrn erinnerte. Die weißen Haare und der Bart waren dreckig und sein Gesicht von Sorgenfalten geziert. In seinen zitternden Händen hielt er den Umhang, den sie neben Arkadios’ Leiche gefunden hatten. Die Wappenbrosche, die noch daran hing, trug den Turm von Jadestadt.

Entschuldigend zuckte Natsu mit den Schultern, obwohl dabei an einem halben Dutzend Stellen Schmerzen aufflammten. Es tat ihm aufrichtig Leid, dass sein Angebot, bei der Suche nach der Jadefürstin zu helfen, sich als so wertlos herausgestellt hatte. „Ich fürchte, weiter als bis hierher kann ich Euch nicht führen. Die Spuren hier sind alle zu alt. Wohin auch immer Hisui von hier aus gegangen oder getragen worden ist, ich kann das nicht mehr riechen. Es war schon ein Glücksfall, dass ich den Geruch des Umhangs bemerkt habe.“

Wendy könnte vielleicht mehr ausrichten. Mit ihrem scharfen Geruchssinn könnte sie die vermisste Fürstin vielleicht aufspüren. So wie sie Lucys Spur damals bis nach Malba verfolgt hatte. Überhaupt wäre es praktisch, Wendy jetzt hier zu haben. Sie könnte Natsu und Gray heilen und den Bewohnern von Jadestadt und nicht zuletzt auch Lyon helfen.

„Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass Hisui sich in Mard Geers Gefangenschaft befindet“, meldete Gray sich zu Wort. „Warum auch immer. Womöglich will Mard Geer sie als Druckmittel gegen die Verteidiger von Sabertooth einsetzen. Auf alle Fälle schätze ich die Chancen, dass sie noch lebt, sehr hoch ein. Ansonsten würde es keinen Sinn ergeben, warum hier nur eine Leiche liegt.“

Bei dem Wort Leiche zuckte Toma zusammen, ehe er die Schultern hochzog und matt nickte. „Also müssen wir nach Sabertooth“, stellte er mit heiserer Stimme fest.

„Ich fürchte, dass wir es nicht rechtzeitig schaffen werden, Herr“, sagte Libra und deutete in Tomas Richtung eine Verbeugung an. „Nach allem, was wir wissen, könnte es innerhalb der nächsten Tage zur Schlacht um Sabertooth kommen, wenn sie nicht sogar schon genau jetzt stattfindet.“

„Also müssen wir Salberay fragen, ob er sich dafür bereit fühlt, nach Sabertooth zu fliegen“, stellte Darton grimmig fest.

Der alte Fürst nickte, ehe er sich an die Soldaten wandte, die ihn nach Natsus und Grays Entdeckung hierher eskortiert hatten. Einer davon war Ibrahim, der junge Soldat, der sich mit seinen Kameraden in Natsus und Grays Kampf gegen Kyouka eingemischt und ihnen damit das Leben gerettet hatte. Der Preis dafür war hoch gewesen: Ibrahim hatte als Einziger überlebt. Diese Erfahrung hatte den jungen Mann gezeichnet, sein Gesicht war verschlossen und grimmig, seine Kieferpartie wirkte immer angespannt, sein Blick abwesend.

Aber er hatte sich nicht zurückgezogen, um zu trauern, sondern packte überall da mit an, wo er es konnte. Wahrscheinlich versuchte er, die Trauer aufzuschieben, und vielleicht war das für Jadestadt jetzt sogar noch besser, aber früher oder später würde es wohl aus ihm heraus brechen. Natsu hoffte für den Jungen, dass er dann einen Freund an seiner Seite hatte.

„Bitte kümmert euch um Meister Arkadios. Er soll eine ehrenhafte Bestattung erhalten, sobald wir dafür bereit sind.“

Die Soldaten salutierten ehrerbietig und ihr Hauptmann löste den Umhang von seinen Schultern, damit sie die sterblichen Überreste darin einwickeln konnten. Ibrahim und noch ein Soldat wurden abkommandiert, um den Fürsten und seine Begleiter zurück zum Park zu geleiten.

Nach der Befreiung von Seilahs Manipulation hatten die Menschen sich zuerst ziellos in der Stadt verstreut, aber es war schnell klar geworden, dass sie damit eine Gefahr für sich und Andere darstellten. Denn bei vielen zeigten sich schwerwiegende Folgen der langen Gefangenschaft. Die Zahl derjenigen, die schlafwandelten oder tagsüber Wahnvorstellungen anheim fielen, war kaum einzuschätzen. Einige bekamen ganz plötzlich Panikattacken und mitunter gingen damit gesundheitliche Probleme einher. Angefangen bei Fieber bis hin zu Herz- und Atemproblemen und seltsamen Krämpfen. Die Zahl der Toten wuchs, je höher die Sonne stieg.

Um all das besser in den Griff zu bekommen, hatte Mahad, der Anführer der Gruppe aus Ärzten und Pionieren, die Minerva zurück gelassen hatte, angeraten, die Leute an einem Ort zu versammeln, damit man sie alle im Auge behalten und bei schlimmen Episoden schnell unterstützen konnte. Dafür hatten sich nur zwei Orte angeboten: Der Steinbruch, der jedoch aufgrund der traumatischen Belastung keine Option war, und der Park.

Hierher hatten Gray und Natsu auch gestern Abend noch Lyon und Meredy gebracht, die sich auch jetzt in dem provisorischen Lager der kleinen Gruppe befanden. Kaum dass sie sich am Rande des Parks vom Fürsten und seinem Gefolge verabschiedet hatten, die auf einen angeschlagenen Exceed mit hellbraunem Fell zuhielten, gingen sie zu ihrem eigenen Lager. Lyon schlief unter dem Sonnensegel, während Meredy eisern neben ihm wachte.

Die Züge des Eismenschen waren fiebrig und zuckten immer wieder, wenn Albträume ihn zu quälen schienen. Aber er würde leben und wieder gesund werden, das war das Wichtigste. Das Gegengift hatte einmal mehr ein Leben gerettet. Natsu nahm sich fest vor, seinem alten Freund dafür zu danken, sobald das alles vorbei war und er sein Versprechen gegenüber Gray erfüllt hatte. Jetzt waren es schon drei Kameraden, denen Natsu mit dem Gegengift hatte helfen können. Damit blieb ihm nur noch eine letzte Dosis. Er hoffte, dass er sie so schnell nicht brauchen würde – würde das doch noch mehr Ärger bedeuten.

Natsus Blick fiel auf Meredy, die eine Maske der Beherrschtheit aufgelegt hatte, die niemanden täuschen konnte. Sie saß neben Lyon und strich von Zeit zu Zeit durch dessen Haare, wenn er wieder zuckte. Gestern Abend und auch heute früh hatte Gray versucht, sie zum Schlafen zu bewegen, aber sie hatte sich vehement geweigert. Das war ein Problem, das wohl nur Lyon lösen konnte, wenn er wieder wach war. Natsu wollte sich da nicht einmischen, hatte er doch seine eigenen schlechten Träume nach der kurzen Begegnung mit Seilah, über die er nicht reden konnte. Es mochten nur wenige Herzschläge gewesen sein, aber der Anblick von Leichen, die er eigentlich nie gesehen hatte, hatte ihn schwer getroffen.

„Also habt ihr Hisui nicht gefunden“, stellte Meredy leise fest. Ihre Stimme klang irgendwie hohl und brüchig. Noch ein deutliches Zeichen dafür, wie schwer die Sache mit Seilah und Lamy sie erschüttert hatte.

„Wir vermuten, dass sie sich bei Mard Geer befinden könnte“, erklärte Gray, während sie sich neben Lyon und Meredy unterm dem Sonnensegel nieder ließen. „Fürst Toma wird Salberay nach Sabertooth schicken. Hoffentlich können sie dort mehr über Hisuis Verbleib heraus finden und sie retten.“

Als sich ihnen Schritte näherten, drehte Natsu sich herum. Es war Mahad, ein stämmiger, knollennasiger Mann. Als Natsu sah, was – oder vielmehr wen – der Mann in den Armen trug, sprang er trotz seiner Schmerzen hastig auf.

„Lector!“

Der Exceed sah furchtbar aus. Das Fell war verklebt von Schweiß und Dreck, seine Weste hatte einen Riss und es schien ihm äußerst schwer zu fallen, die verklebten Augen auch nur einen Spalt breit zu öffnen, als er Natsus Ruf hörte.

„N-Natsu… wo ist… Minerva?“, krächzte er erschöpft.

„Einer unserer Pioniere hat zufällig gesehen, wie er vor den Toren abgestürzt ist“, erklärte Mahad. „Er ist unverletzt, aber erschöpft und dehydriert.“

„Muss Minerva warnen“, stammelte Lector schwerfällig. „Die Dämonen… wollen nach… Sabertooth.“

Vorsichtig nahm Natsu Mahad den Exceed ab und eine Feldflasche entgegen, um ein bisschen Wasser auf die Lippen des Wesens zu träufeln. Selbst das Schlucken fiel dem kleinen Kerl offensichtlich schwer.

„Minerva und Orga sind mit dem Heer schon auf dem Rückweg“, erklärte Natsu und verkorkte die Flasche wieder, um sie Mahad zurück zu geben. Mit der nun wieder freien Hand kraulte er Lectors Kopffell, um den Dreck zu lösen und den Exceed zu beruhigen.

„Woher weißt du, dass die Dämonen Sabertooth angreifen werden?“, mischte Gray sich ein. „Hat Levy noch mehr herausgefunden und dich geschickt?“

„Lucy…“

Bei diesem Namen zog sich etwas in Natsu zusammen. Er wusste, dass Lucy bei Sting und Rogue in den besten Händen war, aber er vermisste sie. Schon seit Tagen geisterte sie durch seine Gedanken und immer wieder fragte er sich, wie es ihr ging. Gewiss würde sie noch lange um ihren Vater trauern – Natsu konnte davon ein Lied singen –, aber dennoch hoffte er, dass die Reise in den Trümmersteinbergen ihr geholfen hatte, wenigstens ein bisschen ihre Gedanken und Gefühle zu klären.

„Wie geht es Lucy? Wo ist sie jetzt?“, fragte Gray mit einem besorgten Stirnrunzeln. „Und Sting und Rogue?“, schob er etwas verspätet hinterher.

„Haben Zirkonis gefunden“, nuschelte Lector. Er holte mehrmals tief Luft, dann klatschte er sich auf beide Wangen, ehe er etwas wacher von Natsu zu Gray und wieder zurück blickte. „Levy hat uns zu Lucy geschickt, um ihr zu sagen, dass Mard Geer hinter Tartaros steckt. Levy hat ihn Königsmörder genannt und Lucy hat auch ganz komisch reagiert. Dann hat sie mich hierher geschickt und Happy zum Schlangenfluss. Er soll Meister Capricorn Bescheid sagen.“

Dann war Happy also aus Magnolia zurück – und sogleich in diesem Krieg in den Einsatz geschickt worden. Natsu hoffte, dass sein kleiner Freund gut auf sich aufpasste.

„Was soll das heißen, dass Mard Geer der Königsmörder ist?“, wandte Natsu sich an Gray, der Lucy immerhin viel länger kannte.

Doch der hob nur die Schultern, blickte jedoch sehr finster drein. „Nichts Gutes, möchte ich wetten.“

Natsu teilte Grays Unmut. Es war vorher schon frustrierend gewesen, aber jetzt machte es ihn beinahe wahnsinnig, dass er nicht an den Kämpfen um Sabertooth teilnehmen und ein Auge auf Lucy haben konnte.

„Sting und Rogue sind bei Lucy, sie werden auf sie aufpassen. Und sie sind jetzt mit Zirkonis unterwegs“, murmelte Natsu in einem Versuch, sich selbst und Gray zu beruhigen.

„Drachen und Drachenreiter sind nicht allmächtig“, erwiderte Gray grimmig. „Niemand ist das.“

Die Worte verursachten einen qualvollen Stich in Natsus Brust. Ob Gray auch nur ahnte, wie Recht er damit hatte?

„Aber das gilt auch für die Dämonen.“

Überrascht drehten sie sich zu Lyon herum. Er hatte sich auf den Unterarmen in die Höhe gestemmt und blickte zu ihnen hoch. Gelinde gesagt, sah er hundeelend aus, aber seine Augen funkelten entschlossen.

Natsu tauschte einen Blick mit Gray und sie mussten gleichzeitig grinsen. Da hatte Lyon Recht. Es mochte noch so viel Glück mit im Spiel gewesen sein, aber letztendlich hatten sie bereits vier der Dämonen von Tartaros besiegt. Bestimmt würden ihre Freunde mithalten können!
 

Der Schaden an der Mauer war katastrophal. Sowohl das Innen- als auch das Außentor waren zerstört und der innere Bereich der Mauer war zum Teil in sich zusammen gefallen. Die Soldaten und ihre zahlreichen freiwilligen Helfer unter den Zivilisten arbeiteten ohne Unterlass.

Sie mussten zuerst das, was von der Mauer noch stand, absichern. Danach mussten sie die unbrauchbaren Trümmer beiseite schieben und aus dem Tordurchgang schleppen, damit sie als erstes das Außentor mit dicken, schweren Balken verschließen konnten. Dahinter türmten sie die Trümmer, die dafür noch geeignet waren, zu einer provisorischen Mauer auf, deren unregelmäßige Fugen sie mit Mörtelmasse verschlossen. Dadurch wurde der Tordurchgang zwar vollends versiegelt, aber das war fürs Erste sicherer und vor allem auch schneller zu bewerkstelligen.

Es war unter den gegebenen Umständen eine beeindruckende Leistung, aber selbst Levy konnte sehen, dass der gesamte Mauerabschnitt am Westtor zur großen Schwachstelle geworden war. So blindwütig Jackal auch gewirkt hatte, er hatte offensichtlich ein bestimmtes Ziel verfolgt. Mit ihren Versuchen, die Soldaten und Bürger von Sabertooth vor dem Dämon zu beschützen, hatten Loke und Juvia ihm leider auch in die Hände gespielt.

„Es hätte schlimmer kommen können.“

Levy blickte zum Besitzer der tiefen Stimme hinunter. Es war Pantherlily, der Exceed, der Juvia gestern vor Jackals Flammenstoß gerettet hatte. Er sah noch immer zur Mauer, eine Pfote auf seinem Federschwert. Levy hatte gar nicht bemerkt, wann er sich neben sie gestellt hatte.

Mehr als seinen Namen wusste sie bisher nicht von ihm. Nachdem sie Jackals Tod festgestellt hatten, hatte Pantherlily sich um die völlig erschöpfte Juvia gekümmert und Levy war gemeinsam mit dem schon wieder angeschlagenen Loke von einigen Soldaten zum Sandpalast eskortiert worden, wo sie beinahe sofort ins Bett gefallen war. Heute früh hatte Levy sich dagegen entschieden, Juvia zu behelligen, die nach dem gestrigen Kampf sicher immer noch erschöpft war, und war alleine hierher zum Tor gekommen.

Als hätte er ihren Blick gespürt, wandte Pantherlily ihr seine Aufmerksamkeit zu. „Es macht wohl ohnehin kaum einen Unterschied. Nach allem, was Juvia mir über Eure Informationen über die Dämonenbruthöhlen erzählt hat, können Mauern sie wohl kaum aufhalten.“

„Es wäre dennoch beruhigender, wenn sie noch richtig stehen würden“, gestand Levy kleinlaut. „Und bitte nennt mich einfach Levy. Ich denke nicht, dass ich Förmlichkeiten verdiene.“

„Juvia spricht in den höchsten Tönen von dir“, widersprach der Exceed und hielt ihr eine Pfote hin. „Aber nenn’ mich ruhig Pantherlily. Das genügt.“

Langsam nickte Levy und ergriff die dargebotene Pfote. Selbst in dieser kleinen Form war Pantherlily verblüffend stark. Angesichts der großen Form, die er gestern angenommen hatte, musste er zur Kriegerkaste der Exceed gehören, die in ihrem alten Königreich zu einem Großteil die Soldaten gestellt hatte und im Extalia-Krieg beinahe vollständig ausgelöscht worden war. Seine Narbe im Gesicht ließ darauf schließen, dass er selbst dem Schicksal seiner Kameraden wohl nur knapp entgangen war. Das Rangabzeichen am Knauf seines Federschwertes war jedoch zerkratzt worden.

Um nicht so offensichtlich zu starren, richtete Levy ihre Aufmerksamkeit lieber wieder auf die Mauer. Sabertooth war zum Schutz vor Basilisken, Golems und Bosco-Invasoren errichtet worden. Damals hatte das Gebiet von Jadestadt noch zum Königreich Bosco gehört, genau wie Clover. Sabertooth und Magnolia hatten über Generationen hinweg einen erbitterten und verlustreichen Grenzkrieg führen müssen. Aber die Orlands hatten ihre Stadt immer gehalten und allen Gefahren getrotzt. Diese Mauern waren mehr als nur eine Verteidigungsanlage. Sie waren ein Stück von Sabertooths Geschichte und Kultur. Und sie waren ein Symbol für die Stärke des Landes und seiner Fürsten.

Der Einsturz des Westtores hatte deshalb auch schwerwiegende Folgen für die Moral in der Stadt. Es zählte nicht, dass Rufus als Stellvertreter der Wüstenlöwin sich selbst am Kampf gegen Jackal beteiligt und den Tod unzähliger Menschen verhindert hatte. Dass er trotz offensichtlicher Erschöpfung die Verbarrikadierung des Tores überwachte und gleichzeitig die anderen Regierungsangelegenheiten erledigte…

Für einige der Zivilisten war all das nicht genug. In der vergangenen Nacht hatte es in einigen Flüchtlingslagern Prügeleien gegeben. Im Lager vor dem Sandpalast hatte es sogar wegen einer umgefallenen Öllampe gebrannt. Die Anwohner waren in Panik ausgebrochen, weil sie geglaubt hatten, der Feuerdämon würde noch leben. Im Morgengrauen hatte es zwanzig Schwerverletzte alleine in diesem Lager gegeben.

Die Unruhestifter waren auf Rufus’ Befehl hin verhaftet worden, um nach dem Ende des Krieges von der Wüstenlöwin verurteilt zu werden. Es war – neben einer standrechtlichen Hinrichtung, die jedoch alles nur noch viel schlimmer gemacht hätte – Rufus’ einzige Möglichkeit gewesen, aber Dobengal hatte bei der Besprechung heute Morgen prophezeit, dass sich die Gemüter dadurch nicht abkühlen lassen würden. Diese Menschen wurden schon viel zu lange auf engstem Raum zusammengepfercht und waren gestern der Todesgefahr viel zu nah gekommen. Das war für einfache Bauern, Handwerker und Hirten auf Dauer einfach zu viel.

Levy konnte das gut nachvollziehen. Sie hatte bereits seit ihrer Ankunft hier Nervenflattern und in ihren Träumen mischten sich Erinnerungen an Sabertooth, Heartfilia und Malba mit den unheilschwangeren Worten der Prophezeiung vom Schwarzen Kometen. Levy wusste gar nicht, wann sie das letzte Mal eine Nacht durchgeschlafen hatte.

„Dein Freund sollte sich etwas Ruhe gönnen.“

Als Levy Pantherlilys Hinweis folgte, erkannte sie auf der Mauer zwischen den anderen Spähern Loke. Seine wilde, kupferfarbene Haarpracht verriet ihn leicht. Seit die Soldaten alle gesehen hatten, wie er sich in einen magischen Löwen verwandelt hatte, schien er sich nicht mehr so viel Mühe mit seiner Tarnung zu geben und ließ den Tagelmust weg. Als Sonnenlöwe brauchte er wohl gar keinen Schutz vor der sengenden Wüstensonne.

„Er macht sich wahrscheinlich Sorgen um Lucy“, seufzte Levy, der beim Gedanken an ihre Freundin selbst schwer ums Herz wurde.

„Ich habe Sting und Rogue nie persönlich kennen gelernt, aber ich denke nicht, dass er sich Sorgen machen muss, solange Lucy bei den Beiden ist. Gajeel hat es nie direkt zugegeben, aber er hält große Stücke auf sie.“

„Gajeel gibt viele Dinge nicht zu, oder?“

Zur Antwort erhielt Levy ein amüsiertes Lächeln. „Er spricht im Grunde seine eigene Sprache. Nach allem, was Juvia erzählt hat, sollte das für dich aber kein Problem sein.“

Aus irgendeinem Grund fühlte Levy sich wie ertappt. Dabei war sie doch einfach nur dem Gesprächsverlauf gefolgt. Es war ja nicht so, als hätte sie ein besonderes Interesse an dem griesgrämigen Eisenmagier.

„Störe ich?“

Erschrocken quietschte Levy auf und wirbelte herum. Hinter ihr stand Dobengal, seine Miene so unbeeindruckt wie eh und je. Er ließ Levy nicht einmal Zeit für Vorwürfe, sondern sprach gleich weiter.

„Eine Flottille aus Heartfilia läuft gerade in den Hafen ein. Interessiert euch ja vielleicht.“

„Aus Heartfilia?“ Levys Blick huschte zu Loke, der jedoch nicht mehr auf der Mauer stand.

„Loke habe ich schon Bescheid gesagt.“

Levy versuchte gar nicht erst, nachzufragen, wie Dobengal so schnell von einem Ort zum anderen kommen konnte. In Crocus hatte Meredy so etwas auch manchmal gemacht. Das war wohl einfach so eine Assassinen-Sache.

„Dank-“

Levy verstummte frustriert, als ihr auffiel, dass der Jüngere bereits verschwunden war.

„Er ist gut“, stellte Pantherlily anerkennend fest.

„Mag sein, aber wäre es so schlimm für ihn, mal ein normales Gespräch zu führen?“, machte Levy ihrem Ärger Luft, während sie sich auf dem Weg zum Hafen machten.

„Alte Gewohnheiten, die einem lange Zeit das Leben gerettet haben, legt man nicht so einfach ab“, erwiderte Pantherlily.

Levy fragte sich, ob der Exceed dabei immer noch von dem Assassinen sprach. Wahrscheinlich schwang da auch seine eigene Erfahrung mit? Unwillkürlich wanderte Levys Blick wieder zu dem Federschwert.

Aber das ging sie nichts an, ermahnte sie sich selbst und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den verschlungenen Weg zum Hafen.

„Wie geht es Juvia inzwischen?“, fragte sie besorgt.

„Wenn man bedenkt, was sie gestern geleistet hat, geht es ihr schon wieder ziemlich gut“, schmunzelte Pantherlily. „Sie hat mich schon danach gefragt, ob du auch vernünftig geschlafen und gegessen hast.“

Vor Verlegenheit wurden Levys Wangen warm. „Juvia sollte sich nicht so viele Sorgen um mich machen.“

„Das ist so ihre Art“, erwiderte Pantherlily mit dem Anflug eines Grinsens. „Was sie tut, tut sie mit aller Inbrunst. Vor allem, wenn es um ihre Freunde geht.“

Levy schwieg. Es rührte sie, dass Juvia sie als ihre Freundin betrachtete. Immerhin hatte sie ihr bisher kaum ein gutes Bild geboten: Immer in Büchern vergraben und dennoch mit so wenigen Antworten. Auch gestern hatte sie im Grunde nicht mehr getan, als Dobengal das Lacrima-Messer zu geben, welches Lucy ihr noch vor ihrem Aufbruch aus Sabertooth für den Fall der Fälle gegeben hatte.

Natürlich wusste Levy, dass es bei einer Freundschaft nicht um so etwas ging, und sie kannte Juvia schon gut genug, um zu begreifen, dass ihr so etwas auch nicht wichtig war, aber nach allem, was in letzter Zeit passiert war, fiel es Levy schwer, sich noch auf etwas anderes zu konzentrieren als ihr Unvermögen, irgendeinen nützlichen Beitrag leisten zu können.

Sie quietschte überrascht auf, als sie am Ärmel ihrer Tunika beiseite gezogen wurde und beinahe in die nur noch spärliche Auslage einer Bäckerei stolperte. Verwirrt blickte sie zu Pantherlily hinunter, der seinerseits mit einem Stirnrunzeln zu ihr aufsah und auf die Straße deutete, wo ein schwer beladener Ochsenkarren die Passanten zum Ausweichen zwang.

„Tut mir Leid, ich war in Gedanken“, nuschelte Levy beschämt.

Zur Antwort klopfte Pantherlily ihr beruhigend auf den Unterarm, ehe er ihr bedeutete, sich wieder in Bewegung zu setzen. Levy war ihm dankbar dafür, dass er nicht darauf drängte, zu erfahren, was sie so sehr beschäftigte.

Am Hafen begegneten sie Rufus und Loke. Von Dobengal gab es keine Spur, aber das musste wohl nichts heißen. Levy machte sich gar nicht erst die Mühe, nach ihm zu fragen. Selbst wenn Rufus wüsste, wo sein Kamerad aus Rebellenzeiten war, hätte er wohl keine Auskunft darüber gegeben. Außerdem konzentrierte Levy sich lieber auf die fünf Schiffe, die mit Hilfe von Staken und Seilen sicher in die Ankerbuchten des Hafens manövriert wurden.

Es waren vier Koggen und eine Galeere. Sie alle trugen das Banner Heartfilias, die silberne betende Jungfrau unter drei goldenen Sternen auf blauem Grund. Levy verstand nicht viel von Schiffen. Zwar besaß Crocus einen sehr betriebsamen Hafen, aber sie hatte in diesem Teil der Hauptstadt nie viel zu tun gehabt. Dennoch war offensichtlich, dass die Galeere auf Jungfernfahrt war. Ihr Holz war noch heller, ihr Segeltuch noch reinweiß, die Taue noch nicht ausgefranst, der kunstvoll geschnitzte Drache, der oberhalb des Rammsporns aus dem Schiff heraus zu brechen schien, war noch nicht bemalt worden. Und es trug noch keinen Namen. Die dafür vorgesehene Tafel auf der Backbordseite unterhalb der Reling war noch leer.

Levys Blick wurde von dem hölzernen Drachen wie magisch angezogen. Selbst für sie als Landratte war vollkommen klar, dass Drachen und Drachenartige zu den beliebtesten Motiven für Galeonsfiguren gehörten – und auch sonst oft als Motiv für Dekorelemente Verwendung fanden. Dennoch brachte der Anblick etwas in Levy zum Klingen. Es war eine verblüffend lebhafte Figur, obwohl sie keinem der fünf Drachen ähnelte, die Levy vor kurzem kennen gelernt hatte. Die Flügelhäute waren mit kleinen Löchern versehen, mächtige Muskeln unter angedeuteten Schuppen, gewaltige Klauen nach vorn ausgestreckt, das Maul bedrohlich aufgerissen. Auf einmal hatte Levy das Gefühl, etwas Wichtiges übersehen zu haben…

Das Knallen der Planke riss ihre Aufmerksamkeit auf eine der Koggen. Es war ein altes Schiff mit dem Namen Sternenglück. Levy konnte sich nicht erinnern, es am Hafen von Heartfilia gesehen zu haben. Womöglich war es noch weiter flussaufwärts unterwegs gewesen, bevor sie mit den Anderen aufgebrochen war.

Der Erste, der über die Planke stieg und an Land kam, war Capricorn. Beim Anblick des Schwertmeisters von Heartfilia hatte Levy den Eindruck, als würde Pantherlily neben ihr zusammenzucken, aber als sie zu ihm hinunter blickte, war seine Miene wieder beherrscht und ruhig.

Dem Tiergeist folgten weitere Soldaten Heartfilias, überwiegend Geister, aber auch einige Menschen. Von den anderen Koggen kamen auch jeweils einige Soldaten herüber. Levy erkannte Scorpio, Gemini und Sagittarius, die hinter ihrem Befehlshaber Aufstellung nahmen.

Neben Capricorn stellte sich eine hochgewachsene Frau mit hellblauen Haaren und harter Miene auf, die an ihrer Hüfte einen Säbel trug, in dessen Knauf ein Lapislazuli eingelassen worden war. Obwohl Levy nie mit ihr bekannt gemacht worden war und sie beim Besingen der Opfer des Angriffs vor einem Mond nur aus der Ferne gesehen hatte, wusste sie sofort, dass das Aquarius sein musste, die Kampfgefährtin von Lucys Mutter und die Wilde Wächterin von Heartfilia – und die Nachfahrin des Heiligen Generals der Entschlossenen Ströme.

Loke und Rufus traten vor. Der Feuergeist faltete die Hände vor der Brust und verneigte sich erst in Capricorns Richtung, dann in Aquarius’, ehe er auf Rufus deutete. Als er sprach, verwendete er Fiore, sicherlich aus Respekt vor denjenigen, die keine Geistzunge beherrschten.

„Meister, dies ist Meister Rufus, Hofmagier von Sabertooth und Kopf der Wüstenlöwin. Er trägt die Verantwortung für Sabertooth, solange seine Fürstin mit dem Heer unterwegs ist. Meister Rufus, dies sind Meister Capricorn, Schwertmeister von Heartfilia, und Meisterin Aquarius, Wilde Wächterin von Heartfilia.“

„Es ist mir eine Ehre und ich danke Euch für Eure Hilfe“, intonierte Rufus und ahmte Lokes Geste elegant nach. „Die Güter aus Heartfilia, die vor einem halben Mond hier angekommen sind, waren eine große Hilfe.“

„Wir haben mehr mitgebracht“, erwiderte Capricorn und verneigte sich seinerseits mit vor der Brust gefalteten Händen, ehe er bei seinen nächsten Worten erst auf die fünf Schiffe und dann auf die gut fünfzig Männer und Frauen deutete, die mittlerweile an Land gekommen waren. „Wir konnten es nicht riskieren, Heartfilias Verteidigung noch mehr zu schwächen, deshalb sind dies hier alle Soldaten, die wir entbehren konnten. Aber wir haben mehr Vorräte mitgebracht.“

„In Anbetracht der jüngsten Vergangenheit ist dies einmal mehr viel mehr, als wir uns je hätten erhoffen können“, sagte Rufus und straffte die Schultern. „Aber Ihr verwundert mich doch. Wir hätten nicht damit gerechnet, dass Ihr so schnell hier ankommen würdet.“

„Wir haben die Dinge etwas beschleunigt, nachdem wir die Nachricht unserer Fürstin erhalten haben“, erklärte Capricorn und deutete auf eine pinkhaarige Soldatin mit einem schmalen Gesicht, die nun vortrat und das Bündel in ihren Armen offenbarte.

„Happy!“, keuchte Levy unwillkürlich und trat vor.

Der Exceed schien vollends erschöpft zu sein. Sein Fell war zwar bereits vom Schmutz der Reise befreit worden, aber seine Augen waren rot geädert und halb geschlossen und er ließ Ohren und Schwanz hängen. Levys Begrüßung erwiderte er nur mit einem sehr schwachen „Aye!“.

„Er hat uns gestern in der Abenddämmerung gefunden, als wir gerade vor Anker gehen wollten. Nachdem wir erfahren haben, dass Mard Geer der Anführer von Tartaros ist, haben wir uns gegen eine Rast entschieden und Aquarius hat ihre Wassermagie angewandt, um die Schiffe sicherer und schneller den Fluss entlang zu leiten.“

Sowohl Capricorn als auch Aquarius hatten sich viel zu gut im Griff, um sich anmerken zu lassen, was sie darüber dachten, womöglich schon bald dem Erzfeind aller Geister gegenüber zu stehen, aber einige der jüngeren Soldaten hinter ihnen zeigten deutlich mehr Regungen. Sie wirkten unruhig und besorgt, mitunter sogar wütend oder ängstlich.

„Wir sind bereits unterrichtet worden, was es mit Mard Geer auf sich hat“, sagte Rufus und nickte erst in Levys und dann in Lokes Richtung.

Als Capricorn Levy grüßte, fiel sein Blick auf Pantherlily. Zu Levys Überraschung neigte er sich dem Exceed respektvoll zu. „Ich hätte nicht damit gerechnet, ausgerechnet Euch hier zu treffen.“

„Hätte ich auch nicht, aber meine Reisegefährten sind in die Ereignisse verwickelt“, erwiderte Pantherlily knapp.

Es kam Levy so vor, als wäre ihm die Begegnung mit Capricorn unangenehm. Ob die Beiden im Extalia-Krieg Seite an Seite gekämpft hatten? Dann erinnerte Capricorn den Exceed womöglich an den Verlust seiner Heimat? Je mehr Informationsfetzen Levy über Pantherlily erhielt, desto mehr Fragen warf es auf.

Capricorn gab sich mit der vagen Erklärung anscheinend vollkommen zufrieden, denn er wandte sich als nächstes Loke und Rufus zu. „Happy hat uns darüber informiert, dass Herrin Lucy mit dem Jadedrachen und den Klauen auf dem Weg hierher ist. Sie haben auch Nachricht nach Jadestadt geschickt, damit Herrin Minerva sich auf den Rückweg macht.“

Unwillkürlich stieß Levy einen Seufzer der Erleichterung aus. Lucy, Sting und Rogue hatten es zu Zirkonis’ Höhle geschafft und waren auf dem Weg hierher! Es ging ihnen gut und sie waren in Sicherheit. So sicher zumindest, wie sie angesichts des bevorstehenden Kampfes sein konnten.

Levy hoffte bloß, dass es auch Gray und den Anderen in Jadestadt gut ging. Daran, was vielleicht mit Gajeels Suchtrupp passiert sein könnte, wollte sie lieber gar nicht erst denken.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Oh, eine kleine Warnung: Das Ding hier wird sehr lang. Schätzungsweise um die 100 Kapitel. Dem werden noch zwei weitere Teile folgen. Und es wird auch mehrere Prequels und Spin-Offs geben. Das Ganze ist ein Mehr-Jahres-Projekt. Also nur für sehr ausdauernde Leser mit sehr viel Geduld ;)

Danke fürs Lesen!
Yosephia Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Happy war schwierig in dem Kapitel :/
Und NaLu ist ganz schön kitschig geworden, aber das hat sich beim Schreiben einfach von selbst so entwickelt.

Andeutungen ftw!
Damit werdet ihr in der gesamten FF leben müssen, dass es unzählige Anspielungen gibt. Einiges wird im späteren Verlauf der FF erklärt, anderes erst in den Prequels. Wie gesagt: Ich arbeite schon seit April an dieser FF, dementsprechend viel Planung ist hier schon rein geflossen!

Ich hoffe, es hat jemandem gefallen.
Für einen Kommentar wäre ich sehr dankbar!
Yo Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ja, ich habe mir die Freiheit heraus genommen, aus Mest Wendys Halbbruder zu machen - dass er nur ihr Halbbruder ist, habe ich in diesem Kapitel allerdings echt nicht untergekriegt. Überhaupt habe ich das Gefühl, dass die erste Szene ziemlich überfüllt ist >__<

Mit der zweiten hingegen bin ich super glücklich. Die hat riesigen Spaß gemacht!
Bei der Beschreibung des Tatzelwurms habe ich mich an die schönste Abbildung gehalten, die Google mir ausgespuckt hat, es gibt aber auch allerlei andere Versionen zu Tatzelwürmern. Für meine Zwecke habe ich sie so designt, wie ich sie nun einmal brauchte.
Das werden auch nicht die letzten Drachenartigen sein, die in dieser Story neben den eigentlichen Drachen auftauchen. Die nächsten geben sich im vierten Kapitel die Ehre!

Nächstes Kapitel geht noch weiter in den Norden und widmet sich Gray, Lyon und Meredy. Freut euch drauf!

Über Feedback würde ich mich sehr freuen!
Danke!
Yosephia Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Auf das nächste Kapitel freue ich mich schon! Das führt genau ans andere Ende von Fiore und zu Sting und Rogue! *~*

Bitte lasst mir einen Kommentar da!
LG
Yosephia Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Stingue! *~*
Dieses Kapitel ist etwas ganz Besonderes für mich, weil mit diesem Kapitel meine Begeisterung für Stingue ihren Anfang genommen hat! Am Anfang hatte ich wirklich nur geplant, das Pair lediglich zu hinten, aber Sting hatte seinen eigenen Kopf X/////D

Die seltsame Schreibweise in der ersten Szene ist übrigens Absicht. Die Erklärung dafür wird allerdings erst in einem Prequel kommen, das sich ganz allein um Sabertooth dreht. Vielleicht/hoffentlich werde ich nächstes Jahr mit dem Upload beginnen, ich arbeite auf alle Fälle fleißig dran!

Basilisken sind cool! Zu ihnen habe ich noch viele Hintergrundinformationen, die später oder auch erst im Prequel erklärt werden. Ihr müsst sie euch wie den Basilisken in Harry Potter vorstellen. Die ganzen Mischwesen-Basilisken gefielen mir einfach nicht^^'

Und was das Basilisken-Reiten betrifft, habe ich dann wild drauflos gesponnen. Aber es hat echt Spaß gemacht XD

Im nächsten Kapitel geht es mit Gajeel und Juvia weiter und ein weiterer Drachenartiger wird sich die Ehre geben!

Lasst mir doch bitte einen Kommentar da!
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Nachwort zu diesem Kapitel:
Nein, ich verrate nicht, was aus Totomaru geworden ist XP
Das wird noch erklärt werden. Später mal~
Genau Gajeels Flucht und Juvias Suche und Lilys Flucht - die Erklärungen kommen... irgendwann >_<

Den Witz mit der Kanaloa konnte ich mir nicht verkneifen - dreimal dürft ihr raten, wer ihr Kapitän und damit auch der Admiral der Kaiserlichen Flotte ist XD

Metallicana rockt! Irgendwie habe ich ihn unglaublich gern und seine Frotzeleien mit Gajeel haben unglaublichen Spaß gemacht ^~^

Ich hoffe, das Kapitel hat gefallen.
Über Feedback würde ich mich sehr freuen!

Gruß,
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Nachwort zu diesem Kapitel:
Die Sieben Künste sind übrigens angelehnt an die Sieben Künste der Universität von Paris in mittelalterlicher Zeit. Dazu habe ich mal einen spannenden Artikel in der GeoEpoche zum Thema Pest gelesen und das für meine Zwecke abgewandelt. Ziemlich viel Spinnerei, aber es hat wahnsinnigen Spaß gemacht!

Würde mich sehr über Feedback jedweder Art freuen!
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Nachwort zu diesem Kapitel:
Die letzte Szene war ursprünglich gar nicht geplant, aber dann hat sie sich beim Schreiben einfach so mit dazu gemogelt. So kann's gehen^^'

Die Sache mit dem Miasma ist viel Spinnerei zur Magietheorie und ist in dem 'verse auch historisch verortet und durchdacht. Ich habe für diese Story viiiiiiiel Hintergrundgeschichte. Ich weiß nicht einmal, ob ich alles davon werde unterbringen können ID"

Ich hoffe, es hat dennoch gefallen!
Im nächsten Kapitel kommen wieder Gavia und Stingue, freut euch ;)

Über Kommentare würde ich mich freuen.
LG
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Nachwort zu diesem Kapitel:
Worldbuilding, Worldbuilding, Worldbuilding! *~*
Ich habe total Spaß an den Wüstennomaden! >/////<

Und ja, das Ende ist furchtbar kitschig, aber es hat dann irgendwie gepasst und das ursprüngliche Ende hing so blöd in der Luft. So doppelt es sich zwar ein bisschen mit dem Ende der ersten Szene im vorherigen Kapitel, aber dann ist das eben so~

Über Kommentare würde ich mich sehr freuen!
LG
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Nachwort zu diesem Kapitel:
Ja, Gildartz und Cornelia sind Natsus Pflegeeltern. Warum das so war, wird auch irgendwann mal erklärt. Wie ich schon an der einen oder anderen Stelle sagte: Es gibt für dieses 'verse seeeeehr viele Hintergrundinformationen XD"

Und ja, Kitsch pur, ich weiß. Aber keine Sorge, so wird das mit Natsu und Lucy dann nicht weiter gehen ID"

Allmählich nähern sich auch die einzelnen Handlungsstränge zeitlich und räumlich einander an. Es dauert nicht mehr lange bis zum großen Zusammentreffen!

Im nächsten Kapitel gibt es eine kurze Levy-Szene und eine Lucy-Szene, bei letzterer geht es dann auch langsam so richtig zur Sache!

Bitte lasst mir einen Kommentar da.
LG
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Nachwort zu diesem Kapitel:
Fieses Ende, ich weiß. Es geht beim nächsten Kapitel nahtlos mit Lucy weiter - es war hier nur eine gute Stelle für eine Unterbrechung - und dann wird sich ein neuer PoV die Ehre geben.

Ich habe übrigens echt lange überlegt, wie ich Levy eigentlich nach Malba kommen lassen will, weil sie schlicht und einfach nicht der Typ ist, der alleine mit dem Pferd dorthin gelangen könnte. Zuerst habe ich an eine Schiffsreise gedacht, aber bei meinen Recherchen über Reisegeschwindigkeiten bin ich eher zufällig über die Postkutsche gestoßen. Deren Geschwindigkeiten haben bei meiner Quelle stark variiert. Hier bin ich von einem Optimum ausgegangen, das unter anderem auch dem gut ausgebauten Straßennetz in Fiore zu verdanken ist^^'

Und ja, Lucy hadert schon wieder mit sich und ihrer Pflicht als Fürstin. Das Ganze ist für sie ein gewaltiger Schritt und sie ist nun einmal eine Grüblerin!
Ich bin ziemlich stolz auf das ausgewogene Verhältnis der Charaktere in dieser Szene. Ich mag die Dynamik in der kleinen Gruppe, insbesondere an Gemini habe ich nach Loke einen besonderen Narren gefressen. Er wird auch später immer wieder kleine, aber feine Auftritte haben^^

Ich würde mich sehr über Kommentare freuen und wünsche euch einen Guten Rutsch!
LG
Yosephia Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Oh, oh, was ist da mit Lucy passiert? Na? Verrate ich nicht :P
Und das wird auch lange Zeit nicht aufgelöst werden. Die einzelnen Bilder, die Lucy gesehen hat, werden nach und nach während der Story erklärt werden.

Im Mavis-Part habe ich mich ein bisschen mit Magietheorie ausgetobt. Hat Spaß gemacht XD
Mit "Spielarten" ist übrigens z.B. sowas gemeint: Erdmagie hat verschiedene Unterarten: Metall, Pflanzen, Erde, Sand... Erdmagier, die all das gleichermaßen kontrollieren können, gibt es nicht. Eismagier zählen z.B. auch mit zu den Wassermagiern. Und alle Magien lassen sich sehr unterschiedlich anwenden. Jeder Magier ist da unterschiedlich veranlagt, bzw. manchmal ist es auch einfach nur eine Frage der Übung.
Diesbezüglich wird es noch einiges in dieser Story geben.

Vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
Yo Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Yay, wieder eine Stingue-Szene! Ich hatte sehr viel Spaß an dieser Szene, auch wenn mir der Mittelteil echt an die Nieren ging :(
Ich mag die Basilisken nun mal! >_<
Mit dem Schluss der Szene bin ich allerdings nicht so richtig zufrieden und der Anfang der zweiten Szene kommt mir auch irgendwie holprig vor *drop*
Vielleicht bessere ich das irgendwann mal auf.

Es fallen ein paar Andeutungen/Begriffe, die vielleicht unklar sind, aber das ist Absicht. Die Erklärungen würden an dieser Stelle einfach nicht passen, die kommen aber noch, keine Sorge!

Vielen Dank für jeden Kommentar!
Yo Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Der erste Teil der Geschichte nähert sich unaufhaltsam seinem Ende! Wenn ich bedenke, dass die Grundidee dieser Story tatsächlich nur diese Opferung war und dass sich drum herum alles aufgebaut hat... Und da wird noch sooooo viel kommen! >___<

Ich habe mir echt viele Gedanken darum gemacht, wie Heilungsmagie eigentlich funktionieren kann. Klar, letztendlich ist es sowieso nur Gespinne, aber ich bin in diesem 'verse zu dem Schluss gekommen, dass nicht nur Windmagier heilen können - und dass auch nicht automatisch alle Windmagier die Veranlagung zum Heilen haben. Juvia und Sting sind übrigens auch keine Heiler, das haben sie Beide nie gelernt. Und Wendy ist dafür keine Kämpferin. Zumindest noch nicht, aber da verrate ich nichts weiter :P

Über Feedback würde ich mich sehr freuen!
LG
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Kommentare zu dieser Fanfic (33)
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Von:  Stevielein
2023-01-18T21:01:17+00:00 18.01.2023 22:01
Schade das die Story nicht weitergeht, dabei ist sie so gut.
Du hast einen wirklich tollen Schreibstil, man kann nicht anders als völlig in die Geschichte einzutauchen.
Die Charaktere sind super geschrieben und ausgearbeitet.

Ich bin/war wirklich begeistert ^^ Das lesen hat sehr viel Spaß gemacht und mich sehr gefesselt das ich mein Handy gar nicht mehr weglegen wollte :D
Antwort von:  Yosephia
19.01.2023 09:57
Heyho!
Vielen Dank für den Kommentar! Es freut mich, dass du dir die Mühe gemacht hast, die Story zu lesen und dann sogar noch zu kommentieren, obwohl sie schon so lange inaktiv ist. Eigentlich würde ich sie gerne auch irgendwann weiter schreiben, aber damals hat sich einiges bei mir im Jobleben geändert und dadurch wurde auch mein Schreibrhythmus total zerschlagen^^'
Vielleicht/hoffentlich komme ich irgendwann dazu, weiter zu machen, denn für diese Story habe ich eigentlich noch sehr viel in petto...
Antwort von:  Stevielein
20.01.2023 18:35
Normalerweise fange ich solche auch nicht an, aber ich habe reingelesen und war dann schon gefesselt und da muss auch ein Kommentar her. :D
Es wäre auf jedenfall toll wenn es weitergehen würde und ich halte die Augen offen.
Verstehe das aber, mir ging oder eher geht es beim Schreiben nicht anders, entweder Job lässt es nicht zu oder irgendwie fehlt der Elan. Dies sind jedenfalls meine Probleme. ^^

Ich drücke die Daumen das du es vielleicht schaffst weiter zuschreiben.
Antwort von:  Yosephia
20.01.2023 20:03
Danke, solche Kommentare motivieren mich sehr! :D
Ich hoffe sehr, dass ich dir irgendwann eine Freude machen und wieder Kapitel hochladen kann!
Von:  Kirschbluetentiger
2017-11-27T10:19:02+00:00 27.11.2017 11:19
Wow mal wieder ein wahnsinnig gutes Kapitel. Es freut mich sehr dass Levy und Lucy solch bedeutende Rollen bekommen, da sie doch normalerweise eher als schwach dar gestellt werden. Ich freue mich schon auf das nächste Kapitel!
Antwort von:  Yosephia
27.11.2017 17:34
Danke für den Kommentar!
Keine Sorge, so etwas wird es bei mir nicht geben. Lucy und Levy sind und bleiben Hauptcharaktere in dieser Story - auch wenn ich mich selbstverständlich auch anderen Charakteren widmen werde, aber ich habe auch noch sehr viel mit Lucy und Levy vor!^^
Antwort von:  Kirschbluetentiger
27.11.2017 18:51
Gern geschehen. Ich habe heute mit großem Erstaunen festgestellt, dass deine Storys kaum Kommentare hat also musste ich das ändern!
Das freut mich sehr zu hören. Und damit ich es nochmal klar stelle und für dein Ego: deine Story ist hammer, der Schreibstil bestens, keine Grammatik oder Rechtschreibfehler und deine Idee ist grandios!
Antwort von:  Yosephia
27.11.2017 19:15
>/////////////<
Danke, das freut mich so sehr, dass dir die Story und der Schreibstil gefallen!
Von: Arianrhod-
2017-06-25T19:47:56+00:00 25.06.2017 21:47
Mir fällt gerade erst auf, dass die Titel jetzt anders sind. o.o
Anyway, es freut mich, mal wieder von Levy und Juvia zu hören! :D

Die Veränderung in Rogue und vor allem Sting ist interessant zu sehen. Jetzt, wo sie wieder nach Hause kommen und die Verantwortung zurück, fällt alles Leichte von ihnen ab. Das ist bei Sting natürlich sehr viel deutlicher, weil Rogue stets eine ernste Person ist, aber auch ihm sieht man eine gewisse Schwere an.

Levy find ich für diese Szene eine interessante Wahl, da sie für die eigentlich wichtige Szene ja nur eine Zuschauerin ist. Aber sie kann natürlich auch einen guten Blick hinter die Kulissen werfen, sozusagen, weil sie das Wissen hat, einige Verbindungen aufzubauen, die anderen fehlen – der Krieg, die Traditionen, etc.
Ihre Beobachtungen bezüglich der Dinge, die man eben NICHT aus Büchern herauslesen kann, fand ich auch gut eingeflochten. Vielleicht ist das auch das erste Mal, dass ihr das so richtig bewusst wird?

Dass Lucy jetzt direkt eingreift und die Reise um einen halben Tag verkürzt, wundert mich gar nicht, vor allem nicht im Licht der folgenden Szene. Sie kommt sich offensichtlich unzulänglich vor und versucht mit allen Mitteln, etwas zu tun. Dass sie durch diese Geste einen großen Stein bei Sting & Rogue im Brett hat, kam ihr wohl erst hinterher. Die Dankesgeste war ein besonderer Touch.
Die kleine Info bezüglich Judes Handelsimperium fand ich ja sehr interessant. Ich frag mich jetzt, wie sich das damit in Einklang bringen lässt, dass der Staat im Grunde eine große Handelsmacht ist und wie sich das alles auswirkt (Zahlen sie ganz normal Steuern? Dürfen sie staatliche Aufträge annehmen oder wäre das Bevorzugung / unfair gegenüber den anderen?), aber das spielt natürlich keine Rolle. ^^“

Und die zweite Szene stand ganz im Stern des Luvia-Broships. Ich fand es sehr interessant, mal wieder Juvias Gedanken zu hören und ihren Blick auf alles. Ich glaube, sie war nicht mehr an der Reihe, seit die Gruppe zusammengefunden hat.
Ihre Gedanken und Bewunderung gegenüber Lucy fand ich sehr realistisch. Juvia kommt mir immer wie jemand vor, die sich hinter anderen Frauen/Personen im Allgemeinen zurückbleiben sieht – damit kann man auch ihre Scham oder ihre Eifersucht erklären. Du triffst diese Seite von ihr hier sehr gut. ‚nur eine ganz normale Wassermagierin‘ ist nicht so ganz zutreffend und sie stellt ihr eigenes Licht unter den Scheffel.

Das folgende Gespräch fand ich auch sehr schön in Szene gesetzt. Juvia fragt sich, warum Lucy ausgerechnet mit ihr darüber spricht. Ich denke, es könnte gut sein, dass Lucy nicht ausgepackt hätte, wenn sie mit jemandem gesprochen hätte, der ihr vertrauter ist. Ich fand diesen Bonding-Moment sehr schön und hoffe, dass da noch mehr kommt. :D
Dass Lucy sich von all den Ereignissen und der plötzlichen Verantwortung überwältigt fühlt, wundert mich gar nicht. Und oben drauf kommen Judes Tod, der Angriff auf das Land, um das sie sich kümmern muss, UND all die anderen seltsamen und bedrohlichen Ereignisse. Sie hat’s echt nicht leicht, da würde ich mich eher wundern, wenn sie NICHT ins Staucheln kommt. Sie hat vermutlich fest damit gerechnet, dass Jude ihr in den ersten Regierungsjahren noch beratend und unterstützend zur Seite stehen kann, stattdessen muss sie jetzt um ihn trauern. Schön fand ich auch die Andeutung, dass Loke trotzdem sein Vertrauen in Lucy setzt. Er kennt sie eben.
(So neugierig ich jetzt auch darauf bin, wie diese Szene in Lucys PoV ausgesehen hätte, ich fand es durchaus passend, dass du am Ende doch Juvia gewählt hast.)

Und dann die Stadt…
Auch, wenn Juvia durch die Nacht nicht sehr viel erkennen kann, die Stadt muss gewaltig und sehr wehrhaft sein. Die Mauern jedenfalls sind extrem beeindruckend!

Ich freue mich sehr auf das nächste Kapitel und hoffe mindestens auf einen Sting- oder Rogue-PoV. Immerhin sind sie es, die nach Hause zurückkehren. :)
Gruß
Arian
PS. Levy hat Albträume. :( Ich kann mir nicht vorstellen, dass es was mit den Büchern zu tun hat, immerhin sind das sicher nicht die ersten dieser Art, mit denen sich Levy beschäftigt. Die Ereignisse von Malba dagegen müssen ihr arg zugesetzt haben.
Von: Arianrhod-
2017-06-24T15:53:36+00:00 24.06.2017 17:53
So, damit jetzt erstmal wieder alle Kommentare vom Tisch sind (Bis morgen halt. XD“), mach ich den jetzt auch noch schnell. ^^

Dass ich den Thron faszinierend finde, hab ich dir ja schon gesagt. Ich bin echt gespannt, was diesbezüglich noch kommt, auch wenn es noch eine Weile dauert bis dahin. Aber die Frage, was genau wen dazu veranlasst hat, einen Thron mitten im Nirgendwo aufzustellen, nur mit einem Boden, ist doch sehr interessant. Ich wette, Mavis hat ihre Stunden, in denen eben diese Frage sie fast in den Wahnsinn treibt. Einfach, weil die Antwort für sie unerreichbar ist, trotz all dem, was sie weiß, und das ist ja nicht gerade wenig. Es ist für sie vermutlich nochmal ein Zeichen dafür, wie viel es tatsächlich noch zu lernen gibt.
Auch der Rest, der den Thron so umgibt, fand ich interessant, wie die kleinen Anekdoten mit dem Licht und den Lösungen dafür. Das hat alles sehr schön zusammengepasst und ich konnte mir das gut vorstellen.

*lol* @ Exceed und Taubenschlag, ich weiß nicht, das hat mich zum Lachen gebracht. ^^“
Auch, wenn die Anlässe für das alles natürlich nicht sehr toll waren. u.u Wie die Sache mit Jude. Ich fand Mavis‘ Gedanken zu ihm und Lucy übrigens sehr interessant und die Tatsache, dass sie das Kondolenzschreiben nicht selbst erledigen konnte, sehr vielsagend.
Die Darstellung von Lahar hat mich auch sehr angesprochen. Er ist doch ein Charakter, der oft im Hintergrund bleibt, aber er wirkt hier sehr fähig und kompetent – einen Eindruck, den ich im Manga auch oft von ihm hatte.

Okay, ich gebe zu, dass ich es nicht ganz für realistisch halte, dass gleich die Eingangshalle vom Turm der Ewigkeit mehr an ein Wohnzimmer als sonst etwas erinnert. Einen anderen Raum? Klar, warum nicht. Aber gleich der Eingang? Ich hätte da zumindest noch einen Zwischenraum eingebaut, so stell ich mir das ein wenig störend vor. ^^“ (Okay, ich hör ja schon auf mit dem Erbsenzählen.) Ansonsten gefiel mir der Aufbau sehr.
Ich mochte den kleinen, kameradschaftlichen Moment zwischen den Wächtern. :)

Mir gefiel Shagottes Beschreibung sehr, vor allem die ‚Krone‘ ist ein sehr interessanter Gedanke und ein schönes Detail. Ihren Hintergrund hast du auch gut eingebettet und erklärt. Es sieht Mavis natürlich ähnlich, Hilfe für sie und ihr Volk anzubieten und sie hat ja auch (unbeabsichtigt) ein paar Vorteile daraus erhalten.
Und die allgemeine Verwirrung über die Ereignisse in Malba fand ich ja lustig. ^^“ Die werden schon noch aufgeklärt darüber, was dort wirklich geschehen ist.

Es passt sehr zu Wendy, dass ihr das Leben selbst an so einem Ort auffällt, den alle Kargland nennen. Das ist sehr typisch für sie, eine sehr liebenswerte Eigenschaft. :)
Sting tut mir leid. ^^“ Da gibt es eine Möglichkeit, sich vor der Seekrankheit zu schützen, und sie hilft ihm nicht. Die Zeitvertreibe der anderen fand ich sehr passend für die Charaktere und du hast das Spiel wieder eingebaut. :D Die kleine Anekdote bezüglich des ersten Mals fand ich auch sehr lustig; ich kann mir diese Situation gut vorstellen. XD

Wendy hat nicht nur für die Natur ein gutes Auge, scheint mir… Aber dass sie nicht nachfragt, ist auch ziemlich typisch für sie. Auch wenn das für die ganze Gruppe vielleicht besser wäre. Aber das ist nun mal nicht ihr Stil. Meredys Worte bezüglich Heiler und Assassinen sind weise. Hoffentlich findet Wendy ein wenig Trost darin.

Und dann Natsu vs. Lucy. Oha. ô__ô o__o ô__ô o__o Mit einem Unentschieden.
Das Gerede der anderen drum war sehr kurzweilig und enthielt ein paar nette kleine Infos. :) Die Stimmung innerhalb der Gruppe ändert sich und der Titel des Kapitels ist in dieser Szene maßgebend. Kleine Neckereien, ungehemmte Fragen und ein wenig Geplänkel. Hast du schön in Szene gesetzt.

So, ich freu mich auf das nächste Kapitel morgen und mach damit auch Schluss.
Gruß
Arian
Von: Arianrhod-
2017-06-19T19:32:36+00:00 19.06.2017 21:32
Yay, mal wieder Gajeel-PoV! :D
Okay, ich gebe zu, ich muss sagen, dass ich finde, dass du zu viel PoVs hast. Manche Leute kommen nur alle Jubeljahre mal dran, andere (wie Lucy, was mir gerade stark auffällt, aber vielleicht liegt das daran, dass gerade so viel Fokus auf ihr liegt?) fast jedes Kapitel. Zumindest hab ich so das Gefühl. Es wirkt auf diese Weise ziemlich durcheinander und man kann sich nie wirklich auf jemanden einstellen, weil dann gleich wieder jemand anderes dran ist. Die Länge der Geschichte hilft auf jeden Fall, das auszugleichen, aber manchmal wäre mir eine klare Linie lieber. ^^“ (Ich fürchte, ich habe das jetzt fürchterlich erklärt, aber ich hoffe, du verstehst trotzdem, was ich meine.)

Anyway, zum Kapitel.
Sting und Rogue tun mir leid. ^^“ Ich hab das Problem zwar nicht, aber meinem Vater wird selbst in Zügen schlecht, ich weiß also ein wenig, wie das von Nahem aussieht. Und dann werden sie (sprich: Sting) auch noch von allen Seiten gepiesackt. Da kann einem ja die schönste Strecke vermiest werden. Wenigstens Wendy hat Mitleid mit ihnen.
Levy weiß natürlich wieder alles und Gajeel kann sich sogar ein paar Brocken davon merken. Ob das wirklich an ihm liegt oder doch eher daran, wer ihm das Ganze erzählt? Mit Namen jedenfalls scheint er es bei dir auch nicht so zu haben. XD Okay, okay, ich hör schon auf, so fies zu dem armen Kerl zu sein.
Niedlich fand ich seine Beobachtung bezüglich Juvia. :) Die Reise in der Gruppe scheint ihr eindeutig gut zu tun, nicht nur wegen Gray. Und der Beschützerinstinkt kommt auch gleich durch!
Und Natsu plappert auch gleich was aus, was er nicht hätte tun dürfen. Nicht, dass ihn das groß interessiert. XD Er hat ja anscheinend nicht mal einen Schimmer über die Bedeutung der Insel? Typisch.
Gajeel hat seine Augen eh anderswo… Er macht echt ein paar interessante Beobachtungen. Und auch, wenn es eigentlich klar war und ich das ja auch schon wusste, es freut mich, dass a) Lucy mitkommt und b) es ihr anscheinend wieder besser geht.

Die Chelia-Szene fand ich superinteressant! Die Lindwürmer & Co. waren echt interessant und mir gefallen die Hintergründe, die du dir zu ihnen ausgedacht hast – die Reiter, die Ställe, ihre Art, die Unterschiede zwischen den Babys und den Älteren, etc. Das ist dir wirklich gut gelungen! Und die Lamia Scale & Blue Pegasus-Leute als Reiter passen wirklich gut als Lindwurm-Schwadron.
Was die Namenparade angeht… Da wir als Fairy Tail-Leser die Leute alle schon kennen, fand ich das jetzt nicht so schlimm. Ein paar Namen waren auch sehr interessant zu hören, z.B. natürlich Erza. Aber jemand, der jetzt nicht so mit FT vertraut ist, könnte sich verheddern und es waren auch nicht wirklich alle nötig… Bisca und Alzack fand ich jetzt zum Beispiel ziemlich überflüssig, die hättest du später irgendwann noch unterbringen können, wo sie wichtiger wären.
Ich hab voll vergessen, dass du die Mikazuchi-Geschwister als Kavalleristen einsortiert hast, aber die passen da wirklich gut rein. Mir gefiel die Beschreibung der beiden übrigens sehr gut, ich weiß auch nicht warum. ^^ Vielleicht, weil sie so einen schönen Kontrast bilden.
Du hast aus Angelica einen Lindwurm gemacht! *~* Auch wenn es mir natürlich für Sherry Leid tut, dass sie gerade solche Probleme mit ihr hat. :( Ich hoffe, das bessert sich schnell wieder. >.<
Und dann Chelias großer Auftritt mit ein paar interessanten Infos. Auch wenn sie letzten Endes doch nicht so wirklich viel rauskriegt. Aber das ist sicher ein weiteres Puzzleteil, das sie irgendwann brauchen können/werden. Vorerst stehen sie allerdings vor einem Rätsel, dass sie doch hoffentlich bald lösen können. Auch wenn ich befürchte, dass das nicht der Fall sein wird.

Gruß
Arian
PS. ‚stirnrunzelnd‘ schreibt man übrigens zusammen.
Von: Arianrhod-
2017-06-18T18:32:02+00:00 18.06.2017 20:32
So, wird langsam mal Zeit, das ich hier auch wieder aufhole. >.< Ich bin so frech und les die Kapitel immer, ohne sie zu kommentieren, und brauche hinterher ewig, um doch was zu sagen. Sollte mal aufhören. >__>“

Mir fällt gerade ein, warum ich diesen Kommentar so vor mir hergeschoben habe. ^^“ Ich wusste nämlich nicht wirklich, wie ich ihn anständig füllen kann, ohne mich groß zu wiederholen (aka ‚Lucy tut mir echt leid!‘ zum 1oo.ooosten Mal) oder Nonsense zu labern, nur um etwas Text zusammenzukriegen.

Ich fand es schön, wie die anderen versuchen, sie zu unterstützen ( Meredy, Lyon & Co.) und dann natürlich Natsu… :) Sein Überfall ist natürlich etwas unkonventionell und nicht unbedingt überall willkommen, aber die Methode ist eindeutig wirksam. Und seine Wirkung auf Lucy ist nicht von der Hand zu weisen, das merkt sie selbst, auch wenn sie es noch nicht wagt, näher darüber nachzudenken. Sie hat auch so schon genug auf dem Teller.

Und dann die Drachen!
Kann es sein, dass das das erste Mal ist, wo du sie wirklich beschreibst? o.o Oder hab ich das nur vergessen? ^^“ Aber es ist sehr nachvollziehbar, dass Lucy so beeindruckt ist, ich meine, wenn man leibhaftigen Drachen gegenübersteht… Wer wäre es nicht? Du findest auch sehr schöne Worte, sie ins Leben zu rufen.

Und dann geht es ab in die Lüfte und das war wirklich schön beschrieben. Man hat richtig gefühlt, wie dieser tiefe Kummer und die schlimmste Trauer von ihr abgefallen ist. Der Flug war eine richtige Katharsis für sie und Natsus Gegenwart mag das ihre dazu beigetragen haben.

Die eingestreuten Hintergrundinfos in diesem Abschnitt, ob nun durch den Erzähler oder Igneel geliefert, sind wie immer sehr schön und geben der Welt Tiefe. Sowas find ich immer toll, nur um das nochmal zu betonen. :)

Und dann die zweite Szene… Dieser Haufen ist albern. XP Ich meine, ich wusste ja schon, dass das kommt, aber die sind trotzdem albern. XD Nicht, dass man in so schweren Zeiten genau das nicht gebrauchen könnte… Die einzelnen Reaktionen auf die Ereignisse und das ganze Gespräch fand ich aber durchaus passend und es war gut zu lesen.
Alberner Haufen, die. ;)

Gruß
Arian
Von: Arianrhod-
2017-05-01T13:47:09+00:00 01.05.2017 15:47
Okay, weil ich heute so viele Kommentare zu schreiben habe, fang ich jetzt mal hiermit an…
Ich hab das Kapitel vor ein paar Tagen in der Mittagspause gelegen, verzeih mir also, wenn ich nicht mehr alles auf die Reihe kriege. ^^“

Die erste Szene gefiel mir ausgesprochen gut! Ich kann mir dieses Arbeitszimmer echt gut vorstellen und es gefällt mir auch sehr gut. Das passt sehr zu Heartphilia und den Charakteren, die es benutzen. Find ich schön!
Der Stuhl insbesondere hat es mir angetan, er ist so symbolisch! :) Auch wenn ich fände, er würde besser in den Thronsaal passen als an einen Ort, der wirklich viel benutzt wird. Das stell ich mir am Ende doch nicht so praktisch vor. ^^“
Dass Lucy trotz einem piesackenden Lehrer ihre Arbeit in dem Fach schreibt, das ihr letzten Endes am meisten zusagt, passt zu ihr. Vermutlich war die Arbeit so gut, dass nicht einmal der Lehrer rummotzen konnte.
Und das Gespräch mit Jude… Es zeigt doch noch einmal, was genau Lucy da verloren hat und macht die Situation umso tragischer. :( Sie tut mir wirklich leid, jetzt nochmal mehr. Und seine Heiratsneckereien. XD“ Fand ich süß!

Die folgende Szene stellt ein paar interessante Fragen (z.B. Layla und der Puls der Sterne), aber am Ende war sie doch dazu da, Lucy zusammenbrechen zu lassen. Dass es dann ausgerechnet Levy ist, die vorbeikommt, fand ich sehr schön. :) Es gibt ja eine große Auswahl von Charakteren, die es hätte sein können, aber Levy gefällt mir am besten! Gray hat’s nicht so mit solchen Situationen und Natsu kennt sie einfach noch nicht gut genug und die anderen stehen ihr noch weniger nahe. Gefiel mir gut! (Auch wenn das Thema natürlich traurig ist…)

Natsu geht jetzt mit Lucy fliegen, hab ich recht? XD
Anyway, dass Levy ihn vor der Tür hat warten lassen, passte sehr zur Situation. Und dann kommt Capricorn ihn sozusagen abholen, das fand ich toll. Er ist ein Charakter, der ziemlich cool ist, aber am Ende doch von allen übersehen wird, warum auch immer. (Einschließlich mir und Mashima…)
Dass ausgerechnet er die Gruppe dazu ermutigt, a) zusammenzubleiben und den Ereignissen nachzugehen und b) auch noch Lucy mitzunehmen, obwohl ihr Platz und ihre Pflichten ja in Heartphilia sind, fiand ich ziemlich interessant, ehrlich gesagt. Klar, Lucy steht im Mittelpunkt von allem, aber braucht Heartphilia sie nicht in der momentanen Lage auch? Da muss man echt abwägen…
Die kleinen Tidbits, die man von ihm erfährt, fand ich echt interessant und die Eingangshalle muss sehr imponierend sein! (Wobei ich mich frage, was sie mit den Portraits machen, wenn sie am Ende keinen Platz mehr dafür haben…?)
Und jetzt hast du die Drachen abgeschoben. XD Okay, die Gründe waren logisch, aber am Ende war es nichts anderes als das. (On that note: ich bin gespannt, wann wir Zirkonis treffen werden. :) Der ist so lustig.)

Und dann die letzte Szene… Okay, ganz ehrlich. Ich finde, dass die drei sich gegenüber ihren neuen (und alten) Freunden falsch verhalten. Ja, es wäre nicht leicht für Lyon und Gray, das alles zu offenbaren, immerhin betrifft es ihr Volk und ihre Familie. Aber sie haben da Informationen, die a) zur Auflösung von allem beitragen könnten und b) die ganze Gruppe in Gefahr bringen könnten, sie NICHT zu wissen. Zumal die eine oder andere Person sicher aufmerksam genug ist, um zu bemerken, dass da was im Busch ist.
Aber gut, ich verstehe, warum sie so handeln und es packt natürlich nochmal etwas Konflikt in die Story… Ich bin echt gespannt, wie sich das nachher alles auflöst. ^^ Auf jeden Fall hat das Gespräch einige interessante Punkte aufgeworfen.

Da schau guck, und plötzlich gab es wieder einen längeren Kommentar. ^^“ Was ein wenig Plot so alles ausrichten kann. (Nicht, dass die anderen Kapitel langweilig und/oder überflüssig waren.)
Bis dann ^^-
Gruß
Arian
Von:  Kirschbluetentiger
2017-04-23T18:53:47+00:00 23.04.2017 20:53
Huhu!
Na endlich kann Lucy ihre Gefühle mal raus lassen! Der Anfang war richtig gut beschrieben, mit den Erinnerungen und der Last!
Immer wenn ich deine kapitel lese wünsche ich mir, dass ich sofort weiter lesen kann. Die Kapitel sind immer sehr sehr spannend!
Mach weiter so!
Antwort von:  Yosephia
23.04.2017 20:58
Hallo und danke wie immer für den Kommentar :D
Ja, Lucy hat halt versucht, stark zu bleiben, aber irgendwann kommt es eben doch hoch.
Freut mich sehr, dass es dir wieder gefallen hat. Das nächste Kapitel kommt in zwei Wochen^^
LG
Antwort von:  Kirschbluetentiger
23.04.2017 20:58
Nichts zu danken!
Ach wer kennt das nicht ? :/
Ich freue mich schon drauf!
LG
Von: Arianrhod-
2017-04-18T12:47:09+00:00 18.04.2017 14:47
Irgendwie vergesse ich grad überall, Kommentare zu hinterlassen. X__X Sorry.

Also, das Kapitel war ... wie der ein Filler. ^^" Ich mochte es, es hatte eine sehr melancholische, trübsinnige Stimmung, trotz diverser Einschübe, wie es sich für ein anständiges Beerdigungskapitel gehört. Mir gefiel die Wahl von Natsu als PoV-Charakter, obwohl Lucy selbst auch sehr naheliegend gewesen wäre. Aber ich gehe davon aus, dass wir noch etwas über Lucys geistigen Zustand erfahren, nachdem sie sich wieder ein wenig erholt hat. Natsu dagegen wurde ein neuer Einblick in jemanden gewährt, der ihm nach kurzer Zeit schon sehr wichtig ist.

Die Hintergrundinformationen fand ich wieder interessant und die Zeremonie an sich fand ich phantastisch! :) Mit dem Feuer und Lyra und dem Lied und allem. Sehr zauberhaft und ich stelle es mir wunderschön vor. (Was ist das für ein König, von dem sie sprechen?) Und die kleine, persönliche Huldigung an Jude am Ende... :(
Dass Levy hier eine wichtige Rolle spielt, wundert mich gar nicht. Sie weiß einfach eine Unmenge über jedes Thema, scheint mir. Aber das passt gut zu ihr! :)
*lol* @ Natsus laxe Einstellung bezüglich seines Titels. XD Aber wer anderes erwartet, kennt Natsu nicht.

Ich freu mich auf das nächste Kapitel. :)
Bis dann
Arian
Von: Arianrhod-
2017-03-29T09:04:12+00:00 29.03.2017 11:04
So, bevor ich zum Arzt kann, hab ich noch Zeit für einen weiteren Kommentar. :)

Okay, ich gebe zu, sehr aufregend fand ich dieses Kapitel nicht. ^^" Es ist so ein Übergangskapitel, in dem nicht viel mehr passiert, als die Charaktere an die richtigen Stellen zu bringen, aber in so großen Geschichten gibt es sowas ja öfter. Und es ist auch nicht gar nichts passiert, immerhin sind sie in Heartfilia angekommen und da ist ja die Hölle los. >.<

Die Bewohner von Heartfilia tun mir voll Leid. :( Dieser Angriff kam ja als völlige Überraschung für sie und entsprechen groß ist der Schock. Zumal das ja auch noch eine sehr heftige Attacke mit einigen Opfern war - nicht zuletzt Jude, der sie über die letzten Jahre gerecht und weise angeführt und geleitet hat. Das liegt sicher nicht nur schwer auf Lucy. Die mir auch sehr leid tut. :( Das muss der reine Horror sein, nach all den Ereignissen und der Gefangenschaft nach Hause kommen und nicht nur seine Heimat (teilweise) in Schutt und Asche vorzufinden, sondern auch noch erfahren, dass der Vater dabei gefallen ist. Kein Wunder, dass sie ihre Emotionen erstmal wegschiebt und sich auf die anstehenden Aufgaben konzentriert. Aber da wird sie nicht drumrum kommen. :( Das wird noch hart für sie.
Mir gefiel die kleine Infos über die Geister, Heartfilia, die Geschichte und Co, die nebenher so eingeflossen sind. Solche Einblicke sind immer toll und Levy ist natürlich der perfekte PoV für so eine Sache. Wendy mal im professionellen Modus zu sehen war sehr interessant! Da ist sie ja fast wie ausgewechselt und kann auch mal die Zügel in die Hand nehmen, auch wenn sie sonst eher so zögerlich ist.

Und die erste Szene... Naja, viel ist nicht passiert. ^^" Ihren Dämmerzustand hast du gut beschrieben, fand ich. Du bist die große Vorstellungsrunde hier auch ziemlich elegant umgangen UND dann später auch noch gleich die Exceed losgeworden. XD Geschickt. Gut, dass Gemini sie gefunden hat, so konnten sie sich mental schon mal auf die Zerstörung vorbereiten. Auch wenn Gemini natürlich die eine oder andere Info unterschlagen hat...

Sorry, kurzer Kommentar, aber irgendwie hatte ich nicht viel zu sagen. ^^" Ich freue mich auf das nächste Kapitel! :)
Gruß
Arian


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